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Christan Neitzel · Karsten Ladehof Hrsg.

Taktische
Medizin
Notfallmedizin und Einsatzmedizin
2. Auflage
Taktische Medizin
Notfallmedizin und Einsatzmedizin
Christian Neitzel
Karsten Ladehof
(Hrsg.)

Taktische Medizin
Notfallmedizin und Einsatzmedizin

2., überarbeitete Auflage

Mit 278 größtenteils farbigen Abbildungen

123
Herausgeber

Christian Neitzel
Calw, Deutschland
taktischemedizin@email.de

Karsten Ladehof
Calw, Deutschland
ladehof@tacmed.de

ISBN 978-3-642-39688-5 978-3-642-39689-2 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2

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© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012, 2015


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V

Unseren gefallenen Kameraden


VII

Vorwort zur 2. Auflage

»This is not an easy environment, so nothing is easy. It’s all meant to make it easier, not easy.«
(Die Rahmenbedingungen sind nicht einfach, also kann nichts einfach sein. Alles dient dazu,
es einfacher zu machen, aber nicht einfach.)

Diese beiläufige Äußerung eines Sanitätsoffiziers einer israelischen Spezialeinheit trifft den
Nagel auf den Kopf: Die Bedingungen, unter denen die Helfer in einer taktischen Lage arbei-
ten müssen, sind äußerst herausfordernd. Neben der enorm anspruchsvollen notfallmedizi-
nischen Versorgung Schwerstverletzter kommt im Gegensatz zum zivilen Rettungsdienst
hinzu, dass sie in der Regel unter permanenter Bedrohung nicht nur des Helfers, sondern auch
seines Patienten erfolgt. Mit oftmals einfachsten Mitteln und unter hoher körperlicher Belas-
tung muss nicht nur die Behandlung, sondern auch die medizinische ebenso wie die militäri-
sche bzw. polizeiliche Einsatztaktik professionell beherrscht werden. Erschwerend kommt
hinzu, dass Bedrohungslagen immer komplexer werden, da der Täter oder Gegner zuneh-
mend schwerer zu identifizieren ist und er entweder primär Zivilpersonen angreift oder ihre
Schädigung zumindest billigend in Kauf nimmt. Mit den durch islamkritische Karikaturen
ausgelösten Anschlagsserien in Frankreich und Dänemark ist diese Realität endgültig auch
im Herzen Europas angekommen. Aber selbst bei einem militärischen Einsatz reicht das
Spektrum möglicher Szenarien im gleichen Einsatzgebiet von humanitärer Hilfe für ein
Flüchtlingslager oder der Versorgung des Herzinfarktes eines Dorfältesten über die Versor-
gung eines Verkehrsunfalls bis hin zu offenen, schweren Kampfhandlungen mit zahlreichen
Verwundeten – und das oftmals nur wenige Straßenzüge voneinander entfernt (»three block
war«).

Das heißt auch, dass in vielen Fällen das Ergebnis trotz optimaler Planung und Vorbereitung
leider nicht wie im Heimatland sein wird. Damit besteht aber unbedingt auch die Verpflich-
tung, dass alles getan wird, damit dies möglichst selten der Fall ist.

Die »verhinderbaren Todesursachen« beginnen bereits bei der Prävention und bei guter per-
soneller und materieller Ausstattung. Bei entsprechend deutlicher Beratung durch den medi-
zinischen Einsatzplaner ist in diesem Zusammenhang die klare Aussage eines Stabes, einer
Einsatzleitung oder auch des verantwortlichen Ingenieurs, wann ein Einsatz oder ein Projekt
mit einem zu hohen Risiko verbunden ist, noch wichtiger.

Nach einem Ereignis die Einsatzgrundsätze zu ändern, die Ausstattung zu verbessern, das
Budget zu erhöhen oder die PTSD-Behandlungsmöglichkeiten auszubauen ist generell und
vor allem für die »auslösenden« betroffenen Kameraden sicher nur die zweitbeste Lösung.

Jedem, der sich der verantwortungsvollen Aufgabe der Versorgung in diesem Umfeld stellt,
gebührt unser aller Dank!

Auch wenn uns bewusst war, dass unser Buch dazu beitragen würde, eine deutliche Lücke auf
dem Markt der Fachliteratur zu schließen, hat uns die ausgesprochen positive Resonanz
natürlich sehr gefreut, die dieses Buch erfahren hat. Als der Springer-Verlag mit der Planung
einer 2. Auflage an uns herangetreten ist, haben wir dies aber nicht nur als Lob verstanden,
VIII Vorwort zur 2. Auflage

sondern insbesondere auch als Chance begriffen, Anregungen und Wünsche unserer Leser
einfließen lassen zu können. Viele Kapitel sind daher in Details überarbeitet und das enthal-
tene Wissen aktualisiert worden. Neue Kapitel sind hinzugekommen, die weitere relevante
Aspekte im Bereich der taktischen Medizin abdecken. Dabei haben wir verstärkt versucht, die
Gemeinsamkeiten zwischen einem militärischen Einsatz, einer polizeilichen Lage und einem
Rettungsdiensteinsatz z. B. nach einem Anschlag aufzuzeigen. Wir hoffen, dass wir damit den
Ansprüchen und Erwartungen unserer Leser noch besser gerecht werden können.

Christian Neitzel und Karsten Ladehof


Calw, im Frühjahr 2015
IX

Vorwort zur 1. Auflage

Mit der immer weiter steigenden Intensität der Kampfhandlungen im Auslandseinsatz ge-
winnt die Bundeswehr zunehmend Erfahrung in der Versorgung von Verwundeten unter
Einsatzbedingungen. Erfahrungen, die verbündete Nationen in noch größerem Umfang be-
reits vor Jahren gemacht und in ein klar strukturiertes Konzept umgesetzt haben: Tactical
Combat Casualty Care (TCCC). Es berücksichtigt nicht nur die spezifischen Verletzungsmus-
ter, sondern auch die Besonderheiten einer Versorgung unter Gefechtsbedingungen. Dadurch
rettet das Konzept der »Taktischen Verwundetenversorgung« seit über einem Jahrzehnt ins-
besondere im Irak- und Afghanistankrieg nahezu täglich das Leben von verwundeten Sol-
daten verschiedenster Nationen.

Die Notwendigkeit eines angepassten Konzeptes zur Versorgung unter Bedrohung ist für das
Militär offensichtlich. Bei der Polizei haben sich diese modifizierten, notfallmedizinischen
Vorgehensweisen als »Tactical Emergency Medical Support« bisher vor allem im Bereich ihrer
Spezialeinheiten etabliert. Ausschreitungen bei Großveranstaltungen oder Demonstrationen,
Gewalt im häuslichen Umfeld, die Einsatzkonzepte für die aktive Reaktion auf eine Amoklage,
verletzte oder getötete Beamte bei Einsätzen gegen organisierte Kriminalität und leider zahl-
reiche weitere Beispiele zeigen deutlich, dass auch für andere Polizeikräfte die Adaption dieses
Vorgehens sinnvoll ist.

Bei polizeilichen Lagen liegt im Gefahrenbereich der Einsatzstelle die Verantwortlichkeit für
die Versorgung aller Verletzter – oder eben nur ihre unversorgte Rettung – bei der Einsatz-
leitung der Polizei.

Die Häufigkeit von Anschlägen steigt konstant und sie erreichen mittlerweile Länder, in denen
sie bisher undenkbar schienen. Auch instabile Verhältnisse nach Naturkatastrophen oder
politischen Unruhen mit Übergriffen auf Hilfskräfte sind traurige Beispiele, die verdeutlichen,
dass der Kreis der Rettungskräfte, die von »Taktischer Medizin« profitieren können, deutlich
über Polizei und Militär hinausgeht.

Notfallmedizinische Ausbildung muss proaktiv verbessert werden. Es darf nicht darauf gewar-
tet werden, dass Todesfälle auftreten, die bei adäquater Ausbildung hätten vermieden werden
können.

Die von den US-Streitkräften maßgeblich geprägten TCCC-Leitlinien basieren natur-


gemäß auf amerikanischen Therapiegrundsätzen und Gegebenheiten. Sie sind daher nicht
ohne weiteres auf europäische Verhältnisse übertragbar. Die »Tactical Rescue and Emer-
gency Medicine Association (TREMA) e. V.« hat es sich zur Aufgabe gemacht, die TCCC-
Leitlinien an die aktuellen europäischen Forschungsergebnisse und Versorgungsstandards
anzupassen und so das Beste aus der alten und der neuen Welt zu vereinen. Wir sind daher
dankbar, dass der TREMA-Algorithmus im Rahmen dieses Buches als Grundgerüst der
»Leitlinien zur Verwundetenversorgung« in Kap. 7 genutzt werden konnte. »Taktische
Medizin – Notfallmedizin und Einsatzmedizin« soll diesen europäischen Blickwinkel all je-
nen zugänglich machen, deren Handeln für den Patienten oftmals den Unterschied zwischen
Leben und Tod bedeutet. Daher wendet es sich im Schwerpunkt an die notfallmedizinisch
X Vorwort zur 1. Auflage

ausgebildeten Einsatzkräfte von Militär und Polizei, seien es Ersthelfer, »Medics«, Sanitäter
oder Ärzte.

Auch wenn dieses Buch auf den ersten Blick die Themen überwiegend in militärischen und
polizeilichen Lagen betrachtet, sind die Grundsätze auf die Patientenversorgung unter schwie-
rigen Rahmenbedingungen übertragbar. Das Buch kann daher Angehörigen von Rettungs-
diensten, Hilfsorganisationen und Feuerwehren nicht nur Einblicke in das Vorgehen von
Militär und Polizei in Gefahrensituationen geben, sondern auch wertvolle Grundlagen für das
eigene Handeln unter ähnlichen Umständen liefern - seien es Unfälle im laufenden Verkehr,
Brandeinsätze, häusliche Streitigkeiten oder z. B. die Höhenrettung von einer Windenergie-
anlage. Insbesondere für Leser aus dem Bereich der humanitären Hilfe und Katastrophen-
medizin sind nahezu alle Vorgehensweisen auf ihren Tätigkeitsbereich übertragbar.

Das Spektrum der behandelten Themen ist bewusst breit gewählt worden, um auch außerhalb
des Kernbereiches der Notfallmedizin die einsatzrelevanten Aspekte wichtiger Fachgebiete
praxisorientiert in einem Werk gemeinsam darzustellen.

Wir bitten unsere Leser ausdrücklich darum, mit uns Kontakt aufzunehmen und freuen uns
auf fachliche Diskussionen. Für Kritik, Verbesserungsvorschläge und Lob sind wir offen und
dankbar für jeden Hinweis der uns hilft, das Buch weiter zu verbessern. Die kontinuierliche
Anpassung an aktuelle Erfahrungen und Entwicklungen ist die Voraussetzung dafür, auch in
Zukunft einen Beitrag zur optimalen notfallmedizinischen Versorgung unserer Kameraden
und Kollegen leisten zu können.

Christian Neitzel und Karsten Ladehof


Calw, im November 2011
XI

Herausgeber

Oberstabsarzt Dr. med. Christian Neitzel


Oberstabsarzt Dr. med. Christian Neitzel befindet sich in der Weiterbildung
zum Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie. Nach dem Eintritt in die
Bundeswehr 1996 und dem Studium der Humanmedizin durchlief er klinische
Weiterbildungsabschnitte in allgemeiner Chirurgie am Bundeswehrkranken-
haus Hamm und in Unfallchirurgie und Verbrennungsintensivmedizin am
Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz. Promotion im Bereich der Tauch-
medizin. Von 2008–2012 wurde er als Einsatzarzt in einem luftbeweglichen
Arzttrupp der Division Spezielle Operationen (DSO) eingesetzt. Im Anschluss
durchlief er weitere klinische Weiterbildungsabschnitte in der Abteilung für
Anästhesie und Intensivmedizin sowie seit 2013 der Abteilung für Orthopädie
und Unfallchirurgie des Bundeswehrkrankenhauses Westerstede.
Dr. Neitzel verfügt über die Zusatzbezeichnung Notfallmedizin und langjährige
aktive Erfahrung im Rettungsdienst. Er durchlief zahlreiche nationale und inter-
nationale Ausbildungen in Traumaversorgung, taktischer Verwundetenversor-
gung, Höhenmedizin, Tauchmedizin und Klimazonenausbildungen in Wüste,
Arktis und Tropen. Er ist seit vielen Jahren in der Aus- und Weiterbildung von
Rettungsfachpersonal und Notärzten tätig und vermittelt Kenntnisse in der
taktischen Verwundetenversorgung innerhalb der Bundeswehr. Dr. Neitzel war
bis 2012 verantwortlich für die taucherärztliche Betreuung der Spezialkräfte
des Heeres. Er ist Schießlehrer der Bundeswehr und Waffensachverständiger.
Er sammelte Erfahrungen in mehreren Auslandseinsätzen der Bundeswehr als
Notarzt und Leitender Sanitätsoffizier, unter anderem in Afghanistan.

Oberfeldarzt d. R. Karsten Ladehof


Oberfeldarzt d. R. Ladehof war von 1987–2007 Soldat, davon 9 Jahre als Einsatz-
bzw. Kommandoarzt beim Kommando Spezialkräfte. Auslandseinsätze führten
ihn u. a. nach Afghanistan, auf den Balkan und in den Nahen Osten. Seit 2007
konzentriert er sich auf die Tätigkeit als Ausbilder, Berater und Notarzt.
Er ist Facharzt für Allgemeinmedizin und verfügt über die Zusatzbezeichnung
Notfallmedizin sowie langjährige Erfahrung und weitere Qualifikationen in
diesem Bereich (u. a. LNA, Schmerztherapie, Intensivtransport, technische
Rettung). Außerdem absolvierte er Lehrgänge bzw. Weiterbildungsabschnitte
in den Gebieten Tropen-, Arbeits-, Flug- und Höhenmedizin und ist ausgebil-
deter Höhenretter und Pyrotechniker.
Er war mehrere Jahre ärztlicher Leiter der EXOP GmbH in Konstanz, wo er die
Beratung von Unternehmen und staatlichen Institutionen hinsichtlich sicher-
heitsrelevanter und medizinischer Risiken unter anderem durch den Aufbau
einer reisemedizinischen Datenbank und Assessments weltweit, insbeson-
dere in Krisenregionen, unterstützt hat.
Einen weiteren Schwerpunkt hat er in der Katastrophenmedizin. Er ist Dozent
an der Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz
des BBK, zertifizierter MACSIM-Instructor und war bzw. ist an Forschungspro-
jekten der Universität Bonn und anderer Institutionen beteiligt.
Er ist Gründungsmitglied und derzeitiger Präsident der TREMA e.V.
Inhaltsverzeichnis

I Grundlagen

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
C. Neitzel
1.1 Taktische Verwundetenversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.2 Ausbildungsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.3 Geschichte der taktischen Verwundetenversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

2 Medizinische Einsatzplanung (»medical planning«) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11


K. Ladehof, C. Neitzel
2.1 Entwicklung eines Einsatzplanes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.2 Auftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
2.3 Lagefeststellung (Umgebungsfaktoren) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2.4 Feindlage – negative Faktoren für den Einsatz (Versorgungsbedarf) . . . . . . . . . . 17
2.5 Eigene Lage – Kräfte für den Einsatz (Versorgungsangebot) . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.6 Abwägung der Möglichkeiten und resultierender Plan für den Einsatz . . . . . . . . . 25
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

3 Spezielle Ausrüstung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
S. Schöndube, C. Neitzel, C. Gartmayr, P. Siegert
3.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
3.2 Blutungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
3.3 Atemwegsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
3.4 Thoraxverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
3.5 Kreislaufmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
3.6 Wärmeerhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
3.7 Immobilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
3.8 Monitoring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
3.9 Rucksäcke und Taschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

4 Versorgungsebenen und Evakuierung von Verwundeten . . . . . . . . . . . . . 53


J. Bickelmayer, S. Hauschild
4.1 Grundlagen und Ebenen der Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
4.2 Verwundetentransport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
4.3 MEDEVAC-Anforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
4.4 Koordinierung der »medical evacuation« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
4.5 Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
XIII
Inhaltsverzeichnis

5 Rettung von Verwundeten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63


J. Vogt, S. Schöndube, K. Ladehof
5.1 Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
5.2 Einteilung der Rettungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

6 Technische Rettung und Bergung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73


S. Börner
6.1 Technische Rettung im Kontext taktischer Lagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
6.2 Einsatztechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

7 Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
K. Ladehof
7.1 Ausbildungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
7.2 Ausbildungskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
7.3 Ausbildungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

II Taktische Verwundetenversorgung

8 Grundlagen TCCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111


K. Ladehof
8.1 Hintergründe und Prinzipien – Unterschiede zum zivilen Rettungsdienst . . . . . . . 112
8.2 Phasen und Zonen der Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
8.3 Verletzungen und Todesursachen im Bereich TCCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
8.4 Vorgehensweise: SICK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

9 Leitlinien zur Verwundetenversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127


C. Neitzel, K. Ladehof, F. Josse
9.1 Lagebeurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
9.2 Care under fire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
9.3 »Tactical Field Care« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
9.4 Tactical Evacuation Care . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
9.5 Prolonged Field Care . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

10 Analgesie im Einsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213


F. Josse, F. Spies
10.1 Bedeutung einer frühen und effektiven Schmerzbekämpfung . . . . . . . . . . . . . . 214
10.2 Morphin – ein alter Weggefährte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
10.3 Multiplayer Fentanyl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
10.4 Esketamin (Ketanest S) – ein guter Spieler mit speziellem Einsatzspektrum . . . . . . 217
10.5 Durch niedrig-potente Analgetika Kampfkraft erhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
XIV Inhaltsverzeichnis

11 Triage und MASCAL/MANV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221


K. Ladehof
11.1 Hintergründe und Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
11.2 Triage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
11.3 Vorgehensweise bei MASCAL/MANV: SICK + SICK2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

III Spezielle Verletzungsmuster und Notfälle

12 Schussverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
C. Neitzel, E. Kollig
12.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
12.2 Einführung in die Wundballistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
12.3 Geschosskonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
12.4 Spezifische Wundballistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
12.5 Letalität von Schussverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

13 Explosionsverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
M. Di Micoli, D. Bieler
13.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
13.2 Verletzungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
13.3 Therapie von Sprengverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
13.4 Taktische Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

14 Bissverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
S. Hentsch, J. Sahm
14.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
14.2 Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
14.3 Versorgung im Rahmen der taktischen Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
14.4 Impfschutz und Antisereneinsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

15 Verbrennungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
M. Di Micoli, S. Hentsch
15.1 Definition, Grundlagen, Ursache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
15.2 Beurteilung der Verbrennungsschwere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
15.3 Inhalationstrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
15.4 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
15.5 Besonderheiten beim Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
15.6 Besonderheiten bei Stromverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
15.7 Bekleidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
XV
Inhaltsverzeichnis

16 Augennotfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
H. Gümbel
16.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
16.2 Analgesie und Erstversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
16.3 Augenprellung (Contusio bulbi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
16.4 Arterielles Retrobulbärhämatom (arterielle Blutung in die Augenhöhle) . . . . . . . . 298
16.5 Oberflächliche Hornhautverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
16.6 Penetrierende Verletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
16.7 Laserlichtexposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
16.8 Kampfgasexposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
16.9 Maßnahmen vor Rückführung in die klinische Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

17 Akustisches Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301


F. Hohenstein
17.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
17.2 Krankheitsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
17.3 Innenohrschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
17.4 Empfehlungen bei asymmetrischer Hörstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

18 Schädel-Hirn-Trauma (SHT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309


M. Di Micoli
18.1 Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310
18.2 Klinische Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310
18.3 Pathophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
18.4 Klinik und Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
18.5 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
18.6 Taktische Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314

19 Hängetrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
R. Lechner, T. Lobensteiner
19.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
19.2 Pathophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
19.3 Bergungstod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
19.4 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
19.5 Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

20 Versorgung unter Nachtsichtbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323


C. Neitzel, J. Gessner
20.1 Restlichtverstärker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
20.2 Wärmebildgeräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
20.3 Patientenversorgung mit Restlichtverstärkern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
20.4 Versorgung mit sichtbarem Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
XVI Inhaltsverzeichnis

21 Zahnärztliche Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329


W. Kretschmar
21.1 Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
21.2 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
21.3 Einzelschritte der zahnärztlichen Notfalltherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
21.4 Überblick über die zahnärztlichen Krankheitsbilder »Zahntrauma«
und »Entzündungen in der Mundhöhle« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334

22 Psychotraumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
J. Ungerer, P. Zimmermann
22.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
22.2 Historie und Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
22.3 Traumatischer Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
22.4 Psychologische Krisenintervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
22.5 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344

23 Versorgung von Diensthunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345


K. Riedel
23.1 Verhaltensregeln im Umgang mit dem Diensthund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
23.2 Untersuchungsgang und Vitalfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
23.3 Tactical Combat Casualty Care nach MARCH/CABC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
23.4 Ein Diensthundenotfall: die Magendrehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
23.5 Dosierungsempfehlungen für Notfallmedikamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358

IV Polizei

24 BOS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
R. Bohnen
24.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
24.2 Feuerwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
24.3 Rettungsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
24.4 Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
24.5 Medizinische Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
24.6 Absperrmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

25 Erstversorgung im Polizeieinsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371


R. Bohnen

26 Schnittstellenproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
R. Bohnen
26.1 Rechtliche Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376
26.2 Eigenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
26.3 Problemfelder bei gemeinsamen Einsatzlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
XVII
Inhaltsverzeichnis

27 TEMS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
R. Bohnen
27.1 Historie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
27.2 Inhalte von TEMS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
27.3 Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
27.4 Unterschiede zum zivilen Rettungsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
27.5 Vorteile des TEMS-Konzeptes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
27.6 Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
27.7 Medizinische Grundversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
27.8 Einsatzplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
27.9 Medizinische Erstversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
27.10 Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
27.11 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

28 Personalaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
R. Bohnen
28.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
28.2 TEMS-Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
28.3 Rettungskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
28.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396

29 Materialressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
R. Bohnen

30 Notkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
R. Bohnen
30.1 Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402
30.2 Delegation und Notkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
30.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404

31 Internationaler Vergleich und Ausblicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407


R. Bohnen, J. Höfner

32 Besondere Einsatzlagen – Amok . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413


J. Höfner, K. Ladehof, J. Stocker
32.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
32.2 Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
32.3 Erstversorgung und Rettung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
32.4 Taktisch-operative Einsatzleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422
32.5 (Strategisch-)planerische Vorbereitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422
32.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
32.7 Beispiel für ein BOS-übergreifendes Trainings- und Einsatzkonzept . . . . . . . . . . . 424
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
XVIII Inhaltsverzeichnis

V Besondere Umgebungen

33 Militärischer Einsatz in großer Höhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435


M. Tannheimer
33.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436
33.2 Physiologische Grundlagen und Einteilung in Höhenstufen . . . . . . . . . . . . . . . . 437
33.3 Formen der Höhenkrankheit und deren Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440
33.4 Quantifizierung der Höhenkrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
33.5 Therapie der Höhenkrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
33.6 Aktuelle Problemfelder und Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446
33.7 Tipps und Tricks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450

34 Flugmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451
G. Röper, J. Stier, J. Schwietring
34.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452
34.2 Organisation des luftgebundenen Verwundetentransportes . . . . . . . . . . . . . . . . 452
34.3 Personal und Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
34.4 Arztgespräch, Patientenaufnahme, Patientenübergabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
34.5 Physikalische und psychische Einflüsse auf Patient und Personal . . . . . . . . . . . . . 461
34.6 AE im Rahmen von Personal-Recovery-Operationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471

35 Tauchmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473
C. Neitzel, N. Vortkamp
35.1 Gasgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474
35.2 Gefahren der Kompressionsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
35.3 Gefahren der Isopressionsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
35.4 Gefahren der Dekompressionsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477
35.5 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481
35.6 Ertrinken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483
35.7 Weitere Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484

36 Warme Klimazonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485


C. Neitzel, I. Ostfeld
36.1 Allgemeine Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486
36.2 Physiologie warmer Klimazonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488
36.3 Hitzeschäden im militärischen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500

37 Vergiftungen durch Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503


R. Lechner, F. Spies
37.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504
37.2 Giftarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505
37.3 Spezies und ihre Identifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507
37.4 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510
37.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519
XIX
Inhaltsverzeichnis

38 Kalte Klimazonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521


U. Unkelbach, C. Neitzel, T. Schuck, E. Meister
38.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522
38.2 Wärmegleichgewicht des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522
38.3 Risikofaktoren in kalten Klimazonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523
38.4 Prophylaxe von Kälteschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525
38.5 Kälteschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527
38.6 Versorgung in kalten Klimazonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543

VI Waffenwirkung

39 Atomare Bedrohung (A-Bedrohung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547


W. Kirchinger
39.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548
39.2 Szenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549
39.3 Schutzmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558

40 Biologische Bedrohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559


D. Frangoulidis
40.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560
40.2 Erreger bzw. Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560
40.3 Aspekte für Einsatzkräfte vor Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561
40.4 Hygiene-/Dekontaminationshinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566

41 Chemische Bedrohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569


K. Kehe, D. Steinritz, H. Thiermann
41.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570
41.2 Indikatoren für den Einsatz chemischer Kampfstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570
41.3 Physikalisch-chemische Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571
41.4 Allgemeine Schutzmaßnahmen und Erstreaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572
41.5 Behandlung von Vergiftungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574
41.6 Gefahr der Therapiefehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580

42 Aufbau und Einsatz von Sprengfallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581


T. Enke
42.1 Begriffserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582
42.2 Aufbau eines IED . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582
42.3 Mögliche Ziele eines Anschlags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584
42.4 Verbringung eines IED . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584
42.5 Durchführung eines Anschlags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585
42.6 Sonderformen des IED . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585
42.7 Weitere Gefahren nach einem Anschlag bzw. Unfall mit Munition
oder Explosivstoffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586
XX Inhaltsverzeichnis

42.8 Bevor man zu einem Einsatz fährt! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586


42.9 Eigenschutz am Vorfallsort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587

43 Konventionelle Bedrohung und Schutzausrüstung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589


P. Früh
43.1 Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590
43.2 Kinetische Energie – Handwaffengeschosse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590
43.3 Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596
43.4 Feldlager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601

Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604
XXI

Autorenverzeichnis

Oberstabsarzt Jens Bickelmayer


Oberstabsarzt Jens Bickelmayer war vier Jahre als SanStOffz Arzt in der LLBrig 31 tätig,
darunter 3 Jahre als KpChef der 4./LLUstgBtl 272 (LLSanKp SpezEins). Er hat neue Ausbil-
dungskonzepte in der taktischen Medizin implementiert und einen Ausbildungsverbund von
Sanitäts- und Nichtsanitätspersonal der DSO geschaffen. Einsatzerfahrung hat er als LBAT in
Afghanistan und als KpChef SanKp Kunduz.

Oberfeldarzt Dr. med. Dan Bieler


Oberfeldarzt Dr. med. Dan Bieler ist seit 2004 in der Weiterbildung zum Unfallchirurgen am
Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz und aktuell tätig in der Abt XIV - Klinik für Unfall-
chirurgie und Orthopädie, Wiederherstellungs-, Hand- und Plastische Chirurgie, Verbren-
nungsmedizin. Er ist Mitglied der Task Group HFM-234 »Environmental Toxicology of Blast
Exposures: Injury Metrics, Modeling, Methods and Standards« der Science and Technology
Organization der NATO. Einsatzerfahrungen sammelte er vielfach in Afghanistan (ISAF:
Kabul, Feyzabad und Kunduz) und Georgien (UNOMIG).

Medizinaloberrätin Dr. med. Renate Bohnen


Medizinaloberrätin Dr. med. Renate Bohnen ist Leiterin des Polizeiärztlichen Dienstes der
GSG 9 der Bundespolizei. Nach ihrer Weiterbildung zur Fachärztin für Allgemeinmedizin und
Arbeitsmedizin begleitet sie seit 2004 die GSG 9 der Bundespolizei bei Einsätzen und Übun-
gen im In- und Ausland. Sie ist maßgeblich für die Etablierung der taktischen Notfallmedizin
und des TEMS-Programms bei der GSG 9 verantwortlich.

Brandamtmann Sören Börner


Brandamtmann Sören Börner ist ehemaliger Zeitsoldat und Berufsfeuerwehrmann beim Zen-
trum Brandschutz der Bundeswehr, der Direktion für die Bundeswehrfeuerwehr. Von 2006–
2009 war er Ausbilder an der Zentralen Ausbildungsstätte für den Brandschutz der Bw
(Schwerpunkt Technische Rettung und Psychosoziale Notfallversorgung). Von 2009–2012
erfolgte die Ausbildung zum gehobenen feuerwehrtechnischen Dienst. Von 2012–2014 war er
zuständig für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, seit 2014 für die Koordination Aus- und
Fortbildung des Zentrums Brandschutz der Bw. Erfahrungen aus Auslandseinsätzen 1999/2000
(KFOR) und 2005 (ISAF) ermöglichen die Vernetzung der technischen und medizinischen
Rettung mit den Erfordernissen militärischer Einsatzsituationen.

Oberfeldarzt d. R. Mario Di Micoli


Oberfeldarzt d. R. Mario Di Micoli ist Facharzt für Chirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie
mit den Zusatzbezeichnungen Spezielle Unfallchirurgie, Handchirurgie und Notfallmedizin.
Von 2006–2013 (Zeitsoldat und Vertragsarzt) war er als Oberarzt in der Abteilung XIV –
Unfallchirurgie und Orthopädie, Wiederherstellungs-, Hand- und Plastische Chirurgie,
Verbrennungsmedizin im Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz tätig. Seit Ende 2013
Oberarzt und Bereichsleiter Handchirurgie im Krankenhaus Agatharied in der Abteilung
Unfall-, Schulter- und Handchirurgie. ISAF-Einsätze als Chirurg in Kunduz. Reserveoffizier
der DSK mit in- und ausländischen Wehrübungen.
XXII Autorenverzeichnis

Oberstleutnant Dipl. Ing. Thomas Enke


Oberstleutnant Dipl. Ing. Thomas Enke ist zur Zeit Berater für Kampfmittelbeseitigung
(EOD) und für Abwehrmaßnahmen gegen Unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtun-
gen (C-IED) bei den Vereinten Nationen in New York. Er ist seit 1982 ausnahmslos in der
Munitionstechnik auf wechselnden Dienstposten tätig und hat im Rahmen der Kampfmittel-
beseitigung an 7 Einsätzen in verschiedenen Einsatzländern teilgenommen. Zusätzliche Er-
fahrung in der Aufarbeitung von Anschlägen sammelte er als Unfalluntersucher im Bereich
der Besonderen Vorkommnisse an und mit Waffen sowie Munition.

Oberfeldarzt Dr. med. Dimitrios Frangoulidis


Oberfeldarzt Dr. med. Dimitrios Frangoulidis ist Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und
Infektionsmedizin und als stellvertretender Leiter der Laborabteilung 040 Hochsicherheits-
labor und Spezialdiagnostik am Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr in München
beschäftigt. Er ist in dieser Funktion mitverantwortlich für die biologische Sicherheit, den
Betrieb der Expertenlabore für Q-Fieber und Tularämie und die Bereitstellung von fachlicher
Expertise im nationalen und internationalen Rahmen (z. B. in fachlichen Beratungsgremien
der NATO). Als Leiter der Rettungsleitstelle in Rajlovac, während des SFOR-Einsatzes (1997)
und als Leiter des mikrobiologischen Feldlabors im KFOR-Einsatz (2001) wurden detaillierte
Erfahrungen im Bereich der einsatzbezogenen Notfall- und Rettungsmedizin und auch über
die Besonderheiten von Infektionsgeschehnissen innerhalb einer Ausbruchssituation erwor-
ben (CCHF-Ausbruch unter der Zivilbevölkerung im Kosovo 2001).

Patrick Früh
Patrick Früh hat während seiner Dienstzeit als Offizier an der Universität der Bundeswehr in
Hamburg Maschinenbau mit der Vertiefungsrichtung Wehrtechnik studiert. Seit dem Ende
der Dienstzeit ist er als Ingenieur tätig.

Christian Gartmayr
Christian Gartmayr ist seit über 20 Jahren im Rettungsdienst tätig, unter anderem in diversen
administrativen wie auch taktisch-operativen Führungspositionen. Im Rahmen seiner derzei-
tigen Tätigkeit als Lehrer und Dozent an einer Berufsfachschule für den Rettungsdienst bildet
er neben Rettungsassistenten auch Personal für paramedizinische Rettungsdienstsysteme im
Ausland aus. Seine Magisterarbeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München über
Rettungsdienstsysteme in den USA beleuchtet als einen der Schwerpunkte Tactical EMS und
Wilderness EMS. Er berät Rettungsdienste in den USA und im nahen Osten.

Hauptfeldwebel Jens Gessner


HFw Jens Gessner trat als ausgebildeter Rettungsassistent und Lehrrettungsassistent 2004 in
die Bundeswehr ein. Seit 2006 wird er in einem luftbeweglichen Arzttrupp der Division Spe-
zielle Operationen (DSO) bzw. Division Schnelle Kräfte (DSK) eingesetzt. Er durchlief ver-
schiedene nationale und internationale Ausbildungen in taktischer Verwundetenversorgung
und nahm an Auslandseinsätzen der Bundeswehr teil, u. a. in Afghanistan.

Flottenarzt Prof. Dr. med. Hermann O. C. Gümbel


Prof. Dr. med. Hermann O. C. Gümbel, Flottenarzt, tätig als Abteilungsleiter am Bundeswehr-
krankenhaus Ulm im Fach Augenheilkunde. Nach Wehrdienst 1977/78 als Sanitäter in den
Standorten Wetzlar und Kusel, Wiedereintritt in die Bundeswehr im Jahr 2000 und Aufbau
der Abteilung IV mit moderner Vorder- und Hinterabschnittschirurgie. Einsatzerfahrung in
XXIII
Autorenverzeichnis

den Jahren 2001 (Bosnien), 2007 (Kosovo), 2008/2010 (Afghanistan) als Augenfacharzt und
Konsiliargruppenleiter. Etablierung des »Partnering« mit afghanischem Vertragsarzt in Mazar
e Sharif. Aktuell einziger Abteilungsleiter für das Fach Augenheilkunde in der Bundeswehr.

Oberfeldarzt d. R. Dr. med. Sven W. Hauschild


Oberfeldarzt d. R. Dr. med. Sven W. Hauschild ist als Facharzt für Anästhesiologie, Intensiv-
medizin und Notfallmedizin als Stationsarzt auf einer der operativen Intensivstationen der
Universitätsmedizin Rostock tätig. Ferner ist er seit 2005 Vertragsarzt am Luftrettungszent-
rum des Bundeswehrkrankenhauses in Hamburg (Christoph 29). Nach seiner aktiven Dienst-
zeit als Reserveoffizieranwärter im PzGrenBtl 182 und der dort folgenden Verwendung als
PzGrenOffz d. R. war er nach Abschluss des Medizinstudiums und Wechsel der Truppengat-
tung von 2003–2011 als Arzt eines Luftbeweglichen Arzttrupps (LBAT) in die 4./LLUstgBtl
272 beordert. In dieser Zeit unterstützte er mehrfach bei der Combat First Responder-Ausbil-
dung am Ausbildungszentrum Spezielle Operationen in Pfullendorf. Seit 2011 steht er der
Division Schnelle Kräfte (früher Division Spezielle Operationen) als Einsatzarzt zur Verfü-
gung. Er nahm an diversen Auslandseinsätzen als Arzt eines (L)BAT teil (Kosovo 2001, 7-mal
ISAF von 2007–2014).

Oberfeldarzt Dr. med. Sebastian Hentsch


Oberfeldarzt Dr. med. Sebastian Hentsch ist Leitender Oberarzt in der Abteilung XIV – Un-
fallchirurgie und Orthopädie, Wiederherstellungs-, Hand- und Plastische Chirurgie, Verbren-
nungsmedizin im Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz seit 2003. Ausbildung zum Fach-
arzt für Chirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie, Rettungsmedizin und Spezielle Unfall-
chirurgie an der Uni Bochum und BG Klinik Berlin Marzahn. Einsatzerfahrung in 7 ISAF-
Einsätzen als klinischer Direktor der PRT Kunduz und Faizabad. Mitglied der Sektion NIS
(Notfall-, Intensivmedizin und Schwerverletztenversorgung) der DGU und AK Einsatzregis-
ter BW.

Polizeihauptkommissar Jürgen Höfner


Polizeihauptkommissar Jürgen Höfner ist Gruppenführer beim SEK Nordbayern. Er wurde
1987 bei der Bayer. Polizei eingestellt und gehört dem SEK Nordbayern seit 1995 an. Jürgen
Höfner war u.  a. als Polizeitaucher, Präzisionsschütze, Höheninterventionsausbilder und
Schießausbilder beim SEK tätig. 1997 gründete er das MEDIC-Wesen beim SEK Nordbayern
und war 15 Jahre Mastermedic. Seit 2011 ist er SEK-Gruppenführer. Seit 1985 ist er im Ret-
tungsdienst beim ASB und seit 1994 Rettungsassistent. An den ASB-Schulen Bayern ist er als
Referent tätig. Behörden im In- und Ausland wurden von ihm bereits in taktischer Medizin
ausgebildet. Er ist Generalsekretär der TREMA e.V.

Flotillenarzt d. R. Dr. med. Felix Hohenstein


Dr. med. Felix Hohenstein hat nach seinem zivilen Studium in Kiel und Tübingen sein AiP in
der Neurochirurgie in der Universitätsklinik Köln und seine Facharztausbildung in Heilbronn
absolviert. Bereits während der Facharztausbildung hat er Wehrübungen geleistet und war von
2006–2011 als Oberstabsarzt in der HNO-Abteilung des BwZK Koblenz tätig. Erfahrungen in
Auslandseinsätzen sammelte er im KFOR-Einsatz 2007 und im ISAF-Einsatz 2009 und 2010
jeweils als HNO-Arzt. 2011 wurde er zum Flottillenarzt d. R. befördert. Seit dem 01.05.2011
ist er niedergelassener HNO-Arzt in Herrenberg.
XXIV Autorenverzeichnis

Oberfeldarzt Florent Josse


Oberfeldarzt Florent Josse ist Facharzt für Anästhesie mit der Zusatzbezeichnung Notfallme-
dizin und Tauchmedizin. Er ist in der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin des
Bundeswehrkrankenhauses Ulm tätig. 2005–2007 war er als LehrStabsOffz San für die Aus-
bildung und Konzeption der Medic/CFR-Ausbildung am AusbZSpezlOp in Pfullendorf zu-
ständig. Dort initiierte er das jährlich stattfindende TCCC-Symposium. Auslandseinsätze in
Afghanistan ISAF (Kabul 2004, Kunduz 2010) und Mali EUTM (2013). Er ist Gründungsmit-
glied und seitdem Vizepräsident der TREMA e.V. und engagiert sich seit 2003 für die taktische
Verwundetenversorgung.

Oberfeldarzt Priv.-Doz. Dr. med. Kai Kehe


Oberfeldarzt Priv. Doz. Dr. med. Kai Kehe ist Leiter des Dezernats Forschung und Wissen-
schaftliche Studien im Sanitätsamt der Bundeswehr. Er war 1996–2010 als Leiter der Teilein-
heit Toxikologische Epidemiologie, Risikoanalyse und Begutachtung am Institut für Pharma-
kologie und Toxikologie der Bundeswehr. Als Experte für den Medizinischen C-Schutz ist er
Mitglied in verschiedenen Gremien des Katastrophenschutzes.

Dr. med. Werner Kirchinger


Dr. med. Werner Kirchinger ist Leiter des Regionalen Strahlenschutzzentrums Neuherberg
und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Strahlenschutz des Helmholtz Zentrums
München. Er ist in seiner Funktion als Feuerwehrarzt und Ermächtigter Arzt im Strahlen-
schutz als Ausbilder für Strahlenschutzeinsätze von Sondereinsatzkräften der Bayerischen
Polizei und der Berufsfeuerwehren tätig. Er ist Mitglied des Ausschusses A2 der Deutschen
Strahlenschutzkommission.

Oberstarzt Priv.-Doz. Dr. med. Erwin Kollig


OTA Priv.-Doz. Dr. Erwin Kollig leitet die Abtlg. Orthopädie/Unfall-, Hand- und Wiederher-
stellungschirurgie/Verbrennungsmedizin am Bundeswehrzentralkrankenhaus in Koblenz seit
2003. Mehrjährige Tätigkeit in ltd. OA-Funktion in der Traumatologie der BG-Kliniken Berg-
mannsheil in Bochum. Habilitation und venia legendi an der Ruhr-Universität Bochum. Spe-
zifische Erfahrungen mit schweren Verletzungsmustern des »asymmetric warfare« durch
mehrfache ISAF-Einsätze und kontinuierliche Behandlung der einsatzverletzten BW-Ange-
hörigen am BWZK Koblenz. Mehrere Veröffentlichungen und Buchbeiträge aus der klini-
schen Praxis zu Schussverletzungen.

Oberstabsarzt d. R. Dr. med. dent. Wolfram Kretschmar


Oberstabsarzt d. R. Dr. med. dent. Wolfram Kretschmar war von 2005–2010 Leiter der Zahn-
arztgruppe im Kommando Spezialkräfte in Calw. In dieser Zeit war er u. a. als Ansprechpart-
ner und Ausbilder der Medics für die zahnärztliche Notfallversorgung unter Einsatzbedingun-
gen zuständig. Er ist jetzt als niedergelassener Zahnarzt in Ludwigsburg tätig.

Oberfeldarzt d. R. Karsten Ladehof


Oberfeldarzt d. R. Ladehof war von 1987–2007 Soldat, davon 9 Jahre als Einsatz- bzw. Kom-
mandoarzt beim Kommando Spezialkräfte. Auslandseinsätze führten ihn u. a. nach Afghanis-
tan, auf den Balkan und in den Nahen Osten. Seit 2007 konzentriert er sich auf die Tätigkeit
als Ausbilder, Berater und Notarzt.
Er ist Facharzt für Allgemeinmedizin und verfügt über die Zusatzbezeichnung Notfallme-
dizin sowie langjährige Erfahrung und weitere Qualifikationen in diesem Bereich (u. a. LNA,
XXV
Autorenverzeichnis

Schmerztherapie, Intensivtransport, technische Rettung). Außerdem absolvierte er Lehrgänge


bzw. Weiterbildungsabschnitte in den Gebieten Tropen-, Arbeits-, Flug- und Höhenmedizin
und ist ausgebildeter Höhenretter und Pyrotechniker.
Er war mehrere Jahre ärztlicher Leiter der EXOP GmbH in Konstanz, wo er die Beratung
von Unternehmen und staatlichen Institutionen hinsichtlich sicherheitsrelevanter und medi-
zinischer Risiken unter anderem durch den Aufbau einer reisemedizinischen Datenbank und
Assessments weltweit, insbesondere in Krisenregionen, unterstützt hat.
Einen weiteren Schwerpunkt hat er in der Katastrophenmedizin. Er ist Dozent an der
Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz des BBK, zertifizierter
MACSIM-Instructor und war bzw. ist an Forschungsprojekten der Universität Bonn und an-
derer Institutionen beteiligt. Er ist Gründungsmitglied und derzeitiger Präsident der TREMA
e.V.

Oberfeldarzt Dr. med. Raimund Lechner


Oberfeldarzt Dr. med. Raimund Lechner absolvierte von 2009–2011 seinen ersten klinischen
Weiterbildungsabschnitt im Zentrum für Chirurgie am Bundeswehrkrankenhaus Ulm. Seit
2011 war bzw. ist er auf verschiedenen Dienstposten in der DSO/DSK und der GebJgBrig 23
eingesetzt. Er ist Heeresbergführer.

Thomas Lobensteiner
Thomas Lobensteiner ist Leiter des Trainingszentrums der Bundespolizei in Berchtesgaden.
Er war von 1983–1988 Angehöriger der GSG 9. Er ist staatlich geprüfter Polizeibergführer;
Bereitschafts- und Einsatzleiter in der Bergwacht Bayern; Vorstandsmitglied im Europäischen
Bergführerverband der Exekutive und zahlreiche Auslandsaufenthalte führten ihn u. a. nach
Afghanistan, in den Libanon sowie nach Russland und China. Zu seinen Fachthemen gibt es
mehrere Veröffentlichungen von ihm.

Oberstabsarzt Dr. med. Eva Meister


Dr. med. Eva Meister ist als Einsatzärztin in der Division Spezielle Operationen (DSO) tätig.
Vorher durchlief sie Weiterbildungsabschnitte am Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Abteilung
für Innere Medizin.

Oberstabsarzt Dr. med. Christian Neitzel


Oberstabsarzt Dr. med. Christian Neitzel befindet sich in der Weiterbildung zum Facharzt
für Orthopädie und Unfallchirurgie. Nach dem Eintritt in die Bundeswehr 1996 und dem
Studium der Humanmedizin durchlief er klinische Weiterbildungsabschnitte in allgemeiner
Chirurgie am Bundeswehrkrankenhaus Hamm und in Unfallchirurgie und Verbrennungs-
intensivmedizin am Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz. Promotion im Bereich der
Tauchmedizin. Von 2008–2012 wurde er als Einsatzarzt in einem luftbeweglichen Arzttrupp
der Division Spezielle Operationen (DSO) eingesetzt. Im Anschluss durchlief er weitere kli-
nische Weiterbildungsabschnitte in der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin sowie
seit 2013 der Abteilung für Orthopädie und Unfallchirurgie des Bundeswehrkrankenhauses
Westerstede.
Dr. Neitzel verfügt über die Zusatzbezeichnung Notfallmedizin und langjährige aktive
Erfahrung im Rettungsdienst. Er durchlief zahlreiche nationale und internationale Ausbildun-
gen in Traumaversorgung, taktischer Verwundetenversorgung, Höhenmedizin, Tauchmedi-
zin und Klimazonenausbildungen in Wüste, Arktis und Tropen. Er ist seit vielen Jahren in der
Aus- und Weiterbildung von Rettungsfachpersonal und Notärzten tätig und vermittelt Kennt-
XXVI Autorenverzeichnis

nisse in der taktischen Verwundetenversorgung innerhalb der Bundeswehr. Dr. Neitzel war
bis 2012 verantwortlich für die taucherärztliche Betreuung der Spezialkräfte des Heeres. Er ist
Schießlehrer der Bundeswehr und Waffensachverständiger. Er sammelte Erfahrungen in meh-
reren Auslandseinsätzen der Bundeswehr als Notarzt und Leitender Sanitätsoffizier, unter
anderem in Afghanistan.

Colonel Dr. Ishay Ostfeld


Colonel Dr. Ishay Ostfeld ist Facharzt für Herz- und Thoraxchirurgie und öffentlichen Ge-
sundheitsdienst und dient im Sanitätsdienst der israelischen Streitkräfte. Dr. Ostfeld ver-
öffentlicht Artikel und hält Vorlesungen vor allem im Bereich Herzchirurgie, Trauma und
Militärmedizin. Er verfügt über langjährige Erfahrungen mit der Diagnostik, Behandlung
und Prävention von hitzebedingten Erkrankungen.

Oberstabsveterinär Dr. med. vet. Katja Riedel


Oberstabsveterinär Dr. med. vet. Katja Riedel, MSc Small Animal Science und Fachtierärztin
für Zahnheilkunde der Kleintiere, ist Dezernentin für Diensthundewesen in der Abteilung III
Veterinärwesen der Überwachungsstelle für öffentlich-rechtliche Aufgaben des Sanitäts-
dienstes der Bundeswehr West. Von 2007–2010 war sie Leiterin der Inneren Medizin und
Ambulanz der Diensthundeklinik der Schule für Diensthundewesen der Bundeswehr. Aus-
landseinsätze als Leitender Veterinär und Leiter des Veterinärmedizinischen Einsatzlabors in
Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Afghanistan und Mali.

Oberfeldarzt Dr. med. Gerhard Röper


Oberfeldarzt Dr. med. Gerhard Röper war von 2000–2004 an verschiedenen Standorten als
Truppenarzt tätig. Von 2004–2007 wirkte er als zweiter Fliegerarzt beim mTrspHubschrRgt 25
in Laupheim (CH-53/Bo105) und war dann von 2007–2010 zum Leiter des Sanitätszentrums
KSK in Calw bestellt. Seit 2011 ist er hauptamtlicher Fliegerarzt des HSG 64 in Laupheim
(CH53/EC645T2). Er nahm an multinationalen Übungen als realversorgender Rettungsme-
diziner im luftgebundenen Verwundetentransport teil und sammelte Auslandserfahrung als
Flieger- und Kommandoarzt bei Einsätzen in Termez, in Afrika, auf dem Balkan und in Af-
ghanistan. Er leitet die einsatzvorbereitende Ausbildung für CH53 AirMedEvac Personal und
war als Medical Director (MD) im taktischen Verwundetentransport sowie als Aeromedical
Evacuation Coordination Officer (AECO) eingesetzt.

Oberfeldarzt Joachim Sahm


Oberfeldarzt Joachim Sahm ist Assistenzarzt in der Abteilung für Allgemein-, Visceral- und
Thoraxchirurgie des Bundeswehrzentralkrankenhauses Koblenz. Nach der ersten klinischen
Verwendung war er als Lehrstabsoffizier San am Ausbildungszentrum Spezielle Operationen
in Pfullendorf eingesetzt. Erfahrungen in Auslandseinsätzen sammelte er in Bosnien-Herze-
gowina und in Afghanistan.

Stabsfeldwebel Silvio Schöndube


Stabsfeldwebel Silvio Schöndube ist seit 2001 bei der Bundeswehr als Combat First Responder
Charlie (CFR C) eingesetzt und hat die Prüfung zum Rettungsassistenten bestanden. Ferner
hat er die Ausbildungen zum Combat Medic (2006), Special Operation Independent Duty
Corpsman (18D, 2007) und Flight Medic (2009) der US Streitkräfte erfolgreich abgeschlossen.
Durch die Teilnahme an zahlreichen Fort- und Weiterbildungen sowie Übungen, im In- und
Ausland, konnte er seine Fähigkeiten in der präklinischen Traumaversorgung konsequent
XXVII
Autorenverzeichnis

erweitern. In seiner langjährigen Tätigkeit als Verantwortlicher CFR C seiner Einheit (Master-
Medic) hat er an mehreren Auslandeinsätzen teilgenommen und war dabei mehrfach als
Medic über unterschiedlich lange Zeiträume eigenständig für die notfallmedizinische Versor-
gung von Verwundeten verantwortlich

Major-Arzt Dr. Thomas Schuck


Major-Arzt Dr. Thomas Schuck ist seit 2008 beim österreichischen Jagdkommando als
Brigadearzt tätig. Auslandserfahrungen konnte er 2008 und 2009 im Tschad im Rahmen von
EUFOR Tchad/RCA sammeln.

Oberfeldarzt Jens Schwietring


Oberfeldarzt Jens Schwietring ist seit 2006 als Facharzt für Anästhesiologie, Intensivmedizin,
Notfallmedizin und Palliativmedizin im Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz tätig. In
dieser Zeit absolvierte er fünf Auslandseinsätze ISAF in verschiedensten Funktionen, u. a. als
Facharzt im taktischen Lufttransport, sowie einen Einsatz in KFOR. Am Standort Koblenz ist
er neben den Tätigkeiten als Klinikarzt im Rahmen der Realversorgung im Schwerpunkt als
Leitender RTH Arzt des Christoph 23 rettungsmedizinisch verantwortlich. Ebenfalls erfolgt
eine regelmäßige Beteiligung an der Durchführung des strategischen Verwundetentransport.
Ausbildung und Vortragsaktivitäten aus dem Bereich der Notfallmedizin sind weitere Schwer-
punkte. Gemeinsame Einsätze und Fortbildungen mit dem SEK Koblenz bieten die Gelegen-
heit zum Erfahrungsaustausch in der Taktischen Medizin

M. Sc. Patrick Siegert


Patrick Siegert ist seit über 10 Jahren Inhaber und Geschäftsführer der »Security & Rescue
Guard – SRG«, einem Sicherheitsunternehmen mit den Schwerpunkten Personenschutz und
notfallmedizinische Versorgung. Er studierte Sicherheitsmanagement und verfasste seine Se-
minararbeit im Kontaktstudium zum Sicherheitsfachwirt (FH) über die Relevanz der qualifi-
zierten notfallmedizinischen Versorgung im Personenschutz. Im anschließenden Studium
zum Master of Science (Security and Safety Management)  (MSc) schrieb er seine Master
Thesis über Notfallmedizin bei deutschen Spezialeinsatzkommandos der Bundespolizei und
der Länderpolizeien. Er ist Rettungsassistent, Organisatorischer Leiter, Einsatzleiter Rettungs-
dienst, Einsatzleiter Wasserrettungsdienst, Tactical Medic (International School of Tactical
Medicine) und Ausbilder für Taktische Medizin für die Firma »Tactical Medicine Training«.

Oberstabsarzt Dr. med. Fabian Spies


Dr. med. Fabian Spies ist Weiterbildungsassistent der Abt. X (Anästhesiologie und Intensiv-
medizin) des Bundeswehrkrankenhauses Ulm. Er weist eine zweijährige Verwendung als
Einsatzarzt in der DSO auf. Er besitzt die Zusatzbezeichnung Notfallmedizin, die Qualifika-
tion Taucherarzt und wird als Instruktor für verschiedene zertifizierte Kurssysteme, die sich
mit der prä- und innerklinischen Versorgung von Traumata und internistischen/neurologi-
schen Krankheitsbilder befassen, eingesetzt.

Oberstabsarzt Dr. med. Dirk Steinritz


Oberstabsarzt Dr. med. Dirk Steinritz ist am Institut für Pharmakologie und Toxikologie der
Bundeswehr tätig. Nach Eintritt in die Bundeswehr 1998 studierte er Medizin in Köln. Er
leitete die Sanitätsstaffel des Fliegerhorstes Erding (01/2007–12/2007) und war in der medizi-
nischen Grundversorgung der Bundeswehr tätig (01/2009–12/2009). Seit 08/2010 leitet er die
Teileinheit Toxikologische Epidemiologie, Risikoanalyse und Begutachtung. Als Experte für
XXVIII Autorenverzeichnis

den medizinischen C-Schutz ist er Truppführer der Task Force medizinischer C-Schutz der
Bundeswehr.

Oberfeldarzt Dr. med. Jan Ulrich Stier


Oberfeldarzt Dr. med. Jan Ulrich Stier studierte nach aktiver Dienstzeit als Fallschirmjäger
(Ausbildung zum Reserveoffizier der Infanterie) Medizin und wurde 2003 in den Sanitäts-
dienst übernommen. Das Spektrum seiner Verwendungen umfasst zusätzlich zur klinischen
Patientenversorgung die Tätigkeit als Truppen- und Fliegerarzt in verschiedenen Verbänden
unterschiedlicher Waffensysteme (Jet, Transport- und Kampfhubschrauber). Außerdem war
er in der Weiterentwicklung der präklinischen taktischen und notfallmedizinischen Ausbil-
dung an der Sanitätsakademie der Bundeswehr tätig. In diversen Auslandseinsätzen (Afgha-
nistan, Kosovo und Afrika) fungierte er als Fliegerarzt bzw. Medical Director sowie als Kom-
paniechef mobiler Sanitätseinheiten in Afghanistan. Neben der Anästhesie besitzt er die Fach-
arztqualifikation für Allgemeinmedizin und ist Instructor für ATLS und PHTLS. Seit 2013 ist
er Leiter des Sanitätszentrums Schönewalde (Flugplatz Holzdorf).

Johannes Stocker
Johannes Stocker hat ein Studium zum Sozialbetriebswirt absolviert und ist Leiter des Ret-
tungsdienstes und stv. Geschäftsführer beim DRK-Kreisverband Rems-Murr in Waiblingen.
Er ist seit 1981 hauptberuflich beim DRK tätig und konnte in dieser Zeit Erfahrungen im
bodengebundenen Rettungsdienst sowie in der Luftrettung sammeln. Er ist freier Dozent in
der Erwachsenenbildung und wirkt an der Erstellung und Durchführung von verschiedenen
Lehrgangs- und Ausbildungskonzepten für Einsatz- und Führungskräfte mit. Er ist für Behör-
den und Organisationen als Fachberater tätig. Nach dem Amoklauf von Winnenden im Jahr
2009 erarbeitete er zusammen mit der Polizei verschiedene Konzepte für Rettungsdienst und
Polizei zur Bewältigung von so genannten »Sonderlagen«.

Oberfeldarzt Dr. med. Markus Tannheimer


OFA d.R. Dr. med. Markus Tannheimer war als SaZ 23 Oberarzt im BwKrHs Ulm und jedes
Jahr als Chirurg bei ISAF eingesetzt. Er ist Heeresbergführer und etablierte den Lehrgang
»Höhenmedizin für Sanitätspersonal« fachlich. Neben zahlreichen internationalen Veröffent-
lichungen auf höhenmedizinischem Gebiet hat er vielfach Preise für seine wissenschaftliche
Arbeit erhalten. Er hat an vielen Expeditionen teilgenommen und dabei mehrere erfolgreiche
Erstbesteigungen durchgeführt, darunter das 6304 m hohe und klettertechnisch anspruchs-
volle Shimshal Whitehorn im Norden Pakistans. Seit seinem Ausscheiden aus der Bundeswehr
ist er Leitender Oberarzt der Visceralchirurgie Klink Blaubeuren und hält Vorlesungen an der
Universität Ulm im Wahlfach Expeditionsmedizin.

Oberstarzt Priv.-Doz. Dr. med. Horst Thiermann


Oberstarzt Priv. Doz. Dr. med. Horst Thiermann ist Leiter des Institutes für Pharmakologie
und Toxikologie der Bundeswehr. Drei Jahre seiner Facharztausbildung zum Pharmakologen
und Toxikologen absolvierte er in dem Walther-Straub-Institut für Pharmakologie und Toxi-
kologie der Ludwig Maximilians Universität München und zwei Jahre seiner Facharztausbil-
dung zum Klinischen Pharmakologen verbrachte er bei MDS-Pharma Services in Höhenkir-
chen Siegertsbrunn.
XXIX
Autorenverzeichnis

Oberstleutnant d. R. Dr. rer. biol. hum. Dipl.-Psych. Jörn Ungerer


Regierungsdirektor Jörn Ungerer ist Leiter des Psychologischen Dienstes der Bundeswehr
Calw. Er war von 2010–2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für Psychiatrie und
Psychotraumatologie (Psychotraumazentrum) am Bundeswehrkrankenhaus Berlin. Er ist aus-
gebildeter Truppenpsychologe der Bundeswehr und Notfallpsychologe des Berufsverbandes
Deutscher Psychologen (BDP). Von 2004–2010 war Truppenpsychologe des Kommando Spe-
zialkräfte (KSK) und begleitete in dieser Zeit auch mehrfach Auslandseinsätze des Verbandes.

Oberfeldarzt Dr. med. Uwe Unkelbach


Dr. med. Uwe Unkelbach, Chirurg, Facharztausbildung in Bad Zwischenahn, Koblenz und
Berlin. Verschiedene Verwendungen im Bereich der DSO mit Einsatzerfahrung in Afghanistan.
Derzeit Verwendung als Facharzt für Chirurgie in der Weiterbildung zum Facharzt für Gefäß-
chirurgie am Bundeswehrkrankenhaus Hamburg.

Hauptfeldwebel Jörg Vogt


Jörg Vogt ist Berufssoldat und Ausbildungsfeldwebel am Ausbildungszentrum Steilfeuer/STF
der Bundeswehr. Er ist ausgebildeter Gebirgsjäger und war dort in den Spezialbereichen Auf-
klärung und Beobachter für luft- und bodenbasierte Feuerunterstützung tätig. In dieser Ver-
wendung nahm er 2010 als Teil der QRF am Einsatz in Afghanistan teil. Er wurde 2005 am
AusbZSpezlOp zum CFR ausgebildet. Seit 2010 engagiert er sich im Rahmen der TREMA e.V.
für die taktische Verwundetenversorgung und unterstützt im Rahmen der Ausbildung ande-
rer Behörden und im Bereich der Weiterentwicklung/Rüstung. Zudem war er langjährig im
Technischen Hilfswerk tätig.

Oberstabsarzt Neele Vortkamp


Oberstabsarzt Neele Vortkamp ist Assistenzärztin am Bundeswehrkrankenhaus Hamburg
und in der Weiterbildung zum Facharzt für Chirurgie. Von 2008–2010 war sie als Taucherärz-
tin im Verband der Spezialisierten Einsatzkräfte Marine in Eckernförde tätig. 2009 konnte sie
als Staff Medical Officer sowie als Geschwaderarzt der Maritime Task Group im Rahmen des
UNIFIL-Einsatzes weitere Erfahrungen sammeln.

Oberstarzt Dr. med. Peter Zimmermann


Oberstarzt Dr. med. Peter Zimmermann ist Leiter des Zentrums für Psychiatrie und Psycho-
traumatologie (Psychotraumazentrum) am Bundeswehrkrankenhaus Berlin. 2007 hat er die
Anerkennung »Spezielle Psychotraumatologie« der Deutschen Gesellschaft für Psychotrau-
matologie erhalten. Erfahrung in Auslandseinsätzen sammelte er in Bosnien-Herzegowina,
im Kosovo und in Afghanistan.
Abkürzungsverzeichnis
a Jahr AO »Area of Operations«
A. Arteria ARDS »Acute Respiratory Distress
AAO Polizei: Allgemeine Aufbauorga- Syndrome« (Schocklunge)
nisation; Feuerwehr & Rettungs- ASB Assistierte Spontanatmung,
dienst: Alarm- und Ausrücke- »Assisted Spontaneous
ordnung Breathing«
ABC atomar, biologisch, chemisch ACS »Asherman Chest Seal«
ABCDE »Airway Breathing Circulation ATF Allschutz-Transport-Fahrzeug
Disability Exposure/Environmen- ATLS »Advanced Trauma Life Support«
tal control« AVPU »Alert« (wach), »verbal« (antwor-
ABC-Gefahren Atomare, biologische und tet), »pain« (Schmerzreaktion)
chemische Gefahren und »unresponsive« (keine
A-Bedrohung Atomare Bedrohung Reaktion)
ABR Akute Belastungsreaktion
AC Wechselstrom B.I.G. »Bone Injection Gun«
AChE Acetylcholinesterase BAO Besondere Aufbauorganisation
ACLS »Advanced Cardiac Life Support« BAT Beweglicher Arzttrupp
ACM »Additional Crew Member«, BBG Bundesbeamtengesetz
medizinisches Besatzungs- BBK Bundesamt für Bevölkerungs-
mitglied von militärischen Luft- schutz und Katastrophenhilfe
fahrzeugen BCS »Bolin Chest Seal«
ACRM »Aeromedical Crew Ressource BFE Beweissicherungs- und
Management«, 7 CRM Schulung Festnahmeeinheiten
zur Reduzierung menschlichen BfR Bundesinstitut für Risiko-
Versagens bei Luftfahrzeug- bewertung
besatzungen, insbesondere BfS Bundesamt für Strahlenschutz
durch Verbesserung der BGS Bundesgrenzschutz
Kommunikation BHP Behandlungsplatz
ADMA Asymmetrisches Dimethylarginin BHS Belastungsinduzierter Hitzschlag
AE »Aeromedical Evacuation«, BIPAP »Biphasic Positive Airway
luftgebundene Evakuierung Pressure«
Verwundeter BiV Bildverstärker
AED Automatischer externer BKA Bundeskriminalamt
Defibrillator BKZ Bodenkontaktzeit
AGE Arterielle Gasembolie B-Kampfstoff Biologischer Kampfstoff
AIS »Abbreviated Injury Scale« BOS Behörden und Organisationen
AJP »Allied Joint Publication« mit Sicherheitsaufgaben
AJP-4.10(A) »Allied Jt Med Support Doctrine« BPOL Bundespolizei
ALARA »As low as reasonable achievable« BPolG Bundespolizeigesetz
ALI »Acute Lung Injury« Bq Bequerel
ALP/AXP »Ambulance Loading/Exchange BR Belastungsbedingte Rhabdo-
Point« myolyse
AMedP »Allied Medical Publication« BR Bereitstellungsraum
AMEDP-13(B) »NATO Glossary of Medical Terms Bw Bundeswehr
and Definitions« BwZK Bundeswehrzentralkrankenhaus
AMLS »Advanced Medical Life Support«
AMS »Acute Mountain Sickness« °C Grad Celsius
(akute Bergkrankheit) <C>ABCDE »Critical Bleeding, Airway,
AMV Atemminutenvolumen Breathing, Circulation, Disability,
ANUG Akute nekrotisierende ulzeröse Exposure/Environmental Control«
Gingivitis CAM »Chemical Agent Monitor«
ANUP Akute nekrotisierende ulzeröse CAS »Close Air Support«
Parodontitis CASEVAC »Casualty Evacuation«
XXXI
Abkürzungsverzeichnis

CAT »Combat Application DDR Deutsche Demokratische


Tourniquet« Republik
CBRN »Chemical, biological and DIC Disseminierte intravasale
radio-nuclear« (chemisch, Gerinnung
biologisch, radiologisch, DLE »Duration of Limited Exposure«
nuklear) 4-DMAP 4-Dimethylaminophenol
CBRN(E) Chemisch, biologisch, radio- DMPS Dimercaptopropansulfonat
logisch, nuklear und explosive DOW »Died of wounds«
(Gefährdung) DU-Geschosse »Depleted uranium«
CCATT »Critical Care Air Transport Team« (abgereichertes Uran)
CCP »Casualty Collection Points«
CCS »Casualty Clearing Station« EA Einsatzabschnitte
CDC »Center for Disease Control and EBW »Enhanced-Blast-Weapons«
Prevention« (explosionsverstärkende
CFR »Combat First Responder« Waffen)
(Ausbildungsstufen A, B oder C) ECMO Extrakorporale Membranoxy-
CHX Chlorhexidindigluconat genierung
CK Kreatinkinase ED Effektive Dosis
C-Kampfstoff Chemischer Kampfstoff EDV Elektronische Datenverarbeitung
CO Kohlenmonoxid EEH Einsatz-Ersthelfer
CO2 Kohlendioxid EFP »Explosively Formed Penetrator«
COA »Courses of Action« EGV Einsatzgruppenversorger
COHb Mit Kohlenmonoxid besetztes EHA Einsatzersthelfer A
Hämoglobin EHB Einsatzersthelfer B
CONTOMS »Counter Narcotics Tactical EHEC Enterohämorrhagische
Operations Medical Support Escherichia coli
Course« EHS »Exertional Heatstroke«
COPD »Chronic Obstructive Pulmonary EKG Elektrokardiogramm
Disease« (chronisch-obstruktive EL Einsatzleiter
Lungenerkrankung) ELISA »Enzyme Linked Immunosorbent
CoTCCC »Committee on Tactical Combat Assay«
Casualty Care« ELW Einsatzleitwagen
COX Cyclooxygenase: Enzym, das EMDR »Eye Movement Desensitization
Schmerzbotenstoffe bildet and Reprocessing«
CPP »Cerebral Perfusion Pressure« EMT »Emergency & Military
(zerebraler Perfusionsdruck) Tourniquet«
CPR »Cardio Pulmonary Resuscitation« EMT-I »Emergency Medical Technician
(Herz-Lungen-Wiederbelebung) intermediate« (entspricht
Cps »Counts Per Second« Rettungssanitäter)
CQB »Close Quarter Battle« EOD »Explosive Ordnance Disposal«
CRE »Casualty Rate Estimates« (Kampfmittelbeseitigung)
CRI »Continuous Rate of Infusion« EPD Elektronisches Personen-
CRM »Crew Ressource Management«, dosimeter
Schulung zur Reduzierung ESBL »Extended-Spectrum
menschlichen Versagens bei Beta-Laktamase«
Luftfahrzeugbesatzungen, insbe- ESG Einscheibensicherheitsglas
sondere durch Verbesserung der ETC »European Trauma Course«
Kommunikation EU Europäische Union
CSA Chemikalienschutzanzug
CT Computertomographie °F Grad Fahrenheit
CuF »Care under Fire« FAME »Forward AirMedEvac«,
CWVP »Chest Wall Velocity Predictor« Lufttransport des Verwundeten
vom Ort der Verwundung
DC Gleichstrom oder Erstversorgung zur ersten
DCS »Damage Control Surgery« medizinischen Behandlungs-
DCS »Decompression Sickness« einrichtung (zivil: Primärtrans-
(Dekompressionskrankheit) port)
XXXII Abkürzungsverzeichnis

FAST »First Access for Shock and HWS Halswirbelsäule


Trauma« HWZ Halbwertszeit
FCI »Freezing Cold Injuries« Hz Hertz
(erfrierungsbedingte Kälte-
verletzungen i.m. Intramuskulär
FFP »Fresh Frozen Plasma« i.o. Intraossär
FFP Partikelfiltrierende Halbmaske i.v. intravenös
(»filtering face piece«) ICAO »International Civil Aviation
FiO2 Fraktion (Anteil) des reinen Organization« (ICAO) (Internatio-
Sauerstoffes bei der Beatmung nale Zivilluftfahrt-Organisation
(z. B. FiO2 0,4 entsprechen ICAR MedCom »International Commission for
40% O2) Alpine Rescue« – Subkommission
FOB »Forward Operating Base« für Alpine Notfallmedizin (Moun-
FST »Forward Surgical Team« tain Emergency Medicine)
ft »Feet« (= 30,48 cm) ICD-10 »International Statistical Classi-
FTS »Field Triage Score« fication of Diseases and Related
FW »Fixed wing« (Starrflügler, Health Problems«
Flächenflugzeug) ICP »Intracranial Pressure« (intra-
Fw Feuerwehr kranieller Druck)
FwDV Feuerwehrdienstvorschrift ICR Intercostalraum
ICRP Internationale Strahlenschutz-
G Gauge kommission
GCS Glasgow-Coma-Scale IDF »Israeli Defence Forces«
GE Gifteffekt IDKO Identifizierungskommission
GEL Gesamteinsatzleiter IED »Improvised Explosive Device«
Ground MedEvac Bodengebundener IFAK »Individual First-Aid Kit«
Verwundetentransport IfSG Infektionsschutzgesetz
GSG 9 Grenzschutzgruppe 9 IHE Intermittierende Hypoxie
IHT Inhalationstrauma
h Stunde I-KTW Infektionskrankentransport-
HACE »High Altitude Cerebral Edema« wagen
(Höhenhirnödem) ILCOR »International Liaison Committee
HAPE »High Altitude Pulmonary on Resuscitation«
Edema« (Höhenlungenödem) IND »Improvised Nuclear Device«
HCM »Helicopter Crew Member«, INF Intranasales Fentanyl
medizinisches Besatzungsmitglied INR »International Normalized Ratio«
von zivilen Luftrettungsfahrzeugen IPM Internationale Polizeimissionen
HCV Hepatitis-C-Virus IR Infrarot
HDI »Heat Discomfort Index« ISS »Injury Severity Score«
HE »High Order Explosives« ITH Intensivtransporthubschrauber
HeilprG Heilpraktikergesetz ITLS »International Trauma Life
HEMS »Helicopter Emergency Medical Support«
Service«
HES Hydroxyethylstärke JAR-OPS 3 Betriebsvorschriften für den
HF Herzfrequenz gewerblichen Verkehr mit Heli-
HIV »Human Immunodeficiency koptern
Virus«(Humanes Immundefi- JOA »Joint Operations Area«
zienz-Virus)
HLS »Helicopter Landing Site« Kap. Kapitel
HLZ Hubschrauberlandezone KB Keine Beschränkung
HME »Homemade Explosives« KED Kendrick-Extrication-Device
HMV Herzminutenvolumen KEV Kontrolliertes einzeitiges Ver-
HMW »High molecular weight« fahren
HNS »Host Nation Support« KFS Kooperatives Führungssystem
HRST Herz-Rhythmus-Störungen KFZ Kapilläre Wiederauffüllungszeit
HT Hypothermie Kfz Kraftfahrzeug
HTT Hitzetoleranztest kg Kilogramm
XXXIII
Abkürzungsverzeichnis

KG Körpergewicht ml Milliliter
kg KG Kilogramm Körpergewicht mmHg Millimeter Quecksilbersäule, Torr
KHG Kerntechnische Hilfsdienst MMS »Medical Mission Statement«
GmbH MMW »Medium Molecular Weight«
KIA »Killed in action« MOI »Kinematics/Mechanism of In-
KKT Körperkerntemperatur jury«
KKW Kernkraftwerk MOUT »Military Operations in Urban
kN Kilonewton Terrain«
KOF Körperoberfläche MPG Medizinproduktegesetz
KPB Kreispolizeibehörden MRSA Methicilin-resistenter Staphylo-
KRI-Bw Kölner Risikoindex-Bundeswehr coccus aureus
KSK Kommando Spezialkräfte MRT Magnetresonanztomographie
kt/kn Knoten/knots (1,852 km/h) MSE Modulare Sanitätseinrichtung
KTW Krankentransportwagen mSv Millisievert
KZV Kontrolliertes zweizeitiges mTBI »Mild Traumatic Brain Injury«
Verfahren MTF »Medical Treatment Facility«
(medizinische Behandlungs-
l Liter einrichtung, z. B. Feldlazarett,
LBAT Luftbeweglicher Arzttrupp Rettungszentrum)
LE »Low order explosives«
LfU Landesamt für Umwelt N. Nervus
LFZ Luftfahrzeug NaCl Natriumchlorid
LKW Lastkraftwagen NATO-SOP »North Atlantic Treaty Organi-
LLRS SpezEins Luftlanderettungsstation zation – Standard Operating
Spezialeinsatz Procedure«
LLRS Luftlanderettungsstation NAW Notarztwagen
LLRZ Luftlanderettungszentrum NBR »Natural Background Rejection«
LMW »Low molecular weight« NEF Notarzteinsatzfahrzeug
LNA Leitender Notarzt NFCI »Non-Freezing Cold Injuries«
LOC »Level of Consciousness« (nichterfrierungsbedingte Kälte-
LSE Luftbewegliche Sanitätseinrich- verletzungen)
tung NFS Notfallstation
LSS »Life Span Study« NGA Nukleare Gefahrenabwehrkräfte
LVE Lagevortrag zur Entscheidung NGO »Non-Government Organisations«
LZ Landezone N-Lost Stickstofflost
NMDA N-Methyl-D-Aspartat
MACE »Military Acute Concussion NPA Nasopharyngealtubus
Evaluation« NRW Nordrhein-Westfalen
MAD »Mucosal Atomization Device« NSAR Nichtsteroidale Antirheumatika
(Medikamentenvernebler zur NTOA »National Tactical Officers Asso-
intranasalen Applikation) ciation«
MANV Massenanfall von Verwundeten/ NVA Nationale Volksarmee
Verletzten NVD »Night Vision Device«, Nacht-
MAP »Mean Arterial Pressure« sichtgerät
(mittlerer arterieller Druck) NVG »Night Vision Goggles«, Nacht-
MASCAL »Mass Casualty« (MANV) sichtbrille
MCL Medioklavikularlinie
MEDEVAC »Medical Evacuation« O2 Sauerstoff
MEK Mobiles Einsatzkommando OAE Otoakustische Emission
MERZ Marineeinsatzrettungszentrum ODL-Messgerät Ortsdosisleistungsmessgerät
MfS Ministerium für Staatssicherheit OEF »Operation Enduring Freedom«
mg Milligramm OIF »Operation Iraqi Freedom«
MIK NRW Landesministerium für Inneres OP Operation, auch Operationssaal
und Kommunales NRW OPA Oropharyngealtubus
MilFhr Militärischer Führer ORGL Organisatorischer Leiter
min Minute ORS »Oral Rehydration Solution« oder
MIO »Medical Incident Officer« »Oral Rehydration Salts«
XXXIV Abkürzungsverzeichnis

OSZE Organisation für Sicherheit und ROLE NATO-Terminologie für medizini-


Zusammenarbeit in Europa sche Behandlungsebenen.
OTFC Orales transmukosales Fentanyl- 1 = ATLS-Standard, 2 = notfall-
citrat chirurgische Versorgung,
3 = definitive chirurgische Ver-
p.o. per os sorgung, 4 = Maximalversorgung
PA Patientenablage und Rehabilitation
PAR »Population at risk« ROSC »Return of Spontaneous
PCK »Portex Cricothyroidotomy Kit« Circulation«
PDV Polizeidienstvorschrift RR Riva-Rocci (Blutdruck)
PECC »Patient Evacuation Coordination RRsys Systolischer Blutdruck (Riva-Rocci)
Center« (Rettungsleitstelle) RSDL »Reactive Skin Decontaminant
PEEP »Positive Endexspiratory Lotion«
Pressure« RSZ Regionales Strahlenschutz-
PEH Psychologische Erste Hilfe zentrum
PEP Postexpositionsprophylaxe RTH Rettungstransporthubschrauber
PERRLA Pupillenbefund (Dokumenta- RTW Rettungstransportwagen, kurz
tionsmöglichkeit): »Pupils Equal, Rettungswagen
Round, React to Light, Accom- RVP »Rendezvous point«
modate« (= Pupillen gleich, RW »Rotary wing« (Drehflügler,
rund, lichtreagibel, akkommo- Hubschrauber)
dierend) RZ le Rettungszentrum leicht
PF Polizeiführer RZ Rettungszentrum
PFO Persistierendes Foramen ovale
PHTLS »Prehospital Trauma Life s Sekunde
Support« s.c. Subkutan
PKW Personenkraftwagen SAEMT »Special Agent Emergency
PMR »Patient Movement Request« Medical Technician«
POI »Point of Injury« SanEL Sanitätseinsatzleitung
POW »Prisoners of War« SanKr Sanitätsdienstliche Kräfte
PPE »Personal Protective Equipment« SARS Schweres Akutes Respiratori-
PR »Personal Recovery«, Verfahren sches Syndrom
zur Rückführung von Personal Sdt Soldatinnen und Soldaten
aus dem Gebiet hinter der feind- SEG Schnelleinsatzgruppen
lichen Linie SEK Spezialeinsatzkommando
PRT »Provincial Reconstruction SHT Schädel-Hirn-Trauma
Team« SK Sichtungskategorie
PSA Persönliche Schutzausstattung SK1 Sichtungskategorie 1 (T 1 oder
PSNV Psychosoziale Notfallversorgung »immediate«)
PTBS Posttraumatische Belastungs- S-Lost Schwefellost
störung SOFTT »Special Operations Forces
PTE Patiententransporteinheit Tactical Tourniquet«
SOMA »Special Operations Medical
QRF »Quick-Reaction-Force« Association«
SOP »Standard Operating Procedere«
RAF Rote Armee Fraktion SpO2 Periphere Sauerstoffsättigung
RCC »Rescue Coordination Center« SSK Strahlenschutzkommission
RDD »Radioactive Dispersion STANAG »Standardization Agreement«
Devices« StGB Strafgesetzbuch
RettAPO Ausbildungs- und Prüfungsver- Sv Sievert
ordnung für Rettungssanitäter SWAT »Special Weapons and Tactics«
und Rettungshelfer
RettTrp Rettungstrupp Tab. Tabelle
RFI »Request for Information« TACEVAC »Tactical evacuation«, gemein-
RG Rasselgeräusch samer Terminus für CASEVAC und
RKI Robert Koch-Institut MEDEVAC
ROE »Rules of Engagement« TBI »Traumatic Brain Injury«
XXXV
Abkürzungsverzeichnis

TBq Terabequerel
TCCC »Tactical Combat Casualty Care«
TEC »Tactical Evacuation Care«
TEL Technischer Einsatzleiter
TEMS »Tactical Emergency Medical Support«
TFC »Tactical Field Care«
TL Technische Lieferbedingung
TNT Trinitrotoluol
TOC »Tactical Operation Centre« oder
»Tactical Operations Command”
TREMA Tactical Rescue & Emergency Medicine
Association e. V.
TrspOrg Transportorganisation
TTP »Tactics, Techniques and Procedures«
TTS Transdermales therapeutisches System

UA Unterabschnitt
UN »United Nations«
USBV Unkonventionelle Spreng- und Brand-
vorrichtung
USBV-A Unkonventionelle Spreng- und Brand-
vorrichtung mit radioaktiver Beiladung
USSOCOM »US Special Operations Command«
UUA Unter-Unterabschnitte
UV Unkontrolliertes Verfahren
UZwG Gesetz über den unmittelbaren Zwang
bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch
Vollzugsbeamte des Bundes

V Veterinärspezifisches Medikament
V. Vena
V.a. Verdacht auf
VN Vereinte Nationen
VSG Verbundsicherheitsglas
VwuSP Verwundetensammelpunkt

W Watt
WALK »Warrior Aid & Litter Kit«
WBGT »Wet Bulb Globe Temperature«
WFV Wehrfliegerverwendungsfähigkeit
WHO »World Health Organization«

ZUB Zentrale Unterstützungsgruppe des


Bundes
ZVD Zentraler Venendruck
ZVK Zentraler Venenkatheter
1 I

Grundlagen
Kapitel 1 Einleitung –3
C. Neitzel

Kapitel 2 Medizinische Einsatzplanung


(»medical planning«) – 11
K. Ladehof, C. Neitzel

Kapitel 3 Spezielle Ausrüstung – 29


S. Schöndube, C. Neitzel, C. Gartmayr, P. Siegert

Kapitel 4 Versorgungsebenen und Evakuierung


von Verwundeten – 53
J. Bickelmayer, S. Hauschild

Kapitel 5 Rettung von Verwundeten – 63


J. Vogt, S. Schöndube, K. Ladehof

Kapitel 6 Technische Rettung und Bergung – 73


S. Börner

Kapitel 7 Ausbildung – 87
K. Ladehof
3 1

Einleitung
C. Neitzel

1.1 Taktische Verwundetenversorgung –4

1.2 Ausbildungsaspekte –6

1.3 Geschichte der taktischen Verwundetenversorgung –7

Literatur –9

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
4 Kapitel 1 · Einleitung

» »Der Soldat soll im Kriege jeden Augenblick zeichnet, in zivilen (also auch polizeilichen)
1 bereit sein, Gesundheit und Leben zum Opfer Lagen als Verletzung. Beide Begriffe werden
zu bringen. Er hat deshalb gerechte Ansprüche im Buch synonym verwendet.
auf schleunige Hilfe, sobald er verwundet
wird.« Aufgrund von Gefechten oder isoliert durchgeführ-
F. von Esmarch ten Operationen kann eine Evakuierung oft erst
nach größeren Verzögerungen erfolgen; auch die
Transportzeiten und -entfernungen sind im Regel-
1.1 Taktische Verwundeten- fall länger und weiter als in Deutschland. Aus diesen
versorgung Gründen kommt der präklinischen Versorgung
eine wesentliche Bedeutung für die Prognose des
Das Gefechtsfeld als »notfallmedizinischer Arbeits- Patienten zu. Gerade bei Aufträgen, die fernab von
platz« ist von einer hohen Bedrohung für Helfer medizinischen Behandlungseinrichtungen durch-
und Patienten sowie Dreck, Chaos und Unüber- geführt werden, sind medizinische »Bagatellproble-
sichtlichkeit gekennzeichnet (. Abb. 1.1). Die ver- me« oftmals von hoher Relevanz. Beispielsweise
fügbaren Ressourcen an Material, Ausrüstung und können akute Zahnschmerzen oder ein erlittenes
Personal sind meist stark begrenzt. Regelmäßig akustisches Trauma die Auftragserfüllung massiv
müssen mehrere Patienten gleichzeitig von wenigen gefährden. Auch Aspekte wie die technische Rettung
Helfern mit dem wenigen Material versorgt werden, aus Fahrzeugen, die Versorgung eines verletzten
das im Rucksack am Mann getragen werden kann. Diensthundes oder die psychische Erste Hilfe bei
Die Verwundungen sind im Vergleich zum üblichen akuten Belastungsreaktionen zeigen das breite und
Spektrum des zivilen Rettungsdienstes häufig anspruchsvolle Spektrum, das in der taktischen
schwer, akut lebensbedrohlich und eher von penet- Medizin beherrscht werden muss.
rierendem Trauma, Explosionsverletzungen und Moderne Konflikte sind durch eine enorme
Verbrennungen geprägt. Bandbreite der Intensität von Gefechtshandlungen
gekennzeichnet, die gleichzeitig und möglicher-
> In der militärischen Terminologie wird eine weise in unmittelbarer Nachbarschaft vorkommen
durch Einwirkungen des Gegners hervor- können. Die »Frontlinie« vergangener Tage, hinter
gerufene Verletzung als Verwundung be- der der Sanitätsdienst Versorgung und Transport

. Abb. 1.1 Die präklinische Versorgung von Verwundeten findet meist im laufenden Gefecht oder unter hoher Bedrohung
durch Spreng- und Brandfallen (»improvised explosive devices«, IED) statt. Dies erfordert grundlegend andere Vorgehens-
weisen als im zivilen Rettungsdienst. (Foto: Bundeswehr)
1.1 · Taktische Verwundetenversorgung
5 1

. Abb. 1.2 Die Selbst- und Kameradenhilfe ist durch strukturierte Vorgehensweise (»Care under Fire«), erweiterte Erste-
Hilfe-Ausbildung und geeignetes Material leistungsfähiger geworden. Ausgewählte Nichtsanitäter mit hochwertiger notfall-
medizinischer Ausbildung (»Tactical Medic«) überbrücken die im Gefecht häufig auftretende Lücke bis zur Übernahme des
Verwundeten durch den Sanitätsdienst auf Basis einer klaren Regelung der ihnen erlaubten Maßnahmen (Regelkompetenz),
im Notfall auch über einen längeren Zeitraum (»prolonged care«). Sanitäter müssen durch eine angemessene taktische
Grundbefähigung in der Lage sein, im Gefecht »weit vorne« zu versorgen. (Mit freundlicher Genehmigung von K. Ladehof )

der Patienten mit einem klar strukturierten »Weg Erster Hilfe hat mit der Einführung der Ausbildun-
des Verwundeten« sichergestellt hat, ist heute selten gen »Combat First Responder (CFR) A/B/C« und
zu finden. Es wurde der Begriff des »three block der »Einsatzersthelfer B« (EEH B) auch in der Bun-
war« geprägt: während in einem Stadtteil normales deswehr eine neue Dimension erreicht. Diese in der
Alltagsleben herrscht, kann die Sicherheitslage in Truppe »Medics« genannten Soldaten können von
einem anderen angespannt sein und parallel dazu moderner Blutstillung über fortgeschrittenes Atem-
können in einem dritten offene Gefechte stattfin- wegsmanagement bis hin zur Analgetikagabe er-
den. Die Bedrohungslage wird dadurch wenig vor- heblich mehr leisten als früher im Rahmen der
hersehbar, es kann jederzeit und überall zu Spreng- Selbst- und Kameradenhilfe üblich war. Sie müssen
stoffanschlägen oder zu intensiven Gefechten kom- in vielen Lagen eigenverantwortlich Schwerver-
men. Im Gegensatz zur klassischen Gliederung sind wundete am Leben erhalten können, deren Versor-
Sanitäter heute in den meisten Fällen in Einheiten gung auch manchen deutschen Notarzt an seine
der Kampftruppen eingebettet und begleiten ihre Grenzen bringen würde. Durch das hohe Ausbil-
Bewegungen außerhalb der Lager. Sie müssen sich dungsniveau dieser Soldaten bildet sich eine breite
damit auch dem Gefecht stellen und nicht nur Ver- Schnittmenge notfallmedizinischer Fähigkeiten
wundete unter gegnerischem Feuer versorgen, son- zwischen Truppe und Sanitätsdienst, die die sanitäts-
dern auch als taktisches Element fungieren können. dienstliche Versorgung sinnvoll ergänzt. »Medics«
Es ist unabdingbar, dass Sanitäter das soldatische stellen außerdem die Erstversorgung sicher, wenn
Grundhandwerk beherrschen (»shoot, move, com- die anwesenden Sanitäter selbst Opfer eines An-
municate«), in Bedrohungslagen richtig reagieren schlags oder Gefechts werden sollten. Sie müssen in
und ihr notfallmedizinisches Vorgehen der Situa- ausreichender Anzahl und Ausbildungshöhe auf
tion anpassen können. allen Ebenen vertreten sein, um zu jedem Zeitpunkt
Weil nicht alle Bewegungen der Truppe bei der in den kritischen ersten Minuten sofort zur Stelle zu
hochmobilen, flexiblen Operationsführung moder- sein. Dies trifft insbesondere auf selbstständig ope-
ner irregulärer Konflikte von Elementen des Sani- rierende Elemente wie Spezialkräfte zu.
tätsdienstes begleitet werden können, war eine Nur so kann vermieden werden, dass sie sich
Professionalisierung der traditionellen »Selbst- und unter Feuer über längere Strecken zum Verwunde-
Kameradenhilfe« sinnvoll und unumgänglich ten bewegen müssen. Die Einsatzerfahrungen aus
(. Abb. 1.2). Die Ausbildung von Nichtsanitätern in Afghanistan zeigen, dass selbst in Fahrzeugkonvois
6 Kapitel 1 · Einleitung

integrierte bewegliche Arzttrupps häufig im laufen- 1.2 Ausbildungsaspekte


1 den Gefecht festliegen und teilweise weit über
30 min benötigen, um nur wenige hundert Meter Die Ausbildung von militärischem und polizei-
entfernte Verwundete zu erreichen. CFR A/B/C und lichem Sanitätspersonal stützt sich naturgemäß auf
EEH B bilden darüber hinaus einen Pool an hoch- die zivile Notfallmedizin ab. Aufgrund der grund-
wertig ausgebildetem und ausgerüstetem Personal, legend anderen Versorgungsabläufe in Friedens-
das bei Massenanfällen von Verwundeten den Sani- situationen und der Individualmedizin mit hohem
tätsdienst unterstützen und eine adäquate Lage- Personalansatz und nahezu unbegrenzten Ressour-
bewältigung überhaupt erst ermöglichen kann. cen vermittelt dies falsche Bilder sowie falsche
Während bei Spezialkräften auch im notfallmedizi- Prioritäten und führt zu einem in Bedrohungslagen
nischen Bereich eine hohe Qualifikation jedes ein- nicht angemessenen taktischen Vorgehen.
zelnen Soldaten üblich ist, wurde in der Bundes- In Friedenssituationen liegt der Schwerpunkt
wehr in jüngster Zeit die Ausbildung in Selbst- und der Notfallmedizin bei der Versorgung internisti-
Kameradenhilfe für nahezu jeden im Ausland scher Patienten. In Deutschland sind nur ca. 2 %
eingesetzten Soldaten mit dem Konzept des Ein- aller Notarzteinsätze durch polytraumatisierte Pati-
satzersthelfers A modernisiert. enten bedingt [5]. Explosionsverletzungen kommen
Im Polizeibereich treten ebenfalls Bedrohungs- fast nie vor, Schuss- und Splitterverletzungen sind
lagen auf, in denen die Versorgung von Patienten extrem selten. Für Einsätze von RTW-Besatzungen
nicht durch den Notarzt erfolgen kann. Für den Ret- dürfte dieser Anteil prozentual noch geringer sein.
tungsdienst gilt grundsätzlich: keine »Versorgung Dies gewährleistet keinen wesentlichen Erfah-
unter Feuer« bei Lagen mit bewaffneten Tätern. Die rungszuwachs und Kompetenzgewinn in der Ver-
Arbeit am Patienten beginnt nach Sicherung und sorgung von Verwundeten. Neben den resultieren-
Freigabe des Einsatzortes durch die Polizei oder der den unzureichenden Ausbildungsbedingungen
Übergabe der Patienten durch die Polizei an den Ret- für militärisches oder polizeiliches Sanitätspersonal
tungsdienst außerhalb des Gefahrenbereiches. in der Versorgung von Verwundeten führt dies auch
Amokläufe wie in Erfurt 2002 haben gezeigt, dass dazu, dass im deutschen Rettungsdienst die Er-
gerade bei großen Objekten wie Schulen die Frei- fahrung und damit die Versorgungsqualität im Um-
gabe eines Bereiches mehrere Stunden dauern kann gang mit penetrierendem Trauma bei der Unter-
und Patienten in dieser Zeit teilweise auf medizini- stützung von taktischen Lagen im Inland bisweilen
sche Versorgung warten mussten. Mangels hoheitli- nicht optimal sein kann.
chen Auftrags und fehlender Fähigkeit zur Selbst- In der zivilen Notfallmedizin ist belegt, dass
verteidigung (Rechtsstatus, taktische Ausbildung, die Versorgung nach definierten Algorithmen die
Schutzausrüstung, Bewaffnung) ist der Rettungs- traumabedingte Sterblichkeit deutlich senken
dienst in diesen Lagen zumeist auch fehl am Platz. kann [7]. Ein standardisiertes Vorgehen schafft
Dies bedingt, dass die initiale Versorgung von Pa- auch im militärischen und polizeilichen Umfeld
tienten im Gefahrenbereich nur durch Polizeibeam- ideale Voraussetzungen, um die Überlebenswahr-
te erfolgen kann. Neben klassischen Einsätzen von scheinlichkeit von Patient und Helfer zu verbessern,
Spezialeinsatzkommandos, können auch im norma- sofern die Algorithmen auf die relevanten Ver-
len Polizeialltag Lageeskalationen (z. B. Schlägerei, letzungen fokussiert sind, die medizinischen Maß-
bewaffneter Täter, häusliche Gewalt) ebenso wie nahmen dem häufig lebensgefährlichen Umfeld
Großveranstaltungen (Ausschreitungen bei Fußball- angepasst sind und in der Wahl der Therapieoptio-
spielen, Demonstrationen etc.) den Einsatz des Ret- nen die häufig eingeschränkten Ressourcen an
tungsdienstes gänzlich verhindern oder erst mit er- Fachpersonal und medizinischem Material be-
heblicher zeitlicher Verzögerung möglich machen. rücksichtigt werden. Dementsprechend muss teils
Da gerade bei starken Blutungen die in den ersten deutlich vom zivilen »Goldstandard« abgewichen
Minuten getroffenen Maßnahmen entscheidend werden, zivile Algorithmen lassen sich nicht ohne
sind, ist eine zielgerichtete Ausbildung der Einsatz- weiteres auf die Versorgung in Bedrohungslagen
kräfte der Polizei von besonderer Wichtigkeit. übertragen.
1.3 · Geschichte der taktischen Verwundetenversorgung
7 1
Medizinisch hochwertig ausgebildetes, aber
zivil geprägtes Personal wird durch entsprechende
Algorithmen darin unterstützt, das diagnostische
und therapeutische Augenmerk auf die wichtigsten
Todesursachen in bewaffneten Konflikten zu legen.
Die hohe medizinische Kompetenz kann so adäquat
und zielgerichtet auf das Erkennen und Behandeln
der relevanten Verletzungsmuster angewandt wer-
den. Dies macht den Kopf frei, um sich im Gefecht
richtig verhalten zu können. Für den niedriger
Qualifizierten (z. B. CFR, EEH) bilden Algorithmen
dagegen die Grundlage, um insbesondere bei kom-
plexen und dramatischen Verwundungsmustern
effektiv und effizient arbeiten zu können. Sie entlas-
ten den Helfer von differenzierten Überlegungen,
da klare Entscheidungsbäume anhand einfach zu
erhebender Befunde und Symptome vorgegeben
sind. Hierdurch lässt sich in kurzer Ausbildungszeit
eine hohe praktische Handlungskompetenz er-
reichen.

1.3 Geschichte der taktischen


Verwundetenversorgung . Abb. 1.3 Johannes Friedrich August von Esmarch (1823–
1908). Generalarzt und beratender Chirurg der preußischen
Armee. Prof. von Esmarch war einer der bedeutendsten
Die zentralen Kriegserfahrungen in der präklini-
Chirurgen der Weltgeschichte und gilt als Vater des Ret-
schen Versorgung, nämlich die vorherrschenden tungsdienstes in Deutschland. (Mit freundlicher Genehmi-
Verwundungsmuster, die taktische Lage und die ein- gung der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek)
geschränkte Verfügbarkeit von Ressourcen, gerieten
nach Ende der Konflikte meist wieder in Verges-
senheit. Schon Friedrich von Esmarch (. Abb. 1.3) Volumenersatz und unzureichende Möglichkeiten
schrieb in seinem Buch »Der erste Verband auf dem in der Beherrschung starker Blutungen [6].
Schlachtfelde« im Jahr 1870: »[…] so würde bald 1996 stellte die Gruppe um Captain Frank Butler
kein Krieger mehr in den Kampf ziehen, ohne den in der Fachzeitschrift »Military Medicine« den Vor-
ersten Verband für seine Wunden bei sich zu tra- schlag für einen Algorithmus für taktische Ver-
gen.« Er unternahm erste Versuche, die Selbst- und wundetenversorgung (»Tactical Combat Casualty
Kameradenhilfe zu etablieren und zu verbessern, Care«, TCCC) vor [3]. Er wurde im Sinne einer
erfand Dreiecktuch und Verbandpäckchen und ent- Konsensus-Konferenz von führenden militärischen
wickelte den Esmarch-Handgriff zum Freimachen und zivilen Ärzten und kriegserfahrenem Sanitäts-
der Atemwege. personal der Spezialkräfte erarbeitet. Die empfohle-
Umfangreiche wissenschaftliche Auseinander- nen medizinischen Maßnahmen orientierten sich
setzungen mit der präklinischen Verwundetenver- dabei an der wissenschaftlichen Studienlage und
sorgung erfolgten im Rahmen des UN-Einsatzes berücksichtigten innovative Lösungsansätze und
UNOSOM II, bei dem die US-Streitkräfte in der taktische Zwänge. Das Konzept etablierte sich
»Schlacht von Mogadishu« 1993 empfindliche Ver- schnell in den amerikanischen Streitkräften und
luste erlitten. Die zivil ausgerichtete Ausbildung in stellte mit der Einführung von Tourniquets und
der Traumaversorgung wurde dabei ebenso bemän- Hämostyptika als festem Bestandteil einen Meilen-
gelt wie die ineffiziente Strategie für intravenösen stein der Militärmedizin dar.
8 Kapitel 1 · Einleitung

. Abb. 1.4 Der Einsatz von Hubschraubern ermöglicht die Evakuierung aus schwierigstem Gelände und den schnellen
Transport in hochqualifizierte chirurgische Behandlungseinrichtungen. Er hat den Verwundetentransport revolutioniert.
(Aus [8])

. Tab. 1.1 Anteil aller Gefallenen bis zum Erreichen der ersten ärztlichen Versorgung an allen Getöteten und Ver-
wundeten, abzüglich der Verwundeten, die innerhalb 72 h ihren Dienst aufnehmen konnten (KIA: »killed in action«).
(Aus [8])

2. Weltkrieg Vietnam Afghanistan Iraka

KIA 20,2 % 20,0 % 18,7 % 13,5 %

a Dieim Vergleich im Irak niedrigere Mortalität ist durch ein besonders enges Netz an chirurgischen Behandlungs-
einrichtungen und Luftrettungsmitteln bedingt.

In Kombination mit modernen chirurgischen Ausbildung von Einheiten wie dem Kommando
Versorgungskonzepten (»damage control surgery«) Spezialkräfte (KSK) und der Fernspähtruppe, deren
und der schnellen Evakuierung Verwundeter Aufgabenspektrum ein besonders hohes Ver-
(. Abb. 1.4) konnte durch das TCCC-Konzept erst- wundungsrisiko und eingeschränkte sanitätsdienst-
mals seit dem Krim-Krieg (1853–1856) der Anteil liche Versorgung mit sich bringt, in den Grund-
der Gefallenen bei Verwundungen deutlich unter sätzen von TCCC. Seit 2006 findet am Ausbildungs-
20 % gesenkt werden (. Tab. 1.1) [1]. Einzelne Ein- zentrum Spezielle Operationen, Pfullendorf, ein
heiten, die alle Angehörigen in den Grundsätzen jährliches TCCC-Symposium statt, das regelmäßig
taktischer Verwundetenversorgung geschult haben, von mehreren hundert Teilnehmern aus Militär,
konnten die Häufigkeit potenziell vermeidbarer Polizei und Rettungsdienst besucht wird.
Todesfälle bei Verwundeten drastisch senken oder Das TCCC-Konzept wurde nicht nur in nahezu
diese sogar ganz verhindern [4, 8]. allen Teilen der US-Streitkräfte eingeführt, sondern
2001 initiierte das US Special Operations Com- auch in die britische, kanadische und israelische
mand (USSOCOM) das Committee on Tactical Armee. Entsprechende zertifizierte Kurse sind dar-
Combat Casualty Care (CoTCCC), das die Leitlini- über hinaus in Deutschland, Australien, Spanien,
en regelmäßig den aktuellen Einsatzerfahrungen Peru und Mexiko veranstaltet worden oder ge-
und dem Stand der Wissenschaft anpassen soll. Im plant [2]. Auch Rettungsdienste erkennen den
gleichen Jahr begann auch in der Bundeswehr die Nutzen von Elementen der TCCC-Ausbildung für
Literatur
9 1
zivile Gefahrenlagen. So führte z. B. der Rettungs- Literatur
dienst der Stadt London nach den Bombenanschlä-
gen von 2005 entsprechende Algorithmen unter 1. Alam HB, Koustova E, Rhee P (2005) Combat Casualty
Care Research: From Bench to the Battlefield.
Berücksichtigung von Tourniquets und Hämostyp- World J Surg 29:7–11
tika ein [2]. 2. Butler FK (2011) CoTCCC Meeting Minutes, November
Im Bereich der Polizei hat sich in den USA in 2010. http://www.health.mil/Libraries/101101_TCCC_
den letzten 50 Jahren ein lokal sehr unterschiedlich Course_Materials/0611_CoTCCC_Meeting_Min-
ausgeprägtes Versorgungskonzept für polizeiliche utes_1011_Final.pdf
3. Butler FK, Hagmann J, Butler EG (1996) Tactical combat
Lagen gebildet (»Tactical Emergency Medical Sup-
casualty care in special operations. Mil Med 161 Suppl:
port«, TEMS). Die Grundsätze der Versorgung sind 3–16
dabei weitgehend deckungsgleich mit denen des 4. Deal VT, McDowell D, Benson P et al. (2010) Tactical
TCCC, lediglich Nomenklatur und Szenarien un- Combat Casualty Care February 2010. Direct from the
terscheiden sich. Daher wird in den USA derzeit Battlefield: TCCC Lessons Learned in Iraq and Afghanis-
tan. J Spec Oper Med 10(3): 77–91
vom CoTCCC in Zusammenarbeit mit zivilen Ex-
5. DGU (2008) Jahresbericht des Traumaregisters der
pertiseträgern an einem an die Erfordernisse von Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie. http://www.
Polizei und Rettungsdienst angepassten landeswei- traumaregister.de/images/stories/downloads/Jahresbe-
ten Standard gearbeitet [2]. richt_2008.pdf
Das zu Beginn von und für Spezialkräfte ent- 6. Holcomb JB (2003) Fluid Resuscitation in Modern Com-
wickelte Versorgungskonzept hat statistisch nach- bat Casualty Care: Lessons Learned from Somalia.
J Trauma 54:546–551
weisbar dazu beigetragen, dass Verwundete in 7. Stahel PF, Heyde CE, Wyrwich W (2005) Aktuelle Konzepte
modernen Konflikten eine erheblich bessere Über- des Polytraumamanagements: Von ATLS zu »Damage
lebenschance haben [6, 10]. Traditionelle Grenzen Control«. Notfall Rettungsmed 8:454–465
in den Maßnahmen von Sanitätspersonal und 8. Wedmore I (2011) Prehospital and Enroute Care. In:
Nichtsanitätspersonal sind dabei überwunden wor- Martin M, Beekley A (Hrsg.) Front Line Surgery. A Practical
Approach. Springer, New York, S 1–16
den und stehen für das übergeordnete Ziel einer
9. Willy C, Voelker HU, Steinmann R (2008) Kriegschirurgi-
optimalen Versorgung zurück. 1898 formulierte der sche Verletzungsmuster. UPDATE 2007. Chirurg 79:66–76
Leitende Chirurg der amerikanischen Nationalgar- 10. Kotwal RS, Montgomery HR, Kotwal BM et al. (2011)
de, Colonel Nicholas Senn: »Das Schicksal des Ver- Eliminating Preventable Death on the Battlefield. Arch
wundeten liegt in den Händen von denen, die den Surg 146(12):1350–8
ersten Verband anlegen.« Ebenso wie sein erklärtes
Vorbild, Prof. Esmarch, hat er schon vor über
100 Jahren die herausragende Bedeutung der Selbst-
und Kameradenhilfe erkannt, um die Überlebens-
chance des Verwundeten zu maximieren. Mit den
modernen Konzepten der taktischen Verwundeten-
versorgung ist die Militärmedizin diesem Anspruch
so nah gekommen wie noch nie in der Geschichte
[10]. Um den bestmöglichen Erfolg zu erzielen, ist
es aber unabdingbar, dass alle Soldaten bzw. Polizis-
ten in den Grundsätzen der taktischen Verwunde-
tenversorgung geschult werden [4, 10]. Dieses Buch
soll einen Beitrag dazu leisten, Expertenwissen und
Einsatzerfahrung zugänglich zu machen und damit
all jene zu unterstützen, die oftmals unter hoher
eigener Gefährdung um das Leben ihrer Kamera-
den und Kollegen kämpfen.
11 2

Medizinische Einsatzplanung
(»medical planning«)
K. Ladehof, C. Neitzel

2.1 Entwicklung eines Einsatzplanes – 13

2.2 Auftrag – 15

2.3 Lagefeststellung (Umgebungsfaktoren) – 16

2.4 Feindlage – negative Faktoren für den Einsatz


(Versorgungsbedarf) – 17

2.5 Eigene Lage – Kräfte für den Einsatz


(Versorgungsangebot) – 20
2.5.1 Medizinische Behandlungseinrichtungen – 20
2.5.2 Transportmittel – 21
2.5.3 Führungsstrukturen und -mittel
(Command – Control – Communicate, C3) – 22
2.5.4 Eigene Ressourcen und Leistungsfähigkeit – 23

2.6 Abwägung der Möglichkeiten


und resultierender Plan für den Einsatz – 25

Literatur – 27

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
12 Kapitel 2 · Medizinische Einsatzplanung (»medical planning«)

»Taktische Medizin« beschäftigt sich v. a. mit den die Aspekte der humanitären Hilfe und medizini-
»ausführenden Ebenen« der präklinischen Versor- schen Versorgung der Bevölkerung in einem durch
gung, den erstversorgenden Kräften, wie es auch im Kriegshandlungen oder Naturkatastrophen ver-
2 Begriff bereits zum Ausdruck kommt. Daher wer- wüsteten Land, umfassen alle Bereiche der Entwick-
den in diesem Kapitel v. a. allem Handlungsgrund- lungszusammenarbeit und können hier allenfalls
lagen für diesen Bereich dargestellt. Die Planungen gestreift werden.
auf der operativen und strategischen Führungsebe- > Grundsätzlich muss in der medizinischen Ein-
ne schaffen dennoch die Basis für die Detailplanun- satzplanung zwischen geplanten Operationen
gen der taktischen Ebene, sodass entscheidende mit ausreichendem Vorlauf, sozusagen einem
Aspekte und wichtige Grundlagendokumente auch elektiven Eingriff, oder der kurzfristigen Re-
bei den Einsatzkräften bekannt sein sollten. Auf der aktion auf eine bereits existente Lage diffe-
taktischen Ebene muss letztendlich auch beurteilt renziert werden.
bzw. geprüft werden, ob Vorgaben eingehalten wer-
den, die beispielsweise auf Länderebene (z. B. ge- Im erstgenannten Fall steht am Ende des Planungs-
setzliche Vorgaben für den Rettungsdienst) oder prozesses die Aussage, ob bestehende sanitäts-
multinational (z. B. NATO-Vereinbarungen) erar- dienstliche Vorgaben (z. B. »medical timelines«)
beitet wurden. Schließlich wurden diese entwickelt, erfüllt und etwaige Verwundete bestmöglich oder
um die Rahmenlage zu definieren, in der das best- nur mit Einschränkungen versorgt werden können.
mögliche Versorgungsergebnis überhaupt erreicht Demgegenüber gewinnt mit steigender Dringlich-
werden kann. So sind z. B. die vom Schweregrad der keit von Operationen die Beurteilung immer größe-
Verletzung abhängigen, maximalen präklinischen re Bedeutung, welche der möglichen Einsatzoptio-
Versorgungsintervalle (»medical timelines«) in nen sich am besten absichern lässt und damit aus
mehreren NATO-Dokumenten verankert [1, 2]. medizinischer Sicht zu bevorzugen wäre. Dies wird
Wenn der verantwortliche Planer der medizini- sicher ein wichtiges Entscheidungskriterium für
schen Einsatzunterstützung erkennt, dass notwen- den militärischen Führer oder Gesamteinsatzleiter
dige Voraussetzungen fehlen, muss dies gemeldet sein, aber er kann sich dennoch aufgrund taktischer
und eine Änderung der Planung dringend empfoh- Erwägungen für die Durchführung einer anderen
len werden. Option entscheiden. So ist die Annäherung an ein
Zielobjekt über einen Freifalleinsatz z. B. mit einem
Tipp
relativ hohen Verletzungsrisiko verbunden und
wird sich im Einsatz schlecht medizinisch absichern
Bei Vorschriften, Erlassen oder auch NATO-
lassen. Dennoch kann die größere Wahrscheinlich-
Vereinbarungen (z. B. STANAG 2087, MC 326/1
keit eines militärischen Erfolges das höhere Risiko
und /2, AJP 4.10) handelt es sich meist nicht
aufwiegen.
um »hinderliche Vorschriften«, sondern Argu-
Schließlich kann bereits eine Lage vorliegen, die
mentationshilfen und oftmals praxisorientierte
eine unmittelbare medizinische Einsatzunterstüt-
Planungsgrundlagen. Sie sind häufig einfach/
zung erfordert, die dann nur noch begrenzt und
kostenlos im Internet zu finden (7 Kap. 2.7,
reaktiv während des laufenden Einsatzes geplant
»Literaturverzeichnis«, insbesondere [1–7]).
werden kann (z. B. ein frühzeitiger Notangriff bei
einer Geisellage). Hier liegt der Schlüssel in der Er-
Die Komplexität der Einsatzplanung entspricht arbeitung und Erprobung von Standardeinsatz-
auch auf der taktischen Ebene der Vielzahl der Ein- konzepten (»standard operating procedures, SOP).
satzoptionen. Allein mit Checklisten und Details Diese sollten entweder das gesamte Spektrum mög-
für unterschiedliche Einsatzarten, verschiedene licher Einsätze abdecken oder eine flexible, schnelle
Klimazonen, unterschiedlichen Materialbedarf und Anpassung an die tatsächliche Situation ermögli-
zeitlichen Vorlauf oder unterschiedliche Zielgrup- chen. Entscheidend ist die Ausplanung und Ab-
pen der sanitätsdienstlichen Versorgung können stimmung grundsätzlicher Verfahren und der
Bücher bzw. Ordner gefüllt werden. Insbesondere Schnittstellen zu anderen Beteiligten.
2.1 · Entwicklung eines Einsatzplanes
13 2
2.1 Entwicklung eines Einsatzplanes
Lage / Auftrag
Die medizinische Einsatzplanung muss prinzipiell
immer mindestens zwei Lagen berücksichtigen und
im Rahmen der Möglichkeiten ausplanen: Einer-
seits die optimierte, bestmögliche Individualversor- LA
GE
gung eines oder weniger Verwundeter und anderer- ER

FE ENN
K

ST UNG
G
UN
seits die Eventualfallplanung für den »worst case«.

STE
GEB

LLU
Die anderen möglichen Szenarien werden sich dann

BEFEHLS

NG
durch abgestufte Nutzung der Möglichkeiten, die

/
für diese beiden Extremfälle ermittelt und einge-
plant wurden, bewältigen lassen.
Als Basis für alle Einsätze sollte eine grundsätz-
liche MASCAL-Planung existieren, die generelle
Zuständigkeiten festlegt (wer alarmiert, wer kann En ng
tsc ilu
welche Aufgaben übernehmen – dazu vorherige hlu rte
ss Beu
Klärung des medizinischen Ausbildungsstandes al-
ler Kräfte, welche Grundausstattung ist vorhanden, PLANUNG
auf welchen Wegen kann Nachschub/Verstärkung
angefordert werden etc.) (7 Kap. 11). . Abb. 2.1 Kreisschema des Führungsvorganges
Im Bereich der BOS beinhaltet das Kreisschema
des Führungsvorganges (DV-100, . Abb. 2.1) die
wesentlichen Aspekte der Einsatzplanung: Nach der wird eine konkrete Planung eingeleitet. Außerdem
Auftragsauswertung erfolgt eine Lagefeststellung, wird generell geprüft, welche Standard-SOP, an-
auf der die Beurteilung der Lage und der unter- gepasst an Auftrag und Einsatzspektrum/-optionen,
schiedlichen Möglichkeiten des Handelns basiert. vorliegen und genutzt oder angepasst werden
Es folgt ein Entschluss (Präzisierung der Umsetzung können, oder ob diese erst entwickelt werden müs-
des bevorzugten Vorgehens) aus dem die Befehls- sen. Hier sind erstmalig die beiden Prüffragen zu
gebung resultiert. stellen:
Das detaillierte handwerkliche Vorgehen bei der 4 Was ist bis wann zu entscheiden?
Ausplanung einer Operation (»operational planning 4 Welche Informationen sind noch zu beschaf-
process«) mit ausreichendem zeitlichen Vorlauf be- fen? (Gibt es schon Unterlagen? Können über
steht auf der operativen Ebenen aus 5 Phasen, die einen »request for information« (RFI) Berichte
sich auch auf der Durchführungsebene widerspie- von Experten oder Kräften, die bereits vor Ort
geln oder auswirken. Die Beschäftigung mit diesem sind, angefordert werden?)
Bereich wirkt etwas »trocken«. Aber nur wenn klar
ist, in welcher Phase sich die Operationsplanung be- j2. Orientierungsphase (Orientation)
findet, kann sie sinnvoll unterstützt und beeinflusst Sobald ein konkreter Auftrag gegeben wird oder die
werden. Dieses System ist im vollen Umfang für die Absicht der übergeordneten Führung klar erkenn-
vereinheitlichte Planung komplexer, militärischer bar ist, erfolgt sozusagen die erste Grobplanung, die
Operationen anzuwenden, kann aber genauso für »Idee des Gefechts« wird entwickelt. Die Auftrags-
die präzise Vorbereitung einer großen Polizeiopera- auswertung mündet in der Identifizierung mögli-
tion oder eines Feuerwehreinsatzes bzw. deren me- cher Kräfte für die Durchführung des Einsatzes.
dizinische Unterstützung eingesetzt werden. Der Unterstützungsbedarf wird ermittelt und An-
forderungen werden gestellt. Ein »medical mission
j1. Initiierung der Planung (Initiation) statement« (MMS) wird mit den anderen Kräften/
Ausgelöst durch eine Anforderung oder ein Ereig- Abteilungen und der Einsatzleitung abgestimmt. In
nis (z. B. eine Meldung über eine Flutkatastrophe) diesem »ersten Entwurf« für den Einsatzplan sollten
14 Kapitel 2 · Medizinische Einsatzplanung (»medical planning«)

folgende Fragen beantwortet werden: wer macht Lagevortrag zur Entscheidung (LVE) der Einsatz-
was, wann, wo und warum? leitung vorgestellt. Nach Priorisierung eines COA
Jetzt muss auch entschieden werden, ob eine erfolgt die Entwicklung des Konzeptes für die
2 Erkundung vor Ort für die Lagefeststellung not- Operation (CONOPS). Diese Arbeitsgrundlage für
wendig ist. den endgültigen Einsatzplan (Phase 4) wird dann
Dabei sollte auf keinen Fall vergessen werden, der übergeordneten Führung zur Genehmigung
ggf. weitere Spezialisten einzubinden. Dies betrifft vorgelegt.
insbesondere die Präventivmedizin, also z. B. Vete- > In dieser Phase sollte bereits jeder »San-Ver-
rinärmediziner oder Zoologen zur Beurteilung der antwortliche« (vom Medic bis zum Leitenden
Vektorlage. Andererseits werden z. B. auch »aus me- Notarzt) für seinen Bereich und auf seiner
dizinischer Sicht« Pioniere/THW zur Beurteilung Ebene planen und beraten. Dafür müssen
der Nutzbarkeit eines Gebäudes oder Zugangsweges frühzeitig eine engmaschige Kommunikation
benötigt. Schwerpunkt ist neben Epidemiologie und die Weitergabe von Informationen über
und Umwelt die Infrastruktur wahrscheinlicher Sta- das »bigger picture« erfolgen.
tionierungsorte. Außerdem müssen bei entspre-
chender Anforderung der Unterstützungsbedarf Dies betrifft z. B. Aufklärungsergebnisse und
des »Gastlandes« (»population at risk«, PAR, Ge- Grundlagenwissen, nachrichten- und fachdienstli-
sundheitssituation), eventuelle Kooperationen mit che (INTEL/MED-INTEL) Erkenntnisse betreffend
»Non-Government Organisations« (NGO) und Einsatzraum, Ziel, Feind etc. Nach Ausplanung in
wiederum lokale Unterstützungsmöglichkeiten den Teilbereichen können die Detailplanungen ab-
(»host nation support«, HNS) geprüft werden. Letz- gestimmt und zusammengeführt werden. So plant
tere können in Form von medizinischen Einrich- z. B. der Tactical Medic eines SEK nach Information
tungen und lokal nutzbaren Ressourcen bestehen über die interne (polizeiärztlicher Dienst) und ex-
(z. B. Überprüfung der lokalen Lebensmittel, aber terne Unterstützung (Einbindung und verfügbare
auch ob regionale Kommunikationsysteme nutzbar Mittel des zivilen Rettungsdienstes) die Absiche-
sind). Für alle Bereiche müssen die zuständigen Be- rung innerhalb eines Objektes aus. Diese koordi-
hörden und Ansprechpartner identifiziert werden. niert er wiederum mit seinem taktischen Führer
Detail-Checklisten finden sich in zahlreichen Pub- und dann mit dem medizinisch gesamtverantwort-
likationen (sehr gut z. B. [8]). Ausführliche Unter- lichen Polizeiarzt.
lagen sind z. B. über die WHO (www.who.int), bei
Tipp
NGO (z. B. Ärzte ohne Grenzen) oder »auf dem
Dienstweg« [9–12] zu erhalten. Für einen »Standard-
Die kontinuierliche Abstimmung mit dem
einsatz« fällt in diese Phase die Prüfung der Mög-
Einsatzleiter/militärischen Führer und seine
lichkeiten der Krankenhäuser in der Nähe des Ein-
fachliche Beratung in der Vorbereitung er-
satzortes (Wieviele OP-Gruppen sind nachts ver-
möglichen die bestmögliche Berücksichtigung
fügbar? Wo ist die nächstgelegene Neurochirurgie?
sanitätsdienstlicher Aspekte bei der Opera-
– im Detail 7 Abschn. 2.5).
tionsplanung. Im Einsatz werden Anpassungen
und die Berücksichtigung neuer medizinischer
j3. Entwicklung des Konzeptes für
Aspekte ungleich schwerer möglich sein.
die Operation (»Concept Development«)
Basierend auf der Auswertung bisheriger Aufträge
und nach Herausarbeiten der Ziele und Absichten
der Führung für diesen Einsatz werden die Mög- j4. Entwicklung des Operationsplanes
lichkeiten des Handelns (»Courses of Action«, (»plan development«)
COA) zur Umsetzung des Auftrages entwickelt. (Im Auf der Basis eines genehmigten CONOPS (DV100
Bereich der BOS-Planung in Deutschland ent- = »Entschluss«) wird jetzt der Detail-Plan für den
spricht diese Phase der »Beurteilung« nach DV100.) Einsatz ausgearbeitet. Dieser legt konkret Beteiligte,
Die unterschiedlichen Optionen werden in einem Einsatzmittel, Frequenzen etc. fest. Die »offizielle«
2.2 · Auftrag
15 2
Weitergabe an die Einsatzkräfte folgt im Anschluss, Tipp
ggf. bereits als Befehl für den Einsatz (DV 100 =
»Befehlsgebung«). Natürlich sollten die ausführen- Achtung! Eine SOP ist je nach Einheit nicht so
den Experten vorher ausgiebig eingebunden und eindeutig definiert, wie der Name suggeriert.
zur Durchführbarkeit befragt werden, wenn eine Das Spektrum reicht hier von »grobem Anhalt,
hohe Aussicht auf Erfolg bestehen soll. von dem die meisten schon einmal gehört
haben«, bis zur erprobten und verbindlichen
Tipp
Handlungsgrundlage.
Eine gemeinsame Grobplanung der sanitäts-
dienstlichen Experten (der verschiedenen
Ebenen und beteiligten Einheiten) und Brain-
storming möglicher Optionen kann den Orien-
2.2 Auftrag
tierungsprozess beschleunigen. Dann erfolgt
Der erste Schritt in der medizinischen Einsatz-
z. B. die Ausplanung verschiedener Optionen
planung ist die Auswertung des Auftrages.
durch Teams und das Zusammentragen der
»Voraussetzung für die Sicherstellung des sani-
Ergebnisse. Weitere Entscheidungen und Koor-
tätsdienstlichen Versorgungsauftrages ist die Kennt-
dinationsbedarf werden ermittelt und sinn-
nis der Führungs- und Einsatzgrundsätze der zu
volle Elemente und Komponenten für den Ein-
versorgenden Truppenteile sowie ihres taktischen
satzplan festgelegt.
Verhaltens und deren Berücksichtigung bei der
eigenen Einsatzplanung und Auftragserfüllung.«
(FüEinsGrds SanDstBw) [7].
j5. Überprüfung der Planung (»plan review«) Grundvoraussetzungen und zu klärende Fragen
Durch intensives Training und praktische Er- sind:
probung (»rehearsals«) muss die Eignung des Pla- 4 Was ist die erwartete »wesentliche eigene Leis-
nes überprüft und der reibungslose Ablauf gesichert tung«, für welchen Planungsbereich besteht die
werden. Auch während des Einsatzes geht die Verantwortung? Wer plant »unter und über«
kontinuierliche Überprüfung weiter (»Mission dem eigenen Zuständigkeitsbereich?
Execution Checklist«) und es muss ggf. umgehend 4 Kenntnis der und Verständnis für TTP
mit der Aktivierung eines Alternativplans reagiert (»tactics, techniques and procedures«)/SOP
werden. (»standard operating procedures«) und
»Medical planning« ist analog zum Führungs- (aktuellen) Auftrag der Einheit
vorgang als Teil eines kontinuierlichen Prozesses zu 4 Was ist die Absicht der Führung/Einsatzleitung
verstehen: aus dem Plan resultiert (nach Abstim- (»commanders intent«/»bigger picture«)?
mung, Erprobung und Übung) ein Konzept/Befehl 4 Wieviel Soldaten/Schutzbefohlene sind zu ver-
für den Einsatz – dieser wird durchgeführt und die sorgen (PAR)?
Probleme, Fehler und Verbesserungsmöglichkeiten 4 Welche sanitätsdienstlichen Kräfte (SanKr)
identifiziert. Diese müssen dann konsequent bei der werden wo, wann und in welcher Stärke be-
Planung für Folgeeinsätze berücksichtigt werden! nötigt – welche Kräfte stehen potenziell zur
Ziel muss es sein, ein dichtes Netz von funk- Verfügung (Anzahl/Ausbildungsstand Medics/
tionierenden Plänen für unterschiedliche Einsatz- Sanitäter)?
optionen in der Schublade zu haben. Diese müssen 4 Wie sieht der (übergeordnete) Weg des Ver-
dann kontinuierlich an Lageveränderungen ange- wundeteten aus (CONOPS)/welche Einrich-
passt werden (ist z. B. die neurochirurgische Kom- tungen sind dafür vorgesehen oder vorgegeben
ponente mittlerweile in einer anderen Einrichtung (»medical footprint«)? Was ist die Basis der
zu finden?). Dadurch können sie bei fehlendem eigenen Detailplanung für die aktuelle Mission?
zeitlichem Vorlauf notfalls für den konkreten Ein- 5 Gibt es bei unterschiedlichen »Zielgruppen«
satz genutzt werden. auch unterschiedliche Wege des Verwunde-
16 Kapitel 2 · Medizinische Einsatzplanung (»medical planning«)

ten? (Zum Beispiel ist es für Koalitionskräfte ROE der eigenen Ethik«? Gibt es ggf.
wahrscheinlich grundsätzlich sinnvoll, eine »Nachbesserungsmöglichkeiten«? So ist
geringfügig weitere Transportstrecke in Kauf man z. B. für die Versorgung von zivilen
2 zu nehmen, wenn dort die Betreuung in der Opfern zwar nicht zuständig, aber im kon-
Muttersprache möglich ist. Andererseits kreten Fall entspräche dies unterlassener
kann es auch sein, dass es diesbezüglich feste Hilfeleistung. In diesem Fall sollten vor der
Vereinbarungen gibt. Zivilisten sind in einer Operation »Zuständige« gefunden werden,
lokalen Behandlungseinrichtung auch für z. B. ein Krankenhaus, mit dem entspre-
ihre Angehörigen besser erreichbar). chende Vereinbarungen getroffen wurden.
5 Sind zusätzliche Maßnahmen zu bedenken Mindestens sollte geklärt werden, wie Un-
(z. B. besondere Schutzmaßnahmen/Sicher- terstützung nachgefordert werden kann:
heitsvorkehrungen bei Kriegsgefangenen Welche Krankenhäuser und zivilen Ret-
(»Prisoners of War«, POW) oder Tätern)? tungsmittel sind in der Nähe und wie wer-
4 Welche Neben- oder Zusatzaufträge bestehen? den sie alarmiert? Eine »fehlende Zustän-
Ist die Versorgung der Bevölkerung (»hearts digkeit« liegt wiederum möglicherweise
and minds«) vorgesehen oder möglich? (Bei nicht an der »Ignoranz der Führung«, son-
einem Polizeieinsatz besteht die Verpflichtung dern kann sich unmittelbar aus der politi-
zur medizinischen Versorgung auch Unbe- schen Rahmenlage ergeben. So durfte z. B.
teiligter in der »warmen und heißen Zone«. das »UNTAC field hospital« (die ROLE-
7 Kap. 27, 32) 3-Einrichtung der Angehörigen der UN-
5 Dichte und Gesundheitszustand der Be- Friedensmission in Kambodscha) anfangs
völkerung im Operationsgebiet oder der nicht nur aus Kapazitäts- und Kostengrün-
Familienangehörigen des Täters bei einem den offiziell keine Zivilbevölkerung be-
Zugriff? handeln: Aufgrund seiner Lage in Pnom
5 Wie ist das Vorgehen des Gegners? Wird Penh war es nicht für alle Konfliktparteien
vom Gegner »billigend hingenommen« erreichbar, sodass die ausschließliche
auch unbeteiligte Zivilisten zu treffen, »Behandlung einer Seite« als Mangel an
werden sie als »Schild« benutzt oder be- Neutralität ausgelegt werden konnte.
wusst bekämpft?
5 Wird der »Krieg auch über die Medien ge-
führt«? Ist dies der Fall, sollte unbedingt 2.3 Lagefeststellung
eine Bilddokumentation der medizinischen (Umgebungsfaktoren)
Versorgung (EBD) eingeplant werden!
4 Gibt es Auflagen oder Beschränkungen? Bei der Beurteilung der Rahmenlage geht es v. a. um
5 Welche Geheimhaltung bzw. Absicherung geographische Faktoren, insbesondere Gelände und
ist erforderlich (»operational security«, Klima, und ihren Einfluss auf den Einsatz. Die eben
OPSEC)? (Beispiel: Die Bereitstellung besprochenen Punkte, die die allgemeine politische
weiterer Kräfte anderer Einheiten bzw. des Rahmenlage sowie die Situation hinsichtlich der
zivilen Rettungsdienstes in einer Polizeilage Medien betreffen, könnten jedoch auch hier zu-
ist unter dem Versorgungsaspekt sicherlich geordnet werden.
wünschenswert. Andererseits besteht eine
höhere Gefahr, dass etwas »durchsickert« Gelände Das »Gelände« bezieht sich einerseits auf
und z. B. die Täter durch die Presse gewarnt das Relief, also z. B. auf Höhenlage und Passier-
werden. Dies kann den gesamten Einsatz barkeit, andererseits aber auch auf Bebauung bzw.
bzw. die Einsatzkräfte gefährden und über- Infrastruktur und Bewuchs.
haupt erst Verwundete verursachen). So werden die Transportzeiten in einem schwie-
5 Welche politischen Vorgaben/»rules of en- rigen, zerklüfteteten Gelände deutlich ansteigen.
gagement« (ROE) bestehen? »Reichen die Der Einsatz von schweren, geschützten Fahrzeugen
2.4 · Feindlage – negative Faktoren für den Einsatz (Versorgungsbedarf )
17 2
wird vom Ausbau des Straßennetzes, aber auch von nikationsmittel). Bei jeder dieser Lagen müssen die
der Bebauungsdichte abhängen. Wenn es sich um Einflüsse auf die Operation und die Möglichkeiten
einen urbanen Raum handelt, werden bodengebun- zur Kompensation bewertet und nach Möglichkeit
dene Transporte z. B. durch Straßensperren leicht Redundanzen (z. B. Geräte auf anderer technischer
zu behindern sein, während zusätzlich die Verfüg- Basis) vorgesehen werden.
barkeit von Landeflächen sehr begrenzt sein wird.
Einen Landeplatz in einer Stadt dann auch noch zu Tipp
sichern, kann nahezu unmöglich sein. Dies wiegt
Es wird bei der Beratung des Einsatzleiters hilf-
um so schwerer, da bei militärischen Operationen
reich sein, Konsequenzen und Optionen ge-
in bebautem Gelände (»military operations in
staffelt darzustellen:
urban terrain«, MOUT), aufgrund der kurzen
5 was muss sein (»es ist zwingend erforderlich«)
Gefechtsdistanzen im Orts- und Häuserkampf
5 was ist sinnvoll (»eigentlich wäre es gut«)
(»close quarter battle«, CQB), die Verwundungsrate
5 was optimal (»schön wäre«).
wesentlich höher liegen wird.
Auf andere, spezifische Probleme wird man bei
anderem Gelände treffen:
4 amphibische Operationen: z. B. geschützter Ein einfaches Beispiel dafür ist die Anzahl der zur
Transport des Materials Akklimatisation (Höhe, Wüste) nötigen Tage und
4 Operationen in großen Höhen: z. B. Akklimati- damit der zeitliche Vorlauf für eine Operation.
sationsprobleme (7 Kap. 33), aber auch die
schlichte Problematik von ausreichendem
Sonnenschutz oder die eingeschränkte Leis- 2.4 Feindlage – negative Faktoren für
tungsfähigkeit von Lufttransportmitteln den Einsatz (Versorgungsbedarf )
4 bei stark felsigem Gelände: z. B. Kanalisierung
durch die zwingende Nutzung von Wegen mit Die Feindlage bezieht sich auf alle Bedrohungen, die
höherem Anschlagsrisiko und die höhere Ver- unmittelbar für Verwundungen, Verletzungen oder
letzungsgefahr etc. Erkrankungen verantwortlich sind (»Medical
Threat Assessment«).
Klima Der Bereich »Klima« ist ähnlich komplex Ziel ist also, eine möglichst präzise Lagebeurtei-
und der negative Einfluss von Hitze (7 Kap. 36), lung hinsichtlich der Risikofaktoren für die eigenen
Kälte (7 Kap. 38) und Feuchtigkeit v. a. auf die Leis- Kräfte bzw. die PAR, um Umfang, Art, Zeitpunkt
tungsfähigkeit von Mensch und Material ist offen- und Ort des Unterstützungsbedarfs konkreter be-
sichtlich. Für das erforderliche Spektrum von stimmen zu können. Anders formuliert, geht es um
Behandlungsmöglichkeiten kann gekühlter oder die Darstellung der Nachfrage, damit das Angebot
gewärmter Stauraum für Infusionen oder bestimm- – die sanitätsdienstlichen Mittel – angepasst und
te Medikamente unabdingbar sein. der mit der Bereitstellung verbundene Aufwand ge-
Allein die Lösung von Problemen wie die Ge- rechtfertigt werden kann.
währleistung ausreichender Trinkwasserversorgung Wenn also z. B. bei Operationen kleiner Ele-
(speziell z. B. bei einer längeren oder womöglich so- mente in schwer zugänglichem Raum ein hohes
gar abgesessenen Operation) kann entscheidend für Risiko von IED-Anschlägen besteht, müssen einer-
die Durchführung eines Auftrages sein. Eventuell seits unbedingt Mittel für den Lufttransport von
kann schon der Ausfall des schwächsten Gliedes ei- Verwundeten vorgehalten werden und andererseits
ner Kette die Durchführung eines Einsatzes gefähr- in diesen Elementen trotz des hohen Aufwandes
den (z. B. fällt der Kampfmittelbeseitiger, EOD, oder ausgewählte Kräfte eine medizinische Zusatzquali-
der Sprachmittler wegen Hitzeerschöpfung aus) fikation erhalten.
oder in einer deutlichen Verschlechterung der Ver- Dass umweltbedingte Faktoren ebenfalls zur
sorgung resultieren (z. B. staub- oder feuchtigkeits- »Feindlage« beitragen können, wurde bereits bei
bedingter Ausfall des Monitoring oder der Kommu- den Rahmenbedingungen angesprochen.
18 Kapitel 2 · Medizinische Einsatzplanung (»medical planning«)

Einer der beiden Schwerpunkte ist die Feindlage 4 Welche Erkrankungen kommen im Einsatz-
im engeren Sinn: gebiet gehäuft vor? Welche Überträger (Vekto-
4 Welche Feind(-stärke) und Bewaffnung ist be- ren) und Reservoire gibt es? Besteht aufgrund
2 kannt; besteht eine Rückhalt in der Bevölke- des spezifischen Migrationshintergrundes
rung bzw. im Stadtviertel oder »Milieu«? Aber eines Täters ein erhöhtes Infektionsrisiko, z. B.
auch: Besitzt der Täter einen Hund? hinsichtlich Tuberkulose oder HIV?
4 Welche Taktiken sind zu erwarten und wie 4 Welche Impfungen sind erforderlich/sinnvoll
groß ist die jeweilige Wahrscheinlichkeit (IED, und welcher zeitliche Vorlauf wird dement-
(offener) Angriff, ungerichteter Beschuss des sprechend gebraucht? Bei möglicherweise
Lagers mit Fernwaffen (Raketen, Mörser) etc.)? kurzfristigen Einsätzen muss Schlüsselpersonal
4 Wann finden die Angriffe statt? Bestehen eigene identifiziert werden, das einen breiten Basis-
Schutz (-Bunker) und Gegenmaßnahmen (luft- impfschutz erhält.
gestützte Gegenangriffe, CAS)? Daraus folgen (Datenbank für die Einheit anlegen und aktives
indirekt Möglichkeit (Zahl) und Art eigener Monitoring betreiben.)
Verwundeter. Einige Faktoren können diesbe- 4 Welche Chemo- und (individuelle) Expositi-
züglich dramatische Unterschiede verursachen onsprophylaxe (Repellents, Moskitonetze etc.)
(z. B. der – unerwartetete – Einsatz von Kampf- ist geeignet?
stoffen oder eine fehlende Luftüberlegenheit). 4 Welche Schutzmaßnahmen sind für eine feste
4 Hält sich der Gegner an völkerrechtliche Kon- Einrichtung möglich? (»Feldlager-Hygiene«,
ventionen? Wie hoch ist die Gewaltbereitschaft Vektorenmonitoring (CDC-Lichtfallen) und
eines Täters in polizeilichen Lagen? -kontrolle (z. B. Trockenlegen oder Behandeln
4 Wie wird der Gegner auf das eigene Vorgehen von Teichen, Errichtung von Wällen bei ge-
reagieren? (»Likely enemy causes of action?«) ringer Flughöhe von Insekten, Barrieresprit-
Ob er ausweicht oder verteidigt, erfordert zungen etc.).
einen unterschiedlichen Ansatz eigener Kräfte 4 Wie ist die Qualität der lokalen Verpflegung?
(ein Beispiel für die unzureichende Berück- 4 Welche Gifttiere und -pflanzen kommen vor?
sichtigung dieses Faktors war die Operation Sind Antidote und -venine verfügbar und kön-
Anaconda). nen sie gelagert werden? Auch dieser Aspekt
4 Wann und wo wird der Gegner/Täter am des »Medical Plannings« muss nicht auf exoti-
wahrscheinlichsten überrascht werden und sche Einsatzgebiete beschränkt sein, wie die
seine Waffen nicht einsetzen? reale Meldung »möglicherweise freilaufende
4 Besteht eine Kampfstoffbedrohung? Welche Giftspinnen in der Wohnung« bei der Er-
Schutzausrüstung ist für alle Soldaten/Spezia- teilung des Auftrages für einen SEK-Zugriff
listen erforderlich? Müssen spezielle Medika- belegt.
mente (Iod, Antidote, Antibiotika) vorgehalten
werden? Welche Behandlungsmöglichkeiten Hier sollte unbedingt das Expertenwissen (»medi-
sind vorhanden (7 Kap. 39–41)? cal intelligence«) des Robert Koch-Institutes (RKI)
bzw. von tropenmedizinischen Einrichtungen oder
Abhängig vom Einsatzland und den getroffenen eigenen Fachabteilungen eingeholt werden (Bun-
Maßnahmen kann die infektionsepidemiologische deswehr: Sanitätsamt der Bundeswehr, Abteilung V.
bzw. tropenmedizinische Bedrohungslage einen wei- Die Informationsleistungen umfassen u. a. detail-
teren bedeutsamen Schwerpunkt bilden. So hatte die lierte Länderberichte und eine Hotline [7]).
Rote Armee im sowjetisch-afghanischen Krieg höhe- Im Internet gibt es auch hier verlässliche Quel-
re Ausfälle durch Infektionskrankheiten als durch len, z. B. eben das RKI (www.rki.de) oder das CDC
Kampfhandlungen. Drei Viertel der in Afghanistan (»Centers for Disease Control and Prevention«,
eingesetzten Soldaten mussten während ihres Einsat- www.cdc.gov) und gute Handbücher lassen sich he-
zes stationär behandelt werden. Als Ursachen stan- runterladen, z. B. zu Infektionserkrankungen in
den Hepatitis und Typhus im Vordergrund [14]. Einsatz- bzw. Herkunftsländern die »Steckbriefe
2.4 · Feindlage – negative Faktoren für den Einsatz (Versorgungsbedarf )
19 2
seltener und importierter Infektionskrankheiten« entscheidender Bedeutung ist und die vorhandenen
des RKI [15]. Behandlungsressourcen effektiv den Patienten mit
Die Beurteilung des Einsatzraumes (»area of realistischen Überlebenschancen gewidmet werden
operations«, AO) betrifft v. a. das primäre Opera- müssen, gelten in LIC zumeist mit der zivilen Not-
tionsgebiet, aber (vorgeschobene) Einsatzbasen fallmedizin vergleichbare individualmedizinische
(»Forward Operating Base«, FOB) oder Zwischen- Behandlungsansätze. Daraus resultiert, dass im LIC
stationen (z. B. »staging areas«) müssen natürlich die sanitätsdienstlichen Kräfte sehr weit vorne – ty-
auch hinsichtlich der »regionalen Bedrohungslage« pischerweise durch Eingliederung in Teileinheiten
beurteilt werden. (So kann z. B. die Malariaprophy- ab Zugstärke – und vergleichsweise stark ausge-
laxe im eigentlichen Einsatzraum unwichtig, aber bracht werden, während bei einem HIC der Ansatz
aufgrund des längeren Aufenthaltes der Eingreif- weiter hinten erfolgt. Im günstigsten Fall kommt es
kräfte, QRF, in einer FOB erforderlich sein). beim LIC nur zu seltenen, »punktuellen« Ausfällen
Die Kalkulation potenzieller, eigener Ausfälle (z. B. durch einen einzelnen Anschlag), so dass eine
(»casualty rate estimates«, CRE) und des dadurch Situation analog zu (z. B. Polizei-)Einsätzen im
bedingten Versorgungsbedarfes ist ein Bestandteil Inland besteht, dass heisst die regionale, zivile
operativer Planung. Sie ist wesentlich von der Infrastruktur ist nutzbar, evtl. sind lediglich die
Feindlage abhängig. Details und Verfahren sind u. a. Sicherheitsvorkehrungen erhöht.
Gegenstand von Forschungsvorhaben und finden Ändert sich die Lage schnell, kommt dies daher
sich in zahlreichen Publikationen [3, 5, 13]. aus sanitätsdienstlicher Sicht einem Paradigmen-
Eine besondere Herausforderung liegt bei der wechsel gleich, der nicht nur andere taktische Prio-
Planung in der Unterscheidung zwischen Konflik- ritäten bedingt, sondern auch hinsichtlich des
ten hoher Intensität (»high intensity conflicts«, Materials völlig unterschiedliche Ansprüche stellt.
HIC) mit umfassenen Kampfhandlungen im Sinne Die Bundeswehr z. B. ist in die Auslandseinsätze der
eines klassischen Krieges, und Konflikten niedriger 1990er Jahre mit auf Hochintensitätskonflikte aus-
Intensität (»low intensity conflicts«, LIC) wie sie gerichtetes Material und Gliederungen gestartet.
z. B. im Afghanistan-Einsatz über weite Strecken Die typischerweise mit Transportkapazität für vier
typisch waren. Kennzeichnend für Kampfhandlun- Liegendverwundete ausgestatteten Fahrzeuge wur-
gen hoher Intensität ist ein im Vergleich zu den ver- den mehr und mehr durch solche mit einem dem
fügbaren sanitätsdienstlichen Kräften sehr hoher zivilen Rettungsdienst angepassten Transportraum
Verwundetenanfall, der regelmäßig keine Individu- sowie umfangreicherem medizinischen Material
albehandlung nach zivilen Standards mehr erlaubt. aber nur noch ein bis zwei Tragen ersetzt. Als pha-
Triagierung und ein möglichst geordneter »Ab- senweise um Kunduz herum hochintensive Gefech-
fluss« der Verwundeten über gestaffelt aufgebaute te stattfanden, machte sich der Mangel an sanitäts-
Behandlungseinrichtungen mit eingeschränkten dienstlichem Transportraum schmerzlich bemerk-
therapeutischen Möglichkeiten aus der Kampfzone bar. Hier gilt es, die Fähigkeit zum »Umschalten«
»nach hinten« sind typisch für den HIC (ROLE 1–4; weder materiell, personell noch konzeptionell zu
7 Abschn. 2.5 und Kap. 4). An die Gliederung und verlieren. Diese Erfahrung musste auch die Israeli-
Ausrüstung, insbesondere hinsichtlich der Liegend- sche Armee machen, die bei den regulären Operati-
transportkapazitäten, wird hier ein völlig anderer onen (LIC) in ihrem – kleinen – Land die Möglich-
Anspruch gestellt als bei Konflikten niedriger Inten- keit hat, sogar bodengebunden hochqualifizierte,
sität. zivile Versorgungseinrichtungen schnell zu errei-
Bei »low intensity conflicts« ist die Anzahl von chen. Dieses Konzept musste dann im 2. Libanon-
Truppen, Bewegungen im Raum und von Gefechten krieg zügig um »klassische«, vorgeschobene militä-
deutlich geringer, so dass jedem einzelnen Ver- rische Behandungseinrichtungen ergänzt werden,
wundeten oder Gefallenen eine erheblich höhere um auf den höheren Bedarf und die verzögerte
Bedeutung zugemessen werden kann. Während im Evakuierung zu reagieren. Auch hier musste die
Falle des HIC der klassische Weg des Verwundeten sanitätsdienstliche Versorgung im Hochintensitäts-
mit einer möglichst hohen Transportkapazität von konflikt erst wieder erlernt werden.
20 Kapitel 2 · Medizinische Einsatzplanung (»medical planning«)

Eine Zwischenstufe können z. B. kontrollierte Darauf aufbauend werden die Kräfte und Mittel im
Bereiche, sog. »green zones«, innerhalb eines Ein- eigenen Zuständigkeitsbereich organisiert.
satzraumes mit sonst hoher Gefährdung sein, inner-
2 halb derer bzw. nach deren Erreichen im Regelfall
von einer geringen Bedrohung ausgegangen werden 2.5.1 Medizinische Behandlungs-
kann. einrichtungen
Bedarfsberechnungen können sich über Be-
handlungskapazität und Transportraum hinaus z. B. Alle potenziell nutzbaren Behandlungseinrichtun-
auch auf den Bedarf an Blutprodukten erstrecken: gen (»medical treatment facilities«, MTF) im Ein-
so kann man relativ konfliktunabhängig (lediglich satzraum und ihre Leistungsfähigkeit, Nutz- und
bezogen auf ballistische Verletzungen) davon ausge- Erreichbarkeit sind festzustellen. Meistens wird
hen, dass etwa 20 % der Verwundeten transfusions- dieses größere Lagebild (»medical footprint«)
pflichtig sein werden und weitere 5 % über 10 Ein- bereits vorliegen und ein großer Anteil der notwen-
heiten benötigen [13]. digen Informationen muss nur angefordert wer-
den. Wichtig ist es, die Verlässlichkeit und Aktua-
lität der Angaben zu beurteilen und ggf. eine
2.5 Eigene Lage – Kräfte für den Überprüfung bis hin zu einer persönlichen Erkun-
Einsatz (Versorgungsangebot) dung vorzunehmen. Die wichtigsten Einrichtun-
gen sind diejenigen, die lebensrettende Maßnah-
Nach Auswertung des Auftrages und Ermittlung men durchführen können, die die eigenen Mög-
des möglichen Bedarfs muss beurteilt werden, wel- lichkeiten der präklinischen Versorgung über-
che Kapazität zur Verfügung steht, um einen Einsatz steigen. Die größte Bedeutung hat also die Frage:
sanitätsdienstlich abzusichern. Es wird sozusagen wer kann innere Blutungen stillen und was muss
das vorhandene »Angebot«, die »positiven Fakto- getan werden, um diese Einrichtung zu nutzen
ren«, ermittelt. Abschließend kann nach einer Ge- (»DCS-capability«, »damage control surgery«,
genüberstellung über den besten Einsatz der eige- 7 Kap. 4). Bei dynamischen Einsätzen mit Bewe-
nen Kräfte entschieden und ggf. weitere Kräfte an- gungen im Einsatzraum (mobilen Lagen) muss ge-
gefordert werden. klärt werden, ob Zuständigkeiten wechseln bzw.
Bei der Feststellung vorhandener Möglichkeiten andere Behandlungseinrichtungen besser erreich-
wird es natürlich einen deutlichen Unterschied ma- bar sind. Dies kann z. B. mit der Festlegung be-
chen, ob noch ein ausreichender zeitlichen Vorlauf stimmter »Ablauflinien« im Gelände koordiniert
besteht oder ob der Einsatz unvermeidbar und werden.
kurzfristig durchgeführt werden muss. Im ersten 4 Welche Einrichtungen sind verfügbar und was
Fall geht es um die optimale Ausplanung und vor- können sie?
handene Kräfte und Einrichtungen werden sicher 5 Personalschlüssel und
kritischer bewertet werden, als wenn es um die Er- Behandlungskapazität/-spektrum (Fähigkeit
mittlung aller schnell verfügbaren und noch ver- der operativen Erstversorgung/DCS,
tretbaren Möglichkeiten geht. Eventuell kann die Neurochirurgie, Intensiv- und Verbren-
Betrachtung der Situation auch unter dem Aspekt nungsbetten, Isolationsbetten/Isolierstation,
erfolgen, dass eine Aussage hinsichtlich der Durch- Röntgen/CT, Blutbank (wieviele Konser-
haltefähigkeit oder möglicher Abbruchkriterien ven), Labor. Diese kurze Liste stellt Kern-
getroffen werden muss. fähigkeiten dar. Eine gute Liste zur
Drei Schlüsselfragen müssen geklärt werden: Krankenhausevaluierung wurde durch das
4 Wer versorgt die Verwundeten weiter? TEMOS-Projekt entwickelt. www.temos-
4 Wer transportiert sie dorthin? worldwide.com/media/forms/Medical_
4 Wie kann die Kommunikation sichergestellt Facility_Short_Information_Chart.pdf)
werden? 5 Durchhalte- und Schichtfähigkeit; besteht
eine MASCAL-Planung (7 Kap. 11) bzw.
2.5 · Eigene Lage – Kräfte für den Einsatz (Versorgungsangebot)
21 2
gibt es einen erprobten Krankenhausalarm- werden. Auf dieser Basis können die bestgeeigneten
plan? Einrichtungen genutzt werden, wenn es zu Verwun-
5 Sicherheit, An- und Abtransport, deten kommt bzw. können mehrere Verwundete
Landeplatz/-möglichkeit (»Helicopter ggf. in verschiedene Einrichtungen gebracht wer-
Landing Site«, HLS) den, um (Operations-)Kapazitäten nicht zu über-
5 alternative Anfahrtstrecken, Koordinaten fordern [16].
der Einrichtung und Lage des Übergabe- Bei einem polizeilichen Einsatz kann z. B. auch
punktes für Patienten (Notaufnahme/ ein etwas weiter entferntes Krankenhaus die bevor-
Schockraum/Eingangssichtung) zugte Versorgungseinrichtung sein, da die Sicher-
4 Eigene Einrichtungen: Mindestausstattung und heitsvorkehrungen besser oder die »Anschlussver-
Leistungsfähigkeit sind unmittelbar durch die sorger« persönlich bekannt sind. Oder es werden
Bezeichnung mit einer definierten Ebene fest- Absprachen getroffen, die verhindern, dass man vor
gelegt [4] (7 Kap. 4) – so verfügt z. B. eine einer Schranke an der Zufahrt zur Notaufnahme
»ROLE 2«-Einrichtung regelhaft über mindes- steht und eine Diskussion mit dem »Nachtportier«
tens eine Operationsgruppe. führen muss.
4 Einrichtungen »befreundeter Organisationen«
(Koalitionskräfte/Hilfsorganisationen):
Bei NATO-Kräften gilt ebenfalls die genannte 2.5.2 Transportmittel
Klassifikation. Abhängig von der Nation, die
die Einrichtung betreibt, sollte man die Erfül- Angepasst an Lage und Auftrag müssen alle po-
lung dieser Vorgaben jedoch durchaus über- tenziellen Transportmittel identifiziert werden
prüfen. Hilfsorganisationen verfügen u. U. (7 Kap. 4). Im Regelfall werden Lufttransportmittel
ebenfalls über sehr gute und pragmatische Be- die entscheidende Ressource sein. Gerade bei Ein-
handlungseinrichtungen. Die Nutzung durch sätzen in urbanem Gelände oder bei gut ausgebau-
militärische Kräfte kann jedoch im besten Fall tem Straßennetz kann es jedoch durchaus die beste
eine Notlösung sein, da dies möglicherweise Lösung sein, mit einem eigenen bodengebundenen
die schützende »Neutralität« gefährdet. Transportmittel unmittelbar eine Behandlungs-
4 Einrichtungen des Einsatz-/Gastlandes können einrichtung anzufahren. Entscheidend sind auch
möglicherweise im Rahmen von HNS genutzt hier Flexibilität und Redundanz der Planung. Oft
werden [7]. Das Spektrum kann hier selbst in werden Kreativität und Improvisation benötigt.
Ländern mit sonst stark zerstörter Infrastruk-
Tipp
tur extrem breit gefächert sein. So gibt es z. B.
in Saida (Sidon) im Südlibanon ein ISO- und
Muss im Rahmen von Einsätzen auf improvi-
DIN-zertifiziertes Traumazentrum, das auch
sierten Verwundetentransportraum zurück-
im Libanonkrieg 2006 ohne Einschränkungen
gegriffen werden (z. B. gemieteter Kleintrans-
in Betrieb war.
porter mit Matratze), sind beispielsweise
Hier sollten die »offiziellen Informationen«
Zurrgurte und Werkzeug zur Befestigung der
unbedingt auf die Verlässlichkeit geprüft wer-
medizinischen Geräte extrem wertvoll. Außer-
den, im Regelfall mit einer Erkundung vor Ort.
dem wird sich spätestens hier der Wert modu-
Werden Mindeststandards erfüllt? Außerdem
larer, miniaturisierter Ausrüstung (7 Kap. 3)
müssen Ansprechpartner identifiziert, Ab-
und geeigneter Behältnisse zeigen.
sprachen getroffen und ggf. Vereinbarungen
schriftlich festgehalten werden.
Prüffragen für die medizinische Evakuierung sind
Nachdem diese Einrichtungen und ihre Leistungs- generell:
fähigkeit ermittelt wurden, sollten Kommunikation 4 Anforderungsverfahren: Wer entscheidet und
und Schnittstellen (stimmen Telefonnummern/Fre- koordiniert den Einsatz von (Luft-)Transport-
quenzen/Rufnamen noch?) regelmäßig überprüft mitteln?
22 Kapitel 2 · Medizinische Einsatzplanung (»medical planning«)

4 Wie ist die Erreichbarkeit sichergestellt (Tele- In multinationalen Einsätzen oder bei Unterstüt-
fon, Funkfrequenz, Rufnamen, Alternative/ zung durch befreundete Streitkräfte in besonderen
Redundanz)? Lagen ist es unabdingbar, sich mit der jeweiligen
2 4 Welche Sicherungskomponente (»force protec- Terminologie auseinanderzusetzen. Begrifflich-
tion«) ist notwendig/verfügbar? (Ggf. Unter- keiten können sich dann nochmals zwischen den
schiede zwischen CasEvac/MedEvac/TacEvac jeweiligen Teilstreitkräften unterscheiden. Wenn
(7 Kap. 4) beachten)! z. B. eine AirMedEvac-Unterstützung durch die
4 Wie ist die Verbindung zum Transportmittel US-Luftwaffe möglich ist, kann das Wissen für den
sichergestellt (VHF, UHF, SATCOM, HF, Verwundeten entscheidend sein, dass es neben
digital, ...)? Rufname und Frequenzen? einem «Aeromedical Evacuation Team« auch ein
4 Über welche Transportkapazität in welcher auf Intensivtransporte spezialisiertes «Critical Care
Qualität (Anzahl der Tragen und Sitze, Qualifi- Air Transport Team« (CCATT) gibt.
kation des Personals und Umfang des Materi-
als) verfügen diese Mittel?
4 Welche Reichweite, Anfahrt- und Transport- 2.5.3 Führungsstrukturen
zeiten haben sie? (»Raum-Zeit-Berechnung« und -mittel (Command – Control
Zeit bis zur Abfahrt/Start (»notice to move«, – Communicate, C3)
NTM) plus Fahrt-/Flugzeit)
4 Wie erfolgt die Übergabe? (Halte- bzw. Lande- Neben der grundsätzlichen Klärung der Führungs-
platz: Einrichtung durch Truppe, Sicherung, strukturen (wem sind welche sanitätsdienstlichen
Aufnahmeverfahren Tag/Nacht) Kräfte unterstellt?) und Zuständigkeiten ist hier die
4 Können die Transportmittel bei besonderen redundante Sicherstellung der Kommunikation
Operationen oder hohem Risiko bereits Ob- zwischen allen beteiligten Kräften bzw. Funktionen
jekt-näher stationiert werden? Wie werden sie ausschlaggebend. Dabei wird eine Schwierigkeit da-
in diesem Fall gesichert? rin liegen, die fachliche Kommunikation zu ermög-
4 Sind die für den Transport der eingesetzten lichen, ohne den »taktischen Funk« zu behindern.
Kräfte vorgesehenen Mittel auch für den Ver- Abhängig von der Größe des Einsatzes sowie Stärke
wundetentransport nutzbar? und Ausbildungsstand der Sanitätskräfte kann
4 Spezifisch für bodengebundenen Verwunde- durchaus Koordination, Führung und fachlicher
tentransport (GroundMEDEVAC): Rat auf dem Fernmeldeweg erforderlich sein. Na-
5 Welche Fahrzeuge sind in welchen Schutz- türlich ist es der Plan A, Kräfte und Mittel räumlich
klassen verfügbar? zusammenzufassen (CCP/PA), aber dies wird nicht
5 Können sie aufgehalten werden? Gelände- immer machbar sein. Zwei Funkkreise sind eine
gängigkeit (inkl. Bodenfreiheit und Wat- Option, stellen aber hohe Anforderungen an den
fähigkeit); Eng-/Schlüsselstellen bei der An- medizinischen Führer. Zwingend erforderlich ist es,
fahrt, Bedrohung der Anfahrtstrecke durch dass alle Sanitäter über Funk erreicht werden kön-
Feindkräfte etc. nen und ausreichende Kenntnis über die taktischen
4 Spezifisch für luftgestützten Verwundeten- Verfahren haben. Wenn es beispielsweise ein Code-
transport (AIRMEDEVAC): wort gibt, das das sofortige Verlassen eines Objektes
5 Annäherung an das LFz, Besonderheiten durch alle Kräfte nach sich zieht, wäre es sinnvoll,
bei der Beladung wenn auch die Sanität es kennt. Prüffragen:
5 Einschränkungen der Verfügbarkeit (Nacht- 4 Sind Unterstellung und Zuständigkeiten (vor
flugfähigkeit, Wetter, Höhe) Ort) klar geregelt?
5 Verfügbarkeit Winde und Mitführung eines Erprobte Zusammenarbeit (7 Abschn. 2.1)!
geeigneten Rettungssystems (z. B. SKED- 4 Haben alle Kräfte ausreichende Fernmelde-
Trage) bei schwierigem Gelände/fehlendem mittel (und weitere Arbeitsmittel wie Sprech-
Landeplatz (explizite Anforderung mit tafeln), sind Funknamen und Terminologie ge-
9-Liner bzw. Hinweis an die Leitstelle!) klärt?
2.5 · Eigene Lage – Kräfte für den Einsatz (Versorgungsangebot)
23 2
4 Wie sind die Führungsstrukturen des Sanitäts- 2.5.4 Eigene Ressourcen
dienstes (PECC etc.)? Welche Alarmierung und und Leistungsfähigkeit
Meldewege (»9-Liner«, Nachschub) sind fest-
gelegt? Mit der Klärung der oben genannten Faktoren wird
4 Sind die Kommunikationswege eindeutig die Basis geschaffen, um die eigentliche Aufgabe
(Fernmeldeplan)? Wer meldet was? auszuplanen: den Einsatz der eigenen Kräfte zur
> Die Funkverbindungen müssen mit aus-
Sicherstellung der präklinischen Versorgung
reichendem Vorlauf (bei Übergabe des
(ROLE 1). Wie bereits in 7 Kap. 1 dargestellt, liegt
Materials) und unmittelbar vor Einsatzbeginn
der Schlüssel in einer möglichst enggliedrigen bzw.
geprüft werden!
sich überlappenden Kette qualifizierter Versorger.
Diese reicht primär von der entscheidenden Erst-
versorgung (7 Kap. 6) bis zur Übergabe an die
Tipp
nächsthöhere Behandlungsebene.
Stärke, Position und Ausbildungsstand der sani-
Während der Versorgung von Patienten fehlt
tätsdienstlichen Elemente wird sich am wahrschein-
den Sanitätern meist der Lageüberblick. Die
lichsten Verlauf, dem Schwerpunkt des Einsatzes und
Erkundung, Markierung und Sicherung von
dem Schwerpunkt des möglichen Verwundetenauf-
Hubschrauberlandeplätzen erfolgt im Regelfall
kommens ausrichten. Prinzipiell ist dabei natürlich
ohnehin durch den taktischen Führer. Daher
anzustreben, höchstmöglich qualifizierte Kräfte so
sollten sinnvollerweise lediglich die medizi-
nah an den Ort der Verwundung zu bringen, wie es
nisch relevanten Teile des 9-Liners (Zeile 3–5, 8,
vertretbar ist. Dies wird jedoch die Grenze im takti-
ggf. MIST, 7 Kap. 4) an ihn gemeldet werden.
schen Ausbildungsstand und der Endlichkeit dieser
Nach Komplettierung setzt er diesen ab.
Ressource finden. Wie in 7 Abschn. 2.1 dargestellt,
müssen unterschiedlichste Verläufe einschließlich
Die Kommunikation mit den aufnehmenden Ein- des Fehlschlagens des Einsatzes (7 Kap. 11) in der
richtungen erfolgt unmittelbar durch die SanKr. Planung berücksichtigt werden.
4 Ist die weitere Ausstattung der SanKr vollstän- > Flexibilität und Improvisationsfähigkeit sind
dig? (Nachtsichtgeräte, Signalmittel, Nebel). entscheidend für den Operationserfolg – und
4 Ist die Versorgung mit Nachschub an Sanitäts- können dennoch durch sorgfältige Planung
material ein- und ausgeplant? (Definierte Kits, unterstützt werden (»Back-up-Plan B bis X«).
ggf. Abwurf etc; s. unten).
4 Sind die Standorte/Positionen von »Schlüssel-
personal« klar? (Einsatzleiter, Fernmelder mit jPrüffragen für den Einsatz der eigenen
Funkverbindung großer Reichweite zu MTF/ (San-)Kräfte
Evakuierungsmitteln, EOD, FAC/SOTAC, 4 Wie können die eigenen Kräfte dem Bedarfs-
MasterMedic etc.). träger am sinnvollsten zur Verfügung gestellt
4 Sind alle Kräfte in den Plan eingewiesen? Ist werden?
jedem sein Auftrag und seine Position klar? 5 Integriert in die Truppe oder als geschlosse-
Haben alle das »größere Lagebild« und den ge- nes Element?
planten Weg des Verwundeten (sowie den 5 Abgesessen oder aufgesessen?
»Plan B«) vor Augen? 5 Welches Kfz bietet die ideale Mischung aus
4 Gelegenheit für Feedback/Überprüfung bzw. Schutz, Beweglichkeit und Transportraum?
Abgleich betreffs Ausstattung einplanen. 4 Wie und bis wann ist die Nachführung sicher
möglich, wenn aus taktischen Gründen die
o Wer setzt was, wann, wo und wie in Gang? »standby-Variante« favorisiert wird?
5 Steht dies im Einklang mit den
Vorgaben/«medical timelines« und einer
noch akzeptablen Versorgungsqualität?
24 Kapitel 2 · Medizinische Einsatzplanung (»medical planning«)

5 Beherrschen die sanitätsdienstlichen Kräfte 4 Wie lange kann der Einsatz dauern?
die Einsatzverfahren, um »vorne« eingesetzt 5 Die Einsatzfähigkeit der Kräfte muss durch
zu werden (z. B. »fast rope«)? rechtzeitigen Wechsel oder Reservenbil-
2 5 Ist die Aufnahme durch eigene Kräfte am dung (vor Ort und im standby) erhalten
Objekt eindeutig abgesprochen (z. B. Mar- werden!
kierung der Eindringstelle und Abgleich 5 Welche Kräfte treffen sicher, welche
über Funk)? möglicherweise verzögert ein?
5 Durch wen erfolgt sie und ist eine »Force Ersteres ist eigentlich nur bei Durch-
Protection«/«Schildkröte« für Bewegun- setzungsfähigkeit, bodengebundener An-
gen in der Einsatzstelle/im Objekt vor- näherung und räumlicher Nähe weitgehend
gesehen? gewährleistet.
4 Wo sind die »Schlüsselpositionen und -funk- 4 Wie kann die Flexibilität der Reaktion erhöht
tionen« vor Ort (s. 7 Kap. 2.5.3)? und wie können zusätzliche Kräfte oder ggf.
4 Wo befinden sich die Schwerpunkte und mit eine höhere Versorgungsqualität schnell weit
welcher Raumplanung muss der Einsatz der nach vorne gebracht werden?
SanKr abgestimmt werden? (Zielobjekte, inne- US-Lösungen sind z. B. der Operationstisch in
rer/äußerer Ring, Gefahrenstellen etc.) der CH-47 (unmittelbare Einsatzfähigkeit nach
4 In welcher Stärke (anwesend und einsatzfähig), der Landung) oder ein hochmobiles, Rucksack-
mit welchem Ausbildungsstand und mit wel- basiertes Operationsteam (SPEARR oder
cher Ausstattung können die SanKr eingesetzt SOST).
werden? Welche medizinischen Fähigkeiten 4 Ist Telemedizin eine sinnvolle Ergänzung?
(Medics) befinden sich bereits vor Ort? (Ihre Beschränkungen dürfen nicht unter-
4 Wie sollten Sanitäter und Medics disloziert schätzt und sie sollte als Notlösung betrachtet
werden (z. B. auf verschiedenen Kfz, um bei werden).
einem IED-Anschlag auf verschiedene Aus- 4 Wie erfolgt die Bewegung von Verwundeten
weichrichtungen oder den Ausfall des SanKfz innerhalb des Objekts und der Transport zu
selbst reagieren zu können; oder auf die ver- den Aufnahme-/Übergabepunkten? Welche
schiedenen Eindringstellen verteilt, auch wenn Tragemittel werden von wem vorgehalten?
dazu eine Umgliederung der Trupps erforder- (Das UT-2000-Transportsystem mit (Doppel-)
lich wäre)? Radsatz ermöglicht es, einen Patienten mit
4 Wo sind die sinnvollsten Positionen für die einer einzigen Person zügig fortzubewegen).
eigenen Kräfte und Strukturen (VwuNest/ 4 Welche Übergabepunkte können für Boden-
CCP) an einem Einsatzort? und Lufttransport (»helicopter landing zone«,
5 Gibt es Ausweichpositionen für alle diese HLZ; »Ambulance Loading/Exchange Point«,
Plan-A-Positionen (»primary and alternate«)? ALP/AXP«) festgelegt werden [17]? (7 Kap. 34)
Wie werden sie markiert? 5 Entfernungen, Transportzeiten, Einschrän-
5 Ist das ebenso wie die räumlichen Anforde- kungen/Hindernisse; auch hier unbedingt
rungen (Platzbedarf und Schutz) mit Ein- primäre Lokalisation und Ausweichstellen?
satzleiter und -kräften abgestimmt? 5 Wie können sie und die Transportmittel ge-
4 Ist die Aufgabenverteilung beim Anfall von sichert und geschützt werden?
Verwundeten klar abgesprochen (und geübt 5 Sind die Übergabepunkte allen bekannt?
worden)? Wer meldet was? Wer transportiert 5 Lageabhängig kann z. B. auch die Ausgabe
wohin? Wer weist Hubschrauber ein etc.? von Anfahrtbeschreibungen und Ansprech-
4 Sind alle möglicherweise erforderlichen Fähig- partnern der HNS-Einrichtungen bzw.
keiten (EOD!) vorhanden oder zügig nach- der umliegenden Krankenhäuser bei einer
führbar? Wie sind sie erreichbar oder können mobilen Lage im ländlichen Bereich an die
sie ggf. selbst abgebildet werden (technische eingesetzten Kräfte als Taschenkarte eine
Rettung)? sinnvolle Option sein.
2.6 · Abwägung der Möglichkeiten und resultierender Plan für den Einsatz
25 2
5 In jedem Fall sollte eine mögliche Evakuie- 4 Welche Reichweite hat das Material, welches
rung kritischer Patienten nicht durch das sind die kritischen Ressourcen (z. B. Narkose,
Warten auf qualifiziertere Kräfte verzögern Beatmung (O2), Analgosedierung)?
werden. Ggf. ein Rendezvous-System verein- 4 Können definierte Versorgungspakete nachge-
baren, aber auch dabei muss der Zeitverlust führt werden? Definierte Kits als Routine auf
durch eine Umlagerung des Patienten sorg- allen MedEvac-Mitteln zur Nachversorgung
fältig abgewogen werden. Eventuell kann der für die Kräfte am Boden vorsehen.
Anschlussversorger auch mit Gerät zusteigen.
Tipp
4 Wie kann das Sanitätsmaterial am sinnvollsten,
modular und redundant auf die Kräfte verteilt
Gerade bei der Beschaffung und Bereitstellung
werden, z. B. Tragen auf alle Kfz, hier auch
von Sanitätsmaterial ist eine hohe Kreativität
»blow out« und »trauma kits« (7 Kap. 3), Vertei-
gefragt. In Kombination mit der Kenntnis der
lung des »mission critical equipment«, z. B. zur
»trockenen« Vorschriften und trister Beschaf-
Reduzierung des Materials beim Ausweichen?
fungswege ergeben sich zahlreiche Möglich-
5 Welches (persönliche) Material wird wo am
keiten zur Verbesserung der notfallmedizini-
Mann getragen (Erwähnung in der Befehls-
schen Ausstattung.
ausgabe)?
5 Wie ist die Folgeversorgung (z. B. mit Ver-
bandmaterial aber auch Batterien) ausge- So ist z. B. bei militärischen Einsätzen neben der
plant? regulären Beschaffung über die Apotheke u. U.
Zum Beispiel Material an der Eindringstelle, ein Direktkauf über die eigene Logistik (als Einsatz-
auf den Kfz, im Bereich der geplanten CCPs, bedarf oft mit höheren Wertgrenzen) oder der Be-
auf allen Evakuierungsmitteln [18], bei zug über Koalitionskräfte möglich. Auch für die
überwachenden Kräften des äußeren Ringes. aufwändige Beantragung von Material gibt es im
Bei einer solchen Verteilung des Materials Einsatz oder bei hoher Dringlichkeit verkürzte Ver-
sind jedoch sehr sorgfältige Absprachen zu fahren.
treffen, die immer wieder mindestens stich-
probenartig überprüft werden sollten.
4 Gibt es weitere, potenzielle Ressourcen? Ein 2.6 Abwägung der Möglichkeiten
Beispiel, was durch die Bezeichnung bereits und resultierender Plan für den
das gesamte Konzept beschreibt, ist die Erfas- Einsatz
sung der Angehörigen der Einheit unter dem
»walking blood bank«-Aspekt. (Also der Wie- Nach Abschluss der Ermittlung von potenziellem
derentdeckung der Warmblutspende und Bedarf und eigenen Möglichkeiten, der negativen
damit der Erweiterung der therapeutischen und positiven Faktoren (Lagefeststellung), erfolgt
Möglichkeiten bzw. der Einsparung einer enor- die bewertende Gegenüberstellung dieser Faktoren
men Logistik bei nach derzeitigen Erfahrungen (Beurteilung). Bei verschiedenen Einsatzoptionen
tolerablen Problemen). (»courses of action«, COA) werden die Unterschie-
de in der Unterstützung erarbeitet. Es werden die
Tipp
möglichen Verläufe, Gemeinsamkeiten, Vor- und
Nachteile, Stärken und Schwächen dargestellt und
Achtung! Bei multinationalen Einsätzen sind
beurteilt. Abschließend wird eine Empfehlung hin-
unterschiedliche Standards nicht nur bei Kon-
sichtlich der aus sanitätsdienstlicher Sicht favori-
zepten und Begrifflichkeiten, sondern auch
sierten Option gegeben.
hinsichtlich der eingesetzten Geräte zu beach-
ten (z. B. Stromspannung, Sauerstoffanschlüs-
se). Adapter vorhalten!
26 Kapitel 2 · Medizinische Einsatzplanung (»medical planning«)

> Ziel der Planung ist die bestmögliche Versor-


Plan für den Einsatz gung von Verwundeten – mit dem geringsten
Mindestens notwendige Inhalte des sanitäts- Einfluss auf die Erfüllung des Auftrages.
2 dienstlichen Anteils:
5 Alle identifizierten medizinischen (gesund- Die Planung endet nicht, sondern auch die
heitlichen) Bedrohungen Fertigstellung eines Operationsplanes ist nur ein
5 Überblick über das medizinische Versor- Schritt in einem Prozess. Jede neue Information,
gungssystems jede Lageänderung muss dazu führen, die Eignung
5 Weg des Verwundeten (s. unten) des Planes zu hinterfragen und ihn ggf. anzupassen.
5 Anforderungsverfahren (redundante Ver- Sobald die Planung konkret genug ist, um sie zu er-
fahren, Rufnamen und Frequenzen) proben, sollten die Abläufe in Trainingsdurchgän-
5 Dokumentation/Registrierung und Melde- gen geübt werden. Auch wenn bei diesen »Probe-
wege durchläufen« irgendetwas nicht funktioniert, sollte
nicht gehofft werden, dass es im Einsatz besser läuft,
sondern der Plan muss in diesem Punkt verbessert
werden. Deswegen wird der Führungs- und Pla-
Kernpunkte für den Weg des Verwundeten
nungsvorgang eben auch als Kreis dargestellt …
5 Organisation am Einsatzort (Personal,
Außerdem darf nie vergessen werden, dass auch
Material, Schlüsselpositionen/-strukturen
bei realistischem Training für den Einsatz (z. B. bei
(CCP!)
den abschließenden »Rehearsals« für einen Zugriff)
5 Transportmöglichkeiten (vor Ort/Trage-
ein hohes Risiko für Verletzungen besteht und die
mittel)/Übergabepunkte/Transportmittel
sanitätsdienstliche Lagebewältigung genauso sorg-
(Kapazitäten, Entfernungen, Transportzei-
fältig ausgeplant werden muss.
ten, Einschränkungen/Hindernisse, Schutz)
5 Einrichtungen: Welches sind die möglichen > Effektive Planung in Bezug auf das Wohler-
»Evakuierungziele«/Aufnahmeeinrichtun- gehen eigener Kräfte basiert auf frühzeitiger,
gen (DCS!) konstanter und umfassender Einbindung des
jeweiligen sanitätsdienstlichen Beraters (also
z. B. auch des Team-Medics) in die Gesamtein-
o Werden mögliche/zu erwartende Verwundete satzplanung.
bei diesem Plan wahrscheinlich gut versorgt werden
können und werden sie es bei mit dem Leben ver- Leider muss manchmal zusätzlich betont werden,
einbaren Verwundungen »schaffen«? Wenn das dass die bestmögliche medizinische Versorgung un-
fraglich, aber der Einsatz zwingend erforderlich ist: mittelbar den Operationserfolg definiert – nicht nur
was kann verbessert, geändert oder ergänzt werden? aufgrund von Fürsorge, sondern auch im Hinblick
Gegebenfalls muss weiterer Klärungs- oder Ent- auf die Führung und insbesondere die Medien.
scheidungsbedarf dargestellt werden: Spätestens wenn es z. B. um Geiseln oder den stra-
4 Werden weitere Informationen benötigt? pazierten Begriff der Kollateralschäden geht, kann
Welche Entscheidungen müssen bis wann ge- dies allen Beteiligten verdeutlicht werden. Außer-
troffen werden? dem sollten die anderen Planer/Abteilungen/Spezi-
4 Gibt es Kompensationsmöglichkeiten bei einer alisten (Grund-)kenntnisse über die sanitätsdienst-
Differenz zwischen Angebot und Nachfrage? liche Versorgung haben, da auch in ihren Bereichen
4 Müssen Einschränkungen gemeldet oder Entscheidungen gefällt werden, die unmittelbare
Nachforderungen gestellt werden? Konsequenzen für die Verwundetenversorgung ha-
4 Was folgt aus den dargestellten Möglichkeiten ben (Annäherungsrichtung und dadurch bedingte
des eigenen Handelns (»wenn, dann« bzw. Vor-/Nachteile für MedEvac; Intervalle der logisti-
»wenn nicht, dann nicht«)? schen Versorgung (Kühlmöglichkeit?) etc.).
Literatur
27 2

Tipp OperationalMedicine/DATA/operationalmed/Manuals/
MEDOPSBOOKFEB01.ppt
13. Beekley AC (2007) Mass Casualties in Combat – Lessons
Die Beteiligung des »Medics«, »Sanis« oder des
Learned. J Trauma 62:S39–S40
»Doktors« an der Einsatzplanung muss immer
14. Grau LW, Jorgensen WA (1997) Beaten by the bugs.
wieder überprüft werden. Selbst wenn sie an- Military Review 77 (6): 30
fangs tatsächlich gemeinsam erfolgt ist, wird 15. Robert Koch-Institut (2011) Steckbriefe seltener und
dann oft die Weitergabe einer Lageänderung importierter Infektionskrankheiten. Berlin. http://www.
oder einer »kleinen Verbesserung« des Planes rki.de/cln_169/nn_468416/DE/Content/InfAZ/Steck-
briefe/Steckbriefe_120606,templateId=raw,property=-
vergessen.
publicationFile.pdf/Steckbriefe_120606.pdf
Kontrollfragen stellen: »Seit der Besprechung 16. NAEMT (2011) PHTLS: prehospital trauma life support,
am/um keine Änderung?«/»Annäherung Military Version, 7th ed. Elsevier Mosby, Toronto
über …?«/»Frequenz …?«/»Abmarsch 17. Whitlock W, Yevich S, Broadhurst R, Thompson GD,
um …?«/»CCP hinter …«). Redmond P, Packard R, eds. (2010) Special Operations
Forces Medical Handbook. MacDill Air Force Base, FL: U.S.
Special Operations Command
18. Butler FK Jr., Hagmann J, Butler G (1996) Military
Medicine, Vol. 161. Supplement 1
Literatur 19. List of current publicly available NATO Standards.
http://nsa.nato.int/nsa/NSDDPubl/listpromulg.html
1. NATO Standardization Agency, Military Committee Air
Standardization Board (MCASB) (2008) STANAG 2087
Medical Employment of Air Transport in the Forward
Area. Edn 6 dated 30 Oct 08
2. NATO (2007) MC 326/2 NATO Principles and Policies of
Operational Medical Support
3. NATO (1999) MC 326/1 NATO Medical Support Principles
and Policies
4. NATO (März 2006) ALLIED JOINT MEDICAL SUPPORT
DOCTRINE AJP 4.10(A)
5. NATO (November 2009) ALLIED JOINT MEDICAL
PLANNING DOCTRINE AJMedP-1
6. NATO (2009) ACO DIRECTIVE 83-1 Medical Support to
Operations (Timelines)
7. Sanitätsamt der Bundeswehr (31.07.2006) Leitfaden
Grundsätze für Führung und Einsatz des Sanitätsdienstes
der Bundeswehr (FüEinsGrdsSanDstBw)
8. Kowitz S (1999) Checklisten Erkundung. Wehrmedizin
und Wehrpharmazie 3: 16–25
9. Bundesministerium der Verteidigung (2001) Handbuch
für Auslandseinsätze im Frieden (Allgemeiner Umdruck
1/100). Federführung Stabsabteilung Fü S V Einsatz
Bundeswehr
10. NATO (1999) Military Medical Support in Disaster Relief.
AMedP-15
11. Department of Defense, Chairman of the Joint Chiefs
of Staff (2009) Foreign Humanitarian Assistance.
Joint Publication 3–29
12. Smith M (2001) Medical Operations Handbook. Brookside
Associates. http://www.brooksidepress.org/Products/
29 3

Spezielle Ausrüstung
S. Schöndube, C. Neitzel, C. Gartmayr, P. Siegert

3.1 Einführung – 31

3.2 Blutungskontrolle – 31
3.2.1 Tourniquets – 31
3.2.2 Junctional Tourniquets (JT) – 34
3.2.3 itClamp 50 (itc) – 35
3.2.4 Verbandstoffe – 35
3.2.5 Hämostyptika – 37

3.3 Atemwegsmanagement – 39
3.3.1 Absaugung – 40
3.3.2 Larynxtubus (King LT) – 40
3.3.3 Notfallkoniotomie – 40
3.3.4 Beatmung – 41

3.4 Thoraxverletzungen – 41
3.4.1 Okklusivverbände (»chest seals«) – 41
3.4.2 Entlastungspunktion – 43
3.4.3 Thoraxdrainage – 43

3.5 Kreislaufmanagement – 43
3.5.1 F.A.S.T. – 44
3.5.2 EZ-IO – 44

3.6 Wärmeerhalt – 45

3.7 Immobilisation – 46
3.7.1 Extremitätenimmobilisation – 46
3.7.2 Beckenstabilisierung – 46
3.7.3 HWS-Immobilisation – 46
3.7.4 Wirbelsäulenstabilisierung – 46

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
3.8 Monitoring – 47
3.8.1 Pulsoxymetrie – 47
3.8.2 Kapnometer – 48
3.8.3 Erweitertes Monitoring – 48

3.9 Rucksäcke und Taschen – 49

Literatur – 52
3.2 · Blutungskontrolle
31 3
3.1 Einführung rüstung kommt nur dann voll zur Geltung,
wenn der Nutzer die sichere und effektive
Im folgenden Kapitel werden Medizinprodukte und Anwendung auch unter Stress beherrscht.
Ausrüstungsgegenstände beschrieben, die ihren
Ursprung und ihre Berechtigung insbesondere in Medizinprodukte unterliegen bei der Einführung
der taktischen Notfallversorgung haben. Auch der und Vertrieb in Deutschland dem Medizinproduk-
zivile Rettungsdienst hat den Wert einiger Medizin- tegesetz (MPG) und der Europäischen Richtlinie
produkte erkannt, ihre Einführung und die Ein- 2007/47/EG [1, 2]. Mit dem Medizinproduktegesetz
bindung in Protokolle begonnen. Die Neu- und wird die Zulassung für den deutschen Markt und
Weiterentwicklung ist ein kontinuierlicher Prozess, die notwendige Kennzeichnung (CE-Kennzeich-
abhängig vom Szenario, geprägt durch die Nutzung nung) geregelt.
des Materials in aktuellen Konflikten und dem dar- In diesem Kapitel werden vor allem Materialien
aus abgeleiteten Bedarf. Daher stellt dieses Kapitel vorgestellt, die für den deutschen Markt zugelassen
nur eine Momentaufnahme der für die taktische sind. Da eine Vielzahl der Innovationen für den prä-
Medizin besonders relevanten, frei auf dem Markt klinischen Einsatz, insbesondere für die taktische
verfügbaren Medizinprodukte dar. Verwundetenversorgung, im anglo-amerikanischen
Einen guten Überblick über den aktuellen Stand Raum ihren Ursprung hat und die europäische Zer-
bieten verschiedene Messen z. B. die jährlich im tifizierung Zeit in Anspruch nimmt, wird im Fol-
Dezember stattfindende »Special Operations Medi- genden auch auf ausgewählte Produkte hingewiesen
cal Association« (SOMA)-Konferenz in Tampa, die noch keine CE Zertifizierung besitzen, bei
Florida, oder als europäische Plattform die Combat denen diese jedoch angestrebt wird.
Medical Care Conference in Ulm im jährlichen
Wechsel mit dem TCCC-Symposium in Pfullen-
dorf. Beide Veranstaltungen zeichnen sich durch 3.2 Blutungskontrolle
Vorträge, Workshops und eine wachsende Zahl von
Ausstellern aus. 3.2.1 Tourniquets
Aufgrund unterschiedlicher Präferenzen wird
jeder Anwender den Vorzug unterschiedlichen Tourniquets dienen der Kontrolle lebensbedrohli-
Produkten geben. Allerdings gibt es genügend Er- cher Blutungen an den Extremitäten. Bis heute gibt
fahrungswerte und empirische Untersuchungen, es kein ideales Tourniquet, jedes hat Vor- und Nach-
um die Auswahl auf erprobte und geeignete Pro- teile, deren Bedeutung der jeweilige Nutzer für sich
dukte zu beschränken. Unter Stresssituationen abwägen sollte. Bei einem Produkt für eine Gruppe,
muss das Team mit dem eigenen Verbandsmaterial die nur ein Basistraining erhält kann z. B. die mög-
handlungssicher sein und darüber hinaus dem lichst einfache Anwendung im Vordergrund stehen,
speziell ausgebildeten Notfallpersonal zuarbeiten ein Personenschützer wiederum hat vielleicht nur
können. Beides setzt eine einheitliche Ausrüstung, seine Anzug-Hosentasche für die Aufbewahrung.
Verpackung und standardisierte Notfall-Kits inner- Die potenzielle Gewebeschädigung durch ein Tour-
halb eines Teams voraus. Die beste Akzeptanz niquet hängt grundsätzlich von ihrer Breite und dem
hat die Ausrüstung, welche Einzelmerkmale wie für die Unterbindung des arteriellen Blutflusses auf-
klein, leicht, wind-, wasser- und staubgeschützt, so- zuwendenden Druck ab. Tourniquets mit einer brei-
wie einfach in der Anwendung, in sich vereinen ten Manschette verursachen weniger Begleitverlet-
kann. zungen [3]. Wenn also wiederum weder Platz noch
Kosten die entscheidende Rolle spielen, ist ein brei-
> Um die Sicherheit für Patienten, Anwender tes, pneumatisches Tourniquet die ideale Wahl.
und Dritte zu gewährleisten, sollte im Einsatz Muss ein Tourniquet dagegen auch ohne ständi-
nur Material mitgeführt werden, auf das der ge Überwachung zuverlässig wirken, sind pneu-
Anwender eingewiesen ist und mit dessen matische Tourniquets nicht erste Wahl, da sie un-
Handhabung er vertraut ist. Die beste Aus- bemerkt Druck verlieren können. Im Hinblick auf
32 Kapitel 3 · Spezielle Ausrüstung

a b c

. Abb. 3.1a–c Befestigungsmöglichkeiten von Tourniquets. a Tasmanian Tiger. b NOW! von Blue Force Gear. c NATO-T mit
Gummibändern. (Fotos: S. Schöndube)

das Anlegen des Tourniquets mit nur einer Hand spröde werden und bei sehr hoher Belastung bre-
(»one-handed«) z. B. bei einer lebensbedrohlichen chen. Dies sollte bei der Aufbewahrung bedacht
Blutung am Arm und ohne die Möglichkeit der werden, und ein regelmäßiger Tausch ist sinnvoll.
Hilfe durch eine zweite Person, sind einige der ver- Bei der derzeit verfügbaren 3. Generation des Pro-
fügbaren Tourniquets nur eingeschränkt, andere duktes wurden u. a. der Knebel verstärkt, das Ende
gar nicht geeignet. Man sollte die jeweiligen Nach- rot markiert, um ein stresssicheres Einschlaufen zu
teile kennen und ggf. ein Zweitprodukt mitführen, gewährleisten, und das Klettband zum Verschließen
um eine lebensbedrohliche Blutung zuverlässig und wurde in weiß gestaltet, um gut erkennbar die An-
schnell stoppen zu können. legezeit notieren zu können.
Das Tourniquet sollte an der Ausrüstung so
angebracht sein, dass es sichtbar ist und der Träger SOF Tactical Tourniquet Wide (SOFTT-W) Das
es selbst mit beiden Händen gleichermaßen von SOFTT-W (. Abb. 3.2b) ist eine Weiterentwicklung
seiner Ausrüstung entfernen kann. Bei Schutz- des 2003 auf dem Markt erschienenen SOFTT. Der
westen bietet die Frontplatte genügend Spielraum Knebel und auch der Verschlussmechanismus sind
zur Befestigung. Hierfür können sowohl kommer- aus Metall gefertigt. Mit dem SOFTT-W kann ein
zielle Tourniquethalter als auch einfache Gummi- hoher Druck aufgebaut werden, was für das Abbin-
bänder dienen (. Abb. 3.1). den an den unteren Extremitäten erforderlich sein
kann.
Combat Application Tourniquet (C.A.T) Das C.A.T. Da es aber schwerer und größer ausfällt als das
(. Abb. 3.2a) ist seit Jahren das am meisten verbrei- C.A.T., wird es gern als Backup-Tourniquet bei dem
tete Tourniquet. Es wurde auch in die Bundeswehr Team Medics vorgehalten. Es kann – ebenso wie das
eingeführt und wird an alle Soldaten in den Einsatz- C.A.T. – in den Farben schwarz (taktisch), orange
gebieten der Bundeswehr ausgegeben. Das C.A.T. (Rettungsdienst) und blau (Training) erworben
zeichnet sich insbesondere durch geringes Packmaß werden. Von beiden gibt es (teilweise schwer zu er-
und Gewicht sowie die gute Handhabbarkeit ein- kennende) Plagiate auf dem Markt, die nicht zuver-
schließlich einer vergleichsweise einfachen Ein- lässig funktionieren.
Hand-Anwendung aus. Die Abbindung verläuft
innerhalb einer Stoffummantelung und vermindert Emergency & Military Tourniquet (EMT) Das EMT
so Reibungsschäden und Einklemmungen der Haut. ist das einzige durch das CoTCCC empfohlene
Das Tourniquet ist als Einmalprodukt konzi- Tourniquet, welches pneumatisch Druck aufbaut.
piert. Gerade bei längerer Sonnen- bzw. UV-Expo- Aufgrund des flächigen Drucks durch die breite
sition an der Ausrüstung können die Plastikanteile Manschette ist die punktuelle Belastung des Gewe-
3.2 · Blutungskontrolle
33 3

a b

c d

. Abb. 3.2a–d Verschiedene Tourniquets. a C.A.T. der Fa. Composite Resources. b SOFTT Wide der Fa. Tactical Medical
Solutions. c NATO-Tourniquet. d SWAT-Tourniquet. (Fotos: S. Schöndube, Dr. C. Neitzel)

bes geringer als bei mechanischen Tourniquets. Da- 30 sec erreicht werden. In der Praxis ist es jedoch
durch kann die Gefahr von Gewebeschädigungen vorgekommen, dass der Ratschenmechanismus
beim Anlegen und bei einer längeren Verweildauer dem Druck nicht standgehalten hat. Das E-MAT
reduziert werden. Bei einem Lufttransport muss, besitzt eine CE-Zertifizierung.
wie bei allen luftgefüllten Medizinprodukten, auf
den sich ändernden Fülldruck der Manschette ge- NATO-Tourniquet Das NATO-Tourniquet (. Abb.
achtet werden. Nachteile der EMT sind die Größe 3.2c) ist eine Weiterentwicklung der Grundidee aus
und der hohe Anschaffungspreis. Ebenfalls kann bei dem Vietnamkrieg. Damals wurde ein Dreiecktuch
proximalen Verletzungen die Breite der Manschette mit einem Knebel und einem Fixierring versehen.
hinderlich sein. Es gibt seitens der Herstellungsfir- Es wurde von den norwegischen Spezialkräften wei-
ma Überlegungen, die Kosten für die Herstellung terentwickelt. Das metallene Endstück dient nach
durch die Neugestaltung des Verschlussmechanis- Einhängen des am Riemenende eingenähten Ringes
mus zu reduzieren. Es wird durch das CoTCCC als gleichzeitig als Knebel. Ist das Tourniquet fest genug
Tourniquet für den Sanitätsdienst empfohlen. angezogen, kann es mit dem verschiebbaren Ring
durch Einhaken festgelegt werden. Das NATO-
Mechanical Advantage Tourniquet (MAT) Das MAT Tourniquet ist einhändig nur umständlich anzule-
(zivile Version E-MAT in Orange) ist ein relativ gro- gen. Zum Anlegen an den oberen Extremitäten ist
ßes mechanisches Einhandtourniquet. Der Ver- es notwendig, den Arm vor dem Schließen zweimal
schlussmechanismus (Ratsche) ist in der vorge- zu umwickeln, erst danach kann der nötige Druck
formten Spange der Basis eingebracht. Das Tourni- erreicht werden. Am Bein reicht meistens eine
quet wird mittels eines Haken/Ösen-Prinzips ge- Wicklung aus.
schlossen und kann somit leicht angelegt werden. Das Anlegen des Tourniquets ist oft relativ
Der Druck wird danach mittels einer Ratsche durch schmerzhaft, da es im Bereich des Knebels meist zur
eine Drehbewegung aufgebaut. Laut Hersteller kann Einklemmung der Haut kommt. Aufgrund des ge-
eine Abbindung unter Idealbedingungen in ca. ringen Packmaßes ist es für verdeckte Operationen
34 Kapitel 3 · Spezielle Ausrüstung

bestens geeignet. Es ist sehr verlässlich und als uni- oder bilateralen Einsatz verfügbar. Einige JT
Backup eine sinnvolle Ergänzung. sind ebenso für den Einsatz an anderen Körper-
regionen geeignet. Das CoTCCC-Komitee hat be-
Tipp
reits eine Empfehlung zum Einsatz von JT in seine
Guidelines [5] aufgenommen.
Wegen des sehr flexiblen Gurtbandes und
3 der fehlenden Druckplatte, kann das NATO-
Junctional Emergency Treatment Tool (JETT) Das
Tourniquet sehr gut bei Diensthunden verwen-
JETT wurde von der Fa. North American Rescue in
det werden.
Zusammenarbeit mit dem UT Health Science Cen-
ter for Translational Injury Research (CeTIR) ent-
SWAT-Tourniquet Das SWAT-Tourniquet ist im wickelt. Es besitzt eine CE Zertifizierung und hat
Endeffekt eine Gummibinde, die im festen Zug um bei einer Studie bewiesen, dass eine Kompression
eine Extremität gewickelt wird (. Abb. 3.2d). Sie der Arterie femoralis innerhalb von 68 sec. bilateral
entspricht damit vom Funktionsprinzip einer möglich ist. Das JETT ist erst seit kurzem auf dem
traditionellen Esmarch-Binde. Aufgebrachte Mar- Markt und muss noch zeigen ob es sich gegen Kon-
kierungen sollen durch Änderung ihrer Form an- kurrenzprodukte anderer Hersteller durchsetzen
zeigen, wann ein ausreichend großer Zug aufge- kann. Das Abdrücken, weniger Abbinden, erfolgt
bracht wird. Das Tourniquet ist nicht einhändig mechanisch und nutzt die anatomische Landmarke
nutzbar, muss bei unzureichender Kompression im Bereich distal des Leistenbandes.
komplett abgewickelt werden und ist unter Stress
oder wenn es nass ist (z.B. durch Blut) eher schwer SAM Junctional Tourniquet Das SAM ist ein pneu-
zu handhaben. matisches Tourniquet welches bilateral Manschet-
ten besitzt. Diese können jedoch, wenn nur eine
einseitige Verletzung behandelt werden muss, ent-
3.2.2 Junctional Tourniquets (JT) fernt werden. Als Begleitverletzung bei schweren
Extremitätenverletzungen, insbesondere Amputa-
Ein relativ neuer Bereich betrifft die Markteinfüh- tionsverletzungen ist eine Beckenfraktur häufig.
rung sog. »Junctional Tourniquets«, für den präkli- Das SAM wurde so gestaltet, dass neben der Mög-
nischen Einsatz. JT wurden aufgrund einer Bedarfs- lichkeit des gleichzeitigen bilateralen Abdrückens
forderung des Department of Defense (DoD) [4] der Arteria femoralis, auch eine Hüftfraktur stabili-
entwickelt, und einige Produkte haben zwischen- siert werden kann. Untersuchungen haben ergeben,
zeitlich bereits eine CE-Zertifizierung. Als Folge dass das SAM Junctional Tourniquet nach einer
zunehmender IED-Anschläge haben Methoden Zeitspanne von 25 sec erfolgreich die Arteria femo-
und Geräte an Bedeutung gewonnen, die Explosi- ralis komprimieren kann. Auch das SAM besitzt
onsverletzungen auch im Leistenbereich behandeln bereits eine CE-Zertifizierung.
können. Da diese Verletzungen außerhalb des Ein-
satzbereiches von Extremitäten-Tourniquets liegen, Abdominal Aortic Junctional Tourniquet (AAJT) Mit
konnte der Behandelnde bisher nur versuchen, sie dem AAJT (. Abb. 3.3) verfolgt die Fa. Compres-
manuell zu komprimieren und dann, z. B. mit Hilfe sion Works LLC einen anderen Ansatz für das glei-
von Widerlagern und unter Nutzung von Hämos- che Grundproblem der hohen Verletzung an den
typtika, suffiziente Druckverbände anzulegen. unteren Extremitäten ohne die Möglichkeit einer
Weiterhin wurde festgestellt, dass es bei IED- Abbindung mit herkömmlichen Tourniquets. Das
Anschlägen sehr häufig zu beidseitigen Verletzun- AAJT soll die Aorta abdominalis nahe der Bifurca-
gen kommt. Als Antwort seitens der Industrie wur- tio aortae pneumatisch komprimieren.
den mechanische und pneumatische Tourniquets Tests haben ergeben, dass dies grundsätzlich
entwickelt, die die Kompression der Arteria femo- möglich ist (siehe 7 Abschn. 9.3.4). Das AAJT wurde
ralis oder der Aorta abdominalis bzw. der Bifurka- bereits in Afghanistan erfolgreich zum Einsatz ge-
tion zum Ziel haben. Es sind Tourniquets für den bracht. Vom Hersteller werden auch der Hals- sowie
3.2 · Blutungskontrolle
35 3

. Abb. 3.3 Das AAJT der Fa. Compression Works LLC in . Abb. 3.4 CRoC der Fa. Combat Medical System, der Auf-
der Anwendung. (Mit freundlicher Genehmigung der Fa. bau mit verstellbaren Gestell, Fixierung und der mecha-
Compression Works LLC) nische Druckstempel sind gut zu erkennen. Das Endstück
(hier für die Arterie femoralis dargestellt) kann entspre-
chend der Anwendung angepasst werden. (Mit freundlicher
Genehmigung durch die Fa. Combat Medical Systems)

der Achselbereich als mögliche Einsatzgebiete für 3.2.3 itClamp 50 (itc)


das AAJT beschrieben. Im letzteren Fall gibt es be-
reits erfolgreiche Anwendungen. Es hat ebenfalls Die itClamp 50 (. Abb. 3.5) ist ein Instrument zum
bereits eine Zulassung für den deutschen Markt. Wund-/Hautverschluss, das kritische Blutungen
schnell kontrolliert, indem die Haut zusammenge-
Combat Ready Clamp (CRoC) Mit dem CRoC zogen wird und das sich bildende Hämatom die
(. Abb. 3.4) wurde von der Fa. Combat Medical Blutung bis zur chirurgischen Erstversorgung tam-
Systems ein mechanisches Tourniquet entwickelt, poniert. Die itc ist ein Einmalprodukt und für den
welches wie eine Art Schraubzwinge, die Arteria Gebrauch bis zu 24 h zugelassen Die itc wird durch
femoralis einseitig komprimieren soll. Die Anlage Nadeln in der Haut verankert und durch einen Ver-
erfordert etwas Übung, da der Druckpunkt mittels schlussmechanismus in Position gehalten. Es wird
des verstellbaren Metallgestells justiert werden ein gleichmäßiger Druck auf die Wundränder aus-
muss. Das Abdrücken der Arteria femoralis wurde geübt, was verhindert, dass weiteres Blut über die
innerhalb kurzer Zeit erreicht. Da das CRoC nur Wundhöhle aus dem Körper fließen kann. Durch
unilateral arbeitet, kann es notwendig sein ggf. ein ansteigenden Druck innerhalb des Gewebes wird
zweites anzulegen. Dies ist ohne Probleme möglich. die Blutung gestoppt und die Möglichkeit zur
Das CRoC kann ebenfalls bei einer Verletzung Thrombusbildung geschaffen (. Abb. 3.5b). Es
des Oberarmes, ohne Möglichkeit der Tourniquet- kann über den Verriegelungsmechanismus der
Anlage zum Einsatz gebracht werden. Dazu wird Druck auf die Wundränder erhöht oder verringert
das CRoC so verändert, dass der halbkugelförmige werden, so dass Sekundärschäden reduziert werden
Druckpunkt gegen eine viereckige Form getauscht können. Die itc benötigt als Voraussetzung jedoch
wird. Hierdurch wird der Querschnitt des Druck- relativ glatte Wundränder, die adaptiert werden
punktes und somit die Erfolgsaussicht erhöht. können.
Als allerletzte Möglichkeit wird vom Hersteller
die Möglichkeit beschrieben – bei isolierten Verlet-
zungen beider Beine – die Aorta abdominalis zu 3.2.4 Verbandstoffe
komprimieren. Dazu wird das Gestell so fixiert, das
die halbkugelförmige Druckplatte unterhalb des Im Folgenden werden vorgefertigte Druckverband-
Bauchnabels zum Einsatz kommt. Die CRoC ist seit päckchen und Verbandstoffe zum Tamponieren
2013 CE-zertifiziert. näher beschrieben. Sie haben sich als Standard
36 Kapitel 3 · Spezielle Ausrüstung

a b

. Abb. 3.5a,b itClamp 50. a Itc im geöffneten Zustand, »ready to use«. b Itc im Einsatz, zu sehen ist das Verschließen der
Wundhöhle. (Mit freundlicher Genehmigung durch die Fa. PfalzMed)

etabliert, denn sie sind wesentlich schneller hand-


habbar und effektiver als herkömmliche Verband-
päckchen. Aufgrund der großen Vielzahl unter-
schiedlicher Produkte, beschränkt sich das Kapitel
auf bereits weiter verbreitete und daher häufig er-
probte Materialien.

Druckverbandpäckchen
Alle Produkte verfügen über eine größere Wundauf-
lage, elastisches Bindenmaterial, mit dem ein ange-
a
passter Druck aufgebaut werden kann, sowie eine
Verschlussmöglichkeit, meist durch Klett oder Ha-
ken. Bei den meisten ist ein unterschiedlich geform-
ter Druckkörper integriert, einige bieten Zusatzop-
tionen. Auch die Uriel-Bandage, Cinch Tight,
H-Bandage, FEB9 oder andere Produkte können
aufgrund unterschiedlicher Details für einen be-
stimmten Anwender Vorteile bieten. Wichtig sind
jedoch der erprobte Umgang und die bereits erwähn-
te Einheitlichkeit innerhalb eines Einsatzteams.

b
»The Emergency Bandage« (Notverband) Der Not-
verband (. Abb. 3.6a), auch bekannt als »Israelische . Abb. 3.6a,b Druckverbände. a Emergency Bandage/Not-
Binde«, wurde 2003 in die Bundeswehr eingeführt verband der Fa. FirstCare Products. Darstellung der verschie-
und gehört zum festen Bestandteil der persönlichen denen erhältlichen Größen. Als Unterlage dient der Abdomi-
nalverband. b OLAES Modular Bandage der Fa. TacMed Solu-
Sanitätsausstattung für die Soldaten im Einsatz. Die
tions (Fotos: S. Schöndube)
Bandage ist vakuumiert und doppelt verpackt und
kann aufgrund einer Schlaufe bei Bedarf vom Ver-
letzten selbst angelegt werden. Ein Plastikknebel des. Weiterhin verhindert ein eingearbeiteter Faden
kann als Druckkörper, zur Umlenkung der Ver- das ungewollte Abrollen der Binde beim Anlegen.
bandrichtung und zur Fixierung genutzt werden. Der Notverband ist in mehreren Varianten verfüg-
Für die letztgenannte Funktion befindet sich primär bar, u. a. in 10 und 15 cm Breite, mit einer zweiten
eine Spange mit Widerhaken am Ende des Verban- Wundauflage sowie als Bauchverband.
3.2 · Blutungskontrolle
37 3

. Tab. 3.1 Vergleich verschiedener Mullbinden

L/B der Binde Größe CE


der Ver-
packung

Kerlix-Rolle 4,5 m/11,25 cm 30×16 cm Ja


(Tyco
Healthcare)

S-rolled 3,7 m/11,4 cm 7×9 cm Ja


Gauze
(NARescue)
. Abb. 3.7 Größenvergleich Kerlix-Rolle (Tyco Healthcare), H&H Bandage 3,7 m/11,4 cm 6×7 cm Nein
S-rolled Gauze (NARescue) und H&H Bandage

OLAES Modular Bandage Die OLAES (. Abb. 3.6b) teil darin, dass mit der Binde direkt aus der Packung
der Fa. Tactical Medical Solutions wurde von einem heraus tamponiert werden kann.
ehemaligen Medic der US Spezialkräfte entwickelt.
Die OLAES vereint eine Mehrzahl an Behandlungs-
möglichkeiten. Der Druckkörper kann auch als 3.2.5 Hämostyptika
Augenklappe genutzt werden, unter der Wund-
auflage befinden sich eine 15×20 cm große, durch- Bei stark ausgeprägten und damit lebensbedrohli-
sichtige Plastikfolie, die als luftdichter Verband chen Blutungen oder bei Blutungen, die sich z. B.
oder bei Verbrennungen bzw. Bauchverletzungen mit einem Druckverband nicht stoppen lassen, ist
genutzt werden kann sowie ein 10×250 cm langes der Einsatz von blutstillenden Substanzen, sog. Hä-
Stück Kerlix-Verbandmull, welches für das mostyptika – auch Hämostatika genannt – indiziert.
Tamponieren von Wundhöhlen gedacht ist. Die Alle derzeit verbreiteten Substanzen sollten mög-
Bandage ist in Breiten von 10 und 15 cm verfügbar lichst nahe an die Blutungsquelle gedrückt werden
und wird häufig beschafft, wenn die Multifunk- (bereits ausgetretenes Blut aus der Wunde wischen)
tionalität eines Produktes – z. B. aufgrund eines und der Druck muss nach der Einbringung noch
beschränkten Ausrüstungsumfanges – von Vorteil mehrere Minuten aufrechterhalten werden.
ist.

Wundtamponade Wirkstoffe der Hämostyptika (. Tab. 3.2)


Zum Tamponieren bzw. Packen wird ein saugfähi- 5 Kaolin ist eine Mineralerde, die durch die
ger Verbandsstoff benötigt, der sich leicht in Wund- Oberfläche die intrinsische Gerinnungs-
höhlen einbringen lässt. Hierzu ist ein »flauschiger« kaskade aktiviert. Es weist hat günstige
gewebter Verbandmull verfügbar, der zuerst unter Nebenwirkungen und wird beim QuikClot
dem Namen Kerlix vertrieben wurde. . Abb. 3.7 und Combat Gauze der Fa. Z-Medica eingesetzt.
. Tab. 3.1 geben einen Überblick über die derzeit 5 Chitosan wird aus der Schale von Krusten-
erhältlichen Produkte. tieren gewonnen und zieht aufgrund einer
Auch wenn die Kerlix-Rolle der Fa. Tyco Health- positiv elektrostatischen Aufladung negativ
care Deutschland GmbH die größte Saugkraft auf- geladene Thrombozyten an. Durch die
weist, ist sie für den präklinischen Einsatz im takti- Anhaftung wird die Gerinnungskaskade
schen Umfeld, aufgrund der ungünstigen Verpa- aktiviert. Das wiederum begünstigt die
ckung (Größe und Papier) und der Handhabbarkeit Bildung eines Thrombus. Die Aktivierung
der regulären Rollenform nicht praktikabel. Bei in erfolgt auch bei ungünstigen Vorausset-
Z- oder S-Form gefalteten Binden besteht der Vor-
38 Kapitel 3 · Spezielle Ausrüstung

kung in der Wunde auch Augenschäden verur-


zungen, wie bei marcumarisierten, hepari- sachen konnte.
nisierten und hypothermen Verletzten. Ins- Die zweite Generation Hämostyptika (Celox
besondere die Wirkstoffaktivierung bei Hy- Pulver, QuikClot ACS+ u. a.) zielte v. a. darauf ab,
pothermie macht es für den präklinischen die Nachteile der ersten Generation zu vermeiden.
Einsatz wertvoll. So wurde beispielsweise die Hitzeentwicklung bei
3 5 Zeolith ist ein Vulkangestein, das bis zu QuickClot reduziert. Eine Abfüllung in Beutel
40 % seines Trockengewichtes an Wasser machte das Einbringen in die Wunde einfacher.
aus dem umliegenden Blut resorbieren Neben einer im Vergleich weniger befriedigenden
kann. Durch die daraus resultierende blutstillenden Wirkung brachte diese Verpackungs-
Konzentration an Gerinnungsfaktoren und form Schwierigkeiten bei der Anwendung in engen,
Thrombozyten wird die Gerinnung punk- tiefen Wunden mit sich.
tuell verbessert. Da die Reaktion exotherm Die dritte Generation (QuikClot Combat
verläuft, kann es bei unsachgemäßer Gauze, Celox Gauze, ChitoGauze etc.) sind Ver-
Anwendung, zu unerwünschten Neben- bandstoffe, welche mit den jeweiligen Hämostypti-
wirkungen kommen. ka beschichtet sind. Sie sind einfacher anzuwenden
und können auch bei sehr engen oder flächigen
Wunden gut genutzt werden. Im Gegensatz zu vor-
Die erste Generation der Hämostyptika wirkte gut, herigen Generationen wirken sie bereits durch das
wies aber deutliche Nachteile auf. So war das in Prinzip der »normalen« Wundtamponade. Einige
Form einer 10×10 cm großen Wundauflage erhält- Produkte sind nicht gerollt, sondern im Zick-Zack
liche HemCon bei zerklüfteten Wunden schwer gefaltet verpackt erhältlich. Dies erleichtert die
anzuwenden und in enge Wunden kaum einzubrin- Handhabung beim Tamponieren von Wunden er-
gen. Das bekannteste Hämostyptikum, QuikClot, heblich. In der Praxis sind sie früheren Generatio-
wies hervorragende blutstillende Eigenschaften auf, nen grundsätzlich überlegen. Welche der zurzeit
wurde aber bis zu 70 °C heiß und führte dadurch verfügbaren Produkte die beste Wirksamkeit auf-
zu Gewebeschäden über die eigentliche Verletzung weisen ist noch nicht ausreichend durch Studien
hinaus. Die Pulverform hat deutliche Nachteile oder Fallbeispiele belegt. Sie haben jedoch unter-
beim präklinischen Einsatz: es wurde bei starkem schiedliche Besonderheiten, die die Entscheidung
Wind verweht, was neben der verminderten Wir- für ein Produkt beeinflussen können.

. Tab. 3.2 Übersicht Hämostyptika. (Nach Fischer et al. [3])

Produkt Wirkstoff Auf dem CE-Zertifi- Dar- Blutstillungseffizienz Nebenwirkungen


Markt zierung reichung (im Vergleich) (im Vergleich)

QuikClot Zeolith 2003 Ja Granulat +++ +++

QuikClot ACS+ Zeolith 2006 Ja Beutel + ++

Celox Chitosan 2006 Ja Granulat +++ +

Celox Gauze/ Chitosan 2011 Ja Verband ++ –


Chito Gauze

QuikClot Kaolin 2008 Ja Verband +++ –


Gauze

(als Vergleich:) Baumwolle ? Ja Verband +(+) −


Kerlix

+ gering; ++ mittel; +++ hoch; ++++ sehr hoch; – keine


3.3 · Atemwegsmanagement
39 3
ist auf eine resorbierbare Binde aufgebracht. Es sind
Versionen mit 1,5 m und 3 m, Z-förmig gefaltet und
Vakuum verpackt, verfügbar. Durch das Einbringen
der Binde und den Kontakt mit Blut löst sich das
Trägermaterial auf, mit dem zusätzlichen Ausüben
von Druck ist ein Entfernen von freier Flüssigkeit
nicht mehr zwingend erforderlich. Des Weiteren
gibt es mit Celox Trauma Gauze (7,6×180 cm) die
Möglichkeit zum dualen Einsatz, zum einen als Hä-
mostyptika und zum anderen, mit Wasser befeuch-
tet, für den Einsatz bei Brandverletzten. Mit Wasser
a oder einer kristalloiden Infusionslösung getränkt
entwickelt sie eine gelartige Konsistenz, was Ver-
brennungen abdecken, schützen und kühlen soll.

Chito Gauze Auch HemCon hat in der neusten Ge-


neration den Wirkstoff Chitosan auf ein flexibles
Trägermaterial (7,6 cm × 3,7 m) aufgebracht, wel-
ches sich leicht in Wundhöhlen einbringen lässt.
Die Chito Gauze besitzt außerdem antimikrobielle
Eigenschaften.

. Abb. 3.8a,b Hämostyptika. a QuikClot GauzeCELOX.


3.3 Atemwegsmanagement
b Z-folded Gauze. Gut zu erkennen ist das relativ steife
Material und die gefaltete Form der Binde. (Fotos: S. Schön- Es gibt kontroverse Diskussionen über das »rich-
dube) tige« Atemwegsmanagement im präklinischen Ein-
satz. Die Invasivität der Maßnahme wird im We-
sentlichen von der Gesamtlage und den Fähigkeiten
QuikClot Gauze (. Abb. 3.8a) Z-Medica hat bei des Anwenders bestimmt. Bevor sich der Anwen-
Combat Gauze Kaolin auf eine Trägerbinde aufge- der z. B. für eine Intubation entscheidet, sollte die
bracht und damit die Nachteile der 1. und 2. Gene- Frage geprüft werden, ob auch die Mittel bereit
ration, Hitzeentwicklung sowie loses Granulat, stehen, um die Beatmung über einen ausreichen-
vermieden. Die Binde ist, in der neusten Version, den Zeitraum aufrecht zu erhalten und auf etwaige
Z-förmig gefaltet und vakuumverpackt, dadurch Komplikationen zu reagieren (Absaugung, Narkose-
klein im Packmaß und kann ohne Probleme in mittel, Sauerstoff, Personal zur kontinuierlichen
Wundhöhlen oder großflächige Wunden aufge- Betreuung). Die Indikation kann für eine Intuba-
bracht werden. Außerdem kann es beim Röntgten tion gegeben sein, jedoch lassen möglicherweise
detektiert werden. Als Reaktion auf Anwender, die weder die Mittel noch das taktische Umfeld diese
wiederholt bemängelt hatten, das eine Rolle Com- zeitintensive Maßnahme zu. Bei allen invasiven
bat Gauze (7,6 cm × 3,7 m) nicht ausreichend war, Maßnahmen sollte also geprüft werden, ob sie
wurde Combat Gauze XL doppellagig bei gleicher unbedingt notwendig sind, oder ob ein einfaches
Länge auf den Markt gebracht. Für großflächige Manöver ausreicht, bis bessere Voraussetzungen
Verletzungen ist das Combat Gauze Trauma Pad geschaffen wurden.
(30×30 cm) verfügbar. Wenn Lage und Zustand des Patienten es erfor-
dern, sollte ein Wendl-Tubus eingesetzt werden,
Celox Gauze Bei Celox Gauze (. Abb. 3.8b) kommt soweit die taktische Lage dies erlaubt (7 Kap. 9).
der Wirkstoff Chitosan zum Einsatz. Der Wirkstoff
40 Kapitel 3 · Spezielle Ausrüstung

! Der Einsatz eines Guedel-Tubus hat sich auf-


grund der schwierigen Fixierung und wegen
der hohen Gefahr, Erbrechen auszulösen, in
der Phase »Care under Fire« als nicht prakti-
kabel erwiesen.

3
3.3.1 Absaugung

Häufig ist es notwendig, Flüssigkeiten aus dem


Rachenraum abzusaugen. Für den abgesessenen
Einsatz besteht jedoch das Problem, dass zwar eine . Abb. 3.9 Suction Easy Handabsaugpumpe.
große Anzahl von verlässlichen, mechanischen Ab- (Foto: Dr. C. NeitzeI)
saugpumpen verfügbar ist, diese jedoch zu groß
und schwer ausfallen, z. B. AmbuTwin oder die Tipp
Handabsaugpumpe von VBM Medizintechnik.
Modelle mit Fußbetrieb sind darüber hinaus bei Kommt es zu Undichtigkeit nach dem Blocken,
weichem Untergrund (z. B. Schnee, Matsch) häufig den Tubus nicht entfernen, sondern mit 20 ml
nicht einsetzbar. Aufgrund der äußerst kompakten Luft nachblocken. Erst wenn durch diese Maß-
Bauweise und der hohen Zuverlässigkeit ist die nahme ebenfalls keine Abdichtung erreicht
Suction Easy (. Abb. 3.9) eine gute Alternative. Der wurde, ist der Tubus zu entfernen.
1000-ml-Auffangbeutel ist im Notfall abreißbar, die
Pumpe bleibt weiterhin voll funktionsfähig. Zur en-
dotrachealen Absaugung lässt sich mittels eines Um das Aspirationsrisiko bei Bedarf durch Ab-
Fingertip-Zwischenstücks mit großem/kleinem saugung des Magens verringern zu können, sollten
Anschluss (z. B. für Accuvac) auch ein handelsübli- Modelle mit einem Kanal zum Einführen von
cher Absaugkatheter vorschalten. Der Schlauch Magensonden bevorzugt werden (z. B. LTS II,
lässt sich in den Pumpenkörper zurückschieben, LTS-D).
wodurch sich das Packmaß verkleinert.

3.3.3 Notfallkoniotomie
3.3.2 Larynxtubus (King LT)
Es gibt Situationen in denen diese invasive Maß-
Für nicht spontan atmende Verletzte hat sich der nahme notwendig ist, um das Leben eines Verletz-
Larynxtubus (von VBM Medizintechnik GmbH) in ten zu retten z. B. bei Bewusstlosigkeit mit massi-
unterschiedlichen Ausführungen als praktikabel er- vem Gesichtstrauma. Es ist die letzte Möglichkeit
weisen. Er ist, auch für weniger Geübte, einfach in und sollte auch als solche und nur von geübtem
der Anwendung, kann bei günstigen Verhältnissen Personal unter Analgesie durchgeführt werden.
innerhalb weniger Sekunden appliziert werden und Es gibt zahlreiche kommerzielle Koniotomie-
hat eine geringe Komplikationsrate. Es handelt sich bestecke wie z. B. Quick Trach II von VBM, CricKit
um einen Tubus der im Hypopharynx mit einem von NARescue oder das – eher starre – Kit von
Ballon den Ösophagus und mit dem zweiten Cuff Portex (Portex Cricothyroidotomy Kit). Alle versu-
den Pharynx verschließt. Der King LT wird in ins- chen mit unterschiedlichen Konstruktionen, eine
gesamt sieben Größen (farbkodiert) angeboten. Penetration der Kehlkopfrückwand zu verhindern.
Die Blockerspritze ist mit 120 ml sehr groß. Als Allerdings arbeitet man »ohne Sicht«, so dass von
– nicht MPG-gemäße – Notlösung eignet sich eine den meisten präklinisch erfahrenen Experten die
mehrfach gefüllte 20-ml-Spritze. Eine sinnvolle Er- chirurgisch-anatomische Präpariertechnik emp-
gänzung ist ein Gleitmittel. fohlen wird (7 Kap. 9).
3.4 · Thoraxverletzungen
41 3

. Abb. 3.10 Endotrachealtubus mit Bougie »Führungshilfe«, . Abb. 3.11 Pocket BVM. (Foto: S. Schöndube)
der Bougie ist im Gegensatz zum Führungsstab hochflexibel
und kann dadurch in die eröffnete Luftröhre eingebracht
werden, um dann dem ET-Tubus als Führung zu dienen.
(Foto: S. Schöndube)

Für die Durchführung wird als Minimum aller-


dings nur ein scharfer Gegenstand (vorzugsweise
Skalpell Nr. 15) und ein Endotrachealtubus (Größe
6) mit Blocker-Spritze benötigt. Ein, industriell ge-
fertigter Trachealhaken (z. B. NAResuce), eine an
der Spitze zum Haken gebogene 14-G-Venüle oder
ein Nasenspekulum haben sich als Hilfsmittel be-
währt. Bei letzterem besteht die geringste Gefahr,
den Cuff des Tubus bzw. einer Trachealkanüle zu . Abb. 3.12 Medizingeräte im Größenvergleich. Links
oben: EMMA-Notfallkapnometer. Links unten: Nonin-Finger-
beschädigen. Diese Materialien sind außerdem
pulsoxymeter Onyx. Rechts oben: SAVe Raumluftbeat-
multifunktional und schonen zusätzlich das Budget. mungsgerät (batteriebetrieben). (Foto: Dr. C. Neitzel)
Eine Klemme oder ein Introducer bzw. Bougie
(. Abb. 3.10) als Führungshilfe können ebenfalls
hilfreich sein. Zum Verschließen der Schnittwunde (Simplified Automated Ventilator) (. Abb. 3.12) der
bzw. Fixieren kann ein 2.0-Faden genutzt werden Fa. AutoMedx. Es wird bei einer festeingestellten
oder ein luftdichter Wundverband in Kombination Atemfrequenz von 10 Atemzügen pro Minute und
mit Wundkompressen bzw. Kerlix. einem Atemzugvolumen von ca. 600 ml mit Umge-
bungsluft betrieben. Bei Bedarf kann Sauerstoff
mittels Zuleitung angeschlossen werden. Das SAVe
3.3.4 Beatmung kann ca. 5 Stunden stromunabhängig betrieben
werden.
Aus Platzgründen wird in First-Responder-Ruck-
säcken, aufgrund ihrer Größe oft auf Beatmungs-
beutel verzichtet. Der Pocket BVM (. Abb. 3.11) ist 3.4 Thoraxverletzungen
dagegen ein in einer staubdichten, stabilen Dose
(6×13 cm) verpackter, vollwertiger Beatmungsbeu- 3.4.1 Okklusivverbände
tel mit Maske und Sauerstoffreservoir, der selbst in (»chest seals«)
kleine Medic-Rucksäcke verstaut werden kann.
Eine adäquate Beatmung ist ausschließlich mit Es ist eine breite Palette an kommerziell angebote-
einem Beatmungsbeutel nur schwer anhaltend zu nen luftdichten Verbänden verfügbar. »Chest seals«
gewährleisten und bindet einen Helfer durch- sollen penetrierende Verletzungen im Thorax-
gehend. Ein Beispiel für ein miniaturisiertes, und bereich luftdicht verschließen (7 Kap. 9) Selbst-
batteriebetriebenes Beatmungsgerät ist das SAVe haftende Wundverbände haben sich gegenüber
42 Kapitel 3 · Spezielle Ausrüstung

Plastikfolie (z. B. einer Verpackung, die mit Tape


befestigt wird) als vorteilhaft erwiesen, da deren
Haftung auf einem potenziell kaltschweißigen,
blutverschmierten Brustkorb erschwert ist. Jedoch
ist auch diese »einfache« Methode im Ernstfall ge-
rade im Hinblick auf Gewichtsersparnis, Preis und
3 Nutzen eine, wenn auch mit Nachteilen verbun-
dene Alternative. Ggf. kann eine sich lösende Folie
mit einem zirkulären Verband fixiert werden. Im
Wesentlichen unterscheiden sich die Verbände
durch eingearbeitete Ventile, die bei einem in- a
trathorakalen Druckanstieg ein selbstständiges
Entlüften oder evtl. auch das Abfließen von Blut
gewährleisten sollen. Generell wird mittlerweile in
den US-amerikanischen Leitlinien aus grundsätzli-
chen Erwägungen die Verwendung eines Verban-
des mit Ventil empfohlen [5], auch wenn nie von
der sicheren Funktion eines Ventils ausgegangen
werden sollte.
! Bei allen Produkten sollte es vermieden
werden, sie gefaltet zu verpacken, da an
diesen Stellen die Haftung beeinträchtigt
werden kann. b

Der folgende Abschnitt beschränkt sich auf Artikel, . Abb. 3.13a,b Okklusivverbände. a SAM Chest Seal.
b HALO Chest Seal. (Fotos: S. Schöndube)
die ihre Brauchbarkeit [6, 7] mehrfach unter Beweis
gestellt haben und bereits CE-zertifiziert sind.
Zu den Okklusivverbänden mit Ventil gehören: Im zentralen Bereich ist es durchsichtig gehal-
4 Das Asherman Chest Seal (ACS) von Rüsch ten und gewährleistet einen freien Blick auf die
verfügt über ein Flatterventil. Es haftet häufig darunterliegende Wunde. Das »chest seal« hat
nicht zuverlässig auf feuchter Haut und hat eine Größe von 15×20 cm, wird aber gefaltet
daher an Stellenwert verloren. geliefert, so dass die Verpackung nur 13×15 cm
4 Beim Bolin Chest Seal (BCS) von H&H Asso- groß ist.
ciates sind drei kleinere Ventile eingebaut.
Es haftet ebenfalls unter schwierigen Bedin- Okklusivverbände ohne Ventil sind:
gungen häufig nicht ausreichend zuverlässig. 4 Das HALO Chest Seal der Fa. PMI wird mit
4 Das SAM Chest Seal with Valve von SAM zwei Exemplaren in einer Verpackung geliefert.
Medical haftet auch unter schwierigen Be- Es haftet auch bei kaltschweißiger Haut ver-
dingungen. Markierungsstreifen sind gut mit gleichsweise gut und hat ebenfalls eine Größe
einem Nachtsichtgerät sichtbar, was die Hand- von 15×20 cm mit den entsprechenden Vor-
habung in Dunkelheit wesentlich erleichtert. und Nachteilen. Es ist keine Kompresse zum
Es ist auch ohne Ventil erhältlich (SAM Chest Trockenwischen des Klebebereiches beigelegt.
Seal), wobei beide aufgrund ihrer Größe von 4 Das HyFin Chest Seal der Fa. North American
15×20 cm eher schwierig zu verstauen sind. Rescue klebt ebenfalls sehr gut und ist mittler-
4 Das Russel Chest Seal der Prometheus weile auch in einer Version mit Ventil (HyFin
Medical LTD ist ein »chest seal«, welches an Vent) sowie einer extra großen Version zur
jeder Ecke eine Ventilöffnung zur Entlüftung Abdeckung multipler thorakaler Splitterver-
und ggf. zum Abfließen von Blut hat. letzungen (HyFin Xtreme) erhältlich.
3.5 · Kreislaufmanagement
43 3
3.4.2 Entlastungspunktion

Ein Spannungspneumothorax muss als lebensret-


tende Maßnahme umgehend entlastet werden. Die
Entlastungspunktion ist aufgrund ihrer Einfachheit
und Effektivität die Therapie der Wahl. Grundsätz-
lich wird sie mittels einer großlumigen Venen-
verweilkanüle (mindestens 14 G) durchgeführt.
Insbesondere für die Punktion nach Monaldi, im
2. ICR in der Medioklavikularlinie, kann bei gut
trainierter Brustmuskulatur die Nadellänge einer
. Abb. 3.14 Entlastungspunktionsnadeln. Von oben nach
herkömmlichen 14-G-Venenverweilkanüle nicht unten: ARS von NARescue (10 oder 14 g, 81 mm), Angiocath
mehr ausreichend sein. Daher gibt es von mehreren von BD (14 g, 83 mm). Venenverweilkanüle 14 g, 50 mm.
Herstellern Produkte mit einer mehr als 5 cm langen (Foto: S. Schöndube)
Nadel, die außerdem meist sehr robust verpackt
sind. Ein Beispiel ist die CE-zertifizierte Angiocath-
Nadel von BD (. Abb. 3.14). sein. Als Minimum werden weiterhin folgende
Im Notfall kann eine evtl. beidseitig notwendige Materialien benötigt:
Punktion ausnahmsweise auch mit einer Nadel 4 Lokalanästhetikum
durchgeführt werden. 4 Skalpell
Im Sinne des Patienten sollte bei ausreichender 4 Kelly-Klemme, gebogen
Zeit sowohl ein Desinfektionsmittel als auch ein 4 Tubus
Lokalanästhetikum verwendet werden. 4 Ventil z. B. Heimlich
4 Nadel und Faden (2-0)
Tipp
4 Kompressen
4 Verbandtape
Als Hilfe hat sich, insbesondere bei Umge-
bungsgeräuschen eine halb mit Wasser gefüllte
Selbstverständlich gibt es fertige Kits, da diese aber
10-ml-Spritze, deren Stempel entfernt wurde,
hauptsächlich für den Klinikgebrach bzw. Rettungs-
bewährt. Bei erfolgreicher Punktion wird so die
dienst bestimmt sind, sind sie insbesondere
entweichende Luft visualisiert.
aufgrund der Packungsgröße für den taktischen Be-
reich nicht geeignet. Als eine der wenigen Ausnah-
men können Pleuracan von B. Braun oder Portex
von Smith Medical genannt werden. Beide Sets sind
3.4.3 Thoraxdrainage klein und stabil verpackt. Als Nachteil muss aber
das geringe Tubuslumen (2,7 mm) beim Pleuracan
Für die Anlage einer Thoraxdrainage, im taktischen erwähnt werden.
Umfeld, sind verschiedene Punkte näher zu be-
trachten:
4 Die zur Verfügung stehende Zeit 3.5 Kreislaufmanagement
4 Steriles Arbeitsfeld
4 Reicht ggf. eine Entlastungspunktion bis bessere Obwohl die hypotensive Flüssigkeitstherapie an
Umgebungsbedingungen vorliegen? Bedeutung gewonnen hat, kann auch weiterhin
4 örtliche Betäubung nicht auf periphere Venenzugänge verzichtet
werden. Zunehmend wird jedoch hinterfragt, ob bei
Da es sich um einen sterilen Eingriff handelt, sollten jedem Venenzugang auch zwangsläufig eine Infu-
entsprechende Utensilien wie sterile Handschuhe, sion angeschlossen werden muss. Als Alternative
Desinfektionsmittel, evtl. ein Abdecktuch verfügbar kann ein Mandrin oder Heparin- bzw. »Saline«
44 Kapitel 3 · Spezielle Ausrüstung

Lock verwendet werden. Diese werden am Ende


einer Flexüle, anstelle des Infusionsschlauches,
angeschlossen und verhindern, dass der Zugang
durch koaguliertes Blut verlegt wird. Der Mandrin
blockiert dann allerdings die Möglichkeit der Medi-
kamentengabe über den Port der Flexüle.
3 Für den Fall dass, aufgrund der Verletzungen
oder im manifesten Schock, kein Venenzugang
möglich ist, gibt es die Möglichkeit des intraossären
(i.o.) Zuganges. Auch der Zeitdruck bei der Patien-
tenversorgung in einer taktischen Situation und
unzureichende Übung in der Anlage eines i.v. Zu-
ganges kann bei zwingender Notwendigkeit für eine
. Abb. 3.15 Erfolgreich platziertes F.A.S.T.-System. Der
Volumensubstitution (7 Kap. 9) ein ausreichendes Plastikdom schützt die Punktionsstelle vor Verschmutzung,
Argument für die Anlage eines i.o. Zuganges sein. ermöglicht aber dennoch eine Sichtkontrolle. Wichtig ist die
Mit dem EZ-IO- und dem F.A.S.T.-1-System sind Anbringung eines Dreiwegehahns, damit Medikamente
zwei gute Varianten verfügbar. Die B.I.G. Bone In- zugespritzt werden können. (Foto: Dr. C. Neitzel)

jektion Gun wird aufgrund einer höheren Fehler-


rate zunehmend weniger verwendet.
in das Mark des Manubrium sterni eingebracht.
Tipp
Beim Zurückziehen des Griffes bleibt ein ca. 8 cm
langer Verbindungsschlauch, dieser wird nach dem
Durch i.o. Zugänge können sowohl Medika-
Spülen mit dem Infusionsschlauch verbunden.
mente als auch Volumenersatzmittel infundiert
Pyng Medical hat Anwenderprobleme, wie das
werden. Es werden dabei Durchflussraten ver-
schräge Aufsetzen des Handgriffes und die dadurch
gleichsweise einer 18-G-Venenverweilkanüle
– bewusst – blockierte Auslösung, aufgegriffen und
erreicht.
mit dem F.A.S.T. Responder eine Neuentwicklung
im Angebot. Hier wird ein Abstandshalter am Ver-
letzten aufgeklebt, der als Führungshilfe dient und
das Verkanten verhindern soll (. Abb. 3.15).
3.5.1 F.A.S.T.

Das für den intraossären Zugang am Sternum vor- 3.5.2 EZ-IO


gesehene System F.A.S.T.-1 (»First Access for Shock
and Trauma«) der Fa. Pyng Medical bietet sich be- Einfach in der Anwendung ist auch das EZ-IO, ein
sonders für den taktischen Gebrauch an. Da Extre- Produkt der Fa. Vidacare. Bei diesem Zugangssys-
mitäten häufig verwundet und daher für die i.o.- tem wird eine besondere, schneidende i.o. Nadel
Anlage nicht genutzt werden können, Verwundun- mittels einer elektrischen Hilfe zur Einbringung
gen im Sternumbereich aber seltener bzw. meist (vergleichbar einem Akkuschrauber) schnell und
unmittelbar tödlich sind, ist das F.A.S.T.-System in sicher im Knochenmark platziert. Nachdem der
den meisten Fällen gut geeignet. Die Anlage von richtige Ort zur Anlage des Zugangs bestimmt
Infusionen am Körperstamm vereinfacht das Pa- wurde, handelt es sich bei dieser Methode um ein
tienten-Handling (weniger Hängenbleiben mit In- schnelles Verfahren. Alternativ können die Nadeln
fusionsschläuchen etc.). Außerdem kann man den mittels eines optionalen Handgriffes auch per Hand
Zugang auch bei einem zur Hypothermieprophy- ins Knochenmark eingedreht werden. Die typi-
laxe eingepackten Patienten gut anwenden und an- schen Punktionsorte liegen am proximalen Schien-
schließend kontrollieren. Durch Druck wird eine bein oder Oberarmkopf. Aufgrund des größeren
Stahlkanüle, an der ein kurzer Schlauch befestigt ist, Packmaßes und Gewichtes ist die Mitführen am
3.6 · Wärmeerhalt
45 3
Mann eher problematisch, jedoch eignet sich das
EZ-IO-System hervorragend für Backup-Bags oder
zur Mitführung in Fahrzeugen. Angeboten werden
auch manuelle Sets (u. a. auch für die Sternal-
punktion), die klein, leicht und energieunabhängig
sind.
a

3.6 Wärmeerhalt

Die Tatsache, dass die Abnahme der Körperkern-


temperatur sich negativ auf die Gerinnung und
demnach nachteilig für das Verletztenoutcome aus-
wirkt, hat dazu geführt, dass der Wärmeerhalt in der
präklinischen Versorgung an Bedeutung gewonnen
hat. Bei zunehmend längeren Evakuierungszeiten
wird dieser Punkt In Zukunft noch wichtiger wer-
den. Deshalb sollte während der Behandlung frü-
b
hestmöglich mit einem passiven Wärmeerhalt be-
gonnen werden. Ein geeignetes Mittel dafür kann . Abb. 3.16a,b Wärmeschutz. a APLS Thermal Guard,
die Rettungsdecke sein, die nicht nur für Einsätze in der seitliche Zugang zum Verletzten wird durch Klett ver-
kalten Umgebungen unbedingt Bestandteil des schlossen. b Ready-Heat (40×45 cm) mit 4 Wärmelementen.
(Fotos: S. Schöndube)
IFAK sein sollte.

Blizzard Die Fa. Blizzard hat sich auf die Herstel- Ready-Heat Für den aktiven Wärmeerhalt haben
lung von passiven Wärmedecken, bestehend aus sich die Ready-Heat-Produkte bewährt. Die Ready-
Reflexcell, spezialisiert. Reflexcell ist eine Entwick- Heat (. Abb. 3.16b) entwickelt bei Kontakt mit der
lung, die bestehend aus einer äußeren und inneren, Umgebungsluft, nach 15–20 min, Temperaturen,
robusten Lage reflektierendem Materiales, welches von ca. 37–40 °C (modellabhängig) und hält diese
durch Luftkammern voneinander getrennt, die für ca. 8 h. Da die Wärmepads über die Um-
Körperwärme gut hält. Es gibt Varianten als Decke, gebungsluft aktiviert werden, kommt es bei Ver-
Schlafsack, in Form einer Weste in unterschiedli- ändern des Umgebungsdruckes (z. B. im Gebirge)
chen Farben und ist komprimiert verpackt, eine zu Einschränkungen in der Temperaturentwick-
gute Ergänzung der Ausrüstung. lung. Die Ready-Heat ist in verschiedenen Größen
als Decke oder Weste erhältlich.
APLS-Trage Von APLS (Absorbant Patient Litter
Tipp
System; . Abb. 3.16a) gibt es eine ganze Bandbreite
von guten Lösungsvorschlägen für den passiven
Des Öfteren wurden die Wärmepads durch
Wärmeerhalt. Die APLS Thermal Guard ist eine
den Transport ungewollt aktiviert. Deshalb hat
Trage, die in Schlafsackform passiv die Wärme hält.
sich das 4-Fach-Panel bewährt. Es deckt den
Der Zugang zum Patienten erfolgt über seitliche
Torso ab und ist klein im Packmaß, so dass
Einschübe, die mit Klett geschlossen gehalten wer-
mehrere Ready-Heat Exemplare mitgeführt
den. An der Oberseite befindet sich ein Klarsicht-
werden können.
fach, für die Aufnahme von z. B. einer Verwundeten-
Karte oder Spritzen. Das Innenmaterial ist saug-
fähig und kann 4,5 l Flüssigkeit aufnehmen. Als In Verbindung mit einer Blizzard oder APLS
Besonderheit gibt es auch eine Trage für Diensthun- kann die Wärme des Verletzten, auch bei sehr tiefen
de, mit den gleichen Eigenschaften. Temperaturen, sehr gut gehalten werden.
46 Kapitel 3 · Spezielle Ausrüstung

3.7 Immobilisation 6 über ein Rollensystem und damit dosierter aufge-


baut. Außerdem sind alle Teile bereits im verpack-
Die Limitierung des verfügbaren Transportraumes ten Zustand unmittelbar miteinander verbunden.
in den meisten taktischen Einsätzen lässt nur wenig Darüber hinaus ist das Gestänge aus Karbon, da-
Ausrüstung zu. Deshalb hat die Immobilisation auf- durch wiegt die Schiene weniger als 500 g.
grund des nur eingeschränkt zur Verfügung stehen-
3 den Materials und einer unterschiedlichen Bedro-
hungslage häufig einen geringeren Stellenwert als 3.7.2 Beckenstabilisierung
sonst in der Notfallmedizin. Besonders die Wirbel-
säulenimmobilisierung ist in vielen Fällen nicht Zum Stabilisieren des Beckens wird ein Becken-
analog zu zivilen Leitlinien durchführbar und hat verband oder auch eine Beckenschlinge verwendet.
außerdem bei penetrierendem Trauma einen unter- Behelfsmäßig kann hier eine Rettungsdecke oder
geordneten Stellenwert (7 Kap. 9). die »blizzard blanket«, in Verbindung mit einem
Knebel, eingesetzt werden. Sowohl die SamSling als
auch die T-Pod von Pyng sind für die Indikation
3.7.1 Extremitätenimmobilisation »instabiles Becken« entwickelt. Während bei der
SamSling ein Schnallenverschluss zur Anwendung
Für die Extremitätenimmobilisierung haben sich kommt, wird die T-Pod über ein Zugsystem fixiert.
im taktischen Bereich SAM-Splints als Standard Beide Systeme bieten eine präzise Stabilisierung
etabliert, ähnliche Modelle sind auch in gedeckten und sind einfach anzuwenden. Wenn sie aufgrund
Farben erhältlich. Sie können außerdem als impro- Platzmangels nicht mitgeführt werden können,
visierte Halskrause oder zum Stabilisieren und ring- kann eine improvisierte Beckenstabilisierung z. B.
förmigen Umpolstern von penetrierenden Fremd- mit der Rettungsdecke erfolgen (7 Kap. 9).
körpern verwendet werden.
Zur Immobilisation des Oberschenkels wurde
die OTD-Schiene (Optimum Traction Device) ent- 3.7.3 HWS-Immobilisation
wickelt (früher »Kendrick-TD«). Die Indikation für
die Anwendung sind Frakturen des mittleren und Auch wenn der Nutzen einer Fixierung der Hals-
proximalen (Konstruktionstyp-abhängig, im Falle wirbelsäule bei Schussverletzungen nicht bewiesen
von OTD und CT-6 möglich) Drittels. Ein instabiles ist, kann bei Sprengverletzungen die HWS durch die
Becken sowie Frakturen des distalen Drittels (Ab- tertiäre Phase in Mitleidenschaft gezogen werden.
kippen des Fragmentes nach dorsal) sind Kontra- Deshalb sollte der Anwender sich Gedanken über
indikationen für die Anwendung. Mit der OTD HWS-Probleme als Begleitverletzung gemacht haben.
wird der gebrochene Oberschenkel mit achsenge- Die NeXsplint-Plus-Halskrause ist komplett faltbar
rechtem Zug gestreckt und dadurch der Muskel- und bietet im angelegten Zustand eine sehr gute Fi-
spasmus durchbrochen, dem Verletzten werden xierung der HWS (. Abb. 3.17). Die Militärversion
Schmerzen genommen und unter Umständen Blut- hat ein zusätzliches Kopfpolster, dieses soll die Höhe
verluste verringert sowie die Durchblutung wieder- der angelegten Schutzweste bei der Fixierung, bei-
hergestellt. Da der Zugmechanismus aus Plastik spielsweise auf einem Spineboard, ausgleichen.
besteht, ist Vorsicht ist beim Spannen angebracht.
Es sind eine militärische und eine zivile Version er-
hältlich, die sich nur in der Farbgebung unterschei- 3.7.4 Wirbelsäulenstabilisierung
den. Die OTD wiegt 560 g.
Fare Tech Incorporation hat mit der CT 6 ein Die für den Rettungsdienst bewährte Vakuummat-
ähnliches Modell im Angebot, das sich auf den ers- ratze ist für den Einsatz im taktischen Umfeld wenig
ten Blick nur durch das Zugsystem unterscheidet. geeignet. Aufgrund von Größe und Gewicht fällt die
Während bei der OTD der Zug über Schnallen auf- Entscheidung zwischen Nutzen und Aufwand zu
gebaut und gehalten wird, wird der Zug bei der CT Ungunsten der Vakuummatratze aus.
3.8 · Monitoring
47 3
3.8 Monitoring

Für die längerfristige Betreuung von Verletzten ist


ein Monitoring mit Geräten unerlässlich. Es kann
z. B. der Blutdruck palpatorisch aufgrund der Loka-
lisation geschätzt werden, jedoch reicht diese
Methode für eine präzise Überwachung nicht aus,
dafür bedarf es mindestens einer Blutdruckman-
schette. Die Oxygenierung kann nur mit Geräten
bestimmt werden. Aus unterschiedlichen Gründen
a hat auch in der Medizintechnik die Miniaturisie-
rung Einzug gehalten.

3.8.1 Pulsoxymetrie

Die Sauerstoffsättigung gibt an, wie viel Prozent des


gesamten Hämoglobins im Blut mit Sauerstoff be-
laden ist [5]. Dadurch erlaubt sie Aussagen über die
Suffizienz der Atmung bzw. Beatmung. In der prä-
klinischen Notfallmedizin hat sich seit vielen Jahren
b die nichtinvasive, photometrische Messung mittels
. Abb. 3.17a,b NeXsplint Plus Military. a Klein, flach ge- Pulsoxymeter etabliert.
faltet. b Im Einsatz, die Stabilisierung der HWS bis in die BWS. Für eine Vielzahl dieser Geräte stehen unter-
(Fotos: G. Wiechmann) schiedliche Typen zur Verfügung. Für den Bereich
der taktischen Notfallmedizin muss besonderer
Wert gelegt werden auf
Dagegen sind Spineboards weit verbreitet. Sie 4 eine kompakte Gerätegröße,
bieten zwar, im Vergleich zur Vakuummatratze, 4 Sensorsysteme, die trotz Manipulation der
eine geringere Immobilisierung, sind jedoch leicht, Messanordnung wie Bewegung möglichst stabil
robust und können an Fahrzeugaußenseiten, für am Messort (Finger, Ohrläppchen etc.) halten.
alle gut sichtbar, angebracht werden. Die Fixierung
des Verletzten erfolgt mithilfe einer Gurtspinne. Für Nicht alle erhältlichen Geräte erfüllen diese Bedin-
die Kopffixierung wird ein Headblock eingesetzt. gungen. Gerade die zuverlässige Messgenauigkeit
! Da es sich um eine harte Unterlage handelt,
ist bei kleiner Größe oftmals nicht gegeben. Noch
sollte bei längerer Evakuierungszeit (bereits
stärker schränkt sich der Kreis der verwendbaren
ab etwa einer Stunde) die Gefahr von
Produkte ein, wenn bestimmte Anforderungen an
Druckulcera berücksichtigt werden.
die Sensoren gestellt werden. Grundsätzlich sind
hier zwei Arten erhältlich: Sensoren, die sich direkt
Um ein Spineboard über längere Strecken mitzu- im (Mini-)Pulsoxymeter befinden (. Abb. 3.12)
führen, gibt es mit dem Ultra-Space Sav, ein Board, und solchen, die mit dem Gerät mittels Kabel ver-
welches in der Mitte geklappt werden kann. Somit bunden werden (in diesem Falle zur Befestigung
ist es nur noch 100 cm lang. Verpackt im Trageruck- mittels Klemm-, Stülp- oder Klebesensor). Bei der
sack kann es bequem zum Einsatzort getragen Beschaffung muss sehr genau differenziert werden,
werden. Allerdings ist sie im gefalteten Zustand welche Anforderungen an das Gerät und den Sen-
durch die Scharnierkonstruktion über 10 cm dick. sortyp gestellt werden.
Weitere Trage- und Rettungsmittel werden Bei allen Geräten zur photometrischen Mes-
ausführlich im 7 Kap. 5 dargestellt. sung der Sauerstoffsättigung muss dem Anwender
48 Kapitel 3 · Spezielle Ausrüstung

klar sein, dass es Grenzen der Pulsoxymetrie gibt Alarmgrenzen, eine je nach Geräteversion in
und daher die Aussagen der Messung über eine kPa oder mmHg wählbare Anzeige und große
Atmungs- oder Beatmungsqualität aufgrund des Robustheit. Es ist damit ein optimales Kapno-
Verfahrens erschwert oder verfälscht werden meter für den taktischen Einsatz, was sich
können. So beeinflussen folgende Faktoren die allerdings auch auf den Preis auswirkt.
Messung [6]:
3 4 Hypothermie
4 Hypotension 3.8.3 Erweitertes Monitoring
4 Kompression der Arterien
4 Bewegungsartefakte Ist eine komplette Überwachung gewünscht oder
notwendig z. B. als Begleitperson für eine VIP auf
Ferner führt die erhöhte Konzentration von CO-Hb, Auslandsreise, wird kein Weg an einem Monitor vor-
wie sie nicht nur bei starken Rauchern, sondern beiführen. Der Argus Pro LifeCare von Schiller ist
auch bei CO-Vergiftungen vorkommen kann, zu ein Beispiel für einen vollwertigen Patientenmonitor
verfälscht hohen Werten. Erwähnenswert an dieser mit Defibrillator bei einer kompakten Bauweise
Stelle ist aber der Nutzen, besonders dann, wenn die (260×265×145 mm) und einem Gewicht von 4,4 kg.
Geräte klein genug sind, um am Mann mitgeführt Der ProPaq LT von Welch Allyn wiederum ist
zu werden, denn trotz oben erwähnter Fehlerquel- ein noch kleinerer (152×193×145 mm), leistungs-
len stellen sie einen guten Indikator zur Überwa- fähiger, stromunabhängiger und trotzdem vollwer-
chung der (Be-)Atmung und – mit Einschränkun- tiger Überwachungsmonitor. Er ist leichter (750 g)
gen – auch der Kreislaufsituation dar. als der Schiller, verfügt jedoch nicht über eine Defi-
brillatorfunktion.
Ein Ausblick in die Zukunft könnte das Mini-
3.8.2 Kapnometer Medic-System von Athena GTX sein. Es handelt
sich um eine drahtlose Patienten-Überwachung.
Um frühzeitig erkennen zu können, ob ein Endo- Der Medic empfängt Signale von bis zu 10 Patien-
trachealtubus eine Fehllage aufweist, verlegt oder teneinheiten, die auf der Stirn angebracht werden
diskonnektiert ist, ob Leckagen im Schlauchsystem und zusätzlich von 3 EKG Elektroden. Der Empfän-
vorliegen und ob die Beatmung ausreichend ist, ger hat die Möglichkeit, die Vitalparameter wie HF,
werden präklinisch Kapnometer eingesetzt. Beim Temperatur, SpO2, Pulsrate und die »puls wave
hier betrachteten taktischen Einsatzbereich muss transit time« (entspricht den diastolischen Blut-
auch bei diesen Geräten besonders auf Kompaktheit druck) zu überwachen. Die Empfängereinheit wer-
und einfache Bedienbarkeit geachtet werden. Zwei tet die empfangenen Daten aus und gibt Alarm bei
diesen Anforderungen entsprechende Kapnometer Veränderungen im Status des Patienten.
werden im Folgenden beschrieben: Für den Transport steht dem medizinischen
4 Der Easy Cap II der Fa. Nellcor ist ein kom- Personal eine Vielzahl von Geräten zur Verfügung,
paktes, qualitativ darstellendes System zum ein- nur gibt es wenige Systeme die bei großem Funk-
maligen Gebrauch über mehrere Stunden. Es tionsumfang noch ausreichend kompakt sind. Die
handelt sich um ein Einmalprodukt, das zwi- moves portable ICU ist eine »mobile Intensivsta-
schen Tubus und Beatmungsbeutel konnektiert tion« mit einem integrierten Sauerstoffkonzentra-
wird. Es zeigt bei jeder Ausatmung einen Far- tor (der Sauerstoff der Umgebungsluft wird konzen-
bumschlag, der grob den CO2-Gehalt der Aus- triert und ein 85 % O2-Gehalt garantiert). Die Ein-
atemluft anzeigt (Einteilung: <4 mmHg, heit, ist aufgrund ihrer Größe und Möglichkeiten,
4–15 mmHg, 15–38 mmHg). für den Transport mit Fachpersonal geeignet.
4 Ein quantitatives Messergebnis, bei kleinsten Eine Möglichkeit, alle notwendigen Geräte zu
Abmessungen liefert das EMMA-Notfallkapno- kombinieren, zeigt . Abb. 3.18. Der Koffer (Peli
meter der Fa. Phasein (. Abb. 3.12). Bei nur 1600) enthält eine Beatmungseinheit mit O2-Flasche,
60 g Gewicht bietet das Gerät selbst verstellbare Monitor und Absaugung. Kombiniert mit einer
3.9 · Rucksäcke und Taschen
49 3

. Abb. 3.19 Tasche zur Aufnahme der persönlichen


Sanitätsausstattung des Soldaten. Die abgebildete Tasche
LT012-VT von Lindnerhof Taktik kann mittels MOLLE-Schlau-
fen an der Ausrüstung (z. B. Schutzweste, Gürtel) befestigt
werden. Das Innenteil lässt sich zur Arbeit am Patienten ein-
fach herausziehen. (Foto: Dr. C. Neitzel)

5 Das Versorgungsmaterial für die »hot zone«


wird in einem leicht zugänglichem Außen-
fach vorgehalten.
5 Außen am Rucksack können entsprechende
Taschen angebracht werden (z. B. mittels
. Abb. 3.18 Mobile Überwachung mit Monitor, Beatmung MOLLE-System).
und manueller Absaugung. (Foto: S. Schöndube)
4 Unterteilbare oder gekoppelte Rucksacksysteme
(s. u.), um zusätzliche Ausrüstung unterzu-
Talon Trage ist dies eine improvisierte, aber prakti- bringen (z. B. Wetterschutz, Munition, Ver-
kable Lösung für den mobilen Einsatz. Die Trage pflegung etc.)
kann z. B. in einem größeren SUV provisorisch ein-
gerüstet werden, als Überwachungseinheit kommt Sollen Rucksäcke in Verbindung mit Schutzwesten
der Koffer zum Einsatz. höherer Schutzstufen getragen werden, kann in den
meisten Fällen auf eine Polsterung verzichtet werden.
Es hat sich bewährt, Klickverschlüsse im Schulterbe-
3.9 Rucksäcke und Taschen reich der Schutzweste anzubringen, um ein Verhed-
dern und Verhaken mit Rucksack- und Gewehrrie-
Auf geeignete Transportbehältnisse für die notfall- men weitestgehend zu verhindern. Der Rucksack
medizinische Ausrüstung muss gerade beim Einsatz lässt sich so mit einem am gekürzten Rucksackrie-
im taktischen Umfeld besonderes Augenmerk gelegt men angebrachten Gegenstück befestigen.
werden. Die Anforderungen sind natürlich je nach Die Größe des Behälters sollte dabei dem Ver-
Einsatzzweck unterschiedlich, jedoch können einige sorgungsniveau angepasst sein. Die persönliche
allgemeine Anforderungen formuliert werden: Sanitätsausstattung (PersSanAusst; engl: »individu-
4 Hohe Stabilität der verwendeten Textilien und al first aid kit«, IFAK) dient primär der Versorgung
Gurte bei eigener Verwundung. Sie kann in speziell kons-
4 Hoher Tragekomfort bei möglichst geringem truierten Taschen an Gürtel oder Schutzweste be-
Eigengewicht und möglichst geringen Außen- festigt werden (. Abb. 3.19) und ist so im Verwun-
abmessungen dungsfall schnell und leicht im Rahmen der Selbst-
4 Modularer Aufbau, d. h. für bestimmte Ein- und Kameradenhilfe erreichbar.
satzanlässe müssen nur wenige Fächer geöffnet Da das IFAK Teil der persönlichen Ausstattung
werden, z. B.: ist, kann der Inhalt stark variieren. Er ist maßgeb-
50 Kapitel 3 · Spezielle Ausrüstung

. Tab. 3.3 Ausstattungsumfang persönliche Sanitätsausstattung (»individual first aid kit«, IFAK)

Anwendungsgebiet Minimalansatz IFAK Erweiterter Ansatz IFAK

Eigenschutz Medizinische Handschuhe Medizinische Handschuhe; FFP-Mundschutz

Blutungskontrolle Tourniquet, Druckverband Tourniquet, Druckverband, Hämostyptika, Kerlix


3
A-Problem Wendl-Tubus Ch. 28 Wendl-Tubus Ch. 28; Notfallbeatmungstuch
B-Problem Chest Seal Chest Seal, 14-G-Kanüle
C-Problem Weiteres Verbandmaterial (z. B. Brandwunde); Infusions-
besteck, -nadel und -lösung
H – Hypothermie- Rettungsdecke Mehrere Rettungsdecken, chemische »Heater«
prophylaxe
Sonstiges Kleiderschere oder »rescue hook« bzw. Gurtschneider,
Pflastersortiment, Antibiose, Schmerzmedikation,
(Trink-)Elektrolytlösung, Sicherheitsnadeln, Tape, Hautstift,
Verwundetenkarte, Tragetuch

lich vom Ausbildungsstand der Anwender und dem pill pack«), Verwundetenkarte, Mittel zur Volumen-
Aufbau der Rettungskette abhängig. So gilt es z. B. zu therapie, Kleiderschere ergänzt werden (. Tab. 3.3).
bedenken, ob jedes Teammitglied eine Entlastungs- Im Optimalfall ist das IFAK für alle sichtbar
nadel für die Thoraxpunktion mit sich führt oder ob gekennzeichnet und kann, um es ggf. einem Helfer
darin ausgebildete Medics bzw. Rettungsdienstper- zu übergeben, schnell von der Ausrüstung ge-
sonal ausreichend schnell nachgeführt werden kön- trennt werden. Weiterhin besteht die Möglichkeit,
nen bzw. kurze Evakuierungszeiten bzw. Transport- sich ein einheitsinternes IFAK zusammenzustellen,
wege bestehen. Bei militärischen Einsätzen hingegen um es in passender Konfiguration, z. B. möglichst
ist das Mitführen einer umfangreicheren, persönli- flach, einzuvakuumieren. Dies hat den Vorteil, dass
chen Ausstattung zwingende Voraussetzung für eine es auf die Bedürfnisse der Einheit (verfügbare
zeitgerechte Versorgung. Die Auswahl der Produkte Taschen an der Ausrüstung oder in der Einsatzuni-
kann je nach Einsatzgrundsätzen variieren. Kommt form) besser zugeschnitten ist und es darüber hin-
es zu einem Einsatz in Zivil, verbieten sich Produkte aus vor Staub und Feuchtigkeit geschützt wird (z. B.
mit militärischer bzw. sperriger Verpackung. Die kann sich in einem unverpackten Wendl-Tubus
Wahl des Tourniquets ist ein Beispiel für diese Pro- Sand und Staub anlagern, welcher dann beim Ein-
blematik: C.A.T. oder SOFTT-W bieten zwar eine atmen erst einmal mehr Probleme als Nutzen
höhere Anwendersicherheit als das SWAT-Tourni- bringt).
quet bzw. verursachen dem Patienten im Vergleich Für den First Responder bzw. Ersthelfer ist es
zum NATO-Tourniquet weniger Schmerzen bei der wichtig, den Auftrag auszuwerten, um daraus die
Anlage, sind aber möglicherweise zu groß, als dass notwendigen Schlüsse für die mitzuführende Aus-
sie ein Personenschützer in der Hosentasche seines rüstung zu ziehen. Handelt es sich beispielsweise
Anzuges mitführen kann. um eine Polizeilage mit kurzen Wegen oder einen
> Als Grundausstattung sollten die Bereiche des
längeren Anmarsch, ist der Einsatz im urbanen,
Eigenschutzes (Handschuhe), der Blutstillung,
ländlichen oder gar im gebirgsähnlichen Umfeld, ist
der Atemwegssicherung, des Wärmeerhaltes
nach dem Verlassen des Fahrzeuges ausreichend
sowie das Verhindern ggf. Behandeln eines
Zeit, um einen Rucksack aufzusetzen oder sollte er
Spannungspneumothorax abgedeckt werden.
flach genug sein, um ihn bereits aufzuhaben etc.
Unerfahrene neigen dazu, zu viel Material mitzu-
Das IFAK kann um sinnvolle Inhalte wie z. B. führen. Der Notfallrucksack sollte aber nicht mehr
Erstantibiose und Schmerzmedikation (»combat als 15 kg Mehrgewicht zur Folge haben bzw. muss
3.9 · Rucksäcke und Taschen
51 3

. Abb. 3.20 Battle Belt: Abwurfsack, Kampfmitteltasche, . Abb. 3.21 Die »First Responder« (LT070) von Lindnerhof
Holster und Taschen für A-, B-, C-Probleme. Taktik kann mittels eines Hüftgurts getragen werden und
(Foto: S. Schöndube) verfügt über Schlaufen zur geordneten Aufnahme von
Material. Beim häufigen Wechsel zwischen aufgesessenen
und abgesessenen Vorgehen, kann sie jedoch aufgrund der
relativen Tiefe hinderlich sein. (Foto: S. Schöndube)

auch an das aus Einsatzgründen bereits zwingend tet werden kann. Darauf aufbauend hat sich eine
mitzuführende sonstige Material angepasst werden. Kombination von mindestens 2 Rucksackgrößen
Bei Bedarf muss Zusatzmaterial auf das Einsatzele- bewährt (. Abb. 3.22). Der kleinere für kurze Wege,
ment aufgeteilt werden, wofür sich z. B. der Wär- wie z. B. bei einer Fahrzeuglage. Hier kann bei Be-
meerhalt oder auch der Volumenersatz anbieten. darf schnell Material aus den parkenden Fahrzeu-
Als praktikabel hat sich für eine erweiterte gen nachgeführt werden. Der Größere für abgesetz-
Ausstattung eine Hüfttasche (. Abb. 3.20 und te Einsätze mit verlängerter Evakuierungszeit und
. Abb. 3.21) erwiesen, aus der das A, B, C abgearbei- genügend Stauraum, um dem Träger die Möglich-

a b

. Abb. 3.22a,b Rucksäcke. a Kleiner Rucksack, hier M9 zusätzlich mit Poc-Kit-Trage an der Unterseite. b Großer Rucksack, hier
Mystery Ranch, gut zu erkennen die A-, B-, C-Taschen unterhalb vom Rucksack und an der linken Seite. (Fotos: S. Schöndube)
52 Kapitel 3 · Spezielle Ausrüstung

Literatur

1. Gesetz über Medizinprodukte (Medizinproduktegesetz


– MPG)
2. Richtlinie RICHTLINIE 93/42/EWG
3. Hauschild SW, Nöldge-Schomburg G, Hoitz J (2013)
Blutstillung mittels Tourniquet in der präklinischen
3 Notfallmedizin. Notfall Rettungsmed 16:291–304
4. Kragh JF Jr, Murphy C, Dubick MA, Baer DG, Johnson J,
Blackbourne LH (2011) New tourniquet device concepts
for battlefield hemorrhage control. US Army Med Dep J
Apr-Jun: 38–48
5. Tactial Combat Casualty Care Guidelines 30.082013
6. Hauschild S (2010) Chest Seal Sweat Test. Vortrag
während SOMA-Konferenz Tampa, USA 2010
7. Hauschild S (2011) Chest Seal Sweat Test. Vortrag
während SOMA-Konferenz Tampa, USA 2011

. Abb. 3.23 Für über die Erstversorgung hinausgehende


notfallmedizinische Maßnahmen wird mehr Platz benötigt,
wie ihn beispielsweise gekoppelte Rucksacklösungen,
z. B. der »First Responder Move on« von Tasmanian Tiger,
bieten. Der kleinere Rucksackteil lässt sich dabei auch als
»Assault Medic Bag« einsetzen, wodurch das System eine
hohe Flexibilität aufweist. (Mit freundlicher Genehmigung
der Fa. Tatonka)

keit zum Mitführen von Verpflegung/Wasser und


ggf. einer Jacke zu ermöglichen.
Tasmanian Tiger hat z. B. den TT First Respon-
der Move On im Sortiment. Der Rucksack bein-
haltet eine Kombination aus einem Basisrucksack
und einem Assault Medic Bag. Beide lassen sich
mit Hilfe eines Reißverschlusses miteinander ver-
binden oder jeder kann für sich getragen werden
(. Abb. 3.23). Ein ähnliches Konzept verfolgt das
aus Kanada stammende Pack von CTOMS. Hier
werden zwei getrennt voneinander nutzbare Packs
mittels Reißverschluss und Clips miteinander ver-
bunden.
53 4

Versorgungsebenen und
Evakuierung von Verwundeten
J. Bickelmayer, S. Hauschild

4.1 Grundlagen und Ebenen der Versorgung – 54


4.1.1 Ebene 1/»ROLE 1« – 54
4.1.2 Ebene 2/»ROLE 2« – 57
4.1.3 Ebene 3/»ROLE 3« – 58
4.1.4 Ebene 4/»ROLE 4« – 58

4.2 Verwundetentransport – 58
4.2.1 Grundlagen des Verwundetentransports – 58
4.2.2 Bodengebundener Verwundetentransport – 60
4.2.3 Lufttransport des Verwundeten (»aeromedical evacuation«) – 60

4.3 MEDEVAC-Anforderung – 60

4.4 Koordinierung der »medical evacuation« – 62

4.5 Schlussbemerkung – 62

Literatur – 62

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
54 Kapitel 4 · Versorgungsebenen und Evakuierung von Verwundeten

4.1 Grundlagen und Ebenen Versorgung am Ort der Verwundung beginnt und
der Versorgung kontinuierlich bis zur vollständigen Wiederher-
stellung des Patienten durchgeführt wird. Dabei soll
In Krisen- und Kriegsgebieten herrschen in Bezug die medizinische Versorgung stets dem neuesten
auf Infrastruktur, Telekommunikation und Bedro- Stand der Wissenschaft entsprechen. Jede Ebene
hungslage ungünstige Umgebungsbedingungen für der Versorgung baut auf den Fähigkeiten der vor-
die medizinische Versorgung von Patienten. Dem- hergehenden auf und bietet außerdem jeweils ein
entsprechend findet sich selten ein funktionsfähiges erweitertes Leistungsspektrum. Im Rahmen der
4 Gesundheitssystem, auf welches im Bedarfsfall zu- Patientenversorgung können einzelne Ebenen
rückgegriffen werden kann (»host nation support«). übersprungen werden (z. B. Transport eines Ver-
Andererseits kann zwar ein funktionsfähiges wundeten mit FORWARDAIRMEDEVAC direkt zu
System verschiedener Versorgungseinrichtungen einer ROLE 3).
bestehen, aber der Zugriff darauf erschwert oder In den letzten Jahren hat die Rolle des Erst-
nur verzögert möglich sein. Daher sollte man helfers im Rahmen der Selbst- und Kameradenhilfe
grundsätzliche Kenntnisse über Lage und Fähigkei- zunehmend an Bedeutung gewonnen, da erkannt
ten der Gesundheitseinrichtungen in seinem Ein- wurde, dass der Zeitpunkt des Behandlungsbeginns
satzraum besitzen. Die Staffelung der Rettungskette einen kritischen Faktor für das Überleben und Out-
und Kenntnis über ihre zunehmenden Möglich- come darstellt.
keiten oder Spezialisierung ihrer Elemente können Im folgenden Text soll die einsatzspezifische
bei der sinnvollen Entscheidung über ein Trans- Rettungskette anhand der aktuellen medizinischen
portziel entscheidend sein (7 Kap. 2.5). Selbst in Versorgungsstrukturen und Vorgehensweise am
Deutschland nimmt die Spezialisierung von Versor- Beispiel der Bundeswehr beschrieben werden
gungseinrichten zu und gerade in Klinikverbünden (. Abb. 4.1).
verengt sich das Spektrum zahlreicher regionaler
Versorgungseinrichtungen zunehmend.
4.1.1 Ebene 1/»ROLE 1«
Tipp

Die erste Stufe der medizinischen Versorgung fin-


Im Rettungsdienst werden i. d. R. diesbezüglich
det auf der Ebene der militärischen Einheit statt und
detaillierte Kenntnisse vorliegen, aber wenn
entspricht der allgemeinen und notfallmedizini-
man als Nutzer einer abgelegenen Schießbahn
schen Erstversorgung durch unterschiedlich medi-
bei einem Zwischenfall möglicherweise einen
zinisch ausgebildetes Personal, sowohl Sanitätsper-
selbstständigen Transport erwägt, wäre es
sonal als auch Nichtsanitätspersonal, mit jeweils
hilfreich zu wissen, ob das nächstgelegene
unterschiedlichem Materialansatz. Die Elemente
Kreiskrankenhaus überhaupt noch über eine
können sowohl beweglich als auch stationär einge-
vollwertige chirurgische Abteilung verfügt
setzt sein.
(und das 24 h) bzw. auf welche Fähigkeiten
man achten sollte.
Nichtsanitätspersonal
4 Einsatzersthelfer A (EHA)
Hieraus resultiert die Notwendigkeit, vor Ort ein 4 Einsatzersthelfer B (EHB)
sanitätsdienstliches Versorgungssystem mit allen 4 »Combat First Responder A, B, C«
Gliedern der Rettungskette sowohl personell als (CFR-A, B, C)
auch materiell zu etablieren. Dieses muss in der 4 Sanitätsspezialisten der Spezialkräfte (18D)
Lage sein, die unmittelbare medizinische Versor-
gung autark zu gewährleisten. Innerhalb der NATO Operative Gegebenheiten im Einsatz haben es in
werden die verschiedenen Abschnitte der Versor- den letzten Jahren erforderlich gemacht, dass Solda-
gung in 4 Versorgungsebenen (»echelons of care« ten der kämpfenden Truppe (Kombattanten) als
bzw. ROLE 1–4) eingeteilt, wobei die medizinische Nichtsanitätspersonal in erweiterter Selbst- und
4.1 · Grundlagen und Ebenen der Versorgung
55 4

. Abb. 4.1 Schematische Darstellung der militärischen Rettungskette. Je nach den örtlichen Gegebenheiten und der Lage
können Abweichungen in Aufbau oder Ablauf vorkommen

Kameradenhilfe ausgebildet werden. Diese können chen Operationen der Spezialkräfte nicht primär
am Ort der Verwundung (»Point of Injury« – POI) vorgesehen ist.
innerhalb der ersten Minuten eine erste medizini- Die Einsatzersthelferausbildung ist eine Aus-
sche Versorgung vornehmen, die unter den Bedin- bildung in taktischer Verwundetenversorgung
gungen des laufenden Gefechts häufig primär nicht (TCCC – »Tactical Combat Casualty Care«) und
durch Sanitätspersonal geleistet werden kann. Um orientiert sich an den Algorithmen des PHTLS
die erforderliche Qualität der Erstmaßnahmen (»Prehospital Trauma Life Support«) unter beson-
durch nichtsanitätsdienstliches Personal zu ge- derer Berücksichtigung der taktischen Lage. Ziel ist
währleisten, wurde das Ausbildungskonzept der es, die vermeidbaren Todesursachen im Einsatz
Einsatzersthelfer A und B für die konventionellen (Verbluten an Extremitätenwunden, Spannungs-
Einheiten der Bundeswehr geschaffen. Die Fähig- pneumothorax und Atemwegsverlegung) zu erken-
keiten und Befugnisse, die im Rahmen dieser Aus- nen und schnellstmöglich suffizient zu behandeln.
bildung medizinischen Laien vermittelt werden,
sollen das Überleben der Patienten sichern. Damit jEinsatzersthelfer A
sollen die Einsatzersthelfer das Sanitätspersonal er- Einsatzersthelfer A werden so ausgebildet, dass sie
gänzen und nicht ersetzen. Dieses Konzept trägt der Maßnahmen der Ersten Hilfe durchführen können.
Tatsache Rechnung, dass mittlerweile nicht mehr Besondere Bedeutung kommt hier vor allem der
alle Kleinsteinheiten durch BAT (Bewegliche Arzt- raschen Blutstillung zu. Daher enthält die persönli-
trupps) oder Rettungstrupps (RettTrp) begleitet che Sanitätsausstattung im Einsatz entsprechende
werden können oder aber deren Einsatz bei man- Medizinprodukte wie Tourniquets und Hämostyp-
56 Kapitel 4 · Versorgungsebenen und Evakuierung von Verwundeten

tika (7 Kap. 3.2). Darüber hinaus werden die Ein- Die Ausrüstung ist lage- und auftragsbezogen
satzersthelfer A zur Gabe von Schmerzmitteln primär taktischer Natur, medizinisches Material
mittels Autoinjektoren und zur Herstellung der und Equipment wird je nach Ausbildungsstand in
Transportfähigkeit von Verwundeten ausgebildet. zusätzlichen Packgefäßen bzw. Rucksäcken mitge-
Mittlerweile wird jeder Soldat zu einem EHA im führt (7 Kap. 3).
Rahmen der Grundausbildung qualifiziert.
Sanitätspersonal
jEinsatzersthelfer B 4 Einsatzsanitäter (Rettungssanitäter mit Zusatz-
4 Einen Schritt weiter geht der Einsatzersthelfer B: ausbildung)
Besonders ausgewählte Soldaten der Teilstreitkräfte 4 Einsatzrettungsassistent (Rettungsassistent mit
erhalten eine erweiterte sanitätsdienstliche Aus- Zusatzausbildung)
bildung, die sie befähigt, lebensrettende Sofortmaß- 4 BAT-Arzt (beweglicher Arzttrupp; Fachkunde
nahmen oberhalb der Selbst- und Kameradenhilfe Rettungsmedizin, Zusatzausbildung)
im Rahmen der Notkompetenz im Einsatz durchzu- 4 LBAT-Arzt (luftbeweglicher Arzttrupp; Fach-
führen. Hierunter fallen zusätzlich zu den Befugnis- kunde Rettungsmedizin, Zusatzausbildung,
sen eines EHA: SpezlOP)
4 Behandlung eines Spannungspneumothorax
durch Nadeldekompression Der Rettungstrupp (RettTrp) besteht personell aus
4 Anlegen von chest seals bei penetrierendem 4 zwei Rettungsassistenten und
Thoraxtrauma 4 ein bis zwei Militärkraftfahrern, die häufig
4 Kontrolle des Atemwegs mittels »Chin-lift/Jaw- eine Ausbildung zum Einsatzsanitäter erhalten
thrust-Manöver« und Nasopharyngealtubus haben.
4 Anlegen eines i.v. Zuganges (ggf. i.o.)
4 Gabe von Vollelektrolytlösungen Da spezielle Fahrzeuge genutzt werden (Wolf MSA,
Duro III/YAK, EAGLE 4, TPZ Fuchs 1 A 7/1 A 8), ist
jCombat First Responder ein geschützter Verwundetentransport nach der
Die Soldaten der spezialisierten Kräfte und Spezial- Initialversorgung möglich, wobei sich bisher aus
kräfte werden dagegen zu sog. »Combat First Res- Erfahrungswerten heraus vornehmlich der TPz in
pondern« (CFR) ausgebildet. Hochrisikoeinsätzen bewährt hat. Je nach Gelände-
Hierdurch sind sie je nach Ausbildungsstufe (A beschaffenheit und Auftragslage können zusätzlich
bzw. B) befähigt, erweiterte Maßnahmen im Rah- der Wiesel 2 San und der Hägglund BV 206 S einge-
men der Notkompetenz bis hin zur i.v. Analgosedie- setzt werden. Der RettTrp wird in die Kampftruppe
rung, Etablieren eines definitiven Atemweges ohne eingegliedert und versorgt häufig als erstes Element
Muskelrelaxanzien und Gabe weiterer festgelegter des Sanitätsdienstes verletzte oder verwundete
Notfallmedikamente sowie ggf. anderen invasiver Soldaten.
Maßnahmen durchzuführen. Die CFR C der Spezi- Der Rettungstrupp kann auch abgesessen zum
alkräfte erhalten zudem eine Ausbildung zum Ret- Einsatz kommen. Hierbei werden meistens leichte
tungssanitäter. Unterstützung erhalten die o. g. Notfallrucksäcke mitgeführt. Der abgesessene
Kräfte im Verlauf – wann immer möglich – durch Einsatz ist besonders dann von Vorteil, wenn im
den Sanitätsdienst (RettTrp und/oder BAT). Rahmen eines Auftrages die Transportmittel auf-
Die lehrgangsgebundene Ausbildung von Kom- grund der Auftragslage (geräuschlose Annäherung,
battanten zu Sanitätsspezialisten hat die Rettungs- schwieriges Gelände) nicht nah genug an der zu ver-
kette revolutioniert und maßgeblich dazu beigetra- sorgenden Truppe positioniert werden können. Bei
gen, dass einerseits verwundete Kameraden schnel- Gefechtshandlungen hoher Intensität sind zudem
ler bestmöglich versorgt werden. Andererseits ist meist auch die Sanitätsspezialisten der Truppe mit
die Bedeutung der taktischen Einsatzmedizin auch anderweitigen Aufgaben betraut und können sich
im Vorfeld eines Auftrages mehr ins Bewusstsein nicht immer primär der Verwundetenversorgung
gerückt. zuwenden.
4.1 · Grundlagen und Ebenen der Versorgung
57 4
Die hier eingesetzten Rettungsassistenten müs- Sanitätseinrichtungen im Feld
sen zusätzlich zu ihrer notfallmedizinischen Exper- In einigen Lagen kann eine Rettungsstation MSE
tise über eine fundierte militärische Ausbildung (MSE = modulare Sanitätseinrichtung) geschützt
sowie eine hohe physische und psychische Belast- (Containermodul) auf dem Landweg oder eine
barkeit verfügen. Luftlanderettungsstation (LSE-gestütztes Zeltsys-
Es kann eine erweiterte Notkompetenz zu- tem mit Luftkammerschienen, LSE = luftbewegliche
erkannt werden, die durch den leitenden Sanitäts- Sanitätseinrichtung) per Lufttransport in den Ein-
offizier im Einsatz (LSO i.E.) auf Antrag festgelegt satzraum verbracht werden. Beide verfügen über
und erteilt wird. Die erweiterte Notkompetenz im mindestens zwei Notfallbehandlungsplätze, darun-
Einsatz hat sich in den letzten Jahren bewährt. ter zwei mit Beatmungsmöglichkeit. Sie dienen der
Der Bewegliche Arzttrupp (BAT) besteht perso- sanitätsdienstlichen Schwerpunktbildung und der
nell aus: Wiederherstellung oder dem Erhalt der Transport-
4 einem Arzt mit der Fachkunde Rettungs- fähigkeit sowie dem Zeitgewinn bei verlängerten
medizin bzw. der Zusatzbezeichnung Notfall- Evakuierungszeiten und sind auch (LLRS) per Luft-
medizin transport verlegbar. Sie benötigen immer eine zu-
4 ein bis zwei (LBAT) Rettungsassistenten und sätzliche Schutzkomponente zur Sicherung.
4 ein bis zwei Kraftfahrern mit der Ausbildung Die Luftlanderettungstation Spezialeinsatz
zum Einsatzsanitäter. (LLRS SpezEins) nimmt in Zukunft mit der Fähig-
keit der DCS (»damage control surgery«) eine Zwi-
Die eingesetzten Fahrzeuge entsprechen denen des schenstellung zwischen der Ebene 1 und der Ebene
Rettungstrupps. Die materielle Ausstattung ent- 2 ein.
spricht in etwa einem NAW/NEF in Deutschland.
Der BAT kann ebenso wie der Rettungstrupp in die
Elemente der Kampftruppe eingegliedert werden. 4.1.2 Ebene 2/»ROLE 2«
Die Anforderungen an die militärische Ausbildung
und die körperliche und psychische Belastbarkeit der 4 Rettungszentrum (RZ) und Rettungszentrum
Besatzung sind dieselben wie die an den Rettungs- leicht (RZ le)
trupp. Der Arzt ist als Sanitätsstabsoffizier zudem 4 Luftlanderettungszentrum (LLRZ) und Luft-
Berater der Truppe in sanitätsdienstlichen Angele- landerettungszentrum leicht (LLRZ le)
genheiten und Fachvorgesetzter aller Soldaten vor 4 Marineeinsatzrettungszentrum (MERZ)
Ort. Als sog. »Medical Incident Officer« (MIO) über-
nimmt er bei einem MASCAL (»mass casualty«, Die Einrichtungen der Ebene 2 werden in einem ge-
Massenanfall von Verwundeten) die fachliche Füh- sicherten militärischen Bereich, einem Camp, einer
rung aller an der Verwundetenversorgung beteiligten Einsatzbasis oder einem PRT (»provincial reconst-
Soldaten sowie die Triage und plant den Verwunde- ruction team«) vorgehalten. Sie können aber auch
tentransport in enger Absprache mit dem taktischen im Vorfeld einer militärischen Operation land- oder
Führer vor Ort. Dabei setzt er sein Personal sach- und luftbeweglich (LLRZ, LLRZ le) in eine FOB (»For-
fachgerecht ein und kann Maßnahmen an Rettungs- ward Operating Base«) verbracht werden und dort,
assistenten oder anderes Hilfspersonal delegieren. teilweise gegen Splitterwirkung und wenig gegen
Die Möglichkeiten der notfallmedizinischen Steilfeuerbeschuss gesichert, betrieben werden. Die
Versorgung durch den BAT umfassen das volle zeltgestützten luftbeweglichen Sanitätseinrichtun-
Spektrum der Notfallmedizin, wobei jedoch be- gen sind schnell verlegbar und kommen insbeson-
stimmte materielle Ressourcen (z. B. Sauerstoff) dere bei Operationen mit geringem Vorlauf (z. B.
begrenzt sind und der Umfang der medizinischen Evakuierungsoperationen) oder zu Beginn eines
Maßnahmen durch die taktische Lage häufig einge- längerfristigen Einsatzes zur Anwendung. Bei einer
schränkt wird. zu erwartenden Einsatzdauer von mehr als einem
Jahr werden die Behandlungseinrichtungen häufig
in fester Infrastruktur eingerichtet. Maritime Ein-
58 Kapitel 4 · Versorgungsebenen und Evakuierung von Verwundeten

satzverbände haben die Option, Marineeinsatzret- res ist besonders bei TBI (»traumatic brain injury«)
tungszentren (MERZ) containergestützt an Bord in Erwägung zu ziehen. Die Entscheidung über
von Einsatzgruppenversorgern (EGV) zu betreiben. das einzusetzende Rettungsmittel und die aufneh-
Die Einrichtungen der Behandlungsebene 2 mende Versorgungseinrichtung trifft die PECC
verfügen über die Fähigkeit einer ersten notfall- (»patient evacuation coordination cell«, Rettungs-
chirurgischen Versorgung im Sinne einer »damage leitstelle).
control surgery«. Zur Ausstattung gehören eine
Notaufnahme inklusive Schockräumen, Opera-
4 tionssälen, Intensivbehandlungsplätze mit Beat- 4.1.4 Ebene 4/»ROLE 4«
mungsmöglichkeit, Bettenstation, Röntgen, Labor,
eine Apotheke sowie ein begrenztes Kontingent an Die definitive operative Versorgung bzw. Weiter-
Blut- und Gerinnungsprodukten. Dem Schock- behandlung des Patienten und danach die Rehabili-
raummanagement kommt hierbei eine Schlüssel- tation erfolgt in den Fachabteilungen deutscher
rolle zu. Es werden immer mindestens ein chirurgi- Bundeswehrkrankenhäuser. Bei Bedarf werden
sches und ein anästhesiologisches Team (Facharzt auch zivile Krankenhäuser der Schwerpunkt- und
und Assistenzpersonal) vorgehalten. Maximalversorgung genutzt.
Aus logistischen Gründen muss stets an eine
schnellstmögliche Weiterverlegung der Patienten
gedacht werden, um die Aufnahmefähigkeit dieser 4.2 Verwundetentransport
Einheit zu erhalten.
Diese Einheit kann auf dem Landweg und durch 4.2.1 Grundlagen des
die Luft (meistens durch Hubschrauber) erreicht Verwundetentransports
werden. Bei maritimen Einheiten (MERZ) erfolgt
der Transport ggf. über den Seeweg, wobei auf- Der qualifizierte Verwundetentransport sowohl
grund des kritischen Zeitmoments beim Notfall- vom Ort der Verwundung als auch zwischen den
patienten stets der Lufttransport vorgezogen wer- Behandlungseinrichtungen ist das Bindeglied,
den sollte. welches die Kontinuität im Gesamtsystem der sani-
tätsdienstlichen Versorgung sicherstellt. Ziel ist es,
jeden Verwundeten zu jeder Tageszeit, bei jedem
4.1.3 Ebene 3/»ROLE 3« Wetter und aus jeder Region evakuieren zu können.
Die mobilen präklinischen Anteile, Rettungstrupps
Einsatzlazarette bilden im NATO-Standard die und Bewegliche Arzttrupps, sind mit Fahrzeugen
3. Versorgungsebene. Je nach Einsatz kann die ausgestattet, welche die Faktoren Schutz, Mobilität
Leistungsfähigkeit in einzelnen Teilbereichen das und sanitätsdienstliche Funktionalität in Einklang
Niveau einer Universitätsklinik haben, während an- bringen. Der bodengebundene Verwundetentrans-
dere Fachbereiche ggf. überhaupt nicht abgebildet port (GROUNDMEDEVAC) wird auch zukünftig
werden. Im Vergleich zur Ebene 2 sind neben Anäs- unverzichtbarer Bestandteil der Rettungskette blei-
thesie und Chirurgie auch andere Fachdisziplinen ben.
wie z. B. Neurochirurgie, Radiologie, Augenheil- Die Erfahrungen in Afghanistan haben erneut
kunde, Urologie, Innere Medizin, HNO, Dermato- die herausragende Bedeutung des Lufttransports
logie und Labormedizin vertreten. Ferner werden (AIRMEDEVAC) mit Hubschraubern und anderen
erweiterte diagnostische Möglichkeiten (CT) und Luftfahrzeugen für den Verwundetentransport ver-
eine größere Infrastruktur mit erhöhten intensiv- deutlicht. Sowohl aufgrund der Dislozierung von
medizinischen und Operationskapazitäten vor- Truppenteilen in ausgedehnten Einsatzräumen als
gehalten. auch aufgrund der Anforderungen an einen dem
Die Ebene 3 wird meistens im Rahmen des ent- Verletzungsmuster angepassten Transport kann der
lastenden Verwundetentransports von der Ebene 2 zeitgerechte, qualifizierte Transport von verwunde-
oder direkt von der Ebene 1 aus angeflogen. Letzte- ten Soldaten nicht immer bodengebunden erfolgen.
4.2 · Verwundetentransport
59 4
Einsatzland- und lagebezogen ist auch der Ver- Die Evakuierung von Verwundeten (»medical
wundetentransport auf dem Wasserwege möglich. evacuation«) kann grundsätzlich in folgende drei
Je nach Einsatz sowie personeller und materiel- Formen unterteilt werden:
ler Ausstattung der Transportmittel wird zwischen
folgenden Begrifflichkeiten unterschieden: Forward Medical Evacuation
4 CASEVAC (»Casualty Evacuation«): Evakuie- Transport des Verwundeten vom Ort der Ver-
rung eines Verwundeten mit einem Transport- wundung zur ersten notfallchirurgischen Behand-
mittel, welches nicht speziell für den Transport lung in Versorgungseinrichtungen der Ebenen 1+
von Verletzten/Verwundeten oder Erkrankten bis 3. Zum Einsatz kommen bodengebundene Fahr-
vorgesehen und ausgerüstet ist. Dementspre- zeuge (Rettungstrupp, Beweglicher Arzttrupp),
chend befindet sich weder medizinisches Gerät Wasserfahrzeuge oder Luftfahrzeuge (forward AIR-
noch medizinisches Personal an Bord. Das MEDEVAC), wobei heutzutage ausschließlich
bedeutet, dass bei einer Verschlechterung des Hubschrauber eingesetzt werden.
Gesundheitszustandes des Patienten keine Be- Im Auslandseinsatz der Bundeswehr sind eigens
handlung erfolgen kann und sich damit das für den MEDEVAC-Einsatz vorgehaltene und
Outcome verschlechtert. Angemerkt sei je- ausgerüstete Hubschrauber (CH-53) verfügbar. Be-
doch, dass bei CASEVAC eine Begleitung des sonders jedoch hat sich die enge Zusammen-
Patienten durch einen Soldaten mit erweiterter arbeit  mit den US-amerikanischen MEDEVAC-
Sanitätsausbildung erfolgen kann und sollte. Einheiten (UH-60/HH-60) bewährt und die Trans-
Während des Transports übernimmt dieser die portzeiten haben sich unter Nutzung eingerichteter
Versorgung des Patienten mit den ihm zur Hubschrauberlandezonen (HLZ/HLS = »heli landing
Verfügung stehenden Mitteln. Da es mittler- site«) erheblich verkürzt.
weile ein definiertes Ziel innerhalb der NATO
ist (STANAG 3204), jedem Verwundeten un- Intra-Theatre Tactical Medical Evacuation
verzüglich eine kontinuierliche und bestmög- Patiententransport von einer Behandlungseinrich-
liche medizinische Versorgung durch qualifi- tung zur anderen innerhalb der »joint operations
ziertes Personal zukommen zu lassen, spielt area« (JOA). Zum Einsatz kommen bodengebunde-
das CASEVAC-Konzept heutzutage im Einsatz, ne Fahrzeuge (RettTrp, BAT) oder Luftfahrzeuge
auch bei Operationen der Spezialkräfte, so gut (TACAIRMEDEVAC), wobei sowohl Hubschrau-
wie keine Rolle mehr. ber als auch Flugzeuge eingesetzt werden können.
4 MEDEVAC (»Medical Evacuation«): Qualifi- Typischerweise erfolgt der Transport aufgrund des
zierter Verwundetentransport vom Ort der kritischen Zeitfaktors auf dem Luftweg, um z. B.
Verwundung zu einer medizinischen Versor- einen stabilisierten Patienten zur weiteren medizi-
gungseinrichtung der Ebene 2 oder 3 mit nischen Versorgung in eine Behandlungseinheit der
einem speziell für diesen Zweck mit medizi- höheren Ebene (häufig Ebene 3) zu verbringen.
nischem Material und Personal ausgestattetem Hierbei hat sich gezeigt, dass die Patienten so früh
Transportmittel zu Wasser, zu Lande oder wie möglich und spätestens in dieser Evakuierungs-
durch die Luft. Während des Transports erfolgt phase aufgrund der häufig erforderlichen intensiv-
die weitere Behandlung des Patienten durch medizinischen Behandlung der Verwundeten arzt-
sanitätsdienstliches Personal, wobei der Um- begleitet transportiert werden sollten.
fang der Versorgung von der jeweiligen Quali-
fikation abhängig ist (»flight medic«, Parame- Strategic Medical Evacuation
dic, Rettungsassistent, Arzt). Repatriierung bzw. Transport von Patienten von
4 CASEVAC und MEDEVAC werden unter dem einer Behandlungseinrichtung im Einsatzgebiet zur
Begriff TACEVAC (»Tactical Evacuation«) zu- weiterführenden medizinischen Versorgung in eine
sammengefasst. medizinische Behandlungseinrichtung (meistens
Ebene 4) außerhalb der JOA. Der Transport erfolgt
immer auf dem Luftweg. Die eingesetzten Luftfahr-
60 Kapitel 4 · Versorgungsebenen und Evakuierung von Verwundeten

zeuge (Airbus A310 + A319, Transall C-160, Chal- rungsfreien Transport in eine medizinische Versor-
lenger CL 601) werden speziell mit Patiententrans- gungseinrichtung, auf der anderen Seite geht der
porteinheiten (PTE) ausgerüstet, welche eine inten- Lufttransport durch seine Eigenheiten (Abnahme
sivmedizinische Überwachung und Versorgung des Sauerstoffpartialdrucks und des Luftdrucks mit
während des Transports ermöglichen. Personell zunehmender Flughöhe, Lärmbelastung mit Ein-
werden hierfür spezielle Teams eingesetzt, die im- schränkungen in Bezug auf Diagnostik und Kom-
mer aus einem Arzt und Assistenzpersonal beste- munikation, Kinetosen durch Flugmanöver) mit
hen (US: CCATT – »Critical Care Air Transport nicht unerheblichem Stress für den Patienten ein-
4 Teams«). her. Bestimmte (relative) Kontraindikationen für
den Lufttransport in größerer Höhe ohne Druck-
ausgleich in der Kabine müssen vor Transport-
4.2.2 Bodengebundener beginn ausgeschlossen worden sein (penetrierende
Verwundetentransport Augenverletzungen, nicht entlasteter Spannungs-
pneumothorax, schwere respiratorische Insuffi-
Unter qualifiziertem Verwundetentransport ver- zienz, Luftembolie, Dekompressionskrankheit) (aus-
steht man den Abtransport des anbehandelten Pati- führlich 7 Kap. 34). Da die Einsatzhöhe der einge-
enten mit Fachpersonal (Rettungsmediziner und/ setzten Helikopter eher niedrig ist, fallen hier diese
oder Rettungsassistent) in einem eigens für den Besonderheiten der Flugmedizin nicht so sehr ins
Verwundetentransport vorgesehenen und aus- Gewicht.
gerüsteten Transportmittel. Es kommen speziell
konfigurierte Fahrzeuge in den Varianten Rettungs-
trupp (entspricht einem zivilen RTW – Rettungs- 4.3 MEDEVAC-Anforderung
wagen) und BAT (entspricht einem zivilen NAW –
Notarztwagen) zum Einsatz. Die Fahrzeuge sind Um eine Notfallmeldung abzusetzen bzw.
geländegängig und verfügen über eine Zusatzpan- MEDEVAC anzufordern, haben sich zwei Schemata
zerung zum Schutz vor Splitterwirkung und Hand- NATO-weit durchgesetzt. Da das METHANE-
waffenbeschuss sowie spezielle Vorrichtungen wie Schema einer militärischen Lagemeldung ent-
Kommunikations- und Navigationsmittel sowie spricht, soll an dieser Stelle nur auf den 9-Line
eine Bewaffnung zum Eigenschutz. MEDEVAC Request eingegangen werden. Dieses
Meldeschema wird durch den militärischen Führer
vor Ort an das »Tactical Operations Center« (TOC)
4.2.3 Lufttransport des Verwundeten abgesetzt, von hier aus wird es an die PECC weiter-
(»aeromedical evacuation«) geleitet. Hierzu holt dieser alle notwendigen medi-
zinischen Informationen vom MIO bzw. dem medi-
Unter »aeromedical evacuation« versteht man den zinischen Führer vor Ort ein und lässt sich fachlich
Verwundetentransport mit Drehflüglern (»rotary beraten. Der 9-Line MEDEVAC Request ist inner-
wing« = Hubschraubern, z. B. CH-47, CH-53, UH- halb der NATO durch ein Standardization Agree-
60, HH-60) und Starrflüglern (»fixed wing« = Flug- ment (STANAG) einheitlich festgelegt.
zeuge, z. B. C-160/C130).
Die Unterteilung der »aeromedical evacuation« 9-Liner
erfolgt analog zur o. g. Einteilung der »medical Die Form des »9-Liners« ermöglicht eine strukturierte
evacuation«, allerdings wird das Kürzel »Air« bzw. Abfrage und komprimierte Übertragung relevanter
»Aero« in den Begriff bzw. in die Abkürzung ein- Informationen. Der Funkspruch »[…] Line 3: Alpha 2,
oder hinzugefügt. Charlie 5 […]« teilt dem Empfänger z. B. mit, dass
Der Lufttransport zeichnet sich gegenüber dem 2 Schwerverwundete und 5 Leichtverwundete zu
bodengebundenen Transport durch einige Beson- evakuieren sind. Auch mit geringen Englischkennt-
derheiten aus: Auf der einen Seite profitiert der nissen ist so eine qualifizierte Übertragung von
Verwundete von dem schnellen und erschütte- Informationen möglich.
4.3 · MEDEVAC-Anforderung
61 4

. Tab. 4.1 Emergency Air MEDEVAC Request – »9-Liner«. (Nach NATO STANAG 2087 Ed. 6, Feb 09 [1])

1 Koordinaten der Landezone Location (Grid of pickup zone)

2 Rufzeichen, Frequenz (Callsign & Freq)

3 Anzahl/Dringlichkeit der Patienten A Urgent/Dringend (90 min): P1


(»number of patients/precedence«) B Priority/Priorität (4 h): P2
C Routine/Routine (24 h): P3

4 Spezielle Ausrüstung benötigt A None/keine


(»special equipment required«) B Hoist/Winde
C Extrication/z. B. Bergegerät
D Ventilator/Beatmungsgerät etc.

5 Anzahl der Patienten nach Typ L Litter/liegend


(»number of patients by type«) A Ambulatory/gehfähig
E Escorts (e.g. for child)/Begleitung

6 Sicherheit der Landezone N No Enemy/feindfrei im Gebiet


(»security at pickup zone, PZ«) P Possible/Möglichkeit von Feindkräften
E Enemy in area/Feindkräfte im Gebiet
X Hot PZ/heiße Landezone o bewaffnete Eskorte nötig

7 Markierung der LZ A Panels/Sichtzeichen


(»PZ marking method«) B Pyro/Pyrotechnik
C Smoke/Rauch
D None/Kein
E Other (explain)/andere (Erklärung)

8 Patientenzahl nach Nationalität A Coalition Military


und Status B Civilian with Coalition Forces
(»number of patients by nationality C Non-Coalition Security Forces
and status«) D Non-Coalition Civilian«
E Op-Forces/POW
F Child

9 Gelände/Hindernisse Landezone Länge, Breite


(»PZ terrain/obstacles«) Hindernisse
Hilfsziele/Anflugrichtung

Start MEDEVAC nicht verzögern – detaillierte Informationen (MIST) nachmelden.


Gezielte Anforderung, wenn wichtiges SanMat vom MedEvac mitgebracht werden soll.

M Verletzungsmechanismus/Zeit
(»mechanism/time of injury«)

I Verletzung/Erkrankung
(»injury or illness sustained«)

S Symptome/Vitalfunktionen S Symptoms
(»symptoms and vital signs«) A Airway
B Breathing rate
C Pulse rate
D Consciousness
E Other signs

T Therapie
(»treatment given«)
62 Kapitel 4 · Versorgungsebenen und Evakuierung von Verwundeten

4.4 Koordinierung der einflusst so maßgeblich das letztendliche Resultat


»medical evacuation« für die Patienten.

Die Verantwortung für die Rettungskette und den


Aufbau der Transportorganisation hat stets die Per- 4.5 Schlussbemerkung
son, die die höchste medizinische und medizinisch-
taktische Qualifikation vor Ort innehat (Master Die Außenwirkung, die von einer funktionierenden
Medic, Rettungsassistent, wenn vor Ort dann im- Rettungskette mit suffizienter Verwundetenver-
4 mer der Arzt Rettungsmedizin) und/oder der im sorgung ausgeht, ist außerordentlich wichtig für die
Gefechtsstand (TOC) befindliche Sanitätsstabsoffi- Moral der Truppe. Das Vertrauen in die eigenen
zier Arzt (der über Fernmeldemittel mit ROLE-1- Helfer, Sanitäter und Ärzte sollte, wenn möglich,
Kräften vor Ort und ROLE-2-Personal in direkter bereits in einer gemeinsamen, einsatzvorbereiten-
Verbindung steht; Auskünfte über Art und Schwere den Ausbildung geschaffen werden.
der Verwundungen, Zahl der Verwundeten, emp-
fohlene Transportreihenfolge).
> Der medizintaktische Führer muss alle ver-
Literatur
fügbaren Kräfte, das Personal und Material,
1. NATO Standardization Agency, Military Committee Air
deren Standort und die verfügbaren Verwun- Standardization Board (MCASB) (2008) STANAG 2087
detentransportmittel kennen. Das beinhal- Medical Employment of Air Transport in the Forward
tet auch die Teilnahme am Mission Planning Area. Edn 6 dated 30 Oct 08
und allen Befehlsausgaben. 2. NATO STANAG 3204: Aeromedical Evacuation 1st Publica-
tion Date: Jul 15, 1999
Die Festlegung der weiteren Transportreihenfolge 3. NATO (2007) MC 326/2 NATO Principles and Policies of
und die Art der Evakuierung/der eingesetzten Operational Medical Support
4. NATO (1999) MC 326/1 NATO Medical Support Principles
Rettungsmittel erfolgt dann nach Weitergabe aller
and Policies
wesentlichen Informationen durch die PECC. 5. NATO (März 2006) ALLIED JOINT MEDICAL SUPPORT
Die medizinische Planung, Organisation und DOCTRINE AJP 4.10(A)
Durchführung sämtlicher Maßnahmen muss Hand 6. NATO (2009) ACO DIRECTIVE 83-1 Medical Support to
in Hand mit der Planung der Evakuierung und Operations (Timelines)
7. Sanitätsamt der Bundeswehr (31.07.2006) Leitfaden
dem Initialisieren der Rettungskette einhergehen
Grundsätze für Führung und Einsatz des Sanitätsdienstes
(7 Kap. 2). der Bundeswehr (FüEinsGrdsSanDstBw)
Beides ist nicht voneinander zu trennen, da es 8. NAEMT (Hrsg.) (2011) PHTLS: prehospital trauma life
ansonsten zu Informationsverlust, Zeitverzug und support, Military Version, 7th ed. Elsevier Mosby, Toronto
somit zu Fehlentscheidungen oder Verzögerungen 9. Butler FK, Jr., Hagmann J, Butler G (1996) Military Medi-
cine, Vol. 161. Supplement 1
kommen kann, die von großer Tragweite für das
Outcome der Patienten sein können.
Bei größeren militärischen Operationen findet
die medizinische Evakuierung zwingend in der
Operationsplanung Berücksichtigung.
An dieser Stelle sei bemerkt, wie wichtig eine
gute Dokumentation (wenn dafür taktisch Zeit ist)
und auch die Weitergabe der benötigten Informa-
tionen ist, um in der ROLE 2/3 entsprechende Vor-
bereitungen zu treffen bzw. schon vor Sichtung der
Verwundeten vermutliche Behandlungsprioritäten
und dafür benötigtes Personal und Material vor-
zuplanen. Das dient der schnelleren und effiziente-
ren Weiterbehandlung der Verwundeten und be-
63 5

Rettung von Verwundeten


J. Vogt, S. Schöndube, K. Ladehof

5.1 Grundsätzliches – 64

5.2 Einteilung der Rettungsmittel – 65


5.2.1 Rettungsgriffe – 65
5.2.2 Hilfsmittel zur Rettung – 66
5.2.3 Behelfsmäßige Rettungsmittel – 68
5.2.4 Industriell gefertigte Rettungsmittel – 69

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
64 Kapitel 5 · Rettung von Verwundeten

5.1 Grundsätzliches die miteinander kompatibel sind, und aus diesen


dann szenariospezifisch auszuwählen.
Schon bei der Einsatzplanung müssen die zur Bei der Beschaffung eines Systems sind folgen-
Rettung von Verwundeten notwendigen Mittel de Punkte zu berücksichtigen:
konzeptionell berücksichtigt werden. Dies ist von 4 Für welchen Einsatzzweck ist das System
großer Bedeutung, da eine Fehlauswahl später nicht vorgesehen und zugelassen?
mehr korrigiert werden kann und dies beim Trans- 4 Bis zu welchem Gewicht darf ich damit
port für das taktische Element und den Verletzen transportieren?
erhebliche Folgen haben kann. 4 Welche anderen Limitierungen hat es?
Der Planungsverantwortliche für den Bereich 4 Ist es für Einweg- oder Mehrfachnutzung
5 des Rettungsmittels sollte dabei folgende Faktoren zugelassen?
berücksichtigen: 4 Welchen Wartungs- und Ausbildungsaufwand
4 Welches Evakuierungsmittel steht mir in hat es?
welcher Phase des Einsatzes zur Verfügung? 4 Ist es kompatibel zu den Rettungsmitteln im
4 Ist mein Rettungsmittel mit der Evakuierungs- Einsatzgebiet?
plattform kompatibel, an die übergeben wird? 4 Verfügt es über eine europäische Luftfahrt-
4 Welche Geländeformen habe ich zu erwarten? zulassung?
4 Welche Witterung bzw. Jahreszeit herrscht im 4 Ist es für den vertikalen Einsatz (Seil/Winde)
Einsatzgebiet? zugelassen?
4 Welche Strecken muss ich zurücklegen?
4 Benötige ich Zusatzausrüstung, z. B. Kletter- Bei einem Rettungsmittel unterscheiden wir grund-
gerät? sätzlich vier Einsatzkategorien mit Unterteilungen:
4 Horizontaler Schleifeinsatz
Als Beispiel hierfür kann ein Einsatz im Dschungel 5 Untergrund: Sand, Wald, Stein, Beton,
dienen, bei dem sich das taktische Element auf Schnee?
einem Fluss annähert und sich dann durch dichten 4 Horizontaler Trageeinsatz
Bewuchs in mittelschwerem Gelände auf eine Höhe 4 Vertikaler Einsatz
vorarbeiten muss. Die Kriterien für das ideale Ret- 5 Rettung Achse des Verletzten parallel zum
tungsmittel wären dabei »leicht und kompakt, ver- Boden
tikal rettungsfähig, hubschrauberzugelassen und 5 Rettung Achse des Verletzten senkrecht
ggf. sogar schwimmfähig« – also ein enormes An- zum Boden
forderungsprofil. 4 Luftfahrzeugeinsatz
Weiterhin muss sich die Frage gestellt werden, 5 Winchen (. Abb. 5.1)
in wie weit das Gewicht und Packmaß des gewähl- 5 Langseilbergung
ten Mittels den Einsatz beeinträchtigt. So kann ein
Spezialeinsatzkommando aufgrund kürzerer Dis- Weiterhin sollte ein Rettungsmittel auf seine Eigen-
tanzen des Anmarsch- und Evakuierungsweges schaften beim Transport des Patienten bewertet
schwerere Mittel zum Einsatz bringen, als es bei werden:
militärischen oder Höhenrettungs- bzw. Bergret- 4 Wie ist die Stabilisierung/Fixierung des
tungseinsätzen mit schwierigen Anmarschwegen Patienten?
über längere Strecken möglich ist. Hier wird man 4 Welchen mechanischen Schutz bietet es beim
bei der Ausrüstung auf jedes Gramm und jeden Transport bzw. der Rettung?
Zentimeter an Packmaß achten müssen. 4 Schützt es vor der Witterung (Hypothermie-
Auf dem Markt ist eine immer größer werdende prävention!)?
Anzahl an Rettungsmitteln vorhanden. Wichtig ist
dabei zu wissen, dass kein Rettungsmittel alle Ein- Wird ein Rettungsversuch unternommen, muss vor
satzszenarien abdeckt. Es bietet sich an, mehrere dem Verlassen der Deckung jedem Beteiligten das
aufeinander abgestimmte Systeme anzuschaffen, Vorgehen klar sein. Auch der Verwundete sollte per
5.2 · Einteilung der Rettungsmittel
65 5
(. Tab. 5.1). Man muss jedoch beachten, dass nicht
jede Technik in jeder Situation zum Erfolg führen
wird. Wesentliche Faktoren zur Auswahl einer
Technik sind:
4 Anzahl der verfügbaren Retter
4 Ermüdungszustand der Retter
4 Welche Ausrüstung trägt der Verletzte bzw. der
Retter
4 Transportstrecke
4 Zustand des Verwundeten und Gewicht

. Abb. 5.1 Aufwinchen eines Verletzten in UT-2000-Trage


Ein Feuerwehrmann wird auch unter Atemschutz
mittels Außenwinde der BELL UH-1D. Entscheidend ist es eine 80-jährige Frau eine Treppe heruntertragen
hier, neben dem Rettungsmittel unbedingt auch die erfor- können – im Gegensatz zu einem Soldaten, der be-
derliche Antirotationsleine mitzuführen. (Foto: K. Ladehof ) reits seit Tagen mit schwerem Gepäck marschiert ist
und dann einen Verwundeten mit schwerer Schutz-
weste tragen soll.
Zuruf, Funk o. ä. informiert werden. Nicht unmit-
Tipp
telbar an der Rettung beteiligte Elemente sollten
diese mittels Deckungsfeuer unterstützen (»keine
Im Rahmen von Übung und Ausbildung sollte
Bewegung ohne Feuer«) oder z. B. durch Präzisions-
man sich mit den unterschiedlichen Techniken
schützen überwachen lassen. Im polizeilichen Um-
vertraut machen. Hierbei muss unbedingt auf
feld könnte z. B. auch ein Wasserwerfer ein geeigne-
verschieden festen Untergründen, mit unter-
tes Mittel sein, um die rettenden Kräfte zu schützen.
schiedlichen »Rüstzuständen« des Verletzten
Die Koordination liegt dabei in den Händen des
und Retters sowie unterschiedlicher, vorange-
taktischen Führers vor Ort.
gangener Belastung des Retters geübt werden.

5.2 Einteilung der Rettungsmittel Beim Verletzten wird dabei immer vom Zustand
»bewusstlos« ausgegangen. Nur so kann dann in der
Bei der Einteilung von Rettungsmitteln unterschei- Notsituation die richtige Technik verzugslos ange-
den wir zwischen: wendet werden.
4 Rettungsgriffen Jede Technik hat dabei ihre eigenen Vor- und
4 Hilfsmitteln zur Rettung Nachteile. Im Kern stehen sich dabei immer Aus-
4 Behelfsmäßigen Rettungsmitteln weichgeschwindigkeit und Ansatz der Rettungs-
4 Industriell gefertigten Rettungsmitteln kräfte gegenüber. Es kann zweckmäßig sein, im
Rahmen der Ausweichbewegung aus dem Gefah-
Gerade in der Phase »Care under Fire« kommt dem renbereich die Technik und den damit gebunden
einfachen Prinzip von »load and go« besondere Be- Kräfteansatz anzupassen. Beispielsweise wird ein
deutung zu. Die einfache und schnelle Methode unter Beschuss gekommener Trupp in der Phase
wird hier zum Erfolg führen, da die Gefahrenzone CuF nur eine Technik wie »collar drag« oder »two
schnellstmöglich verlassen werden muss. man-drag« anwenden können, um Deckungsfeuer
abgeben, sich dadurch überhaupt erfolgreich lösen
und somit den Totalausfall des Trupps verhindern
5.2.1 Rettungsgriffe zu können. Wenn die Bedrohung nachlässt, bietet es
sich an, eine kräfteschonendere Technik anzuwen-
Unter den »Rettungsgriffen« existiert eine Vielzahl den. Hierfür stehen dann auch oft weitere Kräfte zur
praktikabler Ein- bis Mehrpersonentechniken Verfügung.
66 Kapitel 5 · Rettung von Verwundeten

. Tab. 5.1 Gängige Techniken zum Retten von Patienten aus Gefahrenbereichen mit ihren jeweiligen Vor-
und Nachteilen

Rettungsgriff Vorteile Nachteile Anmerkung

Rautek-Griff Einmanntechnik Schwierig mit taktischer Kann abgewandelt mit


(»Rautek one-person Gut für beengte Verhält- Ausrüstung einem unter den Achseln
drag«; . Abb. 5.2a) nisse Kraftraubend hindurch geführten Tragerie-
men o.ä. eingesetzt werden.
Schulter-/Gamstrage- Einmanntechnik Aufnahme zeit- und kraft- Wenn möglich kurz Kräfte
griff Gewicht liegt vollständig raubend zusammenfassen, um den
5 (»fireman‘s carry«;
. Abb. 5.2b)
auf der Schulter
Hohe Geschwindigkeit
Aufnahme mit taktischer
Ausrüstung ohne Hilfe
Vwu auf die Schultern des
Trägers zu legen und diesem
(über kurze Entfernungen) nahezu unmöglich beim Aufstehen zu helfen
Große Silhouette
Kragenschleiftechnik Einmanntechnik Abhängig von Bodenbe- Kann auch mit mehreren
(»collar drag«/»clothes Sehr schnelle Anwendung schaffenheit Personen angewendet
drag«; . Abb. 5.2c) Unabhängig vom Rüstzu- Nur für sehr kurze Strecken werden, bzw. abgewandelt
stand (CuF) mit »drag strap«
SEAL-Team-3-Trag- Unabhängig Rüstzustand Bindet zwei Retter Die innere Hand kann am
etechnik Kräfteschonend Nur wenn beide Arme Gürtel auf der Rückseite
(»SEAL team 3 carry«; Schnell über lange unverletzt unterstützen
. Abb. 5.2d) Strecken Alternativ Vwu auf die inne-
ren Armen der Helfer setzen
(ggf. Nutzung Ringpolster)
Zweimanntragetechnik Unabhängig Rüstzustand Bindet zwei Retter Kann auch mit weiteren
(»fore and aft carry«; Kräfteschonend Eher langsam Personen angewendet
. Abb. 5.2e) Lange Strecken werden
Einmannstütztechnik Einmanntechnik Verletzter muss bedingt Nur für Leichtverletzte
»support carry«; Schnelle Anwendung gehfähig sein anwendbar
. Abb. 5.2f ) Retter noch bedingt für
Nebenaufgaben ein-
setzbar (Funk etc.)

5.2.2 Hilfsmittel zur Rettung Als Beispiel hierfür können die sog. »drag straps«
und Bandschlingen genannt werden (. Abb. 5.3).
Mit Hilfe eines aus einem Dreiecktuch o. ä. herge- Diese Mittel sind meist aus Gurtband aus dem Klet-
stellten Rings, der von zwei Helfern mit je einer tersportbereich gefertigt und in vielen Variationen
Hand gegriffen wird, können Verwundete gut getra- verfügbar. Die grundlegende Ausführung dafür ist
gen werden. Der Patient sitzt dabei auf dem Ring immer eine »leinenartige« Verbindung vom Retter
bzw. den Händen der Helfer. Bei diesem Griff kann zum Patienten zur horizontalen Schleifrettung aus
sich ein Verwundeter bei Bewusstsein selbstständig dem Gefahrenbereich. Durch die Verbindung er-
an den Rettern festhalten, sodass diese jeweils eine folgt eine bessere Kraftübertragung und der Retter
Hand zur Nutzung einer Waffe oder zum Festhalten hat bei Bedarf beide Hände frei, ohne dass das Zug-
in schwierigerem Gelände frei haben. band auf den Boden fällt bzw. er dieses verliert (Ein-
In den Bereich der »Hilfsmittel zur Rettung« satz bei eingeschränkter Sicht).
fallen auch all jene Ausrüstungsgegenstände, die Außerdem kann eine Leine oder Bandschlinge
eine Rettung in der ersten Phase schnell ermögli- einem Verletzten, der noch bei Bewusstsein ist, zu-
chen bzw. in späteren Phasen den Abtransport mit geworfen werden und er dann (mit ausreichenden
anderen Mitteln unterstützen. Kräften, da die Reibung natürlich sehr hoch ist)
5.2 · Einteilung der Rettungsmittel
67 5

a b

c d

e f

. Abb. 5.2a–f Gängige Rettungstechniken. a Rautek-Griff. b Schulter-/Gamstragegriff. c Kragenschleiftechnik. d SEAL-Team-


3-Tragetechnik. e Zweimanntragetechnik. f Einmannstütztechnik. (Fotos: S. Schöndube/K. Ladehof )

aus einer Deckung heraus in Sicherheit gezogen Die Möglichkeit einen Verwundeten mittels eines
werden. um seine Sprunggelenke gelegten und am Gürtel
des Retters befestigten »drag strap« rückwärtsge-
Tipp hend aus dem Gefahrenbereich zu ziehen und dabei
Deckungsfeuer zu schießen, funktioniert primär
Eine an der Weste befestigte und vorbereitete auf sehr glattem Untergrund (in Gebäuden) und mit
offene Bandschlinge mit der einer Länge von leichten Patienten (. Abb. 5.4). Bei unebenem Un-
3 m kann zusammen mit zwei HMS-Karabinern tergrund wird die Mündung der Waffe dabei stark
in der ersten kritischen Phase eine schnelle auf und ab schwenken. Das Deckungsfeuer wird
Rettung ermöglichen. Weiterhin ist sie multi- ineffektiv und es entsteht eine massive Gefährdung
funktional (z. B. zur Sicherung an einer Rückhalte- des zu Rettenden.
leine im LFz oder einem Seilsteg) einsetzbar. Mit Rundschlingen lassen sich zudem viele be-
helfsmäßige Mittel erstellen. Diese reichen von ein-
68 Kapitel 5 · Rettung von Verwundeten

a b c

. Abb. 5.3a–c Bandschlingen. a Behelfstrage durch überkreuzt unter dem Patienten liegende Bandschlinge. b Improvisierte,
vertikale Rettung. c In die Bundeswehr eingeführtes Bandmaterial mit einer Traglast von 2200 kg. (Foto: G. Wiechmann)

und Unterstützung bei der Rettung lässt er sich auch


offensiv als »force multiplier« im Bereich Überwin-
den von Hindernissen einsetzen (. Abb. 5.6) (down-
load www.tremaonline.info).
Soll die »kill zone« mit Fahrzeugen zügig ver-
lassen werden, müssen Verwundete schnellstmög-
lich in die Fahrzeuge verbracht werden. Bei kleinen
Fahrzeugen hat sich zur Vermeidung von Zeitverzö-
gerungen durch umständliche Beladungsversuche
die Vorbereitung einer Befestigungsmöglichkeit
. Abb. 5.4 »Drag strap« aus Bandschlingen, hier um die für Verwundete auf der Motorhaube bewährt
Sprunggelenke des Verwundeten gelegt. Der Verwundete (. Abb. 5.7). Diese Technik ermöglicht einen er-
kann im Rückwärtsgehen aus dem Gefahrenbereich ge- staunlich schonenden Patiententransport, bleibt
zogen werden, während die Hände frei zum Bedienen der
aber der Phase »Care under Fire« vorbehalten. Der
Waffe sind. (Foto: Dr. C. Neitzel)
Verwundete ist dabei allerdings nicht nur unge-
schützt, sondern auch weder für Überwachung noch
fachen Tragen über Schleifsysteme bis hin zu voll für medizinische Maßnahmen zugänglich und sollte
alpin einsetzbaren Behelfsgurten. Die Anwen- unmittelbar nach Erreichen der nächsten Deckung
dungsmöglichkeiten sind nahezu unerschöpflich in ein verfügbares Fahrzeug verbracht werden.
und nur durch das Können des Anwenders be-
schränkt (. Abb. 5.5).
In den Bereich der Hilfsmittel gehören auch 5.2.3 Behelfsmäßige Rettungsmittel
Seile, Karabiner, Anschlagmittel etc., da diese den
Einsatz von Rettungsmitteln unterstützen und über- Zu den »behelfsmäßigen Rettungsmitteln« gehören
haupt erst eine Rettung, z. B. eine horizontale Ver- improvisierte Mittel wie Seiltragen (. Abb. 5.3a), die
bringung, ermöglichen. Eine ausgewählte Ausstat- Zeltbahn-Trage usw. Sie sind einem industriell ge-
tung ist dabei zweckmäßig und leicht mitführbar. fertigtem Mittel nachempfunden, sind jedoch meist
Als Muster hierfür kann der »Kampfunterstützungs- hinsichtlich Schonung des Patienten und Sicherheit
satz«, dienen. Neben der improvisierten Rettung unterlegen. Jedoch kann ein solches Behelfsmittel in
5.2 · Einteilung der Rettungsmittel
69 5

. Abb. 5.5 Anlage einer Transportschlinge (»hasty harness«) zum Schleifen oder zur Aufnahme des Patienten auf den Rücken
(dann Enden beim Führen nach vorne hoch in die Achseln ziehen, damit der Schwerpunkt nicht zu tief liegt). Insbesondere
falls der Verwundete noch Ausrüstung trägt, sollte die Bandschlinge eine Länge von 9 m haben. (Grafik: M. Neitzel)

. Abb. 5.6 Kampfunterstützungssatz, bestehend aus: 18 m . Abb. 5.7 An den Motorhaubenscharnieren befestigte
Statikseil 11 mm Seil, 4 HMS-Karabinern, 2 Bandschlingen Gummiexpander mit Karabiner ermöglichen die Sicherung
(3 m und 9 m), 1 Seilrolle mit Stop (z. B. Petzl »Micro Traxion«) des quer über der Motorhaube liegenden Verwundeten durch
sowie einer Aufbewahrungstasche. (Foto: S. Schöndube) Einhaken an der Ausrüstung im Schulterbereich und Fixie-
rung der Oberschenkel mittels Expander. (Foto: Dr. C. Neitzel)

einigen Fällen die einzig anwendbare bzw. mitführ- lern ähnliche Produkte angeboten, welche sich aber
bare Möglichkeit sein. im Einsatzbereich und der Zulassung enorm unter-
scheiden können. Hier sind die Eigenschaften anhand
der oben aufgeführten Kriterien genau zu prüfen.
5.2.4 Industriell gefertigte Häufig erlauben die Umstände den Einsatz
Rettungsmittel hochwertiger Evakuierungssysteme nicht, oder das
Mitführen der vergleichsweise sperrigen Behälter
Bei den industriell gefertigten Rettungsmitteln bietet ist nicht zwingend erforderlich. In diesem Fall
der Markt die größte Auswahl. Hier sollte anhand der bieten Hilfsmittel wie leichte Tragetücher erheb-
eingangs beschriebenen Kriterien sorgfältig ausge- liche Vorteile hinsichtlich Gewicht und Packvolu-
wählt werden. Meist werden von mehreren Herstel- men (. Abb. 5.8).
70 Kapitel 5 · Rettung von Verwundeten

a
5

. Abb. 5.8 Die Poc-Kit von EM Innovations hat die Größe


einer Hand und lässt sich bequem in einer G36-Magazin-
tasche verstauen (hier abgebildet im mitgelieferten Packsack).
(Mit freundlicher Genehmigung der Fa. EM Innovations)

Tipp

Das Mitführen von zumindest einem Tragetuch


im Trupp- oder Gruppenrahmen ist taktisch b
von herausragender Bedeutung, um Ver-
. Abb. 5.9a,b Sked-System. a Leere Sked-Trage. Das Sys-
wundete schnell und schonend transportieren tem ist durch die röhrenartige Form sehr stabil. Beachte die
zu können! nachträglich mit Klebeband angebrachten blauen Markie-
rungen, die beim Ausrollen schnell erkennen lassen, auf wel-
che Seite Kopf bzw. Füße des Patienten gelagert werden
Viele zivil übliche Hilfsmittel zur Evakuierung von müssen. Das in den Ösen am Rand eingeknotete Leuchttras-
sierband erleichtert beim Arbeiten unter Nachtsicht das Auf-
Patienten sind hinsichtlich ihrer universellen finden der Gurte bzw. Ösen auf der Gegenseite. b Vertikale
Verwendbarkeit, ihrer Transportmaße und des Rettung mittels SKED-Trage. Ein Helfer ist zur Überwachung
Transportgewichtes für den Bereich der taktischen und Betreuung des Patienten mit ins System eingebunden.
Notfallmedizin nicht geeignet. So sind Spineboards (Fotos: Dr. Christian Neitzel)
aufgrund ihrer Robustheit und der einfachen Hand-
habung der klassischen Vakuummatratze überlegen. Einsatz im amphibischen Umfeld möglich. Mit Ein-
Besonders auf die Rettung aus schwierigen schränkungen kann (insbesondere in Kombination
Lagen, engen Räumen, Höhen und Tiefen sowie mit Kendrick-Extraction-Device (KED) und Hals-
zum Transport von Verletzten über weite Strecken krause auch eine Wirbelsäulenimmobilisation er-
ist das Sked-Stretcher-System der Fa. Skedco Inc. folgen.
ausgelegt (. Abb. 5.9). Der Patient wird auf das bieg- Ein ähnliches System bietet nunmehr auch die
same Sked gelegt und durch die nach oben geschla- Fa. ARC Products mit dem Med Sled Evacuati-
genen Seiten und Enden gut geschützt. Das System on MS36 an. Es weist ein ähnliches Leistungsspekt-
kann wie eine Schleiftrage mit ein oder zwei Helfern rum auf.
am Boden gezogen werden und ist auch beim Über- Ebenfalls auf dem Prinzip einer flexiblen Kunst-
winden von Treppenstufen etc. stabil. Eine ent- stoffplatte beruht das von der österreichischen
sprechende Aufhängung macht den Einsatz bei der Firma Kohlbrat & Bunz entwickelte RollUp. Äußer-
vertikalen Rettung durch Hubschrauber oder Ab- lich sieht das RollUp (. Abb. 5.10) dem SKEDCO
seilen möglich. Durch Schwimmkörper ist ein ähnlich, weist jedoch im Detail signifikante Unter-
5.2 · Einteilung der Rettungsmittel
71 5

a b

. Abb. 5.10a,b RollUp. a RollUp fertig für die vertikale Bergung. Gut zu erkennen ist, dass die Anschlagpunkte für das
Bergeseil/Winde an der Kante angebracht sind und damit auch ein für das Winchen vorbereitetes System schleiffähig bleibt.
b RollUp zerlegt. Gut zu sehen sind die Quer-/Längsstreben. (Mit freundlicher Genehmigung der Fa. Kohlbrat & Bunz GmbH)

. Abb. 5.11 Foxtrott Litter. Der Gurt zum Schleifen des . Abb. 5.12 ARK bag von TacMed Solution, die Foxtrott
Patienten befindet sich in einer separaten Tasche am Kopf- befindet sich im Mittelfach und kann auch auf dem Rücken
teil und ist zur Demonstration etwas herausgezogen. tragend entnommen werden. (Foto: S. Schöndube)
(Foto: Dr. C. Neitzel)

schiede auf. Durch den Einsatz von Längs- und stellt eine Zwischenstufe zwischen Tragetuch und
Querstreben wird eine sehr hohe Eigenstabilität Sked-Stretcher dar. Mit ihr kann man Patienten
erreicht und darüber hinaus gewährleistet, dass auf auch schleifen, darüber hinaus reduziert sich der
den Verletzten kein Druck von der Längs-/Quersei- Personalaufwand beim Patiententransport durch
te aufgebaut werden kann. Im Prinzip stellt das Roll- eine gute Stabilität in der Längsachse. Es kann aber
Up hierdurch eine Kombination aus Korb- und nicht wie die Sked-Trage zur vertikalen Rettung ein-
Schleiftrage dar. Das RollUp ist zum vertikalen und gesetzt werden. Aufgrund der Größe eignet es sich
horizontalen Bergen von Verletzten vorgesehen und noch zum Mitführen am Rucksack.
kann über Schnee oder Gras gezogen werden. Dazu Wer die Foxtrott Litter nicht im mitgelieferten
muss das RollUp nicht extra vorbereitet werden. Packsack mitführen möchte, kann das ARK bag
Anschlagpunkte für die vertikale als auch die hori- (. Abb. 5.12) nutzen. Dieses wurde im Prinzip um
zontale Bergung sind, bis auf die Antirotationsleine die Foxtrott herum gebaut und bietet neben der
für die Windenbergung, bereits vorinstalliert. Auch Aufnahme der Trage ausreichend Stauraum für
beim RollUp gibt es optionale Auftriebskörper für Standard-Verbandsmaterial.
die Wasserrettung. Eine platzsparende Alternative zur Krankentrage
Die zusammenrollbare Kunststofftrage Foxtrott ist die Talon-II-Model 90C-Falttrage (. Abb. 5.13).
Litter von Tactical Medical Solutions (. Abb. 5.11) Durch ihr kleines Staumaß ist sie auch auf Fahrzeu-
72 Kapitel 5 · Rettung von Verwundeten

5 a b

. Abb. 5.13a–d Talon-II-Modell 90C-Falttrage. a Zusammen-


gefaltet im regulären Tragegestell. b Teilentfaltet. c Talon-
Trage im Einsatz. d WALK-(Resupply-)Bag mit zusätzlichen
d
Materialaußentaschen. (Fotos: K. Ladehof/S. Schöndube)

gen (Wolf etc.) gut mitzuführen. Ein verfügbarer SanMat-Depot ausgestattet. Mit der Trage kann der
Tragebehälter (»Warrior Aid & Litter Kit«, WALK) Patient direkt an Luftrettungsmittel ohne Umlage-
ist mit zusätzlichen Taschen versehen, die als Back- rung übergeben werden. Die Tragen lassen sich ggf.
up-Bag im Auto mit Sanitätsmaterial gefüllt werden auch von zwei Helfern tragen, was im Einsatzfall
können. So ist jedes Fahrzeug mit Tragehilfe und Personal einspart.
73 6

Technische Rettung
und Bergung
S. Börner

6.1 Technische Rettung im Kontext taktischer Lagen – 74


6.1.1 Rettung unter besonderen Bedingungen – 74
6.1.2 Folgen von Unfällen und Feindeinwirkung – 75

6.2 Einsatztechnik – 75
6.2.1 Technische Erstmaßnahmen – 75
6.2.2 Möglichkeiten der technischen Rettung – 77
6.2.3 Fahrzeugkonstruktion – 77
6.2.4 Möglichkeiten zur Sicherung von Kraftfahrzeugen – 78
6.2.5 Fahrzeugöffnung – 80
6.2.6 Besonderheiten geschützter Fahrzeuge – 83
6.2.7 Befreiung – 85
6.2.8 Bergung – 85
6.2.9 Aufgabe von Fahrzeugen – 85

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
74 Kapitel 6 · Technische Rettung und Bergung

Taktische Operationen sind durch ein erhebliches entsprechend ausgebildeten Kräfte, muss
Risiko für die beteiligten Kräfte gekennzeichnet. dem Führer dabei bewusst sein und in die
Die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes von Notfall- Lagebeurteilung einfließen.
situationen ist hoch, was die Planung entsprechender
Rettungsmaßnahmen notwendig macht. Hierbei Fallbeispiel
müssen die Besonderheiten taktischer Lagen nicht Während einer Patrouillenfahrt wurde ein Allschutz-
nur berücksichtigt werden, sondern in den Mittel- Transport-Fahrzeug (ATF) Dingo als zweites Fahrzeug
punkt aller Überlegungen treten. Die Verantwor- der Kolonne durch eine improvisierte Ladung (»im-
tung für Art und Abfolge der zu ergreifenden Maß- provised explosive device« – IED) angesprengt und
nahmen liegt daher beim militärischen Führer. Das blieb liegen. Der nachfolgende Transportpanzer
Kapitel gibt Hilfestellungen zu praktischen Aspek- Fuchs kam nicht mehr rechtzeitig zum Stehen und
ten der technischen Rettung in Notlagen, in denen fuhr auf das beschädigte Fahrzeug auf. Während die
speziell ausgebildetes Personal nicht verfügbar ist. Dingo-Besatzung unverletzt blieb, erlitten Fahrer und
6 Beifahrer des Transportpanzers durch den Aufprall
erhebliche Verletzungen. Die Rettung der Betroffe-
6.1 Technische Rettung im Kontext nen erwies sich als schwierig, da sich beide Türen
taktischer Lagen zum Fahrerraum soweit verzogen hatten, dass sie
sich mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht
6.1.1 Rettung unter besonderen von außen öffnen ließen. Eine Öffnung der Dachluke
Bedingungen war aufgrund der zum Schutz des Bordschützen auf-
montierten Panzerschürze ebenfalls nicht möglich.
Rettungsmaßnahmen im Einsatz mobiler Kräfte Als einzig gangbarer und zeitnah realisierbarer
sind in den meisten Fällen durch den Mangel an Rettungsweg stand die ca. 40 cm breite Verbindung
notwendigen Ressourcen gekennzeichnet. Die Ver- zwischen Mannschafts- und Fahrerraum zur Ver-
fügbarkeit medizinischer Ausrüstung ist ebenso fügung, durch die zunächst ein Ersthelfer zu den Be-
begrenzt wie die Möglichkeiten zum Mitführen troffenen gelangte, um die Vitalfunktionen zu prüfen
technischer Rettungsgeräte. Die oftmals notwen- und die Splitterschutzwesten zu entfernen. Nachfol-
dige hohe Mobilität und räumliche Dislozierung gend wurden die Verletzten mittels Seil in den Mann-
von eigenen Teilen erlaubt meist nicht, dass qualifi- schafsraum gezogen und medizinisch erstversorgt.
zierte technische Rettungskräfte alle eigenen Bewe-
gungen begleiten. Dieses Beispiel dokumentiert die Schwierigkeiten
Die Priorität der Maßnahmen nach Anspren- der Umsetzung zivil üblicher Maßnahmen. So ver-
gung oder Beschuss liegt in der taktischen Reaktion hinderten Bedrohungslage und spezielle Fahrzeug-
auf die Feindeinwirkung. Deshalb sind häufig nur konstruktion eine patientenschonende Rettung, bei
wenige Kräfte für die Rettung und Verwundeten- der sich die Art der Befreiung am Verletzungsmus-
versorgung verfügbar. ter des Patienten orientiert. Die Stabilisierung der
Alle im nachfolgenden Kapitel beschriebenen Patienten und die Herstellung der Transportfähig-
Möglichkeiten zur technischen Rettung nach Unfall keit mussten zurückgestellt werden um die Rettung
oder Feindeinwirkung ordnen sich der besonderen überhaupt zu realisieren.
Situation militärischer Einsätze unter. Standardi-
sierte Handlungsabfolgen, wie sie in der täglichen Zusammenfassung
Gefahrenabwehr in Deutschland regelmäßig zum Technische Rettungsmaßnahmen können in militäri-
Einsatz kommen, können wegen der besonderen schen Einsätzen nur unter Berücksichtigung der
Bedrohungslagen nicht oder nur begrenzt zur An- taktischen Lage und mit begrenzten Mitteln vor-
wendung kommen. genommen werden. Im Rahmen der Auftragserfül-
lung hat die Sicherheit der militärischen Einheit Vor-
> Die erhöhte Gefährdung der Verwundeten rang vor einer individuellen, maximalen Versorgung
und der zur Rettung eingesetzten, aber nicht Einzelner.
6.2 · Einsatztechnik
75 6
6.1.2 Folgen von Unfällen lichkeit die Aufgabe des BAT-Fahrzeuges oder den
und Feindeinwirkung Abbruch der Mission erzwingen.

Zur technischen Rettung und medizinischen Ver- Zusammenfassung


sorgung von Verwundeten werden teilweise erheb- Feindeinwirkung und Unfälle gehen mit personellen,
liche personelle und materielle Ressourcen benö- zeitlichen und räumlichen Zwängen einher, welche
tigt. Diese Kräfte stehen dem Führer nicht mehr für die Sicherheit und die Auftragserfüllung gefährden
andere Aufträge zur Verfügung und müssen zusätz- können. Die technische Rettung, als Teil der Ge-
lich gesichert werden. Die notwendigen Maßnah- samtstrategie, ist Mittel zur Aufrechterhaltung der
men benötigen oftmals einen erheblichen Zeitan- Handlungsfähigkeit.
satz, währenddessen die Einheit am Ort des Scha-
denfalls räumlich gebunden ist. Der Führer verliert
hierdurch Initiative und Reaktionsfähigkeit, was 6.2 Einsatztechnik
letztendlich alle Kräfte vor Ort gefährdet. Da durch
Unfälle und Feindeinwirkung in der Regel Soldaten, 6.2.1 Technische Erstmaßnahmen
Fahrzeuge, schwere Waffen, Führungs- und Fern-
meldemittel, Vorräte und sonstiges wichtiges Mate- Abhängig von Lage und Rahmenbedingungen wer-
rial ausfallen, ist oftmals der ursprüngliche Auftrag den nach einem Anschlag oder Unfall zahlreiche
nicht mehr oder nur mit Einschränkungen durch- Maßnahmen notwendig. Neben zu treffenden So-
führbar. fortmaßnahmen wird die Lage durch den taktischen
Führer vor Ort erkundet und eine Handlungsrei-
Fallbeispiel henfolge festgelegt.
Nach einem Raketenbeschuss auf das ISAF-Haupt-
quartier in Kabul rückt ein Konvoi der »Quick-Reac- Maßnahmen nach Anschlägen
tion-Force (QRF) vom Camp Warehouse zur Sicherung Nach Ansprengung oder Beschuss liegt eine der
und Lageerkundung aus. Während der Alarmfahrt wesentlichen taktischen Aufgaben auf dem Erhalt
über die Route Violet versagen die Halteelemente bzw. der Wiederherstellung der Mobilität. Nur auf
der Achse eines Beweglichen Arzttrupps (BAT). Ein diese Weise können die Gefahrenzone verlassen,
Rad verkeilt sich unter dem Fahrzeug und bringt es Gefechts- und Sicherungsformationen eingenom-
schlagartig zum Stehen. Der nachfolgende Trans- men und taktische Ziele erreicht werden. Wenn die
portpanzer Fuchs rammt den beschädigten BAT. Die Fahrtauglichkeit des Fahrers erhalten geblieben und
Insassen werden leicht verletzt und können schnell die Fahrfähigkeit des betroffenen Fahrzeuges be-
befreit werden. Der Unfall und die angespannte Si- stätigt ist, kann die Gefährdungszone durchstoßen
cherheitslage zwingen die Soldaten zu einer Rund- werden.
umsicherung. Erst nach Heranführung weiterer Kräfte Ist der Fahrer ausgefallen, sollte ein anderer
vom Camp kann der Konvoi unter Zurücklassung der Insasse dessen Funktion übernehmen und das
verunfallten Fahrzeuge seinen Auftrag fortsetzen. Fahrzeug aus der Gefahrenzone bringen. Alle wei-
Zur Bergung des BAT werden ein Kran, ein schweres teren Maßnahmen, inklusive der medizinischen
Transportfahrzeug und Kräfte der Camp-Feuerwehr Versorgung und Rettung Verwundeter, werden
herangezogen. nach der Gewinnung einer Deckung und Einrich-
tung zur Verteidigung getroffen.
In diesem Fallbeispiel wird deutlich, welcher Auf- Kann ein rollfähiges Fahrzeug nicht mehr mit
wand zur Rettung und Bergung nötig ist, wobei die eigenem Antrieb bewegt werden, bietet sich das
Rahmenbedingungen wie die Nähe zum Camp und Herausschieben oder Herausziehen aus der Gefah-
die Verfügbarkeit von Spezialgerät noch nahezu renzone an. Entsprechende Vorbereitungen sollten
perfekte Bedingungen darstellen. Das gleiche Sze- bereits vor Fahrtantritt durch die Befestigung von
nario auf einer Patrouille, mehrere Fahrstunden von Abschleppmitteln an Front und Heck aller Fahr-
der Basis entfernt, würde mit hoher Wahrschein- zeuge getroffen werden. Schleppseile und Schäkel
76 Kapitel 6 · Technische Rettung und Bergung

könnten bereits an den Lastaufnahmeösen befestigt speziell im Rahmen der Eigensicherung nützlich
und Abschleppstangen leicht zugänglich verlastet sein und dazu beitragen, den Rettungseinsatz zu
sein. ordnen.
Ist ein Fahrzeug nicht mehr roll- bzw. lenk- Den wesentlichsten Schutz vor Verletzungen
fähig, kann eine kurzfristige Verbringung aus der der eingesetzten Rettungskräfte bildet die persönli-
Gefahrenzone nur durch ein schwereres, leistungs- che Ausrüstung. Zwar ist diese den Anforderungen
stärkeres Fahrzeug erfolgen. So ist ein ATF-Dingo des militärischen Einsatzes angepasst, beinhaltet
sicher in der Lage, einen MB 250gl Wolf mit stehen- jedoch ähnliche Elemente wie die ziviler Rettungs-
den Rädern zu ziehen. Ist das betroffene Fahrzeug kräfte. Handschuhe, festes Schuhwerk, Helm und
jedoch gleich schwer, wird die Überwindung der Schutzbrille bieten einen Mindestschutz vor mecha-
Gleitreibung sowohl den Motor des Zugfahrzeuges, nischen Belastungen und sollten von allen an einer
als auch die Abschleppmittel überfordern. Entschei- technischen Rettung beteiligten Kräften durchge-
det sich der taktische Führer für dieses Mittel, soll- hend getragen werden. Die zusätzliche Ausrüstung
6 ten die Befestigungspunkte am gezogenen Fahrzeug mit medizinischen Einweghandschuhen bietet In-
möglichst tief gewählt werden um ein Umkippen zu fektionsschutz und ist auch in taktischen Lagen re-
vermeiden. Da Schleppseile und -stangen nur für alisierbar. Die Bewegungsfreiheit und der Tastsinn
den Transport rollender Kfz ausgelegt sind, sollten bleiben uneingeschränkt erhalten.
mehrerer Abschleppmittel gleichzeitig verwendet > Heimkehrende Einsatzkräfte berichten über
werden. Dabei ist auf die gleiche Länge der Seile und die Häufung von Fahrzeugbränden in Folge
Stangen zu achten, ansonsten kann keine Last- bzw. von Ansprengung sowie Beschuss. Selbst
Kraftverteilung erfolgen. Reichen die vorgesehenen wenn die eigentliche Fahrgastzelle nicht be-
Befestigungspunkte nicht aus, können Seile um troffen ist, besteht durch die erhebliche
Achsen oder Fahrzeugsäulen gelegt und mit Rauchentwicklung z.B. brennender Reifen,
Schäkeln verbunden werden. Eine Beschädigung akute Lebensgefahr für die Besatzung.
von Drahtseilen durch die Unterschreitung zuläs-
siger Biegeradien muss in einer solchen Ausnahme- Die Beschädigung von Fahrzeugstrukturen er-
situation in Kauf genommen werden. höht die Brandgefahr. Kraftstoff kann austreten und
Muss ein Fahrzeug aufgegeben werden und durch heiße Fahrzeugteile entzündet werden. De-
soll eine Evakuierung in der Gefahrenzone erfolgen, fekte Kabel können Kurzschlüsse auslösen. Die Be-
bedarf es umfangreicher Sicherungsmaßnahmen. reitstellung der mitgeführten Kfz-Pulverlöscher soll
Um zur Rettung eingesetzte Soldaten vor direktem sicherstellen, dass Entstehungsbrände unverzüglich
Beschuss zu schützen, könnten gepanzerte Fahrzeu- bekämpft werden können, um Fahrzeuginsassen
ge so positioniert werden, dass sie als Deckung die- und Opfer zu schützen.
nen. Kennzeichen einer Lage mit Feindeinwirkung
Tipp
ist der Mangel an Personal, welches für die techni-
sche Rettung abgestellt werden kann. Verfügbare
Im Falle eines offenen Feuers, z. B. brennende
Kräfte sind meist in großen Teilen im Gefecht oder
Kraftstofflachen, sollten Feuerlöscher zeit-
der Sicherung gebunden. Die Rettung beschränkt
gleich, nicht nacheinander, zum Einsatz kom-
sich auf Maßnahmen zur Wiedererlangung der
men.
Mobilität.

Maßnahmen nach Unfällen Ziel ist es, mit einer Pulverwolke das Feuer am
Unvorhergesehene Ereignisse werden im Rahmen Weiterbrennen zu hindern. Nach Möglichkeit wird
militärischer Operationen immer erwartet. Unfall- mit dem Wind angegriffen und von vorne nach hin-
szenarien können in ihrer Erscheinung aber so viel- ten gelöscht. Bei Bränden im Motorraum des Fahr-
seitig sein, dass eine strukturierte Abarbeitung ge- zeuges kann die Löschwirkung am besten erzielt
rade in der Erstphase unmöglich erscheint. Trotz- werden, wenn die Motorhaube nur einen Spalt weit
dem können die nachfolgenden Überlegungen geöffnet wird, um das Löschpulver einzublasen.
6.2 · Einsatztechnik
77 6
> Zur Brandbekämpfung ist ebenso wie zur
Rettung von Fahrzeuginsassen eine genau
Kenntnis des Aufbaus der beteiligten Mis-
sionsfahrzeuge unabdingbar (s. unten). Die
Lage der Zugänge sowie deren Öffnungs-
mechanismen müssen im Interesse eines
zielführenden Vorgehens allen Beteiligten
geläufig sein. Gleiches gilt für die Verlastung
und Handhabung mitgeführter Rettungs-
mittel.
. Abb. 6.1 Modulare Bauweise
Bei Dunkelheit oder schlechten Sichtverhältnis-
sen kann Beleuchtung notwendig werden, die Fahr-
zeuge und Helfer für Gegner zu einfachen Zielen 6.2.2 Möglichkeiten der technischen
macht. Der Umfang hängt daher in erster Linie von Rettung
der Sicherheitslage und den zur Verfügung stehen-
den Mitteln ab. Taschenlampen mit Farbfiltern, Die technische Rettung umfasst alle Maßnahmen
Restlichtverstärker oder Infrarotgeräte können zur Befreiung von Personen aus Zwangslagen, bei
hilfreich sein, um Lichtdisziplin zu wahren. Die denen Werkzeug und Gerät angewendet wird. Das
Handhabung der Rettungsgeräte sollte bekannt Spektrum reicht dabei von der Verwendung eines
sein, um ähnlich wie beim Gebrauch von Waffen Seils bis hin zum Einsatz hydraulischer Spezial-
kein Licht zu benötigen. Ein Einsatz der Fahrzeug- geräte. Die technischen Möglichkeiten der Ret-
scheinwerfer ist häufig problematisch, da Einsatz- tungskräfte hängen also von ihrem Ausstattungs-
kräfte durch die tiefe Positionierung der Scheinwer- umfang ab.
fer geblendet werden können. Fahrzeuge müssen Neben der Ausrüstung ist das Beherrschen ein-
außerdem zum effektiven Ausleuchten meistens aus zelner Techniken zur Befreiung wichtig. Dafür sind
der Marschformation herausgelöst und umgesetzt ein Grundverständnis für Fahrzeugkonstruktionen
werden. Gerade bei der Arbeit unter Nachtsichtge- und physikalische Vorgänge notwendig. Weitere
räten kann die Ausleuchtung durch ggf. vorhandene Voraussetzung für eine erfolgreiche Rettung sind
Infrarotfahrzeugscheinwerfer diesen Aufwand aber Fertigkeiten im Umgang mit dem mitgeführten
wert sein. Arbeits- und Rettungsgerät.
Eine strikte Licht- und Geräuschdisziplin ist bei
Arbeiten zur Rettung aus Fahrzeugen aber meist
nicht zu wahren. Die gewaltsame Zerstörung von 6.2.3 Fahrzeugkonstruktion
Fahrzeugstrukturen geht einher mit dem Verbiegen
von Metallen und dem Brechen von Halteelemen- Die Fahrgestelle militärischer Radfahrzeuge basie-
ten. Je massiver das Kfz ist, umso stärker wird ren in der Regel auf der bewährten Konstruktion
der Arbeitslärm sein. Der Einsatz rotierender serienmäßiger Leiterrahmen. Bedingt durch die an-
Maschinen, wie Sägen und Trennschleifer kann gestrebte Belastungsfähigkeit werden einzelne
neben den Geräuschen zusätzlichen Funkenflug er- Fahrwerkskomponenten, wie Federn und Räder
zeugen. Der Kräfteansatz zur Sicherung oder Ver- besonders robust ausgeführt. Anforderungen an
teidigung vor Ort und die frühe Entscheidung zur Geländetauglichkeit und Beweglichkeit erfordern
Heranführung von Reserven sollte diesem Aspekt eine entsprechende Dimensionierung, welche sich
Rechnung tragen. im Falle einer notwendigen Rettung nachteilig auf
die Erreichbarkeit von Fahrzeuginsassen auswirkt.
Auf das Fahrgestell werden je nach geplanter Ver-
wendung Aufbauten montiert, welche die Besat-
zung und Einsatzmittel aufnehmen (. Abb. 6.1).
78 Kapitel 6 · Technische Rettung und Bergung

6.2.4 Möglichkeiten zur Sicherung


von Kraftfahrzeugen

Nach einem Verkehrsunfall oder einem Anschlag


können sich betroffene Fahrzeuge in unterschied-
lichen Lagen befinden. Aufgrund des verlagerten
Fahrzeugschwerpunktes stellen Seiten- oder Dach-
lagen höhere Anforderungen hinsichtlich zu tref-
fender Sicherungs- und Rettungsmaßnahmen als
. Abb. 6.2 Unterbau
eine Situation, in der das Fahrzeug auf den Rädern
steht. Das Unfallfahrzeug kann sich bewegen, um-
kippen oder wegrutschen, was zu einer zusätzlichen Fahrzeug noch fahrfähig sein und der Motor nach-
Gefährdung der Insassen und Rettungskräfte füh- folgend wieder in Betrieb genommen werden, ist
6 ren kann. Die unkontrollierte Eigenbewegung von dies aber nur bei der Verwendung von CO2 möglich,
Lasten kann Einklemmungen und Quetschungen da sich dieses rückstandsfrei verflüchtigt.
verursachen. Nach einem Unfall ist die Funktionsfähigkeit
von Feststellbremse und Getriebe nicht mehr
Fahrzeuge in Normalposition sichergestellt.
Um eine sichere Ausgangssituation für die nach-
Tipp
folgenden Arbeiten zu schaffen, sollten Gefahren-
quellen beseitigt werden. Ein laufender Motor
Die zuverlässigste Methode zur Sicherung
kann z. B. durch das unbeabsichtigte Bewegen eines
des Kfz gegen Wegrollen ist das Verkeilen der
Automatikhebels das Fahrzeug in Bewegung ver-
Räder.
setzen.
Tipp
Hierzu können neben möglicherweise mitgeführ-
ten Radkeilen alle Gegenstände verwendet werden,
Wenn sich ein Motor aufgrund der Zerstörung
die anderweitig nicht benötigt werden und geeignet
des Fahrzeuges nicht herkömmlich durch den
sind. Eine Sicherung der Hinterachsen sollte bevor-
Zündschlüssel deaktivieren lässt bzw. dieser
zugt erfolgen. Speziell auf abschüssigem Gelände
nicht erreichbar ist, sollte die Luft- und Kraft-
mit losem Untergrund kann die Sicherung lenk-
stoffzufuhr unterbrochen werden.
barer Vorderachsen instabil werden.
Fahrzeuge, welche drohen abzurutschen oder
Eine Zerstörung der Kraftstoffleitung ist dabei zu abzustürzen, müssen besonders gesichert werden.
vermeiden, da der Kontakt des Kraftstoffes mit Mögliche Befestigungspunkte für Halteseile sind
heißen Fahrzeugteilen zu einem Brand führen kann. Achsen, mit dem Rahmen stabil verbundene Teile
Steht keine andere Möglichkeit zur Verfügung, soll- oder Fahrzeugsäulen. Behelfsmäßige Sicherungs-
ten Vorkehrungen zum Brandschutz und zum Ablö- mittel wie Keile, Kanthölzer oder Reserveräder sind
schen von Entstehungsbränden getroffen werden. ebenfalls tauglich, Eigenbewegungen zu unterbin-
Dies kann durch die Bereitstellung der mitgeführten den (. Abb. 6.2).
Kfz-Feuerlöscher erfolgen. Die Luftzufuhr lässt sich Das federnd gelagerte Fahrwerk und die luftge-
ohne Zugang zum Motorraum nur bei Fahrzeugen füllten Reifen sorgen bei einem auf den Rädern ste-
mit zentralem, außenliegendem Ansaugschacht un- henden Unfallfahrzeug für Instabilität. Die Folge
terbrechen, welcher zumeist bei watfähigen Fahr- können Eigenbewegungen des Fahrzeugaufbaus wäh-
zeugen und LKW verbaut ist. Durch das konzen- rend der Rettungsarbeiten sein. Um diese zu mini-
trierte Einblasen von Kohlenstoffdioxid (CO2) oder mieren, werden die Federwege durch einen Unter-
Löschpulver in den Ansaugschacht wird die zur bau ausgeschaltet. Dieser sorgt zusätzlich für Stabili-
Verbrennung notwendige Luft verdrängt. Sollte das tät, wenn tragende Fahrzeugteile entfernt werden.
6.2 · Einsatztechnik
79 6

. Abb. 6.3 Abstützung und Verspannung . Abb. 6.4 Abstützung

Fahrzeuge in Seitenlage Fahrzeuge in Dachlage


Fahrzeuge in Seitenlage müssen am Umkippen ge- Fahrzeuge in Dachlage haben häufig eine vermeint-
hindert werden. Mögliche Maßnahmen sind das lich große Auflagefläche. Dennoch kann sich ein
Unterkeilen der Fahrzeugsäulen, die Verstrebung PKW in einem »Schwebezustand« befinden oder in
des Unterbodens und das Verspannen. Zum Unter- diesen gelangen, da die vordere Dachkante zum
keilen eignet sich Holz, welches zwischen Fahrzeug- Drehpunkt einer Wippe wird, bei der Fahrzeugheck
säulen und Boden festgesteckt wird und somit ein und Motor die Gegengewichte bilden. In Abhängig-
Kippen verhindert. Radkeile aus Metall sind nur keit des zur Verfügung stehenden Materials sollten
bedingt geeignet, da die Oberfläche einen geringen Front und Heck unterbaut, Säulen verkeilt oder das
Reibungswiederstand aufweist. Fahrzeug verspannt werden. Zur Fixierung des Kfz
in einer stabilen Lage mittels Seilen sollten diese
> Metall auf Metall rutscht!
vorzugsweise nach oben oder unten gespannt wer-
Zum Verstreben des Fahrzeugunterbodens muss den. Eine horizontale Verspannung eignet sich nur
ausreichend Material und Zeit zur Verfügung in Ausnahmefällen, da die Halteelemente höhere
stehen. Als Kompromiss zwischen Handlungs- Kräfte aufnehmen müssen. Zusätzlich werden Stol-
zwang und Sicherheit kann ein Kantholz oder perfallen und Hindernisse vermieden.
ähnliches zwischen dem oberen Rad der Hinter- Einfacher und meist schneller zu realisieren ist
achse und dem Erdboden verkeilt werden. Muss ein Unterbau mittels mitgeführter Gegenstände
das Fahrzeug zur Rettung bestiegen werden, sollte (. Abb. 6.4). Besonders geeignet sind Reserveräder,
diese Form der Sicherung überwacht werden, da da sie hohe Lasten aufnehmen können ohne sich zu
die Bewegung des Fahrzeuges ein Wegrutschen
der Stütze verursachen kann. Sicherer, aber zeitauf-
wendiger, ist eine stabile Dreieckskonstruktion,
bei der nach dem Verkeilen der Achse eine zu-
sätzliche Querverbindung zum unteren Rad her-
gestellt wird. Ein Spanngurt kann hier gute Dienste
leisten (. Abb. 6.3). Bei der Verwendung von
Seilen sollten diese doppelt genommen werden.
Mit einem Stab oder ähnlichem Gegenstand
als Knebel kann das Doppelseil eingedreht und so
auf Spannung gebracht werden. Diese Methode
eignet sich auch zum Verspannen von Fahrzeugen
an Objekten wie Bäumen oder schwereren Fahr- . Abb. 6.5 Kombigerät Schneider/Spreizer Modell SC 350.
zeugen. (Mit freundlicher Genehmigung der Fa. Lukas)
80 Kapitel 6 · Technische Rettung und Bergung

6 . Abb. 6.8 Universalrettungswerkzeug Typ Force. (Katalog-


bild mit freundlicher Genehmigung der Fa. Dönges)

Zusammenfassung
Vor den eigentlichen Rettungsarbeiten können
. Abb. 6.6 Akku-betriebenes Motorpumpenaggregat. Sicherungsmaßnahmen notwendig werden, welche
(Mit freundlicher Genehmigung der Fa. Lukas) ein gefahrloseres Vorgehen ermöglichen sollen. Der
Umfang der Maßnahmen richtet sich nach den situa-
tiven Gegebenheiten und dem Improvisationsver-
mögen aller Beteiligten.

6.2.5 Fahrzeugöffnung

Die Maßnahmen zur Öffnung eines Fahrzeuges


sollten sich immer am Grundsatz orientieren, so
einfach und effizient wie möglich zu agieren. Dem-
nach sind die regulären Zugänge auch die ersten
Rettungswege. Zu prüfen sind Möglichkeiten der
. Abb. 6.7 Verbrennungsmotorbetriebener Trennschleifer. visuellen und akustischen Kontaktaufnahme zum
(Mit freundlicher Genehmigung der Fa. Stihl)
Innenraum. Lassen sich Türen und Luken auf her-
kömmliche Weise nicht mehr öffnen und können
verformen und eine ebene Auflagefläche bilden. Fahrzeuginsassen in Folge eines Ereignisses nicht
Gleichzeit minimiert der Gummi die Gefahr des mehr von innen unterstützen, sollten zunächst
Ab- und Wegrutschens. einfache Mittel zur Anwendung kommen. Leicht
Beim Verkeilen sollten stabile Auflagepunkte verklemmte Türen lassen sich z. B. oft mit wenig
erkundet werden, da die Dachhaut ungeschützter Aufwand aufhebeln. Sollte sich aufgrund einer
Fahrzeuge leicht verformbar ist. Geeignet sind die schweren Fahrzeugdeformation nach Überschlag
Fahrzeugsäulen, da diese, zum Aufrechterhalten des oder Ansprengung kein Zugang finden lassen, muss
Überlebensraumes der Insassen bei Überschlägen, dieser mit speziellem Gerät geschaffen werden.
verstärkt sind. Vor dem Verkeilen und Abstützen
müssen die Rettungszugänge zum Fahrzeuginnen- Zugang über Fahrzeugfenster
raum festgelegt sein, damit diese nicht »verbaut« Bei ungepanzerten Fahrzeugen bietet sich für einen
werden. schnellen Zugang die Zerstörung einer Seiten- oder
6.2 · Einsatztechnik
81 6
Heckscheibe an. Diese bestehen zumeist aus Ein- Rettungsmaßnahmen im Fahrzeug
scheibensicherheitsglas (ESG) und können mit Nach der Schaffung eines Zuganges kann ein Retter
einem Nothammer oder ähnlichem Gerät, welches zur Erstversorgung in das Fahrzeug einsteigen.
die Kraft auf eine kleine Fläche konzentriert, einge- Seine Aufgaben sind die Durchführung medizini-
schlagen werden. Bei der Wahl der zu zerstörenden scher Sofortmaßnahmen und die Erkundung, deren
Scheibe ist auf die Nähe zu Insassen und auf Fahr- Ergebnis die Planung weiterer Rettungsschritte
zeugeinbauten, die ein weiteres Vordringen verhin- ermöglicht. Die Rettungsreihenfolge verletzter
dern würden, zu achten. Fahrzeuginsassen sollte in Abhängigkeit vom Grad
der Verletzung und möglichen Einklemmungen
Tipp
festgelegt werden.
In Bedrohungssituationen, bei denen die Befrei-
Die im zivilen Bereich verwendete Methode
ung aus Zwangslagen schnellstmöglich erfolgen
des Abklebens der Scheiben vor Zerstörung
muss, beschränken sich die Aufgaben des Retters
verhindert das unkontrollierte Umherfliegen
auf das Lösen bzw. Durchtrennen des Sicherheits-
von Glassplittern und das Hineinfallen der
gurtes und das Positionieren Betroffener in eine
Splitter in den Fahrzeuginnenraum. Für takti-
Lage, die das Herausziehen ermöglicht.
sche Lagen ist diese Methode zu zeitaufwen-
dig. Eine mögliche Gefährdung durch die Glas- Tipp
krümel muss ggf. in Kauf genommen werden,
wird aber keine lebensgefährlichen Verletzun- Wenn es die Situation erlaubt, sollten Verletzte
gen zur Folge haben, wenn der Schutz der mit dem Kopf voran gerettet werden. Dadurch
Augen beim Einschlagen der Scheibe gewähr- wird das Halten sowie Stützen von Kopf und
leistet ist und Handschuhe getragen werden. Halswirbelsäule möglich und bei ansprechba-
ren Personen eine Kommunikation gewährleis-
tet. Gleichzeitig wird das Hängenbleiben von
Das Zerstören von Verbundsicherheitsglas (VSG),
Extremitäten mit entsprechenden Begleitver-
wie es in den Frontscheiben ungepanzerter Kfz ver-
letzungen vermieden.
baut wird, ist nach Möglichkeit zu vermeiden. Zum
einen werden Spezialwerkzeuge wie Glassägen oder
Blechaufreißer benötigt, zum anderen ist der entste-
hende Glasstaub schädlich für die Atemwege und Türöffnung
scharfkantige Splitter können unkontrolliert umher- Müssen verklemmte Türen geöffnet werden, ge-
fliegen. Sollte der Zugang über die Frontscheibe der schieht dies unter Einsatz von Hebelwerkzeug. Er-
einzig mögliche Weg sein, bietet sich die Anwen- fahrungen vergangener Rettungsversuche dokumen-
dung eines Blechaufreißers an. Dieser ist Bestandteil tieren, dass der Einsatz einfacher Geräte wie etwa
verschiedener Multifunktionswerkzeugen, z. B. dem Brecheisen und mitgeführtes Bordwerkzeug nicht
Halligan-Tool und dem Force-Rettungsgerät. Zu- immer ausreichend ist, um einen Zugang zu moder-
nächst wird in die Fahrzeugscheibe ein Loch ge- nen Fahrgastzellen herzustellen. Zunehmend wird
schlagen, welches anschließend soweit erweitert bei Feuerwehren gebräuchliches hydraulisches Ret-
wird, dass die Schneidklinge des Blechaufreißers tungsgerät auch durch militärische Einheiten ver-
angesetzt werden kann. Anschließend wird ähnlich wendet, um in Notsituationen, bei denen keine hoch-
der Öffnung einer Dose durch Hebeln ein Schlitz gerüsteten Spezialkräfte verfügbar sind, Rettungs-
geschaffen. Durch Änderung der Schneidrichtung mittel zur Verfügung zu haben. So wurden durch die
kann eine Öffnung geschaffen werden. Diese Me- Bundeswehr Gerätesätze zur Rettung von Personen
thode ist auch für Zugänge über ungeschützte Fahr- aus Fahrzeugen beschafft, welche durch Patrouillen
zeugdächer praktikabel. Hierbei ist jedoch auf Ver- mitgeführt und von eingewiesenen Soldaten zum
stärkungen in der Dachkonstruktion zu achten, da Einsatz gebracht werden können (. Tab. 6.1).
deren Materialstärken das Schneidvermögen eines Die Positionierung des Gerätesatzes in einer
Blechaufreißers übersteigen. Marschformation sollte vom Führer mit Bedacht
82 Kapitel 6 · Technische Rettung und Bergung

. Tab. 6.1 Geräte zur Fahrzeugöffnung

Gerätetyp Abbildungsnummer

Hydraulisches Rettungsgerät . Abb. 6.5 und . Abb. 6.6


Das Gerät vereinigt die Funktionalität eines hydraulischen Spreizers mit einem
hydraulischen Schneider
Spreizkraft: maximal 113 kN
Spreizweg: maximal 265 mm

Trennschleifer . Abb. 6.7


Durch die Verwendung verschiedener Trennscheiben können unterschiedliche
Materialien bearbeitet werden. Das Gerät eignet sich vorrangig zum Entfernen
störender Anbauteile und zum Trennen von Scharnieren an Türen und Luken
Trenntiefe: maximal 100 mm
6 Arbeitszeit: maximal 1 h/Tankfüllung
Gewicht: ca. 12 kg

Brech- und Hebelwerkzeug . Abb. 6.8


Dieses Multifunktionswerkzeug bietet zahlreiche Möglichkeiten zur Bearbeitung von
Werkstoffen. Gängige Funktionen sind Hebeln, Meißeln, Aufreißen und Einschlagen

gewählt werden. Im Regelfall verbietet sich die Mit-


führung entsprechenden Gerätes auf führenden
oder schließenden Fahrzeugen, da diese meist in
Gefecht oder Sicherung gebunden werden. Wird
das Fahrzeug, auf dem der Rettungssatz mitgeführt
wird, beschädigt, führt dies in der Regel auch zum
Ausfall der Geräte und ggf. des in die Bedienung
eingewiesenen Personals. Diesem Aspekt sollte
durch Dislozierung und Bildung von Redundanzen
nach Möglichkeit Rechnung getragen werden.
Die Handhabung hydraulischen Rettungsgerä-
tes stellt hohe Anforderungen an die Fähigkeiten
des Geräteführers. Ungeübte Soldaten werden für
eine Fahrzeugöffnung ungleich mehr Zeit benöti-
gen als professionelle Rettungskräfte. . Abb. 6.9 Spalt aufweiten

> Deshalb sollten diese Spezialgeräte nur als


letztes Mittel zu Anwendung kommen, wenn
keine anderen Möglichkeiten verfügbar sind.
den vorhandenen Spalt eigesetzt werden, um die-
Die Einsatzmöglichkeiten und die Handha-
sen  durch Bewegung aufzuweiten (. Abb. 6.9).
bung der mitgeführten Geräte sollten allen
Der geschaffene Spalt wird mit Keilen gesichert
Patrouillenkräften durch Geräteeinweisun-
und der Spreizer Richtung Scharniere nachgesetzt
gen und Trainings bekannt sein.
(. Abb. 6.10).
Nach dem Aufbrechen der Scharnierseite be-
Stark deformierte oder verkeilte Türen und Luken steht die Möglichkeit, dass durch die Beseitigung
können mittels hydraulischem Spreizer aus ihren der Materialspannungen das Türschloss wieder
Halterungen gebrochen werden. Zum Ansetzen der funktioniert. Gelingt die Öffnung nicht, kann ver-
Spreizerspitzen wird ein Spalt zwischen Tür und sucht werden, die Tür aufzubiegen. Diese Methode
Türrahmen benötigt, welcher ggf. erst geschaffen ist zeitsparend, beinhaltet jedoch mehrere Nach-
werden muss. Dazu kann ein Brechwerkzeug in teile. Zum einen muss erhebliche Kraft aufgewendet
6.2 · Einsatztechnik
83 6
schlagmittel wie Seile können überlastet werden
und reißen. Geben Seitentüren nicht nach, könnte
das betroffene Fahrzeug auf die Seite geworfen
werden, was nicht nur die Insassen beeinträchtigt
sondern die Rettung auch erheblich verzögert. Un-
ter Berücksichtigung dieser Risiken sollte eine sol-
che Praxis zwar nicht ausgeschlossen, aber andere
Möglichkeiten vorgezogen werden.

Zusammenfassung
. Abb. 6.10 Ansatzpunkt Nähe Scharnier Ungeschützte Fahrzeuge können nach Anschlag
oder Unfall einen erheblichen Deformationsgrad auf-
weisen. Eine gründliche Erkundung möglicher Zu-
werden, da Türpfalzen und Sicken für Stabilität und gänge kann Zeit bei der Rettung sparen. Fenster,
Wiederstand sorgen. Des Weiteren wird die erzielte Türen und Luken sind zu bevorzugen. Der Einsatz
Weite des Zugangs kleiner ausfallen als bei der hydraulischer Rettungsgeräte sollte die letztmögliche
Komplettentfernung der Tür. Außerdem wird die Maßnahme darstellen.
ggf. notwendig werdende vollständige Abtrennung
der Tür durch die Verformungen erschwert.
Raumschaffender, jedoch zeitaufwändiger ist 6.2.6 Besonderheiten geschützter
der Versuch, die Tür aus dem Schloss herauszuzie- Fahrzeuge
hen. Dazu sollte der Türöffner auf der Innenseite
mittels Hindurchgreifen durch Türspalt oder Fens- Das Aufschneiden oder -sägen der Fahrzeugpanze-
ter offengehalten und die Tür in Fahrtrichtung weg- rung ist mit dem zur Verfügung stehenden Gerät
gezogen werden. Gelingt dies nicht, kann die nicht möglich oder erfordert unverhältnismäßig ho-
Schlossseite der Tür ebenfalls mit dem Spreizer ge- hen Zeitaufwand. Deshalb sollten zur Rettung Türen
öffnet werden. Schwierigkeiten können sich hierbei oder Luken geöffnet werden. Der Erstzugang ist nach
aus der Verwendung unterschiedlicher Materialien dem notwendigen technischen Aufwand zu planen.
ergeben. Der Schlossbügel ist aus gehärtetem Mate- Dabei sind Zugänge, die ohne oder mit einfachem
rial und bietet dem Spreizer viel Widerstand. Das Werkzeug geschaffen werden können, vorzuziehen.
umliegend verbaute Karosserieblech ist weicher Türen und Luken, welche über zusätzliche Minen-
und reißt, wodurch ein zusätzlicher Schneidvor- schutzverriegelungen oder Öffnungssicherungen
gang erforderlich werden kann. verfügen, bieten zumeist einfache technische Mög-
lichkeiten, wie Hebel oder Sechskantschrauben, um
Tipp
diese von außen zu betätigen. Gleiches gilt für Luken,
welche nur innenliegende Öffnungsriegel besitzen.
Geräteführer sollten ihre Position so wählen,
Leider sind Größe, Position und Kennzeichnung sol-
dass sie sich nicht im Wirkbereich abzutren-
cher Öffnungshilfen nicht einheitlich.
nender Fahrzeugteile befinden.
> Eine genaue Kenntnis der typenbezogenen
Fahrzeugausrüstung ist Bedingung für eine
Die Idee, Fahrzeugtüren und Luken mit Hilfe eines schnelle Rettung. Deshalb sollte jeder Soldat
anderen Fahrzeuges herauszureißen, ist in gefähr- die Zugänge zu allen in einer Patrouille einge-
lichen Lagen denkbar, um schnell und effizient zu setzten Fahrzeugtypen und deren Öffnungs-
arbeiten. Diese Lösung birgt aber enorme Risiken! mechanismen kennen.
So können Fehlversuche eine weitere Rettung er-
heblich erschweren. Türen und Luken bieten keine Alternativ zum herkömmlichen, bündigen Einlas-
stabilen Befestigungspunkte. Griffe reißen ab, die sen der Türen in die Fahrzeugoberfläche, können
Verriegelungsmechanik wird verbogen und An- diese exponiert auf der Karosserie aufgesetzt sein.
84 Kapitel 6 · Technische Rettung und Bergung

. Abb. 6.11 Behelfsmäßige Türsicherung


6
Dadurch lassen sich Türbolzen herausdrücken oder Türen sollten vor dem vollständigen Heraustrennen
Scharniere schneiden, insofern sie nicht durch zu- gesichert werden, da sie ein Eigengewicht von bis zu
sätzliche Panzerungselemente abgedeckt werden. 350 kg haben können. Verwendet werden dazu
Verschraubungen können z. B. durch Einkleben Spanngurt oder Seile, welche an der betroffenen
gesichert und mit durch Rettungskräfte gewöhnlich Tür angeschlagen, über das Fahrzeugdach auf
verwendetem Werkzeug nicht zu lösen sein. Zur die andere Seite geführt und dort fixiert werden
Demontage geschraubter Panzerungselementen (. Abb. 6.11).
empfiehlt sich das Entfernen der Schrauben- oder Spanende Verfahren wie Sägen und Trenn-
Nietenköpfe. schleifen sind in der Regel zur Bearbeitung von ge-
panzerten Karosseriekomponenten ungeeignet.
Tipp
Panzerstahl oder Keramik verursachen durch extre-
me Zähigkeit bzw. Härte erheblichen Funkenflug
Das Herausspreizen gepanzerter Karosserietei-
oder Staubentwicklung und Verschleiß des Schneid-
le verursacht extreme Spannungen, da sich die
gerätes. Faserkunststoffe, Zwischenlagen der Ver-
Panzerung nicht verformen lässt. Vor dem
glasung und Gummi erwärmen sich bei mechani-
Nachsetzen müssen geschaffene Spalte gesi-
scher Bearbeitung und verschmieren Sägeblätter
chert werden, da die weggedrückten Fahr-
und Trennscheiben.
zeugteile ansonsten zurückfedern. Die Öff-
Schneidbrenner und Plasmaschneider stoßen
nung geschieht durch schlagartiges Heraus-
bei mehrlagigen Materialschichten und Hohl-
brechen der Halteelemente. Die Bewegungs-
räumen in der Panzerung an ihre Grenzen. Gleich-
richtung der Fahrzeugteile ist beim
zeitig ist der Einsatz thermischer Trennverfahren
Herausspreizen nicht beeinflussbar und ein
und explosiver Öffnungsverfahren auf Grund einer
Drücken oder Halten aufgrund der wirkenden
Gefährdung der Insassen auszuschließen.
Kräfte aussichtslos und gefährlich.

Zusammenfassung
An gepanzerten Türen sind Öffnungshilfen verbaut, Die Rettung aus geschützten Fahrzeugen muss über
welche vor Türentfernung getrennt werden müssen. bestehende Fahrzeugöffnungen erfolgen. Anbauteile
Diese sind in ihrer Funktion vergleichbar mit den haben zum Teil ein erhebliches Eigengewicht und
Teleskophaubenliftern herkömmlicher PKW. sollten vor der Demontage zusätzlich gesichert
werden. Beim Einsatz hydraulischen Rettungsgerätes
! Das Hineinschneiden kann zur schlagartigen
können extreme Spannungen auftreten.
Druckentlastung und dem Umherfliegen von
Teilen führen. Günstiger ist eine Demontage
durch Abschrauben.
6.2 · Einsatztechnik
85 6
6.2.7 Befreiung Zum Wiederherstellen der Mobilität können
das hydraulische Rettungsgerät und Brechwerk-
Zum Zwecke der Rettung verletzter Fahrzeuginsas- zeuge effektive Hilfe leisten. Beschädigte, herabhän-
sen müssen geschaffene Zugänge ggf. erweitert wer- gende Anbauteile wie Stoßstangen oder Kotflügel
den. Dazu gehört die Beseitigung von Einbauten. sollten abgetrennt werden, um ein Verkeilen oder
Speziell die Einbausätze für Funkgeräte und weitere Beschädigungen zu verhindern. Einge-
Waffenhalter können z. B. bei einem Zugang über klemmte Räder können durch das Wegdrücken von
das Fahrzeugheck die Rettung sogar unmöglich störenden Karosserieelementen ihre Bewegungs-
machen. Je nach Ausstattung der Rettungskräfte freiheit wiedererlangen, wodurch die Rollfähigkeit
können Metallrahmen geschnitten oder gesägt und beschädigter Fahrzeuge zurückgewonnen wird.
Kunststoffe herausgebrochen werden.
Idealerweise erfolgen medizinische Maß-
nahmen zur Stabilisierung eines Patienten und 6.2.9 Aufgabe von Fahrzeugen
technische Arbeitsschritte im Wechsel. Um bei mas-
siver Deformation eines Fahrzeuges Raum zu schaf- Kann die Mobilität des beschädigten Fahrzeuges
fen, werden gestauchte Karosserieelemente in Rich- nicht wieder hergestellt und ein Transport nicht
tung ihrer ursprünglichen Position zurückgedrückt. sichergestellt werden, muss es in der Regel aufgege-
Einklemmungen im Thoraxbereich beeinträchtigen ben werden. In diesem Fall erfolgt bei militärischen
die Atmung des Betroffenen und müssen unverzüg- Einsätzen regelmäßig die Zerstörung. Hierfür
lich beseitigt werden. Dies kann durch Sitzverstel- sollten bereits vor Operationsbeginn verfügbare
lung, Entfernung der Sitzfüllung oder das Abtren- Möglichkeiten geprüft und geplant werden. Im Re-
nen des Lenkradkranzes geschehen. Typische für gelfall stellen mitgeführte Vernichtungsladungen
einen Frontalaufprall sind Einklemmungen des die zuverlässigste Variante dar. Alternativ kann die
Fahrers im Fußbereich. Pedale können mittels Seil Vernichtung oder Unbrauchbarmachung mittels
oder Gurt seitlich weggezogen werden, häufig sogar anderer Kampfmittel (z. B. Handgranaten, Schnell-
nur mittels Muskelkraft. nebel, Panzerabwehrhandwaffen), durch in Brand
setzen, durch Artilleriefeuer oder durch Luftunter-
stützung erfolgen. Lässt die Lage dies zu, sollten
6.2.8 Bergung zumindest Waffen, Führungs- und Fernmeldemate-
rial im Vorfeld geborgen und mitgeführt werden
In Rettungseinsätzen werden Leichen und Sachwer- oder ihre gezielte Unbrauchbarmachung sicher-
te geborgen. Diese begriffliche Abgrenzung doku- gestellt sein.
mentiert die Priorität des Rettens. Die notwendigen
Maßnahmen und die Bergungsreihenfolge werden
durch den Führer vor Ort festgelegt. Die Aufgaben
der technischen Unterstützung können sehr vielsei-
tig sein und reichen von der Bergung getöteter Per-
sonen bis zur Herstellung der Bewegungsfähigkeit
von Fahrzeugen. In 7 Kap. 5.2, Abschn. »Maßnah-
men nach Unfällen«, wurde bereits beschrieben,
dass Rettung und Bergung durchaus gleichzeitig
durchgeführt werden können. Der Transport eines
Fahrzeuges aus der Gefahrenzone mag primär die
Rettung der Insassen bezwecken, jedoch nehmen
ggf. Fahrzeug, Bewaffnung und Beladung im Rah-
men taktischer Überlegungen einen sehr hohen
Stellenwert ein.
87 7

Ausbildung
K. Ladehof

7.1 Ausbildungsbedarf – 89
7.1.1 Auswertung des Auftrages und Konsequenzen
für die Ausbildung – 89
7.1.2 Entwicklung eines idealtypischen, modularen Systems – 89
7.1.3 Ermittlung von Ressourcen und Möglichkeiten –
realistische Umsetzbarkeit – 91

7.2 Ausbildungskonzepte – 92
7.2.1 Theoretischer Hintergrund und Komponenten eines Konzeptes – 92
7.2.2 Prüfung der praktischen Umsetzung und Anpassung – 95

7.3 Ausbildungsverfahren – 98
7.3.1 Grundsatzfragen vor der konkreten Umsetzung
einer Ausbildung – 98
7.3.2 Durchführung szenariobasierter Ausbildung – 100
7.3.3 Weitere Hinweise – 102
7.3.4 Auswahl der eingesetzten Methoden – 103
7.3.5 Teilnehmereinbindung und Nachbesprechung – 106

Literatur – 107

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
88 Kapitel 7 · Ausbildung

Dieses Kapitel stellt zunächst die Bedarfsermittlung Erfordernisse andere Schwerpunkte haben, wurde
für eine bestimmte Zielgruppe als Grundlage einer bereits in den vorausgegangenen Kapiteln dargestellt
weiteren Ausbildungsplanung dar. Darauf aufbau- (7 Kap. 1.2; 7 Kap. 8) und wird z. B. auch noch einmal
end sollte eine Ausbildungskonzeption entwickelt im Abschnitt »Polizei« dargestellt (. Tab. 27.1).
werden, die ggf. auch unterschiedliche Ausbil- Es gibt außerdem möglicherweise keine perso-
dungshöhen berücksichtigt. Im dritten Teil werden nelle Redundanz, wenn diese Ersthelfer die medizi-
dann unterschiedliche Ausbildungsverfahren dar- nische Versorgung nicht leisten können, da die An-
gestellt: Wenn klar ist, welche spezifische Rahmen- schlussversorger eben nicht in einer potenziell
lage für eine Ausbildungsgruppe existiert und »feindlichen« Umgebung arbeiten können bzw.
welche Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt wer- überhaupt dorthin gelangen.
den sollen, können die geeignetsten Verfahren zur Wenn also externe Bedrohungen als zusätzlicher
Erreichung der Lernziele ausgewählt werden. Ausbildungsinhalt abgebildet werden müssen und
Die Ausbildung unterscheidet sich in der Takti- die Versorgung dann unter Umständen durch diese
schen Medizin natürlich nicht grundsätzlich von Erstversorger auch noch länger durchgeführt werden
der Ausbildung in anderen praxis- bzw. handlungs- muss (»prolonged care«), muss dieser notwendige
7 orientierten Lernbereichen. Dennoch müssen eben Ausbildungsschwerpunkt auch im dafür gewählten
unbedingt die Besonderheiten bei der Versorgung Zeitansatz ausreichend berücksichtigt werden.
und dabei vor allem die erschwerten Rahmenbedin-
gungen abgebildet werden. Damit ist nicht gemeint, Lage der zivilen Ersthelferausbildung
Die Ausgangslage für diese Ersthelferausbildung ist in
dass die Auszubildenden ständig »unter Beschuss«
Deutschland bereits nicht ideal gewesen und wird sich mit
oder einer anderen Bedrohung arbeiten sollen, son- der aktuellen Novellierung im Bereich der Berufsgenossen-
dern dass »belastungsstabile« Verfahren vermittelt schaften (BG) wahrscheinlich eher verschlechtern. Es wurde
werden – was in hohem Maße durch Algorithmen- gerade erst begonnen, die Erste Hilfe-Ausbildung bereits
basiertes Arbeiten und eine ausreichend hohe Repe- als Standard in der Schule einzuführen und wie auch sonst
in der Breitenausbildung liegt der Fokus vor allem auf
tition erreicht werden kann.
Reanimationsmaßnahmen. Ein großer Teil der Bevölkerung
> Die Besonderheit für den größeren Teil der wird mit der Thematik lediglich und einmalig im Rahmen
Erstversorger in diesem Umfeld wird sein, der Fahrerlaubnisausbildung konfrontiert. Diese Ausbildung
der »Lebensrettenden Sofortmaßnahmen« ist mit 8 Unter-
dass – auch wenn es dazu kommt, dass ein
richtseinheiten (UE = 45 Minuten) festgelegt. Die Ausbildung
Kamerad verwundet wird – der Primärauftrag betrieblicher Ersthelfer dauerte bisher 16 UE und wird bei
eben nicht die medizinische Versorgung ist. nahezu unveränderten Inhalten ab April 2015 auf 9 UE
Dies muss dementsprechend durch ange- reduziert [1]. Dies liegt einerseits im Interesse der Unter-
passte Algorithmen sowie in den weiteren In- nehmen, die ihre Mitarbeiter jetzt nur noch einen Tag frei-
stellen  müssen, andererseits bleibt das Entgelt für die
halten und Methoden der Ausbildung abge-
Ausbildungseinrichtungen bei Reduzierung des Aufwandes
bildet werden. weitgehend gleich (derzeit pro Teilnehmer 34 € für 16 UE,
dann 28 € für 9 UE [2]). Die »Aufwertung der Fortbildung«
Möglicherweise steht sogar im Vordergrund, dass und Vermittlung der umfangreichen Inhalte soll durch »deut-
auch während der laufenden Versorgung weiterhin liche Vereinfachungen in verschiedenen Themenfeldern, u.a.
in besonderem Maß die Rahmenlage beachtet bzw. im Bereich der Reanimation«, durch »kompakte Gestaltung«
beherrscht werden muss. Grundsätze wie »shooter und »Verzicht auf überflüssige medizinische Informationen
bei gleichzeitiger didaktischer Optimierung« erreicht werden
first« und »best medicine on the battlefield is fire
[1]. Außerdem sollen »Praxisanteile in den Vordergrund ge-
superiority« spiegeln diese Lage wider. Auch bei »zi- rückt« werden. Erwachsenenbildung beruht auf Verständnis
vilen« Szenarien kann eine ähnliche Lage vorliegen: und Handlungseinsicht, was einerseits Zeit für Erklärungen
eine Gruppe, die auf die Rettung von Atemschutzge- und andererseits eine Wiederholung von Lerninhalten er-
räteträgern spezialisiert ist, wird ihren Auftrag nicht fordert.
»Didaktische Reduktion« bedeutet eben auch den Verzicht
lange durchführen können, wenn sie nicht gegen die
auf Inhalte und nicht ihre oberflächlichere Darstellung. Die
Umgebung ausreichend geschützt ist und sofort auf bisherigen Inhalte der Ersthelfer-Ausbildung wurden ledig-
etwaige Veränderungen reagiert. Dass in taktischen lich umformuliert und es wurden nahezu keine Themen weg-
Lagen die Verletzungsmuster und medizinischen gelassen (lediglich das »Abdominaltrauma« wird nicht mehr
7.1 · Ausbildungsbedarf
89 7
genannt, 2011 wurde der Einsatz eines AED sogar als zusätz- eingesetzt; alleine, als Unterstützung, als
licher Ausbildungsbestandteil ergänzt). »2. Welle«? Dies betrifft insbesondere die mög-
Die längst überfällige Anpassung der Methoden, Betonung
liche (autarke) Versorgungsdauer im ungüns-
der Praxisausbildung und Streichung unnötiger Details [3, 4]
werden derzeit auch von den Rettungsdienstschulen leider tigsten Fall; wann treffen sicher (!) medizinisch
oft unzulässig als Verbesserungen durch die Verkürzung dar- höher qualifizierte Kräfte ein bzw. wann
gestellt. Tatsache ist, dass die gerade am zweiten Tag mögli- werden diese erreicht. Daraus kann abgeleitet
che Wiederholung von Inhalten und Nachfragemöglichkeit werden, welche medizinischen Fähigkeiten die
(nachdem die Inhalte »sacken« bzw. »überschlafen« werden
Betroffenen haben sollten. Dies wiederum
konnten) verloren geht. Es kann klar belegt werden, dass in
Deutschland mehr geholfen und die Überlebenswahrschein- muss natürlich mit rechtlichen oder politi-
lichkeit erhöht werden könnte, wenn mehr Ersthelferkennt- schen Vorgaben und dem »Willen der Füh-
nisse und Selbstvertrauen in der Bevölkerung bestehen wür- rung« abgeglichen werden.
den [5]. Das heißt am konkreten Beispiel: wenn ein
Beides kann sicher nicht durch eine Reduzierung der Aus-
Spannungspneumothorax aufgrund der Bedro-
bildungszeiten erreicht werden. Diese Entwicklung darf
auf keinen Fall im taktischen Bereich, bei noch schwierige- hungslage eine wahrscheinliche Verletzung ist
ren  Lagen, als Maßstab für einen sinnvollen Ausbildungs- und nur die Kollegen in der gleichen Einsatz-
umfang betrachtet werden. Wenn eine »zivile« Ausbildung gruppe sicher rechtzeitig vor Ort sind, um die
bisher als Ausgangslage vorausgesetzt wurde, muss jetzt, lebensrettende Entlastungspunktion durchzu-
um das gleiche Endergebnis zu erreichen, die interne Aus-
führen, müssen diese dazu befähigt werden.
bildungszeit ggf. um »den fehlenden Tag« ergänzt werden
(. Tab. 7.2). Wenn eine reale Gefahr besteht, dass ein Inge-
nieur auf einer Offshore-Windenergieanlage
einen Stromschlag erleidet, muss sein Kollege
7.1 Ausbildungsbedarf befähigt werden, einen Defibrillator zu bedie-
nen (und dieser muss zur Verfügung stehen!)
7.1.1 Auswertung des Auftrages (7 Kap. 8.3).
und Konsequenzen
für die Ausbildung
7.1.2 Entwicklung eines idealtypischen,
Bei der Planung einer Ausbildung bzw. dem Erstel- modularen Systems
len eines Ausbildungskonzeptes für eine Zielgruppe
muss zuerst eine Bedarfsanalyse erfolgen, die die Aus diesen Überlegungen leiten sich möglicher-
folgenden Grundsatzfragen hinsichtlich des Auf- weise mehrere, gestaffelt eingesetzte Ausbildungs-
trages beantwortet: höhen ab. Aus den notwendigen Fähigkeiten und
4 Welche Personen müssen von dieser Gruppe den für ihre seriöse Ausbildung benötigten Zeiten
versorgt werden: nur eigene Kräfte, zivile ergibt sich die Gesamtdauer der Ausbildung. Zu-
Unbeteiligte, besondere Schutzbefohlene? sätzlich müssen dabei auch besondere Ausgangs-
– Im letztgenannten Fall können vielleicht lagen berücksichtigt werden: es braucht mehr Aus-
sogar Erkrankungen relevant sein, die eine bildungszeit, wenn man die notfallmedizinischen
zusätzliche Schulung sinnvoll machen, wie Fähigkeiten eines Rettungssanitäters nicht unter
z. B. Diabetes. Anleitung oder im Team in einer Wohnung in
Entsprechend der Ermittlung des Versorgungs- Deutschland, sondern potenziell auch auf sich ge-
bedarfs bei der medizinischen Einsatzplanung stellt im Auslandseinsatz auf dem Gefechtsfeld
(7 Kap. 2.4) lautet die Frage: Wer ist die »popu- beherrschen soll. Ein Einsatzsanitäter muss dem-
lation at risk«? entsprechend länger und mit komplexeren Fallbei-
4 Welche Aufgabe müssen die Auszubildenden spielen ausgebildet werden. Derzeit werden häufig
im Rahmen potenzieller medizinischer Erst- zivile Ausbildungshöhen trotz der nur bedingten
versorgung erfüllen, welche Einsatzszenarien Einsatzrelevanz als Ausbildungsgrundlage genutzt
(welche Risiken und Verletzungsmuster) sind und dann in einem zweiten Schritt modifiziert, um
möglich, welche wahrscheinlich. Wo sind sie sie an die besondere Versorgungssituation anzupas-
90 Kapitel 7 · Ausbildung

sen. Eigentlich wäre es natürlich sinnvoller die Aus- Maßnahmen durch die unmittelbar vor Ort befindlichen an-
bildung unmittelbar auf die einsatzspezifischen deren Beamten unumstritten ist, gibt es meist nur Aussagen
oder Untersuchungen [7] zur Qualifikation medizinisch hö-
Notwendigkeiten auszurichten, aber erst eine zivil
herwertig ausgebildeter Einsatzbeamter (»Medics«).
anerkannte bzw. bekannte Ausbildungshöhe er-
möglicht die Mitarbeit im Regelrettungsdienst und Neben diesen »harten Fakten« muss auch unbe-
damit die Inübunghaltung im Heimatland. Außer- dingt – und immer wieder neu – ermittelt werden
dem ist die Ausbildungsgruppe in spezialisierten mit welcher Erwartungshaltung die potenzielle
Bereichen häufig nicht groß genug, um zu recht- Ausbildungsgruppe an die Ausbildung herangeht?
fertigen, dass für sie längere, speziell auf sie ausge- (Vorausgegangene, wenig interaktive Ausbildun-
richtete Lehrgänge durchgeführt werden. gen? Vorstellungen über was geht/was nicht? Ereig-
Ausbildungsinhalte/-themen können mögli- nisse/verletzte Kameraden innerhalb eines Verban-
cherweise bei verschiedenen Zielgruppen identisch des, deren Verletzungen besondere Maßnahmen
sein, aber die Schwerpunkte und Lernziele unter- erfordert hätten? ...).
scheiden sich. So definieren z. B. die Entwickler des Aufbauend auf diesen Fragen, die den Rahmen
Tactical Medicine Curriculums (für den Bereich für die Entwicklung eines Curriculums vorgeben,
7 TEMS) 18 »educational domains«, fordern inner- sollte jetzt ermittelt werden, welche Faktoren bei
halb dieser Bereiche aber unterschiedliche Kompe- der Umsetzung berücksichtigt werden müssen:
tenzen für Operator, Medic, Team Commander und 4 Welche Ausbildungshöhe besteht als Grund-
Medical Director [6]. lage, gibt es ein Konzept zur medizinischen
In welchem Umfang soll TEMS/TECC abge- Erstversorgung? Gibt es schon ein Konzept/
bildet werden (nur die Versorgung im Einsatz oder eine SOP zur Abbildung dieser Fähigkeit (wie
mit allen Aspekten inkl. Medical Planning, Gesund- viel in welcher Ausbildungshöhe pro (Teil-)
heitsmanagement und Trainingssteuerung, Be- Einheit)?
triebssanitätswesen etc.)? 4 Gibt es bereits ein Konzept zur medizinischen
Ausbildung und insbesondere auch zur Fort-
Beispiel SEK
Das Spektrum möglicher Einsätze beinhaltet mit einer hohen bildung bzw. Inübunghaltung?
Wahrscheinlichkeit »internistische« Probleme (Herzbeschwer- 4 Gibt es gestaffelt höher qualifizierte Kräfte in
den bis hin zur Reanimation, akute Belastungsreaktionen, der Einheit, die als Multiplikatoren genutzt
Asthmaanfälle, »mediterranen Ganzkörperschmerz« etc.), de- werden können? In welcher Stärke werden die
ren Bewältigung auch Kern »ziviler« Erste-Hilfe-Ausbildun-
Kräfte eingesetzt? Gibt es vorbestehende
gen ist. Dennoch wird in der regulären Breitenausbildung ein
zu geringer Schwerpunkt auf Praxisbeispiele gelegt und von Qualifikationen aus anderen Bereichen (z. B.
einer eben deutlich überdurchschnittlichen Professionalität durch Engagement bei der Freiwilligen Feuer-
und Motivation der Teilnehmer wird sicher nicht ausgegan- wehr)? Wer steht dementsprechend als Ausbil-
gen. Verletzungen durch Verkehrsunfälle (Einsatzfahrten, der oder Co-Trainer zur Verfügung?
mobile Lagen), aber auch durch Sturz (Höhenintervention,
4 Begleiten Anschlussversorger/Rettungsdienst-
Verfolgung eines Täters, schlechte Lichtverhältnisse) oder
penetrierende Verletzungen (Stich-, Schuss-, Explosions- kräfte die Einsätze, verfügen diese über eine
verletzungen) kommen bei SEK-Einsätzen mit größerer Wahr- taktische Ausbildung (Art/Umfang/Dauer)?
scheinlichkeit vor, und bei ihrer Versorgung müssen sowohl Gibt es feste Kooperationen, möglicherweise
die taktische Lage als auch die Fortsetzung des Auftrages (einen) ärztliche(n) Leiter, eine Ausbildungs-
berücksichtigt werden. Militärische »Gefechtsfeld«-Lagen
einrichtung, die die Zielgruppe unterstützen
stellen einen weniger wahrscheinlichen Extremfall (wie z. B.
bei einem Amoklauf ) dar, werden dann aber sicher den zivi- kann?
len Rettungsdienst völlig überfordern. 4 Gibt es gemeinsame Konzepte mit dem
Schwerpunkt der zeitkritischen Erstversorgung insbesondere Rettungs- bzw. Sanitätsdienst, werden diese
bei einsatzbedingten Verletzungen bis hin zu Schuss- oder geübt (wie oft)?
Sprengverletzungen (»ballistischem Trauma«) wird die Blut-
4 Welche Ausrüstung ist vorhanden/soll be-
stillung, falls möglich mit – temporärer – Tourniquetanlage
oder suffizienten (Druck-)verbänden sowie die Atemwegssi- schafft werden (modulare Staffelung – IFAK
cherung (stabile Seitenlage oder Nasopharyngeal-/Wendl- für jeden Angehörigen – für den/die Spezia-
Tubus) sein. Obwohl die essentielle Bedeutung der ersten listen – für die Kfz etc.)? Gibt es wiederum
7.1 · Ausbildungsbedarf
91 7
rechtliche Vorgaben, die hier beachtet werden notwendige Ausbildung aufgrund zu geringer fi-
müssen (z. B. das Medizinproduktegesetz nanzieller Mittel oder verfügbarer Zeitkontingente
[MPG]). zu streichen. Die dargestellte Bedarfsanalyse dient
4 Welche Infrastruktur wäre ideal, welche steht dann eben dazu, die Notwendigkeiten besser dar-
in der Liegenschaft der Einheit bzw. an einem stellen zu können, Forderungen zu begründen oder
möglichen Ausbildungsort zur Verfügung? den Bedarf für Alternativlösungen festzustellen
4 Gibt es weitere Aufgaben/Ausbildungs- (kann der Rettungsdienst vielleicht doch befähigt
schwerpunkte/Spezialisierungen oder typische werden, »weiter vorne« zu versorgen?). Letztlich
besondere Lagen, die in der Ausbildung be- müssen diese Aspekte identifiziert und bewertet
rücksichtigt werden sollen (z. B. Höheninter- werden, um dem Führer in der Gesamtverantwor-
vention, Berge, maritime Einsätze, interkul- tung eine Entscheidungsgrundlage dafür zu liefern,
turelle Kompetenzen, Auslandseinsätze)? entsprechende Ressourcen in die Ausbildung zu
Werden weitere Inhalte benötigt (z. B. Verbrin- investieren oder dies nicht zu tun. Gerade wenn
gungsausbildungen, um den Bedarfsträger darauf verzichtet wird, eine dem Anforderungspro-
überhaupt begleiten zu können)? Resultieren fil angemessene Ausbildung vollumfänglich abzu-
hieraus Synergieeffekte oder eher Spannungs- bilden, muss diese Entscheidung im Bewusstsein
felder? der damit verbundenen Nachteile getroffen werden
– dem Verantwortlichen muss das »Preisschild« sei-
Durch die Beantwortung all dieser Fragen ergibt ner Entscheidung klar sein.
sich das zu planende »ideale Konzept«. Für eine Keine Rolle sollte die rechtliche Problematik der
erfolgreiche Umsetzung muss dann zwingend der Durchführung invasiver Maßnahmen durch Laien
Abgleich mit dem, was in der Realität tatsächlich spielen, da die Maßnahmen nicht an sie delegiert
umsetzbar ist, erfolgen. werden, sondern sie eigenverantwortlich auf Basis
des § 34 StGB, Rechtfertigender Notstand (7 Kap.
30) arbeiten. Dennoch müssen mögliche Bedenken
7.1.3 Ermittlung von Ressourcen oder Hemmschwellen ähnlicher Art identifiziert
und Möglichkeiten – realistische werden, um proaktiv auf sie reagieren zu können,
Umsetzbarkeit z. B. durch Ausbildung der Führer zu dieser Thema-
tik; Kosten-Nutzen-Analyse (wenn beispielsweise
Primär ist dabei eine Gegenüberstellung der ange- der Ausfall eines Beamten mit einer fünfjährigen
strebten Befähigung mit der zur Verfügung stehen- Spezialausbildung vermieden worden wäre oder
den Zeit notwendig. In der Regel sind nämlich zahl- Schutzbefohlene in einer Polizeilage mangels Aus-
reiche Zusatzqualifikationen für den Auftrag erfor- bildungshöhe nicht adäquat lebensrettend versorgt
derlich oder wünschenswert – und auch wenn es worden sind), Aufklärung über die rechtliche Situ-
etwas flapsig formuliert scheint: Bei der »eierlegen- ation etc. Außerdem sollten Hemmschwellen inner-
den Wollmilchsau« ist die Wolle naturgemäß nicht halb der Ausbildungsgruppe, wie z. B. Angst vor
ganz so flauschig. Und unabhängig von der Intensi- Blamage, Ekel, »Spritzenphobie«, ebenso frühzeitig
tät und Dauer einer medizinischen/rettungsdienst- identifiziert und thematisiert werden, wie rechtli-
lichen (Zusatz-)Ausbildung ändert sich nichts am che Bedenken etc. Wenn ein bestimmter Ausbil-
Grundsatz »shooter first«: Der Einsatzbeamte er- dungsinhalt die Gesamtakzeptanz für den Lehrgang
wirbt ebenso wie der Offshore-Monteur lediglich gefährdet, sollte erneut geprüft werden, ob auf ihn
eine – wenn auch extrem wichtige – weitere Be- seriös verzichtet werden kann.
fähigung, die keine Abstriche im Hinblick auf Ziel ist ein umfassende Analyse der Notwendig-
Primärauftrag und -aufgabengebiet zur Folge haben keiten und begünstigender Faktoren für die Aus-
darf. bildung (»comprehensive needs and learning re-
Sekundär müssen leider auch die finanziellen sources assessment«) [8].
Mittel für Ausbildung und Ausrüstung betrachtet Wer braucht was – und wer sagt das? [9] Die
werden. Das heißt jedoch nicht, dass es seriös wäre, erste Antwort auf die erste Frage muss ebenso wie
92 Kapitel 7 · Ausbildung

das Ergebnis der Bedarfsanalyse hinterfragt und sinnvoll, sich auch hier an den Empfehlungen von,
ggf. neu diskutiert werden [10]. Als »Spezialist für den jeweiligen Bereich spezifischen, Fachgesell-
für die Thematik« muss man den Kontakt zu den schaften zu orientieren.
»Entscheidern« suchen, Fragen beantworten und Ein definiertes Curriculum bzw. wenigstens eine
Hintergründe (was bringt die Ausbildung der entsprechende »skills list« (. Tab. 7.1; 7 Kap. 31) ist
Führung?) erklären. die Grundlage für eine Standardisierung der Ausbil-
dung und ist damit erforderlich, um eine effektive
Zusammenarbeit vor Ort zu ermöglichen. Nur
7.2 Ausbildungskonzepte wenn der medizinische Einsatzleiter vor Ort weiß
oder schnell erkennen kann, welche Fähigkeiten die
7.2.1 Theoretischer Hintergrund und weiteren Kräfte haben, kann er diese auch einsetzen
Komponenten eines Konzeptes bzw. ihnen Aufgaben übertragen, ohne sie zu über-
(= Gefährdung der Verletzten/Patienten) oder un-
Nachdem der Ausbildungsplaner den Bedarf er- terfordern (= Verschwendung von Ressourcen).
mittelt hat, sollte für die weitere Umsetzung ein Dies würde also z. B. bei einem Massenanfall bedeu-
7 Konzept erstellt werden, das ten, dass der medizinisch Höchstqualifizierte an der
4 die Lerninhalte im Detail festlegt (ggf. für Einsatzstelle einem »Alpha-Medic« klar definierte
unterschiedliche Ausbildungshöhen), Aufgaben zuweist (z. B. Blutstillung durchführen,
4 dazugehörige Fähigkeiten (»skills«) und Infusion vorbereiten), während er einen »Bravo-
Kompetenzen definiert, die Medic« darum bittet, eine selbständige Unter-
4 Teilnahme an Kursen, Praktika etc. – ein- suchung (und Einstufung) eines Verletzten durch-
schließlich erforderlicher Wiederholungsaus- zuführen (und eine Rückmeldung im MIST-Format
bildung – strukturiert und bekommt). Bei einem »Charlie-Medic« kann er
4 Begrifflichkeiten klärt. davon ausgehen, dass auch die Triage bzw. Vorsich-
tung eine abrufbare Fähigkeit ist: »Du gehst links
Klärung von Begrifflichkeiten bezieht sich darauf, um den Bus, ich rechts und dann setzen wir eine
dass z. B. ein »SEK-Medic« oder auch die individu- gemeinsame Lagemeldung ab.«
elle Sanitätsausstattung (IFAK) nicht einheitlich Die klare Beschreibung einheitlicher Mindest-
definiert ist. Es ergibt sich damit auch die Möglich- standards unterscheidet eine curriculare Aus-
keit, in diesem Zusammenhang sinnvolle Begriffe bildung mit einer klaren Kursstruktur auch von
neu zu etablieren, wie z. B. den »Master Medic« als Informationsveranstaltungen zur Thematik, kürze-
Hauptverantwortlichen für die Thematik innerhalb ren Workshops im Rahmen von Kongressen, Pro-
einer (Teil-)Einheit. Eine weitere gute Option ist es, dukt-Einweisungen oder der informellen Weiterga-
neben einer ggf. individuellen Benennung einer be von Wissen im Rahmen von Praktika.
Ausbildungshöhe, die mit ihr verbundenen Fähig- Das heißt nicht, dass es nicht möglich ist, die
keiten zu »kodieren«. So ist z. B. die Kennzeichnung für eine bestimmte Aufgabe erforderlichen Kom-
einer Ausbildungsdauer und im Idealfall der für sie petenzen über die Nutzung derartiger Ausbildungs-
klar definierten Fähigkeiten durch einen Buchsta- angebote »zusammenzusammeln« und es ist der-
ben zunehmend akzeptiert (A bzw. »Alpha«, B, C zeit  wahrscheinlich für motivierte Kräfte, die
etc. kennzeichnen eine zunehmende Qualifika- Einheiten ohne »offiziellem Konzept« angehören,
tionshöhe). Natürlich sollte dann auch hinterlegt die einzig pragmatisch realisierbare Möglichkeit.
sein, welcher Zeitansatz für das Erlernen einer Fä- Die konsequente Nutzung eines Nachweisheftes,
higkeit vorgesehen ist und dies wiederum muss sich in dem unterschiedlichste Ausbilder die Vermitt-
an seriösen Erfahrungswerten orientieren. Die Ent- lung von Fähigkeiten, Durchführung von Maß-
lastung eines Spannungspneumothorax oder gar die nahmen, Einweisung auf Geräte u. ä. bestätigen
Koniotomie z. B. als Inhalte eines eintägigen Kurses können, ermöglicht es, auch einer derartig »ge-
vorzusehen, schadet eher der Akzeptanz der gesam- stückelten« Ausbildung eine rechtlich belastbare
ten Ausbildung und Qualifikation. Natürlich ist es Basis zu geben.
7.2 · Ausbildungskonzepte
93 7

. Tab. 7.1 Individuelle Fähigkeiten/Fertigkeiten im Rahmen erweiterter rettungsmedizinischer (/sanitäts-


dienstlicher) Ausbildung von Ersthelfern/Rettungssanitätern/RettAss – Entwurf. Siehe auch [11]

Fertigkeit Jeder Ein- A-Medic C-Medic


satzbeamte CFR-A* Einsatz-/Notfallsanitäter

A Freimachen durch manuelle Manöver, ggf. stabile X X X


und Seitenlage
Freihalten der
durch Einlage eines Naso-/ X X X
Atemwege
Oropharyngealtubus

durch Anwendung von supraglot- – – X


tischen Atemwegshilfen (Larynxtubus)

einschließlich Schaffung von – – X (mehrfache Wieder-


Notfallatemwegen (Koniotomie) holung der Ausbildung
am Tiermodell)

B B-Probleme Behandlung offener Brustkorbver- X X X


letzungen

Entlastungspunktion/Notfallentlastung – X X
des Thorax

Anlage von Thoraxdrainagen – – X (ggf. mehrfache Wie-


derholung der Ausbil-
dung am Tiermodell)

Schutz der Halswirbelsäule (Anlage X (Ass.) X X


Steifverbände)

Beat- Mund-zu-Mund/-Nase X X X
mung
mit Maske – X X

unter Nutzung von – – X


supraglottischen Atem-
wegshilfen (s. o.)

Sauerstoffgabe – – X (lageabhängig)

endotracheale Intubation – – – (nur ggf. RA)

C Circulation Verbände, direkter Druck, Einsatz Tour- X X X


– Blutstillung niquet
und Volumen-
Nutzung von Hämostatika, Wund- – X X
therapie
tamponade

Verbände in schwierigen Bereichen/ (X) X X


Verbrennungen

Anlage von Fremdkörperverbänden – X X


(bzw. Eviszeration)

Anlage einer (ggf. improvisierten) – X X (inkl. RD-Mittel)


Beckenschlinge

Schaffung peripherer Zugänge im – X X


Rahmen der Notkompetenz und Flüssig-
keitsersatz/Volumenersatztherapie
(intravenös)

... (intraossär) X X
94 Kapitel 7 · Ausbildung

. Tab. 7.1 (Fortsetzung)

Fertigkeit Jeder Ein- A-Medic C-Medic


satzbeamte CFR-A* Einsatz-/Notfallsanitäter

C Circulation Herz-Lungen-Wiederbelebung X X X
– Blutstillung
einschließlich Anwendung eines X X X
und Volumen-
halbautomatischen Defibrillators
therapie
Anwendung spezifischer Medikamente § (ggf. entsprechend
sowie elektrischer Therapien zur Be- BAEK Notkompetenz/
handlung von Herzrhythmusstörungen Weisung PÄD)
(Megacode-Training)

D Schmerz- mit bukkalem Fentanylapplikator – – §


bekämpfung
Analgosedierung mit Ketanest/ – – §
Midazolam
7 Verabreichung von (weiteren) definier- – – § (ggf. entsprechend
ten Arzneimitteln (zusätzlich i.v.-AB) BAEK Notkompetenz)

Anwendung von Autoinjektoren – X X

E Environment Wärmeerhalt X X X
und erwei-
Lagerung des Patienten/Anlage von (X) X X
terte Maß-
Schienen
nahmen
Reposition von groben Fehlstellungen/ – – X
Anlegen von Extensionsschienen

Versorgung von Augenverletzungen – X X


(»hard eye shield«)

Be- und Entladen von Lfz X

(Vor-)Sichtung (inkl. Organisation einer strukturierten – X X


Patientenablage)

Kontinuierliche Dokumentation (Befund, Maßnahmen, (X) X X (vollständige TREMA-


Vitalparameter) Karte)

Qualifizierte Patientenübergabe an den Rettungsdienst – X X

Gerätegestütztes Patientenmonitoring (Einweisungen nach – – X


MPG in gesondertem Heft)

(Behelfsmäßiger) Verletztentransport (X) X X (inkl. RD-Mittel)

* Dem CFR-A entspricht im SanDst Bw der Ersthelfer »EH-B«.


Ass. = Assistenz bei der jeweiligen Maßnahme bzw. beim Beispiel HWS z. B. manuelle Stabilisierung.
§ = mittelfristig anzustreben, dies dann aber auf der Basis Nachweisheft und »Telemedizin-Hintergrund«

Die Inhalte der Ausbildung werden in Lernab- also der »Einsatzwirklichkeit«. Sie »ergänzt« damit
schnitte gegliedert oder ggf. Lernfeldern zugeord- »die traditionelle fachlogische Didaktik durch eine
net. Die sogenannte Lernfeldkonzeption beschreibt handlungslogische Didaktik.« Dies bedeutet vor
die – »modernere« – Orientierung an angestrebten allem, dass die Teilnehmer bereits zu Beginn ihrer
Handlungskompetenzen und damit die unmittel- Ausbildung mit konkreten Situationen aus dem be-
bare Abbildung des späteren, beruflichen Alltages, ruflichen Alltag konfrontiert werden [12].
7.2 · Ausbildungskonzepte
95 7
Die Ausbildung erfolgt damit insbesondere
»fächerübergreifend« und berücksichtigt verstärkt
Vermittlung Medizinische
eine emotionale Komponente (Betroffenheit er- notwendiger Fähigkeiten
zeugen, Anwendbarkeit und Nutzen klar darstellen; Grundlagen (»Skills«)
Perspektiven erzeugen). Dies klingt vielleicht nach

us
m
»gemeinsamem Gurkenschälen« kann aber gerade

ith
Intensives,

or
bei der späteren Versorgung eines Kollegen, den

lg
lagenbasiertes

-A
DE
man schon seit Jahren kennt, entscheidende Be- Training

BC
deutung haben. Der Begriff »Lernfelder« wird auch

>A
<C
in den Lehrplänen der unterschiedlichsten Aus-
bildungsträger für die Beschreibung der Inhalte der
Ausbildung zum Notfallsanitäter verwendet [13, 14].
Diese Handlungsorientierung ist wiederum
Handlungssichere und belastungsstabile
auch bestimmend für die Auswahl der eingesetz- Erstversorgung
ten  Methoden [15]. Wenn das Ziel ist, dass der
. Abb. 7.1 Dreiklang der Vermittlung einer algorithmus-
Einsatzbeamte erlernt, wie er unter Bedrohung
basierten Erstversorgung
einen verletzten Kollegen versorgt, muss die prak-
tische, szenariobasierte Ausbildung Kern der Aus-
bildung sein. Dennoch wird er fordern und hat Manche Lerninhalte können vielleicht nur mit
Anspruch darauf, dass er versteht, warum er be- einem erhöhten Aufwand in der wünschenswerten
stimmte Maßnahmen durchführen soll und ihre Tiefe vermittelt werden. Die praktische Versorgung
professionelle Durchführung schrittweise erlernt einsatzspezifischer, ballistischer Verwundungen
(. Abb. 7.1). wird man nicht in einer Notaufnahme in Deutsch-
Abhängig von der angestrebten Qualifikation land erlernen können, was ggf. sogar Auslandsprak-
werden Lernziele formuliert, die klar festlegen, was tika erforderlich machen kann (z. B. Traumazentren
der Auszubildende erlernen soll und vor allem in in den USA, Südafrika, Brasilien).
welcher Lernzielstufe (LZS) bzw. -tiefe diese ver-
mittelt werden:
4 Geht es um eine orientierende Darstellung, 7.2.2 Prüfung der praktischen
d. h. dass der Teilnehmer »von der Thematik Umsetzung und Anpassung
schon einmal gehört hat«, kann er Inhalte
lediglich wiedergeben und bestimmte Fertig- Ein weiterer essenzieller Punkt bei der Ausge-
keiten ausführen (LZS1). staltung eines Konzeptes ist die Ermittlung von
4 Wenn er sie »verstanden« hat, kann er auch Schnittstellen und Grundlagen: Gibt es bereits ein
komplexe Sachverhalte erfassen, was in der anerkanntes System mit definierten Ausbildungs-
Medizin in der Regel erforderlich sein wird höhen, deren Nutzung auch eine rechtliche Hand-
(LZS2). lungssicherheit ermöglicht? Haben die Angehöri-
4 Die Anpassung an die Lage im Sinne einer gen der Einheit bereits eine definierte Vorausbil-
Abstraktion und Übertragung auf analoge dung, wie die Lebensrettenden Sofortmaßnahmen
Situationen (Transferleistung) ist dement- oder die BG-Ersthelferausbildung? Gibt es »fertig
sprechend für die Anwendung in taktischen konfektionierte« Lehrgänge, die den Bedarf erfüllen
Lagen gefragt (LZS3). oder als Teil eines Gesamtsystems genutzt werden
4 Wenn die besondere Lage potenziell die Ent- können? Ist dies wirtschaftlich sinnvoll, da eigene
wicklung neuer Verfahren und die Bewertung Ausbilderstellen mangels Auslastung nicht geschaf-
des Nutzens von Verfahren, Methoden und fen bzw. Material nicht beschafft werden kann?
Material erfordert, ist die LZS4 notwendig – Oder ist der Bedarf so speziell, dass eben doch eine
und damit eine entsprechend lange Ausbil- personelle und materielle Abbildung im eigenen
dungszeit. Bereich die beste oder einzig vertretbare Lösung ist?
96 Kapitel 7 · Ausbildung

Evtl. kann die Wirtschaftlichkeit durch Nutzung zur Verfügung gestanden hätte. In den letzten Jahren wurde
oder Schaffung von Ausbildungsverbünden mit diese Ausbildung auch auf andere Truppengattungen (wie
Spezialkräfte und Fallschirmjäger) ausgedehnt. Nach der
ähnlichen Bedarfsträgern gewährleistet werden.
ursprünglichen Benennung des dreiwöchigen Lehrganges
Nach Definition der Handlungskompetenzen »Patrol Medical Course« hatte sich auch hier der Begriff Medic
und den dazugehörigen Inhalten bzw. Lernzielen etabliert.
sollten bereits im Konzept auch spezifische Hin- Bei den deutschen Spezialkräften durchlaufen alle Einsatzkräf-
weise zur Umsetzung und den Ausbildungsverfah- te eine entsprechende dreiwöchige Ausbildung und es wird
zusätzlich in jedem Team ein Kommandosoldat zum Rettungs-
ren gegeben werden (7 Abschn. 7.3).
sanitäter ausgebildet (Bezeichnung in der Bundeswehr KdoFw
Das heißt z. B., dass die Ausdehnung der Aus- San bzw. auch Combat First Responder C). Er nimmt jährlich an
bildung auch in die Nacht in der Lehrgangsaus- einem vierwöchigen Programm zur Inübunghaltung teil. Sein
gestaltung berücksichtigt werden muss, wenn dies Fertigkeitsspektrum entspricht in . Tab. 7.1 bezogen auf TCCC
die »realistische Arbeitszeit« der Zielgruppe ist. dem Einsatzsanitäter oder C-Medic (7 Kap. 4.1).
Dennoch muss man auch hier bereits darauf achten,
dass eine Überfrachtung bzw. Überforderung ver- Unabdingbar für ein erfolgreiches Ausbildungskon-
mieden wird. Man sollte eine »Tages-Lernpensum- zept ist es, eine Wiederholungsausbildung für alle
7 Grenze« beachten und Regeneration einplanen Ausbildungshöhen und in ausreichendem Umfang
(bzw. diese evtl. mit der Wiederholung von Inhalten vorzusehen. Dies beginnt eigentlich bereits inner-
kombinieren). Wie so oft ist weniger vielleicht mehr halb eines Lehrganges, da eine Mindesthäufigkeit
– und bleibt vor allem länger erinnerlich. für die erfolgreiche erste Beherrschung einer Maß-
Außerdem ist ein Konzept nie »fertig«, sondern nahme festlegt werden sollte (»Venenpunktion lernt
es sollte eine Zeitachse zur Umsetzung festgelegt man nur durch Venenpunktion«). Hinsichtlich der
werden und es muss eine periodische Anpassung an Venenpunktion sollte z. B. mindestens eine jähr-
veränderte Rahmenbedingungen bzw. die medizi- liche (mehrfache) Wiederholung der Maßnahme
nische Weiterentwicklung vorgesehen werden. für den Kompetenzerhalt festgelegt werden, beim
Wie immer muss man das Rad nicht neu erfin- Umgang mit einem Verbandpäckchen würde z. B.
den: sowohl bei unterschiedlichen Behörden im auch die Wiederholung alle 3 Jahre ausreichen.
Inland als auch im internationalen Rahmen gibt es Einerseits geht es dabei um die »Rezertifizierung«
zahlreiche, teilweise auch leicht im Internet erhält- der Maßnahmen, aber auch um die schlichte »Halt-
liche Konzepte. Das britische »First-Person-on- barkeit« der Fähigkeiten (. Tab. 7.2).
Scene« (FPOS)-System bildet z. B. drei aufeinander Der Schlüssel zum Erreichen einer ausreichen-
aufbauende Ausbildungshöhen mit präzisen zeit- den Frequenz ist die kontinuierliche Abbildung der
lichen Vorgaben und Qualifikationen ab (Basic 10, praktischen Übung notfallmedizinischer Kompe-
Intermediate 30 und Enhanced 30 weitere Stunden). tenzen in anderen »taktischen« Trainings. Wann
Entwickelt wurde es vom Gesundheitsministerium immer möglich, sollte die Ausbildung gemeinsam
für Ersthelfer in ländlichen Gebieten, so dass z. B. mit den anderen, nicht medizinisch spezialisierten
auch verlängerte Versorgungszeiten und die Gabe Einsatzkräften (»cross training«) erfolgen. Es wäre
von Notfallmedikamenten durch Ersthelfer (!) be- eben schon ein ziemlicher Zufall, wenn ein halbes
rücksichtigt werden. Dutzend Medics bei einem Einsatz gemeinsam un-
terwegs wären. Wie auch in 7 Kap. 8 und 25 darge-
Beispiel für die Umsetzung von Ausbildungshöhen
stellt, liegt das Schicksal des Verwundeten in den
bei der Bundeswehr (Heer)
Um auf die besondere Situation abgesetzt oder autark operie- Händen desjenigen, der den ersten Verband anlegt
render Einheiten zu reagieren, wurden für diese Kräfte Lehr- und dies wird häufiger nicht der Medic, sondern
gänge geschaffen, die eine medizinische Höherqualifikation eine Einsatzkraft mit anderer Spezialisierung sein.
im Sinne einer Erweiterten Erste-Hilfe-Ausbildung beinhalten. Damit ist die Medic-Ausbildung immer auch eine
Zusätzlich wurde auch eine begrenzte Reaktionsfähigkeit auf
Multiplikatorenschulung, in der Grundsätze der
nicht-traumatologische Notfälle geschaffen. Dies betraf frü-
her vor allem Angehörige der hinter feindlichen Linien ope- Didaktik angesprochen – und natürlich intensiv
rierenden Fernspähtruppe, für die bei solchen Einsätzen der vorgelebt – werden sollten. Wenn weitere Synergien
Sanitätsdienst nicht oder nur mit extremen Verzögerungen oder Schnittstellen identifiziert werden können,
7.2 · Ausbildungskonzepte
97 7

. Tab. 7.2 Notfallmedizinische Ausbildungshöhen SEK – Beispiel-Entwurf

Zielgruppe Schwerpunkt1 Dauer Terminologie Inübunghaltung


(Zielsetzung) pro Jahr3

Jeder Einsatzbeamte Blutstillung, (einfache) 3 Tage2 (BG-)Ersthelfer 2 Tage (Schulung


Atemwegssicherung »Plus« bzw. Ein- durch die Medics
Grundlagen Traumaversor- satz-EH (ohne der Einheit)
gung nach Algorithmus Zusatz)
Wiederholung BLS

SEK-Medics

Erweiterte Ausbildung Traumaversorgung nach 5 Tage Einsatz-Ersthelfer A9 5 Tage (nach erster


TVV/TECC5 (taktische Algorithmus (Schwerpunkt (EEH-A/»Alpha- Teilnahme EEH-B1)
Verletztenversorgung) Initial) Medic«)

Rettungssanitäter- Erlangen einer zivilen 13 Wochen SEK-Rettungs- 10 Tage pro Jahr8


Ausbildung Anerkennung; sinnvolle, (520 Stunden) sanitäter4 (RS)
»reale« Mitarbeit im
Rettungsdienst; »zivil«
häufige Versorgungen

Erfahrener SEK- Kontinuierlicher Einsatz als 5 Tage Auf- Einsatz-Ersthelfer Wie oben minde-
»Medic« (kontinuier- Medic7 und fachliche bau-Lehrgang B16 (EEH-B1) stens 5 plus 10 Tage
liche Weiterbildung Inübunghaltung, Einsatz- Bei Qualifikation standardisiert,
und Wiederholungs- und Rettungsdienst- zum RS = EEH-C möglichst weitere
ausbildung) (»Charlie«) Erfahrung; Multiplikator in »Charlie-Medic« Fortbildungen
der Weiterbildung der bzw. Einsatzsani- (Kongresse, bei
Einsatzbeamten und täter SE anderen SE etc.)
Alpha-Medics

»Master-Medic« Koordination, Konzeption Langjährige


und Weiterentwicklung, Verwendung
Berater der Einsatzleitung Evtl. RA-
(Einsatzplanung) Ausbildung

1 genaue Auflistung der »Fähigkeiten . Tab. 7.1


2 Anrechnung des Erste Hilfe-Kurses (16 Stunden, BG-analog), wenn die Ausbildung <2 Jahre erfolgt ist.
3 Alle Zeiträume sind Mindestvorgaben, natürlich werden – freiwillig – längere Teilnahmen an Lehrgängen oder

Praktika die Handlungssicherheit verbessern und die Fähigkeiten sukzessive erweitern.


4 Wenn sinnvolle Begriffe existieren, ist keine abweichende Benennung, Neu-Kodierung erforderlich.
5 TECC = Tactical Emergency Casualty Care (mil.: TCCC, C für Combat), d. h. durch ein Expertengremium insbesondere

für Polizeieinsätze in den USA erarbeitete Versorgungsgrundsätze.


6 Codierung B1, da nicht alle Inhalte der dreiwöchigen Bw-CFR-B-Ausbildung (z. B. Medikamentengabe aufgrund

deutlich verlängerter Versorgung) umgesetzt werden. Einen »Bravo-Medic« wird es also nur in einer Übergangsphase
geben, wenn er schon am 5 Tage-TVV/TECC-Aufbau-Lehrgang teilgenommen hat, aber noch nicht auf dem Rettungs-
sanitäter-Lehrgang war.
7 Achtung: auch der »Alt- oder MasterMedic« bleibt »normaler« Einsatzbeamter mit taktisch-operativem Primärauftrag

(»shooter first, Medic second«).


8 ggf. kommen weitere Pflichtfortbildungen des jeweiligen Rettungsdienstbereiches hinzu (z. B. Fahrerbelehrung,

Hygieneunterweisung, AED [MPG-Wiederholung]).


9 dies entspricht derzeit bei der Bw dem CFR-A bzw. EH-B (!) – sog. »Qualifikationsstufe II«.
98 Kapitel 7 · Ausbildung

wird man eine höhere Akzeptanz für die Integration werden eben weder die erforderlichen Mittel
von »San-Lagen« in andere Ausbildungsvorhaben noch die notwendigen Ausbildungszeiten zur
erzielen. Verfügung stehen.
Sicher wird die sanitätsdienstliche Lagedar-
stellung und -abarbeitung dort »kein Übungsschwer- Andererseits besteht aufgrund des Engagements für
punkt« sein, aber nur die kontinuierliche Wiederho- die Ausbildung und sorgfältiger, konzeptioneller
lung wird letztendlich auch bei den »Troopern« Vorarbeit auch ein begründeter Anspruch auf eine
Handlungssicherheit erzeugen, die nicht zuletzt dem ausreichende, institutionelle Unterstützung. »Good
verwundeten Medic zu Gute kommen kann. teaching is supported by strong and visionary leader-
Auch sinnvolle Prüfungen zur Feststellung des ship, and tangible institutional support – resources,
Lernerfolgs, aber vor allem auch zur juristisch trag- personnel, and funds.« [14] (Gute Lehre wird durch
fähigen Dokumentation einer Ausbildungshöhe eine starke und visionäre Führung unterstützt und
sollten unmittelbar im Konzept verankert werden. es muss eine konkrete, institutionelle Unterstützung
Da es vor allem um das Erlernen praxisbezogener gewährleistet sein – hinsichtlich personeller, finan-
Fähigkeiten geht, die dann auch noch unter erhöh- zieller und sonstiger Ressourcen.)
7 ter Belastung abrufbar sein sollen, ist anzustreben,
dass auch eine Leistungsüberprüfung oder ein Ab-
schlusstest eines Lehrganges diese Situation wider- 7.3 Ausbildungsverfahren
spiegelt.
Wenn eine bestimmte Ausbildungshöhe bestä- 7.3.1 Grundsatzfragen vor
tigt werden soll und eine entsprechende Prüfung der konkreten Umsetzung
natürlich nur dann Sinn macht, wenn sie bei Nicht- einer Ausbildung
Beherrschen der im Curriculum bzw. einer Skills-
List festgelegten Fähigkeiten nicht bestanden wird, » Ich unterrichte meine Schüler nie; ich versuche
muss sie möglichst standardisiert und nachvollzieh- nur, Bedingungen zu schaffen, unter denen sie
bar durchgeführt werden. Fehler sollten dabei ge- lernen können.
zielt aufgeschlüsselt werden (z. B. führen »kritische (Albert Einstein, 1879–1955)
Fehler« unmittelbar zu einer Schädigung oder zum
Tode des Patienten). Unter dem Stichwort »OSCE« Im günstigen Fall wurde also eine Bedarfsermitt-
(»objective structured clinical examination«) findet lung durchgeführt und ein ggf. modulares Ausbil-
man Orientierungshilfen zu Aufbau und Entwick- dungskonzept erstellt, bevor eine konkrete Aus-
lung einer solchen Prüfung. bildung durchgeführt wird. Damit stehen die – mög-
Schließlich sollten in einem Ausbildungskon- lichst homogene – Ausbildungsgruppe, die Lern-
zept auch Verantwortlichkeiten und Zuständigkei- ziele und Tiefe ihrer Vermittlung, die für die
ten festgelegt werden. Wenn also z. B. für einen Lernabschnitte zur Verfügung stehenden Zeiten
»Combat-ready«-Status (ein klar definiertes Fähig- und evtl. auch bereits die geeignetsten Methoden
keitsprofil, das erforderlich ist, um an Einsätzen teil- und Verfahren für die spezifische Ausbildung fest.
zunehmen) auch eine medizinische Ausbildungshö- Oft wird es aber auch der Fall sein, dass lediglich
he festgelegt ist, ist der Chef für die Umsetzung ver- grobe Vorgaben hinsichtlich der Lernziele bzw. ein
antwortlich und es ist nicht – mehr – die Aufgabe des Wunsch der Ausbildungsgruppe und die zur Verfü-
medizinischen Beraters oder Ersthelfers selbst, um gung stehende Zeit feststehen, wenn eine Ausbil-
eine Lehrgangsteilnahme zu »betteln«. dung durchgeführt wird. Soweit möglich sollten im
Vorfeld dennoch die im 7 Abschn. 7.1 dargestellten
> Ausschlaggebend ist, dass der Entscheider Fragen gestellt werden. Vor allem muss eine Bewer-
(also meistens »die Führung« und eben nicht tung und klare Aussage erfolgen, welche Themen in
der Kursteilnehmer bzw. »Medic«) das Ausbil- welcher Form beim vorgegebenen Zeitansatz
dungsprogramm akzeptiert – und es daher seriös abgebildet werden können. Es macht wenig
vorher versteht und beeinflussen kann. Sonst Sinn, möglichst viele der für die taktische Medizin
7.3 · Ausbildungsverfahren
99 7
relevanten Themen »abzuhaken«, wenn damit am Fallbeispiel-basierte Ausbildung nur in kleinen
Schluss kein Lerninhalt wirklich nachhaltig vermit- Ausbildungsgruppen bzw. mit einer hohen Aus-
telt werden konnte, oder aufwändige Ausbildungs- bilderstärke durchgeführt werden.
verfahren einzusetzen, wenn dadurch die notwen- Das Verhältnis von Ausbildern zu Auszu-
dige Grundlagenausbildung und Repetition nicht bildenden sollte bei dieser intensiven Ausbildung
durchgeführt werden kann. 1 zu 6 nicht überschreiten, 1 zu 4 wäre günstiger.
Eine weitere generelle Entscheidung muss vor der Nur auf diese Weise kann eine für den Teilnehmer
Ausbildung hinsichtlich des Ortes der Durchfüh- befriedigende Moderation des Verlaufs mit mög-
rung gefällt werden. Bei der Ausbildung von Fertig- lichst verzögerungsfreien Rückmeldungen erfolgen.
keiten und grundlegenden Abläufen (»initial«) kann Andererseits ist bei geringerer Ausbilderdichte auch
der Ort der Ausbildung nahezu beliebig gewählt wer- keine ausreichende Beobachtung des Vorgehens
den. Hier sollte der Schwerpunkt eher auf »kurze gewährleistet, um im Anschluss an das Szenario ein
Wege zum Unterrichtsraum, trocken und ausrei- detailliertes Feedback geben zu können (7 Abschn.
chend beleuchtet« gelegt werden. Je komplexer die 7.3.5). Möglichkeiten, den damit verbundenen Auf-
Lagedarstellung wird, umso mehr ist eine gezielte wand bzw. die Kosten beim Einsatz externer Ausbil-
Auswahl der Trainingseinrichtung bzw. des -geländes der zu reduzieren, bestehen durch die Kooperation
wichtig. Einerseits kann die Nutzung der originären verschiedener Einheiten, vorgeschaltete Ausbildung
Liegenschaft der Einheit (und damit ggf. der Einsatz interner Multiplikatoren (meist höherwertig ausge-
eines »Mobile Training Teams« (MTT) vor Ort) sinn- bildete Angehörige der Einheit, aber z. B. auch la-
voll sein, andererseits ist für einen bestimmten Aus- gespezifische Schulung des Betriebssanitätsdiens-
bildungsabschnitt möglicherweise ein genau daran tes) oder »Amtshilfe« verschiedener Behörden.
angepasstes Objekt ideal (als hochspezialisiertes Bei- Ein Austausch von Ausbildern unterschiedli-
spiel die Bergwachtausbildungshalle in Bad Tölz). Es cher Einheiten wird nahezu immer beiden Seiten
gibt unterschiedlichste Vor- und Nachteile, so steht Vorteile bringen, da es gerade bei komplexeren Pro-
z. B. der deutlich geringere Aufbauaufwand bzw. die blemen unterschiedliche Lösungsansätze geben
höhere Detailtiefe bei Nutzung eines vorbereiteten wird, die eine Weiterentwicklung oder Konsolidie-
Ausbildungsortes (Beispiel »Halle 113« in Hammel- rung beider Systeme bewirken können. »Net-
burg) dem dadurch höheren zeitlichen Aufwand für working schadet nie.«
die Anreise gegenüber. Ein stillgelegtes Fabrikgelän- Dies ermöglicht auch, dass in der Ausbildung
de bietet meist gute Voraussetzungen, um unter- nach der ersten Festigung der grundlegenden Lern-
schiedlichste Lagen von polizeilichen Zugriffen über inhalte bewusst ein regelmäßiger Wechsel der Aus-
Arbeitsunfälle bis zur Versorgung beim Kampf in bilder in Form einer Stationsausbildung erfolgt.
urbanem Gelände in realistischer Umgebung zu trai- Dennoch sollten die Teilnehmer den jeweiligen
nieren – und es ist im Regelfall kostenlos und in über- »Grundlagenausbilder« als primären Ansprechpart-
schaubarer Entfernung verfügbar. ner bzw. Tutor behalten. Auf diese Weise erleben die
Die ausschlaggebende Bedeutung der Praxis- Teilnehmer verschiedene Schwerpunktsetzungen,
ausbildung und Vermeidung »theoretischer Über- Detail-Abweichungen in der Vorgehensweise und
frachtung« wurde generell in der Erste Hilfe-Ausbil- profitieren von unterschiedlichen Erfahrungen. Da-
dung erkannt und sowohl in der Fachliteratur zur bei sollte gerade bei Algorithmus-basierter Ausbil-
Didaktik in der Ersthelferausbildung [12] als auch dung immer wieder der Hinweis gegeben werden,
zur Notfallpädagogik (z. B. [15]) sowie von der BG dass es sich um ein Schema und eben kein Dogma
betont. Man darf jedoch nicht unterschätzen, dass handelt. Daher können unterschiedliche Ausbilder
sorgfältige und sinnvolle praktische Ausbildung bei durchaus leicht voneinander abweichende Meinun-
gleichen Inhalten im Regelfall eben einen höheren gen vertreten, da es oft »mehrere legitime Hand-
Zeitaufwand erfordert. Ein »Folienfilm« ist leider lungsalternativen« [15] gibt. Die Trainer sollten je-
immer noch das Resultat, wenn die Inhalte vorgege- doch darauf achten, dass sie bei Bedarf und spätes-
ben sind und die dafür vorgesehene Ausbildungs- tens auf Nachfrage die Relevanz bzw. Evidenz für
zeit nicht ausreicht. Außerdem kann eine effektive bestimmte Aussagen oder Vorgehensweisen darstel-
100 Kapitel 7 · Ausbildung

len können: handelt es sich um eine Richtlinie, Leit- man dennoch eine begrenzte Überforderung auch
linie, Empfehlung, objektive Meinung oder subjekti- als didaktisches Mittel einsetzen, etwas ausprobie-
ve Meinung [15]. Außerdem muss jeder Ausbilder ren oder eine optisch beeindruckendere Darstel-
natürlich auch darauf achten, ob er auf die Darstel- lung einsetzen, da »das Auge mitisst«. Dann sollte
lung einer (selbst begründet) abweichenden Mei- man dies aber in Absprache mit der Ausbildungs-
nung ggf. verzichtet, um die Ausbildungsgruppe gruppe und möglichst erst nach entsprechender
nicht zu überfordern. Die Varianz von Notfällen ist Erklärung tun. Sonst ist die Gefahr groß, dass auf-
so hoch, dass man ohnehin nicht alles verbindlich, grund von Demotivation und Frustration wertvolle
eindeutig und konkret regeln kann [17]. Ausbildungszeit verloren geht, Ziele nicht erreicht
Außerdem sind Flexibilität und Reflexion eben- werden oder man die Gruppe »verliert«. Erwachse-
falls, insbesondere in der Erwachsenenbildung, nenbildung lebt von Partizipation und Konsens.
sinnvolle Ausbildungsziele. Die Teilnehmer sam- Unbedingt müssen sich die Teilnehmer in der
meln im Idealfall Mosaiksteine, die dann die Grund- Lagedarstellung »wiederfinden«, d. h. die Vermitt-
lage für ihre Entscheidung bilden. Dabei sollte eine lung der Themen und vor allem die Fallbeispiele
selbständige »try and error«-Korrektur erfolgen, müssen an die Arbeits- und Versorgungssituation
7 falls nicht der erwünschte Erfolg eintritt, oder der der Ausbildungsgruppe angepasst werden. Das
Ausbilder wird unterstützend eingreifen. »Action Spektrum »realistischer Arbeitsumfelder« reicht in
with reflection« oder bekannter »learning by doing« der taktischen Medizin vom »klassischen Gefechts-
[8] sind Prinzipien nachhaltiger Ausbildung. feld« über das alpine Gelände mit tiefem Schnee
oder einen abgelegenen Abschnitt eines Container-
Tipp
hafens in tiefster Dunkelheit bis zu einer Plattform
Bei Stationsausbildungen kann es sinnvoll in 80 m Höhe auf einer Baustelle.
sein, jeweils eine »Skills-Station« einzubauen,
Tipp
damit die Teilnehmer in der Rotation unter-
schiedlich belastet werden bzw. nicht perma- Je homogener die Ausbildungsgruppe ist,
nent unter dem Druck einer – realistisch darge- umso näher kann man an ihrer Einsatzrealität
stellten – Verletztenlage arbeiten müssen. ausbilden, sich (in) thematisch(en Details) an
sie anpassen und vor allem in der Schilderung
der Praxisbeispiele überzeugen.

7.3.2 Durchführung szenariobasierter


Ausbildung Wenn die Teilnehmer aus unterschiedlich(st)en Be-
reichen kommen, wie z. B. bei einem Workshop im
Auch in der taktischen Medizin ist das Aus- Rahmen eines Kongresses oder bei »offen« angebo-
bildungsprinzip »vom Leichten zum Schweren«, tenen Lehrgängen, sollten für die Fallbeispiele ggf.
vom Einfachen zum Komplexen entscheidend. unterschiedliche Untergruppen (z. B. POL/MIL un-
Trotz des angesichts der erschwerten Rahmenbe- ter Berücksichtigung der Ausbildungshöhe) gebil-
dingungen sicherlich berechtigten Grundsatzes det werden.
»train hard, fight easy«, ist es nicht sinnvoll, das Die Vermittlung von Fertigkeiten (»skill trai-
erste Üben von intravenösen Zugängen gleich im ning«) wiederum muss wenigstens bei der Erstaus-
Freien oder bei schlechten Lichtverhältnissen bildung nicht Zielgruppen-spezifisch sein: ob ein
durchführen zu lassen. Bergführer eine Koniotomie bei einer Mittelge-
Ebenso wenig sollte man sich durch vorhandene sichtsverletzung aufgrund eines Sturzes oder ein
Möglichkeiten und »beeindruckende Optik« (z. B. CFR sie nach einer Schrapnellverletzung durch-
»Horror-Moulagen« oder spektakulären Pyrotech- führen muss, ändert nichts an der Vorgehensweise
nik-Einsatz) dazu hinreißen lassen, eine überzoge- bei der Maßnahme. Hier können also auch gemein-
ne Lage darzustellen. Didaktik geht vor Effekt (ana- same, interdisziplinäre Workshops durchgeführt
log zu »form follows function«)! Natürlich kann werden. Dennoch kann bzw. sollte auch hier das
7.3 · Ausbildungsverfahren
101 7
Training in einer späteren Phase lageadaptiert und Alle in einer Übung vertretbaren Maßnahmen
ggf. intensiviert werden – z. B. findet die Durch- sollten auch praktisch durchgeführt werden, ein
führung dann unter Lichtdisziplin (7 Kap. 20), im »ich würde jetzt« sollte konsequent vermieden
fahrenden Kfz oder eben auf einem abschüssigen werden. Nur so lässt sich in der Ausbildung auch ein
Hang statt. Andere potenziell sinnvolle Lage- realistisches Gefühl für den Zeitbedarf bei der
Erschwernisse sind Enge, Bedrohung, Zeitdruck, Durchführung von Untersuchungs- oder Behand-
klimatischer oder akustischer Stress. lungsmaßnahmen vermitteln. Diesem Aspekt
kommt in taktischen Lagen eine zentrale Bedeutung
Tipp
zu. Prozeduren, deren reale Durchführung nicht
vertretbar ist, sollten vom Auszubildenden detail-
Wind wird im Zusammenhang mit der Ver-
liert beschreiben werden, die relevanten anatomi-
meidung einer Hypothermie und Sorgfalt bei
schen Positionen exakt gezeigt werden und die
der Versorgung (Wegwehen der Rettungs-
erwartete Konsequenz der Maßnahme bzw. Kon-
decke …) oft unterschätzt und lässt sich leicht
trollen erklärt werden.
durch die geschickte Wahl des Ausbildungs-
Fehlerkorrekturen während bzw. das Eingreifen
ortes oder ggf. eine evtl. bei der lokalen Feuer-
in laufende Szenarien muss man sorgfältig abwägen.
wehr ausleihbare Windmaschine darstellen.
Gerechtfertigt wäre es, wenn wenig Zeit zur Ver-
Die Annäherung einer Bedrohung lässt sich
fügung steht und sonst eine weniger effektive Aus-
mit wenig Aufwand und personalsparend
bildung erfolgen würde.
akustisch darstellen.
Auch wenn meist die medizinische Versorgung
im Vordergrund steht und die taktische Rahmenla-
Eine bewährte Ausbildungsmethode beim anfängli- ge bei kurzen Fallbeispielen oft nur »angedeutet«
chen Training des Versorgungsalgorithmus ist es, wird, sollte dennoch die Lageschilderung zu Be-
Wunden schnell und kostengünstig durch das ein- ginn eines Fallbeispiels sorgfältig durchdacht und
fache Aufkleben eines ggf. farbigen Tape-Streifens vorbereitet werden. Auch die Verwendung spezi-
darzustellen. Durch das Aufkleben einer Münze fischer Terminologie zeigt den Teilnehmern die
kann man das Auffinden beim Abstreichen (»blood Kenntnis ihrer Arbeitssituation bzw. die Beschäfti-
sweep«) des Patienten erleichtern. Die Bedeutung gung mit ihrem Umfeld. Die Wirklichkeit und die
der sorgfältigen Untersuchung, ggf. die Durchfüh- passenden »Bilder entstehen im Kopf« und eine
rung spezifischer Maßnahmen bei entsprechender »stimmige« Schilderung kann eine deutlich höhere
Lokalisation (z. B. Anlage eines luftdichten Verban- Identifikation und Einsatz bei der Bewältigung des
des) kann damit effizient vermittelt werden und die Lagebeispiels bedingen (Ortsnamen, erkennbar fik-
Teilnehmerakzeptanz dieser Methode ist trotz ihrer tive, aber tatsächliche Namen, Informationen zur
»Schlichtheit« hoch. Rahmenlage wie »ein regnerischer Novembertag«
Die medizinische Komplexität lässt sich analog oder »im Feierabendverkehr«). »Learning in con-
zur Darstellung der Rahmenlage durch mehrfache text assures transfer to the work situation. Success-
Verletzung, ungünstigere Lokalisation (verzögertes ful simulations must closely resemble the real world
Auffinden und/oder erschwerte Versorgung), meh- (authenticity, high fidelity)«. [17] (Das Lernen im
rere Verletzte bis hin zu Komplikationen bei der Kontext ermöglicht den Transfer auf die reale
Versorgung steigern. Arbeitssituation. Erfolgreiche Simulation muss die
Routine- bzw. häufige Situationen werden so Realität möglichst genau darstellen.)
lange trainiert, bis diese beherrscht werden, dann Dabei ist es vor allem wichtig, als Ausbilder au-
erst sollten kritischere (immer noch häufige) Lagen thentisch zu sein, was natürlich umso leichter fällt,
dargestellt werden und erst wenn dann noch aus- umso mehr man tatsächlich Erfahrungen mit der
reichende Ausbildungszeit zur Verfügung steht, medizinischen Versorgung im spezifischen Bereich
sollten seltenere, besonders komplexe oder z. B. an- der Ausbildungsgruppe hat. »I cannot teach what I
fangs in die Irre führende Szenarien durchgespielt don’t know.« [18] Wenn diese Erfahrungen eben
werden. nicht vorliegen, kann es eine gute Option sein,
102 Kapitel 7 · Ausbildung

jemand mit diesem spezifischen Ausbildungs- die Ausbildungsgruppe achten und eine mög-
gruppen-Hintergrund als Mitausbilder ins Boot zu liche Überforderung oder andere didaktische
holen. Problematik unmittelbar ansprechen.
Im Idealfall kennt man wirklich ein reales Fall- 4 Kontinuierlicher Wechsel von Theorie, Fertig-
beispiel, das sich für die Vermittlung der jeweiligen keiten und Praxis in Form von Fallbeispielen
Lernziele eignet. Gerade bei einer unrealistisch bzw. Lagedarstellungen. Sukzessive zusätzliche,
klingenden Lage erübrigen sich Diskussionen. – »Ja, ggf. vorher theoretisch vermittelte, Inhalte in
klingt für mich auch so, ist aber so passiert…« – Der die Praxisbeispiele integrieren.
Teilnehmer muss möglichst zunehmend »von der 4 Das Rückgrat der gesamten Ausbildung muss
Lage absorbiert werden« und sich für die Dauer des ein standardisierter Untersuchungs- und
Fallbeispiels gefühlt am fiktiven Einsatzort befin- Behandlungsalgorithmus sein (7 Kap. 1.2). Das
den. Gerade in der Erwachsenenbildung und auf im Bereich der taktischen Medizin bewährte
der Basis eines gemeinsamen Erfahrungshinter- Vorgehen wird ausführlich in den Kap. 8 und 9
grundes muss es nicht einmal aufwändig sein, die- behandelt. Auch in der Ausbildung müssen die
ses Ziel zu erreichen. Ggf. kann man natürlich auch unterschiedlichen Vorteile immer wieder he-
7 Bilder einsetzen oder bei ausreichender Zeit den, rausgearbeitet werden: »Treat first what kills
möglichst realen, Ausbildungsort tatsächlich ent- first« gibt dem Verwundeten die bestmög-
sprechend gestalten (Gerüstteile, ein Autowrack, lichen Chancen, erst die Standardisierung und
Trümmer bis hin zu brennenden Fleischresten und »gemeinsame Sprache« ermöglicht ein effek-
ähnlichem). Auch dabei sollte man das berühmte tives Teamwork (es ist klar, was als nächstes
»Zuviel des Guten« im Hinterkopf haben und sich passieren sollte) und er bietet eine Rückfallpo-
im Zweifel an den sensibleren Teilnehmern orien- sition und eine teilweise Entlastung von diffe-
tieren. Auch in Vorträgen sollte man den didakti- renzierten Überlegungen (insbesondere, wenn
schen Nutzen der audiovisuellen Medien abwägen Ressourcen anderweitig, z. B. beim an-
und »Horrorbild-Vorträge« vermeiden! Anderer- haltenden Monitoring der Sicherheitslage,
seits ist z. B. eine Schutzbrille mit realen »Schrap- gebunden sind).
nell-Einschlägen« aus dem Einsatz unter dem 4 Wiederholung begründen! Warum immer
»Awareness«-Aspekt hinsichtlich erforderlicher wieder ähnliche Lagen oder Verletzungsmuster
Prävention unschlagbar. dargestellt werden, muss umso besser begrün-
det werden, je weniger professionell bzw. in
diesem Arbeitsumfeld routiniert die Ausbil-
7.3.3 Weitere Hinweise dungsgruppe ist. Gerade »Drill«-Ausbildung
muss vorher begründet werden, um Einsicht
4 Klar erkennbarer Beginn eines Fallbeispiels zu erzielen.
(dies muss nicht unbedingt eine Pyrotechnik- 4 Nicht an einem ganz tollen Übungskonzept
Show sein, sondern das Betreten eines Raumes, festhalten, wenn es nicht funktioniert. bzw. die
ein Knall, das Eintreffen mit einem Fahrzeug Teilnehmer (gerade wenn diese unerwartete,
o. ä.). aber sinnvolle, Alternativlösungen entwickeln)
4 Unbedingt Kennzeichnung der Trainer nicht in das »Übungskorsett« zwängen bzw.
(Warnweste, Knicklicht o. ä.), um einen klaren den erwarteten oder erhofften Verlauf auf-
Lageüberblick zu ermöglichen! zwingen.
4 Höhepunkte setzen, sowohl bei einem Fall- 4 Gerade bei den möglichen Zielgruppen der
beispiel, als auch im Verlauf des Ausbildungs- taktischen Medizin ist es wichtig, die Medien
tages! an den Teilnehmerkreis anzupassen. Spezial-
4 Am Ende des Ausbildungstages das »Runter- kräfte sind z. B. sehr hoch und wirklichkeits-
kommen« begünstigen (entspanntere Schluss- nah belastbar, aber »Kennenlern-Spielchen«
besprechung, möglicherweise einschließlich werden eher auf Ablehnung stoßen, da das
eines gemeinsamen Bieres o.ä.). Sorgfältig auf »team building« bereits lange erfolgt ist. Wenn
7.3 · Ausbildungsverfahren
103 7
ein »Fremdkörper« da ist, dann ist es oft eher
der Ausbilder, der im Rahmen seiner Möglich- 5 Die Einhaltung von Eckzeiten ist für einen
keiten eine Integration anstreben sollte. Dies strukturierten Ablauf entscheidend.
ist in erster Linie dadurch möglich, dass er, auf 5 Teilnehmer sollten möglichst frühzeitig
Basis seiner eigenen fachlichen Qualifikation, über Ausbildungserfordernisse informiert
(ehrliches) Interesse und Respekt zeigt, Nach- werden (»ab heute Nachmittag möglichst
fragen stellt, um Besonderheiten zu verstehen ältere Bekleidung tragen, die dreckig
und ggf. auch das Vorgehen gemeinsam mit werden kann«).
den Teilnehmern modifiziert und an die spezi- 5 Bei Unterrichten ausreichend Raum für
fische Lage adaptiert. Wenn es sich nicht um Fragen einplanen.
einen etablierten Lehrgang handelt, sondern 5 Ausbildungshilfsmittel wie Taschenkarten
der Ausbilder die Zielgruppe noch nicht aus- und praxisnahe Anleitungen zu komplexe-
reichend kennt, ist es wichtig, ein Feedback ren Fertigkeiten zum Nachlesen austeilen.
nicht erst am Ende der Ausbildung einzuholen. 5 Gute, alte Hilfsmittel nutzen: Ein Handzettel
Die Abfrage der Erwartungshaltung zu Beginn mit der Skizzierung der Ziele, Unterrichts-
und Feedbackrunden nach einzelnen Aus- mittel, Methoden und Medien, Quellen etc.
bildungsabschnitten ermöglichen es ggf. die hilft bei der Strukturierung.
laufende Ausbildung noch hinsichtlich Inhal- 5 Natürlich kann ein guter Ausbilder improvi-
ten und Methoden anzupassen. sieren, aber er sollte einen guten Grund
4 Das – wichtige – Gesamtfeedback am Ende dafür haben, weil er bei sorgfältiger Vorbe-
eines Lehrganges i. S. eines »hot debriefs« nützt reitung präziser auf die Abbildung aller
der Weiterentwicklung des Kurses, für die Lernziele und andere Details achten kann.
aktuelle Gruppe kommt es zu spät. Daneben 5 Gemeinsam entwickelte Flipchart-Übersich-
sollte ein standardisierter Evaluationsbogen zu ten nachher im Unterrichtsraum aufhängen
Beginn der Ausbildung ausgegeben werden, (dann sollte ihre mögliche Optik aber präzi-
der vor allem die Möglichkeit zum schnellen se vorbereitet werden). Dies ermöglicht
Feedback, aber auch zur freien Formulierung eine gute (und wiederholte) Visualisierung
von Kritik und Anregungen bietet. Er kenn- wichtiger Lernziele. Auch die Darstellung
zeichnet damit gleichzeitig auch Abschluss und der Gliederung der Ausbildung kann auf
Zusammenfassung des Lehrganges oder einer diese Weise erfolgen und erleichtert den
Lerneinheit. Teilnehmern den Überblick bei komplexe-
4 Ausbildungsverfahren und -geschwindigkeit ren Themen (evtl. parallel »abhaken« oder
müssen immer wieder selbst hinterfragt und Pfeil verschieben).
im Ausbildungsteam besprochen werden.
Dabei sollten insbesondere »Problemfälle« bei
den Teilnehmern angesprochen und ggf. ihre
gezielte Förderung geplant werden. 7.3.4 Auswahl der eingesetzten
Methoden
Bewährte »Standardtipps« zur
Unterrichtsgestaltung > Wenn eine Ausbildung durchgeführt wird,
5 Medien gezielt auswählen (natürlich ins- müssen aus den zur Verfügung stehenden
besondere kein Folien- bzw. Powerpoint- Möglichkeiten die Ausbildungsmethoden
Film) (. Tab. 7.3). ausgewählt werden, die am besten geeignet
5 Einen Notfallplan vorsehen, wenn ein sind, um in der gegebenen Zeit das Erreichen
Medium nicht zur Verfügung steht (bzw. der Lernziele bestmöglich zu unterstützen.
dieses ggf. redundant vorhalten)!
Vorlieben des Ausbilders oder das Vorhandensein
prinzipiell guter Mittel sollten diese Entscheidung
104 Kapitel 7 · Ausbildung

nur begrenzt beeinflussen. Der Effekt »Wenn man Verfügung steht. Wenn amputierte Verletzungsdar-
einen Hammer hat, sieht jedes Problem wie ein Na- steller (z. B. »amputees in action«, Großbritannien)
gel aus« [20] sollte unbedingt vermieden werden. die Ausbildung unterstützen, muss nicht jedes Fall-
Zum Beispiel ist simulationsbasiertes Training mit beispiel mit dem Verlust einer Extremität einherge-
hohem Kosten- und Zeitaufwand verbunden, der hen, da sie meist auch »normale« Verletzungssitua-
bei begrenzten Ressourcen zu Lasten der Repetition tionen hervorragend darstellen können. Diese Liste
der Themen und Verfahren geht. Die Amortisie- ließe sich mit Beispielen zu jeder Methode oder je-
rung oder Vermarktung des nun einmal angeschaff- dem Mittel fortsetzen.
ten High Tech-Simulators allein kann also kein Auch bei einem für eine bestimmte Zielgruppe
Grund sein, diesen einzusetzen. Genauso sollte man bewährten Lehrgang muss die Übertragbarkeit der
vermeiden, dass jedes Fallbeispiel mit einer Explo- eingesetzten Methoden auf eine Ausbildungsgrup-
sion »garniert« wird, nur weil ein Pyrotechniker zur pe mit einem anderen Hintergrund kritisch hinter-

. Tab. 7.3 Vor- und Nachteile unterschiedlicher Ausbildungsmethoden

7 Vorteile Nachteile Anmerkungen

»Konventio- Leichter zu organisieren Wird bei unzureichender Für die Vermittlung von
neller« Preisgünstig Vorbereitung leicht zu Grundlagen – natürlich
Unterricht Einfachere Steuerung des Verlaufs »trocken« bzw. »frontal« möglichst interaktiv und
Ausbilderpersönlichkeit kommt Ausbilderpersönlichkeit abwechslungsreich – unver-
zum Tragen kommt zum Tragen ändert notwendig

Simulatoren Zuwendung zum »Patienten« und Teuer Insbesondere für das (Team-)
weg vom Ausbilder-Feedback Zeitaufwändig Training/CRM und »human
vertiefendes Skill-Training bzw. Eher statisch factors« wertvoll [19]
Skills im Zusammenhang/einige Eingeschränkte Rück-
invasive Skills nur am Simulator meldung (z. B. unange-
nehme Lagerung, unzurei-
chender Wärmeerhalt)
»Animal lab« Invasive Skills Töten eines Tieres (Einschlä- Insbesondere für das Erler-
(Versorgung Tatsächliche Verantwortung für ferung/Narkose) nen suffizienter Blutstillung
eines narkoti- die Versorgung eines Lebewesens/ Hoher logistischer und (inkl. Packing und Hämos-
sierten Tieres) nur adäquate Maßnahmen sind Genehmigungsaufwand, typtika, aber z. B. auch Nut-
erfolgreich unbedingt Vermeidung von zung des Knies für temporä-
Leiden für das Tier (Tierarzt, ren, direkten Druck) besser
auch wenn nicht vorge- als jedes andere Verfahren/
schrieben) Modell
Tierkörper Reales Gewebe Ggf. Töten eines Tieres Für Koniotomie-Training sehr
(-teile) Ähnliche Anatomie (Schlachtung) gut geeignet (und in diesem
Aufwändig Fall nur Schlachtabfälle –
Ohne Blutung »Schweinegurgeln« und
abgelagerte Haut)
Leiche/Körper- Realste Anatomie Verfügbarkeit
spender (Meist) fixiertes Gewebe/
keine Blutung

Buddy-Training Übungsteilnehmer zu sein ist auch Belastbarer als reale Ver- Wechseln der Positionen und
eine wertvolle Erfahrung (z. B. letzte (noch aktive Wärme- Anpassung im Schwierig-
hinsichtlich Stellenwert und Quali- produktion) keitsgrad; unterschiedliche
tät des Wärmeerhaltes) Schwerpunkte (Arbeit allei-
ne, im Team, Anleitung eines
Laien etc.)
7.3 · Ausbildungsverfahren
105 7

. Tab. 7.3 (Fortsetzung)

Vorteile Nachteile Anmerkungen

Übungs- Reale »Patienten« Auch höherer Gerade bei einsatznahen


Verletzte – Rückmeldung hinsichtlich grober Ausbilderaufwand/-dichte Lagen sorgfältige Auswahl
Laien Behandlung, unzureichendem und Einweisung der Dar-
Wärmeerhalt etc. steller.

Übungs- Realistische Darstellung – auch Hoher Personalaufwand Bei »ehemaligen« Patienten«,


Verletzte – pro- des physiologisch wahrschein- und -kosten z. B. »amputees in action«
fessionelle RUD lichen Verlaufes auch besseres Feedback
Je nach Schulung eigentlich auch hinsichtlich des persönlichen
Ausbilder Erlebens (von Aussagen/
Umgang)

e-learning Sorgfältigste mediale Aufberei- Hoher Aufwand für die In Kombination mit »realer«
tung von Sachverhalten möglich, Produktion wertiger In- Ausbildung (zur Vor- und
da potenziell große Nutzergruppe halte/hohe Anforderungen Nachbereitung) (= »blended
Lernzeit und -ort frei wählbar an IT-Ausstattung learning«) gute Möglichkeit,
Individuelle Bearbeitungs- Interaktion eingeschränkt um Präsenzzeit einzusparen
geschwindigkeit oder sehr aufwändig bzw. die Lehrgangszeit
Leichte Unterstützung durch/ Entspricht damit oft effektiver zu nutzen. Auf-
Kombination unterschiedlichster Frontalunterricht ohne wand realistisch einschätzen.
Medien Nachfragemöglichkeit Sinnvoll in »content manage-
Oft nicht der realen ment system«/Lernplattform
»Hardware-Situation« der einbetten
Nutzer angepasst (lang-
sames Internet, Zugangs-
beschränkungen bei
Behörden)

Blended Siehe oben Siehe oben, jedoch teil- »Lernarrangements«


learning Sinnvolle Ergänzung, Einsparung weise durch Kombination
(Kombination von Präsenzzeit kompensierbar
aus e-learning
und Präsenz-
unterricht)

Planspiel- Darstellung komplexer Lagen Potenziell »verzerrter Blick« Erfordert meist längere
training (MANV) (mehr Überblick als in der Entwicklung und sorgfältige
Leicht zu unterbrechen/Detail- Realität) und Handlungen Vorbereitung(Spielregeln).
besprechung (Gliederung in (z. B. Transport mehrerer Beübung von Strukturen,
Abschnitte) Patienten(karten) durch Führung, (BOS-)Zusammen-
(Meist) kostengünstig (insbeson- einen Helfer) arbeit; ggf. als Vorbereitung
dere im Vergleich zur Vollübung) Komplexer als für Teil- einer Vollübung
Rahmenbedingungen beein- nehmer sinnvoll Ermöglicht vor allem Ent-
flussbar Rahmenbedingungen scheidungstraining
unrealistisch

(Voll-)Übung Realistische Darstellung Hoher Aufwand (Dreh- Unbedingt vermeiden:


komplexer Lagen buch!) und Kosten – Dynamik und realerVerlauf
Beübung Zusammenarbeit und Unterbrechungen kaum werden an Drehbuch und
Schnittstellen möglich »Übungsziel« angepasst
Komplexe, zeitaufwändige – »Schönreden« (wegen
Nachbesprechung (-berei- Aufwand und externer
tung) (Medien-)Präsenz)
106 Kapitel 7 · Ausbildung

fragt werden. Auch wenn es generelle Prinzipien Vielleicht hat sich auch ein kleiner Effekt zu einer
und Erfahrungswerte für die beschriebenen Metho- Kette entwickelt etc.
den gibt, »funktioniert« dennoch nicht alles ange- Wenn ein einzelner Teilnehmer »völlig auf dem
sichts unterschiedlicher Vorausbildung, Hinter- Schlauch stand«, könnte eine vorausgehende, kurze
grund, Erfahrung, Kultur oder Geschlecht. Abklärung unter vier Augen sinnvoll sein. Außerdem
sollte man erklären, dass selbst bei einem »schlech-
ten« Durchgang eine gute Nachbesprechung, in der
7.3.5 Teilnehmereinbindung eben die Probleme vom Versorger selbst erkannt
und Nachbesprechung oder gemeinsam herausgearbeitet werden, einen
größeren Lernerfolg mit sich bringen kann, als eine
> Eine der wichtigsten Komponenten einer
fehlerfreie Versorgung. Auch wenn man unbedingt
erfolgreichen Ausbildung ist eine standardi-
ausreichend Zeit für die Nachbesprechung einpla-
sierte Nachbesprechung der Fallbeispiele, für
nen sollte, sind Stringenz und Beschränkung auf
die daher auch ausreichend Zeit eingeplant
Wesentliches genauso wichtig. Das »Zerreden«
werden muss. Die Nachbesprechung muss
eines Beispiels macht möglicherweise den gesamten
7 auch an den Ausbildungsstand der Gruppe
Aufwand wieder zunichte – daher vorher überlegen,
angepasst werden.
welche Punkte man ansprechen möchte.
Alle organisatorischen, zum Übungsbild ge-
Eine »Expertengruppe« benötigt den Ausbilder oft hörenden Maßnahmen sollten vor Beginn der
nur noch als Moderator. Ein bewährtes System ist Nachbesprechung abgeschlossen sein (d. h. z. B.
es, den mit der Versorgung des Verwundeten pri- Sicherheit an den Waffen hergestellt, Verletztendar-
mär betrauten Teilnehmer zuerst nach seinen Ein- steller von Verbänden und Zugängen befreit, Mate-
drücken und seiner Bewertung der Situation zu rialaufbereitung abgeschlossen). Außerdem sollten
fragen. Dann kommen weitere Helfer und der Ver- Störungen der Nachbesprechung vermieden wer-
letztendarsteller zu Wort, der vor allem ein Feed- den (Nebengeräusche durch Funk oder Motoren,
back hinsichtlich seiner Versorgung (z. B. Wärme- Parallelgruppe übt noch etc.).
erhalt?) und Betreuung geben sollte. Erst dann Ein Video-Debrief ist zwar prinzipiell ein hervor-
kommentiert der Ausbilder die genannten Punkte, ragendes Tool, das insbesondere unnötige Diskus-
ergänzt seine Wahrnehmungen und positive, aber sionen vermeidet, beansprucht aber einen hohen
natürlich auch negative Punkte. Wenn der Teilneh- Zeitaufwand, der auf Kosten der – meistens viel wich-
mer selbst die wichtigen »lessons identified« bereits tigeren – Wiederholung geht. Gerade bei mobilen
genannt hat, wird die Aufgabe des Trainers mehr Lagen oder z. B. in schwerem Gelände ist der organi-
eine Zusammenfassung (Wiederholung des Lern- satorische Aufwand wiederum sehr hoch. Prinzipiell
zieles dieser Ausbildung, kurze Darstellung des gilt: »je komplexer die Versorgung und je größer das
zeitlichen Verlaufs, evtl. bei komplexen Lagen Team«, umso sinnvoller wird dieses Mittel sein.
Gliederung in Phasen) oder die – wohldosierte – Entscheidend ist es, den Teilnehmern die Er-
Platzierung von wichtigen Tipps oder Kernpunkten kenntnis zu vermitteln: Jeder in der Ausbildung
(Materialorganisation, Kommunikation, Reassess- identifizierte Fehler, hilft Fehler in der Realität zu
ment, Lageüberblick u. ä.) sein. Klar am Beispiel vermeiden. Dazu müssen natürlich der Umgang
begründete Empfehlungen für Verbesserungen miteinander und das Lernumfeld passen. »Good
werden in diesem Verlauf meist gut akzeptiert. Man teaching is as much about passion as it is about rea-
sollte dabei also zwar Prinzipien im Hinterkopf ha- son.« [16] (Gute Lehre hat ebenso viel mit Leiden-
ben (z. B. mit etwas Positivem beginnen), aber es ist schaft wie mit Erklärungen zu tun.)
noch wichtiger, authentisch zu bleiben. Bei einem
katastrophalen Durchgang muss man nicht zwin- » Erzähle es mir – und ich werde es vergessen.
gend etwas Positives suchen, sollte aber unbedingt Zeige es mir – und ich werde mich erinnern.
nach Ursachen und Problemen fragen: Eigener Lass es mich tun – und ich werde es behalten.
Fehler in der Falldarstellung? »Luft raus für heute?« (Konfuzius 553–473 v. Chr.)
Literatur
107 7
Literatur 18. Norman G (2014) The Things We Know, The Things We
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Eine kritische Betrachtung der Ausbildungspraxis. Teil 2.
Rettungsdienst 23: 32–35
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Warum wir anderen helfen. Urban-Taschenbücher, 418.
Kohlhammer, Stuttgart
109 II

Taktische
Verwundetenversorgung
Kapitel 8 Grundlagen TCCC – 111
K. Ladehof

Kapitel 9 Leitlinien zur Verwundetenversorgung – 127


C. Neitzel, K. Ladehof, F. Josse

Kapitel 10 Analgesie im Einsatz – 213


F. Josse, F. Spies

Kapitel 11 Triage und MASCAL/MANV – 221


K. Ladehof
111 8

Grundlagen TCCC
K. Ladehof

8.1 Hintergründe und Prinzipien – Unterschiede zum


zivilen Rettungsdienst – 112

8.2 Phasen und Zonen der Versorgung – 115

8.3 Verletzungen und Todesursachen im Bereich TCCC – 118


8.3.1 Verletzungsmuster: Woran stirbt man? – 118
8.3.2 »Die-off curve«: Wann stirbt man? – 120

8.4 Vorgehensweise: SICK – 121


8.4.1 S – Sicherheit und Lagefeststellung (»scene assessment«) – 122
8.4.2 Versorgung des Verletzten – 123

Literatur – 125

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
112 Kapitel 8 · Grundlagen TCCC

> Taktische Medizin ist der Oberbegriff für kommen können. Schießt ein Täter auf Geiseln oder
ein System der präklinischen Versorgung, bei Einsatzkräfte, muss im Vordergrund stehen, ihn an
dem aufgrund einer besonderen Rahmen- weiteren Aggressionen zu hindern. Wird ein Beam-
lage angepasste Prinzipien zur Anwendung ter verletzt, muss er aus dem unmittelbaren Wirk-
kommen. Charakteristisch ist, dass die Ver- bereich gerettet und soweit nötig im ersten ge-
sorgung in definierten Phasen durchgeführt schützten Bereich versorgt werden. Im polizeilichen
wird und auch die medizinischen Maßnah- Bereich haben die sinnvollen Modifikationen zu
men an die Situation adaptiert werden. einer abweichenden Benennung geführt: das sog.
TEMS-System wird in 7 Kap. 24–28 ausführlich be-
Taktische Verwundetenversorgung steht nicht im schrieben.
Widerspruch zu zivilen Versorgungskonzepten
wie z. B. ATLS/PHTLS (»Advanced Trauma Life
Support«/»Prehospital Trauma Life Support«), son- 8.1 Hintergründe und Prinzipien –
dern basiert auf diesen und setzt sie konsequent für Unterschiede zum
das Arbeiten in einer Bedrohungslage und für ein zivilen Rettungsdienst
spezifisches Traumaspektrum um.
»Tactical Combat Casualty Care« (TCCC) ist Für die Rettungskräfte sollte immer der Grundsatz
wiederum das System zur zielgerichteten, präklini- gelten: die Sicherheit am Einsatzort und der Schutz
8 schen Versorgung von Patienten, das für militäri- der eingesetzten Kräfte haben höchste Priorität
sche Lagen entwickelt wurde. Wie in der Einleitung beim Vorgehen. Er gilt in besonderem Maße, wenn
dargestellt, wurde es 1996 erstmalig beschrieben [1] eine Bedrohungslage, im Extremfall feindlicher
und wird seitdem kontinuierlich über ein Fachgre- Beschuss, vorliegt. Bei der Annäherung müssen also
mium (CoTCCC) weiterentwickelt. Die präzise zunächst die möglichen Gefahren identifiziert wer-
Vorgehensweise bei der medizinischen Versorgung den, um dann weitere Schritte einleiten zu können.
und die Bedeutung einzelner Maßnahmen werden Auch die medizinische Versorgung wird meist erst
in 7 Kap. 12 dargestellt. In diesem Kapitel sollen die möglich sein, wenn es gelingt, die Bedrohung zu
Grundlagen und Hintergründe für das System der verringern. Für TCCC resultiert daraus der Kern-
taktischen Verwundetenversorgung, wesentliche satz für die erste Versorgungsphase: »The best
Prinzipien und Abweichungen zu zivilen Verfahren medicine on any battlefield is fire superiority«
sowie die generelle Herangehensweise im Rahmen (Die beste Medizin auf dem Gefechtsfeld ist Feuer-
der taktischen Medizin erläutert werden. Dieses überlegenheit). Um diese zu erreichen, kann sowohl
System wird aufgrund seiner Entstehung und seiner die Feuerkraft des Sanitäters als auch, wenn noch
besonderen Relevanz für diesen Bereich vor allem möglich, die des Verwundeten ein wichtiger Faktor
an militärischen Lagen veranschaulicht. sein. Auch wenn keine unmittelbare Gefahr erkenn-
Es ist jedoch für polizeiliche Lagen ebenso wie bar ist, muss unbedingt zuerst ein Überblick über
für Situationen im Rettungsdienst, die mit einer be- die Gesamtlage gewonnen werden. Das Spektrum
sonderen Gefährdung einhergehen, hervorragend weiterer Bedrohungen kann von der Verminung der
geeignet, um die bestmögliche Versorgung durch- offensichtlichsten Ausweichstelle bis zur Waffe in
zuführen. Im Regelfall wird auch bei diesen eine der Hand des verwundeten, bewusstseinsgetrübten
spezielle zeitliche (Eile sowie Vorgehen in Phasen) Kameraden reichen.
und räumliche (Abstand bzw. geschützte Bereiche) Auch die Möglichkeit eines Zweitanschlages
Komponente eine entscheidende Rolle spielen und muss bedacht werden, selbst wenn die Reaktions-
ebenso die medizinische Versorgung gravierend be- möglichkeiten darauf begrenzt sind (7 Kap. 8). Be-
einflussen. reits aus einer ersten Explosion können zahlreiche
Als Beispiel wird es bei einer Geisellage einen Sekundärgefahren resultieren, z. B. Brände, insta-
sog. »inneren Ring«» geben, in dem aufgrund einer bile Infrastrukturen oder austretende Gase. Im
potenziellen Bedrohung durch den oder die Täter schlimmsten Fall ist eine Annäherung an die Ver-
zunächst keine Rettungsdienstkräfte zum Einsatz wundeten aufgrund von anhaltendem Beschuss
8.1 · Hintergründe und Prinzipien – Unterschiede zum zivilen Rettungsdienst
113 8
oder auch durch Einsatz von Kampfstoffen gar nicht scheidungskompetenz in medizinischen Fragen
möglich. Als eher etwas hilflose Reaktion auf solche (z. B. Evakuierungsentscheidungen), ohne diese in
Lagen wurde der Begriff »remote assessment« ge- der Tiefe beurteilen zu können. Ein gutes Vertrau-
prägt, der beschreibt, dass eine begrenzte Beurtei- ensverhältnis, gemeinsames Üben und Verständnis
lung und ggf. auch Anleitung eines Verwundeten zu für die Abläufe des Anderen sind damit Vorausset-
sinnvoller Selbsthilfe auch aus einer Deckung her- zung für eine gute Versorgung des Patienten. Dies
aus machbar ist. beginnt bereits vor einem Einsatz mit der Entschei-
Die Grundsätze des TCCC gelten unabhängig dung, ob und wie weit der Einsatzleiter z. B. Kräfte
davon, wer die erste notfallmedizinische Versor- des Rettungsdienstes mit »nach vorne« bzw. in eine
gung unter Bedrohung oder in einer taktischen »heiße Zone« nimmt. Dies wiederum hängt von
Situation leistet. Die Prinzipien treffen für einen zahlreichen Faktoren ab: ist es überhaupt vom tak-
»Tactical Medic«, Rettungsassistenten oder Notarzt tischen Ausbildungsstand her vertretbar, diese
in gleicher Weise zu. Auch der in 7 Kap. 11 im Detail Nichtkombattanten bzw. Nichtpolizeibeamten in
dargestellte Algorithmus wird analog angewendet. die Lage einzubinden? Kann der Gesamtverant-
Natürlich werden Entscheidungen für komplexere wortliche dieses Fachpersonal ausreichend schüt-
Maßnahmen abhängig vom Ausbildungsstand ge- zen (sowohl materiell in Form von ballistischem
fällt und mit zunehmender Erfahrung wird man Schutz als auch durch die Begleitung durch eine
sich auch nicht immer exakt an den Ablauf halten. Schutzkomponente)? Was für Vorteile haben seine
Ein Algorithmus ist kein Dogma. Dennoch ist die Einsatzkräfte oder andere durch die Lage betroffene
präzise Kenntnis eine wichtige Handlungsgrund- Personen durch den Einsatz dieser Spezialisten?
lage, wenn bei größerer Belastung und höherem Kann er medizinische Fähigkeiten im Bereich der
Stress kreatives Denken schwieriger wird. Gerade Einsatzstelle durch eigene Kräfte (z. B. weiterge-
wenn ein Bekannter oder Freund betroffen ist, er- bildete Polizeibeamte 7 Kap. 19–24) sicherstellen?
möglicht das »stumpfe Abarbeiten« eines Algorith- > Voraussetzung für die Gewährleistung einer
mus als Rückfallposition dennoch zielgerichtetes qualifizierten Versorgung unter Bedrohung
Arbeiten und kritische Punkte werden nicht verges- wird also einerseits eine notfallmedizinische
sen. Außerdem erfolgen die Maßnahmen unter Be- (Basis-)Ausbildung aller beteiligten Kräfte
rücksichtigung ihrer Dringlichkeit. Die gemeinsa- sein. Andererseits ist eine taktische Ausbil-
me Arbeitsgrundlage und Sprache (»Der Patient dung auch für die medizinischen Spezialisten
entwickelt ein B-Problem«) erleichtert die Zusam- unverzichtbar.
menarbeit, die Integration weiterer Kräfte und die
Übergabe. Wenn also z. B. ein Helfer hinzukommt, Der Führer wiederum muss fundierte Grundkennt-
während der Primärversorger die Stabilität des nisse über die lageangepasste Notfallmedizin, also
Brustkorbes prüft, weiß er, dass als nächstes die TCCC, sowie die Möglichkeiten und Grenzen der
Drehung des Patienten erfolgt. Er kann jetzt wiede- einzelnen Komponenten haben, um auf dieser Basis
rum abhängig von der Lagebeurteilung entweder seine Entscheidungen treffen zu können. Konkur-
eine Unterlage für den Verwundeten vorbereiten rieren die Interessen des Patienten und des Auf-
oder den Kopf bei der Drehung stabilisieren bzw. trages miteinander, kann es im Extremfall dazu
diese Maßnahmen vorschlagen. kommen, dass bereits durch den Sanitäter selbst
> Die medizinische Versorgung ist nur ein Teil
oder durch den für die Gesamtoperation Verant-
einer komplexen – taktischen – Lage.
wortlichen zugunsten des Auftrages entschieden
wird. Damit ist unter Umständen auch eine Zurück-
Dabei ist das medizinische Personal im Regelfall stellung der medizinischen Versorgung zur Fort-
einem taktischen Führer unterstellt, der die Ge- setzung des Einsatzes notwendig, ggf. sogar unter
samtverantwortung für den Einsatz trägt. Dies trifft Inkaufnahme einer eingeschränkten individualme-
für den militärischen Führer genauso wie für den dizinischen Versorgung. Dies kann zwingend erfor-
Einsatzleiter der Feuerwehr oder der Polizei zu. derlich sein, da von der weiteren Durchführung
Damit hat ein »Taktiker« auch die letztendliche Ent- einer Operation möglicherweise das Leben oder die
114 Kapitel 8 · Grundlagen TCCC

Gesundheit einer größeren Anzahl von Menschen flicts«) bzw. Operationen gegen irreguläre Kräfte
abhängt. die potenziell großen Distanzen zwischen den me-
dizinischen Versorgungseinrichtungen. Außerdem
Besonderer Einfluss der taktischen Lage kann es auch durch schwieriges Gelände, schlechte
5 Gute medizinische Versorgung kann eine oder zerstörte Infrastruktur, eingeschränkte Ver-
schlechte taktische Entscheidung sein. fügbarkeit von Lufttransportmitteln (Nachtflug-
5 Eine schlechte taktische Entscheidung kann fähigkeit? Schutzkomponente für medizinische
mehr Verluste und/oder das Fehlschlagen Hubschrauber verfügbar? etc.) sowie anhaltende,
der Mission zur Folge haben. feindliche Bedrohung zu deutlich verlängerten
5 Bei militärischen Operationen liegt meist Transportzeiten und auch dadurch zu einer ver-
nicht nur ein medizinisches, sondern auch zögerten Anschlussversorgung kommen.
ein taktisches Problem vor, wenn es Ver- Die Wahrscheinlichkeit, dass die Helfer bei
wundete gibt. einem militärischen oder polizeilichen Einsatz mit
5 Sowohl für den Verwundeten als auch für einer größeren Anzahl von Verwundeten konfron-
den Auftrag muss das bestmögliche Ergeb- tiert werden, ist leider wesentlich höher als im »Ret-
nis erreicht werden. tungsdienstalltag«. Die Ressourcen an qualifizier-
tem Personal sind per se vor Ort verhältnismäßig
klein, sodass schon geringe Zahlen von Verwunde-
8 (Nach Frank Butler)
ten einen MASCAL (»Mass casualty«) bedingen
können. Zusätzlich werden die materiellen Ressour-
Zusätzliche Erschwernisse oder Limitierungen für cen schneller erschöpft sein, da einerseits die Trans-
die medizinische Versorgung auf dem Gefechtsfeld port- bzw. Tragekapazität der eingesetzten Mittel
bzw. in Bedrohungslagen sind die weiteren meist und Kräfte begrenzt ist und andererseits in einer
ungünstigen Rahmenbedingungen: militärische taktischen Lage wie einem Gefecht eine Folgever-
Operationen (insbesondere im Bereich von Spezial- sorgung erschwert oder nicht durchführbar ist.
kräften, wo das System des TCCC in den ersten Jah- Umso wichtiger ist es, die materielle Ausstattung zu
ren weiterentwickelt wurde) werden ebenso wie optimieren und sie modular gestaffelt auf alle vor-
polizeiliche Einsätze häufig nachts durchgeführt. handenen Einsatzmittel zu verteilen. Ebenso wird
Bei zusätzlich vorliegender Bedrohung verbietet die Nachalarmierung und Zuführung von Spezialis-
sich die Nutzung von weißem Licht, da es über Kilo- ten (was bereits den Notarzt einschließt) meist nicht
meter als Zielmarkierung für Feindkräfte dienen möglich sein, sondern im Regelfall wird der Trans-
kann. Daraus ergibt sich, dass sowohl die medizini- port zur nächsthöheren Versorgungsebene in der
sche Versorgung mit Nachtsichtgeräten als auch Verantwortung der Erstversorger liegen.
unter einem Poncho, der als Lichtabschirmung Durch all diese Faktoren kommt es zu Modifi-
Verwundeten und Helfer bedeckt, erforderlich kationen und Abweichungen von »zivilen« Behand-
sein kann (sog. »low light techniques«) und daher lungsalgorithmen, auf die nun und in 7 Kap. 9 näher
im Vorfeld eines Einsatzes geübt werden muss eingegangen werden soll. Dabei geht es nicht einmal
(7 Kap. 20). darum, Menschen, die infolge eines Auftrages Ge-
Insbesondere wenn es bei bodengebundenen, sundheit und Leben riskieren, höherwertig zu ver-
nicht fahrzeuggestützten Bewegungen zu Verwun- sorgen. Es ist lediglich das Ziel, trotz der Einschrän-
deten kommt, werden diese nur sehr eingeschränkt kungen durch die Rahmenlage eine Versorgung zu
gegen Umwelteinflüsse geschützt werden können. gewährleisten, die diese Nachteile soweit möglich
Dadurch erhalten Maßnahmen gegen die Hypo- ausgleicht. Dies bedeutet einen erhöhten Aus-
thermie eine noch größere Bedeutung. Unter Um- bildungs- und finanziellen Aufwand.
ständen stehen nur behelfsmäßige Tragemittel zur
Verfügung (7 Kap. 2 und 3). > Taktische Medizin zielt darauf ab, trotz
Weitere Einflussfaktoren sind gerade bei asym- schlechter Bedingungen das bestmögliche
metrischer Kriegsführung (»low intensity con- Ergebnis zu erzielen.
8.2 · Phasen und Zonen der Versorgung
115 8
Die Vorgehensweisen im Bereich TCCC werden
auch auf der Basis einer sorgfältigen Auswertung 5 »Tactical Evacuation Care« (TEC): Ver-
der leider großen Fallzahlen weiterentwickelt, die sorgung während des Transportes nach
insbesondere die US- und die britische Armee vor Besetzen des eigenen oder Aufnahme
allem in Afghanistan und im Irak haben. Sie sind durch ein Fahrzeug oder nach Übergabe
damit zunehmend »evidence-based« und werden des Verwundeten an ein Rettungsmittel.
kontinuierlich durch das CoTCCC unter Gewähr-
leistung des Praxisbezuges angepasst. Auch unter
dem Aspekt, dass die Katastrophenmedizin auf- Die Versorgung im Rahmen der taktischen Ver-
grund steigender Häufigkeit von Terroranschlägen wundetenversorgung erfolgt in Anpassung an die
und Naturkatastrophen eine Renaissance erlebt, taktische Lage in Phasen bzw. Zonen (. Abb. 8.1).
erfolgt die Übernahme von immer mehr Prinzipien Dabei liegt in der CuF-Phase der Schwerpunkt dar-
und Verfahren durch den zivilen Rettungsdienst auf, auf die Bedrohung zu reagieren und sie entwe-
[2]. So ist auch die temporäre Tourniquet-Anwen- der zu beseitigen oder den Verwundeten und sich in
dung z. B. seit kurzem Bestandteil der aktuellen Sicherheit zu bringen. Das kann bedeuten, dass auf
ATLS-Leitlinien und der S3-Leitlinie zur Polytrau- medizinische Maßnahmen vollständig verzichtet
maversorgung [3]. Weitere Beispiele sind der gestie- werden muss oder nur solche durchgeführt werden
gene Stellenwert der permissiven Hypotonie, der können, die bei minimalem Zeitaufwand einen ent-
Einsatz von hämostatischen Substanzen (Hämos- scheidenden – lebenswichtigen – Vorteil für den
typtika) und die Nutzung von intraossären Zugän- Patienten mit sich bringen. Dies wird im Regelfall
gen bei Erwachsenen. Die fundamentale Bedeutung bedeuten, dass nur die Blutstillung mittels Tourni-
der sekundären Hypothermie und die Verfahren quet und evtl. die Atemwegssicherung mit einem
und materiellen Möglichkeiten zu ihrer Verhinde- Wendl-Tubus als Maßnahmen in Frage kommen.
rung werden ebenfalls im militärischen Bereich Dabei darf jedoch nie vergessen werden, dass es
erforscht und die Ergebnisse finden schnelle Ver- auch eine maßgebliche Bedeutung haben kann, den
breitung. vielleicht noch kooperativen Verwundeten selbst zu
Gleichzeitig gibt es Aspekte, die in der zivilen sinnvollen Handlungen anzuleiten. Dies wiederum
Notfallmedizin keinen Stellenwert haben (z. B. die kann die Unterstützung des Feuerkampfes, die
orale Flüssigkeitstherapie) oder die aufgrund der Selbstanlage eines Tourniquet oder z. B. das simple
hohen Dichte von hochqualifiziertem Personal eine Stillen oder Reduzieren einer Blutung am Hals
geringere Bedeutung haben (z. B. die Delegation der durch direkten Druck sein. (»Versuche mit Deiner
Analgesie und die Schaffung einer »Regelkompe- Hand auf diese Stelle zu drücken, so fest Du kannst.
tenz«). Ich werde die Wunde dann gleich verbinden«). In
der Katastrophenmedizin findet diese Phase in der
sog. »heißen Zone« statt. Der Begriff wurde v. a. im
8.2 Phasen und Zonen Zusammenhang mit Gefahrstofflagen geprägt, gilt
der Versorgung aber genauso für polizeiliche Lagen. Schwerpunkt
ist es auch hier, die Gefährdung zu beenden oder ihr
durch schnelle Evakuierung in einen nicht oder
Definitionen weniger gefährdeten Bereich auszuweichen. Das
5 »Care under Fire« (CuF): Versorgung am Ort kann auch einfach bedeuten, ein einsturzgefährde-
der Verwundung noch unter feindlichem tes Gebäude mit dem Patienten schnellstmöglich zu
Feuer oder anderer unmittelbarer Bedro- verlassen oder ausreichend Abstand zwischen sich
hung. und einen Sprengsatz zu bringen.
5 »Tactical Field Care« (TFC): Versorgung in Der erreichte, weniger gefährdete Bereich wie-
der ersten Deckung bzw. nach Verlassen derum ist die sog. »warme Zone«, die der ersten
des unmittelbar gefährdeten Bereiches. Deckung entspricht, und in der dann die TFC-Phase
durchgeführt wird. Hier kann die Versorgung so-
116 Kapitel 8 · Grundlagen TCCC

. Abb. 8.1 Zonen der Versorgung. CuF »Care under Fire« (schnelle Rettung, ggf. Tourniquet); TFC »Tactical Field Care«
(Notfallmaßnahmen in 1. Deckung – treat & go); TEC »Tactical Evacuation Care« (Versorgung beim Transport)

weit fortgesetzt oder überhaupt erst geleistet wer- IED-Lage oder bis zur erfolgreichen Bekämpfung
den, die nötig ist, um akute Lebensbedrohungen von Feindkräften gewartet muss.
abzuwenden und eine Stabilisierung des Patienten Immer kommt der Blutstillung ausschlagge-
zu erreichen. Es handelt sich also mit höchster Pri- bende Bedeutung zu, da im Regelfall erst in einer
orität um die »klassischen Maßnahmen« zur unmit- stationären Versorgungseinrichtung die Gabe von
telbaren Abwendung einer vitalen Bedrohung bei Erythrozytenkonzentraten, Gerinnungsfaktoren
einem Sichtungskategorie-1-Patienten (SK1 bzw. bzw. Vollblut erfolgen kann. Je länger sich die An-
Triage Group 1, T1 oder »immediate«) (7 Kap. 11). schlussversorgung verzögern kann, umso mehr
Wenn in der taktischen Lage ausreichend Zeit zur muss gelten: »Jeder Erythrozyt (und jeder Gerin-
Verfügung steht bzw. kein zeitnaher Transport er- nungsfaktor) zählt.« Wenn also z. B. bereits fest-
folgen kann, werden auch weniger dringende Ver- steht, dass der Transport zur ersten chirurgischen
letzungen versorgt. Neben dem Verletzungsmuster Behandlungseinrichtung mehrere Stunden dauert,
(insbesondere aufgrund schnellstmöglichen Trans- sollte die Indikation zur Tourniquet-Anwendung
portbeginns bei einer inneren Blutung) können also auch auf weniger kritische Blutungen ausgedehnt
z. B. die zwingend notwendige Fortsetzung des Auf- werden, dann jedoch unbedingt die schnellstmögli-
trages, der Feind- oder Zeitdruck sowie die einge- che Umwandlung aller Tourniquets angestrebt wer-
schränkte Verfügbarkeit von Mitteln die Durchfüh- den. (Die genauere Darstellung der Maßnahmen
rung nicht unmittelbar zwingend notwendiger folgt in 7 Kap. 9).
Maßnahmen verhindern. Demgegenüber kann Die TEC-Phase beginnt mit der Übergabe des
reichlich Zeit für eigentlich nicht dringende Maß- Verwundeten an ein Transportmittel bzw. mit der
nahmen (wie die Anlage eines intravenösen Zugan- Einleitung des Transportes. In dieser Phase sollten
ges) zur Verfügung stehen, weil – leider – auf die bei einer sorgfältigen Einsatzplanung und -vorbe-
Evakuierung bis zum Morgen, bis zur Klärung einer reitung weitere Ressourcen zur Verfügung stehen.
8.2 · Phasen und Zonen der Versorgung
117 8
Dies kann von personellen und materiellen Res- ches Material nachgezogen werden können. Wenn
sourcen in Form einer weiteren Materialtasche auf z. B. bei einer Geisellage durch Festnahme der Täter
dem eigenen bodengebundenen, taktischen Ver- bereits vollständige Sicherheit hergestellt werden
bringungsmittel bis zu einem kompletten, bewegli- kann, spricht nichts dagegen, schnellstmöglich ei-
chen Arzttrupp mit Erfahrung im Lufttransport von nen BAT (beweglicher Arzttrupp) oder Rettungs-
Verletzten auf einem Rettungshubschrauberäquiva- dienstkräfte zum Verwundeten zu bringen. Da sie
lent reichen. zudem professionellere Tragemittel mitführen,
Die Notwendigkeit des eigenständigen Trans- kann dies die Evakuierung sogar beschleunigen.
portes durch die erstversorgenden (Einsatz-)Kräfte
Tipp
wird in polizeilichen Lagen oder bei Großscha-
densereignissen deutlich seltener vorliegen. Den-
Entscheidend ist die aus dem ATLS-Konzept
noch ist es z. B. bei einem Zwischenfall im Rahmen
bekannte und bereits bei den »essenziellen
der Überwachung eines Gehöfts in einer abgelege-
Prinzipien« aufgeführte Regel »Mach‘ nicht
nen Gegend durchaus möglich, dass zumindest der
mehr kaputt.« bzw. »Verschwende keine Zeit
Transport zu einem sinnvollen Rendezvous-Punkt
mit nicht wirklich wichtigen Maßnahmen.« An-
mit dem Rettungsdienst durch polizeiliche Kräfte
ders gesagt ist die Frage nicht: »Was kann ich
erfolgen sollte. Dadurch kann die präklinische Ver-
für den Patienten tun?«, sondern »Was sollte
sorgungsdauer u. U. gravierend reduziert werden.
bzw. muss ich jetzt für den Patienten tun?«
Die »kalte Zone« wird in militärischen Lagen
Und im Rahmen der kontinuierlichen
meist erst in einer vorgeschobenen Operationsbasis
Neubewertung der Gefährdungslage immer
oder einem Feldlager erreicht werden, sodass hier
wieder: »Was kann ich tun ohne mich oder ihn
keine unmittelbare Gleichsetzung mit TEC erfolgen
unnötig zu gefährden?«
kann. In Einsätzen, die in einem primär nichtfeind-
lichen (»permissive«) Umfeld stattfinden, kann sie
bereits vor einem Gebäude beginnen oder in ausrei- Die jeweils beste Managementstrategie hängt von
chender Entfernung von einem Sprengsatz erst eini- diesen räumlichen Verhältnissen und dem durch sie
ge Häuserblocks entfernt liegen. Prinzipiell ist sie bedingten Zeitbedarf bis zum Erreichen höher-
sicher genug, um die Bereitstellung von Rettungs- wertiger Versorgungseinrichtungen ab.
dienstmitteln bis hin zum Aufbau von Strukturen Für Verwundete, die aufgrund innerer Blutun-
wie einem Behandlungsplatz zu ermöglichen. Bei gen nicht durch die Erstversorger anhaltend stabi-
polizeilichen oder nichtmilitärischen Ereignissen lisiert werden können, ist die Einleitung eines
wird sie meist in relativer räumlicher Nähe liegen. zügigen Transportes zur ersten chirurgischen Be-
Dies gilt auch bzw. gerade bei einem Massenanfall handlungseinrichtung entscheidend. Auch dort
von Verwundeten, wenn auch dies wiederum durch wiederum werden die Maßnahmen in Anpassung
die mögliche Gefahr eines Sekundäranschlages sei- an die Gesamtlage und die aktuelle Situation des
ne Grenzen findet. Je näher die kalte Zone liegt bzw. Patienten durchgeführt. Eine solche Vorgehensweise
je schneller sie zu erreichen ist, umso mehr müssen wird im Regelfall auf »damage control surgery«
insbesondere zeitraubende Maßnahmen im Rah- (DCS), also die Durchführung der zu diesem Zeit-
men des TFC kritisch auf ihre Notwendigkeit hin- punkt zwingend erforderlichen chirurgischen Maß-
terfragt werden. Dies gilt natürlich nur unter der nahmen hinauslaufen – unter Zurückstellung wei-
Voraussetzung, dass dort tatsächlich Rettungsmit- terer rekonstruktiver Eingriffe. Der entscheidende
tel, Behandlungseinrichtungen oder höher qualifi- Punkt ist also die Dauer bis zum Erreichen einer
ziertes Personal zur Verfügung stehen. Es macht DCS-befähigten Einrichtung. Das weitere Vorgehen
keinen Sinn, mit geringer materieller Ausstattung in ist abhängig von der Art der Verwundung und dem
einer ersten Deckung über die zwingende Stabilisie- Zeitraum, der seit der Verwundung vergangen ist.
rung hinaus zu behandeln, wenn mehr oder qualifi- Wurde z. B. ein Soldat in einem Feldlager durch
ziertere Helfer leicht erreichbar sind. Außerdem Steilfeuer verwundet und liegt unmittelbar vor dem
sollte geprüft werden, ob Spezialisten oder zusätzli- Eingang eines Feldlazarettes, sollte er unter Auf-
118 Kapitel 8 · Grundlagen TCCC

rechterhaltung unmittelbaren Druckes auf die Sinnvollerweise sind die Versorgungsstandards


Wunde lediglich in dieses hineingetragen werden. im zivilen Rettungsdienst an diese Situation ange-
Andererseits muss bei einer möglicherweise mehr- passt, sodass z. B. die möglichst umgehende Stabili-
stündigen Transportzeit versucht werden, die da- sierung der Halswirbelsäule (HWS) eine sehr hohe
durch bedingten Nachteile unter Nutzung aller zur Priorität hat. Auch hier findet diese Priorität jedoch
Verfügung stehenden Mittel bestmöglich zu kom- ihre Grenzen, sobald die Sicherheit der Retter oder
pensieren. Dies kann von der schrittweisen Blut- des Patienten gefährdet ist. Dies kann bereits bei
stillung unter temporärer Tourniquet-Anlage und einem einfachen Verkehrsunfall auf einer nächtli-
Verwendung moderner Hämostyptika bis zur intra- chen Landstraße der Fall sein, wenn noch keine Ab-
venösen Gabe von Antibiotika und Novoseven sperrmaßnahmen eingeleitet werden konnten.
(7 Kap. 3 und 9) reichen. Umso mehr muss die HWS-Immobilisation mit
Der Grundsatz: »Jede Maßnahme ist lageab- dem damit verbundenen Aufwand und Zeitbedarf
hängig« bezieht sich also einerseits auf die geschil- bei einer militärischen Lage mit unmittelbarer Be-
derte Entfernung zu weiteren Versorgungseinrich- drohung vernachlässigt werden. Der mögliche Vor-
tungen, spiegelt aber andererseits auch die weiter teil muss gegenüber der wahrscheinlicheren – er-
oben dargestellte Anpassung an die taktische Lage neuten – Verwundung von Helfer und Betroffenem
wieder. abgewogen werden. Selbst beim klassischen Hoch-
geschwindigkeitstrauma im Rahmen eines Ver-
8 kehrsunfalls profitieren weniger als 3 % der Patien-
8.3 Verletzungen und Todes- ten von der HWS-Immobilisation [6]. (Die 97 %, die
ursachen im Bereich TCCC diese Maßnahme nicht benötigen, haben jedoch
auch keine Nachteile dadurch, sodass sie bei diesem
Neben den bereits dargestellten Unterschieden ist MOI im Zweifelsfall durchgeführt werden sollte.)
auch die Verteilung der Patienten auf Krankheitsbil- Zusätzlich zeigen Studien, dass bei einem penetrie-
der und Verletzungsmuster völlig anders als in der renden Trauma im Halsbereich noch weniger Pati-
zivilen Rettung in einem westeuropäischen Land. enten einen Vorteil durch die Ruhigstellung der
Bei internistischen Krankheitsbildern im Be- HWS hätten. Wenn das Trauma (z. B. Sturz bei »Fast
reich der taktischen Medizin handelt es sich meist rope-Infiltration« oder Anprall am Fahrzeugdach
um Infektionserkrankungen. Dies ist einerseits durch Detonation einer Sprengladung unter dem
durch Wundinfektionen, andererseits durch die Kfz) dies erfordert und die Lage es erlaubt, sollte die
Problematik des gemeinsamen Lebens auf engem Maßnahme jedoch auch im Einsatz unbedingt
Raum und zum Dritten durch die Lage vieler Ein- durchgeführt werden (7 Kap. 9.3).
satzländer im (sub-)tropischen Bereich bedingt [4].
Für weitere Erkrankungen, mit denen die »Tactical
Medics« möglicherweise aufgrund isolierter Einsät- 8.3.1 Verletzungsmuster:
ze konfrontiert werden (z. B. allergische Reaktio- Woran stirbt man?
nen, Verhaltensauffälligkeiten oder Nasenbluten),
gibt es definierte Protokolle [5]. Die überwiegende Welche Maßnahmen in der Versorgung auf dem
Anzahl von Patienten wird jedoch verletzt bzw. ver- Gefechtsfeld die größte Bedeutung haben, wird be-
wundet sein. Bei diesen wiederum wird bei einer reits offensichtlich, wenn man die Todesursachen
Vielzahl von Ereignissen das »ballistische Trauma« bei militärischen Einsätzen aufschlüsselt (. Abb. 8.2)
mit penetrierenden Verletzungen überwiegen. Im [7]. Dies wird von den US-Streitkräften seit dem
Gegensatz dazu ist der Unfallmechanismus bei Ret- Vietnamkrieg getan und das entstandene Trauma-
tungsdiensteinsätzen in Deutschland in 95 % der register unter unterschiedlichsten Gesichtspunkten
Fälle das stumpfe Trauma. Die Unfallursache in na- ausgewertet. Die relative Verteilung der Todesursa-
hezu 60 % dieser Fälle sind Verkehrsunfälle, etwa je chen hat sich in den Konflikten seither nicht we-
15 % entfallen auf Stürze bis und über 3 m Höhe sentlich geändert und würde bei einem analogen
(DGU-Traumaregister 2008). Ereignis im zivilen Umfeld, also z. B. bei einem Ter-
8.3 · Verletzungen und Todesursachen im Bereich TCCC
119 8

. Abb. 8.2 Todesursachen auf dem Gefechtsfeld und Anteil der einfach verhinderbaren Todesfälle (DOW »died of wounds«)

roranschlag mit konventionellem Sprengstoff, ähn- nen mit einer 10 s dauernden Maßnahme gerettet
lich ausfallen: Mehr als die Hälfte der Verwundeten, werden. Die zweithäufigste, verhinderbare Todes-
die versterben, hat so schwere Verletzungen an Kopf ursache bei dieser Ausgangssituation ist die Ent-
und Rumpf, dass sie auch durch unmittelbare wicklung eines Spannungspneumothorax. Des-
chirurgische Maßnahmen nicht gerettet werden halb hat die Behandlung dieser im Zivilen seltenen
könnten. Ein Teil hätte zwar durch eine sofortige Problematik im Bereich der taktischen Verwunde-
operative Versorgung gerettet werden können, diese tenversorgung einen so hohen Stellenwert. Außer-
wurde aber im erforderlichen Zeitfenster nicht er- dem muss die Maßnahme »feldtauglich«, also
reicht. Hier könnte schnellerer Transport, aber v. a. schnell und mit einem vergleichsweise geringen
ein engeres Netz von Transportmitteln und Versor- Ausbildungsaufwand durchführbar sein. Dies
gungseinrichtungen einen Unterschied machen. spricht gegen eine Thoraxdrainage und führt zur
Die Patienten, die erst verzögert v. a. an Wund- Favorisierung der natürlich nicht definitiven Maß-
infektionen oder Multiorganversagen versterben, nahme der Entlastungspunktion zu einem mögli-
werden unter dem Begriff »died of wounds« (DOW) cherweise frühen Zeitpunkt (Näheres 7 Kap. 9.3).
erfasst. Bei diesen Patienten könnte insbesondere Weitere knapp 10 % dieser präklinisch verhinder-
bei langer Transportzeit die frühzeitige und im Ide- baren Todesursachen liegen in der Verlegung der
alfall auch intravenöse Gabe von Antibiotika diesen Atemwege begründet. Es betrifft also nur 1,5 %
Verlauf verhindern (7 Kap. 9.3). aller Verwundeten, aber erneut kann der Tod mit
Tragisch ist es, wenn ein Verwundeter an einem einfachsten Mitteln verhindert werden: als erste
Problem verstirbt, das leicht hätte behoben werden »probatorische« Maßnahme kann nach der Mund-
können. Daher muss in der frühzeitigen, präklini- raumkontrolle der Esmarch-Handgriff angewendet,
schen Versorgung der Schwerpunkt auf den 15 % ggf. der Kopf überstreckt werden. Diese Maßnahme
der Verwundeten liegen, die an einfach verhinder- würde den Helfer jedoch anhaltend binden. Die ein-
baren Todesursachen versterben. Bei diesen steht zige einfache Möglichkeit die Atemwegsverlegung
mit zwei Dritteln (dieser 15 %) das Verbluten an durch Flüssigkeiten anhaltend zu beseitigen, besteht
Extremitätenwunden im Vordergrund, was die Be- in der stabilen Seitenlage. Diese wird daher bei einer
deutung des Tourniquets für TCCC und TEMS er- größeren Anzahl von Verwundeten (7 Kap. 15)
klärt. Das heißt bis zu 10 % aller Verwundeten kön- ebenso wie bei Patienten, die nicht durchgängig be-
120 Kapitel 8 · Grundlagen TCCC

8 . Abb. 8.3 Mortalitätskurve bei penetrierendem Trauma a Verlauf ohne Behandlung, b bei vollständiger Versorgung nach
TCCC-Prinzipien

obachtet werden können, die beste Option sein. Ein bei unmittelbarer chirurgischer Intervention,
Transport in stabiler Seitenlage wird in einer takti- innerhalb der ersten Minuten sterben werden.
schen Lage jedoch im Regelfall nicht realisierbar Wichtige Botschaft in diesen Fällen: Das Versterben
sein. Aus diesem Grunde sind Wendl- oder Guedel- des Patienten liegt nicht am Versagen der Helfer!
Tubus Mittel der Wahl, wobei ersterer wegen der Allerdings sollten »Tactical Medics« ebenso wie das
geringeren Gefahr Erbrechen auszulösen und auf- Rettungsdienstpersonal im Rahmen der Möglich-
grund der »stabileren Lage« bevorzugt werden soll- keiten darauf vorbereitet werden.
te (ausführlicher 7 Kap. 9.2). > 5 Es gibt Verwundete, die sterben werden,
egal was Du für sie tust,
5 es gibt Verwundete, die überleben
8.3.2 »Die-off curve«: werden, egal was Du tust und
Wann stirbt man? 5 es gibt Verwundete, die nur sterben
werden, wenn Du jetzt nichts für sie tust!
Gemäß dem Prinzip »Behandle zuerst, was zuerst
tötet« können die oben angeführten Maßnahmen Manche Merksätze könnten leicht als »zu heroisch«
nur dann das Überleben eines möglichst hohen An- missverstanden werden, aber sie bringen die Prob-
teils von Verwundeten erzielen, wenn sie in der lematik auf den Punkt und prägen sich gut ein. Da-
richtigen Reihenfolge bzw. mit der richtigen Priori- mit können sie auch in einer Stresssituation erinnert
tät zum richtigen Zeitpunkt durchgeführt werden. werden und sollten dann dazu führen, dass nicht die
Hierfür ist die Betrachtung der Sterblichkeit durch Verzweiflung über Dinge, die vom Erstversorger
die verschiedenen Todesursachen im zeitlichen nicht geändert werden können, das Handeln be-
Verlauf an der Mortalitätskurve für penetrierende stimmt, sondern das zielgerichtete Arbeiten nach
Verletzungen hilfreich (. Abb. 8.3). einem erlernten und trainierten Algorithmus be-
Wenn man die Gesamtheit der Verwundeten ginnt, um rettbare Kameraden tatsächlich zu retten.
betrachtet, wird ein Teil so schwere Verletzungen Lediglich durch die Verbesserung der persönli-
aufweisen, dass sie bei bester Versorgung, also selbst chen Schutzausstattung (»personal protective
8.4 · Vorgehensweise: SICK
121 8
equipment«, PPE) konnte dieser Anteil in den letz- Atemwegsverlegungen innerhalb weniger Minuten
ten Jahrzehnten geringfügig verringert werden. Der zum Tod. Daher müssen sie (»A-Probleme«) trotz
einzige Weg, um diesen Anteil weiter zu reduzieren, ihrer relativ geringeren Häufigkeit (7 Kap. 8.3) vor-
liegt in der Anpassung der militärischen Taktik an dringlich behandelt werden.
die Bedrohungslage und damit z. B. an die verwen- Innerhalb der ersten 6 h ab der Verwundung
deten Sprengsätze und ihre beabsichtigte Wirkung. können weitere 10 % an zunehmenden Atmungs-
Im Mittelpunkt stehen hierbei Abstand und Panze- problemen (»B-Problemen«) versterben, wobei, wie
rung. Da in diesem Fall jedoch »beide Seiten« ihre bereits dargestellt, der Spannungspneumothorax im
Verfahren weiterentwickeln, ist der Erfolg dieser Vordergrund stehen wird.
Maßnahmen begrenzt. Außerdem sind die Folgen eines prolongierten
Innerhalb der ersten Stunde würden weitere Schocks in diesem und den folgenden Intervallen
10–15 % der Verwundeten versterben: im Vorder- für weitere Todesfälle verantwortlich. Gemeinsam
grund stehen, wie oben dargestellt, Blutungen im mit dem resultierenden Multiorganversagen sowie
Halsbereich und an den Extremitäten sowie Atem- Infektionen liegen hier die Hauptursachen für die
wegsverlegungen. Dies wird häufig mit dem Kon- verzögerten Todesfälle im späteren Verlauf nach
zept der »golden hour« beschrieben, das von einer Verwundung.
Dr. R. Adams Cowley entwickelt wurde. Ebenso wie Daraus ergeben sich auch zwingende Schluss-
die »platinum ten minutes«, sozusagen dem Nach- folgerungen für die Konzeption und Planung:
folgemodell, handelt es sich um ein wertvolles Kon- Wenn klar ist, welche Maßnahmen zu welchem
zept, um zu verdeutlichen, dass eine möglichst früh- Zeitpunkt durchgeführt werden müssen, folgt dar-
zeitige Intervention ausschlaggebend ist, um das aus auch, welche Fähigkeiten den Verwundeten in
Leben eines Verwundeten zu retten bzw. sein Be- welchem Zeitfenster erreichen müssen. In den ers-
handlungsergebnis zu verbessern. Beide Begriffe ten Minuten ist die Selbst- und Kameradenhilfe mit
sind jedoch nicht wissenschaftlich belegt und selbst dem Schwerpunkt effektiver und lageangepasster
in Cowley’s Nachlass wurden keinerlei Unterlagen Blutstillung sowie das Freimachen und -halten der
gefunden, die eine wissenschaftliche Evidenz be- Atemwege entscheidend. Wenn ein Verwundeter
legen könnten. Unter Vergegenwärtigung des Blut- nach 30 min an seinem Spannungspneumothorax
volumens des Menschen (ca. 1/13 des Körperge- versterben würde, muss er bzw. ihn bis dahin je-
wichts) und seines Herzminutenvolumens (bereits mand erreichen, der in der Durchführung einer
in Ruhe beim Erwachsenen 4,5–5 l) wird schnell Entlastungspunktion ausgebildet ist. Dann kom-
klar, dass eine stark blutende Wunde so schnell wie men zunehmend erweiterte Fähigkeiten zur Stabili-
möglich und unbedingt innerhalb der ersten Minu- sierung des Verwundeten zum Tragen, die ins-
ten versorgt werden muss (7 Kap. 9.3) [8, 9]. besondere die Medikamentengabe und Volumen-
> »Das Schicksal des Verwundeten liegt in
therapie, das erweiterte Atemwegsmanagement so-
den Händen dessen, der den ersten Ver-
wie Thoraxdrainage und Sauerstoffgabe umfassen.
band anlegt.«
In der Folge ist dann die chirurgische Intervention
entscheidend.
Dies kommt auch in der von PHTLS gerne zitierten
Stellungnahme von Nicholas Senn (1844–1908)
zum Ausdruck: »The fate of the wounded rests in 8.4 Vorgehensweise: SICK
the hand of the one who applies the first dres-
sing« (1898). Senn war u. a. Gründer der Vereini- Herangehensweise/erste Schritte an der Einsatzstelle: SICK
gung der Militärärzte der USA und wiederum Fan S »Scene Safety/Security« – Sicherheit o Überblick
von Friedrich von Esmarch (1823–1908) [10] und (10-for-10/Ruhe bewahren)
I Impression/orientierender Blick/Erster Eindruck/
dessen Buch von 1869 »Der Erste Verband auf dem
Bewusstseinslage (AVPU)
Schlachtfelde« [11]. C »Critical Bleeding«
Da das Gehirn nur einen kurzfristigen Sauer- K »Kinematics/Mechanism of Injury« (MOI) – Kinematik/
stoffmangel erträgt (»Ischämietoleranz«), führen Unfallhergang (HWS)
122 Kapitel 8 · Grundlagen TCCC

8.4.1 S – Sicherheit und Lagefest- device«) auslösen würde; das kurze Erinnern unter
stellung (»scene assessment«) dem Aspekt »situational awareness« (ist irgend et-
was ungewöhnlich oder anders als sonst?) führt erst
In der Annäherung an eine Einsatzstelle bzw. einen zu der Wahrnehmung, dass auffallend wenig Perso-
Schadensort ist es entscheidend, einen Überblick nen auf der Straße sind oder ein seltsamer Geruch in
über die Lage zu gewinnen. Dabei liegt der Schwer- der Luft liegt; der Patient berührt noch die strom-
punkt auf der Sicherheit: Der kritische Punkt ist das führende Leitung, die bereits zu seinem Problem
Erkennen aller Bedrohungen, Schadensursachen geführt hat und jetzt den Helfer gefährdet – die Liste
und -folgen (wie z. B. instabile Infrastrukturen oder der Beispiele kann jeder Leser aus seinem eigenen
austretende Gase nach einer Explosion). Militärisch Erfahrungsschatz ergänzen. Viele Wahrnehmungen
steht natürlich die Reaktion auf Feindkräfte im Vor- lassen sich nicht genau beschreiben, sondern sind
dergrund. Eine weitere Besonderheit kann bei takti- das berühmte »Bauchgefühl«, die Intuition. Der
schen Lagen darin bestehen, dass gar nicht versucht Punkt ist jedoch: man braucht auch ein paar Sekun-
wird, die Sicherheit der gesamten Einsatzstelle herzu- den, um dieses potenziell lebensrettende Gefühl
stellen. Oftmals kann diese in nicht vollständig kon- wahrzunehmen. Die weniger moderne Beschrei-
trolliertem Gebiet auch gar nicht erreicht werden. bung dieses Vorgehens lautet: »Fühle zuerst Deinen
Auftragsabhängig oder aus Zeitgründen muss die eigenen Puls«. Besonders wichtig ist dieses kurze
Sicherheit eines Teilbereiches oder eine sich selbst Innehalten, wenn man als Team arbeitet oder wenn
8 sichernde bewegliche Gruppe u. U. erst einmal aus- mehrere Helfer eintreffen: die zeitliche Investition,
reichen, um innerhalb einer gefährdeten Zone vorzu- die erforderlich ist, um eine schnelle Aufgabenver-
gehen. Auf diese Weise kann auch die medizinische teilung vorzunehmen, wird den Patienten nicht tö-
Versorgung in diesen Bereich transportiert werden, ten, ermöglicht aber erst die Nutzung aller Ressour-
was jedoch einen hohen taktischen Ausbildungs- cen (»Crew Ressource Management«). Wenn es sich
stand der dort eingesetzten Kräfte erfordert. Ziel ist um ein größeres Ereignis, z. B. einen Massenanfall
die Rettung des Verwundeten und unmittelbares von Verwundeten (MANV) oder MASCAL, han-
Ausweichen. Bei einer Amoklage wiederum bewegt delt, ist jetzt der Zeitpunkt, Einsatzbereiche festzule-
sich je nach Einsatzkonzept u. U. (auch) ein Ret- gen. Da dies den organisatorischen Aufwand erhöht
tungsteam im Objekt, das sich selbst beim Vorgehen und Kräfte und Mittel teilt, muss diese Maßnahme
und der Versorgung sichert und primär ebenfalls ver- sorgfältig abgewogen werden. Allerdings kann sie
suchen wird, mit dem Verletzten den gefährdeten bereits aufgrund verschiedener Evakuierungsrouten
Bereich schnellstmöglich zu verlassen (7 Kap. 32). oder wenn sich mehrere Verwundetennester bzw.
> Unbedingt notwendig ist es, beim Vorgehen
Patientenablagen bilden, erforderlich sein. Beispiele
die Balance zwischen zügiger Lagefeststel-
für eine solche Situation sind: zwei Eindringstellen
lung und -beurteilung und der Vermeidung
ohne Verbindung innerhalb des Objekts, zwei be-
von überstürztem Handeln und Detailfokus-
troffene Fahrzeuge in einem Konvoi oder wenn
sierung zu halten.
Trümmer eines Gebäudes nach einem Anschlag
zwei Annäherungsrichtungen notwendig machen.
Aus Untersuchungen zu Fehlerursachen bei team- > Je ungünstiger das Kräfteverhältnis Helfer zu
orientierter Patientenversorgung wurde das Prinzip Verwundeten ist, um so frühzeitiger muss
»10 s für 10 min« entwickelt [12]. Die Kernaussage eine Lagemeldung bzw. der Notruf mit der
dabei ist, dass ein kurzer Moment der Orientierung gezielten Nachforderung von Kräften abge-
erforderlich ist, um alle Fakten zu erfassen, ggf. In- setzt werden.
formationen aus dem Team oder von anderen Be-
teiligten zusammenzutragen und alle wichtigen As- Weitere Aspekte der Annäherung bei größeren Er-
pekte eines Problems wahrzunehmen. Auf dieser eignissen werden in 7 Kap. 11 behandelt.
Basis kann dann »10 min« zielgerichtet vorgegangen Grundlegende Aspekte der Sicherheit, auch im
werden: das sorgfältige Hinsehen lässt den Draht Rettungsdienst, betreffen die persönliche Schutz-
erkennen, der die zweite IED (»improvise explosive ausstattung. Bei militärischen Lagen sind sie teil-
8.4 · Vorgehensweise: SICK
123 8
weise noch schwieriger umzusetzen (z. B. ist bei Die Feststellung des Bewusstseinszustandes
Handschuhen der Interessenkonflikt zwischen er- (»level of consciousness«, LOC) erfolgt mit der
forderlichem mechanischen Schutz und erhaltenem orientierenden Untersuchung nach dem AVPU-
Gefühl noch höher), haben aber eine noch größere Schema (»Alert – Verbal response – Pain – Unres-
Bedeutung (z. B. Schutzbrillen nicht nur als Spritz-, ponsive«, 7 Kap. 9.3).
sondern auch als ballistischer Schutz).
<C> – Critical Bleeding
Parallel dazu wird nach offensichtlichen Blutungen
8.4.2 Versorgung des Verletzten geschaut. Starke Extremitätenblutungen werden
lageabhängig umgehend mit einer Tourniquet ver-
I – Impression (erster Eindruck) sorgt (7 Kap. 9.2). Welche Intensität eine Blutung
Der erste Eindruck, den man von der Gesamtlage für diese Bewertung haben muss (und ob man sie
hat, mündet in einer zunehmend präziseren Lage- kritisch, massiv oder lebensbedrohlich nennt),
beurteilung. Das gleiche Prinzip setzt sich in hängt von der Lage, der persönlichen Erfahrung
der Arbeit am Patienten fort: Erster Eindruck und und der Routine im Umgang mit einer Tourniquet
Orientierung sind für die Behandlung des Patienten ab. Im Zweifelsfall sollte sie als temporäres Mittel
entscheidend. Impression, persönlicher subjektiver großzügig genutzt werden.
Eindruck und Intuition sowie ein standardisiertes
Vorgehen nach einem Algorithmus helfen auch, K – Kinematik
wichtige Nebenbefunde wahrzunehmen, das kurze Im nächsten Schritt muss der Unfallmechanismus
»feel your own pulse first« verhindert, sich »auf die (»mechanism of injury«, MOI; Kinematik) beurteilt
offensichtlichste Verletzung zu stürzen«. werden. Dies ist u. U. schon ein »Nebenergebnis«
> Die erste Untersuchung und Behandlung des
der Lagebeurteilung. Wenn es sich um Verwundun-
Patienten verfolgt zwei Ziele: die schnelle
gen infolge einer Explosion handelt, ist bereits klar,
Identifikation kritischer Patienten (und dar-
dass man abhängig von Energie und Entfernung das
aus folgend zügiger Transportbeginn, wenn
volle Spektrum der Explosionsverletzungen erwar-
es die Lage erlaubt) sowie die vorrangige
ten sollte. Handelt es sich um eine Schussverletzung,
Behandlung lebensbedrohlicher Probleme.
sind besondere Merkmale der Wundballistik zu be-
achten (7 Kap. 12 und 13). Die Einsatzstelle muss
Mit dieser Grundüberlegung erübrigt sich auch die unter dem Aspekt begutachtet werden, welche Be-
Diskussion über den idealen Umfang der Maßnah- wegungen der Verwundete vollzogen hat und insbe-
men vor Ort. Es geht nicht darum, ob »scoop and sondere welche Kräfte auf ihn gewirkt haben. Dafür
run« oder »stay and play« geeignetere Prinzipien wird der Begriff Kinematik verwendet [13]. Primä-
sind, sondern darum welches Vorgehen für den res Ziel ist es, Anhaltspunkte für die Wahrschein-
jeweiligen Patienten geeigneter ist. In jedem Fall ist lichkeit des Vorliegens bestimmter Verletzungen zu
die möglichst kurze Aufenthaltsdauer vor Ort (»li- sammeln, um daraus Schlussfolgerungen für die
mited scene intervention«) anzustreben. Dennoch Behandlung zu ziehen. Faktoren, die für eine Verlet-
sollte dies bei einer inneren Blutung tatsächlich auf zung der HWS und des Beckens sprechen, haben in
»scoop and run« (und die Durchführung der Maß- diesem Zusammenhang die größte Relevanz, wie in
nahmen während des Transportes) hinauslaufen. 7 Kap. 9.3 eingehend thematisiert wird.
Demgegenüber kann die beste Versorgung z. B. im
Falle einer komplizierten Fraktur des Unterschen- Weitere Versorgung nach ABCDE-Schema
kels ohne jegliche Bedrohung die möglichst scho- Das »ABC-Schema« basiert auf dem leicht zu
nende Reposition nach Erreichen ausreichender merkenden, in immerhin knapp zwei Dritteln der
Analgesie und sorgfältige Schienung (und damit Welt verwendeten lateinischen Alphabet. Eine
mehr oder weniger »stay and play«) sein. In vielen Schwierigkeit beim Erinnern und Abarbeiten ist je-
Fällen wird der »goldene Mittelweg« »treat and go« doch, dass auch die Feststellung des Bewusst-
ideal sein. seinszustandes sowie der Schutz der HWS »A« zu-
124 Kapitel 8 · Grundlagen TCCC

. Tab. 8.1 Vorgehensweise, Schemata und Merkhilfen zur (weiteren) Versorgung des Verletzten

Maßnahme <C>ABCDE MARCH

Stillen starker Blutungen <C> ritical Bleeding M assive Bleeding

Freimachen bzw. Freihalten der Atemwege A irway A irway

Sicherstellung einer ausreichenden Atmung und Atem- B reathing R espiration


mechanik (Brustkorb)

Kreislaufmanagement C irculation C irculation

Kontrolle von neurologischen Problemen/Defiziten D isability H ead

Vollständige Untersuchung (Entkleidung) und Schutz E xposure and and Hypothermia


vor Umwelteinflüssen (z. B. Wärmeerhalt) Environment

geordnet werden und die Sicherheit als Grundvor- zunehmend Verwendung. Die Bedeutung ist de-
aussetzung »nebenbei erwähnt« wird. Um diese ckungsgleich mit <C>ABCDE.
8 grundlegenden Feststellungen und Maßnahmen zu Beide Merkworte sind gut anwendbar.
strukturieren und die kritische Blutung »rechtzeitig <C>ABCDE ist allerdings zum PHTLS/ATLS-Sys-
zu stillen«, wurde »SICK« entwickelt. tem »vollständig kompatibel«. Verständigungspro-
Das weitere Vorgehen nach ABCDE garantiert, bleme, z. B. im Rahmen der Übergabe im Schock-
dass die neben »<C>« lebensbedrohlichsten Pro- raum (»Der Patient hat ein B-Problem«), sind im
bleme in der richtigen Reihenfolge angegangen wer- Gegensatz zu MARCH damit ausgeschlossen.
den (. Tab. 8.1). Im Detail wird dies im folgenden Die entscheidenden Grundsätze bei der Versor-
Kapitel dargestellt. gung unabhängig vom verwendeten Schema noch
Wie in 7 Abschn. 8.3 dargestellt, müssen mit einmal zusammengefasst:
höchster Priorität diejenigen medizinischen Pro-
»Feel your own pulse first« Fühle den eigenen Puls zuerst
bleme des Verwundeten behandelt werden, die am
»Treat first what kills first«
Behandle zuerst, was zuerst
schnellsten zum Tode führen würden. Massive tötet
Blutungen können innerhalb weniger Minuten zum »Every Erythrocyte counts« Jeder Erythrozyt zählt
Verbluten führen und einmal verlorene Erythrozy- »Identify critical patients« Identifiziere kritische
ten und Gerinnungsfaktoren sind auf dem Ge- Patienten
»Do no further harm« Mach‘ nicht mehr kaputt/
fechtsfeld meist über lange Zeit nicht ersetzbar. Auf
Vermeide Unnötiges
die Kontrolle von starken Blutungen wird daher bei
der taktischen Verwundetenversorgung im Gegen- Die englischen Begriffe und Merkhilfen werden
satz zum zivilen ATLS/PHTLS eine höhere Priorität bewusst verwendet, da auch im Einsatz zunehmend
gelegt, so dass das ABCDE-Schema in jedem Fall im Verbund mit anderen Nationen gearbeitet wird
ergänzt werden muss. Eine andere Möglichkeit der und sie aufgrund der Verbreitung anderer inter-
Darstellung, die unter anderem beim Battlefield Ad- nationaler, präklinischer Versorgungssysteme –
vanced Trauma Life Support (BATLS) eingeführt PHTLS, ITLS (»International Trauma Life
wurde, stellt für »catastrophic hemorrhage« (katas- Support«), ETC (»European Trauma Course«) –
trophale Blutung) ein <C> in eckigen Klammern einen hohen Wiedererkennungswert haben. Außer-
voran [14]. dem treffen die Formulierungen die Kernaussage
Das Merkwort MARCH findet im amerikani- oft präziser, als die deutsche Übersetzung es ver-
schen und neuerdings auch europäischen Raum mag.
Literatur
125 8
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127 9

Leitlinien zur
Verwundetenversorgung
C. Neitzel, K. Ladehof, F. Josse

9.1 Lagebeurteilung – 128

9.2 Care under fire – 128


9.2.1 Retten – 128
9.2.2 Kontrolle lebensbedrohlicher Extremitätenblutungen – 129
9.2.3 Atemwegsmanagement – 134

9.3 »Tactical Field Care« – 134


9.3.1 Körperliche Untersuchung – 135
9.3.2 Atemwegsmanagement und HWS-Immobilisierung – 136
9.3.3 Brustkorb und Atmung – 147
9.3.4 »Circulation« – 156
9.3.5 Disability – 183
9.3.6 Exposure and environment – 188

9.4 Tactical Evacuation Care – 196


9.4.1 Atemwegsmanagement – 200
9.4.2 Brustkorb und Atmung – 200
9.4.3 Blutungskontrolle – 201
9.4.4 Infusionstherapie – 202
9.4.5 Hypothermieprophylaxe – 202
9.4.6 Überwachung – 202

9.5 Prolonged Field Care – 203


9.5.1 Atemwegsmanagement – 203
9.5.2 Brustkorb und Atmung – 203
9.5.3 Circulation – 204
9.5.4 Merkwort STAUSEE – 204
9.5.5 Warmblutspende – 209

Literatur – 210

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
128 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

9.1 Lagebeurteilung ständig in der Lage, kriechend eine Deckung zu er-


reichen, eine Blutstillung mittels Tourniquet durch-
Taktische Verwundetenversorgung beginnt mit der zuführen und weiter den Feuerkampf zu führen,
Feststellung und Beurteilung der Lage. Ist eine sollten sie dazu aufgefordert werden. Sind Verwun-
weitere Gefährdung für Verwundete und Helfer dete bewusstlos, ist von einer schweren Verwun-
ausgeschlossen, kann eine umfangreichere Versor- dung mit entsprechender Prognose auszugehen.
gung mit medizinischem Schwerpunkt unmittelbar Die Gefährdung von Helfern bei der Rettung aus
erfolgen. Stehen Patienten dagegen weiter unter Be- der Schusslinie wird daher meist nicht gerechtfer-
schuss und müssen sich andere Soldaten bei der tigt sein. Ist ein Verwundeter ohne Deckung noch
Rettung selber hochgradig gefährden, dominieren bei Bewusstsein, muss ein Rettungsversuch gut ab-
militärische Aspekte: das Vorgehen orientiert sich gewogen werden. Liegt der Verwundete in einem
an den Richtlinien der Phase »Care under Fire«. Bereich, der vom Gegner mit Feuer effektiv über-
Einzelheiten zur Lagefeststellung und -beurteilung wacht werden kann (»kill zone«, »X«), oder ist von
wurden in 7 Kap. 8 dargestellt. der Anwesenheit von IED, Schützenabwehrminen
Die Leitlinien der TREMA e.V. sind als Abbil- o. ä. auszugehen, resultiert ein Rettungsversuch
dungen in den Text eingegliedert. Sie lassen sich meist lediglich in weiteren Verwundeten und sollte
zusammenhängend ebenso wie die jeweils aktuellen zunächst unterlassen werden. Hier ist die Priorität
Versionen von Taschen- (. Abb. 9.7) und Verletzten- auf das Zurückgewinnen der Kontrolle über die
anhängekarte (. Abb. 9.57) im Downloadbereich taktische Lage zu legen.
des Internetauftrittes des Vereins herunterladen: > Auf dem Gefechtsfeld ist Feuerüberlegenheit
9 www.tremaonline.info. die beste Medizin!

9.2 Care under fire (. Abb. 9.1) 9.2.1 Retten

Die Phase »Care under Fire« (Versorgung unter Be- Wird ein Rettungsversuch unternommen, muss vor
schuss, CuF) ist gekennzeichnet durch eine hohe Be- dem Verlassen der Deckung jedem Beteiligten das
drohung. Bei Gefechten handelt es sich dabei meist Vorgehen klar sein. Auch der Verwundete sollte per
um direkten oder indirekten Beschuss ohne ausrei- Zuruf, Funk o. ä. informiert werden. Nicht unmit-
chende Deckung. Aber auch ungesicherte IED-La- telbar an der Rettung beteiligte Elemente sollten
gen, Brände oder Absturzgefahr können schnelles, diese mittels Deckungsfeuer unterstützen (»keine
zielgerichtetes Handeln mit kalkuliertem Risiko zur Bewegung ohne Feuer«). Die Koordination liegt da-
Vermeidung weiterer Ausfälle notwendig machen. bei in den Händen des taktischen Führers vor Ort.
Befindet sich die betroffene Einheit unter effek-
Rettung von Verwundeten
tivem gegnerischem Feuer, rücken die medizini-
schen Maßnahmen in den Hintergrund. Priorität
Verschiedene Techniken zur Rettung aus
hat das Führen des Gefechts, um die eigenen Mög-
dem Gefahrenbereich sowie behelfsmäßige
lichkeiten des Handelns zu erweitern. Zumindest
und industriell gefertigte Rettungsmittel
muss das gegnerische Feuer soweit unterdrückt
werden ausführlich in 7 Kap. 5 beschrieben.
werden, dass die Rettung und Versorgung Ver-
wundeter möglich wird. Insbesondere bei kleineren
Einheiten kann jede verfügbare Waffe für den Aus- Eine Immobilisierung von Wirbelsäule oder Extre-
gang des Gefechts entscheidend sein, sodass auch mitäten hat in der Phase »Care under Fire« keinen
die Feuerkraft der Sanitäter im Rahmen der Selbst- Stellenwert. Sie dauert zu lange und setzt den Ver-
verteidigung wichtig ist. wundeten ebenso wie die Helfer weiter dem gegne-
Nach Möglichkeit sollte es vermieden werden, rischen Feuer aus. Der zu erwartende Nutzen steht
weitere Soldaten durch die Versorgung und Rettung damit im Regelfall in keiner Relation zum Risiko
von Verwundeten zu gefährden. Sind diese selbst- (7 Kap. 8.2 und 7 Abschn. 9.3.2).
9.2 · Care under fire
129 9

»Care Under Fire«


(Erstversorgung unter feindlichem Feuer, im Bereich direkter Gefahr,
am Anschlagsort, außerhalb einer Deckung)

. Abb. 9.1 Leitlinie »Care under Fire«

9.2.2 Kontrolle lebensbedrohlicher Schutzwesten treten dabei insbesondere Extremitä-


Extremitätenblutungen tenblutungen in den Vordergrund [1]. Sie lassen
sich schnell und effektiv mit der Anlage von Tour-
Die mit Abstand häufigste vermeidbare Todesur- niquets beherrschen. Ihr Einsatz kann daher in der
sache auf dem Gefechtsfeld ist der Tod durch Ver- Phase »Care under Fire« im Gegensatz zu allen an-
bluten [1]. Da man durch die Verletzung großer deren medizinischen Maßnahmen sinnvoll sein.
Blutgefäße schneller verbluten als durch Atemwegs- Die Kontrolle von starken Blutungen am Körper-
verlegungen sterben kann und hohen Blutverlusten stamm ist meist aufwändiger und muss daher zu
bei den häufig langen Evakuierungszeiten eine diesem Zeitpunkt wahrscheinlich zurückgestellt
deutlich größere Bedeutung beigemessen werden werden. In vielen Situationen lässt sich durch direk-
muss, werden massive Blutungen mit oberster Prio- ten Druck auf die Blutungsquelle eine ausreichende
rität versorgt [59]. Seit der verstärkten Nutzung von Blutstillung bewirken, um eine Deckung erreichen
130 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

zu können. Bleibt der Retter in dieser Phase statisch,


z. B. weil er das Feuer erwidern muss, kann die Aus- Algorithmus: Anlage Tourniquet1
übung von Druck mit einem Knie sinnvoll sein.
Dies ist auch im Bereich der zuführenden Gefäße
möglich, z. B. in der Leistenregion bei Blutungen im Phase »Care Under Fire«
Bereich des Beines. Der Einsatz von Hämostyptika
bindet Helfer und Verwundete für mehrere Minuten
im Bereich des gegnerischen Feuers und ist daher im Tourniquet proximal der Wunde anlegen.
Regelfall nicht sinnvoll. Grundsätzlich sollten in die- Oberschenkel/Oberarm – über der Bekleidung
ser Phase nur lebensbedrohliche Blutungen behan-
delt werden.
Blutung kontrollieren:
Zudrehen des Tourniquet bis Blutung steht,
Tourniquets (. Abb. 9.2) ggf. zweites Tourniquet anlegen
Als oberstes Ziel bei der Versorgung von Verwun-
deten gilt, jeglichen vermeidbaren Blutverlust zu
verhindern. Für die initiale Kontrolle von Extremi- Zeitpunkt merken
tätenblutungen sollten daher immer Tourniquets
genutzt werden, da ihre Anlage schnell und zuver-
lässig Erfolg bringt. Sie eignen sich optimal für die Evakuierung – Transport in die 1. Deckung
Nutzung als temporäre Maßnahme, um Zeit für
9 andere lebenswichtige Maßnahmen zu gewinnen
(»A« und »B« – »airway« und »breathing«) oder um Tactical Field Care
Blutverluste bei der Anlage eines Verbandes zu mi-
nimieren (. Tab. 9.1). Ein Wechsel auf Druckver-
Befestigen/Tragen des Tourniquets:
bände, ggf. in Verbindung mit Hämostyptika, kann – Tourniquet an der 2nd Line
dann lageabhängig zu einem späteren Zeitpunkt – An einer Standard-Position
erfolgen. Tourniquets sollten bei der initialen Be- (mind. im Trupp einheitl.)
– Gut sichtbar
herrschung starker Blutungen nicht erst als »Mittel
– Gut zu erreichen
der letzten Wahl« (»last resort«) angewendet wer-
den, wenn Druckverbände, Hämostyptika, Hochla- 1
In taktischen Lagen, Gefahrensituationen und/oder
gerung, Abdrücken etc. erfolglos geblieben sind. unter Zeitdruck ist das Anlegen von Tourniquets die
Diese Maßnahmen brauchen viel Zeit, binden Per- einzige, schnellste und effektivste Maßnahme um
weitere Blutverluste zu verhindern. Lebensrettende
sonal, und der Verwundete verliert weiterhin Blut.
Methode mit niedriger Inzidenz von Komplikationen
Insbesondere das Zeitfenster bis zur Kontrolle bei präklinischer Anwendung von Tourniquets bei
von Blutungen ist kritisch: Leistenblutungen aus »combat related injuries«.
der A. femoralis verursachen Blutverluste von über . Abb. 9.2 Leitlinie Anlage Tourniquet
1 l/min und führen somit in wenigen Minuten zum
Tod durch Verbluten [60]. Die Anlage eines vorge-
fertigten Tourniquets ist bei guter Erreichbarkeit die meist aufwändigere Versorgung des Körper-
und Training in deutlich weniger als 1 min möglich. stamms zu konzentrieren [59].
Da die Mortalität erheblich ansteigt, wenn Tourni- Tourniquets können nur dann effektiv ein-
quets erst bei bestehendem Schock genutzt werden, gesetzt werden, wenn sie bei starken Blutungen so-
sollten stark blutende Extremitätenverletzungen fort zur Hand sind. Grundsätzlich sollte daher jeder
immer unmittelbar mit einem Tourniquet versorgt Soldat mindestens ein, besser zwei Tourniquets gut
werden [12]. Bei kombinierten Verletzungen von sichtbar außen an der Ausrüstung befestigt haben.
Extremitäten und Körperstamm sollte zuerst die Es sollte mit beiden Händen gut erreichbar sein, um
Extremitätenblutung mit einem Tourniquet ge- es auch bei Verwundung eines Armes noch mit
stoppt werden, um sich dann auf die Rettung oder dem anderen ergreifen und an sich selbst anwenden
9.2 · Care under fire
131 9

. Tab. 9.1 Vergleich der Anwendung von Tourniquets als »temporäre Maßnahme« oder »last resort« (Mittel der
letzten Wahl); TFC »Tactical Field Care«, TEC »Tactical Evacuation Care«

Temporäre Anlage »Last resort«

Kurzzeitige Problemlösung, um Zeit für AB(C) zu gewinnen Versagen aller anderen Maßnahmen

Bei »Care under Fire« <C>(ABCDE) (<C>AB)C(DE)

In Phase TFC/TEC schnellstmögliche »Umwandlung« »Life before limb«


in Druckverband o. ä.

Eine Handbreit von Leiste bzw. Achsel entfernt So nah oberhalb der Wunde, wie noch effektiv

Über der Bekleidung Unbedingt Wunde darstellen

Häufig noch tolerabel (Katecholamine) Zunehmende Schmerzen

(Bei CuF) Zeit »im Hinterkopf« Anlagezeitpunkt notieren (Stirn, Tourniquet, Dokumen-
tationskarte)

zu können. Zur Blutstillung sollte grundsätzlich entsprechend markiert (z. B. rote Sprühfarbe) und
das Tourniquet des Verwundeten genutzt werden. nicht mehr für Ernstfälle genutzt werden.
Vom CoTCCC («Committee on Tactical Combat Ein Tourniquet wird in der Phase CuF (»Care
Casualty Care«) empfohlene Tourniquets – derzeit: under Fire«) so fest angelegt, dass die Blutung zum
CAT (»Combat Application Tourniquet«), SOFTT Stehen kommt. Später muss sichergestellt werden,
(»Special Operations Forces Tactical Tourniquet«), dass der periphere Puls tatsächlich nicht mehr tast-
EMT (»Emergency And Military Tourniquet«) – bar ist [59]. Kann die Blutung mit einem Tourniquet
haben ihre Effektivität bei der Blutstillung in Stu- nicht kontrolliert werden bzw. ist nach Anlage noch
dien nachgewiesen. Tourniquets unterliegen dem ein peripherer Puls tastbar, sollte ein zweites Tour-
Verschleiß, werden durch UV-Licht spröde und niquet neben dem ersten (möglichst auf der dem
sind im Regelfall Einwegprodukte. Für Ausbildung Körperstamm zugewandten Seite) angelegt werden
und Übung verwendete Tourniquets sollten daher (. Abb. 9.3) [12]. Dies ist insbesondere bei der An-

. Abb. 9.3 Insuffiziente improvisierte Tourniquets wurden durch proximale Anlage von je einem CAT ergänzt. (Aus [59])
132 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

In Einzelfällen kommt es bei der Anwendung


von Tourniquets an Unterarm oder -schenkel trotz
ausreichenden Drucks zu persistierenden Blut-
ungen. Diese sind bedingt durch eine bei manchen
Menschen dem Druck schlecht zugängliche,
zwischen den Knochen verlaufende Arterie
(. Abb. 9.5). Bluten z. B. Amputationsverletzungen
(auch aus dem eröffneten Knochenmarksraum)
weiter, sollten sie durch einen Druckverband auf
dem Stumpf, direkten Druck auf die Blutungsquelle
oder die Verlagerung des Tourniquets an Ober-
schenkel oder -arm unter Kontrolle gebracht wer-
den. Im Rahmen von CuF sollten Tourniquets
grundsätzlich an Oberarm oder Oberschenkel ca.
eine Handbreit von Leiste/Achsel entfernt über der
Kleidung platziert werden. Hierdurch werden alle
körperstammfernen Blutungen kontrolliert, sodass
bei offensichtlicher Extremitätenblutung eine zeit-
aufwändige Suche nach dem genauen Ort der Ver-
. Abb. 9.4 Darstellung idealer Anlagestellen für Tour- wundung nicht notwendig ist. Bei der Anlage über
9 niquets (insbesondere als temporäre Maßnahme) und des der Kleidung muss zur Vermeidung von Druck-
Bereiches, in dem typischerweise nicht komprimierbare schäden besonders darauf geachtet werden, dass der
Blutungen auftreten können
Riemen nicht über gefüllten Taschen angelegt wird.
Nach Anbringen eines Tourniquets sollte schnellst-
möglich die Anlagezeit dokumentiert werden.
lage am muskulösen Oberschenkel teilweise not- Idealerweise erfolgt dies auf einem entsprechenden
wendig [60, 67]. Vor Nutzung des Knebels sollte der Feld auf dem Tourniquet, wie es bei den aktuellen
Gurt des Tourniquets so straff wie möglich gezogen Generationen von CAT und SOFTT vorgesehen ist.
werden. Dies mindert Fehlfunktionen erheblich Ergänzend sollte die Zeit mit wasserfestem Stift und
[12]. Ist die Blutungsquelle genau zu lokalisieren, der Ergänzung »T« auf der Stirn des Verwundeten
sollte der entsprechende Teil der Extremität im Ide- vermerkt werden, da dieser Bereich auch bei sorg-
alfall von Bekleidung und Ausrüstung befreit wer- fältigem Wärmeerhalt gut sichtbar bleibt. Im Ideal-
den und das Tourniquet ca. 1–2 Querfinger ober- fall erfolgt eine gleichzeitige Dokumentation auf
halb (körperstammnah) der Verwundung angelegt Tourniquet, Stirn und in der Patientendokumenta-
werden. Aufgrund der Gefahr der Schädigung von tion (Verletztenanhängekarte, z. B. . Abb. 9.57),
Gewebe, insbesondere Nerven, und der häufig auch um sicherzustellen, dass das angelegte Tourni-
schlechten Wirksamkeit darf aber keine Anlage auf quet im weiteren Verlauf nicht übersehen wird.
oder unmittelbar neben Gelenken erfolgen. Ein gu- Das Tourniquet-Syndrom (Syn.: Reperfusions-
ter Weichteilmantel durch Muskelgewebe sollte an syndrom) beschreibt eine lebensbedrohliche Kom-
der Anlagestelle gegeben sein (. Abb. 9.4). plikation nach Lösen einer Abbindung. Sie wurde
Der für eine Abbindung notwendige Druck bei v. a. für Abbindungszeiten von mehr als 6 h be-
der Anlage eines Tourniquets wird von den meisten schrieben, kann in Verbindung mit ausgedehnten
Anwendern erheblich unterschätzt. Erfahrungsge- Weichteilverletzungen aber auch früher auftreten.
mäß verursacht das suffizient angelegte Tourniquet Aufgrund von Sauerstoffmangel kommt es durch
häufig stärkere Schmerzen als die Verwundung Bildung von Laktat zur metabolischen Azidose in
selbst. Aus diesem Grund wurden sie in vielen der abgebundenen Extremität, und absterbende
Fällen nicht fest genug angelegt. Eine adäquate An- Zellen setzen insbesondere Kalium und Myoglobin
algesie sollte daher möglichst frühzeitig erfolgen. frei. Außerdem erhöht sich die Durchlässigkeit der
9.2 · Care under fire
133 9
1,7 % der Patienten klagten über vorübergehende
Gefühlsstörungen im Bereich der Tourniquet-Anla-
gestelle, eine lediglich durch Anlage eines Tourni-
quets verursachte Amputation war nie notwendig.
Auch bei unkritischer Anwendung ohne echte In-
dikation waren in keinem Fall schwerwiegende
Störungen nachweisbar [16, 25, 34]. In Einzelfällen
wird sogar von Tourniquet-Liegedauern über
14–16 h ohne Amputationsnotwendigkeit berichtet
[10, 33, 47]. In diesen Kriegen erhobene Daten zei-
gen aber eine deutliche Senkung der Sterblichkeit
bei lebensbedrohlichen Extremitätenblutungen
durch Tourniquet-Anlage [19], während bei Ver-
. Abb. 9.5 Zwischen Knochen verlaufende Arterien sind zicht auf Tourniquets mit hoher Wahrscheinlichkeit
teilweise für die Kompression durch ein Tourniquet schlecht die Patienten auch dann verstarben, wenn sie noch
zugänglich. Manchmal muss daher vom Unterarm oder lebend eine medizinische Behandlungseinrichtung
-schenkel auf Oberarm oder -schenkel ausgewichen werden
erreichten [34]. Die positive Abwägung zwischen
möglichen Komplikationen und dem Nutzen von
Tourniquets bei starken Extremitätenblutungen hat
Gefäßwände, wodurch sich ein Ödem ausbildet. dazu geführt, dass ihre Anwendung mittlerweile
Dieses Ödem kann ein Kompartmentsyndrom auch in Deutschland in den aktuellen Leitlinien der
(Druckerhöhung in den Muskellogen) verursachen, Fachgesellschaften empfohlen wird [72, 74].
das auch nach Lösen der Abbindung eine Durch- Eine Liegedauer über einen Zeitraum von erheb-
blutungsstörung bedingt und bei fehlender chirur- lich mehr als 2 h sollte dennoch grundsätzlich ver-
gischer Behandlung bis zum Verlust der Extremität mieden werden. Trotz der erfreulichen Studienlage
führen kann. Auch Störungen der Blutgerinnung zu den von Tourniquets verursachten Komplikatio-
sind beschrieben. nen, sind Schmerzen kaum zu vermeiden und gra-
Das nach dem Öffnen des Tourniquets in den vierende Folgen (Reperfusionssyndrom) bei länge-
Körperkern eingespülte saure Blut trägt zur Aus- rer Liegezeit nicht auszuschließen [25]. Kompart-
bildung der letalen Trias des Schocks bei (7 Ab- mentsyndrome treten zwar regelhaft auf, sind aber
schn. 9.3), und die Erhöhung des Serumkaliumspie- scheinbar meist verletzungsbedingt. Die durch ein
gels kann Herzrhythmustörungen auslösen. Kommt Tourniquet-Syndrom bedingten Ödeme können de-
es in extremen Fällen zu einem massiven Absterben ren Verlauf aber wesentlich verschlechtern [25, 57].
von Muskelzellen (Rhabdomyolyse), kann das in Grundsätzlich sollte ein Tourniquet nach An-
großen Mengen freigesetzte Myoglobin ein akutes lage nicht mehr geöffnet werden, da die für eine
Nierenversagen verursachen (Crush-Niere). Diese ausreichende Normalisierung der Stoffwechsel-
aus dem operativen Krankenhausalltag geschilder- situation in der abgebundenen Extremität notwen-
ten Fälle stehen im Widerspruch zu den häufigen dige Öffnungszeit von 15–30 min [2] gleichbedeu-
Tourniquet-Anwendungen in der Militärmedizin tend mit einem erheblichen Blutverlust, Schock und
im letzten Jahrzehnt. Gesichert ist, dass eine Rhab- drohendem Verblutungstod ist. Die einzige Aus-
domyolyse nicht selten ist und meist bei ausgedehn- nahme stellt der Versuch dar, das Tourniquet durch
ten Weichteilverletzungen auftritt. Ob die Ursache einen Druckverband zu ersetzen (7 Abschn. 9.3).
letztlich die Tourniquet-Anwendung oder die Ver- Sind eine Evakuierungszeit unter 2 h wahrschein-
wundung ist, lässt sich schwerlich feststellen. Die lich und die Schmerzen im Anlagebereich tolerabel
Erfahrungen aus tausenden von Tourniquet-An- oder durch Analgetika kontrollierbar, kann das
wendungen im Irak- und Afghanistankrieg zeigen, Tourniquet belassen werden. Liegt es länger als 2 h,
dass sie hocheffektive Hilfsmittel sind, die nur sehr sollte es bis zum Erreichen einer medizinischen Be-
geringe Nebenwirkungen haben [19, 45]. Nur ca. handlungseinrichtung nicht mehr geöffnet werden.
134 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

»Tactical Field Care«


(Erstersorgung außerhalb der Einwirkung des feindlichen Feuers)

. Abb. 9.6 Leitlinie »Tactical Field Care«

> Wird der Verwundete beim Öffnen eines Atemwege zu lange, um dies unter effektivem feind-
Tourniquets kreislaufinstabil, besteht der lichem Feuer durchzuführen. Schockbedingte Be-
Verdacht auf ein Tourniquet-Syndrom. wusstseinsstörungen hingegen sind symptomatisch
Präklinisch sollte dieses symptomatisch für einen massiven Blutverlust und sollten die Blut-
mit Infusionstherapie, Sauerstoff und ggf. stillung zunächst in den Fokus rücken. Ist ein Frei-
Katecholaminen therapiert werden. halten der Atemwege zwingend notwendig, und die
taktische Lage erlaubt dies, kann ggf. ein Wendl-
Tubus eingelegt oder der Bewusstlose bei ausrei-
9.2.3 Atemwegsmanagement chender Deckung in Seitenlage positioniert werden.
Mit weiterführenden Maßnahmen sollte bis zum
Atemwegsmanagement in der heißen Zone erfor- Erreichen sicherer Deckung (Phase »Tactical Field
dert in der Regel zu viel Zeit und verlängert dadurch Care«) gewartet werden.
die Gefährdung für Verwundeten und Helfer.
Atemwegsverlegungen sind auf dem Gefechtsfeld
meist durch Bewusstseinsstörungen aufgrund eines 9.3 »Tactical Field Care« (. Abb. 9.6)
schweren SHT (z. B. durch Kopfschuss), fortge-
schrittenen Schock oder durch ein direktes Trauma Die Phase »Tactical Field Care« (TFC) beginnt,
der Atemwege bedingt. Während schwere Verlet- sobald eine sichere Deckung erreicht wird und kein
zungen im ZNS-Bereich ohnehin eine schlechte wirksames gegnerisches Feuer mehr zu erwarten ist.
Prognose haben und eine erhebliche Gefährdung Dies kann hinter dem Schutz einer Mauern, hinter
von Rettern nicht rechtfertigen, dauert die Atem- einem oder im Inneren eines geschützten Fahr-
wegssicherung bei ausgedehntem Trauma der zeugs, in einem Straßengraben oder in einem ge-
9.3 · »Tactical Field Care«
135 9
sicherten Gebäude der Fall sein. Die eingesetzten Sauerstoff steht in dieser Phase meist nicht zur
Helfer müssen dabei durch andere Kräfte gesichert Verfügung, da Druckgasflaschen zu schwer, sperrig
werden, um sich auf die Versorgung konzentrieren und aufgrund der Explosionsgefahr zu gefährlich
zu können. Die Art der vom Gegner eingesetzten sind, um sie im Rucksack unter Gefechtsbedingun-
Waffen und Munition spielt eine wesentliche Rolle gen mitzuführen. Unter manchen Bedingungen
bei der Beurteilung, welche Deckung ausreichend kann die Mitführung von chemischen Sauerstoffer-
ist. So ist der Innenraum eines Transportpanzers zeugern sinnvoll sein. Nähere Erläuterungen zur
bei Beschuss mit Panzerfäusten nicht als sichere Thematik finden sich in 7 Abschn. 9.4.
Deckung zu werten, da Panzerabwehrhandwaffen Der Transport von Verwundeten kann in der
Schutzausstattung dieser Kategorie für gewöhnlich Phase TFC koordinierter und unter Einsatz von
durchdringen können. effektiveren Hilfsmitteln erfolgen. Normale Feld-
Der schnelle Abtransport des Patienten kann krankentragen sind meist nicht verfügbar, da sie
jederzeit notwendig werden, z. B. durch vorzeitig auch zusammengeklappt aufgrund ihrer Länge,
eintreffende Hubschrauber oder Nachsetzen des außer in Sanitätsfahrzeugen, nur schwer mitgeführt
Gegners. So früh wie möglich sollte daher eine ge- werden können. Ausführlichere Darstellung der
eignete Tragehilfe unter dem Patienten positioniert Thematik Verwundetentransport 7 Kap. 5.
werden (z. B. Bergetuch), um ihn im Bedarfsfall so- > Wichtig ist, dass überall innerhalb der Einheit
fort bewegen zu können. Außerdem ist es sinnvoll, ausreichend Tragehilfen für den Verwundeten-
immer nur das Material aus dem Rucksack zu ent- transport vorhanden sind und sie nicht erst
nehmen, das in diesem Moment auch tatsächlich herangeführt werden müssen.
gebraucht wird, und ihn sofort wieder zu verschlie-
ßen. Grundsätzlich sollte zu jedem Zeitpunkt eine Daher sollte im aufgesessenen Einsatz pro Fahrzeug
Verlegebereitschaft innerhalb von 2 min hergestellt und im abgesessenen Einsatz pro Trupp mindestens
werden können. eine Tragehilfe mitgeführt werden. Während zur
Lebensbedrohliche Blutungen sollten bereits Nutzung auf Fahrzeugen Falttragen oder auch
während der Phase »Care under Fire« versorgt wor- außen angebrachte Spineboards sinnvoll sind,
den sein. Der Erfolg der Maßnahmen muss nun haben sich am Mann insbesondere leichte Berge-
kontrolliert werden, und noch nicht gestillte starke tücher (z. B. Poc-Kit Stretcher, Fa. Combat Medical)
Blutungen unter Kontrolle gebracht werden. Sind oder Schleiftragen (z. B. Foxtrott Litter) außer-
lagebedingt massive Extremitätenblutungen bisher ordentlich bewährt.
noch nicht gestillt, sollten diese zunächst schnellst-
möglich mit einem Tourniquet gestoppt werden.
Auf nicht unmittelbar lebenswichtige Interventio- 9.3.1 Körperliche Untersuchung
nen sollte nach Möglichkeit verzichtet werden, wenn
sie den Abtransport zu chirurgischen Behandlungs- Die körperliche Untersuchung des Patienten folgt
einrichtungen verzögern und es sich um lebensbe- einem festen Ablauf, um stressresistent das Erken-
drohliche Verwundungen handelt (»critical pa- nen und Behandeln lebensbedrohlicher Zustände in
tients«) [59]. Erfordert es die taktische Lage, kann der Reihenfolge ihrer Bedrohlichkeit zu ermöglich
die medizinische Versorgung sich auch darauf be- (»treat first what kills first«). Die Untersuchung
schränken, einen Verwundeten schnellstmöglich folgt daher dem <C>ABCDE-Schema, und jedes
einem Fahrzeug oder Hubschrauber zuzuführen erkannte Problem wird behandelt. Die körperliche
und zu evakuieren [27]. Dies gilt insbesondere für Untersuchung wird aufgeteilt in eine »erste Unter-
unkontrollierbare (innere) Blutungen. suchung« (»initial assessment«) und eine »einge-
Patienten mit Bewusstseinsveränderung (z. B. hende Untersuchung und Behandlung« (»rapid
durch Schock, Analgetika) sollten umgehend ent- trauma assessment«).
waffnet werden, um eine Selbst- und Fremdgefähr- Die »erste Untersuchung« soll schnell und ziel-
dung auszuschließen. Dies umfasst auch Spreng- gerichtet unmittelbar lebensbedrohliche Zustände
und Kampfmittel. (z. B. spritzende Blutung, Atemwegsverlegung, Span-
136 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

nungspneumothorax) erkennen und therapieren hel- durch Bewusstlosigkeit verursacht [40]. Während
fen. Sobald ein liegender Patient zur Inspektion des traumatische Ursachen und Schwellungen im Be-
Rückens dabei auf die Seite gedreht wird, sollte vor reich der Atemwege regelmäßig eine Koniotomie
dem Zurückdrehen eine Transportmöglichkeit (z. B. erforderlich machen, ist bei Atemwegsverlegungen
Tragetuch) und eine Isolationsschicht zum Wär- infolge nachlassendem Muskeltonus und vermin-
meerhalt (z. B. Rettungsdecke, Isomatte) untergelegt derter Schutzreflexe durch Bewusstseinsstörungen
werden. Ist eine genauere Untersuchung der Körper- häufig die einfache Einlage eines Wendl-Tubus oder
rückseite in der Lage nicht möglich, sollte diese zu- eine stabile Seitenlagerung lebensrettend und ange-
mindest mit den Händen abgefahren werden, um sichts der besonderen Situation im Gefecht ange-
Blutungen zu entdecken (»blood sweep«). Die rele- messen. Insbesondere bei Blutungen oder Erbro-
vanten Krankheitsbilder, Befunde und Therapieopti- chenem im Rachenraum kann bei Bewusstlosen die
onen werden in diesem Kapitel eingehend erläutert. stabile Seitenlage bis zur Verfügbarkeit einer Absau-
Die »eingehende Untersuchung und Behand- gung die wesentliche lebensrettende Maßnahme
lung« erfolgt entweder unmittelbar im Anschluss an sein.
die »erste Untersuchung« oder zum nächstmögli- Neben diesen einfachen Maßnahmen sind im
chen Zeitpunkt. Dabei ist besonderer Wert auf eine taktischen Umfeld supraglottische Atemwegs-
gründliche und vollständige Untersuchung und Be- hilfsmittel, insbesondere der Larynxtubus, eine
handlung aller Befunde zu legen (»from head to toe, gute Option. Auch mit ihnen sollte der Anwender
treat as you go«). Besonders häufig werden aufgrund jedoch im Regelfall eine ausreichende Handlungssi-
von nicht sorgfältig durchgeführten Untersuchun- cherheit im klinischen Umfeld erworben haben. Die
9 gen Blutungen im Bereich des Schritts, Genitals oder klassische endotracheale Intubation hat insbeson-
Gesäßes übersehen. Gerade im taktischen Umfeld dere aufgrund des hohen Ausbildungsaufwandes
mit schlechten Überwachungsmöglichkeit und Ein- eine eher nachgeordnete Bedeutung. Bei den häufig
hüllen des Patienten zur Hypothermieprophylaxe eine Atemwegssicherung notwendig machenden
gehen bei längeren Evakuierungszeiten auch bei un- Verletzungen der Atemwege ist eine Intubation auf-
erkannten Sickerblutungen schnell größere Blut- grund von massiver Blutung, Gewebsfetzen und
mengen verloren. Gleiches gilt für Blutungen im zerstörter anatomischer Merkmale gerade für den
Fußbereich, die aufgrund der Blutansammlung im Unerfahrenen regelmäßig sehr schwierig. Hier kann
Stiefel häufig längere Zeit verborgen bleiben. Die für den geübten Anwender die Videolaryngoskopie
Stiefel sollten daher immer ausgezogen oder zumin- die Erfolgschance unter den ohnehin schwierigen
dest eine Finger bis zur Fersenkappe in den Stiefel Bedingungen deutlich verbessern.
gesteckt und auf Blut kontrolliert werden. Das Gesäß Bisher ist nicht nachgewiesen, dass die Intubati-
sollte wenn möglich entkleidet werden und der on beim Thoraxtrauma ohne respiratorische Insuf-
Schritt zumindest durch Tasten überprüft werden. fizienz eine verbesserte Prognose bewirkt [15]. Bei
Der Ablauf der Untersuchungen ist auf den ent- respiratorischer Insuffizienz, z. B. aufgrund eines
sprechenden Taschenkarten detailliert aufgeführt Thoraxtraumas, ist die endotracheale Intubation
(. Abb. 9.7) (Download unter: http://www.trema- zur Optimierung der Ventilation dagegen klar indi-
online.info/download.html). ziert. Alternativ kann aber auch eine Koniotomie
erfolgen, wenn die endotracheale Intubation nicht
verfügbar ist. Da supraglottische Atemwegshilfs-
9.3.2 Atemwegsmanagement mittel einfach anzuwenden und häufig ausreichend
und HWS-Immobilisierung sind, und ein Instrumentarium zur Koniotomie als
(. Abb. 9.8) alternativlose letzte Option beim schwierigen
Atemweg ohnehin unverzichtbar ist, muss in Ab-
Atemwegsverlegungen auf dem Gefechtsfeld sind hängigkeit von Ausbildungsstand, Auftrag, Lage
bei den Patienten nahezu ausschließlich durch Ge- und sonstiger Ausrüstung die Notwendigkeit zum
sichts- und Halsverletzungen bei Schuss- oder Ex- Mitführen von Intubationsinstrumentarium indivi-
plosionsverletzungen, Inhalationstrauma [59] oder duell beurteilt werden.
9.3 · »Tactical Field Care«
137 9

. Abb. 9.7 Taschenkarte »Initial Assessment« und »Rapid Trauma Assessment«, Stand 2012. (TREMA e.V.)
138 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

. Abb. 9.7 (Fortsetzung)


9.3 · »Tactical Field Care«
139 9

A Airway (Atemwegsmanagement)

. Abb. 9.8 Leitlinie »Airway« (Atemwegsmanagement)


140 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

> Die Intubation bietet sich als Verfahren an, Pharyngeale Atemwegshilfsmittel
wenn der Anwender einen hohen Ausbil- Nasopharyngealtuben (NPA, Wendl-Tubus) oder
dungsstand hat, ausreichend Kräfte für das Oropharyngealtuben (OPA, Guedel-Tubus) verhin-
Beatmen des Verwundeten und das Tragen dern eine Atemwegsverlegung durch ein Zurück-
des beatmeten Verwundeten sowie eine sinken des Zungengrundes beim bewusstlosen
Möglichkeit zum Liegendtransport vorhan- Patienten. Sie eignen sich daher hervorragend zur
den sind, adäquate Überwachungsmöglich- Verwendung bei Patienten mit Bewusstseinsstörun-
keiten bestehen und eine Beatmungsmög- gen, nicht aber zur Sicherung der Atemwege bei
lichkeit mit einer ausreichend langen Durch- Atemwegsverlegungen durch Verletzungen im
haltefähigkeit verfügbar ist. Kopf-Hals-Bereich oder Inhalationstrauma. Aus
grundsätzlichen Erwägungen kontraindiziert ist der
Die zur Intubation notwendige Narkoseeinleitung Nasopharyngealtubus, wenn Brillenhämatom, Li-
zieht zwingend eine Beatmung nach sich, die nicht quoraustritt oder stärkere Blutungen aus Ohr oder
nur hohe logistische Anforderungen hinsichtlich Nase auf ein Schädel-Hirn-Trauma mit Beteiligung
der Durchhaltefähigkeit (Sauerstoffvorrat!) von Be- der Schädelbasis hinweisen, um eine mögliche int-
atmungsgeräten stellt, sondern auch stets Helfer razerebrale Fehllage zu vermeiden. Stehen keine
durch den aufwändigeren Transport und die konti- Alternativen zur Verfügung, kann die Anwendung
nuierlich notwendige Überwachung bindet. Es be- beim SHT aber in Einzelfällen sinnvoll sein. Darü-
stehen darüber hinaus wissenschaftliche Hinweise ber hinaus bieten pharyngeale Atemwegshilfmittel
darauf, dass eine präklinische Beatmung bei Patien- keinerlei Schutz vor Aspiration von Erbrochenem
9 ten im Schock deren Prognose verschlechtern oder Blut. Im Vergleich zum Guedel-Tubus wird der
könnte. Als Ursache wird eine Verminderung des Wendl-Tubus auch von somnolenten (»verbal«)
venösen Rückstroms zum Herzen durch beat- und soporösen (»pain«) Patienten meist gut tole-
mungsbedingte intrathorakale Druckerhöhung ver- riert und sollte daher bevorzugt werden. Die Einla-
mutet [15]. Ist sie daher nicht absolut indiziert (z. B. ge von Wendl-Tuben kann in trockenem, staubigem
Apnoe, Hypoventilation), sollte die Indikation zur Klima aufgrund der meist ausgetrockneten Nasen-
Einleitung einer Narkose und Beatmung im takti- schleimhäute schwieriger sein. Eine ausreichende
schen Umfeld generell zurückhaltend gestellt wer- Benetzung mit geeignetem Gleitmittel ist daher be-
den. In manchen Fällen, wie z. B. nach Atemwegssi- sonders wichtig. In taktischen Lagen kann zur Be-
cherung mittels Koniotomie, kann lageabhängig schleunigung der Maßnahmen in Notfällen auch
beim spontan atmenden Patienten der Verzicht auf Speichel als Gleitmittel verwendet werden. Aus In-
eine Narkoseeinleitung und Beatmung auch vertret- fektionsschutzgründen sollte dieser nach Möglich-
bar und taktisch sinnvoller sein. keit vom Verwundeten stammen.
Die Gefahr einer Tubusfehllage in Hypopha-
rynx oder Ösophagus hat im taktischen Umfeld Koniotomie (. Abb. 9.9)
aufgrund der erschwerten Überwachung besondere Gerade Verletzungen von Gesicht und Hals erfor-
Bedeutung. Da Patienten häufig ohne besondere dern häufig eine Koniotomie zur Sicherung der
Vorsicht bewegt werden müssen, besteht ein deut- Atemwege [59]. Bei penetrierenden Halsverletzun-
lich erhöhtes sekundäres Dislokationsrisiko. Da sie gen ist die frühzeitige definitive Sicherung der
die gefährlichste Komplikation einer endotrachea- Atemwege durch endotracheale Intubation oder
len Intubation oder Koniotomie ist [15], sinngemäß Koniotomie wichtig, da Hämatome schnell die Luft-
aber auch auf supraglottische Hilfsmittel übertragen wege verlegen können [40, 43]. Ähnliche Probleme
werden kann, ist die Nutzung eines kompakten und kann ein Inhalationstrauma verursachen [59].
leichten Kapnometers (z. B. Easy Cap II, Fa. Nellcor; Die Koniotomie ist die weltweit anerkannte
EMMA, Fa. phasein) empfehlenswert. Es erlaubt die »ultima ratio« des sonst nicht beherrschbaren
laufende Kontrolle der korrekten Tubuslage, z. B. Atemweges [43]. Auf ein Koniotomie-Set, gleich
auch während der Patient über längere Strecken ge- welcher Technik, darf somit nicht verzichtet werden.
tragen wird. Im taktischen Umfeld wird daher häufig zugunsten
9.3 · »Tactical Field Care«
141 9

Algorithmus Chirurgischer Atemweg »Koniotomie«

. Abb. 9.9 Leitlinie Koniotomie

von Wendl-Tubus, supraglottischem Atemweg und auch gegeben sein, wenn eine endotracheale Intuba-
einem chirurgischen Koniotomie-Set auf Material tion nicht möglich ist (z. B. bei ausgedehnten Verlet-
zur endotrachealen Intubation verzichtet. zungen, nicht vorhandenem Intubationsbesteck
Aufgrund der eingeschränkten Ressourcen und etc.) und die Atemwegssicherung mittels supraglot-
des Zeitbedarfs sollte eine Bewusstlosigkeit alleine tischer oder pharyngealer Atemwegshilfsmittel
unter taktischen Gegebenheiten keine Indikation nicht ausreichend erscheint [43, 23].
zur Durchführung einer Koniotomie darstellen Die Durchführung einer Koniotomie ist in chir-
[12]. Andererseits ist im taktischen Umfeld eine de- urgischer Technik oder mittels entsprechender
finitive Atemwegssicherung aufgrund der häufig Punktionssets möglich. Beide Varianten weisen Vor-
rauen Transportbedingungen und der einge- und Nachteile auf. Grundsätzlich sollte die Technik
schränkten Überwachungsmöglichkeiten anzustre- gewählt werden, die erlernt wurde und beherrscht
ben. Eine Indikation zur Koniotomie besteht daher wird. Sie sollte innerhalb einer Einheit standardisiert
nicht nur, wenn mit anderen Hilfsmitteln eine ad- sein, um Material austauschen zu können.
äquate Oxygenierung nicht sichergestellt werden Der Zeitbedarf für eine Koniotomie in chirurgi-
kann. Die relative Indikation zur Koniotomie kann scher Technik wird, je nach Ausbildungsstand, mit
142 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

. Abb. 9.10a–c Durchführung der Koniotomie in der »Rapid-


four-step-Technik«. a Längsinzision über Kehlkopf und Ring-
knorpel. b Querdurchtrennung der Membrana cricothyroidea.
c Aufhalten der entstandenen Öffnung. Als vierter Schritt
b
kann dann ein Tubus in die Trachea eingeführt werden

30–180 s angegeben [43]. Eigene Erfahrungen vorne und fußwärts gezogen und so eine ausrei-
und Berichte aus den aktuellen Konflikten zeigen, chend große Öffnung zur Einlage des Tubus erzeugt
dass eine chirurgische Koniotomie bei häufigem wird (. Abb. 9.12).
Üben am (Tier-)Modell auch unter Beschuss regel- Als Provisorium kann der Skalpellgriff quer in
mäßig in unter einer Minute durchgeführt werden die Öffnung eingeführt und zum Spreizen um 90°
kann [59]. gedreht werden, wodurch sich im Regelfall aus-
Die im TREMA-e.V.-Algorithmus empfohlene reichend Platz zum Einführen des Tubus gewinnen
Vorgehensweise entspricht der in der Literatur be- lässt.
schriebenen »Rapid-four-step-Technik« [44] und ist Wie bei allen Koniotomietechniken kann es zu
erfahrungsgemäß einfach zu erlernen und anzuwen- Blutungen und Verletzungen verschiedener Struk-
den (. Abb. 9.10). Der vertikale Hautschnitt mindert turen kommen. Besonders gefährdet sind Larynx,
die Gefahr der Verletzung der lateral der Trachea Trachea, Ösophagus und Schilddrüse [43]. Insbe-
verlaufenden Gefäß-Nerven-Bündel und erleichtert sondere die möglichen ausgeprägten und häufig
gleichzeitig das Auffinden der Membrana cricothy- schwer zu kontrollierenden Blutungen sind bei
roidea [43]. Nach Durchtrennung der Membran chirurgischen Eingriffen im Halsbereich sehr ge-
kann die Öffnung mittels Gefäßklemme oder Na- fürchtet und können auch bei der Koniotomie
senspekulum aufgehalten werden (. Abb. 9.11). Als auftreten. Als Normvariante verfügen manche
Alternative haben sich Trachealhaken (»cric hook« Menschen über einen zusätzlichen Schilddrüsen-
bewährt, mit deren Hilfe der Ringknorpel nach lappen, den Lobus pyramidalis (. Abb. 9.13). Dieser
9.3 · »Tactical Field Care«
143 9

a b

c d

. Abb. 9.11a–d Die chirurgische Koniotomie am Leichenpräparat. a Längsschnitt über dem Kehlkopf. b Aufsuchen der
Membrana cricothyreoidea zwischen Kehlkopf und Ringknorpel. c Querdurchtrennung der Membran. d Nasenspekulum als
Einführhilfe. (Fotos: F. Josse)

liegt im Regelfall über der M. cricothyroidea und


wird bei der Koniotomie durchtrennt. Die resultie-
rende Blutung kann erheblich und für den Patienten
lebensgefährlich sein! Sie muss mittels direkten
Drucks kontrolliert werden, um die Übersicht
nicht zu verlieren. Punktionssets führen seltener zu
relevanten Blutungen, bei ihrer Verwendung kom-
men schwerwiegende Verletzungen benachbarter
Strukturen (z. B. Ösophagus) aber wesentlich häufi-
ger vor [23]. Eine typische Komplikation bei Punk-
tionssets ist das Perforieren der Tracheahinterwand
mit retrotrachealer Einlage des Tubus oder in der . Abb. 9.12 Trachealhaken (»cric hook«) von NA Rescue.
Das Werkzeug kann auch improvisiert aus einer Flexüle o. ä.
chirurgischen Technik die prätracheale subkutane
hergestellt werden, indem mit Hilfe der Schutzkappe die
Einführung zwischen Haut und Trachea. In beiden Spitze im 45°-Winkel abgeknickt wird. (Foto: Dr. C. Neitzel)
Fällen liegt der Tubus außerhalb des Tracheallu-
mens, eine Beatmung ist dementsprechend nicht
möglich. Wird die Fehllage nicht erkannt, erstickt
der Patient.
144 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

Blutungen im Mund-Rachen-Raum von besonderer


Wichtigkeit ist [17, 44]. Deshalb werden die Einlage
eines blockbaren ET-Tubus mittels chirurgischer
Technik oder blockbare Punktionssets empfohlen
(z. B. QuickTrach II, Fa. VBM; Crico Kit, Fa. Portex)
[23]. Das für die chirurgische Technik minimal not-
wendige Instrumentarium ist aber deutlich kleiner
und robuster verpackbar als vorgefertigte Punkti-
onsbestecke und eignet sich dadurch besser für das
Mitführen im Rucksack.
Für Koniotomien genutzte Tuben sollten für eine
atraumatische Einführung nicht zu groß (6–7 mm
Durchmesser) sein. Üblicherweise können Spiral-
(Woodbridge-), Magill- oder Murphy-Tuben ver-
. Abb. 9.13 Lage der Schilddrüse und des bei manchen wendet werden. Spiraltuben sind besonders atrau-
Menschen vorhandenen Pyramidenlappens. Darstellung des matisch und weniger anfällig für eine Verlegung
Infiltrationsbereiches für eine Lokalanästhesie bei Wach-
durch Abknicken oder Zusammenquetschen. Ma-
koniotomie
gill- oder Murphy-Tuben sind dagegen etwas steifer
und lassen sich dadurch meist auch ohne Einführhil-
Auch bei sachgerechter Durchführung kann ein fe in die Trachea einführen. Häufig werden die letzt-
9 zwischen den Faszienschichten des Halses beste- genannten mit einer Schere am hinteren Ende ge-
hendes Hämatom eröffnet werden und so zum ei- kürzt, um Handhabung und Patiententransport zu
nen die Übersichtlichkeit des Zugangsweges erheb- erleichtern. Dies kann allerdings das Verrutschen
lich verschlechtern, zum anderen bereits zum Still- des kompletten Tubus in die Luftröhre begünstigen
stand gekommene Blutungen erneut aktivieren [40, [12]. Auch vorgefertigte Trachealkanülen sind nutz-
43]. Ist der Kehlkopf selbst zerstört, bleibt häufig bar, sollten allerdings blockbar sein. Im Notfall las-
nur die Tracheotomie als Zugangsweg. Hierbei sen sich zum reinen Offenhalten auch die ebenfalls
kann durch den nicht in der Technik der Tracheo- nicht blockbaren Wendl-Tuben einlegen, was man-
tomie Ausgebildeten als nicht sachgerecht durchge- gels geeignetem Beatmungsanschluss aber nur beim
führte, aber lebensrettende Notfallmaßnahme eine spontan atmenden Patienten Sinn macht.
Querinzision zwischen den Knorpelspangen der Aufgrund des steilen Einführwinkels, der klei-
Trachea und Einlage eines Tubus erfolgen. Der nen Öffnung und der aufgrund von Blutung häufig
Schnitt sollte streng über der Vorderseite der Luft- stark eingeschränkten Sicht kann das Einführen des
röhre und möglichst dort erfolgen, wo die Luftröhre Tubus Schwierigkeiten bereiten, zu Verletzungen
gut zu tasten ist. Zu beachten ist, dass die großkali- führen und extratracheale Fehllagen provozieren.
brigen Halsgefäße unmittelbar benachbart verlau- Als Einführhilfe hat sich daher im Sinne einer
fen. Eine starke Blutung durch Verletzung der Seldinger-Technik ein Führungsstab bewährt
Schilddrüse muss erwartet werden. (. Abb. 9.14). Da starre Intubations-Führungsstäbe
Nur bei blockbaren Tuben ist ein adäquates hier ein erhöhtes Risiko der Verletzung der Trac-
Atemminutenvolumen (AMV) von ~15 l/min zu hearückwand mit folgender Lage des Tubus außer-
erzielen. In Studien konnten nichtblockbare Kanü- halb der Luftröhre haben, sollte ein elastischer Füh-
len durch Leckage nur ein nicht ausreichendes rungsstab (z. B. Frova-Stab, Elastic Boogie) bevor-
AMV von 5 l/min erzielen. Gerade bei Patienten mit zugt werden (. Abb. 9.15).
SHT (Schädel-Hirn-Trauma) ist dies problema- Im Rahmen einer Koniotomie eingebrachte Tu-
tisch, da die aus einer Hypoventilation resultierende ben sollten wie bei der endotrachealen Intubation
Hyperkapnie und Hypoxie vermieden werden soll- gut gesichert werden, da sie sonst schnell dislozie-
ten [15, 43]. Ungeblockte Systeme bieten darüber ren – im Regelfall im ungünstigsten Moment. Ne-
hinaus keinen Aspirationsschutz, der gerade bei ben vorgefertigten Tubusbefestigungen haben sich
9.3 · »Tactical Field Care«
145 9

a b

c d

. Abb. 9.14a–d Seldinger-Technik zur Erleichterung des Einführens bei schwieriger Anatomie. a Ertasten der hohlen Trachea
mit dem Finger. b Einführen des Führungsstabes entlang des Fingers, dabei Kontrolle der intratrachealen Lage. c Vorschieben
des Tubus über den Führungsstab. d Festhalten des Tubus und Herausziehen des Führungsstabes. (Fotos: F. Josse)

einfache Mullbinden oder um den Hals gelegte und


um den Tubus verknotete Schläuche von Infusions-
systemen bewährt.
Koniotomien müssen bei Hals- und Gesichts-
verletzungen und beim Inhalationstrauma teilweise
auch beim wachen, noch spontan atmenden Patien-
ten durchgeführt werden (. Abb. 9.16). Für diesen
Fall sollte Lokalanästhetikum für eine Infiltrations-
anästhesie verfügbar sein (. Abb. 9.13).

Supraglottische Atemwegshilfsmittel
Als supraglottische Atemwege im Notfall werden
Larynxmasken, Kombitubus und Larynxtubus
empfohlen. Sie sind im Vergleich zur endotrachea-
len Intubation in der Regel einfacher erfolgreich zu
platzieren [17]. Auch wenn supraglottische Atem-
. Abb. 9.15 Im Gegensatz zum starren herkömmlichen
Intubations-Führungsstab hat der elastische Führungsstab
wegshilfsmittel keine definitive Sicherung der
eine atraumatische Spitze und reduziert so das Risiko für Atemwege auf dem Niveau einer endotrachealen
extratracheale Tubuslagen. (Fotos: F. Josse) Intubation sicherstellen, bieten sie doch einen ge-
146 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

. Abb. 9.16a–c Koniotomie bei Gesichtsverletzung.


a Schussverletzung des Gesichts mit erheblich erschwerten
Intubationsbedingungen; klassische Koniotomie-Indikation.
b Problemlose Beherrschung der Blutungen durch Tampo-
nade des Mund-Rachen-Raumes nach Sicherung des Atem-
weges. c CT-Rekonstruktion mit Unter- und Oberkiefer-
fraktur. Als röntgendichte Wolke sind Zahn- und Geschoss-
splitter zu sehen. (Fotos mit freundlicher Genehmigung von
b J. Schwietring)

wissen Aspirationsschutz, insbesondere bei Blutun- weisen meist, bezogen auf Körpergröße und -ge-
gen im Nasen-Rachen-Raum [59]. Die Möglichkeit wicht des Patienten, eine hohe Anwendungsbreite
zur Platzierung einer Magensonde (z. B. LTS/LTS II, auf und verringern damit den Umfang des mitzu-
Fa. VBM) verringert das Risiko von durch Erbre- führenden Materials. Wichtig ist, dass die Hilfsmittel
chen bedingter Aspiration erheblich [17]. beim Füllen des Cuffs nicht festgehalten werden, um
Die Wahl zwischen Larynxmaske oder -tubus sich richtig platzieren zu können [17]. Der Combitu-
sollte sich in erster Linie an dem Ausbildungs- und bus ist aufgrund seiner Rigidität und der daraus
Erfahrungsstand mit dem jeweiligen Hilfsmittel resultierenden Verletzungsgefahr und der notwen-
orientieren. Die Möglichkeit eines »blinden« Ein- digen tiefen Bewusstlosigkeit oder Narkose nicht
führens erleichtert das Arbeiten ohne Licht, was optimal geeignet. Die Verwechslungsgefahr bei je-
gerade beim Versorgen in Dunkelheit vorteilhaft ist, weils zwei unabhängigen Konnektoren für den Beat-
und verringert die notwendige Vorbereitungszeit mungsbeutel und zwei Cuffs zum Blocken machen
erheblich, was hypoxämische Phasen reduzieren ihn als Hilfsmittel für den Unerfahreneren nach
hilft. Larynxmasken und insbesondere -tuben Meinung der Autoren weniger empfehlenswert.
9.3 · »Tactical Field Care«
147 9
Die aufgrund der Besonderheiten des takti- durchschnittlich 5,5 min angegebenen Zeitbedarfs
schen Umfelds (z. B. häufige Positionsänderungen, [45] entstehende Gefährdung für Helfer und Patient
Versorgung von Verwundeten durch einen einzel- steht insbesondere in der Phase »Care under Fire«
nen Helfer, Belassen des Schutzhelms mit Kinnrie- in keinem Verhältnis zum Nutzen [8]. Nach Mög-
men am Patienten) häufig schwierige Maskenbeat- lichkeit sollte sie zu einem späteren Zeitpunkt,
mung kann durch die Verwendung supraglottischer nachgeholt werden. Bei penetrierenden Halsverlet-
Atemwegshilfen in vielen Fällen ersetzt werden. zungen kann die Anlage einer Halskrause über
einem Verband zur Blutstillung durch zusätzlichen
Tipp
Druck und Immobilisierung beitragen.
Ist ein stumpfer oder kombiniert penetrierend-
Ein VBM-Larynxtubus LTS/LTS II der Größe 4 ist
stumpfer Verletzungsmechanismus gegeben (z. B.
für die Anwendung bei Patienten mit Körper-
IED-Anschlag, Verkehrsunfall), sollte aufgrund der
größe 155–180 cm zugelassen. Das Modell LTS II
dabei häufig auftretenden Wirbelsäulenverletzun-
verfügt darüber hinaus über einen Einfüh-
gen dagegen immer eine adäquate Immobilisation
rungskanal für das problemlose Legen einer
erfolgen, wenn die Lage dies zulässt [12]. Im Zwei-
Magensonde. Dieses und ähnliche Modelle an-
felsfall müssen Risiko und Nutzen gegeneinander
derer Hersteller decken damit nahezu alle Er-
abgewogen werden [45]. Neben den handels-
fordernisse in der taktischen Notfallmedizin ab.
üblichen Modellen zur HWS-Immobilisierung
(z. B. Stiffneck, Fa. Laerdal oder X-Collar, Fa. Next)
kann auch eine improvisierte Zervikalstütze aus
Immobilisierung einem um den Hals gewickelten SAM-Splint herge-
Beim Polytraumapatienten wird gemäß ziviler Leit- stellt werden.
linien bis zum Beweis des Gegenteils immer von > Bei einem Verwundeten mit schwerem
einer HWS-Verletzung ausgegangen, sodass eine stumpfem Schädel-Hirn-Trauma sollte von
prophylaktische HWS-Immobilisierung obligato- einer begleitenden HWS-Verletzung ausge-
risch ist [55]. Hierbei handelt es sich aber nahezu gangen werden. Sofern die Lage dies zulässt,
ausschließlich um Patienten mit stumpfem Verlet- sollte daher eine Immobilisierung erfolgen.
zungsmechanismus. Bei Gefechtshandlungen kom- Die Zervikalstütze darf dabei aber nicht zu
men dagegen häufig Patienten mit penetrierendem eng angelegt werden, um eine Hirndruck-
Trauma der Wirbelsäule vor. Schon Studien im steigerung durch Verschlechterung des venö-
Vietnamkrieg haben gezeigt, dass nur 1,4 % der Pa- sen Abflusses zu vermeiden.
tienten mit penetrierenden Halsverletzungen von
einer HWS-Immobilisation profitiert hätten [3].
Ebenso sind bei Schussverletzungen des Kopfes
schwere begleitende HWS-Verletzungen durch 9.3.3 Brustkorb und Atmung
Schleudertrauma eher selten [45]. Darüber hinaus (. Abb. 9.17)
verdichten sich Studienergebnisse, dass bei pene-
trierendem Wirbelsäulentrauma eine Immobilisie- Penetrierende Thoraxverletzungen
rung nicht nur Nutzen für den Patienten hat, son- Penetrierende Thoraxverletzungen werden im
dern (z. B. wegen Zeitverlust durch Immobilisa- taktischen Umfeld im Regelfall durch Schuss-,
tionsmaßnahmen) sogar die Sterblichkeit erhöhen Splitter- oder Stichverletzungen verursacht. Die
kann [21]. Aufgrund dessen wird im militärischen Pathomechanismen werden in 7 Kap. 12 und 13 be-
Bereich bei penetrierenden Wirbelsäulenverletzun- handelt.
gen zunehmend auf Immobilisationsmaßnahmen Beim penetrierenden Thoraxtrauma liefern
zugunsten einer schnellen Evakuierung verzichtet, Ein- und ggf. Austrittswunde nur bedingt Hinweise
zumal diese häufig sehr aufwändig sind und die auf das wahre Ausmaß der intrathorakalen Verlet-
Helfer massiv gefährden können. Die aufgrund des zung. So kann auch bei kleinen Ein- und Austritts-
für eine adäquate Immobilisierung der HWS mit wunden ein erheblicher Schaden an den im Brust-
148 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

B Breathing (Atmung/Brustkorb)

. Abb. 9.17 Leitlinie »Breathing« (Atmung/Brustkorb

korb liegenden Organen vorliegen. Für die prä- Offener Pneumothorax


klinische Versorgung besonders relevant sind Eröffnet eine penetrierende Thoraxverletzung den
Schädigungen des Herzens und der großen Gefäße Pleuraspalt, strömt Luft hinein. Der normalerweise
sowie der Lunge und Trachea. Bei ausgedehnten dort vorherrschende leichte Unterdruck, der die
Gewebeschädigungen von Herz oder großen Gefä- Lunge entfaltet hält, wird aufgehoben und die Lunge
ßen tritt der Tod meist rasch ein und der Verwun- kollabiert mehr oder weniger stark. Bei Atembe-
dete ist kaum einer Therapie zugänglich. Lediglich wegungen strömt Luft v. a. durch das Loch in der
bei sehr kurzen Transportzeiten kann eine schnelle Thoraxwand in den Brustkorb, statt durch die
Evakuierung zur chirurgischen Versorgung lebens- Trachea in die Lunge. Sie wird nicht mehr entfaltet
rettend wirken [55]. und belüftet, wodurch dem Patienten erheblich
9.3 · »Tactical Field Care«
149 9

. Abb. 9.18 Links: Ein Okklusivverband (»chest seal«) verhindert das Eindringen von Luft durch die Thoraxwunde in der In-
spiration. Dadurch wird eine Restventilation des kollabierten Lungenflügels erzielt. Mitte: Pendelatmung bei penetrierendem
Thoraxtrauma. Rechts: Spannungspneumothorax. Bei Inspiration dringt Luft durch die Wunde ein, bei Exspiration verhindert
ein Ventilmechanismus das Ausströmen

weniger Fläche für den alveolären Gasaustausch zur fäßverletzung eine Ansammlung von Blut im
Verfügung steht. Übersteigt die Wundöffnung in Pleuraspalt, spricht man vom Hämatothorax. Die
der Thoraxwand einen Durchmesser von ca. 2 cm, Unterscheidung von Pneumothorax und Häma-
wird der betroffene Lungenflügel beim Atmen tothorax ist präklinisch von nachgeordneter Wich-
nahezu nicht mehr belüftet, und es entsteht eine tigkeit. Sie ist ohnehin nur durch eine gewissenhafte
Pendelatmung (Syn.: Mediastinalflattern) durch Perkussion möglich, die bei Umgebungslärm
Hin- und Herbewegung des Mediastinums zwi- schwierig ist [53].
schen beiden Lungenflügeln. Dadurch werden die Patienten mit Thoraxverletzung, die bei Be-
noch entfaltete Lunge der Gegenseite und die obere wusstsein sind, nehmen meist spontan eine Schon-
und untere Hohlvene in ihrer Funktion beeinträch- haltung ein, die nach Möglichkeit belassen werden
tigt (. Abb. 9.18 Mitte). Bei kleineren Löchern bleibt sollte. Toleriert der Verwundete eine Positionsände-
eine gewisse Restventilation der betroffenen Lun- rung, empfiehlt sich die atmungserleichternde La-
genseite bestehen, da der Widerstand für die ein- gerung sitzend oder mit hochgelagertem Oberkör-
strömende Luft in der Trachea geringer als durch per. Bei Bewusstlosigkeit sollte der nichtbeatmete
das Loch in der Thoraxwand ist [45]. Patient in der stabilen Seitenlage auf der verletzten
Als besonders gefährliche Form des Pneumo- Thoraxseite gelagert werden, um eine optimale Ent-
thorax kann gerade bei kleineren Löchern durch faltung und Belüftung der unverletzten Seite zu
einen Ventilmechanismus ein Spannungspneumo- ermöglich. Diese Seite wird aufgrund der guten Be-
thorax entstehen (s. unten). Verursacht eine Ge- lüftung dann auch am besten perfundiert (Euler-
150 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

. Abb. 9.19 Durch Blut verschmutzte Ventile eines Bolin Chest Seal mit fraglicher Effektivität. Die Blutansammlungen unter
der Klebefläche deuten auf eine teilweise Ablösung hin, die fast den Rand des Pflasters erreicht. (Foto: F. Josse)

9
Liljestrand-Reflex) und somit der bestmögliche Überdrucks garantieren sollen. Da die Ventile häufig
Gasaustausch in der Lunge sichergestellt. durch Blut verstopft und nicht mehr funktionsfähig
Zur standardisierten Versorgung von penetrie- sind und ihre Wirksamkeit generell bisher nicht
renden Thoraxverletzungen haben sich Okklusivver- nachgewiesen ist, waren sie zwischenzeitlich von ge-
bände (»chest seals«) durchgesetzt. Es handelt sich ringerer Bedeutung (. Abb. 9.19) [45]. Weil aktuell
um Klebeverbände, die die Wunde luftdicht ver- sehr gut haftende Okklusivverbände mit Ventilme-
schließen. Sie machen aus einem offenen einen ge- chanismus marktverfügbar sind, werden sie auf-
schlossenen Pneumothorax. Bei Löchern größeren grund theoretischer Überlegungen wieder als Ver-
Durchmessers wird so eine gewisse Ventilation des sorgungsstandard empfohlen. Der sicheren Haftung
betroffenen Lungenflügels bewirkt und eine Pendel- des Okklusivverbandes an der Haut kommt aber die
atmung wirkungsvoll verhindert. Gerade bei spontan höchste Priorität zu, so dass im Zweifelsfall dem si-
atmenden Patienten kann dadurch eine wesentliche cher abdichtenden Verband auch ohne Ventil der
Verbesserung der Atmung erreicht werden (. Abb. Vorzug gegeben werden sollte. Eine möglichst durch-
9.18 links). Außerdem werden die erkannten Ein- und gehende Überwachung ist für frühes Erkennen und
Austrittswunden für die spätere Weiterbehandlung rasche Therapie eines möglicherweise (erneut) ent-
deutlich sichtbar markiert. Luftdichte Okklusivver- stehenden Spannungspneumothorax, wie bei jedem
bände bieten darüber hinaus den Vorteil, dass sie bei Patienten mit penetrierender Thoraxverletzung, be-
Wunden kleineren Durchmessers einen durch einen sonders wichtig (. Abb. 9.20).
Ventilmechanismus an der Thoraxwand verursach-
ten äußeren Spannungspneumothorax sicher verhin- > Da sich die Ausdehnung der Brustkorbhöhle
dern. Da aber meist auch eine Lungenverletzung mit durch die Atmung laufend verschiebt, sollten
Verbindung zu den Atemwegen und einem mögli- alle penetrierenden Verletzungen oberhalb
chen Ventilmechanismus vorliegt, erhöht der luft- des Bauchnabelniveaus und unterhalb des
dichte Verschluss der Brustkorbwunden andererseits Kehlkopfes inkl. des Schulterbereiches als
die Gefahr eines inneren Spannungspneumotho- mögliches penetrierendes Thoraxtrauma be-
rax. Manche Modelle verfügen daher über Ventile, handelt und mit luftdichten Verbänden ver-
die in diesem Fall theoretisch den Ausgleich des sorgt werden.
9.3 · »Tactical Field Care«
151 9
haltefolie bewährt. Letztere kann bei sehr geringem
penetrierende Thoraxverletzung Packmaß und -volumen große Flächen abdecken
und ist daher optimal für die Versorgung multipler
Thoraxwunden geeignet, kann aber bei zu fester
Okklusivverband zirkulärer Wicklung die Atmung oder Beatmung be-
Vier-/Drei-Seitenverband, Asherman, Bolin etc. hindern. Sie ist zudem gut geeignet für die Versor-
gung von Thoraxverletzungen beim Diensthund
Assessment (7 Kap. 23) und kann im Notfall auch als Provisorium
zur Abdeckung großflächiger Wunden, z. B. Verbren-
Atemnot – Zyanose – Unruhe nungen, eingesetzt werden. Sowohl Hydrogelfolie, als
fehlendes Atemgeräusch auf der betroffenen Seite
Tachypnoe – Atemfrequenz > 30/min
auch Frischhaltefolie sind nicht als Medizinprodukte
Hypotonie – RR syst. < 80 (radial nicht tastbar) zugelassen und dürfen daher theoretisch nicht zur
Tachykardie HF > 100/min Behandlung am Menschen eingesetzt werden. An-
(zunehmende Verschlechterung / »C-Problem«) dere Möglichkeiten zum luftdichten Verschluss bie-
als Spätzeichen Hautemphysem / gestaute Halsvenen /
verschobene Trachea
ten (jodhaltige) Fettgaze (z. B. Inadine, Betaisodona-
Wundgaze) oder Defibrillatorelektroden.

Spannungspneumothorax
Entlastungspunktion
Ein Spannungspneumothorax entsteht aus einem
. Abb. 9.20 Leitlinie penetrierende Thoraxverletzung Pneumothorax, wenn während der Inspiration in
den Pleuraspalt eingeströmte Luft bei der Ausat-
mung aufgrund eines Ventilmechanismus nicht
Die industriell hergestellten »chest seals« werden in mehr ausströmen kann. Der Ventilmechanismus
7 Kap. 3 beschrieben. Zum improvisierten Verschluss wird beim penetrierenden Thoraxtrauma meist
lassen sich aber auch luftdichte Folien (z. B. Ver- durch Gewebefetzen im Bereich der Wunde ge-
packung von Infusion oder Brandwundenverband- bildet, die sich von innen vor die Öffnung legen. Ein
tuch Bw, Kompressenverpackung, Folie etc.) an vier Spannungspneumothorax kann auch durch Lun-
Seiten mittels Pflasterstreifen fixieren. Werden nur genverletzungen verursacht werden, die eine
drei Seiten festgeklebt, kann die lockere Seite theo- Verbindung zwischen den Atemwegen und dem
retisch als Flatterventil fungieren und Luft nach Pleuraspalt herstellen. Sie werden häufig durch ein
außen entweichen lassen. Die Wirksamkeit ist aller- (primäres) Explosionstrauma oder iatrogen durch
dings nicht bewiesen [45]. Besonders bewährt hat die Beatmung verursacht [55].
sich hier Gewebeband oder Sporttape, da es auch Durch den steigenden Druck in der betroffenen
auf schweißnasser Haut vergleichsweise gut haftet. Thoraxseite wird das Mediastinum zunehmend in
Im Notfall ist auch die Nutzung des Wundklebers Richtung der unverletzten Thoraxseite gedrückt,
Cyanacrylat (z. B. Dermabond) möglich, der aller- sodass sich der dortige Lungenflügel nicht mehr
dings bei Entfernung des Verbandes Hautschäden richtig entfalten kann und die Atmung einge-
hinterlässt. Diese Techniken können auch zur zu- schränkt wird. Der erhöhte intrathorakale Druck
sätzlichen Abdichtung oder Befestigung von vor- verschlechtert durch Kompression der oberen und
gefertigten Okklusivverbänden bei schlechter unteren Hohlvene den venösen Rückstrom zum
Haftung genutzt werden. In jedem Fall sollte die Herzen und kann so einen Schock verursachen oder
Haut vor Aufbringen eines Okklusivverbandes für verstärken (. Abb. 9.18 rechts).
eine bestmögliche Haftung mit einer Kompresse o. ä. Ein Spannungspneumothorax ist v. a. durch zu-
von Feuchtigkeit und Schmutz gereinigt werden. nehmende Atemnot und einen Abfall der Sauer-
Als sehr gute Alternativen haben sich Hydrogel- stoffsättigung gekennzeichnet, auch wenn diese
folien, wie sie zum Bau von Sprengladungen ver- Symptome sehr unspezifisch sind [53]. Auf der be-
wandt werden (z. B. Hydrogel [USA] Roll, Fa. EVAC troffenen Thoraxseite bestehen ein abgeschwächtes
Safety Products, www.EVAC.nl), wie auch Frisch- Atemgeräusch und hypersonorer Klopfschall. Es
152 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

. Abb. 9.21 Nadelentlastung eines Spannungspneumothorax. Die Punktionsstelle liegt zwar streng in der Medioklavikular-
linie, aber dennoch deutlich medial der Brustwarze. Eine weiter lateral durchgeführte Punktion verringert die Komplikations-
gefahr deutlich. (Foto: F. Josse)
9
kommt wie beim Pneumothorax außerdem zu werden. Da die Anlage einer Thoraxdrainage unter
Tachykardie und Hypotension mit dem entschei- Gefechtsbedingungen sehr zeitaufwändig ist, einen
denden Unterschied, dass diese kontinuierlich pro- vergleichsweise hohen Materialverbrauch bedeutet
gredient sind (»zunehmendes C-Problem«). Im und nur schwer unter ausreichend sterilen Be-
Verlauf kommt es durch die intrathorakale Druck- dingungen erfolgen kann, hat sich die Nadel-
erhöhung zur Kompression der Hohlvene und einer dekompression als Standard etabliert (. Abb. 9.21).
dadurch verursachten Jugularvenenstauung. Liegt Sie ist bei der akuten Entlastung eines Span-
gleichzeitig ein hämorraghischer Schock vor, kann nungspneumothorax ebenso effektiv wie die Anlage
das Hervortreten der Halsvenen als Zeichen der einer Thoraxdrainage [28], stellt aber keine de-
oberen Einflussstauung durch Hypovolämie und finitive Versorgung dar. Vielmehr überbrückt die
Zentralisation maskiert werden [55]. Beim sehr aus- Nadelentlastung den Zeitraum, bis die Lage die
geprägten Spannungspneumothorax kann es als Anlage einer Thoraxdrainage erlaubt. Im Idealfall
spätes Zeichen zur Verschiebung der Luftröhre zur erfolgt sie bei kurzen Evakuierungszeiten unter ste-
unverletzten Thoraxseite hin kommen [55]. Diese rilen Bedingungen im Schockraum der aufnehmen-
Trachealdeviation ist am Hals fühl- und teilweise den Behandlungseinrichtung.
sichtbar. Manchmal sind knisternde Luftblasen un- Zwar ist die angesprochene Auskultation eines
ter der Haut tastbar (Hautemphysem). einseitig fehlenden Atemgeräusches das wichtigste
Ein Spannungspneumothorax kann in Ausnah- und zuverlässigste diagnostische Verfahren bei der
mefällen innerhalb weniger Minuten entstehen und präklinischen Diagnose eines Spannungspneumo-
zum Tod führen. Häufig bilden sich Symptome aber thorax [53], aber sie kann im taktischen Umfeld
erst nach deutlich längeren Zeiträumen von bis zu aufgrund der Hintergrundgeräusche in der Regel
über einer Stunde. Dies verdeutlicht die besondere nicht durchgeführt werden. Daher kann meist nur
Bedeutung einer durchgehenden Überwachung von aufgrund zunehmender Atemnot und Kreislau-
Patienten mit penetrierendem Thoraxtrauma. finstabilität bei penetrierendem Thoraxtrauma auf
Ein Spannungspneumothorax führt ohne The- das Vorliegen eines Spannungspneumothorax ge-
rapie unweigerlich zum Tod des Betroffenen. Der schlossen werden. Häufig muss in kurzer Zeit ohne
bestehende Überdruck muss daher zügig entlastet weitere Untersuchungsmöglichkeiten eine Thera-
9.3 · »Tactical Field Care«
153 9
pieentscheidung getroffen werden. Die Indikation
für eine Nadelentlastung bei penetrierendem
Thoraxtrauma und zunehmender Dyspnoe sollte
daher großzügig gestellt werden [59]. Da beim pe-
netrierenden Thoraxtrauma nahezu immer ohne-
hin ein Pneumothorax vorliegt, in der Literatur
keine Todesfälle durch nichtindizierte Nadelpunk-
tionen des Thorax beschrieben worden sind und ein
nicht erkannter oder behandelter Spannungspneu-
mothorax dagegen in der Regel tödlich endet, ist das
geringe Risiko unter den gegebenen Umständen
gerechtfertigt. Besteht ohne penetrierendes Thorax-
trauma der Verdacht auf einen Spannungspneumo-
thorax, ist die Indikation zurückhaltender zu stel-
len, weil dann ein Pneumothorax erst durch die
Punktion verursacht werden kann. . Abb. 9.22 Die Nadelentlastung wird im 2. oder 3. ICR
lateral der MCL oder der Brustwarze. Zum Auffinden wird
> Ein penetrierendes Thoraxtrauma in Verbin- der Oberrand des Sternums an der Drosselgrube (Fossa
dung mit zunehmender Atemnot und Schock- jugularis) getastet (1), ca. 2 Querfinger fußwärts ist eine
symptomatik rechtfertigt eine Entlastungs- wulstige, quer verlaufende Knochennaht auf dem Brustbein
zu tasten (2). An ihr setzt seitlich die 2. Rippe an. Folgt man
punktion auf der verletzten Thoraxseite!
ihr zur Seite, findet man fußwärts den 2. ICR
Die Entlastungspunktion eines Spannungspneu-
mothorax sollte in der sog. Monaldi-Position im
2. oder 3. Interkostalraum (ICR) in der Mediolaviku- Da an der Unterkante der Rippen Gefäß-Nerven-
larlinie (MCL) erfolgen. Die MCL wird gerade von Bündel verlaufen, muss die Punktion immer auf der
Helfern mit niedrigem Ausbildungsstand oftmals zu Oberseite der Rippen senkrecht zur Hautoberfläche
weit medial vermutet, da die tatsächliche Lage von erfolgen (. Abb. 9.23). Das Durchdringen der
Beginn und Ende der Klavikula nicht bekannt ist. Brustwand kann häufig aufgrund des Widerstands-
Gerade unter dem Stress und den schlechten Bedin- verlustes gefühlt werden. Besteht ein Spannungs-
gungen des Gefechtsfeldes ist auch in Untersuchun- pneumothorax, entweicht in diesem Moment
gen ein Trend feststellbar, dass zu nahe am Sternum zischend Luft. Bei der Verwendung von Venen-
punktiert wird. Dies gefährdet nicht nur Herz und verweilkanülen ist es wichtig, vorher die hintere
große Gefäße, sondern verletzt auch häufig die Verschlusskappe komplett zu entfernen! Auch wenn
A. mammaria interna, die seitlich entlang des Ster- kein zischendes Geräusch zu hören war (z. B. bei
nums verläuft [57]. Zunehmend wird daher empfoh- Umgebungslärm), ist die schlagartige Besserung der
len, mindestens drei Querfinger lateral des Sternum- Atemnot des Patienten ein nahezu sicherer Hinweis
randes [53], besser aber seitlich der Brustwarze im für die erfolgreiche Therapie eines Spannungspneu-
2. oder 3. ICR zu punktieren (. Abb. 9.22) [45, 57]. mothorax. Bleibt diese aus, ist die Punktion etwas
weiter lateral (ggf. mehrfach) zu wiederholen. Er-
Tipp folgt weiterhin keine Besserung, sollte die Ver-
dachtsdiagnose »Spannungspneumothorax« über-
Die Knochennaht zwischen Manubrium und dacht werden. Besteht weiterhin der hochgradige
Corpus sterni lässt sich beim liegenden oder Verdacht auf einen Spannungspneumothorax, ist
sitzenden Patienten nahezu immer gut tasten. bei frustraner Nadelpunktion die Anlage einer Tho-
Sie dient als einfache und verlässliche Orientie- raxdrainage indiziert. Zur unmittelbaren Lebens-
rung zum Auffinden der Punktionsstelle im rettung reicht hier auch ohne Einlage einer Draina-
2. ICR in MCL (. Abb. 9.22). ge die Eröffnung des Brustkorbes zur Druckentlas-
tung. Wird keine Thoraxdrainage mitgeführt, kann
154 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

. Abb. 9.23 Die Nadelentlastung muss nahe der kopfwärts . Abb. 9.24 Nach Entlastungspunktion im Brustkorb belas-
gelegenen Kante der Rippe erfolgen, um das an der Unter- sener Katheter mit typischem Knick. (Foto: F. Josse)
kante gelegene Gefäß-Nerven-Bündel nicht zu verletzen

9 als Provisorium z. B. auch ein Endotrachealtubus messer einer Entlastungsnadel können keine aus-
o. ä. verwendet werden. reichend großen Luftmengen strömen, um die
Nach der erfolgreichen Nadelentlastung kann Atemmechanik wesentlich zu beeinflussen [45].
der Plastikkatheter im Brustkorb belassen oder In zivilen Studien wurden Brustwanddicken im
wieder entfernt werden. Wird die entfernte Entlas- Bereich des 2. ICR in der MCL von unter 2,5 cm er-
tungsnadel mit aufgesteckter Schutzkappe neben mittelt, bei anderen Untersuchungen waren 5-cm-
der Entlastungsstelle auf den Brustkorb geklebt, ist Nadeln nur in 4 % der Fälle nicht lang genug, um die
sie für erneut notwendige Punktionen jederzeit Thoraxhöhle zu erreichen. Für Nadelentlastungen
griffbereit und kennzeichnet die durchgeführte werden daher 5 cm lange Nadeln als ausreichend
Entlastungspunktion. Bei den amerikanischen lang angesehen [10]. Aufgrund des meist erheblich
Streitkräften ist es üblich, den Plastikkatheter im besseren Trainingszustandes ist beim Brustmuskel
Brustkorb zu belassen und zu fixieren. Dies markiert von Soldaten eine höhere durchschnittliche Brust-
für nachfolgend tätige Helfer (z. B. nach Übergabe wanddicke zu erwarten, ähnliches gilt für adipöse
an Hubschrauber) auch ohne ausführliche Überga- Patienten. Studien an amerikanischen Soldaten
be, dass ein Spannungspneumothorax vorgelegen haben dies bestätigt, die durchschnittliche horizon-
hat und entlastet worden ist. Durch diese »Mik- tale Brustwanddicke lag im 2. ICR in der Mediokla-
rothoraxdrainage« kann theoretisch kein erneuter vikularlinie bei 5,36 cm ± 1,19 cm, mit Einstichwin-
Spannungspneumothorax entstehen, da die Luft bei kel 90° zur Hautoberfläche bei 4,86 cm ± 1,1 cm.
zunehmendem Druck entweichen könnte. Da Ve- Übliche 5-cm-Nadeln (z. B. übliche 14-G-Venen-
nenverweilkanülen beim Patiententransport aber verweilkanülen) sind daher nach dieser Studie für
häufig abknicken oder durch Blut verstopfen, ist die eine sicher erfolgreiche Entlastungspunktion häufig
im Thorax belassene Nadel meist nicht effektiv nicht lang genug [20]. Allerdings handelt es sich
(. Abb. 9.24). um CT-gestützte Messungen der Brustwand, die
Sie verleitet aber zu einer unzureichenden eine mögliche Kompression der Muskulatur beim
Überwachung des Patienten, weil der Spannungs- Punktionsversuch nicht berücksichtigen. Es sind
pneumothorax vermeintlich ausgeschlossen ist. Ein daher in der Bundeswehr und den meisten alliierten
Tiegel- oder Heimlich-Ventil muss nicht zwingend Streitkräften lange Entlastungsnadeln als Standard
angebracht werden. Durch den geringen Durch- eingeführt worden [59]. Als stabilere und längere
9.3 · »Tactical Field Care«
155 9
Alternative zu normalen Kanülen können lange
. Tab. 9.2 Für die Differenzialdiagnose von Span-
Venenverweilkanülen (CE-zertifiziert: z. B. Angio- nungspneumothorax und Herzbeuteltamponade
cath 12G, Fa. BD) oder auch Babythoraxdrainagen relevante Untersuchungsbefunde
verwendet werden. Bei letzteren weist der Trokar
allerdings einen relativ stumpfen Kegelschliff auf, Spannungs- Herzbeutel-
der bei der Überwindung des Hautwiderstandes viel pneumothorax tamponade

Druck erforderlich macht. Eine vorherige Stichinzi-


Atemgeräusch Einseitig Beidseits
sion mit Skalpell oder Nadel empfiehlt sich, erfor- aufgehoben vorhanden
dert aber zusätzlich Zeit und Material.
Perkussion Hypersonor Normal
Als Alternative kann im Notfall eine Punktion
in Bülau-Position (7 Abschn. 9.4) erfolgen. Hier ist Trachea Verschoben In der Mittellinie
die Thoraxwand dünner als im Bereich des Brust-
muskels. Die Punktion darf nicht unterhalb der
Brustwarzenhöhe erfolgen, um die Gefahr einer sind klein und leicht genug, um am Mann mitge-
Verletzung von Zwerchfell, Leber oder Milz zu mi- führt zu werden. Gerade wenn ein Patient längere
nimieren. Weil die Punktion in dieser Position Zeit getragen werden muss, liefert ein Pulsoxymeter
meist auch bei angelegter Schutzweste möglich ist, durch Anzeige von Sauerstoffsättigung und Herzfre-
wird sie zunehmend zu einer Alternative für das quenz wertvolle Hinweise zum Zustand des Patien-
taktische Umfeld. Dabei ist jedoch zu bedenken, ten, ohne diesen wiederholt absetzen zu müssen. Sie
dass die Luft sich je nach Position des Patienten eher können außer am Finger ebenso an Zehen oder am
kopfwärts oder vorne sammelt. Ohr angelegt werden. Wichtig ist, dass ein Pulsoxy-
meter nicht an einer durch ein Tourniquet abgebun-
Herzbeuteltamponade denen Extremität angelegt wird. Besonders nützlich
Durch Verletzungen des Herzmuskels kann sich Blut sind Pulsoxymeter bei Patienten, deren Prognose
im Herzbeutel sammeln und durch zunehmenden erheblich von einer ausreichenden Gewebeoxyge-
Druck in der Diastole die Füllung des Herzens be- nierung abhängt (z. B. SHT) oder bei denen durch
hindern. Die Symptomatik der Perikardtamponade Störung der Atemmechanik oder des Gasaustau-
kann der eines Spannungspneumothorax ähneln sches eine Störung der Gewebeoxygenierung zu er-
(. Tab. 9.2). Sie ist gerade im taktischen Umfeld warten ist (Thoraxverletzungen, Bewusstlosigkeit,
schwierig zu erkennen. Da Herzverletzungen häufig Explosions- oder Inhalationstrauma der Lunge).
unmittelbar tödlich verlaufen, ist die Ausbildung die- Ein SpO2 ≥95 % ist ein Hinweis auf eine ausrei-
ser Perikardtamponade aber selten. Eine Infusions- chende Atmung. Ein Abfall kann neben fehlendem
therapie kann bei Volumenmangel den Patienten Atemantrieb oder einer Atemwegsverlegung auch
vorübergehend stabilisieren [8]. Bei sicherer Diag- einen Hinweis auf einen progredienten (Span-
nose (z. B. präklinische Sonographie) oder hinrei- nungs-)Pneumothorax oder eine Lungenkontusion
chendem Verdacht und Lebensgefahr kann bei Be- (»blast lung«) darstellen. Fehlmessungen oder eine
herrschen der Technik eine Nadelpunktion zur Entlas- schwache Signalstärke (häufig durch orange Warn-
tung der Tamponade wertvolle Zeit verschaffen. Die lichter gekennzeichnet) sind meist ein Zeichen für
Sinnhaftigkeit einer Nadelpunktion ist umstritten, da eine gestörte periphere Perfusion im Schock [45].
sich weder geronnenes Blut entfernen, noch die zu- Wichtig ist das Verständnis dafür, dass Pulsoxyme-
grunde liegende Blutung aus dem Ventrikel stoppen ter nur die Sättigung des vorhandenen Hämoglo-
lässt [53]. Da es meist zu einer begleitenden Lungen- bins anzeigen können. Ist die Hämoglobinkonzent-
verletzung kommt, steht in der Regel deren Therapie ration durch Blutverlust stark gesunken, kann trotz
und die schnelle Evakuierung im Vordergrund. einer Sättigung von 100 % zu wenig Sauerstoff für
eine ausreichende Gewebeoxygenierung transpor-
Pulsoxymetrie tiert werden. Hier sind Kombinationsgeräte mit in-
In der Phase TFC sind Fingerpulsoxymeter ausge- tegrierter Messung des Hämoglobingehaltes im Blut
sprochen nützlich zur Beurteilung der Atmung. Sie hilfreich. Andere Kombinationsgeräte, die auch mit
156 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

Kohlenmonoxid besetztes Hämoglobin (COHb) sind. Da eine Liegezeit von unter 2 h unkritisch ist
messen können, liefern darüber hinaus Hinweise und die Blutungen kontrolliert sind, kann der Ver-
auf eine CO-Intoxikation, wie sie z. B. bei Fahrzeug- such eines Wechsels auf einen Druckverband
bränden auftreten kann. Da COHb von normalen grundsätzlich aber warten, bis Maßnahmen mit
Pulsoxymetern nicht erkannt und eine falsch-hohe höherer Priorität abgearbeitet sind. Bei Verwunde-
Sättigung angezeigt wird, sind sie eine wertvolle ten, die sich bereits im Schock befinden, sollte das
Hilfe bei der Differenzialdiagnostik von Bewusst- Tourniquet belassen werden, um keinen weiteren
seinsstörungen, die auf Volumengabe nicht reagie- Blutverlust zu riskieren [45].
ren. Kombinationsgeräte sind zwar am Markt ver- Der Ersatz eines Tourniquets durch einen
fügbar, allerdings noch nicht in der Größe eines Druckverband reduziert in der Regel den Analge-
Fingerpulsoxymeters. Sie eignen sich daher eher für tikabedarf des Verwundeten und vermindert die
eine Nutzung in Fahrzeugen als am Mann. Wahrscheinlichkeit eines Tourniquet-Syndroms. Die
Wie alle Überwachungsgeräte ersetzen Pulsoxy- Anwendung von Hämostyptika erhöht die Erfolgs-
meter nicht die sorgfältige klinische Überwachung chance dabei deutlich. Einmal angelegte Tourniquets
des Patienten. Im Schock oder bei Unterkühlung sind sollten auch nach dem erfolgreichen Wechsel auf ei-
die ablesbaren Werte aufgrund der eingeschränkten nen Druckverband vollständig gelöst in ihrer Positi-
peripheren Perfusion häufig nicht verlässlich. on belassen werden, um eine erneut beginnende Blu-
tung schnell stoppen zu können. Wird eine Wunde
zur Untersuchung freigelegt, sollte ein weiterhin not-
9.3.4 »Circulation« (. Abb. 9.25) wendiges, aber noch auf der Kleidung platziertes
9 Tourniquet nach Möglichkeit im Rahmen dieser
Blutungskontrolle (. Abb. 9.26) Maßnahme direkt auf der Haut angelegt werden.
Tourniquets Nach einer Liegezeit von 15–30 min ist mit dem
Die Stillung von relevanten Blutungen hat auch in Auftreten eines erheblichen Ischämieschmerzes zu
der Phase TFC Priorität vor allen anderen Maßnah- rechnen. Dieser addiert sich zu den Schmerzen
men. Im Vorfeld angelegte Tourniquets müssen un- durch die Verwundung und die schmerzhafte Kom-
mittelbar auf Effektivität kontrolliert werden und pressionswirkung des Tourniquets selber und er-
bei noch bestehender Blutung oder tastbarem peri- fordert in aller Regel spätestens in der Kombination
pherem Puls fester angezogen oder mit einem zwei- die Behandlung mit potenten Schmerzmitteln. Die
ten Tourniquet ergänzt werden. Alle noch nicht auftretenden Schmerzen sind normal und kein
versorgten starken Extremitätenblutungen können Zeichen einer falschen Verwendung des Tourniquets.
auch jetzt zunächst mit einem Tourniquet versorgt Tourniquets können falsch oder nicht fest genug
werden. Auch wenn das Tourniquet nur temporär angelegt sein, sich im Laufe der Zeit lockern, ver-
genutzt wird, kann dadurch bis zur Anlage eines schieben oder durch Materialfehler keine Wirkung
Druckverbandes der Blutverlust minimiert werden. mehr haben. Außerdem ist es möglich, dass der Ver-
Die durch das Tourniquet schnell und effektiv ge- wundete das Tourniquet aufgrund der Schmerzen
stillte Blutung kann dann zunächst in den Hinter- oder der durch den Blutverlust bedingten Ver-
grund rücken und dringlichere Probleme behandelt wirrung selbst öffnet. Sie sollten daher regelmäßig
werden (z. B. starke Blutungen des Körperstamms). kontrolliert werden, insbesondere bei Umlagerung
Lassen sich Extremitätenblutungen mittels anderer und Transport des Patienten. Bei Verwundeten im
Maßnahmen nicht kontrollieren, sollten Tourni- Schock kann es notwendig sein, liegende Tourni-
quets als Mittel der letzten Wahl 1–2 Querfinger quets nach einiger Zeit fester anzuziehen, da durch
oberhalb der Verwundung angelegt und dann be- Infusionstherapie der Blutdruck ansteigen und er-
lassen werden (. Abb. 9.27). Zur temporären Blut- neut eine Blutung beginnen kann [59, 67].
stillung in den Phasen CuF oder TFC angelegte Auf der Arbeitsebene wird zunehmend eine
Tourniquets sollten schnellstmöglich ersetzt wer- Mindestliegezeit des Tourniquets von 30 min vor
den, sobald die Lage dies erlaubt und wenn längere dem Wechsel auf Druckverband empfohlen, da sich
Versorgungs- oder Evakuierungszeiten zu erwarten bis zu diesem Zeitpunkt Gerinnsel ausreichend ver-
9.3 · »Tactical Field Care«
157 9

C Circulation (Blutungen/Kreislauf/Volumen)

. Abb. 9.25 Leitlinie »Circulation«

festigt haben und das Risiko einer erneuten Blutung auch am Körperstamm durch Druck und ggf. die
minimiert sein soll. Zu dieser Theorie gibt es bisher Anwendung von Hämostyptika. Manuelle Kom-
keine wissenschaftlichen Studien, sodass Nutzen pression führt auch bei starken Blutungen fast im-
oder Risiko dieses Vorgehens nicht beurteilt werden mer zum Erfolg, bindet den Helfer aber dauerhaft,
können. ist während des Transportes kaum aufrechtzuerhal-
ten und daher nur kurzfristig durchführbar. Direk-
Direkter Druck ter Druck eignet sich gut, um Zeit zur Heranfüh-
Die Kontrolle von Blutungen ohne Anlage eines rung von Helfern oder zur Vorbereitung von Mate-
Tourniquets erfolgt sowohl an den Extremitäten als rial zu gewinnen. Wichtig ist, dass ausreichend
158 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

Blutstillung in der Phase »Tactical Field Care«

Tourniquet bereits angelegt noch keine Blutstillung erfolgt

manueller Druck auf die Wunde


Reassessment der Blutung.
Ersatz des Tourniquet möglich ?

Anlage Druckverband

Anlage Druckverband und/oder
hämostyptisches Dressing

hämostyptisches Dressing, Kompression


Tourniquet langsam aber vollständig öffnen,


am Ort »locker« belassen, um es ggf.
schnell wieder schließen zu können! Tourniquet schließen / anlegen
Steht die Blutung? – Zeitpunkt notieren
(= Ultima ratio- /»Last resort«-Maßnahme)
9 +

Erläuterungen
Verband regelmäßig kontrollieren
Tourniquet gelöst belassen + Blutstillung erfolgreich
– Blutstillung ohne Erfolg

. Abb. 9.26 Leitlinie Blutstillung in der Phase »Tactical Field Care«

großer Druck aufgebaut wird und der Patient auf wird. Vor- und Nachteile dieser Ansätze können
festem Untergrund als Widerlager liegt. Bewährt bisher nicht bewertet werden. Es bleibt abzuwarten,
hat sich dabei eine Technik analog zur Haltung bei ob sie auf breiter Ebene tatsächlich in die präklini-
der Herzdruckmassage mit durchgedrückten Ellbo- sche Nutzung kommen.
gen und zwei Händen. Ist der Helfer alleine, kann
vorübergehender Druck mit dem Knie beide Hände Wundtamponade
zum Arbeiten freimachen [51]. Im amerikanischen Die Durchführung einer Wundtamponade (»wound
Raum wurden Hilfsmittel eingeführt, die Blutungen packing«) ist in Deutschland unüblich, gehört aber
der Beine durch Kompression der Leistenarterien in der Ausbildung von US-amerikanischem Sani-
kontrollieren sollen (»Junctional Tourniquet«) tätspersonal, insbesondere im Bereich der Spezial-
(7 Kap. 3). Mit Einschränkungen lassen sich einige kräfte, seit Jahrzehnten zum Standard. Es hat sich
dieser Produkte auch im Bereich der Schulter an- schon vor Einführung moderner Hämostyptika
wenden. Sie sind in die aktuellen TCCC-Leitlinien bewährt und ist dem klassischen europäischen
als Empfehlung aufgenommen worden, praktische Druckverband überlegen, da gerade bei tiefen
Erfahrungen im größeren Maßstab stehen noch aus oder zerklüfteten Wunden erheblich mehr Druck
[70]. Im Entwicklungsstadium befinden sich derzeit auf die Wundränder und insbesondere die bluten-
ein Tourniquet, das die abdominelle Aorta kompri- den Gefäße erzielt werden kann. Traditionell be-
miert, und das Produkt abdominal foam, bei dem währt hat sich dabei Kerlix, ein sehr saugfähiger
zur Kontrolle von intraabdominellen Blutungen ein elastischer Verbandmull. Alternativ lassen sich
aushärtender Schaum in die Bauchhöhle gespritzt auch gängige Verbandmittel wie Mullbinden,
9.3 · »Tactical Field Care«
159 9

Lösen des Tourniquets

. Abb. 9.27 Leitlinie Lösen des Tourniquets

Bauchtücher, langgezogene Kompressen etc. ver- bis die Blutung durch Kompression unter Kontrolle
wenden. ist. Bei Verletzungen im Bereich großer Gefäße
Zunächst wird die Blutung durch Druck unter (z. B. Leiste) ist häufig ein Druck auf die herznah
Kontrolle gebracht. Im Zweifelsfall kann dies bei gelegene Seite des Wundrandes erfolgreich, da hier
großen Wunden oder starken Blutungen mit der im Regelfall das stark blutende Gefäßende liegt.
Faust oder dem Handballen geschehen. Blut, das Eine Blutung aus kleineren Gefäßen kann häufig
sich in der Wunde gesammelt hat, wird mit Kom- auch durch Kompression mit den Fingerspitzen
pressen, Mullbinden, Verbandpäckchen o. ä. her- unter Kontrolle gebracht werden. Nach Reinigung
ausgewischt, um die Blutungsquelle bestmöglich zu der Wunde von Blut, kann durch einzelnes Anhe-
identifizieren. Strömt erneut viel Blut in die Wunde, ben der Finger nacheinander recht genau ermittelt
wird die Position der komprimierenden Hand werden, wo die Hauptblutungsquelle liegt. Diese
verändert und das Blut entfernt. Dieser Vorgang Stelle gilt es, mit größtmöglichem Druck zu tampo-
wird schnell und zielgerichtet solange wiederholt, nieren.
160 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

. Abb. 9.28 Prinzip der Wundtamponade: 1 Wunde mit Blutansammlung, 2 manueller Druck kontrolliert die Blutung (Hand-
ballen, Fingerspitzen, Faust), die freie Hand wischt vorhandenes Blut aus, 3 während eine Hand weiter die Blutung kontrolliert,
tamponiert die andere Hand die Blutungsquelle, 4 die Wunde wird nach und nach mit komprimiertem Verbandmaterial gefüllt,
die andere Hand erhält dabei den Druck auf die Tamponade aufrecht, 5 zum Schluss wird ein Druckverband über der Wundtam-
ponade angelegt, 6 zum Vergleich: traditioneller Druckverband, der bei tiefen, zerklüfteten Wunden unzureichend ist

Wird ein bindenförmig aufgerolltes Material Druck auf die Blutungsquelle ausüben und darf nur
zum Tamponieren genutzt (z. B. Kerlix, Mullbinde), kurz gelockert werden, um die nächste Schicht an
sollte das Ende mit einem Knoten versehen werden, Tamponade unter ihr einzubringen. Sobald das
der gezielten Druck auf die Blutungsquelle ermög- Hautniveau leicht überschritten ist, wird ein Druck-
licht. Alternativ kann die freie Hand einen ca. verband über der Tamponade angelegt. Dessen
kirschgroßen, festen Ball aus dem Verbandmaterial Druck wird durch das komprimierte Verbandmate-
formen. Der Knoten oder Ball wird auf die noch rial gut auf die Wundränder übertragen und kont-
durch manuellen Druck stillstehende Blutungs- rolliert Blutungen insbesondere bei tiefen Wunden
quelle gelegt und dann fest darauf gepresst, um die effektiver als ein herkömmlicher Druckverband
Blutung weiterhin zu kontrollieren. Anschließend (. Abb. 9.28). Wird unmittelbar auf der Blutungs-
stopft die freie Hand in Zick-Zack-Bewegungen quelle zu Beginn ein Hämostyptikum eingebracht,
oder Kreisen auf und um die Blutungsquelle herum erhöht dies die Erfolgswahrscheinlichkeit erheblich
die Wunde solange mit komprimiertem Verband- und verzeiht leichte handwerkliche Fehler bei der
material aus, bis sie über das Hautniveau hinaus Durchführung. Grundsätzlich lässt sich eine Wund-
aufgefüllt ist. Der Schlüssel zum Erfolg liegt dabei tamponade aber mit jeglichem saugfähigen, elasti-
darin, dass das Verbandmaterial möglichst gut ver- schen Material erfolgreich durchführen [51]. Im
dichtet wird. Die andere Hand muss permanent Notfall ist z. B. auch eine Wundtamponade mit
9.3 · »Tactical Field Care«
161 9
Baumwoll-T-Shirts möglich, wenn hygienische
Aspekte hinter akuter Lebensgefahr zurückstehen
müssen.
> Hämostyptika + Tamponade + Druck +
Druckverband = Erfolg

Gerade an schwer zugänglichen Stellen mit großen


Gefäßen wie Leiste, Achsel und Halsansatz, können
Wunden mit geringem Durchmesser manchmal
eine Wundtamponade mit Verbandmaterial un-
möglich machen. Hier bietet sich eine interne Tam- a
ponade mit Blasenkathetern oder Endotrachealtu-
ben an. Nach dem Einführen in die Wunde werden
sie mit Flüssigkeit (notfalls auch Luft) geblockt und
können durch direkten Druck eine sonst nicht zu-
gängliche Blutung manchmal stillen. Bei langen
Schusskanälen bietet sich ggf. die Nutzung einer
Sengstaken-Blakemore-Sonde aufgrund ihres län-
geren Ballons an [13]. Auch Tamponaden zur
Kompression unstillbaren Nasenblutens lassen sich
nutzen (z. B. Rapid Rhino, Fa. ArthroCare).
b
Verbände . Abb. 9.29a,b Prinzip des Druckverbandes im Leisten-
Druckverbände können die meisten Blutungen bei bereich. Der Gürtel dient dabei als Anker für Bindengänge
sorgfältiger Anlage effektiv kontrollieren. Dies trifft und sollte daher nicht zur Untersuchung zerschnitten
werden. Alternativ lässt sich mit einer weiteren Binde, Drei-
insbesondere in Kombination mit einer Wund-
ecktuch o. ä. ein Gürtel improvisieren. Je höher das
tamponade zu. Vorgefertigte Druckverbände mit Druckpolster ist, umso effektiver kann Druck ausgeübt
integriertem Druckpolster erleichtern die Anlage werden. (Fotos: Dr. C. Neitzel)
(7 Kap. 3). Der »Notverband« (israelischer Druck-
verband) konnte in Studien nachweisen, dass durch
den integrierten Plastikbügel sehr effektiv und se- Tamponieren der Wunde bzw. Auffüllen der Defek-
lektiv Druck auf die Wunde erzeugt werden kann, te und dann der Wechsel zwischen zirkulären »An-
während unnötig hoher Druck unter dem restlichen kerschlägen« und im 90°-Winkel davon ausgehen-
Verlauf der Binde vermieden wird [54]. den Zügeln zum dosierten Druckaufbau über dem
Bei Amputationsverletzungen ist es in der Re- Stumpf.
gel schwer, effektiven Druck durch die Anlage von Effektive Druckverbände sind insbesondere in
Druckverbänden zu erzeugen. Hier empfiehlt sich Leiste, Achsel, Schulterbereich und am Halsansatz
die primäre Verwendung eines Tourniquets, um schwer anzubringen. Während im Schulter-Hals-
Blutverluste durch frustrane Anlageversuche von Bereich ein Kontern um die gegenseitige Achsel
Druckverbänden zu verhindern. Sobald die Lage es oder Halsseite meist möglich ist, erfordert die Ver-
zulässt, kann dann bei einer erwarteten Transport- sorgung von Leistenblutungen erheblich mehr
zeit von deutlich mehr als zwei Stunden oder un- Aufwand. Die effektivste Möglichkeit ist die Nut-
zureichenden Mitteln zur Analgesie zumindest ein zung eines Gürtels oder einer um die Hüfte gewi-
Versuch unternommen werden, das Tourniquet ckelten Binde als Umschlagpunkt. Die Bindengänge
durch einen Stumpfverband zu ersetzen. Auch Laien laufen dann abwechselnd um den Oberschenkel
können erfolgreich in der Technik eines suffizienten und zum Gürtel, um den sie herumgeführt werden
Verbandes für eine Amputationsverletzung ausge- (. Abb. 9.29). Je nach Lage der Blutung können
bildet werden [30]. Entscheidend ist auch hier das zusätzliche Ankerpunkte am Gürtel (z. B. vorne,
162 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

. Abb. 9.30 Eviszeration von Darm bei Schussverletzungen des Abdomens. Die kopfwärts des Bauchnabels liegenden
Wunden sollten dabei wie Verletzungen des Thorax behandelt und luftdicht verschlossen werden. (Foto mit freundlicher
Genehmigung von J. Schwietring)
9
seitlich und hinten) sinnvoll sein, um in Kreuzgän- (Eviszeration, . Abb. 9.30), sollten sie ohne Druck
gen ausreichend Druck auf die Wunde bringen zu steril abgedeckt werden. Hierfür eignen sich gerade
können. Ein ausreichend großes, längliches Druck- bei großflächigeren Verletzungen Brandwunden-
polster (ggf. auch eine SAM-Splint-Schiene) erhöht verbandtücher oder spezielle Abdominalverbände
die Effektivität und macht ggf. auch die Anlage eines (z. B. Emergency Bandage, Fa. First Care). Bei Be-
Verbandes möglich, der abwechselnd zirkulär um darf können Ringpolster (z. B. aus Dreiecktüchern)
Oberschenkel und Hüfte herum Druck aufbaut. eingesetzt werden, um die Kompression von her-
Die gerne genutzten selbsthaftenden Binden ha- vorstehenden Eingeweiden zu vermeiden. Ist eine
ben im taktischen Umfeld deutliche Nachteile und verzögerte Evakuierung zu erwarten, kann es sinn-
sollten deswegen zurückhaltend genutzt werden: voll sein, Baucheingeweide nach Spülung ohne Ge-
Gerade bei höheren Temperaturen und kompri- waltanwendung in die Bauchhöhle zu reponieren.
mierter Lagerung im Rucksack verkleben sie häufig, Bei Schuss- und Splitterverletzungen ist dies auf-
lassen sich dann schlecht abwickeln und zerreißen grund des meist engen Wundkanals häufig nicht
gelegentlich dabei. Selbsthaftende Idealbinden ver- oder nur mit Gewalt möglich und sollte dann unter-
mindern durch die fehlende Verschieblichkeit der lassen werden.
einzelnen Bindengänge darüber hinaus die erziel- Wunden mit minimaler Blutung ohne Gefahr
bare Kompressionswirkung. Selbsthaftende Binden der Beteiligung großer Blutgefäße können mit ein-
können aber gerade bei anatomisch schwierigen fachen Verbänden versorgt werden, sobald die Lage
Regionen oder Amputationsverletzungen eine dies erlaubt und alle Maßnahmen mit höherer Prio-
wertvolle Hilfe darstellen. Neben industriell vor- rität abgearbeitet sind. Ist dies nicht der Fall, können
gefertigten Druckverbandpäckchen mit eingearbei- sie bis zum Erreichen einer Behandlungseinrich-
teter Wundauflage und Druckpolster eignen sich tung unversorgt bleiben [45]. Die Evakuierung soll-
breitere Kompressionsbinden hervorragend zur te keinesfalls für das Verbinden geringfügiger Wun-
Nutzung bei Druckverbänden. den verzögert werden. Entscheidend ist hier das
Wurden bei penetrierenden Abdominalver- Monitoring, ob anfangs wenig blutende Wunden
letzungen Baucheingeweide nach außen verlagert später doch beginnen, kontinuierlich zu bluten.
9.3 · »Tactical Field Care«
163 9
Hämostyptika weise, schafft aber gerade bei engen Wundkanälen
Hämostyptika sind blutgerinnungsfördernde Pro- größere Schwierigkeiten in der Anwendung.
dukte. Sie erhöhen die Erfolgschancen bei der Kon- Die modernen Wirkstoff-beschichteten Gaze-
trolle einer Blutung durch direkten Druck oder die Produkte, wie z. B. Combat Gauze, bzw. Quik Clot
Anlage eines Druckverbandes erheblich, wenn sie Gauze, und Celox Gauze, sind aufgrund ihrer einfa-
unmittelbar an der Blutungsquelle platziert werden cheren Anwendbarkeit und der guten Wirksamkeit
[59]. Vor ihrer Anwendung muss die Blutung durch besonders zu empfehlen. Ihre Anwendung ist deut-
direkten Druck bestmöglich gestillt und die Wunde lich weniger ausbildungsintensiv, die Erfolgsraten
durch Auswischen mit einer Kompresse, der Hand sind nach Erfahrung der Autoren größer als bei Gra-
etc. von überschüssigem Blut befreit werden, da sich nulaten und Pulvern, und sie sind für den Einsatz als
der Wirkstoff sonst bereits dort verbrauchen könn- Verbandmittel zur Wundtamponade durch die
te. Ist das Hämostyptikum eingebracht, wird unter Kombination von Wirkstoff und erzielbarem Druck
kontinuierlicher Blutungskontrolle durch Druck die ideal geeignet. Combat Gauze ist als derzeitiges
restliche Wunde mit komprimiertem Verbandmate- Standardhämostyptikum der US-Streitkräfte und
rial gefüllt (s. oben). Anschließend wird je nach der deutschen Spezialkräfte eingeführt und bewährt
Produkt 3–5 min flächig fester manueller Druck auf sich hervorragend. Es ist darüber hinaus klein ver-
das Verbandmaterial ausgeübt. Ist danach kein packt. Celox Gauze ist ungefähr gleich effektiv, er-
Durchbluten des Verbandes feststellbar, wird ein scheint aber besonders empfehlenswert wegen sei-
Druckverband angelegt, der den Druck auf die ner von der Konzentration der Gerinnungsfaktoren,
Wunde aufrechterhält [59]. ggf. vorhandenen Antikoagulanzien und Hypother-
QuikClot Granulat der 1. Generation als be- mie unabhängigen Wirksamkeit [16].
kanntester Vertreter der modernen Hämostyptika Da ausreichend große Studien noch ausstehen,
erwies sich als hochwirksam bei der Kontrolle von kann eine klare Empfehlung hinsichtlich der Über-
Blutungen, verursachte aber im Reaktionsgebiet legenheit eines Produktes noch nicht gegeben wer-
große Hitze (~70 °C) und entsprechende Gewebe- den. Die Auswahl sollte daher abhängig von der Art
defekte [1]. Es wird daher heute nicht mehr ange- der Wunde, dem eigenen Ausbildungsstand und
wendet. Andere Wundauflagen der ersten Genera- Erfahrungswerten erfolgen.
tion (HemCon) sind gut wirksam, durch ihre Steif-
heit allerdings ohne erheblichen Aufwand nur auf Hals- und Gesichtsblutungen
glatten Wundflächen anwendbar und neigen dazu, Blutungen im Hals- und Gesichtsbereich sind be-
besseren Kontakt zu den Handschuhen des Anwen- sonders häufig. Sie liegen in modernen Konflikten
ders als zur Wunde herzustellen. bei ca. 20–50 % der Verwundeten vor [41]. Neben
Bei der Anwendung von Hämostyptika sollte der erheblichen psychologischen Wirkung auf Ver-
denen der 3. Generation (QuikClot Gauze, Celox wundete und Helfer sind diese Verletzungen auf-
Gauze, Celox Trauma Gauze, Chitogauze, ggf. auch grund der zahlreichen lebenswichtigen und auf en-
Traumastat) der Vorzug gegeben werden. Sind diese gem Raum verlaufenden Strukturen (große Blutge-
nicht verfügbar, können alternativ solche der 2. Ge- fäße, Atemweg, Ösophagus, HWS) gerade im Hals-
neration verwendet werden (QuikClot ACS+, Celox bereich besonders problematisch. Eine Weichteil-
Pulver, Hemcon Chitosan oder Chitoflex) [59]. Al- schwellung oder ein sich ausbreitendes Hämatom
len Granulaten und Pulvern ist gemeinsam, dass sie kann schnell zu einer Verlegung der Atemwege füh-
bei engeren Wundverhältnissen und starkem Wind ren, was neben der Blutstillung insbesondere dem
teilweise schlecht angewandt werden können und Atemwegsmanagement eine zentrale Bedeutung
durch verwehtes Granulat Augenschädigungen ver- zukommen lässt [41]. Weniger bekannt ist die dro-
ursacht werden können, starke Blutungen sie vor hende Gefahr der Erblindung durch die Entstehung
Wirksamwerden aus der Wunde spülen und nach eines retrobulbären Hämatoms (7 Kap. 16) [18].
ihrem Einbringen nur schwer unmittelbarer Druck Blutungen im Gesichtsbereich lassen sich relativ
auf die Wunde ausgeübt werden kann. Die Ver- einfach beherrschen, sobald der Atemweg durch
packung in Beutelchen löst diese Probleme teil- Koniotomie oder endotracheale Intubation defini-
164 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

reich der Augenhöhle aber nur bei anders nicht be-


herrschbarer Lebensgefahr genutzt werden. Starke
Blutungen im Halsbereich sind im Regelfall durch
Kompression und Hämostyptika gut beherrschbar.
Bei der Anlage von zirkulären Druckverbänden
muss auf die Sicherung der Atemwege geachtet
werden. Es besteht darüber hinaus die Gefahr eines
a
starken Blutdruckabfalls durch Reizung der Druck-
sensoren im Bereich der Halsschlagader-Gabelung.
Eine Alternative stellt das Aufnähen eines Druck-
polsters dar. Dazu wird mit einem starken Faden
(2-0, 3-0 entlang des Wundverlaufs jeweils reichlich
Gewebe beidseits der Wundränder gefasst und die
Knoten über einer auf die Wunde gelegten kompri-
mierten Rolle aus Kompressen, Mullbinden o. ä. mit
festem Zug geknotet. Leichtere Blutungen lassen
sich häufig durch einen Verschluss mittels Hautnaht
oder Klammernaht kontrollieren.
Eine besonders im Kopf-Hals-Bereich effektive
Methode ist das Einbringen von blockbaren Blasen-
9 b
kathetern (z. B. 20-F-Foley-Katheter) in die Wunde.
. Abb. 9.31a,b Existaxis-Katheter. a Geblockt mit 10 bzw. Die Spitze wird in den Schusskanal eingeführt und
30 ml. Flüssigkeit. b Eingebrachter Katheter der Ballon mit bis zu 20 ml Luft oder Flüssigkeit
geblockt, bis die Blutung sistiert [41]. Bei einem
größeren Gewebedefekt auf Hautniveau kann die
tiv gesichert ist. Ein einfaches Austamponieren der Wunde mittels einer groben Naht verschlossen
Mund-Rachen-Höhle mit Verbandmaterial (Kerlix, werden, um das Herausrutschen des Ballons zu ver-
Bauchtücher, Mullbinden etc.) und anschließender hindern und die Tamponade zu verstärken.
Anlage eines Druckverbands um den Kopf herum
sind meist erfolgreich (. Abb. 9.16). Zur Stillung Höhlenblutungen (. Abb. 9.32)
von inneren Mittelgesichtsblutungen eignen sich Durch die breite Verfügbarkeit effizienter Tourni-
Epistaxis-Katheter mit zusätzlichem Pharynxbal- quets ist die nichtkomprimierbare Blutung am
lon besonders gut (. Abb. 9.31). Alternativ kann pro Körperstamm an die erste Stelle der potenziell ver-
Nasenloch jeweils ein Blasenkatheter eingebracht, meidbaren Todesursachen gerückt [59]. Diese sog.
geblockt und nach vorne gezogen werden. Zur Höhlenblutungen in Thorax- und Abdominalhöhle
Fixierung werden beide Katheterschläuche vor der und im Becken sind besonders schwer beherrschbar.
Nase verknotet. Auf diese Weise wird im Pharynx- Direkter Druck kann kaum ausgeübt werden und
bereich Kompression ausgeübt. Die Nasengänge Hämostyptika sind nicht zielgerichtet anwendbar.
müssen dann auf herkömmliche Weise mittels Ver- Werden in den Körperhöhlen große Blutgefäße ver-
bandmaterial oder mit Einballon-Epistaxis-Kathe- letzt, sind die Verwundeten im Regelfall keiner prä-
tern (z. B. Rapid-Rhino) tamponiert werden. Beson- klinischen Therapie zugänglich und versterben auch
ders gut zum Tamponieren eignet sich in diesem bei zügiger Evakuierung meist unrettbar. Sind die
Zusammenhang auch Merocel, ein dünner längli- Blutungen nicht unmittelbar tödlich, beschränkt
cher PVA-Schwamm, der sich gut einführen lässt sich ihre Versorgung im Wesentlichen auf eine an-
und unmittelbar im Anschluss durch Aufquellen gepasste Infusionstherapie (permissive Hypotonie,
Kompression ausübt. s. unten), die Gabe von Tranexamsäure (s. unten) und
Hämostyptika können dabei auch im Bereich den schnellstmöglichen Transport zu chirurgischer
der Schleimhäute angewandt werden, sollten im Be- Versorgung. Patienten mit nichtkontrollierbaren
9.3 · »Tactical Field Care«
165 9

Nicht komprimierbare (Höhlen-)Blutungen

. Abb. 9.32 Nicht komprimierbare (Höhlen-)Blutungen

Blutungen sollten auch im Schock nicht in Schock- Verwundete mit Amputationsverletzungen bei-
lage, sondern flach gelagert werden. Dies soll eine der Beine weisen häufig eine begleitende Becken-
Verstärkung der Höhlenblutung aufgrund eines fraktur auf!
Blutdruckanstieges verhindern. Ist der Kreislauf de- Beim Patient mit Verdacht auf instabile Becken-
kompensiert und kein Radialispuls mehr tastbar, ist fraktur sollten beide Beine durch Längszug auf die
diese Maßnahme als ultima ratio dennoch indiziert. gleiche Länge gebracht (Korrektur einer vertikalen
Aufgrund des sich bei der Atmung laufend ver- Beckenverschiebung) und in Innenrotation mit einer
schiebenden Zwerchfells können alle Verwundun- Binde aneinander fixiert werden. Industriell herge-
gen unterhalb der Brustwarzen und oberhalb des stellte Beckenschlingen (SAM Pelvic Sling, T-Pod)
Schambeins eine Verletzung der Abdominalhöhle erzielen dabei gute Resultate, sind aber häufig zu sper-
bedeuten, während alle Verwundungen oberhalb rig zum Mitführen im Rucksack. Eine improvisierte
des Bauchnabels und unterhalb des Kehlkopfes die Beckenschlinge lässt sich gut mit Hilfe einer Rettungs-
Thoraxhöhle eröffnen können [8]. Auch die Penet- decke, einer Uniformjacke oder -hose o. ä. herstellen
rationsrichtung des Projektils sowie das schwer be- (»pelvic sheeting«). Die Schlinge muss einen ausrei-
urteilbare Zerstörungsausmaß durch die Bildung chend breiten (ca. 20 cm) Kompressionsgürtel um das
einer temporären Wundhöhle muss bei Schuss- und Becken herum gewährleisten. Die Enden werden um
Splitterverletzungen beachtet werden (7 Kap. 12). den Patienten gelegt, zur Kompression gegeneinan-
Bei instabilen Beckenverletzungen kann durch der gezogen (. Abb. 9.33) und anschließend befestigt
Kompression der Beckenschaufeln das Beckenvolu- (z. B. mittels Gefäßklemmen, Klebeband o. ä.).
men und damit der maximale Blutverlust begrenzt Mittels einer Schockhose (»military anti-shock
werden [8]. trouser«, MAST) kann versucht werden, das maxi-
166 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

mal ins Abdomen passende Blutvolumen bei intra-


abdominalen Blutungen zu begrenzen. Hierfür soll-
ten die im Beinbereich liegenden Teile nicht aufge-
blasen werden, um die Höhlenblutung nicht durch
Autotransfusion des in den Beinen noch befindli-
chen Blutes zu verstärken. Die Anwendung der
MAST kann bei längerer Liegezeit zur Ausbildung
eines Kompartmentsyndroms in den Beinen führen.
Die intraabdominelle Druckerhöhung kann durch
eine Einschränkung der Zwerchfellbeweglichkeit
a
zur Atemdepression führen und intrathorakale Blu-
tungen verstärken [8]. Eine generelle Empfehlung
zum Einsatz von Schockhosen beim Abdomi-
naltrauma lässt sich daher nicht geben. Eine Aus-
nahme stellt die Kreislaufdekompensation dar (kein
Radialispuls mehr tastbar), in diesem Fall kann eine
Autotransfusion durch Befüllung der Beinteile zur
Kreislaufstabilisierung als ultima ratio sinnvoll sein.
Innere Blutungen aus der Thoraxwand lassen
sich teilweise mit blockbaren Kathetern kontrollie-
9 b ren [8]. Bei Vorliegen eines Hämatothorax oder
einer supraklavikulärer Wunde kann dazu ein Bla-
senkatheter durch die Wunde tief in den Brustkorb
vorgeschoben, der Ballon nach Blocken gegen die
Thoraxwand zurückgezogen und dann unter Zug
fixiert werden (z. B. mittels Annaht oder Pflaster-
streifen). Teilweise gelingt so auch die sonst nur
schwer erzielbare Kontrolle einer Blutung aus der
A. subclavia durch Kompression des Gefäßes gegen
Klavikula oder erste Rippe [13].

c Schocktherapie
Pathophysiologie des hämorrhagischen
Schocks
Ein durch größeren Blutverlust verursachter Volu-
menmangel verringert die kardiale Vorlast und
führt zum Absinken des Herzminutenvolumens
(HMV) [56]. Durch die Ausschüttung der Katechol-
amine Adrenalin und Noradrenalin erhöht sich das
d
HMV durch Zunahme von Herzfrequenz und
. Abb. 9.33 a–c Beckenstabilisierung mit Rettungsdecke. Schlagkraft, und Arteriolen und venöse Kapazitäts-
Die zusammengefaltete Decke wird unter dem Becken
gefäße ziehen sich zusammen [56]. Der Körper
hindurchgeführt und das Becken mit Zug komprimiert. Die
Enden werden einmal gegeneinander verdreht und dann kann dadurch den Blutdruck eine gewisse Zeit auf
befestigt (z. B. mittels Klebeband oder Knoten). Wenn sie normalem Niveau halten. Ein junger, sportlicher
nicht ausreichend fest anliegt, kann der Druck (vorsichtig!) Patient kann so einen Verlust von bis zu 30 % des
mittels eines Knebels erhöht werden. d Die Mittellinie der
Beckenschlinge sollte über dem großen Rollhügel des Ober-
Blutvolumens ohne sichtbare Zeichen verbergen
schenkels (Trochanter major) liegen. (Fotos: Dr. C. Neitzel) (. Tab. 9.3) [55]. Der nicht mehr reversible Schock,
der nahezu immer im Tod endet, wird im Regelfall
9.3 · »Tactical Field Care«
167 9

. Tab. 9.3 Klassifikation des hämorrhagischen Schocksa. (Modifiziert nach [45])

I° II° III° IV°

Puls <100 100–120 120–140 >140

Blutdruck Normal Normal Verringert Verringert

Atemfrequenz 14–20 20–30 30–40 >35

Urinproduktion [ml/h] >30 20–30 5–15 <5

Blutverlust [ml]b <750 750–1.500 1.500–2.000 >2.000

Blutverlustc <15 % 15–30 % 30–40 % >40 %

a Erst bei Blutverlusten von >750 ml sind frühe Symptome eines Schocks festzustellen, bis zu 30 % Blutverlust können

ohne Blutdruckabfall kompensiert und daher leicht falsch eingeschätzt werden.


b Bei einem normalgewichtigen Mann.
c In % des Gesamtblutvolumens.

durch einen Blutverlust von 50 % des Körperblut- Die Auswirkungen des Schocks gehen deutlich über
volumens ausgelöst [6]. den klinisch sichtbaren Abfall des arteriellen Blut-
Erstes Symptom eines Schocks ist meist eine drucks hinaus. Die Konstriktion peripherer Gefäße
Tachykardie, die allerdings wenig spezifisch ist und bewirkt eine Zentralisation der Durchblutung auf
auch durch Anstrengung, Angst, Schmerz etc. be- lebenswichtige Organe. Das restliche Gewebe wird
dingt sein kann. Blasse Haut und Schleimhaut sowie unzureichend durchblutet, eine Mikrozirkulations-
Kaltschweißigkeit sind Zeichen für eine bestehende störung mit weitreichenden Folgen entsteht [56]:
Anämie, eine Zyanose für eine Hypoxämie, Kalt- 4 Anämie: Blutungen verursachen den Verlust
schweißigkeit für Sympathikusaktivierung und von Erythrozyten als Sauerstoffträger und ver-
Zentralisation. Ein deutlicher Abfall des Blutdrucks schlechtern so die Versorgung des Gewebes.
unter 100 mmHg tritt häufig erst nach 30–40 % ver- 4 Metabolische Azidose: Die schlechte Gewebe-
lorenem Blutvolumen auf [8]. Weitere frühe Symp- perfusion führt zu einer Sauerstoffmangelver-
tome können das ZNS betreffen: gerade eine für die sorgung, sodass die hypoxischen Zellen ver-
betroffene Person ungewöhnliche Ängstlichkeit, mehrt Laktat als Abfallprodukt ihrer Energie-
Verwirrtheit oder Teilnahmslosigkeit kann ein Hin- gewinnung produzieren. Das anfallende Laktat
weis auf einen Blutverlust sein und sollte zu einer führt zur Bildung einer metabolischen Azido-
sorgfältigeren Untersuchung – und Entwaffnung – se, die ihrerseits ödematöse Gewebeschwel-
des Patienten führen. lungen verursacht und damit die kapillare Per-
fusion weiter verschlechtert [51]. Die Azidose
Tipp
verschlechtert die Wirksamkeit von Gerin-
Die kapilläre Reperfusionszeit (Nagelbettprobe) nungsfaktoren: So ist bei pH 7,2 die Aktivität
ist ein im taktischen Umfeld einfach zu erheben- der meisten Gerinnungsfaktoren um die Hälfte
des Schockzeichen. Sie wird ermittelt durch reduziert [62], Faktor VIIa hat bei einem pH
Druck auf einen Fingernagel, bis das Nagelbett von 7,1 (Normalwert 7,35–7,45) nur noch 10 %
blass wird. Dauert es nach Beendigung des seiner normalen Aktivität [24].
Drucks länger als 2 s, bis die rosa Färbung zu- 4 Hypothermie: Die Energieproduktion durch
rückkehrt, ist sie verlängert und ein Schock Laktatbildung verringert die körpereigene
wahrscheinlich. Bei Hypothermie mit Zentralisa- Wärmebildung und trägt so zur akzidentellen
tion ist die Reperfusionszeit ebenfalls verlängert. Hypothermie bei (7 Kap. 38). Die Hypothermie
wirkt sich ebenfalls negativ auf die Blutgerin-
168 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

nung aus: In tierexperimentellen Untersu- Wiederherstellung eines ausreichend hohen Blut-


chungen konnte gezeigt werden, dass es bei drucks, Wiederherstellung eines ausreichenden
35 °C Körpertemperatur zu Störungen der Hämoglobingehaltes und der Sicherstellung eines
Thrombozytenaggregation und der plasma- optimalen Sauerstoffangebotes [8]. Das Sauerstoff-
tischen Gerinnung kommt [37]. angebot kann durch Sauerstoffgabe auch präkli-
4 Koagulopathie: Azidose und Hypothermie nisch verbessert werden, während eine vorhandene
führen zu einer Gerinnungsstörung [51, 62]. Anämie nur mittels präklinisch kaum verfügbarer
Durch den Blutverlust gehen auch Thrombo- Erythrozytenkonzentrate oder Vollblut behoben
zyten und Gerinnungsfaktoren als wesentliche werden kann. Die Behandlung einer Hypotension
Voraussetzung für eine erfolgreiche Blutungs- kann mittels Volumengabe oder der Applikation
stillung verloren [51]. von vasokonstriktorisch wirksamen Medikamenten
erfolgen (. Abb. 9.34).
Diese »letale Trias« aus Hypothermie, Koagulopa- Eine Schocklagerung verteilt in den Beinen
thie und metabolischer Azidose stellt einen der we- vorhandenes Blut in den zentralisierten Körperkern
sentlichen Risikofaktoren für Schwerstverwundete um. Damit werden dem Kreislauf nicht nur zusätz-
dar, an ihren Verletzungen zu versterben [55]. Bei liches Volumen, sondern auch Erythrozyten als
manchen Patienten (ca. 20 %) scheint sich auch un- Sauerstoffträger sowie Blutplättchen und Gerin-
abhängig von Hypothermie und Azidose als primä- nungsfaktoren zur Optimierung der Blutgerinnung
re Reaktion auf das Trauma relativ früh eine Gerin- zur Verfügung gestellt.
nungsstörung (Hyperfibrinolyse) zu entwickeln. > Vor jeder Infusionstherapie sollte daher zu-
9 Diese wird zunehmend als eigenständiges Krank- nächst eine Lagerung des Patienten mit er-
heitsbild unabhängig von der »letalen Trias« einge- höhten Beinen erfolgen, sofern keine unstill-
stuft und als »early trauma-induced coagulopathy«, bare Blutung am Körperstamm vorliegt.
ETIC) bezeichnet [36, 51, 68, 76].
Die Mikrozirkulationsstörung verstärkt die Stö- Das Ziel der Kreislauftherapie ist das Beheben der
rung der Makrozirkulation und mündet dadurch in Mikrozirkulationsstörung, um eine ausreichende
den Teufelskreis des Schocks [56]. Wird sie nicht Gewebeperfusion zu erhalten oder wiederherzu-
durchbrochen, endet im Gewebe nach einiger Zeit stellen, den Teufelskreis des Schocks zu durchbre-
aufgrund von Hypoxie die Zellaktivität, die Zellen chen und dadurch ein Multiorganversagen auf-
sterben schließlich ab und das Blut übersäuert. Der grund insuffizienter Organperfusion zu vermeiden
Schock dekompensiert durch Dilatation der präka- [35]. Die Anwendung von blutdrucksteigernden
pillaren Gefäße, u. a. weil Katecholamine schlechter Medikamenten sollte dabei erst erwogen werden,
an den Gefäßen wirken [56]. Auf kapillarer Ebene wenn eine bestehende Hypovolämie durch Flüssig-
entstehen weitreichende Störungen der Blutviskosi- keitsersatz ausreichend therapiert worden ist [8].
tät und -gerinnung [56]. Die Kapillarpermeabilität Der Gebrauch dieser Vasopressoren (z. B. Artere-
steigt, Plasma geht in den Extravasalraum verloren nol, Akrinor) gehört in jedem Fall in die Hand des
und vergrößert damit den intravasalen Volumen- erfahrenen Anwenders.
mangel [56]. Eine länger bestehende schwere Hypo- Eine wesentliche Säule der präklinischen
volämie erhöht die Sterblichkeit durch die Stimula- Schocktherapie ist daher die Verabreichung von
tion von Vasopressoren und Immunantworten, die Infusionen. Sie füllt im Idealfall bei frühzeitiger
in einem Multiorganversagen enden können [27]. aggressiver Gabe das im Gefäßsystem zirkulierende
Volumen wieder so auf, dass eine Zentralisation
Strategien zur Volumentherapie überflüssig wird und auch nicht lebenswichtige
Wesentliches Merkmal des Schocks ist eine durch Organe wieder durchblutet werden können. Da-
eine Mikrozirkulationsstörung verminderte Ge- durch wird die Ausbildung einer Laktatazidose mit
webeoxygenierung, die durch ein vermindertes ihren negativen Folgen, insbesondere auf das Ge-
HMV, Anämie und Hypoxie verursacht sein kann. rinnungssystem, vermieden oder abgeschwächt
Die Therapieansätze orientieren sich daher an der und ein drohendes Multiorganversagen verhindert.
9.3 · »Tactical Field Care«
169 9

Volumenersatz

. Abb. 9.34 Leitlinie Volumenersatz

Da Infusionen aber das verlorene Blut nicht nicht ausreichend erwärmt, tragen sie zur Entste-
gleichwertig ersetzen können, treten in Abhängig- hung einer Hypothermie bei. Diese führt ihrerseits
keit von der verabreichten Menge auch negative wiederum zu einer Gerinnungsstörung und senkt
Effekte auf. Die im Blutkreislauf noch vorhandenen die Überlebenswahrscheinlichkeit. Nicht optimal
Gerinnungskomponenten (Thrombozyten und auf die physiologischen Verhältnisse des Blutes ab-
Gerinnungsfaktoren) werden verdünnt. Kolloidale gestimmte (nichtbalancierte) Lösungen können da-
Infusionslösungen können darüber hinaus durch rüber hinaus durch Verdünnung des im Blut enthal-
eine Störung der Fibrinvernetzung die Bildung und tenen Bikarbonats eine Dilutionsazidose bedingen,
Stabilisierung von Blutgerinnseln stören. Sind die die die ohnehin vorliegende metabolische Azidose
Infusionslösungen beim Eintritt in den Körper weiter verstärken kann [37]. Wird durch Überinfu-
170 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

sion eine Hypervolämie erzeugt, kann es auch zu


ausgeprägten, lebensbedrohlichen Gewebsödemen,
z. B. Hirn- und Lungenödemen, kommen [49].
> Wesentlicher Nachteil aller Infusionslösun-
gen ist, dass sie zwar die Perfusion verbes-
sern, aber keine Sauerstofftransportkapazi-
tät und Gerinnungsverbesserung bieten
können [27]. In der kritischen Phase bis zum
Erreichen chirurgischer Behandlungsein-
richtungen hat die dem Patienten erhalten
bleibende Blutmenge daher entscheidende
Bedeutung für die Gewebeoxygenierung!

Eine Volumengabe sollte daher nicht zu einem


weiteren Verlust von Erythrozyten führen. Die Anhe-
bung des Blutdrucks auf Normalwerte kann bei nicht . Abb. 9.35 Das Konzept der permissiven Hypotonie lässt
sich gut mit einem Eimer mit Loch vergleichen: Blut läuft nur
kontrollierten Blutungen aber genau dies bewirken:
solange hinaus, bis der Flüssigkeitsstand unter das Niveau
Wenn der systolische Blutdruck im Schock unter des Loches absinkt (vergleichbar RRsys = 80 mmHg). Wird nun
90 mmHg fällt, können sich häufig Blutgerinnsel bil- Wasser nachgegossen (Infusionstherapie), wird der Flüssig-
den, die stabil genug sind, um bei dem niedrigen keitsstand erhöht, und Blut läuft erneut aus. Je häufiger der
9 Druck im Gefäß nicht ausgeschwemmt zu werden. Vorgang wiederholt wird, umso mehr wird das Blut im Eimer
verdünnt, der Flüssigkeitsstand lässt sich aber kaum erhöhen
Eine zu aggressive Volumenzufuhr mit erzielter Nor-
malisierung des Blutdrucks über 85–90 mmHg hin-
aus kann zur Ausspülung bestehender Thromben
führen und somit bereits stehende Blutungen erneut nie« bekannt. Es zielt in erster Linie darauf ab, nied-
reaktivieren [24, 27, 49]. Wird der Blutverlust weiter rige Blutdruckwerte zu tolerieren, um bei nichtkon-
mit Infusionslösungen ersetzt, verstärkt sich die Blu- trollierbaren Blutungen weiteren Blutverlust und
tung in die Körperhöhlen. Weil laufend Blut verloren -verdünnung zu vermindern (. Abb. 9.36). Gleich-
geht, kommt es nicht zu einer Zunahme des zirkulie- zeitig soll die Mikrozirkulation zumindest soweit
renden Volumens, es erfolgt aber eine zunehmende aufrechterhalten werden, dass Fortschreiten und
Verdünnung des Blutes und der Gerinnungsfaktoren, Dekompensation des Schocks und die Ausbildung
was Gewebeoxygenierung und Blutgerinnung weiter von Organschäden verhindert werden [27, 35, 37,
verschlechtert (. Abb. 9.35). Eine hypotone Kreis- 59] und der Verwundete lang genug am Leben
laufsituation vermindert den Blutverlust, führt aber bleibt, um eine chirurgische Versorgung erreichen
durch die dadurch bedingten Mikrozirkulations- zu können [8].
störungen zu den o. g. lebensbedrohlichen Folgen bis Die Abwägung aller genannten vielfältigen Fak-
hin zum Multiorganversagen [27]. toren ist schwierig, zumal nicht in allen Aspekten
Bereits im 1. und 2. Weltkrieg wurde die Be- belastbare Forschungsergebnisse bestehen. Eine all-
obachtung gemacht, dass ein Anheben des systoli- gemeingültige Empfehlung für einen restriktiven
schen Blutdrucks über 80 mmHg hinaus bis zum oder aggressiven Ansatz bei der Flüssigkeitstherapie
Erreichen chirurgischer Versorgung bei nicht kon- ist daher schwer auszusprechen [42].
trollierter Blutung die Prognose des Patienten deut- Über den rein medizinischen Ansatz hinaus
lich verschlechterte. Auch aus dem Falkland-Krieg müssen Therapiekonzepte jedoch auch die militäri-
gibt es Berichte von englischen Militärchirurgen, schen Realitäten berücksichtigen. Häufig steht im
dass Patienten ohne eine im Feld eingeleitete In- Gegensatz zu den nahezu unbegrenzten Ressourcen
fusionstherapie eine bessere Überlebenschance hat- des zivilen Rettungsdienstes oder Schockraums nur
ten. Das daraus abgeleitete Therapiekonzept ist eine sehr begrenzte Menge von Infusionslösungen
heute unter der Bezeichnung »permissive Hypoto- zur Verfügung, die möglichst effektiv eingesetzt wer-
9.3 · »Tactical Field Care«
171 9

Interne Blutungen / Höhlenblutung

Thorax Abdomen Becken Extremität

Permissive Hypotension*
- DMS kontrollieren
- Achsengerechte
Lagerung/ggf. Traktion
bei Frakturen
ggf. Thoraxdrainage Antischockhose - Immobilisation
Becken-Schlinge
erwägen (z.B. M.A.S.T.)

M.A.S.T. und
Beckenschlinge kombinierbar
Erläuterungen
DMS Durchblutung, Motorik, Sensibilität
M.A.S.T Military Anti-Shock Trousers bzw. Pneumatic Anti-Shock Garment (PASG)
* Gilt nicht bei gleichzeitigem »schwerem« SHT (GCS <8)

. Abb. 9.36 Leitlinie Interne Blutungen/Höhlenblutungen

den muss. Dies bedingt auf der einen Seite von Natur Ein vorhandener Femoralispuls entspricht etwa
aus einen eher restriktiven Volumenersatz. Zum an- einem systolischen Blutdruck von 70 mmHg, ein
deren ist die möglichst sichere und einfache Identifi- Carotispuls von 60 mmHg (. Abb. 9.37).
zierung solcher Patienten wichtig, für die eine Infusi- Die aktuellen Standards der US-Streitkräfte
onstherapie lebensrettend ist [27]. Auf dem Gefechts- sehen eine restriktive Flüssigkeitszufuhr vor. Nur
feld gut erhebbare und leicht zu beurteilende Werte Patienten mit fehlendem Radialispuls oder Be-
sind der systolische Blutdruck und die Bewusstseins- wusstseinstrübung als Zeichen einer Mikrozirkula-
lage des Patienten. Ein RRsys <80 mmHg ist ebenso tionsstörung sollen Infusionen erhalten. Um eine
wie eine bestehende Unruhe oder Bewusstseins- möglichst übersichtliche Handhabung zu erreichen,
störung bis hin zur Bewusstlosigkeit (ohne andere wird dann generell die Applikation eines Bolus von
erkennbare Ursache) ein Zeichen für eine einge- 500 ml kolloidaler Infusionslösung empfohlen,
schränkte Organperfusion [35]. Eine Bewusstlosig- wenn keine Blutprodukte zur Verfügung stehen.
keit, die nicht durch ein SHT, Medikamente oder Bessert sich der Bewusstseinsstatus und ein Radia-
weitere, bei jungen Soldaten seltene Gründe (wie z. B. lispuls ist wieder palpabel, ist vorerst keine weitere
Hypoglykämie) verursacht ist, tritt meist bei einem Volumengabe indiziert [27]. Wird in einem Zeit-
RRsys ≤50 mmHg ein. Da die Blutdruckmessung mit- fenster von 30 min keine Besserung durch die
tels Blutdruckmanschette vergleichsweise aufwändig Bolusgabe erzielt, erfolgt einmalig eine zweite Gabe
ist und Stethoskop und Manschette im taktischen von 500 ml [45]. Kristalloide Lösungen können als
Umfeld häufig nicht zur Verfügung stehen oder Alternative eingesetzt werden, wenn keine kolloida-
kaum anwendbar sind, wird der Radialispuls als Er- len zur Verfügung stehen.
satz genutzt. Das Vorhandensein eines peripheren Die Bolusgabe kann als Schwerkraft- oder
Pulses am Handgelenk zeigt einen systolischen Blut- Druckinfusion erfolgen. Letztere ist durch manuel-
druck von zumindest 80 mmHg an und stellt damit le Kompression, mittels Druckinfusions- oder Blut-
eine ausreichend aussagefähige Alternative dar [27]. druckmanschette möglich. Feldmäßig kann die In-
172 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

Blutdruckmessung

. Abb. 9.37 Leitlinie Blutdruckmessung

fusion auch im Kreuzbein- oder Schulterbereich Alternativ kann bei der erstmaligen Volumengabe
unter den Patienten gelegt werden, um das eigene auch die Gabe von 250 ml einer hyperonkotisch-
Körpergewicht zur Kompression des Infusions- hyperosmotische Lösung (z. B. RescueFlow) zum
beutels zu nutzen [58]. Dadurch wird, abhängig von Einsatz kommen. Ist eine durchgehende Überwa-
der Isolation unter dem Patienten, die Infusion zu- chung möglich, kann die Infusion auch unmittelbar
sätzlich warmgehalten. Aus dem gleichen Grund nach der Wiederkehr eines radialen Pulses oder
kann eine Infusion mit Druckinfusionsmanschette Aufklaren des Patienten gestoppt werden, um den
beim Patienten innerhalb der Maßnahmen zum erreichten, minimal notwendigen systolischen Blut-
Wärmeerhalt (z. B. Schlafsack) platziert werden. druck nicht durch weitere Volumengabe wesentlich
> In allen genannten Fällen muss zur Vermei-
zu überschreiten und ggf. erneut Blutungen zu pro-
dung von Luftembolien das Infusionssystem
vozieren [59]. Dieses Vorgehen stellt sicher, dass nur
komplett luftleer sein. Dazu wird das Infusi-
solche Patienten Infusionslösungen erhalten, die
onssystem in den Beutel gesteckt, geöffnet,
wesentlich von ihnen profitieren. Dadurch werden
der Beutel auf den Kopf gedreht und durch
nicht nur Infusionen gespart, sondern der Arbeits-
Zusammendrücken solange Flüssigkeit ins
aufwand durch Anlage von Zugängen und Über-
System gepresst, bis es (inkl. Tropfkammer!)
wachung der laufenden Infusion wird für die Helfer
vollständig entlüftet ist.
deutlich reduziert. Verwundete mit wahrscheinlich
höherem Blutverlust, aber noch vorhandenem
Dieses Vorgehen macht aus den o. g. Gründen beim Radialispuls und klarem Bewusstsein sollten vorerst
Verwundeten mit nicht kontrollierbaren Blut- keine Infusionen erhalten. Die Anlage eines venö-
ungen, insbesondere des Körperstamms, Sinn. sen Zugangs ist aber zum frühestmöglichen Zeit-
9.3 · »Tactical Field Care«
173 9

Hämodynamische Therapie

Blutung kontrolliert Blutung Ø kontrolliert

Anzeichen für Schock


Ø Anzeichen für Schock Anzeichen für Schock
→ restriktive Volumentherapie
→ keine Volumentherapie → forcierte Volumentherapie
permissive Hypotension
i.v. Zugang + Mandrin Ziel RR ~ 100 mmHg syst.
Ziel RR ~ 80 mmHg syst.

CAVE
Schweres SHT (GCS<8) bzw. AVPU < PU. Ziel RR 120 mmHG syst. → Volumen (HyperHaes)

. Abb. 9.38 Leitlinie Hämodynamische Therapie

punkt sinnvoll, um bei weiterer Verschlechterung Holcomb teilt Verwundete, die eine Infusions-
unmittelbar eine Volumengabe durchführen zu therapie erhalten, anhand ihrer Reaktion auf
können. Zum Offenhalten von venösen Zugängen Flüssigkeitsgabe in drei Gruppen ein:
wird eine Fließgeschwindigkeit von ca. 30 ml/h be- 4 »responder«: Verwundete, die auf die Volu-
nötigt [35], oder es werden in regelmäßigen Abstän- mengabe mit Zustandsverbesserung (Wieder-
den (etwa alle 10 min) wenige Milliliter Volumen erlangen des Bewusstseins oder Radialispulses)
gegeben. Alternativ können die Zugänge mit Man- reagieren.
drins abgestöpselt werden. Leichtverwundete mit 4 »transient responder«: Verwundete, die
geringen Verletzungen und niedrigem Blutverlust vorübergehend mit einer Zustandsverbesse-
benötigen vor Erreichen einer Behandlungseinrich- rung reagieren
tung meist nicht unbedingt die Anlage eines i.v. 4 »non-responder«: Verwundete, die keine
Zugangs [27]. Zustandsverbesserung zeigen.
Verwundete mit kontrollierten Blutungen und
Hinweis auf ein Schockgeschehen profitieren dage- Das Verhalten von »respondern« weist in der Regel
gen im Regelfall von einer Infusionstherapie. Ver- darauf hin, dass derzeit keine stärkeren Blutungen
wundete, die deutliche Zeichen einer verminderten mehr bestehen. Je nach Verletzungsmuster kann
Organperfusion (fehlender Radialispuls, Bewusst- ihre Evakuierung ggf. zugunsten anderer Patienten
seinstrübung) zeigen, sollen Flüssigkeitsboli bis zur oder besserer taktischer Rahmenbedingungen ver-
Wiederherstellung der Mikrozirkulation (tastbarer zögert werden. Bei »transient respondern« und
Radialispuls, Wiedererlangung des Bewusstseins) »non-respondern« ist dagegen eine weiter beste-
erhalten [7]. Stehen ausreichend Ressourcen zur hende Blutung zu vermuten und somit eine
Verfügung und liegen keine nichtkontrollierbaren schnellstmögliche Evakuierung mit dem Ziel der
Blutungen vor, kann durchaus eine Anhebung des chirurgischen Blutstillung anzustreben. Ist diese
Blutdrucks auf normotone Werte (RRsys: 100– nicht möglich, ist ihre Prognose vergleichsweise
120 mmHg) erfolgen und eine Infusionstherapie schlecht. Gleiches gilt für Patienten, bei denen die
auch bei Patienten erwogen werden, die noch keine Applikation von 1.000 ml kolloidaler Lösung nicht
Zeichen einer verminderten Organperfusion auf- ausgereicht hat, um sie aufklaren zu lassen und
weisen (. Abb. 9.38). einen peripheren Puls wiederherzustellen. In bei-
Bei Verwundeten mit Schädel-Hirn-Trauma den Fällen ist die Nutzung weiterer vorhandener
ist eine Anpassung des Zielblutdrucks auf höhere Infusionslösungen von der Lage abhängig zu
Werte unter Umständen sinnvoll (s. unten). machen. Möglicherweise ist eine Triagierung der
174 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

Intravenöser (i.v.) Zugang

. Abb. 9.39 Leitlinie Intravenöser (i.v.) Zugang

Verwundeten mit anschließender Zuteilung der sich das einfache Abstöpseln des liegenden Zugangs
medizinischen Ressourcen an die hoffnungsvolle- mit einem Mandrin. Durch die Einführung moder-
ren Fälle sinnvoll [8, 27]. ner i.o. Systeme ist diese prophylaktische Anlage
eines Zugangs jedoch nicht mehr zwingend not-
Zugangswege wendig. Intraossäre Zugänge lassen sich auch beim
Die frühestmögliche Anlage eines i.v. oder i.o. Zu- Schockpatienten unabhängig von schlechten Ve-
gangs ist beim Notfallpatienten grundsätzlich von nenverhältnissen erheblich einfacher legen, auf-
großer Bedeutung, um Infusionen, Analgetika und grund des höheren Gewichts und Packmaßes ist die
Antibiotika verabreichen zu können. verfügbare Anzahl jedoch meist klein. Ihre Anwen-
dung sollte in diesem Fall unter Berücksichtigung
jIntravenöse Zugänge (. Abb. 9.39) der vorhandenen Ressourcen erfolgen.
Ist ein Volumenersatz (noch) nicht indiziert, sollte Die durch erfahrene Anwender durchschnitt-
kann wegen der möglichen Verschlechterung des lich benötigte Zeit zur präklinischen Anlage eines
peripher-venösen Status bei fortschreitendem peripher-venösen Zugangs wird mit 10–12 min bei
Schock trotzdem ein peripher-venöser Zugang zur einem Anteil von 10–40 % erfolgloser Punktionen
Sicherung des Venenzugangs erfolgen, insbesonde- angegeben [39, 49]. Gerade unter den erschwerten
re bei Patienten mit Verletzungen im Bereich von Bedingungen der taktischen Medizin wird dieser
Hals und Körperstamm. Um Ressourcen zu sparen Zeitbedarf regelmäßig erreicht und überschritten.
und die Handhabung des Patienten durch ein Infu- Da Material, Personal und Zeit im taktischen Um-
sionssystem nicht unnötig zu erschweren, empfiehlt feld in der Regel Mangelressourcen sind, sollte da-
9.3 · »Tactical Field Care«
175 9
her keine wahllose Anlage von peripher-venösen Knochen oder Extremitäten mit Gefäß- oder größe-
Zugängen bei Patienten ohne Notwendigkeit einer rem Weichteildefekt darf aufgrund der unsicheren
Volumentherapie erfolgen. Da gewöhnlich aufgrund Resorption aber keine Punktion erfolgen (lokale
medizinischer und logistischer Gründe im Feld eher Kontraindikation). Bei erfolgloser Anwendung soll-
eine restriktive Volumentherapie zu bevorzugen ist, te ein zweiter Punktionsversuch an einem anderen
ist die Anlage eines 18-G-Zugangs im Regelfall aus- Knochen stattfinden [22, 38].
reichend: 500 ml sind in ca. 5 min als Druckinfusion Dosierung, Anschlagzeit und Wirkdauer von
infundierbar. Größere Flexülen sind bei den erfor- Medikamenten entsprechen denen bei i.v. Applika-
derlichen Fließgeschwindigkeiten nicht notwendig, tion [22].
führen aber gerade beim Unerfahrenen häufig zu Grundsätzlich sind alle gebräuchlichen Notfall-
frustranen Punktionsversuchen [27]. medikamente auch intraossär applizierbar. Insbe-
Die Fixierung von Zugängen ist bei der meist sondere der sternale i.o. Zugang mit dem F.A.S.T.-
schweißnassen, staubigen oder verschmutzten Haut 1-System ist durch den Hersteller für die Applikati-
der Verwundeten problematisch. Handelsübliche on aller gängigen Notfallmedikamente und -infusi-
Flexülenpflaster erweisen sich häufig als nicht adhä- onslösungen freigegeben. An manchen Stellen ist in
siv genug. Etablierte Alternativen sind die Fixierung der Literatur die Empfehlung zu finden, dass hyper-
mit 2–3 Streifen Sporttape und das Umwickeln mit tone Kochsalzlösung (z. B. HyperHAES) wegen der
einer Mullbinde oder Haftbinde. Auch klare Klebe- Gefahr einer Ausbildung von Kompartmentsyndro-
folie oder Tapete/Fixiervlies (z. B. Omnifix elastic, men intraossär nur verdünnt verabreicht werden
Fa. Hartmann) haben sich bewährt, die durchsich- sollte [22]. Dies stellt das Wirkprinzip der Gabe
tige Folie (z. B. Tegaderm, Fa. 3M erlaubt dabei im hochkonzentrierter Kochsalzlösungen in Frage und
Anschluss die Sichtkontrolle des Zugangs. dürfte sich ohnehin eher auf Zugänge in Tibia und
Humerus beziehen. Der Stellenwert dieser Ein-
jIntraossäre Zugänge schränkung ist für die taktische Medizin daher als
Intraossäre Zugänge sind indiziert, wenn kritisch gering einzuschätzen.
verwundete Patienten zügig einen Zugang benöti- Als Anlageorte der ersten Wahl gelten beim Er-
gen und ein intravenöser Zugang nicht angelegt wachsenen die proximale und distale Tibia sowie
werden kann [38]. Im taktischen Umfeld sprechen das Sternum, als zweite Wahl der Oberarmkopf und
im Vergleich zum intravenösen Zugang v. a. die er- der Innenknöchel (. Abb. 9.40). Die Nutzung von
heblich kürzere Anlagezeit und die hohe Erfolgs- i.o. Systemen für einen sternalen Zugang bietet den
quote auch bei schwierigen Venenverhältnissen im Vorteil, dass ihre Anwendung bei der Verletzung
Schock für die Nutzung intraossärer Zugänge als von Extremitäten weiter möglich bleibt. Da Extre-
ideale Alternative [27]. Auch bei Minderung von mitätenverletzungen im militärischen Umfeld sehr
Tastempfinden und Geschicklichkeit (z. B. bei kal- häufige Verletzungsmuster darstellen, kommt die-
ten Fingern) sind sie leicht anzuwenden. Sie lassen sem Gesichtspunkt besondere Bedeutung zu. Das
sich in mindestens 80–90 % der Fälle beim ersten Sternum ist durch Schutzwesten meist gut geschützt,
Versuch innerhalb von ca. 1–2 min erfolgreich plat- und schwere Verletzungen in diesem Bereich sind
zieren. Halbautomatische Systeme (z. B. EZ-IO) er- häufig ohnehin unmittelbar tödlich. Das F.A.S.T.-
reichen primäre Erfolgsquoten von annähernd 1-System ist speziell für die Anlage am Sternum
100 % und sind noch schneller erfolgreich platzier- konstruiert worden. Die Technik ist einfach zu er-
bar, aber im Vergleich sehr groß und schwer [22, lernen und durchzuführen. Das F.A.S.T.-1 ist auf-
38]. Intraossäre Zugänge haben in der taktischen grund seines niedrigen Profils und dem abdecken-
Verwundetenversorgung alternative Gefäßzugänge den Plastikdom das nach Anlage am sichersten in
wie ZVK-Anlage (»zentraler Venenkatheter«) oder Position bleibende System [38]. Dies ist im takti-
die chirurgische Freipräparation von Venen fast schen Umfeld mit seinen meist rauen Transportbe-
vollständig verdrängt. dingungen besonders vorteilhaft. Nachteilig ist,
Absolute Kontraindikationen gibt es für die dass es ein relativ großes und schweres Packmaß
Anlage von i.o. Zugängen nicht. An gebrochenen aufweist. Die Nachfolgegeneration (F.A.S.T.-X) ver-
176 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

. Abb. 9.41 Pflasterrolle als mechanischer Schutz für eine


im Tibiakopf liegende i.o. Nadel. (Foto: F. Josse)

in der Regel nur auf Fahrzeugen mitführbar ist,


stellt v. a. die aus dem Knochen herausstehende
Nadel ein Nachteil dar, die beim Verwundeten-
9 transport ein höheres Dislokationsrisiko hat
(. Abb. 9.41). Im EZ-IO-System sind auch Sets mit
Handknauf zur manuellen Einbringung der Nadel
erhältlich, die für die Anwendung beim Erwachse-
nen gut geeignet sind. Die Handhabung sowohl des
manuellen als auch des halbautomatischen Systems
erfordern aufgrund fehlender Zielhilfen und der
vom Anwender kontrollierten Einbringtiefe einen
vergleichsweise hohen Ausbildungsaufwand.
Üblicherweise wird vor Einführen der Nadel
eine Lokalanästhesie von Haut, Weichteil und
. Abb. 9.40 Übliche Anlageorte für intraossäre Nadeln:
1 Sternum; 2 Oberarmkopf; 3 distaler Oberschenkel; 4 Tibia-
Knochenhaut durchgeführt. In Studien und eigenen
kopf; 5 Innenknöchel Erfahrungen hat sich aber gezeigt, dass der Schmerz
beim Einbringen der Nadel mit dem einer peripher-
venösen Punktion mit einer 14-G-Kanüle vergleich-
spricht hier zumindest eine deutliche Gewichts- bar ist [38]. Deutlich davon abgegrenzt werden
reduktion. Im Gegenteil zu manuellen Nadeln (wie muss der Schmerz, der beim Freispülen der Kno-
z. B. EZ-IO Sternal Set) ist das F.A.S.T.-1 für Einmal- chenmarkhöhle entsteht: um eine ausreichende
gebrauch konzipiert, es kann mit demselben System Fließgeschwindigkeit zu erzielen, soll nach Anlage
bei erfolgter Auslösung kein zweiter Punktionsver- einer intraossären Nadel ein langsames Durch-
such durchgeführt werden [38]. spülen des Knochenmarks mit 10 ml Flüssigkeit er-
Das halbautomatische EZ-IO-System verwen- folgen. Dies verursacht beim ansprechbaren Patien-
det eine akkubetriebene Bohrmaschine und ver- ten einen nicht unerheblichen Injektionsschmerz,
schiedene Nadellängen für die unterschiedlichen welcher durch die vorherige Gabe von 2–3 ml
Injektionsstellen. Die intraossäre Nadel ist mit dem Lokalanästhestikum reduziert werden kann.
System nach Aufsuchen der korrekten Punktions- Nach Einbringen der Nadel wird durch Aspirati-
stelle sehr schnell und erfolgreich platzierbar. Ne- on mittels einer Spritze die korrekte Lage geprüft. Ist
ben der Tatsache, dass es durch Größe und Gewicht Blut rückläufig, kann von einer erfolgreichen Platzie-
9.3 · »Tactical Field Care«
177 9
rung im Knochenmark ausgegangen werden und die sind als Alternative nicht geeignet. Sie sind zwar
Injektion des Flüssigkeitsbolus (NaCl 0,9 %, ggf. Lo- leicht und klein verpackbar, wurden aber für den
kalanästhetikum) nach Gebrauchsanweisung des je- Einsatz bei Kindern entwickelt. Bei Anlagever-
weiligen Produkts erfolgen. Kann kein Blut aspiriert suchen am Röhrenknochen des Erwachsenen ver-
werden, sollte dennoch ein vorsichtiger Injektions- biegen sie sich regelmäßig aufgrund der harten und
versuch unternommen werden. Ist die Injektion dicken Kortikalis [66]. Wird ein leichter, klein ver-
durchführbar, und eine angeschlossene Infusion läuft packter intraossärer Zugang gesucht, sind EZ-IO-
problemlos, ist ebenfalls eine Lage im Knochenmark Sets für manuelle Anwendung aufgrund der stabi-
anzunehmen. Vor Anschluss des Infusionssystems len Nadeln meist besser geeignet. Im Vergleich zu
an die IO-Kanüle sollte ein Dreiwegehahn zwischen- halbautomatischen und automatischen Systemen ist
geschaltet werden. Dies erlaubt es, ähnlich dem Port ihre Anwendung aber ausbildungsaufwändiger. Sie
einer Flexüle, bei laufender Infusion Medikamente sollten daher nur durch in der Anwendung Erfahre-
zuspritzen zu können. Bei Verwendung von Drei- ne genutzt werden.
wegehähnen mit Schlauchverlängerung (z. B. Disco-
fix 3 mit Verbindungsleitung, Fa. Braun) kann die Infusionslösungen
mechanische Manipulation an der Nadel dabei auf Die bestehende wissenschaftliche Studienlage
ein Minimum begrenzt werden [22]. konnte bisher noch keine Infusionslösung als ideal
Um adäquate Infusionsgeschwindigkeiten von geeignet für die Behandlung von Traumapatienten
40 ml/min zu erhalten, wird die Verwendung von identifizieren [7]. Häufig werden Studien unter
Druckinfusionsmanschetten empfohlen [22]. Die Laborbedingungen und am Menschen vermischt,
erzielbaren Fließgeschwindigkeiten am Sternum viele negative Auswirkungen einzelner Lösungen
sind im Vergleich zu anderen Punktionsstellen gut werden erst durch sehr hohe Dosierungen erreicht
[22]. Bei Medikamentengabe über den IO-Zugang und sind somit häufig wenig praxisrelevant, und
wird das Nachspülen mit 5–10 ml physiologischer Ergebnisse aus Tierversuchen werden oft unkritisch
Elektrolytlösung empfohlen, um das Einspülen in auf den Menschen übertragen [37]. Die widerstrei-
den Kreislauf sicherzustellen [22]. tenden Studienergebnisse, Expertenmeinungen
Nach eigenen Erfahrungen lassen sich beim und Empfehlungen machen eine allgemeingültige
F.A.S.T.-System auch ohne Druckinfusion Fließ- Schlussfolgerung zur Volumentherapie schwierig.
geschwindigkeiten von deutlich mehr als 40 ml/min Darüber hinaus bewerten zivile Studien die Eig-
regelmäßig erreichen. Nach Platzierung im Ster- nung verschiedener Infusionslösungen nur für Eva-
num sollte der Schlauch zur Vermeidung eines puf- kuierungszeiten, die meist höchstens eine Stunde
fernden Luftpolsters durch vorsichtige Aspiration betragen. Die Ergebnisse könnten für Patienten mit
komplett mit Blut gefüllt werden. Anschließend penetrierenden Verletzungen und mehrstündigen
wird eine 10-ml-Spritze mit 1 ml isotoner Kochsalz- Evakuierungszeiten aber völlig unterschiedlich
lösung gefüllt, angesetzt und mit hohem Druck sein. Auf dem Gefechtsfeld sind wissenschaftliche
schlagartig injiziert, was vom Patienten kurzzeitig Studien kaum durchzuführen, sodass anderweitig
als unangenehm bis schmerzhaft empfunden wird. gewonnene Erkenntnisse nie mit völliger Sicherheit
Anschließend kann die Infusion angeschlossen auf die taktische Verwundetenversorgung übertrag-
werden. In der Regel sind dann gute Fließgeschwin- bar sein werden. Gerade vor diesem Hintergrund
digkeiten zu erzielen. gewinnen taktische Überlegungen einen besonde-
Diese Empfehlung weicht von der Gebrauchs- ren Stellenwert bei der Auswahl geeigneter Infu-
anweisung des Herstellers ab, hat sich aber in der sionslösungen und der Strategie beim Volumener-
Praxis bewährt. Ist im Anschluss keine ausreichen- satz. Neben streng medizinischen Gesichtspunkten
de Flussrate erreichbar, kann eine weitere Spülung müssen im militärischen Umfeld zusätzlich auch
entsprechend der Herstelleranweisung erfolgen. logistische Aspekte (Gewicht, Volumen, Lagerungs-
Das F.A.S.T.-System ist vergleichsweise einfach bedingungen) bei der Festlegung von Infusions-
anzuwenden, aber relativ schwer und weist ein gro- regime und bevorzugter Infusionslösung berück-
ßes Packvolumen auf. Cook- oder Jamshidi-Nadeln sichtigt werden [1].
178 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

jKristalloide Infusionslösungen Infusionslösung entstehende Azidose. Die Laktat-


Kristalloide Infusionslösungen sind die Standard- konzentration im Blut wird damit allerdings ver-
flüssigkeiten zum Ausgleich von Flüssigkeitsdefizi- fälscht und kann dann im Schockraum nicht mehr
ten und werden als Trägerlösungen für Medika- als Marker für die Schwere eines Schocks genutzt
mente und zum Offenhalten von venösen Zugängen werden [49]. Der Umbauvorgang zu Bikarbonat in
eingesetzt. Auch beim polytraumatisierten Patien- der Leber verbraucht darüber hinaus Sauerstoff, was
ten werden sie in Kombination mit kolloidalen Lö- die Gewebeoxygenierung im Schock zusätzlich ver-
sungen genutzt. Bei spezifischen Therapien, z. B. im schlechtert [49]. Ein hoher Laktatspiegel führt au-
Bereich der Verbrennungsmedizin, spielen sie eine ßerdem zum Absinken der Serumkonzentration
wichtige Rolle. von Kalzium, das eine Schlüsselrolle in der Blut-
Wird versucht, ein Volumendefizit v. a. mit kris- gerinnung einnimmt und ohnehin durch Serum-
talloiden Lösungen auszugleichen, müssen häufig und Albuminverluste bei starken Blutungen verlo-
größere Mengen verabreicht werden. Aufgrund von ren geht [62]. Ringer-Laktatlösung findet daher
Diffusion in den Extravasalraum verbleiben nach zunehmend keine Anwendung mehr [64].
30–60 min nur ca. 20 % des infundierten Volumens Als Alternative bieten sich Ringer-Acetat oder
im Gefäßsystem, sodass für den gleichen Volumen- Ringer-Malat-Lösungen an. Beide erhöhen den
effekt wie bei Kolloiden die 5fache Menge an Kristal- Laktatspiegel nicht, werden aber ebenfalls hepatisch
loiden notwendig ist [45, 63]. Die Infusion größerer zu Bikarbonat metabolisiert und erhöhen so den
Mengen von kristalloiden Lösungen, insbesondere Sauerstoffbedarf. Die Verstoffwechslung von Malat
hypotoner Lösungen wie Ringer-Laktat, führt dann erfolgt dabei langsamer als die von Acetat, sodass
9 häufig zu einer extravasalen Flüssigkeitsüberladung sich der erhöhte Sauerstoffverbrauch im Wesent-
[7]. Dabei können neben lebensbedrohlichen Lun- lichen auf den Zeitraum nach der präklinischen
gen- und Hirnödemen auch massive periphere Öde- Versorgungsphase verteilt und dadurch besser
men entstehen, die die Mikrozirkulationsstörungen kompensierbar ist [49, 64].
im Schock deutlich verstärken [49, 63]. Im Vietnam-
Krieg konnte nach aggressiver Gabe von kristallo- jKolloidale Infusionslösungen
iden Infusionslösungen ein so gehäuftes Auftreten Kolloide (auch Plasmaexpander genannt) weisen
einer Schocklunge (ARDS = »acute respiratory dist- einen erheblich größeren Volumeneffekt als kristal-
ress syndrome«) beobachtet werden, dass sich dafür loide Lösungen auf. Die gebräuchlichsten künstli-
auch der Begriff »Da-Nang-Lunge« etabliert hat [1]. chen Kolloide sind Hydroxyethylstärke (HES) und
Nachdem den unphysiologischen Zusammen- Dextrane. Nach Applikation verbleiben die großen
setzungen der kristalloiden Lösungen lange keine Kolloidmoleküle in den Gefäßen und erhöhen den
Beachtung geschenkt worden ist, rücken sie zu- osmotischen Gradienten zugunsten des Intravasal-
nehmend in den Fokus. In Studien konnte gezeigt raums. Das zusätzliche Volumen wird bis zur Ver-
werden, dass sie zur Entstehung der frühen trauma- stoffwechselung oder Ausscheidung der Kolloid-
bedingten Gerinnungsstörung (ETIC) wesentlich moleküle über mehrere Stunden im Gefäßsystem
beitragen [68]. Wird dem Körper eine kristalloide gehalten, wodurch der erzielte Volumeneffekt deut-
Lösung zugeführt, senkt diese durch Verdünnung lich länger anhält als bei Kristalloiden. Diese Eigen-
die Bikarbonatkonzentration im Blut. Bikarbonat schaften machen Kolloide grundsätzlich zu nahezu
dient als Pufferbase zur Aufrechterhaltung des na- idealen Infusionslösungen für den Einsatz auf dem
türlichen pH-Wertes durch Bindung von sauren Gefechtsfeld.
H+-Ionen. Sinkt seine Konzentration, können weni- Leider weisen kolloidale Lösungen einen mehr
ger H+-Ionen gebunden werden, es kommt zur Ver- oder weniger ausgeprägten negativen Einfluss auf
dünnungsazidose [64]. Um diesem Effekt entgegen- die Gerinnung auf und können Unverträglichkeits-
zuwirken, wird vielen Infusionslösungen Laktat reaktionen bis hin zum anaphylaktischen Schock
beigesetzt (z. B. Ringer-Laktat). Laktat wird in der auslösen [49]. Im US-amerikanischen Raum hatten
Leber in Bikarbonat umgewandelt und verringert so Kolloide daher in der präklinischen Volumenthera-
die bei der Infusion größerer Mengen kristalloider pie bisher einen sehr geringen Stellenwert. Mehrere
9.3 · »Tactical Field Care«
179 9
Studien zeigten dort Überlebensvorteile für Trau- ist bemerkenswert und dürfte zu einer Neubewer-
mapatienten bei Verwendung von Kristalloiden an- tung von Kolloiden auch in der zivilen amerikani-
stelle von Kolloiden. Diese Ergebnisse sind auf eu- schen Notfallmedizin führen [1].
ropäische Verhältnisse aber nicht zu übertragen, Parallel zu dieser Entwicklung haben sich in
weil bis in jüngere Zeit in den USA lediglich Dext- jüngerer Zeit in verschiedenen Studien Hinweise
rane oder die in Europa aufgrund ihres schlechten auf ein im Vergleich zu kristalloiden Lösungen un-
Nebenwirkungsspektrums schon länger nicht mehr günstiges Nebenwirkungsspektrum gehäuft, so dass
verwendete hochmolekulare (»high molecular im Rahmen einer Risikoabwägung von der Europä-
weight«, HMW) HES-Lösung zugelassen war [49]. ischen Arzneimittelagentur bis auf weiteres von der
HMW-HES-Lösungen (z. B. HES 450/0,7) verursa- Nutzung von HES-Lösungen abgeraten und ein Ru-
chen auch bei einmaliger Gabe niedriger Mengen hen der Arzneimittelzulassung empfohlen wird.
erhebliche Störungen der Blutgerinnung durch Diese Empfehlung wird in Fachkreisen heftig disku-
Umhüllung (»coating«) der Thrombozyten, die tiert, da sie sich im Wesentlichen auf intensivmedi-
dann schlechter aggregieren können, und Störung zinische Beobachtungen bei »kritisch Kranken«
der Fibrinvernetzung [37]. Dextranlösungen haben abstützt: Bei Patienten mit Sepsis führte die Gabe
von allen künstlichen Kolloiden durch eine deut- von Hydroxyethylstärke zum häufigeren Nierenver-
liche »coating«-bedingte Thrombozytenaggregati- sagen. Für die Verwendung in der präklinischen
onshemmung den ausgeprägtesten negativen Ein- Notfallmedizin liegen keine entsprechenden Daten
fluss auf die Gerinnung und weisen eine hohe aller- vor. Es ist daher fraglich, ob die Ergebnisse der
gene Potenz auf [37, 63]. Intensivmedizin sich ohne weiteres auf die kurz-
In Europa werden dagegen seit langem mittel- zeitigen Applikationen von vergleichsweise gerin-
und niedermolekulargewichtige HES-Präparate gen Mengen in der Notfallmedizin übertragen las-
(MMW, »medium molecular weight«, bzw. LMW, sen. Gleichzeitig fehlen überzeugende Alternativen:
»low molecular weight«) mit niedrigem Substitu- neben den bereits angesprochenen Dextran-Lösun-
tionsgrad bevorzugt. Sie weisen ein deutlich verbes- gen mit ihrem ungünstigeren Nebenwirkungsspek-
sertes Spektrum unerwünschter Wirkungen auf trum neigen auch Gelatine-Lösungen zu einem ge-
[49]. Die Störung der Blutgerinnung beschränkt ringeren Volumeneffekt bei gleichzeitig höherem
sich im Wesentlichen auf eine Beeinträchtigung der Anaphylaxie-Risiko als die gebräuchlichen HES-
Fibrinvernetzung, wobei es sich dabei häufig um Lösungen. Auch das Nutzen-Risiko-Verhältnis von
Laboreffekte handelt, die in den zulässigen Dosie- Humanalbumin 20 % ist nicht eindeutig belegt,
rungsmengen beim Patienten kaum mehr nachzu- gleichzeitig ist es aber um ein Vielfaches teurer. Aus
weisen sind [49]. Auch das Risiko einer anaphylak- Sicht der anästhesiologischen Fachgesellschaften
tischen Reaktion kann für moderne MMW- und können HES-Lösungen daher weiter eingesetzt
LMW-HES-Lösungen aufgrund seiner geringen werden, ihre Verwendung sollte aber auf Patienten
Wahrscheinlichkeit (HES 130/0,4) vernachlässigt mit akut vital bedrohlichen, anderweitig nicht be-
werden [49]. Diese modernen HES-Lösungen der herrschbaren Blut- und Volumenverlusten be-
3. Generation (z. B. Voluven, Tetraspan) weisen schränkt bleiben [74, 75]. Derzeit ergeben sich da-
einen annähernd gleichen Volumeneffekt, aber eine her keine Änderungen bei der Anwendung von
kürzere Verweildauer auf. Ihr günstiges Neben- HES-Lösungen zur Therapie des traumatischen
wirkungsprofil führte auch zu einer deutlichen Er- Volumenmangelschocks. Ob HES-Lösungen künf-
höhung der maximal applizierbaren Menge auf tig für den Anwender verfügbar bleiben, hängt ne-
50 ml/kg KG/Tag (HES 200/0,5: 33 ml/kg KG/Tag; ben einer medizinischen Risiko-Nutzen-Abwägung
Hextend: 20 ml/kg KG/Tag) [46]. Sie sollten daher aber auch immer von der Medikamentenzulassung
für den Volumenersatz beim Traumapatienten be- ab (s. unten).
vorzugt werden [37]. Neben der Abwägung von Feinheiten des
Die Fokussierung auf Kolloide in den neueren Nutzen-Risiko-Verhältnisses unter den optimalen
TCCC-Leitlinien und die Entdeckung der in Europa Versorgungsbedingungen der Intensivstation eines
gebräuchlichen niedrigmolekularen HES-Lösungen Krankenhauses müssen im Hinblick auf die Eig-
180 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

nung für den Einsatz im taktischen Umfeld auch von kristalloiden Lösungen ist bei hypertoner
andere Aspekte berücksichtigt werden. Kolloide Kochsalzlösung bei einmaliger Applikation nicht zu
bringen nämlich in logistischer Hinsicht klare Vor- befürchten, da die hypertone Lösung umso mehr
teile mit sich: Im Vergleich mit kristalloiden Lösun- verdünnt wird, je größer das intravasale Volumen
gen vervierfacht sich bei gleichem Gewicht und ist. Der Flüssigkeitseinstrom ins Gefäßbett redu-
Packmaß der erzielbare Volumeneffekt. Das im ziert sich damit entsprechend [42].
Rucksack mitführbare Volumen an Infusionslösun- Die in HyperHAES vorliegende Kombination
gen beschränkt sich ohnehin meist auf wenige Liter, von hypertoner Kochsalzlösung und MMW-HES
da die Belastungsgrenze der Soldaten durch Schutz- beeinträchtigt die Gerinnselfestigkeit in experimen-
weste, Bewaffnung, Trinkwasser, medizinische und tellen Untersuchungen weniger stark als die sehr
sonstige Ausrüstung mit Lasten von insgesamt nebenwirkungsarmen LWM-HES-Präparate. Ob
30–50 kg bereits nahezu erreicht ist. Die geringen sich dies klinisch auswirkt, ist aber noch nicht ge-
Nachteile der modernen kolloidalen Lösungen klärt [36, 37].
rücken aus Sicht der Autoren mangels Alternativen Angesichts der Tatsache, dass die Lösungen
in den Hintergrund, bis bessere Optionen verfügbar rasch als Druckinfusion appliziert werden müssen,
geworden sind [27, 49]. um ihre Wirkung zu entfalten, ist eine Steuerung
des Blutdruckanstiegs über Titration schlechter
jHyperton-hyperonkotische möglich. Die Anwendung kann aus eher theoreti-
Infusionslösungen schen Erwägungen somit im taktischen Umfeld
Hyperton-hyperonkotische Infusionslösungen problematisch sein. Gerade bei unkontrollierten
9 (HyperHAES) enthalten eine stark hypertone Koch- Blutungen und der Indikation zur permissiven
salzlösung (7,2 %) mit 6 % HES 200/0,5. Durch Hypotonie sollte ihr Einsatz daher gut abgewogen
rasche Infundierung der Lösung kommt es zu einer werden [42].
deutlichen Erhöhung der Plasmaosmolalität, die Insgesamt war die Studienlage zum Stellenwert
zu einem schnellen Flüssigkeitseinstrom aus dem von HyperHAES nicht einheitlich. Die positiven
Extra- in den Intravasalraum führt [42]. Die ent- Anfangserfahrungen, ersten größeren Studien und
haltenen HES-Moleküle binden den Großteil der klinischen Anwendungsbeobachtungen wiesen je-
eingeströmten Flüssigkeit anschließend im Gefäß- doch auf einen hohen Nutzen der Lösungen für die
bett. Dadurch können teilweise auch Patienten im taktische Medizin hin. Selbst eine in den USA noch
sonst therapierefraktären Schock stabilisiert wer- nicht zugelassene hyperton-hyperonkotische Koch-
den. Die Überlebenswahrscheinlichkeit im Schock salz-Dextran-Lösung wird trotz des enthaltenen
kann erhöht, die Organperfusion verbessert werden nebenwirkungsreichen Dextran sehnsüchtig er-
[42]. Die rasche Verbesserung der Mikrozirkulation wartet und könnte dort als neue Standardinfusions-
scheint nach der derzeitigen Studienlage insbeson- lösung das derzeit eingeführte Kolloid Hextend 6 %
dere bei SHT und penetrierenden Verletzungen die in den TCCC-Leitlinien ablösen [45].
Überlebenswahrscheinlichkeit zu erhöhen [49]. Durch die bereits angesprochene Diskussion
Ob die Kombination mit hyperton-hyperonko- rund um das Risikoprofil von HES wurde auf Betrei-
tischen Kochsalzlösungen einer Therapie nur mit ben des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medi-
herkömmlichen Kristalloiden oder Kolloiden hin- zinprodukte auch die Überarbeitung der Zulassung
sichtlich des Patientenoutcome wirklich überlegen für HyperHAES gefordert. Der Hersteller verzichtete
ist, ist aber noch nicht klar und wurde bisher inten- leider darauf und zog die Zulassung zurück. Das Pro-
siv untersucht [49]. Die zur hämodynamischen Sta- dukt ist damit nicht mehr am Markt erhältlich. Es ist
bilisierung notwendige Flüssigkeitsmenge konnte zu vermuten, dass hier weniger ein schlechtes Risiko-
bei der Anwendung von HyperHAES aber deutlich profil die Ursache war, als vielmehr wirtschaftliche
gesenkt werden [42]. Dies bringt neben dem Be- Abwägungen. Eine Neuzulassung mit dem moder-
handlungserfolg auch erhebliche logistische Vortei- nen niedermolekulargewichtigen HES 130/0,4 hätte
le hinsichtlich Packmaß und Gewicht mit sich. Eine für dieses notfallmedizinische Nischenprodukt
akute Volumenüberladung wie bei der Anwendung wahrscheinlich unverhältnismäßig hohe Kosten
9.3 · »Tactical Field Care«
181 9
verursacht. Gerade für den Bereich der taktischen Orale Flüssigkeitszufuhr
Medizin hinterlässt der Wegfall von HyperHAES Die im zivilen Bereich übliche Praxis, dass Verletzte
eine spürbare Lücke, da die Infusionslösung ein sehr zur Minderung des Risikos bei der Narkoseinleitung
gutes Verhältnis zwischen Packmaß und Gewicht zu grundsätzlich nüchtern gelassen werden sollen,
intravasaler Volumenwirkung geboten hat. kann nicht unkritisch auf den militärischen Bereich
Als hyperton-hyperonkotische Infusionslösung übertragen werden. Patienten sind durch die körper-
steht alternativ RescueFlow zur Verfügung. Dessen liche Anstrengung im Gefecht, das Tragen der
hyperonkotische Wirkung basiert auf einem Zusatz schweren Ausrüstung und aufgrund der klimati-
von Dextran anstelle von HES und weist damit des- schen Bedingungen meist schon vor der Verwun-
sen ungünstigeres Nebenwirkungsspektrum auf. dung dehydriert. Bei längeren Evakuierungszeiten
und limitierter Verfügbarkeit von Infusionslösun-
jBalancierte Infusionslösungen gen, insbesondere von Kristalloiden, kann dies die
Da die meisten kristalloiden und kolloiden Lösun- Entstehung eines Schocks fördern. Orale Flüssig-
gen unphysiologisch sind, leisten sie einer Azidose keitsaufnahme kann helfen, Infusionen einzusparen.
durch Verdünnung häufig Vorschub (s. o.) und för- Sie wird daher für alle Patienten empfohlen, die
dern so die letale Trias des Schocks [37, 64]. nicht bewusstseinsgetrübt sind und schlucken kön-
Lösungen, die im Elektrolytmuster, Osmolalität nen [45]. Bei Patienten mit Abdominaltrauma sollte
und Säure-Basen-Status die Charakteristik des die Indikation lageabhängig enger gefasst werden.
Plasmas aufweisen, werden als »balanciert« be-
zeichnet. Sie können (mit Ausnahme einer Volu- Plasma
menüberladung) keine wesentlichen Störungen des Blut- und Plasmaprodukte stellen in vielen Fällen
Säure-Basen- und Elektrolythaushaltes auslösen den derzeit besten verfügbaren Volumenersatz bei
[63]. Daher sollten grundsätzlich balancierte Infu- hämorrhagischem Schock dar. Plasma bietet im
sionslösungen eingesetzt werden, und unbalan- Gegensatz zu Infusionslösungen den Vorteil, dem
cierte Lösungen (z. B. NaCl, RiLac) auf ein Mini- Körper Flüssigkeit in physiologischer Konzentra-
mum reduziert werden [7, 35, 62, 64]. tion mit allen Elektrolyten und Proteinen inkl. der
In der Gesamtschau aller Infusionslösungen Gerinnungsfaktoren zur Verfügung zu stellen [24,
weisen LMW-HES-Präparate mit niedrigem Substi- 51]. Es ist daher als Volumenersatz gerade bei Pa-
tutionsgrad (z. B. 130/0,42) in isotoner, balancierter tienten mit drohenden oder manifesten Gerinnungs-
Lösung mit physiologischem Kalziumgehalt (z. B. störungen hervorragend geeignet, da es verloren
Tetraspan, Fa. Braun) somit ein sehr günstiges gegangene Gerinnungsfaktoren ersetzen kann und
Nebenwirkungsprofil auf und dürften damit die Verdünnungseffekte vermeiden hilft. Es konnte bis
derzeit beste vorhandene Option für einen präklini- in jüngste Zeit allerdings nur durch Einfrieren halt-
schen Volumenersatz beim Traumapatienten dar- bar gemacht werden (»Fresh Frozen Plasma«, FFP),
stellen [4, 62, 63]. sodass es aufgrund der notwendigen Kühlung für
den präklinischen Einsatz kaum geeignet war [59].
Vorteile von 250-ml-Infusionsbeuteln Bereits im 2. Weltkrieg wurde als deutlich ein-
gegenüber den üblichen 500-ml-Beuteln facher zu handhabende Variante gefriergetrockne-
5 Sie lassen sich leichter verstauen. tes Plasma genutzt, das unmittelbar vor Anwendung
5 Bei Anfall einer größeren Anzahl Ver- wieder in Flüssigkeit gelöst werden konnte. Auf-
wundeter kann die verfügbare Infusions- grund von damals nicht beherrschbaren Problemen
menge bei Bedarf auf mehr Patienten durch die mögliche Übertragung von Infektions-
aufgeteilt werden. krankheiten wurde die Produktion verlassen [1].
5 Die Überwachung des infundierten In Konsensus-Konferenzen der amerikanischen
Volumens wird erleichtert. Streitkräfte wurde gefriergetrocknetes Plasma 2010
als vielversprechendste Flüssigkeit im Rahmen von
prolongierter präklinischer Volumentherapie be-
wertet [10]. Auch in den britischen Streitkräften
182 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

wird die Verwendung von Plasma auf dem Ge- Einen besonderen Stellenwert hat dabei die
fechtsfeld angestrebt [10]. Eine Studie über die prä- Gabe von Fibrinogen. Die o. g. Trauma-induzierte
klinische Anwendung von Plasma als Volumen- Koagulopathie führt neben einer Hyperfibrinolyse,
ersatz der ersten Wahl bei nichtkontrollierbaren die mittels Tranexamsäure therapiert werden kann,
Blutungen unter militärischen Einsatzbedingungen auch zu einem massiven Verbrauch von Fibrinogen.
steht noch aus, könnte aber gefriergetrocknetes Dieser Verbrauch tritt schon kurz nach einem Trau-
Plasma als feste Behandlungsoption im präklini- ma auf, noch bevor eine Behandlung im Schock-
schen Bereich etablieren. raum möglich ist. Bereits 1992 konnte eine Vermin-
Entsprechende Produkte sind in den USA in der derung der präklinischen Fibrinogenkonzentration
Erprobung, und ihrer Zulassung in den nächsten an polytraumatisierten Patienten gezeigt werden
Jahren wird hoffnungsvoll entgegengesehen [59]. [78]. Aktuelle Studien aus 2012 bestätigen diese
In Deutschland und Frankreich steht dagegen frühe Abnahme der Fibrinogenkonzentration [79].
schon gefriergetrocknetes lyophilisiertes Plasma Hinzu kommt, dass eine niedrige Fibrinogenkon-
(LyoPlas N-w) zur Verfügung, das hinsichtlich der zentration mit einer erhöhten Sterblichkeit verge-
Lagerungsbedingungen mit einem zulässigen Tem- sellschaftet ist [80]. Darum ist auch eine frühzeitige
peraturbereich von 2–25 °C relativ unempfindlich präklinische Gabe von 2–4 g Fibrinogen bei hämor-
ist [14]. Nach Lösen in Wasser kann es unmittelbar rhagischem Schock und unkontrollierbaren Blu-
verabreicht werden. Es wird in großem Umfang er- tungen zur Förderung der Blutstillung zu empfeh-
folgreich in Auslandseinsätzen der Bundeswehr ge- len. Um diese Menge an Fibrinogen mittels ge-
nutzt, allerdings bisher lediglich in der stationären friergetrocknetem Plasma zu verabreichen, müssten
9 Versorgung [10]. dem Patienten 2.000–4.000 ml Plasma infundiert
Auch wenn Plasma ein nahezu ideales Volumen- werden. Dies entspricht 10–20 Glasflaschen
ersatzmittel ist, bietet sich Lyoplasma in der Präklinik Lyoplasma, deren Mitführung und Vorbereitung
nur eingeschränkt für diesen Verwendungszweck an. einen erheblichen logistischen Aufwand darstellen
Es ist nicht nur teuer und nicht in beliebigen Mengen würde.
produzierbar, sondern auch nur als Trockensubstanz
Tipp
in Glasflaschen verfügbar und muss erst mit Wasser
für Injektionszwecke aufgelöst werden. Pro Flasche
Fibrinogen ist als Trockensubstanz in 1 g
stehen dann 200 ml Plasma zur Verfügung, so dass
Konzentrationen in einer Glasflasche ver-
die bei relevantem Trauma notwendigen Mengen an
fügbar. Diese muss mit 50 ml Wasser für Injek-
Volumenersatz nicht nur schlecht mitgeführt werden
tionszwecke aufgelöst werden, was im Einsatz
können, sondern auch eine erhebliche Vorberei-
auf logistische Probleme stoßen kann. Die
tungszeit vor Applikation brauchen.
Durchstechflaschen dürfen nicht über +25 °C
Zur Schockraumbehandlung in medizinischen
gelagert werden.
Behandlungseinrichtungen ist Lyoplasma deutlich
geeigneter, da hier mehr Helfer und Lagerungsmög-
lichkeiten zur Verfügung stehen. In der Regel wird
es aber aufgrund der eingeschränkten Verfügbarkeit Prokoagulanzien
auch hier vor allem dazu genutzt, bei Blutungen und Als präklinisches Prokoagulanz der Wahl bei nicht
Gerinnungsstörungen zusätzlich Gerinnungsfakto- beherrschbaren Blutungen konnte sich mittlerweile
ren zu substituieren und wird mit anderen Blutpro- Tranexamsäure (Cyklokapron, Quixil) etablieren
dukten kombiniert. Grundsätzlich ist ein Verhältnis und ist für diese Anwendung auch in die TCCC-
Lyoplasma : Erythrozytenkonzentrat von 1:1 zu Leitlinien aufgenommen worden [10, 70]. Tran-
empfehlen. In einer leistungsfähigen medizinischen examsäure (TXA) hemmt die Auflösung bestehen-
Behandlungseinrichtung kann die kalkulierte Subs- der Blutgerinnsel (Fibrinolyse) und begünstigt da-
titution von einzelnen Gerinnungsfaktoren aller- durch die Blutgerinnung. Sie vermindert nachge-
dings im Vergleich dazu mehr erreichen und ist wiesenermaßen das Risiko zu verbluten, ist relativ
logistisch einfacher. kostengünstig und weist angesichts der Lebensge-
9.3 · »Tactical Field Care«
183 9
fahr ein vertretbares Nebenwirkungsspektrum auf wendung noch ausreichend Gerinnungsfaktoren
[11]. Es gibt sogar erste Hinweise darauf, dass Tran- vorhanden sein müssen, macht eine Nutzung im
examsäure auch die Prognose von Patienten mit präklinischen Bereich aber nur in einer frühen Pha-
einer traumatisch bedingten intrakraniellen Blu- se des Traumas Sinn, in der der kritische Verlauf
tung günstig beeinflussen kann [71]. Bei Verwunde- meist noch schlecht vorhersehbar ist. Da im Ver-
ten mit signifikantem Blutverlust (z. B. bei hämor- gleich zu Tranexamsäure eine erhöhte Rate von
rhagischem Schock, Amputationsverletzungen, pe- Thromboembolien als Komplikation nachgewiesen
netrierendem Thoraxtrauma) kann standardisiert worden ist, ist rVIIa eher keine Option mehr für den
innerhalb der ersten Stunde nach der Verwundung, präklinischen Einsatz. Seine Anwendung sollte
spätestens aber innerhalb von 3 h, 1 g Tranexam- daher vornehmlich auf den klinischen Bereich be-
säure als Kurzinfusion verabreicht werden. Nach schränkt bleiben [36].
Infusionstherapie mit Kolloiden kann dann eine
zweite Kurzinfusion mit gleichem Wirkstoffgehalt Posttraumatische Reanimation
durchgeführt werden [70]. Reanimationsversuche sollten bei traumatisch be-
Eine weitere Option ist die Anwendung von Des- dingten Herz-Kreislauf-Stillständen in taktischen
mopressin (Minirin). Es verstärkt die Thrombozy- Lagen im Regelfall im Sinne einer Triagierung un-
tenadhäsion an die Gefäßwande im Bereich von terbleiben. Sie binden massiv Material und Perso-
Verletzungen und fördert so die Entstehung belast- nal, haben aber eine sehr schlechte Prognose [45].
barer Blutgerinnsel. In Laboruntersuchungen konn- In entsprechend günstigen Lagen (z. B. Polizeiein-
te Desmopressin die bei auf 32 °C gekühltem Blut satz, einzelner Verwundeter ohne aktuelle Bedro-
erheblich verschlechterte Gerinnung wieder deut- hung) ist der Versuch aber durchaus sinnvoll und ist
lich verbessern [62]. Eine Begleittherapie mit Des- gerade bei eigenen Verwundeten wichtig für die
mopressin kann daher gemäß Stellungnahme der Moral und die psychische Verarbeitung (»es wurde
Bundesärztekammer bei der Therapie schwerer Blu- alles versucht«). Ist ein Spannungspneumothorax
tungen bei Hypothermie indiziert sein [36]. Bei Ha- als Ursache des Herz-Kreislauf-Stillstandes nicht
sen mit unkontrollierten Blutungen nach Verletzung sicher auszuschließen, sollte vor Abbruch der Re-
der Aorta zeigte sich bei einer Gruppe, die normo- animationsmaßnahmen unbedingt eine beidseitige
tensiv und mit Desmopressin behandelt worden ist, Nadelentlastung durchgeführt werden [70].
eine ähnliche Überlebenswahrscheinlichkeit wie bei
der Kontrollgruppe mit permissiver Hypotension
[50]. Für Patienten mit SHT und unkontrollierten 9.3.5 Disability
Blutungen, bei denen zurzeit der Spagat zwischen
Minimierung von Blutverlusten und optimaler Neurologischer Status (. Abb. 9.42)
Hirnperfusion kaum zu bewerkstelligen ist, könnte Bei der Erhebung des neurologischen Status ist ins-
das Medikament daher in Zukunft eine entscheiden- besondere der Bewusstseinszustand aufgrund sei-
de Prognoseverbesserung bedeuten [76]. ner Bedeutung für die Atemwegssicherung und als
Der Einsatz von rekombinantem Faktor rVIIa Maßstab der Organperfusion im Rahmen der
(NovoSeven) zeigte bei Verwundeten mit unstillba- Schockbehandlung wichtig. In Verbindung mit der
rer Blutung in Studien teilweise Überlebensvorteile. Pupillenreaktion liefert er darüber hinaus auch An-
rVIIa aktiviert die intrinsische und extrinsische Ge- haltspunkte zur Beurteilung der Schwere eines
rinnungskaskade und fördert dadurch die Throm- Schädel-Hirn-Traumas.
benbildung. Damit könnte es zur Verminderung Zur Vereinfachung ist in der taktischen Medizin
von präklinisch sonst nicht kontrollierbaren Höh- eine Einteilung in AVPU (englisch) bzw. WASB
lenblutungen beitragen [51]. Verschiedene US-Spe- (deutsch) üblich (. Abb. 9.43). Die Einteilung »alert«
zialeinheiten hatten versuchsweise mit der präklini- (wach), »verbal« (antwortet), »pain« (Schmerz-
schen Anwendung von NovoSeven begonnen, seit reaktion) und »unresponsive« (bewusstlos) deckt
die neueste Generation des Medikaments nicht sich dabei mit der traditionellen deutschen Ein-
mehr kühlpflichtig ist. Da für eine erfolgreiche An- teilung der Bewusstseinszustände (wach, somno-
184 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

D Disability (neurolog. Status / SHT / Analgesie)

. Abb. 9.42 Leitlinie Disability (neurologogischer Status/SHT/Analgesie)

. Abb. 9.43 Darstellung der typischen Befunde im Rahmen der AVPU-Einstufung. In der ersten Spalte sind die Werte des
Glasgow-Coma-Scale (GCS) zum Vergleich aufgeführt
9.3 · »Tactical Field Care«
185 9

Schädel-Hirn-Trauma

. Abb. 9.44 Care under fire

lent, soporös, komatös). Durch die Nutzung der An- Optimierung der zerebralen Perfusion und der Ge-
fangsbuchstaben lässt sich ein Befund gut dokumen- webeoxygenierung sicherstellen. Unter adäquater
tieren und übergeben. Als Gedächtnisstütze zum Beatmung oder Oxygenierung ist die Anwendung
Untersuchungsablauf der Pupillen und Dokumenta- von Ketamin beim SHT indiziert. Es gibt erste
tionsmöglichkeit hat sich »PERRLA« (pupils equal, Hinweise, dass Ketamin ebenso wie HyperHAES
round, reactive to light, accommodate: Pupillen iso- einen neuroprotektiven Effekt beim SHT haben
kor, rund, lichtreagibel, Akkomodation) etabliert. kann [49]. Die Therapie des SHT ist ausführlich in
Eine grobe Überprüfung von Durchblutung, 7 Kap. 18 dargestellt.
Motorik und Sensibilität der Extremitäten sollte
durchgeführt werden, um später den Verlauf beur- Schmerzbekämpfung (. Abb. 9.45)
teilen zu können und Hinweise auf eine ggf. vor- Im taktischen Umfeld kann eine große Bandbreite
liegende Wirbelsäulenschädigung zu erhalten. von Schmerzen auftreten. Neben schweren Ver-
wundungen, die in der Regel eine Therapie mit
Schädel-Hirn-Trauma (. Abb. 9.44) Opiaten oder Ketamin erfordern, sind leichtere Ver-
Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma sollten zur wundungen mit geringeren Schmerzen häufig auch
Minderung des Hirndrucks mit erhöhtem Ober- durch orale Einnahme niedrigpotenterer Medika-
körper (idealerweise 30°) und in der Körperachse mente ausreichend versorgt. Auch bei eher banal
gerade liegendem Kopf (Verbesserung des venösen erscheinenden Erkrankungen, wie z. B. starken
Abflusses) gelagert werden. Eine Halskrause darf Kopfschmerzen, kann nur die Verfügbarkeit geeig-
daher auch nicht zu fest angelegt werden. Neben der neter Schmerzmittel die volle Einsatzfähigkeit des
Sauerstoffgabe soll ein normal hoher Blutdruck die Soldaten erhalten.
186 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

Analgesie

. Abb. 9.45 Leitlinie Analgesie

Schmerz ist eine äußerst subjektive Empfindung Weil die intravenöse Schmerztherapie zwar
und korreliert nicht zwangsläufig mit der Schwere schnell und gut wirksam ist, aber auch mit einem
der Verwundung. Insbesondere im Gefecht wer- hohen Aufwand verbunden ist, kommt aufgrund
den  Verletzungen häufig nicht richtig wahrge- der Besonderheiten des taktischen Umfeldes alter-
nommen. In diesen Fällen ist eine Analgesie nicht nativen Applikationsformen (z. B. bukkal, intra-
zwingend indiziert, bis Schmerzen auftreten oder nasal, intramuskulär) eine besondere Bedeutung
die Lage es erlaubt. Verwundete profitieren durch zu. Auch die voraussichtliche Dauer der Schmerz-
Minderung der schmerzbedingten Aktivierung therapie im Feld muss hinsichtlich der notwendigen
des Sympathikotonus aber generell von einer An- Überwachung, wie auch der Aufrechterhaltung der
algetikagabe. Analgesie durch Repetitivdosen, bedacht werden.
9.3 · »Tactical Field Care«
187 9

S - Ketamin - Anwendung

. Abb. 9.46 Leitlinie S-Ketamin-Anwendung

jKetamin (. Abb. 9.46)


Ketamin ist ein fast ideales Analgetikum für den antrieb und Schutzreflexen bei analgetischen
Schwerverletzten im taktischen Umfeld. Durch die Dosierungen und die positiven hämodynamischen
große therapeutische Breite, den Erhalt von Atem- Effekte ist es relativ anwendungssicher.
188 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

E Environment & Exposure (Weitere Untersuchung, Versorgung,


Wärmeerhalt, Antibiose, Überwachung, Dokumentation...)

. Abb. 9.47 Leitlinie Environment & Exposure

Analgesie im Einsatz Hülle ihre Funktion weitgehend verlieren. Bewährt


9 haben sich SAM-Splints oder auch herkömmliche
Auf die Bedeutung der frühzeitigen Schmerz- Leiterschienen. Auf eine gute Polsterung, insbeson-
therapie und ihre praktische Durchführung dere über gut tastbaren Knochen, ist zu achten.
wird detailliert im 7 Kap. 10 eingegangen. Die Schienen sollten in Erwartung einer folgenden
Gewebeschwellung und ggf. nicht durchgehend
möglicher Überwachung nicht zu fest angewickelt
werden. Für Armverletzungen ist meist eine Ruhig-
9.3.6 Exposure and environment stellung in einer mittels Dreiecktuch improvisierten
Armschlinge ausreichend, die mit einer Dreieck-
In diesem Abschnitt der Versorgung erfolgt lageab- tuchkrawatte am Oberkörper festgelegt werden
hängig eine Entkleidung zur vollständigen körper- kann. Alternativ kann auch die Binde, mit der die
lichen Untersuchung. Dabei werden dann auch Unterarm-Schiene festgewickelt wird, mehrfach um
nicht unmittelbar lebensbedrohliche Verletzungen den Hals geführt und so eine improvisierte Trage-
versorgt, eine Hypothermieprophylaxe und weitere schlaufe hergestellt werden (. Abb. 9.48). Vor Repo-
Maßnahmen (wie Antibiotikatherapie und Doku- sition und Schienung sowie im weiteren Verlauf
mentation) durchgeführt. sollten regelmäßig die periphere Durchblutung,
Motorik und Sensibilität kontrolliert werden. Liegt
Frakturen (. Abb. 9.47) bei einer frakturierten Extremität eine periphere
Alle Frakturen sollten immobilisiert werden, um Pulslosigkeit vor, muss in jedem Fall ein Repositi-
eine Schmerzreduktion zu erzielen und weitere Ge- onsversuch unternommen werden, um ischämiebe-
webeschädigungen zu vermeiden. Nach Möglich- dingte Schädigungen zu verhindern. Dieser sollte in
keit sollte eine Fehlstellung dabei unter axialem Zug Zusammenarbeit mit dem Patienten und unter
vor der Schienung reponiert werden. Bei Frakturen bestmöglicher Analgesie erfolgen.
der unteren Extremität bewirkt eine Traktionsschie-
nung eine erhebliche Schmerzminderung (z. B. CT- Verbrennungen (. Abb. 9.49)
6-Karbonschiene). Vakuum- und Luftkammer- Hat ein Patient Verbrennungen erlitten, sollten
schienen sind im taktischen Umfeld eher zurück- diese keimfrei oder zumindest keimarm mit nicht-
haltend anzuwenden, da sie bei Beschädigung der anhaftendem Verbandmaterial abgedeckt werden.
9.3 · »Tactical Field Care«
189 9
Die Versorgung von Verbrennungen beschreibt
7 Kap. 15 detaillierter.

Penetrierende Augenverletzungen
(. Abb. 9.50)
Penetrierende Augenverletzungen resultieren im-
mer in einer hohen Infektionsgefahr, die auch bei
Bagatellverletzungen das Augenlicht gefährdet.
Kann der Patient schlucken, ist die orale Gabe von
Gyrasehemmern (z. B. Ciprofloxacin, Moxifloxa-
cin) sinnvoll. Je nach Einsatzland können teils er-
hebliche Abweichungen bei den Erregerresistenzen
bestehen, die bei der Wahl des Antibiotikums be-
rücksichtigt werden sollten. Nach Möglichkeit soll-
te die Wahl mit der für andere Verwundungen iden-
tisch sein, um die Handhabung zu vereinfachen.
Soll keine systemische Analgosedierung er-
folgen, ist die örtliche Betäubung durch lokalanäs-
thetische Augentropfen (z. B. Ophtacain-N) mög-
. Abb. 9.48 Die Binde, mit der die Schiene am Unterarm be- lich. Sind diese nicht verfügbar, können auch nor-
festigt wird, kann auch für eine improvisierte Trageschlaufe
male, zu Injektionszwecken bestimmte Lokalanäs-
genutzt werden. (Foto: Dr. C. Neitzel)
thetika ins Auge getropft werden. Diese lösen im
Regelfall ein nicht unerhebliches Brennen aus, das
Bei großflächigen Verbrennungen hat sich die aber nach Minuten abklingt. Bevor das verletzte
Nutzung von Rettungsdecken bewährt. Verbren- Auge abgedeckt wird, sollte die verbliebene Seh-
nungsverletzte haben häufig einen hohen Anal- fähigkeit überprüft werden. Das andere Auge sollte
getikabedarf und sind besonders hypothermie- dabei geschlossen sein oder zugehalten werden.
gefährdet. Bei Verbrennungen im Gesichts-/Hals- Orientierend kann geprüft werden, ob Schrift lesbar
bereich oder Inhalation von heißer Luft kann ist (z. B. Verwundetenanhängekarte nutzen), die An-
es zu einer akuten Verlegung der Atemwege zahl gezeigter Finger erkannt wird, Bewegung mit
durch Zuschwellen kommen. Dadurch kann eine der Hand vor dem Auge gesehen wird oder zumin-
Koniotomie unumgänglich werden. Verbrennungs- dest die Unterscheidung zwischen hell und dunkel
patienten erhalten präklinisch häufig erheblich möglich ist.
zu viel Volumen. In der ersten Stunde sollten Das Abdecken sollte mittels einer starren Au-
daher max. 1.000 ml kristalloide Lösung infundiert genklappe erfolgen, um Druck auf das Auge zu
werden, sofern der Patient hämodynamisch stabil verhindern (. Abb. 9.51). Dieser könnte zu weiterer
ist. Verletzung und dem Herauspressen von Augenin-
halt führen. Ersatzweise kann auch eine Schutzbril-
Tipp le genutzt werden. Nur das Abdecken beider Augen
stellt das verletzte Auge bestmöglich ruhig, resul-
Die »10er-Regel« gibt einen vereinfachten tiert aber auch in völliger Hilflosigkeit und häufig
Anhalt zur initialen Infusionstherapie für resultierenden Angstreaktionen des Patienten. Der
normalgewichtige Patienten (40–80 kg): In- für ihn nötige Aufwand erhöht sich somit erheblich,
fusionsvolumen pro Stunde= 10 ml pro % und der Verwundete kann sich im Notfall nicht
II–III° VKOF. Für schwerere Patienten erhöht mehr am Gefecht beteiligen. Die Maßnahme ist
sich der Volumenbedarf je 10 zusätzliche kg daher im Wesentlichen von der Lage abhängig zu
um 100 ml/h. machen. Die Versorgung von Augenverletzungen
wird in 7 Kap. 16 näher beschrieben.
190 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

Verbrennung

. Abb. 9.49 Leitlinie Verbrennungen

Penetrierende Augenverletzung

. Abb. 9.50 Leitlinie Penetrierende Augenverletzungen


9.3 · »Tactical Field Care«
191 9

a b

. Abb. 9.51a,b Augenklappe. a »Eye shield« (starre Augenklappe) aus SanAusstg BAT. b Improvisierte Augenklappe aus
SAM-Splint

Hypothermie1

. Abb. 9.52 Leitlinie Hypothermie

Hypothermie (. Abb. 9.52) ca. 10 % senkt [31]. Die Hypothermie beim Trauma-
Eine Hemmung der Gerinnung durch Hypothermie patienten (akzidentelle Hypothermie) ist wesentlich
erhöht den Blutverlust nachweislich, da eine Ver- bedrohlicher als eine einfache Unterkühlung. Sie
ringerung der Körperkerntemperatur (KKT) um hat schwerwiegende Auswirkungen auf das Ge-
1 °C die Effektivität der Gerinnungsfaktoren um rinnungssystem und verschlechtert die Prognose
192 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

Antibiotika

. Abb. 9.53 Leitlinie Antibiotika


9
deutlich. Die kritische Körperkerntemperatur liegt aber entfernt und Infusionen möglichst vorgewärmt
in der Traumatologie bei ca. 34 °C [31]. Wird eine verabreicht werden. Ziel aller Maßnahmen muss
KKT von 32 °C unterschritten, liegt die Überlebens- immer der Wärmeerhalt, nicht die Wiederer-
wahrscheinlichkeit eines Schwerverwundeten nahe wärmung sein. Die Thematik wird eingehend in
0 %. Gerade unter Gefechtsbedingungen ist der zur 7 Kap. 38 behandelt.
Vermeidung einer Hypothermie notwendige Auf-
wand weitaus geringer, als die Behandlung eines Antibiotikatherapie (. Abb. 9.53)
hypothermen Patienten [51]. Die Vermeidung einer In Gefechten verursachte Wunden sind meist zer-
Hypothermie ist daher eine wesentliche Aufgabe in klüftet und hochgradig verschmutzt [59]. Präkli-
der Versorgung [59]. nisch verabreichte Antibiotika sollen in erster Linie
Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss in der keine bestehende Infektion behandeln, sondern sie
Behandlung ein Schwerpunkt auf den Erhalt der durch einen entsprechenden Wirkstoffspiegel im
Körpertemperatur gelegt werden. Einfache Maß- verletzten Gewebe bestmöglich verhindern [69].
nahmen sind das Einhüllen in eine Rettungsdecke, Dazu ist die frühestmögliche Applikation notwen-
Poncholiner, Schlafsack oder sonstiges isolierendes dig. Während die Gabe innerhalb einer Stunde nach
Material, Unterlegen einer Isomatte, Verbringen in Verwundung nachweisbar den Verlauf günstig
Windschatten und Anwendung von aktiv wärme- beeinflusst, ist dieser Effekt bei einer erst nach 6 h
erzeugenden Produkten, wie z. B. Ready-Heat- erfolgten Applikation nach derzeitiger Studienlage
Decken. Diese chemischen Wärmeerzeuger sollten nicht mehr sicher nachweisbar [45]. Daher sollten
vor der Verwendung für ein bis 2 min an der Umge- schnellstmöglich Antibiotika verabreicht werden,
bungsluft Sauerstoff aufnehmen können, um warm wenn eine Behandlungseinrichtung nicht innerhalb
zu werden [59]. Aber auch im Vorfeld können alle von 3 h nach Verwundung erreicht wird. Die unmit-
Maßnahmen möglichst wärmeerhaltend durchge- telbare Gabe von Antibiotika konnte bei prolongier-
führt werden, in dem Kleidung nur dort vorüberge- ten Evakuierungszeiten die Wundinfektionsrate
hend geöffnet wird, wo der Körper untersucht oder teilweise von 30 auf 0 % senken [45]. Im anglo-
behandelt wird. Auf das Aufschneiden der Kleidung amerikanischen Raum ist daher die Ausgabe eines
sollte nach Möglichkeit verzichtet, feuchte Kleidung Antibiotikums zusammen mit Schmerztabletten
9.3 · »Tactical Field Care«
193 9
üblich, die vom Patienten unmittelbar nach der Ver- sodass eine Fortführung der Therapie möglich ist.
wundung selbstständig eingenommen werden sol- Sinnvoll kann z. B. eine Kombination von Cipro-
len. Die Wahl fiel auf Moxifloxacin, da es eine floxacin oder Moxifloxacin mit Metronidazol sein,
ausgezeichnete orale Bioverfügbarkeit bietet, ein da Letzteres eine gute Wirksamkeit gegen Clostridien
geringes Risiko einer allergischen Reaktion aufweist aufweist und damit die hoch gefährlichen Gasb-
und das übliche Keimspektrum in Gefechtswunden randinfektionen vermeiden hilft.
gut abdeckt [59]. Die im Afghanistaneinsatz häufig Mit Tazobac (Piperacillin + Tazobactam) steht
relevanten Problemkeime bei Infektionen (z. B. ein Antibiotikum mit breitem Wirkspektrum (inkl.
Pseudomonas, Citrobacter, Hämophilus ducreii) Clostridien) zur i.v. Gabe zur Verfügung, das auch
scheint der Wirkstoff Ciprofloxacin noch optimaler in mitteleuropäischen Schockräumen häufig Stan-
abdecken zu können. Er wird daher in den aktuellen dard ist. Nachteilig sind die Verpackung in einer
Leitlinien der TREMA e.V. empfohlen. Glasflasche und die Tatsache, dass es bei Penicilli-
Die orale Gabe von Antibiotika ist bei Patienten nallergie aufgrund möglicher schwerer allergischer
mit Bewusstseinsstörung/Narkose, schwerer Ge- Reaktionen nicht verabreicht werden darf. Daher ist
sichts- oder Abdominalverletzung und aufgrund idealerweise die Auswahl eines Antibiotikums für
der unsicheren intestinalen Resorption im Schock die präklinische Gabe in Kenntnis von individuellen
nicht sinnvoll. Hier sollte eine i.v. Antibiotikathera- Allergien der Einheit durch den zuständigen Arzt
pie erfolgen [45]. Eine i.v. Antibiotikatherapie lässt unter Berücksichtigung des Keimspektrums im
sich bei längeren Transportzeiten gut während des Einsatzland im Vorfeld festzulegen. Bei unbekann-
Transports verabreichen. Bei kurzen Transport- ten Patienten muss nach Möglichkeit eine entspre-
zeiten bietet eine präklinische Applikation keinen chende Anamnese vor Applikation erhoben und
wesentlichen Vorteil zur Gabe im Schockraum. Der mit allergischen Reaktionen gerechnet werden.
Transport des Verwundeten sollte daher in keinem Zunehmend treten im Rahmen von Ausland-
Fall durch eine Antibiotikagabe verzögert werden seinsätzen bisher wenig relevante Keime mit ausge-
[59]. In den aktuellen TCCC-Leitlinien werden Er- prägten Multiresistenzen auch bei deutschen Solda-
tapenem und Cefotetan aufgrund des guten Wir- ten auf, z. B. Acinetobacter baumanii [52]. Manche
kungsspektrums und der geringen Nebenwirkun- Experten warnen, dass dies durch die breite antibio-
gen als i.v. Antibiotikatherapie empfohlen. Dies ist tische Therapie nach Verwundung bedingt ist, die
im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass die nach Eradikation der üblichen sensiblen Keime für
Regularien des CoTCCC fordern, dass aufgrund der die übrig gebliebenen multiresistenten Formen her-
einfacheren Handhabbarkeit eines einzelnen Medi- vorragende Wachstumsbedingungen hinterlassen
kaments keine Kombination aus mehreren Antibio- [48]. In Studien konnte aber keine erhöhte Infek-
tika-Einzelpräparaten als Empfehlung in die Leitli- tionsrate mit multiresistenten Keimen bei Einmal-
nien aufgenommen werden soll. Da Ertapenem und gabe von Antibiotika nach Verwundung nachge-
verwandte Antibiotika der Wirkstoffgruppe der wiesen werden [69].
Imipeneme aber eines der wenigen verbleibenden Neuere wissenschaftliche Untersuchungen zur
Medikamente sind, die auch bei Infektionen mit präklinischen Antibiotikatherapie in den US-Streit-
Problemkeimen wie Acinetobacter baumannii wir- kräften lassen allerdings Zweifel an deren Wirksam-
ken und generell ein Reserveantibiotikum darstel- keit aufkommen. Ein greifbarer Unterschied hin-
len, folgen die in diesem Buch dargestellten Leit- sichtlich der Infektionsraten zwischen Verwunde-
linien dieser Empfehlung nicht. ten mit und ohne präklinische Antibiotikagabe ließ
Die Kombination zweier Antibiotika erzielt ein sich in ersten Studien entgegen der Erwartungen
ebenso gutes oder sogar besseres Wirkungsspekt- bisher nicht feststellen [69]. Bis ausreichend große
rum bei geringem Mehraufwand bei Vorbereitung Studien eine klare Empfehlung möglich machen,
und Applikation und keiner wesentlichen Vergrö- sollte aus grundsätzlichen Erwägungen an der
ßerung von Packmaß und Gewicht. Darüber hinaus frühestmöglichen Verabreichung einer Einzeldosis
können bei entsprechender Auswahl die gleichen festgehalten werden.
Antibiotika für orale und i.v. Gabe genutzt werden,
194 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

Anaphylaxie

. Abb. 9.54 Leitlinie Anaphylaxie

Anaphylaxie (. Abb. 9.54) tungsmittels in aller Regel den Patienten bis zur
Allergische Reaktionen können auch im taktischen Aufnahme im Krankenhaus. Die erhobenen Befun-
Umfeld auftreten und durchaus lebensbedrohliche de, Diagnose und durchgeführte Therapie lassen
Formen annehmen. Neben Medikamentenapplika- sich daher auch während des Transportes schriftlich
tion können auch anaphylaktische Reaktionen auf dokumentieren und im Zweifelsfall in Notaufnah-
Insektengifte etc. auftreten. me oder Schockraum persönlich übergeben. Diese
Möglichkeit besteht im taktischen Umfeld grund-
Überwachung der Vitalfunktionen sätzlich nicht. Meist erfolgt eine lang andauernde
(. Abb. 9.55) Versorgung im Rahmen der erweiterten Selbst- und
Während der Phase TFC sollten Bewusstseinszustand, Kameradenhilfe mit teilweise umfassenden not-
Atmung und Kreislauf regelmäßig kontrolliert wer- fallmedizinischen Maßnahmen. Im Regelfall wird
den. Sie sind nicht nur von Bedeutung für das frühzei- der Patient dann im Verlauf an sanitätsdienstliche
tige Erkennen von Verschlechterungen, sondern auch Elemente vor Ort und von diesen wiederum an
um den Erfolg eigener Maßnahmen beurteilen zu Hubschrauber übergeben. Durch Lärm, Dreck, die
können [55]. Auch eine regelmäßige Kontrolle der er- umfangreiche Kleidung und Ausrüstung, Feind-
folgten eigenen Maßnahmen (Durchbluten von Ver- und Zeitdruck gehen dabei zwangsläufig alle nicht
bänden, Dichtigkeit von »chest seals«, Wiederholung schriftlich dokumentierten Befunde verloren. In
einer Entlastungspunktion etc.) sollte erfolgen. den US-Streitkräften wurden 2007 weniger als 10 %
der Verwundeten beim Erreichen einer Behand-
Dokumentation (. Abb. 9.56) lungseinrichtung durch eine schriftliche Dokumen-
In der zivilen Notfallmedizin begleitet das Personal tation begleitet [45]. Dies kann Patienten erheblich
des als erstes beim Patienten eintreffenden Ret- gefährden, wenn Verwundungen später zunächst
9.3 · »Tactical Field Care«
195 9

Überwachung der Vitalzeichen

. Abb. 9.55 Leitlinie Überwachung der Vitalzeichen

Dokumentation

. Abb. 9.56 Leitlinie Dokumentation

übersehen werden. Anamnestische Informationen, > Eine umfassende Dokumentation ermöglicht


die gerade bei bewusstlosen oder analgosedierten es, die Effektivität der Verwundetenversor-
Patienten nur aus dem unmittelbaren Umfeld stam- gung auswerten zu können. Auf dieser
men können, können später kaum noch erhoben Grundlage kann Verbesserungsbedarf er-
werden und lebensgefährliche Konsequenzen ha- kannt und umgesetzt werden. Ein sorgfälti-
ben (z. B. Pencillinallergie). Die beste in der jeweili- ges Befüllen der Daten für das Einsatztrau-
gen Lage mögliche Dokumentation muss daher maregister erhöht so die Überlebenschance
immer angestrebt werden. unserer Verwundeten in künftigen Einsätzen!
196 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

Ein einfaches, auf das Wesentliche reduzierte Doku- (»casualty evacuation«) in normalen Fahrzeugen
mentationssystem ist dabei wichtig. Die TREMA der Truppe mit oder ohne Begleitung durch medi-
e.V.-Verwundetenanhängekarte ist von ähnlichen zinisch ausgebildetes Personal (. Abb. 9.59).
bei Spezialkräften eingesetzten Karten abgeleitet Die verfügbaren und sinnvollen Maßnahmen
und hat sich vielfach bewährt (. Abb. 9.57). Sie sind dabei bei allen Möglichkeiten im Prinzip iden-
eignet sich zur Dokumentation von Befund, Diag- tisch. Neben dem meist besseren Stand von Ausbil-
nosen und Therapie, bietet auf der Rückseite ein dung und Erfahrung erleichtern die auf Sanitäts-
Verlaufsprotokoll und weist Felder für die Ein- fahrzeugen verfügbaren Vorrichtungen zum Lie-
stufung der Transport- und Behandlungspriorität gendtransport, die bessere Zugänglichkeit des Pa-
auf. Letztere können mittels Stift oder durch Ein- tienten, die vorhandenen medizinischen Geräte und
schneiden einer Kerbe in den Rand markiert wer- die verfügbaren Ressourcen an Verbrauchsmaterial
den. Bei einer Nachsichtung bzw. Änderung der aber den Transport erheblich. Grundsätzlich sollte
Transportkategorie können dann zwei bzw. drei MEDEVAC daher immer bevorzugt werden, wenn
Kerben zur Aktualisierung genutzt werden (Down- die Lage dies erlaubt. Müssen Sanitätsfahrzeuge erst
load unter http://www.tremaonline.info/download. auf dem Landmarsch herangeführt werden, tritt
html). Sie sollte gut sichtbar am Patienten ange- häufig ein nicht unerheblicher Zeitverzug ein und
bracht werden. dem Gegner wird eine weitere Bewegung als Ziel
Eine Vorbereitung der Karten mittels Einlami- geboten. Transportiert ein vor Ort verfügbarer
nieren oder Ausdrucken auf wasserfestem Papier, Rettungstrupp oder BAT (beweglicher Arzttrupp)
Anbringen eines Loches an einer Ecke (z. B. mit den Patient in ein Feldlager, wird das medizinische
9 handelsüblichem Bürolocher) und Durchfädeln Versorgungsniveau der Einheit verschlechtert.
einer großzügigen Schlinge aus Schnur oder eines Außerdem muss dem Fahrzeug eine angemessene
Kabelbinder zur schnellen und sicheren Befesti- Sicherungskomponente mitgegeben werden, was
gung verbessert die Wetterfestigkeit und erleichtert die Kräfte vor Ort reduziert. Beides kann die weite-
die Handhabung unter Stress. Eine Befestigung re Auftragserfüllung gefährden. Aus diesen Grün-
durch Umhängen am Hals kann im schlechtesten den stellt bei Verfügbarkeit der sehr zeitsparende
Fall zur Strangulation des Patienten führen und Lufttransport nahezu immer die ideale Option dar
sollte daher unterbleiben. Im Idealfall wird jeder (. Abb. 9.60). Gelände und Feindlage müssen den
Soldat mit einer bereits mit seinen Personalien und Einsatz aber erlauben. Erfolgt ein Transport mittels
Allergien beschrifteten und anschließend laminier- CASEVAC, ist bei fehlender Verfügbarkeit von
ten Karte ausgestattet, die er bei seiner persönlichen Fachpersonal eine Begleitung durch einen Ersthel-
Sanitätsausstattung trägt. Wenn die Lage das Aus- fer mit erweiterter Ausbildung sinnvoll, z. B.
füllen dieser Karte verzögert, ist das Festhalten der EH B (Einsatz-Ersthelfer B), CFR A/B/C (»Combat
wichtigsten Befunde (mit Uhrzeit) auf einem Tape- First Responder A/B/C«). Dieser fällt dann aber für
Streifen, z. B. am Arm des Patienten, eine schnelle die weitere Auftragserfüllung aus und kann seine
Übergangslösung. Funktion (z. B. Führer, Fahrer, Hauptwaffenbedie-
ner) nicht mehr wahrnehmen. Entsprechend quali-
fiziertes Personal sollte daher nicht in Schlüsselver-
9.4 Tactical Evacuation Care wendungen eingesetzt werden, und es muss eine
(. Abb. 9.58) entsprechende Eventualfallplanung vor Missions-
beginn durchgeführt werden.
Die Phase TCF beschreibt die medizinischen In der Phase TFC getroffene Maßnahmen müs-
Maßnahmen während des Transportes von Ver- sen vor Transportbeginn kontrolliert werden. Ins-
wundeten. Die Bandbreite der Evakuierung umfasst besondere i.v. Zugänge, Atemwegssicherung und
dabei MEDEVAC (»medical evacuation«) durch Blutungskontrolle müssen überprüft werden. Die
mit Fachpersonal besetzte und entsprechend ausge- im Vorfeld erfolgte Versorgung von Verwundungen
stattete Sanitätsfahrzeuge und -luftfahrzeuge mit lässt sich durch das qualifizierte Personal und mit
Liegendtransportkapazität bis hin zu CASEVAC der guten Verfügbarkeit von Material auf Sanitäts-
9.4 · Tactical Evacuation Care
197 9

. Abb. 9.57 Vorder- und Rückseite der Verwundetenanhängekarte. (TREMA e. V.)


198 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

Grundlegende Verhaltensregeln für


»Tactical Evacuation Care1«
(Verwundetenversorgung während des taktischen Verwundetentransports)

. Abb. 9.58 Leitlinien Grundlegende Verhaltensregeln für »Tactical Evacuation Care«

fahrzeugen meist noch verbessern. So sind im Re- fechts- und Transportfahrzeugen ein Behältnis mit
gelfall Beatmungsgeräte, Überwachungsmonitore, zusätzlichem medizinischem Material vorgehalten,
erweitertes Material zur Hypothermieprophylaxe können Verwundete während eines Transports auf
und Immobilisierung, Thoraxdrainagesets und grö- diesen besser versorgt werden. Gleichzeitig wird ein
ßere Mengen an Verbrauchsmaterial (z. B. Infusio- wertvoller Materialpool für den Fall eines Massen-
nen) verfügbar. Wird auch auf allen normalen Ge- anfalls von Verwundeten geschaffen.
9.4 · Tactical Evacuation Care
199 9

. Abb. 9.58 (Fortsetzung)

a b

. Abb. 9.59a,b Behelfsmäßiger Verwundetentransport. a Hubschrauber mit behelfsmäßig eingerüsteten Transportmög-


lichkeiten für zwei Verwundete inkl. Monitoring und Beatmung. b Wenn nur kleine, wendige Fahrzeuge bei Operationen
eingesetzt werden können, ist eine bestmögliche Vorbereitung für den behelfsmäßigen Verwundetentransport sinnvoll.
(Fotos: Dr. C. Neitzel)
200 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

. Abb. 9.60 Bei der Landung von Luftfahrzeugen wird viel Dreck aufgewirbelt. Insbesondere der Gesichts-/Atemwegsbe-
reich sollte hier so gut wie möglich geschützt werden. (Foto: Bundeswehr)

9.4.1 Atemwegsmanagement werden. Dies gilt in besonderem Maß für Verwun-


9 dete mit penetrierendem Thoraxtrauma oder be-
In den Phasen CuF und TFC stellt der Wendl-Tubus reits erfolgter Nadelentlastung [45].
die häufigste Maßnahme zum Freihalten der Atem- Sofern sie verfügbar ist, profitieren insbeson-
wege dar. Vor Transportbeginn kann daher eine de- dere Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma, manifes-
finitive oder zumindest bessere Sicherung der Atem- tem Schock mit gestörter Gewebeperfusion, Störun-
wege indiziert sein. Je nach Ausbildungsstand und gen der Atemmechanik (z. B. Pneumothorax) oder
verfügbarer Ausrüstung kann diese von der Nutzung des alveolären Gasaustausches (z. B. Inhalations-
von Larynxtubus oder -maske über die endotrache- trauma), Höhenkranke und generell Patienten mit
ale Intubation bis hin zur Koniotomie reichen. Ist SpO2 <92 % von einer Sauerstoffgabe [8, 45]. Die
das Transportmittel mit einem Beatmungsgerät und Verfügbarkeit von Sauerstoff ist häufig einge-
ausreichendem O2-Vorrat ausgerüstet, kann eine schränkt und meist nur auf Sanitätsfahrzeuge be-
Narkoseeinleitung und Beatmung erwogen werden. grenzt. Neben der Erhöhung der Explosionsgefahr
Hierbei ist jedoch immer mit erheblichen Verlänge- durch die Druckgasflaschen kann auch die Sauer-
rungen der Transportdauer durch Gegner, Gelände, stoffanreicherung in der Umgebungsluft des Fahr-
Wetter usw. zu rechnen. Reserven sind entsprechend zeugs eine erhebliche Gefährdung darstellen. Durch
zu bilden, als Faustregel sollte das Doppelte der ei- Leckage strömt insbesondere bei O2-Brillen und
gentlich benötigten Menge mitgeführt werden. Im -Masken Sauerstoff in den Innenraum, bei Beat-
Zweifelsfall sieht man besser von einer Beatmung ab. mung mit hohem FiO2 enthält aber auch die in die
Falls möglich, sollten ansprechbare Verwundete mit Umgebung abgegebene Ausatemluft noch einen
Blutungen im Hals-Nasen-Rachen-Bereich sitzend stark erhöhten O2-Gehalt. Bereits bei einem O2-
gelagert werden. Gehalt von 23 % in der Umgebungsluft besteht in
Verbindung mit Baumwolle eine erheblich gestei-
gerte Brand- und Explosionsgefahr. Nach zivilen
9.4.2 Brustkorb und Atmung Richtlinien der Berufsgenossenschaften ist der Auf-
enthalt in einer solchen Umgebung nicht zulässig.
Patienten mit jeglichem Thoraxtrauma sollten zum Da eine Sauerstoffanreicherung in der Kleidung bis
frühzeitigen Erkennen eines sich entwickelnden zu 15 min nach Verlassen der Umgebung bestehen
Spannungspneumothorax engmaschig überwacht bleiben kann, erhöht sich die Gefährdung der Insas-
9.4 · Tactical Evacuation Care
201 9
sen auch in der Zeit nach Verlassen des Fahrzeugs
[65]. Während die Problematik der Druckgasfla-
schen sich in manchen Bereichen mit chemischen
Sauerstofferzeugern (z. B. EmOx) minimieren lässt,
ist die erhöhte O2-Konzentration nur durch Kreis-
laufbeatmungssysteme oder eine ausreichend hohe
Frischluftspülung zu vermeiden.
Bei Patienten mit Pneumothorax kann zur
Transportvorbereitung eine Thoraxdrainage ange-
legt werden. Eine Durchführung in hektischer,
schmutziger Umgebung erhöht das Risiko von Fehl-
platzierung und Infektion aber deutlich. Durch eine
Thoraxdrainage kann weder eine Blutung tampo-
. Abb. 9.61 Das Tourniquet ist nach Anlage eines Verban-
niert werden, noch ohne kontinuierlichen Sog eine
des geöffnet liegen gelassen worden, um eine neu auftre-
kollabierte Lunge komplett entfaltet werden. tende Blutung jederzeit stillen zu können. (Foto: F. Josse)
Gleichzeitig kann ihre Durchführung die Evakuie-
rung Verwundeter verzögern. Da sich ein Span-
nungspneumothorax als einzige unmittelbar le- Wirkung einer Thoraxdrainage auf, sind schwieri-
bensbedrohliche Form des Pneumothorax mit einer ger zu befestigen und knicken leicht ab [24].
Nadeldekompression gut beherrschen lässt, ist eine
Thoraxdrainage bei Patienten mit penetrierender
Thoraxverletzung im taktischen Umfeld nur in 9.4.3 Blutungskontrolle
wenigen Situationen indiziert:
4 Bei sehr langen Versorgungszeiten vor Ort bis Nach Möglichkeit sollte der Verwundete erneut
zum Abtransport komplett untersucht werden. Alle getroffenen Maß-
4 Bei Versagen der Nadeldekompression nahmen zur Blutstillung sind zu überprüfen und ggf.
4 Vor Lufttransport mit langen Flugzeiten und zu verbessern. Soweit möglich und sinnvoll, sollten
größeren Höhenunterschieden Tourniquets durch Druckverbände ersetzt werden,
4 Bei Intubation und Beatmung [59] die Tourniquets aber geöffnet in ihrer Position belas-
sen werden (. Abb. 9.61). Wird eine Extremität mit
Eine Thoraxdrainage kann an zwei Orten platziert vorher stark blutender Wunde geschient, garantiert
werden: Der auch für Nadelentlastungen übliche das Belassen eines geöffneten Tourniquets unterhalb
Zugang nach Monaldi im 2.–3. ICR in der MCL der Schienen eine jederzeitig mögliche Kontrolle er-
(7 Abschn. 9.3) zeigt in Bezug auf mögliche Kompli- neut auftretender Blutungen. Dafür muss das Tour-
kationen keine Vorteile zur Position nach Bülau im niquet gut bedienbar sein (Knebel etc. müssen frei
4.–6. ICR in der vorderen bis mittleren Axillarlinie. liegen) und die Schiene im Bereich der Anlagestelle
In der Bülau-Position sollte jedoch nicht unterhalb ausreichend gepolstert werden.
der Brustwarzenhöhe oder tiefer als eine Handbreit Oft ist sogar die prophylaktische, lockere Anlage
unterhalb der Achselhöhle eingegangen werden. eines Tourniquets an Extremitäten sinnvoll, deren
Die Drainage sollte unter möglichst sterilen Be- Blutung mit einem Verband bereits gestoppt wor-
dingungen angelegt und bestmöglich gegen Dislo- den ist. Kommt es während des Transports zu einer
zierung gesichert werden. Sofern dies noch nicht erneuten Blutung, erleichtert das bereits vorbereite-
erfolgt ist, ist grundsätzliche eine einmalige Anti- te Tourniquet die schnelle Kontrolle erheblich [59].
biotikumgabe vor der Anlage sinnvoll. Mittelwege Tourniquets, die noch über der Kleidung liegen,
zwischen Nadelentlastung und Thoraxdrainage, bei sollten nach Möglichkeit jetzt unmittelbar auf der
denen über einen dünnen Katheter eine kontinuier- Haut angelegt werden [45].
liche Entlüftung erfolgen soll (z. B. Uresil Tru-
Close), weisen in der Regel nicht die zuverlässige
202 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

. Abb. 9.62 Improvisierter Transport eines Verwundeten an Bord eines UH-60 D-Transporthubschraubers. Die Maßnahmen
zum Wärmeerhalt an Oberkörper und insbesondere Kopf sind nicht optimal. (Foto: K. Ladehof )

9.4.4 Infusionstherapie bessere Beobachtungs- und Wirkmöglichkeiten für


9 die Bordbewaffnung geöffnet sind, kühlen Patien-
Auch auf dem Transport sollte die Flüssigkeits- ten auch bei hohen Umgebungstemperaturen in der
therapie nach den gleichen Prinzipien wie in der Zugluft schnell aus (. Abb. 9.62). Die Isolations-
Phase TFC erfolgen. Während die Nutzung von schichten schränken die Zugänglichkeit des Patien-
Erythrozyten- oder Thrombozytenkonzentraten im ten aber weiter ein. Einen guten Kompromiss stellen
Regelfall nicht möglich ist oder nicht praktiziert Systeme dar, die einen selektiven Zugang zum Pa-
wird, dürfte die Gabe von Plasmaprodukten eine tienten ermöglichen (z. B. APLS Thermal Guard).
sinnvolle und realistisch durchführbare Ergänzung
der präklinischen Infusionstherapie darstellen.
Liegen mehrere venöse Zugänge, empfiehlt es sich 9.4.6 Überwachung
zumeist, alle bis auf einen für den Transport ab-
zustöpseln. Dies verringert das Risiko des Hängen- Die meisten Transportmittel sind laut und bieten
bleibens mit Infusionsschläuchen erheblich. Die nur eine sehr eingeschränkte Zugänglichkeit des
Fließgeschwindigkeit muss eng überwacht werden, Patienten. Sie behindern die notwendige Über-
insbesondere bei Patienten mit Indikation zur per- wachung des Patienten daher ebenso wie die häufig
missiven Hypotonie. Pflasterstreifen halten im Regel- schlechten Straßenbedingungen oder ein Gelände-
fall auf der feuchten, verschmutzten Haut von Ver- folgeflug. Die Auskultation ist im Regelfall unmög-
wundeten schlecht und sollte nur als zusätzliche lich. Überwachungsmonitore, die zumindest Herz-
Sicherung einer anderen Methode bei der Fixierung frequenz, Blutdruck und Sauerstoffsättigung anzei-
von Venenzugängen, Tuben etc. genutzt werden [59]. gen, sind daher von großem Nutzen und sollten
verwendet werden. Für beatmete Patienten ist die
Möglichkeit einer Kapnometrie von herausragen-
9.4.5 Hypothermieprophylaxe der Bedeutung. Im Falle von CASEVAC lässt sich
ein improvisiertes Monitoring durch Verwendung
Die im Vorfeld durchgeführte Hypothermiepro- von Fingerpulsoxymeter und miniaturisiertem
phylaxe muss auf allen Transportmitteln unbedingt Kapnometer (z. B. EMMA, Fa. phasein) oder Ein-
fortgeführt und optimiert werden. Gerade an Bord wegkapnometern (z. B. Easy Cap II) durchführen.
von Hubschraubern, deren Seitentüren meist für Die meisten Überwachungsgeräte sind insbeson-
9.5 · Prolonged Field Care
203 9
dere bei bodengebundenem Transport aufgrund Koniotomie entsprechend in Lokalanästhesie
der durch Erschütterungen bedingten Artefakte nur durchzuführen. Supraglottische Atemwegshilfs-
eingeschränkt nutzbar, ihre Messwerte sind daher mittel und eine endotracheale Intubation erfordern
stets kritisch zu sehen. Insbesondere auch eine im Regelfall eine Narkoseführung, um die Schutz-
Katecholamintherapie oder Narkoseführung reflexe auszuschalten. Wird diese Maßnahme
mittels  Spritzenpumpen ist unzuverlässig und gewählt, muss eine adäquate Beatmungs- und Ab-
kann durch unbeabsichtigte Bolusgaben gefährlich saugmöglichkeit verfügbar sein, und Sauerstoff-
werden. vorrat sowie zur Aufrechterhaltung der Narkose
notwendige Medikamente müssen ausreichend vor-
handen sein. Um Druckgeschwüren und Leckagen
9.5 Prolonged Field Care vorzubeugen, sollte der Cuff-Druck regelmäßig
kontrolliert werden.
Bei Spezialkräften ist eine längere Versorgungs-
phase von Verwundeten (»Prolonged Field Care«)
aufgrund von Operationen tief hinter gegnerischen 9.5.2 Brustkorb und Atmung
Linien nicht ungewöhnlich. Sie kann aber beim Ein-
satz in entlegenen Außenposten, Aufklärungsope- Bei Patienten mit (penetrierender) Thoraxver-
rationen in der Tiefe des Raums, schlechten Wetter- letzung oder Beatmungspatienten muss eine eng-
bedingungen, hohem Feinddruck, Geländebeschaf- maschige Überwachung erfolgen, um einen sich
fenheit oder der Dynamik des Gefechts prinzipiell bildenden Spannungspneumothorax frühzeitig
jederzeit und überall vorkommen und auch kon- erkennen zu können. Beim Beatmungspatienten
ventionelle Kräfte treffen [51]. äußert sich dieser im Wesentlichen durch anstei-
Müssen Patienten länger als einige Stunden be- gende Beatmungsdrücke, sinkenden SpO2, Tachy-
treut werden, verschieben sich die Schwerpunkte kardie und Hypotension.
der Behandlung deutlich. Überlebt der Verwundete Um eine rezidivierende Nadelentlastung zu
die ersten ein bis zwei Stunden nach Verwundung, vermeiden, kann eine Thoraxdrainage angelegt
wird er zunehmend durch andere Dinge als Blutun- werden. Fördert diese unmittelbar nach Anlage
gen, Störungen der Atemmechanik und Atem- weniger als 1.500 ml und über 4 h weniger als 200 ml
wegsverlegungen gefährdet: Infektion, Sepsis und Blut pro Stunde, ist sie fast immer als therapeutische
Spätfolgen des Schocks bis hin zum Multiorganver- Maßnahme ausreichend und eine spätere Thorako-
sagen. Erfolgt eine Evakuierung in eine Behand- tomie nicht erforderlich [8, 53].
lungseinrichtung erst mit mehreren Stunden bis Patienten mit zunehmender Ateminsuffizienz,
Tagen Verzögerung, wechselt der Fokus dadurch wie sie z. B. nach 12–24 h bei Lungenkontusionen
weg von notfallmedizinischen und hin zu intensiv- nach Explosionstrauma vorkommen kann, erfor-
medizinischen und pflegerischen Maßnahmen, um dern häufig bei progredientem Abfall der Sättigung
die Wartezeit bis zur Evakuierung überbrücken zu eine Beatmung. Bei Beatmungspatienten stehen
können. v. a. logistische Probleme im Vordergrund: Wird
ein druckbetriebenes Beatmungsgerät benutzt, be-
grenzt der verfügbare Vorrat an Sauerstoffflaschen
9.5.1 Atemwegsmanagement die maximale Beatmungsdauer. Neben gängigen
druckluftbetriebenen Geräten (z. B. Weinmann
Atemwegsprobleme sind im Regelfall in der Früh- Medumat, CAREvent) existieren auch miniaturi-
phase der Versorgung gelöst worden. Bei zu- sierte Modelle (OXYLATOR von Panomed Medi-
nehmenden Schwellungen oder persistierenden zintechnik). Batteriebetriebene Raumluftbeat-
Blutungen im Bereich der Atemwege können auch mungsgeräte sind klein und leicht und können über
im Verlauf Maßnahmen zur Sicherung des Atem- mehrere Stunden die Beatmung mittels Beutel er-
wegs notwendig werden. Da es sich häufig um Pati- setzen (z. B. SAVe von AutoMedx). Sie verfügen
enten bei Bewusstsein handelt, ist eine notwendige meist über die Möglichkeit einer Sauerstoffzumi-
204 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

schung, z. B. mittels chemischer Sauerstofferzeuger Schienungen etc. sollten daher regelmäßig kontrol-
(z. B. emOx von emOx international), und bieten liert und ggf. gelockert werden.
somit eine einfache und weniger gefährliche Alter- Bei Einsatz in abgelegenen Szenarien ohne zeit-
native gegenüber der Mitführung von druckbetrie- gerecht erreichbare Hilfe kann es sinnvoll sein, auch
benen Beatmungsgeräten. nichtärztliches Personal in der Durchführung von
Escharotomien (7 Kap. 15) und Fasziotomien zu
Berechnung des O2-Volumens schulen. Bei Explosionsverletzungen und einer lan-
Das in Druckflaschen enthaltene O2-Volumen gen Tourniquet-Liegedauer kann es insbesondere
lässt sich wie folgt berechnen: an Unterarm und Unterschenkel zur Ausbildung
O2-Volumen bei normalem Luftdruck = Druck von Kompartmentsyndromen kommen. Dabei
(bar) ∙ Flaschenvolumen (l) steigt der Druck innerhalb den von derben Binde-
Der minütliche O2-Verbrauch des Beatmungs- gewebsschichten (Faszien) umschlossenen Muskel-
gerätes beträgt: logen durch Blutergüsse oder Ödembildung an, was
Atemminutenvolumen (l/min) = Atemzug- letztlich zum Absterben des betroffenen Gewebes
volumen (l) ∙ Frequenz (1/min) durch Minderdurchblutung führen kann. Es han-
Teilt man das vorhandene O2-Volumen in den delt sich um einen chirurgischen Notfall, der in die-
Flaschen durch das Atemminutenvolumen, sem Fall nur durch Spaltung der Faszien behandelt
erhält man die maximale Beatmungsdauer: werden kann. Die Technik muss unter Anleitung
Maximale Beatmungsdauer (min) = O2-Volu- erlernt werden [24].
men (l) : Atemminutenvolumen (l/min)
9 Die Berechnung geht davon aus, dass die
Flaschen vollständig ohne Restdruck geleert 9.5.4 Merkwort STAUSEE
werden. Bei Geräten, die 50 % Raumluft zu-
mischen können (z. B. Weinmann Medumat: Um die umfangreichen Maßnahmen in der Phase
»Air Mix«), verlängert sich die Beatmungsdauer »Prolonged Field Care« systematisch abarbeiten zu
dann auf ca. das Doppelte. können, kann das Merkwort STAUSEE angewandt
werden (. Tab. 9.4).

Schmerz
Die initial begonnene Analgesie sollte bedarfsorien-
9.5.3 Circulation tiert fortgeführt werden. Neben der generellen
Schmerzlinderung für den Patienten ist ohne
Bleiben Tourniquets länger als 2 h angelegt, besteht Analgesie eine Wundbehandlung häufig nicht
ein erhöhtes Risiko für zusätzliche Schädigungen der möglich. Darüber hinaus aktivieren Schmerzen den
Extremität, z. B. ein Kompartmentsyndroms. Diese Sympathikotonus, verschlechtern die Immunant-
müssen bei einer verlängerten Versorgungsphase von wort auf Infektionen und erhöhen das Risiko der
den Helfern vor Ort kontrolliert werden können, was Ausbildung einer PTBS (posttraumatische Be-
zumeist an Ausbildungsstand und Ausrüstung schei- lastungsstörung) [24].
tert. Daher ist gerade in Szenarien mit verzögerter Neben den bereits im Vorfeld angesprochenen
Evakuierung ein Wechsel von Tourniquet auf Ver- Analgetika bietet sich für den Fall einer verlänger-
bände (ggf. in Kombination mit Hämostyptika) an- ten Versorgungsdauer die Anwendung von Morphin
zustreben [51], allerdings nur, wenn eine Liegezeit an, da es im Gegensatz zu Fentanyl und Ketamin
von 2 h noch nicht überschritten worden ist und der eine deutlich längere Wirkdauer zeigt. Dies dient
Patient sich nicht im Schock befindet. Nach Öffnen letztlich auch der Reduktion des Packmaßes der für
des Tourniquets bei längerer Liegedauer ist mit eine länger dauernde Analgesie notwendigen Medi-
einem deutlichen Anschwellen der Extremität durch kamente. Eine subkutane Injektion kann die
das einströmende Blut und die Ausbildung von Ge- Resorption über einen längeren Zeitraum verteilen
webeödemen zu rechnen. Angelegte Druckverbände, und damit die Wirkdauer strecken.
9.5 · Prolonged Field Care
205 9

. Tab. 9.4 Auflistung der im Rahmen von »Prolonged Field Care« relevanten Aspekte der Patientenversorgung

S chmerz Ausreichende Analgesie; Schmerzlinderung durch Immobilisierung von Frakturen,


Wechsel von Tourniquet auf Druckverbände

T emperatur Schutz vor Unterkühlung und Überwärmung

A ufzeichnung und Regelmäßige Kontrolle und Aufzeichnung der Vitalparameter, Dokumentation durch-
Kontrolle geführter Maßnahmen

U lkus Prophylaxe von Lagerungsgeschwüren

S chläuche Beatmungstubus, i.v./i.o. Zugänge, Magensonde, Blasenkatheter etc. ausreichend


befestigt, sauber, funktionierend?

E infuhr und Ausfuhr Bilanzierung der zugeführten und ausgeschiedenen Flüssigkeitsmenge

E ntzündung Infektionsprophylaxe durch Wundversorgung und Antibiotikumgabe

Die Anwendung von nicht verschreibungspflich- verband wesentlich zur Schmerzreduktion bei und
tigen oralen Schmerzmedikamenten verringert den sollte spätestens in dieser Phase sorgfältig erfolgen,
Bedarf an Opiaten und ist für leichtere Schmerzen wenn die Voraussetzungen gegeben sind [24].
häufig ausreichend. Sind verlängerte Behandlungs-
zeiten zu erwarten, kann die Mitführung von Temperatur
Schmerzpflastern (transdermales therapeutisches Maßnahmen zur Hypothermieprophylaxe sind von
System, TTS) sinnvoll sein. Im Gegensatz zur häufig besonderer Wichtigkeit. Sie müssen fortgeführt und
notwendigen Dosisrepetition bei i.v. Analgetika, lie- intensiviert werden. Bei längerer Stehzeit vor Ort
fern Fentanylpflaster (z. B. Durogesic) über mehrere können die bereits getroffenen Maßnahmen durch
Tage gleichbleibende Wirkstoffspiegel bei minima- den Bau von Schutzeinrichtungen gegen Wind und
lem Packmaß und Gewicht. Intravenöse Analgetika Wetter, Wärmefeuer etc. ergänzt werden. In war-
können dann zum Durchbrechen von Schmerzspit- men Klimazonen und starker Sonneneinstrahlung
zen genutzt werden. Die Wirkung setzt allerdings erst muss auch ein Überwärmen des Patienten verhin-
nach 6–8 h ein, so dass sie nur überlappend mit ande- dert werden.
rer Schmerzmedikation eingesetzt werden können.
Bei Patienten im Schock ist durch die Zentralisation Aufzeichnung und Kontrolle
die transdermale Resorption meist stark einge- Die regelmäßige Bestimmung der Vitalparameter
schränkt, so dass hier keine effektiven Wirkstoff- (Bewusstseinszustand, Herzfrequenz, Blutdruck, Sät-
spiegel zuverlässig erreicht werden können [24]. tigung, Urinproduktion, Temperatur) ist wichtig, um
Zunehmend wird nichtärztliches Personal, ins- Verschlechterungen des Zustands frühzeitig zu er-
besondere im Bereich der Spezialkräfte, in der kennen und nach der Ursache suchen zu können. Sie
Durchführung einfacher Regionalanästhesiever- dient gleichzeitig als Maß für den Erfolg eigener
fahren geschult. Sie sind eine hervorragende Mög- Maßnahmen. Pulsoxymeter sollten dabei generell
lichkeit, um unter Einsparung wertvoller i.v. An- nur kurzzeitig und gezielt eingesetzt werden, um eine
algetika für mehrere Stunden Schmerzfreiheit zu vorzeitige Batterieentladung zu vermeiden. Eine
erzielen, ohne Bewusstseinseinschränkungen oder Zyanose (Blaufärbung von Haut und Schleimhäuten)
Atemdepression zu riskieren [24]. Die Verfahren ist ein klinisches Zeichen für eine akute Hypoxämie,
sollten sich auf technisch einfach durchführbare wird aber nur bei einem Hämoglobingehalt > 5 g/ml
Nervenblöcke beschränken und unter möglichst sichtbar. Sie kann daher bei massiven Blutverlusten
sterilen Bedingungen durchgeführt werden. trotz niedriger Sättigung nicht vorhanden sein [45].
Auch eine Immobilisierung von Frakturen trägt Herzfrequenz, Blutdruck, Bewusstseinszustand
ebenso wie der Wechsel von Tourniquet auf Druck- und Urinproduktion können gut zur Beurteilung
206 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

des Verlaufs bei Patienten mit Schock genutzt wer-


den [24]. Normalisieren sie sich und ist eine aus-
reichende Urinproduktion von 40–50 ml/h vorhan-
den, spricht der Verwundete auf die Therapie an.
Allerdings können sich Herzfrequenz, Blutdruck
und Urinproduktion schon normalisieren, ohne
dass die Mikroperfusion völlig wiederhergestellt
worden ist. Wird bei einer verlängerten Behand-
lungsphase in diesem Stadium des »kompensierten
Schocks« die Behandlung nicht zielgerichtet weiter-
geführt, kann das die Prognose erheblich ver-
schlechtern. Sofern diese Geräte vor Ort verfügbar
sind, lassen sich zur genaueren Beurteilung der
Mikroperfusion mit Hilfe von tragbaren Unter-
suchungsgeräten (z. B. iSTAT) im venösen Blut
Laktat, pH und Basendefizit bestimmen und ihre
Normalisierung als Zielparameter für die Therapie
genutzt werden [24].

Ulkus
9 Werden bewusstlose oder immobilisierte Patienten
. Abb. 9.63 Narbe am Hinterkopf als Resultat eines Druck-
auf hartem Untergrund gelagert, kann es schon
geschwüres nach mehrstündiger Lagerung auf einem Spine-
nach etwa einer Stunde zu Druckgeschwüren kom- board bei verzögerter Evakuierung im Afghanistaneinsatz.
men (. Abb. 9.63). Wird ein Verwundeter nicht Ein weiteres Druckgeschwür bestand im Kinnbereich durch
zeitnah evakuiert, sollten die Auflagestellen gerade den angelegten Stifneck. (Foto: Dr. C. Neitzel)
auf harten Unterlagen (Spineboard, Skedco) unter-
polstert werden. Bei Lagerung auf einer Trage o. ä.
kann durch Wechsellagerung (abwechselnde Erhö- Steht eine Absaugung nicht zur Verfügung, kann im
hung der rechten oder linken Tragenseite für ca. Notfall mit einem Blasenkatheter eine Reinigung
30 min) eine improvisierte Dekubitusprophylaxe versucht werden. Dazu wird der Katheter nach Ent-
durchgeführt werden. Alternativ kann der Patient fernung des Tubuskonnektors in den Tubus einge-
regelmäßig umgelagert werden (z. B. wechselseitige führt und der Ballon vorsichtig leicht aufgeblasen.
Seitenlagerung). Auch bei Immobilisationen der Beim langsamen Zurückziehen wird im Schlauch
Extremitäten sollte eingehend geprüft werden, ob befindliches Sekret dann entfernt. Bei Patienten, die
diese ausreichend gepolstert sind und bei Bedarf spontan durch einen Tubus atmen (z. B. Konioto-
entsprechend nachgebessert werden. Bei Bewusst- mie), kann die Atemluft durch Vorlegen einer
losen ist darauf zu achten, dass die Augen geschlos- dünnen, mit etwas Wasser oder Elektrolytlösung
sen sind, da andernfalls ein Kornealulkus droht. Bei benetzten Kompresse angefeuchtet werden.
Bedarf können die Augenlider mittels Tape-Streifen Bestehen im Bereich von Punktionsstellen Ent-
in geschlossener Position fixiert werden. zündungszeichen, sollten die liegenden Katheter
nach Möglichkeit entfernt und an anderer Stelle neu
Schläuche gelegt werden. Bei intraossären Zugängen sollte auf-
Alle Tuben, Schläuche und Drainagen sollten regel- grund des Risikos einer Osteomyelitis die Nadel
mäßig auf Funktion geprüft und gesäubert werden. nicht länger als 24 h belassen werden. Die Mehrzahl
Die Eintrittsstellen in den Körper sind dabei sorg- der in 0,6–0,7 % vorkommenden Infektionen tritt
fältig auf Entzündungszeichen zu überprüfen. Ein- nach diesem Zeitpunkt auf [38]. Die Nadel ist unter
gelegte Endotrachealtuben (inkl. Koniotomiezugän- möglichst sterilen Bedingungen zu entfernen, die
gen) sollten bei Verschmutzung abgesaugt werden. verbleibende Hautwunde zu desinfizieren und steril
9.5 · Prolonged Field Care
207 9

. Abb. 9.64 Schussverletzung des männlichen Genitals. (Foto: F. Josse)

abzudecken. B.I.G.- und EZ-IO-Nadeln lassen sich sollte nach Möglichkeit gesüßt und salzhaltig sein
relativ einfach durch Aufschrauben einer Spritze (7 Kap. 36). Bei bewusstlosen Patienten kann über
mit Luer-Lock-Anschluss fassen und aus dem eine Magensonde eine Flüssigkeitssubstitution er-
Knochen herausziehen. Aus diesem Grund ist das folgen (max. 150–250 ml/15 min), um wertvolle In-
Mitführen von Spritzen mit entsprechendem An- fusionslösungen einsparen zu können [24]. Bei
schlussgewinde sinnvoll. Zur Entfernung der 1. Ge- großlumigen Magensonden kann auch dünnflüs-
neration F.A.S.T.-1 muss das beiliegende Entfer- sige Nahrung zur Kalorienzufuhr verabreicht wer-
nungswerkzeug genutzt werden. Die 2. Generation den. Beim bewusstseinsgetrübten Patienten ist die
des F.A.S.T.-1 wird am Schlauch herausgezogen. Sie Nahrungsaufnahme immer gegen ein Aspirations-
ist an einer blauen Markierung am Schlauch er- risiko abzuwägen. Im Zweifelsfall kann auch hier
kennbar (»new = blue«). Dafür ist es wichtig, den die Zufuhr über eine Magensonde erfolgen.
Schlauch unmittelbar am Hautniveau fest zu ergrei-
fen und mit einem beherzten Ruck entgegen der Ausfuhr
Insertionsrichtung die Nadel zu entfernen. Dabei Die Urinausscheidung als Zeichen der renalen Per-
reißt der Schlauch manchmal ab. Dies ist unpro- fusion ist neben der Bewusstseinslage und der peri-
blematisch während der präklinischen Phase, die pheren Durchblutung eines der »drei Fenster« zur
Nadel kann im Zweifelsfall im Knochen belassen Beurteilung der Mikrozirkulation. Eine Miktion
und die Punktionsstelle desinfiziert und steril abge- von mehr als 40–50 ml/h ist ein Zeichen für eine
deckt werden. ausreichende Organperfusion [55]. Verwundete
sollten daher so viel Flüssigkeit oral oder parenteral
Einfuhr und Ausfuhr aufnehmen, dass Harnbildung in diesem Umfang
Einfuhr stattfindet. Erfolgt über einen Zeitraum von 2 h eine
Bei Verwundeten besteht ein erhöhter Kalorien- geringere Urinausscheidung als 20 ml/h (Oligurie),
bedarf, der zur Optimierung der Prognose und der sollte eine aggressive Flüssigkeitstherapie durchge-
Vermeidung von Hypoglykämien bestmöglich ge- führt werden [8]. Stehen Infusionslösungen nicht
deckt werden sollte. Bei Patienten ohne abdominel- zur Verfügung, können normale Flüssigkeiten über
les Trauma oder Bewusstseinseinschränkungen Magensonde verabreicht werden. Beim Schwerver-
sollte bei einer zu erwartenden verlängerten Vers- wundeten oder bewusstlosen Patienten sollte zur
orgungszeit eine orale Flüssigkeits- und Nahrungs- Erleichterung der Bilanzierung ein Dauerkatheter
aufnahme angestrebt werden. Trinkflüssigkeit gelegt werden. Der Ballon sollte in Erwartung eines
208 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

möglichen Lufttransports mit Flüssigkeit geblockt


und der Penis zur Vermeidung von Druckstellen
durch einen abgeknickten Katheter mit einem Pflas-
terstreifen locker in Richtung Kopf auf dem Bauch
festgeklebt werden.
Gerade bei Beckenfrakturen liegt häufig auch
eine Verletzung der Urethra vor (6–10 %), die, eben-
so wie ein direktes Genitaltrauma (. Abb. 9.64),
zum Harnverhalt führen kann [32]. Da ein akuter
Harnverhalt ein Notfall ist, die Anlage eines Dauer-
katheters in diesen Fällen aber kontraindiziert ist, a
sollte eine suprapubische Katheteranlage oder Bla-
senpunktion erfolgen. Weitere Kontraindikationen
für die Anlage eines Dauerkatheters sind Blut-
austritt aus der Penisöffnung, ein Hämatom im
Bereich des Dammes oder eine abnorm hohe Lage
der Prostata bei rektaler Palpation.

Blasenpunktion
Alternativ zum suprapubischen Katheter kann als
9 Option im Notfall die Punktion der Blase mit einer
b
Venenverweilkanüle erfolgen (mindestens 5 cm
Länge). Die Technik darf nur bei tastbar prall gefüll-
ter Blase erfolgen und ist dann technisch einfach
und relativ komplikationslos möglich (. Abb. 9.65).
Nach sorgfältiger Desinfektion wird 1–2 Querfinger
oberhalb der Symphysenoberkante (je nach Körper-
größe des Patienten) in der Mittellinie (zwischen
Bauchnabel und Schambein) senkrecht zur Hautflä-
che eingestochen und die Flexüle unter Aspiration
vorgeschoben, bis Urin in die aufgesetzte Spritze
einströmt. Dann wird der Plastikkatheter so weit
wie möglich vorgeschoben. Die metallene Nadel
darf dabei nach erfolgreicher Blasenpunktion nicht
weiter vorgeschoben werden, um eine mögliche
Verletzung der hinteren Blasenwand und anderer c
Organe zu vermeiden. Der Urin kann anschließend
. Abb. 9.65a–c Technik der suprapubischen Blasenpunk-
entweder mittels Spritze abgezogen werden oder ein
tion im Notfall. a Aufsuchen der Schambein-Oberkante.
leerer Infusionsbeutel wird mit Infusionssystem an b Punktionsstelle 1–2 Querfinger kopfwärts davon auf-
die Flexüle angeschlossen, unter dem Höhenniveau suchen. Die prall gefüllte Blase muss unter der Haut gut zu
der Blase platziert und läuft dann voll. Er dient als tasten sein! c schematische Darstellung der Punktion.
improvisierter Harnbeutel, mit seiner Hilfe ist somit (Fotos: Dr. C. Neitzel)

auch eine grobe Bilanzierung möglich. Ist der Pati-


ent nicht bewusstlos, ist eine vorherige Infiltration Bewusstlosen ist dann die sorgfältige Reinigung des
des Stichkanals mit Lokalanästhetikum empfeh- Anogenitalbereiches wichtig, um Wundliegen und
lenswert. Infektionen zu verhindern und das Hypothermieri-
Neben der Miktion muss auch mit Stuhlgang siko zu mindern. Die Mitführung von entsprechen-
des Patienten gerechnet werden. Insbesondere beim dem Hygienematerial (z. B. Urinal, Steckbecken,
9.5 · Prolonged Field Care
209 9
Feuchttücher) kann bei zu erwartender verzögerter Kompressen austamponiert und erneut verbunden.
Evakuierung absolut sinnvoll sein. Verband und Tamponade sollten alle 12–24 h ge-
wechselt und die Wundverhältnisse dabei kontrol-
Entzündung liert werden. Tritt während der Wundversorgung
Wundversorgung (erneut) eine starke Blutung auf, ist gemäß der im
Haben Patienten die ersten Stunden nach der Ver- 7 Abschn. 9.3 erläuterten Grundsätze vorzugehen.
wundung überlebt, sind sie v. a. durch Infektionen Verbände von Wunden, die vor der Versorgung
gefährdet. Infektionen sind insbesondere an kritisch geblutet haben und einer Versorgung mit
Rötung, Schwellung, Überwärmung und zusätz- Tourniquets nicht zugänglich sind (z. B. Leisten-
lichen Schmerzen zu erkennen [8]. Sie gehen im blutung der A. femoralis), sollten wegen der Gefahr
Wesentlichen von den Wunden aus, die in der Regel einer erneuten Aktivierung der Blutungsquelle nur
durch Keime verschmutzt sind, reichlich avitales auf ärztliche Anordnung freigelegt werden.
Gewebe als Nahrung für Bakterien bieten und ins-
besondere bei zerklüfteten Wunden Nischen für Antibiotikatherapie
eine bakterielle Besiedelung bereitstellen. Um Wundinfektionen bestmöglich zu verhindern,
Auf dem Gefechtsfeld erlittene Wunden dürfen wird eine möglichst frühzeitige Antibiotikagabe
daher grundsätzlich nicht präklinisch verschlossen empfohlen [8, 29]. Eine alleinige antibiotische
werden. Bereits zugenähte oder getackerte Wunden Therapie ohne gründliche Wundreinigung und chi-
sollten wieder geöffnet werden, um Sekret und Eiter rurgisches Wunddébridement bringt meist nicht
abfließen lassen zu können [8]. Dauert es nach Ver- den gewünschten Erfolg [24]. Bis zur Aufnahme in
letzung länger als 6 h bis zur chirurgischen Wund- eine medizinische Behandlungseinrichtung sollte
versorgung, steigt die Wahrscheinlichkeit einer die Antibiotikumtherapie mit dem initial verab-
relevanten Wundinfektion deutlich an. Ist in diesem reichten Medikament nach Dosierungsanleitung
Zeitfenster eine chirurgische Behandlungseinrich- fortgeführt werden. Ist bei Einsätzen mit verlänger-
tung nicht zu erreichen, sollte die Wunde frühzeitig, ten Evakuierungszeiten zu rechnen, sollte die mit-
spätestens zum Ende des Zeitfensters, präklinisch geführte Art und Menge der Antibiose entspre-
anbehandelt werden [8]. Dazu muss der Verband chend angeglichen werden [8]. Die Erfahrungen in
entfernt, die Wunde freigelegt und avitales Gewebe Irak und Afghanistan haben gezeigt, dass bei pene-
entfernt sowie Wundränder begradigt werden trierenden Augenverletzungen sogar bei noch im
(Wunddébridement). Der chirurgisch Unerfahrene Auge verbliebenen Splittern oder anderen Fremd-
sollte sich dabei auf das Abtrennen von offensicht- körpern auch die mehrtägige Verzögerung einer
lich leblosen Gewebezipfeln mit einem Skalpell be- operativen Versorgung nicht mit einer Verschlech-
schränken. Wird wahrscheinlich eine chirurgische terung der verbleibenden Sehfähigkeit einherging,
Behandlungseinrichtung innerhalb von 24 h er- solange in diesem Zeitraum eine aggressive antibio-
reicht, sollte das Wunddébridement ebenso wie in tische Therapie erfolgte [45].
den ersten Stunden nach Verwundung eher zurück-
haltend erfolgen [8]. Anschließend wird die Wunde
mit einer sterilen Kompresse ausgewischt und mit 9.5.5 Warmblutspende
Druck ausgespült. Idealerweise erfolgt dies mit ste-
riler isotoner Elektrolytlösung [13] oder Wunddes- Bei verlängerten Versorgungszeiten kann die Gabe
infektonslösung (nicht Hautdesinfektionsmittel!), von Blutprodukten lebensrettend sein [36]. Frisches
notfalls auch mit sauberem Trinkwasser. Ziel ist die Spenderblut steht durch eine Warmblutspende
Verdünnung und das Herausspülen von Erregern. von Kameraden im Prinzip jederzeit zur Verfügung
Um einen hohen Spüldruck zu erzielen, empfiehlt und führt dem Patienten Gerinnungsfaktoren,
sich die Verwendung einer möglichst großen Sprit- Thrombozyten und Erythrozyten in physiologi-
ze (z. B. Perfusorspritze) in Kombination mit dem scher Lösung zu. Sie wirkt somit einer Koagulo-
Plastikkatheter einer 18G-Flexüle. Danach wird die pathie entgegen und verbessert die O2-Transport-
Wunde ohne Druck mit zusammengeknüllten kapazität [24].
210 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung

Warmblutspenden haben eine lange militäri- Das deutsche Transfusionsrecht und die lebens-
sche Tradition und können gute Erfolge aufweisen. gefährlichen Auswirkungen bei Transfusionszwi-
Sie werden insbesondere durch Alliierte genutzt, schenfällen machen Warmblutspenden gerade in
sind im Auslandseinsatz aber auch in deutschen Be- der Hand von nichtärztlichem Personal zu einem
handlungseinrichtungen für Massenanfälle von hochproblematischen Thema. Sie sind aber nach
Verwundeten vorgesehen. Der logistische Aufwand wie vor die einzige verfügbare Option, noch auf
zur Mitführung von Transfusionssets und Blut- dem Gefechtsfeld bei Verwundeten die Sauerstoff-
gruppenbestimmungskarten ist gerade bei aufge- transportkapazität im schweren hämorrhagischen
sessenen Operationen relativ gering. Schock zu verbessern. In bestimmten Einsatzszena-
Es besteht das Risiko von lebensbedrohlichen rien kann ihre Anwendung daher sinnvoll und
Transfusionsreaktionen und Infektion mit Krank- alternativlos sein [35, 59]. Ihre Durchführung sollte
heiten des Spenders. In der Literatur sind allerdings unter qualifizierter fachlicher Aufsicht erlernt
selbst bei Warmblutspenden in Irak und Afghanis- werden, daher wird hier auf eine nähere Darstellung
tan, bei denen die Blutgruppen nur anhand der des praktischen Ablaufs verzichtet [9]. Eine detail-
Eintragungen auf den Erkennungsmarken ohne lierte Handlungsanleitung zur Warmblutspende der
Bedside-Test identifiziert worden sind, keine Trans- US-Streitkräfte findet sich unter [77].
fusionsreaktionen beschrieben worden [35, 59].
Rhesus-Inkompatibilitäten sind ohnehin bei le-
bensrettenden Transfusionen von sekundärer Be- Literatur
deutung [8]. Die Sicherheit von Warmblutspenden
9 (»buddy-buddy-transfusion«) kann durch Mitfüh- 1. Alam HB, Koustova E, Rhee P (2005) Combat Casualty
rung von »Bedside-Tests« weiter erhöht werden. Care Research: From Bench to the Battlefield. World J.
Surg. 29:7–11
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regelmäßige Untersuchung auf mittels Transfusion ommended practices for the use of the pneumatic tour-
übertragbare Krankheiten aller Soldaten einer Ein- niquet in the perioperative practice setting. AORN J
heit bildet die Grundlage für komplikationsarme 86(4):640–655
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bedrohliche Notfälle! 4. B. Braun Melsungen AG (2009) Sterofundin ISO und
Tetraspan … immer die richtige Lösung. Fachinformation
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verwundeten mit massiven Blutverlusten schwer zu 6. Blackbourne LH, Czarnik J, Mabry R (2010) Decreasing
erkennen. Bei rapider Zustandsverschlechterung Killed in Action and Died of Wounds Rates in Combat
trotz Warmblutspende muss von einer Trans- Wounded. J Trauma 69 Suppl 1:1–4
fusionsreaktion ausgegangen werden. Die Therapie 7. Boldt J (2004) Fluid choice for resuscitation of the trauma
patient: a review of the physiological, pharmacological,
erfolgt nach sofortigem Stoppen der Transfusion
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213 10

Analgesie im Einsatz
F. Josse, F. Spies

10.1 Bedeutung einer frühen


und effektiven Schmerzbekämpfung – 214

10.2 Morphin – ein alter Weggefährte – 214

10.3 Multiplayer Fentanyl – 216

10.4 Esketamin (Ketanest S) – ein guter Spieler


mit speziellem Einsatzspektrum – 217

10.5 Durch niedrig-potente Analgetika Kampfkraft erhalten – 218

Literatur – 219

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
214 Kapitel 10 · Analgesie im Einsatz

10.1 Bedeutung einer frühen 10.2 Morphin –


und effektiven ein alter Weggefährte
Schmerzbekämpfung
In den vergangenen Konflikten (Weltkriege, Viet-
Einem Verwundeten die Schmerzen zu nehmen, ist nam) aber auch in den aktuellen Konflikten (Irak,
neben der Sicherung und dem Erhalt der Vitalfunk- Afghanistan) wurde und wird Morphin durch
tionen ein maßgeblicher Bestandteil der Verwunde- nicht-ärztliches Personal zur Gefechtsfeldanalgesie
tenversorgung und muss so früh wie möglich ein- angewendet.
geleitet werden. Dies ist in kameradschaftlicher Morphin gehört zu den Opiaten. Darunter wer-
bzw. humaner Sicht eine wesentliche Aufgabe des den aus dem Opium gewonnene, schmerzlindernde
Versorgers. Sie führt auch durch eine Verminde- Alkaloide verstanden. Morphin ist das älteste und
rung des schmerzbedingt erhöhten Sympathikoto- bestbekannte Alkaloid auf dem Markt. Sämtliche
nus zu einer Reduktion des Sauerstoffverbrauches. Opioide haben das gleiche Wirkungs- und Neben-
Eine verminderte Ausschüttung von Stresshormo- wirkungsspektrum mit unterschiedlicher Potenz.
nen kann im Rahmen eines Schockgeschehens mit Die Hauptwirkungen des Morphins sind die
erhöhtem Sauerstoffbedarf lebensrettend sein. Analgesie und die Sedierung. Als Nebenwirkung ist
Schmerz wird subjektiv von den betroffenen insbesondere die Atemdepression von Bedeutung.
Verwundeten jeweils unterschiedlich wahrgenom- Als weitere Nebenwirkungen sind Übelkeit und Er-
men. Er ist oft auch abhängig von weiteren per- brechen, Obstipation und Miosis zu nennen. Bei
sönlichen Faktoren, wie Angst, Unruhe, äußere Be- opiatinduzierter Übelkeit können und sollten Anti-
drohung, subjektive Wahrnehmung und Charakter. emetika frühzeitig eingesetzt werden.
Die Auswirkungen des subjektiv erlebten Schmer-
Tipp
10 zes werden somit ggf. summiert und sind oft nicht
mit der Verletzungsschwere und -art in Einklang zu
Bei Übelkeit hat sich die prophylaktische oder
bringen. Eine frühe und effektive Analgesie unab-
therapeutische Applikation einer Ondanset-
hängig von der Art und Weise sowie der verwende-
ron-Schmelztablette in die Wangentasche des
ten Medikamente führt zu einer Verminderung von
Patienten bewährt (z. B. Zofran 4 mg lingual).
chronischen Schmerzen und PTBS [3]. Dies ist für
Bei überschaubarem Nebenwirkungsspektrum
die weitere, über die Versorgung am Verwundungs-
wird opiatinduziertes Erbrechen gut vermie-
ort hinausgehende Genesung und Rehabilitation
den. Gleichzeitig wird eine wirkungsvolle Pro-
des Verwundeten essenziell.
phylaxe gegen Reiseübelkeit beim Transport
Unter taktischen Gesichtspunkten ist eine frühe
erreicht.
Analgesie nötig, um einen schreienden Verwunde-
ten zur Ruhe zu bringen und einen weiteren
schmerzfreien und somit problemlosen Abtrans- Die meisten Opiate haben eine dosisabhängige de-
port zu ermöglichen. pressive Wirkung auf den Kreislauf. Meist besteht
Bei jeder durchgeführten Analgesie gilt es, den durch eine orthostatische Dysregulation die Gefahr
Patienten ständig zu reevaluieren und das Schmerz- eines Blutdruckabfalls beim Aufstehen des Verwun-
niveau zu klassifizieren, um die weitere Behandlung deten durch Dilatation der Gefäße. Zusätzlich be-
besser steuern zu können. Auch das Monitoring wirkt jedoch insbesondere Morphin durch eine
bzw. die regelmäßige Kontrolle der Vitalparameter, Histaminausschüttung einen Blutdruckabfall [2].
insbesondere der Atmung, ist bei den stark wirksa- Opiate können über mehrere Wege aufgenom-
men Analgetika wie Opiaten und Esketamin (Keta- men werden. Die gängigsten sind oral, intramuskulär
nest S) zwingend durchzuführen und zu dokumen- und intravenös. Im Zivilen wird Morphin meist nur
tieren. noch zur Analgesie bei Tumorschmerzen oder im
Rahmen internistischer Krankheitsbilder (Herzin-
farkt, Lungenödem), weniger jedoch zur akuten trau-
matischen oder postoperativen Analgesie verwendet.
10.2 · Morphin – ein alter Weggefährte
215 10
In den militärischen Konflikten wurde und wird
immer noch Morphin in Form von Autoinjektoren,
welche 10 mg Morphin intramuskulär verabreichen,
verwendet. Dieses geschieht meist im Rahmen der
Selbst- und Kameradenhilfe.
Morphin weist im Vergleich zu Fentanyl oder
Ketanest eine sehr lange Wirkdauer auf. Dies ist ge-
rade bei längeren Versorgungs- oder Evakuierungs- . Abb. 10.1 Mucosal Atomization Device (MAD)
zeiten von Vorteil, da eine häufige Nachapplikation
entfällt und geringere Mengen mitgeführt werden
müssen. Als nicht-invasive Applikationswege haben
sich die orale und die nasale Anwendung insbeson-
jApplikationswege dere für nicht ärztliches Personal als vorteilhaft er-
Die intramuskuläre (i.m.) Injektion erscheint auf wiesen. Bei der oralen Gabe wird die Mundschleim-
den ersten Blick als ein sehr probates und schnelles haut als große Resorptionsoberfläche ausgenutzt
Mittel. Sie ist jedoch mit nicht zu unterschätzenden und bei der nasalen Applikation die Nasenschleim-
Problemen und Nachteilen verbunden. Die Resorp- haut. Der verschluckte Anteil unterliegt jeweils
tion aller Analgetika ist im Vergleich zur intravenö- einem so großen Abbau durch die Leber (First-pass-
sen (i.v.) Gabe bei der i.m. Applikation grundsätz- Effekt) dass dieser Anteil nicht zur initialen
lich verzögert und zeitlich schlecht vorhersehbar. Schmerzbekämpfung dient. Die Anschlagszeit bei
Diese Verzögerung kann durch eine verminderte oraler und bei intranasaler Anwendung liegt bei
Durchblutung des Muskels, wie sie z. B. im Schock- 5–10 Minuten.
geschehen oder bei Hypothermie vorliegt, noch Bei intranasaler Gabe liegt die maximale Auf-
verstärkt sein und unvorhergesehen zu einem spä- nahmefähigkeit pro Nasenloch bei maximal 1–2 ml.
teren Zeitpunkt zum Eintritt der Medikamenten- Größere applizierte Mengen werden verschluckt.
wirkung führen. Dies ist vor allem dann gefährlich, Darum sollten hierbei hochkonzentrierte Lösungen
wenn bei vermeintlichem primären Nichtanspre- des Medikamentes verwendet werden. Die notwen-
chen auf das Schmerzmedikament und weiterhin dige Dosierung ist im Einzelfall sehr unterschied-
schreiendem Verwundeten weitere Dosen verab- lich, meist ist jedoch die 2- bis 3-fache Menge der
reicht werden. regulären i.v. Dosis erforderlich. Zur Applikation
Hier gibt es heute deutlich bessere und sicherere können spezielle Vernebler (z. B. Mucosal Atomiza-
Applikationswege mit entsprechenden Analgetika, tion Device, MAD, . Abb. 10.1) auf eine Spritze auf-
um im Rahmen von Gefechtsfeldverletzungen und gesetzt werden. Behelfsmäßig können in Notfällen
bei Anwendung von nicht ärztlichem Personal eine auch Nasenspray-Fläschchen mit dem entsprechen-
schnelle und effektive Analgesie zu ermöglichen. den Medikament befüllt werden. Die Sprühaufsätze
Wenn ein i.v. Zugang etabliert ist, ist die in- von Ratiopharm-Nasenspray passen ebenfalls auf
travenöse Injektion die schnellste und sicherste Me- den Luer-Konus von Standardspritzen und können
thode, ein Medikament zu geben. Die intraossäre alternativ zum MAD eingesetzt werden.
(i.o.) Applikation ist hinsichtlich der Anschlagszeit > Bei längerem Aufenthalt in trockener, staubi-
für die Analgetika als äquivalent anzusehen. Bei ger Umgebung ist die Resorptionskapazität
der i.v. Gabe von Analgetika ist zu bedenken, dass der Nasenschleimhäute häufig deutlich ein-
neben der schnellen Wirkung der Analgesie auch geschränkt. Dadurch können sich sowohl
die Nebenwirkungen (z. B. Atemdepression, Hypo- Wirkmaximum, als auch Wirkeintritt erheb-
tonie, Übelkeit) schneller und manifester auftreten. lich verschlechtern!
Man sollte sich daher grundsätzlich immer in
Form von geringeren Teildosen vorsichtig an die
jeweils geplante Medikamentendosis herantasten
(»Titration«).
216 Kapitel 10 · Analgesie im Einsatz

10.3 Multiplayer Fentanyl

Der Durchbruch in der modernen Analgesie auf


dem Gefechtsfeld wurde mit der Einführung von
OTFC (orales transmukosales Fentanylcitrat mit
Applikator, Actiq), kurz Fentanyl-Lolli, erreicht
(. Abb. 10.1). Sie stellen ein sehr früh und zeit-
sparend einsetzbares effektives Verfahren zur An-
algesie dar. Gerade Spezialkräfte haben in den letz-
ten Jahren viel Erfahrung damit sammeln können.
Ziel ist es, dass diese Art der Analgesie querschnitt-
lich für jeden Soldaten im Einsatz verfügbar ist und
den Morphin-Autoinjektor langfristig ersetzt.
Insbesondere bei leicht und mittelschwer Ver- . Abb. 10.2 Fentanyl-Lolli Actiq
letzten hat die Gabe von Fentanyl-Lutschtabletten
deutliche Vorteile. Durch ihre Darreichungsform
an einem Stiel ist eine dosierte Gabe möglich und 50 % der Dosis des Fentanyl-Lollis in 2 unterschied-
kann bei ausreichender Analgesie unterbrochen lich schnellen Wellen wirken [5].
und bei Bedarf auch später wieder fortgeführt Die auf breiter Front gemachten Erfahrung im
werden. Durch die große und gut durchblutete Irak- und Afghanistan-Konflikt, aber auch die
Oberfläche der Mundschleimhaut wirkt das Fenta- persönlichen Erfahrungen und Anwendungen der
nyl im Vergleich zu i.m. verabreichtem Morphin Autoren zeigen, dass durch OTFC eine hervorra-
10 deutlich schneller. Während Patienten mit schon gende und schnelle (innerhalb von 5–7 min) Anal-
etabliertem i.v. Zugang grundsätzlich über diesen gesie erreicht werden kann, während durch die
Analgetika erhalten können, ist es bei kooperations- titrierte (in kleinen Schritten der geplanten Dosis)
fähigen Patienten auch bei vorhandenem i.v. Zu- Gabe schwerwiegende Nebenwirkungen (Atem-
gang eine sehr gute Möglichkeit der Schmerzbe- depression, Eintrübung mit Reflexverlust) zu ver-
kämpfung. nachlässigen sind.
Die Verabreichung ist extrem einfach und daher Ein bisher ungelöstes Problem ist, dass Actiq
auch durch Personal sicher durchzuführen, dass in formal keine Zulassung in der Schmerztherapie
der Venenpunktion unerfahren ist. Die Neben- beim akuten Trauma hat und der Gebrauch daher
wirkungen von Fentanyl sind denen des Morphins einen »off label-use« darstellt. Dies führt trotz der
ähnlich und können von milden Symptomen, wie weltweit hervorragenden Erfahrungen bedauerns-
Übelkeit, Euphorie und Benommenheit bis hin zu werterweise aus juristischen Gründen gelegentlich
Erbrechen, Bewusstlosigkeit und Ateminsuffizienz, zu einem Verzicht auf ihren Einsatz.
führen. Die Gabe von 800 μg verursachte allerdings Neben dem OTFC stehen auch noch Bukkal-
auch bei Gesunden (ohne schmerzbedingte Steige- tabletten (sich rasch auflösende Tabletten für die
rung des Atemantriebs) in Studien nie eine Beein- Wangenschleimhaut, Effentora) in unterschied-
trächtigung der Atmung [1]. lichen Konzentrationen für die Behandlung von
Fentanyl wird rasch über die Mund- und die Tumor-Durchbruchschmerzen auf dem Markt zur
Darmschleimhaut resorbiert. Jedoch werden nur Verfügung. Bis auf die nicht steuerbare Beendigung
25 % über die Mundschleimhaut resorbiert. Der der Applikation bei ausreichender Analgesie wie
Rest gelangt in den Gastrointestinaltrakt, wo ein beim Actiq sind Wirkungsstärke und Dauer ver-
Teil des Fentanyls direkt durch die Darmwand oder gleichbar. Sie haben sich jedoch nicht auf dem
später durch die Leber verstoffwechselt wird, ohne Gebiet der Gefechtsfeldanalgesie durchgesetzt.
den systemischen Kreislauf zu erreichen. Von der Eine weitere Applikationsform stellt das als
insgesamt verabreichten Menge erreichen daher nur Spray verabreichte intranasale Fentanyl (INF) dar.
weitere 25 % die Blutbahn, so dass schlussendlich Die geringe Oberfläche der Nasenschleimhaut be-
10.4 · Esketamin (Ketanest S) – ein guter Spieler mit speziellem Einsatzspektrum
217 10
grenzt die sinnvolle Sprühstoßmenge auf etwa multiplen Applikationsmöglichkeiten, den Erhalt
200 μl. Studien haben eine Anschlagszeit von 5 Mi- von Atemantrieb und Schutzreflexen bei analgeti-
nuten gezeigt, wenn gesunde Probanden 50 μg Fen- schen Dosierungen sowie die positiven hämodyna-
tanyl intranasal verabreicht bekamen. Die Biover- mischen Effekte ist es relativ anwendungssicher. Die
fügbarkeit betrug 71 %, also nahezu der anderthalb- kurze und damit gut steuerbare Wirkdauer erfor-
fachen Menge wie bei OTFC. Weiterhin konnte ge- dert jedoch bei längeren Versorgungszeiten durch
zeigt werden, dass die Gabe von den Patienten gut die repetitiven Gaben einen entsprechenden Keta-
toleriert wurde und signifikante Nebenwirkungen min-Vorrat.
nicht beobachtet wurden. Gelingt es, geeignete Der wesentliche Nachteil von Ketanest besteht
Sprays zu entwickeln, steht mit dem intranasalen darin, dass der Verwundete durch die Dissoziation
Fentanyl eine ernste Alternative für das orale trans- nicht mehr kooperativ oder fähig ist, Aufforderun-
mukosale Fentanylcitrat zur Verfügung. Vor allem gen zu folgen. Dies ist gerade bei Leichtverletzten,
die rasche Anschlagszeit ist vielversprechend [6]. die ggf. noch im Stande wären, einfache Aufgaben
zu erledigen, von Nachteil. Zum anderen kann es
Tipp
durch die psychotrope Wirkung zu unangenehmen
Eindrücken kommen, die insbesondere bei auf
Um die Wirkstoffaufnahme bei beginnender
dem Gefechtsfeld nicht möglicher Abschirmung
Schläfrigkeit oder Bewusstseinstrübung zu be-
des Verwundeten zu den sog. »bad trips« führt.
enden, sollte der Actiq-Lutscher mit einem
Hier hilft eine vorausgehende oder zumindest
Pflasterstreifen am Finger des Patienten be-
parallele Gabe von Sedativa (z. B. Midazolam oder
festigt werden. Mit Erschlaffen der Muskulatur
Lorazepam).
wird er dann im Regelfall durch das Nieder-
sinken des Arms aus der Mundhöhle entfernt. ! Bei der Gabe von Ketanest sollten alle
Die erforderlichen Pflasterstreifen sollten be- Verwundete entwaffnet werden.
reits im Vorfeld an den Actiq-Verpackungen
Neben der Analgesie bei kreislaufinstabilen
angebracht werden, um bei Anwendung
Schwerstverletzten ist Ketanest aufgrund seiner
schnell griffbereit zu sein. Die Verpackung des
Eigenschaften auch sehr gut für die so genannte
Actiq lässt sich ohne Schere bzw. Messer nicht
prozedurale Analgesie (Einsatz vor kurzen,
von Hand öffnen, ohne die Lutschtablette zu
schmerzhaften Maßnahmen) geeignet [2]. Eine
beschädigen. Dies gilt es in der Vorbereitung
weitere relevante Nebenwirkung ist der verstärkte
zu bedenken.
Speichelfluss. Dieser kann mit 0,5 mg Atropin oder
besser 0,2 mg Glycopyrrolat (z. B. Robinul) gut be-
handelt werden. Bei perforierenden Augenver-
letzungen sollte Ketamin wegen der möglichen
10.4 Esketamin (Ketanest S) – Augeninnendrucksteigerung nur mit besonderer
ein guter Spieler mit speziellem Vorsicht angewendet werden.
Einsatzspektrum Auf dem Markt sind zwei Arten von Ketanest
verfügbar. Das ältere Racemat Ketamin sowie das
Ketanest S bewirkt eine so genannte dissoziative neuere, aber nicht überall zugelassene S-Ketamin.
Anästhesie. Es wirkt zum einen über andere Rezep- Vorteil des S-Ketamin ist die höhere Potenz mit
toren als die Opiate analgetisch (sog. NMDA- etwas geringeren (insbesondere psychotropen)
Rezeptoren). Zum anderen hat es zusätzlich einen Nebenwirkungen [2].
psychotropen Effekt, indem es die eingehenden In- . Tab. 10.1 führt die beiden hauptsächlich ein-
formationen im Gehirn von der subjektiven Wahr- gesetzten Opiate und Esketamin mit ihrer Pharma-
nehmung entkoppelt. Es ist für den schwerverletz- kokinetik und -dynamik auf.
ten Traumapatienten bzw. Verwundeten ein nahezu
ideales Analgetikum. Durch die große therapeuti-
sche Breite, den schnellen Wirkungseintritt, die
218 Kapitel 10 · Analgesie im Einsatz

. Tab. 10.1 Vergleich von Wirkdauer, Dosierung und Nebenwirkungen von Fentanyl, Morphin und S-Ketamin.
Der Beginn des Wirkungseintritts und die Wirkungsstärke hängen im Wesentlichen von der Applikationsart ab

Medikament Wirkdauer Dosierung (Analgesie) Nebenwirkungen

Fentanyl 20–40 min 1,5–3 μg/kg KG i.v. Atemdepression, Sedation, Übelkeit, Pruritus, Kreis-
50–100 μg/Sprühstoß nasal laufdepression (i.v. Gabe), Bronchospasmus
Actiq 800 μg oral

Morphin 3–4 h 2,5–10 mg i.v. Wie bei Fentanyl


5–30 mg s.c./i.m.
10 mg AutoInjekt i.m.

Esketamin 10–20 min 0,125–0,25 mg/kg KG i.v. Bewusstseinsveränderung, Halluzinationen, Hyper-


0,25–0,5 mg/kg KG i.m. salivation, Augeninnendrucksteigerung
1–1,5 mg/kg KG nasal

10.5 Durch niedrig-potente im Gastrointestinaltrakt, bei Nierenschmerzen so-


Analgetika Kampfkraft erhalten wie Kopfschmerzen und bei Fieber hat sich Metami-
zol (z. B. Novalgin 500 mg oral bei leichten Schmer-
Niedrig-potente Analgetika sind Nichtopiate und zen bzw. 1 g i.v. bei stärkeren Schmerzen, Tages-
dienen primär nicht für die akute Schmerzlinde- höchstgrenze 4000 mg) bewährt. Hier kommt auch
rung bei traumatologischen Schmerzen. Dafür ha- noch eine relaxierende Wirkung auf die glatte Mus-
10 ben sie eine zu lange Anschlagszeit von 30–60 min. kulatur, wie sie z. B. im Magen-Darm-Trakt oder den
Für eine unterstützende Schmerztherapie in Kom- Harnwegen vorherrscht, schmerzlindernd hinzu. Im
bination mit Opiaten, für kleine Traumata oder Vergleich zu den Opiaten oder dem Esketamin sind
Überlastungserscheinungen des Bewegungsappara- diese Medikamente relativ nebenwirkungsarm.
tes oder auch Schmerzen im Gastrointestinaltrakt Atemdepression oder Veränderungen des Bewusst-
sowie Kopfschmerzen sind diese Mittel gut einsetz- seinsstatus sind nicht zu erwarten. Allergische Reak-
bar. Acetylsalicylsäure (Aspirin) hemmt die Cyc- tionen sind jedoch möglich.
looxygenase 1 (COX-1) dauerhaft, woraus eine ! Metamizol kann bei schneller i.v. Applikation
7–10 Tage andauernde Thrombozytenaggregations- starke Blutdruckabfälle verursachen. Es sollte
hemmung resultiert und somit die Blutgerinnung daher i.v. nur langsam titriert oder als Kurzin-
schwerwiegend gestört ist. Diese Wirkung ist vorü- fusion, z. B. in 100 ml isotoner Kochsalzlö-
bergehend für einige Stunden auch bei anderen An- sung, verabreicht werden.
algetika der NSAR-Gruppe (Ibuprofen, Diclofenac
u. a.) gegeben, jedoch im Hinblick auf ein erhöhtes Im Einsatz hat sich das den individuellen Soldaten
Blutungsrisiko zu vernachlässigen. oder Polizisten ausgegebene »PillPack« mit einer
! Im Einsatz sollte kein ASS eingenommen
analgetischen Bedarfsmedikation etabliert (z. B.
werden, um mögliche Blutgerinnungsstörun-
Metamizol-Tablette 1 g), die der Betroffene bei
gen zu vermeiden.
leichteren Schmerzen zum Erhalt der Kampfkraft
zur Überbrückung selbstständig einnehmen kann.
Paracetamol 1000 mg hat wenig Nebenwirkungen Hier sind jedoch deutliche Unterschiede in der Aus-
bezüglich der Blutgerinnung, jedoch gehört es zu stattung mit niedrig potenten Analgetika zu ver-
den schwächsten nichtopioiden Analgetika. Neue zeichnen.
selektive COX-2-Hemmer, so genannte Coxibe (z. B.
Arcoxia 60–90 mg), sind für Knochen und Gelenk-
schmerzen zu empfehlen und haben keine Wirkung
auf die Thrombozytenaggregation. Für Schmerzen
Literatur
219 10
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Triage und MASCAL/MANV


K. Ladehof

11.1 Hintergründe und Prinzipien – 222


11.1.1 Führungsstrukturen/Aufgaben – 224
11.1.2 Raumordnung (»structure the incident«) – 225
11.1.3 Zusammenarbeit – 228
11.1.4 Gefahren und Gefahrenstoffe – 228
11.1.5 Sekundäranschlag – 230

11.2 Triage – 230


11.2.1 Arten – 231
11.2.2 Kategorien – 233
11.2.3 Algorithmen – 235
11.2.4 Hinweise zum praktischen Vorgehen bei Triage
und Erstmaßnahmen – 238

11.3 Vorgehensweise bei MASCAL/MANV: SICK + SICK2 – 239


11.3.1 c SICK – Herangehensweise MASCAL – 239
11.3.2 d SICK2 ORG – Struktur – 240
11.3.3 e SICK2 MED – Sichtung/Erstversorgung/Transport – 241
11.3.4 Verwundetensammelpunkt/»casualty collection point« (CCP)
bzw. Patientenablage – 242
11.3.5 Vermeidung der häufigsten Fehler – 245

Literatur – 247

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
222 Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV

Das vorliegende Kapitel behandelt gleichermaßen seits würde der große Aufwand für die Versorgung
polizeiliche, zivile und militärische Massenanfälle. dieses Menschen in einer MASCAL-Situation be-
Die unterschiedlichen Terminologien und Organisa- deuten, dass mehrere andere Patienten gar nicht be-
tionsstrukturen werden parallel aufgezeigt. In den handelt werden können. Natürlich muss diese Situa-
ersten beiden Abschnitten dieses Kapitels werden Be- tion ständig überprüft werden, insbesondere wenn
griffe, theoretische und konzeptionelle Grundlagen neue Kräfte oder Mittel eintreffen.
und Systeme erläutert, im dritten Abschnitt wird > Oberstes Ziel wird es sein, schnellstmöglich
dann die konkrete Herangehensweise dargestellt. zur Individualmedizin zurückzukehren.

Der zweite entscheidende Aspekt neben der Auf-


11.1 Hintergründe und Prinzipien teilung der Ressourcen am Einsatzort unter der be-
schriebenen »Maximierungsformel« [4] ist die zeit-
Ein Notfall lich gestaffelte Nutzung der Transportmittel unter
dem Prinzip, dass möglichst viele Patienten recht-
Ein Massenanfall von Verwundeten (»mass
zeitig die bestgeeignete weiterversorgende Einrich-
casualty«, MASCAL) ist gegeben, wenn zwi-
tung erreichen (»Get the right patient to the right
schen dem Verwundetenaufkommen und den
place at the right time«).
verfügbaren sanitätsdienstlichen Kapazitäten
Das Mittel, um die Entscheidungen über die op-
zur individualmedizinischen Behandlung eine
timale Verteilung der knappen Ressourcen auf mög-
erhebliche Differenz besteht (FüEinsGrds
lichst objektiver Basis zu treffen, ist die Sichtung oder
SanDstBw [1]/NATO AJP 4.10 [3]).
Triage, auf die in 7 Abschn. 11.2 eingegangen wird.
Der Regelfall ist auch im militärischen Einsatz
Ausschlaggebend sind die Konsequenzen, die diese neben einzelnen Verwundeten »nur« der »multiple
Situation mit sich bringt: In der Notfallmedizin wird casualty event« [5], die gleichzeitige Verwundung
selbstverständlich für einen Verwundeten oder Ver- mehrerer Soldaten. Dabei kommt es möglicherwei-
11 letzten alles versucht, um ihn zu retten und alle vor- se in der Anfangsphase zu einem Versorgungseng-
handenen oder zügig nachführbaren Mittel werden pass, bevor die verfügbaren Kräfte eingesetzt oder
für diesen Zweck eingesetzt. Ein MASCAL ist durch nachgeführt werden können. Dennoch ist dies bei
ein Missverhältnis von Verwundeten bzw. Schwere- allen taktischen Lagen nicht allein vom Verhältnis
grad der Verwundungen einerseits und Helfern und der Verwundeten zu den vorgehaltenen Ressour-
verfügbarem Material andererseits charakterisiert. cen, sondern in besonderem Maße auch von den
Das bedeutet, dass diese Ressourcen unter den Be- Umgebungsbedingungen abhängig: wenn die
troffenen bestmöglich aufgeteilt werden müssen. Es eigentlich vorhandenen Kräfte die Verwundeten
ist keine individualmedizinische Betreuung mehr aufgrund der Feindlage oder wegen anderer Bedro-
realisierbar, sondern das Ziel ist es, die größtmögli- hungen nicht erreichen können, kann es ebenfalls
che Anzahl von Überlebenden zu »produzieren« zu einer zunehmenden Differenz zwischen Bedarf
bzw. möglichst viele Schädigungen zu vermeiden und Angebot kommen. Aus diesem Grund sollten
(»Do the greatest good for the greatest number« [3]). notfallmedizinisch erweitert ausgebildete Erst-
> MASCAL = Versorgungsbedarf > Ressourcen
versorger auch Kenntnisse über sinnvolle Vorge-
(Kräfte + Mittel)
hensweisen und Kriterien für die Verteilung unzu-
reichender Mittel haben. (Dies kann z. B. auch bei
Es kann also erforderlich sein, dass zeitaufwendige einer polizeilichen Lage bereits der Fall sein, wenn
Maßnahmen und Mittel, die nicht in ausreichendem es zu Verwundeten gekommen ist, aber aufgrund
Umfang vorhanden sind, oder auch die frühzeitige einer unklaren Bedrohungslage noch keine weite-
Evakuierung einem Verwundeten vorübergehend ren Kräfte zugeführt werden können.)
vorenthalten werden. Einerseits ist es ethisch natür- Allerdings wird auch der »echte« MASCAL mit
lich schwer vertretbar, einem besonders Bedürftigen einer länger anhaltenden Überforderung aller ver-
keine bzw. eingeschränkte Hilfe zu leisten. Anderer- fügbaren medizinischen Ressourcen naturgemäß
11.1 · Hintergründe und Prinzipien
223 11
bei militärischen Einsätzen häufiger als im zivilen Dafür ist es grundlegend, die eigenen personellen
Umfeld auftreten [5]. Dies betrifft insbesondere und materiellen Ressourcen sowie ihre Fähigkeiten
Kampfeinsätze, asymmetrische Kriegsführung, An- und Grenzen zu kennen [6].
schläge oder CBRN-Lagen. Sobald klar geworden ist, dass es sich um ein
Ein Notfall Ereignis handelt, das nicht unmittelbar mit den vor
Ort verfügbaren Kräften und Mitteln bewältigt
Bei einem Massenanfall von Verletzten (MANV)
werden kann, muss eine kurze, orientierende Erst-
handelt es sich um einen Notfall mit einer grö-
meldung an die Führung, Leitstelle oder rückwär-
ßeren Anzahl von Verletzten oder Erkrankten so-
tige Kräfte abgegeben werden. Dies wird bei einem
wie anderen Geschädigten, der mit der vorhan-
größeren Anschlag in der Regel bereits bei der
denen und einsetzbaren Vorhaltung des Ret-
Annäherung bzw. Anfahrt der Fall sein und diese
tungsdienstes aus dem Rettungsdienstbereich
»erste Lage auf Sicht« wird dementsprechend noch
versorgt werden kann (DIN 13050 3.21) [2].
vor dem Verlassen des Einsatzfahrzeuges abgesetzt
(»windshield report«).
Die Formulierung aus der DIN fokussiert auf den Dann gilt es, das Ereignis möglichst schnell,
organisatorisch-strukturellen Aspekt und unter- strukturiert abzuarbeiten. Insbesondere der Ablauf
streicht v. a. den Unterschied zu größeren Notfallla- eines MASCAL infolge eines Anschlages (bzw. seine
gen. Beim Großschadensereignis ist das Ereignis medizinische Organisation) kann in verschiedenen
mit so vielen oder schwer Verletzten verbunden, Phasen beschrieben werden [7]. In den ersten
dass die Mittel aus einem Rettungsdienstbereich Minuten, der Chaosphase, dominiert die Unüber-
nicht mehr ausreichen und überregionale Unterstüt- sichtlichkeit der Einsatzstelle. Es besteht Unklarheit
zung notwendig wird. Bei einer Katastrophe wiede- über Auslöser und Lage, Betroffene bzw. Opfer,
rum ist zusätzlich in wesentlichem Umfang örtliche Kräfte vor Ort etc. Da in dieser Phase noch uner-
Infrastruktur zerstört oder geschädigt [2]. kannte Gefahren bestehen und mögliche Täter ge-
Bei einem Unfall mit drei Schwerverletzten in nau dieses Chaos für weitere Aktivitäten nutzen
einer dünn besiedelten Gegend in Deutschland und können, muss sie schnellstmöglich beendet werden.
einem einzelnen Rettungswagen in der näheren Die dafür notwendige Führungsstruktur und
Umgebung wird also bereits die »größere Anzahl Raumordnung werden in der Organisationsphase
von Verletzten« gemäß dieser Definition vorliegen. (»organisation phase«) aufgebaut, um dann in der
Für den Arbeitsalltag ist die pragmatische Betrach- Abarbeitungsphase (»site-clearing phase«) die
tung der tatsächlich am Einsatzort vorhandenen schnellst- und bestmögliche (Sichtung und) Versor-
Mittel maßgeblich, weil aus dem Verhältnis Opfer gung der Verwundeten durchzuführen. Die späte
zu Helfern die Vorgehensweise resultiert. Analog Phase (»late phase«) ist ereignisabhängig durch ver-
wird die absolute Anzahl der Geschädigten, die ein zögert eintreffende Leichtverletzte und v. a. die Re-
Großschadensereignis auslöst, in einem Ballungs- organisation der Einsatzkräfte gekennzeichnet.
raum wiederum wesentlich höher liegen und das »Nach dem Einsatz ist vor dem Einsatz«, sinngemäß
Verlassen der individualmedizinischen Prinzipien nach Sepp Herberger. Im militärischen Einsatz wird
dort generell seltener oder nur in einer kurzen An- ein Angriff bzw. Anschlag meist nicht völlig unvor-
fangsphase notwendig sein. Bei den meisten militä- bereitet kommen und die Reaktion der Kräfte folgt
rischen Situationen (ein bis zwei Sanitäter begleiten trainierten Verfahren. Dennoch ist auch hier die
eine Einheit von 20–100 Mann) werden ebenfalls Eventualfallplanung und Übung für ungewöhnlich
drei schwerer Verwundete bereits einen MASCAL ungünstige, große Ereignisse unerlässlich.
auslösen und die in diesem Kapitel geschilderten > »Alle Sanitätseinrichtungen und Sanitätstrup-
Prinzipien und Verfahren werden teilweise zur An- penteile im Einsatzgebiet müssen sich stets
wendung kommen. auf die Bewältigung eines Massenanfalls vor-
> Der erste, entscheidende Schritt bei einem bereiten. Entsprechende Szenarien sind zu
Massenanfall von Verletzten ist es, ihn früh- entwickeln und regelmäßig zu üben.« [1]
zeitig festzustellen.
224 Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV

Die Grundsätze für Führung und Einsatz des Sani- Terrain, Schadensausmaß etc.) und die Sicherheit
tätsdienstes liefern neben diesem klaren Auftrag, (Gefährdungen, Spezialkräfte erforderlich?) stehen
der auch argumentativ genutzt werden kann, um für beide Aufgaben im Vordergrund, dazu gehört
den Aufwand für diese Vorbereitung zu rechtferti- eine (gemeinsame) kurze Abstimmung mit dem
gen, weitere Arbeitsgrundlagen. Als Anlage 14 [1] (Gesamt-)Einsatzleiter (GEL)/militärischen Füh-
findet sich dort ein vollständiger MASCAL-Muster- rer (MilFhr) und anderen Kräften vor Ort (7 Abschn.
befehl. Gleiches gilt für die entsprechenden NATO- 11.1.3). Im zivilen Regelfall liegt die GEL bei der Feu-
Dokumente [3, 8]. erwehr und sie wird auch als Technische EL (TEL)
Analog dazu haben mittlerweile zahlreiche Ret- bezeichnet. Bei Geisel-, Amok- oder anderen polizei-
tungsdienstbereiche, Kreise oder auch Bundeslän- lichen Lagen liegt die Führung beim Polizeieinsatz-
der MANV-Konzepte erstellt, die sich oft auch im leiter. Im militärischen Einsatz hat jederzeit der mili-
Internet finden. Zusätzliche Unterlagen, gerade tärische Führer vor Ort die Leitung inne. Sanitäts-
auch im Hinblick auf die Katastrophenmedizin, dienstliche Elemente beraten dabei fachlich (7 Kap. 6).
sind über das Bundesamt für Bevölkerungsschutz Im Schwerpunkt der organisatorischen Leistun-
und Katastrophenhilfe (BBK) erhältlich (meist auch gen steht der Aufbau der Einsatzstellenstruktur und
zum kostenfreien Download [9]). der Transportorganisation, für die medizinische La-
geentwicklung sind die Ermittlung des Personal-,
Material- und Transportmittelbedarfes und die Ord-
11.1.1 Führungsstrukturen/Aufgaben nung der Patientenversorgung die maßgeblichen
Punkte. Beide Aufgaben sollten im Idealfall abhän-
Vorplanungen, Konzepte und Weisungen oder Be- gig von der Größe des Ereignisses und der Lage von
fehle sowie wiederholte Übung sind Voraussetzung ausgebildeten Spezialisten wahrgenommen werden:
für den reibungslosen Aufbau von Führungsstruk- Der Organisatorische Leiter (ORGL) durchläuft ei-
turen. Nach der grundlegenden Lagefeststellung nen Verwendungsaufbau auf verschiedenen Füh-
hinsichtlich Ereignis und Opfern (»Feindlage«) rungsebenen und eine auf die Strukturierung von
11 muss ermittelt werden, welche nutzbaren Kräfte be- Schadensereignissen ausgerichtete Ausbildung
reits vor Ort sind. (»Ambulance Incident Commander«, AIC). Die
Im günstigen Fall sind Funktionen und Aufga- fachliche Führung und medizinische Koordination
ben bereits klar, andernfalls müssen jetzt Bedarf und – insbesondere der Sichtung – wird vom Leitenden
Möglichkeiten festgestellt werden (Lagebeurtei- Notarzt (LNA) wahrgenommen (»Medical Incident
lung). Nach Klärung dafür grundlegender Entschei- Officer«, MIO). Dieser ist in der Regel erfahrener
dungen (ist überhaupt eine Annäherung der vorhan- Notarzt mit guter Kenntnis der regionalen Struk-
denen Kräfte möglich, müssen/können Einsatzab- turen und Besonderheiten und hat ebenfalls eine
schnitte gebildet werden, werden Spezialisten benö- spezifische Fortbildung betreffs MANV-Lagen. In
tigt) erfolgt eine Einweisung der Kräfte und die Deutschland gibt es deutliche föderale Unterschiede
Aufgabenverteilung (Entschluss). Grundlegend in der Ausbildung und v. a. der Inübunghaltung.
sind hier die eindeutige Übernahme der Führungs- Je nach Abgelegenheit des Einsatzortes oder bei
rollen (Sanitätseinsatzleitung, SanEL), die abge- entsprechender Bedrohungslage werden diese
stimmte Aufgabenverteilung sowie die transparente Spezialisten u. U. spät, möglicherweise gar nicht
Kommunikation. Sind allen Beteiligten ihre Aufga- rechtzeitig eintreffen. In der Praxis ist es jedoch un-
ben klar? Es wird sich unvermeidlich rächen, wenn verzichtbar, dass beide Aufgaben nach Möglichkeit
man versucht, die Zeit für eine erforderliche Abstim- bereits von den zuerst eintreffenden Kräften kom-
mung einzusparen (»3C« – »command, control, missarisch wahrgenommen werden. Wenn nicht als
communicate«). Die klare Raumordnung und der eine der ersten Maßnahmen die An- und Abfahrts-
parallele Aufbau von organisatorischen und medizi- wege (bzw. die geplante Evakuierungsroute) und
nischen Strukturen ermöglichen die zügige Einbin- Koppelungspunkte (»Rendezvous Point« RVP) bzw.
dung weiterer Kräfte und die zunehmende Aufga- Pufferzonen für nachrückende Kräfte festgelegt
benverteilung. Der Lageüberblick (Infrastruktur, werden, kann die Einsatzstelle »zulaufen« oder eine
11.1 · Hintergründe und Prinzipien
225 11
ungünstige Position für die Verwundetenversor- bahntunnel). Sie werden dementsprechend unter-
gung gewählt werden. Beides kann den Abtransport schiedliche oder gemeinsame Gefahrenbereiche
aller Verwundeten dramatisch verzögern. und Einrichtungen haben. Die in 7 Kap. 8 beschrie-
Je sicherer die Umgebung und je größer die benen Zonen, heiße, warme und kalte, werden ab-
Anzahl der – medizinisch – Betroffenen ist, umso hängig von der Sicherheitslage existieren und in
mehr muss sich die SanEL auch bei einem militäri- der Raumordnung durch Absperrmaßnahmen
schen oder polizeilichen Einsatz auf die Übernahme und eine angepasste Führungsstruktur abgebildet
von Führungsaufgaben einstellen. Wenn es z. B. im (. Abb. 11.1). In Großbritannien spricht man von
Zuge einer Geiselbefreiung zu einem MASCAL »cordons« und »areas«.
gekommen sein sollte und das Objekt »klar und ge- Im inneren Ring (»inner cordon«) liegt der Ge-
sichert« ist, werden auch die organisatorischen Auf- fahrenbereich der eigentlichen Schadens- bzw.
gaben zum größeren Teil bei den sanitätsdienst- Einsatzstelle. Dort werden die auf die Bedrohung
lichen Einsatzkräften liegen. Lediglich bei einer rein spezialisierten Kräfte der Polizei, Feuerwehr oder
medizinischen Gefahrenlage (z. B. durch Infek- sinngemäß kämpfende Truppe nur mit geeigneter
tionserreger oder eine Massenvergiftung) wird die persönlicher Schutzausstattung und ausreichender
Sanitätseinsatzleitung auch die GEL innehaben. In Ausbildung für die jeweilige Lage eingesetzt werden
jedem Fall ist neben den Funktionen LNA und OrgL können. (Dieser Bereich wird auch »Bronze Area«
ein Unterstützungselement sinnvoll, das Aufgaben genannt, die Führung liegt beim »Bronze«, »for-
wie Gewährleistung der Kommunikation, Führen ward« oder »operational commander«). Die Maß-
von Lagekarten, logistische Zuarbeit u. ä. überneh- nahmen, die dort für die Betroffenen erforderlich
men kann. Diese Verstärkung wird meist in Form sind, müssen durch notfallmedizinisch weitergebil-
eines Einsatzleitwagens (ELW-San) ausgeplant sein. dete Einsatzkräfte der jeweils »zuständigen Organi-
Militärisch gibt es kein entsprechendes sanitäts- sation« geleistet werden [11]. Wenn es sich um ei-
dienstliches Element, sodass man im Zuge der nen MASCAL handelt, wird die nach Dringlichkeit
MASCAL-Planung über Kräfte für eine analoge Un- gestaffelte Versorgung und Evakuierung entschei-
terstützung nachdenken sollte. dend für die Prognose sein, sodass diesbezügliche
> Der Aufbau einer effektiven Führungs- Grundkenntnisse vorhanden sein sollten (Vorsich-
struktur ist der Schlüssel für die bestmögliche tung 7 Kap. 11.2.1). Die folgende, primäre Sichtung
Bewältigung eines Massenanfalls/Schadens- (im Regelfall durch einen Arzt) sollte soweit vorge-
ereignisses [10]. schoben stattfinden, wie dies hinsichtlich der Ge-
fährdung vertretbar ist. Dies wird spätestens am
Übergabepunkt (der Verwundeten durch aktiv im
11.1.2 Raumordnung Gefecht stehende Teile bzw. der Schnittstelle zur
(»structure the incident«) technischen Rettung, Brandbekämpfung) bzw. im
Bereich einer Patientenablage (PA) der Fall sein.
Die Kernaufgabe der Raumordnung ist es, die Ein- Patientenablage
satzstellenstruktur so aufzubauen, dass bei Gewähr- Eine Stelle an der Grenze des Gefahrenberei-
leistung größtmöglicher Sicherheit ein geordneter ches, an der Verletzte oder Erkrankte gesam-
Patientenfluss aus dem eigentlichen Gefahrenbe- melt und soweit möglich erstversorgt werden.
reich zu den Transportmitteln stattfindet. Dazu Dort werden sie dem Rettungsdienst zum
müssen die Gefahren- und Einsatzschwerpunkte Transport an einen Behandlungsplatz oder
identifiziert werden. Auf dieser Basis können bzw. weiterführende medizinische Versorgungsein-
müssen ggf. (Unter-)Einsatzabschnitte gebildet richtungen übergeben (DIN 13050).
(mehrere Kfz eines Konvois, Bus vorne und hinten)
oder verschiedene Einsatzstellen koordiniert wer-
den (als extreme Beispiele ein angegriffener Konvoi, Sie hat in UK/US keine echte Entsprechung [10, 12],
der auf zwei Seiten eines Dorfes oder einer Furt ge- sondern hier würde der auch im Militär übliche
bunden wird oder ein Zugunglück in einem Eisen- Begriff des »casualty collection points« (CCP,
11
226
Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV

. Abb. 11.1 Aufbauorganisation und Einsatzstellenstruktur beim MASCAL/MANV. Abhängig von der Lage (z. B. Anschlag im Einsatzland, Zugunglück oder Amoklauf im Inland)
werden die Aufgaben von unterschiedlichen Kräften wahrgenommen (z. B. Fallschirm- oder Feldjäger vs. Polizei), die Gesamteinsatzleitung liegt beim militärischen Führer, Feuer-
wehr- oder Polizei-Einsatzleiter und es werden weitere Spezialkräfte benötigt. Der »Gefahrenbereich« entspricht der heißen und warmen Zone.
BHP Behandlungsplatz, RMHP Rettungsmittelhalteplatz, BR Bereitstellungsraum. (Weitere Erklärungen/Übersetzungen 7 Text)
11.1 · Hintergründe und Prinzipien
227 11

. Tab. 11.1 Sichtungsziele nach Sichtungsort. (Nach Scheuermann et al. in Katastrophenmedizin, Kap. 4 [9])

Sichtungsort Sichtungsverfahren Sichtungsziel Handlungskonsequenzen

Schadens-/Einsatzort Vorsichtung Rettungspriorität Prioritäres Retten aus dem


Physiologische Triage unter Beachtung Gefahrenbereich (CuF)
zeitlich möglicher o hohe Dynamik der Sichtung
Zugänglichkeit

PA/VwuNest/CCP in erster Primäre Sichtung Behandlungspriorität Prioritäre Behandlung (TFC-


Deckung Lageabhängig physiolo- Initial), Stabilisierung, Transport
gische oder anatomische (Früh- zur Zielklinik/kleine Lage;
Triage sonst zum BHP)

Behandlungsplatz/ Sekundäre Sichtung Behandlungspriorität Zuweisung zur Behandlung


CCS/CCP strukturiert Anatomisch oder mit (anatomische Triage) (ggf. Abwarten)/zu Transport-
(Nähe zur Übergabe bzw. SORT/SAVE/klinischem Transportpriorität mitteln (TEC)
»loading/landing zone«) Scoring-System (ESI)

Krankenhaus/ Klinische Sichtung Behandlungspriorität Integration in die klinischen


Einsatzlazarett Manchester Triage Sys- Klinik Patientenströme gemäß Not-
tem/Emergency Severity fallplan, Indikation, Kapazität
Index

7 Kap. 11.3.3) verwendet. Er bezeichnet Strukturen ßen Ereignissen für die übergreifende, strategisch-
wie ein Verwundetennest oder einen strukturierten politische Führung eingerichtet (z. B. als nationaler
Verwundetensammelpunkt (VwuSP), die sich Krisenstab). Um die Einsatzstelle nicht zu blockie-
vor einer ausgeplanten Behandlungseinrichtung ren und Aufenthaltsdauer und damit Risiko für die
(»medical treatment facility«, MTF) befinden eingesetzten Kräfte vor Ort zu verringern, werden
(. Tab. 11.1). Beispiele für MTF sind eine Rettungs- Bereitstellungsräume (BR) oder Reservesammel-
station, ein Rettungszentrum oder ein Feldlazarett. punkte festgelegt. Diese liegen also als erste Anlauf-
In der Zone außerhalb des inneren Rings (»sil- stelle für nachrückende Kräfte in deutlichem
ver area«) befindet sich die taktische Einsatzfüh- Abstand zur Gefahrenzone. Sie sollten groß genug
rung mit GEL und SanEL (»silver command« oder gewählt werden, um die Einsatzmittel von dort in
»tactical level«). (Achtung: die Staffelung »opera- beliebiger Reihenfolge abrufen zu können.
tional – tactical – strategic« in Großbritannien ent- Beispielsweise bildet sich durch Deckung
spricht der auch in der Wirtschaft gebräuchlichen suchende Verwundete spontan ein VwuSP/eine PA.
Abfolge. Im Gegensatz dazu ist die militärische ope- Lage- und ortsabhängig kann es vorteilhaft sein,
rative Führungsebene zwischen dem taktischen und diese direkt zu einer strukturierten PA auszubauen
strategischen Level angesiedelt (NATO AAP-6, (ggf. nach Verschiebung in einen sichereren Be-
2005).) Außerdem liegt hier der Bereich für sekun- reich) und von dort die Transportorganisation un-
däre Sichtung und Behandlung (Behandlungsplatz, mittelbar anzusprechen. Sind z. B. in einem Bal-
BHP; »casualty clearing station«, CCS) sowie der lungsraum ausreichend Kräfte verfügbar, um einen
Übergabepunkt an die Transportmittel (Rettungs- MASCAL abzuarbeiten, kann ggf. auf die Einrich-
mittelhalteplatz (RMHP) oder »ambulance loading tung eines Behandlungsplatzes verzichtet werden.
point«) sowie die Transportorganisation (TrspOrg). Im Winter in einer abgelegenen Gegend wird er
Diese »silver area« ist wiederum von einem wiederum ausschlaggebende Bedeutung für die ge-
äußeren Ring oder äußeren Absperrung (»outer schützte Versorgung der Patienten haben.
cordon«) umgeben, über den die Zugangskontrolle Neben der bestmöglichen Verteilung der Res-
und damit Sicherung der Gesamteinsatzstelle er- sourcen vor Ort und Gewährleistung des nach
folgt. Das »gold command« wird nur bei sehr gro- Dringlichkeit gestaffelten Transportes der Patienten
228 Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV

muss vermieden werden, den Massenanfall »ins einer »gemeinsamen Sprache«. Damit sind sowohl
Krankenhaus zu verlagern«. (Bei entsprechender einheitliche Bezeichnungen und Abkürzungen als
Vorbereitung, wie in Israel, kann dies bei kurzen auch funktionierende Kommunikationsmittel ge-
Transportwegen wiederum ein alternativer Ver- meint. Selbst bei vorhandener Funkverbindung
sorgungsansatz sein. In Deutschland könnte diese sollte bei Einsatzbeginn bzw. Eintreffen am Scha-
Verlagerung evtl. noch im Rahmen des Konzep- densort die persönliche Kontaktaufnahme mit an-
tes  sogenannter Erstversorgungskliniken bewältigt deren, beteiligten Kräften erfolgen (Einheitsführer
werden. Das primäre Ziel dieser Konzepte ist jedoch  und Spezialisten, wie z. B. Entschärfer, Pioniere,
die Nutzung von Krankenhausinfrastrukturen und ABC; andere BOS (Behörden und Organisationen
-möglichkeiten bei der Versorgung bzw. Stabilisierung mit Sicherheitsaufgaben), insbesondere Feuerwehr
großer Zahlen von Schwerstverletzten [13, 14]). und Polizei). Das Lagebild muss kurz abgeglichen
In der Regel muss versucht werden, die Patien- und die geplanten Maßnahmen und insbesondere
ten optimal auf die verfügbaren Krankenhaus- und der dafür benötigte Platzbedarf abgestimmt werden.
dabei im Schwerpunkt Operationskapazitäten zu Sinnvollerweise wird der Zeitpunkt für die nächste
verteilen. Es wird eben einem Patienten mit einer Kontaktaufnahme vereinbart.
inneren Blutung auch nicht helfen, statt an der Un- Die sorgfältig koordinierte Einsatztaktik
fallstelle vor einem Operationssaal zu liegen, wenn (Sicherungskräfte und Sanität, medizinische und
der einzige Saal belegt oder das bisher einzig ver- technische Rettung) ist unverzichtbare Basis für
fügbare Team bereits gebunden ist. Die nächstgele- sicheres Vorgehen und zügige Rettung. Außerdem
genen Krankenhäuser werden in der Regel von müssen Schnittstellen definiert und evtl. die An-
Leichtverletzten, die selbstständig versuchen Hilfe forderung weiterer Spezialisten und zusätzlicher
zu finden, »überrannt« und sollten erst nach vorhe- Kräfte besprochen werden (schweres Räumgerät,
riger Abfrage für kritische Patienten genutzt wer- Rettungshunde, Betreuung, Sprachmittler, aber z. B.
den. Ansonsten muss angestrebt werden, die Patien- auch Bedarf an »schlichten Trägern«).
ten gleichmäßig auf die umliegenden Häuser (oder Vor allem die Entscheidung über die Bitte um
11 analog die vorhandenen ROLE-2–4-MTF – »medi- überregionale Hilfe oder Unterstützung von Koali-
cal treatment facilities«) zu verteilen. Die dortigen tionskräften muss frühzeitig getroffen werden.
Strukturen werden bei einem großen Ereignis (und Aus diesen Absprachen und evtl. weiterer Er-
möglichst schneller Alarmierung und Aktivierung kundung resultiert die abgestimmte (wer spricht
der hoffentlich erprobten Krankenhausalarmpläne) mit wem?) Lagemeldung an die Führungsstruktu-
sukzessive aufwachsen. Wenn die Verteilung auf der ren (Leitstelle; »Patient Evacuation Coordination
Basis einer vorher ermittelten, realistischen Abfrage Center«, PECC – früher auch »Rescue Coordina-
der abhängig von Tageszeit und Wochentag vorhan- tion Center«, RCC), ggf. auch unmittelbar an die
denen Kapazitäten geschieht, kann eine zeitrauben- Folgeversorgung/aufnehmenden Einrichtungen. In
de Abfrage entfallen und die Patienten können op- regelmäßigen Abständen oder bei wichtigen, neuen
timal an die vorhandenen Ressourcen angepasst Erkenntnissen muss die Lagemeldung wiederholt
verteilt werden. Beispiele dafür sind das Ticket- werden.
System des Main-Kinzig-Kreises [15] oder das > Die schönste Einsatzplanung und Raumordnung
Münchner Wellenmodell [16]. hilft nicht, wenn die anderen Einsatzkräfte sie
nicht kennen – »keep your friends informed«.

11.1.3 Zusammenarbeit

Die Zusammenarbeit von (Gesamt-)Einsatzleitung 11.1.4 Gefahren und Gefahrenstoffe


bzw. militärischem Führer und medizinischen
Spezialisten basiert im günstigen Fall auf vorheriger, Wie bereits in 7 Kap. 8.4.1 dargestellt, steht die
klarer Kompetenzregelung, allen Beteiligten be- Sicherheit der eingesetzten Kräfte unbedingt im
kannten Konzepten, regelmäßigen Übungen und Vordergrund, was natürlich nicht bedeutet, dass zur
11.1 · Hintergründe und Prinzipien
229 11

. Tab. 11.2 Merkhilfen für das Vorgehen zur Strukturierung einer Gefahrenlage

Bundeswehr Großbritannien (UK) Feuerwehr

S Sicherung/Sperre C Cordon »4C« G Gefahr erkennen


E Erkundung C Confirm A Absperren
R Rettung C Clear M Menschenrettung
V VwuSammelpunkt C Control S Spezialkräfte alarmieren
A Aufnahme (Verstärkung) (Command; Call EOD)

GEMAESS (Gefahr erkennen, Eigenschutz beachten, Meldung machen, Ausbreitung verhindern, Eintritt unterbinden,
Spezialkräfte abwarten, Sondermaßnahmen ergreifen, z. B. Dekon) wurde insbesondere für CBRN-Lagen entwickelt,
sodass Eigenschutz und Meldung mehr betont werden und die Menschenrettung etwas in den Hintergrund tritt.

Menschenrettung nicht auch ein kalkuliertes Risiko lichst als Vermutung gekennzeichnet) sollte im
eingegangen werden kann bzw. muss. Lebenswichtig Zweifel lieber zu früh gegeben werden. Bei der La-
ist es, die Annäherung trotz Hilfswillen und Stress gebeurteilung sind »klassische« (Feuer, Einsturzge-
nicht zu überstürzen. Gültige Verfahren (SOP, fährdung, Strom, Atemgifte etc.) und besondere
»standard operating procedures«) und Sicherheits- Gefahren z. B. Heckenschütze, Zweitanschlag,
maßnahmen müssen durchgängig eingehalten wer- CBRN (»chemical, biological and radio-nuclear«)
den. Abstand kann Schutz bedeuten und den etc. zu berücksichtigen. Dies gilt natürlich umso
Überblick kann man nicht mit einer Nahaufnahme mehr, wenn die Zerstörungskraft des (ersten) An-
gewinnen. schlages bereits ausgereicht hat, um einen MASCAL
Die Gefahrenbeurteilung muss bereits vor der auszulösen.
Annäherung beginnen: handelt es sich um einen Speziell muss die Aufmerksamkeit dabei auf
besonders gefährdeten Bereich (»lohnendes Ziel«, Eigenheiten der Einsatzstelle und ihre Konse-
Ort mit Symbolcharakter, frühere Anschläge etc.), quenzen gerichtet werden. Es handelt sich sozusa-
gab/gibt es Drohungen, Hinweise oder z. B. auffäl- gen um eine vorgezogene Beurteilung des Unfall-
lige Zusammenhänge zwischen Ort und Zeit (»Jah- mechanismus, der Kinematik: welche Wirkung
restag«)? Wenn ein Verdacht auf eine besondere hätte z. B. eine weitere Explosion aufgrund der
Lage besteht, sollten ggf. Erkundungseinheiten Druckwellenausbreitung oder der Schrapnellwir-
(inkl. Dekon) vorausgeschickt und die weitere, kungen an einem bestimmten Punkt (. Tab. 11.2)?
gestaffelte Aktivierung von Kräften vorbereitet wer- Nach Identifikation einer Bedrohung muss diese
den. Das Bewusstsein, die Achtsamkeit (»aware- nach Möglichkeit beseitigt werden oder die Absper-
ness«) hinsichtlich Gefährdungsindikatoren ist rung und Zugangskontrolle des Gefahrenbereiches
entscheidend: Sind bei der Annäherung Auffällig- wird erforderlich. Ein wichtiger Punkt in der Mel-
keiten oder ein »Bruch im Bild« feststellbar (z. B. dung an die Führung/Einsatzleitung ist die Bewer-
ungewöhnliche oder seltsame Objekte wie ein zu tung der wahrscheinlichsten weiteren Lageentwick-
tief liegendes Fahrzeug, eine ungewöhnliche Stille lung: handelt es sich um eine statische oder dynami-
oder auffallend gleichförmige Symptome (Toxidro- sche Lage? Bei einer statischen Lage ist es durch ein
me 7 Kap. 41)? Die Bedeutung von Erfahrung und Ereignis zu einer bestimmten Anzahl von Verwun-
Intuition (»Bauchgefühl«!) darf nicht unterschätzt deten gekommen, die sich aller Wahrscheinlichkeit
werden. Können Betroffene oder Beobachter Hin- nicht erhöhen wird (z. B. ist ein Fahrzeug in eine
weise geben? Auf dieser Basis muss insbesondere Schlucht gestürzt, in dem sich 6 Personen befanden).
entschieden werden, ob die derzeitigen Mittel und Die maximale Anzahl an Opfern und von damit im
dabei v. a. die persönliche Schutzausstattung aus- ungünstigsten Fall erforderlichen Mitteln für Ver-
reicht, um überhaupt weiter in Richtung Einsatz- sorgung und Transport steht bereits fest. Brennen
stelle vorzugehen. Eine Warnung an andere (mög- bereits mehrere bewohnte Gebäude und das Feuer
230 Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV

ist noch nicht kontrolliert, kann sich die Anzahl der schriebenen Überlegungen kann man wenigstens
Opfer kontinuierlich erhöhen und es handelt sich die Erfolgschancen für »die Gegenseite« verringern.
um eine dynamische Lage.
Gute Hinweise für Bedrohungen und Gefähr- Sekundäranschlag-Verdacht
dungsindikatoren nach einem Anschlag (ein- 5 An die Gefahr eines Sekundäranschlages
schließlich CBRN) geben die Handlungsempfeh- (»second hit«) denken (einschließlich »dirty
lungen zur Eigensicherung im Katastrophenschutz bomb«/CBRN-Gefahren)!
des BBK (HEIKAT) [17]. 5 Minimierung der Aufenthaltsdauer am
Einsatzort
5 Möglichst wenig Ziele »sammeln«
11.1.5 Sekundäranschlag – Wenig Kräfte im gefährdeten Bereich und
auf einem Punkt (Sekundärzielaspekt)
Das bevorzugte Ziel eines 2. Angriffes mit Spreng- – Leichtverletzte in Sicherheit schicken –
stoffen wird eine größtmögliche Anzahl von Helfern Abstand!
aus dem Bereich des Militärs, der Polizei oder ande- 5 Schadenstelle aus Sicht der Gegenseite
rer Rettungskräfte sein. Einerseits sollte also ver- betrachten
sucht werden, möglichst wenige Personen in einem – Andere sinnvolle Sekundärziele in der
Bereich in unmittelbarer Nähe des ersten Anschlags- Nähe? (Evtl. auch aus diesem Grund
ortes zusammenzuziehen, andererseits muss die nächstgelegenes Krankenhaus »über-
Verweildauer vor Ort möglichst kurz gehalten wer- springen«)
den. Ein Konzept ist es, die Lage aus Sicht eines At- – Strukturen (CCP/PA) gerade nicht dort
tentäters zu betrachten: einerseits ist zu überlegen, einrichten, wo es naheliegend wäre (da-
wo sich offensichtliche Plätze zur Zusammenzie- bei jedoch wiederum nicht den (Trage-)
hung von Kräften anbieten und ob es »lohnende Kräftebedarf unterschätzen, den ein
Ziele« in der Umgebung gibt, andererseits eröffnen
11 sich vielleicht erst durch den ersten Anschlag Mög-
größerer Abstand mit sich bringt!)
– Dislozierung und Absicherung aller
lichkeiten für einen Sekundäranschlag. So kann es kritischen Strukturen (Einsatzleitung,
beispielsweise aufgrund der Bebauung vor einer an- PA/CCP etc.)
gegriffenen Polizeistation nur eine einzige freie Flä- 5 Alternative An-/Abfahrtwege (»kleinere
che zum Auffahren von Fahrzeugen geben – diese Seitenstraßen zum Marktplatz«)
sollte dann möglichst nicht oder nur durch einzelne 5 Strukturen, die in Richtung eines möglichen
Kräfte so kurz wie unbedingt erforderlich genutzt Zieles Schutz bieten würden (Hausecke,
werden. Senke – letztere nicht bei CBRN-Gefahr)?
Ein anderes Beispiel: der Bereich vor einem Mi-
nisterium kann nur nach sorgfältigen Kontrollen
befahren werden. Nach einem ersten Anschlag
durch einen Selbstmordattentäter mit Sprengstoff- 11.2 Triage
gürtel werden jetzt Rettungsmittel ohne Kontrollen
in den betroffenen Bereich durchgelassen, von > Sichtung: Die ärztliche Beurteilung und Ent-
denen eines mit Sprengstoff beladen sein kann. Als scheidung über die Priorität der Versorgung
Konsequenz aus solchen Erfahrungen werden in von Patienten hinsichtlich Art und Umfang
Israel z. B. auch Ambulanzen mit Sonderrechten im der Behandlung sowie über Zeitpunkt, Art
Zufahrtsbereich zu Krankenhäusern kurz kontrol- und Ziel des Transportes (DIN 13050 3.52) [2].
liert. 2010 erfolgte in Pakistan in zwei Fällen der
Zweitanschlag im Eingangsbereich der Notaufnah- 4 Sichtung dient der Erkennung und Erfassung
me des nächstgelegenen Krankenhauses. Letztlich der Art und Schwere der Verwundung und
wird es immer einfacher sein, einen Anschlag zu bildet die Grundlage für Behandlungsdring-
begehen, als ihn zu verhindern, aber mit den be- lichkeit und Transportpriorität.
11.2 · Triage
231 11
4 Ihr Ziel ist die Organisation der bestmöglichen unbedingt benötigen, verursacht auch sie eine
Versorgung für viele Verletzte, die Versorgung schlechtere Gesamtversorgung [19].
des Einzelnen tritt demgegenüber in den Hin- Die Festlegung dieser Prioritäten basiert dabei
tergrund. sonst ausschließlich auf dem medizinischen Zu-
4 Es geht primär nicht um die Entscheidung ob, stand des Verwundeten, andere individuelle Fakto-
sondern nur um die Reihenfolge, in der be- ren spielen in der Theorie keine Rolle. In der Praxis
handelt und transportiert wird. Sie muss daher stellt sich dies nicht ganz so einfach dar. Beim ein-
immer wieder wiederholt werden, um sie zu deutig nicht rettbaren Kind oder der vergleichen-
präzisieren und den Veränderung des Pati- den Sichtung des schwer verletzten Täters/gegneri-
enten und der Situation anzupassen. schen Verwundeten gegenüber einem nur leicht
verletzten Kollegen oder Kameraden wird diese
Sie muss zweifelsfrei nach jeder Verlagerung des Entscheidung wohl noch »regelgerecht« ausfallen.
Patienten bzw. beim Eintreffen in einem neuen Ver- Mit der Diskussion über Zweifelsfälle könnte man
sorgungsbereich oder -einrichtung, aber auch in jedoch medizinethische Bücher füllen. Der aus-
regelmäßigen Abständen (zustandsabhängig ggf. schließlich für die Katastrophensituation entwickel-
alle paar Minuten) sowie nach Maßnahmen wieder- te SAVE-Algorithmus (»Secondary Assessment of
holt werden. Dies setzt sich bis in die aufnehmende Victim Endpoint«) bezieht z. B. Vorerkrankungen
Einrichtung bzw. zur endgültigen Versorgung fort. und Alter in die Triage-Entscheidungen mit ein
Im Extremfall kann bei unveränderter Ressourcen- [20]. Die Triage berücksichtigte im militärischen
knappheit in einer MASCAL-Situation noch auf Kontext noch Erwägungen wie die potenzielle
dem Operationstisch die Entscheidung gefällt Kampffähigkeit, was tatsächlich zur bevorzugten
werden, einen Eingriff abzubrechen (»on-the-table Behandlung von Leichtverletzten führte. Dies ist
triage«) [18]. jedoch auch beim Militär mehr als 150 Jahren her.
Triage hängt damit neben den vorhandenen Bereits das Sichtungsprinzip des russischen Militär-
Ressourcen von der Umgebung, den voraussicht- chirurgen Pirogow (1810–1881) enthielt in ähnli-
lichen Versorgungs- und Transportzeiten (den cher Form alle heutigen Kategorien und staffelte
»medical timelines« – NATO ACO Directive 83-1) nach der Dringlichkeit unter Berücksichtigung der
und damit auch dem Auftrag ab [7, 18]. (»Umge- Ressourcen. Die seit der Konsensuskonferenz 2002
bung« kann z. B. bedeuten, dass der Verwundete [21] in Deutschland gültigen Sichtungskategori-
aufgrund der Feindlage nicht erreicht werden kann, en (SK) basieren auf der NATO-Klassifikation (T).
eingeklemmt oder kontaminiert ist.) Es gibt in Deutschland die Argumentation, dass
Es geht um die optimierte Nutzung des vorhan- man die Begriffe Sichtung und Triage (als ethisch
denen Personals, Materials und der Kapazitäten in bedenkliche, »historisch-militärische Variante«)
Transportmitteln und aufnehmenden Einrichtun- differenziert einsetzen sollte [9]. Dies ist jedoch bei
gen. Nur wenn die Einstufung in eine Dringlichkeits- zunehmender Internationalisierung mit Über-
stufe möglichst präzise erfolgt, können die vorhande- nahme englischer Begriffe zur Standardisierung
nen Mittel tatsächlich rechtzeitig den Patienten zuge- und Verwendung des Begriffes Triage sowohl im
ordnet werden, die sie am dringendsten benötigen englischen als auch im französischen Sprachraum
und die am meisten davon profitieren werden. Un- weder praktikabel noch zielführend.
tertriage liegt vor, wenn z. B. ein dringend behand-
lungsbedürftiger Patient in die Kategorie spätere Be-
handlung eingestuft wird. Dies wird den einzelnen 11.2.1 Arten
Patienten möglicherweise unmittelbar schädigen, da
er z. B. nicht rechtzeitig den Operationstisch erreicht. Der Begriff Sichtung trifft streng genommen auf
Übertriage bedeutet, dass der Schweregrad einer Ver- jede Festlegung einer Behandlungsreihenfolge zu,
letzung überschätzt wird. Für den betroffenen Ver- es bedarf also nicht einmal eines »echten« MASCAL.
wundeten ist dies eher ein Vorteil. Da sie aber knappe Es gibt jedoch zwei grundlegend unterschiedliche
Ressourcen auf Verwundete verlagert, die sie nicht Triage-Situationen:
232 Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV

. Tab. 11.3 Sichtungskategorien. (Ergänzt nach [17]. Ergebnis der Konsensuskonferenz, Ahrweiler 2002 und NATO
AJP 4.10, 2006 [3])

Sichtungs- Beschreibung Konsequenz Beispiele (aus [3, 26])


kategorie

SK I/T1 Akute, vitale Bedrohung Sofortbehandlung vor Akute Atemnot; manifester Schock;
»immediate treatment« Ort (evtl. Frühtransport) Bewusstlosigkeit

SK II/T2 Schwerverletzt/schwer Aufgeschobene Behand- Frakturen großer Röhrenknochen;


erkrankt lungsdringlichkeit ausgedehnte Weichteilverletzung,
»delayed treatment« (keine (Versorgung nach T1) Verbrennung, Rumpftrauma ohne
akute, vitale Bedrohung) Schock

SK III/T3 Leichtverletzt/leicht erkrankt Spätere (ambulante) Periphere, geschlossene Frakturen ohne


»minimal treatment« Behandlung (Evac aus reponierte Luxation; geringere Weich-
Gefahrenzone) teilverletzung ohne Verbrennung

SK IV/T4 (Derzeit) ohne Überleben- Betreuende (abwar- (Ressourcenabhängig!) Ganzkörperver-


schance tende) Behandlung brennung, protrahierter, schwerster
»expectant treatment« Schock bei offenem Bauchtrauma,
offenes SHT mit Austritt
Tote Kennzeichnung

4 Viele Verletzte, jedoch ausreichende Ressour- sieren, ermöglicht einen guten Überblick [24]: Es
cen: Anzahl und Art der Verwundeten über- können physiologische (Erhebung der Vitalwerte, s.
steigen nicht die Möglichkeiten der vorhan- unten) oder anatomische Befunde (z. B. definierte
denen Kräfte (MANV) o schnellstmöglich Verletzungen wie Rippenserienfraktur, penetrie-
11 Verletzungen und Behandlungsbedarf ermit- rende Rumpfverletzung, Beckenfraktur) erhoben
teln und bestgeeignete Ressourcen zuord- sowie der Unfallmechanismus (MOI) als Hinweis
nen. Es wird bei dieser Lage insbesondere auf den Schweregrad betrachtet werden (z. B. Nähe
keine Sichtungskategorie IV genutzt. zum Explosionsort, Sturz aus großer Höhe). Außer-
4 Anzahl und Art der Verwundeten übersteigen dem werden in »step four« spezielle Überlegungen
die Möglichkeiten der vorhandenen Kräfte o hinsichtlich etwaiger Besonderheiten des Patienten
nur unzureichende Ressourcen (Großscha- berücksichtigt (Verbrennungen, Schädel-Hirn-
den/Katastrophe): Verteilung nach dem »grea- Trauma, gravierende Vorerkrankungen). Natürlich
test good for the greatest number«-Prinzip. Die gibt es auch Kombinationen dieser Möglichkeiten
SK IV ist zulässig und sinnvoll (. Tab. 11.3). und Verfahren, die durch Scoring-Systeme eine prä-
zisere Vergleichbarkeit ermöglichen.
Häufig gibt es unterschiedliche Systeme für die
Sichtung hinsichtlich Behandlungs- und Transport- Vorsichtung
priorität (s. unten). In jedem Fall werden sich Grund Es gibt zahlreiche Publikationen und Diskussionen
und Ziel der Sichtung abhängig von ihrem Ort än- zur Qualifikation desjenigen, der die Sichtung
dern (. Tab. 11.1). durchführt. Sicher werden anatomische oder MOI-
Des Weiteren können unterschiedliche Parame- basierte Sichtungsverfahren mit zunehmender Er-
ter erhoben und Verfahren genutzt werden, um die fahrung und Qualifikation präziser werden [22].
Triage den jeweiligen Bedürfnissen bzw. Zielsetzun- Das entscheidende Kriterium ist jedoch insbeson-
gen anzupassen. Das »4-Stufen-Modell« des »field dere bei taktischen Lagen die Anwesenheit: wenn
triage decision scheme«, das vom American College z. B. nur Polizei- oder Feuerwehrkräfte innerhalb
of Surgeons entwickelt wurde, um die Auswahl der des inneren Ringes oder in einem atemgerätepflich-
richtigen Zielklinik zu verbessern und zu standardi- tigen Bereich eingesetzt werden können, werden
11.2 · Triage
233 11
entweder diese eine Priorisierung der Reihenfolge ausreichender Personalstärke und Zeit u. U. präzisere
der Rettung aus dem Gefahrenbereich vornehmen »secondary triage instruments« (s. unten) zur An-
oder sie erfolgt ungezielt. Studien hinsichtlich der wendung kommen. Ziel ist es, entweder die Entschei-
Ausbildung nichtärztlicher Kräfte einschließlich dung über die Verteilung unzureichenden Transpor-
Polizeibeamten aus Kent zeigten, dass durch eine traumes auf einer möglichst aussagekräftigen Basis
kurze und zielgerichtete Ausbildung Über- und Un- zu treffen oder bei ausreichender Transportkapazität
tertriage deutlich reduziert werden können [23]. die bestgeeignete Zielklinik zuzuweisen.
Die DIN 13050 [2] definiert Sichtung als ärztliche
Maßnahme. Die erste, hinsichtlich der Prognose
wahrscheinlich wichtigste Einstufung des Patienten 11.2.2 Kategorien
wird also Vorsichtung (auch Pre-Triage oder Ber-
gungssichtung) genannt. In der Stellungnahme der In der NATO gibt es unterschiedliche Systeme für
Bundesärztekammer vom 24.04.2009 wird die Not- die Sichtung hinsichtlich Behandlungs- und Trans-
wendigkeit dieser ersten, nichtärztlichen Zustands- portpriorität. In Deutschland wird Letztere erst
beurteilung betont und der Begriff definiert [25]. zeitlich gestaffelt bzw. nach erfolgter Sichtung und
Die Lage ist zu Beginn eines Ereignisses bzw. in Erstbehandlung durch Ergänzung der SK durch
einer Gefahrenzone chaotisch und komplex. Daher einen Kennbuchstaben festgelegt:
ist es hier unbedingt erforderlich, ein einfaches, a. hohe oder
schnelles, gut reproduzierbares und damit stress- b. niedrige Transportpriorität
sicheres Verfahren einzusetzen. Ziel ist es, die Pa-
tienten zu kennzeichnen, nach Priorität schnellst- Die ständige Wiederholung der Sichtung ist unver-
möglich in Sicherheit zu bringen und unbedingt zichtbar, insbesondere wenn es um die Zuteilung
notwendige, aber sehr schnell durchführbare Maß- einer kritischen Ressource, nämlich den Transport-
nahmen durchzuführen (CuF, primär Tourniquet raum geht.
und stabile Seitenlage oder die Nutzung von Hel-
fern, z. B. um direkten Druck auf eine Wunde aus- Behandlungspriorität
zuüben); Zeitbedarf 30 s bis 1 min. In der Praxis lassen sich die Patienten der Katego-
rie 1 – sofortige oder ganz dringende Behandlung
Primäre (ärztliche) Sichtung mit höchster Priorität – und der Kategorie 3 – »hat
Ihr Ziel ist es, die Behandlungs- oder ggf. Frühtrans- noch Zeit« – leicht identifizieren (. Tab. 11.3). Die
portpriorität zu ermitteln, um personelle und Patienten »dazwischen« haben eine verzögerte Be-
materielle Ressourcen zuzuordnen. Abhängig von handlungspriorität (SK II).
der Lage (Patientenanfall und Zeitdruck) und den Die SK IV oder T4 wird nur bei massiv einge-
gültigen SOP/Leitlinien wird hier erneut eine aus- schränkten Ressourcen verwendet. Dies sollte im
schließlich physiologische Triage (Schritt 1 des zivilen Bereich eigentlich nur in einer Katastrophe
mSTART; s. unten) oder eine kurze, orientierende der Fall sein. Das genaue Verfahren und die Diskus-
Untersuchung des Verwundeten durchgeführt (»in- sion über die ethische Dimension könnten ein eige-
itial assessment«) (bis 3 min). nes Buch füllen. In militärischen Einsätzen kann
> Es müssen die Patienten herausgefunden
eine Ressourcenknappheit leider mit reellem Risiko
werden, denen mit einer sofortigen Behand-
auftreten. In diesem Fall kann ihre sorgfältig ab-
lung oder nur mit einem schnellstmöglichen
gewogene Verwendung anderen verwundeten Ka-
Transport effektiv geholfen werden kann.
meraden das Leben retten. In Einsätzen wird der
Medic/Sanitäter den Verwundeten im Regelfall per-
sönlich kennen. Die Angst vor einer zu schnellen
Sekundäre Sichtung (Transportpriorität/ Einstufung in diese Kategorie ist daher sicher unbe-
Scoring) gründet.
Die sekundäre Triage wird in der Regel spätestens Unglücklicherweise ist »Aktion T4« eine Be-
als Transportsichtung durchgeführt. Hier sollten bei zeichnung, die erst in der Nachkriegszeit für die
234 Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV

über 200.000 Euthanasiemorde der Nationalsozia- Abhängig von den Umgebungsbedingungen


listen etabliert wurde (die Bürozentrale für die »Ak- (unübersichtliches Gelände oder Nacht) ist die Er-
tion« lag in der Tiergartenstraße 4 in Berlin). Die kennbarkeit auf Entfernung unerlässlich, in einer
NATO-Kategorien haben sich jedoch weitgehend anderen Lage möglicherweise gefährlich. Eine gute
durchgesetzt und auch den Kategorien SK I bis IV Option kann die Kombination von Systemen sein:
der Konsensuskonferenz in Ahrweiler 2002 werden Flatterband kann ebenso wie Knicklichter oder
T1–4 zugeordnet [9]. (Bei den britischen Land- Triage-Lichtsysteme als sinnvolle Ergänzung oder
streitkräften wurden bis vor wenigen Jahren noch für die Vorsichtung genutzt werden. Im Einsatz hat
die Kategorien P1–3 analog zu T1–3 und nicht als sich als Grundlage die TREMA-Verwundetenkarte
Transportkategorien verwendet. »P1 Hold« ent- bewährt (. Abb. 9.57).
sprach »T4 Expectant«.)
Transportpriorität
Tipp
Im Einsatz sollte bei unwegsamem Gelände
oder einer Bedrohungslage auf dem Landmarsch
Begriffe vermeiden, sondern »T1–4«/»SK I–IV«
die Evakuierung auf dem Luftweg die Regel sein
oder »Rot« – »Gelb« – »Grün«/»Red« – »Yellow«
(7 Kap. 4). In einem größeren Einsatzraum kann es
– »Green« nutzen.
zu zahlreichen Anforderungen kommen, die koor-
diniert werden müssen. Außerdem ist die Übermit-
Die Verwendung der Ampel-Farbkennzeichnung ist telung einer Dringlichkeit unverzichtbar, wenn eine
weltweit nahezu einheitlich, die Kategorie Expectant Bedrohungslage vorliegt, um das potenzielle Risiko
wird teilweise auch in Katastrophen nicht offiziell des Einsatzes gegenüber der Gefährdung des Ver-
abgebildet oder kann abweichend mit den Farben wundeten abwägen zu können. Die schnelle Fest-
grau, schwarz oder weiß gekennzeichnet werden. legung einer Transportpriorität hat also als Anfor-
Die Bezeichnungen sind weniger verlässlich gleich- derungsgrundlage eine hohe Bedeutung. Die Verga-
bedeutend. So wird in Großbritannien gelb mit »ur- be von Behandlungsprioritäten steht demgegenüber
11 gent« bezeichnet und grün steht für »delayed«. Da- bei einem überschaubaren MASCAL im Hinter-
mit entspricht dort »delayed« dem NATO-»minimal« grund, sodass im »militärischen Arbeitsalltag«
bzw. dem deutschen »spätere Behandlung« [10]. primär die Evakuierungsprioritäten verwendet
> Hinsichtlich kritischer Blutungen sollte eine
werden.
unmittelbare Therapie erfolgen, erst danach > 5 A: Urgent (P1): der Verwundete muss
Einstufung abhängig vom Schweregrad des einen Operationssaal innerhalb von
Schocks (mSTART) in T1 oder T2. 90 min erreichen
5 B: Priority (P2): Erreichen einer Behand-
Für Kennzeichnung und Dokumentation der Sich- lungseinrichtung innerhalb von 4 h
tungskategorien gibt es zahlreiche Möglichkeiten 5 C: Routine (P3): innerhalb von 24 h [27]
und Systeme. Anforderungen an Form (wie z. B.
eindeutige Patientenkennzeichnung) und Umfang Diese Einstufung dient also in erster Linie dazu, den
der erfassten Daten (z. B. Name oder Nummer, Bedarf an benötigten Transportmitteln (Art und
Diagnose) können variieren [21]. Dabei muss man Anzahl) zu melden (. Tab. 11.4). Unter Umständen
sich über den primären Verwendungszweck und die muss sie nach genauerer Untersuchung oder Lage-
Zielsetzung klar werden. Vor allem muss klar sein, änderung angepasst und neu übermittelt werden.
ob die Nutzung ausschließlich für den MANV oder Die endgültige Reihenfolge der Evakuierung wird
größere Ereignisse vorgesehen ist oder ob auch oder kurz vor Eintreffen der ersten Transportmittel fest-
primär die Behandlungsdokumentation ermöglicht gelegt. Ein Überblick muss dann soweit vorhanden
werden soll. Mindestanforderungen sind die ein- sein, dass die dringendsten Fälle den Einsatzort tat-
fache Verständlichkeit, die Unterstützung des Sich- sächlich als erste Verlassen. Im Regelfall sollten sie
tungs- und Behandlungsprozesses sowie Stabilität als letzte in das Transportmittel verbracht werden,
und sichere Befestigung am Patienten. damit sie nach Landung mit höchster Priorität in die
11.2 · Triage
235 11

. Tab. 11.4 Originalauszug aus »Emergency AirMedEvac Request (»9-Liner«) »Line 3«. NATO STANAG 2087 (2008) [27]

3 NUMBER OF PATIENTS/PRECEDENCE (3) A …... B …… C

A – URGENT; to be at hospital facility (R2 or R3) B – PRIORITY; to be at hospital facility (R2 or R3) within 4
within 90 minutes of first notification (P1) hours of notification by »9-line« (P2)

C – ROUTINE; to be at hospital facility R2/R3


within 24 hours of notification by »9-line« (P3)

Behandlungseinrichtung gebracht werden können. sind zwar entscheidend für die erfolgreiche Imple-
Auf der Übersichtsdokumentation sollte die Evaku- mentierung eines Systems, sie erlauben jedoch sicher
ierungsreihenfolge anhand von Name oder Identifi- keine eindeutig auf einen realen MASCAL übertrag-
kationsnummer des Patienten bereits vorbereitet baren Aussagen. Der entscheidende Vorteil einer
werden. Nach kurzer Rücksprache mit den jeweils physiologischen Triage ist eine schnelle (<30‘‘),
zugeordneten Kräften kann sie dann mit der richti- leicht reproduzierbare Erhebung des Ist-Zustandes
gen Priorität erfolgen. Ein weiteres Hilfsmittel wäre des Patienten [30]. Es ist eben nicht ausschlag-
hier die MANV-Koordinationskarte (. Abb. 11.4). gebend, wie viele Wunden ein Verwundeter hat,
sondern wie schnell diese versorgt wurden bzw. wie
viel Blut er verloren hat. Ebenso kann ein Patient mit
11.2.3 Algorithmen einem schweren, primären Explosionstrauma (»blast
lung«) äußerlich völlig unverletzt aussehen. Damit
Triage muss schnell, dynamisch, möglichst objektiv besteht bei einer anatomischen Triage ein größeres
und damit reproduzierbar sein. Obwohl sie unter Risiko seinen Schweregrad zu unterschätzen, als
anderen Rahmenbedingungen leicht veränderte wenn als maßgebliches Kriterium seine erhöhte
Ziele verfolgt (s. oben), sollte sie einem leicht ver- Atemfrequenz gewertet wird. Natürlich macht spä-
ständlichen und erinnerbarem Schema folgen. Ein ter (zusätzlich) die anatomische Triage Sinn, gerade
MASCAL wird immer ein belastendes Ereignis sein um zwingende Frühtransporte zu identifizieren.
und unter hohem Zeitdruck unterschiedlichste Der START-Algorithmus (»simple triage and
Leistungen erfordern. Grundvoraussetzung für die rapid treatment«) wird in den USA, der Triage
erfolgreiche Bewältigung ist die zielgerichtete Zu- SIEVE v. a. in Großbritannien verwendet. Letzterer
sammenarbeit bei möglichst geringem Abstim- beinhaltet die Prüfung des Bewusstseinszustandes
mungsbedarf. Diesem Zweck dient ein einheitli- nur durch die Ableitung der gehfähigen Verwunde-
ches, schematisches Vorgehen auf der Basis eines ten. Eine bewusstlose Person mit einer Atemfre-
Algorithmus. quenz zwischen 10 und 30 und einem Puls unter
120 wird »Priority 2« (gelb) gesichtet. Außerdem
Physiologiebasierte Algorithmen wird die Durchführung jeglicher Maßnahmen auf-
(mSTART/tacSTART – BASIC – SIEVE – grund der dadurch bedingten Verzögerung der
CareFlight) Sichtung abgelehnt [31].
Die Algorithmen mit der größten Verbreitung basie- »Care Flight« wiederum kommt aus Australien
ren auf physiologischen Befunden (Vitalwerten). Sie und prüft die gleichen Parameter. Die Fähigkeit
haben sich teilweise parallel in verschiedenen Re- einfache Befehle zu befolgen wird jedoch als erster
gionen entwickelt oder streben an, ein zugrundelie- Vitalparameter geprüft. Dadurch wird das Befolgen
gendes System zu verbessern. Die Unterschiede zwi- des Algorithmus komplexer.
schen ihnen sind minimal und es existieren wenig In Deutschland setzt sich präklinisch wiederum
Studien, die eingeschränkt Aussagen über eine ob- der mSTART zunehmend durch, der durch die
jektive Überlegenheit eines Systems ermöglichen Ludwig-Maximilian-Universität mit der Berufs-
[28, 29]. Übungen mit möglichst allen Beteiligten feuerwehr München entwickelt wurde. Basierend
236 Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV

auf START wurden geringfügige Modifikationen gesicherten Gebäude zu evakuieren möglicherweise


des »physiologischen Kerns« (Radialispuls statt Na- gefällt werden, bevor medizinische Fachberufe das
gelbettprobe) vorgenommen und zusätzlich Art Gebäude überhaupt betreten können. Daher ist es
und Umfang der Notfallbehandlung festgelegt. Au- wichtiger, auch qualifizierte Erstversorger zu be-
ßerdem wurden Zeitpunkt und Konsequenz der fähigen, eine Vorsichtung durchzuführen, als auf
zweiten Sichtung (Notfalltransport?) sowie kriti- eher seltene Eventualfälle zu reagieren [23]. Dies gilt
sche Befunde zur Erkennung von SK-II-Patienten analog für die Reaktion auf eine (zweifelsfrei fest-
definiert. Die unmittelbare Blutstillung ist als Reak- stellbare) fehlende Atmung nach Freimachen der
tion auf eine spritzende Blutung im Algorithmus Atemwege: ein geschulter Ersthelfer müsste jetzt mit
abgebildet, folgt jedoch nach der Prüfung von A Reanimationsmaßnahmen beginnen, die sowohl
und B [32]. In Anpassung an die Situation im Ein- mit einer möglichen Gefährdung verbunden sein
satz [33] und die TCCC-Leitlinien wurde der Algo- können als auch bei einer, in taktischen Lagen noch
rithmus von den Autoren durch die frühe Reaktion wahrscheinlicheren, Hypovolämie weniger erfolg-
auf die kritische Blutung (<C>) modifiziert und versprechend sind. Außerdem muss zuerst die Sich-
weitere Erläuterungen ergänzt. Um Verwechslun- tung aller Verwundeten abgeschlossen werden.
gen zu vermeiden wurde der Begriff »tacSTART« Auch aufgrund der anderen Zeitachse bleibt hier die
gewählt (. Abb. 11.2). Kategorisierung »schwarz« [35].
> 5 Ableitung der »walking wounded« (Ziel
Es gibt Ansätze, den Zeitbedarf für die erste
nennen!) = »Grüne in Sicherheit schicken!«
Triage weiter zu reduzieren. Ein Beispiel ist der
5 Identifikation der »critically injured« = Field-Triage-Score (FTS), bei dem ausschließlich
»Rote finden!«
das Vorhandenseins des Radialispulses und eine
5 Behandlung/Identifikation Soforttrans- Einschränkung der motorischen Reaktion des Glas-
porte (= Früh-) [34]
gow Coma Scales (GCS-M) geprüft werden [36].

In Reaktion auf einen Reizgasanschlag in München Vorgehensorientierte Systeme


11 im November 2011 wurde der mSTART-Algorith- (SALT/MASS)
mus weiter modifiziert (»mSTART Trauma und Zwei Systeme wurden entwickelt, um die organisa-
Intox«), um die Kontamination bei CBRN-Lagen torische Vorgehensweise bei der Evaluation in den
und spezifische Symptome einer Intoxikation zu Algorithmus mit einzubinden (. Tab. 11.5). Beide
berücksichtigen. Auf die Prüfung der Orientiertheit Systeme beschreiben die gleichen Verfahren als
(»D«) folgt unter »E« die Prüfung, ob ein Inhala- sinnvoll, verwenden jedoch andere Begriffe für die
tionstrauma mit Stridor vorliegt. Außerdem ist ein jeweilige Merkhilfe. MASS ist seit 2003 Bestandteil
Patient auch bei fehlender Atmung nach dem Frei- der Kurse des National Disaster Life Support Trai-
machen der Atemwege nicht mehr »schwarz«, ning Programs in den USA. Dahinter stehen vier
sondern bleibt trotzdem »rot«. Diese Änderungen medizinische Universitäten und die American
werden in den tacSTART nicht übernommen: eine Medical Association [37]. Eine zweite Initiative hat
Reizgasinhalation sollte sich in schwerwiegenden in den USA 2008 nach Untersuchung der anderen
Fällen in einer »B-Symptomatik« mit einer über vorhandenen Systeme mit einem Kommitee aus
30 erhöhten Atemfrequenz niederschlagen. Außer- Vertretern von acht großen Fachgesellschaften den
dem wird sie in der späteren Prüfung der kritischen SALT-Algorithmus als Entwurf für eine Nationale
Befunde (. Abb. 11.2) berücksichtigt. Die Vermitt- Leitlinie entwickelt [38].
lung des mSTART-Algorithmus würde jedoch di- Von der Deutschen Gesellschaft für Katastro-
daktisch deutlich schwieriger werden, was der in der phenmedizin (DGKM) und dem Bundesamt für
taktischen Medizin wichtigen, möglichst breiten Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK)
Schulung eines Vorsichtungsalgorithmus entgegen wurde 2014 gezielt ein »Vorsichtungssystem« ent-
laufen würde. wickelt [39]. PRIOR (Primäres Ranking zur Initialen
Als Beispiel muss die Entscheidung, einen insta- Orientierung im Rettungsdienst) ist ebenfalls an das
bilen T1-Patienten frühzeitig aus einem noch nicht ABCDE-Schema »angelehnt«, erfasst jedoch keine
11.2 · Triage
237 11

. Abb. 11.2 tacSTART-Algorithmus, basierend auf dem mSTART-Algorithmus. (Adaptiert nach [32]). Algorithmus zur Sichtung
und Erstversorgung bei MASCAL/MANV nach tacSTART. * Der »9-Liner« (7 Kap. 4), insbesondere »Line 3«, sollte schnellstmög-
lich abgesetzt und ggf. bei der späteren Vervollständigung um »MIST« (MOI, »injury sustained, symptoms and vital signs, treat-
ment«) ergänzt werden. CAS »close air support«; PECC »patient evacuation coordination center«; CCP »casualty collection point«
238 Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV

. Tab. 11.5 Vorgehensorientierte Triage-Algorithmen

MASS Move (»walk-wave-remaining«) Assess (& LSI!) Sort (ID-Me) Send

SALT Sort (»global sorting«) Assess LSI Transport

Erklärung Gehfähige ableiten, andere zum Weitere Sichtung/Unter- Lebensrettende Nach Priorität ins
»Winken« auffordern suchung der T1-Patienten Maßnahmen Krankenhaus

physiologischen Parameter, sondern »Zustände« Secondary Triage Instruments


bzw. Symptome wie »Tachypnoe«, aber auch patho- (SORT – SAVE)
logische Atemgeräusche wie »Rasseln« und »über- Triage SORT ist als ein Verfahren entwickelt wor-
mäßigen Husten«. Außerdem wird unter »E« die Frage den, um die Triage im Bereich der »casualty clearing
nach starken Schmerzen am Körperstamm gestellt. station«, des BHP bzw. vor der Evakuierung zu prä-
Damit versucht das System einerseits auch erkrankte zisieren. Es wird ein Score aus GCS, Atemfrequenz
Betroffene (z. B. einen Herzinfarkt) oder CBRN-Ein- und Blutdruck gebildet, der dann die Zuweisung zu
wirkungen (Reizgasinhalation, analog zu mSTART T1–3 bedingt [40].
Intox) zu erfassen und ist andererseits auf die Kennt- SAVE ist, wie bereits oben dargestellt, als sekun-
nisse medizinischer Fachberufe angewiesen und aus- därer Algorithmus ausschließlich für Katastrophen
gerichtet. Für das praktische Vorgehen gerade im mit anhaltendem Ressourcenmangel entwickelt
taktischen Bereich sind auch die weiteren Abwei- worden und baut auf START als primärem System
chungen zum m- bzw. tacSTART nachteilig: Die Ab- auf [16].
frage der Gehfähigkeit erfolgt erst im letzten Schritt
(um noch gehfähige, aber z. B. schwer erkrankte Pa-
tienten frühzeitiger zu erkennen). »Grüne« werden 11.2.4 Hinweise zum praktischen
11 damit jedoch nicht mehr »zusammengefasst« in Si- Vorgehen bei Triage
cherheit geschickt, was gerade bei Bedrohungslagen und Erstmaßnahmen
die größere Bedeutung hat. Natürlich sollten sie dann
nicht aus den Augen verloren werden! (7 Abschn. 4 Nach Ableitung T3 evtl. »Wave-your-hand-
11.3). Auf die Kategorie T4/«Blau« wird »bewusst Verfahren«: wer nicht adäquat motorisch
verzichtet«, um zu verhindern, »dass Patienten … reagiert, hat Priorität. Lageabhängig zügig von
Behandlung vorenthalten wird.« Das Problem ist Vwu zu Vwu, alle Vwu (auf-)suchen.
eben, dass bei stark eingeschränkten Ressourcen die 4 Wenn ein Vitalparameter bei mSTART die
Nicht-Nutzung der SK4 anderen (T1-)Patienten die Einstufung T1 zur Folge hat, wird nicht weiter
Behandlung vorenthält, die von dieser – wahrschein- untersucht. Es gibt keine »dunkelroten«
lich im Gegensatz zu T4 – profitieren könnten. Patienten. Evtl. wird das Ergebnis auch
Ein weiterer – massiver – Nachteil von PRIOR ist schneller erkannt, z. B. ist ein hechelnder
der Verlust der »gemeinsamen Sprache«, die sich Patient (= AF>30) offensichtlich »rot«. Ein
durch die derzeit zunehmende Verbreitung von eingetrübter oder bewusstloser Patient kann
mSTART (und tacSTART weicht im »physiologi- bereits bei der Annäherung/Ansprache (AVPU
schen Kern« nicht ab) etabliert. Werden unterschied- bei »Impression«) klar als »rot« eingestuft
liche Systeme an einer Einsatzstelle genutzt, ist nicht werden.
nur die Übergabe von Patienten schwieriger, sondern 4 Nicht mit (längeren) Maßnahmen aufhalten
für den Koordinator (LNA) z. B. unterschiedlicher (lassen), der notwendige bzw. »zulässige« Be-
Patientenablagen ist nicht mehr gewährleistet, dass handlungsumfang ist definiert (CuF bzw.
alle Patienten nach den gleichen Kriterien gesichtet Tourniquet und stabile Seitenlage, später
und eingestuft wurden. Die Ergebnisse einer TFC bzw. »Checkliste Notfallmaßnahmen«,
(Übungs-)Evaluation von PRIOR stehen noch aus. . Abb. 11.2). Sicher keine Reanimation.
11.3 · Vorgehensweise bei MASCAL/MANV: SICK + SICK2
239 11
5 Abhängig vom Abstand der Patienten 11.3 Vorgehensweise bei MASCAL/
<C>ABC(DE) parallel abarbeiten! (d. h. z. B. MANV: SICK + SICK2
Vwu1 und 2 <C>, dann 2 und 3 A, dann
1–3 C, dann bei allen Wärmeerhalt). Die »ersten Schritte an der Einsatzstelle« nach dem
5 »Geographische Triage« veranlassen, falls SICK-Schema wurden in 7 Kap. 8.4 im Detail darge-
möglich (7 Abschn. 11.3) [41]. stellt. Die Vorgehensweise bei einem Massenanfall
4 Besonderheiten bei Explosionstraumen beach- unterscheidet sich im Grundsatz nicht. Sobald er-
ten (Umgebung etc.; 7 Kap. 13). kannt wird, dass es sich um ein größeres Ereignis
5 Evtl. Triage vom Epizentrum (Ort der Ex- handelt, werden die einzelnen Schritte jedoch »ih-
plosion) nach außen. (Tote o T4 o T1). ren individualmedizinischen Charakter verlieren«.
5 Erkennung primärer Explosionstraumen ist Der Fokus von SICK muss sich auf die Lagefeststel-
schwierig [7]/multiple Verletzungen! lung verschieben. Zur strukturierten Bewältigung
5 Triage mit Otoskop (Trommelfellverletzung des MASCAL werden dann zwei weitere Phasen mit
als Indikator) ist nicht zuverlässig [42]. dem Schwerpunkt auf der ORGanisation bzw. der
5 »Jeder der mich hören kann, geht nach …« MEDizinischen Versorgung abgearbeitet.
u. U. nach Explosion problematisch.
4 (Ggf. nachfolgende) andere Helfer (Leichtver- SICK (reguläre Einsatzstelle, Schwerpunkt
wundete) einteilen, kurze Anweisungen (Ver- Lage = c) plus SICK2 (MASCAL = d & e)
bleib beim anvertrauten Vwu! [5]). Verbindung Generelle Vorgehensweise (<MANV):
5 
c
halten! [3]. Überblick mit Abstand (»Scene«/Impres-
4 Verwundete kurz informieren, dass weitere sion) o beim MASCAL steht jedoch »S«
Hilfe unterwegs ist und dass das maximal (Scene Safety/Überblick) – die Lagefeststel-
Mögliche getan wird. lung – im Vordergrund
4 Sichtungskategorie sicher zuordnen (Karte am 5 
d Lage in den Griff kriegen/keine weiteren

Patienten befestigen; wasserfester Stift auf der »Verluste« (warnen/absperren) o Patienten-
Stirn ist eine bewährte (Not-)Lösung [14]), eine fluss (aus dem Gefahrenbereich) ermögli-
vorher geplante Übersicht führen (. Abb. 11.4). chen! o Struktur/ORGanisation
4 »ID-me« ist ein Mnemonic, um sich an die 5 
e Triage/Verwundetenversorgung/

Notwendigkeit und Reihenfolge (»immediate, Transport o MEDizinische Versorgung
delayed, minimal und expectant«) zu erinnern.
4 Transport sollte als Teil der Behandlung be- o »Stufe« d und e werden gleichzeitig ab-
trachtet werden: wenn Ressourcen für den gearbeitet, aber im Zweifel ist die Organisation
Frühtransport zur Verfügung stehen, sollten entscheidend und hat Priorität!
sie genutzt werden [43].
4 Bei Sichtung und Erstbehandlung nicht verges-
sen, die Sicherheitslage und die organisatori-
schen Maßnahmen ebenfalls regelmäßig zu 11.3.1  SICK – Herangehensweise
c
überprüfen! (»CONTROL«). MASCAL

Tipp Das Erkennen und die umgehende Reaktion auf alle


offensichtlichen und vermuteten Gefahren stehen
Die beste (da materialsparend und schnell) unverändert im Vordergrund. Bei der Lagebeurtei-
Maßnahme zur Blutstillung bei einem MASCAL lung müssen der Auslöser und die Folgen des jewei-
ist der direkte Druck auf die Wunde durch ligen Ereignisses identifiziert werden. Dabei ist der
einen Leichtverletzten – wenn dieser nicht für Einsatzort unter den Aspekten Geländebeurteilung
die Feuerüberlegenheit/Gefahrenabwehr und weitere Umweltbedingungen zu betrachten.
dringlicher benötigt wird. Die sorgfältige Erhebung der »Feindlage« im
tatsächlichen oder übertragenen Sinn hat jedoch die
240 Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV

entscheidende Bedeutung. Vordringlich zu klären-


de Punkte sind z. B.: C = »Critical Bleeding« o wie schwer verletzt
4 Erkennbarer Feind oder Täter, Hinterhalt, sind die Verwundeten
Täter als Patienten K = »Kinematics« o Art des Ereignisses –
4 Beschädigte Infrastruktur (Einsturzgefahr, aus- »welche Kräfte haben gewirkt« (QRF, EOD,
tretende Gase, Stromleitungen etc.) technische Hilfe, Spezialkräfte benötigt)
4 Gefahrenstoffe/Kontamination (Indikatoren
o Erste Lage auf Sicht (»windshield report«)
(HEIKAT [13]), Staubdichte, Windrichtung
etc.; 7 Kap. 39–41)
4 Ausreichend eigene oder Sicherheitskräfte vor
Ort, Kontaktaufnahme, Koordination
4 Weitere verfügbare Kräfte (»eigene Lage«) 11.3.2 d SICK2 ORG – Struktur


Im günstigen Fall ist die Lage bei der Annäherung Nach Absetzen der ersten, orientierenden Lagemel-
bereits als MASCAL zu erkennen. Nach Möglich- dung muss durch Koppeln mit anderen Kräften
keit sollte dann die ungefähre Anzahl und der (milFhr, BOS, GEL) oder – wenn die Lage es erlaubt
Schweregrad der Verwundeten geschätzt werden. – eigenständige Erkundung der Lageüberblick ge-
Außerdem sollte die Art des Ereignisses identifi- wonnen bzw. vertieft werden. Weitere Gefahren
ziert und auch daraus ggf. abgeleitet werden, in wel- müssen identifiziert und geeignete Maßnahmen ein-
chem Umfang schwere Verletzungen zu erwarten geleitet werden. Diese reichen vom schnellstmögli-
sind und ob bereits bei der Erstmeldung Spezialis- chen Anlegen der PSA und Einleitung der Rettung
ten nachgefordert werden können. Der Begriff über die Absperrung, Warnung und Zugangskon-
»windshield report« macht den wichtigen Punkt trolle bis zur zügigen Entfernung aus dem Gefahren-
deutlich, dass diese Meldung noch vor Verlassen des bereich. Grundlage für diese Phase ist die klar er-
Fahrzeuges und näherer Erkundung abgesetzt wer- kennbare Übernahme der Führung und der Aufbau
11 den muss. Dennoch sollte z. B. auch die Möglichkeit von Führungsstrukturen (7 Abschn. 11.1). Auf dieser
einer kurzen Befragung Auskunftsfähiger genutzt Basis wird dann nach Abstimmung die weitere
werden. Die Meldung an die Führung/Leitstelle ist Raumordnung (7 Abschn. 11.1 und 7 Kap. 2) vorge-
nur eine grobe Vorinformation bevor man in der nommen. Kritisch ist dabei die frühzeitige Festle-
Einsatzstelle »verschwindet«. Trotzdem sollte bei gung von An- und Abfahrtswegen, sicherer und
der Meldung klar gesagt werden »was man weiß« günstig gelegener CCP/PA und von Punkten für die
und »was man glaubt« (Beispiel: »Eine Explosion Aufnahme von Verstärkungskräften bzw. Evakuie-
hat die Fassade des XY-Hotels vollständig zerstört. rungsmitteln. Dazu müssen ggf. Pufferzonen ge-
Es liegen etwa 20 Personen auf der Straße vor dem schaffen werden, um eine gestaffelte Nachführung
Gebäude, etwa 40 weitere helfen oder entfernen sich zu ermöglichen (Bereitstellungsraum).
aus dem Bereich. Es scheinen sich zahlreiche weite- Alle Maßnahmen sind darauf ausgerichtet, die
re Menschen im Gebäude zu befinden. Erste Sicher- organisatorischen Grundlagen für die zügige Be-
heitskräfte treffen gerade ein«). handlung und den Abtransport der Patienten zu
schaffen. Die Zweitmeldung muss unbedingt Infor-
c Herangehensweise SICK in Reaktion auf mationen über Gelände und Gefahren sowie die
einen MASCAL (Lagefeststellung/ »scene resultierende und die geplante Einsatzstellenstruk-
size-up«) tur enthalten. So schnell wie möglich werden die
S = »Scene Safety«/Sicherheit o Überblick vorläufigen Verwundetenzahlen nach Schweregrad
(10-for-10): statische oder dynamische Lage gemeldet. Außerdem werden der Status der Kräfte
I = »Impression«/erster Eindruck o Anzahl vor Ort mitgeteilt und alle erforderlichen Nachfor-
Verwundete/Anzahl Helfer? derungen gestellt. In regelmäßigen Abständen und
bei jeder Lageänderung wird die Meldung an die
Führung aktualisiert.
11.3 · Vorgehensweise bei MASCAL/MANV: SICK + SICK2
241 11
Die aufnehmenden Behandlungseinrichtungen Das »Wegschicken« der Leichtverwundeten/ »Grü-
werden in Absprache ggf. unmittelbar kontaktiert, nen« ist der ausschlaggebende Schritt, um für sie
um frühzeitig Informationen über Verwundete wei- die Gefährdung zu verringern und um die Über-
terzugeben. sichtlichkeit der Lage zu erhöhen. Auf keinen Fall
Bestehende SOP (MASCAL-Befehl/MANV- darf vergessen werden, ihnen ein unter den Aspek-
Konzept) und Arbeitshilfen (Checklisten, Aufgaben- ten Sicherheit und Hypothermievermeidung gut
beschreibungen (»action cards«), Verzeichnisse der gewähltes Ziel zu benennen. Außerdem muss vor-
Aufnahmeeinrichtungen) sollten verfügbar sein und her bedacht werden, ob sie noch als Helfer oder z. B.
genutzt werden. Eine präzise Einteilung der Kräfte Sicherer benötigt werden (und auf diese Weise
vor Ort, die eindeutige Zuweisung von Aufgaben gleichzeitig überwacht werden). Im Idealfall kann
(unter Beachtung von »10-for-10« und sinnvollem ein T3-Verwundeter identifiziert werden, der »auf
Team-Einsatz (»crew resource management«, CRM) die anderen aufpasst«, einfachste Maßnahmen
7 Kap. 8) und die klare und kontinuierliche Kommu- durchführt und eine Verschlechterung des Zustan-
nikation vor Ort schaffen die erforderliche Arbeits- des eines »Grünen« meldet. Sonst muss daran ge-
grundlage für die medizinische Versorgung. dacht werden, dass sobald Ressourcen dafür eintref-
fen bzw. wieder verfügbar sind, jemand zum Auf-
d SICK2 ORG bei MASCAL: »structure the enthaltsort der T3 geschickt wird, um auch diese
incident« o Führung und Raumordnung Verletzten zu versorgen, ggf. ihre höhere Einstufung
S = Struktur (Erkundung, Führung, Raum- und »Verlagerung« zu veranlassen und eine Rück-
ordnung) (nach SERVA, GAMS oder 4C – meldung zu geben.
7 Abschn. 11.1) Sicherheit (Rettung, Ab- Im Anschluss an die Ableitung der »Grünen«
sperrung, Kontrolle) müssen schnellstmöglich die »Roten« (T1)-Patien-
I = Information »nach oben« o qualifizierte ten gefunden werden (. Abb. 11.3).
Zweitmeldung (z. B. »9-Liner«) (nach Identi- Diese werden dann lageabhängig versorgt (CuF
fikation von weiterer Gefahren, Maßnah- und Rettung oder TFC), gekennzeichnet und mit
men und Bedarf: Nachforderung) höchster Priorität weiterversorgt und abtranspor-
C = Checklisten – strukturiertes Abarbeiten im tiert. Der Umfang der durchführbaren Maßnahmen
Detail (und Aufbau Transportorganisation) ist bei einem größeren, »echten« MASCAL klar de-
K = Kommunikation und Koordination der finiert: kritische Blutungen stillen und in stabile
Kräfte vor Ort Seitenlage bringen oder Wendl-Tubus nutzen (falls
vorhanden, z. B. bei einem eingeklemmten Patien-
ten), um dann zum nächsten Verwundeten zu ge-
hen. Nur so kann schnellstmöglich ein Überblick
11.3.3  SICK2 MED – Sichtung/
e gewonnen werden und es wird kein »Roter« überse-
Erstversorgung/Transport hen bevor individualmedizinische Maßnahmen an
weniger dringlichen Patienten durchgeführt wer-
Parallel zum Aufbau der organisatorischen Struktu- den. Häufiger wird jedoch nicht diese klassische
ren wird die »medizinische Lage abgearbeitet«. Vor- Situation bestehen, sondern mehrere Helfer versor-
sichtung oder primäre Sichtung sollten sobald und gen bereits »ihre« Patienten (TFC) und es muss sich
so patientennah (»weit vorne«), wie die Gefahren- ein Koordinator aus der Individualbehandlung zu-
lage es erlaubt, durchgeführt werden. rückziehen, um eine Gesamtlagemeldung abzuset-
zen, Ressourcen zu verschieben und das weitere
> Trotz der Fokussierung auf die Verwundeten Vorgehen zu koordinieren. Spätestens die Entschei-
sollte auch in der Phase, in der Sichtung und dung über die Transportreihenfolge innerhalb der
medizinische Maßnahmen im Vordergrund P1-Patienten (bzw.« T1 mit Transportpriorität«)
stehen, nicht vergessen werden, die Sicher- basiert auf einer erneuten Sichtung. Sie dient außer-
heitslage und die organisatorischen Maßnah- dem dazu, die bestgeeignete »Zielklinik« auszu-
men ebenfalls regelmäßig zu überprüfen! wählen.
242 Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV

C A B C D
Kritische  Fehlende auch in stab. Unfähig,
Patient  Atemfrequenz  Fehlender Puls
   
Blutung   Spontan- Seitenlage?   einfache  Befehle
gehfähig? über 30/min? am Handgelenk?
behandeln  atmung? Tödl.Verletzung? zu befolgen?

Kann die im Kasten gestellte Frage mit »Ja« beantwortet werden, fällt der Patient in die Sichtungskategorie in der Farbe
des Kastens. (Es muss nicht weiter untersucht werden, er wird nicht »noch roter«.)
Bei »Nein« wird in Richtung des Pfeiles der nächste Vitalwert geprüft. Werden alle Kästen mit »Nein« beantwortet,
wird der Patient »gelb« kategorisiert.

. Abb. 11.3 tacSTART. Kurzform des Anteils Vor- bzw. Erstsichtung. (Adaptiert nach [32])

Nachgeordnet werden die »Gelben« (T2) Ver- am jeweiligen Vwu.) Bei »klassischer« Sichtung
wundeten aus dem Gefahrenbereich gerettet, stabi- (mSTART) kann das Ergebnis in den Reihen <C>-D
lisiert und zum CCP/BHP gebracht. festgehalten werden. Bei einer großen Anzahl von
Sobald genug Kräfte eingetroffen sind, um bei Verletzten (oder Zusammentragen von Meldungen
allen Verwundeten die Durchführung lebensretten- verschiedener Einsatzabschnitte) können ggf. nur
der, stabilisierender Maßnahmen zu gewährleisten, noch die »Abstreich«-Listen T1–T5 genutzt werden.
sollte mit dem (Früh-)Transport begonnen werden. In der Statuszeile können eingeklemmte oder
Maßnahmen sind auch während des Transportes dekontaminierte Patienten gekennzeichnet werden
durchführbar, es ist nur schwieriger [43]. und z. B. Eigene (E), Täter (T), Unbeteiligte (U)
oder »COAL Civ« (9-Liner, Line 8, . Tab. 4.1) ver-
merkt werden.
e SICK2 MED bei MASCAL: »sort the
Bei T4 oder 5 kann die Nummer durchgestrichen
patients« o Triage, Behandlung und
(/) oder angekreuzt werden. Über den Nummern ist
Transport (tacSTART)
Platz für die endgültige Transportreihenfolge. Beson-
S = Sichtungsbeginn: schreien und selbst-
dere Transportziele können ebenfalls auf dem Männ-
11 ständig Gehfähige (»Grüne«) in Sicherheit
chen markiert werden. Neurochirurgie z. B. durch
schicken (»send green to safety«)
SHT-X (Kreuz) bzw. * (Stern) auf dem Kopf.
I = identifiziere »immediate« (SK1/T1-Verwun-
dete) »Rote finden und stabilisieren« ID-me
C = CuF-Maßnahmen (<C> und andere
lebensrettende Notfallmaßnahmen)
11.3.4 Verwundetensammelpunkt/
K = Krankenhaus (»Knackpunkte« Transport:
»casualty collection point« (CCP)
TrspOrg stärken, ungerichtete Transporte
bzw. Patientenablage
verhindern l Frühtransport ermöglichen,
»richtige« Behandlungseinrichtung wählen)
Ortswahl CCP
5 Außerhalb des unmittelbaren Gefahren-
Zur Unterstützung dieser Aufgabe wurde die bereiches/in einer adäquaten Deckung
MANV-Koordinationskarte entwickelt (. Abb. 11.4) (Feindwaffen, erneuten Angriff, »2nd hit«
Abhängig von der Größe des Ereignisses bietet die etc. bedenken).
Karte unterschiedliche oder sich ergänzende Berei- 5 Übersicht und Ausweichmöglichkeit.
che zur Dokumentation der Patienten, ggf. ihrer 5 Nähe zu möglichem Übergabepunkt/An-
Befunde, und für Vermerke hinsichtlich der Trans- näherung von Kfz möglich/Landeplatz
portpriorität. Bei einem kleineren MASCAL (bis 20 einsehbar.
Patienten) können die Männchen in Kombination o Personal- und Zeitbedarf für die Verlage-
mit (ungefährem) Alter und Geschlecht die »Patien- rung von Vwu nicht unterschätzen!
tentaufe« und damit den Gesamtüberblick erleich- 5 Ausreichend Platz (»Materialachse«) bei
tern. (Sammlung der Informationen – und einge- bestmöglichem klimatischem Schutz.
schränkt des Verlaufes – von den Primärversorgern
11.3 · Vorgehensweise bei MASCAL/MANV: SICK + SICK2

Änderungen der Triage-Kat. über Pfeile zwischen


243

den Blöcken? (Verbesserungen ↑ von links,


Verschlechterungen ↓ von rechts, wenn einlaminiert
ggf. wegwischen.).

. Abb. 11.4 MANV-Koordinationskarte (»Master-Medic-Karte«), Vor- und Rückseite.


11
11
244
Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV

T5 = Kreuz (X) durch Pat.-Nr.


T4 = Strich (/) durch die Pat.-Nr. oder
»handschriftlich« T4 über der Nr.-Reihe (wird auch in
der Übergabe keine Trsp-Prio haben).
T1-Trsp-Priorität: Stern statt Kreuz auf der
Kategorie oder »handschriftlich« ein Trsp über der
Nr.-Reihe.
Transportziel: Neurochirurgie (eigentl. durch
SHT-X (Kreuz) bzw. Stern auf Männchen darstellbar),
Hand dito, Verbrennung durch Buchstabe »B“
(analog zu VwuKarte) auf Männchen (wenn FETT bzw.
groß, dann entsprechendes Verbrennungszentrum).
Status: Eigene (E), Täter (T), Unbeteiligte (U) (bzw.
z.B.»COAL Civ«) bzw. Bemerkungen (T4, SHT,
verschüttet/eingeklemmt, nicht zugängig,
kontaminiert , Verbrennung, Auge, Hand,
FrühTrsp/TrspPrio etc.)

. Abb. 11.4 (Fortsetzung)


11.3 · Vorgehensweise bei MASCAL/MANV: SICK + SICK2
245 11
Bei der Organisation eines CCP bzw. einer PA wäre Wenn irgendwie möglich, sollte zumindest für
es außerdem wünschenswert, eine »geographische einen Sichtschutz für die Toten ebenso wie für die
Triage« zu ermöglichen. Das heißt, dass eine räum- SK-IV-Patienten – und zwischen diesen – gesorgt
liche Trennung der unterschiedlichen Sichtungska- werden.
tegorien vorgenommen wird. Dies können ver- Eines der häufigsten Probleme beim CCP/PA ist
schiedene Räume in einem Gebäude oder auch nur die anfängliche Unterschätzung des Platzbedarfes,
die verschiedenen Ecken eines Hofes sein. Insbe- um ein zügiges Arbeiten am Verwundeten, ggf. im
sondere wenn kein oder unzureichendes Material Team, zu ermöglichen. Die Richtgröße sind 2×3 m
für eine gut sichtbare Sichtungskategorie-Kenn- pro Patient plus Transportwege.
zeichnung (»tagging«) der Patienten vorhanden ist, Das vorhandene Material sollte so platziert
kann auf diese Weise die Behandlungspriorität klar werden, dass alle Helfer darauf zugreifen können.
festgelegt werden (. Abb. 11.5). Auch beim Materialeinsatz liegt der Schwerpunkt
Der Transport von Patienten ist mit einem nicht natürlich bei den Schwerstverletzten (SK I). Impro-
unerheblichen Personal- und Zeitaufwand ver- visation und Flexibilität retten Leben. So kann z. B.
bunden. Gerade die Trennung von gelben und mit ein (bei Armen) bis zwei (bei Beinen) Dreieck-
roten Verwundeten ist daher meist schwer prakti- tüchern und irgendeiner Art von stabilem Knebel
kabel bzw. stößt an ihre Grenzen, wenn sich die (Stock, Gabel, Schraubenzieher) ein Not-Tourni-
Sichtungskategorie ändert. Lageabhängig ist es quet hergestellt werden. Ggf. müssen diese Maß-
sinnvoll, die »walking wounded« (T3) in einen nahmen engmaschiger kontrolliert werden.
sicheren, getrennten Bereich, wie z. B. ein Nachbar- Bei der Wahl des Ortes für Eingangs- und Aus-
gebäude oder ein bereits verfügbares, größeres gangssichtung sollten neben den räumlichen auch
Fahrzeug zu schicken. Hier darf jedoch auf keinen die Witterungsverhältnisse beachtet werden (z. B.
Fall die Nachsichtung und ggf. engmaschigere vor versus im Gebäude). Der bestmögliche Wärme-
Betreuung oder Änderung der Priorität zu lange erhalt muss bei sämtlichen organisatorischen Maß-
vernachlässigt werden. Jemand kann anfangs trotz nahmen Berücksichtigung finden: einerseits wird
multipler und unter Katecholamineinfluss mäßig die Zeit bis zum Erreichen einer Klinik im Durch-
blutender Wunden selbstständig einen benannten schnitt lagebedingt deutlich länger sein und ande-
Bereich erreichen, trübt dann jedoch im Verlauf rerseits muss gerade bei Explosionsverletzungen
ein, ist nicht mehr zur Selbsthilfe fähig und ver- eine hypothermiebedingte Koagulopathie unbe-
blutet. dingt vermieden werden.
Minimalanforderungen für eine CCP/PA sind
die ausgangsnahe Lagerung der als »urgent« einge-
stuften Verwundeten und die sinnvolle, zentrale 11.3.5 Vermeidung der häufigsten
Positionierung des zur Verfügung stehenden Mate- Fehler
rials (im Sinne einer »Materialachse«). Die Kenn-
zeichnung der verschiedenen Bereiche ist insbeson- 4 MASCAL (und Auslöser) schnellstmöglich er-
dere dann unbedingt anzustreben, wenn es perso- kennen und strukturiert abarbeiten (SOP,
nell keine konstante Eingangssichtung gibt und MASCAL-Befehl, Checklisten – Eignung für
weitere Verwundete gebracht werden. Beschriftung Einsatzort und reale Lage hinterfragen)
oder Lightstick-Markierung der Türen oder der 4 Abstand halten, um den Überblick zu behalten;
hinter dem Ablagebereich liegenden Wand, Tras- »10-for-10« berücksichtigen
sierbandstreifen oder spezielle Aufsteller bzw. Py- 4 eindeutige, einheitliche und erkennbare Kom-
lone sind Möglichkeiten dazu. Zusätzlich muss die mandostruktur etablieren
Eingangssicherung informiert sein, um als »Ein- 5 »Führen durch Stimme«
weiser« zu fungieren. Bei mehr als 10 Verwundeten 5 Information/Kommunikation
sollte unbedingt darauf geachtet werden, dass Ein- 5 Ggf. Kennzeichnung (Westen)
und Ausgang voneinander getrennt sind und der 5 Kontrolle: welche Kräfte sind angefordert,
Patientenfluss nur in eine Richtung läuft. in Bereitstellung und vor Ort?
246 Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV

11

. Abb. 11.5 »Casualty collection point«/Patientenablage – strukturierte Verwundetenversorgung

4 Klare Regelung und Delegation von Kompe- 4 Kommunikation/Verbindung vor Ort ermögli-
tenzen chen und aufrechterhalten
5 Entscheidungsbefugnisse müssen an die 4 Funkdisziplin einhalten/Priorisierung der
Führung vor Ort und an die Handlungs- Nachrichten/alternative Informationsüber-
ebene abgegeben werden, um flexibel rea- mittlung nutzen (einschließlich Meldern)
gieren zu können 4 Regelmäßige Lageberichte an die Führung
4 Immer wieder die Bedrohung und Siche- (und ggf. aufnehmende Einrichtungen) (»keep
rungen bzw. Absperrungen überprüfen, Wahr- your friends informed«)
nehmungen kommunizieren, Gefahren nicht 4 Raumordnung ausplanen und abstimmen
unterschätzen (»second hit«!) 5 Blockieren von An-/Abfahrt verhindern
4 Rechtzeitige Nachforderung von Ressourcen/ 5 Ausreichende Sicherheitsabstände gewähr-
vorhandene Ressourcen erfassen leisten
5 Spezialisten nicht vergessen (z. B. Rettungs- 5 Pufferzonen schaffen/gestaffelte Nachfüh-
hundestaffel), . Abb. 11.4 rung von Verstärkungskräften)
5 Frühzeitig an Primärbedürfnisse (Verpfle- 4 Behandlung am Ort der Verwundung auf CuF
gung!) und Reservebildung denken beschränken o zügiger Transport zu Verwun-
detensammelpunkt bzw. PA
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Rettungsassistenten und Notfallsanitäter. Rettungsdienst
37: 731-734
249 III

Spezielle Verletzungs-
muster und Notfälle
Kapitel 12 Schussverletzungen – 251
C. Neitzel, E. Kollig

Kapitel 13 Explosionsverletzungen – 269


M. Di Micoli, D. Bieler

Kapitel 14 Bissverletzungen – 281


S. Hentsch, J. Sahm

Kapitel 15 Verbrennungen – 287


M. Di Micoli, S. Hentsch

Kapitel 16 Augennotfälle – 295


H. Gümbel

Kapitel 17 Akustisches Trauma – 301


F. Hohenstein

Kapitel 18 Schädel-Hirn-Trauma (SHT) – 309


M. Di Micoli

Kapitel 19 Hängetrauma – 315


R. Lechner, T. Lobensteiner

Kapitel 20 Versorgung unter Nachtsichtbedingungen – 323


C. Neitzel, J. Gessner

Kapitel 21 Zahnärztliche Notfälle – 329


W. Kretschmar

Kapitel 22 Psychotraumatologie – 335


J. Ungerer, P. Zimmermann

Kapitel 23 Versorgung von Diensthunden – 345


K. Riedel
251 12

Schussverletzungen
C. Neitzel, E. Kollig

12.1 Grundlagen – 252


12.1.1 Waffen – 252
12.1.2 Munition – 252

12.2 Einführung in die Wundballistik – 254


12.2.1 Kinetische Energie und ihre Übertragung – 254
12.2.2 Wundhöhlenbildung – 254
12.2.3 Schockwelle/Schalldruckwelle – 255
12.2.4 Faktoren der Wundhöhlenbildung – 256

12.3 Geschosskonstruktionen – 257


12.3.1 Vollmantelgeschosse – 259
12.3.2 Deformationsgeschosse – 261
12.3.3 Hohlspitzgeschosse – 261
12.3.4 Vollgeschosse – 262
12.3.5 Zerlegungsgeschosse – 262
12.3.6 Flintenmunition – 262

12.4 Spezifische Wundballistik – 264


12.4.1 Extremitäten – 264
12.4.2 Skelett – 265
12.4.3 Abdomen – 265
12.4.4 Thorax – 266
12.4.5 Kopf – 266
12.4.6 Infektion – 267
12.4.7 Ein- und Ausschuss – 267

12.5 Letalität von Schussverletzungen – 267

Literatur – 268

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
252 Kapitel 12 · Schussverletzungen

12.1 Grundlagen Militärstandardpatronen war für den gedachten


Zweck überzogen, insbesondere für die tatsächli-
12.1.1 Waffen chen Schussentfernungen im Gefecht. Insbesondere
bei im 2. Weltkrieg eingeführten Sturmgewehren,
Handfeuerwaffen werden in Langwaffen mit einer die mehrere Schüsse in schneller Folge abgeben
Gesamtlänge über 60 cm (Büchsen, Flinten) und konnten, schränkte der Rückstoß die Zielgenauig-
Kurzwaffen mit einer Gesamtlänge von bis zu 60 cm keit der Folgeschüsse im Feuerstoß stark ein.
(Pistolen, Revolver) unterteilt. Der geänderte Infanteriefeuerkampf führte
Büchsen sind Waffen mit langen Läufen, deren militärischerseits zu der Forderung einer Selbst-
Innendurchmesser etwas kleiner als der auch Kali- ladewaffe mit geringem Rückstoß, ausreichender
ber genannte Geschossaußendurchmesser ist. Da- zielballistischer Wirkung, und geringerer Patronen-
durch wird dieses in die spiralartig im Lauf ange- dimensionen, um bei gleichem Gewicht mehr Feu-
ordneten Profile (Züge) eingepresst. Es entsteht erkraft mitführen zu können. Auch die Verknap-
durch die Verbrennungsgase ein hoher Druck, der pung kriegswichtiger Rohstoffe in Deutschland
das Geschoss beschleunigt. Die Züge versetzen das spielte hier eine Rolle. Deswegen wurde z. B. in der
Geschoss in eine Drehung um die Längsachse, die Wehrmacht die 8×57 IS-Standardpatrone zur Nut-
es im Flug stabilisiert. Auch militärische Waffen, zung im StG 44 auf die Patrone 7,92×33 verkleinert.
wie Sturmgewehre und Maschinengewehre, sind Die NATO standardisierte zunächst die zivil als
von ihrer Bauart her Büchsen. Sie unterscheiden .308 Winchester bezeichnete 7,62 mm × 51 als Kurz-
sich von zivilen Waffen im Wesentlichen dadurch, version der .30-06 Springfield (7,62×63). In der
dass sie vollautomatisch die Patronen nachladen Bundeswehr fand die Patrone im Sturmgewehr G3
und abfeuern. und im Maschinengewehr MG3 Verwendung.
Flinten verfügen ebenfalls über einen langen Um die zunehmend automatisierten Waffen im
Lauf, der allerdings im Regelfall innen glatt ist. Es Feuerstoß kontrollierbarer zu machen, die Muni-
werden mit niedrigen Gasdrücken und einer im tionskosten zu senken und es dem Soldaten zu er-
Vergleich zu Büchsen geringeren Mündungsge- lauben, bei gleichem Gewicht mehr Munition mit-
schwindigkeit aus vielen Kügelchen bestehende zuführen, wurde in der NATO 1980 die Patrone
12 Schrotladungen oder große Flintenlaufgeschosse 5,56 mm × 45 (zivil: .223 Remington) eingeführt. Sie
verschossen. ist mit einem sehr viel leichteren Geschoss (4 g) als
Kurzwaffen sind Pistolen und Revolver. Der die 7,62 mm × 51 (9,5 g) geladen und weist eine
Lauf weist ebenfalls Züge und Felder auf, das Ge- deutlich höhere Mündungsgeschwindigkeit von
schoss erreicht aber im Vergleich zu Langwaffen über 900 m/s auf, aber auch eine geringere rechne-
nur geringe Mündungsgeschwindigkeiten (meist rische Geschossenergie von 3272 J gegenüber 1693 J.
250–400 m/s). Das als Standard genutzte 4 g schwere Doppelkern-
geschoss enthält einen Stahlpenetrator, der trotz der
geringeren Geschossenergie die Durchschlagleis-
12.1.2 Munition tung des alten Vollmantel-Weichkerngeschosses der
Patrone 7,62 mm NATO auf einen Stahlhelm als
Moderne Patronen wurden zum Ende des 19. Jahr- Standardziel erreicht oder übertrifft. Die Patrone
hunderts hin entwickelt. Sie werden heute noch wird seit der Einführung von G36 und MG4 im Jahr
häufig als Jagdpatronen verwendet. Patronen wie 1997 auch in der Bundeswehr verwendet.
die deutsche 8×57 IS oder die US-amerikanische In den Warschauer Pakt-Staaten durchlief die
.30-06 Springfield wiesen eine ausreichend ge- Munition eine ähnliche Entwicklung: Ausgehend
streckte Flugbahn und ein gutes zielballistisches von der alten russischen Ordonnanzpatrone
Potenzial auf, bedingen aber hinsichtlich der Trag- 7,62×54R hatte man hier das Kaliber beibehalten
last eines Soldaten ein relativ großes Volumen und und eine Kurzpatrone 7,62×39 entwickelt, die zu-
Gewicht und verursachen einen nicht unerhebli- nächst im Selbstladekarabiner verwendet wurde,
chen Rückstoß. Das Leistungspotenzial dieser alten um dann in Sturmgewehr AK 47 ihre weltweiten
12.1 · Grundlagen
253 12

. Tab. 12.1 Typische Laborierungen gängiger Patronen im Vergleich: Geschossmasse (m), Mündungsgeschwindig-
keit (v0), Geschwindigkeit nach 100 m (v100), Mündungsenergie (E0), Energie nach 100 m (E100)

Patrone m [g] v0 [m/s] v100 [m/s] E0 [J] E100 [J]

9 mm ×19 (9 mm Parabellum) 8,0 350 297 490 353

.40 S&W 10 350 291 613 424

.44 Remington Magnum 15,6 450 358 1574 994

4,6 mm × 30 1,7 774 545 500 250

5,56 mm × 39 (AK74) 3,45 910 808 1429 1126

5,56 mm × 45 (.223 Remington) 4,0 920 822 1693 1350

7,62 mm × 39 (AK47) 8,0 710 603 2016 1454

7,62 mm × 51 (.308 Win) 9,5 830 756 3272 2711

7,62 mm × 67 (.300 WinMag) 12,3 880 825 4763 4185

12,7 mm × 99 (.50 BMG) 42 890 842 16634 14872

Verbreitung anzutreten. Die in den Sturmgewehren


AK-47 und AKM genutzte Patrone 7,62×39 ist wei-
terhin die in allen weltweiten Krisengebieten immer
noch am meisten verbreitete Patrone. Dienstlich
wurde sie 1974 mit der Einführung des AK-74
durch die 5,45×39 ersetzt.
. Tab. 12.1 und . Abb. 12.1 zeigen einige heute
gebräuchliche Patronen.
Nach den Anwendungsgebieten werden orien-
tierend Militär-, Polizei-, Jagd- und Sportmunition
unterschieden:
Militärmunition ist in Deutschland nahezu aus-
schließlich Vollmantelmunition. Die Geschosse sol-
. Abb. 12.1 Eingeführte Patronen der Bundeswehr. Von
len im Sinne der Haager Landkriegsordnung von links nach rechts: 9 mm × 19, 4,6 mm × 30, 5,56 mm × 45,
1899 im Ziel ihre Form beibehalten, um »unnötiges 7,62 mm × 51, 7,62 mm × 67, 12,7 mm × 99, zum Größenver-
Leid« zu verhindern. Außerdem ist eine möglichst gleich: Feuerzeug. (Foto: Dr. C. Neitzel)
gute Penetrationswirkung durch Deckung hindurch
erwünscht. Für spezielle Anwendungen gibt es be-
sondere Geschossarten (Hartkern, Leuchtspur). unfähig zu machen. Das Geschoß soll trotzdem
Als Jagdmunition werden meist Deformations- Kleidung und leichte Deckung sicher durchschla-
oder Zerlegegeschosse (z. B. Teilmantelgeschosse) gen, um die Wirkung im Ziel zu garantieren, aber
in Patronen mit vergleichsweise großem Kaliber zur Minderung der Umfeldgefährdung möglichst
und hoher Mündungsgeschwindigkeit eingesetzt. keinen Ausschuss erzielen. Außerdem soll die
Sie sind für schnelles Töten konstruiert und zielen Munition das Ziel zwar schnell kampfunfähig
daher auf einen möglichst großen und frühen Ener- machen, aber nicht töten. Dies ist ein Widerspruch
gietransfer und/oder Splitterabgabe im Gewebe ab. in sich und von keiner Munition in allen Aspekten
Polizeimunition strebt einen frühen und hohen zu erfüllen. In der Vergangenheit wurde auch durch
Energietransfer an, um Täter schnell handlungs- die Polizei Vollmantelgeschosse eingesetzt. Auf-
254 Kapitel 12 · Schussverletzungen

grund der schlechten Wirkung und hohen Um- Während des Fluges wird die Geschwindigkeit
feldgefährdung durch Ausschüsse erfolgte in den des Geschosses vor allem durch den Luftwiderstand
neunziger Jahren eine Umstellung auf Deforma- fortwährend abgebremst und somit die kinetische
tionsgeschosse für Kurz- und Langwaffeneinsatz. Energie verringert.
Die Konstruktion von moderner Polizeieinsatz- Trifft das Geschoss auf Gewebe, wird es auf-
munition ist letztlich ein Kompromiss und ähnelt grund der höheren Dichte wesentlich stärker als
stark der von Jagdmunition, teilweise werden iden- durch Luft abgebremst. Die kinetische Energie wan-
tische Geschosse verwendet (z. B. Styx von SwissP delt sich in Druck-, Verformungs- und Wärmeener-
identisch mit Norma Vulcan). gie um, die Gewebe verdrängt, zerquetscht oder
Sportgeschosse sind für eine möglichst präzise zerreißt. Je größer die Frontfläche oder Quer-
Schussleistung optimiert (z. B. Benchrest). Ihr Ver- schnittsfläche des Geschosses ist, umso mehr Ener-
halten im Ziel ist nicht relevant, so dass eine Viel- gie wird punktuell übertragen: Ein an der Spitze
zahl verschiedener Konstruktionen Verwendung stumpf und breit aufgebautes Projektil erzeugt mehr
findet. Meist handelt es sich um Vollmantel- oder lokalen Widerstand im Zielmedium als ein schlan-
Hohlspitzgeschosse, regelhaft mit dünnen Ge- kes, spitzes Geschoss. Somit wird es initial stärker
schossmänteln. abgebremst, d. h. es überträgt hier mehr Energie ins
Eine strenge Einteilung in Militär-, Jagd-, Sport- Gewebe. Die Querschnittsfläche des Geschosses
und Polizeigeschosse ist nicht möglich. Deutlich hängt ab von
abgrenzbar sind lediglich die im Waffengesetz als 4 der Geschossform,
»verbotene Gegenstände« bezeichneten oder dem 4 dem Deformationsverhalten,
Kriegswaffenkontrollgesetz unterliegenden hoheit- 4 Taumelbewegungen und
lich genutzten Hartkern-, Leuchtspur-, Brand- und 4 einer möglichen Geschosszerlegung
Explosivgeschosse. (Fragmentation).

Bleibt das Geschoss im Ziel stecken (Steckschuss),


12.2 Einführung in die Wundballistik hat es seine gesamte kinetische Energie abgegeben
oder für Verformung bzw. Fragmentation genutzt.
12 12.2.1 Kinetische Energie Wird ein Durchschuss erzielt, verfügt das Geschoss
und ihre Übertragung noch über kinetische Energie, die sich aus dem
Restgewicht des Geschosses und seiner Geschwin-
Beim Abfeuern eines Schusses entsteht durch die digkeit ergibt. Theoretisch gesehen ist die Differenz
explosionsartige Verbrennung der Treibladung hin- zur Auftreffenergie die ins Zielmedium übertragene
ter dem Geschoß ein Gasdruck, der es durch den Energie.
Lauf treibt und dabei in die spiralartig angeordne-
ten Züge und Felder presst. Hierdurch wird ein
Drall erzielt, der das Geschoss durch eine Drehung 12.2.2 Wundhöhlenbildung
um die Längsachse im Flug stabilisiert.
Das beschleunigte Geschoss verfügt über kine- Das Gewebe wird durch die übertragene Energie
tische Energie, die abhängig ist von der Masse des nach allen Seiten radial verdrängt, es bildet sich
Geschosses (schwere Geschosse sind energiereicher vorübergehend eine Wundhöhle (temporäre Kavi-
als leichte) und der Geschwindigkeit (schnelle sind tation). Die Elastizität des Gewebes bewirkt die
energiereicher als langsame). Gemäß der Formel Rückkehr in die Ausgangslage. Diese temporäre
Ekin=1/2 × m × v² hat die Geschwindigkeit dabei Wundhöhle bleibt also nur für Sekundenbruchteile
größeren Einfluss als die Masse des Geschosse: Die bestehen, bis der entstandene Unterdruck sie wieder
Verdopplung der Geschossmasse verdoppelt die zusammenfallen lässt. Temporäre Wundhöhlen
kinetische Energie, die Verdopplung der Geschwin- treten bei allen Geschossen auf, im Regelfall errei-
digkeit vervierfacht sie. Das Maß für die kinetische chen sie aber nur bei Hochgeschwindigkeitsge-
Energie des Geschosses ist Joule (J). schossen oder speziell auf eine höchstmögliche
12.2 · Einführung in die Wundballistik
255 12

. Abb. 12.2 Schematische Darstellung einer Wundhöhle. SDW Schalldruckwelle. (Graphik: M. Neitzel)

Energieabgabe konstruierten Niedriggeschwindig- Länge ist stark von Geschossform und -konstrukti-
keitsgeschossen eine relevante Größe. on, Auftreffgeschwindigkeit und Gewebewider-
Das durch die Bildung der temporären Wund- stand abhängig. Vollmantelgeschosse erzeugen ty-
höhle verdrängte Gewebe wird nicht zwingend irre- pischerweise einen relativ langen »narrow channel«
versibel geschädigt. Nur wenn es nicht genügend auf, der im muskelähnlichen Gewebe meist über
Elastizität aufweist, um der Kinematik problemlos 10 cm lang ist. Bei Deformationsgeschossen ist er
zu folgen, wird es strukturell geschädigt und behält hingegen wenige Zentimeter lang oder noch kürzer.
bleibende Gewebeschäden. Diese Gewebezer- Anschließend vergrößert sich die Frontfläche des
störungen stellen um den unmittelbar durch das Geschosses in der Regel durch Drehung, Zerlegung
Geschoss verursachten eigentlichen Schusskanal oder Deformation. Die erhöhte Energieübertragung
herum die permanente Wundhöhle (permanente erzeugt eine größere Wundhöhle. Verringert sich
Kavitation) und deren Randbereiche dar. Sie ist die Energieabgabe des Geschosses im Anschluss
umso größer, je stärker und abrupter eine Energie- wieder, sinkt der Durchmesser der Wundhöhle er-
übertragung verläuft und je weniger elastisch das heblich ab.
betroffene Gewebe ist. Um die permanente Wund-
höhle herum liegt eine Zone, in der es durch
Überdehnung zu einer Vasokonstriktion kommt, 12.2.3 Schockwelle/Schalldruckwelle
die das Gewebe vorübergehend avital erscheinen
lässt. Im äußeren Bereich der temporären Wund- Dem Geschoss voraus eilt im Gewebe eine Schall-
höhle wird Gewebe verdrängt, aber nicht irreversi- druckwelle (»Schockwelle«) mit einer Geschwindig-
bel geschädigt. keit von ca. 1400–1550 m/sec und Druckspitzen von
Die permanente und temporäre Wundhöhle bis zu 117 bar. Da sie aber nur wenige Millisekunden
weisen charakteristische Verläufe auf. Zu Beginn anhält und eine geringere Amplitude als z. B. thera-
des Wundkanals bildet sich ein wenig mehr als peutische Ultraschallanwendungen hat, kommt es
kalibergroßer »narrow channel« (. Abb. 12.2). Die zu keiner wesentlichen Gewebeschädigung.
256 Kapitel 12 · Schussverletzungen

12.2.4 Faktoren der Wundhöhlen-


bildung

Die Größe und das Profil der temporären und per-


manenten Wundhöhle sind von einer Vielzahl von
Faktoren abhängig, unter anderem:
4 Geschoßkonstruktion und -form,
4 Auftreffgeschwindigkeit,
4 Gierwinkel und
4 spezifischer Widerstand des Zielgewebes.

Abhängig von der verwendeten Waffenart unter-


scheiden sich Geschosse und erreichbare Auf-
treffgeschwindigkeiten deutlich.

Auftreffgeschwindigkeit
Schussverletzungen werden im theoretischen
Modell in Verletzungen durch Projektile mit hoher
(>600–650 m/s) und niedriger (<600–650 m/s) Ge-
schwindigkeit unterteilt (. Abb. 12.3).
Geschosse mit niedriger Geschwindigkeit ver-
ursachen meist keine großen Wundhöhlen. Diese
Verletzungen sind im Regelfall durch Kurzwaffen
(Pistolen, Revolver) oder durch entsprechend lang- a b
sam gewordene Langwaffengeschosse bei sehr gro- . Abb. 12.3a,b Vergleich typischer Schussbrüche mit hoher
ßen Schussentfernungen verursacht. Die Gewebe- (a) und niedriger (b) Auftreffgeschwindigkeit: a 5,56×45 mit
zerstörung reicht als Faustregel nicht deutlich über Hartkerngeschoss, b 9×19 mm mit Vollmantelgeschoss
12 den Geschossdurchmesser hinaus.
Hochgeschwindigkeitsverletzungen verur-
sachen meistens durch die Bildung einer größe- Die Auftreffgeschwindigkeit beeinflusst auch
ren  Wundhöhle starke Gewebeschädigungen. Da maßgeblich Deformationsverhalten und Zerle-
sich die Auftreffgeschwindigkeit stärker auf die gungsneigung von Geschossen.
kinetische Energie des Geschosses auswirkt als das
Geschossgewicht, haben Hochgeschwindigkeitsge- Widerstand des Zielmediums
schosse zumeist rechnerisch eine deutliche größere Gewebe von hoher Dichte (z. B. Muskel, Knochen,
kinetische Energie als Niedriggeschwindigkeitsge- Leber, Niere) bremsen Geschosse stark ab. Der gro-
schosse. ße Energieübertrag bewirkt eine stärkere Zerstö-
Dieser Grundsatz berücksichtigt aber nicht die rung von Gewebe. Je höher der Widerstand des
teilweise erheblichen Einflüsse anderer maßgebli- Zielmediums ist, desto grösser sind auch die auf das
cher Faktoren. Die effektive Gewebeschädigung Geschoss wirkenden Biege- und Druckspannun-
wird nicht primär durch VZiel bzw. Geschoßenergie, gen. Sie können eine Verformung oder Zerlegung
sondern durch den tatsächlichen Verlauf des Ener- des Geschosses bewirken. Vereinfacht dargestellt
gietransfers ins Gewebe bedingt. Eine Schusswunde verändert auch die Erhöhung der Auftreffgeschwin-
durch ein Deformations- oder Hohlspitzgeschoß digkeit den Widerstand des Zielmediums. Man
aus einer Kurzwaffe kann also durchaus größere Ge- kann dies mit einer Hand vergleichen, die mit gerin-
webezerstörungen bewirken, als ein richtungsstabil ger oder sehr hoher Geschwindigkeit auf eine Was-
das Gewebe durchdringendes Vollmantelgeschoss seroberfläche schlägt, und die so als weich oder sehr
aus einer Langwaffe. hart empfunden wird.
12.3 · Geschosskonstruktionen
257 12

. Abb. 12.4 Eigenbewegung eines drallstabilen Geschosses: 1 ist die Flugrichtung, 2 die Geschossachse, a der Gierwinkel.
Die Geschossachse dreht um die Flugrichtung (Präzession) und der Anstellwinkel schwankt zwischen einem minimalen und
einem maximalen Wert (Nutation). (Graphik: M. Neitzel, adaptiert nach [4])

Gierwinkel 12.3 Geschosskonstruktionen


Ein drallstabilisiertes Geschoss verhält sich wäh-
rend des Fluges physikalisch gesehen wie ein Kreisel Die Geschosskonstruktionen nehmen wesentlichen
und fliegt nie völlig gerade. Es führt durch den au- Einfluss auf die Zielballistik. Es existieren eine
ßerhalb des Schwerpunktes angreifenden Luftwi- Vielzahl verschiedenster Geschosskonstruktionen
derstand eine Präzession aus, also eine Bewegung (. Abb. 12.5). Die grundlegenden Eigenschaften
der Geschosslängsachse (. Abb. 12.4). Die Abwei- sollen orientierend dargestellt werden. . Abb. 12.6
chung von der Flugbahn beträgt im allgemeinen zeigt die typische Wundballistik verschiedener
1–3° und wird Gierwinkel oder Anstellwinkel ge- Patronen.
nannt. Weitere Einflüsse, wie z. B. nachfolgende
Pulvergase beim Mündungsdurchgang, können die
Präzession mit einer weiteren Bewegung, der Nuta-
tion, überlagern. Dies führt zu einer stetigen
Änderung des Anstellwinkels, die sich insbesondere
in den ersten 20–30 m Flugstrecke auswirkt.
Der Effekt wird Gieren (engl. »yawing«) ge-
nannt. Trifft ein Geschoss mit einem Gierwinkel
>0° auf ein Zielmedium, so ist von Beginn an die
Frontfläche grösser, es kommt schon nach einer ge-
ringeren Penetrationsstrecke und somit noch ver-
gleichsweise hoher Geschwindigkeit zum Taumeln
mit möglicher folgender Fragmentation. Dies er-
klärt auch, warum die Durchschlagskraft einer
. Abb. 12.5a,b Geschosskonstruktionen. a Von links nach
Hochgeschwindigkeitspatrone auf kurze Distanzen rechts: MEN Schrägfläche (SF), Deformationsgeschoss; Barnes
von unter 50 m geringer sein kann als auf weitere TSX, Deformationsgeschoss; Hornady SST, Deformationsge-
Distanzen. schoss; Remington Corelockt, Deformationsgeschoss; Sierra
Matchking, Hohlspitzgeschoss; Doppelkerngeschoss, Leucht-
Geschosskonstruktion spurgeschoss, Hartkerngeschoss, Weichkerngeschoss. b Rönt-
genbild der oben gezeigten Geschosse. 1 Kupferlegierungs-
Je nach Konstruktion des Geschosses variieren das massivgeschoss, 2 Bleikern (Weichkern), 3 = Stahlpenetrator,
Verhalten im Gewebe und das daraus resultierende 4 Hartkern, 5 Brandsatz, 6 Hohlspitze, 7 Plastikspitze, 8 freilie-
Wundprofil erheblich (7 Kap. 12.3). gender Bleikern (Teilmantel), 9 Hohlraum. (Foto: Dr. C. Neitzel)
258 Kapitel 12 · Schussverletzungen

12

. Abb. 12.6 Typische Wundkanäle verschiedener Geschosstypen und Büchsenpatronen. a Extremitätendurchmesser (Ober-
schenkel), b Rumpfdurchmesser (quer). (Graphik: M. Neitzel, adaptiert nach [3])
12.3 · Geschosskonstruktionen
259 12
12.3.1 Vollmantelgeschosse das Heck als Schwerpunkt des Geschosses nach
vorne drängt: Das Geschoss taumelt über die
Geschosse, deren Kern vollständig ummantelte Querachse. Dadurch vergrößert sich während der
oder lediglich am Heck offen ist, werden als Voll- Drehung die Frontfläche erheblich, es kommt zur
mantelgeschosse bezeichnet. Sie sind aufgrund der deutlichen Größenzunahme der temporären und
völkerrechtlichen Einschränkungen Standardge- permanenten Wundhöhle. Taumeln tritt häufig erst
schosse im militärischen Bereich, wurden bis in die nach Strecken auf, die z. B. bei Extremitätentreffern
1990er Jahre aber auch durch die Polizei genutzt. kaum gegeben sind.
Für den Mantel werden Tombak, Stahl oder Für die vollständige Wendung bis zur Geschoss-
Flusseisen genutzt. Besteht der Kern aus Blei, spricht lage mit Heck voraus werden ca. 30–40 cm Penetra-
man von Weichkerngeschossen. Ist der vordere tionstiefe in muskelähnlichem Gewebe benötigt.
Teil des Bleikerns durch einen die Durchschlagleis- Ausreichend lange Schusskanäle sind nur in Aus-
tung erhöhenden Stahlpenetrator ersetzt, handelt es nahmefällen zu erreichen (z. B. bei Quer- oder
sich um ein Doppelkerngeschoss. Ein panzerbre- Längsdurchschüssen des Rumpfes). Das Geschoss
chender Kern, meist aus Wolfram, wird als Hart- durchdringt das restliche Gewebe dann meist mit
kerngeschoss bezeichnet. Am Heck können Brand- dem Heck voran. Dabei treten geringe Pendelbe-
sätze verbaut sein, die eine Leuchtspur erzeugen wegungen um die Längsachse auf. Je nach Lage des
und somit den Flug des Geschosses besser verfolg- Geschosses beim Austritt aus dem Zielmedium
bar machen. Alle Vollmantelgeschosse wirken im entstehen unterschiedlich große Ausschüsse. Bei
Sinne der Wundballistik grundsätzlich ähnlich. Querlage werden große Ausschusswunden ver-
> Brandsätze in Leuchtspurgeschossen sind
ursacht, bei Austritt mit Heck voran eher
nicht auf externe Sauerstoffzufuhr ange-
kleine. Hierdurch wird die große Bandbreite an
wiesen und brennen nach dem Verschießen
Ausschusswunden bei Vollmantelgeschossen ver-
über einen Zeitraum von 1 s auch im Körper-
ständlich.
inneren vollständig ab. Es ist daher mit Ver-
Die Geschossverzögerung im Gewebe erreicht
brennungen im Bereich des Schusskanals zu
bei 90° Drehung ihr Maximum. Dementsprechend
rechnen, insb. bei Steckschüssen.
ist bei einer entsprechenden Penetrationstiefe durch
die große Stirnfläche die Fragmentation am wahr-
Vollmantelgeschosse können drei charakteristische scheinlichsten. Das zur Vietnamkriegs-Zeit in der
Wirkmuster im Gewebe zeigen: 5,56×45 verwendete M193-Geschoss zerlegte sich
4 richtungsstabile Penetration, z. B. bei ausreichender Geschwindigkeit relativ
4 Taumeln und zuverlässig nach Penetration von 15 cm Muskel-
4 Fragmentation. gewebe (nicht formstabil).

Richtungsstabile Penetration Fragmentation


Treffen Vollmantelgeschosse mit einem kleinen Auch Vollmantelgeschosse können sich zerlegen,
Gierwinkel auf das Ziel auf, durchdringen sie dieses wenn sie mit hoher Geschwindigkeit auf formstabi-
anfangs richtungsstabil: es bildet sich der »narrow les Gewebe auftreffen, besonders bei Knochen. Ein
channel«. Tritt das Geschoss vor Beginn einer Zerbrechen (Fragmentation) bildet eine vergleichs-
Drehung wieder aus, ist das Wundprofil meist eng weise große Wundhöhle. Durch die plötzliche Ver-
um den Schusskanal herum begrenzt. größerung der Querschnittsfläche (Summe der
Frontfläche aller Geschosssplitter) erfolgt die Ener-
Taumeln gieübertragung konzentriert über eine kurze Pene-
Die Drallgeschwindigkeit reicht – im Gegensatz trationsstrecke im Gewebe und richtet dort großen
zum Flug in der Luft – im Gewebe nicht aus, um das Schaden an. Die Splitter bewegen sich meist radiär
Geschoss ausreichend zu stabilisieren. Durch die außerhalb der eigentlichen Schusskanalrichtung
einwirkenden Kräfte während der Penetration von und verletzten dabei ggf. abhängig von ihrer Größe,
Gewebe wird das Projektil stark abgebremst, wobei Form und Restenergie zusätzlich Gewebe. Dies er-
260 Kapitel 12 · Schussverletzungen

. Abb. 12.7 Deformation bzw. Zerlegung des 5.56×45-Geschosses M193 in Abhängigkeit von der Auftreffgeschwindigkeit.
(Adaptiert nach [4])

12 klärt die sehr unterschiedlichen, häufig stark abwei- Ein weiterer wesentlicher Faktor für die Anfäl-
chenden Verwundungsmuster. ligkeit des Geschosses für Fragmentierung ist die
Die Geschwindigkeit des Geschosses im Gewebe Dicke des Geschossmantels. Kleine, schnelle Ge-
zum Zeitpunkt des Querstellens ist maßgeblich für schosse mit dünnem Mantel sind besonders anfällig
die wirkenden Kräfte und wichtigster Parameter für für Zerlegung. So fragmentierte das zur Zeit des
die Wahrscheinlichkeit einer Geschossfragmentie- kalten Krieges in Deutschland hergestellte Vollman-
rung. Die durch den Geschossaufbau bedingte Struk- telgeschoss im Kaliber 7,62 schon bei niedrigeren
turstabilität ist ein weiterer wesentlicher Faktor Geschwindigkeiten als der NATO-Standard, da der
(dünnmantelige Geschosse platzen schneller als Mantel insbesondere im Bereich der Kneifrille dün-
starkmantelige), nicht aber Kaliber oder Form. Gän- ner gehalten war.
gige militärische Weichkerngeschosse, also Vollman- Ein hoher Widerstand des Zielgewebes erhöht
tel-Bleikerngeschosse, fragmentieren fast nie unter die Wahrscheinlichkeit einer Zerlegung. Trifft ein
einer Auftreffgeschwindigkeit von 600 m/s, aber »dünnhäutiges« Vollmantelgeschoss beim Eindrin-
meist bei über 800 m/s im Zielmedium (. Abb. 12.7). gen in den Thorax mit ausreichender VZiel z. B. auf
Erste Einflüsse bei niedrigeren vZiel sind Deformatio- eine Rippe, zerlegt es sich regelhaft.
nen des Geschosses, teils mit Tubeneffekt, also Blei-
austritt am offenen Heck. Bei höheren Auftreffge- Die Patrone 5,56 mm × 45
Die zivil als .223 Remington bezeichnete Patrone ist ver-
schwindigkeiten kommt es dann zum Zerbrechen
gleichsweise leistungsschwach. In Deutschland ist sie daher
des Geschosses, was meist im Bereich der Kneif- oder zivil – trotz der gut wirksamen Jagdgeschosse – nur für die
Crimp-Rille als Sollbruchstelle geschieht. Doppel- Jagd auf das ca. 20 kg schwere Rehwild zugelassen. Beim
kerngeschosse verhalten sich ähnlich. Menschen ist durch formstabile Vollmantelgeschosse außer-
12.3 · Geschosskonstruktionen
261 12
halb direkt tödlicher Trefferzonen nur eine geringe zielballis- durchmessers. Das verformte Projektil durchdringt
tische Wirkung zu erwarten. In direkten, intensiven Gefech- das Treffermedium aufgrund des nach vorne verla-
ten in Afghanistan hat sich diese Beobachtung bestätigt. Bei
gerten Schwerpunkts und der Schulterstabilisierung
deutlich über 100 m betragenden Kampfentfernungen errei-
chen die Geschosse kaum noch die kritische Geschwindig-
(eine nach vorne wanderende Kante der Frontfläche
keit, um fragmentieren zu können. Durch eine zunehmende erzeugt einen höheren Widerstand und wird da-
Einführung des verkürzten G36K mit niedrigerer Mündungs- durch verzögert) relativ richtungsstabil und taumelt
geschwindigkeit verschärft sich die Problematik: Beim G36 selten. Die Wundhöhle wird dabei durch das lang-
wird die für eine relativ verlässliche Fragmentierung notwen-
samer werdende Geschoss und den resultierenden
dige Geschwindigkeit von 800 m/s ab einer Schussentfer-
nung von 110 m unterschritten, beim G36K dagegen schon
niedrigeren Energieübertrag keilähnlich immer
bei 50 m. kleiner.
Die US-Streitkräfte führten bereits zu Beginn der Kriege im Deformationsgeschosse zeigen das gewünschte
Irak und Afghanistan als Konsequenz ähnlicher Erfahrungen Deformationsverhalten nur innerhalb eines be-
Hohlspitzgeschosse (z. B. Mk 262) zur Verwendung in Sturm-
stimmten VZiel-Bereiches. Liegt die Auftreffge-
gewehren ein. Durch die offene Spitze deformiert oder frag-
mentiert das Geschoss bei geringeren Geschwindigkeiten
schwindigkeit darüber, verformt das Geschoss sich
einfacher. Die Verwendung ist nach der – von den USA aller- stark und führt damit zu größerer Gewebeschädi-
dings nicht ratifizierten – Haager Landkriegsordnung von gung, aber auch einer deutlich verringerten Penetra-
1899 allerdings völkerrechtswidrig. tionstiefe. Dies kommt insbesondere bei extrem
kurzen Schussentfernungen vor. Liegt die Auftreff-
geschwindigkeit unter dem vorgesehenen Bereich
12.3.2 Deformationsgeschosse (z. B. durch weite Schussentfernungen), deformiert
das Geschoss nur schwach, der Geschossquerschnitt
Deformationsgeschosse sind so konstruiert, dass sie erhöht sich nicht in dem erwünschten Maße und der
sich im Gewebe an der Spitze aufpilzen und da- Energietransfer bleibt entsprechend kleiner.
durch bereits nach kurzer Penetrationsstrecke viel
Energie auf das Zielgewebe übertragen. Sie sind
größtenteils als Jagdgeschosse konstruiert, aber 12.3.3 Hohlspitzgeschosse
auch die neueren Generationen von Polizeigeschos-
sen sind Deformationsgeschosse. Bei Hohlspitzgeschossen befindet sich an der Ge-
Bei klassischen Deformationsgeschossen, den schoßspitze eine Öffnung, die den Bleikern in der
Teilmantelgeschossen, umhüllt der Mantel die Tiefe freilegt. Aufgrund der guten Präzision wird es
Spitze des Geschosses nicht. Der Bleikern liegt vor- häufig beim Präzisionsschießen genutzt. Besonders
ne frei. Moderne Deformationsgeschosse haben im HV-Bereich weisen Hohlspitzprojektile kon-
häufig eine Plastikspitze, die die Aerodynamik be- struktionsbedingt eine Neigung zu einer sofortigen
günstigt und die Verformung einleitet. Teilweise und unkontrollierten Deformation bzw. Fragmen-
werden Mantel und Kern chemisch verbunden tation. Hohlspitzgeschosse mit kleinen Öffnungen
(»bonding«), um die Trennung von Mantel und und starkem Mantel verhalten sich häufig wie
Kern zu verhindern und so mit hohem Restgewicht Vollmantelgeschosse. Letztlich besteht eine große
eine tiefe Penetration oder einen Ausschuss zu er- Bandbreite beim zielballistischen Verhalten von
zielen. Abhängig vom Widerstand des Zielmediums Hohlspitzgeschossen je nach ihrer spezifischen
und der Auftreffgeschwindigkeit kommt es bei na- Konstruktion, der Auftreffgeschwindigkeit und
hezu allen Teilmantelgeschossen meist zur Abtren- dem Widerstand des Zielmediums.
nung von Splittern.
Bereits nach einem sehr kurzen »narrow chan- Dum-Dum-Geschosse
nel« (nur wenige cm) wird durch den hohen Ener- Die ersten in der Patrone .303 British eingeführten Voll-
mantelgeschosse zeigten im englischen Chitral-Feldzug in
gietransfer eine Wundhöhle verursacht, deren ma-
Afghanistan keine befriedigende Wirkung. Auf der Suche
ximaler Durchmesser nahe des Einschusses liegt. nach wirksamerer Munition wurden die ersten Hohlspitz-
Bei Experimenten in Versuchsmedien betrug ihr geschosse 1895 im Auftrag der britischen Kolonialtruppen in
Durchmesser bis zum 30-fachen des Geschoss- der Munitionsfabrik der indischen Stadt Dum Dum gefertigt.
262 Kapitel 12 · Schussverletzungen

Das Geschoss zeigte eine erheblich bessere Wirkung beim oder in besonders empfindlicher Umgebung (z. B.
Gegner. Die mit den »Dum-Dum-Geschossen« gemachten durch Sky Marshals in Flugzeugen) eingesetzt.
wundballistischen Erfahrungen führten aus ethischen Grün-
Geschosse, die in ihrer Flugbahn Hindernisse
den aber letztlich zum Verbot von sich verformenden Ge-
schossen in der Haager Landkriegsordnung von 1899.
berühren, Deckung durchschlagen oder als Quer-
schläger abgelenkt werden, deformieren oder frag-
mentieren dabei meist oder weisen bei Auftreffen
im Ziel hohe Gierwinkel auf.
12.3.4 Vollgeschosse > Abhängig von der kinetischen Restenergie
kann es auch bei Vollmantelgeschossen auf-
Voll- oder Monoblockgeschosse sind durchgehend grund der von Beginn des Gewebekontakts
aus einem Material (meist Kupferlegierungen) ge- an erhöhten Querschnittfläche zu erheblichen
fertigte Geschosse. Besonders stabile Geschosse Gewebezerstörungen schon nach kurzer Ein-
(»solids«) deformieren im Ziel nicht und werden dringtiefe kommen. Besonders schnelle,
z. B. zur Großwildjagd eingesetzt. leichte Geschosse zerlegen sich häufig schon
Daneben gibt es auch Vollgeschosse aus Kupfer- beim Kontakt mit minimalen Hindernissen,
legierungen, die abhängig von der Zähigkeit des wie z. B. Grashalmen oder kleinen Zweigen.
Metalls und der Konstruktion deformieren oder
sich zerlegen. Sie sind dann sinngemäß den Defor-
mations- oder Zerlegungsgeschossen zuzuordnen.
Häufig weisen sie eine Hohlspitze auf, die diese Pro- 12.3.6 Flintenmunition
zesse einleitet. Sie verfügen zumeist durch ein hohes
Restgewicht über hohes Penetrationsvermögen. Aus Flinten wird meist Schrot verschossen, also
Vollgeschosse mit kontrollierter Deformation stel- eine Vielzahl kleiner Kugeln. Diese bestehen tradi-
len zurzeit den Standard im Bereich der Polizeimu- tionell aus Blei, neuerdings aus Umweltschutz-
nition dar (z. B. QD P.E.P., Action 4). Gründen auch aus anderen, reaktionsträgeren Me-
Eine im Sportschützenbereich gebräuchlich Va- tallen, und haben einen Durchmesser von 1–9 mm
riante sind Vollgeschosse aus Blei ohne Mantel, die (. Abb. 12.8). Verletzungen mit Schrot weisen trotz
12 insbesondere aus älteren, leistungsschwachen der geringen Geschwindigkeit (und der theoreti-
Kurzwaffen verschossen werden. Sie neigen auf- schen Klassifizierung als Niedriggeschwindigkeits-
grund des weichen Materials zu starken, aber un- verletzung) auf kurze Entfernungen in der Regel
kontrollierten Verformungen. schwere Gewebezerstörung auf (. Abb. 12.9, . Abb.
12.10). Die Schrotkugeln verfügen zusammen über
eine große Stirnfläche und verformen sich aufgrund
12.3.5 Zerlegungsgeschosse des zumeist weichen Materials im Körper zusätz-
lich. Das größte Zerstörungspotenzial ist unmittel-
Splittergeschosse sind im Aufbau speziell so kons- bar im Bereich des Einschusses und wird in der
truiert, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Tiefe rasch geringer. Die Penetrationstiefe ist im
bei normalen Auftreffgeschwindigkeiten zumindest Regelfall gering, Ausschüsse sind nicht häufig.
partiell fragmentieren. Der Wundmechanismus Auf Entfernungen von 3–5 m dringt die noch
entspricht dem im Abschnitt Fragmentation erläu- kompakt fliegende Schrotladung meist relativ tief
terten. Ähnlich den Deformationsgeschossen öffnet ein. Frontale Schrotkörner werden beim Eindrin-
sich die Wundhöhle bereits direkt hinter dem Ein- gen in den Körper teilweise von nachfolgenden
schuss. im Sinne eines Billardeffekts zur Seite gedrängt,
Splittergeschosse werden meistens jagdlich ge- wodurch sich die Wundhöhle vergrößern kann.
nutzt. Besonders zerlegefreudige Geschosse mit Über 10 m Schussdistanz kommt es durch das Aus-
sehr geringer Penetrationstiefe und minimaler Ge- einanderweichen der Schrotkörner zu multiplen
fährdung durch Querschläger (»frangibles«) wer- Einschüssen mit geringerer Penetrationstiefe. Auf
den aber auch beim Übungsschießen auf Hartziele weitere Entfernungen verursacht Flintenmunition
12.3 · Geschosskonstruktionen
263 12

. Abb. 12.8a,b Flintenpatronen: a Schrotpatrone und . Abb. 12.9 Wundprofile von Flintenmunition. FLG Flinten-
Schrotladung im Plastikbecher. b Patrone mit Brenneke- laufgeschoss. (Graphik: M. Neitzel)
Flintenlaufgeschoss. (Aus [4])

nur geringe Verletzungen, über 100 m hinaus ist bei


der Verwendung von Schrot mit Ausnahme von
Treffern in sensible Areale (z. B. Augen) keine ge-
fährliche Verletzung mehr zu erwarten. Dies ist
durch die erhebliche Verzögerung durch den Luft-
widerstand bedingt.
> Als Faustregel gilt, dass die Schrotgröße in
mm multipliziert mit 100 m einen sicheren
Abstand zur Waffe ergibt.

Spezielle Munition für Öffnungsverfahren an Türen


(z. B. Zinkstaubpellets) zerlegt sich unmittelbar bei
Widerstand, um Querschläger zu vermeiden. Sie . Abb. 12.10 Nahschuss mit einer 12/70-Schrotpatrone mit
zeichnen sich deswegen aber bei direkten Treffern 32-g-Vorlage von 2,4-mm-Schroten
auch durch eine massive Energieabgabe schon bei
kurzer Eindringtiefe aus und verursachen auf kurze
Entfernung erhebliche Gewebedefekte. Kurzwaffenmunition
Sehr grobes Schrot mit einem Durchmesser von Kurzwaffengeschosse sind in der Regel deutlich
über 4,5 mm wird Posten, Sau-Roller oder englisch kürzer und weniger spitz konstruiert als Langwaf-
»buck shot« genannt. Hier stehen insbesondere auf fengeschosse. Dadurch kommt es auch bei einer
Entfernungen von über 10–20 m die Wundprofile Taumelbewegung nicht zu wesentlich andersartigen
der einzelnen Kugeln im Vordergrund. Wundkanälen als bei Penetration in Längsachse.
Flintenlaufgeschosse (»slugs«) sind einzelne Deformationsgeschosse für Kurzwaffen sind im
aus Flinten verschossene Projektile, die einen großen Gegensatz zu Langwaffen meist als Hohlspitzge-
Durchmesser und eine hohe Masse (30–40 g) bei schosse mit einer sehr tiefen und breiten Öffnung
niedriger Mündungsgeschwindigkeit haben (Abb. 7). konstruiert. Sie sind in der Regel für den polizeili-
Sie bestehen meist aus Blei und sind nicht umman- chen Einsatz mit einem optimalen Energietransfer
telt, wodurch sie sich im Ziel verformen. Es entsteht bis Penetrationstiefen von 15–30 cm konstruiert
in der Regel ein typisches Wundprofil von Niedrig- und erzeugen nicht unerhebliche Wundhöhlen
geschwindigkeitsverletzungen (. Abb. 12.9). (. Abb. 12.11).
264 Kapitel 12 · Schussverletzungen

. Abb. 12.11 Vergleich von Kurzwaffenpatronen. Bemerkenswert ist die erheblich größere temporäre und permanente
Wundhöhlenbildung beim Hohlspitzgeschoss im Vergleich zum Vollmantelgeschoss. a Extremitätendurchmesser (Ober-
schenkel), b Rumpfdurchmesser (quer). (Graphik: M. Neitzel)

12.4 Spezifische Wundballistik

Das Ausmaß der tatsächlichen Zerstörung ist gewe-


bespezifisch. Neben der Dichte von Gewebe, die
maßgeblich die Effizienz der Übertragung kineti-
scher Energie beeinflusst, spielt auch die Elastizität,
mit der Gewebe einer Wundhöhlenbildung folgen
kann, eine Rolle. Luft im Gewebe ist komprimierbar
12 und absorbiert so Teile der Druckwelle, während a
Flüssigkeiten nicht komprimierbar sind und daher
die Druckwelle weiterleiten.

12.4.1 Extremitäten

Arme und Beine bestehen im Wesentlichen aus


Haut, Muskel und Knochen. Muskeln und Binde-
gewebe, wie Haut, sind vergleichsweise dicht, aber b
elastisch. Hierdurch wird Energie absorbiert, das . Abb. 12.12a,b Durchschuss mit MP7 am Handgelenk.
Ausmaß der Gewebeschädigung aber durch die Da die Penetrationsstrecke noch dem »narrow channel« ent-
Elastizität eingeschränkt. Häufig geht die Größe der spricht, ist nur geringer Weichteilschaden entstanden
permanenten Wundhöhle nicht wesentlich über
den eigentlichen Schusskanal hinaus, da das Gewe-
be sich nach der temporären Wundhöhlenbildung dass Gewebe durch Zerreißung geschädigt wird.
wieder weitgehend zusammenzieht (. Abb. 12.12). Nerven können durch die entstehende Kontusion
Knochentreffer führen häufig zu einer erheblichen auch bei struktureller Intaktheit zeitweise oder end-
Vergrößerung der Gewebezerstörung. gültig ausfallen, Gefäße einen äußerlich nicht sicht-
Elastische Leitungsbahnen, wie z. B. Gefäße und baren Schaden an der Innenhaut mit resultierender
Nerven, werden durch Kavitation eher verdrängt, als Bildung eines Gefäßverschlusses erleiden. Extremi-
12.4 · Spezifische Wundballistik
265 12

. Abb. 12.13a,b Ausgedehnter Weichteilschaden (a) bei einem


Unterschenkelschussbruch (b) mit der Niedriggeschwindigkeits-
b
Revolverpatrone .44 Magnum

tätenverletzungen sind in der Regel nur dann unmit- 12.4.3 Abdomen


telbar lebensbedrohlich, wenn es zu massiven oder
lang anhaltenden Blutungen kommt. Bauchhöhle und Beckenhöhle enthalten eine große
Zahl von Organen, die bei Schussverletzungen
durch die Wundhöhlenbildung betroffen sein kön-
12.4.2 Skelett nen. Im Oberbauch liegen im Wesentlichen solide
Organe, wie z. B. Leber, Nieren, Milz und Pankreas.
Knochen ist ein hartes und im Vergleich zu Musku- Sie ähneln in ihrer Dichte dem Muskelgewebe, ohne
latur unelastisches Gewebe. Trifft ein Geschoss dessen Elastizität aufzuweisen. Es kommt bei
auf Knochen, oder wird der Knochen durch die Schussverletzungen zu einem hohen Energieüber-
Kavitation erfasst, widersteht er solange einer Ver- trag mit entsprechender Dehnung und Kompres-
formung, bis er bricht. Dabei entsteht häufig eine sion. Im Gegensatz zum Muskelgewebe nähert sich
große Zahl von Knochensplittern, die häufig weit ins die Größe der permanenten Wundhöhle der Größe
Gewebe versprengt werden und ggf. zusätzliche der temporären erheblich mehr an. Wird die
Schäden verursachen können. Meist kommt es bei Organkapsel nicht zerstört, kehrt das geschädigte
einem auf Knochen treffenden Geschoss zu starker Gewebe aufgrund deren Elastizität meist wieder an
Deformation oder Fragmentation, wodurch sich die die Ursprungslage zurück. Eine massive Gewebe-
Gewebezerstörung erheblich vergrößern kann zerstörung bei wichtigen Organen endet meist töd-
(. Abb. 12.13). lich.
Beckenschussbrüche können stabil oder in- Hohlorgane, wie Magen-Darm-Trakt und
stabil sein und bringen immer das Risiko einer le- Harnblase, enthalten meist Flüssigkeit. Durch die
bensbedrohlichen inneren Blutung mit sich. Schuss- fehlende Komprimierbarkeit wird Druck unmittel-
verletzungen der Wirbelsäule führen häufig zu bar auf die Umgebung übertragen. Ist das Organ
einer Schädigung des Rückenmarks, die regelhaft zum Zeitpunkt des Treffers prall gefüllt und ge-
mit irreversiblen neurologischen Ausfällen verbun- dehnt, kann es explosionsartig zerrissen werden.
den sind. Die Läsionshöhe ist dabei entscheidend: Bei einer mäßigen Füllung und geringeren Wand-
Halsmarkschüsse mit HV sind nahezu stets tödlich. spannung werden Druckwellen dagegen deutlich
266 Kapitel 12 · Schussverletzungen

besser toleriert. Große Blutgefäße verhalten sich hoher Geschwindigkeit getroffen, kann es zu töd-
grundsätzlich ähnlich. Enthalten Hohlorgane Luft, lichen Organzerreißungen führen. Diese ist im
wie es bei Darm und Magen häufig der Fall ist, ab- Wesentlich auf die fehlende Komprimierbarkeit des
sorbiert diese durch ihre Komprimierbarkeit einen Blutes zurückzuführen, das die auftretenden Druck-
Teil der Druckwelle. Die Luft erweist sich somit ge- wellen explosionsartig weiterleitet. In der Diastole
meinsam mit der hohen Elastizität des Magen- kann es dagegen auch bei direkten Treffern eher zu
Darm-Traktes als »Retter« und bedingt häufig er- umschriebener Gewebezerstörung kommen, weil
heblich geringere Schädigungen im Vergleich zu das entspannte, wenig gefüllte Herz Dehnungsre-
flüssigkeitsgefüllten Organen, wie der Harnblase. serven aufweist. Myokardtreffer mit geringer Gewe-
Schussverletzungen im Abdominalbereich ha- bezerstörung tamponieren sich teilweise während
ben eine sehr unterschiedliche Letalität. Werden der Systole selbst. Der unmittelbare Blutverlust ist
größere Blutgefäße getroffen, ist eine präklinische dann kurzfristig überlebbar, es droht aber eine Peri-
Stabilisierung bis zum Erreichen chirurgischer Ver- kardtamponade.
sorgung meist nicht mehr möglich. Auch die meist > Grundsätzlich haben Patienten mit ausge-
gut durchbluteten Organe können bei Verletzung zu dehnten Thoraxverletzungen unter Beteili-
lebensbedrohlichen intraabdominellen Blutverlus- gung großer Gefäße eine schlechte Prognose
ten führen. Häufig sind diese Strukturen bei abdo- und versterben häufig vor Erreichen einer
minellen Treffern aber nicht unmittelbar beteiligt, chirurgischer Versorgung.
so dass die Patienten auch Intervalle von teils deut-
lich mehr als einer Stunde bis zur chirurgischen
Versorgung überleben können.
12.4.5 Kopf

12.4.4 Thorax Dringt ein Projektil in den Kopf ein, entsteht auf-
grund des inflexiblen knöchernen Schädels eine
Der Brustkorb enthält neben Atemwegen und Kompressionswirkung über die verursachten
Lunge auch Herz und große Gefäße sowie den Druckwellen. Häufig wird durch die Beteiligung des
12 Ösophagus als Teil des Gastrointestinaltraktes. Die Hirnstamms ein Atemstillstand ausgelöst. Bei einer
Lunge ist bezogen auf das Volumen zu erheblichen ausreichend hohen übertragenen Energie kann der
Teilen luftgefüllt. Trifft die Druckwelle Lungenge- Schädel durch die hydrodynamische Sprengwir-
webe, wird die darin befindliche Luft komprimiert. kung zerbersten. Geschosse mit niedriger Energie
Sie absorbiert so einen Teil der übertragenen Ener- können häufig keinen Ausschuss mehr erzielen und
gie und begrenzt die Größe der Wundhöhle. In prallen innerhalb des Schädels mehrfach ab oder
Kombination mit der hohen Elastizität des Lungen- gleiten an der Innenseite des Schädels entlang. Hier-
gewebes ergeben sich somit meist deutlich geringe- durch wird ein erheblicher Schaden im Bereich der
re Wundprofile im Lungengewebe als in allen ande- stark vaskularisierten Hirnhäute verursacht. Der
ren Gewebearten. Trifft das Projektil allerdings Effekt tritt insbesondere bei sog. Kleinkaliberpatro-
beim Einschuss auf Rippe oder Schulterblatt, nen auf, z. B. .22 lfB.
kommt es meist zu einer erheblich größeren Ener- Schussverletzungen im Bereich des Gehirn-
gieübertragung auf das dahinter liegende Gewebe. schädels haben eine schlechte Prognose. Bei
Bedeutsamer als die unmittelbare Verletzung Schussverletzungen im Mittelgesichtsbereich
von Lungengewebe ist die Beeinträchtigung der ohne zerebrale Beteiligung und im Halsbereich ste-
Atmung durch Verursachung eines Pneumothorax hen meist Blutungen und Beeinträchtigungen der
oder Spannungspneumothorax. Gerade die Ver- Atemwege im Vordergrund. Darüber hinaus kommt
letzung von Gefäßen an der Thoraxinnenwand es bei Halstreffern häufig zu einer Mitbeteiligung
kann zu erheblichen Blutverlusten in den Brustkorb der HWS.
hinein führen. Werden Herz oder große Gefäße bei
praller Füllung mit Blut von einem Geschoss mit
12.5 · Letalität von Schussverletzungen
267 12
12.4.6 Infektion tizität der Haut meist kleiner als der Geschoss-
durchmesser. Letztlich ist die Unterscheidung zwi-
Durch den bei der Bildung der temporären Wund- schen Ausschuss und Einschuss für die präklinische
höhle entstehenden Unterdruck werden Fremd- Versorgung ohne wirkliche Relevanz.
körper mit entsprechender Besiedelung durch Desweiteren sind Ein- und Ausschuss nicht un-
Krankheitserreger in den Schusskanal hineingezo- bedingt durch einen geraden Schusskanal verbun-
gen (Kleidungsfetzen, Schmutz, Hautpartikel). den. Geschosse oder Fragmente können von der
Auch die Geschossoberfläche ist grundsätzlich kon- eigentlichen Schussachse stark abweichen. Insbe-
taminiert, eine Sterilisation im Lauf durch Rei- sondere bei Knochentreffern können das Geschoss
bungshitze und Druck erfolgt nicht. oder seine Splitter die Richtung bis zu 180° ändern.
Krankheitserreger aller Art finden im avitalen Formstabile, schwere Geschosse neigen weniger zu
oder minderperfundierten zerklüfteten Gewebe mit Richtungsänderungen im Körper als schnelle frag-
zahlreichen Wundtaschen optimale Wachstumsbe- mentierende Geschosse. Mit irregulär verlaufenden
dingungen. Neben den üblichen Haut-, Feucht- und Schusskanälen sollte gerechnet werden und die kör-
Erdkeimen sind insbesondere Gasbranderreger perliche Untersuchung entsprechend sorgfältig er-
aufgrund des rasch fortschreitenden dramatischen folgen. Bei Verletzungen oberhalb des Bauchnabel-
Krankheitsverlaufes und der schwierigen Therapie Niveaus ist immer auch eine thorakale Verletzung
gefürchtet (7 Kap. 9.3). Perforationsverwundungen auszuschließen, bei Verletzungen unterhalb der
von Gastrointestinal- und Urogenitaltrakt führen Brustwarzen liegt in 70 % der Fälle auch eine Betei-
zu einer Verschleppung der Fäkalflora in die Bauch- ligung der abdominellen Höhle vor.
höhle mit nachfolgender Peritonitis.

12.5 Letalität von Schussverletzungen


12.4.7 Ein- und Ausschuss
Geschosse besitzen keine mechanische Aufhalte-
Die verursachende Patrone und der verwendete Ge- kraft. Der größtmögliche Impuls des Geschosses
schosstyp können ebenso wie Ein- und Ausschuss- löst keinen merklichen mechanischen Einfluss im
wunde und deren gedachte Verbindung im Körper Sinne eines »Umwerfens« des Zieles aus.
Hinweise auf das zu erwartende Wundprofil geben. > Der sofortige Tod wird, unabhängig von der
> In der wundballistischen Lehre sind Ein- verwendeten Munition, nur durch Treffer im
schusswunden je nach Auftreffwinkel rund Bereich des Mittel- und Kleinhirns oder obe-
oder oval mit nach innen gezogenen Wund- ren Hirnstamms bewirkt. Dieser Effekt kann
rändern, während Ausschusswunden einen bei Geiselbefreiungen wünschenswert sein.
größeren Durchmesser mit häufig stern-
förmig eingerissenen, nach außen ragenden
Innerhalb von Sekunden bis wenigen Minuten
Wundrändern aufweisen.
können Verletzungen letal sein, die durch Gewebe-
zerstörung eine rasche zerebrale Minderperfusion
Diese Regel trifft in den meisten Fällen zu, insbe- bedingen. Dabei ist von Treffern, die den unmittel-
sondere bei Deformationsgeschossen. Ausschuss- baren Zusammenbruch der Hirnversorgung verur-
wunden sind aber nicht immer zwingend größer als sachen (z. B. Aorta), eine Wirkung innerhalb von
Einschusswunden. Bei fragmentierenden Geschos- Sekunden zu erwarten, während Einschränkungen
sen kann es vorkommen, dass lediglich ein Splitter der kardialen Pumpfunktion durch Treffer mit
einen Ausschuss verursacht, der kleiner ist als der massiver Zerstörung des Herzmuskels oder Herz-
Einschuss. Bei einer sehr hohen vziel (>1200 m/s) klappensystems zumeist innerhalb von Sekunden
können Geschoßteile und Gewebe sogar entgegen bis Minuten zu Handlungsunfähigkeit, Bewusstlo-
der Schussrichtung nach außen gesprengt werden, sigkeit und Tod führen. Größere Gewebeschäden
was die Einschusswunde wie eine Ausschusswunde bei stark perfundierten Organen wie Leber, Nieren
wirken lässt. Einschusswunden sind durch die Elas- und Milz oder die Zerstörung von mittelgroßen
268 Kapitel 12 · Schussverletzungen

Blutgefäßen bedingen meist innerhalb von wenigen Literatur


Minuten einen ausgeprägten hämorrhagischen
Schock. 1. Borden Institute (2004) Emergency War Surgery Walter
Die Auswirkungen auf das Ziel sind letztlich in Reed Medical Center, Washington DC
2. De Lorenzo RA, Porter RS (1999) Injury Mechanisms from
erster Linie abhängig von den beteiligten Organen.
Conventional Weapons. In: De Lorenzo RA, Porter RS (eds)
Ein Treffer mit einem 9-mm-Vollmantelgeschoss Tactical Emergency Care. Military and Operational
in den Aortenbogen bewirkt erheblich schwerere Out-of-Hospital Medicine. Brady, Upper Saddle River,
Verletzungen, als ein Streifschuss mit einem USA, pp 29–46
7,62×67-Teilmantelgeschoss am Oberarm, obwohl 3. Fackler ML (1987) What’s wrong with the wound ballistics
literature, and why. Institute Report No. 239. Letterman
letzteres eine höhere Energie hat. Auch ein sehr
Army Institute of Research, Presidio of San Francisco
niedriger Energietransfer ins Gewebe kann tödlich 4. Kneubuehl BP, Coupland RM, Rothschild MA, Thali MJ
sein, wenn wichtige Organe betroffen sind. Je größer (2008) Wundballistik. Grundlagen und Anwendungen.
die verursachte Wundhöhle ist, umso höher ist aber 3. Auflage. Springer, Berlin Heidelberg New York
die Wahrscheinlichkeit, dass auch Treffer ohne di- 5. Kobbe P, Pape HC (2008) Penetrierende Verletzungen.
rekte Beteiligung von lebenswichtigen Organen Notfall Rettungsmed 11:141–151
6. Kollig E (2009) Empfehlungen für die Versorgung von
letztlich lebensbedrohliche Wirkung haben. Maß-
Schussverletzungen im Einsatz. Teil I: Grundwissen Ballis-
geblich ist also neben dem unmittelbaren Treffersitz tik. Wehrmed Mschr 53:210–216
auch ein möglichst hoher Energietransfer über die 7. Mahoney PF, Ryan JM, Brooks AJ, Schwab CW (2005)
Penetrationsstrecke (Zerstörungspotenzial ge- Ballistic Trauma. A Practical Guide. 2. Auflage. Springer,
nannt): Geschosse mit hoher kinetischer Energie, Berlin Heidelberg New York
8. Miclau T, Gerich T, Foglar C, Lindesy RW, Krettek C (2002)
die diese aber im Körper nicht abgeben können,
Behandlung von Schussverletzungen des Bewegungs-
hinterlassen geringere Wirkung im Ziel als solche apparates. Unfallchirurg 105: 188–198
mit geringerer kinetischer Energie, aber einem frü- 9. Otten E, Mohler D (2007) Hunting and Other Weapon
hen Energietransfer noch während der Penetration Injuries. In: Auerbach P (ed) Wilderness Medicine. 5th ed.
des Ziels. Neben dem Zerstörungspotenzial ist die Mosby/Elsevier, Philadelphia
10. Rosenberger M (2007) Jagdgeschosse. Aufbau, Ziel-
Penetrationstiefe maßgeblich für die Letalität. Erst
verhalten, Verwendung. 1. Auflage. Motorbuch Verlag,
eine Penetrationstiefe von zumindest 30 cm ist Stuttgart
12 ausreichend, um auch bei lateralen Treffern mit 11. U.S. Department of Justice. Federal Bureau of Investiga-
Oberarmdurchschuss wichtige anatomische Struk- tion (1989) Handgun Wounding Factors and Effective-
turen mit hoher Wahrscheinlichkeit schädigen zu ness. FBI Academy, Quantico
können. 12. Wedmore I, McManus J (2009) Penetrating and Explosive
Wounds. In: Bledsoe G, Manyak M, Townes D (eds) Expe-
dition & Wilderness Medicine. Cambridge University
Press, New York
13. Wound Data and Munitions Effectiveness Team. The
WDMET Study. 1970. Original data are in the possession
of the Uniformed Services University of the Health
Sciences, Bethesda, MD 20814-4799
269 13

Explosionsverletzungen
M. Di Micoli, D. Bieler

13.1 Grundlagen – 270

13.2 Verletzungsformen – 271


13.2.1 Primäre Explosionsverletzungen – 272
13.2.2 Sekundäre Explosionsverletzungen – 273
13.2.3 Tertiäre Explosionsverletzungen – 273
13.2.4 Quartäre Explosionsverletzungen – 274
13.2.5 Quintäre Explosionsverletzungen – 274

13.3 Therapie von Sprengverletzungen – 274


13.3.1 Kopf – Hals – Wirbelsäule – 275
13.3.2 Thorax – 275
13.3.3 Abdomen – 276
13.3.4 Becken – 276
13.3.5 Extremitäten – 277

13.4 Taktische Besonderheiten – 278


13.4.1 Empfohlenes Vorgehen bei inkorporierten
nichtexplodierten Sprengmitteln – 278
13.4.2 Gefährdungszone bei Sprengmitteln – 278
13.4.3 »Angesprengte« Fahrzeuge – 279

Literatur – 280

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
270 Kapitel 13 · Explosionsverletzungen

13.1 Grundlagen

Explosionen (»blast«) entstehen meist durch eine


chemische Reaktion oder einen physikalischen Vor-
gang durch welche Gas und Hitze generiert und
hohe Mengen von Energie schlagartig (Millisekun-
den) freigesetzt werden und zur Sprengverletzung
(»blast injury«) führen. Durch die rasche Volumen-
ausdehnung von Gasen entsteht eine Überdruck-
welle unterschiedlicher Geschwindigkeit, die durch
das Umgebungsmedium (Luft, Wasser) weitergelei- . Abb. 13.1 Idealisierter Schockwellenverlauf bei
tet wird. HE-Sprengmitteln
Sprengstoffe werden nach der Ausbreitungsge-
schwindigkeit ihrer Druckwelle und der resultie-
renden Energiefreisetzung in »low order explosi- (Unterdruck, typisch für starke Detonationen),
ves« (LE) und »high order explosives« (HE) unter- die ebenfalls eine hohe Zerstörungskraft besitzt
teilt, wobei die Übergänge hier fließend sind (. Tab. (. Abb. 13.2). Je nach Sprengmittel werden in
13.1). So können LE unter bestimmten Bedingun- Abhängigkeit von der Distanz zum Explosionsort
gen (Umgebungsdruck, Temperatur, Behältnis) Drücke über 100.000 bar erreicht. Bereits 2 bar
schneller »verbrennen« und damit mehr Energie in Überdruck können tödlich sein, bei 10–12 bar
kürzerer Zeit abgeben. Auch können LE und HE Überdruck besteht eine Letalität von 50 %. Das
miteinander gemischt werden. Die resultierende menschliche Trommelfell reißt bei 160 mbar Über-
Schockwelle kann dann einer Detonation und den druck. Entscheidend für das Ausmaß der Schädi-
Folgen einer HE-Explosion entsprechen. Nur HE gung ist die Zeitdauer, in der die Druckunterschiede
erzeugen typischerweise eine Hochgeschwindig- auftreten und die entsprechende Gewebeelastizität
keitsdruckwelle (»supersonic over pressurization bzw. -dehnbarkeit.
shock wave«), die im Freien einen typischen ideali- Trifft die Druckwelle auf eine ebene, harte
sierten zeitlichen Verlauf zeigt (. Abb. 13.1). Diese Fläche (Wand, Erdboden bei Luftexplosion) kann
Druckwelle ist wenige Millimeter dick und breitet sie sich durch Reflexion überlagern und damit ver-
13 sich radiär um den Explosionsort aus. Der Über- stärken. In geschlossenen Räumen (Bus, Haus)
druckwelle folgt eine etwa 3-mal längere Sogwelle kann die Schockwelle so um das 2- bis 9-fache ver-

. Tab. 13.1 Grobe Einteilung und Charakteristika von Sprengstoffen

LE (»low order explosives«) HE (»high order explosives«)

Druckwelle <1500 m/sec (»subsonic«) 1500–9000 m/sec (»supersonic«)

Druckspitze Bis zu >10 bar >100.000 bar möglich

Explosionstyp Verpuffung, Deflagration Detonation

Charakteristikum Hochgeschwindigkeitsdruckwelle

Sprengstoff Schwarzpulver TNT


(TNT als Nitrozellulosepulver Semtex, Dynamit, C4
Referenz) Nuklearwaffe

Beispiel Explodierende Handwaffenmunition, IED (»improvised explosive device«)


Treibladungssäcke von Artilleriegranaten, Handgranate, Militärische Sprengstoffe
IED (»improvised explosive device«)
13.2 · Verletzungsformen
271 13

. Abb. 13.2 Unmittelbare physikalische Folge einer . Abb. 13.3 Multiple Wunden durch Clusterbombe.
HE-Explosion (Aus Gering 2005)

stärkt werden. Eine Person in einem geschlossenen zündet wird und detoniert. Das Aerosol kann in
Raum kann dann durch eine entsprechend verstärk- Gebäude, Höhlensysteme und ungepanzerte Fahr-
te Druckwelle mehrfach aus verschiedenen Rich- zeuge eindringen und (nach Zündung durch die
tungen in kürzester Zeit getroffen werden. Eine zweite Explosion) entsprechend wirken. Es kann so
Explosion in einem geschlossenen Raum führt da- zu einer deutlich verlängerten und größeren Ab-
her zu einer höheren Anzahl von getöteten und gabe von Energie und somit zu potenziell mehr
schwerverletzten Opfern. Opfern und Verbrannten, verglichen mit konven-
> Die Hochgeschwindigkeitsdruckwelle
tionellen HE gleicher Sprengkraft, kommen. EBW
bei HE-Explosionen ist für die primären
besitzen einen starken Vakuumeffekt nach der ini-
Explosionsverletzungen ursächlich.
tialen Schockwelle und generieren einen ausge-
dehnten Unterdruck. Die heiße, brennende Luft
Der Überdruckwelle folgt der so genannte »blast wird quasi zum Explosionsort zentripetal eingeso-
wind«, der die Splitter und Projektile sowie die hei- gen mit entsprechender thermischer Schädigung.
ßen Explosionsgase transportiert (. Abb. 13.3).
Dieser »blast wind« ist für die sekundären, tertiären
und quartären Explosionsverletzungen ursächlich. 13.2 Verletzungsformen
Die Temperaturen können über 3.000 °C erreichen.
Je nach Expositionsdauer und Entfernung zum Ex- Bei Explosionsverletzungen (syn.: Sprengverletzun-
plosionsort kommt es zu unterschiedlich schweren gen, »blast injury«) liegt klassischerweise eine Kom-
Verbrennungen (7 Kap. 15). bination von mechanischem (Barotrauma, Sturz,
Eine Sonderform von HE-Sprengmitteln stellen Splitter, Verschüttung) und thermischem Trauma
im militärischen Bereich so genannte »enhanced- vor. Bei der mechanischen Traumakomponente ist
blast weapons« (EBW, explosionsverstärkende eine Kombination aus perforierenden und stump-
Waffen) dar. Dies sind z. B. Aerosolbomben (»fuel- fen Verletzungen typisch. Die thermomechanischen
air bomb«) und thermobare Waffen. Diese EBW Kombinationsverletzungen machen die Diagnostik
produzieren zwar initial eine geringere Überdruck- und Therapie von Explosionsverletzungen sowohl
welle als konventionelle HE, haben jedoch eine ver- in der Initialphase, als auch in der meist sehr langen
längerte Überdruckdauer und -reichweite mit einer Rekonvaleszenz sehr komplex. Für Verletzungen
größeren letalen Zone um den Explosionsort. Fuel- durch Explosionen mit entsprechender Druckwelle
air-Bomben verteilen typischerweise zuerst durch sind typische Verletzungsmuster beschrieben, die
eine kleine Explosion ein brennbares Gas in der sich aus dem zeitlichen Verlauf und den unmittel-
Luft, welches dann durch eine zweite Explosion ge- baren Folgen der Detonation ergeben und in 5 Ver-
272 Kapitel 13 · Explosionsverletzungen

. Tab. 13.2 Nomenklatur der Explosionsverletzungen

Ursache Typische Verletzung

Primär Druck-, Scherkräfte der Schockwelle Trommelfellruptur, »blast lung«, Bauch-/Hohlorganver-


letzung, arterielle Gasembolie

Sekundär Fragmentation in Form von Splitter, Projektile Penetrierende Verletzungen gesamter Körper

Tertiär Ak- und Dezeleration durch Sturz, größere Vorwiegend stumpfe Verletzungen des gesamten
Trümmer, Verschüttung (Gebäudekollaps) Körpers

Quartär Verbrennung, Inhalationstrauma Gesamter Körper, Exazerbation von Vorerkrankungen,


Infektion/Kontamination mit ABC-Stoffen (z. B. HIV,
HCV-Infektion durch Selbstmordattentäter)

Quintär/ Nicht geklärt: Additiva? Hämodynamische Instabilität, Hyperpyrexie, niedriger


Sonstige ZVD, positive Flüssigkeitsbilanz

> Da das Trommelfell auf Luftdruckunter-


schiede am empfindlichsten reagiert, ist nach
einer Trommelfellverletzung, gewissermaßen
als Indikatorverletzung, gezielt zu suchen,
sofern ein Explosionstrauma durch andere
Verletzungen nicht offensichtlich ist.

Ein intaktes Trommelfell schließt Explosionsver-


letzungen aber nicht sicher aus (7 Kap.17). Beim
. Abb. 13.4 Zeitlicher Ablauf von Explosionsverletzungen. primären Überleben einer Explosion kann diese an
(Graphik: M. Neitzel) der Lunge zur typischen »blast lung« oder »blast
lung injury« aufgrund einer Alveolarbläschenrup-
13 tur, Lungenkontusion und -einblutung führen. Auf-
letzungsformen klassifiziert werden (. Tab. 13.2 grund der relativ starren knöchernen Thoraxwand
und . Abb. 13.4). und der dadurch möglichen Reflexion der Druck-
welle, ist die Lunge häufig bei Explosionsverletzun-
gen betroffen. In der Folge entsteht typischerweise
13.2.1 Primäre Explosionsverletzungen eine Lungenkontusion mit der Ausbildung eines
ARDS (»adult respiratory distress syndrome«) bzw.
Primäre Explosionsverletzungen resultieren durch ALI (»acute lung injury«) innerhalb von Minuten
ein Barotrauma, hervorgerufen durch die Druck- bis Stunden. Aufgrund von tierexperimentellen Da-
welle bei der Detonation. Durch Druckunterschiede ten zeigte sich, dass Lungengewebe bei Bewegungen
beim Auftreffen der Druckwelle im Gewebe kommt der Thoraxwand bis 3,6 m/sec unverletzt bleibt. Bei
es zu Stress- und Scherwellen (»stress-« und »shear- höheren Geschwindigkeiten der Thoraxwand und
waves«) im Gewebe mit entsprechenden Wand- damit auch Beschleunigungen kommt es zu struk-
spannungen. Diese Gewebespannungen werden turellen Verletzungen von Lungengewebe. Eine
durch die nachfolgende Sogwelle und durch Re- durch eine Explosion ausgelöste schwere arterielle
flexionen deutlich verstärkt (7 Abschn. 13.1). Gasembolie wird selten überlebt. Im Abdomen
Luft- und flüssigkeitsgefüllte Organe wie Mittelohr, kommt es zu (Teil-)Rupturen von Hohlorganen
Lunge, Hohlorgane und Gefäße sind besonders (Magen, Darm), parenchymatösen Organen (Leber,
betroffen. Milz, Niere, Pankreas) und kleinen Einrissen der
13.2 · Verletzungsformen
273 13
Hohlorganwände mit ggf. klinisch verzögerter verwendetem Sprengstoff, mehrere hundert Meter
Symptomatik. Durch Dezeleration der Eingeweide betragen. Die Geschosswirkung ist abhängig von
an ihrer Aufhängung kann es hier zu Einrissen mit Form, Größe und Gewicht, sowie getragener
Blutungen und Durchblutungsstörungen der Vis- Schutzkleidung und Entfernung vom Explosions-
zeralorgane kommen. Auch wenn die Extremitäten zentrum. Es können Geschossgeschwindigkeiten
selten isoliert betroffen sind, können Frakturen, bis zu 1800 m/s (bei sehr kleinen Splittern im Nah-
komplette und inkomplette Amputationen sowie bereich) erreicht werden mit entsprechenden perfo-
Ablederungsverletzungen durch die Explosions- rierenden Verletzungen aller exponierten Körper-
welle hervorgerufen werden. Eine taktische Schutz- abschnitte. Aufgrund der ballistischen Eigenschaf-
weste kann zwar vor sekundären, tertiären und ten, ihrer Form und der exzentrisch rotierenden
quartären Explosionsverletzungen schützen, auf- Flugbahn können sie eine 20- bis 25-mal größere
grund möglicher Reflexionen an der Innenseite der Wundhöhle im Vergleich zu ihrer Größe und lokale
Weste kann jedoch die initiale Druckwelle und da- Gewebsdrücke von nahezu 7 bar verursachen
mit die primären Explosionsverletzungen auch ver- (Plurad 2011) (7 Kap.12). Bei Selbstmordattentaten
stärkt werden. Sichtbare äußere Verletzungen sind können Körperteile (v. a. Knochenteile und Zähne)
bei primären Explosionsverletzungen nicht zwin- des Attentäters und von Opfern im unmittelbaren
gend vorhanden, was die klinische Diagnose er- Explosionsbereich ebenfalls zu Geschossen werden
schweren kann. Im Wasser kommt es aufgrund der und perforierende Verletzungen verursachen. Hier-
physikalischen Grundsätze häufiger zu primären durch ergibt sich auch eine mögliche Infizierung
Explosionsverletzungen. von Opfern mit Krankheiten des Täters oder ande-
Primäre Explosionsverletzungen im Wasser rer Opfer aus dem unmittelbaren Umkreis einer
Im Wasser ist die Druckwelle aufgrund der besseren »Leit- Explosion.
fähigkeit« des Mediums gegenüber Luft (Flüssigkeiten sind
! Um eine größere – auch psychologische –
kaum komprimierbar) stärker und weitreichender und damit
auch ihre gewebeschädigende Wirkung. Reflexionen der Wirkung zu erzielen, wurden Attentäter be-
Druckwelle treten an der Wasseroberfläche, sowie am Ge- reits bewusst biologisch (HIV, Hepatitis) oder
wässerboden und an Schiffsrümpfen auf. Ein Schwimmer/ chemisch kontaminiert. An entsprechende
Taucher in flachem Wasser ist entsprechend stark gefährdet, Maßnahmen zum Eigenschutz der Helfer ist
primäre Explosionsverletzungen zu erleiden. Sekundäre, ter-
hier zu denken.
tiäre und quartäre Explosionsverletzungen sind bei (Unter-)
Wasserexplosionen seltener.

13.2.3 Tertiäre Explosionsverletzungen

13.2.2 Sekundäre Explosions- Tertiäre Explosionsverletzungen entstehen durch


verletzungen den Aufprall des durch den »blast wind« durch die
Luft geschleuderten Opfers oder auch durch um-
Sekundäre Explosionsverletzungen werden durch herfliegende Trümmerteile (PKW, Gebäudeteile,
mitgeschleuderte Projektile und Splitter verursacht, Fahrräder etc.) durch die Explosion, welche keine
die sich exzentrisch vom Detonationsort ausbreiten. Splitter (sekundäre Explosionsverletzung) sind und
Diese stammen entweder aus dem Sprengsatz, auch eine deutliche geringere Fluggeschwindigkeit
seiner Ummantelung (primäre Fragmente) oder der aufweisen. Hieraus ergeben sich meist stumpfe Ver-
unmittelbaren Umgebung des Explosionsortes, wie letzungen des gesamten Körpers. Auch Einstürze
Steine, zerborstene Einrichtung oder Autoteile von Häusern werden dieser Kategorie zugeordnet.
(sekundäre Fragmente). Bei IED und terroristischen Neben der traumatischen Asphyxie sind offene und
Anschlägen sind dem Sprengsatz oft bewusst Ge- geschlossene Frakturen und Amputationen an den
genstände (z. B. Stahlkugeln, Schraubenmuttern, Extremitäten, Kompartmentsyndrome und das
Nägel) beigefügt, um eine möglichst große Anzahl Crush-Syndrom möglich. Nach den sekundären
von Verletzten und Toten zu verursachen. Die Reich- sind tertiäre Explosionsverletzungen bei primär
weite der Geschosse in freiem Feld kann, je nach Überlebenden am häufigsten. Im Fall von Gebäude-
274 Kapitel 13 · Explosionsverletzungen

einstürzen mit resultierender Einklemmung zeigt 13.3 Therapie von


sich eine erhöhte Anzahl von Todesfällen im Ver- Sprengverletzungen
gleich zu den sekundären Explosionsverletzungen
mit der sonst höchsten Mortalitätsrate. Die initiale Therapie von Explosionsverletzungen
unterscheidet sich grundsätzlich nicht von der The-
rapie eines Polytraumatisierten oder Verbrennungs-
13.2.4 Quartäre Explosions- patienten. Besonderes Augenmerk ist jedoch auf-
verletzungen grund des Verletzungsmechanismus auf verborgene
Verletzungen zu richten. Nach initialer Versorgung
Quartäre Explosionsverletzungen sind diejenigen muss spätestens in der ersten stationären Versor-
Detonationsfolgen, die nicht in die anderen Grup- gungseinrichtung gezielt nach (primären) Explosi-
pen eingeordnet werden können. Verbrennungen, onsverletzungen (»blast lung«, intraabdominal,
Intoxikationen und Inhalationstraumata, sowohl Hohlorganverletzungen, Trommelfellruptur) ge-
durch den »blast wind«, als auch durch explosions- fahndet werden, um diese Patientengruppe zu iden-
bedingte Brände werden z. B. zu den quartären Ex- tifizieren. Da diese auch mit zeitlicher Verzögerung
plosionsverletzungen gezählt. Aber auch eine akute eintreten können, müssen die Patienten mindestens
Dekompensation vorbestehender Erkrankungen 48 h überwacht und wiederholt untersucht werden.
(z. B. Herzinsuffizienz, COPD, Therapie mit Anti- > Sämtliche perforierende Verletzungen sind
koagulanzien) wird ebenfalls den quartären Explo- als kontaminiert zu betrachten und bedürfen
sionsverletzungen zugerechnet. eines chirurgischen Débridements.

Aufgrund des meist stark verschmutzten und kon-


13.2.5 Quintäre Explosions- tusionierten Gewebes besteht die Indikation zur An-
verletzungen tibiotikagabe, die das chirurgische Débridement
flankiert, aber nicht ersetzen kann. Bewährt hat sich
Quintäre Explosionsverletzungen werden seit weni- klinisch eine Kombination eines Breitspektruman-
gen Jahren beschrieben. Die Definition ist nicht tibiotikums in Kombination mit Metronidazol, so-
einheitlich. Zusammengefasst handelt es sich um fern das Breitspektrumantibiotikum keine zuverläs-
Verletzungen und Zustände von Patienten im Rah- sige Wirksamkeit gegen Anaerobier besitzt. Ver-
13 men einer Explosion, die nicht den ersten vier Ka- wundete aus Einsatzgebieten, wie Irak, Afghanistan
tegorien zuzurechnen sind und wahrscheinlich und Pakistan sind häufig mit multiresistenten Pro-
durch eine Explosion verursacht wurden. Es wur- blemkeimen (MRSA, Acinetobacter baumannii,
den hyperinflammatorische Zustände mit hämody- ESBL, 4-MRGN etc.) besiedelt. Sofern Verwundete
namischer Instabilität, hohem Fieber, niedrigem nicht zeitnah (<1 h) einer Weiterversorgung mit
ZVD und positiver Flüssigkeitsbilanz bereits im chirurgischer Behandlung und Antibiotikagabe zu-
initialen Stadium der Therapie beschrieben, deren geführt werden können, ist eine präklinische
Ursache nicht eruierbar war und nicht durch die Antibiotikagabe »on scene« oder »en route« emp-
vorgenannten vier Kategorien erklärt werden konn- fohlen. Im Rahmen der Selbstmedikation im takti-
te. Möglicherweise liegt hier eine Inkorporation schen Bereich haben sich Chinolone (Ciprofloxacin
toxischer Gase (wie z. B. vorsätzlich beigemischtes 750 mg, Levofloxacin 500 mg) aufgrund ihres Wirk-
Düngemittel) vor oder eine Veränderung des (neu- spektrums, der oralen Bioverfügbarkeit und langen
ro-)endokrinen oder Immunsystems unklarer Ge- Halbwertszeit bewährt.
nese durch die Druckwelle. Die Therapie erfolgt Zur Abschätzung der individuellen Verlet-
hier symptomatisch. zungsschwere und zur Planung der Verletztenver-
sorgung vor Ort und in nachfolgenden Einrichtun-
gen sollten auch Informationen über die Explosion
eingeholt werden (Sprengmittel, Explosionsort
etc.). Je nach örtlicher Gegebenheit (geschlossener
13.3 · Therapie von Sprengverletzungen
275 13

. Tab. 13.3 Verletzungsschwere in Abhängigkeit vom Explosionsort bei terroristischen Bombenanschlägen in Israel
(Kluger 2003). Ein ISS-Wert >15 Punkte wird mit einem schwerverletzten Patienten gleichgesetzt

Parameter Freies Gelände Geschlossener Raum Bus

Mortalität 2,8 % 15,8 % 20,8 %

ISS >15 (»Injury Severity Score«) 6,8 % 11,0 % 11,0 %

Multiple Verletzungen 4,7 % 11,1 % 7,8 %

Notwendigkeit von Operationen 13,5 % 17,6 % 14,9 %

Aufnahme auf Intensivstation 5,3 % 13,0 % 11,3 %

Raum, Wasser, Wände) ist die zu erwartende Ver- verdichten sich die Hinweise auf mögliche primäre
letzungsschwere und die Anzahl der Verletzten un- Explosionsverletzungen am Hirn mit verzögerter
terschiedlich (. Tab. 13.3). Symptomatik beim leichten SHT (»mild traumatic
brain injury«, mTBI) (7 Kap. 18).
> Gerade bei der Versorgung von Sprengver-
Perforierende Verletzungen im Gesichtsbereich
letzungen gilt der notfallmedizinische
besitzen eine besondere psychologische Wirkung
Grundsatz, sich nicht von offensichtlichen
auf die Einsatzkräfte. Entstellende Verletzungen
und beeindruckenden Verletzungen ab-
dürfen jedoch nicht von der abzuarbeitenden Prio-
lenken zu lassen, sondern den Verwundeten
ritätenliste (<C>ABCDE) abhalten. Aufgrund der
aufgrund der physikalischen und physio-
sehr guten Durchblutung im Kopf- und Gesichtsbe-
logischen Kenntnisse von Explosionsver-
reich kann es zu starken Blutverlusten kommen
letzungen zu behandeln.
(Skalpierungsverletzung), die mit Verbänden zu
stoppen sind. Bei Aspirationsgefahr oder Zer-
störung der stabilisierenden Strukturen im Unter-
13.3.1 Kopf – Hals – Wirbelsäule kieferbereich mit Verlegung der Atemwege ist eine
sofortige Intubation oder Koniotomie erforderlich
Es kommen alle Schweregrade eines geschlossenen (7 Kap. 9.3). Bei Gesichtsverletzungen sind Zugänge
und offenen Schädel-Hirn-Traumas (SHT) vor. durch die Nase zu vermeiden.
Hauptsächlich werden diese durch sekundäre und
tertiäre Explosionsverletzungen verursacht. SHT
im Rahmen einer Explosion haben naturgemäß 13.3.2 Thorax
eine hohe Mortalität (71 % der sofort Getöteten und
52 % der sekundär Verstorbenen wiesen ein schwe- Der Thorax und die intrathorakalen Organe
res SHT auf). Bei Dezelerationen, Stürzen und können  durch alle Arten von Explosionsverlet-
Verschüttungen ist eine Wirbelsäulenverletzung zungen geschädigt werden. Stumpfe und perfo-
möglich, die, sofern es die taktische Lage zulässt, rierende Verletzungen werden nach den üblichen
entsprechend zu versorgen ist (Immobilisierung, Versorgungsgrundsätzen (O2-Gabe, ggf. Intuba-
achsgerechte Lagerung/Transport, Zervikalstütze, tion, Analgosedierung, Thorax-Nadel-Dekom-
Vakuummatratze, Spine-Board, Schaufeltrage). pression, Thoraxdrainage, Verbände, Volumenthe-
Dies ist regelhaft erst ab der Phase »Tactical Field rapie) versorgt. Bei nicht kontrollierbaren Blutun-
Care« möglich. Aufgrund von Dezelerationen, gen muss schnellstmöglich unter Beachtung des
Stürzen und bei Insassen von angesprengten Fahr- Grundsatzes der permissiven Hypotension (systoli-
zeugen durch IED kommt es häufig zu Verletzungen scher Blutdruck ca. 90 mmHg) in die nächste geeig-
der thorakolumbalen Wirbelsäule. Hier ist gezielt nete chirurgische Notfalleinrichtung verlegt werden
nach diesen Verletzungen zu suchen. In letzter Zeit (7 Kap. 9).
276 Kapitel 13 · Explosionsverletzungen

. Tab. 13.4 Parameter der lungenprotektiven Beatmung bei »blast lung injury«. Ziel ist eine ausreichende Oxygenie-
rung (pSaO2 >95 %) und Ventilation bei möglichst niedrigen pulmonalen Druckunterschieden (Δpund O2-Konzentra-
tionen zur Vermeidung einer sekundären Lungenschädigung durch iatrogenes Barotrauma und O2-Toxizität. Eine
Volumenüberladung sollte vermieden werden

Modus z. B. BIPAP-ASB, wenn einstellbar


PEEP (mbar) 5–15 Vermeidung von Atelektasen
FiO2 Möglichst <0,5 Vermeidung O2-Radikale
Spitzendruck (Pmax) Wenn möglich <15 mbar über Vermeidung iatrogenes Barotrauma
PEEP-Niveau
I:E* 1:1, wenn einstellbar Ermöglicht niedrigeren Spitzendruck
AZV (Tidalvolumen) <6 ml/kg KG Vermeidung iatrogenes Barotrauma
Frequenz 15–20/min CO2 adaptiert 35–40 mmHg, insbesondere bei SHT
AMV ≈80 ml/kg KG

* Verhältnis der Inspirations- zur Exspirationsdauer

Eine »blast lung« manifestiert sich meist früh- ! Im militärischen und taktischen Bereich sind
zeitig (mitunter nach Minuten) mit Hämoptyse, Thorax und Abdomen weitgehend durch
Luftnot, Husten und Thoraxschmerzen. Bei einem ballistische Westen geschützt. Diese schützen
Pneumothorax oder Mediastinalemphysem zeigen jedoch nicht gegen primäre Explosionsverlet-
sich die typischen klinischen Zeichen. Aufgrund zungen, sie können sie unter ungünstigen
der Situation am Notfallort sind jedoch nicht alle Umständen sogar verstärken. Trotz äußer-
diagnostischen Möglichkeiten sinnvoll, durchführ- licher Unversehrtheit können schwere und
bar oder aussagekräftig (Auskultation bei Lärm, schwerste intrathorakale und -abdominale
obere Einflussstauung bei Volumenmangelschock Verletzungen vorliegen.
oder Dehydratation). Die Indikation zur Thorax-
13 entlastung mittels Entlastungspunktion und Tho- Eine Schwachstelle im ballistischen Bereich besteht
raxdrainage sollte großzügig gestellt werden. Eben- im Bereich der Axilla. Hier ist eine perforierende
so profitiert der Verletzte von einer frühzeitigen Verletzung thorakaler und abdominaler Organe
lungenprotektiven Beatmung mit niedrigen pulmo- trotz Schutzweste möglich.
nalen Druckunterschieden (. Tab. 13.4).

13.3.4 Becken
13.3.3 Abdomen
Beckenverletzungen entstehen hauptsächlich durch
Analog zu Thoraxverletzungen sind auch im Abdo- sekundäre und tertiäre Explosionswirkung. Perfo-
men alle Arten von Explosionsverletzungen mög- rierende Verletzungen sind nach Durchführung der
lich. Die Therapie von abdominellen Verletzungen blutstillenden Maßnahmen (7 Kap. 9) schnell einer
erfolgt nach sterilem Abdecken etwaiger Wunden chirurgischen Versorgung zuzuführen, da es hier
und Eviszerationen symptomatisch. Größere in- durch Verletzung der Iliakal- und Femoralgefäße zu
traabdominelle Verletzungen und Blutungen sind starken Blutverlusten kommen kann.
präklinisch kaum zu beherrschen und müssen Bei stumpfen Verletzungen kann es zur Spren-
schnellstmöglich einer chirurgischen Einrichtung gung und Instabilität des Beckenringes (auch in
zugeführt werden, wenn möglich mit permissiver vertikaler Ebene) mit Verletzung der intrapelvinen
Hypotension. Organe kommen. Bei Zerreißung des präsakralen
13.3 · Therapie von Sprengverletzungen
277 13
Gefäßplexus kommt es zu einer schweren, meist ve-
nösen, Blutung. Durch den zerstörten Beckenring
fehlt das Widerlager und trotz starker Blutung
kommt es zu keiner Selbsttamponade und persistie-
rendem Blutverlust (bis zu 6 l). Als einfache, überall
durchführbare und schnell erlernbare Maßnahme
hat sich hier das pelvic sheeting erwiesen (Hinter-
grund und Durchführung 7 Kap. 9.3). Diese einfa-
che und schnelle Methode behindert weder den
Transport noch die weitere klinische und apparative
Diagnostik. Laparotomien können mit angelegtem
. Abb. 13.5 »Umbrella«-Mechanismus durch Anti-Personen-
Pelvic Sheeting problemlos durchgeführt werden.
Landmine

13.3.5 Extremitäten domen wirken. Aufgrund der von unten wirkenden


Druckwelle ist die Gewebeschädigung deutlich pro-
Die Extremitäten sind vor allem durch sekundäre, ximaler als die sichtbare Amputationshöhe vermu-
tertiäre und quartäre Explosionsverletzungen ge- ten lässt. Dies resultiert in einer höheren definitiven
fährdet. Treten an ihnen primäre Explosionsverlet- Amputationsnotwendigkeit. Bei der ggf. notwendi-
zungen auf, ist ein Überleben aufgrund der Nähe gen präklinischen Anlage eines Tourniquets muss
zum Explosionsort und weiterer schwerer Verlet- dies bedacht werden und die Extremität ebenfalls
zungen unwahrscheinlich. Bei Amputationen durch proximaler abgebunden werden, um die Blutung
primäre Explosionsverletzungen kommt es dabei suffizient zu stillen.
zum Abriss der Extremität auf Frakturhöhe. Abrisse Grundsätzlich sollen Wunden sauber verbunden
auf Gelenkebene sind selten. Weiterhin bleibt fest- werden, um eine fortdauernde Verschmutzung und
zuhalten, dass eine Amputation im Rahmen einer Keimbesiedelung zu verhindern. Luxationen und
primären Explosionsverletzung eine hohe Ener- grobe Fehlstellungen bei Frakturen werden, wenn
giefreisetzung anzeigt und damit ein Indikator für möglich nach Analgetikagabe, in Längsrichtung re-
verheerende Schäden an den luftgefüllten Organen poniert und stabilisiert (Schienen, SamSplint etc.)
ist, die mit einer hohen Mortalität einhergehen um Durchblutungsstörungen zu verhindern. Die Re-
(Hull u. Cooper 1996). position führt zu einem geringeren Schmerzmittel-
Wird das Explosionstrauma langfristig überlebt, bedarf und erleichtert ebenfalls den Transport. Bei
treten die Verletzungen der Arme und Beine hin- stark blutenden Wunden, Verletzungen großer Ge-
sichtlich der Lebensqualität, Arbeits- und Verwen- fäße und Amputationen, die durch Verbände nicht
dungsfähigkeit in den Vordergrund. Je nach Ort der zum Stehen gebracht werden können, hat sich die
Explosion und eingenommener Körperhaltung sofortige Anlage eines Tourniquets sehr bewährt.
zum Zeitpunkt der Verletzung sind Arme und Beine
in unterschiedlicher Häufigkeit (50–70 %) und Amputations- und massiven Weichteilverletzungen
Viel häufiger als komplette Amputationen sind zum Teil
Schwere betroffen. Es finden sich alle Schweregrade desaströse Weichteilverletzungen durch Explosionsverlet-
von der banalen Kontusion/Distorsion über ge- zungen. Inwieweit nach der präklinischen Versorgung eine
schlossene und offene Frakturen bis hin zu Ampu- Amputation auch nach Anlage eines Tourniquets notwendig
ist, lässt sich nicht voraussagen. Da es sich bei den Patienten
tationen ganzer Gliedmaßen. Ein typischer Verlet-
fast ausschließlich um junge gesunde Patienten handelt,
zungsmechanismus der Beine stellt der so genannte müssen viele Faktoren Berücksichtigung finden. Sowohl die
»Umbrella«-(Regenschirm-)Mechanismus durch Gesamtverletzungsschwere, der Lokalbefund nach initialem
eine Landmine dar (. Abb. 13.5). Je nach Spreng- Débridement mit besonderer Berücksichtigung der vor-
liegenden Destruktion von Gefäßnervenstraßen, Sehnen und
kraft und Schutzausrüstung kommt es zur perforie-
dem Weichteilmantel, die Länge der Ischämiedauer, die Mög-
renden Verletzung des Fußes bis zur Amputation. lichkeiten der Weiterversorgung und die damit verbundene
Splitter können von unten bis ins Becken und Ab- definitive Gefäßrekonstruktion als auch die Erfahrung des
278 Kapitel 13 · Explosionsverletzungen

behandelnden Chirurgen spielen dabei eine Rolle. Als alleinige


Entscheidungsgrundlage Scoresysteme zu nutzen, wird nicht 5 Keine Herzdruckmassage oder Defibrilla-
empfohlen. Die Entscheidung zum Extremitätenerhalt oder
tion durchführen
zur primären Amputation ist eine Einzelfallentscheidung. Erst
nach dem initialen Débridement, Durchführung der radiologi- 5 In geschützter Umgebung isolieren (z. B.
schen Diagnostik und Fotodokumentation kann durch den Sandsäcke, Hesco, Bodensenke)
erfahrensten Chirurgen vor Ort, idealerweise durch zwei Chi- 5 Ausrüstung des unmittelbar tätigen und
rurgen, unter Berücksichtigung aller Faktoren insbesondere
der Devise »life before limb« eine suffiziente Entscheidung
notwendigen Personals mit entsprechender
getroffen werden. Hinsichtlich der Amputationstechnik ist (EOD-)Schutzausrüstung
von der früher postulierten Guillotinen-Amputation abzuse- 5 Keine Elektrokauter, Stromquellen, Blut-
hen und die Wunde, nach Amputation so distal wie möglich, wärmer o. ä. in unmittelbarer Umgebung
nicht zu verschließen. Die Durchführung sollte im Sinne einer
Débridement-Amputation erfolgen mit einer Vervollständi- verwenden
gung unter kontrollierten Bedingungen einige Tage später. 5 Vermeidung von Vibration, Temperatur-
änderung oder Änderung der Sprengmittel-
lage
13.4 Taktische Besonderheiten 5 Nur Nativ-Röntgen, keine CT, MR oder Ultra-
schalluntersuchung
13.4.1 Empfohlenes Vorgehen bei 5 Minimal notwendige Anästhesie um
inkorporierten nichtexplodierten anästhesiologisches Personal zu schützen
Sprengmitteln 5 Wenn möglich nur Anwesenheit des
Chirurgen und eines Assistenten (am
In seltenen Fällen werden perforierende Verletzun- besten EOD) bei der Entfernung des
gen mit Sprengmitteln (bis zur Größe einer RPG) Sprengmittels
überlebt, die noch nicht umgesetzt haben. In diesen 5 Entfernung des Sprengmittels in gleicher
Fällen ist eine enge Koordinierung zwischen medi- Position des Sprengmittels im Raum und
zinischem Team und EOD (»explosive ordnance Übergabe an den EOD
disposal«) unerlässlich. So dramatisch diese Situa- 5 Nach kompletter Entfernung und nicht
tion sein kann, muss an erster Stelle der Eigenschutz mehr bestehender Explosionsgefahr Ver-
stehen, um die an der medizinischen Versorgung bringen des Patienten in eine reguläre
und am Patiententransport Beteiligten so gut es geht Operationseinheit zur definitiven Versor-
13 zu schützen. Auch ist, wie bei allen nicht umgesetz- gung
ten Sprengmitteln, ein entsprechender Sicherheits-
radius um die Gefahrenquelle sicherzustellen bzw.
ein provisorischer Schutz (Hesco, Sandsäcke, natür-
liche Bodensenke, gepanzertes Fahrzeug) zu ge- 13.4.2 Gefährdungszone
währleisten. Folgende Maßnahmen haben sich bei bei Sprengmitteln
Transport und Extraktion des Sprengmittels bei
einem entsprechend Verwundeten bewährt: Die Kenntnis des Gefahrenbereiches unterschiedli-
cher Sprengmittel bzw. einer geplanten oder vermu-
teten Explosion ist aus einsatztaktischer Sicht essen-
Empfohlenes Vorgehen bei inkorporierten
ziell zur Planung eines Einsatzes oder im Rahmen
nicht explodierten Sprengmitteln (Lein et
der Versorgung von Verwundeten. Dies sollte in
al. 1999)
enger Abstimmung mit den entsprechenden Exper-
31 von 31 Patienten überlebten ohne Verlet-
ten (Sprengmeister, EOD, Kampfmittelräumdienst)
zung des restlichen Teams.
erfolgen. . Tab. 13.5 gibt eine Übersicht über die
5 Eigenschutz und Schutz Unbeteiligter
tatsächliche Gefährdungszone nach Aufarbeitung
5 Entdecken und Identifizieren des Spreng-
verschiedener Terroranschläge.
mittels (möglichst mit EOD)
13.4 · Taktische Besonderheiten
279 13

. Tab. 13.5 Mögliche Gefährdungszone bei Terroranschlägen: Die Zahlen beziehen sich auf ausgewertete Attentate.
Je nach verwendetem Sprengmittel, Ort der Explosion und Beimischung sind andere Entfernungen möglich. Bei
hoher Sprengkraft (untere drei Zeilen) ist durch den zu erwartenden und beabsichtigten Gebäudeeinsturz eine hohe
Opferzahl zu erwarten

Verbringungsart Sprengkraft in TNT-Äquivalent Tödiche Verletzung Schwere Verletzung

Selbstmordattentäter 1–5 kg 5m 10–30 m

Kleinwagen 227 kg 30 m 450 m

VW-Bus (Oklahoma City 1994) 1.180 kg 80 m 840 m

LKW (Kobar 1996) 4.545 kg 91 m 1.150 m

Tankwagen (Beirut 1983) 1.363 kg 140 m 1.980 m

. Abb. 13.6 Durch IED angesprengtes gepanzertes KFZ (12 t). Der Motorblock fand sich 150 m entfernt. Alle Insassen
wurden schwer verwundet

13.4.3 »Angesprengte« Fahrzeuge dem initialen Impuls der Druckwelle auf das Fahr-
zeug mit stumpfen, selten perforierenden Verletzun-
Die Einsatzrealität durch asymmetrische Konflikte gen durch das Anschlagen der Verwundeten gegen
zeigt zunehmend das Problem von »angesprengten« die Innenseite der Karosserie. Bei sitzender Position
Fahrzeugen in Krisengebieten. Regelmäßig werden und Explosion von unten, kommt es häufig zu Stau-
IED hoher Sprengkraft verwendet (. Abb. 13.6) die chungsverletzungen der Wirbelsäule mit Frakturen
durch Kontakt (Druckplatte) oder ferngezündet un- der thorakolumbalen Wirbelsäule. Wird das Fahr-
ter dem Fahrzeug explodieren. Das Ausmaß der zeug umgeworfen und fällt zusätzlich einen Abhang
Schädigung von KFZ und Insassen wird durch die herunter verstärkt sich naturgemäß das Verletzungs-
Sprengladung, die Panzerung und durch die Siche- muster. Je nach Panzerung ist es möglich, dass das
rung der Insassen (Sicherheitsgurt, mit der Fahr- Material auch die Druckwelle durchlässt, wobei es
zeugwanne verschraubte Sitze mit Impulsfortlei- dann zu allen Formen von Explosionsverletzungen
tung) bestimmt. Die Verletzungen resultieren aus kommen kann (7 Abschn. 13.1). Auch eine nicht
280 Kapitel 13 · Explosionsverletzungen

korrekt geschlossene Tür kann dazu führen. Aus un-


fallmedizinischer Sicht ist das Anlegen des Sicher-
heitsgurtes sehr zu empfehlen, obwohl dies ggf. tak-
tischen Aspekten widerspricht.

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281 14

Bissverletzungen
S. Hentsch, J. Sahm

14.1 Einführung – 282

14.2 Ätiologie – 282

14.3 Versorgung im Rahmen der taktischen Medizin – 282


14.3.1 Desinfektion – 283
14.3.2 Débridement und Drainageeinlage – 283
14.3.3 Kalkulierte, prophylaktische Antibiose – 284
14.3.4 Ruhigstellung – 284

14.4 Impfschutz und Antisereneinsatz – 284

Literatur – 285

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
282 Kapitel 14 · Bissverletzungen

14.1 Einführung Kontamination mit Bakterien der Mundflora in ho-


her Konzentration, ggf. werden auch Viren in die
Im Themenkomplex der taktischen Medizin sind Wunde übertragen. Unbehandelt können sie neben
Bissverletzungen eher ein Randthema. In den letz- lokalen auch systemische Infektionen (z. B. Blut-
ten Jahren werden bei Operationen des Militärs, vergiftung, Tollwuterkrankung) verursachen. Eine
hier vor allem im Bereich der Spezial- und Speziali- fehlende oder inadäquate Behandlung kann somit
sierten Kräfte, aber auch bei Einsätzen von Polizei schwerwiegende Folgen nach sich ziehen.
und Sicherheitskräften verstärkt Diensthunde im Das Ausmaß einer relevanten Bisswunde kann
Einsatz verwandt. Diese sind veterinärmedizinisch von einer oberflächlichen Schürfwunde bis hin zu
gut überwacht, so dass bei Bissverletzungen z. B. in Organverletzungen reichen, ist interindividuell ver-
diesem Fall die Gefahr einer Tollwutinfektion durch schieden und muss jeweils im Einzelfall beurteilt
die Schutzimpfung des Hundes als gering einzu- werden. Dabei ist die Unterschätzung des Verlet-
schätzen ist. Beim Biss eines fremden Hundes ist der zungsausmaßes (z. B. sehr häufig bei Katzenbissen)
Impf- bzw. Infektionsstatus selten bekannt, so dass eine Herausforderung für den Erstbehandler bei
eine darauf abgestimmte Versorgung erfolgen sollte. diesem Verletzungsmuster.
Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, diesen Themen- Ca. 15–20 % der Hundebisse führen zur Wund-
komplex ausschließlich auf Hundebisse zu fokussie- infektion. Gefährlicher sind Katzen- und Men-
ren. Letztlich sind Bissverletzungen in Einsatz schenbisse mit über 50 % Infektionsrate. Bissverlet-
durch ein potenziell großes Spektrum von Tieren zungen werden eingeteilt in:
denkbar, es sei hier beispielhaft die Verletzung 4 Hochrisiko (High-risk)-Verletzungen: z. B. im
durch Katzenbiss mit sehr hohem Infektionsrisiko, Bereich der Hände mit zahlreichen Gefäß-,
aber auch Nagetier- und Insektenbisse zu erwäh- Nerven- und weiteren Strukturen, die häufig
nen, letztendlich müssen auch Menschenbisse be- eine sehr eingeschränkte Stoffwechselaktivität
trachtet werden. aufweisen und daher die Weiterleitung der In-
In jedem Fall besteht eine potenziell hohe Ge- fektion fördern. So können sich phlegmonöse
fährdung durch Übertragung von Bakterien in die Entzündungen im Bereich der Hand ohne
hervorgerufene Wunde, aber auch eine Exposition Therapie schnell entlang der Sehnenscheiden
mit Viren, wie z. B. Tollwut, ist möglich. Auch Biss- in den sogenannten Parona-Raum des Unter-
wunden durch Tiere mit Giftzähnen müssen Er- arms ausbreiten (. Abb. 14.1).
wähnung finden (7 Kap. 37). 4 Niedrigrisiko (Low-risk)-Verletzungen: z. B.
In den folgenden Abschnitten werden die Ver- im Körperstammbereich, dort mit niedriger
sorgungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten der Infektionsgefahr.
14 Bissverletzung unter den Bedingungen der takti-
schen Medizin dargestellt.
> Alle Bissverletzungen im Dienst (Polizei,
14.3 Versorgung im Rahmen
Militär) gelten als meldepflichtige Dienst-
der taktischen Medizin
unfälle!
> Im Vordergrund der Versorgung steht vor
taktischem Hintergrund in jedem Falle die
Blutstillung!
14.2 Ätiologie
Hierbei steht immer dann, wenn Extremitäten
Bei Bissverletzungen handelt es sich um durch betroffen sind, der Einsatz eines Tourniquets im
Zähne hervorgerufene kombinierte Stich- bzw. Zentrum. Es gilt auch bei dieser Art der Verletzung,
Riss-Quetsch-Wunden. Dabei kommt es primär die Abbindung sobald als möglich zu ersetzen. Ziel
durch den Beißdruck (Bisskräfte von Hunden: bis muss letztendlich die chirurgische Untersuchung
zu 320 kg/cm2) zu einem lokalen Gewebeschaden und Versorgung der Wunde mit der definitiven
mit Minderdurchblutung, zusätzlich erfolgt eine chirurgischen Blutstillung sein.
14.3 · Versorgung im Rahmen der taktischen Medizin
283 14
len Hämostyptika oder speziellen Verbandmitteln
zur Wundtamponade muss in das Behandlungsre-
gime ggf. integriert werden.
Einen Sonderfall nehmen Verletzungen des
Gesichts ein. Es handelt es sich hier um ein gut
exponiertes Körperareal mit exzellenter Durch-
blutung, Verletzungen hier können zu einem signi-
fikanten Blutverlust führen. und ein primär spekta-
a
kuläres Bild für den Ersthelfer bieten, welches even-
tuell von weiteren relevanten Verletzungen ablenkt.
Betrachtet man die Bissverletzungen unter dem
Aspekt des Schlagworts »Prolonged Care«, ergibt
sich eine deutliche Erweiterung des zu beherrschen-
den Therapiespektrums der Erstbehandler. Hierzu
zählen neben einer lokalen Desinfektion, das zeit-
nahe Wunddébridement, eine prophylaktische An-
tibiotikatherapie (Erregerspektrum!) und die Im-
b
mobilisierung der verletzten Extremität.

14.3.1 Desinfektion

Eine Bisswunde muss in jedem Fall lokal desinfi-


ziert werden. Es sollte auf ein handelsübliches
Wunddesinfektionsmittel zurückgegriffen werden.
Eine Spülung oder Lavage der Wunde zur Keimver-
dünnung ist eine weitere Behandlungsmethode. Ein
reichliches Nachspülen mit NaCl- oder Ringer-
Lösung ist bei vorheriger Verwendung von anti-
septischen Spülungen wie z. B. mit Polyhexanid-
c
Lösung anzuraten.
. Abb. 14.1a–c High-risk-Bissverletzung der Hand. Die Ge- Lokale Antiseptika, insbesondere PVP-Iod-
fährlichkeit von Wundinfektionen bei Bissverletzungen der Komplex- und Polyhexanid-Lösungen zeigen eine
Hand wird anfangs häufig unterschätzt. a,b Zustand nach gute antibakterielle Wirkung (kein größerer Eiweiß-
Biss. c Die operative Revision zeigt die tatsächliche Ausbrei-
tung des Wundinfektes
fehler) und nur geringe Beeinflussung der Wund-
heilung. Bei fehlenden Optionen unter taktischen
Bedingungen mit geringen Ressourcen ist eine
> Hand und Handgelenksverletzungen machen Wundspülung mit (sauberem) Trinkwasser zur
allein über 50 % aller Bissverletzungen aus. Keimreduktion und Säuberung ebenfalls sinnvoll.

Auch an anderen Körperstellen steht die Blutstil-


lung in einer ersten Versorgungsphase im Vorder- 14.3.2 Débridement
grund. Grundlage hierzu ist eine profunde Ausbil- und Drainageeinlage
dung in der Verbandslehre, der Phantasie in der
Anwendung von Verbandmaterial ist unter takti- Diese Art der Versorgung setzt profunde chirurgi-
schen Bedingungen natürlich keine Grenze gesetzt, sche Kenntnisse des Erstversorgenden auch in der
da der Lokalisation und Form der Wunde Rech- taktischen Medizin voraus. Aktuelle Empfehlungen
nung getragen werden muss. Der Einsatz von loka- gehen dahin, dass in jedem Falle ein Débridement
284 Kapitel 14 · Bissverletzungen

durchgeführt werden muss. Dies umfasst die klassi- biniert mit Clindamycin (3×600 mg oral) aus-
sche Wundausschneidung nach Friedrich (Aus- zuweichen.
schneiden der Wundränder bei lokal umschriebe-
nen Wunden ohne Beteiligung tieferliegender Im Falle des »Prolonged Care« sollte neben anderen
Strukturen). Ein Wundverschluss mittels Naht soll- Maßnahmen zwingend eine zeitnah zum Biss (mög-
te präklinisch nicht erfolgen. Wird sie vom chirur- lichst innerhalb der ersten Stunde nach Verletzung)
gisch Erfahrenen dennoch im Sinne einer Wundad- durchzuführende kalkulierte Antibiotikagabe erfol-
aptation durchgeführt, ist die Einlage einer Lasche gen. In Ermangelung anderer Maßnahmen sollte
bzw. Drainage dringend anzuraten. dies mindestens bis zum Erreichen einer chirurgi-
schen Versorgung fortgeführt werden, danach liegt
Tipp
es in der Entscheidung des Weiterbehandelnden,
die Therapie fortzuführen.
Im Falle von Defektwunden (Wunden, deren
Ränder sich nicht problemlos aneinander
! Eine lokale Applikation von antibiotika-
legen lassen) sollten nur Desinfektion/Wund-
haltigen oder »Zug«-Salben ist nicht in-
spülung und Verband/Blutstillung erfolgen.
diziert! Sie erschwert die Beurteilung der
Der Wundverschluss kann erst unter Opera-
Wunde durch Nachbehandler und schafft
tionsbedingungen sinnhaft erfolgen.
keine Wirkspiegel in dem schlecht durch-
bluteten Gewebe.

14.3.3 Kalkulierte, prophylaktische


Antibiose 14.3.4 Ruhigstellung

Im Falle einer Wundinfektion muss mit Mischin- Im Falle einer Bisswunde an einer Extremität, muss
fektionen mit häufig mehr als 5 verschiedenen Er- diese nach Erstversorgung zwingend ruhiggestellt
regern gerechnet werden. Exemplarisch seien hier werden, um eine Weiterverbreitung der Keime im
die folgenden Erreger erwähnt: Weichteilverbund über Lymphgefäße und kleine
4 Aerobier: Pasteurella mulocida, Pasteurella Venen zu vermeiden. Dabei sollten mindestens die
ganis, Pasteurella stomatis, Capnocytophaga beiden angrenzenden Gelenke immobilisiert wer-
canimorsus, Wecksella zoohelium, Eiknella den. Unter taktischen Bedingungen können hier
corrodens, Bartonella haensele (Katzebisse), anpassbare Splints oder auch provisorische Schie-
14 Francisella tularensis oder Spirilium minus nen zur Anwendung kommen – der immobilisie-
(Rattenbisse), Staphylokokken, Streptokokken rende Effekt ist entscheidend. Idealerweise erfolgt
4 Anaerobier: Fusobakterien, Porphyromonas, an der häufig betroffenen oberen Extremität die
Prevotella, Clostridium perfringens, Propioni- Ruhigstellung im Handgelenk in Funktionsstellung
bakterien, Bacteroides-Arten. und der Finger in »Intrinsic-plus-Stellung«, um
Spätschäden durch narbenbedingte Gewebe-
Bei primär unbekannter Erregersituation wird fol- schrumpfung zu vermeiden (. Abb. 14.2).
gende initiale Antibiotikaprophylaxe empfohlen:
4 Amoxicillin und Clavulansäure (2×875 mg plus
125 mg oral pro 24 h). 14.4 Impfschutz und Antisereneinsatz
4 Eine Alternative stellt die Kombination von
Metronidazol (3×400 mg oral) und Cefuroxim > Jeder potenziell Expositionsgefährdete sollte
(2×500 mg oral; alternativ Ceftriaxon 1×2 g in diesem Gesamtzusammenhang auch über
intravenös) pro 24 h dar. einen umfassenden Impfschutz verfügen.
4 Bei Penicillinallergie ist auf ein Chinolon (z. B. Dies beinhaltet neben der Tetanus-Impfung
2×500 mg Ciprofloxacin oral pro Tag) kom- auch eine Immunisierung gegen Tollwut.
Literatur
285 14
kg KG einmalig durchzuführen, wobei die Hälfte
des Serums um die Verletzungsstelle herum, die
70°–80°
zweite Hälfte intramuskulär verabreicht werden
muss. Simultan muss die aktive Immunisierung mit
Rabies-Vakzin (an Tag 0, 3, 7, 14 und 28) durchge-
führt werden. Besteht ein Impfschutz, so kann ggf.
auf die passive Impfung verzichtet werden, jedoch
ist die aktive Immunisierung (dann an Tag 0 und 2)
30°–40°
angeraten und sollte immer binnen Stunden verab-
reicht werden. Zusätzlich ist eine ausgiebige Lavage
. Abb. 14.2 Intrinsic-plus-Stellung. Die längerfristige Ru- der Wunde ohne anschließenden Wundverschluss
higstellung einer Hand sollte in dieser Stellung erfolgen, um
durchzuführen.
eine Schrumpfung von Gelenkkapseln und Bändern der Fin-
gergelenke zu vermeiden In jedem Falle ist der Tetanus-Impfschutz zu
eruieren, im Zweifel muss eine Impfung (ggf. als
aktiv-passive Simultanimpfung) erfolgen.
Die Tollwut nimmt im Bereich der Bissverletzungen Bei Giftexposition ist neben der Immobilisati-
eine Sonderstellung ein. Durch die Übertragung der on und zeitnahen Wundrevision die Anwendung
Rabies-Viren kommt es ohne Schutz und Behand- von Antiseren (spezifisch und unspezifisch) zu er-
lung unweigerlich zu einem qualvollen Tod. Es wer- wägen (7 Kap. 37).
den im Speichel des Tieres befindliche Viren in die In jedem Falle muss bei allen Expositionsge-
Bisswunde übertragen. Entlang der Nervenzellen fährdeten auf einen umfassenden Impfschutz ge-
gelangt das Virus in Richtung des zentralen Nerven- achtet und dieser aufrechterhalten werden.
systems und breitet sich von dort wieder nach peri-
pher aus. In dieser Weise gelangt es auch in die Spei- Zusammenfassung
cheldrüsen, von wo aus dann eine Übertragung er- Der Hauptfokus der Versorgung von Bissverletzun-
folgen kann. Bei Bissverletzungen, die nahe am ZNS gen liegt unter den Gesichtspunkten der taktischen
lokalisiert sind, ist dieser Zeitraum aufgrund der Medizin auf der Blutstillung. In Folge ist eine mög-
vom Virus »zurückzulegenden Strecke« entspre- lichst zeitnahe chirurgische Wundkontrolle und ggf.
chend kürzer und geht mit einem schnelleren To- Versorgung anzustreben. Sollte diese notwendig,
deseintritt einher. aber nicht verfügbar sein, ist eine Desinfektion,
Wundexploration und Lavage und im Einzelfall ein
! Zeigt ein Tier ein auffälliges Verhalten mit
Débridement durchzuführen. In jedem Fall sollte,
Überaggression, Übererregung, Schaum vor
wenn eine Extremität betroffen ist, zwingend eine
dem Maul (als Zeichen der vermehrten Spei-
Ruhigstellung erfolgen. Wenn möglich und ver-
chelbildung durch die krankheitsbedingte
fügbar, ist mit einer breitbandigen Antibiose zu be-
Schluckstörung) oder Scheuverlust bei Wild-
ginnen. Besteht Verdacht auf eine Übertragung von
tieren, um hier nur einige Anzeichen zu nen-
Tollwutvirus, ist mit einer simultanen Impfung bzw.
nen, muss vorrangig an Tollwut gedacht wer-
Auffrischung zu reagieren.
den. Unglücklicherweise kann eine Übertra-
gung auch ohne das Fehlen dieser Anzeichen
stattfinden, da ein infiziertes Tier bereits Vi-
ren über den Speichel ausscheiden kann, be- Literatur
vor klinische Symptome auftreten.
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Bei Verdacht auf eine mögliche Exposition mit dem sondere Stellung in der unfallchirurgischen Versorgung.
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Tollwut-Virus, gilt es, schnellstmöglich lokal und
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14
287 15

Verbrennungen
M. Di Micoli, S. Hentsch

15.1 Definition, Grundlagen, Ursache – 288

15.2 Beurteilung der Verbrennungsschwere – 288

15.3 Inhalationstrauma – 289

15.4 Therapie – 291

15.5 Besonderheiten beim Kind – 293

15.6 Besonderheiten bei Stromverletzungen – 294

15.7 Bekleidung – 294

Literatur – 294

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
288 Kapitel 15 · Verbrennungen

15.1 Definition, Grundlagen, Ursache und damit Verlust von Flüssigkeit und kleinmole-
kularen Proteinen vom intravasalen in den extrava-
Bei einer Verbrennung kommt es zur Schädigung salen Raum. Hierdurch entsteht ein interstitielles
von Körpergewebe durch thermische, chemische, Ödem aufgrund von Änderungen im osmotischen
physikalische oder elektrische Einwirkung. Das Gefälle. Es kommt zusätzlich zu einer Mikrozirku-
Ausmaß der Schädigung ist abhängig von Einwirk- lationsstörung auf Kapillarebene (Leukozyten- und
dauer und Temperatur. Bei einer Einwirkdauer von Thrombozytenaggregation) mit entsprechender
1 h können so schon ab 45 °C Zellschäden auftreten. zellulärer Schädigung. Aufgrund des Verlustes der
Bei Explosionen kommt es zu Temperaturen von bis Schutzfunktion der Haut verliert der Körper somit
zu über 3.000 °C innerhalb von Millisekunden die Möglichkeiten der Thermo- und Flüssigkeitsre-
(7 Kap. 13). gulation und seine antibakterielle Barriere.
Nach 48–72 h beginnt die allmähliche Rückre-
jUrsachen sorption des Ödems. Diese Phase dauert je nach
Als Ursache von thermischen Verletzungen gelten Schädigungsausmaß 1–3 Wochen.
im zivilen Bereich überwiegend offenes Feuer
(51 %) und Verbrühung (28 %) mit Flüssigkeiten.
Andere Ursachen (Explosion, Strom, sonstige) sind 15.2 Beurteilung
seltener, treten im militärischen und taktischen Be- der Verbrennungsschwere
reich aber deutlich in den Vordergrund. Gerade in
diesen Bereichen ist im Rahmen von Explosions- Zur Beurteilung der Verletzungsschwere ist die Ein-
verletzungen zusätzlich zu Verbrennungen mit zu- schätzung der Verbrennungstiefe und des Ausma-
sätzlichen schweren Verletzungen im Rahmen der ßes der Körperoberfläche (KOF) erforderlich. Die
thermomechanischen Kombinationsverletzungen Verbrennungstiefe wird im deutschsprachigen
zu rechnen (7 Kap. 13). Raum nach unten stehender Tabelle eingeteilt
(. Tab. 15.1). Im angloamerikanischen und interna-
jPathophysiologie tionalen Bereich wird gewöhnlich zwischen »partial-
Ein Verbrennungstrauma führt zum Integritätsver- thickness burns« (I° und II°) und »full-thickness
lust der Haut mit entsprechendem primärem Flüs- burns« (III° und IV°) unterschieden (. Abb. 15.1).
sigkeitsverlust. Durch Mediatorenausschüttung (die Zur schnellen Orientierung über das Ausmaß
Haut ist das größte Organ des Immunsystems und der verbrannten KOF wird die Neuner-Regel nach
das größte Flächenorgan des Menschen) kommt es Wallace (. Abb. 15.2) angewendet. Als grobe Richt-
zu einer Permeabilitätsstörung auf Kapillarebene linie gilt, dass die Handfläche eines Patienten
(»capillary leak«) mit entsprechendem Übertritt 1 % KOF entspricht.

15
. Tab. 15.1 Einteilung der Verbrennungstiefe

Grad Tiefe Klinik Therapie Prognose

I° Oberflächlich epidermal Hautrötung, Schmerzen Konservativ Ausheilung

II°a Oberflächlich dermal Blasenbildung, roter Wundgrund, stark Konservativ Ausheilung ohne
schmerzhaft Narben

II°b Tief dermal Blasen, heller Wundgrund, schmerzhaft Meist Operativ Meist Narbenbildung

III° Tief subdermal, Unter- Weiß-bräunlicher Wundgrund, Operativ Narbenbildung


hautfettgewebe schmerzlos, koaguliertes Gefäßnetz

IV° Faszie, Sehne, Muskel, Verkohlung, Braun-schwarz Operativ Defektheilung


Knochen
15.3 · Inhalationstrauma
289 15

. Abb. 15.1 Verbrennung II°a und II°b nach Explosion. Die


Haut unter der Uhr und unter dem T-Shirt erlitt aufgrund der
kurzen Expositionszeit keine Verbrennung

. Abb. 15.2 9er-Regel nach Wallace: Verbrennungsausmaß


! Die exakte Verbrennungstiefe und das Ver-
verbrannter KOF beim Erwachsenen
brennungsausmaß lassen sich am Notfallort
und in der klinischen Initialphase nur schwer
abschätzen. In der Regel wird initial das Ver-
brennungsausmaß überschätzt und die Ver-
brennungstiefe unterschätzt.

Das Belassen verbrannter Kleidung führt zum


Phänomen des Nachbrennens (»afterburning«) mit
Vergrößerung der Verbrennungsareale/Verstär-
kung der Verbrennungstiefe nach Beendigung der
Exposition.

15.3 Inhalationstrauma . Abb. 15.3 Schwere Verbrennung (II° bis IV°) mit Inhala-
tionstrauma
Eine Besonderheit beim Verbrennungstrauma ist
das Inhalationstrauma (IHT). Bei Bränden und
Rauchentwicklung in geschlossenen Räumen sowie und Thoraxbereich (. Tab. 15.2, . Abb. 15.3). Bei
bei Explosionen (»blast wind«, 7 Kap. 13) ist bis zum der Inspektion des Pharynx und Larynx (Laryngo-
Beweis des Gegenteils von einem IHT auszugehen. skopie) ist auf eine auffallend gerötete oder blasse
Klinische Anhaltspunkte sind verbrannte Haare im Schleimhaut und Rußauflagerungen zu achten.
Kopfbereich sowie verbrannte Haut im Kopf-, Hals- Symptome wie Dyspnoe, Husten, Würgen, Stridor
290 Kapitel 15 · Verbrennungen

. Tab. 15.2 Klinische Diagnostik beim Inhalationstrauma

Symptome Husten, Würgen, Luftnot, Übelkeit, Erbrechen, Bewusstseinstrübung bis zur


Bewusstlosigkeit, Schwindel, Giemen

Äußerliche sichtbare Verbrannte Kopfbehaarung (Augenbrauen, Wimpern, Nasenhaare, Bart), Verbrennungen


Zeichen im Kopf-, Hals- und Thoraxbereich

Untersuchung Rußauflagerungen im Nasen-Rachen-Raum oder im Tubus nach Intubation, auffallend


gerötete oder blasse Schleimhaut im Pharynx-/Larynxbereich (Laryngoskopie)

. Tab. 15.3 Mögliche Arten des Inhalationstraumas

Agens Schädigungsort Symptom Therapie

Thermisch Gas, Dämpfe Oberer und unterer Würgen, Husten, O2-Gabe, Intubation
Respirationstrakt Larynxödem

Chemisch Ammoniak, Hydrophil: oberer Würgen, Husten, O2-Gabe,


– toxisch Chlorwasser- Respirationstrakt Larynxödem, Bron- Bronchodilatatoren
stoffe, Aldehyde Lipophil: unterer Respirations- chospastik
trakt

Phosgen, Alveoläres Lungenödem Sofortige Bronchos- O2-Gabe,


Nitratgase pastik Bronchodilatatoren

Kohlenmonoxid Kompetitive Verdrängung Übelkeit, Schwindel, O2-Gabe, Intubation


(CO) von O2 an Hämoglobin durch Desorientiertheit, (FiO2:1,0), ggf.
200-fach höhere Affinität Bewusstlosigkeit HBO-Therapie

Cyanid (HCN) Hemmung des oxidativen Ähnlich CO-Vergif- O2-Gabe, Hydroxoco-


Zellstoffwechsels mit tung balamin (Cyanokit)
»innerer« Erstickung

und Giemen müssen ebenfalls als mögliches IHT Bei Bränden oder Explosionen kommt es, je
identifiziert werden, ohne dass auf die Genese des nach verbranntem Stoff, zur Freisetzung von Brand-
IHT geschlossen werden kann (. Tab. 15.3). Ebenso gasen (heterogene Substanzgemische) und ent-
15 ist bei Bewusstlosen in entsprechender Umgebung sprechender Schädigung im Respirationstrakt, im
an ein IHT als alleinige Ursache oder als zusätzliche Alveolarbereich oder auch systemisch. Brände ver-
Verletzung zu denken. ursachen auch die Freisetzung toxischer Verbren-
Das Vorliegen eines IHT, v. a. in Kombination nungsprodukte wie Aldehyde, Stickoxide, Nitrose-
mit Explosionsverletzungen, geht mit einer deutli- Gase, Chlorwasserstoff, Schwefeldioxid, Ammoni-
chen Steigerung der Morbidität und Letalität einher. ak, Phosgen (Abbrand von PVC!), u. a. Dabei kommt
Bei dem IHT handelt es sich um ein heterogenes es besonders in geschlossenen Räumen (Gebäude,
Krankheitsbild. Ursächlich ist eine thermische, KFZ) zur Abnahme der O2-Konzentration und zu
chemisch-toxische Schädigung des Respirations- einem Anstieg der CO- und CO2-Konzentration.
traktes vom Pharynx bis zu den Alveolen. Je nach Neben der O2-Armut sind CO2, CO und Cyani-
Schädigungsort kommt es zur Zerstörung von Pha- de für die hohe Frühletalität beim IHT verantwort-
rynxmukosa bis zu den Pneumozyten mit Verlust lich. Bei Inhalation von Reizgasen können Sympto-
von Surfactant (Schadenshauptlokalisation in Ab- me auch mit einer Latenz von mehreren Stunden
hängigkeit von der Wasserlöslichkeit der Toxine). auftreten.
15.4 · Therapie
291 15
15.4 Therapie Kleidungsbereiche von den haftenden ab-
schneiden.
Grundsätzlich ist die Versorgung von Brandverletz- 4 Verbrannte Hautareale mit sterilen, saufähigen,
ten analog der Richtlinien der Traumaversorgung nicht verklebenden Materialien verbinden.
durchzuführen, da gerade im taktischen Bereich Salben, Puder, färbende Flüssigkeiten und das
häufig eine thermomechanische Kombinations- Eröffnen von Blasen sind im Rahmen der Erst-
verletzung vorliegt, z. B. nach einer Explosion. Die versorgung zu unterlassen. Industriegefertigte
äußerlich deutlich sichtbare Verbrennung darf nicht Verbandspäckchen, u. a. mit Gelauflagen sind
davon abhalten, nach verborgenen Verletzungen bei der Primärversorgung nicht erforderlich.
(z. B. Pneumothorax) zu fahnden und diese entspre- Gerade bei großflächigen Verbrennungen ber-
chend zu therapieren. In der Regel hat, gerade im gen sie das Risiko der andauernden Unterküh-
taktischen Bereich, die Versorgung der mechani- lung.
schen Verletzungen (Blutung) Vorrang vor den Ver-
Tipp
brennungsverletzungen. Nach initialem Überleben
der mechanischen Traumakomponente gewinnt in
Im Rucksack können allein aus Platzgründen
der weiteren Behandlung die Verbrennungskrank-
kaum ausreichend Brandwundenverband-
heit nach einigen Stunden immer mehr an Be-
päckchen mitgeführt werden, um einen oder
deutung.
sogar mehrere Patienten mit großflächigen
Verbrennungen zu versorgen. Als zweckmäßi-
jTherapie bei Verbrennungen
ge Lösung bietet sich in taktischen Lagen das
4 Crash-Rettung und Löschen unter Beachtung
Einhüllen des Patienten in eine handelsübliche
des Eigenschutzes (Hitze, Brandgase, Explo-
Rettungsdecke an. Sie ist als Wundabdeckung
sionsgefahr)!
ausreichend keimarm, verklebt nicht, fördert
4 An HWS-Immobilisierung und achsgerechte
den Wärmeerhalt und lässt sich durch ihr
Lagerung bei entsprechendem Traumamecha-
kleines Packmaß und Gewicht gut mitführen.
nismus denken, wenn es die taktische Lage er-
laubt.
4 Kühlung (z. B. Leitungswasser) der verbrann- 4 Zwei großvolumige periphere Zugänge. Wenn
ten Haut (Richtwert 20 °C für maximal 30 s), nicht anders möglich, sind Zugänge auch
aber nur wenn innerhalb von 2 min nach Ver- durch verbrannte Hautareale zulässig (inkl. in-
brennung durchführbar. traossären und zentralvenösen Zugängen).
> Aufgrund einer gestörten Thermoregulation
4 Zur Volumentherapie reichen bei reinen Ver-
und der gestörten Isolationsfunktion der
brennungen in der Initialphase (24 h) in den
Haut sind Verbrennungspatienten erheblich
meisten Fällen Kristalloide (NaCl 0,9 %, Ringer-
durch Unterkühlung mit entsprechendem
lösung) aus. Kolloide (z. B. Haes) können ggf.
Anstieg von Morbidität und Letalität gefähr-
aufgrund des »capillary leak« intravasal nicht
det. Die großflächige, zu späte und zu lang
gehalten werden, strömen in den Extravasal-
anhaltende Kühlung ist daher kontraindi-
raum und können so das Verbrennungsödem
ziert! Die Abdeckung größerer Flächen ver-
bzw. den Lungenschaden (ARDS/ALI) verstär-
brannter KOF (>10–20 %) mit kühlenden
ken. Gesicherte Daten bei thermomechanischen
Wundauflagen (z. B. WaterJel) sollte ebenfalls
Verletzungen bzgl. hypertonen und hyperonko-
zurückhaltend erfolgen.
tischen Infusionslösungen (HyperHAES) liegen
nicht vor. Bei thermomechanischen Verlet-
4 Entkleidung. Muss so konsequent wie (unter zungen erscheint die Gabe von HyperHaes
Einsatzbedingungen) möglich durchgeführt sinnvoll. Im taktischen Bereich sollen Verwun-
werden, da die Gefahr des »afterburning« be- dete Flüssigkeit (Wasser, isotone Flüssigkeiten)
steht. Als Kompromiss an der Haut haftende auch oral in kleinen Schlucken zu sich nehmen,
Kleidung ggf. belassen, evtl. nicht haftende sofern sie wach und orientiert sind.
292 Kapitel 15 · Verbrennungen

4 Die Berechnung des Volumenbedarfes erfolgt hydrophil. Klinische Apparenz auch erst
z. B. nach dem Parkland-Baxter-Schema: nach 36 h möglich! Bei klinischer Sympto-
4 ml/% verbrannte KOF/kg KG in 24 h, davon die matik (Husten, Würgen, Dyspnoe, tro-
Hälfte in den ersten 8 h. Die errechnete Menge ckene/feuchte RGs) symptomatische Thera-
sollte möglichst gleichmäßig auf den entspre- pie mit β2-Sympathomimetika (inhalativ
chenden Zeitraum verteilt werden. Es wird nur und systemisch) und Bronchodilatatoren
II° bis IV°ig verbrannte Haut berechnet. (z. B. Theophyllin). Met-Hb- und CO-Hb-
> Faustregel: 1 l/h kristalloide Infusionslösungen
Bildung möglich. Nur als ultima ratio inha-
bei 50 % KOF und 80 kg.
lative und systemische Kortikoide erwägen.
5 Inhalation von Erstickungsgasen (CO, CO2,
Als Zielgrößen der Volumentherapie beim Verbren- Cyanide, Phosgen): Bei Bränden in ge-
nungstrauma gelten ein RRsyst >100 mmHg, eine schlossenen Räumen mit entsprechender
Herzfrequenz <100/min und eine Urinproduktion Rauchentwicklung und bei Verbrennen von
von 1 ml/h/kg KG. Kunststoffen. Abnahme der O2-Transport-
Bei Begleitverletzungen wie Explosionsver- kapazität bzw. Blockierung der inneren (in-
letzungen oder einem IHT besteht ein zum Teil tramitochondrialen) Atmung mit konseku-
deutlich höherer Volumenbedarf. tiver Asphyxie. Die übliche Pulsoxymetrie
> Lässt sich der Kreislauf mit der Gabe von
kann nicht zwischen O2-Hb und CO-Hb
kristalloiden Infusionslösungen nicht stabili-
unterscheiden und zeigt falsch hohe Werte
sieren, können auch kolloidale zur Anwen-
an. Bei klinischem Verdacht auf schwere
dung kommen. Bei hohem Volumenbedarf
CO- und CO2-Intoxikation frühestmögliche
eines Verbrennungspatienten ist eine Be-
Intubation und Beatmung mit FiO2 von 1,0
gleitverletzung wahrscheinlich!
und moderatem PEEP (HBO-Therapie
(Druckkammer) meist nicht in adäquater
4 Katecholamine (v. a. Noradrenalin) können in Zeit verfügbar). Bei Cyanidintoxikation
der Frühphase (bis 36 h) zu einer Verminde- Gabe von Hydroxocobalamin (Cyanokit).
rung der Hautdurchblutung führen und die 4 »Tactical Evacuation Care«: Als Schutz vor
Verbrennungstiefe verschlimmern. Wenn weiterer Auskühlung, auch im Sommer, z. B.:
möglich sollten daher bei Verbrennungen in- 5 Einwickeln in Metalline-Folie
itial keine Katecholamine gegeben werden. 5 Heizen des Transportmittels
4 Oxygenierung mit frühzeitiger Intubation/ 4 Zielklinik: Thermische Verletzungen >20 %
Beatmung, v. a. bei Inhalationstrauma/»blast KOF ab II°a, Verbrennungen an Gesicht, Hand,
lung«. Fuß, Genitale, Inhalationstraumen, Verät-
4 Bei zugeschwollenem Pharynx und Larynx zungen und Stromverletzungen sollten, wenn
15 Koniotomie durchführen. möglich, frühzeitig in ein Verbrennungszen-
4 Adäquate Analgosedierung (z. B. Opiate, trum verbracht werden.
Ketanest, Benzodiazepin). 4 »Prolonged Care«: Wenn innerhalb der ersten
4 Inhalationstrauma: 24 h keine Evakuierung und chirurgische
5 Inhalationstrauma (thermisch): Verdacht Wundbehandlung möglich ist, sollten die
z. B. bei versengter Gesichts-/Nasenbehaa- Wunden vorsichtig mit sterilem Wasser und
rung, Rußauflagerung der Glottis, rußge- antimikrobiellen Substanzen (z. B. Octenisept,
schwärztem Sputum, kloßige Stimme. Früh- Lavasept) gereinigt und mit Salben (z. B. Flam-
zeitige Intubation und PEEP-Beatmung mazine, Jodsalbe, Lavasept-Gel) verbunden
(PEEP = »positive endexspiratory pressu- werden. Große und bereits eröffnete Blasen
re«). Symptomatische Therapie. Keine inha- können abgetragen werden. Ein Tetanusschutz
lative oder systemische Kortikoidgabe. kann bei Einsatzkräften vorausgesetzt werden.
5 Inhalationstrauma (toxisch): Durch Reiz- Im Zweifel muss eine entsprechende Simultan-
gase verursacht, sowohl lipophil als auch impfung erfolgen. Gegebenenfalls sollte eine
15.5 · Besonderheiten beim Kind
293 15

. Abb. 15.5 Verbrennung III–IV° mit schwerem Inhalations-


trauma. Escharotomie des Thorax wegen Beatmungspro-
blemen

Sonderform Phosphorverbrennung
Im militärischen und taktischen Bereich wird Phosphor z. B. in
Phosphorbomben und Nebelmunition verwendet. Weißer
Phosphor (farblos bis gelblich, wachsartig, stechender Ge-
ruch) ist in feinverteiltem Zustand bereits bei Raumtempera-
tur selbstentzündlich und bei Dosen über 50 mg für einen
. Abb. 15.4 Escharotomie bei tief dermalen Verbren-
Erwachsenen tödlich.
nungen
Nach dem Löschen mit Decken, Sand oder Wasser müssen
sämtliche sichtbaren Phosphorstücke, auch aus Wunden,
komplett entfernt werden. Damit verbliebene Phosphorreste
Escharotomie (Inzision der verbrannten Cutis) nicht weiterbrennen oder erneut beginnen zu brennen, muss
an Extremitäten, Thorax und Hals bei entspre- die Wunde luftdicht (Sauerstoff ) und feucht abgedeckt
chender Durchblutungsstörung bzw. redu- werden (z. B. nasses Tuch). Bewährt haben sich dafür als ein-
zierter Lungen-Compliance mit entsprechend fach zu handhabende und sehr wirkungsvolle Hilfsmittel die
WaterJel-Wundauflagen.
hohen Beatmungsdrücken bei zirkulären Ver-
Vor dem Verwundetentransport mit Fahrzeugen, insbeson-
brennungen durchgeführt werden (. Abb. 15.4 dere Hubschraubern, muss durch diese Maßnahmen sorg-
und . Abb. 15.5). Bei Schwerstverbrannten fältig eine spontane Entzündung ausgeschlossen werden!
kann dies am Thorax (beidseits seitlich, vorde- Auf den Eigenschutz (schwer löschbare Flammen, Dämpfe
re Axillarlinie, ggf. auch sternal) auch präkli- und Hautkontakt) ist zu achten!
nisch notwendig werden. Ein möglicher neuer
Therapieansatz ist die enzymatische Escharo-
tomie mit lokaler Applikation von Enzymen 15.5 Besonderheiten beim Kind
der Ananas einer israelischen Arbeitsgruppe
(NexoBrid der Fa. MediWound; europäische Verbrennungen bei Kindern werden im zivilen Set-
Zulassung im Dezember 2013 für Verletzungen ting häufig durch Verbrühung mit heißem Wasser
bis 15 %, im Rahmen von Studien Behandlung (Küche, Bad) oder durch offenes Feuer (Wohnungs-
bei >30 % KOF erfolgt). Die Anwendung einer brand, Grillen) verursacht. Bei Auslandseinsätzen
im Rahmen einer verlängerten, präklinischen wird man häufig mit Kindern, die schwere Verbren-
Versorgung unter Einsatzbedingungen er- nungen erlitten haben, konfrontiert.
scheint als einfach durchführbare, nahezu blu- Wegen der unterschiedlichen Verteilung der
tungsfreie (!) Frühnekrektomie möglich und Körperoberfläche bei Kindern wird die Neunerregel
sinnvoll, hier müssen entsprechende weiter- nach Wallace, je nach Alter des betroffenen Kindes,
führende Studien erfolgen. zugunsten des relativ größeren Kopfes modifiziert.
294 Kapitel 15 · Verbrennungen

> Als Faustregel gilt auch bei Kindern: 15.7 Bekleidung


Handfläche ohne Finger entspricht etwa 1 %
der KOF. Es wurden verschiedene Schutzbekleidungen zur
Vermeidung von Verbrennungen entwickelt. Es
Je jünger die Kinder sind, umso mehr sind diese handelt sich v. a. um nicht und schlecht brennbare
durch Aus- bzw. Unterkühlung gefährdet. Ab einer Stoffe, wobei zu beachten ist, dass jede Kleidung nur
verbrannten KOF von 10 % besteht die Gefahr einer bis zu gewissen Temperaturen und Expositions-
Kreislaufdepression bis hin zum Schock und die zeiten schützen kann. Bei Explosionen mit sehr
Kinder sollten nach der Erstversorgung, wenn mög- kurzer Expositionszeit kann bereits ein einfaches
lich, in ein Verbrennungszentrum verlegt werden. Baumwoll-T-Shirt vor II°igen Verbrennungen
schützen (. Abb. 15.1). Bei Kunstfasern ist ein
schnelles Entflammen und Abbrennen möglich.
15.6 Besonderheiten bei Manche Kunstfasern brennen sich in die Haut ein
Stromverletzungen und verstärken somit den Schaden.
> Den Stoff für die eigene »Funktionskleidung«
Unterschieden werden Wechsel (»alternating sorgfältig auswählen!
current«, AC)- und Gleichstrom (»direct current«,
DC) sowie Nieder- (bis 1.000 Volt, z. B. Haushalt)
und Hochspannung (ab 1.000 Volt, Industrie,
Bahn). Lichtbögen bei Hochspannungsunfällen er- Literatur
reichen Temperaturen bis zu 10.000 °C.
1. AWMF Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Verbren-
Der Strom durchläuft den Körper nach dem
nungsmedizin (2010) Nr. 044/001 Thermische und chemis-
Prinzip des geringsten (elektrischen) Widerstandes. che Verletzungen
Es kommen daher unterschiedliche Temperaturen 2. Kafka G, Maybauer DM, Traber DL, Maybauer MO (2007)
mit entsprechend unterschiedlichen Verbrennungs- Das Rauchgasinhalationstrauma in der präklinischen
stufen des Körpergewebes vor. Die Haut zwischen Versorgung. Notfall Rettungsmed 10:529–540
Ein- und Austrittspunkt des Stromes kann unauf- 3. Kamolz LP, Herndon DN, Jeschke MG (2009) Verbrennun-
gen. Springe, Berlin Heidelberg New York
fällig sein, obwohl in der Tiefe höhergradige Ver-
4. Schneider T, Wolcke B, Böhmer R (2006) Taschenatlas
brennungen entstanden sind. Notfall & Rettungsmedizin. Springer, Berlin Heidelberg
Es können kardiale Arrhythmien bis hin zum New York
Herzstillstand (Asystolie oder Kammerflimmern) 5. Special Operations Forces Medical Handbook (2001)
auftreten. Dies ist aufgrund erhöhter kardialer Er- USSOCOM, Florida. Teton NewMedia and The Geneva
Foundation
regbarkeit auch noch Stunden nach dem Trauma
6. Roseberg L (2012) Enzymatic debridement of burn
möglich, weswegen eine 24-h-EKG-Überwachung wounds. In: Hendon D (ed) Total burn care. Elsevier, Am-
15 erforderlich ist (zumindest Pulsoxymetrie im takti- sterdam
schen Bereich). Durch Rhabdomyolyse aufgrund 7. Ziegenfuß T (2007) Notfallmedizin. Springer, Berlin Heidel-
tetanischer Kontraktion oder Nekrose der Musku- berg New York
latur besteht die Gefahr eines akuten Nierenver-
sagens. Bei »Prolonged Field Care« ist auf aus-
reichende Flüssigkeitssubstitution und Urin-
produktion zu achten. Gerade bei Stromverletzun-
gen, aber auch bei Verbrennungen, kann es zu
Kompartmentsyndromen kommen, die schnellst-
möglich nach Diagnosestellung subfaszial gespalten
werden müssen.
295 16

Augennotfälle
H. Gümbel

16.1 Einleitung – 296

16.2 Analgesie und Erstversorgung – 296

16.3 Augenprellung (Contusio bulbi) – 298

16.4 Arterielles Retrobulbärhämatom


(arterielle Blutung in die Augenhöhle) – 298

16.5 Oberflächliche Hornhautverletzungen – 299

16.6 Penetrierende Verletzung – 299

16.7 Laserlichtexposition – 299

16.8 Kampfgasexposition – 300

16.9 Maßnahmen vor Rückführung in


die klinische Versorgung – 300

Literatur – 300

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
296 Kapitel 16 · Augennotfälle

16.1 Einleitung lege (Notarzt oder Chirurg), der nun gefordert ist,
seine Kenntnisse aus dem Lehrgang oder Studium
Augennotfälle sind häufig okuläre Traumen als Fol- in die Praxis umzusetzen. Dieser kleine Ratgeber
ge von Kopfverletzungen, die speziell den Gesichts- soll Erstmaßnahmen vermitteln, die den Verletzten
schädel betreffen und direkt oder indirekt (z. B. stabilisieren und die Schmerzen während des Trans-
»Contre-coup-Effekt«) das Organ Auge, die Augen- ports möglichst minimieren.
höhle (Orbita) und seine Anhangsgebilde, die Lider
und Tränenwege betreffen. In diesem Zusammen-
hang ist es wichtig, dass bei augennahen Verletzun- 16.2 Analgesie und Erstversorgung
gen jedes Auge von einem Augenfacharzt gesehen
wird, um durch Untersuchung, Funktionsprüfung Die sensible Versorgung des Auges mit peripheren
und die Anordnung von bildgebenden Verfahren Nervenfasern aus dem Versorgungsgebiet des
(CT, Ultraschall) eine Verletzung auszuschließen N. ophthalmicus ist sehr gut und bedingt bei Ver-
oder fachgerecht zu versorgen. letzungen oder Verätzungen der Hornhaut, aber
Neben den physikalischen Traumen durch di- auch der Bindehaut eine extreme Schmerzempfind-
rekte Kontusion oder Fremdkörper, aber auch elek- lichkeit auch bei kleinen Hornhautverletzungen.
tromagnetische Strahlung (z. B. Laser), sind die Der Schmerzreiz führt ohne Schmerztherapie durch
chemischen Verletzungen (z. B. Säuren/Basen, CS- lokale Lokalanästhetika zu einem Spasmus der
Gas) ebenfalls als Organschädigung zu beachten. Lider, d. h. eine Inspektion des Augapfels und der
Ebenso können augenferne Traumen, speziell Lider ist nicht möglich.
Polytraumata zu Gefäßschäden der Netz- und Die häufig mangelnde Ausstattung mit Lokalan-
Aderhaut führen, die jedoch nur durch einen Fach- ästhetika für Augen (z. B. Konjucain, Tetracain) in
arzt diagnostiziert werden können. Hier sollte spe- Rettungswagen und Rettungskits kann durch die
ziell bei ausgedehnten Thoraxtraumen im Ret- Verwendung von intravenösen Xylocain- oder Scan-
tungszentrum auf eine mögliche Augenschädigung dicain-Lösungen umgangen werden. Einige Tropfen
hingewiesen werden (Purtscher-Syndrom). In fast aus der Ampulle bewirken nach kurzem Brennen
allen Fällen eines okulären Traumas ist es nicht der eine etwa 10–20 min andauernde Oberflächen-
Augenarzt, der die Verletzung zuerst inspiziert, son- anästhesie. In dieser Zeit besteht die Möglichkeit,
dern ein Rettungsassistent oder fachfremder Kol- das Auge zu untersuchen. Ein Nachtropfen von

16

. Abb. 16.1 Provisorisches Augennotfallbesteck


16.2 · Analgesie und Erstversorgung
297 16

. Abb. 16.2 Provisorischer Verband aus Plastiktrinkbecher


und Kompresse – »hardcover patch«

Lokalanästhetika während der Verlegung in die Kli-


. Abb. 16.3 Umdrehen des Oberlids über Watteträger zur In-
nik ist möglich, es sollte jedoch nie dem Patienten
spektion oder Spülung des verletzten Auges (Ektropionieren)
zur Selbsttherapie mitgegeben werden, da ansonsten
Verletzungsgefahr durch Manipulation entsteht.
Aus den Beständen in einem Rettungswagen Abdecken der Augen kommt. Weiterhin ist in Ge-
lässt sich sehr schnell ein provisorisches Augen- fechtssituationen oder bei Massenunfällen der geh-
notfallbesteck (. Abb. 16.1) zusammenstellen, das fähige, einseitig verbundene Patient sicherer aus der
eine Erstversorgung eines verletzten Auges, aber Gefahrenzone zu führen.
auch die Untersuchung nach Fremdkörpern,
Spülung des Auges nach Lokalanästhesie z. B. mit Provisorisches Augennotfallbesteck aus
PVP-Jod oder 0,9 % NaCl-Lösung und Eingabe von Rettungswagenbestand
Antibiotika mit anschließendem Schutzverband 5 Lokalanästhesie Hornhaut/Bindehaut:
durch abgeschnittenen Plastiktrinkbecher und Xylocain- oder Scandicain-Ampulle
Kompresse (»cover patch«, . Abb. 16.2) zulässt. 5 Fremdkörper Hornhaut oberflächlich:
Weiterhin lässt sich mit einem Watteträger das – 0,9 % NaCl-Lösung in 10-ml-Spritze
Oberlid umdrehen (ektropionieren), um dann – Watteträger mit NaCl-Lösung befeuchtet
eventuell darunter liegende Fremdkörper mit einem – Visitenlampe
feuchten Watteträger oder fest aufsitzende Partikel 5 Fremdkörper unter dem Lid: Watteträger
mit einer umgebogenen gelben Kanüle entfernen aus Holz, alternativ Einmalkanülenschutz
(. Abb. 16.3). zum Ektropionieren
Die systemische Gabe von Schmerzmitteln ist 5 Fremdkörper Bindehaut oberflächlich fest:
kritisch, da Morphinderivate eine Miosis der Pupil- 20 G Kanülenspitze gebogen als provisori-
le herbeiführen und die Anamnese (Sehschärfenbe- sche Fremdkörpernadel, nur unter Lupen-
brille benutzen
stimmung) sowie diagnostische Mydriasis bein-
5 Perforiertes Auge: 5- bis 10 %ige Povidonlö-
trächtigen kann. Als ausreichende systemische An-
sung zum Spülen
algesie hat sich die Gabe per os von Metamizol
5 Gyrasehemmer (Ophtaquix, Tavanic) oder
Tropfen (Novalgin, 30 Tropfen) p.o. erwiesen.
Gentamycin als Tropfen
Der Binokulus, d. h. der Verband auf beiden 5 Abgeschnittener Trinkbecherboden als
Augen bei einseitiger Augenverletzung, ist zu ver- Schutzverband (»cover patch«)
meiden, da insbesondere nach Unfällen, zu der psy- 5 Retrobulbärhämatom: Skalpell Gr. 11, alter-
chischen Traumatisierung durch das Unfallereignis nativ kleine scharfe Taschenmesserklinge
noch die Erblindungsangst durch das beidseitige
298 Kapitel 16 · Augennotfälle

. Tab. 16.1 Checkliste Augenuntersuchung

Patient orientiert und ansprechbar Ja/nein

Sehschärfe bestimmen mit Abdeckung des nicht untersuchten Auges Ja/nein

Lesefunktion in 30 cm Abstand bei 12 pt möglich Ja/nein

Schmerzen bei Lid- oder Augenbewegung Ja/nein

Angabe von Doppelbilder bei Fingerfixation Ja/nein

Überprüfung der Pupillenreaktion direkt, indirekt Ja/nein

Einrisse in den Lidrändern (Inspektion Ober-/Unterlid)* Ja/nein

Nach seitlicher Beleuchtung des Augapfels Fremdkörper auf der Hornhaut Ja/nein

Blut in der Augenvorderkammer (Blutspiegel) Ja/nein

Rotreflex der Pupille vorhanden Ja/nein

Stufe am Orbitarand Ja/nein

Augeninnendruck (vergleichende Palpation = Tasten eigener Augapfel mit Palpation im Ver- Erhöht/zu niedrig
gleich zu Patientenbulbus)
– Hoher Druck = hart wie eine Glasmurmel, Verdacht auf hoher Augeninnendruck >30 mmHg
– Niedriger Druck = weicher Luftballon, Verdacht auf Penetration des Augapfels

* Tropfen von Lokalanästhetikum (Xylocain oder Scandicain) auf die Wunde oder Hornhaut erlaubt die Anhebung der
Lider ohne schmerzhaftes Kneifen oder Spülen mit PVP-Jodlösung

. Tab. 16.1 gibt einen Überblick über die wichtigs- 16.4 Arterielles Retrobulbärhämatom
ten Punkte der Augenuntersuchung. (arterielle Blutung in die Augen-
höhle)

16.3 Augenprellung (Contusio bulbi) 4 Akuter Sehverlust nach Verletzung der Aug-
apfelhöhle durch arterielle Blutung
Die direkte (Schlag, Stoß) oder indirekte Einwir- 5 Lider sind nicht selbstständig zu öffnen,
kung (Druckwelle) auf den Augapfel und Orbita Bindehaut geschwollen
wird als Contusio bulbi bezeichnet. Mit einer 4 Augapfel fühlt sich so hart wie eine Glas-
Checkliste, einer Taschenlampe und einem Lokal- murmel an
anästhetikum zur subkutanen Infiltration, z. B. 5 Hautregion antiseptisch (mit PvP-Jod) ab-
16 Xylocain 1 % oder 2 %, das zur lokalen Betäubung in wischen
die Augen getropft werden darf, kann in kurzer Zeit 5 Anästhesie mit Gelanästhesie (Xylocain-
die Schwere der Verletzung ermittelt werden. Gel) auf die Lider
4 »Veilchen« = Monokelhämatom ohne Augen- 5 Stichinzision (2 cm tief) mit Skalpell oder
innendruckerhöhung ist meist harmlos. scharfen Taschenmesser durchführen
4 »Rotes Auge« = unterblutete Bindehaut (. Abb. 16.4)
(Hyposphagma) ohne Seheinschränkung ist 5 anschließend Überprüfung des Augen-
auch harmlos. innendruckes (. Tab. 16.1) wiederholen
4 »Rotes Auge« mit Einblutung in die Augenvor-
derkammer (Pupille nicht mehr oder nur zum
Teil zu sehen) ist dem Facharzt vorzustellen.
16.7 · Laserlichtexposition
299 16

. Abb. 16.5 Perforierende Oberlidverletzung, darunter er-


. Abb. 16.4 Stichinzisionsstelle (Kanthotomie) am äuße- öffneter Augapfel mit Penetration der Bindehaut, Lederhaut
ren, unteren Rand des Jochbeinbogens (Pfeil), sonst Erblin- und vorgefallener Aderhaut. Typisch klinisches Zeichen der
dung durch Zentralarterienverschluss Augapfelpenetration ist die zum Defekt verzogene Pupille

16.5 Oberflächliche (. Abb. 16.5), deshalb immer nach Lokalanäs-


Hornhautverletzungen thesie (z. B. Xylocainlösung) Lider anheben
und Augapfel inspizieren.
4 Leitsymptom: Sandkorngefühl und Schmerzen 4 Ein weicher Augapfel (Druckverlust), Einblu-
bei Lidschlag tung in die Augenvorderkammer und verzoge-
4 Inspektion der Hornhaut und Lider mit Lampe ne Pupille sind sichere klinische Hinweise auf
nach Gabe von Lokalanästhetikum-Tropfen eine Penetration des Bulbus.
(Xylocainlösung). 4 Sofort Lokalanästhetikum (Xylocain), danach
4 Festsitzende Fremdkörper nicht manuell ent- mit PvP-Jodlösung über das Auge spülen, für
fernen, nur mit 0,9 %iger NaCl-Lösung in einer den Transport lokales Antibiotikum (z. B. Oph-
10-ml-Spritze im Strahl spülen. thaquix AT) eintropfen, bei Liddefekt zusätz-
4 Dauerhafte Schmerzen (Fremdkörpergefühl) lich Xylocain-Tropfen auf die Lider geben und
während der Rückführung des Verletzten mit gegen Druck von außen schützen (»hardcover
Xylocain-Gel (Xylocainlösung) auf die Horn- patch« oder die ballistische Schutzbrille darü-
haut lindern. ber setzen).
4 Oberflächliche Hornhautverletzungen mit 4 Bei fehlender fester Abdeckmöglichkeit des
Antibiotikatropfen (z. B. Ophthaquix) und Auges (»hardcover patch«) kann zum Schutz
Verband mit reichlich Bepanthen-Augensalbe des Augapfels vor Druck auch ein Plastiktrink-
behandeln [2]. becher in der Höhe halbiert und auf das Auge
geklebt werden (. Abb. 16.2).

16.6 Penetrierende Verletzung


16.7 Laserlichtexposition
4 Häufig nach Arbeiten an laufenden Maschi-
nen, aber auch nach stumpfen Traumen, z. B. Der Verletzte sollte nach Art (rot, grün oder blauer
ausgeworfene Patronenhülsen gegen das Auge, Laserstrahl) und Richtung des Laserbeschusses
deshalb Anamnese wichtig! gefragt werden, eventuelle Schmerzen sind lokal zu
4 Eine kleine Lidverletzung kann darunter lie- therapieren (Xylocain) und resultieren häufig aus
gende Strukturen des Augapfels durchschlagen einer Hornhautverletzung.
300 Kapitel 16 · Augennotfälle

Erstmaßnahmen sind folgende: Blepharospasmus, Zusammenkneifen der Lider


4 Überprüfung der zentralen Sehschärfe mit und extremem Tränen der Augen sowie akuten
Amsler-Test (Taschenkarte) Schmerzen an beiden Augen. Wie bei allen Ver-
4 Keine medikamentöse Soforttherapie ätzungen am Auge besteht die Erstmaßnahme in
notwendig der Spülung mit einer neutralen Flüssigkeit über die
4 Keine Abdeckung der verletzten Augen Transportzeit. Eine Schmerztherapie mit anästhe-
4 Bei Bedarf lokale Schmerztherapie sierenden Augentropfen, z. B. Xylocain-Tropfen er-
4 Rückführung zu Facharztuntersuchung in laubt es, das Auge zum Spülen zu öffnen.
Begleitung

16.9 Maßnahmen vor Rückführung in


16.8 Kampfgasexposition die klinische Versorgung

Die geächteten chemischen Kampfstoffe sind 4 Abdeckung von schweren, offenen Augenver-
leider immer noch in den Arsenalen verschiedener letzungen erst nach Tropfanästhesie, Spülung
Armeen vorhanden und können bei ungeschütztem mit PvP-Jodlösung und lokalen Antibiotika-
Kontakt zu schweren Augenveränderungen und tropfen (z. B. Ophthaquix) sowie systemischer
Blindheit führen. Speziell der Kampfstoff Dichlor- Abdeckung mit Antibiotika (z. B. Tavanic
ethylsulfid (C4H8Cl2S), auch Senfgas genannt, zeigt 1-mal 500 mg oral). Einäugiger Verband aus-
erst 5 h nach Exposition typische Symptome wie reichend, große Splitter stecken lassen. Kein
tränenende Augen, Fremdkörpergefühl, Bindehaut- Druckverband, sondern stabiler »hardcover
schwellung und Hornhauttrübung. patch« (. Abb. 16.2).
Bei Exposition von Senfgas sind folgende Erst- 4 Chemische Verletzungen (Verätzungen) sofort
maßnahmen zu treffen: permanent durch Spüllösung (Previn) und ge-
4 Spülung mit Flüssigkeit und möglichst neu- tropftes Lokalanästhetikum bis zum Eintreffen
tralem pH-Wert (Wasser, Bier, NaCl-Lösung) beim Facharzt behandeln.
oder wenn vorhanden Diphoterin-Lösung 4 Unfallanamnese und Verdachtsdiagnose
(Privin) dem weiterbehandelnden Augenfacharzt mit
4 Hohe Gabe von Antioxidanzien wie z. B. Vita- Meldezettel mitteilen [1].
min C (Citix 500 mg per os)
4 Sterile Abdeckung und Antibiotikagabe per os
als sekundärer Infektionsschutz, z. B. Tavanic Literatur
500 mg
1. Lang GK (Hrsg.) (2008) Augenheilkunde. Thieme,
Stuttgart New York, S. 500
Ein Kampfgas der neueren Generation, der Nerven-
2. Wilhelm H (2003) Traumatologie des Sehnerven. In:
kampfstoff Sarin ist, ebenso wie Tabun , ein hoch- Rohrbach JM, Steuhl KP, Knorr M, Kirchhof B (Hrsg.)
16 giftiger Phosphorsäureester, der die Cholinesterase Ophthalmologische Traumatologie, Textbuch und Atlas.
im Körper blockiert und neben einem Lungenödem Schattauer, Stuttgart New York, S. 149
und Lähmung der Atemmuskulatur zu starken 3. Gümbel H, Schnaudigel OE (1991) Kampfgasverletzungen
Augenschwellungen, Tränen und Miosis führt. Hier am Auge. Der Augenspiegel, S. 15–21

besteht die lebensrettende Erstmaßnahme in der


Anwendung von Atropininjektionen, spezielle
ophthalmologische Erstmaßnahmen sind nicht
notwendig.
Weniger gefährlich, dafür umso schmerzhafter
und das Sehvermögen beeinträchtigend ist die Ex-
position der Augen gegenüber Tränengas oder
Pfefferspray. Die Wirkstoffe führen akut zu einem
301 17

Akustisches Trauma
F. Hohenstein

17.1 Einführung – 302

17.2 Krankheitsformen – 302


17.2.1 Knalltrauma – 303
17.2.2 Akutes Lärmtrauma – 303
17.2.3 Explosionstrauma – 303
17.2.4 Chronisches Lärmtrauma = chronische Lärmschwerhörigkeit – 304
17.2.5 Akustischer Unfall und stumpfes Schädeltrauma – 304

17.3 Innenohrschema – 305

17.4 Empfehlungen bei asymmetrischer Hörstörung – 307

Literatur – 307

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
302 Kapitel 17 · Akustisches Trauma

Dieser Abschnitt richtet sich insbesondere an die Bei der Bundeswehr sind zwei verschiedene Gehör-
Träger der präklinischen Versorgung, wenn keine schutzstöpsel in Verwendung, die für jeweils eine
Hörtestanlage verfügbar ist. Es werden jedoch auch Lärmart zugelassen und empfohlen sind. Hier sei
die weiteren therapeutischen Möglichkeiten für ausdrücklich noch einmal die Verwendung von Ge-
Einrichtungen dargestellt, die nicht ohne Weiteres hörschutz bei Dauerlärm auch im Einsatz empfoh-
in der Lage sind, einen HNO-Arzt persönlich zu len. Die Israelische Armee (IDF) verwendet densel-
Rate zu ziehen, aber mit einer Hörtestanlage ausge- ben Gehörschutz wie die Bundeswehr (die gelben
stattet sind (ROLE 1+ und ROLE 2+). EAR Classic II für Dauerlärm, die grauen Impuls-
schall-Gehörschutzstöpsel (ISGS) für Impulslärm).
Gehörschutzstöpsel oder Kopfhörer können le-
17.1 Einführung diglich die Luftleitung dämpfen, die Knochenleitung
dagegen nicht. Die Knochenleitungsschwelle liegt
»Akustisches Trauma« ist ein Überbegriff. Bei aber 50 dB über der Luftleitungsschwelle. In Hör-
einem akustischen Trauma wird das Sinnesorgan testanlangen ist dieser Aspekt »eingerechnet«, so-
Ohr durch die auftreffende Schallenergie verletzt dass im normalen Hörtest die Knochenleitungskur-
(unsichtbare Verletzung, »invisible injury«). Bei ve und Luftleitungskurve übereinander zu liegen
einer akustischen Beschädigung der Kochlea (der kommen. Das bedeutet für Gehörschutz, dass maxi-
Hörschnecke) sind die ultrastrukturellen Verlet- mal etwa 50 dB abgedämpft werden können. Die
zungen wahrscheinlich bei allen Formen des akus- EAR Classic II dämpfen im Durchschnitt 26 dB ab.
tischen Traumas dieselben, jedoch in unterschiedli- Diese Schutzmaßnahme ist aufgrund der logarith-
cher Ausprägung: metabolische Entgleisung, Ischä- mischen Dezibelskala für Dauerlärm ausreichend.
mie, Abfall des Sauerstoffpartialdruckes, Verände- Akustische Traumata können mit folgenden
rungen der Mikrozirkulation, toxische Metabolite Beschwerden einhergehen:
und freie Radikale, Verletzung oder Degeneration 4 Subjektiver Hörverlust
der Haarzellen, der Stützzellen und der Nervenen- 4 Objektiver Hörverlust, auch asymmetrisch
digungen bis hin zur Zerreißung der Rundfenster- 4 Schmerzen
membran und der Basilarmembran. Kleine trauma- 4 Subjektiv zugefallenes oder verstopftes Ohr
tische Veränderungen wie die metabolische Entglei- (mit normalem Spiegelbefund)
sung können repariert werden, das Gehör erholt 4 Ohrgeräusch (Rauschen, Pfeifen, Klingeln etc.)
sich. Schwerere Verletzungen bringen einen irrever- 4 Blutung aus dem Gehörgang
siblen, mitunter nach Jahren noch zunehmenden 4 Sekretion einer klaren Flüssigkeit aus dem
Hörverlust mit sich. Gehörgang. In diesem Fall ist an eine Liquor-
Der wirksamste Schutz vor dem Verlust des rhö oder an eine Perilymphfistel zu denken
Sinnesorgans »Ohr« ist die Lärmkarenz; wenn das (entweder wegen des Explosionstraumas des
nicht möglich ist, sollte ein mechanischer Gehör- Ohres oder einer Felsenbeinfraktur).
schutz getragen werden (Stöpsel oder Kopfhörer).
Die Mitarbeit zum Selbstschutz der von Lärm
betroffenen Personen ist weltweit verbesserungs- 17.2 Krankheitsformen
bedürftig. Bei der Auswahl des Gehörschutzes sind
17 die Spezifikationen der Hersteller zu beachten. Des »Akustisches Trauma« ist ein Überbegriff und bein-
Weiteren ist zu beachten, dass ein Unterschied haltet:
zwischen Dauerlärm (Maschinenlärm, Heimwer- 4 Knalltrauma
kertätigkeiten, Baulärm auch bei Pionierarbeiten, 4 Akutes Lärmtrauma
Motorsport, Musik, anderer Freizeitlärm etc.) und 4 Explosionstrauma
Impulslärm (Schießen, Explosionen etc.) besteht. 4 Chronisches Lärmtrauma
! Ab 85 dB Dauerlärm (etwa mittlerer Straßen- 4 Akustischer Unfall
lärm) ist Gehörschutz zu tragen. 4 Stumpfes Schädeltrauma
17.2 · Krankheitsformen
303 17
17.2.1 Knalltrauma Daher ist zunächst bei jedem Verdacht auf eine
akute lärmbedingte Hörstörung ein Innenohrsche-
Verursacht durch Schallimpulse bis 2 ms Dauer mit ma zu verabreichen. Wenn nach dem verabreichten
einer Schalldruckspitze über ca. 150 dB. Ob dieser Innenohrschema eine Normalisierung des Hör-
Schalldruck erreicht wird ist abhängig von vermögens eintritt, ist auch nachträglich eine even-
4 den einzelnen Umständen, tuelle »Sinnlosigkeit« des Innenohrschemas nicht
4 der Quelle und nachzuweisen (Placeboeffekt).
4 der Entfernung. Hier liegt der Grenzfall zwischen Knalltrauma
und akutem Lärmtrauma! Bei einem intakten
Klinik Schmerzen, Vertäubungsgefühl, Ohrge- Trommelfell muss ein Soldat nicht zwingend sofort
räusch. einer Einrichtung mit Hörtestanlage zugeführt
werden. Es kann eine Kortisontherapie begonnen
Befund Ohrspiegelung unauffällig. werden (Innenohrschema) und 5 Tage unter Thera-
pie abgewartet werden. Wenn der Patient dann
Reintonaudiogramm Senke bei 4 kHz (c5-Senke) noch über eine Hörstörung klagt, sollte ein Audio-
typisch, es kann jedoch auch zu Hochtonabfall oder gramm angefertigt werden. Unnötige Repatriierun-
anderen Messungen kommen. gen oder nächtliche Verlegungsflüge in eine ROLE
2+ sind zu vermeiden.
Prognose Die kurzfristige Prognose ist zunächst un-
gewiss (s. unten). Eine Besserung lässt sich schwer
vorhergesagen, weil das Ausmaß der Schädigung und 17.2.3 Explosionstrauma
die genaue Knallstärke und -dauer nicht bekannt ist.
Bei Lärmkarenz nimmt die Hörstörung auch über die Ein Explosionstrauma kann bei der Einwirkung von
Jahre jedenfalls nicht zu. Schallimpulsen länger als 2 ms mit Schalldruck-
spitze über ca. 150 dB entstehen. Dabei werden das
Behandlung Innenohrschema (. Tab. 17.1). Mittel- und das Innenohr mechanisch beschädigt.
Verletzungen des runden und des ovalen Fensters
sind möglich, des Weiteren die Zerreißung der Ba-
17.2.2 Akutes Lärmtrauma silarmembran des Innenohres. Zusätzlich werden
Anteile des Mittelohres verletzt (Trommelfell, Ge-
Lärmbelastung, die länger anhält als Knall oder Ex- hörknöchelchenkette etc.). Diese Zerstörung der
plosion und nicht ganz so laut ist wie diese, z. B. Mittelohrstrukturen hat andererseits einen schüt-
mehrere Schüsse in einiger Entfernung, Lärmarbeit, zenden Effekt auf das Innenohr, da die Weiter-
Disco, Rockkonzert. leitung der kompletten Schallenergie an die Kochlea
verhindert wird.
Klinik Ohrspiegelung unauffällig. Die alte Regel, eine explosionsbedingte Trom-
melfellperforation träte meist zusammen mit ande-
Reintonaudiogramm Senke bei 4 kHz (c5-Senke) ren Verletzungen auf (Polytrauma, »blast injury«
typisch, es kann jedoch auch zu Hochtonabfall oder der Lunge oder des Abdomens), ist nach den Erfah-
anderen Messungen kommen. rungen und Untersuchungen aus Israel und dem
Irak nicht aufrecht zu erhalten. Vielmehr ist die
Prognose Spontanremission nach 10–12 h (bis zu Trommelfellperforation nach einem Explosions-
5 Tagen). ereignis ausdrücklich kein Marker für ein okkultes
primäres Explosionstrauma von Lunge oder Abdo-
> In den ersten 10 h bis 5 Tagen ist ein akutes men. Intakte Trommelfelle können ein primäres
Lärmtrauma nur audiologisch, d. h. durch die Explosionstrauma weder ausschließen noch be-
Spontanremission im Hörtest, von einem stätigen. Aufgrund der neueren Datenlage wird für
Knalltrauma zu unterscheiden! Patienten mit einem explosionsbedingten Trom-
304 Kapitel 17 · Akustisches Trauma

melfelldefekt ohne weitere otologische oder sons- 17.2.4 Chronisches Lärmtrauma =


tige klinische Zeichen einer Verletzung eine kon- chronische Lärmschwerhörigkeit
ventionelle Röntgenaufnahme der Lunge zum Aus-
schluss eines »blast injuries« und dann die zügige Bei wiederholter Lärmexposition von mehr als
Entlassung aus der Notaufnahme empfohlen. 85 dB ist das Gehör gefährdet (Berufslärm, Kessel-
schmiede, Baustelle, Freizeitlärm, Sinfoniker, DJs
Klinik Schmerzen, Ohrblutung, Ohrsekretion, Ver- oder Nightclub-Personal, Rockmusiker). Wichtig
täubungsgefühl, Hörminderung, Schwindel mit sind zwischen den Lärmphasen die Erholungs-
oder ohne Nystagmus sind möglich bei Verletzung phasen!
des Innenohres.
Klinik Schwerhörigkeit.
Befund Trommelfellzerreißung, Ohrblutung oder
Ohrsekretion möglich (Perilymphe, Endolymphe, Befund Ohrspiegelung unauffällig.
ggf. Liquor).
Reintonaudiogramm Im Anfangsstadium Senke
Reintonaudiogramm Kombinierte Schwerhörig- bei 4 kHz (c5-Senke), später Hochtonabfall.
keit (Knochenleitung und Luftleitung schlecht).
Prognose Bei Lärmkarenz nimmt die Hörstörung
Prognose Eine Zunahme der Hörstörung ist über eher nicht zu, aber auch das ist umstritten.
die Jahre auch bei Lärmkarenz möglich. Im Koblen-
zer Krankengut hatten 14 von 71 von einem Explo- Behandlung Ggf. Hörgerät oder implantierbare
sionstrauma betroffenen Ohren (nicht Patienten), Hörgeräte.
das sind fast 20 %, eine zunehmende Innenohr-
hörverschlechterung im Vergleich zum Hörtest bei
Aufnahme. 17.2.5 Akustischer Unfall und stumpfes
Schädeltrauma
Behandlung Bei einem Flüssigkeitsaustritt aus dem
Gehörgang, egal ob Blut oder klare Flüssigkeit, soll- Der akustische Unfall ist eine einseitige Innenohr-
te der Gehörgang steril abgedeckt und ein systemi- schwerhörigkeit nach Lärm unter körperlicher Be-
sches Antibiotikum verabreicht werden. Der Patient lastung mit Verdrehung der Halswirbelsäule, z. B.
sollte einem HNO-Arzt zugeführt werden. Defekt- bohren oder schleifen über Kopf.
deckung, Innenohrschema (. Tab. 17.1), wenn die Auch ein stumpfes Schädeltrauma ohne Fraktur
weiteren Verletzungen dies erlauben. kann mit einer Hörstörung einhergehen.
Beim Explosionstrauma sind oft mehrfache
ohrchirurgische Eingriffe nötig. Ob eine Rekonst- Klinik Schwerhörigkeit.
ruktion der Gehörknöchelchenkette und des Trom-
melfells sofort zusammen mit der Deckung einer Befund Ohrspiegelung unauffällig.
eventuellen Labyrinthfistel erfolgen soll oder später,
ist umstritten. Neuere Untersuchungen geben Hin- Reintoaudiogramm Senke bei 4 kHz (C5-Senke)
17 weise auf Vorteile einer sofortigen Deckung. Nach oder andere Innenohrschäden.
der Abheilung, die sich infektbedingt oft verzögert,
muss eine Hörrehabilitation erfolgen. Hier steht das Behandlung Innenohrschema (. Tab. 17.1).
gesamte Spektrum der Hörrehabilitation zur Ver-
fügung. Je nach Schwere der Hörstörung konventi- Interpretation von Hörtests im Einsatz
onelles Hörgerät oder unterschiedliche Arten der Grundsätzlich ist die Interpretation der im Einsatz
implantierbaren Hörgeräte. angefertigten Hörtests schwierig. Meist scheint das
wahre Hörvermögen besser zu sein als die Messung.
Das ist aber nur Erfahrung. Ein im Einsatz angefer-
17.3 · Innenohrschema
305 17
tigtes Audiogramm mit pantonalen Werten von sein oder auf eine Simulation oder Aggravation
15–20 dB darf bei geeigneter Anamnese als normal hinweisen. Die Bundeswehr ist aber nicht mit OAE-
gewertet werden. Hilfreich ist auch die Frage nach Messgeräten im Einsatz ausgestattet.
Ohrgeräuschen. Wenn keine Beschwerden mehr
angegeben werden, ist das Hörvermögen mit hoher
Wahrscheinlichkeit in Ordnung. Anders bei einer 17.3 Innenohrschema
eindeutigen Senke um 4 kHz, hier ist eine echte
Hörminderung zu unterstellen. Es existiert eine Fülle von Studien zum Thema In-
Eine lärmbedingte Hörstörung kann auch bei nenohrtherapie beim Hörsturz. Die Datenlage beim
symmetrisch eingewirktem Lärm asymmetrisch akustischen Trauma ist wesentlich weniger umfang-
sein. Das linke Ohr ist statistisch häufiger betroffen. reich. Der Wert von Steroiden beim Hörsturz bleibt
In einer Untersuchung an 4.277 Angehörigen der unklar, die Evidenz in kontrollierten Studien ist
Israelischen Armee hatten etwa die Hälfte eine sym- widersprüchlich wegen zu kleiner Patientenzahlen.
metrische Hörschädigung, 34,2 % eine linksbetonte Die Spontanheilungsrate beim Hörsturz wird mit
Hörminderung und 16,3 % eine rechtsbetonte Hör- 30–60 % angegeben. Dennoch hat sich die Steroid-
minderung. Die Studie konnte zeigen, dass dieser therapie als »Quasi-Standard« in vielen Ländern der
Befund unabhängig ist von demographischen Para- Welt durchgesetzt. Die zusätzliche Gabe weiterer
metern, Art des Lärmes, Stapediusreflexmessungen Medikamente und ihre Darreichungsform sind im
oder Händigkeit. Die genaue Art des Lärms wurde Wesentlichen umstritten. In der Praxis wird die
nicht analysiert. An finnischen Soldaten vorgenom- Hörsturztherapie frei auf die konservative Therapie
mene Untersuchungen zeigten ebenfalls eine Sei- beim akustischen Trauma übertragen. Beim Explo-
tenpräferenz für das linke Ohr, eine andere Studie sionstrauma kommen noch operative Maßnahmen
für das rechte Ohr, obwohl das linke Ohr das dem hinzu. In jüngerer Zeit haben sich Empfehlungen
Lärm exponiertere war. Andere Untersuchungen zur konservativen Therapie entwickelt, zusammen-
weisen auf eine Subpopulation von ca. 5 % hin, bei gefasst in . Tab. 17.1.
der das linke Ohr insbesondere bei 2 kHz über 20 dB Eine Infusionstherapie hat keinen zusätzlichen
mehr geschädigt sei als das rechte. positiven Effekt gezeigt. Die Infusion mit NaCl
Das Problem bei der Asymmetrie ist das Über- gilt als Placebo, von einer rheologischen Therapie
sehen von retrokochleären Prozessen (z. B. Akusti- (Dextran, HES, Pentoxifyllin und Naftidrofuryl)
kusneurinom). In einer britischen Studie wurden wird z. T. wegen der Nebenwirkungen und der feh-
225 Soldaten retrospektiv untersucht. Bei diesen lenden Evidenz abgeraten. Ebenfalls keinen Vorteil
Patienten war das linke Ohr in den Prüffrequenzen gegenüber Placebo zeigten in klinischen Studien
2, 3, 4 und 6 kHz signifikant schlechter als das bisher folgende Medikamente: Ginkgo biloba,
rechte. Bei 4 kHz hatten 67 % der Patienten einen Cinnarizin, Flunarizin, Thrombozytenaggrega-
Seitenunterschied von mehr als 10 dB. In dieser tionshemmer. Der Effekt von Vasodilatatoren bleibt
Studie war die Art der Waffenlärmbelastung viel- unbewiesen. Kalziumkanalblocker und Prostaglan-
seitig (Gewehrfeuer, Mörsergranaten, Panzerab- dine scheinen wegen »Steal«-Effekten kontraindi-
wehr, Artillerie, Detonationen, Maschinenlärm und ziert zu sein. Nimodipin bietet im Tierexperiment
Sprechfunktätigkeit mit Kopfhörern). keinen Schutz vor einer Lärmschädigung. Die
Bei deutschen gutachterlichen Tätigkeiten wird hyperbare Sauerstofftherapie (HBO-Therapie) ver-
immer nach der Richtung gefragt, aus der der bessert bei der akuten Hörverschlechterung zwar
möglicherweise schädigende Lärm kam, und die das Hörvermögen, jedoch ist die klinische Signifi-
Richtung wird auch in der gutachterlichen Beurtei- kanz unklar. Die HBO-Therapie hat bei der chroni-
lung beachtet. schen Schwerhörigkeit keinen evidenten Effekt. Sie
Eine Simulation oder Aggravation ist unter Ein- wird eher als Second-line-Therapie empfohlen.
satzbedingungen selbst in Mazar-i-Sharif nicht zu Vitamin E scheint einen positiven Effekt zu be-
ermitteln! Die OAE (otoakustische Emissionen) sitzen. Die Angaben bei der Thioctsäure (α-Lipon-
können ein Marker für eine okkulte Hörstörung säure) sind widersprüchlich. Die α-Liponsäure und
306 Kapitel 17 · Akustisches Trauma

NMDA-Rezeptor-Antagonisten (Caroverin, Me- Die Therapie kann sofort eingeleitet werden, unter
mantin, und andere) haben im Tierversuch einen Einsatzbedingungen auch nur aufgrund der klinisch-
protektiven Effekt gezeigt, jedoch keinen therapeu- anamnestischen Beschwerden (subjektive Hör-
tischen. Ebenso N-L-Acetylcystein. minderung). Es sollte dann aber recht bald (inner-
Analog zum Hörsturz kann eine intratympana- halb von 5 Tagen) ein Hörtest angefertigt werden,
le Kortisontherapie vom HNO-Arzt erwogen wer- um ein echtes Knalltrauma von einem akuten Lärm-
den (1 Amp 4 mg Dexamethason durchs Trommel- trauma zu unterscheiden. Wegen der zwei verschie-
fell ins Mittelohr gespritzt und den Patienten 20 min denen Wirkmechanismen des Kortisons ist eine
auf der gesunden Seite ruhen lassen). Hier liegen höhere Dosis an den ersten beiden Tagen gerecht-
aber keine Daten für das akustische Trauma vor. fertigt. Eine Vorstellung beim HNO-Arzt ist in An-
Ein protektiver Effekt des Magnesiums auf das betracht des Transportaufwandes im Einsatzland
lärmbelastete Gehör wurde zunächst in zahlreichen nur in begründeten Fällen gerechtfertigt. Der Soldat
Tierversuchen gezeigt. In der Folge konnte in einer mit Knalltrauma darf eine Tätigkeit ohne Lärmbe-
Untersuchung an 200 israelischen Rekruten in einer lastung ausüben, dabei soll sich das Gehör erholen.
zweimonatigen Grundausbildung mit Magnesium Das bedeutet, dass ein Aufenthalt im Lager empfeh-
die Wahrscheinlichkeit gesenkt werden, ein akusti- lenswert ist, eine stationäre Aufnahme aber nicht
sches Trauma zu erleiden. Die Probanden erhielten nötig. Bei einem akuten Lärmtrauma wäre der Hör-
während der 2 Monate täglich 6,7 mol Magnesium test nach 3–5 Tagen wieder normal, in diesen Fällen
zusätzlich. Der Magnesiumspiegel war in den ist die Kortisontherapie abrupt zu beenden. Auch
mononukleären Zellen signifikant erhöht, nicht im bei einer späteren Remission ist das Schema zu be-
Serum. Die Placebogruppe hatte häufiger und enden und der Soldat wieder einsatzfähig. Eine klei-
schwerere Hörverschlechterungen als die Magne- ne bleibende isolierte Hochtonsenke ist am ehesten
siumgruppe. Die Nebenwirkungsrate war nicht sig- ein altes Trauma.
nifikant erhöht. In einer weiteren Studie konnte der Nach Ablauf des Schemas kann die ZDv 46/1
Schutzeffekt von Magnesium und die beschleunigte zugrunde gelegt werden (GNr.: 28 Anlage 3/29), ggf.
Rückbildung von Hörstörungen im Reintonaudio- unter Hinzuziehung (auch telefonisch) des HNO-
gramm gezeigt werden. In beiden Studien wurde Arztes im Einsatz (Mazar-i-Sharif).
ausschließlich Magnesium als Verum verwendet.
Ein Serummagnesiumspiegel, gemessen Jahre nach
Häufige Neben-/Wechselwirkungen
dem akustischen Trauma, korreliert wohl nicht mit
5 Bei bekanntem Bluthochdruck diesen
einer lärmbedingten Hörverschlechterung. Die Er-
häufiger kontrollieren
gebnisse von Studien an 24 Piloten der Israelischen
5 Bei Diabetes mellitus häufige Blutzucker-
Air Force und 68 Soldaten der US-Army sind unein-
kontrollen!
heitlich.
5 Neben- und Wechselwirkungen von
Der Autor empfiehlt bei jeder akuten subjekti-
Prednisolon: gesteigerte Erregbarkeit,
ven (wenn ein Hörtest nicht angefertigt werden
Schlafstörungen, Hautveränderungen
kann) oder audiometrisch nachgewiesenen Hörstö-
5 Vorsicht bei gleichzeitiger Einnahme von
rung die Durchführung des in . Tab. 17.1 dargestell-
Digitalispräparaten oder Marcumar
ten Schemas (angelehnt an das »Koblenzer Innen-
17 ohrschema«, das im Bundeswehrzentralkranken-
5 Wechselwirkungen von Pantozol: Vorsicht
bei gleichzeitiger Einnahme von Diazepam,
haus (BwZK) Koblenz verwendet wird).
Schlafmitteln, Digitalispräparaten
> Modifiziertes Koblenzer Innenohrschema:
absteigende Gabe von Prednisolon unter Ma-
genschutz (z. B. Protonenpumpeninhibitor),
zusammen mit Zink, Vitamin E und Magnesi-
um. Es wird die ausschließliche orale Gabe
empfohlen.
Literatur
307 17

. Tab. 17.1 Innenohrschema. (Angelehnt an das Koblenzer Innenohrschema). Das Schema wird auch zivil ein-
gesetzt!

Tag Datum Prednisolon Darreichung Pantozol Zink Vitamin E Magnesium


50 mg/Tablette Prednisoln) 40 mg 20 mg 200 I.E. 6,7 mol

1 250 mg 5-mal 50 mg 1-0-1 1-0-0 1-0-0 1-0-0

2 250 mg 5-mal 50 mg 1-0-1 1-0-0 1-0-0 1-0-0

3 100 mg 2-mal 50 mg 1-0-1 1-0-0 1-0-0 1-0-0

Hörtestkontrolle nach 3–5 Tagen

4 100 mg 2-mal 50 mg 1-0-1 1-0-0 1-0-0 1-0-0

5 75 mg 1½-mal 50 mg 1-0-1 1-0-0 1-0-0 1-0-0

6 75 mg 1½-mal 50 mg 1-0-1 1-0-0 1-0-0 1-0-0

7 50 mg 1-mal 50 mg 1-0-1 1-0-0 1-0-0 1-0-0

8 50 mg 1-mal 50 mg 1-0-1 1-0-0 1-0-0 1-0-0

9 25 mg ½-mal50 mg 1-0-1 1-0-0 1-0-0 1-0-0

10 25 mg ½-mal 50 mg 1-0-1 1-0-0 1-0-0 1-0-0

Wechsel auf Prednisolon 5 mg/Tablette

11 10 mg 2-mal 5 mg 1-0-0 1-0-0 1-0-0 1-0-0

12 10 mg 2-mal 5 mg 1-0-0 1-0-0 1-0-0 1-0-0

13 5 mg 1-mal 5 mg 1-0-0 1-0-0 1-0-0 1-0-0

14 5 mg 1-mal 5 mg 1-0-0 1-0-0 1-0-0 1-0-0

15 2,5 mg ½-mal 5 mg 1-0-0 1-0-0 1-0-0 1-0-0

16 2,5 mg ½-mal 5 mg 1-0-0 1-0-0 1-0-0 1-0-0

Prednisolon: Immer morgens einzunehmen.


Pantozol: ½ h vor den Mahlzeiten einzunehmen.
Zink: ½ h vor dem Frühstück einzunehmen.

17.4 Empfehlungen bei sollte vor weiterem Lärm geschützt werden, ein
asymmetrischer Hörstörung Innenohrschema erhalten und das Gehör nach
6 Monaten erneut geprüft werden.
4 Bei einer Luftleitungsschwerhörigkeit von über
25 dB bei 0,5 oder 1 kHz in einem Ohr oder
einer Seitendifferenz der Luftleitungsschwer- Literatur
hörigkeit von mehr als 10 dB bei 0,5 oder 1
kHz sollte eine HNO-Untersuchung in einer 1. Agarwal L, Pothier DD (2009) Vasodilators and vasoactive
substances for idiopathic sudden sensorineural hearing
ROLE 2+ zum Ausschluss eines retrokochleä-
loss. Cochrane Database of Systematic Reviews 2009,
ren Prozesses erfolgen. Issue 4. Art. No.: CD003422. DOI: 10.1002/14651858.
4 Bei einer plausiblen Anamnese, z. B. Waffen- CD003422.pub4
lärm, ist auch bei einer Seitendifferenz von 2. Attias J et al. (1994) Oral Magnesium intake reduces
mehr als 10 dB in den Prüffrequenzen eine ab- permanent hearing loss induced by noise exposure. Am J
wartende Haltung gerechtfertigt. Der Soldat Otolaryngol 15-1: 26–32
308 Kapitel 17 · Akustisches Trauma

3. Attias J et al. (2004) Reduction in noise-induced tempo-


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4. Bennett MH, Kertesz T, Perleth M, Yeung P (2007) Hyper-
baric oxygen for idiopathic sudden sensorineural hearing
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10.1002/14651858.CD004739.pub3
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Hearing loss: Relevance of Acoustic Reflex and Left or
Right Handedness. Otol Neurootol 28: 434–437
16. Plontke S (2005) Konservative Verfahren des gestörten
Hörens. Laryngo-Rhino-Otol 84 Supplement 1: 1–36
17. Walden BE et al. (2000) The role of magnesium in the
susceptibility of soldiers to noise-induced hearing loss.
J Acoust Soc Am 108-1: 453–456
18. Wei BPC, Mubiru S, O’Leary S (2006) Steroids for idio-
17 pathic sudden sensorineural hearing loss. Cochrane
Database of Systematic Reviews, Issue 1. Art. No.:
CD003998. DOI: 10.1002/14651858.CD003998.pub2
309 18

Schädel-Hirn-Trauma (SHT)
M. Di Micoli

18.1 Definitionen – 310

18.2 Klinische Klassifikation – 310

18.3 Pathophysiologie – 311

18.4 Klinik und Diagnostik – 311

18.5 Therapie – 311

18.6 Taktische Besonderheiten – 312

Literatur – 314

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_18, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
310 Kapitel 18 · Schädel-Hirn-Trauma (SHT)

Schädel-Hirn-Verletzungen haben in der taktischen Hirndurchblutung (CPP, »cerebral perfusion


Medizin aufgrund ihrer Häufigkeit und der teilwei- pressure«), Hypoxie, Hyperkapnie, Hirnödem.
se gravierenden Folgen eine große Bedeutung. So- Durch (prä-)klinische Therapie beeinflussbar.
wohl stumpfe SHT (Sturz, Verkehrsunfall) als auch 4 Offenes SHT: Verletzung der Dura mater mit
perforierende SHT (Schuss- oder Splitterverletzun- Verbindung des Liquorraums zur Außenwelt
gen) sind anzutreffen. Zunehmende Bedeutung er- und Gefahr einer Infektion (Meningitis/
langen »banale« leichte SHTs und ihre möglichen Enzephalitis).
Auswirkungen auf posttraumatische Belastungs-
störungen (PTBS) und andere neurologische Stö-
rungen im Mittel- und Langzeitverlauf. 18.2 Klinische Klassifikation

Es existieren viele Einteilungen für das SHT. Pro-


18.1 Definitionen blematisch ist, dass bei vielen Klassifikationen auf-
grund der zu erhebenden Parameter (Dauer der Am-
4 Schädel-Hirn-Trauma: Temporäre oder dauer- nesie/Bewusstseinsstörung) die korrekte Schwere-
hafte traumatische (stumpf oder penetrierend) gradeinteilung nur retrospektiv zu bestimmen ist.
Schädigung des Gehirns. Die Einteilung in leichtes, mittelschweres und schwe-
4 Primäre Schädigung: Schädigung der Hirnsub- res SHT (. Tab. 18.2) auf Basis des initialen Wertes
stanz durch das Trauma selbst (Kontusion, Ein- der Glascow-Coma-Scale (. Tab. 18.1), möglichst
blutung, Substanzverlust). Irreparabel – durch ohne vorherige Gabe eines Analgetikums/Sedati-
(prä-)klinische Therapie nicht beeinflussbar. vums, hat sich in der Praxis bewährt (obwohl die
4 Sekundäre Schädigung: Anhaltende oder zu- GCS nicht für die Beurteilung akut hirnverletzter
nehmende Schädigung durch verminderte Patienten entwickelt wurde).

. Tab. 18.1 Einteilung Schweregrad SHT (modifiziert)

GCS-Wert Amnesie Bewusstseinsstörung Sonstiges


initial

Leichtes SHT 13–15 <24 h <30 min Übelkeit, Erbrechen

Mittelschweres SHT 9–12 1–7 Tage 30 min – 24 h Neurologische Herd-


symptome (Anisokorie,
Hemiparese) möglich

Schweres SHT 3–8 >7 Tage >24 h Hirnstammzeichen

. Tab. 18.2 Glasgow-Coma-Scale (GCS). Maximal 15, minimal 3 Punkte möglich

Beste verbale Antwort Beste motorische Antwort Augenreaktion (Öffnen) Punkte

Befolgt Aufforderung 6
18 Orientiert Gezielte Abwehr auf Schmerz 5

Konfuser Wortsalat Ungezielte Abwehr Spontan 4

Wörter verworren Beugesynergismen Öffnen auf Aufforderung 3

Unverständliche Laute Strecksynergismen Öffnen auf Schmerzreiz 2

Keine Keine Keine 1


18.5 · Therapie
311 18
18.3 Pathophysiologie neurologischen Untersuchung. Diese ist vor allem
eine klinische, nicht apparative, Diagnostik, die
Der Fokus in der Therapie eines SHT liegt auf der beim Geübten innerhalb kurzer Zeit sicher durch-
Hirndurchblutung. Der zerebrale Perfusionsdruck zuführen ist. Einen Überblick gibt . Tab. 18.3.
CPP (»cerebral perfusion pressure«) wird durch den Bis zu 15 % der Patienten mit einem schweren
intrakraniellen Druck (ICP, »intracranial pressure«) stumpfen SHT haben eine zusätzliche Verletzung
und den mittleren arteriellen Druck MAP (»mean der Wirbelsäule (v. a. HWS). Der Erstdiagnostik
arterial pressure«: näherungsweise: RRdiast + 1/3 × und dem ersten erhobenen neurologischen Status
[RRsyst – RRdiast]) bestimmt: (vor Analgosedierung) kommen daher eine wich-
tige (auch prognostische) Rolle zu. Dem Erstbefun-
CPP = MAP – ICP (in mmHg) denden obliegt die Verantwortung für die Weiterga-
be und Dokumentation für die nachfolgend Behan-
Bei Ansteigen des ICP, z. B. durch eine intrakraniel- delnden. Einschränkungen der sensomotorischen
le Blutung oder Hirnschwellung, verringert sich bei Funktion der Extremitäten durch z. B. Frakturen
gleichbleibendem oder gar sinkendem Blutdruck oder spinale Verletzungen müssen erkannt und be-
(Schock) der CCP. Sinkt der CPP unter die Schwelle züglich des erhobenen GCS korrekt eingeordnet
von 60 mmHg, kommt es zur zerebralen Ischämie werden. Eine Hypoglykämie als (Haupt-)Ursache
und somit zur andauernden Hirnschädigung, nicht der neurologischen Störung muss ausgeschlossen
nur im primär verletzten Hirnanteil. Endogen werden. Die Kombination eines SHT mit Verletzun-
kommt es zu einer zentralen Gegenregulation mit gen anderer Körperregionen unter taktischen Be-
Vasodilatation der zerebralen Gefäße und Erhö- dingungen ist häufig. Eine wiederholte Unter-
hung des systemischen Blutdruckes (Cushing-Re- suchung zur Entdeckung weiterer Verletzungen
flex, Monroe-Kellie-Doktrin). und einer Änderung des (neurologischen) Status
(»second, third, … survey«) ist erforderlich.
Tipp
> Die Prognose eines tief bewusstlosen Patien-
In der präklinischen Praxis sollte ein systolischer ten mit Schädel-Hirn-Trauma ist nach wie vor
RR von 110 mmHg beim SHT nicht unterschrit- schlecht. Im Einzelfall muss die aufwändige
ten werden. Versorgung dieses Patienten unter Berück-
sichtigung der taktischen Lage und weiterer
Verwundeten abgewogen werden (Triage).
! Besonders die Kombination aus Hirndruck
und niedrigem Blutdruck ist für die sekundä-
re Hirnschädigung beim SHT fatal.
18.5 Therapie

18.4 Klinik und Diagnostik > Ziel der präklinischen Therapie des mittel-
schweren und schweren SHT ist die Ver-
> Ein SHT ist insbesondere in der Akutphase meidung von Sekundärschäden durch
ein dynamisches Geschehen und bedarf ei- steigenden Hirndruck und sinkenden CPP.
ner engmaschigen Kontrolle, um eine Ver-
schlechterung des neurologischen Status zu
Hirndrucksteigerungen durch Husten, Würgen o. ä.
bemerken und adäquat zu therapieren.
sind zu vermeiden (ausreichende Analgosedie-
rung). Analgetika und Sedativa senken zwar nicht
Die präklinische Diagnostik beim SHT besteht nach direkt den Hirndruck, durch Vermeidung von
der immer zuerst durchzuführenden Basisdiagnos- Unruhezuständen und verbesserter (Be-)Atmung
tik (<C>ABCDE) aus der Erhebung der (Fremd-) werden Sekundärschäden jedoch durch eine ver-
Anamnese und des GCS (so früh wie möglich, mög- besserte Oxygenierung reduziert. Ketamin ist auf-
lichst vor Medikamentengabe) sowie einer grob grund seiner therapeutischen Breite, Applikations-
312 Kapitel 18 · Schädel-Hirn-Trauma (SHT)

. Tab. 18.3 Klinische Diagnostik beim SHT

Basisdiagnostik <C>ABCDE, Pulsoxymetrie, RR-Kontrolle, Blutzucker

Unfallmechanismus (Fremd-)Anamnese, Blast?, Zeichen stumpfer oder penetrierender Verletzungen im Kopf-


bereich, beschädigter Helm, Monokel- oder Brillenhämatom, Skalpierungsverletzung, Mittel-
gesichtstrauma

Symptome Bewusstseinstrübung bis zur Bewusstlosigkeit, Kopfschmerz, Übelkeit, Schwindel, Erbrechen,


Amnesie, Doppelbilder, Anisokorie

GCS So früh wie möglich erheben, dann auch im weiteren Verlauf, unter Berücksichtigung ggf.
verabreichter Medikamente

Pupillomotorik Prompt, verzögert, reagibel, lichtstarr, seitengleich, Größe (Mydriasis in der Regel auf der
Seite mit steigendem Hirndruck). Fehlermöglichkeit z. B. bei Bulbustrauma, vorbestehender
Augenerkrankung, Katecholaminen, Ketamin

Grob neurologische Prüfung der sensomotorischen Funktion jeder Extremität unter Berücksichtigung möglicher
Untersuchung peripherer oder spinaler Läsionen und Frakturen

Ganzkörperstatus Wirbelsäule, Extremitäten, Körperhöhlen (häufig Zusatzverletzungen beim SHT!)

Einklemmungs- Progrediente Bewusstseinstrübung bis zur Bewusstlosigkeit, Mydriasis (zuerst ein-, dann
zeichen beidseitig), Streckkrämpfe, Bradykardie

möglichkeit (i.v., i.m.) und seiner vasopressorischen verlassen haben und sich im geschädigten Gebiet
Komponente gerade im taktischen Bereich und (z. B. Parenchymeinblutung) anreichern. Daher ist
beim mehrfach verletzten SHT-Patienten zu emp- die präklinische Therapie mit Mannitol/HyperHA-
fehlen. ES nur bei drohender Einklemmung indiziert.
Wenn die taktische Lage und Ressourcen es er- . Tab. 18.4 gibt einen Überblick über die präkli-
lauben, ist bei entsprechender Erfahrung eine Rela- nische Therapie des mittelschweren und schweren
xierung sinnvoll, um Hirndruckspitzen zu vermei- Schädel-Hirn-Traumas.
den. Zur Aufrechterhaltung einer ausreichenden
Hirndurchblutung soll der systolische Blutdruck
über 110 mmHg gehalten werden, ggf. auch mit 18.6 Taktische Besonderheiten
Katecholaminen (außer bei permissiver Hypotonie
beim (aus-)blutenden Patienten – in diesen Einzel- Schutz- und Gefechtshelme haben bei Splittern
fällen individuelle Risikoabschätzung notwendig). und Geschossen mit kleinem Kaliber und niedriger
Eine hirnprotektive Wirkung von hypertonen Geschwindigkeit eine gute Schutzwirkung, ab-
und hyperosmolaren (HyperHAES-) Lösungen hängig vom Aufprallwinkel (7 Kap. 12). Sie schützen
konnte noch nicht bewiesen werden, ist aber patho- in gewissem Maße vor sekundären Explosions-
physiologisch, analog zu Mannitol, zumindest kurz- verletzungen. Wie in 7 Kap. 13 erläutert, besteht
fristig denkbar. Aufgrund der medikamentös indu- insbesondere bei Explosionsverletzungen die Mög-
zierten intravasalen osmotischen Druckerhöhung lichkeit der Reflexion der Schockwelle an der In-
soll es zu einer »Ausschwemmung« von Flüssigkeit nenseite des Helmes mit dem Hirn im Zentrum. Die
18 im Hirn und der verletzten Areale perifokal kom- Schädelkalotte bietet hier einen gewissen Schutz,
men. Durch die Volumenreduktion im Gewebe über deren Ausmaß und Überlastungsgrenze je-
sinkt konsekutiv der Hirndruck. Nach Beendigung doch keine Daten existieren. Trotz nicht vorhande-
der Medikamentenwirkung ist jedoch, zumindest ner sichtbarer Verletzungszeichen ist ein relevantes
theoretisch, derselbe Mechanismus in die andere SHT denkbar.
Richtung möglich (Rebound-Phänomen), wenn os- Es gibt Hinweise auf einen Zusammenhang
motisch wirksame Bestandteile den Intravasalraum zwischen einem erlittenen leichten Schädel-Hirn-
18.6 · Taktische Besonderheiten
313 18

. Tab. 18.4 Therapie des mittelschweren und schweren SHT

Basismonitoring Pulsoxymetrie, RR-Messung

Lagerung 30° Oberkörper hoch in gerader, fixierter Kopfstellung (venöser Abfluss), wenn RR >90 mmHg, sonst
Flachlagerung. Hilfsmittel: Zervikalstütze, Spine-board, Schaufeltrage (Wirbelsäulenverletzung)

Atmung/ Atemwegssicherung, O2-Gabe. Intubation bei GCS <9. PEEP <10 mbar. Normoventilation an-
Beatmung streben, bei verfügbarer Kapnometrie pCO2 von 35 mmHg. Vorsicht bei nasaler Intubation und
Wendeltubus bei Mittelgesichts-und Schädelbasisverletzung (Via falsa)

Kreislauf RR >110 mmHg halten, Schockbehandlung, Blutstillung, Volumengabe, ggf. HyperHAES,


Katecholamine (cave permissive Hypotonie)

Analgosedierung Ausreichend! Opiate, Benzodiazepine, Etomidat, Ketamin. Barbiturate bei isoliertem SHT möglich
– cave RR-Abfall! Bei ausreichender Analgosedierung ist eine Relaxierung meist nicht erforderlich

Wundversorgung Wunden sauber abdecken, festsitzende Fremdkörper belassen. Ausgetretene Hirnsubstanz


belassen und ohne zusätzlichen Druck mit Verband abdecken. Massiver Blutverlust aus Skalpie-
rungs- und Mittelgesichtsverletzungen möglich o ggf. Druckverband, Nasentamponade mit
Blasenkatheter

Transport Schnellstmöglich und schonend (möglichst in Einrichtung mit CT und neurochirurgischer


Operationsmöglichkeit)

Drohende Kurzfristige Hyperventilation, Mannitol 0,5 g/kg (z. B. 200 ml Mannitol 20 %) alle 1–2 h
Einklemmung (cave Hypernatriämie und bei Hypotension, Rebound-Phänomen)
HyperHAES (Therapieversuch: keine gesicherte Datenlage, fragliche Vorteile bei gleichzeitigem
Volumenmangelschock)

Zerebraler Prognostisch sehr ungünstig. Gabe von Benzodiazepinen, in verzweifelten Fällen Barbiturat-
Krampfanfall narkose (cave RR-Abfall!)

Sonstiges Blutzucker im Normbereich halten

Bei offenem SHT Antibiotikagabe (Breitspektrum) erwägen

Keine Gabe von Glukokortikoide außer beim spinalen Trauma mit neurologischem Defizit
(NASCIS-II-Schema: 30 mg/kg als Bolus, 5,4 mg/kg/h über 23 h)

Präklinisch keine protektive Hypothermie

Trauma und einer posttraumatischen Belastungs- nisstörungen, Müdigkeit u. ä. besitzen und nicht
störung (PTBS) bei Soldaten in Kampfeinsätzen. zwingend die Notwendigkeit sehen sich deswegen
Die Symptome eines leichten SHT, einer akuten beim medizinischen Personal vorzustellen. Auch
Stressreaktion und eines PTBS sind teilweise unspe- wenn im Einzelfall eine Unterbrechung des Diens-
zifisch, ähnlich und machen eine Differenzierung tes nicht möglich ist, ist die Identifikation dieser
schwierig. Symptome können sofort, aber auch erst Patienten wichtig, um sie taktisch entsprechend
deutlich verspätet auftreten. Gerade in aktiven ihrer eingeschränkten Verwendungsfähigkeit ein-
Kampfeinheiten ist die Identifizierung dieser Perso- setzen zu können.
nen wichtig, um eine Aussage bezüglich ihrer mo- Zur Identifizierung von Patienten mit einem
mentanen Einsatzfähigkeit treffen zu können. Man subklinischen leichten SHT wurde von den ameri-
kann davon ausgehen, dass Angehörige von Kampf- kanischen Streitkräften der MACE-Test entwickelt
einheiten und Spezialkräften eine hohe Duldungs- (Military Acute Concussion Evaluation), der kogni-
toleranz bzgl. mutmaßlich unwichtigen Befindlich- tive und mnestische Fähigkeiten prüft. Dieser Test
keitsstörungen wie Schwindel, Übelkeit, Kopf- sollte nach einem fraglichen leichten SHT oder
schmerz, leichte Benommenheit, leichte Gedächt- einem mutmaßlichen Blast verwendet werden um
314 Kapitel 18 · Schädel-Hirn-Trauma (SHT)

akute kognitive Defizite aufzudecken, die die Ein-


satzfähigkeit einschränken. Er soll entsprechend
gefährdete Soldaten identifizieren und, je nach
Symptomatik und Dringlichkeit, einer weiteren
Diagnostik zuführen. Der Test kann auch von nicht-
ärztlichem Personal eingesetzt werden, dauert ca.
5 min und ist im Internet abrufbar (www.dvbic.org).
> In der Regel wird einem Patienten nach
einem leichten Schädel-Hirn-Trauma ohne
auffälligen Test eine körperliche Schonung
für 1 Woche empfohlen.

Literatur

1. AWMF-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neuro-


chirurgie (2007) Nr. 008/001, Schädel-Hirn-Trauma im
Erwachsenenhalter
2. Schneider T, Wolcke B, Bähmer R (2006) Taschenatlas
Notfall & Rettungsmedizin. Springer, Berlin Heidelberg
New York
3. Teton New Media and The Geneva Foundation (2001)
Special Operations Forces Medical Handbook US-SO-
COM. Florida
4. Ziegenfuß T (2007) Notfallmedizin. Springer, Berlin
Heidelberg New York

18
315 19

Hängetrauma
R. Lechner, T. Lobensteiner

19.1 Einführung – 316

19.2 Pathophysiologie – 316

19.3 Bergungstod – 317

19.4 Behandlung – 319

19.5 Prävention – 320

Literatur – 321

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_19, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
316 Kapitel 19 · Hängetrauma

19.1 Einführung der empfohlenen Lagerung des Geretteten haben in


der Vergangenheit zu Unsicherheit bei der Erstver-
Die Pathophysiologie und Behandlung des Hänge- sorgung geführt [1, 2, 4]. Anhand der ausführlichen
traumas wird seit den 1970er Jahren kontrovers dis- Beschreibung der Pathophysiologie sollen im Fol-
kutiert [1, 8]. Auch wenn es sich beim Hängetrauma genden die aktuellen internationalen Behandlungs-
um ein sehr seltenes Ereignis handelt, besteht prin- empfehlungen verständlich dargestellt werden.
zipiell bei allen seilgesicherten Tätigkeiten das Risi-
ko ein Hängetrauma zu erleiden [1, 2]. Dies wird
durch zahlreiche Fallberichte belegt, bei denen 19.2 Pathophysiologie
Bergsteiger und Speläologen durch freies Hängen
ein Hängetrauma erlitten haben und teilweise ohne Die Ursache für den Tod beim Hängetrauma ist
gravierende andersartige Verletzungen verstorben noch nicht abschließend geklärt [8]. Im Wesent-
sind [3, 8]. Auch in Versuchsreihen klagten bewe- lichen existieren zwei pathophysiologische Erklä-
gungslos im Seil hängende Probanden mitunter rungsmodelle.
schon nach wenigen Minuten über starkes Unwohl- Von der Mehrzahl der Autoren wird ein Ver-
sein und wurden zum Teil Sekunden nach Symp- sacken des venösen Blutes als (Haupt-)Ursache an-
tombeginn ohnmächtig [1, 3]. gegeben. Diese körperliche Reaktion kann in ähnli-
> Beim Hängetrauma handelt es sich um eine
cher Weise bei langem Stehen, beispielsweise bei
durch bewegungsloses, annähernd ver-
angetretenen Soldaten, beobachtet werden. Kommt
tikales, freies Hängen in einem Anseilgurt
es durch das relativ verminderte Blutvolumen zu
induzierte Kreislaufdepression mit möglicher
einer zerebralen Minderperfusion, kollabiert die
Todesfolge [1, 3].
betreffende Person. Durch die damit einhergehende
Flachlagerung steht das versackte Blut dem Körper-
Potenziell gefährdet sind alle Personen, bei denen kreislauf wieder zur Verfügung und es kommt zu
längeres freies Hängen in einem Anseilgurt möglich einem verstärkten Blutrückfluss in das Gehirn, was
ist, beispielsweise Industriekletterer, Bergsteiger, Spe- zu einem schnellen Aufklaren führt [3, 4].
läologen, Gleitschirmflieger und Fallschirmspringer Beim sich bewegenden wachen Patienten sorgt
[1, 4]. Auch in militärischen und polizeilichen Lagen die Muskelpumpe durch (unwillkürliche) Muskel-
sind Szenarien, bei denen ein Hängetrauma auftreten kontraktionen für den Rückfluss des Blutes aus den
kann, denkbar. Dies betrifft vor allem die Verbrin- Beinen zum Herz. Bei einer frei im Gurt hängenden
gungsart Gebirge (Spaltensturz, Seilgeländer, Kletter- Person sind die Muskelkontraktionen jedoch redu-
manöver) und taktische Abseilmanöver, beispiels- ziert und folglich der venöse Rückstrom vermin-
weise beim Eindringen in Gebäude. dert. Der arterielle Blutfluss in die Körperperipherie
Das Risiko für ein Hängetrauma steigt hierbei hinein findet aber weiterhin ungehindert statt [3].
mit der Dauer des Hängens an, vor allem wenn die Dies könnte zu einem Versacken des Blutes in den
betroffene Person verletzungsbedingt immobilisiert abhängenden Körperpartien führen (orthostati-
und nicht zur Selbsthilfe fähig ist oder nur zeitlich scher Mechanismus) [1–4]. Faktoren wie Erschöp-
verzögert gerettet werden kann. Weitere Risiko- fung, Hypothermie, Hypoglykämie, Schmerzen
faktoren sind ein hohes Körpergewicht und eine durch Verletzung oder einschneidende Gurtteile
Verringerung des zentralen Blutvolumens, zum sowie Bewusstseinstrübung aus anderer Ursache
Beispiel durch Dehydratation oder Blutung [2, 3]. (z. B. Schädel-Hirn-Trauma) reduzieren die motori-
Der Begriff Trauma ist in diesem Zusammenhang sche Aktivität und begünstigen somit das Versacken
irreführend, da die meisten Patienten keine mecha- des Blutes [3, 4]. Ein Rückfluss des Blutes durch Ein-
nische Verletzung aufweisen. Der Begriff hat sich nahme einer horizontalen Lage nach Kollaps, wie
19 jedoch durchgesetzt und wird in der Literatur ein- oben beschrieben, kann bei einem annähernd ver-
heitlich verwendet. tikal im Seil hängenden Patienten nicht stattfinden
Zahlreiche, sich teils widersprechende wissen- [3, 4]. Hat dieser Mechanismus einmal begonnen,
schaftliche Studien und Empfehlungen bezüglich kann sich ein Teufelskreis ausbilden. Es muss je-
19.3 · Bergungstod
317 19
doch erwähnt werden, dass neueste Untersuchun- gezeit dementsprechend bis auf wenige Minuten ab
gen ein Versacken venösen Blutes als Ursache aus- [1, 3, 5]. Dies ist einerseits dem schmerzhaften Hän-
zuschließen scheinen [8]. gen beim direkten Einbinden und der Verwendung
> Zerebrale Minderperfusion o Bewusstseins-
eines Anseilgürtels bzw. alleinigem Brustgurt ge-
trübung o reduzierte motorische Aktivität
schuldet [3]. Andererseits verursacht ein allein ver-
o vermehrtes Versacken von Blut o ver-
wendeter Brustgurt eine intrathorakale Drucker-
stärkte zerebrale Minderperfusion.
höhung mit einer Verschlechterung der hämodyna-
mischen und respiratorischen Funktion [1, 3]. Dies
Ein weiterer Erklärungsansatz ist ein zentraler kar- beeinflusst den Verlauf eines Hängetraumas negativ
dialer Schonreflex, beispielsweise verursacht durch [2]. Ebenso wird die Entwicklung eines Hänge-
eine verminderte Herzmuskeldurchblutung (Be- traumas durch einen nicht optimal auf die Körper-
zold-Jarisch-Reflex, vasovagaler Mechanismus) [1, proportionen eingestellten Gurt und einer Ver-
3]. Diese führt zu einer Aktivierung von Rezeptoren minderung des venösen Rückflusses durch Kom-
im hinteren linken Ventrikel, die reflektorisch zu pression der Femoralgefäße an den Beinschlaufen
einer Bradykardie und Vasodilatation führen. Die- diskutiert (. Abb. 19.1) [1, 2, 6].
ser Reflex soll den Herzmuskel bei einem Herzver-
sagen, beispielsweise bei einer Minderdurchblutung
durch einen Herzinfarkt, vor einer Überlastung 19.3 Bergungstod
schützen. Beim bewegungslos hängenden Patienten
verstärkt er allerdings die Kreislaufdepression, bis > Der Begriff Bergungstod beschreibt das
hin zur Ausbildung eines Schocks [3]. unerwartete und rasche Versterben von Ver-
Die gemeinsame Endstrecke ist eine Minder- unglückten im engen zeitlichen Zusammen-
perfusion lebenswichtiger Organe mit Bewusstlo- hang zu ihrer Rettung.
sigkeit und möglicher Todesfolge (. Abb. 19.1) [3].
Zeichen einer drohenden Bewusstlosigkeit sind prä- Dies ist für die Rettung Unterkühlter (7 Kap. 38),
synkopale Symptome wie Übelkeit, Ängstlichkeit, Schiffsbrüchiger und Verschütteter sowie allgemein
visuelle Wahrnehmungsstörungen (Lichtblitze), bei maximal erschöpften Verunglückten nach lang-
Schwindel, Schwitzen, Blässe und das Gefühl der wierigen und komplexen Rettungs- und Suchaktio-
drohenden Ohnmacht [1, 2]. nen beschrieben. Die Ursachen sind jedoch völlig
> Ein akutes Versterben an einer Kreislauf-
unterschiedlicher Natur, so dass auf die einzelnen
dysregulation durch ein Hängetrauma
Mechanismen hier nicht eingegangen werden kann.
während des Hängens ist prinzipiell möglich,
Es existieren Fallberichte, bei denen Verun-
insgesamt aber selten [1, 3]. Nach Rettung
glückte nach der Befreiung aus hängender Position
bei Hängen über Stunden besteht ein er-
verstarben. Dies muss klar gegen das oben beschrie-
höhtes Risiko einer Muskelzellschädigung bis
bene Versterben während des Hängens am Seil ab-
hin zur Rhabdomyolyse mit Hyperkaliämie,
gegrenzt werden. Eine akute Volumenüberlastung
Ausbildung eines Nierenversagens (Crush-
des Herzens durch große Mengen zurückfließenden
Niere) und möglichem Tod durch Multiorgan-
Blutes aus den zuvor abhängenden Körperregionen,
versagen (. Abb. 19.1) [3].
hervorgerufen durch den Lagewechsel von hängen-
der Position hin zur Flachlagerung, wurde lange
Jahre als Todesursache postuliert [1–4]. Daraus re-
Einfluss des Gurtes Das Risiko für ein Hänge- sultierte die Empfehlung, Verunglückte mit einem
trauma ist abhängig vom verwendeten Gurt- und Hängetrauma zunächst in eine Position mit er-
Einbindesystem. Das Risiko nimmt vom optimal höhtem Oberkörper (Stehen, Kauern, unterstütztes
angepassten Brustsitzgurt, allein verwendetem Sitz- Sitzen) zu bringen und eine Flachlagerung erst nach
gurt, Komplettgurt, allein verwendetem Brustgurt, ca. 30 min durchzuführen. Eine initiale Flachlage-
einem Anseilgürtel bis zum behelfsmäßigen direk- rung oder Schocklage wurde als lebensbedrohlich
ten Einbinden ins Seil zu und die tolerierbare Hän- angesehen [1, 3, 4]. Diese Lehrmeinung ist sowohl
318 Kapitel 19 · Hängetrauma

Freies bewegungsloses
Hängen

+ verminderte Muskelpumpe
Blutansammlung in den
(Erschöpfung, Hypothermie,
abhängenden Körperpartien
andere Verletzungen,
(orthostatischer Mechanismus)
Hypoglykämie)

Kompression der
Femoralgefäße durch
+ Beinschlaufen und erhöhter
Verminderter venöser intrathorakaler Druck durch
Rückstrom schlecht sitzenden oder
alleinigen Brustgurt

Bezold-Jarisch Reflex
Kardiale Minderperfusion
(vasovagaler Mechanismus)

+ Volumenmangel anderer
Reduziertes Herzzeitvolumen Genese (Dehydratation,
Blutung)

Hypotension

relativer Volumenmangel mit


möglicher Schocksymptomatik

Minderdurchblutung und
Synkope / Bewusstlosigkeit Schädigung von Organen
(Muskulatur, Niere)

19 Elektrolytentgleisungen
Tod (Hyperkaliämie) und
(Multi)Organversagen

. Abb. 19.1 Die multifaktorielle Pathogenese des Hängetraumas. + Verstärkung. (Adaptiert nach [2])
19.4 · Behandlung
319 19
im Internet als auch in Lehrbüchern noch häufig 19.4 Behandlung
vorzufinden.
Aktuelle Veröffentlichungen widersprechen ! Da seilgesicherte Manöver überwiegend in
dieser Lehrmeinung [1–3, 7]. Dies liegt zum einen Geländeabschnitten mit erhöhter Absturz-
daran, dass die Hypothese, eine initiale Flachlage- gefahr durchgeführt werden, ist auf eine Ab-
rung erhöhe das Risiko für einen Bergungstod, in sturzsicherung der Rettungskräfte und
Studien und Fallbeschreibungen nicht belegt wer- Schutz vor herabfallenden Gegenständen zu
den konnte, und zum anderen daran, dass sich Per- achten.
sonen mit experimentell erzeugten Hängetraumata
bei Flachlagerung schnell und ohne Nebenwirkun- Erste Priorität ist es, den Patienten schnellstmöglich
gen erholten [1–3, 7]. Außerdem erhöht eine verzö- aus der hängenden Position zu befreien [2, 3].
gerte Flachlagerung das Risiko für Folgeschäden
Tipp
wie Elektrolytentgleisungen und Nierenversagen,
da sie die Volumenumverteilung als Ursache der
Um die Muskelpumpe bereits während des
Bewusstseinseinschränkung (verminderter zereb-
Hängens zu aktivieren, sollten ansprechbare
raler Blutfluss) und Kreislaufdysregulation (ver-
Patienten zur aktiven Bewegung der Beine
minderte Herzdurchblutung, vermindertes zirku-
animiert werden (»Fahrrad fahren«, Hoch-
lierendes Blutvolumen) unnötig aufrecht erhält [3].
drücken der Beinen an Fels-, Spalten- oder
Es existieren zahlreiche Fallberichte, in denen die
Hauswand). Dies kann, vor allem beim freien
oben aufgeführten Spätfolgen eines Hängetraumas
Hängen, durch Anbringen einer Trittschlinge
(Rhabdomyolyse, Nierenversagen, Multiorganver-
unterstützt werden (. Abb. 19.2 links) [1, 3].
sagen) beobachtet wurden und teilweise Stunden
bis Tage nach der Rettung zum Tode geführt haben
[3]. Für die sehr wenigen dokumentierten Fälle Eine Verbesserung des venösen Rückflusses aus den
eines Versterbens innerhalb von Minuten nach er- abhängenden Körperpartien kann durch Anheben
folgter Rettung werden mittlerweile andere Ursa- der hängenden Beine durch einen Retter oder das
chen wie Herzrhythmusstörungen durch Hypoxie Anbringen einer (Band)schlinge in den Kniekehlen
oder Hyperkaliämie und ein nicht mehr aufzuhal- erreicht werden (. Abb. 19.2 rechts) [2]. Ist der Ver-
tender, zufällig im zeitlichen Zusammenhang zur letzte nicht am Seilende fixiert, so kann er durch
Rettung stehender Sterbeprozess durch Schock oder zweifache Wicklung des herabhängenden Seiles um
Erschöpfung, für wahrscheinlicher erachtet [3]. Ins- den eigenen Fuß gegen den Widerstand des Seiles
gesamt sind die pathophysiologischen Prozesse des das Bein ausstrecken und seinen Körper hoch-
Hängetraumas und des Bergungstodes nach Hänge- drücken. Das nicht umwickelte Bein kann auf dem
trauma jedoch nicht zufriedenstellend geklärt [2, 8]. anderen Fuß abgestützt werden, so dass in beiden
Bei den wenigen dokumentierten Fällen und Beinen die Muskelpumpe aktiviert wird.
einer insgesamt dünnen experimentellen Studienla- Prinzipiell gilt die Versorgung nach dem
ge zur Pathophysiologie und Therapie überwiegt <C>ABCDE-Schema mit besonderer Bedeutung der
derzeit international die Empfehlung nach dem un- Wiederherstellung eines adäquaten Kreislaufs. Hier-
veränderten <C>ABCDE-Algorithmus (7 Kap. 8) zu zu ist der Patient flach zu lagern und die Standard-
therapieren [1–3, 7]. Dies wurde von der US-ameri- maßnahmen der präklinischen/taktischen Verwun-
kanischen Bergrettung und den Arbeitsschutzorga- detenversorgung anzuwenden (7 Kap. 8) [3]. Zusätz-
nisationen in den USA und Großbritannien in den lich sollte ein EKG-Monitoring erfolgen, um mögli-
letzten Jahren bereits vollzogen [2, 9, 10]. Es gibt che Herzrhythmusstörungen zeitnah zu erkennen
keine klaren wissenschaftlichen Hinweise, dass eine und therapieren zu können (7 Kap. 37) [3].
Flachlagerung das Risiko für einen Bergungstod er- Generell sollten Patienten, die aus hängender
höht [1]. Position gerettet werden mussten, in eine medizini-
sche Versorgungseinrichtung eingeliefert werden,
bei passivem Hängen über zwei Stunden auf Grund
320 Kapitel 19 · Hängetrauma

. Abb. 19.2 Links: Aktivierung der Muskelpumpe durch wiederholtes Hochdrücken des Körpers in einer Trittschlinge. Dazu
kann eine 5 mm Reepschnur zu einem Ring geknotet und mittels Prusikknoten am Seil fixiert werden. In der so entstan-
denen Trittschlinge können die Beine gegen Widerstand gestreckt werden. Rechts: Verbesserung des venösen Rückflusses
durch Anheben der Beine. Dies kann manuell durch einen Retter geschehen oder beispielsweise durch U-förmige Fixierung
einer 120 cm Bandschlinge mittels Karabiner am Seil auf Höhe des Anseilknotens

des möglichen Nierenversagens in eine Versor- raum gezogen werden (+ beispielsweise 25 g Manni-
gungseinrichtung mit Dialysemöglichkeit [3]. Bei tol in 1 l 5 % Glukoselösung und 100 mval Natrium-
Verdacht auf einen hochgradigen Muskelschaden/ bikarbonat 8,4 % über 4 h unter laborchemischer
Rhabdomyolyse sollte eine Therapie zur Prävention pH und Elektrolytwertkontrolle). Medikamente
eines »Crush-Syndroms« mit Nierenversagen und sollten bei Niereninsuffizienz dosisangepasst nach
Hyperkaliämie durchgeführt werden (Diagnose: Packungsbeilage verabreicht werden.
Myoglobinurie in Verbindung mit Oligurie/Anu- Ob und wie der Gurt eines Patienten entfernt
rie). Deutlich erhöhte Myoglobinwerte können über wird, sollte von den Transporterfordernissen, der
nicht vollständig geklärte Mechanismen ein akutes Notwendigkeit zur Selbstsicherung des Patienten
Nierenversagen, die sog. »Crush-Niere«, auslösen. und dem Patientenkomfort abhängig gemacht wer-
Ein Hinweis hierfür ist durch Myoglobin bierbraun den.
verfärbter Urin. Myoglobin kann zudem laborche- Eine Hypothermieprophylaxe und -behand-
misch direkt im Urin quantifiziert werden oder lung hat durch das erhöhte Risiko des Auskühlens
durch einen für Erythrozyten positiven U-Stix, bei bei passivem Hängen einen hohen Stellenwert [3].
fehlendem Nachweis von Erythrozyten in der Licht-
mikroskopie, nachgewiesen werden. Therapeutisch
19 sind eine elektrolytarme Flüssigkeitszufuhr und 19.5 Prävention
eine Alkalisierung des Blutes und Urins anzustre-
ben, um das darin freigesetzte Myoglobin besser zu Jede Person, die potenziell ein Hängetrauma erlei-
lösen und auszuscheiden. Zusätzlich kann durch den kann, sollte sich des Risikos, der Therapie und
Mannitol Flüssigkeit osmotisch in den Intravasal- der Präventionsmöglichkeiten bewusst sein, damit
Literatur
321 19
diese selbstständig und ohne zeitliche Verzögerung Literatur
durchgeführt werden können. Ein seilgesichertes
Arbeiten im absturzgefährdeten Gelände sollte nie- 1. Pasquier M, Yersin B, Vallotton L, et al. (2011) Clinical
update: suspension trauma, Wilderness Environ Med
mals allein erfolgen [1]. 22:167–171
Zur Rettung eines Patienten mit Hängetrauma 2. Adisesh A, Robinson L, Codling A, et al. (2009) Evidence-
sind je nach Situation umfangreiche Berg- bzw. Based Review of the Current Guidance on First Aid Mea-
Höhenrettungskenntnisse notwendig, die an dieser sures for Suspension Trauma. Health and Safety Execu-
Stelle nicht in der gebotenen Ausführlichkeit darge- tive, Norwich, UK
3. Mortimer RB (2011) Risks and management of prolonged
stellt werden können. In der Regel ist aber eine Ver-
suspension in an Alpine harness. Wilderness Environ Med
bringung nach unten mit weniger Aufwand und Zeit 22:77–86
verbunden, als eine Verbringung nach oben. Die 4. Lee C, Porter KM (2007) Suspension trauma. Emerg Med J
Notwendigkeit der generellen Beherrschung von 24:237–238
Rettungstechniken und die Auseinandersetzung mit 5. Orzech M, Goodwin M, Brickley J, et al. (1987) Test
Program To Evaluate Human Response to Prolonged
Rettungsoptionen vor der Durchführung eines Seil-
Motionless Suspension in Three Types of Fall Protection
manövers, vor allem in speziellen taktischen Situa- Harnesses. In: Armstrong HG (ed) Aerospace Medical
tionen, kann nicht genug betont werden. Ein Mit- Research Laboratory. Wright-Patterson Air Force Base, OH
führen von Bandschlingen und/oder Reepschnüren 6. Hsiao H, Turner N, Whisler R, et al. (2012) Impact of
zur Verwendung als Tritt-/Unterstützungsschlinge harness fit on suspension tolerance, Hum Factors 54:-
ist abhängig vom Einsatzszenario zu erwägen. 346–357
7. Thomassen O, Skaiaa SC, Brattebo G, et al. (2009) Does
! Die Sicherung einer Person mit alleinigem the horizontal position increase risk of rescue death
Brustgurt, Anseilgürtel und direktem Ein- following suspension trauma? Emerg Med J 26:896–898
binden in das Seil ist obsolet [1]. 8. Paal P (2014) Hängetrauma – Suspension Syndrome. Flug
und Reisemedizin 21: 86–87
Es sollten nur passende und auf die Körperpropor- 9. OSHA (2011) Suspension Trauma/Orthostatic Intolerance.
Edited by US Department of Labor OSaHA 2004, updated
tionen eingestellte Sitzgurte verwendet werden, um
2011
eine mögliche Gefäßkompression durch den Gurt 10. Glatterer S (2011) Harness Suspension Trauma. MERID-
zu vermeiden. Hierzu ist das freie schmerzlose und IAN, The Quarterly Publication of the Mountain Rescue
bewegungslose Hängen im Gurt mit vollständiger Association 14
Ausrüstung für mindestens 10 Minuten zu erproben
[6]. Ein Gurtsystem ist annäherungsweise richtig
eingestellt, wenn man an jeder Stelle des Gurtes vier
Finger nebeneinander zwischen Gurtsystem und
Körper schieben kann und der Gurt dann straff auf
der Hand aufliegt. Wird eine Brust-Sitzgurt-Kom-
bination verwendet, so muss das Seil so eingebun-
den werden, dass das Körpergewicht beim freien
Hängen auf dem Sitzgurt lastet und der Brustgurt
lediglich ein Abkippen des Oberkörpers nach hin-
ten verhindert.
> Patienten, die mit einer Trage verbracht
werden müssen, sollten horizontal transpor-
tiert werden. Ist eine vertikale Aufhängung
der Trage zur Evakuierung unumgänglich, so
sollte der Patient die Möglichkeit haben, sich
mit den Füßen abzustützen, um die Muskel-
pumpe und damit den venösen Rückstrom zu
aktivieren.
323 20

Versorgung unter
Nachtsichtbedingungen
C. Neitzel, J. Gessner

20.1 Restlichtverstärker – 324


20.1.1 Räumliches Sehen – 324
20.1.2 Fokussierung – 324
20.1.3 Einfarbigkeit – 324
20.1.4 Periphere Sicht – 324

20.2 Wärmebildgeräte – 324

20.3 Patientenversorgung mit Restlichtverstärkern – 324


20.3.1 Erkennen von Blutungen – 324
20.3.2 Restlicht – 325
20.3.3 Zeitbedarf – 325
20.3.4 Umgang mit Material – 325
20.3.5 Atemwegsmanagement – 326

20.4 Versorgung mit sichtbarem Licht – 327

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_20, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
324 Kapitel 20 · Versorgung unter Nachtsichtbedingungen

Bei Dämmerung und Dunkelheit ist in Situationen hungen. Binokulare Systeme sind teilweise nur für
mit besonders hoher Gefährdung, in der Nähe be- Mindestfokussierungsabstände von 1–2 m ein-
findlichem Gegner oder in Gelände ohne Deckung gerichtet und damit für die Arbeit am Patienten nur
insbesondere in der Frühphase von Gefechten die bedingt brauchbar.
Verwendung von sichtbarem Licht meist gefährlich,
weil es Feuer auf sich zieht.
Somit ist eine Versorgung von Patienten unter 20.1.3 Einfarbigkeit
Verwendung von Nachtsichtgeräten häufig un-
umgänglich. Dies bringt eine Reihe von Nachteilen Gebräuchliche Restlichtverstärker erzeugen ein
mit sich und stellt hohe Anforderungen an die monochromatisches grünes Bild. Dies lässt Blut
Helfer. grünlich in einer grünlichen Umgebung aussehen
und macht Blutungen damit schwerer zu erkennen.

20.1 Restlichtverstärker
20.1.4 Periphere Sicht
20.1.1 Räumliches Sehen
Durch die optischen Systeme der Nachtsichtgeräte
Nachtsichtgeräte, die nicht für jedes Auge über eine geht der natürliche Weitwinkelblick des Auges ver-
separate Lichtverstärkerröhre mit eigener Optik ver- loren, es entsteht ein Tunnelblick.
fügen (z. B. LUCIE der Bw), verursachen einen Ver-
lust des räumlichen Sehens. Entfernungen können
damit weniger gut abgeschätzt werden, die Hand- 20.2 Wärmebildgeräte
Auge-Koordination wird schlechter. Alle Tätigkeiten
am Patienten, vom Legen intravenöser Zugänge Die Verwendung von Wärmebildgeräten, die unter-
über das Verbinden von Wunden bis hin zum Schlie- schiedliche Temperaturen verschiedenfarbig oder
ßen von Schnallen oder Reißverschlüssen, werden in Graustufen darstellen, ist für die Versorgung von
damit erheblich erschwert und das Tastempfinden Verwundeten aufgrund der geringen Auflösung
gewinnt an Bedeutung. Binokulare Nachtsichtgeräte beim derzeitigen Stand der Technik meist nicht
(Nachtsichtbrillen, die ähnlich eines Fernglases über sinnvoll. Sie können aber gerade bei niedrigen Um-
separate Optiken für jedes Auge verfügen) weisen gebungstemperaturen sehr effektiv für die Suche
diese Nachteile teilweise nicht auf. nach Verwundeten eingesetzt werden.

20.1.2 Fokussierung 20.3 Patientenversorgung


mit Restlichtverstärkern
Da nahezu alle derzeit im Gebrauch befindlichen
Nachtsichtgeräte optische Systeme mit geschliffe- Die Einschränkungen durch die Verwendung von
nen Linsen nutzen, müssen sie auf den Betrach- Nachtsichttechnik bringen vielfältige Probleme für
tungsabstand manuell scharfgestellt werden. Bei die Versorgung von Patienten mit sich:
Arbeiten im Nahbereich ist der Bereich, in dem
scharf gesehen werden kann, sehr gering: schon
Änderungen der Betrachtungsentfernung von 20.3.1 Erkennen von Blutungen
10–20 cm lassen das Bild unscharf und eine Nach-
fokussierung erforderlich werden. Dies erschwert Als herausragendes Problem stellt sich dar, dass star-
die Arbeit am Patienten erheblich. Gleichzeitig wird ke Blutungen meist nicht ins Auge fallen, sondern
der Soldat bei Nahfokussierung für weitere Entfer- sich höchstens bei heller Bekleidung als dunkler
20 nungen blind. Er kann eigene Teile ebenso wenig Fleck darstellen. Auf dunkler Tarnbekleidung sind
sehen wie auftretenden Feind oder andere Bedro- Blutflecken kaum zu identifizieren (. Abb. 20.1).
20.3 · Patientenversorgung mit Restlichtverstärkern
325 20
men des »initial assessment« muss daher besonders
sorgfältig und vollständig erfolgen. Bei Patienten,
die unter Nachtsichtbedingungen versorgt worden
sind, muss später immer in besonderem Maße
davon ausgegangen werden, dass Verletzungen
übersehen wurden. Eine gewissenhafte Über-
prüfung ist daher bei der Übernahme von Patienten
unerlässlich!

a 20.3.2 Restlicht

Abhängig von der Leistungsfähigkeit der verwende-


ten Nachtsichtgeräte, kann eine Versorgung in Neu-
mondphasen oder im Mondschatten aufgrund des
minimalen Restlichts unmöglich oder stark er-
schwert sein. Hier empfiehlt es sich grundsätzlich,
zusätzliche Beleuchtung durch Infrarotlicht zu
nutzen (z. B. IR-Lampe des Nachtsichtgeräts,
IR-Licht-Module an Waffen, IR-Taschenlampen,
b IR-Knicklichter). Besteht die Möglichkeit, dass der
Gegner nachtkampffähig ausgerüstet ist und eben-
falls IR-Licht aufklären kann, bestehen für aktive
IR-Beleuchtung die gleichen Probleme wie für
sichtbares Licht.
> Da IR-Licht nicht im für das Auge sichtbaren
Spektrum liegt, kann die Kontrolle der Pupillen-
funktion nicht mit IR-Licht erfolgen! Hierfür
muss auf sichtbares Licht (auch Rotlicht) zurück-
c gegriffen werden.

. Abb. 20.1a–c Vergleich von Blutflecken auf trockenem


Tarndruck. a Weißlicht, b Rotlicht, c Restlichtverstärker.
Nasse Kleidung (z. B. durch Schweiß) wird ebenfalls dunkel, 20.3.3 Zeitbedarf
so dass eine Unterscheidung zwischen Blut und sonstiger
Nässe unter Restlichverstärker oder Rotlicht kaum möglich
ist. (Fotos: Dr. C. Neitzel) Durch die angesprochenen Probleme wird die für
die Behandlung notwendige Zeit deutlich erhöht.
Dies muss vom Führer in seine taktischen Entschei-
Kann kein sichtbares Licht verwendet werden, muss dungen einbezogen werden. Gleichzeitig ist es ein
der Helfer sich auf das Ertasten von feuchten Stellen wichtiger Faktor für oder gegen eine Entscheidung,
und fühlbaren Verletzungen beschränken. Insbe- ggf. die Behandlung unter Nutzung von sichtbarem
sondere die Suche nach feuchten Arealen ist bei der Licht deutlich zu beschleunigen.
meist hohen Schweißproduktion im Gefecht kaum
hilfreich. Darüber hinaus kann sie nur mit bloßen
Händen ohne Verwendung von Untersuchungs- 20.3.4 Umgang mit Material
handschuhen erfolgen. Dies ist aus hygienischen
Gründen problematisch, insbesondere, wenn es Durch Tunnelblick, stets notwendige Nachfokussie-
sich um Unbekannte handelt. Das Abtasten im Rah- rung, fehlendes räumliches Sehen, Einfarbigkeit
326 Kapitel 20 · Versorgung unter Nachtsichtbedingungen

del, 2 Chest Seals; »Bleeder Kit« mit Combat Gauze,


Kerlix, Israeli) erlaubt einen gezielten Zugriff auf
Material, wenn es benötigt wird. Vorerst nicht benö-
tigtes Material sollte immer in die Verpackung oder
das Rucksackfach zurückgelegt werden. Als stan-
dardisierte, vor Verschmutzung geschützte Ablage-
stelle für Material kann während der Behandlung
z. B. der Helm des Verwundeten genutzt werden.
Fentanyl-Lutschtabletten eignen sich wegen ihrer
auffälligen Form und einfachen Handhabbarkeit
ideal für die Anwendung in Dunkelheit. Da gerade
. Abb. 20.2 Abgeschnittener Spritzenstempel. Bei auf-
Tätigkeiten wie die Anlage venöser Zugänge höhere
gezogenen Medikamenten kann das Beschneiden der Sprit- Ansprüche an das räumliche Sehen stellen, muss
zenstempel (z. B. Ketanest rund, Dormicum rund, Succy häufig die Indikation für intraossäre Zugänge groß-
dreieckig) die Identifizierung ohne Lesen der Beschriftung zügiger gestellt werden.
ermöglichen. Das Aufziehen von Standarddosierungen
(z. B. 150 mg Ketanest, 10 mg Midazolam, 100 mg Succy) in
der jeweiligen Spritze erlaubt bei Durchschnittspatienten
die Applikation ohne visuelle Kontrolle der ml-Einteilung. 20.3.5 Atemwegsmanagement
(Foto: Dr. C. Neitzel)
Gelingt die Einlage eines Wendl-Tubus unter
Nachtsichtbedingungen noch relativ einfach, ist
und ggf. minimales zur Verfügung stehendes Rest- eine Koniotomie aufgrund der diffizileren Technik
licht ist die Übersichtlichkeit und Zugänglichkeit schon schwieriger durchzuführen. Eine Möglich-
des medizinischen Materials sehr eingeschränkt. keit besteht in der Anwendung der Seldinger-Tech-
Beschriftungen von Verpackungen können nicht nik. Dazu wird die übliche chirurgische Präparier-
oder kaum gelesen werden, was insbesondere bei technik, unterstützt durch das Tastempfinden bis
Medikamenten hochproblematisch ist. Hier können zur Durchtrennung des Lig. conicum, durchgeführt.
im Vorfeld in Standarddosierungen für Erwachsene Ein pädiatrischer Tubusführungsstab wird leicht
aufgezogene Spritzen mit fühlbaren Markierungen gebogen entlang des Skalpells nach kaudal hin in die
(. Abb. 20.2) hilfreich sein. Die Applikation kann Trachea eingeführt, wenige Zentimeter vorgescho-
beim ungefähr Normalgewichtigen dann auch in ben und das Skalpell entfernt. Während eine Hand
völliger Dunkelheit ohne visuelle Kontrolle der den Führungsstab am Kehlkopf fixiert, fädelt die
ml-Einteilung auf der Spritze erfolgen. andere den Tubus von der Spitze her auf das hintere
Rucksäcke sollte außen mit IR-Knicklichtern Ende auf und schiebt ihn vor. Sobald am hinteren
versehen werden. Wird der Rucksack abgelegt (z. B. Ende der Führungsstab aus dem Tubuskonnektor
Eindringstelle) und das Knicklicht aktiviert, ist er so herausschaut, wird er festgehalten, der Tubus lang-
im Bedarfsfall schnell auffindbar. Eine Verpackung sam über ihn in die Trachea vorgeschoben, bis der
größerer Materialmengen in einem gemeinsamen Ballon verschwunden ist, und anschließend ge-
Behältnis erschwert die gezielte Entnahme benötig- blockt. Der Führungsstab sichert das Vorschieben
ter Einzelteile. Beutel mit Sanitätsmaterial (z. B. per- des Tubus in das richtige Lumen und verhindert den
sönliche Sanitätsausstattung, »blow out kit«, »indi- Verschluss der geschaffenen Öffnung durch Ver-
vidual first aid kit«) sollten langsam und vorsichtig schiebung von Gewebeschichten (Kulissenphanö-
aufgerissen werden, um den Inhalt nicht fallen zu men). Auch eine Intubation unter Nutzung von
lassen. Herausgefallenes oder zur Seite gelegtes Nachtsichtgeräten ist möglich, bleibt aber dem er-
Material wird sonst gerade auf bewachsenem oder fahrenen Intubateur vorbehalten. Die Lichtquellen
zerklüftetem Boden häufig nicht mehr gefunden. des Spatels sollte dabei durch Entfernung der Batte-
20 Eine standardisierte, an Verletzungsmustern orien- rien aus dem Handgriff deaktiviert werden, um die
tierte Verpackung (z. B. »Chest Kit« mit 14-G-Na- Lichtdisziplin nicht zu gefährden. Als Ersatz kann
23.4 · Versorgung mit sichtbarem Licht
327 20

. Abb. 20.3 Für farbkodierte (und damit unter Restlichtver- . Abb. 20.4 Leichtere Identifizierung der oberflächlichen
stärker oder Rotlicht nicht nutzbare) Systeme, z. B. Blocker- Venen aufgrund von Schattenwurf durch IR-Lichtquelle.
spritzen für Larynxtuben LTS, kann eine Kerbe oder Tape- (Foto: Dr. C. Neitzel)
Markierung auf der entsprechenden Höhe des Stempels den
Gebrauch in Dunkelheit ermöglichen

eine IR-Lichtquelle genutzt werden. Einfacher an- ohne Gefährdung eigener Teile anwendbar sein,
zuwenden sind supraglottische Atemwegshilfsmit- bringt seine Verwendung deutliche Vorteile bei der
tel, z. B. der Larynxtubus. Bei entsprechender Vor- Versorgung, beeinträchtigt aber die Nachtsehfähig-
bereitung des Materials lassen sie sich in völliger keit der Anwesenden für ca. 15–30 min (7 Kap. 34.4).
Dunkelheit anwenden (. Abb. 20.3). Häufig macht die Einrichtung von Verwundeten-
> Eine »blinde Vertrautheit« mit der eigenen
nestern in Gebäuden oder Innenhöfen das Arbeiten
Ausrüstung und der der Partner ist bei der
mit Licht möglich. Im Freien kann notfalls eine Ver-
Versorgung unter Nachtsichtbedingungen
sorgung mit Licht auch unter einer lichtdichten Ab-
zwingend erforderlich. Die Aufteilung und
deckung (z. B. Poncho) erfolgen. Hierbei sollte ein
Bestückung der Packgefäße sollte möglichst
Sicherer dazu eingeteilt werden, von außen auf eine
intuitiv sein und auswendig gelernt werden.
vollständige Abdunkelung zu achten.
Eine gute Leistung bei der Behandlung unter
Wird mit Fahrzeugen operiert, ist eine vorberei-
Nachtsicht erfordert intensive Übung und
tete Möglichkeit zur Abdunkelung vorhandener
Ausbildung!
Scheiben oder Luken sinnvoll, um im Inneren eine
Versorgung mit Licht zu erlauben. Die Displays
elektronischer Medizingeräte sollten abgedunkelt
werden. Manche Produkte für den militärischen
20.4 Versorgung mit sichtbarem Licht Bereich verfügen über entsprechende Optionen,
teilweise sogar mit einstellbarem IR-Display.
Die Versorgung unter Nutzung von Nachtsichtgerä- Behelfsmäßig kann ein Abkleben mit dunkelroter
ten ist schwierig. Wo immer in der taktischen Lage Folie sinnvoll sein. Nicht unbedingt notwendige
möglich, sollte daher mit sichtbarem Licht gearbeitet Displayteile und Alarmleuchten können mit Gewe-
werden. Rotlicht hat den Vorteil, dass die Dunkelad- beband lichtdicht überklebt werden.
aption der Netzhaut nicht beeinträchtigt wird, so- Für diffizile Arbeiten, z. B. die Anlage venöser
dass die volle Nachtsehfähigkeit nach Abschalten Zugänge, haben sich verschiedene Techniken als
der Lichtquelle nach ca. 1–2 min wieder erlangt hilfreich erwiesen. Da oberflächlich laufende Venen
wird. Da Blut sich aber im Rotlicht nicht mehr ein- unter Nachtsichtgeräten schlecht sichtbar sind,
wandfrei von der Bekleidung abhebt, wird das Auf- kann durch ein seitlich gehaltenes IR-Knicklicht ein
finden von Wunden erschwert. Sollte Weißlicht Schattenwurf bei größeren Gefäßen erzeugt werden
328 Kapitel 20 · Versorgung unter Nachtsichtbedingungen

(. Abb. 20.4). Dieser markiert den Verlauf aus-


reichend für eine Venenpunktion. Um ein Über-
strahlen zu vermeiden, sollte die Verpackung des
Knicklichts nur an einem Ende etwas geöffnet wer-
den. Das Knicklicht lässt sich meist gut unter
Staubinde oder Ärmelaufschlag schieben und so
befestigen. Das Füllen der Flexülenkammer mit
Blut bei erfolgreicher Punktion und eine positive
Rücklaufprobe von Blut ins Infusionssystem sind
ohne weiteres unter Nachtsicht erkennbar.

20
329 21

Zahnärztliche Notfälle
W. Kretschmar

21.1 Zielsetzung – 330

21.2 Allgemeines – 330


21.2.1 Anamnese im Vorfeld – 330
21.2.2 Ausrüstung – Bestandteile des »Calwer-Dental-Kits« – 330

21.3 Einzelschritte der zahnärztlichen Notfalltherapie – 330


21.3.1 Schmerzbekämpfung – 330
21.3.2 Vermeidung der Ausweitung des Entzündungsgeschehens – 331
21.3.3 Provisorische Füllungstherapie – 332

21.4 Überblick über die zahnärztlichen Krankheitsbilder


»Zahntrauma« und »Entzündungen
in der Mundhöhle« – 333
21.4.1 Dentales Trauma – 333
21.4.2 Entzündungen in der Mundhöhle – 333

Literatur – 334

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_21, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
330 Kapitel 21 · Zahnärztliche Notfälle

21.1 Zielsetzung 21.2.2 Ausrüstung – Bestandteile


21 des »Calwer-Dental-Kits«
Dem Leser soll durch diesen Beitrag theoretisches
Basiswissen für eine zahnärztliche Notfalltherapie 4 Untersuchung: Untersuchungshandschuhe,
unter Einsatzbedingungen bis zur Weiterbehandlung Mundschutz, Holzmundspatel, Einmalinstru-
durch einen Zahnarzt vermittelt werden. Dazu wird mentarium (Spiegel, Kombinationsinstrument
auf die Krankheitsbilder »Dentales Trauma« und Sonde/Heidemann-Spatel, College-Pinzette),
»Entzündungen in der Mundhöhle« eingegangen, OptraGate (Hilfsmittel für einen erleichterten
sowie die Einsatzmöglichkeiten des »Calwer Dental Zugang zur Mundhöhle).
Kits« beschrieben. Die folgenden Ausführungen 4 Schmerzausschaltung: Ibuprofen 400 mg,
können keine praktische Einweisung in die Therapie Bupivacain 0,5 %, Einwegspritzen (2 ml), Injek-
von zahnärztlichen Notfällen ersetzen, da viele Tech- tionskanülen (0,4 × 42 mm), Ledermix-Paste.
niken demonstriert und geübt werden müssen. 4 Antibakterielle/antiinfektiöse Therapie:
Chlorhexidindigluconatspülung (CHX) 0,2 %,
Clindamycin 600 mg, Ledermix-Paste.
21.2 Allgemeines 4 Sonstiges Behandlungsmaterial: steriles Tuch,
Wattepellets, Watterollen, Cavit, Aqualizer,
> Bei einem dentalen Trauma sollte zum Aus-
Kamistat Gel N, Zahnrettungsbox Dentosafe.
schluss weiterer schwerer Verletzungen an
ein mögliches Begleittrauma, z. B. SHT- oder
HWS-Trauma, gedacht werden (initialer
21.3 Einzelschritte der zahnärztlichen
Traumacheck).
Notfalltherapie

> 5 1. Schritt: Schmerzbekämpfung


Leitfaden für eine zahnärztliche Notfall- 5 2. Schritt: Vermeidung der Ausweitung
therapie des Entzündungsprozesse
5 Kurze schriftliche Dokumentation des Vor-
gehens
5 Neben den Zähnen immer auch Unter- 21.3.1 Schmerzbekämpfung
suchung des umgebenden Weichgewebes
5 Behandlung der Hauptbeschwerden mit
Tipp
dem Ziel der Schmerzausschaltung und
Entzündungshemmung Vorgehen bei der Schmerzbekämpfung: Zeigt
5 Bei Gabe von Antibiotikum Sicherstellung die allgemeine Schmerzbekämpfung mit z. B.
der Weiterbehandlung durch einen Ibuprofen 400 mg keine ausreichende Wirkung,
Zahnarzt bis spätestens zum Ende der wird in einem zweiten Schritt die lokale
Antibiotikatherapie Schmerzbekämpfung mit einer Lokalanästhe-
5 Definitive Behandlung schnellstmöglich sie, z. B. mit Bupivacain 0,5 %, empfohlen.
durch Zahnarzt

Allgemeine Schmerzbekämpfung –
21.2.1 Anamnese im Vorfeld analgetische Medikation
Der empfohlene Wirkstoff Ibuprofen zeichnet sich
Idealerweise erhebt das Sanitätspersonal im Vorfeld durch seine analgetische, antiphlogistische, antipy-
des Einsatzes bei den Teilnehmern eine Anamnese, retische und antirheumatische Wirkung aus und
um Allergien und Unverträglichkeiten der verwen- besitzt in therapeutischen Dosen keine narkoti-
deten Notfallmedikamente ausschließen zu können. schen, euphorisierenden und suchterzeugenden
21.3 · Einzelschritte der zahnärztlichen Notfalltherapie
331 21
Nebenwirkungen. Die Wirkdauer von Ibuprofen
400 mg beträgt ca. 4–6 h und die tägliche Höchst-
dosis für Erwachsene sollte 2.400 mg nicht über-
schreiten.

Lokale Schmerzbekämpfung –
Lokalanästhesie
jLokalanästhetikum
Bupivacain 0,5 % ist ein therapeutisches Lokalanäs-
thetikum mit langer Wirkdauer (6–8 h) und somit
in der Gruppe der am stärksten wirksamen Lokal-
anästhetika. Allerdings besitzt Bupivacain 0,5 %
eine sehr hohe Toxizität, die vor allem bei un-
bemerkter intravenöser Injektion, aber auch bei
verstärkter Resorption aus dem Injektionsgebiet,
. Abb. 21.1 Schematische Darstellung der Infiltrationsan-
bedeutsam werden kann (z. B. Herzrhythmusstö-
ästhesie. Während Lippe und Wange mit dem Mundspiegel
rungen). Die tägliche Höchstdosis für Erwachsene (beim Abhalten mit dem Finger besteht Verletzungsgefahr)
von Bupivacain 0,5 % beträgt 1,3 mg/kg. abgehalten werden, wird die Nadel parallel zur Zahnachse in
der Umschlagfalte eingestochen und das Lokalanästheti-
jAnästhesietechniken kum möglichst langsam in Höhe der Wurzelspitze abgege-
ben. (Adaptiert nach [2])
Infiltrationsanästhesie Die Umspritzung des be-
treffenden Zahns mit einem Lokalanästhetikum
wird v. a. im Oberkiefer durchgeführt. Der Einstich v. a. bei der Verwendung von Bupivacain durch
erfolgt in der Umschlagfalte im Mundvorhof in Aspiration darauf zu achten, dass nicht intravasal in
Höhe der Wurzelspitze. Das Anästhetikum diffun- die A. alveolaris inferior injiziert wird. Aufgrund
diert durch den Knochen, der vestibulär vergleichs- der anatomischen Lage wird meistens auch der
weise dünn und porös ist. Die Nadelspitze sollte in N. lingualis anästhesiert. Die Zeit bis zum Wirkungs-
Knochennähe und in axialer Richtung zur Wurzel- eintritt bei der Leitungsanästhesie am Foramen
spitze hin eingeführt werden (. Abb. 21.1). Neben mandibulae beträgt ungefähr 3–5 min. In diesem
dem betreffenden Zahn wirkt die Lokalanästhesie Zeitraum sollte die Unterlippe der betroffenen Seite
auch bei den Nachbarzähnen. Die Wirkung der An- taub werden.
ästhesie setzt innerhalb von 2 min ein und erreicht
nach ca. 20 min ihr Maximum. Bei Injektionen im
posterioren Bereich des Oberkiefers sollte der Pa- 21.3.2 Vermeidung der Ausweitung
tient den Mund nicht zu weit öffnen, da die an- des Entzündungsgeschehens
gespannte Muskulatur die Sicht auf die Injektions-
stellung verdeckt. Antibakterielle Therapie
Die antibakteriellen Maßnahmen sollen pathogene
Leitungsanästhesie Im Unterkiefer behindert im Keime auf der Schleimhaut des Patienten abtöten
Gegensatz zum Oberkiefer die dicke und kompakte bzw. in ihrer Entwicklung hemmen, sodass eine
Außenkortikalis im Prämolaren- und Molaren- Wund- bzw. einer Allgemeininfektion verhindert
bereich die Diffusion der in die Umschlagfalte inji- werden kann. CHX-Spülung besitzt die Eigenschaft,
zierten Lösung. Deshalb wird normalerweise eine die bakterielle Zellmembran zerstören zu können,
Leitungsanästhesie des N. alveolaris inferior am und hat weiterhin den Vorteil, lange auf Zähnen
Foramen mandibulae gesetzt (. Abb. 16.2). Der Pa- und Mundschleimhaut zu haften, ohne durch die
tient sollte seinen Mund soweit wie möglich öffnen, Schleimhäute in den Körper einzudringen.
damit der Behandler die anatomischen Strukturen
gut erkennen kann. Bei der Leitungsanästhesie ist
332 Kapitel 21 · Zahnärztliche Notfälle

pyogene Allgemeininfektion droht. Als Notfallanti-


21 biotikatherapie kommt nur eine Blindtherapie ohne
die Möglichkeit eines vorangegangenen Antibio-
gramms in Frage.

Systemische Chemotherapie Da in der Mundhöhle


aerob-anaerobe Mischinfektionen vorherrschen,
bietet sich der Wirkstoff Clindamycin an. Clin-
damycin kann gegen Staphylokokken-, Streptokok-
ken- und Anaerobierinfektionen eingesetzt werden,
ebenso bei Penicillinallergie. Ein weiterer Vorteil
a Clindamycins ist die gute Gewebe- und Knochen-
gängigkeit, die bei Weichteilinfektionen mit zum
Teil Knochenbeteiligung benötigt werden. Kontra-
indikationen und Nebenwirkungen sind unbedingt
zu beachten.

Dosierung
5 Tagesdosis für Erwachsene: 3-mal 600 mg
Clindamycin (z. B. 06.00 – 14.00 – 22.00 Uhr)
5 Therapiedauer: ca. 7 Tage

Lokale Chemotherapie Für diese Anwendung ist


das Präparat Ledermix-Paste im »Calwer-Dental-
Kit« vorgesehen. Die Anwendung findet v. a. bei
b
Zahndefekten mit Nervenbeteiligung statt. In die-
sen Fällen ist die mittig im Zahn liegende Nerven-
. Abb. 21.1a,b Schematische Darstellung der Leitungs- höhle eröffnet. Die Eröffnung sollte mittels einer
anästhesie. a Die Injektionsstelle liegt ca. 10 mm oberhalb Sonde abgetastet werden (»die Sonde fällt in ein
der Kauflächen der Molaren. b Die Nadel wird ausgehend
von der Prämolarenregion der Gegenseite an der Innenseite
mittiges Loch«). Bei vitalem Nervengewebe fängt
des aufsteigenden Unterkieferknochens eingestochen. Die es an, stark zu bluten. Für die Desinfektion des be-
eingefärbte Fläche zeigt das Ausmaß der Anästhesie an troffenen Areals wird mit einem CHX-getränkten
den Zähnen und der bukkalen Gingiva. (Adaptiert nach [2]) Wattepellet mit Hilfe der College-Pinzette das Areal
um die eröffnete Nervenhöhle abgewischt. An-
Tipp schließend wird Ledermix-Paste mit einem Heide-
mann-Spatel punktuell auf die eröffnete Nerven-
Zur Desinfektion der Mundhöhle wird ein höhle aufgetragen. Im letzten Schritt wird Cavit als
Esslöffel unverdünnter CHX-Spülung für Verschlussmaterial zur Fixierung der Medikamen-
ca. 1 min aktiver Spülung empfohlen. teneinlage im Zahn appliziert.

Antiinfektiöse Therapie 21.3.3 Provisorische Füllungstherapie


(Chemotherapie/Antibiotikatherapie)
Der Einsatz von Antibiotika soll verhindern, dass Die Paste Cavit ist ein gebrauchsfertiges provisori-
sich eine Infektion in die Nachbarschaft (Knochen, sches Füllungsmaterial für die Zähne. Vor jeder pro-
Nerven, Weichteile, Logen) ausbreitet oder eine visorischen Füllungstherapie sollte wiederum der
21.4 · Überblick über die zahnärztlichen Krankheitsbilder »Zahntrauma«
333 21

. Tab. 16.1 Dentales Trauma

Untersuchung Therapie

Schmerzen oder extreme Kälteempfindlichkeit Lokalanästhesie, analgetische Medikation

Blutung im Zahninneren/»Sonde fällt ins Loch« Desinfektion mit CHX, Abdeckung mit Ledermix-Paste
(Eröffnung der Nervenhöhle) und Cavit

Zahndefekt Versorgung mit Cavit

Zahnfragment/frakturierte Zahnkrone Aufbewahrung im Dentosafe oder in NaCl, in jedem Fall


Fragment/Krone mitnehmen!

Komplett ausgeschlagener Zahn (Avulsion) Wurzeloberfläche nicht reinigen! Aufbewahrung s. o.

In den Kieferknochen hineingetriebener Zahn Desinfektion mit CHX, Antibiotikatherapie, schnellst-


(Intrusion) mögliche Weiterbehandlung

Zahn extrem locker, Gefahr der Aspiration Zahnentfernung und Aufbewahrung s. o.

Zähne passen beim Schließen nicht zusammen, Provisorische Ruhigstellung mit Dreieckstuch schnellst-
Verdacht auf Kieferbruch mögliche Weiterbehandlung

Bei einsetzender Schwellung Antibiotikatherapie

betroffene Bereich mit CHX desinfiziert werden. 21.4.1 Dentales Trauma


Mit dem Kombinationsinstrument Sonde/Heide-
mann-Spatel kann das Cavit aus der Tube entnom- Leitsymptome Zahnfragment/Zahnkrone abge-
men, in den Defekt eingebracht, modelliert, ge- brochen und/oder Füllung verloren mit oder
glättet und die Überschüsse entfernt werden. Das ohne Eröffnung der Nervenhöhle, kompletter Zahn
Füllungsmaterial lässt sich sehr gut pur oder mit (Krone und Wurzel) ausgeschlagen, Zahn in den
etwas Wasser modellieren und glätten. Es härtet erst Kieferknochen hineingetrieben, zusätzlich evtl.
nach ein paar Minuten aus, nachdem es mit Speichel starke Schmerzen oder extreme Kälteempfindlichkeit
oder Wasser in Berührung gekommen ist. Nach (. Tab. 16.1).
15–30 min kann der Zahn wieder belastet werden.

21.4.2 Entzündungen in
21.4 Überblick über die zahnärzt- der Mundhöhle
lichen Krankheitsbilder »Zahn-
trauma« und »Entzündungen Leitsymptome (Schmerzhafte) Schwellung, akute
in der Mundhöhle« zahnbezogene Schmerzen (klopfend, pochend, vor
allem nachts und in Ruhephasen), extrem schmerz-
! Infektionen, ausgehend von der Mundhöhle haftes Zahnfleisch, gelblicher Belag auf Zahnfleisch,
(z. B. Mundbodenraum oder Bereich der Unter- Mundgeruch (. Tab. 16.2).
kieferweisheitszähne), können sich über
den Halsbereich nach oben und unten aus-
breiten und lebensbedrohlich werden; bei
Verdacht ist eine hochdosierte Antibiotikum-
gabe (s. oben) und schnellstmögliche Evaku-
ierung notwendig.
334 Kapitel 21 · Zahnärztliche Notfälle

. Tab. 16.2 Entzündungen in der Mundhöhle


21
Untersuchung Therapie

(Schmerzhafte) Schwellung: weich und ödematös Analgetische Medikation, Desinfektion mit CHX,
Antibiotikatherapie

Schmerzhafte Schwellung: hart und fluktuierend Lokalanästhesie (nicht direkt in Schwellung), Inzision
(verschieblich), Verdacht auf Abszess (cave: N. mentalis, A. palatina)

Schmerzhafte Schwellung im Bereich der Weisheits- Mechanische Reinigung unter der Zahnfleischkappe
zähne mit evtl. Schluckstörung, Verdacht auf Dentitio mit Sonde/Heidemann-Spatel; Desinfektion mit CHX
difficilis (3-mal tgl.), Antibiotikatherapie

Zahn extrem klopfempfindlich (Schmerzen auch nachts Analgetische Medikation, bei Bedarf Lokalanästhesie,
und in Ruhephasen), Verdacht auf irreversible Pulpitis, bei Schwellung Antibiotikatherapie
periapikale Parodontitis

Extrem gerötetes und geschwollenes Zahnfleisch, Desinfektion mit CHX (3-mal tgl.), grobe Entfernung der
gelbliche Beläge, Verdacht auf akute nekrotisierende Plaque, Antibiotikatherapie
ulzeröse Gingivitis (ANUG)/akute nekrotisierende
ulzeröse Parodontitis (ANUP)

Mehrere Zähne einseitig im Oberkiefer und Unterkiefer Analgetische Medikation, Aqualizer, bei Verdacht auf
oder beidseitig im Oberkiefer klopfempfindlich (Ver- Sinusitis, Antibiotikatherapie
dacht auf Sinusitis)

Literatur

1. Deppe H, Horch H-H (2003) Das Frontzahntrauma aus


chirurgischer Sicht. In: Horch H-H (Hrsg.) Zahnärztliche
Chirurgie. Urban & Fischer, München Jena
2. Evers H, Haegerstam, G (1983) Lokalanästhesie in der
Zahnheilkunde. Springer, Berlin Heidelberg New York
3. Forth W, Beyer A (1991) Schmerzen lindern. Hoechst,
Frankfurt
4. Sader S, Hundelshausen, von B (2003) Medikamentöse
Unterstützung bei chirurgischen Eingriffen. In: Horch,
H-H (Hrsg.) Zahnärztliche Chirurgie. Urban & Fischer,
München Jena, S. 16–42
5. Schmidt-Westhausen A-M, Reichart P (2003) Lokal-
anästhesie. In: Horch H-H (Hrsg.) Zahnärztliche Chirurgie.
Urban & Fischer, München Jena, S 46–66
6. Schubert J (2003) Odontogene und nicht odontogene
Infektionen. In: Horch H-H (Hrsg.) Zahnärztliche Chirurgie.
Urban & Fischer, München Jena, S 90–146
7. www.dentaltraumaguide.org
8. www.zahnunfall.de
335 22

Psychotraumatologie
J. Ungerer, P. Zimmermann

22.1 Einführung – 336

22.2 Historie und Epidemiologie – 336

22.3 Traumatischer Stress – 337

22.4 Psychologische Krisenintervention – 339


22.4.1 Grundlagen – 339
22.4.2 Akutphase (psychologische Erste Hilfe) – 339
22.4.3 Stabilisierungsphase (Akutintervention
und psychologische Aufarbeitung) – 341
22.4.4 Weiterbetreuung (Nachsorge) – 343

22.5 Zusammenfassung und Ausblick – 344

Literatur – 344

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_22, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
336 Kapitel 22 · Psychotraumatologie

22.1 Einführung rakalen Druck-Enge-Gefühlen). Dieses »soldiers


heart« wurde zunächst auf Überdehnungen von
Psychische Belastungen, die deutsche Soldatinnen Thorax und Herz während des militärischen Diens-
22 und Soldaten (Sdt) im Rahmen von Auslandsein- tes zurückgeführt.
sätzen zu bewältigen haben, sind beachtlich. Aber Eng verbunden mit den Schützengräben des
nicht nur Sdt sind extremen Belastungen ausgesetzt, 1. Weltkriegs sind die »Kriegszitterer«. Insbesonde-
sondern auch Einsatzkräfte der Polizei, Feuerwehr, re nach länger anhaltendem Granatfeuer beobach-
Rettungsdienste und des Zolls. Allgemein wird er- tete man bei exponierten Soldaten aller Dienstgrad-
wartet, dass diese Berufsgruppen besser mit Belas- gruppen ein anhaltendes Zittern einzelner Glied-
tungen umgehen können als andere Gruppen. In maßen oder auch des gesamten Körpers, das sich
der Regel ist dieser Personenkreis aufgrund seiner häufig auch nach einem Rücktransport ins Heimat-
besonderen Persönlichkeitsstruktur, seiner Ausbil- land nicht besserte. Pathogenetisch zog man initial
dung und Erfahrung auch in der Lage, dieser Erwar- direkte Hirnschädigungen durch Druckeinwirkun-
tungshaltung gerecht zu werden. Aus dem gewohn- gen in Betracht, erst später wurde eine mögliche
ten Einsatzspektrum herausragende Ereignisse, sog. Psychogenese der Symptomatik erkannt.
»critical incidents«, wie z. B. Situationen mit vielen Im 2. Weltkrieg kam es zu einem Wandel in der
Toten und Verletzten oder die Bedrohung von Leib psychogenen Symptomausprägung. Kriegszitterer
und Leben, beinhalten aber selbst für diesen Perso- wurden nur noch vereinzelt oder regional begrenzt
nenkreis ein erheblich traumatisierendes Potenzial. beobachtet. Stattdessen manifestierten sich somato-
Die meisten Einsatzkräfte erholen sich nach forme Störungen v. a. des Gastrointestinaltraktes,
einiger Zeit ohne therapeutische Hilfe. Dies kann die so zahlreich waren, dass die Betroffenen in »Ma-
manchmal Wochen und Monate dauern. Andere genbataillone« zusammengefasst wurden, die einen
jedoch haben die psychische Grenze überschritten eingeschränkten militärischen Dienst zu versehen
und kehren lange nicht mehr in den Alltag zurück. hatten. Ursachen für diesen Wandel wurden auf
Chronifizierungen solcher Grenzerfahrungen tra- breiter Basis diskutiert und waren u. a. in spezifi-
gen zu psychiatrischen und psychosomatischen schen Charakteristika der Kriegsführung, aber auch
Erkrankungen bei. Sie manifestieren sich in chroni- im gesellschaftspolitischen Umfeld zu suchen [15].
schen Überforderungen, die bis zum Burnout und Während des Koreakrieges (1950–1953) muss-
zu verschiedenen Traumafolgestörungen reichen ten 3 % der amerikanischen Sdt psychiatrisch be-
können (u. a. Anpassungsstörungen, somatoforme handelt werden, während im Vietnamkrieg ca.
Störungen, Depressionen). Die Anzahl der z. B. mit 500.000 Veteranen (15 %) an den psychischen Fol-
einer sog. posttraumatischen Belastungsstörung in gen des Krieges litten. Spätere Studien ergaben, dass
Behandlung befindlichen Sdt hat sich seit Beginn die Prävalenzzahlen deutlich höher lagen, und zwar
der Auslandseinsätze der Bundeswehr kontinuier- 30,9 % bei männlichen und 26 % bei weiblichen
lich erhöht [13]. Vietnamveteranen. Die Anzahl chronifizierter
Fälle blieb hoch und viele amerikanische Sdt be-
kamen Suchtprobleme, wurden straffällig oder ob-
22.2 Historie und Epidemiologie dachlos [4].
Im Yom-Kippur-Krieg (Israel) 1973 machten
Die historische Entwicklung der Psychotraumatolo- psychische Erkrankungen 30 % aller Ausfälle aus.
gie ist eng verbunden mit der Geschichte militäri- Hier wurde zum ersten Mal von akuten Gefechts-
scher Auseinandersetzungen. Kriege haben stets oder Stressreaktionen (»combat stress reaction«)
großes Leid über die Menschen gebracht. gesprochen [8].
Während des amerikanischen Bürgerkriegs Über psychische Erkrankungen der russischen
(1861–1865) tauchten Fallbeschreibungen aus den Sdt im Afghanistankrieg (1979–1989) ist offiziell
Lazaretten auf, die im Zusammenhang mit Kampf- nicht viel bekannt. Einzelne Berichte zeigen jedoch,
handlungen standen (u. a. Palpitationen, Kurzat- dass psychosoziale Anpassungsschwierigkeiten,
migkeit, Schwindel, Schweißneigung und intratho- Störungen der Reintegration in die Familie und Ge-
22.3 · Traumatischer Stress
337 22
sellschaft nach der Rückkehr sowie Alkohol- und scher Belastungsstörung (PTBS) gesprochen. Die
Drogenmissbrauch auftraten. Prävalenz der PTBS bei deutschen Sdt beträgt 2,9 %.
Nach Beendigung des 2. Golf-Krieges 1991
(Kuwait und Irak) beklagten viele der amerikani- Symptome der PTBS
schen Sdt das Auftreten folgender unspezifischer 5 Hartnäckige Erinnerungen
Symptome: Gelenk- und Muskelschmerzen, Müdig- 5 Alpträume
keit und Erschöpfungszustände, Gedächtnispro- 5 »Flash backs«
bleme, Depressionen sowie Störungen der kogni- 5 Vermeidungsverhalten
tiven und emotionalen Funktionen. 1994 wurden 5 Schreckhaftigkeit
diese Symptome unter dem Terminus »Golfkriegs- 5 Schlafstörungen
syndrom« zusammengefasst. Hier wurden als Aus- 5 Erhöhte Reizbarkeit
löser aber auch exogene Faktoren wie Giftgasfreiset-
zungen durch brennende Ölquellen oder Uranmuni-
tion verdächtigt.
Eine Studie mit 6.000 amerikanischen Sdt, die
im letzten Jahrzehnt in Afghanistan und im Irak 22.3 Traumatischer Stress
eingesetzt waren, brachte folgende psychischen
Hauptsymptomatiken zum Vorschein: Depression, Das Phänomen »Stress« wurde in den letzten Jahr-
generalisierte Angststörung und posttraumatische zehnten differenziert untersucht. Ebenso rückte das
Belastungsstörung. Dabei zeigten 15,6–17,1 % Interesse über Belastungen durch traumatische
der eingesetzten Sdt im Irak die o. g. Symptomatik, Erfahrungen bei z. B. Naturkatastrophen, Gefahren-
während es in Afghanistan 11,2 % waren. Weitere situationen oder bei Sdt in Krisen- und/oder Kriegs-
Studien mit US-Soldaten (Fallschirmjäger und einsätzen immer mehr in das Bewusstsein der For-
Marineinfanteristen) zeigen, dass die Anzahl einer scher [11].
posttraumatischen Belastungsstörung linear mit Mit Beginn der Auslandseinsätze der Bundes-
der Anzahl der Feuerkämpfe zunimmt [3]: wehr in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts
4 4,5 % bei keinem Feuerkampf wuchs das Interesse an diesem Themengebiet auch
4 9,2 % bei 1–2 Feuerkämpfen im deutschsprachigen Raum. Während im Jahr 2008
4 12,7 % bei 3–4 Feuerkämpfen noch 245 Sdt wegen einer PTBS in einem Bundes-
4 19,3 % bei 5 und mehr Feuerkämpfen wehrkrankenhaus ambulant oder stationär behandelt
wurden, waren es 2009 bereits 466 [13]. 2010 hat sich
Aber nicht nur Kampfhandlungen im Rahmen mi- die Zahl nochmals auf 729 erhöht. Im Jahr 2011 lag
litärischer Auseinandersetzungen können zu einer die Rate bei 922 und 2012 bei 1143 Behandlungen.
posttraumatischen Belastungsstörung führen, son- Nicht nur Sdt standen im Fokus wissenschaftlicher
dern auch körperliche Gewalt, Vergewaltigung, ein Fragestellungen, sondern auch Einsatzkräfte der Be-
schlimmer Verkehrsunfall oder Zeuge eines trau- hörden und Organisationen mit Sicherheitsaufga-
matisierenden Ereignisses. Ergebnisse einer ge- ben (BOS). Für die Einsatzkräfte der Berufsfeuer-
samtdeutschen epidemiologischen Untersuchung wehr konnte z. B. nachgewiesen werden, dass mit
ergeben ein umfassendes Bild posttraumatischer steigender Anzahl belastender Einsätze im vorange-
Belastungsstörungen [6]: gangenen Monat die Wahrscheinlichkeit, an einer
4 37,5 % nach Vergewaltigung psychischen Belastungsstörung zu erkranken, stieg
4 12,8 % nach einen schlimmen Verkehrsunfall [14]. In den letzten Jahren sind aber auch Vorfälle aus
4 10,5 % nach körperlicher Gewalt und dem Polizeidienst zu beobachten, in denen Polizeibe-
4 6,9 % Zeugen eines traumatisierenden amte, die z. B. an einem Schusswechsel beteiligt wa-
Ereignisses ren, und um ihr eigenes Leben bangten, an einem
sog. »Post-Shooting-Trauma« erkrankten [12].
Bleiben u. a. folgende Symptome (7 Übersicht) mehr Trauma im griechischen Wortsinn bedeutet
als einen Monat bestehen, wird von posttraumati- Wunde oder Verletzung. Ein psychisches Trauma
338 Kapitel 22 · Psychotraumatologie

bedeutet nach ICD-10 (»International Statistical schah, erschien mir wie unwirklich, wie in Zeitlupe,
Classification of Diseases and Related Health Pro- als ob ich in einem Traum sei, es war alles so dumpf.«
blems«) eine seelische Verletzung, hervorgerufen Die Wahrscheinlichkeit, den traumatischen
22 durch ein Ereignis außergewöhnlicher Bedrohung Stress nicht verarbeiten zu können, ist erhöht, wenn
(z. B. gewalttätiger Angriff auf die eigene Person, der Betroffene bereits vor dem kritischen Ereignis
Zeuge des gewaltsamen Todes anderer Personen, psychisch vulnerabel war. Zu denken ist z. B. an
schwerer Unfall, Naturkatastrophe etc.), das bei einen Hochstresszustand, der nicht abgebaut wer-
Menschen tiefgreifende Verzweiflung auslösen den konnte, an nichtverarbeitete traumatische Vor-
kann. erfahrungen und/oder chronifizierte berufliche
In der Alltagssprache wird häufig davon gespro- sowie familiäre Belastungen. Bei Sdt, die eine feh-
chen, dass der auf eine außergewöhnliche Situation lende soziale Unterstützung durch die nationale
reagierende Mensch unter Schock steht. In der Wis- Bevölkerung wahrnehmen (»homefront«), lässt
senschaft wird von akuten Belastungsreaktionen sich ebenfalls eine erhöhte Vulnerabilität auf ein-
(ABR) gesprochen (bis zu 72 h nach dem kritischen satzbedingte psychische Traumastörungen erken-
Ereignis). nen. Es werden protektive Effekte in Hinblick auf
eine PTBS, Depressionen und Alkoholmissbrauch
Akute Belastungsreaktionen beschrieben.
5 Hilflosigkeit Eine Zusammenfassung individueller Risiko-
5 Angst, Todesangst faktoren ist aus der 7 Übersicht zu entnehmen [9].
5 Übererregbarkeit
5 Panik Individuelle Risikofaktoren
5 Erstarren (»freezing«) 5 Jugendliches oder hohes Lebensalter
5 Gefühlstaubheit (»numbing«) 5 Zugehörigkeit zu einer sozialen Randgruppe
5 Keine Handlungskontrolle 5 Niedriger sozioökonomischer Status
5 Heftige affektive und körperliche 5 Mangelnde soziale Unterstützung
Reaktionen (Weinen, Schreien) 5 Psychische oder körperliche
5 Ekel- und Schamempfinden Vorerkrankungen
5 Familiäre Vorbelastungen mit
traumatischen Erfahrungen
Allgemein reagiert der Menschen in einer akuten
traumatischen Stresssituation mit folgenden Ver- Aber: Unabhängig von diesen Faktoren kann
haltensmustern: es jeden treffen!
Es kommt zum Anstieg der Herzfrequenz und
Ausschüttung von Stresshormonen (Aktivierungs-
zustand). Diese sollen den Organismus auf Kampf Befindet sich z. B. ein Sdt in einer akuten traumati-
oder Flucht vorbereiten. Extreme traumatische Si- schen Stressphase, die beispielsweise durch einen
tuationen zeichnen sich nun dadurch aus, dass heftigen Feuerkampf mit Toten und Verletzten her-
Kampf oder Flucht objektiv oder subjektiv gar nicht vorgerufen wurde, dann kann dieses außergewöhn-
oder nur eingeschränkt möglich sind. Dies führt liche Ereignis krankheitserzeugend wirken. Eine
zum Erleben von Ohnmacht und Hilflosigkeit bei explodierende Handgranate, eine abgerissene
jedoch gleichzeitig erhöhtem physiologischem Er- Hand, ein zerberstender Kopf u.v.m. werden zwar
regungszustand. Weil diese Erregung nicht in Akti- aufgenommen, aber mangels gespeicherter Infor-
onen des Angriffs oder der Flucht umgewandelt mation über ähnliche Situationen von dem Betrof-
werden kann, sucht sich der Organismus andere fenen nicht verarbeitet. Die massive Ausschüttung
Wege. Sie äußern sich z. B. durch Veränderungen in von Stresshormonen führt zu einer Fehlfunktion
den Wahrnehmungs- und Handlungsfunktionen der Informationsverarbeitung. Das Ereignis wird
(peritraumatische Dissoziation). Zitat eines Sdt im Gedächtnis nur abgelegt. Damit sind die Voraus-
nach dem Busanschlag (2003) in Kabul: »Was ge- setzungen erfüllt, dass sich das bedrohliche Ereignis
22.4 · Psychologische Krisenintervention
339 22
verselbstständigt und im psychovegetativen System ker spezialisierte Fachkräfte vonnöten, um die In-
des Betroffenen kontextlos »herumvagabundiert«. terventionsziele zu erreichen. Die angewendeten
Daraus entstehen dann die typischen Belastungs- Hilfsmöglichkeiten orientieren sich weiterhin an
symptome (s. oben). Die Episoden wirken ohne der Beziehung zum Betroffenen, am aktuellen An-
Vorwarnung. Die Betroffenen wissen nicht so recht, lass, dem emotionalen Zustand und den Interven-
was mit ihnen geschah bzw. geschieht. Sie gingen tionstechniken.
anders in die Lage hinein als sie dann herauskamen. Die Präventions- und Behandlungskonzepte
»I’ m not the same person I was before – something der Bundeswehr bei bzw. nach »critical incidents«
broke inside of me« [10, S. 164]. haben sich im Rahmen der Auslandseinsätze be-
Nicht der Betroffene ist verrückt, sondern das währt und sollen im Folgenden als allgemeingülti-
schlimme Ereignis bzw. das »Bild« hat sich im Ge- ges Modell der Krisenintervention verstanden wer-
dächtnis ver-rückt. Das kann jeden treffen. Zur den. Es kann insbesondere auch bei Einsatzkräften
Verarbeitung der extremen Situation gibt es ver- der Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste und des
schiedene Möglichkeiten, um das »Bild« wieder an Zolls Anwendung finden, wobei die unterschied-
den richtigen Platz zu bringen. lichen Rahmenbedingungen der Einsatzarten zu
Eine sehr wichtige Komponente zur Unterstüt- berücksichtigen sind. Eine interdisziplinäre Stan-
zung der Verarbeitung eines kritischen Ereignisses dardisierung ist aufgrund unterschiedlicher Orga-
ist die psychologische Krisenintervention (psycho- nisationsstrukturen nur bedingt möglich.
logische Erste Hilfe, Akutintervention, psychologi-
sche Aufarbeitung, Nachsorge).
22.4.2 Akutphase
(psychologische Erste Hilfe)
22.4 Psychologische
Krisenintervention Direkt während oder unmittelbar nach einem kriti-
schen Ereignis ist es nur realistisch, dass Vorgesetz-
22.4.1 Grundlagen te, Einsatzkräfte, Kameraden bzw. Kollegen und
notfallmedizinisches Fachpersonal vor Ort die Erst-
Im Rückgriff auf die Erfahrungen befreundeter versorgung übernehmen. Es ist sehr unwahrschein-
Streitkräfte hat die Bundeswehr umfassende Prä- lich, dass z. B. nach einem IED (»improvise explosiv
ventions- und Behandlungskonzepte entwickelt, die device«)-Anschlag außerhalb eines Feldlagers ein
die organisatorischen Grundlagen für eine effektive Psychologe oder Psychiater anwesend ist oder wäh-
psychosoziale Unterstützung stressbelasteter Perso- rend eines schweren Zwischenfalls bei einem Poli-
nengruppen liefern: zeieinsatz ein Notfallseelsorger im Akutstadium die
4 Ebene 1 (Akutphase) bezieht sich auf Maßnah- Betreuung eines Betroffenen übernehmen kann.
men, die durch Vorgesetzte oder Kameraden Im Folgenden steht der Fokus auf der psycholo-
und Kollegen des Betroffenen erfolgen können. gischen Ersten Hilfe (PEH) vor Ort. Die PEH ist
4 Ebene 2 (Stabilisierungsphase) betrifft Psy- sehr wichtig, um der Gefahr einer posttraumati-
chologen, Ärzte, Seelsorger und Sozialarbeiter, schen Erkrankung präventiv entgegenzuwirken.
die an der primären gesundheitlichen Versor- Ziel jeder Maßnahme ist, den Betroffenen zu stabi-
gung beteiligt sind. lisieren, Sicherheit zu geben und möglichst schnell
4 Auf Ebene 3 (Weiterbetreuung) werden Psy- wieder seiner eigentlichen Aufgabenerfüllung zu-
chiater sowie ärztliche und psychologische zuführen.
Psychotherapeuten in den Krankenhäusern Für den psychologischen Ersthelfer ist un-
und Fachsanitätszentren tätig. abdingbar, sich ein Bild der Lage zu verschaffen,
insbesondere um Gefahrenlage und Sicherheit ab-
Das »Vorrücken« des Betroffenen in den Ebenen (1 zuschätzen. Es liegt kein Sinn darin, sein eigenes
bis 3) hängt vom Schweregrad seiner Belastung ab. Leben aufs Spiel zu setzen und als Helfer unbrauch-
Dementsprechend sind in Ebene zwei und drei stär- bar zu werden.
340 Kapitel 22 · Psychotraumatologie

Zielgruppe der PEH sind primär und sekundär


Betroffene, insbesondere diejenigen, die deutliche 5 Mit Betroffenen auf ruhige, vertrauensbil-
Symptome einer akuten Belastungsreaktion zeigen. dende, kontrollierte Art sprechen.
22 PEH sollte außerdem vor Ort bzw. in unmittelbarer 2. Stabilisierung
Nähe des Geschehens stattfinden. 5 Betroffenen vom Ort des Geschehens weg-
Bei der Kontaktaufnahme mit dem Betroffenen bringen, hinsetzen und etwas zu trinken
hilft ein sicheres und ruhiges Auftreten, um die geben.
Ängste und Unsicherheiten des Gegenübers zu re- 5 Nonverbale Zuwendung (Augenkontakt):
duzieren. Weiterhin ist zu empfehlen, sich im Bei Bedarf angemessener Körperkontakt
wahrsten Sinne des Wortes auf »Augenhöhe« des z. B. Arme, Schultern.
Betroffenen zu begeben und sich generell eher ka- 5 Mit – nicht über – Betroffenen reden (nicht
meradschaftlich bzw. kollegial zu verhalten. für Betroffenen bestimmte Äußerungen soll
Oft wissen Ersthelfer nicht, wie Sie ein Gespräch er nicht hören).
im Rahmen der PEH beginnen sollen. Einfache Sät- 5 Phrasen, Floskeln, unglaubwürdigen Aussa-
ze wie »Was ist los?« oder »Was ist passiert?« sind gen vermeiden (der Betroffene ist sich der
hier möglich und hilfreich. Manchmal möchte der Situation evtl. besser bewusst, als es den
Betroffene auch gar nicht reden. Hier sollte man Anschein hat).
Ruhe bewahren, das Schweigen aushalten und auf 5 Kommunikation einfach gestalten: Direkt,
gar keinen Fall den Betroffenen in ein »Pseudoge- präzise, Wiederholen der Aussage.
spräch« verwickeln. Das Reichen von Getränken 5 Primäre Wünsche herausfinden – wann im-
(z. B. Tee, Kaffee, Wasser) oder das Anbieten einer mer möglich erfüllen.
Zigarette und einfach »da« sein, reicht in diesem 3. Ressourcen stärken
Zusammenhang vollkommen aus. Wenn der Be- 5 Ereignis und Empfindungen schildern las-
troffene etwas sagen möchte, wird er es auch tun. sen (nur wenn Betroffene dies wirklich
Manchmal toben die Betroffenen oder laufen orien- möchten und nicht vertieft auf belastende
tierungslos umher. Hier ist zu empfehlen, in lautem Gefühle eingehen).
Ton auf die Person einzugehen, um sie zu beruhi- 5 Falsche Bewertungen korrigieren (z. B.
gen. Wenn gar nichts mehr hilft, ist ggf. auch mit Schuldgefühle).
angemessenem Körpereinsatz zu agieren, damit 5 Betroffenem klarmachen, dass seine
sich der Betroffene nicht zusätzlich z. B. wieder in Reaktionen normal sind (Relativierung).
eine potenzielle Gefahrensituation begibt. Eventuell 5 Subjektive Kontrolle herstellen: Erläutern,
ist auch die Unterstützung durch weitere Kamera- was gerade mit Betroffenem passiert.
den oder Kollegen hilfreich. 5 Beruhigungsmittel nur wenn nötig und
Beruhigungsmitteln sollten generell nur in Aus- sparsam einsetzen.
nahmefällen und wenn sparsam verabreicht werden 4. Perspektive aufbauen
(z. B. Tavor expidet). Diese Empfehlung berührt 5 Langsame Rückführung in Tätigkeit, einen
selbstverständlich nicht die notwendige Analgose- 24-h-Plan aufbauen.
dierung bei starken Schmerzen. 5 Weitere Unterstützung anbieten.
Folgende vier Grundregeln der PEH nach ei-
nem »critical incident« haben sich in der Praxis be-
währt (7 Übersicht). PEH umfasst alle Handlungen und Tätigkeiten,
die dem Betroffenen bei der Bewältigung seiner
aktuellen Schwierigkeiten helfen. Dazu zählen
Psychologische Erste Hilfe (PEH) auch emotionale Unterstützungen und Gespräche
1. Ruhe bewahren sowie praktische und materielle Hilfeleistungen
5 Herausfinden, wer organische medizinische aller Art. Die Probleme können dadurch nicht
Hilfe benötigt (hat immer Vorrang). gleich beseitigt werden. Das ist auch nicht das Ziel.
Vielmehr geht es bei PEH um die Unterstützung
22.4 · Psychologische Krisenintervention
341 22
des Betroffenen und seiner Umgebung, damit er über den Umgang mit belasteten Sdt vorhanden war
sich so rasch und effektiv wie möglich wieder selbst (Erzählungen eines Unteroffiziers aus dem 1. Welt-
helfen kann. krieg):
> Traumatisierte wollen Strukturen. » … Gefreiter »Karl« saß nach einem heftigen
Angriff an der Westfront regungslos herum. Ich
Keinesfalls sollte man jetzt schon versuchen, die
habe ihn daraufhin aufgefordert, Kartoffel zu
Ursachen oder Konsequenzen des kritischen Ereig-
schälen. Ich verdeutlichte ihm, dass diese
nisses zu diskutieren. Für eine rationale Bearbei-
Tätigkeit wichtig sei, da die Truppe sonst ver-
tung ist es zu diesem Zeitpunkt viel zu früh.
hungern würde …
Im militärischen Kontext stellt sich häufig die
Frage, ob die Waffe des Betroffenen abgenommen An diesem sehr pragmatischen Beispiel werden die
werden soll. Hier gilt eindeutig die Faustregel: Nein unterschiedlichen Betreuungsphasen nochmals
und wenn ja, so spät wie möglich! Diese sehr situa- verdeutlicht. Der betroffene Sdt sollte nach der
tionsbezogene Bewertung kann nur vor Ort vorge- Schockphase einfache Tätigkeiten durchführen,
nommen werden. um sich wieder zu stabilisieren. Jeder Mensch
Liegen deutliche Hinweise auf Selbst- oder kann Kartoffelschälen, es beruhigt aber auch auf-
Fremdgefährdung vor, ist die Wegnahme der Waffe grund der »eintönigen« Tätigkeit. Die Arbeit
unumgänglich. ist nicht sinnlos, da die Truppe mit Nahrung
Zusammenfassend hat sich in der Praxis beson- versorgt werden muss. Häufig sitzt man auch im
ders das SAFER-Modell nach einem kritischen Er- Kreis zusammen und erzählt sich Geschichten
eignis direkt vor Ort bewährt [7]. Dabei handelt es »über das Leben«. Der Sdt erfährt kameradschaft-
sich um eine standardisierte individuelle Krisen- liche Unterstützung und ihm wird das Gefühl ver-
interventionsmethode, die von jedem Ersthelfer mittelt, wichtig zu sein. Dadurch werden eigene
angewendet werden kann und leicht umzusetzen ist Ressourcen aktiviert und der Regenerationsprozess
– wenn es die Lage vor Ort zulässt. gestärkt.

SAFER-Modell
5 Stimulusreduktion (Reduktion der unmittel- 22.4.3 Stabilisierungsphase (Akut-
baren Sinneseindrücke) intervention und psychologische
5 Akzeptieren der Krise (Ereignis, Empfin- Aufarbeitung)
dungen schildern lassen)
5 Falsche Bewertungen der Reaktionen korri- In der Regel bis ca. 24 h nach einem kritischen
gieren (verständlich und normal) Ereignis ist auch eine Intervention im Gruppen-
5 Erklären von Stress und Stressreaktionen rahmen möglich (angelehnt an das sog. psycholo-
5 Rückführung in die Tätigkeit/Aufgabe oder gische »defusing«) [7] (7 Übersicht). Diese Metho-
Einleitung weiterer Maßnahmen de  kann aber auch als Einzelintervention durch-
geführt werden. Das Vorgehen erinnert an ein »hot-
debrief« nach einer militärischen Operation und ist
Jeder Mensch reagiert unterschiedlich auf trauma- anzuwenden, solange emotionale Reaktionen noch
tische Situationen. Dementsprechend können auch deutlich überwiegen und man zum ersten Mal zum
unterschiedliche Maßnahmen hilfreich sein. Strik- »durchschnaufen« kommt. Die Maßnahme sollte in
tes Handeln nach Richtlinien ist hier kontraproduk- einer sicheren Umgebung stattfinden und nicht
tiv. Wenn auf die Reaktionen des Betroffenen mit mehr direkt am Ort des Geschehens.
Fingerspitzengefühl geachtet wird, kann das »pro-
fessionelle Bauchgefühl« deutlich hilfreicher sein,
als Checklisten abzuarbeiten.
Das folgende, sehr einfache Fallbeispiel aus dem
1. Weltkrieg zeigt, dass schon damals »Zunftwissen«
342 Kapitel 22 · Psychotraumatologie

zentralen militärischen Einrichtungen der Einsatzge-


Psychologisches Gruppensetting biete, die Krisenintervention auf der Basis von Psy-
1. Einführung choedukation anzuwenden. Dabei handelt es sich um
22 5 Reden entlastet und erleichtert. eine Informationsvermittlung bzw. gezielte Aufklä-
5 Gespräch vertraulich: Alles Gesprochene rung, was ein Psychotrauma ist und welche Reaktio-
bleibt »in diesen vier Wänden«. nen auftreten können. Ziel ist es, potenzielle Sympto-
2. Exploration me bzw. Verhaltensauffälligkeiten zu verstehen und
5 Jeder schildert das Ereignisses aus seiner besser sowie realistischer mit ihnen umgehen zu
Sicht (z. B.: »Was ist passiert«). können. Feuerwehr, Polizei und verschiedene karita-
5 Gedanken und begrenzt Emotionen tive Organisationen haben vergleichbare Konzepte
während des Ereignisses schildern lassen der Akutintervention etabliert, die meist von den je-
(z. B. »Was haben Sie während des Ereignis- weiligen psychosozialen Diensten organisiert wird.
ses gedacht und was denken Sie jetzt?«). Für die frühzeitige Identifizierung der Perso-
5 Falls die Schilderung zu intensiv ist, sollte nen, bei denen das Risiko eines PTBS besteht,
der Betroffene taktvoll gebremst werden. kommt bei der Bundeswehr außerdem ein spezielles
3. Information Screening-Verfahren, der Kölner Risikoindex-
5 Schilderungen zusammenfassen (Puzzle Bundeswehr (KRI-Bw), zum Einsatz [2]. Es handelt
vervollständigen, einheitliches Bild schaffen sich um ein halbstandardisiertes Interview, das im
– dies fördert die Verarbeitung). Einzelgespräch mit Betroffenen Anwendung findet
5 Erwähnen, dass die momentanen Sympto- und ebenfalls psychoedukative Elemente beinhaltet.
me normale Reaktionen auf eine unnor- Anhand der Ergebnisse kann eine Abschätzung des
male Situation sind (Relativierung). Erkrankungsrisikos vorgenommen, zielgruppen-
5 Unterschiedlicher Reaktionsverlauf möglich orientierte Unterstützung geplant und ggf. weitere
und Beispiele für weitere Reaktionen nen- spezifische Maßnahmen eingeleitet werden (Ent-
nen (z. B. Niedergeschlagenheit, Nervosität, spannungsmethoden, Stabilisierungstechniken, Psy-
Schlafstörungen). chotherapie, etc.).
5 Verhaltensempfehlungen geben (z. B. Außerdem bildet die Bundeswehr regelmäßig
weiter mit Kameraden reden, an etwas posi- ausgewählte Sdt zu freiwilligen »peer supportern«
tives Denken, Entspannungsübungen aus. Peers werden bei Kriseninterventionsmaß-
durchführen). nahmen eingesetzt und unterstützen die Truppen-
psychologen in u. a. folgenden Einsatzfeldern:
4 Akuteinsatz im Rahmen der Soforthilfe nach
Die Gruppenstärke sollte nicht mehr als 8 Personen kritischen Ereignissen
betragen. Die Dauer der Maßnahme liegt zwischen 4 Erstgespräche mit Betroffenen/Gruppenge-
30 und 60 min. Im Anschluss an dieses Gruppen- spräche nach kritischen Ereignissen
setting sollten die Durchführenden für Einzel-
gespräche bereitstehen. Hier können das weitere So steht der Bundeswehr das Programm »Sdt helfen
Vorgehen und Möglichkeiten der Betreuung be- Sdt« zur Verfügung, dessen Teilnehmer eine wert-
sprochen werden. Wenn keine deutliche Besserung volle Verstärkung des psychologischen Dienstes der
nach ca. 72 h erkennbar ist, ist der Betroffene aus Bundeswehr sind. Als Ausbildungseinrichtungen
der Tätigkeit herauszulösen (z. B. Evakuierung) und sind z. B. das Zentrum Innere Führung in Koblenz
professionelle Hilfe aufzusuchen. und das Flugmedizinische Institut der Bundeswehr
Der Psychologische Dienst der Bundeswehr ist in Fürstenfeldbruck zu nennen.
darüber hinaus im Rahmen von Auslandseinsätzen So wird die flächendeckende psychosoziale Un-
bei der psychologischen Aufarbeitung dazu überge- terstützung der Truppe nicht nur im Auslandseins-
gangen, nach kritischen Ereignissen im weiteren atz deutlich verbessert, sondern auch gewährleistet,
Verlauf der Stabilisierungsphase (Einzel- oder auch dass die gesamte Last nicht einzig auf den Schultern
Gruppensetting) und meistens dann schon in den der Truppenpsychologen ruht.
22.4 · Psychologische Krisenintervention
343 22
> Dauern schwerwiegende Belastungs- menarbeit der beteiligten Berufsgruppen weiter
symptome länger als 4–6 Wochen an, ist zu verbessern, wurde 2005 mit der Einrichtung
auf jeden Fall professionelle Hilfe in An- sog. psychosozialer Netzwerke begonnen. Diese
spruch zu nehmen! sind seitdem an der überwiegenden Mehrzahl der
Bundeswehrstandorte unter der Mitwirkung von
psychiatrischen Fachärzten, Truppenärzten, Trup-
22.4.4 Weiterbetreuung (Nachsorge) penpsychologen, Militärseelsorgern und Sozialar-
beitern entstanden, die regelmäßig zum Er-
Im Auslandseinsatz erfolgt die psychiatrisch- fahrungsaustausch und zu interdisziplinären u.a.
psychotherapeutische Versorgung von Sdt in den Fallkonferenzen zusammenkommen [13].
Feldlazaretten, die sich in den zentralen militäri- Darüber hinaus steht seit 2009 seitens der Bun-
schen Einrichtungen der Einsatzgebiete befinden. deswehr eine kostenlose anonyme Telefonhotline
Es handelt sich dort um vollwertige Krankenhäuser zur Verfügung. Weitere Informationen gibt es auch
der Basisversorgung, die auch eine psychiatrische im Internet:
Ambulanz beinhalten. 4 www.ptbs-hilfe.de
Bei einer schweren psychischen Erkrankung 4 www.Angriff-auf-die-Seele.de
und bei nicht ausreichend abschätzbarer Prognose 4 www.bundeswehr-support.de
der Behandlung wird eine Rückführung nach
Deutschland auf dem Luftweg veranlasst. Nach der Für den Fall, dass die geschilderten präventiven Maß-
Rückkehr nach Deutschland werden diese Sdt in ein nahmen nicht helfen oder der Betroffene sie nicht
dem Flughafen oder dem Wohnort nahe liegendes wahrnimmt, kann es nach kürzerer oder längerer
Bundeswehrkrankenhaus eingewiesen und dort Zeit zu der Entwicklung psychischer Erkrankungen
weiter behandelt. kommen, die unbehandelt chronifizieren und über
Nach Beendigung von Auslandseinsätzen ist Jahre viel Lebensqualität kosten können. Nicht selten
eine Reihe von Maßnahmen zur Weiterbetreuung wird eine solche Erkrankung von den Angehörigen
und zur Prophylaxe einsatzbedingter psychischer als Veränderung der Persönlichkeit beschrieben.
Folgeschäden etabliert. Alle Sdt werden von einem Führungspersonal von Einsatzkräften sollte bzgl. sol-
Truppenarzt bezüglich psychischer Symptomatik cher Veränderungen sensibilisiert sein und ggf. in
befragt. Bei auffälligen Ergebnissen wird eine psy- Verdachtsfällen aktiv auf belastete Mitarbeiter zu-
chiatrische Untersuchung in einem Bundeswehr- gehen. Eine psychische Symptomatik nach einer
krankenhaus veranlasst und ggf. ambulante oder Traumatisierung ist im Regelfall gut behandelbar. Seit
stationäre therapeutische Maßnahmen eingeleitet. einigen Jahren gibt es in Deutschland Netzwerke von
Eine psychische Belastung kann auch bei Ein- Traumatherapeuten, die eine ambulante Psychothe-
satznachbereitungsseminaren auffallen. Vier bis rapie anbieten (www.DEGPT.de, www.EMDRIA.de).
sechs Wochen nach Einsatzende werden alle be- Zusätzlich hat sich eine Reihe von Kliniken auf die
teiligten Sdt geordnet nach Verbänden noch einmal Behandlung von Traumafolgestörungen spezialisiert.
zu einem Seminar zusammengeführt, bei dem in Dazu gehören auch die psychiatrischen Abteilungen
Gruppen und unter Leitung von ausgebildeten der Bundeswehrkrankenhäuser. Bei einer Trauma-
Moderatoren über Einsatzerlebnisse gesprochen therapie werden Verfahren wie z. B. die EMDR-Tech-
wird. Einsatzerfahrene Militärpsychologen, Seel- nik angewandt (»Eye Movement Desensitization and
sorger und Sozialarbeiter begleiten dieses Verfah- Reprocessing«). Dabei nutzt der Therapeut wechsel-
ren. Zur Identifikation von besonders belasteten Sdt seitige Stimulationen der Sinneswahrnehmung (z. B.
wenden Militärpsychologen ein spezielles Scree- durch Augenbewegungen des Patienten nach links
ning-Verfahren an, sodass ggf. identifizierte Sdt und rechts). Es kommt dadurch zu einer Reaktivie-
Maßnahmen zur Wiederherstellung der psychi- rung der Erinnerungen sowie der dazugehörigen
schen Fitness zugeführt werden können. Gedanken und Gefühle, in der Folgezeit dann jedoch
Um neben diesen Maßnahmen die Früherken- zu einer Umbewertung und emotionalen Entlastung,
nung psychischer Einsatzfolgen und die Zusam- die im Regelfall dauerhaft anhält.
344 Kapitel 22 · Psychotraumatologie

22.5 Zusammenfassung und Ausblick 4. Kulka RA, Schlenger WE, Fairbank JA et al. (1990) Trauma
and the Vietnam war generation. Report of findings from
the National Vietnam Veterans Readjustment Study.
Der Umgang mit außergewöhnlichen und extremen Brunner & Mazel, New York
22 psychischen Situationen stellt für Einsatzkräfte der 5. Hannich H-J, Kiekbusch S, Busch P (2001) Kriseninterven-
BOS und Sdt der Bundeswehr eine große Heraus- tion und Notfallseelsorge. In: Maerker A, Ehlert U (Hrsg.)
forderung dar. Von großer Bedeutung ist die Prä- Psychotraumatologie. Hogrefe, Göttingen
6. Maerker A, Forstmeier S, Wagner B, Glaesmer H, Brähler E
vention psychischer Erkrankungen. Dabei ist die
(2008) Posttraumatische Belastungsstörungen in
akute Krisenintervention eine wirksame Option. Deutschland. Der Nervenarzt 5:577–586
Dazu wurden in diesem Kapitel pragmatische psy- 7. Mitchell JT, Everly GS (1997) Critical Incident Stress
chologische Interventionstechniken »in action« Debriefing. An Operations Manual for the Prevention of
vorgestellt, die von jedem angewendet werden Traumatic Stress Among Emergency Services and Disas-
können. Hauptziel ist es, den Betroffenen zu stabili- ter Workers. Ellicott City, MD, USA: Chevron Publishing
Corporation
sieren, Sicherheit zu geben und möglichst schnell 8. Shlosberg A, Strous RD (2005) Long-term follow-up (32
wieder in seine eigentliche Aufgabenerfüllung zu- years) of PTSD in Israeli Yom Kippur War Veterans. The
rückzuführen. Reichen diese Maßnahmen nicht Journal of Nervous and Mental Disease 193:693–696
aus, sollte immer professionelle Hilfe in Anspruch 9. Siol T, Flatten G, Wöller W (2004) Epidemiologie und
genommen werden. Dazu gehören Psychologen, Komorbidität der Posttraumatischen Belastungsstörung.
In: Flatten G et al. (Hrsg.) Posttraumatische Belas-
Ärzte, Notfallseelsorger, Psychiater und Sozial-
tungsstörung. Schattauer, Stuttgart
arbeiter. 10. Solomon Z (1993) Combat Stress Reaction. Plenum Press,
> Neben der professionellen Betreuung ist je- New York
11. Ungerer D (2003) Der militärische Einsatz. Miles-Verlag,
doch entscheidend, dass man auf sich und
Potsdam
auf seine Kameraden bzw. Kollegen achtet. 12. Ungerer D, Ungerer J (2008) Lebensgefährliche Situa-
Eine ehrliche und vertrauensvolle soziale tionen als polizeiliche Herausforderungen. Verlag für
Unterstützung (Kameradschaft) ist eine sehr Polizeiwissenschaft, Frankfurt
effektive Form, um einer Chronifizierung 13. Ungerer J Zimmermann P (2010) Psychische Grenzbelas-
tungen am Hindukusch: Wie geht die Bundeswehr damit
psychischer Grenzbelastungen möglichst
um? – Standortbestimmung und Perspektiven. In: Ham-
früh entgegenzuwirken. merich HR, Hartmann U, Rosen C von (Hrsg.) Jahrbuch
Innere Führung 2010. Miles-Verlag, Potsdam
Zukünftig wird es noch mehr darum gehen, die Er- 14. Wagner D, Heinrichs M, Ehlert U (1998) Prevalence of
fahrungen verschiedener Dienstleistungsangebote symptoms of PTSD in German professional firefighters.
auszutauschen. Auf diesem Weg kann ein gegensei- American Journal of Psychiatry 155(12):1727–1732
tiges Lernen und eine Verbesserung der unter- 15. Zimmermann P, Hahne HH, Biesold KH, Lanczik M (2005)
schiedlichen Methoden ermöglicht werden. Dabei Psychogene Störungen bei Deutschen Soldaten des
Ersten und Zweiten Weltkrieges. Fortschritte der Neuro-
stellt der interdisziplinäre Austausch eine wichtige
logie/Psychiatrie 73(2):91–102
Voraussetzung dar.
Weiterführende Literatur
Literatur Kreim G, Bruns S, Völker B (Hrsg.) (2014) Psychologie für
Einsatz und Notfall. Bernard & Graefe, Bonn
1. Dunker S (2010) Prognose und Verlauf der Posttrauma-
tischen Belastungsstörung bei Soldaten der Bundeswehr.
Längsschnittsstudie zur Neuvalidierung des Kölner
Risikoindex – Bundeswehr (KRI-Bw). http://kups.ub.
uni-koeln.de/volltexte/2010/3021/
2. Fischer G, Riedesser P (1998) Lehrbuch der Psychotrau-
matologie. München: Ernst Reinhardt (UTB für Wissen-
schaft)
3. Hoge CW, Castro CA, Messer SC (2004) Combat Duty in
Iraq and Afghanistan, Mental Health Problems, and
Barriers to Care. The New England Journal of Medicine
1:13–25
345 23

Versorgung von Diensthunden


K. Riedel

23.1 Verhaltensregeln im Umgang mit dem Diensthund – 346

23.2 Untersuchungsgang und Vitalfunktionen – 346


23.2.1 Atmung – 347
23.2.2 Körperkerntemperatur – 347
23.2.3 Puls – 347
23.2.4 Beurteilung der Schleimhäute
und kapilläre Wiederauffüllungszeit – 348
23.2.5 Arterielle Sauerstoffsättigung (SpO2 %) – 348
23.2.6 Blutdruckmessung – 348
23.2.7 Beurteilung des Hydratationsstatus – 348

23.3 Tactical Combat Casualty Care nach MARCH/CABC – 349


23.3.1 Massive bleeding/critical hemorrhage: Blutstillung – 349
23.3.2 Airway: Sicherung der Atemwege – 349
23.3.3 Respiration/breathing: Thoraxverletzungen – 351
23.3.4 Circulation: Kreislaufstabilisierung – 352

23.4 Ein Diensthundenotfall: die Magendrehung – 354


23.4.1 Differenzialdiagnose Magenüberladung – 355
23.4.2 Trokarisierung des Magens – 355
23.4.3 Magensonde – 355

23.5 Dosierungsempfehlungen für Notfallmedikamente – 355


23.5.1 Allgemeine Medikamente – 356
23.5.2 Notfallmedikamente für Wiederbelebungsmaßnahmen – 357
23.5.3 Analgetika und Antibiotika – 357
23.5.4 Empfehlungen zur Sedierung und Anästhesie
des Diensthundes – 357
23.5.5 Euthanasie des Diensthundes – 358

Literatur – 358

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_23, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
346 Kapitel 23 · Versorgung von Diensthunden

Internationale Erfahrungen aus Einsatzgebieten mit fallmedizinischen Personals ein Beißkorb oder eine
militärischen Konflikten zeigen, dass es für Kampf- provisorische Schnauzenbinde angelegt werden
truppen mittlerweile die Realität darstellt, als Dienst- (. Abb. 23.1).
hundführer, Combat First Responder und human- > 4 Hund und Hundeführer möglichst nicht
medizinisches Sanitätsfachpersonal medizinische trennen
Basisversorgung und taktische notfallmedizinische 5 Andere Hundeführer als Helfer einteilen
23 Behandlungen am Diensthund durchzuführen. Be- 5 Verletzten Hunden grundsätzlich Beiß-
sonders außerhalb der Feldlager, im abgesetzten Ein- korb oder Schnauzenbinde anlegen
satz, ist veterinärmedizinisches Personal bislang im
Regelfall nicht zeitnah verfügbar. Dieses Kapitel soll
Tipp
dem am Menschen ausgebildeten Spezialisten einen
ersten Überblick über die Besonderheiten im Um- Eine provisorische Schnauzenbinde kann aus
gang mit erkrankten und verletzten Hunden sowie einer Mullbinde hergestellt werden. Der erste
über die speziesspezifischen Erfordernisse in der Knoten wird auf dem Oberkiefer, der zweite
medizinischen Versorgung geben und ein Anreiz unter dem Unterkiefer gelegt. Die Enden der
sein, die eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten in Mullbinde werden im Nacken verknotet und
Theorie und Praxis um das Gebiet der taktischen am Halsband befestigt, um ein Abstreifen
veterinärmedizinischen Notfallversorgung zu er- durch den Hund zu verhindern.
weitern.

Kann der Diensthundeführer bei der Versorgung


23.1 Verhaltensregeln im Umgang seines Diensthundes nicht unterstützen, sollten an-
mit dem Diensthund dere Diensthundeführer als Helfer eingeteilt wer-
den. Bei unkontrollierbaren, um sich beißenden
Klare und unaufgeregte Kommunikation zwischen Hunden kann die Leine durch einen Zaun, einen
Diensthundeführer und Behandelndem ermöglicht Wandhaken o. ä. gezogen werden, um den Kopf zu
stressfreies Arbeiten und minimiert die tierische fixieren. Gegebenenfalls ist es hilfreich, dem Hund
Gegenwehr, da Hunde mit Angst und Schmerzen zur Ablenkung eine zusammengerollte Decke,
häufig ungewohnt feindselig und aggressiv reagie- einen Rucksack oder ähnliches als Gegenstand an-
ren. Liegen keine Bewusstseinsstörungen, Atem- zubieten, auf den er seine Aggression richten und in
wegsprobleme und/oder Verletzungen im Gesichts- den er beißen kann. Bei starker Gegenwehr ist trotz
bereich vor, sollte dem Hund vor Herantreten not- des Risikos der negativen Beeinflussung der Prog-
nose eine intramuskuläre Sedierung zur Immobili-
sierung des unkontrollierbaren Diensthundes häu-
fig sinnvoll.

23.2 Untersuchungsgang
und Vitalfunktionen

Die klinische Untersuchung erfolgt soweit möglich


am stehenden Hund, grundsätzlich während der
Diensthundeführer den Kopf des Hundes fixiert
und das Tier beruhigt. Die Seitenlage empfinden
viele Hunde als Zwangslage, diese ist aber zur
Durchführung von Behandlungen häufig un-
. Abb. 23.1 Fixierung des Hundes in Seitenlage mit provi- abdingbar. Hierbei werden die unten liegenden
sorischer Schnauzenbinde, Venenpunktionsstellen Gliedmaßen vom auf der Rückenseite des Hundes
23.2 · Untersuchungsgang und Vitalfunktionen
347 23

. Abb. 23.2 Wichtige innere Organe und Auskultations-


punkte beim Diensthund

positionierten Helfer oberhalb des Fuß- bzw. Hand-


gelenks umfasst. Die Ellenbogen, bei unkooperati-
ven Hunden zusammen mit dem Eigengewicht des
Helfers, dienen dem Niederhalten des Hundes
(. Abb. 23.1).

. Abb. 23.3 Pulskontrolle an der A. femoralis


23.2.1 Atmung

Hunde atmen überwiegend mit dem Brustkorb und kerntemperaturen über 40,5 °C erreichen können.
eher flach. Tiefe, schnelle Atemzüge weisen häufig Die Normaltemperatur liegt beim Diensthund zwi-
auf Atemnot und/oder schmerzhafte Prozesse schen 38,3 °C und 39,2 °C.
hin. Die normale Atemfrequenz in Ruhe beträgt
zwischen 10 und 30 Atemzüge/min. Von patholo-
gischen Ursachen erhöhter Atemfrequenz wie 23.2.3 Puls
z. B. Blutungen und Pneumothorax ist das physiolo-
gische Hecheln zur Temperaturregulation oder Zur Beurteilung des Pulses wird auf der Innenseite
bei Aufregung abzugrenzen. Die Auskultation der des Oberschenkels im femoralen Dreieck die
Lunge zur Beurteilung der Atemgeräusche und zur A. femoralis auf dem Oberschenkelknochen ertas-
Feststellung örtlichen Fehlens von Lungenge- tet (. Abb. 23.3). Die Pulsfrequenz großer erwach-
räuschen ist aufgrund des Fells akustisch anspruchs- sener Hunde liegt in Ruhe zwischen 70 und
voller als beim Menschen. Beim hechelnden Hund 100 Schlägen/min. Hierbei ist die physiologische
wird sie durch Schließen des Fanges möglich Sinusarrhythmie der Hunde, die sich in einem
(. Abb. 23.2). schnelleren Puls während der Inspiration und ei-
nem verlangsamten Puls während der Exspiration
äußert, zu beachten. Sie muss von pathologischen
23.2.2 Körperkerntemperatur Arrhythmien abgegrenzt werden. Am einfachsten
lässt sich die Herzfrequenz durch gleichzeitiges Pal-
Die Körperkerntemperatur wird beim Hund rektal pieren des Femoralispulses und Auskultation der
ca. 3 cm tief im Enddarm gemessen und ist nur in Herztöne messen. Die Auskultation des Herzens
Ruhe aussagekräftig, da aufgeregte Hunde bzw. erfolgt hierfür kaudal des linken Ellenbogens an der
Hunde in Arbeit physiologisch kurzfristig Körper- unteren seitlichen Brustwand (. Abb. 23.2).
348 Kapitel 23 · Versorgung von Diensthunden

Fällt der Blutdruck unter 60 mmHg, so wird der


Puls an der A. femoralis schwach bis unfühlbar. Herz-
töne sind bei einem Blutdruck unter 50 mmHg nicht
mehr auskultierbar. Nicht tastbarer Puls und nicht
auskultierbare Herztöne sind nicht notwendigerwei-
se mit Herzstillstand verbunden, sondern bedeuten,
23 dass die dringende Notwendigkeit der unverzügli-
chen Einleitung von Maßnahmen zur Unterstützung
des Kreislaufes besteht. 20 s nach Herzstillstand be-
ginnen sich die Pupillen zu erweitern und erreichen
ihre maximale Dilatation nach 45–60 s.

. Abb. 23.4 Ermittlung der kapillären Wiederauffüllungszeit


23.2.4 Beurteilung der Schleimhäute
und kapilläre Wiederauffüllungs-
zeit tigung von ≥95 %. Bei Hunden in Narkose sind
Maßnahmen erforderlich, wenn die Sättigung unter
Hinweise auf den Kreislaufzustand können beim 90 % fällt.
kooperativen Hund über die Beurteilung der Fär-
bung der unpigmentierten Maulschleimhaut gewon-
nen werden. Blässe weist auf Anämie oder Mangel- 23.2.6 Blutdruckmessung
durchblutung hin, starke Rötung auf Hyperthermie
oder Fieber. Die kapilläre Wiederauffüllungszeit wird Der systemische Blutdruck kann nichtinvasiv oszil-
ermittelt, indem durch Fingerdruck auf die unpig- lometrisch über Manschettensysteme ermittelt wer-
mentierte Maulschleimhaut oberhalb der Fangzähne den, die beim Hund unterhalb des Ellenbogens oder
ein anämischer Fleck erzeugt wird (. Abb. 23.4). an der Rutenwurzel angebracht werden. Werte, die
Normalisiert sich der anämische Fleck nicht inner- mit beim Menschen üblichen Systemen auskultato-
halb 2 s, so liegt eine mangelhafte kapilläre Durchblu- risch ermittelt werden, sind sehr ungenau und nicht
tung mit Verdacht auf Kollaps und Schock vor. Bei zuverlässig. Der Blutdruck des Hundes in Ruhe liegt
Anämie ist die kapilläre Wiederauffüllungszeit nicht bei 130/75 mmHg.
verändert. Beim unkooperativen Hund kann eine
Beurteilung der Schleimhäute an den Augenlidbin- Physiologische Standardwerte
dehäuten erfolgen, die kapilläre Wiederauffüllungs- 5 Temperatur: 38,3–39,2 °C
zeit kann dort nicht beurteilt werden. 5 Atmung: 10–30 Atemzüge/min
5 Pulsfrequenz: 70 bis 100 Schläge/min
5 Kapilläre Wiederauffüllungszeit: ≤2 s
23.2.5 Arterielle Sauerstoffsättigung 5 Schleimhautfarbe: rosa
(SpO2 %) 5 Blutdruck: 130/75 mmHg
5 SpO2 (periphere O2-Sättigung): ≥95 %
Am Hund sind Pulsoxymeter mit Klemmsensoren
am besten anzuwenden. Die Sensorplatzierung er-
folgt an gut durchbluteten, nichtpigmentierten Kör-
perstellen wie Zunge, Lippen, Zitze oder Ohr. Die in 23.2.7 Beurteilung
der TCCC häufig verwendeten Fingersensoren des Hydratationsstatus
können beim Anlegen am Hund mangels dauerhaf-
ten Oberflächenkontakts zwar kurzfristige, aber als Der Dehydratationsgrad des Hundes kann anhand
Anhalt relativ verlässliche Werte liefern. Gesunde der Hautfaltenprobe zur Ermittlung des Hauttur-
Hunde haben eine arterielle periphere Sauerstoffsät- gors und anhand des Schleimhautzustandes ge-
23.3 · Tactical Combat Casualty Care nach MARCH/CABC
349 23

. Tab. 23.1 Untersuchungsbefunde bei Dehydratation

Dehydratationsgrad Untersuchungsbefund

Geringgradig Maulschleimhaut und Hautturgor normal (Anamnese), kapilläre Wiederauffüllungszeit ≤2 s

Mittelgradig Maulschleimhaut trocken, Hautturgor leicht vermindert bis deutlich verzögert, kapilläre
Wiederauffüllungszeit ≥2 s

Hochgradig (akut Maulschleimhaut trocken, Hautfalte bleibt stehen, kapilläre Wiederauffüllungszeit >2 s, stark
lebensbedrohlich) eingesunkene Bulbi, schwacher fadenförmiger Puls, beginnende Bewusstseinstrübung, Schock

schätzt werden (. Tab. 23.1). Für die Hautfaltenpro-


be wird am stehenden Hund an der seitlichen Brust-
wand mit Daumen und Zeigefinger eine Hautfalte
gebildet, kurz komprimiert und wieder losgelassen.
Bis zu einem Dehydratationsgrad von 5 % der Kör-
permasse bildet sich die Hautfalte sofort nach dem
Komprimieren zurück. Bei vermindertem Hauttur-
gor ist stets eine Infusionstherapie indiziert, da Be-
einträchtigungen der Leistungsfähigkeit des Hun-
des, z.B. auch der Riechleistung, bereits ab einem
Dehydratationsgrad von 3 % und somit vor dem . Abb. 23.5 Druckpunkte für oberflächliche Gefäße,
Auftreten sichtbarer Symptome eintreten. femorales Dreieck

Diensthunde nur bedingt geeignet, da ihre Druck-


23.3 Tactical Combat Casualty Care platte so breit ist, dass sie beim Anlegen um Glied-
nach MARCH/CABC maßen mit geringem Durchmesser nicht der Glied-
maße anliegen können. Notfalls sollte die Druck-
23.3.1 Massive bleeding/ platte je nach Modell durchtrennt oder entfernt
critical hemorrhage: Blutstillung werden. Für Diensthunde gut geeignet ist z. B. der
NATO-Tourniquet. Erfahrungsgemäß lassen sich
Das durchschnittliche physiologische Blutvolumen jedoch die meisten kritischen Blutungen an Glied-
des Hundes beträgt ca. 90 ml/kg Körpermasse. Blut- maßen des Hundes mit Emergency Bandages unter
verluste bis zu 10 ml/kg Körpermasse werden vom Kontrolle bringen.
Hund problemlos kompensiert. Bei Blutverlust ab Die Druckpunkte für große oberflächliche Ge-
15 ml/kg Körpermasse besteht beim Hund eine the- fäße sind in . Abb. 23.5 dargestellt.
rapiepflichtige Anämie. Der absolute Volumen-
mangelschock entsteht durch Blutverlust ab 25 ml/
kg Körpermasse. 23.3.2 Airway: Sicherung
Taktische Notfallausrüstung zur Blutungskont- der Atemwege
rolle wie Tourniquet, Emergency Bandage, Ker-
lix Gauze, HemCon Bandage, Combat Gauze, Quik Die Sicherung der Atemwege des bewusstlosen oder
Clot ACS o. ä. kann grundsätzlich beim Diensthund sedierten Hundes erfolgt in Seitenlage. Nachdem
eingesetzt werden. Kommerziell wird für Hunde Fremdmaterial aus der Maulhöhle entfernt wurde,
derzeit ausschließlich Celox Gauze in der Veteri- z. B. Erbrochenes oder Blut, wird der Kopf des
närausführung beworben. Die beim Menschen am Diensthundes geringfügig überstreckt, die Zunge
häufigsten eingesetzten Tourniquets sind für nach vorne aus der Maulhöhle gezogen und in den
350 Kapitel 23 · Versorgung von Diensthunden

23

. Abb. 23.7 Endotracheale Intubation. (Mit freundlicher


Genehmigung von Dr. Wawrzyniak)

skop ist meist nicht erforderlich. Ober- und Unter-


kiefer werden maximal geöffnet und die Zunge
nach vorne gezogen, bis der Kehldeckel sichtbar
wird. Gegebenenfalls muss hierfür das Gaumen-
segel mit der Tubusspitze nach oben angehoben
. Abb. 23.6 Gaumensegel vor dem Kehldeckel
werden (. Abb. 23.6, . Abb. 23.7). Der Kehldeckel
wird mit der Tubusspitze nach vorne und unten ge-
unten liegenden Lefzenwinkel geführt. Zum Offen- drückt und der Tubus am Kehldeckel bzw. der vor-
halten der Maulhöhle muss ein Maulsperrer deren Trachealwand entlang nach vorne-unten in
zwischen jeweils einen Fangzahn des Ober- und die Trachea eingeführt. Hierbei ist das Gleiten der
Unterkiefers eingelegt werden. Beim Hund kann die Tubusspitze über die Trachealringe spürbar. Der
Atmung ggf. über einmaliges kräftiges Ziehen an Cuff wird geblockt und das vordere Ende des Tubus
der Zunge, kurzes und kräftiges Komprimieren mittels Mullbinde im Lefzenwinkel am Oberkiefer
des Thorax oder das Setzen eines Schmerzreizes sti- fixiert. Der korrekte Sitz des Endotrachealtubus
muliert werden, indem man in das Nasenseptum kann nun durch Kompression des Thorax verifiziert
kneift. werden (deutlicher Luftzug, Tubus zeigt keine
Eigenbewegung).
Tipp
Tracheotomie
Als provisorischer Maulsperrer kann eine
Eine Koniotomie ist beim Hund nicht üblich, da
10-ml-Spritze dienen, aus der der Kolben ent-
beim Absenken des Kopfes das Stoma verlegt würde.
fernt und deren vorderes Ende abgetrennt
Die technische Durchführung der Tracheotomie
wird.
beim Hund entspricht grundsätzlich der Vorge-
hensweise beim Menschen. Sie ist nur am bewusst-
losen oder anästhesierten Hund in Rückenlage
Intubation möglich. Die Schnittführung des Hautschnitts er-
Die Intubation erfolgt beim Diensthund in Seiten- folgt zwischen 3. und 6. Trachealring in Verlaufs-
oder Bauchlage stets durch die mit einem Sperrer richtung der Trachea (. Abb. 23.8). Die Tracheoto-
geöffnete Maulhöhle und darf nur beim bewusst- mie ist auch für geübte Notfallmediziner als ultima
losen oder anästhesierten, am Kehlkopf reaktions- ratio anzusehen, da selbst bei optimaler Durchfüh-
losen Tier durchgeführt werden. Guedel- und rung unter klinischen Verhältnissen der Heilungs-
Wendl-Tubus sind beim Hund nicht einsetzbar, En- verlauf sehr häufig mit erheblichen Komplikationen
dotrachealtuben der Größen 7 bis 8,5 mit Cuff sind in der Wundheilung, z. B. mit Strikturbildung, asso-
für die meisten Diensthunde passend. Ein Laryngo- ziiert ist.
23.3 · Tactical Combat Casualty Care nach MARCH/CABC
351 23

. Abb. 23.8 Lagerung des Diensthundes für die Tracheo- . Abb. 23.9 Verteilungsmuster von Schussverletzungen bei
tomie US-Diensthunden im Auslandseinsatz (nach Schlanser 2009)

23.3.3 Respiration/breathing: Gut geeignet sind selbstklebende Battle Wraps, die


Thoraxverletzungen um den gesamten Brustkorb gelegt werden.
Tipp
Diensthunde werden häufig im Bereich des Brust-
korbs verwundet (. Abb. 23.9).
Behelfsmäßiger luftdichter Wundverschluss bei
Diensthunde mit Atemnot sollten im Sitzen
saugenden Thoraxverletzungen kann durch
oder Stehen behandelt werden und dürfen nicht
haushaltsübliche Frischhaltefolie erfolgen, die
in die Seitenlage gezwungen werden, da der
um den gesamten Brustkorb gelegt wird.
hiermit  verbundene Stress und die Komprimie-
rung   der dann unten liegenden Lunge häufig zu
einer rapiden Verschlechterung des Allgemein-
zustandes führen. Bewusstlose Diensthunde mit Thoraxpunktion
Pneumothorax werden grundsätzlich in Seitenlage Für die Thoraxpunktion bei Spannungspneumo-
mit der betroffenen Lungenseite nach unten trans- thorax ist das Scheren oder Rasieren des Fells an der
portiert. vorgesehenen Punktionsstelle empfehlenswert. Die
Pleurahöhle wird im oberen Drittel des Brustkorbs
Penetrierende Thoraxverletzungen mit einer großlumigen intravenösen Verweilkanüle
Vom offenen und geschlossenen Pneumothorax (z. B. 14 G, Farbcode orange) an der Vorderkante
abzugrenzen ist der durch Rippenserienfrakturen der 8. Rippe senkrecht punktiert (. Abb. 23.10).
auftretende Verlust der Fähigkeit zum mechani- Nach Entfernung des Mandrins wird die Kanüle
schen Aufbau intrathorakalen Unterdrucks. Der mittels medizinischen Klebebands fixiert. Die
Thorax darf dann keinesfalls punktiert werden, Lokalisation zum Anlegen einer Thoraxdrainage
sondern muss durch möglichst straffes, komprimie- befindet sich an der Vorderkante der 8. Rippe, im
rendes Bandagieren stabilisiert werden. Bereich des größten Thoraxdurchmessers.
Die Vorgehensweise bei penetrierenden Thorax-
verletzungen und Spannungspneumothorax ent- Tipp
spricht grundsätzlich der Humanmedizin. Der Ein-
satz geläufiger taktischer Notfallausrüstung zur Das Auffinden der korrekten Punktionsstelle
Kontrolle penetrierender Thoraxverletzungen wie fällt leichter, wenn man die Rippen von kaudal
Asherman Chest Seal, Bolin Chest Seal o. ä. ist beim zählt. Der Hund besitzt 13 Rippen.
Diensthund aufgrund des Fells nicht zielführend.
352 Kapitel 23 · Versorgung von Diensthunden

Hinterlauf oberhalb des Knies gestaut. Bei peripher-


venösen Zugängen kann in taktischen Notfallsitua-
tionen auf das Scheren oder Rasieren des Fells ver-
zichtet werden. Die Punktionsstellen lassen sich bei
großzügiger Applikation von Desinfektionsmittel
und Anlegen der Haare in Fellstrichrichtung gut dar-
23 stellen (. Abb. 23.11). Bei kollabierten Venen emp-
fiehlt sich die Durchführung eines venösen cut-
downs.
Die Fixierung der Verweilkanülen erfolgt mit
medizinischem Klebeband zirkulär um die jeweilige
Gliedmaße. Der Diensthund muss stets überwacht
. Abb. 23.10 Intramuskuläre Injektion, Thoraxpunktion
oder mit Beißkorb bzw. Halskragen ausgestattet wer-
und -drainage, Trokarisierung des Magens den, da er sich andernfalls der Zugänge entledigt.
Der Zugang für das Anlegen eines zentralen
Venenkatheters am Hund liegt an der V. jugularis
23.3.4 Circulation: externa und sollte dem Geübten überlassen wer-
Kreislaufstabilisierung den.

Applikations- und Zugangswege jIntraossärer Zugang


für Notfallmedikamente Die Anwendung von Systemen zur sternalen Punk-
In der Regel kommt beim Hund humanmedizini- tion beim Menschen (z. B. F.A.S.T.-1) ist in der vete-
sches Sanitätsmaterial zur Anwendung. rinärmedizinischen Literatur bislang nicht be-
schrieben. Der Zugang mittels intraossärer Punk-
jVenöser Zugang tionsnadel (z. B. von Cook, Jamshidi, Bone Injection
Für Diensthunde sind intravenöse Verweilkanülen Gun, EZ-IO) sollte nur am bewusstlosen oder se-
mit Farbcode rosa (20G) bis weiß (17G) gut geeignet. dierten Diensthund angelegt und dem Geübten
Der Vorderlauf wird oberhalb des Ellenbogens, der überlassen werden.

Punktionsstelle

Punktionsstelle

Punktionsstelle

Vena saphena
Vena cephalica

a b

. Abb. 23.11 Venenpunktion vorne bzw. innen am Vorderlauf und außen am Hinterlauf
23.3 · Tactical Combat Casualty Care nach MARCH/CABC
353 23

. Abb. 23.12 Lagerung des Diensthundes zur Platzierung . Abb. 23.13 Platzierung der intraossären Punktionsnadel
eines intraossären Zugangs am Femur im Femur, Ansicht von kaudal

Der am einfachsten aufzufindende intraossäre subkutanen Infusion, z. B. beim dehydrierten


Zugang liegt in der Fossa trochanterica des Femur, Diensthund, können hier pro Punktionsstelle ca.
medial des Trochanter major femoris. Vor der 200 ml isotone Kochsalzlösung appliziert werden.
Punktion muss das Knie abduziert, d. h. angehoben Die Resorption der Flüssigkeit erfolgt in der Regel
werden, da andernfalls der Ischiasnerv in der Punk- innerhalb 30–60 min.
tionsstelle liegt. Die intraossäre Punktionsnadel
wird parallel zur Femurachse in Richtung Knie ein- Infusionsmanagement beim Diensthund
gebracht (. Abb. 23.12 und . Abb. 23.13). Die nor- Die Vorgehensweise bei der Wahl der primär indi-
malen Flussraten bei intraossären Zugängen am zierten Infusionslösung entspricht grundsätzlich
Hund sind limitiert auf 11 ml/min bzw. 24 ml/min der Humanmedizin (. Tab. 23.2). Bei allen Schock-
mit 300 mmHg Druck. formen ist die Verabreichung von Dopamin oder
Dobutamin im Dauertropf indiziert.
jIntramuskuläre Injektion
Zur Durchführung intramuskulärer Injektionen
wird am Schulterblatt der Knochensteg der Spina . Tab. 23.2 Infusionsvolumina beim Diensthund
scapulae aufgesucht, kranial davon in der Mitte des
Schulterblatts der Muskel palpiert und ca. 1 cm tief Infusionslösung Dosierung
injiziert (. Abb. 23.10). Die intramuskuläre Appli-
Isotone Kristalloide 500 ml Bolus, dann nach
kation in die Oberschenkelmuskulatur birgt das Kontrolle kapilläre Wiederauf-
Risiko der Schädigung des Ischiasnervs und sollte füllungszeit und Puls
von Ungeübten daher nur in Notfällen, z. B. zur
HES 3 %, HES 6 %, 10–20 ml/kg langsam i.v.,
Immobilisation eines aggressiven Hundes, durch- Dextran 70 6 % gefolgt von Ringer-Lösung
geführt werden. Ein erkennbarer Wirkungseintritt
der Medikation bei intramuskulärer Sedierung NaCl 7,2 %, 2–4 ml/kg i.v., gefolgt von
HyperHAES Ringer-Lösung
oder Narkose tritt frühestens 10 min nach Applika-
tion ein. Oxyglobin 15–30 ml/kg i.v. bei maximal
10 ml/kg/h
jSubkutane Injektion
Im Nackenfell wird mit Daumen und Zeigefinger
eine Hautfalte gebildet und die Kanüle in kranialer
Richtung unter die Haut geführt. Im Sinne einer
354 Kapitel 23 · Versorgung von Diensthunden

jAkute Flüssigkeitstherapie 23.4 Ein Diensthundenotfall:


Im Hinblick auf die eingeschränkten Monitoring- die Magendrehung
möglichkeiten der taktischen Notfallmedizin kann
die Ausschöpfung der maximalen Infusionsmengen Beim landläufig als Magendrehung umschriebenen
(bis zu 5 l für den Diensthund mit 30 kg Körper- Magenblähungs-Magendrehungs-Komplex kommt
massse) aufgrund der erheblichen Gefahr der Über- es durch mechanischen oder funktionellen Ver-
23 infundierung nicht empfohlen werden. Bei einer schluss des Magenein- und -ausganges zu einer An-
kapillären Wiederauffüllungszeit ≥2 s wird daher sammlung von Nahrungsbrei, Flüssigkeit und Gas
die initiale Infusion eines 500 ml Bolus von isotonen im Magen und somit zu einer starken Magendilata-
Kristalloiden, z. B. Ringer-Laktatlösung, als zielfüh- tion bei zeitgleicher Drehung des Magens um seine
rend erachtet. Anschließend erfolgt bis zum Einset- Längs- und/oder Querachse um 90–360°. Vermin-
zen einer Verbesserung der Pulsqualität (Frequenz, derter bis fehlender Blutfluss in den abführenden
Blutdruck) und bis die kapilläre Wiederauffüllungs- Magenvenen, Verlagerung, Kongestion und Throm-
zeit unter 2 s liegt das Weiterführen der Infusion in bosen der Milz sowie Endotoxinausschüttung füh-
500-ml-Schritten à 30 min. ren zu multipler Organschädigung. Die Magen-
drehung ist ein Notfall, der ohne sofortige zielfüh-
jVolumenreduzierte Flüssigkeitstherapie rende Behandlung innerhalb weniger Stunden zum
Zur Mobilisation des Extravasalvolumens im ab- Tode führt. Typische Symptome sind die zuneh-
soluten Volumenmangelschock kann eine einma- mende Blähung des Magens mit deutlichen Anzei-
lige sehr rasche (2–5 min) Infusion einer stark hy- chen des Unwohlseins, abdominalen Schmerzen
perosmolaren Kochsalz-Kolloid-Lösung in der und zunehmender Atemnot. Häufig würgen und
Dosierung 4 ml/kg Körpermasse, z. B. NaCl 7,2 % geifern betroffene Hunde, sind aber nur in der Lage,
+ HES 6–20 % + Dextran 70 6–10 % durchge- Speichel zu produzieren und nicht zu erbrechen
führt  werden, auf die die Gabe von Kristalloiden (. Abb. 23.14).
folgt. Bei einer Magendrehung steht die Stabilisierung
des Diensthundes durch Schockbekämpfung im
jInfusionstherapie mit Hämoglobin-Glutamer Vordergrund. Daneben müssen unverzüglich Maß-
Bei Blutverlusten über 30 ml/kg Körpermasse nahmen zur Magenentleerung eingeleitet werden.
bzw. einem Hämatokrit unter 20 % (Normalwert: Ziel der im Folgenden beschriebenen Notfallmaß-
37–52 %) ist beim Diensthund eine Bluttransfusion nahmen soll es ein, eine kurzfristige symptomati-
indiziert. Die Alternative zur Bluttransfusion ist bo- sche Entlastung des Diensthundes zu ermöglichen,
vines Hämoglobin-Glutamer (Oxyglobin). 1 ml
Oxyglobin hat die O2-Kapazität von 3 ml Vollblut.
Die kolloidosmotische Wirkung ist etwa vergleich-
bar der von HES 6 %. Die maximale Infusionsge-
schwindigkeit beträgt 10 ml/kg Körpermasse/h bei
einem Gesamtvolumen von 15–30 ml/kg Körper-
masse. Oxyglobin darf nicht wiederholt verabreicht
werden.

Hypothermie: Wärmeerhalt
Rettungsdecken, Wärmeschutzdecken und Wärme-
decken mit Wärmeelementen können am Dienst-
hund eingesetzt werden.
. Abb. 23.14 Diensthund mit geblähtem Magen und
Magendrehung. (Mit freundlicher Genehmigung von
Dr. Wawrzyniak)
23.5 · Dosierungsempfehlungen für Notfallmedikamente
355 23
so dass die chirurgische Derotation des Magens für mit Klebeband fixiert. Häufig verstopft die Kanüle
einen sehr begrenzten Zeitraum aufgeschoben wer- durch Mageninhalt oder verrutscht und muss bei
den kann. Der Diensthund muss innerhalb weniger erneutem Aufgasen ersetzt werden.
Stunden chirurgisch weiterversorgt werden kön-
nen. Ist dies nicht möglich, und schlagen Maßnah-
men zur Magenentleerung fehl, indiziert der Tier- 23.4.3 Magensonde
schutz unbedingt die Euthanasie des Hundes.
Ist eine zeitnahe Evakuierung des Diensthundes mit
kurzer Transportdauer zur unverzüglich einsatzbe-
23.4.1 Differenzialdiagnose reiten chirurgischen Behandlungseinheit möglich,
Magenüberladung kann der Hund sediert und der Versuch unter-
nommen werden, über eine Magensonde einen Teil
Zur Absicherung der Diagnose der Magendrehung des Mageninhalts (insbesondere Gas und Flüssig-
sollte dem Diensthund eine größere Menge Flüssig- keit) abzuführen. Der sedierte Diensthund wird
keit eingeflößt werden. Kann der Diensthund die in Seitenlage verbracht. Nach endotrachealer In-
Flüssigkeit einbehalten, so handelt es sich wahr- tubation wird eine Magensonde mit Mindest-
scheinlich um eine Magenüberladung oder eine ge- durchmesser 1 cm mit Gleitmittel unter Nutzung
ringere Teildrehung des Magens. Bei einer Teildre- eines Maulsperrers langsam und ohne Druck über
hung des Magens kann eine Trokarisierung des die Speiseröhre eingeführt. Als Längenmaß für die
Magens Erleichterung verschaffen. Schlägt die Tro- Sonde kann die Strecke von Nasenspitze bis zur
karisierung des Magens in diesem Fall fehl, sollte letzten Rippe herangezogen werden. Die ermittelte
nur bei auf lange Sicht fehlender Evakuierungsmög- Länge der Sonde wird mit medizinischem Klebe-
lichkeit aufgrund der taktische Lage als ultima ratio band o. ä. markiert. Bei einer Teildrehung kann
das Herbeiführen von Erbrechen mittels Apomor- Mageninhalt entweichen, ggf. kann sogar eine
phin unter Inkaufnahme des Risikos einer mögli- Magenspülung durchgeführt werden. Kann die
chen Magenruptur eingeleitet werden. Bei Auftre- Sonde nicht ohne Druck eingeführt werden, so
ten einer Magenruptur (erfolgloses Erbrechen, da- handelt es sich um eine komplette Magendrehung
für aber sehr rasch zunehmende Verschlechterung und der Sondierungsversuch muss abgebrochen
des Allgemeinzustandes) indiziert der Tierschutz werden.
dann unbedingt die unverzügliche Euthanasie des
Tipp
Diensthundes.
Als behelfsmäßige Magensonde kann jede
Art von flexiblem Schlauch passenden Durch-
23.4.2 Trokarisierung des Magens messers ohne scharfe Kanten herangezogen
werden.
Kann der Diensthund die Flüssigkeit nicht einbe-
halten, so handelt es sich wahrscheinlich um eine
vollständige Magendrehung und der Magen muss
so weit als möglich abgegast werden. Keinesfalls
darf Apomorphin verabreicht werden, da dies un- 23.5 Dosierungsempfehlungen
vermeidlich zur Magenruptur führen würde. Die für Notfallmedikamente
Trokarisierung des Magens erfolgt in Seitenlage des
Hundes mittels großlumiger intravenöser Verweil- Eine individuell auf den jeweiligen Diensthund und
kanüle (z. B. 14 G, Farbcode orange), ca. 2 cm hinter die zur Verfügung stehenden Medikamente ab-
der letzten Rippe auf der linken oder rechten Kör- gestimmte Verwundetenanhängekarte erleichtert
perseite nach Perkussionsbefund (Trommelschall, notfallmedizinischem Personal und Weiterbehan-
Position . Abb. 23.10). Nach Entfernen des Mand- delnden die Entscheidungsfindung und Kommuni-
rins entweicht idealerweise Gas. Die Kanüle wird kation. Die folgenden Dosierungsempfehlungen
356 Kapitel 23 · Versorgung von Diensthunden

geben Informationen zum Einsatz von Medikamen- Anwendung unterhalb der therapeutischen Dosis
ten wieder, die Trägern präklinischer notfallmedizi- auslöst.
nischer Versorgung in der Regel zur Verfügung Da diagnostische und therapeutische Verfahren
stehen, sowie von veterinärspezifischen Medika- durch Forschung und klinische Erfahrung einem
menten (V), deren Mitführung aus fachlicher Sicht fortwährenden Entwicklungsprozess unterliegen,
sinnvoll ist. können alle Angaben nur dem derzeitigen Wissen-
23 Die »freihändige« Umwidmung humaner Arz- stand entsprechen. Jeder Nutzer ist aufgefordert,
neimittel für den Hund kann zu Unter- oder Über- Beipackzettel und Fachinformationen der Medika-
dosierung bis hin zur massiven Gesundheitsschädi- mentenhersteller heranzuziehen, da jede diagnosti-
gung führen. Nicht am Hund angewendet werden sche oder therapeutische Applikation, Medikation
darf z. B. Ibuprofen, da es lebensbedrohliche gastro- und Dosierung in der Verantwortlichkeit des Nut-
intestinale Blutungen häufig bereits bei einmaliger zers und Durchführenden liegt.

23.5.1 Allgemeine Medikamente (. Tab. 23.3)

. Tab. 23.3 Allgemeine Medikamente

Wirkstoff Indikation Dosierung

Apomorphin Auslösen von Erbrechen 0,08 mg/kg s.c.

Dexamethason Allergie 0,07–0,1 (–0,3) mg/kg i.v., i.m., s.c.

Kreislaufschock 2–4 (–8) mg/kg i.v.

Dimetinden Allergie 0,2–2 mg/kg p.o., s.c.

Dobutamin Kardiogener Schock CRI 5–20 μg/kg/min

Dopamin Schock, akutes Kreislaufversagen CRI 3–10 (–15) μg/kg/min

Doxapram Atemdepression 1–2 mg/kg i.v., p.o., ggf. wiederholen

Flumazenil Benzodiazepinantagonist 0,03 mg/kg i.v., i.m., s.c.

Metoclopramid Zentrales/peripheres Erbrechen 0,1–0,3 (–0,5) mg/kg i.v., i.m., s.c., p.o. 3-mal täglich

Naloxon Opioidantagonist 0,03 mg/kg i.v.

Prednisolon-21- Schock, Allergie 15–30 mg/kg i.v.


Hydrogensuccinat

Procainamid (Supra-)ventrikuläre Tachyarrythmien 8–20 mg/kg i.v., i.m.


CRI: 25–50 μg/kg/min

Theophyllin Bronchospasmus 5–10 mg/kg i.v., p.o. 2- bis 3-mal täglich

Toluidinblau Methämoglobinämie (Vergiftung) 2–4 mg/kg streng i.v., ggf. wiederholen


23.5 · Dosierungsempfehlungen für Notfallmedikamente
357 23
23.5.2 Notfallmedikamente für Wiederbelebungsmaßnahmen (. Tab. 23.4)

. Tab. 23.4 Notfallmedikamente für Wiederbelebungsmaßnahmen

Wirkstoff Dosierung

Adrenalin Niedrige Dosis 0,01–0,02 mg/kg i.v.


Hohe Dosis 0,1–0,2 mg/kg i.v.

Atropin 0,04 mg/kg i.v.

Lidocain 2–8 mg/kg i.v. (Bolus)

23.5.3 Analgetika und Antibiotika (. Tab. 23.5)

. Tab. 23.5 Analgetika und Antibiotika

Wirkstoff Dosierung

Analgetika Morphin 0,1–2,0 mg/kg s.c., i.m. alle 1–4 h

Fentanyl 0,005–0,02 mg/kg i.v.


0,05–0,1 mg/kg i.m. alle 0,5–1 h

Butorphanol (V) 0,2–0,4 mg/kg i.v.


0,2–0,5 mg/kg s.c., i.m. alle 1–4 h

Novaminsulfon 20–50 mg/kg i.m. oder sehr langsam i.v.

Carprofen (V) 4,4 mg/kg s.c. 1-mal täglich

Antibiotika Cefotaxim 50 mg/kg i.v., i.m., s.c. 3-mal täglich

Ciprofloxacin 5–15 mg/kg p.o., i.v. 2-mal täglich

23.5.4 Empfehlungen zur Sedierung zusammenstellung allein ist für den Diensthund
und Anästhesie des Dienst- nicht geeignet und sollte daher nur in Kombination
hundes (. Tab. 23.6) mit Medetomidin (V) appliziert werden.
Medetomidin kann mit gleicher Menge Ati-
Der Monoeinsatz von Midazolam oder Diazepam pamezol (V) intramuskulär antagonisiert werden.
kann beim Hund zu exzitatorischen Erscheinungen Wurde Medetomidin mit Ketamin angewendet,
führen und ist nur beim Status epilepticus ange- ist zwischen Ketamin- und Atipamezolinjektion
zeigt. mindestens 45 min zeitlicher Abstand zu wah-
Die beim Menschen übliche Verabreichung von ren,  um ketamininduzierte Exzitationen zu ver-
Ketamin zusammen mit Midazolam führt insbe- meiden.
sondere bei Diensthunden der Rasse Malinois er- Beim Diensthund kann zur Sedierung und
fahrungsgemäß häufig zu gesteigertem Muskel- Analgesie notfalls der Morphin-Autoinjektor ein-
tonus, unkoordinierten Muskelbewegungen und gesetzt werden. Morphin wirkt bei Hunden stark
hochgradigen Exzitationen. Diese Medikamenten- sedativ-hypnotisch, bei Wirkungseintritt allerdings
358 Kapitel 23 · Versorgung von Diensthunden

. Tab. 23.6 Empfehlungen zur Sedierung und Anästhesie des Diensthundes

Applikationsart Medikation Dosierung

Sedierung Intramuskulär Midazolam und 0,1–0,2 mg/kg


oder intravenös
23 Fentanyl 0,005 mg/kg

Intramuskulär Diazepam oder Midazolam und 0,5 mg/kg

Medetomidin (V) 0,05 mg/kg

Intravenös Diazepam oder Midazolam und 0,3 mg/kg

Medetomidin (V) 0,03 mg/kg

Analgosedierung Intramuskulär Diazepam oder Midazolam und 0,5 mg/kg

Medetomidin (V) und 0,02–0,04 mg/kg

Esketamin 2,5–5 mg/kg


nachdosieren: 0,05–0,1 mg/kg i.v.

Intravenös Medetomidin (V) und 0,025 mg/kg

Butorphanol (V) 0,2 mg/kg

Anästhesie Intramuskulär Medetomidin (V) und 0,025 mg/kg


oder intravenös
Butorphanol (V) und 0,2 mg/kg

Esketamin 2,5 mg/kg


nachdosieren: 0,05–0,1 mg/kg i.v.

auch stark emetisch. Daher ist eine Kombination Lassen die Rahmenbedingungen (taktische Lage,
mit Neuroleptika sinnvoll. Hunde sind sehr hista- Schwere der Verwundung/Erkrankung des Hundes)
minempfindlich. Zur Vermeidung anaphylakti- dies nicht zu, so kann es erforderlich sein, den
scher Reaktionen darf Morphin beim Hund daher Diensthund aus Tierschutzgründen an Ort und Stel-
nicht intravenös verabreicht werden. Die Verabrei- le zu euthanasieren. Für diesen Zweck sind verschie-
chung des Morphins erfolgt idealerweise in die dene veterinärspezifische Medikamente erhältlich,
Schulterblattmuskulatur (. Abb. 23.10), im Notfall die per Injektion verabreicht werden und das Tier
auch in die Oberschenkelmuskulatur. Zu beachten schnell und schmerzlos töten. Stehen veterinärspe-
ist, dass Morphin beim Hund in Dosierungen zwi- zifische Medikamente nicht zur Verfügung, kann die
schen 0,1–2,0 mg/kg eingesetzt werden kann, ab- Überdosierung von Morphin angedacht werden, um
hängig von der Indikation der Anwendung. den Gebrauch der Schusswaffe zu vermeiden.

Literatur
23.5.5 Euthanasie des Diensthundes
1. Erhardt W, Henke J, Haberstroh J (2004) Anästhesie und
Ziel der taktischen Medizin bei Diensthunden soll es Analgesie beim Klein- und Heimtier sowie bei Vögeln,
sein, bei vorhandenen personellen und materiellen Reptilien, Amphibien und Fischen. Schattauer, Stuttgart
Ressourcen ein überlebensfähiges Tier unter Beach- 2. Ford RB, Mazzaferro EM (2006) Diagnostic and therapeu-
tung des Tierschutzes der nächstmöglichen tierme- tic procedures. In: Kirk and Bistner´s Handbook of Veteri-
nary Procedures and Emergency Treatment. 8. Auflage.
dizinischen Versorgungseinrichtung zuzuführen, so Saunders Elsevier, St. Louis, USA
dass dort durch tierärztliches Fachpersonal über die 3. Hedlund CS (2009) Obere Atemwege. In: Welch Fossum T,
weitere Vorgehensweise entschieden werden kann. Chirurgie der Kleintiere. 2. Auflage. Elsevier, München
Literatur
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4. Hughes D, Beal MW (2000) Emergency Vascular Access.
In: Veterinary Clinics of North America: Small Animal
Practice. Emergency Surgical Procedures 30 (3): 491–507
5. Kraft W (2010) Dosierungsvorschläge für Arzneimittel
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6. Mazzaferro EM (2010) Blackwell´s Five-Minute Veterinary
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and Critical Care. Blackwell Publishing, Ames, USA
7. Olsen D, Packer BE, Perrett J, Balentine H, Andrews CA
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dogs. Vet Surg (31): 533–540
8. Riedel K (2013) Taktische Medizin. Notfallmedizin und
Einsatzmedizin für den Diensthund. Masterarbeit aus
dem Masterstudiengang Small Animal Science der FU
Berlin. Mensch und Buch Verlag, Berlin
9. Riedel K (2013) Muster K9-Verwundetenanhängekarte.
http://www.k9vet.de/downloads.html. Datenstand
24.08.2014
10. Rozanski EA, Rush JE (2007) A Colour Handbook of Small
Animal Emergency and Critical Care Medicine. Manson
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11. Schlanser J (2009) Canine combat trauma management:
lessons learned in point-of-injury and enroute care from
the special operations community 2003-2009. Präsen-
tation im Rahmen der U.S. Army Center for Health Pro-
motion and Preventive Medicine (CHPPM) Force Health
Protection Conference 2009, Albuquerque/USA, 14.-
21.08.2009
12. Schrey CF (2009) Notfalltherapie in der Kleintierpraxis.
MemoVet. 2. Auflage. Schattauer, Stuttgart
361 IV

Polizei
Kapitel 24 BOS – 363
R. Bohnen

Kapitel 25 Erstversorgung im Polizeieinsatz – 371


R. Bohnen

Kapitel 26 Schnittstellenproblematik – 375


R. Bohnen

Kapitel 27 TEMS – 379


R. Bohnen

Kapitel 28 Personalaspekte – 389


R. Bohnen

Kapitel 29 Materialressourcen – 397


R. Bohnen

Kapitel 30 Notkompetenz – 401


R. Bohnen

Kapitel 31 Internationaler Vergleich und Ausblicke – 407


R. Bohnen, J. Höfner

Kapitel 32 Besondere Einsatzlagen – Amok – 413


J. Höfner, K. Ladehof, J. Stocker
363 24

BOS
R. Bohnen

24.1 Einführung – 364

24.2 Feuerwehr – 364

24.3 Rettungsdienst – 364

24.4 Polizei – 365

24.5 Medizinische Ausbildung – 366

24.6 Absperrmaßnahmen – 367

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_24, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
364 Kapitel 24 · BOS

24.1 Einführung Neben der Berufsfeuerwehr und den Freiwilligen


Feuerwehren, die zu den öffentlichen Feuerwehren
In der Bundesrepublik Deutschland zählen Polizei, gezählt werden, gibt es auch private Feuerwehren
Feuerwehr und Rettungsdienst zu den so genannten wie z. B. Werkfeuerwehren an Flughäfen oder in der
Behörden und Organisationen mit Sicherheits- Industrie. Entsprechend der möglichen Gefahren
aufgaben (BOS). Dies ist ein Sammelbegriff, der im Einsatz (neben Feuer z. B. Atemgifte, Wasser,
auch weitere Einrichtungen (z. B. Zoll, Technisches Chemikalien, Elektrizität, Einstürze, Abstürze) ver-
Hilfswerk, Katastrophenschutz, Verfassungsschutz) fügt die Feuerwehr über umfangreiches technisches
24 umfasst, die alle eine gemeinsame Aufgabe haben, Gerät und die entsprechende Ausbildung. Die
nämlich die Abwehr von Gefahren zum Schutz der kleinste Einheit beim Einsatz bildet ein Trupp (min-
inneren Sicherheit und Ordnung. Dabei unterschei- destens 2 Personen), 3 Trupps werden zu einer
det man die polizeiliche Gefahrenabwehr von der Gruppe zusammengefasst und 2 Gruppen bilden
nicht-polizeilichen. einen Zug. Eine Einsatzstelle wird unterteilt in den
Allerdings gibt es in Deutschland nicht die Po- Gefahrenbereich und das Umfeld. Der Gefahrenbe-
lizei oder die Feuerwehr oder den Rettungsdienst. reich darf nur mit besonderer Schutzausrüstung
Durch den föderalen Aufbau hat jedes Bundesland und nur von Personen, die dort akut Arbeiten ver-
seine eigenen Einrichtungen mit einem jeweiligen richten, betreten werden. Geführt werden die Ein-
Ländergesetz. Es gibt somit z. B. bei der Polizei 16 satzkräfte vom Zugführer vor Ort. Bei Großscha-
Länderpolizeien und zusätzlich auf Bundesebene denslagen wird in Einsatzabschnitte unterteilt
noch die Bundespolizei, das Bundeskriminalamt (. Abb. 24.1) und die Führungskräfte werden durch
und die Polizei beim Deutschen Bundestag. Ähn- Führungseinheiten unterstützt (Führungstrupp,
lich ist es bei den Einrichtungen der nicht-polizeili- Führungsgruppe, Stab).
chen Gefahrenabwehr (z. B. Feuerwehr, Rettungs-
dienst). Auch hier gibt es keine einheitlichen Ge-
setze, Richtlinien oder Vorschriften sondern jedes 24.3 Rettungsdienst
Bundesland hat seine eigenen und der Bund ebenso.
Hieraus ergeben sich teilweise deutliche Unter- > Der Rettungsdienst in Deutschland stellt
schiede in Organisationsaufbau und -struktur, aber die bedarfsgerechte notfallmedizinische Ver-
auch in Ausbildung und Ausstattung. Selbst die sorgung der Bevölkerung sicher.
ministerielle Zuständigkeit ist in den Bundeslän-
dern zum Teil unterschiedlich. Neben dem bodengebundenen Rettungsdienst,
Daher können in den weiteren Ausführungen der mit entsprechenden Rettungsdienstfahrzeugen
der folgenden Kapitel nur allgemeine Darstellungen den Hauptteil der Einsätze abwickelt, spielt die
gemacht werden ohne auf die Besonderheiten jedes Luftrettung mit Rettungshubschraubern eine
einzelnen Bundeslandes einzugehen. wesentliche Rolle sowie in einigen Bundesländern
auch noch die Wasserrettung und die Bergrettung.
Dabei ist der Rettungsdienst eine öffentliche Auf-
24.2 Feuerwehr gabe, deren Durchführung weitgehend von den
Ländern an Kreise und kreisfreie Städte übertragen
> Die Feuerwehr in Deutschland hat als oberste wird. Die Aufgaben werden entweder durch eigene
Aufgabe die Rettung von Menschen aus Ge- Kräfte, z. B. in den Großstädten durch Berufsfeuer-
fahren. Auch die Rettung von Tieren steht wehren, wahrgenommen oder durch Leistungs-
noch vor der Brandbekämpfung bzw. dem erbringer, z. B. Hilfsorganisationen. Koordiniert
Schutz von Sachwerten und der Umwelt. werden die Einsätze über eine Rettungsleitstelle.
Dabei besteht die Aufgabe der Feuerwehr Reicht bei Großschadensereignissen die Kräf-
hauptsächlich in der sog. »technischen telage des Regelrettungsdienstes nicht aus, werden
Rettung«, um eine Abgrenzung zur »medi- zusätzliche Kräfte, auch ehrenamtliche bis hin zu sog.
zinischen Rettung« zu schaffen. Schnelleinsatzgruppen (SEG), alarmiert und decken
24.4 · Polizei
365 24

Einsatzleitung

Einsatzabschnitt Einsatzabschnitt Einsatzabschnitt Einsatzabschnitt


Schadensort Logistik Rettungsdienst Bereitstellung

Unterabschnitt Unterabschnitt Unterabschnitt Unterabschnitt


Patientenablage Behandlungsplatz Transportorganisation Betreuung

Unterunterabschnitt Unterunterabschnitt
Verteilung + Rettungsmittel-
Dokumentation halteplatz

. Abb. 24.1 Beispiel für eine Besondere Aufbauorganisation (BAO) von Feuer und Rettungsdienst bei einem Großschadens-
ereignis

so den Sonderbedarf. Analog zur Feuerwehr wird der Die Struktur der Polizei ist sehr vielschichtig und
Rettungsdienst grundsätzlich von vorne geführt. Das reicht bei uniformierten Polizeivollzugsbeamten
heißt, die verantwortliche Einsatzleitung, bestehend (PVB) vom Streifendienst bis hin zu geschlossenen
aus organisatorischem Leiter Rettungsdienst und Einheiten der sog. Bereitschaftspolizei und bei zivi-
Leitendem Notarzt, befindet sich am Einsatzort und len Beamten von Ermittlungsbeamten und Obser-
fügt sich als »Einsatzabschnitt Rettungsdienst« in die vationskräften über zivile Fahnder bis hin zu Perso-
Struktur der örtlichen Einsatzleitung ein. So sind nenschutzkräften. Die täglich anfallende Arbeit und
Feuerwehr und Rettungsdienst bei einem Großscha- kleinere Einsatzlagen werden aus dieser Allgemei-
densereignis optimal miteinander verzahnt. Der Ein- nen Aufbauorganisation (AAO) heraus bewältigt.
satzabschnitt Rettungsdienst befindet sich außerhalb Bei komplexeren Einsatzlagen oder Großereignis-
des Gefahrenbereiches und wird in die Bereiche Pa- sen wird eine Besondere Aufbauorganisation (BAO)
tientenablage, Behandlungsplatz, Transportorganisa- gebildet und die eingesetzten Kräfte einheitlich ge-
tion und Betreuung/psychosoziale Unterstützung führt. Ein Polizeiführer leitet den gesamten Einsatz
unterteilt (. Abb. 24.1). und wird dabei von einem Führungsstab unter-
stützt. Die zugeordneten Kräfte werden in sog. Ein-
satzabschnitte (EA) gegliedert. Ein EA kann über
24.4 Polizei mehrere Unterabschnitte (UA) verfügen und eine
weitere Untergliederung in Unter-Unterabschnitte
> Die Polizei in Deutschland hat die Gefahren- (UUA) ist möglich. Dabei befindet sich der Polizei-
abwehr und Verfolgung von Straftaten und führer in der Regel nicht am Einsatzort sondern
Ordnungswidrigkeiten zur Aufgabe. Auch unter Umständen viele Kilometer entfernt z. B. in
Verkehrssicherheitsarbeit (Straße, Schiene, einem Polizeipräsidium. Das heißt, dass die Polizei
Schifffahrt und Luftfahrt), Personenschutz im Gegensatz zu Rettungsdienst und Feuerwehr
und polizeiliche Auslandsmissionen sind von hinten führt. Ein direkter Kontakt der jeweils
Beispiele für das umfangreiche Aufgaben- eingesetzten Führer findet also nicht statt. Dies er-
spektrum der Polizei. fordert den Einsatz von Verbindungsbeamten oder
366 Kapitel 24 · BOS

Fachberatern, um Informations- und Kommunika- SanG) verabschiedet, das am 01. Januar 2014 in
tionsprobleme zu minimieren. Kraft getreten ist und das RettAssG ablöst. Die Aus-
Für besondere Einsatzlagen, bei denen mit hoher bildungsdauer wird nun 3 Jahre betragen.
Gewaltbereitschaft oder Waffen- bzw. Sprengstoffe- Bei der Polizei erhält jeder Polizeivollzugsbe-
insatz gerechnet werden muss, sowie bei terroristi- amte (PVB) in der polizeilichen Basisausbildung
schen Aktionen, verfügen die Bundesländer über eine Erste-Hilfe-Ausbildung, die insgesamt 30 Stun-
Spezialeinsatzkommandos (SEK) und der Bund den beträgt und anschließend alle 2 (längstens 3)
über die GSG 9 der Bundespolizei. Diese unter- Jahre mit jeweils 8 Stunden wieder aufgefrischt wer-
24 scheiden sich vom sonstigen Polizeivollzugsdienst den soll. Inhaltlich richtet sich die Ausbildung nach
durch eine zusätzliche spezielle Ausbildung und der Erste-Hilfe-Breitenausbildung in Deutschland,
Ausstattung. die von der in der Bundesarbeitsgemeinschaft Erste
Hilfe (BAGEH) zusammenarbeitenden deutschen
Hilfsorganisationen erarbeitet und mit dem Deut-
24.5 Medizinische Ausbildung schen Beirat für Erste Hilfe und Wiederbelebung
bei der Bundesärztekammer abgestimmt wurde.
Die medizinische Ausbildung oder auch Erste-Hil- Damit wird auch den Forderungen des Arbeits-
fe-Ausbildung in den einzelnen Organisationen ist schutzes Genüge getan, wo im § 10 Arbeitsschutzge-
sehr unterschiedlich. setz (ArbSchG) der Arbeitgeber zu einer geeigneten
Bei der Feuerwehr ist jede Einsatzkraft in Erster Organisation von Erste-Hilfe- und sonstigen Not-
Hilfe ausgebildet und frischt diese Ausbildung regel- fallmaßnahmen verpflichtet ist. In der Realität ist es
mäßig auf. Hauptamtliche Feuerwehranwärter wer- jedoch häufig so, dass nach der Erste-Hilfe-Ausbil-
den in allen Bundesländern zu Rettungssanitätern dung während der polizeilichen Basisausbildung
ausgebildet – selbst wenn die Feuerwehr nicht im dieses Thema kaum noch oder gar nicht mehr ge-
Rettungsdienst arbeitet. Hauptamtliche Feuerwehren schult wird. Die Aufgabenvielfalt des täglichen Po-
und Berufsfeuerwehren, die Aufgaben im Rettungs- lizeidienstes ist so vielschichtig und komplex, dass
dienst wahrnehmen, bilden zum Rettungsassistenten für eine Erste-Hilfe-Auffrischung oft gar keine Zeit
aus. Bei der Mehrzahl dieser Feuerwehren sind alle ist. Wird sie dann trotzdem angeboten, können vie-
Einsatzkräfte auch Rettungsassistenten, um eine hohe le Beamte wegen Schichtdienst, Urlaub oder Krank-
Flexibilität in der Personalplanung zu erhalten. heit nicht teilnehmen und so ist es durchaus nicht
Im gewerblichen Rettungsdienst ist die Aus- selten, dass ein Polizist mehrere Jahre keinen Erste-
bildung zum Rettungssanitäter die Minimalvoraus- Hilfe-Unterricht mehr hatte. Außerdem werden
setzung. Die Ausbildungsdauer beträgt im Durch- durch die Ausrichtung auf Erste-Hilfe-Breitenaus-
schnitt 520 Stunden und beinhaltet neben theoreti- bildung spezielle Aspekte der im Polizeidienst häu-
schen Lehrinhalten auch ein Krankenhaus- und ein fig vorkommenden Krankheiten oder Verletzungs-
Rettungswachenpraktikum. In einigen Bundeslän- muster nur unzureichend berücksichtigt.
dern existiert, insbesondere bei den ehrenamtlichen Im regulären Erste-Hilfe-Kurs liegt der Schwer-
Kräften und im Katastrophenschutz, auch noch die punkt auf Erkrankungen, dies spiegelt auch die zivi-
deutlich kürzere Ausbildung (160–320 Stunden) le Realität wider. Im polizeilichen Einsatz liegt der
zum Rettungshelfer oder Rettungsdiensthelfer. Die Schwerpunkt aber bei den Verletzungen (stumpf
höchste nichtärztliche Qualifikation im Rettungs- und spitz). Die Versorgung dieser Verletzungen un-
dienst stellt der Rettungsassistent dar. Diese Berufs- ter taktischen Bedingungen wird hier nicht unter-
ausbildung existiert seit 1989, geregelt durch das richtet. Dies könnte durch Lehrinhalte aus der takti-
Rettungsassistentengesetz (RettAssG), und dauert schen Medizin ausgeglichen werden. Hierzu sind
2 Jahre. Sie soll den Rettungsassistenten sowohl auf jedoch viele Länderpolizeien erst am Beginn einer
die selbstständige Tätigkeit im Rettungsdienst vor- Entwicklung und schulen einzelne Elemente der tak-
bereiten als auch auf seine Rolle als Assistent des tischen Medizin, jedoch überwiegend nur bei den
Notarztes. Inzwischen wurde durch den Bundestag Spezialeinheiten oder im Vorfeld polizeilicher Aus-
und Bundesrat das Notfallsanitätergesetz (Not- landsmissionen.
24.6 · Absperrmaßnahmen
367 24
24.6 Absperrmaßnahmen

Bei polizeilichen Einsatzlagen kann es je nach Auf-


trag, Art und Größe des Einsatzraumes, Kräftelage
oder taktischen Erfordernissen notwendig sein, den
Einsatzraum oder darin befindliche Objekte durch
Absperrmaßnahmen in definierte Bereiche zu tren-
nen. Dadurch soll z. B. ein unkontrolliertes Passie-
ren verhindert, Gefahren begrenzt oder die Tätig-
keit anderer Stellen, z. B. Rettungs- und Hilfsdiens-
ten gewährleistet werden. Diese Absperrung kann
. Abb. 24.2 Schematische Darstellung der Gefahren-
einschließend, stationär oder mobil, offen oder
bereiche
verdeckt oder als innere und äußere Form errichtet
werden. Gegebenenfalls können auch mehrere Ab-
sperrungen hintereinander notwendig werden. zieht sich die innere Absperrung immer enger, bis
Die Grundlage dieser polizeilich-taktischen der Täter festgenommen oder gefunden wird und
Maßnahme bildet die Polizeidienstvorschrift 100 alle möglichen Waffen oder selbst gebauten Spreng-
(PDV 100). Um diese komplexe Thematik zu erläu- vorrichtungen gesichert oder entschärft werden.
tern, sollen anhand eines Einsatzbeispiels die ver- Die Bereiche innerhalb des Gebäudes gelten bis da-
schiedenen Absperr- oder Gefahrenbereiche be- hin als unsicher, da es jederzeit zu einem Täterkon-
schrieben werden. Geeignet ist hier das Beispiel ei- takt kommen kann und somit auch zu einem
nes Amoklaufs in einem Gebäude. In den letzten Schusswechsel oder sonstigen Gefahren für Leib
Jahren kam es auch in der Bundesrepublik Deutsch- und Leben.
land wiederholt zu Amokläufen an Schulen, wobei Durch die äußere und innere Absperrung wer-
ein oder mehrere Täter in das Schulgebäude einge- den somit drei Bereiche geschaffen (. Abb. 24.2):
drungen sind und mit unterschiedlicher Bewaff- 4 ein sicherer Bereich (vor der äußeren Ab-
nung auf Lehrer und Schüler eingewirkt haben. sperrung),
Zum Zeitpunkt der Notfallmeldung ist häufig 4 ein teilweise sicherer Bereich, in dem ein Ein-
völlig unklar, um wie viele Täter es sich handelt und wirken des Täters nicht ausgeschlossen werden
wo sie sich im Gebäude befinden. Betrachtet man kann (vor der inneren Absperrung) und
im weiteren Vorgehen nun vorrangig den Aspekt 4 ein unsicherer Bereich, wo jederzeit mit Täter-
der Absperrung, so wird diese von außen nach in- kontakt zu rechnen ist (innerhalb der inneren
nen eingerichtet. Das heißt, dass ein Bereich festge- Absperrung).
legt wird, in dem ein Einwirken durch den Täter
nicht mehr möglich ist. Dieser Bereich ist somit si- Im englischsprachigen Raum und auch im militäri-
cher und kann, z. B. als Bereitstellungsraum für den schen Bereich werden für diesen Sachverhalt andere
Rettungsdienst, dienen. Als Begrenzung dieses Be- Begrifflichkeiten benutzt. Hier wird die Gefahren-
reiches wird die äußere Absperrung aufgestellt. zone mit der direkten Beschussmöglichkeit als hei-
Im weiteren Vorgehen auf das Schulgebäude ße Zone (»hot zone«) bezeichnet und der teilweise
wird das Ziel verfolgt, das Verlassen des Täters aus sichere Bereich, der bedingt unter eigener Kontrolle
dem Gebäude zu verhindern. Dafür wird das Ge- steht aber nicht unter direktem Beschuss, als warme
bäude mit einer inneren Absperrung versehen. Das Zone (»warm zone«). Demgegenüber steht der
Gebiet zwischen innerer und äußerer Absperrung sichere Bereich, der unter eigener Kontrolle steht
ist damit aber nur teilweise sicher, da der Täter z. B. und außerhalb der Schusslinie liegt. Dieser Bereich
aus einem Fenster mit einer entsprechenden Waffe wird dann als kalte Zone (»cold zone«) bezeichnet.
auf Personen in diesem Bereich einwirken könnte. In der Realität wird in der Hektik des Einsatzge-
Innerhalb des Gebäudes wird mit Polizeikräften schehens der Gefahrenbereich von allen Beteiligten,
nach und nach das Gebäude durchsucht. Damit selbst von der Polizei, häufig räumlich viel zu gering
368 Kapitel 24 · BOS

. Tab. 24.1 Beispiele für die Reichweite verschiedener Geschosse

Kaliber Energie [J] Geschwindigkeit V0 [m/s] Höchstreichweite [m]

9 mm × 19 490 350 2000

5,56 mm × 45 (.223 Remington) 1693 920 2800

7,62 mm × 39 (AK 47) 2016 710 2800

24 7,62 mm × 51 3272 830 5000

. Tab. 24.2 Reichweite von Geschossen bei verschiedenen Waffentypen

Waffentyp Kaliber Effektive Reichweite [m] Maximale Reichweite [m]

Faustfeuerwaffen

H&K P8 9 mm × 19 50 1500

Walther P1 9 mm × 19 50 1600

Maschinenpistolen

MP2 (Uzi) 9 mm × 19 200 1600

MP5 9 mm × 19 100 1500

Maschinengewehre

MG3 7,62 mm × 51 mm 600 3750

MG4 5,56 mm × 45 mm 500 2850

Sturmgewehre

G3 7,62 mm × 51 mm 400 3700

G36 5,56 mm × 45 mm 200–500 2860

AK47 7,62 mm × 39 mm 300–400 1500

eingeschätzt und auch dementsprechend abge- z. B. Lauflänge, Abgangswinkel, Geschossform und


grenzt, so dass sich nicht selten Personen in Berei- -gewicht, Menge der Ladung oder Witterungsver-
chen aufhalten, in denen eigentlich noch eine Ge- hältnissen abhängig, so dass nicht für jedes Ge-
fahr zu erwarten ist. Oft wird zu dicht an die Ein- schoss nur ein einzelner Wert definiert werden
satzstelle herangefahren oder Übergaben gemacht, kann. Bei optimalen Verhältnissen und unter Be-
weil man sich der Gefahr gar nicht bewusst ist. Die rücksichtigung des günstigsten Abgangswinkels des
Dimensionen eines potenziellen Gefahrenbereiches Geschosses ergibt sich der Gefahrenbereich aus der
kann man ungefähr einschätzen, wenn man die Entfernung des Schützen und der maximalen
maximale Reichweite von Waffengeschossen oder Reichweite des Geschosses. Betrachtet man die
von Splittern unterschiedlicher Sprengvorrichtun- maximale Reichweite von heute gängigen Geschos-
gen betrachtet. Dabei definiert man in der Waffen- sarten (. Tab. 24.1) in Verbindung mit einzelnen
kunde die Reichweite als Entfernung von der Lauf- Waffenarten (. Tab. 24.2), so wird deutlich, dass bei
mündung bis zum Auftreffen des Geschosses. Sie ist optimalen Bedingungen und Geländevoraus-
jedoch von verschiedenen Faktoren (7 Kap. 12) wie setzungen ein Geschoss mehrere Tausend Meter
24.6 · Absperrmaßnahmen
369 24
mögliche Sprengladung (kg)

27200
180
2200
13600

140
4550 2000
90
1200
200
200
15
30 380
4–5
0,06

Wirkreichweite (m)
letaler Bereich bzw. schwerste Verletzungen
Splitterwirkung
. Abb. 24.3 Beispiel für den Gefahrenbereich bei verschiedenen Sprengmitteln

fliegen und dementsprechend auch Schaden anrich- Die o. g. Absperrungen bzw. Zonen gibt es aber
ten kann. auch bei Demonstrationen, Veranstaltungen und
Ähnlich verhält es sich bei Sprengmitteln. Be- Ansammlungen von Menschenmassen. Kommt es
trachtet man z. B. eine Handgranate, so muss man hier zu Ausschreitungen, Paniken oder Unfällen
nach einem Wurf vom Täter (durchschnittlich müssen auch hier Gefahrenbereiche eingehalten
30–40 m) bei der Explosion der Handgranate in werden. Eine Versorgung von z. B. mehreren ver-
einem Umkreis von 5 m mit schwersten oder sogar letzten Polizeibeamten bei einer gewaltsamen
tödlichen Verletzungen rechnen und eine Splitter- Demonstration, direkt am Ereignisort, kann sich
verletzung ist in einem Umkreis von bis zu 15 m zu ein ziviler Rettungsdienst sicher nicht vorstellen.
erwarten. Bei größeren Mengen Sprengstoff, die Somit sind nicht nur Spezialeinheiten, sondern
z. B. in Kraftfahrzeugen verbaut sind, beträgt der auch Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten
gefährliche Bereich bis über 2000 m (. Abb. 24.3). und geschlossene Einheiten sowie der polizeiliche
Häusliche Bebauung, Mauern oder ähnliche sta- Einzeldienst gefordert, eine der Lage angepasste
bile Bauteile schränken die Reichweite des Geschos- Versorgung in der inneren und vor der äußeren Ab-
ses zwar ein und können einen gewissen Schutz sperrung zu ermöglichen. Die taktische Medizin
bieten, führen jedoch zu Ablenkung und Reflexion zeigt, wann und wo welche Maßnahme ergriffen
von Geschossen und Splittern, so dass die Gefahr werden kann.
von Querschlägern besteht. Ein PKW bietet allen-
falls Sichtschutz und ist ansonsten als Deckung völ-
lig ungeeignet. All dies sollte bei der Planung von
Absperrungen oder Errichtung von Behandlungs-
plätzen sowie Übergabestellen von Verletzten an
den zivilen Rettungsdienst in einen sicheren Be-
reich berücksichtigt werden. Um Unfälle zu vermei-
den, sollte die maximale Reichweite von Geschos-
sen als Grenze des Gefahrenbereichs gelten.
371 25

Erstversorgung
im Polizeieinsatz
R. Bohnen

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_25, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
372 Kapitel 25 · Erstversorgung im Polizeieinsatz

Bei allen Polizeieinsätzen und insbesondere bei Alle rechtlichen Vorschriften in Bezug auf Poli-
besonderen polizeilichen Lagen wie z. B. Geiselnah- zeieinsätze bezeichnen die medizinische Erstver-
men, Bedrohungslagen oder Zugriffsmaßnahmen sorgung als einen Bestandteil der polizeilichen Auf-
auf bewaffnete oder gewaltbereite Personen, steht gabe. Ziel ist u. a. die körperliche Unversehrtheit der
die Abwehr von Gefahren für Personen und Eigen- eigenen Einsatzkräfte, aber auch von Opfern, Tä-
tum im Vordergrund der Polizeiaufgaben. Dies geht tern oder sonstigen Personen. Gegenüber den eige-
alleine schon aus der für Bund und Länder gemein- nen Polizeivollzugsbeamten steht der Dienstherr
samen PDV 100 hervor. Danach gehört der Schutz zudem durch das Bundesbeamtengesetz in der
von Leben und körperlicher Unversehrtheit (Art. 2 Pflicht (§ 78 BBG Fürsorgepflicht des Dienstherrn),
Grundgesetz) zu einer der Hauptaufgaben der denn der Dienstherr hat im Rahmen des Dienst-
25 Polizei. Als daraus resultierende organisatorische und Treueverhältnisses für das Wohl der Beamtin-
Maßnahme wird explizit das Sicherstellen der me- nen und Beamten und deren Familien zu sorgen
dizinischen/ärztlichen Versorgung genannt. In den und sie bei ihrer amtlichen Tätigkeit und in ihrer
weiteren Ausführungen zur PDV 100 geht der Leit- Stellung zu schützen.
faden 150 konkret auf die Versorgung der Polizei im Hinzu kommt noch die Verpflichtung eines je-
Einsatz ein. Dabei ist bei Einsätzen mit erhöhtem den Bürgers, in Notsituationen Hilfe zu leisten
Verletzungs- bzw. Erkrankungsrisiko eine medizi- (§ 323c Strafgesetzbuch StGB), die natürlich auch
nisch/ärztliche Versorgung zu gewährleisten. Um den Polizeivollzugsbeamten im Einsatz nicht aus-
noch konkreter zu werden wird im Weiteren gefor- schließt.
dert, dass der Einsatz eigener medizinischer/ärztli- Aufgrund all dieser rechtlichen Vorschriften ist
cher Spezialkräfte der Inanspruchnahme medizini- es verständlich, dass die Polizeien von Bund und
scher Fachdienste vorzuziehen ist. Ländern in ihren Organisationsstrukturen sog.
In weiteren Dienstvorschriften, die z. B. die Polizeiärztliche Dienste aufweisen. In diesen Diens-
Maßnahmen bei Geiselnahmen oder im Personen- ten beschäftigen sich Ärzte und entsprechendes me-
schutz regeln, wird sogar die medizinische Erstver- dizinisches Fachpersonal (u. a. Rettungsassistenten,
sorgung als direkte Aufgabe der Polizei genannt. Rettungssanitäter, medizinische Fachangestellte)
Danach wird bei der entsprechenden besonderen neben der kurativen, arbeits- und sozialmedizini-
Aufbauorganisation für den Einsatz ein eigener schen Betreuung der Polizeivollzugsbeamten ins-
Unterabschnitt »medizinische Erstversorgung« er- besondere auch mit der medizinischen Erstversor-
wähnt, der als Aufgabe die Vorbereitung und gung im Polizeieinsatz. Sie begleiten die Polizeivoll-
Durchführung des Ersthelfereinsatzes und der not- zugsbeamten bei Großeinsätzen wie Demonstratio-
ärztlichen Versorgung sowie die Koordinierung des nen, Kundgebungen, Sportveranstaltungen oder
Rettungsdiensteinsatzes hat. In einem weiteren Un- ähnlichen und auch bei besonderen polizeilichen
terabschnitt »ärztliche Betreuung« wird zudem die Lagen und sichern so die Versorgung im Notfall.
medizinische, psychologische und seelsorgerische Darüber hinaus unterstützen sie bei polizeilichen
Betreuung von Einsatzkräften, Freigekommenen Übungen und Ausbildungen und organisieren die
und sonstigen Personen gefordert. Erste-Hilfe-Ausbildung aller Polizeivollzugsbeam-
Auch im Gesetz über den unmittelbaren Zwang ten, die auch arbeitsschutzrechtlich gefordert ist.
bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugs- Die personelle und materielle Ausstattung,
beamte des Bundes (UZwG) ist in § 5 die Hilfeleis- Qualifikation und Gewichtung der einzelnen Auf-
tung für Verletzte genannt. Demnach ist Verletzten, gabenbereiche wie Kurativmedizin, Arbeitsmedi-
wenn unmittelbarer Zwang angewendet wird, so- zin, Sozialmedizin, Aus- und Fortbildung etc. ist in
weit es nötig ist und die Lage es zulässt, Beistand zu den einzelnen Polizeiärztlichen Diensten von Bund
leisten und ärztliche Hilfe zu verschaffen. Als Ver- und Ländern allerdings teilweise sehr unterschied-
gleich zu den Bundesländern ist hier beispielhaft lich. Häufig überwiegen gutachterliche, arbeits-
der gleichlautende Artikel 63 des Polizeiaufgaben- schutzrechtliche, gesundheitspräventive und admi-
gesetzes (PAG) in Bayern zu nennen. nistrative Aufgaben. Dies fällt auch bei Stellenanzei-
25 · Erstversorgung im Polizeieinsatz
373 25
gen für Polizeiärztinnen und Polizeiärzte auf, wo die
ärztliche Versorgung der Polizei im Einsatz oft erst
an letzter Stelle der Aufgabenbeschreibung genannt
wird. Dabei ist dies die ureigenste Aufgabe eines
Polizeiärztlichen Dienstes.
Mitverantwortlich an diesem Zustand ist u. a.,
dass in den letzten Jahrzehnten durch Einsparmaß-
nahmen bei Bund und Ländern die ärztlichen und
auch Assistenzstellen oft nur noch im Angestellten-
verhältnis oder Verwaltungsbeamtenstatus besetzt
werden und nicht mehr im Polizeivollzugsdienst.
Dadurch haben diese Kräfte keine polizeilich-takti-
sche Ausbildung und auch keine Schutzausrüstung
wie ein Polizeibeamter. Auch sind sie dienstunfall-
rechtlich nicht abgesichert wie ein Polizeivollzugs-
beamter. Aber genau dies sind Voraussetzungen,
um im Gefahrenbereich eingesetzt werden zu
können.
Dies führt vielfach auch dazu, dass die Not-
wendigkeit für taktische Notfallmedizin von den
Entscheidungsträgern nicht ausreichend erkannt
wird und somit nur schleppend oder teilweise auch
gar nicht Einzug findet in die Aus- und Fortbildung
der Polizeikräfte bzw. in die ergänzende Beschaf-
fung von Material. Die Erste-Hilfe-Ausbildung ist
ausgerichtet an der Breitenausbildung in Deutsch-
land (7 Kap. 24) mit Hilfe des Auto-Verbandkastens.
Zusätzliches Material aus der taktischen Notfall-
medizin wie z. B. Tourniquets oder spezielle Ver-
bandpäckchen (7 Kap. 3) werden, z. T. auch aus Un-
kenntnis und genereller Ablehnung, gar nicht zur
Verfügung gestellt oder ihre Anwendung gelehrt.
Oftmals beschaffen sich Einsatzkräfte diese Materi-
alien selbst und besuchen privat Fortbildungskurse.
Das Interesse seitens der Polizeibeamten ist groß, da
sie den Bedarf im täglichen Einsatz erleben. Es fehlt
jedoch an einheitlichen Standards und Empfehlun-
gen zur taktischen Notfallmedizin, der dazugehöri-
gen Aus- und Fortbildung und oftmals auch der
Ausrüstung. Hier sind die Polizeiärztlichen Dienste
gefordert, Konzepte zu entwickeln und umzusetzen.
Denn eines muss klar sein: die Hauptaufgabe der
Polizeiärztlichen Dienste ist die medizinische Erst-
versorgung im Polizeieinsatz, um so die Lücke zum
zivilen Rettungsdienst zu schließen, der im Gefah-
renbereich nicht arbeiten kann und teilweise auch
nicht darf.
375 26

Schnittstellenproblematik
R. Bohnen

26.1 Rechtliche Situation – 376

26.2 Eigenschutz – 377

26.3 Problemfelder bei gemeinsamen Einsatzlagen – 377

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_26, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
376 Kapitel 26 · Schnittstellenproblematik

26.1 Rechtliche Situation Schutz oder die Rettung von Menschenleben. Le-
diglich die originären Aufgaben bzw. der Blickwin-
Die Bundesrepublik Deutschland ist mit den einzel- kel sind jeweils unterschiedlich, was manchmal zu
nen Bundesländern föderal aufgestellt und jedes Konflikten führen kann. Während der Rettungs-
Bundesland führt die staatlichen Befugnisse und die dienst sich schnellstmöglich um die Überprüfung
Erfüllung staatlicher Aufgaben grundsätzlich selbst von Vitalfunktionen und Behandlung von lebens-
aus. Dies ergibt sich aus Artikel 30 Grundgesetz. gefährlichen Verletzungen oder Erkrankungen
Das führt dazu, dass es hinsichtlich Aufbau, Orga- kümmert, sichert die Polizei den Einsatzort, nimmt
nisation, Struktur und Zusammenarbeit von Ret- Täter fest, befragt Zeugen oder sichert Beweismittel
tungsdienst, Feuerwehr und Polizei keine einheitli- für eine mögliche Strafverfolgung. Durch jahrelan-
che Regelung gibt. Hinzu kommen unterschiedliche ge Erfahrung und häufig wiederkehrende Einsatz-
Zuständigkeiten dahingehend, dass Gefahrenab- muster hat sich in den meisten Fällen in der Zusam-
wehrbehörden in den Bundesländern beispielsweise menarbeit zwischen Polizei und Rettungsdienst/
26 dem Landesinnenministerium, Sozialministerium Feuerwehr eine gewisse Routine entwickelt und
oder Ministerium für Arbeit und Gesundheit unter- eventuell auftretende Konflikte werden direkt nach-
stellt sind. Teilweise sind für die Aufgaben nach geregelt und besprochen.
Weisung auch die Kommunen örtlich und sachlich Anders ist dies bei besonderen Einsatzlagen
zuständig. Dies ergibt sich aus Artikel 28 II Grund- oder Großlagen bzw. Naturkatastrophen, die nicht
gesetz. so häufig auftreten, sehr individuelle Verläufe neh-
Für die Polizei besteht u. a. die gesetzliche Auf- men können und schon von vorneherein eine ande-
gabe der Gefahrenabwehr und damit der Schutz der re Einsatzführungsstruktur mit sich bringen. Hier
öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Dabei um- können sich Zuständigkeiten überschneiden, und
fasst öffentliche Sicherheit sowohl die gesamte es gibt keine gesetzliche Regelung, wer in diesen
Rechtsordnung, die verfassungsmäßige Ordnung Fällen weisungsbefugt ist. Die Polizei ist nicht be-
und der Schutz von Individualrechtsgütern, zu de- fugt, in die öffentlich-rechtliche Tätigkeit anderer
nen neben Leben und Gesundheit auch Vermögen Behörden einzugreifen und umgekehrt. Lediglich
und Sachgüter sowie Freiheit und Ehre zählen. Die gegenseitige Empfehlungen können ausgesprochen
öffentliche Ordnung umfasst die Gesamtheit der werden und entsprechende fachliche Beratungen
ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des ein- stattfinden. Dies ist auch in den Landesteilen der
zelnen in der Öffentlichkeit. Dienstvorschriften der einzelnen Behörden im
Die Hauptaufgabe des zivilen Rettungsdienstes Sinne von Grundsätzen für die Zusammenarbeit
ist die sachgerechte Hilfe bei medizinischen Not- von Polizei, Rettungsdienst und Betreuungsdienst
fällen aller Art und die Rettung von Menschen- in besonderen Lagen dargestellt. Dabei wird eine
leben. Sie ist in entsprechenden Ländergesetzen abgestimmte Zusammenarbeit gefordert, eine
geregelt, genauso wie die Aufgaben der Feuerwehr. leistungsfähige Organisation auf allen Seiten, eine
Sehr häufig kommt es bei Einsätzen zu einem rechtzeitige Information und angepasste Koordina-
gleichzeitigen Handeln von Polizei und Rettungs- tion der Einsatzabläufe. Dazu soll ein Fachberater
dienst bzw. Feuerwehr. So wird z. B. beim Erstein- des Rettungsdienstes oder der Feuerwehr in den
treffen der Polizei bei Verkehrsunfällen, Schläge- Führungsstab der Polizei integriert werden. Auf-
reien oder anderen Gewalttaten mit Auftreten von gabe ist z. B. die Festlegung von Bereitstellungs-
verletzten Personen der Rettungsdienst nachalar- räumen, Gefährdungsbereichen, Übergabestellen
miert. Bei Rettungsdiensteinsätzen durch unkon- von Verletzten und medizinischen sowie psycholo-
trollierbare Situationen, z. B. durch alkoholisierte gischen Versorgungs- und Betreuungsbereichen.
oder aggressive Patienten oder sonstige beteiligte Dies soll in gemeinsamen Übungen trainiert wer-
Personen oder bei Verdacht auf Straftaten, wird die den, um Verhaltenssicherheit in der Zusammenar-
Polizei im Rahmen der Amts- oder Vollzugshilfe beit zu gewährleisten und mögliche Schnittstellen-
hinzugerufen. In der Regel verfolgen die beteiligten probleme zu erkennen und entsprechend nachzu-
Behörden ein gemeinsames Ziel, nämlich den bereiten.
26.3 · Problemfelder bei gemeinsamen Einsatzlagen
377 26
26.2 Eigenschutz In der Realität wird dem Rettungsdienst daher
ein Bereitstellungsraum außerhalb des Gefahren-
An manchen Einsatzstellen ist eine rasche medizi- bereiches (kalte Zone) zugeteilt. Ein Einsatz inner-
nische oder technische Hilfe erforderlich, um die halb der inneren Absperrung (heiße Zone) erfolgt
Überlebenschance von verletzten Personen zu er- immer nur nach Absprache mit der Polizei. Ein der-
höhen und mögliche Sekundärschäden abzuwen- artiger rettungsdienstlicher Einsatz kann jedoch
den. Trotz dieses Zeitdrucks hat das Rettungsdienst- nur freiwillig erfolgen, da eine Eigengefährdung
personal an jedem Einsatzort das Risiko der Eigen- nicht ausgeschlossen werden kann und es keine
gefährdung immer genau abzuschätzen. Als mögli- rechtliche Grundlage dafür gibt, das Rettungs-
che Merkregel für das Verhalten bei Eintreffen an dienstpersonal zu zwingen, in einem solchen Ge-
Einsatzstellen wird bereits in der Ausbildung die fahrenbereich zu arbeiten. Auch die Ausbildung,
sog. GAMS-Regel gelehrt. Diese gilt zwar primär für Ausrüstung und berufliche Verpflichtung befähigt
Gefahrgutunfälle, ist aber auch generell für die Be- nicht zu Aktionen in einem Gefahrenbereich. Da-
urteilung jeder Einsatzstelle nützlich. Teilweise wird her müssen verletzte Personen dem Rettungsdienst
bereits bei der Anfahrt auf Gefährdungen und Risi- an einen sicheren Behandlungsplatz zugeführt wer-
ken am Einsatzort hingewiesen, oder es erfolgt eine den. Diese Menschenrettung aus der Gefahrenlage
Lageerkundung vor Ort, um Gefahren zu erkennen, obliegt aufgrund gesetzlichem Auftrag bei polizeili-
erste abwehrende Maßnahmen zu ergreifen oder chen Lagen der Polizei und bei nicht polizeilichen
Spezialkräfte nachzualarmieren. Lagen der Feuerwehr. Erst danach erfolgen die ret-
tungsdienstliche Versorgung und der Transport in
GAMS-Regel eine geeignete medizinische Einrichtung.
5 G = Gefahr erkennen Zu diesem Sachverhalt gibt es auch bei den ver-
5 A = Absperrung errichten antwortlichen Personen in Polizei und Rettungs-
5 M = Menschenrettung durchführen dienst sehr unterschiedliche Einstellungen. Zumal
5 S = Spezialkräfte anfordern es für die Polizei bedeutet, eine irgendwie definierte
medizinische Erstversorgung in einer heißen Zone
einschließlich Evakuierung, Transport und Über-
Dabei gilt für jeden Rettungsdienstmitarbeiter und gabe an den Rettungsdienst in einem sicheren Be-
die Feuerwehr, dass ein Einsatz mit Gefährdung reich mit eigenen Kräften durchführen zu müssen,
für das eigene Leben oder die Gesundheit grund- wenn sich keine Freiwilligen aus dem Rettungs-
sätzlich abzulehnen ist. Zwar beschreibt die Feuer- dienst finden lassen. Die Polizei ist per Gesetz ver-
wehrdienstvorschrift 100 (FwDV 100) das Retten, pflichtet, Hilfe auch im Gefahrenbereich zu leisten
In-Sicherheit-bringen und Schützen von Menschen bzw. Gefahren abzuwehren, welche die öffentliche
als primäres Einsatzziel. Aber in vielen Fällen ist Sicherheit gefährden. Dies verdeutlicht noch einmal
die Rettung nur möglich, wenn zuvor vorhandene die Notwendigkeit der Ausbildung und Anwendung
Gefahren beseitigt oder zumindest eingegrenzt von taktischer Notfallmedizin durch die Polizei.
werden. Schon in der Laufbahnausbildung werden
z.B. bei der Feuerwehr als Leistungsspektrum die-
jenigen Gefahren gelehrt, die sie kennen und 26.3 Problemfelder bei gemeinsamen
bekämpfen können. Hierzu gehören sicher nicht Einsatzlagen
polizeiliche Lagen, bei denen durch Bedrohung
mit Schusswaffen oder Explosivstoffen durch das Die Schnittstelle zwischen Polizei und Rettungs-
polizeiliche Gegenüber mit direkter Gefahr für das dienst/Feuerwehr kann in besonderen polizeilichen
eigene Leben gerechnet werden muss. Feuerwehr Lagen wie z. B. Geiselnahmen, Amokläufen oder
und Rettungsdienst sind nicht verpflichtet, in sonstigen Bedrohungslagen mit bewaffneten Tätern
einem solchen Gefahrenbereich zu arbeiten und für die Rettung von Menschenleben von entschei-
teilweise ist es ihnen sogar per Dienstanweisung dender Bedeutung sein. Kommt es hier durch Un-
untersagt. kenntnis oder Wissensmangel zu Informations-
378 Kapitel 26 · Schnittstellenproblematik

verlusten, kann dies die medizinische Versorgung Rettungsdienst von einer Patientenablage oder
von verletzten Personen verzögern oder behindern einem Behandlungsplatz, während die Polizei für
und so eventuell zu vermeidbaren gesundheitlichen die gleiche Struktur den Begriff Verletztensammel-
Schäden und im schlimmsten Fall zum Tod führen. stelle verwendet. Alleine schon durch diesen unter-
Ein Hauptmangel ist sicherlich, dass die Behör- schiedlichen Sprachgebrauch kann es zu Missver-
den untereinander wenig von den jeweilig anderen ständnissen kommen und das Kommunikations-
Strukturen und Handlungsweisen wissen. So weiß problem ist vorprogrammiert.
die Polizei z. B. wenig über die Fahrzeugzusammen- Für die meisten Einsatzlagen hat jede Behörde
stellung bei Feuerwehreinsätzen und kann so nicht für sich ein Einsatzkonzept mit entsprechenden
abschätzen, wie viel Bereitstellungsplatz an der Ein- Handlungsanweisungen erstellt. Nur in den seltens-
satzstelle zur Verfügung gestellt werden muss bzw. ten Fällen werden diese Konzepte miteinander ab-
welche An- und Abfahrtswege geeignet sind und gestimmt oder gemeinsam erarbeitet. So können
freigemacht werden müssen. Auch weiß die Polizei Schwachstellen im Vorfeld nicht erkannt und be-
26 in vielen Fällen wenig über Sondereinheiten bei seitigt werden und im Falle eines realen Einsatzes
Feuerwehr und Rettungsdienst wie z. B. Höhenret- erst in Erscheinung treten, wenn es eventuell schon
tung, Hundestaffeln, Tauchergruppe, Spezialfahr- zu spät ist, darauf zu reagieren.
zeuge oder -ausrüstung. Im Rahmen der Laufbahn- In den letzten Jahren ist es in Deutschland durch
ausbildungen oder Fortbildungen werden die be- Häufung von Amokläufen, insbesondere an Schu-
nachbarten Behörden in der Einsatzlehre zwar be- len, zu ersten Ansätzen gekommen, gemeinsame
nannt, aber nicht vertiefend behandelt. Auch Einsatzkonzepte zu erarbeiten und in ihnen die Be-
gegenseitige Hospitationen oder Praktika erfolgen lange der jeweilig anderen Behörde bereits in der
in der Regel nicht, sodass man über die Fähigkeiten Planung ausreichend zu berücksichtigen. Dabei
und Strukturen der jeweilig anderen Behörde zeigen sich sehr unterschiedliche Lösungsansätze
meistens kein fundiertes Wissen hat. Dies kann zu deren Erfolge erst in der Zukunft beurteilt und ggf.
falschen Vorstellungen führen, die im Einsatz feh- angepasst werden können. Fakt ist aber, nur wenn
lerhafte Beurteilungen verursachen. In der Aus- man etwas ausprobiert hat, weiß man ob es funk-
bildung bei Rettungsdienst und Feuerwehr wird tioniert und erkennt was nicht funktioniert.
wesentlich mehr Einblick über die Organisation
und Aufgaben der Polizei gegeben, weil man im
Rahmen der Amts- und Vollzugshilfe häufig auf die
Unterstützung der Polizei angewiesen ist.
An gemeinsamen Einsatzstellen bei Großlagen
wird von Polizei und Rettungsdienst jeweils ein
eigener Führungsstab getrennt voneinander einge-
richtet. Lediglich ein Verbindungsbeamter vom
Rettungsdienst soll in den Führungsstab der Polizei
integriert werden. Dies ist insofern nachzuvoll-
ziehen, als dass polizeitaktische Konzepte nicht in
der breiten Öffentlichkeit eines gemeinsamen
Führungsstabes preisgegeben werden können. Den-
noch kommt es bei zwei getrennten Führungsstäben
durch Kommunikationsdefizite unweigerlich zu
Informationsverlusten und so u. U. auch zu Fehlent-
scheidungen.
Hinzu kommt, dass in den einzelnen Behörden,
insbesondere in der Einsatztaktik, unterschied-
liches Fachvokabular benutzt wird, obwohl man
eigentlich das Gleiche meint. So spricht etwa der
379 27

TEMS
R. Bohnen

27.1 Historie – 380

27.2 Inhalte von TEMS – 380

27.3 Voraussetzungen – 381

27.4 Unterschiede zum zivilen Rettungsdienst – 381

27.5 Vorteile des TEMS-Konzeptes – 382

27.6 Prävention – 383

27.7 Medizinische Grundversorgung – 383

27.8 Einsatzplanung – 384

27.9 Medizinische Erstversorgung – 384

27.10 Ausbildung – 385

27.11 Fazit – 386

Literatur – 387

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_27, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
380 Kapitel 27 · TEMS

27.1 Historie gang zur Unterstützung von SWAT-Teams. Dieser


Lehrgang wurde schließlich unter dem Dach der
Die medizinische Versorgung schon auf dem Ge- staatlichen Universität des Militärs, Uniformed Ser-
fechtsfeld ist bei militärischen Einsätzen fester Be- vices University of the Health Sciences, fortgeführt
standteil und reicht in die Zeit um Napoleon Bona- und weiterentwickelt.
parte zurück. Die Sanitätskomponente gehört seit- Bei weiteren Ereignissen wie z. B. dem Amok-
dem fest zur militärischen Organisationsstruktur lauf an der Columbine Highschool in Jefferson
und wird im Einsatz voll integriert. Diese Form der County, Colorado, am 20. April 1999 bei dem 13
frühen Verwundetenversorgung erfuhr einen wei- Menschen getötet wurden und nicht zuletzt auch
teren Höhepunkt im Amerikanischen Bürgerkrieg den Ereignisse des 11. September 2001 wird den Be-
als Clara Barton, die Gründerin des Amerikani- hörden und der Öffentlichkeit deutlich wie wichtig
schen Roten Kreuzes, die Notwendigkeit beschrieb, es ist, vorbereitet zu sein und spezialisierte Teams zu
die medizinische Stabilisierung von Kriegsverwun- haben, die mit derartigen Krisen umgehen können
deten vor und während des Transportes in eine wei- und spezielle Polizeiinterventionen begleiten kön-
terbehandelnde Einrichtung zu verbessern. Ihr nen – abseits der alltäglichen Arbeit von Polizeibe-
27 Leitspruch war: »behandele sie dort wo sie liegen« amten und Rettungsdienstkräften.
und ist Synonym für die auch heute noch gültige
Erkenntnis, dass das Endergebnis einer Verwun-
dung davon abhängt was in den ersten Minuten 27.2 Inhalte von TEMS
nach der Verwundung an Maßnahmen durchge-
führt wird. Einsätze von Strafverfolgungsbehörden beinhalten
Diese enge Verknüpfung von medizinischer immer das Risiko der Konfrontation mit Gewalt
Komponente mit militärischen Streitkräften, die oder Waffeneinsatz und somit die Gefahr von
also bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück- schweren Verletzungen. Besonders verletzungs-
reicht, ist für polizeiliche Einsätze auch heute noch trächtig sind Geiselbefreiungen bzw. das Eindrin-
nicht überall selbstverständlich. In diesem Bereich gen oder der Zugang bei Lagen, in denen sich der
ergriffen die Amerikaner Ende des 20. Jahrhunderts oder die Täter verschanzt haben. Da bei solchen
die Initiative als am 1. August 1966 in Austin, Texas, Einsätzen, ähnlich wie bei militärischen Einsätzen,
Charles Whitman vom Uhrenturm der Universität nicht immer eine direkte Zusammenarbeit mit dem
insgesamt 15 Menschen tötete und 32 verletzte. Die zivilen Rettungsdienst möglich ist und Phasen, in
Strafverfolgungsbehörden stellten fest, dass sie für denen die Sicherheit der Lage noch unklar ist, über-
derartige Ereignisse unzureichend vorbereitet sind brückt werden müssen, lehnt sich die medizinische
und gründeten in der weiteren Folge nicht nur Erstversorgung in Polizeieinsätzen eng an die Er-
polizeiliche Spezialeinheiten, sog. SWAT-Teams fahrungen aus der Militärmedizin an und hat sich
(»speacial weapon and tactics«), sondern entwickel- daraus weiterentwickelt. Für diese spezielle Art der
ten auch erste Lösungsansätze und Programme für präklinischen Versorgung hat sich bei den amerika-
die medizinische Erstversorgung von Verletzten bei nischen Behörden das Konzept TEMS (»Tactical
solchen Ereignissen. Während einzelne Strafver- Emergency Medical Support«) fest etabliert und
folgungsbehörden es bevorzugten, ausgewählte Be- stellt heute eine Sonderform der Notfallmedizin
schäftigte des zivilen Rettungsdienstes in polizei- dar.
lichen Taktiken zu schulen und dann zu integrieren, TEMS ist weder eine militärische noch eine
entschieden sich andere Behörden dazu, eigene zivile Form der präklinischen Notfallversorgung,
Polizeikräfte in Basis Erste-Hilfe-Maßnahmen zu sondern eine speziell für das taktische Umfeld von
unterrichten und darauf aufbauend weiter zu quali- Polizeieinsätzen modifiziertes Konzept. Im deut-
fizieren. Aus dieser Entwicklung heraus gab es 1989 schen Sprachgebrauch wird hierfür der Begriff der
als Konsensus zwischen Vertretern der Strafverfol- taktischen Notfallmedizin verwendet. Dabei bein-
gungsbehörden, der Notärzte und Rettungsdienst- haltet TEMS jedoch nicht nur die medizinische
träger den ersten offiziellen medizinischen Lehr- Erstversorgung im Einsatz sondern vielmehr auch
27.4 · Unterschiede zum zivilen Rettungsdienst
381 27
die Gesundheitsprävention des Teams, Einsatzpla- forderlich. Es müssen Kenntnisse und Erfahrungen
nung und -vorbereitung und die medizinische Ver- vorhanden sein wie das taktische Umfeld eines
sorgung im Alltag. Polizeieinsatzes aussieht und eine Polizeioperation
Jeder, der schon einmal bei einem Notfall an- abläuft und auf diese erschwerten Bedingungen
wesend war, kennt die endlos erscheinende Zeit müssen dann spezielle medizinische Fähigkeiten
vom Eintritt des Notfalls bis zum Eintreffen erster und die Verletztenbeurteilung und -behandlung ab-
Rettungskräfte. Die Umstände und feindselige Art gestimmt werden. Dazu muss der Ersthelfer in der
von vielen Polizeieinsätzen machen es dem zivilen Lage sein, mit geringerem Material, in begrenztem
Rettungsdienst häufig unmöglich, in der »heißen Raum, mit eingeschränkten Sicht- und Geräusch-
Zone« zu agieren, während die taktische Polizei- verhältnissen und ohne Möglichkeit, sich bei einer
maßnahme noch weiterläuft. Dies macht deutlich, nachgeordneten oder höher qualifizierten Stelle
dass in dieser Phase durch die taktische Notfall- rückversichern oder Rat holen zu können, adäquate
medizin im Sinne von TEMS die wichtigen ersten medizinische Hilfe zu leisten. Er muss zudem
Minuten nach einer Verletzung sinnvoll für den Waffenkenntnisse haben und einen Verletzten ent-
Verletzten genutzt werden können. Somit kann die waffnen und diese Waffe auch sichern können, ge-
Morbidität und Mortalität der eingesetzten Polizei- nauso wie er in der Lage sein muss, Schutzkleidung
kräfte aber auch von Geiseln, Tätern und unbetei- wie ballistischen Helm und Weste entfernen zu kön-
ligten Dritten gesenkt werden. nen. Eine Einweisung und Training in der Sichtung
Statistiken der amerikanischen Behörden erge- von Patienten ist erforderlich, da es bei Polizeiein-
ben für das Jahr 1992 insgesamt 62 getötete Polizei- sätzen auch in kurzer Zeit zu einer großen Anzahl
beamte und fast 30.000 verletzte. Speziell für SWAT- von Verletzten und Verletzungen kommen kann, so
Team-Beamte lag die Verletzungsrate bei 1,8 pro dass die personellen und materiellen Ressourcen
1000 Einsatzstunden, für Täter bei 18,9 pro 1000 rasch ausgeschöpft sein können. Die Versorgung in
Einsatzstunden und für Unbeteiligte bei 3,2 pro unsicherem Gebiet, ggf. unter Beschuss, sowie die
1000 Einsatzstunden. Eine FBI-Statistik aus den unter Umständen verzögerte Evakuierung in einen
Jahren 1996–1999 ergibt 5 Verletzungen pro 100 sicheren Bereich und damit verlängerte prähospi-
Polizeibeamte pro Jahr und 33 Verletzungen pro tale Phase mit eingeschränkten Mitteln sind beson-
1000 Einsatzstunden für SWAT-Teams. Diese Zah- dere Herausforderungen an den medizinischen
len machen deutlich, dass bei Polizeieinsätzen die Ersthelfer.
Vorbereitung auf Notfälle immer gewährleistet sein
muss und bei Nichteinsetzbarkeit von zivilen Ret-
tungskräften durch andere bzw. eigene Maßnahmen 27.4 Unterschiede zum zivilen
diese Lücke geschlossen werden muss. Rettungsdienst
> Die taktische, polizeiliche Maßnahme hat
immer Vorrang, um nicht weitere Verletzte zu
Hier zeigen sich auch schon deutlich die Unter-
riskieren und so das Scheitern der gesamten
schiede zum zivilen Rettungsdienst (. Tab. 27.1).
Polizeiaktion zu provozieren. Dementspre- > Während im zivilen Rettungsdienst in der
chend müssen medizinische Maßnahmen an Regel die Gesundheit und das Wohlergehen
die taktische Gesamtsituation angepasst des Patienten oberste Priorität hat, so ist es
werden. bei einer Polizeioperation der Erfolg der
taktischen Zielsetzung und die Medizin ist ein
Werkzeug, dieses taktische Ziel zu erreichen.

27.3 Voraussetzungen Den zivilen Rettungsdienst erwarten überwiegend


internistische Notfälle in einem vielfältigen Perso-
Für die Durchführung von eigenen Maßnahmen nenkreis von Kindern, alten Menschen, Schwange-
zur medizinischen Erstversorgung im Sinne des ren usw. Wenn für ein Trauma alarmiert wird, han-
TEMS-Konzeptes sind einige Voraussetzungen er- delt es sich meistens um stumpfe Verletzungen
382 Kapitel 27 · TEMS

. Tab. 27.1 Unterschiede zwischen zivilem Rettungsdienst und taktischer Notfallmedizin/TEMS

Notfallmedizin im zivilen Taktische Notfallmedizin/TEMS


Rettungsdienst

Umgebung Einsatz erst nach Herstellen einer Einsatz in warmer und heißer Zone
sicheren Lage (kalte Zone)

Materielle RTW-basiert, Nachführen von Eingeschränkt, maximal Rucksackausstattung


Ressourcen Material möglich

Personelle RTW + NEF Personal, Nachalar- Team-Ersthelfer/Medic isoliert


Ressourcen mierung weiterer Kräfte möglich

Fälle Primär internistische Patienten Primär traumatologische Fälle

Verletzungsmuster Stumpfes Trauma Penetrierendes Trauma

Zugang zum Einfach zugänglich durch Erschwerter Zugang durch Schutzweste, Helm, Einsatz-
Patienten normale Kleidung ausrüstung etc.
27
Zeitfaktor Kurze Phase der präklinischen Häufig verlängerte Phase der präklinischen Versorgung
Versorgung durch fortlaufende taktische Operation

Massenanfall von Zieht automatisch Alarmierung Häufig keine weiteren Ressourcen vorhanden
Verletzten (MANV) von weiterem Personal nach sich
nach festem Schema

Patientensichtung Durch leitenden Notarzt (LNA) Unter Umständen durch taktischen Ersthelfer vor Ort

durch z. B. Stürze oder Verkehrsunfälle. Der Erst- tungsstabile medizinische Erstversorgung in einer
helfer im taktischen Umfeld eines Polizeieinsatzes, warmen oder heißen Zone ermöglicht. Dadurch soll
speziell auch bei Einsätzen von Spezialkommandos, nicht der zivile Rettungsdienst ersetzt werden, son-
dagegen ist mit Schuss- oder Explosionsverletzun- dern nur die medizinische Versorgung zeitlich frü-
gen konfrontiert. Es kann nicht auf ein komfortabel her und örtlich näher an den Zeitpunkt der Verlet-
ausgestattetes Rettungsmittel oder die Nachalar- zung gebracht werden, um so eine Brücke zum zivi-
mierung eines Notarztes zurückgegriffen werden len Rettungsdienst herzustellen und im Sinne eines
und die Evakuierungs- oder auch Transportzeiten besseren Behandlungsresultates für den Verletzten
in eine Einrichtung mit höhergradiger Versor- die Versorgungslücke zu schließen, die sonst entste-
gungsmöglichkeit sind limitiert. Dabei kommt man hen würde, da der zivile Rettungsdienst aus Eigen-
bei polizeilichen Einsätzen den Bedingungen bei sicherungsgründen nicht in warmen oder heißen
militärischen Einsätzen nahe und unterscheidet Zonen eingesetzt werden kann. Die therapiefreie
sich hier im Wesentlichen nur durch den Auftrag. Zeit wird erheblich verkürzt.
Während Polizei sich auf Gewaltkriminalität und
Terrorismusbekämpfung fokussiert, stehen beim
Militär Friedensmissionen, Stabilisierung in kriegs- 27.5 Vorteile des TEMS-Konzeptes
ähnlichen oder Konfliktlagen und humanitäre Ein-
sätze im Vordergrund. Auch in der heutigen Zeit wird von den verantwort-
Diese Unterschiede und die für die taktische lichen Personen in Führungspositionen von Polizei
Notfallmedizin erforderlichen Lösungsmöglichkei- und auch Politik der Sinn und Zweck der Imple-
ten sind im TEMS-Konzept berücksichtigt. Durch mentierung eines TEMS-Konzeptes oder der Aus-
besondere medizinische Fähigkeiten und Fertigkei- bildung von medizinischen Ersthelfern leider häu-
ten (sog. »skills«) und intensivem lagenbasiertem fig in Frage gestellt, insbesondere im Hinblick auf
Training wird eine handlungssichere und belas- die Zeit, das Geld und den Arbeits- und Ausbil-
27.7 · Medizinische Grundversorgung
383 27
dungsaufwand, den man dafür investieren muss. diensteten abzuwenden, trägt die Implementierung
Dabei lassen sich die Vorteile und Ziele eines sol- eines TEMS-Konzeptes als eine Möglichkeit Rech-
chen Konzeptes sehr vielfältig darlegen. Das haupt- nung.
sächliche Ziel ist die Erhöhung der Erfolgswahr- Dabei beinhaltet TEMS nicht nur den Aspekt
scheinlichkeit für die Gesamtbewältigung der Poli- der taktischen Notfallmedizin im Einsatz, sondern
zeioperation. Die Bereitstellung einer limitierten spiegelt sich in zahlreichen weiteren Aufgaben wie-
medizinischen Ressource wird gemessen an der der wie z. B. Prävention, medizinische Grundver-
Auswirkung auf die Gesamtsituation und nicht nur sorgung in Alltag, Training und Einsatz und Ein-
auf den individuellen Verletzten. Oftmals scheint es satzplanung. In allen Teilbereichen ist das Hauptziel
für Außenstehende befremdlich, dass ein Einsatz- die Gesunderhaltung und Fitness des Teams, was
leiter Entscheidungen fällen kann oder auch muss, schlussendlich zum Einsatzerfolg mit beiträgt.
die dazu führen, dass ein Verletzter zunächst nicht
oder verspätet erst behandelt wird. Der Ersthelfer
im Team kann den Leiter zwar beraten, aber die 27.6 Prävention
letztendliche Entscheidung trifft der Einsatzleiter
im Hinblick auf das Gesamtgelingen des Einsatzes. Die Prävention beinhaltet neben Vorsorgeuntersu-
TEMS beinhaltet also mehr als nur das medizini- chungen auch Aspekte von Ernährung, Fitness- und
sche Problem. Im Ernstfall kann die bestmögliche Trainingsprogrammen. Außerdem wird die Immu-
medizinische Versorgung unter Vernachlässigung nisierung der Teammitglieder überwacht und Auf-
des operativ taktischen, polizeilichen Auftrages klärung und Vorbeugung betrieben zu Hygiene,
noch weitere Verletzte oder sogar Tote verursachen. Lebensmittel- und Trinkwasserbedingte Erkran-
> Jede medizinische Entscheidung muss im
kungen und Besonderheiten bei Einsätzen unter
taktischen Gesamtkontext abgestimmt
extremen klimatischen Bedingungen, was ins-
werden und für diese Beratung ist das medi-
besondere für polizeiliche Auslandslagen oder
zinisch geschulte Teammitglied ein entschei-
-missionen von Bedeutung ist. Zudem beschäftigt
dender Faktor.
man sich im Präventionsbereich mit Themen wie
Dehydrierung, Auswirkungen von Hitze und Kälte
Als weiterer Vorteil eines TEMS-Konzeptes für spe- oder Auswirkungen des Schlaf-Wachrhythmus auf
zielle polizeiliche Lagen ist die Reduzierung von die Leistungsfähigkeit.
Mortalität und Morbidität für Polizeikräfte, aber Ebenfalls zur Prävention gehört das Mitwirken
auch für Täter und unschuldig Beteiligte. Schutz bei der Auswahl von Schutzausrüstung wie z. B.
von Leben und Sachgütern sind eine Hauptaufgabe ballistischer Schutzhelm und -weste oder Splitter-
der Polizei im Kontext von Schutz der öffentlichen schutzbrillen.
Sicherheit und Ordnung. Die Sensibilisierung für spezielle medizinische
Hinzu kommt die Reduzierung von Dienstun- Themen wie Wundballistik oder Wundmanage-
fällen und Arbeitsunfähigkeitskosten durch Prä- ment wird in Form von Ersthelfertraining oder
vention und bei eingetretener Verletzung durch Schulungen in Selbst- und Kameradenhilfe durch-
rechtzeitige, adäquate Behandlung. Dadurch entste- geführt.
hen auch geringere Dienstausfallzeiten und der Ebenso erfolgen nach Einsätzen entsprechende
hoch qualifizierte Spezialbeamte steht für nächste Debriefings zur Vorbeugung von posttraumati-
Einsätze schneller wieder zur Verfügung. schen Belastungsstörungen.
Die Wertschätzung und Fürsorge, die das
Team durch eine verbesserte Gesundheitsvorsorge
und -versorgung erfährt, resultiert in eine gesteiger- 27.7 Medizinische Grundversorgung
te Moral im Team was auch für die Bereitschaft,
kalkulierte Risiken und gefährliche Situationen ein- Die medizinische Grundversorgung beinhaltet die
zugehen, nicht ganz unerheblich ist. Der Verant- adäquate Behandlung von typischen Alltagserkran-
wortung des Dienstherrn, Schaden von den Be- kungen und -verletzungen und, falls erforderlich,
384 Kapitel 27 · TEMS

die notwendige Weiterleitung an entsprechende Tätern eine Herauslösung dieser Person erwirkt
Fachärzte. Diese Erkrankungen und Verletzungen werden.
treten nicht nur im Alltag auf sondern bezüglich der Der Einsatzleiter wird insgesamt beraten
Verletzungen insbesondere im Training. Hier wer- 4 zur medizinischen Erstversorgung, falls es
den neue Einsatzkonzepte erprobt und in Worst- während des Zugriffs zu Schusswechsel oder
case-Szenarien für spezielle Einsätze simuliert, was Explosionen kommt,
selbstverständlich häufig zu Verletzungen führen 4 zur Kräfteverteilung und
kann. Diese gilt es umgehend medizinisch und/oder 4 zur Festlegung von Verletztensammelstellen
sport- oder physiotherapeutisch zu behandeln, um und Übergabebereichen an den zivilen Ret-
die Einsatzfähigkeit des Beamten schnellstmöglich tungsdienst.
wieder herzustellen. Auch soll vermieden werden,
dass kleinere Verletzungen bagatellisiert werden Die Identifizierung von heißer und warmer Zone
und unbehandelt bleiben, was ggf. später zu Folge- und die Festlegung der kalten Zone gehören ebenso
schäden führen kann. zur Aufgabe des TEMS-Sanitäters oder Arztes, um
In einem Einsatz, der über mehrere Tage dauert, die Kräfte des zivilen Rettungsdienstes davor zu
27 z. B. wenn ein Täter sich mit Geiseln in einem Ge- schützen, sich einer gefährlichen Situation auszu-
bäude verschanzt hat, kommt die medizinische setzen.
Grundversorgung ebenso zum Tragen, um die Ge- Im Vorfeld werden die lokalen Krankenhäuser
sundheit des Teams während des Einsatzes aufrecht und Traumazentren sowie die kürzesten Fahrtwege
zu erhalten und nicht kurzfristig erkrankte Team- und auch Alternativrouten aufgeklärt. Außerdem
mitglieder auswechseln zu müssen. wird die Möglichkeit des Lufttransportes von
Schwerstverletzten überprüft und generell die
Transportmittel organisiert und koordiniert.
27.8 Einsatzplanung Mit der Rettungsleitstelle vor Ort wird Kon-
takt aufgenommen, Kommunikationswege geklärt
Vor jeder polizeilichen Spezialoperation spielt die und am Einsatzort wird ein sicherer Bereitstellungs-
Einsatzplanung eine wichtige Rolle und beinhaltet raum für den Rettungsdienst festgelegt und die
auch immer Aspekte der medizinischen Erstversor- Kräfte der Lage entsprechend eingewiesen und
gung und der Evakuierung. Dabei geht es nicht nur koordiniert.
um die eigenen Kräfte sondern auch um die körper- Ebenfalls berät der TEMS-Sanitäter oder -Arzt
liche Unversehrtheit von Geiseln oder unbeteiligten den Einsatzleiter über verschiedene Evakuierungs-
Dritten, aber auch von Tätern. Daher gilt es im möglichkeiten und -alternativen, falls ein geordne-
Rahmen der Einsatzplanung Erkenntnisse über den tes Verlassen des Einsatzraumes wegen plötzlicher
Zustand oder die Vorerkrankungen von Beteiligten Ereignisse (Ausbruch von Feuer, Explosion etc.)
zu gewinnen, um den Einsatzleiter über mögliche nicht mehr möglich ist.
Komplikationen während der weiteren Lageent-
wicklung beraten zu können, was unter Umständen
Einfluss auf das taktische und zeitliche Gesamt- 27.9 Medizinische Erstversorgung
konzept haben kann. Diese Ferneinschätzung von
möglichen gesundheitlichen Entwicklungen bei Das Herzstück des TEMS-Konzeptes ist jedoch die
Geiseln und Dritten wird im Bereich der taktischen effektive Behandlung eines Verletzten noch wäh-
Medizin unter dem Begriff »medicine across the rend einer fortlaufenden Operation, die taktische
barricade« geführt und gehört immer mit in die Notfallmedizin. Die Kontrolle lebensbedrohlicher
Einsatzplanung und die damit verbundene Aufklä- Blutungen und die Behandlung von Atemwegs-
rung. Dadurch können z. B. bei bestimmten Erkran- obstruktion oder Spannungspneumothorax profi-
kungen von Geiseln entsprechende Medikamente tieren nachweislich von der zeitnahen Behandlung,
besorgt werden, spezielle Kliniken vorinformiert die nicht abschließend sein muss oder nach Lehr-
werden oder sogar über die Verhandlung mit den buch, wie es vielleicht im Schockraum oder Opera-
27.10 · Ausbildung
385 27
tionssaal eines Krankenhauses möglich ist, aber nische Notfälle dokumentiert und die Ereignisse
lebenserhaltend. Es sind die wichtigsten und dring- analysiert um ggf. Rückschlüsse und vorbeugende
lichsten Behandlungsindikationen während eines Maßnahmen für zukünftige Einsätze zu treffen. In
Polizeieinsatzes von Spezialeinheiten und nicht wie der Nachbereitung kann zusätzlich die Rehabilitati-
z. B. im zivilen Rettungsdienst die Immobilisierung on verletzter Beamten durch eine geeignete Koordi-
der Wirbelsäule und Überprüfung von Herz-Kreis- nation zwischen Ärzten, Krankenhäusern und
lauf-Parametern. Reha-Einrichtungen optimiert werden und gleich-
Die Entscheidung einer schnellen Evakuierung zeitig die Familie und Dienststelle in die Wiederein-
zu einem Ort der definitiven Versorgung gegenüber gliederung mit eingebunden werden.
einer Durchführung erweiterter medizinischer Das TEMS-Konzept ist somit extrem vielseitig
Maßnahmen noch am Einsatzort kann nur von und beinhaltet neben den genannten Bereichen des
einem medizinisch Erfahrenen getroffen werden, Teams Health Managements (mit Prävention,
der den Einsatzleiter dahingehend berät. Allerdings Grundversorgung und Regeneration) auch alle
unterliegt er der gesamt taktischen Entscheidung Aspekte der Aus- und Weiterbildung, Inübunghal-
und muss in der Lage sein, eventuelle Verzögerun- tung, Weiterentwicklung, Qualitätsmanagement, Be-
gen bis zur endgültigen Evakuierung überbrücken schaffung und Pflege von medizinischer Ausrüstung
zu können. Dabei kann es wichtig sein, den Verletz- und die gesamte Einsatzplanung und taktische Not-
ten aus dem Schussfeld in eine sichere Deckung zu fallmedizin zum Zweck der bestmöglichen medizini-
verbringen, um dort weitere medizinische Maßnah- schen Versorgung und damit zur Gewährleistung des
men vornehmen zu können. Gesamterfolges der taktischen Operation.
Beim Auftreten mehrerer Verletzten muss eine
Sichtung erfolgen und die Priorität der Behand-
lung an die vorhandenen Ressourcen angepasst 27.10 Ausbildung
werden.
Bei der Übergabe an den Rettungsdienst kön- Für die vielseitigen Aufgaben und Besonderheiten
nen wichtige Aspekte der Anamnese eines eigenen des TEMS-Konzeptes ist eine entsprechende Aus-
Kameraden wie z. B. Allergien oder Medikamenten- und Weiterbildung von großer Bedeutung. Hiermit
einnahme als wichtige Information an die weiter- ist nicht nur die Schulung aller Teammitglieder in
behandelnden Ärzte in der Klinik weitergegeben Basismaßnahmen der Ersten Hilfe und taktischen
werden. Medizin gemeint, sondern insbesondere der Ein-
Auch kann es psychologisch von Vorteil sein, satzsanitäter und -ärzte. Durch die Unterschiede
wenn bei der Information an die Familienange- zur zivilen Notfallmedizin bedarf es zusätzlicher
hörigen eines im Einsatz verletzten Beamten ein Aus- und Weiterbildung speziell in taktischer Medi-
TEMS-Sanitäter oder Arzt anwesend ist und zwi- zin. Dazu gibt es heute entsprechende Kurse durch
schen Familie und Krankenhaus vermitteln kann. Militär, Polizei und kommerzielle Anbieter.
Ein weiterer Aspekt während des laufenden Ein- Die ersten Kurse fanden 1989 in Los Angeles
satzes stellt die Beweissicherung dar. Hier könnten statt und waren initiiert von einem SWAT-Team-
für die späteren Ermittlungen wichtige Indizien für leiter, der zuvor als Sanitäter in einer US Army
die Beweiskette durch die erfolgten medizinischen Spezialeinheit tätig war und einem Sanitätsbeamten
Maßnahmen vernichtet werden und somit verloren der medizinischen Unterstützungseinheit des Los
gehen. Durch entsprechende forensische Schulung Angeles County Sheriff`s Department. Die Kurse
kann dies verhindert werden. fanden unter der Schirmherrschaft des Gründers
Am Einsatzende wird durch die Mitwirkung bei der »National Tactical Officers Association«
»Stress-Incident-Management-Programmen«, die (NTOA) statt, eines Verbandes amerikanischer
psychische Belastung des Einsatzes beleuchtet, um Polizisten, und fanden sehr rasch reges Interesse.
entsprechende Belastungsreaktionen frühzeitig zu Dadurch wurde 1990 die amerikanische Militäruni-
erkennen und so einer Belastungsstörung entgegen- versität mit ihrem 1989 gegründeten Forschungs-
zuwirken. Außerdem werden aufgetretene medizi- zentrum für Verwundetenversorgung (»Casualty
386 Kapitel 27 · TEMS

Care Research Center«) auf die Kurse aufmerksam und führen schon zu Problemen bei der Zuweisung
und man entwickelte unter dem Dach des Verteidi- von erweiterten Maßnahmen für Rettungsassisten-
gungsministeriums den sog. »Counter Narcotics ten im zivilen Rettungsdienst. Erheblich kompli-
Tactical Operations Medical Support Course« zierter wird es dann natürlich erst recht für Nicht-
(CONTOMS). In diesem Kurs wird Rettungsdienst- Sanitätspersonal. Aber es gilt dringend diese Prob-
personal speziell geschult sowohl in taktischer leme zu beseitigen und für die Thematik zu sensibi-
Medizin aber insbesondere auch in allgemeiner lisieren. Denn im Ernstfall hängt davon das Leben
Einsatztaktik, Waffentechnik oder Wundballistik. eines Beamten oder Zivilisten ab.
Etwa 10 Jahre später nahmen auch Kurse zu, in Neben den Aus- und Fortbildungsprogrammen
denen Polizeibeamte von Spezialeinheiten in spe- bei der Bundeswehr und einigen Polizeibehörden
ziellen medizinischen Basismaßnahmen trainiert fassen auf dem wachsenden Gebiet der taktischen
wurden (SAEMT, »Special Agent Emergency Medizin auch zunehmend kommerzielle Anbieter
Medical Technician Program«) und dann zusätz- Fuß. Diese Firmen entstehen meist durch ehemalige
lich zu ihrer polizeilichen Arbeit die Aufgaben des Soldaten oder Polizisten von Spezialeinheiten mit
TEMS-Konzeptes wahrnahmen. Spätestens seit der zusätzlicher medizinischer Weiterbildung, die ihr
27 Veröffentlichung der Richtlinien der taktischen Wissen und ihre Erfahrungen weitergeben wollen.
Verwundetenversorgung (»Tactical Combat Casu- Im Vordergrund stehen Verletzungsszenarien, die
alty Care«, TCCC) für den militärischen Bereich im in eine taktische Gesamtsituation eingebaut wer-
Jahr 1996 hat die Anzahl der angebotenen Kurse den, so dass der Trainingseffekt sowohl die taktische
zugenommen und wesentliche Inhalte und Erfah- als auch die medizinische Komponente berücksich-
rungen aus diesen Richtlinien fließen auch in die tigt. Die Trainings finden sowohl mit Laiendarstel-
Ausbildung für Spezialeinheiten der Polizei mit ein. lern als auch mit Patientensimulatoren statt, um das
Seit den Ereignissen des 11. Septembers 2001 Szenario so realitätsnah wie möglich darstellen zu
und der Zunahme von terroristischer Bedrohung können. Bei besonderen medizinischen Techniken
und Anschlägen insgesamt nimmt die Bedeutung wie z. B. intraossären Zugängen, der Koniotomie,
und Notwendigkeit von medizinischer Erstversor- der Anwendung von Hämostyptika oder Tourni-
gung nicht nur im militärischen Bereich, sondern quets wird gelegentlich auch auf Leichen, die sich zu
speziell auch bei Behörden und Organisationen mit Lebzeiten der Wissenschaft zur Verfügung gestellt
Sicherheitsaufgaben zu. Während zunächst jedoch haben, Tierkadaver oder lebende Tiere (im Rahmen
nur Sanitätspersonal geschult wurde, geht die Er- der Tierschutzgesetze) zurückgegriffen. Ziel ist es,
kenntnis heutzutage so weit, dass bei zunehmend die jeweilige Technik in der Anwendung im Vorfeld
komplexen Einsatzlagen jedes Teammitglied in der so gut zu erlernen, dass es im Ernstfall am Verletz-
Lage sein muss, lebenserhaltende Basismaßnahmen ten zu einem sicheren Handeln beiträgt.
durchführen zu können, bis der Sanitäter hinzu-
kommt und die weitere Versorgung übernimmt.
Dieses Umdenken findet bei der Bundeswehr 27.11 Fazit
aktuell durch die Einführung von sanitätsdienstli-
cher Ausbildung für Nicht-Sanitätspersonal statt; TEMS ist ein Gesamtkonzept, dass die Phasen vor,
entsprechende Ausbildungskonzepte liegen vor. Bei während und nach dem Einsatz beinhaltet. TEMS
den meisten Strafverfolgungsbehörden wird dieser hat zum Ziel, die therapiefreie Zeit beim Patienten
Bereich leider noch sehr restriktiv verfolgt, zum so kurz wie möglich zu halten und den Patienten so
einen aus Gründen von Kosten und Arbeitsauf- schnell wie möglich an zivile Strukturen weiterzu-
wand und zum anderen aus unklaren rechtlichen geben. Die Polizei hat per Gesetz die Aufgabe, in der
Gründen heraus. Denn verschiedene Aspekte wie heißen und warmen Zone Gefahren für das Leben
Notkompetenz, unterlassene Hilfeleistung, Körper- und die Gesundheit abzuwehren. Andere Organisa-
verletzung, rechtfertigender Notstand, Heilberufs- tionen sind hierfür nicht vorgesehen, ausgebildet
gesetze oder Ordnungsverschulden sind nach der und ausgerüstet. Dass die Polizei den Täter fasst,
gültigen Rechtsmeinung nicht abschließend geklärt wird von der Öffentlichkeit erwartet. Gemessen
Literatur
387 27
wird die Polizei aber an der Zahl der Verletzten und
Toten, die bei einem Einsatz entstanden sind. Die
taktische Notfallmedizin kann nachweislich Verlet-
zungen und sogar Todesfälle vermeiden bzw. mini-
mieren.

Literatur

1. Carmona R, Rasumoff DH (1998) Guidelines fort he devel-


opment of TEMS programs. The Tactical Edge16: 75–77
2. Heiskell LE, Carmona RH (1994) Tactical emergency
medical services: an emerging subspeciality of emergen-
cy medicine. Ann Emerg Med 23:778–785
3. Schwartz RB, McManus JG, Swienton RE (2008) Tactical
Emergency Medicine. Lippincott Williams & Wilkins,
Philadelphia, USA
389 28

Personalaspekte
R. Bohnen

28.1 Einführung – 390

28.2 TEMS-Konzept – 390

28.3 Rettungskräfte – 391


28.3.1 Externe Rettungskräfte – 391
28.3.2 Interne Rettungskräfte – 394
28.3.3 Versicherung – 394
28.3.4 Bewaffnung externer Rettungskräfte – 395

28.4 Fazit – 395

Literatur – 396

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_28, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
390 Kapitel 28 · Personalaspekte

28.1 Einführung und mangelnde Erfahrung und Kenntnisse über die


gegenseitigen Aufgaben und Besonderheiten eine
In der Vergangenheit hat man sich in vielen Spezi- große Rolle.
aleinheiten Deutschlands häufig die Frage gestellt, Allerdings muss man auch berücksichtigen, dass
wer im Einsatz die medizinische Erstversorgung diese Bereitstellung eines zivilen Rettungsmittels
übernimmt. Oft ist der eigene Polizeiärztliche (sog. »Stand-by-Methode«) aus der Regelversor-
Dienst personell oder zeitlich nicht in der Lage, alle gung des betroffenen Landkreises oder kreisfreien
Einsätze abzudecken oder ist mit vielfältigen admi- Stadt geschieht und als reine »Good-will-Aktion«
nistrativen Arbeiten überlastet. Außerdem mag die der entsprechenden Leitstelle gesehen werden muss.
durchaus gefahrenträchtige Aufgabe einer Spezi- Ein vorsorglicher Einsatz aus der Regelvorhaltung ist
aleinheit bei dem ein oder anderen Beamten des beim zivilen Rettungsdienst eigentlich nicht vorge-
Polizeiärztlichen Dienstes ein »mulmiges« Gefühl sehen. Wenn ein Notfall bei der ILS (Integrierte Leit-
hinterlassen. Häufig fehlt die richtige und notwen- stelle) gemeldet wird und das für den Polizeieinsatz
dige polizeilich taktische Ausbildung, aber auch bereitstehende Rettungsmittel das nächste ist, so hat
Schutzausrüstung oder insgesamt die Möglichkei- der aktuelle Notfall vor dem potenziellen Notfall der
ten zur Eigensicherung sind nicht vorhanden. Dies Polizei Vorrang. Die Polizei hat noch keinen Patien-
liegt unter anderem daran, dass in den letzten Jahr- ten, da der Zugriff noch nicht erfolgt und es unklar
zehnten nahezu alle Ärzte nur noch als Verwal- ist, ob überhaupt einer verletzt wird. Die ILS muss
28 tungsbeamte oder teilweise angestellte Ärzte einge- das für den Polizeieinsatz bereitstehende Rettungs-
stellt wurden und auch beim Assistenzpersonal mittel zum aktuellen Notfall abziehen, ansonsten
(Rettungssanitäter/Rettungsassistenten) vielfach könnte sich der ILS-Disponent strafbar machen.
auf Angestelltenverhältnisse umgestellt wurde. Ein Auch wenn kein zusätzlicher Notfall gemeldet wird,
Polizeivollzugsbeamtenstatus mit den daraus resul- muss die entstehende Lücke dann mit Rettungsmit-
tierenden Rechten und Pflichten, aber auch Ausbil- teln z. B. aus dem Nachbarlandkreis gefüllt werden
dung und Ausrüstung, besteht also für dieses Perso- oder, wenn vorhanden, durch Indienstsetzung von
nal nicht. So »versteckt« man sich vorsorglich hinter Reservekräften. In letzter Konsequenz könnte bzw.
Vorsorge- oder Einstellungsuntersuchungen und müsste der zivile Rettungsdienst diese vorsorgliche
Gutachten, um zu verhindern, zu einem Einsatz Bereitstellung von Rettungsmitteln der Polizei in
eingeteilt zu werden. Vielfach fehlt auch die notärzt- Rechnung stellen. Dies könnten, je nach angeforder-
liche Qualifikation und Inübunghaltung. tem Rettungsmittel bzw. mit oder ohne Notarzt,
Folglich stützt sich manches SEK (Spezialeinsatz- Kosten von mehreren Hundert € für die Polizei be-
kommando) in vielen Fällen auf den zivilen Ret- deuten. Noch schwieriger wird es bei mobilen Lagen
tungsdienst. Dies funktioniert, solange es kurze und über die Leitstellengrenze hinaus. Dann kann eine
überschaubare Einsatzlagen sind. So kann z. B. der Bereithaltung von Rettungsdienstkräften nicht mehr
zivile Rettungsdienst bei der Erstürmung einer Woh- gewährleistet werden.
nung, in der ein gefährlicher Straftäter festgenom- > Hieraus ergibt sich für die Polizei erneut die
men werden soll, ein oder zwei Straßen weiter ent- Notwendigkeit, eigene medizinische Kompe-
fernt in Bereitstellung gehen und ist umgehend am tenz vorhalten zu müssen, die polizeilich-
Einsatzort, wenn die Erstürmung beendet ist und es taktisch geschult und ausgerüstet und in
doch Verletzte gab. Der Zeitverzug ist hier minimal taktischer Medizin ausgebildet ist.
und vertretbar. Aber auch bei einer solchen Maßnah-
me reagiert der ein oder andere Notarzt oder Ret-
tungsdienstmitarbeiter sehr befremdlich beim An-
blick der schwer bewaffneten und vermummten 28.2 TEMS-Konzept
Einsatzbeamten. Es kam schon vor, dass ein Notarzt
sich weigerte, die Wohnung zu betreten, bis alle Waf- Spätestens bei komplexeren Einsatzlagen, die durch
fenträger das Gebäude verlassen hatten. Hier spielt zeitliche oder räumliche Gegebenheiten zunächst
natürlich das subjektive Sicherheitsempfinden, Angst unübersichtlich sind und bei denen schon zu Be-
28.3 · Rettungskräfte
391 28
ginn der Lage Verletzte auftreten können, funktio- In Deutschland hat man in den letzten Jahren
niert das Modell »ziviler Rettungsdienst« nicht versucht, vorwiegend die interne Lösung zu etablie-
mehr. Die Berufsverbände lehnen Einsätze in unsi- ren. Nur in wenigen Bundesländern, z. B. in Schles-
cheren Bereichen (heiße und warme Zone) aus wig-Holstein, hat man freiwillige Rettungsdienst-
Gründen des Eigenschutzes grundsätzlich ab und mitarbeiter weitergebildet und greift bei Einsätzen
sie haben auch keinen gesetzlichen Auftrag hierzu von Spezialeinheiten speziell auf diese Rettungs-
(7 Kap. 26.2). Verletzte Personen müssen dem Ret- dienstkräfte zurück. Für viele Kurzlagen oder Woh-
tungsdienst an einen sicheren Behandlungsplatz nungsstürmungen wird aber meistens auf die »Stand-
zugeführt werden. Für diese Zeitspanne besteht also by-Methode« zurückgegriffen (7 Abschn. 28.1).
im Notfall eine Behandlungslücke, die es zu schlie- Für jedes Modell gibt es Vor- und Nachteile.
ßen gilt. Dazu gibt es verschiedene Denkansätze Wichtig ist, dass man überhaupt über das Problem
und Lösungswege. der medizinischen Erstversorgung in der warmen
In Amerika gibt es durch die Einführung und und heißen Zone nachdenkt und für die eigene Ein-
Fortentwicklung des TEMS-Konzeptes schon viele heit oder Behörde einen Lösungsweg entwickelt.
Erfahrungen zu möglichen Lösungswegen und man
kann aktuell als Fazit feststellen, dass es den golde-
nen Lösungsweg nicht gibt. Man muss die personel- 28.3 Rettungskräfte
len Maßnahmen immer individuell an die Bedin-
gungen der jeweiligen Behörde und deren Aufga- 28.3.1 Externe Rettungskräfte
benstruktur anpassen.
In Deutschland gibt es bis heute kein offiziell Bei der externen Lösung werden Rettungsdienst-
anerkanntes und umgesetztes Konzept. In einigen kräfte, die sich freiwillig melden, in den Besonder-
Bereichen von Militär und Strafverfolgungsbehör- heiten der taktischen Medizin weitergebildet. Sie
den orientiert man sich zwar an TCCC oder TEMS erhalten eine taktische Grundlagenausbildung, um
(7 Kap. 27) und ist auch sehr motiviert und enga- zu lernen, wie man sich in einem Objekt taktisch
giert, Veränderungen herbeizuführen und Kon- bewegt und sicher den Umgang mit der Ausrüstung
zepte fest zu etablieren, stößt aber seitens der Füh- und den Einsatzverfahren beherrscht. In ihrem täg-
rung und Politik häufig auf Gegenwehr. In beiden lichen Dienst sind sie im Rettungsdienst tätig und
Bereichen gibt es aber durchaus gute und erfolgver- bleiben so ständig in der praktischen medizinischen
sprechende Ansätze, die es gilt auszubauen, Erfah- Tätigkeit auf einem hohen Niveau. Das erhöht im
rungen zu sammeln und dann zu optimieren. Polizeieinsatz das Vertrauen der Beamten in die
Die Frage, wer im Einsatz in der warmen und medizinischen Fähigkeiten. Im Einsatz werden die-
heißen Zone die medizinische Erstversorgung se Rettungsdienstkräfte speziell angefordert und
übernimmt, wird im TEMS-Konzept in Amerika ihre einzige Aufgabe ist dann die medizinische Ver-
mit zwei Modellen beantwortet. Zum einen machen sorgung. Allerdings beinhaltet dieses Modell auch
es voll ausgebildete Polizeibeamte, die sich in zwei- einige Nachteile, denn es handelt sich um zusätz-
ter Linie medizinisch weitergebildet haben und liche Kräfte, die in das Team integriert werden
diese Funktion im Einsatz zusätzlich ausüben (sog. müssen und so wird insgesamt auch mehr Personal
interne Lösung). Oder man rekrutiert aus den einer potenziell gefährlichen Situation ausgesetzt.
Reihen des zivilen Rettungsdienstes freiwillige Inte- Da es sich häufig um geheime Operationen fernab
ressenten, die dann eine entsprechende polizeilich von Öffentlichkeit und Medien handelt, bedeutet es
taktische Ausbildung erhalten, mit den SWAT- auch, mehr Geheimnisträger zu haben, was immer
Teams trainieren und bei Einsätzen in das Team eine Sicherheitslücke sein kann.
integriert werden (sog. externe Lösung). Letzteres Die externen Kräfte bedeuten immer ein Sicher-
wird in Amerika überwiegend praktiziert. Nur heitsrisiko für das gesamte Team und da es sich bei
wenige Behörden nutzen noch die »Stand-by- Spezialeinheiten um hochspezialisierte und ausge-
Methode«, bei der sich der zivile Rettungsdienst in bildete, oft als Elitebeamte bezeichnete Einsatzkräf-
einiger Entfernung bereithält. te handelt, werden sie in der Regel als Fremde ange-
392 Kapitel 28 · Personalaspekte

Polizeivollzugsbeamter
in Schutzausstattung

Sicherungsrichtung

Rettungsdienstfachpersonal
Notarzt/Rettungsassistent

28
Hauptvorgehensrichtung

. Abb. 28.1 So genannte Schildkrötentaktik: Rundumsicherung von Rettungsdienstkräften durch Polizeibeamte

sehen und haben Akzeptanzprobleme. Zudem bin- das fehlende Training entsteht fehlendes Vertrauen
den sie Einsatzkräfte, da sie sich nur unter dem und auch ein falscher Eindruck von den Belastun-
Schutz und der Begleitung von Polizeikräften in der gen, physisch und psychisch, denen man sich aus-
warmen und heißen Zone bewegen können. Als Mo- setzt. Außerdem müssen für die medizinische Ver-
dell hat sich hier in der Vergangenheit die sog. sorgung im taktischen Umfeld spezielle Materialien
Schildkrötentaktik etabliert, bei der Rettungs- besorgt werden, z. B. sind Notfallkoffer für einen
dienstkräfte, ausgestattet mit Schutzwesten, durch solchen Einsatz völlig ungeeignet. Sie sollten bei-
eine Rundumsicherung durch Polizeikräfte ge- spielsweise durch Notfallrucksäcke ersetzt werden.
schützt werden (. Abb. 28.1). Gelegentlich wird die- Auch der Inhalt muss lageangepasst sein und nicht
se Taktik auch als Diamantformation beschrieben. unbedingt nach DIN-Rettungsdienst. All dies be-
Sollte sich beim Vorgehen einer der Polizeibeamten deutet zusätzliche Kosten und Arbeitsaufwand
verletzen und ausfallen, müssten die Rettungsdienst- durch Lagerung, Pflege und Wartung des Materials.
kräfte sich selber schützen und z. B. in einen Raum Auf keinen Fall sollte es vorkommen, dass sich
flüchten und die Türe verriegeln. Die Formation (über-?)engagierte Kräfte von Feuerwehr oder Ret-
funktioniert auch nur, wenn man sehr eng zusam- tungsdienst privat Unterziehschutzwesten kaufen,
mensteht und vorgeht, was bei der notwendigen und so meinen, für eine Unterstützung bei einem
Ausrüstung gar nicht einfach ist. Hinzu kommt, dass Polizeieinsatz gerüstet zu sein. Hier ergeben Un-
das Rettungsdienstpersonal nicht gewohnt ist, mit kenntnis und mangelnde Erfahrung über Waffen-
einer Schutzweste, die die Bewegungsfreiheit ein- kunde, Geschosswirkung und Schutzklassen von
engt, zu arbeiten, und auch die physische Belastung Schutzwesten und Helmen ein völlig falsches Sicher-
unterschätzt, die mit dem hohen Gewicht und der heitsgefühl, das im Einsatz gravierende Folgen
mitunter langen Tragezeit der Weste einhergeht. haben könnte. In 7 Kap. 24 wird auf die Reichweite
Häufig wird es schwierig sein, die Rettungs- von Geschossen und Explosionssplittern hingewie-
dienstkräfte regelmäßig mit den Teams und der voll- sen. Betrachtet man die Energie von Geschossen
ständigen Ausrüstung trainieren zu lassen. Durch (. Tab. 24.1) und berücksichtigt gleichzeitig, dass
28.3 · Rettungskräfte
393 28

. Tab. 28.1 Definition von Schutzklassen (SK) für ballistische Schutzwesten

Schutzklasse (SK) Bedeutung

SK L Durchschusshemmend gegen Weichkerngeschosse, verschossen aus Pistolen im Kaliber 9 mm × 19

SK 1 Durchschusshemmend gegen Weichkerngeschosse und Polizeigeschosse, verschossen aus


Kurzwaffen (einschließlich Maschinenpistole) im Kaliber 9 mm × 19

SK 2 Durchschusshemmend gegen Vollgeschosse oder Eisenkerngeschosse, Verschossen aus


Kurzwaffen einschließlich Maschinenpistolen

SK 3 Durchschusshemmend gegen Weichkerngeschosse, verschossen aus Langwaffen

SK 4 Durchschusshemmend gegen Hartkerngeschosse, verschossen aus Langwaffen

bereits eine Energie von 80–100 Joule ausreicht, um Bei der Weichballistik trifft das Geschoss auf eine
menschliche Haut zu durchdringen, so wird einem mehrschichtige Netz- oder Folienstruktur aus
klar, wie wichtig Schutzausrüstung für Polizeiein- einem reißfesten Gewebe, das häufig aus Aramid-
sätze ist. Allerdings trügt der häufig fehlerhaft ver- fasern (z. B. Kevlar) oder einem anderen Kunststoff
wendete Begriff der schusssicheren Weste. besteht. Die durchschusshemmende Wirkung ist
hier jedoch begrenzt und kann nur durch die Kom-
! Eine schusssichere Weste gibt es nicht.
bination mit Hartballistikplatten (z. B. Oxidkera-
Eine Schutzweste oder auch ein Helm können allen- mik- oder Polyethylenplatten) erhöht werden.
falls beschusshemmend sein, also die kinetische Abgesehen von den hohen Kosten für derartige
Energie eines Geschosses aufnehmen und auf eine Schutzkleidung und der nur eingeschränkten
möglichst große Fläche verteilen, so dass das Ge- Schutzwirkung muss der Feuerwehr- oder Rettungs-
schoss in optimaler Weise die Weste nicht durch- dienstmitarbeiter auch noch das hohe Gewicht (je
dringt. Der Impuls des Geschosses wird jedoch auf nach Schutzklasse bis zu 20 kg und auch mehr) be-
den Träger der Weste weitergeleitet und auch durch rücksichtigen, dass er dann zusätzlich zu seiner ori-
die Verformung des Westenkörpers bei der Aufnah- ginären Ausrüstung noch tragen muss. Dies bedeu-
me der kinetischen Energie können Kräfte auf den tet eine noch höhere physische Belastung und auch
Träger der Weste wirken, die zumindest zu stump- Einschränkung seines Bewegungsspielraumes, die
fen Verletzungen führen werden. Je nach Ge- entsprechend trainiert werden muss. Sich »mal
schosstyp kann es aber auch sein, dass das Geschoss eben« eine Schutzweste überziehen und dann mit
von der Weste nur »abgebremst« wird und so nur der Polizei in einen Gefahrenbereich gehen sollte
noch mit geringer Energie und Tiefe in den Men- also sehr kritisch bewertet werden. Jedem Rettungs-
schen eindringt und das Verletzungsbild dadurch dienstmitarbeiter sollte auch bewusst sein, dass eine
minimiert wird. Somit ist die Schutzwirkung von Schutzweste nur 1/3 bzw. 1/4 seines Körpers schüt-
ballistischer Schutzweste und -helm limitiert und je zen, dies nur in der jeweiligen Schutzklasse und nur
nach verwendetem Material und Konstruktion in bei geradem Beschuss. Bei Beschuss von schräg oben
unterschiedliche Schutzklassen einzuteilen. Dies oder schräg unten verringert sich die Fläche er-
geschieht in Deutschland anhand der Ergebnisse heblich.
von sog. Beschusstests, die nach der Technischen Im Gegensatz zur externen Lösung eignet sich
Richtlinie für Schutzwesten der Polizei [1] bzw. der die »Stand-by-Methode«, wie oben beschrieben,
Technischen Richtlinie Gesamtsystem »Ballisti- allenfalls für kurze Lagen. Bei komplexen Einsatz-
scher Helm« [2] durch die staatlichen Beschussäm- szenarien ist die Verzögerung bis zum Nachrücken
ter durchgeführt werden. des Rettungsdienstes oder bis zum Schaffen eines
Grundsätzlich unterscheidet man beim ballisti- sicheren Bereiches u. U. zu lange, was im schlimms-
schen Schutz zwischen Hart- und Weichballistik. ten Fall den Tod des Verletzten zur Folge haben
394 Kapitel 28 · Personalaspekte

kann. Die Methode setzt außerdem die Bereitwillig- wenige Einheiten können sich einzelne Rettungsas-
keit des Rettungsdienstes voraus und ist mit Kosten sistenten erlauben, weil diese Ausbildung zu lange
verbunden, denn einen vorsorglichen Einsatz aus und kostenintensiv ist und der Beamte für diese Zeit
der Regelvorhaltung gibt es eigentlich nicht. dem regulären Dienst nicht zur Verfügung steht.
Die neue Gesetzgebung mit der Ausbildung zum
Notfallsanitäter, die das Rettungsassistentengesetz
28.3.2 Interne Rettungskräfte abgelöst hat, wird diese Situation für die Polizei
noch weiter erschweren. In zwei Bundesländern
Bei der internen Lösung werden aus den Reihen der sind Ärzte des Polizeiärztlichen Dienstes einem
Spezialeinsatzkräfte einzelne Beamte ausgewählt SEK zugeordnet und werden bei Bedarf alarmiert
und erhalten eine zusätzliche medizinische Grund- und in den Einsatz miteinbezogen. In einigen Bun-
lagenausbildung und Ausbildung in taktischer Me- desländern stehen zivile Notärzte freiwillig als Un-
dizin. Dies hat zur Folge, dass sie im Einsatz zwei terstützer zur Verfügung und kooperieren mit der
verschiedene Aufgaben erfüllen müssen, was ggf. zu Polizeibehörde. Nur bei einer Spezialeinheit ist ein
einem Rollenkonflikt führen kann. Auf der einen Arzt als Polizeivollzugsbeamter fest eingestellt und
Seite müssen sie ihrem taktischen Auftrag nachge- steht für jeden Einsatz zur Verfügung. Auf dieser
hen und sind in erster Linie Polizeibeamte, auf der Basis besteht dann auch die Möglichkeit der Imple-
anderen Seite fühlen sie sich durch ihre medizini- mentierung eines TEMS-Konzeptes, da der Arzt
28 sche Ausbildung beim Auftreten von Verletzten für zugleich die fachliche Aufsicht führen kann und
eine sofortige Hilfeleistung zuständig. Außerdem aufgrund der medizinisch höchsten Qualifikation
sind sie durch die nicht regelmäßige Teilnahme am dem Polizeiführer, aber auch dem zivilen Rettungs-
Rettungsdienst in ihren praktischen Fähigkeiten li- dienst, ein adäquater Berater ist.
mitiert, was nur durch ausreichendes Training eini-
germaßen kompensiert werden kann. Dagegen sind
sie im Team voll integriert und akzeptiert, können 28.3.3 Versicherung
sich selber sichern und haben alle Befugnisse eines
Polizeivollzugsbeamten. Sie können sicher mit Aus- Wählt man das Modell mit externen Kräften, müs-
rüstung und Waffe umgehen und haben das erfor- sen auch Versicherungsfragen geklärt werden. Hier
derliche taktische Grundverständnis. geht es nicht nur um Haftungsfragen, falls der Ret-
Unabhängig davon, welches Modell eine Behör- tungsdienstmitarbeiter bei einer Tätigkeit einen
de favorisiert, stellt sich auch immer die Frage, wel- Fehler macht, der zu schwerwiegenden Folgen
chen Qualifizierungsgrad man haben möchte und führt, sondern auch um die Absicherung von Be-
ob dieser Wunsch auch realisierbar ist. In Amerika rufsunfähigkeit und Tod durch einen Einsatz. Die
variiert die medizinische Qualifikation von sog. Versicherung des Rettungsdienstträgers wird dies
EMT(»Emergency Medical Technician«)-Basics, für einen Polizeieinsatz wahrscheinlich nicht mit
vergleichbar mit deutschen Rettungssanitätern, abdecken und eine private Versicherung wird nur
über sog. Paramedics, vergleichbar mit Rettungsas- mit Risikozuschlägen gewährt werden.
sistenten, bis hin zu Ärzten. Die Entscheidung trifft > Personen, die bei Unglücksfällen oder ge-
jede Behörde individuell nach einer Kosten-Nut- meiner Gefahr oder Not Hilfe leisten oder
zen-Analyse. Die Ausbildungskosten und -zeiten, einen anderen aus erheblicher gegenwärtiger
aber auch die Personalkosten spielen hier eine wich- Gefahr für seine Gesundheit retten, sind Kraft
tige Rolle. Gesetzes über das Sozialgesetzbuch VII ver-
Bei den meisten Spezialeinheiten in Deutsch- sichert.
land werden ausgewählte Polizeibeamte zu Ret-
tungssanitätern qualifiziert. Darüber hinaus wer- Bei der internen Lösung stellt sich diese Problema-
den alle Teammitglieder in Basismaßnahmen der tik nicht, da der Polizeibeamte durch das Landes-
Ersten Hilfe geschult oder zum sog. qualifizierten oder Bundesbeamtengesetz in Verbindung mit dem
Ersthelfer oder Rettungshelfer ausgebildet. Nur sehr Beamtenversorgungsgesetz abgesichert ist. Anders
28.4 · Fazit
395 28
verhält es sich bei Polizeiärztlichen Diensten, in ten Rettungsdienstkräfte nach einer taktischen Aus-
denen die Mitarbeiter in der Regel als Verwaltungs- bildung in einem offiziell anerkannten Lehrgang
beamte oder Angestellte beschäftigt sind. Hier ge- zum Teil als staatlich vereidigte Hilfspolizisten er-
hört es nicht zur versicherten Tätigkeit, in einem nannt werden und somit legal eine Waffe tragen
Gefahrenbereich zu agieren. Sollte es hier zu einer und auch einsetzen dürfen. Für eine solche Lösung
Gesundheitsschädigung kommen, kann diese nicht gibt es in Deutschland keine Voraussetzungen, und
im Sinne eines Arbeitsunfalls gewertet werden. die Gesetzeslage lässt dies nicht zu.
Dennoch gibt es in einigen Bundesländern den
sog. »Freiwilligen Polizeidienst« (Baden-Württem-
28.3.4 Bewaffnung externer berg, Hessen) bzw. die »Sicherheitswacht« (Bay-
Rettungskräfte ern, Sachsen). Hierbei handelt es sich um freiwillige
Bürgerinnen und Bürger, die ehrenamtlich, stun-
Eine weitere Frage, die sich im Zusammenhang mit denweise und gegen eine Aufwandsentschädigung
der Einbindung externer Kräfte immer wieder er- die Polizei unterstützen. Dabei handelt es sich je-
gibt, ist die der Bewaffnung. Als Hauptargument für doch nicht um einen Beruf und die Mitarbeiter ha-
eine Bewaffnung wird genannt, dass man Rettungs- ben auch keinen Vollzugsstatus. Die Befugnisse sind
dienstkräfte nicht in Umstände bringen soll, in der in den einzelnen Bundesländern sehr unterschied-
sie sich selbst oder den Patienten nicht schützen lich definiert. Die Mitarbeiter sind zum Teil unifor-
können. Beim Militär ist es selbstverständlich, dass miert oder auch nur mit einer Armbinde gekenn-
die Sanitätssoldaten bewaffnet sind, obwohl sie kei- zeichnet und sind zu Fuß oder per Fahrrad unter-
nen Kombattantenstatus haben und an der Kampf- wegs, sind aber zum Teil auch berechtigt, einen
handlung nicht aktiv beteiligt sind. Streifenwagen zu führen. Die Ausbildung dauert in
Ist die Rettungsdienstkraft bewaffnet, kann sie der Regel 2 Wochen. Die Eigensicherung geschieht
sich unabhängiger bewegen und selber schützen überwiegend mit Pfefferspray, jedoch gestattet das
und muss nicht zwingend durch andere Kräfte Land Baden-Württemberg das Tragen einer Dienst-
geschützt werden. Hierzu bedarf es jedoch einer waffe (Walther P5). Dies ist sicher unter Berück-
Trageberechtigung und vor allen Dingen eines re- sichtigung des Status dieses Personenkreises und
gelmäßigen Trainings, um den sicheren Umgang der geringen Ausbildungszeit als sehr fragwürdig
mit der Waffe gewährleisten zu können. Dieser Auf- einzustufen und ermöglicht es den Personen noch
wand dient den Gegnern der Bewaffnung als ein lange nicht, eine Spezialeinheit im Gefahrenbereich
Gegenargument. Außerdem wird auch hier ein Rol- zu unterstützen.
lenkonflikt befürchtet, da die bewaffnete Rettungs- > Wenn man sich also für die externe Lösung
dienstkraft sich eventuell nun auch taktisch gefor- entscheidet, muss einem bewusst sein, dass
dert fühlt, obwohl das nicht ihre Aufgabe ist. Die dies nur ohne Bewaffnung geht und somit im-
Bewaffnung darf auch nicht als Argument genutzt mer eigene Polizeikräfte vom eigentlichen
werden, um im Team besser akzeptiert zu werden taktischen Auftrag abgezogen werden müs-
und sich als »Einer von ihnen« zu fühlen. sen, um die Rettungsdienstkräfte zu schützen.
> Die Rettungsdienstkraft besitzt durch das
Tragen einer Waffe keine Vollzugsbefugnisse,
sondern nur eine Möglichkeit zur Eigensiche-
rung.
28.4 Fazit

Bei Polizeikräften, die als Sanitäter ausgebildet wer- Egal für welchen Lösungsweg man sich entscheidet,
den, stellt sich diese Problematik nicht, da sie an der wichtig ist, dass man überhaupt etwas initiiert und
Waffe ausgebildet sind und der sichere Umgang mit nicht wartet, bis ein gravierendes Ereignis mit
ihr Teil ihrer täglichen Arbeit ist. Schwerverletzten oder sogar Toten eintritt und man
In Amerika wird dieses Problem in manchen sich dann fragt: »warum haben wir nicht früher
Bundesstaaten dadurch gelöst, dass die ausgewähl- …?« Beide Modelle haben Vor- und Nachteile.
396 Kapitel 28 · Personalaspekte

Wenn man es aber genau nimmt, bedarf es eines


gewissen polizeilichen Know-hows und einer Hilfe,
die nicht allein auf Freiwilligkeit basiert, um gerade
die am meisten gefährdeten Polizeikräfte zu schüt-
zen und im Notfall adäquat medizinisch behandeln
zu können. Polizeiliche Sanitäter (Medics) und zi-
vile Rettungsdienstkräfte unterscheiden sich allein
schon in ihrer Risiko-Nutzen-Analyse. Medics pas-
sen ihr Risiko demjenigen Risiko an, dem ihr Kame-
rad gerade ausgesetzt ist, da sie Teil der Einheit sind.
Der zivile Rettungsdienst orientiert sich vorrangig
an der eigenen Sicherheit. Dies wiederum spricht
für eine interne Lösung, auch wenn das einen
hohen Trainingsaufwand und geringe Einbußen in
der Praxis und Qualität mit sich bringt. Aber es geht
auch nicht um Lehrbuchmedizin, sondern um ein-
fache, lebensrettende Maßnahmen, bis der Ret-
tungsdienst und die Schulmedizin übernehmen
28 können.

Literatur

1. Technische Richtlinie (TR) »Ballistische Schutzwesten«,


Stand: März 2008, herausgegeben durch: Polizeitech-
nisches Institut (PTI) der Deutschen Hochschule der
Polizei (DHPol), Münster
2. Technische Richtlinie (TR) Gesamtsystem »Ballistischer
Helm«, Stand Mai 2010, herausgegeben durch:
Polizeitechnisches Institut (PTI) der Deutschen Hoch-
schule der Polizei (DHPol), Münster
397 29

Materialressourcen
R. Bohnen

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_29, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
398 Kapitel 29 · Materialressourcen

Unabhängig davon ob eine externe oder interne ten Kameraden, der bewusstlos oder nicht mehr
Lösung gewählt wird, sollten die Sanitätskräfte in einsatzfähig ist, benutzt er dessen Material und hat
einer Spezialeinheit immer die gleiche Uniform anschließend beim weiteren Vorgehen immer noch
oder Overall tragen damit es beim Zusammen- sein eigenes Material vollständig zur Verfügung.
wirken mehrerer unterschiedlicher Polizeikräfte Natürlich darf man sich selbst oder das Team wäh-
nicht zur Konfusion kommt und die Zugehörigkeit renddessen nicht in Gefahr bringen. Falls noch eine
nicht erkannt wird, so dass unbeabsichtigt ein direkte Bedrohung besteht, ist ggf. zunächst eine
Feuergefecht (»friendly fire«) entsteht. Auch sollte Deckung aufzusuchen und das Feuer zu erwidern
die entsprechende Schutzausstattung mit Helm, bevor eine medizinische Behandlung stattfindet
Weste, Splitterschutzbrille, Sicherheitsschuhen und (»Care under Fire«).
Handschuhen getragen werden. > Ziel ist eine schnellstmögliche Behandlung
Die Auswahl der medizinischen Ausrüstung oder/und das Verbringen in einen schon
ist nicht nur von der Qualifikation der jeweiligen gesicherten Bereich.
Einsatzkraft abhängig, sondern insbesondere von
den individuellen Gegebenheiten jeder einzelnen Das ausgewählte Material muss sich vorrangig an
Lage. So wird das erforderliche Material bei einem den zu erwartenden Verletzungen und deren mögli-
Einsatz in einem Mehrfamilienhaus anders ausse- chen, lebensbedrohlichen Folgen orientieren, näm-
hen als auf einem Fährschiff mit über 1000 Geiseln. lich Verbluten, Atemwegsobstruktion und Span-
Auch wird man seine Ausrüstung nach Fernbeurtei- nungspneumothorax. Auf weiterführende Instru-
lung von Geiseln hinsichtlich deren Vorerkrankun- mente wie z. B. Blutzuckermessgerät oder Otoskop
29 gen durch gezielte Medikamente oder Geräte erwei- und besondere Wundauflagen kann im ersten An-
tern und anpassen müssen. So würde z. B. für eine satz verzichtet werden, da die umfangreiche sonsti-
herzkranke Geisel sicherheitshalber z. B. ein auto- ge Ausrüstung nur begrenzte Möglichkeiten für
matisch externer Defibrillator (AED) mitgenom- zusätzliches medizinisches Material lässt.
men oder für einen Diabetiker entsprechende
Tipp
Medikamente gegen Hypo- oder Hyperglykämie.
Die Transportgegenstände sollten so gewählt
Jeder Einsatzbeamte sollte in seinem individu-
werden, dass sie die Handlungsfreiheit beider
ellen Erste-Hilfe-Set (IFAK, »individual first-aid
Hände zulassen, um z. B. zunächst vorrangig die
kit«) zumindest ein Tourniquet, einen Druck-
Waffe nutzen zu können. Erst beim Auftreten von
verband, einen Wendl-Tubus, ein Beatmungs-
Verletzten wird die medizinische Ausrüstung ge-
tuch, eine Rettungsdecke und Einmalhand-
braucht und sollte dann modular so gestaffelt sein,
schuhe haben und daran ausgebildet sein. Un-
dass der Zugriff auch abhängig von der Dringlich-
ter Umständen kann es durch einen Okklusiv-
keit unterschiedlich schnell möglich ist d. h. z. B. das
verband (»chest seal«) ergänzt werden.
das Tourniquet unmittelbar in oder an der Weste
getragen wird. Die Einsatzkoffer aus dem Rettungs-
dienst z. B. sind daher ungeeignet. Medics von Spe- Dieses Erste-Hilfe -Set ist bei allen Einsatzkräften
zialeinheiten bevorzugen Beintaschen, Rucksäcke an der gleichen Stelle zu tragen, damit im Ernstfall
oder spezielle Taschensysteme, die sich an die durch Suchen von Material nicht unnötige Zeit ver-
Schutzweste adaptieren lassen oder als Weste über loren geht. Die Medics im Team führen zusätzliches
die Schutzweste getragen werden. Sie können mit Material wie z. B. Hämostyptika, Larynxtubus,
einem Schnellabwurfsystem auch rasch wieder ent- chirurgisches Atemwegsset, Okklusivverband für
fernt werden, wenn die Lage das erfordert. Brustkorbwunden, Entlastungspunktionsnadeln,
Jede Einsatzkraft sollte in der Lage sein, gewisse Materialien zum aktiven und passiven Wärme-
Behandlungsmaßnahmen im Falle einer eigenen erhalt, intravenöse und intraossäre Zugänge, Infu-
Verletzung an sich selber durchzuführen, z. B. ein sionen und Medikamente mit, je nach Ausbildungs-
Tourniquet anzulegen ohne dafür die Hilfe eines stand. Hierfür sind dann zusätzliche Rucksäcke
Kameraden zu benötigen. Trifft er auf einen verletz- oder Taschen erforderlich, die vom jeweiligen Sani-
29 · Materialressourcen
399 29
täter individuell gepackt werden. Ein Polizeiarzt und dem Rettungsdienst übergeben kann. Diese
wird darüber hinaus noch weitere Materialien und eingeschränkten Materialressourcen kommen
Medikamente mitnehmen. umso mehr zum Tragen, wenn es mehrere Verletzte
Alle Materialien werden auch bei Übungen und gibt. Dann werden nicht nur die personellen, son-
Situationstrainings benutzt, um die Handhabung dern insbesondere auch die materiellen Ressourcen
für den Ernstfall immer wieder zu üben und jeder schnell an ihre Grenzen kommen und ausgeschöpft
Handgriff klar ist, ganz nach dem Grundsatz: »train sein. Hier gilt es, eine gute Sichtung vorzunehmen
as you fight«. und eine Behandlungspriorität festzulegen. Und die
Einen weiteren Aspekt stellen Materialien zur größte Gabe heißt: Improvisation! Mit taktischer
Evakuierung dar. Hier sind besondere Bergetücher Medizin kann man keinen Schönheitspreis gewin-
oder Stecktragen im Gebrauch, weil sie sich relativ nen, aber Leben erhalten!
leicht verstauen lassen. Selbstverständlich können
nicht mehr gehfähige Verletzte auch mit speziellen
Tragegriffen durch ein oder zwei Personen ohne
weitere Hilfsmittel getragen werden. Verschiedene
Alternativen (7 Kap. 3 und 5) sind also denkbar und
sollten flexibel vorgehalten und eingesetzt werden,
je nachdem was die Lage zulässt. Jedenfalls muss es
klar sein, das die Evakuierung eine nicht zu unter-
schätzende Belastung für die Einsatzkräfte bedeutet
und nicht nur Zeit, sondern auch personelle Res-
sourcen kostet, die dann für andere Maßnahmen
nicht mehr zur Verfügung stehen.
> Es hat sich gezeigt, dass Patienten schneller
geholfen werden kann, wenn sichere Be-
reiche geschaffen werden, in denen der
Rettungsdienst arbeiten kann, als zeit- und
personalintensiv jeden Patienten zum
Rettungsdienst zu tragen.

Betrachtet man diese einzelnen Aspekte zur Aus-


rüstung, so werden die Unterschiede zum zivilen
Rettungsdienst schnell klar. Die Materialien sind
nicht nur teilweise sehr unterschiedlich zum Ret-
tungsdienst und stammen aus Erfahrungen und
Erkenntnissen der Militärmedizin, sondern sind
hinsichtlich ihrer Ressourcen erheblich einge-
schränkt. Die Transportkapazität ist limitiert, z. T.
durch geringeren Ausbildungsstand aber in erster
Linie auch durch die sonstige umfangreiche polizei-
liche Ausrüstung. Auf die komplette Ausrüstung
eines RTW oder NEF kann nicht zurückgegriffen
werden und in unsichere Bereiche kann in der Regel
nur unter erschwerten Bedingungen oder gar kein
ergänzendes Material nachgeführt werden. Man
muss mit dem auskommen, was man dabei hat und
versuchen, damit den Verletzten zu stabilisieren
damit man ihn in einen sicheren Bereich bringen
401 30

Notkompetenz
R. Bohnen

30.1 Rechtsgrundlage – 402

30.2 Delegation und Notkompetenz – 403

30.3 Fazit – 404

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_30, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
402 Kapitel 30 · Notkompetenz

Im zivilen Rettungsdienst gibt es bis heute keine zu- zen. Damit kann man sich auf diejenigen
verlässige Rechtssprechung zur Aufgabenweisung Maßnahmen berufen, die man im Rahmen
oder Delegation ärztlicher Aufgaben an nichtärzt- seiner Aus- und Fortbildung erlernt hat und
liches Fachpersonal. Stellungnahmen und Veröf- sicher beherrscht.
fentlichungen der Berufsverbände und einschlägi-
ger Juristen betrachten auch immer ausschließlich Mit der Übernahme eines Einsatzes zur medizini-
den Rettungsassistenten als anerkanntes Berufsbild sches Erstversorgung bei einer laufenden Polizei-
und nicht den Rettungssanitäter, der durch seine aktion entsteht für diesen Polizeisanitäter die sog.
deutlich kürzere Ausbildung und die fehlende An- Garantenstellung, d. h. er geht die Verpflichtung
erkennung als Ausbildungsberuf mit noch viel ein, dafür zu sorgen, dass ein bestimmtes Rechts-
weiteren Einschränkungen seiner Tätigkeitsbreite gut, hier das Leben, vor Schäden geschützt wird. Da-
zu rechnen hat. durch ergibt sich auch die Pflicht, die erforderlichen
Maßnahmen vorzunehmen, die in der Ausbildung
vermittelt wurden und die man sicher beherrscht.
30.1 Rechtsgrundlage Wird diese Pflicht nicht erfüllt oder versucht zum
Erfolg zu bringen, macht er sich strafbar durch
Betrachtet man jedoch den Ist-Zustand in deutschen Unterlassen (§ 13 Abs. 1 Strafgesetzbuch, StGB).
Spezialeinheiten, so handelt es sich überwiegend um Übernimmt der Polizeisanitäter seine Funktion
Polizeibeamte mit einer zusätzlichen Qualifikation als medizinischer Erstversorger jedoch, obwohl er
als Rettungssanitäter. Nur selten kommen Beamte diese Funktion aufgrund fehlender Kenntnisse und
mit zusätzlicher Rettungsassistentenausbildung Fähigkeiten nicht erfüllen kann und dies auch hätte
oder Polizeiärzte zum Einsatz. Die Rechtsgrundlage erkennen können, dann muss er sich ein Über-
30 für Rettungssanitäter und -helfer ist in den einzelnen nahmeverschulden vorwerfen lassen und handelt
Ländergesetzen geregelt, in Nordrhein Westfalen fahrlässig. Außerdem muss die Polizeibehörde oder
z. B. über die Ausbildungs- und Prüfungsverord- ein von ihr beauftragter Polizeiarzt die individuelle
nung für Rettungssanitäter und Rettungshelfer Qualifikation der Polizeisanitäter regelmäßig über-
(RettAPO). Danach ist die Ausbildung von Ret- prüfen und dahingehend geeignete Qualitätssiche-
tungssanitätern auf die Patientenbetreuung beim rungsmaßnahmen einführen, um dem Vorwurf
Krankentransport ausgerichtet und auf die Fahrer- des Organisationsverschuldens vorzubeugen, wenn
und Helferfunktion in der Notfallrettung. Das wäre der Polizeisanitäter Notfallpatienten im Einsatz
natürlich für die medizinische Erstversorgung im schädigt.
Polizeieinsatz viel zu wenig. Dennoch wird im Fol- Kommt es während eines Polizeieinsatzes zu
genden Rettungssanitäter und Rettungsassistent als Verletzten und ist kein Polizeiarzt zugegen oder
ein Tätigkeitsfeld zusammengefasst und rechtlich eine Versorgung durch den zivilen Rettungsdienst
nicht weiter differenziert. Für die polizeilichen Ret- nicht möglich, so muss der Polizeisanitäter gemäß
tungssanitäter ist somit die Grauzone bei ihrem me- seiner Ausbildung, Kenntnisse und Fähigkeiten ggf.
dizinischen Handeln noch viel größer, zumal die invasive Maßnahmen vornehmen, wenn andere
Tätigkeit als Rettungssanitäter nicht ihre Hauptauf- Maßnahmen zur Lebenserhaltung nicht ausreichen.
gabe darstellt. Gleichwohl unterliegt ein Polizeibe- Grundsätzlich unterliegen jedoch invasive Maß-
amter, der als Rettungssanitäter handelt, den glei- nahmen, und dazu zählt auch schon das Legen eines
chen rechtlichen Voraussetzungen wie ein Rettungs- peripher-venösen Zugangs, nach Heilpraktikerge-
sanitäter im zivilen Bereich. setz (HeilprG) und der Muster-Berufsordnung für
Ärzte dem Arztvorbehalt. Theoretisch verstößt also
> Nach § 3 Rettungsassistentengesetz (RettAssG) der Polizeisanitäter gegen den Arztvorbehalt bei der
ist es ausdrückliche Aufgabe, lebensrettende Ausübung der Heilkunde. Da jedoch Rettungssani-
Maßnahmen bei Notfallpatienten durchzu- täter und -assistent keine Heilberufe, sondern ärzt-
führen, ohne Art und Umfang dieser Maß- liche Hilfsberufe sind, gilt das Heilpraktikergesetz
nahmen näher zu definieren oder einzugren- für sie nicht. Dennoch machen sie sich nicht nur
30.2 · Delegation und Notkompetenz
403 30
durch unsachgemäße Versorgung, sondern auch wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder
durch bewusst veranlasste Eingriffe in die körperli- Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und
che Unversehrtheit der Körperverletzung schuldig ihm den Umständen nach zuzumuten ist, insbeson-
(§ 223 StGB) und im schlimmsten Fall auch der dere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Ver-
fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB). Erschwerend letzung anderer wichtiger Pflichten, macht sich
kommt noch hinzu, dass es sich beim Polizeibeam- ebenfalls strafbar. Jedes Mal den rechtfertigenden
ten um eine Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB) Notstand (§ 34 StGB) heranzuziehen ist auch nicht
handelt. legitim, denn er gilt nur im o. g. Ausnahmefall und
Die vermeintliche Rechtswidrigkeit dieser medi- kann nicht als Regelbefugnis missbraucht werden.
zinischen Erstversorgung lässt sich entkräften, Bei dem gesetzlichen Auftrag, den die Polizei hat,
wenn die verletzte Person ausdrücklich in die medi- sind die personellen und rechtlichen Rahmenbe-
zinische Maßnahme einwilligt (§ 228 StGB) oder stimmungen zu schaffen.
man bei nicht einwilligungsfähigen bzw. bewusstlo-
sen Personen von einer mutmaßlichen Einwilligung
(§ 677 BGB) ausgehen kann und dann von der be- 30.2 Delegation und Notkompetenz
rechtigten Geschäftsführung ohne Auftrag (§ 680
BGB) spricht. Hinzu kommt noch die Möglichkeit, Um den Polizeisanitäter aus dieser rechtlichen
sich auf den rechtfertigenden Notstand (§ 34 Zwickmühle annähernd zu befreien, bedarf es also
StGB) zu berufen. Dieser Paragraph sagt aus, dass klarer Richtlinien. Diese existieren jedoch noch
wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendba- nicht einmal im zivilen Rettungsdienst und erst
ren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum recht nicht innerhalb einer Polizeibehörde, in der
oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die der Polizeiärztliche Dienst in der Regel nur einen
Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, ganz kleinen Teil der Organisationsstruktur dar-
nicht rechtswidrig handelt, wenn bei Abwägung der stellt. Teilweise versucht man diese wenig zufrie-
widerstreitenden Interessen, namentlich der betrof- denstellende Situation durch Begriffe wie Delega-
fenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen dro- tion oder Notkompetenz zu entschärfen. Dabei be-
henden Gefahren, das geschützte Interesse das be- deutet Delegation, dass eine Reihe von Verrichtun-
einträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch gen, die eigentlich einem Arzt vorbehalten sind, auf
nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die entsprechend aus- oder fortgebildetes nichtärztli-
Gefahr abzuwenden. Dieser Paragraph ist allgemein ches Personal übertragen wird. Der Arzt trägt dann
gültig und nicht nur für Rettungsassistenten oder die Verantwortung für die Anordnung und das
anderes nichtärztliches Fachpersonal. Auf den Para- medizinisch geschulte Personal die Verantwortung
graph 34 kann sich jeder Bürger berufen, auch ein für die ordnungsgemäße Durchführung. Dabei
Polizeivollzugsbeamter. Er sollte allerdings nach- muss der Arzt nicht nur entscheiden ob sich die vor-
weisen können, dass er die angewendete medizini- gesehene Maßnahme zur Delegation überhaupt
sche Maßnahmen im Rahmen einer Schulung sau- eignet und das medizinische Personal auch vom
ber erlernt hat und durchführen kann, dass dies Ausbildungs- und Kenntnisstand zur Übertragung
zertifiziert wurde und einer regelmäßigen Wider- geeignet ist, sondern er muss auch die ordnungsge-
holungsschulung und Rezertifizierung unterliegt mäße Überwachung gewährleisten können. Die
und schriftlich dokumentiert ist. Verantwortung liegt hier also klar beim Arzt.
Egal für welche Maßnahmen sich der Polizei- Dagegen versteht man unter der Notkompe-
sanitäter entscheidet, solange er von seiner Behörde tenz Maßnahmen, die der Lebensrettung und der
oder einer von ihr beauftragten Stelle keine klaren Abwehr schwerer gesundheitlicher Schäden bei
Weisungen und Freigaben bekommt, bewegt er sich Notfallpatienten dienen und auch ohne ausdrück-
entweder im Bereich der Körperverletzung im Amt liche Delegation durch den Arzt in eigener Verant-
und dem Verstoß gegen das Heilpraktikergesetz, wortung durchgeführt werden. Dabei gilt der
wenn er etwas macht, oder der unterlassenen Hilfe- Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass also nur
leistung (§ 223c StGB), wenn er nichts macht. Denn dasjenige Mittel angewendet werden darf, das am
404 Kapitel 30 · Notkompetenz

wenigsten invasiv ist und trotzdem das gleiche Ziel dass bei Notfalleinsätzen das Rettungsassistenten-
erreicht. Zur Notkompetenz gibt es eine Empfeh- gesetz Vorrang vor dem Heilpraktikergesetz haben
lung der Bundesärztekammer für das Berufsbild des kann. Sofern der Rettungsassistent oder Rettungs-
Rettungsassistenten. Hier liegt auch schon wieder sanitäter im Rahmen einer Erstversorgung im Ein-
die Problematik, denn die meisten Polizeibeamten satz eine invasive medizinische Maßnahme be-
mit medizinischer Zusatzqualifikation sind keine herrscht und auch mögliche Komplikationen, die
Rettungsassistenten sondern Rettungssanitäter. damit einhergehen könnten, sicher erkennen und
Außerdem stellt diese Empfehlung für die Rechts- behandeln kann und insofern ein Notarzt nachalar-
pflege lediglich eine unverbindliche rechtliche Ein- miert wurde oder der Verletzte innerhalb einer ver-
ordnung dar. Die Berufung auf die Notkompetenz tretbaren Zeit einem Arzt zugeführt wird, sollte es
knüpft die Bundesärztekammer dabei an gewisse gesetzlich geregelt werden, dass diese Handlung
Voraussetzungen. So muss der Rettungsassistent am keinen Straftatbestand darstellt.
Notfallort auf sich alleine gestellt und ärztliche Hilfe
nicht rechtzeitig erreichbar sein. Zudem müssen die
Maßnahmen, die der Rettungsassistent aufgrund 30.3 Fazit
eigener Diagnosestelllung und therapeutischer Ent-
scheidung durchführt, zur unmittelbaren Abwehr Insgesamt betrachtet sind also die rechtlichen Rah-
von Gefahren für das Leben oder die Gesundheit menbedingungen für den medizinisch handelnden
des Notfallpatienten dringend erforderlich und das Polizeibeamten aktuell sehr schwierig. Für die me-
gleiche Ziel durch weniger eingreifende Maßnah- dizinische Erstversorgung im Polizeieinsatz und
men nicht erreichbar sein. insbesondere dann, wenn durch den besonderen
Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt und die Verlauf der Lage der Einsatz von zivilem Rettungs-
30 Hilfeleistung nach den besonderen Umständen des dienst nicht möglich ist, ist jedoch die medizinische
Einzelfalles für den Rettungsassistenten zumutbar Ausbildung von Polizeikräften oder die taktische
sind, gewährt die Bundesärztekammer dem Ret- Ausbildung von freiwilligen Rettungsdienstkräften
tungsassistenten im Rahmen der Notkompetenz zwingend erforderlich, um den Anforderungen der
4 die Durchführung der Intubation, Polizeidienstvorschriften gerecht werden zu kön-
4 die Venenpunktion, nen. Die medizinische/ärztliche Versorgung durch
4 die Gabe kristalloider Infusionen sowie eigene Spezialkräfte ist der Inanspruchnahme ande-
4 ausgewählter Medikamente und die Früh- rer medizinischer Fachdienste vorzuziehen. Daher
defibrillation. ist es unabdingbar, dass die Polizeien von Bund
und Ländern mit ihren polizeiärztlichen Diensten
Dies setzt eine adäquate Ausbildung, Fortbildung Konzepte entwickeln, Aus- und Fortbildungspro-
und Überwachung des nichtärztlichen Personals gramme festlegen, die notwendige Ausstattung be-
voraus, und ein weisungsbefugter Arzt muss dieses schaffen und insbesondere für die Spezialeinheiten
Wissen und Können regelmäßig überprüfen. verantwortliche Polizeiärzte bestimmen, die die
Für Rettungsassistenten und insbesondere auch Notkompetenz individuell für den eingesetzten Be-
für Rettungssanitäter bedeuten diese einzelnen amten bestimmen und die Qualitätssicherung über-
Feststellungen eine unzuträgliche Rechtsunsicher- nehmen. Darüber hinaus sollten auch die verant-
heit. Hier ist dringend die Gesetzgebung gefordert, wortlichen Polizeiärzte selber in die Lage versetzt
diese Unsicherheit zu beseitigen. Als ein kleines werden, bedeutende Polizeieinsätze notärztlich be-
Signal in die richtige Richtung gilt diesbezüglich gleiten zu können und die dafür erforderliche poli-
u. a. ein Gerichtsurteil des Arbeitsgerichtes Koblenz zeitaktische Ausbildung und Ausrüstung erhalten.
vom 7.11.2008 (Az 2 Ca 1567/08), wonach die frist- Dabei sollten die Polizeiärzte die zum Sanitäter fort-
lose Kündigung eines Rettungsassistenten, der im gebildeten Polizeibeamten nicht als Konkurrenz
Einsatz wiederholt eigenverantwortlich Medi- ansehen, sondern als wertvolle Unterstützung für
kamente verabreicht hatte, für unwirksam erklärt spezielle Lagen. Außerdem muss man einsehen,
wurde. Erstmals wurde hier gerichtlich entschieden, dass man selbst Laien und erst Recht Rettungssani-
30.3 · Fazit
405 30
tätern und Rettungsassistenten spezielle Maßnah-
men, die Leben retten, sicher beibringen kann und
man als Arzt, durch die höhere wissenschaftliche
Ausbildung und Erfahrung, zur Aus- und Fortbil-
dung dieser Polizeisanitäter und zur Qualitätssiche-
rung beitragen kann. Auch muss das Rad nicht neu
erfunden werden. Es gibt wissenschaftlich fundierte
Guidelines in der taktischen Medizin, die ein klares
Vorgehen und einen einheitlichen Behandlungs-
algorithmus vorgeben. Diese Guidelines und Algo-
rithmen sind national und international anerkannt.
Die TREMA e.V. bietet beides in deutscher Sprache
an.
Die Verantwortung für die medizinische Erst-
versorgung liegt ganz eindeutig bei der Polizeifüh-
rung bzw. den Leitern der Polizeiärztlichen Dienste.
Die Motivation auf Seiten der Polizeibeamten, sich
medizinisch fortzubilden und Verantwortung für
die medizinische Erstversorgung zu übernehmen,
ist vorhanden.
407 31

Internationaler Vergleich
und Ausblicke
R. Bohnen, J. Höfner

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_31, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
408 Kapitel 31 · Internationaler Vergleich und Ausblicke

Betrachtet man in der Bundesrepublik Deutsch- Spezialeinsatzkommandos (SEK) der Bundesländer


land die einzelnen Strafverfolgungsbehörden im das SEK Baden-Württemberg. Als assoziierte Mit-
Hinblick auf ihre Kenntnisse und Fähigkeiten im glieder zählen die Schweiz und Norwegen.
Bereich der taktischen Notfallmedizin, so findet Im Oktober 2011 wurde innerhalb der ATLAS-
man sehr große Unterschiede. In einzelnen Berei- Kooperation eine Projektgruppe »Medic« gegrün-
chen gibt es dahingehend noch gar nichts, in ande- det – unter der Führung von Ungarn, Deutschland,
ren Bereichen hat man in den letzten Jahren schon Schweden, Finnland und den Niederlanden. Im
gute Fortschritte erzielt. Von einem einheitlichen November 2011 fand ein Expertentreffen der Mit-
Standard hinsichtlich Vorgehensweisen, Ausrüs- gliedseinheiten statt, bei dem zunächst der Ist-
tung oder Ausbildung ist man also noch meilenweit Zustand hinsichtlich der Fähigkeiten zur medizini-
entfernt. Hier sind nicht nur die unterschiedlichen schen Erstversorgung im Einsatz festgestellt wurde.
Rahmenbedingungen in den einzelnen Bundeslän- Danach haben einige Einheiten gar keine Vorkeh-
dern als Ursache zu nennen, sondern auch häufig rungen zu dieser Thematik getroffen, nur wenige
Unkenntnis und Unwillen in den Entscheidungs- verfolgen die externe Lösung und die meisten die
ebenen. Der Bedarf wird zum Teil nicht erkannt interne Lösung (7 Kap. 26.3), wobei auch hier die
(oder will nicht erkannt werden), »Angst vor Unterschiede sehr groß sind: vom Sanitäter bis hin
Neuem«, rechtliche Unsicherheiten bei der Durch- zur Arztbegleitung bei jedem Einsatz. Trotz dieser
führung von medizinischen Maßnahmen durch großen Unterschiede und auch der allgemein unter-
nichtärztliches Personal, der zu erwartende Aus- schiedlichen Rahmenbedingungen und rechtlichen
bildungs- und damit auch Arbeitsaufwand und Gegebenheiten in den einzelnen EU-Ländern hat
natürlich auch die immer mehr eingeschränkte man es während dieses nur dreitägigen Treffens
Haushaltslage sind hier nur einige Gründe. geschafft, einen Konsens zu erwirken, was man in
Betrachtet man diesen Zustand in der Bundes- Zukunft von jeder einzelnen Einsatzkraft (egal ob
republik Deutschland im internationalen Vergleich, Präzisionsschütze, Techniker, Entschärfer usw.) als
so muss man nur auf die Ebene der Europäischen Basis-Erste-Hilfe-Maßnahme erwarten können
31 Union (EU) schauen und stellt fest, dass es auch an- muss (. Tab. 31.1).
ders gehen kann. Als Reaktion auf die Terroran- Hierzu werden nun auf EU-Ebene in gemein-
schläge vom 11. September 2001 auf das World samen Ausbildungsworkshops entsprechende
Trade Center in New York wurde auf EU-Ebene als Multiplikatoren aus jedem Land geschult, die das
Maßnahme zur Bekämpfung des internationalen Erlernte dann in ihren Einheiten weitergeben, so
Terrorismus im Oktober 2001 der sog. ATLAS- dass es in der ATLAS-Kooperation bis 2014 einen
Verbund gegründet. Hierbei handelt es sich um einheitlichen Standard für die traumatologischen
ein Forum von Spezialeinheiten aus allen Mitglieds- Basismaßnahmen geben wird. Als nächster Schritt
staaten der Europäischen Union mit dem Ziel, soll dann ein gemeinsamer Standard für den Sanitä-
die operative Zusammenarbeit zwischen den ter im Team definiert werden, der weitergehende,
Mitgliedsstaaten und Dritten zu verbessern sowie auch invasive Maßnahmen beinhalten wird. So wird
koordinierte Maßnahmen zwischen den Mitglieds- die notfallmedizinische Kompetenz in den einzel-
staaten zu implementieren, um ein hohes Sicher- nen Einheiten der EU-Länder Schritt für Schritt,
heitsniveau garantieren zu können. Dabei wird die aber unter einem einheitlichen Standard, erhöht.
ATLAS-Kooperation selbst nicht operativ tätig, Diese Entwicklung auf EU-Ebene hat in kurzer
sondern schafft durch organisatorische Grundlagen Zeit stattgefunden, trotz der großen Unterschiede
sowie durch eine Weiterentwicklung in Taktik und verfassungsrechtlicher, gesetzgeberischer und auch
Technik die Voraussetzung für eine multinationale sonstiger Art in den einzelnen Mitgliedsländern
Angleichung der Leistungsspektren von Spezial- und trotz der Tatsache, dass man sich sogar buch-
einheiten innerhalb der EU. Zur Zeit gehören 36 stäblich erst einmal auf eine gemeinsame Sprache
Spezialeinheiten aus 28 Mitgliedsstaaten zur AT- zur Kommunikation einigen musste. So muss man
LAS-Kooperation; aus Deutschland sind dies die sich schon ernsthaft fragen, warum es in Deutsch-
GSG 9 der Bundespolizei und stellvertretend für die land auf Ebene der Strafverfolgungsbehörden, z. B.
31 · Internationaler Vergleich und Ausblicke
409 31

. Tab. 31.1 Definierter Standard für notfallmedizinische Basismaßnahmen, die durch jede einzelne Einsatzkraft einer
Spezialeinheit der ATLAS-Kooperation beherrscht werden können sollte. (Einzig für den Nasopharyngeal-/Wendl-
Tubus konnte kein Konsens gefunden werden, so dass die Anwendung dieses Hilfsmittels jede Nation/Spezialeinheit
für sich entscheiden muss.)

Situation Basismaßnahmen durch jede einzelne Einsatzkraft

Massive Blutung von Anwendung eines Tourniquet


Extremitätenwunden
Direkter und indirekter Druck

Anlegen eines Notfall-Druckverbandes

Thoraxverletzung Okklusivverband (»chest seal«)


und Spannungs-
Kenntnisse und Erkennen der Symptome eines Spannungspneumothorax
pneumothorax

Atemwegsprobleme Stabile Seitenlage

Kopf überstrecken

Atemwegsöffnung mittels Esmarch-Handgriff oder ähnliche Manöver

Sonstige Kenntnisse über TCCC, TEMS (7 Kap. 8 und 27)


Maßnahmen
Kenntnisse und Anwendung des Algorithmus <C>ABCDE (7 Kap. 9)

Schleiftechniken zur Entfernung eines Verletzten aus dem unsicheren Bereich (7 Kap. 5)

Body check

Vorsichtung

Erkennen von und Maßnahmen gegen Hypothermie

Vorsichtung (Behandlungspriorität festlegen, wenn noch kein Arzt oder Sanitäter vor Ort ist)

Dokumentation (sog. MIST-Report: mechanism, injury, symptoms, treatment)

Basic-Life-Support

Kardiopulmonale Reanimation (CPR)

Anwendung eines automatisierten externen Defibrillators (AED)

innerhalb der Polizei, und noch nicht einmal auf Hilfe-Ausbildung ausrichten. Dabei ist die bisherige
Ebene der Spezialeinheiten möglich ist, solche Stan- Erste-Hilfe-Ausbildung (7 Kap. 24.2) als Basis abso-
dards festzulegen, eine einheitliche Ausbildung und lut sinnvoll. Sie sollte aber durch die Erfordernisse
auch Angleichung der Ausrüstung zu ermöglichen, des jeweiligen Einsatzes ergänzt werden und
obwohl man immerhin die deutsche Sprache schon ggf. auch Elemente und Materialien der taktischen
einmal als gemeinsame Grundlage hat. Medizin enthalten (. Tab. 31.2).
Dabei muss man natürlich gerade im Hinblick So benötigt z. B. der Polizeibeamte im Füh-
auf Ausbildung und Ausrüstung differenzieren. rungsstab oder in einer Einsatz- und Lagezentrale
Nicht jeder Polizeivollzugsbeamte benötigt eine voll keine weiterführende Ausbildung. Der Streifenbe-
umfassende Ausbildung in taktischer Notfallmedi- amte jedoch, der als ersteintreffende Kraft jederzeit
zin. Hier sollte man sich am jeweiligen Einsatz- z. B. mit dem Thema Amok, häusliche Gewalt und
spektrum orientieren, die dabei zu erwartende Ge- Widerstandshandlungen konfrontiert werden kann,
fährdung mit den daraus resultierenden Verlet- muss eine höhere Kompetenz und Kenntnis für
zungsmustern analysieren und darauf die Erste- Schuss- und Explosionsverletzungen haben und
410 Kapitel 31 · Internationaler Vergleich und Ausblicke

. Tab. 31.2 Empfehlungen zu einer differenzierten Erste-Hilfe-Ausbildung für Polizeivollzugsbeamte in Abhängig-


keit ihres Einsatzschwerpunktes. Darüber hinaus sollte jeder Polizeivollzugsbeamte über die standardisierte Erste-
Hilfe-Ausbildung (einschließlich CPR, AED) verfügen, die während der Laufbahnausbildung (30 UE) stattfindet und
alle 2 Jahre (8 UE) aufgefrischt wird. CPR kardiopulmonale Reanimation, AED automatisierter externer Defibrillator,
PVB Polizeivollzugsbeamter, UE Unterrichtseinheiten, RS Rettungssanitäter, RA Rettungsassistent

Einsatz- Zusätzliche Weiterbil- Unterrichts- Auffrischung Zusätzliches Material


schwerpunkt dung einheiten (UE)

PVB im Stab Nicht erforderlich – – –


o. ä. (schadet aber auch nicht)

Streifen- Taktische Medizin mit 8 UE Jährlich 8 UE Tourniquet


beamter Schwerpunkt Schuss- Notfallverband
und Stichverletzungen Rettungsdecke

Bereitschafts- Taktische Medizin mit 16 UE Jährlich 8 UE Tourniquet


polizei Schwerpunkt stumpfe Notfallverband
und spitze Verletzungen Brandwundenverbandpäckchen
sowie Brandwunden Rettungsdecke

Personen- Taktische Medizin mit 16 UE Jährlich 8 UE Tourniquet


schutz Inland Schwerpunkt Schuss-/ Notfallverband
Stich- und Explosions- Okklusivverband (»chest seal«)
verletzungen AED

Personen- Taktische Medizin mit 30 UE Jährlich Tourniquet


schutz Ausland Schwerpunkt Schuss-/ 16 UE Notfallverband
Stich- und Explosions- Okklusivverband (»chest seal«)
verletzungen Wendl-Tubus

31 Rettungsdecke
Ggf. »pill pack«
Verletztenanhängekarte
AED

PVB Taktische Medizin mit 16 UE Halbjährlich Tourniquet


Spezialeinsatz- Schwerpunkt Schuss-/ 8 UE Notfallverband
kommando Stich- und Explosions- Okklusivverband (»chest seal«)
verletzungen Wendl-Tubus
Rettungsdecke

PVB Taktische Medizin mit 40 UE Halbjährlich Tourniquet


Spezialeinsatz- Schwerpunkt Schuss-/ (und für jede zu 16–40 UE Notfallverband
kommando Stich- und Explosions- delegierende Hämostyptika
mit Zusatz- verletzungen invasive Maßnah- Wendl-Tubus
qualifikation me entsprechend Alternative Intubationsmittel
RS/RA weitere UE Chirurgischer Atemweg
Dokumentation!) Okklusivverband (»chest seal«)
Thoraxentlastungspunktion
i.v. Zugang
i.o. Zugang
Volumensubstitution
Analgesie
Wärmeerhalt
AED
31 · Internationaler Vergleich und Ausblicke
411 31
auch zumindest den Umgang mit einem Tourniquet Dabei soll die Polizei natürlich nicht den Ret-
beherrschen (7 Kap. 7). Ein Beamter der Bereit- tungsdienst ersetzen oder mit ihm durch eigenes
schaftspolizei, der bei Fußballspielen und Demons- ausgebildetes Fachpersonal konkurrieren. Die Poli-
trationen eingesetzt ist, wird mit Steine- und Fla- zei schließt damit lediglich die Lücke in der soforti-
schenwerfern, bengalischem Feuer oder Molotow- gen medizinischen Versorgung, bis der Rettungs-
Cocktails konfrontiert und sollte mit stumpfen und dienst den Verletzten übernehmen und gewohnt
spitzen Verletzungsmustern sowie Brandverletzun- professionell weiterversorgen kann.
gen umgehen können. Ein Entschärfer benötigt zu-
sätzliche Kenntnisse und Kompetenz im Umgang
mit Explosionsverletzungen genauso wie man auch
für Personenschützer, Flugsicherheitsbegleiter (sog.
Sky Marshals) und andere Spezialisierungen inner-
halb der Polizeibehörden die zu erwartenden Ge-
fahren und Verletzungsmuster analysieren und die
Ausbildung danach ausrichten muss. Insbesondere
sind hier natürlich auch Beamte von Spezialeinhei-
ten zu nennen. Ihr Aufgabenschwerpunkt ist das
Vorgehen gegen schwere Gewaltkriminalität und
Terrorismus und sie sind im täglichen Einsatz
Schusswaffengewalt und anderen Gefahren ausge-
setzt. Daher sollte hier die Selbst- und Kameraden-
hilfe einen besonders hohen Stellenwert einneh-
men. Sehr häufig benutzen diese Einheiten zwar bei
kurzen Einsatzlagen die »Stand-by-Methode«
(7 Kap. 28.1), aber auch das Nachrücken eines zivi-
len Rettungswagens, der zwei Häuserblocks ent-
fernt bereitgestellt wurde und dessen Besatzung ggf.
erst noch in den 4. Stock eines Mehrfamilienhauses
laufen muss, kostet wertvolle Zeit, die je nach Ver-
letzungsmuster durch eigene Kollegen schon sinn-
voll genutzt werden kann.
> Aufgrund der hohen Gefährdung der Beam-
ten von Spezialeinheiten ist neben einer
Basisausbildung in Erster Hilfe einschließlich
taktischer Medizin für alle Teammitglieder
auch die zusätzliche Weiterqualifikation
eines oder mehrerer Beamten zu Rettungs-
sanitätern zu empfehlen.

Die standardisierte Ausbildung zum Rettungssani-


täter mit Abschlussprüfung gibt dem Beamten die
nötigen anatomischen, physiologischen und medi-
zinischen Grundlagen, auf die dann polizeiintern
mit Weiterbildungen zur taktischen Medizin aufge-
baut werden kann.
413 32

Besondere Einsatzlagen –
Amok
J. Höfner, K. Ladehof, J. Stocker

32.1 Einleitung – 414

32.2 Grundsätze – 414

32.3 Erstversorgung und Rettung – 415


32.3.1 Personelle Optionen – 415
32.3.2 Vorgehensweise im Objekt – 417
32.3.3 Raumordnung/Annäherung – 420
32.3.4 Materielle Vorbereitung – 421

32.4 Taktisch-operative Einsatzleitung – 422

32.5 (Strategisch-)planerische Vorbereitungen – 422

32.6 Zusammenfassung – 423

32.7 Beispiel für ein BOS-übergreifendes Trainings-


und Einsatzkonzept – 424
32.7.1 Ziel des gemeinsamen Konzeptes – 424
32.7.2 Umsetzung des Konzeptes – 424
32.7.3 Rechtsvorschriften – 424
32.7.4 Einsatzkonzept und Training für »besondere Einsatzlagen« – 424
32.7.5 Fazit und Ausblick – 431

Literatur – 431

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_32, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
414 Kapitel 32 · Besondere Einsatzlagen – Amok

32.1 Einleitung 32.2 Grundsätze

Es gibt keine einheitliche Definition für das Phäno- J. Höfner, K. Ladehof


men Amok. Sehr häufig wird angeführt, dass es > Die entscheidenden Leistungen bei einer
meistens ein Einzeltäter ist, der versucht, wahllos Amoklage sind die initiale Raumordnung un-
möglichst viele Menschen mit unterschiedlichen ter Berücksichtigung der Bedrohung, die Ab-
Waffen zu verletzen. Oft wird versucht, Ablauf der wendung der Gefahr sowie die essenziellen
Tat sowie Hintergründe und Psychologie des Täters Erstversorgungsmaßnahmen. Diese müssen
zu berücksichtigen. Für das Vorgehen in der takti- primär von den lokalen Kräften, also den erst-
schen Medizin ist jedoch lediglich ein Sachverhalt eintreffenden Beamten des Streifendienstes
entscheidend: Mindestens ein Täter ist wahrschein- und – eingeschränkt – den ersten Rettungs-
lich noch aktiv und er verletzt oder tötet weiterhin mitteln erbracht werden. Spezialkräfte oder
Menschen. andere Spezialisten treffen in der Regel dafür
Es geht in diesem Kapitel um die Versorgung zu spät ein.
von Verletzten unter Bedrohung und es ist dabei
auch nicht notwendig, Amoktaten völlig losgelöst Geht man von einem aktiven Täter aus, der wahr-
von der sonstigen Planung für Bedrohungslagen zu scheinlich weiterhin andere Menschen verletzt oder
betrachten. Eine Besonderheit bei Amokläufen ist tötet, hat die Polizei (Pol) den Handlungszwang
vor allem die Dynamik der Bedrohung, ohne einen diese Gefahr abzuwenden. Die einhellige Taktik in
schnell identifizierbaren Ausgangspunkt bzw. fest dieser Situation ist das Finden und Binden des Täters,
lokalisierbaren »Herd« zu haben. Die Arten mögli- d. h. der Auftrag besteht darin, den Täter zu stellen
cher Bedrohungen sind vielfältig. Die von den Tä- oder zumindest seinen Aktionsradius einzuengen,
tern eingesetzten Waffen reichten bei den Amok- um weitere Gewalttaten zu unterbinden. Hier wird
läufen der letzten Jahrzehnte von Stich- und Hieb- von den ersten eintreffenden Streifenbesatzungen
waffen über unterschiedlichste Schusswaffen bis hin der Polizei erwartet, dass sie ein hohes Eigenrisiko
zu unkonventionellen Spreng- und Brandvorrich- eingehen. Diese, meist als »Contact-« bzw. Inter-
tungen (USBV). Auch der Versuch, eintreffende ventionsteam bezeichneten Kräfte dringen unter
32 Kräfte z. B. durch Spreng- oder Stromfallen zu schä- gegenseitiger Sicherung in den Gefahrenbereich
digen, ist bereits vorgekommen. (heiße Zone) vor. Die Teams mit dem Auftrag Fin-
In diesem Kapitel werden ausschließlich mögli- den und Binden sind auf den Täter fixiert und kön-
che Vorgehensweisen in der polizeilichen und ret- nen sich daher nicht um verletzte Personen küm-
tungsdienstlichen Reaktion auf die Tat selbst darge- mern. Durch dieses täterorientierte Vorgehen wird
stellt. Entscheidend bei der weiteren Beschäftigung das Ziel verfolgt, ihn daran zu hindern, weitere Per-
mit der Thematik sind natürlich die Prävention, die sonen zu verletzen oder zu töten.
unterschiedlichste Möglichkeiten von der Stärkung Leicht zeitlich versetzt, wird der zweite Auftrag
der Rolle des schulpsychologischen Dienstes bis hin erteilt, die Evakuierung. Polizeibeamte bringen die
zu infrastrukturellen Maßnahmen umfasst, die Personen aus dem Gefahrenbereich des Täters in
frühzeitige Erkennung möglicher Täter und die der heißen oder warmen Zone in Sicherheit – die
Schulung potenziell Betroffener. Ein gutes Beispiel »kalte Zone«. Neben dem Auftrag, die Personen
dafür ist das »Active Shooter Booklet« des US-De- vor dem Täter zu schützen, haben sie auch die erste
partment of Homeland Security [1]. Versorgung der Verletzten vorzunehmen. Diese
Kräfte werden häufig als »Rescue«- oder Ret-
tungsteam bezeichnet. Durch dieses opfer- und
unbeteiligtenorientierte Vorgehen wird das Ziel
verfolgt, die Opferzahlen zu minimieren und eine
Verschlechterung des Gesundheitszustandes der
Verletzten zu verhindern.
32.3 · Erstversorgung und Rettung
415 32

. Tab. 32.1 G-BEET- und THREAT-Algorithmus

G Gefahr abwenden (Pol)/vermeiden (RettDst) T Threat suppression

B Blutungen stillen H Hemorrhage control

E Evakuierung/Crashrettung RE Rapid Extrication

E Erstversorgung durch Medic/RettDst A Assessment by medical providers

T Transport ins Krankenhaus T Transport to definitive care

Alle zur Evakuierung eingesetzten Kräfte müs- 32.3 Erstversorgung und Rettung
sen auch in der Lage sein, notfallmedizinische Ba-
sismaßnahmen, insbesondere Blutstillung und J. Höfner, K. Ladehof
Atemwegssicherung durch stabile Seitenlage,
durchzuführen. 32.3.1 Personelle Optionen
» »While efforts to isolate or stop the active
Bei beiden Aufträgen gibt es in Deutschland keine
shooter remain paramount, early hemorrhage
gesetzliche Verpflichtung, dass der öffentliche Ret-
control is critical to improving survival.” [2].
tungsdienst hier mitwirkt. Der Rettungsdienst ist
Ein sinnvoller Ausrüstungsumfang wird weiter un- erst zur Notfallversorgung in der kalten Zone ver-
ten (7 Abschn. 32.3.4) bzw. in 7 Kap. 29 und im De- pflichtet (7 Kap. 26), d. h. die Polizei hat eine medi-
tail in 7 Kap. 3 beschrieben. zinische Kompetenz sowohl im Abschnitt Finden
Die Kernpunkte der Vorgehensweise werden und Binden als auch im Abschnitt Evakuierung vor-
mit dem G-BEET- bzw. THREAT-Algorithmus [2, 3, 4] zuhalten, die interne Lösung (7 Kap. 28.3).
beschrieben (. Tab. 32.1). Wie dargestellt geht es beim ersten Auftrag
Abhängig von der Bewertung des Risikos durch primär um Selbst- und Kollegenhilfe bzw. die Ver-
eine potenzielle Bedrohung muss analog zu einer sorgung von Opfern erst, nachdem der Täter festge-
Care-under-Fire-Lage (7 Kap. 8) auch abgewogen nommen werden konnte – ggf. des Täters selbst,
werden, ob nicht einmal die Anlage eines Tourni- wenn er bekämpft werden musste. Es besteht
quets unmittelbar möglich ist, da sie den Retter die Möglichkeit, dass sich Rettungsdienstkräfte fin-
unverhältnismäßig gefährden würde. In diesem den, die in der warmen oder heißen Zone arbeiten
Fall wäre die Merkhilfe orthographisch korrekt würden. Diese externe Lösung (7 Kap. 28.3) beruht
»GEBET«. aber nur auf einer Freiwilligkeit des Rettungsdiens-
Unter Umständen ist nicht einmal eine Annähe- tes und bindet weitere Polizeibeamte, die die Ret-
rung an das Opfer möglich und ein »remote assess- tungsdienstmitarbeiter schützen.
ment« (7 Kap. 8) wird durchgeführt, um eine Nut- Hier wird sehr häufig diskutiert, dass mittels
zen-Risiko-Abwägung des Rettungsversuches einer Sandwich-Methode, Schildkrötentaktik oder
vornehmen zu können [5]. (Das Opfer liegt zum Diamantformation, Rettungsdienstmitarbeiter von
Beispiel im unmittelbaren Wirkungsbereich eines der Polizei geschützt in die warme Zone geführt
Täters mit einer Präzisionswaffe.) werden. Dies ist eine Kräftemischung, die generell
problembehaftet ist (. Tab. 32.2). Der Rettungs-
dienst, der für diesen Auftrag nicht vorgesehen ist,
muss gesichert werden, idealerweise nach allen Sei-
ten. Die Standardausrüstung des Rettungsdienstes
(Notfallrucksack/Notfallkoffer) ist mit Verband-
mitteln und Medikamenten für nur einen oder zu-
mindest wenige Patienten ausgestattet. Durch die
416 Kapitel 32 · Besondere Einsatzlagen – Amok

. Tab. 32.2 Beispiele für die unterschiedliche Betrachtung und Bewertung der Situation

Polizei Rettungsdienst

Bedrohung Finden und Binden Eigene Sicherheit/Abstand, Koppeln mit und


Führung durch Polizei

Einsatzort »Objekt«; Abriegeln der warmen Zone; Gefahrenzone, außerhalb des Sicht- und damit
täterorientiertes Vorgehen Wirkungsbereiches bleiben

Sammlung nach- Kräftesammelstelle Bereitstellungsraum, evtl. (temporärer) Verfü-


rückender Kräfte gungsraum

Aufgaben in der Auftrag 1: Finden und Binden, Abriegeln/ Aufbau von (Führungs- und Aufnahme-)Struk-
Anfangsphase Schutz nach außen turen (PA/BHP); Vorbereitung Stabilisierung u.
Sobald ausreichend Kräfte für Auftrag 1 (ggf. Früh-) Transport
eingetroffen: Einsatz von Teams in der warmen Zone erwägen
Auftrag 2: Evakuierung aus dem und/oder u. mit Polizei besprechen
Verletztenversorgung im Gefahrenbereich

Weitere Aufgaben Tatortarbeit, Feststellung »Vollständigkeit«, Betreuung, Angehörige aufklären und bestmög-
Zeugen-, evtl. Beschuldigten-Vernehmung lich beruhigen, KIT/PSNV

Unbekannte Möglicher Täter? Potenzielle Gefährdung, Patient! Verletzungen? Gute Arbeitsmöglich-


Person ggf. Fesselung keiten (Platz, Licht), Eigenschutz

PA = Patientenablage, BHP = Behandlungsplatz, KIT = Kriseninterventionsteam, PSNV = Psychosoziale Notfallver-


sorgung

sperrige Ausrüstung ist der Rettungsdienst langsam ren Rahmenlage und Gesetzgebung betrachtet wer-
und nicht besonders beweglich, so dass er viel An- den – z. B. hinsichtlich Waffenbesitz oder der Mög-
32 griffsfläche bietet, die personalintensiv geschützt lichkeit auch in Nebentätigkeit »sworn police of-
werden muss. Dies sollte vor dem Einsatz der exter- ficer« zu werden [4, 6, 7].
nen Lösung bedacht werden und alle Beteiligten In Reaktion auf die zunehmenden Häufigkeit
müssen sich über diese Schwierigkeiten klar sein. Ist von »active shooter events« hat 2013 eine Experten-
die externe Lösung aber in der jeweiligen Situation gruppe unter Federführung der Amerikanischen
die vermutlich bessere Variante, so kann sie nach Chirurgenvereinigung (American College of Surge-
Beurteilung durch die Führung von Polizei und Ret- ons) und der Bundespolizei (Federal Bureau of In-
tungsdienst trotz der genannten Problemfelder vestigation, FBI) und beraten durch das Militär
durchgeführt werden. (CoTCCC, 7 Kap. 1) in zwei Konferenzen in Hart-
In den USA wird diese Möglichkeit häufig um- ford, Connecticut, gemeinsame Empfehlungen zur
gesetzt, dann jedoch eben auf der Basis fester Ko- Vorbereitung auf solche Ereignisse entwickelt. Die
operationen bzw. Zuordnung von Rettungsdienst- beiden Kernpunkte sind die Befähigung aller Ein-
personal zu einzelnen Einheiten. Diese erhalten im satzkräfte zur schnellen Blutstillung und die nur
Regelfall aber auch eine mehr oder weniger um- BOS-übergreifend mögliche, erfolgreiche Bewälti-
fangreiche taktische Ausbildung sowie eine Schutz- gung der Lage [2].
ausstattung analog zu den begleiteten Kräften ein- Im zweiten »Hartford Consensus« werden de-
schließlich Schutzweste, Helm und oft auch Bewaff- tailliertere Forderungen gestellt und Vorgehenswei-
nung. Gemeinsame Übungen bzw. regelmäßige sen zur Umsetzung beschrieben. Unter anderem
Einsatzbegleitung bei entsprechendem Bedro- wird gefordert, dass »traditionelle Rollenbeschrän-
hungspotenzial festigen diese Zusammenarbeit. kungen« überdacht werden müssen und eben ange-
Dies muss jedoch vor dem Hintergrund einer ande- strebt werden muss, dass der Rettungsdienst »vor-
32.3 · Erstversorgung und Rettung
417 32
geschobener« eingesetzt werden kann (»It is no Polizei und Rettungsdienst, die versucht, analog
longer acceptable to stage and wait for casualties to zum weiter unten dargestellten Waiblinger Praxis-
be brought out to the perimeter.«) [3]. beispiel, Begrifflichkeiten zu vereinheitlichen, die
Im Idealfall sollten also beide Lösungen für den Grundmaßnahmen im Vorgehen beschreibt und
jeweiligen BOS-Bereich in gemeinsamen Konzepten die als Option (!) auch den – freiwilligen und poli-
ausgeplant, personell (Zusatzausbildung) und mate- zeigeschützten – Einsatz des Rettungsdienstes im
riell (angepasste und modulare Ausstattung) vorbe- »warmen Bereich« vorsieht. Es wurde nach gemein-
reitet und dann intensiv trainiert werden. Erst nach samer Erprobung jetzt begonnen, die Verfahren in
der erfolgreichen Erprobung der unterschiedlichen der Fläche zu schulen und gemeinsam zu üben.
Lösungen in Vollübungen können sie seriös in einer > Es ist egal, ob man einen Polizeibeamten in –
realen Lage zur Anwendung kommen. Dies wurde taktischer – Rettungsmedizin weiterbildet
bereits in der Auswertung des Einsatzes beim Co- oder Rettungsdienstmitarbeitern einsatztak-
lumbine High School Shooting 1999 als ein Kern- tische Grundkenntnisse vermittelt sowie wei-
punkt herausgestellt [8]. Lediglich die Vorhaltung tere Voraussetzungen schafft, um sie in der
einiger, zusätzlicher Schutzwesten ist vielleicht ein warmen Zone begleitet einsetzen zu können:
guter Anfang, sie wird jedoch hinsichtlich angepass- Diese Zusatz- bzw. Doppelqualifikation wird
ter Größen, sinnvoller Gewöhnung des Trägers und nur einen Vorteil bringen, wenn auch unter
konkreter Sicherstellung ihrer rechtzeitigen Verfüg- hohem Stress der Primärauftrag beherrscht
barkeit im Einsatz an ihre Grenzen stoßen. Wenn sie und nicht vergessen wird.
jedoch in ausreichender Menge und angepasst an
eine für diesen Eventualfall fest vorgesehene, freiwil- Komplexität der BOS-Zusammenarbeit
lige Gruppe beschafft werden und diese dann eben Ähnlich verhält es sich mit der Feuerwehr. Sie ist zwar ver-
auch entsprechend einsatztaktisch vorbereitet wird, pflichtet, im Gefahrenbereich zu arbeiten, jedoch ist der Ge-
fahrenbereich, für den sie »zuständig« ist, der Brand, die
kann dies ein weiterer Schritt zur möglichst lücken-
Höhe oder Tiefe, der Gefahrstoffunfall oder Ähnliches – je-
losen Versorgung in Bedrohungslagen sein – voraus- doch eben nicht der Beschuss oder der aggressive Täter. Hat
gesetzt, dass auch noch eine konstante Erreichbar- ein Täter einen Brand gelegt und ist ein Vordringen für das
keit und die schnelle Verbringung dieser Kräfte an Interventionsteam nicht möglich, so entsteht eine ähnliche
den Einsatzort gewährleistet werden kann. Situation, wie bei der Zusammenarbeit mit dem Rettungs-
dienst. Die Polizei hat entweder selbstständig, mit der Aus-
Außerdem muss es die Rahmenlage auch er-
rüstung der Feuerwehr, den Brand oder die Rauchentwick-
möglichen, die erforderliche Ausrüstung für beide lung zu beseitigen (interne Lösung) oder sie muss die Feuer-
Aufgaben mitzuführen. Selbst ein Notarzt, der bes- wehr bei ihrer Arbeit schützen, wobei auch hier nur freiwilli-
tens taktisch ausgebildet ist, aber zur Gewährleis- ge Einsatzkräfte der Feuerwehr in den Gefahrenbereich
tung hoher Beweglichkeit nur eine medizinische gehen müssen (externe Lösung).
Grundsätzlich ist zu sagen, dass ein Vordringen des Interven-
Minimalausstattung mitführen kann, wird bei einer
tionsteams nur bis zur Rauchgrenze Sinn macht. Um den
komplexeren Patientenversorgung noch immer Brand oder die Rauchentwicklung unter Eigensicherung zu
schnell an Grenzen stoßen. bekämpfen, sind z. B. das Löschen mittels positionierter
Welche Lösung »die Richtige« für solche Lagen Drehleiter oder Standlöscher sowie der Einsatz eines Über-
ist, wird immer wieder kontrovers diskutiert [9]. So drucklüfters möglich. Die Polizei muss hier von der Feuer-
wehr beraten werden, ob die interne oder die externe Lö-
reagierte z. B. die Arbeitsgemeinschaft Norddeut-
sung angewandt wird [11].
scher Notärzte (AGNN) auf einen der ersten Artikel
zur »Schildkrötentaktik« [10] mit einer Stellung-
nahme in der sie betonte, dass »Ihre Ausbildung,
ihre Ausrüstung und ihre berufliche Verpflichtung 32.3.2 Vorgehensweise im Objekt
diesen Personenkreis [Anm.: den Regelrettungs-
dienst] nicht zur Aktion in Gefahrenlagen im Sinne Beim Abschnitt Finden und Binden kommen die
einer nicht geklärten Amoklage befähigt.« Mittler- Prinzipien von »Care under Fire« zum Tragen, im
weile gibt es auch in Schleswig-Holstein eine ge- weiteren Verlauf evtl. auch »Tactical Field Care«
meinsam erarbeitete Amok-Einsatzkonzeption von (7 Kap. 8).
418 Kapitel 32 · Besondere Einsatzlagen – Amok

Den Abschnitt Evakuierung prägen dement- eine geordnete Evakuierung stattfinden. Bei dieser
sprechend die Prinzipien von »Tactical Field Care« Form der Evakuierung kann schonender und ziel-
(Stabilisierung) und »Evacuation Care«. Hier gerichteter vorgegangen werden. Dies geht natür-
müssen hinsichtlich der Evakuierung schnelle und lich zu Lasten des Faktors Zeit.
weitreichende Entscheidungen in kurzer Zeit ge- Die Vergangenheit hat gezeigt, dass sich die Po-
troffen werden. Umso wichtiger ist es, die mögli- lizei nicht nur auf den Auftrag Finden und Binden
chen Planungen und Vorbereitungen im Vorfeld beschränken und erst nach Durchsuchung des gan-
erledigt zu haben. Welche Optionen und Mittel zur zen Areals an den öffentlichen Rettungsdienst über-
Evakuierung gibt es? Es kann z. B. eine Option sein, geben kann. Hierdurch wird zu viel Zeit vergeudet,
dass die Polizei Mittel des Rettungsdienstes (z. B. was letztlich die Verschlechterung des Zustandes
Fahrtrage oder Spineboard) mitführt, auf die sie von Verletzten bis hin zum Tod bedeuten kann!
dann jedoch vorher ausreichend eingewiesen wer- Auch das alleinige Heraustragen und Hinausbe-
den sollte. gleiten der Personen in die kalte Zone, in der der
Rettungsdienst bereitsteht, ist langwierig und per-
Tipp
sonalintensiv.
Der Transport mit einer Schaufeltrage oder > Meistens ist es von Vorteil, im Areal sichere
einem Spineboard wird in engen Räumlich- Bereiche zu schaffen und sukzessive an den
keiten nicht nur patientenschonender, sondern Rettungsdienst zu übergeben. Dadurch
(bei vorheriger Übung und guter Koordination) werden Polizeibeamte wieder frei, um in der
auch schneller als mit einem Bergetuch sein. warmen und heißen Zone zu arbeiten.

Der Rettungsdienst kann dann gemäß seines gesetz-


Insbesondere eröffnet es die Möglichkeit, den gut lichen Auftrages die Notfallversorgung in der jetzt
festgeschnallten Patienten kurz senkrecht zu stellen, neu geschaffenen bzw. vergrößerten kalten Zone
um Richtungsänderungen in engen Fluren zu pas- übernehmen. Sichere Bereiche schafft die Polizei
sieren. Dafür ist es mit einem Tuch in engen Trep- dadurch, dass ein Einwirken eines Täters auf diesen
penhäusern meist möglich, diese in einem Zug zu Bereich nicht mehr möglich ist, d. h. durchsuchter
32 durchlaufen, weil der Patient entsprechend »gebo- und gewonnener Raum wird durch Polizeibeamte
gen« oder »gestaucht« werden kann. gesichert, damit der Täter hier nicht eindringen
Zur Planung der Evakuierung muss zuerst mit kann. Ist der Täter mit Schusswaffen bewaffnet, so
den wenigen Informationen, die in der anfänglichen muss der sichere Bereich diesen Beschuss aushalten
Chaosphase vorhanden sind, die Gefährdung einge- bzw. Sicherungsschützen müssen diesen Bereich
schätzt werden. Besteht für die Personen eine hohe abriegeln.
Gefährdung, z. B. wegen Explosionsstoffen oder In jedem Fall muss ein Schwerpunkt auf der ge-
eines Brandes, so ist eine Crash-Evakuierung (ana- meinsamen Festlegung von sicheren oder kurzzeitig
log zur »Crash-Rettung« aus Pkw) durchzuführen. sicherbaren Übergabepunkten liegen, die natürlich
Alle Personen müssen so schnell wie möglich in ggf. an die Dynamik der Lageentwicklung angepasst
einen sicheren Bereich gebracht werden. Der Vor- werden müssen. Die Identifikation und Planung
teil ist, dass viele Menschen schnell aus dem Gefah- einer möglichen Raumordnung für potenziell ge-
renbereich kommen. Als Nachteile kann durch die fährdete Infrastrukturen im Vorfeld kann sich jetzt
Geschwindigkeit eine Panik ausgelöst werden, Ver- auszahlen. Die Übergabe selbst sollte zur Ver-
letzungen können sich verschlimmern, neue Verlet- minderung der Expositionszeit bei einem poten-
zungen können entstehen und Menschen können ziellen Restrisiko improvisiert (z. B. mit Tragetuch
zu Tode kommen. Weiterhin gehen Beweise vom unmittelbar ins Rettungsmittel, umgehende Ab-
Tatort verloren bzw. werden vernichtet. fahrt) durchgeführt werden. Wenn ein gepanzertes
Besteht für die Personen eine geringe Gefähr- Fahrzeug zur Verfügung steht, wäre es – abhängig
dung, z. B. weil der Abschnitt Finden und Binden von der Bewaffnung des Täters – eine weitere Op-
den Aktionsradius des Täters eingeengt hat, so kann tion mit diesem auch in Begleitung von Rettungs-
32.3 · Erstversorgung und Rettung
419 32
dienstpersonal Verletzte unmittelbar in der heißen der Polizei, kann noch eine Individualversorgung
Zone abzuholen und improvisiert zu transportie- im Areal stattfinden, bis an den Rettungsdienst
ren. In beiden Fällen müssen die Verfahren vorher übergeben werden kann. Gibt es mehr Verletzte als
gemeinsam geübt werden. Zum Thema Gefahren- qualifizierte Helfer oder Medics im taktischen Um-
bereiche, Schutzklassen und Geschosswirkung feld, ist eine Vorsichtung nach tacSTART zu emp-
7 Kap. 24.3. fehlen. Diese auf reiner Ermittlung der Vitalfunk-
tionen basierende (»physiologische«) Vorsichtung,
Übergabepunkte die nur einfachste medizinische Kenntnisse erfor-
5 »So weit vorne wie vertretbar« (abhängig dert, sollte jeder Polizeibeamte vornehmen können.
von Sicherungsmöglichkeiten und takti- Der erfahrenste Helfer oder idealerweise der
scher Ausbildung/Ausrüstung des Ret- Master-Medic (7 Kap. 7) sollte dann die Ergebnisse
tungsdienstes) der erstversorgenden Medics zusammentragen, in
5 Genaue Abstimmung des Ortes zwischen eine Meldung umsetzen und die Evakuierungs-
Pol und RettDst, Aufnahme durch Pol reihenfolge festlegen. Dieses Schema und die Vor-
(Vorschlag durch Pol, RettDst berät, ge- gehensweise bei MANV werden ausführlich im
meinsame Entscheidung) 7 Kap. 11 dargestellt.
5 Übergabe mit – erprobten – Standard- Es geht in der taktischen Lage zum einen dar-
verfahren um, die wenigen Medics und vor allem auch das nur
o Personal- und Zeitbedarf für die Verlage- sehr begrenzt vorhandene medizinische Material
rung von Vwu nicht unterschätzen! denjenigen zukommen zu lassen, die es am nötigs-
5 Immer in Anpassung an die dynamische ten brauchen. Zum anderen geht es darum, welcher
Lage (Übersicht und Ausweichmöglichkeit) Patient als erstes zum öffentlichen Rettungsdienst
5 Entspricht dem Rettungsmittelhalteplatz in die kalte Zone gebracht wird. Zur Dringlichkeit
(RMHP) in einer Lage ohne Bedrohung der Evakuierung wird der Medic den taktischen
Führer beraten, damit dieser eine an die taktische
Lage angepasste Entscheidung fällen kann, die den-
Den Kräften des Rettungsdienstes kann aus ein- noch dem Patienten bestmöglich gerecht wird.
satztaktischen Gründen ein spezifischer Auftrag Wenn die Evakuierung zum Beispiel bei einer inne-
zugewiesen werden, was sich in der Benennung ren Blutung extrem dringlich ist, wird der Führer
des Teams widerspiegelt: Sichtungs-, Behand- ggf. auch ein höheres Risiko für die Einsatzkräfte
lungs- bzw. Evakuierungsteam. Die Aufgabenschwer- vertreten. Ohne eine solche Dringlichkeit kann ggf.
punkte werden beispielhaft im Waiblinger Konzept »in aller Ruhe« im Objekt versorgt und stabilisiert
dargestellt (. Abb. 32.4). Die jeweiligen Aufträge werden, unter Umständen bis die Lage vollständig
sollten jedoch lageangepasst und nicht dogmatisch geklärt ist.
betrachtet werden. So soll die Aussage »Keine Be- Bei der Dokumentation sollte man abhängig
handlungsmaßnahmen!« natürlich nicht die in von der zur Verfügung stehenden Zeit ebenfalls ge-
wenigen Sekunden durchführbaren »Care-under- staffelt vorgehen: anfangs nur Triagekategorie, ggf.
Fire-Maßnahmen« Tourniquet-Anlage sowie das Zeit der Tourniquet-Anlage, evtl. fortlaufende
Drehen in die stabile Seitenlage ausschließen. Beide Nummer (je Einsatzabschnitt, z. B. OG-Ost-01) un-
müssen bei fehlender unmittelbarer Bedrohung mittelbar auf der Haut notieren, dann vereinfachte
und entsprechendem Befund immer sofort erfolgen Doku-Karte (z. B. TREMA, 7 Kap. 9, .  Abb. 9.29)
(7 Kap. 11). nutzen, dann ggf. zivile Dokumentationssysteme
Für das taktische Vorgehen der Kräfte im Objekt (z. B. abhängig von der Patientenzahl Verletzten-
ist die geschätzte Anzahl der Verletzten (und orien- anhängekarte oder Notarztprotokoll) verwenden.
tierend der Schweregrad) wichtig und in Relation Um einen Überblick für die Meldung und Priorisie-
dazu die Anzahl derjenigen, die im taktischen Um- rung zu gewinnen, kann als Dokumentations-Hilfs-
feld versorgen können. Übersteigt die Anzahl der mittel die »MANV-Koordinationskarte« (7 Kap. 11,
Verletzten nur unwesentlich die Zahl der Medics bei . Abb. 11.4) genutzt werden.
420 Kapitel 32 · Besondere Einsatzlagen – Amok

32.3.3 Raumordnung/Annäherung vermeiden. Aufgrund der Möglichkeit, dass sich der


Rettungsdienst wegen der anfangs unklaren Lage
Die Raumordnung unterscheidet sich nicht grund- doch bereits bis in den unmittelbaren Gefährdungs-
sätzlich zu einem MANV anderer Ursache (7 Kap. bereich bewegt hat, sollten Schulungen für die
11), es sind jedoch Besonderheiten zu beachten. Einsatzkonzepte auch Informationen zu Waffenwir-
Wie eingangs dargestellt, geschieht die Fest- kungen und Reichweiten, Erkennen von USBV, Ver-
legung von Gefährdungszonen durch die Polizei haltensweisen etc. beinhalten.
aufgrund der zu diesem Zeitpunkt vorhandenen
Tipp
Informationen und sie ist daher eine »Momentauf-
nahme«. Jede neue Information über den – oder die
Selbst eine Kurzwaffe kann einen RTW in den
– Täter, ihre Bewaffnung, möglicherweise hinterlas-
meisten Bereichen mühelos durchschlagen
sene USBV und andererseits über bereits gesicherte
und er bietet daher nur einen Sicht- (»conceal-
Bereiche oder die klare Lokalisierbarkeit der Be-
ment«), aber keinen ballistischen Schutz
drohung müssen zu einer Anpassung der Bereiche
(»cover«). Hinter dem Motorblock oder den
führen. Ihre zu starre Festlegung wird der Dynamik
Reifenfelgen ist der Schutz etwas besser.
der Lage nicht gerecht und im Zweifelsfall sollte der
größere Abstand gewählt werden. In jedem Fall
muss der kontinuierliche Informationsaustausch Die Einsatzkräfte sollten unbedingt auch aus großer
der BOS gewährleistet werden (z. B. Weitergabe von Entfernung als solche zu erkennen sein. In Colum-
möglicherweise neuen Erkenntnissen aus Aussagen bine wäre ein nicht regulär im Dienst befindlicher,
von Patienten). unterstützender Feuerwehrmann in Zivilbeklei-
Bei unklarer Lage sollte der erste Anlaufpunkt dung beinahe von Präzisionsschützen der Polizei
für die Rettungsdienstkräfte mit großem Sicher- erschossen worden.
heitsabstand gewählt werden. In einigen Konzepten Wie bei jedem MANV oder größerem BOS-
wird dieser daher mit dem Begriff »Verfügungs- Einsatz ist die frühzeitige, klare Regelung der An-
raum« beschrieben, da er kein unter einsatztakti- und Abfahrtswege entscheidend. Sobald Rettungs-
schen Gesichtspunkten optimal gelegener Bereit- dienstkräfte die Einsatzstelle anfahren können,
32 stellungsraum (BR) ist, sondern im Idealfall bei sollte an der Grenze zwischen kalter und warmer
klarerer Lage näher an die Einsatzstelle verlegt wer- Zone eine gemeinsame Einsatzleitung (GEL) der
den sollte. »Sicherer« oder »temporärer Erst-BR« BOS eingerichtet werden.
sind Alternativen, um den gleichen Sachverhalt zu Ebenfalls muss an dieser Grenze umgehend eine
beschreiben. Patientenablage (PA) festgelegt werden. Einerseits
werden insbesondere leicht verletzte Opfer selbst-
Tipp
ständig aus der Gefahrenzone flüchten, andererseits
können polizeiliche Rettungsteams evakuierte Pati-
Leitstelle und eingesetzte Kräfte müssen sensi-
enten zuführen. Das weiter oben beschriebene
bel auf ungewöhnliche Meldungen (insbeson-
Konzept der möglicherweise »vorgeschobenen«
dere im Zusammenhang mit dem Einsatzort
Übergabe- bzw. Abholpunkte kann helfen, die Eva-
oder z. B. auch dem Datum) reagieren (Bauch-
kuierung zu beschleunigen. Nach Schaffung eines
gefühl beachten; 7 Kap. 11) und im Zweifel
sicheren Bereiches kann eine PA ggf. auch im Ob-
versuchen, mehr Informationen (mit Polizei
jekt eingerichtet werden.
koppeln) zu bekommen oder eben Abstand
Abhängig von den möglichen Verletztenzahlen
halten. Die ersteintreffenden (Polizei-)Kräfte
sowie dem zeitlichen Verlauf kann die Einrichtung
sind für die Raumordnung – auch des Ret-
eines Behandlungsplatzes (BHP) sinnvoll sein.
tungsdienstes – verantwortlich!
Auch wenn aufgrund des lagebedingt verzögerten
Beginns der Versorgung Transportmittel oft bereits
Die Annäherung muss auch vorsichtig erfolgen, um in ausreichender Anzahl vorhanden sein werden,
die Gefährdung panisch flüchtender Betroffener zu ermöglicht er eine zentrale Sichtung für die Regis-
32.3 · Erstversorgung und Rettung
421 32
trierung und Zuweisung geeigneter Krankenhäuser dadurch den oder die Patienten. Insbesondere muss
oder kann eine mögliche Patientenwelle nach Fest- sichergestellt werden, dass die Erstversorger an
nahme oder Auffindung des Täters abpuffern. den Materialien geschult werden, die sie in ihren
Trotzdem ist unbedingt der verzögerungsfreie individuellen Ersthelfer-Ausstattungen (IFAK) mit
Transport instabiler Patienten zu ermöglichen. Da sich führen. Sie müssen vor allem die Anwendung
oft nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich ein »ihres« Tourniquets unter erfahrener Anleitung
– weiterer – Täter unter den Evakuierten befindet, regelmäßig üben können, ohne dass, wie im tatsäch-
muss eine Sicherung aller Strukturen und eine Ein- lichen Einsatz, Zeitdruck oder Bedrohung die
gangsdurchsuchung der Patienten durch die Polizei Handlungssicherheit einschränken [12].
sichergestellt werden. Jede polizeiliche Einsatzkraft sollte ein indivi-
Von PA bzw. BHP räumlich getrennt, muss eine duelles Erste Hilfe-Set (IFAK, 7 Kap. 29) mit sich
Betreuungsstelle für die unverletzten Opfer ein- führen, das ermöglicht schnell und effizient auf
gerichtet werden und schnellstmöglich eine Er- eine, ggf. eigene, starke Blutung zu reagieren. Um-
fassung erfolgen, um ein vollständiges Lagebild zu fang und Erweiterung des Materials hängen in
gewinnen und insbesondere die Angehörigen infor- erster Linie vom Leistungs- und Trainingsstand
mieren zu können. Diese müssen bis dahin bei des Anwenders ab. Darüber hinaus spielen oftmals
Eintreffen an der Einsatzstelle aufgefangen, betreut aber auch fehlende Haushaltsmittel oder Berüh-
und über Lage und Vorgehensweisen informiert rungsängste der fachdienstlichen Führung gegen-
werden. Diese Aufgabe kann lageabhängig von über aus Sicht des zivilen Rettungsdienstes eher
Polizei oder Rettungsdienst oder eben im Idealfall unkonventionellem Material sowie erweiterten
gemeinsam übernommen werden. Es sollte auf aus- Maßnahmen durch nichtärztliches Personal eine
reichenden Abstand, Witterungsschutz und Kom- Rolle. Daraus resultiert leider immer wieder, dass
munikationsmöglichkeiten geachtet werden. nicht die optimale Ausrüstung und der bestmög-
liche Ausbildungsstand zur Versorgung von Ange-
Tipp
hörigen der BOS und Schutzbefohlenen sicherge-
stellt werden.
Wenn sich keine feste Infrastruktur anbietet,
Wenn Kräfte des Rettungsdienstes in der war-
an die frühzeitige Anforderung von Bussen des
men Zone eingesetzt werden sollten, müssen diese
örtlichen Nahverkehrs denken.
sich auch in der materiellen Ausstattung auf die
besondere Lage einstellen. So sollten sie ihre Ruck-
säcke hinsichtlich Verbandmaterial und Sichtung
ergänzen und ebenfalls Kits mit sich führen, die
32.3.4 Materielle Vorbereitung die schnelle Versorgung von Blutungen auch bei
mehreren Patienten ermöglichen [3] (weitere Über-
Das Material für die Bewältigung solch einer Lage ist legungen . Abb. 32.4). Außerdem sollte die Kom-
den speziellen Einsatzanforderungen anzupassen. munikation mit der GEL über Handfunkgeräte
Ein Autoverbandkasten ist zwar besser als nichts, sichergestellt werden, die derzeit noch nicht zur
jedoch sicher nicht optimal, um starke Blutungen Regelausstattung der Rettungsmittelbesatzungen
von Stich-, Schnitt- und Schusswunden unter takti- gehören.
schen Bedingungen zu versorgen. Geeignetes Mate- Polizeikräfte wiederum sollten in die Hand-
rial zur Patientenversorgung in der taktischen Ein- habung verschiedener Tragemittel (7 Kap. 5 und 29)
satzmedizin wird in diesem Buch ausgiebig vorge- eingewiesen sein. Wie immer in der taktischen
stellt (7 Kap. 3). Medizin sollte versucht werden, die eingeschränkte
Generell ist zu sagen, dass das beste Material Möglichkeit der abgesessenen Einsatzkräfte Materi-
nichts bringt, wenn nicht damit trainiert wurde. al mitzuführen, durch miniaturisierte Geräte sowie
Wer mit unbekanntem Material im Einsatz versorgt, modular gestaffelte Vorhaltung weiteren Materials
vergeudet Zeit durch Fehlbedienung und gefährdet zu kompensieren (7 Kap. 2.5).
422 Kapitel 32 · Besondere Einsatzlagen – Amok

32.4 Taktisch-operative 32.5 (Strategisch-)planerische


Einsatzleitung Vorbereitungen

J. Höfner, K. Ladehof J. Höfner, K. Ladehof

Die Polizei führt den Gesamteinsatz. Sie gibt insbe- Dass die Konzeptentwicklung, Erprobung und
sondere vor, wann, wo und wie das Objekt betreten Schulung unbedingt BOS-übergreifend erfolgen
werden kann. muss, wurde bereits dargestellt. In den USA wurden
> Die Einsatzleiter der BOS müssen in jedem
Ziele und Umfang der regional notwendigen Vorbe-
Fall schnellstmöglich an der Einsatzstelle mit-
reitungen in den Hartford-Consensus-Dokumen-
einander Verbindung aufnehmen und als
ten [2, 3] beschrieben und sie werden in einem Leit-
»Minimallösung« wenigstens die telefonische
faden des Amtes für Katastrophenschutz (FEMA)
Erreichbarkeit austauschen (möglichst soll-
detaillierter dargestellt [4]. Auch in Deutschland
ten sie als unbedingt sinnvolle Entlastung
wird in den wenigen Artikeln zu diesem Thema die
einen »Funker« bei sich haben). Folgetreffen
zwingende Notwendigkeit sorgfältiger strategisch-
sollten zeitlich und örtlich fest vereinbart
planerischen Vorbereitung betont [13]. Zunehmend
sowie bei wahrscheinlich überlastetem Funk-
wird die Thematik in die Aus- und Fortbildung der
verkehr Melder eingesetzt werden.
BOS aufgenommen. So wurde sie in Bayern z. B. be-
reits 2010 sowohl in die Lehrpläne der OrgL- als
Um auf die beschriebene Dynamik der Lage auch der LNA-Fortbildung aufgenommen.
schnellstmöglich reagieren zu können, die Raum-
ordnung kontinuierlich abzustimmen und um ins-
besondere die Option eines gemeinsamen Vorge- Mindestinhalte gemeinsamer
hens in der warmen Zone abzustimmen, sollten die Einsatzkonzeptionen
Einsatzleitungen aller BOS räumlich zusammen 5 Vereinheitlichung der Begriffe bzw. Glossar
oder in unmittelbarer Nähe zueinander aufgebaut für die jeweils anderen BOS
werden. 5 Gegenseitige Information über Fähigkeiten
32 Entscheidend für die reibungslose Zusammen- und Grenzen der Organisationen
arbeit werden größtmögliche Transparenz und dar- 5 Festlegung der einzelnen Maßnahmen und
auf basierendes Vertrauen sowie eben die persön- Phasen eines Ablaufplans – mit der Mög-
liche Kenntnis durch die gemeinsame Vor- und lichkeit auf die Lage mit alternativen Vor-
Nachbereitung von Ereignissen sein. gehensweisen zu reagieren
5 Darstellung und Umsetzung angepasster
Tipp
»Tactical Emergency Casualty Care (TECC)«-
Verfahren [14]
Die Einsatzleitung sollte im Bereich Nachrich-
5 Schwerpunkt ist die schnelle Behandlung
tenauswertung unbedingt personell verstärkt
durch Ersthelfer und die Evakuierung
werden, um die große Menge eingehender In-
5 Gemeinsame Führungsstruktur und ge-
formationen von Unbeteiligten, Betroffenen
meinsamer Kommunikationsplan
und Helfern bewältigen zu können.
5 Eventualfallplanung (»contingency
management«) im Detail – Beispiele dafür
sind das Vorsehen eines »duress code«
(Nutzung, wenn der Funkende unmittelbar
bedroht wird und daher nicht frei sprechen
kann) oder eines Notfall-Stichwortes, das
z. B. bei Entdecken eines Sprengsatzes oder
Feststellen der Instabilität der Infrastruktur
32.6 · Zusammenfassung
423 32
Objekt und der möglichst verzugslose Transport in
zum verzugsfreien Verlassen des Gebäudes eine geeignete Zielklinik entscheidend. Die Kern-
auf dem kürzesten Weg führen sollte frage lautet: Wen kann ich »drinnen« stabilisieren
5 Festlegung von Umfang und Häufigkeit von und wen kann ich nur durch schnellstmögliche Eva-
Schulungen und gemeinsamen Übungen kuierung retten?
5 Formale Einsatznachbereitung und Ge-
> Für die möglichst erfolgreiche Bewältigung
währleistung der Betreuung aller Einsatz-
der Gesamtlage ist es zwingend erforderlich,
kräfte
dass insbesondere Polizei und Rettungs-
dienst eine gemeinsame Sprache und ge-
meinsam entwickelte und erprobte Konzepte
verwenden sowie einen gemeinsamen Ein-
32.6 Zusammenfassung satzstab vor Ort bilden.

J. Höfner, K. Ladehof
Checkliste Vorgehensweise bei besonderer
Entscheidend ist bei der Bewältigung einer Amok- Einsatzlage – Amok
lage die unmittelbare Reaktion auf die Bedrohung, 5 Alarm(stichwort)
die initiale Raumordnung und die möglichst schnel- 5 Weitere Informationsgewinnung bei der
le Versorgung von Verletzten. Die Gesamteinsatz- Anfahrt
leitung liegt ebenso wie die Verantwortung für die 5 Festlegung eines – sicheren – Bereitstel-
medizinische Versorgung im Gefahrenbereich klar lungsraumes
bei der Polizei, jedoch nur durch eine gute Zusam- 5 Kontaktaufnahme der Einsatzleiter vor Ort
menarbeit der BOS werden diese Aufgaben best- (unterstützt durch die Leitstelle/FLZ)
möglich erfüllt werden können. 5 Absetzen der Lagemeldungen mit Nach-
Ziel ist es, nach Abwendung oder auch bei noch forderung von Kräften und Material sowie
bestehender Gefährdung, wie immer so schnell wie Kommunikation mit beteiligten oder unter-
möglich die MANV-Lage zu beherrschen, damit stützenden Kräften (insbesondere Vorinfor-
idealerweise wieder eine Individualversorgung der mation an regionale Krankenhäuser – Akti-
Verletzten möglich ist. Dies kann, wie dargestellt, vieren der jeweiligen Notfallpläne)
auch durch Schaffung von sicheren Bereichen er- 5 Örtliche Pläne abrufen (z. B. Farbkennzeich-
reicht werden. Da in solchen besonderen Einsatzla- nung Gebäudeabschnitte) und Unterstüt-
gen in den meisten Fällen in der kalten Zone schnell zung/Informationsquellen einbinden (Haus-
genügend Kräfte des öffentlichen Rettungsdienstes meister, Sicherheitsdienst)
eintreffen werden, sollte die Polizei schnellstmög- 5 Erfassung und Identifikationsmöglichkeit
lich die Bedingungen schaffen, dass der Rettungs- aller eingesetzten Kräfte
dienst zum Patienten kann oder der Patient zum 5 Zonen festlegen, Information aller Einsatz-
Rettungsdienst kommt. Nur so können die vorhan- kräfte, kontinuierliche Lageanpassung
denen Ressourcen im Sinne der Betroffenen opti- 5 Absperrung nach außen
mal zum Einsatz kommen. In der Zwischenzeit hat 5 Einrichtung einer oder mehrerer PA im
die Polizei in der heißen und warmen Zone die Ver- gesicherten Bereich (Möglichkeit
letzten bestmöglich zu versorgen. Die Prinzipien Sprengfallen/»second hit« bedenken,
und Algorithmen der taktischen Verwundetenver- 7 Kap. 11)
sorgung bilden die Grundlage für diese Verpflich- 5 Transport/Evakuierung von Patienten in
tung der Polizei. Dementsprechend muss der den kalten Bereich (PA oder Übergabe-
Schwerpunkt auch in der Ausbildung auf der Stil- stelle), evtl. Einsatz von (geschützten)
lung schwerer Blutungen liegen. Für Patienten mit Rettungskräften im warmen Bereich
Rumpfverletzungen und daher Verdacht auf eine 5 Verschieben des BR erwägen
innere Blutung ist die schnelle Evakuierung aus dem
424 Kapitel 32 · Besondere Einsatzlagen – Amok

32.7.1 Ziel des gemeinsamen


5 BHP in größerer Entfernung bei voraussicht- Konzeptes
lich länger dauernder Lage
5 Betreuungsstelle(n) mit Schwerpunkt auf Es geht primär darum, eine sichere und schnelle
der Feststellung der Vollständigkeit Rettung in Einsatzlagen mit Gefährdungspotenzial
5 Transportorganisation/Registrierung ggf. zu realisieren. Durch koordiniertes Vorgehen beider
personell verstärken, um jederzeit über den Partner und vorbereitendes Training auf psychi-
Verbleib aller Opfer auskunftsfähig zu sein scher und physischer Ebene sollen sogenannte
5 Von GEL abgesetztes (aber unbedingt ge- »heiße Einsatzstellen« entschärft und gleichzeitig
meinsames!) Presseinformationszentrum [3] die Eigensicherung aller Beteiligten so gut als
5 Notwendigkeit von Personalersatz und möglich garantiert werden. Für die psychosoziale
Nachführung weiteren Materials Betreuung nach belastenden Einsätzen wurde ein
(z. B. Batterien) prüfen ebenfalls gemeinsames, anonym nutzbares »Netz
5 Rettungsdienst wird »regulär« im Objekt der Hilfe« aufgebaut.
tätig, sobald dieses von der Polizei als
»sicher« freigegeben wird
5 Einsatzende an alle beteiligten und an- 32.7.2 Umsetzung des Konzeptes
schlussversorgenden Kräfte kommunizieren
5 SOP für die Nachbereitung befolgen 4 Gemeinsame Schulungen und Trainings
(Debriefing, Nachbesprechungen, Sammeln 4 Regelmäßige Überprüfung der notfallmedizi-
der Einsatzberichte, Betreuungsangebote nischen Ausstattung der Polizei durch den
etc.) Rettungsdienst

32.7.3 Rechtsvorschriften
32.7 Beispiel für ein BOS-
übergreifendes Trainings- Für die Polizei gibt es in Baden-Württemberg Vor-
32 und Einsatzkonzept schriften für das Einsatztraining und Konzeptionen
zum spezifischen Training für Amoklagen. Der Ret-
J. Stocker tungsdienst hat lediglich ein MANV-Konzept, dass
sich in Bezug auf Bedrohungslagen aber nur mit der
Bereits im Jahr 2007, also weit vor dem Amoklauf Abarbeitung in der kalten Zone beschäftigt.
von Winnenden am 11.03.2009, wurde im Dienst-
bereich der Polizeidirektion (PD) Waiblingen und
dem Rettungsdienst des DRK-Kreisverbandes 32.7.4 Einsatzkonzept und Training für
Rems-Murr ein gemeinsames Konzept zur »Dees- »besondere Einsatzlagen«
kalation« an Einsatzstellen entwickelt. Der Rems-
Murr-Kreis hat eine Fläche von 858 km2 mit ca. Eine Arbeitsgruppe von Polizei und Rettungsdienst
416.000 Einwohnern. Die PD mit 5 Polizeirevieren wurde auf Landkreisebene eingerichtet, in der alle
hat über 700 Beschäftigte, der Rettungsdienst ver- Funktionsebenen von Anfang an vertreten waren,
fügt über etwa 150 hauptberufliche und 100 ehren- damit ein rechtssicheres und vor allem anwendba-
amtliche Kräfte an acht Rettungswachen und einer res Konzept erstellt werden konnte. Auf Ebene der
integrierten Leitstelle (ILS, gemeinsame Disposi- Ausbildungsbeauftragten des DRK-Kreisverbandes
tion von Feuerwehr und Rettungsdienst). und der Einsatztrainer der Polizeidirektion wurde
die Konzeption zum taktischen Vorgehen in Son-
derlagen entwickelt, erprobt und trainiert.
Ziel war es ein breites Spektrum abzudecken,
angefangen vom häuslichen Streit bis hin zur
32.7 · Beispiel für ein BOS-übergreifendes Trainings- und Einsatzkonzept
425 32
Amoklage. Bei diesen unsicheren Umständen sollte Kolleginnen und Kollegen sehr ungewohnt, vermit-
ein sicheres Arbeiten des Rettungsdienstes ermög- telte aber ein zusätzliches Sicherheitsgefühl. Den
licht. Es galt dem jeweiligen Partner zu vermitteln, Weg und das Tempo gibt die Polizei vor. Durch das
welche Unterschiede in der Sichtweise auf ein und Auflegen der Hand auf die Schulter des Front- bzw.
dieselbe Situation bestehen und einen gemeinsa- Vordermanns ist es kein Problem den Bewegungen
men Sprachgebrauch zu etablieren. der Polizei zu folgen (. Abb. 32.2).
Die Polizei beurteilt die Einsatzstelle und ordnet Das Vorgehen im Sandwich machte eine Redu-
sie in verschiedene Bereiche bzw. Gefährdungsstu- zierung der Einsatzausrüstung notwendig. In An-
fen (rote, gelbe, grüne Zone). Der Rettungsdienst passung an den möglichst engen Kontakt im Team,
hält sich anfangs in der kalten Zone in einem Bereit- die schnelle Beweglichkeit und unklare Situation im
stellungsraum auf. Er sammelt Informationen, Objekt muss die Ausrüstung auf dem Rücken mit-
nimmt Kontakt zur Polizei auf und wartet auf An- führbar sein. Der schnelle Zugriff auf die entschei-
weisungen. Er nutzt die Zeit um – geführt durch das denden Ausrüstungsgegenstände (Kennzeichnung
Führungs- und Lagezentrum (FLZ) der Polizei und und Tourniquet) muss gewährleistet sein auch ohne
die ILS – eine Einsatzführung vor Ort und die wei- den Rucksack abzunehmen. Die eigentliche Ver-
tere Ablauforganisation einzurichten. sorgung der Patienten erfolgte nach PHTLS-Grund-
Der rote Bereich (entspricht der heißen Zone) sätzen.
ist für den Rettungsdienst, aufgrund der unmittel- Ein weiteres wichtiges Element des Trainings
baren Gefahr, tabu. war die schnelle Übergabe von Verletzten im gelben
Der gelbe Bereich kann in diesem Konzept un- Bereich, die von der Polizei aus dem roten Bereich
ter Sicherung der Polizei betreten werden, da er als gerettet wurden. Hierbei galt es eine, von den Ab-
bereits abgesucht und überwiegend gesichert einge- läufen des Regelrettungsdienstes abweichende,
stuft wird. Er entspricht damit nur bedingt der war- schnellere Lösung zu finden. Nach polizeilicher
men Zone (7 Kap. 8) bei der lediglich keine unmit- Einweisung oder mit Begleitung wird ein Rendez-
telbare Bedrohung mehr besteht (»erste Deckung«). vouspunkt angefahren und der Verletzte dort mit-
Ob vor Ort versorgt oder nur eine Sichtung durch- tels Tragetuch unmittelbar auf den Tragentisch in
geführt oder ob unmittelbar evakuiert werden kann das Fahrzeug übergeben, um diesen Bereich umge-
bzw. muss, ist abhängig von der Anzahl der Verletz- hend wieder zu verlassen.
ten, der Anzahl der Helfer und sichernden Polizei- Die aus dem Training heraus entstandenen
beamten sowie den örtlichen Gegebenheiten. Die Team-Checkkarten für gemeinsame Einsätze von
Entscheidung hierüber fällen die beiden Führungen Polizei und Rettungsdienst fassen übersichtlich alle
von Polizei und Rettungsdienst. Grundsätze zusammen und steht allen Mitarbeitern
Im grünen Bereich (kalte Zone) kann rettungs- in den Einsatzmitteln, dem Einsatzführungsdienst
dienstlich wie gewohnt gearbeitet werden, da hier und der FLZ bzw. ILS zur Verfügung (. Abb. 32.1
keine Gefahren von der Einsatzstelle ausgehen. und . Abb. 32.4). Bei entsprechenden Lagen kön-
Um der Lageentwicklung Rechnung tragen zu nen Verbindungsbeamte/-personen zur jeweilig
können, wird die »Farbcodierung« analog auch für anderen Leitstelle entsandt werden, um den Infor-
»Phasen« verwendet (z. B. kann in der »grünen mationsaustausch aus erster Hand zu gewährleisten.
Phase« der gesamte Einsatzraum als gesichert ein-
gestuft werden, da er vollständig abgesucht oder der
Täter festgenommen wurde).
Die intensive Umsetzung der Theorie in die Pra-
xis erfolgte in kleinen Teams und bestand aus den
wesentlichen Modulen »Sammeln und Vorrüsten
im gesicherten Bereitstellungsraum«, »Annäherung
an Objekte« und »sicheres Bewegen in Objekten«.
Die Sandwich-Methode, in der sich die Rettungs-
kräfte inmitten der Polizei bewegen, war für viele
426 Kapitel 32 · Besondere Einsatzlagen – Amok

32

. Abb. 32.1 Team-Check-Karte Amok (Polizeidirektion Waiblingen und DRK-Kreisverband Rems-Murr)


32.7 · Beispiel für ein BOS-übergreifendes Trainings- und Einsatzkonzept
427 32

. Abb. 32.1 (Fortsetzung)


428 Kapitel 32 · Besondere Einsatzlagen – Amok

. Abb. 32.2 Vorgehen im »Sandwich«

32

. Abb. 32.3 Schnelle Übergabe an den Rettungsdienst


32.7 · Beispiel für ein BOS-übergreifendes Trainings- und Einsatzkonzept
429 32

. Abb. 32.4 Team-Checkkarte Amok für den Rettungsdienst


430 Kapitel 32 · Besondere Einsatzlagen – Amok

32

. Abb. 32.4 (Fortsetzung)


Literatur
431 32
32.7.5 Fazit und Ausblick 6. Wipfler EJ, Campbell JE, Heiskell LE (2012) Tactical
Medicine Essentials. Jones & Bartlett Learning,
Burlington, MA
Durch die Fortbildungsveranstaltungen konnte eine
7. Stair RG, Polk DA, Shapiro GL, Tang N (2013) Law Enforce-
deutlich erweiterte Lagebewertung bei real stattge- ment Responder. Jones & Bartlett Learning, Burlington,
fundenen Einsätzen festgestellt werden. Bereits MA
beim Notrufeingang werden über die medizini- 8. Mell HK, Sztajnkrycer MD (2005) EMS Response To
schen Abfragestandards hinaus auch verstärkt Columbine: Lessons Learned. The Internet Journal of
Rescue and Disaster Medicine 5(1)
eigensicherungsrelevante Umstände berücksichtigt.
9. Jansch A (2010) Taktische Notfallmedizin. Verlag für
Auch vor Ort zeigte sich eine verbesserte Zusam- Polizeiwissenschaft, Frankfurt
menarbeit sowohl bei der Implementierung einer 10. Knacke PG (2006) Mit »Schildkrötentaktik« in die
gemeinsamen Einsatzleitung als auch bei der Koor- Amoklage: Kooperation von Polizei und Rettungsdienst
dination der vorgehenden Kräfte. am Einsatzort. Rettungsdienst 29: 364–367
Die Einsatzkräfte von Polizei und Rettungs- 11. Weiler J (2013) Einsatzlagen mit Nebel-, Rauch- oder
Brandeinwirkung. Konzept für die Zusammenarbeit von
dienst wiederholen dieses Einsatztraining spätes-
Polizei und Feuerwehr im Rems-Murr-Kreis. Erhältlich
tens alle drei Jahre. Es werden regelmäßig gemein- über den Autor: juergen.weiler@polizei.bwl.de
same Einsatzübungen zu verschiedenen Lageszena- 12. Jacobs LM, Wade DS, McSwain NE (2013) The Hartford
rien durchgeführt und nachbereitet. Consensus: THREAT, A Medical Disaster Preparedness
Derzeit wird an einem weiteren Konzept Concept. J Am Coll Surg 217(5): 947–953
13. Bartels UE, Schmid F (2014) Der Leitende Notarzt bei
zur Zusammenarbeit aller BOS-Kräfte im Rems-
Amoklagen. Notfall + Rettungsmedizin 17:243–248
Murr-Kreis zu den Einsatzkonstellationen im 14. Callaway DW, Smith ER, Cain J, et al. (2011) Tactical Emer-
Zusammenhang mit Gefahrstoff- und Brandlagen gency Casualty Care (TECC): Guidelines for the Provision
gearbeitet, um auch dort eine noch größere Hand- of Pre-hospital Trauma Care in High Threat Environments.
lungssicherheit für alle beteiligten Einsatzkräfte zu Journal of Special Operations Medicine 11(3): 1–20
erreichen.

Literatur

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land Security, Washington, DC. http://www.dhs.gov/
xlibrary/assets/active_shooter_booklet.pdf bzw. U.S.
Department of Homeland Security website: Active
Shooter Preparedness, http://www.dhs.gov/active-
shooter-preparedness
2. Joint Committee to Create a National Policy to Enhance
Survivability From Mass Casualty Shooting Event (2013)
Improving Survival from Active Shooter Events: The
Hartford Consensus, April 2, 2013. Bull Am Coll Surg
98(6):14–6. http://www.naemt.org/Files/LEFRTCC/
Hartford_Consensus.pdf
3. Joint Committee to Create a National Policy to Enhance
Survivability From Mass Casualty Shooting Events (2013)
Hartford Consensus II, July 11, 2013. Bull Am Coll Surg
98(9):18–22
4. Guide for Active Shooter and Mass Casualty Incidents
(2013) U.S. Federal Emergency Management Agency/U.S.
Fire Administration, Emmitsburg, MD. http://www.usfa.
fema.gov/downloads/pdf/publications/active_shooter_
guide.pdf
5. NAEMT (2008) Präklinisches Traumamanagement –
Das PHTLS Konzept, 1. Aufl. Elsevier, München
433 V

Besondere Umgebungen
Kapitel 33 Militärischer Einsatz in großer Höhe – 435
M. Tannheimer

Kapitel 34 Flugmedizin – 451


G. Röper, J. Stier, J. Schwietring

Kapitel 35 Tauchmedizin – 473


R. Bohnen

Kapitel 36 Warme Klimazonen – 485


C. Neitzel, I. Ostfeld

Kapitel 37 Vergiftungen durch Tiere – 503


R. Lechner, F. Spies

Kapitel 38 Kalte Klimazonen – 521


U. Unkelbach, C. Neitzel, T. Schuck, E. Meister
435 33

Militärischer Einsatz
in großer Höhe
M. Tannheimer

33.1 Einführung – 436

33.2 Physiologische Grundlagen


und Einteilung in Höhenstufen – 437
33.2.1 Mittlere Höhe – 437
33.2.2 Große Höhe – 438
33.2.3 Extreme Höhe – 438
33.2.4 Höhentaktik – 438

33.3 Formen der Höhenkrankheit und deren Therapie – 440


33.3.1 Akute Bergkrankheit – 440
33.3.2 Höhenhirnödem – 440
33.3.3 Höhenlungenödem – 441
33.3.4 Schlafstörungen – 441

33.4 Quantifizierung der Höhenkrankheit – 442


33.4.1 Anwendung der Pulsoxymetrie – 442

33.5 Therapie der Höhenkrankheit – 443

33.6 Aktuelle Problemfelder und Lösungsansätze – 446

33.7 Tipps und Tricks – 449

Literatur – 450

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_33, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
436 Kapitel 33 · Militärischer Einsatz in großer Höhe

33.1 Einführung heimischen der Gebirgstäler rekrutierten. Dies ist in


den aktuellen Einsatzszenarien, z. B. in Afghanistan,
Beim militärischen Einsatz in der Höhe haben die genau umgekehrt. Unsere Soldaten sind in der Regel
Einsatzkräfte mit unterschiedlichen »Gegnern« zu in niedriger Höhe stationiert und treffen daher
tun – den bewaffneten und der nicht minder gefähr- ohne Akklimatisation auf einen an die Höhe bestens
lichen Natur. Die speziellen Anforderungen des mi- adaptierten Gegner, der zudem über fundierte Ge-
litärischen Einsatzes im Gebirge wurden erstmalig lände- und Ortskenntnisse verfügt. Hinzu kommt
von Carl von Clausewitz (1780–1831) in seinem die schwere Schutzausrüstung, die bei der höhenbe-
Buch »Vom Krieg« analysiert. Für den menschlichen dingt eingeschränkten körperlichen Leistungs-
Organismus unterschied er bereits damals zwischen fähigkeit besonders »ins Gewicht fällt«.
den direkten Kriegseinwirkungen durch Waffen und Militärische Einsätze in Gebirgsregionen unter-
den indirekten Kriegseinwirkungen durch die Um- scheiden sich in wesentlichen Punkten vom zivilen
weltbedingungen. Die Dolomitenfront des 1. Welt- Bergsteigen: Der Soldat muss in der Einsatzhöhe
kriegs reichte bis knapp an die 4000-m-Marke (Ort- topfit sein – und das über längere Zeit. Diese lange
ler, Adamello, Presanella, Marmolada) heran. Trotz Expositionszeit in der Höhe ist ein wichtige Ursache
einer bis dahin nie gekannten Materialschlacht mit der Höhenkrankheit, denn sie tritt typischerweise
Trommelfeuer und Sprengung ganzer Berggipfel mit einer Verzögerung (Latenzzeit) von etwa 6–48 h
(z. B. Lagazuoi, Col di Lana) starben laut über- auf. Der zivile Bergsteiger hat in diesem Zeitraum
einstimmenden Berichten an dieser Gebirgsfront den Gipfel längst wieder verlassen.
1915–1918 zwei Drittel der Kämpfenden durch die > Die Schlafhöhe und nicht die maximal er-
Auswirkungen der Hochgebirgsnatur, z. B. Krank- reichte Gebirgshöhe ist für die Höhenkrank-
heit. »Nur« ein Drittel der Opfer ist auf direkte mili- heit und damit für die Akklimatisationstaktik
tärische Einwirkung zurückzuführen. Allein Lawi- entscheidend.
nen sollen insgesamt rund 60.000 Menschen, Hun-
ger, Krankheit und Entkräftung etwa 100.000 Men- Neben dem Verbleib und der Auftragserfüllung in
schen das Leben gekostet haben [9]. der Höhe sind taktische Vorgaben und die oft sehr
Der höchste jemals bekannt gewordene militä- rasche Aufstiegsgeschwindigkeit, z. B. mit Hub-
rische Einsatz war die Besteigung des 7.422 m hohen schrauber (Problem des »vertical maneuver«), wei-
Sia Kangri durch eine pakistanische Einheit unter tere wesentliche Unterschiede zum zivilen Bergstei-
33 Führung von Yusaf Khan im Jahr 1988 unter in- gen. Der am häufigsten gemachte Fehler ist, dass die
dischem Beschuss. In heutigen Einsätzen, z. B. in Risikobewertung eines militärischen Einsatzes an-
Afghanistan, liegt die typische Einsatzhöhe im Ge- hand der gängigen Praxis beim zivilen Bergsteigen
birge zwischen 2.000 und 4.500 m, in Einzelfällen durchgeführt wird, obwohl sich diese beiden Szena-
sind Einsätze in Höhen über 6.000 m durchgeführt rien grundsätzlich voneinander unterscheiden
worden, z. B. durch britische Spezialeinheiten eben- (. Tab. 33.1).
falls in Afghanistan. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Solda-
Nach wie vor stellen die durch die Gebirgsnatur ten ausgesprochen anfällig für die Höhenkrankheit
bedingten Faktoren (Kälte, Erschöpfung, Dehydra- sind [1, 18]. Hierzu liegen umfangreiche Daten vor.
tation, Hygiene, Strahlung, Berggefahren, Unfälle So sind ein 2 %iger höhenkrankheitsbedingter Kom-
und Verletzungen), aber v. a. logistische Probleme plettausfall innerhalb der ersten 3 Tage nach Verle-
mit langen Bergezeiten und Transportwegen eine gung in eine Höhe zwischen 2.000 m bis 2.500 m bei
große medizinische Herausforderungen dar. Seit US-Marines [16] sowie von 8,3 % in einer Höhe zwi-
den Schilderungen von Clausewitz hat sich hin- schen 3.350 m und 5.500 m bei der indische Armee
sichtlich des militärischen Einsatzes in großen [17] dokumentiert. In der US-Army trat in einem
Höhen wenig getan. Allerdings spielte damals die Höhenbereich zwischen 2.000–3.960 m in 20–70 %
Höhenkrankheit eine unbedeutende Rolle, da die die akute Bergkrankheit (AMS, »acute mountain
Aufstiegsgeschwindigkeit langsamer war und sich sickness«) auf. Die erkrankten Soldaten sind (wenn
die dort eingesetzten Soldaten zumeist aus den Ein- überhaupt) allenfalls nur noch bedingt einsatzfähig.
33.2 · Physiologische Grundlagen und Einteilung in Höhenstufen
437 33

. Tab. 33.1 Grundsätzliche Unterschiede des zivilen Bergsteigens und des militärischen Einsatzes in der Höhe (ohne
Anspruch auf Vollständigkeit)

Zivil Militärisch

Kurze Gipfelexposition Verbleib in der Höhe

Keine Feindeinwirkung 100 %ige Einsatzfähigkeit

Selbst gewähltes Aufstiegstempo, individuelle Taktische Vorgaben, schnelles Aufstiegstempo,


Akklimatisierung möglich Einsatz als Gruppe, evtl. Hubschrauber

Lange Vorbereitung Zeitkritische Einsätze

Minimalgepäck Hohes Gewicht

Umkehr/Abbruch möglich (z. B. witterungsbedingt) Auftragserfüllung, Gefahr der Aufklärung

Der bekannte Höhenphysiologe James Milledge gen der Höhe würde den Rahmen dieses Kapitels
beschreibt das Befinden einer AMS-Erkrankung sprengen. Die wesentlichen Punkte werden grob
sehr treffend mit »Nobody dies from a mild AMS, angerissen.
but many wish they could«. Die Zusammensetzung der Luft ist in großen
Gerade die Soldaten des KSK (Kommando Spe- Höhen und im Flachland identisch, d. h. der Sauer-
zialkräfte) wurden und werden regelmäßig in Af- stoffanteil beträgt 20,9 %. Aber: der Luftdruck
ghanistan in Höhen bis zu 4.500 m eingesetzt. Ak- nimmt mit steigender Höhe ab und die Luft dehnt
tuelle Zahlen des 274th FST (»Forward Surgical sich entsprechend den Gasgesetzen aus, sie wird
Team«), welches 90 % aller US-Kriegsopfer während »dünner«. Daher sind pro Volumeneinheit Luft
der ersten Phase (14. Oktober 01–8. Mai 02) der weniger Gas- und Sauerstoffmoleküle enthalten
»Operation Enduring Freedom« versorgte, unter- und der Mensch nimmt somit pro Atemzug weniger
streichen die große wehrmedizinische Bedeutung Sauerstoff auf. Es kommt zur Hypoxie, daraus folgt
dieser Thematik. So waren 14,3 % aller Ausfälle wäh- u. a. eine Leistungsreduktion.
rend der »Operation Anaconda« (Höhe bis 3.191 m),
welche als das heftigste Feuergefecht seit dem Viet-
namkrieg in die Geschichte einging, allein durch die 33.2.1 Mittlere Höhe
Höhenkrankheit bedingt, weitere 24,5 % der Ausfäl-
le wurden durch Unfälle im unwegsamen alpinen Bis etwa 1.500 m über Meeresniveau ist diese Leis-
Gelände verursacht [14]. Die NATO beschäftigte tungsreduktion nur geringfügig ausgeprägt. Ober-
sich aus diesem Grund mit der Höhenmedizin und halb dieser Höhe (mittlere Höhe) sind die sofort
veranlasste 2006 ein Meeting internationaler Exper- einsetzenden Kompensationsmaßnahmen (Hyper-
ten in Kirgistan [12]. In der Bundeswehr wurde auf ventilation, Tachykardie) des Organismus bei
Befehl des Inspekteurs San extra der Lehrgang maximaler Belastung nicht mehr ausreichend und
»Höhenmedizin für Sanitätspersonal« eingerichtet, die VO2max als Maß für die Ausdauerleistungsfähig-
um Sanitätsoffiziere höhenmedizinisch für den Ein- keit nimmt dann um etwa 1 % pro 100 Höhenmeter
satz auszubilden. ab. Diese Abnahme ist bei hochtrainierten Aus-
dauerathleten ausgeprägter als bei untrainierten
Personen.
33.2 Physiologische Grundlagen
und Einteilung in Höhenstufen > Auch bei vollständiger Akklimatisation
kommt es in einer Einsatzhöhe von 4.000 m
Eine umfassende Darstellung der physikalischen zu einer um 25 % reduzierten Ausdauer-
Grundlagen und der physiologischen Auswirkun- leistungsfähigkeit.
438 Kapitel 33 · Militärischer Einsatz in großer Höhe

33.2.2 Große Höhe nen befristeten Aufenthalt. Die maximale Aufent-


haltsdauer nimmt mit steigender Höhe immer
Die Schwellenhöhe von 2.500 m markiert den weiter ab. Sie ist ab etwa 7.500 m nur noch so kurz,
Übergang zur großen Höhe. Dieser Höhenbereich dass häufig plakativ von der »Todeszone« ge-
reicht bis 5.300 m. Hier sind die Sofortanpassungs- sprochen wird.
mechanismen des Organismus nicht mehr ausrei- Die in der Höhe (überlebens-)notwendige Hy-
chend und eine Akklimatisation ist erforderlich. Es perventilation führt jedoch zu einer Abatmung von
sind sogar Fälle des lebensbedrohlichen Höhenlun- CO2 und damit zu einer massiven Störung des
genödems (HAPE) in dieser Höhe beschrieben Säure-Basen-Haushalts (pH-Wert). Der pH-Wert
[2, 8]. Das ohne schnell eingeleitete Therapie häufig hat wiederum einen entscheidenden Einfluss auf
tödliche Höhenhirnödem (HACE) ist in 2.500 m die Enzymfunktion und damit auf alle Stoffwechsel-
Höhe selten (0,01 %) in 4.000 m beträgt die Inzidenz vorgänge, jede Körperzelle ist davon betroffen. So-
bei Soldaten und Bergsteigern bereits 1–2 % [4]. Die mit wirken sich die Höhenhypoxie und die daraus
Inzidenz der AMS liegt auf 2.500 m Schlafhöhe bei hervorgerufenen Störungen elementar auf den
etwa 10–15 %, in 3.000 m bei mehr als 20 %. Unter gesamten Organismus aus, und diese Umstellung
2.500 m Schlafhöhe kommt AMS nur selten vor [1]. erfordert Zeit. . Abb. 33.1 zeigt bewährte Akklima-
Die notwendige Hyperventilation führt in der tisationsprofile. Je nach individueller Höhenemp-
Höhe zur periodischen Atmung. Dieser Atmungstyp findlichkeit kann ein schnelles oder ein eher langsa-
ist in der Rettungsmedizin als Cheyne-Stokes-At- mes gewählt werden.
mung bekannt. In der Höhe über 3.000 m tritt sie
Tipp
häufig v. a. im Schlaf auf. Durch die höhenbedingte
Hyperventilation kommt es zu einer vermehrten
Die zuverlässigste Abschätzung, zu welchem
Abatmung von CO2 (respiratorische Alkalose) und
Akklimatisationstyp der einzelne gehört, ge-
damit zu einer relativen Hemmung des Hauptatem-
lingt durch wiederholte Höhenexposition und
zentrums in der Medulla oblongata. Die Atemaus-
der daraus gewonnen Erfahrung.
setzer betragen 10 s bis zu 1 min und werden von
Personen, die dieses häufige Höhenphänomen noch
nicht kennen als bedrohlich empfunden. Es kommt Im militärisch relevanten Höhenbereich zwischen
dabei zu einem Abfall des pO2, wodurch im Glomus 2.000 und 4.500 m sind nur wenige Tage zur
33 caroticum (»Ersatzatemzentrum«) als eine Alarm- Akklimatisation notwendig. Allerdings ist die
reaktion wieder tiefe Atemzüge ausgelöst werden. Zielsetzung dieser Akklimatisationsempfehlungen
Diese führen wiederum zu einer weiteren CO2-Ab- nicht eine bestmögliche körperliche Leistungs-
atmung, sodass sich das Phänomen der periodi- fähigkeit oder die Vermeidung aller Höhensymp-
schen Atmung selbst erhält. Die eigentlich harmlose tome, sondern die weitestgehende Verhinderung
periodische Atmung selbst ist kein Symptom der schwerer Höhenkrankheit (schwere AMS, HAPE
Höhenkrankheit und sie tritt auch nach erfolgrei- oder HACE), welche zum Abstieg zwingen. Dem-
cher Akklimatisation häufig weiterhin auf. Aller- zufolge dauert die Akklimatisationsphase für einen
dings kann sie den Schlaf massiv beeinträchtigen. militärischen Einsatz in der Höhe, wenn dort z. B.
mit Kampfhandlungen zu rechnen ist, etwa 2–4
Tage länger.
33.2.3 Extreme Höhe

Die extremen Höhen über 5.300 m spielen militä- 33.2.4 Höhentaktik


risch eine untergeordnete Rolle. An diese Höhe
kann sich der Organismus nicht mehr vollständig Nun stellt sich die Frage, wie lange die einmal er-
akklimatisieren, deshalb ist ein Daueraufenthalt langte Akklimatisation anhält. Erfahrungsgemäß
nicht möglich. Nur eine mit zunehmender Höhe profitieren die Einsatzkräfte vollständig von einer
immer massivere Hyperventilation ermöglicht ei- früheren Akklimatisation, wenn die Zeitspanne
33.2 · Physiologische Grundlagen und Einteilung in Höhenstufen
439 33

. Abb. 33.1 Höhen-Zeit-Profil: Gängige Empfehlungen zur Steigerung der täglichen Schlafhöhe beim Höhenbergsteigen.
Der Kreis markiert den für militärische Einsätze in der Höhe relevanten Höhenbereich. (Adaptiert nach [6])

zwischen dem Unterschreiten der Schwellenhöhe Um in einer Höhe von 4.500 m Tätigkeiten wie
und dem späteren erneuten Überschreiten nicht Schweizer Flaschenzug oder das Tragen einer Per-
mehr als 7–12 Tage beträgt. Diese Zeitspanne von son im Rahmen der Selbst- und Kameradenhilfe
über einer Woche eröffnet Handlungsspielräume durchführen zu können, sind in Meereshöhe eine
beim militärischen Einsatz. Leistungsfähigkeit von 3,5 Watt/kg Körpergewicht
Der legendäre Höhenphysiologen Charles S. erforderlich. Als Minimalanforderung ist für Solda-
Houston hat folgende goldenen Regeln der Höhen- ten, die in der Höhe eingesetzt werden müssen, eine
taktik geprägt: Leistungsfähigkeit in Meereshöhe von 3 Watt/kg
4 »Don‘t go too high too fast« (nicht zu schnell Körpergewicht notwendig.
zu hoch steigen)! Die Akklimatisation erfolgt immer stufenweise.
4 »Go high enough to get acclimatized« (gehe Überschreitet man die Schwellenhöhe, erfolgt die Ak-
hoch genug, um einen Akklimatisationsreiz zu klimatisation an diese Höhe. Steigt man dann höher,
setzen)! muss an die neue Höhe erneut akklimatisiert werden.
4 »Don‘t stay too high too long« (bleibe nicht zu Idealerweise wird die Schlafhöhe täglich um 300 m
lange zu hoch oben)! gesteigert (. Abb. 33.1). Allein schon die Steigerung
4 »Go high, sleep low« (tagsüber hoch, Schlaf- der Schlafhöhe von 300 auf 400 m täglich führt zu
höhe tief)! einer nachgewiesenen 4fach erhöhten AMS-Rate
[1]. Oft zwingen unterschiedlichste Gründe (z. B.
Diese werden heute noch ergänzt durch die Emp- Gelände oder Auftrag) zu einer deutlich stärkeren
fehlung, anaerobe Anstrengungen (z. B. Zwischen- Steigerung. In diesen Fällen ist dann eine weitere
sprints, Maximalkraftanstrengungen, Tätigkeiten Nacht auf dieser neu erreichten Höhe erforderlich.
mit Pressatmung) unbedingt zu vermeiden.
Mit der schweren militärischen Ausrüstung > Die Akklimatisationsphase hat nicht die voll-
wird die anaerobe Schwelle schnell erreicht. Als kommene Symptom-/Beschwerdefreiheit
Zeitbedarf in akklimatisiertem Zustand muss von zum Ziel. Es darf und soll tagsüber durchaus
1 h pro 4 Entfernungskilometern sowie zusätzlich ein entsprechender Hypoxiereiz gesetzt
von 1 h pro 300 Höhenmetern im Aufstieg bzw. werden. Die Schlafhöhe sollte bei Sympto-
500 Höhenmetern im Abstieg ausgegangen werden. men nicht weiter gesteigert werden!
440 Kapitel 33 · Militärischer Einsatz in großer Höhe

Tipp 4 Praktische Zeichen einer erfolgten Akklimati-


sation sind:
Viele Höhenbergsteiger empfinden es für die 5 die wieder auf den persönlichen Normwert
Akklimatisation als vorteilhaft, nach Erreichen gesunkene Ruheherzfrequenz
des Lagers und einer kurzen Rast noch ohne 5 vermehrtes (oft nächtliches) Urinieren
Gepäck etwa 100–200 Höhenmeter weiter zu 5 wiedererlangen der Ausdauerleistungsfähig-
steigen. Dies sollte allerdings nur durchgeführt keit (beachte 10 % Abfall pro 1.000 m siehe
werden, wenn man sich wohl fühlt und es das oben)
Gelände erlaubt. 5 vertiefte Atmung in Ruhe und unter
Belastung

Ein weit verbreiteter Irrglaube ist, dass körperliche


Fitness vor Höhenkrankheit schützt. Fitness und 33.3 Formen der Höhenkrankheit
Höhenkrankheit sind unabhängig voneinander. und deren Therapie
Eher ist das Gegenteil der Fall: körperlich fitte Per-
sonen werden schneller höhenkrank, da sie tenden- Einige, immer wieder auftretende Höhenkrank-
ziell zu schnell und zu hoch aufsteigen. heiten werden nachfolgend beschrieben.
Dass dieser Sachverhalt oft nicht bekannt ist,
belegt der Auszug aus dem Interview mit dem er-
fahrenen Kommandeur der Task Force Rakkasan 33.3.1 Akute Bergkrankheit
während der Operation Anaconda.
Bei der AMS treten als Leitsymptom häufig Kopf-
» Bay: »How did you train troops for high alti-
schmerzen, verbunden mit Schlafstörungen, einem
tude operations?«
ungewohnten Leistungsverlust und Appetitlosigkeit
» Wiercinski: »It’s fitness, that part first, maintai-
auf. Der Ruhepuls ist erhöht (ca. 15–20 Schläge),
ning absolute fitness, aerobic, anaerobic, and
weiter Symptome sind Übelkeit mit Erbrechen und
strength training. Not only running but a lot
Hautödeme (z. B. Gesicht). In der Regel tritt sie mit
of road marching with loads.«
einer Latenzzeit von 6–48 h meist aus völliger
Selbstverständlich ist ein hohes Maß an Fitness Gesundheit auf und verschwindet in den meisten
33 (Ausdauerleistungsfähigkeit und Kraft) die Grund- Fällen nach 1–2 Tagen.
voraussetzung, damit auch bei der trotz vollständi- > Kopfschmerz tritt bei AMS so häufig auf, dass
ger Akklimatisation ab 1.500 m abnehmenden Aus- er zum Leitsymptom geworden ist. In den
dauerleistungsfähigkeit noch genügend Reserven meisten Fällen tritt aber der Leistungsverlust
vorhanden sind. Aber unabdingbar für einen Einsatz früher als der Kopfschmerz ein – dieser wird
in der Höhe ist die Akklimatisation an diese Höhe. nur meist übersehen oder ignoriert.
> Während der Höhenexposition ist die Zeit
des Fitnesstrainings vorbei, ab jetzt geht es » »I was unable to sleep and passed so bad a
nur noch um die Akklimatisation. night that I would not wish it on my worst
enemy«
Während der Akklimatisationsphase gilt das Prin-
zip der Unterforderung:
» Dr. Jacottet on Mont Blanc 1881

4 Der Aufstieg sollte mit Puls <120, d. h. mit


einem Leistungsgrad von 50–60 % durchge- 33.3.2 Höhenhirnödem
führt werden. Bei sehr jungen Einsatzkräften
(jünger als 20 Jahre, Maximalpuls >200/min) HACE hat vermutlich den gleichen Pathomechanis-
kann diese Grenze bis auf 140 erhöht werden. mus (Entstehungsursache im Körper) wie AMS.
4 Pressatmung und anaerobe Belastungen müs- Vermutet wird eine hypoxische Störung der Memb-
sen vermieden werden. ranfunktion, welche zu einem Ödem führt. Diese
33.3 · Formen der Höhenkrankheit und deren Therapie
441 33
Schwellung in Kombination mit einer gesteigerten gen werden, um diesen verräterischen Husten etwas
hypoxieinduzierten Gehirndurchblutung reizen die einzudämmen. Es ist aber zu bedenken, dass sie
Hirnhäute, dies führt zu den typischen Kopfschmer- atemdepressiv sind und häufig nicht ausreichend
zen. Bei weiterer Ödemzunahme kommt es zur wirken.
Hirndruckerhöhung und neurologischen Sympto- Ist die SaO2 (SaO2 = Sauerstoffsättigung) auffäl-
men. Per MRT (Magnetresonanztomographie) lig niedrig, lässt man die betroffene Person bewusst
konnte diese Flüssigkeitszunahme im Gehirn nach- hyperventilieren. Steigt dann die SaO2 nicht deut-
gewiesen werden. Der Übergang von AMS zu lich (mindestens 5–10 %-Punkte) liegt eine massive
schwerer AMS hin zum HACE ist fließend, der Pa- Diffusionsstörung (Übertritt von O2 aus den Lun-
tient ist auch für den Laien offenkundig schwerst- genbläschen in die Blutkapillaren) vor, und es droht
krank. Als Leitsymptom gilt die Ataxie (Gleichge- HAPE. Dieser Patient muss, auch wenn ansonsten
wichts- und Koordinationsstörung) die zu den nur geringe Symptome vorliegen, in tiefere Lagen
AMS-Symptomen hinzukommt. Ebenso können gebracht werden.
vielfältige neurologische Symptome wie Halluzina- > In 3.000 m Höhe weist eine SaO2 <90 % auf
tionen und vernunftwidriges Verhalten hinzukom- eine ungenügende Akklimatisation hin. AMS
men, aber auch Erstsymptome sein. HACE endet und HAPE gehen immer mit einer erhebli-
häufig tödlich und ist oft mit dem Höhenlungen- chen Entsättigung einher.
ödem kombiniert.
Tipp

33.3.3 Höhenlungenödem Die SaO2 ist oft individuell unterschiedlich


(unterschiedliche Werte auf gleicher Höhe und
Der Pathomechanismus des Höhenlungenödems
bei gleicher Akklimatisation), daher kann der
(»high altitude pulmonary edema«, HAPE) basiert
Vergleich innerhalb der Gruppe zu falschen
auf einem ansteigenden Blutdruck im Lungenkreis-
Rückschlüssen führen. Der individuelle Verlauf
lauf. Diesem Druck können die Lungengefäße
ist aussagekräftiger, deshalb am besten
(Niederdrucksystem) nicht standhalten, es kommt
tägliche Routinemessung mit dem Pulsoxyme-
zu kleinen Lecks und zur Ödembildung zwischen
ter durchführen, um einen plötzlichen Sätti-
Kapillare und Alveole. Dadurch wird der Gasaus-
gungsabfall zu erfassen.
tausch (O2 stärker als CO2) beeinträchtigt und die
Höhenhypoxie verstärkt sich weiter. Die betroffe-
nen Patienten sind schwerstkrank. Atemnot und Typischerweise treten HAPE oder HACE häufig in
Lufthunger/Luftnot sind Alarmsymptome. Der der 2. Nacht auf einer neuen Höhe bzw. in der
plötzliche (unerklärliche) Leistungsabfall ist typi- 4. Nacht nach dem Überschreiten der Schwellen-
scherweise das Leitsymptom des HAPE. HAPE ist höhe auf. Eine AMS muss dabei nicht vorausgegan-
dabei gar nicht so selten wie oft angenommen. Gab- gen sein [1].
ry hat von 1992–2000 52 HAPE-Fälle in den franzö-
sischen Skigebieten (1400–2400 m) dokumentiert
(28). Auch in Deutschland ist ein HAPE-Fall auf 33.3.4 Schlafstörungen
dem Jubiläumsgrat (Verbindungsgrat Zugspitze –
Alpspitze) beschrieben. Schlafstörungen sind in der Höhe sehr häufig.
Der in der kalten trockenen Höhenluft sehr Durch den Sauerstoffmangel befindet sich der
häufige trockene Höhenhusten hat für sich allein Organismus in einer Alarmsituation und dies führt
nichts mit HAPE zu tun. Allerdings kann der zur Ausschüttung von Stresshormonen. Diese ver-
Höhenhusten so stark werden, dass es dadurch zu bessern durch ihre Wirkung auf Herz und Lunge die
Rippenfrakturen kommt. Sauerstoffversorgung des Gewebes. Am deutlich
Zur Linderung des Hustens, aber auch bei kriti- erhöhten Ruhepuls kann jeder diese Wirkung spü-
schen Operationen, können Codeinpräparate erwo- ren und messen. Die Schlafstörungen sind direkte
442 Kapitel 33 · Militärischer Einsatz in großer Höhe

Folge dieser Stresshormone und für die betroffenen


Personen häufig sehr belastend. Keinesfalls emp- 5 Bei AMS-Symptomen kein weiterer
fiehlt sich die Einnahme von Schlafmedikamenten Aufstieg.
oder Alkohol. Beides wirkt sich in der Höhe un- 5 Wenn es dir schlechter geht, steige
günstig aus und ist gefährlich, denn sie senken den sofort ab
Atemantrieb und verschärfen dadurch die Hypoxie. 5 Personen mit AMS dürfen nie allein
Für den Organismus ist in diesem Fall die durch die gelassen werden.
Stresshormone verbessere Sauerstoffversorgung er-
holsamer als ein erzwungener narkoseartiger Schlaf.
Beispielsweise wird, wie unten aufgeführt, das mit
dem Coffein eng verwandte Theophyllin erfolgreich 33.4 Quantifizierung der Höhen-
zur Schlafverbesserung eingesetzt. In der Höhe ist krankheit
eben alles anders!
Vom ehemaligen Präsidenten der österreichi- Eine weit verbreitete Möglichkeit, den Schweregrad
schen Gesellschaft für Alpin- und Höhenmedizin der Höhenkrankheit zu quantifizieren, ist der Lake
Prof. Dr. Franz Berghold stammt folgendes Zitat: Louise Score [5]. Die beim Ausfüllen dieses Frage-
bogens (. Tab. 33.2 und . Tab. 33.3) notwendige
» »Höhenkrankheit tritt nie schicksalshaft auf,
Selbstreflektion der eigenen Symptome ist ein ge-
sondern ist fast immer die Folge gravierender
wollter Nebeneffekt. Er ermöglicht bei täglichem
höhentaktischer Fehlentscheidungen. Zahlrei-
(am besten morgendlichen) Ausfüllen eine gute
che Analysen schwerer und tödlicher Höhen-
Verlaufsbeobachtung. Der Aufwand ist gering, da-
anpassungsstörungen zeigen mit erschüttern-
her sollte er bei Höhenausbildungen generell von
der Regelmäßigkeit, dass zuvor gegen eine,
allen Teilnehmern ausgefüllt werden. Bei einem mi-
meist sogar gegen mehrere Regeln der Höhen-
litärischen Einsatz in der Höhe muss im Einzelfall
taktik verstoßen wurde und dass außerdem die
entschieden werden, ob er verwendet wird oder
daraus resultierenden Frühzeichen bagatelli-
nicht, denn je höhenerfahrener die Einsatzkräfte
siert, verschwiegen, missachtet und ohne
sind, desto weniger sind derartige Hilfsmittel erfor-
rechtzeitige Konsequenzen geblieben sind.«
derlich.
Beim militärischen Einsatz, insbesondere von klei-
33 nen Spezialeinheiten, gefährdet bereits ein höhen-
kranker Soldat den gesamten Einsatz und bringt da- 33.4.1 Anwendung der Pulsoxymetrie
mit nicht nur sich selbst, sondern auch seine Kame-
raden in Lebensgefahr. Diese Problematik sollte in Die SaO2-Messung sollte immer am selben Finger
der Vorbereitungsphase thematisiert werden, denn (Zeigefinger) durchgeführt werden. Der Finger
Corps-Geist, die Bedeutung von Stärke und Durch- muss warm sein (zuvor unter die Achsel klemmen).
haltefähigkeit im sozialen Gefüge und die hohe Wegen der in der Höhe typischen periodischen At-
Motivation, besonders von Spezialeinheitssoldaten, mung schwankt die vom Pulsoxymeter angezeigte
führen dazu, eigene Symptome herunterzuspielen. SaO2, deshalb muss über einen längeren Zeitraum
(1–2 min) gemessen und der Mittelwert für diese
Messperiode abgeschätzt werden. Der Untersuchte
Die fünf »goldenen Regeln« der Himalayan sollte während der Messung nicht auf die Anzeige
Rescue Association schauen, um eine Beeinflussung durch Hyperventi-
5 Jeder kann höhenkrank werden, aber lation zu vermeiden.
niemand muss daran sterben.
> Der Untersucher muss bei der Messung im-
5 Jede Gesundheitsstörung in der Höhe
mer auf Hyperventilation achten.
muss so lange als Höhenkrankheit gelten,
solange nicht das Gegenteil bewiesen ist. Ausdauerathleten weisen in Ruhe mitunter inad-
äquat niedrige SaO2-Werte auf. Passen auffällig
33.5 · Therapie der Höhenkrankheit
443 33

. Tab. 33.2 Der Lake Louise Score. Punkte 1–5: . Tab. 33.3 Zusätzlich wurden für begleitende Ärzte
Selbstbeurteilungsabschnitt. Summe ≥4: Verdacht die Punkte 6–9 aufgenommen. Ab einer Gesamtsum-
auf AMS. (Nach [11]) me von = 5 besteht der Verdacht auf AMS. (Nach [11])

1. Kopf- 0: Kein Kopfschmerz 6. Bewusstsein 0: Ungestörtes Bewusstsein


schmerz 1: Geringer Kopfschmerz 1: Lethargie, Apathie
2: Mäßiger Kopfschmerz 2: Verwirrtheit, Desorientierung
3: Massiver Kopfschmerz 3: Somnolenz, Bewusstlosigkeit
4: Koma
2. Gastro- 0: Normaler Appetit
intestinale 1: Appetitlosigkeit oder leichte Übel- 7. Ataxie 0: Keine Gleichgewichtsstörung
Symptome keit (Fersen-Zehen- 1: Leichte Gleichgewichts-
2: Mäßige Übelkeit oder Erbrechen Gehen) störungen
3: Schwerste Übelkeit oder Erbrechen 2: Aus der Linie treten
3: Niederfallen
3. Müdigkeit 0: Keine Müdigkeit oder Schwäche
und/oder 1: Geringe Müdigkeit/Schwäche 4: Stehunfähigkeit
Schwäche 2: Mäßige Müdigkeit/Schwäche 8. Periphere 0: Keine periphere Ödeme
3: Schwere Müdigkeit/Schwäche Ödeme 1: Periphere Ödeme an einer Stelle
4. Schwindel 0: Kein Schwindel 2: Periphere Ödeme an mehreren
1: Leichter Schwindel Stellen
2: Mäßiger Schwindel
9. Wie beein- 0: Keine Leistungseinschränkung
3: Schwerer Schwindel
trächtigen 1: Geringe Leistungsein-
5. Schlaf- 0: Normaler, gewohnter Schlaf diese Punkte schränkung
störungen 1: Ungewohnte Schlafstörung die Leistungs- 2: Mäßiger plötzlicher Leistungs-
2: Schwere Schlafstörungen, häufiges fähigkeit abfall
Aufwachen 3: Schwerer plötzlicher Leistungs-
3: Völlige Schlaflosigkeit abfall

niedrige SaO2-Ruhewerte nicht in das klinische > Bei allen schweren Formen der Höhenkrankheit
Bild, sollte diese Person leichte körperliche Tätigkeit gilt der Abstieg bis zur letzten beschwerde-
(z. B. Herumlaufen oder 5 Kniebeugen) durchfüh- freien Schlafhöhe als kausale Therapie der Wahl.
ren und anschließend erneut gemessen werden.
Liegt diese Messung höher, wird dieser Wert ver- Ist die beschwerdefreie Schlafhöhe nicht bekannt,
wendet. Ein derartiger Befund spricht für eine be- muss zumindest auf die Höhe abgestiegen werden,
reits solide Akklimatisation. Ein weiterer Abfall der in der 2 Nächten zuvor geschlafen wurde.
SaO2 bei dieser moderaten körperlichen Belastung Bei HAPE oder HACE gelten folgende Therapie-
ist hingegen ein Alarmzeichen. maßnahmen:
4 Jegliche körperliche Anstrengung vermeiden.
4 Den Patienten mit dem Hubschrauber evaku-
33.5 Therapie der Höhenkrankheit ieren. Ist dies nicht möglich muss er getragen
werden
Bei der Höhenkrankheit kann eine leichte und eine 4 Transport muss in aufrechter Oberkörper-
schwere Form der AMS unterschieden werden. Bei position erfolgen, damit der Druck im Lungen-
der leichten Form kann man auf der jeweiligen kreislauf nicht weiter steigt.
Höhe abwarten und den Zustand des Betroffenen 4 Patient muss warm gehalten werden.
beobachten. Bei der schweren Form der AMS muss
abgestiegen werden. Als wichtigster Therapiebaustein bei der AMS gilt,
keinen weiteren Aufstieg durchzuführen, sondern
ein Ruhetag einzulegen.
444 Kapitel 33 · Militärischer Einsatz in großer Höhe

> Bei einer Befundverschlechterung muss ab- Eine immer verfügbare Therapiemöglichkeit ist
gestiegen werden. das Ausatmen gegen die Lippenbremse, auch
Auto-PEEP (PEEP = »positive endexpiratory pressu-
Neben den Sofortmaßnahmen Ruhe und Abstieg re«) genannt. Hierbei schließt der Patient die Lippen
bzw. Abtransport sind folgende Therapiemöglich- soweit, dass nur noch ein kleiner Luftstrahl unter
keiten von nachgeordneter Bedeutung und dienen Druck mit Einsatz der Bauchmuskulatur entweichen
lediglich dazu, den Patient transportfähig zu be- kann. Der Luftstrahl sollte so stark sein, dass er in
kommen bzw. die Zeit bis zu einem möglichen Ab- 30 cm am Handrücken noch gefühlt werden kann.
stieg zu überbrücken. Keinesfalls dürfen diese Maß- Nun wird streng nach Armbanduhr innerhalb 2 s ein-
nahmen den sofortigen Abstieg relevant verzögern: geatmet und innerhalb 8 s Auto-PEEP ausgeatmet.
Grundsätzlich sinnvoll ist die Gabe von Sauer- Idealerweise wird an den Patienten ein Pulsoxymeter
stoff mit einer Flussrate, um eine SaO2 von 90 % zu angeschlossen. Die Behandlung wird über 30 min
erreichen (z. B. initial 6–10 l/min, anschließend durchgeführt, anschließend 90 min Pause. Dieser
2–4 l/min). 2-h-Rhythmus wird fortgeführt. Der Betroffene soll-
Die Therapie mit Sauerstoff ist immer sinnvoll, te dabei mit erhöhtem Oberkörper liegen oder sitzen.
sie ist allerdings v. a. durch die mangelnde Verfüg- Auto-PEEP-Atmung ist anstrengend, wird aber in
barkeit von Flaschensauerstoff limitiert. Daher der Regel von höhenkranken Personen dennoch gut
muss eine Befundbesserung für den raschen Ab- toleriert, da der damit erzielte Anstieg der Sauer-
stieg genutzt werden! stoffsättigung enorm ist (. Abb. 33.2).
Eine elegante Therapie ist die Verwendung eines Medikamente werden regelmäßig im Zusam-
Überdrucksackes, in den der Patient gelegt wird. menhang mit Höhenerkrankungen eingesetzt, ob-
Durch Aufpumpen mit Umgebungsluft wird der wohl keines dieser Medikamente eine entsprechen-
Druck im Sack erhöht und so ein beachtlicher »Ab- de Zulassung hat. Eine allumfassende Beschreibung
stieg« von 2.000–2.500 m simuliert. Die Behand- und Aufzählung übersteigt auch den Rahmen dieses
lungsdauer sollte zwischen 60 und 120 min betragen. Buches. Dennoch sollen einige typische Medika-
Auch hier muss die Befundbesserung für den sofort mente vorgestellt werden, allerdings mit dem deut-
anschließenden Abstieg genutzt werden. Das Ge- lichen Hinweis, dass Medikamentenverordnung
wicht eines solchen Sacks liegt bei akzeptablen 4,8 kg eine rein ärztliche Aufgabe ist und sie nur im
(CERTEC Bag) und 6,5 kg (GAMOW Bag). Proble- Rahmen der Notkompetenz durch Laien erfolgen
33 me liegen in der Verfügbarkeit, meist ist der Sack darf. Die Medikamentengabe setzt eine korrekte
nicht am Ort des Bedarfs, und es kann immer nur Diagnose der Erkrankung und Erfahrung im Um-
ein Patient pro Sack behandelt werden. Das perma- gang mit dem Medikament und dessen Wirkungs-
nente Pumpen bindet mindestens zwei Kameraden weise voraus. Die unten aufgeführte Liste ist nicht
ein, und es ist körperlich anstrengend. So einfach das vollständig, insbesondere hinsichtlich möglicher
Prinzip klingt, die Anwendung muss zuvor intensiv Nebenwirkungen.
geschult werden. Es sind bereits Personen bei der > Als Grundsatz gilt: Muss ein Medikament
Überdrucksacktherapie verstorben, weil nicht genü- verabreicht werden, muss die Symptom-
gend Frischluft zugepumpt wurde. Platzangst oder besserung für den Abstieg genutzt werden.
Übelkeit und Erbrechen (typische Höhensympto- Ausnahme: Höhenkopfschmerz. Hier kann
me) sowie die fehlende direkte Kontaktmöglichkeit bei Symptombesserung auf der Höhe ver-
sind weitere Problemfelder. Druckausgleichsproble- blieben werden.
me können in der Regel effektiv mit abschwellendem
Nasenspray behandelt werden, der Druck darf nur Bessert sich der Kopfschmerz jedoch nicht, droht
nicht zu schnell wieder abgelassen werden. Nützlich ein HACE und es muss abgestiegen werden. Eine
sind ein am Patient angeschlossenes und durch das besondere Stellung nimmt Acetazolamid (Diamox)
Beobachtungsfenster sichtbares Pulsoxymeter sowie ein, dies wird zur Prophylaxe zeitlich befristeter
ein im Sack platzierter Höhenmesser als Minimal- Höhenexposition bei nicht ausreichender Akklima-
monitoring und zur Erfolgskontrolle. tisation eingesetzt.
33.5 · Therapie der Höhenkrankheit
445 33

. Abb. 33.2 Auto-PEEP-Atmung in 4.330 m Höhe bei einer schwer höhenkranken Person (die SaO2-Werte von <65 % liegen
in einem kritisch tiefen Bereich. Es kommt zu einem sofortigen SaO2-Anstieg von 20 %-Punkten mit einem Anstieg auf für
diese Höhe ausgesprochen hohe Werte von bis zu 95 %. Sehr interessant und noch nicht vollständig geklärt ist die im An-
schluss an die Auto-PEEP-Phase noch lang andauernde SaO2-Verbesserung (dunkle Kurve). Die erforderliche Anstrengung ist
tolerabel; Pulswerte <100/min (helle Kurve). Bereits 4 Tage später konnte der 6.198 m hohe Mt Mc Kinley erfolgreich bestiegen
werden. (Adaptiert nach [27])

jAcetazolamid (Diamox, Glaupax) Es beschleunigt nicht die Akklimatisation – im


Falls ein Einsatz in der Höhe bei ungenügendem Gegenteil – es reduziert die respiratorische Alkalose
Akklimatisationszustand unumgänglich ist, ist es und damit einen bedeutenden Akklimatisationsreiz.
das Medikament der Wahl. Auch in bereits gut
akklimatisiertem Zustand kann eine Einnahme er- Kontraindikation Acetazolamid darf bei HAPE
wogen werden, wenn Geschwindigkeit eine große nicht angewendet werden, da es eine vorliegende
Rolle spielt (z. B. Kommandounternehmen oder respiratorische Azidose verschlimmert. Eine Sulfo-
auch Verkürzung der Expositionszeit bei großer namidunverträglichkeit zählt ebenfalls zu den Kon-
Kälte). Die Abwägung einer Einnahme unter diesen traindikationen.
Gesichtspunkten ist streng zu stellen.
jIbuprofen
Dosierung 2-mal 125 mg bis 2-mal 250 mg zur Pro- Dosierung 3-mal 600 mg bei Höhenkopfschmerz;
phylaxe (Vorbeugung). alternativ Paracetamol 4-mal 500 mg.

Wirkmechanismus Über die Hemmung des En- Wirkmechanismus Der Wirkmechanismus ist sym-
zyms Carboanhydrase kann weniger CO2 abge- ptomatisch und nicht kausal. Grundsätzlich ist Ibu-
atmet werden. Dadurch erhöht sich der CO2-Spiegel profen in der Höhe gut verträglich.
im Blut und der wichtigste Stimulus für das Haupt- Falls sich der Kopfschmerz nicht besser, Abstieg
atemzentrum in der Medulla oblongata bleibt er- bei Gefahr für drohendes HACE.
halten. Der Atemantrieb wird erhöht und erlaubt
plakativ eine Hyperventilation ohne (mit weniger) jAcetylsalicylsäure (Aspirin)
Störung des Säure-Basen-Haushalts. Über diesen Das Medikament hat im Rahmen der Therapie der
Mechanismus wirkt das Medikament auch schlaf- Erfrierung nach wie vor einen Stellenwert und soll-
verbessernd (Erhöhung des SaO2, Reduktion te daher für Höhenaufenthalte mitgeführt werden.
der periodischen Atmung). Es greift damit als
einziges Medikament kausal in den Entstehungs- Dosierung 1-mal 100–300 mg.
mechanismus der Höhenkrankheit ein. Über die
beschriebene Enzymhemmung wirkt es auch diure- Wirkmechanismus Es hemmt das Aneinanderlagern
tisch. der Thrombozyten (Thrombozytenaggregation)
446 Kapitel 33 · Militärischer Einsatz in großer Höhe

irreversibel und bessert daher die Durchblutungs- (HACE und HAPE liegen vor) kombiniert werden.
situation in erfrorenem Gewebe Es ist zur Prophylaxe der AMS (4 mg alle 8 h) effek-
tiv, weist aber prinzipiell mehr Nebenwirkungen auf
Nebenwirkung In der Höhe deutlich erhöhtes als Diamox. Dient auch zur Therapie schwerer
Magenblutungsrisiko. Daher sollte es nicht zur The- Höhenkopfschmerzen, insbesondere in Verbin-
rapie des Höhenkopfschmerzes verwendet werden. dung mit Übelkeit.

jNifedipin (Adalat) retard Nebenwirkungen Die möglichen Nebenwirkungen


Dosierung 20 mg retard alle 6–8 h; das Notfall- sind bei der akuten Lebensgefahr (HACE) von un-
medikament bei HAPE. tergeordneter Bedeutung, werden aber bei längerer
Einnahme (z. B. zur Prophylaxe) relevant: Stim-
Wirkmechanismus Als klassisches antihypertensi- mungsbeinflussung, Nebennierensuppression, In-
ves Medikament (Ca-Antagonist) senkt es effektiv fektneigung, Eiweißabbau, etc.
den pulmonalarteriellen Blutdruck und beseitigt
damit die Hauptursache des HAPE. jTheophyllin retard
Dosierung 200–300 mg zur Nacht zur Schlafver-
Anwendung Nifedipin ist in Kombination mit besserung.
Überdrucksack und Sauerstoff am effektivsten. Es
muss ein schnellstmöglicher Abstieg erfolgen. Wirkmechanismus Erhöht den zentralen Ateman-
Nifedipin wird auch zur Prophylaxe bei HAPE- trieb und verbessert dadurch in der Höhe den Schlaf
gefährdeten Personen bei nicht vermeidbarem Auf- (Fallberichte).
stieg eingesetzt.
Nebenwirkungen Es können z. B. Herzfrequenzer-
! Vorsicht systemischer Blutdruckabfall, des-
halb immer nur Retardform verwenden.
höhungen auftreten, sind in dieser niedrigen Dosie-
rung aber selten.
Medikamente, die spezifisch den pulmonalarateri-
ellen Druck senken sollen, z. B. Sildenafil, haben Anwendung Höhenbedingte Schlafstörungen.
sich bislang in der Therapie des HAPE (noch) nicht
durchgesetzt. Vom Wirkmechanismus sollten sie
33 sich auch zur Prophylaxe eignen, die Studienlage ist 33.6 Aktuelle Problemfelder
bislang allerdings uneinheitlich. Auch eigene Er- und Lösungsansätze
fahrungen haben nicht überzeugt. Bislang existiert
daher keine Anwendungsempfehlung für den Ein- Bislang sind vor allem Fortschritte in der frühzeiti-
satz in der Höhe. gen Diagnose der Höhenkrankheit vor Ort gelun-
gen [24–26]. Aktuelle Probleme bestehen beim
jDexamethason (Fortecortin) Rettungseinsatz und bei Einsätzen von Spezialein-
Dosierung 40 mg intramuskulär bei HACE. 8 mg heiten in der Höhe. Ungeklärt sind bislang die Pro-
alle 6 h oral bei Patienten mit klarem Bewusstsein. bleme, die ein zeitkritischer Einsatz von Reserve-
einheiten, z. B. der QRF (»Quick Reaction Force«),
Wirkmechanismus Es stabilisiert die Zell-Membra- in der Höhe mit sich bringt. Ein Personalpool mit
nen und wirkt antientzündlich. höhenerfahrenen Soldaten ist die Grundvorausset-
zung, damit ein militärischer Einsatz in der Höhe
Anwendung Dexamethason wird idealerweise in überhaupt durchgeführt werden kann. Idealerweise
Kombination mit Überdrucksack und Sauerstoff sollte jeder in der Höhe eingesetzte Soldat seine in-
gegeben, ein schnellstmöglicher Abstieg ist notwen- dividuellen Höhenkrankheitssymptome kennen.
dig. Es senkt zusätzlich den Druck im Lungenkreis- Minimalforderung ist zumindest eine fundierte
lauf bei HAPE, aber nicht so wirksam wie Nifedipin theoretische höhenmedizinische Ausbildung und
und kann daher bei nicht eindeutiger Situation höhenerfahrene Führer vor Ort. Wegen höhenme-
33.6 · Aktuelle Problemfelder und Lösungsansätze
447 33
dizinischer Unerfahrenheit mussten bereits Einsät-
ze während der Anfangszeit der OEF (»Operation – Schulung in Diagnoseverfahren, z. B. Lake
Enduring Freedom«) abgebrochen werden. Louise Score, Pulsoxymetrie
Neben der Höhe spielt die Expositionszeit, die – Höhentaktik erlernen
Planbarkeit und die Art des Einsatzes eine wesent- – Anwendung spezifischer Medikamente
liche Rolle. Beispielsweise verbringen Einsatzkräfte – Eigenen Höhentauglichkeit erfahren
bei einem Flugzeugabsturz in großer Höhe eine – Individuelles Akklimatisationsverhalten
überschaubare Zeit in dieser Region, um Verletzte erlernen
zu bergen. Dagegen ist die Zeitdauer meist unklar, 5 Überleben in extremer Umgebung
wenn Soldaten in ein Gefecht gegen akklimatisierte – Berggefahren, Wettervorhersage
Gegner in die Höhe verlegt werden. Kann man im – Lagerbau, Wärmeerhalt
ersten Fall, analog dem zivilen Bergsteigen in den – Trinkwassergewinnung und Verpflegung
Alpen, die Latenzzeit der Höhenkrankheit für sich – Lösung logistischer Herausforderungen
nutzen, müssen im zweiten Fall die eingesetzten – Ausrüstungserprobung
Soldaten an die Einsatzhöhe akklimatisiert und mit – Erhalt der Kommunikation
der Höhenkrankheit vertraut sein. – Schulung der Leidensfähigkeit
Tipp

Wegen der hohen Ausbildungsintensität führen vie-


Wird für einen Einsatz das durch die Latenz der
le Verbündete wie z. B. Großbritannien, Frankreich,
Höhenkrankheit bedingte symptomfreie Inter-
Spanien, USA, etc. regelmäßig Ausbildungsexpedi-
vall fest eingeplant und kann dann aber die
tionen (u. a. Mt. Everest) durch. In der Bundeswehr
vorgesehene kurze Höhenexpositionszeit – aus
ist hier das KSK besonders aktiv.
welchen Gründen auch immer (auftretender
Ausgesprochen wünschenswert wäre es, wenn
Gegner, Ausfall Luftfahrzeug, Wetterum-
eine Vorabidentifikation von Soldaten mit beson-
schwung, etc.) – nicht eingehalten werden, ist
derer Höhenverträglichkeit möglich wäre. Hier
mit massivem Auftreten der Höhenkrankheit
gibt die bisherige Höhenanamnese die wertvollsten
zu rechnen. Alle eingesetzten Personen sind
Hinweise, auch dies unterstreicht die Bedeutung der
in akuter Gefahr, und es muss alles daran ge-
Höhenausbildung. Des Weiteren wurden und wer-
setzt werden, sie so schnell wie möglich zu
den u. a. im Bundeswehrkrankenhaus Ulm Testver-
evakuieren.
fahren speziell für diese Fragestellung entwickelt. So
können vor Ort mit Hilfe des »Höhenleistungs-
Für die höhenmedizinische Ausbildung ist das Ex- tests« innerhalb einer Gruppe diejenigen Soldaten
peditionsbergsteigen ideal, da dieses dem militäri- identifiziert werden, die bei weiterem Aufstieg nicht
schen Einsatz in der Höhe am nächsten kommt [19]. höhenkrank werden. Bei diesem Test mussten be-
Dabei wird lange Zeit in der Höhe verblieben, in der reits vorakklimatisierte Soldaten eine Treppe auf
Regel fehlt eine feste Infrastruktur und das Gepäck- der Turiner Hütte (3.371 m) im Mt. Blanc-Gebiet so
gewicht ist ebenfalls sehr hoch. Die 7 Übersicht gibt schnell als möglich hochrennen. Die benötigte Zeit
einen Überblick über die Ausbildungsziele des Ex- und die niedrigste SaO2 beim Testlauf waren die
peditionsbergsteigens. Zielkriterien, diese korrelierten mit der Höhensym-
ptomatik auf dem Mt. Blanc (4.808 m). Durch die
kombinierte Betrachtung beider Zielgrößen (Zeit
Ausbildungsziele des Expeditions- und SaO2) und unter Beachtung der Grenzwerte ist
bergsteigens es möglich die Soldaten zu identifizieren, die auf
5 Höhenmedizin dem Mt. Blanc keine bzw. nur eine unbedeutende
– Höhensymptome und -krankheit kennen- Höhensymptomatik aufwiesen, d. h. in dieser Höhe
lernen auch einen länger andauernden Aufenthalt durch-
führen könnten [22]. Die exakte Testbeschreibung
448 Kapitel 33 · Militärischer Einsatz in großer Höhe

würde den Rahmen dieses Buches sprengen und ist tiv unproblematisch im Einsatzland installierbar.
in der weiterführenden Literatur nachlesbar oder Neuere Studien [3] zeigen, dass bereits eine kurze
direkt vom Autor erhältlich. Zeitspanne von 1–4 h pro Tag (IHE) einen Akklima-
Ein anderer viel versprechender Ansatz bietet tisationseffekt bewirkt. Wenn sich diese Ergebnisse
der Aminosäureabkömmling ADMA (asymmetri- bestätigen, würde die Hypoxiekammer eine voll-
sches Dimethylarginin). Anhand dessen Verhalten kommen neue Möglichkeit der Akklimatisation und
(Anstieg oder Abfall im Blut) ist bereits nach 2 h Hö- »In-Übung-Haltung« von Soldaten ermöglichen
henaufenthalt (entsprechend 4.000 m) eine sichere [20]. Es wäre eine einsatzbegleitende Akklimatisati-
Aussage möglich, ob eine Person im weiteren Verlauf on im Schlaf möglich, oder es könnte sogar das Ein-
(nach 12 h) höhenkrank wird (Sensitivität 80 %; Spe- satz-Briefing in einem entsprechend eingerichteten
zifität 100 %) [23]. Die Laborbestimmung des Hypoxieraum bereits zur Akklimatisation genutzt
ADMA ist allerdings (derzeit noch) sehr aufwändig werden. Praktische Erfahrungen der indischen Ar-
und an ein gut ausgestattetes Labor gebunden. Wenn mee, die zahlreiche Hypoxiekammern an 16 Stand-
diese Bestimmung irgendwann einmal so einfach orten mit einer Kapazität von bis zu 500 Soldaten pro
wird wie die Blutzuckerbestimmung könnte diese Tag betreibt, lassen vermuten, dass sich körperliche
Methode vor einem geplanten Einsatz sogar drau- Betätigung in einer derartigen Kammer zusätzlich
ßen im Feld angewandt werden. günstig auf den Akklimatisationsvorgang auswirkt
Es stehen noch mehrere Testmethoden zur Ver- [20]. Eine Übersichtsarbeit im Auftrag des US-Ar-
fügung, die statistisch gesicherte Aussagen erlau- my Research Institute of Environmental Medicine
ben. Allerdings muss bedacht werden, dass keine sieht hierin einen wesentlichen Fortschritt für die in
Testmethode eine 100 %ige Vorhersagesicherheit der Höhe eingesetzten Soldaten und plädiert für die
bieten kann. Jedes Testergebnis ist letztendlich eine Anwendung [13]. Aktuell sind entsprechende Emp-
Wahrscheinlichkeitsabschätzung, wobei grundsätz- fehlungen zur Akklimatisation in einer solchen Hy-
lich Aussagen über größere Gruppen zutreffender poxiekammer veröffentlicht worden [7].
und Aussagen zu Einzelpersonen immer problema- Trotz aller Erfolge in der Früherkennung der
tischer sind. Daher besteht die Notwendigkeit, dass Höhenkrankheit oder der Höheneignung sowie in-
in der Höhe eingesetzte Soldaten vorab eigene Er- novativer Ideen, wie sogar in Feldlagern eine suffi-
fahrung in realer Höhe sammeln. Aus diesem ziente Akklimatisation erlangt und erhalten werden
Grund führt das KSK inzwischen regelmäßig ent- kann, ist die Ausbildung der in der Höhe eingesetz-
33 sprechende Expeditionen durch. Dennoch bleibt es ten Soldaten der wichtigste Punkt. Nur wer seine
ein großes Problem wie Eingreiftruppen (z. B. QRF) Höhensymptome kennt kann diese rechtzeitig auch
akklimatisiert werden sollen und wie diese Akkli- unter Einsatzstress bemerken. Auch müssen die zu-
matisation erhalten wird. sätzlichen Höhenfaktoren wie Kälte, Wetter, Trink-
Grundsätzlich wären Akklimatisationscamps wassergewinnung, Hygiene, Leidensfähigkeit, Berg-
auf z. B. 3.000 m Höhe sinnvoll, allerdings nur sehr gefahren, etc. praktisch erlernt und am eigenen Leib
schwer praktikabel. Intermittierende Höhenaufent- erfahren werden, um im Einsatz in dieser lebens-
halte sind eine eher praktikable Lösung, doch sind feindlichen Umgebung bestehen zu können.
diese im Einsatzland immer mit einer Gefährdung Wesentlich ist es, bei allen militärischen Füh-
verbunden. rern ein ausgeprägtes Problembewusstsein für den
Eine sehr vielversprechende Möglichkeit der militärischen Einsatz in der Höhe herbeizuführen.
Akklimatisation vor Ort bieten sog. Hypoxiekam- Häufig werden die Höhen von 2.000–4.500 m mas-
mern. In diesen wird die Höhe nicht durch Unter- siv unterschätzt, die Berichte und Studien v. a. der
druck, sondern durch Verringerung des Sauerstoff- amerikanischen Streitkräfte zeigen dies ganz deut-
anteils in der Luft simuliert. Diese »normalen« Räu- lich [14–16, 18]. Um derartigen leidvollen Erfah-
me können im Gegensatz zu Unterdruckkammern rungen zukünftig entgegenzuwirken, werden von
einfach durch eine Tür betreten und wieder verlas- zivilen Firmen für die Streitkräfte Extra-Lehrgänge
sen werden. Diese Technik ist auch deutlich kosten- angebotene, z. B. »mission performance at high alti-
günstiger als Akklimatisationscamps und wäre rela- tude« von DMI (»Deployment Medicine Interna-
33.7 · Tipps und Tricks
449 33
tional«), welcher ganz pragmatische Lehrgangsziele Schnee muss wegen der Gefahr kältekonservierter
verfolgt. Ausgeschrieben für militärische Führer Fäkalien ebenfalls abgekocht werden.
werden die Teilnehmer in diesem Lehrgang mit der
Höhenkrankheit konfrontiert, kombiniert mit zahl- Tipps
reichen veranschaulichenden praktischen Übungen 5 Schneller und spritsparender ist es, falls
und Erfahrungen sowie vorgeschaltetem theoreti- möglich, einen See aufzuhacken und das
schen Unterricht. Dies geschieht in einer Umge- eiskalte Wasser abzukochen, als das Eis des
bung, in der jederzeit interveniert werden könnte. Sees zu schmelzen.
In der Bundeswehr wurde der Lehrgang »Höhen- 5 Immer einen Topfdeckel verwenden.
medizin für Sanitätspersonal« eingerichtet, und es 5 Am besten das 2-Topf-Prinzip anwenden.
wird seit jeher im Rahmen des Heeresbergführer- Großer Topf zum Schnee schmelzen, kleiner
lehrgangs auch eine solide höhenmedizinische Aus- Topf, um das erhaltene Wasser abzukochen.
bildung vermittelt. 5 Waagrecht liegende 1,5 l PET-Flasche in
Zum Schluss einige Bemerkungen zu dem The- direktem Sonnenlicht ergibt Trinkwasser
ma »ausreichenden Trinkmenge« in der Höhe. Aus (SODIS: Solar Water Disinfection).
dem Sport ist bekannt, dass bereits ein Verlust an
Körperwasser von 2 % die Ausdauerleistungsfähig-
keit und bei 4 % die Kraft einschränkt. In der Höhe
kommt hinzu, dass bei einem Flüssigkeitsverlust 33.7 Tipps und Tricks
von 1 l die Sauerstofftransportkapazität des Blutes
um 5 % abnimmt – das entspricht 500 Höhenmetern 4 Buddy (Partnering)-System: Jeder achtet be-
mehr. Durch die Anstrengung und dem erhöhten sonders auf den ihm zugewiesenen Partner.
Wasserverlust in der kalten trockenen Luft kommt 4 Schlafen mit erhöhtem Oberkörper (z. B. Ruck-
dem Wasserhaushalt und damit der Trinkmenge sack unter Isomatte), dies vermindert den
große Bedeutung zu. Druck im Lungenkreislauf, verbessert die
> Viel trinken verhindert zwar keine Höhen-
Sauerstoffversorgung und beugt HAPE vor.
krankheit, ein Flüssigkeitsdefizit kann jedoch
4 Kohlenhydratreiches Essen verbessert die
die Höhenkrankheit auslösen.
Sauerstoffversorgung.
4 Tagsüber Höhenreiz zur Akklimatisation set-
Allgemein geht man von 4–5 l Flüssigkeitszufuhr zen (z. B. Materialtransport), nachts in tieferen
pro Tag aus. Diese Trinkmenge sicherzustellen, ist Lagen schlafen, damit sich der Organismus
eine große Herausforderung. Wegen des hohen Ge- wieder erholen kann
wichts ist eine Versorgung aus dem Gelände meist 4 Keine Pressatmung, keine anaeroben Belas-
unumgänglich. Grundsätzlich muss aber das Was- tungen
ser (auch Quellwasser) als kontaminiert betrachtet 4 Aufstieg mit Puls <120 d. h. mit einem Leis-
und daher entsprechend aufbereitet werden. Hierzu tungsgrad von 50–60 % (Prinzip der Unterfor-
eigenen sich z. B. Katadynfilter und die Verwen- derung)
dung von chlorhaltigen Wasseraufbereitungsmittel. 4 Atmen im Gehrhythmus:
Silberionen dienen der Haltbarmachung von aufbe- 5 über 1 Schritt einatmen, über 2 Schritte aus-
reitetem Wasser, als alleiniges Aufbereitungsmittel atmen
sind sie ungeeignet. Iod ist am wirksamsten, aber in 5 im steileren Gelände: über 1 Schritt ein-
Deutschland dafür nicht zugelassen. Bis 6.000 m ist atmen, über 1 Schritt ausatmen
das Abkochen des Wassers eine gute Möglichkeit 4 Möglichst Nasenatmung mit geschlossenem
zur Aufbereitung. Wenn das Trinkwasser aus Schnee Mund
geschmolzen wird, muss viel Zeit und Brennstoff 4 Viel trinken, fehlende Urinproduktion ist ein
eingeplant werden. Je nach Temperatur und Schnee- Warnsymptom
beschaffenheit (Sulzschnee, Eis oder Champagner- 4 Ausatmung gegen die Lippenbremse erhöht die
powder) variiert der Brennstoffbedarf erheblich. Sauerstoffsättigung
450 Kapitel 33 · Militärischer Einsatz in großer Höhe

Literatur 19. Tannheimer M (2008) Der militärische Einsatz in großer


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Army Research and Development Command
451 34

Flugmedizin
G. Röper, J. Stier, J. Schwietring

34.1 Einführung – 452

34.2 Organisation des luftgebundenen


Verwundetentransportes – 452
34.2.1 Militärisches Luftrettungssystem – 452
34.2.2 Ziviles Luftrettungssystem – 453

34.3 Personal und Sicherheit – 455


34.3.1 Gesundheitliche Voraussetzungen
für militärisches AE-Personal – 455
34.3.2 Ausbildung von AE-Personal – 456
34.3.3 Taktischer Flug und allgemeine Sicherheitsaspekte – 456
34.3.4 Aeromedical Crew Ressource Management (ACRM) – 457
34.3.5 Platzmanagement – 458

34.4 Arztgespräch, Patientenaufnahme,


Patientenübergabe – 459
34.4.1 Forward AE – 459
34.4.2 Tactical AE – 461

34.5 Physikalische und psychische Einflüsse auf Patient


und Personal – 461
34.5.1 Einfluss von Flughöhe auf Sauerstoffpartialdruck
und luftgefüllte Räume – 461
34.5.2 Sehvermögen in der Flugmedizin – 465
34.5.3 Lärm – 466
34.5.4 Kinetosen – 466
34.5.5 Vibrationen – 467
34.5.6 Hypothermie – 468
34.5.7 Stressprophylaxe – 469
34.5.8 Müdigkeit – 469

34.6 AE im Rahmen von Personal-Recovery-Operationen – 470

Literatur – 471

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_34, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
452 Kapitel 34 · Flugmedizin

34.1 Einführung Patienten ungünstigen Einflussfaktoren zu identifi-


zieren und dann durch geeignete Maßnahmen die
Die Flugmedizin hat mit Beginn der luftgebunde- möglichen Auswirkungen so gering wie möglich zu
nen Evakuierung von schwerverletzten Soldaten aus halten. Im Folgenden wird daher nicht nur eine Dar-
verschiedensten Krisengebieten wesentlich an Be- stellung der zivilen und militärischen Luftrettung
deutung gewonnen. Seit dem Korea- (1950–1953) skizziert, sondern insbesondere auch auf die wesent-
und später auch Vietnamkrieg (1965–1973) trug lichen, beim Lufttransport zu berücksichtigenden
der »Forward und Tactical Air MedEvac« wesent- flugmedizinischen Aspekte näher eingegangen.
lich zur raschen Rettung der verletzten Soldaten
und zur Etablierung der heutigen zivilen und mili-
tärischen Luftrettungssysteme bei. 34.2 Organisation des luftgebundenen
Angelehnt an die Dokumente der Nato (z. B. Verwundetentransportes
STANAG 3204 und 2087, AMEDP-13(B), AJP-
4.10(A), AAP6) sowie der darin angewandten Ter- 34.2.1 Militärisches Luftrettungssystem
minologie, spricht man beim luftgebundenen Ver-
wundetentransport heute besser von »Forward/ Um verwundeten Soldaten schnellstmöglich eine
Tactical Aeromedical Evacuation (AE)«. Diese Form optimale medizinischen Versorgung zukommen zu
des schnellen und lebensrettenden Verwundeten- lassen, ist eine luftgebundene Rettungskette anzu-
transports hat in Zeiten asymmetrischer Kriegsfüh- streben. Hierbei wird der militärische Lufttransport
rung und bestehender weltweiter Konfliktherde un- allgemein in folgende Formen unterteilt:
ter widrigsten klimatischen Bedingungen wesentlich 4 Forward AE (Forward Air MedEvac oder FWD
an Bedeutung gewonnen. Insbesondere Drehflügler AirMedEvac bzw. FAME)
(»rotary wing« – RW) besitzen im taktisch an- 4 Tactical AE (Tactical Air
spruchsvollen Umfeld (urbanes Gelände, Waldlich- MedEvac,TacAirMedEvac oder TacEvac)
tungen, Gebirgsplateaus, Trümmergebiet etc.) ge- 4 Strategic AE (Strategic Air MedEvac,
genüber den Flächenflugzeugen (»fixed wing« – StratAirMedEvac oder StratEvac)
FW) aufgrund der Verzichtbarkeit zur Landung ge-
eigneter Flugfelder eine höhere Einsatzvarianz und Grundsätzlich greifen alle drei Kategorien inein-
rücken in der Einsatzmedizin vermehrt in den Fo- ander und ergänzen sich so zu einem effizient ab-
kus. Anders als zivile Rettungshubschrauber, die sich laufenden Rettungssystem:
zumeist in Flughöhen zwischen 150 und 600 m be- 4 Forward AE wird der Transport vom Punkt der
wegen, nehmen während militärischer und takti- Verwundung (POI) oder der Erstversorgung
34 scher Operationen eingesetzte RW – in Abhängig- (»point of injury care«) zur ersten medizini-
keit von der jeweiligen Bedrohungslage sowie den schen Behandlungseinrichtung (MTF, »medi-
meteorologischen und geologischen Gegebenheiten cal treatment facility«) bezeichnet. Im luftge-
(Wetter, Gebirge) – Flughöhen zwischen 30 und bundenen Verwundetentransport werden hier
10.000 Fuß (ca. 10 und 3000 m) ein. aufgrund fehlender Landemöglichkeiten für
Hieraus lassen sich, insbesondere vor dem Hin- FW immer RW genutzt.
tergrund zahlreicher physikalischer Gesetzmäßig- 4 Tactical AE umfasst den Transport von Patien-
keiten, die außerordentlichen flugmedizinischen ten aus der ersten MTF in eine andere, zumeist
Besonderheiten beim Lufttransport von Verletzten höherwertigere Behandlungseinrichtung. Hier
ableiten. Es liegt auf der Hand, dass flugbegleiten- kommen je nach taktischer Lage, Flugstrecke,
des, medizinisches Fachpersonal in einem Dreh- Patientenanzahl, Verletzungsmustern, Anfor-
flügler- oder auch Flächenflugzeug über besondere derungen an das Luftfahrzeug, erforderlichem
flugmedizinische Kenntnisse verfügen muss, um Flugprofil etc. sowohl Dreh- als auch Starrflüg-
Patienten während eines Fluges vor schädigenden ler zum Einsatz. Oft werden dabei Turboprop-
Einflüssen schützen zu können. Es ist daher zu Be- Flugzeuge eingesetzt, welche auch auf kurzen,
ginn eines Fluges zwingend notwendig, die für den unbefestigten oder improvisierten Bahnen
34.2 · Organisation des luftgebundenen Verwundetentransportes
453 34
starten und landen können (z. B. C-160 Trans-
. Tab. 34.1 Empfohlene Wartezeiten nach opera-
all, C-130 Hercules). tiven Eingriffen bis zur luftgebundenen Verlegung
4 Strategic AE beschreibt generell den Lufttrans-
port eines Patienten aus dem Einsatz- in das Chirurgische Eingriffe Zeitabstand zur
Heimatland (Repatriierung). Dieser kann dann Operation
oft über längere Strecken, mehrere Länder
Appendektomie/Herniotomie 5–10 Tage
oder ganze Kontinente führen. Die hierzu
verwendeten Luftfahrzeuge sind fast immer Cholezystektomie 8–10 Tage
Jet- (z. B. Airbus A-310, C-17 Globemaster Diagnostische Laparotomie 3 Tage
o. ä.) oder Turboprob-Flugzeuge.
Polypektomie (endoskopisch) 7 Tage

Die Luftfahrzeuge für die Rolle des Forward AE Laparoskopische Eingriffe 10 Tage
werden als Primärrettungsmittel, ähnlich einem Pneumoperitoneum 10 Tage
zivilen Rettungshubschrauber (RTH), in einer na- Diagnostische Thorakomie 7 Tage
tionalspezifischen MedEvac-fähigen Version vorge-
Herzchirurgische Eingriffe 10 Tage
halten. Internationale Vorgaben zu Ausstattung,
Personalqualifikation etc. gibt es nicht. Geflogen Pneumozephalus Ggf. mit Drainage
wird in der taktischen Fliegerei in der sog. Two- flugtauglich
Ship-Formation, wobei das Rettungs-LFZ zur Auf- Mittelohroperationen 10 Tage
nahme der Verwundeten von einem zweiten LFZ Intraokuläre Eingriffe/penetrie- 7 Tage
(»Chaser«) aus der Luft gesichert wird. Je nach Be- rende Augenverletzung
drohungslage ist manchmal auch der Einsatz von
Periphere Gefäßoperationen 14 Tage
Kampfhubschraubern zur Sicherung der Lande-
zone (LZ) vorgesehen.
Bei der taktischen und der strategischen Luft-
verlegung (Tactical- bzw. Strategic AE) ist mit zum einer Sekundärverlegung eingehalten werden
Teil längeren Vorlaufzeiten der LFZ zu rechnen, da (. Tab. 34.1). Bei den genannten Zeitwerten handelt
diese oft kurzfristig für den medizinischen Zweck es sich um Richtwerte, wie sie für Patienten im zivi-
erst ein- bzw. umgerüstet werden müssen. Auch hier len Setting vorgesehen sind, bis eine luftgebundene
sind die Standards der verschiedenen Nationen un- Reisefähigkeit festgelegt werden kann. Letztlich
terschiedlich. Die Kategorie der Verlegung, die Art müssen im militärischen Umfeld aber immer der
des Luftfahrzeuges, das Flugprofil, die Dringlichkeit Zustand des Patienten, die Transportdringlichkeit,
der Lage müssen in die Entscheidungsfindung zur die Sicherheitslage, die beabsichtigte Flughöhe so-
Patientenverlegung einbezogen werden. Am An- wie vorab durchgeführte medizinische Maßnah-
fang steht dabei immer die Beurteilung des klini- men (Drainagen, Katheter etc.) beim Abweichen
schen Patientenzustands (stabil vs. instabil). von diesen Richtzeiten berücksichtigt werden.
Grundsätzlich gibt es beim Forward AE keine
medizinischen Kontraindikationen, weil die Vor-
teile für den Patienten im Vergleich zum Landtrans- 34.2.2 Ziviles Luftrettungssystem
port nahezu immer überwiegen. Vor einem Tacti-
cal- bzw. Strategic AE ist letztlich jeder Fall geson- Das militärische Luftrettungswesen war der Ur-
dert zu beurteilen. Die aus dem schnellen Lufttrans- sprung des zivilen Luftrettungssystems. Wesent-
port resultierenden Vorteile müssen den möglichen liche Aufgabe ist hierbei das Heranführen des Not-
Nachteilen einer Luftverlegung gegenübergestellt arztes auf direktem Wege über eine größere Distanz
werden. Auch wenn es für den Primärtransport kei- sowie das ebenso rasche Rückführen des Patienten.
ne Kontraindikation gibt, sollten für einen Sekun- Während anfänglich häufige Verkehrsunfälle mit
därtransport in Flughöhen über 1500 m adäquate einer Vielzahl an Verkehrstoten und -verletzten den
Zeitabstände zwischen operativer Behandlung und Anstoß zur Projektierung eines Hubschraubers als
454 Kapitel 34 · Flugmedizin

Rettungsmittel gaben, stellt sich das Bild heute deut- sprechend seiner Ausbildung nach JAR-OPS das
lich vielschichtiger dar. fliegende Personal beim Funken, Navigieren,
Die Bundeswehr hatte sich über viele Jahre am Luftraumbeobachten sowie zahlreichen weiteren
zivilen luftgebundenen Primärrettungssystem be- Flugsicherheits- bzw. Bergungsaufgaben (Berg-
teiligt. So waren die Maschinen vom Typ Bell UH bzw. Alpinrettung). In der infrastrukturellen Konfi-
1D mit den roten Türen, der Aufschrift SAR sowie guration bezüglich Material/Personal unterscheidet
das noch bekanntere typische Rotorengeräusch sich das arztbesetzte Rettungsmittel RTH grund-
(»Teppichklopfer«) der Garant für nahende Hilfe. sätzlich nicht von einem NEF. Diese Grundsatzrege-
Ab 1999 zog sich das staatlich-militärische Engage- lung ist in der Europäischen Norm EN 13718 fest-
ment aus der zivilen Rettungsfliegerei zurück. Die geschrieben und bindend für die Betreiberorgani-
Rolle der Bundeswehr in der deutschen Luftrettung sation.
beschränkt sich seitdem auf die alleinige Erfüllung Meist erfolgt der Einsatz eines RTH bei Trauma-
des sog. ICAO-Auftrages, also die Durchführung patienten oder in ländlichen Gebieten, kann aber im
von Such- und Rettungsoperationen (SAR) im Falle städtischen Umfeld auch als rascher Zubringer für
abgestürzter oder vermisster Luftfahrzeuge. Hierzu Rettungsdienstpersonal bei internistischen Notfäl-
ist jeder Staat, welcher der International Civil Avia- len eingesetzt werden. Häufig werden RTH zu Ver-
tion Organisation (ICAO) angehört, im Rahmen legungen zwischen einzelnen Kliniken (Sekundär-
des Chicagoer Abkommen von 1944 über die inter- einsatz) herangezogen. Hier wird aufgrund der sich
nationale Zivilluftfahrt verpflichtet. Die Bundesre- ändernden Krankenhauslandschaft (weniger Klini-
publik trat der ICAO 1956 bei. Mit dem Rückzug ken, längere Flugstrecken) zukünftig ein Anstieg zu
aus der Rettungsfliegerei der Bundeswehr folgte die erwarten sein. Heutzutage werden im zivilen Ret-
Einführung ziviler Luftrettungsmittel. tungsdienst entsprechend den seit 2009 geltenden
Neben der ADAC Luftrettung GmbH und der JAR-OPS 3 ausschließlich Maschinen mit 2 Turbi-
Stiftung DRF Luftrettung beteiligen sich noch Bun- nen eingesetzt. Gängiges Muster für den Primärein-
despolizei und das Bundesministerium des Inneren satz ist z. B. die EC135. Sie vereint ausreichendes
als Betreiber einzelner Luftrettungsstationen und Platzangebot mit der Möglichkeit, auch kleinere
stellen das fliegerische Personal. Insgesamt gibt es Landeflächen zu nutzen. In Abhängigkeit der ein-
heute in Deutschland ca. 80 Luftrettungsstütz- zelnen Betreiber wird sie in unterschiedlichen Kon-
punkte. In einigen Bundesländern kommen zudem figurationen verwendet (z. B. Bundespolizei mit
speziell ausgerüstete Polizei- oder Katastrophen- polizeitaktischer Ausrüstung wie Kamera und
schutzhubschrauber für Suchaufgaben (z. B. bei ver- Überwachungssysteme), was z. T. eine deutliche
missten Personen), Katastrophenhilfe, Evakuie- Gewichtszunahme mit sich bringt.
34 rungsaufgaben, Ersthilfe von Verletzten sowie Un- An einigen Standorten wird heute Luftrettung
terstützung in der Seuchenbekämpfung zum Ein- auf der Basis einer 24-h-Verfügbarkeit betrieben.
satz. Neben den erhöhten technischen Aufwendungen
Der klassische Rettungshubschrauber (RTH) (z. B. Nutzung NVG) ist für den Nachtflug ein zwei-
wird organisatorisch an eine Vertragsklinik ange- ter Pilot erforderlich. Wesentlich während des
bunden. In der Mehrzahl der Fälle besteht das me- Nachtbetriebes ist der höhere planerische Vorberei-
dizinische Team des zivilen RTH (HCM) aus einem tungsaufwand bezüglich Zeit und Gesamtumlauf.
Notarzt, einem Luftrettungsassistenten bzw. Auch der klinische Zustand des Patienten sowie die
Luftrettungsmeister (HEMS Crew Member) sowie Entfernung zwischen Aufnahmeort und Zielklinik
bei Bedarf einem Praktikanten. Der Notarzt wird oft sind maßgeblich für den Zeitbedarf des Gesamtein-
aus dem ärztlichen Personalpool der Vertragsklinik satzes. Oft ist aufgrund eingeschränkter Landemög-
entliehen, der Luftrettungsassistent rekrutiert sich lichkeiten (keine Sicht, keine Kenntnis des Lande-
aus einer vertraglich gebundenen Rettungsdienst- bereichs) der klassische Primäreinsatz mit direktem
organisation (DRK, Feuerwehren, Bundeswehr Anflug und unmittelbarer Landung am Einsatzort
und u. a.). Der Luftrettungsassistent unterstützt zu- nicht möglich. Hier kann eine Lösung die Übernah-
sätzlich zu seinen medizinischen Aufgaben ent- me des erstversorgten Patienten an einer Klinik
34.3 · Personal und Sicherheit
455 34
sein, oder es existieren katalogisierte Landestellen 34.3 Personal und Sicherheit
wie Parkplätze, Sportanlagen etc.
Eine Ausleuchtung des Landeplatzes kann über 34.3.1 Gesundheitliche Voraus-
die Kräfte der Feuerwehr oder des THW erfolgen. setzungen für militärisches
Auch ist nach Landung des RTH die bodengebun- AE-Personal
dene Zuführung der medizinischen Besatzung an
die Einsatzstelle möglich, um die vor Ort befind- Grundsätzlich können organische bzw. psychische
lichen Einsatzkräfte zu unterstützen. Bedingt durch Grunderkrankungen sowie eine individuell beste-
die Veränderung der Krankenhausstrukturen, der hende Disposition zur Flugunverträglichkeit bei
demographischen Entwicklung der Bevölkerung z. B. hohen Krafteinwirkungen (G-Kräfte) während
und der Dynamik des medizinischen Fortschritts ist rascher Änderungen von Flugrichtung und Flug-
jetzt schon erkennbar, dass die Zahl der Transporte höhe die Arbeitsfähigkeit eines Rettungsdienstmit-
unter Nutzung spezieller medizinischer Techniken, arbeiters stark beeinträchtigen. Übermüdung, psy-
hier insbesondere sog. Organersatzverfahren wie choaktive Substanzen am Vorabend (z. B. Alkohol,
z. B. ECMO, Novolung-Beatmung, in weiterführen- Nikotin), viszeroaktivierende Maschinenvibratio-
de Spezialkliniken zunehmen wird. nen, unbehagliche Zellentemperatur, monoton dre-
hender Rotorschatten (Flickerlight) oder Müdigkeit
Praktische Regeln sowie bereits kleinste Anzeichen von banalen grip-
5 Kritische Phase ist immer der Be- und palen Infekten können diesen Effekt zusätzlich ver-
Entladevorgang stärken oder für sich alleine eine gesundheitliche
5 Klare Absprache zwischen den Crew- Beeinträchtigung auslösen.
members > Medizinisches Personal auf fliegenden
5 Kommunikation im Hubschrauber auf ein Rettungsmitteln sollte einer gesundheitlichen
Mindestmaß reduzieren (»silent cockpit«) Eignung für den »Flugdienst« unterzogen
5 Bei fehlender Unterstützung durch Boden- werden.
rettung Mitnahme des gesamten Materials
5 Umladevorgänge bei Gesamttransportzeit Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, werden
berücksichtigen (RW <20 min oft ohne die medizinischen Mitarbeiter eines luftgebunde-
wesentlichen Vorteil) nen militärischen Rettungsmittels als Additional
5 Keine losen Gegenstände (Jacken, Taschen) Crew Member (ACM) im zivilen Hubschrauberbe-
bei Start und Landung reich: Helicopter Crew Member (HCM) betrachtet
5 Ordnungsgemäße Befestigung der medizi- und in Analogie zu anderen Nationen jährlich
nischen Geräte (MPG) an den DIN-Schienen durch einen Fliegerarzt der Bundeswehr gesund-
5 Wachen Patient ggf. in den Bordfunk mit heitlich auf eine Wehrfliegerverwendungsfähig-
»einklinken« keit (WFV) untersucht und begutachtet. Für das
5 Elternteil ggf. mitfliegen lassen Personal ziviler Rettungsdienste existieren demge-
5 Adäquate Bekleidung für HCM, abweichen- genüber keine echten medizinischen Flugtauglich-
des Temperaturbedürfnis zwischen HCM keitsvorgaben. Eine medizinische Begutachtung des
und Patient Rettungsdienstpersonals erfolgt hier allenfalls im
5 Zwischendrin immer wieder die Frage: Rahmen der üblichen betriebsärztlichen Untersu-
»everybody happy?« chung, eine arbeitsmedizinische Bewertung durch
einen Arbeitsmediziner mit flugmedizinischer und
flugphysiologischer Erfahrung wäre wünschens-
wert [2, 4, 6]. Für eine Tätigkeit im Bereich FwdAE
ist eine uneingeschränkte körperliche und psychi-
sche Belastungsfähigkeit zwingend notwendig, um
den gestellten Anforderungen in vollem Umfang
gerecht zu werden.
456 Kapitel 34 · Flugmedizin

. Tab. 34.2 Empfohlene Ausbildungsgrundlagen für den Einsatz auf militärischen und/oder zivilen Rettungshub-
schraubern

Ziviles Sanitätspersonal im luftgebundenen Militärisches Sanitätspersonal im luftgebun-


Patiententransport Lufttransport (HCM) denen Verwundetentransport (ACM)

Medizinische Algorithmus-basierte Spezialkurse (z. B. ATLS/ Algorithmus-basierte Spezialkurse (z. B. ATLS/


Kompetenzen PHTLS/ITLS/AMLS/APLS) PHTLS/ITLS/AMLS)

Focused Abdominal Sonography on Trauma Focused Abdominal Sonography on Trauma


(F.A.S.T.) (F.A.S.T.) für Tac/Strat AE

DIVI-Kurs (Curriculum der Deutschen Interdis- Nationaler/internationaler militärischer


ziplinären Vereinigung für Intensiv- und Not- AE-Lehrgang
fallmedizin)

Flugphysiologische Ausbildung Flugphysiologische Ausbildung

Medizinprodukteinweisung aller auf dem LFZ Medizinprodukteinweisung aller auf dem LFZ
zu nutzender Geräte und Materialien zu nutzender Geräte und Materialien

Taktische Verwundetenversorgung (TVV) bzw.


»Tactical Combat Casualty Care« (TCCC)

Nicht- Einweisung auf LFZ und Sicherheitstraining Helikoptertraining (luftfahrzeugspezifisch)


medizinische
(A)CRM bzw. Crew Coordination Concept (CCC) Mindestens SERE-Level-»B« (Lehrgang für
Kompetenzen
»personal recovery«)

Navigation Überlebenslehrgang Land

Ggf. Rettungswindenausbildung Überlebenslehrgang See

Meteorologie (A)CRM-Ausbildung

Luftfahrtrecht

34.3.2 Ausbildung von AE-Personal flügler zum Einsatz kommen, in besonderen militä-
rischen Lagen z. B. das überlebenswichtige Verhal-
34 Medizinisches Personal wird auf luftgebundenen ten in isolierten Lagen beherrscht und die Grundla-
Rettungsmitteln im Rahmen von Primär- und Se- gen des »personal recovery« (PR), verinnerlicht
kundärtransporten eingesetzt. Insbesondere die werden. Die folgenden Ausbildungsempfehlungen
Primärrettung bedingt für das medizinische Perso- sind aus Sicht der Autoren die Mindestanforderun-
nal zur Bewältigung seiner Aufgaben eine hochwer- gen, welche sich an der jeweils zuordenbaren fach-
tige und umfassende Ausbildung. Im Gegensatz lichen Ausbildungshöhe (z. B. RettAss/Notfallsani-
zum zivilen Rettungsdienst sind im militärischen täter/Intensivpfleger/Arzt) orientieren müssen
Setting zur Erfüllung des Forward-AE-Auftrages (. Tab. 34.2).
zwingend auch weitere militärische Qualifikationen
notwendig. RW sind in der Landephase und insbe-
sondere auch während der Wartephase am Boden 34.3.3 Taktischer Flug und allgemeine
ein exponiertes Ziel (»sitting duck«) für feindliche Sicherheitsaspekte
Kräfte und können so durch feindlichen Beschuss
zerstört oder fluguntauglich gemacht werden. Außer Der taktische Flug ist insbesondere unter Bedro-
dem medizinischen »Handwerk« müssen daher von hung durch Feindbeschuss sowohl für Patient als
militärischem Sanitätskräften, die auf einem Dreh- auch für das medizinische Personal eine besondere
34.3 · Personal und Sicherheit
457 34
Herausforderung. Um der feindlichen Aufklärung 34.3.4 Aeromedical Crew Ressource
zu entgehen, ist der tiefe und deckungsgebende Management (ACRM)
Konturenflug in Anpassung an das Geländeprofil
oftmals die einzige Überlebensgarantie. Schnelle In der Luftfahrt konnte festgestellt werden, dass zu-
Ausweichmanöver des Luftfahrzeugs (LFZ) in drei meist menschliches Versagen (»human factor«) ur-
Dimensionen beeinträchtigen sowohl die Arbeit am sächlich für viele schwere Un- oder Zwischenfälle
Patient als auch dessen Transporttoleranz. war. Meist waren hier mangelnde Kommunikation/
Gegebenenfalls können in größeren Hub- Kooperation, personelle Kompetenzkonflikte, redu-
schraubermodellen Stehhaltegurte den freien Fall zierte situative Aufmerksamkeit, nicht zielgerichtetes
des Personals im LFZ verhindern und Sicherheits- Führungsverhalten sowie fehlerhafte Entscheidungs-
helme gegen Kopfverletzungen innerhalb des LFZ findung ursächlich. Diese Erkenntnis machte die
schützen. Die Patienten sollten stabil auf einem Entwicklung eines »Werkzeugs« notwendig, welches
adäquaten Transportmedium wie z. B. dem Luft- die genannten Ursachen optimieren sollte. In den
transportsack gegen vertikale und horizontale 1970er Jahren schlug daher die Geburtsstunde des
Scherkräfte gesichert werden. Die Art und Weise Crew Ressource Management (CRM), welches von
der Fixierung des Patienten kann jedoch in hohem der NASA erstmals ins Leben gerufen wurde und in
Maße auch von der der Gesamtlage abhängig sein, der zivilen wie auch militärischen Luftfahrt bis heute
aus welcher der Patient ausgeflogen werden soll. erfolgreich angewendet wird.
Rettungsmittel und medizinische Geräte müssen > Ziel ist es, das Bewusstsein einer Crew so zu
gegen Eigenbewegungen im LFZ gesichert werden. steuern, dass erkannt wird, wie entscheidend
Gerade im Umgang mit medizinischem Sauer- effektive Kommunikation und die Beziehung
stoff sei erwähnt, dass es sich um Gefahrgut der der Crewmitglieder untereinander für den
Klasse 2 handelt und im Hinblick auf die Ladungs- Erfolg einer Mission ist.
sicherheit eine besondere Sorgfalt notwendig ist.
Um das Risiko von Schäden (Explosion, Brand) Da auch im medizinischen Bereich bis zu 70 % der
durch Sauerstoffflaschen zu umgehen, können Pro- Komplikationen auf den »human factor« zurückzu-
dukte zur Herstellung von medizinischem Sauer- führen sind, hat CRM inzwischen auch den Bereich
stoff aus Granulaten/Pulvern (EmOX Unit) oder der Notfall- bzw. Rettungsmedizin zunehmend
mittels Sauerstoffkonzentrierung (»oxygen concen- erobert und sich hier insbesondere im Bereich der
trators«) aus der Umgebungsluft eine Alternative Luftrettung seit 2004 als Aeromedical Crew Res-
darstellen. Eine allgemeingültige Empfehlung kann source Management (ACRM) etabliert.
hier aber nicht gegeben werden. Anders als bei der Gerade im Bereich der Luftrettung unterliegt das
zivilen Luftrettung ist während eines militärischen Handeln an Bord eines LFZ einer besonders hohen
»Forward AE« eine luftfahrtzugelassene Befesti- Dynamik und Komplexität und damit wiederum
gung der Geräte nicht immer möglich, woraus sich einer hohen Fehleranfälligkeit. Abweichende Ausbil-
eine rechtliche Grauzone ergibt. dungsstände der medizinischen Crewmitglieder,
unterschiedliche Kompetenzen und viele andere Fak-
Praktische Regeln toren haben bei der Versorgung von Verletzten einen
5 Kopfschutz tragen wesentlichen Einfluss auf die Versorgungsqualität.
5 Ggf. Sicherungsleine bzw. Stehhaltegurt an-
legen, um sich in geräumigen LFZ gegen > Insbesondere während eines luftgebundenen
Sturz zu sichern Verwundetentransports, bei dem zahlreiche
5 Patienten sichern negative Umgebungseinflüsse wie Lärm,
5 Medizinische Geräte beim Transport ggf. Lichtverhältnisse, Platzmangel, Bedrohungs-
zusätzlich durch Kabelbinder fixieren lage oder Zeitdruck einwirken, ist eine funk-
tionierende Kommunikation sowohl inner-
halb der medizinischen Crew als auch mit
den Piloten (o. ä.) aufrecht zu halten.
458 Kapitel 34 · Flugmedizin

Medizinische Parameter, Zustandsänderungen des


Patienten, technische Probleme der Medizingeräte,
Zusammenarbeit mit dem technischen Personal an
Bord des LFZ wie auch zahlreiche andere Faktoren
gehören zum Informationsinhalt eines funktionie-
renden Gesamtteams. Hierbei sollte der medizini-
sche Leiter eines Teams klare Vorgaben machen,
dabei jedoch Vorschläge seines Teams annehmen
und umsetzen können. Im Team sollten zur Aufga-
benbewältigung ggf. Führungsansprüche zurückge-
stellt, Konkurrenzdenken und Emotionen hinten
angestellt werden. Die Kommunikation im Team
muss sich respektvoll gestalten, Stärken und Schwä-
chen des Personals müssen untereinander bekannt . Abb. 34.1 Medical Emergency Response Team (MERT)
der Britischen Streitkräfte bei der Versorgung von Verletzten
sein, um ggf. Defizite eines Teamkollegen zum
in einer CH-47 (Chinook). (Foto: Crown Copyright/MOD
Wohl der Patientensicherheit kompensieren zu 2012)
können. Interaktionen im Sinne eines (A)CRM soll-
ten daher bei militärischem Sanitätspersonal, das
oft gemeinsam mehrere Monate in einem Einsatz offeriert, weitere Informationen sind erhältlich über
arbeitet, schon im Vorfeld intensiv trainiert werden. z. B. den Initiator des ACRM, der European HEMS
> Unter (A)CRM versteht sich somit ein Trai-
and Air Ambulance Committee e.V. (EHAC), das
ning, welches die kommunikative Interaktion
»New Training Institute«, NTI, oder CCAT (»Clini-
von militärischen wie auch zivilen Rettungs-
cal Considerations in Aeromedical Transport«),
dienstmitarbeitern untereinander so opti-
http://www.ccat-training.org.uk/index.htm.
mieren soll, dass eine möglichst konflikt- und
fehlerfreie, qualitativ hochwertige medizini-
sche Versorgung der Patienten gewährleistet
34.3.5 Platzmanagement
wird.
Die Organisation des Arbeitsplatzes ist eine wesent-
Ziel ist es, im Verbund von technischem und medi- liche Herausforderung bei der Versorgung der Pa-
zinischem Personal einen effektiven Einsatz aller tienten. In Abhängigkeit vom genutzten LFZ-Typ
verfügbaren Ressourcen zur Steigerung der Flug- und dem verfügbaren Raumangebot ist im Vorfeld
34 und Patientensicherheit zu gewährleisten. Ein ge- mit dem Team abzusprechen, wer welche Tätig-
meinsames Training aller an einem Einsatz beteilig- keiten am Patienten verrichtet. Es ist notwendig
ten Personen (auch technisches Personal) ist somit festzulegen, wer welche Zusatzaufgaben übernimmt
zwingend nötig, um eine gemeinsame Sprache zu (z. B. wechseln der Sauerstofflasche während des
entwickeln, die Erwartungshaltung eines Jeden im Fluges) und wer im Team wo seinen Platz hat
Team zu definieren, ein Verständnis für die Team- (. Abb. 34.1). Fehlstrukturierung des Arbeitsab-
ressourcen zu schaffen, die Abläufe und Prozesse in laufs führt gerade auf engstem Raum und bei insge-
der Luftrettung professionell zu beherrschen, und samt schlechten Umgebungsverhältnissen (Licht,
ein gemeinsames Teamziel zu formulieren. Nur Lärm, Kälte etc.) zwangsläufig zu massiven Proble-
durch ein intensives, einsatznahes Teamtraining men bei der Patientenversorgung. Instruktionen
kann eine professionelle und medizinisch hoch- des Teamleaders werden überhört, Arbeitsprozesse
wertige Patientensicherheit garantiert werden. Das vernachlässigt oder ganz vergessen. Insbesondere
Debriefing nach jedem Einsatz sowie ggf. ein etab- die Notwendigkeit zur Versorgung mehrerer
liertes anonymes »Critical Incident Reporting Sys- Patienten bringt jeden Einzelnen an die Grenzen
tem« (CIRS) sollten Anwendung finden [8, 9]. (A) der Leistungsfähigkeit. Auch wenn verschiedene
CRM-Kurse werden von verschiedenen Anbietern AE-Mittel strukturierte, standardisierte und in der
34.4 · Arztgespräch, Patientenaufnahme, Patientenübergabe
459 34
Anzahl genau festgelegte Arbeitsbereiche haben sächlichen medizinischen Fakten ab. Ein besonde-
(z. B. Patiententransporteinheit auf CH-53/NH 90), rer Schwerpunkt ist auf die Entwaffnung aller Ver-
kann dies bei entsprechenden Rahmenbedingun- wundeter zu legen. Selbst eigene Verletzte können
gen bedeuten, dass z. B. im Falle eines Massenanfalls bei psychischer Beeinträchtigung die aktuelle Situ-
von Verletzten (MANV) mehr als die grundsätzlich ation verkennen und bewaffnet ein erhebliches
vorgesehene Patientenanzahl mitgeführt werden Sicherheitsrisiko darstellen. Weiterhin ist nicht je-
muss. Um den Arbeitsablauf bestmöglich zu gestal- dem Soldaten bekannt, in welcher Art und Weise
ten, ist eine entsprechende teaminterne Festlegung man sich einem LFZ nähert. Abhängig vom Modell
zwingend notwendig. Arbeiten, die bereits im Vor- des Hubschraubers (z. B. Boden-Rotorabstand) so-
feld eines Einsatzes vorbereitet werden können, wie der Standneigung (z. B. an einem Gefälle) sind
sollten auch vorher ausgeführt werden (z. B. Sprit- bestimmte Sicherheitsaspekte unbedingt zu berück-
zen mit Analgosedierung vorbereiten), da dies spä- sichtigen, da sich diese Unkenntnis sonst zu einer
ter unter taktischen Flugbedingungen häufig nicht lebensbedrohlichen Situation entwickeln kann. Das
mehr möglich ist. Dies kann effektiv nur bei ge- unwissende Zubringerpersonal kann hierdurch zu
meinsamen Teamübungen trainiert werden. einem extremen Sicherheitsrisiko werden.
Das kontrollierte einzeitige Verfahren (KEV)
bedeutet in Anlehnung an das Vorgehen der US
34.4 Arztgespräch, Patienten- Flight Medics, dass Teile des medizinischen Teams
aufnahme, Patientenübergabe (ACM, HCM) den RW verlässt und ca. 100 m vom
LFZ entfernt von Bodentruppen aufgenommen wird.
34.4.1 Forward AE Hierbei gibt es dann wiederum zwei Möglichkeiten:
4 Das medizinische Team wird in eine gedeckte
Der Forward AE wird durch einen 9-Liner-Request Stellung geführt, um sich ein eigenes Bild der
angefordert und kann am Unglücksort unkontrol- verletzten Soldaten zu machen. Dies hat den
liert oder kontrolliert ein- bzw. zweizeitig stattfin- Vorteil, dass lebensbedrohliche Zustände so-
den. Bevor man sich für eines der drei Systeme ent- weit möglich vor dem Flug stabilisiert werden
scheidet, muss man sich verschiedener Rahmenbe- können und bei begrenzter Transportkapazität
dingungen bewusst werden. Das Hubschraubermo- und hoher Patientenanzahl eine Vorflug-Triage
dell (z. B. CH53/CH47 oder UH60/NH90), die mit Priorisierung der Transportreihenfolge
Besatzungsstärke des medizinischen Personals so- durchgeführt werden kann. Dies ist von beson-
wie die Bauweise des medizinischen Rüstsatzes ei- derer Bedeutung, da die Zuladung mehrerer
nes LFZ haben einen entscheidenden Einfluss auf Verletzter im schlimmsten Fall zum überhöh-
die Anwendbarkeit der drei o. g. Systeme. Alle Ver- ten Workload des medizinischen Personals
fahren haben Vor-, aber auch Nachteile und müssen führt und eine effiziente Behandlung des Ein-
lageabhängig bewertet werden. zelnen verhindern kann. Der Übergang in den
Das unkontrollierte Verfahren (UV) bedeutet in nachfolgend beschriebenen zweizeitigen Fwd
diesem Zusammenhang das Zuführen von Verletz- AE ist bei dieser Methode häufig.
ten an das LFZ. Dies erfolgt in einer »heißen Zone« 4 Der ACM führt die angetroffenen Bodenkräfte
(»hot zone«) durch einen Tragetrupp der Boden- mit dem Verletzten direkt zum LFZ und lässt
kräfte. Dem medizinischen Personal ist es dann erst sich vorab einen Überblick über den Zustand
an Bord des LFZ möglich, sich einen ersten eigenen des Patienten geben. Dies beschleunigt den
Eindruck der vorhandenen Verletzungsmuster zu Abtransport der Verletzten wesentlich (»scoop
machen. Medizinische Übergaben erfolgen hierbei and fly«), birgt aber die Gefahr von Informati-
im Hubschrauber bei laufenden Triebwerken. onsverlust. Das LFZ bleibt während dieser Pa-
Übermittelte Informationen sind oft rudimentär, tientenaufnahmephase maximal 2–3 Minuten
die Verwundetenkarten häufig unvollständig oder am Boden, da die Wahrscheinlichkeit eines
fehlerhaft ausgefüllt. Oft weichen die ersten Dia- feindlichen Treffers mit der zeitlichen Verweil-
gnosen der 9-Liner-Meldung erheblich von den tat- dauer am Boden zunimmt (»sitting duck«).
460 Kapitel 34 · Flugmedizin

. Tab. 34.3 Vor- und Nachteile der kontrollierten und unkontrollierten Patientenaufnahme beim Forward AE unter
Berücksichtigung der Bodenkontaktzeit (BKZ) des LFZ

Unkontrollierte Patientenauf- Kontrollierte Patientenaufnah- Kontrollierte Patientenauf-


nahme (UV) me – einzeitig (KEV) nahme – zweizeitig (KZV)

Vorteile Rasche Aufnahme von Patienten Überblick der Verletzungen Überblick der Verletzungen
Wenig Zeitverlust (»trauma assessment«) Adäquate Versorgung vor
Adäquate Versorgung vor Trans- Transport möglich
port möglich Sichtung unklarer Verlet-
Planbare Workload zungskategorien möglich
Heranführen der Tragetrupps an
das LFZ

Nachteile Fehlerhafte Patientenübergabe Längere Wartezeit des RW mög- Zweimalige ggf. gefährliche
Oft unklarer Verwundetenstatus lich Landeverfahren des LFZ
durch vorab unzureichende Transferwege der ACM (Siche- Treibstoffsituation des LFZ
Sichtung, ggf. nicht ausreichende rung?) zum Verletzten Transferwege der ACM (Siche-
Behandlung Übergang in kontrolliert zweizei- rung?) zum Verletzten
Verletzter mit unklarem Bewaff- tig möglich Ggf. besondere Verhaltens-
nungsstatus muster am LFZ erforderlich
Tragetrupp oft ohne Einweisung (z. B. hinlegen nach Verlassen
im Umgang mit RW des LFZ)
Bei vielen Verletzten erfolgt
hoher Workload

Wann Heiße Zone, stabile/instabile Heiße Zone, nur wenn die BKZ Ergibt sich oft aus dem KEV
mache ich Patienten des LFZ (bis max.. 3 min) bei Beschuss und BKZ >3 min
was? Hohe Zuladekapazität des LFZ LFZ mit niedrigerem Rotorbo- Bei mehreren Patienten, un-
(z. B. CH47) bei MANV denabstand (UH60, NH90 etc.) klarem Verletztenstatus, redu-
LFZ mit hohem Rotorbodenab- zierter Transportkapazität und
stand (CH53, CH47 etc.) wenig Personal auf dem LFZ

> Grundsätzlich sollte bei beiden beschriebe- oder Schneelandungen (Brown- bzw. White-out).
nen Varianten der ACM den Tragetrupp des Grundsätzlich wird durch dieses Verfahren die
Verletzten zum Hubschrauber führen, die La- Bodenkontaktzeit (BKZ) des LFZ auf ein Minimum
34 detür am Helikopter sichern und den Belade- reduziert, die Gefahr eines feindlichen Treffers ver-
vorgang koordinieren. mindert und die verfügbare Arbeitszeit der ACM
verlängert. Das zweizeitige Verfahren entwickelt
Beim kontrollierten zweizeitigen Verfahren (KZV) sich häufig aus dem kontrolliert einzeitigen Vor-
verlässt der ACM zunächst das LFZ. Überschreitet gehen durch unvorhergesehene verlängerte Über-
die Bodenkontaktzeit des Helikopters in einer »Hei- gabe- bzw. Behandlungszeiten der ACM oder ist
ßen Zone« (HZ) die Zeit von maximal 2-3 Minuten aufgrund der vor Ort herrschenden Sicherheitslage
hebt er ab um den Gefahrenbereich temporär zu das Verfahren der Wahl.
verlassen. In sicherer Distanz vor feindlichem Be- Die Vorteile der kontrollierten einzeitigen Pa-
schuss befindet sich der Helikopter dann in einer tientenaufnahme überwiegen sicherlich die der un-
Warteschleife (Holding), um auf Abruf durch den kontrollierten und haben letztlich dazu geführt,
Führer der medizinischen Crew erneut die HZ an- dass die US-Soldaten dieses System bevorzugt ein-
zufliegen und die Rettungskräfte mitsamt dem Pa- setzen (. Tab. 34.3).
tienten aufzunehmen. Eine wesentliche Gefahr liegt
bei diesem Vorgehen in der damit erneut in Kauf zu
nehmenden kritischen Landephase bei z. B. Staub-
34.5 · Physikalische und psychische Einflüsse auf Patient und Personal
461 34
34.4.2 Tactical AE
5 Die Tactical/Strategic AE im Einsatz ist
Der Tac AE wird durch einen »patient movement ein komplexer, multifaktorieller Prozess,
request« (PMR) angefordert und hat eine planbare welcher neben flugphysiologischem und
Vorlaufzeit. Ein PMR sollte immer die Personalien, medizinischem Wissen auch umfangreiche
die Anamnese, sowie die Diagnosen, die erfolgten organisatorische, technische, strukturelle,
Therapiemaßnahmen, sowie die noch bestehenden taktische und nicht zuletzt kulturelle Kennt-
medizinische Erfordernisse beinhalten. Leider ist nisse erfordert.
dies nicht immer der Fall. Die PMR werden oft durch
Angehörige unterschiedlicher Nationalitäten erstellt,
die Fehlerquellen ergeben sich somit z. B. durch man-
gelndes Sprachvermögen, unterschiedliche Ausbil- 34.5 Physikalische und psychische
dungsstände, inkompatible Kommunikationsmittel Einflüsse auf Patient
und andere Faktoren. Zwingend notwendig ist es, die und Personal
sanitätsmateriellen Unterschiede verschiedener Na-
tionen zu berücksichtigen. Vor der Patientenüber- 34.5.1 Einfluss von Flughöhe
nahme muss geklärt sein, inwiefern eine Kompatibi- auf Sauerstoffpartialdruck
lität der Medizinprodukte der unterschiedlichen und luftgefüllte Räume
Nationen besteht (passen z. B. deutsche Infusionslei-
tungen an die Anschlüsse anderer Nationen?). Trotz Mit zunehmender Flughöhe nimmt der Luftdruck
aller Bemühungen um ein leitliniengerechtes und ab. Dies kann insbesondere für den taktischen wie
medizinisch einwandfreies Arbeiten müssen Reser- auch strategischen Verwundetentransport einen
ven vorgehalten und Möglichkeiten zur Improvisa- wesentlichen Einfluss auf die Gesundheit von Pa-
tion gelassen werden. Sprach- bzw. Verständigungs- tient und Personal haben. Ursächlich hierfür ist der
probleme und kulturelle Besonderheiten (Ehrbegriff, Zusammenhang von Höhe, Gesamtluft- und Sauer-
Rolle der Geschlechter etc.) können je nach Einsatz- stoffpartialdruck. Mit zunehmender Höhe bewirkt
region einen direkten und unmittelbaren Einfluss auf ein Abfall des Gesamtluftdrucks einen gleichzeitig
das weitere Vorgehen der Einsatzplanung haben. Das stattfindenden Abfall des Sauerstoffpartialdrucks.
Vorab-Telefonat mit dem behandelnden und »Patien- So herrscht am Erdboden ein atmosphärischer Ge-
ten-abgebenden« Arzt ist oft unumgänglich und samtdruck von 1 bar (ca. 1013 Hektopascal oder
dringend anzuraten. Eine Checkliste möglicher Prob- 760 mmHg), der Sauerstoffpartialdruck liegt mit
leme und deren Lösungsansatz gibt . Tab. 34.4 wieder. 21 % Sauerstoffanteil bei 1 bar × 0,21 (1013 hPa ×
0,21 bzw. 750 mmHg × 0,21) der mit zunehmender
Flughöhe abnimmt. Obwohl der Druckabfall im
Praktische Regeln Medium Luft bis in die höheren Atmosphären ex-
5 Unkontrollierte Patientenaufnahme vorab ponentiell verläuft, zeigt sich bis etwa 10.000 Fuß
mit dem Hubschrauberkommandanten (feet, ft) ein nahezu linearer Druckkurvenverlauf
koordinieren, da er die Gesamtverantwor- mit einem Abfall von etwa 1 hPa/30 ft.
tung für den Helikopter und seine Crew hat.
> Pro 5500 m Höhe halbiert sich der Sauerstoff-
5 Wann welche Verfahrensoption durchge-
partialdruck, so dass bei 18.000 Fuß Flug-
führt wird, ist nicht immer eindeutig und
höhe nur noch die Hälfte des ursprünglichen
von der Gesamtsituation abhängig.
Drucks auf Meereshöhe und somit auch nur
5 Die drei Verfahren des Forward AE müssen
noch ca. die Hälfte des Sauerstoffpartial-
vorab intensiv trainiert werden
drucks in der Atmosphäre herrscht.
5 Bei fraglich vollständigen PMR mit dem ab-
gebenden Arzt telefonieren und immer Dies hat direkte Auswirkungen auf die Sauer-
vom Schlimmsten ausgehen. stoffsättigung (SpO2), welche mit Hilfe eines Puls-
oxymeters gemessen werden kann. Während am
462 Kapitel 34 · Flugmedizin

. Tab. 34.4 Checkliste zur Lösung sich im Sekundärtransport ergebender Probleme

Thema Problem Lösungsansatz

PMR vollständig (z. B. Identi- Mangelhafte Daten zu Patient, Diagnose Rücksprache mit Rettungsleitstelle i.E,
tät, medizinische Fakten, oder Behandlung Arzt-Arzt-Gespräch (A-A-G)
Dringlichkeit)?

PMR inhaltlich: Zustand des Angaben zu kritischen Patienten oft unter- A-A-G: Vorbereitung wegweisender
Patienten, wesentliche schiedlich, Transport-Indikation bzw. Fragen, ggf. in Fremdsprache (z. B.
Befunde, Dringlichkeit? -priorität. medizinische Begriffe auf englisch)

Fristen nach operativen Zeitpunkt für Sekundärtransport u. U. Empfehlungen (z. B. . Tab. 34.1) ein-
Eingriffen? früher (Vor-/Nachteil?) halten, Gefährdung abwägen
Auswirkungen von Luft- Isolierte Lufteinschlüsse in natürlichen Entlastung (z. B. Thoraxdrainage (s. u.),
druckänderungen auf Pati- oder künstlichen Körperhöhlen Parazentese), Resorption/Zuwarten,
enten bzw. Organsysteme? Variation Zielflughöhe
Standard der jeweiligen Qualität der Behandlung in den Quell- A-A-G, ggf. zusätzliche Maßnahmen vor
bisherigen Behandlung? kliniken i.E. unterschiedlich Verlegung veranlassen
Diagnostik vor dem Luft- Für den Lufttransport notwendige Infor- z. B. CCT, (aktuelles) Rö-Thorax, BGA, Hb,
transport? mationen nicht im PMR Konsile (z. B. Augen), A-A-G
Intubations- und Beat- Unklare Informationen im PMR (Spontan, Beatmungsmodus und -parameter
mungsstatus? Lage assistiert usw.?), Dislokation ET-Tubus? erfragen, Abgleich mit Beatmungs-
ET-Tubus? optionen, regelmäßige Lagekontrolle
Drainagen vorhanden? Flugmedizinische Expertise u. U. nicht A-A-G als auch Abstimmung mit Piloten
Besondere Indikation bei vorhanden, Zustand und Funktion der wichtig (z. B. Zielflughöhe)
Lufttransport, Zielflughöhe? Drainage?
Zugänge, Katheter, Infusions- Verweildauer? Zustand? Lage? Kompatibel Genaue Absprache im A-A-G (v. a. bei
systeme, Perfusoren? mit Geräten im LFZ? Überlassung/Tausch!)
Patientenmedikation, v. a. Katecholamine, Hypnotika, Analgesie Dosierungen, evtl. Reservespritzen
welche i.v. Medikamente. usw.? Präparate anderer Nationen? aufziehen lassen, notwendige Um-
Kontinuierliche Gabe? stellungen vor Lufttransport
Noch invasive Maßnahmen Oft werden in kleineren Med. Einrich- Zugänge (peripher/zentral, Hirn-Druck-
vor Transport erforderlich? tungen eher weniger invasive Maßnah- sonden), Magensonde etc. oder Intuba-
men getroffen tion vor Aufnahme in LFZ vornehmen
Aufnahmepunkt klären Übernahmevereinbarungen werden »Komplexe« Patienten wenn möglich in
(Klinik oder Flugfeld?), missverstanden und enden in Wartezeiten. Klinik übernehmen, vorherige Sichtung,
34 Sichtung vor Übernahme? Wichtige Aspekte manchmal erst beim Besonderheiten bei Übernahme im
»Sichten« erkennbar internationalen »Setting« beachten
Nationale Besonderheiten Beispielsweise verschiedene Schraubver- Prüfung von Diskrepanzen, ggf. vor
beim Sanitätsmaterial? schlüsse bei venösen Zugängen/Infusion- Transport beseitigen
systemen
Gefährdungs-/Feindlage? Nicht immer ist es überall sicher Schutzweste an, Waffe am Mann
Flugverlauf? Flugwetter? (Bsp.) Taktisch? Turbulenzen? Arzt-Pilotengspräch
Bin ich fit? Kann ich das Eigene Fähigkeiten überschätzen Ehrlich zu sich sein
alleine? Fachlichen Defizite nicht eingestehen Spezialisten anfordern
Flug trotz Unwohlsein Gesundheitlich ungeeignete Menschen
sollten besser nicht fliegen
Nationalität des Patienten, Sprachliche und kulturelle Barrieren, Sprachmittler, kulturelle Sensitivität,
Sprache? Kinder? Begleitperson? Dosierungstabellen Kind
Patient Freund oder Feind? Freundliche/feindliche Absicht? Narkose, Fixierung, Wachpersonal
Patient (noch) bewaffnet? Auch eigene Kräfte bergen bei Delir/ Durchsuchung und Entwaffnung aller
Sedierung hohe Gefahren! Patienten (ggf. durch Militärpolizei)
Besonderheiten bei psychia- Gefährdung der Flugsicherheit z. B. durch Facharztkonsil, ggf. Sedierung oder
trischen Patienten Erregungszustände Ablehnung des Transportes
34.5 · Physikalische und psychische Einflüsse auf Patient und Personal
463 34
O2-Sättigung Flughöhe
(SO2 in %) 22000 12000 10000 Kabinendruckhöhe (ft.)

98
90
Linksverschiebung bei:
- Temp.-Anstieg
- ph-Anstieg
- CO2-Abfall Rechtsverschiebung bei:
- Temp.-Anstieg
67 - ph-Abfall
- CO2-Anstieg

50

Gefahrloser
Bereich
Kritische Schwelle

Störschwelle

27 33 55 61 103 O2-Partialdruck
(mmHg)

. Abb. 34.2 Zusammenhang von Flughöhe, Sauerstoffpartialdruck und Sauerstoffsättigung im Blut sowie die zugehörigen
Schwellenbereiche hinsichtlich Kompensierbarkeit möglicher Hypoxien (G. Röper)

Erdboden die SpO2 eines Gesunden ca. 98 % beträgt, einen »physiologischen Kabinendruck« ist bei ge-
beginnt der Körper ab ca. 10.000 ft (entspricht sunden nicht mehr möglich. Der SpO2 sinkt ab die-
3048 m) mit kompensatorischen Reaktionen wie An- ser Höhe auf 67 % ab, was einem effektiven pO2 von
stieg der Herzfrequenz um den verminderten Sauer- 33 mmHg entspricht (. Abb. 34.2).
stoffpartialdruck zu kompensieren. Durch diese Bei Intensivpatienten gelten grundsätzlich die-
Kompensation kann zumeist ein SpO2 von etwa 90 % selben physikalischen Gesetzmäßigkeiten wie beim
aufrecht erhalten werden, was einem arteriellen pO2 Gesunden, jedoch verhalten sich die Ausgangswerte
von ca. 60 mmHg entspricht. Hierbei ist immer zu instabiler. Während ein Gesunder am Boden einen
bedenken, dass ein solcher SpO2 nicht zwingend eine SpO2 von 98 % besitzt, kann ein lungenverletzter
verletzungsbedingte Hypoxie darstellt, sondern sich Patient hier mit deutlich niedrigerem SpO2 von z. B.
alleine schon aufgrund der Flughöhe erklären lässt. 80 % bei 10.000 ft im Lufttransport ein Atemnot-
Ab ca. 12.000 ft wird die Störschwelle überschritten syndrom entwickeln. Es ist daher sinnvoll entspre-
und eine vollständige Kompensation ist nicht mehr chende Patienten bereits bei niedrigeren Höhen mit
möglich. Aus diesem Grund wird in Strahlenflugzeu- Sauerstoff zu versorgen oder auf »sea level« zu ver-
gen (z. B. LearJet oder Airbus) ein künstlicher Druck bleiben. Zudem ist zu bedenken, dass in einer Flug-
(Kabinendruck) aufgebaut, der einer theoretischen höhe von 8000 ft eine Beatmung mit 100 % O2 einer
Flughöhe von ca. 2000–2400 m entspricht obwohl Beatmung mit ca. 75 % O2 in Meereshöhe entspricht,
das Flugzeug eigentlich viel höher fliegt (LearJet ca. da der Sauerstoffpartialdruck in dieser Höhe auch
12 km). Hubschraubern ist im zivilen Flugbetrieb das nur etwa 75 % des Drucks auf Meereshöhe ent-
Überfliegen einer Höhe von 10.000 ft verboten. spricht. Daher müssen Patienten mit einem O2-
Ab einer Flughöhe von etwa 22.000 ft wird die Partialdruck von 213 hPa (21 % O2) und einer inspi-
kritische Schwelle erreicht und eine respiratorische ratorischen Sauerstoffkonzentration FiO2 = 0,6,
Kompensation ohne zusätzlichen Sauerstoff oder bereits auf 8000 ft Höhe eine um den Faktor 1,35
464 Kapitel 34 · Flugmedizin

höhere FiO2 erhalten, damit ein bodengleicher


Sauerstoffpartialdruck erhalten bleibt.
Die für den Flug in einer bestimmten Höhe be-
nötigte FiO2 kann näherungsweise ermittelt werden
und sollte vor jedem geplanten Flug durchgeführt
werden:
FiO2 in der Höhe = [pB – pW] × FiO2B/[pF–pW]

pB = Gesamtluftdruck am Boden (hPa/mmHg)


pF = Gesamtluftdruck in der Flughöhe (hPa/
mmHg)
pW= Wasserdampfdruck bei 37 °C, höhenunabhän-
gig (47 mmHg bzw. 62,6 hPa)
FiO2B= benötigter FiO2 am Boden

Liegt bei einem Patienten bereits am Boden eine


. Abb. 34.3 Auge mit kleiner Luftblase (LB) nach Schrap-
FiO2 von 1,0 vor, dann ist eine weitere Steigerung nellverletzung (Pfeil). Bei Ausdehnung dieser LB durch
nicht möglich und es muss entweder der Kabine- Höhenzunahme im Lufttransport kann es zur Schädigung
ninnendruck erhöht oder auf »sea level« geflogen des Auges kommen. (Aus [17], mit freundlicher Genehmi-
werden. Des Weiteren wird die Oxygenierung des gung des Borden-Institutes)
Gewebes durch verschiedene Faktoren (Tempera-
tur, pH, CO2 etc.) mit Auswirkung auf die O2-Bin- durch den höhenbedingten Druckabfall begünstigt,
dungskurve beeinflusst. damit besteht eine erhöhte Gefahr für die Zunahme
Bei zunehmender Flughöhe kommt es neben von Ödemen. Bereits ab 1600 m wurde die Entste-
einer Abnahme des SpO2 auch zu einer Abnahme hung von Zahnschmerzen beschrieben [7]. Bildge-
des Umgebungsdrucks. Dieses Phänomen hat für bende Verfahren oder fachärztliche Konsile sollten
den Lufttransport eine herausragende Bedeutung, daher bei einem geplanten Tactical AE immer ge-
da er unmittelbare Auswirkungen auf die gasgefüll- nutzt oder angefordert werden, um letzte Unklarhei-
ten Hohlräume des Patienten hat. Wie bereits in ten zu beseitigen.
7 Kap. 35 beschrieben, erklärt das Gasgesetz von Die Druck- und höhenbedingten Phänomene
Boyle-Mariotte den Zusammenhang zwischen haben aber nicht nur Auswirkungen auf den Patien-
Druck und Volumen bei konstanter Temperatur. ten, sondern auch auf Medizingeräte bzw. medizini-
34 Eine Zunahme der Flughöhe bewirkt eine Abnahme sche Hilfsmittel. Durch Abnahme des Gesamtdrucks
des Gesamtdrucks und damit die Zunahme eines in der Höhe kann der Cuff-Druck bei intubierten
definierten Luftvolumens in einem geschlossenen Patienten ansteigen und zu Trachealschäden führen,
Raum. Bei Reduzierung der Flughöhe verhält sich nicht beseitigte Bläschen in Perfusorenspritzen kön-
dieser Prozess entgegengesetzt. Auch dies kann bei nen zu Bolusgaben führen, Vakummatratzen wer-
schnellen Sinkraten von RW (z. B. 2000 ft/Minute) den in der Höhe weicher und Luftkammerschienen
eine rasche und u. U. gefährliche Abnahme eines dagegen härter. Weichgewordene Vakummatratzen
definierten Luftvolumens bedeuten. führen in der Folge zum Verlust der Stabilisierung
Die direkten Auswirkungen des Gasgesetzes bei Patienten mit z. B. Wirbelsäulentrauma und har-
nach Boyle-Mariotte zeigen sich beim Menschen te Luftkammerschienen induzieren durch ein iatro-
insbesondere in den luftgefüllten Organbereichen gen ausgelöstes Kompartmentsyndrom Nerven-
wie Mittelohr, Nebenhöhlen, Zähne, Lunge, Darm schädigungen. Kapnometrische Verfahren, die über
oder auch iatrogene luftgefüllte Räume wie z. B. Nebenflussverfahren das CO2 messen, zeigen in der
Lufteinschlüsse im Auge nach Schrapnellverletzun- Höhe oft zu niedrig gemessene Werte an und arte-
gen (. Abb. 34.3). Flüssigkeitsverschiebungen aus rielle RR-Messungen können insbesondere während
dem Intravasalraum in das Interstitium werden der Aufstiegsphase durch Druckzunahme in der
34.5 · Physikalische und psychische Einflüsse auf Patient und Personal
465 34
Druckmanschette deutliche Fehlerwerte aufzeigen 34.5.2 Sehvermögen
(hier erst die Zielhöhe abwarten). in der Flugmedizin
Um am Patienten unerwünschte, druckbedingte
Effekte zu vermeiden, ist die Anlage geeigneter Ab- Der für das Sehen funktionell wesentliche Organab-
leitungen (z. B. Thorax- und Wunddrainagen, Ka- schnitt des Auges ist die Netzhaut. In diese ist ein
theter etc.) bereits vor dem Lufttransport anzuraten. Nervengeflecht eingebettet, welches den optischen
Eine regelmäßige Reevaluierung der gemessenen Reiz aufnimmt und letztlich in die Sehrinde des Ge-
Parameter (klinisch und über Monitoring) während hirns weiterleitet. Hauptkomponente des Nerven-
des Fluges ist zwingend notwendig, um erste Anzei- geflechts sind hierbei sog. »Zapfen« und »Stäb-
chen von Komplikationen rechtzeitig zu erkennen. chen«. Die Zapfen sind verantwortlich für das Tag-
So sollte außerdem bei bewusstlosen Patienten, die und Farbsehen und finden sich in höchster Dichte
aktiv keinen Druckausgleich des Mittelohrs herbei- im Bereich des schärfsten Sehens (Fixierbereich,
führen können, der Nasenrachenraum mit schleim- Macula lutea) und verlieren ihre Dichte zur Netz-
hautabschwellenden Nasensprays (z. B. Xylome- hautperipherie hin. Sie benötigen, im Gegensatz zu
tazolin) »gespült« oder, falls ein HNO-Arzt verfüg- den Stäbchen, mehr Licht, um ihre Funktion wahr-
bar ist, in begründeten Einzelfällen eine Parazentese nehmen zu können. Die Stäbchen demgegenüber
diskutiert werden. Bei bewusstseinsklaren Patien- sind für das Nacht- und Peripheriesehen wesent-
ten muss vor Beginn des Fluges die Tubendurchgän- lich. Sie weisen eine geringere Dichte in der Netz-
gigkeit mit Hilfe des Valsalva-Manövers überprüft haut auf und sind daher nicht wie die Zapfen in der
werden, ggf. sollten auch hier schleimhautabschwel- Lage eine feine Diskriminierung zweier Punkte
lende Nasensprays zur Anwendung kommen. wahrzunehmen.
Neben den bereits genannten Punkten sollte auch Die Anpassung an verschiedene Lichtverhält-
immer an Lufteinschlüsse nach Operationen (Abdo- nisse wird durch die Pupille sowie durch photoche-
men, Auge, Schädel etc.), weichwerdende Vakuum- mische Eigenschaften der Zapfen und Stäbchen in
matratzen und Drucksteigerung in Luftkammer- Abhängigkeit des Lichtfarbspektrums geregelt.
schienen gedacht werden. Es ist darüber hinaus zu Hierbei vollzieht sich die Anpassung an helles Licht
beachten, dass sich mit zunehmender Flughöhe und schnell (Helladaptation), die Anpassung an Dun-
aufgrund der sich ausdehnenden Gase ein gefährli- kelheit (Dunkeladaptation) mit 15 Minuten bis zu
cher Überdruck innerhalb der Flaschen bilden kann. seinem Maximum nach 60 Minuten deutlich lang-
Aus diesem Grunde sollten Gas- und Sauerstofffla- samer. Durch plötzlichen Weißlichteinfall bei Nacht
schen nicht vollständig gefüllt sein. Die druckkontrol- (Blendung) werden die Stäbchen maximal stimu-
lierte Beatmung hat sich im Lufttransport gegenüber liert. Hierdurch geht die Dunkeladaption zunächst
der volumenkontrollierten durchgesetzt [2, 4, 6]. verloren und muss erst neu aufgebaut werden. Zu
verhindern ist dies im taktischen Umfeld durch die
Nutzung von möglichst reinem Rotlicht, da hier
Praktische Regeln kein Einfluss auf die Stäbchenstimulation vorhan-
5 Je größer die Flughöhe, desto geringer ist den ist.
der absolute Sauerstoffanteil in der Umge- Oft findet sich bei taktischen Lichtsystemen
bungsluft. (z. B. Fa. SureFire, Sidewinder), wie sie in RW gerne
5 Je größer die Flughöhe, desto weniger Luft- genutzt werden, neben dem Rot- auch ein Grün-
druck o Druckanstieg in luftgefüllten Hohl- bzw. Blaulicht. Beide bewirken ähnlich wie weißes
räumen Licht eine Stimulation der Stäbchen und verhindert
5 Um den O2-Partialdruck des Blutes eines Pa- die Dunkeladaptation. Jedoch kommt Grünlicht bei
tienten in der Höhe konstant zu halten, ist es der Patientenversorgung unter taktischen Einsatz-
notwendig, die Sauerstoffkonzentration FiO2 flugbedingungen bei Nacht unter NVG/BIV-Bedin-
zu erhöhen. Überwacht wird dies anhand gungen eine besondere Bedeutung zu. Das Nacht-
von Pulsoxymeter und/oder Blutgasanalyse. sichtgerät wandelt hierbei geringste Mengen von
Restlicht (z. B. Zigarettenglut) über verstärkende
466 Kapitel 34 · Flugmedizin

photophysikalische Mechanismen in ein sichtbares Zugänge in regelhaften Abständen erfolgen sollte.


Grünbild des Sichtfeldes um. Dieser von der Crew Da gemäß Arbeitsschutzrichtlinien ab einem dauer-
gesehene grüne Sichtbereich wird durch Grünlicht haften Lärmpegel von ca. 85 dB mit einer Schädi-
am wenigsten verblendet und ist daher beim Nacht- gung der Hörleistung gerechnet werden muss, ist
flug in RW zu bevorzugen. NVG haben außer den sowohl vom Personal als auch vom Patienten zwin-
Vorteilen der Nachtsehfähigkeit die Nachteile des gend ein Gehörschutz zu tragen. Hierbei spielt es
hohen Gewichts, des eingeschränkten Sichtfeldes keine Rolle ob der Patient wach, bewusstlos oder
von ca. 60°, den Verlust des stereotaktischen Sehens intubiert ist [2, 4, 6].
sowie des eingeschränkten Nahsichtbereichs [2, 4,
6]. Die Anlage eines venösen Zugangs im RW bei Praktische Regeln
Dunkelheit, Lärm, Kälte und mittels NVG/BIV ist 5 Immer Gehörschutz verwenden!
aufgrund der unzureichenden Nahsichtfähigkeit 5 Zusätzlichen Gehörschutz für Patienten
(Fokussierung) grundsätzlich schlecht durchführ- mitführen und anwenden
bar. Wenn keine geeignete grüne Lichtquelle zur 5 Orientierende Untersuchung des Patienten
Verfügung steht, sollten vorzugsweise fokussieren- vor Aufnahme in das LFZ
de und abgedeckte weiße LED-Lampen genutzt 5 Ständige Reevaluation des Patienten
werden. Blaues Licht kann die Sichtbarkeit von Blut während des Fluges
begünstigen, Rotlicht ist bei NVG-Nutzung der 5 Regelmäßige Kontrollen des Monitors, der
Crew ungünstig. Anschlüsse und der Zugänge des Patienten

Hell-Dunkel-Adaption
5 Schnelle Anpassung an helles Licht
5 Sehr langsame Anpassung an schwache
Lichtverhältnisse 34.5.4 Kinetosen
5 Grundsätzlich nachts rotes Licht nutzen,
beim Einsatz von NVG Grünlicht einsetzen Die Kinetose umfasst als Synonymsammlung die
5 NVG haben ein eingeschränktes Sichtfeld, Reisekrankheit, die Bewegungskrankheit und die
hohes Gewicht, kein räumliches Sehens, Luftkrankheit. Sie sind alle gekennzeichnet durch
keinen Nahsichtbereich Übelkeit, Schweißausbruch, Blässe und ausgepräg-
tes Unwohlsein bis zum Erbrechen. Ursächlich für
Kinetosen sind die Diskrepanz zwischen Informati-
onen des vestibulären (Innenohr), optischen (Auge)
34 und propriozeptiven (Lageinformation der Gelenke
34.5.3 Lärm und Muskeln) Systems. So können Schwankungen,
Auf- und Abbewegungen sowie plötzliche Flugrich-
Die im taktischen Lufttransport eingesetzten RW tungswechsel eine Kinetose auslösen.
erzeugen bei normaler Reisegeschwindigkeit Laut- Aufgrund genetischer Disposition sind 10 % al-
stärken zwischen 85 und 120 dB. Bei diesen Lärm- ler Menschen sehr anfällig für die Symptome, 10 %
pegeln ist eine Kommunikation ohne Kommunika- sind immun. Kinder und ältere Erwachsene über
tionshilfen (z. B. Kopfsprechfunk) nicht durchführ- 50 Jahre erleiden deutlich seltener Kinetosen auf-
bar. Die Evaluierung eines Patienten (Auskultation, grund der noch nicht entwickelten bzw. altersbe-
Perkussion, Anamneseerhebung etc.) ist nur einge- dingten rückgebildeten Neurosysteme.
schränkt oder gar nicht möglich, so dass diese be-
reits vor Auf- bzw. Übernahme in das LFZ erfolgen Risikofaktoren Folgende Faktoren tragen zur Ent-
sollte. Akustische Warnsignale der Monitorgeräte wicklung einer Kinetose bei:
sind während des Fluges praktisch nicht wahr- 4 funktionsfähiges Vestibularorgan,
nehmbar, weshalb eine optische Kontrolle sowohl 4 Drogen (auch Alkohol und Nikotin),
der Medizingeräte als auch aller Anschlüsse und 4 Vibrationen,
34.5 · Physikalische und psychische Einflüsse auf Patient und Personal
467 34
4 starke Beschleunigungsreize und vertikale
Lagewechsel bei Ausweichmanöver oder Praktische Regeln
Turbulenzen, 5 Patienten früh antivertiginös behandeln
4 Lärm, 5 Frühzeitig Maßnahmen zur Eigenprophy-
4 wenig gesammelte Erfahrungen von laxe ergreifen
Bewegungsreizen,
4 Wärme,
4 fehlende visuelle Referenz und
4 olfaktorische Reize. 34.5.5 Vibrationen

Prävention Da ein taktischer Flug zahlreiche der Insbesondere Luftfahrzeuge mit Propeller- oder
genannten Aspekte beinhalten kann, sollten Maß- Rotorantrieb sorgen bei Start- und Landevorgängen
nahmen ergriffen werden, eine Kinetoseentwick- innerhalb der Zelle für erhebliche Vibrationen.
lung zu verhindern. Hierzu gehören das Einnehmen Wetterbedingte Einflüsse auf das Luftfahrzeug kön-
einer aufrechten Körperhaltung im Sitzen, eine um nen Vibrationen neu erzeugen oder bereits vorhan-
30° nach vorne gebeugte Kopfhaltung (oder wenigs- dene verstärken. Sie können in einem Frequenzbe-
tens aufrechte Position), im Liegen die Kopfhochla- reich zwischen 0,1 Hz und 100 Hz regelhaft (perio-
gerung, das Arbeiten im Flug auf ein Minimum zu disch) oder zufällig (stochastisch) auftreten und auf
reduzieren (lesen, am Monitor arbeiten, Infusionen den Menschen übertragen werden. Diese Übertra-
aufziehen etc.), Lagewechsel des Kopfes bei Turbu- gung wird in Abhängigkeit von Einwirkdauer, Aus-
lenzen zu vermeiden und eine optische Referenz breitungsrichtung, Einwirkstelle, Initialfrequenz
außerhalb des LFZ zu suchen (Blick aus dem Fens- sowie der Körperhaltung fortgeleitet und führt im
ter oder der Heckklappe). Körper zu unterschiedlichen Wirkungen:
> Medizinisches Personal mit der Prädisposi-
4 Der Körper reagiert auf Vibrationen reflekto-
tion zu Übelkeit und Erbrechen sollte bei ent-
risch mit statischer und dynamischer Muskel-
sprechend bevorstehendem Flugprofil eine
arbeit, was den Sauerstoffverbrach erhöht und
Prophylaxemaßnahme erwägen. Hierzu
einen vorbestehenden Sauerstoffmangelzu-
eignet sich Scopolamin oder Dimenhydrinat
stand negativ beeinflusst.
als transdermales Pflaster bzw. Kaugummi
4 Die Höhe einer Frequenzstärke kann zu einer
(z. B. Superpep).
Funktionsbeeinträchtigung von Organen führen
und z. B. Harndrang oder Übelkeit hervorrufen.
4 Bei erschütterungsempfindlichen Verlet-
Therapie Führen die genannten prophylaktischen zungen, z. B. Frakturen, kurzfristig zurücklie-
Maßnahmen nicht zum Erfolg, ist eine antivertigi- genden operativen Eingriffen oder spinalen
nöse Therapie in jedem Fall mit z. B. Ondansetron Verletzungen, kann es durch starke Horizon-
(Zofran i.v. oder Schmelztablette) oder Dimenhy- tal- oder Vertikalschwingungen (Scherkräfte)
drinat (z. B. Vomex) sinnvoll. Nach Neubewertung zu einer erheblichen Situationsverschlechte-
von Metoclopramid durch das Bundesinstitut für rung (z. B. Schmerzzunahme) kommen.
Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bzw. Schlecht geschiente oder unzureichend gepol-
der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) hat sterte Frakturenden können ausgeprägte ossäre
dieses Medikament an praktischer Bedeutung ver- Reibephänome im Bereich des Bruchspaltes
loren und sollte in Wirkstärken über 1 mg/ml keine induzieren und Schmerzen oder Schäden (z. B.
Anwendung mehr finden. Das mitfliegende medizi- an begleitenden Nerven) beim Verletzten pro-
nische Personal sollte bereits vor einem ersten Flug vozieren.
einer fliegerärztlichen Begutachtung unterzogen 4 Durch Vibrationen lösen sich Viggo-Ver-
worden sein (7 Abschn. 34.3), um die gesundheitli- schraubungen, Schutzkappen, Anschlüsse von
che Eignung für den fliegerischen Dienst sicher zu Infusionen und Perfusoren. Es dislozieren
stellen [2, 4]. Katheter, Schienen, Verbände o. ä.
468 Kapitel 34 · Flugmedizin

4 Starke Vibrationen können die Ablesefähigkeit


von Monitorinformationen während des Praktische Regeln
Fluges erheblich erschweren. 5 Vor dem Beginn eines Rettungsfluges
prüfen, in welchem Bereich des Luftfahr-
Um Schwerstverletzte schnell entladen zu können, zeugs Vibrationen am geringsten sind.
werden diese im LFZ in der Nähe der Ladeluke po- 5 Die Lagerung des Patienten kontrollieren
sitioniert. Zu beachten ist aber, dass Patienten mit und für eine gute Analgesie durch Immobi-
erschütterungsempfindlichen Verletzungen in den lisation (ggf. Traktionsschiene), Polsterung
schwingungsärmeren Bereichen, meistens die Zel- und die Gabe geeigneter analgetisch wirk-
len- oder Kabinenmitte des zum Transport vorgese- samer Medikamente sorgen.
henen Luftfahrzeugs, gelagert werden sollten. Zu- 5 Die Therapie und den Transport durch
sätzlich ist eine gute Analgosedierung mit hoch- Antiemetika unterstützen.
potenten Schmerzmitteln (z. B. Ketanest und Mida- 5 Die zur Verfügung stehenden Rettungs-
zolam oder Opiaten) anzustreben. Die zusätzliche mittel vor der Nutzung auf Luftfahrtzulas-
Gabe eines Antiemetikums wie z. B. Ondansetron sung prüfen.
(Zofran) oder Dimenhydrinat (Vomex) ist zu er- 5 Zugänge und Verschlüsse regelmäßig auf
wägen, um eine morphininduzierte Übelkeit zu ver- festen Sitz prüfen.
hindern. Hierbei sollten Medikamente, mit denen 5 Köpfe von Kleinkindern sollten ggf. tempo-
eigene gute Erfahrungen gemacht wurden, bevor- rär manuell leicht angehoben und fixiert
zugt werden. werden.
> Vibrationsempfindliche Verletzungsmuster
sind adäquat und je nach Verfügbarkeit der
vorhandenen Möglichkeiten zu immobilisie-
ren bzw. zu polstern.
34.5.6 Hypothermie

Besondere Vorsicht ist beim Transport von Klein- Bei der Nutzung luftbeweglicher Rettungsmittel
kindern und insbesondere Säuglingen angebracht. sind in großen Höhen oder beim Einsatz unter geo-
Zarte Gefäße im Schädelbereich neigen durch logischen, klimatischen und meteorologischen an-
starke Vibrationen dazu, zu zerreißen. Hier ist das spruchsvollen Rahmenbedingungen (z. B. Wüste,
manuelle Anheben und Fixieren des Kindskopfes Nacht, Winter, Gebirge, große Flughöhe) niedrige
neben der grundsätzlichen Positionierung des Kin- Temperaturen zu erwarten. Pro ca. 300 m (ca.
des in der Vakuummatratze ein probates Mittel, um 1.000 ft) Höhenaufstieg ist mit 2 °C Temperaturabfall
34 temporär auftretende Vibrationen zu reduzieren. zu rechnen, was sich bei offenen Türen/Heckram-
Grundsätzlich bietet der Markt viele Systeme (Va- pen, Fluggeschwindigkeiten bis 250 km/h oder dar-
kuummatratze, Traktionsschienen, Luftkammer- über und den sich hieraus ergebenden sehr hohen
schienensysteme, SAMSplints, SpineBoard, Skedco, Windgeschwindigkeiten (»wind chill«) zu einer le-
SAM PelvicSling etc.), die zur Minimierung der vi- bensbedrohlichen Situation für den Patienten
brationsbedingten Effekte beitragen können. Aus entwickeln kann. Ohne Wärmeschutz führt dies ent-
rechtlicher Sicht ist zu bedenken, dass für die Nut- sprechend dem in 7 Kap. 38 geschilderten Pathome-
zung eines Luftfahrzeugs auf die entsprechenden chanismus zu erhöhtem Sauerstoffverbrauch des
Luftfahrtzulassungen vieler Hilfsmittel zu achten Körpers, einer zunehmenden Eintrübung des Pati-
ist. Praktisch spielt dieser Aspekt, insbesondere bei enten und möglicherweise zu ausgedehnten Blutun-
militärischen Operationen mit »Forward AE-Ein- gen durch die erheblich eingeschränkte Gerinnungs-
sätzen«, oft eine untergeordnete Rolle, was jedoch funktion (pro 1 °C Abfall der Körpertemperatur ca.
das juristische Problem per se nicht weniger bedeut- 10 % Abfall der Gerinnungsfähigkeit). Diese kann
sam macht [2, 3, 4]. bei Patienten mit Schussverletzungen o. ä., insbeson-
dere im militärischen Umfeld, zu erheblichen Prob-
lemen während des Lufttransports führen.
34.5 · Physikalische und psychische Einflüsse auf Patient und Personal
469 34
! Durch das häufige »zu warm einpacken« 34.5.7 Stressprophylaxe
kann der Blutverlust maskiert und so erst
sehr spät oder gar nicht erkannt werden. Hier Jeder Mensch kann in persönlich erlebten Grenz-
muss der Patientenstatus in kurzen und situationen (physisch und psychisch) mehr oder
regelhaft durchgeführten Intervallen geprüft weniger bewusst einer Stresssituation ausgesetzt
werden. werden. Die beeinflussende Stressintensität ist ab-
hängig von den individuell zur Verfügung stehenden
Wärmeerhaltungssysteme, z. B. APLS Thermal Kompensationsmechanismen. Durch komplexe
Guard, können durch deren Konstruktionsweise Verletzungsmuster werden körpereigene bioche-
diese Patientenkontrollen erleichtern. Unter takti- mische Mechanismen in Gang gesetzt, die im Kör-
schen Flugbedingungen und starkem Wechsel der per Stressmechanismen auslösen können. Daher
Flugrichtungen ist mit dem Einschwemmen von muss versucht werden, traumatisierte Personen
kaltem Blut aus der Körperperipherie zu rechnen frühzeitig möglichst intensiv zu betreuen, um das
(»after drop«), wodurch jederzeit eine lebensbe- Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Jeder Patient,
drohliche Herzrhythmusstörung eintreten kann. an der Grenze zur psychischen Dekompensation,
Als höchste Priorität gilt deshalb, die Hypother- kann ein Flugsicherheitsrisiko darstellen. Es muss
mieprävention nicht zu vernachlässigen. Weitere daher bei entsprechenden Warnzeichen eine Sedie-
kommerzielle Systeme wie ReadyHeat-Decken, rung mit Benzodiazepinen (z. B. Diazepam, Mida-
Blizzard-Reflexcell oder silberbedampfte Rettungs- zolam oder Lorazepam als Schmelztablette) erfol-
decken können zusätzlich zu einer einfachen Woll- gen, ggf. ist die Fixierung des Patienten zu erwägen
mütze für den Kopf einen effektiven Unterküh- [2, 3, 4]. Erfahrungen der US-Streitkräfte weisen
lungsschutz darstellen. Handelsübliche Frischhalte- darauf hin, dass die frühe Gabe von Morphin bei
folien stellen im Extremfall eine einfache und im- verletzten Soldaten das Risiko für die Entwicklung
provisierte Alternative dar. Im Idealfall stehen eines PTBS reduzieren kann.
warme Infusionen bis maximal 40 °C zur Verfü- > Kritische Patienten sollten frühzeitig sediert
gung, die eine Hypothermie effektiv verhindern und ggf. fixiert werden.
können. Industrielle Geräte wie z. B. ThermalAngel
oder enFlow können einer Infusion vorgeschaltet
werden, um diese zu erwärmen. Eine Infusionstem-
peratur über 40 °C kann hämolytische Effekte aus- 34.5.8 Müdigkeit
lösen und ist daher zurückhaltend einzusetzen.
Bei länger andauernden Rettungseinsätzen ist aus-
Praktische Regeln reichender Schlaf nicht immer gewährleistet. Ein-
5 Hypothermie reduziert als dritte Kompo- sätze wie sie im Rahmen der Tsunami-Hilfe (Indo-
nente der letalen Trias (Azidose, Koagulopa- nesien 2004) stattfanden, forderten vom medizini-
thie, Hypothermie) die Überlebensfähigkeit schen Personal Dauereinsätze bis zu 35 h ohne
eines Verwundeten und muss unter allen Schlaf. Dies ist problematisch, da die mentale Ar-
Umständen verhindert werden. beitsleistung pro 24 h ohne Schlaf um ca. 25 % ab-
5 Kommerzielle Wärmesysteme nutzen oder fällt. Das Konzentrationsvermögen lässt stark nach
improvisieren (z. B. Decken, Frischhaltefolie, und erhöht die Fehleranfälligkeit. Ein Schlafdefizit
Wollmütze etc.) von 17 Stunden entspricht einem Blutalkoholspiegel
5 Bei unterkühlten Patienten heftige Bewe- von 0,5 ‰, bei 24 h Schlafentzug liegt ein Blutalko-
gungen vermeiden (»after drop«). holäquivalent von 1,0 ‰ vor. Ein Schlafminimum
5 Den Verletzten aktiv durch angewärmte von 4–5 h pro Tag sollte zur Erhaltung der Einsatz-
Infusionen erwärmen. fähigkeit eingehalten werden, die Idealschlafdauer
liegt bei etwa 6–8 h. Der Schlaf kann durch einfa-
ches Ausruhen nicht ersetzt werden, kurze »Nicker-
chen« (»combat naps«) von mindestens 10 min
470 Kapitel 34 · Flugmedizin

Dauer tragen zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit


bei. Gelegentlich tritt nach dem »napping« eine auf einem akzeptablen Niveau halten.
Desorientierung von ca. 5–20 min Dauer auf. Diese Präparate sollten sehr restriktiv und
Um das Müdigkeitsgefühl zu verschleiern, kön- nur nach guter Lagebeurteilung eingesetzt
nen weiterhin verschiedene Drogen zur Anwen- werden.
dung kommen. Insbesondere beim US-Militär wird
außer Koffein (300–600 mg/70 kg KG alle 6 h) Dex-
edrine (z. B. 5 mg alle 2–3 h, nicht über 30 mg/24 h)
und Modafinil (200 mg/8 h, maximal 400 mg/24 h) 34.6 AE im Rahmen von Personal-
eingesetzt (»go pills«). Hierbei ist zu beachten, dass Recovery-Operationen
Koffein in den unterschiedlichsten Getränken in
variabler Menge vorkommt. Um einen maximalen Personal Recovery bedeutet die Rettung von Perso-
Benefit der Koffeinwirkung zu erzielen, ist die Kom- nen aus isolierten Lagen (z. B. nach Absturz eines
bination aus einem koffeinhaltigem Getränk und LFZ) oder von versprengten Militärs und Zivilisten.
einem anschließenden 30-minütigen »combat nap« Die hierbei zu rettenden Personen sind ggf. verletzt
anzustreben. Die Resorptionszeit des aufgenomme- und benötigen einen luftgebundenen Verwunde-
nen Koffeins endet mit dem Aufwachen nach ca. tentransport, um schnellstmöglich einer suffizien-
einer halben Stunde und kann im Anschluss effektiv ten chirurgischen Versorgung zugeführt zu werden.
stimulierend zur Wirkung kommen. Durch diesen Grundsätzlich sind hierfür zwei Optionen denkbar:
Trick wird die erholende Wirkung des Kurzschlafes 4 Die Rettung einer verletzten Person durch spe-
durch die anregende Wirkung des Koffeins ergänzt. zialisierte Rettungskräfte, die eine deutlich
Zu beachten ist allerdings, dass Koffein einem Ge- erweiterte medizinische und infanteristische
wöhnungseffekt (Toleranzentwicklung) unterliegt, Ausbildung besitzen. Nach derzeitiger Vorstel-
wodurch der Konsum bei regelmäßigem und inten- lung sollen dafür in Deutschland zukünftig
siven Koffeingenuss (6–15 Tage Dauereinnahme) speziell ausgebildete »Kampfretter« der Luft-
gesteigert werden muss. Diese höhere Koffeintole- waffe nach dem Vorbild der US Pararescue
ranz ist reversibel und verliert sich durch entspre- Jumpers (PJ) diese Aufgabe übernehmen. Un-
chende Koffeinabstinenz wieder. Grundsätzlich ter taktisch hochkomplexen und anspruchs-
können alle genannten Substanzen die Phasen ohne vollen Bedingungen müssen sie in der Lage
Schlaf bis zu einer Dauereinsatzzeit von 48 h verlän- sein, in jeder Bedrohungslage und über alle
gern. Psychomotorik, Wachsamkeit und das kogni- Klimazonen hinweg Verwundete mit zielge-
tive Vermögen können hierbei auf einem noch ak- richteten Rettungsmitteln (z. B. Winde, tech-
34 zeptablen Niveau gehalten werden. In Phasen mit nische Rettung) zu retten, medizinisch zu ver-
anschließender Schlaflosigkeit muss ggf. mit Präpa- sorgen und auf unterschiedlichen nationalen
raten wie Zolpidem 10 mg (»no go pills«) gegenge- (ggf. auch internationalen) (Luft-)Rettungs-
steuert werden [1, 2, 4, 5, 6]. mittel zu evakuieren.
4 Der qualifizierte Lufttransport von Verwunde-
ten hatte bis vor Einführung der Kampfretter
Praktische Regeln auch im Rahmen von PR-Missionen seine Be-
5 Ausreichend schlafen. rechtigung und wird diese bei bestimmten Ein-
5 »Combat naps« (10–120 min oder länger) satzlagen auch zukünftig noch behalten. In Zu-
sind effektiv, um die Müdigkeit kausal zu sammenarbeit mit einer »Extraction Force«
bekämpfen. oder den genannten Kampfrettern wird der Pa-
5 Vor einem »combat nap« von 30 min Dauer tient vor Ort oder im Rahmen eines Rendez-
eine Tasse Kaffee trinken (250 ml). vousverfahrens übergeben. Grundsätzlich stellt
5 Pharmazeutika (Modafinil) können die Leis- sich als besondere Herausforderung die Zu-
tungsfähigkeit auch ohne Schlaf bis zu 48 h sammenarbeit des medizinischen Teams mit
den Sicherungskräften des Aufnahmeteams
Literatur
471 34
(»Extraction Force« bzw. Kampfretter) dar. 9. Lang B, Ruppert M, Schneibel W, Urban B (2010)
Komplex für das Sanitätspersonal wird die Teamtraining in der Luftrettung. Aeromedical Crew
Resource Management – ein europäisches Trainingspro-
Lage dann, wenn das Herauslösen eines Ver-
gramm zur Optimierung der Flug- und Patientensicher-
letzten vor Ort im abgesetzten Verfahren heit in der Luftrettung. Notfall + Rettungsmedizin 5/2010
durchgeführt werden muss. Das medizinische 10. Schwartz RB, McManus JG, Swienton RE (2008) Tactical
Personal muss ggf. in der Lage sein, sich den Emergency Medicine. Lippincott Williams & Wilkins,
taktischen Verfahren der Sicherungskräfte an- Philadelphia
11. Jansch A (2010) Taktische Notfallmedizin: Grundlagen,
zupassen um dann eine suffiziente Verwunde-
Bedeutung für den Rettungsdienst und die Anwendung
tenversorgung (»primary survey« etc.) durch- bei Amoklagen. Verlag für Polizeiwissenschaft
zuführen. Die Verfahren der Extraction-Kräfte 12. http://www.nark.din.de/projekte/DIN+EN+13718-1+rev/
müssen beim festgelegten Sanitätskraftdisposi- de/140274031.html
tiv bekannt sein, und können aufgrund der 13. Stüben U (2008) Taschenbuch Flugmedizin und ärztliche
Komplexität hier nicht näher erörtert werden. Hilfe an Bord. Medizinisch Wissenschaftliche Verlags-
gesellschaft
Es ist notwendig, dass sich jeder Soldat der
14. Wilhelm W (2011) Praxis der Intensivmedizin. Springer,
Sanitätstruppe mit den PR-Verfahren in sei- Berlin Heidelberg New York
nem Einsatz vertraut macht und insbesondere 15. Fresenius M, Heck M (2011) Repetitorium Intensivmedi-
als AE-Personal über eine eigene höhere PR- zin. Springer, Berlin Heidelberg New York
Ausbildung, z. B. SERE-Level B oder C, verfügt 16. Joint Personall Recovery, Streitkräftegemeinsames Aus-
bildungskonzept SERE (Skgem AusbKonz SERE)
[16]. Sollte eine Vororientierung des Sanitäts-
17. Ellinger K, Genzwürker H, Hinkelbein J, Lessing P (2010)
personals in das Extraction-Team erfolgen, Intensivtransport – Orientiert am Curriculum der DIVI,
so ist aufgrund der Verfahrenskomplexität ein Deutscher Ärzte-Verlag, Köln
zielgerichtetes gemeinsames Training anzu- 18. Nessen SC, Lounsbury DE, Hetz SP (2008) War Surgery in
raten. Afghanistan and Iraq: A Series of Cases, 2003–2007.
Department of the Army, Office of The Surgeon General,
Borden Institute, Washington, DC
19. Scheer R (2014) Level Charlie Combat Search and Rescue.
Literatur www.epublic.de

1. Kim DY (2007) Modafinil: The Journey to Promoting


Vigilance and its Consideration by the Military in Sustain-
ing Alertness, Harvard Law School
2. Generalarzt der Luftwaffe (2006) Kompendium der
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Dr. Pongratz (Hrsg.)
3. Ernsting J, Nicholson A, Rainford D (2006) Ernsting´s
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4. Naval Aerospace Medical Institute (1991) US Naval Flight
Surgeon´s Manual, 3rd ed. Department of Navy
5. Naval Strike and Air Warfare Center (2000) Performance
Maintenance during continuous flight operations – guid-
ance for Flight Surgeons. Naval Strike and Air Warfare
Center (ed/eds)
6. Silbernagel S, Despopoulos A (2012) Taschenatlas der
Physiologie. Thieme, Stuttgart
7. Constantin von See, C. Kühlhorn, F. Hellwig, N.-C. Gellric
(2011) Einsatzvorbereitung und Combat Readiness aus
Zahnmedizinischer Sicht. Wehrmedizin und Wehrphar-
mazie 4/2011
8. Rall M, Lackner CK (2010) Crisis Resource Management
(CRM) Der Faktor Mensch in der Akutmedizin. Notfall +
Rettungsmedizin 5/2010
473 35

Tauchmedizin
C. Neitzel, N. Vortkamp

35.1 Gasgesetze – 474


35.1.1 Gesetz von Boyle-Mariotte – 474
35.1.2 Gesetz von Dalton – 474
35.1.3 Gesetz von Henry – 474

35.2 Gefahren der Kompressionsphase – 475


35.2.1 Barotrauma – 475

35.3 Gefahren der Isopressionsphase – 475


35.3.1 Atemgasvergiftungen – 475

35.4 Gefahren der Dekompressionsphase – 477


35.4.1 Barotrauma – 477
35.4.2 Dekompressionserkrankung (DCS) – 478

35.5 Therapie – 481


35.5.1 Milde Symptome – 481
35.5.2 Schwere Symptome – 481
35.5.3 Tauchgangsprofil – 482
35.5.4 Transport und Folgeversorgung – 482

35.6 Ertrinken – 483

35.7 Weitere Aspekte – 484


35.7.1 Hypothermie – 484
35.7.2 Medikamente – 484
35.7.3 Otitis externa – 484
35.7.4 Taucherärztliche Telefonberatung – 484

Literatur – 484

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_35, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
474 Kapitel 35 · Tauchmedizin

Im militärischen und polizeilichen Bereich hat gasvorrates oder für das Tarieren unter Wasser rele-
Tauchen eine herausragende Bedeutung, u. a. für vant. Füllt man auf 40 m Wassertiefe (5 bar) einen
die Annäherung an Einsatzorte und die Instandset- Luftballon mit 6 l Pressluft, hat dieser Ballon bei
zung von Material. Dem wird Rechnung getragen niedrigerem Druck an der Oberfläche (1 bar) ein
durch ein Netz von medizinisch speziell ausgebilde- 5-mal größeres Volumen von insgesamt 30 l!
tem Personal und der Vorhaltung von Druckkam-
mern, um bei Notfällen kompetent reagieren zu
können. 35.1.2 Gesetz von Dalton
Ziel dieses Kapitels ist es, eine im taktischen Be-
reich zuweilen bestehende Lücke in der notfallme- Der Gesamtdruck eines Gasgemisches ergibt sich
dizinischen Versorgung des verunfallten Tauchers aus der Summe der Teildrücke der unterschiedli-
bis zur Übergabe an tauchmedizinisches Fachperso- chen Gase:
nal schließen zu helfen und einen praxisnahen
Überblick über die Tauchmedizin zu geben. Außer- Pges = P1 + P2 + P3 +…
dem sollen die wichtigsten Punkte für die präklini-
sche Versorgung und die Relevanz für die bereits im Die Relevanz dieses Gesetzes findet sich z. B. bei
Vorfeld stattfindende Einsatzplanung herausgestellt Atemgasvergiftungen (7 Abschn. 35.3). An der
werden. Da spezifische Behandlungen (z. B. hyper- Oberfläche ungefährliche Teildrücke von Gasen
bare Oxygenierung) in einer Druckkammer erfol- können bei steigendem Gesamtdruck durchaus
gen müssen, die mit Fachpersonal besetzt ist, wer- toxische Konzentrationen erreichen. So bedingt ein
den diese nicht vertieft. sauerstoffangereichertes mit 40 % O2 (Sauerstoff-
partialdruck an der Oberfläche = 400 mbar) in einer
Wassertiefe von 40 m einen Sauerstoffpartialdruck
35.1 Gasgesetze von 2.000 mbar, was sehr schnell zu Vergiftungser-
scheinungen führt.
Grundlage fast aller Erkrankungen, die durch Tau-
chen verursacht sind, ist das Verhalten von Gasen
unter Druckveränderungen. Eine grobe Systematik 35.1.3 Gesetz von Henry
lässt die Einteilung der Erkrankungen anhand der
Tauchphase zu: Die in einer Flüssigkeit gelöste Menge eines Gases
4 Kompressionsphase: Abtauchphase ist proportional zum Teildruck eines Gases über der
4 Isopressionsphase: Verbleiben auf Tiefe Flüssigkeit. Beeinflussende Faktoren hierbei sind
4 Dekompressionsphase: Auftauchphase die Temperatur, die Art des Gases und der Löslich-
keitskoeffizient der Flüssigkeit.
35 Dabei sind alle Gase bestimmten Gesetzmäßigkei- Beim Tauchen ist dieses Gesetz für die Ent-
ten, den sog. Gasgesetzen, unterworfen. stehung der Dekompressionserkrankung von Be-
deutung (7 Abschn. 35.4). Hierbei geht es im We-
sentlichen um die Löslichkeit von Stickstoff unter
35.1.1 Gesetz von Boyle-Mariotte Änderungen des Gesamtdruckes und die Auf- und
Entsättigung der unterschiedlichen Gewebe und
Das Produkt aus Volumen und Druck für ein abge- Flüssigkeiten des menschlichen Körpers. Zur Ver-
schlossenes System ist bei gleicher Temperatur kon- deutlichung dieses Gesetzes stelle man sich das
stant, wenn eine Volumenanpassung möglich ist: Öffnen einer Mineralwasserflasche vor: Der in der
Flasche gehaltene Druck über der Flüssigkeit wird
P Â V = konstant schlagartig geringer, das Kohlendioxid perlt aus.
Ähnlich verhält es sich mit der Entstehung von
In der Praxis ist dieses Gesetz z. B. für das Entstehen Stickstoffblasen, die in der Folge zur Dekompres-
eines Barotraumas, für die Kalkulation des Atem- sionserkrankung führen können.
35.3 · Gefahren der Isopressionsphase
475 35
35.2 Gefahren der Kompressions- möglich (Taucherbrille, Magen-Darm, kariöser
phase Zahn).

35.2.1 Barotrauma Ursache Fehlende Möglichkeit zum Druckaus-


gleich, z. B. bei Schleimhautschwellung des Raumes
Die häufigsten durch die Kompression bedingten Er- im Rahmen eines Infektes.
krankungen entstehen durch die fehlende Möglich-
keit eines Druckausgleichs. Hier sind insbesondere Symptome Lokal begrenzte Schmerzen der be-
die Nasennebenhöhlen zu nennen, jedoch ist grund- troffenen Region, Blutungen aus Ohr/Nase, Haut-
sätzlich jede gasgefüllte Körperhöhle gefährdet. rötungen.
Beim Abtauchen erhöht sich der Umgebungs-
druck rapide. In den ersten 10 m Wassertiefe ver- Gefahr Trommelfellruptur mit Verlust der Orien-
doppelt sich der Umgebungsdruck von 1 bar auf tierung (Reizung des Vestibularorgans durch ein-
2 bar, wodurch sich das Gasvolumen halbiert (7 Ab- dringendes kaltes Wasser).
schn. 35.1). In gasgefüllten Körperhöhlen entsteht
dadurch ein relativer Unterdruck, der durch Belüf- Behandlung Symptomatisch, NSAR oder Paraceta-
tung ausgeglichen werden muss. Der Lungenauto- mol, abschwellendes Nasenspray.
mat des Tauchers liefert die Atemluft mit einem
Druck, der dem Umgebungsdruck angenähert ist, Relevanz Kein Tauchen, bis Symptome abgeklun-
wodurch in den Atemwegen automatisch ein gen sind.
Druckausgleich erfolgt. Gefährdet für ein Barotrau-
ma sind die gasgefüllten Körperhöhlen, die schlecht
(z. B. Mittelohr, Nasennebenhöhlen bei Erkältung) 35.3 Gefahren der Isopressionsphase
oder nicht direkt (Darm) belüftet werden können.
Barotraumen können auch an Haut und Augen 35.3.1 Atemgasvergiftungen
durch Lufteinschlüsse unter eng anliegenden Tau-
cheranzügen oder in Taucherbrillen auftreten, Die Phase des Aufenthalts in der Tiefe ist im We-
wenn der Druckausgleich in der Maske unterlassen sentlichen durch die Effekte der geänderten Partial-
wird. drücke der im Atemgasgemisch enthaltenen Gase
Barotraumen sind in den meisten Fällen nicht geprägt. Dadurch können Atemgase in unterschied-
schwerwiegend. Sie zeichnen sich durch Rötung des licher Form für den Taucher toxisch wirken.
Gewebes, Schmerz und ggf. Exsudation oder Blu-
tung aus. Trommelfellrisse können aber durch ein- Tiefenrausch
dringendes kaltes Wasser zu einem Funktionsaus- Stickstoff hat die Eigenschaften eines Inertgases und
fall des Gleichgewichtsorgans führen und so unter ist folglich reaktionsträge. Mit steigendem pN2 kann
Wasser durch Orientierungslosigkeit und Panik le- es ab einer Tauchtiefe von 30 m zu einer Inertgas-
bensbedrohlich werden. Eine weitere Gefahr liegt in narkose kommen, bei der der Stickstoff keinen me-
der Verwechslung von Barotraumen mit anderen tabolischen Prozessen unterworfen wird. Aufgrund
Erkrankungen der Tauchmedizin. So kann ein ku- seiner Lipophilität diffundiert er in bestimmte Be-
tanes Barotrauma als Dekompressionserkrankung standteile von Zellmembranen, wodurch diese
fehlinterpretiert werden, allerdings kann eine anschwellen und eine Erregungsweiterleitung ver-
schwere Dekompressionserkrankung mit neurolo- zögert wird. Daraus resultiert ein alkoholrausch-
gischer Innenohrsymptomatik (Hörverlust, Tinni- ähnlicher Zustand, dessen Symptome von Herz-
tis, Vertigo) auch klinisch einem Innenohrbarotrau- klopfen über Schwindel bis hin zu Größenwahn
ma gleichen. sowie akustischen und optischen Halluzinationen
in Abhängigkeit von der Tauchtiefe führen kann.
Vorkommen Hauptsächlich Nasennebenhöhlen, Diese Beschwerden sind bei sinkendem pN2, also
grundsätzlich aber in jedem gasgefüllten Hohlraum bei einem Aufstieg in geringere Tiefen, komplett
476 Kapitel 35 · Tauchmedizin

reversibel, da sich der Stickstoff aus den Membra- gen und Desorientierung. Es kann jedoch auch
nen wieder herauslöst. ohne diese Vorwarnzeichen zu einem Krampfanfall
Bestimmte Faktoren können das Auftreten eines kommen. Diese mit Bewusstseinsverlust einherge-
Tiefenrausches zusätzlich begünstigen, hierzu henden generalisierten Krampfanfälle enden meist
zählen v. a. eine zu geringe Flüssigkeitsaufnahme, tödlich durch Ertrinken.
Müdigkeit, Medikamenteneinnahme, Ängstlichkeit Sämtliche ZNS-Symptome bilden sich nach Be-
und körperliche Erschöpfung. endigung der Exposition zurück, ohne dass bei
einem Sauerstoffkrampf mit einer Wiederholungs-
Vorkommen Tauchtiefen ab ca. 30 m und tiefer mit tendenz oder einem Hirnschaden, wie z. B. bei einer
Pressluft, zu schnelles Abtauchen. Epilepsie, zu rechnen ist. Es bestehen große Unter-
schiede in der Anfälligkeit gegenüber Sauerstoff-
Ursache Einlagerung von N2 besonders in lipophile krämpfen, abhängig von der Tagesform auch beim
Zellmembrananteile (Nervenzellen) mit Störung gleichen Taucher. Dabei kann die individuelle
der Reizweiterleitung. Krampfschwelle durch schwere körperliche Arbeit,
Medikamenteneinnahme und erhöhte Körpertem-
Symptome Schwindel, Euphorie, Herzrasen, Seh- peratur deutlich herabgesetzt werden.
störungen, Gedächtnisstörungen, Ideenfixation,
Größenwahn, Panik, motorische Störungen, Be- Vorkommen Tauchen mit 100 % Sauerstoff oder
wusstlosigkeit, Tod. Gasgemischen mit erhöhten O2-Anteilen.

Behandlung Aufstieg in niedrigere Tauchtiefe bei Ursache Wirkung von Sauerstoffradikalen auf das
Bemerken von ersten Symptomen. zentrale Nervensystem.

Prophylaxe Langsamer Abstieg. Symptome Periorale Kribbelparästhesien, Muskel-


zuckungen, Hör- und Sehstörungen, Desorientierung.
Relevanz Gefährdung des eigenen Lebens sowie
der Auftragserfüllung durch Beeinträchtigung der Behandlung Bei Bemerken von Symptomen Auf-
geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit, Ge- stieg an die Oberfläche, Vitalzeichenkontrolle.
fährdung des Tauchpartners.
Relevanz Ausbildung auf das jeweilige Tauchgerät,
Akute Sauerstoffvergiftung ggf. Einhalten der vorgegebenen Tauchtiefen (Pla-
(Paul-Bert-Effekt) nung des Auftrages).
Ein stark erhöhter Sauerstoffpartialdruck (pO2)
kann Krampfanfälle auslösen. Bei Tauchgängen bis Kohlendioxidvergiftung
35 zu wenigen Stunden wird eine Grenze von 1,4– Durch fehlerhaftes Befüllen von Pressluftflaschen
1,6 bar pO2 als ausreichend sicher angesehen, die sowie unzureichender Füllung der Atemkalkpatrone
Toxizitätsgrenze wird bei pO2 = 1,7–2,0 bar angege- bei Kreislaufgeräten kann es zu einer CO2-Vergif-
ben. Die Bundesmarine gibt bei Kreislauftauchgerä- tung kommen. Schon geringe Kohlendioxidbeimen-
ten eine maximale Tauchtiefe von 8 m vor, was bei gungen in der Atemluft, die an der Oberfläche oder
annähernd 100 % O2 einen pO2<1,8 bar bedeutet. in geringen Tauchtiefen unbemerkt bleiben, können
Beim Tauchen mit Pressluft wird ein toxischer pO2 aufgrund der Partialdruckerhöhung in größeren
erst in Tiefen von 70–80 m erreicht. Bei der Nut- Tiefen zu Vergiftungserscheinungen führen. Eine
zung von Gasgemischen mit erhöhtem O2-Anteil weitere Fehlerquelle ist die mangelhafte Befüllung
(Nitrox) oder Bediener- bzw. Gerätefehlern bei der Kalkpatrone bei Kreislaufgeräten, was zu einer
Kreislauftauchgeräten kann eine Sauerstoffvergif- unzureichenden Resorption von CO2 aus der Ausa-
tung auch in Tiefen unter 10 m auftreten. temluft führt. Das Kohlendioxid gelangt so vermehrt
Unspezifische Frühwarnsymptome sind Ge- in die Einatemluft und kann entsprechende Symp-
sichtszuckungen, Kribbelparästhesien, Hörstörun- tome verursachen.
35.4 · Gefahren der Dekompressionsphase
477 35
Vorkommen Fehler bei der Befüllung von Pressluft- Symptome Schmerzen; bei oberflächlichem Baro-
flaschen (Ansaugung von Abgasen), Fehler beim Be- trauma ggf. Haut-/Schleimhautrötung; bei Trom-
füllen der Kalkpatrone bei Kreislauftauchgeräten (zu melfellriss Orientierungsverlust
geringe Kalkmenge, kein regelmäßiger Kalkwechsel).
Behandlung Die Therapie entspricht der des Über-
Ursache Toxischer Effekt auch geringer Mengen druckbarotraumas.
Kohlendioxids unter Partialdruckerhöhung.
Pulmonales Barotrauma
Symptome Kopfschmerzen, Schwindel, Orientie- Eine schwerwiegende Variante ist das pulmonale Ba-
rungslosigkeit, Lufthunger, Erhöhung der Atem- rotrauma. Es tritt auf, wenn die sich ausdehnende
frequenz bis hin zur Bewusstlosigkeit. Luft in der Lunge während des Aufstieges nicht ent-
weichen kann. Dies kann durch Verhaltensfehler
Behandlung Sobald Symptome bemerkt werden, (Anhalten der Luft beim Aufstieg), bronchiale Obs-
auftauchen, Sauerstoffgabe, Vitalzeichenkontrolle. truktionen (Asthma, Bronchitis) oder Stimmritzen-
krämpfe (Angstreaktionen, reflektorisch bei Aspira-
Prophylaxe Sorgfältige und korrekte Befüllung von tion von Wasser) verursacht sein. Der zunehmende
Pressluftflaschen und Kalkpatronen. intrapulmonale Druck führt letztendlich zu Einris-
sen im Lungengewebe. Schon Druckunterschiede
Relevanz Ausbildung in der Anwendung von Kom- von 0,04–0,1 bar (entspricht 1 m Wassertiefe) sind
pressoren und der korrekten Flaschen- und Kalkpa- hierfür ausreichend.
tronenbefüllung, um durch vermeidbare Fehler die Es werden drei klinische Manifestationen des
Auftragserfüllung nicht zu gefährden. pulmonalen Barotraumas unterschieden:

Pneumothorax
35.4 Gefahren der Dekompressions- Ein Pneumothorax entsteht, wenn ein Lungenriss
phase zu einer Verbindung zwischen Atemwegen und
Pleuraspalt führt. Er tritt häufig als Nebenbefund
35.4.1 Barotrauma einer arteriellen Gasembolie auf. Eine schwerwie-
gende Komplikation ist die Entstehung eines Span-
Während des Aufstiegs dehnt sich das Gas in luftge- nungspneumothorax.
füllten Körperhöhlen aus. Wo immer möglich, ent-
weicht die unter relativem Überdruck stehende Luft Symptome Symptomatisch für einen Pneumothorax
eigenständig, z. B. im Bereich des Mittelohres über sind ein meist einmaliges kurzes Schmerzereignis,
die Eustach-Röhre oder im Darm über das Rektum. Husten, Dyspnoe, Tachypnoe, eine seitenungleiche
Flexible Organstrukturen, wie sie z. B. im Magen- Atmung, hypersonorer Klopfschall bis hin zur
Darm-Trakt vorherrschen, können Volumenzu- Schocksymptomatik.
nahmen zumindest teilweise ausgleichen.
Kann eingeschlossene Luft nicht entweichen, Behandlung Ein Spannungspneumothorax sollte
kommt es zum Barotrauma, aufgrund des Auf- sofort entlastet werden und ebenso wie ein Pneu-
tretens in der Dekompressionsphase auch Umkehr- mothorax spätestens vor einer Druckkammerbe-
barotrauma oder inverses Barotrauma genannt. handlung durch Anlage einer Thoraxdrainage the-
Eine unmögliche Entlüftung des Mittelohres führt rapiert werden.
z. B. beim Aufstieg zum Trommelfellriss. Ein Um-
kehrbarotrauma kann der Auslöser für Panik sein Mediastinalemphysem
und durch Verhaltensfehler zu schwerwiegenden Mediastinalemphyseme werden durch eine Ruptur
Tauchunfällen führen. Insgesamt sind Barotraumen der Pleura in Hilusnähe verursacht. Das austretende
in der Dekompressionsphase sehr viel seltener als in Gas kann die im Mediastinum liegenden Strukturen
der Kompressionsphase. wie z. B. Herz, Trachea, große Gefäße und die Spei-
478 Kapitel 35 · Tauchmedizin

seröhre bedrängen und dadurch zu massiven Kom- eingespült und können arterielle Gasembolien
plikationen – von Verdrängungserscheinungen auslösen, die meistens im Gehirn erfolgen. und
über Kompression der V. cava bis hin zur Herzbeu- Schlaganfallsymptome verursachen. Es kommt
teltamponade führen. somit zu einer AGE, ohne dass ein Lungenbarotrau-
ma vorliegt. Bei bis zu 25 % der Menschen liegt
Symptome Je nach Ausmaß des Emphysems kön- ein PFO vor, eine standardisierte Abklärung im
nen die Symptome vielfältig sein: Schluckbeschwer- Rahmen von Tauchtauglichkeitsuntersuchungen
den mit Hustenreiz, Heiserkeit, Stimmlagenverän- erfolgt nicht.
derungen, obere Einflussstauung, Zyanose, Hypoto-
nie bis hin zum Schock. In einzelnen Fällen kann es Symptome Schlaganfallsymptome bis hin zur Be-
auch zu einem Hautemphysem im Bereich des wusstlosigkeit, die sich meist plötzlich beim oder
Halses kommen. unmittelbar nach dem Auftauchen ausbilden.

Behandlung Die Behandlung des Mediastinalem- Behandlung Als einzig kausale Therapiemöglich-
physems erfolgt abwartend, bis sich das Gas resor- keit ist eine schnelle Rekompression in einer Druck-
biert hat. Die Gasresorption kann durch normobare kammer anzustreben. Die Erstversorgung zur Sta-
Sauerstoffinhalation beschleunigt werden. Treten bilisierung des Verunfallten richtet sich nach
Komplikationen (z. B. Atemnot, Schock) auf, wer- 7 Abschn. 35.5.
den diese symptomadaptiert therapiert (Atem-
wegsmanagement, Beatmung, Schocktherapie gem.
notfallmedizinischer Standards). Bei schwereren 35.4.2 Dekompressionserkrankung
Verläufen kann eine Druckkammerbehandlung (DCS)
durch Reduktion des Gasvolumens eine schnelle
Besserung bewirken, darüber hinaus wird das Die Dekompressionserkrankung, auch Caisson-
Emphysem deutlich zügiger resorbiert. Sehr selten Krankheit oder »decompression sickness« (DCS)
ist in hochakuten Fällen eine kollare Mediastinosto- genannt, tritt nach längerem Aufenthalt in einer
mie (operative Eröffnung des Halses, um Gas ent- Überdruckumgebung mit entsprechender Inertgas-
weichen zu lassen) notwendig und lebensrettend. aufsättigung auf. Während des Aufstieges sinkt der
Umgebungsdruck, sodass weniger Inertgas im Ge-
Arterielle Gasembolie (AGE) webe gelöst sein kann. Das bei höherem Druck noch
Durch Einrisse entsteht eine Verbindung zwischen gelöste Gas wird vom Gewebe wieder abgegeben
luftleitendem Gewebe (z. B. Alveolen) und Blutge- und über die Atmung aus dem Körper eliminiert.
fäßen in der Lunge. Dabei kommt es zum Übertritt Verschiedene Gewebearten entsättigen aufgrund
von Gasblasen ins Blut, die dann zu einer arteriellen verschiedener Durchblutung und Stickstofflöslich-
35 Gasembolie führen. Auch zunächst kleinere Blasen keit unterschiedlich schnell, weswegen vorgegebene
können bei weiterem Aufstieg des Tauchers zu einer Aufstiegsgeschwindigkeiten und ggf. Auftauch-
AGE führen. Im Vordergrund steht häufig eine be- stopps (sog. Dekompressionspausen) eingehalten
reits während des Aufstieges oder kurz nach dem werden müssen.
Tauchgang plötzlich auftretende schlaganfallähnli- Erfolgt der Aufstieg zu schnell, perlen Gasbla-
che Symptomatik, da meist zerebrale Gefäße durch sen in Blutgefäßen und im Gewebe aus, die ab einer
die Gasblasen verschlossen werden. Eine AGE weist gewissen Anzahl oder Größe nicht mehr über die
eine hohe Morbidität und Mortalität auf. Lunge eliminiert werden können und dann eine
Bei Tauchern mit persistierendem Foramen Dekompressionskrankheit auslösen (7 Abschn. 35.1).
ovale (PFO) können Blasen, die sich während der
Dekompression in großer Anzahl im venösen Sys- Symptome Die extravasale Blasenbildung führt im
tem gebildet haben, durch ein Loch in der Herz- Gewebe über vielfältige Mechanismen zu Sympto-
scheidewand vom rechten in den linken Vorhof men: Innerhalb von Zellen entstehende Blasen zer-
übertreten. Dort werden sie in den Körperkreislauf reißen diese und führen durch die Gewebeschädi-
35.4 · Gefahren der Dekompressionsphase
479 35
gung zu lokalen Entzündungsreaktionen; Sehnen, kommt. »Bends« sind neben der reinen Schmerz-
Bänder und Gelenkkapseln werden gedehnt und symptomatik nicht hochgradig bedrohlich, weisen
verursachen so Schmerzen; der Verschluss von aber immer auf eine mögliche (venöse) Blasenbil-
Lymphbahnen führt zum Lymphödem. dung hin und können somit in eine DCS II über-
Intravasal entstandene Blasen können, abhän- gehen.
gig von ihrer Größe, zu Mikro- und Makroemboli-
en führen. Die Blasenoberfläche wird vom Immun- DCS II
system als körperfremd erkannt und löst eine Im- Die »schwere Form« der Dekompressionskrankheit
munantwort aus, die neben einem interstitiellen wird durch neurologische oder kardiopulmonale
Ödem durch Erhöhung der Gefäßpermeabilität Symptome charakterisiert.
auch eine Aktivierung des Gerinnungssystems mit
Thrombenbildung an der Blasenoberfläche verur- Symptome Das Leitsymptom der DCS II ist eine
sacht. Dadurch verfestigt sich die Gasembolie zur neurologische Symptomatik, die sich vielfältig of-
Thromboembolie. Dieser Vorgang läuft über meh- fenbaren kann. Da Nervengewebe aufgrund seines
rere Stunden ab und ist neben einer durch Minder- Fettgehaltes viel gelösten Stickstoff aufnehmen
perfusion bereits eingetretene Gewebeschädigung kann, ist es bei rascher Dekompression von Blasen-
eine der Ursachen, warum eine verzögerte Druck- bildung besonders stark betroffen. Während die
kammerbehandlung schlechtere Ergebnisse als eine Beschwerden bei der DCS I durch Blasenbildung im
frühzeitige erzielt. betroffenen Gewebe direkt entstehen, führt bei der
Die Dekompressionskrankheit tritt typischer- DCS II eine Blasenentstehung im Nervengewebe
weise erst Minuten bis Stunden nach Ende des selber oder in den die Nerven versorgenden Blut-
Tauchgangs auf, teilweise werden Symptome aber gefäßen zu einer Symptomatik, die in das Versor-
erst nach 24–48 h wahrgenommen. Symptome einer gungsgebiet des betroffenen Nerven projiziert wird.
schweren DCS werden im Regelfall ohne adäquate Häufig besteht eine Beteiligung des Rücken-
Therapie in einer Druckkammer im Verlauf stärker. marks, insbesondere im unteren BWS- und LWS-
Bereich, die hinsichtlich der Symptome eine große
Behandlung 7 Abschn. 35.5. Bandbreite von leichten Parästhesien bis hin zur
vollständigen Querschnittslähmung aufweist. Klas-
DCS I sische Merkmale sind Gefühlsstörungen in den un-
Die »milde Form« der Dekompressionskrankheit teren Extremitäten, tiefer Rückenschmerz, subjektiv
wird als DCS I bezeichnet. Sie fasst alle Manifesta- »schwere« Beine und ggf. Inkontinenz.
tionen im Bereich der Haut, des Lymphgewebes und Eine pulmonale Symptomatik ist im Wesentli-
des muskuloskelettalen Systems zusammen. chen durch eine massive pulmonale Gasembolie
bedingt. Im venösen Schenkel des Körperkreislau-
Taucherflöhe fes entstehende Blasen aller Größen werden in den
Diese zeigen sich meist als Hautrötung, fleckige zunehmend enger werdenden arteriellen Gefäßen
Marmorierungen und Juckreiz. Manchmal können der Lunge abgefangen und embolisieren die Lun-
orangenhautartige Veränderungen durch Lymph- genstrombahn. Sind querschnittlich mehr als 10 %
ödeme beobachtet werden. der Lungenstrombahn verschlossen, kommt es zu
einer kardiozirkulatorischen Symptomatik bis hin
Symptome Das Leitsymptom der DCS I sind dump- zum kardiogenen Schock. Im Tierversuch traten bei
fe, drückende muskuloskelettale Schmerzen. Am hochgradiger DCS II massive Blasen- bzw. Schaum-
häufigsten treten diese in den großen Gelenken, ins- bildung in Pulmonalarterie und rechtem Herzen
besondere Schulter, Ellbogen, Knie und Hüften oder auf.
in den während der vorhergegangenen Aktivität be-
sonders belasteten Muskelgruppen auf. Diese wer- > Die unterschiedlichen Krankheitsbilder sind
den auch als »bends« (engl. »to bend«: biegen) be- nicht immer streng voneinander abzugren-
zeichnet, da es schmerzbedingt zu Schonhaltungen zen. Ein schwerer Verlauf einer DCS II kann
480 Kapitel 35 · Tauchmedizin

Aufenthalt
unter Wasser?

Schwere Symptome:
Schmerzen, ausgeprägte Schwäche, Haut-
flecken/-veränderungen, Taubheitsgefühl,
»Ameisenlaufen«, Atembeschwerden, Seh-/Hör-/
Sprachstörungen, Schwindel, Übelkeit, Lähmungen,
eingeschränktes Bewusstsein, Bewusstlosigkeit,
Koma

35

. Abb. 35.1 Tauchunfallmanagement. (Adaptiert nach [3])

z. B. nicht sicher von einer AGE unterschieden 5-Minuten-Neurocheck


werden. Für die Erstmaßnahmen und die Pla- Mit Hilfe des 5-Minuten-Neuro-Checks kann –
nung der weiteren Therapie (. Abb. 35.1) gilt auch durch Laien durchgeführt – eine erste Ein-
daher der Grundsatz: »Treat the worst case!« schätzung des neurologischen Zustandes erfolgen
(Bei Therapieentscheidungen ist die schwers- und damit auch eine eventuelle Schädigung des zen-
te mögliche Ursache anzunehmen!). tralen Nervensystems festgestellt werden. Unter-
35.5 · Therapie
481 35
sucht werden die allgemeine Orientierung, Augen, 35.5.2 Schwere Symptome
Gesicht, Gehör, Schluckreflex, Zunge, Muskelkraft,
Gefühlswahrnehmung, Gleichgewicht und Koordi- Als schwere Symptome gelten Schmerzen, ausge-
nation. Dieser Check sollte alle 30–60 min wieder- prägte Schwäche, Hautflecken-/veränderungen,
holt werden, um eine Progredienz oder ein Neuauf- Taubheitsgefühl, Parästhesien, Atembeschwerden,
treten von Symptomen nicht zu verpassen. Nähere Seh-, Hör- und Sprachstörungen, Schwindel, Übel-
Informationen 7 [3, S. 28]. keit, Lähmungen, eingeschränktes Bewusstsein und
Bewusstlosigkeit. Darüber hinaus sind alle Sympto-
me als »schwer« einzustufen, die bereits unter
35.5 Therapie Druck, also noch unter Wasser, aufgetreten sind.
Der Therapieerfolg hängt unmittelbar von den
Für die präklinische Versorgung eines Tauchunfalls eingeleiteten Maßnahmen ab:
sind folgende Punkte immer zu beachten:
4 Dekompressionserkrankung erkennen Sauerstoffgabe Wesentlicher Pfeiler der modernen
4 Normobare Sauerstoffgabe, möglichst mit tauchmedizinischen Akuttherapie ist die frühest-
einer FiO2 = 100 % mögliche Gabe von 100 % Sauerstoff. Um einen
4 Patienten flach lagern höchstmöglichen fiO2 sicherzustellen, sind dabei
4 intravenöse Flüssigkeitsgabe, beim wachen eine möglichst dicht schließende Maske mit De-
Patienten ggf. auch peroral mand-Ventil oder ein Kreislaufsystem mit CO2-
Absorber zu bevorzugen. Als Alternative kann eine
Eine erweiterte Diagnostik tritt dabei in den Hinter- »Non-rebreather-Maske« mit einem O2-Flow von
grund, da primär die Eliminierung vorhandener 15 l/min genutzt werden. Diese Möglichkeit ist al-
Gasblasen und somit die Begrenzung der Schäden lerdings deutlich ineffektiver, da ein fiO2 = 1,0 nicht
durch Minderversorgung wichtig ist. Dies kann bei zuverlässig gewährleistet werden kann. Die O2-Ga-
schweren Krankheitsbildern nur durch eine Druck- be sollte ohne Pause bis zum Beginn einer Druck-
kammerbehandlung sichergestellt werden. Anfäng- kammerbehandlung fortgeführt werden. Ist der O2-
lich banale Symptome können im Verlauf zu einer Vorrat begrenzt, sollte so lange wie möglich
massiven Erkrankung führen, sodass stets die zeit- 100 % O2 angeboten werden. Eine Applikation von
nahe Verfügbarkeit einer Druckkammer für den Raumluftgemisch oder ein Flow <15 l/min bei
Patienten angestrebt werden sollte. »Non-rebreather-Masken« darf keinesfalls erfolgen.
Eine möglichst hohe O2-Konzentration ist für
die Prognose entscheidender als die Dauer der Be-
35.5.1 Milde Symptome handlung.

Hierunter fallen Hauterscheinungen und inad- Lagerung Der Patient sollte flach gelagert werden
äquate Müdigkeit. (. Abb. 35.2). Früher wurde eine Schocklagerung
empfohlen, um Gasblasen in die Beine statt ins Ge-
Behandlung Normobare 100 %ige Sauerstoffgabe, hirn steigen zu lassen. Zerebrale Gasembolien
Flüssigkeitsgabe, Flachlagerung, Neurocheck. Falls konnten so allerdings nicht vermieden werden. Die
der Patient nach 30 min Therapie symptomfrei ist, Lagerung begünstigt aber die Entstehung eines
sollte die Sauerstofftherapie so lange wie möglich Hirnödems und beeinträchtigt Atemmechanik und
fortgeführt und der Patient für 24 h überwacht wer- Oxygenierung.
den. Eine taucherärztliche Vorstellung wird emp-
fohlen. Persistieren die Symptome nach 30 min Flüssigkeitsgabe Bei erfolgter Taucherdiurese und
Therapie oder verschlechtert sich der Befund des der Gefahr von Gerinnungsaktivierung an Blaseno-
Neurochecks (s. oben), ist die Versorgung wie bei berflächen sollte zur Hämodilution 1 l kristalloide
schweren Symptomen fortzuführen. oder kolloide Infusionslösung verabreicht werden.
Ist kein medizinisches Fachpersonal vor Ort, ist
482 Kapitel 35 · Tauchmedizin

35.5.3 Tauchgangsprofil

Zur Auswertung und optimalen Steuerung einer


ggf. notwendigen Druckkammertherapie sollte das
Tauchgangsprofil (Tauchtiefe und -zeit) festgehal-
ten werden. Wurde ein Tauchcomputer genutzt,
sollte dieser mit dem Patienten der Druckkammer
zugeführt werden.

35.5.4 Transport und Folgeversorgung


. Abb. 35.2 Rettung eines verunfallten Tauchers mit Kreis-
lauftauchgerät aus dem Wasser. Bei Steilufern oder rauer See
kann dies erhebliche Probleme bereiten. Wichtiger als die Patienten mit schweren Symptomen sollten nach
Forschung nach der Ursache ist im Notfall die schnellstmög- Einleitung der notfallmedizinischen Versorgung
liche Gabe von 100 % Sauerstoff. (Mit freundlicher Genehmi- zeitnah einem Taucherarzt vorgestellt werden. Ent-
gung von Herrn Jan-Philipp Weisswange) scheidend ist der schnellstmögliche Beginn einer
Druckkammerbehandlung. Ziel ist dabei die Re-
kompression vorhandener Gasblasen, also deren
auch die perorale Gabe von 0,5–1 l Flüssigkeit indi- Verkleinerung, und die beschleunigte Eliminierung
ziert. Koffein- und alkoholhaltige Getränke sollten aus dem Körper durch hyperbare Oxygenierung.
wegen der diuretischen Wirkung nicht verabreicht Auch ein verzögerter Behandlungsbeginn nach
werden. mehr als 4 h kann erfolgsversprechend sein, eine
Druckkammertherapie sollte bei schweren Sympto-
Klinische Untersuchung Initial sollte frühestmög- men daher immer angestrebt werden. Bei instabilen
lich der neurologische Befund erhoben werden, Patienten und größeren Entfernungen zur nächsten
stündlich zur Verlaufsbeurteilung wiederholt und Druckkammer sollte der Transport zunächst immer
entsprechend dokumentiert werden (s. oben, »Neu- in die nächste akutmedizinische Behandlungsein-
rocheck«). Insbesondere die Sauerstofftherapie darf richtung erfolgen.
dadurch jedoch nicht eingeschränkt werden! Zwi- Lufttransporte sind bei größeren Entfernungen
schenzeitlich ist der Patient durchgehend zu über- zur nächsten Druckkammer als schnellste und scho-
wachen. nendste Transportmöglichkeit in den meisten Fällen
Bei Bewusstlosigkeit oder Ateminsuffizienz angezeigt. Dabei sollte bei taktischen Transporten
sollte die Intubation und anschließende Beatmung (Bodennähe) die niedrigst mögliche Flughöhe ange-
mit FiO2 = 1,0 bis zum Beginn der Druckkammer- strebt werden, das Überfliegen von Höhen ist zu
35 behandlung erfolgen. Die Erstversorgung inklusive vermeiden. Bei strategischen Transporten (größere
der medikamentösen Therapie sollte sich nach not- Flughöhe) sollte der größtmögliche Kabinendruck
fallmedizinischem Standard an den Symptomen gehalten werden. Transporte zu Land oder auf dem
orientieren. Theoretische spezifische Therapiean- Wasser sind erschütterungsreicher und können das
sätze, z. B. ASS oder Heparin zur Minderung der Austreiben weiterer Blasen fördern.
Gerinnungsaktivierung an der Blasenoberfläche Für den Transport sollte ausreichend O2 mitge-
oder Kortikoide zur Minderung von Ödemen, führt werden, um für die gesamte Transportdauer
konnten bisher nicht ihre Wirksamkeit nachweisen die Gabe von 100 % O2 sicherzustellen. Der Verlauf
und sollten daher grundsätzlich zurückhaltend ein- der Symptome sollte dokumentiert werden.
gesetzt werden. Volumenersatz sollte durch i.v. Ap-
plikation von Kristalloiden oder Kolloiden erfolgen. > Transportziel ist immer die nächste erreich-
Elektrolytfreie Glukoselösungen sind aufgrund der bare notfallmedizinische Behandlungsein-
Verschlechterung von blasenbedingten Hirn- und richtung, vorrangig mit Zugriff auf Druck-
Rückenmarködemen kontraindiziert. kammer.
35.6 · Ertrinken
483 35
Vor Luftverlegungen/-transporten mit normalem
Kabinendruck sollte 24 h lang nicht getaucht wer-
den. Dies gilt ebenso und in besonderem Maße für
Patienten nach Tauchunfällen.

35.6 Ertrinken

Ca. 70 % der beim Tauchen verunfallten Taucher


versterben am Ertrinken. Panik, Leichtsinn, Fehl-
verhalten oder technisches Versagen sind meist die
Ursachen. Aber auch in nahezu allen anderen Ein-
satzszenarien können Ertrinkungsunfälle vorkom-
. Abb. 35.3 Auch in Wüstenregionen wie Afghanistan kann
men (. Abb. 35.3). Ertrinken vorkommen. Am 23.06.2009 ertranken drei deut-
Ertrinkende halten zunächst unter Wasser den sche Soldaten in einem Transportpanzer Fuchs, der im Laufe
Atem an. Einsetzende zwanghafte Atembewegun- eines Gefechts in einen Kanal fiel. Das Bild zeigt häufig not-
gen führen zur Aspiration kleiner Mengen Wasser, wendige Flussdurchquerungen im Raum Kunduz/Afgha-
nistan. (Foto: Dr. C. Neitzel)
die häufig einen reflektorischen Laryngospasmus
verursachen. Hierdurch aspiriert der Ertrinkende
meist wenig, nimmt aber erhebliche Mengen Was-
ser über den Magen-Darm-Trakt auf. Diese bewir- reinen Sauerstoff atmen oder mit einem FiO2 = 1,0
ken ein hohes Risiko von Erbrechen und Aspiration. beatmet werden. Zur Atemwegssicherung bei ho-
Im Verlauf kommt es zu tonisch-klonischen Krämp- hem Aspirationsrisiko und optimalen Oxygenie-
fen mit stärkster Zwerchfellbeteiligung, die in den rung ist bei bewusstseinsgetrübten und bewusstlo-
Atemwegen typische Schaumpilze aus Oberflächen- sen Patienten eine frühzeitige Intubation anzustre-
faktor der Lunge, Sekret, Wasser und Atemluft bil- ben. Bei hämodynamisch stabilen Patienten sollte
den können. Auch geringe Mengen aspirierten Was- zur Optimierung der alveolären Gasaustauschflä-
sers führen zur Hypoventilation durch Atelektasen- che ein positiv end-exspiratorischer Druck (PEEP)
bildung in der Lunge. von max. 5 mbar genutzt werden. Eine Absaugung
Die Hypoxie durch Dyspnoe oder Apnoe ist der Atemwege ist meist nicht notwendig.
der entscheidende Pathomechanismus des Ertrin- Zur Minderung des Aspirationsrisikos sollte
kungsunfalls. Pulmonal können sich schwere Lun- eine Magensonde gelegt und der Mageninhalt ab-
genödeme ausbilden. Ebenso sind durch Störungen gesaugt werden. Kristalloide Ersatzlösungen kön-
der Blut-Hirn-Schranke Hirnödeme möglich. Auch nen i.v. oder i.o. verabreicht werden. Wiederbele-
bei anfänglich unauffälligen Patienten ist innerhalb bungsmaßnahmen sollten bis zur Wiedererwär-
der ersten 24 h eine Verschlechterung möglich. mung unter intensivmedizinischen Bedingungen
Die durch Hypoxie bedingte Azidose und beglei- fortgeführt werden; eine milde Hypothermie des
tend häufig auftretende signifikante Hypothermien Patienten ist zur Erhöhung der Hypoxietoleranz zu
können schwerwiegende Herz-Rhythmus-Störun- tolerieren.
gen nach sich ziehen, mit Kammerflimmern ist je-
derzeit zu rechnen. Allerdings schützt die Hypother- > Auch anfänglich symptomfreie Patienten
mie durch Reduzierung des Metabolismus das Ge- sollten aufgrund des teilweise verzögert auf-
webe vor Folgen der Hypoxie, sodass auch bei spät tretenden Lungenödems 24 h überwacht
eingeleiteten Maßnahmen eine erfolgreiche Wieder- werden.
belebung erfolgsversprechend ist.

Behandlung Patienten mit Ertrinken oder Bei-


nahe-Ertrinken sollten frühzeitig und durchgehend
484 Kapitel 35 · Tauchmedizin

35.7 Weitere Aspekte weniger schwer verlaufen. Die initiale Behandlung


sollte mit einem Kombinationspräparat aus Anti-
35.7.1 Hypothermie biotikum und Kortikoid erfolgen, um ein Zuschwel-
len des Gehörgangs zu vermeiden (z. B Dexa-Poly-
Durch den Aufenthalt im Wasser sind Taucher für spectran Ohrentropfen). Bei Therapieversagen ist
eine Hypothermie prädisponiert. Bei bewusstseins- ein Wechsel zu Gyrasehemmern (z. B. Ofloxacin-
getrübten oder bewusstlosen Tauchern, die trotz Ohrentropfen) anzuraten, um Infektionen mit
einer offensichtlichen oder zu erwartenden Unter- verschiedenen Feuchtkeimen sicher abzudecken.
kühlung kein Kältezittern aufweisen, sollte die Ret- Zur Prophylaxe von Gehörgangsinfektionen kön-
tung wegen der Gefahr des Bergungstodes durch nen 3-mal täglich pro Ohr 5 Tropfen »Heidelberger
nicht beherrschbare kardiozirkulatorische Proble- Ohrentropfen« angewendet werden. Diese können
me bei Einschwemmung von kaltem Blut aus der in jeder Apotheke nach folgendem Rezept herge-
Peripherie möglichst vorsichtig erfolgen. Eine peri- stellt werden: Glycerini puriss 10,0; Spirit. vini
phere Erwärmung nach Tauchgängen, z. B. durch ad 30,0.
heißes Duschen, kann durch verstärkte Perfusion
von mangelhaft entsättigtem Gewebe eine plötzli-
che Ausschwemmung von Inertgas verursachen 35.7.4 Taucherärztliche
und so zu einer DCS beitragen! Telefonberatung
> Eine ggf. notwendige aktive Erwärmung bei
hypothermen Patienten sollte zurückhaltend
4 Schifffahrtmedizinisches Institut der Marine:
erfolgen.
+49-431-5409-1441
4 Divers Alert Network (DAN):
5 DAN Deutschland/Österreich:
00800326668783
35.7.2 Medikamente 5 DAN Schweiz: +41-333333333
5 DAN international: +39-0396057858
Bestimmte Medikamente zur Malariaprophylaxe
können Reaktionsvermögen und Urteilsfähigkeit
herabsetzen. Mit unmittelbar begonnener Chemo- Literatur
prophylaxe mit Lariam (Mefloquin) sollte wegen
des Spektrums unerwünschter Arzneimittelwir- 1. Arieli R, Schochat T, Adir Y (2007) CNS toxicity in closed-
circuit oxygen diving: symptoms reported from 2527
kungen von epileptischen Anfällen bis zu Psychosen
dives. Aviat Space Environ Med 77(5):526–532
nicht getaucht werden. Nach Rücksprache mit 2. Defence Dept (US) (2010) Dive Medicine. In: US Depart-
einem Taucherarzt kann ggf. nach problemfreier ment of Defence (ed) Special Operations Forces Medical
35 Einnahme über mehr als 2–3 Wochen eine Freigabe Handbook (CD-ROM), 2 ed. Govt Printing Office
für das Tauchen erfolgen. Bei Einnahme in the- 3. Gesellschaft für Tauch- und Überruckmedizin e. V. (2011)
rapeutischer Dosierung (Stand-by-Medikation!) Leitlinie Tauchunfall. http://www.gtuem.org/198/Tauch-
medizin/Leitlinie_Tauchunfall.html
sollte auf keinen Fall getaucht werden!
4. Klingmann C, Tetzlaff K (2007) Moderne Tauchmedizin.
Gentner, Stuttgart
5. Longphre JM, Denoble PJ (2007) First aid normobaric
35.7.3 Otitis externa oxygen for the treatment of recreational diving injuries.
Undersea Hyperb Med 34:43–49
6. Müller HJ (2010) Tauchunfall: Leitlinienkonforme Behand-
Gehörgangsinfektionen treten bei Tauchern ver-
lung. Der Notarzt 26:119–134
mehrt auf. Sie sind im Regelfall bakteriell bedingt. 7. Siebert O (2010) Der Tauchunfall – Was muss der
Nach anfänglichem Juckreiz und Druckgefühl Rettungsdienst wissen? Rettungsdienst 7:48–53
kommt es im Verlauf zu Schmerzen, in schweren
Fällen auch zu Eiterbildung und Fieber. Seltener
können Pilzinfektionen auftreten, die dann aber
485 36

Warme Klimazonen
C. Neitzel, I. Ostfeld

36.1 Allgemeine Aspekte – 486


36.1.1 Sanitätsmaterial – 486
36.1.2 Evakuierung von Patienten – 486
36.1.3 Präventivmedizin – 487

36.2 Physiologie warmer Klimazonen – 488


36.2.1 Thermoregulation des Körpers – 488
36.2.2 Wasser-Elektrolyt-Haushalt – 489
36.2.3 Wärmebelastung – 490

36.3 Hitzeschäden im militärischen Bereich – 490


36.3.1 Dehydratation – 492
36.3.2 Belastungsassoziierte Hyponatriämie – 494
36.3.3 Belastungsbedingter Hitzschlag – 496
36.3.4 Weitere hitzebedingte Erkrankungen – 499

Literatur – 500

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_36, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
486 Kapitel 36 · Warme Klimazonen

36.1 Allgemeine Aspekte

36.1.1 Sanitätsmaterial

Staub und Sand beeinträchtigen die Funktion medi-


zinischer Geräte, und feucht-warmes Klima führt
häufig zu erheblichem Keimwachstum. An Lage-
rung, Wartung und Hygiene müssen daher beson-
ders hohe Maßstäbe angelegt werden, Funktions-
überprüfungen müssen sorgfältig und regelmäßig
erfolgen.
Zugelassene Lagerungstemperaturen für Sani-
tätsmaterial können meist nur in klimatisierten
Räumen oder Behältern gewährleistet werden.
Stehen diese nicht zur Verfügung, muss zumindest
eine Lagerung im Schatten erfolgen und Container
. Abb. 36.1 Eingesetzte Sanitätsfahrzeuge müssen in der
und Behältern sollten mittels Ventilator belüftet Lage sein, den Hauptkräften auch in unwegsamem Gelände
werden. Die Lagerungsbedingungen für Medika- zu folgen. Dabei können erhebliche Verlängerungen der
mente werden durch Geräte überwacht, die den Evakuierungszeiten auftreten. (Foto: Dr. C. Neitzel)
Temperaturverlauf aufzeichnen (Temperaturlog-
ger). Eine Übersicht über die Temperaturstabilität
verschiedener Medikamente bietet 7 Tab. 32.2.

36.1.2 Evakuierung von Patienten

Die eingesetzte Fahrzeuge müssen in der Lage sein,


den Bewegungen der Bodenelemente zu folgen, da
in den meisten Fällen Straßen kaum vorhanden
und/oder schlecht befestigt sind (. Abb. 36.1). Für
die im Einsatz zu erwartenden Verwundeten sollten
nach Möglichkeit Lufttransporte durch Drehflügler
ausgeplant werden [19]. Dabei muss berücksichtigt
werden, dass in Wüstenregionen bei der Landung . Abb. 36.2 »Brownout«: Typische Staubwolke bei Lan-
von Hubschraubern massive Staubwolken entste- dung von Helikoptern in der Wüste. (Foto mit freundlicher
hen (»brownout«, . Abb. 36.2). Diese Staublandun- Genehmigung überlassen von M. Lang)

36 gen machen einen zweiten Landeanflug im Nahbe-


reich vorübergehend unmöglich. Patienten und
medizinisches Gerät müssen in der Nähe von Hub- Der Transportraum für Verwundete sollte nach
schrauberlandungen gegen die massive Staubauf- Möglichkeit klimatisiert (Temperatur, Luftfeuchtig-
wirbelung durch sicheres Abdecken oder Schließen keit) zur Verfügung gestellt werden und über
der Fahrzeugtüren und -luken geschützt werden. Kühlungsmöglichkeiten (chemische Kältebeutel,
In tropischen Regionen müssen Landeplätze in Kühlbox mit Kühlakkus, kalte Infusionen, kalte Ge-
dichter Vegetation häufig erst geschaffen oder eine tränken o. ä.) verfügen. Die Kühlung ist für das
Rettung mittels Winde erfolgen [20]. Auch die Nut- Wohlbefinden des Patienten ebenso wichtig, wie für
zung von Booten kann eine sinnvolle und zumeist die Leistungsfähigkeit der medizinischen Geräte. In
erschütterungsarme Alternative zur Evakuierung der Regel haben sie in ihrer Zulassung nach dem
Verwundeter darstellen. Medizinproduktegesetz (MPG) vorgegebene Tem-
36.1 · Allgemeine Aspekte
487 36
peraturbereiche, in denen der Betrieb möglich ist. Die genannten Anforderungen bedeuten einen ho-
Bei Überschreitung kann es zu Fehlfunktionen, z. B. hen logistischen Aufwand und können die Opera-
falsche Förderraten bei Spritzenpumpen, oder zu tionsführung wesentlich einschränken.
einem Totalausfall kommen.
Tipp

In islamischen Ländern wird teilweise in Fla-


36.1.3 Präventivmedizin schen abgefülltes Wasser für die Analhygiene
verkauft. Es ist meist hochgradig keimbelastet
Die Einsatzkräfte sollten spezielle atmungsaktive
und nicht als Trinkwasser geeignet!
Tropen- oder Wüstenuniformen tragen, da die Be-
kleidung eine Wasserdampfbarriere bildet und das
Verdunsten von Schweiß behindern kann. Mit Zur Prävention von durch Insekten übertragenen
moderner Funktionskleidung lässt sich zwar die Infektionskrankheiten (z. B. Malaria, Leishmaniose)
Verdunstung optimieren, sie ist aber häufig nicht sollte mit Vektorenschutz (z. B. Permethrin) im-
feuerfest. Ihre Verwendung muss daher stets der prägnierte Kleidung getragen werden. Besonders
Lage angepasst werden. Gleiches gilt für ballistische nachts und in der Dämmerung ist unbedeckte Haut
Schutzwesten, Helm etc. In den israelischen Streit- zu vermeiden. Falls dies nicht möglich ist, werden
kräften (Israeli Defence Forces, IDF) wird ihr als Prophylaxe ausreichend eng gewebte Mücken-
Einsatz lageabhängig entschieden: konsequente netze und Insektenschutzmittel eingesetzt. Schlaf-
Nutzung im Orts- und Häuserkampf, meist aber plätze sollten grundsätzlich mit Insektenschutznet-
nicht bei Fußmärschen im Sand. zen versehen werden. Bettzeug oder Schlafsack,
Haut, Lippen und Augen sollten mit Hilfe von Kleidung und insbesondere die Stiefel sind vor ihrer
Kleidung, Sonnenschutzpräparaten mit hohem Nutzung auszuschütteln, um Insekten oder Gifttiere
Lichtschutzfaktor und Sonnenbrillen vor UV- frühzeitig zu entdecken [16].
Strahlung geschützt werden [16]. > Einer der häufigsten lebensbedrohlichen
Die Haut ist in feucht-warmem Klima ständig Notfälle in warmen Klimazonen sind an-
feucht. Dadurch ist die Wundheilung schlechter, die aphylaktische Reaktionen auf Gifttiere. In-
Haut ist generell anfälliger und das Infektionsrisiko sektenstiche (z. B. Bienen) verursachen dabei
steigt insbesondere für Pilzerkrankungen. An den weit mehr Tote als Spinnen oder Schlangen.
Füßen kann es zum tropischen Grabenfuß kommen Die Beherrschung der Anaphylaxie durch
(7 Kap. 38.5). Es sollte regelmäßige Körperhygiene Verfügbarkeit entsprechender Medikamente
erfolgen, um ausgetretenes Salz aus den Hautporen muss daher durchgehend gewährleistet
zu entfernen. Dem Auftreten des Grabenfußes kann sein!
wirksam begegnet werden, wenn die Haut für einige
Stunden am Tag trocken ist (z. B. Schlafphase). Eine umfassende Auflistung und Bewertung aller
Der Lebensmittelhygiene kommt ebenfalls medizinischen Risiken für alle Klimazonen ist im
besondere Bedeutung zu. Frische Lebensmittel soll- Rahmen dieses Buch nicht möglich. Es sollte daher
ten vermieden oder ausreichend gekocht werden. stets eine medizinische Bedrohungsanalyse des
Regelmäßiges Händewaschen und -desinfektion Einsatzgebietes durch Fachleute erfolgen und spe-
mindern das Infektionsrisiko [16]. zifische Schutzmaßnahmen empfohlen werden.
Die Planung der Wasserversorgung ist von Auskunft erteilt z. B. das Bernhard-Nocht-Institut
hoher taktischer Bedeutung [10]: für Tropenmedizin: www.bni-hamburg.de
4 Wasser sollte nur von einwandfreien Quellen
getrunken werden [16].
4 Pro Mann und Tag sind bis zu 12 l Trinkwasser
notwendig.
4 Pro Mann und Tag sind teilweise mehrere Liter
Brauchwasser notwendig.
488 Kapitel 36 · Warme Klimazonen

36.2 Physiologie warmer Klimazonen noch etwa 1 l/h [3]. Flüssigkeitsverluste bis zu 15 l/
Tag sind möglich [12]. Je höher die Luftfeuchtigkeit
36.2.1 Thermoregulation des Körpers ist, desto gesättigter ist sie mit Wasserdampf und
nimmt weniger zusätzlichen Wasserdampf auf: die
Wärmegleichgewicht Verdunstung wird deutlich erschwert [3]. Dies er-
Die Aufrechterhaltung einer Körperkerntempera- klärt, warum feuchte Wärme, wie sie in den Tropen
tur nahe 37 °C ist wichtig, da jede Abweichung über herrscht, als belastender empfunden wird als tro-
42 °C hinaus massive Auswirkungen auf den Stoff- ckenes Wüstenklima [3]. Herrscht Wind, wird die
wechsel hat, Proteine schädigt und zu Multiorgan- Wärmeabgabe über Schweißbildung verbessert, da
versagen und Tod führt. Thermoregulatorische Re- die Verdunstung erleichtert wird [3].
zeptoren sind über den gesamten Körper verteilt Kopf und Oberkörper sind für die Schweißpro-
(insbesondere in Haut, Bauchorganen, Rücken- duktion am wichtigsten, die Beine tragen nur etwa
mark, Hirnstamm). Die peripheren und zentralen 25 % zur Gesamtschweißproduktion bei [5]. Kopf-
Messungen werden im Hypothalamus, dem Kont- bedeckungen bzw. Helme scheinen im besonderen
rollzentrum der Körpertemperatur, verglichen. Maße für die Entstehung von Hitzekrankheit ver-
Manche Thermorezeptoren können dabei von wei- antwortlich zu sein [5]. Da gerade Kopf und Ober-
teren Reizen beeinflusst werden, insbesondere von körper durch wenig schweißdurchlässige Schutz-
Hitze und Ischämie. Dies führt dazu, dass ein An- ausrüstung bedeckt sind, führt dies zu erheblichen
stieg der Körperkerntemperatur bei hochgradiger Einschränkungen in der physiologischen Wärme-
körperlicher Belastung zu einer Fehlfunktion des kompensation bei Soldaten.
Hypothalamus führen und so die Entstehung eines
Hitzschlags weiter fördern kann [8]. Akklimatisierung
Der Körper versucht, überschüssige Hitze durch Hitzeakklimatisation erleichtert körperliche Arbeit,
eine stärkere Hautdurchblutung an die Körperober- da sie eine ausreichende Wärmeabgabe gewähr-
fläche zu transportieren, um sie an die Umgebung leistet und den Körper hämodynamisch weniger
abzugeben. Dies führt zu einer erhöhten Belastung belastet. Sie ist nach 1–2 Wochen Aufenthalt und
des kardiozirkulatorischen Systems und äußert sich Belastung in Hitze abgeschlossen, bei regelmäßi-
in einer erhöhten Herzfrequenz [3]. Die Mechanis- gem Aufenthalt in klimatisierten Räumen kann sie
men des Wärmeaustausches an der Körperober- sich auf 3–6 Wochen verlängern [3].
fläche (Konduktion, Konvektion, Strahlung und Akklimatisierung bewirkt vor allem Folgendes
Verdunstung) werden in 7 Kap. 38.2 erläutert. [3]:
4 Abnahme der Elektrolytkonzentration in
Schweißbildung Schweiß und Urin auf bis zu 10 % des Ausgangs-
Um die Wärmeabgabe an der Haut zu maximieren, wertes, wodurch der tägliche Salzbedarf sinkt
produziert der Körper aus Wasser und Elektrolyten [2]. Ein niedriger NaCl-Gehalt des Schweißes
bestehenden Schweiß, der unter Entstehung von erhöht die erzeugte Verdunstungskälte [5].
36 Kälte verdunstet [16]. In normalem Klima kann bei 4 Zunahme der Schweißsekretion an den
mittlerer körperlicher Aktivität 50 % der produzier- Extremitäten, wodurch sich die Gesamt-
ten Körperwärme über andere Wege als Schweiß schweißmenge und somit die erzeugbare Ver-
abgegeben werden. Überschreitet die Umgebungs- dunstungskälte erhöht.
temperatur aber 35 °C, ist Schweißbildung annä- 4 Steigerung der gesamten Schweißsekretion
hernd die einzige Art der Wärmeabgabe [10]. um 10–25 % im Wüstenklima und bis zu 120 %
Schweiß ist hypoton und führt daher zu hyper- im tropischen Klima.
osmolarem Plasma und verringertem Plasmavolu- 4 Herabgesetzte Schwitzschwelle.
men. Die Plasmahyperosmolarität mobilisiert ext-
ravasale Flüssigkeit ins Gefäßbett [10]. Bei einer Die notwendige Trinkmenge wird daher durch Ak-
akuten Hitzebelastung ist kurzfristig eine Schweiß- klimatisation nicht gesenkt. Meist steigt sie sogar
produktion von 4 l/h möglich, nach 8 h aber nur aufgrund der früheren und insgesamt erhöhten
36.2 · Physiologie warmer Klimazonen
489 36
Schweißproduktion [2]. Durch die bessere Ver- tion kann dabei individuell sehr unterschiedlich
dunstungskühlung der Haut muss aber im Vergleich sein, wird aber bei körperlich Belastung bis zu 70 %
zum Nichtakklimatisierten eine geringere Blutmen- der maximalen Sauerstoffaufnahme nicht wesent-
ge im Körper bewegt werden. Das Herzminutenvo- lich beeinträchtigt [10]. Bei höherer Aktivität oder
lumen sinkt, es entstehen Reserven für körperliche einer deutlichen Dehydratation von 5 % des Körper-
Belastung. Der Energieverbrauch sinkt. Auch bei gewichts, wird die Geschwindigkeit der Magenent-
mäßiger Belastung steigen Herzfrequenz und Kör- leerung um bis zu 25 % verschlechtert.
pertemperatur weniger stark an. Die Einsparung > Sobald eine deutliche Dehydratation besteht,
von Elektrolyten bei der Schweißproduktion er- ist die orale Rehydratation erschwert.
möglicht auch bei eingeschränkter Salzzufuhr ge-
nügend Verdunstungskälte ohne Störung des Was- Daher ist die Prophylaxe durch regelmäßige, über
ser-Elektrolyt-Systems [3]. den Tag verteilte Trinkmengen wichtig [13]. Dehy-
Bei körperlicher Ruhe in der Akklimatisie- drierende Getränke, wie z. B. Alkohol oder Kaffee,
rungsphase ist diese nur teilweise erfolgreich. Pha- sollten grundsätzlich gemieden werden [2]. Mode-
sen körperlicher Belastung verbessern das Akkli- rater Kaffeekonsum erzeugt aber meist keine Prob-
matisationsergebnis [14]. Dabei sollte die körperli- leme, da die geringe diuretische Wirkung durch
che Belastung schrittweise erhöht werden [2]. 2 h Wasserkonsum gut kompensiert werden kann [16].
körperlicher Belastung in Hitze pro Tag sind im
Regelfall ausreichend, um eine adäquate Akklimati- Veränderte Urinfarbe
sation in 10–14 Tagen zu erzielen. Es sind auch 5 Bernsteinfarbener Urin oder weniger als
zweimal 1 h/Tag möglich [16]. Die Hitzeakklimati- 2 Miktionen/Tag weisen immer auf eine
sierung besteht für ca. 1 Woche nach Beendigung bestehende Dehydratation hin. In diesen
der Hitzeexposition fort und sinkt dann um ca. 75 % Fällen sollte der Betroffene trinken, bis der
innerhalb von 3 Wochen ab [14]. Urin klar wird.
5 Dunkler, braun gefärbter Urin kann auf eine
Rhabdomyolyse hindeuten, die teilweise
36.2.2 Wasser-Elektrolyt-Haushalt bei Dehydratation oder Hitzschlag im Rah-
men von körperlicher Überlastung auftritt.
Wasserhaushalt
Die Wasserbilanz des Körpers wird normalerweise
±0,66 % der Norm gehalten, da Menschen unter
normalen Umständen bereits bei minimalen Ver- Elektrolythaushalt
schiebungen im Wasser-Elektrolyt-Haushalt Durst Um die Schweißproduktion des Körpers aufrecht er-
entwickeln oder die Urinproduktion erhöhen. In halten zu können, müssen ausreichend Elektrolyte
Phasen körperlicher Aktivität kann ein Wasserdefi- aufgenommen werden. Eine zu geringe Salzaufnah-
zit von bis zu 2–5 % entstehen, das in nachfolgenden me kann das Durstgefühl unterdrücken und so zur
Pausen durch Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme Dehydratation beitragen [5]. Eine regelmäßige nor-
wieder kompensiert wird [10]. Schon kleine Ver- male Nahrungsaufnahme versorgt den Körper in der
schiebungen im Wasser-Elektrolyt-Haushalt kön- Regel mit einer ausreichenden Menge von Salzen. In
nen die Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchti- Ausnahmefällen, z. B. bei extremer Schweißproduk-
gen, größere führen zum Ausfall der betroffenen tion, Durchfall oder Erbrechen, kann eine gesteigerte
Einsatzkräfte durch Hitzeschäden [10]. Salzzufuhr notwendig sein. Der früher gebräuchliche
Die orale Flüssigkeitszufuhr ist durch die Re- Konsum von Salztabletten wird aufgrund der häufig
sorptionsfähigkeit des Gastrointestinaltraktes be- folgenden gastrointestinalen Beschwerden heute
grenzt. Der Magen transportiert maximal 1000– nicht mehr empfohlen. Im Regelfall ist eine ausrei-
1200 ml/h in den Dünndarm weiter, wo das Wasser chende Zufuhr durch Salzen der Nahrung oder der
resorbiert wird [13]. Die tatsächliche Geschwindig- Aufnahme besonders salzhaltiger Nahrung (z. B.
keit von Magenentleerung und intestinaler Resorp- Fleischbrühe, Tomatensaft) zu erreichen [2].
490 Kapitel 36 · Warme Klimazonen

Der Konsum von Nahrungsergänzungsmitteln chend sind die Messwerte niemals für alle Einzelsi-
(Muskelaufbauprodukte) wie Kreatin und Amino- tuationen zutreffend und können nur Näherungs-
säuren kann eine verstärkte Diurese bedingen und werte sein. Sind keine Messwerte vor Ort verfügbar,
so zu Dehydratation führen. Da sie meist andere sollte anhand der aufgeführten Tabellen der Flüssig-
Nahrungsmittel im Tageskonsum ersetzen, fehlt da- keitsbedarf und die körperliche Belastung mit ge-
rüber hinaus noch der Elektrolyt- und Wasseranteil sundem Menschenverstand abgeschätzt werden [2].
der ersetzten Nahrung. Es sollte daher wegen der
erhöhten Anfälligkeit für Hitzeerkrankungen auf sie Anpassung der körperlichen Belastung
verzichtet werden [2]. Die Belastung und Belastbarkeit ist im Wesentli-
chen abhängig von drei Aspekten:
4 Soldat: körperliche Fitness, Hydratation, Ak-
36.2.3 Wärmebelastung klimatisierung, Gesundheitszustand, Erho-
lungszustand
Die Ermittlung der Wärmebelastung ermöglicht die 4 Klima: Umgebungstemperatur, Luftfeuchtigkeit,
Anpassung von körperlicher Aktivität an die klima- Sonneneinstrahlung und Windgeschwindigkeit
tischen Konditionen. 4 Auftrag: getragene Uniform/Schutzausrüstung,
Traglast, Gelände und körperliche Aktivität [2]
Messverfahren
Es existieren verschiedene Verfahren zur Messung Alle Aspekte müssen entsprechend beurteilt und
der Wärmebelastung: ggf. angepasst werden, um die Leistungsfähigkeit
Weltweiter Standard ist derzeit die »Wet Bulb der unterstellten Teile zu erhalten und Hitzeerkran-
Globe Temperature« (WBGT). Sie bezieht Lufttem- kungen zu vermeiden. Bei Nutzung des HDI gibt
peratur, Luftfeuchtigkeit, Wärmestrahlung und . Tab. 36.1 einen Anhalt für die notwendige Anpas-
Windgeschwindigkeit mit ein. Anhand der WBGT- sung der körperlichen Belastung. . Tab. 36.2 gibt für
Werte können praxisnahe Empfehlungen für die einen WBGT-Bereich darüber hinaus die durch-
körperliche Belastung gegeben werden. Anlagen schnittlich notwendige Trinkmenge an und kann
zur Messung der WBGT sind aufwändig und daher gut als Planungsgrundlage dienen.
nicht ohne weiteres mitführbar. Der Wert ist aller-
dings errechenbar, wenn die Einzelparameter be-
kannt sind (z. B. lokaler Wetterbericht, GeoInfo) 36.3 Hitzeschäden im militärischen
[2]. Programme, die die WBGT näherungsweise Bereich
bestimmen können, sind im Internet kostenfrei ab-
rufbar (www.srh.noaa.gov/elp/wxcalc/rh.shtml) Im militärischen Bereich entstehen Hitzeerkrankun-
Der »Heat Discomfort Index« (HDI) ist eine gen, ähnlich wie im Sport, vornehmlich aufgrund
einfach zu handhabende Alternative zum WBGT. von Störungen des Wärmeaustausches (Hitzschlag)
Als Faktoren fließen Temperatur, Luftfeuchtigkeit oder Störungen des Wasserhaushaltes (Dehydratati-
36 und Windgeschwindigkeit ein, nicht aber die Son- on) und werden meist durch körperliche Anstren-
neneinstrahlung. Der HDI kann mittels tragbarer gung verursacht (. Tab. 36.3). Ihnen liegen daher im
Wetterstationen, die häufig auch von Scharfschüt- Wesentlichen die körpereigene Hitzeproduktion
zen genutzt werden, automatisch bestimmt werden und nicht alleine die Umgebungsbedingungen zu-
(z. B. Kestrel 3000). Der Index wird in den IDF ins- grunde. Hitzeerkrankungen können durch Störun-
besondere bei Ausbildungen häufig genutzt, um die gen des Elektrolythaushaltes, insbesondere Hypona-
körperliche Belastung an die klimatischen Bedin- triämie, verschlimmert werden und zu ausgedehn-
gungen anzupassen. ten Muskelschädigungen (Rhabdomyolyse) führen
Die erhobenen Werte können sich schon auf (s. unten). Die Risikofaktoren für Dehydratation
kurze Entfernung erheblich unterscheiden, z. B. ver- und Hitzschlag sind im militärischen Bereich nicht
ändert das Aufsuchen von Schatten oder Wind- nur weitgehend deckungsgleich, sie stellen zusätz-
schatten die Hitzebelastung deutlich. Dementspre- lich noch jeweils gegenseitige Risikofaktoren dar.
36.3 · Hitzeschäden im militärischen Bereich
491 36

. Tab. 36.1 Empfehlungen der israelischen Streitkräfte zur körperlichen Belastung in der Ausbildung unter Berück-
sichtigung des HDI

»Heat Discom- Hitze- Level Empfehlungen


fort Index« (HDI) belastung

≤22,0 Keine 0 Keine Einschränkungen

22,1–24,0 Leicht 1 15 min Pause nach jeweils 60 min körperlicher Belastung

24,1–26,0 Mäßig 2 15 min Pause nach jeweils 30 min körperlicher Belastung, extreme
Belastung ist untersagt

26,1–28,0 Mittel 3 Nur akklimatisierten Soldaten ist körperliche Belastung erlaubt

28,1–30,0 Schwer 4 Nur akklimatisierten Soldaten ist leichte körperliche Belastung erlaubt

≥30,1 Extrem 5 Keine körperliche Belastung erlaubt

. Tab. 36.2 Notwendiger Flüssigkeitsersatz und zeitliches Verhältnis zwischen körperlicher Belastung und Ruhepau-
sen für einen durchschnittlichen Soldaten mit abgeschlossener Akklimatisierung. KB keine Beschränkung bei Bela-
stung bis zu 4 h. Werden ballistische Schutzwesten getragen, müssen zum WBGT-Wert 5°F hinzugerechnet werden.
Der individuelle Flüssigkeitsbedarf kann um ca. 250 ml/h variieren. Das Arbeiten in praller Sonne oder im Schatten
erhöht bzw. vermindert den stündlichen Flüssigkeitsbedarf um 250 ml. Die vorgegebenen Pausenzeiten sollten ohne
Belastung im Schatten verbracht werden. (Modifiziert nach [17])

Niedrige Belastung: Mittlere Belastung: Hohe Belastung:


– Schießausbildung – Marsch im Sand, 4 km/h, – Marsch auf festem
– Marsch auf festem ohne Traglast Untergrund, 6 km/h,
Untergrund, 4 km/h, – Marsch auf festem Unter- >20 kg Gepäck
<15 kg Gepäck grund, 6 km/h, <20 kg Gepäck – Marsch im Sand mit
– Formaldienst – Streife zu Fuß Gepäck
– Schanzarbeiten – Gefecht hoher Intensität

Hitze- WBGT- Belastung/ Wasser- Belastung/ Wasser- Belastung/ Wasser-


kategorie Index Pause zufuhr Pause [min] zufuhr [l/h] Pause [min] zufuhr [l/h]
[°F] [min] [ml/h]

1 78–81,9 KB 500 KB 750 40/20 750

2 82–84,9 KB 500 50/10 750 30/30 1.000

3 85–87,9 KB 750 40/20 750 30/30 1.000

4 88–89,9 KB 750 30/30 750 20/40 1.000

5 >90 50/20 1.000 20/40 1.000 10/50 1.000

Hitzeschäden 5 Eine Rhabdomyolyse entsteht typischer-


5 Ein Hitzschlag folgt häufig auf eine vorher weise bei extrem hoher körperlicher
entstandene Dehydratation. Belastungen, die wiederum unabhängige
5 Eine Hyponatriämie tritt meist aufgrund Risikofaktoren für Dehydratation und
einer Überwässerung bei zu aggressiv durch- Hitzschlag sind.
geführter Dehydratationsprophylaxe auf.
492 Kapitel 36 · Warme Klimazonen

. Tab. 36.3 Vergleich von Dehydratation und Hitzschlag als bedeutendsten Hitzeschäden im militärischen Umfeld

Dehydratation Hitzschlag

Hauptrisikofaktoren Schlechte Akklimatisierung, Erschöpfung, schlechte Akklimatisierung, bestehende


akute Infektionserkrankung Infektionserkrankung

Wasserhaushalt Dehydratation Meist dehydriert, teilweise normal

Körperkerntemperatur Normal ≥40 °C

Puls Hoch Hoch

Blutdruck Niedrig Normal oder niedrig

Allgemeinzustand Erschöpft Erschöpft

Bewusstsein Normale Orientierung Desorientiertheit, Aggressivität, Krampfanfall, Koma

Komplikationen Hitzschlag Multiorganversagen (Niere, Leber, Herz), hohe


Mortalitätsrate

Hitzetoleranztest Normal Abnormal

Differenzialdiagnosen Hyponatriämie Rhabdomyolyse

Therapie Hydratation aggressives Kühlen

Die Symptomatiken sind sich sehr ähnlich, und es 36.3.1 Dehydratation


ist häufig unklar, ob ein körperlich stark leistungs-
geminderter Soldat Zeichen einer Dehydratation, Symptomatik
Hyponatriämie oder lediglich starke Muskel- Erstes auftretendes Frühwarnsymptom einer Dehy-
schmerzen hat, die wiederum auch durch eine dratation ist normalerweise Durst [10]. Dieser tritt
Rhabdomyolyse bedingt sein können. in warmen Klimazonen häufig erst auf, wenn bereits
Die präklinisch relevanten Folgen betreffen bei ein deutliches Flüssigkeitsdefizit besteht. Eine
Dehydratation und bei Hitzschlag gleichermaßen in schwerere Dehydratation führt zu eingeschränkter
der Regel das ZNS und das kardiorespiratorische Kühlungsmöglichkeit des Körpers und bedingt ei-
System. Die ersten Symptome bestehen häufig in nen Anstieg der Körperkerntemperatur (KKT).
körperlicher Schwäche, aggressivem Verhalten oder Reaktiv wird die Hautdurchblutung für eine bessere
Desorientiertheit, bevor Kollaps, Koma und eine Kühlung gesteigert. Der dadurch sinkende peri-
Schocksymptomatik bis hin zum Herzstillstand auf- phere Widerstand und die durch Volumenmangel
treten. sinkende kardiale Vorlast belasten den Kreislauf
36 Bei beiden Krankheitsbildern ist die Ausschüt- erheblich und führen zum Leistungseinbruch [12].
tung von Entzündungsbotenstoffen in die Entste- Die physische und psychische Leistungsfähigkeit
hung von systemischen Komplikationen, wie z. B. wird bereits bei 1 % Dehydratation beeinträchtigt
Multiorganversagen und disseminierte intravasale und sinkt mit weiterem Flüssigkeitsverlust [12]. Pro
Gerinnung (DIC), involviert. Die militärisch rele- 1 % Dehydration steigt die KKT durch nachlassen-
vanten hitzebedingten Notfälle sind dementspre- de Schweißproduktion zusätzlich um 0,15–0,2 °C
chend eng miteinander verwandt. [5], die Herzfrequenz steigt um durchschnittlich 4/
min an [12]. Dehydrierte erreichen daher bei glei-
cher physischer Aktivität höhere KKT als Normal-
hydrierte, die Hitzetoleranz sinkt [10]. Die Urinpro-
duktion sinkt, und der Urin verfärbt sich tiefgelb-
lich. Bei Dehydratation fällt die Erfüllung auch
36.3 · Hitzeschäden im militärischen Bereich
493 36
einfacher Aufgaben schwer, die Motivation bricht erlauben das freihändige Trinken ohne Ablegen der
weg, Betroffene werden lethargisch, teilweise ag- Waffe, erschweren aber die Kontrolle über die auf-
gressiv und verweigern häufiger den Gehorsam genommene Flüssigkeitsmenge.
[10]. Es entstehen extremes Durstgefühl, Muskel- Verschiedene Studien haben gezeigt, dass die
schmerzen und Koordinationsstörungen. Wasser- selbstständige Bestimmung der Trinkmenge an-
defizite von 10 % und darüber hinaus sind lebensge- hand des Durstgefühls in heißen Klimazonen im-
fährlich und enden teilweise rasch mit dem Tod. Es mer in einer nicht unerheblichen Dehydratation
treten zentralnervöse Funktionsausfälle bis hin endet [16].
zum Koma auf, Krampfanfälle, Anurie und Kreis-
Tipp
laufversagen [3].
Um eine Dehydratation der Einsatzkräfte zu
Therapie
vermeiden, sollten die Trinkmengen vorgege-
Die Therapie der Dehydratation ist einfach: sie be-
ben und deren Einhaltung kontrolliert werden.
steht aus der Zufuhr von Flüssigkeit. Beim an-
sprechbaren Patienten kann diese oral erfolgen, bei
schwereren Fällen oder Bewusstseinstrübung mit- Bei leichter körperlicher Aktivität in heißer Umge-
tels kristalloider Infusionstherapie. Es sollten Boli bung wird in der Regel ausreichend getrunken, um
von 250 ml bis zur Besserung der Symptome ver- Verluste zu ersetzen. Bei mittlerer und insbesondere
abreicht werden, ohne ärztliche Anordnung aber hoher körperlicher Aktivität führt eine durch Durst
maximal 1.500–2.000 ml. Bei schweren Symptomen gesteuerte Flüssigkeitsaufnahme meist nur zum Er-
(Krampfanfall, Atem-/Kreislaufdepression) ist die satz von 50–70 % der beim Schwitzen verlorenen
Therapie symptomatisch und entspricht der des Wassermenge. Dies bedingt, dass durch Vorgesetzte
Hitzschlags (7 Kap. 30.3.3). in Pausen die Kompensation der restlichen Menge
veranlasst werden muss [10].
Prävention Als Faustregel kann für jede Temperaturerhö-
Dehydratation hat im militärischen Umfeld drei hung von 5 °C über 20 °C Umgebungstemperatur
wesentliche Ursachen [10]: hinaus eine Steigerung des täglichen Flüssigkeitsbe-
4 mangelnde Verfügbarkeit von Flüssigkeit, darfs um 1–1,5 l erwartet werden. Bei starker Ar-
4 eine zu geringe Trinkmenge und beitsbelastung kann diese Menge erheblich steigen
4 Wasserverlust durch Schweiß und Diarrhoe. und durchaus bis zu 12 l/Tag betragen [3]. Bei der
Planung von Operationen sollten die Wetterbedin-
Während die Höhe des Wasserverlustes im Wesentli- gungen, Marschleistung und -untergrund sowie die
chen durch Umgebungstemperatur, Luftfeuchtigkeit Traglast berücksichtigt werden. Nach israelischen
und Intensität sowie Dauer körperlicher Belastung Erfahrungen sind 1 l/Stunde oder 0,5 l/km gute
bestimmt wird [12], müssen für den Ausgleich eines Richtwerte. Bei warmem Wetter, schwierigem Ge-
Flüssigkeitsdefizits drei Voraussetzungen erfüllt sein: lände und hoher Traglast kann der Bedarf aber bis
4 die Notwendigkeit zum Trinken muss erkannt 4 l/h steigen. Dieser hohe Wasserverbrauch stellt ein
werden, ernstes logistisches Problem dar und muss in der
4 Flüssigkeit muss zur Verfügung stehen und Operationsplanung berücksichtigt werden.
4 der Auftrag des Soldaten muss das Trinken er-
lauben.
Empfehlung zur Flüssigkeitszufuhr
Gerade der letzte Aspekt ist im taktischen Umfeld 5 Um einer Dehydratation durch Auffüllen
von großer Bedeutung: Feldflaschen sind in der Re- bestehender Defizite vorzubeugen, werden
gel nicht einfach zu erreichen und ihr Gebrauch ungefähr 2 h vor körperlicher Belastung
durch das Tragen einer Waffe oder anderer Ausrüs- oder Aufenthalt in großer Hitze ca. 0,5 ml
tung eingeschränkt. Zum Trinken wird also generell Flüssigkeit getrunken [12].
eine Pause benötigt. Trinkblasen (z. B. Camelbak)
494 Kapitel 36 · Warme Klimazonen

36.3.2 Belastungsassoziierte
5 Im Zweifelsfall sollte so viel Flüssigkeit auf- Hyponatriämie
genommen werden, bis der Betreffende
klaren Urin produziert. Eine Dehydratation kann schwere Folgen haben.
5 Als ideales Getränk dient kühles, leicht ge- Aber auch der übertriebene Versuch, diese zu ver-
süßtes Wasser, von dem bei hoher körperli- meiden, kann gefährlich sein. Die hohe Sensibilisie-
cher Belastung 1 l/Stunde (bis zu 12 l/Tag) rung für Dehydratation kann zu einem zeitweise
getrunken werden sollte. Glukose verbes- inadäquat hohen Wasserkonsum führen, der dann
sert gegenüber ungesüßtem Wasser durch ebenfalls Gesundheitsschäden hervorruft: eine Hy-
Symport die intestinale Aufnahme von Nat- perhydratation, die sich meist als Hyponatriämie
riumionen [15]. manifestiert.
5 Ein höherer Kohlenhydratanteil in Flüssig- Im zivilen Bereich, z. B. im Rahmen von Mara-
keiten führt häufiger zu Übelkeit und Völle- thonläufen, ist die Ursache in der Regel das Trinken
gefühl [10]. von Flüssigkeitsmengen, die den Schweißverlust
5 Werden Sportgetränke angeboten, sollten erheblich übersteigen. Im militärischen Bereich
sie im Verhältnis 1:1 verdünnt werden und können ähnliche Bedingungen vorliegen: mehr-
komplexe Kohlenhydrate statt Fruktose stündige- körperliche- Aktivität bei Patrouillen und
oder Glukose enthalten [2]. längere Gefechtshandlungen oder der Durchset-
5 Kohlensäurehaltige Getränke erschweren zung von festgelegten größeren Trinkmengen ohne
die Aufnahme ausreichend großer Trink- gleichzeitige Nahrungsaufnahme. Verstärkend
mengen. wirkt hier aber häufig eine unzureichende Nah-
5 Kalte Getränke erhöhen die Compliance bei rungsaufnahme, was durch fehlende Salzzufuhr ei-
freiwilliger Flüssigkeitsaufnahme in war- nen Elektrolytmangel weiter fördert [12].
mem Klima [10]. Sie senken aber die Ge- Die entstandene Hyponatriämie kann vom Kör-
schwindigkeit der Magenentleerung und per meist nicht effektiv korrigiert werden. Durch das
können das Durstgefühl einschränken [18]. niedrige Serumnatrium wird die Rückresorption von
5 Getränketemperaturen von 15–20 °C Natrium in der Niere erhöht, was wiederum durch
scheinen daher für die Aufnahme von gro- nachströmendes Wasser die Urinproduktion verrin-
ßen Flüssigkeitsmengen ideal [10]. gert [10]. Die durch Hyponatriämie erniedrigte ex-
5 Die häufige Aufnahme kleinerer Mengen trazelluläre Osmolalität bewirkt einen Flüssigkeits-
produziert weniger Urin als die seltene Auf- einstrom in Extravasalraum und Zellen. Bei stärkerer
nahme größerer Mengen und minimiert so Ausprägung sind Gewebeschwellungen die Folge, die
den Flüssigkeitsverlust [10]. insbesondere durch Hirnödeme und kardiopulmo-
5 Schnelles Trinken großer Mengen an nale Beeinträchtigungen zum Tode führen können
Flüssigkeit kann durch eine Vagusreizung [12]. In Studien der US-Streitkräfte wurden Todes-
des überfüllten Magen-Darm-Traktes zum fälle bei der Ausbildung durch Hyponatriämie nach-
36 Kreislaufzusammenbruch bis hin zum sog. gewiesen. Auch aus den laufenden Einsätzen, insbe-
»Oasentod« führen [24]. sondere »Operation Iraqi Freedom« (OIF), wurden
einzelne Todesfälle durch Hyponatriämie berichtet
[10]. Die Dunkelziffer ist dabei möglicherweise hoch.

Flüssigkeitsaufnahme führt vorübergehend zu stär- Symptome


kerem Schwitzen, insgesamt steigt die Gesamtmen- Da eine Labordiagnostik meist nicht zur Verfügung
ge im Vergleich aber um nicht mehr als 10 % [3]. steht, ist eine entsprechende Anamnese der wesent-
liche Anhalt für eine Hyponatriämie. Wurden in
einem Zeitraum von 24 h mehr als 12 l oder in den
letzten 4–6 h mehr als 8 l getrunken, besteht der Ver-
dacht auf eine Hyponatriämie [2].
36.3 · Hitzeschäden im militärischen Bereich
495 36
Eine normale KKT und fehlende Zeichen einer ne Rehydrierung mit sehr großen Trinkmengen
Dehydratation (insbesondere ausreichende Pro- vermieden werden. Da Dehydratation und Hitz-
duktion hellen Urins) geben weitere Hinweise für schlag im militärischen Umfeld aber erheblich häu-
eine mögliche Hyponatriämie. Symptome treten bei figer als eine Hyponatriämie auftreten, sollte auch
Natriumkonzentration von unter 125 mmol/l (teil- keine Einschränkung der möglichen Trinkmenge
weise schon bei <135 mmol/l) im Serum auf. Sie erfolgen [10]. Eine regelmäßige Nahrungsaufnah-
sind umso schwerer, je schneller die Hyponatriämie me stellt ausreichend Elektrolyte zur Verfügung. Bei
entstanden ist [10]. Mildere Symptome sind Verwir- hohen Schweißverlusten empfiehlt es sich, militäri-
rung, Desorientiertheit, Kopfschmerz, Übelkeit/ sche Fertiggerichte in jedem Fall mit dem beiliegen-
Erbrechen, neurologische Ausfälle. Im weiteren den Salz zu würzen [10] oder salzhaltige Snacks zu
Verlauf kann es zu Krampfanfällen, Hirn- und Lun- konsumieren.
genödem und zum Herz-Kreislauf-Stillstand kom- Ist eine ausreichende Nahrungsaufnahme in
men. längeren Phasen hoher Schweißproduktion nicht
Soldaten, die über typische Symptome einer möglich (z. B. mehrstündige Gefechte, Patrouillen
Hyponatriämie klagen, dürften häufig als dehy- ohne Möglichkeiten zur Verpflegung), sollte die
driert eingestuft werden und den Rat erhalten, noch konsumierte Flüssigkeit mit Elektrolyten versetzt
mehr zu trinken. Dies kann die Gefährdung des sein. Da Salz schlecht schmeckt, findet sich in
Soldaten noch erhöhen. Bei schweren neurologi- Sportgetränken ein meist zu geringer Salzanteil. Die
schen Symptomen, insbesondere Krampfanfällen, meisten Sportgetränke weisen Natriumionenkon-
kann ein Hitzschlag vermutet werden [10]. Die Un- zentrationen von 10–25 mmol/l auf, sinnvoll sind
terscheidung zwischen Hyponatriämie und Hitz- aber ca. 50 mmol/l [21]. Orale Rehydratationslösun-
schlag/Dehydratation ist aufgrund der grundlegend gen (»oral rehydration solution« ORS), wie z. B. die
unterschiedlichen Therapie eine besondere Heraus- ORS nach Vorgaben der World Health Organization
forderung, solange Labordiagnostik nicht zur Ver- oder Elotrans, sind für den Ersatz von Elektrolytver-
fügung steht. lusten durch Diarrhö gedacht und weisen zu hohe
Elektrolytkonzentrationen (insbesondere Kalium-
Therapie ionenkonzentrationen) auf (. Tab. 36.4). Eine auf
Eine zielgerichtete Therapie kann nur nach entspre- den Salzverlust durch Schweiß abgestimmte und
chender Labordiagnostik durch Gabe hypertone ausreichend gut schmeckende Trinklösung lässt
Kochsalzlösung erfolgen. Eine gefürchtete lebens- sich durch Verdünnung von ORS oder Salzzugabe
gefährliche Komplikation von zu raschen Normali- bei Sportgetränken herstellen.
sierungen des Natriumspiegels ist die Schädigung Elotrans
zentralnervöser Strukturen (zentrale pontine Mye- Durch das Auflösen von einem Beutel Elotrans auf 400–500 ml
linolyse). Präklinisch ist daher v. a. eine Flüssigkeits- statt 200 ml Wasser wird ein auf den Elektrolytgehalt von
restriktion wichtig. Kristalloide Infusionen können Schweiß abgestimmtes Getränk hergestellt, das meist als gut
genießbar empfunden wird. Durch Zugabe von handelsübli-
aber als Trägerlösung für Medikamente und zum
chem Getränkepulver, z. B. mit Fruchtgeschmack, in einer
Offenhalten von Zugängen langsam verabreicht Dosierungsmenge für 200 ml kann der Geschmack weiter
werden. Der Patient sollte schnellstmöglich zur verbessert werden. Wird dieses Getränk in entsprechender
nächsten medizinischen Behandlungseinrichtung Menge, z. B. während Patrouillen, mitgeführt, lassen sich
mit Intensivkapazität evakuiert werden. In Lagen Leistungsminderungen und Ausfälle durch Elektrolytver-
schiebungen vermeiden.
mit schlechter Zugänglichkeit von Labordiagnostik
und akuter Lebensbedrohung ist bei V. a. Hyponat- Die israelischen Streitkräfte empfehlen dagegen kei-
riämie die versuchsweise Gabe von 200 ml NaCl 3,5 ne Sportgetränke oder andere Elektrolytmischun-
% als Bolus verantwortbar. gen, sondern decken den Flüssigkeitsbedarf mit
Wasser. Für den Ersatz von Elektrolyten werden die
Prävention Soldaten mit salzigen Snacks versorgt. Dies erfor-
Zur Prävention sollte nur die durch Schweiß verlo- dert aber die Möglichkeit zur regelmäßigen Nah-
rene Flüssigkeitsmenge ersetzt und eine erzwunge- rungsaufnahme.
496 Kapitel 36 · Warme Klimazonen

. Tab. 36.4 Übersicht über die Elektrolytkonzentrationen von Blutplasma, Schweiß und diversen elektrolythaltigen
Trinklösungen. (WHO-ORS World Health Organization – »oral rehydration solution«

[mmol/l] Blut- Schweiß WHO- Gatorade Gatorade G2 Isostar Elotrans- Elotrans-


plasma [1] ORS [23] (946 ml) + 1/2 Pulver Pulver
Teelöffel Salz 1:1 verdünnt

Glukose 3,9–5,5 74,9 156 111 55

Natrium 135–145 50 (5–80) 74,1 23 63 24 90 45

Chlorid 96–110 50 (5–80) 64,6 14 32 12 80 40

Kalium 3,8–5,2 10 (5–15) 20,1 3,2 3 4 20 10

36.3.3 Belastungsbedingter Hitzschlag geringere Wärmeproduktion und effektivere


Schweißproduktion.
Der belastungsbedingte Hitzschlag (BHS, engl.:
»exertional heatstroke« EHS) ist eine hitzebedingte Symptomatik
Erkrankung, die v. a. bei jungen, gesunden und kör- Die erhöhte Körpertemperatur beeinträchtigt den
perlich belastbaren Sportlern und Soldaten auftritt Wasser-Elektrolyt-Haushalt, verschlechtert die
[4]. Er unterscheidet sich von anderen Formen des Funktion von Enzymen und aktiviert Entzündungs-
Hitzschlags v. a. dadurch, dass die verursachende botenstoffe. Soldaten mit belastungsinduziertem
Wärme größtenteils vom Körper produziert wird Hitzschlag werden meist durch einen erheblichen
und durch Versagen der Thermoregulation nicht Leistungsabfall symptomatisch. In den israelischen
schnell genug abgegeben werden kann. Die zugrun- Streitkräften wird der Begriff des »failing soldier«
deliegenden Mechanismen sind im Wesentlichen: (versagender Soldat) für die typische Symptomatik
4 Wärmeproduktion bei starker körperlicher Be- von extremer Schwäche, Desorientierung und Zu-
lastung und Absorption von Hitze bei hoher rückfallen hinter die Gruppe verwendet. Da ein
Sonneneinstrahlung. Hitzschlag meist im Zusammenhang mit hoher kör-
4 Eingeschränkte Möglichkeit der Wärmeabgabe perlicher Belastung auftritt, sind im Regelfall auch
durch reduzierte Verdunstung von Schweiß Dehydratationssymptome vorhanden. Die führen-
(Schutzausrüstung und Bekleidung) und feh- den Symptome sind häufig durch eine temperatur-
lende Erholungs- und Abkühlungsphasen bei bedingte Beeinträchtigung des ZNS und kardiores-
längerer körperlicher Belastung. piratorischen Systems ausgelöst: während zu Be-
ginn v. a. Schwäche, leichte Verhaltensänderungen
Individuelle Risikofaktoren wie schlechte körperli- (z. B. Aggressivität), Benommenheit und Desorien-
36 che Leistungsfähigkeit, fehlende Akklimatisierung, tiertheit auffallen, folgen im Verlauf Kollaps,
akute Infektionskrankheiten, Dehydratation, Er- Krampfanfälle, Bewusstlosigkeit, Herzrhythmus-
schöpfung und ein Hitzschlag in der Anamnese störungen und akute Herzinsuffizienz mit Lungen-
kommen hinzu. Verschiedene Substanzen (Drogen, ödem bis hin zum Herzstillstand.
insbesondere Amphetamine, Alkohol etc.) können Auch der Hypothalamus, Zentrum der Ther-
einen Hitzschlag mit verursachen oder den Verlauf moregulation, kann betroffen sein und durch Fehl-
verschlechtern. Kreatinpräparate scheinen kein un- funktion den Hitzschlag weiter verstärken. Da in
mittelbarer Risikofaktor für Hitzeerkrankungen zu den meisten Fällen gleichzeitig eine Dehydratation
sein, können aber zu einer Dehydratation führen. besteht oder mit verursachend ist, kann auch eine
Eine gute körperliche Leistungsfähigkeit und ad- Mikrozirkulationsstörung (insbesondere renal und
äquate Akklimatisierung senken die Wahrschein- hepatisch) vorkommen. In Kombination mit der
lichkeit für Dehydratation und Hitzschlag durch systemischen Entzündungsreaktion können ein
36.3 · Hitzeschäden im militärischen Bereich
497 36

. Tab. 36.5 Klassifikation des belastungsbedingten Hitzschlags (BHS)

Drohender Hitzschlag Hitzschlag Verhinderter Hitzschlag

Symptome Körperlicher Erschöpfung Deutliche neurologische Vor wirksamer Kühlung:


und und geistiger Symptome Deutliche neurologische
Befunde Zustand Symptome
>40 °C

Körperkern- 37–40 °C >40 °C


temperatur

Verlauf Labor- Unauffällig Leukozytose, Leber- und Aufgrund wirksamer Kühlung


diagnostik Nierenwerte erhöht, normal
Gerinnungsstörungen

Systemische Keine (Multi-)Organversagen Keine


Komplika- möglich (insb. Niere,
tionen Leber, Herz), DIC

Hitze-Toleranz-Test Negativ Positiv Negativ

Multiorganversagen und Gerinnungsstörungen bis Der Begriff wird in Israel nicht mehr verwendet,
hin zur disseminierten intravasalen Gerinnung weil der Übergang zum Hitzschlag fließend und
(DIC) entstehen [22]. Eine weitere Komplikation ist die Therapie deckungsgleich ist. Als praxisnahe
die hitzebedingte Rhabdomyolyse, die ebenfalls Lösung wird daher im militär- und sportmedizini-
zum Nierenversagen führen kann [2]. schen Bereich zunehmend folgende Einteilung
des belastungsbedingten Hitzschlags genutzt
Diagnose (. Tab. 36.5) [9]:
Für die Diagnose »belastungsinduzierter Hitz- 4 Hitzschlag: ist gekennzeichnet durch neuro-
schlag« müssen drei Kriterien erfüllt sein: logische oder psychische Symptome und eine
4 vorangegangene körperliche Belastung (häufig, erhöhte KKT von mindestens 40 °C. Beweisend
aber nicht zwingend in warmer Umgebung) sind typische Laborbefunde (erhöhte BSG,
4 neurologische oder psychische Veränderungen Leber- und Nierenwerte, Leukozytose, Gerin-
(Benommenheit, Aggressivität, Ruhelosigkeit, nungsstörungen) und ein positiver Hitzetole-
Krampfanfälle. Bewusstlosigkeit) ranztest (HTT).
4 KKT ≥40 °C 4 Drohender Hitzschlag: zeigt nur einige der
> Die Körperkerntemperatur sollte immer rektal
Symptome eines BHS und weist im Regelfall
oder ösophageal bestimmt werden. In der me-
auch auf eine bestehende Dehydratation hin.
dizinischen Ausrüstung sollte sich daher ein
Die KKT liegt unter 40 °C. Wird die Belastung
wasserdichtes, digitales Fieberthermometer
nicht unterbrochen und ggf. gekühlt, folgt ein
befinden. Messsonden von Überwachungs-
manifester Hitzschlag.
monitoren lassen sich sowohl rektal als auch
4 Verhinderter Hitzschlag: wird bei Vorliegen
ösophageal einführen und erlauben eine kon-
der typischen Symptome eines BHS der Patient
tinuierliche Überwachung der Temperatur.
so zeitnah und aggressiv gekühlt, dass die KKT
schnell fällt, wurde die sich zumeist selbst
unterhaltene Thermoregulationsstörung effek-
Klassifikation tiv beherrscht. Im Verlauf finden sich keine La-
Traditionell wird die Hitzeerschöpfung als Vorstufe borauffälligkeiten, und systemische Komplika-
des Hitzschlags mit einer KKT <40 °C abgegrenzt. tionen bleiben aus.
498 Kapitel 36 · Warme Klimazonen

Hitzetoleranztest (HTT) Hitzschlag fortgebildet werden und klare Hand-


Der HTT dient in den IDF als diagnostischer Stan- lungsanweisungen zu Prävention und Therapie er-
dard zur Beurteilung der Thermoregulation. Der halten.
Patient wird dabei in definierten Umgebungsbedin-
gungen (Klimakammer) einer körperlichen Belas- Differenzialdiagnostik
tung ausgesetzt [11]. Das Verhalten der KKT wird Hitzschlag ist eine lebensbedrohliche Erkrankung,
aufgezeichnet und anhand des Verlaufs lässt sich die eine unverzügliche aggressive Behandlung er-
eine bestehende Hitzeintoleranz mit einem erhöh- fordert. Ist diese initiale Therapie schnell und effek-
ten Risiko für einen Hitzschlag diagnostizieren. Der tiv genug, kann sie trotz der Schwere der Erkran-
Test ist nach erlittenem Hitzschlag im Regelfall für kung ausreichend sein. Die zügig gestellte korrekte
2–3 Monate auffällig. Dementsprechend sind Solda- Diagnose ist daher von besonderer Bedeutung. Da
ten in diesem Zeitraum nicht mehr voll einsatzfähig eine aggressive Kühlung für die meisten Differen-
und sollten keiner hohen körperlichen Belastung zialdiagnosen ebenfalls die Therapie der Wahl dar-
ausgesetzt werden. stellt und bei allen anderen nicht kontraindiziert ist,
sollten Kühlmaßnahmen auch bei unsicherer Ver-
Prävention dachtsdiagnose erfolgen.
Im militärischen Umfeld ist die effektive Vermei- 4 Hitzeschäden mit ähnlichen Symptomen:
dung von belastungsbedingten Hitzschlägen mög- 5 Drohender Hitzschlag (geht ohne Therapie
lich. In den Israelischen Streitkräften konnte auf- in Hitzschlag über)
grund strikter Vorgaben die Häufigkeit von mehre- 5 Schwere Dehydratation
ren Dutzend (teils letalen) Fällen pro Jahr auf weni- 4 Sonstige Krankheiten mit ähnlichen
ge Fälle pro Jahr mit sehr seltenen Todesfällen Symptomen:
dramatisch gesenkt werden [7]. Diese Regularien 5 Akute Infektionserkrankungen mit Fieber
lassen sich sicherlich nur unter Ausbildungsbedin- 5 Krampfanfallsleiden
gungen, nicht aber im scharfen Einsatz, ohne Ab-
striche umsetzen. Sie geben aber einen guten Anhalt Wesentlich ist die Abgrenzung zur Hyponatriämie,
für notwendige Maßnahmen, um Ausfälle durch da in diesem Fall keine großzügige Volumengabe
Hitzeschäden bestmöglich zu reduzieren: erfolgen darf. Die Diagnose einer Hyponatriämie
Vor hoher und lang andauernder körperlicher lässt sich ohne Labordiagnostik nicht sicher stellen.
Belastung sollten nicht weniger als 6 h geschlafen Sie ist aber anhand der Eigen- oder Fremdanamne-
werden. Akut Erkrankte müssen vor Beginn der Be- se mit hinreichender Sicherheit möglich:
lastung identifiziert und ärztlich vorgestellt werden. > Eine sehr hohe Flüssigkeitszufuhr ohne aus-
Belastungs- und witterungsabhängige Mindest- reichende Nahrungsaufnahme begründet
trinkmengen müssen vorgegeben und durchgesetzt den Verdacht auf eine Hyponatriämie.
werden.
> Das Risiko, eine Hitzeerkrankung zu erleiden,
Therapie
36 war bei Übergewicht (Body-Mass-Index >26)
und schlechtem Trainingszustand in einer
Die Therapie des Hitzschlags ist im Wesentlichen
Studien an amerikanischen Soldaten um das
symptomatisch:
Neunfache erhöht [24].
4 Nach Möglichkeit die externe Hitzezufuhr
reduzieren: Pat. in Schatten bringen, nicht
Witterungsbedingungen müssen permanent durch unmittelbar auf heißem Boden lagern (z. B.
zugeteiltes Sanitätspersonal überwacht und die auf Feldtrage legen, heißen Sand beiseiteschie-
resultierenden Trainingseinschränkungen und Pau- ben).
sen rigoros durchgesetzt werden (. Tab. 36.1 und 4 Schnellstmögliche Kühlung ist beim Verdacht
. Tab. 36.2). Militärische Führer und Sanitätsperso- auf Vorliegen eines Hitzschlags entscheidend.
nal sollten regelmäßig über Hitzeschäden mit be- Die Verwendung von Eiswasser wird aufgrund
sonderem Augenmerk auf den belastungsbedingten der resultierenden Kreislaufzentralisation kon-
36.3 · Hitzeschäden im militärischen Bereich
499 36
trovers diskutiert [2], es ist im Feld aber meist lage eines Dauerkatheters sinnvoll sein, um die
ohnehin nicht verfügbar. Der israelische Sani- Flüssigkeitsbilanzierung zu erleichtern [2].
tätsdienst empfiehlt aufgrund hervorragender 4 Eine stationäre Einweisung (»ROLE 2«) ist
Erfahrungen als Mittel der Wahl das Übergie- zwingend erforderlich.
ßen des betroffenen Soldaten mit 80–100 l
Wasser. Sollten diese Mengen im Feld nicht zur Therapieprotokoll der IDF
Verfügung stehen, ist ein ständiges Feuchthal- 5 Rektale Temperaturmessung
ten der Körperoberfläche durch Besprenkeln 5 Kühlung durch Übergießen mit 80–100 l
mit Wasser sinnvoll. Stehen Kühl-Akkus zur Wasser (Eis ist nicht notwendig)
Verfügung, können sie unterstützend im Be- 5 Infusion von 1.000–2.000 ml kristalloider
reich der großen Gefäße (Leiste, Achseln, Hals) Lösung (cave: Herzinsuffizienz und Lungen-
aufgelegt werden. Die Maßnahmen sollten in- ödem möglich!)
tensiv fortgesetzt werden, bis sich neurolo- 5 Schnellstmögliche Evakuierung zur nächs-
gische Symptome bessern. Die KKT sollte kon- ten medizinischen Behandlungseinrichtung
tinuierlich überwacht werden. Sinkt sie auf 5 Überwachung während des Transports (Be-
39 °C, sollten die Kühlmaßnahmen deutlich wusstsein, KKT, Kreislauf )
eingeschränkt werden [3]. 5 Falls nötig, Kühlmaßnahmen fortsetzen
4 Liegt kein Verdacht auf eine ausgeprägte Dehy- 5 Krampfanfälle medikamentös behandeln
dratation als Ursache vor, sollte die Infusions- 5 Bei Bewusstlosigkeit Intubation erwägen
menge in der ersten Stunde auf 1–2 l kristalloi-
der Lösung beschränkt bleiben [3]. Eine größe-
re infundierte Menge erhöht das Risiko einer
Überwässerung mit Komplikationspotenzial
bis hin zum Lungenödem [2]. Infusionen 36.3.4 Weitere hitzebedingte
sollten niemals eiskalt infundiert werden, um Erkrankungen
Herzrhythmusstörungen zu vermeiden.
4 Hitzschlagpatienten mit hypotonen Blutdruck- Hitzekrämpfe
werten, die nicht durch kristalloiden Volumen- Hitzekrämpfe entstehen meist bei längerer körper-
ersatz verbessert werden können, sprechen im licher Aktivität in warmem, feuchtem Klima und
Regelfall auf vorsichtig titrierte Dopamingabe scheinen auf Natriummangel zurückzuführen sein.
gut an [2]. Ansonsten sollten keine positiv Sie halten häufig nicht lange an, sind aber sehr
chronotropen Substanzen (Adrenalin, Atropin) schmerzhaft. Durch ausreichende Wasser- und
oder Medikamente mit Blutdruck senkender Salzzufuhr können sie weitgehend vermieden wer-
Wirkung (z. B. Morphin) verabreicht werden den. Hitzekrämpfe sind ein Warnzeichen für zu
[2]. hohe Belastungsintensität oder nicht ausreichende
4 Aufgrund des hohen Aspirationsrisikos sollten Wasser-/Elektrolytzufuhr. Sie sollten daher immer
bewusstlose Patienten intubiert werden und dem Führer vor Ort gemeldet werden, um recht-
möglichst eine Magensonde erhalten [2]. zeitig Maßnahmen für die restlichen Soldaten er-
4 Krampfanfälle können mit üblichen Standards greifen zu können [2].
durchbrochen werden (z. B. 5–10 mg Diaze- Zur Therapie von Hitzekrämpfen werden salzige
pam oder Midazolam parenteral) [2]. Nahrungsmittel mit ausreichend Flüssigkeit, elekt-
4 Falls verfügbar, sollte eine EKG-Überwachung rolythaltige Getränke und ggf. Magnesiumtabletten
durchgeführt werden. Eine kontinuierliche konsumiert. Die Symptome verschwinden dann in
oder zumindest regelmäßige Temperaturkon- der Regel innerhalb von 1–2 h. Ist eine schnellere
trolle über zumindest 48 h ist wichtig, um bei Therapie erforderlich, beendet eine Infusionsthera-
erneutem Temperaturanstieg wieder Kühlmaß- pie mit kristalloiden Lösungen (NaCl 0,9 %, Ringer-
nahmen ergreifen zu können. Bei längerer Laktat) den Krampf meist unmittelbar. Im Anschluss
Transport- oder Versorgungszeit kann die An- sollte für 2–3 Tage körperliche Aktivität vermieden
500 Kapitel 36 · Warme Klimazonen

und die Salzbestände des Körpers durch ausrei- Tipp


chende Nahrung wieder aufgefüllt werden [2]. Eine
wichtige Differenzialdiagnose zu Hitzekrämpfen ist Ein präklinisch einsetzbares diagnostisches
eine Rhabdomyolyse. Hilfsmittel sind Urinteststreifen. Zeigen sie das
Vorhandensein von Hämoglobin im Urin, kann
Belastungsbedingte Rhabdomyolyse dies als (unsicherer!) Hinweis auf eine vorlie-
Eine belastungsbedingte Rhabdomyolyse (BR) stellt gende BR gewertet werden.
ein lebensbedrohliches Krankheitsbild dar. Im Ge-
gensatz zur deutlich bekannteren traumatisch be-
dingten Rhabdomyolyse (z. B. beim Crush-Syn- Eine spezifische Therapie der Rhabdomyolyse exis-
drom) wird die BR in der Militär- und Sportmedizin tiert nicht. Präklinisch ist die Aufrechterhaltung der
meist durch wiederholte massive Überlastung der Nierenfunktion durch ausreichend hohe Flüssig-
Muskulatur ausgelöst [6]. Dabei werden in großer keitszufuhr wichtig. Anzustreben ist eine Harnpro-
Anzahl Muskelzellen beschädigt, und es kommt zur duktion von mindestens 50 ml/h, besser 3 ml/h/
Freisetzung insbesondere von Kalium und Muskel- kg KG. Ist diese durch Volumengabe nicht erzielbar,
enzymen (wie Kreatinkinase und Myoglobin) ins kann eine forcierte Diurese mittels Schleifendiure-
Serum [6]. Im Regelfall tritt eine BR an den unteren tika (z. B. Furosemid) sinnvoll sein.
Extremitäten auf, je nach Art der Belastung aber Patienten mit Verdacht auf eine BR sollten
auch an den oberen Extremitäten oder anderen schnellstmöglich in eine Behandlungseinrichtung
Muskelgruppen. Die Symptome umfassen Unwohl- mit intensivmedizinischen Behandlungsmöglich-
sein, Übelkeit, starke Schmerzen der betroffenen keiten (ROLE 2 und höher) evakuiert werden.
Muskulatur und dunkel gefärbten Urin oder Anu-
rie. Fieber und Verwirrung bis hin zum Delirium
können ebenfalls auftreten. Als systemische Kom- Literatur
plikation tritt häufig akutes Nierenversagen, teilwei-
se auch Leberversagen und DIC auf. Eine auftreten- 1. Abdulla W (2007) Interdisziplinäre Intensivmedizin,
3. Aufl., Urban & Fischer, München
de Hyperkaliämie kann bis zum Tode führende
2. Defence Dept (US) (2010) Dive Medicine. In: US Depart-
Herzrhythmusstörungen verursachen. Im Bereich ment of Defence (ed) Special Operations Forces Medical
der betroffenen Muskulatur können Kompartment- Handbook [CD-ROM], 2 ed. Govt Printing Office
syndrome entstehen. 3. Fischer R (2010) Tropische Klimaprobleme und Höhen-
Als Risikofaktoren für eine BR sind insbesonde- medizin. In: Löscher T, Burchard GD (Hrsg). Tropenmedi-
re eine schlechte körperliche Leistungsfähigkeit, zin in Klinik und Praxis mit Reise- und Migrationsmedizin,
4. Aufl., S. 901–913
Trainingsüberlastung (insbesondere in extrem
4. Epstein Y, Sohar E, Shapiro Y (1995) Exertional heatstroke:
feucht-warmer Umgebung) und Dehydration zu a preventable condition. Isr J Med Sci. 31(7):454–462
nennen. Eine BR kann auch als Komplikation eines 5. Gaffin SL, Moran DS (2007) Pathophysiologiy of Heat-
Hitzschlags entstehen. Related Illnesses. In: Auerbach PS (ed) Wilderness Medi-
cine, 5th ed., pp 228–268
36 Da die zugrunde liegenden Ursachen und Sym-
6. Heled Y, Zarian A, Moran D, et al. (2005) Exercise induced
ptome einer BR denen anderer hitzebedingter
rhabdomyolysis--characteristics, mechanisms and treat-
Krankheiten ähneln, ist die sichere präklinische Di- ment. Harefuah 144(1):34–8, 70
agnosestellung meist schwierig. Im Zweifelsfall ist 7. Itskoviz D, Marom T, Ostfeld I (2008) Exertional heat
daher immer die Arbeitsdiagnose »Hitzschlag« stroke: A short clinical review on the Israeli experience..
oder »Dehydratation« sinnvoll. Die endgültige Dia- Med Corps Int 1/2008: 62–63
8. Leon LR, Gordon CJ, Helwig BG, et al. (2010) Thermoregu-
gnosestellung bleibt dann der stationären Untersu-
latory, behavioral, and metabolic responses to heatstroke
chung vorbehalten. in a conscious mouse model. Am J Physiol Regul Integr
Comp Physiol. 299(1):241–248
9. Marom T, Itskoviz D, Lavon H, et al. (2011) Acute care for
exercise - induced hyperthermia to avoid adverse out-
come for exertional heat stroke. J Sport Rehabil 20:219-227
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http://www.bordeninstitute.army.mil/other_pub/Hydra-
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11. Moran DS, Erlich T, Epstein Y (2007) The heat tolerance
test: an efficient screening tool for evaluating susceptibil-
ity to heat. J Sport Rehabil 16(3):215–221
12. Moran DS, Mendel L, Gaffin SL (2007) Dehydration, Rehy-
dration, and Hyperhydration. In: Auerbach PS (ed.) Wil-
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13. NAEMT (ed) (2011) PHTLS: Prehospital Trauma Life Sup-
port, Military Edition, 7th ed. Mosby, St. Louis
14. Ranger & Airborne School (2003) Students Heat Acclima-
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15. Rost R (2001) Lehrbuch der Sportmedizin. Deutscher
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16. Sonna LA (2001) Practical Medical Aspects of Military
Operations in the Heat. In: Medical Aspects of Harsh
Environments Volume 1. United States Government
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17. Sawka MN, Wenger CB, Montain SJ, et al.(2003) Heat
Stress Control and Heat Casualty Management. US De-
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drink temperature on antrophyloroduodenal motility
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19. United States Army (2007) Army Field Manual FM 3-90
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22. Weber MB, Blakely JA (1969) The hemorrhagic diathesis
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12/2011. http://www.wehrmed.de/article/2027-GESUND-
HEIT_UND_LEISTUNG_IM_KLIMA.html
503 37

Vergiftungen durch Tiere


R. Lechner, F. Spies

37.1 Einführung – 504

37.2 Giftarten – 505


37.2.1 Körpereigene Gifteffekte – 505
37.2.2 Zytotoxische Gifteffekte – 505
37.2.3 Hämatologische Gifteffekte – 506
37.2.4 Hämolytische Gifteffekte – 506
37.2.5 Neurotoxische Gifteffekte – 506
37.2.6 Muskuläre Gifteffekte – 506
37.2.7 Kardiale Gifteffekte – 506
37.2.8 Renale Gifteffekte – 506

37.3 Spezies und ihre Identifizierung – 507


37.3.1 Giftschlangen – 507
37.3.2 Skorpione (Scorpiones) – 509
37.3.3 Spinnen (Araneae) – 510

37.4 Therapie – 510


37.4.1 Erste Hilfe – 511
37.4.2 Erweiterte Therapie – 516
37.4.3 Spezifische Antivenintherapie – 518

37.5 Zusammenfassung – 519

Literatur – 519

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_37, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
504 Kapitel 37 · Vergiftungen durch Tiere

37.1 Einführung
5 Eigene Erkundung vor Ort (z. B. Information
In den Ländern mit einer hohen Anzahl an Gifttier- von ansässigen medizinischen Ver-
verletzungen gibt es wenige zuverlässige Statistiken, sorgungsstrukturen, Gespräche mit Ein-
die eine genaue Aufschlüsselung der Häufigkeit von heimischen)
Gifttierverletzungen erlauben [11]. Vorsichtige
Schätzungen gehen von mehr als 125.000 Toten
weltweit allein in Folge von Schlangenbissen aus Die beste Therapie einer Gifttierverletzung ist die
[10]. Exakte Zahlen zur Häufigkeit solcher Vorfälle Prävention derselben. Um sich vor Gifttierverlet-
im Bereich der taktischen Einsatzmedizin existieren zungen, v. a. Schlangenbissen, zu schützen, sollten
nicht, sie stellen hier insgesamt eine seltene Ver- folgende Verhaltensregeln befolgt werden:
letzungsursache dar. Dennoch gibt es Einzelfallbe- 4 Schlecht einsehbare Wege oder Wasserflächen,
richte, die ihre Bedeutung dramatisch unterstrei- die überwunden werden müssen, mit einem
chen [6, 8]. Insgesamt ist jedoch festzustellen, dass vorangehaltenen Stock abklopfen.
bei einer umfassenden symptomatischen Therapie 4 Schützende Bekleidung tragen (lange Hosen-
die Letalität bei Gifttierunfällen gering ist. So gibt beine und Ärmel, Handschuhe, Stiefel, Gama-
es in Australien pro Jahr nur etwa fünf Todesfälle schen), die das Eindringen eines Bisses oder
durch Schlangenbisse, dagegen ist in Myanmar der Stiches vermeiden oder zumindest die Eindring-
Schlangenbiss die fünfthäufigste Todesursache. tiefe vermindern können (auch im Wasser).
Dies beleuchtet eindrucksvoll, wie wichtig eine 4 Bei Sichtung eines Gifttieres eine aktive An-
adäquate Therapie und günstige Infrastruktur ist näherung unbedingt vermeiden. Viele Schlan-
[4]. genbisse resultieren aus der Motivation, das
Ein limitierender Faktor dieser Thematik ist die Tier einzufangen oder zu töten. Der Bissradius
immens hohe Anzahl von Gifttieren und dadurch einer Schlange entspricht in etwa der Hälfte
mögliche Vergiftungen, so dass in diesem Kapitel ihrer Körperlänge, und auch tote Schlangen
hauptsächlich grundsätzliche Handlungsanweisun- können noch mehrere Stunden einen Biss-
gen wiedergegeben werden. Es ist deshalb von aller- reflex zeigen [1, 3].
größter Bedeutung, dass bei der Planung des Einsat- 4 Kleidungsstücke, Schuhe, Handtücher etc.
zes Informationen zu spezifisch in der Region vor- sollten vor dem Gebrauch ausgeschüttelt
kommenden Gifttieren, ihren Vergiftungen, örtliche werden.
Behandlungsmöglichkeiten und Antiveninlagerstät- 4 Schuhe sollten mit einem über den Schaft
ten eingeholt werden (7 Übersicht). gestülpten Socken abgestellt werden.
4 Erhöhtes Schlafen unter einem Moskitonetz
kann nachts vor Gifttieren schützen.
Informationsquellen 4 Lagerhygiene: Skorpione und Spinnen er-
5 Internetdatenbanken nähren sich von Insekten die sich vermehrt in
– Venomous snakes distribution and der Nähe von Abfällen aufhalten.
species risk categories. Antivenoms 4 Ordnung halten: Skorpione suchen in dunklen
Database, WHO. (http://apps.who.int/ Nischen und Ritzen Schutz.
37 bloodproducts/snakeantivenoms/data- 4 Licht: Skorpione sind lichtscheu.
base/default.htm) 4 Barrieren (z.B. Umzäunung aus glattem Mate-
– Munich AntiVenom INdex (MAVIN) rial (wie Plastikwasserflaschen, über die Skor-
(http://www.toxinfo.org/) pione nicht klettern können).
5 Medical Intelligence
(Kdo SanDst Bw VI-2.2) Wichtig ist zu betonen, dass eine Verletzung durch
5 Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin, ein Gifttier nicht zwangsläufig eine (relevante) Ver-
Hamburg http://www.bni-hamburg.de giftung zur Folge haben muss. Bei Schlangen kommt
es bei Verteidigungsbissen nur in ca. 75 % der Fälle
37.2 · Giftarten
505 37
zu einer Giftübertragung auf das Opfer, bei den an- Die Giftwirkung kann lokal begrenzt sein oder auf
deren 25 % handelt es sich um sog. »trockene Bisse« den gesamten Organismus wirken und so rasch le-
[1]. Eine Behandlung muss deshalb symptomorien- bensbedrohliche Ausmaße annehmen. Außerdem
tiert erfolgen. Die Mehrheit der Gifttierverletzun- gilt es zu berücksichtigen, dass die Gifteffekte zu
gen erfolgt an den Extremitäten, in den meisten unterschiedlichen Zeitpunkten auftreten können
Fällen an der unteren Extremität [1, 10]. und in ihrem Ausprägungsgrad variieren. Diese
können im Bereich von Sekunden (körpereigene
GE), über Minuten (hämatologische GE) und Stun-
37.2 Giftarten den (neurotoxische GE) bis zu Tagen (lokal zytoto-
xische GE) liegen [5].
Bei den im Tierreich eingesetzten Giften handelt es Bei jeder Vergiftung ist eine anaphylaktische
sich um komplexe Proteinmischungen, die unter- Reaktion bis hin zur Maximalausprägung, dem ana-
schiedliche Auswirkungen auf den Organismus des phylaktischen Schock, möglich. Die verschiedenen
Patienten haben. Je nach Zielorgan wird von ver- spezifischen Gifteffekte und ihre Pathomechanis-
schiedenen Gifteffekten (GE) gesprochen. Abhän- men und Klinik werden nachfolgend beschrieben
gig vom Gifttier unterscheidet sich diese Proteinzu- [3–5, 7].
sammensetzung, die zusätzlich noch körpereigene
Stoffe wie Histamin und Serotonin enthalten kann.
Histamin ist für die Symptome Hautrötung, Juck- 37.2.1 Körpereigene Gifteffekte
reiz etc. bei einer allergischen Reaktion verantwort-
lich, Serotonin wirkt als Botenstoff und Neuro- Diese GE werden durch die körpereigene Reaktion
transmitter. des Verletzten auf das zugeführte, dem Körper un-
Die Zusammensetzung des »Giftcocktails« ist bekannte Gift verursacht. Es handelt sich hierbei
nicht nur bei den verschiedenen Gifttierarten un- um eine unspezifische Reaktionen des Körpers, wie
terschiedlich, sondern auch innerhalb einzelner sie ähnlich auch bei allergischen Reaktionen vor-
Gifttierfamilien, z. B. Giftschlangen. Maßgeblichen kommt. Im Vordergrund steht die vegetative Symp-
Einfluss auf den Giftcocktail haben die Region, das tomatik, die durch körpereigene Botenstoffe wie
Alter und der Ernährungszustand des Gifttieres. Histamin und Serotonin hervorgerufen wird. Die
Somit lässt sich nach einem Biss eine bestimmte Symptomatik variiert stark und reicht von Übelkeit,
Reaktion nicht vorhersagen. Erbrechen, über die allergische Reaktion (Rötung,
Beim betroffenen Patienten kann die psychisch- Juckreiz, Quaddelbildung) bis hin zum anaphylak-
vegetative Reaktion von »keine Reaktion« bis hin zu tischen Schock. Charakteristisch ist das rasche Auf-
»maximal gestresst-panische Reaktion« reichen [4]. treten der Symptome. Alle Gifttiere lösen diese
Die Symptome setzen sich aus mehreren Kompo- Symptomatik aus.
nenten zusammen und werden in Ihrer Gesamtheit
als Toxidrom bezeichnet:
4 Reaktion auf das Gift an der Kontaktstelle (z. B. 37.2.2 Zytotoxische Gifteffekte
durch Histaminausschüttung)
4 vegetative Reaktion (kein GE!) Die meisten Gifttiere provozieren eine zytotoxische
5 kardiovaskulär: Anstieg von Herzfrequenz Wirkung. Bedingt durch spezielle Proteine kommt
und Blutdruck, Synkope es zur Zellauflösung mit lokalen Schwellungen und
5 gastrointestinal: Übelkeit, Erbrechen Schmerzen (variabel). Abhängig vom »Giftcocktail«
5 sonstige: Schwitzen, Einnässen, Einkoten kann die Reaktion von einer kleinen Nekrose bis hin
4 psychische Reaktion: Hyperventilation mit zu einer massiven Gangrän reichen. Im schlimms-
Tetanie, Panik, Angst, Bewusstlosigkeit (kein ten Falle kann dies zu einer Funktionseinschrän-
GE!) kung der Gliedmaße oder notwendigen Amputa-
4 im Verlauf Ausprägung der spezifischen Gift- tion führen. Kommt es zur Entzündung der Lymph-
effekte gefäße, findet sich an der Extremität des Patienten
506 Kapitel 37 · Vergiftungen durch Tiere

charakteristischerweise ein »roter Strich«, welcher ren treten Lähmungserscheinungen in unterschied-


die Ausdehnung der Entzündung markiert. Bei di- licher Stärke auf. Der Patient wirkt bei dieser Vergif-
rekter Zufuhr dieser Gifte in die Blutbahn resultiert tung schläfrig, teilweise auch wie betrunken. Ver-
eine deutlich größere Ausbreitung, welche im wei- antwortlich für diesen Eindruck sind folgende
teren Verlauf auch tödlich enden kann. Gefährlich Symptome: müder Gesichtsausdruck durch Läh-
sind Giftflüssigkeiten von Speikobras, die zur Er- mung der Gesichtsmuskulatur, hängende Augen-
blindung führen können, wenn sie mit dem Auge in lider, verwaschene Sprache, weite Pupillen und er-
Berührung kommen. Speikobras sind in der Lage schwerte Atemarbeit. Der limitierende Faktor ist die
auf 3 m Entfernung nahezu immer zu treffen. zunehmende Lähmung aller Muskeln, die ihren
Höhepunkt in dem Ausfall des Zwerchfells findet.
Ohne adäquate Therapie wird der Patient ersticken.
37.2.3 Hämatologische Gifteffekte

Die Hauptgefahr der hämatologischen Gifte, und 37.2.6 Muskuläre Gifteffekte


darin unterscheiden sie sich von den zytotoxischen
GE, ist der systemische Befall des Organismus. Im Rahmen des Muskelzellunterganges durch direk-
Durch die direkte Wirkung auf die Blutgerinnung te GE an der Muskulatur sind die pathophysiologi-
und Schädigung der Blutgefäße kommt es zu Blu- schen Effekte durch die erhöhte Konzentration an
tungen. Diese können unspektakulär ausfallen durch Kalium und Myoglobin von Bedeutung. Der Patient
eine generelle Blutungsneigung an der Bissstelle, so- fällt durch Muskelschwäche, -schmerzen und -spas-
wie im Bereich von Nase und Zahnfleisch. Häufiger men auf. Sein Urin zeigt eine rotbraune Färbung und
ist jedoch das Auftreten innerer Blutungen, weshalb im Verlauf endet die Vergiftung im akuten Nieren-
die Symptome erst spät auftreten oder verkannt wer- versagen. Spinnengifte zeigen häufig einen musku-
den. Auffällig sind Kopfschmerzen, Blässe, Zyanose, lären GE. Speziell bei den Seeschlangen kann es zu
blutiger Urin und blutunterlaufene Augen. Der Tod Lähmungserscheinungen direkt an der glatten bzw.
tritt dann durch den massiven Blutverlust und Nie- unwillkürlichen Muskulatur kommen. Diese äußern
renversagen ein. Das Auftreten hämatologischer sich in Abgeschlagenheit, herabhängenden Augenli-
Symptome findet sich besonders bei Vipern. der und erschwerte Atemarbeit. Bezüglich der Sym-
ptomatik unterscheiden sie sich nicht wesentlich von
den neurotoxischen GE.
37.2.4 Hämolytische Gifteffekte

Die hämolytischen GE schädigen direkt die Eryth- 37.2.7 Kardiale Gifteffekte


rozyten. Der Patient zeigt uncharakteristische Be-
schwerden wie Schmerzen, Fieber und Schüttel- Skorpione, Vipern, See- und Klapperschlangen sind
frost. Das Auftreten von rotem Urin liefert eindeu- die Hauptvertreter der Gifttiere, die eine direkte
tige Hinweise auf den Zerfall von Blutkörperchen Schädigung von Herzmuskelzellen hervorrufen.
und die Ausscheidung des roten Blutfarbstoffs Herzrhythmusstörungen sind die Folge, die sich
Hämoglobin. durch tachy- bzw. bradykarde sowie hypo- bzw. hy-
37 pertone Phasen auszeichnen. Als Maximalformen
können ein Lungenödem und eine Herzinsuffizienz
37.2.5 Neurotoxische Gifteffekte bis hin zum kardiogenen Schock auftreten.

Bisse durch Schlangen mit neurotoxischen Giften


(z. B. Kobras, Seeschlangen) bedürfen einer raschen 37.2.8 Renale Gifteffekte
Behandlung, da sie schnell wirken und auf diese
Weise eine akute Lebensbedrohung darstellen. Be- Entweder durch direkte Schädigung der Nierenglo-
dingt durch eine Blockade der Acetylcholinrezepto- meruli oder sekundär bedingt (Myoglobin, Kalium,
37.3 · Spezies und ihre Identifizierung
507 37

. Abb. 37.1 Einteilung der Giftschlangen nach ihrer familiären Zugehörigkeit und ihrer geographischen Verteilung

Hypotonie) kommt es zur Reduktion der Nieren-


funktion bis hin zum akuten Nierenversagen. Beim
Patienten wird dies durch eine eingetrübte Bewusst-
seinslage und Reduzierung der Urinausfuhr offen-
sichtlich.

37.3 Spezies und ihre Identifizierung

Gifttiere lassen sich hinsichtlich ihrer Wirkung auf . Abb. 37.2 Hornviper, mit dem für Vipern typischen
dreieckigen Kopf. (Mit freundlicher Genehmigung des Zoo
die Mensch- und Tierwelt in aktiv und passiv giftige
Frankfurt, Foto: M. Thieme)
Tiere einteilen. Bei passiv giftigen Tieren erfolgt die
Vergiftung durch Kontakt mit dem Gifttier selbst
oder dessen Sekret. Aktiv giftige Tiere übertragen Toxidrom geschlossen werden. Als Nachschlage-
ihr Gift durch Stich oder Biss [7]. werke für weitere Informationen zur Morphologie,
geographischen Verteilung etc. wird auf weiterfüh-
rende Literatur verwiesen [3, 9].
37.3.1 Giftschlangen > 4 Ovaler Kopf, schlitzförmige Pupillen o
Giftnatter o neurotoxisches Toxidrom
Weltweit existieren ca. 500 Arten von Giftschlan- 5 Dreieckiger Kopf, runde Pupillen oViper
gen, wovon 200 eine Giftwirkung mit medizinischer o hämatologisches Toxidrom
Relevanz besitzen. Schlangengifte sind Aggressiv-
gifte: sie werden von Verdauungsdrüsen gebildet
und vorwiegend zum Beutefang eingesetzt. Aller- Vipern
dings sind die Giftvorräte begrenzt, weshalb Gift- Vipern werden in ihrer Familie u. a. in echte Vipern
schlangen zur Verteidigung akustische (Zischen, (. Abb. 37.2; europäische Vipern wie die Kreuzotter,
Rasseln) und optische Warnsignale (Aufrichten, Sandviper und die Puffottern in Afrika) und Gru-
Färbung) einsetzen. Die Dosis des Giftes kann vari- benottern (= Crotalidae: Klapperschlangen in
ieren. Die vier Giftschlangenfamilien sind in . Abb. Nordamerika und Lanzenottern in Südamerika)
37.1 aufgeführt [4]. Madagaskar, Ozeanien, Kana- unterschieden. Wie bei allen Gifttieren ist es bei den
ren und einige Inseln der Kapverden sind frei von Vipern besonders auffällig, dass die kleinen Schlan-
Giftschlangen. gen dieser Art besonders giftig sind. Dies kann be-
Aufgrund der medizinischen Relevanz soll im sonders fatal sein, da sie schwer zu registrieren sind.
weiteren Verlauf ausschließlich auf die toxische Ihr Gift ist generell selten tödlich. Der Pathome-
Wirkung durch Bisse von Vipern und Giftnattern chanismus ist in . Abb. 37.3 aufgeführt [4].
eingegangen werden. Anhand der Kopfcharakteris- Besonderen Wert soll hierbei auf das hämatolo-
tika der Giftschlange kann auf das zu erwartende gische Toxidrom gelegt werden. Das wichtigste
508 Kapitel 37 · Vergiftungen durch Tiere

. Abb. 37.3 Das »Vipernbisssyndrom« und sein Pathomechanismus

. Abb. 37.4 Das hämatologische Toxidrom und sein Pathomechanismus

und offensichtlichste Symptom ist die permanente


Blutung, besonders aus kleinen Wunden, wie der
Bisswunde. Klinisch fallen schwerste Hämatome im
Unterhautfettgewebe auf. Das Gift verursacht eine
unkontrollierte Aktivierung der Gerinnung mit
Verbrauch von Gerinnungsfaktoren und Thrombo-
zyten, was in einer Ungerinnbarkeit des Blutes re-
sultiert (Verbrauchskoagulopathie, DIC = dissemi-
37 nierte intravasale Koagulation). Dies führt in der
Endstrecke des hämatologischen Toxidroms je nach
Schwere unweigerlich zum Schock. . Abb. 37.4
zeigt dieses Toxidrom und seine Komponenten in
schematischer Weise [5].

Giftnattern . Abb. 37.5 Jungtier einer Kobra mit dem für Nattern
typischen ovalen Kopf und dem für Kobras typischen spreiz-
Zu den Giftnattern werden Kobras (. Abb. 37.5) baren Nackenschild. (Mit freundlicher Genehmigung des
und Seeschlangen gezählt. Zoo Frankfurt, Foto: S. Binger)
37.3 · Spezies und ihre Identifizierung
509 37

. Abb. 37.6 Das »Giftnatternbisssyndrom« und sein Pathomechanismus

Ihre Giftwirkung unterscheidet sich wesentlich


von denen der Vipern. Im Vordergrund steht hier-
bei das Neurotoxidrom, welches der Vergiftung
durch das von den Indios Südamerikas eingesetzte
Pfeilgift Curare ähnelt (. Abb. 37.6). Im klinischen
Alltag wird diese Wirkung im Rahmen von Allge-
meinanästhesien beobachtet. Nichtdepolarisieren-
de Muskelrelaxanzien sind vom Curare abgeleitet.
Die Lähmungsdauer ist durch die lange Verweil-
dauer der Neurotoxine im Gewebe erklärbar. Gift-
nattern besitzen noch zusätzlich Kardiotoxine, die
allerdings in ihrer medizinischen Bedeutung nach-
rangig sind [5].

. Abb. 37.7 Skorpion aus der Familie der Buthidae. (Mit


37.3.2 Skorpione (Scorpiones) freundlicher Genehmigung des Zoo Köln, Foto: Dr. T. Ziegler)

Skorpione sind nachtaktive Tiere, die in allen tropi-


schen, subtropischen und Mittelmeerländern vor- unterschieden, die sich in Körpergröße, Größe der
kommen. Je südlicher das Land liegt, desto größer Scheren und Giftigkeit unterschieden. Alle Skorpi-
die epidemiologische Rolle. Sie zeichnen sich durch one besitzen einen Giftstachel, allerdings gelten nur
eine geringe Größe und gute Adaptation an ihre 50 Arten als hochgiftig. Generell gilt, dass hochgif-
Umwelt aus, weshalb die meisten Verletzungen tige Skorpione einen im Vergleich zu ihren Scheren
durch Skorpione auf Unaufmerksamkeit des Patien- sehr dicken Schwanz aufweisen. Die Skorpione der
ten zurückzuführen sind. Meist verstecken sie sich Buthidae-Familie sind bis auf wenige Ausnahmen
am Tag zwischen Sand, Steinen und Blättern, um in die giftigsten Vertreter ihrer Art (. Abb. 37.7).
der Nacht in Stiefeln oder offenem Schuhwerk ihr Die Giftwirkung eines Skorpionstiches zeigt ge-
Revier zu suchen. Es werden ungefähr 1.500 Arten nerell einen körpereigenen Gifteffekt, bei den hoch-
510 Kapitel 37 · Vergiftungen durch Tiere

. Abb. 37.8 Das »Spinnenbiss-/Skorpionstichsyndrom« und sein Pathomechanismus. Das Zusammenspiel der Gifteffekte ist
abhängig von der jeweiligen Spezies und Subspezies

giftigen Arten kommen weitere Gifteffekte (kardio- γ-Aminobuttersäure (GABA, ein hemmender Neu-
gene und neurotoxische) hinzu. Skorpiongifte rotransmitter) und Noradrenalin.
bestehen aus Proteinen, die Natriumkanäle offen- Als Symptome treten ein massiver Schmerz, ge-
halten oder Kaliumkanäle verschließen. Die Haupt- folgt von Muskelstarre und vielfältigen vegetativen
wirkung besteht in einer überschießenden Wirkung Symptomen, auf. Jedoch ist dieses Syndrom nur in
an Nerven- und Muskelzellen und somit einer per- wenigen Fällen tödlich. Die Symptome eines Spin-
manenten Auslösung von Aktionspotenzialen. Dies nenbisses sind in . Abb. 37.8 dargestellt. Diese unter-
bewirkt in der Endstrecke die Lähmung sämtlicher scheiden sich nicht wesentlich von den Symptomen
Muskeln mit Atemstillstand. Das Vorkommen von eines Skorpionstiches, weshalb beide in einer Abbil-
Skorptionen ist vorwiegend auf den amerikanischen dung dargestellt sind. Relevante Giftspinnen sind die
und nordafrikanischen Kontinent sowie den Nahen Schwarze Witwe (sie besitzt zusätzlich noch kardio-
Osten, Südafrika und Indien beschränkt [5, 7]. toxische Effekte), Einsiedlerspinne (ausschließlich
zytotoxische Effekte), Bananenspinne, Kamelspinne
und die in Australien vorkommende Trichterspinne.
37.3.3 Spinnen (Araneae) Entgegen der weitläufigen Meinung sind große
furchterregende Spinnen wie Vogelspinnen, Taran-
Prinzipiell sind alle Spinnen giftig. In ihren Drüsen teln oder Kamel- oder Walzenspinnen (Solifugae)
produzieren sie Gift, welche mit den Kieferklauen in bezüglich ihrer Giftigkeit eher harmlos. Trotzdem
Verbindung stehen. Allerdings sind diese häufig zu können Kamelspinnen u. a. durch ihre Bisse gefähr-
kurz bzw. zu weich, um die menschliche Haut zu lich werden. Aufgrund ihrer großen, zangenartigen
durchdringen. Spinnen nutzen ihr Gift zum Beute- Kieferklauen rufen sie klaffende Wunden hervor, die
fang. Dabei soll das Beutetier durch den Biss unbe- im weiteren Verlauf zur Sekundärinfektion neigen.
weglich gemacht werden, damit die Spinne es im Diese Spinnenart findet sich in den Wüsten von
37 weiteren Verlauf in Ruhe aufbereiten kann. Charak- Nordafrika bis nach Zentralasien [5].
teristisch ist der durch den Stich auftretende massi-
ve Schmerz. Europa gilt mittlerweile als giftspin-
nenfrei. Geographisch relevant sind Afrika, Asien 37.4 Therapie
und Amerika, wo sich die Latrodectusarten aufhal-
ten. Diese enthalten α-Latrotoxin, welches spezi- Voranzustellen ist, dass alle nachfolgend beschrie-
fisch gegen Nervenendigungen gerichtet ist. Hierbei benen therapeutischen Schritte unter dem Zwang
bindet es an einen präsynaptischen Rezeptor und des taktischen Auftrags ggf. angepasst werden müs-
provoziert so die Freisetzung von Acetylcholin, sen. Prinzipiell ist ein schneller Transport zu medi-
37.4 · Therapie
511 37

. Tab. 37.1 Ateminsuffizienz bei Vergiftungen durch Gifttiere

Ursache Muskellähmung durch Neurotoxine

Symptome Atemnot, Zyanose, flache, ggf. verlangsamte Atmung, inverse Atmung, Atemstillstand

Hinweis durch schlaffe Lähmung anderer Muskelgruppen (z. B. tief hängende Augenlider – Ptosis),
Augenmuskellähmungen, unscharfes Sehen (Akkomodationsstörungen), Bauchatmung (Ausfall der
Brustkorbatemmuskulatur), Speichelfluss und Schlucklähmung (Bulbärparalyse)

Therapie Freihalten der Atemwege (Kopf überstrecken, stabile Seitenlage, Guedel- oder Wendeltubus, alternati-
ve Atemwegssicherung (Larynxtubus, Larynxmaske)

Definitve Atemwegssicherung (endotracheale Intubation); auf eine Tracheotomie/Koniotomie sollte


wegen eines erhöhten Blutungsrisikos durch die systemische Giftwirkung verzichtet werden [9]

Assistierte, ggf. kontrollierte Beatmung. Richtwerte sind hierbei ein Atemzugvolumen 6–10 ml/kg KG,
eine Atemfrequenz von 10/min, ein PEEP von 5 mbar, ein Beatmungsspitzendruck <30 mbar und eine
FiO2 von 100 %. Bei begrenzten Sauerstoffvorräten ist es sinnvoller, die FiO2 zu reduzieren und dafür
eine durchgängige Beatmung mit einer niedrigeren FiO2 zu erreichen

Das Beatmungsmonitoring muss nach klinischen Parametern erfolgen: Inspektion (Thoraxexkursion,


Hautfarbe), Auskultation, wenn vorhanden SpO2 94–98 % und Kapnometrie 36–40 mmHg CO2

Prognose Generell lebensbedrohliche Symptomatik, daher Antivenintherapie indiziert (s. u.)

Fallberichte von Patienten mit folgenloser Ausheilung einer Atemlähmung nach Beatmungszeiten von
mehr als einem Monat existieren [11]

Konsequenz: Patient bis zur Verfügbarkeit von maschinellen Beatmungsmöglichkeiten auch über
mehrere Stunden manuell beatmen!

zinischen Versorgungseinrichtungen ROLE 1 und hängig von der Tierart die nachfolgenden Maßnah-
höher, eine Verzögerung der Giftausbreitung und men durchzuführen. Ein möglicher Abtransport
die Linderung von Frühsymptomen anzustreben. sollte hierdurch aber nicht verzögert werden. Gene-
rell ist eine engmaschige Reevaluation des Gesund-
heitszustands wichtig, um auf Veränderungen
37.4.1 Erste Hilfe schnell und adäquat reagieren zu können. Empfeh-
lungen zur erweiterten ersten Hilfe bei Gifttierver-
Prinzipiell ist jeder Patient, bei dem Lebensgefahr letzungen sind detailliert in speziellen Fachbüchern
besteht oder ein Extremitäten- oder Sehverlust droht, nachzulesen [1, 2, 7, 9, 11].
mit höchster Priorität zu evakuieren (MEDEVAC
Request »urgent« mit Dringlichkeit A bei Bedrohung Stopp der Giftzufuhr
von »life, limb, eyesight«). Sollte ein Patient in akuter Entfernung von Gifttierrückständen wie Nessel-
Lebensgefahr schweben, so ist er prinzipiell nach schleim, Tentakeln und Stacheln oder des Gifttieres
dem »<C>ABCDE-Schema« zu versorgen (7 Kap. 7 selbst vom Patienten. So pumpen Bienen beispiels-
und ATLS/AMLS-Algorithmen (»Advanced Trauma weise mit ihrem Stichapparat weiter Gift in das
Life Support«/»Advanced Medical Life Support«). Bei Opfer, auch wenn der Stichapparat vom restlichen
Gifttierverletzungen wird diese in den ersten Stun- Körper getrennt ist. Dies kann bei Allergikern eine
den nach Unfall v. a. durch eine Ateminsuffizienz relevante Giftmenge ausmachen [7]. Da Seeigel-
(»Breathing« . Tab. 37.1) und Schocksymptomatik stacheln aus Kalk bestehen, können sie mit Essig
(»Circulation« . Tab. 37.2) hervorgerufen. aufgelöst werden. Quallen-/Nesseltierwunden in
Schwebt der Patient nach einer Gifttierverlet- Australien sollten ebenfalls mit Essig ausgewaschen
zung nicht in akuter Lebensgefahr, so sind unab- werden (oft Vorratslager am Strand vorhanden), bei
512 Kapitel 37 · Vergiftungen durch Tiere

. Tab. 37.2 Schock bei Vergiftungen durch Gifttiere

Ursache Hypovolämie (Flüssigkeitsverlust in das Gewebe um die Verletzung)

Toxininduzierte Vasodilatation

Kardiotoxische Effekte mit möglichen Arrhythmien

Anaphylaktische Reaktion (7 Abschn. 37.2)

Symptome Hypotension und Tachykardie

Weitere klassische Schocksymptome wie Blässe, kalte Extremitäten und Kaltschweißigkeit können
durch die toxinvermittelte Vasodilatation u. U. nicht vorhanden oder sogar ins Gegenteil verkehrt sein

Therapie Flachlagerung oder Schocklagerung (Beine 30° hochlagern, bei Gifttierverletzung das betroffene Bein
flach gelagert lassen)

Mehrere großlumige Zugänge (mindestens 18G – grün); Vermeidung von zentralen Zugängen auf-
grund eines deutlich erhöhten Blutungsrisikos durch die systemische Giftwirkung [9]

Volumenersatz, vorzugsweise mit kristalloiden Infusionslösungen (z. B. 1000 ml balancierte


Vollelektrolytlösung)

Bei Wirkungslosigkeit Vasokonstriktoren (1 mg Adrenalin oder Noradrenalin in 100 ml NaCl


verdünnen, 1-ml-weise (10 μg) titrieren)

Behandlung der Anaphylaxie (H1-Blocker, z. B. 8 mg Dimetinden), H2-Blocker (z. B. 50 mg Ranitidin),


Steroid (z. B. bis zu 1 g Prednisolon; 0,5 mg Adrenalin i.m. wenn keine i.v. Gabe möglich)

Prognose Generell lebensbedrohliche Symptomatik, daher Antivenintherapie indiziert (s. u.)

Quallenarten anderer Regionen ist dies jedoch nicht Asservierung des Gifttieres
effektiv [7]. Hierbei sollte auf direkten Kontakt ver- Hierbei bietet die Photographie eine gefahrlose
zichtet und bedacht werden, dass auch tote Tiere Möglichkeit, das Tier zu identifizieren. Wenn das
einen Beiß-/Stichreflex haben können. Einige Auto- Tier selbst asserviert wird, ist ein direkter Kontakt
ren empfehlen, die Gifteintrittsstelle nicht zu mani- zu meiden. Da die Antivenintherapie letztlich selten
pulieren, um eine spätere Giftdetektion zu ermögli- indiziert ist und bei Durchführung ohnehin oft po-
chen [9]. Aufgrund von möglichen langen Evakuie- lyvalente Seren gegeben werden (s. u.), sollten die
rungszeiten im taktischen Rahmen und der gerin- Helfer nicht in unnötige Gefahr gebracht und die
gen Wahrscheinlichkeit Gift-Detektions-Sets zur Evakuierung nicht verzögert werden.
Verfügung zu haben, empfehlen die Autoren dieses
Buches Rückstände ohne große Manipulation zu Wundbehandlung
entfernen. Der Lokalbefund hängt in seiner Art und Ausprä-
gung stark von der Art des Giftes ab, ein Ödem tritt
Verzögerung der Giftausbreitung jedoch fast immer auf [10]. Eine kurze lokale Desin-
37 Beruhigendes Einwirken kann den Kreislauf des Pa- fektion und das Anbringen eines sterilen Verbandes
tienten herunterfahren. So kann der körpereigene, sind ausreichend. Weitere Manipulationen an der
vorwiegend über die Lymphbahnen erfolgende Gift- Wunde sollten vermieden werden. Sie kosten Zeit
transport, verlangsamt werden. Flache Lagerung und und können zu schweren Wundheilungsstörungen
Vermeidung von aktiven Bewegungen unterstützen führen, haben jedoch keinen nachgewiesenen posi-
dies ebenfalls durch eine Inaktivierung der Muskel- tiven Einfluss auf die Giftausbreitung (. Tab. 37.3).
pumpe. Eine Sedierung kann ergänzend durchge- Sind lokal deutliche Quaddelbildung (z. B.
führt werden, solange der Patient nicht ohnehin be- durch Nesseltiere) oder Juckreiz vorhanden, sollte
wusstseinsgetrübt ist (z. B. Diazepam 5 mg oral). zur Vermeidung einer lokalen Manipulation eher
37.4 · Therapie
513 37

. Tab. 37.3 Zu unterlassende Maßnahmen bei Gifttierverletzungen. (Zusammengefasst nach [1, 2, 7, 9, 10, 11])

Maßnahme Hintergrund

Aussaugen der Wunde mit dem Mund Eigenkontamination

Aussaugen der Wunde mit spezieller Durch den schnellen Abtransport des Giftes über die Lymphe ist eine
Vakuumpumpe Wirkung, wenn überhaupt, nur in den ersten Minuten nach Giftapplika-
tion nützlich. Durch das Absaugen entstehen jedoch mit Sicherheit
schlecht heilende Gewebedefekte

Frühes lokales Wundmanagement (aus- Zeitaufwändig, wenig bis kein therapeutischer Erfolg bei deutlich er-
giebige Desinfektion, exzessives Kühlen, höhtem Risiko von schweren Wundheilungsstörungen
Ausbrennen, Elektrokauterisieren, Ein-
und Ausschneiden, Amputieren)

Abbinden einer Extremität Keine ausreichende Verhinderung des systemischen Gifteffektes bei
hohem Risiko des Verlustes der Extremität durch Kombination der Gift-
wirkung und der Blutabsperrung.
Richtige Maßnahme: (Kompressions-)Immobilisations-Methode

Lokale Wundmedikation, z. B. Kaliumper- Keine Wirkung


manganat

systemisch therapiert werden. Je nach Ausprägung ten (neuro- und kardiotoxische Gifte, Symptome,
der Symptomatik kann die Behandlung wie bei 7 Abschn. 37.2). Da die Verteilung des Giftes haupt-
einer anaphylaktischen Reaktion mit Antihistami- sächlich durch Transport über die Lymphbahnen
nika und Steroiden erfolgen (. Tab. 37.2). erfolgt, ist die Kompression prinzipiell eine Mög-
Bei Giftfisch- und Skorpionstichen führt eine lichkeit, die Ausbreitung zu verlangsamen. Dies ist
lokale Behandlung mit heißem Wasser (~40 °C) zu bei systemisch wirksamen Giften erwünscht, führt
einer deutlichen Schmerzreduktion. Ebenso kann bei lokal wirksamen Giften jedoch durch die Fixie-
eine Lokalanästhesie, unter sterilen Voraussetzun- rung des Giftes zu einer massiven Weichteilzerstö-
gen und bei Erfahrung auch eine Regionalanästhe- rung [1]. Bei der Vielzahl der Gifttiere wird es dem
sie, durchgeführt werden [7]. Laien in den seltensten Fällen möglich sein, anhand
der exakten Identifikation des Tieres frühzeitig das
Entfernung von eng anliegenden Gift und damit die Symptome vorherzusagen. Ein
Gegenständen Abwarten erster neuro- oder kardiotoxischer Symp-
Bei starker Schwellung können Ringe, Ketten, Arm- tome ist jedoch ebenso unzweckmäßig, da eine
bänder, etc. im weiteren Verlauf u. U. nicht mehr möglichst frühzeitige und zielgerichtete Therapie
entfernt werden, was eine dauerhafte Unterbre- Spätschäden minimieren kann. Grundsätzlich gilt,
chung der Durchblutung und damit das Absterben dass, je schmerzhafter die Bisswunde und ihre
der Extremität zur Folge haben kann. direkte Umgebung, desto wahrscheinlich ist eine
lokale zytotoxische Giftwirkung, bei der nur immo-
(Kompressions-)Immobilisations- bilisiert werden sollte. Ein Vorschlag zur Verein-
Methode fachung dieser Problematik ist die Therapieent-
Um die Auswirkung des Giftes zu minimieren, ha- scheidung anhand von Gruppenzugehörigkeit (Vi-
ben sich zwei Methoden etabliert: Die Immobilisa- pern oder Nattern, siehe 37.3.1) bzw. Region zu
tionsmethode bei hauptsächlich lokal wirksamen fällen.
Giften (zytotoxische Gifte, Symptome; 7 Abschn.
37.2) und die Kompressions-Immobilisations-Me-
thode bei hauptsächlich systemisch wirksamen Gif-
514 Kapitel 37 · Vergiftungen durch Tiere

. Abb. 37.9a–c Kompressions-Immobilisations-Methode. a Kompressionswicklung der gesamten betroffenen Extremität.


b Anpassung einer Schiene an der verletzten Region, jedoch Schiene nicht direkt auf die Wunde aufbringen. c Fixierung der
Schiene. Wird nur die Immobilisationsmethode angewendet, so ist die Kompressionswicklung wegzulassen (a)

Immobilisationsmethode Durch die Immobilisation


Kompressions- und Immobilisations- der betroffenen Extremität durch (behelfsmäßige)
methode Schienung soll eine Verschleppung des Giftes verzö-
5 Anwendung der Kompressions- gert werden. Hier ist das gleiche Grundprinzip, wie
Immobilisations-Methode bei: im Abschnitt »Verzögerung der Giftverbreitung« be-
– Kobras (spreizbares Nackenschild) schrieben, wirksam. Es ist darauf zu achten, dass kein
(. Abb. 37.5) großer Druck durch die Schienung entsteht, da dieser
– Kraits (markante hell-dunkle Streifung) die lokale Gewebezerstörung verstärken kann. Die
– Seeschlangen Immobilisation der betroffenen Extremität ist bei
– Mambas (in Afrika auf Bäumen lebend, allen Gifttierverletzungen durchzuführen.
grüne oder helle Schuppung)
– Australischen Schlangen Kompressions-Immobilisations-Methode Mit einer
– Gifttierverletzungen mit geringen elastischen Binde (10 cm oder breiter) wird eine
Schmerzen Kompressionswicklung von distal nach proximal
5 Anwendung der Immobilisationsmethode angelegt (. Abb. 37.9). Die Finger/Zehen sollten
bei: durch den Druck nicht anschwellen oder sich livide
– Schmerzhaften Gifttierverletzungen verfärben. Eine Abbindung oder venöse Stauung
– Allen anderen Gifttierverletzungen, durch den Verband ist zu vermeiden. Im Anschluss
außer den oben aufgeführten erfolgt die Schienung wie oben beschrieben. Eine
spätere Entfernung sollte langsam erfolgen, da es
Sollte dieses Unterscheidungsprinzip nicht ansonsten zu einem raschen systemischen Konzen-
37 umzusetzen sein, ist generell die Immobilisa- trationsanstieg des Giftes kommen kann.
tionsmethode anzuwenden.
Flüssigkeitsausgleich
Eine Flüssigkeitszufuhr ist sinnvoll, um den relati-
Diese stark vereinfachte Differenzierungsmethode ven Flüssigkeitsverlust durch das Gewebsödem im
garantiert nicht in jedem Einzelfall die optimale Bereich der Verletzungsstelle auszugleichen und die
Versorgung, dürfte jedoch gerade beim unerfahre- Nierendurchblutung aufrecht zu erhalten. Sie dient
nen Helfer oder unklarer Identifizierung des Gift- der Prophylaxe von Schock und Nierenversagen.
tieres die beste Therapie ermöglich. Bei wachen Patienten mit erhaltenem Schluckreflex
37.4 · Therapie
515 37
kann klare Flüssigkeit (kein Alkohol) verabreicht Tachykarde Herzrhythmusstörungen Sauerstoff-
werden. Darüber hinaus sollte der Patient nüchtern gabe (SpO2 94–98 %), Zugang (i.v. oder i.o.),
bleiben. Zusätzlich sollte eine Infusionsgabe an ei- Vagusreiz/Karotismassage, Amiodaron 150 mg i.v./
ner unverletzten Extremität (i.v. oder i.o) oder dem i.o. als Kurzinfusion bei Breitkomplextachykardien,
Sternum (i.o.) erfolgen. Kolloide sollten, unabhän- Betablocker (z. B. Metoprolol, 5–15 mg) bei Schmal-
gig von der aktuellen Diskussion über das Neben- komplextachykardien, ggf. Kardioversion, ggf.
wirkungsprofil dieser Substanzen, vermieden wer- CPR.
den, da Toxine die Durchlässigkeit der Gefäßwand
erhöhen können. Die Kolloidmoleküle können da- Schmerztherapie
durch in den Extravasalraum übertreten, Flüssigkeit Diese entspricht der ausführlich in 7 Kap. 9 darge-
nachströmen lassen und so Ödeme verstärken. Soll- stellt Analgesie bei Verwundeten. Der Patient sollte
te der Patient Zeichen eines Schocks aufzeigen, so durch die Medikation keine Bewusstseinstrübung
ist gemäß . Tab. 37.2 zu verfahren erfahren. Zu beachten ist das erhöhte Risiko einer
Ateminsuffizienz bei der Gabe von Opiaten bei Vor-
Überwachung der Vitalparameter, liegen einer Vergiftung mit neurotoxischen Giften.
ggf. Arrhythmiebehandlung Medikamente, die die Blutgerinnung negativ beein-
Eine regelmäßige Puls- und Blutdruckkontrolle er- flussen, z. B. Acetylsalicylsäure (z. B. Aspirin), soll-
leichtert das Einschätzen der Stabilität des Patien- ten gemieden werden, da sie eine eventuell vorhan-
ten. Sollte kein Blutdruckmessgerät verfügbar sein, dene toxinbedingte Gerinnungsstörung verstärken
sind periphere Pulse ein guter Anhalt (7 Kap. 9.3). würden.
Anzustreben sind normotensive Blutdruckwerte.
Nützlich sind auch kleine und leichte Fingerpuls- Weiteres Monitoring
oxymeter zum kontinuierlichen Monitoring. Zur Einschätzung der Prognose und des Schwere-
Durch die Kardiotoxizität einzelner Gifte (direk- grades der Vergiftung sollte ein regelmäßiges Mes-
te Wirkung auf Ionenkanäle am Herzmuskel) oder sen des Extremitätenumfangs und der peripheren
Elektrolytentgleisungen (Hyperkaliämie durch Frei- Pulse erfolgen. Dies ermöglicht eine Einschätzung,
setzung großer Mengen Kaliums aus untergegange- ob die maximale Giftwirkung überschritten ist, oder
nem Gewebe) kann es zu Herzrhythmusstörungen der Zustand des Patienten sich weiterhin ver-
kommen, die wegen der eingeschränkten Diagnose- schlechtert. Der Umfang sollte an fest definierten
möglichkeiten präklinisch nur symptomatisch, z. B. und markierten Punkten gemessen werden, z. B.
nach AMLS- und ILCOR (International Liaison 10 cm distal der Patellaspitze und auf Knöchelhöhe.
Committee on Resuscitation)-Leitlinien, behandelt Falls kein Maßband verfügbar ist, kann man den
werden können. Wegen der Schwere der Auswir- Umfang auch mit einem Schnürsenkel oder
kungen und der Komplexizität der Behandlung ist Ähnlichem messen und die Länge mit einem Tape-
ein rascher Transport zu intensivmedizinischen Be- Streifen markieren, auf dem der Zeitpunkt der
handlungsmöglichkeiten absolut überlebensnot- Messung vermerkt ist. Sollten 6 h nach der Gifttier-
wendig. Eine stark vereinfachte Behandlungsanwei- verletzung keine Symptome aufgetreten sein, so ist
sung bei Herzrhythmusstörungen mit hämodyna- von einem Kontakt ohne (ausreichende) Giftüber-
mischer Relevanz soll hier dennoch für den Ernstfall tragung auszugehen [2].
widergegeben werden:
Speikobras
Bradykarde Herzrhythmusstörungen Sauerstoffga- Bei einem Giftkontakt mit Speikobras (Spei-Entfer-
be (SpO2 94–98 %), Zugang (i.v. oder i.o.), Atropin nung bis zu 3 m) ist das sofortige ausgiebige Ausspü-
0,5–1 mg, ggf. wiederholen (Höchstdosis 3 mg), ggf. len der Augen für 15–20 min erforderlich. Da die
Katecholamine (1 mg Adrenalin oder Noradrenalin Giftwirkung im schlimmsten Falle zur Erblindung
in 100 ml NaCl verdünnen, 1-ml-weise (10 μg) tit- führen kann, ist eine sterile Flüssigkeit keine Vor-
rieren;), ggf. externe elektrische Stimulation, ggf. aussetzung, die Flüssigkeit sollte aber möglichst
CPR (»cardio pulmonary resuscitation«). sauber sein.
516 Kapitel 37 · Vergiftungen durch Tiere

37.4.2 Erweiterte Therapie Gerinnungssystem


Gerinnungsstörungen und damit eine erhöhte Blu-
Nachfolgend soll auf die weiteren Behandlungs- tungsneigung können z. B. bei Vipern und Klapper-
möglichkeiten eingegangen werden. Die oben auf- schlangenbissen auftreten. Therapeutisch muss hier
geführten Maßnahmen sind weiterzuführen. Zu- das Erreichen von intensivmedizinischen Behand-
sätzlich eröffnen sich, abhängig vom vorhandenem lungsmöglichkeiten forciert werden, um nach la-
Material und der Erfahrung des Behandlers, nach- borchemischer Analyse eine individuelle bedarfs-
folgende Möglichkeiten [1, 2, 7, 9, 11]. gerechte Substitutionstherapie mit beispielsweise
Erythrozyten, Thrombozyten und Gerinnungsfak-
Atmungssystem toren durchzuführen.
Bei Ateminsuffizienz durch Muskellähmung ist eine Ein sehr simpler Test eine Gerinnungsstörung
Atemwegssicherung mit Beatmung sicherzustellen zu diagnostizieren ist der 20-Minuten-Vollblut-
(. Tab. 37.1). gerinnungstest [11].
Zusätzlich kann ein Therapieversuch mit Choli-
nesterasehemmern erfolgen. Hierbei wird ver- 20-Minuten-Vollblutgerinnungstest
sucht, durch Hemmung der Cholinesterase die Kon- 5 Einige ml venöses Vollblut in eine sauberes
zentration des Transmitters Acetylcholin so zu erhö- Glasschälchen geben.
hen, dass trotz der toxinbedingten Blockade der 5 20 min warten (in tropischen Klimazonen
Acetylcholinrezeptoren eine neuromuskuläre Über- sind deutlich verkürzte Wartezeiten bis zu
tragung und damit Muskelbewegung ermöglicht 5 min notwendig).
wird. Nach einem Wirksamkeitstest mit einem kurz 5 Antippen des Schälchens: Ist das Blut im-
wirksamen Cholinesterasehemmer (z. B. 0,6 mg/ mer noch flüssig, ist von einer Koagulo-
kg KG Atropin mit 10 mg Edrophonium i.v. über pathie auszugehen.
3 min mit anschließender Beobachtung über 20 min) 5 Cave: Ist das Schälchen verschmutzt oder
kann bei Verbesserung der neuromuskulären Über- mit Detergenzien wie Seife verunreinigt,
tragung (z. B. Rückgang der Ptosis, Verbesserung der sind die Ergebnisse nicht zu verwerten. Um
Beatmungssituation) ein länger wirksames Anticho- einen solchen Fehler auszuschließen, sollte
linergikum wie Neostigmin in Kombination mit eine Kontrollprobe einer gesunden Person
Atropin angewendet werden (Dosierung symptom- zeitgleich getestet werden.
orientiert, beginnend mit 2 mg Neostigmin i.v. und
0,5 mg Atropin i.v.). Das Atropin lindert die uner-
wünschten Wirkungen der Cholinesterasehemmer
wie vermehrten Speichelfluss und Bradykardie. Urogenitalsystem
Allerdings ist die Wirksamkeitsdauer des Cholines- Zur Bilanzierung wird das Legen eines Dauerkathe-
terasehemmers kürzer als die Giftwirkung, so dass ters empfohlen (Ziel >1 ml/kg KG/h bei Erwachse-
symptomorientiert Erhaltungsdosen gegeben wer- nen). Die erhaltene Diurese ist ein Maß für eine
den müssen [11]. Sind diese Medikamente nicht re- ausreichende Infusionstherapie. Sinkt die Ausschei-
gulär verfügbar, können eventuell die Pyridostig- dung, sollte nach Ausschluss einer Hypervolämie
mintabletten (Pyrodostigminbromid, 30 mg oral) (Symptome: pulmonale Rasselgeräusche, Atemnot,
37 und der Atropinautoinjektor (AtroPen, 2 mg i.m.) erweiterte Halsvenen), eine weitere Flüssigkeitszu-
der persönlichen Sanitätsausstattung des Soldaten fuhr erfolgen, u. U. in Kombination mit Diuretika
verwendet werden, die bei C-Waffen-Bedrohung (z. B. 20 mg Furosemid i.v.). Eine alleinige Gabe von
ausgegeben werden. Dies ist allerdings wegen Diuretika ohne ausreichendes Intravasalvolumen,
schlecht kontrollierbarer Dosierungsmöglichkeiten ist zu vermeiden, da dies zu einer Schädigung der
und der Notwendigkeit der oralen Gabe der Tablet- Niere führen kann.
ten als letzte Möglichkeit in Situationen mit vitaler Roter Urin ist ein Hinweis auf eine Blutung, z. B.
Bedrohung anzusehen. durch eine Störung des Gerinnungssystems (häma-
tologischer GE), oder eine Hämoglobinurie bei
37.4 · Therapie
517 37
hämolytischem GE (7 Abschn. 37.2). Bierbrauner > 20–30 mmHg). Eine Faszienspaltung und aggres-
Urin ist ein Hinweis auf erhöhte Myoglobinwerte sive chirurgische Therapie sollte wegen Blutungsge-
und somit auf einen ausgeprägten Muskel-/Gewe- fahr durch eine mögliche giftinduzierte Koagulopa-
beschaden. Myoglobin kann laborchemisch direkt thie und einer deutlich erhöhten Infektionsgefahr
im Urin quantifiziert werden oder durch einen für so lange wie verantwortbar hinausgezögert werden.
Erythrozyten positiven U-Stix, bei fehlendem Hierbei handelt es sich um eine hochkritische, letzt-
Nachweis von Erythrozyten in der Lichtmikrosko- lich patientenorientierte Einzelfallentscheidung.
pie, nachgewiesen werden. Deutlich erhöhte Myo- Eine generelle Empfehlung ist, größere chirurgische
globinwerte können über nicht vollständig geklärte Maßnahmen erst 48–72 h nach dem Gifttierunfall
Mechanismen ein akutes Nierenversagen, die sog. durchzuführen [2].
»Crush-Niere«, auslösen (Diagnose: Myoglobinurie
in Verbindung mit Oligurie/Anurie). Antibiose
Therapeutisch sind eine elektrolytarme Flüssig- Eine frühe, prophylaktische »Single-shot-Antibio-
keitszufuhr und eine Alkalisierung des Blutes und se« mit einem Breitspektrumantibiotikum (z. B. 1 g
Urins anzustreben, um das darin freigesetzte Myo- Ceftriaxon i.v.) ist möglich, aber nicht generell emp-
globin besser zu lösen und auszuscheiden. Zusätz- fohlen, da Gifttierverletzungen, vor allem Schlan-
lich kann durch Mannitol Flüssigkeit osmotisch in genbisse, auf Grund der enzymatischen Wirkung
den Intravasalraum gezogen werden (beispielsweise des Giftes meist nicht mit Bakterien kontaminiert
25 g Mannitol in 1 l 5 % Glukoselösung und 100 mval sind [10]. Bei stark verschmutzten Wunden sollte
Natrium Bikarbonat 8,4 % über 4 h unter labor- sie gegeben werden.
chemischer pH und Elektrolytwertkontrolle) [2]. Bei Auftreten einer (Sekundär-)Infektion sollte
Der Patient ist schnellstmöglich in eine intensivme- diese angemessen behandelt werden. Es ist jedoch
dizinische Behandlungseinrichtung mit Dialyse- zu bedenken, dass die klassischen Infektionszeichen
möglichkeit zu verbringen. Medikamente sollten wie Rötung, Schwellung, Überwärmung, Schmerz
bei Niereninsuffizienz dosisangepasst nach Pa- und Funktionsverlust auch durch die Vergiftung
ckungsbeilage verabreicht werden. selbst verursacht werden können. Die Infektion tritt
jedoch zeitlich verzögert ein, die Giftwirkung im
Tetanusimpfschutz unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der
Wie bei allen offenen Verletzungen sollte der Teta- Gifttierverletzung.
nusimpfschutz überprüft und ggf. aufgefrischt Bei Bissverletzungen durch ungiftige oder
werden. schwach giftige Tiere (z. B. Kamelspinne, »camel-
spider«, aber auch Hunde und Katzen) stellt eine
Antivenintherapie Infektion die Hauptgefahr dar und muss lokal anti-
Antivenine sollten nur in absoluten Ausnahme- septisch und systemisch antibiotisch behandelt wer-
fällen präklinisch gegeben werden (7 Kap. 37.4). den. Solche Wunden dürfen nicht chirurgisch ver-
Wenn ein Antivenin gegeben wird, sind Behand- schlossen werden und erfordern eine engmaschige
lungsmaßnahmen für eine anaphylaktische Schock- Nachkontrolle. Bei nicht geimpften Personen ist,
reaktion bereitzuhalten (7 Kap. 9). wenn nicht mit allerletzter Sicherheit eine Tollwut-
infektion ausgeschlossen werden kann, eine Toll-
Kompartmentsyndrom wutprophylaxe durchzuführen, da es sich hierbei
In seltenen Fällen kann es durch eine exzessive um eine 100 % letale Erkrankung handelt.
Schwellung zur Entwicklung eines Kompartment-
syndroms kommen (Symptome: Dehnungsschmer- Reevaluation
zen bei passiver Bewegung der betroffenen Muskel- Sollte sich der Zustand des Patienten nach Durch-
gruppen, Druckschmerz der betroffenen Muskel- führung der oben aufgeführten Therapievorschläge
gruppe, verminderte aktive Beweglichkeit, Sensibili- nicht bessern oder sogar verschlechtern, ist eine
tätsstörungen, verhärtete Muskellogen, Unterschied Reevaluation durchzuführen: lokaler Status, Herz-
Kompartmentdruck zu diastolischem Blutdruck Kreislauf-System, Urinbilanz, Myoglobinurie, Blut-
518 Kapitel 37 · Vergiftungen durch Tiere

. Tab. 37.4 Indikationen für eine Antivenintherapie. (Nach [9,11])

Systemische Symptome Einzelparameter/Kommentar

A- und B-Problematik Schleimhautschwellung mit Gefahr der bronchialen Obstruktion und


Ateminsuffizienz durch giftvermittelte Atemmuskulaturlähmung

Blutungsanomalität Spontane systemische Blutung, INR (International Normalized


Ratio) >2, Thrombozytopenie

Schlaffe Lähmung Schlaffe Lähmung (z. B. Ptosis, Augenmuskellähmung) als Hinweis auf
eine systemische Neurotoxin Vergiftung. Diese kann im Grad der Aus-
prägung nur unzureichend vorhergesagt werden

Myoglobinurie bei Rhabdomyolyse Dunkler Urin, CK (Kreatinkinase) im Serum >1.500 U/l, Urin-Stix positiv
auf Erythrozyten ohne Hinweis auf Hämaturie

Herz-Kreislauf-Abnormalitäten Therapieresistente Hypotension und Schock,


EKG (Elektrokardiogramm)-Veränderung, Herzrhythmusstörungen

Akutes Nierenversagen Oligurie/Anurie, steigende Kreatinin- und Harnstoffwerte im Serum,


Elektrolytentgleisungen

Kollaps und generalisierte Krampfanfälle Hinweis für einen systemischen neurotoxischen Verlauf

Ausgeprägte lokale Schwellung Mehr als die Hälfte der Extremität betreffend, Finger und Zehen
Beteiligung, rasche Progression, auf den Rumpf übergreifend

Ausgeprägte und sehr schmerzhafte Vor allem Lymphknoten in der Abstrombahn am Übergang zum Körper-
Lymphknotenschwellung stamm

Allgemeinsymptome (Kopfschmerzen, Keine Antivenintherapie, außer bei nicht stillbarem Erbrechen


Übelkeit, Erbrechen, Schmerzen,
Abdomenschmerzen)

elektrolyte, Blutgerinnung und neurologischer macht werden können, es wird nur eine weitere
Status. Eine Antiveningabe ist bei zunehmender Ausbreitung verhindert [3, 9].
Verschlechterung unter maximaler supportiver Antivenine müssen generell gekühlt gelagert
Therapie in Betracht zu ziehen. Ist bereits eine An- werden und die Kühlkette darf nicht unterbrochen
tiveningabe erfolgt, sollte die Gabe einer ausrei- werden [10]. Es handelt sich um klare Flüssigkeiten,
chenden Menge geprüft werden und ggf. eine noch- sollte der Inhalt flockig sein, ist das Antivenin zu
malige Gabe erfolgen (Cave: Anaphlyaxie). verwerfen [3]. Zusätzlich erschweren eine schlechte
Marktverfügbarkeit in größeren Mengen, lange
Lieferzeiten und teilweise sehr hohe Kosten eine
37.4.3 Spezifische Antivenintherapie großzügige Bevorratung [10]. In präklinisch einge-
setzten Elementen ist ihr Einsatz somit rein logis-
37 Antivenine spielen v. a. bei Schlangenbissen eine tisch schwer zu realisieren.
Rolle, sind aber auch für Giftspinnen, Skorpione Bei der Gabe dieser Seren muss die Beherr-
und einzelne marine Gifttiere erhältlich. Prinzipiell schung einer möglichen anaphylaktischen Reaktion
sind sie die wirksamste Therapie bei Gifttierun- sichergestellt sein (. Tab. 37.2). Da es sich bei
fällen, da sie die Ursache behandeln. Um eine opti- modernen Antiveninen um hochaufgereinigte
male Wirkung zu erzielen, sollten sie so früh wie Substanzen handelt, sind lebensbedrohliche ana-
möglich, bestenfalls innerhalb der ersten Stunde, phylaktische Reaktionen oder eine Serumkrankheit
gegeben werden. Grundsätzlich gilt, dass Gifteffekte deutlich seltener geworden. Dennoch können die
durch eine Antiveningabe nicht rückgängig ge- möglichen Komplikationen einer nichtindizierten
Literatur
519 37
Applikation einem Patienten das Leben kosten, der 37.5 Zusammenfassung
ohne die Gabe überlebt hätte. Wegen des Neben-
wirkungsprofils und der insgesamt doch niedrigen Aufgrund des hohen logistischen Aufwandes und
Letalität bei adäquater symptomatischer Behand- der geringen Erfahrung in der spezifischen Behand-
lung von Gifttierverletzungen ist eine routinemäßi- lung von Gifttierverletzungen im europäischen
gen Gabe, auch im klinischen Bereich, keinesfalls zu Raum, auch im ärztlichen Bereich, sollte sich, wenn
befürworten [3, 9]. immer möglich, auf lokale Infrastruktur abgestützt
Antivenine sollten bei systemischen Vergiftun- werden.
gen und stark ausgeprägten lokalen Vergiftungssym- Die wichtigsten Behandlungsansätze sind:
ptomen gegeben werden (. Tab. 37.4). Zu unter- 4 Verhinderung der weiteren Ausbreitung des
scheiden sind monovalente Seren, die gegen ein Giftes
spezifisches Gift gerichtet sind (hierzu ist die ein- 4 Atemwegssicherung mit Beatmung
deutige Identifikation des Gifttieres unabdingbar) 4 Kontrolle und Unterstützung des Kreislauf-
und polyvalente Seren für mehrere unterschiedli- systems
che Gifttiere, z. B. Giftschlangen, einer bestimmten 4 Kontrolle und Unterstützung der Urinproduk-
Region. Prinzipiell sind für Schlangenvergiftungen tion
Gift-Detektions-Kits verfügbar, die mittels eines
ELISA-Tests (ELISA = »enzyme linked immuno sor- Eine Antivenintherapie ist in den meisten Fällen
bent assay«) das am besten geeignete Antivenin de- nicht notwendig. Eine frühe chirurgische Therapie
tektieren. Hierfür eignet sich ein Tupfer, mit dem die richtet in der Regel mehr Schaden an, als dass sie
Bissstelle abgewischt wurde. Sollte dies nicht mög- nutzt. Man sollte sich immer vor Augen halten, dass
lich sein (z. B. bereits gereinigte Wunde), kann Urin Gifttierunfälle schwere Erkrankungen sind, die bei
getestet werden [9]. Konnte das Gifttier identifiziert idealer supportiver Therapie jedoch selten tödlich
werden, ist das am besten geeignete monovalente verlaufen.
Antivenin zu wählen, in allen andern Fällen ein für
die Region spezifisches polyvalentes Antivenin.
Literatur
Prinzipiell werden Antivenine verdünnt i.v.
über 15 min bis hin zu 2 h über einen Infusion ver- 1. Boyed et al. (2007) Venomous Snakebite in Mountainous
abreicht und sind nur i.m. zu verabreichen, wenn Terrain: Prevention and Management (Official recom-
eine i.v. Gabe nicht möglich ist [3, 9]. Genaue Stan- mendations of the International Commission for Moun-
darddosierungen, Verdünnungsschemata und Infu- tain Emergency Medicine and of the Medical Commis-
sionszeiten sind der Packungsbeilage zu entneh- sion of the International Mountaineering and Climbing
Federation (ICAR and UIAA MEDCOMS). Wilderness and
men, allerdings sollte generell symptomorientiert
Environmental Medicine 18: 190–202
behandelt werden. Bei schweren Vergiftungen kön- 2. DefenceDept (US) (2010) Toxicology: Venomous Snake
nen mehrfache Mengen der empfohlenen Erstdosis Bites. In US Department of Defence (ed) Special Opera-
notwendig werden [10]. tion Forces Medical Handbook [CD-ROM], 2ed. GovtPrint-
Eine weltweite Aufstellung von Gifttieren und ing Office
3. Egan D (2007) Snakes of Arabia. A field Guide to the
Antiveninen mit Orten der Vorratshaltung ist auf
Snakes of the Arabian Peninsula and its Shores. Motivate
der Homepage der Toxikologischen Abteilung der Publishing, Dubai.
Technischen Universität München abzurufen 4. Erkens K, Boecken G (2002) Vergiftung nach Schlangen-
(7 Übersicht »Informationsquellen«). biss– Gefahr im Auslandeinsatz? Wehrmedizin und
Wehrpharmazie 01/2002: 68–73
5. Habermann E (2001) Tierische Gifte. In: Forth W,
Henschler D, Rummel W, Förstermann U, Starke K (Hrsg.)
Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie,
S. 1107–1116. Urban & Fischer, München
6. Johnson C et al. (2013) Challenges of managing snakebite
envenomation in a deployed setting. Journal of the Royal
Army Medical Corps 159: 307–311
520 Kapitel 37 · Vergiftungen durch Tiere

7. Junghanss T, Bodio M (2006) Medically important venom-


ous animals: Biology, prevention, first aid and clinical
management. Clinical Infectious Diseases 43: 1309–17
8. Krysa-Clark J et al. (2004) Management Of A Snake Bite in
The Field. Journal of the Royal Army Medical Corps 150:
97–98
9. Mackessy SP (2010) Handbook of Venoms and Toxins of
Reptiles. CRC Press, Boca Raton
10. Mebs D (2013) Vergiftungen nach Schlangenbiss.
Ein unterschätztes Problem in der Reisemedizin? Flug-
medizin Tropenmedizin Reisemedizin 20 (3): 123-27
11. Warrell DA (1999) Guidelines for the Clinical Management
of Snake Bites in the South-East Asia Region, Reprint 2005.
Southeast Asian Journal of Tropical Medicine & Public
Health, Vol 30, Supplement 1 (http://www.scribd.com/
doc/53710446/26/Algorithm-Antivenom-Treatment-of-
Snakebite-Cases)

37
521 38

Kalte Klimazonen
U. Unkelbach, C. Neitzel, T. Schuck, E. Meister

38.1 Einführung – 522

38.2 Wärmegleichgewicht des Körpers – 522


38.2.1 Wärmeproduktion – 522
38.2.2 Wärmeverlust – 522
38.2.3 Regulation der Körpertemperatur – 523

38.3 Risikofaktoren in kalten Klimazonen – 523

38.4 Prophylaxe von Kälteschäden – 525


38.4.1 Fähigkeiten des Einzelschützen – 525
38.4.2 Ernährung – 525
38.4.3 Führerverhalten – 525
38.4.4 Ausrüstung – 526
38.4.5 Bekleidung – 526

38.5 Kälteschäden – 527


38.5.1 Hypothermie – 528
38.5.2 Lokale Kälteschäden – 535

38.6 Versorgung in kalten Klimazonen – 540


38.6.1 Körperliche Untersuchung – 540
38.6.2 Messung der Körpertemperatur – 540
38.6.3 Zugänge und Injektionen – 541
38.6.4 Infusionstherapie – 541
38.6.5 Patiententransport – 542
38.6.6 Aufbewahrung von Sanitätsmaterial – 542

Literatur – 543

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_38, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
522 Kapitel 38 · Kalte Klimazonen

38.1 Einführung Disziplin und ein stetes Aufrechterhalten des Wohl-


befindens durch genügend Nahrung, Trinken, Schlaf
und angepasste Kleidung wichtig.
» »If you can fight and survive in the extremities
of the arctic … you can fight anywhere in the > Grundsatz: Frieren muss niemand lernen.
world.« [UK Element AMF (L)]

Kriege in kalten Klimazonen wurden auch immer


durch die Auswirkungen von der Kälte selbst auf 38.2 Wärmegleichgewicht des Körpers
die Truppen mitbestimmt. Die Auswirkungen der
Kälteschäden in Kriegen der neueren Geschichte Beim gesunden Menschen wird die Körpertempe-
sind ab dem napoleonischen Feldzug nach Russland ratur im zentralen Nervensystem gesteuert. Wär-
bis zu denen in Afghanistan und Irak wissenschaft- meproduktion und Wärmeabgabe werden so gere-
lich gut ausgewertet. Die Geschichte belegt ein- gelt, dass die Körperkerntemperatur (KKT) im Be-
drucksvoll, dass in kalten Klimazonen erfahrene und reich zwischen 36 und 37 °C konstant bleibt, da der
entsprechend ausgerüstete Truppen den schlecht Mensch als Warmblüter diese als Betriebstempera-
ausgerüsteten, unerfahrenen Gegnern weit über- tur zum Überleben benötigt.
legen sind.
Die wesentlichen Grundlagen, um in kalten Kli-
mazonen bestehen zu können, sind: 38.2.1 Wärmeproduktion
4 Erfahrung und Ausbildung in kalter
Umgebung Der Körper produziert Wärme durch den Stoff-
4 Disziplin wechsel. Ein durchschnittlicher Erwachsener setzt in
4 Ausrüstung Ruhe etwa 80–90 kcal/h um. Das entspricht in etwa
einer 100-W-Birne. Da die Muskulatur eine wesent-
Erfahrung kann Disziplin nicht ersetzen. Gute Aus- liche Rolle bei der Wärmeproduktion spielt, kann
rüstung, die mangels Erfahrung und Ausbildung dieser Ruheumsatz unter Maximalleistung (z. B.
nicht richtig angewandt werden kann, verschafft 100m-Sprint) bis zum 10Fachen gesteigert werden.
ebenso keinen Vorteil. Ein Erfahrener mit schlech-
ter Ausrüstung und guter Disziplin kann die Aus-
rüstungsmängel dafür gut kompensieren. Werden 38.2.2 Wärmeverlust
alle Faktoren ausreichend abgedeckt, sind jedoch
auch mehrwöchige Operationen in extrem lebens- Konduktion (»conduction«) wird der direkte Wär-
feindlicher Umgebung möglich. Die taktische und meaustausch eines Objektes beim Kontakt mit
strategische Relevanz für militärische Operationen einem anderen Objekt genannt (z. B. Sitzen auf
sind offensichtlich. Sie verpflichten jeden Einzel- einem kalten Stein). Hierbei fließt die Wärme im-
schützen genauso wie den taktischen Führer, neben mer vom wärmeren Gegenstand zum Kälteren. Sie
einer angepassten Ausrüstung und Ausbildung wird v. a. von der Wärmeleitfähigkeit beider Objek-
auch die wesentlichen Verhaltensgrundsätze diszip- te, der Größe der Kontaktfläche und der Tempera-
liniert zu befolgen. turdifferenz beeinflusst [2]. Wenn eine Hand auf
Es wurde zwar ein Trainingseffekt des Körpers eine heiße Herdplatte gelegt wird, findet z. B. Kon-
durch längeren Aufenthalt in Kälte nachgewiesen, duktion von der Platte zur Hand statt.
38 im Gegensatz zur Anpassung an heiße Klimazonen Konvektion (»convection«) beschreibt die
oder Höhenaufenthalt ist dieser Effekt jedoch sehr Wärmeleitung vom menschlichen Körper an eine
gering, sodass ein »Vorfrieren« als Trainingsmaß- Flüssigkeit oder Gas, also die Umgebungsluft oder
nahme für einen Aufenthalt in kalten Klimazonen ggf. Wasser. Der Wärmeverlust eines unbekleideten
nicht sinnvoll ist. Viel sinnvoller ist eine gute Aus- stehenden Menschen erfolgt zu 40 % durch Wärme-
bildung und das Vertrautwerden mit der zur Verfü- leitung vom Körper an die Umgebungsluft. Besteht
gung stehenden Ausrüstung. Vor Ort sind dann ein großflächiger Kontakt zum Boden, verschiebt
38.3 · Risikofaktoren in kalten Klimazonen
523 38
sich der Anteil des Wärmeverlustes stark hin zur zurück, um die KKT in kalter Umgebung aufrecht-
Konduktion [2]. Eine »Eselsbrücke« für den Unter- erhalten zu können:
schied zwischen Konduktion und Konvektion ist Durch Zentralisierung der Durchblutung auf
Kon-»weg«-tion (Wind oder das Wasser tragen die den Körperkern reduziert die verminderte peri-
Wärme vom Körper »weg«). Der Effekt des »wind phere Durchblutung die Hauttemperatur. Der
chill« (»chill« = kühlen) ist im Wesentlichen durch Wärmeverlust an die kalte Umgebung verringert
Konvektion bedingt. sich entsprechend, da das Temperaturgefälle ver-
Der Körper gibt auch ohne direkten Kontakt kleinert wird. Der Isolationseffekt entspricht in
Wärmestrahlung (»radiation«) an die Umgebung etwa dem Tragen eines dünnen Geschäftsanzugs.
ab. Diese Infrarotstrahlung macht ca. 45 % des Gute Arktisbekleidung bietet im Vergleich einen
Gesamtwärmeverlustes aus [2]. Beim Beispiel der etwa 6- bis 8-mal höheren Isolationseffekt.
heißen Herdplatte lässt sich die Strahlung fühlen, Die Zentralisierung des Blutes im Körperkern
wenn man die Hand in die Nähe der Herdplatte hält. sorgt für eine höhere kardiale Vorlast, was zu einer
Rettungsdecken erhöhten Harnbildung führt. Dieser Effekt wird
Eine zwischen heiße Herdplatte und Hand gehaltene Rettungs- Kältediurese genannt und verstärkt die häufig vor-
decke isoliert gut. Legt man die Alufolie allerdings direkt auf die handene Dehydration.
Herdplatte und dann die Hand ungeschützt darauf, kommt es Wenn die Reduktion der Hauttemperatur nicht
unmittelbar zu einer Verbrennung. Sie schützt also kaum ge-
ausreicht, wird die Wärmeproduktion durch Mus-
gen Konduktion. Diese Beobachtung ist bei der Hypothermie-
prophylaxe von besonderer Bedeutung: Rettungsdecken ha- kelzittern erhöht. Anfänglich beginnt der Körper
ben zur Isolation gegenüber der Umgebungsluft einen brauch- den Muskeltonus zu steigern, was den Ruheenergie-
baren Effekt. Auch gegen Konvektion bieten sie Schutz. Zur verbrauch etwa verdoppelt. Falls die KKT weiter
Isolation gegenüber dem kalten Boden mit direkter Auflage fällt, fangen die Muskeln an, sich zu kontrahieren
sind sie jedoch ungeeignet und können eine starke Ausküh-
und wieder zu entspannen, sodass ein deutlich
lung nicht verhindern. Der direkte Kontakt Verwundeter zum
Boden muss daher immer mit einer geeigneten Unterlage (z. B. sichtbares Zittern entsteht. Das maximale Zittern
Isomatte) entkoppelt werden. wird bei einer KKT um die 33 °C erreicht und stei-
gert den Energieverbrauch auf etwa die 3- bis 6fache
Verdunstung (»evaporation«) von Wasser erzeugt Menge des Ruheumsatzes. Es kann ohne vorherige
Kälte. Dieser Effekt wird vom Körper an der Haut Erschöpfung ca. 5–6 h durchgehalten werden. Zit-
zur Kühlung des Körpers durch Schweißproduktion tern ist zwar effektiv, hat aber den Nachteil einer
gezielt genutzt, tritt aber auch im Rahmen der At- deutlichen Einschränkung der Koordination und
mung durch Anfeuchtung der Luft in Atemwegen durch die nötige gesteigerte Durchblutung der Mus-
und Lunge auf [2]. Dieser Faktor übersteigt unter kulatur wird die Isolation wieder verschlechtert.
normalen Umgebungsbedingungen selten 15 % des > Kann der Körper bei fortbestehender Unter-
gesamten Wärmeverlusts. Bei durchfeuchteter kühlung das Zittern nicht mehr aufrechter-
Kleidung kann aber ein erheblicher Wärmeverlust halten, zeigt dies das Versagen der Kompen-
entstehen. Da die Luftfeuchtigkeit bei tiefen Tempe- sationsmechanismen an: es besteht Lebens-
raturen meist sehr niedrig ist, wird der physikali- gefahr.
sche Vorgang der Verdunstung gefördert.

38.2.3 Regulation der Körper- 38.3 Risikofaktoren in kalten


temperatur Klimazonen

Die Wärmeproduktion des Körpers und der Wär- Für die Beratung des Führers und die eigene Ein-
meverlust an die Umgebung müssen in einem satzplanung hat sich folgende Einteilung bewährt:
Gleichgewicht gehalten werden. Der Körper greift 4 Soldatenbezogene (Risiko-)Faktoren (»sol-
dabei im Wesentlichen auf eine Verbesserung der dier related (risk) factors«) sind Arbeitsbelas-
Isolation und eine Erhöhung der Wärmeproduktion tung, Traglast, Trainingszustand, Einsatzdauer,
524 Kapitel 38 · Kalte Klimazonen

Wind- Lufttemperatur in °C
geschwin-
digkeit
(km/h)

5 0 –5 –10 –15 –20 –25 –30 –35 –40 –45 –50

10 2,7 –3,3 –9,3 –15,3 –21,2 –27,2 –33,2 –39,2 –45,1 –51,1 –57,1 –63,0

15 1,7 –4,4 –10,6 –16,7 –22,9 –29,1 –35,2 –41,4 –47,6 –53,7 –59,9 –66,1

20 1,1 –5,2 –11,6 –17,9 –24,2 –30,5 –36,8 –43,1 –49,4 –55,7 –62,0 –68,3

25 0,5 –5,9 –12,3 –18,8 –25,2 –31,6 –38,0 –44,5 –50,9 –57,3 –63,7 –70,2

30 0,1 –6,5 –13,0 –19,5 –26,0 –32,6 –39,1 –45,6 –52,1 –58,7 –65,2 –71,7

35 –0,4 –7,0 –13,6 –20,2 –26,8 –33,4 –40,0 –46,6 –53,2 –59,8 –66,4 –73,1

40 –0,7 –7,4 –14,1 –20,8 –27,4 –34,1 –40,8 –47,5 –54,2 –60,9 –67,6 –74,2

45 –1,0 –7,8 –14,5 –21,3 –28,0 –34,8 –41,5 –48,3 –55,1 –61,8 –68,6 –75,3

50 –1,3 –8,1 –15,0 –21,8 –28,6 –35,4 –42,2 –49,0 –55,8 –62,7 –69,5 –76,3

55 –1,6 –8,5 –15,3 –22,2 –29,1 –36,0 –42,8 –49,7 –56,6 –63,4 –70,3 –77,2

60 –1,8 –8,8 –15,7 –22,6 –29,5 –36,5 –43,4 –50,3 –57,2 –64,2 –71,1 –78

Zeit bis zum Auftreten von Erfrierungen an unbedeckter Haut:

>120 min >30 min >10 min >5 min

. Abb. 38.1 »Wind chill«. Die Markierungen zeigen das Risiko für Erfrierungen an unbedeckten Hautpartien auf. Die farbige
Hinterlegung zeigt das Risiko für Erfrierungen an unbedeckten Hautpartien auf. Nasse Haut verkürzt die maximale Expositi-
onszeit bis zur Entstehung von Erfrierungen erheblich!

Müdigkeit, Verfügbarkeit ausreichender Men- 4 Unter auftrags- oder einsatzbezogenen


gen an Nahrung und Getränken, Ausbildungs- (Risiko-)Faktoren (»mission related risk
und Erfahrungsstand im Umgang mit Kälte, factors«) werden alle Faktoren der Operations-
Ausrüstung, Rauchen und das Dienstalter der führung und der Einsatzunterstützung verstan-
Soldaten. den, die bei Angehörigen der Einheit für die
4 Zu den umweltbedingten (Risiko-)Faktoren Entstehung von Kälteschäden relevant sind.
(»enviromental (risk) factors«) zählen die Wet- Dabei kommt der grundsätzlichen Operations-
terfaktoren (Lufttemperatur, Luftfeuchtigkeit, führung (Ansatz der Kräfte, Gefechtsintensität,
Regen, Schnee, Eis, schnelle Wetterwechsel, Dauer der Operationsführung, mögliche Pau-
»wind chill«, Sonneneinstrahlung) und die sen) ebenso eine Bedeutung zu wie der Art der
Geländefaktoren (Höhe über Meeresspiegel, Beweglichmachung (Marschgeschwindigkeit,
Lawinengefahr, Gefahr des Einbruchs in Eis Fußmarsch im Schnee, Ski, Schneeschuhe,
bzw. Untertauchen in kaltes Wasser). Die Hochgebirgseinsatz mit alpinen Fähigkeiten,
38 »Wind-chill-Tabelle« (. Abb. 38.1) zeigt den Skidoo-Einsatz, Rad- oder Ketten-Kfz). Die
Einfluss von Umgebungstemperatur und Einsatzunterstützung spielt hinsichtlich der
Windgeschwindigkeit auf die sog. »gefühlte Versorgung mit Nahrung, Wasser, Betriebs-
Temperatur«, die auch einen Maßstab für das stoff, Verfügbarkeit einer wettergeschützten
generelle Risiko von Unterkühlung und Erfrie- (ggf. geheizten) Unterkunft, usw. eine wesent-
rungen darstellt. liche Rolle.
38.4 · Prophylaxe von Kälteschäden
525 38
38.4 Prophylaxe von Kälteschäden Beim Aufenthalt in Kälte steigt aufgrund von
Kältediurese und vermehrter Verdunstung über die
38.4.1 Fähigkeiten des Einzelschützen Atemluft auch der Flüssigkeitsbedarf an. Warme
Getränke können meist nur eingeschränkt mitge-
Wo immer möglich, sollten Soldaten im Vorfeld von führt werden. Kalte Getränke werden häufig gemie-
Operationen in kalten Klimazonen entsprechende den, und die Erwärmung von Getränken erfordert
Trainingsprogramme durchlaufen. Ein hoher Aus- entsprechenden Brennstoff und eine taktische Lage,
bildungs- und Erfahrungsstand verringert das die dies ermöglicht. Die Schläuche von Trinkblasen
Risiko von Kälteschäden erheblich. Neben einer (z. B. Camelbak) frieren auch mit Isolationsüberzug
Gewöhnung an Tätigkeiten in kalten Klimazonen schnell ein, sie sind daher für kalte Klimazonen
sollte dabei erlernt werden, Kleidung trockenzuhal- kaum geeignet. Werden sie bei moderaten Tempe-
ten, insbesondere die Füße regelmäßig auf Kälte- raturen doch genutzt, sollte die Blase unter der Klei-
schäden zu kontrollieren, ein verlässliches Buddy- dung getragen und der Schlauch unter der Achsel
System zu entwickeln (gegenseitige Kontrolle mit durchgeführt werden. Wird bei dieser Trageweise
zugeteiltem Partner), regelmäßig ausreichend Flüs- zusätzlich ein Rucksack auf dem Rücken mitge-
sigkeit zu sich zu nehmen, auftretende Probleme führt, kommt es aber schnell zu Undichtigkeiten des
frühzeitig zu melden und ausreichend Regene- Systems, die wiederum bei durchnässter Bekleidung
rationspausen einzulegen. Die Handhabung der für Erfrierungen begünstigen. Auch der Toilettengang
den Einsatz vorgesehen Ausrüstung sollte in der kann bei tiefen Temperaturen durch die Entblößung
Vorbereitung sicher erlernt werden. Zur Hautpflege von Gesäß oder Genital schnell zu Erfrierungen
sollten Produkte auf Fett- und nicht auf Wasserbasis führen. Vor allem dem »wind chill« kommt hier
genutzt werden, da letztere Erfrierungen fördern. große Bedeutung zu. Um die unangenehmen und
> Falsch verstandener Ehrgeiz ist in kalten
nicht ungefährlichen Harnentleerungen insbeson-
Klimazonen unprofessionell. Werden Symp-
dere nachts möglichst zu vermeiden, wird häufig die
tome von Kälteschäden, Erschöpfung oder
Trinkmenge reduziert. Dies führt zur Dehydratati-
Leistungsminderung nicht ernst genommen,
on, die wiederum das Risiko für Kälteschäden und
kann dies den Soldaten selbst, die komplette
Höhenkrankheit erhöht. Hier ist wieder die nötige
Einheit und die Auftragserfüllung massiv
Disziplin gefragt, um stets ausreichend Flüssigkeit
gefährden!
zu sich zu nehmen.
> Ziel sollte als Faustregel ein mindestens
Auftretende Zeichen von Kälteschäden, Leistungs- 3-maliges wasserklares Urinieren pro Tag
minderung und nachlassender Disziplin sind stets sein. Es sollten über 24 h mindestens 1.200 ml
dem militärischen Führer zu melden, um auch alle ausgeschieden werden. Falls ein Durstgefühl
anderen Soldaten in dieser Hinsicht überprüfen auftritt, ist die Dehydration bereits zu groß.
und die vorbeugenden Maßnahmen entsprechend
anpassen zu können. Der Genuss von Alkohol erhöht bei Kälte die Gefahr
einer Unterkühlung erheblich, da er zu einer peri-
pheren Vasodilatation führt [16]. Nikotinkonsum
38.4.2 Ernährung führt dagegen zur peripheren Vasokonstriktion und
kann so theoretisch ein höheres Risiko von Erfrie-
Die Zufuhr von fett- und kohlenhydratreicher, hoch- rungen bedingen. Der Sachverhalt ist allerdings bis-
kalorischer Nahrung ist eine wichtige Grundlage, her nicht wissenschaftlich nachgewiesen [10].
um dem Körper eine ausreichende Wärmeproduk-
tion zu ermöglichen. Erfahrungsgemäß sinkt auch
bei Erfahrenen in Kälte trotz des gesteigerten Ener- 38.4.3 Führerverhalten
giebedarfs der Appetit. Daher sollte die Wichtigkeit
der Einnahme von Verpflegung betont und angemes- Müdigkeit, Dehydration und zu wenig Nahrung
sene Pausen dafür zur Verfügung gestellt werden. prägen häufig militärische Operationen. Sie verrin-
526 Kapitel 38 · Kalte Klimazonen

gern die Kompensationsreserven des Soldaten. Die 38.4.5 Bekleidung


taktischen Führer sollten daher durch regelmäßige
Pausen, Aufnahme von warmen, gesüßten Geträn- Kleidung isoliert nur dann optimal, wenn sie
ken und energiereicher Nahrung diese Reserven trocken ist. Um die Kleidung trocken zu halten,
schaffen und erhalten. Gerade bei längerer Einsatz- muss der Schweiß vom Körper abtransportiert
dauer, geringerem Trainingszustand, hoher Traglast und eine Durchnässung durch Umwelteinflüsse
oder sonstiger Arbeitsbelastung kommt diesen Fak- wie Regen, Luftfeuchtigkeit, Schnee und Eis ver-
toren eine erhebliche Bedeutung zu. Sie haben auch hindert werden. Hierzu hat sich die Anwendung
direkte Auswirkungen auf die Disziplin bei der Ein- des Zwiebelschalenprinzips durchgesetzt. Dabei
haltung der Prophylaxemaßnahmen von Kälteschä- besteht die Bekleidung aus mehreren dünnen
den. In der norwegischen Armee wird der Stellen- Schichten anstatt einer dicken Schicht, um auf sich
wert einer guten Ausrüstung zur Vermeidung von ändernde Wetterbedingungen und Aktivitäts-
Kälteschäden bei 20 % gesehen, während die Quali- niveaus flexibler reagieren zu können. Ferner ist die
tät des Führerverhaltens 80 % ausmacht [3]. Isolationsleistung durch die größere Luftspeiche-
rung besser.
Die Innenschicht besteht aus modernen Funk-
38.4.4 Ausrüstung tionstextilien oder Wolle. Sie leiten Feuchtigkeit
weiter und verfügen auch im nassen Zustand noch
Damit in kalten Klimazonen Flüssigkeit zur Ver- über eine Restisolationsfähigkeit. Baumwolle und
fügung steht, muss sie in Thermobehältern mitge- andere feuchtigkeitsaufsaugende Gewebe büßen in
führt werden. Der Inhalt einfacher Feldflaschen nassem Zustand ihre Isolationsleistung nicht nur
oder Trinkblasen gefriert sehr schnell. Durch Zu- komplett ein, sondern bleiben nass. Sie erhöhen das
ckern oder Salzen kann der Gefrierpunkt herunter- Risiko für Kälteschäden damit erheblich.
gesetzt werden. Da Thermobehälter im Regelfall im Die Mittelschicht ist hauptsächlich für die Iso-
Rucksack verstaut und Tassen genutzt werden müs- lation notwendig und kann aus einer oder mehreren
sen, ist die Flüssigkeitsaufnahme umständlich und wärmende(n) Schicht(en) bestehen. Hierfür kön-
Pausen notwendig. Der taktische Führer muss da- nen Wolle, Fleece und ähnliche Materialien verwen-
her zur Sicherstellung einer ausreichenden Flüssig- det werden. Auch diese sollten gut schweißtrans-
keitsaufnahme ausreichend viele Pausen befehlen. portierend und schnelltrocknend sein. In sehr kal-
Das Mitführen von Sammelbehältern für Urin tem Klima stellt Kleidung mit Daunenfüllung die
(»piss bag«, z. B. leichter Wassersack aus Plastik) hat optimalste Isolationsleistung bei minimalem Pack-
sich extrem bewährt, um nächtliches Urinieren in- volumen und Gewicht zur Verfügung. Sie verliert
nerhalb der windgeschützten Umgebung des Zeltes diese aber bei Nässe vollständig und ist daher nur
zu ermöglichen. Da der Inhalt schnell gefriert und im trocken-kalten Klima sinnvoll.
dann mitgeführt werden müsste, sollte der Behälter Der Sinn der Außenschicht liegt darin, den
entweder unmittelbar entleert oder bis zur Leerung Körper vor Wind und/oder Wasser zu schützen.
im Schlafsack aufbewahrt werden. Um auch beim Auch im militärischen Umfeld hat sich die Verwen-
Stuhlgang die entblößte Hautfläche zur Vermeidung dung von Hochleistungsmembranen, z. B. Goretex,
von Kälteschäden zu minimieren, ist die Verwen- durchgesetzt. Sie sind nach außen wind- und was-
dung von Hosen mit einer entsprechenden Reißver- serdicht, können aber den Schweiß von innen nach
schlussöffnung im Bereich des Gesäßes sinnvoll. außen abtransportieren.
38 Diese banal erscheinenden Punkte haben in der Die Wahl der Bekleidungsschichten sollte der
Praxis erhebliche Relevanz! Aktivität angepasst werden. Hierbei ist es sinnvoller,
Für Überleben und Auftragserfüllung notwen- zu Beginn einer Aktivität weniger anzuziehen und es
dige, aber kälteempfindliche Ausrüstung (z. B. als kühl zu empfinden, als dick eingehüllt nach 5 min
Batterien für GPS-Geräte, Funkgeräte etc.) sollte in zu schwitzen. Kühlere Haut produziert weniger
den Taschen der Innenbekleidung nah am Körper Schweiß, was natürlich eine trockenere Kleidung zur
mitgeführt werden. Folge hat.
38.5 · Kälteschäden
527 38
Tagsüber sollte die Kleidung im Bedarfsfall mäßig kontrolliert und getrocknet werden. Die
durch gezieltes Öffnen der Reißverschlüsse belüftet Technik kann bei großer Kälte auch im Bereich von
werden. Am Abend sollte die Kleidung getrocknet Handschuhen, Schlafsäcken und Bekleidung ge-
werden. Besteht dazu keine Möglichkeit, muss die nutzt werden.
Bekleidung in wasserdichte Tüten verpackt mit in Der Isolation der Hände kommt eine ebenso
den Schlafsack genommen werden, um ein Einfrie- große Bedeutung zu. Fingerhandschuhe bieten ähn-
ren über Nacht zu verhindern. lich der Hand eine große Oberfläche im Vergleich
zum Volumen, ihre Isolationsleistung ist daher kon-
Tipp
struktionsbedingt eingeschränkt. In großer Kälte
sollten aus diesem Grund zusätzlich Fäustlinge zur
Manche Situationen erlauben es nicht, Klei-
Anwendung kommen, die über die Fingerhand-
dung über Nacht zu trocknen. In diesen Fällen
schuhe gezogen werden können. Feinmotorische
sollte trockene Kleidung über Nacht verwen-
Tätigkeiten, z. B. Versorgung eines Verwundeten,
det und die feuchte am nächsten Tag zu Be-
Bedienung von Funkgeräten etc.) können häufig
ginn der Aktivität wieder angezogen werden.
mit isolierten Handschuhen nicht ausgeführt wer-
Somit bleibt ein trockenes Kleidungsstück für
den. Um dabei den Wärmeverlust zu minimieren
die Ruhephasen erhalten.
und ein Festfrieren der Finger an Metalloberflächen
zu verhindern, sollten grundsätzlich immer ein
Füße und Hände sind als Körperteile mit vergleichs- dünner Kontakthandschuh (z. B. aus Seide) ge-
weise großer Oberfläche von Auskühlung und Er- tragen werden.
frierung besonders gefährdet, gleichzeitig aber für
Tipp
die Fortbewegung und Bedienung von Fahrzeugen,
Waffen und Ausrüstung besonders wichtig. Gut iso-
Wird das Schuhwerk nass (z. B. durch Einbruch
lierende Stiefel, möglichst mit herausnehmbarem
ins Eis), kommt es in kürzester Zeit (Minuten!)
(und somit besser zu trocknendem) Futter sind der
zu Erfrierungen am betroffenen Fuß. Es muss
Schlüssel zu Operationen in kalten Klimazonen.
daher umgehend entfernt werden. Aus diesem
Während in trocken-kalter Witterung (≤15 bis
Grund ist es von entscheidender Bedeutung, in
–20 °C) Stiefel aus Stoffgewebe mit Innenstiefeln aus
kalten Klimazonen zumindest im Trupp immer
Filz (Mukluks oder Kamiks) besonders geeignet
Ersatzstiefel oder Ersatzinnenstiefel mitzufüh-
sind und von vielen Armeen in arktischen Klimazo-
ren. Gleiches gilt für Ersatzkleidung.
nen genutzt werden, ist bei nass-kalter Witterung
(–15 °C bis Plusgrade) neben guter Isolation ein zu-
verlässiger Nässeschutz wichtig (z. B. Gummistie-
fel). Ein nasser Innenstiefel isoliert nicht mehr aus-
reichend! Da eine Durchfeuchtung auch durch den 38.5 Kälteschäden
Fußschweiß verursacht wird, hat sich das Konzept
des »vapor barrier liner« (Dampfsperre) bewährt: Kälteschäden treten dann ein, wenn über die Tole-
Über den Fuß, der in einer dünnen Innensocke aus ranzschwelle (»duration of limited exposure«, DLE)
Funktionsfaser oder Wolle steckt, wird ein wasser- hinaus ein Missverhältnis zwischen Wärmeproduk-
dichter sockenförmiger Überzug (notfalls auch eine tion und -verlust besteht, sei es lokal wie bei erfrie-
Plastiktüte) gestülpt, bevor der Stiefel angezogen rungsbedingten Kälteverletzungen (»freezing cold
wird. Die Isolationsschicht des Stiefels bleibt da- injuries«, FCI) und nicht-erfrierungsbedingten Käl-
durch trocken und maximal leistungsfähig, zudem teverletzungen (»non-freezing cold injuries«,
wird das Verdunsten der Flüssigkeit verhindert. NFCI) oder global wie bei der Unterkühlung (Hy-
Durch das feuchte Klima innerhalb der Innensocke pothermie, »hypothermia«). Im Falle eines Kombi-
können allerdings vermehrt Hauterkrankungen nationsproblems liegt aufgrund der hohen Sterb-
und nichterfrierungsbedingte Kälteschäden auftre- lichkeitsrate von 10–25 % die Behandlungspriorität
ten (z. B. Grabenfuß). Die Füße müssen daher regel- immer bei der Unterkühlung [15].
528 Kapitel 38 · Kalte Klimazonen

Bereits leichte Abweichungen vom Behaglich- meproduktion deutlich zu erhöhen. Hierdurch


keitsbereich mindern das Wohlbefinden. Die kommt es zur Ausbildung von Hypoxie, Hypoglyk-
kältebedingte Minderdurchblutung von Haut und ämie und Azidose. Eine Bewusstseinstrübung liegt
Extremitäten ruft Kälteempfindungen sowie Ein- noch nicht vor. Die Lippen verfärben sich aufgrund
schränkungen von Beweglichkeit, Sensibilität und der Zentralisation blau. Herzfrequenz, Blutdruck
Geschicklichkeit hervor. Durch die gleichzeitige und Atemfrequenz steigen wegen der erhöhten
Abnahme des Reaktionsvermögens, der Aufmerk- körperlichen Anstrengung. Ist die körpereigene
samkeit und der Leistungsfähigkeit erhöht sich die Wärmeproduktion ausreichend hoch oder wird ge-
Unfallgefahr. nügend Wärme zugeführt, kann die Unterkühlung
erfolgreich therapiert werden. Der Patient befindet
sich daher noch nicht in akuter Lebensgefahr (»safe
38.5.1 Hypothermie zone« oder Abwehrstadium).
Versagen die körpereigenen Abwehrmechanis-
Kommt es bei einem Patienten zum Abfall der KKT men (z. B. aufgrund von Erschöpfung der Muskula-
unter 35 °C, wird von einer Unterkühlung ge- tur), beginnt das Stadium der moderaten Hypother-
sprochen. Durch die Abkühlung laufen Stoffwech- mie: das Zittern endet, und der Patient wird teil-
selvorgänge und damit die Tätigkeit der einzelnen nahmslos und trübt zunehmend ein. Bei weiterem
Zellen im Körper langsamer ab. Eine Senkung der Absinken der KKT kommt es zur schweren Hypo-
Temperatur um 10 °C bewirkt eine Halbierung der thermie mit Bewusstlosigkeit, Atemdepression und
Geschwindigkeit chemischer Reaktionen [16]. Dies Herzrhythmusstörungen. Mit Eintritt einer mode-
führt zu vielfältigen Funktionseinschränkungen: raten Unterkühlung besteht eine Sterbewahrschein-
4 Bewusstseinstrübungen bis hin zum Koma lichkeit von 10–25 % (»danger zone« oder Erschöp-
4 Herzrhythmusstörungen (meist bradykard); sie fungsstadium), der Patient muss umgehend evaku-
gehen bei zunehmender Unterkühlung in iert werden (. Abb. 38.2) [16].
Kammerflimmern und Asystolie über
4 Gerinnungsstörungen Primäre Hypothermie
Aufgrund der Ursache unterscheidet man die pri-
Allen Funktionseinschränkungen ist gemeinsam, märe von der sekundären Hypothermie. Tritt eine
dass sie kaum einer Therapie zugänglich sind, so- Unterkühlung als Folge von Umwelteinflüssen (Käl-
lange die KKT nicht durch Wiedererwärmung te, Nässe, Wind) auf, wird sie als primäre Hypother-
angehoben wird. Gleichzeitig bewirkt der verlang- mie bezeichnet. Dieses Krankheitsbild hat gerade
samte Stoffwechsel aber auch eine deutliche Sen- bei Operationen in kalten Klimazonen und im
kung des Sauerstoffbedarfs im Gewebe um ca. 7 % Hochgebirge eine hohe Relevanz. Die Immersions-
pro 1 °C Temperaturabfall. Dadurch kann sich die hypothermie beschreibt die Sonderform der Unter-
Überlebenszeit von mangelversorgten Zellen erheb- kühlung durch Eintauchen in Wasser. Durch die
lich verlängern. Bekanntestes Beispiel ist Anna im Vergleich mit Luft 32-fach höhere Wärmeleitfä-
Bâgenholm, die 1999 beim Skifahren in einen zuge- higkeit des Wassers kühlt der Körper sehr schnell
frorenen Bach einbrach und 80 min im Eiswasser aus [16]. Die Einteilung der Hypothermie kann
eingeschlossen war, mindestens 40 min davon mit . Abb. 38.2 entnommen werden.
Kreislaufstillstand. Sie überlebte eine KKT von
13,7 °C und führt heute ein normales Leben ohne Akzidentelle Hypothermie
38 wesentliche Folgeschäden. Diesen Effekt macht Eine sekundäre Hypothermie ist nicht nur durch
man sich bei der therapeutischen Hypothermie die Witterungseinflüsse, sondern durch andere Ur-
zunutze, um neurologische Spätschäden bei Reani- sachen bedingt. Neben den für das taktische Umfeld
mationspatienten durch leichte Kühlung zu ver- weitgehend irrelevanten hormonell oder stoffwech-
mindern. selbedingten Unterkühlungen (z. B. bei Schild-
Bei einer leichten Unterkühlung versucht der drüsenstörungen) kann auch ein Trauma zu einer
Körper, durch ausgeprägtes Muskelzittern die Wär- Hypothermie führen.
38.5 · Kälteschäden
529 38

. Abb. 38.2 Einteilung der Hypothermiestadien nach der International Commission for Mountain Emergency Medicine
(ICAR MedCom) und die wesentlichen präklinischen Symptome (HT Hypothermie). (Adaptiert nach [5, 15])

Diese sog. akzidentelle Hypothermie wird in der bern). Die Verwundeten sind nicht nur Nässe, Kälte
zivilen Notfallmedizin bei über 50 % aller Trauma- und Wind ausgesetzt, es stehen im Regelfall auch
patienten vorgefunden und hat daher gerade im keine vorgewärmten Infusionen zur Verfügung.
taktischen Umfeld eine hohe Relevanz [14]. Dabei Neben den auftretenden Bewusstseinstrübun-
schränken das Trauma selbst, ein begleitendes gen und Herzrhythmusstörungen ist insbesondere
Schockgeschehen oder die Verabreichung von Nar- die durch Unterkühlung bedingte Gerinnungsstö-
kosemitteln die Fähigkeit des Körpers zur Regulie- rung (Hypothermie-induzierte Koagulopathie)
rung seiner Körperkerntemperatur ein [14]. Auch bei der akzidentellen Hypothermie von herausra-
bei Rückenmarksverletzten kann der Wärmeverlust gender Bedeutung. Die im Blutplasma gelösten Ge-
besonders hoch sein, da die schützende Minder- rinnungsproteine, aber auch die Thrombozyten,
durchblutung der Körperschale bei Kälte häufig funktionieren nur bei normaler KKT optimal. Mit
aufgehoben ist. Dementsprechend droht eine Un- jedem Grad sinkender KKT verschlechtert sich die
terkühlung des Traumapatienten auch bei normalen Gerinnung daher um etwa 10 %. Gleichzeitig be-
oder hohen Umgebungstemperaturen. günstigt die kältebedingte Zentralisation die Entste-
In der taktischen Medizin kommt zu dieser hung einer Azidose. Die Azidose wiederum führt
massiven Unterkühlungsgefahr beim Traumapati- auch zu einer deutlichen Verschlechterung der Ge-
enten noch eine verlängerte Versorgungs- und Eva- rinnungsfunktion, sodass ein Teufelskreis entsteht,
kuierungszeit hinzu. Transportmittel sind meist der in diesem Zusammenhang auch das tödliche
nicht geheizt oder sogar für ein weiteres Auskühlen Dreieck aus Hypothermie, Koagulopathie und Azi-
verantwortlich (z. B. offene Türen bei Hubschrau- dose, letale Trias, genannt wird. Die Auswirkungen
530 Kapitel 38 · Kalte Klimazonen

der letalen Trias sind so schwerwiegend, dass die men zur Vorbeugung zu treffen [17]. Die Behand-
Überlebenswahrscheinlichkeit von Schwerverletzten lung der primären und akzidentellen Hypothermie
bei der Unterschreitung einer KKT von 34 °C bereits unterscheidet sich nicht, ebenso sind im präklini-
unter 50 % sinkt. Unterschreitet die KKT 32 °C, so schen Bereich die Maßnahmen zum Wärmeerhalt
liegt die Sterblichkeit bei nahezu 100 %. Aufgrund weitgehend deckungsgleich mit denen zur Wieder-
dieser Bedeutung wird die Einteilung der Unterküh- erwärmung. Grundsätzlich muss zwischen aktiven
lungsstadien bei Traumapatienten modifiziert: Schon und passiven Maßnahmen unterschieden werden:
bei moderater Absenkung der KKT wird die Unter-
kühlung als schwer eingestuft. Passive Wiedererwärmung
> Ein hypothermer Schwerverletzter mit einer
Ein passiver Wärmeerhalt soll dafür sorgen, dass
Blutungsproblematik sollte aggressiv, d. h.
möglichst wenig der vom Körper produzierten
schnellstmöglich und mit allen zur Ver-
Wärme (ca. 80–250 W) an die Umwelt verloren
fügung stehenden Mitteln, erwärmt werden.
geht. Dadurch wird nicht nur ein weiteres Absinken
der KKT verhindert, sondern, abhängig vom Hypo-
thermiestadium, dem Körper auch eine langsame
Bergungstod Wiedererwärmung ermöglicht (ca. 1 °C/h bei erhal-
Durch stärkere aktive oder passive Bewegung oder tenem Muskelzittern).
eine schnelle Erwärmung der Peripherie kommt es Die passive Wiedererwärmung erfolgt im We-
bei schwereren Unterkühlungen zur Vasodilatation sentlichen durch Isolierung des Patienten. Hierfür
und zum Rückfluss des kalten Blutes in den Körper- werden zunächst alle feuchten oder nassen Klei-
kern. Hierdurch kann es trotz Wiedererwärmungs- dungsstücke entfernt. Je nach Lage kann ggf. trocke-
maßnahmen zu einem erneuten Absinken der KKT ne Ersatzkleidung angezogen werden. Abschlie-
kommen (»afterdrop«). Das kalte Blut ist außerdem ßend muss ein Wärmeverlust durch Einhüllen in
übersäuert und hyperkaliämisch. Bei schwerer Hy- Schlafsack, Decken, Poncholiner o. ä. erfolgen. Der
pothermie können daher schon geringe Bewegun- Umfang der Maßnahmen wird dabei von den Wit-
gen des Patienten zu schwersten Herzrhythmus- terungsbedingungen vorgegeben.
störungen führen. Diese sind häufig keiner Thera-
> Faustregel
pie zugänglich (Bergungstod) [15, 16]. Aus diesem
Der Patient sollte zumindest so warm einge-
Grund muss die Rettung bei moderater und schwe-
packt werden, wie ein Gesunder es bei den
rer Hypothermie äußerst schonend erfolgen. Die
Umgebungstemperaturen im Zelt für einen
horizontale Lagerung darf dabei nicht verändert
angenehmen Schlaf tun würde.
werden. Auch ein Winschen bei Hubschrauberret-
tung sollte wegen des extremen Risikos nicht mittels Die Auflagefläche des Patienten auf Boden oder
Rettungsschlinge, sondern immer mit Schleiftrage Trage muss gut isoliert werden. Hier eignen sich
o. ä. in horizontaler Lage erfolgen. Zur Untersu- Isomatten hervorragend. Sind Gefechtshandlungen
chung und Entfernung nasser Kleidungsstücke soll- wahrscheinlich, sind Schaumstoffmatten o. ä. auf-
te immer eine Schere benutzt werden, um die Bewe- grund der einfacheren Handhabung und der
gung des Patienten auf ein Minimum zu reduzieren. Robustheit den (selbstaufblasenden) Luftmatratzen
vorzuziehen. Sind Tragen vorhanden, sollten diese
Therapie grundsätzlich mit einer Isolierung versehen werden
Die Vermeidung einer schweren Hypothermie ist (z. B. Isomatte mit Klebeband darauf befestigen).
38 deutlich einfacher als ihre Behandlung. Vorbeugen- Dies stellt sicher, dass auch in Stresssituationen im-
de Maßnahmen sollten daher bei jedem Patienten mer eine Isolierung gegeben ist. Werden Tragehilfen
mit relevanter Verletzung durchgeführt werden. Da verwendet (z. B. Bergetücher), muss gerade in hek-
eine akzidentelle Hypothermie unabhängig von der tischen Situationen darauf geachtet werden, dass
Umgebungstemperatur auftritt, sind beim Schwer- diese nicht durch Maßnahmen zum Wärmeerhalt
verwundeten auch bei normalen und warmen Um- eingehüllt werden und zu jeder Zeit zum Transport
gebungstemperaturen immer geeignete Maßnah- des Patienten genutzt werden können.
38.5 · Kälteschäden
531 38
Muss eine Isolierung am Boden improvisiert 4 Eine gute Kombination aus Isolation und
werden, ist dies mit Schlafsäcken, dünner Kleidung Tragehilfe bietet das APLS Thermal Guard von
etc. kaum effektiv möglich: das Material wird durch PaperPak Industries. Ein H-förmiger, über die
das Körpergewicht zusammengedrückt und verliert gesamte Länge verlaufender Reißverschluss er-
einen Großteil seiner Isolationsfähigkeit. Besser ist möglicht eine gute Zugänglichkeit und leichte
die Unterpolsterung mit Materialien wie Tannen- Handhabung. Im Bereich der Arme und Beine
reisig, Stroh etc., das Luftpolster bildet. Wird dieses sind jeweils rechts und links mit Klett ver-
in einen Poncho, Biwaksack o. ä. eingehüllt, wird es schlossene Öffnungen vorhanden, über die bei
leichter handhabbar und die isolierende, erwärmte geringem Wärmeverlust die Extremitäten zu-
Luft besser im Material gehalten. In Ausnahmefälle gänglich sind. Es lassen sich auch ein Infusi-
kann auch eine Lagerung auf Rucksäcken hilfreich onsarm oder mittels Tourniquet kontrollierte
sein. Die Isolationsmaßnahmen sollten außen her- Extremitätenblutungen zur besseren Kontrolle
um wind- und ggf. wasserdicht abgedeckt werden. nach außen verlagern.
Ideal geeignet sind hier Biwaksäcke mit langem
Reißverschluss. Aktive Wiedererwärmung
Besondere Aufmerksamkeit sollte dem Kopf ge- Die aktive Wiedererwärmung nutzt die Zufuhr von
widmet werden, über den der Körper viel Wärme Wärme, um die KKT zu erhöhen. Die Möglichkei-
verliert. Die Verwendung einer einfachen Mütze, ten im präklinischen Bereich sind dabei sehr einge-
möglichst aus Wolle oder Kunstfaser, hat sich be- schränkt bzgl. der Menge der zuführbaren Energie.
währt. Bei sehr niedrigen Außentemperaturen oder Sie führen meist nicht zu einer echten externen
hohen Windgeschwindigkeiten muss auch die Ab- Wiedererwärmung, wie sie in stationären Einrich-
deckung des Gesichts gut abgewogen werden. Gera- tungen möglich ist. Sie sorgen allerdings dafür, dass
de bei längeren Transportwegen in arktischen Kli- durch Schaffung einer warmen Umgebungstempe-
mazonen resultiert ein freiliegendes Gesicht zumin- ratur die Wiedererwärmung des Körpers unter-
dest in Erfrierungen. Bei einem bedeckten Gesicht stützt wird und eine weitere Abkühlung, z. B. durch
ist hingegen die Möglichkeit zur Überwachung Zufuhr von kalten Infusionen, verhindert wird. Da
deutlich eingeschränkt. die nicht durchblutete Haut beim zentralisierten Pa-
An dieser Stelle kann aus Platzgründen keine tienten eine geringe Toleranz gegenüber Hitze hat,
erschöpfende Marktübersicht geboten werden. Wir sollten zur Vermeidung von Verbrennungen Wär-
möchten jedoch folgende Produkte erwähnen, die mequellen nicht direkt auf die Haut gelegt werden.
sich in der Praxis gut bewährt haben: Nachfolgende Punkte müssen in der Therapie
4 Als klein verpackte und robuste Möglichkeit der Hypothermie besonders beachtet werden:
zum Wärmeerhalt haben sich Produkte wie 4 Als Standardprodukt haben sich chemische
Survival Blanket oder Survival Bag von Bliz- Wärmeerzeuger, wie die Ready-Heat-Decke
zard gut bewährt. Sie bestehen wie Rettungsde- von TechTrade, weltweit durchgesetzt. Es han-
cken aus einer reflektierenden Folie, verfügen delt sich um eine Einmalvliesdecke, in die
aber zusätzlich über mehrere Schichten von Taschen mit chemischen Wärmeerzeugern ein-
Luftkammern. Neben einer guten Isolationslei- gearbeitet sind. Nach Kontakt mit Sauerstoff
stung bieten sie auch einen Schutz gegen Wind produzieren sie ca. 40 °C Wärme über 6–8 h.
und Regen. Wie auch die normale Rettungsde- Um diese Temperaturen zu erreichen, braucht
cke ist die Isolationsleistung an den Auflage- die Decke ca. 15–30 min. Es sind auch kleinere
flächen allerdings sehr eingeschränkt. Ein ent- Decken mit einem Wärmeelement oder in
lang der Decke bzw. des Schlafsacks laufender Westenform erhältlich, die klein und leicht
Klebestreifen ermöglicht das einfache Einbrin- genug für ein Mitführen im Rucksack sind.
gen des Patienten und erleichtert die Zugäng- Kleinste Löcher in der Vakuumverpackung
lichkeit. Eine Alternative stellt z. B. das Hypo- können bei der Ready-Heat-Decke durch vor-
thermia Prevention and Management Kit von zeitigen Sauerstoffkontakt zu Versagern führen.
North American Rescue dar. Außerdem ist es wichtig, dem Produkt vor dem
532 Kapitel 38 · Kalte Klimazonen

Verpacken in Isolationsschichten einen ausrei- 4 Im stationären Bereich bestehen neben der


chenden Sauerstoffkontakt zu ermöglichen. Warmlufterzeugung noch die Möglichkeit einer
Hierfür sollte sie gut aufgeschüttelt werden und Spülung mit warmer Flüssigkeit (Lavage) von
wenige Minuten offen liegen oder hängen. Auf- Magen und Darm. Nach operativer Eröffnung
grund des erniedrigten Sauerstoffpartialdrucks ist auch eine Spülung von Brustkorb und
funktionieren chemische Wärmeerzeuger in Bauchhöhle möglich. In entsprechenden Zen-
Höhen über 3.000 m über NN unzureichend. tren stehen Herz-Lungen-Maschinen und Ge-
4 Wo immer möglich, sollten warme Infusionen räte zur extrakorporalen Membranoxygenie-
verabreicht werden. Ihr Beitrag zur Wiederer- rung (ECMO) oder Hämofiltration zur Ver-
wärmung ist insgesamt aber gering. Kalte Infu- fügung. Diese Erwärmung von Blut außerhalb
sionen verzögern die Wiedererwärmung er- des Körpers ist die effektivste Möglichkeit einer
heblich und sollten daher vermieden werden gesteuerten Wiedererwärmung, ist im Aus-
(7 Abschn. 38.6). landseinsatz aber in der Regel nicht vorhanden.
4 Warmluftgeräte (z. B. Bair Hugger von Ari-
zant, WarmTouch von Covidien) stellen im Warme Bäder, Duschen o. ä. führen in der Regel zu
klinischen Bereich eine leistungsfähige Option einer schnellen Aufhebung der Zentralisation und
(ca. 600–900 W) zur Wiedererwärmung dar können zu erheblichen Kreislaufproblemen bis hin
und werden von den TCCC-Leitlinien emp- zum Bergetod führen. Sie sind daher in der präkli-
fohlen [17]. Für den präklinischen taktischen nischen Versorgung nicht indiziert.
Einsatz sind sie aber zu groß, zu schwer und
verbrauchen zu viel Energie. Eine transpor- Hibler-Packung
table Alternative stellt das System HEATPAC Die Hibler-Packung ist eine Form der aktiven Wie-
von Normeca AS dar. Es erzeugt Wärme mittels dererwärmung, bei der die Wärmezufuhr auf den
Brennelementen aus Kohle und nutzt Strom Körperstamm begrenzt wird. Hierdurch soll ein
lediglich für ein Gebläse zur Verteilung der Bergungstod durch zu schnelle wärmedingte Auf-
Wärme. Dadurch lässt sich die Batterie klein hebung der Zentralisation vermieden werden.
halten, das Gerät wiegt insgesamt ca. 500 g. Ein Grundsätzlich sollte beim nicht mehr zitternden
Brennelement produziert mehrere Stunden Patienten die Wärmezufuhr bis zur Besserung im-
lang ca. 250 W Wärme und kann daher effektiv mer in Form einer Hibler-Packung erfolgen [9].
die KKT anheben. Die Warmluft wird in vier Die traditionelle Hibler-Packung wird mit Woll-
Textilschläuche geblasen, die um den Körper- decken und einer feucht-warmen Packung gebaut.
stamm gewickelt oder entlang der Extremi- Hierfür werden 2 Decken je nach Größe nebenein-
täten gelegt werden können. ander oder leicht überlappend so auf den Boden
4 Die Nutzung der Körperwärme anderer Men- gelegt, dass der Patient darauf ausreichend Platz
schen ist eine bewährte Methode zur Wieder- finden kann. Darauf wird eine Rettungsdecke aus-
erwärmung, da erheblich mehr Wärme als bei gebreitet und zwei weitere Wolldecken. Der Patient
der Nutzung von chemischen Wärmeerzeu- wird in Rückenlage auf die oberste Decke gelegt,
gern übertragen werden kann. Typischerweise nachdem ggf. nasse Kleidung entfernt worden ist.
wird ein möglichst großer Körperkontakt in Nun wird ein Handtuch, Pullover o. ä. mit ca. 40 °C
Seitenlage gesucht, die Isolation muss Patient heißem Wasser (z. B. aus einer mitgeführtem Ther-
und Helfer umschließen. Hierfür bietet sich die moskanne) durchfeuchtet, auf ungefähr 40 × 40 cm
38 Nutzung von zwei mittels Reißverschluss ge- Größe zusammengefaltet und dann auf der Brust
koppelten Schlafsäcken an. Problematisch ist, des Patienten platziert. Wurde die Unterwäsche/
dass bei dieser Variante Wärme kaum gezielt Unterbekleidung entfernt, sollte grundsätzlich ein
auf den Körperkern einwirken kann. trockenes T-Shirt, Handtuch o. ä. zur Vermeidung
4 Spezielle Beatmungsgeräte ermöglichen eine von Verbrennungen dazwischen gelegt werden.
Warmluftbeatmung. Sie sind jedoch meist im Dann werden alle Decken inkl. der Rettungsdecke
präklinischen Bereich nicht verfügbar. so eingeschlagen, dass das Gesicht frei bleibt.
38.5 · Kälteschäden
533 38
Durch moderne Materialien lässt sich eine Hib- Sonstige Maßnahmen
ler-Packung auch mit im Rucksack mitführbarem Die Grundsätze der Therapie (. Abb. 38.4) richten
Material herstellen (. Abb. 38.3). sich im Wesentlichen nach aktuellen notfallmedizi-
nischen Standards, z. B. »Advanced Cardiac Life
Support« (ACLS). Folgende Aspekte sind dabei zu
berücksichtigen:
4 Bei moderaten und schweren Unterkühlungen
nach Beendigung des Muskelzitterns ist der
Blutzuckerspiegel häufig reduziert und sollte
durch Glukosezufuhr in den Normalbereich
angehoben werden. Steht kein Blutzuckermess-
gerät zur Verfügung, sollte zum Ausschluss ei-
ner Hypoglykämie als Ursache der Bewusst-
seinstrübung Glukose i.v. appliziert werden
(40–50 ml Glukose 40 %). Eine Hyperglykämie
a
kann im taktischen Umfeld bei normalen Eva-
kuierungszeiten toleriert werden.
4 Bei Atmungs- oder Kreislaufstillstand sollte
wegen des neuroprotektiven Effekts der Unter-
kühlung ausdauernd reanimiert werden. Ein
Transport unter Reanimation in eine Behand-
lungseinrichtung ist grundsätzlich sinnvoll,
wenn die taktische Lage es erlaubt. Es gilt der
Grundsatz von Gregory: »Niemand ist tot, bis
er wiedererwärmt und tot ist«. Tritt eine Asys-
tolie bei KKT >32 °C auf, ist diese meist nicht
b
durch die Unterkühlung bedingt und hat eine
schlechte Prognose [16]. Defibrillation und
Kardioversion sind in der Regel nur bei einer
KKT >30 °C erfolgreich. Darunter sollte der
Schwerpunkt der Maßnahmen auf die Wieder-
erwärmung gelegt werden. Das Erkennen des
Kreislaufstillstandes ist beim Unterkühlten
häufig schwierig. Die Pulskontrolle sollte auf
60 s verlängert werden, die Ableitung eines
EKG sinnvoll.
c 4 Verabreichte Medikamente haben aufgrund
der verlangsamten Stoffwechselvorgänge einen
. Abb. 38.3a–c Modifizierte Hibler-Packung. Ein Rettungs- deutlich verzögerten Wirkungseintritt und
schlafsack (Survival Bag, Fa. Blizzard) als Isolationsschicht
eine verlängerte Halbwertzeit. Wird die Dosis
wird dabei mit einem chemischen Wärmeerzeuger (Ready-
Heat, Fa. TechTrade) oder einer traditionellen feucht-warmen
nicht angepasst, droht eine Überdosierung, die
Kompresse kombiniert. Die Ready-Heat-Decke kann so ge- bei Wiedererwärmung wirksam wird. Antiar-
faltet werden, dass die Vliesdecke gleichzeitig als Kontakt- rhythmika und Katecholamine sind bei einer
schutz zwischen der Haut und den Wärmeelementen liegt KKT <30 °C meist unwirksam, ihre Gabe ist in
(a). Eine zusammengefaltete Rettungsdecke wird dann um
diesem Fall daher auch im Rahmen einer
den Körperkern gewickelt (b), der Rettungsschlafsack bildet
die Außenhülle (c). In jedem Fall sollte eine Isomatte unter-
Reanimation nicht sinnvoll [16].
gelegt werden. Eine Mütze erleichtert und verbessert die 4 Sofern Sauerstoff zur Verfügung steht, sollte
Isolation des Kopfes eine Sauerstoffgabe erfolgen.
534 Kapitel 38 · Kalte Klimazonen

Ansprechbar?

Muskelzittern? Atmung vorhanden?

Wärmezufuhr Reanimation*
Windschutz warme Infusionen
warme Getränke (Medikamente/Defibrillation
Kohlenhydratzufuhr** nur bei KKR >30 °C)

Wohlbefingen? ROSC?***

ausdauernde Reanimation
AUFTRAG FORTSETZEN bis zum Erreichen einer
medizinischer
Behandlungseinrichtung
(möglichst ROLE 4)
»Keiner ist tot, bis er wieder
erwärmt und tot ist!«

Körperkerntemperatur

35–32 °C 32–28 °C 28–24 °C


(36–34 °C bei Trauma) (34–32 °C bei Trauma) (< 32 °C bei Trauma)

milde Hypothermie moderate Hypothermie schwere Hypothermie

Wiedererwärmung Wiedererwärmung * passiv


• passiv • aktiv extern (nur Körperstamm: Hibler-Packung)
• aktiv extern • warme Infusionen • Warmluft-Beatmung
horizontale Lagerung
lageangepasste Vorsicht: Bergungstod!
EVAKUIERUNG SOFORTIGE EVAKUIERUNG! LEBEBSGEFAHR!

stationäre Behandlungseinrichtung
38 ROLE 2/3 ROLE 4
* nach BLS/ACLS-Leitlinien
– warme Infusionen – extrakorporale
** z.B. Getränke süßen, Riegel
– Warmluftbeatmung Wiedererwärmung
*** Wiedereinsetzen eines
– warme Magen-Darm-Spülung (ECMO, Herz-Lungen-
Spontankreislaufes
– warme Pleural-/Peritoneal-Lavage Maschine)

. Abb. 38.4 Behandlungsalgorithmus der Hypothermie. ROSC »Return of Spontaneous Circulation«. (Adaptiert nach [15])
38.5 · Kälteschäden
535 38

a b

. Abb. 38.5a,b Erfrierung. a Oberflächliche Erfrierungen mit Blasenbildung. (Mit freundlicher Genehmigung von Dr. J. Klatt).
b Tiefe Erfrierungen, die auch auf Wiedererwärmung nicht ansprachen und Monate später amputiert werden mussten. Beide
Aufnahmen entstanden vor der Wiedererwärmung. (Aus [4]).

38.5.2 Lokale Kälteschäden 4 Die periphere Vasokonstriktion führt zu einem


verminderten Blutfluss im Gewebe. Das lang-
Lokale Kälteschäden betreffen nur einzelne Körper- sam fließende Blut bildet Mikrothromben, ver-
regionen. Bei Temperaturen von 0–15 °C (feuchte stopft die Kapillaren und führt dadurch zum
Kälte) treten typischerweise NFCI auf, während bei hypoxischen Gewebeschaden.
Temperaturen unter 0 °C (trockene Kälte) echte Er- 4 Die aufgrund von unzureichender Flüssigkeits-
frierungen üblich sind. aufnahme und Kältediurese meist bestehende
Dehydratation führt zu einer Erhöhung des
Erfrierungen Hämatokrits, was die Bildung von Mikro-
jDefinition thromben in den Kapillaren begünstigt.
Erfrierungen, auch FCI genannt, entstehen, wenn
Körperteile längerfristig Temperaturen unter 0 °C jKlassifikation
ausgesetzt werden. Aufgrund des ungünstigen Ver- Die klassische Stadieneinteilung der Erfrierungen
hältnisses von Oberfläche zu Volumen treten Er- in 4 Stadien analog zu den Verbrennungsgraden
frierungen meist im Bereich der Füße und Hände wird in der klinischen Anwendung zunehmend ver-
auf. Auch exponierte Stellen wie Nasenspitze und lassen. Derzeit wird meist eine praxisorientierte
Ohren sind häufig betroffen. Bei extremen Minus- Einteilung in oberflächliche und tiefe Erfrierungen
graden kann es auch zu Erfrierungen in den Atem- verwendet [5, 7]. Eine definitive Einteilung in ober-
wegen (–40 °C) bis hin zum Zerspringen der Zähne flächliche oder tiefe Erfrierungen ist meist erst nach
(–50 °C) kommen [15]. 4–5 Tagen möglich [1]:
4 Oberflächliche Erfrierungen erstrecken sich
jPathophysiologie nur auf die Haut und das Unterhautfettgewebe
Die Entstehung von Erfrierungen ist v. a. durch drei und können für den Unerfahrenen bereits dra-
Mechanismen bedingt [1, 7, 10]: matisch aussehen. Sie sind meist blass zyano-
4 Die direkte physikalische Kälteeinwirkung tisch verfärbt (. Abb. 38.5a).
führt zur Erfrierung des Gewebes mit Bildung 4 Tiefe Erfrierungen sind alle, die subfaszial lie-
von Eiskristallen, die über Änderung des gen, also die Muskulatur, Bänder und Gelenke
osmotischen Gefälles Zellen dehydrieren oder in der Tiefe miterfassen. Sie sehen meist grau-
mechanisch zerstören. violett und »blutleer« aus (. Abb. 38.5b).
536 Kapitel 38 · Kalte Klimazonen

jSymptome geschlossen werden kann und eine gezielte schnelle


Sinkt die Hauttemperatur unter 10 °C, wird die Haut Erwärmung in einem Wasserbad von 35–40 °C
in der Regel gefühllos. Die Körperteile werden steif (»rapid rewarming«) über 30–60 min erfolgen kann
und die Feinmotorik geht verloren. Dementspre- [10]. Sie stellt neben der Anlage von sterilen Ver-
chend werden die Erfrierungen häufig erst zu spät bänden den einzigen wissenschaftlich gesicherten
bemerkt. Dem kann am besten durch regelmäßige Therapiestandard dar [7]. Dabei muss das Wasser-
Kontrolle, insbesondere der Füße, vorgebeugt wer- volumen groß genug sein, damit das Eintauchen der
den. Neben dem Taubheitsgefühl selbst wird häufig Gliedmaße nicht zu einem wesentlichen Absinken
die Wahrnehmung der Extremität als ein Stück Holz der Temperatur führt. Der Behälter sollte das Zugie-
beschrieben. Ein auftretendes Taubheitsgefühl ist ßen von warmem Wasser leicht möglich machen,
ein ernsthaftes Alarmzeichen und sollte zu soforti- um die Wassertemperatur über die Zeit halten zu
gem Handeln Anlass geben [1]. können. Die Wiedererwärmung muss bis zur voll-
Das Ausmaß der Schädigung wird erst mit dem ständigen Erholung (rote/rosa Färbung des Areals)
Aufwärmen klar. Sind 30 min nach Beginn des Auf- fortgeführt werden (mindestens 30 min, besser
tauens alle Symptome verschwunden, handelt es 60 min). Ein Zusatz von Wunddesinfektionsmitteln
sich um eine oberflächliche Erfrierung [10]. Sie ge- (z. B. Iodlösung) zum Wasser ist empfehlenswert,
hen mit einer deutlich erhöhten Anfälligkeit für um die Infektionsrate zu senken. Vor Wiedererwär-
erneute Erfrierungen für einige Monate einher [10]. mung muss ggf. vorhandener Schmuck, Uhren etc.
wegen der zu erwartenden Ödeme entfernt werden!
jTherapie Die in Kälte meist vorhandene Dehydratation sollte
Im erfrorenen Gewebe kommt es beim Wiederer- zur Verbesserung der Mikrozirkulation durch Flüs-
wärmen reflektorisch zu einer massiven Durchblu- sigkeitszufuhr (z. B. warme Getränke) ausgeglichen
tung. Aufgrund von Hypoxie und resultierender werden. Im Anschluss an die durchgeführte Wie-
Azidose werden die Kapillarwände durchlässig, was dererwärmung sollte die Gliedmaße zur Ödempro-
eine massive Ödem- und Blasenbildung und erheb- phylaxe hochgelagert werden.
liche Schmerzen verursacht. Wiedererwärmte Ex- Ein Wiedererwärmung im Wasserbad bedarf
tremitäten sind daher meist nicht mehr für Tätigkei- einer gewissen Logistik (wettergeschützte, warme
ten zu gebrauchen. Im Extremfall können die Öde- Unterkunft, ausreichend warmes Wasser) und führt
me auch ein Kompartmentsyndrom verursachen zu erheblichen Ödemen und Schmerzen.
[1]. Bleiben Ödeme und Blasenbildung aus und er- ! Mit einem erfrorenen Fuß ist der Soldat noch
holt sich das betroffene Areal innerhalb weniger bedingt gehfähig, mit einem wiedererwärmten
Minuten, liegt nur eine leichte Erfrierung vor. Lie- aber keinesfalls.
gen Blasen vor, sind sie bei oberflächlichen Erfrie-
rungen durchsichtig (serös) und bei tiefen blutig Eine Hand mit einem erfrorenen Finger kann
(hämatoserös) gefüllt. Sie bilden die Trennlinie zwi- durchaus noch Waffe oder Funkgerät bedienen,
schen oberflächlichen und tiefen Erfrierungen. Tre- eine aufgetaute nicht mehr. In taktischen Lagen
ten keine Blasen, aber ein deutliches Ödem proxi- muss eine Wiedererwärmung daher sehr voraus-
mal des geschädigten Areals auf, ist von einer tiefen schauend abgewogen werden. Ist ein »rapid rewar-
Erfrierung auszugehen. Das Ödem kann dabei gro- ming« nicht möglich oder taktisch nicht sinnvoll
ße Ausmaße annehmen. Im Zweifelsfall ist immer (Ausweichen bei Feinddruck, offenes Feuer nicht
von einer tiefen Erfrierung auszugehen. möglich, Patient kann wegen Lage oder Gelände
38 Die Dauer der Erfrierung sollte durch eine frü- nicht getragen werden, Gliedmaße wird für den
hestmögliche Wiedererwärmung so kurz wie mög- Rückweg/Abstieg benötigt), muss die Wiedererwär-
lich gehalten werden. Kommt es allerdings zum mung hinausgeschoben werden. Bei tiefen Erfrie-
erneuten Einfrieren durch Kälteexposition und an- rungen können relativ frühzeitig auch vor Wieder-
schließendem Auftauen, verstärken sich die Gewe- erwärmung Ödeme auftreten, die insbesondere an
beschäden erheblich [7]. Das Auftauen sollte daher den Füßen zu unangenehmen Druckgefühlen füh-
erst erfolgen, wenn ein Wiedergefrieren sicher aus- ren können. Sie dürfen nicht dazu verleiten, die
38.5 · Kälteschäden
537 38
Stiefel auszuziehen. Diese können sonst nicht mehr Eine interessante Alternative in der Hand des
angezogen werden, ein weiterer Fußmarsch ist dann Geübten ist die Anwendung einer Regionalanäs-
nicht mehr möglich [1, 15]. thesie, z. B. als Hand-/Fußblock- oder auch als ante-
Bei gleichzeitig vorliegender Hypothermie hat riorer Femoralisblock, da hier neben der guten Anal-
deren Behandlung Vorrang. Ein »rapid rewarming« gesie zusätzlich die periphere Vasodilatation eine
sollte erst erfolgen, wenn die KKT mindestens 35 °C Verbesserung der Durchblutung bewirkt [8].
erreicht hat [10]. Weiterhin scheinen sich zusätzlich zu ASS die
Bei leichten Erfrierungen von Händen oder Gabe von Antikoagulanzien, z. B. niedermolekulare
Füßen kann das Wiederwärmen unter den eigenen Heparine oder orale Antikoagulation, sowie die Gabe
Achseln oder der Jacke des Kameraden erfolgen. von Prostavasinpräparaten und Gewebe-Plasmino-
Tritt eine Erholung innerhalb von 10 min ein, ist das gen-Aktivator (tPA) als interessante neue Therapie-
Vorliegen einer schwerwiegenderen Erfrierung so ansätze zu zeigen [14, 20]. Handfort et al. {21} stellen
unwahrscheinlich, dass die Tätigkeit weiter fortge- hierzu konkrete Behandlungsprotokolle vor. Ferner
führt werden kann. Allerdings bleibt das Auftreten sollte die Möglichkeit einer Sauerstoff-Überdruckbe-
eines erneuten Kälteschadens ohne Verbesserung handlung in einer Druckkammer auch deutlich zeit-
der vorbeugenden Maßnahmen sehr wahrschein- verzögert in Betracht gezogen werden [22].
lich. Das Einreiben mit Schnee vergrößert vorhan-
Tipp
denen Schaden und sollte unterbleiben, ebenso eine
Wiedererwärmung mit unkontrollierten Tempera-
Aufgrund selbst gemachter Erfahrungen
turen (z. B. am Ofen, Motorblock).
empfehlen wir die frühzeitige Kontaktauf-
Nach dem Auftauen sollte die Gliedmaße steril
nahme mit dem Zielkrankenhaus, in dem die
abgedeckt und zum Schutz vor mechanischer Schä-
Folgebehandlung im Heimatland stattfinden
digung locker und gepolstert verbunden werden [1,
soll, um gemeinsam Therapie und Evakuie-
7]. Geschlossene Blasen sollten zur Minderung der
rungs- bzw. Repatriierungsnotwendigkeit
Infektionsgefahr mindestens 1 Woche belassen und
festzulegen.
nur bei zu starker Spannung steril punktiert wer-
den, offene Blasen können vorsichtig abgetragen
werden [1, 7]. Zweimal täglich sollte ein Wasserbad Die Sauerstoffversorgung des Gewebes kann durch
bei 37 °C mit Zusatz von Desinfektionsmitteln er- Sauerstoffgabe optimiert werden. Insbesondere bei
folgen [1]. Treten Infektionen auf, sollten sie anti- den sehr niedrigen Sauerstoffpartialdrücken in Hö-
biotisch therapiert werden. Eine prophylaktische hen von über 4.000 m ist die Gabe indiziert, Sauer-
Gabe wird allerdings nicht empfohlen [1, 7]. Teta- stoff allerdings nur selten verfügbar [1].
nusschutz sollte bei Einsatzkräften ohnehin gege- Bei oberflächlichen Läsionen ist eine 6-mona-
ben sein, muss sonst aber zeitgerecht erfolgen [1]. tige, bei tiefen sogar eine 12-monatige absolute
Das Auftauen ist sehr schmerzhaft, und die Kältekarenz einzuhalten. Eine neuerliche Exposi-
Gabe hochpotenter Analgetika (z. B. Novalgin, tion würde dieselbe fatale Prognose wie eine akute
Opiate) in den meisten Fällen notwendig. Zur Ver- Re-Erfrierung haben. . Abb. 38.6 stellt in einem
besserung der Mikroperfusion und der Reduzie- Fließdiagramm den Algorithmus graphisch dar.
rung von Entzündungsbotenstoffen kann frühest-
möglich Acetylsalicylsäure (z. B. Aspirin, 1-mal Nicht-erfrierungsbedingte Kälteschäden
300 mg/Tag) verabreicht werden [1]. Aufgrund des jDefinition
erhöhten Blutungsrisikos sollte der Einsatz in Lagen Nichterfrierungsbedingte Kälteschäden entstehen,
mit erhöhtem Verwundungs- oder Verletzungsrisi- wenn das Gewebe über mehrere Stunden oder Tage
ko allerdings gut abgewogen werden. In diesem Fall feuchter Kälte (0–15 °C) ausgesetzt ist [10, 11]. Es
ist Ibuprofen empfehlenswert (3-mal 800 mg/Tag), kommt dabei im Gegensatz zu Erfrierungen nicht
das ebenfalls analgetisch wirkt, aber eine kürzere zum Einfrieren von Gewebeflüssigkeit. Dieser
und geringere Beeinträchtigung der Blutgerinnung »Kältebrand« wurde im Matsch der Schützengrä-
aufweist. ben der Westfront des 1. Weltkriegs nach tage-
538 Kapitel 38 · Kalte Klimazonen

Erfrierung

MEDEVAC erfrorenes Körperteil erlaubt taktische Lage Wiedergefrieren


möglich? für Rückweg Auftauen? ausgeschlossen?
notwendig (z.B. Fuß)? Warmes Wasser verfügbar?

Rückweg/Abstieg
MEDEVAC
zur nächsten medizinischen
(locker verbinden,
Behandlungseinrichtung
möglichst
(locker verbinden,
gepolstert)
möglichst gepolstert)
»rapid warming«
Eintauchen in 35–40 °C warmes Wasser
Auftrag ggf. (Thermometer, Ellenbogentest)
nach maximal 10 min.
fortsetzen! Temperatur durch Zugießen von
symptomfrei?
Prävention warmem Wasser konstant halten
verbessern!

»rapid warming« bis zur vollständigen Erholung fortsetzen


(mindestens 30, besser 60 min.)!
Blasen nicht öffnen, bei Spannung durch sterile Punktion
(Kanüle) entlasten!

Evakuierung zur nächsten medizinischen Behandlungseinrichtung


Vorsicht! Wiedererwärmte Gliedmaßen sind nicht mehr einsatzfähig!

. Abb. 38.6 Algorithmus zur Behandlung von Erfrierungen unter taktischen Bedingungen [5, 15]

langem Tragen von durchnässten Stiefeln häufig heitsbilder hervorrufen, z. B. den tropischen Graben-
beobachtet. Er erhielt in dieser Zeit den Namen fuß (»paddy foot«).
»Grabenfuß« (»trench foot«). Das Krankheitsbild Der zu Grunde liegende Mechanismus scheint
tritt meist gehäuft auf und hatte z. B. im Falkland- eine Reperfusionsverletzung nach längeren Phasen
krieg durch hohe Ausfallraten einen erheblichen von peripherer Vasokonstriktion zu sein [11, 12].
Einfluss auf die Operationsführung [10].
Der Immersionsfuß (längeres Eintauchen in jPathophysiologie
38 Wasser, z. B. bei Schiffbrüchigen) zeigt eine nahezu NFCI sind durch eine verlängerte Vasokonstriktion
deckungsgleiche Symptomatik, wie auch der von in gekennzeichnet. Neben Kälte sind Schmerz, Angst,
U-Bahn-Tunneln schutzsuchenden Einwohner enges Schuhwerk und Bewegungslosigkeit Fakto-
Londons im 2. Weltkrieg bekannte Bunkerfuß ren, die eine Vasokonstriktion durch Erhöhung des
(»shelter limb«). Auch in warmen Klimazonen kann Sympathikotonus verursachen oder mechanisch die
längerer Kontakt mit Nässe oder Feuchtigkeit durch Durchblutung einschränken. Periphere Nerven
deren gute Wärmeleitfähigkeit ähnliche Krank- sind besonders empfindlich gegenüber Mangel-
38.5 · Kälteschäden
539 38
durchblutung und kalten Temperaturen und wer- pulse aber kräftig tastbar. Häufig treten flohstichar-
den relativ schnell geschädigt [11]. tige (petechiale) Hautblutungen auf, gelegentlich
Die Vasokonstriktion führt zur Schädigung der auch Blutblasen. Das Gefühl kommt frühzeitig zu-
Gefäßwände mit Bildung von Endothellücken. Die rück und geht schnell in starke brennende oder po-
Lücken dienen Thrombozyten als Anhaftungs- chende Schmerzen über. Diese halten häufig länger
punkte, es bilden sich Mikrothromben, die Kapilla- als bei wiedererwärmten Erfrierungen an und errei-
ren verstopfen. Dies lässt die Sauerstoffversorgung chen nach 24–36 h meist nachts und insbesondere
des betroffenen Gewebes nahezu vollends erliegen. im Bereich der Fußsohlen ihren Höhepunkt. Erfolgt
Die Lücken im Gefäßendothel bewirken eine erhöh- keine adäquate Analgesie, können auch nach Abhei-
te Durchlässigkeit der Gefäßwand. Dies führt bei lung der Schädigung starke Schmerzen persistieren.
erneuter Durchblutung während des Aufwärmens Die posthyperäme Phase dauert über Wochen
zur Ausbildung von massiven Ödemen, wenn Plas- bis Monate an. Auch wenn die Gliedmaße wieder
ma in den Extravasalraum übertritt. Das Gewebe normal aussieht, ist trotzdem eine stark erhöhe Käl-
scheint bei Reperfusion durch sich bildende Sauer- teempfindlichkeit gegeben. In sehr schweren Fällen
stoffradikale zusätzlich geschädigt zu werden [11]. kann es auch zu bleibenden Gewebeschäden bis hin
zur Amputation kommen [11].
jVerlauf
NFCI verlaufen in vier typischen Phasen, deren jTherapie
Dauer variiert und die sich teilweise überlappen Es gibt Hinweise darauf, dass ein schnelles Wieder-
können. Die prähyperämische Phase (Stadium I erwärmen wie bei Erfrierungen das Ausmaß des
nach Ungley) stellt die vor einer Behandlung auftre- Gewebeschadens bei Grabenfuß deutlich vergrö-
tende Phase dar, mit der der Patient sich vorstellt. ßert. Es sollte daher eine langsame Wiedererwär-
Sie ist von massiver Vasokonstriktion geprägt und mung, z. B. durch Aufenthalt in einer warmen Un-
kann sich durch folgende Symptome äußern: terkunft oder passive Maßnahmen zur Wiederer-
4 Taubheitsgefühle bis hin zur Gefühllosigkeit wärmung, erfolgen [11]. Die sonstige Behandlung
im betroffenen Areal orientiert sich in der präklinischen Phase an der von
4 Gangunsicherheit Erfrierungen. Aufgrund der, analog zu den Erfrie-
4 Laufen fühlt sich an »wie auf Luft oder Watte« rungen auftretenden, massiven Ödeme, sollte auch
4 die Haut ist im Anfangsstadium häufig gerötet, beim Grabenfuß eine Erwärmung erst erfolgen,
später dann marmoriert, blass oder weißlich- wenn eine erneute Kälteeinwirkung ausgeschlossen
gelb werden kann. Der Soldat ist nach der Erwärmung in
4 Blasen treten selten auf der Regel nicht mehr einsatzfähig und muss getra-
4 ein kapillarer Reperfusionstest am Nagel ist gen werden.
verlängert Hypothermie, Grabenfuß und Erfrierungen
4 die Fußpulse sind meist schwach oder nicht können durchaus nebeneinander vorkommen. Sind
mehr tastbar verschiedene Extremitäten betroffen, kann eine dif-
ferenzierte Wiedererwärmung erfolgen (schnelle
Die zyanotische Phase (Stadium II nach Ungley) Wiedererwärmung bei den Erfrierungen, langsa-
dauert in der Regel nur wenige Minuten bis Stun- mes Erwärmen bei Zimmertemperatur beim Gra-
den. Die Haut wird durch die beginnende Durch- benfuß). Liegen Erfrierung und Grabenfuß an der
blutung blau, und die Gliedmaße fängt an zu gleichen Extremität nebeneinander vor, muss eine
schmerzen. Einzelfallentscheidung nach Ausprägung der jewei-
Innerhalb der ersten Stunden nach Erwärmung ligen Befunde getroffen werden. Wissenschaftliche
folgt die hyperäme Phase (Stadium III nach Ung- Erkenntnisse sind nicht verfügbar, ob bei der Be-
ley). Die betroffene Gliedmaße überwärmt sich, handlung Erfrierung oder Grabenfuß eine höhere
wird rot und schwillt massiv an. Das Anziehen von Priorität zukommt.
Stiefeln ist meist für Tage unmöglich. Die kapilläre Bei gleichzeitig vorhandener Hypothermie soll-
Reperfusionszeit ist weiterhin verlängert, die Fuß- te diese immer mit Priorität behandelt werden.
540 Kapitel 38 · Kalte Klimazonen

Wird im Rahmen der globalen Wiedererwärmung vermieden werden (z. B. durch Auskultation unter
die vom Grabenfuß betroffene Extremität zu schnell der Kleidung). Vor Beginn einer Untersuchung soll-
miterwärmt, können die Schäden vergrößert wer- te der Patient zum Boden hin isoliert und zugedeckt
den. Es wird daher von einigen Spezialisten die werden.
Hochlagerung der betroffenen Füße mit Kühlung Optimal ist die Untersuchung in wind- und käl-
(z. B. durch einen Ventilator) empfohlen, während tegeschützter Umgebung, wie sie auch im Feld
der Körperstamm wiedererwärmt wird [11]. Dies durch das Koppeln von zwei Schlafsäcken (notfalls
erhöht aus Sicht der Autoren aber ebenso das Risiko auch Biwaksäcken mit zusätzlicher Isolation) erfol-
eines Bergungstodes durch Autotransfusion von gen kann. Sie bieten in ihrem Inneren ausreichend
kaltem Blut und sollte daher mit Vorsicht ange- Platz für Patient und Helfer, und eine (vollständige)
wandt werden (»life before limb«). Untersuchung und Behandlung kann mittels Stirn-
lampe unter gutem Wärmeerhalt erfolgen. Auf diese
jProphylaxe Weise ist auch ein Transport des Patienten unter
Zur Prophylaxe sollte durch regelmäßige Bewegung adäquater Überwachung möglich. Gleichzeitig
und locker sitzendes Schuhwerk die Durchblutung sorgt der Helfer durch seine Körperwärme für einen
aufrechterhalten werden. Möglichst kurzfristige Ex- guten Wärmeerhalt.
position gegenüber feucht-kaltem Klima, Trocken- Große Kälte schränkt auch die Leistungsfähig-
halten der Bekleidung, Sockenwechsel mindestens keit des medizinischen Personals deutlich ein.
2- bis 3-mal/Tag und eine täglich mindestens 8-stün- Wenn dicke Handschuhe getragen werden müssen,
dige Pause zum Trocknen der Füße an der Umge- sind manuell anspruchsvolle Tätigkeiten nur einge-
bungsluft wird empfohlen. Letzteres trifft insbeson- schränkt möglich. Meist müssen die dicken Hand-
dere zu, wenn Dampfsperren genutzt werden, die schuhe ausgezogen werden, sodass die manuell an-
zwangsläufig ein feuchtes Milieu am Fuß bewirken. spruchsvollen Tätigkeiten nur für einen kurzen
Zeitraum oder in sehr großer Kälte gar nicht durch-
geführt werden können. Hier haben sich Fäustlinge
38.6 Versorgung in kalten Klimazonen mit zusätzlichen Wärmepacks zum zwischenzeitli-
chen Aufwärmen bewährt. Um ein Festfrieren an
38.6.1 Körperliche Untersuchung Metall zu vermeiden, sollten Kontakthandschuhe
getragen werden. Bei sehr niedrigen Außentempe-
Mit zunehmender Kälte steigt die Gefahr für den raturen kann eine Versorgung nur unter entspre-
Patienten durch die Untersuchung selbst, da durch chendem Witterungsschutz erfolgen (z. B. Unter-
die Kälteexposition der Hypothermie Vorschub ge- schlupf mit Wärmequelle, gekoppelte Schlafsäcke).
leistet wird und die Gefahr für Erfrierungen durch
Entblößung der untersuchten Körperregion eben-
falls deutlich ansteigt. Hier muss im Einzelfall abge- 38.6.2 Messung der Körpertemperatur
wogen werden, ob aufgrund einer möglichen Ver-
wundung eine ausführliche Untersuchung erfolgen Feldmäßig hat sich als orientierende Maßnahme
muss. Oftmals ist eine begrenzte, zielgerichtete und das Auflegen der Hand in die Region zwischen die
symptomorientierte Untersuchung ausreichend. Schulterblätter bewährt, weil sie auch in voller Aus-
Die ausführliche Untersuchung kann später in ge- rüstung gut durchführbar ist. Ist die Haut hier
schützter Umgebung erfolgen. Hier müssen Witte- warm, ist eine Hypothermie unwahrscheinlich [6].
38 rungsbedingungen vor Ort, Verletzungsmuster und Für die anfängliche Bestimmung der Körper-
Zustand des Patienten, Transportdauer und -bedin- temperatur wird die Verwendung eines elektroni-
gungen abgewogen werden. schen Thermometers empfohlen. Quecksilberther-
Bei einer Untersuchung unter widrigen Um- mometer (Bruchgefahr!) oder Ersatzbatterien soll-
weltbedingungen sollten nur die absolut notwendi- ten als »back up« verfügbar sein. Die axilläre und
gen Körperregionen einzeln nacheinander freige- sublinguale Messung liefert bei Unterkühlung auf-
legt werden. Sofern möglich, sollte eine Entkleidung grund der Zentralisation keine zuverlässigen Werte;
38.6 · Versorgung in kalten Klimazonen
541 38
In extremer Kälte kann jegliche Exposition von
Haut innerhalb von Sekunden zu schweren Erfrie-
rungen führen. Zur Medikamentenverabreichung
kann daher die intramuskuläre Injektion mit einer
langen Nadel von außen durch alle Bekleidungs-
schichten sinnvoll sein [15]. Durch die Zentralisie-
rung kann sich der Wirkungseintritt aufgrund der
verlängerten Resorptionsdauer allerdings erheblich
verzögern.

. Abb. 38.7 Änderungen der KKT bei einem 70 kg schweren


Patienten in Abhängigkeit der verabreichten Menge unter- 38.6.4 Infusionstherapie
schiedlich temperierter Flüssigkeit: bei einem 70 kg schweren
Patienten wird die KKT nach Infusion von 3,5 l 20 °C kalter In-
fusionslösung z. B. um 1 °C sinken [16] > Infusionen sollten nur verabreicht werden,
wenn sie beim Eintritt in den Kreislauf des
Patienten annähernd 37 °C warm sind
Messungen sollten rektal erfolgen. Ohrthermome- (. Abb. 38.7).
ter arbeiten häufig unter Feldbedingungen zu unzu-
verlässig, sind vom Packmaß unzweckmäßig und Die Energie, die dem Körper durch externe Wärme-
sollten nicht verwendet werden, wenn ihre Praxist- quellen (z. B. »Ready-Heat-Decke«) während einer
auglichkeit nicht vorher getestet wurde. Handels- Stunde zugeführt werden kann, ist geringer als die
übliche Thermometer messen häufig nicht unter Energie, die der Körper zum Erwärmen von 1 l bei
34,5 °C. Steht kein geeignetes Thermometer zur 25 °C gelagerter Infusionslösung in dieser Zeit ver-
Verfügung, ist die Festlegung des Hypothermiesta- braucht. Zwar werden die infundierten Mengen
diums anhand der klinischen Symptome möglich meist geringer sein, dann aber ohne vorherige Er-
(. Abb. 38.2). wärmung deutlich geringere Temperaturen aufwei-
Medizinisches Fachpersonal kann bei laufendem sen und beim Durchlaufen des dünnen Infusions-
Monitoring für die Verlaufskontrolle dann die Tem- schlauches weiter auskühlen. Selbst 37 °C warme
peratursonden des Patientenüberwachungsmonitors, Infusionslösungen können bei entsprechenden
z. B. Propaq, rektal oder ösophageal, verwenden. Umgebungstemperaturen noch im Infusionssystem
! Bei Temperaturmessung in der Speiseröhre
einfrieren. Wärmeboxen alleine stellen also keinen
können bei Unterkühlten Extrasystolen her-
adäquaten Lösungsansatz dar. Steht ausreichend
vorgerufen werden!
warme Infusionslösung zur Verfügung, sollte das
Infusionssystem komplett entlüftet als Druckinfu-
sion innerhalb der Maßnahmen zum Wärmeerhalt
platziert werden (7 Kap. 9.3). Auch das Einwickeln
38.6.3 Zugänge und Injektionen von Infusion samt System in eine Wärmedecke
kann erfolgreich sein, gewährleistet aber keine defi-
Wegen der schlechten Hautdurchblutung gestaltet nierte Temperatur beim Eintritt in den Körper.
sich die Anlage intravenöser Zugänge häufig Da Wärmeboxen selten zur Verfügung stehen
schwierig. Die Zugänglichkeit des Körpers ist durch und im abgesessenen Einsatz ohnehin nicht nutzbar
mehrere Schichten dicker Kleidung und militäri- sind, wurden verschiedene Produkte zum Erwär-
scher Ausrüstung meist erheblich erschwert. Sofern men von Infusionslösungen eingeführt. Die Minia-
es nicht absolut erforderlich ist, sollte die Kleidung turisierung hat dazu geführt, dass mittlerweile Pro-
nicht zerschnitten werden. Sie fehlt sonst später für dukte erhältlich sind, die auch im Rucksack mitge-
den Wärmeerhalt. Das Sternum ist meist relativ ein- führt werden können. Problematisch ist nach wie
fach zugänglich, sodass frühzeitig die Anlage eines vor insbesondere die Batterie. Etablierte und in den
intraossären Zuganges erwogen werden sollte. US-amerikanischen TCCC-Leitlinien empfohlene
542 Kapitel 38 · Kalte Klimazonen

Geräte sind der »Thermal Angel Blood and IV Fluid


Warmer« von Estill Medical Technologies und der
FMS 2000 von Belmont. Neu auf dem Markt erschie-
nen ist der von Zoll Medical hergestellte Infusions-
wärmer enFlow, der als Einheit mit der miniaturi-
sierten Infusionspumpe »Power Infusor« arbeitet.
Eine Alternative wird vom Hersteller des HEATPAC
angeboten (Normeca), bei der Kohlebrennelement
und Gebläse eine isolierte Tasche erwärmen, die lang
genug für die Aufnahme von Infusion und Infusi-
onssystem ist.
Bei akzidenteller Hypothermie sollte der Ein- . Abb. 38.8 Anwendungsbeispiel für das körpernahe
satz von nicht erwärmten Infusionslösungen daher Tragen von Infusionen in einem selbst genähten Schulter-
gut abgewogen werden. Unterkühlte sind aufgrund holster
der Kältediurese meist dehydriert, eine kristalloide
Infusionstherapie ist also grundsätzlich sinnvoll.
Eine aggressive Volumenzufuhr kann aber auch das nach Möglichkeit eine Überwachung durch Zustei-
Risiko eines Bergungstodes durch zu schnelle Auf- gen eines Helfers erfolgen. Ein behelfsmäßiges
hebung der Zentralisation erhöhen. Besteht bei Transportieren zu Fuß ist im Schnee kaum möglich.
akzidenteller Hypothermie ein verletzungsbeding- Auch der Einsatz von Skiern mit Pulka ist extrem
ter Schock, müssen Menge und Art der Infusionen kräftezehrend und meist langsam. Hier müssen
gut abgewogen werden: Volumenersatz verbessert eigene Evakuierungsbemühungen und das Warten
die Mikrozirkulation und wirkt damit Gerinnungs- auf Lufttransport gut abgewogen werden.
störungen entgegen. Sind die Infusionen aber nicht Bei Operationen in kalten Klimazonen sollten
vorgewärmt, fördern sie die hypothermieinduzierte bereits im Vorfeld medizinische Behandlungsein-
Koagulopathie. richtungen mit erweiterten Möglichkeiten zur Wie-
dererwärmung erkundet werden, um Patienten
zielgerichtet evakuieren zu können.
38.6.5 Patiententransport

Die Evakuierung in kalten Klimazonen stützt sich 38.6.6 Aufbewahrung


aufgrund von unwegsamem Gelände oder schlech- von Sanitätsmaterial
ter Verkehrsinfrastruktur meist auf den Einsatz von
Drehflüglern ab. Häufig ist die Landung von Hub- Die Aufbewahrung von Sanitätsmaterial ist in kalten
schraubern aufgrund der Schneelage oder des Ge- Klimazonen problematisch. Wo bei festen Unter-
ländes nicht möglich, sodass die Rettung mittels künften und der Nutzung von geschlossenen Fahr-
Winde gebräuchlich ist. Dabei sind Maßnahmen zeugen meist noch Plusgrade gewährleistet werden
zum Wärmeerhalt aufgrund des kalten Abwindes können, gestaltet sich dies beim Einsatz zu Fuß, auf
(»downwash«) von besonderer Wichtigkeit. Unter- Ski oder mittels Schneemobil schwierig. Bei Schnee-
kühlte Patienten sollten wegen der Gefahr des Ber- mobilen können elektrisch heizbare Taschen ver-
gungstodes nur in waagerechter Lagerung ge- wendet werden. Diese bieten zumeist aber nur Platz
38 winscht werden, keinesfalls mit Rettungsschlinge. für ein Ampullarium und wenige Infusionen und
Hierfür eignen sich Schleifkorbtragen, UT 2.000, halten die Temperatur nur solange, wie der Motor
SKED-Trage usw. elektrischen Strom liefert. Gleiches gilt für geschlos-
Der Landtransport sollte in geschlossenen und sene Fahrzeuge mit Wärmeboxen ohne ausreichend
geheizten Fahrzeugen erfolgen. Beim Einsatz von dimensionierten Wärmespeicher. Im Regelfall sollte
Schneemobilen kann ein Patient liegend in Anhän- kälteempfindliches Material daher innerhalb der
gern (Komatek) transportiert werden. Hierbei sollte Isolationsschichten am Körper mitgeführt und
Literatur
543 38

. Tab. 38.1 Auswirkungen von Temperaturextremen und alternative Applikationswege der relevantesten Notfall-
medikamente. Modifiziert nach dem deutschsprachigen Standardwerk und unserer Leseempfehlung von Küpper [15]

Substanz Wirksamkeit Wirksamkeit Wirksamkeit nach Wirksamkeit nach Wirksamkeit nach


nach Hitze- nach Kälte- Trinken des sublingualer Gabe Gabe über den Tubus
exposition exposition Ampulleninhaltes (endotracheal)

HES-Infusion Ja Ja Nein Nein Nein

Ringer-Laktat Ja Ja Nein Nein Nein

Nifedipin- Ja, ab 30 °C Ja Ja Nein Nein


kapseln instabil

Noradrenalin Ja – – – –

Fentanyl Ja Ja – Nein Nein

Ketamin Ja Ja Ja Nein Nein

Metamizol Ja Ja Ja Nein Ja

Midazolam Ja Ja – Ja –

Morphin Ja – Ja Nein –

Naloxon Ja Ja Ja Ja Ja

nachts im Schlafsack aufbewahrt werden. Hierfür len oder im Freien zwischengelagert werden. Kälte-
sind handelsübliche Hüfttaschen sinnvoll. Auch Bat- empfindliches Material sollte daher nur in entspre-
terien für medizinische Geräte (z. B. Laryngoskop, chend klimatisierten Behältern oder als Hand-
Pulsoxymeter) sollten am Körper getragen werden. gepäck mitgeführt werden. Im Zweifelsfall sind
Zur Mitführung von Infusionen haben sich Schul- Geräte in die Transportbehälter mit zu verpacken,
terholster bewährt (. Abb. 38.8). Sie schränken die die den Temperaturverlauf registrieren (Tempera-
Bewegungsfreiheit kaum ein, halten die Infusionen turlogger). . Tab. 38.1 stellt die Auswirkungen von
aber im Bereich der Körpertemperatur und vermei- Temperaturextremen auf die wichtigsten Notfall-
den sicher ein Einfrieren. Wird jeder Soldat so aus- medikamente dar.
gestattet, verfügt man über einen erheblichen Vorrat
an Infusionslösungen oder anderem medizinischen
Literatur
Material.
Bei feucht-kalten Temperaturen um 0 °C sollten 1. Allamel G, Vogt W, Burgkart R et al. (1997) Erfrierungen
Sanitätsrucksäcke oder ihr Inhalt wasserdicht ver- beim Bergsteigen. Sportorthopäd Sporttraumatol 13
packt werden, um ein Durchnässen und anschlie- (2):82–87
ßendes Gefrieren zu vermeiden. Bei sehr kalten 2. Auerbach P (2007) Wilderness Medicine, 5th ed. Mosby
Elsevier, Philadelphia, USA
Temperaturen kann Plastik und Gummi nicht mehr
3. British Army (2009) Cold Feet – Hot Topic. ArmyNET
zuverlässig funktionieren oder so spröde werden, http://www2.armynet.mod.uk/armysafety/features/nfci.
dass es reißt oder bricht. Insbesondere bei lebens- htm
wichtiger Ausrüstung, wie z. B. Beatmungsbeutel, 4. Cauchy E, Carron S, Verhellen R et al. (2009) Frostbite
Cuffs von Larynx- oder Endotrachealtuben, kann Injury Management in Emergency. In: Revuz J, Roujeau
dies verheerende Konsequenzen im Ernstfall haben. JC, Kerdel FA et al. (eds) Life-Threatening Dermatoses and
Emergencies in Dermatology, pp 223–233. Springer,
Auch bei der Verlegung in kalte Klimazonen
Berlin Heidelberg New York
müssen die Lagerungsbedingungen beim Mate- 5. Gieseler U (2011) Medizinische Herausforderungen bei
rialtransport bedacht werden, da Frachtpaletten Hypothermie und Erfrierungen, Berg- und Expeditions-
beim Lufttransport häufig in untemperierten Hal- medizin, FTR 18(2):65–69
544 Kapitel 38 · Kalte Klimazonen

6. Farr et al. (2008) Special Operations Forces Medical Hand-


book, US Government Printing Office, 2nd ed
7. Goertz O, Kapalschinski N, Hirsch T et al. (2011) Drei
Fallberichte über Erfrierungen. Management und Litera-
tur. Unfallchirurg 114(7): 634–638
8. Hohlrieder et al. (2007) Management der akzidentellen
Hypothermie, Anästhesist 56:805–811
9. Hultzer MV et al. (2005) Pre-hospital torso-warming
modalities for severe hypothermia: a comparative study
using a human model. CJEM 7(6):1–9
10. Imray CHE et al. (2006) Cold Still Kills: Cold-Related
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Cold Injury. J R Army Med Corps 152:218–222
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the Surgeon General (ed) Textbook of military medicine.
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13. Johnson AR (2013) Efficacy of intravenous tissue plas-
minogen activator in frostbite patients and presentation
of a treatment protocol for frostbite patients. Foot Ankle
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14. Kobbe et al. (2009) Bedeutung der Hypothermie in der
Traumatologie. Unfallchirurg 112:1055–1061
15. Küpper, Ebel, Gieseler (2010) Moderne Berg- und Höhen-
medizin, Handbuch für Ausbilder, Bergsteiger und Ärzte,
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16. Menzel-Severing J, Hering S, Schroeder S (2003)
Präklinisches Notfallmanagement der Unterkühlung.
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17. NAEMT (2009) Präklinisches Traumamanagement. Das
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18. Paal P (2013) Alpenmedizinischer Rundbrief August 2013
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21. Handfort C (2014) Frostbite: a practical approach to
hospital management. Extrem Physiol Med 3: 7
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treated with delayed hyperbaric oxygen: a case report
and review of literature. Undersea Hyperb Med 41(1):-
65–70

38
545 VI

Waffenwirkung
Kapitel 39 Atomare Bedrohung (A-Bedrohung) – 547
W. Kirchinger

Kapitel 40 Biologische Bedrohung – 559


D. Frangoulidis

Kapitel 41 Chemische Bedrohung – 569


K. Kehe, D. Steinritz, H. Thiermann

Kapitel 42 Aufbau und Einsatz von Sprengfallen – 581


T. Enke

Kapitel 43 Konventionelle Bedrohung


und Schutzausrüstung – 589
P. Früh
547 39

Atomare Bedrohung
(A-Bedrohung)
CBRN(E)-Gefahren

W. Kirchinger

39.1 Einführung – 548

39.2 Szenarien – 549


39.2.1 Unfälle – 549
39.2.2 Strahlung als Waffe – 550

39.3 Schutzmaßnahmen – 555


39.3.1 Überlegungen zum Schutz der Einsatzkräfte – 555
39.3.2 Überlegungen vor Eintreffen an der Gefahrenstelle – 556
39.3.3 Maßnahmen vor Eintreffen an der Einsatz-/Gefahrenstelle – 556
39.3.4 Maßnahmen für medizinisches Personal an der Einsatz-/
Gefahrenstelle – 557

Literatur – 558

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_39, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
548 Kapitel 39 · Atomare Bedrohung (A-Bedrohung)

39.1 Einführung

Die alte Bezeichnung »ABC-Gefahren« wurde in


den letzten Jahren durch den Begriff »CBRN(E)«
aus dem angloamerikanischen Sprachgebrauch er-
setzt. Man versteht darunter Chemische, Biologi-
sche, Radiologische, Nukleare und durch Explosiv-
stoffe hervorgerufene Gefahrenlagen.
Das Akronym »CBRN« ob mit oder ohne »E« ist
eher verwirrend, weil der Teil der Abkürzung, der
für die Gefahr durch radioaktive Strahlung steht,
eigentlich zweimal vorkommt. Die Unterscheidung
in (N)ukleare und (R)adiologische Gefahren ist
. Abb. 39.1 SIRA-Team, ABC-Abwehrforum 8. Dezember
Definitionssache: »Nuklear« steht für den speziel-
2005, Sanitätsakademie München. Übung von Spezialein-
len Fall der Detonation einer Kernwaffe, »Radiolo- heiten der Bundeswehr mit der Berufsfeuerwehr München
gisch« für alle anderen Gefährdungen durch offene (Foto: W. Kirchinger)
oder umschlossene radioaktive Stoffe (oder ionisie-
rende Strahlung durch technische Geräte wie Rönt- fahren oftmals überproportional angstbesetzt (auch
genapparaturen), die nicht Ursache einer Atomwaf- wenn es sich um Unfallereignisse deutlich unter-
fenexplosion sind. Ein Beispiel dafür ist die Aus- halb der Auswirkungen von Tschernobyl oder Fu-
bringung radioaktiver Partikel bei der Detonation kushima handelt). Die folgenden Ausführungen
einer sog. »schmutzigen Bombe«. Die Sinnhaftig- sollen dazu beitragen, auch bei RN-Szenarien eine
keit der Unterscheidung in N und R ist irreführend, sinnvolle Abarbeitung der notwendigen Maßnah-
hat sich aber im Katastrophensprachgebrauch so- men zu erleichtern und sowohl den Einsatzkräften
weit durchgesetzt, dass es wohl nicht mehr zu kor- eine Hilfestellung zu bieten als auch für eine ziel-
rigieren ist. gerichtete Versorgung der möglichen Patienten zu
Gegenüber biologischen und chemischen Ge- sorgen.
fahren lässt sich radioaktive Strahlung schnell und Da man ionisierende Strahlung weder sehen,
zuverlässig mit geeigneten Strahlenmessgeräten hören, schmecken oder riechen kann, der Mensch
feststellen. Klingt zunächst einfach, ist aber ab- also kein Sinnesorgan dafür hat, ist es bei Einsätzen
hängig von der jeweiligen Strahlenart (Alpha-, mit möglichem CBRN-Hintergrund wichtig, dass
Beta-, Gamma-, Neutronenstrahlung usw.) und schon vor Eintreffen am Einsatzort die vorhandene
dem Wissen des Anwenders. Die ermittelten Werte natürliche Hintergrundstrahlung mit einem Orts-
(z. B. als Maßeinheit in cps für »counts per second« dosisleistungsmessgerät gemessen und beachtet
oder die Angaben in Bq für Bequerel) bedürfen wird. Somit kann bei Annäherung an die Gefahren-
auf jeden Fall der Interpretation durch Fachper- stelle eine mögliche Erhöhung des Gammastrahlen-
sonal. pegels frühzeitig erkannt werden. Für das Vorhan-
Aus persönlicher Erfahrung heraus ist grund- densein der meisten Alpha- oder Beta-Strahler gilt
sätzlich davon auszugehen, dass im Ereignisfall das dies leider nicht. Besteht der Verdacht, dass die zu-
erlernte Wissen über die Auswirkungen von ionisie- letzt genannten Strahler vorliegen, ist das Tragen
render Strahlung am Menschen und die Abschät- geeigneter persönlicher Schutzausrüstung (Schutz-
zung des Gefährdungsrisikos für die Einsatzkräfte anzug, Filtermasken, umluftunabhängiger Atem-
zunächst in den Hintergrund tritt. Apokalyptische schutz etc.) entscheidend, um eine Kontamination
Ängste, auch bei erfahrenen Einsatzleitern und Not- der Haut zu vermeiden und einer Inkorporation
39 ärzten, können dann zu unprofessionellen Hand- vorzubeugen.
lungsweisen führen. Das Wort »Radioaktivität« ist . Abb. 39.1 zeigt ein Beispiel für die persönlicher
im Vergleich zu chemischen und biologischen Ge- Schutzausrüstung (PSA) für CBRNE-Szenarien.
39.2 · Szenarien
549 39
39.2 Szenarien und Blei zu Abschirmzwecken, dienen als Trans-
port- und Aufbewahrungsbehälter. In der Vergan-
39.2.1 Unfälle genheit kam es immer wieder zu teilweise schweren
Strahlenunfällen durch z. B. Diebstahl der kleinen
Unfälle in ortsfesten Anlagen Strahlerpillen, unsachgemäßen Umgang, Verlust
Große Teile des Sterilguts in Kliniken, Forschungs- der Quellen durch mangelnde Sorgfalt oder Fund
einrichtungen und Arztpraxen (Einmalskalpelle, durch nicht fachkundige Personen. Der Verlust von
Spritzen, Nadeln etc.) werden in sog. Großbestrah- Extremitäten war in einigen Fällen nicht zu verhin-
lungsanlagen mit ionisierender Strahlung keimfrei dern. Ein funktionstüchtiger Dosisleistungswarner
gemacht. Es gibt dabei zwei grundsätzlich unter- (Teil der persönlichen Schutzausrüstung) hätte in
schiedliche Methoden. Einerseits die Anwendung allen Fällen rechtzeitig Alarm gegeben. Vorsätzliche
von umschlossenen radioaktiven Strahlern wie z. B. Expositionen von Personen sind ebenfalls doku-
Kobaltquellen mit dem Isotop Co-60, einem Gam- mentiert. Medienwirksam wurden diese Taten un-
mastrahler, der in Kernkraftwerken mittels Beschuss ter der Bezeichnung »vagabundierende Quellen«.
von Co-59 durch Neutronen gewonnen wird und Es wurde versucht, radioaktive Quellen ohne Ge-
andererseits die Anwendung von mit Strom betrie- nehmigung zu verkaufen. In der Regel hatten die
benen Linearbeschleunigern. Letztere haben für die Täter keine ausreichenden Kenntnisse über die Ge-
Einsatzkräfte den Vorteil, dass die Geräte abgeschal- fährlichkeit dieser Strahler und/oder transportier-
tet werden können und somit fast augenblicklich ten sie ohne die nötigen Abschirmbehälter direkt
keine radioaktive Strahlung mehr existiert. Dagegen am Körper (z. B. Hosentaschen).
haben Gammabestrahlungseinrichtungen den
Nachteil, dass sie nicht abgeschaltet werden kön- Unfälle beim Transport radioaktiven
nen, da sich das radioaktive Material nach den Ge- Materials
setzen der Physik nur im Rahmen der Halbwerts- Radioaktives Material wird per Straße, Schiene,
zeit (HWZ) jeweils reduziert. Gammastrahlung lässt Luft- oder Seeweg transportiert. Je nach Zählart
sich zwar durch Abschirmmaßnahmen verringern, werden alleine auf deutschen Straßen 400.000–
aber niemals gänzlich auslöschen. Die HWZ von 600.000 Transporte mit radioaktivem Material pro
Co-60 beträgt 5,3 Jahre. Das Nuklid Cs-137, öffent- Jahr durchgeführt. Das können Radionuklidgenera-
lich bekannt geworden durch die Reaktorunfälle von toren für nuklearmedizinische Praxen bis hin zum
Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011), hat Transport von mit abgebrannten Brennelementen
dagegen eine HWZ von über 30 Jahren. Für beide beladenen Typ-B-Behältern (umgangssprachlich:
Typen ortsfester Bestrahlungsanlagen liegen den Castor-Behälter) sein. Das Gefährdungspotenzial
zuständigen Behörden genaue Angaben über das für Hilfskräfte hängt von der Unversehrtheit der
radioaktive Inventar bzw. die Bestrahlungsgeräte Transportumhüllung und dem evtl. erfolgten Aus-
vor. Fachkundiges Personal kann über das Objekt tritt von flüssigem oder festem radioaktiven Material
Auskunft geben. ab. Vorteil der kennzeichnungspflichtigen Trans-
porte ist, dass anhand der Fahrzeug-/Transportbe-
Unfälle mit transportierbaren, hälterbeschilderung wichtige Angaben zum Gefahr-
umschlossenen Strahlern gut direkt abgelesen werden können (Gefahrzettel,
Zu Materialprüfungszwecken werden weltweit kleine Placards), z. B. die Art des Nuklids, die Aktivität und
radioaktive Strahlenquellen (im Millimeter- bis die zulässige Dosisleistung sowohl an der Ober-
Zentimeterbereich), in der Regel Gammastrahler fläche des Versandstücks als auch in einem Meter
verwendet. Deren Aktivität (Zerfälle/Sekunde) ist Abstand. Der Fahrzeugführer hat eine spezielle Ge-
im mehrere Terabequerel (TBq)-Bereich. Der einzi- fahrguttransportausbildung und die mitgeführten
ge Hinweis auf die Gefährlichkeit dieser Teile ist oft Transportpapiere ermöglichen eine Gefährdungs-
nur ein in die Edelstahlkapsel eingravierter Toten- abschätzung. Die transportierte Aktivität kann an
kopf. Abschirmbehälter von der Größe einer Schuh- der berührbaren Oberfläche des Versandstückes bis
schachtel, ausgekleidet mit abgereichertem Uran zu 2 mSv/h betragen (Kategorie III, Gelb; bei aus-
550 Kapitel 39 · Atomare Bedrohung (A-Bedrohung)

schließlicher Verwendung bis zu 10 mSv/h). 1 mSv die Umwelt (wie z. B. Tschernobyl 1986, Fukushima
entspricht in alten (bzw. im angloamerikanischen 2011) sieht in Deutschland die Errichtung von
Sprachraum auch heute noch gebräuchlichen Ein- Notfallstationen vor. In Notfallstationen (NFS), Ein-
heiten) 100 mrem. richtungen zur medizinischen Sichtung/Triage und
Erstversorgung, sollen betroffene Personen erfasst,
Unfälle beim Start oder Absturz ausgemessen, evtl. dekontaminiert und medizinisch
von Satelliten erstversorgt sowie für den Weitertransport in Klini-
Nicht ohne Grund hat die Strahlenschutzkommis- ken oder an sichere Plätze vorbereitet werden. Dazu
sion (SSK) in Deutschland auch das Szenario eines werden mit allen beteiligten Kräften in regelmäßi-
havarierten Satelliten, der Teile der Erde mit radio- gen Abständen Notfallübungen unter Einbeziehung
aktiven Bruchstücken kontaminiert, im SSK- der Aufsichtsbehörden (z. B. Landesamt für Umwelt)
Band 26 behandelt. Satelliten sind häufig zur Ener- durchgeführt. Zusätzlich hinzugezogene externe
giegewinnung mit Radionuklidbatterien ausgestat- Einsatzkräfte werden durch das Strahlenschutzper-
tet (z. B. Plutoniumbatterien). Abstürze aus den sonal vor Ort eingewiesen.
Jahren 1968 (Amerikanischer Satellit »Nimbus«) Die im Zusammenhang mit einem größeren ra-
und 1983 (UdSSR Satellit »Cosmos«) haben gezeigt, diologischen Ereignis möglicherweise notwendige
dass deren radioaktives Inventar durchaus großflä- Einnahme von Iodtabletten zur Verhinderung der
chige kostenintensive Dekontaminationsmaßnah- Aufnahme radioaktiven Iods (I-131) wird für die
men nach sich ziehen kann. Ein Szenario mit Absturz Einsatzkräfte von der Einsatzleitung bestimmt. Die-
über bewohntem Gelände ist durchaus vorstellbar. se Maßnahme stellt aber bei rechtzeitiger Einnahme
nur einen Schutz der Schilddrüse dar und wirkt
Unfälle in Kernkraftwerken (KKW) nicht als generelles Strahlenschutzmittel gegen ioni-
Ein Unfall in einem KKW kann mit oder ohne Frei- sierende Strahlung. Einsatzkräfte bis zum 45. Le-
setzung radioaktiven Inventars in die Umwelt, d. h. bensjahr nehmen 2 Tabletten à 65 mg Kaliumiodid
in den Bereich außerhalb der eigentlichen Anlage, nach Anweisung ein (Fukushima: in Japan liegt die
erfolgen. Die KKW-Mitarbeiter in Deutschland ver- Altersgrenze bei 40 Jahren). Ab diesem Alter wird
fügen über spezielle Kenntnisse und immer wieder- von der Iodideinnahme abgeraten, da das Risiko für
kehrendes Training bezüglich des Managements von etwaige Nebenwirkungen das Risiko für später auf-
unterschiedlich schwerwiegenden Unfallszenarien. tretenden Schilddrüsenkrebs übersteigt. Dies führt
Die Einsatzkräfte der betriebsinternen Feuerwehr naturgemäß zu Diskussionsbedarf. Die Einnahme
sind auf Kontaminationen und mögliche Inkorpora- muss zeitnah zur möglichen Inkorporation erfol-
tionen vorbereitet, ein professioneller Strahlen- gen, am besten noch kurz vor Inkorporation von
schutz ist personell vorhanden. Externe Einsatzkräf- I-131. Genaue alterskorrelierte Schemata liegen vor
te werden gut beraten sein, sich deren Fachwissen (www.ssk.de; Stichwort: Jodblockade).
zunutze zu machen. Der Betriebsärztliche Dienst
jedes KKW in Deutschland hat Erfahrung in der De-
kontamination von Personen, und es gibt jeweils 39.2.2 Strahlung als Waffe
mindestens einen speziell im Strahlenschutz ausge-
bildeten Arzt, den sog. Ermächtigten Arzt im Strah- Einsatz von Waffensystemen
lenschutz. Dieser muss allerdings nicht permanent mit Urangeschossen
in der Anlage anwesend sein. Es kann sich hierbei Panzerbrechende Munition mit Projektilen aus
auch um einen niedergelassenen Arbeits-/Betriebs- abgereichertem Uran (DU-Geschosse, »depleted
mediziner in der näheren Umgebung des KKW han- uranium«) verfügen über eine hohe Penetrationsfä-
deln. Es bestehen Absprachen zwischen dem Betrei- higkeit aufgrund der sehr hohen Dichte (ca. 19 g/
39 ber und den umliegenden Krankenhäusern bezüg- cm²) und mittels der ballistisch-thermischen Wir-
lich der Versorgung verletzter, kontaminierter Per- kung speziell bei massiv gepanzerten Fahrzeugen
sonen. Die Planungen für ein größeres radiologisches (Munition wird seit Mitte der 1970er Jahre weltweit
Ereignis mit Freisetzung von radioaktiven Stoffen in in Kriegen verwendet). Uran entzündet sich bei Pe-
39.2 · Szenarien
551 39
netration spontan als heißer Uranstaub (pyrophorer ca. 600 Personen an soliden strahlenbedingten Tu-
Effekt) und im Inneren der Fahrzeuge entsteht ein moren wie Darm-, Lungen-, Magentumoren etc.
Aerosol aus Uran und Uranoxidteilchen. Die Auswirkungen dieser Einmalbestrahlung
Durch den Uranstaub (Alpha-Strahler) kann es (hauptsächlich Gammastrahlung mit wenigen Pro-
zur Kontamination und Inhalation kommen. Zu- zent an besonders biologisch wirksamer Neutro-
sätzlich zur radiologischen Wirkung hat Uran eine nenstrahlung) zeigten auch die erhöhte Empfind-
hohe Chemotoxizität (Cave: Schwermetallvergif- lichkeit von Kindern und Jugendlichen sowie Unge-
tung mit Nierenschädigung). Die Komponente der borenen. Nach offizieller Lesart sind schwerwiegen-
Direktstrahlung von herumliegenden Geschossen de vererbbare Effekte jedoch nicht aufgetreten. Im
hat von der Risikobetrachtung her keine Relevanz. Laufe der Jahrzehnte hat bis heute der Stellenwert
Die Korrosion intakter Munition an der Luft ver- bzw. die Wertigkeit der möglichen Schädigung der
hindert ein dünner metallischer Schutzmantel (Ab- fortpflanzungswichtigen Zellen des Menschen
schirmwirkung). durch ionisierende Strahlung abgenommen (Emp-
> Bei der Rettung oder Bergung aus mit DU-
fehlung der Internationalen Strahlenschutzkom-
Munition beschossenen Fahrzeugen ist für
mission, ICRP 103, 2007).
die Helfer besonders an einen geeigneten In-
Würde eine 1-MT-Atombombe in der Atmo-
korporationsschutz (Atemschutz) zu denken.
sphäre gezündet, so wäre noch bis zu einem Ab-
stand von 12 km vom Hypozentrum mit Verbren-
Wegen der Inhalationsgefahr sollte geeigneter nungen 3. Grades und in bis zu 15 km mit Verbren-
Mundschutz getragen werden (mindestens FFP3- nungen 2. Grades zu rechnen.
Filtermaske). Inhalierte Alpha-Strahler können Aus juristischer Sicht interessant: nach
nach Jahrzehnten statistisch die Lungenkrebsmor- § 307 Strafgesetzbuch ist die Herbeiführung einer
talität erhöhen. Explosion durch Kernenergie dann strafbar, wenn
das Leben oder Sachgüter gefährdet werden.
Anwendung von Nuklearwaffen Der Ausdruck »improvised nuclear device«
Die Zündung von Kernwaffen wird in Deutschland (IND) steht synonym für den Bau einer Nuklear-
mehr als hypothetisches Szenario betrachtet. Die waffe mit terroristischem Hintergrund. Nach Mei-
Auswirkungen der beiden Atombombenabwürfe nung vieler Experten ist der »Eigenbau« einer funk-
über Hiroshima und Nagasaki 1945 haben damals tionsfähigen Atombombe für eine nichtstaatliche
zu ca. 300.000 akuten Todesopfern geführt. Davon Organisation derzeit auszuschließen.
sind schätzungsweise ca. 60 % durch die enorme
Hitzewelle, 20 % durch die Druck-Sog-Wirkung Terroranschlag mit radioaktivem
und 20 % durch die in Einzelbereichen extrem hohe Material
Gamma- und Neutronenstrahlung gestorben »MI5 says dirty bomb attack is inevitable« (The
(. Tab. 39.1). Die Strahlenexposition trat zusammen Guardian, 18. Juni 2003).
mit mechanischen und thermischen Traumata auf. Unter den Stichworten »schmutzige Bombe«
Die Sprengkraft der Bomben betrug ca. 15 kT (Hi- (»dirty bomb«), USBV-A (unkonventionelle
roshima) bis 20 kT (Nagasaki) TNT-Äquivalent. Spreng- und Brandvorrichtung mit radioaktiver
Moderne Sprengköpfe können zwischen 50–800 kT Beiladung), RDD (»radioactive dispersion devices«,
TNT-Äquivalent aufweisen. Radioaktiver Fallout syn. »radiological dispersal device«), versteht man
führte 1945 zu Kontamination und zur Inkorpora- eine Sprengstoffladung mit zusätzlicher Beimen-
tion radioaktiver Partikel. Bekanntermaßen zeigen gung von radioaktivem Material. Die Menge an ra-
die Überlebenden dieser Katastrophe (LSS: Life dioaktiven Stoffen ist zunächst völlig variabel. Es
Span Study, mit ca. 86.000 Personen) einen Anstieg kann sich um umschlossene radioaktive Quellen
der Krebsmortalität (stochastischer Strahlenscha- handeln, die wie kleine Geschosse wirksam werden,
den) in den Folgejahren bis heute. Laut Statistik sind oder auch um staubförmige Partikel bzw. Flüssig-
bis ins Jahr 2010 etwa 100 Personen an einer durch keiten, die sich durch die Druckwelle der Explosion
die Strahlung ausgelösten Leukämie gestorben und in die belebte Umwelt verteilen (es findet im Gegen-
552 Kapitel 39 · Atomare Bedrohung (A-Bedrohung)

. Tab. 39.1 Klinische Frühsymptomatik beim Menschen nach akuter kurzzeitiger Ganzkörperexposition. (SKK 2007,
Band 4: Medizinische Maßnahmen nach Kernkraftwerksunfällen)

Kriterium Bereiche

Ganzkörperdosis 0,1–0,3 Gy 0,3–1 Gy 1–3 Gy 3–6 Gy 6–15 Gy >15 Gy

Symptomatik Keine Vereinzelt Leicht bis Mittel bis Äußerst Lebensbedrohlich


leicht mittel schwer schwer

Prognose ohne Sehr gut Sehr gut Gut Schlecht Geringe Über- Keine Überlebens-
Behandlung lebenschance chance

Prognose mit Sehr gut Sehr gut Sehr gut Gut Unsicher Unsicher bzw.
Behandlung infaust

Frühsymptome

Abgeschlagenheit Keine Vereinzelt Mäßig Ausge- Stark ausge- Sehr schnell, stark
prägt prägt ausgeprägt

Übelkeit, Erbrechen Keine Vereinzelt Mehr- Mehrmals Häufig stark Unstillbar


(Zeit nach Exposition) (2–6 h) mals stark (ab 10 min) (ab 5 min)
(2–6 h) (0,5–6 h)

Kopfschmerz Keiner Keiner Kurzzei- Ständig Ständig boh- Quälend


tig rend

Bewusstsein Klar Klar Klar Klar Getrübt Verloren

Körpertemperatur Normal Normal Normal Normal/ Subfebril Subfebril/febril


subfebril

Früherythem Keines Keines Leicht Deutlich Ausgeprägt Stark ausgeprägt


(Zeit nach Exposition) (12–24 h) (<6 h) (>6 h) (>6 h)

Konjunktivale Injektion Keine Keine Leicht Deutlich Ausgeprägt Stark ausgeprägt


(Zeit nach Exposition) (48 h) (<6 h) (>6 h) (>6 h)

Hämatologische Diagnostik

Lymphozyten/ml >1.500 <1.500 <800 <500 <200 ≈0


(Zeit nach Exposition) (2–72 h) (2–72 h) (2–72 h) (2–72 h) (2–72 h) (24 h)

Zusätzlich ist zu beachten, dass eine Schädigung des Embryos oder Feten möglich ist, deren Schwere von dem
Entwicklungsstadium abhängt. Bereiche unter 100 mSv werden hier nicht definiert, da bei ihnen deterministische
Schäden auch beim Embryo bzw. Feten höchst unwahrscheinlich sind. Alle Werte der Tabelle wurden aus der inter-
national bekannten Literatur zusammengestellt. Gy = Gray (absorbierte Energie/Masse, Energiedosis in J/kg).

satz zur Atombombenexplosion keine Kernspal- fahr dar, besonders nach den Ereignissen im
tung statt!). Es kann zur Hautkontamination, zur KKW Fukushima Daiichi in Japan 2011. Größere
Inkorporation und zu Einsprengungen in Gewebe- Menschenansammlungen wie in Fußballstadien,
teile (kontaminierte Wunden) kommen. auf Konzerten oder im öffentlichen Berufsverkehr
Auch bei sehr kleiner Sprengwirkung mit einer können tatsächlich oder auch nur vermeintlich be-
39 geringen Hitze-Druck-Welle kann die psychologi- troffen sein. Der Strahlenunfall im September 1987
sche Wirkung verheerend sein. Die Ängste der Be- in Goiania (Brasilien) mit einer Verteilung des Iso-
völkerung und die daraus resultierenden Panikre- tops Caesium-137 auf viele Anwohner der Millio-
aktionen stellen eine nicht zu unterschätzende Ge- nenstadt hatte dazu geführt, dass 112.000 Personen
39.2 · Szenarien
553 39
messtechnisch auf Kontamination mittels Gamma- bringen und durch Zerreißung in sehr kleine
Spektrometrie untersucht werden mussten (249 Per- Partikel zerlegen kann.
sonen zeigten positive Messergebnisse). 4 Der zweite mögliche Weg der Inkorporation,
> Bei einer großen Zahl betroffener Personen
die Ingestion, also die Aufnahme radioaktiver
wäre es nach einem Terroranschlag vor Ort
Partikel oder Flüssigkeiten über den Magen-
nur bedingt möglich, die tatsächlich Betrof-
Darm-Pfad, erscheint wenig wahrscheinlich,
fenen von den »Sich-Betroffen-Fühlenden«
da im Gegensatz zu großflächigen Kontamina-
zu unterscheiden.
tionen von Nahrungsmitteln die Personen aus
dem Gefahrenbereich gerettet und mittels un-
In Goiania waren 85 Häuser durch das bläulich belastetem Essen und Getränken versorgt wer-
phosphoreszierende Caesiumpulver kontaminiert den können (nach Räumung bzw. Evakuie-
worden. Sieben wurden vollständig abgerissen. rung)
200 Personen mussten evakuiert werden. Es gab
durch die Kontamination von Straßen, Plätzen und Den für die Terrorabwehr zuständigen Stellen ste-
Gebäuden insgesamt 3.500 m² radioaktiven Müll. hen spezielle EDV-Programme zur Verfügung (z. B.
Leider waren auch 4 Todesfälle durch Inkorporation LASAIR), welche die Ausbreitung und Aufnahme
(v. a. Ingestion) zu beklagen. Die Wirtschaft der Re- von Partikeln in den Menschen tatortangepasst
gion brauchte Jahre, um sich zu erholen. Agrarpro- simulieren können. Durch Eingabe der aktuellen
dukte aus dem Bereich wurden gemieden, das Brut- Witterungsverhältnisse lässt sich die atmosphäri-
tosozialprodukt verschlechterte sich dramatisch. sche Verteilung der Radionuklide darstellen und
Da radioaktive Stoffe weltweit sowohl in Indus- somit resultierende Strahlenexpositionen abschät-
trieanlagen, Technik, Forschung als auch Medizin zen. Wichtige modifizierbare Eingabeparameter
weit verbreitet sind, könnten sich Terrororganisati- sind:
onen ohne weiteres in den Besitz radioaktiven Ma- 4 Menge und Beschaffenheit des Sprengstoffes
terials bringen. Nach Aussage des Präsidenten des 4 Strahlenart, Menge des radioaktiven Stoffes
Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS), Wolfram 4 Aktuelles Wetter und kurzfristige Wetterent-
König, werden allerdings »die radiologischen Ge- wicklung (Hotspots durch Schneefall,
fahren einer »Schmutzigen Bombe« im Allgemei- Fukushima 2011)
nen überschätzt« (2. Berliner Fachkongress über 4 Daten über die Beschaffenheit des Geländes
Nationale Sicherheit und Bevölkerungsschutz,
Nov. 2006). Das BfS analysierte das Bedrohungspo- Die Frage, welches Radionuklid für einen Terroran-
tenzial Schmutziger Bomben für in der Nähe der schlag Verwendung findet, hängt von der Intention
Explosion befindliche Menschenansammlungen. der Täter ab. Will man einen Strahler verwenden,
Dabei lassen sich folgende Feststellungen treffen: der schnell und leicht mittels geeigneter Messgeräte
4 Das ausgebrachte radioaktive Material bleibt in zu identifizieren ist, so kommen Gammastrahler in
der näheren Umgebung des Tatortes und führt Frage. Für die Anwendung bei zerstörungsfreier
zu direkter Strahlenexposition der beteiligten Materialprüfung, bei Werkstoffprüfungen und in
Personen. Die Dosisbelastung ist dabei abhän- sog. Füllstandsmessgeräten kommen in der Indust-
gig vom Abstand zu den Quellen und der je- rie Strahler wie Iridium-192, Kobalt-60 oder
weiligen Größe der Partikel. Cäsium-137 zum Einsatz. Sie sind weit verbreitet
4 Falls die Partikelgröße kleiner als 2 μm ist, und haben bei hoher Aktivität nur geringe Abmes-
besteht die Gefahr der Inhalation bis in tiefer sungen. Die Aktivität (also die Zerfälle pro Sekunde,
gelegene Lungenareale. Somit wird neben der angegeben in der Einheit Becquerel, Bq, oder einem
Direktstrahlungskomponente ein zweiter Vielfachen davon) liegt im Giga- bis mehrere Tera-
Dosispfad eröffnet (Bestrahlung von innen, Bq-Bereich. Hier sind für die »Verwender« erhebli-
Inkorporation). Bei Explosion konventionellen che bis tödliche Gesundheitsrisiken zu befürchten,
Sprengstoffes entsteht eine Hitze-Druck-Welle, sofern unsachgemäß, z. B. ohne entsprechende Ab-
die festes radioaktives Material zum Schmelzen schirmung, mit den Strahlern hantiert wird. Das
554 Kapitel 39 · Atomare Bedrohung (A-Bedrohung)

alles dürfte aber einen Terroristen, der bereit ist, als men die glauben, dass ein »Dirty-bomb-Anschlag«
»Selbstmordattentäter« aufzutreten, nicht abhalten. für Terrororganisationen nicht attraktiv genug ist,
Er könnte sein Werk vollenden und würde, falls die da der unmittelbare Schaden durch den konventio-
effektive Dosis ausreichend ist, erst in wenigen Ta- nellen Sprengstoff zu gering ist. Bis jetzt ist weltweit
gen bis Wochen versterben. Die mittlere letale Dosis noch kein Anschlag mit einer »dirty bomb« verübt
für den Menschen beträgt ca. 4.000 mSv Ganzkör- worden (in diesem Zusammenhang wird immer
perdosis (sog. deterministischer Strahlenscha- wieder auf den Vorfall im Moskauer Ismailovsky-
den). Dabei ist allerdings nicht berücksichtigt, dass Park 1995 verwiesen, wo angeblich tschetscheni-
durch medizinische Maßnahmen, bis hin zur Kno- sche Rebellen ein Paket mit radioaktivem Material
chenmarkstransplantation bzw. peripheren Stamm- für die Einsatzkräfte deponiert hatten, um die
zellspende, das sog. hämatopoetische Strahlen- Fähigkeit zum Bau einer dementsprechenden Bom-
syndrom behandelt werden kann und relativ gute be zu demonstrieren. Die Bombe wurde nicht ge-
Aussichten bestehen, dies zu überleben, sofern kei- zündet).
ne ausgeprägten Kombinationsschäden vorliegen. Man kann sich allerdings auch Ausbringungs-
Flüssige radioaktive Stoffe, die in der Medizin szenarien radioaktiven Materials über größere Are-
Verwendung finden, wären beispielhaft neben dem ale von Städten vorstellen ohne die Zuhilfenahme
Gammastrahler Technetium-99m, die Beta-Strah- einer Sprengladung. Dabei ist der Phantasie im Hin-
ler Rhenium-88, Yttrium-90 und auch Iod-131. blick auf das verwendete Transportvehikel keine
Häufig verwendete Beta-Strahler aus der Industrie Grenze gesetzt. Ein solches Szenario auf eine Groß-
(v. a. zur Dichte- und Dickenmessung) sind Stronti- stadt wie Frankfurt projiziert, würde zu massiven
um-90, Promethium-147 und Krypton-85. Ängsten bei der Bevölkerung führen, später an
Man kann sich natürlich auch sehr exotische Krebs zu erkranken und zu versterben. Auch wären
Strahler als USBV-A-Komponente vorstellen, bei evtl. großflächige Dekontaminations- und Evakuie-
der auch professionelle Messtechnik aufwändig und rungsmaßnahmen (ab 100 mSv in 7 Tagen) notwen-
schwierig wird. dig, welche die beteiligten Strukturen des Katastro-
Das Beispiel des Mordes an dem ehemaligen phenschutzes schnell an die Grenzen der Machbar-
KGB-Mitarbeiter Litvinenko (2007) in England keit bringen und zu infrastrukturellen bzw. volks-
mittels Polonium-210 zeigt eindringlich, dass z. B. wirtschaftlichen Verwerfungen führen könnten, bis
Alpha-Strahler eine gezielte Tötung mit kleinsten hin zum Zusammenbruch z. B. ganzer Finanzzen-
Mengen an radioaktivem Material ermöglichen und tren wie Frankfurt.
relativ lange unerkannt sowohl transportiert als Modellrechnungen des Nationalen Labor Spiez
auch »benutzt« werden können. Der Vor- und (Fachinstitut am Bundesamt für Bevölkerungs-
Nachteil von Alpha-Strahlern für die Einsatzkräfte schutz, Schweiz) aus dem Jahr 2005 zeigen, dass am
besteht darin, dass sich die Strahlung (eigentlich Ort der Explosion der »dirty bomb« je nach Aus-
Heliumatomkerne) schon durch ein Blatt Papier na- gangslage mit Dosisleistungen von bis zu 10 mSv/h
hezu vollständig abschirmen lässt. Der Transport in gerechnet werden kann. Nach 100 h Aufenthaltszeit
Gefäßen aus Glas oder anderen Materialien lässt an diesem Ort wäre eine Ganzkörperdosis von 1 Sv
sich, sofern nicht wie bei Gemischen zusätzlich erreicht. Etwa 5 % der Betroffenen müssten bei die-
noch Gammastrahlenkomponenten abgegeben ser Gesamtdosis nach 3–6 h die Symptome von
werden, als sichere Tarnung nutzen. Übelkeit und Erbrechen zeigen (sofern nicht durch
Entscheidend für die Frage, welches Radionuk- Panikreaktion bedingt!). Das hypothetische Krebs-
lid verwendet wird, dürfte die Schwierigkeit der sterblichkeitsrisiko wäre mit ca. 5–10 % zusätzli-
Beschaffung und die Intention des Attentäters sein, chen Todesfällen neben der natürlichen Krebsster-
ob ein Anschlag sofort als ein A-Szenario erkennbar berate erhöht und die Wahrscheinlichkeit an einer
39 sein soll (Aufmerksamkeit, Panikwirkung) oder ob Leukämie zu sterben, läge bei zusätzlich 1 %. Bei
möglichst viele Personen bis zur Aufdeckung eines Erwachsenen beträgt die Latenzzeit für das Auftre-
»Strahlenszenarios« körperlich geschädigt werden ten einer strahlenbedingten Leukämie mindestens
sollen. Es gibt durchaus ernst zunehmende Stim- 2 Jahre. Bei soliden Tumoren sind viele Jahre bis
39.3 · Schutzmaßnahmen
555 39
mehrere Jahrzehnte anzusetzen (für Kinder gelten ABC-Abwehr, Zentrale Unterstützungsgruppe
andere Latenzzeiten). Bund (ZUB), Nukleare Gefahrenabwehrkräf-
> Faustformel der ICRP: Eine Dosisbelastung
te (NGA), Sonderdienste der Polizei, Kerntech-
von 1 Sv sorgt für eine Zunahme der Krebs-
nische Hilfsdienst GmbH (KHG), Regionales
mortalität an soliden Tumoren (zusätzlich zur
Strahlenschutzzentrum (RSZ) etc.
natürlichen Krebssterblichkeitsrate) um 5 % > Spezielle medizinische Fachkompetenz durch
und eine Zunahme der Leukämiesterberate Strahlenschutzärzte, welche die Einsatzkräfte
um 1 %. vor Ort oder die Katastrophenschutzleitung
beraten können, sind oftmals nur an Regio-
nalen Strahlenschutzzentren (RSZ) zu finden.

39.3 Schutzmaßnahmen In der Regel haben diese Fachberater selbst keine


eigene Möglichkeit mit Sondersignal und BOS-
39.3.1 Überlegungen zum Schutz Funk an die Einsatzstelle zu fahren.
der Einsatzkräfte Vor ionisierender Strahlung in Form von
Wellenstrahlung (Gammastrahlung, Röntgen-
Bei tatsächlicher oder vermuteter Exposition gegen- strahlung) schützt kein noch so umschließender
über radioaktiver Strahlung sind folgende Aspekte Vollschutzanzug. Wellenstrahlung kann durch ge-
für die Einsatzkräfte wichtig: eignete Strahlenschutzmaterialien wie Blei, abgerei-
4 Generell an das Vorhandensein »ionisierender chertes Uran, Wasser, Beton reduziert, aber nicht
Strahlung« denken. vollständig abgeschirmt werden. Im Fall von Neut-
4 Die Verhaltensregeln bei Einsätzen im Nahbe- ronenstrahlung wird Cadmium oder Bor eingesetzt.
reich radioaktiver Strahlung müssen bekannt Nach Feuerwehrdienstvorschrift FwDV 500 ist Kör-
und verinnerlicht sein (Abstand halten, Ab- perschutz Form 3 (sog. Chemikalienschutzanzug,
schirmung nutzen, Aufenthaltszeit verkürzen CSA) hervorragend geeignet, eine Kontamination
etc.). der Haut des Anzugträgers und innere Kontamina-
4 Der Gefährdungslage angepasste persönliche tion (Inkorporation durch Inhalation oder Inges-
Schutzausrüstung muss getragen werden tion) zu verhindern, kann aber die Wellenstrahlung
(Kontaminations- und Inkorporationsschutz), nicht entscheidend abhalten. Falls der Rettungs-
Feuerwehrdienstvorschrift 500 (FwDV 500) dienst incl. der eingesetzten Ärzte nicht nach dem
beachten. berufsgenossenschaftlichen Grundsatz G26 III un-
4 Amtliches Personendosimeter und Alarmdosi- tersucht und »atemschutztauglich« sind, darf ein
meter an vorgesehener Stelle tragen. Sofort ab- Vollschutzanzug mit Atemschutzgerät nicht getra-
lesbares elektronisches Dosimeter ist sinnvoll. gen werden. Damit ist am Einsatzort faktisch eine
4 Eine ausreichende Anzahl geeigneter Messge- Zweiklassengesellschaft vorhanden. Die unter-
räte wie Kontaminationsmonitore, Ortsdosis- schiedliche Schutzausrüstung wird zu Ängsten und
leistungsmessgeräte etc. müssen zur Verfügung Verunsicherungen der »zweitklassig« geschützten
stehen und deren Handhabung muss geübt Einsatzkräfte führen.
sein. > Wer mit sich selbst und seinen Ängsten
4 Schutzmaßnahmen wie z.B. eine Dekontami- beschäftigt ist, kann nicht professionell
nationsmöglichkeit (Dekon-Platz) müssen arbeiten.
rechtzeitig einsatzbereit sein.
4 Für ausreichend viel Personal sorgen; aber im Leidtragender dieser Misere wird folglich immer
Gefahrenbereich selbst Einsatzkräfte nur spar- der Patient sein. Es gibt Belege aus amerikanischen
sam einsetzen. Schwarz/Weiß Trennung. Studien, dass generell »offizielle Empfehlungen« bei
4 Frühzeitige Hinzuziehung/Nachforderung spe- Unfallszenarien von etwa 40 % der Bevölkerung
zieller Fachberater aus Länderbehörden (z. B. missachtet werden (z. B. Flucht statt Schutz in Ge-
Landesamt für Umwelt, LfU), speziell geschulte bäuden suchen). Ähnlich könnte es sich mit Ein-
556 Kapitel 39 · Atomare Bedrohung (A-Bedrohung)

satzkräften verhalten, die, wie etwa bei den Über- versorgung kontaminierter Personen kann auch ein
schwemmungen in New Orleans (Hurrikan Katrina Spritzschutzanzug mit Haube und Füßlingen sowie
2005), ihr Heil in der Flucht suchen und eben nicht eine FFP-3-Filtermaske (notfalls auch FFP2), Augen-
»ihren Job tun«. schutzbrille (Laborbrille) und doppeltes Paar Hand-
schuhe nebst geeignetem Schuhwerk sein.
> Die externe Strahlenbelastung die von
39.3.2 Überlegungen vor Eintreffen kontaminierten Patienten ausgeht, ist für die
an der Gefahrenstelle Helfer bei einem »Worst-case-Szenario«
(Patient ist vollständig mit flüssigem radio-
Die Einsatzkräfte sollten im günstigsten Fall vor aktivem Material kontaminiert) maximal im
Eintreffen an der Gefahrenstelle über die aktuelle Bereich weniger Millisievert (mSv) effektive
radiologische Lage informiert sein, um angemessen Dosis.
handeln zu können. Dabei sind folgende Szenarien
denkbar: Handelt es sich um Explosionstraumata oder Atten-
täter? Bei verwundeten Patienten mit radioaktiven
Handelt es sich bei der Strahlenquelle um ein tech- Splittern (Schrapnellen) oder bei absichtlicher In-
nisches Gerät das strombetrieben ionisierende korporation von höher aktiven umschlossenen
Strahlung erzeugt? Wenn Ja, ist durch Abschalten Quellen oder absichtlich am Körper getragenen
bzw. Unterbrechung des Stromkreises die Gefahr Strahlenquellen, können die Helfer einer mäßigen
einer Strahlenexposition gebannt. Der Zugriff auf bis erheblichen Strahlenbelastung ausgesetzt sein
verletzte Personen ist ohne spezielle persönliche (Szenario: Selbstmordattentäter). Aber auch hier ist
Schutzausrüstung möglich. die Aufenthaltszeit in der Nähe der »Strahlenquelle«
> Der durch externe Bestrahlung exponierte
(in diesem Fall zum »Patienten«) entscheidend. Die
und aus dem Gefahrenbereich gerettete
optisch/akustische Alarmschwelle eines am Körper
Patient stellt keinerlei Gefahr für die Helfer
getragenen sofort ablesbaren elektronischen Per-
dar, weil er selbst keine ionisierende Strah-
sonendosimeters (EPD) ist in geeigneter Weise
lung aussendet.
einzustellen (Warnschwelle für Dosisleistung und
Dosis). Dadurch würde rechtzeitig vor einer über-
Handelt es sich um umschlossene oder offene radio- mäßigen Exposition der Einsatzkräfte gewarnt.
aktive Stoffe (Strahler)? Im Fall von Großbestrah- Feuerwehren verwenden oft Alarmdosimeter, die
lungsanlagen oder sonstigen hochaktiven radioak- keine direkt ablesbare Anzeige haben.
tiven Quellen besteht im ungünstigsten Fall akute
Lebensgefahr für die Helfer. Gelingt es, den Patien-
ten aus dem Bestrahlungsbereich einer umschlos- 39.3.3 Maßnahmen vor Eintreffen
senen radioaktiven Quelle zu retten (Quellenum- an der Einsatz-/Gefahrenstelle
hüllung ist dicht), so ist dieser Patient selbst nicht
radioaktiv (Ausnahme: Neutronenstrahlenquelle).
Tipp
Er kann in diesem Fall vom Rettungsdienstpersonal
ohne besondere Schutzausrüstung versorgt werden.
Die mitgeführten Ortsdosisleistungsmess-
Der Patient strahlt selbst nicht.
geräte (ODL-Messgeräte) sollten schon wäh-
Im Falle der Rettung aus einem Bereich mit of-
rend der Anfahrt an die Einsatzstelle einge-
fenen radioaktiven Stoffen ist immer auch an eine
schaltet werden.
Kontamination und ggf. Inkorporation des Patien-
ten zu denken. In diesem Fall ist geeignete Schutz-
39 ausrüstung des Rettungsdienstpersonals notwen- Dadurch ist der Wert der natürlichen Hintergrund-
dig. Das heißt aber nicht, dass eine Behandlung nur strahlung bekannt und bei Annäherung an eine
im Chemikalienschutzanzug möglich ist. Eine ge- Gammastrahlenquelle wird ein zusätzlicher Mess-
eignete persönliche Schutzausrüstung für die Erst- wertanstieg erkennbar bzw. löst eine vorher einge-
39.3 · Schutzmaßnahmen
557 39
stellte Alarmschwelle ein optisch/akustisches Signal feuerwehrtechnischen und polizeilichen Gefahren-
aus. Sofern vorhanden, sollte ein kombiniertes abwehrmaßnahmen und Einsatztaktiken vertraut
Gamma-Neutronen-Ortsdosisleistungsmessgerät sein und sollten wie Ersteinsatzkräfte alarmierbar
mit NBR-Sonde (»Natural Background Rejection«) sein.
benutzt werden, um künstliche Radionuklide anzu- Feuerwehren und Rettungsdienst dürfen als
zeigen und gleichzeitig die natürliche Hintergrund- Richtwert der Ganzkörperdosis für einen lebensret-
strahlung auszublenden. tenden Einsatz einmalig in ihrem Berufsleben eine
> Die Alarmschwelle für Absperrmaßnahmen
effektive Dosis von 250 mSv erhalten (FwDV 500).
ist laut Feuerwehrdienstvorschrift (FwDV 500)
Nur in Ausnahmefällen und bei absoluter Freiwil-
25 μSv/h.
ligkeit sowie vorheriger spezifischer Aufklärung
(sinnvoll wären hier Strahlenschutzärzte) darf die-
Ist die Absperrgrenze noch nicht festgelegt, halten ser Wert überschritten werden. Die internationale
anfahrende Einsatzkräfte einen Mindestabstand Strahlenschutzkommission (ICRP) geht sogar noch
von 50 m zur Gefahrenstelle ein (Absperrbereich weiter und lässt bei lebensrettenden Einsätzen den
mindestens 100 m). Dosisrichtwert für Einsatzkräfte nach oben offen.
Ebenso frühzeitig (schon bei Anfahrt) evtl. not- Die mittlere tödliche Dosis für einen Menschen ist
wendige Fachberater alarmieren. Bei zivilen Einsät- bei etwa 4.000 mSv Ganzkörperdosis anzusetzen
zen geschieht dies durch die Leitstelle des Rettungs- (sofern keine medizinische Intervention erfolgt).
dienstes bzw. die Integrierte Leitstelle. Natürlich soll die Strahlenexposition auch für
Ärzte/Notärzte und Rettungsdienstpersonal im die Helfer so niedrig wie möglich gehalten werden
Strahlenschutzeinsatz sind keine beruflich strahlen- (Minimierungsgebot, ALARA-Prinzip(»as low as
exponierten Personen nach Röntgen- und/oder reasonable achievable«) der Internationalen Strah-
Strahlenschutzverordnung. Somit gelten auch keine lenschutzkommission), um auch die Wahrschein-
Dosisgrenzwerte für beruflich strahlenexponierte lichkeit für das Risiko einer tödlichen Tumorer-
Personen (z. B. Ganzkörperdosisgrenzwert 20 mSv/a krankung so gering wie möglich zu halten.
für beruflich strahlenexponierte Personen der Kate-
gorie A und B). Dennoch ist im Strahlenschutzein-
satz eine amtliche Personendosimetrie durchzufüh- 39.3.4 Maßnahmen für medizinisches
ren, d. h. ein Strahlenschutzdosimeter ist zu tragen Personal an der Einsatz-/
(Gleitschattendosimeter, Glasdosimeter etc.). Be- Gefahrenstelle
rufsfeuerwehren und gut ausgestattete freiwillige
Feuerwehren führen diese in ausreichender Anzahl
mit. Hilfreich sind auch sofort ablesbare EPDs (teil- GAMS-Regel
weise als amtliche Dosimeter zugelassen). 5 Gefahr erkennen
Der häufig verwendete Satz: »Lebensrettende 5 Absperren/Sichern unter Eigenschutz
Maßnahmen haben absoluten Vorrang vor Strah- 5 Menschenleben retten
lenschutzüberlegungen« ist für die Helfer in der 5 Spezialkräfte alarmieren
emotional schwierigen Situation eines Strahlenun-
falls mit Personenbeteiligung nur sehr schwer zu
akzeptieren. Nur die permanente Messung der 4 Die Feuerwehr sperrt ab einer ODL von
Ortsdosisleistung und, sofern nötig, die persönliche 25 μSv/h den Gefahrenbereich ab.
Schutzausrüstung gegen Kontamination, die auch 4 Geregelte Zugangswege sind auszuweisen.
gleichzeitig eine Inkorporation verhindert, gibt 4 Rettungskräfte, die keinen umluftunabhän-
Sicherheit für überlegtes Handeln am Verunfallten. gigen Atemschutz (Pressluftatmer) bzw.
Anerkannte, unabhängige Fachberater vor Ort (in Chemikalienschutzanzug tragen dürfen (keine
geeigneter Einsatzkleidung!) erhöhen die Akzep- gültige G26-III-Untersuchung), gehen mit
tanz für die Einsatzkräfte und vermitteln ein gewis- Kontaminationsschutzanzug, besser Spritz-
ses Maß an Sicherheit. Die Fachberater müssen mit schutzanzug, doppeltem Paar Handschuhen,
558 Kapitel 39 · Atomare Bedrohung (A-Bedrohung)

geeignetem geschlossenem Schuhwerk bzw. als möglich, gezielt und hautschonend er-
zusätzlich Füßlingen, Schutzbrille und minde- folgen. Tragbare Kontaminationsmonitore
stens FFP-3-Filtermaske, besser aber mit ermöglichen die Erfolgskontrolle der Maßnah-
filtrierender Halbmaske mit ABEK-P3-Filter men. Anschließend erfolgt der Transport des
vor (eine G26 II Untersuchung ist notwendig). Verletzten unter Voranmeldung mit Hinweis
Übergänge vom Schutzanzug zu peripheren auf »kontaminierter Patient« in ein Zentrum
Teilen sollten so gut wie möglich abgeklebt für Strahlenverunfallte (Adresse über die
werden, um eine Kontamination der Haut mit Rettungsleitstelle erfragen).
radioaktiven Partikeln zu verhindern. > Ein Fachberater mit Kontaminationsmonitor
4 Wegen Inkorporationsgefahr am Einsatzort sollte, wenn möglich, den Transport begleiten
nicht Essen, Trinken, Rauchen oder Schmin- und das ärztliche Personal der Klinik beraten.
ken. Keine Gegenstände in die Kleidung ein-
stecken (Edelstahlkapsel mit radioaktivem 4 Alle kontaminierten Materialien sammeln und
Material etc.). eindeutig kennzeichnen. Wiederverwendung
4 Es gibt speziell für medizinische Einsatzkräfte von Ausrüstung und Fahrzeug erst nach Frei-
Einmalanzüge mit Filtersystem und geringem messung durch die länderspezifisch zuständige
Überdruck, die erstmals für die Fußball- Behörde. Einsatzkräfte bei Verdacht auf Inkor-
WM 2006 bei Hilfsorganisationen wie dem poration oder Dosisbelastung unverzüglich
Roten Kreuz vorgehalten wurden und keine einem ermächtigten Arzt im Strahlenschutz
Atemschutztauglichkeit voraussetzen. vorstellen. Dies sollte nach den einschlägigen
4 Amtliche Dosimeter sind unterhalb der Verordnungen ab einer Ganzkörperdosis von
Schutzanzüge zu tragen. Zusätzlich dazu ein 50 mSv auf jeden Fall erfolgen.
Alarmdosimeter. 4 Einsatznachbesprechung mit Spezialisten des
4 Schnelles überlegtes Handeln ist dosissparend. RSZ durchführen.
> Lebensrettende Sofortmaßnahmen am
Patienten haben Vorrang vor Strahlenschutz-
überlegungen (Voraussetzung ist vernünftiger
Literatur
Eigenschutz).
1. BfS Rede König W (2006) 2. Berliner Fachkongress über
Nationale Sicherheit und Bevölkerungsschutz. http://
4 Einige Millisievert effektive Dosis müssen auch
www.bfs.de/de/ion/papiere/SchmutzigeBombe.html
Rettungskräfte in Ausübung Ihrer Tätigkeiten 2. Egger E, Münger K, Labor Spiez (2005) Dirty Bomb: Wie
akzeptieren. Für die eigene Risikobewertung gross ist die Bedrohung? Hintergrundinformationen,
kann der Vergleich mit einer Computertomo- www.labor-spiez.ch
graphieuntersuchung (CT) herangezogen wer- 3. Gespräche mit Verantwortlichen im Fall Litvinenko (2007)
den: Nach Veröffentlichung des Bundesamt für 4. Luiz T, Lackner C K, Peter H, Schmidt J (Hrsg.) (2009)
Medizinische Gefahrenabwehr. Elsevier Urban und
Strahlenschutz (BfS) von 2008 erzeugt ein Ab-
Fischer, München
domen-CT eine effektive Dosis (ED)von ca. 5. Scholz J, Sefrin P, Böttiger WB et al. (2008) Notfallmedizin.
15–20 mSv beim Patienten, das sind immerhin Thieme, Stuttgart
15.000–20.000 μSv! 6. Schutzkommission beim Bundesministerium des Innern
4 Kontaminierte Patienten sind, sofern medizi- (2010) Katastrophenmedizin Leitfaden für die ärztliche
Versorgung im Katastrophenfall. Bonifatius GmbH,
nisch vertretbar, zu dekontaminieren. Das Ab-
Druck-Buch-Verlag, Paderborn
legen der Kleidung dieser Personen (trockene 7. SSK Heft 61 (2009) Radiologische Grundlagen für Ent-
Dekontamination) führt schon zu erheblicher scheidungen über Maßnahmen zum Schutz der Be-
Verminderung der Strahlenbelastung des Pa-
39 tienten. Eine gewisse Kontamination der Ein-
völkerung bei unfallbedingter Freisetzung von Radio-
nukliden. H. Hoffmann GmbH-Fachverlag, Berlin
satzmittel des Rettungsdienstes ist zu akzeptie-
ren (auch des Transportfahrzeuges). Die nasse
Dekontamination des Patienten soll so rasch
559 40

Biologische Bedrohung
D. Frangoulidis

40.1 Einführung – 560

40.2 Erreger bzw. Erkrankungen – 560

40.3 Aspekte für Einsatzkräfte vor Ort – 561


40.3.1 Lagebeurteilung/Gefahrenabschätzung/Gefahrenerkennung – 562
40.3.2 Entscheidung über Eigen- und ggf. Fremdschutz – 562
40.3.3 Meldung und Einleitung weiterer Maßnahmen – 563
40.3.4 Entscheidung über Vor-Ort-Maßnahmen – 564

40.4 Hygiene-/Dekontaminationshinweise – 565

Literatur – 566

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_40, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
560 Kapitel 40 · Biologische Bedrohung

40.1 Einführung 40.2 Erreger bzw. Erkrankungen

Seuchen und Massenerkrankungen, die durch Mik- Seit den früheren staatlichen Biowaffenprogram-
roorganismen oder Gifte entstehen können, be- men der USA und der ehemaligen Sowjetunion
einflussen seit dem Altertum die Entwicklung von existieren verschiedene Übersichten, welche Erre-
Gesellschaften oder den Ausgang von Kriegen. Dies ger bzw. deren Produkte (Toxine) für die Anwen-
spiegelt sich in Kapiteln des Alten Testaments (Apo- dung als Waffe geeignet sind. Eine Übersicht, die
kalypse, zehn Plagen) oder in der Literatur (Bocac- sowohl die historischen Anwendungen der o. g. Bio-
cio: »Das Dekameron«, während der Pestpandemie waffenprogramme, die Erregereigenschaften als
im 14. Jh. geschrieben) wieder. auch Ausbruchserfahrungen der letzten Jahrzehnte
Trotz der sicherlich langen Beziehung zwischen berücksichtigt, gibt die Klassifizierung der amerika-
Krankheitserregern und Menschen liegt der Beginn nischen Seuchenkontrollbehörde (Centers for
der modernen Mikrobiologie/Infektiologie nicht Disease Control and Prevention, CDC) in Atlanta
sehr weit zurück. Mitte des 19. Jh. begannen so be- (7 Übersicht). Diese Liste beinhaltet Agenzien bzw.
kannte Forscher wie beispielsweise Louis Pasteur, Erkrankungen, die prinzipiell ein bioterroristisches
Robert Koch, Friedrich Loeffler, die Grundlagen für Potenzial beinhalten und gliedert diese von A–C,
unser heutiges Verständnis von Infektionskrankhei- absteigend nach ihrem Schädigungspotenzial.
ten zu legen. Wissenschaft und Technik haben seit-
dem dazu beigetragen, dass z. B. Infektionskrankhei-
ten wie Pocken, Pest, Poliomyelitis oder Diphtherie Bioterroristische Agenzien bzw.
und ihr früher gefürchtetes epidemisches Auftreten Infektionskrankheiten [13])
mit großer Zahl an Erkrankten und Verstorbenen 5 Kategorie A
mittlerweile in den entwickelten Ländern der Ver- – Eigenschaften
gangenheit angehören. Aber auch im Zeitalter der – leichte Verbreitungsmöglichkeiten
modernen Medizin mit den Möglichkeiten einer oder Mensch-zu-Mensch-Übertrag-
antimikrobiellen Therapie spielen Infektionserreger barkeit
weiterhin eine Rolle. Nicht nur die zunehmenden – hohe Mortalitätsrate und potenziell
Resistenzen der Erreger gegenüber Therapeutika, große Beeinträchtigung des öffent-
sondern auch das Auftreten neuer bzw. bereits zu- lichen Gesundheitswesens
rückgedrängter oder ausgerotteter Infektionskrank- – kann öffentliche Unruhen/Panik und
heiten (z. B. »Polio«) werden regelmäßig beobachtet. Störungen der öffentlichen Ordnung
Sofern es sich dabei um gefährliche, d. h. lebensbe- verursachen und
drohliche, hoch ansteckende Infektionskrankheiten – erfordert spezielle Vorsorgemaß-
handelt, kommen diese vorwiegend in sog. Entwick- nahmen des öffentlichen Gesundheits-
lungsländern in sub- und tropischen Gebieten vor. wesens.
Sie können aber über den internationalen Reise- und – Agenzien/Infektionen
Handelsverkehr importiert werden. Darüber hinaus – Anthrax/Milzbrand
könnten die Erreger solcher Infektionskrankheiten (Bacillus anthracis)
möglicherweise von kriminellen bzw. terroristischen – Botulismus (Clostridium botulinum
Gruppierungen für Anschläge als biologische Waf- toxin)
fen missbraucht werden. Eine Bedrohung durch – Pest (Yersinia pestis)
staatlich betriebene Biowaffenprogramme gilt heut- – Pocken (Variola major)
zutage dagegen als wenig wahrscheinlich. – Tularämie/Hasenpest (Francisella
In diesem Kapitel wird auf die Besonderheiten tularensis)
von Krankheitserregern eingegangen, die beson- – virale hämorrhagische Fieber (Filoviren
ders im Bereich der sog. Ersthelfer/»First Respon- wie z. B. Ebola, Marburg und
40 der« sowohl auf militärischer als auch ziviler Seite Arenaviren, z. B. Lassa, Machupo)
zu beachten sind.
40.3 · Aspekte für Einsatzkräfte vor Ort
561 40
In der 7 Übersicht sind die wichtigsten Aspekte und
5 Kategorie B Besonderheiten von Infektionskrankheiten bzw. de-
– Eigenschaften ren Erreger genannt. Neben der eigentlichen klini-
– mäßige Verbreitungsmöglichkeiten schen Symptomatik bzw. dem Erkrankungsverlauf
– mittlere bis geringe Mortalitätsraten spielen die Übertragung und speziell die Weiterver-
und breitungsmöglichkeiten eine große Rolle. Alle Fakto-
– erhöhte Anforderungen an diagnost- ren haben natürlich auch Einfluss auf die primären
ische Laborkapazitäten und Infektions- und nachgeschalteten Ebenen und Bestandteile des
überwachung medizinischen Versorgungssystems. So sind in der
– Agenzien/Infektionen höchsten Gefährdungskategorie A alle Erreger vor-
– Brucellose (Brucella species) handen, die ein hohes Ansteckungs- und Weiterver-
– Epsilon-Toxin von Clostridium breitungspotenzial, verbunden mit einer z. T. hohen
perfringens Sterblichkeitsrate aufweisen, wie das z. B. die Pest und
– Bedrohungen der Lebensmittelsicher- die Pocken in der Geschichte bereits sehr eindrucks-
heit (z. B. Salmonella species, E. voll gezeigt haben. Aber auch ein Agens wie Bacillus
coli O157:H7, Shigella) anthracis, das nicht primär von Mensch zu Mensch
– Rotz (Burkholderia mallei) übertragen werden kann, ist aufgrund seiner hohen
– Melioidose/Pseudorotz (Burkholderia Letalität und der Ausbringungsmöglichkeit als feine,
pseudomallei) hoch angereicherte, sporenhaltige Pulverpräparation
– Psittakose (Chlamydia psittaci)
in seinen Auswirkungen enorm. Die 2001 in den
– Q-Fieber (Coxiella burnetii)
USA versandten Briefe zeigen dies deutlich [4].
– Ricin, Toxin von Ricinus communis
Allen Kategorien ist das Potenzial gemein, enor-
(gemeine Castorbohne)
me psychologische, strukturelle und organisato-
– Staphylokokken Enterotoxin B
rische Wirkungen auf das öffentliche und wirt-
– epidemisches Fleckfieber (Rickettsia
schaftliche Leben bzw. die medizinische Versorgung
prowazekii)
im Allgemeinen und Speziellen nehmen zu können.
– virale Enzephalitiden (Alphaviren wie z. B.
Eine weitere Besonderheit von Infektionskrank-
die Venezolanische Pferdeenzephalitis)
heiten ist auch das zeitlich häufig stark verzögerte
– Bedrohungen der Trinkwassersicher-
Auftretensereignis. Im Gegensatz zu z. B. chemisch-
heit (z. B. Vibrio cholerae, Cryptospori-
dium parvum)
toxischen Agenzien, können bei Infektionserregern
5 Kategorie C
zwischen Infektion und Ausbruch von Symptomen
– Eigenschaften (sog. Inkubationszeit) z. T. mehrere Tage oder sogar
– neu oder wieder auftretende Agenzien Wochen vergehen. Dies erschwert natürlich die Er-
bzw. Infektionskrankheiten, die sich mittlung einer zugrundeliegenden Quelle bzw. die
zur Massenausbreitung eignen, auf- Rückverfolgung von Infektionen enorm. Das ge-
grund ihrer fürchtetste Szenario stellen dabei Infektionen dar,
– Verfügbarkeit die noch vor Ausbruch von Symptomen eine
– leichten Herstellung und Verbreitungs- Mensch-zu-Mensch Ansteckungsfähigkeit besitzen.
möglichkeiten sowie Ausbreitung und
– potenziellen hohen Morbidität und
Mortalität und starken Beeinträchtigung 40.3 Aspekte für Einsatzkräfte vor Ort
des öffentlichen Gesundheitswesens
– Agenzien Folgende Punkte, Abläufe bzw. Fragestellungen sind
– neu bzw. wieder auftretende Infektion- für Einsatzkräfte vor Ort von entscheidender Be-
skrankheiten bzw. Erreger, z. B. Nipah- deutung:
viren, Hantaviren, SARS, Influenza A 4 Lagebeurteilung/Gefahrenerkennung
(H1N1), EHEC 0104:H24, MERS-CoV 4 Entscheidung über Eigen- und ggf. Fremd-
schutz
562 Kapitel 40 · Biologische Bedrohung

4 Meldung bzw. Informationsweitergabe für ggf. stand, Lymphknoten-, Milz- und Leber-
notwendige Unterstützungen, weitere Maß- schwellung, Kollaps/Schock
nahmen 4 Hämorrhagische Fieber-Symptomatik
4 Entscheidung über Vor-Ort-Maßnahmen 5 Hohes Fieber mit äußeren Blutungen und
Hinweisen auf innere Blutungen bzw. Gerin-
nungsstörungen (Hauteinblutungen/Pete-
40.3.1 Lagebeurteilung/ chien, Ekchymosen, Purpura, Nasenbluten,
Gefahrenabschätzung/ blutiger Auswurf, Magen-Darmblutungen)
Gefahrenerkennung 4 Neurologischer Symptomenkomplex
5 Fieber mit Kopfschmerz, Nackensteifigkeit,
Für ein Einsatzteam ist eine der schwierigsten Auf- Übelkeit, Erbrechen, Bewusstseinsstö-
gaben, die Gefahrenlage korrekt einzuschätzen. rungen, Krämpfe, Lähmungen und als Be-
Wann und wie beginnt das sog. »daran Denken«? sonderheit hiervon
Die Hinweise bzw. Verdachtsmomente auf das Vor- 5 das sog. paralytische Syndrom, das typisch
liegen eines Infektionsgeschehens bzw. einer Infek- für Vergiftungen ist: Schwächegefühl, Übel-
tionskrankheit sind äußerst heterogen: Fieber, keit, Schluck-, Sprach- und Sehstörungen
Schüttelfrost, Muskel-, Kopf- und Gliederschmer- (z. B. Doppelbilder)
zen, Nackensteifigkeit, Bewusstseinsstörungen, 4 Exanthematöse Symptomatik
Krämpfe, Lähmungen, Übelkeit, Erbrechen, Durch- 5 Fieber mit En- und/oder Exanthem
fall, Schluck-, Sprach- und Sehstörungen, Hautver- 4 Magen-Darm-Syndrom
änderungen (lokal, systemisch, flächig), Husten mit 5 Übelkeit, Durchfall, Erbrechen, ggf. mit
oder ohne Auswurf, Anzeichen für innere und Fieber
äußere Blutungen (z. B. Nasenbluten, Hauteinblu-
tungen), Abgeschlagenheit/Apathie, Atemnot, Weitere Hinweise, die für ein (ungewöhnliches) In-
Brustschmerzen, Rasselgeräusche, Lymphknoten- fektionsgeschehen sprechen können:
schwellungen, Kollaps/Schock. 4 Kranke oder tote Tiere oder sichtbare Ver-
Hinweisend sind eine hohe Anzahl Betroffener haltensauffälligkeiten
mit gleichen Beschwerden in einem räumlichen Zu- 4 Ungewöhnliche Umstände bzw. Gegenstände
sammenhang, gehäuftes Vorkommen von Betroffe- (z. B. weißes Pulver, Kanister, Sprühvorrich-
nen mit Fieber, Erkrankungen der Atemwege oder tungen)
des Magen-Darm-Traktes, Reiseanamnese, Ver- 4 Bekennerschreiben u. ä. Dokumente (Droh-
wandtenbesuch, auffälliges Verhalten bei Tieren briefe)
(oder plötzliche Todesfälle). Besonders folgende 4 Viele Betroffene mit ähnlichen Symptomen an
klinische Symptomkomplexe geben Anlass zu einem Ort
höchster Vorsicht [9]: 4 Lokalität (Restaurant, Bar, Disco, Kino, Schule,
4 Grippe-ähnliches Syndrom öffentliche Einrichtungen, Firma)
5 Hohes Fieber, Schüttelfrost, Atemnot,
schmerzhafte Atmung, Kopf-, Glieder-,
Rücken- und Muskelschmerzen, allgemeine 40.3.2 Entscheidung über Eigen-
Abgeschlagenheit bis hin zur Apathie und ggf. Fremdschutz
4 Akutes Atemnotsyndrom (ARDS = »Acute
Respiratory Distress Syndrom«) Grundsätzlich sollte ein ausreichender Immun-
5 Fieber, Abgeschlagenheit, Husten mit/ohne schutz durch Impfungen bei allen eingesetzten Per-
Auswurf, Atemnot, Stridor, Zyanose, Brust- sonen vorhanden sein. Neben dem Basisimpfschutz
schmerzen, Rasselgeräusche (Tetanus, Diphtherie, Masern, Mumps, Röteln,
4 »Sepsis«-Syndrom Polio, Hepatitis B) sollte auch Pertussis, Influenza,
40 5 Fieber mit/ohne Hautausschlag, Schüttel- Hepatitis A, Meningokokken (möglichst tetravalen-
frost, Apathie, sehr schlechter Allgemeinzu- ter, konjugierter Impfstoff) vorhanden sein. Je nach
40.3 · Aspekte für Einsatzkräfte vor Ort
563 40
Einsatzform bzw. Einsatzgebiet können auch Imp- gen sollten besonders zu Reinigungs-/Dekontami-
fungen gegen FSME, Typhus, Gelbfieber, japanische nationszwecken Mittel vorhanden sein, die auch
Enzephalitis und Tollwut sinnvoll sein. Für ganz resistentere Dauerformen (wie Sporen) ausreichend
spezielle Indikationen ist auch an Impfungen gegen- inaktivieren können (Aldehyde, Perchloratverbin-
über Milzbrand und Pocken zu denken (ein Pocken- dungen, Peressigsäure, Wasserstoffsuperoxid). Die-
impfstoff ist jedoch in Deutschland nicht zugelassen se können auch z. T. erst im Bedarfsfall hergestellt
bzw. verfügbar). werden.
Die zweite wichtige Säule ist die sog. Postexpo- Das Team vor Ort muss ggf. nach der notwendi-
sitionsprophylaxe (PEP). Hier kann bei einem star- gen lebensrettenden Sofortversorgung auch weitere
ken Verdacht auf ein ansteckendes Infektionsge- direkte Kontaktpersonen mit Schutzmaßnahmen
schehen die nachträgliche Gabe von Impfstoffen, versorgen (Atemschutz, PEP).
Immunglobulinen, Antibiotika (z. B. Doxycyclin, Ansteckungsverdächtige Personen (alle poten-
Ciprofloxacin) und antiviralen Substanzen (z. B. ziell Exponierten und Kontaktpersonen, einschließ-
Neuraminidasehemmer) sinnvoll sein. lich ungeschützt exponiertes medizinisches Perso-
Die persönliche Schutzausstattung (PSA) um- nal, Rettungs- und Ordnungskräfte) werden wie
fasst in der Routine mindestens die Verwendung folgt eingeteilt:
von Handschuhen. Bei Hinweisen auf ansteckende 4 »Gesunde« Personen: Absonderung (zu Hau-
Infektionserreger sind weitere Ausstattungsgegen- se, in Kohorten, stationär) bis zum Ausschluss
stände empfehlenswert: einer lebensbedrohlichen Infektion, dabei
4 Schutzanzug als Overall (mindestens mit ein- medizinische Beobachtung, ggf. PEP
gearbeiteter Kapuze) und ggf. mit eingefügten 4 Personen mit Fieber und anderen Sympto-
Fußanteilen men (z. B. Durchfall, Exanthem): Isolierung
4 FFP3-Masken (partikelfiltrierende Halb- bis zum Ausschluss lebensbedrohlicher Infek-
masken) mit Ausatemventil. So genannte tion, symptomatische und kalkulierte Chemo-
Operationsmasken (= FFP1) sind nicht aus- therapie.
reichend 4 Personen mit wahrscheinlicher/bestätigter
4 Sterile Operationshandschuhe verwenden ansteckungsfähiger Infektionskrankheit:
(besserer Sitz, höhere Dichtigkeit), doppelt, mit Isolierung nach epidemiologischer Indikation,
Klebeband am Anzug abgedichtet stationäre Behandlung, symptomatische und
4 Schutzbrille oder Gesichtsschild kausale Therapie.
4 Einwegschürzen/-Operationskittel
4 Überziehschuhe
4 Abfallbeutel für Müll der Gruppe C, flüssig- 40.3.3 Meldung und Einleitung weiterer
keitsdicht, möglichst mit Kabelbindern ver- Maßnahmen
schließen. Gegebenenfalls »Beutel-in-Beutel«-
System anwenden (= höhere Auslaufsicher- In der Unfallmeldung wird sich nur selten bereits
heit), ideal sind spezielle Kunststoffbehälter ein offensichtlicher Hinweis auf eine ansteckende
(sog. Medibins), die nach Befüllung dicht ver- Infektionskrankheit finden. Normalerweise werden
schlossen werden können. dort Informationen zu Ort, Art der Situation, An-
> Patienten mit Verdacht auf eine ansteckende
zahl der Betroffenen, Schwere der Symptomatik/
Infektionskrankheit sollten, wenn es der
Erkrankung und ggf. noch Hinweise zum Umfang
Zustand erlaubt, ebenfalls eine FFP3-Maske
der Gesamtsituation und weiteren betroffenen Per-
erhalten, diese darf jedoch nicht über ein Aus-
sonen gemacht. Die oben genannten Symptome
atemventil verfügen.
können aber schon für die Leitstelle wichtige Hin-
weise auf ein ungewöhnliches Geschehen liefern.
Natürlich ist auch an ausreichende Mengen wirksa- Hier ist der Dialog mit dem Personal vor Ort ent-
mer Desinfektionsmittel zu denken. Neben den scheidend. Idealerweise wird in gemeinsamer Ab-
üblicherweise vorhandenen alkoholischen Lösun- stimmung ein Verdacht auf ein Infektionsgeschehen
564 Kapitel 40 · Biologische Bedrohung

definiert und koordiniert das weitere Vorgehen ab- derung oder Quarantäne. Diese Maßnahmen sind
gestimmt. für die Dauer der erregerspezifischen Inkubations-
Beim geringsten Verdacht muss sofort ein ent- zeit durchzuführen. Je nach Umfang des Infektions-
sprechender persönlicher Schutz des Personals her- geschehens und/oder der betroffenen Region kann
stellt und allen Beteiligten ein entsprechender Hin- es notwendig werden, provisorische Behandlungs-
weis mit Angaben zum weiteren Vorgehen gegeben und Isoliereinrichtungen aufzustellen (Krankenwa-
werden. Je nach Schweregrad der Symptomatik und gen, Zelt, Geschäft, Gebäude, Turnhalle, Stadion,
Umfang des Geschehens muss mit der Leitstelle ge- Schulen, Kantine, Kino usw.).
klärt werden, inwieweit das Team in die nächste Die Einteilung erfolgt in drei Zonen:
medizinische Versorgungseinrichtung verlegen 4 Rot: primärer kontaminierter Bereich.
kann oder auf Unterstützung vor Ort warten muss. 4 Gelb: dieser ergibt sich u. a. aus der möglichen
Eine entscheidende Rolle kommt hier der Kommu- Ausbreitungsrichtung (hier kann z. B. auch die
nikation und Leistungsfähigkeit der zuständigen Windrichtung eine Rolle spielen. Üblicher-
Leitstelle zu! weise halten sich in der gelben Zone alle
Besteht der Verdacht auf eine Exposition meh- primär Betroffenen auf (Exponierte/Kranke
rerer Personen und Bereiche, muss mit ersten ent- und Krankheitsverdächtige).
sprechenden antiepidemischen Maßnahmen vor 4 Grün: diese stellt den »reinen«, dekontami-
Ort begonnen werden. nierten Bereich dar, der über ein Dekontami-
nationsregime den gelben Bereich »ver- bzw.
entsorgt«. Hier wird auch möglichst zügig eine
40.3.4 Entscheidung über Leitstelle/Operationszentrale eingerichtet, die
Vor-Ort-Maßnahmen in Abstimmung mit den übergeordneten Be-
hörden und Institutionen (Gesundheitsämter,
Ist primär von einem Einzelfall auszugehen, sollte Rettungsdienste, Feuerwehr, Polizei, LKA,
der betroffene Bereich vor Beginn des Kranken- BKA, Robert-Koch-Institut, Kompetenz-/Be-
transportes auf jeden Fall für eine spätere eingehen- handlungszentren) den Einsatz koordiniert.
de Untersuchung gesperrt bzw. gesichert werden
(z. B. durch Polizeibeamte). Wichtig ist, dass die Leitstelle möglichst frühzeitig
Besteht jedoch ein starker Verdacht auf ein Ge- den Austausch des meist nichtspezialisierten ersten
schehen mit einer hoch ansteckungsfähigen Infek- Teams vor Ort plant und durchführt. Dadurch wird
tionskrankheit (z. B. mehrere Betroffene mit ähnli- u. a. gewährleistet, dass alle weiteren notwendigen
cher Symptomatik) muss mit ersten koordinieren- Vor-Ort-Maßnahmen fach-, sach- und zeitgerecht
den Maßnahmen vor Ort vom Einsatzteam begon- durchgeführt werden. Während die primäre medi-
nen werden. zinische Notfallbehandlung meistens noch vom zu-
> Das erste Ziel muss sein, eine weitere
erst eingetroffenen Team geleistet werden kann,
Ausbreitung der Erkrankung zu verhindern!
stellt die Isolierung und weitere Sichtung von Er-
krankten bereits eine sehr zeitaufwändige und um-
Hierzu werden Gefahrenbereiche definiert, die gegen fangreiche Maßnahme dar, die vom Erstteam allen-
unerlaubtes Verlassen bzw. Betreten zu sichern sind. falls begonnen werden kann.
Alle neuen bzw. bereits vorhandenen Unterstüt- Alle weiteren Schritte wie Absonderungs-/Iso-
zungskräfte werden, wenn möglich, mit den oben lierungsmaßnahmen, patientennahe und umge-
beschriebenen PSA-Bestandteilen ausgestattet. Es bungsbezogene Probennahmen, Probenverpackung
werden Dekontaminationsregularien für den Wech- und entsprechend gesicherter Transport, Dekonta-
sel zwischen den eingeteilten Bereichen festgelegt. mination und komplette Dokumentation, Anamne-
Entscheidend ist die Erfassung aller Personen, seerhebung, Auswertung, Meldevorgänge und ggf.
die ohne Schutz dem Infektionserreger ausgesetzt Einleitung weiterer antiepidemischer Maßnahmen
40 waren. Je nach Erreger und Grad der Exposition er- werden von den nachrückenden Einsatzkräften
folgt eine PEP, Überwachung/Beobachtung, Abson- durchgeführt und koordiniert.
40.4 · Hygiene-/Dekontaminationshinweise
565 40
40.4 Hygiene-/ Neben den Maßnahmen unter C-I (idealerweise er-
Dekontaminationshinweise gänzt durch Overalls, Vollgesichtsmasken und abge-
klebte, doppelte Handschuhe) sollte das Transport-
Alle potenziell exponierten Oberflächen/Gegen- fahrzeug; wenn möglich; nur die absolut notwen-
stände werden gereinigt, desinfiziert bzw. dekonta- digste Ausstattung enthalten, die Kabine vom Fah-
miniert und anschließend, wenn möglich, direkt in rerhaus getrennt bleiben, die Klimaanlage oder
entsprechende Abfallbehältnisse entsorgt. Das sonstige Belüftung ausgeschaltet sein und alle In-
Personal muss beim Wechsel von der gelben Zone nenflächen wo möglich mit Einwegmaterialien ab-
in den grünen Bereich äußerlich komplett dekonta- deckt werden. Nach Einsatzende erfolgt das Ausklei-
miniert (ggf. einschließlich Duschen) werden den in einer entsprechenden provisorischen Dekon-
und führt einen kompletten Bekleidungswechsel taminationszone mit anschließender Entsorgung
durch. aller Gegenstände. Das Fahrzeug ist unter entspre-
Anschließend erfolgen ggf. notwendige Prophy- chender Schutzbekleidung gründlich zu reinigen, zu
laxe- (Impfung, Antibiotikagabe) und Über- desinfizieren und komplett zu dekontaminieren
wachungsmaßnahmen. (idealerweise Formalinbegasung des Innenraumes).
Für den Sonderfall, dass ein Einsatz in Regionen In der 7 Übersicht und . Abb. 40.1 sind noch-
stattfindet, die nur über eine eingeschränkte logisti- mals die wichtigsten Aspekte, Abläufe und Maßnah-
sche und fachliche Infrastruktur zum Management men für das Vor-Ort-Team bei Verdacht auf ein an-
einer solchen Krisensituation mit ansteckungsfähi- steckendes Infektionsgeschehen zusammengefasst.
gen Patienten verfügen, sollten die Ersteinsatzkräfte
folgende Punkte beachten:
Abgeleitet von den fünf Transportkategorien im Synopsis für »First Responder«
Rettungsdienst können zwei relevante Kategorien 5 Erster Kontakt zum Erkrankten/Betroffenen
betrachtet werden: – Primär Sicherung der Vitalfunktionen und
4 C-I Ermittlung von Gesundheits- und Allge-
5 Alle ansteckungsfähigen Erkrankungen, die meinzustand, Symptomatik, Anzahl der
aber primär kein lebensbedrohliches Poten- Betroffenen bzw. ggf. weiterer Beteiligter,
zial besitzen bzw. gut und ausreichend be- Trigger für Verdacht auf Infektionsge-
handelbar sind (z. B. akute Durchfallerkran- schehen (s. oben)
kungen durch Noroviren, offene Tuberkulo- – Überlegungen zu Differenzialdiagnosen
se, Meningokokkeninfektion). und Suche nach Hinweisen (speziell zu
5 Hier ist die Standardhygiene mit Handschu- Verstrahlung und Vergiftung z. B. durch
hen, Augenschutz, Mundschutz (möglichst Chemikalien, Kampfstoffe, bakterielle
immer mit FFP3-Maske und Ausatemventil Toxine, Pflanzengifte)
– im Rettungsdienst sollten für das Personal – Eigene Schutzmaßnahmen, Schutz für
grundsätzlich keine anderen Masken Ver- Patienten, Exponierte, ggf. Einleitung wei-
wendung finden → höhere generelle Sicher- terer Seuchenbekämpfungsmaßnahmen
heit), Mund-Nasen-Schutz für den Patien- – Sonstige epidemiologisch relevante Über-
ten ausreichend. legungen/Entscheidungen/Informationen
5 Das Einsatz- bzw. Transportfahrzeug muss 5 Informationsverhalten
anschließend gründlich gereinigt und des- – Weitere Benachrichtigungen, z. B. Leiten-
infiziert werden. der Notarzt (LNA), Ämter, Behörden,
4 C-II Krankenhäuser, Feldlazarett, Labore,
5 Hierunter fallen alle Erkrankungen, die Desinfektions-/Dekontaminationsspezia-
primär lebensbedrohlich verlaufen können listen, Presse, Kommandeur Sanitätsein-
und hoch ansteckend sind (z. B. virale satzverband, Leitstellen
hämorrhagische Fieber, Lungenpest, – Anforderung von Unterstützung
SARS).
566 Kapitel 40 · Biologische Bedrohung

Literatur
5 Grundsätzliche Checkliste/Vorgehens-
1. Centers for Disease Control and Prevention (Atlanta):
weise bei Verdacht auf Infektionsge-
http://www.bt.cdc.gov/agent/agentlist-category.asp
schehen (. Abb. 40.1) 2. Fock R, Koch U, Finke EJ, Niedrig M, Wirtz A, Peters M et al.
– Eigen-/Fremdschutz (2000) Schutz vor lebensbedrohenden importierten
– Ansteckungsfähig? Infektionskrankheiten: Strukturelle Erfordernisse bei der
Behandlung und anti-epidemische Maßnahmen. Bun-
– Prophylaktische Antibiotikagabe/PEP
desgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz
– Ursachen-/Quellenidentifizierung 42: 891–899
– Erste Absperr-/Isolierungs-/Quarantäne- 3. Franz D et al. (1996) Medical Management of Biological
maßnahmen einleiten (betrifft alle an- Casualties. US Army Medical Research Institute of Infec-
tious Diseases. Frederick, Maryland, Fort Detrick
steckungsverdächtigen Personen), ggf.
4. Jernigan DB, et al. (2002) National Anthrax Epidemiologic
vor Ort bleiben, um Weiterverbreitung zu Investigation Team Investigation of bioterrorism-related
unterbinden – provisorische Isolierein- anthrax, United States, 2001: Epidemiologic findings.
richtung (Krankenwagen, Zelt, Geschäft, Emerg Infect Dis 8:1019–1028
5. United States Army Institute of Infectious Diseases: www.
Gebäude, Turnhalle, Stadion, Kantine,
usamriid.army.mil/education/bluebook.html
Kino etc.) errichten 6. World Health Organization: www.who.int/health-topics/
5 Folgemaßnahmen bioterrorism/en/
– Weitere Patientenversorgung (vor Ort/ 7. Kekulé et al. (2008) Hochpathogene Erreger und Biologi-
sche Kampfstoffe. MiQ 26-29 – Qualitätsstandards in der
Klinik)
mikrobiologisch-infektiologischen Diagnostik. Band 1–4.
– Eigenes Personal (unterstützen, München. Elsevier, Amsterdam
Entlastung/Austausch andenken) 8. Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophen-
– Ggf. gezielte Therapie einleiten, hilfe (BBK), Robert-Koch-Institut (RKI) (2007) Biologische
Dekontamination, Desinfektion Gefahren Bd. I u. II, Handbuch zum Bevölkerungsschutz.
3. Aufl. Bon, Berlin
– Forensik einschließlich Anamneseer- 9. Domres BD, Finke E-J, Kekulé A (2010) Großschadens-
fassung und -auswertung (besonders lagen durch biologische Agenzien. In: Schutzkommission
wichtig bei längerer Inkubationszeit einer beim Bundesministerium des Innern. Leitfaden für die
Infektion), Probennahme/-sicherung ärztliche Versorgung im Katastrophenfall. 5. völlig neu
überarbeitete Aufl., München, S. 266–302
veranlassen, Vektorenerfassung 10. Finke EJ, Tomaso H, Frangoulidis D (2006) Bioterroris-
mus-Infektiologische Aspekte. In: Darai G, Handermann
M,. Sonntag HG, Tidona CA, Zöller L (Hrsg.) Lexikon der
Infektionskrankheiten des Menschen – Erreger, Symp-
tome, Diagnose, Therapie und Prophylaxe, 3. Aufl. Sprin-
ger, Berlin Heidelberg
11. Finke E-J, Frangoulidis D (2009) B-Gefahren. In: Sefrin
et al. (Hrsg.) Notfallmedizin, 2. Aufl. Thieme, S. 623–627
12. Frangoulidis D, Meyer H (2005) Measures undertaken in
the German Armed Forces Field Hospital deployed in
Kosovo to contain a potential outbreak of Crimean-
Congo hemorrhagic fever. Mil Med 170(5):366–9
13. CDC, Atlanta, USA: http://www.bt.cdc.gov/agent/agent-
list-category.asp

. Abb. 40.1 Algorithmus für die präklinische Versorgung Infektionskranker. 1 Vorsichtung und Dokumentation durch 7
Leitenden Notarzt/Sichtungsarzt/Sichtungsarztgruppe. Kommunikation mit Leitenden Notärzten der festgelegten Kranken-
häuser zur Aufnahme der Patienten. 2 Erste antiepidemische Maßnahmen zur Kontrolle, Begrenzung und Untersuchung des
biologischen (Ausbruchs-)Herdes durch Amtsarzt, gemäß IfSG, ggf. Einbindung von Amtstierarzt bei Ausbrüchen in Tierbe-
ständen, epidemiologischer Task Force des RKI, BfR, Bundeskriminalamt (Spurensicherung) oder Bundeswehr (Task Force

40 Med ABC Schutz). * Meldepflichtige Ereignisse gemäß Internationalen Gesundheitsvorschriften (§12 IfSG). ** Kategorien der
Kontaktpersonen gemäß BBK Handbuch Teil I. I-KTW Infektionskrankentransportwagen, PSNV Psychosoziale Notfallversor-
gung. (Adaptiert nach [9])
40.3 · Aspekte für Einsatzkräfte vor Ort
567 40
569 41

Chemische Bedrohung
K. Kehe, D. Steinritz, H. Thiermann

41.1 Einführung – 570

41.2 Indikatoren für den Einsatz chemischer Kampfstoffe – 570

41.3 Physikalisch-chemische Eigenschaften – 571

41.4 Allgemeine Schutzmaßnahmen und Erstreaktion – 572

41.5 Behandlung von Vergiftungen – 574


41.5.1 Symptomenkomplexe (Toxidrome) – 574
41.5.2 Klinische Symptome im Detail – 575

41.6 Gefahr der Therapiefehler – 580

Literatur – 580

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_41, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
570 Kapitel 41 · Chemische Bedrohung

41.1 Einführung
. Tab. 41.1 Einteilung der chemischen Kampfstoffe
41 nach Art und Wirkung
Chemische Kampfstoffe (C-Kampfstoffe) sind zu
Zwecken der Kriegsführung produzierte toxische C-Kampfstoffgruppe Beispiele
Chemikalien, die zu einer temporären Handlungsun-
fähigkeit, Dauerschädigung oder Tod führen kön- Nervenkampfstoffe VX, Sarin, Cyclosarin, Tabun,
Soman
nen. Ein C-Kampfstoff, der mit einem Einsatzmittel
kombiniert wird, ist ein C-Kampfmittel. Als Einsatz- Hautkampfstoffe S-Lost, N-Loste, Lewisit
mittel im militärischen Bereich werden Raketen, Blutkampfstoffe Blausäure, Chlorcyan
Bomben und Granaten verwendet. Bei terroristi-
Lungenkampfstoffe Phosgen, Diphosgen,
schen Aktionen ist auch eine Ausbringung durch Chlorpikrin
Agrarflugzeuge, Gartenspritzen, Druckbehälter oder
Psychokampfstoffe Chinuklidinylbenzilat
Klimaanlagen denkbar. Zu den Vergiftungssympto-
men können durch die Ausbringungsart (z. B. Explo-
sion) mechanische oder/und thermische Verletzun-
gen hinzukommen (Kombinationsverletzung). Die Prinzipien der Therapie von Vergiftungen mit
Zu bedenken ist auch, dass Gemische verschie- hoch toxischen oder weniger toxischen Vertretern
dener C-Kampfstoffe oder von C-Kampfstoffen mit einzelner Gruppen unterscheiden sich nicht wesent-
Radionukliden bzw. B-Kampfstoffen eingesetzt lich. Zur Wahrung der Übersichtlichkeit werden im
werden könnten, um Diagnostik und Therapie zu Folgenden nur die als besonders wichtig erachteten
erschweren. Gifte besprochen.
C-Kampfstoffe werden nach Art und Ort der
Wirkung klassifiziert (. Tab. 41.1). Diese Einteilung
ist wissenschaftlich nicht exakt und kann irreführen 41.2 Indikatoren für den Einsatz
sein. Als Beispiel sei der sog. »Blutkampfstoff« Blau- chemischer Kampfstoffe
säure genannt. Angriffspunkt der Blausäure ist die
in den Mitochondrien lokalisierte Atmungskette. Der Einsatz von C-Waffen oder die Freisetzung von
Blutbestandteile werden hingegen nicht attackiert, hochtoxischen Chemikalien kann ohne Vorzeichen
sondern das Blut bewirkt eine systemische Vertei- oder Warnungen erfolgen. Daher ist es bedeutsam,
lung. Ein anderes Beispiel sind die »Hautkampfstof- typische Hinweise für den Einsatz von C-Kampf-
fe«. Sie führen nach Hautkontakt an der Aufnahme- stoffen oder hochtoxischen Chemikalien zu kennen
stelle zu den ersten sichtbaren Symptomen. Nach und abrufbar im Bewusstsein zu haben:
der Aufnahme durch die Haut in den Blutkreislauf 4 Massenanfall von Patienten mit ähnlichen
werden sie im gesamten Körper verteilt so dass Vergiftungssymptomen (z. B. unerklärliche,
alle anderen Gewebe betroffen sein können. Daher plötzliche schwere Erkrankungen, Erbrechen,
ist neben den typischen Hauterscheinungen mit Desorientiertheit, Verhaltensauffälligkeiten,
schweren systemischen Symptomen zu rechnen. Krämpfe, Bewusstlosigkeit)
Chemische Kampfstoffe weisen eine sehr hohe 4 Gehäuftes Auftreten typischer Symptomkom-
Toxizität auf. Weniger giftige Vertreter der jeweiligen plexe, z. B.:
Gruppen finden oft zivile Verwendung. Beispiele sind 5 Augenrötung, Tränenfluss, leichte Seh-
4 Insektizide (phosphororganische Verbin- störung, Übelkeit, Haut- oder Atemwegs-
dungen wie Nervenkampfstoffe), irritationen
4 Tumortherapeutika (alkylierende N-Loste 5 Hautrötungen (Erythemen), Blasen und
analog den Hautkampfstoffen), Quaddeln (Urtikaria)
4 Cyanidlösungen in der Edelmetallgewinnung 4 Gehäufte Erkrankung, die mit dem Aufenthalt
(Blausäure wie Blutkampfstoff) in bestimmten Gebieten verbunden sind (alle
4 Syntheseausgangsstoffe in der chemischen Erkrankungen auf freiem Feld oder umschlos-
Industrie (Phosgen wie Lungenkampfstoff) senem Raum)
41.3 · Physikalisch-chemische Eigenschaften
571 41

. Abb. 41.1 Sesshaftigkeit von ausgewählten C-Kampfstoffen

4 Auffinden einer beträchtlichen Anzahl toter 41.3 Physikalisch-chemische


Tiere (kein Unfalltod, sondern viele Vögel und Eigenschaften
Fische im gleichen Gebiet)
4 Fehlender Insektenflug (Stille) C-Kampfstoffe können alle Aggregatzustände (fest,
4 Wahrnehmung von ungewöhnlichen Gerüchen flüssig, als Aerosol oder gasförmig) einnehmen.
(Meerrettich, Geranien, Heu, Senf, Knoblauch) Daher sind die Lungen, Haut, Augen und Wunden
4 Vorkommen von vielen Tropfen auf glatten die wichtigsten Aufnahmewege. Seltener kommt
Oberflächen (Autos, Grashalme) bei sonst es zur Vergiftung durch kontaminierte Nahrung
trockenen Wetterverhältnissen oder Wasser. Ausgebrachte C-Kampfstoffe können
4 Ungewöhnliche Nebelschwaden zwischen Minuten (nicht-sesshaft) bis Wochen
4 Korrelation der Windrichtung mit Verteilung (sesshaft) vor Ort persistieren (. Abb. 41.1). Es ist
vergifteter oder betroffener Tiere (gasförmige immer von einer Kontamination der Umgebung
C-Kampfstoffe bewegen sich mit dem Wind) auszugehen. Da C-Kampfstoffe mehr oder weniger
4 Metallteile (Bombenreste mit Flüssigkeit, ob- flüchtig sind, muss je nach Umgebungsbedingun-
wohl es nicht geregnet hat) gen auch mit einer Kontamination des windabwärts
4 Zurückgelassene Sprühvorrichtungen, Reste gelegenen Areals gerechnet werden. Bei Klima-
von Sprengkörpern anlagen besteht die Gefahr einer Ausbreitung im
4 Offene Behälter mit Gefahrstoffsymbolen Gebäude bzw. Tunneln (z. B. U-Bahn). Da
C-Kampfstoffe sind mit Ausnahme von Blausäure
Gleichwohl können diese Zeichen schwach ausge- spezifisch dichter als Luft, so dass sie sich leichter in
prägt sein oder gänzlich fehlen. Untergeschossen, Kellern, etc. ansammeln.
572 Kapitel 41 · Chemische Bedrohung

41.4 Allgemeine Schutzmaßnahmen


41 und Erstreaktion Allgemeine Schutzmaßnahmen
5 Persönliche Schutzausrüstung
Bei dem geringsten Verdacht muss der Rettungsein- – Schutzmaske, z. B. Dräger AG, Lübeck;
satz mit angelegter persönlicher Schutzausrüstung Auergesellschaft GmbH, Berlin
(Atemschutzmaske mit Aktivkohlefilter, Schutzan- – Schutzanzug, z. B. Blücher, Erkrath; Kärch-
zug) fortgesetzt werden, da ohne suffizienten Eigen- er Winnenden; Trelleborg AG, Trelleborg
schutz ein weiteres Vorgehen zu Ausfällen oder To- Schweden
desfällen des Rettungspersonals führen kann – Antidote, z. B. ComboPen/AtroPen (gegen
(7 Übersicht). Im Falle von primär lungentoxischen phosphororganische Gifte), Beclometha-
Substanzen (z. B. Blausäure oder Phosgen) reicht son Dosieraerosol, z. B. Ventolair (Reiz-
ein suffizienter Atemschutz aus. Blausäure wird je- gase, Phosgen)
doch nicht an Aktivkohle gebunden, sodass hier ein 5 Identifikation
spezieller Filter erforderlich ist (z. B. Filtertyp B, – Spürröhrchen, z. B. Dräger AG Lübeck;
Farbcodierung grau nach EN 14387). Auergesellschaft GmbH, Berlin)
Die frühzeitige Weiterleitung der Informatio- – Spürgerät, z. B. CAM – »Chemical Agent
nen ist von großer Bedeutung, um eine großräumi- Monitor« (Smiths Detection) oder
ge Absperrung, Zuführung weiterer Rettungskräfte – Multidetektorenarray (z. B. GDA-2,
als auch die Herbeischaffung von ausreichenden Airsense Analytics)
Medikamenten (Antidoten) zu gewährleisten. Bei – Schnellstestsysteme, z. B. Sulfur Mustard
dem (vermuteten) Einsatz von C-Kampfstoffen sind Detector, CHE Check mobile (Securetec
weiterhin spezialisierte Einheiten des Bevölke- Detektions-Systeme AG, München)
rungsschutzes (Med TaskForce), der Polizei und der 5 Dekontamination
Feuerwehren anzufordern. Falls möglich, sollten – Haut
ABC-Einheiten bzw. -Berater der Bundeswehr zur – Verdünnung o großzügig mit Wasser
Unterstützung hinzugezogen werden. (ggf. mit Seife oder Spülmittel)
Grundsätzlich ist größte Vorsicht bei der Annä- – Adsorption: Fuller’s Earth (z. B. Serva,
herung an den Unfallort geboten. Der Schnellnach- Heidelberg), Bentonit (z. B. Benton-
weis von C-Kampfstoffen ist mit Indikatorpapieren iterde Typ 2, Roth, Karlsruhe)
oder Spürröhrchen der Firmen Dräger bzw. Auer – Zerstörung: »Reactive Skin Decontami-
möglich. Eine weitere Eingrenzung kann mit mobi- nant Lotion« (RSDL, Fa. Bracco); bei
len Spürgeräten erfolgen (z. B. GDA-2, CAM, etc.). Losten Chloramin-T-Lösung
Bei Verdacht auf Ausbringung chemischer Kampf- – Schleimhaut (Wunden): großzügiges
stoffe ist durch besondere Nachweisgeräte eine Spülen mit kühlem Wasser
schnelle Detektion möglich (7 Übersicht). Derartige – Augen
Schnellnachweisgeräte sind ausreichend empfind- – Isotone, isohydrische/neutrale, sterile,
lich, schnell und mobil – allerdings ist die Ergebnis- wässrige Lösungen
se oft nicht spezifisch und teilweise muss mit falsch- – Im Notfall reichlich Wasser
positiven Alarmen gerechnet werden. Daher be- – Magen-Darm-Trakt (nur bei oraler Auf-
dürfen diese hinweisgebenden Verfahren einer nahme)
Bestätigung mit alternativen Methoden (i. d. R. – Adsorptionsmittel: medizinische Kohle
massenspektrometrische Methoden). 20 g/200 ml Wasser p.o., Fuller’s Earth
20 g/200 ml Wasser p.o.

Vielen Kommunen und Rettungskräften in


Deutschland wurde eine ausreichende Anzahl von
ABC-Erkundungsfahrzeugen zur Verfügung ge-
41.4 · Allgemeine Schutzmaßnahmen und Erstreaktion
573 41
stellt, welche weitergehende Aufklärung rasch vor In der Übergangszone, also der Bereich in kon-
Ort ermöglichen sollen. Darüber hinaus hat der taminationsfreien Zone, in dem aber durch Patien-
Bund mehrere Standorte mit sog. Analytischen Task ten oder kontaminierte Personen C-Kampfstoffe
Forces (ATF) ausgestattet, die in einem Radius von eingebracht werden können, erfolgt die Dekontami-
200 km zeitnah am Schadensort eintreffen und spe- nation: Kleider sind zu entfernen und eine Hautde-
zielle C-Analytik zur Verfügung stellen können [12]. kontamination muss durchgeführt werden. Dies
> Bei jedem Verdacht auf Einsatz eines C-Kampf-
muss unbedingt vor Aufnahme in eine Klinik ge-
stoffes empfiehlt sich eine theoretische
schehen, um eine Kontamination von Klinikperso-
Berechnung der möglichen Verteilung des
nal, anderen Patienten und Material zu verhindern.
Kampfstoffes in der Umgebung.
Zu diesem Zweck ist eine Dekontaminationsein-
richtung spätestens vor der Notaufnahme einzu-
Als Einflussgrößen sind Art und Menge des C- richten. Das Dekontaminationspersonal muss eine
Kampfstoffes (volatil oder sesshaft), die Wetterlage persönliche Schutzausrüstung tragen (Schutzbe-
(Windstärke, -richtung, Regen, Temperatur) und kleidung und Atemschutz). Die Raumluft sollte mit
die Geländebeschaffenheit (Bevölkerungsdichte, einem geeigneten Messgerät (7 Übersicht) über-
Untergrund) zu betrachten. Eine Simulation einer wachen werden.
möglichen Verteilungswolke mit softwaregestütz- Während der Dekontamination muss der Zu-
ten Modellen (z. B. Hazard Prediction and Assess- stand der Patienten kontinuierlich überwacht wer-
ment Capability, HPAC) erlaubt eine Abschätzung den. Dies sollte bei der personellen und materiellen
von Gefährdungszonen und gibt erste Hinweise auf Ausstattung berücksichtigt werden. Zur Dekonta-
evtl. zu ergreifende Evakuierungsmaßnahmen. mination werden die Kleider entfernt. Augen und
Bei dem Einsatz von C-Kampfstoffen ist von Schleimhäute sollen mit ausreichend Wasser ge-
einer großen Zahl Betroffener (d. h. Vergifteter und spült werden. Auf der Haut kann das Gift durch
vermeintlich Vergifteter) auszugehen. Die Grund- Wasser verteilt und die Resorption durch die auf-
sätze der Individualmedizin können unter diesen geweichte Hornhaut begünstigt werden. Daher
Umständen nicht mehr im vollen Umfang aufrecht- sollte mit möglichst kühlem Wasser viel gespült
erhalten werden. Improvisation und Beschränkung werden, um einerseits die Aufnahme des Giftes
auf absolut notwendige Maßnahmen kann erforder- zu verringern (Kühlung) und andererseits giftige
lich werden. Im Vordergrund steht die rasche Stoffe möglichst schnell von der Haut abzuwa-
Rettung aus dem kontaminierten Bereich, um eine schen   (Wassermenge). Falls verfügbar, sollte z. B.
weitere Aufnahme des Giftes zu minimieren und »Reactive Skin Decontamination Lotion« (RSDL)
eine zeitnahe Dekontamination, an die sich eine ad- zur Hautdekontamination eingesetzt werden
äquaten medizinischen Versorgung anschließt. Auf (Spotdekontamination). Verschiedene Alternativen
alle Fälle muss der Kontakt mit der kontaminierten der Augen-, Schleimhaut-, Magen-Darm-Trakt-
Umgebung so gering wie möglich gehalten werden. und Wunddekontamination sind in der 7 Über-
So ist beispielsweise zu bedenken, dass bei der in- sicht  angegeben. Bei Verwundeten ist zu beach-
travenösen Injektion oder Intubation im kontami- ten,  dass poröse Fremdkörper (Holz, Kleidung)
nierten Bereich die Gefahr einer Einbringung des C-Kampfstoff enthalten können. Nach chirurgi-
Kampfstoffs in den Organismus besteht. Invasive scher Entfernung sind daher Fremdkörper grund-
Eingriffe sind daher lage-, situations- und ressour- sätzlich in eine geeignete Dekontaminationslösung
cenabhängig auf das notwendige Minimum zu be- zu tauchen.
schränken und im Massenanfall ohnehin schwer
durchführbar. Bei Vergiftungen mit phosphororga- Tipp
nischen Verbindungen spielt der Zeitfaktor eine
große Rolle. Deshalb sind geeignete Antidotautoin- Bei Personen ohne Schutzanzug und großflächi-
jektoren entwickelt worden (7 Übersicht), die sofort, gem Dekontaminationsbedarf ist möglichst viel
d. h. noch im kontaminierten Bereich, intramusku- Wasser nach wie vor das Mittel der Wahl.
lär (i.m.) angewendet werden können.
574 Kapitel 41 · Chemische Bedrohung

41.5 Behandlung von Vergiftungen Anticholinerge Symptomatik


41 In diesem Zusammenhang muss auch die anticho-
Die Behandlung von Vergiftungen mit C-Kampf- linerge Symptomatik angesprochen werden, da
stoffen stellt den behandelnden Arzt vor sehr große dieses leicht bei der Therapie von vermeintlichen
Herausforderungen. Dies ist zum einen darin zu Nervenkampfstoffvergiftungen durch eine Über-
begründen, dass Expositionen mit diesen Substan- dosierung von Atropin verursacht werden kann
zen und die daraus resultierenden Gesundheitsstö- (7 Übersicht).
rungen sehr seltene Ereignisse sind. Daher wird die
Möglichkeit einer C-Kampfstoffexposition vermut- Anticholinerge Symptomatik
lich zunächst nicht in Betracht gezogen. Weiterhin 5 Delirium
gibt es kein singuläres Symptom, das für eine 5 Agitation
Kampfstoffvergiftung beweisend und eindeutig 5 Unruhe
wäre. In der Regel treten bei betroffenen Patienten 5 Müdigkeit mit Halluzinationen
mehrere Symptome auf, die zusammengenommen 5 Gedächtnisstörungen
ein charakteristisches Bild ergeben können. Diese 5 Krampfanfälle
vergiftungsbedingten Symptomenkomplexe müs- 5 Hochroter Kopf (»flush«)
sen bei einem Patienten zur ersten klinische Diag-
nose herangezogen werden.

Rötung und Blasenbildung der Haut


41.5.1 Symptomenkomplexe Patienten, die Kontakt mit einem Hautkampfstoff
(Toxidrome) hatten, zeigen initial meist Augen- und Hautsymp-
tome. Im Vordergrund stehen Erythem, Blasenbil-
Cholinerge Symptomatik dung und (für den Falle, dass die Augen nicht ge-
Die Patienten präsentieren vorrangig Symptome, schützt waren) Konjunktivitis. Charakteristisch für
die mit einer cholinergen Krise einhergehen S- und N-Loste (Schwefel-/Stickstoffloste) ist jedoch
(7 Übersicht). Verursachende Substanzen sind die ein symptomfreies Intervall. Dieses ist abhängig von
phosphororganischen Verbindungen (z. B. Nerven- der Konzentration des Hautkampfstoffes (je höher
kampfstoffe) und Carbamate. die eingesetzte Konzentration, desto kürzer ist das zu
beobachtende symptomfreie Intervall) und kann bis
zu 24 h betragen. Für Lewisit ist hingegen das symp-
Cholinerge Symptomatik tomfreie Intervall aufgrund des Wirkmechanismus
5 Miosis/Sehstörung sehr kurz bis nicht vorhanden. Veränderungen der
5 Überschießende Schweißdrüsenaktivität Vitalparameter sind für alle Hautkampfstoffe unspe-
5 Speichel- und Tränenfluss zifisch und nicht zwingend vorhanden.
5 Erbrechen
5 Ungewollter Stuhlabgang Atemnot, toxisches Lungenödem
5 Muskelschwäche Für den Bereich der Lungenkampstoffe sind die zu
5 Muskelfaszikulationen erwartenden Symptome noch unspezifischer. Ge-
5 Hypothermie fährlich ist das symptomfreie Intervall nach Einat-
5 Initiale Tachypnoe mung giftiger Gase. Erst nach mehreren Stunden
5 Später Bradykardie kommt es zur Atemnot durch eine zunehmende
5 Verwirrtheit Flüssigkeitsansammlung in den Alveolen. Das ent-
5 Krampfanfälle stehende toxische Lungenödem ist lebensbedrohlich.
5 Schließlich Atem- und Kreislaufversagen Daher müssen exponierte Patienten ruhiggestellt
und ausreichend lange beobachtet werden, sodass bei
einsetzender Atemnot eine unmittelbare medizini-
sche Versorgung durchgeführt werden kann.
41.5 · Behandlung von Vergiftungen
575 41
Cyanide torischen Endplatte und den vegetativen Ganglien
Patienten die Kontakt mit Cyaniden hatten, zeigen nikotinische Acetylcholinrezeptoren vorhanden
oft eine hellrote Hautfarbe, da der Sauerstoff nicht sind, sind im Bereich des peripheren Parasympathi-
verstoffwechselt werden kann (Sauerstoffsättigung kus muskarinische Acetylcholinrezeptoren vorran-
100 %). Trotzdem besteht eine starke Atemnot. Bei gig. Im zentralen Nervensystem existiert ebenfalls
einer Vergiftung mit sehr hohen Konzentrationen eine cholinerge (muskarinische und nikotinische)
kommt es in Sekunden zur Hyperventilation, Atem- Reizweiterleitung.
stillstand, Bewusstlosigkeit und innerhalb von weni- Um Stimuli im cholinergen System rasch ab-
gen Minuten zum Herzstillstand. Eine hellrote Fär- schalten zu können, wird Acetylcholin sehr schnell
bung der Haut bleibt in diesen Fällen oft aus. Cha- durch die Acetylcholinesterase (AChE) abgebaut.
rakteristisch für Cyanide kann ein Bittermandelge- Phosphororganische Verbindungen hemmen die
ruch sein, der jedoch nur von etwa der Hälfte der AChE. Acetylcholin reichert sich in der Folge im
Menschen wahrgenommen werden (7 Übersicht). synaptischen Spalt und an Rezeptoren an, sodass die
innervierten Organe und Gewebe maximal stimu-
Symptomatik einer Cyanidvergiftung liert werden. Die muskarinischen und nikotini-
5 Atemnot schen Vergiftungssymptome sind in . Tab. 41.2 dar-
5 SpO2 100 % gestellt. Bedeutsam ist die Bedrohung der Atmung
5 Rosige/hellrote Hautfarbe bei dieser Vergiftung. Zentrale sowie periphere
5 Bittermandelgeruch der Ausatemluft Atemlähmung, Bronchokonstriktion und Bron-
5 Kopfschmerzen chorrhö sowie verzögert auftretendes Kreislaufver-
5 Schwindel sagen können zum Tod führen.
5 Erbrechen Die klinische Diagnose kann durch die Bestim-
5 Krämpfe mung der erythrozytären AChE-Aktivität bestätigt
5 Ohnmacht werden. Die biologische Funktion der erythrozytä-
5 Zunächst Tachypnoe ren AChE ist noch weitgehend unbekannt. Ihr Auf-
5 Im Verlauf schnell Apnoe bau entspricht dem der synaptischen AChE, und
5 Tachykardie eine Vielzahl von Befunden lassen darauf schließen,
5 Tod innerhalb kürzester Zeit dass die erythrozytäre AChE-Aktivität ein geeigne-
(wenige Minuten) möglich ter Surrogatparameter für die synaptische AChE-
Aktivität ist.
Die erythrozytäre AChE-Aktivität, die nicht zu
den routinemäßig bestimmten Laborparametern
41.5.2 Klinische Symptome im Detail zählt, kann mit einem einfach bedienbaren Test-
system (ChE check mobile, Fa. Securetec) vor Ort
Phosphororganische Verbindungen zuverlässig und schnell bestimmt werden. Bei klini-
Das vegetative Nervensystem besteht aus zentralen scher Symptomatik und erniedrigter Aktivität ist
(Hirnstamm, Rückenmark) und peripheren Antei- unverzüglich mit der Antidottherapie zu beginnen.
len. Das periphere, vegetative Nervensystem glie- Die biomedizinische Verifikation (Identifikation
dert sich funktionell in den Sympathikus und Para- des spezifischen Nervenkampfstoffes) ist später spe-
sympathikus, welche die meisten vegetativen Orga- zialisierten Laboren vorbehalten.
ne (Herz, Drüsen etc.) steuern. Die wichtigsten
Botenstoffe, die an den Nervenendigungen freige- > Die Basis der Pharmakotherapie der Nerven-
setzt werden, sind Noradrenalin (peripherer Sym- kampfstoffvergiftung sind die symptomati-
pathikus) und Acetylcholin (peripherer Parasympa- sche Therapie mit Atropin und die kausale
thikus, vegetative Ganglien des Sympathikus und Therapie mit Obidoxim.
Parasympathikus). Neben dem vegetativen Nerven-
system ist Acetylcholin Überträgersubstanz an der Atropin verdrängt das Acetylcholin vom muskari-
neuromuskulären Endplatte. Während an der mo- nischen Acetylcholinrezeptor und vermindert die
576 Kapitel 41 · Chemische Bedrohung

chanismus wie z. B. Parathion) weisen darauf hin,


. Tab. 41.2 Symptome einer Nervenkampfstoff-
41 vergiftung
dass schwere cholinergen Krisen mit diesem Re-
gime vor Ort in der Regel ausreichend behandelt
Organe/ Klinisches Bild werden können. Bei länger anhaltenden Vergiftun-
Gewebe gen kann eine i.v. Therapie (z. B. Atropindauerper-
fusor) erforderlich werden. Da bei Kindern Atropin
Muskarinische Symptome
eine höhere Toxizität zeigt, ist eine altersabhängige
Auge Miosis, Akkomodationsstörungen, Dosisreduktion erforderlich.
Tränenfluss Atropin wirkt nicht an nikotinischen Acetyl-
Nasen- Nasenlaufen und Speichelfluss cholinrezeptoren. Hier sind alternative Therapiean-
Rachen-Raum sätze erforderlich.
Lunge Bronchorrhö, Bronchokonstriktion Mit Obidoxim (Toxogonin) kann die Funktion
der AChE wiederhergestellt werden (Reaktivie-
Zentraler Zentrale Atemlähmung mit Ab-
Atemantrieb nahme von Atemfrequenz und –tiefe rung), solange die Verbindung zwischen Gift und
AChE nicht zu einer irreversiblen Schädigung der
Gastrointes- Übelkeit, Erbrechen, Durchfall,
tinaltrakt unwillkürliche Entleerung
AChE geführt hat (sog. Alterung der AChE). Durch
eine Reaktivierung der AChE und dem damit wie-
Harnblase Harndrang, unwillkürliche Entleerung
der möglichen Abbau von Acetylcholin können die
Herz/Kreislauf Bradykardie (AV-Knoten), Blutdruck- Symptome therapiert werden, die Acetylcholin an
abfall den cholinergen Rezeptoren (z. B. motorische End-
Haut Schweißausbruch platte an der Muskulatur) verursacht. Damit besteht
Nikotinische Symptome
die Möglichkeit, die periphere Atemlähmung thera-
peutisch zu bekämpfen. Bei Erwachsenen wird zu-
Skelett- Schwäche, Faszikulationen, nächst Obidoxim 250 mg i.v. injiziert. Die Therapie
muskel periphere Atemlähmung
kann bei Fortbestehen der Vergiftung mit
Sympathische In der Frühphase der Vergiftung 750 mg/24 h fortgesetzt werden, falls z. B. Nerven-
Ganglien vorübergehender Blutdruckanstieg,
kampstoffe eingesetzt werden, die längere Zeit im
Tachykardie
Körper persistieren (z. B. VX). Bei Kindern werden
Andere Symptome 4–8 mg/kg KG appliziert.
ZNS Unruhe, Schwäche, Tremor, Ataxie, Unterstützende Beatmung kann bei schweren
epileptiforme Krämpfe Fällen erforderlich werden.
Psyche Alpträume, Schlaflosigkeit, Labilität Autoinjektoren sind für eine i.m. Gabe der An-
tidote bereits im kontaminierten Bereich geeignet
und enthalten entweder 2 mg Atropin mit 220 mg
Obidoxim (ATOX, ComboPen) oder nur 2 mg At-
muskarinischen Symptome. 2 mg Atropin sollten ropin (AtroPen). Gegeben wird bei Symptomen zu-
sofort verabreicht werden (ggf. in Selbst- und nächst der ComboPen und im Abstand von 10 min
Kameradenhilfe). Tritt im Abstand von 5–10 min oder bei erneutem Auftreten der Salivation ein
(oder nach Einsetzen der Symptome) keine Besse- AtroPen-Autoinjektor. Die AtroPen-Injektion kann
rung ein, sollte die Dosis verdoppelt werden (4 mg; bei persistierender Salivation wiederholt werden.
ärztliche Therapie). Sollte nun nach weiteren Bei starker Atemdepression werden alle drei Injek-
5–10 min keine Besserung eintreten, ist die Dosis toren unmittelbar hintereinander injiziert. Weitere
erneut zu verdoppeln (8 mg). Dieses Vorgehen soll- Atropindosierung (i.v.) erfolgt nach obigem Schema
te bis zum Sistieren der Symptome wiederholt unter ärztlicher Verantwortung.
werden (Nasenlaufen, Salivation, Bronchorrhoe, Zur Krampfprophylaxe oder bei epileptiformen
Rasselgeräusche) (7 Übersicht). Erfahrungen aus Krämpfen sollte Diazepam (10 mg langsam i.v., ggf.
Therapie von Vergiftungen mit phosphororgani- sind höhere Dosierungen erforderlich) verabreicht
schen Insektiziden (vergleichbarer Wirkungsme- werden.
41.5 · Behandlung von Vergiftungen
577 41
ren zum Durchfall mit Elektrolyt- und Wasser-
Therapeutische Optionen bei Vergiftung verlust. Systemisch können Erbrechen, zunächst
mit Nervenkampfstoffen und anderen zentrale Erregung, später Dämpfung, Leukopenie,
Organophosphaten Abwehrschwäche und im Extremfall Agranulozyto-
5 Atropin 2 mg, nach 5–10 min bei weiter se auftreten.
bestehenden Symptomen (z. B. Salivation) Die Diagnose ergibt sich aus der Anamnese und
Verdopplung der Dosis dem klinischen Bild. In Speziallaboratorien ist der
5 Obidoxim (z. B. Toxogonin) 250 mg i.v., Nachweis von Urinmetaboliten (Glutathionkonju-
gefolgt von Infusion mit 750 mg/Tag (bei gate, Thiodiglykol), DNS- und Proteinaddukten
persistierender Vergiftung) möglich. Ein Schnelltest, der freies S-Lost auf der
5 Atemunterstützung, künstliche Beatmung Haut nachweisen kann, ist verfügbar (Sulfur
5 Diazepam zur Krampfprophylaxe und bei Mustard Detector (Securetec Detektions-Systeme
Krämpfen 10 mg i.v. AG, München)).
5 Atropin Augentropfen bei persistierender Frühzeitige Dekontamination exponierter Haut-
Miosis bereiche dienen der Schadensbegrenzung. Möglich-
keiten zur Schleimhaut-, Augen- und Wunddekon-
tamination finden sich in der 7 Übersicht.
Alkylanzien Analog zur Behandlung von Verbrennungen II°
Schwefel- und Stickstoffloste schädigen alle erreich- sollten die durch Lost verursachten Blasen eröffnet
ten Gewebe im Wesentlichen durch die Reaktion und abgetragen werden.
mit Desoxyribonukleinsäure (DNS) und Proteinen. Die Therapie manifester Hautschäden nach ab-
Die alkylierte DNS wird quervernetzt und kann sich geschlossener Dekontamination folgt dem Grund-
daher nicht mehr in zwei Einzelstränge teilen. Es satz »feucht und antiseptisch«. Schäden werden mit
kommt zum Stillstand des Zellzyklus. Zusätzlich steriler Vaseline-Gaze oder Sulfadiazin-Silber-
werden durch den Funktionsausfall der DNS wich- Creme abgedeckt und verbunden. Regelmäßßige
tige Proteine nicht mehr synthetisiert. Das macht Wundpflege mit, bei Bedarf, gezielter Antibiotika-
sich bemerkbar, wenn die Reserven der Zelle ver- therapie ist erforderlich. Erytheme können mit
braucht sind. Dieser zeitliche Verlauf des Gesche- neutralem Puder (Talkum) und bei Juckreiz mit
hens charakterisiert die Vergiftung und erklärt die kühlenden Präparaten (7 Übersicht) behandelt
fehlende oder nur schwache Wahrnehmung der werden.
Exposition, die deutliche Latenzzeit (meist Stun-
den) bis zum Auftreten der Symptome, die verzö-
gerte Heilung, verminderte Abwehrkraft und Spät- Therapeutische Optionen bei Hautkampf-
schäden. stoffen (S- und N-Loste)
Die exponierten Augen sind fast immer und 5 Wundpflege in Anlehnung an Empfehlun-
meist initial mit Fremdkörpergefühl, Konjunktivitis gen aus der Verbrennungsmedizin
und Korneatrübung betroffen. Ein Visusverlust ist 5 Systemische Analgesie: periphere, bei sehr
sehr selten. Die ausgeprägte Lidschwellung und starken Schmerzen zentral wirksame Anal-
Trübung der Kornea können zum Sehverlust füh- getika; kein Ketamin
ren, der aber in der Regel reversibel ist. 5 Schmerzlinderung am Auge: Oxybuprocain
Auf der Haut lassen sich Rötung, Blasen, ober- Augentropfen
flächliche und tiefe Ulcera sowie später Pigmentstö- 5 Verhinderung von Cornea-Iris-Verklebung:
rungen (»Landkartenmuster«) beobachten. Atropinaugentropfen
Atemwegsschäden sind Tracheitis, Bronchitis, 5 Verhinderung der Verbandverklebung:
Bronchialnekrosen, Pneumonie und Pseudomemb- sterile Vaseline-Gaze
ranbildung. Letztere birgt die Gefahr der Loslösung 5 Lokaltherapie der Hautschäden:
und Atemwegsverlegung mit vitaler Bedrohung. Sulfadiazin-Silber-Creme
Schäden im Bereich des Magen-Darm-Traktes füh-
578 Kapitel 41 · Chemische Bedrohung

Pyruvat- bzw. Ketoglutaratdehydrogenasekomplex.


41 5 Bronchialsekretverflüssigung bei Pseudo- In der Folge werden der Citratzyklus und damit der
membranen: Acetylcystein Energiestoffwechsel gehemmt. Darüber hinaus
5 Antiemetika: Metoclopramid, Ondansetron wird die Glukoneogenese inhibiert, und es kann zu
5 Antitussiva: Codein einer lebensbedrohlichen Hypoglykämie kommen.
5 Pflegecremes (cave: Cremes und Salben Alle erreichten Gewebe werden geschädigt. An der
sind resorptionsbegünstigend (Latenzzeit) Haut kommt es zur Blasenbildung, die im Gegen-
und daher in der ersten Zeit nach Exposi- satz zu den Losten rasch eintritt. Lewisit, welches
tion kontraindiziert) systemisch resorbiert wurde, schädigt das Endothel.
5 Zur Behandlung von Juckreiz: kühlende Als Folge können ausgeprägte Schockzuständen
Lokaltherapeutika (bei Erythem, Juckreiz) (Lewisit-Schock) auftreten. Im respiratorischen
Pflegepuder, Zinkschüttelmixtur (Lotioalba), System ist die Entwicklung eines toxischen Lungen-
Corticosteroidlotio ödems möglich.
Hautschäden werden analog der Lostvergiftung
behandelt. Resorbiertes Arsen kann durch Antidote
Bei Augenverletzungen lassen sich die Verklebun- mit benachbarten SH-Gruppen eliminiert werden.
gen der Lider durch sterile Vaseline und, bei schwe- Dazu stehen Dimercaptopropanol (BAL – British
ren Verletzungen der Iris und Cornea, durch Atro- Anti Lewisite) und Dimercaptopropansulfonat
pinaugentropfen verhindern. Antibiotikahaltige (DMPS) zur Verfügung. Aufgrund seiner geringe-
Augentropfen sind bei Infektionen angezeigt. Eine ren Eigentoxizität wird heute nur noch DMPS
analgetische Therapie sollte systemisch und nur im (7 Übersicht) verwendet. BAL kann vermutlich bei
Notfall lokal erfolgen. systemischer Anwendung toxische Wirkungen ver-
Bei Atemwegsschäden sind Codein, intensive stärken, da es z. B. das Arsen über die Blut-Hirn-
Bronchialtoilette (Spülen) und bei Infektionen ge- Schranke ins Gehirn transportieren kann.
zielte Antibiotikatherapie erforderlich. Mukolytika
können die Therapie ergänzen, eine prophylakti- Therapeutische Optionen bei Vergiftung
sche Gabe von Antibiotika ist nicht angezeigt. durch Hautkampfstoff (Lewisit)
Antiemetika, Elektrolyt- und Flüssigkeitsersatz 5 Allgemeine Therapie 7 Lost-Vergiftung
haben sich bei Magen-Darm-Schädigung bewährt. 5 Antidotbehandlung: systemisch: 3-mal
Bei Agranulozytose ist eine entsprechende Therapie 200 mg DMPS p.o. (Dimaval)
(Antibiotika) erforderlich.
Die wichtigsten Spätschäden betreffen die
Atemwege, Augen und die Haut. Psychische Störun- Blausäure
gen und Malignome nach Lost-Exposition wurden Blausäure besitzt einen hohen Dampfdruck, sodass
berichtet. Allerdings konnte bis heute eine Häufung im freien Gelände nur schwer gefährliche, toxische
von Malignomen nach einmaliger S-Lost-Exposi- Konzentrationen erreicht werden können. Wird
tion in epidemiologischen Studien noch nicht ein- Blausäure inhaliert, bemerkt der Betroffene zunächst
deutig gezeigt werden. ein kühles Gefühl im Nasen-Rachen-Raum, gefolgt
von einer Reizung des Respirationstraktes innerhalb
Arsenhaltige Verbindungen sehr kurzer Zeit (z. B. 10–30 s). Bei entsprechender
Neben den Losten wurden im 1. Weltkrieg trivalen- Veranlagung (50 % der Bevölkerung) kann ein Bitter-
te dihalogenierte organische Arsenverbindungen mandelgeruch wahrgenommen werden. Danach ent-
als Hautkampfstoffe eingesetzt. Wichtigster Vertre- wickeln sich dosisabhängig schnell Bewusstlosigkeit,
ter dieser Gruppe ist das Chlorvinylarsindichlorid epileptiforme Krämpfe mit Opisthotonus, rosiger
(Lewisit). Die lipophile Substanz kann auf allen We- Hautverfärbung und Atemstillstand.
gen in den Körper gelangen. Lewisit reagiert im Bei Blausäurevergiftung bindet das Cyanidi-
Körper bevorzugt mit benachbarten (vicinale) SH- on (CN–) rasch an das dreiwertige Eisen der Cyto-
Gruppen – insbesondere mit der Liponsäure im chromoxidase a3 der Atmungskette. Die Elektro-
41.5 · Behandlung von Vergiftungen
579 41
nenübertragung von NADH auf Sauerstoff kann Phosgen
nicht mehr stattfinden und die Produktion des Phosgen wird im industriellen Bereich verwendet.
Energieträgers ATP bleibt aus. Bei bester Sauerstoff- Bei hohen Konzentrationen kommt es zur deutli-
versorgung wird die Zellatmung gehemmt. chen Reizung der Augen, der Schleimhäute und des
Durch i.v. Gabe von 4-Dimethylaminophenol Respirationstraktes. Wie alle inhalierbaren, lokal
wird das zweiwertige Eisen des Hämoglobins oxi- schädigende Gifte (»Reizgase«), die den Alveolarbe-
diert. Das entstehende Methämoglobin (Eisen in reich erreichen, kann Phosgen mit einer Latenzzeit
dreiwertiger Form) konkurriert mit der Cytochro- von bis zu 48 h ein toxisches Lungenödem verursa-
moxidase um das Cyanidion. Wegen der hohen Af- chen. In der Latenzzeit ist eine Verdichtung des
finität des Cyanidions zum Methämoglobin kommt Lungengewebes vor Ausbildung klinischer Sympto-
zu einer raschen Umverteilung und damit Entgif- me schon erkennbar. Es entwickeln sich Zyanose,
tung. Im Blut wird durch Natriumthiosulfat (i.v.) Atemnot, Auswurf und Hämokonzentration. Obli-
das Cyanidion beschleunigt mit Schwefel gekoppelt terierende Bronchiolitis, Pneumonie, Lungenfibro-
und als Rhodanid (Thiocyanat) mit dem Harn eli- se und chronische Bronchitis kommen als Spätschä-
miniert. Auf diese Weise ist eine rasche, suffiziente den in Betracht.
Therapie möglich. Sauerstoffbeatmung allein hilft Unabhängig vom Gift besteht das Prinzip der
wenig, verbessert aber den Therapieerfolg. Therapie (7 Übersicht) darin, die toxisch ausgelös-
Cyanid kann darüber hinaus stabile Komplexe ten Entzündungsreaktionen in der Lunge zu unter-
mit Kobalt bilden, sodass Hydroxocobalamin (Cya- drücken. Besteht der Verdacht auf eine derartige
nokit 2,5 g) als Antidot verwendet werden kann. Hy- Schädigung, wird bei freien Atemwegen (symptom-
droxocobalamin, das als Kurzinfusion gegeben wer- freies Intervall) die Inhalation von Beclomethason-
den muss, ist bei reiner Blausäurevergiftung 4-mal Spray sowie Ruhigstellung und absolutes Rauchver-
weniger potent als 4-DMAP und im Vergleich zur bot empfohlen. Durch diese Maßnahmen soll die
schnellen i.v. Gabe langsamer wirksam (7 Übersicht). Entstehung des toxischen Lungenödems verhindert
Dafür produziert Hydroxycobolaminim Gegensatz werden. Die prophylaktische Gabe des Kortikoids
zu 4-DMAP keine Methämoglobinämie. Folglich ist nicht evidenzbasiert gesichert und in ihrer Wir-
wird die Hauptindikation von Hydroxocobalamin kung umstritten.
bei der Therapie der Rauchgasvergiftung (Misch-
intoxikation) gesehen, weil durch andere Gase wie Therapeutische Optionen bei Vergiftung
Kohlenmonoxid (CO) die Sauerstoffbindungskapa- durch Lungenkampfstoff (Phosgen)
zität des Blutes ohnehin vermindert ist und die Cya- 5 Beclomethason-Spray – z. B. Ventolair
nidvergiftung vergleichsweise gering ausgeprägt ist. 100 μg Dosieraerosol, initial 4 Hübe, nach
ambulanter Aufnahme erneut 4 Hübe
Therapeutische Optionen bei Vergiftung 5 Prednisolon oder Äquivalent 1 g i.v., dann
durch Blausäure tgl. 1 g (Therapie nicht unumstritten)
5 4-Dimethylaminophenol – (4-DMAP) 3–4 5 Sauerstoff (60 %-ig) – PEEP-Beatmung
mg/kg KG i.v., anschließend sofort durch
dieselbe Kanüle
5 Natriumthiosulfat – (Natriumthiosulfat Ein manifestes Lungenödem erfordert hochdosierte
25 %) 50–100 mg/kg KG (bis zu 500 mg) i.v. (1 g Prednisolon oder Äquivalent) systemische Glu-
oder bei Rauchgasvergiftung mit Blausäure- kokortikoidgabe, Ruhigstellung, PEEP-Beatmung
beteiligung mit 60 %igem Sauerstoff und Bronchialtoilette. Die
5 Hydroxocobalamin (Cyanokit 2,5 g) – nicht Glukokortikoidtherapie des manifesten toxischen
mit Natriumthiosulfat kombinieren (Bildung Lungenödems ist nicht unumstritten. Randomisier-
unlöslicher Komplexe) te, kontrollierte klinische Studien gibt es bei dieser
5 Sauerstoff (60 %ig zur Beatmung, verbessert vergleichsweise seltenen Vergiftung nicht.
die Antidotwirksamkeit)
580 Kapitel 41 · Chemische Bedrohung

41.6 Gefahr der Therapiefehler 10. Worek F, Eyer P, Aurbek N, Szinicz L, Thiermann H (2007)
41 Recent advances in evaluation of oxime efficacy in nerve
Atropingabe ohne Vergiftung mit AChE-Hemmern agent poisoning by in vitro analysis. Toxicol Appl
Pharmacol 219(2-3):226–34
kann behandlungsbedürftige Symptome verursa- 11. Willems JL (1989) Clinical management of mustard gas
chen (Schluckbeschwerden, Hitzestau, Tachykardie, casualties. Ann Med Milit Belg 3: 1–61
Halluzinationen). Kinder sind besonders gefährdet. 12. http://www.bbk.bund.de/SharedDocs/Downloads/BBK/
Physostigmin kann dem entgegenwirken. Wegen DE/Publikationen/Broschueren_Flyer/ATF.html
kurzer Halbwertszeit sind u. U. wiederholte Gaben
Weiterführende Literatur
erforderlich (7 Übersicht).
Thiermann H, Worek F, Kehe K. Limitations and challenges
Mehr als 3 mg/kg KG 4-Dimethylaminophenol in treatment of acute chemical warfare agent poisoning.
kann zu überschießender Methämoglobinbildung Chem Biol Interact. 2013 Dec 5;206(3):435–43.
führen. Eine beschleunigte chemische Reduktion doi: 10.1016/j.cbi.2013.09.015. Epub 2013 Sep 30. Review.
des dreiwertigen Eisens im Hämoglobin lässt sich Worek F, Eyer P, Thiermann H. Determination of acetylcholin-
esterase activity by the Ellman assay: a versatile tool for
mit Toluidinblau erreichen (7 Übersicht).
in vitro research on medical countermeasures against
organophosphate poisoning. Drug Test Anal. 2012
Therapiefehler bei der Gabe von Antidoten Mar-Apr;4(3-4):282-91. doi: 10.1002/dta.337. Epub 2011
Oct 13. Review.
5 Atropinvergiftung: Physostigmin, 2 mg i.v.
Thiermann H, Zöller L, Szinicz L (2013) Chemische und biolo-
ggf. wiederholen gische Kampfstoffe. In Marquardt H, Schäfer SG, Barth H
5 Methämoglobinbildnervergiftung (4-DMAP): (eds)Toxikologie. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Toluidinblau 4 %-ig 2–4 mg/kg KG i.v. Stuttgart, pp. 915–954.

Literatur

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in der Behandlung phosphororganischer Vergiftungen
Wehrmedizinische Monatsschrift (53) 11: 340–349
2. Dunn MA, Sidell FR (1989) Progress in medical defense
against nerve agents. JAMA 262: 649–652
3. Eddleston M, Buckley NA. Eyer P et al. (2008) Manage-
ment of acute organophosphorus pesticide poisoning.
Lancet 371(9612): 597-607
4. Kehe K, Balszuweit F, Steinritz D, Thiermann H (2009)
Molecular toxicology of sulfur mustard-induced cutane-
ous inflammation and blistering. Toxicology 263(1):12–19
5. Klimmek R, Szinicz L, Weger N (1983) Chemische Gifte
und Kampfstoffe, Hippokrates Verlag, Stuttgart
6. Meselson M, Robinson JP (1980) Chemical warfare and
chemical disarmament. Sci Amer 242: 34–43
7. Rebentisch E, Dinkloh H (1980) Wehrmedizin. Urban und
Schwarzenberg, München
8. Szinicz L, Baskin SI (1999) Chemical and biological agents.
In: Marquardt H, Schäfer SG, McClellan RO, Welsch F (eds)
Toxicology. Academic Press, San Diego London Boston
New York Sydney Tokyo Toronto, pp 851–878
9. Thiermann H, Gonder S, John H, Kehe K, Koller M,
Steinritz D, Worek F (2010) Chemische Kampfstoffe. In:
Vohr HW (Hrsg.) Toxikologie, Band 2: Toxikologie der
Stoffe. Wiley-VCH Verlag, Weinheim
581 42

Aufbau und Einsatz


von Sprengfallen
T. Enke

42.1 Begriffserklärung – 582

42.2 Aufbau eines IED – 582


42.2.1 Verpackung – 583
42.2.2 Energiequelle – 583
42.2.3 Sensor – 583
42.2.4 Zündvorrichtung – 583
42.2.5 Hauptladung – 583

42.3 Mögliche Ziele eines Anschlags – 584

42.4 Verbringung eines IED – 584

42.5 Durchführung eines Anschlags – 585

42.6 Sonderformen des IED – 585

42.7 Weitere Gefahren nach einem Anschlag bzw. Unfall mit


Munition oder Explosivstoffen – 586

42.8 Bevor man zu einem Einsatz fährt! – 586

42.9 Eigenschutz am Vorfallsort – 587

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_42, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
582 Kapitel 42 · Aufbau und Einsatz von Sprengfallen

42.1 Begriffserklärung armee, die je nach Ausführung auf Licht, Druck


oder andere Umwelteinflüsse reagiert. Auch kom-
Seit der Erfindung der Munition und ihrer Inhalts- plexe IED sind für militärische Zwecke entwickelt
42 stoffe (Brand-, Sprengstoffe) wird diese auch von worden, so der Funkempfänger Tintjawa, der neben
Nicht-Kombattanten zur Durchsetzung diverser einem Computer für die Entschlüsselung der Zünd-
Ziele genutzt. Zur Abgrenzung von industriell ge- kommandos eine Aufnahmesicherung, eine Aus-
fertigter Munition, die von regulären Sicherheits- bausperre, eine Stromabfallschaltung und sämtliche
kräften bzw. dem Militär genutzt wird, spricht man weiteren Baugruppen eines IED beinhaltet.
hier von der »Unkonventionellen Spreng- und Neugier, Sammlerwut und Geltungssucht führen
Brandvorrichtung – USBV«, englisch »improvised auch in Deutschland immer wieder zu Unfällen mit
explosive device – IED«. Explosivstoffen und Munition, zu denen natürlich
Ein IED war bis vor wenigen Jahren zumeist ein auch Rettungskräfte gerufen werden (. Abb. 42.1).
Unikat und wurde von Attentätern in einem fest Daher gelten die folgenden Ausführungen im über-
umrissenen Gebiet, z. B. Algerien oder dem Basken- tragenen Sinne auch für Explosionen und Brände,
land eingesetzt. Die Verbindungen zwischen den deren Ursachen bei der ersten Annäherung noch als
einzelnen Gruppen waren locker, so dass in der Re- ungeklärt zu betrachten sind. Ein dabei aufgefunde-
gel ein IED-Typ einer bestimmten Gruppe zugeord- nes und durch den Unfall belastetes Munitionsteil ist
net werden konnte. Erst im letzten Jahrzehnt entwi- in erster Betrachtung in der Gefährlichkeit einem
ckelte sich der Terrorismus hauptsächlich durch Al IED gleichzusetzen.
Qaida (arabisch für »Basis«) zu einem Netzwerk
weiter. So werden IED heute teilweise in Kleinserien
industriell hergestellt und weltweit vertrieben. 42.2 Aufbau eines IED
Die munitionstechnische Grenze für den Ein-
satz von IED durch Kombattanten oder Nicht- Ein IED besteht aus fünf Hauptbaugruppen:
Kombattanten ist fließend. IED werden im Rahmen 4 Verpackung
von Sabotageakten auch von Soldaten eingesetzt. 4 Energiequelle
Ihre Zündsysteme bestehen aus industriell und in 4 Sensor
großen Stückzahlen gefertigten Komponenten, z. B. 4 Zünd-/Anzündvorrichtung
die US-Serie der ehemaligen jugoslawischen Volks- 4 Hauptladung

. Abb. 42.1 Munitionsfund an einer Talsperre im Sauerland im Jahr 2012, u. a. 700 g militärischer Sprengstoff, mehr als 50
Sprengkapseln, 2 Brandhandgranaten und etliche Meter Sprengschnur. Das Ganze wurde bis zur Abholung in einem Büro
eines Ordnungsamtes im Schreibtisch aufbewahrt. (Foto: T. Enke)
42.2 · Aufbau eines IED
583 42
42.2.1 Verpackung schaltet, ist es möglich über den Achsabstand ein
Zielfahrzeug genau zu definieren. Somit können
Die Verpackung hat verschiedene Aufgaben. Sie (z. B. zivile) Fahrzeuge ohne Auslösung des IED
dient als Transportmittel (Autobombe), Tarnung über den Sensor hinweg rollen, während militäri-
(Geschenkpaket) und Lagerort (Einbau in Fahr- sche Fahrzeuge mit passendem Achsabstand bei
bahndecke einer Straße). Hier ist der Fantasie keine gleicher Fahrzeugmasse das IED auslösen. Auch
Grenze gesetzt, auch nicht in der Größe des IED. Personen können als Sensor wirken und bei Sicht-
Daher ist es auch nicht möglich, einen Hinweis auf kontakt zum Ziel das IED per (Mobil-)Funk aus-
spezielle Taschen mit rotem Griff oder gelbe Kanis- lösen. Die Initiierung per Laser-Beamer ist zur Zeit
ter zu geben. Vielfach nimmt der Attentäter alltäg- noch nicht verbreitet, aber das Schließen eines elek-
liche und allgebräuchliche Verpackungsmöglich- trischen Schalters durch einen Schuss aus einem
keiten, um beim Verbringen des IED nicht aufzufal- Scharfschützengewehr war eine Spezialität der IRA.
len. Man denke hier an den »gelben Toyota Corolla« Andere Möglichkeiten sind zum Beispiel eine hitze-,
in Kabul, das allgebräuchliche Taxi. Ein geparktes geräusch- oder lichtempfindliche Auslösung.
Taxi wird nur in ungewöhnlichen Situationen auf-
fallen.
42.2.4 Zündvorrichtung

42.2.2 Energiequelle Die Zündvorrichtung dient zum Übertragen der


Auslöseenergie an die Hauptladung. Bei einfachen
Die Energiequelle dient hauptsächlich zum Aus- elektrischen Sprengkapseln wird ein Glühdraht
lösen des IED über die Zünd- bzw. Anzündvorrich- (Fahrradbirnchen reicht auch) zum Durchbrennen
tung. Die Energie kann elektrisch (Batterie), gebracht. Andere Sprengkapseln reagieren auf
chemisch (Säure) oder mechanisch (Feder) bereit- Schlag oder Reibung. In der Regel sind selbstherge-
gestellt werden. Es gibt auch gemischte Bereitstel- stellte Zündvorrichtungen sehr empfindlich und
lungen der Auslöseenergie. Ein Opfer, das auf ein besitzen auch keine redundanten Sicherungen. Eine
mit berührungsempfindlichem Sprengstoff gefüll- ungewollte Auslösung bei Transport, Fallenlassen
tes IED tritt, dient in diesem Falle als Energiequelle. oder Werfen hat so machen Transporteur eines IED
Es entsteht Reibung, Sprengstoffkristalle brechen zum Selbstmordattentäter werden lassen.
und die Detonation erfolgt.

42.2.5 Hauptladung
42.2.3 Sensor
Die Hauptladung kann wenige Gramm (Briefbom-
Der einfachste Sensor ist somit ein berührungs- be) bis einige Tonnen (LKW) betragen. Je nach Be-
empfindlicher Sprengstoff, allerdings mit dem schaffungsmöglichkeiten werden zivile, militäri-
Nachteil eines risikoreichen Transportes. Auch die sche oder selbsthergestellte Sprengstoffe genutzt.
Auswahl eines definierten Zieles ist schwierig. Ein Während oder nach einem Krieg ist es einfach,
einfaches, irgendwo abgelegtes IED kann ggf. von militärische Sprengstoffe zu beschaffen, die in der
einem streunenden Hund ausgelöst werden und Regel leistungsfähiger und sicherer sind. Minen,
wird somit die Zielperson nicht erreichen. Ein guter Blindgänger, verlassene Munitionslager bieten ge-
Sensor wird das Risiko eines fehlschlagenden An- nügend Chancen, Sprengstoffe zu gewinnen oder
schlages stark minimieren. Bei Straßenbomben zur Erhöhung der Sprengwirkung Artilleriege-
haben sich Druckplatten (»pressure plates«) be- schosse als Hauptladung zu nutzen. Im befriedeten
währt. Eine Druckplatte wirkt wie ein elektrischer Europa muss ein Attentäter Sprengstoffe ggf. über
Schalter in einem Stromkreis. Durch Federn kann Diebstähle beschaffen. In diesem Falle ist ein Ein-
man die Masse des zu treffenden Zielfahrzeuges bruch in das Sprengstofflager eines Steinbruches
einstellen. Wenn man zwei Druckplatten in Reihe oder auf einer Baustelle mit einem geringeren Risi-
584 Kapitel 42 · Aufbau und Einsatz von Sprengfallen

ko behaftet als ein Einbruch in eine militärische 4 Wirtschaftlich und politisch wichtige Objekte
Einrichtung. Falls er das Risiko scheut, bleibt nur und Einrichtungen wie zum Beispiel Um-
die eigene Herstellung von Sprengstoffen, den so spannwerke, Polizeiwachen, Zeitungsverlage,
42 genannten »homemade explosives« (HME). An- militärische Einrichtungen
leitungen hierfür gibt es im Internet reichlich. Viele
davon sind lebensgefährlich und führen oft zu einer Natürlich darf auch der psychische Zustand des
vorzeitigen Auslösung des Sprengstoffes, teilweise Attentäters sowie sein Motiv nicht vernachlässigt
schon bei der Mischung der Ausgangsstoffe. werden. In einigen ländlichen Gebieten ist es üblich,
Die Hauptladung kann in einer entsprechenden das im Wald liegende geschlagene Holz mit in Boh-
Verpackung (Abflussrohr, Fahrzeug) untergebracht rungen eingelassenen Schrotpatronen zu sichern.
sein oder auch als lineare Hohlladung in einer Leit- Ein klassisches IED, das, wenn es in einem Wohn-
planke am Straßenrand. Für eine Verstärkung der zimmerkamin zur Wirkung kommt, schwere Schä-
Wirkung können je nach Anschlagsziel und der den anrichten kann. Mindestens die Lokalpresse
Möglichkeiten des Attentäters Splitter (Nägel, wird darüber berichten und das Ziel des Attentäters
Schrott), brennbare Pulver, Flüssigkeiten oder Gase ist erreicht.
(Propangasflaschen) sowie jegliche Art von giftigen > Eine der wichtigsten Fragen ist die Suche
Industrieprodukten (chemisch, biologisch und ra- nach einem Motiv und den Möglichkeiten
diologisch/nuklear) in die Hauptladung integriert eines Attentäters. Die Antwort ist ein
werden. Eine besondere Bauausführung des IED ist wichtiger Bestandteil für den Eigenschutz
der »explosively formed penetrator« (EFP), eine vor einem Anschlag.
Sonderform der Hohlladung, bei der aus einem
Kochtopfboden sprengtechnisch ein Projektil er-
zeugt wird, das bis zu einer Entfernung von 30 m
formstabil fliegt und Panzerungen durchschlägt. 42.4 Verbringung eines IED
Ein EFP kann mit Gips kaschiert als Bauschutt prak-
tisch unsichtbar irgendwo neben der Straße einge- Jeder Anschlag hat eine Vorgeschichte, die sich ge-
baut werden. mäß dem französischen Wissenschaftler Dr. Eric
Pouliquen in sechs Abschnitte unterteilen lässt:
4 Unterstützung durch Geld-, Personal- und
42.3 Mögliche Ziele eines Anschlags Sachleistungen
4 Planung des Anschlages
Im Prinzip kann jeder Opfer eines Anschlages wer- 4 Transport und Zwischenlagerung von Material
den, abhängig von den Motiven und den Möglichkei- 4 Bauausführung
ten eines Attentäters. Es kann den Fahrgast in einem 4 Verbringung an den Anschlagsort
Eisenbahnzug in Europa treffen, weil ein Attentäter 4 Schulung und Einsatz des Personals
eine Eisenbahngesellschaft erpresst. Es kann den Op-
positionspolitiker in einem Entwicklungsland tref- Die Beschaffung der einzelnen Baumaterialien ist
fen, der die Ziele einer korrupten Regierung vereiteln vom verfügbaren Geldrahmen und dem Knowhow
will. Es gibt aber eine Gemeinsamkeit. Ein Attentäter eines Bombenbauers abhängig, für ein IED kann fast
wird versuchen, einen möglichst hohen materiellen alles verwendet werden. Kaffeepulver erreicht nach
oder gesellschaftlichen Schaden anzurichten, um vor entsprechender chemischer Behandlung die Spreng-
allem Angst zu verbreiten. Nur so kann er sicher sein, kraft militärischer Sprengstoffe. Allerdings sind für
genügend Aufmerksamkeit für seine Ziele zu erlan- die erfolgreiche Ausführung eines Anschlags immer
gen. Somit sind besonders gefährdet: mehr fundierte technische Kenntnisse nötig, vor al-
4 Große Menschenmengen, wie z. B. in Konvois, lem, wenn es darum geht, durch Elektronik und Pan-
Marktplätzen oder Verkehrsmitteln zu finden, zerung geschützte Fahrzeuge zu zerstören. Mit Hilfe
4 Herausragende Persönlichkeiten (Journalisten, von elektronischen Störsendern (Jammern) lassen
Politiker, allgemein eben VIPs) sich die meisten Zündeinrichtungen von IED mit
42.6 · Sonderformen des IED
585 42
einer Auslösung per Funkkommando (»radio-con- 4 gute Möglichkeiten für eine Übermittlung des
trolled« IED) stören. Die Nutzung von Richtfunk- Auslöseimpulses (z.B. per Kabel) bieten.
strecken, das Senden digitaler Datenpakete, sowie
vom IED abgesetzte Empfangseinrichtungen lassen Überhöhte Berghänge mit guter Sicht auf Vulnera-
einen Schutz durch Jammer immer weniger zu. Auf- ble Points eignen sich genauso wie Hochhaussied-
grund der gut organisierten terroristischen Netz- lungen mit Blick auf eine nahegelegene Autobahn.
werke lässt sich ein Technologietransfer von terroris- Durch den Einsatz von elektronischen Gegenmaß-
tischen Brennpunkten (Irak) an andere, neue An- nahmen sind Mobiltelefone als Zündimpulsgeber
schlagsschwerpunkte (Afghanistan) verfolgen. Dies weitgehend wirkungslos, so dass es sich anbietet,
funktioniert sogar über ideologische Grenzen und mehradrige Kabel (ggf. mit einer Stromabfallschal-
rivalisierende Gruppen hinweg. Für den Transport tung gesichert) im Zuge von Gräben, Hecken und
und die Zwischenlagerung der Baumaterialien gel- anderen linearen Geländeformationen zu verlegen.
ten ähnliche Bedingungen. Die Verbringung und Sofern sich das Opfer mit einem Fahrzeug be-
der Einsatz der Attentäter am Anschlagsort sind die wegt, darf diese Bewegung nicht zu schnell sein. Ein
kritischen Bereiche. Der menschliche Faktor ist nur in der Leitplanke eingebautes IED (Anschlag auf
bedingt einschätzbar, da sich der Auslöser eines IED Herrhausen 1989) kann elektronisch über einen
(Triggerman), ob Selbstmordattentäter oder Serien- Schleifenkontakt (Ampelschaltung für »grüne Wel-
täter, in einer Stresssituation befindet. Hier arbeitet le«) in der Fahrbahn ausgelöst werden. Allerdings
eine Terrororganisation in der Regel mit einem darf dieser Kontakt erst direkt vor dem Zielfahrzeug
Backup, so dass z. B. der Selbstmordattentäter bei geschärft werden. Somit ist es für den Attentäter
einem »psychischen Versagen« von außen fernge- wichtig, Bereiche mit reduzierter Geschwindigkeit
zündet wird und somit nur als Verpackung und zu nutzen, bzw. diese durch künstlich ausgebrachte
Transportmittel dient. Hindernisse (Fahrzeug am Straßenrand) zu schaf-
Die einzelnen Abschnitte überlappen sich, kön- fen. Weiterhin ist ein Zielpunkt nötig, da das IED in
nen im zeitlichen Rahmen bereits mehr als ein Jahr der Regel, weil eingegraben oder sonstig versteckt,
vor dem Anschlag beginnen und sich über mehrere nicht sichtbar ist. Diese sogenannten Marker kön-
Monate erstrecken. Für die Abwehr eines vermute- nen gekennzeichnete Laternenmasten, einzeln ste-
ten Anschlages ergeben sich vielfältige Möglichkei- hende Bäume, größere Steinhaufen oder andere
ten. Geldmittel und die Beschaffung der Baumate- weithin sichtbare Zeichen sein. Sie haben meist
rialien sind erste Ansatzpunkte. Wenn es gelingt, eines gemeinsam: sie fallen auf – allerdings dem
zum Beispiel die Beschaffung von Zeitzündern Opfer meist zu spät.
(Wecker) zurückzuverfolgen, kann ggf. im Kauf- Neben dem Triggerman, dem Auslöser des IED,
haus über Videoaufnahmen der Käufer identifiziert kann am Anschlagsort ein Spotter zugegen sein,
werden. Durch Veränderung der Inhaltsstoffe von der den Triggerman über das Herannahen des
frei verkäuflichen Chemikalien kann die Nutzung Opfers informiert und ggf. den Anschlag mit einer
als Ausgangsprodukt von Sprengstoffen verhindert Videokamera filmt. Der Film dient außer zu Propa-
werden. Regelmäßige Absuche und Überwachung gandazwecken zur Auswertung des Anschlags, um
von gefährdeten Objekten und anschlagsgünstigen ggf. die eigene Vorgehensweise für zukünftige An-
Punkten (»vulnerable points«) kann abschrecken schläge zu verbessern, aber auch, um das Vorgehen
und das Risiko eines Anschlages verringern. der Eingreif- und Rettungskräfte zu dokumentieren
und deren Taktik bei zukünftigen Anschlägen zu
berücksichtigen.
42.5 Durchführung eines Anschlags

An einen Anschlagsort werden gewisse Anforde- 42.6 Sonderformen des IED


rungen gestellt. So muss er
4 vom Ort der Auslösung gut einsehbar sein, Wie bei jeder Waffe, gibt es einen ständigen Wett-
4 am Ort der Auslösung einen Fluchtweg besitzen, lauf zwischen Wirkung im Ziel und entsprechenden
586 Kapitel 42 · Aufbau und Einsatz von Sprengfallen

Gegenmaßnahmen. Durch die immer weiter ver- ters in der Innenstadt von Hamburg wäre technisch
besserten Möglichkeiten, ein IED aufzuspüren und einfach durchführbar und würde bei günstigen Be-
zu entschärfen, sind in den letzten Jahren vermehrt dingungen (Wetter, Ort, Personenansammlungen)
42 Entschärferfallen entwickelt worden, die in erster zu einer großen Zahl an Opfern führen.
Linie darauf abzielen, den Entschärfer zu treffen. Im Gegensatz dazu ist die Verwendung von
Deswegen wird davor gewarnt, vermeintlich ein- Flüssiggas als IED sehr problematisch, da ein zünd-
fach aufgebaute IED selbst zu entschärfen. Ausbau- fähiges Gemisch nur schwer herzustellen ist. Die
sperren, zum Beispiel durch versteckte zweite bisherigen militärischen Erfolge mit Flüssiggas-
Zündeinrichtungen funktionieren auch noch dann, bomben (»mother of all bombs«) sind zweifelhaft
wenn bereits die erste Zündeinrichtung erfolgreich und auf einzelne schwer nachzuprüfende Ereignisse
entschärft wurde. beschränkt.
> Eigenschutz ist vor und nach einem
Anschlag besonders wichtig und über
jegliche Rettungsaktion zu stellen.
42.7 Weitere Gefahren nach einem
Anschlag bzw. Unfall mit
Wie bereits erwähnt ist eines der Ziele bei einem Munition oder Explosivstoffen
Anschlag die Maximierung der Opferzahlen. Durch
die Platzierung eines weiteren oder mehrerer IED Selbst nach einem Anschlag oder Unfall sind die
(»second IED«) auf dem wahrscheinlichsten An- Gefahren für die Rettungskräfte erheblich. Zum
marschweg zum Anschlagsort oder an den für Ret- einen durch die bereits beschriebenen Come-On-
tungskräfte wichtigen Haltemöglichkeiten kann IEDs, aber darüber hinaus durch eine Vielzahl von
dieses Ziel leicht erreicht werden, da psychologisch anderen Gefahren. An erster Stelle sind Sprengstoff-
bedingt, der Wille zum Helfen das Gespür für wei- reste zu nennen, die sich bilden, wenn der Spreng-
tere Gefahren herabsetzt. Direkt am Anschlagsort stoff in dem IED nicht ausreichend verdichtet war
eingesetzte so genannte Come-On-IED sind immer (Risse, Lunker). Dies führt zwar zu einer geringeren
sehr wirkungsvoll, da sie im Chaos nach einem An- Wirkung, gefährdet aber die Rettungskräfte im
schlag vor den Augen der zumeist auch schon vor- Nachhinein durch weitere spontane Explosionen.
handenen Medien zur Wirkung kommen. Somit Umweltgifte werden nicht nur durch den Explosiv-
werden die bereits geschilderten Ziele eines An- stoff gebildet, gravierender ist die Bildung von gifti-
schlages noch einmal in ihren Auswirkungen maxi- gen und teilweise explosiven Gasen durch zerstörte
miert (7 Kap. 11). Gasleitungen in urbanen Bereichen, abgerissene
Eine weitere Form des Eigenschutzes ist bei Stromleitungen und eventuell auslaufende Kühl-
Konvoi-Fahrten ein Sicherheitsabstand zwischen mittel (Halogenkohlenwasserstoffe) und deren Ver-
den einzelnen Fahrzeugen, so dass die Anzahl der brennungsprodukte. Wichtig sind daher eine ge-
Opfer gering gehalten werden kann. Dagegen wur- naue Kenntnis der Umgebung sowie eine mögliche
de das Daisy-Chain-IED entwickelt, eine Spreng- Heranziehung von Fachpersonal für eine Abschal-
falle, die aus mehreren IED besteht, die im Abstand tung aller Versorgungs- und Hilfsleitungen.
von 15m bis 20m über eine Länge von bis zu 200m
eingebaut und gleichzeitig gezündet werden.
Zu erwarten sind zukünftig auch »schmutzige« 42.8 Bevor man zu einem Einsatz
IED, die Zusätze von radioaktiven oder chemischen fährt!
Produkten enthalten. Hier ist allerdings anzumer-
ken, dass das Risiko für den Bombenbauer bei dem Während eines Anschlages ist man durch die
Bau eines solchen IED beträchtlich ist. Daher gab es Druck- und die Brandwirkung des Sprengstoffes
in der Vergangenheit nur einzelne Anschläge, bei massiv gefährdet. Dessen Wirkung nimmt aller-
denen Kampfstoff eingesetzt wurde, z. B. Sarin dings mit der Entfernung vom IED quadratisch sehr
durch die japanische Aum-Sekte in den Jahren 1995 schnell ab. Somit ist bei einem Abstand von 5 m zum
und 1996. Die Sprengung eines Chlorgastranspor- IED die Wirkung schon beträchtlich herabgesetzt
42.9 · Eigenschutz am Vorfallsort
587 42
und bei einem Abstand von 25 m hat man gute schlagsort anhielten. Vor jedem Halt stellt sich da-
Überlebenschancen, sofern man sich in einem ge- her die Frage, ob ein Halt an dieser Stelle unbedingt
schützten Fahrzeug befindet. nötig ist und ob es nicht bessere Möglichkeiten gibt.
Aber auch ein geschütztes Fahrzeug und die Be- Eine schlechte Wahl ist immer der Stopp auf einem
satzung müssen auf den Einsatz vorbereitet werden. Kanaldeckel, neben einem Haufen Unrat oder ei-
Gegenstände, die im Fahrzeug nicht befestigt, oder nem Schrottfahrzeug. Muss man anhalten, ist die
in Staufächern untergebracht sind, werden bei nähere Umgebung im Umkreis von ca. 5 m aus dem
einem Anschlag zu tödlichen Geschossen. Gefahr- Fahrzeug systematisch und vor allem sorgfältig ab-
güter (Druckgasflaschen, Munition) sind geschützt zusuchen. Fahrer, Beifahrer und sonstige Personen
aufzubewahren, so dass bei einer Explosion von im Fahrzeug teilen dazu Beobachtungsbereiche un-
ihnen keine zusätzliche Gefahr ausgeht. Personen ter sich auf und suchen diese überlappend ab. Erst
haben sich grundsätzlich durch Anschnallen zu wenn diese Bereiche vermeintlich frei von verdäch-
sichern, um bei einem Auffahren auf ein Kampf- tigen Gegenständen sind, darf das Fahrzeug verlas-
mittel (Mine oder IED) nicht selbst im Fahrzeug sen (Motor wird nicht abgestellt) und die Gegend
umhergeschleudert zu werden. Hier sind sonst vor um das Fahrzeug im Umkreis von 25 m abgesucht
allem Genick- und Schulterbrüche zu befürchten. werden.
Auch die Bekleidung spielt eine wesentliche Rolle. Falls man einen verdächtigen Gegenstand
Sie muss flammabweisend sein und den Körper vermutet, ist es wichtig, unauffällig alle Beteiligten
möglichst vollständig bedecken. Handschuhe, her- zu warnen (Codewort) und Abstand zu gewinnen.
abgerollte Ärmel und eine Schutzbrille helfen, Auf keinen Fall sollte der Gegenstand näher unter-
Brandverletzungen zu mindern und Verletzungen sucht werden. Mehrfach wurden diese Gegenstände
durch umherfliegende Glassplitter zu vermeiden. offen hingelegt, um Einsatzkräfte über einen ent-
Schutzwesten halten Splitter ab und schützen be- sprechend mit Kampfmitteln präparierten Weg zu
dingt beim Aufschlagen von größeren Gegenstän- dem Objekt zu locken.
den auf den Oberkörper. Fenster und Luken sind Geeignete Plätze zur Erstversorgung der Ver-
soweit möglich geschlossen zu halten und die Türen letzten müssen vor einer Nutzung ebenfalls sorgfäl-
zu sichern. tig abgesucht und abgesichert werden. Es muss je-
derzeit damit gerechnet werden, dass diese Plätze
Tipp
durch einen Gegner bewusst in das Anschlags-
szenario einbezogen wurden und das hier ggf. wei-
Zusätzlich ist es wichtig, vor einer Fahrt zu
tere IED platziert sind.
einem Einsatzort möglichst viele Informationen
Es ist verständlich, dass die psychologische Be-
über die Fahrstrecke zu erhalten: Engstellen,
lastung für die Rettungskräfte enorm ist. Hilfe-
bisherige Anschläge auf der Strecke, Art der
suchende Personen, ggf. Brände, Rauch und weitere
Anschläge, Umfahrungsmöglichkeiten (keine
Beeinträchtigungen werden diesen Eigenschutz be-
Verhaltensmuster bilden), bisherige Ziele der
hindern und ggf. diesen für Außenstehende als
Anschläge (Personen oder auch Einrichtungen)
nutzlos und überflüssig erscheinen lassen. Dem ist
und Art des IED.
aber entgegenzuhalten, dass eine wirkungslose, weil
durch Sprengwirkung eines weiteren IED außer
Kraft gesetzte Rettungskette niemandem nutzt.

42.9 Eigenschutz am Vorfallsort

Am Vorfallsort ist es wichtig, zuerst einmal die


eigene Position abzusichern. In Nordirland haben
britische Hilfskräfte hohe Verluste erfahren, weil sie
immer den gleichen Anmarschweg nutzten und
immer an den gleichen Punkten vor dem An-
589 43

Konventionelle Bedrohung
und Schutzausrüstung
P. Früh

43.1 Wirkung – 590

43.2 Kinetische Energie – Handwaffengeschosse – 590


43.2.1 Splitterfreie Sprengladungen – 591
43.2.2 Splitterladungen – 593
43.2.3 Projektilbildende Ladungen – 594
43.2.4 Hohlladungen – 595

43.3 Schutz – 596


43.3.1 Fahrzeuge – 596
43.3.2 Schutz gegen Beschuss/Artilleriesplitter – 597
43.3.3 Schutz gegen Sprengladungen – 598
43.3.4 Schutz gegen Splitterladungen – 599
43.3.5 Schutz gegen projektilbildende Ladungen
und Hohlladungen – 599

43.4 Feldlager – 600


43.4.1 Individueller Schutz – 600

Literatur – 601

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2_43, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
590 Kapitel 43 · Konventionelle Bedrohung und Schutzausrüstung

43.1 Wirkung nicht näher betrachtet, da sich ihr besonderer Auf-


bau kaum auf die Wirkung im Ziel auswirkt. Oft-
Die Waffenwirkung beruht in der heutigen Zeit we- mals wird zwar angenommen, dass Geschosse mit
niger auf der Waffe als auf der Munition. Ebenso wie Brandsätzen der Entzündung des Ziels dienen sol-
die Wirkung von Kampfmitteln beruht diese auf len, was aber nicht der Fall ist. Der Brandsatz dient
wenigen physikalischen Prinzipien, die sich prak- vielmehr dazu, dass der Schütze den Auftreffort
43 tisch zum Einsatz gegen Mensch und Material eig- besser auf dem Gefechtsfeld erkennen kann, um
nen. Die folgende Aufzählung soll die wichtigsten leichter Korrekturen der Treffpunktlage durch-
Bedrohungen kurz darstellen und ihre Wirkprinzi- führen zu können. Die Brandwirkung findet im
pien erläutern. Wesentlichen außerhalb des Ziels statt, so dass nur
in wenigen Fällen eine Entzündung des Ziels durch
den Brandsatz beobachtet werden kann. Wenn eine
43.2 Kinetische Energie – Brandwirkung im Ziel erreicht wird, so ist dies wie
Handwaffengeschosse bei anderen Geschossen auf das Auftreffen heißer
Geschossteile und Sekundärsplitter, beispielsweise
Inerte Geschosse, verschossen aus den unterschied- eines durchschossenen Panzerstahlschutzes, auf
lichsten Schusswaffen, besonders jedoch aus Hand- leicht entzündliche Zielstrukturen oder auf
waffen aller Art, wirken im Ziel über die kinetische das Durchfliegen leicht entzündlicher Medien im
Energie. Sie bringen diese ins Ziel ein und verursa- Zielinneren, wie Luft-Kohlenwasserstoff-Gemische,
chen über die Verrichtung von Arbeit Schäden im zurückzuführen.
Ziel. Die Schädigung eines Ziels wird durch die Der Geschossaufbau kann nur für ein bestimm-
Wechselwirkung von Geschoss, Ziel und Auftreffsi- tes Zielspektrum optimiert werden. Diese Optimie-
tuation beeinflusst. Besondere inerte Geschosse, die rung wirkt sich zu Ungunsten der Wirkung in ande-
im Bereich der Handwaffenmunitionen unüblich ren Bereichen des Zielspektrums aus. Als Beispiel
sind, werden im Folgenden nicht beschrieben. sei hier die gute Wirkung, sprich eine hohe Durch-
Übliche Handwaffengeschosse wie Schrote oder schlagsleistung, gegen einen Schutz genannt. Die
Posten werden ebenfalls nicht betrachtet. Ebenso hierzu erforderlichen Eigenschaften wie hohe
wird davon ausgegangen, dass das Geschoss auf- Härte, große Festigkeit und geringe Verformbarkeit
grund seines Aufbaus und der Verschussplattform führen zu einer mangelhaften Wirkung im Weich-
grundsätzlich ein angerichtetes Ziel treffen kann, da ziel, welches ohne wesentliche Energieabgabe und
dies die Grundvoraussetzung für eine Wirkung im damit ohne Verrichtung von Arbeit und Schädi-
Ziel ist. gung des Ziels durchstoßen wird. Dies wird man
Bei inerten Geschossen sind die verwendeten jedoch je nach Lage in Kauf nehmen, wenn ein
Materialien und der Geschossaufbau entschei- Weichziel nur nach Durchdringen eines Schutzes
dend. Die Materialbandbreite reicht von weichen bekämpft werden kann.
Nichteisenmetallen und deren Legierungen, wie Wie der Geschossaufbau wirkt sich der Zielauf-
Blei und Messing für Weichkerngeschosse, über ge- bau auf die Wirkung inerter Geschosse erheblich
härtete Stähle bis zu hochhartem Wolframkarbid aus. Im Gegensatz zu den bereits sehr zahlreich auf-
für Hartkerngeschosse. tretenden Geschossaufbauten ist bei den Zielauf-
Der Geschossaufbau reicht von den Weichkern- bauten umso schwerer eine klare Abgrenzung zu
geschossen für den Einsatz gegen ungeschützte treffen, da das Spektrum von einfachen homogenen
Weichziele über kombinierte Aufbauten, beispiels- Schutzaufbauten aus Panzerstahl über inhomogene
weise von Weichkerngeschossen unter zusätzlicher Schutzaufbauten aus mehreren verschiedenen
Verwendung eines Penetrators, bis zu reinen Hart- Materialien bis zu äußerst inhomogenen Zielen wie
kerngeschossen, die zur Durchdringung eines gesamten Fahrzeugen oder Weichzielen wie Mensch
Schutzes ausgelegt sind. und Tier reichen.
Die Sonderformen wie Leuchtspurgeschosse Neben den interagierenden Komponenten Ge-
oder Geschosse mit einem Brandsatz werden hier schoss und Ziel bildet die Auftreffsituation den
43.2 · Kinetische Energie – Handwaffengeschosse
591 43
wesentlichen Rahmen, in dem sich eine mögliche verlegeminen, die unter der Kette bzw. dem Rad
Wirkung ergibt. oder der Wanne eines Fahrzeugs detonieren, bis zu
In den meisten Fällen ist die Geschossgeschwin- IED (»improvised explosive device«), die neben
digkeit deutlich größer als die Zielgeschwindigkeit. oder direkt im Erdboden unter einem Ziel zur Um-
Als wesentliche Komponente der Auftreffgeschwin- setzung gebracht werden, genutzt.
digkeit kann sie daher im Allgemeinen der Auftreff- Bei der Detonation konventioneller Spreng-
geschwindigkeit gleich gesetzt werden. Die Ge- stoffe läuft ausgehend vom Initiierungsort eine
schossgeschwindigkeit nimmt mit der Flugzeit ab. Stoßfront durch den Sprengstoffkörper. In einer
Da die Geschwindigkeit quadratisch in die Berech- nachfolgenden Reaktionszone findet die chemische
nung der kinetischen Energie eingeht, führt dies mit Reaktion des Sprengstoffs in weitestgehend gasför-
zunehmender Kampfentfernung zu einem starken mige Reaktionsprodukte statt. Diese nehmen ein
Absinken des Arbeitsvermögens im Ziel. wesentlich größeres Volumen ein als der Spreng-
Vereinfacht ausgedrückt sinkt mit der Ge- stoff. Die durch den Sprengstoff laufende Stoßfront
schossgeschwindigkeit die Wirkung im Ziel. Die ist für die Zerstörungswirkung in mit dem Spreng-
Ausnahmen dieser Regel finden sich bei einem stoff in Berührung befindlichen Materialien verant-
günstigen Zusammentreffen der Parameter Ge- wortlich. Bereits bei sehr kleinen Abständen erfolgt
schossaufbau, Zielaufbau und Geschwindigkeit. Als keine Einkopplung der Stoßfront in umliegendes
Beispiel sei hier die Durchdringung eines Schutz- Material. Materialien und Personen, die sich außer-
aufbaus bei niedrigen Auftreffgeschwindigkeiten halb dieses Bereichs befinden, werden stattdessen
genannt, während ein Schutz bei hohen Geschwin- durch eine Druckwelle im umgebenden Medium
digkeiten besteht [7]. (meist Luft) belastet. Der positive Druckanstieg
Weitere Einflussgrößen in der Auftreffsituation wird durch die große Ausdehnung der Reaktions-
sind der Auftreffwinkel, der Geschossanstell- produkte verursacht. Er läuft mit einer sehr steilen
winkel und je nach Zielaufbau quantitativ bestimm- Flanke und einem hohen Spitzendruck durch die
bare Größen wie die Zieltemperatur bei Schutzauf- Luft, um ebenso rasch wieder abzufallen.
bauten oder qualitativ beschreibbarer Größen wie > Für das Eintreffen der Druckflanke an einem
Nervosität und Aufregung eines menschlichen Ort ist dessen Abstand zur Detonation aus-
oder tierischen Weichziels. schlaggebend.
Zusammenfassend ist aus dieser Übersicht fest-
zuhalten, dass sich die Wirkung inerter Geschosse Die Phase des Überdrucks dauert jedoch stets nur
im Ziel nicht allgemein vorhersagen oder beschrei- kurz im Bereich weniger Millisekunden an. Ihr folgt
ben lässt. Nur bei genauer Kenntnis der verschiede- eine deutlich längere Unterdruckphase. Bei den
nen Einflussgrößen ist eine Abschätzung möglich. üblichen Sprengstoffmengen, die zur Umsetzung
Die besonders schwierig vorhersagbare Wirkung im kommen, hat diese Unterdruckphase jedoch keinen
menschlichen Weichziel wird in 7 Kap. 12 vertieft. wesentlichen Einfluss auf die Wirkung einer Deto-
nation.
Ein Sprengkörper kann im Vergleich zum um-
43.2.1 Splitterfreie Sprengladungen gebenden Raum in den meisten Fällen als punktför-
mige Quelle angesehen werden. Die durch das um-
Neben Schusswaffen werden in terroristischen und gebende Medium laufende Druckwelle geht kugel-
militärischen Konflikten verschiedenste Arten von förmig von diesem Punkt aus. Auf Besonderheiten
Sprengstoffen in sehr unterschiedlichen Anwen- wie detonierende Aerosolgemische und Reflexio-
dungsbereichen zum Einsatz gebracht. Die grund- nen am Boden oder an Gebäuden wird hier nicht
legendste Verwendung ist die ausschließliche Aus- eingegangen. Aufgrund der Kugelgestalt der Druck-
nutzung der Sprengwirkung des Sprengstoffs. Diese welle nimmt der Spitzendruck rasch ab. Dies hat zur
wird in verschiedenen Formen, wie splitterfreien Folge, dass die Wirkung einer reinen Sprengladung
Offensivhandgranaten (z. B. Handgranate DM 51 stark mit dem Abstand zum Detonationsort ab-
ohne Splittermantel) über einfachen Panzerabwehr- nimmt.
592 Kapitel 43 · Konventionelle Bedrohung und Schutzausrüstung

Beim Auftreffen der Druckwelle auf einen Ge- delt, die im Bereich der äußeren Extremitäten deto-
genstand findet eine Impulsübertragung mit dem niert, ist von schwersten bis tödlichen Verletzungen
anschließenden Durchlaufen einer Schockwelle auszugehen.
durch die gesamte Struktur statt. Je nach Aus- Eine Besonderheit des menschlichen Körpers ist
prägung der Druckwelle und des beaufschlagten die besondere Empfindlichkeit gegenüber geringen
Gegenstands treten verschiedene Effekte auf. Dies Druckdifferenzen zum umgebenden Luftdruck.
43 können, ansatzweise nach dem Schweregrad der Dies ist mit Ausnahme des besonders empfindli-
Auswirkungen geordnet, sein: chen Gehörs auf die mit Gasen gefüllten Organe,
4 Zerstörung des Gegenstands insbesondere die Lunge, zurückzuführen. Die reine
4 Teilzerstörung mit dem Abriss von Teilen Angabe von Druckspitzenwerten genügt jedoch
(innen oder außen) nicht zur Beschreibung bzw. Abschätzung einer
4 Elastische und plastische Verformung möglichen Überdruckwirkung auf den menschli-
4 Beschleunigung des gesamten Gegenstands chen Körper. Die Dauer und der zeitliche Verlauf
von Druckschwankungen spielen eine wesentliche
Das gesamte Objekt bzw. Teile können als Sekun- Rolle. Um diese Größen mit einfließen zu lassen,
därsplitter auftreten. Im Bereich der elastischen wurde das Instrument des »chest wall velocity pre-
Verformung sowie des Abrisses von Teilen im Inne- dictors« (CWVP) geschaffen, um vergleichbare
ren können auch ohne sichtbare äußere Schäden Aussagen über die Gefährlichkeit einer Druckwelle
Zerstörungen im Inneren vorkommen. Am Beispiel treffen zu können. Der Druckverlauf an einem
eines mit einer IED angesprengten Fahrzeugs Ort über die Zeit wird hierzu mit Hilfe einer Be-
würden sich die oben benannten Effekte wie folgt rechnung bewertet und mit der Einheit (m/s) als
auswirken: Vergleichswert für eine mögliche Schädigung aus-
4 Weitestgehender Aufriss der Fahrzeugstruktur gegeben.
mit Eintritt der Druckwelle ins Fahrzeug In den Vorgaben zur Bewertung der Schutz-
4 Abriss von Bauteilen und Baugruppen wirkung von Fahrzeugen gegen Minenansprengun-
5 Außen: Räder, Waffenstationen, Funkaus- gen der NATO wurde ein Grenzwert von 3,6 m/s
rüstung etc. mit den Folgen »mobility, festgelegt, bei dessen Unterschreiten von keinen
firepower oder communication kill« Verletzungen auszugehen ist. In diesem Bereich gel-
5 Innen: Handwaffen, Rüstsätze, persönliche ten übliche Gehörschutzstopfen und Headsets, wie
Ausrüstung als Sekundärsplitter mit mög- sie bei Funkausstattungen Verwendung finden, als
licher Gefährdung der Insassen ausreichend, um eine Schädigung des Gehörs zu
4 Verformung des Fahrzeugbodens oder der verhindern [9]. Für Werte über 12,8 m/s wird eine
Seitenwand in den Innenraum als Ursache Sterblichkeitsrate von mehr als 50 % angeben [9].
kritischer Belastungen auf Insassen Eine Sterblichkeitsrate von 50 % wird bei den typi-
4 Globalbewegung des Fahrzeugs mit einem schen Druckverläufen nach Sprengstoffdetonatio-
nachfolgenden Szenario ähnlich eines Ver- nen einer Druckspitze von ~9 bar bis ~12,5 bar zu-
kehrsunfalls geordnet [10].
Neben der direkten Wirkung des Drucks auf
Hierbei ist zu beachten, dass bereits niedrige Ver- den menschlichen Organismus besteht auch bei
formungsgeschwindigkeiten von wenigen m/s oder splitterfreien Sprengkörpern immer eine Gefähr-
entsprechende Sekundärsplittergeschwindigkeiten dung durch Sekundärsplitter. Daneben kann es in
ausreichen können, um Verletzungen bei Insassen Abhängigkeit vom verwendeten Sprengstoff, dem
hervorzurufen. Abstand zur Detonation und des umgebenden Ma-
Wenn eine solche Druckwelle auf einen Men- terials zu einer sehr unterschiedlich ausgeprägten
schen trifft, treten bei entsprechend geringem Ab- Brandwirkung kommen, was ggf. zu Verbrennun-
stand Verletzungen auf, die den oben beschriebenen gen führen kann. Wird ein Mensch durch die
Schäden an anderen Objekten gleichen. Sofern es Druckwelle zu Boden oder gegen ein Hindernis ge-
sich nicht um eine kleinere Sprengstoffmenge han- worfen, kann es ebenfalls zu Verletzungen kommen.
43.2 · Kinetische Energie – Handwaffengeschosse
593 43
Die Auswirkungen einer Sprengstoffdetonation, dung. Bei der Detonation einer typischen Artillerie-
insbesondere auf den menschlichen Organismus, sprenggranate entstehen zum großen Teil kleine
lassen sich nur statistisch vorhersagen. und leichte Splitter, um eine hohe Trefferwahr-
scheinlichkeit gegen in der Fläche verteilte Weich-
ziele zu erreichen. Schwere Splitter sind hierbei
43.2.2 Splitterladungen nicht notwendig, da die primären Ziele nicht oder
kaum geschützt sind. Bei vorgeformten Splittern
Aufgrund der raschen Abnahme der Wirksamkeit entfällt der Vorgang der Splitterbildung. Es wird le-
reiner Sprengladungen mit dem Abstand vom diglich ein gegebenenfalls vorhandenes Gehäuse
Detonationsort wurden Wege gesucht, eine Wir- zerlegt, um die Splitter frei zu setzen.
kung auf größere Entfernung zu erzielen. Eine Mög- Die Fragmente werden durch den detonieren-
lichkeit, dies zu erreichen, ist die Verwendung von den Sprengstoff beschleunigt. Sie erreichen Ge-
Splittern. Die Splitter kommen dabei als natürliche schwindigkeiten von wenigen hundert bis weit über
oder vorfragmentierte Bestandteile einer sich zerle- tausend Metern pro Sekunde. Die Beschleunigung
genden Sprengstoffumhüllung oder als vorgeformte der Splitter schwächt die Druckwelle der Detona-
Splitter vor. Der typische Werkstoff ist Stahl. Typi- tion ab.
sche Fälle von natürlichen Splittern sind Artillerie- Die Abgangsrichtung und damit die räumliche
sprenggranaten, bei denen die Geschosshülle in Splitterverteilung ist durch die konstruktive Ausle-
Splitter zerlegt wird. Vorfragmentierte Umhüllun- gung der Ladung bestimmt. Bei der Schützenab-
gen finden sich vielfach bei Handgranaten, während wehrverlegemine DM 31 sind die Splitter auf der
vorgeformte Splitter, die meist an der Oberfläche Mantelfläche der zylindrischen Ladung angeordnet,
der Sprengladung angeordnet sind, bei Schützenab- um bei einer Auslösung die gesamte Umgebung mit
wehrverlegeminen (Beispiel: deutsche Schützenab- Splittern zu belegen. Bei Richtminen, wie der sow-
wehrverlegemine DM 31) oder Splitterrichtminen jetischen MON-Serie, werden die Splitter in eine
(Beispiele: US-amerikanische Claymoreminen oder Richtung fokussiert, wodurch nur eine kleine Ziel-
Minen der sowjetischen MON-Serie) vorkommen. fläche abgedeckt wird, auf der jedoch zahlreiche
Letzteres findet sich meist auch bei Splitter-IED, de- Splittertreffer zu erwarten sind.
ren Herstellung durch Aufständische in zahlreichen Im Nahbereich um eine Splitterladung tritt eine
Videos im Internet gezeigt wird. zusammengefasste Wirkung der Splitter und der
Unabhängig von den Konstruktions- oder Druckwelle auf. Dies kann dazu führen, dass eine
Erscheinungsformen der Splitterladungen ist der Struktur, die den Splittern oder der Druckwelle
Mechanismus der Nutzung des Sprengstoffs im standzuhalten vermag, trotzdem versagt, da die
Wesentlichen identisch. Splitter die Struktur vorschädigen, was bei der Be-
Die Detonation des Sprengstoffs zerlegt dessen lastung durch die Druckwelle dann zum Versagen
Umhüllung, wodurch die natürlichen oder vorfrag- führt.
mentierten Splitter gebildet und beschleunigt wer- Im Fernbereich dominiert die Splitterwirkung.
den. Die Splitter haben auch bei vorfragmentierten Die Splitter folgen wie Geschosse außenballisti-
Hüllen oftmals eine sehr unterschiedliche Ausprä- schen Flugbahnen. Deren Verlauf ist jedoch schwer
gung hinsichtlich Gestalt und Masse. Je nach Ein- vorhersagbar, da Splitter, mit Ausnahme der vorge-
satzzweck der Munition oder des Kampfmittels ist formten, keine klar definierte geometrische Gestalt
man bestrebt, diese Splitterbildung auf das vorgese- und Masse aufweisen und nicht stabilisiert sind,
hene Zielspektrum abzustimmen. Die wesentlichen wodurch sich ihre Lage im Raum beständig ändert.
Forderungen sind eine ausreichende Splitteranzahl Wichtige außenballistische Einflussgrößen wie
zur Erzielung einer ausreichenden Splitterdichte Widerstandsbeiwert, Querschnittsflächenbelastung
und eine ausreichende Wirksamkeit des Einzelsplit- und angeströmte Fläche sind daher unbekannt.
ters, um beim Auftreffen auf das Ziel eine Schädi- Allgemein lässt sich jedoch festhalten, dass Splitter
gung herbeiführen zu können. Hierbei kommen mit zunehmender Flugzeit an Geschwindigkeit ver-
unterschiedliche Wirksamkeitskriterien zu Anwen- lieren. Je leichter, weniger kompakt und schneller
594 Kapitel 43 · Konventionelle Bedrohung und Schutzausrüstung

neben der zusätzlichen Wirkung der Druckwelle im


. Tab. 43.1 Splittergeschwindigkeiten von
Artilleriegeschossen [6, 7]
Nahbereich der kumulative Effekt beim Auftreffen
von Splitterwolken auf einem Ziel.
Detonationsabstand (m) Geschwindigkeit (m/s) Hierbei wird oftmals der Einzelsplitter das Ziel
nicht wirkungsvoll beschädigen und beispielsweise
~100 520 die Panzerung eines Fahrzeugs nicht durchdringen
43 ~80 630 können. In einer Splitterwolke treffen die einzelnen
~60 770
Splitter jedoch zeitlich und räumlich zusammen als
auch disloziert auf. Dies kann dazu führen, dass
~25 960
mehrere Splitter auf die gleiche Stelle des Ziels auf-
schlagen, wodurch die dortige Struktur mehrfach
geschädigt wird, was zu einem tieferen Eindringen
ein Splitter zu Beginn ist, umso rascher verringert von Splittern ins Ziel oder Durchschlagen von Split-
sich seine Geschwindigkeit. Die Geschwindigkeit tern durch eine Struktur führen kann. Insbesondere
der großen Anzahl kleiner, leichter Splitter (Splitter- klassischer transparenter Schutz kann hier schnell
masse <1 g) einer Artilleriegranate reduziert sich an Grenzen der Schutzwirkung stoßen. Diese Wir-
daher sehr stark. Große, schwere Splitter, die bei der kungsweise ist beispielsweise vom Auftreffen einer
Detonation solcher Geschosse in weit geringerer Schrotgarbe aus Handwaffen auf Weichziele be-
Zahl auftreten, werden weniger stark abgebremst kannt. Der kumulative Effekt ist von der Splitter-
und sind daher auf größere Entfernungen wirksam. dichte abhängig. Splitterrichtminen und artver-
In . Tab. 43.1 sind einige Beispielwerte für die wandte IED, die hohe Splitterdichten aufweisen
Geschwindigkeit schwerer Artilleriesplitter in Ab- können, stellen in diesem Zusammenhang eine
hängigkeit vom Abstand zum Detonationsort ange- größere Bedrohung dar als Artilleriesprenggrana-
geben. ten oder die Schützenabwehrverlegemine DM 31,
Das Auftreffen eines Einzelsplitters auf ein Ziel bei denen die Splitter weitestgehend ungerichtet auf
folgt den Mechanismen beim Beschuss mit inerten der Mantelfläche verteilt sind, was zu einem raschen
Geschossen. Bei den Tests von geschützten Fahr- Absinken der Splitterdichte mit der Entfernung
zeugen nach STANAG 4569 wird die Schutzwirkung führt.
gegen schwere Artillerieeinzelsplitter aus diesem
Grund analog zum Beschusstest durchgeführt. Bei-
de Testabläufe sind gemeinsam in AEP-55 Volume 43.2.3 Projektilbildende Ladungen
1 beschrieben.
Eine Vorhersage über die Wirkung im Ziel für Die Splitterbelegung einer Sprengladung erhöht de-
einen Einzelsplitter ist allerdings aufgrund der gro- ren wirksame Kampfentfernung bereits erheblich.
ßen Variation der splitterseitigen Einflussgrößen Die Wirkung der Splitter lässt sich aber nur in ge-
schwerer als für Geschosse möglich. Es sind daher wissen Grenzen steigern bzw. fokussieren. Gegen
statistische Aussagen bezogen auf eine bestimmte geschützte Ziele, beispielsweise gepanzerte Fahr-
Splitterladung üblich. Die Wirksamkeit wird in Ver- zeuge, ist oftmals nur eine begrenzte Wirkung ge-
suchsreihen anhand von Parametern wie Splitter- geben. Eine Möglichkeit geschützte Ziele besser
dichte (Trefferwahrscheinlichkeit), Massenvertei- bekämpfen zu können, ist die projektilbildende
lung der Splitter und Durchschlagsleistung gegen Ladung oder EFP (»explosively formed projectile«).
ein definiertes Ziel untersucht. In Abhängigkeit EFP werden seit langem im militärischen Bereich
vom Zielspektrum werden Forderungen an die eingesetzt. Einige Beispiele sind die Submunitionen
Wirksamkeit gestellt. Die Schützenabwehrverlege- der Artillerie und Panzerabwehrverlegeminen. Im
mine DM 31 ist nicht nur gegen Personen, sondern Gegensatz zu Splitterladungen und Hohlladungen
auch Fahrzeuge wirksam. fanden sie aber eher eine untergeordnete Verbrei-
Eine Besonderheit von Splitterladungen im Ver- tung. In den vergangenen Jahren hat sich dies durch
gleich zum Beschuss mit inerten Geschossen ist ihre Nutzung als IED geändert.
43.2 · Kinetische Energie – Handwaffengeschosse
595 43
Bei einer projektilbildenden Ladung handelt es werden. In einem solchen Fall besteht auch neben
sich meist um eine zylindrische Sprengladung, bei der Ladung eine erhebliche Gefährdung. Das
der eine Stirnseite mit einer Einlage aus duktilem primäre Wirkmittel ist das gebildete Projektil. Ein-
Metall hoher Dichte, oftmals Kupfer, belegt ist. Die teilige EFP sind in der Lage Panzerstahlplatten von
Einlage hat die Form eines flachen Kegels oder eines mehreren Zentimetern Dicke zu durchschlagen. Sie
Teller und liegt formschlüssig auf dem Sprengstoff stellen beispielsweise eine erhebliche Gefährdung
auf. Die Initiierung erfolgt von der gegenüberlie- für geschützte Fahrzeuge dar. Bei EFP-Gruppen tritt
genden Stirnseite. Eine Hülle als tragende Struktur ein kumulativer Effekt ein. Wie bei Splitterwolken
umgibt den Sprengstoff und die Einlage. kann es hier zum Versagen eines Schutzes kommen,
Die Einlagenseite wird dem Ziel zugewandt. der dem Auftreffen eines EFP stand hält.
Durch die Detonation des Sprengstoffs wird das Me- Beim Durchschlagen eines EFP durch einen
tall umgeformt und beschleunigt. Die Formgebung, Schutzaufbau treten sowohl der EFP als auch Sekun-
Dicke und Masse der Einlage sowie deren Material därsplitter ausschussseitig kegelförmig aus. Eine
sind neben dem verwendeten Sprengstoff und des- Aussage zur genauen Wirksamkeit dieser Splitter-
sen Masse maßgebliche Einflussgrößen, welche Ge- wolke im Ziel ist für den Einzelfall nicht möglich. In
stalt das EFP annimmt und welche Geschwindigkeit den meisten Fällen ist von einer Gefährdung von zu
es erreicht. Durch eine entsprechende Formgebung schützendem Personal und Ausrüstung auszugehen.
der Einlage ist es möglich, die Bildung mehrerer EFP
aus einer Einlage zu erzielen. Ebenso wie eine solche
EFP-Gruppe ist die Ausbildung eines einzelnen EFP 43.2.4 Hohlladungen
möglich. In allen Fällen werden grundsätzlich eine
günstige außenballistische Form, gute Zielgenauig- Eine weitere Fokussierung der Wirkung und deutli-
keit und hohe Geschwindigkeit angestrebt. Die ein- che Erhöhung der Durchschlagsleistung erzielt die
zelnen Projektile einer EFP-Gruppe sollen sich auf Hohlladung. Der Einsatz von Hohlladungen gegen
einer gemeinsamen Achse bewegen. Die üblichen gepanzerte Ziele ist weit verbreitet. Er erstreckt sich
Geschwindigkeiten betragen 1.000–2.000 m/s. Zu- von der Munition von Panzerabwehrhandwaffen
sammen mit Massen von oftmals mehreren 100 g über Submunitionen für Artilleriegeschosse und
ergeben sich große Bewegungsenergien. Panzerabwehrminen bis zu Pionierladungen. Im
Ein EFP verhält sich nach dem Abschuss wie Bereich der Bundeswehr am bekanntesten ist die
andere ungelenkte Geschosse beim Flug durch die Nutzung in der Gefechtsmunition der Panzerfaust 3.
Luft. Im Gegensatz zu Splittern wird es wesentlich Der Aufbau einer Hohlladung gleicht im Prin-
weniger stark abgebremst und besitzt eine gestreck- zip dem der beschriebenen projektilbildenden
te, vorhersagbare Flugbahn. Daraus ergeben sich Ladung. Statt in Form eines flachen Kegels oder
Kampfentfernungen von üblicherweise bis zu Tellers wird die Einlage meist als Spitzkegel ausge-
100 m. In der Mehrzahl der Anwendungsfälle als bildet. Die verwendeten Materialien sind ähnlich.
IED sind die Abstände zum Ziel jedoch deutlich ge- Die Zündung erfolgt von der der Einlage abge-
ringer. Die große Geschwindigkeit der EFP erlaubt wandten Stirnseite. Bei der Detonation des Spreng-
es, auch bewegte Ziele wie Fahrzeuge sicher zu tref- stoffs wird das Einlagenmaterial umgeformt und
fen, da Fehler beim Schätzen der Geschwindigkeit stark beschleunigt. Im Gegensatz zum EFP wird
des Ziels eine untergeordnete Rolle spielen. kein Projektil gebildet. Stattdessen formt sich auf
Da projektilbildende Ladungen vergleichsweise der Ladungslängsachse ein Hohlladungsstrahl, der
wenig Sprengstoff benötigen, ist die Wirkung der sich in Zielrichtung bewegt. Trotz der Bezeichnung
Druckwelle räumlich meist eng begrenzt, so dass Strahl ist das Einlagenmaterial in diesem Zeitraum
durch diese bereits in wenigen Metern Entfernung nicht flüssig. Über die Länge des Strahls betrachtet
oft keine Gefährdung auch ungeschützter Personen nimmt die Geschwindigkeit von der Spitze aus ab.
auftritt. In Abhängigkeit vom verwendeten Hüllen- Die Strahlspitze wird auf einige Kilometer pro
material können sich allerdings seitliche Splitter Sekunde beschleunigt. Bei hinteren Strahlteilen sinkt
bilden, die von der Mantelfläche weg beschleunigt die Geschwindigkeit in Bereiche von wenigen
596 Kapitel 43 · Konventionelle Bedrohung und Schutzausrüstung

1.000 m/s ab. Der Stößel, der kein Strahlbestandteil 43.3 Schutz
mehr ist, ist noch einige 100 m/s schnell. Wegen der
großen Unterschiede wirken starke Zugkräfte im Der Schutz von Zielen möglicher Waffen- und
Material. Es wird stark in Längsrichtung gedehnt, Kampfmittelwirkung basiert auf verschiedensten
was nach einer gewissen Flugstrecke schließlich physikalischen Grundprinzipien. Im Gegensatz zu
zum Zerfall des Strahls in einzelne Partikel führt. den Wirkmitteln sind diese schwer in nur wenige
43 Da der Strahl einerseits eine gewisse Wegstrecke zu Kategorien zu fassen und für den Anwender in der
seiner Bildung benötigt (Stichwort: Abstandsrohr Praxis umzusetzen. Nachfolgende Abschnitte glie-
bei der Gefechtsmunition der Panzerfaust 3), ande- dern sich daher nach den in derzeitigen Einsätzen
rerseits auf seinem weiteren Flugweg zerfällt, ist die häufigen Schutzausrüstungen. Zum einen sind dies
günstige Einsatzentfernung einer Hohlladung auf solche für Personengruppen (Fahrzeuge und Feld-
ein enges Abstandsfenster begrenzt. Dies macht sie lager/Feldbefestigungen), zum anderen handelt es
im Gegensatz zur projektilbildenden Ladung zum sich um solche für Einzelpersonen (Schutzwesten,
Einsatz als IED ungeeignet. Die Hauptbedrohung in Helme und Schutzbrillen). Es werden die wesentli-
den derzeitigen Szenarien ergibt sich daher aus chen Schutzmöglichkeiten, deren Ausprägungen
ihrer Nutzung in der Munition von Panzerabwehr- und Einschränkungen dargestellt.
handwaffen.
Der Hohlladungsstrahl dringt in einem dünnen
Tunnel tief in Panzerstahl ein. Die Eindringtiefe 43.3.1 Fahrzeuge
oder Durchschlagsleistung wird im Wesentlichen
durch die Strahllänge und die Genauigkeit, mit der Einen wesentlichen Raum bei der Schutzdiskussion
sich die Strahlteile auf einer gemeinsamen Achse in den Einsätzen nehmen geschützte Fahrzeuge ein.
bewegen, bestimmt. Letzteres erfordert die präzise Die Bandbreite reicht von leichteren Radfahrzeugen
Fertigung einer Hohlladung. Dies macht sie als bis zu den schweren Gefechtsfahrzeugen der Pan-
selbst gefertigte IED im Vergleich zum EFP eben- zer- und Panzergrenadiertruppe. So unterschied-
falls ungeeignet. Weitere Einflussgrößen sind das lich die Einsatzzwecke dieser Fahrzeuge sind, so
Dichteverhältnis von Einlagenmaterial zu Panze- unterschiedlich zeigen sich auch die Schutzkon-
rungsmaterial sowie die Strahlgeschwindigkeit. zepte. Es erfolgt daher die Konzentration auf die
Klassische Werkstoffkennwerte wie Festigkeit oder Klasse der leichteren geschützten Fahrzeuge.
Oberflächenhärte spielen eine untergeordnete In der Vergangenheit waren die meisten Fahr-
Rolle. zeuge mit Ausnahme der Gefechtsfahrzeuge unge-
Bereits ältere Hohlladungskonstruktionen der schützt. Der Schutz der gepanzerten Fahrzeuge ori-
Munitionen der PG-7-Familie, die mit der Panzer- entierte sich stark an Bedrohungen wie direktem
abwehrhandwaffe RPG-7 verschossen werden, er- Beschuss, Panzerabwehrwaffen und Artillerie-
zielen in homogenem Panzerstahl Eindringtiefen beschuss. Die Bedrohung durch Minen aller Art
von mehreren 100 mm. Für viele geschützte Fahr- wurde kaum priorisiert. Inzwischen hat sich dies
zeuge stellt dies eine erhebliche Bedrohung dar. geändert. Dies führte u. a. zur Verabschiedung der
Wenn ein Hohlladungsstrahl eine Panzerung STANAG 4569, die NATO-weit einheitliche Be-
durchschlägt, dringen Strahlpartikel und Sekundär- drohungslevel definiert. Daraus resultieren Schutz-
splitter in den geschützten Raum ein. Die genaue klassen bezüglich des direkten Beschusses (inkl.
Wirkung im Ziel lässt sich nicht vorhersagen, da Artilleriesplitter) und der Ansprengung durch
diese stark davon abhängt, was von ihnen getroffen Minen [6]. Im nachgeordneten AEP-55 sind die
wird. Die gesamte Bandbreite von keinerlei Wir- Prüfverfahren für geschützte Fahrzeuge festgelegt.
kung mit Ausnahme des Durchschlags durch die Im Fokus dieser Vorschriften steht nicht der Schutz
Panzerung bis zum Totalausfall eines Fahrzeugs des Fahrzeugs im Sinne einer weiteren Durch-
oder einer Feldbefestigung einschließlich der Be- führung des Auftrags sondern der Schutz der In-
satzung ist möglich. sassen [7].
43.3 · Schutz
597 43

. Tab. 43.2 Schutzklassen gegen Beschuss gemäß STANAG 4569 [6]

Klasse Kaliber/Geschosstyp Auftreffgeschwindigkeit Auftreffwinkel (horizontal) Auftreffwinkel


(mm) (m/s) (°) (vertikal) (°)

1 5,56 M193 937 0–360 0–30


5,56 SS109 920
7,62 DM41 830

2 7,62 API BZ 695 0–360 0–30

3 7,62 API B32 854 0–360 0–30


7,62 AP8 930

4 14,5 API B32 911 0–360 0

5 25 PMB 073 1.258 +/–30 0

43.3.2 Schutz gegen Beschuss/ . Tab. 43.3 Schutzklassen gegen Artilleriesplitter


Artilleriesplitter gemäß STANAG 4569 [6, 7]

Derzeit umfasst die STANAG 4569 fünf Klassen der Klasse Auftreff- Detonations- Detonations-
Schutzwirkung von Fahrzeugen gegen den direkten winkel abstand höhe (m)
horizontal horizontal
Beschuss und das Auftreffen von Artilleriesplittern.
(°) (m)
Sie erstrecken sich vom Handwaffenbeschuss
(Klasse 1–3) bis zu schweren Maschinengewehren 1 0–360 100 Bis zu 30
(Klasse 4) und Maschinenkanonen (Klasse 5). Die
2 80
Bedrohungen durch direkt gerichtete Waffen sind
in . Tab. 43.2 dargestellt. 3 60

Die Bedrohungsklassen orientieren sich nicht 4 bzw. 25 (Radius um das Fahrzeug)


an rein technischen Gesichtspunkten, sondern bil- 5
den typische Gefechtssituationen nach. So stellen
beispielsweise die Höhenwinkel der Klassen 1–3 die
übliche Situation des Handwaffenbeschusses aus zerstahl reagieren meist weniger empfindlich auf
einem Gebäude dar. Wenn im Einzelfall ein Be- dieses Unterschreiten als modernere Schutzaufbau-
schuss aus einer stärkeren Überhöhung stattfindet, ten oder transparenter Schutz. Für Bedrohungen,
kann dies unter Umständen zu einer reduzierten die über die Klasse 2 hinausgehen, sind reine Stahl-
Schutzwirkung des Fahrzeugs führen. panzerungen unter Berücksichtigung der übrigen
Nach STANAG 4569 geschützte Fahrzeuge der Fahrzeuganforderungen aus Gewichtsgründen
entsprechenden Schutzklassen bieten gegen die in nicht zielführend umsetzbar.
der Tabelle dargestellten Bedrohungen in den unte- Die Bedrohung durch Artilleriesplitter orien-
ren vier Klassen im Bereich der Hauptpanzerflä- tiert sich am Auftreffen eines einheitlichen schwe-
chen (beispielsweise eine flächige Türpanzerung ren Einzelsplitters einer in der Luft detonierenden
oder eine einheitlich gepanzerte Seitenwand) auch Artilleriegeschosses. Die wesentliche Größe, die in
Schutz gegen typischerweise auftretende Mehrfach- die Betrachtung einfließt, ist der Abstand des Fahr-
treffer, wie sie von Soldaten im Einzel- oder Dauer- zeugs zum Detonationsort (. Tab. 43.3).
feuer erzielt werden können. Wenn es im Einsatz zu Ein Fahrzeug, welches eine Schutzklasse nach
einer Unterschreitung der Mindestabstände zwi- STANAG 4569 hat, bietet einen weitgehenden
schen Treffern kommt, kann dies zu Durchschüssen Schutz der Insassen gegen die entsprechende Be-
führen. Die klassischen Schutzaufbauten aus Pan- drohung. Das Fahrzeug und die Insassen sind je-
598 Kapitel 43 · Konventionelle Bedrohung und Schutzausrüstung

doch nicht unverwundbar. Das Unterschreiten von wegungen, die zu einem Anschlagen des Körpers an
Mindestabständen wurde hier bereits erwähnt. Da- Fahrzeugstrukturen führen können, zu verhindern.
rüber hinaus wird ein Mindestschutzabdeckungs- Dies ist auch mit Hinblick auf das nach der An-
grad gefordert. Dies kann bedeuten, dass Teile eines sprengung meist folgende Unfallgeschehen (Kippen
Fahrzeugs keinen vollständigen Schutz der Besat- oder Überschlagen des Fahrzeugs oder Aufprall
zung gegen eine entsprechende Bedrohung aufwei- auf Hindernisse neben oder auf der Fahrbahn) un-
43 sen. Für die weitere Durchführung des Auftrags mit erlässlich.
Hinblick auf Mobilität oder Einsatz der Bewaffnung An dritter Stelle gilt es, gefährliche Sekundär-
bietet ein Schutz gemäß STANAG 4569 keinerlei Ge- splitter im Fahrzeuginneren zu vermeiden. Dies
währleistung, da Fahrzeugkomponenten, Rüstsätze bedingt z. B. die ausreichende Befestigung aller Ein-
und Bewaffnung nicht zwingend zu schützen sind. bauten und Rüstsätze. Alle Gegenstände, die nicht
ausreichend fixiert sind, werden mit oftmals hoher
Geschwindigkeit durch den Innenraum geschleu-
43.3.3 Schutz gegen Sprengladungen dert. Sie können schwere Verletzungen verursachen.
Alle konstruktiven Maßnahmen eines Fahrzeugs
Beim Schutz gegen Sprengladungen wird zwischen schützen aus diesen Gründen nur dann ausreichend,
verschiedenen Einsatzszenarien unterschieden. Auf wenn sich die Insassen entsprechend verhalten.
der einen Seite stehen Sprengladungen, die im Un-
tergrund unter dem Fahrzeug detonieren. Die typi-
Verhaltensregeln für Insassen
schen Beispiele hierfür sind klassische Panzerab-
5 Fußablageflächen nutzen
wehrverlegeminen und ähnlich platzierte IED. Auf
5 Verriegelungssysteme wie »Minenriegel«
den Sonderfall der tief vergrabenen Ladungen, so
an den Türen schließen
genannte »culvert mines«, wird an dieser Stelle
5 Ausrüstung, Waffen und Munition an den
nicht eingegangen. Auf der anderen Seite stehen La-
vorgesehenen Orten mit den Verzurrmitteln
dungen, die in der Mehrzahl als IED seitlich neben
befestigen
einem Fahrzeug zur Umsetzung gebracht werden.
5 Rüstsätze nur in den mitgelieferten
Um den Schutz der Insassen zu gewährleisten,
Halterungen im Fahrzeug einbauen
muss ein Fahrzeug mehrere Aufgaben erfüllen. An
5 Nicht an die Fahrzeugstruktur wie die
erster Stelle muss der durch die Detonation verur-
B-Säule oder die Seitenwand anlehnen
sachte Überdruck aus dem Fahrzeuginneren fern
gehalten werden. Die Schutzhülle darf nicht aufge-
rissen werden. Die Schutzwirkung von Fahrzeugen ist in der
In Abhängigkeit von Einflussgrößen wie der STANAG 4569 bisher gegen Minenbedrohungen
Sprengstoffmasse und dem Ansprengabstand kön- definiert. Im Gegensatz zum ballistischen Schutz
nen große Verformungen der äußeren Schutzhülle gibt es nur vier Bedrohungs- und Schutzklassen,
auftreten. Die Verformung erfolgt dabei sehr wobei es sich bei der ersten Klasse um eine Bedro-
schnell. Dies spiegelt sich in den hohen Verfor- hung mit kleinen Splitterladungen (gebräuchlich ist
mungsgeschwindigkeiten wider. Die zweite Anfor- die Schützenabwehrverlegemine DM31), die unter
derung an den Schutz ist daher die Verhinderung dem Fahrzeug zünden, handelt. Bei den übrigen
des Einwirkens dieser Verformung auf die Insassen. drei Bedrohungen handelt es sich um Panzer-
Zum Schutz gegen Minendetonationen werden abwehrverlegeminen mit unterschiedlichen Spreng-
hierzu beispielsweise vom Dach oder der Seiten- stoffmassen. In den Klassen 2–4 steigert sich die
struktur abgehängte Sitze, doppelte Böden oder Sprengstoffmasse von 6 kg auf 10 kg. Die Mine ist
vom Boden abgekoppelte Fußauflagen verwendet. entweder unter einem Rad bzw. einer Kette oder
Bei Seitenansprengungen ist ein ausreichender Ab- unter dem Fahrzeug positioniert. Dies wird durch
stand der Insassen von der Seitenwand notwendig. den Zusatz »a« oder »b« angegeben [7].
In beiden Fällen werden Gurtsysteme eingesetzt, Die Ansprengorte unter dem Fahrzeug stellen
um die Insassen zu fixieren und unkontrollierte Be- eine wesentlich schwerwiegendere Bedrohung dar.
43.3 · Schutz
599 43
Für den Anwender ist daher wichtig zu erfahren, in 43.3.4 Schutz gegen Splitterladungen
welchem Umfang ein Fahrzeug getestet wurde. Die
beispielhafte Aussage »Geprüft nach STANAG Gepanzerte Fahrzeuge bieten grundsätzlich auch
Level 2« ist nicht ausreichend. einen Schutz gegen Splitterladungen mit ihrer kom-
Die Bedrohungen durch seitliche Ansprengun- binierten Wirkung aus Splittern und Druckwelle.
gen sind bisher nicht einheitlich definiert. Ähnlich wie bei den IED-Sprengladungen gibt es
Die Schutzwirkung der Fahrzeuge nach STA- bisher jedoch keine einheitliche Normierung der
NAG 4569 wird bezogen auf die Insassen im Wesent- Bedrohungen und Prüfvorschriften. Es ist daher
lichen an Grenzen der Belastbarkeit des mensch- schwierig, eine Aussage über die Schutzwirkung
lichen Körpers festgemacht. Im Test werden Dum- von Fahrzeugen zu treffen. Ein direkter Vergleich
mies wie in Autocrashtests verwendet. von Fahrzeugen ist damit ebenfalls nicht möglich.
Anhand von Grenzwerten für die folgenden Die erste Aufgabe des Schutzes ist das Aufhalten
Körperregionen wird der Schutz der Insassen be- der Splitter, wobei die Struktur bei einer ausreichend
wertet: nahen Ansprengung anschließend noch die Fähigkeit
4 Nacken/Halswirbelsäule (Kompressionskraft/ zum Schutz gegen die Druckwelle aufweisen muss.
Moment) Gelingt dies, so gelten für den Insassenschutz die glei-
4 Lenden-/Brustwirbelsäule (Berechnung eines chen Vorgaben und Vorgehensweisen wie für die Be-
Vergleichswertes aus der Beckenbeschleuni- lastung des Fahrzeugs durch eine reine Sprengladung.
gung) Dies gilt auch für das Verhalten der Besatzung.
4 Unterschenkel (Kompressionskraft im In den bisherigen Vorschriften zur Schutz-
Schienbein) wirkung von Fahrzeugen werden nur sehr kleine
4 Gasgefüllte Organe (CWVP) Ladungen bis zum Niveau der Schützenabwehrver-
legemine DM 31 berücksichtigt. Dies ist die Bedro-
Die Grenzwerte sind bei den Unterschenkeln und hung, gegen die Fahrzeuge der Schutzklasse 1 gemäß
der Lenden- bzw. Brustwirbelsäule so gewählt, dass STANAG 4569 Schutz bieten. Die weiteren Minen-
eine Verletzungswahrscheinlichkeit von 10 % für schutzklassen 2–4 umfassen ebenfalls diesen Schutz.
Verletzungen des Schweregrades AIS 2+ besteht. Im Falls es zu einem Versagen des Schutzes kommt,
Bereich der Halswirbelsäule sind bei Einhaltung sind die genauen Auswirkungen nicht vorhersagbar.
der Grenzwerte Verletzungen der Schweregrade Sie können zwischen den Extremen eines einzelnen
AIS 2/3+ unwahrscheinlich. Für die gasgefüllten Splitterdurchschlags mit Gefährdung derer, die sich
Organe sind bei einem CWVP unterhalb des Grenz- in der Splitterflugbahn befinden, bis zum vollstän-
werts keine Verletzungen zu erwarten. Die Grenz- digen Strukturversagen der Schutzhülle mit Eintritt
werte sind bei den Unterschenkeln auf eine Verlet- von Splitterwolke und Druckwelle ins Fahrzeug-
zungswahrscheinlichkeit von 10 % ausgelegt. Es ist innere liegen.
mit Verletzungen des Schweregrades AIS 2+ zu
rechnen [9].
Da sich die Ansprengbedingungen für Minen 43.3.5 Schutz gegen projektilbildende
am militärischen Umfeld orientieren und die Daten Ladungen und Hohlladungen
frei zugänglich sind, ist es im Gegensatz zum Be-
schuss für einen Angreifer einfach, durch Erhöhung Geschützte Fahrzeuge können auch Schutz gegen
der Sprengmasse in einer IED die Bedrohung für projektilbildende Ladungen und Hohlladungen aus-
die Insassen in einem Fahrzeug über das geprüfte gelegt werden. Wie bei vielen anderen Bedrohungen
Maß hinweg zu steigern. Die Fahrzeuge bieten mit Ausnahme des Beschusses und der konventionel-
in gewissen Grenzen auch hier einen Schutz. Die len Minenbedrohungen sind hier weder die Bedro-
Verletzungsrisiken und die Schwere der Verletzun- hung noch die Schutzniveaus vereinheitlicht. So las-
gen nehmen dann jedoch zu. Wie sich dies im Ein- sen sich nur einige grundsätzliche Aussagen treffen.
zelfall darstellt, ist von zahlreichen Parametern ab- Wegen der großen Wirksamkeit dieser Bedro-
hängig und lässt sich an dieser Stelle nicht darstellen. hungen in Bezug auf die Durchschlagsleistung sind
600 Kapitel 43 · Konventionelle Bedrohung und Schutzausrüstung

die Insassen leichter Fahrzeuge nur sehr bedingt zu 43.4 Feldlager


schützen. Dies gilt insbesondere für den Einsatz von
Hohlladungen. Hierzu sind meist Schutzaufbauten Die Feldlager und entsprechende stationäre Objekte
erforderlich, die bezogen auf die Außenfläche eines sind als Flächenziele und ortsfeste Einrichtungen
Fahrzeugs solch große Massen aufweisen, dass sie anderen Bedrohungsschwerpunkten ausgesetzt als
nur für schwerere Fahrzeuge ab der Größe und Fahrzeuge. Projektilbildende Ladungen und Hohl-
43 Masse von Schützenpanzern oder schweren mehr- ladungen spielen eine untergeordnete Rolle. Der
achsigen Radpanzern in Frage kommen. Neben Beschuss aus Mörsern oder mit Artillerieraketen
passiven Schutzmöglichkeiten, wie sie gegen EFP sowie der Einsatz von größeren IED, für die Träger-
und teilweise Hohlladungen möglich sind, werden systeme vom Selbstmordattentäter bis zum LKW
gegen Hohlladungen bereits seit Jahrzehnten Reak- eingesetzt werden, stehen im Vordergrund.
tivschutzsysteme eingesetzt. Hierbei wird durch die Wegen der Vielzahl der Bedrohungen und
Detonation des im Schutz eingebrachten Spreng- Schutzmöglichkeiten wird an dieser Stelle auf
stoffs die Eindringleistung eines Hohlladungs- eine eingehendere Beschreibung verzichtet. Zur
strahls deutlich reduziert. Wegen der notwendigen Schutzwirkung von Feldlagerstrukturen sei auf
Masse und der Sprengwirkung eignen sie sich je- STANAG 2280 verwiesen. Diese Norm beschreibt
doch nicht für leichte Fahrzeuge, wie sie derzeit vor- im Gegensatz zur STANAG 4569 jedoch nur grob
nehmlich zum Einsatz kommen. die Bedrohungen und damit die Schutzniveaus. Sie
Eine Besonderheit beim Schutz gegen Hohlla- fokussiert kaum explizit auf die Auswirkungen auf
dungen stellen Maßnahmen gegen das Hauptver- den Menschen [8].
bringungsmittel dieser Bedrohung, Panzerabwehr-
flugkörper, dar. Neben möglichen zukünftigen Lö-
sungen zur direkten Abwehr der Flugkörper, sog. 43.4.1 Individueller Schutz
Aktivschutzsystemen, spielen gegen bestimmte
Gefechtsköpfe von Panzerabwehrflugkörpern sog. Im Schutz des Soldaten klafft aus praktischen Grün-
SLAT-Schutzsysteme und artverwandte Konzepte den zwischen Schutz durch Fahrzeuge auf der einen
eine wesentliche Rolle. Diese oftmals »zaunartigen«, Seite und dem individuellen Schutz auf der anderen
außen an Fahrzeugen angebrachten Schutzaufbauten Seite eine große Lücke. Dies liegt zum einen den
basieren in ihrer Wirkung auf einer konstruktiven unterschiedlichen Bedrohungen, zum anderen an
Besonderheit der Gefechtsköpfe, wodurch beim Auf- praktischen Gründen, wie der begrenzten Tragfä-
treffen eine korrekte Funktionsweise verhindert wer- higkeit des menschlichen Körpers. Grundsätzlich
den kann. Dieser Effekt ist von der Auftreffsituation besteht der individuelle Schutz aus drei Komponen-
abhängig. Falls die Funktion nicht beeinträchtigt ten:
wird, kann eine korrekte Zündung des Gefechtskopf 4 Körperschutz/Schutzweste
erfolgen, und der Hohlladungsstrahl durchschlägt 4 Helm
unter Umständen die Grundpanzerung eines Fahr- 4 Schutzbrille
zeugs. Gegen Flugkörper, die eine entsprechende
konstruktive Besonderheit nicht aufweisen, ist diese Alle drei Schutzsysteme bieten im Wesentlichen
Schutzart nur eingeschränkt wirksam. ausschließlich Schutz gegen Bedrohungen mit kine-
tischer Energie durch Geschosse aus Handfeuer-
Zusammenfassung waffen und/oder Splittern. Das mögliche Schutzni-
Geschützte Fahrzeuge bieten einen gewissen Schutz veau ist mit obiger Aufzählung abnehmend. In den
gegen EFP, in vielen Fällen aber keinen wesentlichen drei Bereichen ergeben sich noch weitere Differen-
Schutz gegen Hohlladungen. Die Wirkung im Ziel zierungen.
kann sehr unterschiedlich sein. Die mögliche Band- Der Bereich des Körperschutzes und der
breite erstreckt sich zwischen leichten Schäden am Schutzwesten umfasst den Schutz gegen kleinere
Fahrzeug bis zum Totalausfall einschließlich der ge- Splitter (Splitterschutzwesten) über Geschosse aus
samten Besatzung. gebräuchlichen Faustfeuerwaffen bis zu Hartkern-
Literatur
601 43
geschossen aus Handfeuerwaffen. Die genauen Be- Die üblichen Schutzbrillen bieten keinen Schutz
drohungen und Schutzklassen sind weltweit in einer gegen Geschosse aus Handfeuerwaffen im militäri-
Vielzahl von Normen definiert. Üblicherweise schen Umfeld. Sie dienen als reiner Splitterschutz.
bieten Schutzwesten aus flexiblen Materialien nur Die Schutzwirkung wird meist gemäß STANAG 2920
einen Schutz gegen Splitter und Weichkerngeschos- [5] oder MIL-STD-662F [4] geprüft. Als Prüfge-
sen aus entwicklungstechnisch älteren Faustfeuer- schosse werden kleine Stahlsplitter verwendet und
waffenpatronen. Die festen, plattenartigen Einsätze die v50-Geschwindigkeit ermittelt oder die Durch-
können den Schutz bis hin zu 7,62 mm Hartkernge- schusssicherheit bei einer bestimmten Geschwin-
schossen, verschossen aus wenigen Metern Entfer- digkeit gefordert. Die Schutzbrillen, die der US-
nung, erweitern [2, 11, 12]. amerikanischen MIL-PRF-31013 [3] entsprechen,
An dieser Stelle sei als Beispiel auf die Standard- weisen eine Durchschusssicherheit gegen einen
schutzweste der Bundeswehr gemäß der Techni- ~0,37 g schweren Stahlsplitter mit einer Auftreffge-
schen Lieferbedingung TL 8470-0006 eingegangen schwindigkeit von ~200 m/s auf. An den Beispielen
[2]. Sie besteht aus einem flexiblen Grundschutz der ist gut zu erkennen, wie deutlich die Schutzwirkung
Schutzklasse 1 gemäß der Technischen Richtlinie hin zur Schutzbrille abnimmt.
der Polizei und zusätzlichen Keramikeinsätzen, die
das Schutzniveau auf Schutzklasse 4 anheben. Kon-
kret bedeutet dies, dass ein Grundschutz gegen das Literatur
9 mm Weichkernprojektil DM 41 der Bundeswehr
mit einer Auftreffgeschwindigkeit von 415 m/s be- 1. Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung (2004)
TL8470-0004: Gefechtshelm, allgemein
steht. In der Schutzklasse 4 ergibt sich ein Schutz
2. Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung (2004)
gegen westeuropäisches 7,62 mm Stahlhartkernpro- TL8470-0006: Schutzweste. Standard, modifiziert
jektil mit einer Geschwindigkeit von 820 m/s [2, 11, 3. Department of Defense (1996) MIL-PRF-31013, Perfor-
12]. In beiden Fällen wird ein Schutz gegen Mehr- mance specifications: spectacles, special protective
fachtreffer mit einem bestimmten Abstand zuein- eyewear cylindrical system
ander geboten. Der Kragen weist einen Schutz ge- 4. Department of Defense (1997) MIL-STD-662F, v50-ballistic
test for armor
gen Splitter auf. Bei der Prüfung mit einem 1,1 g
5. NATO Standardization Agency (2003) STANAG 2920
schweren Stahlsplitter mit 5,56 mm Durchmesser Edition 2: Ballistic test method for personal armour
gemäß STANAG 2920 [5] über Testverfahren für materials and combat clothing
individuellen Schutz wird die v50-Geschwindigkeit 6. NATO Standardization Agency (2004) STANAG 4569
ermittelt. Diese Geschwindigkeit muss im Fall des Edition 1: Protection levels for occupants of logistic and
light armoured vehicles
Kragens der Schutzweste mindestens einen Wert
7. NATO Standardization Agency (2005) AEP-55 Volume 1/2
von 450 m/s erreichen [2]. Die v50-Geschwindigkeit Edition 1: Procedures for evaluating the protection level
ist die Geschwindigkeit bei der eine Durchschlags- of logistic and light armoured vehicles
wahrscheinlichkeit von 50 % besteht. 8. NATO Standardization Agency (2007) STANAG 2280
Bei Helmen gibt es ebenfalls eine gewisse Band- Edition 1: Design threat levels and handover procedures
for temporary protective structures
breite des Schutzniveaus. Am gebräuchlichsten sind
9. NATO Research and Technology Organization (2007)
Helme, die einen Schutz gegen Splitter und aus Faust- RTO-TR-HFM-090: Test Methodology for Protection of
feuerwaffen verschossenen Weichkerngeschossen Vehicle Occupants against Anti-Vehicular Landmine
bieten. Effects
Als Beispiel sei auf den Gefechtshelm der Bun- 10. Owen-Smith M (1979) Bomb blast injuries: in an explo-
deswehr nach der Technischen Lieferbedingung sive situation. Nurs Mirror 149:35
11. Polizeitechnisches Institut der Deutschen Hochschule der
TL 8470-0004 eingegangen [1]. Der Helm muss zum
Polizei (2009) Technische Richtlinie Ballistische Schut-
einen gegen den 1,1 g schweren Stahlsplitter eine zwesten
minimale v50-Geschwindigkeit von 620 m/s zum 12. Vereinigung der Prüfstellen für angriffshemmende
anderen gegen das 9 mm Weichkernprojektil eine Materialien und Konstruktionen (2006) BSW 2006:
Durchschusssicherheit bis zu einer Auftreffge- Prüfrichtlinie Ballistische Schutzwesten
schwindigkeit von 410 m/s aufweisen.
603

Serviceteil
Stichwortverzeichnis – 604

C. Neitzel, K. Ladehof (Hrsg.), Taktische Medizin,


DOI 10.1007/978-3-642-39689-2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
604 Serviceteil

Stichwortverzeichnis

A Amoxicillin 284
Amphetamine 496
Atemwegsmanagement 39, 134, 136,
200, 203, 326
Abarbeitungsphase 223 Amputationsverletzungen 161, 277 ATLAS-Verbund 408
ABCDE-Schema 123 Analgesie 204, 213 ATLS-Maßnahmen 511
ABC-Gefahren 548 – Augenverletzung 296 Atropin 357, 515, 575, 576
Abdominal Aortic Junctional Tourniquet – prozedurale 217 Aufstiegsgeschwindigkeit 436
34 – Verbrennung 292 Auge
Abdominalverband 162 Analgetika 204, 537 – Kampfgasexposition 300
Abdominalverletzungen 162 – Augenverletzungen 297 – Laserlichtexposition 299
Absaugung, endotracheale 40 – beim Hund 357 Augennotfallbesteck 297
Absperrmaßnahmen 367 – niedrig-potente 218 Augenprellung 298
Absperrung Analytische Task Force 573 Augenuntersuchung 298
– äußere 367 Anämie 167 Augenverletzungen 94, 295
– innere 367 Anaphylaxie 194, 487 – notfallmäßige 295
Abwehrstadium 528 Anästhesie, dissoziative 217 – penetrierende 60, 189, 299
Acetazolamid 445 Angiocath-Nadel 43 Ausbildung 6, 87
Acetylcholin 575 animal lab 104 Ausbildungsbedarf 89
Acetylcholinesterase 575 Anisokorie 312 Ausbildungshöhe 89, 96
Acetylsalicylsäure 218, 445 Anschlag Ausbildungsinhalte 90
ACLS-Maßnahmen 533 – biologischer 560 Ausbildungskonzept 92
ACRM 457 – Durchführung 585 Ausbildungsverfahren 98, 104
Actiq 216 – Erstmaßnahmen 75 Ausrüstung 91
acute lung injury 272, 291 – Ziel 584 – medizinische 398
acute respiratory distress syndrome Anthrax 560 – spezielle 29
178 Antibiotikatherapie 192, 209, 332 Ausschuss 267
ADAC-Luftrettung 454 – beim Hund 357 Autobombe 583
ADMA 448 – Gifttierverletzungen 517 AVPU-Schema 123, 183
Adrenalin 166, 357, 515 – intravenöse 193 Azidose, metabolische 167
adult respiratory distress syndrome – kalkulierte 284
272, 291 – prophylaktische 284
Aeromedical Crew Ressource
Management 457
Anticholinergika 516
Antidotautoinjektoren 573
B
aeromedical evacuation 60, 452 Antikoagulanzien 537 Ballistik 254, 264, 393
afterdrop 530 Antivenintherapie 517, 518 Bandschlinge 66
AIRMEDEVAC 22, 58 APLS Thermal Guard 531 Barotrauma 272, 475, 477
Akklimatisation 438, 448, 488 APLS-Trage 45 – pulmonales 477
Akrinor 168 A-Probleme 50 – Therapie 481
Aktivschutzsysteme 600 ARDS 178, 272, 291 BATLS 124
akute Belastungsreaktion 338 ARK bag 71 Battlefield Advanced Trauma Life
ALARA-Prinzip 557 Arsenvergiftung 578 Support 124
Algorithmen 7 Arterenol 168 Bauchschuss 265
Alkalose, respiratorische 438, 445 Aspiration 483 Bauchverletzungen 265, 276
Alkylanzien 577 Atemgasvergiftungen 475 Beatmung 41, 93, 140, 203
Alpha-Medic 97 Ateminsuffizienz 511 Beckenfraktur 208
Alpha-Strahlung 548 Atemnot 574 – instabile 165
AmbuTwin 40 Atemnotsyndrom, akutes 562 Beckenschlinge 46, 165
Amiodaron 515 Atemschutzmaske 572 Beckenschussbruch 265
AMLS-Maßnahmen 511 Atemwege Beckenstabilisierung 46
Amnesie 312 – Freimachen 40 Beckenverband 46
Amok 413 – Verlegung 119, 136 Beckenverletzungen 165, 276
– Annäherung 422 Atemwegshilfsmittel – instabile 165
– materielle Vorbereitung 423 – pharyngeale 140 Bedrohung
Amoklauf 6 – supraglottische 136, 145, 203 – atomare 547
605 A–D
Stichwortverzeichnis

– biologische 559 Brandgefahr 76 Contre-coup-Effekt 296


– chemische 569 Brandverletzungen 411 Contusio bulbi 298
– konventionelle 589 Brillenhämatom 140, 312 Counter Narcotics Tactical Operations
Bedrohungsanalyse, medizinische 487 brownout 486 Medical Support Course 386
Behandlungsplatz 422 Brustsitzgurt 317 Coxibe 218
Behandlungspriorität 233 Büchsen 252 C-Probleme 50
Belastungsreaktion, akute 338 buddy-buddy-transfusion 210 Crash-Evakuierung 418
Belastungsstörung, posttraumatische Buddy-Training 104 Crew Ressource Management 122
313, 337 Bülau-Position 155, 201 cric hook 142
Bereitstellungsraum 227, 422 Bunkerfuß 538 Critical Care Air Transport Team 22
Bergetuch 135 Bupivacain 331 cross training 98
Bergkrankheit, akute 436, 440 Crush-Niere 133, 320, 517
Bergung 73 Crush-Syndrom 273, 320
– Reihenfolge 85
Bergungstod 317, 530, 542
C CT 6 46
CuF-Phase 7 Care under Fire
Beschusstest 393 <C>ABCDE-Schema 124, 311, 319, 511 culvert mines 598
Beta-Strahlung 548 Caisson-Krankheit 478 Curriculum 92
Betreuungsstelle für die unverletzten Calwer-Dental-Kit 330 Cyanide 575
Opfer 423 capillary leak 288, 291 Cyanidvergiftung 292, 578
Beweglicher Arzttrupp 57 Captain Frank Butler 7 Cyclosarin 570
Beweissicherung 385 Care under Fire 128, 398, 415 Cyklokapron 182
Bewusstseinsstörungen 134, 135, 136, CASEVAC 59, 196
312 Castor-Behälter 549
Bewusstseinszustand, Feststellung
123
casualty collection point 225, 245
casualty evacuation 59
D
Bezold-Jarisch-Reflex 317 CAT 131 Daisy-Chain-IED 586
Binde, selbsthaftende 162 CBRN(E) 548 Dalton-Gesetz 474
Biowaffen 560 CCATT 22, 60 damage control surgery 8, 58
Bissverletzungen 281 CCCC 229 Dämmerung 324
– Desinfektion 283 CCP 225 Dampfsperre 527
– Gesicht 283 Cefotetan 193 Da-Nang-Lunge 178
– Giftexposition 285 Ceftriaxon 284 Débridement 209, 283
– Ruhigstellung 284 Cefuroxim 284 Deformationsgeschoss 261
Bittermandelgeruch 575 Celox Gauze 39, 163 defusing 341
Blasenkatheter 161, 164, 166, 206 Chaosphase 223 Dehydratation 276, 490, 492, 496, 525
Blasenpunktion 208 chest seal 41, 150, 410 Dekompressionserkrankung 60, 478
blast lung 155, 235, 272, 276 chest wall velocity predictors 592 Dekontamination 558, 565, 573
blast wind 271 Cheyne-Stokes-Atmung 438 Dekubitusprophylaxe 206
Blausäure 290, 570 Chinuklidinylbenzilat 570 Desinfektionsmittel 563
Blausäurevergiftung 292 Chito Gauze 39 Desmopressin 183
blended learning 105 Chitosan 37 Dexamethason 446
Blepharospasmus 300 Chlorcyan 570 Dexedrine 470
blood sweep 136 Chlorhexidin 330 Dextrane 178
blow out kit 326 Chlorpikrin 570 Diamantformation 392
Blutkampfstoffe 570 Cholinesterasehemmer 516 Diazepam 499, 576
Blutstillung 93, 94 Ciprofloxacin 189, 193, 274, 284 Dichlorethylsulfid 300
Blutung Circulation 156, 204, 352, 511 Diensthund 345
– katastrophale 124 C-Kampfstoffe 570 – Erstversorgung 349
– kontrollierte 173 Clavulansäure 284 – Euthanasie 358
– kritische 123, 234 Clindamycin 284, 332 – Magendrehung 354
– nicht kontrollierbare 172 Combat Application Tourniquet 32, – Notfallmedikamente 355
Blutungskontrolle 31, 129, 156, 201 131 – Untersuchung 346
– manuelle 157 Combat First Responder 5, 54, 56 die-off curve 120
Bombe, schmutzige 548, 551 Combat Gauze 163 Dilutionsazidose 169
BOS 363 combat nap 470 Dimenhydrinat 467
Boyle-Mariotte-Gesetz 474 Combat Ready Clamp 35 Dimercaptopropanol 578
B-Probleme 50, 93 combat stress reaction 336 Diphosgen 570
Brandgase 290 CONTOMS 386 Diphtherie 562
606 Serviceteil

disability 183 Erste Hilfe – Schussverletzungen 265


Dissoziation, peritraumatische – Ausbildung 366, 409 Extremitätenwunden 119
338 – Ausrüstung 398 EZ-IO 44, 175
Dokumentation 194 – Basismaßnahmen 408
Dopamin 499 – psychologische 4, 339, 340
Doppelkerngeschoss 259
drag strap 67
– Vergiftung durch Tiere 511
Erste Hilfe-Set 423
F
DRF-Luftrettung 454 Erste-Hilfe-Set 398 Fahrzeug
Drogen 466, 470, 496 Ersthelferausbildung 88 – angesprengtes 279, 592
Druckgeschwür 206 Erstickungsgase 292 – Aufgabe 85
Druckinfusion 171 Erstmaßnahmen – Befreiung von Insassen 85
Druckkammer 292, 482 – nach Anschlägen 75 – gepanzertes 596
Druckkammerbehandlung 481 – nach Unfällen 76 – in Dachlage 79
Druckverband 161 – technische 75 – in Seitenlage 79
– israelischer 161 Erstversorgung 241 7 Erste Hilfe – Schutz gegen Beschuss 597
Druckverbandpäckchen 35, 36 – Amok 415 – Sicherung 78
Druckwelle 591 – Augenverletzungen 296 – Zugang 81
Dunkeladaptation 465 – Bissverletzung 284 Fahrzeugkonstruktion 77
Dunkelheit 324 – chirurgische 35 Fahrzeugöffnung 80
Durst 492 – medizinische 54, 384 Fahrzeugpanzerung 83
dynamische Lage 229 – Polizeieinsatz 371 failing soldier 496
Ertapenem 193 Faktor rVIIa, rekombinanter 183
Ertrinken 483 Falttrage 71
E Escharotomie 204, 293
– enzymatische 293
F.A.S.T.-1 44, 175, 207
F.A.S.T.-Responder 44
Easy Cap II 48 Evacuation Care 418 Fasziotomie 204
Effentora 216 Evakuierung 385 Feindlage 17
Eigenschutz 377, 562, 587 – Amok 414, 418 Feldlager 600
Einklemmungszeichen 312 – bodengebundene 60 Feldlager-Hygiene 18
Einmannstütztechnik 66 – Dokumentation 419 Fentanyl 216, 326
Einsatzersthelfer 5, 54 – Dringlichkeit 419 – intranasales 216
Einsatzleiter 224 – geordnete 418 – Nebenwirkungen 216
Einsatzleitung, taktisch-operative – luftgebundene 60, 452 – orales 217, 326
424 – Material 399 – Wirkungen 216
Einscheibensicherheitsglas 81 – medizinische 21, 415 Fentanylpflaster 205
Einschuss 267 – Wüstenregionen 486 Feuchtigkeit 17
e-learning 105 Eviszeration 162 Feuer 288
Elotrans 495 Exanthem 562 Feuerwehr 364, 377
EMDR-Technik 343 Expeditionsbergsteigen 447 – Ausbildung 366
Emergency AirMedEvac Explosionstrauma 303 Fieber, hämorrhagisches 562
Request 9-Liner 235 Explosionsverletzungen 269, 411 Field Triage Score 236
Emergency And Military Tourniquet – Amputation 277 Finden und Binden 414, 417
131 – im Wasser 273 fixed wing 60
Emergency & Military Tourniquet – primäre 272 Flinten 252
32 – sekundäre 273 Flintenlaufgeschoss 263
Emissionen, akustische 305 – tertiäre 273 Flintenmunition 262
EMMA-Notfallkapnometer 48 – Therapie 274 Flughöhe, physiologische Auswir-
EMT 131 – Verletzungsmuster 271 kungen 461
Endotrachealtubus 41 explosively formed penetrator Flugmedizin, Sehvermögen 465
Entlastungspunktion 43 584 Flug, taktischer 456
Entschärfer 411 explosively formed projectile Flüssigkeitsbedarf 493
Entschärferfalle 586 594 Flüssigkeitstherapie 43
Entzündung 209 Explosivstoffe 586 Flüssigkeitszufuhr 449
Enzephalitis 310 Expositionsprophylaxe 18 – orale 181
– japanische 563 exposure and environment 188 Forward Aeromedical Evacuation
Epistaxis-Katheter 164 Extremitätenblutungen 130 452
Erfrierung 535 Extremitätenimmobilisation 46 Forward Medical Evacuation 59
Erschöpfungsstadium 528 Extremitätenverletzungen 277 Foxtrott Litter 71
607 D–H
Stichwortverzeichnis

FPOS-System 96 Golfkriegssyndrom 337 Hitzekrampf 499


Fraktur 188 go pills 470 Hitzeschäden 490
freezing 338 Grabenfuß 527, 538, 539 Hitzetoleranztest 498
Fresh Frozen Plasma 181 – tropischer 487, 538 Hitzschlag 490
Friedrich von Esmarch 7 green zones 20 – belastungsbedingter 496
FSME 563 Großschadensereignis 223, 232, – Diagnose 497
Fuel-air-Bombe 271 364 – Klassifikation 497
Führungsstruktur 22, 224 GROUNDMEDEVAC 58 – Prävention 498
Füllungstherapie, provisorische Grundversorgung, medizinische – Therapie 498
332 383 Hochgeschwindigkeitsverletzungen
Funktionskleidung 487 Grünlicht 466 256
GSG 9 408 Höhenhirnödem 438, 440
Guedel-Tubus 140 Höhenhusten 441
G Gurt 317 Höhenkrankheit 436
– Formen 440
Gamma-Strahlung 548 – Quantifizierung 442
GAMS-Regel 229, 377, 557
Ganzkörperdosis 557
H – Therapie 443
Höhenleistungstest 447
Gasbrand 267 HACE 440 Höhenlungenödem 438, 441
Gasembolie Halsverletzungen 136, 163 Höhentaktik 438
– arterielle 272, 477, 478 Halswirbelsäule Höhenverträglichkeit 447
– pulmonale 479 – Fixierung 46 Höhe, physiologische Auswirkungen
– zerebrale 481 – Immobilisierung 136, 147 437, 461
Gasgesetze 474 – Verletzungen 147 Höhlenblutung 164
G-BEET 415 Hämatom, retrobulbäres 163 Hohlladungen 595, 599
Gebirge 436 Hämatothorax 149 Hohlspitzgeschoss 261
Gefährdungsindikatoren 229 Hämostatika 7 Hämostyptika homemade explosives 584
Gefahrenlage Hämostyptika 37, 163 Hornhautverletzungen 299
– biologische 548 Handabsaugpumpe 40 Hörsturz 305
– chemische 548 Handwaffengeschosse 590 Hörtest 304
– nukleare 548 Hängetrauma 315 host nation support 54
– radiologische 548 – Behandlung 319 hot-debrief 341
– Strukturierung 229 – Pathophysiologie 316 Hubschrauber 58, 436
Gefahrenstoffe 228 – Prävention 320 – MEDEVAC-Einsatz 59
Gefahrenzone 75 HAPE 441 Hubschrauberlandezone 23, 59
Gefechtshelm 312 Hartkerngeschoss 259 Hüfttasche 51
Gehörgangsinfektionen 484 Hautemphysem 152 Hund 7 Diensthund
Gehörschutz 302 Hautkampfstoffe 570, 577 Hydroxyethylstärke 178
Gelbfieber 563 Hauttemperatur 523 HyperHAES 175, 180, 185, 291
GEMAESS-Regel 229 HBO-Therapie 292 Hyperkapnie 144, 310
Genitaltrauma 208 Heat Discomfort Index 490, 491 Hyperventilation 438
Gerinnungsstörungen 516 Heimlich-Ventil 154 Hyponatriämie 491
Geschoss 368 heiße Zone 367, 377, 384, 459 – belastungsassoziierte 494
– Aufbau 590 heli landing site 59 Hyposphagma 298
– Fragmentation 259 Helladaptation 465 Hypothermia Prevention and
– Konstruktion 257 Helm 601 Management Kit 531
– mit Brandsatz 590 HemCon 163 Hypothermie 167, 191, 320, 468, 484,
– Taumeln 259 Henry-Gesetz 474 528
Gesichtsverletzungen 136, 163, 283 Herzbeuteltamponade 155 – akzidentelle 191, 528
Gieren 257 Herzinsuffizienz, akute 496 – primäre 528
Gierwinkel 257 Herzrhythmusstörungen 496, 515 – Prophylaxe 50, 202, 205
Giftarten 505 Herzstillstand 496 – sekundäre 528
Gifteffekte 505 Hibler-Packung 532 – Stadien 528
Giftnattern 508 Hilfeleistung, unterlassene 403 – therapeutische 528
Giftschlangen 507 Hirndrucksenkung 311 – Therapie 530
Gifttiere 487 Hirnödem 178 Hypotonie, permissive 170, 180
Gingivitis 334 Histamin 505 Hypoxie 437
Glascow-Coma-Scale 310 Hitze 17, 485 Hypoxiekammer 448
608 Serviceteil

I K Konvektion 522
Kopfverletzungen 266, 296
Ibuprofen 330, 445 Kalorienbedarf 207 Körperkerntemperatur 488, 492, 497,
ICAO-Auftrag 454 Kälte 17, 521 522, 529
IED 74, 122, 591 Kältebrand 537 Körpertemperaturmessung 540
– Aufbau 582 Kältediurese 523 Körpertemperaturregelung 488, 523
– Auslösung 585 Kälteschäden 525, 527 Kortisontherapie 306
– schmutzige 586 – lokale 535 Kraftfahrzeug 7 Fahrzeug
– Sonderformen 585 – nicht-erfrierungsbedingte 537 Kragenschleiftechnik 66
– Verbringung 584 Kälteschutz 526 Kreislaufmanagement 43
IFAK 49 kalte Zone 367, 377, 384 – Hund 352
Immobilisation 46, 147 Kamelspinne 517 Kreislauftauchgerät 476
Immobilisationsmethode 513 Kampfgasexposition 300 Kriegsführung, asymmetrische 114
Impfung 284 Kampfstoffe 18 Kriegszitterer 336
improvised explosive device 7 IED – chemische 300, 570 Krisenintervention, psychologische
improvised nuclear device 551 Kanthotomie 299 339
IND 551 Kaolin 37 KSK 447
Indikatorpapiere 572 kapilläre Reperfusionszeit 167 Kühlung 498
individual first-aid kit 326, 398 Kapnometer 140 Kulissenphanömen 326
Individualmedizin 6 Kapnometrie 48, 202 Kurzwaffen 252
Inertgasnarkose 475 Kardioversion 515 Kurzwaffenmunition 263
Infektionskrankheiten 19, 560 Karotismassage 515
Infiltrationsanästhesie 331 Katastrophe 223, 232
Infrarotlicht 325
Infusionen 168
Katecholamine 166, 292, 312
Katheter
L
Infusionslösungen 177 – suprapubischer 208 Lagebeurteilung 128, 224, 239
– balancierte 181 – zentralvenöser 175 Lagefeststellung 16, 122
– hyperton-hyperonkotische 180 Kavitation Lake Louise Score 442
– kolloidale 178 – permanente 255 Laktatazidose 168
– kristalloide 178, 292, 542 – temporäre 254 Lärmbelastung 466
– warme 532 Kendrick-Extraction-Device 70 Lärmschwerhörigkeit 304
Infusionstherapie 202, 541 Kerlix 37, 158 Lärmtrauma
Inhalationstrauma 136, 289, 292 Kernkraftwerke 550 – akutes 303
– Therapie 292 Ketamin 186, 217, 311 – chronisches 304
– toxisches 292 kill zone 128 Laryngospasmus 483
initial assessment 135 Kinetose 466 Larynxmaske 145
Innenohrschema 305 Knalltrauma 303 Larynxtubus 40, 136, 145, 327
Innenohrschwerhörigkeit 304 Knochenleitungsschwelle 302 Lebensmittelhygiene 487
Insektenschutzmittel 487 Koagulopathie 168 Ledermix 330, 332
Intra-Theatre Tactical Medical – Hypothermie-induzierte 529 Leistenblutungen 161
Evacuation 59 Koblenzer Innenohrschema 306 leitender Notarzt 224
Intrinsic-plus-Stellung 284 Kochsalzlösung, hypertone 495 Leiter, organisatorischer 224
Intubation Koffein 470 Leitstelle 228
– endotracheale 136 Kohlendioxidvergiftung 476 Leitungsanästhesie 331
– Hund 350 Kohlenmonoxid 290 Lernzielstufe 95
Iodtabletten 550 Kombitubus 145 Leuchtspurgeschosse 590
Ischämieschmerz 156 Kommando Spezialkräfte 437 Levofloxacin 274
Isolation 523 Kommunikation 22 Lewisit 570, 578
itClamp 50 35 Kompartmentsyndrom 133, 204, 464, Lichtschutzfaktor 487
517 Lidocain 357
Kompressionsmethode 513 Liegendtransport 196
J Konduktion 522
Koniotomie 40, 136, 140, 163, 275,
9-Line MEDEVAC Request 60
9-Liner 60
joint operations area 59 292, 326 Lippenbremse 444
Jugularvenenstauung 152 – Durchführung 141 Lokalanästhesie 331
Junctional Emergency Treatment Tool – Hund 350 LUCIE 324
34 Kontamination 548 Luftembolie 60
Junctional Tourniquet 34, 158 Kontaminationsschutzanzug 557 Luftlanderettungsstation 57
609 I–P
Stichwortverzeichnis

Luftlanderettungszentrum 57
Luftleitungsschwelle 302
Monokelhämatom 298, 312
Morphin 214
O
Luftrettung 364 – Applikation 215 Oasentod 494
Luftrettungsstützpunkt 454 – Autoinjektoren 215 Obidoxim 576
Luftrettungssystem – Nebenwirkungen 214 Ödem 464
– militärisches 452 – Wirkung 214 Okklusivverband 41, 150
– ziviles 453 Moxifloxacin 189, 193 OLAES Modular Bandage 37
Lungenkampfstoffe 570, 579 mSTART 235 Oligurie 207
Lungenkontusion 155, 272 mSTART Trauma und Intox 236 Ondansetron 214, 467
Lungenödem 178 Mückennetze 487 Operating Base 57
– alveoläres 290 Müdigkeit 469 Operationsplan 14
– toxisches 574 Mundhöhlenentzündung 333 Opiate 214
Munition 252 Organisationsphase 223
Murphy-Tubus 144 Organisatorischer Leiter 224
M Muskelzittern 523 Organophosphate 575, 577
Oropharyngealtubus 140
MACE-Test 313 Ortsdosisleistungsmessgerät 548
Magill-Tubus 144
Malariaprophylaxe 19
N OTD-Schiene 46
Otitis externa 484
MANV 222 Nachbrennen 289, 291
MANV-Koordinationskarte 242, 419 Nachtsehfähigkeit 327
MARCH 124
Marineeinsatzrettungszentrum 57
Nachtsichtgeräte 324, 465
Nadeldekompression 152
P
MASCAL 114, 122, 222 Nagelbettprobe 167 Panzerabwehrverlegemine 591,
– Vorgehensweise 239 Narkoseeinleitung 140 598
MASS 236 narrow channel 255, 261 Paracetamol 218
mass casualty 13, 114, 122, 222 Nasopharyngealtubus 140 paralytisches Syndrom 562
Massenanfall 57, 114, 210, 222 NATO-Tourniquet 33 Parkland-Baxter-Schema 292
Master-Medic 97 Naturkatastrophe 376 Parodontitis 334
Maulsperrer 350 Neostigmin 516 Patientenablage 225, 245, 422
Mechanical Advantage Tourniquet Nervenkampfstoffe 570, 576, 577 Patientenaufnahme
33 Neuner-Regel 288 – kontrollierte 459
MEDEVAC 59, 196 Neurotoxidrom 509 – unkontrollierte 459
MEDEVAC-Anforderung 60 Neutronenstrahlung 548 Patiententransport 542
Mediastinalemphysem 276, 477 NeXsplint-Plus-Halskrause 46 Patiententransporteinheiten 60
Mediastinalflattern 149 Nichtsanitätspersonal 54 patient movement request 461
Medic 5, 97, 408 Nifedipin 446 Paul-Bert-Effekt 476
medical evacuation 59 N-Lost 570, 577 PECC 228
– Koordination 62 Noradrenalin 166, 515 PEEP-Beatmung 292
medical footprint 20 Notarzt, leitender 224 peer 342
medical timelines 231 Notfall pelvic sheeting 165, 277
medical treatment facility 20, 227 – ophthalmologischer 295 Pendelatmung 149
Membrana cricothyroidea 142 – psychischer 335 Perfusion, renale 207
Meningitis 310 – zahnärztlicher 329 Perfusionsdruck, zerebraler 310, 311
Metamizol 218 Notfallkoniotomie 40 Perikardtamponade 155, 266
METHANE-Schema 60 Notfallmedikamente periodische Atmung 438
Metronidazol 193, 274, 284 – Applikationswege 543 Peritonitis 267
Mikrozirkulationsstörung 167 – Aufbewahrungstemperatur 543 Permethrin 487
Milzbrand 563 – Diensthunde 355 PERRLA 185
Mini-Medic-System 48 Notfallsanitäter 394 personal protective equipment 121
Minirin 183 Notkompetenz 403 Pfefferspray 300
5-Minuten-Neurocheck 480 Notstand, rechtfertigender 403 Phosgen 290, 292, 570, 579
Mobilität 76 Notverband 36, 161 phosphororganische Verbindungen
Modafinil 470 NovoSeven 183 575
MOLLE-System 49 NTOA 385 Phosphorverbrennung 293
Monaldi-Position 43, 153, 201 Nuklearwaffen 551 PHTLS 55
Monitoring 47 numbing 338 Plasma 181
– erweitertes 48 Nutation 257 – gefriergetrocknetes 181
610 Serviceteil

Plasmaexpander 178 Rettung Sandwich-Methode 427


Pneumothorax 266, 347, 477 – Amok 415 Sanitätsausstattung, persönliche 36,
– offener 148 – medizinische 364 49, 326, 516
Pocken 563 – technische 73, 364 Sanitätseinsatzleitung 224
Polizei 365, 376 – vertikale 70 Sanitätsmaterial 25, 72, 326, 486
– Ausbildung 366 Rettungsdecke 523 – Aufbewahrung 542
– Erstversorgung 371 Rettungsdienst 364 – Beschaffung 25
Postexpositionsprophylaxe 563 – Ausbildung 366 – Lagerung 486
Post-Shooting-Trauma 337 – bodengebundener 364 – Nachschub 23
posttraumatische Belastungsstörung – ziviler 115, 381, 390 Sanitätspersonal 56
313, 337 Rettungsgerät, hydraulisches 81 Sarin 300, 570, 586
Prävention 383 Rettungsgriffe 65 Sauerstoff 135
Präventivmedizin 487 Rettungshubschrauber 454 Sauerstoffanreicherung 200
Prehospital Trauma Life Support Rettungskräfte 391 Sauerstofferzeuger, chemischer 204
55 – Bewaffnung 395 Sauerstoffgabe 444, 481, 533
PRIOR 236 – externe 391 Sauerstoffkonzentration, inspirato-
Prokoagulanzien 182 – interne 394 rische 463
Prolonged Field Care 203 – psychologische Belastung 587 Sauerstoffsättigung 461
ProPaq LT 48 – spezialisierte 470 Sauerstofftransportkapazität 170
Psychokampfstoffe 570 – versicherungsrechtliche Aspekte Sauerstoffvergiftung, akute 476
Psychotraumatologie 335 394 Sauerstoffvorrat 140
PTBS 204 Rettungsleitstelle 384 SAVE-Algorithmus 231, 238
Pulsoxymetrie 47, 155, 442 Rettungsmittel 64 Schädel-Hirn-Trauma 140, 185, 275,
Pupillomotorik 312 – behelfsmäßige 68 309
Purtscher-Syndrom 296 – Einteilung 65 – Definition 310
– industrielle 69 – Diagnostik 311
Rettungsmittelhalteplatz 227 – Klassifikation 310
Q Rettungssanitäter 97, 402, 411
Rettungsstation 57
– Klinik 311
– offenes 310
QuikClot 163 Rettungstrupp 56 – Pathophysiologie 311
QuikClot Gauze 39, 163 Rettungszentrum 57 – Therapie 311
Quixil 182 Rhabdomyolyse 133, 491, 497, 500 Schädeltrauma, stumpfes 304
Ring Schalldruckwelle 255
– äußerer 227 Schildkrötentaktik 392
R – innerer 225
Ringer-Acetat 178
Schlacht von Mogadishu 7
Schlafhöhe 439
Radialispuls 171 Ringer-Laktatlösung 178 Schlafstörungen, höhenbedingte 441
Radioaktivität 548 Ringer-Malat 178 Schmerzbekämpfung 185, 214, 330
Rapid-four-step-Technik 142 Ringpolster 162 Schmerzpflaster 205
rapid trauma assessment 135 ROLE Schmerztherapie 94, 204, 515
Raumordnung 225, 240, 422 – 1 54 Schnauzenbinde 346
Rautek-Griff 66 – 2 57 Schock
Ready-Heat-Decke 45, 192, 531 – 3 58 – hämorrhagischer 166, 268
Reaktion, allergische 194, 487 – 4 58 – letales Trias 168
Reanimation RollUp 70 – letale Trias 133
– kardiopulmonale 515 rotary wing 60 – Schweregrad 234
– posttraumatische 183 Rotlicht 327 – Therapie 166
Rebound-Phänomen 312 Rücklaufprobe 328 Schocklage 168
Reflexcell 45 Rucksäcke 49 Schocklunge 178
Reflex, vasovagaler 317 Schockwelle 255, 592
Regenschirmmechanismus 277 Schrot 262
Regionalanästhesie 205, 537
Reizgase 290
S Schulter-/Gamstragegriff 66
Schussverletzungen 251
remote assessment 415 SAEMT 386 – Abdomen 265
Reperfusionssyndrom 132, 133 SAFER-Modell 341 – Extremitäten 264
Restlichtverstärker 324 SALT-Algorithmus 236 – Infektion 267
Retrobulbärhämatom 163 SamSling 46 – Knochen 265
– arterielles 298 SAM-Splint 46, 147, 162 – Kopf 266
611 P–T
Stichwortverzeichnis

– Letalität 267 Spannungspneumothorax 43, 60, 119, SWAT-Team 380, 391


– temporäre Wundhöhle 165 149, 151 SWAT-Tourniquet 34
– Thorax 266 – äußerer 150 Syndrom, paralytisches 562
Schutzausrüstung 393, 548, 572, 589 – innerer 150
– Auswahl 383 Special Agent Emergency Medical
– persönliche 563, 600
– Polizei 390
Technician Program 386
Special Operations Forces Tactical
T
– spezielle 364 Tourniquet 131 Tabun 300, 570
Schutzausstattung 398 Speikobras 515 TACEVAC 59
– persönliche 120, 229 Spezialeinsatzkommando 6, 366, 390, tacSTART 236, 419
Schutzbekleidung 294 408 tacSTART-Algorithmus 237
Schutzbrille 601 Spineboard 47, 70 Tactical Combat Casualty Care 7, 55,
Schützenabwehrverlegemine 593 Spinnen 510 386, 456
Schutzhelm 312 Spiraltubus 144 Tactical Emergency Medical
Schutzweste 393, 600 Splitterladungen 593 Support 9 7 TEMS
Schweißbildung 488 – Schutz 599 tactical evacuation 59
SEAL-Team-3-Tragetechnik 66 Splitterverletzungen 165 Tactical Evacuation Care 196, 292
Sehverlust, akuter 298, 511 Splitterwolke 594 Tactical Field Care 134, 275, 417
Sehvermögen 465 Sportgetränke 495 Tactical Operations Center 60
Seiltrage 68 Spotter 585 Taucherflöhe 479
Seitenlage, stabile 119, 136 Spreizer 82 Tauchmedizin 473
SEK-Medic 97 Sprengfalle 581 Tauchunfall 481
Sekundäranschlag 230 Sprengladungen 591 Tavanic 300
Sekundärsplitter 592, 598 – projektilbildende 594, 599 Tazobac 193
Selbst- und Kameradenhilfe 5 – Schutz 598 TCCC 55, 386, 456
Seldinger-Technik 326 Sprengstoffe 270, 369 Temperaturlogger 486
Sengstaken-Blakemore-Sonde 161 – Gefährdungszone 278 TEMS 379, 390
Sepsis-Syndrom 562 – inkorporierte 278 Terroranschlag 551, 584
Serotonin 505 – militärische 583 – biologischer 560
SERVA 229 Sprengverletzungen 7 Explosions- – Erstmaßnahmen 75
Seuchen 560 verletzungen Tetanusimpfung 517
Sicherheit 122 Spürröhrchen 572 Theophyllin 292, 446
Sichtung 227 STANAG 4569 597 Thermoregulation 488, 496
– klinische 227 standard operating procedures Thoraxdrainage 43, 152, 153, 201,
– primäre 227, 233 229 203
– sekundäre 227, 233 Stand-by-Methode 390 Thoraxverletzungen 200, 266, 275
Sichtungskategorien 231 START-Algorithmus 235 – Erstmaßnahmen 41
Sichtverhältnisse, schlechte 77 Stationsausbildung 100 – Hund 351
SICK 121, 239 statische Lage 229 – penetrierende 147, 203
SICK2 MED 241 Status THREAT 415
SICK2 ORG 240 – epilepticus 357 three block war 5
SIEVE 235 – neurologischer 183 Tiefenrausch 475
Sildenafil 446 STAUSEE 204 Tiegelventil 154
simple triage and rapid treatment Stimulation, externe elektrische 515 Todesursachen 118
235 Störsender 584 Tollwut 285, 563
Simulator 104 Strahlenschaden, deterministischer Tollwutimpfung 285
Sinusitis 334 554 Tourniquet 31, 130, 156, 201, 277,
sitting duck 459 Strahlensyndrom, hämatopoetisches 411
Sked-Stretcher-System 70 554 Tourniquet-Syndrom 132, 156
Skelett, Schussverletzungen 265 Strahlung, radioaktive 548 Toxidrom 505, 574
S-Ketamin 217 Strategic Aeromedical Evacuation – hämatologisches 507
Skorpione 509 453 T-Pod 46
S-Lost 570, 577 Strategic Medical Evacuation 59 Trachealdeviation 152
SOF Tactical Tourniquet Wide 32 Stressprophylaxe 469 Tracheotomie 144
SOFTT 131 Stress, traumatischer 337 – Hund 350
soldiers heart 336 Stromverletzungen 294 – Vergiftung 511
Soman 570 Survival Bag 531 Tragemittel 423
SORT 238 Survival Blanket 531 Tragetuch 69
612 Serviceteil

Tränengas 300
Tranexamsäure 182
V Vollmantelgeschoss 259
Volumenmangelschock 276
transdermales therapeutisches System Valsalva-Manöver 465 Volumentherapie 168, 291
205 vapor barrier liner 527 Vorflug-Triage 459
Transportmittel 21 Vektorenschutz 487 Vorsichtung 227, 232
Transportpriorität 233, 234 Venenkatheter, zentraler 175 VX 570
Transportreihenfolge 62 Venenverweilkanüle 43
Trauma Verband 161
– akustisches 301
– dentales 333
Verbandstoffe 35
Verbluten 129
W
Traumatherapie 343 Verbrauchskoagulopathie 508 Waffen 252
Traumazentrum 384 Verbrennung 288 – explosionsverstärkende 271
Trennschleifer 82 – bei Kindern 293 – radioaktive 550
Triage 230, 459 – Therapie 291 Waffengeschoss 368
– Algorithmen 235 Verbrennungen 188 Warmblutspende 209
– geographische 245 Verbrennungstiefe 288 Wärmebelastung 490
– praktisches Vorgehen 238 Verbrennungstrauma 288 Wärmebildgeräte 324
Trias, letale 529 Verbrühung 288 Wärmeerhalt 45, 94
Trinkmengen 493 Verbundsicherheitsglas 81 Wärmeerhaltungssysteme 469
Trinkwasserversorgung 17 Verdünnungsazidose 178 Wärmegleichgewicht 488, 522
Trommelfellverletzung 272, 475 Verdunstung 523 Wärmeproduktion 522
Tubusfehllage 140 Verfügungsraum 422 Wärmestrahlung 523
Two-Ship-Formation 453 Vergiftung Wärmeverlust 522
Typhus 563 – Behandlung 574 warme Zone 367, 384
– durch Tiere 503 Warmluftbeatmung 532
Verletztendarsteller 105 Warmluftgeräte 532
U Verletztensammelstelle 378
Verletztenübergabe 427
WASB 183
Wasser-Elektrolyt-Haushalt 489,
Überdrucksack 444 Verletztenversorgung 123 496
Übergabepunkte 418 Verletzung Wasserversorgung 487
Übergangszone 573 – in Bereich TCCC 118 Weg des Verwundeten 5
Übernahmeverschulden 402 – thermomechanische 291 Wehrfliegerverwendungsfähigkeit
Übertriage 231 Verletzung, Definition 4 455
Überwachung 202 Verletzungsmuster 118 Weichkerngeschosse 259
– Vitalfunktionen 194 Versorgungsangebot 20 Weichteilverletzungen 277
Übungs-Verletzte 105 Versorgungsbedarf 17 Weißlicht 327
Ulkus 206 Verwundetenanhängekarte 196 Wendl-Tubus 136, 140, 326, 410
Umbrella-Mechanismus 277 Verwundetennest 227, 327 Wet Bulb Globe Temperature 490
Umgebungsfaktoren 16 Verwundetenrettung 63 Wiedererwärmung 530, 536
Umkehrbarotrauma 477 Verwundetensammelpunkt 227, 245 Wiederholungsausbildung 96
Unfall, radioaktiver 549 Verwundetentransport 21, 58, 64, 94 wind chill 468, 523, 524, 525
Unterkühlung 291 – bodengebundener 60 windshield report 223
Untersuchung – luftgebundener 22, 60, 452 Wirbelsäulenstabilisierung 46, 70
– erste 135 – qualifizierter 470 Wirbelsäulenverletzungen 275,
– körperliche 135 – Reihenfolge 62 311
Untertriage 231 Verwundetentransportmittel 62 – penetrierende 147
Urangeschosse 550 Verwundetenversorgung wound packing 158
Urin – Amok 414 Wundballistik 254, 264
– bernsteinfarbener 489 – Analgesie 214 Wundbehandlung
– bierbrauner 517 – Leitlinien 127 – Analgesie 204
– dunkelbrauner 489 – mit Nachtsichtgeräten 324 – chirurgische 292
– roter 516 – Priorität 385 – Gifttierverletzung 512
Urinausscheidung 207 – taktische 4, 55, 112, 386 Wunddébridement 7 Débridement
Urinteststreifen 500 Verwundetenzahl 240 Wundhöhle 254
Verwundung, Definition 4 – Bildung 256
Vibrationsbelastung 467 – permanente 255, 259, 264
Vipern 507 – Tamponade 37
Vollgeschoss 262 – temporäre 165, 254
613 T–Z
Stichwortverzeichnis

Wundkleber 151
Wundtamponade 37, 158
Wundversorgung 209

X
Xylocain 299

Z
zahnärztliche Notfälle 329
Zahnavulsion 333
Zahnfraktur 333
Zahnintrusion 333
Zahnschmerz 464
Zentralisation 167
Zeolith 38
Zerlegungsgeschoss 262
Zone
– gelbe 564
– grüne 564
– heiße 115, 367, 377, 384, 459
– kalte 117, 367, 377, 384
– rote 564
– warme 115, 367, 384
Zugang
– intraossärer 175, 206, 326, 352, 541
– intravenöser 174
Zweimanntragetechnik 66
Zwiebelschalenprinzip 526

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