Sie sind auf Seite 1von 2

Sprachenzentrum der Universität Dortmund – Lehrgebiet Deutsch als Fremdsprache

Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang (DSH)

Und tschüs ... Deutschland wird zum Auswanderungsland

Selten haben sich so viele Menschen in Deutschland dafür entschieden, alles hinter sich zu lassen und
auszuwandern. Circa 150 000 Deutsche sind im vergangenen Jahr (2005) emigriert, das ist fast ein
Viertel mehr als 2002. Zugleich kehren immer weniger aus dem Ausland zurück, zuletzt waren es
weniger als 130 000. Kein Zweifel – Deutschland wird zum Auswanderungsland.

5 Laut einer Studie der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung,
verliert kaum ein anderer Industriestaat so viele Akademiker an das Ausland wie Deutschland: Der
typische Emigrant ist im besten Alter, zwischen 25 und 45, hat eine meist akademische Ausbildung
genossen und schon Karriere gemacht. Wer geht, ist häufig hoch motiviert und gut ausgebildet.
Für Deutschland ist die Auswanderung der Akademiker ein großer Verlust. Einerseits fehlen der
10 deutschen Wirtschaft immer öfter Fachkräfte: Schon drei Millionen gut ausgebildete Deutsche leben
mittlerweile im Ausland, so dass dadurch ca. 16 Prozent der Firmen nicht alle Arbeitsplätze besetzen
können, weil sie keine geeigneten, d.h. qualifizierten Mitarbeiter finden. Beispielsweise gibt es im
Maschinenbau derzeit rund 7000 offene Stellen für Ingenieure. Erst hat Deutschland die Produktion ins
Ausland verlagert, dann die Jobs. Jetzt folgen also seine Bürger.
15 Andererseits verliert der deutsche Staat viel Geld. Denn er gibt viele Tausend Euro aus für die
Ausbildung jedes Mediziners, Informatikers oder Ingenieurs. Aber dann wandern diese gut
ausgebildeten Leute – meist frustriert – aus, so dass Deutschland von ihrer Arbeitskraft nicht profitieren
kann. Am Beispiel der Mediziner will ich den finanziellen Verlust, der dadurch entsteht, dass Akademiker
auswandern, einmal näher zeigen: Von knapp 12 000 Medizinstudenten, die jedes Jahr ihr Studium
20 beginnen, schließen circa 7000 ihr Studium ab. Knapp die Hälfte dieser Absolventen verlässt wiederum
Deutschland. Die Ausbildung dieser etwa 3000 Ärzte kostet den Staat rund 600 Millionen Euro – und
davon profitieren dann die Patienten in Großbritannien, Norwegen oder der Schweiz.

Dass Deutsche das Land verlassen und auswandern ist jedoch kein neues Phänomen. Oft schon hatte
Deutschland regelrechte Auswanderungswellen zu verkraften. Mitte des 19. Jahrhunderts zogen zum
25 Beispiel Hunderttausende in die so genannte Neue Welt, also in die USA, nachdem das Leben in
Deutschland aufgrund mehrerer Hungersnöte schwer geworden war. Im 20. Jahrhundert flüchteten viele
deutsche Auswanderer zuerst wegen der Wirtschaftskrise und der Inflation, später flohen sie vor dem
Terror der Nazis, darunter beispielsweise der Physiker Albert Einstein. Rund fünf Millionen Menschen
verließen zwischen 1850 und 1939 ihre Heimat. Die Emigranten wanderten aus mit der Hoffnung, dass
30 sie es woanders einmal besser haben könnten und wagten deshalb ein neues Leben in einem
vollkommen fremden Land. Auswandern war in diesen Zeiten ein großes Abenteuer.
Sprachenzentrum der Universität Dortmund – Lehrgebiet Deutsch als Fremdsprache
Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang (DSH)

Dagegen ist Auswandern in der grenzenlosen, globalisierten Welt von heute relativ einfach, beinahe ein
Kinderspiel. Denn heute kann sich zum Beispiel jeder über das Land, in das er emigrieren will, vorher
umfassend informieren. Das Internet bietet dafür eine gute Möglichkeit. Außerdem benötigt man für
35 manche Länder – zum Beispiel für Norwegen – nicht einmal eine Arbeitserlaubnis: Es ist dann also mehr
ein Umziehen als ein Emigrieren. Darüber hinaus ist heute jede größere Stadt auf der Welt innerhalb von
36 Stunden erreichbar. Und schließlich: Ein kurzes, ca. zehnminütiges Telefongespräch – egal in
welches Land – kostet meist nicht mal einen Euro, per Internet ist der Kontakt mit der Heimat noch
billiger. Und deshalb – wie schon erwähnt – ist es heutzutage im Vergleich zu früher auch kein so
40 großes Abenteuer mehr, sondern fast schon ein Kinderspiel, seine Heimat zu verlassen und ein neues
Leben in einem fremden Land zu beginnen.
Der wichtigste Grund für eine Emigration ist für alle Menschen zu allen Zeiten immer derselbe: Die
heutigen Auswanderer – wie auch die Emigranten in früheren Zeiten – sehen in ihrem Heimatland keine
Perspektive mehr und wollen sich eine neue Existenz aufbauen, d.h. sie möchten einen Arbeitsplatz
45 finden und ihre wirtschaftliche Situation verbessern.

Aber das Leben in der Emigration ist nicht immer ein Erfolg. Denn oft haben Auswanderer falsche
Vorstellungen von dem Land, in das sie emigrieren. Zum Beispiel ist vielen nicht bekannt, dass
Österreich höhere Steuern verlangt als Deutschland, oder dass man sich in Kanada seinen 14-tägigen
Jahresurlaub erst erarbeiten muss. Außerdem müssen viele Auswanderer feststellen, dass es nicht
50 einfach ist, sich an das neue Land zu gewöhnen. Hierzu kann man Folgendes feststellen. Je älter ein
Auswanderer ist und je stärker sich die Kultur des neuen Landes von der Kultur des Auswanderers
unterscheidet, desto schwieriger ist es, sich an die fremde Umgebung anzupassen und sich dort
einzugewöhnen. Bis irgendwann die Emigranten das tiefe Gefühl von Heimweh spüren.

Allerdings gestaltet sich der Weg zurück in die Heimat oft schwieriger als erwartet. Das folgende Beispiel
55 soll dies zeigen: Ein in Deutschland ausgebildeter Kinderarzt, der besonders auf Hämatologie
spezialisiert ist, war vor Jahren in die USA ausgewandert, weil dort bessere Bedingungen herrschen,
wenn man forschen und gleichzeitig als Professor lehren möchte. Jetzt würde er am liebsten sofort
wieder nach Deutschland zurückkehren. Doch eine Rückkehr wäre für ihn ein Rückschritt. Denn in
Deutschland gibt es nur wenige Möglichkeiten, an einer Universitätsklinik zu forschen und gleichzeitig an
60 der Universität zu unterrichten. Was er zur Zeit in den USA tut, würde er in der Zukunft lieber in
Deutschland machen. Aber in der Heimat bietet sich keine berufliche Perspektive. Wieder ein hoch
qualifizierter Akademiker weniger in Deutschland. (850 Wörter)

(Quelle: Spiegel, 44/2006, S. 106-116, gekürzt / verändert)

Das könnte Ihnen auch gefallen