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Alfred Hirsch - Der Dialog Der Sprachen. Benjamin Und Derrida
Alfred Hirsch - Der Dialog Der Sprachen. Benjamin Und Derrida
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Alfred Hirsch
f Bayerische
I Staatsbibliothek
I München
Hirsch, Alfred:
Der Dialog der Sprachen : Studien zum Sprach- und Übersetzungs-
denken Walter Benjamins und Jacques Derridas / Alfred Hirsch. -
München: Fink, 1995
(Phänomenologische Untersuchungen; Bd. 4)
Zugl.: Diss.
ISBN 3-7705-2937-5
NE:GT
ISBN 3-7705-2937-5
© 1995 Wilhelm Fink Verlag, München
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 9
Literaturverzeichnis 317
Personenregister 331
Sachregister 333
9
Einleitung
Wie ehemals die Sprache selbst als zweitrangig und akzidentell gegen-
über dem Denken und dem Seienden von der Philosophie gehandelt
wurde, so verfährt diese noch immer - nach der Rehabilitierung der
Sprache - mit dem Problem der Übersetzung. Im Vordergrund des
sprachphilosophischen Interesses steht die Sprache im allgemeinen, und
man glaubt, dort schon jene Bezüge und Prozesse zu erkennen, die auch
für die Übersetzung im besonderen gelten. Warum aber verweigert sich
die Sprachphilosophie - bis auf wenige Ausnahmen - der Reflexion auf
das Problem der sprachlichen Übersetzung? Dies liegt sicher darin be-
gründet, daß die Sprachphilosophie in der sprachlichen Übersetzung
bisher keinen Problembezirk, auf welchen zu reflektieren sich lohnen
würde, entdecken konnte. Dieses wiederum mag aber darauf zurückzu-
führen sein, daß, noch bevor das Gewicht der sprachlichen Pluralität für
ein Sprachdenken im allgemeinen fruchtbar gemacht wurde, schon der
Anspruch auf eine Universalsprache und -grammatik bestand. Die Viel-
zahl und Vielfalt der Sprachen spielt ja gerade dann keine Rolle, wenn
universelle, das heißt allen Sprachen gemeinsame und identische inner-
oder außersprachliche Substanzen oder Regeln zugrunde gelegt werden.
Mögen derartige Substanzen in der Geschichte des Denkens auch un-
terschiedliche Titel wie Gott, Natur, Rationalität, Subjekt, ,mathesis uni-
versalis' usw. getragen haben, so stehen sie doch alle für das Bemühen
der Philosophie um eine zentrale und ewig wahre Instanz. Noch hinter
jedem Versuch, die grammatischen und logischen Prinzipien der Spra-
che im allgemeinen aufzudecken, steht das Bemühen um universelle
sprachliche Regeln. Sämtliche Unternehmungen dieser Art zielen darauf,
mit einer einheitlichen Grammatik die Sprache aus dem Status der Doxa
in denjenigen der Episteme zu überführen. Insofern gilt die Pluralität der
Sprachen dem philosophischen und sprachtheoretischen Denken von
Piaton bis Chomsky als überwindenswerte und überwindbare Oberflä-
cbenverschiedenheit, welche die in der Tiefe ruhende universelle und
zeitlose Wahrheit nicht bedrohen kann.
Indem die Philosophie die Verschiedenheit und Vielzahl der Sprachen
für zweitrangig und abgeleitet erklärt, schafft sie natürlich auch sich
10 EINLEITUNG
ken. Wenn Humboldt feststellt, daß ,die Sprachen' nicht Mittel sind, die
schon erkannte Wahrheit einfach zu repräsentieren, sondern daß sie
vielmehr dazu da sind, „die vorher unerkannte zu entdecken" 1 , dann
macht er deutlich, daß die Entdeckung der Wahrheit nur mittels der
Vielheit der .Sprachen' denkbar ist. Die Reflexion eines solchen Entdek-
kungsverfahrens der .Sprachen' könnte allerdings offenbaren, daß es
ebenso, wie es eine Vielzahl an Sprachen und Denkweisen gibt, auch eine
Vielzahl an Wahrheiten und Sinnzentren geben muß.
Erst eine als irreduzibel gedachte Verschiedenheit der Sprachen würde
der Übersetzung und ihrer sprachphilosophischen Reflexion jene Bedeu-
tung beimessen, die sie zur entscheidenden Voraussetzung philosophi-
scher Erkenntnis überhaupt macht. Indem die Philosophie sich dem
Problemfeld der Übersetzung nähert, bringt sie auch ein Problem in den
Blick, das für das philosophische Verstehen im allgemeinen grundlegend
ist: die Philosophie müßte Auskunft über die Identität und Differenz der
Idiome geben. Gäbe es nämlich tatsächlich nur Idiome als in sich ge-
schlossene Monaden, die keine Ähnlichkeiten oder Verwandtschaften
mit anderen Idiomen unterhalten könnten, dann wäre Übersetzung als
solche sinnlos, weil sie unmöglich wäre. Die Fremdheit zwischen den
Sprachen kann nicht zur absoluten Fremdheit heraufgesteigert werden,
da sich sonst das praktische und alltägliche Funktionieren der Überset-
zung nicht erklären ließe. Auch bieten all jene Theorien kein wirkliches
Verständnis von Identität und Differenz der Sprachen, die vermittels der
Formalisierung und Idealisierung sprachlicher Strukturen eine Schema-
tisierung sprachlichen Geschehens vornehmen, welche den sprachlichen
Bewegungen kaum gerecht werden. Zumeist sind es aber gerade die for-
matierenden sprachtheoretischen und linguistischen Ansätze - von
Leibniz über Frege bis zu Quine und Chomsky - , die die Vereinheit-
lichung des Sprachpluralismus im Medium universeller grammatischer
Strukturen für möglich erachten. Aber gerade vor dem Hintergrund ei-
nes Übersetzungsverfahrens, das sich auf eine Universalgrammatik be-
ruft, kündigt sich ein Problem an. Denn wenn es in der Übersetzung um
die Übertragung sprachlicher Bedeutung auf der Basis von universal-
grammatischen Vorgaben geht, dann wird die Identität der Sprachen um
einen Preis erreicht, der den radikalen Sprachpluralismus verdeckt. Eine
Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Schriften, 17 Bde, hrsg. von A. Leitzmann u. a.,
Berlin 1903-1936, Bd. IV, S. 27.
12 EINLEITUNG
solche Verdeckung wäre natürlich nichts anderes als die Mißachtung der
Fremdheit und der Differenz gerade jener Sprachen, die in großer Fer-
ne zu den Sprachen stehen, aus deren Traditionen sich eine universal-
grammatische Formalisierung erstellen ließe. Zugleich aber bleibt die
Gemeinsamkeit gewisser grammatischer Strukturen zwischen bestimm-
ten Sprachen nachweisbar, ohne daß sogleich lexikalische oder syn-
taktische Universalismen zugrunde gelegt werden müssen. Zwischen
solchen Sprachen ist Übersetzung zwar ohne Frage möglich, aber auch
die Gefahr ist groß, daß durch die Nähe die Differenz der Sprachen der
Übertragung von Identitäten geopfert wird. Geht es in der Übersetzung
aber um die Übertragung eines Idioms als sprachliche und geistige
Fremdheit, so macht Übersetzung doch nur Sinn, wenn die Fremdheit
der anderen Sprache mit in der Übersetzung erscheint.
Die Identität der Sprachen müßte in einer paradoxen Weise gerade
ihre Differenz transportieren und spürbar machen. Vernachlässigte die
Übersetzung nämlich die Fremdheit der Ausgangssprache, gäbe sie ge-
rade jene Differenz auf, die sie von der Ausgangssprache unterscheidet.
Zweifelsohne gilt aber dieses Problem, das sich dem Übersetzungsdenken
in besonderem Maße stellt, für das Sprachverstehen und die sprachliche
Kommunikation im allgemeinen. Die Bewegung der Übersetzung läßt
hier paradigmatisch die Kompliziertheit der Beziehung von Eigenem und
Fremdem, von Leser und Text, ich und du usw. aufscheinen. „Der Fall
der Übersetzung macht", wie Gadamer sagt, „die Sprachlichkeit als das
Medium der Verständigung dadurch bewußt, daß dieses erst durch eine
ausdrückliche Vermittlung erzeugt werden muß." 2 Die Sprachlichkeit
der Übersetzung legt so auch deutlicher als die Kommunikation inner-
halb einer Sprache frei, daß der Verstehende auf einen fremden Hori-
zont stößt, der nicht - und dies ganz im Gegensatz zu Gadamers Über-
legungen - mit seinem eigenen einfach verschmilzt. Noch in der Über-
setzung des Ausgangstextes schimmert das Unberührbare seiner Fremd-
heit durch, und es ließe sich nachweisen, daß es eben gerade diese Unbe-
rührbarkeit der sprachlichen Fremdheit ist, die, da sie nicht als mit-
teilbare Bedeutung erfaßt werden kann, als Anspruch und Appell die
Übersetzung erst in Gang setzt, weil sie zu ihr auffordert und sie verlangt.
Verfehlen muß eine solche Fremdheit diejenige Übersetzungskonzeption,
die bei der Übertragung einzig auf Sinn und Syntax der Zielsprache
zurückgreift. Es sollte vielmehr versucht werden, den irreduziblen
Fremdheiten der Sprachen in der Übersetzung zu einem Dialog zu ver-
helfen, der das Fremde nicht zu einem Analogon des Eigenen macht.
Die Sprach- und Übersetzungsreflexionen Benjamins und Derridas
bekunden in deutlicher Verwandtschaft miteinander ihr Interesse an der
Fremdheit des ausgangssprachlichen Textes; ihn gilt es vor der Verein-
nahmung durch das schon Bekannte und den schon präsenten Sinn zu
bewahren. So ist zugleich auch für Benjamin und Derrida die eigentli-
che Fremdheit der anderen Sprache nicht durch den Sinn übertragbar,
dieser verdeckt sie nur. Will die Übersetzung sich dennoch ein Hin-
deuten auf die Andersheit der anderen Sprache bewahren, muß sie an-
dere Mittel finden, um eine Ahnung von der Fremde des ausgangssprach-
lichen Textes zu vermitteln. Benjamins Überlegungen suchen daher das
Fremde der anderen Sprache als Verhältnis und als Zwischen von .Ge-
meintem' und ,Art des Meinens' oder Sprache und ,Gehalt' auf.5 Das
Fremde der anderen Sprache ruht daher für Benjamin in jenen Zwischen-
räumen und Beziehungsgefügen, die von keiner Grammatik und keiner
Ausdruckslehre thematisiert werden, das heißt, es ist,nicht-mitteilbar'.
Die Beziehung von konkretem Zeichenmaterial und Bedeutetem (.Ge-
meintem') steckt jenes Feld ab, von dem Benjamin sagt, daß es als frem-
de .Art des Meinens' derjenigen .Art des Meinens' der Zielsprache
gebildet' werden soll.
Derrida sieht in dem ganz Anderen des ausgangssprachlichen Textes
die Forderung nach der Übersetzung entstehen. Das ganz Andere des
ausgangssprachlichen Textes entspricht dabei nicht einem anderen Sinn,
sondern liegt verborgen im .Mangel', mit dem jedes Original beginnt. Als
dasjenige, das nie erfüllt oder mit sich identisch war, ruft das Original
nach .Vervollständigung' und .Ergänzung' durch die Übersetzung. Schon
das Original wird für Derrida erst in der .Wiederholung', denn um als
Original identifiziert werden zu können, bedarf es der Wiederholung und
des Umwegs über seine Reproduktion. Der zeitliche Riß, der derart das
Original von sich selbst trennt, beherbergt zugleich jene Fremdheit, derer
sich die Übersetzung nie wirklich zu vergewissern vermag. In der Über-
setzung ließen sich daher einzig,Spuren' des Verschwindes jener Fremd-
Vgl. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Th. W. Adorno
und G. Scholem, hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, 7 Bde., Frankfurt
a M 1972-1991, Bd. IV, S. 17 (im folgenden zit. als I-VII und Seitenangabe).
14 EINLEITUNG
A
Jacques Derrida, Des tours de Babel, in: Psyche Inventions de l'autre, Paris 1987, S. 222.
(Im folgenden Ps; wenn nicht anders vermerkt, sind die französischen Originale von
mir ins Deutsche übersetzt. Übersetzungen nehme ich dabei nur vor, wenn der Ori-
ginaltext Derridas noch nicht in deutscher Sprache publiziert worden ist. Veränderun-
gen von bereits in deutscher Sprache veröffentlichten Übersetzungen Derridas sind von
mir als solche kenntlich gemacht.)
5
Die bekanntesten Übertragungen Benjamins sind die Übersetzungen der .Tableaux
parisiens' und anderer Teile der ,Fleurs du mal' von Charles Baudelaire (IV 65 f.), wäh-
rend sich Derrida als Übersetzer von Husserls „Ursprung der Geometrie" (L'origine
delageometrie. Traduction et introduction par Jacques Derrida, Paris 1974) ausgewie-
sen hat.
EINLEITUNG 15
An dieser Stelle möchte ich all denen Dank sagen, ohne die die vorlie-
gende Arbeit kaum zustande gekommen wäre: Hartmut Böhme, Jacques
Derrida und Marianne Schuller für Ermutigungen und kritische Orien-
tierungshilfen im Vorfeld, Iris Därmann, Pascal Delhom, Hans Friesen,
Ludger Heidbrink, Petra Hirsch, Adolf Polti, Christina Schües und Bern
hard Waldenfels für Diskussionen, Hinweise, Infragestellungen und Un-
terstützungen.
Alles Denken der Übersetzung setzt bereits eine Trennung und Vielzahl
der Sprachen voraus. Erst die Trennung und Aufsplitterung .der' Spra-
che in eine Vielzahl von nicht miteinander identischen Sprachen schafft
die notwendige Voraussetzung für die Anwendung der Übersetzung.
Gemeinhin handelt es sich bei einer solchen vorausgesetzten Vielzahl der
Sprachen um die voneinander unterschiedenen Nationalsprachen. Das
Reflektieren auf das Problem der Übersetzung setzt eine Kluft zwischen
den einzelnen Nationalsprachen voraus, die solchem Reflektieren mehr
oder minder überwindbar erscheint. Und tatsächlich scheint das ganze
Problem der Übersetzung die Erkenntnis der Art und des Grades der
Fremdheit und Heterogenität der Sprachen untereinander zu sein. Das
Denken der Übersetzung ist mithin auf eine Freilegung des Verhältnis-
ses der Sprachen zueinander verwiesen und damit zugleich auch auf die
Struktur des Sprachlichen im allgemeinen. Denn zweifelsohne ist es für
das Problem der Übersetzung entscheidend, in welcher Weise sprachli-
che Ordnungen entstehen und vergehen, welcher Art die Beziehung von
Sprache und Denken ist, wie sich Zeichen, Namen und Symbole zum
Dinghaften und zur ,Welt' verhalten und welche Verschränkungen Spra-
che und Sozialität zusammenfügen.
Es ist daher angebracht - noch bevor die historische Entwicklung des
Übersetzungsdenkens untersucht werden kann -, einen Blick auf die
Entwicklung des Sprachdenkens im allgemeinen zu werfen. Im Vorder-
grund wird auch bei diesen Betrachtungen das Problem der Einheit und
Vielheit der Sprache(n) stehen. Erst wenn deutlich geworden ist, in wel-
cher Weise sich Sprache, Welt und Denken zueinander verhalten, kann
über Art und Weise der Einheit und Vielheit nachgedacht werden. Schon
in der griechischen antiken Philosophie bei Piaton und Aristotels zeigt
sich, daß die Reflexion des sprachlichen Geschehens eine Vielzahl von
Problemen mit sich bringt, die auch die Fragen nach der Wahrheit und
nach dem Denken nicht unberührt lassen. Insbesondere die Zeichenlehre
Aristoteles' die sich auf eine Dualität von körperlicher Verlautbarung
und seelischen Zuständen gründet, bringt ein Sprachdenken auf den
Weg, dessen Linien sich bis in die Moderne des abendländischen Den-
20 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
' Vgl. Aristoteles, Hermeneutik. Urteilsslehre, in: Die Lehrschriften, hrsg. von Paul Gohl-
ke, Paderborn 1952, 16 Bde., Bd. 2, S. 86 ff., 16 a I.
2
Vgl. Rene Descartes, Giuvres, hrsg. vonC. Adam und P. Tannery, 13 Bde., Paris 1897-
1913, Brief 15, Bd. I, S. 76-82.
' Vgl. Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Schnften, a. a. O., Bd. IV, S. 27.
1.1 FRAGMENTE EINER GESCHICHTE DES SPRACHDENKENS 21
Arno Borst vertritt die Überzeugung, daß Einheit und Vielheit der Sprachen nur dort
wirklich reflektiert wurden, wo diese anhand eines .religiösen Geschichtsdenkens'
thematisiert wurden. Zwar sprechen die von Borst angeführten Beispiele der „Meinun-
gen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen" für diese Annahme, jedoch scheint der
Begriff des „religiösen Geschichtsdenkens" nicht genug konturiert gegenüber dem grie-
chischen mythischen Denken der Antike, das keineswegs einfach als nicht-religiös aus-
gewiesen werden kann. Vgl. hierzu Arno Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte
der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, Stuttgart 1957-
1961, Bd. I, S. 3-57.
22 1 D I E VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
5
Vgl. A. Borst, ebd., S. 79.
* Die dem Namen Babel zugewiesenen, aus verschiedenen Sprachen der antiken Welt
stammenden Bedeutungen zeigen in einer eigentümlichen Verflechtung von Überset
zung, Übertragung und Überlieferung auf das zentrale Feld des hier berührten Themas
Vgl. auch Jacques Derrida (Ps 218).
7
Vgl. Der Turmbau zu Babel ein Märchen? (St. Benno-Verlag), Leipzig 1963, S. 13.
* Ebd., S. 29.
1.1 FRAGMENTE EINER GESCHICHTE DES SPRACHDENKENS 23
gleichsam das Zentrum, welches als die Einheit und der Zusammenhalt
von Stadt und Mensch, Sammelpunkt von Straße und Kommunikation
galt. Eine weitere, sich offensichtlich an die Zikkurate anlehnende Be-
schreibung des Turmbaus im heiligen Text besteht in den bautechnischen
Angaben.9 „Gebrannte Ziegel unter Verwendung von Asphalt als Mör-
tel sind für die frühe Geschichte des Zweistromlandes, und zwar insbe-
sondere bei den Zikkuraten, nachgewiesen."10 Entgegen der alttesta-
mentarischen Version des erneuten Sündenfalles angelegentlich des
Turmbaus zu Babel -die beiden alttestamentarisch vorhergehenden Sün-
denfälle waren einerseits mit dem Entzug des Paradieses und anderer-
seits mit der Sintflut bestraft worden -, den Gott, Yaweh, seiner notwen-
digen Bestrafung zuzuführen hat, gilt das Zikkurat als Gebäude zu Eh-
ren .Marduks', eines Gottes der Sumerer, als Gotteshaus. Das Zikkurat
Babylons diente nicht zur Erstürmung des Himmels, um sich eines ge-
meinsamen Namens zu versichern, noch war er als Hybris des Erden-
bewohners gedacht. Statt dessen galt er als Himmelsleiter, als Leiter der
Versöhnung und als Bemühen um die Besänftigung des Gottes Marduk."
Jedoch scheint der für die Israeliten deutliche Bezug von Volk und
che, der bei diesen in mythologisierter Form ein bedeutungsvolles Nach-
einander von Einheit und Zerstreuung beinhaltet, nicht zu bestehen,
wenngleich auch in Alt-Babylon der Sprache eine für die Wirklichkeit
ordnungsstiftende Funktion zugesprochen wurde.12 Die biblische Erzäh-
lung muß außerdem als Gott mißtrauender Versuch der Versicherung
* Das Bauvorhaben Babels scheint auch vermittels seiner Metaphorik, der architektoni-
schen Konstruktion und des kulturhistorischen Anliegens sich im Spannungsfeld zwi-
schen menschlicher Kultur und Gott anzusiedeln und sich damit vom Problemhorizont
Natur-Mensch zu sondern, der in einer anderen altindischen Quelle eine beachtliche
Rolle spielt: „Der WataBaum des Lebens und der Erkenntnis verband als eine Him-
melsleiter Götter und Menschen, unter ihm redeten alle die gleiche Sprache. Da zerriß
die Gottheit aus unbekanntem Grund den Baum und die Einheit der Sprache; die zer-
schlagenen Äste wurden in der Welt umher gepflanzt zu 21 neuen Wata-Bäumen, aus
denen die Völker und Sprachen erwuchsen." Zit. nach A. Borst, a. a. O., Bd. I, S. 69.
10
Der Turmbau zu Babel ein Märchen?, a. a. O., S. 23.
11
Vgl. Andre Parrot, La tour de Babel (Cahiersd'archeologiebiblique2), Neuchätel-Paris
1953, S. 48 ff. - Marduk selbst war im Gegensatz zum alttestamentlichen Gott nicht
auf den .einen Namen' festgelegt. Dies sprengte somit auch die monotheistische Dimen-
sion und läßt sich durch die ,50 großen Götter' vertreten. Vgl. hierzu: Alexander Heidel,
The Babylonien Genesis. The Story of the Creation, Chicago 1951, S. 29 ff.
12
So kannte man in Alt-Babylon schon .Wörterbücher'. Vgl. Hans-Gustav Güterbock, die
historische Tradition und ihre literarische Gestaltung bei Babyloniern und Hetitern bis
1200, in: Zeitschrift für Assyriologie42 (1934), 1-91, S. 13.
24 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
" Vgl. Jean Danielou, Vom Ursprung bis Babel. Gen. 1-11, Frankfurt a. M. 1965, S. 91.
M
Ebd., S. 93 ff.
15
Vgl. Paul Heinrich, Probleme der biblischen Urgeschichte, Luzern 1947, S. 154 f.
16
Vgl. A. Borst, a. a. O., Bd. I, S. 118.
1.1 FRAGMENTE EINER GESCHICHTE DES SPRACHDENKENS 25
" Die Gabe des Wortes als machtvolle Gabe Gottes findet man über Alt-Ägypten und das
Alte Testament ins Neue Testament und ins Christentum; so heißt es im Johannes-
evangelium I Vers 1: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott
war das Wort." (Weiter unten wird noch deutlich werden, welche Bedeutung dieser
Satz auch für die Problematik der Übersetzung hat; so findet er sich - zwischen dem
Griechischen und dem Deutschen oszillierend - auch im Übersetzeraufsatz Benjamins
(IV 18).
26 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
die Verwirrung der Sprachen und des Verstehens die Verschuldung und
den Verlust des Heils in sich birgt, muß für das Judentum Sprachge-
schichte sich als messianische Geschichte entfalten.18
Es ist allerdings eine deutliche Differenzierung von .messianischer
Geschichte' und .Heilsgeschichte' notwendig, da sie, die eine jüdischen,
die andere christlichen Glaubens, verschiedenen Wegen des Sprach-
denkens als Schuldverarbeitung und Heilserwartung entsprechen.
Die jüdische Idee des Messianischen lebt von der Vorstellung, daß die
Jenseitigkeit Gottes radikal und absolut ist, das heißt, Gott wird als der
.kommende Gott' gedacht, nicht als derjenige, der als,geistig jenseitiger
ins diesseitig Materiale involviert ist, sondern als Gott der Zukunft. „Das
Judentum hat, in all seinen Formen und Gestaltungen, stets an einem
Begriff von Erlösung festgehalten, der diese als einen Vorgang auffaßt,
welcher sich in der Öffentlichkeit vollzieht, auf dem Schauplatz der Ge-
schichte und im Medium der Gemeinschaft, kurz, der sich entscheidend
in der Welt des Sichtbaren vollzieht und ohne solche Erscheinung im
Sichtbaren nicht gedacht werden kann." 1 ' Diesem beinahe entgegenge-
setzt, gewinnt das Christentum seine Vorstellung der Erlösung im Mo-
ment des .Geistlichen', im Unsichtbaren, das heißt, es handelt sich um
ein Geschehnis, das in der Seele, im Individuum, zu sich kommt, gewis-
sermaßen als geheime Verwandlung, die keine Entsprechung in der mate-
rialen Außenwelt finden muß. Im Namen der Geschichtlichkeit der Spra-
che weist das jüdische Denken daher sehr viel radikaler auf eine zukünf-
tig wiederzugewinnende heilige Sprache als paradiesische Sprache hin,
obschon der Zugriff auf das Messianische der jüdischen Sprache nicht
mehr einzubringen vermag als eine gewisse Verantwortung, die der Text
des Judentums für die Vergangenheit und die Zukunft auf sich zu neh-
men hat.20 Und doch erhält sich gerade die Idee des Messianischen im
jüdischen Denken eine unversöhnliche Radikalität und ungeheure
Sprengkraft für das Sprachgeschehen jeder denkbaren Gegenwart.
Da die göttliche Erwählung des israelitischen Volkes frei und willkür-
lich war, verfügt dieses nicht über die Gnade Gottes, sondern ist ihr viel-
mehr verpflichtet. Zwischen Gott und den Israeliten besteht ein Bund,
" Vgl. Gershom Scholem, Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt a. M. 1970,
S. 122 f.
" G. Scholem, ebd., S. 121.
20
Vgl. Rudolph Bultmann, Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, Zü-
rich und Stuttgart 1949, S. 17 f.
1.1 FRAGMENTE EINER GESCHICHTE DES SPRACHDENKENS 27
der von beiden Seiten mit Verpflichtungen verbunden ist. Der Gott Is-
raels ist allerdings nicht an das Land gebunden, sondern einzig an das
.Volk'.2' Auch in der Diaspora gilt der Bund mit Gott und erfüllt sich die
Gemeinschaft des Judentums durch das Gesetzbuch Gottes. Die Spra-
che in der Diaspora ist keine verwirrte Sprache, sondern eine weltliche
Sprache, die sich in Gott jenseits der Geschichte trifft. Zwar birgt diese
Sprache Israels nach Babel nicht schon die Erlösung in sich, jedoch steht
alles Sprachliche immer schon in einer Verantwortung und Verpflich-
tung gegenüber dem göttlichen Gesetz als Fixierung des Bundes zwischen
Gott und Israel. Die Entzweiung als Strafe Babels hält an.
Anders eröffnet die vermittelnde Nähe Gottes im Christentum eine
weltliche Gegenwärtigkeit der Erlösung, welche die Sprachgeschichte
spätestens mit dem Pfingstwunder zur Heilsgeschichte erklärt. Das neu-
testamentliche Gegenstück zum Turmbau und die Wiedergutmachung
der babylonischen Sprachverwirrung findet sich in der Apostelgeschichte
des Lukas: „Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt, wie von Feuer;
und er setzte sich auf einen jeglichen unter ihnen, und ,sie wurden alle
voll des heiligen Geistes' und fingen an zu predigen in anderen Zungen,
wie der Geist ihnen gab auszusprechen [...] Da nun diese Stimme ge-
schah, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt; denn ein jeder
hörte sie in seiner eigenen Sprache reden." (Lukas 2,3-6/2,1-13) Durch
das Herabsteigen des .Heiligen Geistes' geschieht hier eine Vereinigung
der entzweiten Menschheit und ihrer Sprachen über den kleinen Zirkel
der Apostel hinaus. Allgemein wird dieser Akt auch als die Begründung
der Kirche Gottes betrachtet22, in welcher für die Christen unterschied-
liche Nationalsprachen kein Hindernis des .Einanderverstehens' sind. 2 '
Zugleich muß die messianische Offenbarung des Pfingstwunders als
christliches Anerkennen der Heilsgeschichte bewertet werden; der Christ
befindet sich bereits seit dem Auftreten Jesu in der Heilsgeschichte, die
nun auch zu einer Koinzidenz mit der Sprachgeschichte gelangt. Das
21
Vgl. R. Bultmann, ebd., S. 19 f.
22
Vgl. A. Borst, a. a. O., Bd. I, S. 224.
2
' Allerdings scheint sich bisher die Exegese dieser Bibelstelle im wesentlichen auf eine
Entzweiung und Wiederanbindung der Nationalsprachen zu beziehen und berücksich-
tigt nicht das Problem des innersprachlichen Verstehens. Vgl. hierzu Ernst Kaiinka, Das
Pfingswunder. Die Urform der griechischen Tragödie (Commentationes Aenopontanae
10), Innsbruck 1924, S. 23 ff.
28 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
Christentum bildet als Weltkirche eine neue Einheit des Verstehens, die
keine Sprachentrennung kennt.24 Mit dem Pfingstwunder ist das eschato-
logische Sprachgeschehen in die Gegenwart verlagert, was sich als kon-
sequente Verlängerung des Irdisch-Werdens des Erlösers, Jesu von Naza-
reth, ausweisen läßt. Allerdings wird auch durch diesen Akt das „gegen-
wärtige Heil" nicht unbedingt welthaft wahrnehmbar. 25
Das Pfingstwunder erweist sich daher als Metapher eines Verstehens
im Glauben an Gott. Einerseits wird so zwar die Vereinigung der
che ins Jenseits des ,Nicht-Welthaften' verlagert, andererseits aber erhält
- wie auch an anderen Stellen im Neuen Testament - das Wort als .ver-
kündigtes Wort' einen exponierten Status zugewiesen, der auf die Prä-
senz des Erlösers verweist. Auch bedeutet dies notwendig, daß sich in
der Verkündigung des Wortes - und der damit verknüpften Überein-
kunft der Gläubigen - das eschatologische Geschehen fortsetzt. Christus
selbst ist das von Gott gestiftete .Wort' (der ,Logos') der Erlösung, „wo
dieses Wort erklingt, da ist die eschatologische Heilszeit Gegenwart". 26
Als der inkarnierte,Logos', das Wort, sind Jesu Worte „Geist und Le-
ben"; einerseits Katharsis, bedeuten sie andererseits den Vollzug des
Gerichts. Vermittels der Idee der Weltkirche schlägt so die Vision des
Pfingstwunders zurück in die christliche Gegenwart. Weder existiert auf
diese Weise eine Trennung der Gläubigen durch Nationalsprachen, noch
besteht eine Entzweiung durch eine mögliche Divergenz von Sinn und
Bedeutung für die Sprechenden bzw. Schreibenden einer Sprache: die
nachbabelsche Aufsplitterung und Entzweiung erfährt eine, zumindest
imaginäre, Bündelung anhand des urchristlichen Einheitsbestrebens als
Heilsgeschehen.
In diesem Zusammenhang wird deutlich, daß sowohl das frühchrist-
liche als auch das jüdische Sprachdenken tiet in messianische und escha-
tologische Diskurse der biblischen Tradition verwoben sind. Es handelt
sich hierbei um Verwebungen, die noch ausstrahlen in ein profanes
Sprachdenken, das vom griechischen Altertum bis zu Autoren wie Walter
Benjamin, Jacques Derrida und Emmanuel Levinas reicht.
24
Theodoreth von Kyrrhos, ein griechischer Kirchenvater, war jedoch der Ansicht, daß
bereits Davids harmonisches Gotteslob die Folgen des Mißklangs von Babel überwand.
Dies müßte als die Vorverlegung des Pfingstwunders ms Alte Testament betrachtet
werden. Vgl. A. Borst, a. a. O., Bd. I, S. 254.
25
R. Bultmann.a. a. O..S.218.
26
Vgl. R. Bultmann,ebd.,S.219.
1.1 FRAGMENTE EINER GESCHICHTE DES SPRACHDENKENS 29
27
Piaton, Kratylos oder über die Richtigkeit der Namen, in: Piaton, Sämtliche Dialoge,
hrsg. von O Apelt, Hamburg 1988, Bd. II, 383 St. bis 440 St.
n
Piaton, Sophistes, a. a. O , Bd. VI, St. 216 bis 268.
29
Vgl. H. Steinthal, Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern
mit besonderer Rücksicht auf die Logik, Hildesheim 1961, S. 151 f.
30 1 D I E VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
licher Mitteilung in ein und derselben Sprache handelt, ist in die Hän-
de des denkend geführten Dialoges gelegt. Im Dialog ermöglicht sich
nach Piaton die universelle Erkenntnis, die somit die Verschiedenheit der
ZeichenmateriaJität (Signifikanten) unterläuft. Im Platonischen
Sprachdenken ist die Erlösung von der Fremdheit und Entzweiung der
Sprechenden intendiert, denn auf dem Wege der Erkenntnis des,Wah
ren' stellt sich auch das,Gute' im sprachlichen Miteinander ein.30
Ganz in der Nähe Piatons erhebt sich ebenso für Aristoteles das Pro-
blem der sprachlichen Verständigung weniger im schuldhaften Kontext
des Babelschen Ereignisses, denn eherauf dem Grunde analytischen und
dialektischen Denkens'31, welches potentielle Antinomien und alternie-
rende Wortbedeutungen in einem gewissen Maße zu überwinden glaubt.
Mit Blick auf die definitorische Grundlegung der Sprache im allgemei-
nen gilt Aristoteles' Sprache als semiotische Materialität: „Die Sprache
ist Zeichen und Gleichnis für die seelischen Vorgänge, die Schrift wie-
der für die Sprache. Und wie nicht alle dieselben Schriftzeichen haben,
bringen sie auch nicht dieselben Laute hervor. Die seelischen Vorgänge
jedoch, die sie eigentlich bedeuten sollen, sind bei allen die gleichen, und
auch die Dinge, die jene Vorgänge nachbilden, sind die gleichen."12 Der
Variabilität der Zeichen entspricht folglich nach Aristoteles keineswegs
eine Variabilität der .seelischen Vorgänge' oder der .Dinge', diese sind
vielmehr identisch und universell. Die Verschiedenheit der Sprachen gilt
nur auf der Ebene der Materialität des Zeichens. Entscheidend für das
Entstehen des Zeichens ist, so Aristoteles, weder eine Abbildung des
Dinges noch ein sich Ausdrücken der Seele im Zeichen, sondern viel-
mehr die Konvention (katä syntheken), welche auf eine Arbitrarität der
Zeichenstiftung verweist. Es handelt sich daher in der Aristotelischen
Bestimmung bei dem in der Konvention verfestigten katä syntheken um
eine Signifikations-Relation, das heißt um eine Beziehung zwischen ma-
teriellem Zeichen und Bewußtseinsinhalt, und nicht um eine Erkennt-
nis-Relation qua Beziehung des Bewußtseinsinhaltes zum Gegenstand.
Es kann hier aber schon deswegen keine Entsprechung zwischen Wort
,0
Vgl. R. Bultmann, a. a. O., S. 135 f.
" Anders als Piaton versteht Aristoteles unter .Dialektik' nicht die .wahre Philosophie',
sondern die ,Disputierkunst', welche er vom streng wissenschaftlichen Verfahren nach
den Gesetzen der Analytik unterscheidet.
,2
Aristoteles, Hermeneutik. Urteilslehre, in: Die Lehrschriften, a. a. O., S. 86, 16 a I.
1.1 FRAGMENTE EINER GESCHICHTE DES SPRACHDENKENS 31
zulösen. Zwar war die Stoa der Ansicht, daß die Sprache aus dem in der
,Physis' verankerten ,Logos' entstanden sei und daß es derart eine Iden-
tität von Sprache und Denken gebe, zuletzt aber ist es doch der,Logos'
allein, dem die Stiftung der Einheit zugeschrieben wird. Durch ihn bil-
det die Gesamtheit des Seienden eine Einheit, ein ,Hauch' durchzieht
es gänzlich, durch welchen das All zusammengehalten wird und eine
organische Einheit bildet.37
Das .Wahre', das sich im .Logos' manifestiert, glaubt die Stoa durch
die .Etymologie' ergründen zu können, das heißt, sie versucht zu zeigen,
„wie das Wort mit dem benannten Gegenstand übereinstimmt, anderer-
seits aber auch die in den Etymen versteckt liegenden religiösen, sittli-
chen, metaphysischen Wahrheiten zu enthüllen."38 Die Einheit als Wahr-
heit der Welt und der Sprache tritt in der .Etymologie' zutage, um zu-
letzt eine Identität des Menschen mit dem .Weltlogos' hervorzubringen,
welcher bejahend den Menschen erst die erstrebte Eudämonie erlangen
läßt.39 Die ätherische, absolute Vermittlung der Welt durch den .Logos'
der Stoa muß daher jede sprachliche Andersheit und Differentialität für
ein Oberflächenphänomen halten, welches die Möglichkeit des absolu-
ten sprachlichen Verstehens nicht gefährdet.
Der Sprach- und Weltbeherrschung durch den ,Gott' des Alten Te-
staments und der daraus resultierenden Schuld- und Erlösungszuweisung
stellt die hellenistische Antike eine Anschauung entgegen, die die Welt
nach Analogie des Werkes der Handwerkskunst aus einer Arche her-
vorgegangen sieht. Der Rückgang hinter die sprachlichen Verschieden-
heiten, das heißt zum einheitlichen Ursprung oder zum geistigen und
wahren Jenseits, scheint dem griechischen Sprachdenken immer mög-
lich. An dieser Stelle zeigt sich deutlich eine Nähe zum christlichen
Sprachdenken. Zugleich aber wird in diesem Zusammenhang auch deut-
lich, daß die sprachliche Entzweiung und die Vielfalt der Idiome für das
griechische Denken nicht mit einer Verschuldung verbunden sind. Nicht
wie im Christentum und im Judentum entspricht daher in der griechi-
schen Philosophie das Denken der Einheit hinter der sprachlichen Viel-
heit eine Erlösungsdimension. Ein ethisch-religiöses Moment der Vielheit
und Fremdheit der Idiome taucht zumindest nicht explizit im griechi-
schen Denken auf.
i0
Augustinus, De ordine II, 12, 35, in: Sancti Aureli Augustini. Corpus Scriptorum Eccle-
siasticorum Latinorum, hrsg. von M. Petschenig, LeipzigrfWien 1922, Bd. 63, S. 172.
41
Augustinus, De magistre XI, 36, in: Augustini (Sancti Aurelü) opera omnia, in: Migne,
Patrologiae cursus completus, Series Latina Bd. 32-47, Paris 1960, Bd. 32, Sp. 1215.
42
Vgl. Augustinus, Contra epistulam Parmeniani II, 15, 34, CSEL Bd. 51, S. 88.
34 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
kirche, das er bis in seine Tage, da die Kirche alle Sprachen spricht und
in ihnen die Gemeinschaft Gottes verkündet, sich erstrecken sieht.43
Augustin betrachtet diese neu entstehende Überwindung der Sprachen-
trennung als gleichzeitige Überwindung des Machtstrebens und als Auf-
hebung des Mangels der der Sprache innewohnenden Entzweiung. Die
Trennung der Sprachen in voneinander unterschiedene Idiome und die
Entzweiung der Sprache im allgemeinen wird hierin unmittelbarer Ver-
knüpfung gedacht. Von der möglichen Übereinkunft in einer einheitli-
chen Sprache sieht Augustin diejenigen ausgeschlossen, die sich nicht zu
Gott bekennen, welche er .Heiden' und .Barbaren' nennt. Die Versün-
digung und Frevelhaftigkeit der Zerstreung und Spaltung der Sprache
in Babel sah Augustin auch dort noch wirken, wo das denkende Bemü-
hen um eine Wiedergewinnung des Verstehens Grundlage des sprach-
lichen Verstehens war. So sieht Augustin im Treiben der heidnischen
Philosophenschulen eine Wiederkehr der Babylonischen Konfusion.44
Die Fremdheit der Idiome und des sprachlichen Verstehens gilt aber
Augustin mitnichten als radikal, sie läßt sich im Glauben überwinden.
Im Alterswerk des Augustin erfährt die früher emphatisch bewertete
Mission der Einheitsspendung der Weltkirche und des Glaubens eine
Relativierung, und das diesem vorausgehende Pfingstwunder wird zur
nur .geistlichen' Erlösung in einer ansonsten unerlösten Welt.45 Mit Au-
gustin endet auch die direkte und unmittelbare Bezugnahme des Sprach-
denkens auf den Babel-Topos, welcher erst wieder - dann allerdings von
einer ganz anderen Ambition getragen - in der späten Aufklärung und
in der Frühromantik wesentlicher Bestandteil sprachphilosophischer
Reflexion wurde.
Mit Thomas von Aquin beginnt dann bereits jene .historisch-natürlich'
begründende Scholastik, die Vielfalt und Trennung der Sprachen deut-
lich voneinander scheidet, da die eine aus der menschlichen Willkür
entspringe und die andere aus der Sündenschuld.46 Deutlich schießen
hier aristotelische und biblische Tradition zusammen, wobei die unüber-
brückbare Trennung und absolut unzugängliche Fremdheit der anderen
Sprache weiterhin in biblischer Tradition als Verschuldung gedacht wird.
° Vgl. Augustinus, Sermo, 19, 11, MPL Bd. 46, Sp. 896 ff. und Sermoo, 71, 28, MPL Bd.
38, Sp. 461.
** Vgl. A. Borst, a. a. O., S. 398.
<s
Vgl. G. Scholem, a . a . O . , S. 121.
" Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles II, 45, in: Editio Leonina, 16 Bde., Rom
1882-1948, Bd. 13, S. 372.
-
1.1 FRAGMENTE EINER GESCHICHTE DES SPRACHDENKENS 35
" Rene Descartes, CEvres, hrsg. von C. Adam und P. Tannery, 13 Bde., Paris 1897-1913,
Brief 15, Bd. I, S. 76-82.
41
Es handelt sich hierbei um eine Einschätzung der Sprache, die sich noch im ,Organon-
Modell' Bühlers wiederfindet. - Vgl. Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunk-
tion der Sprache, Stuttgart und New York 1982, S. 26 f.
4
' Vgl. R. Descartes, a. a. O., Meditationes de prima philosophia, Objektiones III, 4, Bd.
7, S. 178 ff.
50
Vgl. zu diesen Ausführungen: Ernst Cassirer, Philosophie der Symbolischen Formen.
Die Sprache (1. Teil), Darmstadt 1964, S. 67 f.
51
Vgl. A. Borst, a. a. O., Bd. III, Ted 1, S. 1284.
36 1 D I E VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
Hinblick auf die Defizienz des Sprachlichen als Ergebnis der Sprachbe
trachtung ebenfalls eine Analogie zwischen dem Cartesianischen und
dem Hobbesschen Denken, wenn auch die Reflexion der Sprache bei
Hobbes einen anderen Umfang als bei Descartes erhält. Die Entstehung
der sprachlichen Vielheil belegend, ist Hobbes der Ansicht, daß die
Menschen den Lauten willkürlich Bedeutungen beigeben.52 Eine solche
Zuordnung von Zeichen ist notwendig, damit die Vorstellung von den
Dingen für den menschlichen Geist erinnerbar ist. Sprache als Erfindung
des Menschen dient mithin als Medium dazu, Meinungen und Kennt
nisse mitzuteilen.33 Jedoch ermöglicht gerade das mediale Dasein der
Sprache, daß die Wörter mehrdeutig sind und Irrtümer in sich bergen.
Es gilt daher nach Hobbes, sich streng an die „allgemeine Übereinkunft"
zu halten.'4 Die Sprache selbst vermag somit für Hobbes nicht ordnend
einzugreifen, sondern unterliegt einer chaotischen Beliebigkeit. Die Ge
walt der Determination von Wort und Bedeutung übernimmt notwen
dig der Staat; jenseits seiner Grenzen scheint daher eine Überwindung
des sprachentzweiten Chaos unmöglich. Zuletzt, im ,Leviathan', fordert
Hobbes Gott als Herren der Sprache ein, welcher, zunächst nur die
Namen schaffend, die Fortentwicklung Adam, das heißt dem Menschen
überläßt. Es besteht somit eine Vertragssituation, die vom Menschen erst
in Babel untergraben wird. Die Beherrschung des seit diesem Vertrags
bruch drohenden Chaos der Sprachverschiedenheit und Sprachvielfalt
sieht Hobbes daher nur in der Gott repräsentierenden Macht des Staa
tes gegeben.55 Die eine Natur, welche Hobbes zugrunde legt, fordert die
eine Staatsmacht, das heißt, sprachliche Vielheit und Zerstreuung kann
diesen Austausch der einheitlichen und totalistischen Gewalt nur behin
dern. Sprachliche Andersheit und die Unmöglichkeit des absoluten Ver
stehens gelten Hobbes als machtbedrohende Unwägbarkeiten. Nirgend
wo sonst, wie hier bei Hobbes, findet sich eine solch deutliche Verknüp
fung von universalsprachlicher Forderung, totalistischem Machtanspruch
und Geringschätzung des Fremden.
52
Thomas Hobbes, Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen, übers.
von F. Tönnies, Klassiker der Politik 13, Berlin 1962,1, 5, 2, S. 50 ff.
" T. Hobbes, ebd., U, 8, 13, S. 198.
i4
Allerdings gilt in Hobbes Spätwerk, dem .Leviathan', daß die Sprache nicht rein will
kürliche Setzung sei, da sie zudem der Sanktion der Menge bedarf, das heißt .commonly'
gesprochen werden muß.
55
T. Hobbes, Leviathan, ed. by A. Dunlop Lindsay, London und New York 1953,1.4.S.
12 ff.
1.1 FRAGMENTE EINER GESCHICHTE DES SPRACHDENKENS 37
56
J. G. Hamann, Metakritik über den Purismus der reinen Vernunft, in: Sämtliche Wer-
ke, hrsg. von J. Nadler, 6 Bde., Wien 1949-1957, Bd. 3, S. 286.
" A. Borst, a. a. O., Bd. III, Teil 2, S. 1475.
51
J. G. Herder, Über den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen, in: Sämtliche Werke,
hrsg. von B. Suphan, 33 Bde., Berlin 1877-1913, Bd. I, S. 3.
59
J. G. Herder, Über den Ursprung der Sprache, a. a. O , Bd. V. S. 132 ff.
38 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
40
J. G. Herder, Über die neuere Deutsche Literatur, Fragmente I, a. a. O., Bd. VII, S. 400 f.
41
F. Schlegel, Vorlesungen über Universalgeschichte, in: F. Schlegel, Kritische Ausgabe,
hrsg. von E. Behler, 22 Bde., München, Paderborn und Wien 1958 ff., Bd. XIV, S. 6.
42
Andreas Huyssen, Die Frühromantische Konzeption von Übersetzung und Aneignung.
Studien zur Frühromantischen Utopie einer deutschen Weltliteratur, Zürcher Beiträge
zur deutschen Literatur und Geistesgeschichte, hrsg. von E. Staiger, Bd. 33, Zürich 1969,
S.39.
43
A. W. Schlegel, Kritische Schriften und Briefe, hrsg. von E. Lohner, Stuttgart 1962, Bd. I,
S. 146.
1.1 FRAGMENTE EINER GESCHICHTE DES SPRACHDENKENS 39
gelte. Ein Denken, das diese Verschränkung von Sprache und Natur in
der Unendlichkeit der damit verknüpften Differenzen und Bezüge be-
jaht, vermag in dieser irreduziblen Mannigfaltigkeit das Aufblühen der
„heiligen Sprache" zu erblicken. Eine solche Sprache des „goldenen
Zeitalters" entwarf Novalis, als er die .fremden Reisenden' in „Die Lehr-
linge zu Sais" berichten ließ: „Ihre Aussprache war ein wunderbarer
Gesang, dessen unwiderstehliche Töne tief in das Innere jeder Natur
eindrangen und sie zerlegten. Jeder ihrer Namen schien das Losungswort
für die Seele jedes Naturkörpers. Mit schöpferischer Gewalt erregten
diese Schwingungen alle Bilder der Welterscheinungen, und von ihnen
konnte man mit Recht sagen, daß das Leben des Universums ein ewiges
tausendstimmiges Gespräch sei."64 Sprache ist hier nicht mehr nur Ober-
flächenphänomen, sondern tief in die naturhafte Dingwelt verankerte
irreduzible Vielstimmigkeit. Die in die Naturgeschichte verwobenen
Fremdheiten der Sprache gelten Novalis als achtenswerte Grundlage
eines Gesprächs. Die von ihm inaugurierte .heilige Sprache' würde daher
ein unendliches Hinundher-Übersetzen erfordern, das auf eine gramma-
tische Kategorisierung und formale Kodifizierung der von .tausend Stim-
men' erzeugten Fremdheiten verzichten würde. Die „große Schrift" der
Chiffren, welche als Zeichengrund der .heiligen Sprache' sich erwiese,
wirkte allerdings dennoch nur auf dem Grunde einer Differenz von Na-
tur und Sprache.65 Die Einsicht in die absolute Unüberwindbarkeit der
sich ereignenden Differenz - bestehe diese nun zwischen Natur und
Sprache, den nationalen Sprachen, unterschiedlichen Sprechern einer
Sprache oder zwischen und in den Zeichen einer Sprache - scheint eine
Errungenschaft der Romantik, denn selbst dort, wo die Vermittlung
zwischen getrennten Elementen der Sprache zum Kern der Theorie wird
- wie beispielsweise im Denken Schleiermachers - bleibt ein Rest an
Unüberwindbarkeit der Entzweiung. So sieht Schleiermacher allen Ur-
sprung des Menschseins schon mit einer sprachlichen Verschiedenheit
anheben: „Das älteste Gegebene ist das Getrenntsein der Menschen
durch die Verschiedenheit der Sprachen."66 Jedoch sieht er zugleich in
der Überwindung der Differenz das höchste wissenschaftliche Ziel.47 Da
M
Novalis, Die Lehrlinge zu Sais, in: Schriften, hrsg. von P. Kluckhohn und R. Samuel,
4. Bde., Darmstadt 1960, Bd. I, S. 106.
45
Novalis, ebd. S. 90.
44
F. Schleiermacher, Dialektik, hrsg. von R. Odebrecht, Leipzig 1942, S 2,1, S. 14.
° Vgl. F. Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn,
in: Sämtliche Werke, 30 Bde., Berlin 1834-1864, Bd. 111,1, S. 542.
40 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
die Sprachen aber alle „gegeneinander irrational sind" und ihre Diffe-
renzen Differenzen des Denkens sind, ist letzthin eine Universalsprache
unmöglich. Mit Schleiermacher wird deutlich, daß es mit einer irredu-
ziblen Pluralität der Sprachen auch notwendig eine Pluralität des Den-
kens gibt, die von einer Übersetzung zwischen den Sprachen auch eine
Übersetzung des Denkens verlangt. Gleichwohl sieht Schleiermacher die
Möglichkeit für eine unendliche Approximation vermittels .kombinato-
rischer' Akte gegeben. Trotz dieser Annäherungs- und Vermittlungs-
bemühungen versucht Schleiermacher, das Statut der .urspüngltchen'
Differenz zwischen den Sprachen und im Verstehen der Mitglieder ei-
ner Sprachgemeinschaft aufrechtzuerhalten.
Eine ähnliche Einschätzung ergibt sich im Sprachdenken W. von
Humboldts, der zwar von einer ursprünglichen Verschiedenheit der
Sprachen ausgeht, diese jedoch von einer sich „ständig erneuernden
Humanität" zusammengehalten sieht. Gleichwohl betont Humboldt die
Vielheit der Sprachen und das in ihnen ruhende Potential einer huma-
nitären Entwicklung menschlicher Gesellschaft: „Durch die Mannig-
faltigkeit der Sprachen wächst unmittelbar für uns der Reichthum der
Welt [...]; es erweitert sich zugleich dadurch für uns der Umfang des
menschlichen Daseins."68 Die Bezüge des Sprachlichen übersteigen auf
diese Weise den Zugriff des Einzelnen und erzeugen sich durch die
Nation und die Geschichte. Für Humboldt ist daher auch die Verschie-
denheit der Sprachen mehr als nur eine Verschiedenheit „Von Schällen
und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst".69
Humboldt ist vielleicht der erste Sprachdenker Deutschlands, der die
Verschiedenheit der Sprachen tatsächlich in ihrer ganzen Komplexität
zu betrachten sucht. Für ihn bedarf es der sprachlichen Zeichen - und
insbesondere der sprachlichen Verschiedenheit -, um zu erkennen.
„Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes
von einander leuchtet klar ein, daß die Sprachen nicht eigentlich Mittel
sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die
vorher unerkannte zu entdecken."70 Es sind die Mehrzahl der Sprachen
und ihre Verschiedenheiten, welche die Entdeckung der Wahrheit er-
möglichen. Dies verweist auch darauf, daß die philosophische Reflexion
W. von Humboldt, Fragmente der Monographie über die Basken, in: Gesammelte Schrif-
ten, a. a. O , Bd. VII.2, S. 602.
W. von Humboldt, ebd., Bd. IV., S. 27.
W. von Humboldt, ebd.
1.1 FRAGMENTE EINER GESCHICHTE DES SPRACHDENKENS 41
75
Da im Kontext der Entwicklung des Derridaschen Sprach- und Übersetzungsdenkens
der Ansatz Saussures noch ausführlich diskutiert werden wird, soll dies hier nicht vor-
weggenommen werden. Vgl. unten S. 183 ff.
76
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe, 8 Bde., Frank-
furt a. M. 1984, Bd. 1,S. 241,$7.
77
L. Wittgenstein, ebd., S. 65.
44 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
78
Walter Schulz, Wittgenstein. Die Negation der Philosophie, Pfullingen 1979, S. 62.
" In sehr deutlicher Weise formuliert Wittgenstein dies im .Tractatus logicus': „Daß die
Welt meine Welt ist, das zeigt sich darin, daß die Grenzen der Sprache, der Sprache,
die allein ich verstehe, die Grenzen meiner Welt bedeuten." L. Wittgenstein, Tractatus
logico-philosophicus.Werkausgabe, a. a. O , Bd. 1, S. 67.
1.2 ÜBERSETZEN UND VERSTEHEN 45
men werden, daß das .Verstehen' notwendig ein sprachliches ist, andererseits soll aber
auch Abstand genommen werden vom Paradigma des ,Auslegens', da dieses einen stets
bewußten Prozeß des Verstehens unterstellt, das aktiv einen einheitlichen Sinn im Text
ausmacht. Der Gadamerschen Koppelung von Verstehen und Auslegen soll hier die
Verknüpfung von Verstehen und , Übersetzen' gegenübergestellt werden.
" R. Jakobson, a. a. O , S. 488.
*' Die auf Schleiermacher zurückgehende Unterscheidung von Übersetzen und Dolmet-
schen wird bei diesem wie folgt entworfen: „Der Dolmetscher nämlich verwaltet sein
Amt in dem Gebiet des Geschäftslebens, der eigentliche Übersetzer vornämlich in dem
Gebiet der Wissenschaft und Kunst." Friedrich Schleiermacher, Ueber die verschiede-
nen Methoden des Uebersetzens, in: Friedrich Schleiermachers sämtliche Werke, Drit-
te Abteilung: Zur Philosophie, zweiter Band, Berlin 1838, S. 209.
1.2 ÜBERSETZEN UND VERSTEHEN 47
M
R. Jakobson, a. a. O , S. 483
48 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
15
F. Schleiermacher, a. a. O , S. 218.
1.2 ÜBERSETZEN UND VERSTEHEN 49
84
Hieronymus, Brief an Pamachius, in: H J . Störig, Das Problem des Übersetzens, Darm
Stadt 1963, S. 1.
87
Ebd,S.3.
50 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
" Vgl. Martin Luther, Sendbrief vom Dolmetschen, hrsg. von E. Kahler, Stuttgart 1960,
S. 174.
' Ebd., S. 175.
*> Ebd., S. 181.
" Franz Rosenzweig, Die Schrift und Luther, in: Martin Buber und Franz Rosenzweig,
Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin 1936, S. 93.
1.2 ÜBERSETZEN UND VERSTEHEN 51
*2 Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit, in: J. Störig, a. a., O., S. 34.
" J. W von Goethe, Zu brüderlichem Ansehen Wielands, in: J. Störig, a. a. O., S. 35.
" J. W. von Goethe, Noten und Abhandlungen zum bessern Verständnis des west-östli-
chen Divans, in: J. Störig, a. a. O., S. 35.
52 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
95
J. J. Breitinger, Critische Dichtkunst, 2 Bde., Stuttgart 1966, Bd. 2, S. 136.
94
Ebd.
97
Ebd.
98
F. G. Klopstock, Sämtliche Werke, Bd. XIII, Leipzig 1823, S. 55-56. Vgl. zu Klopstocks
Sprachdenken auch: K. A. Scheiden, Klopstocks Dichtungstheorie als Beitrag zur Ge-
schichte der deutschen Poetik, Saarbrücken 1954, S. 36-38.
1.2 ÜBERSETZEN UND VERSTEHEN 53
Der ,Geist' des Originals bedarf zwar des ,Buchstabens', bezieht sich aber
notwendig auf eine spezifische Eignung der jeweiligen Sprache, die sich
nicht einfach vermittels der Zuordnung sachlich korrekter Adäquation
transformieren läßt. Das Verstehen des .Geistes' einer Dichtung erfor-
dert mehr als das verknüpfende Wissen als Umschlagplatz von Bedeu-
tungsidentitäten. Es bedarf hierzu auch einer .künstlerischen' Begabung
des Übersetzenden, der den .Geist' des Originals in die Übersetzung
einzubringen vermag.
Ebenso wie Klopstock, für den der Nachvollzug des Geistes des Ori-
ginals eine Bereicherung der .eigenen' Sprache darstellt, schätzt Herder
vor allem den Wert der .vergangenen', toten Sprachen für die Entwick-
lung des Deutschen: „Die historischen Übersetzungen wären wieder für
unseren Stil unentbehrlich." 99 Aber um dies zu erlangen, glaubt Herder,
müsse der schaffende Übersetzer dem Autor des Originals gleichrangig
werden: „der Übersetzer muß selbst ein schöpferisches Genie sein, wenn
er hier seinem Original und seiner Sprache ein Genüge tun will."100 Im
Vordergrund des ,Originals' steht so der .geniale Autor', dessen schrift-
gewordene Fähigkeiten es in die eigene Sprache zu übertragen gilt. Die
Unmöglichkeit aber, beispielsweise einem Homer gerecht zu werden, da
das ihm ebenbürtige Genie im deutschen Sprachraum noch fehlte, ge-
steht Herder ein - dies freilich vor dem Hintergrund der Nichtwiederhol-
barkeit des Schaffens eines .gottgegebenen' Autors. Das Ideal der Homer-
übersetzungen bestände nach Herder daher darin, wenn diese Überset-
zung „das ganze Leben eines Gelehrten wird und uns Homer zeigt, wie
er ist, und was er für uns sein kann". 101 Eine solche Übersetzung sollte
nicht versuchen, das Original dem deutschen ,Nationalgeschmack' an-
zugleichen. Wichtig sind „Hexameter und Poesie im griechischen
Geschmack" - sicher ist diese Auffassung auch ein Hieb gegen die lan-
ge dominante luthersche Version der Übersetzungsmethode, die sehr
wohl den Geschmack des Volkes, in dessen Sprache übersetzt werden
soll, berücksichtigen wollte. Nur durch eine solche .Aufgabe' des eige-
nen Geschmacks, so jedoch Herder, „werden die Schönheiten kaum
einigermaßen ersetzt, die im Homer unübersetzbar bleiben". Zwar dringt
so mit Herder das Eigentümliche und Charakteristische des Originals in
99
J. G. Herder, in: Herders Nachlaß, hrsg. von H. Düntzer, 3 Bde., Frankfurt 1856, Tl.
19, S.45.
100
Ebd., S. 41.
101
Ebd., S. 129-131.
54 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
102
Vgl. W. Sdun, Probleme und Theorien des Übersetzens in Deutschland vom 18. bis
zum 20. Jahrhundert, München 1967, S. 27.
"» J. G. Herder, a. a. O., Tl. 19, S. 37.
104
Herder wünscht sich den Übersetzer als Pygmalion der alten Dichter. „Pygmalion wird
zum Mythos des erwachenden Historischen Bewußtseins. Wie Pygmalion vor die Elfen-
beinstatue, so tritt Herder vor die Vergangenheit, A. W. Schlegel vor Shakespeare hin.
Das Vergangene soll belebt und der Gegenwart anverwandelt werden." A. Huyssen,
a. a. O., S. 71.
1.2 ÜBERSETZEN UND VERSTEHEN 55
105
Vgl. hierzu A. Huyssen, a. a. O., S. 76.
104
August Wilhelm Schlegel, a. a. O., Bd. I, S. 86.
107
Ebd., S. 89.
108
Ebd., S. 101.
56 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
,09
Ebd., S. 116-117.
110
Vgl. A. W. Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. Einleitung, in:
Kritische Schriften und Briefe, a. a. O., Bd. II, S. 15.
1,1
A. W. Schlegel, Aus dem Indischen. Vorerinnerungen, in: Sämtliche Werke, hrsg. von
V. Böcking, 12 Bde., Leipzig 1846/47, Bd. III, S. 11.
"J A. W. Schlegel, in: Athenäum. Eine Zeitschrift von A. W. Schlegel und F. Schlegel,
3 Bde., hrsg. von E. Behler, Stuttgart 1960, Bd. II.2, S. 280.
1.2 ÜBERSETZEN UND VERSTEHEN 57
genwart ebenso übertragen werden muß wie aus einer Mundart in eine
andere Mundart einer Nationalsprache. Die Übertragung innerhalb ei-
ner Sprache machen auch die nach sozialem Stand und Bildung differen-
zierten Schichten notwendig. Außerdem hält Schleiermacher den Über-
tragungsakt des Wortes von Individuum zu Individuum, das einfache
Verstehen des anderen, für entscheidend; auch erweist sich die Über-
tragung eigener vergangener schriftlich fixierter Äußerungen eines In-
dividuums durch sich selbst als notwendig, wenn eine gewisse Entfer-
nung zu den vergangenen Äußerungen eingetreten ist.
Verstehen und Übersetzen bzw. Übertragen scheinen für Schleier-
macher derart ineinander verwoben, daß sie das ganze Thema der Über-
setzung direkt auf das Feld der .Hermeneutik' führen. Auf diese Ver-
knüpfung weist auch Humboldt hin, wenn er jegliches Verstehen als
Übersetzungsvorgang bezeichnet. Wenngleich auch eine Trennung der
somit aufgezeigten Bezüge nur schwer vorzunehmen ist, sucht Schleier-
macher sich in seinen theoretischen Grundlegungen auf das „Übertra-
gen aus einer fremden Sprache in die unsrige" zu beschränken. In die-
sem Bereich interessiert ihn die schriftliche Form, welche er Übersetzung
nennt und welche er - wie schon gezeigt wurde - von der mündlichen
Übertragung, dem Dolmetschen, sondert; außerdem wird ja dem Bereich
des Übersetzens der wissenschaftliche und künstlerische Raum zugemes-
sen, während das Dolmetschen eher auf den Bereich des Geschäftslebens
bezogen bleibt. Im Gegensatz zum Übersetzen hat es das Dolmetschen
daher eher mit einem .mechanischen' Vorgehen beim Übertragen rela-
tiv konkreter Sachverhalte zu tun. Stil und Eigentümlichkeit eines Au-
tors aber wird man, nach Schleiermacher, vor allen Dingen in .künstle-
rischen' und .wissenschaftlichen' Texten finden, in welchen nicht der
Gegenstand gegenüber „Gedanken und Gemüth" zurücktritt. Der
.Übersetzer' hat daher für die Übertragung von wissenschafdichen und
künstlerischen Texten darauf zu achten, einerseits den „Geist der Spra-
che mit dem in ihr niedergelegten System der Anschauungen und Ab-
schattungen der Gemüthsstimmungen" und andererseits „das freie ei-
genthümliche combinatorische Vermögen des Verfahrens" zu durch-
dringen.116 Subjektive und systemhafte Kategorien verbinden sich, nach
Schleiermacher, in den individuellen Sprachäußerungen; neben dieser
Unwägbarkeit, die genaue Struktur der Verknüpfungen betreffend, be-
114
F. Schleiermacher, a. a. O., S. 211.
1.2 ÜBERSETZEN UND VERSTEHEN 59
steht eine weitere .Irrationalität' der Sprache, welche der Übersetzer mit
ins Kalkül zu ziehen hat, außerdem darin, „daß keinem einzigen Wort
einer Sprache eins in einer anderen genau entspricht, keine Beugungs-
weise der einen genau dieselbe Mannigfaltigkeit, wie irgend eine in ei-
ner andern".117 Die Kunst des Verstehens ist so in zweifacher Weise ge-
fordert, zum einen das Verhältnis von Subjekt und System der Sprache
des Originals in seiner Komplexität zu entschlüsseln und zum anderen
den einmal gefundenen Schlüssel zur Sprache des Originals mit den die-
sem im Deutschen entsprechenden Ausdrücken nachzubilden. Die Ver-
mittlung eines solchen .Verstehens' des Originals ist mithin Ziel der
Schleiermacherschen Übersetzungstheoreme.118
Für die .eigentliche Übersetzung' resultieren daraus jene zwei - be-
reits benannten - Möglichkeiten: „Entweder der Übersetzer läßt den
Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen;
oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller
ihm entgegen.""9 Schleiermacher, der hier die Extreme einer überset-
zenden Verstehenskunst aufzeigt, entwirft sein Ideal der Übersetzung im
Schnittpunkt dieser beiden Versionen. Das .eigentliche Übersetzen'
sucht die Mitte des Weges zwischen Autor und Leser. Konzept der .ei-
gentlichen Übersetzung' Schleiermachers ist es, das Fremdartige des
Originals in der Übersetzung zu bewahren und zugleich aber dem Le-
ser das Verständnis des fremden Werkes zu eröffnen. Die Übersetzung
sollte bemüht sein, einen Text zu entwerfen, bei dessen Lektüre der Leser
den Eindruck hat, „den er als Deutscher aus der Lesung des Werkes in
der Ursprache empfangen würde".120 Die .eigentliche Übersetzung' legt
so eine Einheit frei, die sie vornehmlich als Nachahmung des Verstehens
1,7
Ebd., S. 212.
" * Schleiermacher löst diese Ankündigung der .eigentlichen' Übersetzung ab von den für
seine Zeit vorherrschenden Formen der Übersetzung, der .Paraphrase' und der .Nach-
bildung'. Der .Paraphrast', schreibt Schleiermacher, „verfährt mit den Elementen bei-
der Sprachen, als ob sie mathematische Zeichen wären, die sich durch Vermehrung
und Verminderung auf gleichen Werth zurückführen ließen, und weder der verwan-
delten Sprache noch der Ursprache Geist kann in diesem Verfahren erscheinen".
Schleiermacher, a. a. O , S. 217. Zudem beruht die Paraphrase darauf, daß bei „schwie-
rigen Compositionen" die Übertragung vermittels von Kommentaren ergänzt wird. -
Die Nachbildung hingegen versucht zumindest - obschon sie der Ansicht ist, daß
Übertragung kaum möglich ist - die Wirkung nachzubilden, die das Original in sei-
nem Land und bei seinen Zeitgenossen hervorrief.
119
Ebd., S. 218.
,J0
Ebd., S. 220.
60 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
des Originals ausweist. Um nun dem Leser das Gefühl zu vermitteln, daß
er Fremdartiges vor sich habe, obgleich er die Übersetzung in seiner
Muttersprache liest, fordert Schleiermacher eine .Übersetzersprache' als
spezifisches Übersetzerdeutsch. Eine solche .Übersetzersprache' würde
sich in eine .Haltung' kleiden, die nicht ganz alltäglich ist, welche auch
nahelegt, daß sie „zu einer fremden Ähnlichkeit hinübergebogen" ist;
„und man muß gestehen, dieses mit Kunst und Maaß zu thun, ohne eig-
nen Nachtheil und ohne Nachtheil der Sprache, dies ist vielleicht die
größte Schwierigkeit, die unser Übersetzer zu überwinden hat".121 Die
deutsche Sprache hält Schleiermacher für Aneignungen und Anver-
wandlungen vermittels einer .Übersetzersprache' und einer damit einher-
gehenden Erweiterung der Sprache sehr geeignet, da sie als offene Spra-
che sich wohl Neuerungen auf syntaktischem, semantischem und stilisti-
schem Gebiet anzubilden vermag. Die .eigentliche Übersetzung' erhiel-
te so einen Status dezentrierender Sprachneuerung und -universalisie-
rung zugewiesen, welche auch einen neuen, kritisches Verständnis üben-
den Leser forderten, der zuletzt in der Lage wäre, die spezifischen Na-
tional- und Individualsprachen auf ihren jeweiligen Feldern zu erkennen.
Trotz erhellender Einsicht in die Strukturierung sprachlicher Ordnung
gerät Schleiermachers Analyse auf diese Weise in das Kraftfeld eines
Sprachdenkens, das in der Fremdheit der anderen Sprache eine nur
vorläufige Unbekanntheit ausmacht, die sich mittels entsprechender
Verfahren identifizieren und verstehen läßt. Auf eine ganz ähnliche Ver-
söhnung zunächst bemerkter Sprachverschiedenheiten zielt auch Hum-
boldt.
In der Einleitung zu seiner .Agamemnon'-Übersetzung von 1816
schickt W. von Humboldt allen Gedanken zur Übersetzung die bemer-
kenswerte Erkenntnis voraus, daß, wenn man einmal von Ausdrücken
absieht, „die bloss körperliche Gegenstände bezeichnen, kein Wort Ei-
ner Sprache vollkommen einem in einer anderen Sprache gleich ist".122
Jede Sprache ist daher Eignereines eigenen Synonyms, welchem sich zu
nähern Humboldt eine umfangreiche .Synonymik' empfiehlt, die dort
Annäherungen erlangen könnte, wo die alphabetischen Wörterbücher
mittels algebraisierender Wortgleichungen scheitern. Allerdings ist auch
Humboldt davon überzeugt, daß eine solche .Synonymik' bei „Werken
121
Ebd., S. 230.
122
W. von Humboldt, a. a. O., Bd. 8, S. 129.
1.2 ÜBERSETZEN UND VERSTEHEN 61
12
' Ebd., S. 132.
62 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
,2<
Ebd.
' " Ebd., S. 215.
1.2 ÜBERSETZEN UND VERSTEHEN 63
124
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Was ist Übersetzen?, in: ders., Reden und Vor
träge, Berlin 1925, Bd. I, S. i.
127
Ebd,S.6.
' " Ebd..S.8.
64 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
129
Karl Vossler, Geist und Kultur der Sprache, Heidelberg 1925, S. 194.
1,0
Ebd., S. 195.
' " Zur .inneren' und .äußeren' Sprachform schreibt Vossler: „Die innere Sprachform ist
der Tempel, in welchem jede äußere Sprachgemeinschaft sanktioniert wird. Ohne die
sen Segen käme niemals und nirgends ein sprachliches Gemeinwesen zustande. Ein
geheimnisvoller Vorgang, der aber glücklicherweise sichtbar und äußerlich gemacht
werden kann: nämlich in der rednerischen Figur der Emphase." K. Vossler, ebd., S. 209.
1.2 ÜBERSETZEN UND VERSTEHEN 65
1,2
Ebd., S. 202.
' " Wolfgang Schadewaldt, Das Problem des Übersetzens, in: Hellas und Hesperien. Ge-
sammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur. Zürich und Stuttgart 1960,
S. 526. - Von der Kunstfertigkeit des verstehenden Einfühlens trennt Schadewaldt die
Fähigkeit des .Dolmetschers', welcher sich besonders auf „sprachliche und sachliche
Kenntnisse", das heißt intellektuelle Eigenschaften stützt, die nicht so hoch einzuschät-
zen sind, wie die Vermögen des wirklichen Übersetzers.
1,4
Ebd., S. 528.
66 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
d'ajouter une chose, c'est si j'avois ete moins destriat, ou si j'etois plus
jeune, ou assiste par de jeunes gens bien disposes j'espererois donner une
maniere de Specieuse Generale, oü toutes les verites de raison seroient
reduites ä une fagon de calcul. Ce pourroit etre en meme temps une
maniere de langue ou d'ecriture universelle, mais infiniment differente
de toutes Celles qu'on a projettees jusqu'icy, car les caracteres et les
paroles memes y dirigeroient la raison, et les erreures (excepte Celles de
fait) n'y seroient que des erreurs de calcul. II seroit tres difficile de former
ou d'inventer cette Langue ou Caracteristique, mais tres aise de l'ap-
prendre sans aucuns Dictionnaires. Elle serviroit aussi ä estimer les de-
gres de vraisemblance [...] et pourvoirce qu'il faut pourysuppleer." 13 '
Die so zu gewinnende mathematische Logik der Sprache erhellt ihren
Zugriff vor dem Hintergrund einer Analogisierung sprachlicher Terme,
welche einer universellen An- und Ausgleichung unterworfen werden.
Der Leibnizsche Versuch, den .Ideengehalt' der Sprache vermittels der
Mathematik und der Logik einer Normierung zu unterwerfen, beruft sich
wesentlich mit der Monadentheorie auf die Codierung der Sprache in
binären Symbolen. Es ist dies ein Verfahrensvorschlag zur sprachlichen
Systematisierung, welcher notwendig noch den modernen Diskurs .ma-
schineller Übersetzung' bestimmt. Binäre Zahlenkombinationen ver-
schlüsseln hier Buchstaben, Wörter und sprachliche Regeln, welche den
Zuordnungen von 0 und 1 als elektrische Impulse und einer Pause zwi-
schen zwei Impulsen entsprechen. Die von Leibniz intendierte Schrift
sucht eine Art Meta-Schrift zu entdecken, die von Zweideutigkeiten und
Unwägbarkeiten frei sein soll; eine solche Art .Zwischensprache' wür-
de ihre Übersetzungsqualitäten mittels sprachlicher Integral- und Diffe-
rentialzeichen wahrnehmen wollen.136
Bereits 1661 entwarf J. J. Becher ein derartiges Schriftsystem, das, aus
einem einzigen gleichbleibenden graphischen Zeichen bestehend, die
bedeutungsgleichen Wörter der Einzelsprache in der Niederschrift mit
jeweils derselben Zahl zu erfassen suchte.137 Becher sieht in der von ihm
entwickelten Zwischensprache ebenfalls ein universal gültiges System, in
welches jede andere Sprache übertragbar ist: „Ich dachte es mir so, daß
,,s
G. W. Leibniz, zitiert nach J. J. Becher, Allgemeine Verschlüsselungen der Sprachen
(Charakter pro Notitia Linguarum Universali), in: Veröffendichungen der Wirtschafts-
hochschule Mannheim, Reihe I: Abhandlung, Bd. 10, Stuttgart 1962, S. 16.
1,6
Vgl. W. G. Waffenschmidt, in: J. J. Becher, ebd., S. 17.
" Ebd.
68 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
jede beliebige Sprache der Schlüssel zu allen übrigen sei und jedermann
in seiner Muttersprache die übrigen erkennen könne."138 Über mögliche
Unregelmäßigkeiten in Wortstamm und Syntax sucht Becher gleichwohl
unter Berufung auf die Beschreibung des Inhalts hinwegzugehen: „Wenn
auch ein Wort der einen oder anderen Sprache eine Unregelmäßigkeit
dulden sollte und nicht die Flexion der Markierung zuläßt, muß man
doch den Inhalt der Markierung aufzeichnen, der nützlicher ist als die
genaue Markierung. Und in der Tat wollte ich nicht so sehr die Bestim-
mung der Worte als vielmehr die Beschreibung des Inhalts durch die
Markierung ausdrücken." 139 Jedoch ist es wohl auch der .Inhalt' als idio-
matische Eigentümlichkeit syntagmatischer und paradigmatischer Ord-
nung, welcher die Codifizierung der sprachlichen Verweisungen durch-
kreuzt. Daß es Probleme der sprachlichen Mitteilung durch ein auf die
binäre Logik gegründetes Chiffrensystem geben könnte, sah Becher al-
lerdings auch und forderte daher, daß - um Verwirrungen von Syntax
und Bedeutung zu vermeiden - „weitschweifige Sätze und Trennungen
der Worte" vermieden werden sollten. Es ist dies eine Einschränkung,
die wohl noch für sämtliche maschinelle Übersetzungsprogramme zu-
trifft.
Auf Austauschbarkeit, Adäquation und Universalisierung sprachli-
cher Elemente zielende Strukturierung sprachlicher Ordnung ist zur
Grundlage gewisser Zweige der linguistischen Wissenschaft auch des
zwanzigsten Jahrhunderts geworden. Mit dem Projekt der .generativen
Transformationsgrammatik' Noam Chomskys findet die .lingua univer-
salis' oder die .Grammaire generale et raisonnee' von Arnauld und Con-
celet (1660) eine Fortsetzung. Zwar bemüht sich die .generative Transfor-
mationsgrammatik', gewissen Aporien der frühen universalsprachlichen
Konzeptionen zu entkommen, in ihren wesentlichen Grundzügen be-
zieht sie sich aber doch auf die rationalistischen Entwürfe des achtzehn-
ten Jahrhunderts. Die Prämissen, daß die allgemeinen Züge der gram-
matischen Struktur in allen Sprachen identisch sind und daß mithin lin-
guistische und geistige Prozesse identifiziert werden können, ist noch
wesensbestimmender Grund der Chomskyschen .Tiefenstruktur': „the
deep structure that expresses the meaning is common to all languages,
so it is claimed, being a simple reflection of the forms of thought. The
transformational rules that convert deep to surface structure may differ
« Vgl. ebd.
144
Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die Transzendentale
Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg. von
W. Biemel, Den Haag 1976, S. 52.
1.2 ÜBERSETZEN UND VERSTEHEN 71
syntaktischer Einheiten.145 Es ist dies ein Gedanke, der sich mit gering-
fügigen Differenzen auch bei Hjelmslev wiederfindet, wenn dieser mit-
tels Umschreibung alles für formulierbar hält, was in einem einzelsprach-
lichen System Ausdruck findet. Interessant jedoch, wenn auch gleicher-
maßen und notwendig widersprüchlich, scheint die Aufnahme eines
Übersetzungsbegriffes in die Definition der Sprache überhaupt bei
Hjelmslev: „Unter einer natürlichen Sprache versteht man eine Sprache,
in die sich alle anderen übersetzen lassen. Jedes Schachspiel läßt sich
übersetzen, umformulieren in eine natürliche Sprache, aber nicht um-
gekehrt." 146 Ebenso wie bei N. Chomsky wird auch bei Hjelmslev eine
grundsätzliche Übersetzbarkeit nicht angezweifelt, wenngleich auch die-
ser weiß, daß „ein Zeichen in einer Sprache" nicht „einem Zeichen" in
einer anderen Sprache entspricht, und jener meint, daß es trotz .formaler
Universalien' keine Punkt-für-Punkt-Entsprechung und folglich keine
ganzheitlich rationale Ausweisung des Übersetzungsprozesses geben
kann.
Es ist aus diesem Grunde auch nicht einzusehen, daß ein Vorteil der neueren Univer-
salienforschung darin besteht, daß sie auf der „Ebene der Ausdruckskategorie" ein-
setzt und den Nachweis der Universalität mit „subtilen, .inhaltlich' definierten Laut-
eigenschaften und Gesetzen ihrer Verbindung zu einem System" erbringt, wie Holen-
stein meint. Ein Übersetzungsbegriff, der auf derartige Universalien zurückgreifen
würde, wäre ebenso auf Kodifizierungen, Formalisierungen und Erstarrungen des
sprachlichen Prozesses verwiesen. - Vgl. in diesem Zusammenhang Elmar Holenstein,
Menschliches Selbstverständnis. Ichbewußtsein, Intersubjektive Verantwortung, Inter-
kulturelle Verständigung, Frankfurt a. M. 1985, S. 129.
L. Hjelmslev, Die Sprache. Eine Einführung, Darmstadt 1968, S. 125.
72 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
141
Anthony Gervin Oettinger, Das Problem der Übersetzung, in: H. I. Störig, a. a. O.,
S. 436.
* Ebd.
'« Ebd.. S. 446.
1.2 ÜBERSETZEN UND VERSTEHEN 73
gesagt werden kann [...] auch in jeder anderen Sprache gesagt werden"
kann.150 Zwar mögen die „äquivalenten Ausdrücke" voneinander formal
absolut verschieden sein, jedoch sei dies, so Oettinger, nur eine Frage
des Stils, nicht aber eine der Möglichkeit der invarianten Übermittlung
überhaupt. Entscheidend für den Erfolg eines maschinellen Überset-
zungsunternehmens bliebe so die Entwicklung von Übersetzungsalgo-
rithmen: „während bei der Entwicklung von Übersetzungsalgorithmen
oder für das Verstehen eines übersetzten Textes eine Interpretation not-
wendig sein mag, so besteht doch aller Grund, zu hoffen, daß Über-
setzungsalgorithmen auf der Basis rein formaler Elemente aufgestellt und
daher von einer Maschine ausgeführt werden können." 151
Übersetzungsalgorithmen als Äquivalenzbeziehungen stützen sich vor
dem Hintergrund eines systematisch und struktural logisch operieren-
den Sprachdenkens folglich auf die Vorstellung, daß die Vielzahl der
Bezüge und Verweisungen sprachlichen Bedeutens - wenn sprachliche
Ordnung auf gewisse Grundeinheiten, das heißt auf Genera reduziert
wird-endlich ist und einem Kalkül unterworfen werden kann. Der ein-
zige in diesem Rahmen auftauchende Varianz- und Ungenauigkeitsfaktor
müßte daher mit einer einfachen Determination a priori auszuschalten
sein. Allerdings scheint gerade hierin ein großer Irrtum dieses Sprach-
denkens verborgen, das vermeintliche Invarianzen und Äquivalenzen
verschiedener sprachlicher Ordnungen extrahieren zu können glaubt.
Außer acht wird gelassen, daß die empirische Sprache und ihr Bedeu-
tungsgeschehen nicht annähernd von .Algorithmusdefinitionen' und .rei-
nen Grammatiken' erfaßt werden, ,da ja der Algorithmus schließlich
überhaupt nur durch' die empirische und alltägliche Sprache etwas zu
sagen hat.152 Algorithmus und logische Genera können nicht jene Ord-
nung, das heißt die omnitudo realitas umfassen, der sie selbst entnom-
men sind.
Auch Roman Jakobson sieht für das Übersetzen eine entscheidende
Schwierigkeit darin, die Symbolik der Genera beizubehalten. Es scheint
dies auf eine irreduzible semantische und symbolische Situation einer
sprachlichen Ordnung zu verweisen, die ebenso im Hinblick auf gram-
matische Kategorien Gültigkeit besitzt, denn auch grammatische Kate-
" Ebd.
151
Ebd., S. 463.
152
Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, übers, von R. Giuliani, München
1984, S. 39 f.
74 1 DIE VIELZAHL DER SPRACHEN BABELS
alles, was ins geschichtliche Treiben eingebunden wäre - , sich über sich
selbst beugend, erkennen, daß ihre Kontinuität dem Willen zur anthro-
pomorphen Heilsgeschichte entsprach, und bestände diese Kontinuität
einzig in der Verdammung der Vielheit und Verschiedenheit der Spra-
che(n). Die oben entwickelten Sprachentzweiungs- und Zerstreuungs-
hinweise, die sich a priori gegen eine einfache symmetrische Entzweiung
verwahrten, verwiesen auf eine Vielzahl von möglichen Zersplitterungen
des sprachlichen Raumes. In der Geschichte des Übersetzungsdenkens
suchte man dieser Zersplitterung mittels weniger Antithesen und der
Reduzierung des Übersetzungsproblems auf die Vermittlung national-
sprachlicher Felder Herr zu werden. Mit der Erkenntnis jedoch, daß der
Begriff des Übersetzens nicht von der Freilegung allgemeinsprachlicher
Strukturen und dem Begriff des Verstehens selbst zu trennen ist, hätte
hervortreten müssen, daß mit jedem Nadelstich, mit jeder kleinen Berüh-
rung des Stoffes, mit der winzigsten Spannung des Fadens von hier nach
dort, von diesem Medium einer Sprache zu jenem anderen, die parado-
xe Situation entsteht, daß der Faden das Feld der Ausgangssprache teilt,
einmal mehr Trennungen auslöst, wo eine scheinbar Sinn schaffende Be-
wegung der Sprache zur Verknüpfung anstand. Mit anderen Worten:
jeder neue, Sprache gewordene Gedanke, jedes Wort, das ein anderes
wiedergibt, und jedes Reprodukt geschichtlichen Inventars schaffen ei-
nen irreduzibel anderen Gedanken, ein radikal unterschiedenes Wort
und notwendig verschobenes Reprodukt bzw. Produkt, welche allesamt
von einem gewissen Ufer aufbrachen, um an absolut ungewissen Ufern
anzugelangen. Die einzige Konstante in der Bewegung des Übersetzens
scheint die Notwendigkeit des Übersetzens selbst, welches immer schon
Antwort auf ein Fremdes als Anspruch der anderen Sprache ist.
77
Einen wesentlichen Anlaß der .Wendung' im Benjaminschen Denken stellt wohl die
Bekanntschaft mit der .bolschewistischen Lettin' (Br. 347) Asja Lacis dar, der Benja-
min 1924 auf Capri begegnete. Das Asja Lacis gewidmete Werk .Einbahnstraße', das
im September 1926 fertiggestellt wurde und erste Anzeichen einer perspektivischen Aus-
weitung des Benjaminschen Denkens beinhaltet, kann als die erste Schrift des Spätwerks
betrachtet werden. Gleichwohl bleibt die Zäsur zwischen Früh- und Spätwerk vage. Die
Korrespondenzen verlaufen zwischen den gesamten Schriften Benjamins: späte Texte
lassen sich nur durch die Lektüre früher Texte erhellen und umgekehrt. Die Bezeich-
nungen Frühwerk und Spätwerk sind aus diesem Grunde keine reinen Klassifikationen.
- Vgl. G. Scholem, Walter Benjamin, in: Über Walter Benjamin, Frankfurt a. M. 1968,
S. 157.
78 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
Jakob Böhme, Franz von Baader, Johann Georg Hamann und Wilhelm
von Humboldt, an die Philosophie Immanuel Kants und Johann Gott-
lieb Fichtes und an die Kunst- und Literaturtheorie der Frühromantiker,
im besonderen an diejenige Novalis' und Friedrich Schlegels, entschei-
dend, so kommt im Spätwerk noch die Beschäftigung mit der marxisti-
schen Theoriebildung, der Psychoanalyse und der modernen Sozial-
forschung hinzu. Das ohnehin sehr komplizierte Unterfangen, zwischen
den Texten des Frühwerks Benjamins Korrespondenzen, Kohärenzen
und Differenzen freizulegen, würde unter Hinzunahme des Spätwerks
ins Uferlose und Unwegsame führen. Sollten dennoch hier oder da Be-
ziehungen zum Spätwerk geknüpft werden, so geschieht dies nur, um
Gedanken der frühen Arbeiten, die eine Wiederaufnahme in den spä-
ten Schriften gefunden haben, zu verdeutlichen.
Die Freilegung des Benjaminschen Übersetzungsdenkens wird zu-
nächst im Kontext seiner frühen Sprachphilosophie erfolgen müssen.
Nur vermittels der Standortbestimmung der Sprachphilosophie Benja-
mins in seinem Sprachaufsatz „Über Sprache überhaupt und über die
Sprache des Menschen" (II 140-157) von 1916 werden erste Vorausset-
zungen für sein Übersetzungsdenken abgesteckt werden können. Die
große Nähe Benjamins zu gewissen sprach mystischen Paradigmen wird
in diesem Zusammenhang durchleuchtet werden müssen. Seine Abwen-
dung von einem sprachinstrumentalistischen Denken läßt es zudem er-
forderlich erscheinen, Differenzen zwischen seinem Sprachdenken und
solchen sprachphilosophischen Positionen aufzuzeigen, die Sprache als
ein einem sprachunabhängigen Denken zur Verfügung stehendes Mit-
tel betrachten, wie dies beispielsweise bei Searle und Bühler der Fall ist.
In einem weiteren Schritt wird es dann allerdings auch notwendig sein,
das frühe Sprach- und Übersetzungsdenken Benjamins in Beziehung zu
gewissen Denkfiguren Scholems und Hamanns zu konturieren. Die für
Benjamin im Sprachaufsatz von 1916 wichtige Verbindung der Para-
digmen .Übersetzung' und .Offenbarung' steht hier im Vordergrund.
Die nächsten wichtigen Etappen im Sprachdenken und Sprachverste-
hen Benjamins - seine Dissertation „Der Begriff der Kunstkritik in der
deutschen Romantik" (17-122) von 1919 und die Schrift „Goethes Wahl-
verwandtschaften" (I 123-201) von 1922 -werden im Anschluß hieran
einer eingehenden Untersuchung unterzogen werden müssen, da sie
nicht nur zeitlich den Rahmen für den Übersetzeraufsatz von 1921 bil-
den. Besonders die Auseinandersetzung mit der deutschen Frühromantik
ist für das Benjaminsche Denken sprachlichen Verstehens und sprach-
2 D I E ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN 79
Gershom Scholem, der besonders in den Jahren des Benjaminschen Frühwerks engen
Kontakt mit Benjamin gehabt hat, schreibt: „Benjamin wußte von jüdische Verhältnis-
sen [...] so gut wie nichts." G. Scholem, Walter Benjamin - Geschichte einer Freund-
schaft, Frankfurt a. M. 1975, S. 93.
2.1 DIE ÜBERSETZUNG UND DIE SPRACHE DES MENSCHEN 81
Brief an L. Strauss schreibt: „ich könnte mir denken, wie ich vier Jahre
früher mir das Judentum zur Maxime hätte machen können. Jetzt kann
ich es nicht mehr." (II 839) Wenngleich er auch im selben Atemzuge die
Nähe seines Denkens zum jüdischen behauptet, gewinnt diese Stellung-
nahme insofern Bedeutung, als sie belegt, daß die frühen Anknüpfungen
Benjamins an sprachmystische Begrifflichkeiten mit einer gewissen Di-
stanz zum Judentum selbst einhergehen. Es scheint daher legitim, dar-
auf zu verweisen, daß das Benjaminsche Interesse an der Sprachmystik
sich weniger auf eine jüdische Emanationstheologie denn auf eine gewisse
Erfahrung weltimmanenter Ordnungszusammenhänge beruft, die sich
durchaus mit dem Unhintergehbaren und Rätselhaften aller Religion vor-
hergehenden mystischen Welterfahrung trifft. Der spracherkennende
Blick Benjamins ereignet sich vor dem Hintergrund jener .profanen Er-
leuchtung' 3 , welche, schlicht aus der Erfahrung des Alltäglichen entste-
hend, lange Verschüttetes wieder zutage fördert. Denn in „der Erfah-
rung des Lesenden, Denkenden oder Flanierenden steckt schon alles,
was in der sogenannten mystischen steckt, und braucht nicht erst dort-
hin abgedrängt zu werden"/ Die von der .okkulten' und mystischen Tra-
dition konnotierte Spracherfahrung weist daher, transportiert auf das
Feld wissenschaftlicher Sprachtheorie, auf ein Versäumnis und einen
Mangel gerade jener sprachphilosophischen Konzeptionen hin, die die
nicht-mystische und instrumenteile Reflexion der Sprache favorisieren.
Benjamin hingegen nimmt bei einer erneuten Lektüre des sprachlichen
Feldes einen Aspekt mystischen Sprachdenkens in den Dienst, der, ohne
selbst wiederum einer Funktionalisierung zu unterliegen, gerade jene
Tiefe und Unauslotbarkeit des Sprachlichen berührt, die aller meta-
sprachlichen Kategorisierung auf immer entgeht.
Der Begriff der .profanen Erleuchtung' wird von Benjamin direkt und ausschließlich
in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Theorie der Erkenntnis gedacht; so schreibt
er im .Sürrealismusaufsatz": „Die passionierte Untersuchung telepathischer Phaenomene
zum Beispiel wird einem über das Lesen [...] nicht halb so viel lehren, wie die profane
Erleuchtung des Lesens über die telepathischen Phaenomene." (II 307)
G. Scholem, Walter Benjamin und sein Engel, in: Zur Aktualität Walter Benjamins, hrsg.
von S. Unseld, Frankfurt a. M. 1972, S. 127.- An derselben Stelle unterstreicht Scholem
noch einmal, sich auf den .Sürrealismusaufsatz' Benjamins beziehend, das oben Ent-
wickelte: „In dem Satz über die profane Erleuchtung des Lesers und anderer Typen
springt, Benjamin zufolge, aus der Erfahrung des Alltäglichen, wenn man ihr nur wirk-
lich auf den Grund ginge, die mystische Erfahrung heraus, der okkulte Vorgang, ob-
wohl die Philosophen das nicht gern zugeben."
82 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
5
Winfried Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt a. M.
1980.
6
Th. W. Adorno, Brief vom 10. November 1938, in: Walter Benjamin, Briefe, hrsg. von
G. Scholem und Th. W. Adorno, Frankfurt a. M. 1978, S. 786.
7
In dem Aufsatz „Charakteristik Walter Benjamins", der in dem Buch .Prismen' erschien,
schreibt Adomo, daß Benjamins Philosophie „Nimbus gewonnen" habe, und dies „trotz
des esoterischen Charakters seiner frühen Arbeiten". Th. W. Adorno, Prismen, Frankfurt
a. M. 1955. S. 283.
84 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
* Ebenfalls in dem Aufsatz .Charakteristik Walter Benjamins' weist Adorno darauf hin,
daß das Benjaminsche Denken in eine „materialistische Phase" und eine „theologische"
zu trennen sei. Ebd., S. 294.
* Auch Hannah Arendt weist auf diese dialektikkritische Haltung des Benjaminschen
Ansatzes hin, wenn sie von dessen Bemühung, äußerste Bewegung in ein Statisches,
,Erstarrtes' umschlagen zu lassen, meint, daß nichts „undialektischer sein" könne „als
diese Haltung". Hannah Arendt, Benjamin, Brecht, München 1986, S. 10.
10
In einem Brief Adornos an Benjamin vom 6. 11. 1934 heißt es: „Und wenn ich dieser
Arbeit [der Passagen-Arbeit, A. H.] einiges an Hoffnung mit auf den Weg geben darf,
ohne daß Sie es als Unbescheidenheit nehmen: so wäre es dies, daß einmal die Arbeit
ohne Rücksicht alles an theologischem Gehalt und an Wörtlichkeil in den extremsten
Thesen realisiere, was in ihr angelegt war [...]" Im gleichen Atemzug insistiert Adorno
zudem darauf, daß das „Ästhetische" tiefer „in die Wirklichkeit revolutionär" eingrei-
fen muß „als die Klassentheorie als deus ex machina" und meint damit, daß die klas
senkämpferisch materialistische Ambition stärker in den Hintergrund zu treten habe.
Th. W. Adorno, Brief vom 6. 11. 1934, in: Walter Benjamin, Das Passagen Werk, Frank-
furt a. M. 1983, S. 1106.
11
Ein wenig zynisch wendet sich Hannah Arendt den Adornoschen Bemühungen um eine
.Dialektisierung' des Benjaminschen Denkens zu, wenn sie schreibt: „Für Benjamin
jedenfalls blieb die Monatsrente die einzig mögliche Existenzform, und um sie nach dem
Versagen der Eltern zu erhalten, war er zu manchem bereit, oder glaubt es doch zu sein
- hebräisch zu lernen für 300 Mark im Monat, wenn die Zionisten sich davon etwas
versprachen, oder dialektisches Denken mit allen vermittelnden Schikanen für 1000
französische Franken, wenn die Marxisten anders nicht mit sich reden ließen. Bewun-
dernswert bleibt, daß er dann praktisch, obwohl ihm doch das Wasser am Halse stand,
weder das Eine noch das Andere getan hat [. .]" H. Arendt, a. a. O., S 36.
2.1 D I E ÜBERSETZUNG UND DIE SPRACHE DES MENSCHEN 85
12
Vgl. G. Scholem, Walter Benjamin und sein Engel - vierzehn Aufsätze und kleine Bei-
träge, hrsg. von R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1983, S. 30.
" Vgl. G. Scholem, ebd., S. 23. Vgl. auch ebd., S. 17 und 22.
M
Dies explizierend, schreibt Menninghaus: „Die Wahrnehmung einer magischen .Innen-
seite' von Sprachgestalten bezieht sich [...] weniger auf den direkten Realitätsgehalt
der Zeichen als auf jene Form-Energie von Sprachbewegungen, die sich durch sei's
arbiträre, sei's natürliche Bezeichnungsfunktion hindurch realisiert." W. Menninghaus,
Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, a. a. O., S. 194.
86 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
" H. H. Holz, Prismatisches Denken, in: Über Walter Benjamin, Frankfurt a. M. 1968,
S. 83. Vielsagend und gleichsam alle Bedeutungsdezentralisierung des Benjaminschen
Denkens ausblendend, ließe sich die Analyse Holz' durch den Satz ergänzen: „Dem in
Träumen mystischer Erlösung Befangenen gab die befreiende Antwort Karl Marx." Ernst
Fischer nimmt mit diesem Satz die in den sechziger und siebziger Jahren gängige An-
sicht einer Spaltung des Benjaminschen Denkens in eine theologische und eine marxi-
stische Phase auf. E. Fischer, Ein Geisterseher in der Bürgerwelt, in: Über Walter Ben-
jamin, ebd., S. 116.
16
Die Religion wird hier zum höchsten Bereich der Benjaminschen Erfahrungstheorie
erklärt, ohne daß die von Benjamin selbst schon vorgedachte Dimension eines Religiö-
sen - das lange schon vor dem Auftauchen des Menschen als Sprache in der Welt ist, in
welcher und auf welche er sich notwendig zu beziehen hat - von dieser Deutung einge-
holt würde. Bernd Witte, Walter Benjamin - Der Intellektuelle als Kritiker. Untersu-
chungen zu seinem Frühwerk, Stuttgart 1976, S. 10.
2.1 D I E ÜBERSETZUNG UND DIE SPRACHE DES MENSCHEN 87
" Zudem verschließe, so Kleiner, ein solches Denken auch die dringend erforderliche
Analogisierung von „Herrschaft und Abstraktion", wie sie noch aus neomarxistischen
Theoriebeständen nachwirkend für die Inbegriffnahme einer wirklich historisch grei-
fenden Kritik gefordert wird. Der .theologische Bezugsrahmen' ist es letzthin, der dem
Benjaminschen Sprachdenken die kritische Potenz durch reine „ahistorische Utopie"
streitig macht. - Vgl. Barbara Kleiner, Sprache und Entfremdung. Die Proust-Überset-
zungen Walter Benjamins innerhalb seiner Sprach- und Übersetzungtheorie, Bonn 1980,
S. 14 ff.
" Vgl. Bettine Menke, Sprachfiguren. Name, Allegorie, Bild nach Benjamin, München
1991.
88 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
Benjamin vollzieht sich nicht auf Kosten einer Ausblendung der judaisti-
schen und kabbalistischen Implikationen des Benjaminschen Sprach-
denkens.
Um im folgenden erste Hinweise auf die Bezüge Benjamins zur sprach-
mystischen jüdischen Tradition zu geben, wird eine Rekonstruktion der
Lektüreschritte versucht, die Benjamin unmittelbar und mittelbar mit den
sprachphilosophischen Paradigmen des Judentums in Berührung brach-
ten. In diesem Zusammenhang werden erste Hinweise gegeben werden
auf die Provenienz der von Benjamin verwandten Begriffe. Außerdem
müßte vermittels der Darstellung der Berührungspunkte Benjamins mit
der jüdischen sprachphilosophischen Tradition zumindest schemenhaft
hervortreten, welche Funktion und Darstellung den sprachmystischen
Paradigmen in der Benjaminschen Aneignung zukommen werden. Ein
erster Lichtschein wird von hierauch auf die Dynamik selbst der Schreib-
weise Benjamins fallen.
Scholem - der später wohl mitverantwortlich dafür war, daß Benja-
min mit der kabbalistischen Forschung sehr viel besser vertraut war, da
die von ihm verfaßten Studien zur Kabbala in Benjamin einen interes-
sierten Leser fanden - hatte allerdings noch nicht einmal mit der Erfor-
schung der Kabbala begonnen, als Benjamin seine ersten sprachphilo-
sophischen Aufsätze, auf deutlich sprachmystischer Begrifflichkeit auf-
bauend, schrieb.Die ersten Arbeiten, durch welche Benjamin sich Kennt-
nis über die Kabbala angeeignet haben könnte, stammen von Franz Jo-
sef Molitor.19 Doch auch dieser Lektüre hat Benjamin sich offensichtlich
erst Jahre nach seiner Schrift „Über die Sprache des Menschen und über
Sprache überhaupt", die wohl als programmatisch für das Benjaminsche
Sprachdenken gelten muß, unterzogen. Es spricht demnach einiges da-
für, daß die Bezüge Benjamins zur mystisch-theologischen Paradigmatik
einzig von der Lektüre .Hamanns und Humboldts' (vgl. Br. 526) herrüh-
ren, die ihrerseits auch nur vermittelt mit der Kabbala und anderen jü-
dischen Quellen in Berührung gekommen sein dürften. Es handelt sich
mithin eher um Spuren sprachmystischer Paradigmen und ihres Gehalts
denn um eine nachweisbare Sinnkontinuität des positiven Quellenbe-
standes der Kabbala. Für die Sprachreflexionen Benjamins ergibt sich
somit eine gebrochene Aneignung jüdischer Tradition, die sich wohl erst
an den Texten Benjamins selbst zu beweisen haben wird.
20
Vgl. G. Scholem, a. a. O., S. 129.
21
Die Hinweise auf eine ausführlichere Rosenzweigkenntnis und damit eine größere Nähe
zum theologischen Gehalt der Kabbala lassen sich durch die vorhandenen Quellen nicht
bestätigen. Allerdings gibt Benjamin nicht auf, sein Interesse an Rosenzweig zu bekun-
den, und schreibt rückblickend im Jahr 1935, daß „,Der Stem der Erlösung' [ihn] sei-
nerzeit sehr beschäftigt" habe (Br. 670). - In diesem Zusammenhang erweist sich aber
auch, daß jeder Versuch einer Rekonstruktion der Lesearbeit eines Autors ein höchst
spekulatives Unternehmen ist, das seine Attraktivität wohl am ehesten aus der Nach-
zeichnung der flüchtigen Berührung von Eigennamen schöpft.
22
Th. W. Adorno, Prismen, a. a. O., S. 290.
2
' Im Kafka-Aufsatz tauchen die Abschnitte über China aus dem zweiten und dritten Buch
des ersten Teils im .Stern der Erlösung' auf. Im .Trauerspielbuch' bezieht Benjamin sich
auf die im ersten Teil des .Stern des Erlösung' entwickelten Ausführungen zum meta-
ethischen Selbst und zum schweigenden Helden der griechischen Tragödie. Aus dem
zweiten Teil des .Stern der Erlösung' stammen die Hinweise zur Theorie der modernen
Tragödie, im dritten Buch des zweiten Teils, der sich im Benjaminschen .Trauerspiel-
90 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
Sehr viel früher jedoch als die Beschäftigung mit Rosenzweig ist die
Lektüre Hamanns und der Frühromantiker sowie Humboldts bei Ben-
jamin anzusiedeln. Sprachmystische Paradigmen wie .Magie', ,Name',
,Namenssprache', .Offenbarung', .sprachlicher Sündenfall' finden sich
sämtlich schon bei Jakob Böhme, Johann G. Hamann und den Früh-
romantikern. Zur Zeit des frühen Sprachaufsatzes sind Benjamin beson-
ders Hamann und die Frühromantiker vertraut. Zudem muß Benjamin
die Sprachphilosophie Franz von Baaders bekannt gewesen sein, dessen
Werke Scholem ihm zu kaufen anriet.24
Offenbar erhielt Benjamin die sprachmystischen Topoi für seinen frü-
hen Sprachaufsatz aus gerade jenen sprachphilosophischen Ansätzen der
Vergangenheit, die sich um den theoretischen Entwurf einer nicht-instru-
mentellen Sprachvernunft versammelten. Hamann beispielsweise war
bemüht, „die Jüdische und Kirchengeschichte, als die ältesten, frucht-
barsten, unerkannten Quellen einer transzendentalen Philosophie" frei-
zulegen.23 Hamann entschied sich dafür, wichtige Paradigmen der .Kab-
bala' in den „sensum communum des Sprachgebrauchs" einzubringen
und sie als geeignete Elemente aller Sprachen anzusehen.26 Ähnliche
kabbalistische Anleihen finden sich in der .Sprachmagie' Novalis', der
es darum geht, im Rahmen der .progressiven Universalpoesie' „Grund-
ideen der Kabbalistik" wiederzubeleben.27 Und Friedrich Schlegel war
die wahre Philosophie „selbst eine Kabbala - eine geheime Tradition". 28
Sich explizit und implizit auf diese Autoren berufend, verbalisiert Ben-
jamin mit ihrer Hilfe eine Dimension der Spracherkenntnis und Sprach-
erfahrung, die allem Entwurf der Sprache als Mittel und Objekt entge-
gensteht. In diesem Sinnescheini es wesentlich, erneut festzuhalten, daß
Benjamin „nicht auf die historischen Explikationen der mystischen Tra-
buch' wiederfindet. - Vgl. auch zur Nähe des Rosenzweigschen und Benjaminschen
Denkens den Aufsatz von Stefan Moses „Walter Benjamin und Franz Rosenzweig", in:
ders.: Spuren der Schrift: von Goethe bis Celan, Frankfurt a. M. 1987.
2<
Vgl. G. Scholem, Geschichte einer Freundschaft, a. a. O., S. 53.
25
J. G. Hamann, Brief an F. H.Jacobi (November 1782), in: ders.: Briefwechsel, hrsg. von
A. Henkel, 7 Bde., Frankfurt a. M. 1965 ff., Bd. V, S. 94.
26
Ebd.. S. 95.
27
Novahs, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. von P. Kluckhohn und
P. Samuel, Stuttgart 1960 ff., Bd. III, S. 266.
2
* Friedrich Schlegel, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. von E. Behler, unter
Mitwirkung von J.-J. Anstett und H. Eichner, München, Paderborn und Wien 1958 ff.,
S.61.
2.1 DIE ÜBERSETZUNG UND DIE SPRACHE DES MENSCHEN 91
2
' W. Menninghaus, a.a.O., S. 193.
92 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
Das erste Stadium ist als die .götdiche Schöpfung' ausweisbar, vermittels
derer die Welt durch die .göttliche Sprache' geschaffen wird; die Dinge
sind hier absolut mit dem ihnen entsprechenden Schöpfungswort iden-
tisch. Mit der .göttlichen Sprache' steht der .Name' Gottes in unmittel-
barem Zusammenhang, denn der ,Name' Gottes muß als .metaphysi-
scher' Ursprung aller Sprachen gedacht werden. Dieser,Name' ist Grund
der Entfaltung und Entwicklung der Sprache in den „Dokumenten der
Offenbarung" sowie in der Sprache im allgemeinen. „Die Sprache Got-
tes, die sich in den Namen Gottes kristallisiert und letzten Endes in dem
einen Namen, der ihr Zentrum ist, liegt aller gesprochenen Sprache zu-
grunde, in der sie sich reflektiert und symbolisch erscheint."30
Das zweite Stadium ist dasjenige, in welchem Adam in paradiesischer
Existenz die Dinge selbst benennt. Es ist dies eine Sprache, die nicht wie
die göttliche schöpferisch ist, die aber dennoch nicht in ihrem Benen-
nen arbiträr ist. In der Vollkommenheit des Erkennens ist die paradie-
sische Sprache die exakte Übersetzung der stummen Sprache der Din-
ge. Diese Sprache ist als Menschensprache ohne jeden Mangel; die ihr
innewohnende Magie findet letzte Ausläufer und ein letztes kurzes Wie-
deraufleben in der großen Poesie31; diese ist ihrerseits aber schon Teil
der menschlichen Sprache nach dem Sündenfall. Der Sündenfall mar-
kiert das dritte Stadium. Von dem Ereignis des Sündenfalls an ist die
Sprache nicht mehr vollkommenes Erkennen der Dingwelt. „Der Sün-
denfall ist die Geburtsstunde des menschlichen Wortes, in dem der Name
nicht mehr unverletzt lebte, das aus der Namenssprache, der erkennen-
den, man darf sagen: der immanenten eigenen Magie heraustrat, um
ausdrücklich, von außen gleichsam magisch zu werden. Das Wort soll
etwas mitteilen (außer sich selbst). Das ist wirklich der Sündenfall des
Sprachgeistes." (II 153) Diese Nachzeichnung der Metaphern der bibli-
schen Genesis, die sich im Benjaminschen Sprachdenken wiederfindet,
suchen eine Historizität - und damit zugleich eine Zeitlichkeit - des
sprachlichen Feldes zu belegen, die sich ganz und gar nicht nur auf eine
weltgeschichtliche Entwicklung der Sprache beschränkt, sondern deren
Gewicht für Benjamin auch auf der Phylogenese liegt.
,0
G. Scholem, Judaica 3, a. a. O., S. 10.
31
Benjamin unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei unterschiedliche Arten der
Magie: die eine ist die .immanente' Magie, die der Namenssprache innewohnt, die an-
dere ist eine Art von Magie, die nach dem Sündenfall, dem Verlust der Namenssprache,
der Sprache von .außen' anhaftet. (Vgl. II 153.)
2.1 DIE ÜBERSETZUNG UND DIE SPRACHE DES MENSCHEN 93
,2
Vgl. Scholem: „Diese mystische Struktur der Tora als einer Folge von Gottesnamen
erklärt auch, dem Autor zufolge, warum jeder Buchstabe in ihr von Bedeutung ist und
warum eine Torarolle für den synagogalen Gebrauch unbrauchbar wird, wenn sie ei-
nen Buchstaben zuviel oder zuwenig enthält. Von dieser Auffassung ergab sich aber
leicht der weitere Schritt zu der noch radikaleren These, daß die Tora nicht nur aus
den Namen Gottes besteht, sondern geradezu als Ganzes den einen großen Namen
Gottes bÜdet." G. Scholem, Judaica LH, a. a. O., S. 28.
» G. Scholem, Judaica III, a. a. O., S. 69.
94 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
** Im .menschlichen Namen' noch hallt die auf den Namen Gottes folgende adamitische
Sprache nach. Sie ist es, wie Hartmut Böhme schreibt, die „trotz aller historischen
Verderbnis der Sprachen (babylonische Sprachverwirrung) den Menschen in Kontakt
zu einer Sprachform, die die sprachlose Signatur der Dinge mimetisch im Wort, im
Namen vergegenwärtigt. Es ist dieser Kontakt der Sprache zur ,Welt vom sechsten
Schöpfungstag' (Robert Musil), der ursprungsontologisch dem Menschen seine Benach-
barung zu den Dingen gewährt." Hartmut Böhme, Natur und Subjekt, Frankfurt a. M
1988,S.59.
55
G. Scholem, Judaica III, a. a. O., S. 49.
2.1 DIE ÜBERSETZUNG UND DIE SPRACHE DES MENSCHEN 95
der Religion erscheint, rein auf dem Menschen und der Sprache in ihm
beruht" (II 147).
Auf die Frage: Was ist Sprache? antwortet Benjamin mit dem einlei-
tenden Satz seines Sprachaufsatzes von 1916: „Jede Äußerung mensch-
lichen Geisteslebens kann als eine Art der Sprache aufgefaßt werden, und
diese Auffassung erschließt nach Art einer wahrhaften Methode über-
all neue Fragestellungen. Man kann von einer Sprache der Musik und
der Plastik reden, von einer Sprache der Justiz, die nichts mit derjeni-
gen, in denen deutsche oder englische Rechtssprüche abgefaßt sind, un-
mittelbar zu tun hat, von einer Sprache der Technik, die nicht die Fach-
sprache der Techniker ist." (II 140) Indem Benjamin jeder „Äußerung
menschlichen Geisteslebens" den Status der Sprache zuspricht, insistiert
er auf einer Expansion des Begriffes. Sprache darf nach Benjamin nicht
nur auf menschliches Sprechen und Schreiben bezogen sein, sondern soll
sämdiche .Äußerungen' umfassen, die sich in anthropomorphem Bezüge
in symbolischen Ordnungen ausspricht. Sie ist eine „Mitteilung geisti-
ger Inhalte", die zur „Sprache der Sprache" (II 144) erklärt wird. So ver-
bleibt das menschliche Wort als besonderer Fall einer Sprache, als substi-
tuierte Ordnung, die sich erst auf der nächst .höheren' Ebene als Mit-
teilung eines „geistigen Inhalts" mit anderen sprachlichen Sub-Ordnun-
gen trifft. Eine derartige „Sprache der Sprache" erstreckt sich nach
Benjamin „auf schlechthin alles": „Es gibt kein Geschehen oder Ding
weder in der belebten noch in der unbelebten Natur, das nicht in gewis-
ser Weise an der Sprache teilhätte, denn es ist jedem wesentlich, seinen
geistigen Inhalt mitzuteilen." (II141) Benjamin formuliert dies noch prä-
ziser, wenn er sagt, daß jede Sprache das „ihr entsprechende geistige
Wesen" mitteilt: sie teilt das „geistige Wesen" im .Ausdruck' mit.
Ein .Dasein', das ohne ein solches .geistiges Wesen' oder überhaupt
ohne Bezug zur Sprache ist, läßt sich nicht vorstellen. Damit tritt andeu-
tungsweise an dieser Stelle hervor, daß das .geistige Wesen' (VI 16) von
Benjamin nicht als .Sinn' oder .Inhalt' einer Mitteilung gedacht wird. „Es
ist fundamental zu wissen, daß dieses geistige Wesen sich in der Spra-
che mitteilt und nicht durch die Sprache." (II 142) Das, was sich ,durch'
die Sprache mitteilt - Benjamin nennt es auch „verbale Inhalte" - , be-
zieht sich auf die Mitteilung von Sinn- und Bedeutungsgehalten.36 Hin-
'* An dieser .Polarität' der Sprache, „Ausdruck und Mitteilung zugleich zu sein", das heißt
.durch' und ,in' der Sprache sich mitzuteilen, hält Benjamin noch ein Jahrzehnt später
im Moskauer Tagebuch fest. Dort schreibt er, sich auf ein Gespräch beziehend, das ihm
96 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
gegen benennt das .geistige Wesen' eine Mitteilung, die eigentlich sich
der Mitteilbarkeit entzieht und doch „durch die Ritzen der Ausdrucks-
welt hindurchscheint". 37 Das .geistige Wesen' teilt .sich in' der Sprache
mit und beruft sich damit notwendig auf eine gewisse physiognomisch
gestische Dimension, deren Strukturen und figurativen Bezüge als Mani-
festationsgrundlage aller spezifischen .Mitteilungen' der Sprachen gel-
ten müssen. Die Unmittelbarkeit als .Unmittelbarkeit' (Br. 126) aber, in
welcher sich das .geistige Wesen' in der Sprache kundgibt, kann jedoch
nicht die Paradoxie des im Begriff des Jogos' angemerkten Doppelsinnes
verschweigen - und dies gerade mit Blick auf eine sprachphilosophische
Tradition, die diesem Doppelsinn immer wieder nachgedacht hat. Ben-
jamin aber sucht gerade diese Paradoxie für ein Sprachdenken frucht-
bar zu machen, das die Mitteilbarkeit eines .geistigen Wesens' unmittel-
bar mit seinem „sprachlichen Wesen" verknüpft. Dies kulminiert in der
Aussage Benjamins, daß das, was „an einem geistigen Wesen mitteilbar
ist", „sein sprachliches Wesen" (II 142) ist. Deutlich steht im Zentrum
dieser Aussage, daß jedes .geistige Wesen' eine ihm eigene Sprache be-
sitzt und daß die jeweilige Sprache tatsächlich nur mitteilen kann, was
das .geistige Wesen' ihr erlaubt mitzuteilen. Auf dem Grunde einer sol-
chen Charakterisierung wird die Sprache mithin als .Medium' (und nicht
als Mittel) gedacht werden müssen, das in einer gewissen Selbstrefle-
xivität die Umrisse des von ihm Mitteilbaren selbst erstellt (vgl. VI 11).
Die sprachphilosophische Tradition, die Benjamin an dieser Stelle auf-
bricht, hatte bis zu diesem Zeitpunkt Sprache als Mittel ausgewiesen -
oder bestenfalls wie Humboldt als .energeia' -, das heißt, Sprache gilt
einem solchen Ansatz als Instrumentarium, durch welches Inhalt (Sinn)
und Autor (Denken) sich äußern -, dem wird hier entgegengehalten, daß
Sprache sich ,in sich selbst' mitteilt und folglich „im weitesten Sinne das
.Medium' der Mitteilung" (ebd.) ist. Über die daraus entstehenden Kon-
sequenzen - einer Ent-instrumentalisierung des sprachlichen Feldes und
der Auflösung jener Subjekt-Objekt-Dualität, in welcher ein autonomes
Denken sich gegenüber einem Reservoir sprachlicher Ordnung sieht,
welches es nach Belieben zu handhaben vermag - hinausgehend, weist
seit der „lange zurückliegenden Schrift ,über Sprache überhaupt und die Sprache des
Menschen'" der Gedanke dieser .Polarität' aller „sprachlichen Wesenheit" niemals
„zweifelhaft geworden" ist. W. Benjamin, Moskauer Tagebuch, hrsg. von G. Smith,
Frankfurt a. M. 1980, S. 70.
G. Scholem, Judaica III, a. a. O., S. 8.
2.1 DIE ÜBERSETZUNG UND DIE SPRACHE DES MENSCHEN 97
" Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsform der Sprache, Stuttgart und New York
1982, S. 48.
" W. Menninghaus, a.a.O.. S. 16.
98 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
40
K. Bühler, Krise der Psychologie, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1978, S. 124.
41
Vgl. K. Bühler, Sprachtheorie, a. a. O., S. 41.
<2
Vgl. K. Bühler, Krise der Psychologie, a. a. O., S. 52.
43
Vgl. John R. Searle, Intentionalität und der Gebrauch der Sprache, in: Sprechakttheorie
und Semantik, hrsg. von Günther Grewendorf, Frankfurt a. M. 1979, S. 149.
44
Vgl. J. R. Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt a. M. 1990,
S. 30.
2.1 DIE ÜBERSETZUNG UND DE SPRACHE DES MENSCHEN 99
4i
J. R. Searle, Sprechakte, a. a. O., S. 46.
4b
Nachdrücklich weist Benjamin in dem Lebenslauf von 1939 „Curriculum vitae Dr.
Walter Benjamin" darauf hin, daß sich sein sprachphilosophisches Interesse an den
Schriften Humboldts gebUdet hat. Vgl. VI 225 f. Vgl. auch die frühe Arbeit Benjamins
„Reflexionen zu Humboldt", VI 26 f.
100 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
41
Benjamin selbst weist auf die von Bühler herausgearbeitete Differenz bzw. Korrelation
von .Darstellung', .Deixis' und ,Name' hin. (Vgl. III 470.)
4t
K. Bühler, Krise der Psychologie, a. a. O., S. 49.
2.1 DIE ÜBERSETZUNG UND DIE SPRACHE DES MENSCHEN 101
Ir. der Kritik an der Verdeckung der Namenssprache als .reine Sprache' (vgl. auch .Die
Ajfgabe des Übersetzers', IV 14) wird ein Gedanke formuliert, der in dem Aufsatz ,Zur
Kritik der Gewalt' wiederkehrt. Der .mythischen Gewalt' als machtsichernder Gewalt
wird die ,reine Gewalt' als die eigentliche .waltende Gewalt' entgegengesetzt. (Vgl. II
T9 ff.)
102 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
Wie nahe in diesem Zusammenhang die Benjaminsche Kritik der mitteilenden und
repräsentationistischen Sprachbetrachtung der Kritik der Repräsentation als politisches
System steht, wird deudich in seinem fünf Jahre nach dem .Sprachaufsatz' (1916) ver-
faßten Text Zur Kritik der Gewalt (II 179 f.). Vgl. auch J. Derrida, der dies in seiner
Auseinandersetzung mit dem Benjaminschen .Gewaltaufsatz' hervorhebt: „Zur Kritik
der Gewalt ist nicht einfach eine Kritik der Repräsentation als Perversion und (Sün-
den)fall der Sprache, sondern auch eine Kritik der Repräsentation als politisches Sy-
stem der formalen und parlamentarischen Demokratie." J. Derrida, Gesetzeskraft. Der
,mystische Grund der Autorität', Frankfurt a. M. 1991, S. 61 f. (im folgenden GK).
Die ,Stummheit' und .Traurigkeit' der Natur ist neben dem Topos der .Übersetzung'
das Thema, welches sich noch im Trauerspielbuch' als entscheidender Bezugspunkt
wiederfindet. (Vgl. I 399 ff.)
104 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
ge', denen in einer bestimmten Nähe das .geistige Wesen' der Sprache
der Natur wieder zuspräche. Es ginge darum, das unterbrochene Ge-
spräch zwischen der Sprache der Dinge und derjenigen des Menschen
wieder zu entfachen. Dort, wo Erfahrbarkeit und Darstellbarkeit in ei-
nem jenes passivisch-aktivische Muster des profanen Hörens und Spre-
chens transzendiert hätten, müßte sich der ,Ort' einkreisen lassen, der
in einer Nähe zur .Namenssprache' sich aufhielte. Benjamin benennt
diesen ,Ort' deutlich, wenn er schreibt: „Die Sprache der Dinge kann
in die Sprache der Erkenntnis und des Namens nur in der Übersetzung
eingehen [...]" (II 152, Hervorhebung A. H.). Erfahrung und Darstel-
lung scheinen, im Paradigma der .Übersetzung' kristallisierend, jene Spu-
ren zu entdecken, die in der Vielzahl der Sprachen in die verborgenen
Residuen des .sprachlichen Wesens' führen und dort das Werden der
Sprache selbst berühren.
""" Als .schriftliche Lehre' gilt die .Thora' selbst. Neben ihr spielt die .mündliche Lehre',
die als solche vom ersten nachchristlichen Jahrhundert an bezeichnet wird, eine aller-
dings entscheidende Rolle für das Judentum. Neben der .schriftlichen Thora' wird die
.mündliche Thora' zum wesentlichen Bestandteil der Tradition. Sie ist eine „spezifische
Auswahl" aus dem .kulturellen Gut' der jüdischen Gemeinschaft. „Sie erklärt bestimmte
Dinge, Sätze oder Einsichten als Tora und setzt sie damit in Verbindung mit der Offen-
barung. Damit wird der ursprüngliche Sinn der Offenbarung als ein einmaliger, positiv
gegebener und fest umzirkelter Aussagebereich in Frage gestellt, und es beginnt eine
ebenso fruchtbare wie unabsehbare Entwicklung, die für die religiöse Problematik des
Begriffs Tradition höchst aufschlußreich ist." (G. Scholem, Offenbarung und Traditi-
on als Religiöse Kategorien im Judentum, in: ders., Über einige Grundbegriffe des
Judentums, Frankfurt a. M. 1970, S. 95). Später jedoch entsteht eine .zweite' schriftli-
che Tradition als Thora-Kommentar.
57
G. Scholem, ebd, S. 96.
2.1 DIE ÜBERSETZUNG UND DIE SPRACHE DES MENSCHEN 107
Wort und Kommentar umkehren: der Kommentar selbst erst treibt die
.Offenbarung' aus der .Schrift' hervor. Der Kommentar kann in diesem
Sinne nicht anders gedacht werden denn als temporale und lokale Ver-
schiebung in der Relektüre der .Schrift': der Kommentar wird zur ange-
messenen Übersetzung der .Schrift'. Und deutlich wird somit zweierlei
vor dem Hintergrund der prinzipiellen Unabschließbarkeit der Kommen-
tierung: erstens muß mit der Unendlichkeit der Kommentierung die ur-
sprüngliche .Schrift' auch als unendliche .Offenbarung' gedacht werden,
und zweitens wird deutlich, daß die .heilige Schrift' erst mit ihrer Kom-
mentierung und ihre .Offenbarung' nur vermittels des Kommentars ent-
stehen. 58 In eben demselben Maße aber, in dem der Kommentar die
.Offenbarung' der .Schrift' in der Geschichte übersetzt, übersetzt die
Sprache des Menschen als benennende die Sprache der Dinge als .Wort'
Gottes. Gleichermaßen erweisen sich die .heilige Schrift' und die Welt
der Dinge als Chiffrierung der .Offenbarung' Gottes und damit in der
Unendlichkeit des Kommentars als das Wesen des unendlich Deutbaren
überhaupt: „Wenn es aber ein Wort Gottes gibt, so muß es ja vom
menschlichen Worte gänzlich verschieden sein. Es ist umgreifend, all-
umfassend und kann nicht wie das letztere auf einen spezifischen Sinn-
zusammenhang allein bezogen werden. Mit anderen Worten: es ist un-
endlich deutbar, ja es ist das Deutbare schlechthin."59 Und für eine Säku-
larisation dieses Gedankens faßt Scholem dies treffend zusammen: „Hier
ist die Offenbarung, die keinen spezifischen Sinn hat, das unendlich
reichen Sinn Verleihende im Wort. Selber bedeutungslos, ist sie das
Deutbare schlechthin."60 Die Offenbarung muß daher, auf ihre unmit-
telbare Verflechtung mit der Sprache bezogen, jene nicht-bedeutende
und nicht-objektivierbare Seite des Wortes berühren, die von Benjamin
als das .geistige Wesen' des Sprachlichen bezeichnet wurde.
51
Scholem unterstreicht diese These und behauptet, ihre Zuständigkeit für andere Reli-
gionen erweiternd: „Daß die Offenbarung des Kommentars bedarf, um verstanden und
im richtigen Verständnis angewandt werden zu können, ist keineswegs selbstverständ-
liche religiöse These, die dem Phänomen der Schriftgelehrtheit und der von ihr in-
augurierten Tradition im Judentum zugrunde liegt. Daß diese innere Gesetzlichkeit in
der Entwicklung des Begriffs der Offenbarung sich dann auch in anderen Religionen
findet, die die Autorität einer Offenbarung anerkennen, zeigt, daß der Vorgang, um den
es sich hier handelt, von allgemeiner Bedeutung für die Phänomenologie der Religio-
nen ist." G. Scholem, Offenbarung und Tradiüon ..., ebd., S. 97.
» G. Scholem, ebd., S. 109.
60
G. Scholem, ebd.
108 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
Es ist daher nur verständlich, daß Benjamin das Paradigma der .Offen-
barung' in einer profanierten Version in den Dienst seiner Sprachphilo-
sophie nimmt: „Die Gleichsetzung des geistigen mit dem sprachlichen
Wesen ist aber in sprachtheoretischer Hinsicht von so großer metaphysi
scher Tragweite, weil sie auf denjenigen Begriff hinführt, der sich immer
wieder wie von selbst im Zentrum der Sprachphilosophie erhoben hat
und ihre innigste Verbindung mit der Religionsphilosophie ausgemacht
hat. Das ist der Begriff der Offenbarung." (II146) Im Begriff der .Offen-
barung' sieht Benjamin gerade jene .geistige' Dimension der Sprache
angedeutet, die nicht durch die Sprache, sondern in der Sprache sich
mitteilt, das heißt, das .Ausgesprochenste' der Sprache wäre zugleich das
„reine Geistige". „Genau das meint aber der Begriff der Offenbarung."
(Ebd.) Auf interessante Weise macht sich Benjamin so den Begriff der
.Offenbarung' und seine sprachmystische Herkunft zu eigen: Indem er
mit dem Begriff der .Offenbarung' auf die verschüttete, aber noch in der
profanen Sprache lebendige Dimension einer nicht instrumentalisierten
und sinnfreien Sprache verweist, richtet er zugleich den Blick auf die
Tradition der Freilegung der verschütteten .Offenbarung'. Denn diese
funktioniert, wie schon deutlich wurde, in sprachmystischer Tradition,
anhand jener eigentümlichen Bewegung, die zugleich auch Verdeckung
ist: mit dem .Kommentar' selbst erst entsteht der .Rekurs' auf die .Offen
barung' der Schrift. Benjamin steht mit dem Denken der an Sprachlichkeit
gebundenen .Offenbarung' in der jüdischen Tradition, die entgegen der
christlichen und griechischen Tradition nicht auf eine .Inkarnation'
(Christus) des Buchstabens verwiesen ist.61 Nur, daß der Benjaminsche
.Kommentar' als .Übersetzung' gedacht ist: als .Übersetzung' des .geisti-
gen Wesens', als .Offenbarung' der Sprache.
Mit der derart ausgeführten Verknüpfung jüdisch-mystischer Tradi-
tion und einer auf profanes Sprechen und Schreiben bezogenen Sprach-
erfahrung schließt Benjamin sich einem Satz Hamanns an, der besagt,
daß die „Sprache, die Mutter der Vernunft und Offenbarung, ihr A und
Q" ist.62 Auch bei Hamann wird der Begriff der .Offenbarung' in jener
Weise des Sprachdenkens verwandt, die aus der Berührung mystischer
und profaner Spracherfahrung Kritik gegen diejenigen Sprachtheorien
" Vgl. auch Susan Handelman: Jacques Derrida and the Heretic Hermeneutic, in:
M. Krappnick (Hrsg.), Displacement, Bloomington 1983, S. 106 f.
62
J.G. Hamann, Brief an Jacobi vom 22. Okt. 1885, in: ders, Briefwechsel, a. a. O., Bd. IV,
S. 108.
2.1 DIE ÜBERSETZUNG UND DIE SPRACHE DES MENSCHEN 109
6>
J.G. Hamann, zitiert nach: Gildemeister,J. G. Hammans, des Magnus im Norden, Leben
und Schriften, 6 Bde., Gotha 1857-1873, Bd. 5., S. 684.
64
J. G. Hamann, Versuch über eine akademische Frage, in: Sämtliche Werke, a. a. O.,
Bd. II, S. 122.
110 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
der Plastik, der Malerei an, die sich als „namenlose Sprachen" (II 156)
in derselben Sphäre wie die Dinge selbst aufhalten. In einem bestimm-
ten Sinne sind diese Sprachen in „gewissen Arten von Dingsprachen"
begründet. Sie erfahren dort, wo andere Sprachen in der .Übersetzung'
weit duch die .Stummheit' der Dingwelt abgetrieben werden, eine Ver-
trautheit mit dem sich offenbarenden .geistigen Wesen' der in materialer
Gemeinsamkeit befindlichen Natur. Eine ebensolche .Ähnlichkeit' ist es
auch, die Benjamin in der vergessenen Namenssprache und der Sprache
der Poesie entdeckt: in der poetischen .Übersetzung' setzt das benennen-
de Wesen der menschlichen Sprache jene Dimension frei, die allererst
den Prozeß des Sprachwerdens .offenbart'. Offenbarend weist seine
derart gewonnene poetische Sprache auf die tiefe Erfüllung hin, die sie
jenseits instrumentalisierter Sprachlichkeit in einer,reinen Sprache' fän-
de. Ohne die Bewegung des .Übersetzens' bliebe diese jedoch auf immer
verborgen.
65
Hinweise Benjamins auf Hamann finden sich z. B. im frühen Aufsatz .Über Sprache
überhaupt und über die Sprache des Menschen', II 147, 151.
66
Die ausführlichste Auseinandersetzung Benjamins mit Schlegel und Novalis ist wohl
die Schrift „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik", I 7-122.
112 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
67
J. W. von Goethe erscheint die .Kritik' wie „Ate: sie verfolgt die Autoren, aber hinkend "
(J. W. von Goethe, in: Goethes Werke, Bd. 12, Schriften zur Kunst und Literatur, Ham-
burger Ausgabe, hrsg. von E. Trunz, München [8] 1978, S. 504 [Nr. 988]) .Ate' ist als
Göttin der Verblendung und Schuld Inbegriff des Falschen und Unwahren, das die
Autoren und ihre Ur-Texte heimsucht. Für Goethe gut Kritik in diesem Zusammen-
hang nicht nur als abgeleiteter und zweiter Text, der auf einen originären ersten Text
folgt, sondern Kritik gilt ihm apriorisch als Verfehlung des vom Autor intendierten Sinns;
Kritik gilt ihm derart als überflüssiger Zugriff auf das Original.
2.2 KRITIK UND ÜBERSETZUNG 113
M
F. Schlegel, Über Goethes Meister, in: F. Schlegel, Kritische und theoretische Schrif
ten, Stuttgart 1978, S. 157 f.
" In der Ankündigung der Zeitschrift ,Angelus Novus' - welche durchaus als Zeitschrif
ten-Pendant des zwanzigsten Jahrhunderts zum .Athenäum' gedacht war - fordert Ben
jamin auch eine Gleichbehandlung von Kritik und Dichtung, die auch vermittels typo
graphischer Darstellung nicht voneinander abgehoben werden sollen (vgl. II 242).
114 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
Stelle setzt die Kantkritik Hamanns und der Frühromantiker an, die in
der Fruchtbarmachung gewisser sprachmystischer Artikulationsmöglich-
keiten eine Erfahrung benannt sehen, die vom sprachlosen, mechani-
schen Erkenntnisbegriff Kants nicht eingeholt zu werden vermag. Der-
art wendet sich auch F. Schlegel gegen Kants Philosophie als eine, die
von einer „vermeynten mathematischen Gewißheit" ausgehe und somit
nur als der „Mathematik nachgeäfften Methode" gelten könne.71 Die
Überwindung dieses einseitig ausgerichteten .mathematisch-mechani-
schen' Erkenntnisbegriffs sieht Benjamin schon zu Lebzeiten Kants
durch eine stärkere Gewichtung der Beziehung der „Erkenntnis auf die
Sprache" bei Hamann unternommen. Im Anschluß an diesen und die
Frühromantik nimmt Benjamin 1918 schon die entscheidende .Maxime'
der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts vorweg, wenn er das
„sprachliche Wesen der Erkenntnis" einfordert: „Über dem Bewußtsein
daß die philosophische Erkenntnis eine absolut gewisse und apriorische
sei über dem Bewußtsein dieser Mathematik ebenbürtigen Seiten der
Philosophie ist für Kant die Tatsache daß alle philosophische Erkennt-
nis ihren einzigen Ausdruck in der Sprache und nicht in Formeln und
Zahlen habe völlig zurückgetreten." (II 161) Trotz dieser expliziten Kritik
Benjamins an Kant sind die Nähen dieser beiden Denker greifbar - nicht
umsonst wird das „Programm der kommenden Philosophie" unmittel-
bar von Kant ausgehend projektiert. Besonders im Bereich der ästhetik-
philosophischen Thematisierungen wird deutlich, daß Benjamin auf-
merksamer Leser der „Kritik der Urteilskraft" war. Zwar kann aus ver-
ständlichen Gründen hier nicht der Ort sein, wo diese Gemeinsamkei-
ten erarbeitet werden, es wird jedoch zwischen den Zeilen der Ausein-
andersetzung Benjamins mit dem frühromantischen Kritikbegriff die
Diskussion mit Kantschen Theoremen lesbar werden. Diese Diskussion
ließe sich gleichwohl nicht auf das .Frühromantikbuch' beschränken,
sondern führt durch viele der Benjamischen Schriften, vom .Ausdrucks-
losen' (I 181) im .Wahlverwandtschaftenaufsatz' über den .Allegorie-
begriff' (1337 ff.) im .Trauerspielbuch' bis zum .Aurabegriff' im ,Kunst-
werkaufsatz' (1463), um letzthin gerade den erhellenden Zugang Benja-
mins zu Kantischen Begriffen, wie dem des .Schönen' und .Erhabenen'
in der .Kritik der Urteilskraft' unter Beweis zu stellen. Gerade diese
71
F. Schlegel, Philosophie der Sprache und des Wortes, in: ders., Kritische Friedrich-
Schlegel-Ausgabe, a. a. O., Bd. 10, S. 187.
116 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
12
J. G. Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre, in: Sämtliche Werke, hrsg. von
J. H. Fichte, Berlin 1845-1846, Bd. I, S. 67.
" Vgl. J. G. Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, a. a. O.,
S. 526.
2.2 KRITIK UND ÜBERSETZUNG 117
Fichte die Unendlichkeit gebannt, da hier das Denken sich seiner unmit-
telbar bewußt ist. Für die Frühromantik aber bleibt das Interesse an dem
Gedanken der Unendlichkeit' und an dem der .Unmittelbarkeit' der
.Reflexion' entscheidend.
Dennoch läßt beispielsweise der frühe Schlegel sich auf den wesent-
lichen, dem Fichteschen Reflexions-Paradigma zugrunde liegenden Ge-
danken ein. Dieser besagt, daß allem .denkenden Geist' der unableitbare
und unerklärliche .Akt des Selbstbewußtseins' vorangeht. Das .Denken'
beginnt, „gleichsam wie aus dem Nichts entstanden" 74 , auch logisch erst
mit der Reflexion. Denn weil die Reflexion „die Form des Denkens ist,
ist dieses logisch ohne sie, obgleich sie auf dasselbe reflektiert, nicht
möglich" (I 39). Die Reflexion selbst muß als aus einem .Indifferenz-
punkt' entspringend gedacht werden.
Bei Fichte und beim Schlegel der Windischmanschen Vorlesungen
wird dieser .Indifferenzpunkt', das .Absolute', als .Ich' entworfen. Für
den Schlegel der Athenäumszeit, wie auch für Novalis, weicht die Vor-
stellung des Absoluten als ,Ich' schon ganz der Konzeption des .Indiffe-
renzpunktes' der Reflexion als .Kunst'. Die derart wirkende Reflexion
allerdings muß gegenüber der Fichteschen als veränderte gedacht wer-
den, denn von nun an gilt die Reflexion als Reflexion „im Absolutum der
Kunst". Die Reflexion, die als Denken des Denkens von Fichte markiert
wurde, wird im Medium der Kunst auf ganz und gar neuen Grund ge-
stellt, indem sie als .Kritik' gefaßt wird: derart gilt - so Benjamin - Schle-
gel die Kunstkritik als die „Reflexion im Medium der Kunst" (140). Die
Reflexion als Form bereitet als,Ich-freie' Reflexion das Feld, welches sich
als Kunstkritik entpuppt. Das notwendig mitzudenkende Medium, das
diese Art .Kritik' sich entfalten läßt, denkt Benjamin mit Schlegel als
Kunst insofern, als vor allen anderen Kunstformen die Poesie gemeint
ist (vgl. I 14). Im .Terminus', im Begriff erst kommt die Reflexion und
damit die .Kritik' zu sich selbst. Der Begriff selbst kündet von den Be-
zügen, die mit jedem neuen Terminus in der Welt auftauchen und die
Welt erweitern; derart gilt vom Begriff, was F. Schlegel von der Sprache
im allgemeinen behauptet: „Die Herrschaft der Sprache über die Gei-
ster ist offenbar: aber ihre heilige Unverletzlichkeit folgt daraus" 75 jedoch
74
F. Schlegel, Gespräch über Poesie, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, a. a. O.,
Bd. II, S. 314.
7J
F.Schlegel, Athenäumsfragment 209, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, a. a.O.,
Bd. II, S. 197.
118 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
nicht. Die Bewegung der Kritik kristallisiert sich im Begriff, ohne doch
mehr als eine Ahnung von jenem .Indifferenzpunkt' zubieten, der Quelle
des Begriffs als Reflexionsmedium ist. Der Fichtesche Gedanke des .ab-
soluten Ich' als Indifferenzpunkt, aus welchem die Reflexion allererst
entspringt, ist bei Schlegel folglich dem Entwurf einer im Medium der
Kunst als Sprache sich entfaltenden Reflexion gewichen. In diesem Zu-
sammenhang auch wird eine Beziehung Schlegels zur Sprachmystik deut-
lich; denn dort, wo das .Absolute' - und dieses noch als absolut gefaß-
tes .System' - sich dem mittelbaren Zugriff des Wissens entzieht, da es
selbst nicht zur Darstellung kommt, bedarf es eines tieferen Nachwei-
ses, als die .gewöhnliche Logik' (vgl. I 46) zu führen gewillt ist.
Im .Begriff wird gleichwohl das .Absolute' ahnbar, es tritt in steter
Neuerung des Reflexionsmediums in die Darstellbarkeit ein und kündet
von seiner Nähe anhand jener vielfältig schimmernden und leuchtenden
Ordnung, die sich in der Poesie kundgibt. Der solchermaßen entworfe-
ne .Begriff ist allerdings untrennbar verknüpft mit dem Begriff der Kri-
tik, der Kunstkritik, den Schlegel ins Zentrum des frühromantischen
Denkens stellt. .Kritisch' bedeutet für diesen - angeregt durch den Kant-
schen Kritikbegriff- „objektiv produktiv, schöpferisch aus Besonnenheit.
Kritisch sein hieß die Erhebung des Denkens über alle Bindungen so weit
treiben, daß gleichsam zauberisch aus der Einsicht in das Falsche der
Bindungen die Erkenntnis der Wahrheit sich schwang." (151 )76 Und eine
solche .Erkenntnis' der .Wahrheit' vermag nur dort Evidenz zu gewin-
nen, wo weder das Wahre noch das Falsche den Erkenntnisweg ver-
sperrt, sondern wo deutlich wird, daß sie aus einer Bewegung erwach-
sen, welche auch Denken und Erkennen zugrunde liegt. Diese Bewegung
wird bei den Frühromantikern als .kritische' Bewegung gedacht, die in
einer eigentümlichen Weise im Reflexionsmedium des Begriffs Nieder-
schlag und Übersetzung findet - derart wird das Paradigma der Überset -
76
Deutlich erscheint vor diesem Hintergrund der Bezug zum Trauerspielbuch Benjamins,
in welchem gerade der .Allegorie'-Begriff im unmittelbaren Anschluß auch an den Kri-
tik-Begriff der Frühromantik entwickelt scheint. Denn gerade die .Allegorie' des Barock
weist nach Benjamin eine eben solch paradoxe Umkehr auf: „Wie Stürzende im Fallen
sich überschlagen, so fiele von Sinnbild zu Sinnbild die allegorische Intention dem
Schwindel ihrer grundlosen Tiefe anheim, müßte nicht gerade im äußersten unter ih-
nen so sie umspringen, daß all ihre Finsternis, Hoffart und Gottferne nichts als Selbst-
täuschung scheint. Heißt es doch ganz das Allegorische verkennen, den Bilderschatz,
in welchem dieser Umschwung in das Heil der Rettung sich vollzieht, von jenem düstem,
welcher Tod und Hölle meint, zu sondern." (I 405)
2.2 KRITIK UND ÜBERSETZUNG 119
zung noch aus der frühromantischen Theorie der .Kritik' sich erklären
lassen müssen. Mit dem Begriff der Kritik wendet Schlegel sich gegen ein
Denken, das vom Postulat des Originals nicht weicht und das auf diese
Weise die reproduzierende Bezugnahme verdammt.77 Die Nachahmung
wird fortan von der Frühromantik sanktioniert, weil sie nicht als a priori
Sekundäres auf ein Originäres folgt, sondern weil sie als im Reflexions-
medium zur Darstellung Gekommenes ebenso originär wie das Original
selbst ist; die Kritik des Originals ist gerade jener Bewegung entsprungen,
der auch das Original selbst entspringt.
Die solchermaßen inaugurierte Aufwertung der Reproduktion muß
notwendig auch für die Übersetzung gelten, und tatsächlich finden die
Übersetzungspraxis und das Übersetzungsdenken bei F. Schlegel eine
neue Bewertung. Die der Übersetzung innewohnende Zuständigkeit ist
für F. Schlegel wesentlicher Bestandteil kulturphilosophischer und ge-
wisser historischer Prozesse. Dies klingt an, wenn er schreibt: „Speziel-
le Geschichte einzelner Dichtarten und Perioden, ohne eingeschaltete
Übersetzungen ist nicht interessant genug."78 Übersetzung' soll hier auf
dem Grunde universaler .Aneignung' zum Vehikel einer „Naturgeschich-
te des Schönen der Kunst" werden, die den einmal intendierten Ort ih-
rer .gewinnenden' Nachbildung jederzeit zu verlassen bereit ist. Um die
Vorgehens- und Verfahrensweise des Übersetzens deuflich zu umreißen,
bestimmt F. Schlegel es als „philologische Kunst", welche keinesfalls vom
Problemkreis hermeneutischer Erkenntnis zu trennen ist. Von einer
subjektivistischen Einfühlungstheorie eines Wackenroder oder Tieck
scheint der Begriff der .philologischen Kunst' jedoch weit entfernt. Phi-
lologie und historisches Erkennen lassen sich im Denken Schlegels nicht
voneinander trennen. Für die Praxis des Übersetzens zieht dies eine
Öffnung und Streuung des Operationsfeldes nach sich; jede „Überset-
zung ist eine unbestimmte, unendliche Aufgabe".79 Mithin ist die Über-
77
Schlegel wendet sich gegen jenen Kunstbegriff, der, .Korrektheit' und .Wahrheit' for-
dernd, die .absolute Originalität' zum höchsten Gut des Schaffens erklärt: „Hier emp-
fahl sie durch den Stempel ihrer Auktorität, sanktionierte Werke als ewige Muster der
Nachahmung: dort stellte sie absolute Originalität als den höchsten Maßstab alles Kunst-
werts auf, und bedeckte den entfernten Verdacht der Nachahmung mit unendlicher
Schmach." F. Schlegel, Über das Studium der Griechischen Poesie, in: Kritische Fried-
rich-Schlegel-Ausgabe, a. a. O., Bd. I, S. 220 f.
7
* F. Schlegel, Bnef vom 27. 9. 1796, in O. Walzel, Deutsche Romantik, Leipzig und Ber-
lin 1918, Brief Nr. 82.
79
F. Schlegel, Lyceums-Fragment Nr. 75, in: Kritische Ausgabe, a. a. O., Bd. II, S. 156.
120 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
M
F. Schlegel, Phüosophie der Philologie, hrsg. von J. Körner, Logos, Bd. XVII (1928),
S. 50 f.
" F. Schlegel, Über das Studium der griechischen Poesie, in: Kritische Schriften, hrsg. von
W. Rasch, München 1964, S. 207.
u
Vgl. F. Schlegel, a. a. O , Bd. IL, S. 324.
" Ebd.
M
Vgl. F. Schlegel, a . a . O . , Bd. XI, S. 1)6.
2.2 KRITIK UND ÜBERSETZUNG 121
Denken des Denkens voraus, das heißt, daß alles Erkennen auf der Er-
kenntnis des Denkens durch sich selbst beruht. Das Denken des Den-
kens wurde aber von Schlegel und Novalis hinaus aus dem Fichteschen
.Ich' auf eine .stoffliche' Ebene verlagert und damit ontologisiert. Die
Behauptung Novalis' beispielsweise besteht diesbezüglich nun darin, daß
alle Objekt- und Gegenstandserkenntnis in einer .Selbsterkenntnis' des
Objekts oder des Gegenstandes liegt. Von diesem ausgehend, stellt sich
allerdings die Frage, ob überhaupt Erkenntnis außerhalb der .Selbster-
kenntnis' möglich ist, ob und wie dem Subjekt der erkennende Zugriff
auf das sich selbst denkende Objekt als Reflexionsmedium gelingt. Ben-
jamin beschreibt die Art der ihre monadische Verschließung jederzeit
sprengenden Selbstreflexion folgendermaßen: „Nicht die Menschen al-
lein können ihre Erkenntnis durch gesteigerte Selbsterkenntnis in der
Reflexion erweitern, sondern ebenso können das die sogenannten Natur-
dinge [...] Das Ding strahlt nämlich in dem Maße, als es in sich die
Reflexion steigert und in seine Selbsterkenntnis andere Wesen einbe-
greift, seine ursprüngliche Selbsterkenntnis auf diese aus." (I 57) Was
dem Menschen derart zur Erkenntnis wird, ist folglich Reflex der Selbst-
erkenntnis des Naturdings selbst. Der anvisierte Reflexionsprozeß muß,
von jedem sich selbst erkennenden .Wesen' ausgehend, erstens als un-
endlich gedacht werden und zweitens als solcher, in dem alle Einheiten
sich relational zueinander verhalten.85 Die ,Subjekt-Objekt-Korrelation'
ist auf diese Weise notwendig aufgehoben; es gibt nur .relative Refle-
xionseinheiten'. „Die Erkenntnis ist nach allen Seiten in der Reflexion
verankert, wie die Fragmente des Novalis es andeuten: das Erkannt-
werden eines Wesens durch ein anderes fällt zusammen mit der Selbst-
erkenntnis des Erkanntwerdenden, mit der des Erkennenden und mit
Erkanntwerden des Erkennenden durch das Wesen, das er erkennt."
(I 58) Die früh romantische Theorie der Naturerkenntnis baut mithin auf
eine Aufhebung der Trennung von Spontaneität und Rezeptivität, die die
Relation des Erkennens an ein aktives Innen, das einem passiven Außen
gegenübersteht, knüpfen. Eine solche Erkenntnis des Gegenstandes führt
notwendig zu einem Kritikbegriff, der sich an die ineinander verzahnten
Selbsterkenntnisse verschiedenster Reflexionsmedien wendet, um sich
von dorther in einer ebensolchen Lösung von der Subjekt-Objekt-Rela-
tion in neuartiger Weise zu erheben. Daran anschließend definiert Ben-
Vgl. Jochen Hörisch, Die fröhliche Wissenschaft der Poesie. Der Universalitätsanspruch
von Dichtung in der frühromantischen Poetologie, Frankfurt a. M. 1976, S. 38.
122 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
tik eine .negative Instanz' sehen will. Dieser positive Prozeß der Refle-
xion durch die Kritik ist prinzipiell unabschließbar. Vermittels jeder
kritischen Erkenntnis wird in dem Kunstwerk „ein höherer selbsttätig
entsprungener Bewußtseinsgrad desselben" (I 67). Der Kritiker über-
nimmt die Aufgabe, die Erweiterung des Kunstwerkes durch sich selbst
zu entfachen. Als „wahrer Leser" setzt der Kritiker zur fortschreitenden
Vollendung des Kunstwerkes an; oder wie Novalis sagt: „Der wahre
Leser muß der erweiterte Autor sein. Er ist die höhere Instanz, die die
Sache von der niederen Instanz schon vorgearbeitet erhält." 88 Die Viel-
heit der Kritiken eines Werkes, die dazu beitragen, daß dieses sich im
„Medium der Kunst auflöst", denkt Benjamin im Anschluß an Novalis
als .personifizierte' Reflexionsstufen. Das Kunstwerk erfährt auf diese
Weise eine Potenzierung der Reflexion, die den .unendlich' vielen Stu-
fen seiner Kritik entspricht. Das Kunstwerk ist für Schlegel und Novalis
ein werdendes, das sich auf unvorhersehbaren Wegen neu gestaltet,
umformt und erweitert.
Auch für Novalis liegt es daher nahe, nicht nur für die Kritik, sondern
auch für die Übersetzung eine umfassende .poetologische' Zuständigkeit
zu fordern. Komplementär zur Vielfalt möglicher Reflexionen des poe-
tischen Kunstwerkes unterscheidet Novalis drei verschiedene Formen
der Übersetzung: die grammatische, die verändernde und die mythische
Übersetzung.
„Grammatische Übersetzungen sind Übersetzungen im gewöhnlichen
Sinn. Sie erfordern sehr viel Gelehrsamkeit, aber nur diskursive Fähig-
keiten." 89 Für die .verändernde Übersetzung' bedarf es jedoch schon ei-
ner .künstlerischen' Fähigkeit, die über den „höchsten poetischen Geist"
verfügt. Der .verändernde' Übersetzer muß selbst Dichter sein, das heißt,
er muß Dichter des Dichters sein und diesen „also nach seiner und des
Dichters eigener Idee zugleich reden lassen können." 90 Da für Novalis
die .Übersetzung' nicht mehr schöpferische Entsagung und Unterord-
nung unter das Original mit sich bringt, erlangt die .verändernde Über-
setzung' eine Dimension, in welcher Treue und Veränderung einander
bedingen. Dichter und Übersetzer liefern daher nur jeweils verschiede-
ne Darstellungen der „Idee des Ganzen". Folglich wird die Unterschei-
M
Novalis, Schriften, a. a. O , Bd. 2, S. 470.
" Novahs, Athenäumsfragment Nr. 68, in: Schriften, a. a. O., Bd. IL, S. 439 f.
90
Ebd.
124 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
" Novahs, Vermischte Bemerkungen Nr. 29., in: Schriften, a. a. O., Bd. II, S. 424.
92
Zu beachten ist hier allerdings, daß Novalis das Verständnis des Dichters jedoch mit
einem Selbstverständnis verknüpft, das der Übersetzer notwendig zu gewinnen hat: „Die
höchste Aufgabe der Bildung ist - sich seines transcendentalen Selbst zu bemächtigen,
das Ich seines Ich's zu seyn. Um so weniger befremdlich ist der Mangel an vollständi-
gem Sinn und Verstand für Andre. Ohne vollendetes Selbstverständnis wird man nie
andere wahrhaft verstehen lernen." Novalis, Blütenstaub-Fragment Nr. 28, in: Schrif-
ten, a. a. O., Bd. II, S. 425.
" Novahs, Athenäumsfragment Nr. 68, a. a. O., S. 439 f.
2.2 KRITIK UND ÜBERSETZUNG 125
94
Es ist der .magische Dichter, der die Wirklichkeit ins Mythische, ins Märchen, über-
trägt; er allein besitzt das Vermögen, die .mythische Einheit' von Geist und Natur zu
schauen. „Insofern ist er selbst mythischer Übersetzer und gestaltet ein Märchen das
.Ideal' des Kunstwerks; denn das Märchen ist für Novalis allgemeingültiger ,Kanon der
Poesie'." Andreas Huyssen, a. a. O., S. 134.
126 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
ein ebenso statthaft ist, wie eine andere." (I 70) Außer jenem unkalku-
lierbaren Ort im Werden von Kritik und Übersetzung spielt hier für
Benjamin in die Beurteilung einer gewissen Nähe von Übersetzung und
Kritik noch mit hinein, daß es sich bei beiden reproduktiven Verfahren
um eine .schöpferische' Reflexion des Kunstwerkes handelt. Das Kunst-
werk ist derart nicht nur als .Nebenprodukt' einer allmächtigen Subjek-
tivität gedacht, sondern als solches, das die Grenze zwischen Subjekt und
Objekt sprengt: Jenseits von Subjekt und Objekt wird in der Reflexion,
in der Subjekt und Objekt sich auflösen, ein anderer Text, der seine
Andersheit einzig dem Prozeß zu verdanken hat, den Benjamin .Über-
setzung' nennt."
Eine Verkoppelung - der ausführlicher nachzugehen der Rahmen der vorhegenden Ar-
beit zwar nicht erlaubt, deren Gehalt weiter unten aber noch hervortreten wird - mit
dem Paradigma der .Reflexion' drängt sich auch angelegentlich einiger Überlegungen
Derridas auf. Einen eindrucksvollen Beleg dieser These liefert Rodolphe Gasche, der
herausarbeitet, daß die .Dekonstruktion' nichts anderes als eine forcierende und forcierte
.Reflexion' ist. Vgl. Rodolphe Gasche, The Tain of the Mirror. Derrida and the Philo-
sophy of Reflection, Cambridge und London 1986, S. 42 f., S. 88, S. 281 f.
2.2 KRITIK UND ÜBERSETZUNG 127
Kunst, während ersteres ein im .absoluten Medium' der Kunst zur Dar-
stellung gekommenes Moment (als .Grenzwert') meint. Da jedoch die
.Darstellungsform' als positiv formales .Moment' durch die .Selbstrefle-
xion' sich im .absoluten Medium' der Kunst auflöst, führt dies zu der
paradoxen Vorstellung einer sich selbst erhöhenden und übersteigenden
Form. In der ,Darstellungsform' schon, in welcher die Reflexion sich
selbst in einem .Grenzwert' zu beschränken' weiß, artikuliert sich der dem
Werk .immanente Keim' (178). Je schärfer und strenger daher die Form
des Werkes, desto „vielfacher und intensiver" (173) treibt die Reflexion
des Werkes andere und .höhere' Formen aus sich hervor. Bezogen auf
die Kritisierbarkeit eines Werkes, bedeutet dies daher, daß nur aus ge-
wissen .Formen' Reflexion als Kritik schlägt und damit die Kritisierbarkeit
eines Werkes zum Gütesiegel desselben wird. „Denn der Wert des Wer-
kes hängt einzig und allein davon ab, ob es seine immanente Kritik über-
haupt möglich macht oder nicht [...] Die bloße Kritisierbarkeit eines
Werkes stellt das positive Werturteil über dasselbe dar; und dieses Ur-
teil kann nicht durch eine gesonderte Untersuchung, vielmehr allein
durch das Faktum der Kritik selbst gefällt werden, weil es gar keinen
anderen Maßstab, kein Kriterium für das Vorhandensein einer Reflexion
gibt, als die Möglichkeit ihrer fruchtbaren Entfaltung, die Kritik heißt."
(I 79) Selbst solch immanente Kritik unterliegt aber nicht einer ,Wert-
skala', die durch externe Beurteilungskriterien immer schon den iden-
tifikatorischen Zugriff auf das Werk vorgenommen hat. Das Werk beur-
teilt sich selbst und wird erst zum Werk, indem es sich kritisiert.
Die derart das Werk als Kunstwerk ausweisende Kritisierbarkeit des-
selben läßt sich, mit verblüffender Direktheit auf den Übersetzungs-
begriff angewandt, im Benjaminschen ,Übersetzeraufsatz' wiederfinden.
Denn dort ist die .Übersetzbarkeit' als Reflexion eines Werkes Kriteri-
um für dessen Existenz als Kunstwerk überhaupt; ebenso wird dort
Übersetzung als Form zum .gegenständlichen Ausdruck' (173) der Refle-
xion, wie dies zwar schon für den Kritikbegriff in Anspruch genommen
worden ist. Benjamin schreibt: „Wenn Übersetzung eine Form ist, so
muß Übersetzbarkeit gewissen Werken wesentlich sein." (IV 10) Diese
Übersetzbarkeit muß als in der Form des Werkes, das heißt in seiner
Reflexion begründet, gedacht werden. Es gelten daher für die Über-
setzbarkeit eines Werkes die gleichen in der Immanenz des Kunstwer-
kes96 fundierten Bedingungen wie für seine Kritisierbarkeit.
96
Der Begriff der .Immanenz' mag insofern mißverständlich sein, als er eine mögliche
130 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
externe Dimension, die einer immanenten Seite des Werkes entgegengesetzt wäre,
konnotiert. .Immanenz' will hier jedoch im Sinne einer Unmöglichkeit und Undenk-
barkeit eines jenseits der Grenzen des unabschließbaren Werkes situierbaren Bezirkes
verstanden werden.
2.2 KRITIK UND ÜBERSETZUNG 131
Leben des Werkes, andererseits verdankt sie diesem ihre eigene Exi-
stenz.97 Im Spannungsfeld dieser eigentümlichen Bewegung - die, auf
sich selbst zurückkommend, sich von sich selbst abstößt und derart die-
ses .selbst' durchlöchert und letzthin auslöscht - gewinnt der Begriff der
Übersetzung für Benjamin geschichtsphilosophischen Charakter inso-
fern, als er eine andersartige Verständnismöglichkeit an die Geschichte
und die Sprachgeschichte heranträgt.
Erst mit der Zersetzung der Form des Werkes werden die Bewegun-
gen und die Bezüge durch Übersetzung und Kritik, die Voraussetzung
des Werdens des einzelnen Werkes sind. Es handelt sich daher um eine
Kontextualisierung des Kunstwerkes - Kontextualisierung durch Repro-
duktion -, das derart einer Einschreibung in eine zeitliche und räumli-
che Textualität unterliegt. Mit Kritik und Übersetzung zerfällt die statisch
und abgeschlossen geglaubte Ordnung der Form des einzelnen Werkes
und gewinnt die übergroße Perspektive der auch vom genialischen Sub-
jekt nicht wägbaren Unendlichkeit: das Werk ist ein „Mysterium der
Ordnung", wie Benjamin, oder „Verworren-unendlich", wie Novalis
sagt.98 Die Mysteriösität der Ordnung, die Benjamin nicht zu feiern ge-
denkt, bedarf einer gewissen Praxis und eines gewissen Vollzuges, die,
von einer Annäherung an die .absolute Form' der Kunst zeugend, die
.Objektivität' des Werkes selbst zum Sprechen bringen. Kritik und Über-
setzung stehen als derartig exemplarische Praxis im Dienst des Aufweises
jener .Ordnung', die sich am Ende noch als eine entpuppt, die der Auf-
lösung und Konstruktion im gleichen Atemzuge sich vergewissert.99 Kri-
tik und Übersetzung stellen den „paradoxen Versuch dar, am Gebilde
noch durch Abbruch zu bauen: im Werk selbst seine Beziehung auf die
Idee zu demonstrieren" (I 87). Ein solches Bauen am Gebilde durch
Abbruch wird erst durch das uneigentliche Sprechen des Werkes, die
.Ironie' inauguriert.100 Sie ist es, die - mit der ihr von den Frühroman-
97
Dieses aporetische Verhältnis des Lebens des Werkes und seiner Übersetzung scheint
auch in einem Vergleich berührt, den Benjamin in der Einleitung zum .Wahlverwandt-
schaftenaufsatz' führt. Dort vergleicht er das „wachsende Werk" mit einem „flam-
menden Scheiterhaufen" (1126), das heißt, das Werk wird aufgezehrt, indem es leuchtet
und sich zeigt: es zerstört sich, indem es entsteht.
n
Novahs, Schriften, a. a. O., Bd. III, S. 578.
99
Vgl. hierzu den Gedanken der „autonomen Negation" der Poesie. Novahs, Schriften,
a. a. O., Bd. II, S. 438 f. Des weiteren J. Hörisch, a. a. O., S. 107 f. und S. 177.
00
Vgl. Manfred Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen, Frank-
furt a. M. 1989, S. 271.
132 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
Dies unterstreicht noch der „Sinn für Poesie", denn er „ist Sinn für das Eigenthümliche,
Personelle, Unbekannte, Geheimnißvolle, zu Offenbarende, das Nothwendigzufällige.
Erstellt das Undarstellbare dar. Er sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfühlbare etc."
Novalis, a. a. O., Bd. III, S. 685.
In mehr als einer Hinsicht erinnert dieser Entwurf des .Symbolischen' an denjenigen
der .Negativen Theologie' des Dionysios Areopagita (Pseudo-Dionysos). Er geht im
.Symbol' den Weg vom Sinnlichen zum Göttlichen: das Sinnliche leitet zu einem dem
Wissen nicht Zugänglichen und Unerkennbaren hinauf. Vgl. Dionysios Areopagita,
Mystische Theologie und andere Schriften, hrsg. und übers, von W. Fritsch, München
1956, S. 163 ff. - Vgl. in diesem Zusammenhang auch J. Derridas Auseinandersetzun-
gen mit der .Negativen Theologie' in: Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien 1989,
S. 18-24.
134 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
F. Schlegels verwandt. So schreibt z. B. B. Witte: Die .positive Kritik', „die das Kunst-
werk vollendet, indem sie dessen Idee zur Darstellung bringt, ist gemeint, wenn Ben-
jamin seiner Zeitschrift das Ziel setzt, ,dem kritischen Wort seine Gewalt zurück-
zugewinnen'." Bernd Witte, a. a. O., S. 35.
1,0
Vgl. F. Schlegel, Kritische Ausgabe, a. a. O., Bd. 2, S. 370. - Vgl. auch E. Behler, Fried-
rich Schlegels Theorie des Verstehens: Hermeneutik oder Dekonstruktion?, in: Die
Aktualität der Frühromantik, hrsg. von E. Behler und J. Hörisch, München 1987, S. 143.
138 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
Die von Benjamin anvisierte Verschmelzung und Trennung von Sachgehalt und Wahr-
heitsgehalt, Kritik und Kommentar kommenüerend, schreibt Witte: „ Mit deutlichem
Anklang an die frühe Spracharbeit wird hier schon, kaum daß der methodische Diskurs
seinen Anfang genommen hat, der Sinn jeglicher Textauslegung in einem überratio-
nalen, religiösen Wissen begründet, vor dem die Unterscheidung von Kritik und Kom-
mentar hinfällig wird." B Witte, ebd., S. 37.
140 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
zum „Hüter der Schwelle"112, der diesseits und jenseits der Schwelle die
textualen Räume entstehen läßt. Die Metapher des entziffernden Paläo-
graphen schließt sich an dieser Stelle allerdings nicht ganz. Ohne große
Umwege ließe sich aber das mit dieser Metapher Konnotierte auf die
Übersetzung und auf den Übersetzenden anwenden. In einer erstaunli-
chen Analogie zu dem zuletzt Entwickelten steht doch sein Tun. In ex-
emplarischer Weise besteht gerade die Übersetzungspraxis darin, einen
Text zu dechiffrieren, indem ein anderer Text geschrieben wird. Der
Wahrheitsgehalt des Ausgangstextes, des .ersten' Textes, entsteht neu
deuüich erst mit der Produktion, das heißt dem Vollzug der Übersetzung.
Auf diese Weise wird außerdem noch einmal paradigmatisch deutlich,
daß dem Entstehen zweier Texte, in diesem Falle des Ausgangstextes und
des Zieltextes der Übersetzung, noch bevor sie existent sind, die Lektü-
re eines Zwischen, der Relationen von noch nicht existenten Texten,
vorausgeht. Nicht im übersetzten noch im zu übersetzenden Text läge
daher der Wahrheitsgehalt, den die Übersetzung aus dem übersetzten
Text zu retten hätte, sondern er läge in ihrem Zwischenraum - welcher
allerdings nicht als symmetrisch kalkulierbarer zu denken wäre.
In eben derselben Weise, wie Benjamin von der den .Wahrheitsgehalt'
der Analyse des .Sachgehaltes' freilegenden Kritik fordert, daß sie in
geschichtlicher Distanz zum Ausgangswerk zu erfolgen habe, behaup-
tet er dies von dem Gelingen der Übersetzung: „Ist doch die Überset-
zung später als das Original und bezeichnet sich doch bei den bedeuten-
den Werken, die da ihre erwählten Übersetzer niemals im Zeitalter ih-
rer Entstehung finden, das Stadium ihres Fortlebens." (IV 11) Aus der
historischen Distanz fällt ein anderer Blick auf den Sachgehalt, die Rea-
lien, des Werkes. Mit diesem neuen Blick aber erfährt das Werk Modi-
fikation und Neubegründung, das heißt, es tritt in das wahre Stadium
seines ,Fortlebens' ein - und wie oben schon deutlich wurde, ist ein
solches Fortleben nur um den Preis der Erstarrung und des Absterbens
des Werkes selbst zu erlangen. Das spätere Fortleben des Werkes, das
Benjamin auch .Nachreife' nennt, gründet allerdings nicht in subjektiv
anderer Perspektive der .Nachgeborenen', sondern muß im „eigensten
1,2
.Hüter der Schwelle' und .Schwellenkundiger' gilt Benjamin als Auszeichnung eines
solchen, der in profaner Alltäglichkeit jene Irritationen und Verzauberungen entdeckt,
die den Weg .hinein' öffnen und einen anderen Blick auf die Dingwelt in „schwelligen
Stunden" freigeben (vgl. III 197). Vgl. auch W. Menninghaus, Schwellenkunde, Frank-
furt a. M. 1986, S. 31. - Vgl. A. Hirsch, Übergänge. Zum Werk des Grenzgängers Walter
Benjamin, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 218, September 1990.
2.2 KRITIK UND ÜBERSETZUNG 141
Leben der Sprache und ihrer Werke" gesucht werden (IV 13). Diese
Betrachtungsweise setzt mithin voraus, daß der nachgeborene Überset-
zer immer schon in das .Leben der Sprache' eingebunden ist und sol-
chermaßen sein Blick auf Sprache schon ein sprachlicher ist. Zudem gilt
es festzuhalten, daß dieser schon sprachliche Blick auf Sprache notwen-
dig als kollektiver und historisch epochaler zu denken ist. Damit wird
aber auch deutlich, daß Benjamin den Blick des Kollektivs als Blick auf
sprachliche Vergangenheit nicht vom ,Leben der Sprache' selbst tren-
nen will. Mit der Übersetzung ist dem Übersetzer damit offensichtlich
aufgegeben, einerseits die im .Leben der Sprache' sich auftuenden Zwi-
schenräume freizulegen, sie aber andererseits zugleich durch ein zu spin-
nendes Beziehungsgeflecht zu überbrücken; wobei zu berücksichtigen
ist, daß die Texte diesseits und jenseits des Zwischenraumes erst mit der
Lektüre des Beziehungsgeflechts entstehen.
Kritik und Übersetzung bürgen, nach Benjamin, Hand in Hand da-
für, daß kein Werk der Vergangenheit als abgeschlossenes anheimfällt,
daß kein Werk aus seinem Absterben nicht jene Kraft gewönne, die es
zu neuem Leben erweckte. Die analogen Strukturen und Bewegungs-
linien, die Benjamin in Kritik und Übersetzung entdeckt, weisen sie ge-
meinsam aus als „Reproduktion qua irreduzibler Wiederholung" 113 , die
derart selbst produktive Züge annimmt. Die ganze Darstellung des Benja-
minschen Kritikbegriffs im Kunstkritikbuch und im Wahlverwandtschaf-
tenaufsatz sucht diese eigentümliche Bewegung, die ebenso für den Über-
setzungsbegriff gilt, nachzuzeichnen - und dies wird im folgenden noch
deutlich hervortreten. Die Berücksichtigung des Kritikbegriffs in Benja-
mins Frühwerk ist daher unverzichtbar für das Verständnis seiner,Über-
setzungstheorie', und dies, zumal derText .Goethes Wahlverwandtschaf-
ten' zum Teil parallel zum Aufsatz .Die Aufgabe des Übersetzers' im Jahr
1921 entstanden ist. Die Verflechtung der innersten Ordnungen von
Kritik und Übersetzung entwirft mithin ein deutliches Bild der Benja-
minschen Sprachtheorie, die sich gerade auf die Explikation durch die-
se reproduktiven Verfahren verwiesen sieht. Mittels Kritik und Überset-
zung wird eine sprachliche Prozessualität freigelegt, die allererst das
" ' T. Dörr schreibt in der Einleitung seiner Schrift „Kritik und Übersetzung", die Orien-
tierung textkritischen Denkens in der Gegenwart beschreibend: „Ursprungslosigkeit,
Differentialität, Reproduktion qua irreduzibler Wiederholung". - Vgl. Thomas Dörr,
Kriük und Übersetzung. Die Praxis der Reproduktion im Frühwerk Walter Benjamins,
Gießen 1988, S 15.
142 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
114
W. von Humboldt, Gesammelte Schriften, a. a. O., Bd. 5, S. 133.
2.3 LITERALITÄT UND UNENDLICHKEIT 143
ihm gilt, von der Übersetzung als .mitteilendem' Text überhaupt abzu-
sehen. Die Enthebung des Übersetzers von „der Mühe und Ordnung des
Mitzuteilenden" (IV 18) sieht Benjamin schon im Original begründet.
Denn das Original selbst, zumal wenn es sich zunächst um Dichtung
handelt - Dichtung als Textgattung dient Benjamin allerdings nur als
Ausgangspunkt, der später deutlich zugunsten eines sprachlichen Ge-
samtbezuges zurücktritt -, verliert die Notwendigkeit, übersetzt zu wer-
den, wenn es sich vor allem anderen auf die Mitteilung stützt. Benjamin
analogisiert in diesem Zusammenhang deudich .Mitteilung' und .Sinn',
die derart als endlicher Informationsgehalt der Sprache bestimmt wer-
den. So fragt er danach, was denn Dichtung überhaupt mitteile, und
antwortet selbst darauf: „Sehr wenig dem, der sie versteht. Ihr Wesent-
liches ist nicht Mitteilung, nicht Aussage. Dennoch könnte diejenige
Übersetzung, welche vermitteln will, nichts vermitteln als die Mitteilung
- also Unwesentliches." (IV 9) Der endliche Sinn als mitteilbarer Infor-
mationsgehalt des Originals gilt Benjamin als das unwesentliche'.
Dieser Gedanke ist deutlich kohärent mit dem am Sündenfall illustrier-
ten Sprachbegriff im frühen Sprachaufsatz .Über Sprache überhaupt und
über die Sprache des Menschen'. Dort galt Benjamin als Resultat des
Sündenfalls der Verlust der Namenssprache und, mit diesem einher-
gehend, die Bewegung der „Sprache zum Mittel" (II153). Ernannte die-
se Auffassung der Sprache auch die .bürgerliche', für welche „das Mit-
tel der Mitteilung [...] das Wort, ihr Gegenstand die Sache, ihr Adres-
sat ein Mensch" (II 144) ist. Die Sache bezeichnet Benjamin im Über-
setzeraufsatz allgemeiner als Sinn, denn Sinn umfaßt hier bezeichnete
Sache, textuale Bedeutung und transzendenten Sinn zugleich. Gleich-
wohl - und das wird im folgenden noch entscheidend expliziert werden
-zieht Benjamin nicht mit der von ihm kritisierten .bürgerlichen' Sprach-
auffassung gleich, indem er den Sinn als das Mitteilbare des Textes der
Form gegenüberstellt und auf diese Weise von einer Dualität von Sinn
und Ausdruck oder Signifie und Signifiant ausgeht, die so als ideale
Kategorien des sprachlichen Zeichens gedacht würden. Vielmehr nähert
er sich einer Auffassung an, die von einer ursprünglichen Asymmetrie
der Beziehung von Inhalt (Sinn) und Ausdruck (Form) ausgeht: es ist mit
der Übertragung der identischen Form nicht zugleich auch die Über-
tragung des identischen Sinns geleistet. Im Bereich der zwischensprach-
lichen Übersetzung kommt hinzu, daß ohnehin die Übermittlung der
identischen Form im wesentlichen ausgeschlossen ist. Jenseits der Über-
setzung des Sinns als Mitteilung des Originals hätte sich der Übersetzer,
144 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
nach Benjamin, einer Dimension des Textes zuzuwenden, die bei der
oben kritisierten Sprachauffassung im Verborgenen bleibt. Allerdings
kann es nicht darum gehen, dieses Verborgene ans Tageslicht zu fördern,
um es dem Leser zugänglich zu machen.
Das .Unfaßbare' und .Geheimnisvolle' als das Verborgene des Origi-
nals läßt sich nicht durch Nachdichtung freilegen. Den Übersetzer un-
terscheidet Benjamin deutlich vom Dichter, denn aus der Vermengung
dieser Aufgaben „rührt in der Tat ein zweites Merkmal der schlechten
Übersetzung, welche man demnach als eine ungenaue Übermittlung ei-
nes unwesentlichen Inhalts definieren darf" (IV 9). Weder durch Wie-
dergabe des Sinns noch durch dichterischen Nachvollzug der .Form' des
Originals sieht Benjamin die Aufgabe des Übersetzers bestimmt. Über-
setzung ist auch nicht die Restituierung einer vordergründigen Ähnlich-
keit oder die Realisierung eines dem Original gleichenden Abbildes, so
wie etwa bei Piaton an eine abbildhafte Realisierung desselben Originals
(Worteidos) mittels durchaus verschiedener phonetischer Materialien
gedacht ist.11' Die Übersetzung selbst muß vielmehr als Hinweis auf die
Differenz von Original und Übersetzung gelesen werden. Jede Intention
auf Abbildbarkeit mißachtet notwendig die in der Übersetzungspraxis
sich vollziehende Bewegung. „Um das echte Verhältnis zwischen Über-
setzung und Original zu erfassen, ist eine Erwägung anzustellen, deren
Absicht durchaus den Gedankengängen analog ist, in denen die Erkennt-
niskritik die Unmöglichkeit einer Abbildtheorie zu erweisen hat. Wird
dort gezeigt, daß es in der Erkenntnis keine Objektivität und sogar nicht
einmal den Anspruch daraufgeben könnte, wenn sie in Abbildern des
Wirklichen bestünde, so ist hier erweisbar, daß keine Übersetzung mög-
lich wäre, wenn sie Ähnlichkeit mit dem Original ihrem letzten Wesen
nach anstreben würde." (IV 12) Da die Objektivierbarkeit des Originals
auf keine Weise zu erlangen ist - denn der Übersetzer müßte das Origi-
nal und seine Bezüge zum Original und dessen Sprache in absolut jeder
Hinsicht transparent machen können -, bleibt der Zugriff des Überset-
zers ein solcher, der sich seiner eigenen Voraussetzungen nicht annä-
hernd zu vergewissern vermag. In der Praxis des Übersetzens treten
daher gerade jene Verweise und Kontexte auf, deren apriorische Klärung
sich als unmöglich erweist.
Gerade in der Verzerrung, Entstellung und Verschiebung des Origi-
nals in der Übersetzung tritt die Irreduzibilität der Differenz von Origi-
115
Vgl. Piaton, Kratylos, a. a. O., St. 389 d bis 390 a.
2.3 LITERALITÄT UND UNENDLICHKEIT 145
"* Benjamin scheidet das Paradigma der .Art des Meinens' von dem .Gemeinten' als di-
rekt vom Wort als Referent Intendiertem. Die .Art des Meinens' enspricht dabei eher
- und diese Rede sollte, da Benjamin sich mit dem Paradigma des .Gemeinten' mitten
im Husserlschen Diskurs befindet, gestattet sein - jener nicht-objektivierbaren Unend-
lichkeit des (sprachlichen) Horizontes, in welchen das Gemeinte eingebettet ist.
117
Vgl. Dimitrios Markis, Quine und das Problem der Übersetzung, Freiburg und Mün-
chen 1979, S. 130.
146 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
ne Sprache', das meint auch dort einen Zustand der Sprache jenseits ihrer
Abstraktions- und Mitteilungsfunktion.118 Dort allerdings galt Benjamin
als Ideal einer solchen Sprache noch die Namenssprache: „Der Inbegriff
dieser intensiven Totalität der Sprache als des geistigen Wesens des Men-
schen ist der Name. Der Mensch ist der Nennende, daran erkennen wir,
daß aus ihm die reine Sprache spricht." (II 144)
Für den Übersetzeraufsatz spielt die zur,idealen' Substanz geronne-
ne Dimension des Namens und der Namenssprache noch insofern eine
Rolle, als die Kritik an einer instrumenteilen Vernunft sich auf eine
Sprachlichkeit hin entwirft, die sich ihrer eigenen Apriori nicht immer
schon vergewissert hat, sondern sich diesen in einer reproduktiven Pra-
xis zu nähern sucht. Die ,reine Sprache' kann deshalb nicht, auch logisch
nicht, von Benjamin - im Sinne Humboldts - als ergon einer methodisch
entfalteten energeia gedacht sein. Ein solches ergon wäre nicht von sei-
nen Zwecken trennbar, dies aber gerade fordert Benjamin, wenn er dem
sinnzentrierten Übersetzungsverfahren eine intentionslose Praxis entge-
genhält, in welcher „die Sprachen selbst miteinander, ergänzt und ver-
söhnt in der Art ihres Meinens übereinkommen" (IV 16). Die ,reine
Sprache' läßt sich nur als in der Bewegung und der Verschiebung der
Übersetzung allererst sich Herstellendes denken. Denn mit der Elimi-
nierung des Symbolisierenden des Originals als desjenigen, das das von
diesem Bedeutete bindet, eignet sich die Übersetzung dieses als Symbo-
lisiertes an und läßt so, fast en passant, allen Sinn des Originals erstarren.
Die deutlich hervortretende Differenz von .Gemeintem' und .Art des
Meinens' ist der versteinerte Abdruck dieser Bewegung vom Symbo-
lisierenden des Originals zum Symbolisierten der Übersetzung; allerdings
erweist sich die derart festgeschriebene Differenz als unsinnliche, sie
berührt in unsinnlicher Darstellung ein Nicht-Darstellbares. Denn es ist
nicht so, „daß die Übersetzung die reine Sprache selbst darstellte: de-
ren Darstelibarkeit ist Konstituens des Funktionsprinzips, durch das die
Übersetzung mehr sagen kann als das Original"." 9 Und Dörr trifft mit
dieser Charakterisierung des Problems mitten in den innersten Bezirk
der Benjaminschen Konzeption. Denn nachweisbar geht die in der Be-
111
Das Paradigma der .reinen Sprache' bei Benjamin hat daher eher Ähnlichkeit mit der
.reinen Sprache' Merleau-Pontys, der ebenfalls die Notwendigkeit sieht, die „bedeut
same Sprache" außer Kraft zu setzen, damit die „reine Sprache zum Vorschein kom-
men" kann. Vg. M. Merleau-Ponty, a. a. O., S. 89.
"* T. Dörr, a. a. O., S. 120.
2.3 LITERALITÄT UND UNENDLICHKEIT 147
wegung des Übersetzens sich herstellende Differenz auf die .reine Spra-
che', ohne aber - und dies ist wesentlich - sich ganz in ihr aufzulösen.
Undarstellbar und uneinlösbar, ist die ,reine Sprache' auf das „Werden
der Sprache" verwiesen, als deren exponierter Ort die Übersetzung zu
gelten hat. In diesem Sinne ist die Sprache auch nicht Repräsentation
eines transzendentalen Sinns, der möglicherweise als hinter der .reinen
Sprache' verborgener vermutet werden könnte, sondern gerade in die-
sem Zusammenhang wird deudich, daß das Werden der Sprache eine
eigene Realität besitzt und damit eher ursprüngliche .Präsentation' 120
denn mitteilende Repräsentation ist.121 Benjamin weist explizit auf die-
ses Moment hin, wenn er sagt, daß die ,reine Sprache' „in den Sprachen
nur an Sprachliches und dessen Wandlungen gebunden" ist (IV 19).
Gleichwohl klebt an den endlichen Sprachen ein .schwerer' und .frem-
der' Sinn, der das Werden der Sprachen verdeckt und ihrer Instrumen-
talisierung durch ein präsumiertes Subjekt/Signifikat Vorschub leistet.
Denkbar soll somit vor allen Dingen vermittels des Verfahrens der
Übersetzung eines werden, nämlich daß Sprache und mit dieser ihre
letzte Wahrheit, die reine Sprache, nur als „in der Geschichte erst sich
Herstellendes" 122 erschlossen werden kann. Gerade die Übersetzung
bürgt für die sprachliche Historizität und Prozessualität, die in dieser
lesbar werden, da die „Übersetzung später als das Original" (IV 10) in
die Sprache eingelassen wird. Durch die Transferierung in Zeit und
120
Sieht man zunächst einmal von den Problemen ab, die der Begriff der .Präsenz' im
Begriff der .Präsentation' mit sich bringt, läßt sich .Präsentation' als Herstellung, Er-
zeugung, Ereignis etc. denken. Vgl. in diesem Zusammenhang J. Derrida zum Problem
der .Metaphysik der Präsenz': J. Derrida, La differance, in: Marges de la philosophie,
Paris 1972, S. 12 ff.
121
Unterstreichen heße sich dies durch die pnmordiale Zuständigkeit der Sprache für die
.literarische Realität' im Text Benjamins, auf die Raimar S. Zons verweist: „Benjamin
fragt: was ist - wortwörtlich - das Material literarischer Realität?, und antwortet sich
selbst: .allemal die Sprache', und genauer: .objektive Sprache'. So findet sich die .ob-
jektive Interpretation' des Trauerspielbuchs in den .Problemen der Sprachsoziologie'
wieder, der .heilige Text' in der .Aufgabe des Übersetzers' als .Wahrheitsgehalt' in den
.Wahlverwandtschaften', die .Sprache', nur sie selbst ,des Sürrealismus'Aufsatzes als
die .Dinge der Sprache' im .Robert Walser' - die Aufzählung heße sich behebig fort-
setzen." Raimar Stefan Zons, Messias im Text. Ein Gedanke Walter Benjamins und
ein Kommentar zu einem Gedicht Celans, in: F. A. Kittler und H. Turk (Hrsg.), Ur-
szenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, Frankfurt a. M.
1977, S. 225.
122
K. Greffrath, Metaphorischer Materialismus, a. a. O , S. 119.
148 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
Raum ergibt sich eine experimentelle Kontamination, die auf dem Bo-
den der Übersetzung den ehemals gewußten Sinn der Sprache fremd
werden läßt. Die Sprache vom Sinn zu befreien, „das Symbolisierende
zum Symbolisierten zu machen, die reine Sprache gestaltet der Sprach-
bewegung zurückzugewinnen, ist das gewaltige und einzige Vermögen
der Übersetzung. In dieser reinen Sprache, die nichts mehr meint und
nichts mehr ausdrückt, sondern als ausdrucksloses und schöpferisches
Wort das in allen Sprachen Gemeinte ist, trifft endlich alle Mitteilung,
aller Sinn und alle Intention auf eine Schicht, in der sie zu erlöschen
bestimmt sind." (IV 19) Wenn dies das „gewaltige und einzige Vermö-
gen" der Übersetzung ist, wenn auf diese Weise die Zuständigkeit des
Übersetzungsbegriffes gleichermaßen ausgedehnt und enggeführt wird,
dann exponiert dies nachhaltig den Bruch mit dem tradierten Über-
setzungsbegriff. Übersetzung im Sinne Benjamins läßt sich weder als
Mitteilung von Sinn noch als Repräsentation oder Abbildung, noch als
spezifische Rezeptionsweise bestimmen. Auch speist sich das Denken der
Übersetzung bei Benjamin nicht aus einer ,Idee' der Universalsprache,
die ausgreifend „als die vermittelnde Instanz zwischen Natur und Kul-
tur fungiert", wie Markis glaubt. Benjamin ist dabei weit entfernt von
einer Konzeption wie derjenigen Markis', welcher in hermeneutischer
Tradition das komplexe Gebäude einer dialektisch .interpretativen Re-
konstruktion', die in drei Schritten verfährt (Analyse-Transformation-
Rekonstruktion), entwirft. Eine solchermaßen - auch mit Blick auf Quine
- entwickelte Dialektik von Universalsprache und Einzelsprache mag
sich vielleicht aus der Angst vor der „überall zu treffenden Gefahr der
konzeptualen Relativität, der Unbestimmtheit und der Opazität" 12 ' in der
Berührung der Sprachen ableiten lassen. Jedoch scheint dies die Angst
eines Denkens zu sein, das der Dualität von Individuellem und Allgemei-
nem, Einzelsprache und Universalsprache, Sprachidentität und Sprach-
differenz noch durch und durch verhaftet ist. Benjamin wäre daher im
Ausgang von den Markisschen Thesen eher als .Skeptiker' oder ,Miso-
loge' zu bezeichnen, da er eine „transzendental-dialektische Hoffnung"
auf die ,Idee einer Universalsprache', die die Menschen von Natur aus
miteinander verbindet, wohl in Abrede stellen und mit Nachdruck an der
.sinngebenden Tätigkeit' des Übersetzens zweifeln würde.124
125
D. Markis, a. a. O., S. 139.
'» Vgl. ebd., S. 137 f.
2.3 LITERALITÄT UND UNENDLICHKEIT 149
Benjamin geht durchaus von einer Dualität von Original und Übersetzung aus. Wenn
diese auch an einigen Stellen des .Übersetzeraufsatzes' erschüttert wird - besonders in
den zentralen Metaphern -, so bleibt sie doch in ihren Grundfesten unangetastet. Ins-
gesamt betrachtet, tritt diese Dualität freilich zurück hinter einem ursprungslos gedach-
ten Sprachprozeß.
150 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
124
G. Scholem, Judaica 3, a. a. O., S. 51.
2.3 LITERALITÄT UND UNENDLICHKEIT 151
127
Vgl. G. Scholem, Über einige Begriffe des Judentums, a. a. O., S. 97.
152 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
daß nur durch entsprechende zeitliche Distanz von Original und Über-
setzung das Original, so Benjamin, wirklich übersetzbar wird. Nie fin-
den daher die .bedeutenden Werke' ihre .erwählten Übersetzer' im Zeit-
alter ihres Entstehens; erst die Übersetzung in zeitlicher Ferne begrün-
det ihr Fortleben. Ähnlich wie im Wahlverwandtschaftenaufsatz, wo
Kritik erst denkbar wird, wenn ,Sachgehalt' (Realien) und .Wahrheits-
gehalt' auseinandertreten, so wird auch die wirkliche Übersetzung der
,Art des Meinens' des Originals erst denkbar, wenn das .Gemeinte' und
die ,Art des Meinens' deutlich in der Zeit auseinandertreten. Auf diese
Weise - angelegentlich des Kritikbegriffes wurde dies schon vorberei-
tend berührt - wird erst die ,Art des Meinens' am Original wahrnehm-
bar; sie tritt hinter dem .Gemeinten' hervor und bietet sich so allererst
der Übertragbarkeit an.
Es ließe sich zweifelsohne belegen, daß die entscheidenden Momente des Benjamin-
schen Denkens den Charakter einer .allegorisch-emblematischen Verfahrensweise'
tragen. Auch Figuren wie .dialektisches Bild' (I 1233 und 1238) und .Denkbild' (vgl.
IV 305 ff.) sprechen für diese Einschätzung. - Vgl. auch Harald Steinhagen, Zu Wal-
ter Benjamins Begriff der Allegorie, in: Walter Haug, Formen und Funktionen der
Allegorie (Symposion Wolfenbüttel 1978), S. 667 f.
2.3 LITERALITÄT UND UNENDLICHKEIT 153
129
Vgl. Helmut Pfotenhauer, Benjamin und Nietzsche, in: Burkhardt Lindner (Hrsg.),
Walter Benjamin im Kontext, Frankfurt a. M. 1978, S. 113 f.
154 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
Von der barocken Allegorie - das zeigt der kurze Aufriß ihrer Gene-
se - ist das Paradigma der Schrift nicht zu trennen. Indem Benjamin die
Allegorie vor der klassizistischen Denunzierung, daß sie nur für die kon-
ventionelle Beziehung von Bezeichnendem und Bezeichnetem stehe,
zu bewahren sucht, spricht er ihr die Seinsweise des .Ausdrucks' zu und
zwar „so wie Sprache Ausdruck ist, ja so wie Schrift" (I 339).1'° Mit die-
ser Zentrierung auf die Schrift angelegentlich des Benjaminschen Allego-
riebegriffs ist zugleich auch an eine Rehabilitierung der Schrift gegen-
über dem ,Wort' gedacht. Diese außergewöhnliche Gewichtung - die das
Benjaminsche Denken in eine Wahlverwandtschaft mit dem Schrift-
denken Derridas führt - sucht die Schrift von ihrem subordinierten Sta
tus gegenüber der phonetischen Materialität des Wortes zu befreien:
„Das Wort, so darf man sagen, ist die Extase der Kreatur, ist Bloßstellung,
Vermessenheit, Ohnmacht vor Gott; die Schrift ist ihre Sammlung, ist
Würde, Überlegenheit, Allmacht über die Dinge der Welt." (I 337) In
diesem Rahmen werden Schrift und Wort in ein Spannungsverhältnis
zueinander versetzt, für das schon das barocke Sprachdenken implizit
und explizit verantwortlich zeichnet. Benjamin rekurriert in diesem Zu-
sammenhang nur auf eine barocke Praxis, deren wesentlichster Erschüt-
terung er sich auf diese Weise versichert. Mit der Destruktion der unter
dem Begriff des Wortes sich subsumierenden Originalität, Authentizität
und Verfügbarkeit des dargestellten Sinns ist zugleich eine wesentliche
Charakteristik des von Benjamin freigelegten Schriftbegriffs mitgeliefert.
Denn besonders die Unverfügbarkeit der Schrift durchkreuzt jedes
sprachtheoretische Vorhaben, das sich nicht immer schon auf ihrem
Rücken und von ihrem .Schweigen' getragen sieht. Solche Schriftlichkeit
sieht Benjamin zuletzt auch in der sicher geglaubten Festung des Wor-
tes im barocken Trauerspiel Einzug halten: „In den Anagrammen, den
onomatopoetischen Wendungen und vielen Sprachkunststücken ande-
rer Art stolziert das Wort, die Silbe und der Laut, emanzipiert von je-
der hervorgebrachten Sinnverbindung, als Ding, das allegorisch ausge-
Gleichwohl sollen der Allegorie mit dieser Charakterisierung nicht die Intentionen des
Symbols zugesprochen werden. Im Gegensatz zum Symbol stellt die Allegorie nicht
die sinnliche Erscheinung eines Absoluten dar, sondern ist bedeutend nur „in den
Stationen ihres Verfalls". Wenn im Symbol das „Antlitz der Natur im Lichte der Er-
lösung flüchtig sich offenbart", so tritt in der Allegorie „die facie hippocratica der
Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem Betrachter vor Augen" (I 343). Aus diesem
Grunde sieht Benjamin die Allegorie dem Symbol „polar aber ebendarum gleich macht-
voll" gegen übertreten (I 362).
2.3 LITERALITAT UND UNENDLICHKEIT 155
beutet werden darf. Die Sprache des Barock ist allezeit erschüttert von
Rebellionen ihrer Elemente." (I 381) Im Sinne der Schriftlichkeit stellt
das lautlos stolzierende Wort ein strukturaJes Regulativ der barocken
Allegorie dar. Die gesamte Exegetik der barocken Allegorie, in Trauer-
spiel, Kunstwerk und Dichtung, bleibt auf die Schrift als analytische
Intention und analytische Bedingung zugleich verwiesen.
Deutlich muß allerdings werden, daß Benjamins Zugriff auf die Allego-
rie des Barocks sich nicht in einer schlichten Abwertung des Symbol-
begriffes gewinnt. Vielmehr kritisiert er den von Romantik und Weimarer
Klassik geschöpften Symbolbegriff, welcher zugleich auf eine Verwerfung
der Allegorie zielt. Als verhängnisvoll bezeichnet Benjamin daher die Ent-
wicklung des Symbolbegriffs. Hatte er einmal für die Einheit von Sinn-
lichem-Übersinnlichem als der ganzen „Paradoxie des theologischen
Symbols" gestanden, so wird er in der Romantik zur „Beziehung von
Erscheinung und Wesen verzerrt" (I 337). Es zeigt sich also, daß Benja-
min nicht gegen jenen vor-klassischen Symbolbegriff, der bis auf die
christliche Umformung des neuplatonischen Symbolbegriffs zurückgeht,
zu Felde zieht. So wird schon bei einem Denker wie Pseudo-Dionysos
deutlich, daß es eine gewisse Verwandtschaft zwischen Allegorie und
Symbol gibt, wenn er im Symbol jene Unangemessenheit aufscheinen
sieht, die zwischen dem übersinnlichen Sein Gottes und dem auf Sinn-
liches bezogenen menschlichen Geiste besteht. 1 ' 1 Auch Gadamer sieht
diese frühe Verwandtschaft zwischen Symbol und Allegorie: „Das allego-
rische Verfahren der Auslegung und das symbolische Verfahren der Er-
kenntnis haben den gleichen Grund der Notwendigkeit: es ist nicht mög-
lich, das Götdiche anders als vom Sinnlichen aus zu erkennen." 1 ' 2 Die
aus dieser Nähe von Symbol und Allegorie hervorgehende Gleichgewich-
tung wird erst im Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts bei Goethe und
Schiller durch die Festlegung des Symbols als in der Erscheinung zur
Darstellung kommende Bedeutungstotalität ausgehebelt und einer Hier-
archisierung zugunsten des Symbols geopfert. 1 " Der einheidichen Ver-
knüpfung von Bild und Bedeutung im Symbol wußte die auf der allego-
rischen Darstellung lastende Heterogenität eines enigmatischen Unend-
rückgängig machen und ihre frühe Nähe wieder herstellen möchte. 1 ' 6
Benjamin aber macht sich gerade das .Kalte' und .Verstandesmäßige'
(Goethe) der Allegorie zu eigen. Nur in den toten, isolierten und ent-
werteten Bruchstücken, den membra disiecta eines nicht mehr vorhan-
denen Ganzen der allegorischen Darstellung blitzt die wirkliche Erkennt-
nis der Welt auf.1'7 Nur im Ausgang von dieser Aufrechterhaltung des
Gegensatzes von Symbol und Allegorie ist Benjamin in der Lage, eine
diese Opposition erschütternde Bestimmung der Allegorie vorzunehmen,
die die zeichenhafte und bildliche Darstellung nicht einfach im Bedeu-
tungslosen verrinnen läßt. Wie aber entwickelt Benjamin die für die
Bedeutung konstitutive Bewegung der barocken Allegorie? Und in wel-
cher Weise fundiert Benjamin mit dieser Entwicklung ein allegorisches
Denken der Sprache?
Auf das Kunstwerk bezogen, sieht Benjamin gerade in der Allegorie
- und dies erinnert an die Kantische Charakterisierung des Erhabenen,
das sich nur „ohne Vorstellung eines Zweckes" und ohne .Begriff äu-
ßert 1 ' 8 - eine deutliche Ferne zu der Bestimmung des Kunstwerkes als
Ausdruck eines Begriffes. Das, was die Allegorie zu leisten vermag, führt
direkt auf die Ebene von Natur und Dingwelt; allerdings bringt sie die-
se nicht direkt zum Sprechen, ebenso wie sie nicht in die Region der
biblischen .Namenssprache' vordringt."'Jedoch bewährt sich gerade vor
dem Hintergrund jener Sprache, in der Ding und Name vollkommen
zusammenfließen, die Allegorie als aus einem vermeintlichen Quantum
Besonders im Moment des Verfalls sieht Benjamin einen Nachweis für die Ferne der
Allegorie zu der dem klassizistischen Symbolbegriff zugeschriebenen Dimension der
.Schönheit': Mit der Allegorie „hat sinnlich die Geschichte in den Schauplatz sich
verzogen. Und zwar prägt, so gestaltet, die Geschichte nicht als Prozeß eines ewigen
Lebens, vielmehr als Vorgang sich aus. Damit bekennt die Allegorie sich jenseits von
Schönheit." (I 354)
2.3 LITERALITÄT UND UNENDLICHKEIT 159
141
Vgl. zur Nähe von .Allegorie' und .Fragment': F. Schlegel, Kritische Ausgabe, a. a. O.,
Bd. 18, S. 342 und S. 359.
142
Vgl. P.Bürger, a . a . O . , S. 119.
I4
' Vgl. in diesem Zusammenhang die Überlegungen Novalis' zum „transitorischen Werth"
des Fragments. Novalis, Schriften, a. a. O., Bd. IV, S. 270.
144
Deutlich ist auch die gedankliche Figur der .Schwelle' mit denjenigen der .Allegorie'
und der .Interlinearversion' im Benjaminschen Denken verbunden. Diese Verknüp-
fung wird im folgenden noch anschaulicher hervortreten. Vgl. zum Paradigma der
.Schwelle': V 147,1 132 f., II 2%, V 221.
160 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
145
Jaques Derrida, Des tours de Babel, in: Psyche. Invention de l'autre, Paris 1987, S. 222:
„Chaque fois qu'il parle du contact (Berührung) entre le corps des deux textes au cours
2.3 LITERALITAT UND UNENDLICHKEIT 161
cherlich gilt der unendlich kleine Sinn, der die Texte, Original und Über-
setzung, gleichermaßen streift, nicht als letzthin stabilisierende Einheit-
lichkeit, welche wiederum als Garant für die Identität des Bedeutens
steht. Vielmehr scheint der kaum mehr merkbare kleine Sinn letzte, dem
Wissen verfallenen und in Abstraktionen lebenden allegorischen Über-
setzen aufgebürdete Strafe zu sein; eine Strafe, die noch aus dem Ver-
stummen von Natur und Dingwelt herrührt. In diesem Zusammenhang
ein unumgehbares Zufluchtnehmen Benjamins im mitteilbaren und er-
lösenden Sinn zu konstatieren heißt die wesentlichsten Intentionen des
Benjaminschen Denkens zu verkennen.146 Zwar heißt es an exponierter
Stelle im Übersetzeraufsatz, bezugnehmend auf die Hölderlinschen So-
phoklesübertragungen: „In ihnen stürzt der Sinn von Abgrund zu Ab-
grund, bis er droht in bodenlosen Sprachtiefen sich zu verlieren. Aber
es gibt ein Halten." (IV 21) Ein solches .Halten' abersieht Benjamin nur
im heiligen Text, und das, weil dieser ganz „ohne vermittelnden Sinn"
auskommt. Für die Charakterisierung der Hölderlinschen Übersetzun-
gen bedeutet dies offensichtlich, daß sie, als im Bereich der profanen
Sprache operierend, nach wie vor dem Sinn ausgeliefert sind und sich
seiner auch in der an Wörtlichkeit orientierten Übersetzung - welche
niemals reines Schriftbild zu werden vermag - nicht letztgültig zu entle-
digen vermögen. Die heilige Sprache hingegen wird von einem Apriori
der Sinnlosigkeit bewohnt, folglich hat sie sich in keinem Augenblick von
einem ,Sinn' zu befreien.
Der auf die Installierung einer Interlinearversion abzielende Allegori-
ker, der das Stürzen des Sinns veranlaßt, muß, so Benjamin, Wissender
sein: „Denn nur für den Wissenden kann etwas sich allegorisch darstel-
len." (1403) Das Wissen allerdings bezeichnet Benjamin unter Berufung
auf den biblischen Sündenfall und explizit gegen die platonische Tradi
tion als die „eigenste Daseinsform des Bösen". Wissen erweist sich in
der biblischen Tradition als Wissen um Gut und Böse; es ist daher ur
teilendes Wissen. Im Gegensatz zur Namenssprache, die die .konkreten
Elemente' der Sprache begründet, wurzeln die .abstrakten Elemente' im
richtenden Wort, welches als Urteil figuriert. Der im Namenlosen wis
sende Allegoriker wird mithin auf die Ebene der Abstraktion verwiesen.
„In Abstraktionen lebt das Allegorische, als Abstraktion, als ein Vermö
gen des Sprachgeistes selbst, ist es im Sündenfall zu Hause." (I 407)147
Dem Wissenden bietet die Allegorie einen morschen Grund; indem das
Emblem in neuer Kombination auftaucht oder in neuem Lichte gesehen
wird, springt unendlich das Bedeutete immer wieder neu hervor. Deut
lich aber ist die Unendlichkeit dieses Wissens eine, die sich ihrer eige
nen .Willkürherrschaft' nicht zu entziehen weiß und sich daher als .Tri
umph der Subjektivität' präsentiert. Wie vermag aber gerade der Allego
riker, der in unendlichen Abstraktionen Befangene, sich aus dieser Um
klammerung zu lösen und sich ins Heil der urteilslosen Sprache zu ret
ten? Wie ergeht es dem Übersetzer und dem Leser der Interlinearversion,
wollen sie den emblematischen Text der Übersetzung nicht in unendli
cher Sinnstiftung bewahren? Benjamin sieht im unendlichen Murmeln
des Sinns diesen sich gegen sich selbst kehren. „Wie Stürzende im Fal
len sich überschlagen, so fiele von Sinnbild zu Sinnbild die allegorische
Intention dem Schwindel ihrer grundlosen Tiefe anheim, müßte nicht
gerade im äußersten unter ihnen so sie umspringen, daß all ihre Finster
nis, Hoffart und Gottferne nichts als Selbsttäuschung scheint. Heißt es
doch ganz das Allegorische verkennen, den Bilderschatz, in welchem
dieser Umschwung in das Heil der Rettung sich vollzieht, von jenem
düstern, welcher Tod und Hölle meint, zu sondern." (1405) Im Gewahr
werden des .Schwindels' der .grundlosen Tiefe' der Allegorie ereignet
sich demnach ein solcher Umschlag, der dem Fallen des allegorischen
Wissens von Sinn zu Sinn ein Ende macht. Dieser Umschlag selbst raubt
der Allegorie die Tiefe, welche sich durch die erkenntnistheoretische
Opposition von Subjekt und Objekt allererst herzustellen vermochte.
Besonders an dieser Stelle des Trauerspielbuches werden die Zusammenhänge mit dem
frühen Sprachaufsatz deutlich. Die Passagen über die Namenssprache sind fast wört
lich übernommen. Dies ist wohl ein Beleg dafür, daß die beiden Schriften zugrunde
hegende Sprachtheorie eine hohe Kohärenz im gesamten Frühwerk Benjamins aufweist.
Vgl. hierzu n 150 ff.
2.3 LITERALITAT UND UNENDLICHKEIT 163
Im Erkennen des Allegorikers zeigt sich gleich die Willkür einer Sub-
jektivität, die auf eine sich nicht (mehr) mitteilende Stofflichkeit, das
heißt Objektwelt, trifft. Für das Verhältnis von Mensch und Natur gilt,
daß die „eingetretene Entfremdung der menschlichen wie der kosmi-
schen Natur in schmerzhaft eindringlicher Schärfe" durch die Allegorie
allererst bewußtgemacht wird.148 Dem allegorisch Wissenden erweist sich
mit der Unendlichkeit des in der Allegorie auffindbaren Sinns - und dies
in durchaus rationalem Vollzuge - auch die hierdurch luzide gemachte
.Phantasmagorie des Objektiven', die zugleich die Phantasmagorie des
instrumentalisierbaren Sinns ist, vermittels der Allegorie erst der Er-
kenntnis zugänglich, und der Allegoriker findet sich dadurch „nicht
mehr spielerisch in erdhafter Dingwelt sondern ernsthaft unterm Him-
mel" (I 406) wieder. Indem sich in der Allegorie gerade das .Nichtsein'
dessen kundtut, was diese vorstellt, bleibt in der Allegorie ewig jener Ort
angekündigt, der Rettung verspricht. Damit eignen der Allegorie jene
Charakteristika, die Benjamin im Wahlverwandtschaftenaufsatz - derein
Jahr nach dem Übersetzeraufsatz entstand - dem .Ausdruckslosen' zu-
wies. Im .Ausdruckslosen' nämlich werden der .schöne Schein' und die
.Harmonie' des Sprachwerkes gebannt. Es figuriert im Werk als Zäsur
und Erstarrung des Gehaltes. Derart vollendet das .Ausdruckslose' erst
„das Werk, welches es zum Stückwerk zerschlägt, zum Fragment der
wahren Welt, zum Torso eines Symbols" (I 181). Indem es auf diese
Weise das Vergehen und die Vollendung des Werkes zugleich freilegt,
kündigt sich mit ihm an, „wie es nach Gesetzen der moralischen Welt
die Sprache der wirklichen bestimmt" (ebd.).
In der Übersetzung als interlineare Allegorie, nach Benjaminschem
Entwurf, wurde als Vehikel einer solchen Ankündigung schon die ,Art
des Meinens' benannt, und der angekündigte Ort wurde als die ,reine
Sprache' inauguriert. Gleichsam als Sprachtrümmer stehen die Satzfrag-
mente der Interlinearversion da und allegorisieren den mitzuteilenden
Sinn und sein Ende, das ,Nicht-Mitteilbare', zugleich. Die Wörtlichkeit
zwischen den Zeilen spricht allein im .Nicht-Mitteilbaren' des Originals
von dessen ,Art des Meinens', so wie „aus den Trümmern großer Bau-
ten die Idee von ihrem Bauplan eindrucksvoller spricht als aus geringen
H. R. Jauß bezieht diesen Satz von dem die Entfremdung von Natur und Mensch be
wußtmachenden Vermögen der Allegorie zwar auf Baudelaire, aber dies läßt sich durch
aus an die Benjaminsche Konzeption der Allegorie anschließen. Vgl. H. R. Jauß, Baude
laires Rückgriff auf die Allegorie, in: Walter Haug, a. a. O., S. 694.
164 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
,4
' Vgl. Paul de Man, Conclusions: Walter Benjamin's The Task of the Translator', in: ders.,
Resistance to Theory, Minneapolis 1986, S. 90 ff.
150
Walter Benjamin, The Task of the Translator, in: Illuminations (Harry Zohn, trans),
New York 1969, S. 78.
2.3 LITERALITAT UND UNENDLICHKEIT 165
Übersetzung, die den Sinn klärend zu übersetzen sucht, steht eine bei-
nahe .Wort für Wort'-Übersetzung von Carol Jacobs entgegen: .Just as
fragments of a vessel, in order to be articulated together must follow one
another in the smallest detail [...]" (Hervorhebung A. H.) 1 ' 1 Heißt es bei
Benjamin .zusammenfügen', wird dies bei Zohn mit ,be glued together',
was eher soviel wie .zusammenkleben' bedeutet, wiedergegeben; Jacobs
übersetzt hier mit .articulated', was .angegliedert' meint, und heißt es bei
Benjamin, „einander in den kleinsten Einzelheiten zu folgen" (IV 18),
übersetzt Zohn mit „match", was .anpassen', .angleichen' meint und
Jacobs unmittelbar Benjamin folgend mit,follow', also folgen. Die Inten-
tion derZohnschen Übersetzung geht somit deutlich auf die Restitution
der nahtlosen und dichten Einheit (kleben/angleichen) der einander
angebildeten Fragmente, während hingegen die Jacobssche Übersetzung
sich der unauflöslichen, aber der von Benjamin fein prononcierten In-
kommensurabilität der Fragmente zu versichern sucht. Ihre Übersetzung
kommentierend, schreibt Jacobs: „In this, its literal translation, the pas-
sage leaves things incomplete. With the joining together of translation
und original, language remains a Bruchstück."1*2 Ohne ein endliches
Ineinanderübergehen zu fordern, konnotiert die Benjaminsche Formu-
lierung eher eine laterale Angliederung der Fragmente als eine Entspre-
chung in der Verschmelzung. Als aufeinander .folgende' Fragmente ver-
weisen sie, gebunden durch eine irreduzible Differenz, horizontal und
lateral aufeinander und beziehen sich nicht, in einer einheitlichen Ent-
sprechung einander darstellend, vertikal aufeinander.
Das von Benjamin intendierte Verhältnis der Scherben des Gefäßes
zueinander ist weniger metaphorisch als vielmehr metonymisch. Anhand
einer weiteren Passage (und einer beredten Weglassung) läßt sich der
Mangel der Zohnschen Übersetzung - und damit die Problematik des
Benjaminschen Textes - noch deutlicher aufweisen. Den letzten Satz der
oben zitierten Benjaminschen Passage übersetzt Zohn wie folgt: „In the
Carol Jacobs, The Monstrosity of Translation, in: Modern language notes, New York
1975, S. 762.
Ebd. - Das Verbleiben der Sprache als .Bruchstück', weit entfernt davon, sie in einer
transzendenten und zukünftigen Einheit verschwinden zu sehen, läßt sich auch auf
andere Denkfiguren Benjamins übertragen. Jacobs unterstreicht diese Ansicht, wenn
sie, die oben zitierte Passage fortführend, schreibt: „And it is after all also the vision of
the .angel of history' in the .Geschichtsphilosophischen Thesen' (part II) and that of
Baroque allegory in Ursprung des deutschen Trauerspiels (.Allegorie und Trauerspiel')."
Ebd., S. 765.
166 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
' " W. Benjamin, The Task of the Translator, transl. by H. Zohn, a. a. O., S. 78
'* C.Jacobs, a . a . O . , S. 762.
155
J. Derrida, Psyche, a. a. O., S. 22}.
2.3 LITERALITAT UND UNENDLICHKEIT 167
156
Paul de Man, a.a.O., S. 91.
' " Mit Blick auf Dilthey spricht Markis von einem .extremen Grenzwert', den die .alle-
gorische Deutung' darstelle und „die anders als die wörtlich sein sollende Übersetzung
den buchstäblichen Sinn als .metaphorische Redeweise'" verabscheue. Zweifelhaft
scheint auch der hier zugrunde gelegte Allegorifcbegriff, der offensichtlich an den-
jenigen der .Genie- und Erlebnisästhetik' (vgl. Gadamer, a. a. O., S. 86) anknüpft. -
Vgl. D. Markis, a. a. O , S. 171.
168 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
teilendes und Mitgeteiltes, Ausdruck und Inhalt etc. Dadurch, daß das
menschliche Wort nicht mehr rein benennendes, sondern nunmehr rich-
tendes und mitteilendes Wort ist, ist es blind und taub zugleich für das,
was sich in der Physis ausspricht. Sprache als Instrument - und dies
bleibt das wesentliche Anliegen Benjamins -, das heißt einzig als Mittel
begriffen, vermag die Sprache von Natur und Dingwelt nicht zu berüh-
ren.
Die Vielzahl der Sprachen ist das notwendige Resultat subjektiven
Zugriffs auf den instrumentierten Bereich der Sprache. .Überbenennung'
der Dinge und Vielzahl der Sprachen stehen daher in biblischen Topoi
in unmittelbarem Zusammenhang. Das Verstummen von Natur und
Dingwelt läßt sich aus eben diesem Grunde nicht von der Sprachent-
zweiung der im urteilenden und richtenden Wort befangenen Menschen
trennen: „Im Verhältnis der Menschensprache zu der der Dinge liegt
etwas, was man als .Überbenennung' annähernd bezeichnen kann: Über-
benennung als tiefster sprachlicher Grund aller Traurigkeit und allen
Verstummens." (II 155) Ein Paradox scheint sich anzudeuten, wenn
behauptet wird, daß mit der Vielheit der repräsentierenden Zeichen und
der Häufung der Bedeutungen die repräsentierte Dingwelt verstummt
und nicht - wie es doch naheliegen müßte - gerade zu neuer Bered-
samkeit erweckt wird. Die Art der Überbenennung ist allerdings in die-
sem Zusammenhang entscheidend, denn ein Zuviel des Benennens ist erst
dort vonnöten, wo der eine Name nicht mehr trifft, wo Ding und Name,
Natur und Sprache sich verfehlen. Im Sagen- und Benennenwollen, das
sich prinzipiell unendlich im Leid des Sisyphos wiederfindet, spricht sich
nämlich nicht die Dingwelt aus, sondern die Unmöglichkeit, diese zu
benennen. Genau aus dieser Kluft, die die irreduzible Trennung von
Sprache und Dingwelt gerissen hat, sieht Benjamin die Trauer der Na-
tur und die der sie verfehlenden Sprache aufsteigen. Umgekehrt stellt sich
aber gerade in der Trauer eine Bekräftigung der Stummheit der Natur
ein: „Weil sie stumm ist, trauert die Natur. Doch noch tiefer führt in das
Wesen der Natur die Umkehrung dieses Satzes ein: die Traurigkeit der
Natur macht sie verstummen. Es ist in aller Trauer der tiefste Hang zur
Sprachlosigkeit, und das ist unendlich viel mehr als Unfähigkeit oder
Unlust zur Mitteilung. Der Traurige fühlt sich so durch und durch er-
kannt vom Unerkennbaren." (II 155) Benjamin sieht in der Trauer ei-
nen auf ewig mit der mitteilenden Sprache verquickten Topos. Trauer
strahlt so noch aus dem alltäglichen Wort, und in gewissen poetischen
und literarischen Texten findet deutlich eine Allegorisierung der Trau-
2.3 LITERALITAT UND UNENDLICHKEIT 169
er des Verstummens der Natur statt.1'8 In der Allegorie - und dies zeigt
das poetische Verfahren Baudelaires - vertieft sich das „Thema des Welt-
schmerzes (.Ennuie') zur Weltangst [...], als deren Verdinglichung der
neue Schlüsselbegriff des .Spleen' (.Trübsinn' in der Übersetzung Ste-
fan Georges) angesehen werden kann". 1 " Die Allegorie widerstreitet
daher der romantischen Erwartung des Symbols, das eine innige Verbin-
dung des Menschen mit der Dingwelt und der Natur nahelegen will.
Gerade der Allegoriker weiß aus diesem Grunde von der Trauer, die
sich in der Allegorie äußert.160 Hinzu kommt, daß sich im allegorisierten
Wort dem Allegoriker- und verständlicherweise nennt Benjamin ihn
auch einen Melancholiker161 - die Geschichte des Verstummens der Na-
tur offenbart. Als Raumwerdung der Zeit steht das allegorisierte Wort
für die Einschreibung der Trauer in die Geschichte und mit ihr in die
158
Es ist daher kein Zufall, wenn Benjamin sich mit Baudelaire und Kafka auseinander-
setzt, denn die Werke beider Autoren haben einen tiefen Bezug zu einer der Welt und
Natur zugewandten Trauer des Sprachlosen. Vgl. hierzu besonders die Benjamin- Ar-
beilen ,Über einige Motive bei Baudelaire' (I 605 ff.) und ,Franz Kafka: Beim Bau der
Chinesischen Mauer' (II 676 ff.).
'** H. R.Jauß, a. a.O., S.694. - Es ist aber auch an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß
die moderne Allegorie bei Baudelaire im Gegensatz zu der barocken Allegorie „Spu-
ren des Ingrimms" trägt, welcher, wie Benjamin sagt, „von nöten war, um in diese Welt
einzubrechen, ihre harmonischen Gebilde in Trümmer zu legen" (I 671).
160
Da» Bewußtsein des trauernden Allegorikers ist Kontingenz: indem die Welt sich so
odt-r so betrachten läßt, verrät sie die radikale Offenheit und Unendlichkeit ihrer
Ordnungen und Strukturen, das heißt ihrer Kontingenz. Bezogen auf das Problem der
Übersetzung, ließe sich Benjamins Entwurf einer literalen Übersetzung als Erkennt-
nisvehikel der Kontingenz von Sprache nach Babel denken. Die Wahrnehmung der
Kontingenz gerade anhand der Moderne (das heißt auch der Sprache der Moderne)
exemplifiziert zu haben, erachtet Makropoulos als zentrale These des Benjaminschen
Denkens. Vgl. hierzu Michael Makropoulos, Modernität als ontologischer Ausnahme-
zustand? Walter Benjamins Theorie der Moderne, München 1989, S. 21 ff. und 42 ff.
' " Eine umfassende .Theorie' der .Melancholie' läßt sich von der melancholischen Da-
seinsweise des Allegorikers ausgehend entwickeln. Denn explizit bezeichnet Benjamin
die Trauer als „Mutter der Allegorien und ihr[en] Gehalt" (1403). So ist es die Allegorie
letzthin, die den Weg zum Sein des Dinges als Allegorie Sorge trägt. Der subjektive
Blick des Melancholikers ist derjenige, der, auf unendliches Wissen bauend, die Alle-
gorisierung des Dinges betreibt: „Sie [die Allegorien, A. H.] sind nicht wirklich und
sie haben das, als was sie dastehn, nur vor dem subjektiven Blick der Melancholie; sind
dieser Blick, den seine Ausgeburten vernichten, weil sie nur seine Blindheit bedeuten."
(1406) Der Umschlag dieser Blindheit, die sich selbst negiert, folgt daher auf dem Fuße.
Die Negation der Allegorie durch die Allegorie macht eine Physis der Sprache, und
die Sprache der Physis, erst wieder jenseits der Trennung von Ausdruck und Inhalt,
Drinnen und Draußen denkbar.
170 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
142
Die im Entwurf der Allegorie angelegte Verzeithchung des Schauplatzes und umge-
kehrt die Schauplatz-Werdung der Zeit findet deutliche Analogien zu der These der
Raumwerdung bzw. Temporalisation vermittels der .Schrift' bei Derrida. Eine aufmerk-
same Kenntnisnahme hat dieses Benjaminsche .Theorem' in dem Aufsatz .Allegorie,
Melancholie, Avantgarde' von Ferruccio Masini erfahren: ,JDie Allegorische Landschaft
erweist sich, so besehen, als die physiognomische Außenseite jenes labyrinthischen
Innern der Melancholie, das sie erzeugt hat: das schwindelnde Schweben der Melan-
cholie über dem Abgrund artikuliert im Geheimen, wie in einer Witterung ihrer selbst,
die allegorische Schrift, die Negativität nützend, welche aus der Endeerung des Subjekts
einerseits entspringt, um sich andererseits als Nicht-Ich, als Natur auf die naturhisto-
rische Bühne des Barockdramas zu projizieren [...]" Ferruccio Masini, Allegorie, Me-
lancholie, Avantgarde. Zum .Ursprung des deutschen Trauerspiels', in: Text und Kri-
tik, hrsg. von H. L. Arnold, Bd. 31/32 (1979): Walter Benjamin, S. 97.
" ' Markis nutzt dieses .Leiden', um aus ihm die Hoffnung auf eine dialektisch vermittel-
te Universalsprache abzuleiten. Benjamins Umgang mit diesem .Leiden' entspricht al-
lerdings eher einer Art Trauerarbeit, die sich in den Rissen und Brüchen der verschul-
deten Sprache einzurichten bemüht, um von dort aus ihr Wirken zu erkennen. - Vgl.
D. Markis, a. a. O., S. 273. Vgl. auch W. Menninghaus, a. a. O., S. 239.
IM
Vgl. J. Derrida, Apokalypse. Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton
in der Philosophie, Graz und Wien 1985, S. 11 f. (im folgenden Apo).
2.3 LITERALITÄT UND UNENDLICHKEIT 171
Die Paradoxie dieser .Bewegung' der Allegorese hat auch K. R. Greffrath erhellend
berücksichtigt, dies zumal, da sie deutlich in Abrede stellt - auch gegen die auf dialek-
tische Versöhnung abzielende Benjaminrezeption - , daß die allegoretische Bewegung
eine dialektische ist. - Vgl. K. R. Greffrath, Metaphorischer Materialismus, a. a. O.,
S. 118 ff.
172 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
Gott oder dem Vater (und es ist so gesagt, daß YHWH, unaussprechli-
cher Name, herabsteigt zum Turm), seit diesem Zeichen (marque) zer-
streuen sich, vermischen sich oder vervielfältigen sich die Sprachen,
gemäß einer Deszendenz, die noch in ihrer Zerstreuung durch den ei-
nen Namen bekräftigt bleibt, der der stärkste gewesen sein wird, das eine
Idiom, das sich durchgesetzt haben wird. Oder dieses Idiom trägt in sich
selbst die Markierung der Konfusion, es will uneigentlich das Eigentli-
che sagen, nämlich Bavel, Konfusion." (Ps 207)166 Die zunächst enigma-
tisch erscheinende Formulierung Derridas - daß mit der Auferlegung des
göttlichen Namens, dessen Wirkung an einem zukünftig vergangenen
Zeitpunkt stattgefunden haben wird - erweist sich dann zugänglich, wenn
die genealogische Situation der Babelschen Zerstörung deutlich entwik-
kelt wird. Die Zeit des .Anfangs', das heißt der arche, läßt sich seit dem
Namen .Babel' nicht mehr denken, ebenso wie sich die Wirkung des gött-
lichen Namens nicht als dieser Anfang markieren läßt. Babel ist schon
ein uneigentlicher Name, der folglich mit einem Mangel beginnt und
dessen Wirkung aus diesem Grunde in einer Gegenwart ansetzt, die im
vermeintlich zeitlichen Kontinuum auf eine vergangene Gegenwart
folgt.167 Gegenwart nach Babel mangelt es aber gerade an dieser denk-
baren Vergangenheit und damit auch an Gegenwärtigkeit. Die destruk-
tive Gabe des Namens Gottes, der Grund aller nachbabelschen Sprache
ist, hat sich immer schon durchgesetzt und wird gerade deswegen der
.stärkste gewesen sein'. Die Ermangelung des ersten und damit des
genwärtigen Wortes ist zugleich aber auch der Beginn aller Geschichte,
Beginn aller Vernunft. Auf diesen Mangel an Präsenz und Ursprung im
sogenannten Original wurde schon mit dem Benjaminschen Kritik- und
Übersetzungsbegriff verwiesen. Nicht thematisiert wurde bisher die inni-
ge und tiefe Verflechtung von Mangel und Schuld, die im Benjaminschen
Übersetzungbegriff hervortritt.
166
Da es sich um eine äußerst schwierige Passage im Derridaschen Text handelt, wird sie
hier noch einmal auf französisch wiedergegeben: „Depuis un nom propre de Dieu, venu
de Dieu, descendu de Dieu ou du pere (et il est bien dit que YHWH, nom impro-
noncable, descend vers la tour), depuis cette marque les langues se dispersem, se
confondent ou se multiplient, Selon une descendance qui dans sa dispersion meme reste
scellee du seul nom qui aura ete le plus fort, du seul idiome qui l'aura empörte. Or set
idiome porte en lui-meme la marque de ia confusion, il veut dire improprement l'im-
propre, ä savoir Babel, confusion." J. Derrida, a. a. O., S. 207.
167
Vgl. Geoffrey Bennington, Jaques Derrida. Ein Portrait von Geoffrey Bennington und
Jacques Derrida, übers, von S. Lorenzer, Frankfurt a. M. 1994, S. 186 f.
2.3 LITERALITÄT UND UNENDLICHKEIT 173
Indem Gott seinen Namen aufdrückt, beendet er eine Hybris des Men-
schen, der schon in verschuldeter, aber noch-paradiesischer Sprache eine
Transparenz zu schaffen sucht, welche zugleich aber auch herrschaftliche
Gewalt über das Nicht-Einheitliche, das Nicht-Transparente, das Frem-
de ist. Indem das göttliche Wort diese Hybris der Transparenz und Ge-
walt durchkreuzt, nötigt er zu einer neuen, unlösbaren Ambiguitat: er
fordert eine Übersetzung, die nicht geleistet werden kann, eine Überset-
zung, die auf ein Wort zurückgeht, das als Mangel, als Un-bestimmbares
und als Unaussprechliches beginnt. „Die Übersetzung wird Gesetz,
Pflicht und Schuld, aber von der Schuld kann man sich nicht mehr frei-
sprechen." (Ps 210) Die Destruktion der einheitlichen ,Lippe' 168 der
Turmbauer führt die Etablierung eines Gesetzes mit sich, das gleicher-
maßen als Gesetz der Gesetze und als gesetzliche Grenzziehung fungiert.
Auf ewig ambivalent, auferlegt dieses Gesetz dem Sprechenden Pflich-
ten und Rechte, die mit jedem geäußerten Wort und Satz weitergegeben
werden. Weitergabe und Pflichtbekenntnis führen daher nicht zur Ka-
tharsis; im Gegenteil, sie steigern das Verlangen nach ihr. Der Zwischen-
raum gesetzlicher Ambivalenz, und damit der Sprache überhaupt, er-
weist sich als Schlund, in den immer wieder die .gereinigten' Sprach-
elemente abrutschen. Benjamin erkannte an anderer Stelle in der furcht-
baren „Ursprünglichkeit dieselbe mythische Zweideutigkeit der Geset-
ze" (II 198) als grundlegendes Prinzip ihrer Gewaltsamkeit.169 Die ge-
setzliche Einforderung der Sühne beginnt nicht erst mit dem Verstoß ge-
gen dieses Gesetz, sondern mit der ersten Befolgung des Vorgeschriebe-
nen. Die Übersetzung ist ein solches Befolgen, das, in der Zweideutigkeit
des Gesetzes befangen, Verstehen und Mißverstehen zugleich, untrenn-
bar voneinander, mit sich führt.
Die .Metaphorik' des Benjaminschen Textes zur Übersetzung weist
deutliche Spuren der gesetzlichen Notwendigkeit und Uneinlösbarkeit
des Gesetzes zugleich auf. Schon in den Titel der Schrift scheint dieses
'* Derrida weist darauf hin, daß die wörtliche Übersetzung aus dem Hebräischen nicht
.Sprache', sondern .Lippe' lautet: „Man muß Vielheit der Lippen und nicht der Spra-
chen sagen, um die Babelsche Konfusion zu benennen." (Ps 205) Die Leiblichkeit, die
in der Übersetzung durch ,Lippe' noch fester Grund des gemeinsamen Bestrebens auf
Einheitlichkeit ist, verliert in der metonymischen (und nicht metaphorischen) Über-
tragung durch .Sprache' ihren Ausdruck.
' " Wichtig ist für diesen Zusammenhang ohne Zweifel, daß der Benjaminsche Essay .Kritik
der Gewalt' - d e m das zitierte Satzfragment entstammt - im selben Jahr wie .Die Auf-
gabe des Übersetzers' entstanden ist.
174 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
Der Gedanke einer „Gabe der Sprache" durch Gott findet sich schon bei Hamann.
Vgl. Johann Georg Hamann, Briefwechsel, hrsg. von W. Ziesemer und A. Henkel, Wies-
baden 1955, S. 46.
Auch in diesem Falle ist auf den genauen Wortlaut und die mit ihm verbundene Tem-
poralität des französischen Textes zu achten: „Le traducteur est endette, il s'apparait
comme traducteur dans la Situation de la dette; et sa täche c'est de rendre, de rendre ce
qui doit avoir ete donne." (Ps 211)
Die Verschuldung ist nicht wie eine ,techne' eines instrumentalisierbaren (Sprach)
Körpers zugänglich, sie entsteht erst mit der sprachlichen Praxis und verschwindet mit
ihr. Aus diesem Grunde kritisiert auch keine Theorie die Praxis des .Übersetzens',
sondern gerade das Paradigma des Übersetzens weist auf die in der Sprachentzweiung
begründete gesetzmäßige, gegenseitige Durchnetzung von Theorie und Praxis (und
damit der Aufhebung dieser Opposition) Benjamin wählt als Annäherung an das Wesen
der Übersetzung daher nicht ganz zufällige Metonymien und Allegorien, die auf ent-
sprechende biblische Figuren zurückgreifen - solche Versinnbildlichungen also, die
weder als reine Theorie noch als reine Praxis der Benjaminschen Analytik dienen.
2.3 LITERALITÄT UND UNENDLICHKEIT 175
Diese Rückerstattung - und der Gedanke ist essentiell für das Benja-
minsche Übersetzungsdenken - liegt in dem Gesetz der ,Form' des Ori-
ginals „als in dessen Übersetzbarkeit beschlossen". Aus diesem Grun-
de auch sagt Benjamin: „Übersetzung ist eine Form." (IV 9) Diese Per-
spektive auf die Übersetzung als ,Form' ergänzt sich zu dem schon an-
läßlich des frühromantischen Kritikbegriffes entwickelten Formbegriff,
in dem Benjamin die Form als „eigentümliche Modifikation der Selbst-
begrenzung der Reflexion" (176) des Werkes ausweist. Entscheidend für
den Übersetzeraufsatz ist, daß er nach Bewegungsprinzip und -gesetz der
Form als „gegenständlicher Ausdruck der dem Werk eigenen Reflexion"
(I 73) fragt. Damit knüpft er noch an die Kunstkritikarbeit an und geht
aber auch über sie hinaus. Indem er der Form des Originals ein Gesetz
zuschreibt, das die Entscheidung nach Übersetzbarkeit aus den Händen
des Übersetzer-Subjekts nimmt, verlegt er es in das zeidich frühere Werk,
das „seinem Wesen nach Übersetzung zulasse und demnach - der Be-
deutung dieser Form gemäß - auch verlange" (IV 10). Das Verlangen
des ,Originals' nach Übersetzung geht aber auch nicht auf den Autor des
.Originals' zurück, denn das zur Sühne verpflichtende Gesetz, mit dem
das Original in der Welt auftaucht, wohnt der Sprache seit ihrer Ent-
zweiung durch den Gottesnamen inne. Die wahre Herkunft des Verlan-
gens läßt sich nicht ohne weiteres freilegen, da das es hervorbringende
Gesetz auf der vom Menschen abgewandten Seite der Sprache verzeich-
net ist. Derrida weist entschieden die .Form' im Benjaminschen Sinne
als Residuum des Verlangens aus: „Das Verlangen scheint folglich zu
geschehen, sogar in Worte gefaßt zu sein durch die Form? ,Die Über-
setzung ist eine Form' und das Gesetz dieser Form hat seinen ersten Ort
im Original. Dieses Gesetz stellt sich zunächst auf [...] als ein Verlan-
gen im starken Sinne, eine Forderung, die beauftragt, fragt, voraussieht,
zuweist." (Ps 216) Die derart von Derrida vorgeschlagene Lektüre des
Benjaminschen Übersetzeraufsatzes muß als zentrale These seines Auf-
satzes ,Des tour de Babel' gelesen werden. Eine deudiche Bestimmung
des Formbegriffs, wie dieser, durch Frühromantik und kabbalistisches
Sprachdenken vorbereitet, im Übersetzeraufsatz Benjamins zusammen-
fließt, bleibt in der Lektüre Derridas allerdings aus.
Benjamin sieht durch das .Wesen' des Originals, das heißt durch das
Gesetz der Form, das Verlangen nach Übersetzungsich artikulieren. Der
auf diese Weise sich entfaltende .Relationsbegriff' zwischen Original und
Übersetzung sollte, so Benjamin, nicht nur auf den Menschen bezogen
werden. Denn das Verlangen, das aus der Form des Originals ausstrahlt,
176 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
besteht auch dann, wenn sich kein Mensch findet, der diesem durch die
Übersetzung entspricht.17' Selbst wenn das Verlangen vergessen ist, kann
es durchaus im verborgenen fortbestehen, und dies zumal bei .gewissen'
Werken, denen Übersetzbarkeit .wesentlich' ist. Das Verlangen gewis-
ser Werke nach Übersetzung ist daher unvergeßbar, weder Geschichte
noch Kollektiv können es zum absolut Unerinnerbaren machen; es ist so
.unvergeßlich', sagt Benjamin, wie ein unvergeßliches .Leben' oder ein
unvergeßlicher .Augenblick'. Die Unvergeßbarkeit des Verlangens nach
Übersetzung als Struktur des Originals ist mithin auch Fortsetzung und
Verlängerung einer Struktur, die als diejenige von .Leben' und .Überle-
ben' gedacht werden muß. Aus der Struktur des .Überlebens' des Ori-
ginals erst geht die Übersetzung hervor. „Ist doch die Übersetzung spä-
ter als das Original und bezeichnet sie doch bei den bedeutenden Wer-
ken, die da ihre erwählten Übersetzer niemals im Zeitalter ihrer Entste-
hung finden, das Stadium ihres Fortlebens. In völlig unmetaphorischer
Sachlichkeit ist der Gedanke vom Leben und Fortleben der Kunstwer-
ke zu erfassen. Daß man nicht der organischen Leiblichkeit allein Le-
ben zusprechen dürfe, ist selbst in Zeiten des befangensten Denkens
vermutet worden." (IV 11) Die ,unmetaphorische Sachlichkeit' fordert
Benjamin, da es sich beim .Leben' und .Fortleben' der Werke um relatio-
nale Verflechtungen handelt, die nichts mit dem magischen .Fortbe-
stehen' gefeierter Werke gemeinsam haben. Der Relationsbegriff, den
Benjamin zwischen Original und Übersetzung nachzuzeichnen sucht,
gleicht eher dem eines Vertrages, der schon vor der Fertigung der Über
Setzung diese und ihren Übersetzer verpflichtet hat. Auf wen oder was
exakt die Einforderung von Pflicht und Schuld durch das Original geht,
ist nicht auszumachen. Denn es wurde aus dem bis hierher Entwickel-
ten deutlich, daß das Gesetz, welches sich in eine verschuldete Sprache
eingeschrieben hat, nicht „ausschließlich auf den Menschen" (IV 10)
bezogen werden kann, gleichwohl aber bleibt es Aufgabe des Überset-
zers, die ins Fremde gebannte Schuld zu erlösen.174
"' Es heße sich zeigen, daß gerade an einer allegorisierten Sprache ein .Verlangen' haftet
- und sie auf diese Weise Spracherkenntnis im allgemeinen freisetzt. In einem .Zentral-
park-Fragment' macht Benjamin jedenfalls deutlich, daß der Allegoriker „Invektiven
gegen Cupido" (I 679) hegt. Diese scheinen sich allerdings gerade dort aufzudrängen,
wo Cupido besonders intensiv aus den Gebilden strahlt.
114
Vgl. hierzu meinen Aufsatz „Die geschuldete Übersetzung", in: Alfred Hirsch (Hrsg.),
Dekonstruktion und Übersetzung, Frankfurt a. M. 1995.
2.3 LITERALITÄT UND UNENDLICHKEIT 177
Mit dem Begriff des .Kontextes' weist B. Waidenfels mit Recht darauf hin, daß die
Beziehung von im Sprachlichen aufeinander Reagierenden für jeden Text mitkonstitutiv
ist. „Der Sinn, der so entsteht, ist nicht zu fassen, wenn man ihn diesseits und jenseits
der Zeichen sucht, auch nicht, wenn man sich bloß auf Regeln bezieht, er findet sich
in der Verkettung und Verflechtung der Zeichen selbst, die eben dadurch einen sozia-
len Index erhalten. Der Sinn steht und entsteht zwischen den ZeUen eines Textes und
somit auch zwischen den Partnern, die sich in Texten begegnen." (Bernhard Wal-
denfels, Der Sinn zwischen den Zeilen, in: ders., Der Spielraum des Verhaltens, Frank-
furt a. M. 1980, S. 182 f.) Die Relation der derart in den .Text' eingelassenen Partner
ist ohne weiteres auch auf das Problem und das Verhältnis der Übersetzung Übertrag-
178 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
bar. Sicher steht die dialogische Dimension bei der Konstitution sprachlicher Zeichen
im Übersetzeraufsatz Benjamins nicht im Vordergrund, das Denken einer ,Kontex-
tualität' jedoch, die den Vollzug zu einem .Mitvollzug', zu einem .dezentrierten Ge-
schehen' macht, ist Implikation seiner Sprachphilosophie.
An anderer Stelle, im .Theologisch-Politischen Fragment', welches bezeichnenderweise
in derselben Zeit wie der Übersetzeraufsatz entstanden ist, weist Benjamin auf die ab-
2.3 LITERALITÄT UND UNENDLICHKEIT 179
solute Jenseitigkeit und Ahistorizität des Messianischen hin: „Erst der Messias selbst
vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Bezie-
hung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft. Darum kann nichts Hi-
storisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen. Darum ist das Reich
Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis; es kann nicht zum Ziel gesetzt wer-
den. Historisch gesehen ist es nicht Ziel, sondern Ende." (II 203) Wie sehr und wie
aufschlußreich diese Haltung beispielsweise der Geschichtsphilosophie Hegels entge-
gengesetzt ist, und damit einer durch und durch christlichen, ist einsehbar. Zugleich
aber besteht eine ähnliche Entgegensetzung zwischen dem Benjamin des Jahres 1916
und dem des Jahres 1921.
Der besondere messianische Charakter des Übersetzeraufsatzes findet deutliche Ana-
logien im Denken E. Levinas', der schreibt: „Der Traum einer glückhchen Ewigkeit,
der sich im Menschen neben dem Traum von Glück findet, ist nicht eine bloße Ver-
irrung. Die Wahrheit fordert zugleich eine unendliche Zeit und eine Zeit, auf die sie
das Siegel setzen kann - eine vollendete Zeit. Die Vollendung der Zeit ist nicht der
Tod, sondern die messianische Zeit, in der das Fortwährende sich in Ewiges verwan-
delt. Der messianische Triumph ist der reine Triumph." Emmanuel Levinas, Totalität
und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg und München 1987, S. 416.
177
Vgl. H. Steinhagen, a. a. O., S. 672 ff.
' " Benjamin leitet sicherlich nicht ein Denken der Allegorie an, um der,Nicht-Identität'
zu entkommen - wie Bürger dies bezogen auf Baudelaire behauptet. Für Benjamin geht
es vielmehr um die Einsicht in die Unmöglichkeit eines identischen Sprechens. Vgl.
P. Bürger, a . a . O . , S . 126.
180 2 DIE ÜBERSETZUNG ZWISCHEN DEN ZEILEN
tur des Originals von dem Verlangen übersetzt zu werden, gezeichnet ist,
so heißt das, daß zuerst das Original, so wie es das Gesetz schafft, sich
gleichfalls im Hinblick auf den Übersetzer verschuldet. Das Original ist
der erste Schuldner, der erste Kläger, in ihm findet die erste Verfehlung
statt - und das erste Weinen nach Übersetzung." (Ps 218) Dieser Man-
gel und dieses Verlangen sind nicht derart, daß sie nach quantitativerund
entropiegesetzlicher Ökonomie auf Ausgleich drängen - Derrida unter-
streicht diese These -, sondern sie vergrößern sich paradoxerweise durch
die Befriedigung. Die Übersetzung .verpflanzt' zwar das Original in einen
„endgültigeren Sprachbereich", dies aber nur insofern, „als es aus die-
sem durch keinerlei Übertragung mehr zu versetzen ist, sondern in ihn
nur immer von neuem und an anderen Teilen erhoben zu werden vermag"
(IV 15). Dies ändert jedoch nichts an dem „unendlichen Aufleben der
Sprachen" (IV 14), das im Verlangen des Originals nach Übersetzung
gründet. Im Versuch, das Verborgene, die .Art des Meinens', das Nicht-
Mitteilbare des Originals in der Übersetzung freizulegen, spricht sich zwar
dessen Verlangen nach Übersetzung aus, das in allen Sprachen Verborge-
ne und Nicht-Mitteilbare jedoch bleibt unberührbar zurück; denn erst in
der unendlichen „Harmonie all jener Arten des Meinens als die reine Spra-
che" (ebd.) könnte es seiner Verborgenheit entschlüpfen. Die strenge Pa-
radoxie, die sich hieraus ergibt, besagt, daß, je häufiger das Original über-
setzt wird, desto unberührbarer das in ihm Verborgene und desto gewalti-
ger sein Verlangen nach Übersetzung wird. Die Art der Ökonomie die-
ser identifikationslogisch nicht erfaßbaren Konstruktion erinnert in mehr
als einer Hinsicht an einen Gedanken Emmanuel Levinas', der vom Para-
digma des,Bedarfs/Bedürfnisses' (besoin) dasjenige des .Verlangens' (de-
sir) als das unterscheidet, welches im Gegensatz zum Bedürfnis nicht still-
bar, „niemals lösbar" (IV 17) ist: „Das Verlangenswerte sättigt nicht mein
Verlangen, sondern läßt es anwachsen, indem es mich in gewissem Sinne
mit neuem Hunger nährt."179 Dieses Anwachsen zielt aufs .Unendliche',
welches-auf das Denken Benjamins bezogen-die .Totalität'sprachlicher
.Mitteilung' sprengt. Auf den literalen Trümmern des Originals häufen
sich die Spuren dieser Unendlichkeit, die Benjamin,reine Sprache' nennt.
Nur aus der Darstellung der .Gebrochenheit' erwächst ein kaum wahr-
nehmbarer Hinweis auf das Unsagbare und Nicht-Mitteilbare, in welchem
Verlangen, Original und Übersetzung gleichermaßen gründen.
' J. Derrida, Zwei Deut für Joyce, in: ders., ulysses grammophon, übers, von E. Weber,
Berlin 1988, S. 32 (im folgenden: ugr).
4
Vgl. J. Derrida, Die differance, in: ders., Randgänge der Philosophie, übers, von
E. Pfaffenberger-Brückner, G. Ahrens, H. Beese und D. Watts Tuckwiller, M. Fischer,
K. Karabaczek-Schreiner, G. Sigl, Wien 1988, S. 37 (im folgenden: Rd).
3.1 DAS ZEICHEN UND DIE SCHRIFT 183
5
Vgl. Paul de Man, Sign and Symbol in Hegel's Aeslhetics, in: Critical Inquiry, Chicago 8,
1981/82, S. 775.
184 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
* Vgl. zur Nähe strukturaler und phänomenologischer Episteme und deren Gewicht im
Denken Derridas: Rodolphe Gasche, a. a. O., S. 144 f.
7
Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique generale. Edition critique par Rudolf
Engler, tome 1, fascicule 1-3, Wiesbaden 1967-68, S. 269,2 IV $ 4 al. 3 172 (166).
" F. de Saussure, ebd., S. 252, 2 iv $ 1 al. 6, 163 (157).
3.1 DAS ZEICHEN UND DIE SCHRIFT 185
" Besonders für das Derridasche Übersetzungsdenken ist die Problematisierung der Zwei-
teilung des Zeichens nicht unerheblich; es gilt daher, an dieser Stelle der Kritik Derridas
an Saussure aufmerksam zu folgen.
12
In der .Grammatologie' zitiert Derrida Jakobson, der auf den aus scholastischer Tradi-
tion stammenden zweiteiligen Zeichenbegriff hinweist und diesen als bewahrenswertes
Erbe in der Saussureschen Theorie angelegt sieht: „Die mittelalterliche Definition -
aliquid stat pro aliquo - , die in unserer Epoche zu neuem Leben erwachte, hat sich ein-
mal mehr als gültig und fruchtbar erwiesen. So beruht das konstitutive Merkmal eines
jeden Zeichens im allgemeinen und des sprachlichen Zeichens im besonderen in sei-
nem doppelten Charakter: jede sprachliche Einheit besteht aus zwei Teilen und enthält
zwei Aspekte: einen sinnlichen und einen intelligiblen - einerseits das signans (den
Signifikanten Saussures), andererseits das signatum (das Saussuresche Signifikat). Die-
se beiden für das sprachliche Zeichen (und das Zeichen im allgemeinen) konstitutiven
Elemente bedingen und verlangen einander notwendigerweise." Zitiert nach J. Derrida,
Grammatologie, Frankfurt a. M. 1983, S. 28 (im folgenden: Gr).
" J. Derrida, Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houde-
bine, Guy Scarpetta, Graz und Wien 1986, S. 56 (im folgenden zitiert als: Pos).
14
Abgesehen davon, daß sich Derrida in seiner Kritik an Saussure auf den von dessen
Schülern edierten ,Cours' bezieht und damit an einer Saussure-Rezeption zu messen ist,
die von der Rezeption der kritisch-edierten Rekonstruktion des Saussureschen Cours
deutlich zu unterscheiden ist, bleibt natürlich das hier verhandelte Problem entschei
dend. Sich auf die kritische Edition des ,Cours' durch Engler beziehend, kann M. Frank
daher Derridas Kritik an Saussure zurückweisen: „Derrida hat nicht gewußt, daß Saus-
sure in seinen nachgelassenen Notes item tatsächlich erwogen hat, seinen zweistelligen
Zeichenbegriff durch den einstelligen Begriff ,seme' zu ersetzen [...]". M. Frank, Was
ist Neostrukturalismus?, Frankfurt a. M. 1983, S. 89. Fraglich allerdings ist, ob diese
Kritik wiederum Derrida trifft, denn dieser stellt doch gerade eine Lektüre des Saus-
sureschen Textes vor, die Unentschiedenheiten und Vieldeutigkeiten des Textes zu
extrapolieren sucht. So ist es gerade die Unentscheidbarkeit dieser spezifischen Bedeu-
tung, das heißt ob Einheit oder Zweiteiligkeit des Zeichens, im Saussureschen Text, die
3.1 DAS ZEICHEN UND DIE SCHRIFT 187
den Finger auf ein Problem legt, das weder Saussure noch Derrida von seiner Meta-
physiklastigkeit befreit hat. Vgl. hierzu auch: Klaus Englert, Frivolität und Sprache. Zur
Zeichentheorie bei J. Derrida, Essen 1987, S. 116 ff.
" Um aber die Materialität und deren Erzeugung einerseits und die Herausbildung des
.seine' als synchronische Zeicheneinheit (Sinneinheit) in bezug auf die anderen Einhei-
ten des Systems, den .paraseme', andererseits deutlich hervorzuheben, führt Saussure
noch den Begriff des .aposeme' ein: „L'aposeme est l'enveloppe du seme. Et non l'enve-
lopped'unesignification." Und etwas weiter unten: „Veriteest que paraseme et aposeme
sont des notions capitales." F. de Saussure, Cours de linguistique generale. Edition
Critiquepar Rudolf Engler, tome2, fascicule 4, Wiesbaden 1974, appendice. Notes de
F. de Saussure sur la linguistique generale, S. 36, N 15, 3311.1 und 3310.13.
16
Vgl. Limited Ine abc..., in: Glyph 2. The Johns Hopkins Textual Studies, Baltimore
1977, S. 38 (im folgenden zitiert als: LI).
188 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
sieht geschehen - und sich wie bei Saussure die Möglichkeit eröffnet, das
Signifikat als Begriff zu denken, dann ergibt sich die Möglichkeit, die-
sen „aufgrund seiner einfachen gedanklichen Präsenz und seiner Unab-
hängigkeit gegenüber der Sprache, das heißt gegenüber einem Signifikan-
tensystem" (Pos 56) zu denken.17 Ein solch sprachunabhängiger Begriff
würde, so Derrida, die Forderung nach einem „transzendentalen Signi-
fikat" („signifie transcendental") erfüllen, das „die erste und die letzte
Quelle des Zeichens, der Differenz zwischen dem signans und dem signa-
tum" (Gr38)ist.
Ein weiterer Einwand Derridas gegen Saussure bezieht sich auf des-
sen Bevorzugung der Lautsubstanz in der Zeichenkonzeption. Aber auch
hier weist Derrida in seiner Kritik an Saussure darauf hin, daß bei Saus-
sure die Privilegierung der phonischen Seite des Zeichens keineswegs
einheidich ist und daß es bei Saussure auch eine „Reduktion der Phone"
(Gr 93) gibt. Zunächst allerdings - und dies besonders im vorderen Teil
des ,Cours' - fordert Saussure: „Die Verknüpfung von geschriebenem
und gesprochenem Wort ist nicht Gegenstand der Sprachwissenschaft,
nur das letztere, das gesprochene Wort ist ihr Objekt." 18 In der Unter
suchung des .Lautsystems' und der .Lauteinheiten' sieht Saussure die
Aufgaben der Linguistik angesiedelt, da sie die primäre Materialität der
Sprache darstellen. Die Schriftzeichen sind nämlich nur ,ein Abbild'
(image)19 der phonischen Dimension der Sprache. Auch die Rede Saus-
sures vom „Laut-Gedanken" scheint eine tiefe Verbundenheit seiner
linguistischen Überlegungen mit der phonischen Seite der Sprache na-
hezulegen. Aber diese Haltung des Saussureschen Textes ist nicht ein-
deutig, denn gerade bezogen auf den so ausgeprägt entwickelten Gedan-
ken der Artikulation scheint die die phonischen Elemente unterscheiden-
de und nicht an sich als wahrnehmbare Fülle in Erscheinung tretende
Differenz gegenüber der reinen Stofflichkeit des Lautes entscheidender.
Dies nämlich veranlaßt Saussure zu schreiben: „seinem Wesen nach ist
er [der Signifikant; A. H ] keineswegs laudich, er ist unkörperlich, er ist
17
Daß dieser Verdacht Derridas nicht ganz unbegründet ist, belegt auch die Privilegierung
der Sinn-Seite des Zeichens, die Saussure in den .Notes item', den Bemerkungen zur
Vorlesung, vornimmt: „Si l'un des deux cotes du signe linguistiquepouvait passer pour
avoir une existence en soi, ce serait le cote conceptuel, l'idee comme base du signe."
F. de Saussure, a. a. O., S. 178, N 23.6, 3339, S. 7.
" F. de Saussure, a. a. O., S. 68, Intr. VI S2 al. 1, 46 (45); vgl. ebd. „Le vrai rapport est
exprime par l'equation: mot parle = objet (mot ecrit, document)/[12]. [suite 561].
" Vgl. F. de Saussure, ebd., S. 94, Intr. VII $ 3 al. 1, 59 (58).
3.1 DAS ZEICHEN UND DIE SCHRIFT 189
gebildet nicht durch seine stoffliche Substanz, sondern einzig durch die
Differenzen, welche sein Lautbild von allen anderen trennen." 20 Der
Laut ist der .Sprache' (langue) etwas .Sekundäres', ein Material, mit dem
sie umgeht und das nur vermittels differentieller Beziehungen der Zei-
chen untereinander Bedeutung erlangt. Diese Arbeit der Differenz ist es
wohl auch, die Saussure im Auge hat, wenn er sagt: „das Wesentliche
an der Sprache ist, wir werden es sehen, dem laudichen Charakter des
sprachlichen Zeichens fremd."21 Nicht zuletzt anhand dieser Reflexio-
nen kann Derrida auf die .Entsubstantialisierung' der .Ausdruckssub-
stanz' und der bezeichneten Inhalte in der Saussureschen Linguistik
verweisen (Pos 54). Gleichwohl bleibt Derrida die gewichtige Rolle, die
die Phone im Ansatz Saussures spielt, verdächtig - und dies zumal Saus-
sure nur einer von vielen Sprachdenkern in einer langen .phonozen-
trischen' Tradition des okzidentalen Denkens ist, wie Derrida sorgfäl-
tig belegt.22 Saussure scheint dieser Tradition, die auch die der Meta-
physik ist, letzthin nicht zu entkommen: „Obwohl er die Notwendigkeit
erkannt hatte, die phonische Substanz in Klammern zu setzen [...], muß-
te Saussure, aus wesentlichen und wesentlich metaphysischen Gründen
das gesprochene Wort und alles, was das Zeichen mit der phone verbin-
det, privilegieren. Er spricht auch von einem ,natürliche[n] [...] Band'
zwischen Gedanken und Stimme, zwischen Sinn und Laut." (Pos 58)
Wenn auch die Bedeutung der stimmlichen und phonischen Seite im
Saussureschen Denken eine zweifache Rolle spielt - einmal mit und ein-
mal gegen eine gewisse metaphysische Tradition sich bewegend - , so ist
20
F. de Saussure, ebd., S. 266, 2 IV $ 3 al. 5, 170 (164).
»' F. de Saussure, ebd., S. 21, Intr. II al. 7,21 (21).
22
Vor allem in der .Grammatologie' und in .Die Stimme und das Phänomen' (J. Derrida,
Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt a. M. 1979, im folgenden zitiert als: SuP)
weist Derrida nach, wie eng das okzidentale Denken, von Piaton bis Heidegger, mit einer
Privilegierung des phonischen Elementes der Sprache verbunden ist. Diese Privilegie-
rung hat allerdings weit über den bisher abgesteckten Rahmen hinausgehende Konse-
quenzen, die schon bei Aristoteles angedeutet werden: Das Wesen Act phone [...] stünde
unmittelbar dem nahe, was im .Denken' als Logos auf den .Sinn' bezogen ist, ihn er-
zeugt, empfängt, äußert und .versammelt'. Wenn beispielsweise für Aristoteles .das in
der Stimme Verlautende' [...] Zeichen für die in der Seele hervorgerufenen Zustände
[...] und das Geschriebene Zeichen für .das in der Stimme Verlautende' ist (De inter-
pretatione 1,16 a 3), so deshalb, weil die Stimme als Erzeuger der ersten Zeichen we-
sentlich und unmittelbar mit der Seele verwandt ist. Als Erzeuger des ersten Signifikanten
ist sie nicht bloß ein Signifikant unter anderen. Sie bezeichnet den .Seelenzustand', der
seinerseits die Dinge in natürlicher Ähnlichkeit widerspiegelt oder reflektiert." (Gr 24)
190 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
aber doch die Gewichtung von Stimme und Schrift, Phonem und Gra-
phem deutlich zuungunsten der Schrift entschieden worden. Dies scheint
eine Geste zu sein, die Saussures Denken mit der .phonozentrischen'
Tradition teilt. Die Schrift wird von ihm als nur die lautliche Seite der
Sprache .darstellend' und abbildend gedacht; sie ist eine Äußerlichkeit,
ein .externes System', das aus dem Innern der Sprache ausgeschlossen
ist. Saussure ist sogar der Ansicht, daß „die Schrift die Entwicklung der
Sprache verschleiert"23; die Schrift ist nur die .Verkleidung' der Sprache.
Da es für Saussure nur eine die phonische Seite der Sprache repräsen-
tierende Schrift geben kann, will er seine Untersuchungen auf das Sy-
stem der phonetisch-alphabetischen Schrift .beschränken'.24 Mit der Fi-
xierung der Schrift als wesentlich phonetische Schrift wird nachdrück-
lich das Akzidentelle und Abbildhafte der Schrift exponiert: „Die Schrift
soll zurücktreten vor der Überfülle eines lebendigen Wortes, das auf-
grund der Durchsichtigkeit seiner Notation vortrefflich dargestellt würde
und das dem sprechenden Subjekt sowie jenem, das den Sinn, den In-
halt, den Wert empfängt, unmittelbar gegenwärtig wäre." (Pos 65) Eine
Hierarchisierung von Schrift und Phone aber schafft entgegen der von
Saussure geforderten .Entsubstantialisierung' substantielle Bereiche der
Sprache, die die Organisation des sprachlichen Feldes übernehmen und
damit das Primat von Arbitrarität und Differentialität wieder außer Kraft
setzen. Soll aber, wie Saussure selbst fordert, das „Wesentliche der Spra-
che" nicht der „lautliche Charakter", sondern die Arbeit der Artikulation
(mit dem Resultat einer Jangage articule') und der Differenzen ausma-
chen, dann scheint es unumgänglich, die Generierung der Zeichen al-
lein ihnen zuzuschreiben. Die Artikulation erst, als Formgebung in dem
Feld sprachlich oppositiver Ausdrucksbeziehungen, macht so etwas wie
Bedeutung und Sinn möglich, erst vermittels der differentiellen Verwei-
sungen von Ausdrücken (Zeichen) wird ein bestimmter Ausdruck zu
dem, was alle anderen Ausdrücke nicht sind. Jedes Zeichen und jeder
Ausdruck generieren sich mithin im Unterscheidungsumweg über allen
23
F. de Saussure, a. a. O., S. 84, Intr. VI $ 5 al. 5, 53 (51). - Zudem begrenzt Saussure die
Anzahl der Schriftsysteme auf zwei Varianten: „1. das ideographische System, in wel-
chem das Wort durch ein einziges Zeichen repräsentiert wird, das mit den Lauten, aus
denen es sich zusammensetzt, nichts zu tun hat", und ,,2. das im allgemeinen .phone-
tisch' genannte System, welches die Abfolge der Laute, die im Wort aufeinanderfolgen,
wiederzugeben versucht". F. de Saussure, ebd., S. 74 f., Intr. VI, $ 3 al. 2, 48 (47) und
S 3 al. 3,48(47).
24
Vgl. F. de Saussure, ebd., S. 77, Intr. VI $ 3 al. 6, 49 (48).
3.1 DAS ZEICHEN UND DIE SCHRIFT 191
anderen Zeichen und Ausdrücken des Systems. Derrida nennt dies ein
„systematisches Spiel von Differenzen" (Rd 37), das der Möglichkeit und
Gewinnung des Zeichens selbst vorausgeht.
Wenn ein Zeichen nur zum signifikanten Element wird, indem es sich
im Umweg über alle anderen Zeichen von diesen zu unterscheiden ver-
mag, dann ist es, bevor es auf sich selbst zurück kommt, immer durch
diesen Umweg von sich selbst getrennt. Genau diese Bewegung - die
eigendich keine Bewegung mehr ist, da sie weder wahrnehmbar noch
einfach als solche denkbar ist - benennt Derrida mit dem Neologismus
.differance': „Was sich differanceschreibt, wäre also jene Spielbewegung,
welche diese Differenzen, diese Effekte der Differenzen, durch das .pro-
duziert', was nicht einfach Tätigkeit ist. Die differance, die diese Differen-
zen hervorbringt, geht ihnen nicht etwa in einer einfachen und an sich
unmodifizierten, indifferenten Gegenwart voraus. Die differance ist der
nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen. Folglich kommt ihr
der Name .Ursprung' nicht mehr zu." (Ebd.)
Den Neologismus differance bildet Derrida aus dem Partizip Präsens
des Verbs .differer', das zum einen bedeutet: einen Abstand einlegen
zwischen zwei Zuständen einer Sache (aufschieben, verschieben, verzö-
gern) und zum anderen: unterschieden sein (grundverschieden sein). Im
Wort differance kommen diese Bedeutungen zusammen, sie verweisen
auf den gleichermaßen aktivischen und passivischen Charakter des .Spiels
der Differenzen'. Der entscheidende Gedanke Derridas im Anschluß an
Saussure wird hier besonders deutlich, denn Derrida sieht, daß das .Sy-
stem von Differenzen' nicht statisch, synchronisch und ahistorisch ist,
sondern daß die Differenzen das Ergebnis von Transformationen in der
Zeit sind, die die bereits bestehenden Differenzen innerhalb einer gewis-
sen Struktur permanent neu hervorbringen. Auf diese Weise ergibt sich
eine Verschiebung und eine Verzögerung, die einerseits die zeidiche und
räumliche Unabschließbarkeit und die Unendlichkeit des Zeichensystems
ausmachen und die andererseits die Identität der Zeichen als mit sich
selbst identischen Bedeutungseinheiten zerstören. Die Konsequenz hier-
aus ist, daß es weder fixierbare identische Bedeutungen und damit kei-
ne Sinnkonstanz und -Zentrierung des Systems gibt, noch daß durch ei-
nen unveränderlichen Abschluß (cloture) des Systems dessen Grenzen
zum Prinzip sämtlicher Bewegungen innerhalb des Systems werden.25
Geradein diesem Zusammenhang wird der Begriff des Systems problematisch, denn die
Möglichkeit einer das Sprach System kontrollierenden Instanz, die die System aüzität des
192 3 DEKONSTRUKTTVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
Systems gewährleistet, kann im Hinblick auf das ,Spiel der Differenzen' und die Bedeu-
tungsgenerierung durch Artikulation nicht behauptet werden. Statt der im geschlosse-
nen System begrenzten und damit kontinuierlichen Bewegung der Elemente legt die
unendlich operierende Differentialität eine Diskontinuität des Bedeutens der Elemen-
te des Zeichensystems nahe, die noch für jeden Kommunikationsvorgang, der in der
Übermittlung von sich unaufhörlich differenzierenden Zeichen besteht, von Bedeutung
ist. Kein abgeschlossenes und zentriertes System und keine Struktur im Sinne eines starren
Kristallgitters vermag die Unbeherrschbarkeit der Bedeutungsübermitdung in der Kom-
munikation und der Textlektüre zu erklären.
M. Frank verweist auf diesen Problemkreis anläßlich des Strukturbegriffs der .Kom-
munikationstheorie', „die unterstellt, um seiner Übertragbarkeit willen müsse ein Zei-
chnen vom Hörer oder Leser demselben fix und fertigen System der langue zugewiesen
werden können, aus dem es vom Sprecher oder Autor erzeugt worden sei. Alsdann wäre
der signifikant ein bloßes Mittel, das signifie aus einem Gehirn in ein anderes zu ver-
pfl anzen, es wäre lediglich ein unentbehrliches Transport-Instrument. Diese Auffassung
ist aber unvereinbar mit Saussures Idee der Artikulation, die - radikal gewendet - nicht
mehr, aber auch nicht weniger besagt, als daß kein Sinn sei, wo kein Ausdruck bestehe.
Ein Ausdruck ist aber seinerseits nichts naturwüchsig Vorhandenes, sondern der Ef-
fekt oppositiver Unterscheidungen von anderen Ausdrücken." M. Frank, Was ist Neo-
strukturalismus?, a. a. O., S. 93.
3.1 DAS ZEICHEN UND DIE SCHRIFT 193
26
Saussure sieht einen einheitlichen Zugriff auf das Sprachsystem auch durch die Wahr-
nehmung innerhalb desselben .Kollektivbewußtseins' gewährleistet. Verhältnisse und
Bedeutungen, „so wie sie von ein und demselben Kollektivbewußtsein wahrgenommen
werden" (F. de Saussure, a. a. O., S. 227, 1 III $9 al. 8, 144 [1401), würden auf diese
Weise von einer Instanz beherrscht, die sich doch selbst erst im Prozeß sprachlicher
Artikulation ergibt. Das .Kollektivbewußtsein' wäre daher immer schon involviert in
Oppositionen und wäre daher - entgegen der Saussureschen Absicht - diesen nicht
transzendent.
22
F. de Saussure, ebd., S. 252,2 IV $ 1 al. 2 161 (155).
" Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, hrsg. und
übers, von H. W. Arndt, Hamburg 1984, S. 72.
3.1 DAS ZEICHEN UND DIE SCHRIFT 195
29
F. de Saussure, ebd., S. 261,2 IV $2 al. 10, 166(160).
30
F. de Saussure: „Tout se passe / entre l'image auditive et le concept, dans les limites du
mot considere comme un domaine ferme, existant pour lui-meme." Ebd., S. 258, 2 IV
$2 al. 3,165 (158).
" Es gibt also für Saussure eine Beziehung, die er Bedeutung nennt und die als Beziehung
von Signifikant und Signifikat eine „simUe-dissimüe"-Relation darstellt, während hin-
gegen diejenige, die er Wert nennt, als Beziehung von Wert zu Wert eine „simile-simile"-
Relation beinhaltet. - Vgl. F. de Saussure, ebd., S. 259.
196 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
Wert abhängig ist".32 Gleichwohl hat Saussure diese Differenz von Wert
und Bedeutung, welche eine Differenz ist und zugleich nicht ist, nicht
explizit als solche dargestellt. Auch die von Saussure behauptete Un-
trennbarkeit von signifiant und signifie spricht dafür, daß die Bedeutung
(signifie) sich nicht radikal von der materiellen Seite (signifiant) unter-
scheiden läßt. Deshalb kann auch ein signifie, das von einer Sprache in
die andere übersetzt werden soll, nicht wirklich identisch übertragen
werden, das signifie bleibt auf das signifiant der Ausgangssprache ver-
wiesen.
Allerdings muß es ein Moment geben, das Signifikant und Signifikat
voneinander zu unterscheiden vermag, denn ohne eine solche Unter-
scheidung von Signifikant und Signifikat „in bestimmten Grenzen"
(Pos 57) wäre Übersetzung schlicht unmöglich.33 In dem Aufsatz „Freud
und der Schauplatz der Schrift" weist Derrida nachdrücklich auf diese
Voraussetzung jeder Übersetzung hin: „Übersetzung und Übersetzungs-
system gibt es nur, wenn ein feststehender Code die Ersetzung oder
Transformation der Signifikanten und die Bewahrung desselben Signifi-
kats erlaubt, das immerfort präsent ist, ungeachtet der Abwesenheit dieses
oder jenes bestimmten Signifikanten. Die radikale Möglichkeit der Er-
setzung wäre infolgedessen von dem Begriffspaar Signifikant-Signifikat,
das heißt im Begriff des Zeichens selbst impliziert. Wenn man mit Saus-
sure das Signifikat vom Signifikanten nur dadurch unterscheidet, daß
man sagt, sie seien die beiden Seiten ein und desselben Blattes, so än-
dert das nichts daran."34 Dieser aus dem Jahr 1966 stammende Satz Der-
ridas spricht vom .feststehenden Code' und von einem Signifikat, das
.immerfort präsent' ist. Die solchermaßen berührte statische und taxono-
mische Geschlossenheit der Struktur, die Invarianz eines bestimmten
Codes und die radikale Differenz von Signifikant und Signifikat - wel-
che sämtlich Implikation der Derridaschen Aussage sind - vermögen
allerdings noch nicht klärend in die Saussuresche Konzeption einzugrei-
33
Derrida sieht in diesem Vorgehen eine gewisse Absicht Husserls verborgen, denn, so
Derrida, Husserl scheint „mit geradezu dogmatischer Hast die Frage nach der Struktur
des Zeichens überhaupt zu unterdrücken. Indem er nämlich schon zu Beginn eine radi-
kale Unterscheidung zwischen zwei heterogenen Zeichentypen vorschlägt, umgeht er
die Frage nach dem Zeichen überhaupt. Der Begriff des Zeichens überhaupt, den er zu
Beginn benutzen und dem er einen gewissen Sinn zuerkennen muß, kann seine Einheit
nur aus einem Wesen beziehen, aufgrund dessen er sich ordnet. Dieses Wesen muß als
in einer wesentlichen Erfahrungsstruktur und in der Vertrautheit (familiarite) eines
Horizonts verankert erkannt werden." (Übersetzung leicht verändert, A. H.) - J . Derrida,
Die Stimme und das Phänomen, übers, von J. Hörisch, Frankfurt a. M. 1979, S. 75 (im
folgenden zitiert als: SuP).
" Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Zweiter Band, erster Teil (Husserliana Bd.
XLX/1), hrsg. von Ursula Panzer, The Hague, Boston und Lancaster 1984, S. 31.
3.1 DAS ZEICHEN UND DIE SCHRIFT 199
37
E. Husserl, ebd., S. 30.
" E. Husserl, ebd., S. 31.
39
Vgl. hierzu auch Husserls Reduktion der .Schrift' auf die „Intention des Sich-Aus-
drückens" und deren Reinigung von jeder empirisch materialen Inskription (vgl
HW 130).-Vgl. außerdem Rudolf Bernet, Vorwort zur deutschen Ausgabe, in: J. Der
rida, H W 2 1 .
200 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
40
Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen, a. a. O., S. 32.
« E. Husserl, ebd., S. 33.
42
Vgl.J. Claude Evans, Strategiesof Deconstruction. Derrida and the Myth of the Voice,
Minneapolis 1991, S. 44.
43
Vgl. z. B. E. Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge (Husserliana
Bd. I), hrsg. von S. Strasser, The Hague, Boston und Lancaster 1973, S. 84 ff. und
E. Husserl, Krisis, a . a . O . , S. 160 ff., $45.
3.1 DAS ZEICHEN UND DIE SCHRIFT 201
Vgl. zu Derridas Kritik des Husserlschen Ideals einer rein expressiven Sprache: Rudolf
Bernet, Differenz und Abwesenheit. Derridas und Husserls Phänomenologie der Spra-
che, der Zeit, der Geschichte, der wissenschaftlichen Rationalität, in: Studien zur neue-
ren französischen Phänomenologie. Phänomenologische Forschung 18, Freiburg und
München 1986, S. 66 f.
E. Husserl, Logische Untersuchungen, a. a. O.., S. 37.
Die Spitze der hier von Derrida gegen Husserl vorgebrachten Kritik trifft ersteren al-
lerdings mit derselben Wucht. Die immer wieder deutlich im Derridaschen Werk her-
vortretende Option für eine transzendentale Sprachlichkeit scheint der empirischen
Kommunikationssituaüon ebensowenig sinnkonstitutive Rechte zu gewähren. Vgl. hierzu
besonders: J. Derrida, .Gewalt und Metaphysik', in: ders., Schrift und Differenz, Frank-
furt a. M. 1976, S. 194 (im folgenden: Sud). (Vgl. weiter unten das Kapitel ,Die Spur
und das Unberührbare'.)
202 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
che selbst sei daher, so Derrida, bei Husserl als „das willentliche Bewußt-
sein des bedeutenden Sagen-Wollens" (SuP 89) gedacht. Tatsächlich
scheint die Berechtigung dieser Kritik der folgende Gedankengang Hus-
serls zu unterstreichen: Wir schließen „das Mienenspiel und die Geste
[vom Ausdruck, A. H.] aus, mit denen wir unsere Reden unwillkürlich
und jedenfalls nicht in mitteilender Absicht begleiten oder in denen, auch
ohne mitwirkende Rede, der Seelenzustand einer Person zu einem für
ihre Umgebung verständlichen .Ausdruck' kommt. Solche Äußerungen
sind keine Ausdrücke im Sinne der Reden, sie sind nicht gleich diesen
im Bewußtsein des sich Äußernden mit den geäußerten Erlebnissen phä-
nomenal eins; in ihnen teilt der eine dem anderen nichts mit, es fehlt ihm
bei ihrer Äußerung die Intention, irgendwelche .Gedanken' in
licher Weise hinzustellen, sei es für andere, sei es auch für sich selbst,
wofern er mit sich allein ist. Kurz, derartige .Ausdrücke' haben
lich keine Bedeutung." (Hervorhebung A. H., bis auf „eigentlich keine
Bedeutung") 47 Deutlich grenzt Husserl hier nicht einfach nichtsprach-
liche Äußerungen insgesamt als nicht bedeutende aus, sondern er be-
hauptet, daß sie „eigentlich keine Bedeutung" haben, weil ihnen die
.Intention', die ,Absicht', etwas sagen zu wollen, fehlt. Husserl zieht mit
.Anzeichen' und .Ausdruck' eine Grenze im Medium der Sprache selbst,
die das .Absichtliche', Gewollte, vom .Unabsichtlichen', Intentionslosen
trennt. Einzig das „Wesen des intentionalen Bewußseins" (SuP74) schafft
im .Ausdruck' die unmittelbare Präsenz des beabsichtigten Inhalts (Be
deutung) in der Sprache. Aber auch Derrida gibt zu, daß Husserl nicht
versucht, „alle Formen der Anzeige aus der Sprache auszuschließen"
(SuP 89), sondern vielmehr bemüht ist, eine Ordnung und Differen-
zierung sprachlicher Zeichen vorzunehmen, wie er dies beispielsweise
tut, wenn er .anzeigende Zeichen' von .hinweisenden', beweisenden'
und .ausdrückenden Zeichen' unterscheidet.48
Gleichwohl läßt sich im Anschluß an die Derridaschen Überlegungen
behaupten, daß die dem .Ausdruck' zugewiesene .Bedeutungsintention',
die von Husserl als monologische, vorsprachliche ,Rede' inauguriert
wird, den Diskurs mit einer identischen Bedeutung und einer gewissen
.Lebendigkeit'49 beseelt. Die Bewegung des Bedeutens ereignet sich in
41
E. Husserl, Logische Untersuchungen, a. a. O., S. 37.
4
* Vgl. E. Husserl, ebd., S. 31 ff.
49
Die Begriffe der .Lebendigkeit' und des .Lebens' nehmen in der Husserlschen Phäno
menologie eine zentrale Rolle ein, die nicht allein auf die präsentische Dimension die
3.1 D A S Z E I C H E N UND DIE SCHRIFT 203
ser Paradigmen beschränkt ist. Derrida weist darauf hin: „Sie [die Phänomenologie,
A. H l ist Philosophie des Lebens nicht nur, wed in ihrem Zentrum der Tod sich nur
als empirische Signifikation und äußerliches Akzidens anerkannt sieht, sondern auch,
weil die Quelle des Sinns immer Vollzug des Lebens (vivre), als Akt des Lebendigseins,
als Lebendigkeit (im Original deutsch) bestimmt ist. Die Einheit des Lebensvollzugs
(unite de vivre), der Herd der .Lebendigkeit', der sein Licht über alle fundamentalen
Begriffe der Phänomenologie wirft (.Leben', .Erlebnis', lebendige Gegenwart', .Gei-
stigkeit', etc.), kennt nicht die transzendentale Reduktion, ja, bahnt ihr sogar erst als
Einheit des irdischen und des transzendentalen Lebens den Weg. Selbst wenn das
empirische Leben oder das Psychische eingeklammert sind, bleibt noch ein von Husserl
entdecktes transzendentales Leben oder letztlich die Transzendentalität einer lebendi-
gen Gegenwart." (SuP 59; Übersetzung verändert, A. H.) (Vgl. auch HW 147.)
30
Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen, a. a. O., S. 39, $ 7 .
31
E. Husserl, ebd., S. 44.
32
Husserl spricht von .Kundgabe' und .Kundnahme' in der kommunikativen Situation.
Die .Kundgabe' bestimmt er wie folgt: „Sie [die Anzeichen, A. H.l dienen dem Hören-
den als Zeichen für die .Gedanken' des Redenden, d. h. für die sinngebenden psychi-
schen Erlebnisse desselben, sowie für die sonstigen psychischen Erlebnisse, welche zur
mitteilenden Intention gehören. Diese Funktion der sprachlichen Ausdrücke nennen
wir die kundgebende Funktion" Und über die .Kundnahme' sagt er: „Besteht der we-
204 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
sentliche Charakter der Wahrnehmung in dem anschaulichen Vermeinen, ein Ding oder
ein Vorgang als einen selbst gegenwärtigen zu erfassen [...], dann ist die Kundnahme
eine bloße Wahrnehmung der Kundgabe." (E. Husserl, a. a. O., S. 40 f.) Dies kann frei-
lich nicht der Fall sein, denn die adäquate Kundnahme der Kundgabe wird durch die
bloß „äußere Wahrnehmung" der Kundgabe gestört. Denn der Hörende nimmt zwar
die Zeichen, die gewisse .psychische Erlebnisse' darstellen, wahr, aber er erlebt diese
,psychischen Erlebnisse' nicht selbst, er hat von ihnen keine .innere', sondern lediglich
eine .äußere Wahrnehmung'.
Wenn aber - und dies ist ein für das Denken der Übersetzung entscheidendes Problem
- der Sinn notwendig dem Zeichen als Anzeichen verbunden ist, dann ist jeder Sinn
der Sinn des Anderen und ein anderer Sinn. Die von mir geäußerten Zeichen sind an-
dere für den Anderen, und auch keine vorsprachliche Idealität des Sinns garantiert die
Identität der wiederholten Zeichen. Nicht die Einheit des Sinns kann mithin die Wie-
derholbarkeit des Zeichens ermöglichen, sondern - Derrida weist mit Nachdruck dar-
auf hin - einzig die Wiederholbarkeit des Zeichens (Anzeichen) vermag so etwas wie
eine gewisse Einheit des Sinns hervorzubringen. (Vgl. Sup 111.)
3.1 D A S Z E I C H E N UND DIE SCHRIFT 205
Stimme ist nicht einfach ein sinnliches Element, sie ist eine nur .erschei-
nende Transzendenz', die die „Objektivität des Objekts" (SuP 131) ga-
rantiert. Weil die Stimme innerlich bleibt und nie den Umweg über das
Draußen einer empirischen Welt gehen muß, gerät sie zur Affektion des
Subjekts, zur Selbstaffektion.54 Die opake Struktur des stimmlichen Lau-
tes ermöglicht in der unmittelbaren Rückbindung des Sagen-Wollens eine
absolute Präsenz der Bedeutung im Bewußtsein: „Diese Tilgung des sinn-
lichen Körpers und seiner Äußerlichkeit ist für das Bewußtsein die eigent-
liche Form der unmittelbaren Präsenz des Signifikats." (SuP 134) In der
Stimme erweist sich die .Begrifflichkeit' der ausgedrückten Bedeutung
dem Vollzug der Bedeutungsintention als unmittelbar präsent. Damit
wird deutlich, daß der „erfüllte Sinn"53 immer nur im lebendigen Voll-
zug, in der „lebendigen Gegenwart" (SuP 142) als Stimme aufzufinden
ist.36
Für Derrida weist der lebendige und unkörperliche Vollzug der Stim-
me im Husserlschen Denken große Affinität zum Vollzug der Bedeu-
tungsintention qua erfülltem Logos auf. Diese Qualität der Stimme weist
allerdings auf eine andere Dimension als ihre schlicht materiell lautliche
Seite hin: „Denn nicht der Lautsubstanz oder der physischen Stimme,
dem Körper der innerweltlichen Stimme, mißt er [Husserl] eine ur-
sprüngliche Affinität mit dem Logos überhaupt bei, sondern der
menologischen Stimme, der Stimme in ihrem transzendentalen Leib, dem
Atem, der intentionalen Beseelung, die aus dem ,Körper' einen ,Leib',
eine .geistige' .Leiblichkeit' macht. Die phänomenologische Stimme ist
jener geistige Leib, der angesichts der Absenz von Welt zu sprechen und
sich präsent zu sein - sich zu vernehmen - fortfährt." (SuP 66) (Hervor-
hebungen A. H., bis auf ,sich zu vernehmen'; Übersetzung verändert.)
Mit der Reduktion der Materialität des phonischen Signifikanten vermag
Es gibt eine einfache phänomenologische Erklärung für die Privüegierung der Stimme,
denn entgegen dem Sich-Sehen und dem Sich-Berühren, die beide im Gerichtetsein auf
die Oberfläche meines Körpers als Bezugspunkt im Außen schon mit diesem Außen
verquickt sind, gehört das Sich-Vernehmen (.s'entendre') einer spirituelleren, nicht
mundanen Ordnung an (vgl. SuP 134).
Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Phi-
losophie (Ideen I),hrsg. von Karl Schuhmann, Den Haag 1976, $ 136, S. 316.
Wenngleich auch diese Kritik Derridas an Husserl nicht von der Hand zu weisen ist, so
fällt schon hier auch ein Licht auf die Derridasche Diskreditierung der Begriffe des
.Lebendigen' und des .Lebens', die er als von der .quasi-transzendentalen' Bewegung
der .Schrift' (ecriture) und der .differance' abgeleitet denkt. (Vgl. hierzu SuD 232.)
206 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
In dem viel zitierten $ 24 der Ideen I schreibt Husserl: „Am Prinzip aller Prinzipien daß
jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was
sich uns in der,Intuition originär (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet,
einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre
machen. Sehen wir doch ein, daß eine jede ihre Wahrheit selbst wieder nur aus den
originären Gegebenheiten schöpfen könnte." E. Husserl, Ideen I, a. a. O., $ 24, S. 51.
Derrida schreibt anläßlich der Auseinandersetzung mit Husserls Gedanken zum Pro-
blem der Univozität und der Schrift: Die Schrift ist „nicht mehr nur mundanes oder
mnemotechnisches Hilfsmittel einer Wahrheit, deren Seinssinn an sich auf jede Doku-
mentierung verzichten könnte. Für die ideale Objektivität ist die Möglichkeit oder
Notwendigkeit graphischer Verleiblichung nicht äußerlich und faktisch: sie ist conditio
sine qua non ihrer inneren Vollendung. Sofern sie nicht in die Welt eingraviert ist oder
vielmehr: es nicht sein kann; sofern sie sich zu keiner Verleiblichung eignet, die ihrem
3.1 D A S ZEICHEN UND DIE SCHRIFT 207
ständnis der Schrift als Zweites, Abgeleitetes, als .Supplement', als rei-
ne .Repräsentation' nutzt, um zu belegen, daß in der Generierung von
Bedeutung und Sinn nie eine andere Bewegung am Werk sein kann als
die der .Repräsentation' und der .Supplementarität'. Ursprungslos und
wesenslos steht die stumme Schrift daher gerade für die lautlose und nicht
wahrnehmbare differance, die, amorphe Massen zerschneidend, Inschrif-
ten erzeugt, deren Integration in schon bestehende Textualität unaufhalt-
sam und unendlich voranschreitet. Diesen solchermaßen gewendeten
Schriftbegriff nennt Derrida ,Urschrift' (archi-ecriture): „Die Urschrift
aber wäre in der Form und der Substanz nicht nur des graphischen,
sondern auch des nicht-graphischen Ausdrucks am Werk. Sie soll nicht
nur das Schema liefern, welches die Form mit jeder graphischen oder
anderen Substanz verbindet, sondern auch die Bewegung der sign-func-
tion, die den Inhalt an einen - graphischen oder nicht-graphischen -
Ausdruck bindet. [...] Die Urschrift, Bewegung der differance, irredu-
zible Ursynthese, die in ein und derselben Möglichkeit zugleich die Tem-
poralisation, das Verhältnis zum Anderen und die Sprache eröffnet,
kann, insofern sie die Bedingung für jedes sprachliche System darstellt,
nicht selbst ein Teil davon sein und kann ihm folglich nicht als ein Ge-
genstand einverleibt werden." (Gr 105)
Die Konzeption der .Schrift' ist für Derridas sprachphilosophische
Konzeption entscheidend; vom Paradigma der .Schrift' aus lassen sich
Orientierungspunkte in seinem Denken gewinnen, die auch für eine
Philosophie der Übersetzung entscheidende Richtungshilfen und Lage-
bestimmungen zu geben vermögen. Derridas Auseinandersetzung mit
dem Schriftbegriff beginnt nicht erst in der .Grammatologie' und den
diese vorbereitenden Aufsätzen und Schriften. Sondern - wie schon
angemerkt - in dem 1962 verfaßten Text .Husserls Weg in die Geschichte
am Leitfaden der Geometrie' 5 ' spielt das Paradigma der Schrift eine nicht
reinen Sinne nach mehr ist als bloße Anzeige oder bloßes Kleid, ist die ideale Objekti-
vität noch nicht vollständig konstituiert. Höchste Möglichkeit aller .Konstitution' ist
somit der Akt der Schrift." (HW 110) Hier schon zeigt sich, welch eigentümliche Verfah-
rensweise Derrida für den Schriftbegriff im Anschluß an Husserl vorschlägt.
Dieser Text ist das Vorwort Derridas zur französischen Übersetzung des von Eugen Fink
veröffentlichten Husserl-Textes ,Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als inten-
tionalhistorisches Problem'. Er wurde in die Husserliana als Beilage III der Krisis wie-
deraufgenommen. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die
transzendentale Phänomenologie, (Husserliana Bd. VI), hrsg. von Walter Biemel, den
Haag 1976.
208 3 DEKONSTRUKTTVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
60
E. Husserl, Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie ..., a. a. O., S. 365.
41
E. Husserl, ebd., S. 368.
3.1 DAS ZEICHEN UND DIE SCHRIFT 209
ner völligen Kongruenz von Ausdruck und Bedeutung als .ideale Objek-
tivität' setzt Husserl allerdings nicht nur für eine Sprache geometrischer
und wissenschaftlicher Wahrheiten voraus, sondern sieht sie wesentlich
-wie schon in den .Logischen Untersuchungen' - auch als Konstitutivum
der Sprache überhaupt. 62 So präzisiert Husserl, daß der „weiteste Begriff
der Literatur" alle idealen Gegenstände umfaßt und daß es zum „objek-
tiven Sein" der Literatur gehört, „immer wieder ausdrückbar" zu sein,
daß sie als .Bedeutung' „Für-jedermann-Dasein zu haben" ist; dies ge-
währleistet - für die „objektiven Wissenschaften" im besonderen - , „daß
für sie der Unterschied zwischen der Originalsprache des Werkes und
der Übersetzung in fremde Sprachen die identische Zugänglichkeit" 63
nicht aufhebt. Dies bedeutet natürlich, daß die .idealen Objekte' „nur
in der Sprache überhaupt", „nicht aber in der Faktizitat einer bestimm-
ten Sprache und ihren zugehörigen sprachlichen Verkörperungen,
verwurzelt sind" (HW 88). Mit dieser Opposition von „Sprache über-
haupt" und „sprachlicher Verkörperung" scheint wieder eine ähnlich
problematische Konstellation wie die von Anzeichen und Ausdruck be-
rührt: dieser Körper und dieses Zeichenmaterial gilt Husserl eher als ein
„Übertragungsmedium, in das Sinn eingeht und aus dem Sinn hervorgeht,
in dem er sich aber nicht erst herausbildet".64 Für die Bewegung der
Übersetzung legt dies mithin die absolute Übertragbarkeit des idealen
Sinns der Ausgangssprache nahe, da dem zeidich und räumlich eingebet-
teten Zeichenmaterial der Zielsprache einzig die Funktion eines ausge-
tauschten Vehikels zugebilligt wird. Es wurde jedoch bereits in der Aus-
einandersetzung mit Saussure deutlich, daß die Übersetzung immer
Übertragung von einem Relations- und Wertgefüge in ein anderes vor-
nimmt und somit auch die materielle Seite des Zeichens in seiner differen-
tiellen Bedingtheit von erheblicher Bedeutung ist.65
" Der Gedanke eines solchermaßen projektierten .vollständigen Ausdrucks' ist allerdings
unhaltbar. Merleau-Ponty weist mit Nachdruck darauf hin: „Wenn wir nun aber die
Vorstellung von einem ursprünglichen Text aufgeben, dessen Übersetzung oder chiffrierte
Version unsere Sprache wäre, werden wir erkennen, daß die Vorstellung von einem
vollständigen Ausdruck unsinnig ist, daß jede Rede indirekt oder anspielend und, wenn
man so will, Schweigen ist. Die Beziehung des Sinnes zum Sprechen kann nicht mehr
jene Entsprechung Punkt für Punkt sein, die wir immer vor Augen haben." M. Merleau-
Ponty, Das Auge und der Geist, a. a. O., S. 73.
" E. Husserl, Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie, a. a. O., S. 368.
M
Bernhard Waldenfels, Der Sinn zwischen den Zeilen, in: ders.: Der Spielraum des Ver-
haltens, Frankfurt a. M. 1980, S. 172.
65
Vgl. F. de Saussure, a. a. O., S. 261, 2 IV $2 al. 13, 166(160).
210 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
So läßt sich für Husserl behaupten, daß dem Wort Identität und ideale
Objektivität zukommt, gerade weil es sich nicht mit seinen Materiali-
sierungen phonetischer, graphischer und empirischer Art deckt. Das
Wort bleibt durch alle Verwendungssituationen und Sprechakte hin-
durch dasselbe. Husserl nennt ein Beispiel: „z. B. das Wort ,Löwe'
kommt in der deutschen Sprache nur einmal vor, es ist Identisches sei-
ner unzähligen Äußerungen beliebiger Personen".66 Hier wird deutlich,
daß Husserl von einer „spontanen Neutralisierung" der faktischen und
der empirischen Dimension der Sprache ausgeht, womit die Sprache als
eine Art „unmittelbare Eidetik" inauguriert wird, in der die Reduktion
auf den reinen Wesensbestand implizit vollzogen wird. Derrida führt
allerdings bei den in der sprachlichen Reduktion immer schon gewon-
nenen idealen Objektivitäten eine Differenzierung ein, die eine erste Stufe
idealer Objektivitäten von einer zweiten und dritten unterscheidet -wel-
ches eine für die Problematik der Übersetzung nicht unwichtige Vor-
überlegung im Anschluß an Husserl ist.
So stellt Derrida fest, daß nur in der Immanenz einer faktisch histori-
schen Sprache der Name,Löwe' hinsichtlich seiner empirischen, pho-
netischen und graphischen MaterialisierungTraund ideal ist. Da er aber
innerhalb der deutschen Sprache auftaucht, ist er einer konkreten Raum-
zeitlichkeit verpflichtet, die noch konstitutiv ist für seine ideale Objek-
tivität. „Seine ideale Objektivität ist daher relativ und unterscheidet sich
nur wie eine empirische Tatsache von der des Wortes ,Lion'."(HW 92)
Dieses wäre die erste Stufe einer idealen Objektivität des Wortes, von der
eine zweite zu unterscheiden wäre, die Derrida wie folgt beschreibt: „So-
bald wir aber von dem Wort zur Sinneseinheit ,Löwe, vom ,Ausdruck'
zu dem, was Husserl in den Logischen Untersuchungen den ,intentionalen
Gehalt' oder,die Einheit der Bedeutung' nennt, übergehen, haben wir
eine höhere Stufe - nennen wir sie die zweite - idealer Objektivität er-
reicht. Derselbe Inhalt kann in verschiedenen Sprachen intendiert wer-
den, und seine ideale Identität sichert seine Uberselzbarkeit." (HW 9 3 /
94; nur ,Übersetzbarkeit' hervorgehoben, A. H.) Eine solche Übersetz-
barkeit ist nur durch die ideale Identität des Sinns gewährleistet, die von
der phonischen und graphischen Materialisierung der Sprache (Lion,
Leo, Löwe etc.) selbst befreit ist. Da aber der,Löwe'- wie Derrida fest-
stellt - keine ,1'erstandesgegensländlichkeit', sondern vielmehr ,Gegen-
E. Husserl, Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie, a. a. O., S. 368.
3.1 DAS ZEICHEN UND DIE SCHRIFT 211
stand der Rezeptivität' ist67, „wirkt sich die Kontingenz des Löwen auf die
Idealität des Ausdrucks und des Sinns aus", denn es ist ganz ohne Zweifel
ein erheblicher Unterschied, ob überhaupt, wann und wo ich einen Lö-
wen so oder anders gesehen habe. Die Idealität des Sinns bleibt folglich
auf eine empirische Subjektivität angewiesen. Aus diesem Grunde auch
ist die „Übersetzbarkeit des Wortes Löwe [...] keine prinzipiell absolu-
te und universale" (ebd.). Derrida treibt hier aus der von Husserl vor-
geschlagenen Opposition von,Verslandesgegenständlichkeit' und,Gegen-
stand der Rezeptivität' eine Zuständigkeit für das Problem der Überset-
zung hervor, die im Husserlschen Ursprung der Geometrie nur implizit
zu finden ist. Deutlich aber verweist Husserl hier auf die absolute und
irreduzible ideale Objektivität der Geometrie, welche Derrida in der
vorgeschlagenen Stufenfolge die dritte Idealität nennt. Diese ist nicht
mehr ideale Objektivität, die an die Einheit eines Ausdrucks oder eines
intentionalen Gehalts gebunden ist, die mithin noch faktischer Kontin-
genz unterworfen wäre, sondern sie ist Idealität des Gegenstandes selber:
„Der Phytagoräische Satz, die ganze Geometrie existiert nur einmal, wie
oft sie und sogar in welcher Sprache immer sie ausgedrückt sein mögen.
Sie ist identisch dieselbe in der .originalen Sprache' Euklids und in al-
len .Übersetzungen'; in jeder Sprache abermals dieselbe, wie oft sie sinn-
lich geäußert worden ist, von der originalen Aussprache und Nieder-
schrift an in den zahllosen mündlichen Äußerungen oder schriftlichen
und sonstigen Dokumentierungen."68
Im Ausgang von der idealen Gegenständlichkeit der Geometrie sieht
Husserl eine absolute und unendliche Übersetzbarkeit gewährleistet, die
- und das hat wohl auch Husserl gesehen - natürlich nicht ohne weite-
res für die Übersetzung von Sprache gelten kann. Sicherlich aber gilt
67
In einer Fußnote zur Unterscheidung von .Verstandesgegenständlichkeit' und .Gegen-
stand der Rezeptivität' bezieht sich Derrida auf die SS 63 und 64 von Husserls Erfah-
rung und Urteil „Der Unterschied zwischen diesen beiden Typen von Objektivität, der
auf den zwischen idealer Gegenständlichkeit und realem Gegenstand zurückgeht, wird
in Erfahrung und UrteiKS 63, S. 299 f.) ausführlich beschrieben. Die Verstandesgegen-
ständlichkeiten sind von .höherer Stufe' als die der Rezeptivität. Sie sind nicht, wie die
letzteren, in der reinen Passivität sinnlicher Rezeptivität, sondern in der prädikativen
Spontaneität vorkonstituiert. [...] Ein weiterer Unterschied ist der ihrer Zeitlichkeit
(S 64). Während der reale Gegenstand seine individuelle Stelle in der objektiven Weltzeit
hat, ist der irreale Gegenstand hinsichdich letzterer total frei, das heißt .zeitlos'. Aber
seine .Zeitlosigkeit' oder seine .Überzeitlichkeit' sind nur ein .Modus' der Zeitlichkeit:
.Allzeitlichkeit'." (HW94)
** E. Husserl, Der Ursprung der Geometrie, a. a. O., S. 368.
212 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
Zwar bemüht sich Husserl gerade in der ,Krisis' um die Rehabilitierung der .Lebenswelt'
und der .okkasionalen Rede', aber Idealisierungstendenzen fließen doch gerade in die
.Wissenschaft von der Lebenswelt' ein. So schreibt Waldenfels: „Es ist erstaunlich zu
sehen, wie alles, was zuvor den Wissenschaften abgezogen wurde, nun der philosophi-
schen Vernunft auf andere Weise gutgeschrieben wird. Der naiven, traditionellen All-
tagswahrheit tritt eine allgültige Wahrheit gegenüber (Kr 332 f.); die offene Endlosigkeit
der Erfahrungswelt verwandelt sich in die Unendlichkeit theoretischer und praktischer
Ideen, die einen Idealisierungsprozeß auslösen (KR 335); die Relativität und Situiertheit
der Alltagserkenntnisse wird der Universalität von Geltungsansprüchen unterworfen "
B. Waidenfels, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt a. M. 1985, S. 41.
J. Derrida, S'ü y a lieu de traduire IL Les romans de descartes ou l'economie des mots,
in: ders., Du droit ä la philosophie, Paris 1990, S. 337 (im folgenden: Dap).
3.2 DEKONSTRUKTIVE ÜBERSETZUNG 213
Alle Bedeutung, die auf ein differentielles System von Zeichen verwie
sen ist, beginnt paradoxerweise mit einer Äquivozität. Der Mythos vom
Turmbau zu Babel benennt diese Paradoxie.
71
J. Derrida, Labyrinth und Archi/Textur (ein Gespräch mit Eva Meyer), in: Das Aben-
teuer der Ideen. Architektur und Philosophie seit der industriellen Revolution, Aus-
stellungskatalog, Berlin 1984, S. 103 (im folgenden AT).
3.2 DEKONSTRUKTTVE ÜBERSETZUNG 215
und der auch einem Wort gleicht, das Verwirrung und Konfusion bedeu-
tet (vgl. ugr 28). Mit der Stiftung des Namens und des Wortes Babel
entzweit Gott die gemeinsame Sprache der Turmbauer und schafft eine
irreduzible Vielheit der Sprachen, die die Einheit und Totalität des Ver-
stehens für immer verhindert. Da es sich um den Ursprung der Vielfalt
der Sprachen handelt, verurteilt Gott die Menschen zur Übersetzung.
Einerseits müssen sie so „auf den Plan der Herrschaft durch eine Spra-
che, die eine universelle wäre, verzichten" (AT 103), andererseits ent-
springt dieser gewaltsamen Gabe Gottes die Sprache selbst. Denn mit der
Entzweiung und der Differenz, die Gott in die Sprache einschießen läßt,
werden Sinn und Bedeutung allererst möglich.
Die Differentialität der sprachlichen und symbolischen Ordnung, die
nach Derrida Möglichkeitsbedingung aller Bedeutung ist, zieht folglich
mit einem Ereignis in die Welt ein, das zugleich Stiftung und Verhinde-
rung sprachlichen Verstehens ist, das zugleich Einschreibung der Ent-
zweiung und Bedingung der Übersetzung der Sprachen ist, das zugleich
radikaler Bruch mit der vorbabelschen Tradition und Gebot eines histo-
rischen Prozesses der Sprache ist. Natürlich stehen einerseits Saussure,
Husserl und Heidegger Pate bei diesem Blick auf das Babelsche Ereig-
nis, andererseits sollte aber auch nicht unbeachtet bleiben, daß Derrida
hier die Interpretation eines biblischen Textes entwirft und daß diese
Interpretation in vielem an die jüdisch-mystische Beurteilung des Babel-
mythos erinnert. Die Entzweiung der Sprache(n), die irreduzible Vielheit
der Sprache(n) und die tiefe Inkommensurabilität von Sprechen und
Verstehen als noch unerlöster Sündenfall der Menschheit in Babel un-
terliegen im Derridaschen Denken nicht einer geistigen und rationa-
len Versöhnung, wie dies in einer nachweisbar christlichen Theorie-
tradition geschieht: Es ließe sich daher zeigen, daß das .Pfingstwunder'
im Derridaschen Denken nichts gilt; die ,geist(ige)(liche)' Versöhnung
in den universalsprachlichen Konzeptionen Descartes', Leibniz', Hegels
etc. (und diese Reihe ließe sich als sprachliche Theologie bis zu Sprach-
und Kommunikationstheoretikern der Gegenwart fortsetzen) weicht im
Denken Derridas der Perspektive der Unerlöstheit der ursprünglichen
Verschuldung in der jüdischen Tradition72, die in diesem Zusammenhang
Besonders in diesem Zusammenhang ist die Nähe Derridas zum Benjaminschen Sprach-
denken erstaunlich. Die ganze Sprach- und Übersetzungstheorie Benjamins hat gezeigt,
wie präsent der Gedanke der Inkohärenz, der Zerstreuung und der Sinnzerstückelung
in sprachlichen Ordnungen in seinen Schriften ist.
216 3 DEKONSTRUKTWE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
" J. Derrida, Schibboleth. Für Paul Celan, übers, von W. S. Baur, Graz und Wien, S. 64
(im folgenden: Si).
14
Geoffrey Bennington schreibt, den Gedankengang Derridas kommentierend - und er-
weiternd - , daß die Eigennamen der Übersetzung „in dem Maße unbedürftig zu sein"
scheinen, „in dem sie bereits der Ebene einer universalen absoluten Referenz angehören
- was auf die Annahme hinausliefe, das absolut Unübersetzbare sei absolut übersetzbar
oder immer schon übersetzt". Geoffrey Bennington, a. a. O., S. 179.
3.2 DEKONSTRUKTIVE ÜBERSETZUNG 217
" Derrida gibt ein anschauliches Beispiel: „Der Name .Pierre' gehört der französischen
Sprache an, und seine Übersetzung in eine fremde Sprache muß im Prinzip seinen Sinn
transportieren. Das ist nicht mehr der Fall für .Pierre', dessen Zugehörigkeit zur fran-
zösischen Sprache nicht gesichert ist und auf jeden Fall nicht von derselben Art ist. Peter
ist in diesem Sinne keine Übersetzung von Pierre, genausowenig wie Londres eine
Übersetzung von London ist, etc." (Ps 209)
76
Vgl. zur Problematisierung des .Namens' auch das Paradigma des .Eigenen', welches
in einen .Propriationsprozeß' verwoben ist, den Derrida die „Geschichte der Wahrheit"
nennt. Vgl. J. Derrida, Sporen, in: W. Hamacher (Hrsg.), Nietzsche aus Frankreich.
Essays von Maurice Blanchot, Jacques Derrida, Pierre Klossowski, Phdlippe Lacou-
Labarthe, Jean Luc Nancy und Bernard Pautrat, übers, von R. Schwaderer und W
Hamacher, Frankfurt a. M. und Berlin 1986, S. 155 f. - Vgl. außerdem Ernst Behler,
Derrida-Nietzsche, Nietzsche-Derrida, München, Paderborn, Wien, Zürich 1988,
S. 124 f.
218 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
trennbar miteinander verknüpft sind, und daß gerade diese Zeichen kei-
nen endlichen Sinn anbieten, der identisch in eine andere Sprache über-
tragbar wäre Ans Unendliche stößt der Name, weil er sich, anders als
das sprachliche Zeichen, dem bedeutenden Zugriff und der Funktiona-
lisierung entzieht; er schneidet tiefe und abgründige Löcher in die Ord-
nung identischer Bedeutungen und übernimmt damit einen ähnlichen
Status, wie ihn Husserl dem .Anzeichen' als nicht-intentionale und pri-
mär körperliche Äußerung zuweist. Im Ereignis Babels als der Gabe des
Namens Gottes sieht auch Derrida diese Grenze zwischen Endlichem
und Unendlichem, zwischen Körper und Geist, zwischen Ausdruck und
Bedeutung etc. auftauchen; ein Ereignis, das Derrida - w i e schon deut-
lich wurde - auch als differance bezeichnet und von dem er sagt, daß es
„die Bewegung des Bedeutens" (Rd 39) allererst möglich macht. Eine
Grenze also, die jene ursprüngliche Differenzierung und Artikulation
verzeichnet, welche mit dem Babelschen Sündenfall zugleich zum Ur-
sprung der Sprache selbst wird. Der übersetzungsphilosophische Essay
,Des tours de Babel' Derridas von 1980 trägt eine Lektüre an den Ben-
jaminschen Aufsatz ,Die Aufgabe des Übersetzers' heran, die einerseits
besonders die sprachphilosophischen Modelle, mit denen Derrida seit
seinen ersten Arbeiten operiert, luzide werden läßt und die andererseits
deutlich zeigt, daß die Derridasche .Übersetzungstheorie' auf die Benja-
minschen Vorarbeiten verwiesen bleibt. Die .Dominanz' der Benjamin-
schen Metaphern ist im Derridaschen Text kaum zu übersehen.
Eine der Benjaminschen Metaphern exponiert Derrida besonders
deutlich. Es handelt sich dabei um eine Metapher, die das von Benjamin
als das .Unberührbare' der Übersetzung bestimmte - welches unmittel-
bar mit dem bereits freigelegten Paradigma der „Art des Meinens" im
Benjaminschen Text zusammengeht - versinnbildlichen soll. Dieses .Un-
berührbare' der Übersetzung ist das, „was an einer Übersetzung mehr
ist als Mitteilung", das, „worauf die Arbeit des wahren Übersetzers sich
richtet", und das, was an der Übersetzung „selbst nicht wiederum über-
setzbar ist" (IV 15).
Dies ausführend, lautet die Metapher Benjamins wie folgt: „Es [das
Unberührbare, A. H.] ist nicht übertragbar wie das Dichterwort des
Originals, weil das Verhältnis des Gehalts zur Sprache völlig verschie-
den ist in Original und Übersetzung. Bilden nämlich diese im ersten eine
gewisse Einheit wie Frucht und Schale, so umgibt die Sprache der Über-
setzung ihren Gehalt wie ein Königsmantel in weiten Falten." (Ebd.)
Welche Hinweise gibt diese Metapher auf das Unberührbare, das ganz
3.2 DEKONSTRUKTIVE ÜBERSETZUNG 219
offensichtlich mit der Beziehung des „Gehalts zur Sprache" zu tun hat?
Derrida sieht in der Beziehung von Gehalt und Sprache jene Dichotomie
gegeben, die Benjamin im selben Aufsatz schon Symbolisiertes und Sym-
bolisierendes genannt hatte77 und die sich an die sprachtheoretischen
Modelle, mit denen Derrida in der Tradition Saussures arbeitet, der
Unterscheidung von Bedeutendem/Bedeutetem und signifie/signifiant
annähern lassen. Von diesen Distinktionen ausgehend, wird deutlich,
daß, wenn Benjamin das Bild der „Einheit von Frucht und Schale" für
das Original wählt, er davon ausgeht, daß im Original die Bindung von
Symbolisierendem und Symbolisiertem sehr eng und beinahe untrennbar
ist, während hingegen die Versinnbildlichung der Übersetzung als Ver-
hältnis von König (Gehalt) und Königsmantel (Sprache) nahelegt, daß
das Symbolisierende das Symbolisierte weitläufig und leicht von ihm
lösbar umgibt.78 Benjamin nennt diese Beziehung, die das eigentlich
Unberührbare und Unübersetzbare an Übersetzung und Original aus-
macht, das Verhältnis von Gehalt und Sprache, auch den „wesenhaften
Kern" von Original und Übersetzung. Mit diesem Kern beschäftigen sich
auch Derridas Erläuterungen zu den Benjaminschen Metaphern: „Ent-
rinden wir die Rhetorik dieser Sequenz ein bißchen mehr. Es ist nicht
sicher, daß der wesentliche ,Kern' und die .Frucht' dieselbe Sache be-
zeichnen. Der wesentliche ,Kern', der in der Übersetzung nicht aufs neue
übersetzbar ist, das ist nicht der Gehalt, sondern diese Verwachsung
zwischen dem Gehalt und der Sprache, zwischen der Frucht und der
Schale. Das kann fremd oder inkohärent erscheinen (wie könnte ein Kern
77
Sicherlich ist die Analogie der Oppositionen Symbolisierendes-Symbolisiertes und In-
halt-Ausdruck nicht von der Hand zu weisen. Sie konstituiert gerade eine der ent-
scheidendsten Verknüpfungen zwischen dem Benjaminschen und dem Derridaschen
Text. Aber der Begriff der Form im Essay Benjamins (seine Herkunft aus dem progres-
siv-dynamischen Formbegriff der Frühromantik - Form als der „gegenständliche Aus-
druck der dem Werk eigenen Reflexion" (I 73, vgl. auch I 76) - wurde schon freige-
legt) hat wenig mit einem Formbegriff zu tun, der in der semiologischen Tradition Form
als Außenseite in Gegensatz zur Inhaltsseite eines Zeichens bringt. Dies allerdings
scheint Derrida zu unterstellen, wenn er schreibt: „Benjamin begann auch, indem er
sagte: die Übersetzung ist eine Form, und die Spaltung Symbolisierendes/Symbolisiertes
organisiert seinen ganzen Essay." (Ps 228)
71
Derrida hält es auch nicht für ganz unwesentlich, daß Benjamin für die Metapher des
Originals ein naturalistisches Bild und für die Metapher der Übersetzung ein künstli-
ches BUd wählt. So daß die Vermutung naheliegt, daß die Einheit des Originals eine
ursprünglichere und natürlichere Einheit von Gehalt und Sprache darstellt, während
hingegen die Einheit der Übersetzung als eine artifizielle und .symbolische' figuriert
(vgl. Ps 228).
220 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
sich zwischen Frucht und Schale schieben). Man muß ohne Zweifel den-
ken, daß der Kern zunächst die harte und zentrale Einheit ist, die die
Frucht an der Schale haften läßt, sowie die Frucht an sich selbst; und
vor allem, daß im Herzen der Frucht der Kern .unberührbar' ist, uner-
reichbar und unsichtbar." (Ps 226)
Der ,Kern' also ist Metapher einer gewissen Einheit von Gehalt und
Sprache im Original, ersteht für die Unerreichbarkeit und Unübertrag-
barkeit des Verhältnisses von Gehalt und Sprache, denn da der Sprache
der Übersetzung als Symbolisierendes (signifiant) ein Symbolisiertes
(signifie) aus der Ausgangssprache (Original) zugewiesen wird, modi-
fiziert und verschiebt sich das Verhältnis der Ausdrucksseite und der
Bedeutungsseite des Zeichens. Die Unmöglichkeit, eine Bedeutung zwi-
schen zwei differenten artikulatorischen Systemen identisch zu übertra-
gen, liegt ganz offensichtlich darin begründet, daß im Prozeß des Über-
setzens sich „die Distanz zwischen den Identitäts- oder Berührungspunk-
ten von Signifikant und Signifikat" (SuD 321) unaufhörlich vergrößert.
Diese Beziehung von Signifikant und Signifikat ist - wie in der Saussure-
schen Unterscheidung von Bedeutung (signifie) und Wert (valeur) deut-
lich wurde - entscheidend an die Beziehung der Zeichen (Signifikant-
Signifikant) innerhalb der jeweiligen Sprache gebunden. In den einzel-
nen Sprachen ist es gerade die Beziehung der Zeichen zueinander, die
eine intime Verbindung der Zeichen zum Bezeichneten suggeriert. So
weist Merleau-Ponty darauf hin, daß, wenn „das Französische uns als
Abdruck der Dinge erscheint, so nicht deshalb, weil es so ist, sondern
weil es uns durch die innere Beziehung zwischen den Zeichen diese Il-
lusion vermittelt". 79 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß die
Übersetzung zwar möglich ist, daß sie aber „prinzipiell und endgültig
begrenzt" (ebd.) scheint; dies schreibt Derrida 1966 in ,Freud und der
Schauplatz der Schrift'.
Bezogen auf das Verhältnis von Gehalt und Sprache in der Überset-
zung, konstatiert Benjamin, daß die Sprache der Übersetzung „eine hö-
here Sprache" bedeutet, „als sie ist und [...] dadurch ihrem eigenen
Gehalt gegenüber unangemessen, gewaltig und fremd" (IV 15) bleibt.
Diese Darstellung gehört natürlich zur Metapher des Königsmantels, der
als Sprache den Gehalt in weiten Falten umgibt. Wie kommentiert Der-
rida diese zweite Metapher? Er schreibt: „Der König hat wohl einen
7
* M. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, a. a. O., S. 73.
3.2 DEKONSTRUKTIVE ÜBERSETZUNG 221
Körper, [...] aber dieser Körper ist nur versprochen, angekündigt und
verborgen (dissimule) durch die Übersetzung. Das Gewand sitzt, aber
schnürt die Person des Königs nicht streng genug ein. Das ist keine
Schwäche, die besten Übersetzungen ähneln diesem Königsmantel. Er
bleibt getrennt von dem Körper, mit welchem er sich dennoch verbin-
det [...]" (Ps 226) Allerdings - und auch Derrida gesteht dies zu - schießt
eine Fremdheit und Monstrosität in die Übersetzung ein, die paradoxer-
weise erst das Unberührbare und Unsichtbare ahnen läßt. An ihm näm-
lich ist der wahre Übersetzer interessiert, der folglich bemüht sein muß,
die Fremdheit von Ausdruck und Sinn in der Übersetzung möglichst
intensiv zu entwickeln. (Daß die Konzeption Benjamins einer literalen
und allegorisierenden Übersetzung ein solches Einfließen der Fremdheit
vorsieht, ist ausführlich entwickelt worden.) Mit dieser Fremdheit arti-
kuliert sich erst die Differenz von Original und Übersetzung und findet
sich eine Achtung der Fremdheit und Andersheit der Sprache des Ori-
ginals. Ingold konstatiert dem Verwandtes: „Für den Übersetzer ist das
jeweils vorliegende Original ein Fremdtexf, und ebenso bleibt, mit Be-
zug auf das Original, die Übersetzung, vom Übersetzer in seiner eigenen
Sprache verfaßt, ein Fremdtext."80 Der übersetzte Ausgangstext erscheint
in der Zielsprache als Fremdtext, als ein Text, in dem Ausdruck und
Bedeutung einander fremd zu sein scheinen.
Gerade die Fremdheit der Übersetzung aber gilt Benjamin als der
„endgültigere Sprachbereich", in den das Original zwar übertragen wer-
den kann, von dem aus es dann aber nicht weiter übersetzt und verscho-
ben werden kann. Dies bedeutet natürlich, daß es in diesem Sinne, wie
Derrida und Benjamin gleichermaßen feststellen, keine „Übersetzung der
Übersetzung" geben kann. Das Original kann nur „immer von neuem
und an anderen Teilen" (IV 15) in den definitiveren Sprachbereich der
Übersetzung erhoben werden. Verständlich wird dies vor dem Hinter-
grund, daß Relationen und Zwischenräume in der Übersetzung übertra-
gen, verschoben und ausgestreut werden und nicht etwa außersprach-
liche Bedeutungen oder Sinneinheiten die Übertragung zu steuern und
zu regulieren vermögen. Die Fremdheit des Originals vermag nur ein-
mal übersetzt und erfahren zu werden, bei einer weiteren Übertragung
wird durch erneute und andersartige Textbewegungen und Textver-
Felix Philipp Ingold, Üb er's: Übersetzen (Der Übersetzer, die Übersetzung), in: Mar-
tin Meyer, Vom Übersetzen, München und Wien 1990, S. 153.
222 3 DEKONSTRUKTTVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
nen zum Fremden und vom Fremden zum Fremden, ohne doch als Frem-
des oder als Eigenes in einer anderen Sprache benannt werden zu kön-
nen. Als selbst bedeutungslose Einschneidung und als Stiftungsereignis
eines diakritischen Unterschiedes verhält sich das Schibboleth seiner
eigenen Einsetzung gegenüber allerdings indifferent.81 Und doch wird
diese Einsetzung von einer .Nicht-Indifferenz' und .Ausgesetztheit'82
gegenüber dem Anderen getragen, die die Sprache im allgemeinen und
die Übersetzung im besonderen auf ein soziales Fundierungsgeschehen
gründen. Das Schibboleth steht so für eine tiefe Verbindung und Einheit
- und zugleich für eine Trennung und eine radikale Zäsur. Aus diesem
Grunde schlägt Derrida vor, Schibboleth durch .partage' und/oder,sym
bolon' komplementierend zu übersetzen - was „jedoch keinerlei lingui-
stisch-historische Daseinsberechtigung, keine etymologische Notwendig-
keit besitzt" (Si 69).
In den Bedeutungen von partage wird erneut die Grenze sichtbar, die
in Schibboleth zur sinnlos vereinigenden und trennenden Grenze wird:
partage vermag im Französischen einerseits Teilung, Differenz, Tren-
nungslinie, Spaltung und Zäsur, andererseits aber auch Teilnahme und
Teilhabe zu bedeuten. Wie in Schibboleth kommen in partage Zugehö-
rigkeit zu einer Sprache und Trennung durch eine Sprache zusammen.
Symbolon ist auch eine komplementäre Übersetzung von Schibboleth, die
ähnlich und doch anderes bedeutet. In Symbolon liegt das Gewicht der
Bedeutungen weniger in der Verschränkung von Trennung und Einheit,
sondern Symbolon ist das „Zeichen der bindenden Zusage", „des Ver-
sprechens" und „des Ringes" (ebd.). Symbolon betont den Aspekt der
Zusammengehörigkeit und des stillen gemeinschaftlichen Abkommens.
Aber auch das deutsche Wort Losung kommt im Derridaschen Text vor:
die militärische Losung ist ein Schibboleth, das als Erkennungszeichen
einerseits auf die Grenze und ihre (Nicht-)Überschreitbarkeit und an-
dererseits auf eine gewisse Zugehörigkeit verweist.
11
Licht bringt Hent de Vries in diese Problematik, wenn er auf die Gefahr hinweist, daß
das Schibboleth „schließlich entwertet oder trivial zu werden vermag", und dies gera-
de, weil es sich indifferent gegenüber der Situation verhält, in welcher es einen dia-
kritischen Wert markiert, denn es kann sowohl zum „Zeichen eines diskriminierenden
Ausschlusses statt eines solidarischen und emanzipatorischen Bündnisses werden". Hent
de Vries, Das Schibboleth der Ethik, in: Michael Wetzel und Jean-Michel Rabate (Hrsg.),
Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida, Berhn 1993, S. 64.
82
Vgl. Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder Anders als Sein geschieht, übers, von
T. Wiemer, Freiburg und München 1992, S. 116 f.
3.2 DEKONSTRUKTIVE ÜBERSETZUNG 225
" Derrida schreibt über die Losung „No Pasarän: la Pasionaria, das Nein zu Franco, zur
von den Mussolini-Truppen und der Legion Condor Hitlers unterstützten Falange.
Losungsschrei oder -schrieb, gebrüllte Parole und Transparent während der Belagerung
von Madrid; drei Jahre später wurde no pasarän ein Schibboleth für das republikanische
Volk, für seine Verbündeten, für die Internationalen Brigaden." (Si 52)
226 3 DEKONSTRUKTTVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
M
Horst Turk kommt in seiner Betrachtung des Derridaschen Übersetzungsdenkens zu
einer ähnlichen Schlußfolgerung: „Translations [...] which directly relate to the idio-
maticity of a language in lts narrowest as well as in its broadest sense from articulation
up to non-linguistic historical data, such translations do not simply appear as a translation
in a poem - a fact which is proved by Derrida's essay. Whereever they appear, - as we
are looking at them from the point of view of a theory of translation - we do not have to
consider the question of translation and translatability of texts but the question of
translation and translatability within texts and this is - to put it more precisely - the
question of a language of translation." H. Turk, The Question of Translatability: Ben-
jamin, Quine, Derrida, in: Dennis J. Schmidt (ed.), Hermeneutics and Poetic Motion,
(Translation Perspectives V), Binghamton 1990, S. 49 f.
3.2 DEKONSTRUKTWE ÜBERSETZUNG 227
15
Die in diesem Sinne bestimmte .reine Sprache' Benjamins ist mithin sehr deutlich durch
einen konstruktiven Aspekt und nicht allein als .Destruktivität' zu erfassen. Vgl. Bettine
Menke, a. a. O., S. 104.
96
An dieser Stelle wird deutlich, wie Derrida beabsichtigt, die im Benjaminschen Über-
setzeraufsatz auftauchenden Begriffe wie .intentionaler Sinn' oder .intentionale Absicht'
- mit welchen auch die Begriffe des .Gemeinten' und der .Art des Meinens' eng ver-
bunden sind - zu verwenden. Zwar weist er an anderer Stelle darauf hin, daß sie im
Benjaminschen Übersetzeraufsatz eine „nicht immer klare Rolle" (Ps 232) spielen.
Gerade Derrida, der in seiner Husserlkritik jede Fixierung auf Intentionalität als vor-
228 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
zielt - wie Derrida hier unmißverständlich deutlich macht - auf das Er-
eignis der Sprache selbst. Nicht also auf eine Summierung der Sprachen,
um eine verlorene Einheits- und Ursprache wiederherzustellen, läuft die
.harmonische Ergänzung' der .Arten des Meinens' hinaus.
In der Ergänzungsarbeit der Übersetzung hallt die reine Sprache als das
Ereignis der Sprache selbst wider. Und mit Derridas Worten - der sich
selbst allerdings mit einer solchen Analogisierung in seiner Benjamin-
Lektüre zurückhält - ließe sich sagen, daß dieses Ereignis dasjenige der
Einschreibung der Differenzen in den Körper der Sprache ist, also dasje-
nige der differance, daß das Ereignis der Urschrift (archi-ecriture) und
der Ur-spur (archi-trace) zugleich ist. In dem Prozeß der Übersetzung
würde diese Auslöschung, Neueinschreibung und Verschiebung von
Differenzen als differance in exemplarischer Weise sichtbar werden. Der
ergänzte Text ließe sich daher auch nicht als präsenter und einem Be-
wußtsein zugänglich bedeutender Text denken, er wäre aus reinen Spu-
ren und reinen Differenzen gewoben, er wäre zu denken als die „Bewe-
gung der differance, irreduzible Ursynthese, die in ein und derselben
Möglichkeit zugleich die Temporalisation, das Verhältnis zum Anderen
und die Sprache eröffnet", sie „kann, insofern sie die Bedingung für je-
des sprachliche System darstellt, nicht selbst ein Teil davon sein und kann
ihm folglich nicht als ein Gegenstand einverleibt werden" (Gr 105; be-
reits zitiert). Diese differance, die Derrida auch eine,Kraft' (SuD 326)
nennt, wird folglich als Bedingung der Möglichkeit von Sprache, von
Räumlichkeit, von Zeidichkeit und auch der sozialen Beziehung gedacht.
Die unaufhaltsame Einritzung, Einschreibung und Markierung als
schrift zerschneidet ursprünglich die natürliche (amorphe) Materialität
zu einer Welt der Zivilisation und der Übersetzung. Für Derrida ist die-
se Urschrift und diese differance ein Apriori, das als unbedingt und .quasi-
transzendental' inauguriert ist.
Die hier an Derrida notwendige Kritik - die sicherlich auch auf Um-
wegen Benjamin trifft - muß als radikale Kritik eines entscheidenden
Gedankens Derridas verstanden werden: das sich immer wieder im Dia-
sprachliche und präsentische Form ablehnte, müßte entsprechend auf den durch Husserl
und Brentano der Scholastik entliehenen Begriff der Intention reagieren. Aber im Ben
jaminschen Text liest er die .intentionale Absicht' als „nichts die Sprache Transzen-
dierendes". Was die Sprachen in ihrer Ergänzung .intentional beabsichtigen', was sie
als „ihre eigene Art der intentio" (IV 18) ertönen lassen, das ist - wie Derrida sagt -
das Ereignis der Sprache selbst.
3.2 DEKONSTRUKTIVE ÜBERSETZUNG 229
87
Ich greife in diesem Zusammenhang auf eine Bezeichnung des Derridaschen Denkens
durch Jochen Hörisch zurück, dessen Einleitungsaufsatz zur deutschen Übersetzung von
Derridas .Die Stimme und das Phänomen' sich mit der .Ontosemiologie' Derridas be-
schäftigt. Vgl. J. Hörisch, Das Sein der Zeichen und das Zeichen des Sems. Marginalien
zu Derridas Ontosemiologie, in: J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt
a. M. 1979.
** E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg und
München 1987, S. 57.
230 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
97
Es ist natürlich nicht ganz unproblematisch, in diesem Zusammenhang die Begriffe .Kri-
tik' oder .kritisch' zu verwenden, denn gerade sie gehören einem Lektüreverfahren an,
das, mit beiden Beinen in der Metaphysik stehend, von der Möglichkeit inspiriert ist,
daß der Kritiker sich außerhalb des Textes weiß, daß dieser von dort her den Text
ganzheitlich zu überschauen vermag. Davon aber sucht sich die Dekonstruktion mit
Nachdruck abzusetzen.-Vgl. auchj. Derrida, Memoires;für Paul de Man, übers, von
H. D. Gondek, Wien 1988, S. 118 (im folgenden Mm).
232 3 DEKONSTRUKTTVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
" Derrida sieht schon etymologisch eine gewisse Andersheit in das Paradigma der Itera-
bilität verstrickt: „Diese Iterierbarkeit - (Her, ,von neuem', kommt von itera, anders im
Sanskrit, und alles Folgende kann als die Ausbeutung jener Logik gelesen werden, welche
die Wiederholung mit der Andersheit verbindet) strukturiert das Zeichen der Schrift
selbst, welcher Typ von Schrift es im übrigen auch immer sein mag (piktographisch,
hieroglyphisch, ideographisch, phonetisch, alphabetisch, um sich dieser alten Katego-
rien zu bedienen)." (Rd 298) Der Umstand, daß sich Derrida hier auf das Schriftzeichen
bezieht, ändert an der Problemkonstellation nichts. - Vgl. in diesem Zusammenhang
auch Derrida, Limited Inc., S. 42.
97
Vgl. zum Paradigma der .ursprünglichen Wiederholung' auch dasjenige des .ursprüng-
lichen Aufschubs' bei Derrida (SuD 312).
234 3 DEKONSTRUKTTVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
le denkt Derrida allerdings nicht als eine unwandelbare, mit sich identi-
sche Substanz, sondern als Spur zwischen den Zeichen und den Zei-
chenketten, als das „Gleiche, das nicht identisch ist" (Rd 43). Die Spur
wird gerade in der Iteration des Zeichens als das Verhältnis zum Ande-
ren und zum Umweg, in ihr kündigt sich das „ganz Andere [...] als sol-
ches" (Gr 82) an, warum sie auch eine Art Synthese darstellt, die sich
der Logik der Identität allerdings entzieht. In der .ursprünglichen Wie-
derholung', welche mit der ursprünglichen und irreduziblen Differenz
entsteht, konstituiert sich erst die Wiedererkennbarkeit und damit die
.Identität' des Zeichens, eine .Identität' folglich, die keine ist, da sie nicht
- der metaphysischen Logik der Identität entsprechend - von einem
ersten substantiellen Ursprung ableitbar ist, sondern erst in einer Itera-
tion entsteht, deren Ursprung auf immer verloren ist. Diese .Identität'
kommt gewissermaßen aus einem Zwischen, aus einem Anderen, aus
einem Vergangenen, das, an der Spur haftend (Rd 38), eine gewisse
stance minimale von Bedeutung ermöglicht. Gleichwohl bleiben in einer
solchen auf Iteration beruhenden Generierung von Bedeutung die Ver-
schiebung, Modifizierung und Veränderung Konstitutiva der Struktur
der Übertragung von Bedeutung. Aus diesem Grunde scheint es einseh-
bar, warum die Dekonstruktion in der Wiederholung zustande kommt.
Wiederholung, Iteration und Reproduktion sind wesentlich verfloch-
ten in die Ökonomie der Übersetzung. Die Problemkonstellationen der
Iteration und der Reproduktion gelten daher in noch höherem Maße für
die Übersetzung. Wenn die Iteration konstitutiv ist für die .Identität'
eines Zeichens und daher von keiner Instanz aus die Identität der Über-
setzung gewährleistet werden kann, dann ist es evident, daß im Akt der
Übersetzung, in dem eine prinzipielle Unbeherrschbarkeit und Unkon-
trollierbarkeit der erzeugten Sinneffekte der Fall ist, zu der zwischen-
sprachlichen Problematik des Signifikantentauschs diejenige der einfa-
chen Iteration tritt. Besonders für die Übersetzung trifft zu - wie schon
eingehend erläutert wurde -, daß das Signifikat bei seiner Wiederholung
in einer anderen Sprache sich einerseits ursprünglich konstituiert, ande-
rerseits aber Bezüge der Ausgangssprache und des Bedeutungsgefüges
derselben an sich behält; denn da es von seiner Materialität (Signifikant)
und seinem Wert im ausgangssprachlichen Relationsgewebe untrennbar
ist, fügt es sich, sich selbst und die anderen Zeichen modifizierend, in
das zielsprachliche System ein. Mit jeder Übersetzung wird eine Verän-
derung (besser: .alteration') des Beziehungsgefüges eines sprachlichen
Systems inauguriert, die sich notwendig auf die Beziehung im .Innern'
3.2 DEKONSTRUKTIVE ÜBERSETZUNG 235
des Zeichens wie auch auf die Beziehung der Zeichen untereinander
erstreckt. Die neu entstehenden Zeichen der Zielsprache entsprechen
dabei nicht einer „Perspektive absolut klarer, durchsichtiger und eindeu-
tiger Übersetzbarkeit" (Pos 57), sondern generieren, alterieren und ver-
schieben Bedeutung auf eine Weise, die ein Zentrum oder ein .tran-
szendentales Signifikat', welche den Übertragungsprozeß identisch und
univok zu regeln vermöchten, undenkbar machen. Jede Übersetzung
erweist sich daher als dekonstruktiver Prozeß: die aus dem „Spiel der
Differenzen" geborenen Bedeutungen entstehen in der Übersetzung
disseminiert und dezentralisiert aufs neue.
Die von Derrida angelegentlich der Übersetzung und der Iteration frei-
gelegte Struktur der Generierung von Bedeutung und von Identität legt
eine Bewegung frei, in der die metaphysische Hierarchie von Ursache
und Wirkung umgekehrt wird. Nicht eine außersprachlich vorhandene
ideale Bedeutung wird wiederholt, oder eine „ideale Objektivität"
(HW 92) - im Husserlschen Sinne - der Ausgangssprache wird identisch
übertragen - beides gewissermaßen sekundäre Prozesse - , sondern die
Übersetzung selbst und die Wiederholung selbst de-konstruieren Iden-
tität. Das, was also in der metaphysischen Konzeption bisher als Wirkung
und als Verursachtes gedacht wurde, wird in der Dekonstruktion zur Ur-
sache, zum Bewirkenden. Dabei ist es aber kein Zufall, daß Derrida, wenn
er dekonstruierend vorgeht, mit den Kategorien der Metaphysik operiert.
Culler sucht diese essentielle Verfahrenstechnik der Dekonstruktion zu
erhellen: „Um die Kausalität zu dekonstruieren, muß man mit dem Be-
griff der Ursache operieren und ihn auf die Kausalität anwenden. Die
Dekonstruktion beruft sich nicht auf ein höheres logisches Prinzip oder
eine überlegene Vernunft, sondern verwendet genau die Prinzipien, die
sie dekonstruiert. Der Begriff der Kausalität ist kein Irrtum, den die
Philosophie hätte vermeiden sollen oder können, sondern er ist unver-
zichtbar - für die Beweisführung der Dekonstruktion genauso wie für
andere Beweisführungen."98 Dies bedeutet, daß das Prinzip der Kausali-
tät nicht sogleich eliminiert wird, sondern die Derridasche Dekonstruk-
tion in diesem Falle bewußt mit dem Begriff der Kausalität arbeitet. Sie
benutzt ihn, um zu zeigen, daß der hierarchische Gegensatz, auf den er
sich stützt und der das Gerüst der okzidentalen Metaphysik bildet, auf
einem rhetorischen oder tropologischen Verfahren beruht. Culler greift
wie de Man ein Fragment Nietzsches aus dessen Nachlaß als Beispiel auf,
das anschaulich zeigt, wie sich ein solches rhetorisches Verfahren aus-
höhlen läßt: „Nehmen wir einmal an, jemand empfindet Schmerz. Dies
veranlaßt ihn dazu, nach einer Ursache zu suchen; indem er vielleicht
eine Nadel erblickt, postuliert er eine Beziehung und kehrt die wahrge-
nommene oder phänomenologische Ordnung: Schmerz-Nadel um und
erstellt eine kausale Folge: Nadel-Schmerz."99 Das rhetorische Verfah-
ren der Kausalität beruht also darin, daß die Ursache nachträglich ent-
worfen und so die „Chronologie von Ursache und Wirkung umge-
kehrt"100 wird, wie Nietzsche schreibt. Nachweisbar wird hier die .phäno-
menologische Ordnung' von einer Metonymie oder Metalepsis wieder
gegeben, das heißt, die Wirkung wird durch die Ursache ersetzt. Eine
solche rhetorische Umkehrung hat auch - wie das Vorhergehende be-
legt - in den Gegensatzpaaren Bedeutung-Wiederholung und Original-
Übersetzung stattgefunden.
Im Falle der Übersetzung ist dies nun nicht so zu verstehen, daß die
legitime Chronologie von Ausgangstext (Original) und Zieltext (Über-
setzung) einfach umzukehren wäre. Es gilt vielmehr zu zeigen, daß Gren-
zen zwischen Original und Übersetzung fließend sind, daß es keine rei-
ne Differenz zwischen Original und Übersetzung gibt, daß sämtliche
metaphysischen Implikationen des Begriffes des Originals (ursprüngli-
che Schöpfung, einheitliches Bedeutungszentrum, abgeschlossenes Werk
etc.) durch Hinweise bedroht werden, die zeigen, daß mit jeder Repro-
duktion und mit jeder Übersetzung des Originals das .Bedeutungszen-
trum' desselben verschoben, die Grenzen desselben geöffnet und das-
selbe erneut und ursprünglich geschaffen wird. Mit anderen Worten, das
Original wird erneut, anders und unendlich in den Übersetzungen, was
notwendig bewirkt, daß die Übersetzung selbst zu einem ursprünglichen,
einzigartigen und unübersetzbaren Text wird, ihr also eine Vielzahl von
Eigenschaften des metaphysischen Begriffs des Originals durchaus zuzu-
ordnen sind.101 Deutlich wird zudem mittels der dekonstruktiven Be-
102
F. P. Ingold, a . a . O . , S. 144.
"" Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen Derridas zur Verquickung von uni-
versalsprachlichen Ambitionen und imperialer Sprachpolitik im Frankreich des 16. und
17. Jahrhunderts. J. Derrida, Dap 290 f.
238 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
springens ins Jenseits der Gegensätze sind ebenso bekannt wie die der
Einsprüche in Form eines einfachen weder/noch." (Ebd.) Allerdings
weist Derrida auch darauf hin, daß die Arbeit der Dekonstruktion eine
unendliche Arbeit ist, eine Arbeit, die immer von neuem ansetzen muß,
da sich die Gegensatzpaare und die mit ihnen verbundene Hierarchie
immer wieder aufs neue installiert.
Am Beispiel des Gegensatzes von Signifikant und Signifikat zeigt sich
deutlich, auf welch paradoxe Szenerie die Dekonstruktion stößt: einer-
seits belegt sie plausibel die Unmöglichkeit der Trennung von Signifikant
und Signifikat, und andererseits macht sie deutlich, daß „innerhalb der
Grenzen ihrer Möglichkeit" (Pos 57) die Übersetzung die Unterschei-
dung von Signifikant und Signifikat praktiziert. Und zuletzt zeigt sich,
daß es kein Denken und kein Sprechen über die Sprache und die Über-
setzung gäbe, wenn es nicht eine gewisse Trennung von Signifikant und
Signifikat, Ausdruck und Bedeutung gäbe. Es ist daher genau diese
xis, deren sich keine Theorie der Sprache und der Übersetzung letztgültig
zu versichern vermag. Im Innern dieser Praxis und ihrer Ökonomie sucht
sich die Dekonstruktion einzurichten, sucht sie auf Bewegungen und
Prozesse zu reagieren, indem sie die „strukturierte Genealogie" der Be-
griffe der Philosophie, das heißt die Struktur eines Werdens und einer
Praxis der Sprache freizulegen sucht, was die Geschichte der Metaphysik
„verbergen oder verbieten konnte, indem sie sich durch diese irgendwie
eigennützige Repression zur Geschichte machte" (Pos 38). Verborgen
und verboten wurde von dieser Geschichte auch das Draußen der
setzung und ihre intime Beziehung zur Sprachpraxis überhaupt. Die de-
konstruktive Praxis dieser Geschichte beginnt folglich mit der Verber-
gung derselben. Die gesamte Geschichte der Philosophie hat dem Den-
ken der Übersetzung wenig Beachtung geschenkt oder hat sie als akzi-
dentiell oder zweitrangig gegenüber wesentlicheren und ursprüngliche-
ren Sprachprozessen gedacht.
Wie unglaublich diese Mißachtung und Geringschätzung ist, zeigt eine
Untersuchung Heideggers in ,Der Satz vom Grund'. Heidegger reflektiert
in dieser Schrift auf den Satz „Nihil est sine ratio". Die große Bedeutung,
die dieser Satz in der gesamten nachgriechischen Geschichte der Philo-
sophie (und nicht zuletzt besonders seit Leibniz für das neuzeitliche
Denken) eingenommen hat, scheint eine genaue Untersuchung beson-
ders des entscheidenden Wortes dieses Satzes, des Wortes ratio, zu recht-
fertigen. Heidegger denkt dem Weg und der Übersetzung des Wortes
nach: „Grund und Vernunft sind Übersetzungen, d. h. jetzt die ge-
3.2 DEKONSTRUKTIVE ÜBERSETZUNG 239
schichtliche Überlieferung der gegabelten ratio. Die ratio ist die Über-
setzung, d. h. jetzt die geschichtliche Überlieferung des logos. Weil es
so ist, deshalb dürfen wir logos weder aus unseren späteren Vorstellun-
gen von .Grund' und .Vernunft' her, noch auch im Sinne der römischen
ratio denken."104 Das griechische Wort logos wurde also durch das la-
teinische ratio übersetzt, und dieses wird mit den deutschen Wörtern
Grund und Vernunft wiedergegeben. Was aber meint logos zunächst im
Kontext der griechischen Sprache? Das griechische Hauptwort logos
gehört zum Verb legein. Dieses kann übersetzt werden mit: sammeln,
eines zum anderen legen. Einerseits kann logos daher ein .Sich-nach-dem-
anderen-Richten' bedeuten, also ein .Rechnen', das durch das lateinische
Wort ratio wiedergegeben werden kann, andererseits kann logos, etwas
allgemeiner, auch ein .Beziehen von etwas auf etwas' bedeuten und kann
daher auch durch das lateinische Wort relatio übertragen werden. Na-
türlich ist dies aber noch nicht das Ende der Bedeutungskette der bei-
den griechischen Wörter logos und legein, denn eine wesentliche Bedeu-
tung von legein ist .sagen' und von logos .Aussage'. Die letzteren Bedeu-
tungen schluckt und verbirgt das lateinische Wort ratio. Heidegger hört
zwar „das römische Wort ratio zugleich auch griechisch sprechen"105,
aber fraglich bleibt, wo die .Aussage' und die Sprache, die im griechi-
schen Wort logos mitklingen, in dem lateinischen Wort ratio, und noch
mehr, wo sie in dem lateinischen Satz .Nihil est sine ratio' geblieben sind.
Heidegger deckt diese Verbergung zwar auf, denkt aber nicht explizit
dem Verborgenen nach.
Aber auch der zweite Schritt, die Übersetzung von ratio in die deut-
schen Wörter Grund und Vernunft, bringt eine Modifikation der Bedeu-
tung mit sich, die die Annahme der identischen Übertragung der Bedeu-
tung (des Signifikats) aus einer Sprache in die andere höchst zweifelhaft
erscheinen läßt. Wie problematisch daher eine Übersetzung des lateini-
schen Satzes .Nihil est sine ratio' durch .Nichts ist ohne Grund' ist, zei-
gen auch die Heideggerschen Erläuterungen. Heidegger aber weist auch
darauf hin, daß die Problematik bei einer Übertragung einer historischen
Sprache in eine zeitgenössische Sprache noch eine weitere Dimension
umfaßt: „Eine Übersetzung wird dort, wo das Sprechen der Grundworte
von einer geschichtlichen Sprache in die andere übersetzt, zur Überlie-
,M
M. Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen 1986, S. 178
'« Ebd., S. 176.
240 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
ferung."106 Und in demselben Text etwas weiter vorne schreibt er: „Als
Überlieferung gehört sie in die innerste Bewegung der Geschichte." 107
Diese .innerste Bewegung' der Geschichte, die mithin auf die Struktur
des sprachlichen Übersetzungs- und Überlieferungsgeschehens verwie-
sen ist, kann daher kaum als kontinuierliche Sinnfortpflanzung gedacht
werden.108 An den Wurzeln der Sinngebung innerhalb historischer Pro-
zesse wirkt die Übersetzung als nicht kontrollierbarer Einbruch fremder
Signifikant-Signifikant- und Signifikant-Signifikat-Relationen in das
Wertgefüge eines anderen, auch zeitlich und räumlich verschobenen
Zeichensystems. Die Übersetzung löst - wie in diesem Zusammenhang
erneut deutlich wird-gleichsam ein differentielles Spiel aus, das seiner-
seits Unterbrechung, Spaltung und Verlust, andererseits aber Bewahrung
und Freilegung des zu Überliefernden und zu Übersetzenden ist. In ei-
nem Zuge erweist sich die Übersetzung mithin als Treue, der von Beginn
an ein Verrat inhäriert, die mit einem Verrat beginnt (vgl. H W 140).109
Genau dieses Procedere entspricht einer Dekonstruktion, die gleichwohl
immer wieder ihren Ausgang nehmen muß bei den Oppositionen von
Ausgangssprache-Zielsprache (Original-Übersetzung), historische
Sprache-lebende Sprache, Bedeutung-Ausdruck etc. Die Beschreibung
des Ereignisses der Übersetzung ermöglicht allerdings immer wieder aufs
neue die Dekonstruktion dieser Oppositionen. Sie erhellt die unabweis-
bare Heterogenität dieses Ereignisses.
Allerdings sind die in philosophischen Gegensatzpaaren auffindbaren
Hierarchien nicht die einzigen, die Derrida aufzulösen sucht. Mit der
Dekonstruktion sucht er zugleich auch ein Lektüreverfahren, das heißt
10
* Ebd.,S. 171. Mit der Betonung des,«iiv'-in, Übersetzen'spielt Heidegger auf das wirk-
liche und radikale Übersetzen von einem Ufer zum andern an, von der einen Sprache
zur anderen. Die Klarheit dieser Metapher birgt jedoch Probleme und Schwierigkei-
ten in sich. Denn die Grenzen zwischen den Sprachen sind niemals rein, niemals ein-
deutig. Sprachen haben den Status von Inter-Texten, deren unendliches Ineinander -
verflochtensein kaum die Vorstellung einer klar und eindeutig verortbaren Grenze
nahelegt.
107
Ebd., S. 164.
"* Welches die Früchte z. B. der Uberheferung des Wortes ratio durch die deutschen
Wörter Vernunft und Grund sind, zeigt Heidegger an der Wirkung dieser Übertragung
in der Philosophie: „Auf die Gefahr eines Anscheines von Übertreibung dürfen wir
sogar sagen: Spräche im neuzeitlichen Denken nicht die ratio in der Übersetzung
doppelsinnig als Vernunft und als Grund, dann gäbe es nicht Kants Kritik der reinen
Vernunft als Umgrenzung der Bedingung der Möglichkeit des Gegenstandes der Er-
fahrung." M. Heidegger, ebd., S. 164.
'm Vgl. außerdem R. Bernet, Vorwort zur deutschen Ausgabe, a. a. O , S. 17.
3.2 DEKONSTRUKTIVE ÜBERSETZUNG 241
einen nicht nur akzidentiellen und abgeleiteten Status zubilligt: „Es ist
notwendig, den Begriff der Übersetzung in der tiefsten Schicht der
Sprachtheorie zu begründen, denn er ist viel zu weittragend und gewal-
tig, um in irgendeiner Hinsicht nachträglich, wie bisweilen gemeint wird,
abgehandelt werden zu können." (II 151; bereits zitiert.) Auch Benja-
min kehrt hier die Hierarchisierung der metaphysischen Sprachphilo-
sophie um und rückt das Ereignis der Übersetzung ins Innere sprachli-
cher Prozesse und sprachlicher Ökonomie. Im Zusammenhang mit dem
Begriff der .Form' (samt seiner Herleitung von dem frühromantischen
Begriff der,Form' als .gegenständlicher Ausdruck' der .Reflexion' [173]
des Werkes) führt Benjamin einen Übersetzungsbegriff ein, der einerseits
die Zersetzung des Originals und andererseits allererst die Existenz des
Originals inauguriert. Wenn Benjamin schreibt, daß die Übersetzung aus
dem, Überleben' des Werkes hervorgeht und daß das Original sein
ben' seinem, Überleben' verdankt, dann meint dies, daß das Original erst
mit einer gewissen zeitlichen Nachträglichkeit durch seine Übersetzung,
als seine .Reflexion', identifizierbar wird, daß das Original von der Über-
setzung aus immer wieder anders und immer wieder neu, je nach histo-
rischem Kontext, entworfen wird. Die Perspektive, die sich mittels die-
ser Umkehrung auf den Sprachprozeß allgemein und den Begriff der
Geschichte überhaupt auftut, ist einigermaßen revolutionär. Der Über-
setzungsbegriff Benjamins stellt damit ebenfalls die Erschütterung und
Dekonstruktion eines als Linearität, Kohärenz und Kontiguität entwor-
fenen sprachlichen Sinnprozesses in Aussicht.
Der Begriff der Übersetzung hat bei Benjamin sowohl konstruktive als
auch zerstreuende, dezentralisierende Züge. Die strukturalen Analogi-
en zum Dekonstruktionsbegriff Derridas liegen nahe. Benjamin wird
noch deutlicher, was diese Analogie betriff, wenn er schreibt, daß die
Reproduktion des Originals den „paradoxen Versuch" darstellt, „am
Gebilde noch durch Abbruch zu bauen" (I 87; bereits zitiert). Auch die
zu Beginn des Benjaminschen Wahlverwandtschaftenaufsatzes entwik-
kelte Metapher, die das durch Reproduktion und Kritik „wachsende
Werk" als einen „flammenden Scheiterhaufen" (I 126; bereits zitiert)
entwirft - was nichts anderes heißt, als daß das Werk durch Kritik und
Übersetzung leuchtet, indem es sich auflöst, daß es sich zerstört, indem
es entsteht -, hat dekonstruktiven Charakter. Es gibt noch mehr Hinwei-
se darauf, daß eine gewisse strukturale Homologie zum .Dekonstruk-
tionsbegriff' im Sprachdenken Benjamins angelegt ist. Auch die strate-
gische Stärkung des .Allegoriebegriffes' in seinem Verhältnis zum Sym-
3.3 ÜBERSETZUNG UND RHETORIZITÄT DER SPRACHE 243
selbst durch einen Riß getrennte Präsenz, das heißt als Auslöschung der
Präsenz gedacht werden. Jede Art des Bedeutens mit und durch eine
differentielle symbolische Ordnung hat teil an einer solchen „Logik der
Supplementarität" (Gr 371): die Präsenz, das Erste, das Drinnen, der
Ursprung etc. wird denkbar erst angelegentlich seiner Supplementie-
rung, das heißt durch seine Wiederholung in der Repräsentation; dadurch
aber, daß die Präsenz, das Erste, das Original etc. von Derrida als Ef-
fekt der supplementären Wiederholungsstruktur ausgewiesen wird, wird
diese Präsenz, dieses Erste, dieses Original etc. zugleich dekonstruiert.
Das vom Supplement repräsentierte ist auf immer als absolute Identität
oder Präsenz verloren. Mit jeder weiteren Supplementierung und neu-
en Iteration finden Verschiebungen, Verrückungen und Spaltungen statt,
die in das Supplementierte und Repräsentierte selbst zurückschlagen: die
Risse, die das Drinnen unendlich von sich selbst trennen, führen zu ei-
nersteten Dezentralisierung, Zerstückelung und Alienation des Drinnen.
Die Übersetzung steht exemplarisch für dieses Supplementierungsver-
fahren. Die Übersetzung ist das Draußen des Originals, von ihr her fin-
det zugleich eine Erschütterung, Verdeckung und .Ausstreichung' des
Originals statt. In diesem Sinne gibt die Übersetzung die übersetzte Spra-
che „in ihrer Ausstreichung selbst zu lesen: verwischte Spuren eines
Weges (odos), einer Fährte, Weg der Auslöschung" (309 Dap).
Über den Gedanken der Supplementarität wird auch das Derridasche
Paradigma der .Pfropfung' zugänglich. Jede Form der Zeichenverwen-
dung läßt sich demnach als eine Art Pfropfung begreifen, als eine Auf-
Pfropfung auf vergangene Verwendungen eines Zeichens oder einer Zei-
chenkette, nicht aber auf das von diesen Repräsentierte: „Die Pfropfung
vollzieht sich nicht am Eigentlichen der Sache. Es gibt ebensowenig die
Sache wie den Originaltext."111 Die Übersetzung als Pfropfung und Sup-
plementarität ergänzt und verschiebt die von ihrsupplementierten und
ge-pfropften Zeichenketten. Jede Interpretation eines Textes und jedes
Schreiben fungiert als eine solche Pfropfung.112 Sie strahlen fortwährend
111
J. Derrida, La dissemination, Paris 1972, S. 395 (im folgenden zitiert als: Dis).
' Auch Sarah Kofman beschreibt eindringlich, sich auf die entscheidende Ausmessung
der Kontextualität im Prozeß der Pfropfung berufend, die ungeheure Erschütterung,
die von der Bewegung der Pfropfung ausgeht: „Die Pfropf-Prozedur spaltet das Eige-
ne von sich selbst, hebt alle Abschirmungen auf, mit denen sich die Metaphysik um-
gab, um der Verunreinigung durch das gefährliche Draußen, durch das Gift, das die
Schrift darstellt, zu widerstehen. Indem sie ein Textglied entnimmt und in einen ande-
ren Kontext einfügt, durchbricht die Pfropfung die Grenze zwischen dem Drinnen und
246 3 DEKONSTRUKTTVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
auf jenen Text zurück, von welchem sie aufbrachen, gleich ob sie von
jenem Ausgangsort Wissen haben oder nicht. „An mehreren Stellen
aufgepflanzt, jedesmal durch diese Weitergabe Abwandlungen erfahrend,
pfropft sich das Reis schließlich sich selbst auf. Am Ende steht ein Baum
ohne Wurzeln da." (Dis 396) Das Pfropfreis verselbständigt sich in sei-
nem Pfropfungsprozeß und dekonstruiert derart seine eigenen Wurzeln
- ebenso wie das Supplement die von ihm ehemals supplementierte nicht-
sprachliche Realität und Präsenz des Gedankens und des Referenten so
sehr gelockert und verschoben hat, daß deren Polysemie mit jeder Pfrop-
fung wächst. Mit der gepfropften Übersetzung wächst und vervielfältigt
sich das Original. Supplementierung und Pfropfung sind mithin dekon-
struktive Bewegungen, deren Funktionieren Derrida selbst häufig vor-
geführt hat. Derridas Schriftbegriff stellt beispielsweise eine solche ge-
pfropfte Dekonstruktion dar. Den ausgeschlossenen und unterdrückten
Prädikaten des metaphysischen Schriftbegriffs wird in diesem Zusam-
menhang eine besondere Aufmerksamkeit zuteil: „Diese Prädikate sind
es [...], deren Kraft der Generalität, der Generalisation und der Genera-
tivität befreit und auf einen ,neuen' Schriftbegriff aufgepfropft wird, der
ebenfalls dem entspricht, was stets gegen die alte Organisation der Kräfte
resistiert hat, was stets den Rest konstituiert hat, irreduzibel auf die herr-
schende Macht, welche die - sagen wir, um es kurz zu machen: logo
zentrische - Hierarchie organisiert. Diesem neuen Begriff den alten
Namen Schrift zu lassen heißt die Struktur des Pfropfreises, den Über-
gang zu und das unerläßliche Festhalten an einem wirksamen Eingriff in
das konstituierte historische Feld zu bewahren." (Rd 314) Der dekon-
struktive (das heißt supplementierende und iterierende) Eingriff in den
metaphysischen Schriftbegriff führt einen Bruch, eine Spaltung und eine
Verschiebung herbei, denen jede zukünftige Lektüre des Ausdrucks
Schrift nicht ohne weiteres zu entgehen vermag.
Die Pfropfungen Derridas (so wie diejenigen anderer Schreibender)
unterstützen einen Prozeß, der die auf den einheitlichen Sinn zentrierte
Lektüre schon kleiner Texteinheiten verunmöglicht. Die unkontrollier-
baren, dekonstruierenden Bewegungen des Textgewebes machen dabei
deutlich, daß auch die Entsprechung von Signifikant und Signifikat oder
dem Draußen eines Kontextes. Jene Grenze, die die Metaphysik um jeden Preis auf-
rechterhalten wollte: Die Opposition zwischen dem Drinnen und dem Draußen ist
konstitutiv für die Logik der Identität, für die Logik überhaupt." Sarah Kofman, Derrida
lesen, Wien 1988, S. 16.
3.3 ÜBERSETZUNG UND RHETORIZITÄT DER SPRACHE 247
" ' Paul de Man, Allegorien des Lesens, übers, von W. Hamacher und P. Krumme, Frank-
furt a.M. 1988, S.39.
,M
De Man weist daraufhin, daß die komplizierte Verflechtung der sprachlichen Figuren
und sprachlichen Tropen unzulässig entschärft wird, wenn die Unterscheidung von
wörtlicher und rhetorischer Bedeutung aufrechterhalten wird und die nur äußerliche
Funktion der rhetorischen Figur dadurch aufrechterhalten wird. Vgl. P. de Man, Alle-
gories of Reading, Figural language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New
Haven 1979, S. 201 ff. Vgl. auch J. Culler, Dekonstruktion, a. a. O., S. 282 f.
248 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
115
P. de Man, Allegorien des Lesens, a. a. O , S. 40.
116
P. de Man, ebd. Deutlich zeigt de Man die Konsequenzen auf, die eine Aufhebung der
Subordination und des Status des Akzidentellen, den die Rhetorik im sprachlichen
Trivium von Logik, Grammatik und Rhetorik innehat, mit sich bringen würde. Nur
dadurch, daß man die Rhetorik zur reinen Äußerlichkeit erklärt, können sprachhche
Prozesse in scheinbarer Eindeutigkeit den Feldern der Grammatik und der Logik zu-
geordnet werden. Der Einfall der Rhetorik in diese Felder hätte weitreichende Folgen
„Durch die negative Beziehung zur Grammatik und Logik hebt die Rhetorik den An-
spruch des Triviums (und letztlich der Sprache) auf, ein erkenntnistheoretisch halt-
bares Konstrukt zu sein. Der Widerstand gegen die Theorie ist ein Widerstand gegen
die rhetorische oder tropologische Dimension der Sprache, eine Dimension, die viel-
leicht in der Literatur (in einem weiten Verständnis) ausdrücklicher im Vordergrund
steht als in anderen verbalen Manifestationen oder - um etwas weniger vag zu sein -
die in jedem verbalen Ereignis, wenn es als Text gelesen wird, aufgedeckt werden
kann." P. de Man, Der Widerstand gegen die Theorie, in: Volker Bohn (Hrsg.), Lite
ratur und Philosophie, Frankfurt a. M. 1987, S. 101 f.
3.3 ÜBERSETZUNG UND RHETORIZITÄT DER SPRACHE 249
ratur und der Schrift antwortend zu operieren haben, müßten gerade auf
dieser Ebene ein Übersetzungsverfahren inaugurieren, bei dem die .refe-
rentiellen Verirrungen' und rhetorischen Unentscheidbarkeiten zum
Ausgangspunkt der Übertragung würden. Ein solches Übersetzungs-
verfahren müßte auf der Grundlage seiner eigenen Bewegung und sei-
ner eigenen Schriftlichkeit und Literarizität die Öffnungen, Faltungen,
Löcher und Streuungen des Ausgangstextes mit-thematisieren und mit-
übersetzen.
Eine derartige Neuorientierung des Übersetzungsprozesses wird be-
sonders dann notwendig, wenn denkbar wird, daß ebenso wie zwischen
Trope und sogenannten eigentlichen Wörtern kein Unterschied, so auch
keiner zwischen regelrechter Rede und rhetorischer Figur zu machen ist.
Trope und rhetorische Figur verlieren in solcher Betrachtung ihren mar-
ginalen Status als ästhetisches Beiwerk und hinzugefügtes Ornament,
ohne aber sogleich darauf ins Lager verfügbarer Semantik überzuwech-
seln. De Man sieht gar in dertropologischen und rhetorischen Struktur
die paradigmatische Struktur der Sprache überhaupt aufscheinen. Er
beruft sich in diesem Zusammenhang auf den frühen Nietzsche, der
schreibt: „Es giebt gar keine unrhetorische .Natürlichkeit' der Sprache,
an die man appelliren könnte: die Sprache selbst ist das Resultat von
lauter rhetorischen Künsten. [...] In summa: die Tropen treten nicht
dann und wann an die Wörter heran, sondern sind deren eigenste Na-
tur. Von einer eigentlichen Bedeutung', die nur in speziellen Fällen
übertragen würde, kann gar nicht die Rede sein."117 Die konsequente
Verfolgung dieses Gedankens führt Nietzsche zu der Ansicht, daß der
Prozeß der Verkehrung und Substitution von Oppositionspaaren ein
allein sprachliches Ereignis ist - oben wurde in anderem Zusammenhang
auf Nietzsches dekonstruierende Auseinandersetzung mit dem Paar Ur-
sache-Wirkung hingewiesen, das sich ebenfalls als Effekt sprachlich
figuraler Strukturen erwies. Die Verwunderung Nietzsches über die
.Fehlauslegungen' der Realität durch die Tradition der Metaphysik macht
sich daher auch an jenen Strukturen fest, die eine Umkehrung hier-
archisierter Oppositionspaare durch sprachliche Operationen erlaubten.
So stellt er fest, daß gerade von dieser Tradition der Erscheinung immer
als Grund untergeschoben wurde, was doch eigentlich ihre Folge ist (es
wurde schon das Beispiel Schmerz und Nadel genannt), und daß Abstrak-
117
Friedrich Nietzsche, Gesammelte Werke (Musarion-Ausgabe), München 1922, Bd. 5,
S. 300.
250 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
121
P. de Man, Allegorien .... a. a. O , S. 154.
' " P. de Man, ebd., S. 168.
252 3 DEKONSTRUKTTVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
der Ebene der Sprache keinen Bezugspunkt mehr, der sich als wahr oder
falsch behaupten ließe. Die,referentielle Verirrung' eines Verstehens der
sowohl figurativ als auch wörtlich bedeutenden Sprache bleibt auf die
intentionalen Extreme seiner Auslegung verwiesen. De Man beschreibt
die Situation des Wahrheit Suchenden treffend, wenn er sagt: „Woge-
gen auch immer die Wahrheit im einzelnen zu Felde ziehen mag, es ist
nie der Irrtum, sondern die Dummheit, der Glaube, man sei im Recht,
wenn man tatsächlich im Unrecht ist [...]. Tropen sind weder wahr noch
falsch und sie sind beides zugleich."123 Der Tropus aber, der dieses Ver-
hältnis paradigmatisch zu verkörpern scheint, ist derjenige der Allegorie.
Besonders in der Allegorie jedoch meldet sich jene Seite der Rhetorik zu
Wort, die von de Man und auch von Nietzsche unberechtigterweise
ausgeblendet wird. Gerade in der Allegorie als rhetorische Figur - wie
auch in der Rhetorik im allgemeinen - eröffnet sich, wie Bachtin sagt,
die „innere Dialogizität des Wortes".124 In der Allegorie wird das An-
dere als die entgegengesetzte Bedeutung gesagt; in ihr ertönt jene Viel-
stimmigkeit, die den Prozeß der Übersetzung zu einem dialogischen
Ereignis machen kann.
125
P. de Man, Allegorie und Symbol in der europäischen Frühromantik, in: Typologia
Litterarum. Festschrift für Max Wehrli, Zürich 1969, S. 424.
126
Ebd.
254 3 DEKONSTRUKTWE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
Tropus ein und zeigt sich in der Distanz der unterschiedlichen Bedeu-
tungs- und Sinnebenen zueinander; in der allegorischen Übersetzung
stehen Vergangenheit und Gegenwart, Bedeutung des Ausgangstextes
und des Zieltextes unmittelbar nebeneinander. Im erstarrten Text der
Übersetzung, in dem Signifikat und Signifikant in Distanz zueinander
treten, wird die Vielzahl der Bedeutungen dechiffrierbar. Die Verwandt-
schaft zur dekonstruktionistischen Bewegung drängt sich gerade anhand
dieses Bezuges des allegorischen Bedeutens der Übersetzung zum Vor-
gang der Iteration auf. Auch Derrida hat anläßlich seiner Auseinander-
setzung mit der Arbeit de Mans über den Hegeischen Symbol- und Alle-
goriebegriff von einer „Allegorizität der .Dekonstruktion'" 127 gespro-
chen.
Derrida bezieht sich in diesem Zusammenhang auf eine Erläuterung,
die de Man in dem Aufsatz Sign and Symbol zu der Hegeischen Degra-
dierung und Subordination der Allegorie gegenüber dem Symbol gibt.
De Man zeigt dort, daß, wo Hegel in den Vorlesungen über die Ästhetik
mittels einer Theorie des Zeichens sich der Allegorie zuwendet, es um
Kunstformen geht, welche Hegel explizit als nicht ästhetisch oder schön
ausweist. Ähnlich wie bei Goethe wird die Allegorie bei Hegel als „frostig
und kahl"128 bezeichnet. Anstatt Dinge oder Bedeutungen in der Unmit-
telbarkeit ihrer Realität darzustellen, präsentiert sie sie nur als .Bild' oder
.Parabel', wie Hegel meint. Er denkt die Allegorie daher als .Verstan-
desabstraktion' von Bedeutungen, die „auch in Rücksicht auf Erfindun-
gen mehr eine Sache des Verstandes als der konkreten Anschauung und
Gemütstiefe der Phantasie sei".129 De Man fällt noch eine weitere Charak-
terisierung der Allegorie durch Hegel ins Auge - und diese ist für den
eben berührten Zusammenhang von Allegorie und Dekonstruktion ent-
scheidend. Hegel ist der Ansicht, daß die dem Symbol zugesprochene
Authentizität und Originalität, das heißt die Nähe oder Entsprechung
von Repräsentation und Referent, der Allegorie versagt ist. Dies sieht
Hegel durch die in der Allegorie vorgenommene Trennung von Subjekt
und Prädikat ausgedrückt. Er sagt, da die „Bedeutungen des Allego-
rischen in ihrer Abstraktion" bestimmt und „erst durch diese Bestimmt-
heit erkennbar sind", muß der ,Ausdruck' der solchermaßen artikulierten
127
Vgl. J. Derrida, Memoires. Für Paul de Man, Wien 1988, S. 101 (im folgenden Mm).
I2
* G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, in: ders., Werke, Frankfurt a. M. 1989,
Bd. 13,S.512.
129
Ebd.
3.3 ÜBERSETZUNG UND RHETORIZITÄT DER SPRACHE 255
"° Ebd.
1,1
P. de Man, Sign and Symbol in Hegel's Aesthetics, in: Critical Inquiry, Chicago 8, 1981/
82, S. 775.
256 3 DEKONSTRUKTWE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
1,2
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, a. a. O , S. 395.
' " P. de Man, Sign and Symbol in Hegel's Aesthetics, a. a. O., S. 763.
3.3 ÜBERSETZUNG UND RHETORIZITÄT DER SPRACHE 257
dar. Die Allegorie ist folglich die Darstellung derjenigen Bewegung und
Kraft, die Sprache und Bedeutung und deren Geschichte allererst ermög-
licht. Als in sich gespaltener „brüchiger Eckstein" des Systems ist sie
Ermöglichungsgrund dieses Systems, oder wie Derrida sagt: „das System
ist mit Hilfe eines brüchigen Ecksteins, trotz oder dank diesem das Sy-
stem Dekonstruierenden, konstruiert worden. Die wesentliche Stütz-
funktion dieses lateral gesetzten Steins ist nicht die einer Fundierung wie
bei einem Scheitelstein. Es ist und er sagt das andere, er ist eine Allegorie."
(Mm 109-110) Die Allegorie ,sagt das andere' bedeutet folglich auch, daß
ein allegorisches Sprachverstehen nicht nach der ganzheitlichen Kohä-
renz oder dem identischen Sinn des Textes und der Aussage sucht. Ein
allegorisches Sprachverstehen und eine allegorische Lektüre ließen im
Text das zu Wort kommen, was oben .referentielle Verirrung' und
Schriftlichkeit genannt wurde.
Die sich auf solch einem Lektüreverfahren gründende Übersetzungs-
theorie kann mithin weder eine auf logischer Formalisierung beruhen-
de noch eine .Sinn für Sinn'-Übersetzung anstreben. Eine allegorische
Übersetzung wäre geradezu genötigt, den in der dekonstruktiven Geste
der Iteration gewonnenen Sturz des Sinns „von Abgrund zu Abgrund"
(IV 21) darzustellen. Dieser Sturz - den Derrida als Konstitutivum der
sprachlichen Sinnstruktur als,mise enabyme' bezeichnet - ist aber nichts
anderes als das „Werden der Sprache selbst" (IV 19). Benjamin nennt
dieses , Werden der Sprache selbst' auch den „Kern der reinen Sprache",
welche erklärtermaßen Fluchtpunkt der Benjaminschen Theorie der
Übersetzung ist.134 Dieses .Werden der Sprache' aber ist verborgen nicht
etwa auf der unsichtbaren und unsinnlichen Seite der Sprache, sondern
verbirgt sich vielmehr auf ihrer sichtbaren, figurativen und .symboli-
sierenden' Seite. Diese von ihrem Dasein als bloßes Vehikel für das Ge-
meinte und Symbolisierte zu befreien, erwartet Benjamin von der Über-
setzung: „Ist jene letzte Wesenheit, die da die reine Sprache selbst ist,
in den Sprachen nur an Sprachliches und dessen Wandlungen gebun-
den, so ist sie in den Gebilden behaftet mit dem schweren und fremden
Sinn. Von diesem sie zu entbinden, das Symbolisierende zum Symboli-
i4
Eine in diesem Sinne intendierte .Wörtlichkeit' der Übersetzung bliebe mithin von der
Heideggerschen Kritik des .wörtlichen' Übersetzens im allgemeinen, welches das .ge-
schichtliche Wesen' der Sprache verfehle, unbehelligt. - Vgl. zur Heideggerschen
Unterscheidung von .wörtlicher' und .wortgetreuer' Übersetzung auch M. Heidegger,
Heraklit, Gesamtausgabe, Bd. 55, Frankfurt a. M. 1979, S. 44.
258 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
1.5
P. de Man, der sich ebenfalls mit diesem Problem im Benjaminschen Übersetzeraufsan
auseinandersetzt, sieht eine radikale Trennung von Grammatik und Bedeutung gege-
ben: „So the question of the relationship between word and sentence becomes, for
Benjamin, the question of the compatibility between grammar and meaning. What is
being put in question is precisely that compatibility, which we take for granted in a
whole series of linguistic investigations." P. de Man, Walter Benjamin's „The Task of
the Translator", a. a. O., S. 88.
1.6
Benjamin schreibt in seinem ,Karl Kraus'-Essay: „Es ruft das Wort beim Namen auf,
bricht es störend aus dem Zusammenhang, eben damit aber ruft es dasselbe auch zu
rück an seinen Ursprung. Nicht ungereimt erscheint es klingend, stimmig, in dem
Gefüge eines neuen Textes. Als Reim versammelt es in seiner Aura das Ähnliche; als
Name steht es einsam und ausdruckslos. Vor der Sprache weisen sich beide Reiche -
Ursprung so wie Zerstörung - im Zitat aus. Und umgekehrt: nur wo sie sich durch-
dringen - im Zitat - ist sie vollendet. Es spiegelt sich in ihm die Engelsprache, in wel-
cher alle Worte, aus dem idyllischen Zusammenhang des Sinnes aufgestört, zu Motti
in dem Buch der Schöpfung geworden sind." (II 363)
3.3 ÜBERSETZUNG UND RHETORIZITÄT DER SPRACHE 259
1,7
B. Menke, a.a.O., S. 112 f.
"» P. de Man, ebd., S. 87.
260 3 DEKONSTRUKTIVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
sition, die das Wort mit lateralen und virtuellen Intentionen oder Remi-
niszenzen" (HW 137) aufladen. Sprachliches Bedeuten organisiert sich
daher nicht nach dem Prinzip der Univozität, sondern demjenigen der
Äquivozität. Äquivozität, sagt Derrida, sei „das Geburtsmal aller Kultur'
(ebd.), und ihm müßte mit einem Übersetzungsverfahren entsprochen
werden, das polysemisch ist und der Fremdheit des Meinens der Aus-
gangssprache in der Übersetzung Raum läßt. Als gäbe es das Exemplar
einer solchen Übersetzung, erinnert Derrida an verschiedenen Stellen
seines Werkes an den Gebrauch der Sprache bei James Joyce.
So schreibt Joyce in Finnegans Wake „and he war" und kündigt da-
mit in mehreren Sprachen an, was nicht übersetzbar scheint, denn das
„he war verknotet nicht nur an diesem Ort eine unkalkulierbare Zahl von
phonischen und semantischen Fäden, in dem unmittelbaren Kontext und
in diesem ganzen babelschen Buch; es sagt die Erklärung des Krieges (auf
englisch) desjenigen, der sagt: ,Ich bin derjenige, der ich bin' und der
derart war (war)" (Ps 207). Auch diese Erläuterung Derridas im Fran-
zösischen tritt sich modifizierend ins Deutsche: für den Franzosen ent-
stammt war (engl. Krieg) und war (deutsch, 3. Pers. Sing. Imperfekt von
sein) anderen Sprachen, für den deutschen Leser ist nur war (engl. Krieg)
einer Fremdsprache entnommen.
Das, was Derrida vom Joyceschen Text sagt, gut nun auch für den sei-
nen. Mehr als zwei Sprachen in einem Text scheinen seinen eigenen Text
unübersetzbar zu machen, das heißt, die Bedeutung muß sich verflüch-
tigen, da es keine Möglichkeit gibt, diesen Text anders denn als
ergänzend und lateral zu übersetzen. Und hierin sieht Derrida eine der
Grenzen der Übersetzungstheorie überhaupt, denn sie berücksichtigt
„nicht genügend die Möglichkeit der Sprachen, zu mehr als zweien in
einen Text eingebunden zu sein." Daher fragt Derrida gleich anschlie-
ßend, wie man einen „geschriebenen Text in mehrere Sprachen auf ein-
mal" (Ps 208) übersetzt. Der Joyce-Text selbst ist wohl die Vorwegnah-
me der Antwort, denn die Pluralität und Inkohärenz dieses vielspra-
chigen Textes nimmt gewissermaßen seine eigene sprachergänzende
Übersetzung vorweg: er ist eine zur Darstellung gebrachte Äquivozität.
Und als habe Derrida dieses eine Problem schon zwanzigjahre zuvor im
selben Maße beschäftigt, schreibt er - selbst noch einmal die Antwort
des Joyceschen Textes reflektierend- in frappierender Nähe zum Benja-
minschen Konzept der Ergänzung der Arten des Meinens: „die Totali-
tät der Äquivokationen zu wiederholen und auf sich zu nehmen, in ei-
ner Sprache, die die höchste Potenz der Intentionen, die in der Seele
262 3 DEKONSTRUKTTVE UND ALLEGORISCHE ÜBERSETZUNG
E. Levinas, Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur, übers, von F. Mie-
thing, München 1988, S. 75.
264 4 DIALOG UND ÜBERSETZUNG
tungen der ausgangssprachlichen Zeichen mit den Zeichen der Übersetzung ein für al-
lemal den Blick auf die Andersheit des ausgangssprachhchen Textes verstellen würde.
Als solche Verstellung und Repräsentation des Originals ist - wie schon deutlich wur-
de - die Übersetzung selbst freüich nicht mehr übersetzbar (vgl. IV 15).
268 4 DIALOG UND ÜBERSETZUNG
Wie zum Beispiel H.-G. Gadamer der Ansicht ist, daß Sprache nur als .Gespräch' zu
denken ist. Vgl. H.-G. Gadamer, Gesammelte Werke, Tübingen 1986, Bd. 1, S. 375.
4.1 D E SPUR DES ANDEREN IN DER ÜBERSETZUNG 269
Diese .neueren Schriften' Derridas beginnen vor allem mit den in dem Essayband Psyche
Inventions de lautre versammelten Arbeiten und halten sich durch bis zu den neuesten
Arbeiten Derridas. Die Wendung hin zur intensivierten Auseinandersetzung mit dem
Levinasschen Denken hat nicht allein thematische Auswirkungen für die Derridaschen
Schriften. Dies sollte im folgenden deutlich werden.
270 4 DIALOG UND ÜBERSETZUNG
de Babel gehört - läßt sich bezüglich dieser Fragen und der mit ihnen
verknüpften Problematik eine gegenüber seinen frühen Schriften6 deut-
lich modifizierte Haltung feststellen - wenngleich sie sich doch letztlich
nicht von der Zentrierung auf rein sprachliche Bewegungen des Bedeu-
tens durch die Spur und die Schrift zu lösen vermögen. Die für die inten-
dierte Fragerichtung allerdings grundlegenden Auseinandersetzungen
Derridas, welche dem Denken Emmanuel Levinas' gewidmet sind, zie-
hen sich durch sein gesamtes Werk und führen gerade in seinen jüng-
sten Arbeiten zu einer kaum überschätzbaren Nähe seines Denkens und
desjenigen Levinas'.
Schon in der Grammatologie weist Derrida darauf hin, daß er seinen
Begriff der Spur „in die Nähe eines anderen, der im Mittelpunkt der
Schriften von Emmanuel Levinas und seiner Kritik der Ontologie steht"
(Gr 123), rücken möchte. Daß diese von Derrida gewünschte Nähe nicht
ganz unproblematisch ist, zeigt sich anhand des von Levinas in dem Essay
Die Spur des Anderen1 entwickelten Spurbegriffs. Nachdrücklich sucht
dort Levinas das Paradigma der Spur von demjenigen des Zeichens - und
dem mit diesem verbundenen Bedeuten - abzusetzen: „Wenn aber das
Bedeuten der Spur sich nicht sogleich in Geradheit verwandelt, die noch
das Zeichen charakterisiert - das Zeichen erschließt das bezeichnete
Abwesende und überführt es in die Immanenz - so deswegen, weil die
Spur jenseits des Seins bedeutet." 8 Mit diesem Hinweis auf das entschei-
dende Charakteristikum des Zeichens, das das von ihm bezeichnete Ab-
wesende in die Immanenz trägt und zu einem Seienden macht, zeigt
Levinas deutlich, welche Absetzbewegung vom Zeichenbegriff er für den
Spurbegriff einfordert. Besonders die als ,Geradheit' und als .Richtig-
keit'9 bestimmte Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem sucht
6
Hiermit sind besonders die in den Essaybänden versammelten Arbeiten der sechziger
Jahre und die Grammatologie gemeint.
1
Emmanuel Levinas, Die Spur des Anderen, in: ders., Die Spur des Anderen Untersu-
chungen zur Phänomenologie und Sozial philosophie, Freiburg und München 1987.
* E. Levinas, ebd., S. 229.
* Die hier von Levinas benutzten Begriffe der .Geradheit' und .Richtigkeit' berühren ganz
entschieden das Problem der Gerichtetheit, das heißt der Intentionalität im Husserlschen
Sinne. Die Kritik am Husserlschen Begriff der Intentionalität schwingt implizit in vie-
len Textpassagen Levinas' mit, ohne daß er sich jedesmal explizit an Husserl wendet
So zum Beispiel in Totalität und Unendlichkeit, wo er darauf hinweist, daß das Bewußt-
sein sich „in seinem fundamentalen Bereich nicht durch die Intentionalität" definiert,
denn „in der Intentionalität bleibt das Denken Adäquation an das Objekt. Jedes Wis-
sen, sofern es Intentionalität ist, setzt bereits die Idee des Unendlichen voraus, die
4.1 DIE SPUR DES ANDEREN IN DER ÜBERSETZUNG 271
er von der Spur fernzuhalten. Denn die Beziehung der Spur auf (s)ein
Abwesendes kann nicht in .Richtigkeit' umgewandelt werden, sie geht
auf ein Jenseits der ,Welt', das „alle symbolische oder zeichenvermittelte
Erkenntnis" 10 transzendiert.
Gleichwohl hat die Spur auch die Funktion eines Zeichens: es ist mög-
lich, sie für ein Zeichen zu halten, ihr Mitteilungen und Bedeutungen zu
entnehmen und ihren Hinweisen zu folgen. Aber die Spur Levinas'
spricht und überbordet das Zeichensein auch um ein Vielfaches. Er sucht
dies an anschaulichen Beispielen deutlich zu machen: „Der Detektiv
untersucht alles, was am Ort des Verbrechens auf das freiwillige oder
unfreiwillige Werk des Verbrechers hinweist, als enthüllendes Zeichen;
der Jäger folgt der Spur des Wildes, die das Verhalten und den Lauf des
Tieres, das er treffen möchte, verrät; der Historiker entdeckt von den
Spuren aus, welche die Existenz der alten Kulturen gelassen hat, diese
Kulturen als Horizonte unserer Welt."11 Aber es ist genau dieses Ver-
wobensein der Verweise der zeichenhaften Spuren mit der Welt, die
Levinas überschreiten möchte: „Alles fügt sich in eine Ordnung, in eine
Welt ein, in der jedes Ding das andere offenbart oder sich selbst als
Funktion des anderen erweist."12 Die Levinassche Spur hingegen will
hinausgehen über eine totalisierbare Ordnung der Welt, auch will sie
nicht nur, wie die Derridasche ,Spur', die,Eröffnung der Differenz von
Innen und Außen (vgl. Gr 124) als grundlegendes zeidiches und räum-
liches Ordnungsprinzip sein; sie wül als „authentische Spur" die Ord-
nung der Welt stören und den Aufbruch zu einem absolut ^«/«-ordent-
lichen erproben. Sie kann daher auch nicht als Enthüllung gewisser
Strukturen der Ordnung gedacht werden.
Die Levinassche Spur führt auf nichts zurück, sie leitet in eine Tiefe
und in eine Vergangenheit, die .unumkehrbar' ist. Eine solche unum-
kehrbare Vergangenheit und ein solches absolutes Jenseits tauchten mit
dem .Antlitz des Anderen auf, das sich in der Spur des .unendlich An-
deren' aufhält. Im .Antlitz' sieht Levinas „die einzige Erschließung, in
15
E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg und
München 1987, S. 102.
16
E. Levinas, Die Spur des Anderen, a. a. O., S. 216.
17
Die Fremdheit nämlich, die Derrida im Auge hat, ist eine Fremdheit, die an der .An-
onymität' des .Seins' haftet, wie Levinas sagen würde. Dies wird besonders deutlich,
wenn Derrida die von Levinas exponierte Unmöglichkeit der Rückkehr aus der
len Fremde in unmittelbare Nähe zum Heideggerschen Denken bringt: „Die Unmög-
lichkeit der Heimkehr ist Heidegger zweifellos nicht unbekannt: die ursprüngliche
Geschichtlichkeit des Seins, die irreduzible Irre verbieten die Rückkehr zum Sein seihst,
das nichts ist. Hier steht Levinas also auf Seiten Heideggers." (SuD 235)
'* Dem Verhältnis von ,Spur', .Anditz' und Göttlichkeit kommt im Levinasschen Denken
eine nicht unerhebliche Rolle zu: „Das Antlitz ist durch sich selbst Heimsuchung und
Transzendenz. Bei aller Offenheit aber kann das Antlitz zugleich in sich sein, weü es in
der Spur der Hleität ist. Die Dleität ist der Ursprung der Andersheit des Seins, an der
das Ansich der Objektivität teilhat und die es verrät.
Der Gott, der vorbeigegangen ist, ist nicht das Urbild, von dem das Antlitz das Ab-
büd wäre. Nach dem Bild Gottes sein heißt nicht, Ikone Gottes sein, sondern sich in
seiner Spur befinden." (Hervorhebung A. H.) E. Levinas, Die Spur des Anderen, a. a.
O . S . 235.
274 4 DIALOG UND ÜBERSETZUNG
" J.-B. Pontalis, Aus dem Blick verlieren. Im Horizont der Psychoanalyse, übers, von H.-
D. Gondek, München 1991, hier S. 208.
20
Ganz ohne Zweifel träfe sowohl Derrida als auch Benjamin eine solche Kritik nur zum
Teil, denn in eigentümlicher Parallelität haben sich beide Denker mit zunehmender
Dauer ihres textualen Schaffens dem sozialen Fundierungsgeschehen der Sprache zu-
gewandt. So finden sich beim späten Benjamin vermehrt Hinweise darauf, daß das
Sprachgeschehen und der .Spracherwerb' „sozial gerichtet" sind (III 474). Auch expo-
niert er nachdrücklich zustimmend am Ende seines Sammelreferates über Probleme der
Sprachsoziologie einen Satz Kurt Goldsteins, der in der Sprache „eine Manifestation,
eine Offenbarung unseres innersten Wesens und des psychischen Bandes, das uns mit
uns selbst und unseresgleichen verbindet", sieht (III 480).
4.1 DIE SPUR DES ANDEREN IN DER ÜBERSETZUNG 275
selbst weist in einem Essay von 1985 ,Wenn Übersetzen statt hat' auf die
verwickelte machtpolitische und gesellschaftliche Dimension hin, die die
Etablierung des Französischen als Landessprache Frankreichs begleitet
hat. Er nennt es eine „Politik der Sprache", daß es im sechzehnten Jahr-
hundert „die staatliche Verbreitung des Französischen durch die Mo-
narchie" ist, „die sich soeben ihrer Macht über die Provinzen und die
Dialekte versichert hat und die die Herrschaft über ein Gebiet gewinnt
oder befestigt, indem sie ihm die sprachliche Einheit aufzwingt."21 In dies
,Werden' der französischen Sprache verflicht sich zudem in nicht uner-
heblichem Maße die Praxis des Übersetzens selbst, die notwendig die
imperiale Geste der sprachlichen Vereinheitlichung des Landes unter-
stützt.
Derrida vollzieht in seinen Schriften aus den achtziger Jahren - sicher-
lich auch inspiriert durch seine anhaltende Auseinandersetzung mit dem
Levinasschen Denken - eine gewisse Annäherung an sozialphilosophi-
sche Fragehorizonte. Nur berührt diese Annäherung nicht die Theorie
der Sprache als Denken der Schrift und der Spur als in repräsentations-
logischen Dekonstruktionen destillierte Paradigmen, wie sie oben vom
frühen Denken Derridas her entwickelt wurden. Das Derridasche
Sprachdenken ist daher genau an dieser Stelle einer Fragilität ausgesetzt,
die zugleich - ganz im Sinne einer selbstdekonstruktiven Geste des Derri-
daschen Denkens-zu seiner entscheidenden Möglichkeit werden könn-
te. Dies wird besonders dort deutlich, wo Derrida eine entschiedene
Hierarchisierung zugunsten der Ordnungsbewegung der Sprache und
der Schrift gegenüber der Ordnung der sozialen Begegnung vornimmt.
Kristallisationspunkte dieser Problematik tun sich besonders in dem
Essay Gewalt und Metaphysik auf, in dem sich Derrida beharrlich der
Konfrontation mit der Levinasschen Differenz- und Sozialphilosophie
versichert (vgl. SuD 165).
Die Transzendenz des Anderen, wie sie sich für Levinas als Spur im
.Antlitz' des Anderen ankündigt, gerät Derrida zur einzig in Sprache sich
generierenden Transzendenz: „Diese Transzendenz wohnt der Sprache
inne, begründet sie und mit ihr die Möglichkeit allen Mitseins; eines viel
J. Derrida, Wenn Übersetzen statt hat. Die Philosophie in ihrer Nationalsprache, in:
F A. Kittler, M. Schneider und S. Weber (Hrsg.), Diskursanalysen 2: Institution Uni-
versität, Opladen 1990, S. 19. (Es handelt sich bei diesem Essay um den ersten - ins
Deutsche übersetzten - Teil einer zweiteiligen Schrift, die vollständig abgedruckt ist in
Du droit ä la philosophie, S. 283-341.)
"
276 4 DIALOG UND ÜBERSETZUNG
Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, daß Bernet in seiner erhellenden
Auseinandersetzung mit dem Derridaschen Frühwerk meiner These entgegengesetzte
Implikationen ausmacht, denn er sieht schon in der anhand Husserls Weg m die
schichte am Leitfaden der Geometrie entfalteten Auseinandersetzung Derridas mit Hus-
serl eine größere Nähe zur Husserlschen „Idee einer Begründung der Theorie in
scher Verantwortung" als zum Denken Heideggers. In diesem Sinne auch gewahrt Bernet
in den frühen Arbeiten Derridas eine .Antizipation' späterer Levinasscher Gedanken
- Vgl. R. Bernet, Vorwort, a. a. O., S. 26.
E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, a. a. O., S. 54.
4.1 DIE SPUR DES ANDEREN IN DER ÜBERSETZUNG 277
24
B. Waldenfels weist ebenfalls auf das Festhalten Derridas an dem .transzendentalen
Anspruch' der Husserlschen Phänomenologie hin, „welche nicht in ein Existenzdenken
zurückgenommen wird". Vgl. Bernhard Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich,
Frankfurt a. M. 1987, S. 537.
" E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, a. a. O., S. 327.
278 4 DIALOG UND ÜBERSETZUNG
26
E. Levinas, Sprache und Nähe, in: Die Spur des Anderen, a. a. O., S. 272.
27
Vgl. E. Levinas, ebd., S. 275.
2t
E. Levinas, ebd., S. 286 f.
4.1 DIE SPUR DES ANDEREN IN DER ÜBERSETZUNG 279
fen und sich in einer Welt hervorbringen, die schon fix und fertig, das
heißt a priori symmetrisch ist.29 Eine solche .empirische Asymmetrie' ist
daher nur denkbar, wenn sie sich in einer radikalen Gleichursprung-
lichkeit mit der Symmetrie sprachlicher Identifikation und sprachlicher
Thematisierung ereignet. Von solch einer Dekonstruktion des Derrida-
schen Schrift- und Spur-Begriffs hängt auf jeden Fall ab, ob die Fremdheit
einer anderen Sprache, die es in der Übersetzung freizulegen gelte, nicht
auf einer transzendental symmetrisch vorstrukturierten Differenz beruht,
von der die Erfahrung des radikal Fremden des Ausgangstextes nur ab-
geleitet wäre.
Doch das Dilemma, vor dem sowohl Derrida als auch Levinas stehen,
muß noch deutlicher benannt werden: wenn es so etwas wie eine erfahr-
bare, irreduzible Andersheit eines fremdsprachigen Textes gibt, dann
heißt es einerseits, diesem Text Gewalt anzutun, wenn man das an ihm
absolut Fremde, Singulare und Einzigartige durch die Übersetzung in
eine sprachliche Thematisierung und Identifikation zwängt. Die absolu-
te Andersheit würde mit einer imperialen Geste der Verselbigung der
Zielsprache einverleibt. Andererseits aber wäre jede Bewegung, die die
Spur einer absoluten Fremdheit zum Erscheinen brächte und sie in der
begrifflichen Sprache der „Zirkulation für das Selbe" (SuD 226) assimi-
lierte, eine Bewegung der Vernichtung des ,Nicht-Mitteilbaren' und
absolut .Unberührbaren' als des unendlich Anderen des fremden Textes.
Ein Übersetzungsverfahren, das sich wie das von Derrida und Benjamin
auf die Spur des .Unberührbaren' macht, müßte daher das Paradoxon
wagen, das ,Unberührbare' zu berühren und das sprachlich Nicht-The-
matisierbare zu thematisieren. Wenn a b e r - und dies ist aus dem Vor-
hergehenden deutlich geworden - das .Unberührbare' des ausgangs-
sprachlichen Textes nur als ein Werden der Sprache zu denken ist, in dem
sich die Sprache in der tiefen Stille der sozialen Berührung ereignet, dann
müßte gerade diese Dimension sprachlichen Werdens mit in die Über-
setzung einfließen.
Dies wird an einer anderen Stelle in Gewalt und Metaphysik noch einmal besonders
deutlich, wenn Derrida darauf hinweist, daß die Einschreibung des neutralen und an-
onymen Körpers vor aller Differenzierung in einen dinghaften Körper und eine perso-
nale Leiblichkeit geschieht: „Ohne die erste Andersheit der Dinge (der Fremde ist eben-
falls von vornherein ein Körper) vermöchte die zweite aber nicht zu entstehen." (SuD
189) Diese .zweite' körperliche Andersheit wäre diejenige dessen, der mit der sozialen
Beziehung begegnet. Deutlich wird in diesem Zusammenhang erneut, daß diese Begeg-
nung nur sekundären und abgeleiteten Charakter hat.
280 4 DIALOG UND ÜBERSETZUNG
J. Dtrrida, Eben in diesem Moment in diesem Werk findest du mich, übers, von
E. Weber, in: Mayer/Hentschel (Hrsg.), Levinas, a. a. O., S. 67 (im folgenden EM).
4.1 DIE SPUR DES ANDEREN IN DER ÜBERSETZUNG 281
" Die Unterscheidung von Sagen (dtre) und Gesagtem (dite) ist für das Denken Levinas'
seit den sechziger Jahren essentiell. Derrida hat sich besonders in seinen späten Aus-
einandersetzungen mit Levinas (z. B. in .Eben in diesem Moment in diesem Werk fin-
dest du mich' oder in .Invention de l'autre') einige Male auf diese Differenzierung ein-
gelassen. Levinas bestimmt das Sagen (dire) im Unterschied zum Gesagten (dite) als das
vor der thematisierenden und mitteilenden Ebene der Sprache befindliche Ereignis der
ethischen Beziehung: „Es gibt Sagen. Wie wenn das Sagen einen Sinn hätte, der früher
ist als die Wahrheit, die vom Sagen enthüllt wird; früher als das Ankommen des Wis-
sens und der Information, die das Sagen mitteüt, rein von jedem Gesagten; Sagen, das
kein Wort sagt, das auf unendliche Weise - vor-freiwillig - zustimmt." (E. Levinas,
Humanismus des anderen Menschen, a. a. O , S. 96) Das .Sagen' kann daher auch nicht
im .Gesagten' aufgehen: „Denn indem das Sagen sich sagt, bricht es jeden Augenblick
die Definition dessen, was es sagt, entzwei und sprengt die Totalität, die es umfaßt."
(E. Levinas, Sprache und Nähe, a. a. O., S. 294)
n
Aus genau diesen Gründen wäre die Sprache einer Ethik (der Übersetzung) eine noch
zu erfindende, eine, die jenseits der Thematisierungen des Gesagten .vernehmbar' spre-
chen können müßte. Vgl. hierzu auch Simon Critchley, The Ethics of Deconstruction:
Derrida and Levinas, Oxford und Cambridge, Mass. 1992, S. 43.
282 4 DIALOG UND ÜBERSETZUNG
sie auslöschen. In den Begriff der Spur schreibt sich im voraus der Ent-
zug des Verlöschensein. Die Spur schreibt sich ein, indem sie auslöscht
und indem sie die Spur ihres Verlöschens im Entzug läßt [...]" (EM 69)
Nirgendwo wird dieses Paradox einer Spur, die ihre eigene Spur aus-
wischt und damit nur noch die Spur von dem Verlöschen der Spur läßt
- und selbst dies noch im Entzug hält - deutlicher als in der Übersetzung.
Es bleiben in der Übersetzung Spuren von dem Verlöschen der Spuren
einer radikalen Fremdheit des Originals, das sein, Unberührbares durch
seine Beziehung zum ,ganz Anderen erhält.
Je eindringlicher die Übersetzung daher die Fremdheit des Originals
durchscheinen läßt, desto näher wird sie der Berührung mit dem ganz
Anderen sein. Es handelt sich folglich um eine Unübersetzbarkeit, die
von ganz anderer Art ist als die Unübersetzbarkeit des Sinns. Die Un-
übersetzbarkeit des .Unberührbaren' als ganz anderer Text jenseits des
thematisierenden Textes ist eine Unübersetzbarkeit, die noch die Spra-
che der Übersetzung heimzusuchen vermag: „Ein anderer Text, der Text
des anderen, ohne jemals in seiner ursprünglichen Sprache zu erschei-
nen, kommt dann still, einer mehr oder weniger regelmäßigen Kadenz
gemäß, die Übersetzungssprache aus den Fugen zu bringen, die Über-
setzung, diese Version, zu konvertieren, sie umzukehren, sie eben dem
zu beugen, das sie zu importieren vorgibt." (EM 51) Ganz anders als der
Sinn, der im Original als seiner ursprünglichen Sprache erscheint, ist der
,Text des anderen' niemals, auch beim ersten Mal nicht, in seiner ur-
sprünglichen Sprache erschienen. Gleichwohl sucht das Sagen des Ori-
ginals, das der ,Text des anderen' ist, die Übersetzungssprache heim,
denn er ist Teil ihres Werdens und Bedingung der Möglichkeit ihres
Erscheinens.
In der .Wort für Wort'-Übersetzung als fragmentarische Ergänzung
der Fremdheit des Originals wird der ,Text des Anderen' allegorisch ein-
schießen, und indem das Sagen des Anderen (allegorein) stattfindet, er-
scheint die Spur, die auf das Werden der Sprache als das .Unberührbare'
geht, aufs neue. Das Werden der Sprache wird allerdings von Derrida
als dem Autor von Des Tours de Babel als ein ethisches Ereignis gedacht.
Es tritt hierbei deudich hervor, daß der Levinassche Gedanke, daß Spra-
che „Verantwortung für den Anderen"33 ist, Pate gestanden hat. .Verant-
wortung für den Anderen' hieße, dem Anderen, noch bevor er eine Frage
" „Ce qui se passe dans un texte sacre, c'est l'evenement d'un pas de sens. [...] Pas-de-
sens, cela ne signifie pas la pauvrete mais pas de sens qui soit lui-meme, sens, hors d'une
,litteralite'. Et c'est lä le sacre. D se livre ä la traduction qui s'adonne ä lui. II ne serait
rien sans eile, eile n'aurait pas heu sans lui, l'un et l'autre sont inseparables." (Ps 235)
4.1 DIE SPUR DES ANDEREN IN DER ÜBERSETZUNG 285
- Derrida spielt an dieser Stelle allerdings auch mit der Mehrdeutigkeit des französi-
schen Wortes ,pas', das sowohl .Schritt', .Übergang' wie auch .nicht' heißen kann.
" J. Derrida, Theologie de la traduction, in: ders., Du droit ä la philosophie, a. a. O. (im
folgenden DaP).
286 4 DIALOG UND ÜBERSETZUNG
war. Derrida nennt diese Verpflichtung zur Übersetzung den mit dem
Babelschen Ereignis anhebenden „Vertrag des zu-Übersetzens" (le con-
trat de l'ä-traduire). Dieser Vertrag ist der absolute Vertrag, und Derrida
nennt ihn auch ,quasi transzendental'. Als ein solch absoluter Vertrag
verpflichtet, verbindet, ordnet er diesseits und jenseits festgelegter Gren-
zen und nur im unsagbaren Strudel seines sich Ereignens, wo dieser
Vertrag der Vertrag aller Verträge ist, wäre alle Schuld, alle Pflicht und
alles Verlangen ausgelöscht. Dieser absolute Vertrag ist nichts anderes
als das reine Werden der Sprache, als die ,reine Sprache'. Das Überset-
zen als ,zu-Übersetzen' befindet sich in der Spur des Werdens der Spra-
che als .heiliger Text'. „Das zu-Übersetzen des heiligen Textes, seine
reine Übersetzbarkeit (traductibilite), das ist es, was an der Grenze das
ideale Maß aller Übersetzung geben würde. Der heilige Text weist sei-
ne Aufgabe dem Übersetzer zu, und er ist heilig insofern ersieh als über-
setzbar (traductible), schlicht übersetzbar, zu-übersetzen, ankündigt; was
nicht immer unmittelbar übersetzbar (traduisible) meint, in dem allge-
meinen Sinne, der von Beginn an abgelehnt wurde." (Ps 234) Die Be-
wegung des Wachstums und des Werdens der Sprache als ,reine Spra-
che' und .heiliger Text' garantiert jene Übersetzbarkeit, die weit entfernt
ist von der Übersetzung des Sinns. Das Ereignis des Übersetzens, von
hier nach dort, ist das zu-übersetzen, das Derrida meint.
42
Derrida muß nicht zwischen personal und sächlich Anderem unterscheiden, wenn er
die französische Vokabel ,1'autre' verwendet. Gleichwohl liegt es nahe, an den Stellen,
an welchen ,1'autre' im unmittelbaren Zusammenhang mit ,nous' benutzt wird, von ei-
ner höheren Gewichtung der personalen Bedeutung von ,1'autre' auszugehen.
45
E. Levinas, Eigennamen, a. a. O., S. 75 (Übersetzung verändert, A. H.).
4.2 VON DER DIALOGISCHEN ERGÄNZUNG DES FREMDEN 289
Simulation und das Simulakrum." (Ps 47) Die Einforderung und der
Anspruch, die vom Anderen her an mich herantreten, lassen sich folg-
lich nicht einmal von der Bewegung der ,Reproduktionsmaschine' und
schon gar nicht von dem Ereignis der .Iteration' entkoppeln. Auch die
.Dekonstruktion' der Sprache erscheint dadurch in einem neuen Lich-
te. Dekonstruktion ist nämlich, so Derrida, das Sichvorbereiten auf dies
„Kommen des Anderen" (Ps 53), der nicht mehr als ein Subjekt, als ein
Objekt, Bewußtsein oder Unbewußtes gedacht werden kann. Dekon-
struktion und .Erfindung' sind für das Denken Derridas seit .Invention
de l'autre' nicht mehr trennbar. Diese Wendung im Denken Derridas ist
ohne Zweifel nicht unerheblich für die Derridasche Charakterisierung
des Werdens der Sprache, das in eine dekonstruktive Theorie der Über-
setzung wesentlich Einzug halten muß.
Der Entwurf eines Übersetzungsdenkens, das an den solchermaßen
modifizierten Paradigmen der Dekonstruktion und der Iteration teilhätte,
müßte sich auf diese Erfindung durch den Anderen einlassen. Derrida
scheint eine solche Anwendung des Paradigmas der Erfindung auf das
Problem der Übersetzung in Erwägung zu ziehen. Seine sicherlich rhe-
torisch zu verstehende Anfrage in einer Fußnote in .Invention de l'autre'
bestätigt diese Vermutung: „Die Übersetzung, ist sie von der Art der
Erfindung?" (Ps 45) Und das von Derrida hier bereitete Feld ausbrei-
tend und forttreibend, ließe sich behaupten: Eine Übersetzung, die her-
vorgeht aus einer Iteration von Bedeutungen, ist mithin eine Erfindung
als Antwort eines, komm' auf ein anderes, komm'. Die Aufschiebung und
die Verschiebung der Bedeutungen des Ausgangstextes, die in der Itera-
tion erfunden werden, gehen den Umweg in der Wiederholung des Be-
zeichneten nicht nur über alle anderen Zeichen des zielsprachlichen
Systems, sondern auch und im wesentlichen über einen Anderen, der
weder Subjekt noch Objekt ist und der,komm' sagt. Die Übersetzung
ist dadurch immer wieder in ein Zwischen gestellt, das als Zwischen zwi-
schen dem ,komm als Aufforderung und dem ,komm als Antwort zu
denken wäre. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Derrida von
einem ,Zu-Übersetzen spricht: die Übersetzung ist die eingeforderte
Antwort auf einen Anspruch, dem sich zu entziehen unmöglich ist. Die
Übersetzung ließe sich daher mit Rosenzweig - und in einer gewissen
Korrespondenz Derridas und Benjamins - als das „aufgegebene Notwen-
dige"44 (Hervorhebung A. H.) denken.
44
Vgl. Franz Rosenzweig, Die Schrift und Luther, in: H. J. Störing, a. a. O., S. 220.
290 4 DIALOG UND ÜBERSETZUNG
45
Vgl. auch J.-B. Pontalis, a. a. O., S. 213.
46
F. Rosenzweig, a. a. O., S. 220.
47
B. Waldenfels bezieht diesen Gedanken auf den Dialog im allgemeinen: „Daß die Ord-
nung im Gespräch nicht von einer steuernden Instanz ausgeht, sondern der wech-
selseitigen Anknüpfung von Äußerungen entstammt, führt zu einem .Zwischenreich',
dessen niemand Herr ist." B. Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, Frankfurt a. M. 1987,
S. 206.
4.2 VON DER DIALOGISCHEN ERGÄNZUNG DES FREMDEN 291
4
" H.-G. Gadamer, GW, a. a. O., Bd. I, S. 371.
4
* Vgl. in diesem Zusammenhang Gadamers Ausführungen in dem .Dritten Teil' von
Wahrheit und Methode, den er mit „Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leit-
faden der Sprache" überschrieben hat. Dieses für den Grundriß der Gadamerschen
Hermeneutik grundlegende Kapitel leitet er mit einer Analyse der sprachüchen Über-
setzung ein; und dies hat für ihn durchaus einen strategischen Grund, denn er sieht in
der .Übersetzung' ein für den „sprachlichen Vorgang" im allgemeinen sehr .aufschluß-
reiches' Geschehen. - Vgl. H.-G. Gadamer, ebd., S. 387 f.
50
Die Debatte zwischen Derrida und Gadamer geht auf ein Kolloquim Anfang der acht-
ziger Jahre in Paris zurück. Die dieser Debatte zugrunde liegenden Vorträge sind zum
Teil in dem Band Text und Interpretation' von Philippe Forget, München 1984, abge-
druckt.
51
H.-G. Gadamer, ebd., Bd. I, S, 390.
292 4 DIALOG UND ÜBERSETZUNG
auf den Text fällt. Die Forderung der Treue, die an die Übersetzung ge-
stellt wird, kann die grundlegende Differenz der Sprachen nicht aufhe-
ben."52 Selbst eine „meisterhafte Nachbildung", so Gadamer, muß da-
her vieles, das im Original angelegt war, verfehlen, und der Übersetzer
vermag sich diesem Problem nur dadurch zu entziehen, daß er gewisse
Passagen des zu übersetzenden Textes .überhellt'. Eine solche vom Über-
setzer vollzogene Überheilung ist, so Gadamer, nichts anderes als die
Konsequenz dessen, daß das Verstehen des fremdsprachigen Textes im-
mer schon Auslegung ist. Da sich dieser im ganzen für das sprachliche
Verstehen nachweisbare Vorgang eines immer schon auslegenden
hens mit besonderer Deutlichkeit im Prozeß der Übersetzung zeigt, sieht
Gadamer in der Übersetzung einen Vorgang, der in besonderer Weise
die Bedingung von sprachlicher Verständigung freilegt.
Gerade gegen die hohe Gewichtung des Verstehens" - und sei dies
auch ein auslegendes Verstehen - im Gadamerschen Denkenrichtetsich
die Skepsis Derridas. Gleich ob man den Primat der Verständigung oder
den des Mißverständnisses - wie Schleiermacher - behauptet, müsse man
sich doch, so Derrida, irgendwann die Frage stellen, „ob die Bedingung
des Verstehens", die kaum als ein sich kontinuierlich entfaltender Be-
zug gedacht werden kann, „nicht doch eher der Bruch des Bezuges ist,
der Bruch als Bezug gewissermaßen, eine Aufhebung aller Vermitt-
lung?"54 Der auf diese Weise von Derrida eingeführte Bruch (rupture) ist
" Ebd.
" Es gilt allerdings an dieser Stelle hervorzuheben, daß der Gadamersche Begriff des
.Verstehens', so wie er sich in Wahrheit und Methode findet, nicht vorschnell einer sol-
chen hermeneutischen Tradition zugewiesen werden kann, A\e .Verstehen' als instru-
mentalisierbaren methodischen Zugriff denkt. Auch darf der Begriff des Verstehens, der
für das Gadamersche Denken von entscheidender Bedeutung ist, nicht als einer Bewußt-
seins- und Subjektphilosophie zugeordnetes Paradigma gedacht werden. Deutlich in
begrifflicher Nähe zum frühen Heidegger, aber in entschiedener Abkehr vom Verste-
hensbegriff Diltheys und Husserls schreibt Gadamer: „Verstehen ist nicht ein Resigna-
tionsideal der menschlichen Lebenserfahrung im Greisenalter des Geistes, wie bei Dil-
they, es ist auch nicht, wie bei Husserl, ein letztes methodisches Ideal der Philosophie
gegenüber der Naivität des Dahinlebens, sondern im Gegenteil die ursprüngliche
zugsform des Daseins, das In-der-Welt sein ist." (H.-G. Gadamer, ebd., S. 476)
hen wird folglich von Gadamer, vor jeder pragmatischen oder theoretischen Ausweisung,
als „Seinsart des Daseins" gedacht, und er weitet damit den Schleiermacherschen Ver-
stehensbegriff über die hermeneutischen Wissenschaften hinaus aus. Entscheidend ist
aber in diesen Zusammenhang, daß Verstehen hier nicht gedacht wird als eine metho
disch fundierbare Theorie, die einen kalkulierenden Zugang zu Sprach werken öffnet,
sondern Verstehen ist das ursprüngliche Sich-Verhalten des Daseins in der Welt.
54
J. Derrida, Guter Wille zur Macht (I), in: P. Forget, a. a. O., S. 58.
4.2 V O N DER DIALOGISCHEN ERGÄNZUNG DES FREMDEN 293
allerdings nicht ein solcher, den man jeweils entsprechend der aufge-
wandten Methode intendieren oder vermeiden könnte.55 Die Frage Gada-
mers, die hieran anknüpft und die sich gewissermaßen mit integrativem
Anliegen auf die Derridasche Forderung, den „Bruch als Bezug" zu
denken, bezieht, verfehlt den Gedanken Derridas allerdings erheblich.
Gadamer glaubt, daß sich nach einer solchen rupture fragen ließe: „Wann
und warum vollzieht man einen solchen Bruch?"56 Der „gute Wille des
Verstehens" Gadamers scheint an dieser Stelle das Derridasche Anlie-
gen nicht einzuholen, wenn er die rupture auf etwas reduziert, das einem
Subjekt und einem kausal ausgerichteten logos zugänglich sein soll. Hin-
gegen wäre eher die Frage nach der Beschreibbarkeit des strukturalen
Ereignisses und der Vollzugsweise des Bruches (rupture) zu stellen.
Die Gadamersche Beurteilung des Verstehensprozesses gilt im beson-
deren für die Übersetzung. Gadamer weist daher gleich zu Beginn sei-
nes Sprachkapitels in, Wahrheit und Methode' auf die außergewöhnliche
Rolle der Übersetzung hin: „So wird der sprachliche Vorgang besonders
aufschlußreich, in dem ein Gespräch in zwei einander fremden Sprachen
durch Übersetzung und Übertragung ermöglicht wird."57 Gadamer sieht
in dem Übersetzungsvorgang ein Geschehen, das in einem .extremen'
Sinne das Sprachgeschehen im allgemeinen darstellt. Aus diesem Grunde
ist es auch die Übersetzung, an welcher er zu belegen sucht, daß es eine
Wechselseitigkeit der sprachlichen Vermittlungsprozesse gibt, die darin
beruht, daß sich die Beziehung von Text und Interpret (Übersetzer) wie
ein .Gespräch' entfaltet.58 Diese Beziehung und das darin ruhende Bemü-
hen um Verständigung nennt Gadamer ein „hermeneutisches Ge-
spräch". Die Bedingungen und Vorgaben eines Gesprächs lassen sich in
tümliche Prozessualität des Gesprächs schreibt Gadamer: „So ist das ei-
gentliche Gespräch niemals das, das wir führen wollten. Vielmehr ist es
im allgemeinen richtiger zu sagen, daß wir in ein Gespräch geraten, wenn
nicht gar, daß wir uns in ein Gespräch verwickeln. Wie da ein Wort das
andere gibt, wie das Gespräch seine Wendungen nimmt, seinen Fortgang
und seinen Ausgang findet, das mag sehr wohl eine Art Führung haben,
aber in dieser Führung sind die Partner des Gesprächs weit weniger die
Führenden als die Geführten. Was bei einem Gespräch .herauskommt',
weiß keiner vorher." 62 Wendung, Fortgang und Ausgang des Gesprächs
sind unkalkulierbar, jeder Zugriff, der von dieser oder der anderen Sei
te auf das Gespräch vorgenommen wird, wird sofort in einen unentwirr-
baren Strudel hineingerissen, in dem „ein Wort das andere" gibt. Die
das Gespräch Führenden bleiben derart immer die Geführten. Auch
zwischen Text und Interpret entwickelt sich ein solches urheberloses
Gespräch, in dem der überlieferte Text - und Gadamer ließe dies sicher
auch für den zu übersetzenden Text gelten - „von sich aus so wie ein
Du" spricht.63 Mit einem solchen ,Du' ist allerdings nicht der hinter dem
Text verborgene, meinende Autor intendiert, denn der Sinngehalt des
Textes ist von der Meinung eines Du oder Ich abgelöst, wie Gadamer
sagt. Es geht vielmehr um eine gewisse Analogie zwischen dem Nicht-
Gegenstand-Sein des Textes und dem Du im Dialog; beide verhalten sich
zu ihrem Gegenüber, ihre Aktionen und Reaktionen erweisen sich als
unkalkulierbar.
Die Erfahrung des Verstehens eines Textes entspricht der „Du-Erfah-
rung" im Dialog. Wie in der ,Du-Erfahrung' werden auch im Textver-
stehen Fragen gestellt und Antworten gegeben. Verstehen, so Gadamer,
ereignet sich erst, wenn der Lesende vom Text angesprochen worden ist,
das heißt, wenn der Text eine Frage an den Übersetzer gestellt hat. Der
Anspruch und die Frage, die vom Text ausgehen, stoßen dem Überset-
zer zu, das heißt, er wird von ihnen betroffen. Wie der Rezipient des
überlieferten Textes, so hat auch der Übersetzer von Beginn an eine
passive Rolle einzunehmen. Er kann also keineswegs als der aktiv über
oder vor dem Text operierende Interpret gedacht werden. Gadamer
weist auf die Folgen dieser Umkehrung von Frage und Antwort hin: „Das
Verhältnis von Frage und Antwort hat sich also in Wahrheit umgekehrt.
Das Überlieferte, das uns anspricht - der Text, das Werk, die Spur - ,
a
H.-G. Gadamer, GW, a. a. O , Bd. I, S. 387
*> H.-G. Gadamer, ebd., S. 364.
296 4 DIALOG UND ÜBERSETZUNG
stellt selbst eine Frage und stellt damit unser Meinen ins Offene. Um
diese uns gestellte Frage zu beantworten, müssen wir, die Gefragten,
selber zu fragen beginnen." 64 Vor der Frage kann es daher kein Verste-
hen geben. Gadamer nennt dies den „hermeneutischen Vorrang der
Frage". 65
Indem man sich der .Dialektik' dieses Prozesses von Frage und Ge-
genfrage entzieht, wird man für die Frage und den Anspruch des frem-
den Textes unerreichbar. Dies geschieht nach Gadamer dadurch, daß
man den anderen zu verstehen vorgibt: „Indem man den anderen ver-
steht, ihn zu kennen beansprucht, nimmt man ihm jede Legitimation
seiner eigenen Ansprüche." 66 Die Offenheit der Frage, so Gadamer zu-
nächst, bricht „das Sein des Befragten auf, aber etwas weiter unten ist
es Gadamer selbst, der sagt, daß die Offenheit der Frage nicht .uferlos'
sein kann. „Sie schließt vielmehr die bestimmte Umgrenzung durch den
Fragehorizont ein."67 Ermangelt ihr ein solcher Fragehorizont - der of-
fensichtlich in engem Zusammenhang mit Gadamers .vorentwerfendem
Vorverständnis' gedacht werden muß - geht die Frage „ins Leere". Eine
wirkliche Frage wird die Frage des verstehenden Übersetzers erst dann,
wenn sie ins „Bestimmte eines ,So oder So' gestellt wird".68 Deutlich wird
aber in diesem Zusammenhang, daß Gadamer das Verwiesensein des
Verstehenden auf die Frage und den Anspruch des Textes nur bis zu
einem gewissen Grade ernst nimmt. So hat es den Anschein, als offerierte
die vom Text auf den Übertragenden zukommende Frage einige inner-
halb eines identifizierbaren Horizontes verankerte Sinnmöglichkeiten,
welche dann durch entsprechende Gegenfragen reduziert werden und
letztlich zu einer „Verschmelzung der Horizonte" von Text und Über-
tragendem führen. Die Situation von Frage und Antwort geht für Gada-
mer nicht über die immer gegebene Verständnismöglichkeit hinaus. Das,
was an .Abgründigem' in den „Spielraum zwischen Frage und Antwort" 69
eingreift, hat das dialogische Denken Gadamers längst ausgelotet.
Die entscheidende Voraussetzung der „Verschmelzung der Horizon-
te" knüpft Gadamer dann doch nachdrücklich an einen universalen Zu-
64
H.-G. Gadamer. ebd., S. 379.
65
H.-G. Gadamer, ebd., S. 368.
66
H.-G. Gadamer, ebd., S. 366.
67
H.-G. Gadamer, ebd., S. 369.
" H.-G. Gadamer, ebd.
69
B. Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, a. a. O., S. 178.
4.2 VON DER DIALOGISCHEN ERGÄNZUNG DES FREMDEN 297
70
H.-G. Gadamer, Und dennoch: Macht des Guten Willens, a. a. O., S. 59.
71
H.-G. Gadamer, Text und Interpretation, in: ders., WS, a. a. O., Bd. II, S. 350.
72
In seiner Erwiderung auf die Frage und die Kritik Derridas verrückt Gadamer seine
Formulierung aus dem Vortrag ,Text und Interpretation' allerdings ein wenig, ohne
dadurch der berechtigten Kritik zu entgehen. Gadamer schreibt in seiner Antwort: „Mein
Ziel war umgekehrt, zu zeigen, daß die psychoanalytische Interpretation in eine ganz
andere Richtung geht, nicht das verstehen will, was einer sagen will, sondern das, was
er nicht sagen will oder sich nicht eingestehen will." H.-G. Gadamer, Und dennoch:
Macht des Guten Willens, a. a. O., S. 59 f.
75
P. Forget, Leitfäden einer unwahrscheinlichen Debatte, in: ders., a. a. O, S. 15.
298 4 DIALOG UND ÜBERSETZUNG
In ganz ähnlicher Weise verlängert sich der hier kritisierte Zugriff der
Gadamerschen Hermeneutik auch auf das Feld seines Übersetzungs-
denkens. Dort nämlich wird deutlich, daß die „Übersetzungsaufgabe"
- ganz anders als bei Benjamin und Derrida - „nur das Sinnhaltige des
Textes allein"74 meint. Zugleich grenzt Gadamer dieses .Sinnhaltige'
gegen sprachliches .Füllmaterial' wie Rhetorik, Sprachspiele usw. ab.
Dieses Füllmaterial ist für ihn reine Akzidenz; es ist weder mitkonstitutiv
für den Verstehensprozeß, noch gehört es offenbar in den Erfahrungs-
zusammenhang der Lektüre des zu übersetzenden Textes. „Der Über-
setzer vermutet in diesem Füllmaterial authentischen Sinn und zerstört
durch die Wiedergabe den eigentlichen Mitteilungsfluß des ihm zur Über-
setzung übergebenen Textes. Das ist die Schwierigkeit, der jeder Über
setzer ausgesetzt ist. Das soll nicht bestreiten, daß sich das Äquivalent
für solches Füllmaterial gewiß finden ließe, aber die Übersetzungsaufga-
be meint in Wahrheit nur das Sinnhaltige des Textes allein, und deswe-
gen besteht in der Erkenntnis und Ausmerzung solchen Füllmaterials von
Leerstellen die wahre Aufgabe des sinnvollen Übersetzens." 75 (Hervor-
hebung A. H.) Zwar gesteht Gadamer zu, daß dies nicht für literarische
Texte gilt, die eine „eigene Authentizität" haben und in denen der
Sprachkörper selbst in Erscheinung tritt, aber dies ändert letzthin nichts
an dem Gadamerschen Text- und Sprachbegriff, der sprachliche Figura-
lität und Buchstäblichkeit, ebenso wie Ausdruck und Sinngehalt, radi-
kal voneinander trennt. Es wurde schon aufgezeigt, daß einer solchen
sprachtheoretischen Perspektive der Irrtum zugrunde liegt, daß es, wie
de Man sagt, „einfach zwei Bedeutungen gäbe, eine buchstäbliche und
eine figurative"76, und daß es dem Interpreten überlassen ist, zu entschei-
74
Den Sinnbegriff Gadamers betreffend, soll an dieser Stelle allerdings darauf hingewie-
sen werden, daß Gadamer sich nachdrücklich gegen den „Dogmatismus eines Sinnes
an sich" verwahrt. Dies wird besonders dort deutlich, wo es um das Verständnis von
überlieferten Texten geht, die immer wieder geschichtlich anders angeeignet werden.
Vor diesem Hintergrund auch entwirft Gadamer das „wirkungsgeschichdiche Bewußt-
sein" - welches nicht ein Bewußtsein von der Wirkungsgeschichte ist, sondern ein durch
die Wirkungsgeschichte konstituiertes Bewußtsein, das sich verstehend zur Wirkungs-
geschichte verhält - als ein Bewußtsein, das „um die unabschließbare Offenheit des
Sinngeschehens weiß" (H.-G. Gadamer, GW, a. a. O., Bd. I, S. 476). Eine solche Of-
fenheit des Sinns, welche er wie die Sprache selbst eben als Geschehen und nicht als
fixe Substanz denkt, beruht für Gadamer im wesentlichen auf dem Verhältnis von
che, Erfahrung and Verstehen
75
H.-G. Gadamer, GW, a. a. O., Bd. II, S. 348.
" P. de Man, Allegorien des Lesens, a. a. O., S. 39.
4.2 VON DER DIALOGISCHEN ERGÄNZUNG DES FREMDEN 299
den, welche der beiden Bedeutungen in der jeweiligen Situation die zu-
treffende wäre. Gadamer ignoriert die Überschneidungen und asymme
trischen Bezüge von Literalität und Figuralität, von Ausdruck und Sinn-
gehalt, die in einer Grauzone verschwinden und die de Man in Überein-
stimmung mit Derrida ein „semiologisches Rätsel" nennt.
Diese klare Trennung unterschiedlicher semiologischer Bedeutungs
ebenen dient einmal mehr dem dialogischen Denken Gadamers zur uni-
versell instituierten Möglichkeit des Verstehens. Der von Gadamer ent-
worfene Dialog ist ein domestizierter Austausch von Frage und Antwort,
von fremdsprachigem Text und Übersetzer. Dies wird noch deutlicher,
wenn Gadamer die offenen Fragen im Dialog zu solchen macht, die im-
mer mit einem,Richtungssinn' versehen sind. „Im Wesen der Frage liegt,
daß sie einen Sinn hat. Sinn aber ist Richtungssinn. Der Sinn der Frage
ist mithin die Richtung, in der die Antwort allein erfolgen kann, wenn
sie sinnvolle, sinngemäße Antwort sein will. Mit der Frage wird das Be-
fragte in eine bestimmte Hinsicht gerückt."77 Die Art Frage, die Gadamer
ganz offensichtlich vorschwebt, ist eine Frage, die sich ihres Sinns und
damit notwendig des Sinns anderer möglicher Fragen längst versichert
hat. Eine Frage, die einen explizierbaren ,Richtungssinn' aufzuweisen
vermag, hat den Text und seinen Sinnhorizont schon vorentworfen.
Die Offenheit des Gadamerschen Dialogs scheint mithin darin zu be-
stehen, daß die Gesprächspartner, fremdsprachiger Text und Überset-
zer, zum Einander-Verstehen verurteilt sind. Auch das Festhalten Gada-
mers am Horizontbegriff Husserls untermauert diese Kritik, denn gera-
de der Horizontbegriff steht für eine explizierbare Totalität des Sinn-
angebots an den Verstehenden. Das Du des fremdsprachigen Textes ist
daher ein Du, dessen Fremdheit im Horizont erscheint und sich dadurch
dem identifizierenden Verständnis ergibt. Mit der Levinasschen Kritik
des Horizontbegriffs ließe sich daher auch die Gadamersche Konzeption
der Dialogizität treffen: denn indem das Fremde „in dem Horizont er-
scheint", „verliert es sich, bietet Angriffspunkte, wird Begriff".78 Der
Dialog im Denken Gadamers ist kein wirklich offener. Für das Verhält-
nis von fremdsprachigem Text und Übersetzer bedeutet dies, daß in der
Übersetzung nicht die Andersheit und Fremdheit des übersetzten Tex-
tes zu Wort kommt, sondern der,Richtungssinn' der Frage, der sich im
überschaubaren Horizont des Textes auftut. Wenn auch der Grund-
77
H.-G. Gadamer, GW, a. a. O., Bd. I, S. 368.
n
E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, a. a. O., S. 52
300 4 DIALOG UND ÜBERSETZUNG
79
H.-G. Gadamer, GW, a. a. O , Bd. I, S. 371.
*° E. Levinas, Dialog, in: F. Böckle, F.-X. Kaufmann, K. Rahner und B. Weite (Hrsg.),
Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Freiburg, Basel und Wien 1981, Teil-
bandI.S.74f.
4.2 VON DER DIALOGISCHEN ERGÄNZUNG DES FREMDEN 301
liches Draußen und keine absolute Adersheit kennt. Die Vernunft ist wie
das Wissen monologisch. Die Vernunft „hat niemanden, dem sie sich
mitteilen könnte, nichts steht außerhalb ihrer."81 Ganz im Gegensatz zur
Vernunft und zum Wissen vermag das Ich im Dialog dem Du nicht ei
nen fixen und identische Ort innerhalb seiner Ordnung zuzuweisen.
14
Dies ist der vielleicht entscheidendste Gedanke im Dialogdenken Levinas': „Das Ethi-
sche beginnt im Ich-Du des Dialogs, insofern das Ich-Du das Wertsein des anderen Men-
schen bedeutet, oder noch genauer, insofern sich erst in der Unmittelbarkeit der Bezie
hung zum anderen Menschen - und ohne Rückgriff auf irgendein allgemeines Prinzip
- eine Bedeutung wie Wert-Sein abzeichnet. Ein Wert-Sein, das dem Menschen eignet
aufgrund des Wertes des Du, des anderen Menschen als anderen, ein Wert, der mit dem
anderen Menschen verbunden ist." - E. Levinas, Dialog, a. a. O., S. 81 f.
85
E. Levinas, ebd., S. 81.
86
Die dialogisch sich immer wieder neu und anders ereignenden Lektüren und Überset-
zungen wären gerade textuale Manifestationen einer .ethischen Transzendenz'. Vgl.
auch S. Critchley, a. a. O., S. 30 f.
,7
E. Levinas, Dialog, a a. O , S. 79.
4.2 VON DER DIALOGISCHEN ERGÄNZUNG DES FREMDEN 303
Das Wachsen der Sprachen ist allerdings nicht als kohärenter und ein-
heitlicher Prozeß zu denken; es ist auch - durch den unaufhörlichen
Einzug des Fremden - Fragmentarisierung und Zerstreuung. Aber auch
diese Dimension der Generierung sprachlicher Ordnung findet sich in
ihrem dialogischen Beginn. Das Präfix Dia in .Dialog' bedeutet anderes
als ein friedsames Zwischen und mehr als eine verpflichtende Transzen-
denz, wie Levinas meint. Waldenfels macht darauf aufmerksam: „Das
Präfix du- weist hin auf einen Prozeß der Zerteilung, dereinen Zwischen-
bereich schafft, in dem logoi hin- und hergehen, kommen und gehen,
auch aufeinander prallen oder aneinander vorbeischießen."93 Allerdings
gibt es als Gegenbewegung auch eine .Sammlung', die das absolute Aus-
einanderstieben des Dialogs verhindert; nur ist nicht anzunehmen, daß
diese aus einer ,logozentrischen' oder subjektfundierten Einheitlichkeit
herrührt. Eine solche Einheitlichkeit würde der irreduziblen Differenz
im Dialog schnell jenen Spielraum nehmen, der sie im Dialog der Spra-
chen zu immer wieder anders und neu erfundenen Übersetzungen führ-
te. Es ließe sich von hieraus mit Recht erneut gegen Gadamer vorbrin-
gen, daß sein .dialektischer' Dialogbegriff mehr ein „Monolog mit ver-
teilten Rollen"94 ist. Dies wird besonders deutlich, wenn Gadamer sich
mit Nachdruck für ein dialogisches Denken entscheidet, das sich auf die
Hegeische Idee der Versöhnung des Geistes mit sich selbst stützt: „Das
Leben des Geistes besteht vielmehr darin, im Anderssein sich selbst zu
erkennen. Derauf seine Selbsterkenntnis gerichtete Geist sieht sich mit
dem .Positiven' als dem Fremden entzweit und muß lernen, sich mit ihm
zu versöhnen, indem er es als das Eigene und Heimatliche erkennt. In-
dem er die Härte der Positivität auflöst, wird er mit sich selbst ver-
söhnt." 95 Tatsächlich gäbe es in einem durch die Selbsterkenntnis des
Geistes katalysierten dialogischen Prozeß keine wirkliche Unterschei-
dungsmöglichkeit zwischen Ich und Du, zwischen Frage und Antwort,
zwischen Eigenem und Fremdem mehr. Diese Entgegensetzungen wä-
elle arrache l'aeuvre a son solde-langue. Et celle epreuve, souvent pour eile un exü, peut
aussi manifester le pouvoir le plus singulier de l'acte de traduire: reveler, de l'oeuvre
etrangere, son noyau le plus originel, [ ..] mais egalement le plus Jointain'." Antoine
Berman, La Traduction comme ,Epreuve de l'Etranger', in: Texte. Revue Critique et de
theorie4 (1985), S. 67.
° B. Waldenfels, Dialog und Diskurse, a. a. O., S. 43.
94
B. Waldenfels, ebd., S. 44.
95
H.-G. Gadamer, GW, a. a. O., Bd. I, S. 352.
4.2 VON DER DIALOGISCHEN ERGÄNZUNG DES FREMDEN 305
Vgl. hierzu: E. Levinas, Autrement qu'etre ou audelä de l'essence, Den Haag 1974,
S. 152. - Vgl. B. Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, a. a. O., S. 38.
306 4 DIALOG UND ÜBERSETZUNG
Ganzes integrieren läßt. Ohne die offene Form der Anknüpfung gäbe es
dieses Zwischen nicht."97 Das Zwischen - der Riß im Dialog -, das als
Unüberbrückbares den Dialog als ewig unvollendeten speist, steht zu-
gleich für eine andauernde Überschreitung, die nirgendwo ankommt.
Aber auch die vermeindiche Objektivierung der dialogisierenden sprach-
lichen Ordnungen durch grammatische, morphologische, phonologische
und semantische Analysen nimmt dem Zwischen nicht die Kraft der ord-
nungsüberschreitenden Zerstreuung und Sammlung zugleich. Das Zwi-
schen des Dialogs verweigert als Unberührbares daher auch die systema-
tische Adäquation der Elemente von Ausgangs- und Zielsprache. Es stellt
Verbindungen und Verflechtungen her, die in einer asymmetrischen und
offenen Dialogizität begriffen sind. Die Beziehung zwischen den Spra-
chen ist daher ein mit Spannungen aufgeladener Dialog und nicht ein
Austausch analoger Ordnungsverfahren und identischer Gesetzmäßig
keiten. Es gibt daher auch keine „grammatikalische Analyse, die allge-
meine Elemente aller Sprachen entdeckt, noch enthält eine Sprache not-
wendig ein Äquivalent für die Ausdrucksweise, die es in anderen Spra-
chen gibt". 98 Merleau-Ponty macht mit dieser Skepsis gegenüber der
Verallgemeinerbarkeit sprachlicher Strukturen überdies darauf aufmerk-
sam, daß „der lebendige Gebrauch" der Sprache im Dialog durch gram-
matische und lexikalische Beschreibungen immer nur annähernd darge-
stellt wird. Es gibt keine identifizierende Erkenntnis von den Bewegun-
gen der Sprachen im Dialog. Der Vollzug der Übersetzung hebt an mit
der differenzstiftenden Kraft des Zwischen und bleibt ,genau' von die-
sem Atopos aus unbeschreibbar und nicht-identifizierbar.
Es ist Teil der Geschichte des okzidentalen Sprachdenkens, daß mit-
tels einheitlicher grammatikalischer und lexikalischer Kategorisierungen
der Nationalsprachen eine Zentralisation der Sprachen anvisiert wurde,
die den „Sieg einer einzigen herrschenden Sprache (eines Dialekts) über
97
B. Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, a. a. O., S. 40 f.
n
Merleau-Ponty führt einige Beispiele für die Unmöglichkeit, Äquivalente zwischen den
Sprachen zu finden, an: „Im Fulani wird die Negation durch die Intonation ausgedrückt,
der Dual des Altgriechischen ist im Französischen mit dem Plural vermischt, der russi-
sche Aspekt besitzt im Französischen nichts Gleichwertiges, und im Hebräischen zeigt
die Form, die Futur genannt wird, in den Erzählungen die Vergangenheit an, während
die Form, die Präteritum genannt wird, dem Ausdruck von Zukünftigem dienen kann,
das Indoeuropäische hat kein Passiv, keinen Infinitiv, das Neugriechische oder das
Bulgarische haben ihren Infinitiv verloren." M. Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt,
übers, von R. Giuliani, München 1984, S. 49.
4.2 VON DER DIALOGISCHEN ERGÄNZUNG DES FREMDEN 307
1W
B. Waldenfels, Dialog und Diskurse, a. a. O , S. 56.
"" Martin Buber, Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, in: H. J. Störig (Hrsg.), Das
Problem des Übersetzens, a. a. O., S. 353. Nicht in jeder Hinsicht fügt sich Buber in
diesen von Benjamin gestifteten Gedankengang ein. Dies wird deutlich mittels einer
impliziten Kritik Benjamins an Buber in einem Brief von 1916, in dem er diesen in die
Nähe einer .Ansicht' rückt, für die charakteristisch ist, „daß sie eine Beziehung der
Sprache zur Tat, in der nicht die erste Mittel der zweiten wäre, überhaupt garnicht in
Betracht zieht. Dieses Verhältnis betrifft gleichermaßen eine ohnmächtige, zum blo
ßen Mittel herabgewürdigte Sprache und Schrift als eine ärmhche, schwache Tat,
ren Quelle nicht in ihr selbst, sondern in irgendwelchen sagbaren und aussprechbaren
Motiven liegt." (Br. 1, 126)
104
Die .Allegorie' erfüllt in diesem Maße alle Bedingungen des von Benjamin in der .Er
kenntnistheoretischen Vorrede' des Trauerspielbuches am Modus der .Konfiguration'
Exponierten, denn in ihr allein konstituiert sich .Wahrheit' als .Vielheit' der .Ideen'.
Vgl. 1214 f. und VI 23.
4.2 VON DER DIALOGISCHEN ERGÄNZUNG DES FREMDEN 309
könnte als Allegorie der Dialog der Sprachen Einzug in die Übersetzung
als Interlinearversion halten. Benjamin steht diesem Entwurf denkbar
nahe, Derrida ist von ihm um den Raum, den der Dialog in ihm einnimmt,
entfernt.
ger die Originalität seiner Nation"105 aufgibt und so ein .Drittes' entste-
hen läßt. Dieses .Dritte' läßt sich noch nicht mit der Vertrautheit und
der Nähe der Sprache der Übersetzung fassen, ist aber zugleich auch
nicht mehr in der fremden Ausgangssprache zuhause. Um das ,Dritte'
zu erreichen, muß allerdings das Fremde der anderen Sprache in die
eigene hineinragen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum vie-
le Übertragungen von einem falschen Grundsatz ausgehen, wie Pannwitz
meint: „sie wollen das indische griechische englische verdeutschen an-
statt das deutsche zu verindischen vergriechischen verenglischen, sie
haben eine viel bedeutendere ehrfurcht vor den eigenen sprachgebräu-
chen als vor dem geiste des fremden werks [...] der grundsätzliche irrtum
des übertragenden ist dass er den zufälligen stand der eigenen spräche
festhält anstatt sie durch die fremde spräche gewaltig bewegen zu lassen,
er muß zumal wenn er aus einer sehr fernen spräche überträgt auf die
letzten demente der spräche selbst wo wort bild ton in eins geht zurück
dringen er muß seine spräche durch die fremde erweitern und vertie-
fen."106
Die Einstrahlung der fremden Sprache .bewegt' die eigene Sprache
.gewaltig'. Dort, wo eine solche formende Bewegung der Sprache gedacht
wird, gibt es ein Bewußtsein von der Historizität der Sprache, ihrem
.Wachstum'. Die Historizität, das heißt das Werden der Sprache und eine
gewisse Fremdheit werden folglich auch von Pannwitz in unmittelbarem
Zusammenhang gedacht. Wie läßt sich dieser Zusammenhang aber nä-
her bestimmen? Bedarf es nicht schon eines gewissen Bodens an Anders-
heit in der eigenen Sprache, damit das Fremde der anderen Sprache in
der eigenen Sprache Einlaß findet? Die letzten Seiten des Benjaminschen
Übersetzeraufsatzes geben Antworten auf diese Fragen. Dort macht Ben-
jamin deutlich, daß das, was von der fremden Sprache her die eigene
.bewegt', sich allerdings nicht mitteilen läßt, es ist das,Nicht-Mitteilbare'.
Das,Nicht-Mitteilbare' der fremden Sprache ist das, was nach Abzug der
.Mitteilung' noch in ihr verbleibt. Benjamin nennt dies, was noch bleibt
und nicht mitteilbar ist, „ein Letztes, Entscheidendes" (IV 19). Ein .Letz-
tes' und .Entscheidendes' ist es - darauf wurde schon wiederholt hin-
gewiesen - , weil es das .Verhältnis' der Sprache zu ihrem .Gehalt' oder
J. W. von Goethe, Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des west-öst
liehen Divans, in: H. J. Störig, a. a. O., S. 35-37.
Rudolf Pannwitz, zitiert nach W. Benjamin, GS, Bd. IV, S. 20.
4.2 VON DER DIALOGISCHEN ERGÄNZUNG DES FREMDEN 311
antwortung dafür, daß mit der Übersetzung - wie Goethe sagt - ein
.Drittes' zu entstehen vermag.
Nicht ganz läßt sich die Fremdheit als .Art des Meinens', die Benja-
min immer mit Blick auf die „Interlinearversion des heiligen Textes"
(IV 21) anzubilden sucht, von dieser religiösen Metaphorik trennen. Die
,Art des Meinens' und die Fremdheit des Unberührbaren stehen auf der
Schwelle zwischen profanem und sakralem Text, das heißt, sie sind we-
der in den nationalen Sprachen noch in profanen oder heiligen Ordnun-
gen zuhause; sie bewegen sich zwischen und im Niemandsland der Spra-
chen und Texte. Besonders hieran knüpft sich die begründete Vermu-
tung, daß das einheitliche Zentrum, das der .Turmbau zu Babel' markie-
ren sollte in einer von Zwischenräumen, Differenzen und Fremdem
durchzogenen Ordnung, weder je denkbar war noch je denkbar sein wird.
Mit dem Babelschen Ereignis beginnt eine sprachliche Ordnung, die ohne
arche und telos auskommt. Wenn es aber weder Zentrum noch arche und
telos gibt in dieser Ordnung, gibt es für die Übersetzung und Weitergabe
von Bedeutungselementen dieser Ordnung keine Orientierungs- und
Kontrollinstanz. Seit Babel ist ein einheitliches Bauen an der Sprache
unmöglich.
Paradigmatisch steht die Übersetzung für dieses Düemma: sie ist ein
sprachliches Gestalten und Bauen mit und in einer Fremde, die unsag-
bar und undenkbar ist. Wie aber läßt sich aufgrund dieser Vorausset-
zungen überhaupt noch übersetzen und sprechen? Sind Übertragungs-
verfahren denkbar, die ohne ein .transzendentales Signifikat' und ohne
ein einheitlich ordnendes Übertragungszentrum auskommen? Es scheint,
daß Kafka sich der Beantwortung dieser Fragen an vielen Steilen seines
Werkes zu nähern bemüht hat. Angelehnt an den Babel-Topos, findet
sich ein solches Annäherungsbemühen in dem Text .Beim Bau der
nesischen Mauer'. Kafka entwirft hier die Konzeption eines Bauwerkes,
das geradezu das .Gegenteil' des kohärenten und einheitlichen Babel-
turmes sein könnte. Der Bau der Chinesischen Mauer wird in einer .Teil-
bauweise' erstellt. An vielen Stellen arbeiten zugleich unabhängig von-
einander viele kleine Gruppen, die .Teilmauern' errichten. Jeweils zwei
Gruppen erstellen in unmittelbarer Nachbarschaft in einem öden Land-
strich Teilmauern. Wenn die Arbeiten an einem Zusammenschluß der
beiden Mauerfragmente abgeschlossen sind, wird nicht am selben Ort
weitergebaut. Die Arbeitsgruppen werden in andere fremde Gegenden
geschickt, um dort ebenfalls Teilmauern zu bauen. „Natürlich entstan-
den auf diese Weise viele große Lücken, die erst nach und nach lang-
4.2 VON DER DIALOGISCHEN ERGÄNZUNG DES FREMDEN 315
sam ausgefüllt wurden, manche sogar erst, nachdem der Mauerbau schon
als vollendet verkündigt worden war. Ja, es soll Lücken geben, die über-
haupt nicht verbaut worden sind, eine Behauptung allerdings, die mög-
licherweise nur zu den vielen Legenden gehört, die um den Bau entstan-
den sind, und die, für den einzelnen Menschen wenigstens, mit eigenen
Augen und eigenem Maßstab infolge der Ausdehnung des Baues unnach-
prüfbar sind."109
Der Einzelne vermag nicht die ganze Ordnung zu umfassen. Ein Bild
kann er sich von dieser ohnehin nur durch Erzählungen anderer machen,
die ihm Worte weiterreichen, die er selbst auch wiederum weitergibt und
die wenig später schon so viele Stimmen enthalten, daß niemand mehr
weiß, von wem und woher sie kamen und wie sie sich fortentwickeln
werden. Ebenso wie bei den Erzählungen über den Mauerbau lassen sich
aber auch die .Teilmauern' selbst keinem Urheber mehr zuweisen. Die
.Vielstimmigkeit' der Teilordnung macht jede Orientierung an einem ein-
heitlich und identisch bedeutenden Ort der Ordnung unmöglich. Die
Dezentralisierung der Ordnungsfragmente ist so radikal, daß immer wie-
der aufs neue hier oder dort im Unwegsamen eines unüberschaubaren
Hügellandes an schon vorhandene Fragmente angebaut wird, daß andere
verfallen und zu Ruinen werden und wiederum andere von .unbegreif-
lich' schnell herumziehenden Nomaden zerstört werden.
Doch festzuhalten ist, daß diese .Teilbauweise' die Anbildung und auch
die Vereinigung fremder Fragmente bis zu einem gewissen Maße erlaubt.
Auch ein Gelehrter kommt in der Geschichte Kafkas vor. Er vergleicht
den Mauerbau mit dem .Turmbau zu Babel' und stellt die These auf, daß
der .Turmbau zu Babel' nur an der „Schwäche des Fundaments schei-
terte".110 Der Mauerbau, so der Gelehrte, biete daher dem Menschen
zum erstenmal ein .sicheres Fundament' für einen neuen Turmbau. Da
aber die Mauer selbst, brüchig und mit Zwischenräumen versehen, nicht
einmal den vierten Teil eines Kreises ausmacht, ist nur schwer zu ver-
stehen, wie dieser zukünftige Turm hätte aussehen sollen. Sicher ist aber,
daß er auf brüchigen Ecksteinen stehen müßte. Er müßte ähnlich wie die
Mauer, dezentral und dekonstruktiv sich permanent neu erfindend, zu-
gleich zerfallen. Ihm müßte eine Allegorizität eignen, die all jene frem-
19
Franz Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, in: Beschreibung eines Kampfes
Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß, hrsg. von Max Brod, Frankfurt a. M
1986,S. 51.
0
F. Kafka, ebd., S. 54.
316 4 DIALOG UND ÜBERSETZUNG
den Stimmen und Bedeutungen anklingen läßt, die er als werdendes, das
heißt als zeitliches Gebilde durchlaufen hat. Es müßte ihm die Verbin-
dung unterschiedlichster und fremdester Ordnungen möglich sein, die
sich mit seiner Hilfe ineinander übersetzen lassen, ohne daß er sogleich
einen einheitlichen und universellen Sinn als Vermitdungsinstanz anzu-
bieten hätte. Ein solches Turmgebilde ist freilich noch nicht denkbar, es
ruht noch an den Rändern und in den Zwischenräumen der Sprachen.
Indem aber fremde Verhältnisse und anderswoher kommende
räume als .Arten des Meinens' in der Übersetzung einander angebildet
werden, werden Annäherungen an sie und Erfahrungen mit ihnen mög-
lich.
Noch deutlicher wird diese sprachliche Ordnung in einem anderen
Text Kafkas exponiert, in dem er das Augenmerk auf die jiddische Spra-
che richtet, und die der Benjaminschen Vision der ergänzten Sprache äh-
nelt. Das Jiddische wird dort als eine Sprache beschrieben, die, anders
als eine Universalsprache oder eine .mathesis universalis', nicht ge-
schichtslos und stilJgestellt ist. In sie geht all die Eile und das Forttreiben
der jüdischen Flucht und ihre stete Wiederkehr ein. „Alles dieses Deut-
sche, Hebräische, Französische, Englische, Slawische, Holländische, Ru-
mänische und selbst Lateinische ist innerhalb des Jargon von Neugier
und Leichtsinn erfaßt, es gehört schon Kraft dazu, die Sprachen in die-
sem Zustande zusammenzuhalten."111 Und sie gehen ein in diesen Jar-
gon' als fremde und sie bleiben es dort auch. Sie verschmelzen nicht zur
einheidichen Weltsprache. Eine Sprache folglich, die nur aus
chen' und ihren vielverzweigten Bezügen und Etymologien besteht. Eine
Sprache, die nur aus Übersetzungen und den durch sie erzeugten Über-
schneidungen und Verwebungen aus Eigenem und Fremdem besteht.
Dies geht ein in das Sprechen dieser Sprache, die mit denen, die sie spre-
chen, sich im Niemandsland und im Zwischenraum zwischen den Natio-
nalitäten und Sprachen bewegt. Sie ist nicht nirgendwo, sondern immer
anderswo, in ihr schreiten die Sprechenden von hier nach dort, von
Fremdezu Fremdevoran. Übersetzung wird für diese Sprache zur Bedin-
gung ihres Fortlebens.
F. Kafka, Rede über die jiddische Sprache, in: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lan-
de und andere Prosa aus dem Nachlaß, hrsg. von Max Brod, Frankfurt a. M. 1986,
S. 306.
317
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Arendt, H. 84 219
Aquin, T. von 34 de Vries, H. 224
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Augusünus 33 ff. 264 ff.
Descartes, R. 20, 35, 260
Baader, F. von 78, 90
Dörr.T. 141, 146
Bachtin, M.M. 252,307
Barthes, R. 42 Engler, K. 187
Baudelaire, C , 77, 79, 160, 169 Evans, C. 200
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258 ff., 264, 274, 283 ff.. 307 ff., Frank, M. 131, 134, 186, 192, 230
314 Frege, G. 11
Bennington, G. 172, 216, 236 Freud, S. 196
Berman, A. 303
Bernet, R. 199,240,276 Gadamer, H.-G. 12, 31, 45 ff., 155,
Böhme, H. 94 157,167,264,291 ff.
Böhme, J. 78,90, 111 Gasche, R. 126, 184
Borges,}. L. 250 Goethe, J . W . 16, 21, 51 ff., 63 f.,
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Breitinger, J.J. 52 Greffrath, K. 134,147, 158,171
Buber, M. 50, 308 Hamacher, W. 217 V
Bühler, K. 16, 35,78, 97 ff., 100 Hamann, J. G. 1 5 , 2 0 , 4 7 , 7 8 , 8 0 , 9 0 ,
Bürger, P. 156 ff., 159,179 108 ff., 111, 115, 174
Bultmann, R. 26 ff., 30, 32 Handelmann, S. 108
Hegel, G. W. F. 254 ff.
Cassirer, E. 35
Heidbrink, L. 312
Celan, P. 223, 225 ff.
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Critchley, S. 281,303 264,273,276, 292, 294, 303, 312
Heidel, A. 23
Culler,J.232,235,247
Heinrich, P. 24
Danielou, J. 24 Herder, J. G. 15, 20, 37 f. 53 ff., 111
de Man.P. 17, 164, 166 ff., 182 ff., Hieronymus 15, 48 ff., 62
247 ff., 251 ff., 298 Hirsch, A. 176
332 PERSONENREGISTER
Sachregister
Abwesenheit 222, 232 Babel 15,17,21 ff., 29, 74.160,
Ähnlichkeit 11,44,52 170 ff., 179,213 ff.
Algorithmus 21,66 ff., 73 Bedeutung 28, 36,52 ff„ 73, 155,
Allegorie 16 ff., 79,118, 120 f., 133, 191,195 ff., 209, 215, 220, 231,
152 ff., 183, 242 ff., 252 ff., 235,247,298 ff.
307 ff., 315 Begegnung 276
Altes Testament 24 Begehren 280
Anbildung (anbilden) 13, 312 ff., 316 Begriff 51, 199,277
Andere, das 228, 265 ff., 272 ff., Bewegung, s. Sprachbewegung
277 ff., 281 ff., 287 ff. Bezeichnendes (s. auch Signifikant,
Andere, der 65, 204, 226, 228, 272, signifiant) 186 ff., 205, 217 ff.,
279,281 ff., 285, 287 ff., 307 223 ff., 238, 240, 244, 246,
Andersheit 13, 36 ff., 4 1 , 45,278 ff., 253 ff., 256
287, 299 ff. Bezeichnetes (s. auch Signifikat,
Anspruch 296 signifie) 186 ff., 217, 219 ff., 223.
.Antlitz' (Levinas) 271 ff., 277 ff. 234, 238,240, 244, 246, 253 ff.
Antwort, antworten, beantworten Bibel 15, 22, 24 ff., 28, 49 ff., 82 ff.,
288 ff., 295 ff., 300 ff. 85,103,106,170 ff., 215
Anzeichen 198 ff. Bruchstück 157, 164 ff.
Appropriation 49
Äquivozität 212,262 Christentum, christlich 25 ff., 28, 33,
Archäologie 22 50,215
arche 32, 172,314 Code, Codifizierung 66 ff.
,Art des Meinens' 13, 145 ff., 151 ff.,
167,178,180,218,227. 258 ff., Darstellung 213
284,311,313,316 Dekonstruktion, dekonstruktiv 183 ff.,
Artikulation 184 ff., 197 229 ff., 234 ff., 238, 240,242,244,
Ästhetik 46, 55 255, 259, 275,288 ff., 291
Asymmetrie 113,139,305 Denken 10,19,29,31,35,44,25.0
Aufgabe 15,53, 119,174, 176 ff., Destruktion, destruküv 17, 154, 171,
290 ff., 302 230
Ausdruck 198 ff., 209 ff., 220 ff., Dezentralisierung 14, 208, 231
298 Dialektik 84.269, 296
Ausgangssprache, ausgangssprach Dialog 13,25,30,45,101,229,264,
lich 10,13, 16, 46, 57, 75, 234 ff., 286 ff., 291, 295 ff., 299 ff.,
305 Dialogizität 101, 252, 286, 291, 300,
Autor53ff.,177 307
336 SACHREGISTER
Original 47,52 ff., 57, 61 ff., 119, Sagen (,dire' - Levinas) 281 ff, 288
130,143 ff., 146, 149,151 ff., .Schibboleth'223 ff., 312 ff.
161,163,171,175,178, 180, Schrift 107 ff., 154, 170, 188, 190,
221 ff., 236 ff., 240,243, 245, 206 ff., 212,228,246, 248,262,
258, 269, 282, 291 267 ff., 277, 279
Schuld 15,25 ff., 32, 34, 170 ff.,
Paradies 25 176 ff., 215,281,302 ff.
Paradoxie 300 Selbe, das 273, 287
Paraphrase 59 Selbe, der 287
Pfingstwunder 28, 34, 74, 179, 215 Signifikant (signifiant) 186 ff., 205,
Pflicht s. Verpflichtung 217,219 ff., 223, 234, 238, 240,
Phänomenologie 183,267
244, 246. 253 ff., 256
Phonozentrismus 204
Signifikat (signifie) 186 ff., 217,
PhüosophielOff., 19, 35,41
219 ff., 223,234,238, 240,244,
Philologie, philologisch 63, 119
246,253 ff„ 256
Physis 32
Sinn 13, 28, 49, 62, 72, 95, 102,
Pluralität 11,20, 126,261
142 ff., 146,148,159 ff., 164,
Poesie, poeüsch 37,55, 57,63,
170, 189, 198, 200, 202 ff., 205,
119 ff.. 124 ff., 132,136,150
209 ff., 213, 215.218, 221, 258,
Präsentation 147
297 ff., 311
Präsenz 203 ff., 244 ff., 265, 267,
Sozialität, sozial 19, 264, 275, 307
272,281
Sprachbewegung (Bewegung) 12, 14,
Profanation, profan 80, 85
148,231,257 ff.,263,276.283,306
Prozeß 238
Sprachdenken 14,16 ff., 19 ff.,
Reflexion 114, 116, 120 ff., 125 ff., 32 ff.. 79, 88.112,154. 306
128, 138,242 Sprachen 10 ff., 14, 314 ff.
Reflexionsmedium 57,118, 122, 125, Sprachentzweiung 75
133, 135,137 Sprachgeschehen 22
Regel 9, 67 Sprachgeschichte 26 ff.
.reine Sprache' (Benjamin) 145, 147, Sprachmagie 85
164,167, 178, 227, 257, 260, 262, Sprachmystik 77 ff., 80, 85, 88, 90 ff.,
265,284,286,313 109,111 ff., 127,136,150 ff.
Religion, religiös 32, 94, 109 Sprachordnung s. Ordnung, sprach-
Repräsentation 147 ff., 150, 153, liche
207, 243, 259 Sprachphilosophie 9, 78, 90 ff., 112,
Reproduktion 79, 127, 134, 136, 242
141,186,233 ff., 242,244,267, Sprachspiel 43 ff.
275 Sprachsystem 66, 192
Rezeption 126 Sprachtheorie, sprachtheoretisch 15,
Rhetorik, Rhetorizität 183,235,243, 91,100,110
247 ff., 250 ff., 298 Sprachvernunft 37, 91
Romantik 37 Sprachverschiedenheit 37 ff.
SACHREGISTER 337
Zeichen 29 ff., 39, 42, 45,47, 63, 70, Zerstreuung 24, 34, 48
98 ff., 184 ff., 200 ff., 209, 214, Zielsprache 10, 13, 56, 20?, :35, )05
217, 232 ff., 243 ff., 253, 256, Zwischen 13, 140, 289 ff.,3(3, )06,
266, 269 ff., 288 308, 313 ff., 316
Zeichensystem 47, 191 Zwischensprache 72
I St, ic ,ak I
l München j
Phänomenologische Untersuchungen
herausgegeben von Bernhard Waldenfels
Erschienen sind: