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Pavel Florenskij (1882-1937)

Pavel Florenskij

Die umgekehrte Perspektive


Texte zur Kunst

Aus dem Russischen


übersetzt und herausgegeben von
André Sikojev

Matthes & Seitz


Die wissenschaftliche (bibliothekarische) Transliteration ist dem Überset-
zer bekannt. Um der bestmöglichen Lesbarkeit willen w u r d e auf sie weit-
g e h e n d verzichtet. Bibelzitate folgen entweder d e r Septuaginta o d e r d e m
griechischen N e u e n Testament. Der Herausgeber

1H-H-IK 31
© 1989 Matthes & Seitz Verlag G m b H , H ü b n e r s t r . 11, 8000 München 19.
Alle Rechte bleiben vorbehalten. Herstellung u n d Umschlaggestaltung:
Bettina Best, München, u n t e r V e r w e n d u n g eines Ausschnittes aus einer
Grablegungsikone, A n f a n g 16.Jhdt. Satz: SatzStudio Pfeifer, Gräfelfing.
Druck u n d B i n d u n g : Kösel, Kempten. ISBN 3-88221-244-6
INHALT

Die umgekehrte Perspektive 7


Historische Betrachtungen 7
Theoretische Voraussetzungen 52
Auf dem Makovez 80
Das Oreieinigkeits-Sergij-Kloster und Rußland 88
Die kirchliche Liturgie als Synthese der Künste 111
Die Gebetsikonen des Hl.Sergij 126
André Sikojev «Pavel Florenskij» . . . . 157
Anmerkungen 169
DIE U M G E K E H R T E PERSPEKTIVE

Historische Betrachtungen

I.

Derjenige, dessen Aufmerksamkeit sich zum erstenmal den


russischen Ikonen des XIV., XV. und zum Teil auch des XVI.
Jahrhunderts zuwendet, wird in der Regel von den ungewöhnli-
chen perspektivischen Verhältnissen überrascht werden. Insbe-
sondere wenn es sich bei dem Dargestellten um Objekte mit ebe-
nen Flächen und geradlinigen Kanten handelt, so z. B. Gebäude,
Tische und Sessel. Vor allem aber um Bücher und insbesondere
um das Evangelium, mit welchem der Erlöser und die Heiligen
dargestellt werden. Die außergewöhnlichen perspektivischen
Verhältnisse dieser Dinge stehen im krassen Gegensatz zu den
Regeln der Perspektive und können vom Standpunkt der Letzte-
ren nur als wie grobe und ungekonnte Zeichnungen betrachtet
werden.
Bei noch genauerer Betrachtung der Ikonen ist unschwer zu
bemerken, daß auch durch gekrümmte Oberflächen begrenzte
Körper mit perspektivischen Verkürzungen dargestellt werden,
welche eigentlich durch die Regeln der Perspektive ausgeschlos-
sen sind. Sowohl bei Körpern mit gekrümmten als auch mit gera-
den Linien werden auf Ikonen nicht selten solche Teile und
Oberflächen gezeigt, die unmöglich zu sehen sein dürften. Tatsa-
chen, die leicht in jedem beliebigen Lehrbuch über die Grundla-
gen der Perspektive in Erfahrung zu bringen sind. So werden Ge-
bäude, bei normalerweise nur auf eine Fassade gerichtetem Blick,
auch noch mit den beiden Seitenwänden dargestellt. Vom Evan-

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gelienbuch sind zugleich drei oder sogar vier Außenseiten zu se-
hen. Gesichter werden mit nach vorne gewendeten Scheiteln,
Schläfen und Ohren dargestellt. Auf der Bildfläche finden sich
langgestreckte Nasenoberflächen sowie Gesichtsteile, welche
nicht zu sehen sein dürften, dazu noch weggedrehte Oberflä-
chen, die im Gegenteil nach vorne zeigen müßten. Charakteri-
stisch auch die gebeugten Rücken der Personen auf der Deesis-*
Ikone. Brust und Rücken des HL Prochor sind auf Ikonen (auf de-
nen er nach dem Diktat des Hl. Johannes in einem Buch schreibt)
— gleichzeitig dargestellt. Analog findet man andere Zusammen-
setzungen von Profil und Antlitz, Rück- und Vorderseiten usw.
In Verbindung mit zusätzlichen Seiten laufen Linien parallel und
liegen nicht auf der Fläche der Ikone. Und parallele Linien, wel-
che perspektivisch zum Bildhorizont zusammenlaufen müßten,
werden auf Ikonen ganz im Gegenteil auseinanderlaufend ge-
zeichnet. Mit einem Wort: diese und ähnliche Verletzungen der
perspektivischen Einheit des auf der Ikone Abgebildeten sind
derartig klar zu erkennen, daß ein mittelmäßiger Schüler — und
sei es im Vorbeigehen und nur aus dritter Hand über die Gesetze
der Perspektive belehrt — auf sie verweisen könnte.
Doch wie merkwürdig! Diese «ungekonnten» Zeichnungen,
die — so scheint es —jeden Betrachter in helle Wut versetzen müß-
ten, der die «offensichtlichen Ungereimtheiten» solcher Darstel-
lungen erfaßt hat, rufen im Gegenteil keinerlei ärgerlichen Ge-
fühle hervor. Sondern sie werden in ihrer Notwendigkeit ver-
standen, ja — sie gefallen sogar. Doch dessen nicht genug: wenn
es gelingt, zwei oder drei Ikonen aus derselben Periode und mehr
oder weniger derselben Schule nebeneinanderzustellen, so wird
der Betrachter mit großer Bestimmtheit auf derjenigen Ikone die
größte künstlerische Überlegenheit finden, auf welcher auch die
perspektivischen Regelverletzungen am größten sind. J e n e Iko-
nen hingegen mit einer «richtigeren» Zeichnung erscheinen eher
kalt und leblos, der näheren Verbindung zu der auf ihnen darge-
stellten Realität verlustig gegangen. Die f ü r eine unbefangene
künstlerische Auffassung viel originelleren Ikonen zeigen stets
perspektivische Mängel. Ikonen jedoch, welche die perspektivi-
sche Lehre eher zufriedenstellen, wirken langweilig und geistlos.
Wenn man sich einfach einmal erlaubt, die formalen Forderun-

* Erklärungen am E n d e des Buches.

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gen der Perspektive zu vergessen, so f ü h r t ein unvoreingenom-
menes Kunstgefühl jeden zur Anerkennung der Überlegenheit
jener Ikonen, welche die Perspektive verletzen.
Nun könnte die Vermutung auftauchen, daß unter solchen
Umständen nicht die Art und Weise der Darstellung als solche ge-
fällt, sondern die künstlerische Naivität und Ursprünglichkeit,
das Kindliche und Sorglose im Hinblick auf die Kunstfertigkeit.
Es gibt Ikonenliebhaber, die geneigt sind, Ikonen f ü r liebliches
Kinderlallen auszugeben. Doch nein: die Stärke von Ikonen gera-
de großer Meister mit schweren Regelverletzungen, bei gleichzei-
tig geringer Mißachtung derselben Regeln durch eine eigentüm-
lich große Zahl zweit- und drittrangiger Maler, f ü h r t zu der Über-
legung, ob nicht das Urteil von der Naivität der Ikone — selbst naiv ist.
Andererseits treten diese perspektivischen Regelverletzungen so
auffällig und oft auf - und ich würde sagen: derart systematisch,
hartnäckig-systematisch, daß nahezu von selbst der Gedanke von
der NichtZufälligkeit dieser Unregelmäßigkeiten aufkommt ...
die Idee eines besonderen ikonographischen Darstellungssy-
stems der Realität.
Dieser Eindruck bewußter Regelverletzungen o. g. Art wird in
hohem Maße durch die Hervorhebung der angesprochenen per-
spektivischen Verkürzungen verstärkt, — durch auf diese bezoge-
ne besondere Farbkomposition oder, wie die Ikonenmaler sagen,
die Raskryschki. Dort gleiten die Besonderheiten der Zeichnung
nicht nur nicht am Bewußtsein des Betrachters vorbei (dadurch
daß an den diesbezüglichen Stellen irgendwelche neutralen Far-
ben Verwendung finden würden oder daß mittels bekannter
Effekte gedämpft werden würde), sondern im Gegenteil! Die
Raskryschki treten gleichsam anrufend, nahezu schreiend aus dem
allgemeinen Farbhintergrund hervor. So verstecken sich bei-
spielsweise die zusätzlichen Gebäudeseiten keineswegs im Schat-
ten, sondern werden nicht selten mit leuchtenden Farben gemalt
und obendrein mit anderen als die Frontfassade.
Davon zeugt noch nachdrücklicher ein Gegenstand, welcher
darüber hinaus mit dem Ziel nach vorne drängt, das Zentrum
der Ikone zu bilden — die Heilige Schrift! Deren Seitenflächen
werden gewöhnlich mit Zinnoberrot gemalt, womit sie zu den al-
lerhellsten Stellen auf der Ikone werden, wodurch auf diese Wei-
se die zusätzlichen Flächen außerordentlich heftig hervorgeho-
ben werden. Soweit zu den Verfahren der Hervorhebung.
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Diese Verfahren erweisen sich desweiteren als bewußt einge-
setzt, so daß sie in Widerspruch zur gewöhnlichen Farbgebung
der Objekte geraten und folglich nicht als naturgetreue Nach-
ahmungen der gewöhnlichen Realität erklärt werden können.
Denn das Evangelium besitzt normalerweise keine zinnoberroten
Schnittflächen, die Seitenwände von Gebäuden werden nicht mit
anderen Farben gestrichen als die Fassaden - so ist es nicht mög-
lich, die Eigentümlichkeit ikonographischer Farbgebung nicht als
einen Versuch anzusehen, diese zusätzlichen Flächen hervorzu-
heben und ihre Verkürzungen als solche außerhalb der Perspek-
tive zu handhaben.

II.
Die genannten Verfahren tragen die gemeinsame Bezeich-
nung umgekehrte oder gewendete Perspektive, mancherorts auch als
verdrehte oder falsche Perspektive beschrieben. Doch die umge-
kehrte Perspektive erschöpft sich nicht in den verschiedenartig-
sten zeichnerischen Besonderheiten, sondern trifft auch die
Schattengebungen auf der Ikone. Als eine unmittelbare Verfah-
rensanwendung der umgekehrten Perspektive muß auch der Po-
lyzentrismus auf Ikonen bezeichnet werden. Die Zeichnung wird
so aufgebaut, als würde das Auge bei der Betrachtung verschie-
dener Teile des Bildes seinen Standpunkt verändern. Beispiels-
weise werden Teile des Gebäudes mehr oder weniger gemäß den
Forderungen der gewöhnlichen Perspektive gemalt, doch besitzt
jedes einzelne dieser Teile seinen eigenen Standpunkt, d. h. sein
besonderes Zentrum innerhalb der Gesamtperspektive — manch-
mal auch mit einem eigenen Horizont. (Andere Teile jedoch wer-
den darüber hinaus unter Anwendung der Zentral- oder Parallel-
perspektive gezeichnet.) Diese komplizierte Ausarbeitung der
perspektivischen Verkürzung findet sich nicht n u r an Gebäuden,
sondern auch bei Gesichtern — selbst wenn sie dort in der Regel
nicht mit allzu großer Konsequenz durchgeführt wird, sondern
eher maßvoll und unauffällig und deshalb hier sogar als «Fehler»
in der Zeichnung aufgefaßt werden könnte. Doch d a f ü r werden
in anderen Fällen alle schulischen Regeln mit solcher Kühnheit
beiseite geworfen, wird deren Verletzung mit solcher Macht un-
terstrichen — die entsprechende Ikone spricht jedoch so sehr für

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sich, ihre künstlerische Qualität und ihren unmittelbaren schöp-
ferischen Geschmack - , daß kein Zweifel übrigbleibt: die «fal-
schen» und sich gegenseitig widersprechenden Einzelheiten der
Zeichnung zeugen von einem komplizierten künstlerischen Plan,
den man unter Umständen vielleicht als verwegen bezeichnen
könnte, niemals jedoch als —naiv!
Was soll man z.B. zu jener Ikone des «Christus-Pantokrator»1 aus
der Risniza des Sergij-Dreieinigkeits-Klosters sagen, auf welcher
der Kopf des Erlösers nach rechts gewendet ist, seine rechte
Kopfhälfte aber eine zusätzliche Fläche aufweist, wobei die Ver-
kürzung der linken Nasenseite geringer ist, als die der rechten ...
und ähnliche Beispiele? Die Fläche der Nase ist derart deutlich
seitwärts gedreht, die Oberfläche des Scheitelbeins und der
Schläfe jedoch so auseinander gestellt-, daß man eine solche Iko-
ne mühelos f ü r untauglich erklären u n d aussondern müßte.
Wenn nicht - ungeachtet aller «Fehler» - ihre erstaunliche Fülle
und Ausdruckskraft wäre. Dieser Eindruck verstärkt sich zur Ge-
wißheit, wenn wir dort, ebenfalls im Sergij-Dreieinigkeits-Klo-
ster, auf eine andere und in Zeichnung, Übersetzung, Größe und
Farbe ähnliche Ikone desselben Typus schauen. 2 Diese Ikone
wurde ohne die oben erwähnten Abweichungen von den Regeln
der Perspektive und schulmäßig um vieles richtiger geschrieben.
Diese letztere Ikone erscheint im Vergleich zur erstgenannten
nichtssagend, ausdruckslos, flach und leblos. So daß trotz all
ihrer äußeren Übereinstimmung kein Zweifel darüber besteht,
daß die perspektivischen Regelverletzungen nicht eine tolerierte
Schwäche des Ikonenmalers offenbaren, sondern dessen grund-
legende Stärke. Eben jene Kraft, derzufolge die erste der betrach-
teten Ikonen als unvergleichlich höher zu bewerten ist als die
zweite - also die «Falsche» höher als die «Richtige».
Wenden wir uns des weiteren der ikonographischen Schatten-
gebung bzw. den Fragen des Hellduhkelkontrastes zu, so finden
wir auf den Ikonen eine eigentümliche Verteilung der Schatten.
Eine Tatsache, welche die Nichtübereinstimmung der Ikonen-

I Ikone № 23/328, X V . - X V I . J a h r h u n d e r t , G r ö ß e 32 cm x 25,5 cm, restauriert


1919, Gabe Nikita Dmitrovitsch Veljaminovs an d i e Z a r i n n e n n o n n e Olga Borisovna
im J a h r e 1525 (siehe: «Opis ikon Troize-Sergievoj Lavry», Sergiev Posad, 1920, Ver-
öffentlichungen d e r Kommission zum Schutz d e r Lavra, S. 89-90).
2. Ikone № 58/150, Größe 31,5 cm x 25,5 cm, Gabe Ivan Gregorjevitsch Nagovs
im J a h r e 1691 (siehe «Opis ikon ...», (2), S. 102-103).

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maierei mit den Forderungen der naturalistischen Malerei unter-
streicht und hervorhebt. Das Fehlen eines festgelegten Brenn-
punktes, die Widersprüchlichkeit bei der Lichtgebung der
verschiedenen Ikonenstellen, das Bemühen, Körper hervorzu-
heben, welche eigentlich abgedunkelt sein müßten, — das sind
erneut weder Zufälle noch Fehlleistungen eines Meisters des
Primitiven, sondern künstlerische Techniken, welche der ikono-
graphischen Darstellung zur Vollkommenheit verhelfen.
Zur Zahl ähnlicher Verfahren der Ikonenmalerei müssen auch
die sogenannten Rasdelki hinzugefügt werden. Es handelt sich da-
bei um Linien, welche mit einer anderen Farbe als die Raskryschki
ausgeführt werden. Am häufigsten wird Blattgold verwendet,
sehr selten auch Silber bzw. Goldfarbe. Mit dieser Hervorhebung
der Rasdelki wollen wir betonen, daß der Maler auf sie stets be-
wußt seine Aufmerksamkeit richtet, auch wenn diese Linien zu
keiner physischen Wirklichkeit in Beziehung stehen. D.h. zu kei-
nerlei analogem Liniensystem auf der Kleidung oder dem Ge-
stühl, um einige Beispiele zu nennen. Sondern sie bilden ein
System bloß potentieller Linien. Es sind Linien, die sich auf den
Aufbau der genannten Objekte beziehen, ähnlich den Linien der
elektrischen Energie oder des Magnetfeldes oder eines Systems
der Isothermik sowie sonstiger Systeme mit gekrümmten Linien.
Die Rasdelki, welche das metaphysische Schema des jeweiligen Su-
jets bzw. dessen Dynamik mit größerer Kraft als dessen sichtbare
Linien auszudrücken vermögen, sind also an und f ü r sich völlig
unsichtbar. Sie fassen nach den Vorstellungen des Ikonenmalers,
der sie erst im nachhinein auf die Ikone aufträgt, die dem Auge
gegenübertretende Gesamtheit der Ikone zusammen. Der Be-
trachter hat es mit Bewegungslinien zu tun, welche das Auge bei
der Betrachtung der Ikone bewältigen muß. Die Rasdelki bilden
das Schema des inneren Aufbaus des Abgebildeten. Wenn man
jedoch die physischen Grundlagen dieser Linien suchen würde,
so stieße man am ehesten — auf Kraftlinien und Spannungsfelder.
Mit anderen Worten: die Rasdelki stellen weniger durch Span-
nung erzeugte oder besser gesagt schon sichtbare Linien dar, son-
dern Linien einzig der Möglichkeit nach oder der Potenz. Es sind
Falten, nach denen sich z. B. Kleider legen würden, wenn man sie
jemals falten würde.
Die auf die zusätzlichen Flächen gezeichneten Rasdelki offen-
baren das Bewußtsein vom strukturierenden Charakter dieser
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Flächen und helfen so, sich nicht auf eine passive Anschauung
dieser Flächen beschränkend, das funktionale Verhältnis dersel-
ben zur Gesamtheit der Ikone zu verstehen. Und das bedeutet,
daß sie mit besonderem Nachdruck dazu beitragen, die fehlende
Unterordnung analoger perspektivischer Verkürzungen bzgl.
perspektivischer Forderungen zu verstehen.
Wir werden an dieser Stelle nicht von den zahlreichen anderen
und nebensächlichen Methoden der Ikonographie sprechen, mit
welchen diese ihre Nichtunterordnung unter die Gesetze der
Perspektive sowie darüber hinaus ihr Bewußtsein von den Per-
spektivverletzungen unterstreicht. Wir erwähnen hier nur die
Aufschriften, welche die Zeichnungen eingrenzen und deshalb
ihre Besonderheit außerordentlich unterstreichen, — die sog. Be-
lebungen, Bewegungen und Flecken, genauso auch das Weißen, Ver-
fahren, welche die Konvexität hervorheben und deshalb alle Un-
ebenheiten akzentuieren. Unregelmäßigkeiten, die eigentlich
nicht zu sehen sein dürften usw. usf. Man könnte meinen, damit
sei genug angeführt, um allen, die schon eine Ikone betrachtet
oder einen gewissen Vorrat an ikonographischer Erfahrung ge-
sammelt haben, an die NichtZufälligkeit ihres Unterschiedes ge-
genüber der Parallelperspektive zu erinnern und darüber hinaus
— an die ästhetische Fruchtbarkeit solcher Regelverletzungen.

III.
Und jetzt, nach diesen Vorbemerkungen, steht die Frage nach
Sinn und Gesetzmäßigkeit solcher Verletzungen vor uns. Das
heißt mit anderen Worten: vor uns erhebt sich die diesem Pro-
blem verwandte Frage nach den Anwendungsgrenzen und dem
Sinn der Perspektive (also der Zentral- bzw. Parallelperspektive).
Drückt diese Perspektive tatsächlich — wie das ihre Anhänger be-
haupten — die Natur der Dinge aus und muß sie deshalb stets und
überall als eine bedingungslose Voraussetzung künstlerischer
Wahrhaftigkeit angesehen werden? Oder ist sie bloß ein Schema
und noch dazu eines unter einer Anzahl möglicher Schemata, das
nicht einem umfassenden Weltverständnis entspricht, sondern
bloß einer Deutung der Welt unter anderen, verbunden mit einer
ganz bestimmten Weltanschauung und einem definierten Welt-
empfinden? Oder anders: ist die Perspektive, die perspektivische
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Darstellung der Welt, die perspektivische Deutung — das echte,
aus der Wirklichkeit der Welt entströmte Abbild? Ist sie das wah-
re Wort der Welt? Oder handelt es sich bloß um eine besondere
Orthographie, um eine von vielen Konstruktionen? Konstruktio-
nen, die charakteristisch sind f ü r die den Epochen entsprechen-
den Weltanschauungen, die sie hervorgebracht haben? Und die
mit dieser Perspektive ihren eigenen Stil zum Ausdruck gebracht
haben, ohne dabei andere Orthographien und andere Systeme
der Transkription auszuschließen? Orthographien, die mit ande-
ren Welterfahrungen und den Stilarten anderer Epochen in Be-
ziehung stehen?
Ist es des weiteren möglich, daß es sich dabei um Transkriptio-
nen handelt, die stärker mit der Wirklichkeit verbunden sind,
und daß die Verletzungen jener perspektivischen Regeln genau-
so viel oder wenig die künstlerische Wahrheit einer Darstellung
verletzen, wie grammatische Fehler im Brief eines Heiligen die le-
bendige Wahrheit verletzen, welche durch seine Erfahrungen
wiedergegeben werden?
Um diese Frage zu lösen, soll zuallererst historische Auskunft
gegeben werden. Konkret: zeigen wir auf historischem Wege, in-
wiefern tatsächlich Darstellung und Perspektive nicht voneinan-
der zu trennen sind.
Babylonische und ägyptische Flachreliefs tragen keine An-
zeichen der Perspektive — wie übrigens auch keine der im ei-
gentlichen Sinne so zu nennenden umgekehrten Perspektive. Der
Polyzentrismus der ägyptischen Darstellungen ist bekannt und
außerordentlich berühmt, vor allem aber innerhalb der ägyp-
tischen Kunst kanonisiert. Allseits bekannt ist die Darstellung von
Gesicht und Füßen im Profil bei gleichzeitiger Drehung der
Schultern und der Brust auf ägyptischen Reliefs und Fresken.
Doch auf jeden Fall fehlt ihnen die Parallelperspektive. 3 Außer-

3. Es existiert im übrigen die Ansicht, nach welcher die Darstellungen von hinter-
einander stehenden Soldaten o d e r Pferden, wenn sie sich auf einer Linie senkrecht
zur Bewegungsrichtung selbst bewegen, als Keime d e r Perspektive angesehen
werden müssen. Natürlich, es handelt sich tatsächlich um eine Art Projektion militä-
rischen, axionometrischen o. ä. Typs, eine Projektion aus einem unendlich weiten
Zentrum. U n d diese besitzt eigenständige B e d e u t u n g ais solche. Siejedoch als irgend-
einen Keim anzusehen, d. h. als unvollständig begriffene Perspektive, bedeutet zu
vergessen, daß jedwede Darstellung dem Wesen nach eine hergestellte Entspre-
c h u n g ist u n d daß viele Darstellungen im Wesen' Projektionen sind, jedoch keine
perspektivischen - und desto weniger Keime d e r Perspektive oder - auf d e r a n d e -

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dem weist die erstaunliche Wahrheitskraft der Porträts und Gen-
redarstellungen ägyptischer Skulpturen auf die gewaltige Beob-
achtungsgabe der ägyptischen Künstler hin. Es wäre darum völlig
unverständlich, warum — vorausgesetzt, daß die perspektivischen
Regeln tatsächlich wesentlich zur Wahrheit der Welt gehören, wie
es ihre Anhänger behaupten - , warum also das scharfe Auge des
ägyptischen Meisters die Perspektive nicht bemerkt hat, bzw. sie
nicht bemerkt haben sollte. Denn andererseits besaßen, wie der
berühmte Mathematikhistoriker Moritz Cantor bemerkt hat, die
Ägypter schon damals die geometrischen Voraussetzungen per-
spektivischer Darstellungen. Sie wußten insbesondere von der
geometrischen Proportionalität und waren diesbezüglich schon
so weit vorgedrungen, daß sie wo nötig in der Lage waren,
Vergrößerungen oder Verkleinerungen des Maßstabes durchzu-
führen.
«Ist es aus diesem Grunde nicht verwunderlich, daß die Ägyp-
ter nicht den nächsten Schritt taten und die Perspektive eröffne-
ten? Wie bekannt, existiert in der ägyptischen Malerei nicht die
Spur derselben. Auch wenn man religiöse oder andere Grundla-
gen für sie Findet, bleibt es beglaubigte geometrische Tatsache,
daß die Ägypter keine Verfahren benutzten, um die Malfläche als
zwischen dem Auge des Betrachters und dem dargestellten Ge-
genstand befindlich zu verstehen und mittels Linien den Schnitt-
punkt dieser Fläche mit jenen Strahlen zu verbinden, die auf
diesen Gegenstand gerichtet sind.» 4
Die von Moritz Cantor im Vorbeigehen fallengelassene Bemer-
kung von den religiösen Voraussetzungen der perspektivischen
Darstellungsweise der Ägypter verdient alle Beachtung. Tatsäch-

ren Seite - Keime d e r ungekehrten «Perspektive» usw. Es ist a n z u n e h m e n , d a ß die-


jenigen, die sich mit solchen Fällen beschäftigen, nicht genug Aufmerksamkeit auf
die mathematische Seite des Problems wenden. W o d u r c h alle V e r f a h r e n der Dar-
stellungen - u n d das sind unzählige - bei ihnen unterteilt werden in richtige (also
perspektivische) u n d falsche (also perspektivlose). Abgesehen davon, daß die Rich-
tigkeit einer Darstellung nichts mit An- oder Abwesenheit perspektivischer Technik
zu tun hat, — verlangt die ägyptische Tradition der Darstellung besondere A u f m e r k -
samkeit, denn dort überwogen die f ü h l b a r e n E m p f i n d u n g e n über den visuellen.
Welchen T y p d e r E n t s p r e c h u n g zwischen d e n Punkten des Darzustellenden u n d
der Darstellung die Ägypter verwendeten — ist eine ü b e r a u s schwierige Frage u n d ist
bis zum heutigen T a g e o h n e eine befriedigende Antwort geblieben.
4. Moritz Cantor, Vorlesungen über Geschichte d e r Mathematik, Bd. 1, Leipzig
' 9 0 7 , 3 . Auflage, S. 108.

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lieh erhielt die ägyptische Kunst eine strenge kanonische Gestalt
und formte sich im Laufe von tausend Jahren zu unverbrüchli-
chen kanonischen Formeln. Vielleicht geschah dies aufgrund
ihrer innersten Bedeutung, welche sich eng an Sinn und Bedeu-
tung der Hieroglyphen anlehnte. Insbesondere, da die ägypti-
sche Schrift sich ihrerseits noch nicht allzuweit von der metaphy-
sischen Widerspiegelung der Realität entfernt hatte. Es versteht
sich hier von selbst, daß die ägyptische Kunst bald keinerlei Neue-
rungen bedurfte und sich so nach und nach in sich selbst ver-
schloß. Die perspektivischen Verhältnisse — wenn sie denn be-
merkt worden sind — konnten nicht in den selbstgezogenen Zirkel
des Kanons der ägyptischen Kunst eingelassen werden. Das Feh-
len der Perspektive bei den Ägyptern und (wenn auch in einem
anderen Sinne) bei den Chinesen, weist eher auf eine f r ü h e Reife
und sogar eine Überreife ihrer überaus alten Kunst hin, als auf
eine kindliche Unerfahrenheit derselben.
Die Befreiung von der Perspektive bzw. die ursprüngliche
Nichtanerkennung ihrer Macht — die f ü r den Subjektivismus und
Illusionismus, wie wir bald sehen werden, charakteristisch ist —
vollzieht sich um einer religiösen Objektivität und transpersonalen Me-
taphysik willen. Denn wenn andererseits die religiöse Stabilität des
Weltverständnisses und die heilige Metaphysik des allgemeinen
Bewußtseins eines Volkes sich zu rein individualistischen Be-
trachtungen Einzelner von vereinzelten Standpunkten aus zersetzt —
und darüber hinaus zu einzelnen Standpunkten in je einzelnen
Zeitmomenten - , dann stoßen wir auch auf die f ü r ein uneinheit-
liches Bewußtsein charakteristische Zentralperspektive.
Zu betonen ist weiterhin, daß die Perspektive zuerst nicht in der
reinen Kunst erschien, welche doch ihrem innersten Wesen nach
stets mehr oder weniger metaphysisch ist, sondern in der ange-
wandten Kunst, als ein Moment des Dekorativen, welches sich
nicht die Wahrheit der Wirklichkeit, sondern die Glaubenswürdigkeit des
Anscheins zur Aufgabe macht.
Bemerkenswert, daß es Anaxagoras war, jener Anaxagoras,
der sich bemüht hatte, die einst selbständigen Gottheiten Mond
und Sonne als glühende Steine zu erklären und statt einer göttli-
chen Schöpfung einen zentrifugalen Wirbel annahm, aus wel-
chem die Sterne hervorgekommen seien, welchem Vitruvius die
Erfindung der Perspektive zuschreibt. Und zwar erfolgte diese
innerhalb der von den Alten sogenannten Skynographie, das
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heißt innerhalb der Theaterdekoration. Als Aischylos, nach dem
Zeugnis des Vitruvius,5 etwa gegen 470 vor Christus in Athen
seine Tragödien a u f f ü h r t e und der bekannte Agapharchos ihm
dazu die Dekorationen schuf (und über selbige ein Traktat
schrieb), haben eben Anaxagoras und Demokrit sich eben aus
diesem Grunde veranlaßt gesehen, dieses Fach — die Dekorations-
malerei — wissenschaftlich zu beschreiben.
Ihre Fragestellung lief letztlich darauf hinaus, wie auf einer
Fläche unter Annahme eines bekannten Fluchtpunktes Linien zu
legen seien, damit die vom Auge auf diesen Punkt gerichteten
Strahlen mit jenen Strahlen übereinstimmen, welche vom Auge
(welches sich stets am selben Platz befinden muß) zu den entspre-
chenden Punkten des Gebäudes selbst führen. Und zwar derart,
daß das Abbild des echten Gegenstandes auf der Netzhaut voll-
ständig mit demjenigen der Dekoration zusammenfällt, welche
denselben Gegenstand darstellte.
Deutlich wird, daß die Perspektive nicht innerhalb der reinen
Kunst entstanden ist und ihrer allerersten Aufgabe nach nicht die
lebendige künstlerische Wahrnehmung der Wirklichkeit zum
Ausdruck gebracht hat. Sondern daß sie im Bereich der ange-
wandten Kunst erdacht worden ist, auf dem Gebiet der Theater-
technik. Wobei sie die Malerei zu ihrem Dienst herangezogen und
sie für ihre Zwecke dienstbar gemacht hat. Stimmen deren Auf-
gaben nun aber mit den Aufgaben der reinen Kunst überein?
Diese Frage bedarf wohl keiner Antwort! Denn die Malerei hat
nicht die Aufgabe, die Wirklichkeit zu kopieren, sondern viel
eher ein tieferes Verständnis ihrer Architektur und Materials so-
wie ihrer Bedeutung zu gewähren. Und das Verständnis ihrer
Bedeutung und des Materials der Wirklichkeit samt ihres Auf-
baus — wird dem betrachtenden Auge des Künstlers durch eine
lebendige Berührung mit der Realität selbst gewährt, durch ein Le-
ben und Fühlen innerhalb dieser Realität. Im Gegensatz dazu will
doch die Theaterdekoration die Wirklichkeit mit ihrem Schein
vertauschen — so gut es eben geht.

5. Vitruvius Pollio, De architectura libri decem, V I I I , pret. 11.


Dasselbe finden wir in d e r Vita des Aischylos. Doch nach d e m Zeugnis des Aristote-
les in seiner Poetik Bd. 4 bot Sophokles ersten Anlaß zur Szenographie. Doch dies wi-
derspricht sich nicht, d e n n man m u ß daran denken, daß Sophokles um vieles natu-
ralistischer war als Aischylos und so vielleicht auch stärker illusionistische Dekoratio-
nen anstrebte.

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Die Ästhetik dieses Scheins gründet auf dem inneren Zusam-
menhang ihrer Elemente, nicht jedoch auf dem symbolischen
Austausch von Urbild und Abbild, der mittels künstlerischer Ver-
fahren und Techniken verwirklicht wird. Die Dekoration ist
ihrem Wesen nach — Täuschung, wenn auch eine schöne. Die
reine Kunst wird (oder will zumindest) die Wahrheit des Lebens
darstellen, kein vertauschtes Leben, sondern einfach symbolisch
bezeichnetes Leben in seiner tiefsten Realität. Die Dekoration
jedoch gleicht einer Spanischen Wand, die das Licht der Wirk-
lichkeit verbirgt — die reine Malerei hingegen einem sperr-
angelweit geöffneten Fenster zur Realität. Für den realistischen
Verstand eines Anaxagoras oder Demokrits konnte es eine dar-
stellende Kunst als ein Symbol der Realität nicht geben — und war
auch nicht vonnöten. Wie f ü r jedes «Wanderertum» der Seele —
man gestatte mir aus dieser kleinen Erscheinung des russischen
Lebens eine historische Kategorie zu machen —, so verlangten
auch sie nicht nach der Wahrheit des Lebens, welche die Erkennt-
nis ermöglicht, sondern suchten äußerliche Ähnlichkeit. Sie such-
ten das f ü r die naheliegenden Lebensfragen pragmatisch Nützli-
che und nicht die schöpferischen Grundlagen des Lebens selbst.
Ihnen ging es um die Imitation der Oberfläche.
Bis dahin wurde die griechische Szene durch «Bilder und Stof-
fe» 6 bestimmt — jetzt spürte man das Bedürfnis nach Illusionen.
Und siehe: unter der Voraussetzung, daß der Zuschauer oder der
jeweilige Dekorateur wahrhaftig wie die Gefangenen der platoni-
schen Höhle an die Theaterbank gefesselt und nicht in der Lage
ist, ein unmittelbares und lebendiges Verhältnis zur Realität zu
gewinnen (und das eigentlich auch nicht soll), so als ob er durch
eine gläserne Scheibe von der Szene getrennt sei und nur ein ein-
ziges, unbewegliches Auge besäße, und ohne je bis zum lebendi-
gen Leben durchdringen zu können, ausgestattet mit einem para-
lysierten Willen, so als ob die Existenz eines begrenzten Theaters
selbst die willenlose Betrachtung der Szene als etwas «Unwahres»
und «Unwillkürliches» verlangte, gleich irgendeinem billigen Be-
trug —, unter diesen Voraussetzungen, behaupte ich, erstellten
die ersten Theoretiker der Perspektive Regeln zur Täuschung
des Theaterzuschauers.

6. G. Emichen, Das griechische u n d römische T h e a t e r , Übers, von 1.1. Semenov,


Moskau 1894, S. 160-161

18
Anaxagoras und Demokrit tauschten den lebendigen Men-
schen gegen einen gleichsam mit Curare vergifteten Zuschauer
ein und lieferten dann‫־׳‬die Regeln zum Betrug desselben. Jetzt
wird es deutlich, daß die bekannten Verfahren perspektivischer
Darstellung der Wirklichkeit ihren Sinn darin haben, die Ulusio-
nierung eines solchen kranken Zuschauers zu ermöglichen, wel-
cher noch dazu den größten Teil seiner allgemein menschlichen
Eigenschaften verloren hat.
Aus all dem folgt, daß wir es als erwiesen betrachten können,
daß also auch in Griechenland die Perspektive spätestens seitdem
V. J a h r h u n d e r t vor Christus bekannt war. Wenn sie dann den-
noch in diesem oder jenen Fall nicht benutzt worden ist, so folgt
daraus, daß dies ganz und gar nicht aus Unkenntnis ihrer Voraus-
setzungen geschah, sondern aus irgendwelchen anderen und tie-
feren Gründen. Vor allem aber aufgrund von Überzeugungen,
die auf einer höheren Gesetzmäßigkeit der reinen Kunst gründeten. Ja,
es wäre geradezu unwahrscheinlich und absurd, angesichts der
hohen mathematischen Bildung und entwickelten geometrischen
Beobachtungsgabe der geübten Augen der alten Meister, diesen
zu unterstellen, sie hätten die dem gewöhnlichen Sehen eigen-
tümliche Perspektivität der Welt nicht bemerkt oder wären nicht
in der Lage gewesen, diese Tatsache entsprechend den Theore-
men der elementaren Geometrie auf einfache Weise anzuwen-
den. Es fällt sehr schwer, daran zu zweifeln, daß sie die Regeln der
Perspektive nicht anwendeten, weil sie dies einfach nicht wollten
und weil sie diese f ü r überflüssig und unkünstlerisch hielten!

V.
Tatsächlich diskutierte Ptolomäos in seiner «Geographie» 7
(2. Jh.v.Chr.) eine kartographische Projektionstheorie der Erde
und untersuchte in seinem Werk «Planiglobium» mehrere Mög-
lichkeiten der Projektion. Es ging ihm in der Hauptsache um das
Problem einer Projektion von den Polen aus auf die Äquatorial-
ebene (d. h. genau jene Projektion, welche seit 1613 die stereogra-
phische genannt wurde) überdies löste er noch andere schwierige
Fragen der Projektion. 8

7. Claudius Ptolomaeus, Γεωγραφική Ξφίγησις, siehe: Μ. C a n t o r , - i d . (5), Bd. 1.,


S.123

19
Kann man sich denn vorstellen, daß bei einem solchen Wissens-
stand die einfacheren Verfahren der Perspektive unbekannt
gewesen sein sollen? Und tatsächlich, dort wo wir es nicht mit der
reinen Kunst zu tun haben, sondern mit dekorativen Illusionen
zur täuschenden Erweiterung des Theaterraumes oder zur Zer-
störung der Flächen der Zimmerwände, stoßen wir sogleich auf
die zu diesem Zweck angewandte Zentralperspektive.
Insbesondere ist das in jenen Fällen zu beobachten, in denen
das Leben sich von seinen tieferen Quellen entfernt und in den
flachen Gewässern eines seichten Epikurismus seinen Fluß ge-
f u n d e n hatte, in der Atmosphäre oberflächlicher Bürgerlichkeit
«griechischer Menschlein» (graecolorum) — wie sie von ihren Zeit-
genossen, den Römern, spöttisch genannt wurden. Ein Men-
schenschlag, der die Tiefen des Nous eines griechischen Genius
verloren hatte und unfähig war, den großartigen und die gesamte
bewohnte Welt umfassenden Schwung der moralisch-politischen
Gedanken des römischen Volkes zu erlangen. Hierzu zählen die
elegant-geistlosen Malereien in den Häusern Pompeijs wie auch
architektonischen Dekorationen der Pompeijschen Villen. 9
Der vor allem aus Alexandrien und den anderen Zentren der
hellenistischen Kultur des I. und II. Jahrhunderts nach Rom im-
portierte Barock der Alten Welt gab sich rein illusionistischen
Aufgaben hin und strebte danach, einen mehr oder weniger f ü r
unbeweglich angesehenen Zuschauer zu täuschen. Architektoni-
sche und Landschaftsmalereien dieser Art mögen im Hinblick
auf ihre Nichtrealisierbarkeit innerhalb der Wirklichkeit viel-
leicht unsinnig erscheinen, 10 nichtsdestoweniger wollen sie den

8. N. A. Rynin, Natschertalejnaja geometrija, Metody isobraschenija, Petrograd


1916. (Darstellende Geometrie. Methoden d e r Darstellung)
9. Zahlreiche Reproduktionen griechisch-römischer Landschaftsarchitektur
(Photos u n d Zeichnungen) samt archäologischen U n t e r s u c h u n g e n zu diesen Land-
schaften lassen sich in dem sehr detaillierten Buch von M. Rostovzev, Ellenistitsches-
ko-rimskij architekturny peisasch, St. Petersburg 1908 finden. Doch leider widmet
sich die Arbeit Rostovzevs in keiner Weise den historisch-künstlerischen u n d wiss.-
künstlerischen Fragen des Problems - u n d ebenso wenig den Problemen des Raums
innerhalb der griechisch-römischen Landschaft...
10. Im übrigen «wurde die Frage nach d e r griechisch-römischen architektoni-
schen Landschaftsmalerei, ihren U r s p r ü n g e n und i h r e r Geschichte, ihrer Realität
oder Phantasie bis heute kein einziges Mal ernsthaft gestellt. Mich persönlich hat sie
schon lange Zeit beschäftigt, seit den ersten T a g e n meiner Bekanntschaft mit den
Pompeijern. Mir ist schnell klar geworden, daß das Maß des Phantastischen in d e r

20
Zuschauer betrügen, gleichsam mit ihm spielen und ihn verspot-
ten. Manche Einzelheiten sind so naturalistisch wiedergegeben,
daß sich der Betrachter nur mit Hilfe seines Tastsinns von der op-
tischen Täuschung zu überzeugen vermag. Diesen Eindrücken
entspricht eine meisterhafte Schattentechnik, die in Abhängig-
keit von der jeweiligen Lichtquelle (Fenster, Deckenöffnungen,
Türen), die das Zimmer erleuchteten, angewendet w u r d e n . "
Mit größter Aufmerksamkeit ist auch die Tatsache zu würdi-
gen, daß sich auch von dieser illusionistischen Landschaftsmale-
rei erneut Verbindungslinien zur Architektur des griechisch-rö-
mischen Bühnenbilds12 ziehen lassen. Die Wurzel der Perspektive
Findet sich - im Theater. Nicht nur aufgrund der historisch-tech-
nischen Tatsache, daß das Theater als allererstes die Perspektive
benötigte, sondern auch Kraft einer viel tieferen Ursache: des
Szenischen innerhalb einer perspektivischen Darstellung der
Welt. Darin besteht nun aber auch das Leichte einer Weltan-
schauung, die das Gefühl f ü r Realität und Verantwortung verlo-
ren hatte. Für sie ist das Leben nicht mehr Tat, sondern bloße
Vorstellung. Und deshalb — kehren wir nach Pompeij zurück —
fällt es schwer, inmitten dieser Malereien echte Werke reiner
Kunst zu finden.

Landschaftsmalerei Pompeijs außerordentlich begrenzt ist und sich insgesamt im


R a h m e n illusionistischer Darstellung hält... Der T e r m i n u s «Phantastische Archi-
tektur» ist an sich völlig unverständlich: Einzelheiten ornamentischen Charakters
k ö n n e n von d e r Phantasie eingeflößt sein, die V e r b i n d u n g e n d e r Motive mögen
willkürlich o d e r ungewöhnlich sein, doch sind die Motive u n d d e r allgemeine Cha-
rakter sind überaus realistisch... U n t e r s u c h u n g e n von diesem S t a n d p u n k t aus ver-
mochte u n d vermag eine Reihe unerwarteter u n d wichtiger Resultate zu liefern - es
w u r d e die V e r b i n d u n g zwischen dieser «phantastischen» Architektur und der Archi-
tektur des griechisch-römischen T h e a t e r s deutlich, - u n d künftige Forschungen
werden diesbezüglich noch mehr verdeutlichen. Zumal jetzt, wo in Kleinasien ein
echtes hellenistisches Architekturdenkmal nach dem a n d e r e n freigelegt wird. U n d
es werden Resultate sich zeigen, wie ich sie mit meinen Untersuchungen d e r Archi-
tektur auf Pompeijschen Landschaftsmalereien gezeitigt habe. Denn hier scheint
alles, im viel größeren Maße als in der architektonischen Dekoration, realistisch u n d
überliefert die T y p e n d e r realen hellenistischen Architektur. Für die reine Phanta-
sie gibt es hier noch weniger Platz, als in d e r Architektur der Pompeijschen Wände.»
(Rostovzev, id. (10), S. IX-X. des Nachworts). Der Autor verbindet diese Land-
schaftsmalerei mit den Ansichten römischer Villen, den ägyptischen Landschaften
usw.
11 Alexander Benois, Istorija Schivopisij, St. Petersburg 1912, S. 41 u. a. (Die Ge-
schichte d e r Malerei)
12. siehe (10)

21
Tatsächlich läßt die technische Gewandtheit dieser Hausdeko-
rationen vor allem die Kunsthistoriker 13 nicht vergessen, daß wir
hier «bloß die Produktionen virtuoser Handwerker und nicht
echter und vom Geist bewegter Künstler» vor uns haben. Dassel-
be gilt f ü r die entsprechenden Landschaften, die als Hintergrund
auf den Sujetmalereien zu sehen sind und «stets mit großer Ge-
nauigkeit» ohne großen zeitlichen Aufwand und gekonnt ent-
worfen worden sind. «Ob auf diese Weise auch die berühmten
Malereien der Klassik angefertigt wurden - bleibt fraglich!» 14
Diese letzteren nämlich litten «an mangelnder Ähnlichkeit im
Hinblick auf die perspektivischen Aufgaben, an welche die
Künstler scheinbar ausschließlich auf dem Erfahrungswege her-
angegangen» sind - so z. B. Benois. Die große Frage bleibt: be-
deutet dies, daß die Gesetze der Perspektive den Alten Griechen
tatsächlich nicht bekannt gewesen sind? «Stoßen wir nicht» — fragt
Benois — «auch in der heutigen Zeit auf dieselbe Unkenntnis von
der Perspektive als Wissenschaft? Gar nicht fern scheint die Zeit,
in der wir auch in diesen Fragen die <byzantinischen> Ungereimt-
heiten erreichen und die Unfähigkeiten und Ähnlichkeiten der
späten klassischen Malerei hinter uns lassen. Vielleicht darf man
aus diesem Anlaß die Kenntnis der Gesetze der Perspektive bei
den Generationen von Künstlern infrage stellen, die uns voran-
gegangen sind.» 15
Tatsächlich kann man anhand der teilweise auftretenden Un-
genauigkeiten bei der Realisierung der Perspektive in späterer
Zeit die Anfänge jenes Zerfalls der Perspektive wahrnehmen, der
bald darauf im Mittelalter sowohl im Westen als auch im Osten
seinen Anfang nahm. Doch mir scheint, daß diese perspektivi-
schen Ungenauigkeiten einen Kompromiß zwischen den eigentli-
chen dekorativen Aufgaben illusionistischer Malerei — und den
synthetischen Aufgaben reiner Kunst darstellt. Denn man darf
nicht vergessen, daß das lebendige Haus — und sei es auch ein
noch so untätiges - trotz allem kein Theater war und daß seine
Bewohner nicht derart an ihren Platz gefesselt waren wie ein
Theaterzuschauer.
Wenn die Wandmalereien irgendeines byzantinischen Hauses
in allen Details den Regeln der Perspektive gefolgt wären, gleich-
13. Benois, id. (12), S.45
14. Id., S.45/46
15. Id., S.43, A n m . 2 4

22
sam auf Täuschung und spielerischen Scherz aus, so wäre dies
einzig unter der Voraussetzung erreicht worden, daß der Be-
trachter stehen und sich außerdem auf einem streng festgelegten
Platz im Zimmer befinden würde. Im Gegensatz dazu würde
sonst jede seiner Bewegungen und umso mehr ein Wechsel des
Standortes das widerliche Gefühl einer mißglückten Täuschung
oder eines entlarvten Tricks hervorrufen. Und um eben jene gro-
ben Verletzungen der Illusion zu vermeiden, entsagte der Deko-
rateur einer bedingungslosen Abhängigkeit im Hinblick auf je-
den einzelnen Standpunkt und benutzte deshalb eine gewisse
synthetische Perspektive. Er erreichte gewissermaßen eine unge-
fähre Lösung der Aufgabe hinsichtlich jedes einzelnen Standpunk-
tes, bezog sich aber dafür auf den gesamten Raum des Zimmers.
Bildlich gesprochen: er nahm Zuflucht zum temperierten Auf-
bau eines Tasteninstruments, der im Hinblick auf die verlangte
Genauigkeit — vollkommen ausreichte. Darüber hinaus entsagte
der Dekorateur zu Teilen auch einer Kunst bloßer Nachahmung
und betrat, wenn auch in sehr geringem Maße, den Weg einer
künstlerischen Darstellung der Welt. D. h. der Dekorateur wan-
delte sich im geringen Maße zum Künstler. Doch ich wiederhole:
den Künstler in ihm vermag man nicht deshalb zu erkennen, weil
er sich teilweise (und zwar zu einem sehr großen Teil) an die Re-
geln der Perspektive hielt, sondern weil er sich — und nur deshalb
- von dieser entfernt hatte.

VI.
Beginnend mit dem Anfang des IV. J a h r h u n d e r t nach Chri-
stus verfällt der Illusionismus und die perspektivische Darstel-
lung verschwindet aus der Malerei. Es läßt sich eine deutliche
Nichtbeachtung der Regeln der Perspektive erkennen. Es fehlt
die Aufmerksamkeit gegenüber den proportionalen Verhältnis-
sen einzelner Gegenstände untereinander und teilweise sogar in-
nerhalb einzelner Dinge selbst. Dieser Zerfall der spätantiken
und ihrem Wesen nach perspektivischen Kunst vollzog sich mit
außerordentlicher Geschwindigkeit und vertiefte sich darüber
hinaus mit jedem Jahrhundert, einschließlich der Frührenais-
sance. Die Meister des Mittelalters «hatten keinerlei Vorstellung
mehr vom Linien verlauf zu einem Punkt hin oder von der Bedeu-
23
tung des Horizonts. Es scheint, als hätten die späten römischen
und byzantinischen Künstler niemals Gebäude in natura gese-
hen, als hätten sie nur Dinge mit flächigen, spielzeugartigen
Schnitten gekannt. Über die Proportionen machten sie sich ge-
nausowenig Sorgen — und im Laufe der Zeit immer weniger und
weniger! Es existierte keinerlei reelles Verhältnis zwischen der
Größe der Figuren und derjenigen der Gebäude, die f ü r jene
Figuren bestimmt waren. Zu all dem muß noch hinzugefügt
werden, daß mit den Jahrhunderten sogar in Detailfragen eine
wachsende Entfernung zur Realität zu bemerken ist. Desweiteren
kann man die verschiedensten Parallelen zwischen der wirklichen
Architektur und der architektonischen Malerei noch in den Dar-
stellungen des VI. und VII. Jahrhunderts, ja bis hinein ins X. und
XI. J a h r h u n d e r t feststellen. Doch von da an behauptete sich in
der byzantinischen Kunst der merkwürdige Typ einer *Gebäude-
malerei‫׳‬, in welcher sie willkürlich und veränderlich ist».16
Diese Charakterisierung der mittelalterlichen Malerei entnah-
men wir der «Geschichte der Malerei» von A. Benois. Jedoch nur
— weil uns das Buch unter die Hände kam. Denn aus diesen Kla-
gen Benois' sind unschwer all jene schon allzulange ertragenen
Schmähungen der mittelalterlichen Kunst herauszuhören ... Ins-
besondere die Klagen über das «Übersehen» der Perspektive ver-
mag man in jedem beliebigen Buch über die Theorien der Kunst
nachlesen, mit den üblichen Verweisen auf die Darstellung von
Häusern «mit drei Seiten» wie sie Kinder malen, auf die «Kon-
ventionalität» der Farben, auf die zum Horizont auseinanderlau-
fenden Parallelen, die fehlende Proportionalität und den allge-
meinen Hinweisen auf die verbreitete Unwissenheit.
Zur Vollständigkeit einer solchen Charakterisierung des Mittel-
alters muß hinzugefügt werden, daß die Lage im Westen aus
demselben Blickwinkel nicht besser war, sondern eher um vieles
schlechter: «Vergleichen wir das, was sich ungefähr im X. Jahr-
hundert in Westeuropa abspielte, mit dem, was zu selben Zeit in
Byzanz vor sich ging, so erweist sich letzteres demgegenüber auf
dem Höhepunkt seiner künstlerischen Verfeinerung und hand-
werklichen Pracht.» 17 Bei einem solchen Verständnis von Byzanz
versteht sich das Resümee Benois' und der meisten anderen von

16. Id., S.70


17. Id., S.75

24
selbst. Fast scheint es gleichgültig, so oft schon langweilte es durch
ungezählte Wiederholungen, Hand in Hand mit den noch pene-
tranteren Rufen der Kulturhistoriker vom «dunklen Mittelalter».
Ein Resümee, welches zu vermelden weiß, daß die «Geschichte
der byzantinischen Malerei mit all ihren Schwankungen und zeit-
lichen Aufschwüngen die Geschichte eines Zerfalls sei, der Ver-
wahrlosung und des Sterbens. Daß die Darstellungen der Byzan-
tiner sich immer mehr vom Leben entfernten und ihre Technik
immer sklavischer, traditioneller und handwerklicher» wurde. 1 8
Das aufklärerische Schema der Geschichte der Kunst und der
Welt ist seit eh unverändert dasselbe geblieben und (bekannter-
maßen mit der Renaissance anhebend und bis heute unverändert
beibehalten) darüber hinaus außerordentlich einfach. Und
diesem zugrunde liegt der unerschütterliche Glaube an den
Wert, die endgültige Vollkommenheit und - um es so auszudrük-
ken — den Kanon der bürgerlichen Zivilisation der zweiten Hälfte
des XIX. Jahrhunderts, der gleichsam ins Metaphysische geho-
ben wurde. Gemeint ist die kantische, wenn auch nicht direkt von
Kant übernommene Orientierung. Wahrlich, wenn man über-
haupt jemals von einem ideologischen Überbau auf ökonomi-
schen Basisformationen sprechen sollte, dann hier an den Kul-
turquellen des XIX. Jahrhunderts. Wo blind an die Absolutheit
d ü n n e r Bürgerlichkeit geglaubt wurde und wo die gesamte Welt-
geschichte nach der Nähe ihrer Erscheinungen zu den Erschei-
nungen der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts bewertet
wurde.
So auch die Geschichte der Kunst: Alles, was der Kunst jenes
J a h r h u n d e r t s ähnelte oder ihr nahekam, wurde als positiv be-
wertet, alles andere jedoch galt als - Verfall, Unwissenheit und
Verwilderung. Bei einer solchen Bewertung werden die verzück-
ten Lobeshymnen verständlich, die sich nicht selten von den Lip-
pen ehrwürdiger Historiker ergossen: «ganz und gar modern»,
«besser konnte man es damals auch nicht machen» — wobei auf
irgendeine Jahreszahl Bezug genommen wird, die der Zeit des
Historikers selbst nahelag. Tatsächlich existiert bei diesen Gegen-
wartsgläubigen ein unerschütterliches und volles Vertrauen in
ihre Zeitgenossen. Ähnlich jenen Provinzialisten der Wissen-
schaft, die zutiefst davon, überzeugt sind, daß die endgültige

18. Id., S.75

25
Wahrheit einer Wissenschaft in diesem oder jenen Buch zugrun-
degelegt worden sei.
So wird es verständlich, warum der Übergang der antiken
Kunst von den Heiligtümern der ältesten Zeit hin zur Vermitt-
lung des Schönen bis hin zum Gefühlsmäßigen und schließlich
Illusionistischen, solchen Historikern als Fortschritt erscheint. Das
Mittelalter hingegen war in Wirklichkeit entschieden von den
Aufgaben der Illusionierung getrennt und stellte sich nicht die
Herstellung von Ähnlichkeiten zum Ziel, sondern suchte Symbo-
le der Realität — und erschien somit als Verfallszeit. Und schließ-
lich wird die Kunst der Neuzeit, die ihren Anfang in der Renais-
sance nahm und entschlossen daranging, die errichteten Symbole
auszutauschen, durch eine stillschweigende Übereinkunft auf
einer breiten Straße bis zum XIX. J a h r h u n d e r t herangeführt.
Diese Kunst erscheint den Historikern unbestreitbar als sich ver-
vollkommnend. «Wie sollte dies etwas Schlechtes sein, wenn es
doch mit unbestreitbarer innerer Logik bis zu uns führt, zu mir?»
so etwa lautet der geheimste Gedanke unserer Historiker: wollten
wir diesen wenig zimperlich ausdrücken.
Und sie sind mit ihrem Bewußtsein einer solch geradlinigen
Verbindung zutiefst im Recht — einer Verbindung, die darüber
hinaus nicht n u r äußerlich-historischen Charakter trägt, sondern
auch einen inneren und logischen. Es handelt sich um eine trans-
zendentale Verbindung zwischen den Sendungen der Renaissan-
ce und dem Lebensverständnis der jüngsten Vergangenheit
selbst. Genauso wie sie mit ihren Empfindungen zutiefst im Recht
waren, daß zwischen der letztgenannten Weltanschauung und
den Voraussetzungen des mittelalterlichen Menschen vollste
Nichtübereinstimmung besteht.
«Es fehlt jedwedes Raumverständnis!» Das ist die Summe aller
in formaler Hinsicht gegen die Kunst des Mittelalters vorge-
brachten Einwände. Und dieser Vorwurf bedeutet letztlich, daß
keinerlei räumliche Einheit zu finden sei. Es fehlten die Schemata
des euklid-kantischen Raumes, die innerhalb der Verfahren der
Malerei zur Linearperspektive und zur Proportionalität geführt
hatten. Genauer gesagt: zu einer einzigen Perspektive, denn die
Fragen der Proportionalität bilden nur einen Teil derselben.
Desweiteren wird wie selbstverständlich und, was das Schlimm-
ste ist, unbewußt — ja gleichsam von irgendwem und irgendwo
nachgewiesen — angenommen, daß in der Natur selbst keinerlei
26
Formen existieren. Es existieren keine, in einer eigenen Welt le-
benden Formen. Und zwar auf grund der Annahme, daß sowieso
keinerlei Realität existiere, die in sich selbst ihr Zentrum habe und
deshalb eigenen Gesetzen unterworfen ist. Es wird angenommen,
daß aus diesem Grunde alles Sichtbare und Erfaßbare einzig blo-
ßes Material zur Auffüllung irgendeiner allgemeinen Kategorie
sei, die auf jenes ihr Ordnungsschema lege. Eine Ordnung, wie
sie der kantisch-euklidische Raum darstellt. Und daß folglich alle
Formen der Natur im Grunde genommen scheinbare Formen
sind, ein charakterloses und indifferentes Material, das erst noch
durch ein wissenschaftliches Denkschema überdeckt werden
muß. D.h. wir haben gleichsam einen Gitterkäfig des Lebens vor
uns - nicht mehr! Und schließlich gilt jene primär-logische Vor-
aussetzung von der qualitativen Gleichartigkeit, Unendlichkeit
und Grenzenlosigkeit des Raumes, von dessen (um es anders zu
sagen) Formlosigkeit und Nichtindividualität.
Es fällt nicht schwer zu erkennen, daß diese Voraussetzungen
sowohl den Menschen als auch die Natur leugnen, auch wenn sie
der Geschichte zum Spott in Losungen wurzeln, welche sich «Hu-
manismus» und «Naturalismus» nannten. Und die sich dann zu den
formalen Ideen von «Menschenrechten und vom Naturrecht»
wandelten.
Es ist jetzt nicht an der Zeit, den Zusammenhang zwischen den
süßen Wurzeln der Renaissance und den bitteren Früchten Kants
darzulegen, geschweige denn, ihn zu erläutern. Es ist zur Genüge
bekannt, daß der Kantianismus seinem Pathos nach eine Ver-
tiefung der humanistisch-materialistischen Weltanschauung
der Renaissance darstellt. Und von seinen Tiefen und seinem
Maßstab her, das Selbstbewußtsein jenes historischen Hinter-
grundes repräsentierte, welcher sich als «neue europäische Bil-
dung» verstand und sich nicht grundlos noch bis vor kurzem
seiner faktischen Herrschaft rühmen konnte. Doch haben wir in
jüngster Vergangenheit gelernt, die scheinbare Endgültigkeit je-
ner Voraussetzungen zu durchschauen und erkannten wissen-
schaftlich-philosophisch und nicht zuletzt historisch-jedoch ins-
besondere im Künstlerischen, — daß all das, womit man uns vom
Mittelalter abgeschreckt hat, von diesen Historikern selber er-
dacht worden ist. Und wir haben begriffen, daß im Mittelalter ein
tiefer und reichhaltiger Fluß einer wirklichen Kultur geflossen
ist.
27
Es war eine Kultur mit einer eigenen Wissenschaft, einer eigenen
Kunst, eigenen Staatsordnungen und letztlich mit allem, was einer
Kultur eignet — vor allem aber mit einer eigenen und darüber hin-
aus einer an die Wahrheit angelehnten Antike! Und jene Voraus-
setzungen, welche innerhalb der Lebensauffassung der Neuzeit
als unerschütterlich gelten, wurden dort wie auch im Altertum
(ja auch im Altertum!) nicht nur f ü r nicht unantastbar angesehen,
sondern sogar abgelehnt. Und dies nicht aufgrund mangelnden
Bewußtseins, sondern im Zuge wesentlicher Willensbestrebun-
gen.
Das Pathos des neuzeitlichen Menschen gründet in seinem ste-
tig sich Losreißen von aller Realität, damit das «ich will» erneut
gesetzgeberisch über einer zu bauenden, phantasmagorischen
Wirklichkeit walte, selbst wenn diese in einem Käfig eingesperrt
ist. Im Gegensatz dazu bestand das Pathos sowohl des antiken wie
auch des mittelalterlichen Menschen in der Annahme und dank-
baren Anerkennung und Bestätigung jedweder Realität als eines
Gegebenen. Denn das Dasein — war eine Gabe und ein Gut — das
Sein. Dieses Pathos des Menschen des Mittelalters vollzog sich in
der Begründung der Realität außerhalb und innerhalb ihrer
selbst und war so — objektiv. Der Subjektivismus des neuzeitlichen
Menschen aber wird durch den Illusionismus charakterisiert. Im
Gegensatz dazu lag den Absichten und Gedanken des mittelalter-
lichen Menschen nichts ferner als die Schaffung von «Ähnlichkei-
ten». Für den Menschen der Neuzeit — entnehmen wir sein
offenherziges Bekenntnis den Lippen der Marburger Schule -
existierte die Wirklichkeit nur dann und solange, wie und in wel-
chem Maße sich die Wissenschaft herabließ, dieser die Existenz zu
gewähren. Diese Erlaubnis wurde in Gestalt eines abgefaßten
Schemas herausgegeben und dieses Schema glich einer juristi-
schen Fallentscheidung, worauf die gegebene Erscheinung dann
in Gänze in das vorbereitete Koordinatensystem des Lebens ein-
gehen d u r f t e und auf diese Weise zulässig war. Es wurde so ein
Patent auf die Wirklichkeit behauptet - das in der Kanzlei Her-
mann Cohens waltete, ohne dessen Stempel und Unterschrift sie
als unwirklich galt.
Das, was bei den Marburgern offen verlautbart wurde — faßt
den Geist der Renaissancegedanken zusammen. Und so ist die ge-
samte Geschichte der Aufklärung in der Hauptsache mit dem
Krieg gegen das Leben selbst befaßt, mit dem Ziel, es völlig im
28
System seiner Konstruktionen zu ersticken. Nahezu lächerlich ist
die Tatsache, daß der neuzeitliche Mensch diese Entstellung und
Zerstörung seiner zutiefst menschlichen Fähigkeit zu denken und
zu fühlen, diese Umerziehung im Geiste des Nihilismus mit aller
Kraft als Rückkehr zur Natur und als Beseitigung irgendwelcher
und von irgendwem ihm auferlegter Widersprüche ausgibt. Wo-
bei er sich wahrhaft bemüht, von der menschlichen Seele alle
Schriftzeichen der Geschichte abzukratzen und ihm auf diese
Weise die Seele selbst zu durchlöchern.
Der antike und mittelalterliche Mensch hingegen wußte vor
allem, daß man um zu Wollen - dasein mußte. Real dasein mußte
und darüber hinaus inmitten der Realitäten, auf die es sich zu
stützen galt; er war zutiefst realistisch und stand mit beiden Fü-
ßen hart auf der Erde. Und zwar nicht wie der moderne Mensch,
der einzig mit seinen Bedürfnissen rechnet und wenn es nötig ist,
die naheliegendsten Mittel zu ihrer Verwirklichung bzw. Befrie-
digung einsetzt. Von hier aus wird klar, warum zu den Vorausset-
zungen einer realistischen Lebensauffassung stets folgende Tatsa-
chen zählten und zählen werden:
Es existieren Zentren der Wirklichkeit als Zentren des Daseins, es
gibt Verdichtungen dieser Realität, die ihren Gesetzen unterlie-
gen und deshalb jede ihre eigene Form besitzen. Es kann daher
nichts innerhalb des real Vorhandenen geben, das als ein unter-
schiedsloses und passives Material zur Auffüllung von welcherlei
Schemata auch immer angesehen werden könnte. Und das umso
weniger zum euklid-kantischen Raum gerechnet werden darf!
Aus allen diesen Gründen müssen diese Formen gemäß ihrem
eigenen Leben erfaßt werden, sich durch sich selbst gemäß dieser
Erkenntnis darstellen - und nicht mittels Verkürzungen später
hinzugefügter Perspektiven. Und schließlich gilt: der Raum
selbst ist weder ein vereinzelter, gleichförmiger und unstruktu-
rierter Raum noch eine einfache Katagorie. Sondern er ist selbst
— ursprünglich Realität, durch und durch organisiert, nirgendwo
indifferent und noch dazu im Besitz einer inneren O r d n u n g und
eines inneren Aufbaus.

29
VII.
So kann die Frage, ob «Perspektive oder nicht», innerhalb der
Malerei einer ganzen Epoche keineswegs als unwichtig angese-
hen werden. Umso weniger, als es sich nicht um eine Frage von
Können oder Nichtkönnen handelt. Dieses Problem liegt um vie-
les tiefer, und zwar in jenen Wurzeln des Bewußtseins, die den
schöpferischen Impuls in diese oder jene Richtung weisen.
Meine These lautet — und wir werden noch öfters zu ihr zurück-
kehren —, daß in jenen historischen Perioden künstlerischen
Schaffens, in denen die Verwendung der Perspektive nicht zu
beobachten ist, die Schöpfer der darstellenden Kunst die Per-
spektive keineswegs «nicht beherrschten», sondern sie einfach
nicht benutzen wollten. Oder genauer ausgedrückt: sie wollten
andere Prinzipien der Darstellung benutzen als die der Perspek-
tive. Und sie wollten diese deshalb anwenden, weil sie als Genies
ihrer Zeil die Welt auf eine Art und Weise fühlten und verstan-
den, die in sich auch diese Verfahren der Darstellung mit ein-
schloß.
Im Gegensatz dazu vergaß man in anderen Epochen den Sinn
und die Bedeutung der nichtperspektivischen Darstellung. Und
man verlor die Verbindung zur selbigen deshalb, weil das Lebens-
verständnis der Zeit sich vollkommen gewandelt hatte — inner-
halb einer Weltanschauung, die inzwischen zur bekannten Zen-
tralperspektive auch auf der Weltkarte geführt hatte. Und in
diesem wie auch in jenem Vorgang findet sich eine j e eigene Fol-
gerichtigkeit, eine zwingende und im wesentlichen sehr elemen-
tare Logik. Doch wenn diese nicht sofort und schnell zu größter
Stärke gelangte, so geschah das nicht aufgrund ihrer immanen-
ten Kompliziertheit, sondern aufgrund der zweideutigen
Schwankungen des Zeitgeistes zwischen zwei sich gegenseitig aus-
schließenden Selbstbestimmungen.
Denn letztlich existieren nur zwei Weisen, die Welt zu erfahren.
Die allgemeinmenschliche Erkenntnis und die sogenannte ideali-
stisch-«wissenschaftliche» Erkenntnis. So wie es auch nur zwei
Möglichkeiten der Beziehung zum Leben selbst gibt — eine innere
und eine äußere oder wie in dieser Hinsicht auch zwei Kulturtypen
existieren: den anschaulich-schöpferischen und den räuberisch-
mechanistischen Typus. Die ganze Frage läuft auf eine Wahl zwi-
schen diesem oder jenen Weg hinaus. Doch obwohl sich inner-
30
halb der Geschichte diese Kulturstreifen leicht reihen lassen, sind
sie nicht mit einem Mal voneinander abzuheben. Sondern sie exi-
stieren in entsprechenden Epochen des Geistes oft in unbestimm-
baren Zustand ineinander fort — des einen schon überdrüssig, oh-
ne das Nächste schon zu wagen.
Ohne uns jetzt schon in die Frage nach dem Sinn der Ver-
letzung der Perspektive zu stürzen (— um später mit größerer
seelischer Überlegenheit zur Untersuchung dieses Problems zu-
rückzukehren -), sei jetzt an die Tatsache der mittelalterlichen
Malerei erinnert, daß die Regelverletzungen der Zentralperspek-
tive hier nicht zu bestimmten Zeiten auftauchen, sondern mal
hier, mal da und überdies trotzdem bestimmten Systemen unter-
worfen sind. Zum Beispiel laufen sich entfernende Parallelen
zum Horizont hin stets auseinander und das umso stärker, j e mehr
der Gegenstand hervorgehoben werden soll, der von ihnen ein-
gegrenzt wird. Wenn wir erkennen, daß wir es bei den Besonder-
heiten der ägyptischen Reliefs nicht mit Zufällen zu tun haben,
sondern mit einer künstlerischen Methode — denn diese Beson-
derheiten treten nicht ein- oder zweimal auf, sondern tausend-
und zehntausendfach und also absichtlich - , so kann analog
geschlossen werden, daß die der mittelalterlichen Kunst eignen-
de Verletzung der Perspektive ebenfalls Methode ist.
Ja, selbst psychologisch scheint es unvorstellbar, daß herausra-
gende und großartige Menschen, daß Erbauer der eigenen Kul-
tur im Verlaufe von mehreren J a h r h u n d e r t e n nicht in der Lage
gewesen sein sollen, eine solch elementare und unbestreitbare
und nahezu sich selbst besingende Tatsache zu erkennen, wie das
Zusammenlaufen von Parallelen am Horizont.
Wem das aber noch nicht hinreichend erscheint, dem soll noch
Folgendes gesagt sein: Kinderzeichnungen erinnern im Hinblick
auf ihre Nichtperspektivität und insbesondere in Bezug auf die
sog. umgekehrte Perspektive sehr lebhaft an die Malereien des
Mittelalters — ungeachtet aller Bemühungen von Pädagogen, den
Kindern die Regeln der Parallelperspektive beizubringen. Und
nur durch den Verlust einer unmittelbaren Beziehung zur Welt
verlieren die Kinder auch die umgekehrte Perspektive und be-
fleißigen sich des ihnen auferlegten Schemas. So verhalten sich
unabhängig voneinander alle Kinder. Und das bedeutet, daß es
sich hierbei nicht um irgendeinen Zufall handelt und nicht um
die Erfindung irgendeines «Byzantiners», sondern um eine Me-
31
edlen Säfte des Mittelalters und selber noch kein Naturalist,
e r f u h r er doch schon den allerersten Morgenduft des Naturalis-
mus und wurde so zu dessen Künder. Als Vater der modernen
Landschaftsmalerei trat Giotto mit einem «das Sehen täuschen-
den Verfahren» zur Darstellung von Architektur auf. Und mit
einem f ü r seine Zeit ungewöhnlichen Erfolg löste er schwierige
perspektivische Aufgaben. Die Historiker bezweifeln Kenntnisse
Giottos in den Regeln der Perspektive. Ist diese Einschätzung
richtig, so wäre damit erwiesen, daß ein von innerer Suche nach
der Perspektive geführtes Auge diese nahezu sofort entdeckt,
wenn auch noch nicht in deutlicher Gestalt.
Denn Giotto machte nicht nur keine groben Fehler, sondern im
Gegenteil: er spielte nahezu mit der Perspektive. So stellte er sich
selber schwierige Aufgaben u n d löste sie dann scharfsinnig und
vollständig. Zum Beispiel laufen bei ihm sich zum Horizont hin
entfernende Linien an einem Punkt zusammen. Und dessen
nicht genug: es zeigt sich an den Fresken der Franziskus-Kirche
in Assisi, daß Giotto damit begonnen hat, der Wandmalerei «ir-
gend eine selbständige Bedeutung zu geben, gleichsam als einer
Rivalin der Architektur.» Die Freske ist dort «nicht mehr
Wandschmuck in Gestalt eines Sujets», sondern «ein Ausblick
durch eine Wand hindurch auf allerlei Handlungen.» 2 1
Es ist wichtig zu bemerken, daß Giotto zu diesem, für seine Zeit
doch sehr mutigen Verfahren zurückgekehrt ist und daß auch al-
le seine Nachfolger äußerst selten darauf zurückgegriffen haben.
Zu einer Zeit, als eine entsprechende Architektur allgemeine Re-
gel wurde (also im XV. Jahrhundert), und das XVI. und XVII.
Jh. zur Technik des Mittelpunktes innerhalb der Architekturma-
lerei absolut flächiger und einfacher Räume führte, die
jedoch jedweder realen architektonischen Ausschmückung ent-
behrten. 2 2
Wenn also der Vater der modernen Malerei später nicht mehr
zu ähnlichen Verfahren griff, dann geschah dies nicht, weil er
dieselben nicht kannte. Sondern weil das n u n m e h r erstarkte
(d. h. das im Bereich der reinen Kunst gewachsene) künstlerische
Genie sich der trügerischen Perspektive entfremdet oder sich zu-
mindest von ihrer Aufdringlichkeit entfernt hatte. So wie sich
20. I. T e n , Putischestvie v Italju, Moskau 1916, S.87/88 (Reise nach Italien)
21. Benois, id. (11), Bd.I.,S.100
22. Id., Bd.l.,S.100

34
auch allem Anschein nach sein rationalistischer Humanismus
später gemildert hatte.

IX.
Doch wovon ging Giotto aus? Oder mit anderen Worten, woher
nahm er seine Fähigkeit, die Perspektive zu gebrauchen? Histori-
sche Analogien bzw. das innerste Wesen derselben im Rahmen
der Malerei verraten uns die schon bekannte Antwort. Sobald der
bedingungslose Theozentrismus suspekt geworden war und
neben der Musik der Sphären die Musik der Erde erklang (ich
meine damit «an die Erde» im Sinne der Selbstbestätigung des
menschlichen «Ich»), nahm auch das Bestreben seinen Anfang,
an die Stelle einer inzwischen getrübten und vernebelten Reali-
tät - das Ähnliche und das Trugbild zu setzen und an die Stelle
der Theurgie eine illusionistische Kunst bzw. an die Stelle göttli-
cher Handlungen — das Theater.
Verständlich die Annahme, daß Giotto Geschmack und Ge-
wöhnung an der perspektivischen Täuschung des Sehens durch
die Theaterdekoration fand. Einen Präzedenzfall ähnlicher Art ent-
deckten wir schon in den Ausführungen des Vitruvius über die
A u f f ü h r u n g der Aischylos-Tragödien und der Beteiligung des
Anaxagoras an diesen. Mit dem Übergang von der Theurgie zum
weltlichen Sehen, dem in Griechenland die folgerichtige Entwick-
lung vom Mystischen zu einer fixierten Realität des Mysteriums
mittels Tragödien — zuerst Aischylos, danach Sophokles und
schließlich Euripides, entsprach - erschienen in der Entwicklung
des Theaters der Neuzeit Mysterien, welche im Endergebnis zur
Auslöschung des neuen Dramas führten. Den Kunsthistorikern
scheint es erwiesen, daß sich die Landschaftsmalereien Giottos
tatsächlich aus der Dekorationstechnik der damals sogenannten
«Mysterien» entwickelt haben. Und aus diesem Grunde war er
nicht in der Lage (fügen wir unsererseits hinzu), auf die Verfah-
ren illusionistischer Dekoration und somit auf die Perspektive zu
verzichten.
Um nicht den Eindruck zu erwecken, bar j e d e r Grundlage zu
reden, will ich meine Beobachtungen mit dem Urteil eines mir
geistesfremden Historikers untermauern: «Welcher Art war nun
die Abhängigkeit der Landschaftsmalerei Giottos von den Deko-
35
rationen des Theaters?» — fragt sich A. Benois, um selbst zu ant-
worten: «An manchen Stellen offenbarte sich diese Abhängigkeit
in so starkem Maße (in Gestalt winziger «Requisiten»: Häuser und
Pavillions, kulissenartiger, flacher, wie aus Karton ausgeschnitte-
ner Felsen), daß über den Einfluß von A u f f ü h r u n g e n religiöser
Schauspiele auf seine Malerei kein Zweifel bestehen kann. Auf
einigen seiner Fresken sehen wir aller Wahrscheinlichkeit nach
sogar direkt fixierte Szenen aus diesen Stücken. Doch es muß ge-
sagt werden, daß in zweifellos Giotto zuzurechnenden Bildern
diese Abhängigkeit im Laufe der J a h r e immer weniger zum
Ausdruck kommt und wenn, dann jedesmal in einer entspre-
chend den Bedingungen der Monumentalmalerei überarbeite-
ten Form.» 23 Mit anderen Worten: der wie jeder große Künstler
gereifte Giotto entfernte sich kontinuierlich von der Dekorations-
malerei, die sowieso kaum völlig gleichartig war. Die Neuerung
Giottos war folglich nicht die Perspektive als solche, sondern die
Verwendung dieser Verfahren in der Malerei. Verfahren, die aus
der angewandten und profanen Kunst entlehnt worden waren,
ähnlich wie Petrarca und Dante die einfache volkstümliche Spra-
che in die Poesie übertragen haben.
Aus all dem folgt letztlich, daß das Wissen, oder zumindest die
Fähigkeiten, diese Verfahren der Perspektive zu nutzen, im Sin-
ne einer «geheimen Wissenschaft von der Perspektive» 24 - so
Albrecht Dürer — schon längst existiert hat. Und möglicherweise
schon immer unter denjenigen Künstlern existiert hatte, die Deko-
rationen f ü r religiöse Schauspiele hergestellt haben, auch wenn
die Malerei im strengen Sinne sich dieser Verfahren versagt hat.
Ist es tatsächlich nicht möglich, daß die Perspektive unbekannt
gewesen war? Das ist schwer vorstellbar. Insofern die «Elemente
der Geometrie» Euklids f r ü h bekannt gewesen sind. Schon Dürer
beginnt das erste Buch seines Traktats «Unterweisung der Mes-
sung» 25 , das 1525 herausgekommen ist und Belehrungen über
23. Benois, id., Bd.I.,S. 107/108
24. Aleksej Mironov, Albrecht D ü r e r - e g o schisnj i chudoschestvennaja dejatelj-
nostj, Moskau 1901, S.375 (Utschenie Sapiski Imperatorskogo Moskovskogo Uni-
versiteta. Otdel istoriko-philologitscheskij Nr. 31)
25. Underweisung der Messung mit dem Zirkel u n d Richtscheyt in Linien ebnen
u n d gantzen C o r p o r e n d u r c h Albrecht Dürer zusamen getzoge und zu nutz alle
kunst liebhabenden mit zugehörigen Diguren in truck gebracht im jar. MDXXV.
Gedruckt zu N u r e m b e r g im 1525jar. — Außer dieser Ausgabe e r f u h r d e r Titel nicht
weniger als f ü n f Nachauflagen.

36
die Perspektive enthält, mit Worten, die klar den geringen Neuig-
keitswert der Perspektivtheorie im Rahmen der elementaren
Geometrie belegen. Geringen Neuigkeitswert im Bewußtsein der
damaligen Zeitgenossen: «Der tiefsinnige Euklid hat die Grund-
lagen der Geometrie gelegt», schreibt Dürer, «und f ü r denjeni-
gen, der mit denselben gut bekannt ist, ist das hier Geschriebene
überflüssig.» 26
Also war die elementare Perspektive seit alters her bekannt,
auch wenn sie keinen Zugang zur hohen Kunst der Zeiten gehabt
hatte. Doch in dem Maße, wie sich die religiösen Weltanschau-
ungen des Mittelalters säkularisierten, verwandelten sich die rein
religiösen Handlungen — zu Mysterienstücken des Theaters, die
Ikone aber — zum sogenannten religiösen Bildwerk, in welchem
das religiöse Sujet immer mehr und mehr zum Vorwand f ü r die
Darstellung des menschlichen Körpers oder einer Landschaft
dienen mußte. Von Florenz aus verbreitete sich die Woge dieser
Verweltlichung. In Florenz findet sich die Schule Giottos und ver-
breitete sich von dort aus wie eine Schreibvorlage — hier liegt der
Ursprung der naturalistischen Malerei.
Giotto selbst und nach ihm Giovanni da Milano, besonders aber
d'Avanzo, erstellten schwierige Konstruktionen der Perspektive.
Es ist sicher, daß sich diese künstlerischen Erfahrungen entspre-
chend der Tradition an das Werk Euklids und Vitruvius' anlehn-
ten und sich so in das Fundament eines theoretischen Systems
einbetteten, in welchem das Studium vollständig und stichhaltig
ausgearbeitet bereitstand. Jene wissenschaftlichen Grundlagen,
welche nach einem J a h r h u n d e r t der Ausarbeitung «die Kunst
Leonardos und Michelangelos» hervorbrachten, sind in Florenz
entdeckt und ausgearbeitet worden.
Uns sind die Werke zweier Theoretiker jener Zeit verloren
gegangen: Paolo del Abacco (1366) und des um einiges älteren
Biacco da Parma. Doch ist es gut möglich, daß diese beiden im
wesentlichen jenen Boden bereitet haben, auf welchem mit dem
Beginn des XV. Jahrhunderts die wichtigsten Theoretiker der
Lehre von der Perspektive gearbeitet haben; 2 7 Filippo Brunelles-
chi (1376-1446) und Paolo Uccello (1397-1475), sodann Leone
Alberti, Piero della Francesca (1420-1492) und schließlich jene
26. Mironov, Id. (24), S.380, A n m . l
27. Auf Russisch existieren einige dieser Traktate in dem Buch von Allesch, Re-
naissance v Italij, Moskau 1916 (Die Renaissance in Italien)

37
Reihe von Bildhauern, von denen besonders Donatello zu erwäh-
nen ist. Der starke Einfluß dieser Wissenschaftler findet seine Ur-
sache in der Tatsache, daß sie nicht nur theoretisch die Regeln der
Perspektive erarbeitet haben, sondern ihre Erkenntnisse in der il-
lusionistischen Malerei verwirklicht haben. Solche Wandmale-
reien in Gestalt von Denkmälern sind gekennzeichnet durch das
gewaltige Wissen über die Perspektive, wie z.B. der Dom von Flo-
renz. Er wurde von Uccello und 1435 von Castagno ausgemalt.
Hierzu zählen auch die dekorativen Fresken Andrea del
Castagnos (1423-1457) in St. Apollino von Florenz. Ihr ganzer
strenger Schmuck: die Steine des Fußbodens, die Kessony, Roset-
ten und Platten an der Decke - sind mit solch aufdringlicher Klar-
heit nur zu dem Zweck verwendet, um einen vollständigen Tiefe-
neindruck (wir würden heute sagen einen «stereoskopischen») zu
erreichen. Und dieser Eindruck wird in einem solch hohen Maße
erreicht, daß die gesamte Szene im hellen Licht den Eindruck ir-
gend einer G r u p p e aus irgendeinem Panoptikum macht — es ver-
steht sich von selbst: «eines genialen Panoptikums» ...28 wie es un-
gewollt bissig ein Anhänger der Renaissanceperspektive bemerk-
te. Auch Piero hinterließ eine Anweisung f ü r die Perspektive un-
ter dem Titel «De perspectiva pingendi». Leone Battista Alberti
(1404—1472) entwickelte in seinem dreibändigen Werk «Von der
Malerei», niedergeschrieben 1446 und in Nürnberg 1511 ge-
druckt, die Grundlagen der neuen Wissenschaft und illustrierte
ihre Anwendung in der Architekturmalerei.
Masaccio (1401-1428) und seine Schüler Benozzo Gozzoli
(1420-1497) sowie Fra Filippo Lippi (1406-1469) strebten da-
nach, innerhalb der Malerei eben jene Wissenschaft anzuwenden.
Bis schließlich sich Leonardo da Vinci (1452-1519) theoretisch
und praktisch an die Probleme machte und Raffaelo Santi (1483—
1520) sowie Michelangelo Buonarotti (1475—1546) die Entwick-
lung der Perspektivtechnik zu ihrem vorläufigen Abschluß
brachten.

X.
Ich möchte jetzt nicht länger die einzelnen Etappen der theore-
tisch-maltechnischen Entwicklung der Perspektive innerhalb der
unserer Zeit vorausgehenden Geschichtsepoche skizzieren. Und
28. Benois, id. (11), Bd.I.,S.381

38
dies umso weniger, als das Studium der Perspektive vorrangig in
die Hände von Mathematikern übergegangen ist und sich den
unmittelbaren Interessen der Kunst entfremdet hat. Vieles des
hier kurz Angemerkten hatte nicht den Zweck, allgemein bekann-
te historische Fakten als solche mitzuteilen. Es ging u m etwas
anderes: an die Kompliziertheit und Dauer dieser Entwicklung
zu erinnern, die erst mit Lambert im XVII. J a h r h u n d e r t abge-
schlossen war und sich mit den Arbeiten Lorias, Ascieries und
Enricos in Italien, Chaliats und Poncelets in Frankreich, Staudes,
Fiedlers und Kupfers sowie Burmeisters in Deutschland und
schließlich Wilsons u.a. in Amerika in Gestalt einer Abteilung der
Darstellenden Geometrie in das allgemeine wissenschaftliche
Flußbett ergossen hat. Ich spreche von der außerordentlich wich-
tigen und weiten Disziplin der Projektionsgeometrie.29
Hieraus folgt: wie sehr wir auch die Perspektive ihrem Wesen
nach zu würdigen haben, steht es uns auch nicht im Geringsten
zu, sie als irgendeine einfache, natürliche und dem menschlichen
Auge unmittelbar verwandte Art und Weise der Weltsicht aufzu-
fassen. Die Notwendigkeit, daß die Lehre von der Perspektive
von einer ganzen Reihe großer Geister und erfahrener Maler
unter Beteiligung erstklassiger Mathematiker im Verlaufe eini-
ger J a h r h u n d e r t e erst geschmiedet werden mußte, — und dar-
über hinaus erst zu Bewußtsein gekommen ist, nachdem die
grundlegenden Kennzeichen der perspektivischen Projektion
der Welt erkannt worden waren, zwingt uns zu der Aussage, daß
der historische Vorgang der Ausarbeitung der Perspektive sich
ganz und gar nicht als einfache Systematisierung einer sowieso
schon vorhandenen Psychophysiologie vollzogen hatte, sondern
als gewaltsame Umerziehung dieser Psychophysiologie im Sinne der ab-
strakten Forderungen dieser neuen Weltanschauung. Und zwar einer
im Wesen unkünstlerischen, die Kunst und die Malerei ausschlie-
ßenden Weltanschauung.
Der Geist der Renaissance, wie auch der Geist der Neuzeit im
allgemeinen ist uneinheitlich und gleicht einer gespaltenen Seele,
die ihrem Denken nach schizophren ist. In diesem Zusammen-
hangjedoch war die Kunst im Vorteil. Denn das lebendige Schöp-
fertum ließ sich trotz allem — zumindest teilweise - nicht von
den Forderungen des Verstandes knechten. Und die Kunst
29. U m f a n g r e i c h e r e Literatur zu diesen Fragen finden sich in dem Buch Rynins,
Methoden d e r Darstellung (orig. russ.), (8) S.245-264

39
schritt tatsächlich auf Wegen, die jenen fern lagen, welche mittels
abstrakter Forderungen ausgewiesen wurden. Diese Umstände
erheischen Aufmerksamkeit und — ein Lächeln. Denn die Maler
selbst, die Theoretiker der Perspektive, ergaben sich ihrem vor-
aussetzungslosen künstlerischen Gefühl bei der Darstellung der
Welt, sobald sie aufhörten, den von ihnen selbst vorgegebenen
Regeln der Perspektive zu folgen — auch wenn sie deren Geheim-
nisse schon kannten! Sie machten alle, alle grobe «Patzer» und
«Fehler» im Hinblick auf ihre eigenen Forderungen. Doch das
Studium der entsprechenden Bilder zeigt, daß ihre Stärken gera-
de in eben jenen «Patzern» und «Fehlern» lagen. Ist das nicht ge-
meint, wenn es heißt: und predigen öffentlich Wasser?
Ich habe hier nicht die Zeit, eine gründliche Analyse der Kunst-
werke vorzunehmen und muß mich mit einigen wenigen Bei-
spielen zufriedengeben, die den oben angeführten Gedanken
belegen. Um dann oberflächlich zu erläutern, was genau deren
ästhetische Nichtentsprechung gegenüber dem perspektivischen
Schema zu bedeuten hat. Doch um größerer Klarheit willen sei
hier (noch dazu mit fremden Worten) erinnert, worin denn die
Aufgaben der Perspektive bestehen — und jener berüchtigten
«Einheit der Perspektive». In der Blütezeit der Perspektivvereh-
rung und Perspektivgläubigkeit, in den siebziger J a h r e n des XIX.
Jahrhunderts, wurde von Guido Schreiber ein Lehrbuch der Per-
spektive zusammengestellt, welches in der 2. Auflage von dem Ar-
chitekten und Dozenten f ü r Perspektive an der Leipziger
Akademie der Kunst, einem Herrn Viehweger durchgesehen
und vom Direktor desselben Hauses — Prof. Ludwig Nieper, mit
einem Vorwort ausgestattet wurde 3 0 . Es scheint also solide und
höchst autorisiert! Und so lesen wir in diesem Lehrbuch im Kapi-
tel «Von der perspektivischen Einheit» folgendes:
«Jedweder Zeichnung, welche irgend auf perspektivische Wir-
kung Anspruch macht, soll ein bestimmter Standort des Zeich-
ners oder Beschauers zu Grunde liegen. Die Zeichnung soll also
nur einen Augenpunkt, nur einen Horizont, nur einen Maßstab
haben. Nach diesem einen Augenpunkt soll unter anderem die
Flucht aller waagrechten Linien gerichtet sein, welche nach der
Tiefe des Bildes laufen. Auf dem einen Horizonte sollen gleicher-
weise die Verschwindungspunkte aller anderen waagrechten Li-
30. Guido Schreiber, Lehrbuch d e r Perspektive mit einem A n f a n g über d e n Ge-
brauch geometrischer Grundrisse, 2.Auflage. Leipzig 1874

40
Die Muttergottes u n d d e r Hl. Erzengel Michael. Detail einer Deesis-Ikone,
Nowgorod, 15. J a h r h u n d e r t
Jesus Christus auf d e m T h r o n . Teil einer Deesis-Ikone, Nowgorod, 15. J a h r -
hundert
Hl. J o h a n n e s der T ä u f e r u n d Erzengel Gabriel. Detail einer Deesis-Ikone,
Nowgorod, 15. J a h r h u n d e r t
Hl. J o h a n n e s d e r Theologe u n d Hl. Prochor. Detail einer N o w g o r o d e r
Ikone des 15. J a h r h u n d e r t s
Hl. Kosma von Maiuma. Griechenland, 15. J a h r h u n d e r t (?)
Hll. Vlasios u n d Spiridon. Nowgorod, 15. J a h r h u n d e r t
Die A u f e r s t e h u n g des Lazarus. Nowgorod, 15. J a h r h u n d e r t
Gottesmutter »Vladimirskaja«, 12. J a h r h u n d e r t
Hl. Sergij von Radonesh. Gestickte Ikone, 15. J a h r h u n d e r t
Hl. Dreieinigkeits-Ikone von A n d r e j Rubljow, A n f a n g 15. J a h r h u n d e r t
Hll. Kyrill u n d Method. Gemalt von T a m a r a Sikojev, Ikonenmalerin,
20. J a h r h u n d e r t
Christus-Ikone in A n l e h n u n g an »Die nicht von H a n d gemalte Ikone des
Herrn«. Rußland, 16. J a h r h u n d e r t
Muttergottes »Hodigitria«. Gottesikone des Hl. Sergij, 1 4 . J a h r h u n d e r t
Hl. Nikolaj d e r W u n d e r t ä t e r . Gottesikone des Hl. Sergij, A n f a n g M . J a h r -
hundert
Pavel Florenskij u n d Sergej Bulgakov. Gemälde Michail Nesterov, 1917.
Tretjakov-Galerie in Moskau
nien liegen; ein richtiges Größenverhältnis soll im ganzen Bilde
herrschen. Dies ist es, was wir unter perspektivischer Einheit ver-
standen wissen möchten. Zeichnet man nun eine Szene nach der
Natur, so bedarf es nur einer kleinen Rücksichtnahme auf diese
Sätze, und es wird sich alles gewissermaßen von selbst geben.» 31
Das bedeutet: Verletzungen der Einheit des Standpunktes, der
Einheit des Maßstabes und der Einheit des Horizonts bedeuten
eine Verletzung der Einheit der perspektivischen Darstellung.
Doch nun: wenn irgendjemand je ein Perspektivist war, dann
sicherlich Leonardo; sein «Letztes Abendmahl» hatte sich zur
Aufgabe gestellt, die räumliche Abgrenzung^ner Welt des Evan-
geliums von dieser Welt des heute Gelebten zu beseitigen. Und zu
zeigen, daß Christus nur eine besondere Bedeutung hatte und
keine besondere Realität. Auf dem Fresko ist eine szenische Auf-
f ü h r u n g zu sehen, doch keine besondere und bzgl. unseres Rau-
mes eigenständige, denn diese Szene ist nicht mehr als eine Fort-
setzungjenes Raumes, in welchem wir uns befinden. Unser Blick
und mit ihm unser ganzes Sein wird in diese entschwindende
Perspektive hineingezogen, welche im rechten Auge der Haupt-
person zusammenläuft. Wir sehen nicht die Realität selbst, son-
dern eben n u r ein visuelles Phänomen. Und wir schauen gleich-
sam wie durch einen Spalt. Kalt, neugierig und ohne Ehrfurcht,
ohne Mitleid — geschweige denn unsere E n t f r e m d u n g erleidend.
Auf dieser Szene herrschen die Gesetze des kantischen Raumes
und die newtonschen Gesetze. Ja, doch wenn es nur so wäre, dann
hätte es doch letzlich nie ein Abendmahl gegeben! Und deswegen
feiert Leonardo die eigenständige Bedeutung dieses Ereignisses —
mit einer Verletzung des Maßstabes!
Ein einfaches Beispiel mag das verdeutlichen. Es zeigt sich, daß
der Speiseraum nur knapp die doppelte menschliche Höhe er-
reicht und in der Breite die dreifache. So daß dieser Raum weder
der Anzahl der anwesenden Personen, noch der Bedeutung des
Ereignisses entspricht. Und trotzdem erscheint die Decke nicht
niederdrückend und der kleine Raum verleiht dem Bild drama-
turgische Dichte und Ausgefülltheit. O h n e es zu merken, doch
mit sicherer Hand ist der Meister zu Verletzungen der Perspekti-
ve zurückgekehrt 3 2 , die schon seit den Zeiten der alten Ägypter
gut bekannt waren. Er verwendete nämlich jeweils einzelne Maß-
31. § 32, S.51
32. § 3 4 , S.56

41
Stäbe bei der Gestaltung der handelnden Personen einerseits
und der räumlichen Umgebung andererseits. Und indem er die
Größe der Letzteren verringerte und dies zudem unterschiedlich
stark je nach Richtung, erhöhte er die Bedeutung der Menschen
und gab dem bescheidenen Abschiedsmahl die Bedeutung eines
weltumfassenden, historischen Ereignisses und darüber hinaus:
eines Zentrums der Geschichte überhaupt. Die Einheit der Per-
spektive wurde zerstört und es zeigt sich die Gespaltenheit der
Seele des Menschen der Renaissance. Doch umso mehr erreichte
das Bild seine ästhetische Überzeugungskraft.
Es ist bekannt, welch erhabenen Eindruck die architektoni-
schen Darstellungen innerhalb der «Athener Philosophenschu-
le» Raffaels ausstrahlen 33 . Wenn man den Eindruck, welchen je-
ne Gewölbe hinterlassen, aus dem Gedächtnis charakterisieren
müßte, so würde man sie vielleicht mit der erhabenen Größe der
Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale vergleichen. Die Mauern
scheinen ihrer Höhe nach denen der Kirche gleichzukommen.
Doch eine Ü b e r p r ü f u n g zeigt, daß die gezeichneten Pfeiler n u r
knapp die doppelte Größe einer Figur erreichen. So daß dieses
Gebäude - seinem Anschein nach so prächtig würde man es tat-
sächlich nachbauen, winzig bliebe. Das Verfahren des Künstlers
war im gegebenen Falle — ebenfalls überaus einfach. «Er ver-
wendete zwei Standpunkte, die sich auf zwei verschiedene Hori-
zontlinien ausrichteten. Vom oberen Standpunkt aus ist der
Boden gemalt worden und die gesamte Personengruppe, vom
unteren hingegen - alle Gebäude und der obere Teil des Bildes.
Wenn die Figuren der Menschen denselben Fluchtpunkt erhal-
ten hätten, wie die Linien der Decke, so würden sich die Köpfe,
welche sich in der Tiefe des Bildes befinden, tiefer senken und
wären von den Körpern verstellt worden, welche weiter vorne ste-
hen, was zweifellos dem Bild geschadet hätte. Der Fluchtpunkt
der Deckenlinien befindet sich jedoch in der rechten Hand der
zentralen Figur (Aristoteles), der in der linken Hand ein Buch
hält und mit der Rechten auf die Erde zeigt. Würde man zu
diesem Punkt eine Linie vom Kopf des Alexander führen, der er-
sten Figur die sich auf der rechten Seite Piatos (mit erhobener
Hand) befindet, so ist unschwer zu erkennen, wie stark sich die
letzte Figur dieser Gruppe verkleinern würde. Das gleiche gilt

33. § 34, S.57

42
auch für die Gruppe, welche sich auf der rechten Seite des B e ‫־‬
trachters befindet. Um diese perspektivische Verfehlung zu ver-
bergen, hat Raffael die handelnden Personen in die Tiefe des
Raumes gestellt und außerdem diejenigen Bodenlinien maskier 1 ‫׳‬
die zum Horizont hin verlaufen.» 34
Von den übrigen Gemälden Raffaels sei hier zumindest noch
die «Vision Hesekiels» erwähnt. Dort gibt es gleich mehrere
Blickpunkte und mehrere Horizonte. Der Raum der Vision wur-
de mit dem übrigen Raum nicht koordiniert und dies zu v e r s u -
chen, wäre entschieden unmöglich. Denn in einem solchen Fall
würde der auf den Cherubim T h r o n e n d e als gewöhnliche 1 "
Mensch erscheinen, der entgegen den Gesetzen der Schwerkraft
merkwürdiger Weise nicht in die Tiefe stürzt. In diesen wie auch
auf vielen anderen Gemälden Rafaels stoßen wir auf ein Gleich‫״‬
gewicht zweier Prinzipien, das der Perspektive und der P e r s p e k -
tivlosigkeit, entsprechend zweier Welten und zweier Räume. Das
ist weniger erschütternd als rührend. So als ob sich vor uns g e "
räuschlos ein Vorhang zu einer anderen Welt öffnen würde u n d
vor unseren Augen sich nicht eine Szene, nicht eine Illusion in-
nerhalb unserer Welt eröffnete, sondern die Verlängerung e i n e r
fremden Realität, auch wenn sie nicht bis hierher heranzureiche 1 1
vermag. (Die Andeutung einer solchen Struktur des Raumes lie-
ferte uns Raffael auch mit seiner «Sixtinischen Madonna» — u n d
den auseinandergezogenen Vorhängen.)
Eine in dieser Hinsicht der «Vision Hesekiels» völlig e n t g e g e n -
gesetzte Technik kann man beispielsweise auf einem anderen i n
der Akademie von Venedig hängenden Bild entdecken: Tinto-
rettos «Der Apostel Markus befreit einen Sklaven». Die Ersche 1 ‫־‬
nung des Hl. Markus ist innerhalb desselben Raumes dargestellt‫׳‬
wie alle übrigen gezeigten Personen. Die himmlische Ersehe 1 ‫־‬
nung erscheint sofort als eine körperliche Masse, die jede 1 1
Augenblick auf den Kopf des Zeugen jenes Wunder niederzu-
stürzen droht. (Doch soll uns die Erinnerung an die naturalist 1 ‫־‬
sehen Verfahren Tintorettos, der gleichsam Wachsfigürchen
die Decke gehängt und naturalistisch getreu alle Verkürzungen
wiedergegeben hat, nicht länger ablenken). Denn auch auf d e m
eben erwähnten Bild - der himmlischen Erscheinung - scheine"
die Cherubim-Elohim einem aufgehängten Wachsabguß nicht
34. N. A. Rynin, Natschertateljnaja G e o m e t r i a . Perspektiva, P e t e r s b u r g ! 9 1 8 .
§ 8, S.72/73 (Darstellende G e o m e t r i e . Die Perspektive)

43
unähnlich. Soviel zum künstlerischen Mißerfolg beim Versuch,
die verschiedenartigen Räume zu verschmelzen.
Doch auch die gleichzeitige Verwendung zweier Raumordnun-
gen — der perspektivischen und der nichtsperspektivischen, ist
anzutreffen. Und zwar keineswegs selten, vor allem bei der Dar-
stellung von Visionen und wunderbaren Erscheinungen. Solcher-
art sind auch einige Arbeiten Rembrandts. Auch wenn man bei
ihm nur unter Vorbehalt von Perspektive oder ihren Anteilen
sprechen kann.
Diese Verfahren vertrat auf äußerst charakteristische Weise
Domenico Theotokopuli, genannt El Greco. «Der T r a u m Phi-
lipps IL», «Das Begräbnis des Grafen Orgaz», «Die Ausgießung
des Heiligen Geistes», «Ansichten von Toledo» und andere seiner
Bilder zerfallen klar —jedes in mindestens zwei verschiedene Räu-
me. Wobei die Räume des geistigen Lebens entschieden von den
Räumen der sinnlichen Realität getrennt wurden. Und das gibt
den Bildern El Grecos ihre besondere Überzeugungskraft.
Doch es wäre nun ein Fehler zu glauben, nur mystische Sujets
verlangten die Verletzung der Perspektive. Nehmen wir z. B. die
«Flämische Landschaft» von Rubens. Ihr mittlerer Teil ist relativ
perspektivistisch geordnet, und der Raum zieht den Betrachter
förmlich hinein. Gleichzeitig sind die Außenteile des Bildes um-
gekehrt perspektivisch konstruiert, und ihre Räume stoßen das
wahrnehmende Sehen von sich ab. Im Endergebnis entstehen so
zwei gewaltige optische Strudel, die auf wundervolle Weise das
prosaische Sujet füllen.
Die gleiche Art gleichwertiger Ursprünge des Raumes Findet
sich auf dem Bild «Die Bekehrung des Apostels Paulus» von Mi-
chelangelo. Von völlig anderer Art hingegen ist die Raumord-
nung im «Letzten Gericht» desselben Künstlers. Das Fresko zeigt
eine gewisse Neigung. (Je höher ein Punkt auf einem Bild ist,
desto entfernter ist der Punkt der Darstellung vom Auge des
Betrachters. Der Beschaffenheit des Auges nach, müßte es diesel-
ben, Kraft perspektivischer Verkürzungen der Figuren, immer
kleiner werdend sehen. Das erkennt man bekannter Weise daran,
daß die unteren Figuren die höheren verstellen.) Doch was ihre
Größe betrifft, so nimmt auf diesem Fresko bei zunehmender Hö-
he auch die Größe der Figuren zu, d. h. mit wachsender Entfer-
nung vom Betrachter! Das aber sind Eigenschaften des geistigen
Raumes. J e entfernter etwas ist, desto größer und je näher

44
sich in ihm etwas befindet, desto kleiner ist es. Es handelt sich
hierbei um die sog. umgekehrte Perspektive. Betrachten wir dieses
Fresko, so beginnen wir unsere vollständige Unvergleichbarkeit
mit ihrem Raum zu fühlen. Wir werden von diesem Raum nicht
angezogen. Und im Gegenteil: er stößt uns ab, wie ein Quecksil-
bermeer unsere Körper abstoßen würde. Wenn wir diesen auch
zu betrachten vermögen, so ist er uns, die wir mit Kant und Euklid
denken, transzendent. Obwohl Michelangelo im Barock lebte, ge-
hörte er weder in die vergangene, noch in die zukünftige Epoche.
Er war deren Zeitgenosse und er war es zugleich nicht.

XL
Wenn man zum erstenmal auf Abweichungen von der Regel
der Perspektive stößt, so glaubt man diese Abweichungen von der
perspektivischen Einheit als zufällige Verfehlungen des Künst-
lers deuten zu müssen. Doch schon noch so geringe Aufmerksam-
keit stößt uns darauf, daß solche Verfehlungen beinahe in jedem
Kunstwerk auftreten. Wobei die Zentralperspektive jetzt schon
nicht mehr als pathologisch aufgefaßt wird, sondern als eine der
darstellenden Kunst immanente Physiologie.
Es stellt sich unvermeidlich die Frage, ob die darstellende
Kunst denn überhaupt ohne die Perspektive auszukommen ver-
mag? Denn ihre Aufgabe ist es doch, eine gewisse einheitliche
Räumlichkeit anzubieten, eine besondere und in sich abgeschlos-
sene Welt. Zwar keine rein mechanistische, doch eine von inneren
Kräften in den Grenzen des Rahmens zusammengehaltene Welt.
Und darüber hinaus obliegt es ihr, einen Ausschnitt des natürli-
chen Raumes zu liefern. (Doch nicht einmal die Photographie —
selbst ein Stück Raum - vermag mit ihrem Sein, die Dinge über
ihre Grenzen hinauszuführen, d.h. über die Grenzen des Rah-
mens hinaus. Denn sie ist selbst ein Teil, und eine mechanische
Abteilung des Ganzen.) Folglich steht der Künstler als allererstes
vor der Aufgabe, den von ihm in der Qualität eines bestimmten
Materials abgesonderten Raumausschnittes in ein in sich selbst
verschlossenes Ganzes zu verwandeln. Das bedeutet aber, die per-
spektivischen Verhältnisse aufzuheben, deren grundlegende
Funktion die kantische Einheit einer umfassenden (idealisti-
schen) Erfahrung ist. Eine Erfahrung, die sich in der Notwendig-

45
keit ausdrückt, von einer empirischen Erfahrung zur nächsten
überzugehen und in der Unmöglichkeit, sich auf der Ebene der
Selbstgewißheit zu treffen. Gibt es denn dann innerhalb der le-
bendigen Erfahrung die Perspektive überhaupt? Das ist eine Fra-
ge, die an dieser Stelle noch nicht entschieden werden soll. Doch
ob es sie dort gibt oder nicht — ihre Bestimmung ist herausgear-
beitet und diese Bestimmung widerspricht grundsätzlich dem
Wesen der Malerei, sobald diese sich auch nur einmal zu fremden
Diensten verkauft hat und einer «Kunst der Ähnlichkeiten»
frönt, den Illusionen einer scheinbaren Fortsetzung der sinnli-
chen Erfahrung — in denen keine Wahrheit ist.
Das Gehörte noch im Ohr, wundern wir uns schon nicht mehr,
finden wir auf Paolo Veroneses «Fest des Simon» zwei Blickpunk-
te und zwei Horizontlinien ... sodann mehrere Blickpunkte längs
eines Horizonts auf der »Eroberung der Smahla Abd-el Kaders»
von Horace Vernet und nicht zuletzt eine Fülle perspektivischer
Unstimmigkeiten auf den Landschaftsbildern Schwanenfeldts
oder auch denen eines Rubens und auf vielen, vielen anderen Bil-
dern. Und wir verstehen, warum in den klugen Ratgebern zur
Perspektive sogar Ratschläge gegeben werden, wie die perspekti-
vische Einheit derart zu verletzen sei, daß es nicht auffällt (offen-
sichtlich den Anhängern derselben?) — und wo gesagt wird, in
welchen Fällen eine solche «Ungesetzlichkeit» unabdingbar ist.35
Teilweise wird auch empfohlen, die Schnittpunkte der senkrech-
ten Linien auf der Bildfläche auf einer gebogenen Linie anzuord-
nen, z.B. mittels Eindrehung einer Geraden zur Ellipse. 36 Und
selbst Künstler, die denjenigen Aufgaben fernstehen, welche
einer wahren und echten Kunst zukommen, haben seit jeher die
entsprechenden Abweichungen von der perspektivischen Ein-
heit vollzogen. So z.B. Paolo Veronese auf seinem im Louvre
hängenden Bild «Die Hochzeit zu Kana». Spezialisten haben
nachgewiesen, daß auf diesem Bild sieben Blickpunkte und fünf
Horizontlinien zu finden sind. 37 Bossuet versuchte eine verbes-
serte «Skizze» von der Architektur jenes Bildes zu liefern, d.h.
mittels streng perspektivischer Technik, und fand heraus, daß

35. Rynin, id. (34), § 8, S.70-82,89. Guido Schreiber, id. (30)


36. Rynin, id (34), § 8, S.75, Zeichnung 144
37. Friedrich Schilling, Ueber die A n w e n d u n g der darstellenden Geometrie ins-
besondere über die Photogrammetrie, Leipzig und Berlin 1904, S.152/153 Rynin,
id. (34), id. (8)

46
das Original «im Wesentlichen dieselbe O r d n u n g und Schönheit
böte». 38 Wie schön - diese Haltung gegenüber erstklassigen Wer-
ken der Kunst, die man einfach «verbessern» kann! Wäre es nicht
eher am Platz, seine eigenen ästhetischen Ansichten zu überprü-
fen und sie anhand wirklich historischer Kategorien zu messen?
W'enn n u n tatsächlich die strenge Unterwerfung der Perspektive
auf einem nichtperspektivischen Bild an und f ü r sich dessen
Schönheit nicht zerstört, bedeutet das folglich nicht auch, daß so-
wohl die Perspektive als auch ihre Abwesenheit selbst in geringem
Maße, keineswegs so wichtig sind, wie das die Anhänger der Per-
spektive glauben?
Es sei erinnert, daß Albrecht Dürer Ende 1506 von Florenz nach
Bologna eilte, um dort — die «geheime Kunst der Perspektive» zu
erkunden. Doch die Geheimnisse der Perspektive wurden eifer-
süchtig gehütet und Dürer war gezwungen, wieder abzureisen,
nachdem er die Schweigsamkeit der Bologneser erprobt und nur
überaus wenig erf ahren hatte. Um sich danach zu Hause selbstän-
dig mit der Ausarbeitung derselben Verfahren zu beschäftigen
und über diese ein Traktat zu schreiben (was ihn im Übrigen
nicht daran gehindert hat, in «perspektivische Sünden» zu verfal-
len).
Ohne auf sein Schaffen im Allgemeinen einzugehen, von wel-
chem ein anerkannter Dürerspezialist 39 sagte, daß «ein Künstler,
der ein solches Werk vollendet hat, sich von der Welt trennen
kann, denn er hat in der Kunst sein Ziel erreicht: dieses Werk
stellt ihn unbestreitbar in eine Linie mit den großartigsten Mei-
stern, derer sich die Kunstgeschichte zu Recht rühmen darf.» 40
Hier ist von jenem Diptychon die Rede, welches unter dem Na-
men «Die vier Apostel» bekannt und im J a h r e 1526 gemalt wor-
den ist. D. h. also nachdem die «Underweisung der Messung» ans
Licht getreten war und etwa zwei J a h r e vor Dürers Tod im Jahre
1528.
Jedoch; auf diesem Diptychon sind die Köpfe der zwei hinteren
Figuren größer als die Köpfe der vorne Stehenden, wodurch die
grundlegende Fläche eines griechischen Reliefs erhalten bleibt,

38. Schilling, id. (37), S. 153, Anm.I.


39. Franz Kugler, Rukovodstvo k istorij schivopisij so vremeni Konstantina Veli-
kogo. 3.Auflage, Moskau 1874, S.584 ( H a n d b u c h zur Geschichte der Malerei seit
Konstantin d. Gr.)
40. Mironov, id. (24), S.347

47
auch wenn die Figuren selbst nicht auf einer Fläche aufgestellt
sind. Nach der völlig richtigen Einschätzung der Kunsthistoriker
«haben wir es hier offensichtlich mit der sogenannten «umge-
kehrten» Perspektive zu tun, wodurch die hinteren Körper grö-
ßer dargestellt werden, als die vorderen.» 41
Es versteht sich von selbst, daß die umgekehrte Perspektive auf
den «Aposteln» kein Ausrutscher ist, sondern Ausdruck des
Selbstbewußtseins eines Genies, welches mit seinem Gefühl alle
rationalen Theorien hinter sich ließ — sogar die eigenen, welche
doch in Gänze den Illusionismus aller Erfahrung gefordert
hatten. Was kann es Widersprüchlicheres dazu geben als seine
Bemerkung zur Schattentechnik, die mit den Worten beginnt:
«Wenn du ein Bild so reliefartig malen willst, daß selbst das Auge
getäuscht wird ...»!42 So lautet seine illusionistische Theorie, doch
sein Schaffen selbst ist ganz und gar nicht illusionistisch. Dieser
Widerspruch aber zwischen Theorie und Praxis (charakteristisch
f ü r Menschen einer Übergangsepoche!) offenbarte sich bei
Dürer darüber hinaus in der allgemeinen Hinneigung seiner Ma-
lerei zum Stil des Mittelalters und zu den mittelalterlichen Grund-
lagen seines Geistes — bei einer neuen Gestalt des Verstandes.

XII.
Von welcher Seite auch immer man es betrachtet: selbst die
Theoretiker der Perspektive hielten die «perspektivische Ein-
heit » der Darstellung weder f ü r notwendig noch beachteten sie
diese tatsächlich. Wie kann nach all dem dann noch von dem «na-
türlichen Charakter» einer perspektivischen Darstellung der
Welt gesprochen werden? Um was f ü r eine Natürlichkeit soll es
sich dabei handeln, der man sich derart unterwerfen muß, um
hernach mit allen Kräften und bei ständig angespannten Bewußt-
41. A. A. Sidorov, «Tschetyre apostola» Albrechta D ü r e r a i svjasanye s nimi spor-
nye voprosy, Petersburg 1915, («Die vier Apostel» Albrecht Dürers u n d mit ihnen
v e r b u n d e n e Streitfragen) in: «Sapisok Klassitscheskogo Otdelenija Imperatorskogo
Russkogo Archeologitscheskogo Obschestva», S. 15
42. Eine Handschrift Dürers (im Besitz des Britischen Museums), auf d e r Skizzen
des Künstlers sind, die er f ü r zukünftige Veröffentlichungen anfertigte. Zuerst
ediert von A. von Zahn 1868, d a n n von W. M. Conwey 1889, zuletzt herausgegeben
von K. Lange u n d F. Fuchs, Dürers schriftlicher Nachlaß auf G r u n d d e r Original
Handschriften u n d teilweise neu entdeckter alter Abschriften, Halle 1893, S.326

48
sein darauf zu achten, keine Fehler gegenüber dem Erfahrenen
zu machen? Erinnern diese Regeln nicht an eine rasch zuwege ge-
brachte Verschwörung gegen die wirkliche Welterfahrung, eine
Verschwörung im Namen rein theoretischer Überlegungen und
eines fiktiven Weltbildes, das eine humanistische Weltanschau-
ung zu sehen fordert? Ein Weltbild, welches jedoch das menschli-
che Auge, abgesehen von allen Dressurakten, überhaupt nicht zu
sehen vermagl Ein Umstand, den der Künstler aber indes selbst
verrät, indem er von den gerade erst fertig gestellten geometri-
schen Konstruktionen forteilt, hin zu dem, was er tatsächlich
wahrnimmt.
In welch hohem Maße die perspektivische Zeichnung über-
haupt nicht unmittelbar überzeugt (sondern im Gegenteil - ein
bloßes Produkt zahlreicher und schwieriger künstlicher Be-
dingungen ist), vermag man überraschender Weise an den
Konstruktionen Albrecht Dürers selbst zu erkennen, die er auf
wunderschönen Holzschnitten in seiner «Underweisung der
Messung» dargestellt hat. Doch so schön diese Schnitte mit ihren
geschlossenen und sich verdichtenden Räumen auch sind, so un-
künstlerisch ist der Inhalt der Belehrungen, die durch sie gelie-
fert werden.
Diese Konstruktionen haben den Zweck, auch dem ungeschick-
testen Zeichner die Möglichkeit zu geben, jedweden Gegenstand
wiederzugeben und zwar rein mechanisch. Das heißt, ohne jeden
Akt schöpferischen Sehens und gegebenenfalls — auch ohne
Augen! Mit seinen Konstruktionen weist der offenherzige Dürer
ohne Umschweife nach, daß die Perspektive eine Angelegenheit
welcher Art auch immer ist, — n u r nicht die des Sehens.
Eine dieser Konstruktionen schaut wie folgt aus: am Ende eines
Tisches, der die Gestalt eines langen Rechtecks hat, wird ein
gleichfalls rechteckiger Rahmen mit einer Glasscheibe senkrecht
zu dessen Fläche befestigt. Auf der gegenüberliegenden Schmal-
seite des Tisches wird parallel zum Rahmen ein viereckiger
Holzklotz fixiert, dessen Mitte ausgehöhlt und mit einer langen
Schraube ausgestattet wurde. Mit Hilfe dieser Schraube läßt sich
ein senkrecht zur Tischoberfläche stehender Holzblock verschie-
ben. Und mit diesem verschiebt sich auch eine am Block befestig-
te Holzstange, die mittels Zähne auf unterschiedlicher Höhe
fixierbar ist. Am oberen Ende der Stange befindet sich ein Brett-
chen mit einer kleinen Ö f f n u n g . Die Sache ist klar: mit dieser
49
Vorrichtung wird ein (durchaus bekanntes) Modell der perspek-
tivischen Projektion gegeben — von der Ö f f n u n g im Brettchen auf
die Glasscheibe. Und schaut man auf den jeweiligen Gegenstand
durch diese Ö f f n u n g , vermag man dessen Projektion auf dem
Glas abzuzeichnen.
Bei einer anderen Konstruktion wird der Standpunkt als unbe-
weglich angenommen und zwar ebenfalls mit Hilfe eines beson-
deren Gestells. Die Projektionsfläche hingegen wurde noch zu-
sätzlich von einem Netz rechtwinklig gezogener Fäden ergänzt.
Wobei die Zeichnung auf ein mit Rechtecken überzogenes Blatt
Papier aufgetragen wird, welches zwischen dem Gestell und dem
vertikalen Netz auf dem Tisch befestigt ist. Mißt man nun ent-
sprechend den Vierecken die Koordinaten der Projektionspunk-
te, vermag man so auch die entsprechenden Punkte auf dem
Zeichenpapier zu finden.
Die dritte Konstruktion Dürers hat überhaupt keine Bezie-
hung mehr zum Sehen selbst. Das Zentrum der Projektion wird
hier nicht mehr vom Auge (und sei es auch ein künstlich zur Un-
beweglichkeit gebrachtes), sondern von irgendeinem Punkt an
der Wand verkörpert. An diesem Punkt ist ein Ringlein befestigt,
an welches ein langer Faden gebunden wurde. Dieser reicht fast
bis zu einem gläsernen Rahmen, der vertikal auf einem Tisch auf-
gestellt wurde. Der Faden wird nun gespannt und an diesem wird
eine Art Visierröhre befestigt, welche den «Sehstrahl» zum Punkt
des Gegenstandes lenken soll, der vom Befestigungspunkt des
Fadens aus projiziert werden wird. Danach ist es nicht schwierig,
mit einem Pinsel oder einer Feder auf der Scheibe den entspre-
chenden Projektionspunkt zu kennzeichnen. Indem also der
Zeichner verschiedene Punkte des dargestellten Gegenstandes
anvisiert, projeziert er ihn auf o. g. Weise auf das Glas. Jedoch
nicht vom «Stand- oder Blickpunkt» aus, sondern vom oben be-
schriebenen «Wandpunkt»; das Sehen hat hierbei nur Hilfsfunk-
tionen auszuführen.
Bei der vierten und letzten Zeichenkonstruktion kann auf das
Sehen überhaupt verzichtet werden, denn hierbei genügt schon
der Tastsinn. Der Aufbau ist folgender: In die Wand des Zim-
mers, in welchem irgendein Gegenstand gezeichnet werden soll,
wird eine lange Nadel mit einer breiten Öse eingeschlagen. Durch
die Öse wird ein langer und fester Faden gezogen und dort an der
Wand wird an diesem Faden ein Gewicht befestigt. Der Wand ge-
50
genüber steht ein Tisch samt einem vertikal auf ihm stehenden
Rahmen. An einer Außenseite des Rahmens wird eine kleine T ü r
befestigt, welche sich öffnen und schließen läßt. In die Rahmen-
ö f f n u n g wird ein Fadenkreuz gespannt. Der darzustellende Ge-
genstand wird gegenüber dem Rahmen auf den Tisch gelegt.
Jetzt wird der Faden durch den Rahmen geführt und an seinem
Ende ein Nagel befestigt. Soweit die Konstruktion.
Der Apparat wird nun wie folgt angewendet: einem Helfer
wird der Nagel in die Hand gegeben, der den langen Faden mit
dem Auftrag spannt, mittels des Nagelkopfes n u n alle wichtigen
Punkte des Darstellungsobjekts zu berühren. Darauf hin ver-
schiebt der «Künstler» die Fäden des Rahmens solange, bis sie mit
dem langen Faden zusammenstoßen und kennzeichnet hiernach
mit Wachs diesen Überschneidungspunkt. Zuletzt entspannt der
Helfer den langen Faden wieder und der «Künstler» legt das
Türchen um und kennzeichnet auf der T ü r die Stelle, an der sich
die Fäden gekreuzt haben. Wiederholt man das oft genug, so
kann man auf der beschriebenen T ü r die wichtigsten Punkte der
benötigten Projektion kennzeichnen.

51
Theoretische Voraussetzungen

XIII.
In dem bisher Dargelegten wurden eine Reihe historischer
Fakten miteinander verglichen. Es scheint nun an der Zeit,
Schlußfolgerungen zu ziehen und mehr zur Sache selbst zu kom-
men, auch wenn die Ausarbeitung verwandter Fragen, die im
Zusammenhang mit der Analyse des Raumes innerhalb der dar-
gestellten Künste auftauchen, f ü r eine andere Untersuchung
aufgehoben werden müssen.
Sowohl die Historiker der Malerei als auch die Theoretiker der
darstellenden Kunst streben oder strebten zumindest f r ü h e r da-
nach, ihre Zuhörer davon zu überzeugen, daß die Zentralper-
spektive die einzig Richtige sei und daß nur sie der einzigen echten
Wahrnehmung entspräche, denn die natürliche Wahrnehmung
sei mit dieser Perspektive identisch. Entsprechend diesen Vor-
aussetzungen wurden die Abweichungen von der perspektivi-
schen Einheit darüber hinaus als Verrat an der Wahrheit der
Wahrnehmung denunziert, d. h. als Verzerrung der Realität
selbst. Und diese wurden sowohl als zeichnerische Unbildung des
Künstlers und als Überbetonungen der ornamentalen Aufgaben
innerhalb der Zeichnung, sowie als vorsätzliche Bevorzugung des
Dekorativen und schließlich als Unklarheit in Kompositionsfra-
gen erklärt. So oder anders offenbare die Abweichung von der
Norm der linearperspektivischen Einheit nach den oben erwähn-
ten Bewertungen — bloßen Irrealismus.
Wie auch immer, sowohl das Wort Realität als auch seine Be-
deutung scheinen zu gewichtig, als daß es den Anhängern dieser
oder jener Weltanschauung gleichgültig bleiben könnte, ob sie
diese als Bundesgenossin zählen dürfen oder ob sie zum Gegner
übergewechselt ist. Und offensichtlich sind nicht geringe Überle-
gungen notwendig, ehe man zu Zugeständnissen bereit scheint,
selbst wenn sich diese als unumgänglich erwiesen haben! Dasselbe
gilt f ü r das ach so relative Wort natürlich. Wem erscheint denn das
Seinige nicht als realistisch und natürlich, — also ohne jede Vermi-
schung der Wirklichkeit selbst entströmt? Die Anhänger einer
der Renaissance entsprechenden Auffassung der Malerei fessel-
ten sich an diese so vertrauten Begriffe, welche sie dem Piatonis-
mus und ihren mittelalterlichen Vorgängern entwendet hatten.

52
Doch das darf uns nicht Anlaß geben, diesen oder jenen, die
mit der Sprache Mißbrauch getrieben haben, Platz zu machen.
Die Realität und die Natürlichkeit muß man an der Sache selbst
erweisen und darf nicht nur leere Ansprüche auf sie erheben.
Unsere Aufgabe ist es nun, diese Katagorien den rechtmäßigen
Erben und Enkeln zurückzugeben.
Wie schon f r ü h e r erwähnt, ist es unabdingbar, will man «natür-
lich» schreiben oder malen können—d. h. aber perspektivistisch,—
dies zu studieren. Das galt f ü r ganze Völker und Kulturen und
gilt genauso und immer aufs Neue f ü r einzelne Menschen. Ein
Kind malt nicht mit Hilfe der Linearperspektive. Und auch ein
Erwachsener, der zum ersten Mal einen Stift in die Hand nimmt,
malt nicht perspektivisch - solange er nicht für bestimmte Scha-
blonen geschult worden ist. Doch auch wenn er sie erlernt hat, viel
studiert hat, verfällt er schnell in alte Sünden. Genauer gesagt,
überwindet die aufrichtige Unmittelbarkeit stets irgendwo die
prüden Anstandsregeln perspektivischer Einheitlichkeit. Zum
Beispiel würde kaum jemand die Darstellung eines Balles mit
einem elliptischen Grundriß beginnen oder das Bild sich parallel
entfernender Kolonnaden mit nach und nach breiter werdenden
Pfeilern, — auch wenn genau das die perspektivische Projektion
fordert. 43
Werden denn nicht oft genug selbst große Künstler perspekti-
vischer Fehler bezichtigt? Solche Verfehlungen sind stets mög-
lich, besonders in Zeichnungen mit schwierigen Kompositionen.
Und tatsächlich würde man sie nur dann vermeiden können,
wenn man technisches Zeichenpapier unterschöbe, das mit Hilfs-
linien ausgestattet ist. Mit anderen Worten: es würde nicht das
außer- oder innerhalb Geschaute gezeichnet werden, also etwas
Anschauliches, Unabstraktes, sondern dasjenige, was die Berech-
nung geometrischer Konstruktionen verlangte! Eine solche Be-
rechnung stützt sich zudem auf eine sehr beschränkte Kenntnis
von der Geometrie. Eine beschränkte Geometrie, die dann als ein-
zige zugelassen wird. Darf man denn Darstellungsverfahren als
«natürlich» beschreiben, die ohne geometrisch-zeichnerische
Krücken nicht einmal diejenigen zu beherrschen lernen, welche
viele Jahre ihre Augen und ihre Weltanschauung hart darauf
trainiert haben? Und zeigen die perspektivischen Fehler nicht
43. Rynin, Perspektiva (34), § 8, S.75-78; Rynin, Metody isobraschenija (8), § 15,
S.l 13-117

53
weniger die Schwächen eines Künstlers, als eher seine Stärken
und die Kraft einer echten Wahrnehmung, die die Wirrnisse der
sozialen Beeinflussung zu zerreißen vermag? Die perspektivische
Schulung ist nichts weiter als eine Dressur! Und selbst dann, wenn
der gutwillige Anfänger versucht, mit seinen ersten Zeichnungen
die Regeln der Linearperspektive zu beachten, heißt das noch
lange nicht, daß er ihren Sinn verstanden hat, konkret: den
künstlerisch-darstellerischen Sinn der perspektivischen Forde-
rungen. Sich ihrer Kindheit zuwendend erinnern sich nicht weni-
ge, wie unverständlich ihnen die Zeichnungen der Linearper-
spektive erschienen sind. Sie erinnern sich an die Perspektive
gleichsam als an einen allgemeinverbindlichen Zwang, einen usus
tyrannis, dem in jeder Hinsicht nicht Kraft seiner Wahrheit ge-
dient wurde, sondern weil das eben alle so taten.
Als eine höchst unsinnige Bedingung — so erscheint die Per-
spektive dem Verstand eines Kindes. «Es erscheint nichtig, ein
Bild zu betrachten, um seine Perspektive zu entdecken», —
schreibt Ernst Mach. Und es mußten ja auch tausend J a h r e verge-
hen, bis sich die Menschheit an diese Torheit gewöhnt hatte. Und
viele sind wie bekannt ausschließlich durch den Einfluß f r e m d e r
Erziehung soweit gebracht worden. «Ich erinnere mich gut»,
fährt Ernst Mach fort, «daß mir im ungefähren Alter von drei
Jahren, alle Bilder in welchen die Perspektive benutzt wurde, als
Entstellungen der auf ihnen dargestellten Gegenstände erschie-
nen. Ich vermochte nicht zu begreifen, warum der Maler den
Tisch auf der einen Seite so breit gemalt hatte und auf der ande-
ren Seite derart schmal. Ein wirklicher Tisch erschien mir auf
seiner gegenüberliegenden Seite genauso breit zu sein, wie auf
seiner mir näheren — da mein Auge seine Berechnungen ohne
weitere Mithilfe vollzog. Daß man die Darstellung eines Tisches
auf einer Fläche nicht als eine mit Farben bedeckte Leinwand auf-
fassen durfte, sondern daß sie mit dem Tisch identisch sei und als
diesen in die Tiefe weiterführend gedacht war — das war eine
Torheit, die ich nicht verstand.» 44 Ein solches Zeugnis eines Posi-
tivisten unter den Positivisten, scheint mir in gar keiner Weise
«mystischer» Parteilichkeit verdächtig.

44. Ernst Mach, Dlja tschego tscheloveka dva glasa - Populjarno-nautschnye ot-
scherki, in: «Obrasovanie», 1909, S.64 (Wozu hat d e r Mensch zwei Augen, Leipzig
1910)

54
Auf diese Weise wird klar, daß die Darstellung eines Gegen-
standes im Sinne einer Abbildung nicht auch d e r Gegenstand
selbst ist, sondern eine Kopie der Sache, welche die Ecken der
Welt nicht verdoppelt, sondern auf das Urbild als ein Symbol ver-
weist. Der Naturalismus kommt d a n n im Sinne äußerlicher Wahr-
heitsliebe einer bloßen N a c h a h m u n g d e r Wirklichkeit gleich,
einer Herstellung von Dopplungen aller Dinge. Er gleicht einem
Spuk, den das Leben nicht n u r nicht benötigt, sowenig wie ein
verliebter H u n d das Bild eines H u n d e s (Goethe), sondern der
auch an sich unmöglich ist. Die perspektivische Wahrhaftigkeit, so
es sie d e n n gibt u n d soweit sie ü b e r h a u p t eine Relation zur Wahr-
heit haben kann, b e r u h t somit keinesfalls auf einer äußerlichen
Übereinstimmung, sondern auf einer Abweichung vom «Natürli-
chen». Das heißt, daß ihr Wahrheitsgehalt auf d e r inneren Be-
d e u t u n g der Abbildung b e r u h t - i h r e m symbolischen Charakter.
Ja u n d von welcher «Übereinstimmung kann d e n n beispielsweise
bei einem Tisch u n d seiner perspektivischen Darstellung die Re-
de sein — insofern schnell deutlich wird, d a ß parallele Umrisse
mittels zusammenlaufender Linien dargestellt werden, recht-
winklige Ecken — d u r c h spitze u n d s t u m p f e Winkel, Schnitte u n d
Kanten, die einander entsprechen — d u r c h der Größe nach ver-
schiedene u n d ungleich große — mittels gleichgroßer.
Die Darstellung ist stets ein Zeichen u n d zwar jedwede Darstel-
lung, sowohl die perspektivische als auch die nichtperspekti-
vische. Wie auch immer sie aufgebaut sind, die Werke der dar-
stellenden Künste unterscheiden sich nicht d a d u r c h voneinan-
der, daß das eine symbolisch u n d das a n d e r e m e h r oder weniger
naturalistisch ist, sondern d a d u r c h , daß sie alle nichtnaturalisti-
sche Zeichen der verschiedenen Seiten d e r Dinge, verschiedener
Ansichten d e r Welt u n d verschiedene Ebenen der Synthese dar-
stellen. Die einen sind weniger, die a n d e r e n m e h r allgemein-
menschlich. Doch ihrem Wesen nach sind sie alle — Zeichen. U n d
die Linearperspektive auf Darstellungen ist keineswegs eine Eigen-
schaft der Dinge, wie der vulgäre Naturalismus glaubt, sondern
lediglich ein V e r f a h r e n symbolischer Ausdruckskraft, eine von
vielen möglichen symbolischen Stilrichtungen, d e r e n künstleri-
scher Wert einer besonderen Beurteilung unterliegt. Doch gera-
de deshalb nicht einem Urteil in der schrecklichen Sprache des
«Wahrhaftigen» u n d des Anspruchs auf einen patentierten «Rea-
lismus».

55
Will man folglich die Fragen der Perspektive (sei es die lineare
oder die umgekehrte, die ein- oder mehrzentrige) untersuchen,
muß man aus all den genannten Gründen stets von der symboli-
schen Aufgabe der Malerei und der übrigen darstellenden Kunst
ausgehen. Um auf diese Weise zu klären, welchen Platz inmitten
anderer zeichenhafter Verfahren die Linearperspektive ein-
nimmt, was sie genau darstellt und zu welchen geistigen Werten
sie hinführt. Denn die Aufgabe der Perspektive kann ähnlich an-
deren Mitteln der Kunst nur eine schon bekannte geistige Ausle-
gung sein, ein Anstoß, um die Aufmerksamkeit auf die Realität zu
richten. Anders gesagt: auch die Perspektive muß, soll sie irgend-
einen Wert haben, eine Sprache sein und eine Zeugin der
Realität.
In welchem Verhältnis stehen nun aber die symbolisch-zei-
chenhaften Aufgaben der Malerei — zu den geometrischen Voraus-
setzungen ihrer Möglichkeiten? Denn die Malerei wie auch die
übrigen darstellenden Künste steht in einem zwangsläufigen Ab-
hängigkeitsverhältnis zur Geometrie, insofern sie es mit Ausdeh-
nung, Bildern und im Raum gestreckten Zeichen zu tun hat.
Kann man dann nicht, das ist hier die Frage, mittels eines leichten
Syllogismus von der Linearperspektive sagen:
major:
Wenn die Geometrie zuverlässig und wahr ist,
so ist die Linearperspektive unanfechtbar.
minor:
Die Geometrie ist wahr und zuverlässig.
conclusio:
Folglich ist die Linearperspektive unanfechtbar.
... wobei beide Voraussetzungen Millionen Einwände hervor-
rufen! Muß man also nicht zur Klärung ihrer Anwendungsgren-
zen und Wirkungen, unbedingt und höchst genau die geometri-
schen Voraussetzungen der Malerei bestimmen, wenn wir denn
wollen, daß diese Gesetze, der innere Zusammenhang sowie die
Anwendungsgrenzen dieses oder jenes Verfahrens und Mittels
zur Darstellung, eine solide Grundlage oder zumindest eine
Zuordnung bekommen?
Selbst wenn wir eine tiefere Untersuchung auf ein spezielles
Buch verschieben, so kann doch schon jetzt folgendes zu den geo-
metrischen Voraussetzungen der Malerei gesagt werden: Mit der
56
Malerei und ihren Ordnungen haben wir es mit einem gewissen
Ausschnitt auf einer Fläche zu tun, — sei es Holz oder eine Wand,
Papier usw. Dazu mit Farben, also Möglichkeiten, verschiedene
Punkte auf den erwähnten Oberflächen eine verschiedenartige
Farbigkeit zu verleihen. Das Letztere muß, im Sinne einer Be-
deutung nicht unbedingt im Hinblick auf eine Erfahrung, son-
dern soll abstrakt verstanden werden. So z.B. verstehen wir auf
einer Gravüre die Schwärze der typographischen Tinte nicht
als schwarze Farbe, sondern allein als Zeichen der Ener-
gie des Holzschnitzers. Mit anderen Worten: auf der Grund-
lage — ist dies die Farbe. Um der Einfachheit willen können
wir uns aber vorstellen, daß es nur eine Farbe gäbe, Schwarz oder
Blei. Die Aufgabe des Malers bestünde nun darin, auf einer be-
stimmten Fläche mittels einer bestimmten Farbe, die von ihm
wahrgenommene oder scheinbar wahrgenommene Realität dar-
zustellen.

XIV.
Was bedeutet nun, geometrisch gesprochen, eme Realität darzu-
stellen} Es bedeutet, Punkte eines wahrgenommenen Raumes mit
den Punkten irgendeines anderen Raumes in Übereinstimmung
zubringen und im gegebenen Fall — mit einer Fläche. Doch die
Wirklichkeit ist zumindest dreidimensional und selbst wenn man
die Zeit als vierte Dimension übergeht (eine Dimension, ohne die
es keine Kunst gäbe), so hat eine Fläche doch nur zwei Dimensio-
nen. Kann es dann eine solche Entsprechung überhaupt geben?
Ist es überhaupt möglich, eine vierdimensionale oder sagen wir
um der Einfachheit willen: eine dreidimensionale Wirklichkeit
auf einer zweidimensionalen Fläche darzustellen? Reichen denn
die Punkte der letzteren im Hinblick auf die Punkte der ersten
Fläche aus? Oder mathematisch gesprochen: ist die Menge des
Dreidimensionalen mit der zweidimensionalen Menge vergleich-
bar? Die Antwort, welche sich dem Verstand ganz natürlich auf-
drängt, lautet: «Selbstverständlich — nein!»
«Selbstverständlich nicht, denn in einem dreidimensionalen
Urbild — existiert eine unendliche Menge zweidimensionaler
Schnitte und folglich ist dessen Punktmenge unendlich viel grö-
ßer als diejenige jedes einzelnen Schnittes.» Doch eine genaue
57
P r ü f u n g der gestellten Frage innerhalb der Theorie der Mengen-
lehre zeigt, daß diese nun doch nicht ganz so einfach zu beantwor-
ten ist, wie es auf den ersten Blick aussah. Und darüber hinaus
wird bald klar, daß die gegebene Antwort, die auf den ersten
Blick so konsequent schien, nicht als richtig anerkannt werden
darf. Es gilt eine Definition: die Kapazität eines jeden drei- oder
sogar mehrdimensionalen Urbildes ist genau dieselbe, wie die
eines beliebigen zwei- oder dreidimensionalen Bildes. Es ist des-
halb möglich, eine vier- bzw. dreidimensionale Wirklichkeit auf
einer Fläche darzustellen. Und dies ist nicht nur auf einer Fläche
möglich, sondern auch auf einem beliebigen Abschnitt einer ge-
raden oder gekrümmten Linie. Darüber hinaus kann ein solches
Abbild auf unzählige Weise hergestellt werden, sowohl in arith-
metischer als auch analytischer oder geometrischer Entspre-
chung. Als Typus der ersteren kann das Verfahren Georg
Cantors herangezogen werden, als Typus der übrigen die ge-
krümmten Linien Peanos oder auch Hilberts.
Um den Kern dieser Forschungen mit ihren überraschenden
Ergebnissen so einfach wie möglich darzulegen, beschränken wir
uns auf einen Fall. Und zwar die Darstellung eines Quadrats im
Maßstab 1:1 auf einem geradlinigen Abschnitt einer seiner Sei-
ten. Georg Cantor hat ein analytisches Verfahren entwickelt, mit
dessen Hilfe man eine Entsprechung zwischen jedem Punkt des
Quadrats und jedem Punkt seiner Seite herstellen konnte. Das be-
deutet, wenn wir mit Hilfe zweier Koordinaten (x und y) die Lage
eines jeden beliebigen Punktes im Quadrat bestimmt haben, so
können wir mit Hilfe eines einheitlichen Verfahrens diejenige
Koordinate (z) ausfindig machen, welche einen bestimmten
Punkt auf der entsprechenden Quadratseite zu fixieren vermag,
- ein Bild also des oben erwähnten Punktes des Quadrats. Und
umgekehrt; wenn ein beliebiger Punkt auf jenem Abschnitt ge-
kennzeichnet ist (als ein Abbild des Quadrats), so läßt sich auch
der von diesem Punkt dargestellte Punkt des Quadrats selber fin-
den. Auf diese Weise bleibt kein einziger Punkt des Quadrats
nicht abbildbar und kein Punkt auf dem Bild bleibt leer und ohne
Entsprechung. Ein Quadrat ist auf einer seiner Seitenlinien wiederzu-
geben.
Genauso kann auf der Seite eines Quadrats oder auf dem
Quadrat selber — ein Kubus, Hyperkubus oder jede beliebige an-
dere quadratische, geometrische Figur (ein Polyeder usw.) von
58
beliebiger und sogar unendlicher Größe dargestellt werden. All-
gemein gesagt: jedes kontinuierliche Gebilde mit beliebiger
Größe und beliebiger Begrenzung, letztlich alles innerhalb der
Geometrie - kann auf allem abgebildet werden.
Andererseits können die verschiedensten geometrisch ge-
krümmten Linien derartig aufgebaut werden, daß die gekrümm-
te Linie durch jeden wahllos gewählten Punkt innerhalb des
Quadrats verlaufen kann und — kehren wir zu unserem ersten
Beispiel zurück: so wird eine Entsprechung zwischen den Punk-
ten des gegebenen Quadrats und denen der geometrisch ge-
krümmten Linie hergestellt. Die Punkte dieser Linie mit den
Punkten der entsprechenden Quadratseite in Übereinstimmung
zu bringen — gleichsam identischen Räumen — ist nun schon über-
haupt nicht mehr schwer, wenn man die Punkte des Quadrats auf
dessen Seite abträgt. Die gekrümmten Linien Peanos und diejeni-
gen Hilberts besitzen, gleich einer unendlichen Menge ähnlicher
Linien mit vorunendlichen Mengen, offene Epizikloiden ... und
zeigen alle dieselbe wesentliche Eigenschaft: durch sie werden
Entsprechungen von Punkten zwei- und eindimensionaler Bilder
praktisch realisiert, so daß die jeweiligen Punkte leicht gefunden
werden können. Doch dies nur insofern, als daß diese Entspre-
chung mit anderen gekrümmten Linien nur dem Prinzip nach
hergestellt werden kann. Sie jedoch konkret zu finden, das heißt
zu bestimmen, welcher Punkt welchem entspricht, wäre äußerst
schwierig. O h n e auf die technischen Einzelheiten der Linien
Peanos und Hilberts einzugehen, haben letztere festgestellt, daß
solche gekrümmten Linien mit ihren mäanderähnlichen Krüm-
mungen zwar die gesamte Quadratoberfläche abzudecken in der
Lage sind und zwar jeden Punkt des Quadrats — bei beliebig endli-
cher Mäandrierung dieser Linie und systematischer Speiche-
rung. Das heißt also, alle Punkte des Quadrats werden bei einem
bestimmten Verfahren von den Krümmungen dieser Linie unbe-
dingt berührt. Ähnliche Prozesse können zur Darstellung — wie
gesagt — von allem auf alles angewandt werden.

XV.
Und daher sind kontinuierliche Mengen untereinander gleich
stark. Doch obwohl sie gleiche Stärken besitzen, fehlen ihnen die
59
je selben «erfaßbaren» oder «idealen» Zahlen im Sinne Cantors.
Das bedeutet, daß sie einander nicht ähnlich sind. Anders ausge-
drückt: es ist unmöglich sie aufeinander abzubilden, ohne ihren
Aufbau zu stören. Bei der Herstellung einer solchen Entspre-
chung würde entweder die Kontinuität der darzustellenden Fi-
gur zerstört (was geschieht, wenn man versuchte, die gegenseitige
Eindeutigkeit von Bild und Abbild zu bewahren), oder man ver-
letzt die Eindeutigkeit des einen oder anderen Bildes bei dem
Versuch, die Kontinuität des Darzustellenden zu bewahren.
Bei dem Verfahren Cantors wird ein Bild Punkt f ü r Punkt wie-
dergegeben, so daß jedem beliebigen Punkt des Urbildes n u r ein
Punkt des Abbildes entspricht. In dieser Hinsicht befriedigt diese
Entsprechung Cantors die verbreitete Vorstellung vom Wesen
einer Abbildung. Doch mit einer anderen Eigenschaft ist sie weit
vom Charakter einer solchen entfernt. Sie ist wie auch alle ande-
ren eindeutigen Entsprechungen auf dem untersuchten Gebiet
nicht in der Lage, die Nachbarschaftsverhältnisse der Punkte un-
tereinander zu bewahren. Sie schont weder ihre A n o r d n u n g
noch ihre Verhältnisse untereinander, d. h. sie ist nie kontinuier-
lich. Sobald wir uns auch nur ein klein wenig innerhalb eines
Quadrates bewegen, vermag die auf unsere Weise vollzogene
Darstellung schon nicht mehr kontinuierlichen Charakter zu
wahren und der darzustellende Punkt springt durch den gesam-
ten Darstellungsbereich. Diese Unmöglichkeit, eine eindeutige
und zugleich ungebrochene Entsprechung zwischen einem
Quadrat und einem seiner Seitenlinien herzustellen, ist außer
von Cantor von verschiedenen Mathematikern, nicht zuletzt
J. J0rgensen nachgewiesen worden. 4 5
Letzterer stützt sich auf den «Satz über die Bedeutung des Zwi-
schenraums»: Wenn der Punkt P eines Quadrats und der Punkt
P' eines geradlinigen Schnittes einander entsprechen, dann muß
einer gewissen Linie AB des Quadrats, die den Punkt P enthält,
ein zusammenhängender Abschnitt auf der genannten Linie
entsprechen, die den Punkt P' enthält. Daraus folgt aber, daß
Kraft der vorgeschriebenen Eindeutigkeit der Entsprechung zu
den übrigen Punkten des Quadrats im Umkreis von P - diesem
45. Die Erklärungen d e r hier verwendeten Begriffe der Mengenlehre — Menge,
Entsprechung, Stärke. Äquivalenz, Ähnlichkeit o d e r Übereinstimmung - finden
sich in einem Artikel Florenskijs mit d e m Titel «O simvolach beskonetschnosti» in:
·•Novy Putj», 1904/XI, S.173-235 (Über die Symbole d e r Unendlichkeit)

60
schon kein einziger Punkt mehr auf der Linie nahe des Punktes P'
entspricht. Woraus klar wird, daß eine gleichzeitig eindeutige
und kontinuierliche Darstellung u n d eine Entsprechung zwi-
schen den Punkten der Linie u n d des Quadrats unmöglich ist. So-
weit der Beweis von j0rgensen. Darüber hinaus können die Ent-
sprechungen Peanos und Hilberts nicht eindeutig sein, insofern
der Punkt auf der Linie nicht nur einen einzigen des Quadrats
abbildet. Und wie j0rgensen u. a. nachgewiesen hat, sind diese
Entsprechungen nicht durchweg ohne Unterbrechungen. Mit
anderen Worten: die Darstellung eines Quadrats auf einer Linie
bzw. eines Volumens auf einer Fläche oder Linie gibt zwar tat-
sächlich alle Punkte wieder. Doch ist sie nicht in der Lage, die
Form des Darzustellenden so als ein Ganzes wiederzugeben, daß
diese dem inneren Aufbaus eines bestimmten Gegenstandes ent-
spricht. Es wird der Inhalt des Raumes wiedergegeben, nicht aber seine
Organisation.
Um irgendeinen Raum mit allen seinen Punkten wiederzuge-
ben, ist es bildlich gesprochen unabdingbar, diesen entweder zu
unendlich feinem Pulver zu zerstoßen, ihn sorgfältig zu ver-
mischen, um ihn dann auf einer Darstellungsfläche so zu verstreu-
en, daß von seiner originären Organisation nicht einmal die Erin-
nerung bleibt. Ihn danach in eine Vielzahl von Schichten zu
zerschneiden, so daß nichts von seiner ursprünglichen Form er-
halten bleibt, diese Schichten dann jedoch - mit gewissen Wieder-
holungen des einen oder anderen Elements der alten Form — zu
verteilen (bei gleichzeitiger gegenseitiger Durchdringung dieser
Elemente), wodurch es in Folge zur Verkörperung von einigen
Elementen der alten Form in diesen oder jenen Punkten des Bil-
des kommt. Es fällt nicht schwer, hinter den oben genannten
mathematischen Darlegungen die von radikalen Strömungen der
Kunst unabhängig von der Mathematik gefundenen «Prinzi-
pien» divisionistischer und komplementärer Natur zu erkennen,
mit deren Hilfe diese Strömungen die Formen und Organisation
des Raumes zu zerstören suchten, um sie der Ewigkeit u n d der
Masse zum O p f e r zu bringen.
Zusammengefaßt heißt das: es ist zwar möglich, den Raum auf einer
Fläche darzustellen, jedoch nicht, ohne dabei zugleich die Form des Dar-
zustellenden zu zerstören. Dabei ist es gerade die Form und allein die
Form, welche die darstellende Kunst ausmacht. Und folglich wird
f ü r die Malerei und f ü r die gesamte darstellende Kunst im allge-
61
meinen (insofern sie den Anspruch hat, eine Analogie d e r Wirk-
lichkeit zu sein), ein abschließendes Urteil gesprochen werden
müssen: der Naturalismus ist ein für allemal eine Unmöglichkeit!

XVI.

Damit begeben wir uns sogleich auf d e n Weg des Symbolisch-


Zeichenhaften u n d verzichten dabei auf alle dreidimensional aus-
gedehnten Punktinhalte, sozusagen auf die Füllung d e r Wirklich-
keitsbilder. Wir verzichten mit einem Schlag auf alle räumlichen
Schicksale der Dinge u n d konzentrieren u n s — insofern es sich u m
die Wiedergabe der Wirklichkeit mittels Punkte geht — auf ihre
Oberflächen.
Jetzt verstehen wir unter den Dingen keineswegs die Dinge
selbst, sondern allein ihre Hautoberflächen, die den Bereich des
Raumes begrenzen. Innerhalb einer naturalistischen Bewertung
ist dies selbstverständlich ein entschiedener Austausch der Lo-
sung nach Wahrhaftigkeit. Wir wechseln die Wirklichkeit gegen
ihre Schale, ihre H a u t aus, deuten den R a u m n u n m e h r bloß an
u n d geben ihn keineswegs Punkt f ü r P u n k t wieder. Kann man
nun diese «Dinge» oder genauer: die H a u t dieser Dinge auf einer
Fläche darstellen?
Eine zustimmende oder ablehnende Antwort wird davon ab-
hängen, was unter d e m Begriff darstellen zu verstehen ist. Kann
man eine eindeutige Entsprechung zwischen den Punkten des
Urbildes u n d seines Abbildes darstellen, so daß die Kontinuität
des einen sowie des a n d e r e n im allgemeinen gewahrt bleibt? Zu-
mindest «allgemein», das heißt die Kontinuität des «größten
Teils» der Punkte ...? Doch wie immer auch diese E n t s p r e c h u n g
konstruiert wäre, einige Risse u n d Brüche einer gegenseitig ein-
deutigen V e r b i n d u n g wären bei einzelnen Punkten o d e r solchen
unausweichlich, die verschiedene nichtkontinuierliche Bilder
darstellten.
Mit a n d e r e n Worten: die Reihenfolge u n d das gegenseitige Ab-
hängigkeitsverhältnis der meisten Punkte des Urbildes w ü r d e n
auf d e m Abbild erhalten bleiben. Doch diese Tatsache beinhaltet
längst nicht die Unveränderlichkeit aller Eigenschaften derselben
u n d seien es n u r die geometrischen Eigenschaften des jeweiligen
Originals — bei dessen Ü b e r t r a g u n g mittels einer E n t s p r e c h u n g

62
auf eine Fläche. Es ist richtig, daß beide Räume — sowohl der dar-
zustellende, als auch der darstellende — zweidimensional sind und
in dieser Hinsicht einander ähnlich. Doch ihre Krümmungen un-
terscheiden sich voneinander und bei dem darzustellenden Raum
sind sie zudem unbeständig und verändern sich von Punkt zu
Punkt. Es wäre unmöglich, den einen auf den anderen zu legen,
auch wenn man einen von ihnen verbiegen würde, der Versuch
einer solchen Übertragung würde unausweichlich zu Rissen und
Falten auf einer der Oberflächen führen. Es ist unmöglich, eine
Eierschale, und sei es auch nur ein Stück von ihr, vollständig auf
die Fläche eines Marmortisches zu legen, — dazu müßte man sie de-
formieren, sie zu feinstem Staub zermahlen. Und aus demselben
Grund ist es auch unmöglich, ein Ei auf einem Stück Papier oder
auf Leinwand im wahrsten Sinne des Wortes darzustellen.
Die in Entsprechung gebrachten Punkte von Räumen verschie-
dener Krümmungen setzen unabdingbar die O p f e r u n g bestimm-
ter Eigenschaften des Dargestellten voraus, — natürlich sprechen
wir hier allein von geometrischen Eigenschaften und deren Opfe-
rung zum Zwecke der Übertragung derselben auf irgendwelche
Abbilder: die Gesamtheit der geometrischen Zeichen des Darzu-
stellenden kann f ü r eine Darstellung auf keinerlei Weise verfügbar
sein. Und wenn das Bild auch Ähnlichkeit mit seinem Original
haben sollte, so unterscheidet es sich von ihm zwangsläufig in vie-
lerlei Hinsicht. Ein Bild ist stets seinem Original ungleich, und
nicht gleich.
Selbst der einfachste Fall, die Darstellung einer Sphäre auf
einer Fläche, also das geometrische Schema der Karthographie,
erwies sich als außerordentlich schwierig und bot zur Erfindung
vieler dutzend verschiedener Verfahren der Darstellung Anlaß.
Man entwickelte sowohl Projektionsverfahren mittels geradlini-
ger Strahlen, welche von nur einem Punkt ausgingen, als auch
nicht-projektionstechnische Methoden, welche mittels kompli-
zierter Konstruktionen verwirklicht wurden oder sich auf mathe-
matische Berechnungen stützten. Jedoch berücksichtigten alle
diese Verfahren, die doch bestrebt waren, auf der Karte zumin-
dest einige Eigenschaften des dargestellten Territoriums abzubil-
den, eine Fülle anderer Fragen nicht oder entstellten sie sogar und
übergingen geographische Objekte, die nicht weniger wichtig wa-
ren. Jedes Verfahren ist gut in Bezug auf ein streng formuliertes
Ziel hin. Und ungeeignet, sobald sich neue Aufgaben stellen. An-
63
ders ausgedrückt: die geographische Karte ist einerseits ein Bild
und ist auf der anderen Seite — keins. Es ersetzt bekanntlich nicht
die wirkliche Gestalt der Erde und sei es in geometrischer Ab-
straktion, sondern dient lediglich als Hinweis auf einige ihrer Zei-
chen. Sie ist insofern ein Bild, sofern wir uns geistig durch und
mittels desselben — geistig seinem Urbild zuwenden. Und sie ist
kein Bild, wenn sie uns nicht hinter die Grenzen ihrer selbst führt, son-
dern uns auf irgendeine Pseudorealität festbannt — wie auf eine
bloß ähnliche Wirklichkeit. Das heißt: dann nicht, wenn die Karte
Anspruch auf eine sich selbst genügende Bedeutung erhebt.
Wir haben bis jetzt von einfachen Fällen gesprochen. Doch exi-
stieren weitaus schwierigere und vielgestaltigere Formen der
Wirklichkeit, als die Sphäre. Und entsprechend unzählbar vielge-
staltig können die Verfahren der Darstellung jeder dieser For-
men sein. Wenn man sich die Kompliziertheit und Vielgestaltig-
keit der Organisation dieses oder jenes Raumes im Bereich der
Wirklichkeit der Welt verdeutlicht, so verliert man leicht den Ver-
stand im Angesicht dieser unendlichen Möglichkeiten, diese Be-
reiche mittels Darstellung zu übertragen. Man verliert den Verstand
im Abgrund der eigenen Freiheit!
Auf mathematischem Wege zu versuchen, die Verfahren zur
Darstellung der Welt zu normieren, — ist eine sinnlose und anma-
ßende Aufgabe. Denn wenn eine solche Vereinheitlichung, die
darüber hinaus Anspruch auf mathematische Beweisbarkeit er-
heben müßte und nicht zuletzt Einheitlichkeit und Ausschließ-
lichkeit behauptet, sich schließlich ohne weitere Untersuchung
nur auf einen Teil eines Teils bzw. einen einzigen Fall von Ent-
sprechung beruft, so fragt sich, ob dies nicht bloß zu unserer
Belustigung geschieht!
Denn die perspektivische Darstellung der Welt ist eben nicht
mehr als eine Möglichkeit, die Realität zu zeichnen. Wenn also je-
mand die Perspektive aus Gründen der Komposition oder auf-
grund irgendwelcher anderer ästhetischer Fragen verteidigen
würde, so wäre eine solche Diskussion von durchaus eigenständi-
gem Wert. Doch leider muß gesagt werden, daß genau solche
Strategien der Verteidigung nirgendwo zu hören sind. Dagegen
darf sich eine solche Verteidigung weder auf geometrische, noch
auf physiopsychologische Argumente stützen: denn außer einer
Widerlegung der Perspektive, ist in diesem Bereich nichts zu ge-
winnen.
64
XVII.
Daher kann eine Darstellung, nach welchem Prinzip auch im-
mer die Entsprechung zwischen Darzustellendem und Darstel-
l e n d e m hergestellt wird, zwangsläufig nur hinweisend bezeichnen
oder andeuten. Ein solches Bild richtet den Betrachter auf eine
Vorstellung vom Original aus, doch bietet es dieses weder als Ko-
pie noch als Modell dar. Zwischen der Wirklichkeit und dem Bild
existiert im Sinne einer Ähnlichkeit kein Raum. Hier findet sich
nur ein Hiatus, welcher zuerst vom schöpferischen Verstand des
Künstlers und danach — vom Verstand desjenigen überwunden
wird, der sich das Bild ebenso schöpferisch wieder aneignet.
Das Letztere ist, ich wiederhole, nicht nur keine Verdoppelung
der Wirklichkeit in ihrer Fülle, sondern diese Abbildung ist nicht
einmal in der Lage, eine Ähnlichkeit der Oberflächen herzustel-
len. Das Abbild ist ein Zeichen eines Zeichens, insofern auch die Haut
der Gegenstände nur ein Bild derselben ist. Vom Bild geht der
Betrachter zur Oberfläche der Dinge und von dieser — zu den
Dingen selbst. Auf diese Weise eröffnet sich der Malerei prinzi-
piell ein unendliches Feld an Möglichkeiten. Dieser weite
Schwung gründet auf der Freiheit, die Entsprechungen zwischen
den Punkten der Oberflächen und den Punkten der Leinwand
auf überaus verschiedenen Grundlagen herzustellen. Nicht nur
ein einziges Prinzip der Entsprechung ermöglicht die Darstellung
eines (wenn auch nur) geometrisch adäquaten Bildes. Und folg-
lich sind diese verschiedenen Prinzipien, von denen keines allein
den echten Vorzug immanenter und vollständiger Adäquatheit
besitzt, jedes auf seine Weise anwendbar — mit all ihren Vorteilen
und Nachteilen. In Abhängigkeit von den inneren Bedürfnissen
der Seele wird in Übereinstimmung mit den Aufgaben des Kunst-
werkes (und keineswegs unter zwanghaftem Druck von außen)
eines der potentiellen Verfahren der Entsprechung von der je-
weiligen Epoche ausgewählt.
Diesem Verfahrensprinzip entströmen dann alle seine Beson-
derheiten, die guten wie die schlechten. Die Gesamtheit dieser
Besonderheiten schichtet die erste Besonderheit dessen auf, was
wir in der Kunst als den Stil oder die Manier bezeichnen. Und in
dieser Auswahl bestimmter Prinzipien der Entsprechung drückt
sich der ursprüngliche Charakter aus, durch welchen das Ver-
hältnis des schöpferischen Künstlers und der Welt bestimmt wur-
65
de und damit auch — die entsprechend größte Tiefe seiner Welt-
auffassung und seines Lebensgefühls.
Die perspektivische Darstellung der Welt ist also eine aus einer
zahllosen Menge möglicher Verfahren zur Herstellung einer
bezeichenbaren Entsprechung. Sie ist des weiteren ein sehr
begrenztes und enges Verfahren, welches von einer Unzahl ein-
grenzender Bedingungen umrankt wird, durch welche ihre
Möglichkeiten u n d Anwendungsgrenzen festgelegt werden. Um
diejenige Lebensorientierung zu verstehen, aus der so zwangs-
läufig auch die Linearperspektive in den darstellenden Künsten
hervorging, gilt es zuerst die Voraussetzungen zu ordnen, von
welchen der Künstler-Perspektivist bei jedem seiner Bleistift-
bewegungen stillschweigend ausgeht. Diese sind ...
Erstens der Glauben, daß der Raum der realen Welt der euklidi-
sche Raum ist. Ein isotroper, homogener, unendlicher und gren-
zenloser Raum bar aller Krümmungen und sodann dreidimen-
sional. Es wird f ü r möglich gehalten, durch jeden beliebigen
Punkt eine Parallele oder eine Gerade (und zwar eine einzige)
hindurchzuführen. Der Künstler-Perspektivist ist davon über-
zeugt, daß der gesamte Aufbau der Geometrie, wie er ihn in
seiner Kindheit gelernt und seitdem erfolgreich vergessen hat,
seinem Wesen nach kein abstraktes Schema ist, sondern noch
dazu - reell existiert und sogar anschaulich ist. Der Künstler der
untersuchten Geistesrichtung glaubt an die Geradheit aller Strah-
len, die als Bündel vom Auge ausgehend zu den Konturen der
Gegenstände f ü h r e n . Übrigens gemäß dem alten Bewußtsein,
nach welchem das Licht nicht vom Gegenstand zum Augen, son-
dern vom Auge zum Gegenstand geht. Er glaubt des weiteren an
die Unveränderlichkeit des Maßstabes bei gleichzeitiger Übertra-
gungsmöglichkeit desselben von Raum zu Raum, von Ort zu Ort
sowie dessen Drehbarkeit von einer Richtung in die andere usw.
usf. Kurz gesagt: er glaubt an einen Aufbau der Welt nach Euklid
und an die Erkennbarkeit der Welt—nach Kant. Dies zum ersten.
Zweitens meint er (nun schon gegen die Logik Euklids, doch im
Einklang mit dem Geiste des Kantianismus — wo über einer trüge-
risch-subjektivistischen Welt ein transzendentales Subjekt zwang-
haft herrscht), daß inmitten der bei Euklid noch absolut gleichge-
stellten Punkten des unendlichen Raumes ein außerordentlicher,
einzigartiger und seinem Wert nach besonderer Punkt existiere.
Ein absolutistischer Punkt, dessen einzige herausragende Eigen-
66
schaft darin besteht, daß er den Aufenthaltsort des Künstlers
selbst ausmacht; oder genauer: seines rechten Auges, d. h. des
optischen Zentrums seines rechten Auges.
Alle Orte des Raumes sind bei einer solchen Auffassung ihrem
Wesen nach ohne Qualität und alle gleich farblos - alle, außer
diesem einen absolutistisch vorherrschenden Punkt. Dessen
Glück nun darin gründet, Residenz des optischen Zentrums des
rechten Auges des Künstlers sein zu dürfen. Dieser Ort wird so-
mit zum Zentrum der Welt erklärt. Er erhebt den Anspruch, die
kantische und gnoseologisch-absolute Bedeutung des Künstlers
zu vertreten. Wahrhaftig, von seinem «Standpunkt» aus schaut er
auf das Leben, ohne jede weitere Originalität! Denn jener f ü r ab-
solut erklärte Punkt unterscheidet sich in Wahrheit in nichts von
allen übrigen Punkten des Raumes. Die Bevorzugung des einen
gegenüber allen anderen Punkten wird nicht nur nicht motiviert,
sondern ist dem Wesen der untersuchten Weltanschauung nach —
auch nicht motivierbar.
Drittens stellt sich uns dieser auf seinem «Standpunkt» ruhende
Herrscher u n d Gesetzgeber — als einäugig, als Zyklop dar, denn
das zweite Auge, mit dem ersten wetteifernd, würde die Ein-
heitlichkeit und folglich die Absolutheit dieses Standpunktes zer-
stören. Es ü b e r f ü h r t das perspektivistische Bild des Betrugs!
Insgesamt gesehen, bezieht sich die ganze Welt des Künstlers
nicht einmal mehr auf den betrachtenden Künstler, sondern ein-
zig auf sein rechtes Auge, das noch dazu durch den erwähnten
Punkt vertreten wird - sein optisches Zentrum. Dieses Zentrum
allein gibt dem Bau der Welt seine Gesetze.
Viertens wird der oben genannte Gesetzgeber als ein auf immer
und ewig an seinen T h r o n Gefesselter gedacht. Wenn er seinen
absolutistischen Platz verlassen oder sich auch nur bewegen
würde, so fiele die gesamte Einheitlichkeit der Perspektive sofort
zusammen. Die Perspektive aber würde sich zerstreuen. Mit an-
deren Worten: das betrachtende Auge ist diesem Verständnis
nach nicht das Organ eines lebendigen Wesens, das in der Welt
lebt und wirkt, sondern die Glaslinse einer camera obscura.
Fünftens·, die ganze Welt wird als vollkommen unbeweglich und
in Gänze unveränderlich gedacht. Keine Geschichte, keine Verän-
derungen oder Bewegungen, weder Biographien, noch Entwick-
lungen dramatischer Ereignisse oder Spiele von Emotionen darf
es in jener Welt geben! Denn ansonsten würde aufs Neue die per-
67
spektivische Einheit des Bildes zerfallen. Diese Welt ist — nicht nur
tot oder von einem ewigen Schlaf befallen — sondern stets ein und
dasselbe und in seiner Unbeweglichkeit erfrorene Bild.
Sechstens werden alle psychophysiologischen Prozesse des Sehens
ignoriert. Das Auge scheint unbeweglich und einer optischen
Linse ähnlich leidenschaftslos. Es selber rührt sich nicht, kann es
nicht und hat auch nicht das Recht dazu. Eine Vorstellung, die
gegen die grundlegenden Bedingungen des Sehens verstößt.
Gegen die visuelle Aktivität, den aktiven und summierenden
Aufbau der Wirklichkeit durch das Sehen als der Tätigkeit eines
lebendigen Wesens. Darüber hinaus wird dieser Sehvorgang
weder durch Erinnerungen, noch durch geistige Anschauungen
oder Erkenntnisvorgänge begleitet. Dieses «Sehen» bleibt ein
rein äußerlich-mechanischer Prozeß — und im besten Falle
ein chemophysikalischer. Ein Vorgang, der in keiner Weise als
menschliches Sehen bezeichnet werden darf. Denn jedes psychi-
sche Moment desselben, ja sogar jedweder physiologischer wurde
entschieden ausgeschlossen.
Nur wenn man die eben beschriebenen sechs Voraussetzungen
erfüllt, dann und nur dann ist es möglich, eine Entsprechung zwi-
schen den Oberflächenpunkten der Welt und den Punkten des
jeweiligen Abbildes herzustellen, das ein perspektivisches Bild
sein soll. Wenn auch n u r eine dieser Bedingungen nicht in jeder
Hinsicht erfüllt ist, so wird diese Art einer Entsprechung unmög-
lich und die Linearperspektive würde in mehr oder weniger ho-
hem Maße zerstört werden. Ein Bild nähert sich der Perspektive
nur insoweit und in dem Maße, in dem es die o. g. Bedingungen
erfüllt. Werden diese also nur in einem äußerst geringen Punkt
nicht befolgt und würde man die Verletzung dieser Gesetze auch
nur partiell zulassen, so hörte die Perspektive sofort auf, eine
bedingungslose Forderung zu sein, welche über dem Künstler
drohend schwebt. Sie wäre dann ein bloß annäherndes Ver-
fahren der Wiedergabe der Wirklichkeit. Sie bliebe ein Verfah-
ren unter vielen, dessen Grad der Anwendbarkeit und dessen
Rolle bei der Verwendung im gegebenen Werk durch die speziel-
le Aufgabenstellung des gegebenen Werkes und seines je aktuel-
len Platzes bestimmt werden würde. Doch solches gilt keineswegs
f ü r jede Darstellung als solche und schon gar nicht unter allen
Umständen.
Doch lassen wir es einmal zu: würden die Bedingungen der
68
P e r s p e k t i v e vollends befriedigt, wäre folglich — auch innerhalb
des Bildes die perspektivische Einheit genauestens gewahrt. Das
Bild der Welt, wie es sich unter diesen Umständen darstellt, gliche
einer photographischen Aufnahme, die die gegebene Entspre-
chung mittels einer durch ein Objektiv belichteten Folie der
Wirklichkeit abbildet. Wenden wir uns nun von den Fragen der
Eigenschaften des Raumes selbst u n d den Problemen physiophy-
sikalischer Prozesse ab, so können wir sagen, daß diese Moment-
aufnahme im Verhältnis zur wirklichen W a h r n e h m u n g der reel-
len Wirklichkeit einem Differential gleicht und darüber hinaus
einem höheren bzw. einem Differential zweiter Ordnung. Um
nun durch dieses ein echtes Bild der Welt zu erhalten, müßte man
es entsprechend den verschiedenen Zeiten (von welchen ja die
Veränderung der Wirklichkeit selbst abhängt), mehrfach in-
tegrieren. Und dies entsprechend anderen Prozessen der Wahr-
nehmung und anderen Veränderlichkeiten, wie z.B. ein ver-
änderliches Vermögen der Massewahrnehmung. Wenn also dies
alles geschehen wäre, so würde das Integralbild, welches wir er-
hielten, sicher nicht mit dem rein künstlerischen Bild überein-
stimmen. Und zwar aufgrund der fehlenden Übereinstimmung
des darin vorausgesetzten Verständnisses vom Raum mit dem-
jenigen einer künstlerischen Darstellung, da ersterer als eine in
sich abgeschlossene Einheit dargestellt werden will.
Es fällt nicht schwer, in einem solchen perspektivischen Künst-
ler die Verkörperung eines passiven bzw. zur totalen Passivität ver-
urteilten Denkens zu erkennen. Ein Denken, das blitzartig, gleich
einem Dieb und Räuber die Welt durch die Ritze seiner subjekti-
ven Scheuklappen leblos und bewegungsunfähig betrachtet und
nicht in der Lage ist, auch nur eine Bewegung zu erhaschen und
voll Mühe danach strebt, die göttliche Absolutheit genau seines
Platzes und seiner kurzen Beobachtung zu manifestieren. Dieser
Beobachter, der nichts von sich in diese Welt einbringt, ist nicht
einmal in der Lage, seine isolierten Eindrücke zu summieren, da
er mit der Welt nicht in lebendige B e r ü h r u n g geraten kann,
weder in ihr lebt, noch seine eigene persönliche Realität aner-
kennt. Auch wenn er seine stolze Weltabgeschiedenheit als eine
Art letzte Instanz auffaßt und deshalb glaubt, durch seine Die-
beserfahrung die ganze Welt zu konstituieren und sie unter dem
Vorwand der Objektivität in den dazugehörigen Differential hin-
einzuquetschen.
69
Auf diese Weise kam auf dem Boden der Renaissance die Welt-
anschauung Leonardos - Descartes — Kants auf; und im selben
Maße entstand auch das künstlerisch darstellende Äquivalent
dieser Weltanschauung - die Zentral- oder Parallelperspektive.
Die künstlerischen Symbole müssen bei ihr deshalb perspekti-
visch sein, weil sie eine Möglichkeit darstellt, alle Weltanschau-
ungen zu vereinen, einer Welt die als einheitlich, unauflöslich
und undurchdringlich vorgestellt wird, als ein euklid-kantisches
System von Entsprechungen, das seinen Mittelpunkt im Ich des
Betrachters der Welt hat. Jedoch derart, daß dieses Ich selbst un-
tätig und spiegelartig ist, gleichsam irgendein künstlicher Brenn-
punkt der Welt.
Mit anderen Worten: Die Perspektive ist ein Verfahren, welches mit
Notwendigkeit aus einer Weltanschauung hervorgehen mußte, in welcher
irgendeine Subjektivität als die wahre Grundlage einer halbrealen Vor-
stellung von den Dingen fungiert, der Realität selbst verlustig gegangen.
Die Zentralperspektive ist Ausdruck des Monismus und des Un-
persönlichen. Diese seit dem Ende des mittelalterlichen Realis-
mus und Polyzentrismus bekannte Denkrichtung wird n u n m e h r
als «Humanismus» und «Naturalismus» bezeichnet.

XIX.
Doch bleibt zu fragen, in welchem Maße es möglich sein kann,
an der Stichhaltigkeit der oben genannten sechs Voraussetzun-
gen der Perspektive zu zweifeln. Ist die perspektivische Darstel-
lung — sei sie auch eine von vielen der abstrakt vorhandenen Ver-
fahren, die Welt darzustellen, was ich nicht bestreite! — ist also die
Linearperspektive der Sache nach wirklich die einzig Mögliche?
Und stehen die vorgestellten Bedingungen auf dem Boden le-
bendiger Realität? Anders gefragt: entspricht dieses kantische
Renaissancedenken einer lebendigen Wirklichkeit? Denn wenn
sich erwiese, daß die Voraussetzungen der Perspektive innerhalb
der wirklichen Erfahrungen verletzt würden, so wäre damit auch
die Relevanz dieser Anschauungen widerlegt. Und so betrachten
wir noch einmal — und Schritt um Schritt — jene sechs Vorausset-
zungen!
Zum ersten muß im Hinblick auf die Frage nach dem Raum ge-
sagt werden, daß sich drei durchaus nicht miteinander identische
Schichten des Begriffs selbst unterscheiden lassen. Das sind der
70
abstrakte Raum, der geometrische sowie der physiologische Raum, wo-
bei sich letzterer noch weiter unterteilen läßt in einen Raum des
Sehens, Riechens und Schmeckens, einen Raum des allgemeinen
organischen Fühlens und in zahlreiche feinere Unterscheidun-
gen. Von jedem dieser abgeteilten Räume, groben und unbedeu-
tenden, kann man im allgemeinen höchst verschiedenartig den-
ken. Die Annahme, daß eine ganze Serie außerordentlich schwie-
riger Fragen mit einem einfachen Verweis auf die geometrische
Lehre von ähnlichen Körpern im dreidimensional euklidischen
Raum — einfach fortgewischt werden kann, hieße, noch nicht ein-
mal die Schwierigkeiten der gegebenen Probleme erkannt zu ha-
ben. Vor allem aber muß gesagt werden, daß auf die unterschied-
lichen Punkte der Frage nach dem Raum, auch die Antworten
überaus unterschiedlich ausfallen können. Abstrakt geometrisch
gesehen, ist der euklidische Raum ein Fall unter überaus ver-
schiedenen, vielfältigen Räumen. Räume, die mit den unerwar-
tetsten Eigenschaften innerhalb der Elementaren Geometrie aus-
gestattet sind, aber vieles aufgrund ihrer unmittelbaren Bezie-
hung zur Welt erklären können. Die Geometrie Euklids ist eine
von zahllosen Geometrien und zu behaupten, daß der physische
Raum, der Raum physikalischer Prozesse genau dem Raum
Euklids entspricht - haben wir keinen Grund. Es handelt sich hierbei
um ein bloßes Postulat, die Forderung, auf ein und dieselbe Weise
von der Welt zu denken und alle anderen Vorstellungen mit die-
ser in Einklang zu bringen. Diese Forderung selbst entspringt
einem im voraus verkündeten Glauben an eine physikalisch-
mathematische Wirklichkeit mit ganz bestimmten Eigenschaften.
Die da sind: das Prinzip der Kontinuität, der absoluten Zeit und
der absolut festen Körper.
Doch lassen wir einmal für einen Moment zu, daß die physische
Wirklichkeit der Geometrie Euklids entspricht ... daraus folgt
aber noch kein Wahrheitsmoment! Wie auch immer sie der un-
mittelbare Betrachter der Welt f ü r beschaffen hält, wie der in ihr
Lebende über die physische Welt denken mag und wie sehr er
auch bestrebt sein mag, alle seine Vorstellungen bedingungslos
diesen Ideen eines euklidischen Aufbaus der äußeren Welt anzu-
passen (wobei auch der physiologische Raum diesem Schema un-
tergeordnet werden soll) - die oben genannten Räume gehen
nicht in der Geometrie Euklids auf! Ganz zu schweigen von den
Räumen des Riechens, Schmeckens, Hören, Fühlens oder dem
71
Raum der Wärme, die alle nicht das Geringste mit dem Raum Eu-
klids zu tun haben, so daß sich Untersuchungen diesbezüglich nicht
einmal lohnen würden. Und schließlich d a r f a u c h nicht die Tatsa-
che übergangen werden, daß sogar der sichtbare Raum, der doch
am allerwenigsten vom Raum Euklids entfernt ist, bei aufmerksa-
mer Betrachtung sich im hohen Maße von jenem unterscheidet.
Und doch liegt er der Malerei und Graphik zugrunde, auch wenn
er sich in einzelnen Fällen anderen Arten des physiologischen
Raumes unterordnet, — und das Bild auf diese Weise zu einer
visuellen Transposition nichtsichtbarer Wahrnehmungen wird.
«Fragt man jetzt, was denn der physiologische Raum mit dem
Raum der Geometrie gemeinsam hat, so finden sich äußerst weni-
ge gemeinsame Züge.» schreibt Mach. Sowohl dieser als auch je-
ner Raum ist dreidimensional. Einem jeden Punkt des geometri-
schen Raumes A, B, C, D entspricht ein Punkt A', B', C', D' des
physischen Raumes. Wenn C zwischen B und D liegt, so befindet
sich auch C' zwischen B' und D'. Man kann es auch so sagen: einer
kontinuierlichen Bewegung irgendeines Punktes des geometri-
schen Raumes entspricht eine kontinuierliche Bewegung eines
Punktes im physiologischen Raum. Daß diese Kontinuität - neh-
men wir sie der Bequemlichkeit halber an — durchaus nicht unbe-
dingt reell und unanfechtbar sein muß, weder in dem einen noch
im anderen Raum, haben wir schon an anderer Stelle nachgewie-
sen. Wenn wir also auch annehmen würden, daß der physiologi-
sche Raum uns angeboren ist, so hat er doch zu wenig Ähnlichkeit
mit dem geometrischen Raum, als daß man in ihm eine ausrei-
chende Grundlage f ü r eine (im Sinne Kants) a priori entwickelte
Geometrie fände. Auf seiner Grundlage kann man — im allerbe-
sten Falle - eine Topologie errichten.
«Wenn diese Unähnlichkeit zwischen dem physiologischen
und geometrischen Raum denjenigen nicht ins Auge springt, die
sich nicht speziell mit solchen Fragen beschäftigen, wenn also der
geometrische Raum ihnen nicht irgendwie ungeheuer erscheint,
so erklärt sich dies bei näherer Betrachtung aus den Lebensbe-
dingungen und der Entwicklung dieser Menschen.» Doch auch
bei «allergrößter Annäherung des physiologischen Raumes an
den Raum Euklids, unterscheidet sich ersterer nicht wenig vom
letzteren. Die Unterschiede zwischen Rechts und Links, Hinten
und Vorne überwindet der naive Mensch ohne Mühe, doch umso
schwerer fällt ihm die Überwindung des Unterschiedes von Oben

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und Unten. Und dies infolge des Widerstandes, welcher in die-
sem Zusammenhang durch den Geotropismus zustande kommt.»
In einem anderen Text zeichnet derselbe Autor einige Züge
dieser Unterschiede: «Nicht nur einmal wurde aufgezeigt, in
welch hohem Maße sich das System unserer räumlichen Empfin-
dungen vom geometrischen Raum Euklids unterscheidet. Der
geometrische Raum ist überall und in jeder Hinsicht gleichartig.
Er ist unwandelbar und unendlich. Der Raum des Sehens aber
wandelt sich und ist endlich. Ja er ist sogar, wie das die Wahrneh-
mung des plattgedrückten «Himmelsgewölbes» zeigt, ungleich-
mäßig hinsichtlicher all seiner Ausdehnungsrichtungen. Die
Verkleinerung der Körper bei größerer Entfernung u n d die
gleichzeitige Vergrößerung bei Annäherung, stellen den Raum
des Sehens eher in die Nähe verschiedener Metageometrien, als
in diejenige Euklids. Der Unterschied zwischen «Oben» und
«Unten», «Vorne» und «Hinten» sowie — will man genau sein —
zwischen «Rechts» und «Links» existiert genau wie f ü r den fühl-
baren Raum, so auch f ü r den visuellen. Für den geometrischen
Raum aber existieren diese Unterschiede nicht.» Der physiologi-
sche Raum ist ungleichartig und isotrop — dies zeigt sich an der
unterschiedlichen Winkelwahrnehmung bei unterschiedlicher
Entfernung zum Horizont, einer unterschiedlichen Wahrneh-
mung von Entfernungen - sowohl gegliedert als auch ungeglie-
derten, der unterschiedlichen Genauigkeit der Wahrnehmung
an verschiedenen Stellen der Netzhaut usw. usf.
Und so muß und kann man daran zweifeln, daß unsere Welt
dem euklidischen Raum entspricht. Und ist dieser Zweifel be-
rechtigt, so scheint es wahrscheinlich, daß wir die Welt eines Kant
oder Euklid weder sehen, noch sonstwie wahrnehmen können.
Darüber hinaus ist es nicht Sache des Künstlers, Traktate zu
schreiben, sondern Bilder zu malen, d. h. dasjenige darzustellen,
was er tatsächlich sieht. Und er sieht entsprechend dem tatsächli-
chen Aufbau der Organe des Sehens durchaus keine kantische
Welt und muß folglich eine Realität zeichnen, die keineswegs den
Gesetzen der euklidischen Geometrie unterworfen ist.
Zum Zweiten vermag kein einziger Mensch mit gesundem Ver-
stand seinen Standpunkt als den einzig existierenden zu behaup-
ten. Sondern er erkennt jeden Standpunkt an und vermag ihn zu
würdigen, denn ein jeder Ort gewährt einen besonderen Aspekt
der Welt. Wobei die anderen Aspekte nicht ausgeschlossen wer-
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den, sondern im Gegenteil hervorhebbar sind. Einige Stand-
punkte sind inhaltsvoller und charakteristischer als andere, jeder
hinsichtlich seiner Verhältnisse, jedoch existiert keiner von ihnen
als absolut. Folglich ist der Künstler bemüht, den darzustellenden
Gegenstand von verschiedenen Standpunkten aus zu betrachten.
Er bereichert seine Wahrnehmung mit neuen Aspekten der
Wirklichkeit, indem er ihre mehr oder weniger unterschiedliche
Bedeutung anerkennt.
Zu Drittens: Indem der Künstler ein zweites Auge besitzt und
damit sofort mindestens auch zwei Stand- oder Blickpunkte, be-
sitzt er zugleich ein stetes Korrektiv seines Illusionismus. Denn
das zweite Auge weist ihn stets d a r a u f h i n , daß die Linearperspek-
tive eine Täuschung ist — und darüberhinaus eine mißglückte!
Außerdem vermag der Künstler mit zwei Augen mehr zu sehen,
als mit einem. Ja mehr als das: er sieht mit jedem Auge auf eine
besondere Weise. So daß sich in seinem Bewußtsein das geschaute
Bild summarisch zusammensetzt, ähnlich einem Feldstecher; auf
jeden Fall existiert eine Art psychischer Synthese, wobei all das
jedoch keinesfalls mit einem Monokel verglichen werden kann
oder mit einer Photographie auf der Netzhaut. Weder die An-
hänger der Helmholtzscheri Theorie des Sehens, noch die Verteidi-
ger der Perspektive verwiesen je auf den geringfügigen Unter-
schied der beiden Bilder, die durch das eine und das andere Auge
gegeben werden. Dieser Unterschied ist nach ihren Theorien ge-
rade ausreichend, um die Sehtiefe herzustellen und ohne diesen
gäbe es diese nach ihrer Meinung gar nicht. Und nicht zuletzt wird
duch die faktische Leugnung des Unterschiedes zwischen den Bil-
dern des rechten und linken Auges die Ursache beseitigt, auf-
grund derer der Raum dreidimensional wahrgenommen wird.
Übrigens ist dieser Unterschied keineswegs so gering, wie es
dem ersten Anschein nach aussieht. Als Beispiel sei eine Berech-
nung vorgestellt: Nimmt man einen Ball mit einem Durchmesser
von 20 cm und betrachtet ihn in einem Abstand von einem halben
Meter, Abstand von 6 cm angenommen wird, so beträgt die Län-
ge des Äquatorialbogens, welches das linke Auge wahrnimmt, et-
wa ein Drittel des Bogens mehr, welchen das rechte Auge sieht.
Führt man den Ball noch näher heran, wird dieser Unterschied
noch größer als ein Drittel. Diese Größenordnung, mit der man es
unter gewöhnlichen Bedingungen des Sehens zu tun hat, z. B. bei
der Betrachtung eines menschlichen Gesichts, können selbst bei
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