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Dorf
(2,264 words)
1. De nition
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D. sind topographische, soziale und wirtschaftliche
1. De nition
Einheiten. In der histor. Geographie wird ein D. als
ländliche Gruppensiedlung de niert. Von einem Gut (vgl. 2. Siedlungsgeschichte
Gutsbetrieb) unterscheidet sich eine dör iche (= dör .) 3. Sozial- und
Siedlung durch ein wirtschaftsgeschichtliches Kriterium, Wirtschaftsgeschichte
nämlich durch die Existenz verschiedener Haushalte, die
ihre Entscheidungen im Kern unabhängig voneinander
tre fen. D. bildeten außerdem eine Basis für die Verankerung von Institutionen, unabhängig
davon, ob diese eher auf die Interessen der Bewohner zugeschnitten (Dorfgemeinde) oder
stärker mit Elementen von Herrschaft verquickt waren (Dorfgericht; Kirchenzucht).
Werner Troßbach
2. Siedlungsgeschichte
Die große Mehrheit der europ. D. wurde im Früh- und HochMA gegründet. Die heutige
Siedlungsverteilung in den Landschaften bildete sich jedoch erst im Verlauf der
Wüstungsperiode (Agrarkrise) im 15. Jh. heraus: Kleine Ortschaften wurden vielfach
aufgegeben oder mit größeren vereinigt, Kleingemarkungen zusammengelegt [9. 168, 178]. Mit
der Wachstumsphase des 16. Jh.s stabilisierte sich die Verteilung der Siedlungen, das Auftreten
von Nachsiedlerschichten mit kleinen Besitzeinheiten sorgte für eine Verdichtung der
Ortsbilder. Zu Neugründungen kam es in Deutschland im 17. und 18. Jh. im Zusammenhang mit
der Auswanderung franz. Protestanten (Hugenotten) oder im Kontext von
Feuchtlandkultivierungen, z. B. im Oderbruch, ähnlich wie in den niederl. Poldern oder den
engl. Fenlands.
Seit dem SpätMA waren zahlreiche D. nördl. der Alpen mit einem D.-Zaun, dem Etter [1],
umgeben, der rudimentär vor feindlichen Übergri fen schützte und das Auslaufen von Tieren
auf die Flur verhinderte. In fruchtbaren Flussebenen bzw. Weinbaugebieten wie dem Elsass
und Mainfranken waren ummauerte D. anzutre fen. Ansonsten boten bei äußerer Bedrohung /
die Kirche und ein ummauerter Kirchhof Schutz (vgl. Abb. 1) [12]. In Südfrankreich, einzelnen
dt. Mittelgebirgs-D. und in Siebenbürgen bildeten sie als Kirchenburgen seit dem SpätMA ein
wehrhaftes Ensemble.
Die Ausübung eines Handwerks war nur dort eine Alternative, wo innerdör . genügend
zahlungsfähige Nachfrage bestand – im 18. Jh. auf der Grundlage der Wirtschaftserfolge von
Großbauern z. B. in der Magdeburger Börde oder im Oldenburger Land. In Realteilungsgebieten
wie Baden und Württemberg waren dagegen im Laufe des 18. Jh.s die Handwerke ho fnungslos
überbesetzt [14. 149 f.].
Auf die vielgestaltige D.-Landschaft Englands [5. 121–127] wurde seit dem späten 15. Jh. v. a. im
Einzugsbereich des Londoner Marktes durch Enclosures Ein uss genommen. Diese sorgten
nicht nur für eine Umgestaltung der Fluren. Nach der Durchführung von Einhegungen
verstärkte sich auch die Kontrolle der großen Landbesitzer über die Ansiedlung und das
Verhalten der Tagelöhner. Im Extremfall verwischten sich die Unterschiede zwischen Gut und
/
D. An der Wende zum 19. Jh. wurden einige dieser D., v. a. wenn nur ein Eigentümer übrig
geblieben war, zu paternalistischen »Modell-D.« umgestaltet, indem – wie z. B. in Ripley in der
Grafschaft Yorkshire – für die ansässigen Landarbeiter neue, teils geräumige cottages errichtet
wurden [26. 37 f.].
Die einzelnen dör . Haushalte waren zwar rechnerisch unabhängig, aber nicht ökonomisch
autark. Dies war v. a. durch die ungleiche Landverteilung bedingt. Für die notwendigen
Anpassungs- bzw. Transferprozesse, die Versorgung mit Arbeitskräften oder
Gespannsleistungen (Anspannung, tierische), bildete »das D.« als topographische und soziale
Einheit die Grundlage.
Anders als in Russland, wo der Landbesitz unter Mitwirkung der D.-Gemeinden periodisch der
Kapazität der Haushalte angepasst wurde, konnten in West- und Mitteleuropa
lebenslaufzyklische Schwankungen (z. B. Land- und Arbeitskräfteknappheit, wenn in einem
Haus kleine Kinder zu betreuen waren) nur auf privater Basis, z. B. durch die vorzeitige bzw.
verzögerte Ausgründung von Haushalten, den Verkauf von Land oder die Einstellung von
Arbeitskräften ausgeglichen werden (vgl. Bodenmarkt) [4. 350 f.]; [17. 250–299]. Die
Stabilisierung bzw. Fixierung der ungleichen Landausstattung bedingte asymmetrische
Austauschverhältnisse, den Transfer von Arbeitskraft auf der einen und von
Produktionsmitteln wie Gespannen und Geräten (Anspannung) auf der anderen Seite. Die
Ausgleichsprozesse geschahen zwar marktförmig (Markt), waren jedoch oft von Patronage-
bzw. Klientel-Verhältnissen gesteuert, die mit Verhaltenserwartungen verbunden waren und –
wie meisterhaft für das piemontesische Santena analysiert worden ist [11. 146 f.] – von den
Haushalten der Besitzenden zum Au au lokaler politischer Macht bzw. zur dör .
Parteibildung eingesetzt wurden.
Zur Absicherung der asymmetrischen Allianzen diente das dör . Verständnis von Ehre [19. 301
f.]. Es kann als Ensemble von Selbst- und Fremdeinschätzungen umrissen werden, das
Sozialbeziehungen und Ressourcentransfers durch quasi vorgegebene Einschätzungen der
Personen planbar machte. Neben materiellen Kriterien (Geld-, Grundbesitz) spielten dabei
immaterielle Kriterien wie Verlässlichkeit und Ehrlichkeit eine Rolle. Ehre war kein statisches
Konstrukt, sondern wurde reproduziert und ggf. verändert im dör . »Gerede« [23. 265 f.],
einem stetig evaluierenden Prozess (Ö fentlichkeit), in dem dör . Hierarchien und
Erwartungen restrukturiert wurden – in Abhängigkeit allerdings von gesamtgesellschaftlichen,
durch die Konfessionen vermittelten Orientierungen.
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aufgenommen wurden, in Zentraleuropa meist im 15. und 16. Jh. Wenngleich sich
Erwerbsschwerpunkte im jeweiligen D. nicht einheitlich verbreiteten, strukturierten sie das
Zusammenwirken der Haushalte.
In einem Ackerbau-D. wie Körle bei Kassel z. B. waren bis ins 20. Jh. Gespannshilfen
(Anspannung) für die dör . Machtverteilung konstitutiv [25. 146–155]. In Orten, die – wie im
Paderborner Land – stärker von der Nutzung von Allmenden lebten, war hingegen die
Dorfgemeinde die für die Ressourcenverteilung wichtigste Institution [8. 16, 32]. Wo – z. B. in
Flandern oder dem Oberrheingebiet – der Schwerpunkt auf Sonderkulturen wie Gemüse,
Faserp anzen und Färbep anzen oder auch Wein lag, bildeten Lohnarbeits- oder Pacht-
Verhältnisse den Kern örtlicher Klientelbeziehungen, während die Abhängigkeit von
Gespannshilfen durch den Einsatz von Handgeräten auf den meist kleinen und intensiv
genutzten Flächen minimiert werden konnte [6]. In den waldreichen Gegenden Hessens,
Thüringens und Frankens waren die Menschen seit dem späten 16. Jh. zu anderen Formen der
Spezialisierung gezwungen, z. B. zur Herstellung von Körben, Besen, Peitschen, Holzschuhen
und -lö feln, die von dör . Hausierern bis nach England, Frankreich oder Russland getragen
wurden (Hausierhandel). Hinter den jeweiligen Spezialisierungen stand »nicht der einzelne
Taglöhner oder Kleinbauer, sondern eine größere Zahl von D.-Einwohnern, ja das D. selbst«
(Ländliches Gewerbe) [20. 80 f.]. Dör . Hierarchien waren in solchen Kontexten nicht auf
Land- und Gespannsbesitz aufgebaut.
Im Laufe des 19. Jh.s reduzierte sich die Vielfalt der dör . Erwerbsschwerpunkte aufgrund
regionaler Reagrarisierungsvorgänge, des Rückgangs protoindustrieller Erwerbsmöglichkeiten
und der vollständigen Privatisierung der Landwirtschaft durch Flur-Bereinigung,
Allmendeteilungen und die Ablösung von Weiderechten (Agrarreformen). Wenn vorhanden,
nahm die Bedeutung außerdör . Erwerbsarbeit in Gestalt von Pendlerverhältnissen zu [25].
Allerdings erreichte der Strukturwandel auf dem Kontinent erst im 20. Jh. die Ausmaße, die in
England durch die sich ausweitenden Enclosures an vielen Stellen bereits seit der Mitte des 18.
Jh.s in Gang gesetzt worden waren.
Werner Troßbach
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Troßbach, Werner, “Dorf”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den
Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Copyright © J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH
2005–2012. Consulted online on 14 May 2020 <http://dx-doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_COM_254733>
First published online: 2019