Sie sind auf Seite 1von 1315

Matthias Bartelmann

Björn Feuerbacher
Timm Krüger
Dieter Lüst
Anton Rebhan
Andreas Wipf

Theoretische
Physik
Theoretische Physik
Matthias Bartelmann  Björn Feuerbacher 
Timm Krüger  Dieter Lüst  Anton Rebhan 
Andreas Wipf

Theoretische Physik
Mit mathematischen Beiträgen von Florian Modler und
Martin Kreh
Matthias Bartelmann Dieter Lüst
Institut für Theoretische Astrophysik Department für Physik
Universität Heidelberg Ludwig-Maximilians Universität München
Heidelberg, Deutschland München, Deutschland

Björn Feuerbacher Anton Rebhan


Heidenheim, Deutschland Institut für Theoretische Physik
Technische Universität Wien
Timm Krüger Wien, Österreich
School of Engineering
University of Edinburgh Andreas Wipf
Edinburgh, Großbritannien Theoretisch-Physikalisches-Institut
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Jena, Deutschland

ISBN 978-3-642-54617-4 ISBN 978-3-642-54618-1 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-642-54618-1

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte
bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Springer Spektrum
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich
vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für
Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in
elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch
ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und
Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Planung und Lektorat: Dr. Vera Spillner, Bianca Alton


Redaktion: Regine Zimmerschied
Zeichnungen: Dr. Kristin Riebe
Einbandentwurf : deblik Berlin, nach einem Entwurf von Kristin Riebe
Einbandabbildung: von longstreet.typepad.com
Projektkoordination: Detlef Mädje

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.

Springer Spektrum ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer
Science+Business Media
www.springer-spektrum.de
Vorwort und einleitende Bemerkungen

Dieses Buch unternimmt den Versuch, die Grundlagen der theoretischen Physik in einem Band darzu-
stellen, wie sie in den Bachelor- und Masterstudiengängen an Universitäten in Deutschland, Österreich
und der Schweiz gelehrt werden. In vier großen Teilen führt es ein in die klassische Mechanik, die
Elektrodynamik, die Quantenmechanik sowie in die Thermodynamik und die statistische Physik. Da-
bei stehen diese Teile nicht nebeneinander, sondern sind durch zahlreiche Querverweise aufeinander
bezogen, sodass die inneren Verstrebungen zwischen den Säulen der theoretischen Physik sichtbar
werden. Erheblich erleichtert durch die weitestgehend einheitliche Notation wird so ein zusammen-
hängender Überblick über die Grundlagen der theoretischen Physik vermittelt.
Zahlreiche Beispiele, fast 700 Verständnisfragen, Vertiefungen, mathematische Ergänzungen und wei-
terführende Überlegungen reichern den Text an und sind grafisch ansprechend abgesetzt. Über 500
genau auf den Text abgestimmte Abbildungen verdeutlichen die Darstellung. Mehr als 300 Übungs-
aufgaben mit kommentierten Lösungen bieten sich für ein intensives Selbststudium an.

Über die theoretische Physik im Allgemeinen


und dieses Lehrbuch
Physik ist eine Erfahrungswissenschaft, die Vorgänge in der (meist unbelebten) Natur zu quantifizie-
ren und auf Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen sucht. Theoretische Physik strebt nach der Einheit
hinter der Vielfalt, nach möglichst fundamentalen Gesetzen, die den zahlreichen Erfahrungstatsachen
zugrunde liegen.
Die moderne Physik hat sich dennoch zu einer fast unüberschaubaren Wissenschaft entwickelt. Wie
in praktisch jedem Wissenschaftszweig überblickt ein einzelner Physiker nur noch einen beschränkten
Teil des Wissensgebiets in einem Maße, wie es der Stand der Forschung gebieten würde, und dies trifft
auch auf die theoretische Physik zu.
Mit diesem Buch möchten wir eine breite Grundlage für das Studium der theoretischen Physik schaf-
fen, die für die meisten einführenden und weiterführenden Vorlesungen ausreichend ist. Es umfasst
mehr, als in einer viersemestrigen Vorlesungsreihe zur theoretischen Physik behandelt werden kann.
Durch eine Gliederung in Haupttext, farbige Merkkästen, vertiefende Kästen und Kästen zum mathe-
matischen Hintergrund, eingestreute Selbsttests in kurzen Abständen, abgesetzte Beispiele und viele
Aufgaben mit ausführlichen Lösungen soll dieses Buch aber ebenso ein Lehrbuch wie ein Arbeitsbuch
darstellen. Darüber hinaus werden Ausblicke in einige Bereiche der theoretischen Physik gegeben, die
nicht Teil des traditionellen Kanons von Einführungsvorlesungen in die theoretische Physik sind.
Die Struktur dieses Lehrbuches orientiert sich an diesem traditionellen Kanon, wie er an vielen Univer-
sitäten geboten wird. Das Buch beginnt mit der klassischen Mechanik, setzt fort mit Elektrodynamik
und spezieller Relativitätstheorie und verlässt die klassische Physik im dritten Teil mit einer umfassen-
den Einführung in die nichtrelativistische Quantenphysik. Der vierte und letzte Teil behandelt zunächst
die von der mikroskopischen Physik weitgehend unabhängige Thermodynamik, bevor deren Grundla-
ge in der statistischen Mechanik inklusive statistischer Quantenmechanik erarbeitet wird.
Die Gesetze der theoretischen Physik, die dabei formuliert werden, nehmen die Gestalt mathemati-
scher Gleichungen an, in denen die mathematischen Symbole semantisch an die Stelle physikalischer
V
VI Vorwort und einleitende Bemerkungen

Größen treten. Die dafür benötigte Mathematik wird dabei parallel zur Physik entwickelt, so wie es
sich auch in der Geschichte der Mathematik und Physik weitgehend zugetragen hat. Dies ersetzt nicht
die separate Ausbildung in Mathematikvorlesungen, soll aber mit einem Fokus auf das Wesentliche
eine schnelle Orientierung erleichtern.
Die in Teil I behandelte klassische Mechanik benötigt für die Formulierung ihrer Aufgabenstellung
Vektorräume und Differenzialoperatoren. Besonderer Wert wurde auf die Beschreibung beschleunigter
Bezugssysteme gelegt, da dies in der Literatur häufig unzureichend behandelt wird. Erhaltungssätze,
die mit Symmetrien verbunden sind, spielen eine entscheidende Rolle, die für die gesamte übrige
theoretische Physik von grundlegender Bedeutung sind. Der Lagrange- und Hamilton-Formalismus
der klassischen Mechanik und seine funktionale Methodik stellt auch eine bedeutende mathematische
Grundlage für alle weiteren Entwicklungen, Feldtheorien wie der Elektrodynamik, der Quantentheorie
sowie der Thermodynamik dar. Wellenphänomene, die vor allem in der Elektrodynamik und Quan-
tenmechanik eine zentrale Rolle spielen, werden bereits in Teil I eingeführt und anhand einiger
mechanischer Phänomene diskutiert. Dabei wird auch von den Fourier-Reihen Gebrauch gemacht.
Teil I beinhaltet einige Themen, die häufig nicht in Einführungskursen der klassischen Mecha-
nik vorgestellt werden. Dazu gehören Gezeitenkräfte, das reduzierte Dreikörperproblem sowie die
Grundlagen der Fluiddynamik. Diese Abschnitte sind optional, liefern aber wertvolle Einblicke in
weiterführende Themen.
Bereits in Teil I wird die Erweiterung der Newton’schen Mechanik durch die spezielle Relativitätstheo-
rie Einsteins behandelt, die traditionellerweise erst im Anschluss an die Elektrodynamik systematisch
entwickelt wird. Hier erlaubt dieses Lehrbuch zwei Vorgangsweisen: Die spezielle Relativitätstheo-
rie kann noch vor der Elektrodynamik im Rahmen der Mechanik ausführlich studiert werden, aber
ebenso ist es möglich, diese Kapitel in die Elektrodynamik zu integrieren und an den Anfang von
Kap. 18 zu stellen, in dem mit einer relativistischen Formulierung der Maxwell’schen Elektrodynamik
fortgefahren wird.
Die Elektrodynamik in Teil II beginnt mit einer nichtrelativistischen Formulierung, wie sie für die
meisten Anwendungen auch naheliegender ist. Anders als in vielen Lehrbüchern zur Elektrodynamik
üblich werden aber bereits im ersten Kapitel von Teil II alle Grundgleichungen der Elektrodynamik
eingeführt und diskutiert, einschließlich der Energie- und Impulserhaltungssätze der Elektrodynamik,
die erkennen lassen, wie bedeutsam der revolutionär neue Feldbegriff von Faraday und Maxwell ist.
Tatsächlich errang dieser in der Folge in der fundamentalen theoretischen Physik eine immer wichtige-
re Rolle. Gleichzeitig machte es eine Weiterentwicklung des mathematischen Apparats erforderlich.
Dementsprechend werden in Teil II Vektoranalysis, partielle Differenzialgleichungen und verallge-
meinerte Funktionen eingeführt. Die weiteren Kapitel widmen sich der Entwicklung der spezifischen
Problemstellungen und Lösungsmethoden der Elektrodynamik. Der historischen Entwicklung fol-
gend werden zunächst die Lösungsmethoden der Elektrostatik vorgestellt, die sich ursprünglich aus
der noch als Fernwirkungstheorie verstandenen Newton’schen Gravitationstheorie entwickelt hatten.
Daran schließt sich ein Kapitel an, in dem mehrere weitere grundlegende mathematische Metho-
den wie die Funktionentheorie und vollständige Funktionensysteme eingeführt werden. Die ebenfalls
darin behandelte Multipolentwicklung bildet in der Folge die Grundlage für die phänomenologische
Elektrodynamik in Anwesenheit von Materie. Diese beginnt mit elektro- und magnetostatischen Phä-
nomenen und wird schrittweise auf dynamische Situationen ausgedehnt. Die allgemeine Ausbreitung
von Wellen und optische Phänomene im Besonderen werden in zwei getrennten Kapiteln besprochen,
da Letzteres nicht immer Teil einer Vorlesung über Elektrodynamik ist.
Nach diesen Kapiteln und vor der Behandlung des Problems der Abstrahlung von elektromagnetischen
Wellen widmet sich ein eigenes Kapitel der relativistischen Formulierung der Elektrodynamik. Die-
ses beginnt mit einem Repetitorium der speziellen Relativitätstheorie, die schon am Ende von Teil I
in zwei Kapiteln – eines zur Kinematik und eines zur relativistischen Mechanik – behandelt wurde.
Die relativistische Formulierung der Elektrodynamik lässt erkennen, dass Magnetismus ein spezifisch
relativistisches Phänomen ist, und erlaubt in seiner vierdimensionalen Formulierung eine elegante Dar-
stellung aller Grundgleichungen. In einem abschließenden, optionalen Abschnitt zur relativistischen
Elektrodynamik in Materie wird dies auch auf die phänomenologische Elektrodynamik ausgedehnt,
was über das übliche Niveau einer Einführungsvorlesung hinausgeht, aber wertvolle tiefere Einblicke
liefert. In dem darauf folgenden Kapitel wird schließlich die Abstrahlung von Wellen besprochen. Das
letzte Kapitel von Teil II enthält eine Diskussion des Lagrange- und Hamilton-Formalismus in der
Vorwort und einleitende Bemerkungen VII

Elektrodynamik. Dieses schließt mit einem Ausblick, in dem das allgemeine Konzept der Eichfeld-
theorien und seine Bedeutung für die Physik fundamentaler Wechselwirkungen besprochen werden.
Teil III verlässt die klassische Physik und wendet sich der nichtrelativistischen Quantenmechanik zu.
Anhand von ernsthaften Problemen der klassischen Physik wird die Notwendigkeit für eine neue Me-
chanik – eine Quantenmechanik – begründet. Viele Konzepte der klassischen Physik, wie z. B. der
Zustand eines physikalischen Systems oder dessen beobachtbare Größen, gewinnen in der Quan-
tenmechanik eine neue Bedeutung. Im Schrödinger’schen Zugang stehen die Wellenfunktion, deren
zeitliche Entwicklung und die mit ihrer Hilfe berechneten Erwartungswerte von Observablen im
Vordergrund. Im Gegensatz zur klassischen Mechanik ist die Quantenmechanik eine lineare Theo-
rie – Wellenfunktionen können überlagert werden und interferieren. Anstelle des Phasenraumes der
klassischen Mechanik tritt ein linearer Hilbert-Raum. Der mathematische Formalismus der Quan-
tenmechanik, d. h. Eigenschaften von Hilbert-Räumen und linearen Operatoren auf Hilbert-Räumen,
werden in Teil III ausgiebig besprochen. Die Quantenmechanik, so wie sie von den meisten Physikern
interpretiert wird, ist nicht deterministisch. Dies kommt bei den wichtigen Unbestimmtheitsrelationen,
z. B. für Ort und Impuls eines Teilchens, oder beim quantenmechanischen Messprozess ganz klar zum
Ausdruck.
Einen großen Raum nimmt in Teil III die Untersuchung von einfachen Systemen ein, z. B. von eindi-
mensionlen Potenzialproblemen, dem harmonischen Oszillator und dem Wasserstoffatom. Man findet
darunter auch optionale Themen, wie kohärente Zustände, Bandstrukturen in periodischen Systemen
oder die algebraische Lösung des Wasserstoffatoms. Das Wechselspiel zwischen Symmetrien und Er-
haltungssätzen spielt in der Quantenmechanik eine noch größere Rolle als in der klassischen Physik
und wird deshalb ausführlich vorgestellt. Der Elektronenspin mit seinen doch etwas ungewöhnlichen
Eigenschaften wird aus gutem Grund behutsam eingeführt, und einige mit dem Spin verbundene
Effekte werden sorgfältig diskutiert. Auch Näherungsmethoden zur Behandlung komplexer Quan-
tensysteme, und insbesondere Mehrteilchensysteme, sind ein wichtiger Bestandteil von Teil III. Die
gewonnenen Resultate über Systeme mit identischen Teilchen sind von großem Nutzen bei der Un-
tersuchung von ultrakalten Quantengasen in Teil IV. Man findet hier auch weiterführende optionale
Themen, z. B. die Hartree-Fock-Näherung. Im abschließenden Kapitel wird die für die Untersuchung
von mikroskopischen Strukturen in Festkörper-, Kern- und Teilchenphysik wichtige Streutheorie be-
handelt.
Teil IV geht in fünf Schritten durch die Thermodynamik und die statistische Physik. Zunächst wird die
Thermodynamik phänomenologisch als diejenige Theorie der Physik eingeführt, die den Energieaus-
tausch und den Verlauf von Ausgleichsprozessen zwischen physikalischen Systemen mit sehr vielen
Freiheitsgraden beschreibt. Drei Hauptsätze bilden das Fundament dieser Theorie: Sie postulieren die
Existenz der Temperatur als einer Zustandsgröße, die Energieerhaltung und die Zunahme der Entropie
bei spontanen Ausgleichsprozessen. Die wesentlichen Aussagen der Thermodynamik werden zwar
häufig am Beispiel des idealen Gases verdeutlicht, gelten aber wegen ihrer Allgemeinheit weit dar-
über hinaus und umfassen das Verhalten beliebiger physikalischer Systeme, sofern diese sehr viele
Freiheitsgrade haben.
Im zweiten Schritt wird die Thermodynamik erneut begründet, diesmal aber ausgehend von statisti-
schen Überlegungen statt von der makroskopischen Phänomenologie der Wärme. Dieser Zugang führt
die gesamte Thermodynamik auf Wahrscheinlichkeitsaussagen im Zustandsraum zurück, wobei sich
der Phasenraum der klassischen Mechanik ebenso wie der Hilbert-Raum der Quantenmechanik für
die Konstruktion des Zustandsraumes eignen. Viele ganz verschiedenartige Erscheinungen lassen sich
damit bereits verstehen und begründen. Das dritte Kapitel von Teil IV widmet sich im Wesentlichen
verschiedenen Anwendungen der Aussagen, die in den beiden ersten Kapiteln gewonnen wurden.
Im vierten Schritt werden Zustandssummen eingeführt, um die unterschiedlichen Beschreibungs-
weisen thermodynamischer Systeme durch verschiedene Ensembles formal zu vereinheitlichen.
Wesentliche, aber ganz diverse Aussagen wie der Gleichverteilungssatz, das Massenwirkungsgesetz
bei chemischen Reaktionen und Phasenübergänge in einfachen magnetischen Systemen werden so auf
eine einheitliche formale Behandlung zurückgeführt.
Der fünfte Schritt führt schließlich in die statische Physik von Quantensystemen, ersetzt den
Zustandsraum der klassischen Physik durch denjenigen der Quantenmechanik, führt die nötigen quan-
tentheoretischen Operationen ein und kehrt dann zu dem im Wesentlichen unveränderten Apparat
VIII Vorwort und einleitende Bemerkungen

der statistischen Physik zurück. Die Anwendungen des bereits bekannten, aber nun auf eine quan-
tenmechanische Basis gestellten Formalismus auf Fermi- und Bose-Gase führen zur Bose-Einstein-
Kondensation, zum Planck’schen Strahlungsgesetz und zur Wärmekapazität von Festkörpern und
münden schließlich in eine weiterführende Betrachtung zum Aufbau weißer Zwergsterne.

Weiterführende Lehrbücher
Mechanik

Budo, A.: Theoretische Mechanik. Wiley (1990) – älteres aber sehr gutes und erschöpfendes Stan-
dardwerk zur klassischen Mechanik. Vorbild für viele spätere Lehrbücher über Mechanik. Neuere
Entwicklungen, z. B. aus der analytischen Mechanik, werden natürlich nicht behandelt.
Goldstein, H., Poole, C.P., Safko, J.L.: Klassische Mechanik. Wiley (2006) – wie Budo ein Klassiker;
umfangreich und gründlich mit Schwerpunkt auf Theorie sowie dem Lagrange- und Hamilton-
Formalismus. In den neuen Auflagen findet man auch eine Einführung in die Chaostheorie.
Kuypers, F.: (2010) Klassische Mechanik. Wiley (2010) – didaktisch sehr gute Darstellung der Me-
chanik mit verständlichen Erklärungen und schönen Anwendungen sowie einer großen Anzahl von
Aufgaben und Lösungen. Man findet hier eine ausführliche Behandlung der Lagrange’schen und Ha-
milton’schen Dynamik.
Scheck, F.: Mechanik. Von den Newtonschen Gesetzen zum deterministischen Chaos. Springer (1992)
– zeitgemäße und mathematisch anspruchsvollere Behandlung der klassischen Mechanik. Im Text und
in den Übungsaufgaben werden sehr viele Probleme der klassischen Mechanik behandelt.

Elektrodynamik und Relativitätstheorie

Becker, R., Sauter, F.: Theorie der Elektrizität, Band 1: Einführung in die Maxwellsche Theorie,
Elektronentheorie, Relativitätstheorie. Teubner (1973) – älteres, aber sehr gutes und umfassendes Stan-
dardwerk zur Elektrodynamik.
Griffiths, D.J.: Elektrodynamik: Eine Einführung. Pearson (2011) – sehr pädagogische Einführung in
die Elektrodynamik und Relativitätstheorie mit ausführlichen Erklärungen der physikalischen Kon-
zepte sowie von vielen Subtilitäten, die in anderen Lehrbüchern oft implizit bleiben.
Jackson, J.D.: Klassische Elektrodynamik. De Gruyter (2013) – Standardwerk, das eine sehr umfas-
sende Darstellung der theoretischen Elektrodynamik bietet, mit vielen exakt gelösten Aufgabenstel-
lungen.
Purcell, E.M.: Elektrizität und Magnetismus. Vieweg (1989) – zweiter Teil des inzwischen ver-
griffenen Berkeley-Physikkurses, der eine der didaktisch besten elementaren Einführungen in die
Elektrodynamik darstellt, mit äußerst vielen hilfreichen Illustrationen.
Römer, H., Forger, M.: Elementare Feldtheorie. Elektrodynamik, Hydrodynamik, Spezielle Relati-
vitätstheorie. Wiley-VCH (1993) – als Buch vergriffen, aber online frei erhältlich unter http://www.
freidok.uni-freiburg.de/volltexte/405/. Eine sehr empfehlenswerte gründliche Einführung in die Feld-
theorie, die mit elementarer Hydrodynamik beginnt, um im Anschluss die Konzepte der Elektrodyna-
mik greifbarer zu machen.

Quantenmechanik

Cohen-Tannoudji, C., Diu, B., Laloë, F.: Quantenmechanik Teil I und Teil II. De Gruyter (1999) – eine
kompetente und beinahe lückenlose Darstellung der Quantenmechanik mit vielen Erklärungen in zwei
Vorwort und einleitende Bemerkungen IX

Bänden. Hier findet man auch sorgfältige Begründungen, die man in anderen Büchern oft vergeblich
sucht.

Gasiorowicz, S.: Quantenphysik. Oldenbourg (2012) – gut verständliche und sorgfältige Darlegung der
Quantenmechanik mit hilfreichen Übungsaufgaben. Ähnlich strukturiert wie Teil III des vorliegenden
Buches.

Griffiths, D.J.: Quantenmechanik. Pearson (2012) – schöne, elementare und detaillierte Einführung in
die nichtrelativistische Quantenmechanik mit vielen Übungsaufgaben.

Münster, G.: Quantentheorie. De Gruyter (2010)– kompakte Darstellung der Quantenmechanik. Hier
findet man auch eine schöne Einführung in die Pfadintegralmethode.

Straumann, N. (2012) Quantenmechanik. Springer – die begrifflichen und mathematischen Grund-


lagen der Quantenmechanik werden hier gründlich und elegant entwickelt. Auch die wichtigen
Symmetrieüberlegungen werden klar herausgearbeitet. Empfehlenswert ist das Buch insbesondere für
mathematisch interessierte Studenten.

Weinberg, S.: Lectures on Quantum Mechanics. CUP (2012) – sehr erhellende, präzise und klare
Darstellung der Quantenmechanik von einem Nobelpreisträger. Hier findet man auch eine ausführliche
Diskussion von Interpretationsfragen. Die Notation ist stellenweise leider etwas gewöhnungsbedürftig.

Thermodynamik und statistische Physik

Huang, K.: Introduction to Statistical Physics. CRC Press (2010) – interessante Darstellung, die phä-
nomenologische und statistische Thermodynamik weitgehend parallel entwickelt.

Kittel, C., Krömer, H.: Thermodynamik. Oldenbourg (2013) – anregend insbesondere wegen seiner
stellenweise unkonventionellen Perspektive.

Reif, F.: Statistische Physik und Theorie der Wärme. De Gruyter (1987) – eine von grundlegenden
statistischen Überlegungen ausgehende Einführung in die Thermodynamik und die statistische Physik.

Stierstadt, K.: Thermodynamik. Von der Mikrophysik zur Makrophysik. Springer (2010) – interessant
vor allem wegen der besonders sorgfältigen Einführung grundlegender Begriffe der Thermodynamik.

Straumann, N.: Thermodynamik. Springer (1986) – eine knappe, dennoch umfassende, mathematisch
fundierte Darstellung der phänomenologischen Thermodynamik.

Buchreihen zur theoretischen Physik

Neben den genannten Lehrbüchern existieren mehrere Lehrbuchreihen, die den gesamten Stoff der
theoretischen Physikvorlesungen abdecken. Davon sind folgende deutschsprachigen Reihen zum Ein-
stieg in die theoretische Physik oder zu einer Vertiefung der Kenntnisse geeignet:

Fließbach, T.: Lehrbücher zur Theoretischen Physik (Springer Spektrum)


Greiner, W.: Theoretische Physik (Harri Deutsch)
Landau, L.D., Lifschitz, E.M.: Lehrbuch der Theoretischen Physik (Harri Deutsch)
Nolting, W.: Grundkurs Theoretische Physik (Springer)
Rebhan, E.: Theoretische Physik (Spektrum)
Reineker, P., Schulz, M., Schulz, B.M.: Theoretische Physik (Wiley-VCH)
Schwabl, F.: Lehrbücher zur Theoretischen Physik (Springer)
X Vorwort und einleitende Bemerkungen

Mathematische Methoden der theoretischen Physik

Die speziellen mathematischen Methoden der theoretischen Physik werden im vorliegenden Buch pa-
rallel zum physikalischen Stoff entwickelt, zum Teil im Haupttext und zum Teil in ergänzenden Kästen
zum mathematischen Hintergrund. Diese fassen das Wesentliche zusammen, ersetzen aber nicht voll-
wertige mathematische Vorlesungen und entsprechende Lehrbücher. Ein mathematisches Lehrbuch,
das in seinen didaktischen Elementen ganz ähnlich strukturiert ist wie dieses und sich speziell an die
Bedürfnisse von Ingenieuren und Naturwissenschaftlern richtet, ist:
Arens T. et al. (2012) Mathematik. Springer Spektrum
Darüber hinaus sehr empfehlenswert:
Großmann S. (2012) Mathematischer Einführungskurs für die Physik. Vieweg-Teubner – eine bewähr-
te, übersichtliche, gut verständliche Einführung in eine Vielzahl mathematischer Methoden, die in der
Physik angewandt werden.
Jänich K. (1995) Analysis für Physiker und Ingenieure. Funktionentheorie, Differentialgleichungen,
Spezielle Funktionen. Springer – eine wirklich lebendige Darstellung der speziellen mathematischen
Methoden der theoretischen Physik mit einer gründlichen Einführung in die komplexe Funktionen-
theorie und zahlreichen gelungenen Illustrationen des Autors.

Dank
Dieses Buch ist das Ergebnis der gemeinsamen, intensiven Anstrengung vieler Menschen, denen die
Autoren zu großem Dank verpflichtet sind. Ganz besonders möchte Anton Rebhan seinen Kollegen Dr.
Dietrich Grau und Dr. Helmut Nowotny sowie seiner Frau und Mitphysikerin Dr. Ulrike Kraemmer
für umfangreiches kritisches Korrekturlesen und wertvolle Hinweise zu den Kapiteln über spezielle
Relativitätstheorie und Elektrodynamik danken. Andreas Wipf dankt Frau Johanna Mader und seiner
Frau Ingrid Wipf für eine kritische Durchsicht der Kapitel über Quantenmechanik sowie Studenten
seiner Vorlesungen in Jena, die Vorschläge zur besseren Darstellung des Stoffes in Teil III machten
und viele nützliche Hinweise gaben. Matthias Bartelmann bedankt sich herzlich bei seinen Mitarbei-
tern und vielen engagierten Studenten seiner Vorlesungen, die durch kritische Fragen und klärende
Diskussionen wesentlich dazu beigetragen haben, Teil IV zu verbessern.
Bedanken möchten wir uns auch bei Herrn Prof. Stephan Wagner von der Landessternwarte Hei-
delberg für die freundliche Überlassung von Materialien zum Astronomie-Praktikum der Sternwarte,
Herrn Prof. Bernd Thaller von der Universität Graz für die Erstellung des dem Teil III vorangestellten
Bildes, Herrn Prof. Rudolf Grimm vom Institut für Experimentalphysik der Universität Innsbruck für
die Überlassung des Bildes zu Beginn von Kap. 22 „Wellenmechanik“, Prof. Alexander Szameit von
der Friedrich-Schiller-Universität Jena für die Bereitstellung des Bildes zu Beginn des Kap. 25 „Zeit-
entwicklung“ und Ruth Bartelmann für das Porträt des Maxwell’schen Dämons bei der Arbeit, das im
Kap. 34 „Statistische Begründung der Thermodynamik“ erscheint.
Zu ganz großem Dank sind wir Frau Dr. Kristin Riebe verpflichtet, die mit großem Engagement, Kom-
petenz und Ideenreichtum die Grafiken dieses Buches gestaltete. Drs. Martin Kreh, Florian Modler und
Michael Kuss halfen bei der Erstellung der mathematischen Einschübe und Christoph Kommer beim
wissenschaftlichen Lektorat. Frau Bianca Alton vom Verlag Springer Spektrum stellte ihre große Er-
fahrung zur Verfügung. Nicht zuletzt danken wir besonders herzlich Frau Dr. Vera Spillner, die uns
zu diesem Projekt zusammengeführt und mit unermüdlichem Enthusiasmus, großer Kreativität, hilf-
reichen Ideen und inspirierenden Diskussionen angetrieben und motiviert hat. Ohne sie wäre dieses
Buch nicht zustande gekommen.

Heidelberg 2014 Matthias Bartelmann, Björn Feuerbacher, Timm Krüger,


Dieter Lüst, Anton Rebhan & Andreas Wipf
Inhaltsverzeichnis

Verzeichnis der mathematischen Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .XXIII

Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .XXV

Teil I Mechanik

1 Die Newton’schen Axiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3


1.1 Definitionen und Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.2 Die Newton’schen Axiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1.3 Eindimensionale Bewegung im homogenen Schwerefeld . . . . . . . . . . . 14
1.4 Energiesatz in einer Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
1.5 Bewegung in drei Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
1.6 Energieerhaltung und konservative Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
Antworten zu den Selbstfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme . . . . . . . . 49


2.1 Drehungen von kartesischen Koordinatensystemen . . . . . . . . . . . . . . . 50
2.2 Galilei-Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
2.3 Beschleunigte Bezugssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
2.4 Kräfte in rotierenden Bezugssystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
2.5 Nichtkartesische Koordinatensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

3 Systeme von Punktmassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87


3.1 Allgemeine Aussagen und Erhaltungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
3.2 Das Zweikörper-Zentralkraftproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
3.3 Das Kepler-Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
3.4 Elastische Stöße und Streuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
XI
XII Inhaltsverzeichnis

3.5 Das reduzierte Dreikörperproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111


3.6 Gezeitenkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
3.7 Mechanische Ähnlichkeit und der Virialsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Antworten zu den Selbstfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

4 Starre Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127


4.1 Freiheitsgrade des starren Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
4.2 Kinetische Energie und Drehimpuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
4.3 Tensoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
4.4 Trägheitstensor und Trägheitsmomente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
4.5 Kontinuierliche Massenverteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
4.6 Bewegungsgleichungen des starren Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
4.7 Rotation des Kreisels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
Antworten zu den Selbstfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165


5.1 Systeme mit Zwangsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
5.2 Lagrange-Gleichungen erster Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
5.3 Lagrange-Gleichungen zweiter Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
5.4 Beispiele zur Anwendung des Lagrange-Formalismus . . . . . . . . . . . . . . 181
5.5 Variationsrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
5.6 Symmetrien und Erhaltungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
Antworten zu den Selbstfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

6 Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
6.1 Freie Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
6.2 Gedämpfte Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
6.3 Erzwungene Schwingungen und Resonanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
6.4 Kleine Schwingungen gekoppelter Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
6.5 Anwendungen gekoppelter Oszillatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
Inhaltsverzeichnis XIII

7 Hamilton-Formalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
7.1 Hamilton-Funktion und kanonische Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . 244
7.2 Kanonische Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
7.3 Grundlagen der Hamilton-Jacobi-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
So geht’s weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

8 Kontinuumsmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
8.1 Lineare Kette und Übergang zum Kontinuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
8.2 Schwingende Saite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
8.3 Fourier-Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
8.4 Lagrange-Formalismus für Felder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
8.5 Grundlagen der Elastizitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
8.6 Ideale Fluiddynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
8.7 Viskosität und Navier-Stokes-Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
So geht’s weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Antworten zu den Selbstfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

9 Spezielle Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319


9.1 Anfang und Ende der Äther-Vorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
9.2 Lorentz-Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
9.3 Minkowski-Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
9.4 Viererformalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
So geht’s weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

10 Relativistische Mechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355


10.1 Punktteilchen, Ruhemasse und Viererimpuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
10.2 Relativistische Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
10.3 Relativistische Teilchenstöße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378
XIV Inhaltsverzeichnis

Teil II Elektrodynamik

11 Die Maxwell-Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381

11.1 Aufstellung der fundamentalen Maxwell-Gleichungen . . . . . . . . . . . . . 383

11.2 Die Lichtgeschwindigkeit in den Maxwell-Gleichungen . . . . . . . . . . . . 397

11.3 Maßsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397

11.4 Energie- und Impulsbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400

11.5 Elektrodynamische Potenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404

Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408

Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417

12 Elektrostatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419

12.1 Das elektrostatische Potenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420

12.2 Green’sche Funktionen und Randwertprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . 422

12.3 Randbedingungen auf Leiteroberflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425

12.4 Bildladungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426

12.5 Elektrische Kapazität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431

12.6 Elektrostatische Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434

Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437

Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation


und Multipolentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445

13.1 Das Fourier-Integral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446

13.2 Integrale in der komplexen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450

13.3 Vollständige Funktionensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458

13.4 Multipolentwicklung in kartesischen Koordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . 462

13.5 Die Kugelflächenfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466

13.6 Multipolentwicklung in Kugelkoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469

Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484
Inhaltsverzeichnis XV

14 Elektrische Felder in Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485


14.1 Makroskopische Elektrostatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486
14.2 Anschlussbedingungen an Grenzflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
14.3 Potenzialgleichung in Dielektrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492
14.4 Elektrostatische Energie in linearen Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509

15 Magnetismus und elektrische Ströme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511


15.1 Magnetostatik im Vakuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512
15.2 Makroskopische Magnetostatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515
15.3 Lösungsmethoden der Magnetostatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522
15.4 Magnetostatische Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526
15.5 Bewegung von geladenen Teilchen in Magnetfeldern . . . . . . . . . . . . . 530
15.6 Elektromotorische Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533
15.7 Makroskopische Elektrodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551

16 Ausbreitung elektromagnetischer Wellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553


16.1 Ausbreitung im Vakuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554
16.2 Ausbreitung in homogenen, linearen Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560
16.3 Ausbreitung in Hohlleitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567
So geht’s weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584

17 Optik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585
17.1 Wellenoptik kontra geometrische Optik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586
17.2 Brechung und Reflexion an Grenzflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586
17.3 Die Eikonalgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592
17.4 Beugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612
XVI Inhaltsverzeichnis

18 Relativistische Formulierung der Elektrodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613


18.1 Repetitorium: Spezielle Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614
18.2 Manifest Lorentz-kovariante Maxwell-Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . 617
18.3 Lorentz-Transformation von Feldstärken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620
18.4 Elektromagnetische Viererkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625
18.5 Relativistische Effekte in der Wellenausbreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . 627
18.6 Relativistische Elektrodynamik in Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643

19 Abstrahlung elektromagnetischer Wellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645


19.1 Retardierte Potenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646
19.2 Bewegte Punktladung: Liénard-Wiechert-Potenziale . . . . . . . . . . . . . . 649
19.3 Der Hertz’sche Dipol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656
19.4 Multipolstrahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658
19.5 Abstrahlung durch relativistisch bewegte Teilchen . . . . . . . . . . . . . . . . 661
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679

20 Lagrange- und Hamilton-Formalismus in der Elektrodynamik . . . . . . . . . . . 681


20.1 Bewegtes Punktteilchen – auch relativistisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682
20.2 Das elektromagnetische Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686
20.3 Das kovariante Noether-Theorem für Felder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690
So geht’s weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699

Teil III Quantenmechanik

21 Die Entstehung der Quantenphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703


21.1 Probleme der klassischen Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704
21.2 Hohlraumstrahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 706
21.3 Lichtquanten und Materiewellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 708
21.4 Quantisierungsregeln von Bohr und Sommerfeld . . . . . . . . . . . . . . . . 716
21.5 Emission, Absorption und Einstein-Koeffizienten . . . . . . . . . . . . . . . . . 719
21.6 Der Spin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720
Inhaltsverzeichnis XVII

Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728

22 Wellenmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729
22.1 Unbestimmtheit für materielle Teilchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730
22.2 Materiewellen für kräftefreie Teilchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732
22.3 Wellenmechanik mit Kräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740
22.4 Erhaltung der Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746
So geht’s weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 754
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759

23 Formalismus der Quantenmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761


23.1 Hilbert-Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 762
23.2 Lineare Operatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769
23.3 Spektralzerlegung von selbstadjungierten Operatoren . . . . . . . . . . . . . 778
23.4 Inverse und unitäre Operatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 782
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 788
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 789
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 794

24 Observablen, Zustände und Unbestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795


24.1 Die Kopenhagener Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 796
24.2 Unbestimmtheitsrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803
24.3 Ist die Quantenmechanik vollständig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 804
24.4 Gemischte Zustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 822

25 Zeitentwicklung und Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 823


25.1 Systeme mit wenigen Zuständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 824
25.2 Dyson-Reihe für den Zeitentwicklungsoperator . . . . . . . . . . . . . . . . . . 830
25.3 Die Bilder der Quantenmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 832
25.4 Zeitentwicklung von Gemischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 836
25.5 Pfadintegrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 836
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 841
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 843
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847
XVIII Inhaltsverzeichnis

26 Eindimensionale Quantensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 849


26.1 Potenzialprobleme und Potenzialstufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 850
26.2 Potenzialwall, Potenzialtopf und Tunneleffekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857
26.3 Der harmonische Oszillator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863
26.4 Kohärente Zustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 867
26.5 Numerische Lösung der Schrödinger-Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 872
So geht’s weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 875
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 878
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 881
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 882
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 887

27 Symmetrien und Erhaltungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889


27.1 Symmetrien und Erhaltungsgrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 890
27.2 Raumspiegelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 891
27.3 Translationen im Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 894
27.4 Bandstruktur für gitterperiodische Potenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 895
27.5 Drehungen und Drehimpuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 900
27.6 Eigenvektoren und Eigenwerte des Drehimpulses . . . . . . . . . . . . . . . . 903
27.7 Addition von Drehimpulsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 908
So geht’s weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 911
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 912
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 914
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 918

28 Zentralkräfte – das Wasserstoffatom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919


28.1 Relativbewegung im Zweiteilchensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 920
28.2 Kugelförmiger Potenzialtopf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 925
28.3 Gebundene Zustände des Wasserstoffatoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 927
28.4 Algebraische Lösung des Wasserstoffatoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 934
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 939
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 940
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 946

29 Elektromagnetische Felder und der Spin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 947


29.1 Beobachtbarkeit der Potenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 948
29.2 Geladenes Teilchen im homogenen Magnetfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . 951
29.3 Der Spin des Elektrons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 955
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 965
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 970
Inhaltsverzeichnis XIX

30 Störungstheorie und Virialsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 971


30.1 Zeitunabhängige Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 972
30.2 Allgemeine Aussagen über Erwartungswerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 981
30.3 Zeitabhängige Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 985
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 992
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 995

31 Mehrteilchensysteme und weitere Näherungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . .1005


31.1 Mehrteilchensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1006
31.2 Das Variationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1014
31.3 Die semiklassische Näherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1016
So geht’s weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1026
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1029
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1032
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1033
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1043

32 Streutheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1045
32.1 Potenzialstreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1046
32.2 Partialwellenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1052
32.3 Resonanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1060
32.4 Elastische Streuung identischer Teilchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1061
So geht’s weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1066
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1069
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1071
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1072
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1077

Teil IV Thermodynamik und statistische Physik

33 Phänomenologische Begründung der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . .1081


33.1 Entwicklung der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1082
33.2 Was ist Thermodynamik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1088
33.3 Temperatur, Zustandsgrößen und Zustandsänderungen . . . . . . . . . . . .1091
33.4 Arbeit und Wärme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1098
33.5 Die idealen Gasgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1100
33.6 Der erste Hauptsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1102
33.7 Der zweite Hauptsatz (1. Teil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1108
33.8 Der zweite Hauptsatz (2. Teil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1118
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1123
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1126
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1127
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1133
XX Inhaltsverzeichnis

34 Statistische Begründung der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1135

34.1 Das Grundpostulat der statistischen Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1136

34.2 Statistische Definition der absoluten Temperatur . . . . . . . . . . . . . . . .1153

34.3 Statistische Definition der Entropie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1157

34.4 Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . .1161

Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1171

Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1174

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1175

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1181

35 Einfache thermodynamische Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1183

35.1 Thermodynamische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1184

35.2 Extremaleigenschaften, Gleichgewicht und Stabilität . . . . . . . . . . . . . .1193

35.3 Das ideale Gas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1196

35.4 Das Van-der-Waals-Gas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1201

35.5 Der Joule-Thomson-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1204

35.6 Allgemeine Kreisprozesse und der Carnot’sche Wirkungsgrad . . . . . . . .1207

35.7 Chemisches Potenzial und Phasenübergänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1210

Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1215

Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1217

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1218

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1222

36 Ensembles und Zustandssummen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1223

36.1 Ensembles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1224

36.2 Die kanonische Zustandssumme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1227

36.3 Großkanonische Zustandssumme und großkanonisches Potenzial . . . . .1235

36.4 Ideales Gas im Schwerefeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1238

36.5 Chemische Reaktionen idealer Gasgemische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1240

36.6 Einfache Modelle für magnetische Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1245

So geht’s weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1249

Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1252

Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1254

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1255

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1259
Inhaltsverzeichnis XXI

37 Quantenstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1261
37.1 Grundlagen der Quantenstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1262
37.2 Besetzungszahldarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1264
37.3 Ideale Quantengase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1266
37.4 Ideale Fermi-Gase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1269
37.5 Ideale Bose-Gase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1271
37.6 Relativistische ideale Quantengase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1277
37.7 Wärmekapazität fester Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1282
So geht’s weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1287
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1289
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1291
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1292
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1297

Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1299

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1301
Verzeichnis der mathematischen Hintergründe

1.1 Vektorräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.2 Metrische und normierte Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1.3 Skalarprodukt, euklidische Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.4 Differenzialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1.5 Differenzialgleichungen – Lösungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
1.6 Vektorprodukt und Levi-Civita-Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
1.7 Differenzialoperatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
1.8 Taylor’scher Satz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
1.9 Der Satz von Stokes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
2.1 Matrizen I – Definition und grundlegende Rechenregeln . . . . . . . . . . . . . . 52
2.2 Matrizen II – Determinanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
2.3 Matrizen III – Matrixinversion und Rechenregeln für Determinanten . . . . . . 59
2.4 Gruppen – Einführung in die Gruppentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
4.1 Tensoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
4.2 Diagonalisierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
5.1 Mannigfaltigkeiten – Eine Verallgemeinerung euklidischer Räume . . . . . . . 168
5.2 Funktionale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
6.1 Lineare Differenzialgleichungen – Homogene und inhomogene Differenzial-
gleichungen, Fundamentalsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
6.2 Komplexe Zahlen – Definition und Rechenregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
6.3 Lineare Differenzialgleichungen – Lösungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
7.1 Legendre-Transformationen – Grundlagen und anschauliche Bedeutung . . . 246
8.1 Funktionenfolgen und Funktionenreihen – Punktweise und gleichförmige
Konvergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
9.1 Dualraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
11.1 Distributionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386
11.2 Rechenregeln für Distributionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
11.3 Integralsätze der Vektoranalysis – Satz von Gauß und Satz von Stokes . . . . . 388
13.1 Komplexe Funktionen I – Definition von holomorphen Funktionen und die
Cauchy-Riemann’schen Differenzialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452
13.2 Komplexe Funktionen II – Potenzreihen und Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . 454
XXIII
XXIV Verzeichnis der mathematischen Hintergründe

13.3 Komplexe Funktionen III – Singularitäten und meromorphe Funktionen . . . . 455


13.4 Separationsansatz zum Lösen partieller Differenzial- gleichungen . . . . . . . . 467
16.1 Bessel-Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561
23.1 Operatoren – Hermitesche und selbstadjungierte Operatoren . . . . . . . . . . . 777
23.2 Spektralprojektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783
26.1 Verzweigungspunkte komplexer Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 862
27.1 Lie-Gruppen und Lie-Algebren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 892
27.2 Darstellungen einer Lie-Gruppe und Lie-Algebra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 896
28.1 Frobenius-Sommerfeld-Methode – Verallgemeinerte Potenzreihenansätze . . 924
28.2 Laguerre-Polynome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 930
30.1 Asymptotische Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 974
32.1 Gammafunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1065
33.1 Homogene Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1095
34.1 Symplektische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1138
34.2 Differenzialformen – Ein Ausblick in die Differenzialgeometrie . . . . . . . . . .1139
34.3 Volumen und Oberfläche der n-Sphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1146
34.4 Kolmogorows Axiome und der Bayes’sche Satz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1164
36.1 Gauß’sche Integrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1232
37.1 Riemann’sche Zetafunktion – Einige Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . .1274
Die Autoren

Matthias Bartelmann ist seit 2003 Professor


für theoretische Astrophysik an der Universität
Heidelberg. Sein besonderes Interesse gilt der
Kosmologie und der Entstehung kosmischer
Strukturen. Für seine Vorlesungen zu verschie-
denen Gebieten der theoretischen Physik und
Astrophysik erhielt er 2008 den Lehrpreis sei-
ner Fakultät.

Björn Feuerbacher hat in Heidelberg Physik


studiert und dort am Institut für Theoretische
Physik über ein Thema der Quantenfeldtheo-
rie promoviert. Nach einer PostDoc-Stelle in
der theoretischen Chemie arbeitet er seit 2007
als Lehrer für Mathematik und Physik an der
Friedrich-Fischer-Schule in Schweinfurt, einer
beruflichen Oberschule.

Timm Krüger hat in Bielefeld und Heidel-


berg Physik studiert und seine Doktorarbeit
am Max-Planck-Institut für Eisenforschung in
Düsseldorf geschrieben. Seit 2013 forscht er
als Chancellor’s Fellow an der Universität von
Edinburgh. Er ist vor allem an der Rheologie
komplexer Flüssigkeiten und der Modellierung
und Simulation von Blutströmungen interes-
siert.

XXV
XXVI Die Autoren

Dieter Lüst ist seit 2004 Professor für mathe-


matische Physik an der Ludwig-Maximilians-
Universität in München und dort Direktor am
Max-Planck-Institut für Physik. Davor war er
von 1993 bis 2004 Professor für Theoretische
Physik an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Sein besonderes Interesse gilt der Stringtheo-
rie.

Anton Rebhan war als Wissenschaftler meh-


rere Jahre an den Forschungszentren CERN
(Genf) und DESY (Hamburg) tätig und ist
seit 2008 Professor für theoretische Physik an
der Technischen Universität Wien und Leiter
der Arbeitsgruppe fundamentale Wechselwir-
kungen. Seine Forschungsschwerpunkte sind
Quantenfeldtheorie und Theorie des Quark-
Gluon-Plasmas. Seit 2014 leitet er zudem eine
Graduiertenschule zur theoretischen und expe-
rimentellen Teilchenphysik.

Andreas Wipf forschte am Dublin Institute for


Advanced Studies, Los Alamos National La-
boratory, Max-Planck-Institut für Physik und
an der ETH-Zürich und ist seit 1995 Pro-
fessor für Quantentheorie an der Friedrich-
Schiller-Universität in Jena. Er ist Direktor des
Theoretisch-Physikalischen Instituts und Spre-
cher eines Graduiertenkollegs zur Gravitation,
Quantenfeldtheorie und Mathematischen Phy-
sik. Diesen Forschungsgebieten gilt auch sein
besonderes Interesse.
Mechanik Teil I

Teil I
Inhaltsverzeichnis

1 Die Newton’schen Axiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3


2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme . . . 49
3 Systeme von Punktmassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
4 Starre Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung . . . . . . . . . . . . . 165
6 Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
7 Hamilton-Formalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
8 Kontinuumsmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
9 Spezielle Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
10 Relativistische Mechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

1
Die Newton’schen Axiome
1

Teil I
Was bedeutet „klassische
Mechanik“?

Wie lauten die


Newton’schen Axiome?

Was ist ein Inertialsystem?

Wie löst man einfache


Bewegungsgleichungen?

Was sind konservative


Kräfte?

Was besagt der


Energieerhaltungssatz?

1.1 Definitionen und Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4


1.2 Die Newton’schen Axiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1.3 Eindimensionale Bewegung im homogenen Schwerefeld . . . . . . . . 14
1.4 Energiesatz in einer Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
1.5 Bewegung in drei Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
1.6 Energieerhaltung und konservative Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
Antworten zu den Selbstfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 3
4 1 Die Newton’schen Axiome

Das vorliegende Kapitel liefert eine Einführung in die grundle- Galileis Erkenntnisse, was auf die Beschreibung der Schwer-
genden Konzepte der klassischen, nichtrelativistischen Mechanik. kraft führte. Nach Newton wurde die Mechanik zur analytischen
Teil I

Ein wichtiges Fundament dieser Theorie ist das physikalische Ver- Mechanik weiterentwickelt. Johann Bernoulli (1667–1748) lös-
ständnis der Begriffe „Raum“ und „Zeit“, „Körper“ und „Masse“, te damit das Problem der Brachistochrone (dies ist die Kurve,
„Kraft“ und „Inertialsystem“. Auf der Basis dieser Größen wer- auf der eine Punktmasse reibungsfrei am schnellsten von einem
den wir die Newton’schen Axiome kennenlernen und erarbeiten. Sie Punkt zu einem anderen fällt; sie wird in Aufgabe 5.5 bespro-
bestimmen, auf welchen Bahnkurven sich Punktmassen bewegen. chen), was die Entwicklung der Variationsrechnung einläutete.
Zusätzlich werden wir zahlreiche mathematische Begriffe definie- Auch weitere Mitglieder der Bernoulli-Familie lieferten wichti-
ren und Techniken kennenlernen, die ein tieferes Verständnis der ge Beiträge zur Mathematik und Physik.
Mechanik überhaupt erst ermöglichen.
Für die Entwicklung der analytischen Mechanik war auch
Leonhard Euler (1707–1783) entscheidend mitverantwortlich.
Nach ihm wurden zahlreiche Gleichungen benannt, die in der
1.1 Definitionen und Grundlagen Variationsrechnung, der Hydrodynamik und der Kreiselbewe-
gung fundamentale Bedeutung besitzen. Jean-Baptiste le Rond
In diesem Abschnitt finden Sie eine kurze historische Einfüh- d’Alembert (1717–1783) legte die Grundsteine für die Kontinu-
rung in die klassische Mechanik. Anschließend werden wir umsmechanik. Joseph-Louis Lagrange (1736–1813) begründete
zentrale physikalische und mathematische Größen einführen so- den Lagrange-Formalismus, dem eine wesentliche Rolle in die-
wie das Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik vorstellen. sem Buch zukommt. Die Hamilton’sche Mechanik, die von
William Rowan Hamilton (1805–1865) ausgearbeitet wurde, ist
heute in der Quantenmechanik unverzichtbar. Die moderne Be-
trachtungsweise von Symmetrien und Erhaltungsgrößen wurde
Eine kurze historische Einführung von Amalie Emmy Noether (1882–1935) entwickelt. Schließlich
in die klassische Mechanik entwickelte Albert Einstein (1879–1955) die spezielle und all-
gemeine Relativitätstheorie fast im Alleingang.
Im Studium der theoretischen Physik beginnt man in den meis- In Teil I wird zunächst die klassische Mechanik behandelt.
ten Fällen mit der Mechanik. Das ist sinnvoll, da sie die älteste Sie beinhaltet sowohl die Newton’sche als auch die Lagrange’
der theoretischen Physikdisziplinen darstellt und sich die grund- sche, die Hamilton’sche sowie die relativistische Mechanik. Die
legenden physikalischen Begriffe in der Mechanik einführen Quantenmechanik jedoch wird als nichtklassisch bezeichnet. Ihr
und auf andere Theorien übertragen lassen. Darüber hinaus ist ist Teil III gewidmet.
die theoretische Mechanik auch die anschaulichste Disziplin, da
sie überwiegend Alltagsphänomene beschreibt. Historisch bau- Die theoretische Mechanik beschreibt die Gesetze, nach denen
en viele andere Physikdisziplinen auf der klassischen Mechanik sich Massen unter dem Einfluss von Kräften mit der Zeit im
auf (z. B. die Quantenmechanik und die statistische Mechanik). Raum bewegen. Kräfte sind dabei die Ursache der Bewegung
Ursprünglich wurde sogar versucht, sämtliche Naturbeobach- und mathematisch und physikalisch noch genauer zu definie-
tungen im Rahmen der Mechanik zu verstehen (mechanisches ren. Die Analyse der klassischen Mechanik führt zu Begriffen
Weltbild). Obwohl dies letztlich nicht möglich ist, spielt die Me- und Methoden, die sich durch die gesamte theoretische Physik
chanik noch immer eine fundamentale Rolle in der Physik; sie ziehen und vor allem für die Quantenmechanik und Quanten-
kann als allgemeine Grundlage der Physik angesehen werden. feldtheorie außerordentlich fruchtbar sind.
Die geschichtliche Entwicklung der Mechanik könnte ein eige- Die klassische Punktmechanik, mit der wir uns zuerst beschäf-
nes Buch füllen. Hier sollen nur die grundlegendsten Meilen- tigen werden, kennt dabei eine Vierheit von Objekten: Körper,
steine zusammengefasst und die wichtigsten Personen genannt Kräfte, Raum und Zeit. Die modernen Theorien für eine Ver-
werden. Archimedes (287–212 v. Chr.) formulierte die soge- einheitlichung der Physik werden später fundamental an diesen
nannten Hebelgesetze und das nach ihm benannte Prinzip. Rund Begriffen einsetzen. Die Feldtheorie, geschichtlich zuerst die
1700 Jahre später wurden die Planetenbahnen von Nikolaus Ko- Elektrodynamik, wird dazu Kräfte und den Raum miteinan-
pernikus (1473–1543) und Tycho Brahe (1546–1601) studiert. der verbinden, die spezielle Relativitätstheorie dann Raum und
Johannes Kepler (1571–1630) gelang es, diese Beobachtungen Zeit, und die allgemeine Relativitätstheorie schließlich ver-
im Rahmen des heliozentrischen Weltbildes zu verstehen. Ga- knüpft Körper mit der Raum-Zeit-Struktur.
lileo Galilei (1564–1642) leistete mit seinen Fallversuchen und
Pendelexperimenten wichtige Beiträge zur Mechanik. Ebenso
formulierte er das nach ihm benannte Relativitätsprinzip.
Der Gültigkeitsbereich
Der wohl wichtigste Physiker in der Geschichte der Mecha- der klassischen Mechanik
nik war Isaac Newton (1643–1727). So formulierte er nicht
nur die fundamentalen Axiome der Mechanik, er entwickelte
auch parallel zu Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) die Dif- Um physikalische Systeme verstehen zu können, müssen häufig
ferenzial- und Integralrechnung und kombinierte Keplers und Vereinfachungen und Idealisierungen vorgenommen werden.
1.1 Definitionen und Grundlagen 5

Dabei versucht man, für das Problem wichtige und unwichtige Die Zeit ist in der nichtrelativistischen Mechanik ein absoluter,
Effekte voneinander zu trennen. Eine dafür wesentliche mathe- kontinuierlicher und unabhängiger Parameter. Das heißt unter

Teil I
matische Methode ist die sogenannte Taylor-Entwicklung, die anderem, dass sich jedem Ereignis ein eindeutiger Zeitpunkt t
im Laufe dieses Kapitels erläutert wird. Erst durch dieses Vor- zuordnen lässt und sich alle Ereignisse eindeutig zueinander an-
gehen wird es überhaupt möglich, Theorien und Naturgesetze ordnen lassen (ein Ereignis kann somit gleichzeitig, früher oder
zu formulieren. Unser erstes Beispiel für dieses Vorgehen ist später als ein anderes Ereignis eintreten). Es wird im Rahmen
die Approximation von ausgedehnten Körpern durch Punktmas- der Newton’schen Mechanik postuliert, dass es eine für alle Be-
sen. Hierbei werden die räumliche Ausdehnung und mögliche zugssysteme universelle Zeit gibt. Von dieser Hypothese muss
innere Freiheitsgrade der Objekte vernachlässigt. So gelten die man in der speziellen Relativitätstheorie abrücken.
Newton’schen Gesetze beispielsweise zunächst auch nur für
Punktmassen. Die Auswirkungen der Ausdehnung der Objekte Der Nullpunkt der Zeit ist im Allgemeinen frei wählbar. Letz-
kann allerdings später durch zusätzliche Gleichungen beschrie- teres wird als Homogenität der Zeit bezeichnet. Um Zeiten zu
ben werden. messen, benötigt man nicht zuletzt periodische Vorgänge (z. B.
die Tageslänge, die Schwingungsdauer eines Pendels oder einer
In der klassischen Mechanik werden Körper als Punkte be- Lichtwelle).
stimmter Masse, sogenannte Punktmassen, beschrieben. Ihre Kräfte wirken in der nichtrelativistischen Mechanik instan-
Ausdehnung ist dabei klein gegenüber den Dimensionen des tan, d. h. von ihrer Wirkung wird angenommen, dass sie sich
Gesamtsystems. Die Begriffe „klein“ und „groß“ sind hier als mit einer unendlichen Geschwindigkeit ausbreitet; Ursache und
relative Bezugsangaben zu verstehen. So ist beispielsweise die Wirkung einer Kraft ereignen sich also gleichzeitig.
Erde im Vergleich zu einer Raumstation, die sie umkreist, groß.
Relativ zur Ausdehnung der Sonne oder sogar der Milchstraße Die klassische, nichtrelativistische Mechanik ist gültig in alltäg-
ist die Erde jedoch klein. lichen Dingen, bei denen

Eine Punktmasse wird allein durch ihre Masse m und ihren Ort Geschwindigkeiten klein gegenüber der Lichtgeschwindig-
x.t/ zur Zeit t beschrieben. Ausgedehnte starre Körper kön- keit sind,
nen dann als Systeme von Punktmassen aufgefasst werden, Abstände groß gegenüber Atomdurchmessern sind,
deren Abstände untereinander konstant sind. Punktmassen sind Abstände klein gegenüber kosmologischen Ausdehnungen
Idealisierungen, da sämtliche Alltagsgegenstände eine Aus- sind,
dehnung besitzen. Andererseits können beispielsweise einige Massen hinreichend klein sind.
Elementarteilchen wie Elektronen doch als Punktmassen ange-
sehen werden, da es experimentell bisher nicht gelungen ist,
eine innere Struktur von Elektronen zu beobachten. Die obere Die spezielle Relativitätstheorie wird sich als eine Erweiterung
Grenze für den Elektronenradius liegt bei weniger als 1018 m. der Newton’schen Mechanik erweisen, in der Geschwindigkei-
ten nicht auf Werte beschränkt sind, die klein gegenüber der
Der physikalische Raum, in dem sich die klassische Mechanik Lichtgeschwindigkeit sind. Sie wird in Kap. 9 diskutiert. Im
abspielt, ist ein kontinuierlicher, dreidimensionaler Vektorraum Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie, die in diesem Buch
(siehe „Mathematischer Hintergrund“ 1.1). Dieser Raum ist nicht behandelt wird, werden sowohl kosmologische Abstän-
flach, also nicht gekrümmt, d. h., dass die Summe der Innenwin- de als auch beliebig große Massen, die den Raum krümmen,
kel eines Dreiecks stets 180° beträgt. Beispiele für gekrümmte betrachtet. Systeme, bei denen die Abstände in der Größenord-
zweidimensionale Räume sind die Oberflächen einer Kugel nung von Atomdurchmessern liegen, werden durch die Quan-
oder eines Sattels. tenmechanik in Teil III beschrieben.
Im Rahmen der klassischen Mechanik sind die Eigenschaften
des Raumes unabhängig von der Existenz von Körpern und
deren Bewegung. Die Lage von Körpern wird stets relativ zu Einführung der mechanischen Grundgrößen
anderen Körpern, den Bezugssystemen, angegeben. Ein häufig
anzutreffendes Bezugssystem ist das sogenannte Laborsystem,
das durch die Wände desjenigen Labors definiert ist, in dem Die Gleichungen der klassischen Mechanik lassen sich mithil-
Experimente durchgeführt werden. Wir werden später darauf fe der linearen Algebra formulieren. Zu diesem Zweck führen
zurückkommen, welche Bezugssysteme am geeignetsten sind, wir hier alle für den Anfang relevanten Größen ein und begin-
um physikalische Gesetze zu formulieren. nen mit dem Ortsvektor x. Ein Ortsvektor x einer Punktmasse
m beschreibt ihre Position im Raum relativ zu einem Koordina-
Im Allgemeinen gelten die Annahmen der Homogenität und tensystem. Ausgedehnte Körper werden zusätzlich durch ihre
Isotropie des Raumes, d. h., ein Bezugssystem kann beliebig Orientierung relativ zu den Achsen des Koordinatensystems
(aber zeitunabhängig) verschoben und gedreht werden. Typi- charakterisiert. Sie werden in Kap. 4 behandelt. Die grundle-
scherweise wird ein kartesisches Koordinatensystem für das Be- genden Konzepte der klassischen Mechanik lassen sich jedoch
zugssystem gewählt (siehe „Mathematischen Hintergrund“ 1.2 anhand von Punktmassen veranschaulichen, bevor der Schritt zu
und darauf aufbauend den „Mathematischen Hintergrund“ 1.3). ausgedehnten Objekten unternommen wird.
6 1 Die Newton’schen Axiome

1.1 Mathematischer Hintergrund: Vektorräume


Teil I

Auf den ersten Blick haben die Menge der Verschiebun- Nachdem wir den Begriff „Körper“ definiert haben, kön-
gen im R3 , die Menge der Polynome einer Veränderlichen nen wir den Begriff Vektorraum präzisieren. Dieser enthält
mit rationalen Koeffizienten vom Grad kleiner gleich n und Elemente, sogenannte Vektoren, die sich addieren und mit
die Menge der Paare von reellen Zahlen nicht viel gemein- Elementen des Körpers vervielfachen lassen.
sam. Tatsächlich jedoch handelt es sich bei allen dreien um
Vektorräume, denn man kann die Elemente dieser Mengen Definition Vektorraum Eine Menge V ist ein Vektorraum
addieren und vervielfachen, und dabei gelten gewisse Re- über einem Körper K, wenn
geln, z. B. das Kommutativ- und Assoziativgesetz. Um den
Begriff „Vektorraum“ allgemein fassen zu können, müssen es eine Addition V  V ! V: .x; y/ 7! x C y gibt, sodass
wir zuerst die relevanten Eigenschaften der reellen Zahlen .V; C/ eine abelsche Gruppe ist;
formulieren. es eine skalare Multiplikation K  V: .; x/ 7! x gibt
mit den Eigenschaften
Definition Körper Eine Menge K ist ein Körper, wenn es – .x C y/ D x C y,
– . C /x D x C x,
eine Addition K  K ! K; .x; y/ 7! x C y gibt, sodass – ./x D .x/,
K n f0g bezüglich der Addition eine additive abelsche – 1x D x
Gruppe ist (Gruppen werden im „Mathematischen Hin- für alle ;  2 K und x; y 2 V.
tergrund“ 2.4 vertieft.):
– Assoziativgesetz: Es gilt x C .y C z/ D .x C y/ C z für
alle x; y; z 2 K. Die Anforderungen an die skalare Multiplikation stellen da-
– Existenz des neutralen Elements: Es gibt ein Element bei nur sicher, dass die skalare Multiplikation im Vektorraum
0 2 K, sodass für alle x 2 K gilt x C 0 D x. und die Multiplikation innerhalb des Körpers zueinander
– Existenz des Inversen: Zu jedem Element x 2 K gibt kompatibel sind. Die Untersuchung von Vektorräumen ist
es ein inverses Element x mit x C .x/ D 0. Gegenstand der linearen Algebra. Wichtige Ergebnisse sind:
– Kommutativgesetz: Für alle x; y 2 K gilt xCy D yCx. Existenz einer Basis Es gibt Vektoren fb1 ; b2 ; : : : g  V,
eine Multiplikation K  K ! K; .x; y/ 7! xy gibt, sodass Vektor v 2 V eindeutig als (endliche) Li-
sodass sich jeder P
K n f0g bezüglich der Multiplikation eine multiplikative nearkombination i i bi schreiben lässt.
abelsche Gruppe ist:
– Assoziativgesetz: Es gilt x.yz/ D .xy/z für alle x; y; z 2 Dimension eines Vektorraumes Alle Basen eines Vektor-
K. raumes sind gleich mächtig, d. h., zwischen beliebigen zwei
– Existenz des neutralen Elements: Es gibt ein Element Basen B1 und B2 eines Vektorraumes V gibt es eine bijektive
1 2 K, sodass für alle 1 2 K gilt 1x D x. (d. h. umkehrbare) Abbildung B1 ! B2 . Besteht eine Ba-
– Existenz des Inversen: Zu jedem Element 0 ¤ x 2 K sis eines Vektorraumes V nur aus endlich vielen Elementen,
gibt es ein inverses Element x1 mit x.x1 / D 1. dann haben alle Basen von V die gleiche Länge. Diese Länge
– Kommutativgesetz: Für alle x; y 2 K gilt xy D yx. bezeichnet man als Dimension von V.
das Distributivgesetz erfüllt ist: Es gilt x.y C z/ D xy C xz Koordinaten eines Vektors Ist fe1 ; e2 ; : : : ; en g eine Basis
für alle x; y; z 2 K.
des n-dimensionalen Vektorraumes V, kann man jeden Vek-
tor v 2 V eindeutig schreiben als v D x1 e1 C x2 e2 C : : : C
Die Gruppen .K; C/ bzw. .K n f0g; / nennt man abelsch xn en . Das n-Tupel
(nach dem norwegischen Mathematiker Niels Henrik Abel, 0 1
1802–1829), da die Gruppen das Kommutativgesetz erfül- x1
len. Beispiele für Körper sind die rationalen Zahlen Q und Bx2 C
B C
die reellen Zahlen R. Die Menge der rationalen Funktionen B :: C
@:A
einer Veränderlichen mit reellen Koeffizienten R.X/ bildet
xn
ebenfalls einen Körper. Es gibt auch endliche Körper, z. B.
die Restklassen modulo 7.
nennt man die Koordinaten von v bezüglich der Basis
In der Physik werden die Elemente eines Körpers als Skalare fe1 ; e2 ; : : : ; en g und notiert diese als Spaltenvektoren. Um
bezeichnet. Es handelt sich dabei praktisch immer um reel- Platz zu sparen, werden in diesem Buch die Koordinatenvek-
le und komplexe Zahlen (R und C). Zu komplexen Zahlen toren auch als transponierte Zeilenvektoren .x1 ; x2 ; : : : ; xn />
siehe Kap. 6. notiert.
1.1 Definitionen und Grundlagen 7

Die Koordinaten eines Vektors hängen von der Wahl der Ba- Literatur
sis ab. So hat z. B. das Polynom f .X/ D 1 C  C 3X
 12X
2

Teil I
bezüglich der Basis f1; X; X 2 g die Koordinaten 2 und be- Jänich, K.: Lineare Algebra. 10. Aufl., Springer (2004)
3 Modler, F., Kreh, M.: Tutorium Analysis 1 und Lineare
 der Basis f1; 1 C X; 1 C X C X g die Koordinaten
2
züglich
 Algebra 1. 3. Aufl., SpringerSpektrum (2014)
1
1 .
3

x3 Unter der Geschwindigkeit einer Punktmasse versteht man die


Änderung ihres Ortes mit der Zeit. Hierzu vergleicht man die
Position der Punktmasse zu verschiedenen Zeiten t und t C t
und betrachtet den Grenzwert
m
dx.t/ x.t C t/  x.t/
WD lim : (1.2)
dt t!0 t
Dies ist die Zeitableitung des Ortes nach der Zeit (siehe auch
x(t) „Mathematischer Hintergrund“ 1.7). Die Geschwindigkeit einer
Punktmasse ist dann definiert als
dx.t/
v .t/ D DW xP .t/: (1.3)
dt
x2 Generell bezeichnet ein Punkt über einem Funktionssymbol die
Zeitableitung dieser Funktion. Die Anzahl der Punkte gibt die
Ordnung der Zeitableitung an: Ein Punkt steht für die erste Ab-
x1
leitung, zwei Punkte für die zweite usw.
Abb. 1.1 Die Bahnkurve x.t/ einer Punktmasse m (hier zusammen mit ih- Die Ableitung einer vektorwertigen Funktion wird berechnet,
rer Projektion auf die x1 -x2 -Ebene dargestellt) umfasst die zusammenhängende indem die Ableitung jeder einzelnen Komponente bestimmt
Menge aller Punkte, die m im Laufe der Zeit durchläuft wird, z. B. 0 1
xP 1 .t/
xP .t/ D @xP 2 .t/A : (1.4)
Im gesamten Buch werden Vektoren im dreidimensionalen Vek- xP 3 .t/
torraum R3 fett gedruckt. In der Regel werden Vektoren als
Spaltenvektoren dargestellt, z. B. Achtung Streng genommen gilt diese Definition der Ge-
0 1 0 1 schwindigkeit (1.3) nur in nicht rotierenden kartesischen Ko-
x1 x
ordinatensystemen, da man zwischen einem Vektor und seiner
x D @x2 A oder x D @yA : (1.1)
x3 z Darstellung in einem Koordinatensystem unterscheiden muss.
Um der Übersicht in diesem Kapitel Vorrang vor Vollständig-
Die entsprechenden Zeilenvektoren nennt man transponiert. Sie keit zu geben, werden die entsprechenden Verallgemeinerungen
werden in der Form x> D .x1 ; x2 ; x3 / geschrieben. Eine mathe- erst in Kap. 2 diskutiert. J
matische Einführung in Vektorräume und die Darstellung eines
Vektors in einem Koordinatensystem finden Sie im „Mathema- Die Beschleunigung einer Punktmasse schließlich ist die Ände-
tischen Hintergrund“ 1.1. rung ihrer Geschwindigkeit mit der Zeit,

Vektorräume spielen in der Physik eine zentrale Rolle. Mit ihrer dv .t/ d2 x.t/
a.t/ D D DW xR .t/; (1.5)
Hilfe lassen sich alle Größen beschreiben, deren Linearkombi- dt dt2
nationen wieder einen Vektor ergeben. Man begegnet Vektoren und somit die zweite Zeitableitung des Ortes.
über die Mechanik hinaus in praktisch allen physikalischen Dis-
ziplinen. In Aufgabe 1.1 wird die Vektorrechnung vertieft.
Die Bahnkurve x.t/ einer Punktmasse ist die zentrale Größe in Das klassische Relativitätsprinzip
der Mechanik von Punktmassen. Sie gibt an, wie sich ihre Ko-
ordinaten im gewählten Bezugssystem mit der Zeit t ändern. Das Relativitätsprinzip besagt, dass zwei mit konstanter Ge-
Die Bahnkurve enthält alle Raumpunkte, welche die Punktmas- schwindigkeit relativ zueinander bewegte Koordinatensysteme
se im Laufe der Zeit durchläuft. Dies ist in Abb. 1.1 dargestellt. äquivalent sind, d. h., keines dieser beiden Systeme ist irgend-
In Kap. 2 werden wir detailliert untersuchen, wie die Koordi- wie vor dem anderen ausgezeichnet. Durch eine Messung lässt
naten einer Punktmasse von der Wahl des Koordinatensystems sich folglich nicht entscheiden, ob ein gegebenes System ruht
abhängen und wie man zwischen verschiedenen Koordinaten- oder sich mit konstanter Geschwindigkeit bewegt. Nur die rela-
systemen transformieren kann. tive Geschwindigkeit zweier Systeme ist messbar.
8 1 Die Newton’schen Axiome

1.2 Mathematischer Hintergrund: Metrische und normierte Räume


Teil I

Metrische und normierte Räume werden eingeführt, um den kxk D jj kxk (Homogenität)
Abstandsbegriff zwischen Punkten im R3 auf beliebige Men- kx C yk  kxk C kyk (Dreiecksungleichung)
gen zu verallgemeinern. Dies geht wie folgt:

Definition Metrik Eine Metrik auf einer Menge X ist eine für alle x; y 2 V und  2 K.
Abbildung d W X  X ! R mit den Eigenschaften Ein Vektorraum V mit Norm kk wird als normierter Raum
bezeichnet. Jeder normierte Raum ist durch d.x; y/ WD kx 
d.x; y/  0, d.x; y/ D 0 , x D y (Definitheit)
yk auch ein metrischer Raum. Ein vollständiger normierter
d.x; y/ D d.y; x/ (Symmetrie)
Raum heißt Banach-Raum.
d.x; z/  d.x; y/ C d.y; z/ (Dreiecksungleichung)
Vektoren v 2 V mit kv k D 1 nennt man Einheitsvektoren
für beliebige x; y 2 X. Die Dreiecksungleichung besagt an- bezüglich der Norm kk. In diesem Buch werden Einheitsvek-
schaulich nichts anderes, als dass jeder Umweg von x nach toren in der Regel fett und mit einem Hut dargestellt, z. B. vO .
z über y länger ist als der direkte Weg von x nach z. Eine
Menge X mit einer Metrik d wird als metrischer Raum be- Beispiele
zeichnet. p
Rn mit kxkk WD k jx1 jk C jx2 jk C : : : C jxn jk
Mithilfe der Metrik kann der aus R bekannte Konvergenz- Rn mit kxk1 WD max.jx1 j; jx2 j; : : : ; jxn j/ (Maximums-
begriff auf X übertragen werden: Eine Punktfolge .xn / aus norm)
X konvergiert gegen x 2 X, wenn die Folgenglieder irgend- der Vektorraum der integrierbaren Funktionen f W Œ0; 1
R1
wann beliebig nahe bei x liegen, d. h. wenn es zu jedem " > 0 ! R mit der Norm kf k WD 0 jf .x/j dx
ein n" 2 N gibt, sodass d.xi ; x/ < " für alle i  n" gilt. der Vektorraum der beschränkten Funktionen f W I ! R
auf einem Intervall I  R mit der Supremumsnorm
Auch der Begriff einer Cauchy-Folge lässt sich aus R über-
kf k1 WD supff .x/ j x 2 Ig (das Supremum einer nach
tragen: Eine Folge .xn / aus X heißt Cauchy-Folge, wenn die
oben beschränkten nichtleeren Menge M  R ist die
Folgenglieder irgendwann beliebig nahe beieinander liegen,
kleinste obere Schranke aller Elemente von M)
d. h. wenn es zu jedem " > 0 ein n" 2 N gibt, sodass
d.xi ; xj / < " für alle i; j  n" gilt. Hat der metrische
Raum die Eigenschaft, dass jede Cauchy-Folge konvergiert, Die euklidische Norm kk2 im Rn entspricht genau der Länge
so nennt man den Raum vollständig. des durch die Komponenten .x1 ; x2 ; : : : ; xn / beschriebenen
Verschiebepfeiles. Außerdem ist kxk1 D limk!1 kxkk .
Definition Norm Sei V ein reeller oder komplexer Vektor-
raum über K (d. h. über K D R oder K D C). (Komplexe Äquivalenz von Normen In einem Vektorraum kann es
Zahlen werden in Kap. 6 besprochen.) Eine Norm auf V ist mehrere verschiedene Normen geben (siehe obige Beispie-
eine Abbildung kk W V ! R, v 7! kv k mit le). In endlich-dimensionalen Vektorräumen sind allerdings
alle Normen äquivalent und führen auf den gleichen Konver-
kxk  0, kxk D 0 , x D 0 (Definitheit) genzbegriff.

Sämtliche physikalischen Gesetze, die im Rahmen der klassi- Kräften verknüpft sind, welche diese Beschleunigungen erzeu-
schen Mechanik aufgestellt und abgeleitet werden, liefern daher gen.
identische Resultate in allen Bezugssystemen, die sich rela-
tiv zueinander mit einer konstanten Geschwindigkeit bewegen.
Dies kann man sich folgendermaßen veranschaulichen: Sitzt
man im Zug und beobachtet durch das Fenster einen anderen 1.2 Die Newton’schen Axiome
Zug und physikalische Phänomene in seinem Inneren, so kann
man daraus nicht ableiten, ob der eigene Zug vorwärts oder der Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit den Newton’schen Axio-
andere rückwärts fährt. Nur die Relativgeschwindigkeit der Zü- men, welche die Grundlage der klassischen Mechanik bilden.
ge ist direkt bestimmbar, wenn man nicht zusätzlich die Gleise Sie können als fundamentale Naturgesetze innerhalb eines be-
oder die Landschaft beobachtet (und damit ein weiteres Bezugs- stimmten, in der Einleitung beschriebenen Geltungsbereichs
system heranzieht). angesehen werden. Weiterhin werden Inertialsysteme definiert,
in denen die Grundgleichungen der Mechanik eine besonders
Im Gegensatz zu Geschwindigkeiten sind Beschleunigungen je- einfache Form annehmen. Der Begriff des Inertialsystems ist
doch stets messbar. Wir werden in Kürze sehen, dass sie eng mit eng mit dem der Kräfte und Beschleunigungen verbunden, was
1.2 Die Newton’schen Axiome 9

1.3 Mathematischer Hintergrund: Skalarprodukt, euklidische Räume

Teil I
Das Skalarprodukt von Vektoren im Rn ist schon aus der Vektoren einer Basis fe1 ; e2 ; : : : ; en g und die Koordinaten
Schule bekannt. Es gilt nun, dieses Konzept auf Vektorräume von
P x und y bezüglich
P dieser Basis bekannt Psind. Für x D
zu verallgemeinern. x e
i i i und y D y e
j j j ergibt sich hx; yi D i;j xi yj hei ; ej i.

Definition Skalarprodukt Sei V ein Vektorraum über dem Orthogonalität von Vektoren Zwei Vektoren x und y in
Körper K. Ein Skalarprodukt ist eine Abbildung V  V ! K V heißen orthogonal (bezüglich des Skalarprodukts h; i),
(wobei wir hier nur die Körper K D R oder K D C wenn hx; yi D 0 ist. Eine Basis von V, bei der verschiedene
betrachten; wer mit den komplexen Zahlen noch nichts an- Basisvektoren zueinander orthogonal sind, also hei ; ej i D 0
fangen kann, kann sich hier immer K D R vorstellen), für alle i ¤ j gilt, nennt man Orthogonalbasis von V.
.x; y/ 7! hx; yi mit den Eigenschaften Für eine Orthogonalbasis vereinfacht sich das Skalarprodukt
P
N 1 ; y1 i C hx zwischen x und y zu hx; yi D i xi yi hei ; ei i. Gilt jetzt auch
hx1 C x2 ; y1 i D hx N 2 ; y1 i (Bilinearität) noch hei ; ei i D 1 für alle i, sind also alle Basisvektoren Ein-
hx1 ; y1 C y2 i D hx1 ; y1 i C hx1 ; y2 i heitsvektoren, so spricht man von einer Orthonormalbasis
hx; xi  0, hx; xi D 0 , x D 0 (Definitheit) von V. Bezüglich einer Orthonormalbasis kann das Skalar-
produkt zweier Vektoren einfach ausPden Koordinaten der
für alle x; x1 ; x2 ; y1 ; y2 2 V und ;  2 K. Hierbei bezeichnet Vektoren berechnet werden: hx; yi D i xi yi .
N das komplex Konjugierte zu . Im Falle K D R kann die
Ausgehend von einer beliebigen Basis von V kann man in
komplexe Konjugation weggelassen werden.
endlich vielen Schritten eine Orthonormalbasis von V finden
Bei Vektoren x; y 2 R3 wird in diesem Buch für das Skalar- (Gram-Schmidt’sches Orthogonalisierungsverfahren).
produkt auch die Schreibweise x  y verwendet. Man spricht
häufig auch vom inneren Produkt. Geometrische Bedeutung Im R3 bezüglich der Standard-
basis (kartesische Koordinaten) gilt xy D jxjjyj cos ˛, wobei
Definition euklidischer Raum Ein Vektorraum über R mit ˛ der zwischen x und y eingeschlossene Winkel ist. Dies
Skalarprodukt heißt euklidischer Raum. rechtfertigt auch die Verwendung des Begriffs orthogonal für
xy D 0, denn nur in diesem Fall stehen die Vektoren x und y
Jeder euklidische Raum ist durch kv k WD .hv ; v i/1=2 auch
im R3 genau senkrecht aufeinander. Ist yO ein Einheitsvektor,
ein normierter Raum. In euklidischen Räumen sind die Ein-
dann ist im R3 das Skalarprodukt x yO genau gleich der Länge
heitsvektoren genau die Vektoren mit hv ; v i D 1.
der Projektion von x auf yO . Ist fe1 ; e2 ; : : : ; en g eine Orthogo-
Im Folgenden sei V endlich-dimensional. Aufgrund der Bi- nalbasis von V, dann können die Koordinaten von x mithilfe
linearität des Skalarprodukts kann man den Wert von hx; yi des Skalarprodukts berechnet werden: xi D hx; ei i. Auch hier
berechnen, wenn alle Skalarprodukte hei ; ej i zwischen den sind die Skalarprodukte gleich den Projektionen von x auf ei .

wiederum eine Diskussion der Masse erfordert. Im Anschluss


wird das Konzept des Gravitationsfeldes eingeführt. Abschlie- durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zu-
ßend werden die physikalischen Einheiten vorgestellt, die zur stand zu ändern.
Quantifizierung mechanischer Systeme verwendet werden.

Durch dieses Axiom wird das Beharrungsvermögen des Kör-


pers, seine Trägheit, postuliert. Weiterhin definiert man als
Bewegungsgröße das Produkt aus Masse m und Geschwindig-
Das erste Newton’sche Axiom keit v als den Impuls
p D mv : (1.6)
Das erste Newton’sche Axiom wird auch Trägheitsgesetz oder Somit besagt das Trägheitsgesetz, dass der Impuls erhalten ist,
Lex Prima genannt.
p D const; (1.7)

Erstes Newton’sches Axiom wenn Kräfte abwesend sind. Die Begriffe „Masse“ und „Kraft“
verwenden wir hier zunächst rein intuitiv, sie müssen noch defi-
Jeder Körper beharrt in seinem Zustand der Ruhe oder niert werden. Die Masse m, die im Bewegungsgesetz auftritt, sei
gleichförmigen geradlinigen Bewegung, wenn er nicht hier jedoch als die träge Masse eingeführt, auf die wir in Kürze
zurückkommen werden.
10 1 Die Newton’schen Axiome

Das zweite Newton’sche Axiom Punktteilchen drei Freiheitsgrade besitzt, jeweils einen für die
Bewegung entlang jeder Raumrichtung. Die Anzahl der Frei-
Teil I

heitsgrade entspricht folglich der Anzahl der unabhängigen


Das zweite Newton’sche Axiom wird auch als Bewegungsgesetz Parameter, die ein System beschreiben. Unterliegt ein System
oder Lex Secunda bezeichnet. Zwangsbedingungen (z. B. die eingeschränkte Bewegung auf ei-
ner Tischplatte), so ist die Zahl der Freiheitsgrade reduziert. Wir
Zweites Newton’sches Axiom werden uns in Kap. 5 ausführlich mit diesem Thema beschäf-
tigen. Im Folgenden gehen wir aber zunächst davon aus, dass
Die Änderung der Bewegung ist der Einwirkung der keine Zwangsbedingungen existieren.
bewegenden Kraft proportional und geschieht nach der
Richtung derjenigen geraden Linie, nach welcher jene Das zweite Newton’sche Axiom kann über den axiomatischen
Kraft wirkt. Status hinaus als Naturgesetz aufgefasst werden, da es aus
empirischen Beobachtungen abgeleitet wurde und Vorhersagen
erlaubt. Es ist somit das Grundgesetz der Mechanik.
In mathematischer Form lautet es
Offensichtlich ist das erste Newton’sche Axiom ein Spezial-
fall des zweiten: Für eine konstante Masse ändert sich die
pP D F; (1.8)
Geschwindigkeit nicht, wenn keine Kraft auf die Punktmasse
wirkt. Allerdings ist es möglich, dass sich eine Masse zeitlich
wobei der Impuls p die Bewegungsgröße ist. Für eine zeitlich
ändert, was auf die Gleichung
konstante Masse gilt wegen (1.6)

mRx D F: (1.9) P x C mRx D F


mP (1.11)

Unter der Trägheit einer Masse versteht man also den Wider- führt. Dieser Fall wird in Abschn. 1.3 anhand der Raketenglei-
stand gegen eine Beschleunigung: je größer die träge Masse m, chung diskutiert. In den meisten mechanischen Problemen ist
desto kleiner die Beschleunigung xR für eine gegebene Kraft F. die Masse jedoch konstant und m P D 0.

Kräfte werden definiert, indem man Messvorschriften angibt,


die z. B. eine unbekannte mit einer bekannten Kraft vergleichen.
Die Gravitationskraft wird dabei häufig als Referenzkraft ver- Das dritte Newton’sche Axiom
wendet.
Im Allgemeinen sind Kräfte Funktionen von Ort und Ge- Das dritte Newton’sche Axiom charakterisiert die Wechselwir-
schwindigkeit. Wir wollen hier annehmen, dass sie nur von kung zweier Punktmassen.
momentanen Größen und nicht von Eigenschaften des Systems
in der Vergangenheit abhängen. Die Lorentz-Kraft, die auf ein
Drittes Newton’sches Axiom
geladenes Teilchen im Magnetfeld wirkt, ist beispielsweise ge-
schwindigkeitsabhängig. Sie wird in Teil II gründlich behandelt, Die Wirkung ist stets der Gegenwirkung gleich, d. h., die
wird aber auch bereits in Aufgabe 1.4 ein erstes Mal untersucht. Wirkungen zweier Körper aufeinander sind stets betrags-
Reibungskräfte sind ebenfalls von der Geschwindigkeit abhän- gleich, aber von entgegengesetzter Richtung.
gig. Auf sie wird in Abschn. 1.3 wieder eingegangen. Beispiele
für geschwindigkeitsunabhängige Kräfte sind die Gravitations-
und die Coulomb-Kraft, die beide proportional zum inversen Dieses Reaktionsgesetz oder Lex Tertia ist insbesondere in sei-
Abstandsquadrat sind. Diese beiden Kräfte wirken außerdem ner prägnanten Form actio = reactio bekannt. Mathematisch
entlang des Abstandsvektors, formuliert lautet es
F12 D F21 ; (1.12)
F12 k ˙ .x1  x2 /; (1.10)
wobei F12 die Kraft ist, die von einer zweiten Punktmasse auf
wobei x1 und x2 die Positionen der beiden wechselwirkenden die erste ausgeübt wird. Entsprechend ist F21 die Kraft, welche
Punktmassen sind. Kräfte, welche diese Eigenschaft besitzen, die zweite Punktmasse durch die erste erfährt. Hierbei spielt es
nennt man Zentralkräfte. Wir werden in Kürze auf die Gravita- keine Rolle, durch welchen physikalischen Mechanismus die
tionskraft zwischen zwei Punktmassen zurückkommen. Kräfte F12 und F21 erzeugt werden. Das dritte Newton’sche
Axiom ist in Abb. 1.2 dargestellt.
Man erkennt, dass Bewegungsgleichungen in der Regel zwei-
te Ableitungen des Ortes nach der Zeit beinhalten und somit Achtung In der Literatur wird die Indexreihenfolge der Kräf-
Differenzialgleichungen sind (siehe „Mathematischer Hinter- te häufig genau anders herum notiert. Der Vorteil der hier
grund“ 1.4 und 1.5). Im Allgemeinen führen die Gleichungen gewählten Schreibweise ist, dass der erste Index (der am nächs-
der Mechanik für N Teilchen auf 3N Differenzialgleichun- ten am Kraftsymbol steht) die betrachtete Punktmasse an-
gen zweiter Ordnung. Der Faktor 3 rührt daher, dass jedes gibt. J
1.2 Die Newton’schen Axiome 11

als lineare Überlagerung von Zweikörperkräften der Form F12


gebildet werden können. Dies gilt z. B. nicht mehr, wenn Effek-

Teil I
te der allgemeinen Relativitätstheorie ins Spiel kommen. J

Inertialsysteme und ihre Bedeutung


für die klassische Mechanik

Koordinatensysteme lassen sich aus mathematischer Sicht be-


liebig wählen. Physikalisch gesehen stellt sich jedoch die Frage,
−F +F
ob es eine Klasse von Koordinatensystemen gibt, die gegenüber
anderen ausgezeichnet sind. Offenbar macht es physikalisch
Abb. 1.2 Wirft eine im Boot sitzende Person ein Fass nach rechts, so wirkt wäh- einen Unterschied, ob die Bahnkurve einer Punktmasse in ei-
rend des Wurfes eine Kraft CF auf das Fass, während die Person die Kraft F nem Bezugssystem betrachtet wird, das sich mit ihm bewegt,
erfährt. Dies ist eine direkte Folge des dritten Newton’schen Axioms in (1.12). oder in einem Bezugssystem, das sich relativ dazu bewegt. Dies
Dadurch wird das Boot nach links beschleunigt
führt auf den Begriff der Inertialsysteme. Ein Inertialsystem ist
ein solches Bezugssystem, in dem das erste Newton’sche Axi-
om gilt, in dem sich also ein kräftefreier Körper geradlinig-
gleichförmig bewegt. Man bezeichnet Bezugssysteme dann als
F Inertialsysteme, wenn sie sich mit einer geradlinigen und kon-
stanten Geschwindigkeit gegenüber den Fixsternen bewegen.
F2

Inertialsysteme
m F1
Inertialsysteme sind Bezugssysteme, in denen sich ein
Abb. 1.3 Die Gesamtkraft F auf eine Punktmasse m ist die Superposition der kräftefreier Körper geradlinig-gleichförmig bewegt.
beiden Einzelkräfte F1 und F2 . Diese Aussage gilt für beliebig viele Einzelkräfte,
wird hier aber aus Gründen der Übersichtlichkeit nur für zwei Kräfte gezeigt
Ein Beispiel für ein Bezugssystem, in dem das erste New-
ton’sche Axiom in der Form (1.7) nicht gilt, ist eine rotierende
Das vierte Newton’sche Axiom Scheibe. Auf ihr kann eine Punktmasse nur dann in Ruhe blei-
ben, wenn sie durch eine Kraft festgehalten wird. Es ist zu
betonen, dass Naturgesetze im Allgemeinen und das zweite
Es gibt eine wichtige Erweiterung zu den Newton’schen Axio- Newton’sche Axiom im Speziellen auch in Nichtinertialsyste-
men. Von Newton selbst als Zusatz formuliert, bezeichnet man men formuliert werden können, dabei aber in der Regel kom-
den folgenden Zusammenhang heute häufig als Lex Quarta. plexer sind. Eine entsprechende Erweiterung der Bewegungs-
gleichungen (1.9) auf beschleunigte und krummlinige (d. h.
Viertes Newton’sches Axiom nichtkartesische) Bezugssysteme wird in Kap. 2 besprochen.

Wirken auf einen Punkt mehrere Kräfte, so addieren sich Frage 1


diese vektoriell zu einer resultierenden Kraft auf. Überlegen Sie sich, warum ein Flugzeug während des Flug-
es näherungsweise als Inertialsystem aufgefasst werden kann,
nicht jedoch während Start und Landung.
Dieses Superpositionsprinzip ist tatsächlich von entscheidender
Bedeutung für die Mechanik und die gesamte Physik. In mathe-
matischer Schreibweise lautet es Das Zusammenspiel von Inertialsystemen, Kräften und dem ers-
ten Newton’schen Axiom weist auf ein Dilemma hin, das bereits
X
N
von Newton erkannt wurde: Die Definitionen von Kräften und
FD Fi ; (1.13) Inertialsystemen sind zyklisch verbunden. Erst wenn ein Inerti-
iD1
alsystem eingeführt wurde, kann man Kräfte sinnvoll definieren,
da vorher nicht klar ist, ob eine nicht geradlinig-gleichförmige
wobei die N Kräfte Fi auf eine Punktmasse wirken und zu einer
Bewegung auf eine Kraft oder darauf zurückzuführen ist, dass
resultierenden Kraft F aufaddiert werden können (Abb. 1.3).
das Bezugssystem kein Inertialsystem ist. Andererseits kann
Achtung In der klassischen Mechanik werden Mehrkörper- man Inertialsysteme nicht definieren, ohne auf Kräfte Bezug zu
kräfte (z. B. F123 oder F1234 ) ausgeschlossen. Stattdessen wird nehmen, weil sie als Bezugssysteme definiert sind, in denen sich
angenommen, dass alle Kräfte in einem mechanischen System kräftefreie Körper geradlinig-gleichförmig bewegen.
12 1 Die Newton’schen Axiome

Da Kräfte nicht ohne Klarheit über Inertialsysteme und Iner- Aus dieser Beobachtung lässt sich ableiten, dass schwere und
tialsysteme nicht ohne Klarheit über Kräfte definiert werden träge Massen proportional sind.
Teil I

können, wird diese Problematik häufig schlicht verschwiegen


und ignoriert. Es ist jedoch möglich, die zyklische Argumen- Frage 2
tation durch Näherungen zu umgehen. Die Erdoberfläche, die Machen Sie sich klar, dass aus dem zweiten Newton’schen Axi-
jedem Menschen als Laborsystem geläufig ist, ist streng genom- om und dem Galilei’schen Fallgesetz direkt folgt, dass träge und
men kein Inertialsystem, da sie sich relativ zu den Fixsternen schwere Massen proportional sein müssen.
dreht. Jedoch sind die damit verbundenen Effekte in der Regel
so klein, dass sie im Alltag kaum eine Rolle spielen. In solchen
Wie wir in Kürze sehen werden, kann die Proportionalität von
Fällen kann man die Erdoberfläche als Inertialsystem ansehen.
träger und schwerer Masse durch eine geeignete Wahl der Gra-
Ausnahmen sind beispielsweise tropische Wirbelstürme, die
vitationskonstanten G in eine Gleichheit überführt werden. Im
erst durch die Erddrehung entstehen können. Solche Wirbelstür-
Folgenden wird daher generell nicht mehr zwischen träger und
me werden durch die Erddrehung beeinflusst, da ihre Ausdeh-
schwerer Masse unterschieden. Die Äquivalenz von schwerer
nung nicht mehr klein gegenüber dem Erdradius ist. Wir kom-
und träger Masse ist im Rahmen der klassischen Mechanik nicht
men in Kap. 2 darauf zurück. Streng genommen bilden auch
erklärbar, bildet allerdings eine wichtige Voraussetzung für die
die Fixsterne kein Inertialsystem, da Galaxien rotieren. Ein voll-
allgemeine Relativitätstheorie und findet dort eine natürliche Er-
ständiger Umlauf dauert aber viele Millionen Jahre und kann für
klärung.
alle alltäglichen Phänomene getrost vernachlässigt werden.

Schwere und träge Masse


In der klassischen Mechanik (und sogar darüber hinaus)
Schwere und träge Massen sind schwere und träge Masse äquivalent.

Der trägen Masse sind wir bereits im Zusammenhang mit dem


ersten Newton’schen Axiom (1.6) begegnet. Sie ist die Eigen- Im Rahmen der nichtrelativistischen Mechanik ist ferner die Ge-
schaft eines Körpers, sich einer Beschleunigung durch eine samtmasse in einem abgeschlossenen System erhalten. Sie kann
Kraft zu widersetzen, und sie ist in allen Bezugssystemen iden- weder erzeugt noch vernichtet werden. Allerdings kann Mas-
tisch. Je größer also die träge Masse m eines Körpers ist, desto se von einem Teilsystem in ein anderes übertragen werden. So
kleiner fällt die Beschleunigung a bei einer gegebenen Kraft ist zwar die Masse einer Rakete nicht erhalten, aber die Ge-
F aus. Träge Massen lassen sich auf verschiedene Arten be- samtmasse der Rakete und des ausgestoßenen Treibstoffs sind
stimmen. Das offensichtliche Verfahren ist, die Beschleunigung konstant.
unter der Wirkung einer bekannten Kraft zu messen. Durch
Stoßexperimente zweier Körper lässt sich die unbekannte trä-
ge Masse des einen Körpers bestimmen, wenn diejenige des
anderen gegeben ist. Dabei muss die Kraft, welche die Körper
Das Gravitationsfeld
während des Stoßes aufeinander ausüben, nicht bekannt sein.
In (1.14) wurde die Gravitationskraft zwischen zwei Punktmas-
Die schwere Masse hingegen wird über die Gravitationskraft de- sen m1 und m2 an den Orten x1 und x2 eingeführt:
finiert, die eine Masse m1 auf eine zweite Masse m2 ausübt:
Gm1 m2 x2  x1
Gm1 m2 r Gm1 m2 F21 .x2  x1 / D  2 jx  x j
: (1.15)
F21 D D eO r : (1.14) jx2  x 1j 2 1
r2 r r2
Diese Gleichung lässt sich auch in anderer Weise interpretieren,
Hierbei ist r WD x2  x1 der Vektor, der von der Punktmasse indem sie in der Form
m1 zu m2 zeigt, r ist seine Länge und eO r ist der Einheitsvektor
entlang des Vektors r. Die Größe G ist die Gravitationskon- F21 .x2  x1 / D m2 g1 .x2 / (1.16)
stante. Die schwere Masse eines Körpers kann durch Wägen
bestimmt werden, indem man die durch die Erde verursach- geschrieben wird. Hierbei ist
te Gravitationskraft auf diesen Körper misst und mit der Kraft
vergleicht, die auf einen Körper mit bekannter schwerer Masse Gm1 x  x1
g1 .x/ D  (1.17)
wirkt. Dies ist auch der Grund, warum im alltäglichen Sprach- jx  x1 j2 jx  x1 j
gebrauch Massen fälschlicherweise durch Gewichte (Kräfte)
gleichgesetzt werden („. . . wiegt ein Kilo“). das Gravitationsfeld, das von der Punktmasse m1 am Ort x er-
zeugt wird. Dieses Feld wird von der Punktmasse m2 am Ort
Das empirische Galilei’sche Fallgesetz besagt, dass alle Körper x2 wahrgenommen. Obwohl mathematisch gleichwertig, unter-
im Gravitationsfeld der Erde gleich schnell fallen, also gleich scheiden sich beide Betrachtungsweisen physikalisch grundle-
stark beschleunigt werden, wenn Reibung vernachlässigt wird. gend:
1.2 Die Newton’schen Axiome 13

Im Kraft-Bild existiert die Kraft F21 .x2 x1 / nur dann, wenn Tab. 1.1 Wichtige mechanische Größen und ihre SI- und CGS-Einheiten. Die
zwei Punktmassen m1 und m2 im Abstand jx1 x2 j gravitativ Einheiten für Länge, Zeit und Masse sind die Grundeinheiten, alle anderen sind
abgeleitete Einheiten. In Abschn. 11.3 werden die Einheiten der Elektrodynamik

Teil I
wechselwirken.
aufgelistet
Das Gravitationsfeld g1 .x/ ist jedoch auch in Abwesenheit
der Punktmasse m2 definiert, und zwar an jedem Punkt im Größe SI-Einheit CGS-Einheit
Raum. Befindet sich nun m2 am Ort x2 , so führt dies auf eine Länge m cm
Anziehungskraft, die F21 .x2  x1 / entspricht. Zeit s s
Masse kg g
Geschw. m s1 cm s1
In der Physik, insbesondere bei der Beschreibung der Ele- Beschl. m s2 Gal D cm s2 (Gal)
mentarteilchen, ist der Begriff der Kopplung sehr wichtig. Man Kraft N D kg m s2 (Newton) dyn D g cm s2 (Dyn)
sagt, dass bestimmte Größen (z. B. Masse oder Ladung) an ein Energie J D N m (Joule) erg D dyn cm (Erg)
Feld koppeln (z. B. an das Gravitations- oder elektromagneti- Leistung W D J s1 (Watt) erg s1
sche Feld). Kopplungskonstanten geben dann die Stärke der
Wechselwirkung an. Es ist sinnvoll, in diesem Bild zu denken,
da gewisse Teilchen bestimmte Felder nicht wahrnehmen bzw.
nicht an sie ankoppeln. Ein Beispiel ist eine ungeladene Punkt- Der Grund ist das zweite Newton’sche Axiom in (1.9), das Mas-
masse im elektromagnetischen Feld. se, Raum und Zeit (in Form der zweiten Ableitung des Ortes
nach der Zeit) und die Kraft in Relation setzt. Die vier Grund-
Frage 3 größen sind daher nicht unabhängig voneinander.
Man mache sich klar, dass die Gravitationskraft F21 .x2  x1 /
gleichwertig in den Formen F21 D m2 g1 .x2 / und F12 D Genau wie für die Impulsänderung und Kraft im zweiten New-
m1 g2 .x1 / geschrieben werden kann. ton’schen Axiom lässt sich die Proportionalität von schwerer
und träger Masse in eine Gleichheit umwandeln. Hierfür ist es
nötig, die Gravitationskonstante G entsprechend zu definieren.
Das physikalische Konzept von Feldern spielt in der theoreti- Zur Veranschaulichung gehen wir von der Kraft aus, die eine
schen Physik eine zentrale Rolle, wird aber in der klassischen Masse m1 auf eine Masse m2 ausübt (1.14). Die Masse der Er-
Mechanik noch nicht benötigt. Es wird daher erst in Teil II aus- de sei m2 , und eine Testmasse mit m1 D 1 kg befinde sich auf
führlich besprochen. Dort wird sich schließlich herausstellen, der Erdoberfläche und somit etwa 6378 km vom Zentrum der
dass ein physikalisches Feld wesentlich mehr als eine mathe- Erde entfernt, r D 6378 km. Durch eine Messung wird festge-
matische Hilfsgröße darstellt. stellt, dass eine Gravitationskraft von F D 9:81 N auf m1 wirkt.
Die Gravitationskraft in (1.14) beschleunigt m1 , sodass aus dem
zweiten Newton’schen Axiom
Die Einheiten der mechanischen Größen Gms1 ms2
mt1 a1 D (1.19)
r2
Die Gültigkeit des zweiten Newton’schen Axioms (1.9) setzt ei-
ne geeignete Wahl der Einheiten von Masse, Beschleunigung folgt. Hier wird explizit zwischen trägen (mt ) und schweren
und Kraft voraus. Dies kann man sich anhand der Gleichung Massen (ms ) unterschieden. Nimmt man Proportionalität von
schwerer und träger Masse an,
pP D  F (1.18)

klarmachen, wobei  eine Konstante ist. Dieses allgemeiner ms D ˇmt ; (1.20)


gehaltene zweite Newton’sche Axiom sagt aus, dass Impulsän-
derung und Kraft proportional sind, wobei  die entsprechende schreibt man
Proportionalitätskonstante ist. Nun lassen sich die Einheiten so
wählen, dass  D 1 wird und das bekannte zweite Newton’sche Gˇms2
a1 D : (1.21)
Axiom in Erscheinung tritt. r2
Am häufigsten werden in der Physik die SI-Einheiten (Systè-
Durch Absorption von ˇ in die Gravitationskonstante kann eine
me international d’unités) oder die CGS-Einheiten (Centimetre
Gleichheit von schwerer und träger Masse erzielt werden.
Gram Second) verwendet. Für mechanische Systeme werden
dabei stets drei Grundeinheiten benötigt, von denen andere
Bei bekanntem Erdradius kann auf diese Weise übrigens nur
Einheiten abgeleitet werden. Die wichtigsten mechanischen
das Produkt von Erdmasse und Gravitationskonstante gemes-
Größen und ihre SI- und CGS-Einheiten sind in Tab. 1.1 auf-
sen werden. Die Bestimmung der Erdmasse ist nur möglich,
gelistet.
wenn die Gravitationskonstante in unabhängigen Experimenten
Obwohl es in der klassischen Mechanik vier Grundgrößen gibt bestimmt wird, z. B. durch die Gravitationskraft zwischen zwei
(Masse, Raum, Zeit, Kraft), werden nur drei Einheiten benötigt. Kugeln bekannter Masse (Cavendish-Experiment).
14 1 Die Newton’schen Axiome

1.3 Eindimensionale Bewegung oder Impuls) ein zentraler Aspekt der gesamten theoreti-
schen Physik. Dies wird im Verlauf dieses Buches vielfach
im homogenen Schwerefeld
Teil I

deutlich werden.

Man unterscheidet dabei in der Mechanik die Begriffe Kinema-


Nachdem wir nun zentrale mathematische Größen und die New-
tik und Dynamik. Die Kinematik befasst sich lediglich mit der
ton’schen Axiome eingeführt haben, liegt der Fokus dieses
Abschnitts auf der Lösung einiger einfacher mechanischer Pro- Untersuchung der Beschleunigung, Geschwindigkeit und Bahn-
kurve von Massen, ohne nach den wirkenden Kräften zu fragen.
bleme. Die eindimensionale Bewegung einer einzelnen Punkt-
Im Gegensatz dazu beschreibt die Dynamik außerdem, welche
masse unter dem Einfluss eines homogenen Schwerefeldes wird
anhand von einigen Beispielen untersucht. Dazu gehören der Kräfte auf die Massen wirken und welche Mechanismen dafür
verantwortlich sind.
freie Fall und der Fall mit Reibung. Weiterhin wird die Rake-
tengleichung hergeleitet und für einen Spezialfall gelöst. Da es Im Folgenden wird die Bewegung einer Punktmasse unter dem
sich bei den Bewegungsgleichungen um Differenzialgleichun- Einfluss einer homogenen Gravitationskraft untersucht.
gen handelt, werden diese mathematisch genauer beleuchtet und
einige Lösungsverfahren vorgestellt.

Der freie Fall aus geringer Höhe


Vorbemerkungen zur Lösung
Der einfachste, nichttriviale Spezialfall für ein äußeres Kraftfeld
mechanischer Probleme ist ein homogenes Kraftfeld:
F.x/ D const: (1.22)
Das Schema zur Lösung von mechanischen Problemen lässt
sich generell in drei Schritte unterteilen: Dies ist beispielsweise eine gute Näherung für das Gravitati-
onsfeld der Erde nahe ihrer Oberfläche, solange die Punktmasse
1. Zu Beginn werden die Bewegungsgleichungen aufgestellt, sich in einem Raumvolumen bewegt, dessen Höhe h und seitli-
die das mechanische Problem beschreiben. Dies sind in der che Ausdehnung l klein im Vergleich zum Erdradius sind, d. h.
Regel Differenzialgleichungen zweiter Ordnung in der Zeit. h; l RErde . In diesem Fall kann das Kraftfeld durch
2. Die Bewegungsgleichungen werden mithilfe mathemati-
scher Methoden gelöst. Der Aufwand hängt dabei stark von FG D mg eO 3 (1.23)
den Details (Anzahl der Punktmassen, Art der Kräfte usw.)
beschrieben werden, wobei eO 3 der Einheitsvektor in x3 -Richtung
ab. Einige mechanische Probleme können analytisch exakt
(„nach oben“) ist, wie in Abb. 1.4 illustriert. Da die Gra-
gelöst werden, die meisten jedoch nur näherungsweise. In
vitationskraft tatsächlich nach unten wirkt (also in negative
manchen Fällen müssen die Gleichungen numerisch, d. h.
x3 -Richtung), ist ein Minuszeichen zu berücksichtigen. Die
mithilfe von Computern gelöst werden. In jedem Fall sind
Größe g ist die Erdbeschleunigung. Ihr Wert ist nicht überall auf
Anfangsbedingungen (in Form von Integrationskonstanten)
der Erdoberfläche gleich. Aufgrund der leichten Abweichung
zu spezifizieren.
der Erde von der Kugelform und der stärkeren Zentrifugalkraft
3. Das Auffinden von Erhaltungsgrößen vereinfacht die an-
am Äquator (Kap. 2) variiert g um einige Promille um den Wert
schließende Diskussion der Lösungen erheblich. In der Tat
g D 9;80665 m s2 , der typischerweise als Referenz verwendet
ist die Identifikation von erhaltenen Größen (z. B. Energie
wird (Normalbeschleunigung).
Gleichung (1.23) führt direkt auf die Bewegungsgleichung
Höhe
x3 mRx D mg eO 3 : (1.24)

Dies ist eine gewöhnliche, lineare Differenzialgleichung zweiter


Ordnung (siehe „Mathematischer Hintergrund“ 1.4).

m Verwendet man die Geschwindigkeit, v D xP , so erhält man zwei


Differenzialgleichungen erster Ordnung:
Gewichtskraft
F G = −mgeb3 vP D g eO 3 ; xP D v : (1.25)

Diese beiden Gleichungen sind äquivalent zu der ursprüngli-


chen Bewegungsgleichung (1.24).
Abb. 1.4 Beim freien Fall wirkt lediglich die Gewichtskraft FG D mg eO 3 auf Es fällt zunächst auf, dass die x1 - und x2 -Komponenten der ers-
die Punktmasse m. Es genügt daher eine Diskussion der x3 -Koordinate ten Gleichung in (1.25) wegen vP1 D vP2 D 0 homogen sind. Nur
1.3 Eindimensionale Bewegung im homogenen Schwerefeld 15

1.4 Mathematischer Hintergrund: Differenzialgleichungen

Teil I
Differenzialgleichungen (DGLs) sind Gleichungen zwischen Das wichtigste Ergebnis zur Existenz und Eindeutigkeit
Funktionen und deren Ableitungen. Dies bedeutet, dass die von Lösungen eines Anfangswertproblems ist der Satz
gesuchte Lösung einer DGL bzw. eines Systems von DGLs von
 Picard-Lindelöf
 : Das Anfangswertproblem y0 .x/ D
aus einer bzw. mehreren Funktionen besteht, die die DGL f x; y.x/ ; y.x0 / D y0 mit y W R 7! Rn , f W R ! Rn und
erfüllen, und zwar nicht nur für vereinzelte Argumente, y0 2 Rn ist lokal eindeutig lösbar (d. h., es gibt eine Umge-
sondern im gesamten Definitionsbereich der Lösungsfunk- bung Œt0 "; t0 C", in der die Lösung eindeutig ist), wenn f in
tion(en). x stetig und in y lokal Lipschitz-stetig (steigungsbeschränkt)
ist, d. h., zu jedem .x; y/ gibt es eine Umgebung U um .x; y/,
Eine DGL heißt gewöhnlich, wenn die Funktionen in der sodass für alle .; y1 /; .; y2 / 2 U, y1 ¤ y2 die Steigung
DGL nur von einer Veränderlichen abhängen. Hängen die jf .;y2 /f .;y1 /j
jy2 y1 j
beschränkt ist.
Funktionen in der DGL von mehreren Veränderlichen ab,
enthält also die DGL partielle Ableitungen, so spricht man
Beweisidee Man konstruiert eine Folge .gn / von
von einer partiellen DGL. Beispiele für gewöhnliche und
 gn W R  ! R ausgehend von g0 .x/ D y0
n n
Näherungslösungen
partielle DGLs sind jeweils 0
über gnC1 .x/ D f x; gn .x/ und gn .x0 / D y0 . Unter Verwen-
dung der Stetigkeitsbedingungen an f kann man zeigen,
df .x/ @g.x; t/ @2 g.x; t/ dass die Folge .gn / gegen eine Lösungsfunktion konvergiert.
D f .x/ und D :
dx @t @x2 Auch die Eindeutigkeit der Lösung kann aus den Stetigkeits-
bedingungen von f gefolgert werden.
Partielle Ableitungen werden im Kasten „Vertiefung: Voll-
ständiges Differenzial“ genauer besprochen. Unter der Ord- Einige Lösungsverfahren für DGLs werden im „Mathemati-
nung einer DGL versteht man den Grad der höchsten auf- schen Hintergrund“ 6.3 vorgestellt.
tretenden Ableitung in der DGL. Die Suche nach Lösungen
einer DGL mit vorgegebenen Werten der Lösungsfunktion
und deren Ableitungen in einem Punkt bezeichnet man als Literatur
Anfangswertproblem.
Walter, W.: Gewöhnliche Differenzialgleichungen: Eine
Im Folgenden wird die häufige Notation y0 .x/ für die Ablei- Einführung. 7. Aufl., Springer (2000)
tung von y nach x verwendet (siehe auch den „Mathemati- Modler, F., Kreh, M.: Tutorium Analysis 2 und Lineare
schen Hintergrund“ 1.7) Algebra 2. 2. Aufl., Spektrum (2012)

die Gleichung für die x3 -Komponente ist inhomogen, vP3 D g. Man sagt auch, dass die Bewegungen entlang der drei Raum-
(Homogen heißt eine Differenzialgleichung, wenn keine additi- richtungen entkoppelt sind, da die Bewegung der Punktmasse
ven konstanten Terme auftreten; ansonsten ist sie inhomogen.) in eine beliebige Richtung keinen Einfluss auf die Bewegung
Ihre Lösung folgt sofort durch Integration: in eine der beiden übrigen Richtungen hat. Im Folgenden
beschränken wir uns daher auf die Beschreibung der reinen
v3 D gt C C1 : (1.26) Fallbewegung, d. h. auf die Bewegung der Punktmasse entlang
der x3 -Achse. Hierbei unterschlagen wir zur Vereinfachung den
Die Integrationskonstante C1 ist offenbar die Geschwindigkeit Index 3 in der Geschwindigkeit und schreiben v anstatt v3 . Au-
v3 zur Zeit t D 0, also C1 D v3 .t D 0/ D v3;0 . Eine weitere ßerdem notieren wir z anstelle von x3 .
Integration liefert
Zur Zeit t D 0 befinde sich die Punktmasse bei z0 D h > 0 mit
1 Geschwindigkeit v0 D 0. Die Lösung der Bewegungsgleichung
x3 D  gt2 C v3;0 t C C2 : (1.27) lautet dann
2 1
z D  gt2 C h: (1.28)
Demnach ist die zweite Integrationskonstante C2 die x3 -Position 2
der Punktmasse zur Zeit t D 0: C2 D x3 .t D 0/ D x3;0 . Die Punktmasse benötigt daher die Zeit
Frage 4 s
2h
Überprüfen Sie, dass die Lösungen der Bewegungsgleichungen tD ; (1.29)
für die x1 - und x2 -Komponenten entsprechend xi D vi t C xi;0 g
(i D 1; 2) lauten und somit eine Bewegung mit konstanter Ge-
schwindigkeit innerhalb der x1 -x2 -Ebene beschreiben. um den Erdboden bei z D 0 zu erreichen. Daher wird diese Zeit
auch als Fallzeit bezeichnet. Im Moment des Aufschlags ist die
16 1 Die Newton’schen Axiome

1.5 Mathematischer Hintergrund: Differenzialgleichungen


Teil I

Lösungsverfahren

Es gibt kein festes Lösungsverfahren, mit dem man beliebige mit b ¤ 0 geht nach Substitution von g.t/ D at C by.t/ C c
Differenzialgleichungen (DGLs) lösen kann. Manchmal hilft wegen g0 .t/ D a C by0 .t/ über in
ein geschickter Lösungsansatz, oder eine Lösung kann erra-
ten werden. Folgende „Kochrezepte“ sind beim Lösen von g0 .t/ D a C bf .g.t//;
DGLs nützlich.
welche durch Trennung der Veränderlichen gelöst werden
Trennung der Veränderlichen für y0 .t/ D f .t/g.y.t// Um kann.
das Anfangswertproblem (AWP)
Substitution bei y0 .t/ D f .y.t/=t/ Eine DGL der Form
y0 .t/ D f .t/g.y.t//  
y.t/
y0 .t/ D f
t
mit f ; g W R ! R stetig, y.t0 / D y0 und g.y0 / ¤ 0 lokal
zu lösen, dividieren wir zunächst durch g.y.t//. Dies ist zu- geht nach der Substitution g.t/ D y.t/=t über in
lässig, da g und y stetig sind und deshalb wegen g.y.t0 // D
g.y0 / ¤ 0 auch g.y.t// ¤ 0 in einer Umgebung U von t0 gilt. f .g.t//  g.t/
In ganz U hat g.y.t// ferner das gleiche Vorzeichen. Danach g0 .t/ D :
t
integrieren wir von t0 bis t und erhalten
Diese DGL kann anschließend durch Trennung der Variablen
Zt 0 Zt gelöst werden.
y ./
d D f ./ d; P
t0
g.y.//
t0
Lineare DGL y.n/ .t/ C n1 D0 a .t/y
./
.t/ D f .t/ Die
Lösungsverfahren für lineare DGLs (y.n/ .t/ ist die n-te
was aufgrund des Hauptsatzes der Differenzial- und Integral- Ableitung von y nach t) werden im „Mathematischen Hin-
rechnung zur vorigen Gleichung äquivalent ist. Mithilfe der tergrund“ 6.3 beleuchtet.
Kettenregel lässt sich die linke Seite umformen, sodass wir
Numerische Verfahren Selbst wenn ein AWP eindeutig lös-
bar ist, bedeutet dies noch lange nicht, dass man die Lösung
Zy.t/ Zt Zt
d   explizit angeben kann. Für viele Fragen (z. B. Wettervorher-
D f ./ d bzw: H y.t/ D f ./ d sage oder „In welcher Entfernung passiert ein Meteorit die
g. /
y0 t0 t0 Erde?“) spielt es auch gar keine Rolle, ob die Lösung ei-
ner DGL bzw. eines Systems von DGLs explizit oder nur
R z d implizit angegeben werden kann. Tatsächlich interessiert nur
mit H.z/ D y0 g./ erhalten. Da g in ganz U das glei-
die näherungsweise Berechnung von bestimmten Werten von
che Vorzeichen hat, ist H streng monoton wachsend bzw.
1 y.t/; y0 .t/; : : : mit ausreichender Genauigkeit. Hierzu gibt es
fallend und besitzt  Umkehrfunktion H . Somit
R t in U eine
1 zahlreiche numerische Verfahren, deren Beschreibung aller-
ist y.t/ D H t0 f ./ d eine Lösung des AWP. Die er- dings den Umfang dieses mathematischen Hintergrunds oder
folgten Umformungsschritte lassen sich sehr leicht merken,
des Buches sprengen würde.
wenn man die Ableitung y0 .t/ als Differenzialquotient dy=dt
schreibt, dann formal mit dem Differenzial dt multipliziert
und die Variablen trennt („alles mit y nach links, alles mit Literatur
t nach rechts“), danach integriert und schließlich das Ganze
nach y.t/ auflöst. Walter, W.: Gewöhnliche Differenzialgleichungen: Eine
  Einführung. 7. Aufl., Springer (2000)
Substitution bei y0 .t/ D f at C by.t/ C c Die DGL Modler, F., Kreh, M.: Tutorium Analysis 2 und Lineare
Algebra 2. 2. Aufl., Spektrum (2012)
y0 .t/ D f .at C by.t/ C c/
1.3 Eindimensionale Bewegung im homogenen Schwerefeld 17

Höhe Abbremsung. Dabei ist K ein Reibungskoeffizient, der von den


x3 Eigenschaften des Mediums und der Form des Körpers abhängt.

Teil I
Ein Beispiel ist der Fall eines Steines in einem Gefäß mit Sirup.
Reibungskraft
FR Wir beschränken uns für das nächste Beispiel wieder auf eine
Bewegung entlang der x3 -Achse und bezeichnen die Geschwin-
m digkeit und den Ort wie schon zuvor mit v und z. Die Bewe-
gungsgleichung für die Bewegung entlang der z-Achse lautet
Gewichtskraft dann
F G = −mg e
b3 mRz D mvP D mg  K v : (1.32)
Gleichung (1.32) lässt sich durch Separation der Variablen lö-
sen: Z Z
dv
D g dt: (1.33)
Abb. 1.5 Fällt ein Körper mit Masse m in einem Medium (z. B. in einer Flüs- 1 C mgK
v
sigkeit oder der Atmosphäre), muss zusätzlich zur Gewichtskraft FG D mg eO 3
eine Reibungskraft FR berücksichtigt werden (Siehe hierzu auch den „Mathematischen Hintergrund“ 1.5.)
Die Lösung lautet
 
Fallgeschwindigkeit mg Kv
ln 1 C D gt C C1 (1.34)
s K mg
2h p
v D gt D g D  2gh: (1.30) mit einer Integrationskonstanten C1 . Die Fallgeschwindigkeit
g ist somit
  
Der verwandte, sogenannte schiefe Wurf wird in Aufgabe 1.2 mg K.C1  gt/
behandelt. vD exp 1 : (1.35)
K mg
Wir haben gesehen, dass für die vollständige Lösung einer
Nach sehr langer Zeit, für t ! 1, nähert sich v der Endge-
Differenzialgleichung zweiter Ordnung zwei Integrationskon-
schwindigkeit
stanten benötigt werden. In dem hier besprochenen Beispiel mg
handelt es sich um eine Differenzialgleichung in der Zeit, womit vE D  <0 (1.36)
K
die Integrationskonstanten den Anfangsbedingungen (der An-
fangshöhe und der Anfangsgeschwindigkeit) entsprechen. an, sodass die Lösung in der Form
  
C1  gt
v D jvE j 1  exp (1.37)
Lösung der Bewegungsgleichungen jvE j
Für die vollständige Lösung der Bewegungsgleichungen geschrieben werden kann.
einer Punktmasse entlang einer Achse benötigt man zwei
Integrationskonstanten. Dies können beispielsweise die Frage 5
Anfangsbedingungen für Ort und Geschwindigkeit sein. Machen Sie sich den Zusammenhang zwischen (1.35), (1.36)
und (1.37) im Grenzfall t ! 1 klar.

Es ist geschickter, die Integrationskonstante C1 durch die An-


Der Fall mit Stokes’scher Reibung fangsgeschwindigkeit v0 D v .t D 0/ zu ersetzen. Offensicht-
lich gilt  
C1
Der freie Fall kann idealerweise nur im Vakuum stattfinden, wo v0 D jvE j exp 1 (1.38)
jvE j
keine Reibung stattfindet. Beim Fall in der Atmosphäre oder
unter Wasser treten Reibungskräfte auf, die erweiterte Bewe- und damit
gungsgleichungen erfordern. Dies ist in Abb. 1.5 dargestellt.  
gt
Bewegt sich ein Körper mit Geschwindigkeit v in einem zähen, v D .v0 C jvE j/ exp   jvE j: (1.39)
jvE j
d. h. viskosen Medium, wirkt ihm eine Reibungskraft entgegen,

FR D K v ; (1.31) Die Lösung für die Geschwindigkeit in (1.39) ist gleichzeitig


eine Differenzialgleichung erster Ordnung für die Höhe z,
die proportional zur Geschwindigkeit des Körpers im Medium  
ist. Eine solche lineare Reibung nennt man Stokes’sche Rei- gt
zP D .v0 C jvE j/ exp   jvE j; (1.40)
bung. Sie wirkt stets der Bewegung entgegen und führt zu einer jvE j
18 1 Die Newton’schen Axiome

Hohe
¨ wobei K 0 ein entsprechender Reibungskoeffizient ist, der genau
z(t) wie K in (1.31) von der Beschaffenheit des fallenden Körpers
Teil I

und des Mediums abhängt.

z0 Frage 7
v 0 = −v E Machen Sie sich klar, dass der Reibungsterm in (1.45) stets der
Geschwindigkeit v entgegenwirkt.
v 0 = − 12 v E

v 0 = 12 v E v0 = 0 Für einen fallenden Körper gilt wegen der Orientierung der Ko-
ordinatenachsen v < 0 und somit
0 t
K0 2
Abb. 1.6 Fallkurven z.t/ entsprechend (1.43) für Stokes’sche Reibung und ver- zR D g C v : (1.46)
schiedene Anfgangsgeschwindigkeiten v0 . Die Endgeschwindigkeit ist vE
m

Ähnlich wie im Falle Stokes’scher Reibung (1.36) wird


deren Lösung mg
vE2 D (1.47)
  K0
jvE j gt
z D C2  jvE jt  .v0 C jvE j/ exp  (1.41)
g jvE j definiert. Wir wählen die negative Lösung, vE < 0, da die
Punktmasse schließlich nach unten fällt. Aus der ursprünglichen
lautet. Die zweite Integrationskonstante C2 kann dann durch die Bewegungsgleichung (1.45) folgt bereits, dass vE die asympto-
Position z0 D z.t D 0/ ausgedrückt werden: tische Endgeschwindigkeit des Körpers ist. Die Trennung der
jvE j Variablen führt auf
C2 D z0 C .v0 C jvE j/ : (1.42)
g dv
D g dt; (1.48)
Die Lösung kann also in der Form 1  .v =vE /2
  
jvE j gt was durch eine Partialbruchzerlegung in die Form
z D z0  jvE jt C .v0 C jvE j/ 1  exp  (1.43)
g jvE j Z   Z
dv 1 1
C D g dt (1.49)
geschrieben werden. Nach sehr langer Zeit, wenn die Geschwin- 2 1  v =vE 1 C v =vE
digkeit v vE erfüllt, nimmt z linear mit der Zeit ab, da der
Exponentialterm vernachlässigbar wird: gebracht werden kann. Die Lösung dieser Differenzialgleichung
lautet
jvE j vE vE  v
z ! z0  jvE jt C .v0 C jvE j/ : (1.44)  ln D gt C C1 : (1.50)
g 2 vE C v

Abbildung 1.6 zeigt einige Beispielkurven für z.t/ für verschie- Frage 8
dene Anfangsgeschwindigkeiten. Überprüfen Sie die Gültigkeit der Partialbruchzerlegung 2=.1 
Frage 6 x2 / D 1=.1  x/ C 1=.1 C x/ und den Schritt von (1.48) nach
Die Endgeschwindigkeit vE lässt sich auch einfacher bestim- (1.49). Zeigen Sie ferner, dass (1.50) tatsächlich eine Lösung
men. Man leite sie aus (1.32) und der Annahme her, dass im von (1.49) ist.
Endzustand vP D 0 gilt.
Wir wählen die Integrationskonstante so, dass v D v0 bei t D 0
In Aufgabe 1.3 kommen wir auf die Stokes’sche Reibung zu- gilt:
vE vE  v0
rück. C1 D  ln : (1.51)
2 vE C v0
Nach einer algebraischen Umformung folgt
Der Fall mit Luftwiderstand jvE j  v0  .jvE j C v0 / exp .2gt=jvE j/
v D vE : (1.52)
jvE j  v0 C .jvE j C v0 / exp .2gt=jvE j/
Fällt der Körper sehr schnell oder ist die Dichte des Mediums
klein, so nimmt die Reibung quadratisch mit der Geschwindig- Für sehr große Zeiten, t ! 1, fallen die Exponentialterme weg,
keit zu, und die Geschwindigkeit nähert sich der asymptotischen Endge-
mRz D mg  K 0 v jv j; (1.45) schwindigkeit: v ! vE .
1.3 Eindimensionale Bewegung im homogenen Schwerefeld 19

Die durchfallene Höhe wird durch eine weitere Integration aus


Zt

Teil I
z  z0 D v .t0 / dt0 (1.53)
t0

bestimmt. Um das Integral zu lösen, substituieren wir


jvE j C v0 2gt
a WD und s WD : (1.54)
jvE j  v0 jvE j
Der zurückgelegte Weg ist dann
Zs
v2 1  a exp.s0 / 0
z  z0 D  E ds ; (1.55)
2g 1 C a exp.s0 /
s0

was sich zu Abb. 1.7 Start des GOES-N-Satelliten an Bord einer Boeing-Delta-IV-Rakete
(© NASA)
vE2 0   s
z  z0 D  s C 2 ln 1 C a exp.s0 / s0
(1.56)
2g
die Gesamtmasse der Rakete und des ausgestoßenen Materials
integrieren lässt. Wir wählen t0 D 0 und somit s0 D 0 und erhalten ist.
setzen die Definitionen von a und s wieder ein. Das Endergebnis
ist Im Folgenden wird angenommen, dass eine Rakete im ho-
mogenen Gravitationsfeld senkrecht nach oben beschleunigt
v2 wird und Luftwiderstand vernachlässigbar ist. Im Bezugssys-
z D z0  jvE jt  E ln ˛ mit
g tem der Rakete wird der verbrannte Treibstoff dann mit einer
     (1.57) Geschwindigkeit u nach unten ausgestoßen. In einem kleinen
1 v0 v0 2gt
˛D 1 C 1C exp  : Zeitintervall dt verliert die Rakete somit eine Masse dm. Damit
2 jvE j jvE j jvE j ändert sich der Impuls der Rakete in diesem Zeitintervall auf-
Nach einer hinreichend langen Zeit, t jvE j=g, und für v0 D 0 grund des Ausstoßes um
ist der asymptotische Verlauf dpa D dm u: (1.60)
v2 Im homogenen Gravitationsfeld wird die Rakete zusätzlich nach
z ! z0  jvE jt C E ln 2: (1.58)
g unten beschleunigt, wobei die entsprechende Impulsänderung
Im Gegensatz dazu haben wir für die Stokes’sche Reibung in dpg D mg dt (1.61)
(1.44) gesehen, dass für v0 D 0
ist. Die Geschwindigkeit der Rakete ändert sich dadurch um
v2
z ! z0  jvE jt C E (1.59) dpa C dpg
g dv D : (1.62)
m
gilt. Wegen ln 2 < 1 ist die durchfallene Höhe bei Luftwider-
Generell nennt man eine Impulsänderung p durch eine wir-
stand kleiner als bei Stokes’scher Reibung. Dieser Vergleich gilt
kende Kraft F über eine Zeitspanne t den Kraftstoß:
allerdings nur, wenn die beiden Endgeschwindigkeiten iden-
tisch sind, was im Allgemeinen nicht der Fall ist. Z
tCt

p D F.t0 / dt0 : (1.63)


t

Die Herleitung der Raketengleichung


Die Bewegungsgleichung für die Rakete lautet also insgesamt

Wir sind nun so weit, dass wir uns mit einer Gleichung beschäf- dm
dv D u  g dt: (1.64)
tigen können, in der die Masse keine Konstante mehr ist. Eine m
Rakete wird durch den Rückstoß des von ihr ausgestoßenen Ma- Die allgemeine Lösung erhält man durch eine einfache Integra-
terials beschleunigt (Abb. 1.7). Dabei nimmt die Masse m der tion. Sie lautet
Rakete kontinuierlich ab. Somit ist die Rakete die einzige An-  
wendung im nichtrelativistischen Abschnitt von Teil I, bei der m.t/
v .t/  v0 D u ln  gt; (1.65)
die Masse nicht konstant ist. Es ist aber erneut zu betonen, dass m0
20 1 Die Newton’schen Axiome

wobei v0 D v .0/ und m0 D m.0/ die Anfangsgeschwindig- Beschleunigung von M führt. Eine allgemeine Diskussion ohne
keit und Anfangsmasse der Rakete sind. Die Geschwindigkeit diese Einschränkungen wird in Kap. 3 nachgeholt.
Teil I

der Rakete ist eindeutig bestimmt, sobald die Massenfunktion


Um die Bewegungsgleichung für den radialen Fall im Gravitati-
m.t/ bekannt ist. Dann lässt sich auch x.t/ durch eine weitere
onsfeld zu lösen, wird die Bewegungsgleichung der Punktmasse
Integration bestimmen.
(1.67) zunächst mit der Geschwindigkeit rP multipliziert:

˛mPr
mPrrR D  : (1.68)
1.4 Energiesatz in einer Dimension r2
Dies führt direkt auf
Die eindimensionale Bewegung im homogenen Schwerefeld m d 2 d 1
aus Abschn. 1.3 wird hier nun auf allgemeinere Kraftfelder in rP D ˛m : (1.69)
2 dt dt r
zunächst einer Dimension erweitert. Dabei wird der Begriff der
Energie einer Punktmasse eingeführt. Es wird gezeigt, dass die Die Zeitableitungen werden nun auf der linken Seite gesammelt,
Energie unter bestimmten Umständen erhalten ist; dabei kom- und eine einmalige Zeitintegration liefert sofort
men wir auch auf dissipative Kräfte zu sprechen, die in der  
Regel zu einer Energieabnahme führen. Der Energieerhaltungs- 1 2 ˛
m rP  DW E D T C V D const: (1.70)
satz vereinfacht das Lösen der Bewegungsgleichung. Dies wird 2 r
anhand des harmonischen Oszillators – als Beispiel einer peri-
odischen Bewegung – verdeutlicht. Die Größe E wird als Energie bezeichnet. Sie ist wegen (1.70)
zeitlich konstant; es gilt also Energieerhaltung. Der erste Term,
1 2
TD mPr ; (1.71)
Der freie Fall aus großer Höhe 2
ist die kinetische Energie und der zweite Term,
Fällt eine Punktmasse m, bei vernachlässigter Reibung, im Gra-
˛m
vitationsfeld der Erde über eine Strecke, die nicht klein im VD ; (1.72)
Vergleich zum Erdradius ist, so sieht die Punktmasse im Lau- r
fe des Fallens ein zunehmendes Gravitationsfeld im Abstand r die potenzielle Energie der Punktmasse m im Gravitationsfeld.
zum Erdmittelpunkt (siehe (1.14)): Energie ist eine Größe, die in der gesamten Physik eine fun-
damentale Rolle spielt. Sie ist ein Maß für die Fähigkeit eines
GMm
FG D  eO r : (1.66) Systems, Körper entgegenwirkender Kräfte zu bewegen und
r2 somit Arbeit zu verrichten (Arbeit wird später in (1.86) defi-
Hierbei ist anzumerken, dass (1.66) gültig ist, obwohl die Erde niert). Die kinetische Energie T entspricht derjenigen Arbeit,
nicht als Punktmasse approximiert werden kann. Wir werden in die benötigt wird, die Punktmasse m aus der Ruhe auf die Ge-
schwindigkeit rP zu beschleunigen. Sie ist somit eng mit der
Aufgabe 2.7 sehen, dass für radialsymmetrische Massenvertei-
lungen die Näherung einer Punktmasse und das entsprechende Trägheitskraft mRr der Punktmasse m verknüpft. Die potenziel-
Kraftgesetz (1.66) tatsächlich gelten, wenn man sich auf das le Energie V allerdings wird durch äußere Kraftfelder bestimmt.
Wir werden in Kürze genauer über Arbeit und Energie sprechen.
Gravitationsfeld außerhalb der Massenverteilung (d. h. oberhalb
der Erdoberfläche) beschränkt. Wir werden weiterhin finden, Die Fallgeschwindigkeit v lässt sich somit als Funktion des Ab-
dass das Gravitationsfeld im Inneren der Erde eine andere Form stands r angeben. Es ist im Allgemeinen nicht möglich, eine
annimmt, die an dieser Stelle jedoch keine Rolle spielt. geschlossene Gleichung für v als Funktion der Zeit t zu er-
halten. Für die meisten Anwendungen ist dies auch gar nicht
Für die weitere Beschreibung ist es nicht nötig, die Gravita-
erforderlich, und man begnügt sich damit, v .r/ zu bestimmen.
tionskonstante G und die Erdmasse M getrennt zu behandeln.
Stattdessen ist es sinnvoller, die Größe ˛ WD GM einzuführen.
Die Bewegungsgleichung der Punktmasse entlang des Vektors Fluchtgeschwindigkeit
eO r ist nun
˛m Gleichung (1.70) besagt, dass sich die Energie einer
mRr D  2 : (1.67)
r Punktmasse im Gravitationsfeld der Erde nicht ändern
Wir beschränken uns hier auf eine radiale, d. h. eindimensiona- darf: E.t/ D E0 D const. Hier ist E0 die Energie, die
le Bewegung mit v D v eO r D rP eO r . Weiterhin ist zu betonen, durch die Anfangsbedingungen des Problems gegeben ist,
dass an dieser Stelle der Einfluss der Bewegung der Testmasse
1 2 ˛m
m auf die Bewegung der Erde vernachlässigt wird. In Wirklich- E0 D mv  ; (1.73)
keit aber wird auch die große Punktmasse M von der kleinen 2 0 r0
Punktmasse m angezogen, was zu einer kleinen, aber endlichen
1.4 Energiesatz in einer Dimension 21

E
wobei v0 D rP .t D 0/ und r0 D r.t D 0/ sind. Angenom-

Teil I
men, die Punktmasse m ruht anfangs im Unendlichen,
r0 D 1 und v0 D 0, so ist E0 D E.t/ D 0 und damit v > v∞

1 2 ˛m GMm gR2Erde m 0
mv D D D : (1.74)
2 r r r
v < v∞
V (r)
Die letzte Identität folgt aus der Tatsache, dass die Gra-
vitationsfelder mg aus (1.23) und GMm=r2 aus (1.66)
an der Erdoberfläche identisch sein müssen:
GMm
 mg D  : (1.75)
R2Erde
0 RErde r
Fällt nun eine Punktmasse aus dem Unendlichen auf die
Erdoberfläche bei r D RErde , so ist die Geschwindigkeit
Abb. 1.8 Startet eine Punktmasse auf der Erdoberfläche bei einem Radius r D
beim Aufschlag RErde mit einer Geschwindigkeit v , so kann sie das Gravitationsfeld der Erde
p verlassen, wenn v > v1 und damit die Energie positiv ist: E > 0. In diesem Fall
v1 D 2gRErde D 11;2 km s1 : (1.76) besitzt die Punktmasse noch einen Geschwindigkeitsüberschuss im Unendlichen,
da dort das Potenzial verschwindet, V D 0, und demnach die kinetische Energie
Diese Geschwindigkeit nennt man im Umkehrschluss T positiv bleibt. Ist E < 0, so gilt v < v1 , und die Punktmasse kann das
Potenzial nicht überwinden, da an einem endlichen Abstand T D 0 wird und die
auch die Fluchtgeschwindigkeit von der Erde, denn ein Punktmasse zur Ruhe kommt. Dieser Punkt kann zeichnerisch bestimmt werden
Körper muss an der Erdoberfläche mindestens diese Ge-
schwindigkeit besitzen, um das Gravitationsfeld der Erde
verlassen zu können.
die Bewegung in drei Dimensionen wird in Abschn. 1.6 disku-
Angenommen, eine Punktmasse m startet bei t D 0 auf tiert.
der Erdoberfläche mit einer nach oben gerichteten Ge-
schwindigkeit v0 . Ist v0  v1 , so ist E  0, und die Die Bewegungsgleichung für eine Punktmasse m unter dem
Punktmasse wird stets eine positive Geschwindigkeit be- Einfluss einer ortsabhängigen Kraft F.z/ lautet
halten und somit nicht auf die Erde zurückfallen. Ist die
mRz D F.z/: (1.77)
Geschwindigkeit beim Start kleiner, v0 < v1 , so ist
E < 0, und die Punktmasse wird an einem Punkt r < 1 Definiert man eine Funktion V.z/ mit der Eigenschaft
zunächst zur Ruhe kommen, rP D 0, und direkt danach
wieder auf die Erde zurückfallen. Der Grund ist, dass die dV.z/ dV.z/
 D zP D F.z/Pz (1.78)
kinetische Energie T nicht negativ werden kann, da sie dt dz
positiv-semidefinit ist. Dies ist in Abb. 1.8 anschaulich
bzw.
dargestellt. J
dV.z/
F.z/ D  ; (1.79)
dz
Frage 9 so kann (1.77) nach Multiplikation mit zP in der Form
Wie groß ist die Gravitationsbeschleunigung auf der Jupiter-
m d 2 dV.z/
oberfläche im Vergleich zur Beschleunigung auf der Erdober- zP D  (1.80)
fläche, wenn die Masse von Jupiter 318 Erdmassen und sein 2 dt dt
Radius 10,9 Erdradien entspricht? Nutzen Sie dazu (1.75) aus. geschrieben werden. Offensichtlich ist dabei
Zz
V.z/ WD  F.z0 / dz0 : (1.81)
z0
Der Energieerhaltungssatz in einer Dimension
Frage 10
Mit (1.70) haben wir bereits die Energieerhaltung für den ein- Man zeige, dass die untere Integrationsgrenze z0 in (1.81) frei
dimensionalen, freien Fall im Gravitationsfeld aus großer Höhe gewählt werden kann. Überlegen Sie dabei, dass bei der Kraft-
gefunden. Wir werden diese Aussage nun zunächst im eindi- berechnung nach z und nicht nach z0 abgeleitet wird.
mensionalen Raum verallgemeinern. Die Energieerhaltung für
22 1 Die Newton’schen Axiome

Aus den obigen Überlegungen folgt, dass die Zeitableitung Wird eine Punktmasse m in einem Kraftfeld F.z/ von Punkt za
nach zb bewegt, so wird dabei die sogenannte Arbeit
d m 2 
Teil I

zP C V.z/ D 0 (1.82) Zzb


dt 2
W WD F.z0 / dz0 D  .V.zb /  V.za // (1.86)
verschwindet. Demnach ist die Energie za

m
E WD zP 2 C V.z/ D T C V.z/ D const (1.83) vom Kraftfeld am Teilchen verrichtet. Für W > 0, „fällt“ die
2 Punktmasse im Potenzial. Die dabei verrichtete Arbeit wird in
kinetische Energie umgesetzt. Ist dagegen W < 0, so wird ki-
erhalten, wobei T wieder die kinetische Energie bezeichnet.
netische Energie in potenzielle Energie umgewandelt, und die
Gleichung (1.82) repräsentiert den Energieerhaltungssatz. Er-
Punktmasse wird abgebremst. Während dieser Vorgänge bleibt
haltungsgrößen, die sich aus einer Integration der Bewegungs-
T C V stets konstant. Unter der Leistung
gleichungen ergeben (wie die Energie), nennt man auch Inte-
grale der Bewegung. dW
P WD D F.z/Pz (1.87)
Man nennt die Größe V.z/ die potenzielle Energie oder das dt
Potenzial zur Kraft F.z/. Es kann für eindimensionale Proble-
me stets über das Integral (1.81) aus der Kraft F.z/ berechnet versteht man die Rate, mit der Arbeit verrichtet wird.
werden, solange diese nur vom Ort z abhängt. Für allgemeine
geschwindigkeits- und zeitabhängige Kräfte lässt sich dagegen
kein Potenzial definieren. Da z0 in (1.81) beliebig ist, ist das Po-
Dissipation von Energie
tenzial nur bis auf eine Konstante bestimmt. Dies wird häufig
ausgenutzt, um die Gesamtenergie auf einen bestimmten Wert in mechanischen Systemen
zu setzen (z. B. E D 0).
Geschwindigkeitsabhängige Kräfte, z. B. Reibungskräfte, las-
Energieerhaltungssatz in einer Dimension sen sich nicht in der Form F D dV=dz schreiben. Die Energie
E D T C V ist dann im Allgemeinen nicht erhalten. In solchen
Ist die Kraft F.z/ nur eine Funktion des Ortes, so kann Fällen spricht man von dissipativen Kräften. Eine Kraft lässt
in einer Dimension durch (1.81) stets ein Potenzial V.z/ sich stets als Summe einer nichtdissipativen und einer dissipati-
definiert werden. Die Energie ist dann erhalten. ven Kraft schreiben:

F D Fnd .z/ C Fd .z; zP ; t/; (1.88)


Zeitunabhängigkeit des Potenzials wobei wir annehmen, dass die dissipative Kraft von Ort, Ge-
schwindigkeit und Zeit abhängt und dass Fnd .z/ D dV.z/=dz
Angenommen, die Kraft und das Potenzial hängen au- gilt. Es folgt dann direkt die Erweiterung des Energieerhal-
ßer von der Koordinate z noch explizit von der Zeit t tungssatzes in (1.82):
ab, d. h. V D V.z; t/. Ausgehend von (1.78) kann man
zeigen, dass die Kraft dann nicht in der Form F.z; t/ D d m 2 
dV.z; t/=dz geschrieben werden kann. Dazu muss man zP C V.z/ D Fd zP: (1.89)
dt 2
die vollständige Ableitung
Frage 11
dV.z; t/ @V.z; t/ dz.t/ @V.z; t/ Man überprüfe, dass (1.89) aus (1.88) folgt.
D C (1.84)
dt @z dt @t
Die rechte Seite von (1.89) ist die Leistung, die durch die
berechnen. Hier wird berücksichtigt, dass V eine Funkti-
dissipative Kraft an der Punktmasse verrichtet wird. Ist diese
on mehrerer Veränderlicher ist (in diesem Fall ist z.t/ eine
Leistung positiv, nimmt die Energie zu. Eine negative Leistung
Funktion von t). Man nennt die Größe
wird häufig Verlustleistung genannt. Reibungskräfte führen im-
@V.z; t/ @V.z; t/ mer zu einer Energieabnahme. Man sagt auch, die Energie wird
dV.z; t/ D dz C dt (1.85) dissipiert, was bedeutet, dass sie letztlich in Wärme umgewan-
@z @t
delt wird.
das vollständige Differenzial von V (siehe auch den Kas- Achtung Wärme ist ebenfalls eine Form der Energie. So lässt
ten „Vertiefung: Vollständiges Differenzial“). Der Term sich ein allgemeinerer Energieerhaltungssatz formulieren, der
@V.z; t/=@t in (1.84) verhindert, dass man F.z; t/ D die Wärmeenergie berücksichtigt. Dies ist jedoch Aufgabe der
dV.z; t/=dz schreiben kann. J statistischen Mechanik in Teil IV. Der Grund ist, dass die klassi-
sche Mechanik im Wesentlichen eine makroskopische Theorie,
1.4 Energiesatz in einer Dimension 23

Vertiefung: Vollständiges Differenzial

Teil I
In vielen Fällen hängt eine Funktion f nicht nur von einer abhängig. Man nennt eine Funktion des Raumes, also eine
Veränderlichen ab. Ist f D f .x; y/, so nennt man Funktion aller drei Ortskoordinaten, ein Feld. Dann ist das
vollständige Differenzial
@f @f
df D dx C dy
@x @y @f @f @f @f
df D dx1 C dx2 C dx3 C dt
@x1 @x2 @x3 @t
das vollständige Differenzial von f . Dies kann ohne Proble-
me auf beliebig viele Veränderliche erweitert werden. Die und die vollständige Zeitableitung
Terme @f =@x nennt man partielle Ableitungen, bei denen alle
Veränderlichen außer x bei der Ableitung festgehalten (d. h. df @f dx1 @f dx2 @f dx3 @f
als Konstanten behandelt) werden. Anschaulich bedeutet das fP D D C C C :
vollständige Differenzial, dass alle Veränderlichen zur Varia- dt @x1 dt @x2 dt @x3 dt @t
tion von f beitragen.
Ist f D f .x.t/; t/, so sagt man, f ist explizit zeitabhängig, da f
In der Physik tritt häufig der Fall auf, dass eine Funktion für festgehaltenes x immer noch eine Funktion von t ist. Hin-
vom Ortsvektor x.t/ D .x1 .t/; x2 .t/; x3 .t//> und der Zeit t gegen hängt f D f .x.t// nur implizit von der Zeit ab, da die
abhängt: f D f .x.t/; t/. Dabei ist der Ortsvektor selbst zeit- Zeitabhängigkeit nur über die Bahnkurve x.t/ in f eingeht.

Wärme aber ein mikroskopisches Konzept ist. Wärme ist eng V (z)
mit der „inneren Energie“ von Körpern verknüpft, die wir in der
klassischen Mechanik nicht behandeln. In Abschn. 33.4 kom-
men wir darauf zurück. J

E
Periodische Bewegungen
für nichtdissipative Kräfte

Aus dem Energieerhaltungssatz in (1.82) lässt sich die Bahnkur-


ve z.t/ implizit angeben, indem zunächst nach zP aufgelöst wird:
z1 z2 z3 z4
r z
2.E  V/
zP D ˙ : (1.90) Abb. 1.9 Beispiel einer eindimensionalen Potenziallandschaft V.z/, die zu-
m sammen mit der Energie E vier Umkehrpunkte definiert. Die Bewegung einer
Punktmasse ist auf die eingefärbten Bereiche beschränkt, für die E  V.z/
Diese Differenzialgleichung ist separabel, da die rechte Seite
gilt. Eine Punktmasse im Bereich zwischen z1 und z2 kann nicht in den Be-
nur eine Funktion von z ist. Sie kann daher in der Form reich zwischen z3 und z4 gelangen, da seine Energie nicht ausreicht, die Barriere
dazwischen zu überwinden. Stattdessen führt sie eine periodische Schwingung
f1 .t/ dt D f2 .z/ dz (1.91) zwischen den Umkehrpunkten z1 und z2 aus

geschrieben werden. Für die benötigte Zeit, um von z0 nach z zu


gelangen, folgt sofort der Gesamtenergie kann es beliebig viele Umkehrpunkte geben.
Dies ist in Abb. 1.9 dargestellt. Man spricht dann von einer ge-
Zz
dz0 bundenen Bahn, wenn sich die Punktmasse nur zwischen zwei
t  t0 D ˙ p : (1.92) Umkehrpunkten, z1 und z2 , bewegen kann.
2.E  V/=m
z0
In der klassischen Mechanik kann eine Punktmasse keine Bar-
rieren überspringen, für die V > E gilt. In der Quantenmechanik
Wie bereits zuvor erläutert, darf sich die Punktmasse dabei of-
hingegen besteht eine endliche Wahrscheinlichkeit, dass ein
fensichtlich nur in Bereichen bewegen, für die E  V  0
ist, da die kinetische Energie, T D E  V D mPz2 =2, quadra- Teilchen eine solche Potenzialbarriere überwindet. Dieses so-
genannte Tunneln wird in Teil III diskutiert.
tisch und somit positiv-semidefinit ist. Punkte, für welche die
kinetische Energie verschwindet, T D 0, bezeichnet man als Ist die Bewegung einer Punktmasse m auf den Bereich zwischen
Umkehrpunkte. Je nach Form des Potenzials V.z/ und dem Wert zwei Umkehrpunkten beschränkt, so ist sie periodisch: Beim Er-
24 1 Die Newton’schen Axiome

so ist die Gesamtenergie des Oszillators


m 2 
Teil I

ED zP C !02 z2 : (1.97)
2
Für E > 0 existieren stets zwei Umkehrpunkte, welche die Glei-
m chung
m
F E D !02 z21;2 (1.98)
−z 2
erfüllen und daher durch
s
Abb. 1.10 Ist der Oszillator um z nach unten ausgelenkt, wirkt die Rück- 2E
stellkraft F nach oben. Die Gravitationskraft für den senkrecht aufgestellten z1;2 D ˙ (1.99)
m!02
Federoszillator führt lediglich zu einer Verschiebung der Schwingung entlang der
z-Achse und ändert ihre Schwingungsdauer nicht
gegeben sind.
Die Bedeutung von !0 wird klar, wenn man die Schwingungs-
reichen des ersten Umkehrpunktes, z1 , ändert die Punktmasse periode berechnet. Einsetzen des harmonischen Oszillatorpo-
ihre Richtung und bewegt sich bis zum Umkehrpunkt z2 , wo tenzials (1.94) und der Energie am Umkehrpunkt (1.98) in die
sie abermals ihre Richtung wechselt und im Anschluss wieder Gleichung für die Schwingungsperiode (1.93) ergibt nach kur-
zum Punkt z1 gelangt. Die beiden Vorzeichen in (1.90) drücken zer Umformung und unter Berücksichtigung von z2 D z1 > 0
aus, dass die Punktmasse in diesem Bereich in beide Richtungen
laufen kann. Während dieser Bewegung ist die Geschwindigkeit Zz2
2 dz 2
der Punktmasse durch die Differenz mv 2 =2 D E  V festgelegt. t D q D : (1.100)
Die Schwingungsperiode ist die Zeit, welche die Punktmasse !0 z22  z2 !0
z2
von Punkt z1 zu Punkt z2 und zurück benötigt:
Das Integral kann in einer Integrationstabelle nachgeschlagen
p Z
z2
dz oder nach Substitution mit y D z=z2 mit der Stammfunktion
t D 2.t2  t1 / D 2m p : (1.93)
EV arcsin.y/ berechnet werden. Offensichtlich ist !0 die Oszillati-
z1 onsfrequenz.
Frage 12
Man überprüfe, dass die angegebene Stammfunktion
p arcsin.y/
Der harmonische Oszillator
mit ihrer Ableitung d arcsin.y/=dy D 1= 1  y2 auf das ange-
gebene Ergebnis führt.
Das Integral in (1.93) ist für einige Potenzialformen V.z/ ana-
lytisch lösbar. Ein für die Physik extrem wichtiges Potenzial ist
das des harmonischen Oszillators: Aus (1.95) folgt
mRz D kz (1.101)
k 2
V.z/ D z C V0 : (1.94)
2 für die Bewegungsgleichung des harmonischen Oszillators. Die
allgemeine Lösung ist
Der Begriff „harmonisch“ bedeutet, dass sich die Lösung durch
Sinus- und Kosinusfunktionen ausdrücken lässt. Der harmo- z.t/ D A cos.!0 t  0 /: (1.102)
nische Oszillator wird in Kap. 6 noch gründlicher untersucht
werden. Das Potenzial aus (1.94) führt auf die in z lineare Kraft Hier ist A  0 die Amplitude der Schwingung, und 0 ist
ein Phasenwinkel, der durch die Anfangsbedingungen festge-
F.z/ D kz (1.95)
legt wird. Man kann diese Lösung durch direkte Integration von
mit der Federkonstanten k. Zur Vereinfachung wählen wir (1.92) erhalten, indem man
V0 D 0. Die Auslenkung wird dabei relativ zur Ruhelage an-
Zy
gegeben, in der sich die Punktmasse befindet, wenn sie nicht dy0
schwingt. Dieser Punkt entspricht dem Minimum des Potenzi- arcsin.y/  arcsin.a/ D p (1.103)
1  y02
als V.z/. Ein Beispiel für einen harmonischen Oszillator ist in a
Abb. 1.10 gezeigt.
ausnutzt. Es ist dem interessierten Leser überlassen, dieses Er-
Definiert man r gebnis zu überprüfen (man findet dabei, dass die Amplitude A
k durch die Energie E bestimmt wird). In Aufgabe 1.7 wird ein
!0 WD ; (1.96)
m alternativer Weg verfolgt, um zu diesem Ergebnis zu kommen.
1.5 Bewegung in drei Dimensionen 25

Frage 13 x3
Wirkt zusätzlich eine Gravitationskraft der Form mg, z. B.

Teil I
wenn der Oszillator wie in Abb. 1.10 senkrecht aufgestellt ist, so
lässt sich eine neue Koordinate zQ D z  h einführen, wobei h die
Verschiebung der Ruhelage unter dem Einfluss der Gravitation
ist. Man zeige, dass h D mg=k gilt. Weiterhin mache man sich
klar, dass (1.102) ihre Gültigkeit behält und dass insbesondere
!0 unverändert bleibt, wenn z durch zQ ersetzt wird.
xS

1.5 Bewegung in drei Dimensionen R

ϕ
In diesem Abschnitt wird die Kinematik einer Punktmasse in x1 x2
drei Dimensionen diskutiert. Neben dem Konzept der Bahnkur-
ven, Tangential-, Normalenvektoren und Bogenlänge werden Abb. 1.11 Die Schraubenlinie mit Radius R erfüllt (1.106) mit '.t/ D !t und
x3 .t/ D v3 t, wobei ! und v3 Konstanten sind. Der Winkel ' ist definiert als der
weiterhin das Drehmoment und der Drehimpuls eingeführt. Da-
Winkel zwischen der Projektion von xs auf die x1 -x2 -Ebene und der x1 -Achse
zu benötigt man das Kreuzprodukt zweier Vektoren, das sich mit
dem Levi-Civita-Symbol darstellen lässt. Es wird gezeigt, wie
sich Kurvenintegrale ausführen lassen. Dieser Abschnitt dient
vor allem als Vorbereitung auf Abschn. 1.6, in dem die Energie- bestimmt. Berechnen Sie ferner aus xK .t/ in (1.105) die Bahn-
erhaltung in drei Dimensionen behandelt wird. geschwindigkeit und Beschleunigung. Die Lösung finden Sie
im anschließenden Beispiel.

Bahnkurven in drei Dimensionen Bahngeschwindigkeit und -beschleunigung

Wie bereits in Abschn. 1.1 beschrieben, ist der dreidimensiona- Die obigen Beispiele führen durch einmalige Zeitablei-
le Ortsvektor x einer Punktmasse im Allgemeinen eine Funktion tung auf die Bahngeschwindigkeiten
der Zeit t, x D x.t/. Als Bahnkurve bezeichnet man die Menge 0 1
der Punkte, die während einer Zeit t D t2  t1 von der Punkt- 'R
P sin '.t/
masse durchlaufen werden. In drei Dimensionen lässt sich die v K .t/ D @ 'R
P cos '.t/ A ;
Bahnkurve durch ihre drei kartesischen Komponenten 0
0 1 (1.107)
0 1 'R
P sin '.t/
x1 .t/ v S .t/ D @ 'R
P cos '.t/ A :
x.t/ D @x2 .t/A (1.104) xP 3 .t/
x3 .t/
Durch eine weitere Zeitableitung erhält man die Be-
darstellen. Beispiele sind eine Kreisbahn in der x1 -x2 -Ebene mit schleunigungen
Radius R, 0 1 0 1
R cos '.t/ R sin '.t/  'P 2 R cos '.t/
'R
xK .t/ D @ R sin '.t/ A ; (1.105) R cos '.t/  'P 2 R sin '.t/ A ;
aK .t/ D @ 'R
0 0
0 1 (1.108)
oder eine Schraubenlinie längs der x3 -Achse mit Radius R, R sin '.t/  'P 2 R cos '.t/
'R
0 1 R cos '.t/  'P 2 R sin '.t/ A :
aS .t/ D @ 'R
R cos '.t/ xR 3 .t/
xS .t/ D @ R sin '.t/ A ; (1.106)
x3 .t/ J

wie sie in Abb. 1.11 dargestellt ist.


Eine Punktmasse ist genau dann beschleunigt, wenn mindes-
Frage 14 tens eine Komponente ihres Beschleunigungsvektors a.t/ von
Man vergewissere sich, dass der Radius der Kreisbahn in Null verschieden ist bzw. wenn mindestens eine Komponen-
(1.105) tatsächlich R ist, indem man den Betrag von xK .t/ te ihres Geschwindigkeitsvektors v .t/ sich mit der Zeit ändert.
26 1 Die Newton’schen Axiome

Selbst wenn der Betrag der Geschwindigkeit konstant ist, d. h. Tangential- und Normalenvektoren
jv .t/j D const, kann die Punktmasse beschleunigt sein. Dies ist
von Bahnkurven
Teil I

beispielsweise für eine Bewegung auf einem Karussell der Fall.


Frage 15 Der Tangentialvektor einer Bahnkurve ist die Ableitung der
Eine Punktmasse bewege sich auf der Kreisbahn xK .t/ wie in Bahnkurve nach der Bogenlänge:
(1.105) angegeben. Zusätzlich sollen '.t/ D !t und ! D const
gelten. Man zeige, dass dann jv K .t/j D const gilt. Dennoch ist dx
 WD : (1.112)
die Punktmasse beschleunigt, da die x1 - und x2 -Komponenten ds
von aK .t/ im Allgemeinen nicht null sind. Man berechne außer- Aufgrund von (1.109) und der Gleichung
dem den Betrag der Beschleunigung und zeige, dass jaK .t/j D ˇ ˇ
ˇ dx ˇ
! 2 R gilt. ds D ˇˇ ˇˇ ds (1.113)
ds
ist der Tangentialvektor ein Einheitsvektor: jj D 1.
Der Hauptnormalenvektor ist definiert als die normierte Ände-
Die Bogenlänge einer Bahnkurve rung des Tangentialvektors:
ˇ ˇ
d ˇˇ d ˇˇ1
Bewegt sich eine Punktmasse auf einer Bahnkurve x.t/, so über- nH WD : (1.114)
streicht sie in der infinitesimalen Zeit dt einen infinitesimalen ds ˇ ds ˇ
Abschnitt der Bahnkurve. Die Bogenlänge dieses Abschnitts ist Wegen
ˇ ˇ
ˇ dx ˇ d 2 d
ds D jdx.t/j D ˇˇ ˇˇ dt D jv .t/j dt: (1.109) 2 D 1 H)
ds
 D 2 
ds
D0 (1.115)
dt
steht nH senkrecht auf . Es lässt sich ein dritter Vektor definie-
In einer endlichen Zeit zwischen t1 und t2 (bzw. zwischen den
ren, der senkrecht auf  und nH steht. Dieser Vektor,
Punkten x1 D x.t1 / und x2 D x.t2 /) ist die durchlaufene Bo-
genlänge daher nB WD   nH ; (1.116)
Zt2
wird als Binormalenvektor bezeichnet. Man nennt das in (1.116)
s12 D jv .t/j dt: (1.110) auftretende Produkt das Vektorprodukt oder Kreuzprodukt zwei-
t1 er Vektoren. Seine Eigenschaften werden im „Mathematischen
In vielen Fällen ist zwar die Form der Bahnkurve bekannt, Hintergrund“ 1.6 erläutert (siehe auch Aufgabe 1.1). Damit lässt
aber nicht die Geschwindigkeit, mit der sie durchlaufen wird. sich die k-te Komponente von nB auch als
Ein Beispiel dafür sind die Gleise einer Achterbahn, welche nB;k D "ijk i nH;j (1.117)
die Gesamtlänge der Strecke definieren, unabhängig davon, wie
schnell die Achterbahn letztlich über die Gleise fährt. In die- schreiben, wobei "ijk das Levi-Civita-Symbol ist und die Ein-
sem Fall bietet sich die Bogenlänge s als Bahnparameter an, stein’sche Summenkonvention verwendet wurde, also über alle
um die Gesamtlänge zu berechnen. Dafür muss die Bahnkurve doppelt auftretenden Indizes summiert wird. Die Ebene, die
in die Form x.s/ anstelle von x.t/ gebracht werden. Ein Bahn- durch  und nH aufgespannt wird, nennt man Schmiegeebe-
parameter dient zur Parametrisierung der Bahnkurve. Er kann, ne, da die Bahnkurve sich lokal in dieser Ebene befindet
muss aber nicht zwangsläufig der Zeit t oder der Bogenlänge s (Abb. 1.12).
entsprechen. Wir nehmen an, dass der Zusammenhang s.t/ zwi- Wir werden nun sehen, dass der Hauptnormalenvektor nH
schen Bogenlänge und Zeit eine monoton wachsende Funktion die Krümmung der Bahnkurve beschreibt. Die Kreisbahn aus
ist. Dann lässt sich die Bogenlänge auf zwei Arten berechnen: (1.105) lässt sich in die Form
0 1
Zt2 ˇ ˇ Zs2 ˇ ˇ
ˇ dx.t/ ˇ ˇ dx.s/ ˇ cos.s=R/
s12 D ˇ ˇ ˇ dt D ˇ ˇ ˇ ds; (1.111) xK .s/ D R @ sin.s=R/ A
dt ˇ ds ˇ
(1.118)
t1 s1 0
wobei s1 D s.t1 / und s2 D s.t2 / gelten. bringen. Der Tangentialvektor ist dann
0 1
Als Beispiel betrachte man erneut die Kreisbahn in (1.105). dxK .s/  sin.s=R/
Man erkennt leicht, dass es sich um eine Kreisbahn handelt, D D @ cos.s=R/ A : (1.119)
selbst wenn die Funktion '.t/ unbekannt ist. So führt die Um- ds 0
parametrisierung '.t/ D s=R auf eine Bahnkurve xK .s/. Der
Aus ihm folgt sofort
Einfachheit halber soll hier angenommen werden, dass die 0 1
ˇ ˇ
Punktmasse auf der Bahnkurve nicht die Umlaufrichtung wech- d 1 @cos.s=R/A ˇ d ˇ
ˇ ˇD 1
selt. In anderen Worten soll ' eine beliebige, aber monoton D sin.s=R/ ; ˇ ds ˇ (1.120)
zunehmende Funktion der Zeit t sein. ds R 0 R
1.5 Bewegung in drei Dimensionen 27

1.6 Mathematischer Hintergrund: Vektorprodukt und Levi-Civita-Symbol

Teil I
Im R3 kann man zu je zwei Vektoren einen dritten, zu die- .1 2 3/ überführt werden kann, und 1, falls dies nur durch
sen beiden orthogonalen Vektor bestimmen. Dies macht das eine ungerade Anzahl Vertauschungen möglich ist, bzw. null
Vektorprodukt, das noch weitere schöne geometrische Ei- für nicht paarweise verschiedene i; j; k (mit dieser Definiti-
genschaften besitzt. on kann "ijk auch auf mehr als drei Indizes verallgemeinert
werden). Permutationen werden im „Mathematischen Hin-
Definition Vektorprodukt Sei fe1 ; e2 ; e3 g eine rechtshändi- tergrund“ 2.2 genauer besprochen.
ge Orthonormalbasis von R3 (zeigt der Daumen der rechten
Hand in Richtung von e1 , der Zeigefinger in Richtung von Rechenregeln für das Levi-Civita-Symbol Für Summen
e2 , dann zeigt der Mittelfinger nach e3 ). Ferner seien x und von Produkten von Levi-Civita-Symbolen gelten folgende
y Vektoren im R3 , deren Koordinaten bezüglich fe1 ; e2 ; e3 g Rechenregeln (die Regeln ergeben sich leicht aus der Tat-
gegeben sind durch x D .x1 ; x2 ; x3 /> bzw. y D .y1 ; y2 ; y3 /> . sache, dass das Levi-Civita-Symbol nur für verschiedene
Unter dem Vektorprodukt x y versteht man dann den Vektor Indizes nicht verschwindet):
0 1
x2 y3  x3 y2
"ijk "imn D ıjm ıkn  ıjn ıkm ,
x  y WD @x3 y1  x1 y3 A :
"ijk "ijn D 2ıkn ,
x1 y2  x2 y1
"ijk "ijk D 6.
Das Vektorprodukt (also die Abbildung R3  R3 ! R3 ,
.x; y/ 7! x  y) ist bilinear, d. h. Dabei ist ıij das Kronecker-Symbol, das definiert ist durch
.x1 C x2 /  y1 D .x1  y1 / C .x2  y1 /; (
0; falls i ¤ j
x1  .y1 C y2 / D .x1  y1 / C .x1  y2 /; ıij WD :
1; falls i D j
und antisymmetrisch, d. h. xy D yx. Häufig wird dieses
Produkt auch als ein äußeres Produkt bezeichnet (im Gegen-
Rechenregeln für das Vektorprodukt Unter Verwendung
satz zum Skalarprodukt, das ein inneres Produkt ist).
der oben angegebenen Regeln kann man zeigen, dass
Levi-Civita-Symbol Die Definition des Vektorprodukts lässt
sich elegant formulieren, wenn das Levi-Civita-Symbol "ijk x  x D 0,
verwendet wird, das für i; j; k 2 f1; 2; 3g definiert ist durch ei  ej D "ijk ek ,
x  .y z/ Cy .z  x/ Cz  .x  y/ D 0 (Jacobi-Identität)
C1 D "123 D "231 D "312 ;
1 D "132 D "321 D "213 ;
für alle x; y; z 2 R3 gilt. Außerdem ist die Graßmann-Iden-
0 sonst: tität sehr nützlich, die man sich am besten durch die „bac-
Die k-te Koordinate von x  y schreibt sich dann als minus-cab-Regel“ merken kann: a.bc/ D b.ac/c.ab/.

X
3 X
3 Geometrische Eigenschaften Schließlich sollte noch er-
.x  y/k D "ijk xi yj ; wähnt werden, dass das Vektorprodukt einige wichtige geo-
iD1 jD1 metrische Eigenschaften hat:
und für das Vektorprodukt x  y ergibt sich die Darstellung
Das Produkt x  y steht senkrecht auf x und y, d. h.
X
3 X
3 X
3
xy D "ijk xi yj ek ; x  .x  y/ D y  .x  y/ D 0:
iD1 jD1 kD1
Die Vektoren .x; y; x  y/ bilden ein Rechtshandsystem.
die unter Verwendung der Einstein’schen Summenkonven- Der Betrag von x  y ist gleich der Fläche des durch x und
tion kurz geschrieben wird als y aufgespannten Parallelogramms, also
x  y D "ijk xi yj ek : jx  yj D jxjjyj sin ;
Es wird dabei über doppelt auftretende Indizes summiert, wobei der von x und y eingeschlossene Winkel ist.
ohne dies explizit anzugeben. Mathematisch ist das Levi-Ci- Der Betrag des Spatprodukts .xy/z ist gleich dem Volu-
vita-Symbol bei verschiedenen i; j; k gleich dem Vorzeichen men des von x, y und z aufgespannten Spats. Daher stellt
der Permutation .i j k/, d. h. C1, falls .i j k/ durch eine gera- das Levi-Civita-Symbol ein orientiertes Einheitsvolumen
de Anzahl von Vertauschungen (Transpositionen) wieder in dar: "ijk D .ei  ej /  ek .
28 1 Die Newton’schen Axiome

x2 Der Anteil der Beschleunigung entlang nH verändert nicht


den Betrag der Bahngeschwindigkeit v , jedoch ihre Richtung
Teil I

. Diese Beschleunigungskomponente heißt Radialbeschleuni-


gung mit Betrag v 2 = , die in Kap. 2 wieder auftauchen wird.
τ
nB Sie macht sich deutlich bemerkbar, wenn man im Auto in eine
P Kurve oder in einer Achterbahn fährt.
nH Frage 17
ρ Schleudert man einen Eimer Wasser mit ausreichender Ge-
schwindigkeit im Kreis (mit der Drehachse parallel zum Erdbo-
den), so schwappt kein Wasser hinaus. Ist die Geschwindigkeit
jedoch zu klein, wird man nass. Was ist die Bedingung dafür,
dass das Wasser im Eimer bleibt, wenn der Eimer am höchsten
x1 Punkt seiner Bahn ist?

Abb. 1.12 An einem Punkt P einer Bahnkurve lassen sich der Tangentialvektor
, der Hauptnormalenvektor nH sowie der Binormalenvektor nB (senkrecht aus
der Papierebene hinaus) definieren. Der lokale Krümmungsradius entspricht
dem Radius eines Kreises, der am Punkt P die Bahnkurve approximiert
Drehmoment und Drehimpuls von Punktmassen

Wirkt eine Kraft F auf eine Punktmasse m am Ort x, so definiert


und somit 0 1 man das Moment der Kraft bezüglich des Koordinatenursprungs
cos.s=R/ durch
nH D  @ sin.s=R/ A : (1.121) M WD x  F: (1.126)
0
Dieses sogenannte Drehmoment steht senkrecht auf der Ebene,
die durch die Vektoren x und F aufgespannt wird.
Frage 16
Zeigen Sie, dass der entsprechende Binormalenvektor nB D Frage 18
.0; 0; 1/> lautet. Man mache sich mittels der Definition des Kreuzprodukts klar,
dass das Moment M verschwindet, wenn der Richtungsvektor x
und die Kraft F parallel bzw. antiparallel ausgerichtet sind.
Aufgrund der Identität
ˇ ˇ
ˇ d ˇ Der Drehimpuls wird ähnlich wie das Drehmoment definiert,
ˇ ˇD 1 (1.122)
ˇ ds ˇ R allerdings mit dem Impuls p anstelle der Kraft F D pP :
L WD x  p D x  .mv /: (1.127)
für einen Kreis nennt man die Größe
ˇ ˇ1 Der Drehimpuls steht senkrecht auf der Ebene, die durch x und
ˇ d ˇ
WD ˇˇ ˇˇ (1.123) v definiert wird (Abb. 1.13). Bewegt sich die Punktmasse direkt
ds auf den Ursprung zu oder entfernt sie sich in entgegengesetzter
Richtung, d. h. x k v , so verschwindet der Drehimpuls: L D 0.
den lokalen Krümmungsradius der Bahnkurve. Er entspricht Wegen xP D v und p D mv ist seine Zeitableitung durch
dem Radius des Kreises, der lokal die Form der Bahnkurve be-
schreibt. Dies wird aus Abb. 1.12 deutlich. Ist die Bahnkurve dL
D xP  p C x  pP D x  F D M (1.128)
lokal gerade, so ist  D const und D 1. dt
In der Anwendung werden die Geschwindigkeit und die Be- gegeben. Der Drehimpulssatz lautet somit
schleunigung häufig in ihre tangentialen und normalen Anteile
LP D M: (1.129)
zerlegt. Die Geschwindigkeit ist immer tangential zur Bahnkur-
ve:
dx.t/ dx ds
v .t/ D D D jv .t/j: (1.124) Drehimpulserhaltung
dt ds dt
Der Drehimpuls einer Punktmasse ist genau dann er-
Mit der Schreibweise v D jv j findet man für die Beschleuni-
halten, wenn keine Drehmomente auf diese Punktmasse
gung
wirken.
dv .t/ d d ds v2
a.t/ D D v  D vP  C v D vP  C nH :
dt dt ds dt Wir werden in Kap. 4 sehen, dass der Drehimpuls eine wichtige
(1.125) Größe zur Beschreibung von rotierenden Körpern ist.
1.5 Bewegung in drei Dimensionen 29

x2 x3

Teil I
C1

v
L C2

A
x B
C3

x1 x2

x1

Abb. 1.14 Im dreidimensionalen Raum R3 gibt es generell unendlich viele


Möglichkeiten, von Punkt A nach Punkt B zu gelangen. In dieser Abbildung sind
drei Beispielwege und ihre Projektionen auf die x1 -x2 -Ebene dargestellt, um den
dreidimensionalen Verlauf der Wege zu verdeutlichen

zuordnen. Ist F.x/ beispielsweise eine Kraft, die auf eine Punkt-
masse wirkt, so entspricht dieses Skalarprodukt der Arbeit, die
Abb. 1.13 Der Drehimpuls L für eine Punktmasse mit momentaner Geschwin- an der Punktmasse verrichtet werden muss, um sie um ıx zu
digkeit v und Position x steht senkrecht auf v und x. Das Symbol ˇ bedeutet,
verschieben. Nun kann man sich eine Kurve C im Raum vorstel-
dass ein Vektor aus der Papierebene hinaus zeigt. Im Gegensatz dazu verwendet
man ˝, um Vektoren darzustellen, die in die Papierebene hinein zeigen len, die aus lauter kleinen und kontinuierlichen Verschiebungen
zusammengesetzt ist. Die Kurve werde durch den Kurvenpa-
rameter s beschrieben, der aus dem Intervall I D Œsa ; sb 
entnommen wird:
Kurvenintegrale
C W I ! R3 ; s 7! x.s/: (1.132)
Das Ergebnis aus Abschn. 1.4 war, dass die Energie in einem Die Anfangs- und Endpunkte der Kurve C sind xa D x.sa / und
eindimensionalen System erhalten ist, wenn die Kraft als nega- xb D x.sb /. Das Kurvenintegral über die Funktion F.x/ entlang
tive Ableitung eines Potenzials nach dem Ort dargestellt werden des Weges x.s/ ist dann
kann:
Zxb
Zz ˚D F.x/  dx: (1.133)
dV.z/
F.z/ D  () V.z/ D  F.z0 / dz0 : (1.130) xa
dz
z0
In dem speziellen Fall, dass die Anfangs- und Endpunkte iden-
Der Anfangspunkt z0 der Integration ist dabei beliebig. Es ist tisch sind, xa D xb , nennt man die Kurve geschlossen und
wünschenswert, eine ähnliche Aussage in drei Dimensionen zu schreibt das geschlossene Wegintegral
formulieren. Hierbei ergibt sich allerdings die Frage, welcher Zxb I
Integrationsweg zwischen zwei Punkten im R3 gewählt werden
F.x/  dx D F.x/  dx: (1.134)
muss. Im Gegensatz zu der Integration in (1.130), die entlang
der reellen Achse stattfindet, kann im dreidimensionalen Raum xa C
prinzipiell eine unendliche Zahl von Wegen verfolgt werden
(Abb. 1.14). Wir werden bald sehen, dass ein Potenzial V.x/ Zur Berechnung des Kurvenintegrals entlang einer gegebenen
genau dann definiert werden kann, wenn die Integration von der Bahnkurve mit der Parametrisierung x.s/ schreibt man
Wahl des Weges unabhängig ist. Hierzu ist es sinnvoll, sich die
Kurvenintegrale genauer anzusehen. Zxb Zsb
dx
F.x/  dx D F.x/  ds: (1.135)
Es sei F.x/ eine vektorwertige Funktion im dreidimensionalen ds
xa sa
Raum R3 . Einer kleinen Verschiebung vom Punkt x nach x C ıx
lässt sich der Skalar Hier wurde der Integrand in die eindimensionale Funktion F.x/
dx=ds umgewandelt. Die Integration lässt sich daher wie ge-
ı˚ D F.x/  ıx (1.131) wohnt durchführen.
30 1 Die Newton’schen Axiome

1.6 Energieerhaltung geschrieben werden kann, da dann E D T C V D const für die


Energie E gilt. Das eindimensionale Analogon dieses Energie-
und konservative Kräfte
Teil I

satzes haben wir schon in (1.82) gesehen. Im dreidimensionalen


Fall ist dies offenbar nur dann möglich, wenn
In Abschn. 1.3 wurde die Bewegung einer Punktmasse in einer
dV dx
Dimension vorgestellt. Dies führte schließlich auf den Ener- D F  (1.142)
gieerhaltungssatz in Abwesenheit dissipativer Kräfte (1.89). dt dt
Die Bewegung einer Punktmasse in drei Dimensionen erfor-
dert besondere Aufmerksamkeit, da es sich dabei nicht um eine erfüllt ist. Eine Größe V, welche dieser Gleichung genügt, ist
einfache Erweiterung von Abschn. 1.3 auf drei Dimensionen das Potenzial der Kraft F. So erfüllen beispielsweise alle Kräf-
handelt. So haben wir beispielsweise zuvor gesehen, dass al- te, die senkrecht auf der Geschwindigkeit xP stehen, VP D 0. Dies
le eindimensionalen Kräfte der Form F.z/ aus einem Potenzial schließt beispielsweise die Lorentz-Kraft in einem beliebigen
V.z/ abgeleitet werden können. Im Gegensatz dazu kann man in Magnetfeld B ein. Sie ist proportional zum Kreuzprodukt v  B
drei Dimensionen im Allgemeinen kein Potenzial V.x/ für eine und erhält damit die Energie (Aufgabe 1.4). Hier ist anzumer-
beliebige Kraft F.x/ angeben, selbst wenn diese geschwindig- ken, dass die Lorentz-Kraft geschwindigkeitsabhängig ist. Wir
keits- und zeitunabhängig ist. Es wird allerdings gezeigt, dass wollen uns im Folgenden allerdings auf geschwindigkeitsunab-
es eine Klasse von Kräften gibt, für die eine solche Relation hängige Kräfte beschränken (also solche mit Gestalt F.x/). Die
existiert. Diese sogenannten konservativen Kräfte werden im Lorentz-Kraft wird in Teil II genauer untersucht werden.
Laufe dieses Abschnitts eingeführt und definiert. Dazu werden Es gibt eine Klasse geschwindigkeitsunabhängiger Kräfte, die
die Differenzialoperatoren (Gradient, Divergenz und Rotation) (1.142) erfüllen. Die Anwendung der Kettenregel zeigt, dass
sowie der wichtige Satz von Stokes besprochen. dies für Kräfte der Fall ist, die in der Form

F.x/ D r V.x/ (1.143)


Der Energieerhaltungssatz in drei Dimensionen
geschrieben werden können. Hierbei bezeichnet r (Nabla-Ope-
rator) den Gradienten in kartesischen Koordinaten, der im
Um den Energieerhaltungssatz in drei Dimensionen zu erhalten, „Mathematischen Hintergrund“ 1.7 eingeführt wird. Man rech-
gehen wir ähnlich wie in Abschn. 1.4 vor: Wir multiplizieren die net somit nach, dass
Bewegungsgleichung einer Punktmasse,
mRx D F; dV.x/ @V.x/ dxi .t/
(1.136) P
V.x/ D D
dt @xi dt
mit xP und schreiben (1.144)
dx.t/ dx.t/
d  m 2 dx D .r V.x//  D F.x/ 
xP D F  : (1.137) dt dt
dt 2 dt
In Analogie zum eindimensionalen Fall definiert man die kine- gilt. Es ist zu betonen, dass die Zeitabhängigkeit vollständig in
tische Energie als x.t/ enthalten ist; die Kraft F.x/ und das Potenzial V.x/ sind
m p2 somit nicht explizit zeitabhängig.
T D xP 2 D : (1.138)
2 2m Achtung Der Gradient zeigt in die Richtung des steilsten An-
Die infinitesimale Änderung der kinetischen Energie ist die von stiegs des Potenzials. Das Konzept des Gradienten (und Nabla-
der Kraft F längs des Wegelements dx an der Punktmasse ver- Operators) ist in der Physik sehr wichtig und für viele Leser ver-
richtete Arbeit dW: mutlich neu. Es wird daher empfohlen, den „Mathematischen
m  Hintergrund“ 1.7 genau zu studieren und Aufgabe 1.5 zu bear-
d xP 2 D F  dx D dW: (1.139) beiten. J
2
Die Leistung in drei Dimensionen wird aus Kräfte der Form wie in (1.143) werden Potenzialkräfte oder kon-
servative Kräfte genannt, da sie die Energie als Summe von
dW kinetischer und potenzieller Energie erhalten und aus einem Po-
PD D F  xP (1.140)
dt tenzial abgeleitet werden können.
berechnet. Den eindimensionalen Fall haben wir bereits in
(1.87) kennengelernt.
Konservative Kräfte
Die Bewegungsgleichung (1.137) beschreibt eine erhaltene
Größe, wenn sie in der Form Konservative geschwindigkeitsunabhängige Kräfte F.x/
lassen sich als Gradient eines skalaren Potenzials V.x/
dT dV darstellen.
D (1.141)
dt dt
1.6 Energieerhaltung und konservative Kräfte 31

1.7 Mathematischer Hintergrund: Differenzialoperatoren

Teil I
Im Rn , und besonders im R3 , gibt es einige besondere Ablei- Beispielsweise kann man die totale Zeitableitung einer Funk-
tungsoperatoren, die in der Physik oft benutzt werden. Diese tion f .x.t// mithilfe der Kettenregel als df =dt D .r f /  xP
wollen wir hier kurz erklären. schreiben.
Ableitung und partielle Ableitung Eine skalare Funktion Divergenz Unter der Divergenz eines Vektorfeldes g ver-
f W R ! R, x 7! f .x/ ist differenzierbar in x, wenn der steht man den Differenzialoperator, der dem Vektorfeld die
Grenzwert Summe der i-ten partiellen Ableitung der i-ten Komponente,
df f .x C "/  f .x/ also einen Skalar, zuordnet:
f 0 .x/ D .x/ D lim 0 1
dx "!0 "
g1 X 3
existiert. Den Grenzwert bezeichnet man als Ableitung von f . div g WD div @g2 A D @i gi :
Anschaulich beschreibt f 0 .x0 / die Änderungsrate (Steigung) g3 iD1
von f in der Nähe von x0 (vorausgesetzt, dass f hinreichend
glatt ist in einer Umgebung um x0 . Details siehe den „Mathe-
matischen Hintergrund“ 1.8). Rotation Unter der Rotation eines Vektorfeldes versteht
man den Differenzialoperator
Um das Änderungsverhalten skalarer Funktionen mehrerer 0 1
Veränderlicher g W Rn ! R, x 7! g.x/ zu untersuchen, lässt @2 g3  @3 g2
man alle Veränderlichen bis auf xi konstant und betrachtet für rot g D @@3 g1  @1 g3 A :
festes x das Änderungsverhalten der durch gi .t/ WD g.xCtei / @1 g2  @2 g1
auf R ! R definierten Funktion. Dies führt auf die partielle
Ableitung Wie bei der Ableitung auch, bezeichnet man mit Gradient,
Divergenz und Rotation nicht nur den Differenzialoperator
@g g.x C "ei /  g.x/
.x/ D g0i .0/ D lim : selbst, sondern auch das Ergebnis seiner Anwendung.
@xi "!0 "
Die partielle Ableitung @x@g
.x/ ist also die Ableitung von g Symbolische Schreibweise In der Physik ist es üblich, Gra-
i
@
an der Stelle x in Richtung des Vektors ei . Statt @x wird oft dient, Divergenz und Rotation mithilfe des Nabla-Operators
auch nur kurz @i notiert.
i auszudrücken. Dieser ist zunächst formal nur der Vektor der
Symbole @1 , @2 , @3 , also
Differenzialoperatoren Ein Differenzialoperator ist eine 0 1
Abbildung, die einer Funktion eine (andere) Funktion zuord- @1
net, die (partielle) Ableitung(en) der ursprünglichen Funkti- r WD @@2 A :
on enthält. Zum Beispiel ist die gewöhnliche Ableitung dx d @3
ein Differenzialoperator, der einer differenzierbaren Funkti-
on f ihre Ableitung dxd
f D f 0 zuordnet. Beim formalen „Rechnen“ mit dem Nabla-Operator fasst
man Produkte des Symbols @i mit einer Funktion f als An-
Gradient Eine Funktion R3 ! R (der Gradient wird hier wendung von @i auf f auf. Dann lässt sich der Gradient von
nur für R3 eingeführt; die Definition lässt sich aber problem- f formal als skalare Multiplikation zwischen r und f schrei-
los auf Rn verallgemeinern) wird als Skalarfeld bezeichnet. ben, die Divergenz von g als Skalarprodukt zwischen r und
Den Differenzialoperator, der einem Feld den Vektor der par- g und die Rotation von g als Vektorprodukt zwischen r und
tiellen Ableitungen des Feldes zuordnet, bezeichnet man als g, also
Gradienten von f :
0 1 grad f D r f ; div g D r  g; rot g D r  g:
@1 f
grad f WD @@2 f A :
@3 f Rechenregeln Sind f bzw. g Skalarfelder und v ein Vektor-
feld, so gilt
In diesem Buch wird der Gradient als Spaltenvektor definiert.
Vereinzelt wird der Gradient auch als Zeilenvektor einge- r .fg/ D f .rg/ C g.r f /;
führt. Funktionen von R3 ! R3 werden als Vektorfelder r  .f v / D f .r  v / C v  .r f /;
bezeichnet. Der Gradient ist also ein Vektorfeld. Er zeigt in r  .f v / D .r f /  v C f .r  v /:
Richtung des stärksten Anstiegs des Skalarfeldes. Insbeson-
dere steht der Gradient senkrecht auf Flächen, auf denen das Diese sind leicht in Komponentenschreibweise nachzurech-
Skalarfeld konstant ist. nen.
32 1 Die Newton’schen Axiome

Es ist leicht zu sehen, dass die Kraft in (1.143) senkrecht auf die nur vom Abstand r abhängen und stets entlang der Richtung
Äquipotenzialflächen (Flächen mit konstantem Potenzial, V D von r wirken. Diese Kräfte können anziehend (F.r/ < 0) oder
Teil I

const) steht. Dazu betrachte man eine Verschiebung dx, die in- abstoßend (F.r/ > 0) sein. Das Potenzial lautet
nerhalb einer Äquipotenzialfläche liegt:
Zr
0 D dV D r V  dx D F  dx: (1.145) V.r/  V.r0 / D  F.r0 / dr0 ; (1.151)
r0
An dieser Stelle bietet es sich auch an, die Richtungsableitung
des Feldes V.x/ entlang des Vektors nO zu definieren:
wobei r0 und somit V.r0 / beliebig ist.
@V
@nO V D WD nO  r V: (1.146) Es ist zu beachten, dass es auch nichtradialsymmetrische Zen-
@nO tralkräfte gibt, die zwar entlang des Vektors r wirken, aber nicht
nur vom Abstand r abhängen. Im Gegensatz zu den radial-
Sie gibt die Steigung von V entlang des Vektors nO an. Liegt nO
symmetrischen Zentralkräften in (1.150) können solche Kräfte
innerhalb einer Äquipotenzialfläche, d. h. ist nichtkonservativ sein. Eine wichtige Eigenschaft aller Zentral-
kräfte ist, dass sie den Drehimpuls L erhalten, da F k r und somit
V.x/  V.x C  n/
O D0 (1.147) LP D M D r  F D 0 gilt.

für ein beliebiges infinitesimales , dann verschwindet die Rich- Frage 19


tungsableitung @nO V. Man zeige mithilfe von (1.143), dass (1.151) auf (1.150) führt.
Sind alle Kräfte, die auf die Punktmasse m wirken, konservativ, Dabei kann man ausnutzen, dass r r D r=r ist (Aufgabe 1.5).
gilt der Energieerhaltungssatz:

E D T C V D const: (1.148) Der dreidimensionale harmonische Oszillator ist ein Spezialfall


einer radialsymmetrischen Zentralkraft. Er besitzt das Potenzial

Energieerhaltung k 2
V.r/ D r ; (1.152)
Die Energie eines mechanischen Systems ist erhalten, 2
wenn alle Kräfte konservativ sind.
wie wir es bereits in (1.94) für den eindimensionalen Fall gese-
hen haben. Die Kraft in drei Dimensionen berechnet sich zu
Treten zusätzlich nichtkonservative (also dissipative) Kräfte Fd
auf, so lautet die Energiegleichung F.r/ D r V.r/ D kr D kr eO r : (1.153)

EP D Fd  xP : (1.149) Die Gravitationskraft

Beispiele für nichtkonservative Kräfte sind Reibungskräfte, die GMm


von der Geschwindigkeit abhängen. Geschwindigkeitsabhän- F.r/ D  eO r (1.154)
r2
gige Kräfte sind im Allgemeinen dissipativ. Dies haben wir
bereits in Abschn. 1.4 gesehen. Es gibt allerdings auch, wie
ist ebenfalls eine radialsymmetrische Zentralkraft.
bereits vorher angedeutet, Ausnahmen: Die geschwindigkeits-
abhängige Lorentz-Kraft ist ebenfalls konservativ (erhält also
Frage 20
die Energie). Es gibt jedoch auch Kräfte der Form F.x/, die
nichtkonservativ sind, wie in Aufgabe 1.5 gezeigt wird. Berechnen Sie das Gravitationspotenzial aus der Gravitations-
kraft. Nutzen Sie dazu (1.151).

Wichtige Potenzialkräfte Sowohl der harmonische Oszillator als auch die Gravitation sind
Spezialfälle der Potenz-Potenziale,

Die wichtigsten Potenzialkräfte in der Mechanik sind die radi-


alsymmetrischen Zentralkräfte, V.r/ D ˛ rˇ ; (1.155)

r
F.r/ D F.r/ D F.r/ eO r ; (1.150) wobei ˛ und ˇ reelle Zahlen sind (ˇ D 2 für das Oszillatorpo-
r tenzial und ˇ D 1 für das Gravitationspotenzial).
1.6 Energieerhaltung und konservative Kräfte 33

1.8 Mathematischer Hintergrund: Taylor’scher Satz

Teil I
 
Es ist oftmals sinnvoll, differenzierbare Funktionen als Po- Im Falle x ! a und f 2 O .x  a/k spricht man davon,
tenzreihe oder als Polynom mit einem Fehlerterm zu schrei- dass f für x ! a mindestens mit k-ter Ordnung abfällt. Glei-
ben. Dafür gibt es die sogenannte Taylor-Entwicklung. chung (2) besagt also, dass das Restglied RnC1 .x/ für x ! a
mindestens mit (n C 1)-ter Ordnung abfällt.
Taylor-Polynome Sei I ein Intervall reeller Zahlen, f W I !
R eine mindestens .nC1/-mal differenzierbare Funktion und Die sehr gebräuchliche Schreibweise
a 2 I. Das r-te (1  r  n) Taylor-Polynom Tr .x/ ist das Po- f .x/ D Tn .x/ C O.xnC1 / für x ! 0
lynom vom Grad r, das mit f in a im Funktionswert und den
ersten r-Ableitungen übereinstimmt. Durch diese Forderun- ist so zu lesen, dass O.xnC1 / eine Funktion ist (die sich aus
gen ist das Polynom Tr .x/ eindeutig bestimmt. der Gleichung ergibt), die in der Menge O.xnC1 / enthalten
ist. Die O-Notation kann man in analoger Weise auch für
Wie man leicht nachprüft, sind die Taylor-Polynome gege-
x ! 1 einführen. Dann bedeutet f 2 O.g/, dass f höchs-
ben durch
tens so stark ansteigt wie g.
T0 .x/ WD f .a/
Beispiele Verwendet man die Taylor-Polynome als Appro-
T1 .x/ WD f .a/ C f 0 .a/.x  a/
ximation, so erhält man für x ! 0 folgende Näherungen:
::
: 1 x  
p D1 C O x2 ;
X n
f .k/ .a/ 1˙x 2
Tn .x/ WD .x  a/k : x2  
kD0
kŠ cos.x/ D 1  C O x4 ;
2 
Dabei bezeichnet kŠ WD k  .k  1/    2  1 die Fakultät von sin.x/ D x C O x3 :
k. Ergänzend ist 0Š WD 1 definiert. Das erste Taylor-Polynom
T1 .x/ ist genau die Tangente an f in a.
Taylor-Reihen Wenn f W R ! R unendlich oft differen-
Restglied Wie gut lässt sich f durch ein Taylor-Polynom an- zierbar ist, konvergiert dann die Folge der Taylor-Polynome
nähern? Für das Restglied RnC1 .x/ WD f .x/  Tn .x/ gilt Tn .x/, also die Taylor-Reihe
X1 .k/
Zx f .a/
1 .x  a/k ‹
RnC1 .x/ D .x  t/n f .nC1/ .t/ dt: (1) kD0


a
Wenn ja, konvergiert die Reihe nur für feste x in einer Umge-
Dies ist die Aussage des Taylor’schen Satzes, den man bung U von a oder sogar gleichmäßig in U (d. h. bezüglich
über vollständige Induktion ausgehend vom Hauptsatz der der Supremumsnorm kk1 )? Beides muss im Allgemeinen
Differenzial- und Integralrechnung beweisen kann. verneint werden. Selbst wenn die Taylor-Reihe einer Funk-
tion konvergiert, konvergiert diese nicht zwangsläufig gegen
Restgliedabschätzung Wenn die (n C 1)-te Ableitung von f die Funktion. Notwendig und hinreichend ist, dass Rk .x/ für
beschränkt ist in einer Umgebung U um a, dann folgt aus (1) k ! 1 gleichmäßig gegen 0 konvergiert.
die Abschätzung
ˇ ˇ Taylor-Entwicklung für Funktionen f W Rn ! R Existie-
ˇ ˇ
jRnC1 .x/j  C ˇ.x  a/nC1 ˇ für x 2 U (2) ren die partiellen Ableitungen bis zur zweiten Ordnung von
f W Rn ! R, so gilt für x ! 0
mit einer geeigneten Konstanten C > 0.  
f .a C x/ D .grad f .a//  x C O jxj2 ;
Landau-Notation Für eine Funktion f W I ! R, I  R und
a 2 I versteht man unter O.f / die Menge aller Funktionen wobei O offensichtlich auf Funktionen Rn ! R verallge-
g W I ! R, durch die f lokal in einer Umgebung Ug um a meinert ist. Existieren auch die partiellen Ableitungen dritter
beschränkt werden kann. Dies sind also die Funktionen g, zu Ordnung von f , dann gilt für x ! 0
denen es eine Umgebung Ug .a/ um a gibt, sodass 1    
f .a C x/ D .grad f .a//  x C x  Hf .a/  x C O jxj3 ;
jf .x/j  C jg.x/j für alle x 2 Ug .a/ 2
wobei die Hesse-Matrix Hf die (n  n)-Matrix der zweiten
gilt mit einer geeigneten Konstanten C 2 R. Bei der Schreib- partiellen Ableitungen ist, d. h.
weise O.g/ wird, etwas unsauber, auf die Angabe von a
verzichtet, da sich a immer aus dem Zusammenhang ergibt. .Hf /ij WD @i @j f :
34 1 Die Newton’schen Axiome

Die Wegunabhängigkeit der Arbeit


A
Teil I

In diesem Abschnitt werden die Eigenschaften der wichtigen


konservativen Kraftfelder genauer untersucht. Wie bereits ge- S
zeigt, gilt für die Bewegung in einem konservativen Kraftfeld ∂S
die Energieerhaltung.
B
Wir haben in Abb. 1.14 gesehen, dass sich im dreidimensionalen
Raum prinzipiell verschiedene Wege zwischen zwei Punkten A
und B wählen lassen. Bewegt man sich dabei durch ein Kraft-
feld, wird Arbeit verrichtet. Es stellt sich die Frage, ob es Abb. 1.15 Eine (gekrümmte) zweidimensionale Fläche S im dreidimensionalen
Kraftfelder gibt, für welche die verrichtete Arbeit nicht davon Raum wird von einer Kurve @S begrenzt. Es gibt zwei Möglichkeiten, entlang @S
abhängt, auf welchem Weg man sich von Punkt A zu Punkt B von einem Punkt A zu einem anderen Punkt B zu gelangen (rote und blaue
begibt. Es ist zu erwarten, dass für solche Systeme eine physi- Pfade). Beide Pfade zusammen bilden eine geschlossene Kurve
kalische Beschreibung einfacher ist, da der gewählte Weg nicht
definiert werden muss.
verschwindet, r  r ˚ D 0, gilt offenbar, dass r  F D 0
Wir nehmen an, dass das Kurvenintegral ein notwendiges Kriterium ist. Aus F D r ˚ folgt daher, dass
Zx r  F D 0. Wir werden im Folgenden untersuchen, unter
welchen Umständen die Umkehrung gilt, d. h. wann F ein Gra-
˚.x/ D F.x0 /  dx0 (1.156)
dientenfeld ist, falls r  F D 0 gilt.
x0
Frage 21
des Vektorfeldes F.x/ wegunabhängig ist. Der Startpunkt x0 Man mache sich klar, dass die Rotation eines Gradientenfeldes
wird nun festgehalten. Verschiebt man dann die obere Integrati- tatsächlich verschwindet. Hierzu ist es sinnvoll, das Kreuzpro-
onsgrenze um ein kleines Stück dx, so gilt dukt r  r ˚ durch das Levi-Civita-Symbol "ijk darzustellen.
Bei der Rechnung geht man davon aus, dass Ableitungen ver-
Z
xCdx
tauschbar sind, z. B. @i @j ˚.x/ D @j @i ˚.x/.
˚.x C dx/  ˚.x/ D F.x0 /  dx0 : (1.157)
x

Für eine infinitesimale Verschiebung kann man dies durch


Der Satz von Stokes
˚.x C dx/  ˚.x/ D r ˚.x/  dx D F.x/  dx (1.158)

annähern (siehe „Mathematischer Hintergrund“ 1.8). Somit Der Satz von Stokes erlaubt es, ein geschlossenes Wegintegral
muss F der Gradient des skalaren Feldes ˚ sein: F D r ˚. über ein Vektorfeld F.x/ durch das Flächenintegral über die Ro-
Ist umgekehrt F D r ˚, so ist das Wegintegral wegunabhängig, tation von F auszudrücken:
denn I Z
F  ds D .r  F/  dS: (1.160)
Zxb Z b/
˚.x
@S S
r ˚  dx D d˚ D ˚.xb /  ˚.xa / (1.159)
xa ˚.xa / Hier ist S eine Fläche, die von einer Randkurve @S entlang ds
begrenzt wird (Abb. 1.15). Man nennt
hängt nur noch von den Endpunkten der Kurve ab.
I
 WD F  ds (1.161)
Wegunabhängigkeit und Gradientenfeld
@S
Ein Kurvenintegral über ein Vektorfeld F.x/ ist genau
dann wegunabhängig, wenn es ein Skalarfeld ˚ gibt, des- auch die Zirkulation oder Wirbelstärke des Vektorfeldes F.x/
sen Gradient F ist, d. h. F.x/ D r ˚.x/. längs des geschlossenen Weges @S. Das infinitesimale Flächen-
element dS erfüllt
dS D dS n;
O (1.162)
Es stellt sich sofort die Frage, nach welchem Kriterium man
entscheiden kann, ob F ein Gradientenfeld ist. Hier bietet sich wobei dS der Betrag des Flächenelements und nO ein Einheits-
die Rotation r  F des Feldes F an (siehe „Mathematischer normalenvektor ist, der lokal senkrecht auf der Fläche steht. Das
Hintergrund“ 1.7). Da die Rotation eines Gradienten identisch Vorzeichen von nO wird über die Rechte-Hand-Regel bestimmt:
1.6 Energieerhaltung und konservative Kräfte 35

1.9 Mathematischer Hintergrund: Der Satz von Stokes

Teil I
H
Der Satz von Stokes ist wohl der Höhepunkt in jedem Ana- 1. Es gilt @S F  ds > 0, wenn die Vektoren von F in Tan-
lysiszyklus. Man findet ihn in der Literatur in den verschie- gentialrichtung zu @S zeigen. Physikalisch bedeutet dies,
densten Formen, wobei wir uns hier auf die physikalische dass sich die Flüssigkeit im mathematisch positiven Sin-
Interpretation konzentrieren wollen. In der tiefsten und all- ne dreht. H
gemeinen Form sagt der Satz von Stokes etwas über die 2. Wir haben @S F  ds < 0, falls die Vektoren von F ent-
Integration von Differenzialformen und verallgemeinert so gegen der Richtung der Tangentialvektoren des Randes
den Hauptsatz der Differenzial- und Integralrechnung, der zeigen. H
aus der Schule schon bekannt ist. 3. Es gilt natürlich @S F  ds D 0, wenn F senkrecht auf
Wichtige Spezialfälle sind der klassische Satz von Stokes, dem Rand @S steht. Physikalisch bedeutet dies, dass die
der Gauß’sche Integralsatz und der Satz von Green, die alle Flüssigkeit nicht entlang des Randes rotiert.
in der Vektoranalysis behandelt werden. H
Insgesamt stellt das Integral @S F  ds damit die Gesamt-
Der klassische Satz von Stokes Eine Version (meistens rotation der Flüssigkeit im mathematischen positiven Sinne
wird diese so in einer Physikvorlesung gegeben) des Satzes entlang @S dar. Daher kann dieses Integral auch als Zirkula-
von Stokes lautet wie folgt: tion bzw. Wirbelstärke der Flüssigkeit gedeutet werden. Der
Sei S  R3 eine Fläche und @S ihre Randkurve (Abb. 1.15). Satz von Stokes sagt uns nun, dass die Wirbelstärke von F
Weiter sei das Vektorfeld F W R3 ! R3 stetig differenzier- entlang der Randkurve @S gleich dem Integral der Normal-
bar. Dann gilt komponente der Rotation rot F über der Fläche S ist.
I Z
F  ds D .rot F/  dS; Weitere Anwendungen Eine weitere Anwendung des allge-
meinen Stokes’schen Satzes ist der sogenannte Integralsatz
@S S
von Gauß, der vor allem in der Elektrodynamik eine außer-
wobei die Randkurve @S die von S induzierte Orientierung ordentlich wichtige Rolle spielt und dort noch wesentlich
trage, ds das vektorielle Linienelement des Randes @S und ausführlicher besprochen wird. Er soll hier bereits der Voll-
dS das vektorielle Flächenelement von S bezeichnet. Der ständigkeit halber notiert werden. Sei V  R3 ein Volumen
Nutzen liegt vor allem darin, dass im Allgemeinen das Kur- und @V die geschlossene Fläche, die V berandet. Dann gilt
venintegral einfacher als das Flächenintegral zu berechnen für jedes stetig differenzierbare Vektorfeld F W R3 ! R3
ist. I Z
Physikalische Interpretation Die physikalische Interpreta- F  dS D div F dV;
tion (siehe Literatur) des Satzes von Stokes kann man sich @V V
folgendermaßen verdeutlichen. Dazu stellen wir uns vor,
dass F ein Geschwindigkeitsfeld einer Flüssigkeitsströmung wobei die Randfläche @V nach außen orientiert ist (die Au-
darstellt. Wie oben bemerkt, stellt Fds die tangentiale Kom- ßenseite von @V gilt als positiv).
ponente von F längs der Randkurve @S dar. Man kann daher
das Integral darüber als eine Größe interpretieren, die an-
gibt, wie sich die Vektoren von F entlang @S drehen. Wir Literatur
unterscheiden dazu drei Fälle (Abb. 1.16), wenn wir die
Randkurve @S im mathematisch positiven Sinne durchlau- Arens, T., et al.: Mathematik. 2. Aufl., Spektrum Akade-
fen: mischer Verlag (2012)

Der Integrationspfad läuft im mathematisch positiven Sinn („ge- r  F D 0, so ist F D r ˚. Dies kann man folgendermaßen
gen den Uhrzeigersinn“) um den Normalenvektor. Für weitere sehen: Verschwindet die Rotation von F, so ist gemäß (1.160)
Details wird auf den „Mathematischen Hintergrund“ 1.9 ver-
wiesen.
I
Aus dem Satz von Stokes folgt sofort die hinreichende Bedin- F  ds D 0; (1.163)
gung, die uns im vorherigen Abschnitt noch gefehlt hatte: Gilt @S
36 1 Die Newton’schen Axiome
Teil I

∂S

Γ>0 Γ<0 Γ=0


H
Abb. 1.16 Das Vorzeichen der Zirkulation  D @S F ds hängt von der Richtung des Vektorfeldes F (blau ) auf dem Rand @S (rot ) ab. Die Randkurve wird entlang
ds im mathematisch positiven Sinn (gegen den Uhrzeigersinn) durchlaufen

und das Wegintegral zwischen zwei Punkten A und B ist unab-


hängig vom gewählten Weg. Daher muss F ein Gradientenfeld
sein. A

Frage 22
Man mache sich klar, dass (1.163) zur Folge hat, dass das Weg-
integral vom gewählten Weg unabhängig ist. Dazu zerlegt man
wie in Abb. 1.15 ein beliebiges geschlossene Wegintegral in
zwei Integrale, eins von Punkt A nach Punkt B, das andere auf
B
einem anderen Weg wieder zurück.

Die hinreichende Bedingung r  F D 0 H) F D r ˚ Abb. 1.17 Gibt es ein „Loch“ in einem Vektorfeld F.x/, so ist das Definiti-
onsgebiet von F W x 7! F.x/ nicht einfach zusammenhängend. Die beiden
gilt nur dann, wenn F.x/ überall längs des Integrationsweges dargestellten Wege von Punkt A zu Punkt B müssen energetisch nicht gleichwer-
definiert ist und keine Löcher hat, wie in Abb. 1.17 dargestellt. tig sein, da sich beide Wege nicht kontinuierlich ineinander überführen lassen,
Mathematisch spricht man von einem einfach zusammenhän- ohne dabei durch das Loch zu laufen
genden Gebiet: Ein Gebiet G heißt einfach zusammenhängend,
wenn jede geschlossene Kurve in G stetig zu einem Punkt zu-
sammengezogen werden kann, ohne das Gebiet zu verlassen. schreibt man
F.x/ D r V.x/
Zusammenhang zwischen Wirbelfreiheit und Gradient Zx
(1.165)
Felder F.x/, die auf einem einfach zusammenhängenden H)V.x/  V.x0 / D  F.x0 /  dx0 :
Gebiet G definiert sind, haben genau dann ein Potenzial x0
V.x/, wenn sie in G wirbelfrei (rotationsfrei) sind:
Der Bezugspunkt x0 ist beliebig, da der Term r V.x0 / ver-
r  F D 0 () F D r V: (1.164) schwindet und die Kraft nicht beeinflusst. Das Potenzial V und
die Energie E sind damit bis auf eine beliebige additive Kon-
stante festgelegt.
Wir haben gesehen, dass der Integrationsweg von x0 nach x kei-
In Aufgabe 1.6 wird ein konkretes Beispiel gerechnet. ne Rolle spielt, wenn F konservativ ist. Daher lässt sich das
Integral in (1.165) lösen, indem ein Weg C gewählt wird, für
den die Berechnung möglichst einfach wird. Dazu wählt man
eine geeignete Parametrisierung x0 .s/ und schreibt
Die Berechnung des Potenzials aus einer
Zs
konservativen Kraft dx0
V.x/  V.x0 / D  F.x0 /  ds; (1.166)
ds
s0
Während es verhältnismäßig einfach ist, eine Kraft F.x/ mit
0 0
(1.143) aus dem zugehörigen Potenzial V.x/ zu berechnen, ist wobei x D x .s/ und x0 D x .s0 / gilt. Dies wird in Aufgabe 1.6
die Umkehrung, also die Integration, anspruchsvoller. Zunächst vertieft.
1.6 Energieerhaltung und konservative Kräfte 37

x3
Zx2

Teil I
 F2 .x1 ; x02 ; x3;0 / dx02
x3 x x2;0
C
C3
Zx3
x3,0
x0  F3 .x1 ; x2 ; x03 / dx03 :
x2 C1 C2
x3;0
x2
x2,0
Da F voraussetzungsgemäß eine konservative Kraft ist,
x1,0 kann auch zunächst entlang der x2 - oder der x3 -Achse
x1 integriert werden. Es kann aber auch ein vollständig ande-
x1 rer Weg gewählt werden, etwa entlang eines Kreisbogens
oder einer Geraden, die direkt von x0 nach x führt.
Abb. 1.18 Um das Potenzial V.x/ zu einer gegebenen konservativen Kraft
F.x/ zu berechnen, kann man einen beliebigen Integrationspfad von x0 nach Konkret soll dies für das einfache Beispiel F.x/ D
x verfolgen. In diesem Fall wird zunächst entlang der x01 -Achse integriert (Ab- Cx D C.x1 ; x2 ; x3 /> mit einer Konstanten C gezeigt wer-
schnitt C1 ), im Anschluss entlang der x02 -Achse (Abschnitt C2 ) und schließlich den. Wir integrieren von einem Punkt .a1 ; a2 ; a3 /> zu
entlang der x03 -Achse (Abschnitt C3 ) .b1 ; b2 ; b3 /> und sehen

V.b/  V.a/
Potenzial aus Kraft Zb1 Zb2 Zb3
D C x01 dx01 C x02 dx02 C x03 dx03
Ein einfaches Beispiel ist eine abschnittsweise definierte
a1 a2 a3
Parametrisierung, bei der zunächst ein Weg entlang der (1.169)
x1 -Achse, daraufhin ein Weg entlang der x2 -Achse und C 2 
D a  b21 C a22  b22 C a23  b23
abschließend ein Weg entlang der x3 -Achse gewählt wird. 2 1
Dies ist in Abb. 1.18 dargestellt. In diesem Fall besteht C a2  b2
aus den drei miteinander verbundenen Abschnitten C1 , C2 DC :
2
und C3 mit
8 Für die spezielle Wahl b D x und a D .0; 0; 0/> be-
ˆ
<.1; 0; 0/
>
auf C1 kommt man also
dx0
D .0; 1; 0/> auf C2 : (1.167)
ds :̂.0; 0; 1/> auf C C
3 V.x/ D  x2 ; (1.170)
2
Gleichung (1.166) wird somit zu was wieder direkt auf
Zx1 F.x/ D r V.x/ D Cx (1.171)
V.x/  V.x0 / D  F1 .x01 ; x2;0 ; x3;0 / dx01 (1.168)
x1;0 führt. J
38 1 Die Newton’schen Axiome

Aufgaben
Teil I

Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen

1.1 Vektorrechnung Das Rechnen mit Vektoren, xN enthalten) auf dem Intervall Œ1; 1. Das Skalarprodukt
Skalar- und Vektorprodukten soll hier geübt werden. sei durch
Z1
(a) Wir betrachten n Vektoren vi aus einem Vektorraum V. Man hp; qi D p.x/q.x/ dx (1.177)
kann diese Vektoren verknüpfen, um die Linearkombination 1

definiert. Welche dieser drei Polynome sind im Sinne dieses


v D 1 v1 C : : : C n vn (1.172)
Skalarprodukts zueinander orthogonal?
zu erhalten. Hier sind die n Größen i Skalare. Die Menge p.x/ D x; q.x/ D x2  2; r.x/ D x3 C x: (1.178)
aller dieser darstellbaren Vektoren v bildet einen Untervek-
torraum U von V. Man bezeichnet U als den von den vi Wie könnte man die Polynome normieren?
aufgespannten Untervektorraum U D span.vi /. Man nennt (c) Häufig benötigt man das Spatprodukt, das auch als Mehr-
die Vektoren vi linear unabhängig, wenn die Gleichung fachprodukt bezeichnet wird:

1 v1 C : : : C n vn D 0 (1.173) .a  b/  c D .b  c/  a D .c  a/  b D "ijk ai bj ck : (1.179)

nur dann erfüllt werden kann, wenn alle Skalare i ver- Zeigen Sie, dass es verschwindet, wenn einer der Vektoren
schwinden: i D 0. In diesem Fall lässt sich ein Vektor v als Linearkombination der beiden anderen geschrieben wer-
als eindeutige Linearkombination der vi darstellen, d. h., die den kann. Dies ist dann der Fall, wenn alle drei Vektoren in
i sind für einen gegebenen Vektor v eindeutig. einer Ebene liegen. Die drei Vektoren spannen dann einen
Überprüfen Sie, welche der folgenden Sätze von Vektoren Spat mit Volumen null auf.
im R3 linear unabhängig sind: (d) Zeigen Sie die Lagrange-Identität

0 1 0 1 0 1 .a  b/  .c  d/ D .a  c/.b  d/  .a  d/.b  c/: (1.180)


1 0 0
v 1 D @0A ; v 2 D @1A ; v 3 D @0 A I (1.174) Verwenden Sie dazu die Levi-Civita- und Kronecker-Sym-
0 0 1 bole.
0 1 0 1 0 1
1 1 1 1.2 Schiefer Wurf Ein Speerwerfer trainiert für
v 1 D @1A ; v 2 D @1A ; v 3 D @0 A I (1.175) einen Wettkampf. Er überlegt sich, dass es einen optimalen Ab-
1 0 0 wurfwinkel geben muss, um die Reichweite zu maximieren.
0 1 0 1 0 1 Dies ist offensichtlich: Wird der Speer waagerecht geworfen,
3 1 2 fällt er nach kurzer Flugstrecke auf den Boden. Wirft man ihn
v1 D @ 2 A ; v 2 D @2 A ; v 3 D @1A : (1.176) fast senkrecht nach oben, ist das Ergebnis ebenfalls enttäu-
1 3 3 schend. Man bestimme die allgemeine Bahnkurve des reibungs-
freien schiefen Wurfes in der x-z-Ebene, wobei die Gravitation
Was passiert, wenn im dritten Beispiel der dritte Vektor in negative z-Richtung wirkt. Die Anfangsbedingungen für den
durch v 3 D .2; 4; 4/> ersetzt wird? Ort und die Geschwindigkeit sind x.0/ D x0 , z.0/ D z0 und
(b) Skalarprodukte können wesentlich allgemeiner definiert
P vx .0/ D vx;0 , vz .0/ D vz;0 .
werden als das innere Produkt x  y D 3iD1 xi yi für Vekto-
ren im R3 bezüglich einer Orthonormalbasis. Man betrachte (a) Man zeige, dass es sich um eine Parabelbahn (Wurfparabel)
beispielsweise den Vektorraum der Polynome vom Grad N handelt. Wie hoch liegt der Scheitelpunkt? Wann wird er er-
(d. h., die Polynome dürfen höchstens Terme der Ordnung reicht?
Aufgaben 39

(b) Der Wurfwinkel zwischen Anfangsgeschwindigkeitsvektor (a) Zeigen Sie ohne weitere Rechnungen, dass der Betrag der
und dem Boden (x-Achse) ist ˛. Stellen Sie zunächst jeweils Geschwindigkeit des Teilchens konstant ist und dass keine

Teil I
einen Zusammenhang zwischen dem Betrag der Anfangsge- Arbeit am Teilchen verrichtet wird. Die Energie ist somit er-
schwindigkeit, v0 , dem Wurfwinkel ˛ und den Projektionen halten und die Kraft konservativ. Greifen Sie dazu auf die
der Anfangsgeschwindigkeit auf die x- und z-Achsen, vx;0 Ergebnisse zurück, die in Abschn. 1.5 und 1.6 erarbeitet
und vz;0 , auf. wurden.
(c) Leiten Sie eine Gleichung ab, die die Reichweite des Wur- (b) Stellen Sie die Bewegungsgleichungen für das Teilchen auf.
fes als Funktion der Anfangsgeschwindigkeit v0 und des Die Anfangsbedingungen lauten x.t D 0/ D 0 und xP .t D
Wurfwinkels ˛ beschreibt. Gehen Sie dabei davon aus, dass 0/ D .0; vy;0 ; vz;0 /> . Die Lösung für die Bewegung entlang
sowohl die Abwurf- als auch die Endhöhe z0 sind. Für der z-Achse kann direkt hingeschrieben werden. Wie lautet
welchen Wurfwinkel wird die Reichweite bei festem v0 ma- sie?
ximal? (c) Wie lauten die Lösungen der Bewegungsgleichungen ent-
(d) Kann ein Fußballtorwart einen Fußball direkt ins gegneri- lang der x- und y-Achsen? Um die beiden gekoppelten
sche Tor schießen, wenn der Ball mit v0 D 100 km h1 aus Gleichungen zu entkoppeln, integrieren Sie zunächst eine
dem eigenen Torraum abgeschlagen wird? Ein Fußballfeld der beiden Bewegungsgleichungen und setzen Sie das Er-
ist etwa 100 m lang. Reibungseffekte sollen vernachlässigt gebnis in die andere ein.
werden. (d) Wie lauten der Tangential- und der Hauptnormalenvektor
der Bahnkurve? Bestimmen Sie den Krümmungsradius.
1.3 Schiefer Wurf mit Stokes’scher Reibung Be-
trachten Sie den schiefen Wurf mit Stokes’scher Reibung 1.5 Differenzialoperatoren In dieser Aufgabe
(Reibungskoeffizient K). Die Bewegung erfolge in der x-z- wird die Anwendung der Differenzialoperatoren vertieft.
Ebene, und die homogene Gravitationskraft zeige in negative
z-Richtung. Die Anfangsbedingungen für den Ort und die Ge- (a) Berechnen Sie die Rotation einer allgemeinen radialsymme-
schwindigkeit sind x.0/ D x0 , z.0/ D z0 und vx .0/ D vx;0 , trischen Zentralkraft:
vz .0/ D vz;0 .
r
(a) Zeigen Sie, dass die Bewegungsgleichungen entkoppelt F.r/ D F.r/ : (1.183)
r
sind.
(b) Schreiben Sie die allgemeine Lösung der Bewegungsglei- Verwenden Sie dazu r2 D x21 C x22 C x23 . Es bietet sich an, die
chungen für x und z auf. Orientieren Sie sich dabei an den Rotation mithilfe des Levi-Civita-Symbols in Indexschreib-
Schritten, die auf (1.43) geführt haben. Für das weitere Vor- weise zu bestimmen.
gehen bietet es sich an, die Endgeschwindigkeit vE nicht als (b) Wie lautet die Rotation der Kraft
Abkürzung einzuführen. 0 1
(c) Berechnen Sie die allgemeine Bahnkurve z.x/. Dazu muss x2 =%2
die Zeit aus der Lösung z.t/ mithilfe von x.t/ eliminiert wer- F.r/ D @ x1 =%2 A (1.184)
den. 0
(d) Zeigen Sie, dass der Grenzfall K D 0 auf die Lösung für die
Bahnkurve ohne Reibung aus Aufgabe 1.2 führt. Achtung: mit %2 D x21 C x22 ? Verwenden Sie hier die Schreibweise
Es ist nicht möglich, einfach K D 0 zu setzen. Stattdes-
sen muss der Logarithmus in z.x/ für kleine K entwickelt r  F.r/ D "ijk eO i @j Fk : (1.185)
werden. Danach kann der Grenzfall K ! 0 durchgeführt
werden. Nutzen Sie aus, dass ln.1 C x/ x  x2 =2 gilt. Berechnen Sie weiterhin das Kurvenintegral über die Kraft
Warum muss an dieser Stelle die zweite Ordnung der Tay- entlang des Weges
lor-Entwicklung ebenfalls mitgenommen werden?
0 1
cos '
1.4 Lorentz-Kraft Auf ein geladenes Teilchen r.'/ D R @ sin ' A ; 0'2 : (1.186)
(elektrische Ladung q) wirkt im elektrischen Feld E und ma- 0
gnetischen Feld B die Lorentz-Kraft (in SI-Einheiten)
Was ist die Interpretation dieser Resultate?
F D q .E C v  B/ : (1.181)
(c) Gegeben sei ein Skalarfeld g.x/. Zeigen Sie, dass die Rich-
Es soll die Bewegung in einem reinen Magnetfeld, das homo- tungsableitung entlang der Achse eOj , also @Oej g.x/, identisch
gen und zeitunabhängig ist, untersucht werden. Hierzu wird das ist mit der partiellen Ableitung @j g.x/.
Koordinatensystem so gelegt, dass (d) Zeigen Sie, dass die Divergenz eines Rotationsfeldes ver-
schwindet:
B D B eO z (1.182) r  .r  h.x// D 0; (1.187)
gilt. Das elektrische Feld wird vernachlässigt: E D 0. wobei h.x/ ein zweifach differenzierbares Vektorfeld ist.
40 1 Die Newton’schen Axiome

(e) Man berechne die Rotation eines Rotationsfeldes: r  mit konstanten Koeffizienten cj (j D 1; : : : ; 1). Zeigen Sie,
.r  h.x//. Stellen Sie das Ergebnis in Komponenten- dass zwischen den Koeffizienten der folgende Zusammen-
Teil I

schreibweise dar. hang besteht:

1.6 Bewegung im Kraftfeld Es ist das Kraftfeld cj


0 1 cjC2 D  : (1.191)
k1 x1 x2 .j C 2/.j C 1/
F.x/ D C @x21 C k2 x23 A (1.188)
x2 x3 Dies nennt man eine Rekursionsgleichung für die Koeffizi-
gegeben (C > 0 ist eine dimensionsbehaftete Konstante, sodass enten cj . Begründen Sie, warum c0 und c1 beliebig wählbar
F die Einheit einer Kraft besitzt). Die Parameter k1 und k2 sind sind und wie dies zu interpretieren ist.
zunächst offen. (b) Zeigen Sie, dass aus der Rekursionsgleichung die explizite
Form
(a) Für welchen Wert von k1 und k2 besitzt diese Kraft ein
Potenzial? Rechnen Sie im Folgenden mit diesen Werten 8 c0
weiter. ˆ
<.1/j=2C1 j gerade
cj D jŠ (1.192)
(b) Berechnen Sie die benötigte Arbeit, um eine Punktmasse m .j1/=2 c1
vom Ursprung zum Punkt a D .a1 ; a2 ; a3 /> zu befördern. :̂ .1/ j ungerade

Der gewählte Weg spielt dabei keine Rolle. Wählen Sie den
direkten Weg entlang einer Geraden. Wann benötigt man für
den Transport Energie, wann gewinnt man Energie? folgt.
(c) Wie lautet das Potenzial? Überprüfen Sie, dass es auf die (c) Bestimmen Sie die Taylor-Entwicklung der Funktionen
korrekte Kraft führt. cos.!0 t/ und sin.!0 t/ um t D 0 bis einschließlich des dritten
nichtverschwindenden Terms. Wie lauten die Koeffizienten
1.7 Harmonischer Oszillator Es wird die Lösung der Entwicklung? Was folgt daraus?
der Schwingungsgleichung (1.101) des harmonischen Oszilla- (d) Überprüfen Sie, dass x1 .t/ D cos.!0 t/ und x2 .t/ D
tors gesucht: sin.!0 t/ die Schwingungsgleichung lösen. Außerdem löst
k A cos.!0 t  0 / die Schwingungsgleichung, da es eine Line-
xR C !02 x D 0; !02 D : (1.189) arkombination der sogenannten Fundamentallösungen x1 .t/
m
und x2 .t/ ist. Zeigen Sie dies durch Anwendung des Additi-
(a) Machen Sie einen Potenzreihenansatz onstheorems
1
X
x.t/ D cj .!0 t/j (1.190)
jD0
cos.˛ ˙ ˇ/ D cos ˛ cos ˇ sin ˛ sin ˇ: (1.193)
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 41

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben

Teil I
1.1 Dies hätte man auch direkt daran erkennen können, dass der
Integrand eine ungerade Funktion von x ist, die Integrati-
(a) Die Vektoren in (1.174) sind linear unabhängig, da (1.173) onsgrenzen aber symmetrisch sind. Allerdings sind p.x/ und
nur für 1 D 2 D 3 D 0 erfüllt werden kann. Dies r.x/ nicht orthogonal:
ist trivial zu sehen. Auch die Vektoren in (1.175) sind line-
Z1
ar unabhängig. Um dies zu sehen, betrachtet man zunächst  
die x3 -Komponente. Sie kann nur dann verschwinden, wenn hp; ri D x4 C x2 dx
1 D 0 ist. Die x2 -Komponente verschwindet nur, wenn 1 (1.199)
dann auch 2 D 0 ist. Weiterhin muss auch 1 D 0 erfüllt  5 3 1
x x 4
sein. Für (1.176) muss man ein lineares Gleichungssystem D  D :
lösen. Es lautet 5 3 1 15
Weiterhin findet man, dass wegen
31 C 12 C 23 D 0;
21 C 22  13 D 0; (1.194) Z1
 
1 C 32  33 D 0: hq; ri D x5  x3  2x dx D 0 (1.200)
1
Zunächst addieren wir Vielfache der zweiten Gleichung zur
ersten und zur dritten, sodass jeweils 3 verschwindet, und die beiden Polynome q.x/ und r.x/ orthogonal sind. Die Po-
betrachten die beiden resultierenden Gleichungen: lynome lassen sich normieren, indem man beispielsweise
Z1
11 C 52 D 0; 2
(1.195) hp; pi D x2 dx D (1.201)
51  32 D 0: 3
1
p
Wir addieren das Fünffache der ersten Gleichung zur zwei- berechnet und entsprechend pQ .x/ WD p.x/= 2=3 als nor-
ten und finden zunächst 2 D 0. Durch Einsetzen in die miertes Polynom definiert.
vorherigen Gleichungssysteme ergeben sich dann 1 D 0 (c) Ohne Einschränkung der Allgemeinheit können wir c D
und 3 D 0. Die Vektoren sind also ebenfalls linear un- 1 a C 2 b schreiben. Das Spatprodukt lautet dann
abhängig. Ersetzt man allerdings den dritten Vektor durch
v 3 D .2; 4; 3/> , ergibt sich statt (1.194) zunächst .a  b/  c D 1 "ijk ai bj ak C 2 "ijk ai bj bk : (1.202)

31 C 12 C 23 D 0; In beiden Termen auf der rechte Seite haben wir das Pro-
dukt einer antisymmetrischen Größe (Levi-Civita-Symbol)
21 C 22  43 D 0; (1.196)
und einer symmetrischen Größe (ai ak bzw. bj bk ) unter Ver-
1 C 32  43 D 0: tauschung der Indizes i $ j bzw. j $ k. Summiert man über
alle Indizes, fallen alle Terme gegeneinander weg, denn
Wir addieren diesmal Vielfache der dritten Gleichung, um in
den beiden anderen 1 zu eliminieren: "123 a2 a3 C "132 a3 a2 D ."123 C "132 /a2 a3
(1.203)
D .1  1/a2 a3 D 0:
102  103 D 0;
(1.197) (d) Die linke Seite von (1.180) schreiben wir zunächst in der
42 C 43 D 0:
Form
Diese beiden Gleichungen sind Vielfache voneinander. Sie "kij ai bj "kmn cm dn D "kij "kmn ai bj cm dn : (1.204)
führen somit nur auf die Bedingung 2 D 3 . Beide Skalare
können beliebige, aber identische Werte annehmen. Die drei Hier verwendet man die Identität
Vektoren sind in diesem Fall also nicht linear unabhängig.
(b) Die beiden Polynome p.x/ und q.x/ sind orthogonal, denn "kij "kmn D ıim ıjn  ıin ıjm (1.205)

Z1  4 und erhält sofort


1
  x
hp; qi D x  2x dx D
3
 x2 D 0: (1.198) .a  b/  .c  d/ D .ıim ıjn  ıin ıjm /ai bj cm dn
4 1 (1.206)
1 D .a  c/.b  d/  .a  d/.b  c/:
42 1 Die Newton’schen Axiome

1.2 Für die beiden relevanten Komponenten lautet sie


Teil I

(a) Die allgemeinen Lösungen der Bewegungsgleichungen für mRx D K xP ; mRz D KPz  mg: (1.215)
das beschriebene Problem sind (siehe (1.27))
Die Bewegungsgleichungen sind also entkoppelt.
gt2 (b) Gleichung (1.43) beinhaltet bereits die Lösung der Bewe-
x  x0 D vx;0 t; z  z0 D vz;0 t  : (1.207) gungsgleichung für z:
2
mg
Die Bahnkurve erhält man, indem man t eliminiert: z  z0 D  t
K   
vz;0 g  mg  m K (1.216)
z  z0 D .x  x0 /  2 .x  x0 /2 : (1.208) C vz;0 C 1  exp  t :
vx;0 2vx;0 K K m

Diese ist offensichtlich eine nach unten geöffnete Parabel. Die Lösung für x erhält man, indem man g D 0 setzt und x
Der Scheitelpunkt ist durch dz=dx D 0 definiert. Dies führt durch z ersetzt:
auf   
vx;0 vz;0 mvx;0 K
xS  x0 D ; (1.209) x  x0 D 1  exp  t : (1.217)
g K m
wobei xS die x-Koordinate des Scheitelpunktes ist. Einge- (c) Man erkennt, dass die Zeit t in (1.216) an zwei Stellen vor-
setzt in (1.208) folgt kommt: einmal als linearer Term, das zweite Mal innerhalb
der Exponentialfunktion. Da die Exponentialfunktionen in
vz;0
2
den Lösungen für x.t/ und z.t/ identisch sind, kann man zu-
zS  z0 D : (1.210)
2g nächst
mg  mg  x  x0
Dies ist die maximale Wurfhöhe. Dieser Punkt wird nach der z  z0 D  t C vz;0 C (1.218)
Zeit K K vx;0
vz;0
tS D (1.211) schreiben. Es verbleibt noch die Zeit im linearen Term. Hier-
g
zu lösen wir (1.217) nach t auf,
erreicht. 
(b) Eine einfache geometrische Überlegung führt auf m K
t D  ln 1  .x  x0 / ; (1.219)
K mvx;0
v02 D vx;0
2
C vz;0
2
; vx;0 D v0 cos ˛;
vz;0 D v0 sin ˛:
(1.212) und setzen das Ergebnis in (1.218) ein:
(c) Um herauszufinden, wie weit der Speer fliegt, setzen wir 
z D z0 . Dies führt auf zwei Lösungen. Die erste Lösung m2 g K.x  x0 /
z  z0 D 2 ln 1 
(Anfangsbedingung x D x0 ) ist trivial. Die zweite lautet K mvx;0
 mg  x  x0
(1.220)
2vx;0 vz;0 C vz;0 C :
x  x0 D K vx;0
g
(1.213) (d) Wir wollen den Grenzfall K ! 0 untersuchen. Einsetzen
2v 2
v2
D 0 sin ˛ cos ˛ D 0 sin.2˛/: von K D 0 führt auf Probleme, daher muss zunächst der
g g Logarithmus entwickelt werden. Für K ! 0 ist die folgende
Näherung gültig (indem man um x D 0 entwickelt):
Dies ist gerade die Weite des Wurfes. Sie wird offensichtlich
für ˛ D =2 maximal. Der Speer muss also genau diagonal 
K.x  x0 /
geworfen werden, um für eine gegebene Anfangsgeschwin- ln 1 
mvx;0
digkeit die größte Weite zu erreichen. (1.221)
(d) Nein, dies ist nicht möglich. Die maximale Reichweite des K.x  x0 / K 2 .x  x0 /2
  :
Fluges ist bei v0 28 m s1 und mit g 10 m s2 ungefähr mvx;0 2m2 vx;0
2

78 m. Das Fußballfeld ist aber etwa 100 m lang. Selbstver-


ständlich kann der Ball noch ins Tor rollen. Setzt man (1.221) in (1.220) ein, folgt sofort
vz;0 g
z  z0 D .x  x0 /  2 .x  x0 /2 : (1.222)
1.3 vx;0 2vx;0

(a) Die Bewegungsgleichung in Vektorform lautet Dies ist genau (1.208), die schon beim schiefen Wurf ohne
Reibung gefunden wurde. Da der Faktor vor dem Loga-
mRx D K xP  mg: (1.214) rithmus in (1.220) K 2 im Nenner enthält, muss im Zähler
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 43

mindestens bis zur zweiten Ordnung entwickelt werden, da- Zeitableitung von (1.230) berechnet und mit der Anfangsbe-
mit kein K im Nenner übrig bleibt. Würde man höhere dingung yP .t D 0/ D vy;0 vergleicht. Der letzte Schritt ist die

Teil I
Terme der Entwicklung des Logarithmus berücksichtigen, Integration von (1.227), in die zuvor (1.230) eingesetzt wird:
würden diese wegen K ! 0 keine Rolle spielen.
qB
xD Ay cos.!B t/ C C1
m!B
1.4 vy;0 (1.231)
D cos.!B t/ C C1 :
!B
(a) Aus (1.181) folgt
q Die Anfangsgeschwindigkeit xP .t D 0/ D 0 ist automatisch
xR D xP  B: (1.223)
m erfüllt, da sie bereits für (1.227) verwendet wurde. Die letzte
verbleibende Integrationskonstante, C1 , ergibt sich aus der
Somit steht der Beschleunigungsvektor stets senkrecht auf
letzten Forderung: x.t D 0/ D 0. Die Lösung der Bewe-
dem Geschwindigkeitsvektor. Es gibt keine Beschleuni-
gungsgleichung lautet zusammengefasst
gungskomponente entlang der Bahnkurve bzw. entlang des
Tangentialvektors . Wegen (1.124) und (1.125) bedeutet vy;0
xD Œ1  cos.!B t/ ;
dies aber gerade, dass der Betrag der Bahngeschwindig- !B
keit konstant ist. Gleichung (1.181) besagt weiterhin, dass vy;0 (1.232)
die Kraft F und die Geschwindigkeit xP senkrecht aufein- yD sin.!B t/;
!B
ander stehen. Ihr Skalarprodukt verschwindet somit. Wegen z D vz;0 t:
(1.149) ist die Energie erhalten. Es wird also keine Arbeit
am Teilchen verrichtet. Das Teilchen bewegt sich auf einer Schraubenlinie ähnlich
(b) Zunächst ist das Kreuzprodukt auszuwerten. Mit zu der in Abb. 1.11. Der Unterschied hier ist, dass der Ur-
sprung nicht auf der Achse der Schraubenlinie liegt. Er ist
.v  B/i D "ijk vj Bk (1.224) um vy;0 =!B entlang der x-Achse verschoben.
(d) Zunächst berechnen wir die Geschwindigkeit:
und (1.182) folgt 0 1
vy;0 sin.!B t/
qB qB xP D @ vy;0 cos.!B t/ A : (1.233)
xR D yP ; yR D  xP ; zR D 0: (1.225) vz;0
m m
q
Unter Berücksichtigung der Anfangsbedingungen lautet die Ihr Betrag ist v WD vy;0 2
C vz;0
2
D const. Der Tangential-
Lösung für die Bewegung entlang der z-Achse einfach
vektor erfüllt wegen (1.124)
0 1
z D vz;0 t:
1 @vy;0 sin.!B t/A
(1.226)
xP
D D vy;0 cos.!B t/ : (1.234)
(c) Die Bewegungsgleichungen für x und y sind noch gekoppelt. jPxj v v
z;0
Wir integrieren zunächst die Gleichung für x einmal nach der
Zeit. Wegen xP .t D 0/ D 0 und y.t D 0/ D 0 folgt Der Bahnparameter und die Zeit sind demnach über

qB ds
xP D y: (1.227) Dv (1.235)
m dt
verbunden, da wegen der Definition des Tangentialvektors
Dieses Ergebnis kann in die Bewegungsgleichung für y ein- jj D jdx=dsj D 1 erfüllt sein muss. Der Hauptnormalen-
gesetzt werden: vektor aus (1.114) ist
yR D !B2 y: (1.228)
ˇ ˇ ˇ ˇ
d ˇˇ d ˇˇ1 d ˇˇ d ˇˇ1
Hier wurde nH D D
qB ds ˇ ds ˇ dt ˇ dt ˇ
!B WD (1.229) 0 1 (1.236)
m cos.!B t/
als Abkürzung definiert. Man nennt !B die Zyklotronfre- D @ sin.!B t/A :
quenz. Die allgemeine Lösung von (1.228) kann in der Form 0
Schließlich fehlt noch der Krümmungsradius, der wegen
y D Ay sin.!B t  y/ (1.230) (1.123) den Wert
ˇ ˇ1 ˇ ˇ
ˇ d ˇ ˇ d dt ˇ1
ˇ D v mv 2
geschrieben werden. Die beiden Integrationskonstanten er- 2
geben sich aus den Anfangsbedingungen. Man kann schnell D ˇˇ ˇˇ D ˇˇ ˇ D (1.237)
ds dt ds vy;0 !B qvy;0 B
nachprüfen, dass y D 0 aus y.t D 0/ D 0 folgt. Weiter-
hin ist Ay D vy;0 =!B . Dies erkennt man, wenn man die erste annimmt.
44 1 Die Newton’schen Axiome

1.5 Die Kraft muss als Funktion des Winkels ' geschrieben
werden. Dies ist möglich, indem x1 und x2 durch die ent-
Teil I

(a) In Indexschreibweise lautet die Rotation des Kraftfeldes sprechenden Ausdrücke in (1.186) ersetzt werden:
 h 0 1
r i
1 @ sin ' A
xk
r  F.r/ D "ijk rj F.r/ : (1.238)
r i r F.r.'// D cos ' : (1.245)
R 0
Statt rj könnte man genauso gut @j schreiben; beide Terme
sind identisch. Es ist unbedingt zu beachten, dass die Ablei- Gleichung (1.244) lautet dann
tung rj auf alle Terme wirkt, die rechts von ihr stehen. Als
Hilfsgleichung verwenden wir I Z2
 
q F.r/dr D sin2 ' C cos2 ' d' D 2 6D 0: (1.246)
xj xj
rj r D rj x21 C x22 C x23 D q D : (1.239) 0
x21 C x22 C x23 r
Wählt man einen Weg, der um den Pol bei x1 D x2 D 0 her-
umläuft, verschwindet das geschlossene Wegintegral nicht,
Wir wenden zunächst die Produktregel an und sehen, dass obwohl die Rotation des Kraftfeldes null ist. Die Erklärung
wir es mit drei Faktoren zu tun haben, die wir im Einzelnen ist, dass das Kraftfeld nicht einfach zusammenhängend ist.
untersuchen wollen: In der Tat gibt es bei x1 D x2 D 0 eine Definitionslücke, die
das beobachtete Verhalten erklärt.
xk xj xk dF.r/
rj F.r/ D 2 ; (c) Die Richtungsableitung entlang einer Achse nO ist definert als
r r dr
F.r/ F.r/ @nO g.x/ D nO  r g.x/ D nO i @i g.x/: (1.247)
rj xk D ıjk ; (1.240)
r r
1 xj xk Für nO D eOj ist offensichtlich eOj;i @i D ıij @i D @j und somit
F.r/xk rj D  3 F.r/:
r r
@nOj g.x/ D @j g.x/; (1.248)
Bei der Summation über j und k treten die beiden Kombina-
tionen "ijk ıjk und "ijk xj xk auf. Sowohl ıjk als auch xj xk sind was zu zeigen war.
symmetrisch unter Vertauschung der beiden Indizes, aber (d) Wir schreiben die Divergenz in Komponenten und sortieren
"ijk D "ikj ist antisymmetrisch. Bei der Summation fallen um:
daher alle Terme mit xj xk paarweise gegeneinander weg:
r  .r  h.x// D @i ijk @j hk D ijk @i @j hk : (1.249)
"ijk xj xk C "ikj xk xj D "ijk xj xk  "ijk xj xk D 0: (1.241)
Dieser Ausdruck muss verschwinden, wenn die beiden Ab-
Die Kontraktion "ijk ıjk verschwindet, da "ijk nur für j 6D k, ıjk leitungen vertauschbar sind, da über symmetrische (@i @j ) und
allerdings nur für j D k ungleich null ist. Damit ist gezeigt, antisymmetrische (ijk ) Terme summiert wird.
dass die Rotation von F.r/ verschwindet. (e) Zunächst ist
(b) Man erkennt an der Form der Kraft, dass alle Ableitungen,
die F3 oder x3 betreffen, verschwinden. Somit reduziert sich r  .r  h.x// D ijk eO i @j .klm @l hm /
die Rotation direkt auf (1.250)
D ijk klm eO i @j @l hm :
 
@F2 @F1 Hier nutzt man das bekannte Ergebnis
r  F.r/ D eO 3  : (1.242)
@x1 @x2
ijk klm D kij klm D ıil ıjm  ıim ıjl (1.251)
Aus
@% x1 @% x2 aus. Es folgt
D ; D (1.243)
@x1 % @x2 %
r  .r  h.x// D eO l @l @m hm  eO m @l @l hm
folgt weiterhin, dass sich die beiden verbleibenden Ablei- (1.252)
D grad div h  .@l @l /h:
tungen in (1.242) gegenseitig aufheben. Somit ist auch hier
das Kraftfeld rotationsfrei. Das Kurvenintegral lautet
Der sogenannte Laplace-Operator
I Z2
dr  WD @l @l (1.253)
F.r/  dr D F.r.'//  d': (1.244)
d'
0 wird uns in Kap. 2 wieder begegnen.
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 45

1.6 Es soll zum Abschluss überprüft werden, ob sich die korrek-


te Kraft daraus ergibt:
0 1

Teil I
(a) Wir berechnen die Rotation von F.x/: @1 V.x/
0 1 F.x/ D r V.x/ D  @@2 V.x/A
x3  2k2 x3 @3 V.x/
r  F D ijk eO i @j Fk D C @ 0  0 A 0 1 (1.259)
2x1 x2
2x1  k1 x1 D @x21 C x23 =2A :
0 1 (1.254)
.1  2k2 /x3 x2 x3
D C@ 0 A:
.2  k1 /x1 Dies ist offensichtlich das richtige Ergebnis.

1.7
Die Rotation verschwindet für k1 D 2 und k2 D 12 . Da das
Kraftfeld einfach zusammenhängend ist (es gibt keine Defi- (a) Wir berechnen zunächst die zweite Zeitableitung der Potenz-
nitionslücken), muss es dann ein Potenzial V.x/ geben. reihe:
(b) Der einfachste Weg in kartesischen Koordinaten ist eine Ge- 1
X
rade mit der Parametrisierung xP .t/ D j!0 cj .!0 t/j1 ;
jD1
x.s/ D sa; s 2 Œ0; 1: (1.255) 1
(1.260)
X
xR .t/ D j.j  1/!02 cj .!0 t/j2 :
Für s D 0 und s D 1 befindet man sich jeweils am Anfangs- jD2
punkt (Ursprung O) und Endpunkt (a). Selbstverständlich
könnte man auch entlang der einzelnen Achsen integrieren Es wurde dabei berücksichtigt, dass die Ableitung von t0
oder irgendeinen anderen Weg verfolgen. Die geleistete Ar- verschwindet. In der zweiten Zeitableitung wird der Index
beit lautet verschoben, sodass die Summe wieder bei j D 0 beginnt:
1
X
Za Z1 xR .t/ D .j C 2/.j C 1/!02 cjC2 .!0 t/j : (1.261)
dx.s/
WD F.x/  dx D F.x.s// ds (1.256) jD0
ds
O 0 Durch Einsetzen der Potenzreihe (1.190) in die Schwin-
gungsgleichung (1.189) folgt
mit der Ableitung dx.s/=ds D a. Da s die Integrationsva-
1
X
riable ist, müssen die Koordinaten x durch s ausgedrückt
.j C 2/.j C 1/cjC2 C cj .!0 t/i D 0: (1.262)
werden. Dies ist aber mit (1.255) bereits geschehen. Wir ver-
jD0
wenden also xi D ai s (i D 1; 2; 3). Zu lösen ist somit das
Integral Damit diese Gleichung zu allen Zeiten erfüllt werden kann,
müssen alle Summanden einzeln verschwinden. Dies führt
Z1 auf die Rekursionsgleichung
 
WDC 2a21 a2 C a21 a2 C a2 a23 =2 C a2 a23 s2 ds cj
cjC2 D  : (1.263)
0 .j C 2/.j C 1/
Z1
  Für bekanntes c0 sind alle cj mit geraden j gegeben. Genauso
DC 3a21 C 3a23 =2 a2 s2 ds folgen aus bekanntem c1 alle cj mit ungeraden j. Somit sind
0 nur c0 und c1 nicht festgelegt. Die Wahl dieser beiden Ko-
  effizienten entspricht den beiden Anfangsbedingungen des
D Ca2 a21 C a23 =2 : (1.257)
Problems, da es sich um eine Differenzialgleichung zweiter
Ordnung handelt.
Die geleistete Arbeit ist je nach Vorzeichen von a2 positiv (b) Die explizite Form soll nicht mit mathematischer Strenge
oder negativ. Ist a2 D 0, wird gar keine Energie umgesetzt. gezeigt werden (man könnte sie jedoch mit vollständiger
(c) Das Potenzial erhält man direkt aus (1.257). Dazu muss Induktion beweisen). Zunächst nehmen wir an, c0 sei be-
man sich überlegen, dass das Potenzial am Ort x die nega- kannt. Dann folgt sofort c2 D c0 =.1  2/, daraus wiederum
tive Arbeit ist, die man benötigt, um eine Punktmasse von c4 D Cc0 =.1234/ usw. Offenbar wechselt das Vorzeichen
einem Bezugspunkt nach x zu bewegen. Wählt man als Be- von Iteration zu Iteration, und im Nenner steht der Term jŠ.
zugspunkt den Ursprung und benennt a in x um, lautet das Analog findet man den expliziten Ausdruck, wenn man mit
Potenzial c1 beginnt. Die Exponenten in (1.192) stellen sicher, dass die
 
V.x/ D Cx2 x21 C x23 =2 : (1.258) Vorzeichen stimmen.
46 1 Die Newton’schen Axiome

(c) Um die Taylor-Entwicklung von Sinus und Kosinus zu er- Sinus der Entwicklung für ungerade j. Man kann daraus
halten, müssen die ersten Ableitungen berechnet werden. Es folgern, dass sowohl der Kosinus als auch der Sinus die
Teil I

ist Schwingungsgleichung lösen.


d cos.!0 t/ (d) Wegen
D !0 sin.!0 t/;
dt
d2 cos.!0 t/ xR 1 .t/ D !02 cos.!0 t/ D !02 x1 .t/;
D !02 cos.!0 t/; (1.267)
dt2 xR 2 .t/ D !02 sin.!0 t/ D !02 x2 .t/
(1.264)
d3 cos.!0 t/
D C! 3
sin.! t/;
dt3 0 0
sind sowohl x1 .t/ als auch x2 .t/ Lösungen der Schwingungs-
4
d cos.!0 t/ gleichung. Es ist noch zu zeigen, dass
D C!04 cos.!0 t/:
dt4
A cos.!0 t  0/ D A1 cos.!0 t/ C A2 sin.!0 t/ (1.268)
Anwendung der Taylor’schen Formel liefert
1 1 1 gilt. Dabei folgen A und 0 aus A1 und A2 . Als Anfangs-
cos.!0 t/ D .!0 t/0  .!0 t/2 C .!0 t/4 : : : (1.265) bedingungen sind beide Paare gleichwertig. Das Additions-
0Š 2Š 4Š
theorem (1.193) bedeutet im vorliegenden Fall
Für den Sinus findet man analog
A cos.!0 t  0 /
1 1 1 (1.269)
sin.!0 t/ D .!0 t/1  .!0 t/3 C .!0 t/5 : : : (1.266) D .A cos 0 / cos.!0 t/ C .A sin 0 / sin.!0 t/:
1Š 3Š 5Š
Tatsächlich entspricht die Reihenentwicklung des Kosinus Offensichtlich haben wir das Ziel mit A1 D A cos 0 und
genau der Entwicklung (1.190) für gerade j und die des A2 D A sin 0 erreicht.
Antworten zu den Selbstfragen 47

Antworten zu den Selbstfragen

Teil I
Antwort 9 Die Beschleunigung ist etwa um einen Faktor 2,7
größer.

Antwort 17 Die Radialbeschleunigung muss größer sein als


die Gravitationsbeschleunigung, damit die Flüssigkeit am
höchsten Punkt gegen den Boden des Eimers gedrückt wird.
48 1 Die Newton’schen Axiome

Literatur
Teil I

Weiterführende Literatur

Abraham, R.: Foundations Of Mechanics. 2. Aufl., Westview


Press (1994)
Cambridge Digital Library: Newton Papers. http://cudl.lib.cam.
ac.uk/collections/newton (2013) Zugegriffen: 5. September
2013
Koordinatentransformationen
2

Teil I
und beschleunigte
Bezugssysteme
Wie lassen sich Drehungen
mathematisch
beschreiben?

Was sind Galilei-


Transformationen?

Wie lauten die


Newton’schen Axiome in
beschleunigten
Bezugssystemen?

Was ist die


Zentrifugalkraft?

Warum werden
Kugelkoordinaten
verwendet?

2.1 Drehungen von kartesischen Koordinatensystemen . . . . . . . . . . . 50


2.2 Galilei-Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
2.3 Beschleunigte Bezugssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
2.4 Kräfte in rotierenden Bezugssystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
2.5 Nichtkartesische Koordinatensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 49
50 2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme

Die Untersuchung des Verhaltens eines physikalischen Systems un- seine Komponenten .x1 ; x2 ; x3 / bezüglich einer geeigneten Ba-
ter einer Koordinatentransformation ist ein zentraler Punkt in der sis .Oe1 ; eO 2 ; eO 3 / als
Teil I

gesamten theoretischen Physik. Wird ein physikalisches System


nach einer Koordinatentransformation durch dieselben Gleichungen x D x1 eO 1 C x2 eO 2 C x3 eO 3 (2.1)
beschrieben wie vorher, so heißt es symmetrisch unter dieser Trans-
formation. dargestellt werden. Oftmals werden dabei die drei Koordinaten
in der Form 0 1
Symmetrien spielen in der Physik eine herausragende Rolle, was x1
in Kap. 5 herausgearbeitet wird. Das Interesse an den Symmetrie- x D .x1 ; x2 ; x3 / D @x2 A
>
(2.2)
eigenschaften physikalischer Systeme ist deswegen so wichtig, da x3
Symmetrien in der Regel auf Erhaltungsgrößen führen. Beispiele
hierfür sind die Energieerhaltung aufgrund der Zeittranslationsinva- zusammengefasst. Mit dem Koordinatenvektor x lässt sich dann
rianz (Symmetrie unter Verschiebung des Zeitnullpunktes) oder die wie gewohnt rechnen. Man sagt auch, dass x nach den Ba-
Impulserhaltung aufgrund der Homogenität des Raumes (Symme- sisvektoren entwickelt wird. Die Koordinaten sind jeweils die
trie unter räumlichen Translationen). Wir werden darauf in Kap. 5 Projektionen des Vektors x auf die drei Koordinatenachsen ent-
genauer eingehen. lang eO i , also xi D x  eO i (i D 1; 2; 3). Hierbei nehmen wir an,
dass die Basisvektoren eine Orthonormalbasis bilden und somit
In diesem Kapitel werden zahlreiche mathematische Werkzeuge eO i  eOj D ıij erfüllen. Weiterhin sollen die eO i ein rechtshändi-
eingeführt, um Koordinatentransformationen und beschleunigte ges Dreibein bilden, d. h. eO 1  eO 2 D eO 3 , eO 2  eO 3 D eO 1 und
Bezugssysteme beschreiben zu können. Dazu gehören z. B. die eO 3  eO 1 D eO 2 . Wir nennen physikalische Vektoren wie x auch
Drehmatrizen (Abschn. 2.1) sowie Zylinder- und Kugelkoordinaten abstrakte Vektoren, da sie unabhängig von irgendeiner Wahl des
(Abschn. 2.5). Des Weiteren wird ein Schwerpunkt auf die mit Koor- Koordinatensystems sind.
dinatentransformationen verbundene Physik gelegt. Beispielsweise
lässt eine bestimmte Klasse von Koordinatentransformationen, den Achtung Es ist unbedingt zu unterscheiden zwischen ei-
Galilei-Transformationen (Abschn. 2.2), die Newton’schen Bewe- nem physikalischen Vektor x und seiner Darstellung x D
gungsgleichungen invariant. Beschleunigte Bezugssysteme ande- .x1 ; x2 ; x3 /> bezüglich einer gewählten Basis, d. h. eines festge-
rerseits erfordern Erweiterungen der Bewegungsgleichungen, was legten Koordinatensystems. Die Koordinaten .x1 ; x2 ; x3 / hängen
letztlich auf die Zentrifugal- und Coriolis-Kräfte führt (Abschn. 2.3 von der Wahl der Basis ab, der Vektor x ist allerdings völlig
und 2.4). unabhängig von der Wahl irgendeiner Basis. Oftmals tritt Ver-
wirrung auf, da x ebenfalls als Vektor bezeichnet wird. Dies
liegt daran, dass es sich bei x um einen mathematischen Vektor
handelt („Mathematischer Hintergrund 1.1“). In diesem Buch
2.1 Drehungen von kartesischen werden wir dennoch häufig auf die bequemere Formulierung
ausweichen und x als den Ortsvektor bezeichnen, wenn keine
Koordinatensystemen Missverständnisse zu erwarten sind. In den wenigen Fällen, bei
denen eine Unterscheidung zwischen x und x notwendig ist,
Wir werden uns im Folgenden mit Drehungen von kartesi- wird dies explizit betont. J
schen Koordinatensystemen im dreidimensionalen Raum be- Frage 1
schäftigen. Dabei wird im Normalfall nicht das betrachtete
Machen Sie sich klar, dass die Darstellungen der drei Basis-
physikalische System selbst im Raum gedreht, sondern das be-
vektoren in ihrem eigenen Koordinatensystem stets .1; 0; 0/> ,
schreibende Koordinatensystem. Als Konsequenz aus diesen
.0; 1; 0/> und .0; 0; 1/> lauten.
sogenannten passiven Drehungen ändern sich die Koordinaten
des Ortes einer Punktmasse, nicht jedoch ihre Lage bezüg-
lich des ursprünglichen Koordinatensystems. Drehungen von Physikalische Vorgänge sind unabhängig von der Wahl des
Vektoren lassen sich dabei durch orthogonale Matrizen dar- Koordinatensystems, da Koordinatensysteme lediglich der Dar-
stellen, deren mathematische Eigenschaften vorgestellt werden. stellung dienen, physikalische Prozesse aber nicht beeinflussen.
Schließlich werden die Transformationsgleichungen für Vekto- Dies erlaubt das geschickte Auswählen eines Koordinatensys-
ren unter Drehungen abgeleitet. tems, in welchem die resultierenden Gleichungen möglichst
einfach werden. Ein Beispiel haben wir bereits in Abschn. 1.3
gesehen: Dort wurde das Koordinatensystem so gewählt, dass
die Bewegung der Punktmasse entlang der z-Achse erfolgte. Ge-
Darstellung des Ortsvektors in einem nauso gut hätte man die Bewegung entlang der x-Achse oder
Koordinatensystem innerhalb der y-z-Ebene definieren können.
Geht man von einem Koordinatensystem in ein anderes über,
Es ist deutlich zu unterscheiden zwischen einem physikalischen ohne das physikalische System als solches zu verändern, stellt
Vektor (z. B. dem Ortsvektor x) und seiner Darstellung in ei- sich die Frage nach den damit verbundenen Transformations-
nem gegebenen Koordinatensystem. Der Vektor x kann durch gleichungen für die Basisvektoren und die Koordinaten des
2.1 Drehungen von kartesischen Koordinatensystemen 51

e
b2 Die neuen Basisvektoren lassen sich somit aus den alten berech-

e
b2 nen:
eO 01 D cos eO 1 C sin eO 2 ;

Teil I
eO 02 D  sin eO 1 C cos eO 2 ; (2.6)
b1
e
φ eO 03 D eO 3 :
φ
e3 e3 e1 Allgemein gilt

Abb. 2.1 Ein ungestrichenes Koordinatensystem (schwarz ) wird um einen Win- eO 0i D .Oe0i  eO 1 /Oe1 C .Oe0i  eO 2 /Oe2 C .Oe0i  eO 3 /Oe3
kel um die x3 -Achse gedreht und geht somit in ein neues, gestrichenes (2.7)
D ai1 eO 1 C ai2 eO 2 C ai3 eO 3 :
Koordinatensystem (blau ) über

Die entsprechende Umkehrung ist


Ortsvektors. In diesem Kapitel werden wir uns daher mit den
eO i D .Oei  eO 01 /Oe01 C .Oei  eO 02 /Oe02 C .Oei  eO 03 /Oe03
wichtigsten dieser Transformationen beschäftigen: (2.8)
D a1i eO 01 C a2i eO 02 C a3i eO 03 :
zeitunabhängige und zeitabhängige Drehungen und Transla-
tionen von kartesischen Koordinatensystemen,
Übergang von einem kartesischen zu einem nichtkartesi- Frage 2
schen Koordinatensystem, insbesondere zu Zylinder- und Man überprüfe die Gültigkeit von (2.6) anhand von Abb. 2.1
sphärischen Polarkoordinaten bzw. Kugelkoordinaten. bzw. Gleichung (2.5).

Es werden hierbei auch beschleunigte Koordinatensysteme und


solche mit nichtkonstanten Basisvektoren zugelassen, was eine Wie bereits betont, handelt es sich bei der oben diskutierten
Modifizierung des zweiten Newton’schen Axioms erfordert. Koordinatentransformation um eine Drehung des Koordinaten-
systems, wobei das physikalische System selbst unverändert
bleibt. In diesem Zusammenhang spricht man von passiven
Drehungen. Dreht man im Gegensatz dazu das physikalische
Drehungen um eine Koordinatenachse System in einem festen Koordinatensystem, bezeichnet man
dies als aktive Drehung. Mathematisch sind beide Vorgänge
äquivalent, physikalisch aber streng zu unterscheiden, da für ei-
Stellen wir uns zunächst vor, dass ein vorher eingeführtes unge-
ne aktive Drehung in der Regel Kräfte benötigt werden (und
strichenes Koordinatensystem S mit den kartesischen Basisvek-
auch nicht immer möglich sind, z. B. bei Spiegelungen).
toren eO 1 , eO 2 und eO 3 um einen Winkel um die x3 -Achse gedreht
wird, wobei der Ursprung nicht verschoben wird (Abb. 2.1).
Dadurch gehen die beiden Basisvektoren eO 1 und eO 2 in neue Passive Koordinatentransformation
Basisvektoren eO 01 und eO 02 über. Das neue gestrichene Koordina-
tensystem S0 ist ebenfalls kartesisch. Offenbar ist der Winkel Passive Koordinatentransformationen entsprechen dem
zwischen eO 1 und eO 01 sowie zwischen eO 2 und eO 02 gerade der Win- Wechsel von einem Koordinatensystem zu einem anderen.
kel , während der Basisvektor eO 3 unverändert bleibt: Sie haben keine Auswirkung auf physikalische Größen,
ändern aber in der Regel ihre Darstellung.
eO 01  eO 1 D cos ; eO 02  eO 2 D cos ; eO 03  eO 3 D 1: (2.3)

Diese Größen werden Richtungskosinus genannt.


Aus Abb. 2.1 erkennt man, dass zwischen eO 1 und eO 02 der Winkel
=2 C und zwischen eO 2 und eO 01 der Winkel =2  ist: Darstellung von Drehungen durch Matrizen
eO 02  eO 1 D cos. =2 C / D  sin ;
(2.4) Die 3  3 Zahlen aij aus (2.5) lassen sich durch das rechteckige
eO 01  eO 2 D cos. =2  / D sin : Zahlenschema einer quadratischen Matrix darstellen:
Da eO 3 D eO 03 ist, verschwinden alle übrigen Skalarprodukte aij WD 0 1
cos sin 0
eO 0i  eOj (i; j D 1; 2; 3). Zusammengefasst lauten die 3  3 Zahlen
A D .aij / D @ sin cos 0A : (2.9)
aij
0 0 1
a11 D cos ; a12 D sin ; a13 D 0;
a21 D  sin ; a22 D cos ; a23 D 0; (2.5) Matrizen und ihre grundlegenden Rechenregeln werden im
a31 D 0; a32 D 0; a33 D 1: „Mathematischen Hintergrund“ 2.1 besprochen. Die Matrix A
52 2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme

2.1 Mathematischer Hintergrund: Matrizen I


Teil I

Definition und grundlegende Rechenregeln

In der Mathematik und der Physik sind lineare Abbildungen Rechenregeln für die Matrixmultiplikation Für das Ma-
zwischen Vektorräumen von großer Bedeutung. Im Falle des trixprodukt gelten folgende Rechenregeln, sofern man die
R3 sind dies beispielsweise Drehungen oder Spiegelungen. beteiligten Matrizen addieren bzw. multiplizieren kann:
Solche linearen Abbildungen lassen sich mithilfe von Matri-
zen beschreiben. .AB/C D A.BC/ (Assoziativgesetz)
Matrizen Matrizen (singular: Matrix) sind Zahlenschemata .A C B/C D AC C BC (rechtes Distributivgesetz)
aus M  N Zahlen eines Körpers K, die in M Zeilen und N A.B C C/ D AB C AC (linkes Distributivgesetz)
AI D IA D A (Identitätsabbildung)
Spalten angeordnet sind:
0 1
a11 a12    a1N
B a21 a22    a2N C Im Allgemeinen gilt jedoch AB ¤ BA.
B C
ADB : :: :: :: C DW .aij /:
@ :: : : : A Matrix-Vektor-Multiplikation Indem man die Koordina-
aM1 aM2  aMN tendarstellungen von Spaltenvektoren aus N-dimensionalen
Die Zahlen aij heißen Matrixelemente. Eine Matrix mit M Vektorräumen VN als N  1-Matrizen auffasst, ist damit auch
Zeilen und N Spalten nennt man auch M  N-Matrix. Jeder eine Multiplikation von M  N-Matrizen mit N-dimensiona-
linearen Abbildung kann man (nachdem in den betreffenden len Spaltenvektoren definiert, deren Ergebnis ein Vektor aus
Vektorräumen eine Basis gewählt wurde) genau eine Matrix einem M-dimensionalen Vektorraum VM ist:
zuordnen, und umgekehrt definiert jede Matrix (bei fester
MMN  VN ! VM ; .A; v / 7! .aij vj /;
Basis) eine eindeutige lineare Abbildung. Eine spezielle Ma-
trix ist die Einheitsmatrix wobei 1  i  M und 1  j  N sind. Ebenso kann man
I D .aij / mit aij D ıij : Zeilenvektoren aus VN als 1  N-Matrizen auffassen und sie
von rechts mit N  M-Matrizen multiplizieren, um M-di-
Diese Matrix beschreibt die Identitätsabbildung. mensionale Zeilenvektoren zu erhalten:
Vektorraum der Matrizen Die MN-Matrizen bilden selbst VN  MNM ! VM ; .v ; A/ 7! .vi aij /:
wieder einen Vektorraum MMN über K, wenn man die Ad-
dition und die Multiplikation mit Skalaren elementweise Man schreibt die Multiplikationen auch kurz in der Form Av
definiert: und v > A.
C WMMN  MMN ! MMN ; .A; B/ 7! .aij C bij /;
Transponierte Die Transponierte einer Matrix wird defi-
 WK  MMN ! MMN ; .; A/ 7! .aij /: niert, indem man die beiden Indizes und damit Zeilen und
Man kann nur Matrizen addieren, bei denen sowohl die Zei- Spalten vertauscht:
len- als auch die Spaltenanzahl übereinstimmt.
A> D .aij /> D .aji /:
Matrixmultiplikation Man definiert eine Matrixmultiplika-
Somit gilt dann
tion so, dass man L  M-Matrizen mit M  N-Matrizen
multiplizieren kann, um L  N-Matrizen zu erhalten: v > A D vi aij D aji> vi D A> v :
MLM  MMN ! MLN ; .A; B/ 7! AB D .aij bjk /: Es gelten die folgenden Rechenregeln:
Hier sind 1  i  L, 1  j  M und 1  k  N. Die Sum-
> >
mation über doppelte Indizes (hier über j von 1 bis M) wird .AB/> D .aij bjk /> D .akj bji / D .ajk> b>
ij / D B A ,
implizit vorausgesetzt, d. h. > > >
.A C B/ D A C B ,
X
M .A> /> D A,
aij bjk WD aij bjk : I> D I.
jD1

Das Matrixprodukt ist gerade so definiert, dass das Produkt Literatur


zweier Matrizen der Verkettung der zugehörigen linearen Ab-
bildungen entspricht. Hierbei ist es wichtig, dass man zwei Modler, F., Kreh, M.: Tutorium Analysis 1 und Lineare
Matrizen nur dann multiplizieren kann, wenn die erste Matrix Algebra 1. 3. Aufl., Springer Spektrum (2014)
genauso viele Spalten wie die zweite Matrix Zeilen hat. Bosch, S.: Lineare Algebra. 4. Aufl., Springer (2007)
2.1 Drehungen von kartesischen Koordinatensystemen 53

ist die Drehmatrix, welche die in Abb. 2.1 beschriebene Dre-


hung vermittelt. Für eine allgemeine Transformation zwischen

Teil I
beliebigen kartesischen Koordinatensystemen gilt
0 1
eO 01  eO 1 eO 01  eO 2 eO 01  eO 3
A D @eO 02  eO 1 eO 02  eO 2 eO 02  eO 3 A (2.10)
eO 03  eO 1 eO 03  eO 2 eO 03  eO 3

oder in Kurzform aij D eO 0i  eOj . Solche Matrizen sind orthogonale


Matrizen, die im „Mathematischen Hintergrund“ 2.2 definiert
werden und für die A> A D I gilt, wobei I D .ıij / die Ein-
heitsmatrix ist. Als Konvention für die Schreibweise legen wir
fest, dass Matrizen durch Großbuchstaben, die Matrixelemente Abb. 2.2 Bei aufeinanderfolgenden Drehungen spielt die Reihenfolge der
jedoch durch Kleinbuchstaben notiert werden, z. B. A D .aij / Einzeldrehungen eine Rolle. Im oberen Beispiel wird ein Quader um zwei zu-
oder R D .rkl /. einander senkrechte Achsen gedreht. Vertauscht man die Reihenfolge, ist das
Resultat unterschiedlich (unteres Beispiel )
Frage 3
Man mache sich klar, warum nur quadratische Matrizen für Dre-
hungen von Koordinatensystemen infrage kommen.
um die ursprüngliche eO 2 -Achse. Die beiden Drehmatrizen
lauten 0 1
cos sin 0
R1 D @ sin cos 0A ;
Sukzessive Drehungen 0 0 1
0 1 (2.12)
cos 0 sin
Im Folgenden wollen wir Drehmatrizen mit R (wie Rotation) R2 D @ 0 1 0 A:
bezeichnen. Sie bilden eine mathematische Untergruppe (sie-  sin 0 cos
he den „Mathematischen Hintergrund“ 2.4) der allgemeineren
Wendet man die Regeln der Matrixmultiplikation an, fin-
orthogonalen Matrizen. Da sich Drehungen durch quadratische
Matrizen ausdrücken lassen, können nacheinander ausgeführte det man für die resultierende Drehmatrix
mehrfache Drehungen eines Bezugssystems mithilfe der Ma- R D R2 R1
trixmultiplikation formuliert werden. Eine solche mehrfache 0 1
Rotation ist in vielen Bereichen der theoretischen Physik von cos cos sin cos sin (2.13)
großer Bedeutung. Wird ein Koordinatensystem nacheinander D @  sin cos 0 A:
durch N Rotationen R1 ; : : : ; RN gedreht, so ist dies äquivalent  cos sin  sin sin cos
zu einer Drehung mit der Matrix
Im Gegensatz dazu würde eine Drehung vermittelt durch
R D RN RN1 : : : R2 R1 : (2.11) R2 gefolgt von R1 auf die Drehmatrix

R1 R2 D
Die Reihenfolge der Ri ist dabei derart, dass dasjenige Ri , das 0 1
cos cos sin cos sin (2.14)
als Erstes auf einen Vektor wirken soll, ganz rechts und somit @ sin cos cos  sin sin A
unmittelbar „vor“ dem Vektor steht (und folglich zuerst multi-
 sin 0 cos
pliziert wird).
Achtung Die Matrixmultiplikation ist im Allgemeinen nicht führen. Offensichtlich sind beide Ergebnisse unterschied-
kommutativ, das Ergebnis hängt von der Reihenfolge der Mul- lich. J
tiplikation ab. Physikalisch bedeutet dies, dass das Ergebnis
aufeinanderfolgender Drehungen im Raum von deren Reihen-
folge abhängt (Abb. 2.2). J Frage 4
Rechnen Sie die beiden Produkte in (2.13) und (2.14) kompo-
nentenweise nach, wobei Sie die Regeln der Matrixmultiplika-
Reihenfolge von Drehungen
tion verwenden.
Betrachten wir zwei Drehungen, die erste um einen Win-
kel um die eO 3 -Achse, die zweite um einen Winkel In Kap. 4 werden wir sehen, dass eine räumliche Drehung um
eine beliebige Achse stets durch drei sukzessive Drehungen um
54 2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme

2.2 Mathematischer Hintergrund: Matrizen II


Teil I

Determinanten

Wir haben bereits Matrizen und deren Bedeutung kennenge- der Nebendiagonalen (von rechts oben nach links unten) ge-
lernt. Hier wollen wir uns nun noch etwas genauer mit ihnen nommen werden.
beschäftigen. Außerdem werden wir die Determinante ken-
nenlernen, die für Matrizen eine große Bedeutung hat. Dafür Normalerweise wird die Determinante etwas anders definiert
benötigen wir Permutationen. und die obige Formel daraus gefolgert. Für uns werden die
obige Definition und die folgenden Rechenregeln (die im
Permutationen Eine Permutation ist eine bijektive Abbil- Wesentlichen alle Details der „richtigen“ Definition der De-
dung einer endlichen Menge in sich selbst. Anders gesagt, terminante enthalten) jedoch ausreichen.
vertauscht (permutiert) eine Permutation nur die Reihenfol-
ge der Elemente einer Menge. Meist werden Permutationen
auf einer endlichen Indexmenge (d. h. einer endlichen Menge Rechenregeln für die Determinante
von Zahlen f1; : : : ; Ng) betrachtet. Die Menge dieser Permu- det.AB/ D det.A/ det.B/
tationen bezeichnet man dann mit SN . det.A> / D det.A/
Findet eine gerade Anzahl von Vertauschungen (von je zwei det.A/ D N det.A/
Elementen) statt, so nennt man die Permutation gerade, an- sind in A zwei Zeilen oder Spalten linear abhängig, so ist
sonsten ungerade. Entsprechend ist für eine Permutation det.A/ D 0
das Signum sgn . / definiert als 1, wenn gerade ist, und det.I/ D 1
als 1, wenn ungerade ist. Da die Indizes f1; : : : ; Ng auf
N  .N  1/    1 D NŠ verschiedene Arten permutiert werden Orthonormale Transformationen Mit Matrizen lassen sich
können, enthält SN genau NŠ Elemente. Davon sind genau Koordinatentransformationen beschreiben, die eine alte Ba-
NŠ=2 gerade. sis eO i in eine neue eO 0i überführen. Besonders wichtig sind
Transformationen für Orthonormalbasen, d. h. für Basen, für
Determinante Die Determinante einer Matrix A D .aij / 2
die hOei ; eOj i D ıij bzw. hOe0i ; eOj0 i D ıij gilt. Ist A D .aij / eine
MNN ist definiert als
solche Matrix, so muss
X
det.A/ WD sgn . /a1 .1/ a2 .2/    aN .N/ :
ıij D haik eO k ; ajl eO l i D aik ajl ıkl D aik ajk D aik a>
kj ;
2SN

Statt det.A/ schreibt man auch jAj. Die Determinante ist nur also
für quadratische Matrizen definiert. Für N D 2 lautet die
obige Formel AA> D I D A> A;

det.A/ D a11 a22  a12 a21 gelten. Eine solche Matrix heißt orthogonal, während man
die Transformation orthonormal nennt. Wegen der Rechen-
und für N D 3 regeln für Determinanten gilt
det.A/ D .a11 a22 a33 C a12 a23 a31 C a13 a21 a32 / 1 D det.I/ D det.AA> / D det.A/ det.A> / D .det.A//2 ;
 .a12 a21 a33 C a11 a23 a32 C a13 a22 a31 /
D "ijk a1i a2j a3k : also det.A/ D ˙1. Ist det.A/ D 1, nennt man die orthonor-
male Transformation eigentlich, ansonsten uneigentlich.
Diese Formel nennt man auch Regel von Sarrus, die man sich
folgendermaßen grafisch vorstellen kann: Anschaulich gibt die Determinante einer Transformations-
matrix an, wie sich das orientierte Volumen eines Körpers
+ + + − − − unter dieser Transformation ändert. Insbesondere lassen or-
thogonale Transformationen das Volumen höchstens bis auf
a11 a12 a13 a11 a12 das Vorzeichen invariant.

a21 a22 a23 a21 a22


Literatur
a31 a32 a33 a31 a32
Modler, F., Kreh, M.: Tutorium Analysis 1 und Lineare
Man kann sich merken, dass die Produkte der Hauptdiago- Algebra 1. 3. Aufl., Spektrum (2014)
nalen (von links oben nach rechts unten) minus der Produkte Bosch, S.: Lineare Algebra. 4. Aufl., Springer (2007)
2.1 Drehungen von kartesischen Koordinatensystemen 55

e2 Offensichtlich erhält man die neuen Koordinaten des Ortsvek-


 tors durch Anwendung der Matrix R auf die alten Koordinaten.
e
b2

Teil I
In Kurzform können wir auch
x2
x0 D Rx: (2.19)
x2 b1
e schreiben.
φ x1 Achtung Ausdrücke der Form rij ai bj oder rij rkj sind Abkür-
φ zungen P (und nichts anderesP als das) für die längeren Schreib-
x1 weisen i;j rij ai bj oder j rij rkj . Dabei wird stets über doppelt
e1 auftretende Indizes summiert. Einzelne Indizes müssen auf bei-
den Seiten einer Gleichung auftreten, z. B. ai bj D rij ck dk oder
Abb. 2.3 Darstellung einer passiven Drehung, bei der das ungestrichene Koor-
dinatensystem (schwarz ) durch eine Drehung um die x3 -Achse in das gestrichene
ai bj D rik cj dk . Gleichungen wie ai bi D ci , rij D dk oder
Koordinatensystem (blau ) überführt wird. Der Vektor x wird davon nicht berührt, ai bj D rik ci dk sind nicht korrekt! Indizes können also entweder
allerdings hängt seine Darstellung vom Koordinatensystem ab, wie man an den einfach vorkommen, müssen dann aber auf beiden Seiten einer
Projektionen auf die entsprechenden Koordinatenachsen erkennen kann Gleichung stehen oder auf einer oder beiden Seiten doppelt.
Dann wird über sie summiert. Zum Beispiel sind die Glei-
chungen ai bi D cj dj und ak bk D ck dk beide gültig und sogar
die drei Koordinatenachsen dargestellt werden kann. Drehun- gleichwertig. Indizes dürfen nicht häufiger als zweimal auf einer
gen im dreidimensionalen Raum lassen sich daher durch drei Seite einer Gleichung vorkommen, da stets paarweise summiert
unabhängige Drehwinkel beschreiben. wird. Summationsindizes können also im Rahmen der oben ge-
nannten Regeln umbenannt werden. J

Transformation des Ortsvektors


unter Drehungen Transformation der Darstellung des Ortsvektors unter
passiven Drehungen

Wir wollen nun untersuchen, wie sich die Darstellung des Orts- Der Koordinatenvektor des Ortes transformiert unter pas-
vektors x ändert, wenn das Koordinatensystem gedreht wird. siven Drehungen vermittelt durch die Matrix R wie
Eine Punktmasse befinde sich am Ort mit den Koordinaten
x. Abhängig von der Wahl des Koordinatensystems hat dieser x0 D Rx: (2.20)
Ort verschiedene Darstellungen. Wir schreiben die Darstellun-
gen vor und nach der Drehung als x D .x1 ; x2 ; x3 /> bzw.
x0 D .x01 ; x02 ; x03 /> . Die Drehung ist in Abb. 2.3 illustriert. Wir
wissen, dass für die Koordinaten des Ortes in den beiden Koor- Frage 5
dinatensystemen Machen Sie sich anhand des Beispiels in Gleichung (2.9) und
Abb. 2.3 klar, dass die Drehmatrix R verwendet wird, um die
xi D x  eO i bzw: x0i D x  eO 0i (2.15) neue Darstellung des Ortsvektors zu finden.

gilt. Weiterhin sind


Drehung
x D x1 eO 1 C x2 eO 2 C x3 eO 3 und x D x01 eO 01 C x02 eO 02 C x03 eO 03 (2.16)
Wir betrachten den Vektor mit der ursprünglichen Dar-
gegeben. Dies führt direkt auf stellung x D .x1 ; x2 ; x3 /> D .1; 1; 1/> . Die Drehung,
die durch die Matrix R in (2.9) vermittelt wird, führt auf
x0i D .x1 eO 1 C x2 eO 2 C x3 eO 3 /  eO 0i die Darstellung
(2.17) 0 01 0 1 0 1
D xj eOj  eO 0i D xj eO 0i  eOj D rij xj ; x1 1 cos C sin
x0 D @x02 A D R @1A D @ cos  sin A : (2.21)
wobei die Matrix R durch (2.10) definiert ist. Hier und im Fol- x03 1 1
genden wird über doppelt auftretende Indizes summiert, ohne
das Summenzeichen explizit anzugeben (Einstein’sche Sum- J
menkonvention):
X
3
rij xj WD rij xj : (2.18) Bei einer aktiven Transformation wird ein physikalischer Vektor
jD1 x mit der Darstellung x D .x1 ; x2 ; x3 /> in ein und demselben
56 2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme

Koordinatensystem gedreht, sodass sich ein anderer physi-


kalischer Vektor x0 mit der Darstellung x0 D .x01 ; x02 ; x03 /> System S aus betrachtet die Koordinaten b. Der Ursprung
Teil I

ergibt. Hier gilt ebenfalls (2.19); dies ist jedoch anders zu in- O0 hat in S0 natürlich die Koordinaten b0 D .0; 0; 0/> .
terpretieren, da die Basisvektoren von der Transformation nicht
betroffen sind. Wie bereits erwähnt ist für solch eine Drehung e
b3 e3
eine Kraft nötig; sie ist daher von einer passiven Transformation
zu unterscheiden.
x x
Passive und aktive Drehungen
e
b2 e2
Möchte man die Rückseite einer auf dem Tisch stehen-
den Vase betrachten, kann man um den Tisch herum
gehen. Dies entspricht einer passiven Transformation, da O b O
sich die Vase nicht dreht, das Bezugssystem (festgelegt e1 e 1
durch die Blickrichtung) schon. Die andere Möglichkeit
ist, die Vase zu nehmen und umzudrehen. Dabei än- Abb. 2.4 Transformation zwischen kartesischen Koordinatensystemen.
dert sich das Bezugssystem nicht, aber die Vase wird Der Ursprung des gestrichenen Koordinatensystems S0 befindet sich
im Raum gedreht. Mathematisch werden beide Vorgänge vom ungestrichenen Koordinatensystem S aus betrachtet am Ort b. Eine
durch dieselbe Drehung beschrieben, physikalisch kann Punktmasse hat in S die Ortskoordinaten x (blau ), in S0 x0 (schwarz )
es jedoch Unterschiede geben: So könnte beispielswei-
se der Lichteinfall von der Richtung abhängen, sodass Wird der Ort einer Punktmasse beschrieben, so lauten die
man die Rückseite der Vase im einen Fall gut, im ande- Koordinaten in S zunächst x. Ein Beobachter in S0 gibt
ren nur schlecht sehen kann. Außerdem muss eine aktive dagegen die Koordinaten x0 D x  b für dieselbe Punkt-
Drehung jeweils genau entgegengesetzt zu einer passiven masse an. Legt man nun eine zweite Punktmasse genau in
sein, damit man dasselbe Ergebnis erhält. J den Ursprung O0 und fragt nach dem Verschiebungsvek-
tor d, der beide Punktmassen verbindet, so lautet dieser
Vektor d D x  b bzw. d0 D x0  b0 D x0 . Man sieht
In Aufgabe 2.1 wird gezeigt, dass Winkel zwischen Vektoren sofort, dass dann d D d0 gilt, wohingegen x 6D x0 ist. So-
und Längen (Beträge) von Vektoren invariant unter orthogona- mit ist x ein Beispiel für einen gebundenen, d für einen
len Transformationen sind. ungebundenen Vektor. Allgemein kann man sagen, dass
ungebundene Vektoren ihre Darstellung unter Translatio-
nen des Koordinatensystems nicht ändern. J

Gebundene und ungebundene Vektoren,


Transformation des Geschwindigkeitsvektors Nehmen wir nun an, dass S0 gegenüber S zuerst verschoben und
dann gedreht ist. Die Verschiebung des Ursprungs sei durch den
Vektor b, die Rotation durch die Drehmatrix R beschrieben. So-
Man unterscheidet zwischen gebundenen und ungebundenen wohl b als auch R seien zeitunabhängig. In diesem Fall gilt für
Vektoren. Der Ort einer Punktmasse wird durch einen ge- den Ort einer Punktmasse
bundenen Vektor beschrieben, da der Ort von der Wahl des
Koordinatenursprungs abhängt. Man sagt, dass der Ortsvektor x0 D R.x  b/; (2.22)
an den Ursprung gebunden ist. Ein ungebundener Vektor ist da b0 D 0 ist. Für den Verschiebungsvektor d D x  b gilt
dagegen von der Lage des Ursprungs unabhängig. Solche Vek- dagegen
toren sind Verschiebungsvektoren, die z. B. die Differenz von d0 D Rd: (2.23)
zwei Ortsvektoren und somit eine Verschiebung beschreiben.
Häufig nennt man ungebundene Vektoren schlicht Vektoren und Gebundene und ungebundene Vektoren transformieren sich da-
gebundene Vektoren Elemente eines affinen Raumes. her unterschiedlich.
Um dies besser zu verstehen, betrachten wir ein Beispiel.
Transformation der Darstellung des Ortsvektors unter
passiven Rotationen und Translationen
Verschiebungsvektoren und Drehungen
Der Ortsvektor ist ein an den Ursprung gebundener Vek-
Zwei Koordinatensysteme, S und S0 , seien durch eine tor. Nur Differenzen von Ortsvektoren, d D x  b,
Translation gegeneinander verschoben, die Achsen aber transformieren sich wie
nicht gegeneinander gedreht (Abb. 2.4). Der Ursprung O0
des gestrichenen Systems S0 habe vom ungestrichenen d0 D Rd: (2.24)
2.2 Galilei-Transformationen 57

meiner lässt sich der folgende Zusammenhang zeigen (Riley et


Solche Größen nennt man im physikalischen Sinne Vek- al. 2006):

Teil I
toren. "pjk apq ajl akm D det.A/"qlm : (2.30)
Dies wiederum führt mit der Drehmatrix R statt A auf
Frage 6
"pjk rpq rjl rkm riq D det.R/"qlm riq : (2.31)
Machen Sie sich die Gültigkeit von (2.22) zeichnerisch klar.
Es folgt sofort der transformierte Drehimpuls
Fragt man nach dem Transformationsverhalten des Geschwin- L0i D det.R/riq ."qlm rl pm / D det.R/riq Lq (2.32)
digkeitsvektors der Punktmasse, so sieht man direkt, dass
bzw.
xP 0 D RPx (2.25) L0 D det.R/ RL (2.33)
gilt. Geschwindigkeiten transformieren unter Drehungen daher in Vektorform.
wie ungebundene Vektoren. Eine gleichzeitige Verschiebung
Im Gegensatz zu Geschwindigkeiten bzw. Impulsen, die ent-
des Ursprungs spielt dabei keine Rolle.
sprechend p0 D Rp transformieren, tritt beim Drehimpuls ein
Frage 7 zusätzlicher Faktor det.R/ auf. Dies ist typisch für Größen,
in deren Definitionen das Levi-Civita-Symbol auftaucht. Der
Überprüfen Sie das Ergebnis in (2.25), indem sie von (2.22) aus-
Drehimpuls ändert daher sein Vorzeichen, wenn die Matrix R ei-
gehen und bP D 0 und R
P D 0 verwenden.
ne uneigentliche Transformation mit det.R/ D 1 ist. Beispiele
hierfür sind Spiegelungen oder das paarweise Vertauschen von
Wir werden auf das Transformationsverhalten von xP bei all- Koordinatenachsen. Eigentliche Drehungen sind dagegen stets
gemeinen zeitabhängigen Verschiebungen und Drehungen in durch det.R/ D C1 ausgezeichnet.
Abschn. 2.3 zurückkommen.
Spiegelung

Die Matrix 0 1
Transformation des Drehimpulses unter 1 0 0
Drehungen, polare und axiale Vektoren A D @0 1 0A (2.34)
0 0 1

Der Drehimpuls L D x  p einer Punktmasse am Ort x mit vermittelt eine Spiegelung an der x1 -x2 -Ebene, d. h., die
Impuls p lautet in Komponentenschreibweise Koordinaten x des Ortsvektors werden folgendermaßen
transformiert: .x1 ; x2 ; x3 /> ! .x1 ; x2 ; x3 /> . Offen-
Li D "ijk xj pk : (2.26) sichtlich ist det.A/ D 1. Es handelt sich also um eine
uneigentliche orthogonale Matrix. Die neuen Basisvekto-
Wir betrachten erneut eine durch eine Rotation R vermittelte ren sind wegen
Transformation vom ungestrichenen System S zum gestriche- eO i  eOj D ijk eO k (2.35)
nen System S0 . Zur Vereinfachung seien beide Koordinatensys-
teme nicht gegeneinander verschoben. In S0 lautet der Drehim- nicht mehr rechtshändig, sondern linkshändig. Man sagt
puls auch, dass die Helizität vertauscht wurde. J

L0i D "ijk xj0 p0k D "ijk .rjl xl /.rkm pm / D "ijk rjl rkm xl pm : (2.27)

Die Orthogonalität der Drehmatrix, RR> D I oder rpq riq D ıpi ,


lässt sich ausnutzen, um das Matrixprodukt umzuschreiben:
2.2 Galilei-Transformationen
"ijk rjl rkm D "pjk ıpi rjl rkm D "pjk .rpq riq /rjl rkm : (2.28) In Abschn. 2.1 wurden einige mathematischen Grundlagen für
Koordinatentransformationen (insbesondere Drehungen) bereit-
Wie im „Mathematischen Hintergrund“ 2.2 und 2.3 erläutert gestellt. Diese Ergebnisse werden nun ausgenutzt, um physika-
wird, erfüllen 3  3-Matrizen die Relation lische Aussagen treffen zu können. Das Verhalten von physika-
lischen Systemen unter Transformationen ist von fundamentaler
det.A/ D "ijk a1i a2j a3k : (2.29) Bedeutung für die theoretische Physik. Dies gilt vor allem, wenn
Systeme unter gewissen Transformationen invariant, d. h. sym-
Hier ist det.A/ die Determinante der Matrix A D .aij /. Allge- metrisch sind. Wie in Kap. 5 diskutiert wird, führen Symmetrien
58 2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme

Vertiefung: Transformationsverhalten von Vektoren


Teil I

Polare und axiale Vektoren

Man unterscheidet physikalische Vektoren entsprechend des ändert er also bei einer uneigentlichen Transformation das
Verhaltens ihrer Darstellungen unter orthogonalen Trans- Vorzeichen, so ist diese Größe ein axialer Vektor. All-
formationen R, die sie von einem ungestrichenen in ein gemein ist das Kreuzprodukt zweier polarer Vektoren ein
gestrichenes Koordinatensystem überführen. Transformiert axialer Vektor. Das Skalarprodukt zweier polarer Vektoren
ein Darstellungsvektor wie der Impuls, ist ein Skalar, der unter uneigentlichen Transformationen
p0 D Rp; invariant ist. Das Produkt eines skalaren und eines po-
laren Vektors, z. B. p  L, ist ein Pseudoskalar, der sein
d. h. unabhängig von det.R/, so ist diese Größe ein polarer Vorzeichen ändert, wenn det.R/ D 1 ist. Die physikali-
Vektor. Transformiert ein Darstellungsvektor wie der Dreh- schen Begriffe der polaren und axialen Vektoren sind von
impuls, der mathematischen Definition eines Vektors zu unterschei-
L0 D det.R/ RL; den.

in der Regel auf Erhaltungsgrößen, deren Kenntnis das Lösen b3


e
physikalischer Probleme stark vereinfacht. In diesem Abschnitt b3
e
werden wir sehen, dass die Newton’schen Axiome invariant
unter einer gewissen Klasse von Koordinatentransformationen x x
sind. Diese werden als Galilei-Transformationen bezeichnet.
Sie überführen Inertialsysteme ineinander. Anhand der Galilei-
b2
e b2
e
Transformationen werden einige Grundlagen der mathemati-
schen Gruppen erläutert, die in der theoretischen Physik eine
wichtige Rolle spielen. O b O
e1

Kovarianz des ersten Newton’schen Axioms e 1


unter Galilei-Transformationen
Abb. 2.5 Transformation zwischen kartesischen Koordinatensystemen. Der
Ursprung des gestrichenen Koordinatensystems S0 befindet sich vom unge-
Wir haben in Abschn. 1.2 gelernt, dass das erste Newton’sche strichenen Koordinatensystem S aus betrachtet am Ort b. Zusätzlich sind die
Axiom in allen Inertialsystemen gültig ist: Sind Kräfte ab- Koordinatenachsen von S0 und S gegeneinander gedreht. Eine Punktmasse hat
wesend, bewegen sich Punktmassen gleichförmig-geradlinig. in S die Ortskoordinaten x (blau ), in S0 x0 (schwarz )
Dieses Prinzip besagt, dass alle Inertialsysteme im Hinblick
auf die Newton’schen Axiome gleichwertig sind. Weiterhin be-
deutet dies, dass die Bewegungsgleichungen kovariant, d. h. R1 D R> in der Form
forminvariant, sein müssen, wenn eine Transformation von ei-
nem Inertialsystem in ein anderes durchgeführt wird. Kein x D b C R> x 0 ; x0 D R.x  b/ (2.36)
Inertialsystem kann sich gegenüber einem anderen auszeich- miteinander verbunden.
nen. Genauso darf sich die Form der Bewegungsgleichungen
in keinem Inertialsystem von der in einem anderen Inertialsys- Im Rahmen der Newton’schen Mechanik ist die Zeit ein ex-
tem unterscheiden. Diese Aussagen sollen im weiteren Verlauf terner Parameter, dessen Verlauf nicht von der Bewegung von
näher beleuchtet werden. Punktmassen im physikalischen System abhängt. Allerdings
kann der Zeitnullpunkt beliebig gewählt werden. Wir schreiben
Wir untersuchen nun, welchen Einfluss Koordinatentransforma- daher die Relation zwischen den Zeiten t und t0 in S und S0 in
tionen auf die Bewegungsgleichungen einer Punktmasse haben. der Form
Das Ausgangssystem sei ein Inertialsystem S mit Ursprung O t0 D t  t0 ; (2.37)
und den Basisvektoren eO i . Das neue System sei S0 mit Ursprung
O0 und Basisvektoren eO 0i . Zusätzlich zu Transformationen, ver- d. h., es gebe eine konstante zeitliche Verschiebung. Daraus
mittelt durch orthogonale Matrizen R, erlauben wir räumliche folgt das Differenzial
und zeitliche Translationen. Der Ursprung O0 von S0 liege von dt0 D dt: (2.38)
S aus betrachtet an einem beliebigen Ort b (Abb. 2.5). Offen-
sichtlich sind die Koordinaten eines Punktes in S und S0 wegen Somit hängen Zeitableitungen nicht von der Wahl von t0 ab.
2.2 Galilei-Transformationen 59

2.3 Mathematischer Hintergrund: Matrizen III

Teil I
Matrixinversion und Rechenregeln für Determinanten

Hier wollen wir nun noch einige Hilfsmittel zur Berechnung wobei aij die Matrixelemente von A sind. Dies kann man sich
von Determinanten bzw. inversen Matrizen bereitstellen. Ein so vorstellen, dass man eine Zeile auswählt (am besten eine,
Hilfsmittel dafür werden Unterdeterminanten sein. in der es viele Nullen gibt) und sich dann jedes Element in
dieser Zeile nimmt, das nicht null ist. Für jedes solche Ele-
Existenz der inversen Matrix Man nennt eine Matrix A in- ment berechnet man den Wert der Unterdeterminante (z. B.
vertierbar, wenn es eine Matrix B gibt, sodass wieder durch die Laplace-Entwicklung). Die berechneten
Werte summiert man dann gewichtet mit den aij und entspre-
AB D BA D I
chenden Vorzeichen auf. Das Ganze funktioniert auch mit
gilt. In diesem Fall nennt man B die inverse Matrix und Spalten statt Zeilen.
schreibt dafür A1 . Nicht jede Matrix besitzt eine Inverse. Das Vorzeichen kann man sich nach folgendem Schachbrett-
Eine Inverse existiert aber genau dann, wenn det.A/ ¤ 0. muster merken:
Eine solche Matrix nennt man auch regulär. Eine nichtregu-
läre Matrix heißt auch singulär. 0 1
C  C 
Betrachtet man wieder die linearen Abbildungen, die durch B C     C
B C
eine Matrix beschrieben werden, so ist eine Matrix genau BC  C    C
@ A
dann invertierbar, wenn die zugehörige lineare Abbildung in- :: :: :: : :
: : : :
vertierbar ist, und die inverse Matrix beschreibt gerade die
Umkehrabbildung.
Cramer’sche Regel Die Cramer’sche Regel ist ein Schema
Rechenregeln für inverse Matrizen zum Lösen von linearen Gleichungssystemen. Mit ihrer Hil-
fe kann man eine Formel herleiten, die zur Berechnung der
det.A1 / D .det.A//1 Matrixelemente der inversen Matrix dient. Es gilt
.A1 /1 D A
sind A und B invertierbar, so ist auch AB invertierbar, und
es gilt .AB/1 D B1 A1 .1/iCj A.ji/
A1 D B D .bij / mit bij D :
.A> /1 D .A1 /> det.A/
ist A orthogonal, so gilt A1 D A>
Die Cramer’sche Regel erfordert viel Rechenaufwand, des-
Unterdeterminanten Ist A eine N  N-Matrix, so schreiben halb lohnt sie sich nur für kleine Matrizen. Für N D 2 lautet
wir Aij für die Matrix, die man aus A erhält, wenn man die i- die Regel
te Zeile und die j-te Spalte streicht. Da dies dann wieder eine
quadratische Matrix ist, können wir hiervon die Determinan-  1  
a11 a12 1 a22 a12
te berechnen. Wir schreiben D :
a21 a22 a11 a22  a12 a21 a21 a11
A.ij/ D det.Aij /
Hier werden also in der Matrix die Diagonalelemente ver-
und nennen dies Unterdeterminante oder Minor. tauscht; bei den beiden anderen wird das Vorzeichen geän-
dert und am Schluss durch die Determinante geteilt.
Laplace’scher Entwicklungssatz Der Laplace’sche Ent-
wicklungssatz ist eine Möglichkeit, Determinanten zu be-
rechnen. Diese Methode ist besonders dann geeignet, wenn Literatur
die Matrix viele Nullen enthält. Es gilt

X
N Modler, F., Kreh, M.: Tutorium Analysis 1 und Lineare
det A D .1/iCj aij A.ij/ ; Algebra 1. 3. Aufl., Spektrum (2014)
jD1 Bosch, S.: Lineare Algebra. 4. Aufl., Springer (2007)
60 2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme

Es stellt sich nun die Frage, welchen Einfluss die oben einge-
führten Transformationen auf die Bewegungsgleichungen einer Kovarianz des ersten Newton’schen Axioms unter Gali-
Teil I

Punktmasse haben. In S lautet das erste Newton’sche Axiom lei-Transformationen


mRx D 0. Die ersten beiden Zeitableitungen von x0 haben wegen
(2.36) die allgemeine Form Das erste Newton’sche Axiom ändert seine Form un-
ter Galilei-Transformationen nicht. Dies ist äquivalent
P C R.x
P  b/; zu einem Übergang von einem zu einem anderen Inerti-
xP 0 D R.Px  b/ alsystem. Sind zwei Koordinatensysteme gegeneinander
(2.39)
0
xR D R.Rx  b/R C 2R.P
P x  b/
P C R.x
R  b/: beschleunigt, treten Zusatzterme auf, und das erste New-
ton’sche Axiom ist nicht mehr kovariant.
An diesen Gleichungen lässt sich das Prinzip der Forminvari-
anz (Kovarianz) illustrieren. Im Gegensatz zu xR D 0 (erstes
Newton’sches Axiom in Inertialsystemen) treten in (2.39) ei- Achtung Obwohl R eine allgemeine orthogonale Matrix sein
ne Reihe von Zusatztermen auf, sodass die Gleichungen nicht kann, beschränkt man sich bei der Diskussion von Galilei-
die gleiche Form haben. Allerdings erkennt man, dass das ers- Transformationen häufig auf Drehmatrizen, die eine Untergrup-
te Newton’sche Axiom in S0 zu xR 0 D 0 wird, wenn R konstant pe der orthogonalen Matrizen bilden und sich durch det.R/ D
ist und bR D 0 gilt bzw. bP konstant ist. Dies bedeutet, dass ei- C1 auszeichnen. J
ne Koordinatentransformation mit R D const, b D v 0 t C b0
(v 0 D const, b0 D const) und t0 D const von einem Inerti- Frage 8
alsystem auf ein anderes Inertialsystem führt, in dem das erste Machen Sie sich klar, dass die Geschwindigkeit unter Galilei-
P transformiert.
Transformationen gemäß xP 0 D R.Px  b/
Newton’sche Axiom ebenfalls gültig ist. In diesem Fall sind die
Bewegungsgleichungen also kovariant. Inertialsysteme können
daher

durch eine konstante orthogonale Matrix R auseinander her- Kovarianz des zweiten Newton’schen Axioms
vorgehen (drei Parameter),
um einen konstanten Vektor b0 verschoben sein (drei Para-
unter Galilei-Transformationen
meter),
sich mit konstanter Geschwindigkeit v 0 relativ zueinander Im weiteren Verlauf beschränken wir uns auf Galilei-Transfor-
bewegen (drei Parameter) und mationen und werfen einen Blick auf das zweite Newton’sche
verschiedene Zeitnullpunkte besitzen (ein Parameter). Axiom:
mRx D F.t; x; xP /: (2.41)

Transformationen, welche diese Eigenschaften besitzen, nennt Hier ist F eine Kraft, die zur Zeit t auf die Punktmasse m wirkt,
man Galilei-Transformationen. welche sich am Ort x befindet und sich mit der Geschwindigkeit
xP bewegt. Wird eine Galilei-Transformation auf (2.41) ange-
wendet, nimmt sie die Form
Allgemeine Galilei-Transformation
Eine eigentliche Galilei-Transformation zwischen zwei mRx0 D F0 .t0 ; x0 ; xP 0 / (2.42)
Inertialsystemen überführt die Darstellung des Ortsvek-
tors x und der Zeit t in an, wobei offensichtlich

x0 D R.x  v 0 t  b0 /; t0 D t  t0 : (2.40) F0 .t0 ; x0 ; xP 0 / D RF.t; x; xP / (2.43)

Die Drehmatrix R, Relativgeschwindigkeit v 0 , Verschie- gilt. Obwohl F und F0 im Allgemeinen unterschiedliche Funk-
bung b0 und Verschiebung t0 der Zeitnullpunkte sind tionen der Koordinaten sind, bleibt die Form des zweiten New-
konstant. ton’schen Axioms invariant unter Galilei-Transformationen,
d. h., es treten keine Zusatzterme auf. Das zweite Newton’sche
Axiom ist somit ebenfalls kovariant unter Galilei-Transforma-
Ist S0 gegenüber S beschleunigt, d. h. sind R oder bP nicht tionen. Physikalisch sind die beiden Beschreibungen in (2.41)
konstant, so treten Zusatzterme auf, welche die Kovarianz auf- und (2.42) völlig gleichwertig, da es sich lediglich um eine pas-
heben. Diese Zusatzterme sind bereits in (2.39) enthalten. Eine sive Koordinatentransformation handelt. Insbesondere sind die
gründliche Diskussion wird allerdings erst in Abschn. 2.3 und Ausdrücke F und F0 nur zwei verschiedene Darstellungen in
2.4 erfolgen, was schließlich auf die sogenannten Scheinkräfte den Koordinatensystemen S und S0 für dieselbe physikalische
führen wird. Kraft.
2.3 Beschleunigte Bezugssysteme 61

Auswirkung einer Drehung auf eine Kraft lassen. Wir werden in Kap. 9 sehen, dass sich diese Situation än-
dert, wenn relativistische Effekte (jv 0 j nicht klein gegenüber der

Teil I
Lichtgeschwindigkeit) berücksichtigt werden. Stattdessen wer-
Zur Veranschaulichung betrachten wir ein Inertialsystem
den dort die Lorentz- bzw. Poincaré-Transformationen einge-
S, in dem sich die Punktmasse m am Ort x D r eO 1 be-
führt, die im Grenzfall kleiner Relativgeschwindigkeiten wieder
findet, wobei r der Abstand zum Ursprung ist. Auf die
in die Galilei-Transformationen übergehen.
Punktmasse wirke eine Kraft F.x/ D F eO 2 . Nun stellen
wir uns ein anderes Inertialsystem S0 vor, das nur durch Mathematisch bilden die Galilei-Transformationen eine Gruppe
eine Rotation R um 90ı um die eO 3 -Achse aus S hervor- (siehe „Mathematischer Hintergrund“ 2.4). Insbesondere gibt es
geht (Abb. 2.6). eine triviale Transformation, die das Inertialsystem unverändert
lässt,
b1
e b2
e R D I; v 0 D 0; b0 D 0; t0 D 0; (2.44)
und zu jeder Galilei-Transformation gibt es eine inverse Trans-
formation. Zwei aufeinanderfolgende Galilei-Transformationen
bilden wieder eine Galilei-Transformation (Aufgabe 2.2). Die
für die theoretische Physik wichtige SO(3)-Drehgruppe (das S
in SO(3) bedeutet, dass spezielle orthogonale Matizen, nämlich
F jene mit det.R/ D C1 betrachtet werden) beinhaltet alle Dre-
hungen im dreidimensionalen Raum um den Ursprung und ist
somit eine Untergruppe der Galilei-Gruppe.
e2 x e1
Frage 9
Abb. 2.6 Eine Punktmasse befindet sich vom ungestrichenen Koordi- Überlegen Sie sich, warum die Galilei-Gruppe keine abelsche,
natensystem (schwarz ) aus gesehen am Ort x D r eO 1 , vom gestrichenen d. h. keine kommutative Gruppe sein kann. Der Schlüssel liegt
(blau ) aus betrachtet bei r eO 02 . Auf sie wirkt eine Kraft F in Richtung in den mathematischen Eigenschaften der Drehmatrizen (Ab-
eO2 bzw. F0 in Richtung eO 01 . Physikalisch sind beide Betrachtungen völlig schn. 2.1).
äquivalent

In S0 lauten die Koordinaten der Punktmasse x0 D Rx D


r eO 02 , und die Kraft ist F0 .x0 / D RF.x/ D F eO 01 . Offen- 2.3 Beschleunigte Bezugssysteme
sichtlich wirkt die Kraft in S am Ort x, in S0 aber am Ort
x0 , was physikalisch gleichwertig ist. J
In Abschn. 2.2 haben wir gesehen, dass die Bewegungsglei-
chungen unter Galilei-Transformationen, also Transformatio-
nen zwischen Inertialsystemen, invariant sind. In diesem Ab-
Kovarianz der Newton’schen Axiome unter Galilei- schnitt gehen wir noch einen Schritt weiter und beschäftigen
Transformationen uns mit der Frage, welche Konsequenzen der Übergang zu ei-
nem beschleunigten Koordinatensystem aufwirft. Insbesondere
Das zweite Newton’sche Axiom ist unter Galilei-Trans-
linear beschleunigte und rotierende Bezugssysteme sind hier
formationen kovariant. Die Newton’schen Bewegungs-
von Interesse, da sie in der Physik häufig anzutreffen sind.
gleichungen ändern ihre Form beim Übergang zwischen
Das Ziel dieses Abschnitts ist es, das Transformationsverhalten
Inertialsystemen nicht.
von Orts-, Geschwindigkeits- und Beschleunigungsvektoren zu
verstehen, was in Abschn. 2.4 schließlich auf die sogenannten
Scheinkräfte führen wird.

Galilei-Transformationen als mathematische


Gruppe Definition der Koordinatentransformation
Unter Galilei-Transformationen versteht man alle Transforma- Wir betrachten nun zeitabhängige Verschiebungen b.t/ und Ma-
tionen, die durch konstante orthogonale Transformationen, Ver- trizen R.t/. Dabei folgen wir den Konventionen in Abschn. 2.2
schiebungen, Relativgeschwindigkeiten und Zeittranslationen und beginnen mit den Gleichungen in (2.39), die wir hier noch-
charakterisiert sind. Hier beschränken wir uns auf eigentliche mals wiederholen:
orthogonale Transformationen mit det.R/ D C1. Spiegelungen P C R.x
xP 0 D R.Px  b/ P  b/;
sind somit ausgeschlossen. (2.45)
R C 2R.P
xR 0 D R.Rx  b/ P x  b/
P C R.x
R  b/:
Galilei-Transformationen sind im Rahmen der Newton’schen
Mechanik diejenigen Transformationen, die Inertialsysteme in- Die gegenseitige Lage der beiden Bezugssysteme wurde bereits
einander überführen und die Newton’schen Axiome invariant in Abb. 2.5 gezeigt.
62 2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme

2.4 Mathematischer Hintergrund: Gruppen


Teil I

Einführung in die Gruppentheorie

Wir wollen kurz auf grundlegende algebraische Strukturen nämlich


eingehen, die für die theoretische Physik extrem wichtig
sind: die Gruppen. hRx; Ryi D x> R> Ry D x> y D hx; yi;
und dies bedeutet gerade, dass orthogonale Matrizen Län-
Gruppe Eine Gruppe ist eine Menge G zusammen mit einer
gen und Winkel erhalten. Die Gruppe der Symmetrien kann
Verknüpfung ı, sodass gilt:
also durch die Gruppe der orthogonalen N  N-Matrizen
dargestellt werden. Diese Gruppe bezeichnet man auch mit
ı ist assoziativ, d. h. für alle a; b; c 2 G gilt
O.N/. Die Menge der orthogonalen N  N-Matrizen mit
a ı .b ı c/ D .a ı b/ ı c: Determinanten C1 bildet eine Untergruppe von O.N/, die
wir spezielle orthogonale Gruppe nennen und mit SO.N/
Es gibt ein neutrales Element e, sodass für alle a 2 G gilt bezeichnen. Diese Gruppe beschreibt genau die orientie-
e ı a D a ı e: rungserhaltenden Symmetrien im N-dimensionalen Raum,
d. h. die Drehungen.
Zu jedem a 2 G gibt es ein inverses Element, das wir mit
a1 bezeichnen und für das gilt Gruppenhomomorphismen Mit speziellen Funktionen
kann man Beziehungen zwischen Gruppen beschreiben. Die-
a1 ı a D a ı a1 D e: se Funktionen nennt man Gruppenhomomorphismen. Ein
Gruppenhomomorphismus ist eine Abbildung f W G1 ! G2
Man nennt die Gruppe G kommutativ oder abelsch, wenn au- zwischen zwei Gruppen G1 und G2 , die
ßerdem f .a ı b/ D f .a/ ı f .b/
aıbDbıa für alle a; b 2 G1 erfüllt. Hierbei müssen die beiden Ver-
ist. Man schreibt dann für die Gruppe auch .G; ı/. knüpfungen nicht unbedingt dieselben sein. Ein Beispiel für
einen Gruppenhomomorphismus ist z. B. die Determinanten-
Beispiele Gruppen haben wir schon viele kennengelernt. funktion
So ist jeder Vektorraum zusammen mit der Vektor-
det W O.N/ ! f˙1g:
raumaddition eine Gruppe. Weitere Gruppen sind z. B.
.Z; C/; .R; C/; .C; C/ oder .Rnf0g; /.
Darstellungen von Gruppen Es ist wichtig, zwischen Grup-
Gruppen treten außerdem häufig bei Symmetriebetrachtun- pen und Darstellungen von Gruppen zu unterscheiden. Die
gen auf; so bilden beispielsweise die Symmetrien (d. h. Menge der Drehungen ist z. B. eine Gruppe, für die man zu-
Drehungen, Verschiebungen und Spiegelungen) der Ebene nächst einmal keine Matrizen benötigt. Wählt man nun eine
oder des dreidimensionalen Raumes eine Gruppe, wobei die feste Basis (d. h. ein Koordinatensystem), so lässt sich diese
Verknüpfung hier die Hintereinanderausführung ist. Auch Gruppe durch N  N-Matrizen darstellen. Wählt man eine
die wichtigen Galilei- und Lorentz-Transformationen bilden andere Basis, so wird dieselbe Drehung durch eine andere
jeweils eine Gruppe. Matrix dargestellt. Eine Gruppe besitzt also im Allgemeinen
Man unterscheidet außerdem zwischen diskreten und konti- mehrere Darstellungen. Per Definition ist eine Darstellung
nuierlichen Gruppen. Ein Beispiel für erstere ist die Menge ein Gruppenhomomorphismus von der betrachteten Gruppe
der Spiegelungen an einer Koordinatenachse. Kontinuierli- G in die Menge der N  N-Matrizen.
che Gruppen hängen von einem oder mehreren kontinuierli- Wählt man für eine Gruppe eine feste Darstellung, so kann
chen Parametern ab. Ein Beispiel hierfür ist die Menge der man die Gruppenoperationen (z. B. die Drehung eines Vek-
Drehungen in der Ebene. Diese hängt von einem Parameter, tors um einen festen Winkel) als Matrix-Vektor-Multiplika-
nämlich dem Drehwinkel, ab. tion schreiben.
Orthogonale Gruppe Eine besonders wichtige Gruppe ist
die Gruppe der Symmetrien im N-dimensionalen euklidi- Literatur
schen Raum. An dieser Stelle wollen wir uns auf Drehungen
und Spiegelungen beschränken, also keine Verschiebungen Modler, F., Kreh, M.: Tutorium Analysis 1 und Lineare
betrachten. Symmetrien haben die Eigenschaft, dass sie Län- Algebra 1. 3. Aufl., Spektrum (2014)
gen und Winkel erhalten. Für jede orthogonale Matrix R gilt Artin, M.: Algebra. Birkhäuser (1990)
2.3 Beschleunigte Bezugssysteme 63

Das ungestrichene System sei ein Inertialsystem S mit Ba-


sisvektoren eO i . Weiterhin führen wir das gestrichene und im definiert. Der Ursprung b könnte sich zum Beispiel am

Teil I
Allgemeinen beschleunigte Bezugssystem B mit Basisvekto- Boden des Fahrstuhls befinden. Ein Beobachter im Fahr-
ren eO 0i .t/ ein. Da B rotieren kann, sind seine Basisvektoren stuhl befinde sich am Ort x.
in der Regel zeitabhängig. Wir werden ausschließlich passive
Transformationen betrachten, durch die lediglich das Koordi- Im freien Fall werden der Beobachter und der Fahrstuhl
natensystem gewechselt wird. Weiterhin wollen wir annehmen, mit der Erdbeschleunigung beschleunigt, wenn sie aus S
dass es sich bei R um eine Drehmatrix handelt, da diese in der beobachtet werden, d. h. xR D g und bR D g. Im Koor-
Physik am wichtigsten ist. Der Vektor b beschreibt die Lage des dinatensystem des Fahrstuhls ist der Beobachter somit
Ursprungs des Systems B von S aus gesehen, x ist der Ort ei- unbeschleunigt, da xR 0 D 0 folgt. Der Beobachter ist im
ner Punktmasse m. Sowohl b.t/ als auch R.t/ sind vorgegebene Fahrstuhl daher schwerelos, da sich hier die Scheinkraft
Funktionen der Zeit, wobei wir zur Vereinfachung den Ursprung in B und die Schwerkraft verursacht durch die Erdan-
der Zeit unverändert lassen, t0 D t, was keine Einschränkung ziehung gerade aufheben. Dies ist der Ansatzpunkt für
darstellt. die allgemeine Relativitätstheorie. Einstein fragte sich, ob
die Schwerkraft nicht generell als Scheinkraft angesehen
Wir haben in Abschn. 2.2 bereits erkannt, dass zeitabhängige werden könne, was ihn schließlich darauf brachte, die-
Transformationen zu Zusatztermen führen, welche die Kova- se mit Raumkrümmung in Verbindung zu bringen. Der
rianz der Newton’schen Axiome verletzen. Diese Zusatzterme freie Fall wird in der Forschung häufig verwendet, um
sind letztlich die Ursache für die Zentrifugal- und die Coriolis- ein schwereloses System zu simulieren. Beispiele hierfür
Kraft in rotierenden Bezugssystemen, wie wir in Abschn. 2.4 sind Falltürme oder Parabelflüge (Abb. 2.7).
sehen werden.

Linear beschleunigte Bezugssysteme

Wir beginnen mit dem einfachen Fall, dass B im Vergleich


zu S lediglich linear beschleunigt ist. Die Zeitableitung der
Transformationsmatrix verschwindet folglich: R P D 0. Den-
noch erlauben wir weiterhin eine konstante Drehung, d. h., R
muss nicht zwangsläufig der Einheitsmatrix entsprechen. In die-
sem Fall lauten die Geschwindigkeit und Beschleunigung einer
Punktmasse in B

P
xP 0 D R.Px  b/; R
xR 0 D R.Rx  b/: (2.46)

Für bR D 0 werden die Beschleunigungen in S und B nur durch


eine einfache Drehung ineinander überführt, und die Trans-
formation ist eine Galilei-Transformation. Ansonsten muss die
Abb. 2.7 Parabelflug einer DC-9. Das Flugzeug beschleunigt zunächst
relative Beschleunigung von B zu S ebenfalls berücksichtigt nach oben und geht danach in einen Trägheitsflug ohne Schub über.
werden. Diese Beschleunigung erlebt man ständig im Alltag, Die Flugbahn beschreibt dabei eine Parabel, und das Flugzeug befindet
z. B. wenn das Auto oder der Zug, in dem man sitzt, auf sich für etwa 20 s nahezu im freien Fall (lediglich Reibungskräfte werden
gerader Strecke beschleunigt oder verzögert und man in den vom Piloten durch die Triebwerke ausgeglichen). In dieser Zeit können
Sitz gedrückt oder aus diesem gehoben wird. In diesem Fall Experimente in Schwerelosigkeit durchgeführt werden (© NASA) J
entspricht S der Erdoberfläche und B dem Koordinatensys-
tem, das durch die Wände des Fahrzeugs definiert ist. Sind
die Koordinatensysteme nicht gegeneinander gedreht, lauten
die Transformationsgleichungen für Geschwindigkeit und Be-
schleunigung einfach
Rotierende Bezugssysteme
0 P
xP D xP  b; 0 R
xR D xR  b: (2.47)
Nun nehmen wir an, dass sich beide Bezugssysteme beliebig ge-
Fahrstuhl geneinander drehen können. Das System S ist nach wie vor ein
Inertialsystem. Wir konzentrieren uns zunächst auf das Trans-
Betrachten wir den freien Fall eines Fahrstuhls. Das Ko- formationsverhalten des Verschiebungsvektors d WD x  b. Er
ordinatensystem B sei durch die Wände des Fahrstuhls kann später ohne Einschränkung wieder durch xb ersetzt wer-
den.
64 2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme

Aufgrund der Eigenschaften der Drehmatrix, RR> D I, können P 6D 0) einen Zusatzterm aufweist, der über den naiv
(d. h. für R
wir die erste Zeitableitung in (2.45) in der Form zu erwartenden Term RdP hinausgeht. Der Grund ist die Zeit-
Teil I

h i abhängigkeit der Basisvektoren eO 0i von B, die ebenfalls einen


dP 0 D RdP C .RR> /Rd
P D R dP C .R> R/d
P (2.48) Beitrag zu dP 0 leisten. Wie wir in Kürze sehen werden, enthält
dieser Zusatzterm Informationen über die Rotation von B. Be-
vor wir uns weiter mit dem Transformationsverhalten von dP und
schreiben. Wegen R> R D I ist weiterhin dR beschäftigen, wollen wir uns die Größe ! genauer ansehen.
>
R> RP C R
P RD0 H) R> RP C .R> R/
P > D 0: (2.49)

Man sieht daran, dass die Matrix B WD R> R P ihr Vorzeichen Physikalische Bedeutung von !
wechselt, wenn man sie transponiert. Solche Matrizen heißen
schiefsymmetrisch. In drei Dimensionen gilt für sie
Um zu verstehen, welche Bedeutung ! hat, untersuchen wir
0 1 0 1 eine Drehung zwischen einem Zeitpunkt t0 und einem infini-
b11 b12 b13 b11 b21 b31
tesimal späteren Zeitpunkt t0 C dt, die durch die Drehmatrix
B D @b21 b22 b23 A D  @b12 b22 b32 A (2.50)
b31 b32 b33 b13 b23 b33 P 0 / dt
R.t0 C dt/ D R.t0 / C R.t
  (2.55)
oder in Kurzform bij D bji . Die Diagonalelemente müssen ver- P 0 / dt
D R.t0 / I C R> .t0 /R.t
schwinden: b11 D b11 D 0 usw. Aus diesem Grund kann eine
schiefsymmetrische 3  3-Matrix nur drei unabhängige Kompo- ausgedrückt wird. Der erste Schritt folgt aus der Taylor-Ent-
nenten enthalten. wicklung bis zur ersten Ordnung in dt. Man spricht in diesem
Zusammenhang auch von einer infinitesimalen Drehung. Aus
Frage 10
der Definition von ! in (2.52) folgt
Begründen Sie, dass eine symmetrische 3  3-Matrix im Allge-
meinen sechs unabhängige Komponenten hat.  
rik .t0 C dt/ D rij .t0 / ıjk C jkl !l .t0 / dt : (2.56)

Die Koordinatenachsen seien so orientiert, dass ! zur Zeit t0


Durch eine zunächst willkürliche Definition kann man eine in eO 3 -Richtung zeigt: !.t0 / D .0; 0; !.t0 //> . Weiterhin seien
schiefsymmetrische Matrix als die gestrichenen und ungestrichenen Achsen bei t0 identisch:
0 1 eO 0i .t0 / D eO i (i D 1; 2; 3). Dann ist R.t0 / D R> .t0 / D I, d. h., R
0 !3 !2 entspricht zur Zeit t0 der Identität. Daher gilt
B D @!3 0 !1 A (2.51)
!2 !1 0 rik .t0 C dt/  rik .t0 /
rPik .t0 / D D ikl !l .t0 /: (2.57)
dt
schreiben. Die Bedeutung von ! WD .!1 ; !2 ; !3 /> wird in
Kürze klar werden. Mithilfe des Levi-Civita-Symbols kann die Es folgt somit
Matrix auch in der Form 0 1
0 !.t0 / 0
bij D rki rPkj D ijk !k (2.52) P 0 / D @!.t0 /
R> .t0 /R.t 0 0A (2.58)
0 0 0
dargestellt werden.
und schließlich
Frage 11 0 1
Zeigen Sie mithilfe der Identität ijk ijl D 2ıkl , dass aus (2.52) 1 !.t0 / dt 0
der Zusammenhang R.t0 C dt/ D @!.t0 / dt 1 0A : (2.59)
1 0 0 1
!l D ijl bij (2.53)
2
folgt. Frage 12
Überprüfen Sie die obige Argumentation und das Ergebnis in
(2.59).
Gleichung (2.48) und (2.52) führen somit auf
 
dP 0 D R dP  !  d : (2.54) Gleichung (2.59) entspricht einer infinitesimalen Drehung um
die eO 3 -Achse um den Winkel d D ! dt (was man durch
Dieses wichtige Zwischenergebnis besagt, dass die Zeitablei- einen Blick auf die Taylor-Entwicklung des Sinus und Kosi-
tung eines polaren Vektors in einem rotierenden Bezugssystem nus erkennt). Deswegen wird ! als der Vektor der momentanen
2.3 Beschleunigte Bezugssysteme 65

Winkelgeschwindigkeit bezeichnet. Seine Richtung gibt die Ori-


entierung der momentanen Drehachse an. Häufig wird der Eine einfache Rechnung führt auf

Teil I
Drehwinkel auch in Vektorform geschrieben:
0 1
0 ! 0
d WD ! dt: (2.60) P D @! 0
R> .t/R.t/ 0A
0 0 0
0 1 (2.66)
0
Achtung Die hier vorgeführten Rechnungen sind nur für in-
H) ! D @ 0 A :
finitesimale Drehungen gültig. Eine Darstellung der Drehungen
!
wie in (2.60) könnte dazu verleiten, aufeinanderfolgende Dre-
hungen als Vektoraddition von 1 , 2 etc. zu schreiben. Dies ist
allerdings falsch, wie wir in Abb. 2.2 gesehen haben: Drehungen Dieses Beispiel ist auch gültig, wenn die Drehung nicht
kommutieren im Gegensatz zur Vektoraddition im Allgemeinen infinitesimal ist. Der Grund ist, dass stets um dieselbe
nicht. Im Kasten „Vertiefung: Infinitesimale Transformationen“ Achse gedreht wird. Es ist anschaulich klar, dass sukzes-
werden wir nochmals darauf zurückkommen. J sive, also aufeinanderfolgende Drehungen um dieselbe
Achse kommutieren. J

Zusammenhang zwischen zeitabhängigen Drehmatri-


zen und Winkelgeschwindigkeit
Achtung ! ist die Drehachse, wie sie im ungestrichenen Ko-
Ist die Drehmatrix R zwischen einem Inertialsystem S ordinatensystem erscheint. Im gestrichenen Koordinatensystem
und einem beschleunigten System B zeitabhängig, so wird ist die Orientierung der Drehachse im Allgemeinen verschieden,
die momentane Winkelgeschwindigkeit ! von B aus dem was wir in Kürze zeigen werden. Dies kann man beispielswei-
Produkt B D R> RP bestimmt: se daran sehen, dass die Rotationsachse der Erde, welche die
Richtung von ! definiert, nur an den Polen senkrecht auf der
1 Erdoberfläche steht. Am Äquator ist die Erdachse dagegen pa-
bij D rki rPkj D ijk !k ; !l D ijl bij : (2.61)
2 rallel zur Erdoberfläche. J

In einer infinitesimalen Zeit dt dreht sich B dabei um


einen Winkel
d D ! dt (2.62)
Transformationsverhalten der
um die Achse !. Winkelgeschwindigkeit

Um zu untersuchen, wie sich die Winkelgeschwindigkeit ! un-


Drehung um feste Achse ter Koordinatentransformationen verhält, betrachten wir (2.53)
in einem ungestrichenen und einem gestrichenen Koordinaten-
Zur Veranschaulichung betrachten wir erneut das Beispiel system:
aus (2.9) mit einer Drehung um die eO 3 -Achse um den zeit- 1 1
abhängigen Winkel D !t: !l D ijl bij ; !l0 D ijl b0ij : (2.67)
2 2
0 1
cos.!t/ sin.!t/ 0 Die Frage ist, wie !l0 mit !l zusammenhängt.
R.t/ D @ sin.!t/ cos.!t/ 0A : (2.63)
0 0 1 Aus der linearen Algebra wissen wir, dass

Man findet sofort B0 D RBR> bzw: b0ij D rim bmn rjn (2.68)
0 1
 sin.!t/ cos.!t/ 0 gilt, wobei R die Drehmatrix ist, die das ungestrichene in das
P D ! @ cos.!t/
R.t/  sin.!t/ 0A (2.64) gestrichene Koordinatensystem überführt. Wir schreiben
0 0 0
1
und !l0 D ijl rim rjn bmn (2.69)
2
0 1
cos.!t/  sin.!t/ 0 und wegen (2.52)
R .t/ D @ sin.!t/
>
cos.!t/ 0A : (2.65)
0 0 1 1
!l0 D ijl rim rjn kmn !k : (2.70)
2
66 2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme

Vertiefung: Infinitesimale Transformationen


Teil I

Wir haben in Abb. 2.2 gesehen, dass die Reihenfolge von schreiben, wobei d k die infinitesimalen Drehwinkel um die
sukzessiven endlichen Drehungen wichtig ist: Endliche Dre- Achse d sind. Allgemein definieren die Elemente jeder
hungen sind im Allgemeinen nicht kommutativ. Der Begriff schiefsymmetrischen 3  3-Matrix einen Pseudovektor. Für
der infinitesimalen Transformationen ist in vielen Bereichen die Änderung des Ortes gilt dann
der Physik sehr wichtig, insbesondere in der Quantenmecha-
nik und in der Feldtheorie. Wir beschränken uns hier auf eine dx D x0  x D dRx D x  d:
infinitesimale Drehung. Gleichung (2.36) wird zu
Zwei aufeinanderfolgende infinitesimale Transformationen
x0 D Rx mit R D I C dR: erfüllen

Wegen R> R D I ist .I C dR1 /.I C dR2 / D I C dR1 C dR2 :

.I C dR/> .I C dR/ D I H) dR> C dR D 0: Im Gegensatz zu endlichen Drehungen spielt hier die Rei-
henfolge keine Rolle. Auf diese Weise kann man auch direkt
Da dR eine infinitesimale Größe ist, können quadratische zeigen, dass die Inverse von R D I C dR gerade I  dR
Terme vernachlässigt werden. Deshalb müssen infinitesima- ist. Drehmatrizen sind eine Untergruppe der orthogonalen
le Drehmatrizen dR stets schiefsymmetrisch sein. Analog zu Matrizen, die det.R/ D C1 erfüllen. Es ist bereits intuitiv
(2.52) können wir klar und hier offensichtlich, dass es nur infinitesimale Dre-
hungen, aber keine infinitesimale Spiegelungen geben kann,
drij D ijk d k denn für Spiegelungen ist x0  x keine infinitesimale Größe.

Weiterhin gilt wegen ıpl D rpq rlq und (2.30) folgt


 
1 1
ijl rim rjn kmn D ijp rim rjn rpq rlq kmn dR 0 D R dR  !
P  d  !  dP  !  dP  !  d : (2.73)
2 2
1 (2.71)
D mnq kmn det.R/rlq Hier wurde berücksichtigt, dass ! durchaus selbst eine Funkti-
2 on der Zeit sein kann.
D ıqk det.R/rlq D det.R/rlk :
Frage 13
Dies führt schließlich auf das Transformationsverhalten von !.
Machen Sie sich klar, dass (2.73) direkt aufgeschrieben werden
kann, wenn man die Argumentation wiederholt, die zur Herlei-
Transformationsverhalten der Winkelgeschwindigkeit tung von (2.54) verwendet wurde.

Die Winkelgeschwindigkeit ! ist wie der Drehimpuls L


ein axialer Vektor und transformiert unter orthogonalen
Transformationen R wie Gleichung (2.23), (2.54) und (2.73) sind die allgemeinen Trans-
formationsgleichungen für einen polaren Vektor und seine ers-
!0 D det.R/R!: (2.72) ten beiden Zeitableitungen von einem Inertialsystem S zu einem
rotierenden Bezugssystem B. In vielen Fällen ist es allerdings
sinnvoller, den umgekehrten Weg zu gehen: Man möchte die
Man hätte sich bereits im Vorfeld denken können, dass die Win- Zeitableitungen in S durch Größen im gestrichenen System B
kelgeschwindigkeit ! ein axialer Vektor ist, da das Levi-Civita- ausdrücken.
Symbol bei seiner Definition auftaucht.
Transformationsverhalten eines polaren Vektors und
seiner Zeitableitungen
Zeitableitungen in rotierenden Bezugssystemen Transformiert man einen polaren Vektor d0 mittels einer
orthogonalen Transformation R von einem rotierenden
Wir haben in (2.54) gesehen, dass Zeitableitungen von polaren System zurück in ein Inertialsystem, so lauten die Trans-
Vektoren einen Zusatzterm erhalten, wenn sie in rotierenden Be- formationsgleichungen für d und seine ersten beiden Zeit-
zugssystemen betrachtet werden. Für die zweite Zeitableitung
2.4 Kräfte in rotierenden Bezugssystemen 67

b3
e
ableitungen
!

Teil I
d D R> d0 ; (2.74)
 
dP D R> dP 0 C !0  d0 ; b2
e
b3
e
dR D R> ŒdR 0 C !
P 0  d0 C !0  dP 0 C !0  .dP 0 C !0  d0 /:
b1
e
b  O
Dies wird in Aufgabe 2.3 gezeigt.
c

Da d.t/ D x.t/  b.t/ geschrieben werden kann, wobei x.t/ der O


Ortsvektor einer Punktmasse und b.t/ ein Referenzpunkt (z. B.
der Ursprung von B) ist, sind die entsprechenden Transforma-
tionsgleichungen für x.t/ ebenfalls bekannt, wenn b.t/ gegeben b2
e
b1
e
ist.
Die zweite Zeitableitung in (2.74) ist der Schlüssel, um die
Scheinkräfte in rotierenden Bezugssystemen zu berechnen. Dies
wird im folgenden Abschnitt geschehen.
Abb. 2.8 Darstellung der Koordinatensysteme S (in dem sich die Erde dreht)
und B (das sich mit einem Punkt c auf der Erdoberfläche mitbewegt). Der Erd-
mittelpunkt befindet sich im Ursprung O des Inertialsystems S, der Punkt c bildet
2.4 Kräfte in rotierenden den Ursprung O0 des beschleunigten Bezugssystems B. Die Erde dreht sich um
eine beliebige Achse mit Winkelgeschwindigkeit !
Bezugssystemen
Die Bewegung von rotierenden Objekten (z. B. Kreiseln) und sind c0 D .0; 0; 0/> . Somit rotiert B zusammen mit dem Punkt
von Punktmassen in rotierenden Bezugssystemen (z. B. auf der c relativ zu S. Die Erdrotation wird in S durch die Winkelge-
Erdoberfläche) spielt eine wichtige Rolle in der Physik. So wird schwindigkeit ! beschrieben, die in (2.52) definiert wurde. Das
beispielsweise das Klima entscheidend durch die Rotation der Koordinatensystem B sei weiterhin so definiert, dass die Achse
Erde beeinflusst. Tropische Stürme wie Hurrikane oder Taifune eO 03 senkrecht von der Erdoberfläche weg zeigt. Dies hat zur Fol-
könnten nicht entstehen, wenn die Erde nicht rotieren würde. ge, dass der Erdmittelpunkt von B aus gesehen stets am festen
Ort b0 D jb0 j eO 03 liegt und bP 0 D bR 0 D 0 gilt. Die Koordi-
Das zweite Newton’sche Axiom gilt in seiner bisher bekannten natensysteme S und B und die Drehachse ! sind in Abb. 2.8
Form in (2.41) nur in Inertialsystemen, also in unbeschleunigten dargestellt.
Bezugssystemen. Es kann auch in Nichtinertialsystemen for-
muliert werden, wobei es jedoch seine Kovarianz verliert und Frage 14
zusätzliche Terme berücksichtigt werden müssen. Im Folgenden Machen Sie sich klar, dass die beiden Vektoren c, der in S von O
werden die Bewegungsgleichungen in rotierenden Bezugssyste- nach O0 zeigt, und b0 , der in B von O0 nach O zeigt, die gleiche
men am Beispiel der rotierenden Erde diskutiert. Dies ist jedoch Länge haben: jb0 j D jcj. Überlegen Sie sich weiterhin, dass b0
keine Einschränkung der Allgemeinheit, da die Erde durch jedes in B fest, c in S aber eine Funktion der Zeit ist.
andere rotierende Objekt ersetzt werden kann. Die Rechnungen
zeigen, dass in rotierenden Bezugssystemen Scheinkräfte, ins-
besondere die Zentrifugal- und die Coriolis-Kraft, auftreten.
In diesem Abschnitt werden alle Vektoren in B konsequent als
gestrichene Größen geschrieben. Obwohl dies im ersten Mo-
ment als umständlich erscheinen mag, so ist dies doch von
Aufstellen der Bewegungsgleichungen großem Vorteil: Es ist stets auf einen Blick zu erkennen, welche
Vektoren in welchem der beiden Koordinatensysteme (S und B)
gemeint sind. Dadurch werden von Anfang an Doppeldeutigkei-
Wir wählen zunächst ein ungestrichenes kartesisches Inertial- ten vermieden.
system S, in dessen Ursprung O der Mittelpunkt der rotierenden
Erde liegt. Die Koordinaten dieses Punktes im ungestrichenen Im Folgenden betrachten wir das Transformationsverhalten ei-
System sind b D .0; 0; 0/> . Ein gestrichenes, ebenfalls kar- nes ungebundenen Vektors d D x  b, wobei x der beliebige Ort
tesisches Koordinatensystem B sei mit einem Punkt c an der einer Punktmasse ist. Somit ist d die relative Lage der Punkt-
Oberfläche der Erde verbunden. Dabei soll c den Ursprung O0 masse zum Erdmittelpunkt von S aus gesehen und d0 derselbe
von B bilden, d. h., die Koordinaten im gestrichenen System Vektor von B aus gesehen. Aus der zweiten Zeitableitung von d
68 2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme

in (2.74) folgt mit b D 0, bP 0 D 0 und bR 0 D 0 sofort wobei F0ext D RFext die gedrehte Kraft in B ist (siehe (2.43)).
Wir schreiben die Gleichung noch um, indem wir allein den
Teil I

P 0 .x0 b0 /C2!0  xP 0 C!0 .!0 .x0 b0 //: (2.75)


RRx D xR 0 C ! Term mRx0 auf eine Seite der Gleichung bringen.

Achtung Es ist zu betonen, dass es sich bei der Erddrehung Scheinkräfte in rotierenden Bezugssystemen
um eine aktive, d. h. physikalische Drehung handelt: Ein Punkt Auf eine Punktmasse am Ort x0 in einem mit !0 rotieren-
auf der Erdoberfläche ändert seine Lage relativ zu S. Die Dreh- den Bezugssystem B wirken äußere Kräfte und Schein-
matrix R.t/, die S nach B überführt, beschreibt eine passive kräfte. Die Bewegungsgleichung für eine Punktmasse in
Drehung des Koordinatensystems wie zu Beginn dieses Kapitels B lautet
beschrieben. Allerdings wird in diesem Fall R.t/ gerade so ge-
wählt, dass das Koordinatensystem B genau mit einem Fixpunkt mRx0 D F0ext  m!
P 0  .x0  b0 /  2m!0  xP 0
c.t/ auf der Erdoberfläche mitrotiert. Dies ist keine Notwen- (2.80)
 m!0  !0  .x0  b0 / :
digkeit, vereinfacht die mathematische Beschreibung allerdings
grundlegend, da das somit gewählte Koordinatensystem B ei-
Der Vektor b0 zeigt vom Ursprung von B zum Drehzen-
nem Laborsystem auf der Erdoberfläche entspricht. Somit ist
trum.
R.t/ eine Funktion von c.t/. J

Kreisbahn und Winkelgeschwindigkeit Gleichung (2.80) ist die Verallgemeinerung des zweiten New-
ton’schen Axioms auf rotierende Bezugssysteme und reduziert
sich für !0 D 0 auf seine ursprüngliche Form in Inertial-
Wir wollen untersuchen, mit welcher Geschwindigkeit
systemen (2.41). Offenbar ist ein in S kräftefreies Teilchen in
sich ein Punkt auf der Erdoberfläche von S aus betrachtet
B beschleunigt. Man nennt die drei übrigen Terme in (2.80)
bewegt, wenn sich die Erde mit der Winkelgeschwindig-
Scheinkräfte, die in Kürze genauer untersucht werden. Der Be-
keit ! dreht. Ausgehend von (2.54) fordern wir zunächst
griff Scheinkraft kommt daher, dass sie für einen Beobachter
dP 0 D 0, da sich der Punkt auf der Erdoberfläche befinden
im Inertialsystem nicht auftritt und daher scheinbar nicht exis-
soll und somit in B ruht. Es folgt sofort
tiert.
dP D !  d: (2.76) Scheinkräfte sind reale Kräfte, die durch die Transformation in
ein beschleunigtes Bezugssystem auftreten und ihren physikali-
Legt man zur Vereinfachung die Ursprünge von S und B schen Ursprung in der Trägheitskraft mRx haben. Das Auftreten
in den Erdmittelpunkt, ist b D b0 D 0 und von Scheinkräften zeigt an, dass ein Bezugssystem kein Inter-
tialsystem ist. Alle Scheinkräfte sind proportional zur trägen
xP D !  x: (2.77) Masse, während die Schwerkraft proportional zur schweren
Masse ist. Wie bereits in Kap. 1 erwähnt, fordert Einsteins Äqui-
Diese wichtige Gleichung wird in der Mechanik häufig valenzprinzip der allgemeinen Relativitätstheorie, dass schwere
verwendet: Die momentane Bahngeschwindigkeit xP einer und träge Massen äquivalent sind.
Punktmasse kann direkt aus dem Abstandsvektor x zum
Hierdurch wird deutlich, dass die Gesetze der Mechanik in
Drehzentrum und der Winkelgeschwindigkeit ! berech-
rotierenden Bezugssystemen zwar formulierbar, aber in der
net werden. Bewegt sich die Punktmasse mit konstanter
Regel deutlich aufwendiger zu lösen sind, da die Koordinaten-
Winkelgeschwindigkeit auf einer Kreisbahn, finden wir
achsen selbst zeitabhängig werden. Dennoch hat es für viele
das korrekte Ergebnis
Anwendungen Vorteile, die Bewegungsgleichungen in rotieren-
2 r U den Bezugssystemen zu diskutieren, da die Gleichungen dort
VD D (2.78) unter Umständen eine einfachere Form annehmen können. Dies
T T werden wir in Kap. 4 noch ausnutzen.
für die Bahngeschwindigkeit, wobei r und U Radius und
Umfang der Bahn und T die Umlaufdauer sind. J
Klassifikation der Scheinkräfte
Gleichung (2.75) beschreibt die Beschleunigung xR 0 einer Punkt-
masse im erdfesten System B. Fasst man mRx, also die Beschleu- Die Scheinkräfte in (2.80) haben drei Beiträge:
nigung der Punktmasse in S, als eine externe Kraft Fext D mRx,
1. Die Kraft m!P 0  .x0  b0 / taucht nur auf, wenn die Winkel-
auf, so lautet die Bewegungsgleichung in B
geschwindigkeit !0 sich in B ändert. Die Rotation der Erde
wird in guter Näherung durch !0 D const und ! D const
F0ext D mRx0 C m!
P 0  .x0  b0 / C 2m!0  xP 0 beschrieben. Ausnahmen bilden die Präzession und die Pol-
(2.79)
C m!0  !0  .x0  b0 / ; schwankungen. Erstere beschreibt eine Änderung von ! im
2.4 Kräfte in rotierenden Bezugssystemen 69

Inertialsystem, letztere eine Änderung von !0 im erdfesten b3


e
System. Im weiteren Verlauf dieses Abschnitts nehmen wir

Teil I
an, dass !0 konstant ist.
! O
2. Der Term
F0C WD 2m!0  xP 0 (2.81)
l
heißt Coriolis-Kraft (nach dem französischen Mathemati- b
ker und Physiker Gaspard Gustave de Coriolis, 1792–1843)
und führt zu seitlichen Ablenkungen von sich bewegenden θ ϑ
Punktmassen in B. Diese Kraft steht senkrecht auf !0 und xP 0 O
und verschwindet für Bewegungen parallel zur Drehachse O
!0 .
3. Der dritte Term ist die Zentrifugalkraft:

F0Z WD m!0  !0  .x0  b0 / : (2.82)

Abb. 2.9 Darstellung der Erddrehung, wie sie ein Beobachter am Punkt O0 auf
Bedeutung der Zentrifugalkraft der Erdoberfläche sieht. Die Zentrifugalkraft ist entlang des Vektors l0 gerichtet,
der senkrecht von der Drehachse !0 zum Ursprung O0 von B zeigt. Somit weist
und Erdabplattung die Richtung der Zentrifugalkraft stets von der Drehachse fort. Die geografische
Breite # misst den Winkel zwischen dem Ursprung von B und dem Äquator

Die Zentrifugalkraft F0Z in (2.82) besteht aus zwei Beiträgen.


Der zweite kann mit b0 D jb0 j eO 03 und der Vektoridentität a 
.b  c/ D b.a  c/  c.a  b/ in die Form ist aber für die Geodäsie, d. h. für die Vermessung der Erde, von
entscheidender Wichtigkeit. Der Basisvektor eO 03 ist dann so de-
m!0  .!0  b0 / D m .!0  !0 /b0  !0 .!0  b0 / finiert, dass g0eff D geff eO 03 gilt. Es sei noch angemerkt, dass
 der Erdkörper nicht homogen ist (Berge, Erzvorkommen etc.).
!0 .!0  eO 03 /
D mb! 2 eO 03  (2.83) Dies führt zu einer Schwereanomalie an der Erdoberfläche, d. h.
!2
der lokalen Abweichung der Erdbeschleunigung vom erwarte-
D m! 2 l0 ten Mittelwert.

gebracht werden, wobei b D jb0 j und ! D j!0 j sind. Hierbei ist Frage 15
l0 der senkrechte Abstand des Ursprungs O0 von der Drehachse
Überlegen Sie sich, dass g0eff im Allgemeinen nicht direkt zum
!0 und erfüllt
Erdmittelpunkt zeigt. Für viele Anwendungen ist die damit ver-
bundene Abweichung allerdings vernachlässigbar.
l D jl0 j D b sin D b cos #: (2.84)

Die beiden Winkel und # D =2  werden in Abb. 2.9


definiert. Bei # handelt es sich um die geografische Breite, die Der erste Term der Zentrifugalkraft in (2.82), m!0  .!0 
vom Äquator aus gemessen wird. x0 /, spielt nur eine Rolle, wenn sich die Punktmasse m nicht
Offensichtlich zeigt m! 2 l0 stets senkrecht von der Drehachse im Ursprung von B befindet. Ist jx0 j jb0 j, d. h. der Abstand
fort und ist unabhängig von der Lage x0 der Punktmasse in B, der Punktmasse zum Ursprung von B, klein im Vergleich zum
aber proportional zu ihrer Masse m. Dieser Term lässt sich daher Erdradius, so kann dieser Term von F0Z gegenüber dem zweiten
als effektiver Beitrag zur Erdbeschleunigung auffassen, indem vernachlässigt werden, und es gilt in guter Näherung
man
g0eff WD g0  ! 2 l0 (2.85) F0Z m!0  .!0  b0 / D m! 2 l0 : (2.86)

definiert. Da der Betrag von l0 mit der geografischen Breite #


variiert, ist die effektive Erdbeschleunigung entlang der Erd- Dies ist in vielen Anwendungen der Fall.
oberfläche nicht konstant. Sie ist an den Polen am größten, da
Achtung Befindet sich die Punktmasse m weit oberhalb der
sie dort nicht durch die Zentrifugalkraft abgeschwächt wird. Am
Erdoberfläche, so legt man den Ursprung von B häufig nicht auf
Äquator wirkt die maximale Zentrifugalkraft, und die effektive
die Erdoberfläche, sondern direkt an den Ort der Punktmasse.
Erdanziehung ist kleiner.
Somit wird per Definition x0 D .0; 0; 0/> , und jb0 j ist der Ab-
Aufgrund der Zentrifugalbeschleunigung ! 2 l0 hat die Erde eine stand der Punktmasse zum Erdmittelpunkt. Wir werden diese
leicht abgeplattete Form. Der Erdradius ist an den Polen kleiner Wahl von B noch verwenden, um Satelliten auf Kreisbahnen zu
als am Äquator. Der relative Unterschied beträgt nur rund 0,3 %, beschreiben. J
70 2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme

Bedeutung der Coriolis-Kraft


und Foucault’sches Pendel
Teil I

Die Koordinatenachsen im erdfesten System B seien so defi-


niert, dass eO 01 nach Süden und eO 02 nach Osten zeigen. Wie vorher
festgelegt, weist eO 03 nach oben. Der Ursprung von B befinde sich
bei der geografischen Breite # (Abb. 2.9). Die Winkelgeschwin-
digkeit lautet dann von B aus gesehen
0 1
 cos #
!0 D ! @ 0 A : (2.87)
sin #

Frage 16
Abb. 2.10 Der Hurrikan Isabel richtete im Jahre 2003 große Schäden im Nord-
Machen Sie sich aus der Geometrie klar, dass (2.87) die Dreh- atlantikraum an. Ohne die Drehung der Erde um ihre Achse und die damit
achse der Erde in B beschreibt. Berücksichtigen Sie dabei, dass verbundene Coriolis-Kraft könnten keine tropischen Wirbelstürme entstehen: Be-
sich die Erde „nach Osten“ dreht. wegt sich eine Luftmasse von einem Hochdruck- auf ein Tiefdruckgebiet zu, wird
sie durch die Coriolis-Kraft seitlich abgelenkt. Auf der Nordhalbkugel führt dies
zu einem Wirbel, der sich im Gegenuhrzeigersinn dreht (© NASA)
Die Winkelgeschwindigkeit lässt sich in Komponenten senk-
recht und tangential zur Erdoberfläche zerlegen:
0 1 0 1 in der Ebene der Erdoberfläche statt, so lauten die relevanten
0 ! cos # Komponenten der Bewegungsgleichung
!0? D @ 0 A ; !0k D @ 0 A: (2.88)
! sin # 0 mRx01  2m! xP 02 sin # D F10 ;
(2.91)
mRx02 C 2m! xP 01 sin # D F20 :
Folglich hat die Coriolis-Kraft in (2.81) zwei Komponenten:
Ist die Punktmasse m an einem langen Faden der Länge l auf-
F0C D 2m.Px0  !? / C 2m.Px0  !0k /: (2.89)
gehängt und wirkt lediglich die Gravitationsbeschleunigung geff
Der zweite Term führt bei einer Bewegung auf der Erdober- auf m, so sind die Kräfte durch
fläche zu einer aufwärts oder abwärts gerichteten Kraft und F10 mgeff ıx01 =l;
schwächt die Gravitationskraft ab oder verstärkt sie. Der erste (2.92)
Term führt bei einer Bewegung auf der Erdoberfläche zu einer F20 mgeff ıx02 =l
seitlichen Ablenkung, auf der Nordhalbkugel stets nach rechts, gegeben. Hier beschreiben ıx01 und ıx02 die seitliche Auslenkung
auf der Südhalbkugel stets nach links relativ zur Richtung von der Masse entlang der eO 01 - und eO 02 -Achsen. Gleichung (2.91)
xP 0 . Diese seitlich gerichtete Kraft ist von wesentlicher Bedeu- und (2.92) bilden zusammen die Bewegungsgleichungen für das
tung für Stürme (Abb. 2.10), Meeresströmungen und Ballistik. Foucault’sche Pendel (nach dem französischen Physiker Jean
Bernard Léon Foucault, 1819–1868), dessen Pendelebene sich
Frage 17
mit der Winkelgeschwindigkeit ! sin # relativ zum Erdboden
Naiv könnte man annehmen, dass sich Wirbelstürme auf der
dreht (Abb. 2.11), wie wir in Kap. 6 sehen werden. Demnach
Nordhalbkugel im Uhrzeigersinn drehen, da dort Massen bei ih-
beobachtet man am Äquator keine Drehung der Pendelebene, an
rer Bewegung nach rechts abgelenkt werden. Tatsächlich ist der
den Polen ist sie jedoch maximal. Die Erde dreht sich sozusa-
Drehsinn jedoch genau anders herum. Begründen Sie dies. Dazu
gen unter der Pendelebene hinweg, was man sich insbesondere
muss man wissen, dass Stürme durch Tiefdruckgebiete erzeugt
an den Polen (# D 90ı ) leicht vorstellen kann.
werden. Luftmassen bewegen sich anfänglich radial in Richtung
des niedrigeren Druckes im Zentrum und werden dabei durch Frage 18
die Coriolis-Kraft zu einer Rotation gezwungen.
Überprüfen Sie die Gültigkeit von (2.91) und (2.92).

Wir haben bereits in (2.85) gesehen, dass die Zentrifugalkraft in


eine effektive Erdanziehungskraft absorbiert werden kann. Da-
mit lautet die Bewegungsgleichung (2.80) in vereinfachter Form Freier Fall auf rotierender Erde
mRx0 C 2m!0  xP 0 D F0 ; (2.90)
Eine Punktmasse m wird zur Zeit t D 0 von der Höhe h über der
0
wobei F sowohl externe Kräfte (wie die Gravitation der Er- Erdoberfläche fallen gelassen. Ihre Geschwindigkeit ist anfangs
de) als auch die Zentrifugalkraft enthält. Findet die Bewegung xP 0 D 0. Würde sich die Erde nicht drehen, so würde, ein Fall
2.4 Kräfte in rotierenden Bezugssystemen 71

Somit erfährt die Punktmasse während des Falles eine Be-


schleunigung
0 01 0 1

Teil I
xR 1 0
@xR 02 A D  @2Px03 ! cos # A : (2.94)
xR 03 geff

Achtung Zur Vereinfachung wurde hierbei vernachlässigt,


dass die Beschleunigung der Punktmasse nach Osten und die
damit verbundene Geschwindigkeit xP 02 ebenfalls eine Coriolis-
Kraft hervorruft. Warum können wir das machen? Der Grund
ist, dass die Coriolis-Kraft F, die auf eine sich mit der Ge-
schwindigkeit v bewegende Punktmasse wirkt, von der Grö-
ßenordnung F  v ! ist. Die Winkelgeschwindigkeit ! der
Erddrehung ist eine kleine Größe. Wird die Geschwindigkeit
v selbst durch eine Coriolis-Kraft erzeugt (wie es hier bei der
Bewegung nach Osten der Fall ist), so ist sie von der Größenord-
nung F  ! 2 , was gegenüber den anderen wirkenden Kräften
(Gravitation, Coriolis-Kraft nach Osten) vernachlässigt werden
kann. Dies ist ein typisches Beispiel für eine physikalische
Vorgehensweise, bei der unwichtige von wichtigen Effekten
getrennt werden. Nur so lassen sich die Gleichungen einfach
(wenn auch nicht vollständig exakt) aufintegrieren. J
Zunächst lässt sich die x03 -Komponente von (2.94) einmal nach
Abb. 2.11 Foucault-Pendel im Wissenschaftsmuseum in Valencia, Spanien. Die der Zeit integrieren. Die Fallgeschwindigkeit
Coriolis-Kraft verursacht eine Drehung der Bahnebene des Pendels. Dadurch wer-
den nach und nach die Stäbe auf dem Holzring umgeworfen (© Ciudad de las xP 03 D geff t (2.95)
Artes y las Ciencias. Generalitat Valenciana)
wird in erster Näherung durch die Coriolis-Kraft nicht beein-
flusst. Die Lösung dieser Gleichung ist
1
aus geringer Höhe vorausgesetzt, die Masse mit der konstanten x03 .t/ D h  geff t2 : (2.96)
Erdbeschleunigung 2
Hier wurden die Anfangsbedingungen x03 .0/ D h und xP 03 .0/ D 0
0 1 verwendet. Zur Vereinfachung führen wir mit s WD h  x03 die
0
g0 D @ 0 A (2.93) durchfallene Strecke ein. Einsetzen von (2.95) in (2.94) führt
g auf die Bewegungsgleichung

xR 02 D 2!geff t cos # (2.97)

nach unten (entlang der eO 03 -Achse) beschleunigt werden. Wir und somit
1
nehmen an, dass die durch die Rotation der Erde verursach- x02 D !geff t3 cos #: (2.98)
te Zentrifugalbeschleunigung bereits in eine effektive Erdbe- 3
schleunigung geff absorbieren würde. Die Coriolis-Kraft führt Die Anfangsbedingungen für x02 sind x02 .0/ D xP 02 .0/ D 0. Elimi-
allerdings zu einer seitlichen Ablenkung der Punktmasse, und niert man t zugunsten von s, findet man schließlich die östliche
zwar stets nach Osten. Ablenkung als Funktion der durchfallenen Strecke:
s
Dies kann man sich anschaulich so vorstellen, dass die Punkt- 0 2 2s3
x2 D ! cos #: (2.99)
masse an einem Punkt startet, der sich oberhalb der Erdoberflä- 3 geff
che befindet und sich – in S betrachtet – daher schneller um den
Erdmittelpunkt dreht als die Erdoberfläche. Diesen tangentialen Frage 19
Geschwindigkeitsüberschuss nimmt die Punktmasse aufgrund Würde eine Masse von der Spitze des Burj Khalifa in Dubai
ihrer Trägheit mit, sodass sie – in B beobachtet – nach Osten, (h D 820 m, # D 25ı ) fallen gelassen, wäre die östliche Ab-
also in die Drehrichtung der Erde, abgelenkt wird (Abb. 2.12). lenkung am Erdboden unter Annahme von geff D 9;8 m=s2 und
Umgekehrt wird eine Rakete, die nach oben beschleunigt wird, ! D 2 =86:400 s etwa 46 cm. Rechnen Sie dies nach.
nach Westen abgelenkt.
72 2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme

a b
t=0
b3
Teil I

t = th h
O  (0) h

O b2
e
O  (th ) ΔO

ΔO

Abb. 2.12 Ein Objekt fällt auf der rotierenden Erde von einem Turm der Höhe h. In a ist die Bahnkurve dargestellt, wie sie im Inertialsystem erscheint. Da die
Bahngeschwindigkeit auf dem Turm größer ist als auf der Erdoberfläche, kommt es zu einer Ostabweichung. Dieselbe Situation ist in b aus dem mitrotierenden
Bezugssystem gezeigt

Satellit
aufweisen muss, damit er auf der Kreisbahn mit Radius r
Wir betrachten einen Satelliten der Masse m auf einer verweilt. Ist seine Geschwindigkeit kleiner, nähert er sich
Kreisbahn um die Erde und wählen den Ursprung O0 von der Erde. Ist sie größer, entfernt er sich von ihr. Die Sa-
B so, dass O0 mit dem Ort des Satelliten zusammenfällt. tellitenbahnen sind in Abb. 2.13 dargestellt.
Somit sind x0 D 0 und xP 0 D 0, d. h., es gibt keine Co-
riolis-Kraft. Offensichtlich kann der Satellit nur auf der
Kreisbahn verweilen, wenn keine Nettokraft in B auf ihn
FZ
wirkt. Dies bedeutet, dass sich die Zentrifugal- und die
Gravitationskraft stets genau aufheben müssen. Da bei- FG
de Kräfte in radialer Richtung wirken, ist es ausreichend,
den Betrag zu betrachten. V < VK V = VK V > VK

Achtung An dieser Stelle rotiert B zwar ebenfalls um r


die Erde, aber nicht mit einem Punkt, der an die Erd-
oberfläche gebunden ist. Der Satellit könnte prinzipiell in
jede beliebige Richtung um die Erde kreisen, unabhängig
von der Rotation der Erde. Dennoch bleibt (2.80) gültig,
wobei !0 durch die Winkelgeschwindigkeit des Satelliten
um die Erde ersetzt werden muss. J
Die Gravitationskraft im Abstand r vom Erdmittelpunkt
ist
GMm
FG D  2 : (2.100)
r
Wie gewohnt sind G und M die Gravitationskonstante und Abb. 2.13 Ein Satellit kann sich auf einer Kreisbahn mit Radius r um
die Erdmasse. Die Zentrifugalkraft lautet p Erde bewegen, wenn seine Bahngeschwindigkeit V gerade VK D
die
GM=r beträgt. In diesem Fall heben sich Zentrifugal- und Gravitati-
V2 onskraft auf. Die Drehachse ! der Satellitenbahn zeigt senkrecht in die
FZ D m! 2 r D m ; (2.101) Papierebene hinein und hat nichts mit der Drehachse der Erde zu tun
r
wobei V D !r die Bahngeschwindigkeit des Satelliten in
S ist, was aus (2.77) folgt. Aus FG C FZ D 0 ergibt sich, Die entsprechenden Bewegungsgleichungen werden in
dass ein Satellit die Bahngeschwindigkeit Kap. 3 aufgestellt und gelöst. Es wird sich dabei her-
r ausstellen, dass die Kreisbahn nur eine von mehreren
GM möglichen Satellitenbahnen ist. In Aufgabe 2.4 wird der
VK D (2.102) geostationäre Satellit behandelt. J
r
2.5 Nichtkartesische Koordinatensysteme 73

2.5 Nichtkartesische Hier sind die dxi die Abstände entlang der drei Koordina-
tenachsen. Da das Koordinatensystem kartesisch ist und die
Koordinatensysteme

Teil I
Einheitsvektoren paarweise orthogonal sind, ist der quadrati-
sche Abstand ds2 über den Satz von Pythagoras gegeben:
In diesem Abschnitt werden weitere mathematische Grundlagen ds2 D dx21 C dx22 C dx23 : (2.104)
besprochen, die für die theoretische Physik von entscheiden-
der Bedeutung sind: nichtkartesische Koordinatensysteme und
Was passiert aber, wenn man in ein krummliniges Koordi-
ihre Auswirkungen auf die Differenzialoperatoren. Dabei liegt
natensystem übergeht? Nun müssen die drei Koordinaten xi
der Schwerpunkt vor allem auf den Zylinderkoordinaten und
als Funktion der neuen Parameter qj formuliert werden: xi D
den sphärischen Polar- bzw. Kugelkoordinaten. Diese Koordi-
xi .q1 ; q2 ; q3 /. Hier und im restlichen Verlauf des Abschnitts
natenysteme werden gewöhnlich verwendet, wenn das zugrunde
beschränken wir uns auf orthogonale Koordinatensysteme, bei
liegende physikalische Problem eine Zylinder- bzw. eine Kugel-
denen die Basisvektoren an jedem Punkt paarweise orthogonal
symmetrie aufweist. In der Regel vereinfachen sich in diesen
sind, d. h. eO 0i  eOj0 D ıij . In solchen Fällen gilt lokal wieder der
Fällen die Bewegungsgleichungen gegenüber den Gleichungen
Satz von Pythagoras, und man kann sich überlegen, dass der
in ihrer kartesischen Form.
quadratische Abstand die Form
ds2 D .h1 dq1 /2 C .h2 dq2 /2 C .h3 dq3 /2 (2.105)
Krummlinige Koordinatensysteme annimmt. Die drei Größen hi dqi spielen dabei die Rolle des Ab-
stands entlang der drei neuen Koordinatenachsen eO 0i . Es gilt
Kartesische Koordinatensysteme zeichnen sich dadurch aus, 3  
dass alle drei Basisvektoren paarweise orthogonal sind und X @xj 2
h2i D .1  i  3/; (2.106)
nicht vom Ort abhängen. In solchen Koordinatensystemen las-
jD1
@qi
sen sich drei raumfeste Koordinatenebenen einführen, in denen
jeweils eine Koordinate konstant ist (x1 in der x2 -x3 -, x2 in der was sich aus dem Kasten „Vertiefung: Die Metrik und ihre Be-
x1 -x3 - und x3 in der x1 -x2 -Ebene). In einer Vielzahl physikali- deutung in der Physik“ ergibt. Dies hat Auswirkungen auf die
scher Systeme sind jedoch physikalische Größen auf Flächen Formulierung des Gradienten einer Funktion in den neuen Ko-
konstant, die zylinder- oder kugelförmig sind. Ein Beispiel ist ordinaten.
das Gravitationsfeld einer Punktmasse: Dieses ist radialsymme-
trisch und hängt nur vom Abstand zu der Punktmasse ab; es
Gradient in allgemeinen Koordinatensystemen
hat somit Kugelsymmetrie. Kartesische Koordinaten lassen sich
dort für eine Beschreibung zwar verwenden, allerdings ist dies Der Gradient einer skalaren Funktion f hängt von der
ungeschickt und mathematisch wesentlich aufwendiger. Wahl des Koordinatensystems ab:
Koordinatensysteme lassen sich in der folgenden Weise verallge-  
@ @ @
meinern: Wir stellen uns drei zunächst beliebige Scharen von Ko- r f D eO 1 C eO 2 C eO 3 f
ordinatenflächen vor, die der Symmetrie des Problems angepasst @x1 @x2 @x3
 0  (2.107)
sind. Auf jeder dieser Fläche sei ein Parameter qi (i D 1; 2; 3) eO 1 @ eO 0 @ eO 0 @
D C 2 C 3 f:
konstant. Orte x im Raum werden dann dadurch angegeben, dass h1 @q1 h2 @q2 h3 @q3
man drei Koordinatenflächen so wählt, dass sie sich in x schnei-
den, und die zu ihnen gehörenden Parameter .q1 ; q2 ; q3 / als Ko-
ordinaten verwendet. Die Einheitsnormalenvektoren der Koor- Frage 20
dinatenflächen werden als neue Basisvektoren eO 0i (i D 1; 2; 3) Zeigen Sie, dass sich die rechte Seite von (2.107) im Spezial-
verwendet. Obwohl diese für Zylinder- und Kugelkoordinaten fall kartesischer Koordinaten auf die bekannte kartesische Form
paarweise orthogonal sind, muss dies nicht zwangsläufig der Fall reduziert.
sein. Im Allgemeinen sind die eO 0i Funktionen des Ortes.

Konstanz von räumlichen Abständen Zylinderkoordinaten

Der Abstand zweier Punkte im Raum ist eine skalare phy- Als erstes konkretes Beispiel beginnen wir mit Koordinaten
sikalische Größe und darf daher nicht von dem gewählten .q1 ; q2 ; q3 /, die sich für Systeme mit Zylindersymmetrie eignen.
Koordinatensystem abhängen. Man betrachte zwei infinitesimal Die ursprünglichen kartesischen Koordinaten seien .x1 ; x2 ; x3 /.
voneinander getrennte Punkte im euklidischen Raum mit dem Wir legen den Ursprung auf die Symmetrieachse des physi-
Abstandsvektor kalischen Systems. Die Symmetrieachse wird willkürlich als
Koordinatenachse eO 3 des alten kartesischen und eO z des neuen
ds D dx1 eO 1 C dx2 eO 2 C dx3 eO 3 : (2.103) Zylinderkoordinatensystems gewählt, d. h. eO z D eO 3 .
74 2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme

Vertiefung: Die Metrik und ihre Bedeutung in der Physik


Teil I

Das Konzept des metrischen Tensors oder der Metrik spielt Ist die Koordinatentransformation qi .xj / umkehrbar, d. h.,
immer dann eine große Rolle in der Physik, wenn man es mit lässt sich xj .qi / angeben, so lautet die Metrik
nichtkartesischen Räumen zu tun hat. Dies können gekrümm-
te Räume sein (die in der allgemeinen Relativitätstheorie be- @xk @xl
gij D ıkl :
handelt werden) oder flache Räume mit krummlinigen Ko- @qi @qj
ordinaten (wie Kugel- oder Zylinderkoordinaten). Die Auf-
gabe der Metrik ist es, Längen- und Winkelberechnungen in Im dreidimensionalen Raum kann man gij offensichtlich
dem entsprechenden Raum zur Verfügung zu stellen. Hier be- durch 3  3 Komponenten angeben, und es gilt
schränken wir uns allerdings nur auf flache Räume.
g11 D h21 ; g22 D h22 ; g33 D h23 :
Um besser zu verstehen, wie uns die Metrik hilft, betrachten
wir das quadratische Wegelement in kartesischen Koordina- Die drei Größen hi (i D 1; 2; 3) sind in (2.106) definiert.
ten x:
Für Kugelkoordinaten lauten die nicht verschwindenden Ele-
ds2 D ıij dxi dxj ; mente von gij beispielsweise
wobei ıij das Kronecker-Symbol ist und die Einstein’sche g11 D grr D 1; g22 D g# # D r2 ; g33 D g' ' D r2 sin2 #:
Summenkonvention verwendet wird. Für allgemeine Ko-
ordinatensysteme mit Koordinaten q0i .xj / im flachen Raum Die Metrik ist somit im Allgemeinen selbst koordinatenab-
schreibt man entsprechend hängig. Darum kann das Wegelement nur in differenzieller
ds2 D gij dqi dqj : Form angegeben werden. Um eine endliche Strecke zwi-
schen zwei Punkten A und B zu berechnen, muss entlang
Durch die Kettenregel kann man berechnen, wie die Metrik eines spezifizierten Weges integriert werden:
gij aussieht, denn das quadratische Wegelement ds2 ist in bei-
den Beschreibungen identisch (Längen hängen nicht von der ZB ZB q
Wahl der Koordinaten ab): s12 D ds D gij .qi / dqi dqj
@qi @qj Š A A
gij dqi dqj D gij dxk dxl D ıkl dxk dxl : ZtB q
@xk @xl
D gij Œqi .t/Pqi .t/Pqj .t/ dt:
Also wird die Metrik durch die Transformation von xi nach
qi definiert: tA

@qi @qj Im letzten Schritt wurde die Zeit als Bahnparameter verwen-
gij D ıkl :
@xk @xl det.

Die entsprechenden planaren Koordinatenebenen (q1 -q2 -Ebe- 1. Zylinderflächen: % 2 Œ0; 1/


nen) stehen dann senkrecht auf der Symmetrieachse und schnei- 2. gedrehte x1 -x3 -Halbebenen: ' 2 Œ0; 2 /
den diese im Abstand z WD q3 vom Ursprung. Der Abstand eines 3. x1 -x2 -Ebenen: z 2 .1; C1/
Punktes in der q1 -q2 -Ebene vom Schnittpunkt dieser Ebene mit
eO 3 sei % WD q1 .
Die drei Einheitsnormalenvektoren der Koordinatenflächen bil-
den die Basis eO % , eO ' und eO z . Ihr Zusammenhang mit den
Die zweite Schar von Koordinatenflächen zeichnet sich durch
kartesischen Einheitsvektoren lautet
die Konstanz von % aus: Die q2 -q3 -Flächen sind jeweils durch
alle Punkte definiert, die den Abstand % von der Symmetrieach- eO % D cos ' eO 1 C sin ' eO 2 ;
se haben. Somit haben diese Koordinatenflächen Zylinderform. eO ' D cos ' eO 2  sin ' eO 1 ; (2.108)
Die dritte Schar von Koordinatenflächen erhalten wir, indem
wir die x1 -x3 -Halbebene um den Winkel ' WD q2 um die eO 3 - eO z D eO 3 :
Achse drehen. Die somit gewählten Koordinatenflächen sind in Hier wurde zur besseren Lesbarkeit auf gestrichene Einheits-
Abb. 2.14 dargestellt. Ihr gemeinsamer Schnittpunkt hat die Ko- vektoren verzichtet. Anhand der Indizes lassen sich die zylindri-
ordinaten .q1 ; q2 ; q3 / D .%; '; z/. schen von den kartesischen Basisvektoren leicht unterscheiden.
Die drei Koordinatenflächen sind jeweils durch die Konstanz Achtung Die Koordinatenachsen eO % und eO ' in (2.108) hän-
eines Parameters definiert: gen vom Ort ab. Dies hat Auswirkungen auf Ableitungen und
2.5 Nichtkartesische Koordinatensysteme 75

a b
b3
e b3
e

Teil I
P ( , ϕ, z)

P
z

b1
e b2
e b1
e b2
e

Abb. 2.14 Veranschaulichung und Definition der Zylinderkoordinaten. In a sind die Flächen konstanter Zylinderkoordinaten gezeigt (gelb : % D const, blau :
' D const, rot : z D const). Jedes Tripel solcher Flächen schneidet sich in einem Punkt P, der durch die entsprechenden Werte .%; '; z/ dargestellt wird. Die
Relation (2.109) zwischen Zylinderkoordinaten und kartesischen Koordinaten lässt sich aus b ablesen

Differenzialoperatoren, wenn sie in Zylinderkoordinaten formu- und weiterhin gilt


liert werden. Wir werden in Kürze darauf zurückkommen. J
ds2 D ds2 D d%2 C %2 d' 2 C dz2 ; (2.112)
Frage 21
was aus (2.105) und (2.106) folgt. Der Gradient (2.107) wird in
Zeigen Sie, dass die drei Basisvektoren in (2.108) paarweise or-
Zylinderkoordinaten somit zu
thogonal sind.
@f 1 @f @f
r f D eO % C eO ' C eO z : (2.113)
@% % @' @z
Sind die Zylinderkoordinaten .%; '; z/ eines Punktes bekannt,
so lauten die entsprechenden kartesischen Koordinaten

x1 D % cos '; x2 D % sin '; x3 D z: (2.109)


Sphärische Polarkoordinaten

Ist ein physikalisches Problem kugelsymmetrisch, so bietet


Frage 22 sich eine Beschreibung durch sphärische Polar- bzw. Kugel-
Machen Sie sich die Gültigkeit von (2.108) und (2.109) anhand koordinaten .q1 ; q2 ; q3 / an. Die ursprünglichen kartesischen
von Abb. 2.14 klar. Koordinaten sind wieder .x1 ; x2 ; x3 /. Im ersten Schritt wird ei-
ne Schar von Kugelflächen mit Radius r WD q1 eingeführt, die
konzentrisch um den Ursprung angeordnet sind. Nun wird eO 3
Aus (2.109) folgt mit (2.106)
als beliebige Polachse gewählt. Eine zweite Schar von plana-
ren Koordinatenflächen ergibt sich aus einer Drehung der x1 -x3 -
h2% D cos2 ' C sin2 ' D 1;
Halbebene um die Achse eO 3 um den Winkel ' WD q3 . Als drit-
h2' D %2 sin2 ' C %2 cos2 ' D %2 ; (2.110) te Schar von Koordinatenflächen wählt man Kegelflächen um
h2z D 1: die eO 3 -Achse mit Öffnungswinkel # WD q2 . Eine entsprechende
Darstellung findet man in Abb. 2.15. Der Flächenschnittpunkt
Das Wegelement lautet also hat die Koordinaten .q1 ; q2 ; q3 / D .r; #; '/.
Wie bereits vorher bei den Zylinderkoordinaten sind die drei
ds D eO 1 dx1 C eO 2 dx2 C eO 3 dx3 Koordinatenflächen jeweils durch die Konstanz eines Parame-
(2.111)
D eO % d% C eO ' % d' C eO z dz; ters definiert:
76 2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme

a b
b3
e b3
e
Teil I

P P (r, ϑ, ϕ)

ϑ r

b1
e b2
e b1
e b2
e

Abb. 2.15 Veranschaulichung und Definition der Kugelkoordinaten. In a sind die Flächen konstanter Kugelkoordinaten gezeigt (gelb : r D const, rot : # D const,
blau : ' D const). Jedes Tripel solcher Flächen schneidet sich in einem Punkt P, der durch die entsprechenden Werte .r; #; '/ dargestellt wird. Die Relation (2.115)
zwischen Kugelkoordinaten und kartesischen Koordinaten lässt sich aus b ablesen

1. Kugelflächen: r 2 Œ0; 1/ was aus Abb. 2.15 abgeleitet werden kann. Daraus folgt mit
2. Kegelflächen: # 2 Œ0; / (2.106)
3. gedrehte x1 -x3 -Halbebenen: ' 2 Œ0; 2 /
h2r D cos2 ' sin2 # C sin2 ' sin2 # C cos2 # D 1;
Man kann zeigen, dass die Einheitsnormalenvektoren über
h2# D r2 cos2 #.cos2 ' C sin2 '/ C r2 sin2 # D r2 ; (2.116)
eO r D sin # cos ' eO 1 C sin # sin ' eO 2 C cos # eO 3 ;
eO # D cos # cos ' eO 1 C cos # sin ' eO 2  sin # eO 3 ; (2.114) h2' D r2 sin2 #.sin2 ' C cos2 '/ D r2 sin2 #
eO ' D cos ' eO 2  sin ' eO 1
und für das Wegelement
mit den kartesischen Basisvektoren zusammenhängen.
Achtung Auch für die Kugelkoordinaten hängen die Koordi- ds2 D dr2 C r2 d# 2 C r2 sin2 # d' 2 : (2.117)
natenachsen in (2.114) vom Ort ab. J
Der Gradient in sphärischen Polarkoordinaten lässt sich ausge-
Frage 23 hend von (2.107) daher in der Form
Zeigen Sie, dass die drei Basisvektoren in (2.114) paarweise or-
thogonal sind. @f 1 @f 1 @f
r f D eO r C eO # C eO ' (2.118)
@r r @# r sin # @'
Die Umrechnung von Kugelkoordinaten in kartesische Koordi-
naten erfolgt über darstellen. Für den speziellen Fall, dass die Funktion f nur von
r abhängt, f D f .r/, lautet der Gradient schlicht
x1 D r sin # cos ';
x2 D r sin # sin '; (2.115) df .r/
r f .r/ D eO r : (2.119)
x3 D r cos #; dr
2.5 Nichtkartesische Koordinatensysteme 77

Ortsabhängigkeit Auswirkungen auf die Differenzialoperatoren


der Einheitsnormalenvektoren

Teil I
Wir haben in (2.107) bereits gesehen, dass die Darstellung des
Wir haben bereits in (2.108) und (2.114) gesehen, dass – im Gradienten vom gewählten Koordinatensystem abhängt. Auch
Gegensatz zu kartesischen Koordinatensystemen – die Basis- die Divergenz und Rotation eines Vektorfeldes haben eine andere
vektoren vom Ort abhängen können. Dies hat zur Folge, dass bei Form, wenn das Koordinatensystem gewechselt wird (Großmann
der Berechnung von Ableitungen berücksichtigt werden muss, 2000). Wir betrachten einen abstrakten Vektor A mit Komponen-
dass die Basisvektoren nicht konstant sind. ten .A1 ; A2 ; A3 / in kartesischen bzw. .A01 ; A02 ; A03 / in krummlini-
gen Koordinaten. Dann lautet die allgemeine Vorschrift für die
Achtung Wie in Abschn. 2.3 und 2.4 diskutiert, ist die Zeit-
Divergenz in krummlinigen orthogonalen Koordinaten
abhängigkeit der Basisvektoren in rotierenden Systemen der
Grund für das Auftreten von Scheinkräften. Hier sprechen wir  
eO 01 @ eO 0 @ eO 0 @
allerdings nicht von rotierenden kartesischen, sondern von nicht div A D C 2 C 3 A
rotierenden nichtkartesischen Koordinatensystemen. J h1 @q1 h2 @q2 h3 @q3
 
1 @.h2 h3 A01 / @.h1 h3 A02 / @.h1 h2 A03 /
Wir berechnen zunächst die Ableitungen der Basisvektoren der D C C ;
Zylinderkoordinaten. Man kann sich ausgehend von (2.108) h1 h2 h3 @q1 @q2 @q3
(2.125)
leicht davon überzeugen, dass folgende Zusammenhänge gültig
wobei A nach den paarweise orthogonalen Basisvektoren ent-
sind:
wickelt wird:
@Oe% @Oe' @Oez
D 0; D 0; D 0; A D A01 eO 01 CA02 eO 02 CA03 eO 03 ; A0i D A eO 0i .i D 1; 2; 3/: (2.126)
@% @% @%
@Oe% @Oe' @Oez
D eO ' ; D Oe% ; D 0; (2.120) Wir führen an dieser Stelle die Rechnung, die auf die zweite
@' @' @' Zeile in (2.125) führt, nicht vor. Es handelt sich dabei im We-
@Oe% @Oe' @Oez sentlichen um Fleißarbeit ohne tieferen Einblick in die Physik
D 0; D 0; D 0:
@z @z @z des Problems. Der interessierte Leser kann gerne die Rechen-
schritte auf eigene Faust nachvollziehen.
Für die Geschwindigkeit einer Punktmasse gilt wegen (2.111)
zunächst Sowohl die drei Komponenten A0i als auch die drei Basisvekto-
xP D
ds
D %P eO % C %'P eO ' C zP eO z : (2.121) ren eO 0i sind in der Regel eine Funktion der drei Koordinaten qi .
dt Mithilfe der Kettenregel müssen dann alle Ableitungen berück-
Um die zweite Zeitableitung – also die Beschleunigung – zu sichtigt werden, was im Gegensatz zu einer kartesischen Basis
erhalten, müssen die Zeitableitungen der Basisvektoren berück- auf Zusatzterme der Form @Oe0i =@qj führt, die für Zylinderkoordi-
sichtigt werden. Dabei gilt wegen der Kettenregel beispielswei- naten bereits in (2.120) angegeben wurden.
se
dOe% @Oe% @Oe% @Oe% Frage 25
D %P C 'P C zP : (2.122) Zeigen Sie, dass die Divergenz von A in kartesischen Koordi-
dt @% @' @z
naten
Nutzt man die Ableitungen in (2.120) aus, so findet man nach @A1 @A2 @A3
kurzer Rechnung div A D C C (2.127)
@x1 @x2 @x3
 
xR D %R  %'P 2 eO % C .%'R C 2%P '/
P eO ' C zR eO z : (2.123) lautet. Gehen Sie dabei von (2.125) aus.

Der entsprechende Ausdruck für Kugelkoordinaten wird in Auf-


gabe 2.5 hergeleitet. Die Divergenz in Kugelkoordinaten ist bei vielen Rechnungen
in der Elektrodynamik wichtig.
Frage 24
Eine Punktmasse m bewegt sich in der Ebene z D 0 auf einer
Kreisbahn mit konstantem Radius % und konstanter Bahnge- Divergenz in Kugelkoordinaten
schwindigkeit v D !% D '%.
P Dann gilt wegen (2.123)
Für einen Vektor A mit der Darstellung .Ar ; A# ; A' / in
mRx D m%'P 2 eO % : (2.124) Kugelkoordinaten gilt

Dies ist gerade die Kraft, welche die Masse auf der Kreisbahn 1 @.r2 Ar / 1 @.sin #A# /
hält, z. B. die Gravitations- oder die Spannkraft in einem Fa- div A D C
r 2 @r r sin # @#
den. Zeigen Sie, dass dies genau der negativen Zentrifugalkraft (2.128)
1 @A'
m%! 2 eO % entspricht, die man ausgehend von Abschn. 2.4 für die- C :
r sin # @'
se Bewegung findet.
78 2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme

Die Rotation in nichtkartesischen Koordinatensystemen lautet rechnet werden:


allgemein  0 
eO 1 @ eO 0 @ eO 0 @
Teil I

f D C 2 C 3
h1 @q1 h2 @q2 h3 @q3
   0 
eO 01 @ eO 0 @ eO 0 @ eO 1 @ eO 02 @ eO 0 @
rot A D C 2 C 3 A  C C 3 f
h1 @q1 h2 @q2 h3 @q3 h1 @q1 h2 @q2 h3 @q3

eO 0 @.h3 A03 / @.h2 A02 / 1
D 1  D
h2 h3 @q2 @q3 h1 h2 h3
 
 (2.129) @ h2 h3 @ @ h1 h3 @ @ h1 h2 @
eO 02 @.h1 A01 / @.h3 A03 /  C C f:
C  @q1 h1 @q1 @q2 h2 @q2 @q3 h3 @q3
h1 h3 @q3 @q1
0  (2.131)
eO @.h2 A2 / @.h1 A01 /
0
C 3  : Hier gelten erneut die Anmerkungen wie zu Divergenz und Ro-
h1 h2 @q1 @q2 tation: Die Basisvektoren eO 0i hängen im Allgemeinen von den
Koordinaten qj ab, werden aber als paarweise orthogonal ange-
nommen.
Es gelten die gleichen Bemerkungen wie bei der Divergenz, ins-
besondere muss A wie in (2.126) entwickelt werden. Frage 26
Zeigen Sie, dass der Laplace-Operator, angewandt auf eine ska-
lare Funktion f in kartesischen Koordinaten,

Rotation in Kugelkoordinaten @2 f @2 f @2 f
f D C 2 C 2 (2.132)
@x12
@x2 @x3
Für einen Vektor A mit der Darstellung .Ar ; A# ; A' / in
Kugelkoordinaten gilt lautet. Gehen Sie dabei von (2.131) aus und nutzen Sie aus, dass
 die Basisvektoren konstant und paarweise orthogonal sind und
eO r @.sin #A' / @A
rot A D  vor die Ableitungen gezogen werden können.
r sin # @# @'

eO # 1 @Ar @.rA' /
C  (2.130) Der Laplace-Operator in Kugelkoordinaten wird in Aufgabe 2.6
r sin # @' @r
 abgeleitet.
eO ' @.rA# / @Ar
C  :
r @r @#
Laplace-Operator in Kugelkoordinaten
Der Laplace-Operator, angewandt auf eine skalare Funk-
tion f , hat in Kugelkoordinaten die Gestalt

Man erkennt an (2.130) direkt, dass die Rotation einer radi- 1 @ 2 @f


f D r
alsymmetrischen Zentralkraft verschwindet. Solch eine Kraft r2 @r @r
besitzt die Gestalt F.r/Oer . Da in (2.130) keine Ableitung von Ar (2.133)
1 @ @f 1 @2 f
nach r auftritt, muss in diesem Fall die Rotation stets null sein. C 2 sin C 2 2 :
r sin @ @ r sin @' 2
Damit sind all diese Kraftfelder konservativ, was wir bereits in
Kap. 1 gefunden haben.

Konkrete Berechnungen von Divergenz und Rotation können Häufig separiert man den Laplace-Operator in Kugelkoordina-
sehr langwierig sein. Dies sieht anders aus, wenn das Problem ten in der Form
beispielsweise kugelsymmetrisch ist und alle #- und '-Abhän- f D r f C  f ; (2.134)
gigkeiten verschwinden. wobei r die Radialableitungen und  alle Winkelableitun-
gen enthält. Ist ein Problem kugelsymmetrisch, d. h., gibt es
keine Winkelabhängigkeiten, reduziert sich (2.133) auf
Der Laplace-Operator  ist für die theoretische Physik von
entscheidender Bedeutung, da viele physikalische Gleichungen 1 @ 2 @f
(insbesondere in Feldtheorien) zweite Ortsableitungen in der f D r f D r : (2.135)
r2 @r @r
Form f D r 2 f D r  r f enthalten. Der Laplace-Operator
ist äquivalent zur Hintereinanderausführung von Gradient und Eine konkrete Anwendung des Laplace-Operators wird in Auf-
Divergenz und kann daher mit den Gleichungen, die wir bis gabe 2.7 diskutiert: Es ist dort das Gravitationsfeld innerhalb
hierhin gefunden haben, für allgemeine Koordinatensysteme be- und außerhalb der Erde zu berechnen.
Aufgaben 79

Aufgaben

Teil I
Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen

2.1 Orthogonale Transformationen Zeigen Sie, oberen Seilendes vom Erdmittelpunkt beschreibt. Wie groß
dass Längen von Vektoren und Winkel zwischen Vektoren unter ist rS ?
orthogonalen Transformationen invariant bleiben. Untersuchen
Sie dazu, wie ein Skalarprodukt a  b D ai bi transformiert. Ver-
wenden Sie hierbei die Einstein’sche Summenkonvention für
doppelt auftretende Indizes. 2.5 Beschleunigung in Kugelkoordinaten Be-
rechnen Sie die Beschleunigung einer Punktmasse in Kugelko-
2.2 Galilei-Transformation Es sind zwei Galilei- ordinaten. Orientieren Sie sich dabei an den Rechnungen, die
Q vQ 0 ; bQ 0 ; Qt0 / wie in (2.40)
Transformationen .R; v 0 ; b0 ; t0 / und .R; auf die Beschleunigung in Zylinderkoordinaten (2.123) geführt
gegeben. Berechnen Sie diejenige Galilei-Transformation, die haben.
sich ergibt, wenn beide hintereinander ausgeführt werden. Be-
stimmen Sie ausgehend von diesem Ergebnis die Inverse einer 2.6 Laplace-Operator in Kugelkoordinaten Be-
allgemeinen Galilei-Transformation. rechnen Sie den Laplace-Operator (2.131) in Kugelkoordinaten
und zeigen Sie somit (2.133). Hierfür sind Teilergebnisse von
2.3 Umgekehrtes Transformationsverhalten von Aufgabe 2.5 nützlich.
polaren Vektoren und ihren Zeitableitungen Zeigen Sie,
dass die umgekehrten Transformationsgleichungen in (2.74) aus 2.7 Gravitationsfeld der Erde Es ist das Gravitati-
(2.23), (2.54) und (2.73) folgen. Fangen Sie dabei mit d und d0 onsfeld .r/ D V.r/=m (m ist eine kleine Testmasse) im Innen-
an und überlegen Sie sich dann den entsprechenden Zusammen- und Außenraum der Erde zu berechnen. Wir nehmen hier an,
hang für dP und dP 0 . dass das Problem kugelsymmetrisch ist. Verfolgen Sie dazu die
2.4 Geostationärer Orbit Satelliten im geostatio- beiden folgenden Ansätze unabhängig voneinander.
nären Orbit um die Erde befinden sich in einer kreisförmigen
Umlaufbahn über dem Äquator und bewegen sich relativ zur (a) Man kann zeigen (ohne Beweis an dieser Stelle), dass bei
Erdoberfläche nicht. einer radialsymmetrischen Massenverteilung das Gravitati-
onsfeld bei Radius r nur von der Masse abhängt, die sich
(a) Leiten Sie die Bedingung für einen geostationären Orbit ab innerhalb einer Kugel mit ebendiesem Radius r befindet. Es
und berechnen Sie den notwendigen Abstand des Satelliten gilt dann
von der Erdoberfläche. Die nötigen Parameter (z. B. Erdmas-
se) finden sich in der Literatur. d GM< .r/
Fr D  .r/ D  : (2.137)
(b) Seit einigen Jahren wird die Möglichkeit diskutiert, einen dr r2
Orbitalaufzug zu bauen. Dabei handelt es sich im Wesent-
lichen um ein Seil, das vom Äquator senkrecht nach oben Dabei bezeichnet M< .r/ die Masse, die sich innerhalb einer
läuft. Die Gravitations- und die Zentrifugalkraft, die insge- Kugel mit Radius r befindet, und Fr ist die radiale Kompo-
samt auf das Seil wirken, heben sich dabei auf. Das Seil nente der Gravitationskraft, die zum Zentrum hin zeigt.
ist sozusagen ein geostationärer Satellit, der allerdings nicht (b) In Teil II werden sogenannte Feldgleichungen diskutiert. Mit
durch eine Punktmasse beschrieben werden kann. Man neh- den dort besprochenen Hilfsmitteln lässt sich zeigen, dass
me an, dass das Seil pro Längeneinheit dr eine konstante der Zusammenhang
Masse hat,
dm D  dr: (2.136)  .x/ D 4 G .x/ (2.138)
Stellen Sie eine Integralgleichung auf, die die Kräftebilanz
des gesamten Seiles beschreibt. Führen Sie dazu einen zu- zwischen Massendichte .x/ und Gravitationspotenzial .x/
nächst unbekannten Radius rS ein, der den Abstand des besteht. Aufgrund der Kugelsymmetrie bietet es sich an,
80 2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme

den Laplace-Operator  in Kugelkoordinaten zu verwen- eigneten Randbedingungen, um die Differenzialgleichungen


den. Weiterhin gelten dann die Relationen .x/ D .r/ und vollständig aufzuintegrieren. Zur Vereinfachung nehmen wir
Teil I

.x/ D .r/. weiterhin an, dass die Massendichte der Erde konstant ist:
.r/ D const.
Berechnen Sie sowohl aus (2.137) als auch aus (2.138) das
Gravitationspotenzial .r/. Berücksichtigen Sie dabei die ge-
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 81

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben

Teil I
2.1 Es ist zunächst der Zusammenhang zwischen dem trans- die direkt vom ungestrichenen zum doppelt gestrichenen Sys-
formierten Skalarprodukt a0i b0i und dem ursprünglichen Skalar- tem führt. Durch einen Vergleich findet man
produkt ai bi gesucht. Es sei S die Matrix, die eine orthogonale
Transformation vom ungestrichenen in das gestrichene System N D RR;
R Q
darstellt. Dann gelten a0i D Sij aj und b0i D Sij bj und somit vN 0 D v 0 C R> vQ 0 ;
  (2.146)
a0i b0i D Sij aj Sik bk : (2.139) bN 0 D b0 C R> bQ 0  vQ 0 t0 ;
Nt0 D Qt0 C t0 :
Hier muss das zweite Indexpaar j durch k ersetzt werden, da
Summationsindizes nicht häufiger als zweimal auf einer Seite Eine Galilei-Transformation gefolgt von ihrer Inverse muss als
einer Gleichung auftreten dürfen. Orthogonale Transformatio- .I; 0; 0; 0/ darstellbar sein. Dies führt zunächst auf
nen erfüllen aber gerade Sij Sik D ıjk . Es folgt sofort
Q D R>
R und Qt0 D t0 : (2.147)
a0i b0i D aj bk ıjk D aj bj D ai bi : (2.140)
Weiterhin gilt
Im letzten Schritt kann das Indexpaar j durch i ersetzt werden. vQ 0 D Rv 0 (2.148)
Dies ist möglich, da über diese Indizes summiert wird und sie und schließlich
noch nicht auf dieser Seite der Gleichung verwendet werden. bQ 0 D R .v 0 t0 C b0 / : (2.149)
Es dürfen stets nur beide Indizes eines Indexpaares gleichzeitig
durch ein anderes Indexpaar ersetzt werden.
2.3 Zunächst ist es trivial zu sehen, dass
Betrachtet man nun den Spezialfall bi D ai und b0i D a0i , so
folgt, dass die Länge eines Vektors invariant ist: d0 D Rd H) d D R> d 0 (2.150)

gilt. Im zweiten Schritt soll


ja0 j2 D a0i a0i D ai ai D jaj2 : (2.141)
 
dP 0 D R dP  !  d
Für den Winkel zwischen den Vektoren a und b gilt   (2.151)
H) dP D R> dP 0 C !0  d0
ab gezeigt werden. Dies ist gleichbedeutend mit der Identität
cos D : (2.142)
jajjbj
!0  d0 D R .!  d/ ; (2.152)
Da sowohl das Skalarprodukt im Zähler als auch die Beträ-
ge im Nenner invariant sind, muss auch cos und damit der deren Gültigkeit überprüft werden soll. Da !  d ein polarer
Winkel zwischen den Vektoren invariant sein. Eine orthogo- Vektor ist (denn das Kreuzprodukt eines axialen und eines po-
nale Transformation ist daher eine winkeltreue und längentreue laren Vektors ist wieder ein polarer Vektor), ist die Gültigkeit
Transformation. von (2.152) im Grunde schon gezeigt. Wir wollen dies aber an
dieser Stelle explizit überprüfen. Dazu schreiben wir die rechte
2.2 Wir schreiben zunächst Seite von (2.152) in Komponentenform:

x0 D R.x  v 0 t  b0 /; t0 D t  t0 ; rij jkl !k vl D rij blj vl D rij bjl vl : (2.153)


(2.143)
Q 0  vQ 0 t0  bQ 0 /;
x00 D R.x 00 0
t D t  Qt0 : Hier wurden ijk !k D bij sowie bij D bji verwendet. An dieser
Stelle kann die Identität in der Form ılm D rkl rkm eingeführt
Einsetzen von x0 und t0 in x00 und t00 ergibt werden:
Q R.x  v 0 t  b0 /  vQ 0 .t  t0 /  bQ 0 ;
x00 D R rij jkl !k vl D rij rkl bjl rkm vm D b0ik vk0 : (2.154)
00
(2.144)
t D t  .t0 C Qt0 /: Im letzten Schritt wurden die Transformationseigenschaften
von bjl und vm unter orthogonalen Transformationen ausgenutzt.
Dies vergleicht man mit einer dritten Galilei-Transformation, Schließlich ist
N  vN 0 t  bN 0 /;
x00 D R.x t00 D t  Nt0 ; (2.145)  b0ik vk0 D ikl !l0 vk0 D ilk !l0 vk0 ; (2.155)
82 2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme

was gerade die Komponentenschreibweise von !0  d0 ist. So- Seil kann nur als Ganzes beschleunigt werden. Daraus er-
mit ist auch der Zusammenhang zwischen dP und dP 0 gezeigt. Die gibt sich als Bedingung für das Orbitalseil:
Teil I

dritte Gleichung in (2.74) folgt wieder aus der Argumentation,


dass jede weitere Zeitableitung durch wiederholtes Anwenden ZrS  
GM
der zweiten Gleichung in (2.74) erhalten werden kann. !E2  r dr D 0: (2.161)
r3
rE
2.4
Nach ausgeführter Integration folgt
(a) Ein Satellit auf einer Kreisbahn ruht im korotierenden Be-
zugssystem und erfährt dort keine Kräfte. Dies bedeutet,  
1 1 1
dass sich die Gravitations- und die Zentrifugalkraft gerade GM  D !E2 .rS  rE /2
aufheben müssen. Es gibt keine Coriolis-Kraft. Wie bereits rE rS 2
(2.162)
in (2.102) gezeigt, lautet die Bahngeschwindigkeit des Sa- 2GM
H) D rE rS .rE  rS /:
telliten r !E2
GM
VD : (2.156)
r Diese in rS quadratische Gleichung kann direkt gelöst wer-
den:
Dabei ist r der Abstand des Satelliten zum Erdmittelpunkt.
Die Bahngeschwindigkeit und die Winkelgeschwindigkeit s s
des Satelliten erfüllen wegen (2.76) rE rE2 2GM rE rE2 2r3
rS D ˙ C 2 D ˙ C G
2 4 !E r E 2 4 rE
V D !E r; 0 s 1 (2.163)
(2.157)  3
1 1 rG
D rE @ ˙ C2 A:
da ! und x senkrecht aufeinander stehen. Somit ist der Ra- 2 4 rE
dius der geostationären Satellitenbahn durch
s Die negative Lösung ist ungültig, da rS > rE sein muss. We-
GM gen rG =rE 6;61 ist der numerische Wert somit ungefähr
rG D 3
(2.158)
!E2 rS D 24;5rE D 3,7rG D 157:000 km. Anstatt das Seil bis rS
zu verlängern, ist es auch denkbar, ein „hinreichend schwe-
gegeben. Damit der Satellit geostationär ist, muss ! der res Gegengewicht“ an einem Punkt oberhalb von rG am Seil
Winkelgeschwindigkeit der Erde entsprechen. Der Wert ist zu befestigen. Dem Leser ist es überlassen auszurechnen,
!E D 2 =86:400 s. Die Gravitationskonstante und die Erd- wie groß die „Gegenmasse“ sein muss, damit das Seil ins-
masse sind G D 6;67  1011 m3 kg s2 und M D 5;97  gesamt unbeschleunigt bleibt.
1024 kg. Somit ergibt sich ein Bahnradius von rund rG D
42:160 km. Zieht man den Erdradius (rE D 6380 km) ab,
2.5 Das Wegelement für Kugelkoordinaten lautet, ähnlich wie
findet man den Abstand von der Erdoberfläche: rG  rE D
(2.111):
35:780 km.
(b) Das gesamte Seil ruht im korotierenden Bezugssystem. Zen-
ds D eO r dr C eO # r d# C eO ' r sin # d': (2.164)
trifugal- und Gravitationskräfte heben sich nicht an jedem
Punkt des Seiles, sondern nur integriert über das gesamte
Deswegen gilt zunächst für die Geschwindigkeit einer Punkt-
Seil auf. Ein kleines Element des Seiles mit Abstand r zum
masse
Erdmittelpunkt erfährt die Kräfte
xP D rP eO r C r#P eO # C r sin # 'P eO ' : (2.165)
GM dr Es ist sinnvoll, im Folgenden die Ableitungen der Basisvektoren
dFG D ; dFZ D !E2 r dr: (2.159)
r2 zu berechnen. Diese folgen aus (2.114):
Die Differenz der Kräfte ist @Oer @Oe#
  D 0; D 0;
GM @r @r
dFZ  dFG D !E2  3 r dr: (2.160) @Oe' @Oer
r D 0; D eO # ;
@r @#
Wegen des Ergebnisses in der ersten Teilaufgabe sieht man, @Oe# @Oe'
dass die Differenz negativ ist, wenn r < rG ist. Für kleine D Oer ; D 0; (2.166)
@# @#
Abstände werden die Seilelemente daher in Richtung Erd- @Oer @Oe#
oberfläche beschleunigt. Für Seilelemente, die weiter von D sin # eO ' ; D cos # eO ' ;
@' @'
der Erde entfernt sind, überwiegt die Zentrifugalkraft: Sie
werden nach außen beschleunigt. Aufgrund der Seilspan- @Oe'
D .sin # eO r C cos # eO # /:
nung hängen allerdings alle Seilelemente zusammen. Das @'
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 83

Hieraus ergeben sich die Zeitableitungen der Basisvektoren. Für Es ist weiterhin zu beachten, dass der Laplace-Operator auf
eO r gilt Funktionen f .r; #; '/ anzuwenden ist. Um dies zu berücksichti-

Teil I
gen, schreiben wir eine beliebige Funktion f hin. Wir beginnen
dOer @Oer @Oer @Oer mit den Termen, bei denen links die r-Ableitung steht:
D rP C #P C 'P D #P eO # C 'P sin # eO ' : (2.167)
dt @r @# @'
eO r @ eO r @ @ @ @2
Analog hat man f D eO r eO r f D 2 f ;
hr @r hr @r @r @r @r
eO r @ eO # @ @ eO # @
dOe#
D #P eO r C 'P cos # eO ' ; f D eO r f D 0; (2.172)
dt hr @r h# @# @r r @#
(2.168) eO r @ eO ' @ @ eO ' @
dOe0' f D eO r f D 0:
D '.sin
P # eO r C cos # eO # /: hr @r h' @' @r r sin # @'
dt
Die Beschleunigung ist die Zeitableitung von (2.165): Nun betrachten wir die Terme, bei denen links die #-Ableitung
steht, und berücksichtigen dabei (2.166), in der die #-Ableitun-
dOer dOe# gen der Basisvektoren abgelesen werden können:
xR D rR eO r C rP C rP #P eO 0# C r#R eO # C r#P
dt dt
C rP sin # 'P eO ' C r cos # #P 'P eO ' (2.169) eO # @ eO r @
f D
eO # @ @
eO r f D
1 @
f;
dOe' h# @# hr @r r @# @r r @r
C r sin # 'R eO ' C r sin # 'P : eO # @ eO # @ eO # @ eO # @ 1 @2
dt f D f D 2 2f; (2.173)
h# @# h# @# r @# r @# r @#
Es müssen nun alle Zeitableitungen der Basisvektoren durch eO # @ eO ' @ eO # @ eO ' @
die entsprechenden Terme in (2.168) ersetzt werden. Eine etwas f D f D 0:
mühsame, aber unkomplizierte Sortierung nach den drei Basis- h# @# h' @' r @# r sin # @'
vektoren liefert letztlich
Es verbleiben noch die drei Terme, bei denen links die '-Ablei-
h  i
xR D eO r rR  r #P 2 C sin2 # 'P 2 tungen stehen:
h  i
C eO # 2Pr#P C r #R  sin # cos # 'P 2 (2.170) eO ' @ eO r @ eO ' @ @ 1 @
f D eO r f D f;
h i h' @' hr @r r sin # @' @r r @r
C eO ' .r'R C 2Pr'/ P sin # C 2r#P 'P cos # : eO ' @ eO # @ eO ' @ eO # @ cos # @
f D f D 2 f;
h' @' h# @# r sin # @' r @# r sin # @#
Die Terme in (2.170), die nur erste Zeitableitungen erhalten,
eO ' @ eO ' @ eO ' @ eO ' @ 1 @2
sind gerade die Coriolis- und die Zentrifugalbeschleunigungen. f D f D f:
Dies kann man sich überlegen, wenn man die entsprechenden h' @' h' @' r sin # @' r sin # @' r2 sin2 # @' 2
Kräfte in (2.80) in Kugelkoordinaten formuliert. (2.174)
Die Rechnungen sind fast abgeschlossen. Man erkennt, dass
2.6 Für Kugelkoordinaten gilt aufgrund des Wegelements keine gemischten Ableitungen auftreten. Der Grund ist, dass al-
(2.117) le gemischten Ableitungen mit Skalarprodukten verschiedener
Basisvektoren zusammenhängen und somit verschwinden müs-
hr D 1; h# D r; h' D r sin #: (2.171) sen.

Die Ableitungen der Basisvektoren sind in (2.166) zu finden. Abschließend fassen wir noch die Ableitungen zusammen. Die
Wegen (2.131) sind insgesamt neun Terme zu berücksichtigen. r-Ableitungen lauten in kombinierter Form
Die Reihenfolge der Ableitungen in diesen Termen kann in der  
Regel nicht vertauscht werden, da die koordinatenabhängigen @2 2 @ 1 @ @
Basisvektoren dazwischenstehen. Es können jedoch teilweise C f D 2 r2 f ; (2.175)
@r2 r @r r @r @r
Faktoren vor die Ableitungen gezogen werden. Zum Beispiel
hängen sämtliche Basisvektoren nicht vom Radius r ab und kön- wie man schnell überprüft. Analog gilt für die #-Ableitungen
nen mit r-Ableitungen vertauscht werden.
 
Im Folgenden schauen wir uns alle Kombinationen an und ver- 1 @2 cos # @ 1 @ @
C 2 f D sin # f:
einfachen zunächst so weit wie möglich. Man beachte, dass alle r2 @# 2 r sin # @# r2 sin # @# @#
Basisvektoren senkrecht aufeinander stehen und Skalarproduk- (2.176)
te verschiedener Basisvektoren somit identisch verschwinden. Da es nur einen Term mit '-Ableitungen gibt, muss dort nichts
Um die Übersichtlichkeit zu verbessern, verzichten wir an die- zusammengefasst werden. Die drei verbleibenden Ableitungs-
ser Stelle auf die Punkte, die das Skalarprodukt kennzeichnen. terme ergeben das Endergebnis in (2.133).
84 2 Koordinatentransformationen und beschleunigte Bezugssysteme

2.7 geschrieben werden. Dies führt offensichtlich auf eine Dif-


ferenzialgleichung zweiter Ordnung:
Teil I

(a) Zunächst überlege man sich, dass die Masse, die sich in einer
Kugel mit Radius r und konstanter Massendichte befindet, 1 @ 2@
durch r .r/ D 4 G : (2.184)
r2 @r @r
4
M< .r/ D r3 (2.177)
3 Im Innenraum der Erde ist die Massendichte , außerhalb 0.
gegeben ist. Dies gilt, so lange man sich innerhalb der Erde Wir beschäftigen uns zunächst mit der Lösung für den In-
befindet. Außerhalb ist in jeder Kugel mit Radius r > R (R nenraum. Multiplikation mit r2 und eine erste Integration
ist der Erdradius) M< .r/ D M D 4 R3 =3. Wir integrie- führen auf
@ 4
ren also (2.137) zunächst vom Erdmittelpunkt bis zu einem r2 .r/ D G r 3 C C1 : (2.185)
Punkt r < R und erhalten @r 3

Zr Offensichtlich bekommt man nach Division von r2 und einer


4 2 erneuten Integration
.r/ D G r0 dr0 D G r 2 C C1 (2.178)
3 3
0 2 C1
.r/ D G r2  C C2 : (2.186)
mit einer Integrationskonstanten C1 . Im Außenraum, r > R, 3 r
gilt offensichtlich Diese Lösung ist fast identisch zu der in (2.178); es exis-
Zr tiert allerdings noch ein Term C1 =r. Die Integrationskostante
4 dr0 GM C1 muss verschwinden, damit die Lösung im Innenraum für
.r/ D G R3 D C C2 (2.179)
3 r02 r r ! 0 regulär ist, also nicht divergiert. Somit ist im Innen-
R raum
mit einer weiteren Integrationskonstanten C2 , die wir bei- 2
spielsweise als C2 D 0 wählen können, indem wir verlan- .r/ D G r 2 C C2 ; r < R: (2.187)
gen, dass .r ! 1/ ! 0 gilt. Es ist nur noch C1 zu 3
bestimmen. Dies ist möglich, indem man fordert, dass .r/ Im Außenraum gilt ebenfalls (2.186), allerdings muss dort
an der Erdoberfläche stetig ist. Physikalisch bedeutet dies, D 0 gesetzt werden. Außerdem nennen wir die In-
dass eine Masse nicht plötzlich potenzielle Energie gewinnt tegrationskonstanten K1 und K2 , um sie von C1 und C2
oder verliert, wenn sie sich gerade durch die Erdoberfläche der Innenraumlösung zu unterscheiden. Die Integrations-
hindurch bewegt. Es folgt also konstante K2 kann wieder gleich null gesetzt werden, damit
.r ! 1/ ! 0 geht. Es folgt also
2 GM
G R2 C C1 D  ; (2.180)
3 R K1
.r/ D  ; r > R: (2.188)
was letztlich auf r
3 GM
C1 D  (2.181) Nun müssen noch C2 und K1 bestimmt werden. Aus der Be-
2 R
dingung, dass das Potenzial bei r D R stetig differenzierbar
führt. Die Lösung lautet also ist, folgt zum einen
(  2 
1 GM r
3 r < R; 4 K2
.r/ D 2 R R2 (2.182) G RD 2 (2.189)
 GM
r
r  R: 3 R

Man kann schnell überprüfen, dass auch die Gravitations- und zum anderen
kraft (wie gefordert) stetig ist. Dazu leitet man .r/ wieder 2 K1
nach r ab und vergleicht die beiden Terme in (2.182) bei G R2 C C2 D  : (2.190)
r D R. 3 R
(b) Für ein kugelsymmetrisches Problem verschwinden sämtli- Insgesamt führt dies wieder auf (2.182).
che Winkelableitungen. Der Laplace-Operator kann deshalb
in der Form
1 @ @
 D r D 2 r 2 (2.183)
r @r @r
Literatur 85

Literatur

Teil I
Großmann, S.: Mathematischer Einführungskurs für die Physik.
Teubner (2000)
Riley, K.F., Hobson, M.P., Bence, S.J.: Mathematical Methods
For Physics And Engineering. Cambridge University Press
(2006)
Systeme von Punktmassen
3

Teil I
Was sind abgeschlossene
Systeme?

Welche Größen sind im


Zweikörperproblem
erhalten?

Welche Arten von


Planetenbahnen gibt es?

Welche Bedeutung hat


Streuung für die Physik?

Ist das Dreikörperproblem


allgemein lösbar?

Was ist die Ursache von


Ebbe und Flut?

Was besagt der Virialsatz?

3.1 Allgemeine Aussagen und Erhaltungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . 88


3.2 Das Zweikörper-Zentralkraftproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
3.3 Das Kepler-Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
3.4 Elastische Stöße und Streuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
3.5 Das reduzierte Dreikörperproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
3.6 Gezeitenkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
3.7 Mechanische Ähnlichkeit und der Virialsatz . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Antworten zu den Selbstfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 87
88 3 Systeme von Punktmassen

Die beiden vorherigen Kapitel waren hauptsächlich der Ausar-


beitung der physikalischen Grundlagen und der fundamentalen
Teil I

mathematischen Hilfsmittel gewidmet. In diesem Kapitel werden


diese Methoden angewandt, um einige wichtige mechanische Sys-
teme zu beschreiben und zu verstehen.
Abschnitt 3.1 beschäftigt sich mit der Erweiterung der Erhal-
tungssätze auf Systeme von Punktmassen. Der extrem wichtige
Spezialfall zweier Punktmassen unter dem Einfluss einer radialsym-
metrischen Zentralkraft wird in Abschn. 3.2 diskutiert. Aufbauend
darauf folgt die Lösung der Bewegungsgleichungen des Kepler-Pro-
blems in Abschn. 3.3. Damit ist es möglich, die Planetenbahnen zu
charakterisieren.
Eine weitere Anwendung von großer Bedeutung sind Stöße zweier
Punktmassen und die Streuung von Teilchen. Diese Themen werden
in Abschn. 3.4 untersucht.
Es folgen zwei Abschnitte, die häufig nicht in Mechaniklehrbüchern
zu finden sind: das reduzierte Dreikörperproblem und die Gezeiten- Abb. 3.1 Der Kugelsternhaufen M11 (Wildentenhaufen) besteht aus fast 3000
kräfte in Abschn. 3.5 und 3.6. Das Kapitel wird in Abschn. 3.7 mit Sternen, die gravitativ miteinander wechselwirken und dabei als Punktmassen
dem Virialsatz abgeschlossen, der vor allem für die statistische Phy- betrachtet werden können (© NASA)
sik von zentraler Bedeutung ist.
Dieses Kapitel bildet eine wichtige Grundlage für die Quantenme-
chanik in Teil III, wie dort bei der Diskussion des Wasserstoffatoms
und der quantenmechanischen Streuung noch deutlich werden wird. 1. Innere Kräfte sind Wechselwirkungskräfte, die paarweise
zwischen den Punktmassen innerhalb des Systems wirken.
Die Kraft, die mi auf mj ausübt, sei Fji .
3.1 Allgemeine Aussagen 2. Kräfte, die von außerhalb des Systems auf die Punktmassen
wirken, nennt man äußere Kräfte. Dann erfährt jede Punkt-
und Erhaltungssätze masse mi zusätzlich eine äußere Kraft Fi.a/ . Dies kann z. B.
die Gravitationskraft eines Körpers sein, der selbst nicht Teil
Viele mechanische Systeme lassen sich durch N wechselwir- des betrachteten Systems ist. Wirken keine äußeren Kräfte
kende Punktmassen idealisieren. Dazu gehören beispielsweise auf das System, so nennt man das System isoliert.
die Planeten in unserem Sonnensystem oder Sterne in Ku-
gelsternhaufen (Abb. 3.1). Oftmals ist N eine sehr große Zahl
(einige Tausend für Kugelsternhaufen und viele 1023 , wenn man Die Bewegungsgleichung für die i-te Punktmasse lautet daher
alle Moleküle in einem Kubikmeter Luft zählt). Auch für die X
spätere Diskussion starrer Körper in Kap. 4 ist das Studium ei- mi xR i D Fij C Fi.a/ : (3.1)
nes Systems von Punktmassen hilfreich. j6Di

In diesem Abschnitt werden die Erhaltungssätze für Impuls,


Der Fall i D j wird in der Summe ignoriert, könnte aber auf-
Drehimpuls und Energie auf solche Systeme verallgemeinert.
grund des dritten Newton’schen Axioms, Fij D Fji , ebenso
Die Bewegungsgleichungen werden dabei allerdings nicht ge-
gut hinzugefügt werden, da Fii D Fii D 0 gilt. Daraus folgt
löst. Das Zweikörperproblem wird am Ende dieses Abschnitts
ebenfalls, dass sich alle inneren Kräfte aufheben:
als Spezialfall N D 2 eingeführt.
XX X
Fji D Fji D 0: (3.2)
i j i;j
Innere und äußere Kräfte
Frage 1
Gegeben seien N Punktmassen mi an den Orten xi (1  i  Machen Sie sich mithilfe des dritten Newton’schen Axioms
N). Im Folgenden werden Summationen
P PNstets über alle Teilchen klar, dass die Summe in (3.2) tatsächlich verschwindet. Teilen
im System verstanden, d. h. i D iD1 , wenn nicht anders Sie dazu die Summe in zwei Teile auf, einen mit i < j und einen
gekennzeichnet. Auf jede Punktmasse wirke eine Kraft Fi , die mit i > j.
in zwei Komponenten aufgeteilt werden kann:
3.1 Allgemeine Aussagen und Erhaltungssätze 89

Bewegung des Schwerpunktes Punktmassen sind daher als Idealisierungen für ausgedehnte
Körper geeignet, wenn man sich für die innere Dynamik nicht

Teil I
interessiert. Dazu gehören beispielsweise thermische Schwin-
Die Gesamtmasse des Systems ist gungen der Atome (Wärme).
X Um eine Transformation in das Schwerpunktsystem durchzufüh-
M WD mi : (3.3)
ren, werden die alten Koordinaten xi durch
i

Der Schwerpunkt der Punktmassen wird dann als x0i D xi  X (3.11)

1 X ersetzt. In diesem Fall liegt der Schwerpunkt im Ursprung, denn


X WD mi xi (3.4)
M i X X
mi x0i D mi xi  MX D 0: (3.12)
definiert. Summiert man nun (3.1) über sämtliche Punktmassen, i i

X X Weiterhin verschwindet der Gesamtimpuls im Schwerpunktsys-


mi xR i D Fi.a/ ; (3.5) tem, denn aus xP 0i D xP i  XP folgt direkt
i i
X
stellt man zunächst fest, dass die inneren Kräfte nicht zur Dy- P0 WD mi xP 0i D 0: (3.13)
namik des Schwerpunktes beitragen. Der Schwerpunkt bewegt i
sich so, als wäre die gesamte Masse darin vereinigt. Es unter-
liegt nur dem Einfluss der Resultierenden aller äußeren Kräfte: Frage 2
X Machen Sie sich klar, dass der Impuls im Schwerpunktsystem
M XR D Fi.a/ : (3.6) tatsächlich verschwindet.
i

Wirken keine äußeren Kräfte, Fi.a/ D 0, oder, weniger streng Achtung Wir hatten bereits gesehen, dass der Gesamtimpuls
P
gefordert, verschwindet lediglich ihre Summe, i Fi.a/ D 0, so des Systems erhalten ist, wenn keine äußeren Kräfte wirken.
ist In diesem Fall ist das Schwerpunktsystem ein Inertialsystem.
M XR D 0; (3.7) Für die meisten Anwendungen ist es dann sinnvoll, das Schwer-
punktsystem zur Beschreibung zu verwenden. J
und der Gesamtimpuls des Systems ist erhalten:
X X
P WD M XP D mi xP i D pi D const: (3.8)
i i Drehimpuls und Drehimpulssatz
In diesem Fall bewegt sich sein Schwerpunkt geradlinig-gleich-
Bis auf die Einschränkung durch das dritte Newton’sche Axi-
förmig entlang der Bahnkurve:
om, Fij D Fji , wurden die Wechselwirkungskräfte zwischen
P den Punktmassen des Systems bisher nicht näher festgelegt. Es
X.t/ D X0 C .t  t0 /: (3.9) soll nun weiterhin angenommen werden, dass die inneren Kräf-
M te Fij Zentralkräfte sind, die also entlang der Verbindungslinie
zwischen mi und mj wirken. In diesem Fall hat man
Impulserhaltung eines Systems von Punktmassen
Fij  .xi  xj / D 0: (3.14)
Der Impulssatz eines Systems von Punktmassen lautet
X Dies gilt insbesondere für die Gravitationskraft zwischen zwei
PP D Fi.a/ D F.a/ : (3.10) Punktmassen oder die Coulomb-Kraft zwischen zwei Punktla-
i dungen.

Die Bewegung des Schwerpunktes wird nur durch äu- Der Gesamtdrehimpuls eines Systems von Punktmassen ist die
ßere, nicht jedoch durch innere Kräfte beeinflusst. Ver- Summe der Drehimpulse aller Punktmassen bezüglich des Ko-
schwindet die Summe aller äußeren Kräfte, so ist der ordinatenursprungs:
Gesamtimpuls erhalten, d. h., der Schwerpunkt bewegt X X
sich geradlinig-gleichförmig. L WD Li D mi xi  xP i : (3.15)
i i
90 3 Systeme von Punktmassen

Die zeitliche Änderung des Drehimpulses ist F 12


X X
Teil I

LP D mi xP i  xP i C mi xi  xR i
„ƒ‚…
i
D0
i M1 M2
X X X
D xi  Fij C xi  Fi.a/ m1 x1 x2 m2
(3.16)
i j i
1X X
D .xi  Fij  xi  Fji / C xi  Fi.a/ :
2 i;j F 21
i

Abb. 3.2 Die Punktmassen m1 und m2 wechselwirken durch ein nichtzentrales


Im letzten Umformungsschritt wurde nur verwendet, dass Fij D Kräftepaar F21 D F12 (z. B. Lorentz-Kraft). Beide entsprechenden Drehmo-
Fji ist. Wir nutzen nun aus, dass über alle Punktmassen doppelt mente verschwinden nicht und zeigen in die Papierebene hinein. Der Drehimpuls
summiert wird: Es ist dann unerheblich, ob wir Indizes vertau- ist wegen M1 C M2 6D 0 somit nicht erhalten
schen, und mit der Hilfsgleichung
X X
xi  Fji D xj  Fij (3.17) ausdrücken:
i;j i;j X
LD xi  mi rPi
folgt i
X
1X X D X  M XP C X  mi xP 0i
LP D .xi  xj /  Fij C xi  Fi.a/ i
(3.21)
2 i;j i X X
X (3.18) C mi x0i  XP C x0i  mi xP 0i :
.a/
D xi  Fi ; i i
i
Aufgrund von (3.12) verschwinden der zweite und der drit-
da wir uns auf Zentralkräfte beschränkt haben. In diesem Fall te Term. Demnach lässt sich der Drehimpuls als Summe des
tragen die inneren Kräfte nicht zur Drehimpulsbilanz bei. Der Drehimpulses des Schwerpunktes um den Ursprung und des ge-
Term X .a/ X samten inneren Drehimpulses schreiben:
M .a/ WD Mi D xi  Fi.a/ (3.19)
X
i i
L D X  M XP C x0i  mi xP 0i : (3.22)
kann als das Gesamtdrehmoment der äußeren Kräfte bezüglich i
des Koordinatenursprungs identifiziert werden.

Drehimpulserhaltung eines Systems von Punktmassen Energie, konservative und dissipative Kräfte
Der Drehimpulssatz eines Systems von Punktmassen,
zwischen denen nur Zentralkräfte wirken, lautet Um eine Aussage über die Energie des N-Teilchen-Systems
X machen zu können, verfahren wir ähnlich wie in (1.137): Die
LP D M i.a/ D M .a/ : (3.20) Bewegungsgleichungen der Punktmassen werden mit ihrer Ge-
i schwindigkeit multipliziert und aufsummiert:
X X
Der Gesamtdrehimpuls dieses Systems wird lediglich von mi xR i  xP i D Fi  xP i : (3.23)
den äußeren Kräften bzw. äußeren Drehmomenten beein- i i
flusst. Verschwindet das Gesamtdrehmoment der äußeren
Kräfte, so ist der Gesamtdrehimpuls des Systems erhalten. Die linke Seite von (3.23) entspricht der zeitlichen Änderung
der kinetischen Energie des Systems:
!
Gleichung (3.20) wird für die Beschreibung der Rotation star- X d X mi 2 dT
rer Körper in Kap. 4 von entscheidender Bedeutung sein. In mi xR i  xP i D xP i D : (3.24)
i
dt i
2 dt
Abb. 3.2 ist ein (zugegebenermaßen etwas künstliches) Bei-
spiel für ein nichtzentrales Kräftepaar illustriert, bei dem das
Wir fordern nun, dass alle inneren Kräfte aus paarweisen Wech-
Drehmoment nicht verschwindet (dazu bräuchte man Grund-
selwirkungspotenzialen Vij abgeleitet werden können, die nur
gleichungen, die nicht drehinvariant sind).
vom Abstand beider wechselwirkender Punktmassen abhängen:
Durch Einsetzen von (3.11) in (3.15) lässt sich der Dreh-
impuls im Schwerpunktsystem, d. h. in den Koordinaten x0i , Fij D r i Vij .jxi  xj j/: (3.25)
3.1 Allgemeine Aussagen und Erhaltungssätze 91

Hier wird nicht über i summiert. Diese Potenziale erfüllen Vij D Achtung Der Faktor 1=2 taucht in der letzten Umformung
Vji . Weiterhin fordern wir, dass Selbstwechselwirkungen ausge- auf, da die Ableitung

Teil I
schlossen sind, und setzen Vii D 0. Hier und im Folgenden gilt
die Vektorgleichung d    
Vji .xij / D r i Vji .xij /  xP i C r j Vji .xij /  xPj (3.30)
@ dt
r i WD : (3.26)
@xi
aufgrund der Kettenregel zwei gleiche Beiträge besitzt. J
Des Weiteren führen wir xij WD xj  xi mit xij D jxij j als Ab- Fasst man die Zwischenergebnisse zusammen, findet man den
kürzung ein, sodass die Wechselwirkungspotenziale die Form Energiesatz in der Form
Vij .xij / bekommen. Solche Potenziale führen durch (3.25) auf
Kräftepaare Fij und Fji , die das dritte Newton’sche Axiom er- dT dV
füllen und stets entlang der Verbindungslinie xij wirken, also C D0 oder E D T C V D const: (3.31)
dt dt
Zentralkräfte sind.

Frage 3 Alle in diesem Abschnitt betrachteten Kräfte wurden bisher


Man überprüfe, dass Potenziale der Form Vij .xij / tatsächlich auf als konservativ angenommen, was auf die Energieerhaltung in
Kräftepaare Fij und Fji führen, die das dritte Newton’sche Axi- (3.31) führt. Der Energiesatz lässt sich jedoch auf Systeme
om und die Bedingung Fij  xij D 0 erfüllen. Gehen Sie dabei erweitern, in denen dissipative Kräfte wirken. Hierfür ist es le-
von (3.25) aus und verwenden Sie die Kettenregel. Erweiterung diglich notwendig, die Kräfte in konservative und dissipative
für Enthusiasten: Man konstruiere ein beliebiges Beispiel für Anteile zu zerlegen:
ein Potenzial Vij , das von xi und xj nicht nur in der Form jxj  xi j
abhängt, und vergewissere sich, dass die resultierenden Kräfte Fi D Fkons
i C Fdiss
i : (3.32)
im Allgemeinen weder das dritte Newton’sche Axiom erfüllen
noch Zentralkräfte sind. Dabei ist es unerheblich, ob die dissipativen Anteile zu inneren
oder äußeren Kräften gehören. Innere dissipative Kräfte müssen
allerdings den Gesamtimpuls und Gesamtdrehimpuls invariant
lassen, da die Grundgleichungen translations- und rotations-
Jedes Paar von Punktmassen trägt zu der potenziellen Energie
invariant sind. Die Einführung von dissipativen Kräften führt
einmalig durch den Anteil VP ij .xijP
/ bei. Summiert man nun über
direkt auf die modifizierte Energiegleichung, wobei T und V ih-
die Potenziale in der Form i j Vij , so wird jedes Paar von
re alten Bedeutungen behalten.
wechselwirkenden Punktteilchen doppelt gezählt, einmal als Vij
und einmal als Vji . Um dies zu berücksichtigen, kann man ent-
P Pi1
weder die Doppelsumme durch NiD1 jD1 Vij einschränken Energieerhaltung in einem System von Punktmassen
P
oder zu i;j Vij =2 abwandeln, da Vij D Vji gilt.
Sind alle Kräfte konservativ, ist die Gesamtenergie in
Zusätzlich sollen auch die äußeren Kräfte Potenzialkräfte sein: einem System aus N paarweise wechselwirkenden Punkt-
massen erhalten. Dissipative Kräfte können die Gesamt-
energie ändern:
Fi.a/ D r i Vi.a/ .xi /: (3.27)
d X
Somit lässt sich die gesamte potenzielle Energie als .T C V/ D Fdiss
i  xP i : (3.33)
dt i
1X X .a/
V WD Vij .xij / C Vi .xi / (3.28)
2 i;j i Die kinetische Energie einer Punktmasse hängt davon ab, in
welchem Bezugssystem sie angegeben wird. Dies liegt daran,
definieren, d. h. als Superposition innerer Zweiteilchen- und dass die kinetische Energie eine Funktion der Geschwindig-
äußerer Einteilchenpotenziale. Die rechte Seite von (3.23) ist keit der Punktmasse und diese je nach Wahl des Bezugssystems
wegen (3.25) und (3.27) somit unterschiedlich ist (Abb. 3.3). Mithilfe der Transformation in
! (3.11) lässt sich die kinetische Energie eines Systems von
X X X Punktmassen in einer anderen Form schreiben. Es lässt sich
Fi  xP i D  ri Vji .xij / C r i Vi.a/ .xi /  xP i durch eine kurze Rechnung zeigen, dass
i i j
! X mi X mi X mi
d 1X X .a/ (3.29) TD xP 2i D P 2 D M XP 2 C
.Px0i C X/ xP 02 (3.34)
D Vji .xij / C Vi .xi / 2 2 2 2 i
dt 2 i;j i
i i i

dV gilt. Die kinetische Energie in einem beliebigen Bezugssystem


D :
dt ist daher die Summe der kinetischen Energie der im Schwer-
92 3 Systeme von Punktmassen

Frage 5
Zeigen Sie ausgehend von r D x1  x2 , dass r 1 V.r/ D
Teil I

r 2 V.r/ D .dV.r/=dr/.r=r/ gilt und daraus (3.37) folgt.

S S Führt man anstelle der Massen m1 und m2 die reduzierte Masse


m1 m2 1 1 1
 WD bzw: D C (3.38)
m1 C m2  m1 m2
ein, so nimmt (3.37) die Form einer Bewegungsgleichung einer
Abb. 3.3 Ein System von N D 5 Punktmassen in einem beliebigen Bezugssys-
tem, in dem sich der Schwerpunkt S bewegt (links ), und im Schwerpunktsystem,
einzelnen Punktmasse in einem äußeren Potenzial V an:
in dem der Schwerpunkt ruht (rechts ). Im rechten Bild entsprechen die Pfeile den dV.r/ r
Geschwindigkeiten der Punktmassen relativ zum gemeinsamen Schwerpunkt. Im Rr D  : (3.39)
Gegensatz dazu zeigen die Pfeile im linken Bild die Überlagerung mit der Schwer- dr r
punktsgeschwindigkeit
Sind die beiden Massen identisch, m1 D m2 DW m, ist  D m=2,
und der Schwerpunkt liegt in der Mitte zwischen den Punktmas-
sen. Von besonderer Bedeutung ist der Grenzfall m2 m1 , bei
dem eine Masse sehr groß gegenüber der anderen ist. In die-
punkt konzentrierten Gesamtmasse und der kinetischen Energie sem Fall ist  m1 , und man kann in guter Näherung sagen,
der Punktmassen im Schwerpunktsystem. dass sich die Punktmasse m1 um eine ruhende Punktmasse m2
bewegt. Der Schwerpunkt liegt dabei in der Nähe der großen
Frage 4
Punktmasse, X x2 (Abb. 3.4). Dies ist die nachträgliche Be-
Zeigen Sie, dass die letzte Gleichheit in (3.34) tatsächlich gilt.
gründung dafür, dass wir in Abschn. 1.3 davon ausgegangen
Nutzen Sie dabei aus, dass der Gesamtimpuls im Schwerpunkt-
sind, dass die Wirkung einer kleinen Masse im freien Fall auf
system verschwindet (3.13).
die Erde zu vernachlässigen und die Erde dabei ortsfest ist.
Das Bild einer ortsfesten großen Masse ist sehr hilfreich, da
nur die Bewegung der kleinen Masse beschrieben werden muss.
Allerdings führt diese Näherung dazu, dass der Gesamtimpuls
Das Zweikörperproblem als Spezialfall nicht mehr erhalten ist, da die zweite Bewegungsgleichung in
(3.35) durch xP 2 D 0 ersetzt wird. Somit ist im Allgemei-
Im Folgenden werden die allgemeinen Aussagen über ein N- nen m1 xR 1 C m2 xR 2 6D 0, d. h., das dritte Newton’sche Axiom
Teilchen-System auf den Spezialfall N D 2 angewandt. Die Lö- wird verletzt, und der Gesamtimpuls der beiden Massen ist
sung der Bewegungsgleichungen des Zweikörperproblems wird nicht erhalten. Tatsächlich ist der Impuls erhalten, denn die
allerdings erst in Abschn. 3.3 anhand des Kepler-Problems als große Punktmasse m2 wird in Wirklichkeit stets durch die kleine
Spezialfall diskutiert. Punktmasse beschleunigt. Diese Beschleunigung ist allerdings
um einen Faktor m1 =m2 kleiner als die der kleinen Punktmasse
Man betrachte ein System zweier wechselwirkender Punktmas- m1 . In Aufgabe 3.1 wird gezeigt, dass die Energie erhalten ist,
sen m1 und m2 . Die Wechselwirkung sei durch ein Potenzial sogar wenn eine Masse festgehalten wird.
V12 .r/ D V21 .r/ DW V.r/ beschrieben, wobei r WD x1  x2 als
Näherungen sind in der theoretischen Physik unerlässlich, da
Abkürzung eingeführt wurde. Die Bewegungsgleichungen lau-
sich die wenigsten Probleme exakt lösen lassen. Ihre Aufgabe
ten
ist es, unwichtige Effekte gegenüber wichtigen zu vernachläs-
m1 xR 1 D r 1 V.r/; m2 xR 2 D r 2 V.r/: (3.35)
sigen. Dabei muss stets darauf geachtet werden, dass die Nä-
Der Ortsvektor des Schwerpunktes ist herungen zulässig sind, also beispielsweise nicht das Problem
so stark reduzieren, dass wichtige Effekte in der Beschrei-
m1 x1 C m2 x2 bung verloren gehen. Hier ist auch die endliche Genauigkeit
XD : (3.36) zu erwähnen, der alle Messgrößen unterliegen. Als Beispiel
m1 C m2
betrachten wir das Urkilogramm in Paris, dessen Masse mit
einer relativen Genauigkeit von etwa 108 angegeben wer-
Er bewegt sich geradlinig-gleichförmig, M XR D 0, wenn äußere
den kann. Der relative Unterschied der effektiven Masse des
Kräfte abwesend sind. Kombiniert man die beiden Bewegungs-
Urkilogramms in Bezug auf die Erde (mErde 61024 kg) unter-
gleichungen, so folgt
scheidet sich von der Masse des Urkilogramms jedoch nur um
etwa 1023 und ist somit nicht messbar. Erst bei Objekten ab
m1 m2 rR D m2 r 1 V.r/ C m1 r 2 V.r/
etwa 1015 kg ist der Unterschied zwischen Masse und reduzier-
dV.r/ r (3.37) ter Masse mit der Messgenauigkeit vergleichbar. Dies entspricht
D .m1 C m2 / :
dr r einem Wasserwürfel mit einer Kantenlänge von 10 km.
3.2 Das Zweikörper-Zentralkraftproblem 93

a b c S
m2 = m1 S m2 = 2 m1 m2 = 10 m1

Teil I
S

m1 m1 m1

Abb. 3.4 Veranschaulichung der Schwerpunktslage für N D 2 Punktmassen verschiedener Masse. a Beide Massen sind gleich groß, m1 D m2 , und der Schwer-
punkt S liegt genau in der Mitte. Je größer die Masse m2 im Vergleich zu m1 wird, desto näher liegt der Schwerpunkt an der zweiten Punktmasse (b und c)

3.2 Das Zweikörper- Die Schwerpunktsbewegung ist mit (3.9) bereits gelöst. Das Er-
gebnis folgte direkt aus der Erhaltung des Gesamtimpulses, da
Zentralkraftproblem das System isoliert ist. Die eigentliche Herausforderung ist es,
die Lösung für die Relativbewegung von m1 und m2 in (3.40) zu
In Abschn. 3.1 wurden grundlegende Aussagen über Systeme finden. Ist schließlich die Lösung r.t/ bekannt, können die Orte
von N wechselwirkenden Punktmassen getroffen, ohne die Be- aus
wegungsgleichungen zu lösen. Der Spezialfall N D 2 wurde m2 m1
x1 D X C r; x2 D X  r (3.41)
dort bereits vorgestellt. Wir werden die Diskussion in diesem Ab- m1 C m2 m1 C m2
schnitt fortsetzen und zunächst allgemeine Aussagen über das
Zweikörperproblem im Zentralkraftfeld treffen. Die Ergebnisse berechnet werden.
und physikalischen Inhalte sind von zentraler Bedeutung für die Da es sich bei den Bewegungsgleichungen für die Punktmassen
gesamte theoretische Physik, insbesondere für das Studium der m1 und m2 um insgesamt sechs Differenzialgleichungen zweiter
Planetenbahnen (Abschn. 3.3), der Streuung (Abschn. 3.4), der Ordnung handelt (drei für x1 und drei für x2 ), sind zwölf Inte-
Bremsstrahlung in der Elektrodynamik (Teil II) und des Wasser- grationskonstanten für die Lösung notwendig. Die ersten sechs
stoffatoms in der Quantenmechanik (Kap. 28). wurden bereits mit X0 und P D const in (3.9) verwendet. Die
übrigen sechs beziehen sich auf die Relativbewegung der bei-
den Punktmassen und können z. B. in der Form r.t0 / und rP.t0 /
bereitgestellt werden. Wir werden jedoch in Kürze sehen, dass
Impulserhaltung und Separation es Integrationskonstanten gibt, die besser für das vorliegende
der Bewegungsgleichungen Problem geeignet sind.
Frage 6
Wir betrachten zwei Punktmassen m1 und m2 mit reduzierter
Zeigen Sie die Gültigkeit von (3.41). Nutzen Sie dazu (3.4) und
Masse  (3.38). Die beiden Punktmassen befinden sich an den
r D x1  x2 aus.
Orten x1 und x2 , der gemeinsame Schwerpunkt (3.36) am Ort X.
Auf beide Punktmassen sollen nur die Wechselwirkungskräfte
F12 D F21 wirken, die aus einem Wechselwirkungspotenzial
V.r/ D V12 .x1  x2 / mit r WD x1  x2 ableitbar seien. Äuße- Impulserhaltung und Separation
re Kräfte werden ausgeschlossen, d. h., das System sei isoliert. der Bewegungsgleichungen
Dies bedeutet, dass wegen (3.9) der Gesamtimpuls erhalten ist Aus der Gesamtimpulserhaltung des Zweikörperproblems
und sich der gemeinsame Schwerpunkt geradlinig-gleichförmig folgt direkt die Separation der Schwerpunkts- und der
bewegt. Die Schwerpunktsbewegung ist unabhängig von der Re- Relativbewegung. Es müssen nur noch drei anstatt sechs
lativbewegung der beiden Punktmassen. Differenzialgleichungen zweiter Ordnung gelöst werden.
Letztere muss separat untersucht werden. Ihre Bestimmungs-
gleichung (3.39) ist

Rr D r V.r/: (3.40)


Drehimpulserhaltung
Somit sind Schwerpunkts- und Relativbewegung separiert. Man
kann (3.40) als Bewegungsgleichung für eine einzelne Punkt-
und zweites Kepler’sches Gesetz
masse  im äußeren Potenzial V.r/ interpretieren. Tatsächlich
ergibt sich dieses Bild auch dann, wenn eine der beiden Punkt- Wir beschränken uns im Folgenden auf Potenziale der Form
massen sehr viel größer als die andere ist, m2 m1 . In diesem V.r/. Dies impliziert, dass die Kraft
Fall kann m2 näherungsweise als ortsfest angesehen werden,
und  m1 . Gleichung (3.40) ist dagegen für beliebige Mas- dV.r/ r r
F.r/ D r V.r/ D  D F.r/ (3.42)
senverhältnisse m1 =m2 gültig. dr r r
94 3 Systeme von Punktmassen

a b
Teil I

x2 x3

L = Le
b3

ṙ dt
x2

r r
ϕ
x1

x1

Abb. 3.5 a Der Fahrstrahl r überstreicht in einer infinitesimalen Zeit dt das infinitesimale Flächenelement dA D r  rP dt=2. Der Betrag jdAj entspricht der rot
markierten Fläche, die Richtung von dA steht senkrecht auf r und dPr. b Die Bewegung findet vollständig in einer Ebene (gelb ) statt. Das Koordinatensystem wird
so gewählt, dass die x3 -Achse senkrecht auf dieser Ebene steht

eine Zentralkraft ist, die nur vom Abstand r, nicht aber von der Wegen L D 2 dA=dt folgt sofort das zweite Kepler’sche Ge-
Richtung abhängt. Der Drehimpuls L ist dann wegen (3.20) er- setz.
halten. Um den Drehimpuls der beiden Punktmassen m1 und m2
relativ zum Schwerpunkt X anzugeben, schreiben wir zunächst
Zweites Kepler’sches Gesetz
P C m2 .x2  X/  .Px2  X/:
L D m1 .x1  X/  .Px1  X/ P (3.43)
Der Fahrstrahl r überstreicht im Zentralkraftfeld in glei-
Wegen (3.38) und (3.41) ist chen Zeiten gleiche Flächen. Die Flächengeschwindigkeit
    1
L D .r/ 
m2
rP C .r/ 
m1
rP AP D r  rP (3.47)
m1 C m2 m1 C m2 (3.44) 2
D r  rP: ist konstant.

Aufgrund der Drehimpulserhaltung zeigt L 6D 0 stets in eine


feste Richtung. Diese legt die Bahnebene fest: Aufgrund der Symmetrie des Problems bieten sich Zylinderko-
ordinaten an. Wir wählen die Bahnebene z D 0 und schreiben
r  L D r  .r  p/ D p  .r  r/ D 0: (3.45) den kartesischen Ortsvektor in der Form
0 1 0 1
Wir wählen das Koordinatensystem so, dass L D L eO 3 und damit x cos '
L D L3 D jLj erfüllt ist. Somit liegt die Bahn in der x1 -x2 - r.t/ D @yA D % @ sin ' A : (3.48)
Ebene. z 0
Achtung Für L D 0 erfolgt die Bewegung entlang einer Ge- Offensichtlich lautet die Bahngeschwindigkeit
raden, deren Richtung durch r festgelegt ist und die durch das
Kraftzentrum läuft, da dann r und v parallel sind. J 0 1 0 1
cos '  sin '
Aus der Drehimpulserhaltung folgt bereits das zweite Kep- rP.t/ D %P @ sin ' A C %'P @ cos ' A : (3.49)
ler’sche Gesetz. Betrachten wir dazu die Bewegung in der 0 0
Bahnebene genauer (Abb. 3.5). Im infinitesimalen Zeitintervall
dt überstreicht der Ortsvektor r das Flächenelement
1 Drehimpulserhaltung für Zentralkräfte
dA D r  .Pr dt/: (3.46)
2
Der Drehimpuls ist im Zentralkraftfeld erhalten. Insbe-
sondere findet die Bewegung in einer Ebene statt:
Frage 7
Machen Sie sich mithilfe von Abb. 3.5 anschaulich klar, dass L D %2 'P eO 3 H) jLj D L D %2 j'j:
P (3.50)
das Flächenelement durch (3.46) gegeben ist.
3.2 Das Zweikörper-Zentralkraftproblem 95

Frage 8 zusammengefasst. Der zweite Term heißt Zentrifugalpotenzial.


Es ist abstoßend bzw. repulsiv, da die damit verbundene Kraft
Überprüfen Sie die Gültigkeit von (3.50), indem Sie (3.48) und

Teil I
(3.49) in L D r  rP einsetzen.
L2 L2 r
FZ D r D (3.55)
2r 2 r3 r
Eigentlich sind drei Differenzialgleichungen zweiter Ordnung
zu lösen, je eine für %, ' und z. Die Bewegungsgleichung für z stets von der Drehachse fortzeigt und als Zentrifugalkraft inter-
ist durch die Drehimpulserhaltung und die Wahl des Koordina- pretiert werden kann.
tensystems bereits trivial gelöst: z  0. Dies entspricht wegen
zP .t D 0/ D 0 und zR.t D 0/ D 0 einer willkürlichen Fest- Das bisherige Vorgehen ist ein Beispiel dafür, welche wichtige
legung von zwei Integrationskonstanten. Mit (3.50) haben wir Rolle Symmetrien und Erhaltungsgrößen in der Physik spielen.
weiterhin eine Bewegungsgleichung erster Ordnung für ' erhal-
ten. Der Betrag L des Drehimpulses spielt dabei die Rolle einer 1. Aufgrund der Gesamtimpulserhaltung können die Bewe-
weiteren Integrationskonstanten. Es bleiben somit noch drei In- gungsgleichungen separiert werden. Es sind nur noch drei
tegrationskonstanten zu bestimmen. statt sechs Differenzialgleichungen zweiter Ordnung zu lö-
sen, und es sind nur noch sechs statt zwölf Integrationskon-
stanten zu bestimmen.
2. Die Winkelunabhängigkeit der Kraft führt auf eine weite-
Energieerhaltung und reduzierte re Erhaltungsgröße, den Drehimpuls L. Dies entspricht drei
Bewegungsgleichung weiteren Integrationskonstanten.
3. Aufgrund der Konstanz der Energie erhält man die Diffe-
Wir haben in Abschn. 1.6 bereits gefunden, dass die Energie er- renzialgleichung (3.53) erster Ordnung für r. Somit sind nur
halten ist, wenn sich die Kräfte aus Potenzialen ableiten lassen: noch zwei Integrationen durchzuführen (eine für r, eine für
') und zwei Integrationskonstanten zu bestimmen.
1 2
E DTCV D Pr C V.r/ D const: (3.51)
2
Selbstverständlich könnte man statt der Energie E und des Dreh-
Ausgehend von (3.49) lässt sich die Energie in der Form impulses L andere, äquivalente Integrationskonstanten wählen.
 2  In der Quantenmechanik spielen die Energie und der Drehim-
ED %P C %2 'P 2 C V.r/ D const (3.52) puls allerdings grundlegende Rollen, sodass es sich bereits hier
2
anbietet, E und L zu verwenden.
schreiben. Wegen z D 0 können wir im Folgenden auch % durch
r ersetzen.
Erhaltungsgrößen und Bewegungsgleichungen
Frage 9
Machen Sie sich klar, dass Zylinderkoordinaten für z D 0 und Das Ausnutzen von Erhaltungsgrößen vereinfacht in der
Kugelkoordinaten für # D =2 gleichwertig sind und somit Regel das Lösen der Bewegungsgleichungen. Der erste
% D r gesetzt werden kann. Vergleichen Sie dazu (2.109) und Schritt bei der Analyse eines physikalischen Problems
(2.115). sollte daher das Identifizieren von Symmetrien und Erhal-
tungsgrößen sein.

Aufgrund der Drehimpulserhaltung in (3.50) kann die '-Abhän-


gigkeit durch eine reine r-Abhängigkeit ersetzt werden. Statt 'P Achtung In der Literatur werden Erhaltungsgrößen auch
schreiben wir also L=.r2 / und häufig Integrale der Bewegung genannt. Dies liegt daran, dass
 2 L2 das Auffinden einer Erhaltungsgröße einer ersten Integration ei-
ED rP C C V.r/ D const: (3.53) ner der Bewegungsgleichungen entspricht, wie wir in Kap. 5
2 2r2 sehen werden. J
Diese Gleichung kann als Bestimmungsgleichung für r verwen-
det werden und wird daher als Radialgleichung bezeichnet. Ge-
nau wie (3.50) ist sie nur noch eine Differenzialgleichung erster
Ordnung. Die Energie E spielt dabei die Rolle einer weiteren In- Implizite Lösung der Bewegungsgleichungen,
tegrationskonstanten. Man erkennt, dass sowohl L2 =.2r2/ als Bahnkurven
auch V.r/ nur Funktionen von r sind. Daher werden beide Ter-
me zum effektiven Potenzial
Die Radialgleichung (3.53) hat zusammen mit (3.54) die Form
L2 einer eindimensionalen Bewegungsgleichung in einem effekti-
U.r/ WD V.r/ C (3.54)
2r2 ven Potenzial. Ihre Lösung kann daher – wie in (1.92) – implizit
96 3 Systeme von Punktmassen

angegeben werden: U Potenzial


Zentrifugalpotenzial
Zr
Teil I

effektives Potenzial
dr0
t  t0 D p : (3.56)
2.E  U.r0 //=
r0

Ist dieses Integral gelöst, folgt zunächst r.t/ durch Umkehrung, E > 0,
r1 ungebundene Bewegung
falls dies in analytisch geschlossener Form möglich ist. An-
sonsten müssen die Gleichungen numerisch behandelt werden. 0
Handelt es sich um eine periodische Funktion, beschränkt man Radius r
sich bei der Umkehrung auf eine bzw. eine halbe Periode. An- r1 r2
schließend kann der Zeitverlauf des Winkels über E < 0,
gebundene Bewegung
Zt Zt
L dt0
'  '0 D P 0 / dt0 D
'.t (3.57)
 r2 .t0 /
t0 t0

erhalten werden. Hier sind r0 und '0 nun schließlich die beiden
letzten Integrationskonstanten. In Aufgabe 3.5 kommen wir auf Abb. 3.6 Potenzial, Zentrifugalpotenzial und zugehöriges effektives Potenzial.
das Problem zurück, dass sich der zeitliche Verlauf der Bahn im Das Potenzial (schwarz ) entspricht hier dem Gravitationspotenzial / 1=r. Für
Allgemeinen nicht in geschlossener Form ausdrücken lässt. negative Energie (blau ) sind gebundene Bewegungen zwischen r1 und r2 mög-
lich. Für positive Energie (grün ) gibt es nur einen Umkehrpunkt bei r10 (Streuung)
In vielen Fällen ist man nicht unmittelbar daran interessiert, die
Zeit als Bahnparameter zu verwenden. Anstatt r.t/ und '.t/ zu
bestimmen, steht dann eine Diskussion der Bahnkurve r.'/ im
überhaupt in analytischer Form angegeben werden können. Wir
Mittelpunkt der Bemühungen. Zum Beispiel erkennt man an der
werden in Abschn. 3.3 sehen, dass dies beispielsweise für das
Gestalt von r.'/, ob die Bahnkurve gebunden (endlich) oder un-
Gravitationspotenzial der Fall ist. Die expliziten Lösungen wer-
gebunden (unendlich) ist. In der Tat werden wir in Abschn. 3.3
den dort angegeben und diskutiert.
eine Reihe möglicher Bahnkurven im Gravitationspotenzial fin-
den, von denen einige gebunden und einige ungebunden sind.
Die Bahnkurve lässt sich über
p
dr dr dt rP 2 .E  U.r// = Allgemeine Eigenschaften der Bahnkurven
D D D (3.58)
d' dt d' 'P L=.r2 /
Es lassen sich bereits allgemeine Aussagen über die Form
berechnen.
der Bahnkurven machen, indem man sich die Gestalt und das
Grenzverhalten (r ! 0 und r ! 1) von U.r/ ansieht. In
Bahnkurve im Zentralkraftfeld Abb. 3.6 ist ein Beispiel für ein effektives Potenzial U.r/ ge-
zeigt. Eine Bewegung kann wegen (3.53) und rP 2  0 nur in
Ist das effektive Potenzial U.r/ bekannt, so lautet die solchen Bereichen stattfinden, für die E  U.r/ gilt. Die Diffe-
Bahnkurve allgemein in impliziter Form renz EU.r/ gibt die kinetische Energie der radialen Bewegung
und damit die radiale Geschwindigkeit an. Punkte ru , für die
Zr
dr0 E D U.ru / gilt, sind Umkehrpunkte (Abschn. 1.4). Dort ändert
'  '0 D L p : (3.59) sich das Vorzeichen von rP und somit die radiale Bewegungsrich-
r02 2 .E  U.r0 //
r0 tung.

Die erhaltene Energie E und der konstante Drehimpuls L Die folgenden allgemeinen Aussagen lassen sich anhand der
sowie die Anfangsbedingungen r0 und '0 bilden die sechs Form von U.r/ treffen (Abb. 3.6):
Integrationskonstanten und legen die Form und Orientie-
rung der Bahnkurve fest. Ist die Bewegung in beide Richtungen durch Umkehrpunkte
r1 und r2 , die sogenannten Apsiden, beschränkt, r1  r 
r2 , spricht man von gebundenen Bahnen. Die Punktmassen
Die gesamte Information steckt in der Gestalt des effektiven Po- können niemals zusammenstoßen und nicht ins Unendliche
tenzials U.r/ und den Werten der konstanten Parameter E und davonlaufen. Planetenbahnen (Abschn. 3.3) sind Beispiele
L. Formal ist somit das Zweikörperproblem für radialsymmetri- für gebundene Bahnen. Für den Spezialfall r1 D r D r2 fin-
sche Zentralkräfte gelöst. Praktisch hängt es allerdings von dem det man eine Kreisbahn, da dann stets rP D 0 gelten muss.
Potenzial V.r/ ab, ob die Integrale ((3.56), (3.57) und (3.59)) In diesem Fall besitzt U ein lokales Minimum bei r, und die
3.3 Das Kepler-Problem 97

Energie E entspricht genau dem Wert des Potenzials in sei-


nem Minimum. d2 u=d' 2 D u gilt und wegen (3.61) somit F.r/ D 0 sein
Falls das Potenzial V.r/ nicht stärker als mit r2 am Ur-

Teil I
muss. Dies ist offensichtlich korrekt: Bewegt sich eine
sprung divergiert, gibt es aufgrund des Zentrifugalpotenzials Punktmasse in einem Inertialsystem auf einer Geraden,
für L 6D 0 stets einen Mindestabstand, den die beiden Punkt- kann die Kraft höchstens entlang der Bewegungsrichtung
massen nicht unterschreiten können. wirken, nicht jedoch zu einem Punkt zeigen, der außer-
Gibt es nur eine einzige Potenzialbarriere r10 < r, laufen die halb der Bahnkurve liegt. J
Punktmassen bis zum Abstand r10 aufeinander zu, wo sie ih-
re Richtung ändern und ins Unendliche davon laufen. Diese
ungebundene Bewegung wird als Streuung bezeichnet und in
Abschn. 3.4 ausführlich besprochen. Gleichung (3.59) besagt somit, dass nach einem vollen Umlauf
Für L D 0 laufen beide Punktmassen entweder zentral von- (z. B. von rmin nach rmax und weiter nach rmin ) gerade der Winkel
einander fort oder aufeinander zu. Gibt es im zweiten Fall
Zrmax
keine Potenzialbarriere, fallen beide Punktmassen aufeinan- dr
der zu und stoßen schließlich zusammen. ' D 2L p (3.63)
r2 2.E  U.r//
rmin

In Aufgabe 3.2 wird gezeigt, dass


vom Fahrstrahl überstrichen wird. Dies setzt selbstverständ-
2 lich voraus, dass rmax existiert und die Bahn gebunden ist.
L dV
Rr  D (3.60) Für Planetenbahnen nennt man ' die Periheldrehung. Ist '
r3 dr ein rationales Vielfaches von 2 , d. h. ist ' D 2 n=m mit
n; m 2 N, so ist die Bahn nach m Umläufen geschlossen und
die zu (3.53) entsprechende Bewegungsgleichung zweiter Ord-
periodisch. Wir werden in Abschn. 3.3 sehen, dass ideale Pla-
nung für r ist. Weiterhin wird dort gezeigt, dass sich (3.60) in
netenbahnen ' D 2 erfüllen und damit periodisch sind.
der Form  
L2 u2 d2 u Achtung Eine endliche (d. h. gebundene) Bahn kann peri-
C u D F.1=u/ (3.61)
 d' 2 odisch oder aperiodisch sein. Unendliche (d. h. ungebundene)
Bahnen sind immer aperiodisch. J
schreiben lässt, wobei u WD 1=r und F.r/ D dV=dr sind.
Gleichung (3.61) kann für die Berechnung der Zentralkraft
F.r/ herangezogen werden, wenn die Form der Bahnkurve r.'/
bzw. u.'/ bekannt ist. Umgekehrt kann die Bahnkurve r.'/
aus dem Kraftgesetz F.r/ bestimmt werden. Da der Winkel ' 3.3 Das Kepler-Problem
nur in Form einer zweiten Ableitung in (3.61) vorkommt, ist
diese Gleichung invariant unter der Substitution d' ! d'
Wir haben in Abschn. 3.2 einige allgemeine Eigenschaften der
und somit symmetrisch gegenüber Spiegelungen an den Um-
Lösungen der Bewegungsgleichungen in einem Zentralpotenzi-
kehrpunkten. Die gesamte Bahn kann daher durch wiederholte
al der Form V.r/ gefunden. Bisher wurde kein konkretes Poten-
Spiegelung an den Umkehrpunkten gefunden werden.
zial V.r/ vorgegeben. Von besonderer Bedeutung für die Physik
Achtung Dies bedeutet, dass man anhand der Bahnform sind unter anderem die Potenziale V.r/ / 1=r (Gravitations-
nicht entscheiden kann, in welcher Richtung sie durchlaufen und Coulomb-Potenzial) und V.r/ / r2 (Oszillatorpotenzial).
wird. Umgekehrt heißt dies auch, dass die Bahn exakt entge- Auf harmonische Schwingungen im r2 -Potenzial werden wir
gengesetzt durchlaufen würde, wenn in einem Moment rP und 'P in Kap. 6 gründlich eingehen. Im Folgenden wollen wir die
ihr Vorzeichen wechseln würden. J Bahnkurven im 1=r-Potenzial untersuchen. Dies führt schließ-
lich auf die wichtigen Planeten- und Kometenbahnen, die als
Kegelschnitte identifiziert werden können.
Geradlinige Bewegung

Für eine Bewegung entlang einer Geraden, die im Ab-


stand p an einem Kraftzentrum vorbeiführt, gilt zunächst
Umkehrpunkte der Bahnkurven
p im Gravitationsfeld
D cos ': (3.62)
r
Hier wurde ohne Beschränkung der Allgemeinheit x1 D Wir betrachten die Bahnen von zwei Punktmassen (m1 und m2 ),
p D const gewählt. Der Winkel ' D 0 entspricht dem die sich unter dem Einfluss der Gravitation gegenseitig umlau-
Punkt der größten Annäherung, d. h. r.0/ D p. Man fen. Hierbei ist das Massenverhältnis m1 =m2 beliebig. Es ist
kann sich mit u D 1=r sofort davon überzeugen, dass nicht nötig anzunehmen, dass eine der beiden Massen ortsfest
und groß gegenüber der anderen ist.
98 3 Systeme von Punktmassen

Mit den Konventionen in Abschn. 3.2 lautet die Gravitations- rC gibt. Die Bewegung ist dann auf Bereiche r  rC ein-
kraft geschränkt. Bei kleineren Abständen ist U.r/ > E, und das
Teil I

Zentrifugalpotenzial verhindert eine weitere Annäherung der


˛ r
FG WD F12 D F21 D  ; ˛ WD Gm1 m2 > 0: (3.64) beiden Massen. Diese Bewegung ist ungebunden und wird
r2 r als Streuung bezeichnet.
Der Spezialfall L D 0 (keine Drehung, 'P D 0) entspricht ei-
Die Gravitationskraft FG ist stets attraktiv. Obwohl die Cou- nem direkten Fall der beiden Massen aufeinander. Es gibt
lomb-Kraft FC zwischen zwei Ladungen q1 und q2 dieselbe dann keinen Umkehrpunkt bei endlichen Abständen und
Radiusabhängigkeit besitzt, kann sie attraktiv oder repulsiv kein Zentrifugalpotenzial, das ein Aufeinandertreffen von
sein. Haben beide Ladungen das gleiche Vorzeichen, ist ˛ / m1 und m2 verhindern würde. Dies ist eine unphysikali-
q1 q2 < 0 und FC demnach abstoßend. Da bei der Analyse sche Situation, da das Potenzial V.r/ bei r D 0 singulär
in diesem Abschnitt das Vorzeichen von ˛ nicht eingeschränkt ist. In Wirklichkeit sind die Massen m1 und m2 stets aus-
ist, wird das Coulomb-Problem zweier Ladungen automatisch gedehnt, sodass sie aufeinanderprallen würden, wenn der
mitgelöst. Mittelpunktsabstand r noch endlich ist.
In allen anderen Fällen ist E < 0 und die Bewegung zwi-
Das Gravitationspotenzial ist schen zwei Umkehrpunkten gebunden, rC  r  r .
Z
˛
V.r/ D V.jx1  x2 j/ D  dr F.r/ D  C V1 : (3.65)
r
Qualitative physikalische Aussagen
Die Konstante V1 ist beliebig, wird aber so gewählt, dass
In vielen Fällen lassen sich qualitative physikalische Aus-
V.r/ ! 0 für r ! 1, d. h. V1 D 0. Das effektive Potenzi-
sagen treffen, ohne die Bewegungsgleichungen direkt zu
al aus (3.54) lautet somit
lösen. Dazu ist es hilfreich, sich die Struktur der Gleichun-
gen und gegebenenfalls Grenzfälle zu betrachten.
L2 ˛
U.r/ D  : (3.66)
2r2 r
Handelt es sich um die Bewegung von Planeten oder Kometen
Die Umkehrpunkte ru der Bewegung lassen sich aus der Radi- um die Sonne, nennt man den sonnennächsten Punkt einer Bahn
algleichung (3.53) bestimmen, indem rP D 0 gesetzt wird: Perihel, den sonnenfernsten Aphel (von helios, „Sonne“). Bei
einer Bewegung um die Erde (z. B. durch einen Satelliten oder
 2
ED rP C U.r/ H) E D U.ru /: (3.67) den Mond) spricht man von Perigäum und Apogäum (von gaia,
2 „Erde“). Allgemein spricht man von Apoapsis und Periapsis.
Auflösen nach ru ergibt zunächst
Frage 10
0 s 1 Wie lautet der funktionale Zusammenhang des Verhältnisses der
1 @ 2L2 E A Bahngeschwindigkeiten an Perihel und Aphel und des Verhält-
ru D r˙ D ˛ ˙ ˛2 C : (3.68)
2E  nisses von Perihel- und Aphelabstand?

Im Gravitationsfeld gibt es je nach Wert der Integrations-


konstanten maximal zwei Abstände, die rP D 0 erfüllen, da
die resultierende Gleichung quadratisch ist. An der Form von
(3.68) erkennt man eine Reihe von Eigenschaften (siehe auch Lösung der Bewegungsgleichung
Abb. 3.6) für Potenziale mit ˛ > 0:

Es gibt keinen Umkehrpunkt, wenn ˛ 2 C 2L2 E= negativ Die allgemeine Gleichung (3.59) für die Bahnkurve nimmt für
wird, was nur bei hinreichend niedriger Energie passieren das Gravitationspotenzial die Form
kann, E < ˛ 2 =.2L2 /. Dies entspricht dem Fall, dass E
Zr
niedriger als der absolute Tiefpunkt von U.r/ liegt und somit dr0
nicht möglich ist, da rP 2 stets negativ wäre. '  '0 D L r   (3.69)
Es gibt genau einen Umkehrpunkt, wenn ˛ 2 C 2L2 E= D 0 r0 r02 2 E C ˛r0
 L2
2r02
gilt. In diesem Fall entspricht der Umkehrpunkt dem absolu-
ten Tiefpunkt von U.r/. Entlang der gesamten Bahn ist dann
rP D 0; es handelt sich also um eine gebundene Kreisbahn. an. Um diese Gleichung zu lösen, substituieren wir
Für E > 0 und L2 > 0 ist r stets negativ und rC stets po-
sitiv. Da der Abstand r nur positive Werte annehmen kann, 1 dr
u WD ; du D  ; (3.70)
entspricht dies dem Fall, dass es nur einen Umkehrpunkt bei r r2
3.3 Das Kepler-Problem 99

was auf die Form annimmt. Wir sind an der Bahnkurve in der Form r.'/ interes-
siert und finden zunächst
Zu

Teil I
du0 p
'  '0 D  q (3.71) r.'/ D : (3.79)
u0
2E
C 2˛ 0
u  u02 1 C " sin.'00  '/
L2 L2

führt. Der Term unter der Wurzel lässt sich mithilfe der quadra- Um die Lösung in eine Form zu bringen, die gewöhnlich in der
tischen Ergänzung umformen: Literatur zu finden ist, ersetzen wir den Term sin.'00  '/ durch
cos.'  'p /, wobei 'p D '00  =2 ist und cos x D cos.x/

2E 2˛ 0 02 2E  ˛ 2 
0 ˛ 2 ausgenutzt wird.
C u  u D C  u 
L2 L2 L2 L2 L2
D C  .u0  u0c /2 ; (3.72) Allgemeine Bahnkurve im Gravitationspotenzial
Die Bahnkurve im Gravitationspotenzial lautet allgemein
wobei C und u0c Konstanten sind. Somit lautet die Bahnkurve in
impliziter Form p
r.'/ D ; (3.80)
1 C " cos.'  'p /
Zu
du0
'  '0 D  p : (3.73) wobei p der Bahnparameter, " die Exzentrizität und 'p ei-
C  .u0  u0c /2
u0 ne weitere Integrationskonstante ist.

Dieses Integral kann elementar gelöst werden, da


In Aufgabe 3.5 betrachten wir die Probleme, die sich ergeben,
d 1 wenn man an der zeitlichen Lösung r.t/ interessiert ist. Diese
arcsin.x/ D p (3.74)
dx 1  x2 kann nämlich – im Gegensatz zur Bahnkurve r.'/ – nicht in
geschlossener Form angegeben werden.
gilt. Die allgemeine Lösung für die Bahnkurve des Kepler-Pro-
blems lautet daher Frage 12
Man vergewissere sich ausgehend von (3.80), dass ' D 'p der
u  u0 u  ˛ größten Annäherung der beiden Massen m1 und m2 entspricht.
''00 D  arcsin p c D  arcsin q L2
 ˛ 2 : (3.75)
C Dies erklärt auch die Notation: p für Perihelwinkel.
2E
L2
C L2

Die Konstante '00 enthält '0 und die Konstante der letzten Inte- Achtung Von den vier Integrationskonstanten, die für die Lö-
gration. sung der Bewegungsgleichungen für r und ' nötig sind, findet
Frage 11 man in (3.80) nur drei in der Form p, " und 'p . Die vierte
tritt nicht in Erscheinung, da sie dem Anfangspunkt auf der
Überprüfen Sie alle Rechenschritte, die auf (3.75) führen. Bahnkurve zur Zeit t0 entsprechen würde. Die Bahnkurve selbst
enthält allerdings keine Information über den zeitlichen Verlauf.
Erst wenn die Lösungen in der Form r.t/ oder '.t/ angege-
Die Lösung liegt noch in einer unpraktischen Form vor. Aus ben werden sollen, muss entweder r.t0 / oder '.t0 / spezifiziert
diesem Grund werden zwei konstante Parameter definiert: die werden. Beide Möglichkeiten sind wegen r.t0 / D r.'.t0// äqui-
Exzentrizität s valent. J
2L2 E
" WD C1  0 (3.76) Mathematisch handelt sich sich bei (3.80) um einen Kegelschnitt
˛ 2
mit der Exzentrizität " und einem Brennpunkt im Ursprung. Die
und der Bahnparameter Kegelschnitte werden in Abb. 3.7 klassifiziert. Im Folgenden
werden die verschiedenen Bahnkurven genauer diskutiert.
L2
p WD 0 .˛ > 0/: (3.77)

Die Bedeutung dieser beiden Größen wird in Kürze deutlich Kreis- und Ellipsenbahnen
werden. Man rechnet schnell nach, dass die Bahnkurve somit
die Form
Die einfachste Bahnkurve erhält man für " D 0:
pu  1
'  '00 D  arcsin (3.78) r.'/ D p: (3.81)
"
100 3 Systeme von Punktmassen
Teil I

ε=0 0<ε<1 ε=1 ε>1

Abb. 3.7 Veranschaulichung der Kegelschnitte. Von links nach rechts: Kreis (" D 0), Ellipse (0 < " < 1), Parabel (" D 1) und Hyperbel (" > 1) lassen sich durch
geeignete Schnitte eines Doppelkegels mit einer Ebene konstruieren. Der Neigungswinkel der Ebene nimmt von links nach rechts zu. Für einen Kreis ist die Ebene
senkrecht zur Symmetrieachse des Kegels. Im Falle einer Parabel ist der Neigungswinkel der Ebene identisch zum Öffnungswinkel des Kegels. Nur für größere Winkel
können beide Kegel gleichzeitig geschnitten werden, was auf eine Hyperbel führt

Wegen der Konstanz von p entspricht dies offensichtlich ei- x2


ner Kreisbahn. In diesem Fall ist die Energie (siehe (3.76) und
(3.77))
˛ 2 ˛
ED 2 D : (3.82) 2a
2L 2p
Im weiteren Verlauf dieses Abschnitts beschränken wir uns auf
Potenziale mit ˛ > 0.
r r
Da sich das effektive Potenzial für r ! 1 wie U.r/ ! 0 ver- p
hält, können Bahnen nur gebunden sein, wenn E < 0 gilt. Dies ϕ
entspricht der Bedingung " < 1, wie aus (3.76) zu erkennen ist. 2b
Dies sieht man ebenfalls an der Form der Bahnkurve in (3.80): B2 M B1 x1
Für " < 1 ist der Nenner stets positiv und r.'/ damit endlich. f
Wir werden nun zeigen, dass der Fall " < 1 tatsächlich eine el- 2f
lipsenförmige Bahn beschreibt. Eine Ellipse ist die Menge aller
Punkte in einer Ebene, die r C r0 D 2a D const erfüllen, wobei
r und r0 die Abstände zu den beiden sogenannten Brennpunkten
sind (Abb. 3.8). Die Größe a ist die
p große Halbachse der Ellip-
se. Die kleine Halbachse ist b D a2  f 2 , wobei f der Abstand
eines Brennpunktes zum Mittelpunkt ist. Die Brennweite f wird
auch häufig als lineare Exzentrizität e bezeichnet.
Abb. 3.8 Zur Definition einer Ellipse. Jeder Punkt auf einer Ellipse hat von
Man definiert die numerische Exzentrizität einer Ellipse als den beiden Brennpunkten B1 und B2 den gleichen Gesamtabstand (jrj C jr0 j).
Der Abstand eines Brennpunktes vom Mittelpunkt M ist f , die große und kleine
p s Halbachse sind a und b. In diesem Fall ist das Koordinatensystem so gewählt,
f a2  b2 b2 dass die Brennpunkte auf der x1 -Achse liegen und B1 den Ursprung bildet
" WD D D 1 2
a a a (3.83)
b p
H) D 1  "2 :
a Ellipse. Definiert man f eO 1 als den Vektor, der vom Mittelpunkt
der Ellipse zum Brennpunkt B1 zeigt, so gilt
Die Exzentrizität ist ein Maß für die Abweichung von der Kreis-
form und auf das Intervall Œ0; 1/ beschränkt. Im Grenzfall " D 0
findet man wieder einen Kreis. Ein Kreis ist daher eine spezielle r  r0 D 2f eO 1 H) r02 D r2 C 4f 2 C 4fr cos ': (3.84)
3.3 Das Kepler-Problem 101

Wegen r C r0 D 2a ist weiterhin kann man die Ellipsenfläche auch in der Form
s

Teil I
r02 D .2a  r/2 D 4a2 C r2  4ar: (3.85) a3 L
AD L D T (3.91)
0 ˛ 2
Kombiniert man (3.84) und (3.85), um r zu eliminieren, findet
man zunächst
schreiben.
4r.f cos ' C a/ D 4.a  f /:
2 2
(3.86)
Das dritte Kepler’sche Gesetz
Aufgelöst nach r hat man
Die Quadrate der Umlaufzeiten der Planeten verhalten
sich wie die Kuben ihrer großen Bahnhalbachsen:
a f
2 2
a.1  " / 2
rD D : (3.87)
f cos ' C a 1 C " cos ' 4 2

T2 D a3 : (3.92)
˛
Im letzten Schritt wurde f D "a eingesetzt. Identifiziert man
nun den Bahnparameter als p D a.1  "2 /, findet man die Der Term 4 2
=˛ ist dabei näherungsweise eine Kon-
Bahnkurve in (3.80) wieder. Wir können daraus direkt das erste stante.
Kepler’sche Gesetz ableiten.

Interessanterweise wurden die Kepler’schen Gesetze – aufbau-


Das erste Kepler’sche Gesetz
end auf astronomischen Beobachtungsdaten – bereits in den
Die Planeten bewegen sich auf Ellipsenbahnen, in deren Jahren 1609 und 1618 postuliert. Dies war lange bevor die New-
einem Brennpunkt die Sonne steht. ton’sche Mechanik (1687) veröffentlicht und somit nachträglich
die mathematische Grundlage für die Kepler’schen Gesetze ge-
schaffen wurde.
Frage 13 Frage 14
Zeigen Sie ausgehend von (3.80), dass der Bahnparameter p Zeigen Sie, dass der Term =˛ in (3.92) für alle Planeten des
dem Abstand r. =2/ entspricht, wenn man das in Abb. 3.8 de- Sonnensystems näherungsweise 1=.Gm2 / entspricht. Nehmen
finierte Koordinatensystem zugrunde legt. In diesem Fall steht Sie dabei an, dass die Sonnenmasse groß gegenüber den Pla-
der Vektor r senkrecht auf eO 1 . Machen Sie sich anhand derselben netenmassen ist, m2 m1 .
Gleichung klar, dass der Winkel zwischen rmin und rmax gerade
ist. Überlegen Sie sich dazu, welche Werte ' annehmen muss,
damit r minimal und maximal wird. Die Ellipsenbahn ist nach Streng genommen ist der Proportionalitätsfaktor zwischen T 2
einem vollen Umlauf geschlossen. und a3 somit keine konstante Größe. Für die meisten An-
wendungen kann diese Abweichung allerdings vernachlässigt
werden.
Wegen (3.76) ist die Energie im Falle einer Ellipsenbahn
Achtung Das erste und dritte Kepler’sche Gesetz sind nur für
˛ 2 ˛ 2 p ˛ anziehende Potenziale V.r/ / 1=r (z. B. Gravitationspotenzial)
E D  2 .1  "2 / D  2 D  < 0: (3.88) gültig. Das zweite Kepler’sche Gesetz ist jedoch für alle Poten-
2L 2L a 2a
ziale mit Drehimpulserhaltung erfüllt (d. h. beliebige V.r/). J

Wir wollen nun noch untersuchen, wie lang die Umlaufdauer


auf der Ellipsenbahn ist. Aus dem Flächensatz AP D L=.2/ D
const folgt Parabel- und Hyperbelbahnen
L
AD T; (3.89)
2
Betrachten wir zunächst den speziellen Fall " D 1, für den aus
wobei A die Fläche der Ellipse und T die Umlaufdauer ist: (3.76) E D 0 folgt. An der Bahnkurve
Während eines Umlaufs wird die Ellipse einmal vollständig
p
überstrichen. Andererseits ist die Fläche einer Ellipse durch r.'/ D (3.93)
A D ab gegeben. Wegen 1 C cos '
s erkennt man, dass der Radius für ' D ˙ divergiert: Die Bahn
p p L2 a
b D a 1  "2 D ap D (3.90) ist ungebunden. Mathematisch entspricht diese Bahnkurve einer
˛ Parabel. Eine Parabel ist die Menge aller Punkte in einer Ebene,
102 3 Systeme von Punktmassen

a b
x2 x2
Teil I

r r

p
r r
p

ϕ ϕ
B x1 B2 M B1 x1

2f a
f

Abb. 3.9 Zur Definition einer Parabel (a) und Hyperbel (b). Jeder Punkt auf einer Parabel hat zum Brennpunkt B und der Leitlinie (x2 -Achse) den gleichen Abstand
(jrj D jr0 j). Die Länge f entspricht dem Abstand vom Brennpunkt zum Scheitelpunkt der Parabel bzw. dem Abstand zwischen Scheitelpunkt und Leitlinie. Bei einer
Hyperbel ist für jeden Punkt die Differenz der Abstände zu einem Brennpunkt und der Leitlinie eine Konstante. Eine Hyperbel besteht aus zwei getrennten Ästen,
einer mit Brennpunkt B1 , der andere mit Brennpunkt B2 . Beide gehen durch eine Spiegelung an der Leitlinie (x2 -Achse) ineinander über. Man beachte die Definition
des Winkels ' für eine Parabel und Hyperbel einerseits und für eine Ellipse (Abb. 3.8) andererseits. In allen Fällen entspricht ' D 0 dem kleinsten Abstand zum
Brennpunkt

die zu dem Brennpunkt und der Leitlinie den gleichen Abstand wie bei der Ellipsengleichung führt schließlich auf
haben (Abb. 3.9). Aus dieser Abbildung erkennt man, dass
p
rD ; (3.96)
2f 1 C " cos '
r D 2f  r cos ' H) rD (3.94)
1 C cos '
wobei " D f =a die Exzentrizität und p D a."2  1/ der Bahn-
gilt. In diesem Fall sind der Abstand des Brennpunktes von der parameter einer Hyperbel sind.
Leitlinie und der Bahnparameter über p D 2f verknüpft. Frage 15
Der letzte verbleibende Fall ist " > 1 und damit E > 0. Dies Der interessierte Leser darf die Rechnung, die auf das Zwi-
entspricht einem der beiden Äste einer Hyperbel. Hier divergiert schenergebnis p D a."2  1/ führt, nachvollziehen. Dazu
der Abstand r, wenn 1 C " cos ' D 0 wird: verwende man die Definitionen und Konventionen für eine Hy-
perbel in Abb. 3.9 und orientiere sich an der entsprechenden
  Rechnung für eine Ellipse.
1
'1 D arccos  > : (3.95)
" 2
Achtung Ist das 1=r-Potenzial abstoßend, z. B. für zwei iden-
Winkel, die auf negative Abstände führen, sind auszuschließen, tische Ladungen, ist ˛ < 0. Man erkennt sofort, dass die
da stets r  0 erfüllt sein muss. Daher ist die Bewegung auf Exzentrizität " der Bahn unabhängig vom Vorzeichen ist, der
Winkel j'j  '1 eingeschränkt. Diese Art der Bewegung Stoßparameter p wird allerdings negativ. Aus (3.80) folgt dann,
nennt man Streuung (Abschn. 3.4), da die Punktmassen aus dem dass es Werte für ' geben muss, für die 1 C " cos ' negativ ist,
Unendlichen kommend wechselwirken und daraufhin mit einem da stets r  0 erfüllt sein muss. Somit können für das abstoßen-
Streuwinkel 2'1 zurück ins Unendliche laufen. de Potenzial nur Bahnen mit " > 1 und damit keine gebundenen
Bahnen existieren. J
Eine Hyperbel ist die Menge aller Punkte in einer Ebene, die
von zwei Brennpunkten die Abstände r0 und r besitzen und für Genau wie die Kreisbahn findet man die Parabelbahn nur für
die r0  r D 2a D const gilt (Abb. 3.9). Ein ähnliches Vorgehen einen exakt eingestellten Energiewert (E D ˛=.2p/ für einen
3.4 Elastische Stöße und Streuung 103

Kreis und E D 0 für eine Parabel). In der Realität beobachtet Energieerhaltung wichtige Aussagen über Stöße getroffen wer-
man in der Regel Ellipsenbahnen bei gebundenen und Hyper- den können, die sogar in der Quantenmechanik ihre Gültigkeit

Teil I
belbahnen bei ungebundenen Himmelskörpern. behalten.
Bei der Streuung werden die einfallenden Teilchen um einen
Winkel, den Streuwinkel, abgelenkt. Wir werden sehen, dass der
Streuwinkel eng mit dem Wechselwirkungspotenzial zusam-
Periheldrehung menhängt. Dabei kommt der Wirkungsquerschnitt der Wechsel-
wirkung ins Spiel.
Gleichung (3.80) besagt, dass bei einem vollen Umlauf auf ei- In Experimenten lassen sich durch die Vermessung der Streu-
ner Ellipsenbahn (" < 1) im Gravitationspotenzial die Bahn winkel und des Wirkungsquerschnitts Aussagen über die Art
geschlossen ist. Das Perihel befindet sich immer am gleichen der Wechselwirkung zwischen den Teilchen treffen. Dies wurde
Ort. Dies gilt nicht, wenn das Potenzial von der 1=r-Form ab- zwischen 1909 und 1913 von Rutherford zuerst mit der Streu-
weicht. In Wirklichkeit gibt es viele Ursachen für geringfügige ung von Heliumkernen an einer Goldfolie durchgeführt. Dies
Korrekturen dieses Potenzials: Einfluss der übrigen Planeten, führte auf das Rutherford’sche Atommodell: Die gesamte posi-
Abweichung der Sonnenform von der Kugelgestalt, relativisti- tive Ladung des Atomkerns ist in einem sehr kleinen Volumen
sche Effekte. Dies ist besonders bei Merkur zu sehen, dessen im Zentrum konzentriert.
Perihel sich pro Erdjahr um 5,74 Bogensekunden verschiebt.
Merkur ist der sonnennächste und schnellste Planet und erfährt
somit die stärksten Bahnstörungen.
Elastischer Stoß zwischen zwei Teilchen
Ist die Störung klein, kann man

V.r/ D V0 .r/ C ıV.r/; ıV V0 (3.97) Wir untersuchen das Verhalten zweier Teilchen (z. B. zweier
Elementarteilchen oder Himmelskörper), die, aus dem Unendli-
schreiben, d. h., man schreibt das Potenzial als Summe des chen kommend, miteinander wechselwirken und danach wieder
ungestörten Potenzials und einer kleinen Korrektur. Für das ins Unendliche fortlaufen. Die Wechselwirkung sei elastisch,
Kepler-Problem ist V0 .r/ D ˛=r. In Aufgabe 3.3 wird gezeigt, d. h., die mechanische Energie wird nicht in andere Energie-
dass die durch die Störung verursachte zusätzliche Periheldre- formen wie Verformung oder Wärme umgewandelt: Die Sum-
hung nach einem vollen Umlauf me aus kinetischer und potenzieller Energie ist erhalten. Der
Energieerhaltungssatz ist – zusammen mit dem Impulserhal-
0 1 tungssatz – der zentrale Ausgangspunkt für diesen Abschnitt.
Z
@ @ 2 Selbstverständlich setzen wir auch stillschweigend voraus, dass
ı' D r2 ıV.r/ d' A (3.98)
@L L die Massen der beiden Teilchen sich nicht ändern. Man be-
0 zeichnet die Masse, den Impuls und die Energie auch als
Kollisionsinvarianten oder Stoßinvarianten. In Kap. 10 wird
ist. Zur Berechnung von (3.98) muss zunächst das Störpotenzial die inelastische Streuung behandelt, wo diese Voraussetzungen
ıV.r/ spezifiziert und das Integral unter Berücksichtigung von nicht mehr erfüllt sind.
r D r.'/ gelöst werden. Hierzu verwendet man die ungestör-
te Bahnkurve, d. h. diejenige, die sich aus dem Potenzial V0 .r/ Die beiden Teilchen haben die Massen m1 und m2 und Ge-
ergibt. schwindigkeiten v i;1 und v i;2 vor dem Stoß und v f;1 und v f;2
nach dem Stoß (i für initial und f für final, wie in der Physik
Der Grund ist, dass ıV.r/ bereits eine kleine Größe ist. Würde üblich). Die Wechselwirkung habe die Eigenschaft, dass im Un-
man statt r.'/ die gestörte Bahnkurve r.'/ C ır.'/ verwenden, endlichen keine Kraft zwischen den beiden Teilchen wirkt. Dies
würde man mit ır.'/ eine weitere kleine Korrektur einbringen, ist beispielsweise für gravitative Wechselwirkungen der Fall, da
die letztlich von zweiter Ordnung in ı und damit vernachläs- die Kraft mit 1=r2 für r ! 1 gegen null geht. Wir gehen davon
sigbar ist. Im Allgemeinen hängt die Bahnkurve und damit das aus, dass die beiden Teilchen zusammen ein isoliertes System
Integral von L ab, sodass im letzten Schritt die Ableitung nach bilden und die Wechselwirkung dem dritten Newton’schen Axi-
L durchgeführt werden kann. Dies wird anhand eines einfachen om gehorcht. Dann ist der Gesamtimpuls erhalten:
Beispiels in Aufgabe 3.3 durchgeführt.
m1 v i;1 C m2 v i;2 D m1 v f;1 C m2 v f;2 : (3.99)
Aufgrund der bereits verlangten Energieerhaltung gilt weiterhin
3.4 Elastische Stöße und Streuung m1 2
v i;1 C
m2 2
v i;2 D
m1 2
v f;1 C
m2 2
v : (3.100)
2 2 2 2 f;2
Stöße von zwei Teilchen und die Streuung von Teilchen an so- Eine potenzielle Energie im Unendlichen ist unerheblich, da sie
genannten Targets spielen eine große Rolle in der Physik. Es vor und nach dem Stoß gleich ist und nicht in die Bilanzglei-
zeigt sich, dass allein aufgrund der allgemeinen Impuls- und chung eingeht. Außerdem lässt sich die Integrationskonstante
104 3 Systeme von Punktmassen

Vertiefung: Laplace-Runge-Lenz-Vektor
Teil I

Zusammenhang mit Abwesenheit der Periheldrehung

Eng verbunden mit dem idealen Kepler-Problem (d. h. oh- nicht erhalten wäre. Dazu muss man anmerken, dass im
ne Periheldrehung) ist der sogenannte Laplace-Runge-Lenz- Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie sehr wohl eine
Vektor (nach dem französischen Mathematiker und Physiker Periheldrehung existiert, die nichts mit äußeren Störeffekten
Pierre-Simon Laplace, 1749–1827, dem deutschen Mathe- zu tun hat, sondern durch die Raumkrümmung verursacht
matiker Carl Runge, 1856–1927 und dem deutschen Physi- wird, welche die beiden sich umkreisenden Massen erzeu-
ker Wilhelm Lenz, 1888–1957). Er ist definiert als (Goldstein gen.
1975, 1976)
Achtung Gelegentlich wird Q in der Literatur mit einem
1 r
Q WD .Pr  L/  abweichenden konstanten Vorfaktor definiert. Bis auf seinen
˛ r Betrag ändert dies nichts an seinen Eigenschaften. Andere
und hat folgende Eigenschaften (siehe Aufgabe 3.4): Autoren bezeichnen den Vektor mit . J
Der Vektor Q erfüllt im 1=r-Potenzial QP D 0 und ist dort
somit eine Erhaltungsgröße.
Sein Betrag entspricht der Exzentrizität, jQj D ". Literatur
Er liegt in der Bahnebene und zeigt vom Ursprung zum
Perihel bzw. Perigäum. Goldstein, H.: Prehistory of the “Runge-Lenz” Vector.
Am. J. Phys. 43, 737 (1975)
Dies bedeutet vor allem, dass es im Newton’schen Gravi- Goldstein, H.: More on the Prehistory of the Laplace or
tationspotenzial keine Periheldrehung gibt, da sonst Q dort Runge-Lenz Vector. Am. J. Phys. 44, 1123 (1976)

der potenziellen Energie stets so wählen, dass V.r/ D V.x1 


x2 / ! 0 für jrj ! 1 erfüllt ist. Bereits mit diesen sehr allge- v f,1
meinen Erhaltungssätzen lassen sich wichtige Aussagen treffen.
Die Untersuchung vereinfacht sich, wenn sie im Schwerpunkt-
system S0 durchgeführt wird (mit einem Strich gekennzeichnet).
Die Orte der beiden Teilchen (i D 1; 2) und des Schwerpunktes
sind v i,1
ϑ
m1 x1 .t/ C m2 x2 .t/
x0i .t/ D xi .t/  X.t/; X.t/ D : (3.101) b
m1 C m2 X
ϑ
v i,2
Per Definition ist X0 D 0. Wegen der Impulserhaltung ist das
Schwerpunktsystem ein Inertialsystem, und die Geschwindig-
keiten und Beschleunigungen transformieren sich wie
P
xP i D xP 0i C X; xR i D xR 0i D r 0i V.x01  x02 /: (3.102)
v f,2
Die Erhaltungssätze aus (3.99) und (3.100) lauten im Schwer-
punktsystem
Abb. 3.10 Beispiel der Streuung im Schwerpunktsystem S0 für zwei identische
m1 v 0i;1 C m2 v 0i;2 D m1 v 0f;1 C m2 v 0f;2 D 0; Massen (m1 D m2 ). Beide Bahnkurven sind zu jedem Zeitpunkt punktsymme-
m1 02 m2 02 m1 02 m2 02 (3.103) trisch zum Schwerpunkt X. Durch die Streuung werden die beiden Punktmassen
v C v D v C v : um denselben Streuwinkel # 0 abgelenkt. Die Gleichheit der Streuwinkel gilt für
2 i;1 2 i;2 2 f;1 2 f;2
jedes beliebige Massenverhältnis m1 =m2 . Die Asymptoten der Bahnkurven sind
ebenfalls eingezeichnet. Den asymptotischen Abstand b der Bahnkurven beider
Aus der Impulserhaltung folgt sofort m1 v 0i;1 D m2 v 0i;2 und Punktmassen nennt man Stoßparameter
m1 v 0f;1 D m2 v 0f;2 . Der Winkel zwischen Einfalls- und Aus-
fallsrichtung ist der Streuwinkel # 0 (Abb. 3.10): Achtung Der Streuwinkel ist im Schwerpunktsystem S0 für
beide Teilchen gleich, da der Gesamtimpuls dort verschwindet.
v0  v0 v0  v0 Dies ist in einem beliebigen Inertialsystem allerdings nicht der
cos # 0 D ˇ 0i;1ˇ ˇ f;1 ˇ D ˇ 0i;2ˇ ˇ f;2 ˇ: (3.104)
ˇv ˇ ˇv ˇ 0 ˇv ˇ ˇv 0 ˇ Fall. J
i;1 f;1 i;2 i;2
3.4 Elastische Stöße und Streuung 105

a b
v i,2

Teil I

ϑ Ẋ ϑ2

v f,1
v f,1
v f,2 v f,2

ϑ ϑ2
ϑ1

Abb. 3.11 Zum Transformationsverhalten der Streuwinkel #1 und #2 im Laborsystem S und # 0 im Schwerpunktsystem S0 . In a wird dargestellt, wie der Streuwinkel
P beeinflusst wird. Das Dreieck, das in b durch die Vektoren v 0f;2 , v f;2 und v 0i;2 bzw. X
#1 durch die Schwerpunktsgeschwindigkeit X P gebildet wird, ist gleichschenklig,
0 0
da jv f;2 j D jv i;2 j gilt

Frage 16 ist. Nach dem Stoß ist die Geschwindigkeit von m1 im Labor-
Zeigen Sie durch geeignete Kombination der Gleichungen in system S
(3.103), dass folgende Eigenschaften gelten: m1
v f;1 D v 0f;1 C XP D v 0f;1 C v i;1 : (3.108)
jv 0i;1 j D jv 0f;1 j; jv 0i;2 j D jv 0f;2 j: (3.105) M
Aus Abb. 3.11 erkennt man die Relationen zwischen den Streu-
Die Beträge der Geschwindigkeiten im Schwerpunktsystem S0 winkeln in S und S0 :
vor und nach dem Stoß sind also gleich.
0
vf;1 sin #1 D vf;1 sin # 0 ;
0 m1 (3.109)
vf;1 cos #1 D vf;1 cos # 0 C vi;1 ;
M
Transformation der Streuwinkel wobei (3.106) benutzt und mit #1 der Streuwinkel von m1 im
vom Schwerpunkt- ins Laborsystem Laborsystem eingeführt wurde. Diese Gleichungen beinhalten
die Geschwindigkeiten in beiden Koordinatensystemen. Darum
gehen wir einen Schritt weiter und schreiben mit (3.105) und
Ohne genauere Aussagen über die Form des Potenzials V.x1  (3.107) den Tangens des Streuwinkels in S:
x2 / zu machen, ist es nicht möglich, den Streuwinkel # 0 zu be-
0
rechnen. Bevor wir dies jedoch unternehmen, wollen wir noch sin #1 vf;1 sin # 0
untersuchen, wie sich der Streuwinkel beim Übergang in das tan #1 D D 0
cos #1 vf;1 cos # 0 C mM1 vi;1
Laborsystem S transformiert. Das Laborsystem ist jenes Ko-
ordinatensystem, in dem m2 anfangs ruht. Der Gesamtimpuls sin # 0
D : (3.110)
verschwindet daher nicht, und wir werden sehen, dass die Streu- cos # 0 C m1
m2
winkel der beiden Teilchen nicht identisch sind und in der Regel
nicht dem Schwerpunktstreuwinkel # 0 entsprechen. Die Re- Frage 17
levanz der Streuwinkeltransformation vom Schwerpunkt- ins
Überprüfen Sie das Endergebnis in (3.110).
Laborsystem ist direkt ersichtlich: Häufig werden in Experi-
menten Teilchen auf ruhende Targets geschossen. Es ist daher
von großer Bedeutung, die Beobachtungen in beiden Bezugs- Gleichung (3.110) erlaubt es, nur mit Kenntnis des Massenver-
systemen miteinander in Relation zu bringen. hältnisses m1 =m2 , den Streuwinkel für m1 zwischen Labor- und
Ruht die Masse m2 in S vor dem Stoß, v i;2 D 0, bewegt sich Schwerpunktsystem umzurechnen. Aus Abb. 3.12 liest man die
der Schwerpunkt von m1 und m2 gemäß folgenden Eigenschaften der Transformation ab:

m1 Ist m1 m2 , sind beide Streuwinkel praktisch identisch,


XP D v i;1 ; (3.106) #1 # 0 .
M
Für m1  m2 beobachtet man im Laborsystem keine Rück-
wobei M D m1 C m2 die Gesamtmasse ist. Daraus folgt sofort, wärtsstreuung mehr, da #1  =2 gilt. Der maximal erreich-
dass die Geschwindigkeit von m1 im Schwerpunktsystem S0 vor bare Streuwinkel #1 nimmt ab, wenn das Massenverhältnis
dem Stoß m2 m1 =m2 weiter erhöht wird. Die Kurve #1 .# 0 / ist dann nicht
v 0i;1 D v i;1  XP D v i;1 (3.107) mehr monoton.
M
106 3 Systeme von Punktmassen

ϑ1 Wir gehen wieder davon aus, dass v i;2 D 0 ist. Dann gilt wegen
m1 /m2 = 0,01
(3.106)
Teil I

180◦
m1 /m2 = 0,05  2  m1 2
m1 /m2 = 0,09 v 2f;1 D v 0f;1 C XP D v 0f;1 C v i;1
m1 /m2 = 1 M
(3.114)
135◦ m1 /m2 = 1,1 2m m2
D v 02 jv 0f;1 jjv i;1 j cos # 0 C 12 v 2i;1 :
1
m1 /m2 = 2 f;1 C
M M
m1 /m2 = 10
Die Energieerhaltung verlangt, wie bereits erwähnt,
90◦
 
v 02 02
f;1 D v i;1 D v i;1  X
P 2
 m1 2  m1 2 (3.115)
45◦
D v i;1  v i;1 D v 2i;1 1  :
M M
Kombiniert man (3.114) und (3.115), folgt

0◦ m1 2 2m1  m1  m2
0◦ 45◦ 90◦ 135◦ 180◦ ϑ v 2f;1 D v 2i;1 1 C 1 cos # 0 C 12
M M M M
h m1  m1  i
Abb. 3.12 Funktionaler Zusammenhang zwischen den Streuwinkeln # 0 im 0
Schwerpunktsystem S0 und #1 im Laborsystem S. Wegen (3.110) hängt #1 .# 0 /
D v i;1 1 C 2
2
1 .cos #  1/ :
M M
vom Massenverhältnis m1 =m2 ab (3.116)

Energieübertrag bei elastischer Streuung


Nun suchen wir noch den Streuwinkel #2 in S. Die Geschwin- im Laborsystem
digkeit der Masse m2 in S ist anfangs v i;2 D 0. In S0 gilt daher
Die relative Änderung der kinetischen Energie eines im
m1 Laborsystem gestreuten Teilchens der Masse m1 ist
v 0i;2 D XP D  v i;1 : (3.111)
M
Tf;1  Ti;1 m1  m1 
D2 1 .cos # 0  1/  0 (3.117)
In Abb. 3.11 bilden die drei Vektoren v f;2 , v 0f;2 und XP ein Ti;1 M M
Dreieck, da v f;2 D v 0f;2 C XP gilt. Weiterhin ist wegen (3.105)
jv 0i;2 j D jv 0f;2 j. Die Vektoren v 0i;2 , v 0f;2 und XP sind also gleich mit M D m1 Cm2 . Für alle Streuwinkel # 0 > 0 verliert das
lang, weshalb das Dreieck gleichschenklig ist. Der Winkel Teilchen kinetische Energie, die auf das zweite Teilchen
zwischen v f;2 und XP ist der gesuchte Winkel #2 . Wegen der übertragen wird. Der Streuwinkel # 0 im Schwerpunktsys-
Gleichschenkligkeit des Dreiecks gilt dies ebenfalls für den tem kann formal mithilfe von (3.110) in den Streuwinkel
Winkel zwischen v f;2 und v 0f;2 . Der dritte verbleibende Win- im Laborsystem überführt werden.
kel im Dreieck ist # 0 , da XP D v 0i;2 gilt. Aus der bekannten
Winkelsumme im Dreieck folgt
Frage 18
 #0 Unter bestimmten Umständen kann es passieren, dass m1 in S
#2 D : (3.112)
2 seine gesamte kinetische Energie an m2 abgibt: m1 ruht dann
nach dem Stoß, Tf;1 D 0. Machen Sie sich zunächst anschau-
lich klar, dass dies nur für # 0 D möglich ist. Zeigen Sie dann
anhand von (3.117), dass ein Massenverhältnis m1 =m2 D 1 not-
Energieübertrag bei elastischer Streuung wendig ist, um Tf;1 D 0 zu erreichen. Das Ergebnis erklärt die
im Laborsystem Funktionsweise des Newton’schen Pendels (Abb. 3.13).

Da die Geschwindigkeiten der beiden Teilchen laut (3.105) in S0 Fly-by-Manöver


vor und nach dem Stoß identisch sind, sind auch die kinetischen
Energien gleich: In der Raumfahrt ist das sogenannte Fly-by- oder Swing-
by-Manöver eine wichtige Anwendung der elastischen
0 0 0 0
Tf;1 D Ti;1 ; Tf;2 D Ti;1 : (3.113) Streuung. Dabei wird eine Raumsonde an einem Planeten
gestreut, um Betrag und Richtung der Geschwindigkeit
Diese Aussage ist jedoch nicht in S gültig. Dort kommt es zu zu ändern. Der Planet erfährt aufgrund seiner großen
einem Energieübertrag zwischen den beiden Teilchen.
3.4 Elastische Stöße und Streuung 107

Anwendung: Neutronenstreuung in Kernreaktoren

Teil I
Wahl des Moderators

Werden Neutronen in einem Kernreaktor an Atomen elas- keit zu einer Kernspaltung führen als schnelle, müssen die
tisch gestreut, übertragen sie kinetische Energie an die Tar- schnelleren zunächst abgebremst (moderiert) werden. Da-
getatome und werden dadurch abgebremst. Der Vorfaktor zu eignen sich am besten Moderatoren mit einem geringen
y.1  y/ mit y WD m1 =M in (3.117) wird maximal, wenn Atomgewicht. Hierbei muss zusätzlich berücksichtigt wer-
y D 1=2 bzw. m1 D M=2 und somit m1 D m2 ist. Die den, dass der Moderator keine Neutronen einfangen soll, da
effizienteste Abbremsung eines Neutrons wird daher mit ei- diese sonst der Kettenreaktion entzogen werden. Häufig ver-
nem Target der gleichen Masse erreicht. Dieser Effekt ist für wendete Moderatoren sind Deuterium (ein Wasserstoffisotop
den Betrieb von Kernreaktoren von großer Bedeutung: Da mit einem Neutron und einem Proton im Kern) oder Kohlen-
langsame Neutronen mit einer viel höheren Wahrscheinlich- stoff in Form von Grafit.

a b c

Abb. 3.13 Funktionsweise des Newton’schen Pendels. Lenkt man die beiden linken Kugeln aus und lässt sie los (a), stoßen sie mit den übrigen drei Kugeln
zusammen, welche anfangs in Ruhe waren (b). Energie und Impuls können nur dann gleichzeitig erhalten werden, wenn die beiden rechten Kugeln nach dem Stoß
die Schwingung fortsetzen und die übrigen ruhen (c). Die Aussage ist auch dann gültig, wenn anfangs eine, drei oder vier Kugeln ausgelenkt werden

zwischen dem Streuwinkel und den Bedingungen, unter denen


Masse dabei keine messbare Geschwindigkeitsänderung. ein Teilchen gestreut wird. Entscheidend dafür sind insbeson-
Der „Trick“ bei diesem Manöver ist, dass die kinetische dere die Form des Wechselwirkungspotenzials, die Energie und
Energie der Raumsonde zwar im Schwerpunktsystem vor der Drehimpuls des einfallenden Teilchens.
und nach dem Stoß gleich ist, nicht aber im Bezugssystem Man stelle sich ein Teilchen der Masse m1 vor, das aus dem
der Sonne. Somit lassen sich Raumsonden mit einem ge- Unendlichen kommend durch ein Target der Masse m2 gestreut
ringen Treibstoffbedarf relativ zur Sonne beschleunigen, wird. Wir können die Situation durch das äquivalente Einteil-
was beispielsweise die Voyager-Missionen zur Erkun- chenproblem mit reduzierter Masse  im Schwerpunktsystem
dung des äußeren Sonnensystems ermöglichte. J beschreiben. Da das Potenzial im Unendlichen verschwinden
soll, kann die erhaltene Energie in der Form
 2
ED v >0 (3.118)
2 1
Stoßparameter und Streuwinkel
geschrieben werden. Hier ist v1 die Relativgeschwindigkeit im
Unendlichen. Wir beschränken uns nun auf radialsymmetrische
Bis zu diesem Punkt wurde nur die Kinematik der Streuung Zentralkräfte (d. h. auf Potenziale der Form V.r/), sodass der
untersucht. Die bisherige Diskussion ist für sämtliche Poten- Betrag des Drehimpulses,
ziale der Form V.x2  x1 /, die im Unendlichen verschwinden,
gültig und hat zu sehr allgemeinen Ergebnissen geführt. Als Fol- L D bv1  0; (3.119)
ge davon ist die Betrachtung des Streuwinkels bis zu diesem
Punkt rein qualitativ. Für die praktische Anwendung ist es je- erhalten ist. Die Größe b ist der Stoßparameter, der Mindestab-
doch wichtig zu wissen, wie viele Teilchen eines einfallenden stand, mit dem m1 das Target m2 passieren würde, wenn es
Teilchenstrahles durch ein Target unter einem bestimmten Win- keine Wechselwirkung zwischen beiden gäbe (Abb. 3.14). Die
kel gestreut werden. Um dieses Ziel zu erreichen, gehen wir Relativbewegung von m1 und m2 ist aufgrund der Annahmen
schrittweise vor. Zunächst stellen wir einen Zusammenhang her ungebunden, und  wird unter einem Winkel # 0 gestreut. Dies
108 3 Systeme von Punktmassen

gilt, wobei U.r/ D V.r/ C L2 =.2r2/ eingesetzt wurde. Wenn


v∞ das Potenzial V.r/ und die Energie E bekannt sind, ist der Streu-
Teil I

winkel nur eine Funktion des Stoßparameters b. Umgekehrt


lässt sich auf das Wechselwirkungspotenzial schließen, wenn
man den Streuwinkel als Funktion des Stoßparameters misst.
Wie bei der Bestimmung der Bahnkurven hängt es auch hier
Δϕ
von der funktionalen Form von V.r/ ab, ob der Streuwinkel # 0
v∞
ϑ analytisch berechnet werden kann.
Die Streuung eines Teilchens im Gravitations- bzw. Coulomb-
rmin b Potenzial nennt man Rutherford’sche Streuung (nach dem neu-
seeländischen Physiker Ernest Rutherford, 1871–1937). Dort
O
lässt sich ein einfacher funktionaler Zusammenhang zwischen
Stoßparameter und Streuwinkel in geschlossener Form ange-
ben. Aus der Hyperbelbahn (3.80) des Kepler-Problems folgt
Abb. 3.14 Streuung für das effektive Einkörperproblem. Die effektive Masse  
1
nähert sich dem Ursprung O zunächst auf einer Bahn, die mit dem Stoßpa- ' D 2 arccos  (3.123)
rameter b daran vorbeiführen würde. Sie wird jedoch unter einem Winkel # 0 "
gestreut, nähert sich dem Ursprung bis auf rmin und entfernt sich wieder. Der
Betrag von Einfalls- und Ausfallsgeschwindigkeit ist v1 . Der Winkel ' wird mit der numerischen Exzentrizität " in (3.76). Der Zusam-
von den asymptotischen Bahnästen eingeschlossen menhang zwischen Stoßparameter und Streuwinkel ergibt sich
durch Einsetzen von (3.76) in (3.123), Elimination des Drehim-
pulses mithilfe von (3.119) und anschließendem Auflösen.
ist gerade der Streuwinkel im Schwerpunktsystem. Wir wer-
den nun zunächst zeigen, dass der Streuwinkel von der Art Zusammenhang zwischen Stoßparameter und Streu-
des Potenzials, der Energie und dem Stoßparameter abhängt. winkel bei der Rutherford’schen Streuung
Gleichung (3.59) beschreibt die allgemeine Bahnkurve im ra-
dialsymmetrischen Zentralkraftfeld. Da die Bahnkurve symme- Wird ein Teilchen im Gravitations- bzw. Coulomb-Po-
trisch bei Spiegelung am Umkehrpunkt (hier: Mindestabstand) tenzial gestreut, lautet die geschlossene Form für den
ist, gilt Zusammenhang zwischen Stoßparameter und Streuwinkel
im Schwerpunktsystem
Z1  
dr0 1 ˛2
' D 2L p : (3.120) b2 D 1 : (3.124)
r02 2 .E  U.r0 // 2
sin .# 0 =2/ 4E2
rmin

Dies entspricht auch (3.63), wenn rmax D 1 gesetzt wird. Die


Größe ' ist der Winkel zwischen den asymptotischen Einfall- Frage 20
und Ausfallästen der Bahnkurve. Überzeugen Sie sich von dem Ergebnis in (3.124). Ersetzen
Sie dazu den auftretenden Kosinus durch den Sinus, indem Sie
Frage 19 # 0 D  ' und sin x D cos.x  =2/ ausnutzen. Zeigen
Überlegen Sie sich, dass der Mindestabstand rmin aus der Bedin- Sie weiterhin, dass es für b2 keine Rolle spielt, ob das Potenzi-
gung dr=d' D 0 folgt, was wegen (3.58) direkt auf E D U.rmin / al anziehend oder abstoßend ist. Tipp: Überprüfen Sie, welche
führt. Diese Ergebnisse haben wir bereits in Abschn. 3.2 ge- Folgen die Transformation ˛ ! ˛ hat.
funden. Der Mindestabstand ist eindeutig durch das effektive
Potenzial und die Energie bestimmt.

Der Drehimpuls kann als Funktion von b und E geschrieben


Differenzieller und totaler Wirkungsquerschnitt
werden: p
L D b 2E: (3.121) Wir stellen uns nun einen parallelen Strahl von Teilchen mit
einer konstanten und homogenen Teilchenstromdichte
Der Streuwinkel ist # 0 D ' (Abb. 3.14), sodass schließlich
N
ID (3.125)
Z1 0
t f
dr
#0 D  2b p (3.122) vor, d. h., pro Zeiteinheit t laufen N Teilchen durch eine Flä-
r02 .1  b2 =r02  V.r0 /=E/
rmin che f hindurch. Jedes Teilchen habe die Energie E (3.118).
3.4 Elastische Stöße und Streuung 109

Teil I
b ϑ

db dϑ

Abb. 3.15 Skizze eines Streuexperiments. Teilchen mit Stoßparameter b werden durch ein Target gestreut und anschließend unter einem Streuwinkel # 0 mit
einem Detektor nachgewiesen. Idealerweise befindet sich der Detektor in einem sehr großen Abstand vom Streuzentrum (hier ist der Abstand nicht maßstäblich
eingezeichnet)

Als Koordinatensystem wählen wir Zylinderkoordinaten mit der Es ist einleuchtend, dass der Detektor pro Zeiteinheit t ei-
Symmetrieachse entlang der Einfallsrichtung des Strahles. Wir ne Zahl n.# 0 / von Teilchen nachweist, die sowohl proportional
nehmen an, dass die Teilchen nicht miteinander wechselwirken. zum einfallenden Teilchenstrom I als auch zur Detektorfläche
Der Strahl sei auf eine Folie gerichtet, in der sich eine große An- d ist. Der entsprechende Proportionalitätsfaktor lautet
zahl von Targets befinde. Die Folie sei allerdings so dünn, dass
man annehmen kann, dass jedes einfallende Teilchen höchstens d n.# 0 /
WD (3.128)
an einem Target gestreut wird. Die Teilchen werden dann statis- d It d
tisch unter verschiedenen Winkeln # 0 gestreut.
und wird differenzieller Wirkungsquerschnitt genannt.
Wir legen für die Wechselwirkung mit dem Target ein Potenzial
der Form V.r/ zugrunde. Daher ist die Streuung unabhängig vom Frage 22
Azimutwinkel '. Ein Detektor befinde sich im Abstand r vom Der Name Wirkungsquerschnitt liegt darin begründet, dass
Streuzentrum und im Winkel # 0 zum Teilchentrom. Er habe eine d=d die Dimension einer Fläche hat. Überzeugen Sie sich
infinitesimale Fläche df (Abb. 3.15). Die Oberfläche einer Kugel davon.
mit Radius r ist 4 r2 . Der Detektor deckt also einen Bruchteil
d df
D (3.126) Im Experiment lässt sich n.# 0 / als Funktion des Streuwinkels
 4 r2 vermessen. Dies erlaubt Rückschlüsse auf die Art des streuen-
des gesamten Raumwinkels 4 ab. Das Raumwinkelelement den Potenzials, da der differenzielle Wirkungsquerschnitt und
d lässt sich dann in der Form das Potenzial eng miteinander verbunden sind, wie wir in Kür-
df ze sehen werden.
d D d' sin # 0 d# 0 D (3.127)
r2 Der totale Wirkungsquerschnitt ist das Raumwinkelintegral des
schreiben. differenziellen Wirkungsquerschnitts:

Frage 21 Z Z
d d
R R2 R D d D2 d# 0 sin # 0 : (3.129)
Man rechne  D d D 0 d' 0 sin # 0 d# 0 D 4 nach. d d
0
110 3 Systeme von Punktmassen

Hier wurde die Integration über ' bereits ausgeführt, da der dif- Raumwinkelbereich gestreuten Teilchen identisch sein. Glei-
ferenzielle Wirkungsquerschnitt nur vom Winkel # 0 abhängt. chung (3.130) führt dann direkt auf
Teil I

Welche Bedeutung hat der totale Wirkungsquerschnitt? Er ent- ˇ ˇ


der Fläche , die It D n erfüllt, wobei n D d ˇˇ d ˇˇ
spricht
R sin # jd# j D sin # 0 jd# 0 j (3.132)
d ˇS d ˇS0
1 1
d n.# 0 / die Gesamtzahl der in der Zeit t gestreuten Teil-
chen ist. Somit ist  die effektive Fläche, an welcher der
einfallende Teilchenstrom gestreut wird. und damit auf
ˇ ˇ ˇ ˇ
Mit (3.124) haben wir gesehen, dass der Streuwinkel # 0 vom d ˇˇ d ˇˇ ˇˇ d cos # 0 ˇˇ
D : (3.133)
Stoßparameter b abhängt. Dies wirkt sich auf den differenziellen d ˇS d ˇS0 ˇ d cos #1 ˇ
Wirkungsquerschnitt aus. Die Teilchen, die mit einem Stoßpa-
rameter im Intervall Œb; b C db einfallen, durchqueren einen Die Ableitung d cos # 0 =d cos #1 bzw. d cos #1 =d cos # 0 ist im
Kreisring der Dicke db und Fläche 2 b db (Abb. 3.15). Sie wer- Prinzip aus (3.110) berechenbar.
den daraufhin in ein Winkelintervall Œ# 0 ; # 0 C d# 0  gestreut,
wobei allerdings die Zahl der gestreuten Teilchen unverändert Stoß zweier harter Kugeln
bleiben muss, da keine Teilchen zwischen Streuung und De-
tektion erzeugt werden oder verloren gehen. Aus (3.127) und Wir betrachten zwei identische harte Kugeln mit Radius
(3.128) folgt dann R. Das Potenzial der Wechselwirkung ist
  (
d r > 2R
I  .2 b jdbj/ D I  2 sin # 0 jd# 0 j : (3.130) V.r/ D
0
: (3.134)
d 1 r  2R
Die Beträge sind notwendig, da die Vorzeichen von db und d# 0
unterschiedlich sein können (und in der Tat in der Regel auch Dies bedeutet, dass sich die Kugeln nicht „sehen“, wenn
unterschiedlich sind): Für größere Abstände vom Streuzentrum ihre Mittelpunkte weiter als ein Durchmesser D D 2R
nimmt der Streuwinkel gewöhnlich ab, da die Wechselwirkung voneinander entfernt sind. Ein Überlappen der Kugeln
schwächer wird. ist verboten, was durch ein unendliches Potenzial aus-
gedrückt wird. Die Kugeln wechselwirken also genau in
dem Moment, in dem r D D erfüllt ist. Der Streuwinkel
Zusammenhang zwischen differenziellem Wirkungs- im Schwerpunktsystem folgt aus (3.122) (siehe dazu die
querschnitt und dem Stoßparameter Rechnung, die auf (3.75) geführt hat):
Der differenzielle Wirkungsquerschnitt hängt mit dem Z1
Stoßparameter und dem Streuwinkel im Schwerpunktsys- b dr0
#0 D 2 p
tem zusammen: r02 .1  b2 =r02 /
ˇ ˇ ˇ 2 0 ˇ D (3.135)
 
d b.# 0 / ˇˇ db.# 0 / ˇˇ 1 ˇ db .# / ˇ
ˇ ˇ : (3.131) b
D ˇ ˇ D D  2 arcsin :
d sin # 0 d# 0 2 sin # ˇ d# 0 ˇ
0
D

Der Zusammenhang b.# 0 / für ein gegebenes Potenzial Es folgt der Stoßparameter als Funktion des Streuwin-
V.r/ kann aus (3.122) abgeleitet werden. kels:
b D D cos.# 0 =2/ .b  D/: (3.136)

Achtung Es ist anschaulicher, sich vorzustellen, dass der Hier ist zu beachten, dass alle Stoßparameter b > D zu
Streuwinkel # 0 eine Funktion des Stoßparameters ist, # 0 D keiner Streuuung führen und damit # 0 D 0 zur Folge ha-
# 0 .b/, und nicht umgekehrt. Mathematisch sind beide Betrach- ben. Darum beschränken wir uns im Folgenden nur auf
tungsweisen völlig äquivalent. Man beachte jedoch, dass die den Bereich b  D. Der differenzielle Wirkungsquer-
Funktion # 0 .b/ eindeutig ist, b.# 0 / aber nicht unbedingt: Ein schnitt (3.131) hängt wegen
Teilchen, das mit Stoßparameter b einfällt, wird in eine eindeu-
tige Richtung # 0 gestreut. Teilchen mit verschiedenen Stoßpara- d D cos.# 0 =2/ D D2
metern b können im Prinzip allerdings in gleiche Richtungen # 0 D 0
sin.# 0 =2/ D (3.137)
gestreut werden. In diesem Fall ist b.# 0 / mathematisch gesehen d sin # 2 4
keine Funktion mehr, sondern eine Relation. J nicht vom Streuwinkel ab; man sagt, der Wirkungsquer-
Streuexperimente werden häufig im Laborsystem durchgeführt, schnitt ist isotrop. Im letzten Schritt wurde die Identität
in dem m2 vor dem Stoß ruht. Insbesondere bewegt sich der De-
sin # 0
tektor nicht mit dem Schwerpunkt von m1 und m2 mit. Daher cos.# 0 =2/ sin.# 0 =2/ D (3.138)
müssen die Streuwinkel # 0 in #1 umgerechnet werden. In bei- 2
den Bezugssystemen (S und S0 ) muss die Anzahl der in einen
3.5 Das reduzierte Dreikörperproblem 111

Anwendung: Rutherford’sche Experimente

Teil I
Entwicklung des Rutherford’schen Atommodells

Historisch wurden im Jahr 1909 zuerst Heliumkerne der tronischen Atomhülle einnimmt. Die Wechselwirkung der
Kernladungszahl Z1 D 2 an einer dünnen Goldfolie mit Heliumkerne mit den Goldelektronen spielt kaum eine Rol-
Z2 D 79 gestreut. Das Coulomb-Potenzial lautet dann le, da ihr Massenverhältnis etwa 7 500 ist und der damit
V.r/ D Z1 Z2 e2 =r, wobei e die Elementarladung ist. Im verbundene Energieverlust der Heliumkerne vernachlässigt
Gegensatz zum Gravitationspotenzial ist ˛ negativ und das werden kann. Da andererseits das Massenverhältnis m1 =m2
Potenzial repulsiv. Die Experimente bestätigten letztlich den von Helium- und Goldkernen etwa 1=50 ist, ist # 0 #1 und
1911 berechneten Wirkungsquerschnitt und damit das Ru- die Streuquerschnitte in Schwerpunkt- und Laborsystem sind
therford’sche Atommodell. Es besagt, dass der Atomkern praktisch identisch.
nur ein sehr kleines Raumvolumen im Vergleich zur elek-

Der totale Wirkungsquerschnitt in (3.129) für das Coulomb-Po-


verwendet. Wir integrieren mit (3.129) noch über alle tenzial ist
Streuwinkel, um den gesamten Wirkungsquerschnitt zu
erhalten:  ˛ 2 Z d# 0 sin # 0
 D2 D 1: (3.142)
Z 4E sin4 .# 0 =2/
d 0
 D2 d# 0 sin # 0 D D2 : (3.139)
d Er ist unendlich! Der Grund ist, dass das Coulomb-Potenzial ein
0
langreichweitiges Potenzial ist, das auch in beliebiger Entfer-
Dies entspricht der Querschnittsfläche einer Kugel mit nung noch Teilchen streut, wenn auch unter sehr kleinen Streu-
Radius D D 2R, was man sich leicht veranschaulichen winkeln. Dies erkennt man daran, dass der Rutherford’sche
kann. J Wirkungsquerschnitt für # 0 ! 0 divergiert. In der Realität
schirmen Elektronen die Ladung des Atomkerns ab. Von außen
betrachtet ist das Atom neutral, und der Streuquerschnitt bleibt
endlich. Sehr grob geschätzt ist er dann von der Größenordnung
der Querschnittsfläche eines Atoms,   .1010 m/2 .
Anwendung auf das Coulomb-Potenzial:
Frage 23
Rutherford’scher Wirkungsquerschnitt
Für kleine Winkel # 0 kann man sin # 0 # 0 schreiben. Ma-
chen Sie sich damit klar, dass der totale Wirkungsquerschnitt in
Das Coulomb-Potenzial V.r/ D ˛=r führt zunächst mit (3.142) divergiert.
(3.124) auf einen geschlossenen (eindeutigen) Ausdruck für
b2 .# 0 /, der direkt nach # 0 abgeleitet werden kann:
ˇ 2 0 ˇ
ˇ db .# / ˇ ˛ 2 cos.# 0 =2/ ˛2 sin # 0
ˇ ˇ
ˇ d# 0 ˇ D 4E2 sin3 .# 0 =2/ D 8E2 sin4 .# 0 =2/ : (3.140)
3.5 Das reduzierte
Die letzte Gleichheit ist wieder wegen (3.138) offensichtlich. Es Dreikörperproblem
folgt sofort der differenzielle Wirkungsquerschnitt aus (3.131).

Wir haben in Abschn. 3.3 gefunden, dass die Bewegungsglei-


Rutherford’scher Wirkungsquerschnitt chungen des Zweikörperproblems im Gravitationsfeld exakt
Für das Coulomb-Potenzial, V.r/ D ˛=r, ergibt sich gelöst werden können. Das Zweikörperproblem ist allerdings
der differenzielle Wirkungsquerschnitt im Schwerpunkt- eine Idealisierung und für einige Anwendungen, die eine hohe
system zu Genauigkeit erfordern, nicht geeignet. So hat beispielsweise der
d  ˛ 2 1 Mond einen Einfluss auf das Zweikörpersystem Sonne–Erde.
D : (3.141) Doch bereits für drei Körper sind die Bewegungsgleichun-
d 4E sin4 .# 0 =2/
gen im Gravitationsfeld nicht mehr allgemein integrierbar. In
diesem Abschnitt diskutieren wir einen Spezialfall des Dreikör-
perproblems, der trotz seiner einschränkenden Annahmen von
Dieses klassische Ergebnis stimmt mit dem überein, was im großer Wichtigkeit für das Verständnis der Mechanik des Son-
Rahmen der Quantenmechanik gefunden wird (Teil III). nensystems ist.
112 3 Systeme von Punktmassen

Vertiefung: Lösung des N-Körperproblems


Teil I

Perturbative und numerische Zugänge

Das N-Körperproblem ist für N > 2 nicht allgemein in ana- oder die Abweichung der Sonne von der Kugelgestalt zu
lytischer Form lösbar. Für praktische Anwendungen bieten berücksichtigen.
sich verschiedene Möglichkeiten an: Die perturbative Methode ist nur dann zuverlässig, wenn
Störungen klein sind. In anderen Fällen, wenn beispiels-
weise mehrere vergleichbare Massen im System vor-
Bei der perturbativen bzw. störungstheoretischen Metho- kommen, bieten sich numerische Verfahren an (Dehnen
de nimmt man an, dass das Problem als Zweikörpersys- & Read 2011). Hier werden z. B. die exakten Bewe-
tem angesehen werden kann, wobei der Einfluss einer gungsgleichungen zeitlich diskretisiert und abschnitts-
dritten oder mehrerer anderer Massen in Form von Stö- weise aufintegriert.
rungen in die Rechnungen eingeht. So lässt sich das
Zweikörperpotenzial V2 z. B. durch V D V2 C ıV erset-
zen, wobei ıV eine kleine Störung darstellt, ıV V2 . Literatur
Auf diese Weise lassen sich die Einflüsse der anderen
Planeten auf die Erdbahn abschätzen. Ebenso kann die- Dehnen, W., Read, J.I.: N-body simulations of gravitatio-
se Methode verwendet werden, um relativistische Effekte nal dynamics. Eur. Phys. J. Plus 126, 55 (2011)

Definition des Spezialfalles und Aufstellung der x2

Bewegungsgleichungen
m3
Das Dreikörperproblem kann nicht in allgemeiner Form ge-
löst werden. Näherungslösungen sind allerdings möglich, z. B.
wenn man annimmt, dass eine der drei Punktmassen klein ge-
genüber den anderen beiden ist (m3 m1 ; m2 ) und dass sich d1
x3
d2
m1 und m2 auf Kreisbahnen umeinander bewegen. Dabei wird
m3 als Testmasse betrachtet, die keinen Einfluss auf die Bewe-
gung von m1 und m2 nimmt und sich in der Bahnebene von m1
und m2 bewegt. Diese Situation wird häufig näherungsweise im m1 x1 O x2 m2 x1
Sonnensystem angetroffen, wenn z. B. Asteroiden dem Einfluss
der Schwerefelder von Sonne und Jupiter unterliegen. Abb. 3.16 Geometrie des reduzierten Dreikörperproblems. Die beiden Punkt-
massen m1 und m2 befinden sich auf der x1 -Achse mit ihrem Schwerpunkt im
Das eingeführte Koordinatensystem soll den Ursprung O im ge- Ursprung O. Eine dritte Masse m3 befindet sich in der x1 -x2 -Ebene mit den Ab-
meinsamen Schwerpunkt von m1 und m2 haben und mit ihrem ständen d1 und d2 zu m1 und m2
Verbindungsvektor mitrotieren, sodass m1 und m2 ortsfest sind
(Abb. 3.16). Man spricht daher auch von einem gleichläufigen
oder synodischen Koordinatensystem. Die x1 -Achse zeige von wird:
m1 zu m2 , deren Abstand d ist. Zur Vereinfachung definieren wir 4 2 d3
T2 D : (3.145)
m1 m2 G.m1 C m2 /
q WD < 1 und 1  q WD < 1: (3.143)
m1 C m2 m1 C m2 Da sich m1 und m2 auf Kreisbahnen bewegen, ist die Winkelge-
schwindigkeit
Die Koordinaten der beiden Punktmassen m1 und m2 sind somit 0 1 r
0 2 G.m1 C m2 /
0 1 0 1 0 1 0 1 ! D @0A ; ! D D (3.146)
x1.1/ .q  1/d x.2/ qd ! T d3
.1/ B .1/ C @ A .2/ B 1.2/ C @ A
x D @x2 A D 0 ; x D @x2 A D 0 :
x3.1/ 0 x3.2/ 0 konstant. Hier haben wir die x3 -Achse so gewählt, dass ! D
(3.144) ! eO 3 gilt. Dies ist offensichtlich möglich, da ! senkrecht auf der
Bahnebene und damit senkrecht auf der x1 -Achse steht. Folglich
Die Umlaufzeit von m1 und m2 lässt sich sofort aus dem dritten ist x D .x1 ; x2 ; 0/> der Koordinatenvektor von m3 (wir lassen
Kepler’schen Gesetz in (3.92) bestimmen, wobei a D d ent- für die Koordinaten von m3 den hochgestellten Index .3/ aus
spricht und die reduzierte Masse  durch m1 und m2 definiert Übersichtsgründen weg). Die Abstände von m3 zu m1 und m2
3.5 Das reduzierte Dreikörperproblem 113

seien jeweils d1 und d2 : x2


U0
q

Teil I
d1 D .x1  .q  1/d/2 C x22 ;
q (3.147) 1 L5
d2 D .x1  qd/2 C x22 :

Da das Koordinatensystem rotiert, müssen Zentrifugal- und Co-


riolis-Kräfte berücksichtigt werden, die auf die Punktmasse m3
wirken. Die Winkelgeschwindigkeit ist konstant, sodass Terme 0 L2 L3
L1
mit ! P verschwinden. Weiterhin liegt der Ursprung des Koor-
dinatensystems auf der Drehachse, und man findet b0 D 0
in (2.80). Die resultierende Bewegungsgleichung für m3 lautet
demnach
L4
−1
xR C 2!  xP C !  .!  x/ C r .x/ D 0: (3.148)

Hier wurde das Potenzial


−1 0 1 x1
V .x/
.x/ WD (3.149)
m3
Abb. 3.17 Darstellung des effektiven Potenzials aus (3.154) für m2 =m1 D
eingeführt, wobei 40 in der x1 -x2 -Ebene. Bereiche gleicher Farbe entsprechen gleichem effektiven
Potenzial. Die Lagrange-Punkte L4 und L5 befinden sich in den Maxima (weiß,
Gm1 m3 Gm2 m3 U0 ) des effektiven Potenzials. Sie bilden mit den beiden Massen m1 und m2 zwei
V .x/ D   (3.150) gleichseitige Dreiecke. Einige Äquipotenziallinien sind in Schwarz eingezeichnet.
d1 d2 Sie entsprechen den Hill-Kurven für bestimmte Werte der Jacobi-Konstanten C

die potenzielle Energie der Testmasse m3 in den Gravitationsfel-


dern der Massen m1 und m2 ist. Die Kreuzprodukte in (3.148)
ergeben
0 1 0 2 1 Hill-Kurve
! xP 2 ! x1
!  xP D @ ! xP 1 A ; !  .!  x/ D @! 2 x2 A : (3.151)
0 0 Anstatt die Bewegungsgleichungen zu lösen, betrachten wir das
effektive Potenzial genauer. Multipliziert man die erste Glei-
Führt man das effektive Potenzial chung in (3.153) mit xP 1 , die zweite mit xP 2 und addiert beide,
so überprüft man schnell, dass
!2  2 
U.x/ WD .x/  x C x22 (3.152)
2 1 
d 1 2 
ein, lassen sich die Bewegungsgleichungen (3.148) in der Form xP 1 C xP 22 C U D 0 (3.155)
dt 2
@U @U
xR 1  2! xP 2 D  ; xR 2 C 2! xP 1 D  (3.153) ist. Die somit erhaltene Größe
@x1 @x2
 
schreiben. C W D 2U  xP 21 C xP 22
    (3.156)
Das effektive Potenzial lässt sich mithilfe von (3.146) auch um- D ! 2 x21 C x22  2V  xP 21 C xP 22 D const
formulieren:
U.x/ m1 m2 m1 C m2 2 2 ist die Jacobi-Konstante, das einzig bekannte Integral des redu-
D   .x1 Cx2 /: (3.154) zierten Dreikörperproblems.
G d1 .x1 ; x2 / d2 .x1 ; x2 / 2d 3
Die Bewegung von m3 ist offensichtlich auf solche Bereiche be-
Frage 24 schränkt, in denen C C 2U  0 erfüllt ist, da xP 21 C xP 22  0
Überprüfen Sie, dass und U nur Funktionen von x1 und x2 gilt. Die sogenannte Hill-Kurve ist die Menge aller Punkte, die
sind und zeigen Sie die Gültigkeit von (3.153) und (3.154). U.x/ D C=2 erfüllen. Sie definiert die Grenze des für die
Punktmasse m3 zugänglichen Bereichs (Abb. 3.17).
114 3 Systeme von Punktmassen

Lagrange-Punkte (Abb. 3.17). Man kann zeigen, dass diese Lagrange-Punkte –


trotz der lokalen Hochpunkte des effektiven Potenzials – stabil
Teil I

sind, wenn die beiden Massen m1 und m2 hinreichend unter-


Im Folgenden wollen wir uns auf einen für die Raumfahrt wich- schiedlich sind (m1 =m2 bzw. m2 =m1 & 25, wie es beispielsweise
tigen Spezialfall konzentrieren: Wir fragen, ob es Punkte gibt, beim Sonne-Jupiter-System der Fall ist). Der Grund ist, dass die
an denen die Punktmasse m3 relativ zu m1 und m2 in Ru- Coriolis-Kraft bei der Stabilitätsanalyse berücksichtigt werden
he bleibt. Solche Punkte heißen Lagrange-Punkte und werden muss. In der Tat beobachtet man eine Vielzahl von Asteroiden,
durch r U D 0 definiert, was aus (3.153) folgt. Man schreibt die in der Nähe der Punkte L4 und L5 Jupiter im festen Abstand
zunächst die relevanten Komponenten der Bewegungsgleichung voraus- bzw. hinterherlaufen. Sie werden als Trojaner bezeich-
(3.153) für den Spezialfall xR 1 D xR 2 D xP 1 D xP 2 D 0: net. Vor Kurzem wurde sogar ein Trojaner der Erde entdeckt.
Gm1 .x1  x1;1 / Gm2 .x1  x2;1 / Frage 26
0 D ! 2 x1   ;
d13 d23 Zeigen Sie: Die Lagrange-Punkte L4 und L5 befinden sich an
(3.157)
Gm1 x2 Gm2 x2 den Orten 0 1
0 D ! 2 x2   : 1
2q p
d13 d23 d
l4;5 D @ ˙ 3 A : (3.160)
2 0
Hier wurde verwendet, dass sich die Punktmassen m1 und m2
auf der x1 -Achse befinden.
Frage 25
Überprüfen Sie das Ergebnis in (3.157), indem Sie r U berech-
nen. Dazu ist es notwendig, d1 und d2 mithilfe der Kettenregel 3.6 Gezeitenkräfte
nach x1 bzw. x2 abzuleiten.

Mit Gezeiten sind im alltäglichen Sprachgebrauch Ebbe und


Nimmt man zunächst an, dass x2 D 0 gilt, ist die zweite Glei- Flut gemeint. Physikalisch werden diese zeitlich wiederkehren-
chung in (3.157) trivial erfüllt. Die Untersuchung reduziert sich den Effekte dadurch erklärt, dass die Gravitationsfelder von
somit auf eine Kurvendiskussion des effektiven Potenzials U Mond und Sonne auf verschiedene Punkte der Erdoberflä-
entlang der x1 -Achse. Man kann zeigen, dass es drei Lagrange- che unterschiedlich stark wirken. Dies ist eine direkte Folge
Punkte (L1 , L2 , L3 ) auf der x1 -Achse gibt. Alle drei entsprechen der räumlichen Ausdehnung der Erde. In idealisierten Syste-
einem lokalen Maximum von U.x1 / und instabilen Gleichge- men von Punktmassen treten Gezeitenkräfte nicht auf. Dieser
wichtspunkten. Die Reihenfolge der Lagrange-Punkte ist im Abschnitt liefert einen Überblick über die Ursache der Gezei-
Sonne-Erde-System folgendermaßen definiert (Abb. 3.17): tenkräfte und ihre Konsequenz für die Erde im Speziellen und
Himmelskörper im Allgemeinen.
L1 liegt auf der Verbindungslinie zwischen Sonne und Erde.
L2 befindet sich von der Sonne aus gesehen hinter der Erde.
L3 befindet sich von der Erde aus gesehen hinter der Sonne.
Allgemeine Herleitung der Gezeitenkräfte
L2 wurde bisher mehrfach zur Stationierung von Weltraumob-
servatorien (z. B. WMAP, Planck, Herschel) genutzt, da dieser Zur Vereinfachung nehmen wir einen kugelförmig ausgedehn-
Punkt durch die Erde von Sonnenstrahlung abgeschirmt ist. ten Körper mit Radius R1 und Masse m1 und einen punktför-
Umgekehrt bietet sich L1 als Punkt zur Sonnenobservation an. migen Körper der Masse m2 an. Beide Körper sollen sich im
Aufgrund der Instabilität von L1;2;3 müssen dort positionierte Abstand d R1 umkreisen. Die Gültigkeit der Diskussion
Satelliten gelegentliche Bahnkorrekturen durchführen. in Abschn. 3.2 und 3.3 wird durch die Ausdehnung des ersten
Es gibt noch zwei weitere Lagrange-Punkte für x2 6D 0. In Körpers in erster Näherung nicht beeinträchtigt. Der Grund ist,
diesem Fall kann die zweite Gleichung in (3.157) mit x1 =x2 mul- dass der ausgedehnte Körper m1 als Grenzfall eines N-Teilchen-
tipliziert und von der ersten Gleichung abgezogen werden. Dies systems betrachtet werden kann, dessen innere Dynamik keine
führt zunächst auf Rolle spielt (Abschn. 3.1). Die Dynamik von m1 kann daher
durch eine im Schwerpunkt von m1 konzentrierte Punktmasse
Gm1 x1;1 Gm2 x2;1 ersetzt werden. Entscheidend ist hier die Einschränkung, dass
C D0 (3.158)
d13 d23 die innere Dynamik von m1 tatsächlich vernachlässigt werden
kann. Wir werden noch sehen, dass die Gezeitenkräfte zu einer
und wegen (3.143) und (3.5) auf
inneren Dynamik führen können, was sich wiederum auf die
d1 D d2 D d: (3.159) Bahn von m1 und m2 umeinander auswirkt.
Die beiden damit definierten Punkte L4 und L5 bilden mit Wie bereits in Abschn. 3.5 wählen wir ein Koordinatensystem,
den Punktmassen m1 und m2 zwei gleichseitige Dreiecke das sich mit m1 und m2 mitdreht, sodass die Orte x1 und x2 von
3.6 Gezeitenkräfte 115

m1 kartesischen Koordinaten lautet die Matrix ausgeschrieben


x
R1 0 @2 @2 @2
1

Teil I
2 @x1 @x2 @x1 @x3
x1 x2 B @@x2 1 C
O m2
DB
@ @x2 @x1
@2
@x22
@2 C
@x2 @x3 A : (3.166)
@2 @2 @2
@x3 @x1 @x3 @x2 @x23

d Da der Term ij für eine Relativkraft (Gezeitenkraft) an den Or-


ten x1 und x1 C ıx verantwortlich ist, nennt man diese Größe
Abb. 3.18 Schematische Darstellung der Entstehung der Gezeitenkräfte. Ein auch Gezeitentensor. Tensoren und ihre mathematischen Eigen-
ausgedehnter Körper mit Masse m1 und Radius R1 befindet sich im Abstand schaften werden in Kap. 4 besprochen. Der zweite Term auf der
d von einer Gravitationsquelle m2 . Beide Massen haben den gemeinsamen rechten Seite von (3.164) ist die Gezeitenkraft am Ort x1 C ıx
Schwerpunkt im Ursprung O. Verschiedene Punkte x an der Oberfläche des Kör-
relativ zum Ort x1 . Die zweiten Ableitungen des Gravitations-
pers m1 haben unterschiedliche Abstände zu m2 und spüren damit verschiedene
Gravitationsbeschleunigungen. Dies führt auf die Gezeitenkräfte potenzials und die damit verbundenen Gezeitenkräfte spielen in
der allgemeinen Relativitätstheorie im Zusammenhang mit der
Raumkrümmung eine zentrale Rolle.
m1 und m2 fest sind (siehe (3.5)). Die Punktmasse m2 erzeugt Man beachte, dass das Potenzial .x/ den Einfluss beliebig vieler
ein Gravitationspotenzial, das an einem Ort x 6D x2 die Stärke Gravitationszentren beinhalten kann (Abschn. 3.5). Mit (3.164)
lassen sich z. B. die durch Mond, Sonne und andere Planeten ver-
Gm2
.x/ D  (3.161) ursachten Gezeitenkräfte auf der Erde berechnen. Da es sich um
jx  x2 j die führenden Terme einer Taylor-Entwicklung handelt, ist die
hat. Die potenzielle Energie einer Testmasse m am Ort x in Gültigkeit dieser Gleichung auf Fälle beschränkt, für die ıx klein
diesem Potenzial ist dann einfach V.x/ D m .x/. Die ent- ist gegenüber den Abständen zu allen Massenzentren.
sprechende Gravitationskraft, die auf die Testmasse m am Ort
x wirkt, ist
Gezeitenkräfte
F.x/ D mr .x/: (3.162)
Wir wollen nun den speziellen Fall betrachten, dass x1 C
Wenn man nun berücksichtigt, dass der Körper m1 ausgedehnt ıx auf der Oberfläche von m1 liegt und genau m2 zuge-
ist, so werden zwei Testmassen an verschiedenen Punkten der wandt ist, d. h. ıx k r, wobei r D x2  x1 . Es ist direkt
Oberfläche oder im Inneren von m1 allgemein unterschiedliche offensichtlich, dass die durch m2 verursachten Gravitati-
Gravitationskräfte erfahren, da die Abstände zu m2 nicht iden- onskräfte an den Orten x1 und x1 C ıx parallel sind und
tisch sind (Abb. 3.18). in Richtung r zeigen (Abb. 3.18). Die auf eine Testmasse
Im Folgenden nehmen wir die Kraft F.x1 / auf eine Testmasse m wirkende Gravitationskraft an diesen beiden Orten ist
im Schwerpunkt x1 von m1 als Referenz. Für kleine Abstände Gmm2 r Gmm2 r
F.x1 / D ; F.x1 C ıx/ D ;
ıx von x1 lautet die Kraft am Ort x1 C ıx dann in erster Nähe- d 2 jrj .d  R1 /2 jrj
rung (3.167)
F.x1 C ıx/ D F.x1 / C .ıx  r /F.x1 /: (3.163) da R1 D jıxj der Radius der ausgedehnten Masse m1 ist.
Nun gilt weiterhin
Dies sind die ersten beiden Terme einer Taylor-Entwicklung
 
der vektorwertigen Funktion F.x/, ausgewertet am Ort x1 . Wei- 1 .1 ˙ R1 =d/2 1 2R1
terhin wissen wir aber aus (3.162), dass die Kraft selbst als D 1
.d ˙ R1 /2 d2 d2 d
Gradient des Potenzials .x/ geschrieben werden kann. Ein-
gesetzt und in Komponentenschreibweise formuliert lautet das (3.168)
Ergebnis dann für kleine Verhältnisse R1 =d, was bereits angenommen
wurde. Es ist nun ein leichter Schritt, die Gezeitenkraft an
Fi .x1 C ıx/ D Fi .x1 /  m dxj @j @i .x1 /: (3.164)
dem einem Kraftzentrum zugewandten Oberflächenpunkt
Den Term zu berechnen:
@2 2Gmm2 R1 r
ij WD @i @j D (3.165) F.x1 C ıx/  F.x1 / : (3.169)
@xi @xj d3 jrj

nennt man die Hesse-Matrix (nach dem deutschen Mathemati- Sie fällt mit der dritten Potenz des Abstands d und damit
ker Otto Hesse, 1811–1874) der Funktion .x/. Wir nehmen wesentlich schneller als die Gravitationskraft selbst ab und
hier an, dass .x/ zweimal differenzierbar ist und die Ab- weist in Richtung des Kraftzentrums am Ort x2 . J
leitungen vertauscht werden können, d. h. @i @j D @j @i . In
116 3 Systeme von Punktmassen

Achtung Im Allgemeinen zeigt die Gezeitenkraft nicht in der Abstand etwa 400-mal größer. Man findet damit, dass die
Richtung des Kraftzentrums, da ij eine tensorielle Größe ist. J durch die Sonne verursachten Gezeitenkräfte auf der Erde etwa
Teil I

halb so groß sind wie die durch den Mond bedingten. Dies ist
Frage 27 übrigens die Ursache von Spring- und Nipptiden. Im ersten Fall
Man zeige ausgehend von den Rechnungen im Beispielkas- befindet sich der Mond näherungsweise zwischen Sonne und
ten, dass die Gezeitenkraft auf der von m2 abgewandten Seite Erde, und die Gezeiteneffekte verstärken sich. Im zweiten Fall
in erster Näherung vom Betrag her auf dasselbe Ergebnis wie steht die Erde näherungsweise zwischen Sonne und Mond. Die
(3.169) führt. Allerdings ist die Richtung der Kraft entgegenge- Effekte schwächen sich gegenseitig ab.
setzt. Man verwende dazu den Punkt x1 C ıx0 D x1  ıx und
berücksichtige, dass (3.168) bereits für beide Vorzeichen aufge-
schrieben wurde.
Stabilität von Planeten, Roche-Grenze

Wir haben in (3.169) gesehen, dass die Gezeitenkräfte größer


Einfluss der Gezeiten werden, wenn sich Objekte (z. B. Planeten) einander annähern,
auf das Erde-Mond-System da dann d kleiner wird. Man kann sich anschaulich vorstellen,
dass unterhalb eines bestimmten Abstands die Gezeitenkräfte
so groß werden, dass eines der Objekte zerrissen wird. Die-
Die Erde rotiert mit einer etwa 30-mal größeren Winkelge- ses Verhalten ist für das Entstehen von Planetensystemen von
schwindigkeit um ihre eigene Achse, als sich Erde und Mond großer Bedeutung. Nimmt man an, dass ein Planet oder Aste-
um ihren gemeinsamen Schwerpunkt drehen. Testmassen, die roid nur durch Gravitationskräfte zusammengehalten wird, so
sich mit der Erdoberfläche mitdrehen, durchlaufen daher im nennt man den Grenzabstand Roche-Grenze (nach dem franzö-
Laufe der Zeit verschiedene Punkte im Mondgravitationsfeld. sischen Astronomen und Mathematiker Édouard Albert Roche,
Da die Erde kein perfekt starrer Körper ist (Kap. 4), kommt es 1820–1883). Eine Sonne kann keine Planeten bzw. ein Planet
somit zu zeitabhängigen Verformungen des Planeten. Diese er- keine Monde innerhalb der Roche-Grenze haben.
kennt man besonders gut auf den Meeren, wo sich Ebbe und
Flut ausbilden. Aber auch die Landmassen heben und senken Um die Roche-Grenze abzuschätzen, betrachten wir eine Test-
sich um bis zu 50 cm am Äquator. masse m auf der zu m2 gerichteten Oberfläche von m1 . Auf sie
wirkt eine Gezeitenkraft mit Betrag 2Gmm2 R1 =d 3 . Sie wirkt in
Diese Verformungen führen allerdings zu Reibungseffekten Richtung der Masse m2 . Andererseits wird die Testmasse von
(Gezeitenreibung), d. h. zu einer Umwandlung von kinetischer m1 selbst angezogen. Der Betrag dieser Kraft ist Gmm1 =R21 .
Energie in Wärme. Als Konsequenz wird die Erdrotation per- Wird der Planet bzw. Mond oder Asteroid m1 nur durch Gra-
manent abgebremst. Dieser Effekt ist für uns nicht direkt vitationskräfte zusammengehalten, so wird er zerfallen, wenn
wahrnehmbar, weil die Tageslänge nur um rund 20 s pro Mil-  
lion Jahre zunimmt. Da Erde und Mond in erster Näherung ein 2Gmm2 R1 Gmm1 2m2 1=3
> H) d < dR WD R1
isoliertes System darstellen, muss der gemeinsame Drehimpuls d3 R21 m1
von Erde und Mond erhalten sein. Nimmt nun aber der Drehim- (3.170)
puls der Erdrotation ab, muss der Drehimpuls des Mondes um ist. Man beachte, dass die Roche-Grenze dR keine Eigenschaft
die Erde um den gleichen Betrag zunehmen. Das dazu erforder- von m2 allein ist. Vielmehr spielen auch die Größe und Masse
liche Drehmoment stammt von den Gezeitenkräften. Dies führt von m1 eine wichtige Rolle. Diese Abschätzung ist nicht gültig,
dazu, dass sich der Abstand zwischen Erde und Mond stetig ver- wenn die Objekte im Inneren durch andere Kräfte als Gravita-
größert, gegenwärtig um fast 4 cm pro Jahr. tion zusammengehalten werden, z. B. Raumsonden (Atombin-
dungen, also elektromagnetische Kräfte).
Dieser Prozess wird so lange fortschreiten, bis die Rotation
der Erde und die Drehung von Erde und Mond um ihren ge- Frage 29
meinsamen Schwerpunkt die gleiche Winkelgeschwindigkeit Häufig wird die Roche-Grenze in Vielfachen der Ausdehnung
annehmen. Erst dann verschwindet die Gezeitenreibung auf der der Masse m2 angegeben. Die beiden Objekte sollen die Radien
Erde. Dies ist übrigens für den Mond längst eingetreten: Die Ro- R1 und R2 besitzen. Die konstanten Massendichten seien 1 und
2 . Die Massen sind dann m1 D 3 1 R1 und m2 D 3
tation des Mondes ist gebunden. Aus diesem Grund sieht man 4 3 4 3
1 R2 ,
von der Erde aus (näherungsweise) nur eine Seite des Mondes. wobei R2 der Radius von m2 ist. Zeigen Sie, dass in diesem Fall
In der Tat kann man zeigen, dass der kleinere der beiden Körper die Roche-Grenze in der Gestalt
zuerst in eine gebundene Rotation übergeht.  
dR 2 2 1=3
D (3.171)
Frage 28 R2 1
Man schätze mithilfe von (3.169) die relative Stärke der durch geschrieben werden kann. Rechnen Sie damit nach, dass für das
Sonne und Mond verursachten Gezeitenkräfte ab. Dazu reicht Erde-Mond-System ( Erde = Mond D 2 = 1 5=3) die Roche-
es aus, die Massen- und Abstandsverhältnisse zu kennen: Die Grenze in etwa 1,5 Erdradien entspricht.
Masse der Sonne ist etwa 3  107-mal größer als die des Mondes,
3.7 Mechanische Ähnlichkeit und der Virialsatz 117

x2
3.7 Mechanische Ähnlichkeit
und der Virialsatz

Teil I
C

In Abschn. 3.2 wurden allgemeine Aussagen über die Bewe-


gung in Zentralkraftpotenzialen getroffen. Dazu wurden die Be- t1
wegungsgleichungen und die Gestalt der effektiven Potenziale
C
untersucht. Es ist aber auch möglich, wichtige und sehr allgemei-
ne Aussagen über mechanische Systeme zu treffen, ohne über- t2
haupt die Gestalt der Bahnkurven zu analysieren. Oftmals genügt t1
es bereits, sich das Skalierungsverhalten des Potenzials anzu-
sehen. Weiterhin wird der Virialsatz abgeleitet, der allgemeine
Aussagen über das statistische Verhalten mechanischer Systeme
erlaubt. Dieser Abschnitt kann beim ersten Lesen übersprungen t2
werden, da er konzeptionell anspruchsvoller ist und häufig nicht l
im Rahmen einer Einführungsvorlesung behandelt wird.
x1
l

Abb. 3.19 Skizze einer Ähnlichkeitstransformation von Bahnkurven. Die bei-


Mechanische Ähnlichkeit den Bahnkurven C und C0 unterscheiden sich nur durch ihre Längenskalen (l
für C und l0 für C0 ) und die damit verbundenen Zeitskalen (t D t2  t1 und
t0 D t20  t10 ). Das Verhältnis der Skalen wird durch (3.179) beschrieben, wenn
Wir definieren: Eine Funktion f .x1 ; : : : ; xN / heißt homogen das Potenzial homogen vom Grad k ist
vom Grad k, wenn sie die Eigenschaft
f .x1; : : : ; xN / D k f .x1 ; : : : ; xN / (3.172)
nun eine andere Bahnkurve, die sich von der ersten nur durch ei-
besitzt. Zum Beispiel betrachten wir ein vom Grad k homogenes ne Umskalierung der Abmessungen unterscheidet (Abb. 3.19).
Potenzial Hier soll l0 =l das Verhältnis der Bahnausdehnungen sein, wobei
V.ax/ D ak V.x/: (3.173) l die Ausdehnung der ersten und l0 die Ausdehnung der zweiten
Bahnkurve ist. Dann sind die Bewegungsgleichungen identisch,
Wir skalieren nun den Ortsvektor und die Zeit wie
wenn man gleichzeitig die Zeitachse um einen Faktor b wie in
x ! ax; t ! bt: (3.174) (3.178) umskaliert. Die benötigte Zeit zwischen entsprechenden
Bahnpunkten verhält sich dann wie
Somit folgt für die Geschwindigkeit und Beschleunigung
 0 1k=2
t0 l
dx a d2 x a D : (3.179)
xP D ! xP ; xR D 2 ! 2 xR : (3.175) t l
dt b dt b
Der Gradient skaliert wie Dies kann zum Beispiel die Zeit für einen vollen Umlauf sein,
falls die Bahnkurve periodisch ist. Überlegungen dieser Art
d 1
rD ! r: (3.176) spielen in der Physik eine extrem wichtige Rolle. Da sie recht
dx a abstrakt sind, sollen sie kurz an einigen Beispielen verdeutlicht
Die Bewegungsgleichung einer Punktmasse im konservativen werden.
Kraftfeld wird somit zu
a ak Einige Potenziale
mRx D r V.x/ ! m R
x D  r V.x/: (3.177)
b2 a
Der harmonische Oszillator hat das Potenzial V.r/ /
Sie bleibt daher unverändert, wenn r2 mit k D 2. Daraus folgt sofort, dass t0 =t D 1 ist.
a Seine Schwingungsdauer ist daher unabhängig von der
D ak1 H) b D a1k=2 (3.178) Amplitude.
b2
Im homogenen Gravitationsfeld sind V.x3 / / x3 und
gewählt wird. k D 1. Daher ist t0 =t D .l0 =l/1=2 . Die Quadrate der
Welche physikalische Aussage steckt hinter diesen Rechnun- Fallzeiten verhalten sich wie die Anfangshöhen.
gen? Wenn V.x/ homogen vom Grad k in x ist, dann lassen Für das Kepler-Problem ist V.r/ / r1 mit k D 1.
die Bewegungsgleichungen Ähnlichkeitstransformationen zu, Es folgt daraus sofort das dritte Kepler’sche Gesetz,
welche die Form der Bewegungsgleichungen invariant lassen: t0 =t D .l0 =l/3=2 . J
Stellen wir uns eine beliebige Bahnkurve vor. Man betrachte
118 3 Systeme von Punktmassen

Frage 30 wird, wobei h: : :i t den Zeitmittelwert einer Größe beschreibt.


Angenommen, es ist bekannt, dass für die periodische Bewe- Damit verschwindet der erste Term auf der rechten Seite von
Teil I

gung in einem bestimmten Potenzial V.r/ / rk gerade t0 =t D (3.183). Weiterhin wissen wir, dass pP i D Fi die Kraft
˝P ist, die ˛ auf
.l0 =l/1 gilt. Die Periodendauer würde sich dann für die doppel- die Punktmasse mi wirkt. Man nennt die Größe i Fi  xi t das
te Amplitude halbieren. Man zeige, dass das Potenzial V / r4 Virial. Wir haben somit den Virialsatz gefunden.
erfüllen muss. Die Form der Bahnkurve ist für diese Analyse
unerheblich. Virialsatz
Ist die Bewegung eines Systems von Punktmassen end-
lich, dann gilt bei hinreichend langer Zeitmittelung der
folgende Zusammenhang zwischen der mittleren kineti-
Der Virialsatz schen Energie und dem Virial:
* +
Für eine beliebige homogene Funktion f .x/ vom Grad k in x gilt 1 X
hTi t D  Fi  x i : (3.186)
df .ax/ @f .ax/ @ ak f .x/ 2 i
t
xD D D kak1 f .x/: (3.180)
d.ax/ @a @a
Da diese Gleichung insbesondere für a D 1 gültig ist, folgt das
Euler-Theorem über homogene Funktionen: Achtung Für periodische Bewegungen reicht es aus, über
eine Periode T zu mitteln, da G.T/ D G.0/ gilt. Für nichtpe-
x  r f .x/ D kf .x/: (3.181)
riodische Bewegungen ist es in der Regel nicht möglich, den
Zeitmittelwert über einen unendlichen Zeitraum zu betrachten.
Frage 31 Allerdings wird der zweite Term in (3.183) beliebig klein, wenn
Man überprüfe die Richtigkeit von (3.181) an dem einfachen man t nur groß genug wählt. J
eindimensionalen Beispiel f .x/ D cxk , wobei x durch x und r
Betrachten wir nun eine einzelne Punktmasse in einem externen
durch die Ableitung nach x ersetzt wird.
Potenzial V.x/, das homogen vom Grad k in x sein soll. Wegen
F D r V und (3.181) kann man den Virialsatz in der Form
Betrachten wir nun ein System vonP Punktmassen mi an den Or-
ten xi . Die kinetische Energie T D i Ti ist homogen von Grad k
hTi t D hV.x/i t : (3.187)
2 in den Geschwindigkeiten xP i . Man kann sich schnell davon 2
überzeugen, dass für ein System von Punktmassen
schreiben.
X @T
xP i  D 2T (3.182)
i
@Pxi Virialsatz für Oszillator und Kepler-Problem

gilt. Mit dem Impuls pi D mi xP i folgt weiterhin @T=@Pxi D pi und Für den harmonischen Oszillator und das gebundene
X d X X Kepler-Problem sind die Bahnkurven periodisch. Im ers-
2T D xP i  pi D .pi  xi /  pP i  xi : (3.183) ten Fall ist k D 2 und damit hTi t D hVi t . Die
dt i
i i mittlere kinetische und potenzielle Energie des harmo-
nischen Oszillators sind gleich. Dieses Ergebnis spielt
Im Folgenden wollen wir das über die Zeit gemittelte, sta-
in der Quantenmechanik und der Thermodynamik eine
tistische Verhalten der Bewegung genauer untersuchen. Dazu
sehr wichtige Rolle. Im zweiten Beispiel ist k D 1 und
definieren wir zunächst
X hTi t D hVi t =2, was vor allem in der Astrophysik eine
G WD pi  xi : (3.184) große Bedeutung hat. J
i

Erfolgt die Bewegung stets im Endlichen, so ist G beschränkt,


Frage 32
Gmin  G  Gmax . Damit ist leicht einzusehen, dass
Man zeige, dass der Virialsatz in (3.187) die Form
* + Zt
dG 1 dG k
W D lim dt hTi t D hEi t (3.188)
dt t!1 t dt kC2
t 0 (3.185)
G.t/  G.0/ annimmt, wobei E D T C V die Gesamtenergie ist.
D lim D0
t!1 t
Aufgaben 119

Aufgaben

Teil I
Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen

3.1 Energieerhaltung Man zeige, dass die Energie zunächst als Ableitung nach dem Betrag des Drehimpul-
des Zweikörpersystems erhalten ist, selbst wenn man annimmt, ses L, wodurch die Wurzel aus dem Nenner in den Zähler
dass die Punktmasse m2 stets ruht: xP 2 D 0. Das Wechselwir- geschoben wird. Entwickeln Sie dann das Potenzial in der
kungspotenzial V D V.r/ D V.jx1  x2 j/ hängt dann nur von Form V.r/ D V0 .r/ C ıV.r/ und nehmen Sie dabei an, dass
der Position x1 ab, da x2 fest ist. Man beginne mit der Auswer- ıV klein gegenüber allen vorherrschenden Energien ist. Im
tung von dV=dt und zeige, dass die Summe von potenzieller und letzten Schritt wird die Integrationsvariable r mithilfe der
kinetischer Energie konstant ist. Bahnkurve '.r/ in ' überführt.
(b) Berechnen Sie die Periheldrehung ı' für das Störpotenzial
3.2 Radialgleichung ıV.r/ D ˇ=r2.
(a) Überprüfen Sie, dass (3.60),
3.4 Laplace-Runge-Lenz-Vektor Zeigen Sie die
L2 dV folgenden Eigenschaften des Laplace-Runge-Lenz-Vektors
Rr  D ; (3.189)
r3 dr (Abschn. 3.3)
1 r
Q D .Pr  L/  (3.194)
auf (3.53) führt: ˛ r
im Gravitationspotenzial V.r/ D ˛=r:
 2 L2
ED rP C C V.r/ D const: (3.190) P D 0.
(a) Es gilt Q
2 2r2
(b) Der Vektor Q liegt in der Bahnebene und zeigt vom Ur-
(b) Leiten Sie (3.61), sprung zum Perihel bzw. Perigäum. Der Betrag ist jQj D ".
Berechnen Sie dazu r  Q D rQ cos '.
 
L2 u2 d2 u
C u D F.1=u/; (3.191) 3.5 Exzentrische Anomalie Gleichung (3.56) ist
 d' 2
die formale Lösung der Radialgleichung t.r/. Sie gibt diejeni-
her, wobei u.'/ D 1=r.'/ ist. ge Zeit an, zu der sich die beiden Punktmassen im Abstand r
(c) Verwenden Sie (3.191) für die weitere Rechnung. Die Bahn- voneinander befinden. Für das Kepler-Problem erhält man mit
kurve des reduzierten Zweikörperproblems sei t.r D r0 / D 0
r Zr
r.'/ D a cos.3'/ (3.192)  r0 dr0
t.r/ D ˙ q : (3.195)
2˛ 0  r02  a.1"2 /
r0 r
mit einer Konstanten a > 0. Zeigen Sie, dass die entspre- 2a 2

chende Zentralkraft die Form Das positive Vorzeichen ist zu verwenden, wenn sich die beiden
  Massen voneinander entfernen (dr0 > 0), das negative, wenn sie
2L2 4 9a2 sich annähern (dr0 < 0). Obwohl sich dieses Integral elementar
F.r/ D  5 (3.193)
 r3 r aufintegrieren lässt, kann die Lösung nicht in eine geschlossene
Form r.t/ gebracht werden. Dies bedeutet, dass der Abstand r
haben muss. In welchem Winkelbereich kann die Bewegung zu einer gegebenen Zeit t nicht unmittelbar angegeben werden
nur stattfinden? kann. Ebenso kann '.t/ nicht explizit aufgeschrieben werden.
3.3 Periheldrehung Mithilfe der exzentrischen Anomalie , die über
(a) Man zeige, dass die durch eine Störung verursachte Peri- r D a.1  " cos / (3.196)
heldrehung ı' durch (3.98) gegeben ist. Beginnen Sie mit
(3.63) und schreiben Sie die rechte Seite dieser Gleichung definiert ist, wird das oben genannte Problem teilweise gelöst.
120 3 Systeme von Punktmassen

(a) Zeigen Sie, dass der Polarwinkel ' und die exzentrische An- Abbildung 3.20 zeigt einige Bahnkurven für verschiedene Para-
omalie die folgende Relation erfüllen: meter  .
Teil I

cos  " 3.7 Streuung unter kleinen Winkeln Es soll der


cos ' D : (3.197)
1  " cos Streuwinkel #1 für die Streuung einer Punktmasse m1 un-
ter kleinen Winkeln berechnet werden. In diesem Grenzfall
Setzen Sie dazu in (3.80) 'p D 0, was einer speziellen Wahl wird angenommen, dass #1 sehr klein ist, z. B. weil der Stoß-
der Anfangsbedingungen entspricht. parameter einen großen Wert annimmt. Dabei kann man die
(b) Zeigen Sie, dass der Bruch auf der rechten Seite von (3.197) Rückwirkung von m1 auf m2 ! 1 vernachlässigen: Labor-
für " < 1 (Ellipsenbahnen) nur Werte zwischen 1 und C1 system und Schwerpunktsystem sind annähernd äquivalent. Die
annehmen kann. Demnach sind alle Werte 0   2 er- Punktmasse m1 falle parallel zur x-Achse ein. Nach der Streu-
laubt. Zeigen Sie weiterhin, dass ' D für D 0 und ung ist der Betrag der Geschwindigkeit vf D v1 und die
D gilt. Aufgrund der Stetigkeit und des Zwischen- Geschwindigkeit entlang der y-Achse
wertsatzes folgt dann, dass alle Werte zwischen 0 und 2
annehmen kann.
(c) Zeigen Sie ausgehend von (3.195) und (3.196) den Zusam- vf;y D vf sin #1 D v1 sin #1 v1 #1 : (3.201)
menhang
(a) Berechnen Sie den Streuwinkel #1 in Abhängigkeit vom
r Z
a3 Stoßparameter, indem Sie von
0 0
t. / D .1  " cos /d : (3.198)
˛
0 Z
C1

(d) Leiten Sie die Kepler’sche Gleichung m1 vf;y D Fy dt (3.202)


1
!t D  " sin (3.199)

ab. Diese Gleichung erlaubt für gegebene Zeit t eine ver- ausgehen, wobei Fy D @V=@y diejenige Kraftkomponente
hältnismäßig leichte numerische Berechnung von , was entlang der y-Achse ist, die m1 durch m2 erfährt. Das Po-
mithilfe von (3.196) auf den gesuchten Radius r zur Zeit t tenzial sei von der Form V.r/. Das Integral in (3.202) soll
führt. entlang des ungestörten (also geradlinigen) Weges ausge-
wertet werden, da Fy und somit #1 klein sind. Das Ergebnis
lautet
3.6 Streuung Gegeben sei ein Potenzial V.r/ D
ˇ=r2 . Z1
2b dV dr
#1 D  p : (3.203)
(a) Berechnen Sie mithilfe von (3.61) die Bahnkurve und zeigen m1 v1
2 dr r2  b2
Sie, dass sie in der Form b

p
r.'/ D (3.200) (b) Zeigen Sie, dass – laut des Ergebnisses aus Teilaufgabe (a) –
cos.'/ ein Lichtstrahl im Gravitationsfeld um den Winkel
geschrieben werden kann. Wie lautet der Ausdruck für  ?
Welche Einschränkungen für das Potenzial ergeben sich dar- 2Gm2
#1 D (3.204)
aus? Zeigen Sie, dass keine gebundenen Bahnen möglich c2 b
sind und bestimmen Sie den Streuwinkel im Schwerpunkt-
system. abgelenkt wird, wobei c die Lichtgeschwindigkeit ist. Im
(b) Berechnen Sie den Zusammenhang b2 .# 0 / und schließlich Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie wird gezeigt,
den differenziellen Wirkungsquerschnitt. Beachten Sie da- dass die tatsächliche Lichtablenkung doppelt so groß ist wie
zu, für welche Winkel r divergiert. diese nichtrelativistische Abschätzung vorhersagt.
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 121

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben

Teil I
3.1 Die Zeitableitung der potenziellen Energie ist (c) Für die weitere Rechnung schreibt man zuerst
dV 1
D r 1 V  xP 1 C r 2 V  xP 2 D r 1 V  xP 1 ; (3.205) u.'/ D (3.213)
dt a cos.3'/
da die Punktmasse m2 ortsfest ist. Wegen und berechnet die zweite Ableitung:
du.'/ 3 sin.3'/
r 1 V D F1 D m1 xR 1 (3.206) D ;
d' a cos2 .3'/
!
gilt d2 u.'/ 3 cos.3'/ sin2 .3'/
D 3 C 6
dV dV d  m1  d d' 2 a cos2 .3'/ cos3 .3'/
0D Cm1 xR 1  xP 1 D C xP 1 D .VCT/: (3.207) !
dt dt dt 2 dt
3 cos2 .3'/ C sin2 .3'/ 3
D 6 
Hier wurde die kinetische Energie T D m1 xP 21 =2 eingeführt. Die a cos .3'/
3 cos.3'/
Punktmasse m2 trägt nicht dazu bei, da ihre Geschwindigkeit
3 3 3 
null ist. Wegen E D T C V ist die Energie offensichtlich erhal- D 6a u  3au : (3.214)
ten. a
Eingesetzt in (3.61) ergibt sich
3.2
 
L2 u2 3  3 3 
(a) Das Vorgehen ist zunächst identisch zu dem, das bereits aus F.1=u/ D  6a u  3au C u
 a
(1.137) bekannt ist. Man multipliziert (3.189) mit rP und sor-
2  
tiert die Differenziale um: L
D 18a2 u5  8u3 (3.215)

L rP2
dV
PrrR  D  rP 2L2  3 
 r3 dr D 4u  9a2 u5 :
(3.208) 
d  2 d L 2
dV
H) rP C D : Dies führt auf das gesuchte Endergebnis. Da der Radius im-
dt 2 dt 2r2 dt
mer positiv sein muss, folgt aus der Definition des Kosinus
Integriert man nach der Zeit, findet man, dass  =2 < 3' < =2 bzw. j'j < =6. Der Fall r D 0
würde einer unphysikalischen Singularität mit unendlicher
 2 L2 Geschwindigkeit entsprechen, da V.0/ D 1 ist.
ED rP C C V.r/ (3.209)
2 2r2
3.3
eine Konstante ist, die man als Energie identifiziert.
(b) Führt man u D 1=r ein, gilt (a) Gleichung (3.63) kann direkt als Ableitung nach dem Betrag
des Drehimpulses geschrieben werden:
du 1
D  2 D u2 : (3.210) Zrmax
dr r dr
' D 2L p
Wegen (3.50) kann die Zeitableitung durch eine Winkel- r2 2.E  V.r//  L2 =r2
rmin
ableitung ersetzt werden: (3.216)
Zrmax p
@
d L d Lu2 d D 2 dr 2.E  V.r//  L2 =r2 :
D D : (3.211) @L
dt r d'
2  d' rmin

Es ist die zweite Zeitableitung von r zu berechnen: Mit dem Ansatz V.r/ D V0 .r/ C ıV.r/ folgt zunächst
  r
d dr Lu2 d Lu2 d 1 L2 u2 d2 u L2
rR D D D 2 : 2.E  V/  2
dt dt  d'  d' u  d' 2 v
r
(3.212) u  !
u L2 ıV
Im letzten Schritt wurde d.1=u/ D du=u verwendet.
2
D t 2.E  V0 /  2 1 :
L2
Setzt man dieses Zwischenergebnis und dV=dr D F.r/ D r .E  V0 /  2r 2

F.1=u/ in (3.189) ein, folgt (3.191). (3.217)


122 3 Systeme von Punktmassen

Die r-Abhängigkeiten werden aus Gründen der Übersicht- 3.4


lichkeit nicht explizit angegeben. Der Bruch mit ıV ist klein
Teil I

gegenüber 1, da ıVpeine hinreichend kleine Störung sein (a) Die Zeitableitung lautet
soll. Die Näherung 1  x D .1  x/1=2 1  x=2 führt
 
dann auf P D 1 rR  L C rP  LP  rP C r rP :
Q (3.222)
s ! ˛ r r2

L2 ıV
2.E  V0 /  2 1 L2
: Wegen mRr D ˛r=r3 im Gravitationspotenzial und der dor-
r 2.E  V0 /  r 2 tigen Drehimpulserhaltung gilt
(3.218)
Wir wissen, dass die Periheldrehung ı' für ıV D 0 ver-
schwindet, da dies dem ungestörten Fall entspricht. Eine P D  r  L  rP C r rP D  r  .r  rP /  rP C r rP : (3.223)
Q
mr3 r r2 r3 r r2
Abweichung davon kann also nur vom Bruch mit ıV erzeugt
werden: Das doppelte Kreuzprodukt kann wie gewohnt umgeschrie-
r  ben werden und ergibt
rZmax 2.E  V0 /  Lr2
2

@ r  .r  rP/ D r .r  rP /  rP r2 : (3.224)
ı' D 2 dr ıV
@L L2
2.E  V0 /  r 2
rmin
Weiterhin gilt
Zrmax
@ dr ıV (3.219)
D 2 q r r dr2 r dr2 r .r  rP /
@L 2.E  V0 /  L2 P
r D D D : (3.225)
rmin r2 r2 2r3 dt 2r3 dt r3
Z
@ d' r2 ıV Setzt man alle Zwischenergebnisse in (3.222) ein, ergibt sich
D 2 : P D 0.
@L L Q
0 (b) Der Vektor Q liegt in der Bahnebene, da
Im letzten Schritt wurde (3.58) verwendet, um die r-Integra- 1 1
tion in eine '-Integration umzuwandeln. Dabei ist auf die LQ D L  .Pr  L/  L  r D 0 (3.226)
˛ r
Integrationsgrenzen zu achten: Bei der größten Annäherung
ist ' D 0, beim größten Abstand ' D . Außerdem wurde gilt. Hierbei sei an L D r  p erinnert. Wir fahren fort mit
das volle Potenzial V durch den führenden Term V0 ersetzt, der Berechnung von
da der Integrand bereits von der Ordnung ıV ist.
Es folgt also das Endergebnis mit explizit ausgeschriebener r  .Pr  L/
funktionaler Abhängigkeit: rQD  r: (3.227)
˛
0 1
Z Das Spatprodukt kann durch zyklische Permutation umge-
@ @ 2
ı' D r2 .'/ ıV.rŒ'/ d' A : (3.220) formt werden:
@L L
0
L2
r  .Pr  L/ D L  .r  rP / D : (3.228)
Es ist so zu interpretieren, dass das Störpotenzial in der Form 
ıV.r/ vorgegeben wird, ebenso die Bahnkurve r.'/, die sich
aus dem ungestörten Potenzial V0 .r/ ergeben würde. Der In- Somit hat man
tegrand ist dann eine reine Funktion von ', die prinzipiell
aufintegriert werden kann. Hängt das Ergebnis noch von L L2
rQD  r D rQ cos ': (3.229)
ab, muss dies bei der Ableitung nach L berücksichtigt wer- ˛
den.
(b) Am einfachsten ist die Berechnung für das Störpotenzial Eine einfache Umformung führt auf
ıV D ˇ=r2 . In diesem Fall ist die Integration trivial, und
das Ergebnis lautet L2 =.˛/ p
rD D : (3.230)
0 1 1 C Q cos ' 1 C Q cos '
Z  
@ @ 2 @ 2 ˇ 2 ˇ
ı' D ˇ d' A D D : Dies entspricht offenbar der Bahnkurve, wenn man Q D "
@L L @L L L2
0 identifiziert und Q in Richtung des Perihels zeigt. Denn nur
(3.221) dann ist 'p D 0 in (3.80).
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 123

3.5 (d) Die Kepler’sche Gleichung (3.199) folgt sofort durch Inte-
gration: r
(a) Wir schreiben (3.196) mit p D a.1  "2 / zunächst als ˛

Teil I
t D  " sin : (3.241)
p.1  " cos / a3
rD (3.231)
1  "2 Hier muss nur noch das dritte Kepler’sche Gesetz (3.92)
und vergleichen dies mit (3.80): ˛
!2 D (3.242)
p a3
rD : (3.232)
1 C " cos ' verwendet werden.
Eliminierung von r durch Gleichsetzen und Auflösen nach
cos ' führt auf das gesuchte Ergebnis (3.197). 3.6
(b) Wir zeigen, dass der Zahlenwert des Bruches auf der rechten
Seite von (3.197) für alle im Intervall Œ1; C1 liegt. Aus (a) Die Kraft, die sich aus dem Potenzial ergibt, ist
der zu überprüfenden Ungleichung dV ˇ
F.r/ D  D 3 H) F.1=u/ D ˇu3 : (3.243)
cos  " dr r
1 (3.233)
1  " cos Gleichung (3.61) kann dann durch einfache Umformung als
folgt wegen 1  " cos > 0 nach kurzer Umformung  
d2 u ˇ
D 1 2 u (3.244)
cos  1: (3.234) d' 2 L

Ausgehend von geschrieben werden. Wir definieren

cos  " ˇ
1 (3.235)  2 WD 1  (3.245)
1  " cos L2
und sehen, dass die resultierende Differenzialgleichung auf
folgt analog
eine Sinusfunktion führt:
cos  1: (3.236)
Dies bedeutet, dass der Bruch in der Tat durch 1 und C1 u.'/ D A sin..'  '0 //: (3.246)
beschränkt ist, egal welchen Wert annimmt. Somit sind Die beiden Integrationskonstanten sind die Amplitude A und
alle Werte zwischen 0 und 2 für erlaubt. Für D 0 ein Phasenwinkel '0 . Offensichtlich ist  nur dann reell,
folgt cos ' D 1, also ' D 0. Weiterhin führt D auf wenn  2  0 ist. Daher muss ˇ  L2 = gelten. Der
cos ' D 1 bzw. ' D . Tatsächlich laufen ' und bei Koeffizient ˇ kann auch einen beliebigen negativen Wert
einem vollen Umlauf beide von 0 bis 2 . annehmen. Dann ist das Potenzial V.r/ wie das Zentrifu-
(c) In das Integral (3.195) wird (3.196) eingesetzt; dabei ist galpotenzial abstoßend. Selbstverständlich kann auch ˇ >
dr0 D a" sin 0
d 0
(3.237) L2 = erfüllt sein, allerdings kann die Bahngleichung dann
nicht mehr als eine Sinusfunktion geschrieben werden. Statt-
zu berücksichtigen. Es folgt zunächst dessen handelt es sich um eine Exponentialfunktion:
r Z ˇ
a3 .1  " cos 0
/" sin 0
d 0 u.'/ D A exp.˙ 0 .'  '0 //;  02 WD  1: (3.247)
tD˙ q : L2
2˛ 0/ .1" cos 0 /2 .1"2 /
0
.1  " cos  2
 2 Diesen zweiten Fall wollen wir nicht weiter betrachten. We-
(3.238) gen sin x D cos.x  =2/ kann '0 so gewählt werden, dass
Der Nenner im Integral lässt sich vereinfachen zu schließlich p
r r r.'/ D (3.248)
1 2 1 ˇˇ ˇ cos.'/
" .1  cos2 0 / D " sin 0 ˇ : (3.239)
2 2 gilt, wobei p D 1=A substituiert wurde.
Der Sinus kann gekürzt werden. Da die Vorzeichen von dr 0 Eine gebundene Bewegung ist nur dann möglich, wenn der
und sin 0 =jsin 0 j stets gleich sind, fällt dabei auch das ˙ Radius r nicht divergiert. Die Bahnkurve divergiert jedoch
fort. Das Ergebnis lautet dann für alle Werte p 6D 0 und  6D 0. Der Fall  D 0 entspricht
r D p, und das Zentrifugalpotenzial und V.r/ heben sich an
r Z jedem Punkt genau auf. Dies führt auf eine Kreisbahn, die
a3 0 0
tD .1  " cos /d : (3.240) jedoch nicht stabil ist, da das effektive Potenzial dort kein
˛ Minimum aufweist. Für p D 0 folgt r D 0, was aus phy-
0
sikalischen Gründen ausgeschlossen werden soll. Somit ist
Es wurde dabei noch t. D 0/ D 0 verwendet. keine gebundene Bewegung möglich.
124 3 Systeme von Punktmassen

x2 3.7
Teil I

(a) Die streuende Masse m2 befinde sich im Ursprung, und die


Bewegung von m1 finde in der x-y-Ebene statt. Der Stoß-
parameter ist b. Gleichung (3.202) kann in folgender Form
geschrieben werden:

Z
C1 Z
C1
@V
m1 vf;y D Fy dt D  dt
x1 @y
1 1
(3.252)
γ = 0,5 Z
C1
dV @r
D dt:
dr @y
γ=3 1

p
Wegen z D 0 ist r D x2 C y2 , und es gilt @r=@y D
γ = 0,1 γ = 0,75 γ=1
γ=2 y=r. Weiterhin kann man dt durch dx=v1 ersetzen, da die
Geschwindigkeit von m1 entlang der x-Achse in erster Nä-
Abb. 3.20 Verschiedene Bahnkurven im 1=r 2 -Potenzial. Die Kurven entspre- herung konstant und daher stets v1 ist. Außerdem kann man
chen verschiedenen Werten für den Parameter  aus (3.245). Die Punkte größter y D b D const annehmen, da #1 klein ist. Man findet somit
Annäherung liegen auf der x1 -Achse und haben den Abstand p zum Ursprung.
In dieser Abbildung sind alle Bahnparameter p identisch. Man erkennt, dass sich Z1
2b dV dx
die Massen mehrfach umlaufen können (rot ) oder gar keine Streuung auftreten m1 vf;y D  : (3.253)
kann (grün ). Für  < 1 ist die Wechselwirkung attraktiv, jedoch lässt sich keine v1 dr r
stabile gebundene Bahn finden 0

Hier wurde ausgenutzt, dass die Beiträge der Intervalle


.1; 0 und Œ0; C1/ identisch sind. Die x-Integration kann
(b) Der Streuwinkel ergibt sich aus der Bedingung, dass der Ra-
durch eine r-Integration ersetzt werden: Da r2 D x2 C b2 ist,
dius für ' D ˙ =2 divergiert. Es folgt ' D = . Der
gilt r dr D x dx und schließlich
Streuwinkel ist # 0 D  ' D .1  1= /. Interessanter-
weise kann der Streuwinkel für  < 1 (was ˇ > 0 und einem Z1
anziehenden Potenzial V.r/ entspricht) beliebig negativ wer- 2b dV dr
#1 D  p ; (3.254)
den. In diesem Fall hat die Bahnkurve die Eigenschaft, dass m1 v1
2 dr r2  b2
sich m1 und m2 während der Bewegung mehrfach gegen- b
seitig umlaufen, bevor sie sich wieder voneinander trennen
(Abb. 3.20). Ersetzt man  durch die Definition in (3.245), was die gesuchte Gleichung (3.203) ist. Man beachte die un-
L durch den Stoßparameter b D L=.v1 / und verwendet tere Grenze der Integration, die nun b anstatt 0 ist.
man die Energie E D v1 2
=2, führt dies zunächst auf (b) Das Gravitationspotenzial lautet

#0 1 Gm1 m2
D1 q : (3.249) V.r/ D  : (3.255)
ˇ r
1 2b2 E

Diese Gleichung kann nach b2 aufgelöst werden: Nimmt man an, dass ein Lichtstrahl aus einem Strom von
Teilchen der Geschwindigkeit v1 D c besteht, lautet der
ˇ=.2E/ Streuwinkel im Laborsystem
b2 D : (3.250)
1  .1#10 = /2
Z1
Den Wirkungsquerschnitt (3.131) erhält man durch Diffe- 2Gm2 b dr
renziation: #1 D p
ˇ 2ˇ c2 r 2 r 2  b2
d 1 ˇ db ˇ b
ˇ1 (3.256)
D ˇ ˇ p
d 2 sin # ˇ d# 0 ˇ
0 2Gm2 b r2  b2 ˇˇ 2Gm2
D ˇ D 2 :
ˇ 1 c2 b2 r ˇ c b
D ˇ  2 ˇˇ (3.251) b
2 E sin. / ˇ ˇ
.1  /3
1  1 ˇ
ˇ .1 /2 ˇ Im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie wird kon-
sistent gezeigt, dass ein Lichtstrahl tatsächlich durch ein
ˇ j1  j
D Gravitationsfeld abgelenkt wird. Allerdings ist die Licht-
2 E sin. / 2.  2/2 ablenkung doppelt so groß, wie das Ergebnis in (3.256)
mit WD # 0 = . voraussagt.
Antworten zu den Selbstfragen 125

Antworten zu den Selbstfragen

Teil I
Antwort 10 Die Verhältnisse sind umgekehrt proportional.
Dies lässt sich direkt aus dem zweiten Kepler’schen Gesetz ab-
leiten, da an Perihel und Aphel r und rP orthogonal sind.
126 3 Systeme von Punktmassen

Literatur
Teil I

Weiterführende Literatur

Cornish, N.J.: The Lagrangian Points (1998), http://map.gsfc.


nasa.gov/media/ContentMedia/lagrange.pdf.
Zugegriffen: 5. September 2013
Starre Körper
4

Teil I
Was ist ein starrer Körper?

Was ist der


Trägheitstensor?

Warum kann man den


Trägheitstensor
diagonalisieren?

Wie berechnet man


Volumenintegrale?

Wie lauten die


Bewegungsgleichungen
eines starren Körpers?

Wie stark kann ein Kreisel


torkeln?

4.1 Freiheitsgrade des starren Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128


4.2 Kinetische Energie und Drehimpuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
4.3 Tensoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
4.4 Trägheitstensor und Trägheitsmomente . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
4.5 Kontinuierliche Massenverteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
4.6 Bewegungsgleichungen des starren Körpers . . . . . . . . . . . . . . . 147
4.7 Rotation des Kreisels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
Antworten zu den Selbstfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 127
128 4 Starre Körper

Starre Körper sind ausgedehnte Objekte ohne innere Freiheitsgrade, Genau wie eine Punktmasse ist das Konzept eines starren Kör-
die für viele Bereiche der Physik ein wichtiges Modell darstellen. pers eine Idealisierung. So wie eine Punktmasse in der täglichen
Teil I

Die in Kap. 2 diskutierten orthogonalen Transformationen führten Erfahrungswelt nicht vorkommt, gibt es in der Realität auch kei-
auf mathematische Gleichungen für die Änderungsgeschwindigkeit ne perfekt starren Körper. Dies wird klar, wenn man sich einen
eines Vektors in rotierenden Bezugssystemen. Die dort erlernten Stab vorstellt. Stößt man an dem einen Ende gegen den Stab, so
Methoden werden hier verwendet, um die Dynamik starrer Körper würde sich jeder seiner Punkte instantan in Bewegung setzen,
zu beschreiben. da die Abstände ja jederzeit konstant sein müssen. Dies steht
allerdings im Widerspruch zur speziellen Relativitätstheorie, die
Wir werden sehen, dass die Bewegungsgleichungen starrer Kör- besagt, dass sich keine Information schneller ausbreiten kann
per zwar eine formale Ähnlichkeit mit dem zweiten Newton’schen als das Licht. Außerdem würde ein starrer Körper unendlich
Gesetz für Punktmassen aufweisen. Doch sind diese sogenannten große Kräfte zwischen den Molekülen erfordern. Tatsächlich
Euler-Gleichungen aufgrund des darin auftauchenden Trägheitsten- zeigen alle scheinbar starren Körper elastische Eigenschaften:
sors anspruchsvoller und erlauben eine Vielzahl von Lösungen (z. B. Unter äußeren Einflüssen verformen sie sich, auch wenn die-
für den symmetrischen oder schweren Kreisel), die teilweise der In- se Verformung häufig für den Menschen nicht wahrnehmbar ist
tuition zu widersprechen scheinen. und in vielen Anwendungen vernachlässigt werden kann.
Im Laufe des Kapitels werden Volumenintegrale, Tensoren und die Es kommt auf die Situation an, ob das Modell eines starren
Diagonalisierung von Matrizen diskutiert, die allesamt extrem hilf- Körpers angemessen ist oder nicht. Es bietet sich allerdings
reiche mathematische Werkzeuge für die gesamte Physik darstellen. als vereinfachte Beschreibung für viele Systeme an, z. B. für
Das Gebiet der Kreisel ist sehr weitläufig und kann im Rahmen die- die rotierende Erde, einen Kreisel auf der Tischplatte oder ein
ses Lehrbuches nur einführend besprochen werden. So verzichten physikalisches Pendel. Einen Eimer mit Wasser kann man da-
wir beispielsweise auf eine Diskussion der Dynamik nichtsymmetri- gegen nicht als starren Körper ansehen. Als Faustregel gilt, dass
scher Kreisel. starre Körper dann eine gute Näherung sind, wenn man davon
ausgehen kann, dass die wirkenden Kräfte keine oder nur eine
vernachlässigbare innere Dynamik anregen (wie beispielsweise
die Deformation des Körpers).
4.1 Freiheitsgrade
des starren Körpers
Anzahl der Freiheitsgrade
Nach der Definition des starren Körpers werden seine Frei-
heitsgrade und Koordinaten diskutiert. Es wird gezeigt, dass Ein System von N Punktmassen kann höchstens f D 3N Frei-
man genau sechs Koordinaten benötigt, um Lage und Orien- heitsgrade besitzen (z. B. drei Ortskomponenten in der Form
tierung eines freien starren Körpers eindeutig festzulegen. Dies xa .t/ für jede Punktmasse). Durch innere Zwangsbedingungen,
können beispielsweise seine drei Schwerpunktskoordinaten und z. B. jxa .t/  xb .t/j D const, wird deren Anzahl reduziert. Im
drei Drehwinkel sein. Anschließend werden die meistverwende- starren Körper gibt es offensichtlich eine große Anzahl von sol-
ten Euler’schen Winkel eingeführt. chen Zwangsbedingungen. Doch wie viele Freiheitsgrade bzw.
voneinander unabhängige Koordinaten bleiben übrig? Für einen
starren Körper gibt es stets f D 6 Freiheitsgrade, wenn er
nicht zusätzlich äußeren Zwängen unterworfen ist. Ein äußerer
Definition und Gültigkeitsbereich Zwang liegt beispielsweise bei einem Kreisel auf einer Tisch-
eines starren Körpers platte oder einem Jo-Jo an einer Schnur vor.
Man kann sich leicht überlegen, warum ein starrer Körper maxi-
Ein starrer Körper ist ein Objekt, das aus N Punktmassen ma mal sechs Freiheitsgrade haben kann. Eine einzelne Punktmasse
besteht, die alle einen zeitlich konstanten Abstand zueinander m1 hat drei Freiheitsgrade, z. B. ihre kartesischen Koordinaten
besitzen, rab D jxa .t/  xb .t/j D const (a; b D 1; : : : ; N). Es x1 .t/ in einem beliebigen Bezugssystem. Verbindet man eine
handelt sich dabei um einen Spezialfall der N-Teilchen-Systeme zweite Punktmasse m2 mit der ersten, kommen nicht drei, son-
in Abschn. 3.1. Insbesondere sind Gesamtmasse M und Schwer- dern nur zwei Freiheitsgrade hinzu, da der Abstand r12 konstant
punkt X durch (3.3) und (3.4) gegeben. ist, was einer Zwangsbedingung entspricht. Eine dritte Punkt-
masse m3 mit festem Abstand zu den beiden ersten (r13 und
Beim starren Körper sind die Wechselwirkungspotenziale so, r23 ) führt auf nur noch einen zusätzlichen Freiheitsgrad. Diese
dass die Abstände rab allesamt konstant gehalten werden. Die drei Punktmassen haben zusammen sechs Freiheitsgrade. Die
genaue Form dieser Potenziale wird für die Diskussion des Lage jeder weiteren Punktmasse ist aber durch Angabe ihrer
starren Körpers allerdings nicht benötigt, da sie nicht an der Abstände zu drei anderen Punktmassen (bis auf das Vorzeichen)
Dynamik beteiligt sind und nur die konstanten Abstände garan- festgelegt, solange diese nicht alle auf einer Linie liegen. Die
tieren. Stattdessen ist es sinnvoller, von Zwangsbedingungen zu Anzahl der Freiheitsgrade kann somit nicht mehr erhöht wer-
sprechen, auf die wir in Kürze zurückkommen. den (Abb. 4.1).
4.1 Freiheitsgrade des starren Körpers 129

m1 b3
e
r14 b∗
e 3
m4

Teil I
r13
b∗
e 2 b∗
e 1
r34
r12
r24
b3
e
O O∗
b1
e b2
e

m3
r23
m2

Abb. 4.1 Die Lage einer Punktmasse m4 ist (bis auf das Vorzeichen) eindeutig O
festgelegt, wenn die drei Abstände r14 , r24 und r34 (blaue Linien ) zu den drei b1
e b2
e
Punktmassen m1 , m2 und m3 bekannt sind

Die sechs Freiheitsgrade eines starren Körpers werden in der Abb. 4.2 Überblick der Koordinatensysteme, die zur Beschreibung des starren
Regel in der Form eines Punktes und dreier Winkel angegeben Körpers verwendet werden. Das Laborsystem (S, schwarz ) ist raumfest und ein
(Lage und Orientierung). Wird ein beliebiger Punkt eines star- Inertialsystem. Das Schwerpunktsystem (S0 , blau ) ist gegenüber S nicht gedreht,
ren Körpers im Raum festgehalten, ergeben sich drei weitere ist aber an den Schwerpunkt des starren Körpers gebunden. Das körperfeste
äußere Zwangsbedingungen. Man spricht dann von einem Krei- System (S , rot ) dreht sich mit dem starren Körper mit
sel. Hält man zusätzlich einen weiteren Punkt im Raum fest,
bleibt nur noch ein Freiheitsgrad übrig, und der starre Körper
Betrachten wir nun einen beliebigen Punkt des starren Körpers
ist ein physikalisches Pendel.
mit Koordinaten xa .t/ in S. Ein beliebiger anderer Bezugspunkt
Achtung Da die Zahl der Freiheitsgrade von der Zahl der des starren Körpers befinde sich am Ort x0 .t/. Dies kann, muss
Punktmassen unabhängig ist, kann man auch den Grenzfall aber nicht der Schwerpunkt sein. Wir definieren den Verschie-
N ! 1 und ma ! 0 mit M D const betrachten. Dies führt bungsvektor da .t/ WD xa .t/  x0 .t/ und erkennen sofort, dass
schließlich auf eine kontinuierliche Massenverteilung, auf die sein Betrag konstant sein muss, jda .t/j D const, da es sich um

wir in Abschn. 4.5 erneut zu sprechen kommen. J einen starren Körper handelt. In S sind x 
a , x0 und da offen-
sichtlich konstant. In S hingegen ist
xP a .t/ D xP 0 .t/ C dP a .t/ D xP 0 .t/ C .t/  da .t/: (4.1)
Koordinatensysteme
Die letzte Gleichheit gilt, da die zeitliche Änderung des Vektors
In diesem Kapitel werden verschiedene Koordinatensysteme da .t/ nur seine Orientierung, nicht aber seine Länge betreffen
benötigt. Da dies auf den ersten Blick verwirrend sein kann, kann. Die Änderung von da .t/ steht daher senkrecht auf da .t/
gehen wir hier gründlich vor. Wir führen drei kartesische Koor- selbst. Dabei ist .t/ ein Vektor, den es zu bestimmen gilt. An-
dinatensysteme ein: dererseits haben wir bereits (2.54) abgeleitet:
  
1. Das erste, S, ist raumfest und ein Inertialsystem, also ein dP D R dP  !  d : (4.2)
Laborsystem. Die Basisvektoren werden ungestrichen dar-
Dies beschreibt das Transformationsverhalten der Zeitableitung
gestellt, eO i (i D 1; 2; 3), und sind zeitunabhängig. Der
eines Verschiebungsvektors d, wenn man von einem kartesi-
Ursprung ist beliebig.
schen Inertialsystem zu einem beliebigen anderen kartesischen
2. Das Schwerpunktsystem des starren Körpers, S0 , wird mit ei-
Koordinatensystem wechselt, das von S aus gesehen mit der
nem Strich bezeichnet. Der Ursprung liegt im Schwerpunkt
Winkelgeschwindigkeit ! rotiert. Dabei ist R die momentane
des starren Körpers. Die Basisvektoren eO 0i sind stets parallel
Drehmatrix, welche die Basisvektoren der beiden Systeme in-
zu den eO i . S0 ist kein Inertialsystem, wenn der Schwerpunkt 
des starren Körpers beschleunigt wird. einander überführt. Da in unserem Fall dP D 0 ist, muss
3. Das dritte System, S , sei so gewählt, dass alle Punkte des P D !.t/  d.t/
d.t/ (4.3)
starren Körpers darin ruhen (Abb. 4.2). Die Basisvektoren
werden mit einem Stern markiert und sind zeitabhängig, gelten. Wir können also .t/ D !.t/ als die momentane Win-
wenn der starre Körper rotiert: eO  i .t/ (Beispiel Erddrehung kelgeschwindigkeit desjenigen Bezugssystems interpretieren, in
in Abschn. 2.4). Die Wahl des Koordinatenursprungs und die dem alle Punkte des starren Körpers ruhen. Da die Wahl der
genaue Orientierung der Achsen lassen wir zunächst offen. Punkte xa .t/ und x0 .t/ bei diesen Überlegungen beliebig ist, ist
130 4 Starre Körper

die Winkelgeschwindigkeit !.t/ für alle Punkte des starren Kör- b3


e b∗
e 2
pers zur Zeit t identisch und hängt nicht vom Bezugspunkt ab.
Teil I

Ein starrer Körper wird daher durch seine momentane Winkel-


geschwindigkeit charakterisiert. Dies entspricht inhaltlich dem
Euler’schen Theorem.
b∗
e 3

Euler’sches Theorem für die Bewegung eines starren


Körpers
ϑ
Wird ein starrer Körper in einem Punkt festgehalten, so ist
die allgemeine Bewegung eine Drehung um eine Achse, ϕ b2
e
die durch diesen Punkt läuft. ψ

b∗
e 1

Man beachte, dass die momentane Winkelgeschwindigkeit von


S aus gesehen durch (2.72) gegeben ist: b1
e
bK
e

! .t/ D R.t/!.t/: (4.4)

Satz von Chasles Abb. 4.3 Die relative Orientierung vom Laborsystem (S, schwarz ) und kör-
perfestem System (S , rot ) wird durch die drei Euler-Winkel #, ' und
Wählt man in (4.1) x0 .t/ als den Schwerpunkt des star- beschrieben. Zur Vereinfachung wurden hier identische Ursprünge für S und S
ren Körpers, sieht man, dass die Bewegung des starren gewählt. Die Knotenlinie eO K (grün ) ist die Schnittlinie der eO 1 -Oe2 - (schwarz ) und
Körpers als Summe einer Translation, xP 0 .t/, und einer eO e
1 -O 2 -Ebenen (gelb )
Rotation um den Schwerpunkt, !.t/  .xa .t/  x0 .t//, ge-
schrieben werden kann. Diese Aussage ist auch als Satz
von Chasles (nach dem französischen Mathematiker Mi- zu überführen. Da die Euler-Winkel auf den ersten Blick we-
chel Chasles, 1793–1880) bekannt. Als Ursprung von S nig anschaulich sind, betrachten wir zunächst Abb. 4.3. Dort ist
verwendet man in der Regel den Schwerpunkt. Ist ein die sogenannte Knotenlinie eO K definiert. Sie ist die Schnittlinie
Punkt des starren Körpers fixiert, wird dieser normaler- der eO 1 -Oe2 - und der momentanen eO  e
1 .t/-O 2 .t/-Ebene. Damit ist ih-

weise als Ursprung definiert. re Richtung durch eO K .t/ D eO 3  eO 3 .t/ festgelegt. Aus Gründen
der Übersichtlichkeit verzichten wir im weiteren Verlauf auf die
explizite Angabe der Zeitabhängigkeiten.
Zwar sind Situationen denkbar, in denen die Schwerpunkts- Es kann zu der Situation kommen, dass eO 3 und eO  3 parallel
bewegung und Rotation gekoppelt sind. Solche Situationen sind. Dann ist die Knotenlinie nicht eindeutig definiert. Diese
werden hier nicht besprochen, und wir betrachten die Rotati- mathematische Singularität wird in praktischen Anwendungen
on unabhängig von der Schwerpunktsbewegung. Insbesondere umgangen, indem nicht die Euler’schen Winkel, sondern die
ist wegen (3.10) und (3.20) die Änderung des Gesamtimpul- sogenannten Quaternionen zur Darstellung verwendet werden,
ses gleich der Summe aller äußeren Kräfte, und die Änderung auf die wir hier jedoch nicht weiter eingehen.
des Gesamtdrehimpulses ist die Summe aller äußeren Drehmo-
mente. Zur Erinnerung sei an die entsprechenden Ergebnisse in Die drei Euler-Winkel sind folgendermaßen definiert (in der
Abschn. 3.1 verwiesen. Literatur sind – je nach Konvention – allerdings abweichende
Definitionen zu finden):
Winkel zwischen eO K und eO 1 : '
Winkel zwischen eO 3 und eO 
3:#
Euler’sche Winkel als Rotationsfreiheitsgrade Winkel zwischen eO K und eO 
1:

Wir sind bisher davon ausgegangen, dass es irgendein körper- Mathematisch lassen sich die beiden Koordinatensysteme fol-
festes Bezugssystem S gibt, das durch eine Drehmatrix R.t/ gendermaßen ineinander überführen (siehe Abschn. 2.1):
aus dem raumfesten System S hervorgeht (von einer mögli- 1. Im ersten Schritt wird eine Drehung um eO 3 um den Winkel
chen Verschiebung der Ursprünge einmal abgesehen). S wurde ' durchgeführt. Die damit verbundene Drehmatrix lautet
allerdings nicht näher spezifiziert. Zur Beschreibung der La- 0 1
ge im Raum haben sich die drei Euler-Winkel (#.t/, '.t/ und cos ' sin ' 0
.t/) besonders bewährt. Sie werden verwendet, um S (defi- R3 .'/ D @ sin ' cos ' 0A (4.5)
niert durch eO i ) in drei Schritten in S (definiert durch eO 
i .t/) 0 0 1
4.2 Kinetische Energie und Drehimpuls 131

und führt auf ein Zwischensystem mit den Basisvektoren 4.2 Kinetische Energie
eO .'/ .
i
und Drehimpuls

Teil I
2. Im Anschluss wird um den Winkel # um eO .'/
1 gedreht. Die
Drehmatrix
0 1 Es werden die innere kinetische Energie und der innere Drehim-
1 0 0 puls des starren Körpers berechnet. Dies führt auf die Definition
R1 .#/ D @0 cos # sin # A (4.6) des Trägheitstensors, der die charakteristische Größe eines ro-
0  sin # cos # tierenden starren Körpers ist. Der Trägheitstensor wird physika-
lisch interpretiert. Seine mathematischen Eigenschaften werden
führt auf ein weiteres Zwischensystem mit den Basisvekto- anschließend in Abschn. 4.3 untersucht.
ren eO .#/
i .
3. Im letzten Schritt erhält man das körperfeste Koordinaten-
system mit den Basisvektoren eO  O .#/
i , indem um die Achse e
um den Winkel gedreht wird. Die zugehörige Drehmatrix
3 Kinetische Energie und Trägheitstensor
lautet 0 1
cos sin 0 Um die kinetische Energie des starren Körpers anzugeben, be-
R3 . / D @ sin cos 0A : (4.7) ginnen wir mit (3.34):
0 0 1
M P 2 X ma 02
T D TS C TR0 D X C xP : (4.13)
2 a
2 a
Selbstverständlich lassen sich die drei Einzeldrehungen zu einer
einzigen Operation Der erste Term ist die kinetische Energie der Schwerpunktsbe-
wegung im Inertialsystem S, der zweite die innere kinetische
R D R3 . /R1 .#/R3 .'/ (4.8) Energie im Schwerpunktsystem S0 , die als Rotationsenergie de-
finiert wird. An dieser Stelle können wir wegen (4.3)
zusammenfassen. Man kann mit etwas Aufwand, aber simpler
Rechenarbeit zeigen, dass xP 0a D !0  x0a (4.14)
 cos ' cos  sin ' cos # sin sin ' cos C cos ' cos # sin sin # sin
 schreiben, wobei der Vektor x0a vom Schwerpunkt X zur be-
R D  sin ' cos # cos  cos ' sin cos ' cos # cos  sin ' sin sin # cos (4.9) trachteten Punktmasse ma zeigt. Man beachte, dass sich S und
sin ' sin #  cos ' sin # cos #

S0 per Definition nur durch die Wahl des Ursprungs unterschei-


gilt. Die Rücktransformation erfolgt mit der Matrix R1 D R> , den. Die Koordinatenachsen sind nicht gegeneinander gedreht.
da R eine orthogonale Matrix ist. Somit gilt für einen ungebun- Insbesondere gilt dann ! D !0 . Da die Winkelgeschwindigkeit
denen Abstandsvektor mit den Koordinatendarstellungen d in S !0 für alle Punktmassen eines starren Körpers identisch ist, fin-
und d in S : det man durch Einsetzen von (4.14) in den zweiten Term von
d D Rd; d D R1 d (4.10) (4.13):
1X    
TR0 D ma !0  x0a  !0  x0a
bzw. 2 a
di D rij dj ; di D rji dj : (4.11) 1 X h 02 02  0 0 2 i
(4.15)
D ma ! xa  !  xa :
2 a
Frage 1
Rechnen Sie (4.9) nach. Geht man in Komponentenschreibweise über, hat man
1X
TR0 D ma !i0 !i0 x02 0 0 0 0
a  !i xa;i !j xa;j : (4.16)
Weiterhin gilt wegen (2.10) die nützliche Relation 2 a

Nach einer kurzen Umformung sieht man:


eO 
i e
Oj D rij : (4.12)
1 0X 1 0 0 0
TR0 D !i ma ıij x02 0 0 0
a  xa;i xa;j !j DW !i ij !j : (4.17)
Achtung Die Euler-Winkel werden in der Literatur gele- 2 a
2
gentlich abweichend definiert. So gibt es beispielsweise eine
Konvention, bei der die zweite Drehung stattdessen um die eO .'/
2 - Frage 2
Achse ausgeführt wird. Dies ergibt letztlich eine andere Form Führen Sie diese Umformung explizit durch.
der Drehmatrix R. J
132 4 Starre Körper

Körpers charakterisiert. Allein dessen Masse reicht für solch ei-


Trägheitstensor ne Beschreibung nicht aus, da seine Form und Ausdehnung die
Teil I

Rotationsenergie beeinflussen. Es ist allerdings auf den ersten


Die Größe  0 mit den neun Komponenten Blick erstaunlich, dass nur sechs Zahlen benötigt werden, um
X   das Trägheitsverhalten eines rotierenden starren Körpers voll-
ij0 W D ma ıij x02 0 0
a  xa;i xa;j (4.18) ständig zu erfassen – ganz unabhängig davon, welch komplexe
a Gestalt er auch besitzt. Physikalisch liegt dies in der großen An-
0 1
X x02
a;2 C xa;3
02
x0a;1 x0a;2 x0a;1 x0a;3 zahl der inneren Zwangsbedingungen begründet.
D ma @ x0a;1 x0a;2 x02
a;1 C xa;3
02
xa;2 xa;3 A
0 0
Die Diagonalelemente des Trägheitstensors nennt man Träg-
a x0a;1 x0a;3 0 0
xa;2 xa;3 x02
a;1 C xa;2
02
0 0 0
heitsmomente. Sie sind nichtnegativ, 11 ; 22 ; 33  0, und
haben die Eigenschaft, dass kein Trägheitsmoment größer ist
ist der Trägheitstensor eines starren Körpers in seinem
als die Summe der übrigen beiden. Dies wird in Aufgabe 4.1
Schwerpunktsystem. Mit seiner Hilfe lässt sich die kine-
gezeigt. Die Nebendiagonalelemente nennt man Deviationsmo-
tische Energie (Rotationsenergie) des starren Körpers be-
mente oder auch Trägheitsprodukte.
rechnen, wenn die Winkelgeschwindigkeit !0 im Schwer-
punktsystem bekannt ist:
Trägheitstensor zweier verbundener Punktmassen
1 1
TR0 D !i0 ij0 !j0 D !0>  0 !0 : (4.19) Das einfachste Beispiel für einen starren Körper ist ein
2 2
System von zwei Punktmassen, die durch eine masse-
lose Stange der Länge 2l verbunden sind. Die beiden
Massen m1 D m2 D M=2 befinden sich an den Orten
Der Trägheitstensor ist symmetrisch: ij0 D ji0 . Er besitzt da- .l cos '; l sin '; 0/> und .l cos '; l sin '; 0/> , sodass
her nur sechs unabhängige Einträge. Diese wichtige Eigenschaft der Schwerpunkt im Ursprung liegt. Der Trägheitstensor
wird später noch eine große Rolle spielen. lautet demnach
0 2 1
Frage 3 l  l2 cos2 ' l2 sin ' cos ' 0
Überprüfen Sie dies anhand von (4.18). .ij0 / D M @l2 sin ' cos ' l2  l2 sin2 ' 0A
0 0 l2
0 1
sin2 '  sin ' cos ' 0
Im Folgenden werden wir uns zunächst weiter mit den physika- D Ml2 @ sin ' cos ' cos2 ' 0A :
lischen Eigenschaften des Trägheitstensors beschäftigen, bevor 0 0 1
wir in Abschn. 4.3 Tensoren als mathematische Objekte definie- (4.20)
ren und beschreiben. Offensichtlich gilt ij0 D ji0 . J

Frage 4
Physikalische Eigenschaften Führen Sie die Rechnung, die auf (4.20) führt, explizit aus.
des Trägheitstensors
In Abschn. 4.5 werden noch andere konkrete Berechnungen des
Betrachtet man die Struktur von (4.19), so sieht man, dass sie Trägheitstensors vorgeführt.
Ähnlichkeiten mit der kinetischen Energie mPx2 =2 D mPxi xP i =2
einer Punktmasse hat. Die Geschwindigkeit xP wird durch die
Winkelgeschwindigkeit !0 und die Masse m durch die Kom-
ponenten ij0 des Trägheitstensors ersetzt. Der Trägheitstensor Drehimpuls und Trägheitstensor
übernimmt die Rolle der trägen Masse bei Drehbewegungen.
Wir werden allerdings noch sehen, dass die Bewegungsglei-
chungen des starren Körpers schwieriger zu lösen sind als die Genau wie die kinetische Energie lässt sich auch der Dreh-
einer Punktmasse. impuls des starren Körpers mittels des Trägheitstensors aus-
drücken. Gleichung (3.22),
Was bedeutet der Trägheitstensor anschaulich? Ähnlich wie die
X
Masse verknüpft er die kinetische Energie mit der Geschwindig- L D LS C L0R D X  M XP C x0a  ma xP 0a ; (4.21)
keit (in diesem Fall: Rotations- oder Winkelgeschwindigkeit). a
Dabei spielt es allerdings eine Rolle, wie weit die Elemente des
starren Körpers von der Drehachse entfernt sind. Der Trägheits- besagt, dass die Drehimpulsanteile von Schwerpunkt und der
tensor ist eine Größe, welche die Massenverteilung des starren inneren Bewegung relativ zum Schwerpunkt separat betrachtet
4.3 Tensoren 133

tatsächlich solch ein Koordinatensystem finden, wie wir später


zeigen und ausnutzen werden.

Teil I
Zwischen kinetischer Energie und Drehimpuls gilt schließlich
der Zusammenhang
1 0
L TR0 D L  !0 ; (4.25)
! 2 R
wie man schnell anhand von (4.19) überprüft. Da TR0 immer po-
O  sitiv ist, muss der Winkel zwischen L0R und !0 stets kleiner als
90ı sein. Man beachte die Ähnlichkeit mit T D p  v =2 für die
kinetische Energie einer Punktmasse.

4.3 Tensoren
In diesem Abschnitt werden Tensoren als mathematische Ob-
jekte eingeführt. Sie spielen in der Physik eine grundlegende
Abb. 4.4 Drehimpuls und Winkelgeschwindigkeit eines starren Körpers sind in Rolle; der Trägheitstensor ist eines der wichtigsten Beispiele
der Regel nicht parallel. Hier sind die Vektoren L0 und !0 im Schwerpunktsystem
S0 dargestellt
in der Mechanik. Tensoren lassen sich als multidimensiona-
le Zahlenschemata darstellen. Wir kommen vor allem auf das
Transformationsverhalten, das Produkt und die Kontraktion von
Tensoren zu sprechen.
werden können. Der Anteil der inneren Bewegung lässt sich we-
gen (4.14) in der Form
X   X  0 
L0R D ma x0a  !0  x0a D ma x02 0 0
a !  xa xa  !
0
Tensoren in der Physik
a a
(4.22)
schreiben. Dies führt schließlich auf Tensoren werden im „Mathematischen Hintergrund“ 4.1 defi-
niert. In diesem Abschnitt soll erläutert werden, wie Tensoren
L0R D  0 !0 : (4.23) gewöhnlicherweise in der Physik eingesetzt werden und wie
man praktisch mit ihnen rechnet. Wir beschränken uns dabei auf
Tensoren, die auf Vektoren im N-dimensionalen euklidischen
Frage 5 Raum RN wirken.
Zeigen Sie mithilfe der Indexschreibweise die Gültigkeit von Bei Tensoren der Stufe p bzw. vom Rang p handelt es sich um
(4.23). multilineare Abbildungen, die sich – nach Wahl einer Basis –
als ein N  : : :  N-Zahlenschema darstellen lassen. Wie wir
in Kürze sehen werden, lassen sich Tensoren erster Stufe als
Um die Bedeutung dieser Gleichung hervorzuheben, schreiben Vektoren mit N Komponenten, Tensoren zweiter Stufe als N 
wir sie in Komponentenform aus: N-Matrizen darstellen usw. Wir beschränken uns im Folgenden
zur besseren Anschaulichkeit auf Tensoren zweiter Stufe. Die
L0R;1 D 11
0
!10 C 12
0
!20 C 13
0
!30 ; Ergebnisse sind jedoch für Tensoren jeder Stufe gültig.
L0R;2 D 21
0
!10 C 22
0
!20 C 23
0
!30 ; (4.24)
Wie findet man nun die Darstellung eines Tensors als N  N-
L0R;3 D 31
0
!10 C 32
0
!20 C 33
0
!30 : Matrix in der gegebenen Basis? Hierzu reicht es zu wissen, wie
der Tensor auf die entsprechenden Basisvektoren eO i wirkt. Für
einen Tensor T.a; b/ ! R definieren wir
Achtung Gleichung (4.24) besagt, dass Drehimpuls und
Winkelgeschwindigkeit im Allgemeinen nicht parallel sind Tij WD T.Oei ; eOj / .1  i; j  N/ (4.26)
(Abb. 4.4), da  0 eine matrixwertige Größe ist und jede Kom-
ponente von L0R im Allgemeinen von allen Komponenten von und nennen diese N 2 Größen die Komponenten des Tensors be-
!0 abhängt. J züglich der gewählten Basis. Da Tensoren multilinear sind, kann
man die Wirkung des Tensors auf beliebige Vektoren dann in der
Es stellt sich hier die Frage, ob es ein Koordinatensystem
Form
gibt, in dem der Trägheitstensor diagonal ist, d. h. in dem al- T.a; b/ D Tij ai bj (4.27)
le Deviationsmomente verschwinden. In diesem Fall würden
die Gleichungen in (4.24) stark vereinfacht werden. Man kann schreiben.
134 4 Starre Körper

4.1 Mathematischer Hintergrund: Tensoren


Teil I

Wir wollen uns nun mit Tensoren, einem für die Physik nur Tensoren untersuchen, bei denen die Vektorräume Vi alle
wichtigen Konzept, beschäftigen. Dabei werden wir jedoch identisch sind.
Tensoren nicht (wie vielerorts üblich) als Größen mit be-
Seien dafür die N-dimensionalen Vektorräume V1 ; : : : ; Vp
stimmtem Transformationsverhalten definieren, sondern die
mathematische Definition über Multilinearformen nehmen, gegeben und seien fe1i ; : : : ; eNi g und fe01i ; : : : ; e0Ni g jeweils
Basen von Vi . Dann lässt sich jeder Basisvektor einer Basis
aus der das Transformationsverhalten folgt.
als Linearkombination der Basisvektoren der anderen Basis
Multilinearformen Ist K ein Körper und sind V1 ; : : : ; Vp K- darstellen, es gelte also
Vektorräume, so nennen wir eine Abbildung W V1  : : :  X
N
Vp ! K Multilinearform oder Tensor, wenn sie in jedem e0il D ril ;jl ejl .1  l  p/: (1)
Argument linear ist. Wir sind hier nur an dem Spezialfall jl D1
K D R mit lauter identischen Vi interessiert. In diesem
Fall schreibt man für den Raum der Multilinearformen auch Für jeden einzelnen der p Vektorräume Vl wird also über die
˝p V  , und man nennt solche Tensoren p-Tensoren. ˝p V  N Basisvektoren ejl summiert.
ist selbst wieder ein reeller Vektorraum. Wenden wir nun einen Tensor an, so erhalten wir mit dieser
Man kann zeigen, dass der Raum ˝p V  die Dimension N p Transformation und aufgrund der Multilinearität von
hat, wenn V die Dimension N hat. Es gilt sogar noch mehr: X X
0
˝p V  ist isomorph (d. h., es existiert eine bijektive Abbil- i1 ;:::;ip D  ri1 ;j1    rip ;jp j1 ;:::;jp : (2)
p
dung, die mit der Vektorraumstrukur verträglich ist) zu RN . j1 jp

Dies gibt uns die Möglichkeit, nach Wahl von Basen von V Eine Herleitung dieser Gleichung für p D 2 (die sich auch
p-Tensoren als „p-dimensionale Matrizen“ darzustellen. auf höhere p verallgemeinern lässt) ist im Haupttext zu fin-
den.
Beispiele Die einfachsten und geläufigsten Beispiele sind
die Fälle p D 1 und p D 2. Im ersten Fall haben wir es Beispiele Ist p D 0, so ist die Transformation in (1) von der
mit einer aus der Mathematik bekannten Linearform zu tun, Form  7! r   für alle  2 R und r D ˙1. Die Transfor-
im zweiten mit einer Bilinearform. Skalarprodukte sind z. B. mation eines 0-Tensors ist nach (2) dann 0 D r  , d. h., der
Bilinearformen. Außerdem ist das Levi-Civita-Symbol "ijk Tensor transformiert sich genauso wie ein Skalar. Für p D 1
die Darstellung eines 3-Tensors und die Determinante von erhalten wir aus (2)
N  N-Matrizen (wenn man diese als Multilinearform auf X
0
den Spalten auffasst) ein N-Tensor. i D ri;j j :
j
Darstellung Wählt man nun für den Vektorraum V p-mal
eine Basis (wobei wir den i-ten Basisvektor des j-ten Vek- 1-Tensoren transformieren sich also wie Vektoren.
torraumes mit eij bezeichnen), so entspricht die Komponente Tensorprodukt Sind und Elemente von ˝p V  bzw.
i1 ;:::;ip genau dem Wert .ei1 ; : : : ; eip /. Ist V N-dimensional, q 
˝ V , so definiert man das Tensorprodukt ˝ durch
so hat ein p-Tensor also N p Komponenten. Ist ein Tensor,
so bezeichnen wir seine Komponenten mit i1 ;:::;ip , wobei . ˝ /.v 1 ; : : : ; v p ; w 1 ; : : : ; w q /
1  ij  N für jedes 1  j  p. WD .v 1 ; : : : ; v p / .w 1 ; : : : ; w q /:
Am wichtigsten ist dies für 2-Tensoren (d. h. Bilinearfor- Das Tensorprodukt hat folgende Eigenschaften (dabei seien
men). Ist ein 2-Tensor und wählt man für den Vektorraum ; und  Tensoren und 1 ; 2 2 R):
V eine Basis, so gibt es eine eindeutige Matrix M, sodass für
alle x; y 2 V gilt: Das Tensorprodukt ist distributiv, d. h., es gilt
.x; y/ D x> My: .1 1 C 2 2 / ˝ D 1 1 ˝ C 2 2 ˝ ;
˝ .1 1 C 2 2 / D 1 ˝ 1 C 2 ˝ 2 :
Für p D 0 haben wir dann 0-dimensionale Matrizen, also
Skalare; für p D 1 erhalten wir 1-dimensionale Matrizen, Das Tensorprodukt ist assoziativ, d. h., es gilt
also Vektoren.
. ˝ /˝ D ˝. ˝ /:
Transformationsverhalten Wie schon bei den Vektoren un- Das Tensorprodukt ist im Allgemeinen nicht kommutativ.
tersucht, sind wir auch hier daran interessiert, wie sich die
Darstellung eines Tensors ändert, wenn eine andere Basis ge- Für den Fall p D q D 1 nennt man das Produkt auch dyadi-
wählt wird. Dabei erinnern wir nochmals daran, dass wir hier sches Produkt. Dieses wird im Haupttext näher besprochen.
4.3 Tensoren 135

Frage 6
Zeigen Sie die Gültigkeit von (4.27).

Teil I
Allgemein kann man einen p-Tensor T im euklidischen Raum
in der folgenden Form darstellen:

T.v 1 ; v 2 ; : : : ; v p / D Ti1 i2 :::ip v1;i1 v2;i2 : : : vp;ip ; (4.28)


Abb. 4.5 Das Levi-Civita-Symbol "ijk ist die Darstellung eines Tensors der Stufe
3. Man kann ihn sich als mehrdimensionale Matrix vorstellen, die aus mehreren
wobei vj;ij die ij -te Komponente von Vektor v j ist. Die Abbil- „Lagen“ besteht (blau, rot, grün ). Die ersten beiden Indizes von "ijk werden
dung T wirkt also auf p N-dimensionale Vektoren v i , und man durch die Einträge einer zweidimensionalen Matrix erfasst, der dritte Index ent-
summiert dabei über alle p auftretenden Indexpaare. spricht einer der drei Farben

Matrizen als Darstellung von Tensoren 3-Tensoren lassen sich nicht als Matrizen darstellen, aber man
Wir halten fest, dass man wegen (4.26) und (4.27) Ten- kann, wie in Abb. 4.5 gezeigt, ihre Komponenten in einem drei-
soren zweiter Stufe als Matrizen darstellen kann. Analog dimensionalen Schema anordnen.
können Tensoren erster Stufe als Vektoren dargestellt wer- Wir sehen nun, dass (4.18) die Darstellung eines Tensors ist.
den. Der Trägheitstensor  0 ordnet der Winkelgeschwindigkeit !0
(neben einem Faktor 12 ) die kinetische Energie TR0 zu:

Achtung Genau wie bei einem Vektor ist prinzipiell streng 1 0 0 0 1


TR0 D  .! ; ! / D !0>  0 !0 : (4.31)
zwischen einem Tensor zweiter Stufe und seiner darstellenden 2 2
Matrix zu unterscheiden. Es ist in der Physik dennoch häufig Hier ist  0 der eigentliche Tensor und  0 seine Matrixdarstel-
der Fall, dass diese Begriffe als Synonyme verwendet werden. lung.
Anstatt von der Trägheitsmatrix (d. h. von derjenigen Matrix,
die den Trägheitstensor darstellt) zu sprechen, verzichtet man
normalerweise auf diese Unterscheidung und spricht nur noch
vom Trägheitstensor. Wir schließen uns hier dieser Konvention Transformationsverhalten von Tensoren
an, behalten aber im Hinterkopf, dass es einen konzeptionellen
Unterschied zwischen Trägheitstensor und -matrix gibt. J
Zunächst wollen wir über das Transformationsverhalten von
Tensoren sprechen. Betrachten wir zwei kartesische Koordi-
Skalarprodukt und Längenprojektion natensysteme S und S0 mit Basisvektoren .Oei / und .Oej0 /. Die
Komponenten eines Vektors, der in beiden Systemen dargestellt
Das Skalarprodukt im R3 kann als eine Tensoroperation wird, transformieren gemäß
verstanden werden. Wir betrachten einen 2-Tensor S, der
den zwei Vektoren a und b ihr Skalarprodukt a  b zuord- vi0 D rij vj ; (4.32)
net: S.a; b/ 7! a  b 2 R. Dies lässt sich auch in der Form wobei R D .rij / diejenige orthogonale Matrix ist, die S in S0
überführt. Wie lautet nun eine Tensordarstellung in S0 , wenn sie
a  b D ıij ai bj (4.29) in S bekannt ist? Zunächst ist

schreiben, wobei ıij das Kronecker-Symbol ist und über T 0 .v 0 ; w 0 / D T 0 .Rv ; Rw /: (4.33)
i und j summiert wird. Somit ist das Kronecker-Symbol In Darstellungsform lautet dies
die Darstellung des Skalarprodukt-Tensors S im gewähl-
ten Koordinatensystem. Tij0 vi0 wj0 D Tij0 rik vk rjl wl D Tkl vk wl (4.34)

Möchte man einen Vektor auf eine Koordinatenachse bzw.


projizieren, so lässt sich dies ebenfalls als eine Tensor- v 0> T 0 w 0 D v > T w : (4.35)
operation auffassen. Sei Pn .v / 7! vn 2 R beispielsweise Wir fordern diese Gleichung, da es sich bei dem Ergebnis einer
derjenige 1-Tensor, welcher dem Vektor v seine projizier- Tensorabbildung um einen Skalar aus R handelt, der in jedem
te Länge auf die Achse n, O also vn D nO  v , zuordnet. Dann Koordinatensystem identisch sein muss. Da die Wahl der Vek-
ist wegen toren v und w beliebig ist, kann man den Zusammenhang
nO  v D nO i vi (4.30)
Tij0 rik rjl D Tkl (4.36)
nO i gerade die entsprechende Darstellung dieses Tensors
Pn im gewählten Koordinatensystem. J ablesen. Durch Invertierung folgt
Tij0 D rik rjl Tkl : (4.37)
136 4 Starre Körper

Man transformiert einen Tensor daher, indem man jede seiner Darstellungen von Tensoren erster Stufe. Allgemein gilt, dass
Komponenten wie einen Vektor transformiert. Dies lässt sich die Kontraktion eines p-Tensors ebenfalls ein Tensor ist, aller-
Teil I

direkt auf Tensoren höherer Stufe erweitern. dings mit Ordnung p  2.


Frage 7
Überprüfen Sie die Invertierung, indem Sie R1 D R> für Dyadisches Produkt
orthogonale Matrizen verwenden. Zeigen Sie weiterhin, dass
das Kronecker-Symbol, das auch als Darstellung des Einheits- Das dyadische Produkt zweier Vektoren a D .ai / und
tensors bezeichnet wird, invariant unter orthogonalen Trans- b D .bj / wird auch häufig in der Vektorform
formationen ist. Erinnern Sie sich dabei an die Invarianz des
Skalarprodukts unter orthogonalen Transformationen. a ı b WD .ai bj / D ai bj eO i eOj (4.42)

geschrieben. Stellt man sich a und b als Spaltenvektoren


Wir wollen noch explizit das Transformationsverhalten des (und demnach a ı b als Matrix) vor, so entspricht a ı b
Trägheitstensors überprüfen. Dazu betrachten wir den Übergang genau ab> .
von S0 in ein anderes, durch einen Doppelstrich bezeichnetes
Wir zeigen, dass für drei Vektoren a, b und c die Identitä-
kartesisches Koordinatensystem S00 , das gegenüber S und S0
ten
gedreht ist. Die Drehung werde durch eine orthogonale Matrix
R0 D .rij0 / dargestellt:
.a ı b/c D a.b  c/ und c> .a ı b/ D b.a  c/ (4.43)
rik0 rjk0 D rik0 rjl0 ıkl D ıij : (4.38) gelten. Auf den linken Seiten ist jeweils das Matrixpro-
dukt auszuführen, d. h., .a ı b/ wird wie eine gewöhnliche
Wir wissen bereits, dass das Skalarprodukt unter solchen Trans-
Matrix mit dem Vektor c multipliziert. Dazu gehen wir in
formationen invariant ist, d. h. x02 02
a D xa . Als Konsequenz gilt Komponentenschreibweise über. Die erste Gleichung lau-
X tet
ij00 D ma rik0 rjl0 ıkl x02 0 0 0 0 0 0 0
a  rik rjl xa;k xa;l D rik rjl kl : (4.39) .ai bj /cj D ai .bj cj / D ai .b  c/: (4.44)
a
Analog lässt sich die zweite Gleichung überprüfen:
Der Trägheitstensor  0 transformiert also genau so, wie man es
von einem Tensor zweiter Stufe erwartet. ci .ai bj / D .ci ai /bj D bj .a  c/: (4.45)

Gelegentlich benutzt man auch ein anderes Symbol für


Tensorprodukt, Dyaden und Kontraktion die vollständige Kontraktion aij bij zweier Matrizen A D
.aij / und B D .bij /:
Weiterhin ist es wichtig, über das sogenannte Tensorprodukt Be- A W B WD aij bij : (4.46)
scheid zu wissen. Man kann Tensoren T1 und T2 der Stufen p1
und p2 miteinander verbinden, um einen Tensor T der Stufe Die vollständige Kontraktion ist von der Matrixmulti-
p D p1 C p2 zu erhalten. Dies ist im „Mathematischen Hin- plikation AB bzw. aij bjk zu unterscheiden! Letztere er-
tergrund“ 4.1 erläutert. gibt wieder eine Matrix. Analog zur Matrixkontraktion
Betrachten wir dazu ein für die Physik wichtiges Beispiel. Wir schreibt man auch für dyadische Produkte
gehen aus von zwei Vektoren v und w als jeweilige Darstellung
eines Tensors erster Stufe (v und w ). Man kann nun aufgrund .a ı b/ W .c ı d/ D .ai bj /.ci dj /
(4.47)
der Multilinearität die Darstellung des Tensors T D v ˝ w er- D .ai ci /.bj dj / D .a  c/.b  d/
halten:
Tij D vi wj : (4.40) oder für Kontraktionen von Matrizen und dyadischen Pro-
dukten
Das Tensorprodukt zweier 1-Tensoren nennt man auch dya- A W .b ı c/ D aij bi cj : (4.48)
disches Produkt oder kurz Dyade. Es ist in der Regel nicht
kommutativ, da im Allgemeinen Tij 6D Tji ist. J
Man kann auch Tensoren kontrahieren, indem man jeweils paar-
weise über Indizes ihrer Darstellung summiert. Hat man es
beispielsweise mit der Darstellung eines Tensors dritter Stufe, Die Spur eines Tensors T zweiter Stufe ist definiert als die Spur
Tijk , zu tun, so sind seiner Darstellungsmatrix T

ui D Tijj oder vi D Tjij oder wi D Tjji (4.41) Sp.T/ D Sp.T/ D Tii : (4.49)
4.4 Trägheitstensor und Trägheitsmomente 137

Sie ist eine Kontraktion und entspricht der Summe der Diago- lässt sich der Trägheitstensor in jedem Koordinatensystem wie
nalelemente. in (4.19) berechnen, wenn die x0a entsprechend durch die Orts-

Teil I
vektoren in dem gewählten Koordinatensystem ersetzt werden.
Matrixmultiplikation und Kontraktion Dies gilt auch für beschleunigte Bezugssysteme, auch wenn der
Schwerpunkt und der Koordinatenursprung nicht zusammenfal-
Das Matrixprodukt C D AB D .aij bjk / D .cik / lässt sich len. Es ist leicht einzusehen, dass dabei die Tensorelemente im
auch anders ausdrücken. Dazu bildet man zunächst das Allgemeinen andere Werte annehmen.
Produkt der beiden Matrizen: Die Komponenten der Trägheitsmatrix eines starren Körpers
können zeitabhängig sein. Dies ist dann der Fall, wenn sich der
D D A ı B D .aij bkl / D .dijkl /: (4.50) starre Körper im gewählten Bezugssystem dreht. Beispielswei-
se kann der Winkel ' in (4.20) von der Zeit abhängen. Dies ist
Dies ist die Darstellung eines Tensors vierter Stufe. Im ein entscheidender Unterschied zur Masse eines Körpers, die –
Anschluss kontrahiert man die beiden mittleren Indizes: in der nichtrelativistischen Mechanik – nicht von der Wahl des
Bezugssystems abhängt und zeitunabhängig ist.
.dijjl / D .aij bjl / D .cil / D C: (4.51)
Frage 8
J Machen Sie sich klar, dass die Komponenten der Trägheitsma-
trix zeitabhängig sein können.

Forminvarianz
Tensor- und Vektorgleichungen wie (4.41), (4.49) oder Trägheitsmoment für Drehung um eine Achse
(4.51) sind forminvariant unter orthogonalen Transforma-
tionen. So gilt beispielsweise die Form von (4.19) in allen
Inertialsystemen. Wie wir bereits in Kap. 2 gesehen ha- Für viele Anwendungen ist die Orientierung der Drehachse re-
ben, spielt Forminvarianz bzw. Kovarianz eine zentrale lativ zum starren Körper fest. Dies gilt z. B. für einen Autoreifen
Rolle in der theoretischen Physik. oder ein Windrad. Es stellt sich die Frage, ob zur Beschreibung
solcher Objekte der gesamte Trägheitstensor bekannt sein muss.
Um dies zu beantworten, nehmen wir an, dass die Drehung um
eine Achse mit Einheitsnormalenvektor nO D const stattfindet.
Wir führen die Untersuchung im raumfesten System S durch,
4.4 Trägheitstensor könnten dies aber genauso gut im körperfesten S tun. Den Ur-
sprung O legen wir auf die Drehachse. Es gilt ! D ! n. O In
und Trägheitsmomente diesem Fall lautet die kinetische Energie der Drehung aus (4.19)
1 1
Für viele praktische Anwendungen (z. B. Rad auf Achse) benö- TR D nO i ij nOj ! 2 DW n ! 2 : (4.52)
2 2
tigt man das Trägheitsmoment eines Körpers bezüglich einer
gegebenen Drehachse. Der Steiner’sche Satz setzt die Träg- Hier ist
heitstensoren eines starren Körpers in zueinander verschobenen X h i
Koordinatensystemen in Relation. Der Trägheitstensor kann n  nO i ij nOj D nO >  nO D O 2
ma x2a  .xa  n/ (4.53)
durch eine geeignete Koordinatentransformation, die sogenann- a
te Hauptachsentransformation, in Diagonalform gebracht wer-
den. Es zeigt sich, dass in solch einem Koordinatensystem O
das Trägheitsmoment bezüglich der Drehachse n.
die Gleichungen für die kinetische Energie und den Drehim- Frage 9
puls besonders einfach werden. Die für die Diagonalisierung Rechnen Sie die Projektion des Trägheitstensors auf die Dreh-
notwendigen mathematischen Konzepte der Eigenwerte und Ei- achse nach.
genvektoren werden erläutert und an Beispielen vertieft.

Aus Abb. 4.6 erkennt man, dass


Vorbemerkungen zum gewählten O 2
l2a D x2a  .xa  n/ (4.54)
Koordinatensystem
der quadratische Abstand der Punktemasse ma am Ort xa von
der Drehachse nO ist. Vereinfacht kann das Trägheitsmoment
Wir haben in (4.39) bereits gesehen, wie die Matrixdarstellung dann in der Form X
des Trägheitstensors unter Drehungen transformiert. Die funk- n D ma l2a (4.55)
tionale Form von (4.19) bleibt davon unberührt. Tatsächlich a
138 4 Starre Körper

a b
Teil I

b
n la
S l
ma

xa b
n
O X

Abb. 4.6 a Ein Massenelement ma am Ort xa hat einen Abstandsvektor la zur Drehachse nO . b Der Steiner’sche Satz beschreibt, wie sich der Trägheitstensor ändert,
wenn der Koordinatenursprung verschoben wird. Hier ist S der Schwerpunkt und O der gewählte Ursprung des raumfesten Systems

geschrieben werden. Verfährt man so mit dem Drehimpuls in nehmen wir an, dass der Schwerpunkt S sich am Ort X befindet.
(4.23), findet man analog Der Trägheitstensor bezüglich des Ursprungs O ist dann
X  
LR;n D n !; (4.56) ij D ma x2a ıij  xa;i xa;j
a
wobei LR;n D LR  nO die Projektion des Drehimpulses auf die X h 2   i
Drehachse ist. D ma X C x0a ıij  Xi C x0a;i Xj C x0a;j ;
a
Frage 10 (4.58)
wobei die Schwerpunktskoordinaten wieder durch einen Strich
Überprüfen Sie, dass die Diagonalelemente des Trägheitsten-
bezeichnet werden. Es ist leicht zu sehen,
Pdass beim Aus-
sors ij die Trägheitsmomente bezüglich der Koordinatenach-
multiplizieren sämtliche Terme der Form a x0a;i wegen der
sen .Oei / sind.
Definition des Schwerpunktes verschwinden.

Frage 11
Überprüfen Sie diese Aussage.
Trägheitsmoment für die Drehung um eine Achse
Für die Drehung um eine feste Achse nO reicht es, das Träg-
heitsmoment Es bleibt daher nur der folgende Ausdruck übrig:
X X X    2 
n D ma x2a  .xa  n/
O 2 D ma l2a (4.57) ij D ma x02 0 0
a ıij  xa;i xa;j C M X ıij  Xi Xj : (4.59)
a a a

zu kennen, wobei la der Abstand von ma zur Drehachse Der erste Term liefert gerade den Trägheitstensor
P  0 im
ist. Ist die Drehachse bezüglich des starren Körpers eine Schwerpunktsystem. Im zweiten Term wurde a ma D M
Funktion der Zeit, kann das Trägheitsmoment ebenfalls ausgenutzt. Gleichung (4.59) ist die Transformationsgleichung
zeitabhängig sein. für den Trägheitstensor bei Verschiebung des Koordinatenur-
sprungs. Wir definieren weiterhin

O 2
l2 D X2  .X  n/ (4.60)
Steiner’scher Satz als den quadratischen Abstand des Schwerpunktes von der
O Dann ist das Gesamtdrehmoment bezüglich die-
Drehachse n.
Bisher haben wir stillschweigend ignoriert, welche Konsequen- ser Drehachse (Abb. 4.6)
zen sich ergeben, wenn der Schwerpunkt eines starren Körpers
nicht im Koordinatenursprung liegt. Um dies zu untersuchen, n D n0 C Ml2 : (4.61)
4.4 Trägheitstensor und Trägheitsmomente 139

Die drei Einträge 1 , 2 und 3 sind dann reell; sie wer-


Steiner’scher Satz den Eigenwerte der Matrix  genannt. Man überführt den

Teil I
Trägheitstensor  durch eine Ähnlichkeitstransformation in
Der Steiner’sche Satz (nach dem Schweizer Mathematiker Diagonalform, d. h.
Jakob Steiner, 1796–1863) besagt: Das Trägheitsmoment
eines starren Körpers mit der Masse M um eine beliebi-   D R> R oder ij D rki rlj kl ; (4.63)
ge Drehachse im Abstand l von seinem Schwerpunkt ist
gleich dem Trägheitsmoment um die parallele Drehachse,
wobei R eine geeignete orthogonale Matrix ist. Letztlich han-
die durch den Schwerpunkt verläuft, plus Ml2 .
delt es sich bei (4.63) um eine durch R vermittelte Drehung des
Koordinatensystems.
Der Steiner’sche Satz erlaubt eine Zerlegung des Trägheitsmo- Achtung Eine allgemeine Ähnlichkeitstransformation erfor-
ments. Dies ist insbesondere bei der Berechnung von Trägheits- dert keine orthogonale, sondern nur eine invertierbare Matrix.
momenten aus einfachen Formen zusammengesetzter Objekte Da wir aber in der Physik in der Regel an längen- und winkel-
hilfreich. Hierbei ist zu betonen, dass die Definition des Träg- treuen Koordinatentransformationen interessiert sind, beschrän-
heitstensors additiv ist. Der Trägheitstensor eines starren Kör- ken wir uns auf orthogonale Matrizen. J
pers ist somit die Summe der Trägheitstensoren seiner Teile
bezüglich des gleichen Ursprungs. Die Koordinatenachsen, bezüglich derer die Matrix diagonal
ist, bezeichnet man als Hauptträgheitsachsen oder Hauptach-
Achtung Für einen freien starren Körper verwendet man in sen. Die Trägheitsmomente bezüglich der Hauptachsen, also
der Regel den Schwerpunkt als Koordinatenursprung, da dann die Eigenwerte des Trägheitstensors, bezeichnet man als Haupt-
die kinetische Energie und der Drehimpuls in jeweils zwei sepa- trägheitsmomente.
rate Anteile zerfallen (Schwerpunktsbeitrag und Beitrag relativ
zum Schwerpunkt; siehe (4.13) und (4.21)). Ist der starre Kör-
per in einem Punkt fixiert (d. h., darf sich der starre Körper Diagonalform des Trägheitstensors
nur so bewegen, dass der besagte Punkt ortsfest ist), so dient Da der Trägheitstensor als reellwertige, symmetrische
dieser Punkt normalerweise als Koordinatenursprung, und der Matrix zweiter Ordnung dargestellt werden kann, hat der
Steiner’sche Satz findet Verwendung. J Trägheitstensor stets drei reelle Eigenwerte, die Haupt-
trägheitsmomente. Es gibt ein Koordinatensystem, in dem
Frage 12
der Trägheitstensor diagonal ist. Man nennt diejenige
Überlegen Sie sich, dass das Trägheitsmoment n bezüglich ei- Transformation, die auf das Diagonalsystem führt, Haupt-
ner Achse nO minimal wird, wenn diese durch den Schwerpunkt achsentransformation.
läuft.

Doch welchen praktischen Vorteil bietet die Diagonalisierung


des Trägheitstensors? Wie wird sie erreicht? Und welche phy-
Diagonalform des Trägheitstensors sikalische Bedeutung hat sie? Diesen Fragen wollen wir uns im
folgenden Abschnitt widmen.

Wir haben gesehen, dass die Komponenten des Trägheitsten-


sors zeitabhängig sein können. Wählt man allerdings ein mit
dem starren Körper korotierendes Koordinatensystem, tritt die Diagonalisierung von Matrizen
Zeitabhängigkeit nicht auf. Dennoch ist das Koordinatensys-
tem durch diese Wahl noch nicht eindeutig festgelegt, denn die
Ausrichtung der Achsen relativ zum starren Körper ist zunächst Die Frage nach dem praktischen Vorteil der Diagonalisierung
beliebig. lässt sich leicht beantworten, indem man sich die Ausdrücke
(4.19) und (4.23) für die kinetische Energie und den Drehimpuls
Der Trägheitstensor hat lauter reelle Einträge und ist symme- im Diagonalsystem anschaut:
trisch, ij D ji . In der linearen Algebra wird gezeigt (siehe
auch den „Mathematischen Hintergrund“ 4.2), dass man unter 1 1 1
TR D 1 !1 C 2 !2 C 3 !3 ;
2 2 2
diesen Umständen ein Koordinatensystem finden kann, in dem (4.64)
2 2 2
der Trägheitstensor Diagonalform annimmt. Hier und im Fol-
genden bezeichnet der Stern Größen in demjenigen körperfesten L 
R;1 D 1 !1 ; L 
R;2 D 2 !2 ; L 
R;3 D 3 !3 : (4.65)
Koordinatensytem S , in dem der Trägheitstensor diagonal ist:
0 1 Insbesondere der Ausdruck für die Komponenten des Drehim-
1 0 0 pulses wird wesentlich vereinfacht, da L 
R;1 nun nur von !1 usw.
 D@0

2 0 A: (4.62) abhängt. Drehimpuls und Winkelgeschwindigkeit sind parallel,
0 0 3 wenn die Drehung um eine der drei Hauptachsen erfolgt.
140 4 Starre Körper

4.2 Mathematischer Hintergrund: Diagonalisierbarkeit


Teil I

Einführung Wir wissen, dass lineare Abbildungen bezüg- hat die Matrix
lich verschiedener Basen unterschiedliche Matrixdarstellun- 0 1
1 1 0
gen haben. Nun stellen wir uns die Frage, ob wir eine Basis A D @0 1 0A
finden können, für die diese Form möglichst einfach ist. Die 0 0 2
einfachste Gestalt ist die einer Diagonalmatrix, denn dann
können wir das Ergebnis der linearen Abbildung (d. h. der die Eigenwerte 1 und 2, ist aber nicht diagonalisierbar.
Matrix-Vektor-Multiplikation) sofort hinschreiben:
0 1 0 1 0 1 Hat eine N  N-Matrix N verschiedene Eigenvektoren, so ist
a1 0 v1 a1 v1 sie auf jeden Fall diagonalisierbar. Dieses Kriterium ist aber
B :: C B :: C B :: C nur hinreichend und nicht notwendig. Zum Beispiel hat die
@ : A  @ : A D @ : A:
Einheitsmatrix nur den Eigenwert 1, ist aber diagonalisierbar
0 aN vN aN vN (denn sie ist ja in Diagonalform).
Wir identifizieren hier lineare Abbildungen mit ihren zuge-
Ein wichtiges Resultat ist, dass jede symmetrische Matrix A
hörigen Matrizen und umgekehrt.
mit reellen Einträgen diagonalisierbar ist. In diesem Fall ist
die Matrix S orthogonal, und die Eigenwerte von A sind alle
Eigenwerte und Eigenvektoren Ist eine lineare Abbil- reell.
dung eines K-Vektorraumes V in sich selbst, dann heißt
 2 K Eigenwert von , wenn es ein v 2 Vnf0g gibt Charakteristisches Polynom Es ist im Allgemeinen recht
mit .v / D v . Jedes v 2 Vnf0g, für das die Gleichung mühsam, die Eigenwerte einer Matrix zu bestimmen. Dafür
.v / D v gilt, heißt Eigenvektor von zum Eigenwert verwendet man üblicherweise das charakteristische Poly-
. Für Matrizen A lautet die entsprechende Gleichung dann nom.
Av D v . Anschaulich bedeutet dies, dass nur die Länge,
nicht aber die Richtung eines Eigenvektors ändert. Ist A eine N  N-Matrix, so nennen wir
Nicht jede lineare Abbildung hat Eigenvektoren. Betrach- PA ./ D det.I  A/
ten wir z. B. eine Drehung im R2 um 90ı . Es gibt keinen das charakteristische Polynom von A. Betrachtet man eine
Vektor, bei dem sich nur die Länge ändert, also hat diese Matrix bezüglich einer anderen Basis, so erhält man dassel-
Abbildung keine Eigenvektoren. Hier muss man jedoch auf- be charakteristische Polynom.
passen: Betrachtet man dieselbe Abbildung im C 2 , so gibt es
Eigenvektoren. Für eine Matrix ist nun  genau dann ein Eigenwert, wenn
es Nullstelle des charakteristischen Polynoms ist.
Zu einem Eigenwert kann es mehrere linear unabhängige Ei-
genvektoren geben (Beispiel: Einheitsmatrix). Gibt es genau Beispiel: Drehungen im R2 Wir betrachten als Beispiel eine
m linear unabhängige Eigenvektoren zu einem Eigenwert, so Drehung um den Winkel ' 2 Œ0; 2 / im R2 :
heißt dieser Eigenwert m-fach entartet.  
cos '  sin '
A' D :
Diagonalisierbarkeit Eine lineare Abbildung eines K- sin ' cos '
Vektorraumes V in sich selbst heißt diagonalisierbar, wenn Anschaulich kann es nur Eigenvektoren für ' D 0 (identi-
es eine Basis von V gibt, die aus lauter Eigenvektoren von sche Abbildung) oder ' D (jedem Vektor v wird gerade
besteht. v zugeordnet) geben. Das charakteristische Polynom ist
Eine Matrix A ist genau dann diagonalisierbar, wenn es eine PA' ./ D .  cos '/2 C sin ' 2 D 2  2 cos ' C 1
invertierbare Matrix S gibt, sodass p
und besitzt die Nullstellen 1;2 D cos ' ˙ cos2 '  1.
S1 AS D D Das Polynom hat also nur dann reelle Nullstellen, wenn
gilt, wobei D eine Diagonalmatrix ist. In diesem Fall stehen cos ' D ˙1. Dies gilt wie erwartet dann, wenn ' D 0 oder
in der Diagonale von D genau die Eigenwerte von A, und ' D . In dem Fall liegt Ax' bereits in Diagonalform mit
in den Spalten der Matrix S stehen die zugehörigen Eigen- zweifach entarteten Eigenwerten vor.
vektoren von A zum jeweiligen Eigenwert. Man spricht hier
von einer Ähnlichkeitstransformation und sagt, dass A und D
Literatur
zueinander ähnliche Matrizen sind.
Da nicht jede Matrix Eigenvektoren hat, ist auch nicht jede Modler, F., Kreh, M.: Tutorium Analysis 1 und Lineare
Matrix diagonalisierbar. Auch wenn eine Matrix Eigenwerte Algebra 1. 3. Aufl., SpringerSpektrum (2014)
hat, so ist sie nicht zwingend diagonalisierbar. Zum Beispiel Fischer, G: Lineare Algebra. 15. Aufl., Vieweg (2005)
4.4 Trägheitstensor und Trägheitsmomente 141

Frage 13 Trägheitstensor  wird durch eine 3  3-Matrix dargestellt und


Zeigen Sie (4.64) und (4.65), indem Sie von den allgemeinen führt somit auf ein Polynom dritter Ordnung in . Gemäß dem

Teil I
Ausdrücken in (4.19) und (4.23) ausgehen und den diagonalen Fundamentalsatz der Algebra hat ein charakteristisches Poly-
Trägheitstensor aus (4.62) verwenden. nom der Ordnung N stets N Lösungen, die jedoch komplex
sein können (komplexe Zahlen werden in Kap. 6 diskutiert).
Jedoch sind die Eigenwerte symmetrischer Matrizen stets re-
Das Rechnen mit dem diagonalisierten Trägheitstensor bietet ell. Aufgrund seiner Symmetrie hat  also immer drei reelle
in erster Linie Rechenvereinfachungen im Vergleich zu einem Eigenwerte i (wie es für alle physikalischen Beobachtungs-
nichtdiagonalen Trägheitstensor. Physikalisch sind beide We- größen gefordert wird).
ge aber völlig äquivalent, da man dieselben Gleichungen nur Die Eigenwerte von  können entartet sein. Entweder sind al-
in verschiedenen Koordinatensystemen betrachtet. Dies wurde le Eigenwerte i unterschiedlich (keine Entartung), oder zwei
bereits in Kap. 2 im Zusammenhang mit den passiven Koordi- oder sogar drei Eigenwerte sind identisch (Entartung). Dies
natentransformationen erläutert. wird durch ein Beispiel klar:
Doch wie findet man nun das Koordinatensystem S , in dem der
Trägheitstensor diagonal ist? Dazu greift man auf Methoden aus Trägheitsmomente zweier Punktmassen
der linearen Algebra zurück. Im „Mathematischen Hintergrund“
4.2 werden Eigenwerte und Eigenvektoren einer quadratischen In (4.20) haben wir bereits einen nichtdiagonalen Träg-
Matrix eingeführt: Man nennt  einen Eigenwert und v den zu- heitstensor gefunden. Nach einer kurzen Rechnung findet
gehörigen Eigenvektor einer diagonalisierbaren Matrix A, wenn man das charakteristische Polynom
  
Av D  v () .A  I/ v D 0 (4.66) det .I  / D   Ml2  2  Ml2 (4.69)

erfüllt ist. Aus der linearen Algebra ist bekannt, dass die Diago- als Bestimmungsgleichung für die drei Hauptträgheits-
nalelemente einer diagonalen Matrix den Eigenwerten entspre- momente i .
chen. Kennt man daher alle Eigenwerte einer diagonalisierbaren
N  N-Matrix A, so kann man direkt
Überprüfen Sie (4.69).
A D diag.1 ; : : : ; N / (4.67)
Es müssen nun alle drei Lösungen der Gleichung
aufschreiben. Die Spalten der zugehörigen Transformations-  2
matrix R, die mittels A D R> AR die Matrix A in ihre    Ml2 D 0 (4.70)
Diagonalform A überführt, sind gerade die den Eigenwerten
i zugehörigen Eigenvektoren v i . Die Diagonalform   des bestimmt werden. Offensichtlich sind die Eigenwerte
Trägheitstensors lässt sich also direkt aufschreiben, wenn die 1 D 2 D Ml2 und 3 D 0. Somit lautet der diago-
drei Eigenwerte (d. h. Hauptträgheitsmomente i ) bekannt sind. nalisierte Trägheitstensor
Ist man zusätzlich an dem speziellen Koordinatensystem in- 0 1
teressiert, in dem der Trägheitstensor diagonal ist, muss man 1 0 0
außerdem die Eigenvektoren (d. h. die Hauptachsen) kennen.   D Ml2 @0 1 0A : (4.71)
0 0 0
Dies führt uns nun auf die wichtige Frage, wie man zum einen
die Eigenwerte und zum anderen die Eigenvektoren konkret
erhält. Offenbar ist der Nullvektor 0 D .0; 0; 0/> stets Eigen- Der Eigenwert Ml2 ist zweifach entartet. Dies liegt daran,
vektor, da A0 D 0 immer erfüllt ist. Wir suchen daher nach dass es eine Symmetrieachse gibt. Dies ist die Ach-
nichttrivialen Eigenvektoren, also solchen, die nicht null sind. se, auf der beide Punktmassen liegen. Die Existenz von
Die Eigenwerte lassen sich dann ausgehend von der sogenann- Symmetrieachsen ist stets ein Indikator für entartete Ei-
ten Eigenwertgleichung (gelegentlich auch Säkulargleichung genwerte des Trägheitstensors. Weiterhin ist einer der
genannt) bestimmen: Eigenwerte null, da alle Massenelemente bezüglich der
Symmetrieachse den Abstand null besitzen und das ent-
det .I  A/ D 0: (4.68) sprechende Trägheitsmoment verschwindet. Dies kann
bei realen dreidimensional ausgedehnten Objekten nie-
Hier wird ausgenutzt, dass (4.66) nur dann nichttriviale Lö- mals der Fall sein. J
sungen für v haben kann, wenn die Determinante der Matrix
.A  I/ verschwindet.
Ist ein Eigenwert  bekannt, lässt sich der entsprechende Eigen-
Jeder Eigenwert  einer diagonalisierbaren Matrix A erfüllt vektor v ausgehend von
(4.68) und ist somit Nullstelle des charakteristischen Polynoms
det .A  I/ (siehe „Mathematischen Hintergrund“ 4.2). Der .A  I/ v D 0 (4.72)
142 4 Starre Körper

berechnen. In drei Dimensionen erhält man ausgeschrieben drei


Gleichungen für die Komponenten des Vektors v : Wieder sind die ersten beiden Gleichungen identisch und
Teil I

lauten vx cos '  vy sin ' D 0. Die dritte Gleichung


.a11  /v1 C a12 v2 C a13 v3 D 0;
ist stets gültig; die Komponente vz ist damit nicht ein-
a21 v1 C .a22  /v2 C a23 v3 D 0; (4.73) geschränkt und kann beliebig gewählt werden. Da der
a31 v1 C a32 v2 C .a33  /v3 D 0: Eigenwert zweifach entartet ist, sind zwei Vektoren v 1
und v 2 so zu konstruieren, dass sie zum einen (4.76)
Es ist nun ein Vektor v D .v1 ; v2 ; v3 /> zu finden, der alle drei erfüllen und zum anderen zum ersten gefundenen Eigen-
Gleichungen simultan erfüllt. Eigenvektoren sind allgemein nur vektor v 3 paarweise orthogonal sind. Hierzu wählen wir
bis auf ihre Länge festgelegt. einen ersten Vektor v 1 , der senkrecht auf v 3 steht und
Frage 14 (4.76) erfüllt. Dies ist beispielsweise der Vektor
Zeigen Sie, dass der Vektor ˛ v (mit einer beliebigen Zahl ˛) 0 1
0
ein Eigenvektor der Matrix A mit Eigenwert  ist, falls v ein
Eigenvektor von A mit demselben Eigenwert ist.
v 1 D @0 A : (4.77)
1

Die Eigenvektoren zu unterschiedlichen Eigenwerten sind paar- Der verbleibende Vektor muss senkrecht auf den bei-
weise orthogonal (Aufgabe 4.2). Sind Eigenwerte jedoch entar- den ersten stehen. Man findet ihn beispielsweise über das
tet, sind die entsprechenden Eigenvektoren nicht automatisch Kreuzprodukt
paarweise orthogonal. Allerdings können Eigenvektoren stets 0 1
paarweise orthogonal gewählt werden, wie das folgende Bei- sin '
spiel zeigt. Dies wird in Kap. 23 wieder aufgegriffen. v 2 D v 3  v 1 D @ cos ' A : (4.78)
0
Hauptachsen zweier Punktmassen
Insgesamt sind nun alle Forderungen erfüllt. Genauso gut
Wir führen das Auffinden der Eigenvektoren anhand von hätte man auch mit einem anderen Vektor v 2 beginnen
(4.20) und den bekannten Eigenwerten aus (4.71) vor. Wir können, der senkrecht auf v 3 steht. J
beginnen mit dem nichtentarteten Eigenwert: Für 3 D 0
folgt
 2  Man kann starre Körper anhand der Entartung ihrer Haupt-
sin '  0 vx  sin ' cos ' vy D 0; trägheitsmomente unterscheiden. Hat der Trägheitstensor drei
 
 sin ' cos ' vx C cos2 '  0 vy D 0; (4.74) gleiche Eigenwerte, spricht man von einem Kugelkreisel, da
diese Eigenschaft auch für eine Kugel gilt (Abschn. 4.5). Sind
.1  0/vz D 0:
nur zwei Eigenwerte identisch, nennt man den starren Körper
einen symmetrischen Kreisel. Im Gegensatz dazu hat man es
Die ersten beiden Gleichungen sind für sin ' 6D 0 und mit einem unsymmetrischen Kreisel zu tun, wenn alle Haupt-
cos ' 6D 0 identisch und lauten vx sin '  vy cos ' D 0. trägheitsmomente unterschiedlich sind.
Die dritte besagt, dass vz D 0 sein muss. Offensichtlich
erfüllt der Vektor
0 1 Vorgehen zum Auffinden des diagonalisierten Träg-
cos ' heitstensors
v 3 D @ sin ' A (4.75)
1. Berechnen Sie den Trägheitstensor mit (4.19).
0
2. Stellen Sie die Eigenwertgleichung (4.68) auf und lö-
alle Anforderungen. Der zum Eigenwert 3 gehörige Ei- sen Sie diese.
genvektor v 3 entspricht somit erwartungsgemäß gerade 3. Falls benötigt oder erwünscht, können die Hauptach-
derjenigen Achse, die durch die Lage der beiden Punkt- sen mittels (4.73) bestimmt werden. Sind Eigenwerte
massen definiert ist. entartet, müssen die entsprechenden Eigenvektoren so
gewählt werden, dass alle drei paarweise orthogonal
Für den entarteten Eigenwert 1 D 2 D Ml2 ergibt sich sind.
die folgende Situation:
 2 
sin '  1 v1  sin ' cos ' v2 D 0; Achtung Für viele einfache starre Körper sind bereits am
 
 sin ' cos ' v1 C cos2 '  1 v2 D 0; (4.76) Anfang die Symmetrieachsen offensichtlich. Diese Achsen soll-
ten als Koordinatenachsen definiert werden. Der Trägheitsten-
.1  1/v3 D 0: sor ist dann automatisch diagonal, wie wir noch am Beispiel
eines Quaders in (4.90) sehen werden. J
4.5 Kontinuierliche Massenverteilungen 143

Der Trägheitstensor ist immer diagonal, wenn alle drei Eigenwer- hier am Beispiel der Gesamtmasse verdeutlicht:
te identisch sind. Zum einen ist dann jede Achse eine Symme- • Z
X

Teil I
trieachse. Zum anderen ist der Trägheitstensor ein Vielfaches der
MD ma ! dx1 dx2 dx3 .x/ DW dV .x/: (4.81)
Einheitsmatrix, die unter orthogonalen Transformationen immer
diagonal bleibt, R> IR D I. Somit gibt es kein Koordinatensys-
a

tem, in dem solch ein Trägheitstensor nicht diagonal ist. Die Integrationsgrenzen sind dabei so zu wählen, dass sie
Sind die drei Eigenwerte k und normierten Eigenvektoren vO k dem Rand des Körpers entsprechen. Wie solch eine Integrati-
(k D 1; 2; 3) des Trägheitstensors in einem Koordinatensystem on konkret durchgeführt werden kann, werden wir in Kürze an
bekannt, kann er in der Form einem Beispiel vorführen. Vorher notieren wir jedoch noch die
Definition des Trägheitstensors für eine kontinuierliche Mas-
X
3
senverteilung.
ij D vOk;i k vOk;j (4.79)
kD1
Trägheitstensor einer kontinuierlichen
dargestellt werden. Ist das gewählte Koordinatensystem gerade Massenverteilung
das Hauptachsensystem (d. h. gilt vO k D eO k ), so folgt hieraus
(4.62). Die Komponenten des Trägheitstensors für eine kontinu-
ierliche Massenverteilung .x/ lauten
Z
 
4.5 Kontinuierliche ij D dV .x/ x2 ıij  xi xj : (4.82)

Massenverteilungen
Für kontinuierliche Massenverteilungen wird die Summation
über Punktmassen durch eine Integration über Massenelemente Frage 15
ersetzt. Die dazu benötigten Volumenintegrale werden einge- Überlegen Sie sich, dass (4.82) aus (4.18) folgt, wenn man den
führt. Um solche Integrationen in krummlinigen Koordinaten- in (4.81) dargestellten Übergang als Vorlage verwendet. Der
systemen durchführen zu können, benötigt man die sogenannte Ortsvektor x mit den drei Komponenten xi ist dabei die Inte-
Jacobi-Determinante. Es werden die Trägheitstensoren einiger grationsvariable.
einfacher Massenverteilungen berechnet.

Achtung Alle Ergebnisse, die für einen aus diskreten Punkt-


massen zusammengesetzten starren Körper gelten, können ohne
Übergang zu einer kontinuierlichen Einschränkung auf einen kontinuierlichen starren Körper über-
Massenverteilung tragen werden, da sie für eine beliebige Anzahl N und daher
auch für N ! 1 gelten. J
Bisher wurden nur diskrete Systeme mit N Punktmassen ma
betrachtet. In Kap. 3 wurden zwar bereits ausgedehnte Körper
verwendet, ihre Zusammensetzung und der Einfluss auf das Ro- Volumen und Trägheitstensor eines Quaders
tationsverhalten jedoch nicht näher untersucht. Wie berechnet
man nun den Trägheitstensor für solch ein kontinuierliches Ob-
jekt? Es ist unpraktisch, ihn sich als Ansammlung von N Punkt- Im Allgemeinen haben Volumenintegrale die Form
massen vorzustellen, die gegenseitig feste Abstände haben. Man •
mache sich beispielsweise klar, dass allein ein faustgroßer Stein ID dx1 dx2 dx3 f .x1 ; x2 ; x3 /: (4.83)
aus etwa 1024 Atomen besteht. In solchen Fällen führt man
einen Grenzübergang N ! 1, ma ! 0 durch, sodass die Ge-
samtmasse M konstant bleibt. Der starre Körper besteht dann Die skalare Funktion f kann auch durch vektor- oder tensorwer-
aus lauter infinitesimalen Massen- bzw. Volumenelementen am tige Funktionen ersetzt werden; die Integration ist dann für jede
Ort r mit Masse Komponente einzeln auszuführen. Ein wichtiger Aspekt bei der
dm D .x/ dV; (4.80) Integration ist die korrekte Handhabung der Integrationsgren-
zen.
wobei .x/ die Massendichte am Ort x und dV ein infinitesima-
les Volumenelement ist. Betrachten wir zunächst das einfache Beispiel eines homogenen
Quaders, dessen Volumen wir berechnen wollen. Der Quader
Im einfachsten Fall ist die Massendichte im gesamten Körper habe die Kantenlängen a, b und c und sei entlang der Achsen
konstant; sie kann generell aber variieren (wie z. B. beim Erd- eO 1 , eO 2 und eO 3 ausgerichtet. Der Mittelpunkt liege im Ursprung.
körper). Die Summation wird durch ein Volumenintegral ersetzt, Dann läuft die x1 -Integration über das Intervall Œa=2; Ca=2
144 4 Starre Körper

und analog für die beiden übrigen Achsen. Das Volumen erhält x3
man für f .x/ D 1 innerhalb des Quaders:
Teil I

Z Z
Ca=2 Z
Cb=2 Z
Cc=2

VD dV D dx1 dx2 dx3 : (4.84)


a=2 b=2 c=2

Hier wurde ausgenutzt, dass man ein Mehrfachintegral als ein


Produkt von Einfachintegralen schreiben kann. In diesem Fall
sind die Integrationen voneinander unabhängig, und man kann
z. B. zuerst die Integration über x3 ausführen: x2

Z
Cc=2

dx3 D c: (4.85)
c=2
x1

Die beiden übrigen Integrationen ergeben b und a, und das Vo- Abb. 4.7 Zur Integration des Kugelvolumens in kartesischen Koordinaten. Für
einen festgehaltenen Wert x3 (gelbe Ebene ) erhält man einen Kreis (rot ) als
lumen ist – wenig überraschend – V D abc. Schnittkurve von Ebene und Kugel (zur besseren Übersicht nicht dargestellt ).
Für den Trägheitstensor eines homogenen Quaders setzt man Man erkennt, dass die Grenzen für die x1 -Integration (blaue Striche ) vom ge-
wählten Wert x2 (blaue Ebene und parallele graue Linien ) abhängen. Der Radius
f .x/ D .x/.x2 ıij  xi xj /, wobei .x/ D  D const ist. Wir
des Schnittkreises wiederum hängt von der Wahl von x3 ab. Somit sind die Inte-
beginnen mit der Komponente 11 des Trägheitstensors und grationsgrenzen nicht unabhängig und müssen parametrisiert werden
schreiben wegen x2 D x21 C x22 C x23 :

Z
Ca=2 Z
Cb=2 Z
Cc=2
  dass alle anderen Deviationsmomente ebenfalls verschwinden.
11 D  dx1 dx2 dx3 x22 C x23 : (4.86) Der gesamte Trägheitstensor des Quaders lautet damit
a=2 b=2 c=2
0 2 1
M @b C c
2
0 0
Die x1 -Integration ist trivial und ergibt einen Faktor a. Die x2 - .ij / D 0 a2 C c2 0 A: (4.90)
Integration liefert den Faktor .b3 =12 C x23 b/. Dieser Faktor wird 12 0 0 a C b2
2
durch die noch fehlende x3 -Integration zu .b3 c=12 C bc3 =12/.
Verwendet man das Volumen V D abc und die Gesamtmasse
M D V, ergibt sich somit Achtung Gleichung (4.90) gilt nur für das gewählte Achsen-
system. Ist der Quader nicht parallel zu den Koordinatenachsen
1  2 
11 D M b C c2 : (4.87) ausgerichtet oder liegt der Schwerpunkt nicht im Ursprung, ist
12 der Trägheitstensor verschieden. Die Deviationsmomente sind
dann nicht zwangsläufig null (sie sind sogar in den meisten Fäl-
Frage 16
len ungleich null). J
Machen Sie sich klar, dass wegen Symmetrieüberlegungen die
beiden restlichen Diagonalelemente

1  2  1  2 
22 D M a C c2 ; 33 D M a C b2 (4.88) Volumen einer Kugel in kartesischen
12 12
Koordinaten
lauten müssen.

Schwieriger wird es, wenn das Volumen einer Kugel mit Radius
Wir berechnen noch das Deviationsmoment R und Mittelpunkt M im Ursprung O bestimmt werden soll. In
diesem Fall sind die Integrationsgrenzen nämlich voneinander
Z
Ca=2 Z
Cb=2 Z
Cc=2
abhängig, da der Innenbereich der Kugel durch
12 D  dx1 dx2 dx3 x1 x2 : (4.89)
q
a=2 b=2 c=2
x21 C x22 C x23  R (4.91)
Man sieht schnell, dass sowohl die x1 - als auch die x2 -Inte-
gration auf einen Faktor null führen, da x1 bzw. x2 ungerade definiert ist (Abb. 4.7). Angenommen, x1 und x2 sind bereits
Funktionen sind. Somit ist 12 D 0. Eine ähnliche Argumen- gegeben, dann kann x3 nur zwischen .R2  x21  x22 /1=2 und
tation wie bei den Trägheitsmomenten führt auf das Ergebnis, C.R2  x21  x22 /1=2 liegen. Ist x1 vorgegeben, muss x2 aus dem
4.5 Kontinuierliche Massenverteilungen 145

Intervall Œ.R2 x21 /1=2 ; C.R2 x21 /1=2  stammen. Wir berechnen nicht auch bei der Volumenintegration hilfreich ist. Und tatsäch-
zunächst das x3 -Integral: lich ist dies der Fall.

Teil I
p Betrachten wir wie in Abschn. 2.5 einen Satz allgemeiner
C R2 x21 x22
Z q Koordinaten qi .xj /, die von den kartesischen Koordinaten xj ab-
dx3 D 2 R2  x21  x22 : (4.92) hängen. Ihre totale Ableitung lautet
p @qi  
 R2 x21 x22
dqi D dxj D @xj qi dxj : (4.95)
@xj
Bei der x2 -Integration muss dieses Ergebnis berücksichtigt wer-
den: Es gilt die Einstein’sche Summenkonvention, und die Terme
@xj qi bilden die Komponenten der Matrix JN D .JN ij / D .@xj qi /,
p sodass
C ZR2 x21
q dq D JN dx (4.96)
2 R2  x21  x22 dx2
p N 6D 0, folgt mit
gilt. Ist diese Matrix invertierbar, d. h., gilt det.J/
 R2 x21 1
p (4.93) J WD JN D .Jij / D .@qj xi /
 q C R02
02 x2 dx D J dq: (4.97)
D x2 R02  x2 C R arcsin p
2
p
R02  R02
 
D R02 D R2  x21 : Jacobi-Matrix

Im zweiten Schritt wurde zur Vereinfachung R02 WD R2  x21 als Die durch
Abkürzung verwendet. Dies ist kein Problem, da x2 die Integra- Jij WD @qj xi (4.98)
tionsvariable ist und R und x1 diesbezüglich Konstanten sind.
definierte Matrix einer Koordinatentransformation qi .xj /
Frage 17 mit Umkehrung xi .qj / heißt Jacobi-Matrix der Koordina-
Rechnen Sie (4.93) nach. Suchen Sie dazu gegebenenfalls nach tentransformation. Häufig schreibt man auch
einer geeigneten Stammfunktion in der mathematischen Litera- @.x1 ; x2 ; x3 /
tur. JD : (4.99)
@.q1 ; q2 ; q3 /

Nun muss noch die x1 -Integration ausgeführt werden:


Frage 18
ZCR  CR
  x3 4 3 Die Berechnung einer Jacobi-Matrix lässt sich am einfachen
R2  x21 dx1 D R2 x1  1 D R: (4.94) Beispiel der Zylinderkoordinaten in (2.109) veranschaulichen.
3 R 3
R Man zeige, dass das Ergebnis
0 1
Dies lässt sich anschaulich interpretieren: Das Volumen der Ku- cos ' % sin ' 0
gel ergibt sich als unendliche Summe über Kreiszylinder mit je- J D @ sin ' % cos ' 0A (4.100)
weiligem Radius R2  x21 . Auch dieses Ergebnis war zu erwarten. 0 0 1
Allerdings überrascht die Komplexität der Rechnung. Die Ursa-
che dafür ist, dass kartesische Koordinaten für kugelsymmetri- ist. Verwenden Sie dazu q1 D %, q2 D ' und q3 D z.
sche Probleme schlecht geeignet sind. Zwar lässt sich das Ergeb-
nis berechnen, doch ist der Aufwand unverhältnismäßig groß. Im Wie kann man dieses Zwischenergebnis ausnutzen, um die
Folgenden wird eine angepasste Methode vorgestellt, mit der sich Volumenintegration zu vereinfachen? Hierzu drückt man das
Rechnungen dieser Art erheblich vereinfachen lassen. kartesische Volumenelement dV D dx1 dx2 dx3 mithilfe der
Differenziale dqi aus. Wir greifen dazu auf den Transformati-
onssatz aus der höheren Analysis zurück (Arens et al. 2012).
Koordinatentransformationen
und die Jacobi-Determinante Volumenelemente unter Koordinatentransformatio-
nen, Jacobi-Determinante

Es hat sich bereits in Abschn. 2.5 herausgestellt, dass an Beim Übergang von kartesischen Koordinaten xi zu allge-
das gegebene Problem angepasste Koordinaten Berechnungen meinen Koordinaten qj erfüllt das Volumenelement
erheblich vereinfachen können. Beispielsweise sollten für ku-
gelsymmetrische Systeme in der Regel Kugelkoordinaten ver- dV D dx1 dx2 dx3 D det.J/ dq1 dq2 dq3 ; (4.101)
wendet werden. Es stellt sich die Frage, ob dieses Vorgehen
146 4 Starre Körper

wobei J die zugehörige Jacobi-Matrix ist. Die Größe Jacobi-Determinanten für Zylinder-
Teil I

det.J/ nennt man die Jacobi-Determinante oder Funktio- und Kugelkoordinaten


naldeterminante mit der häufigen Schreibweise
Die Jacobi-Determinanten für Zylinder- und Kugelkoor-
  dinaten braucht man selbstverständlich nur einmal auszu-
@xi
det.J/ D det : (4.102) rechnen. Die Ergebnisse
@qj
det.J/ D % (4.107)

Aus (4.101) folgt sofort für das Volumenintegral einer Funktion für Zylinderkoordinaten und
f .x/:
det.J/ D r2 sin # (4.108)
Z •
f .x/ dV D f .x/ dx1 dx2 dx3 für Kugelkoordinaten kann man dann für alle entsprechen-
den Rechnungen direkt verwenden.
• (4.103)
D f Œx.q/ det.J.q// dq1 dq2 dq3 :

Jacobi-Determinante für Kugelkoordinaten Trägheitstensor einer Kugel


Wir berechnen nun das Volumen einer Kugel mit Radi-
us R in sphärischen Polarkoordinaten. Aus (2.115) folgt Betrachten wir nun den für viele physikalische und ingenieur-
zunächst die Jacobi-Matrix technische Anwendungen wichtigen Fall einer Kugel mit Radi-
us R und konstanter Massendichte .x/ D  D const für r  R.
0 1
sin # cos ' r cos # cos ' r sin # sin ' Zunächst ist es sofort ersichtlich, dass die Gesamtmasse
J D @ sin # sin ' r cos # sin ' r sin # cos ' A ;
cos # r sin # 0 4
MD R3 (4.109)
3
(4.104)
ist. In Kugelkoordinaten lauten die Komponenten des Trägheits-
was man schnell durch partielles Ableiten überprüft. Die tensors aus (4.82)
zugehörige Jacobi-Determinante ist
ZR Z Z2
 
det.J/ D r2 sin #: (4.105) ij D dr d# d'  r2 ıij  xi xj r2 sin #: (4.110)
0 0 0
Somit lautet das Volumenintegral
Eine Kugel ist ein Körper hoher Symmetrie. Keine Achse ist
Z ZR Z Z2 ausgezeichnet. Dies bedeutet, dass alle drei Trägheitsmomente
VD dV D dr d# d' r2 sin # identisch sein müssen, 11 D 22 D 33 . Dasselbe gilt auch
0 0 0 für alle Deviationsmomente, d. h. 12 D 23 usw.
(4.106)
Z Wir wollen zunächst explizit zeigen, dass die Nebendiagonal-
2 3 4 3
D R sin # d# D R: elemente verschwinden, und betrachten dazu 12 . Es ist
3 3
0
ZR Z Z2
Offensichtlich ist diese Rechnung wesentlich einfacher 12 D  dr d# d' r4 sin3 # cos ' sin ': (4.111)
als die für kartesischen Koordinaten. J
0 0 0

Die Stammfunktion von cos ' sin ' ist .sin2 '/=2. Da sin.0/ D
Frage 19 sin.2 / D 0 gilt, verschwindet der gesamte Ausdruck für 12 .
Zeigen Sie ausgehend von (4.100), dass die Jacobi-Determinan- Eine ähnliche Rechnung gilt für die restlichen Deviationsmo-
te für Zylinderkoordinaten det.J/ D % lautet. Veranschaulichen mente.
Sie sich dies grafisch und berechnen Sie damit auch das Volu-
men eines Zylinders. Es verbleibt nur noch die Berechnung für eines der Diago-
nalelemente des Trägheitstensors. Da der Ausdruck für x3 am
4.6 Bewegungsgleichungen des starren Körpers 147

Tab. 4.1 Trägheitsmomente bezüglich ihrer Hauptsymmetrieachse (und damit


auch bezüglich ihres Schwerpunktes) einiger einfacher Objekte mit Gesamtmas-
4.6 Bewegungsgleichungen
se M. Die Trägheitsmomente von Kugel- und Zylinderschale erhält man, indem des starren Körpers

Teil I
man eine kleinere Kugel bzw. einen kleineren Zylinder im Innenraum abzieht
(Additivität von Trägheitsmomenten)
Objekt Trägheitsmoment Ausgehend von der Drehmomentgleichung werden die allge-
Kugel (Radius R) 2MR2 =5 meinen Bewegungsgleichungen für die Rotation des starren
Kugelschale (Radien R1 < R2 ) 2M.R22  R21 /=5 Körpers abgeleitet. Im körperfesten System nehmen diese Glei-
Hohlkugel (Radius R) 2MR2 =3 chungen die einfachste Form an, da dort der Trägheitstensor
Zylinder (Radius R) MR2 =2 konstant ist. Dies führt auf die Euler-Gleichungen. Anschlie-
Zylinderschale (Radien R1 < R2 ) M.R22  R21 /=2 ßend wird die Winkelgeschwindigkeit durch die Zeitableitung
Hohlzylinder (Radius R) MR2 der Euler-Winkel ausgedrückt.
Quader entlang a-Achse (Seiten a, b, c) M.b2 C c2 /=12
Kegel (Basisradius R) 3MR2 =10

Euler-Gleichungen für die Rotation


einfachsten ist, berechnen wir 33 :
eines starren Körpers

ZR Z Z2 Es wurde bereits gefunden, dass die Translations- und die Ro-


  tationsbewegung des starren Körpers in den meisten Fällen ge-
33 D  dr d# d' 1  cos2 # r4 sin #: (4.112)
trennt beschrieben werden können. Im Folgenden interessieren
0 0 0
wir uns nur für die Rotation. Die Änderung des Drehimpulses
im raumfesten System S entspricht laut (3.20) dem gesamten
Wir führen zunächst die r- und '-Integrationen aus und erhalten äußeren Drehmoment:
für diese Integrale 2 R5 =5. Weiterhin ist
P
M .a/ D L: (4.115)
Z
  Diese Gleichung gilt sowohl für einen frei beweglichen Kreisel
d# 1  cos2 # sin #
(ohne Stützpunkt) als auch für einen Kreisel, der in einem belie-
0
(4.113) bigen Punkt gelagert ist. Der Drehimpuls und das Drehmoment
ZC1 sind dann bezüglich des gestützten Punktes anzugeben, ansons-
  4
D d cos # 1  cos2 # D : ten bezüglich des Schwerpunktes. Zur Vereinfachung lassen wir
3 den Index des Drehmoments fort und drücken den Drehimpuls
1
durch den Trägheitstensor und die Winkelgeschwindigkeit aus:

d
Frage 20 MD .!/ : (4.116)
dt
Überprüfen Sie die Rechnung in (4.113), indem Sie u D cos #
substituieren (was ein häufiger Trick ist). Als Zwischenergebnis Dies sind die Bewegungsgleichungen für die Rotation eines
findet man, dass d cos # D du D  sin # d# gilt. starren Körpers in kompakter (aber für viele konkrete Rechnun-
gen unpraktischer) Form.
Frage 21
Fügt man alle Zwischenergebnisse zusammen, erhält man das Machen Sie sich klar, dass der Trägheitstensor  in (4.116) wie
wichtige Ergebnis M und L ebenfalls bezüglich eines möglichen Stützpunktes de-
finiert sein muss.
0 1
2 1 0 0 2
2@
.ij / D MR 0 1 0A D MR2 I (4.114) Gleichung (4.116) nimmt in S ausgeschrieben eine eher un-
5 0 0 1 5
günstige Form an, da der Trägheitstensor dort allgemein eine
Funktion der Zeit ist. Stattdessen nutzt man aus, dass der
für den Trägheitstensor einer Kugel. Hier wurde die Gesamt- Trägheitstensor im körperfesten System S konstant ist. Die
masse der Kugel aus (4.109) verwendet. Zeitableitung wirkt dann nur auf die Winkelgeschwindigkeit.
Wir wollen (4.116) daher in S formulieren, wobei wir an-
In Aufgabe 4.3 werden einige weitere Trägheitstensoren einfa- nehmen, dass beide Ursprünge zusammenfallen (ansonsten lässt
cher Objekte berechnet. In Tab. 4.1 sind die Trägheitsmomente sich der Steiner’sche Satz anwenden). Es gilt dann wegen (2.74)
einiger wichtiger Objekte bezüglich ihrer Hauptsymmetrieach-   
se zusammengefasst. R> M  D R> LP C !  L : (4.117)
148 4 Starre Körper

Hier ist R die Drehmatrix (4.9), die S in S überführt. Multipli- die instantane Winkelgeschwindigkeit die Superposition dieser
kation mit R von links führt auf Einzeldrehungen um diese Achsen, also
Teil I


M  D LP C !  L (4.118) P eO 3 C #.t/
w.t/ D '.t/ P eO K .t/ C P .t/ eO  .t/:
3 (4.121)

Es ist zu beachten, dass L auch für M  D 0 im Allgemeinen Es sei daran erinnert, dass w der abstrakte (physikalische) Vek-
nicht erhalten ist, da S kein Inertialsystem ist. tor der Winkelgeschwindigkeit ist und dass es sich bei w dt
um eine infinitesimale Drehung handelt. Wir erinnern uns an
Abschn. 2.3, wo betont wurde, dass infinitesimale Drehungen
Euler-Gleichungen für die Rotation eines starren Kör- aufgrund ihrer Linearisierung stets superponiert werden kön-
pers nen, endliche Drehungen jedoch nicht.
Die Bewegungsgleichungen für die Rotation eines starren Um die Komponenten der Winkelgeschwindigkeit in S bzw. S
Körpers im körperfesten System lauten zu erhalten, muss w auf die entsprechenden Koordinatenachsen
  projiziert werden. Wir beginnen mit S . Dazu müssen wir
M D   !
P  C !    ! : (4.119)
!i D w  eO 
i (4.122)
Sie entsprechen den Newton’schen Bewegungsgleichun-
gen für die Translation einer Punktmasse.
berechnen, wobei w durch (4.121) gegeben ist. Hierzu müssen
wir die Vektoren eO 3 und eO K als Linearkombination der eO 
i schrei-
ben. Aus Abb. 4.3 sieht man zunächst, dass die Knotenlinie
Die Komponentenform von (4.119) erfüllt im Hauptachsensys-
tem eO K D cos eO 
1  sin eO  (4.123)
M1 D 1 !P 1 C !2 !3 .3  2 /; 2

M2 D 2 !P 2 C !1 !3 .1  3 /; (4.120) erfüllt. Aus (4.12) folgt eO 


i e
O 3 D ri3 . Die Entwicklungskoeffizi-
M3 D 3 !P 3 C !1 !2 .2  1 /: enten liest man aus (4.9) ab:

Eine Beschreibung in einem anderen körperfesten System ist eO 3 D sin sin # eO 


1 C cos sin # eO  O
2 C cos # e3: (4.124)
zwar möglich, aber mathematisch wesentlich aufwendiger, da
der Trägheitstensor dort nicht diagonal ist und Zusatzterme be- Die Projektionen sind nun leicht durchzuführen, und man findet
rücksichtigt werden müssen.
0 1 0 1 0 1 0 1
!1 sin sin # cos 0
Frage 22 @!2 A D 'P @cos sin # A C #P @ sin A C P @0A (4.125)
Zeigen Sie (4.120). !3 cos # 0 1

für die Komponenten in S . In Aufgabe 4.6 wird gezeigt, dass


Die Formulierung in S hat allerdings den Nachteil, dass alle die Winkelgeschwindigkeit in S die Komponenten
äußeren Drehmomente M, die in der Regel in S gegeben sind,
zunächst in S (in Form von M  ) umgerechnet werden müssen. 0 1 0 1 0 1 0 1
!1 0 cos ' sin ' sin #
In Aufgabe 4.5 werden die Euler-Gleichungen verwendet, um @!2 A D 'P @0A C #P @ sin ' A C P @ cos ' sin # A (4.126)
die Bewegung des physikalischen Pendels zu beschreiben. !3 1 0 cos #

besitzt.
Setzt man (4.125) in (4.120) ein, erhält man die Bewegungs-
Bewegungsgleichungen mit Euler-Winkeln gleichungen des starren Körpers ausgedrückt durch die Euler-
Winkel. Es handelt sich dabei um drei gewöhnliche Differenzi-
algleichungen zweiter Ordnung für die drei Winkelkoordinaten
Die Winkelgeschwindigkeit lässt sich durch die Euler-Winkel ', # und .
ausdrücken. Dazu überlegen wir uns, welche Rolle die Euler-
Winkel bei der Drehung des starren Körpers spielen. So haben Frage 23
wir in Abschn. 4.1 gesehen, dass ' für eine Drehung um eO 3 , # Wir benötigen diese Bewegungsgleichungen nicht, aber sie kön-
für eine Drehung um eO K (Knotenlinie) und für eine Drehung nen als Übung abgeleitet werden.
um eO 
3 zuständig ist. Die drei Euler-Winkel sind unabhängige
Koordinaten, d. h., eine beliebige infinitesimale Drehung lässt
sich eindeutig durch eine Hintereinanderausführung von Ein- Die kinetische Energie der Rotation eines starren Körpers er-
zeldrehungen eO 3 d', eO K d# und eO 
3 d ausdrücken. Somit ist gibt sich durch Einsetzen von (4.125) in (4.64). Für den für
4.7 Rotation des Kreisels 149

uns wichtigen Spezialfall eines symmetrischen Kreisels ( D Wir werden nun sehen, dass eine dieser Lösungen instabil sein
1 D 2 ) erhält man kann. Stellvertretend für die beiden anderen Lösungen betrach-
ten wir eine Rotation, die näherungsweise um eO 

Teil I
1 erfolgt. Die
 P2   
3 P 2 Winkelgeschwindigkeit lautet also .!1 ; !2 ; !3 /> mit !2
TR D # C 'P 2 sin2 # C C 'P cos # : (4.127)
2 2 !1 und !3 !1 . Aus der ersten Gleichung in (4.120) folgt
dann, dass die Änderung von !1 klein ist, da sie proportional
Frage 24 zu !2 und !3 ist, die beide kleine Größen sind. Wir vernach-
Überprüfen Sie die Gültigkeit von (4.127). lässigen alle Terme, die quadratisch in einer kleinen Größe
sind. Dies entspricht einer Linearisierung der Bewegungsglei-
chungen, d. h. einer Taylor-Entwicklung, die nach der linearen
Das Herunterrollen eines Zylinders auf einer schiefen Ebene Ordnung abgebrochen wird. Man kann daher davon ausge-
(was ebenfalls die Kenntnis der Trägheitsmomente erfordert) hen, dass die Drehachse für eine gewisse Zeit fast parallel zur
wird in Aufgabe 4.4 behandelt. ersten Hauptachse ausgerichtet bleibt. Ob die durch !2 und
!3 definierte „Störung“ der Drehachse klein bleibt oder an-
wächst, entscheidet schließlich darüber, was mit der Drehachse
geschehen wird. Dies kann man an den übrigen beiden Bewe-
4.7 Rotation des Kreisels gungsgleichungen erkennen.
Man kann für M  D 0 die zweite und dritte Gleichung in
Das Lösen der Bewegungsgleichungen eines Kreisels ist im All- (4.120) durch einmaliges Ableiten zu
gemeinen sehr aufwendig. Es gibt allerdings einige verhältnis-
mäßig einfache Fälle, die in diesem Abschnitt diskutiert werden. !R 2 D 2 !2 (4.129)
Dies sind die freien Rotationen um jeweils eine der Hauptach-
sen einschließlich einer Stabilitätsanalyse und die freie Rotation kombinieren (analog ist auch ein Ausdruck für !3 möglich).
eines symmetrischen Kreisels. An diesen Beispielen lassen sich
bereits die wesentlichen Eigenschaften der Kreiselbewegung Frage 25
verdeutlichen, ohne die Mathematik zu sehr zu strapazieren. Zeigen Sie (4.129). Nehmen Sie dabei an, dass !P 1 vernachläs-
Dazu gehört die Präzession, die in der Astronomie eine Rolle sigbar klein ist, was anfangs der Fall ist. Es gilt dabei
spielt.
.1  3 /.1  2 /  2
Weiterhin wird die Rotation eines schweren symmetrischen 2 D !1 : (4.130)
Kreisels im homogenen Gravitationsfeld angesprochen. Auf ei- 2 3
ne allgemeine Diskussion unsymmetrischer Kreisel verzichten
wir an dieser Stelle. Sie ist für eine Einführung nicht geeignet
und wird in Fachbüchern oder -artikeln behandelt (z. B. Klein & Die Lösung von (4.129) ist eine Oszillation, wenn 2 positiv
Sommerfeld 1965; Gebelein 1932). ist (siehe (1.102)). In diesem Fall ist die Störung periodisch
und die Bewegung des starren Körpers stabil. Man kann sich
leicht davon überzeugen, dass 2 > 0 erfüllt ist, falls 1
das größte oder das kleinste Trägheitsmoment ist. Ist hinge-
Stabilität der Rotation des kräftefreien Kreisels gen 1 das mittlere Trägheitsmoment, so ist 2 < 0, und
um seine Hauptachsen die Lösung von (4.129) ist eine Exponentialfunktion der Form
!2 D AC eCjjt C A ejjt . Dies wird im Allgemeinen zu
einer exponentiell wachsenden Störung führen, sodass die Be-
Hier und im Folgenden konzentrieren wir uns auf die Untersu- wegung letztlich instabil ist. Man kann dies leicht mit einem
chung der Rotation. Wir nehmen an, dass die Translationsbe- Buch (besser nicht mit diesem!) ausprobieren, das man mit ei-
wegung entweder entkoppelt oder der Kreisel an einem Punkt nem Drall in die Luft wirft.
unterstützt ist. Beide Fälle führen auf die gleichen Bewegungs-
gleichungen.
Es gibt drei triviale Lösungen für die Rotation eines kräftefreien Stabilität der Rotation eines kräftefreien Kreisels
Kreisels (M  D 0). Offensichtlich erlauben die Bewegungsglei-
Die Rotation eines kräftefreien Kreisels ist stabil, wenn
chungen in (4.120) die drei Lösungen
sie um die Hauptachse mit dem kleinsten oder größten
!1 D const; !2 D !3 D 0 (4.128) Trägheitsmoment erfolgt. Im anderen Fall ist die Bewe-
gung instabil.
und zyklisch permutiert. Dies entspricht jeweils einer reinen
Drehung um eine der Hauptachsen. In der Realität wird eine
Kreiselrotation niemals exakt um eine der Hauptachsen erfol- Stabilitätsanalysen dieser Art sind sehr wichtig; man findet sie
gen. häufig in der Physik. Dabei werden die Bewegungsgleichungen
150 4 Starre Körper

zunächst vereinfacht (z. B. linearisiert) und näherungsweise ge- b∗


e 3
löst. Auf diese Weise lassen sich physikalische Systeme besser
Teil I

verstehen, selbst wenn ihre Bewegungsgleichungen nicht voll- L∗



ständig gelöst werden können.
Achtung Es ist dabei zu beachten, dass die Näherungslösun- L∗
gen nur anfangs gültig sind, solange die Linearisierungsannah-
men gerechtfertigt sind. J ∗
ω⊥

!∗
Der kräftefreie symmetrische Kreisel ϑ θPK

Die einfachste nichttriviale Lösung der Euler-Gleichungen er-


hält man für einen kräftefreien symmetrischen starren Körper.
Im körperfesten System S folgt aus (4.120) wegen M  D 0
und mit der Wahl  D 1 D 2 (Symmetrieachse eO  3 ):

 !P 1 D !2 !3 .  3 /;
 !P 2 D !1 !3 .3  /; (4.131)
3 !P 3 D 0:
Abb. 4.8 Im körperfesten System des kräftefreien symmetrischen Kreisels prä-
zedieren sowohl der Drehimpuls L als auch die Winkelgeschwindigkeit ! um
Man nennt die Symmetrieachse eO 
3 auch die Figurenachse eines die Figurenachse eO  
3 . Der durch ! gebildete Kegel ist der Polkegel, der durch
symmetrischen Kreisels. L gebildete Kegel der Präzessionskegel. Beide haben in der Regel verschiedene
Öffnungswinkel
Zunächst stellen wir fest, dass !3 eine Konstante ist. Ähnlich
wie bei der Argumentation, die auf (4.129) geführt hat, findet
man hier  
  3  2  Allerdings präzediert der Vektor der Winkelgeschwindigkeit
!R 1 D  !3 !1 (4.132) ! in S mit der Frequenz  um eO  
3 (Abb. 4.8), d. h., ! dreht
 sich auf einem Kegel, dem sogenannten Polkegel oder auch

und einen analogen Ausdruck für !2 . Dies führt offensichtlich Gangpolkegel, um die Figurenachse. Hier ist !? der konstan-
auf eine harmonische Schwingung mit Kreisfrequenz te Betrag des Anteils der Winkelgeschwindigkeit, der senkrecht
auf der Figurenachse steht. Wir wählen nun S so, dass 0 D 0
  3  ist. Dies ist aufgrund der Symmetrie des Kreisels (Invarianz un-
D !3 : (4.133) ter Drehungen in der eO  e
 1 -O 2 -Ebene) stets möglich.

Die allgemeine Lösung lautet Frage 27


Machen Sie sich anhand von Abb. 4.8 klar, dass der Öffnungs-
!1 D !?

sin .t C 0/ (4.134) winkel des Polkegels durch

mit den Anfangsbedingungen !? (Amplitude) und 0 (Phasen- 
!?
winkel). Je nach Vorzeichen von  erfolgt die Drehung in die PK D arctan (4.137)
!3
eine oder andere Richtung. Die Bewegung der Figurenachse ei-
nes kräftefreien symmetrischen Kreisels ist also immer stabil.
gegeben ist.
Frage 26
Zeigen Sie, indem Sie (4.134) in (4.131) einsetzen, dass
Der Drehimpuls in S erfüllt L 
i D i !i für jede seiner drei
!2 D !?

cos .t C Komponenten i. Somit präzediert der Drehimpuls ebenfalls in
0/ (4.135)
S um die Figurenachse, und zwar mit der gleichen Frequenz 
gilt. wie die Winkelgeschwindigkeit. Der Betrag des Drehimpulses
ist

L D L   2  2 
2 2 2 2 2 2
Es folgt direkt, dass die Winkelgeschwindigkeit dem Betrag 1 C L2 C L3 D  !? C 3 !3 : (4.138)
nach konstant ist:
Der Winkel # ist gerade der Winkel zwischen Drehimpuls und
! D !1 C !2 C !3 D !?

C !3 D const: (4.136) der Figurenachse. Wir wissen, dass der Drehimpuls in S um eO 
2 2 2 2 2 2
3
4.7 Rotation des Kreisels 151

präzediert, also muss # konstant sein bzw. #P D 0. Aus Abb. 4.8


folgt Euler-Winkel des kräftefreien symmetrischen Kreisels

Teil I
L !? 
# D arctan ? D arctan ; (4.139) Ein kräftefreier symmetrischer Kreisel erlaubt die Lösung
L3 3 !3
wobei L #.t/ D #0 ; .t/ D t C 0; '.t/ D 0 t C '0
? der Anteil des Drehimpulses ist, der senkrecht auf
der Figurenachse steht. Der Euler-Winkel # definiert somit den (4.145)
Öffnungswinkel des sogenannten Präzessionskegels. Die Win- für die Euler-Winkel.
kel, die ! und L jeweils mit der eO 
3 -Achse einschließen ( PK
und #), sind nicht identisch, was man an einem Vergleich von
In Aufgabe 4.6 wird außerdem gezeigt, dass
(4.137) und (4.139) erkennt.
Bis zu diesem Punkt haben wir untersucht, wie sich die Dreh- L
0 D (4.146)
achse in S verhält. Doch wie sieht die Kreiselbewegung vom 
raumfesten System S aus gesehen aus? In S ist der Drehimpuls
L eine Erhaltungsgröße, nicht jedoch die Winkelgeschwindig- ist, wobei L D jLj der Betrag des Drehimpulses ist.
keit !. Wir beginnen zunächst mit der willkürlichen Festlegung, Aus Abb. 4.3 erkennt man, dass sich die Knotenlinie eO K mit
dass der Drehimpulsvektor des Kreisels entlang eO 3 zeigt, also einer festen Frequenz 'P D 0 in der durch eO 1 und eO 2 auf-
L D L eO 3 D const. gespannten Ebene und damit um eO 3 dreht. Wegen eO K .t/ D
eO 3  eO  O
3 .t/ muss sich daher e
0
3 mit derselben Frequenz  um
Frage 28
eO 3 auf dem Präzessionskegel bewegen.
Machen Sie sich klar, dass aus L D const wegen L D ! im
Allgemeinen ! 6D const folgt.
Präzession der Figurenachse im raumfesten System

Es bleibt noch die Zeitabhängigkeit der beiden übrigen Eu- Die Figurenachse (Symmetrieachse) des kräftefreien
ler’schen Winkel zu bestimmen. Ausgehend von (4.125) und Kreisels präzediert im raumfesten System S mit der Fre-
#P D 0 sieht man zunächst quenz
0 1 0 1 0 1 0  1 3 !3 L
!1 sin sin # 0 !? sin .t/ 0 D D (4.147)
 cos # 
@!2 A D 'P @cos sin # A C P @0A D @!  cos .t/A :
?
!3 cos # 1 const um die Drehimpulsachse.

(4.140)
Dies ist scheinbar ein Widerspruch zu dem vorherigen Ergebnis,
Die ersten beiden Komponenten dieser Gleichung können we- dass sich der Drehimpuls in S (parallel zu eO 3 ) mit der Frequenz
gen der Konstanz von # nur dann zu jedem Zeitpunkt erfüllt  (und nicht 0 !) um die Figurenachse (parallel zu eO  3 ) dreht.
sein, wenn Tatsächlich sind beide Ergebnisse korrekt. Dies wird in Aufgabe
P D  D const 4.6 noch genauer betrachtet.
D t H) (4.141)
Abschließend stellen wir fest, dass in S der Vektor der Winkel-
und geschwindigkeit um die Drehimpulsachse (Oe3 -Achse) präzediert

!?
'P D D const (4.142) und sich dabei auf dem Spurkegel (auch Rastpolkegel genannt)
sin # bewegt. Aus (4.126) kann man ablesen, dass diese Präzession
sind. Damit ist auch die Gleichung für die dritte Komponente mit der Frequenz 'P D 0 erfolgt und dass der Öffnungswinkel
automatisch erfüllt.
P sin #  sin #
Frage 29 D arctan D arctan 0 (4.148)
'P C P cos #
SK
 C  cos #
Zeigen Sie mithilfe von (4.139), dass man (4.142) in der Form
ist. Die gefundenen Präzessionensbewegungen sind in Tab. 4.2
'.t/ D 0 t C '0 (4.143) zusammengefasst und in Abb. 4.9 grafisch dargestellt.
schreiben kann, wobei
Erde als Kreisel: Polbewegung
3 !3
0 D (4.144)
 cos # Die Erde kann in erster Näherung als ein leicht ab-
geplatteter, kräftefreier symmetrischer Kreisel betrachtet
gilt. Nutzen Sie dabei tan # D sin #= cos # aus.
152 4 Starre Körper

Tab. 4.2 Zusammenfassung der Präzessionsbewegungen des kräftefreien sym-


metrischen Kreisels. Jede Präzession beschreibt die Bewegung einer Achse auf re Massenverteilung ständig ändert (z. B. durch Gezeiten
Teil I

einem Kegel mit gegebenem Öffnungswinkel um eine andere Achse mit einer
festen Frequenz. Der Drehimpuls zeigt in Richtung von eO 3 , die Figurenachse in
oder geologische Aktivität).
Richtung von eO  
3 . Das Koordinatensystem (S oder S ) gibt an, in welchem Sys- Tatsächlich ist die Erde jedoch kein kräftefreier Kreisel.
tem diese Präzession beobachtet wird
Letztlich üben Sonne und Mond auf die Erde Drehmo-
Beschreibung Winkel Achsen Frequenz System mente aus. Dies führt zu einer seit der Antike bekannten
Präzessionskegel # eO
3 um eO3 0 S Präzession der Erdachse, die wesentlich stärker als die
Präzessionskegel # eO3 um eO 
3  S hier beschriebene Polbewegung ist, aber eine deutlich
Polkegel PK ! um eO  3  S längere Periode besitzt. Dies wird in Aufgabe 4.7 vertieft.
Spurkegel SK ! um eO 3 0 S J

b3 , L
e
!∗
Präzessionskegel b∗
e 3
Der schwere symmetrische Kreisel

Spurkegel Abschließend betrachten wir den sogenannten Lagrange-Krei-


sel (nach dem italienischen Mathematiker und Astronomen Jo-
seph-Louis Lagrange, 1736–1813). Dies ist ein symmetrischer
starrer Körper, der in einem Punkt auf seiner Symmetrieachse
unterstützt ist und sich in einem homogenen Gravitationsfeld
Polkegel
ϑ
befindet. Er stellt ein einfaches, aber recht realitätsnahes Mo-
dell für den Kinderkreisel und den Kreiselkompass dar, der bei
der Schiffsnavigation eine wichtige Rolle spielt. Im Allgemei-
θSK θPK
nen sind die vollen Bewegungsgleichungen in (4.120) zu lösen,
wobei das Drehmoment M  zu spezifizieren ist.
Abb. 4.9 Übersicht der Präzessionsbewegungen des kräftefreien symmetri-
schen Kreisels. Die Figurenachse eO 
3 präzediert auf dem Präzessionskegel mit Die Euler’schen Bewegungsgleichungen gelten im körperfesten
Öffnungswinkel # um die Drehimpulsachse eO 3 . Im raumfesten System S präze- System S . Äußere, im raumfesten System S bekannte Dreh-
diert außerdem die Achse der Winkelgeschwindigkeit auf dem Spurkegel mit
Öffnungswinkel SK um die Drehimpulsachse. Gleichzeitig präzediert sie im
momente müssen daher zunächst in S berechnet werden, um
körperfesten System S auf dem Polkegel mit Öffnungswinkel PK um die Fi- die Bewegungsgleichungen in (4.120) lösen zu können.
gurenachse. Anschaulich rollt der Polkegel auf dem Spurkegel ab, wobei die
Kontaktlinie beider Kegel gerade der Achse der Winkelgeschwindigkeit ent-
Beim schweren symmetrischen Kreisel gibt es drei Erhaltungs-
spricht größen. Nutzt man diese aus, ist es gar nicht erforderlich, die
Euler-Gleichungen selbst zu bemühen. Da eine vollständige Lö-
sung des Problems auf elliptische Integrale führt, die an dieser
Stelle nicht besprochen werden sollen, beschränken wir uns auf
eine qualitative Diskussion der Bewegungsgleichungen.
werden ( < 3 ). Aus Messungen ist bekannt, dass
Der Kreisel ist schematisch in Abb. 4.10 gezeigt. Als Ursprünge
  3 1 O und O von S und S verwenden wir den Unterstützungs-
 (4.149)
 300 punkt, der sich vom Schwerpunkt unterscheiden soll. Die Fi-
gurenachse sei wieder entlang eO  
3 ausgerichtet. In S befindet
gilt. Damit lässt sich mithilfe von (4.133) die Präzessions-  
sich der Schwerpunkt am Ort X D R eO 3 , in S am Ort X. Die
frequenz der Drehachse im erdfesten System berechnen,
Trägheitsmomente  D 1 D 2 und 3 seien bezüglich des
wenn diese nicht mit der Figurenachse zusammenfällt,
Unterstützungspunktes definiert (und weiterhin bezüglich S ).
was aufgrund diverser Störungen im Ausmaß von einigen
Die Masse des Kreisels sei m.
Zehntel Bogensekunden tatsächlich der Fall ist (wie man
seit 1885 weiß). Offenbar sagt diese Abschätzung aus, Frage 30
dass sich die Drehachse alle 300 Tage einmal vollstän- Rufen Sie sich den Steiner’schen Satz in Erinnerung und überle-
dig um die Figurenachse der Erde bewegt. In Wirklichkeit gen Sie sich, wie die Trägheitsmomente bezüglich des Schwer-
dauert es aber etwa 430 Tage. Dies ist die Chandler-Pe- punktes aussehen.
riode (nach dem US-amerikanischen Astronomen Seth
Carlo Chandler, 1846–1913), die für moderne Naviga-
tionstechniken wichtig ist und darin begründet liegt, dass Die Gravitationskraft zeige in S senkrecht nach unten:
die Erde kein perfekter starrer Körper ist, sondern sich ih-
F D mg eO 3 : (4.150)
4.7 Rotation des Kreisels 153

b3
e ist nicht der Fall, da die kinetische Energie, die in der Rotation
steckt, bezüglich des ruhenden Unterstützungspunktes angege-

Teil I
ben wurde. Offensichtlich kann dies nur korrekt sein, wenn der
b∗
e 3 Trägheitstensor bezüglich dieses Punktes verwendet wird. Ge-
nau das hatten wir am Anfang allerdings verlangt. J
Wir geben nun die drei gefundenen Erhaltungsgrößen als Funk-
tion der Euler-Winkel an. Gleichung (4.125) führt direkt auf
 
L 
3 D 3 !3 D 3 ' P cos # C P D const: (4.155)
M
X Für die Komponente L3 des Drehimpulses in S findet man zu-
nächst wegen (4.12)

L3 D eO 3  L D eO 3  eO   
i Li D ri3 Li : (4.156)
FG
Dies lässt sich umschreiben in
O, O ∗  
L3 D  r13 !1 C r23 !2 C 3 r33 !3
Abb. 4.10 Schwerer Kreisel betrachtet im Laborsystem S. Der schwere Krei-
sel ist an einem Punkt unterstützt, der sowohl dem Ursprung O von S als auch D .r13 !1 C r23 !2 C r33 !3 / C .3  /r33 !3
dem Ursprung O des körperfesten Systems S entspricht. Der Schwerpunkt D !3 C .3  /r33 !3 D !3 C .3  /!3 cos #:
befindet sich am Ort X. Auf ihn wirkt die Gravitationskraft FG entlang der ne- (4.157)
gativen eO 3 -Achse. Dies führt zu einem Drehmoment M, das aus der Papierebene In der dritten Zeile wurde rij ! 1 
hinauszeigt. Die Figurenachse des Kreisels ist eO  i D !j , d. h. R ! D !, und im
3
letzten Schritt r33 D cos # ausgenutzt. Es lassen sich schließlich
noch !3 und !3 mit (4.125), (4.126) und (4.155) ersetzen:
Daraus ergibt sich das Drehmoment L3 D  'P sin2 # C L
3 cos # D const: (4.158)
M D X  F D mgR eO 
3 e
O3: (4.151)
Frage 31
Das Drehmoment steht somit senkrecht auf der Figurenachse Rechnen Sie alle Schritte nach, die auf (4.158) führen.
und der Wirkungsrichtung der Gravitationskraft. Offensichtlich
sind dann die Projektionen
Die Energie ist wegen (4.127) und eO 3  eO 
3 D cos #
L3 D L  eO 3 L DL eO 
 P2   
und 3 3 (4.152) 2
3 P
ED # C 'P 2 sin2 # C C 'P cos # C mgR cos #
konstant, wobei L der abstrakte Drehimpulsvektor ist. Wir ha- 2 2
ben also zwei Konstanten der Bewegung gefunden. Da das D const:
homogene Gravitationsfeld konservativ ist, ist auch die Ge- (4.159)
samtenergie E des Kreisels konstant. Sie ist die Summe aus P
Man kann sowohl 'P als auch aus der Energie eliminieren und
kinetischer und potenzieller Energie. Die potenzielle Energie ist durch die konstanten Drehimpulse ersetzen. Dies führt auf die
V D mg eO 3  X D mgR eO 3  eO  Differenzialgleichung
3: (4.153)

Die kinetische Energie lautet  P 2 .L3  L


3 cos #/
2
L 2
ED # C C 3
C mgR cos # (4.160)
2 2 sin2 # 23
1  2  1
 !1 C !2 C 3 !3 :
2 2
TD (4.154) erster Ordnung für #. Hier bietet sich eine Substitution mit
2 2
u D cos # (4.161)
Erhaltungsgrößen des schweren Kreisels
an. Man erhält die Differenzialgleichung
Für einen unterstützten symmetrischen Kreisel im homo-
genen Schwerefeld findet man drei Erhaltungsgrößen: die uP 2 C Veff .u/ D 0 (4.162)
Projektion des Drehimpulses auf die Figurenachse und auf mit
die Achse, entlang der das Schwerefeld wirkt, sowie die !  2
Gesamtenergie. 2 L 2
L3  L
3u
Veff .u/ D 3
C mgRu  E .1  u2 / C
 23 
 
Achtung Der aufmerksame Leser könnte hier fragen, ob wir D .C1 C C2 u/ 1  u C .C3  C4 u/ ;
2 2

den Beitrag der Schwerpunktsbewegung vergessen haben. Dies (4.163)


154 4 Starre Körper

Veff (u) die potenzielle Energie der Variablen u auffassen und die mög-
lichen Bewegungen von u qualitativ bzw. grafisch untersuchen.
Teil I

Frage 32
Schauen Sie sich die grafische Diskussion der Bewegung im ef-
fektiven Potenzial in Abschn. 3.2 erneut an. Wie kann man die
dortigen Ergebnisse auf das Problem hier anwenden?
−1 u1 u2 1 u

Offensichtlich muss Veff .u/ nichtpositiv sein, um eine physi-


kalische Lösung zu gestatten. Wegen (4.161) kann u nur aus
dem Intervall Œ1; 1 stammen. Das kubische Polynom Veff .u/
muss daher irgendwo in diesem Intervall negative Werte an-
nehmen, damit es eine physikalische Lösung gibt. Weiterhin
erkennt man, dass Veff .u/ für u D ˙1 positiv ist. Daher muss
Abb. 4.11 Die Funktion Veff .u/ für die Bewegung des schweren symmetri- es dann zwei Nullstellen 1 < u1  u2 < 1 geben. Die Bewe-
schen Kreisels ist im Intervall 1 < u1  u2 < 1 negativ. Die Figurenachse gung des Systems ist auf das Intervall Œu1 ; u2  beschränkt. Die
kann sich nur im Bereich u1  cos #  u2 aufhalten; sie oszilliert zwischen dritte Nullstelle erfüllt u3 > 1 und ist für uns nicht von Inter-
diesen beiden Umkehrpunkten (Nutation)
esse. Die Funktion Veff .u/ ist in Abb. 4.11 qualitativ dargestellt.
Sind die Werte u1 und u2 verschieden, pendelt die Figurenachse
zwischen #1 D arccos u1 und #2 D arccos u2 hin und her. Diese
wobei die vier Größen C1 ; : : : ; C4 Konstanten sind. Die impli- Bewegung nennt man Nutation des schweren Kreisels.
zite Lösung von (4.162) lässt sich sofort hinschreiben:
Legt man eine gedachte Einheitskugel um den Kreisel, so wird
Zu sie an einem Punkt, dem Durchstoßpunkt, von der Figurenach-
du0
t  t0 D p : (4.164) se durchstoßen (Abb. 4.12). Seine Lage auf der Einheitskugel
.C1 C C2 u0 / .u02  1/  .C3  C4 u0 /2 wird durch die Winkel # und ' festgelegt. Die Kurve, die der
u0
Durchstoßpunkt im Laufe der Zeit durchläuft, ist der Locus der
Figurenachse. Man nennt die Bewegung von ' die Präzession
des schweren Kreisels. Im Allgemeinen ist die Bewegung des
Eine allgemeine analytische Untersuchung führt auf die so-
schweren Kreisels eine Überlagerung von Präzession und Nuta-
genannten elliptischen Integrale (die auftreten, da Veff .u/ ein
tion. Aus (4.158) folgt die Bewegungsgleichung
Polynom dritter Ordnung in u ist). Wir wollen an dieser Stelle
darauf verzichten. Allerdings erinnern wir uns, dass wir bereits
L3  L
3 cos #
(z. B. in Abschn. 3.2) Gleichungen der Form (4.162) betrachtet 'P D : (4.165)
haben. Man kann uP 2 als die kinetische Energie und Veff .u/ als  sin2 #

a b3
e b b3
e c b3
e

ϑ1 ϑ1 ϑ1

ϑ2 ϑ2 ϑ2
b∗
e 3

Abb. 4.12 Nutation des schweren symmetrischen Kreisels. Der Schnittpunkt der Figurenachse eO  3 (blau ) mit der Einheitskugel um den Unterstützungspunkt (gelb )
bewegt sich im Laufe der Zeit und bildet den Locus (rot ). Je nach Wahl der Anfangsbedingungen sind verschiedene Bewegungsformen möglich. Die Winkelgeschwin-
digkeit 'P ändert ihr Vorzeichen in a nicht. In b verschwindet 'P für # D #1 . In c ändert 'P das Vorzeichen während der Nutation
4.7 Rotation des Kreisels 155

Wir definieren uL WD L3 =L


3 D cos #L und haben damit regulärer Präzession. In Aufgabe 4.7 wird untersucht, welchen
Einfluss die durch Sonne und Mond verursachten Drehmomente

Teil I
L auf die Erdachse haben.
'P D 3
.cos L  cos /: (4.166)
 sin2 # Man könnte naiv erwarten, dass der Kreisel aufgrund der Gravi-
tation umfällt. Dies kann aber wegen der Drehimpulserhaltung
Nun unterscheiden wir drei Fälle: nicht geschehen. Ein schwerer Kreisel, der im Idealfall keinen
Reibungskräften ausgesetzt ist, fällt niemals um. Stattdessen
1. #L < #1 < #2 oder #1 < #2 < #L : Hier ändert sich das Vor- weicht die Figurenachse seitlich aus, und es kommt zur Präzes-
zeichen von 'P niemals, und der Locus bewegt sich gemäß sion.
Abb. 4.12a.
2. #L D #1 oder #L D #2 : Dies führt auf eine Bewegung wie Die Dynamik von ist weniger wichtig, da sie nur die Rota-
in Abb. 4.12b, bei der periodisch #P und 'P gleichzeitig ver- tion des Kreisels um seine eigene Achse beschreibt und keinen
schwinden. Einfluss auf den Locus nimmt. Falls gewünscht, folgt die Bewe-
3. #1 < #L < #2 : In diesem Fall ändert 'P während der Nutation gung von aus (4.155) und (4.158).
das Vorzeichen. Der Locus hat dann eine ähnliche Gestalt Frage 33
wir in Abb. 4.12c.
Man hätte statt des hier vorgestellten Lösungsweges direkt die
Euler-Gleichungen aufintegrieren können. Warum ist dies nicht
Die Anfangsbedingungen lassen sich so wählen, dass u1 D u2 zu empfehlen?
gilt. Dann sind # und 'P beide konstant, und man spricht von
156 4 Starre Körper

Aufgaben
Teil I

Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen

4.1 Eigenschaften des Trägheitstensors Man (c) einen Hohlzylinder mit Höhe H und Radius R (Masse M ver-
zeige, dass ein beliebiger Trägheitstensor folgende Eigenschaf- teilt auf der unendlich dünnen Mantelfäche),
ten besitzt: (d) einen Kreiskegel mit Höhe H und Basisradius R.
(a) Alle Trägheitsmomente (Diagonalelemente) sind nichtnega- Für welches Verhältnis H=R handelt es sich bei den letzten drei
tiv. Beispielen um Kugelkreisel?
(b) Kein Trägheitsmoment ist größer als die Summe der übrigen
beiden. Lösungshinweis: Verwenden Sie jeweils das auf das Problem
angepasste Koordinatensystem. Zur Behandlung der Kugel-
Lösungshinweis: Am besten verwendet man zur Lösung der schale und des Hohlzylinders ist es ratsam, die Massendichte
Aufgabe entweder (4.18) oder (4.82). durch eine Oberflächenmassendichte .x/ D const zu ersetzen.
4.2 Orthogonalität der Eigenvektoren Zeigen In der Integration ist dann statt des Volumenintegrals ein Ober-
Sie, dass die Eigenvektoren zu nichtentarteten (ungleichen) Ei- flächenintegral bei konstantem Radius R zu berechnen. Legen
genwerten einer symmetrischen Matrix A orthogonal sind. Sie für die Berechnung des Kegels den Ursprung zunächst in
die Spitze des Kegels. Sie dürfen weiterhin verwenden, dass der
Lösungshinweis: Zeigen Sie zunächst, dass für zwei Eigen- Schwerpunkt des Kegels von der Spitze (z D 0) aus gesehen bei
vektoren v 1 und v 2 immer .Av 1 /  v 2 D .Av 2 /  v 1 gilt. Weitere z D 3H=4 liegt.
Eigenschaften von symmetrischen Matrizen werden in Kap. 23
besprochen. 4.4 Rollender Zylinder Ein anfänglich ruhender
Zylinder rolle eine schiefe Ebene hinunter (Abb. 4.13). Seine
4.3 Berechnung von Trägheitstensoren Um die
Drehachse sei dabei exakt quer zur Neigung ausgerichtet. Der
Anwendung von Volumenintegralen zu vertiefen, bietet es sich
Neigungswinkel der Ebene ist ˛. Der Zylinder hat eine homo-
an, die Trägheitstensoren einiger einfacher Objekte mit homo-
gene Dichte, Masse M und Radius R.
gener Massendichte zu bestimmen. Berechnen Sie den Träg-
heitstensor bezüglich des Schwerpunktes für (a) Wenn man annimmt, dass der Zylinder rollt und nicht glei-
(a) eine Kugelschale mit Radius R (Masse M verteilt auf der un- tet, welche Relation gilt dann zwischen der Geschwindigkeit
endlich dünnen Kugeloberfläche), V, mit der sich der Schwerpunkt bewegt, und der Winkelge-
(b) einen Zylinder mit Höhe H und Radius R, schwindigkeit ! des Zylinders um den Schwerpunkt?
(b) Bestimmen Sie die kinetische Energie des Zylinders, die
sich aus der Translations- und Rotationsenergie ergibt.
M (c) Wie groß ist die Komponente der nach unten zeigenden Gra-
vitationskraft jFG j D Mg entlang der schiefen Ebene?
(d) Wie stark wird der Schwerpunkt des Zylinders entlang der
ω R V
schiefen Ebene beschleunigt? Nutzen Sie dazu die Energie-
erhaltung aus. Interpretieren Sie Ihr Ergebnis.

FG Lösungshinweis: Das Trägheitsmoment des Zylinders bezüg-


lich seiner Symmetrieachse ist MR2 =2.
4.5 Physikalisches Pendel Im Gegensatz zu einem
α
mathematischen Pendel (Punktmasse an masselosem Stab oder
Abb. 4.13 Ein Zylinder (Radius R und Masse M) rollt unter dem Einfluss der
Schnur) beschreibt ein physikalisches Pendel einen ausgedehn-
Gravitationskraft FG eine schiefe Ebene mit Neigung ˛ hinunter. Dabei bewegt ten starren Körper, der an einem Punkt fixiert ist und nur um
sich sein Schwerpunkt mit Geschwindigkeit V, und der Mantel dreht sich mit eine vorgegebene Achse schwingen kann (Abb. 4.14). Man stel-
Winkelgeschwindigkeit ! le sich einen beliebigen starren Körper mit Trägheitstensor 
Aufgaben 157

bezüglich seines Schwerpunktes vor. Der Fixpunkt liege im (d) Scheinbar kann die Frequenz 0 beliebig groß werden, wenn
Ursprung O des raumfesten Systems S, und der Schwerpunkt cos # ! 0. Zeigen Sie, dass 0 D L= ist, und begründen
Sie damit, warum 0 stets endlich bleibt.

Teil I
befinde sich am Ort X.t/. Die Drehachse sei eO 2 in S. Es wir-
ke die Schwerkraft FG D Mg eO 3 , wobei M die Gesamtmasse (e) Mit den erhaltenen Zwischenergebnissen ist es relativ leicht,
des starren Körpers ist. Der Winkel zwischen Oe3 und X ist ˛, die Gültigkeit von (4.126) zu zeigen: Berechnen Sie die
sodass ˛ D 0 der Ruhelage entspricht. Komponenten der Winkelgeschwindigkeit ! in S. Gehen Sie
dabei von (4.121) aus.
b3
e
4.7 Erde als schwerer Kreisel Hätte die Erde ei-
ne perfekt kugelförmige (d. h. isotrope) Massenverteilung, so
könnten weder Mond noch Sonne ein Drehmoment auf die Erde
ausüben. Allerdings ist die Erde ein abgeflachtes Ellipsoid mit
O b1
e  1
α  D   3 > 0; : (4.167)
 300
Die Erde erfährt daher Drehmomente aufgrund der Gravitati-
X
onskräfte von Sonne und Mond. Diese lassen sich näherungs-
weise durch
3GMi
Mi D cos #0 .Oe
3 e
O 3/ (4.168)
2di3
beschreiben. Das ungestrichene Inertialsystem sei das des Son-
FG
nensystems. Der Index i steht für „Sonne“ oder „Mond“. Der
Winkel #0 D 23; 5ı ist die Neigung der Erdachse bezüglich
ihrer Umlaufebene um die Sonne, in welcher sich in guter Nä-
Abb. 4.14 Physikalisches Pendel aus dem Laborsystem S beobachtet. Das herung auch der Mond befindet. Die restlichen Größen sind die
Pendel ist an einem Punkt O (Ursprung von S) aufgehängt, der Schwerpunkt Gravitationskonstante G, die Abstände di zu Sonne bzw. Mond
befindet sich am Ort X. Durch die Gravitationskraft FG kommt es zu einer sowie die Massen Mi von Sonne bzw. Mond. Wir nehmen hier
Schwingung in der eO 1 -Oe3 -Ebene an, dass die Figurenachse der Erde mit der Drehimpulsachse zu-
(a) Wie groß ist das Trägheitsmoment des starren Körpers be- sammenfällt, d. h.
züglich der Drehachse und des Fixpunktes? L D LOe
3: (4.169)
(b) Wie lautet die Drehmomentgleichung in diesem Fall? Der Richtungsvektor eO 3 steht senkrecht auf der Umlaufebene;
(c) Lösen Sie die Bewegungsgleichung unter der Annahme, somit ist #0 auch der Winkel zwischen eO 3 und eO 
3.
dass der Winkel ˛ klein ist und deshalb die auftretende tri-
gonometrische Funktion linearisiert werden kann. (a) Zeigen Sie, dass die beiden Drehmomente (4.168) den Be-
(d) Würde es die Schwingungsdauer beeinflussen, wenn der trag des Drehimpulses der Erde nicht beeinflussen.
starre Körper durch einen anderen starren Körper aus ei- (b) Zeigen Sie
nem anderen Material ersetzt wird, der jedoch exakt dieselbe
L3 D L  eO 3 D L cos #0 D const: (4.170)
Form besitzt? Nehmen Sie dabei an, dass die jeweiligen Kör-
per homogen sind. Da aus der ersten Teilaufgabe L D const folgt, muss der
Neigungswinkel #0 ebenfalls konstant sein.
4.6 Kräftefreier symmetrischer Kreisel Die Ro- (c) Wir wollen nun untersuchen, wie schnell die Figurenachse
tation des kräftefreien symmetrischen Kreisels soll genauer der Erde im Raum (d. h. im ungestrichenen Inertialsystem)
untersucht werden. präzediert. Finden Sie dazu einen Ausdruck für dOe
3 =dt und
bringen Sie ihn in die Form
(a) Entwickeln Sie die Figurenachse eO 3 nach den Basisvektoren dOe
eO i im raumfesten System S und die Drehimpulsachse eO 3 nach 3
D !P  eO 
3: (4.171)
den Basisvektoren eO  
i im körperfesten System S . Verwen-
dt
den Sie dazu die Transformationsmatrix R in (4.9). Hier ist !P gerade die gesuchte Präzessionsfrequenz der
(b) Zeigen Sie, dass sowohl eO  O 3 in S präzediert,
3 in S als auch e Erdachse aufgrund der Drehmomente, die von Sonne und
und geben Sie jeweils die Präzessionsfrequenz an. Beachten Mond erzeugt werden. Bestimmen Sie den funktionalen
Sie dabei die Lösung der Euler-Winkel in (4.145). Ausdruck für !P . Ermitteln Sie die Beiträge von Sonne und
(c) Begründen Sie anhand der Struktur der Matrix R, dass beide Mond einzeln. Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse qualitativ mit
Frequenzen nicht identisch sind. Wie groß ist ihr Verhältnis? den Gezeitenkräften in Abschn. 3.6.
Wie lautet die Bedingung, dass beide Frequenzen identisch (d) Welcher numerische Wert von !P D j!P j ergibt sich da-
sind? durch?
158 4 Starre Körper

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben


Teil I

4.1 Für die Lösung benutzen wir (4.82), was die Gültigkeit eine Kugelschale mit Radius R konzentriert ist, lautet das
nicht einschränkt. Integral in Kugelkoordinaten
Z Z2
(a) Wir berechnen  
Z 33 D  d# d' 1  cos2 # R4 sin #: (4.177)
 
11 D dV .x/ x21 C x22 C x23  x21 0 0

Z Wie bereits im Text gesehen ist das Integral für die #-Inte-
 
D dV .x/ x22 C x23 ; gration
Z (4.172)
  Z
22 D dV .x/ x21 C x23 ;  
d# 1  cos2 # sin #
Z
  0
33 D dV .x/ x21 C x22 : (4.178)
ZC1
  4
D d cos # 1  cos2 # D :
Offensichtlich müssen die Trägheitsmomente positiv sein, 3
da alle x2i und .x/ stets positiv sind. 1

(b) Mit dem Teilergebnis aus der ersten Aufgabe findet man Die '-Integration liefert einen Faktor 2 . Somit lautet das
Z Ergebnis
  8 2
11 C 22 D dV .x/ x21 C x22 C 2x23  33 : (4.173) 33 D R4 D MR2 : (4.179)
3 3
Dieses Ergebnis ist ohne Einschränkung auf die anderen Im letzten Schritt wurde ausgenutzt, dass die Gesamtmasse
Trägheitsmomente übertragbar. M auf einer Kugelschale mit Oberfläche 4 R2 verteilt ist:
M D 4 R2 : (4.180)
4.2 Wir betrachten eine symmetrische Matrix A und zwei ihrer
Die Trägheitsmomente einer Kugelschale sind also um einen
Eigenwerte (1 6D 2 ) und dazugehörigen Eigenvektoren (v 1 ,
Faktor 5=3 größer als die einer Vollkugel mit gleichen M
v 2 ). Es gilt
und R. Der Grund ist, dass bei der Kugelschale die Massen-
Av 1 D 1 v 1 ;
(4.174) elemente im Mittel weiter vom Mittelpunkt entfernt sind.
Av 2 D 2 v 2 : (b) Für einen Zylinder bieten sich Zylinderkoordinaten an. Legt
Wir multiplizieren nun die erste Gleichung mit v 2 und die man den Ursprung in den Schwerpunkt und die z- bzw. x3 -
zweite mit v 1 und berechnen die Differenz der resultierenden Achse entlang der Zylinderachse, verschwinden alle Devia-
Gleichungen. Dabei nutzen wir aus, dass die Matrix symme- tionsmomente. Dies liegt daran, dass diese Koordinatenwahl
trisch ist, d. h. bereits den Hauptachsen angepasst ist. Wir verzichten daher
auf eine Berechnung der Deviationsmomente; der interes-
.Av 1 /  v 2 D A˛ˇ v1;ˇ v2;˛ D Aˇ˛ v2;˛ v1;ˇ D .Av 2 /  v 1 : sierte Leser kann dies aber gerne überprüfen. Aufgrund der
(4.175) Symmetrie sind zwei Trägheitsmomente identisch, 11 D
Es folgt 22 . Das dritte, 33 , wird sich im Allgemeinen davon unter-
scheiden. Wir beginnen mit der Berechnung von 11 :
0 D 1 v 1  v 2  2 v 2  v 1 D .1  2 /v 1  v 2 : (4.176) ZR Z2 ZH=2
 
11 D  d% d' dz % %2 sin2 ' C z2 : (4.181)
Da die Eigenwerte nicht entartet sind, müssen die Eigenvekto-
ren orthogonal sein. 0 0 H=2

4.3 Hier wurde die Jacobi-Determinante der Zylinder-Koordi-


naten verwendet (det.J/ D %). Wir führen zunächst die %-
(a) Wie bei einer Kugel sind auch bei einer Kugelschale die De- Integration durch:
viationsmomente allesamt null. Aufgrund der Symmetrie ist
es außerdem nur notwendig, eines der Trägheitsmomente zu Z2 ZH=2  
1 4 2 1 2 2
bestimmen; die beiden restlichen sind identisch. Wir berech- 11 D  d' dz R sin ' C z R : (4.182)
4 2
nen erneut die Komponente 33 . Da die gesamte Masse auf 0 H=2
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 159

Die z-Integration liefert (d) Um den Trägheitstensor eines Kreiskegels zu berechnen,


muss man zunächst ein wenig nachdenken. Offenbar haben
Z2  

Teil I
wir kein Koordinatensystem kennengelernt, das der Kegel-
1 4 1 2 3
11 D  d' R H sin ' C R H :
2
(4.183) form direkt angepasst ist. Allerdings kann man mit relativ
4 24 wenig Aufwand und Zylinderkoordinaten das Problem lö-
0
sen. Hierzu legt man den Ursprung zunächst in die Spitze des
Eine Stammfunktion von sin2 ' ist .'  sin ' cos '/=2. Der Kegels und denkt ihn sich sozusagen auf den Kopf gestellt.
zweite Term darin trägt nicht zum Integral bei, da er sowohl Dann ist die Höhe eine Funktion des Radius bzw. umgekehrt.
für ' D 0 als auch für ' D 2 verschwindet. Daher ist In diesem Fall parametrisieren wir den Radius als
  R
11 D  R4 H C R2 H 3 R.z/ D z: (4.190)
H
4 12 
(4.184)
1 2 1 2
DM R C H ; Man sieht daran sofort, dass am Boden des Zylinders (z D
4 12 H) der Radius % D R erreicht wird. Ansonsten ist die Be-
rechnung ähnlich wie beim Zylinder, allerdings sind die
wobei M D R2 H für die Zylindermasse eingesetzt wur-
Grenzen der z-Integration andere:
de. Für das dritte Trägheitsmoment gilt
ZH ZR.z/ Z2
ZR Z2 ZH=2  
11 D  dz d% d' % %2 sin2 ' C z2 : (4.191)
33 D  d% d' dz %3
(4.185) 0 0 0
0 0 H=2
1 Wir führen wie gewohnt die %- und '-Integrationen durch:
D R4 H D MR2 :
2 2
ZH  
Offensichtlich ist ein Zylinder ein Kugelkreisel (11 D
11 D  dz R4 .z/ C z2 R2 .z/ : (4.192)
33 ), wenn H 2 D 3R2 erfüllt ist. 4
(c) Die Berechnung für einen Hohlzylinder erfordert erneut eine 0

Oberflächenmassendichte. Für das erste Trägheitsmoment


gilt Nun setzen wir die Parametrisierung für R.z/ ein und finden
zunächst
Z2 ZH=2
  ZH  
11 D  d' dz R R2 sin2 ' C z2 : (4.186) R4 4 R2 4
11 D  dz z C z : (4.193)
0 H=2 4 H4 H2
0

Die z-Integration führt auf Das Endergebnis lautet


Z2    
1 3 11 D  R4 H C R2 H 3 : (4.194)
11 D  d' R R H sin ' C H ;
2 2
(4.187) 20 5
12
0
Mit der Gesamtmasse M D R2 H=3 folgt schließlich
die '-Integration auf
 
  3 1 2
  1 2 1 11 D M R C H2 : (4.195)
11 D R R2 H C H3 D M R C H2 : 5 4
6 2 12
(4.188) Analog ist

Die Gesamtmasse ist hierbei M D 2 RH. Das dritte Träg- ZH ZR.z/ Z2 ZH


heitsmoment ist 33 D  dz d% d' %3 D  dz R4 .z/: (4.196)
2
Z2 ZH=2 0 0 0 0

33 D  d' dz R D 2 R H D MR :
3 3 2
(4.189) Dies führt auf
0 H=2
ZH
R4 4 3
Ein Hohlzylinder mit H 2 D 6R2 ist demnach ein Kugelkrei- 33 D  dz z D R4 H D MR2 : (4.197)
2 H4 10 10
sel. 0
160 4 Starre Körper

Man beachte, dass der Trägheitstensor bezüglich der Spit- (d) Unter Vernachlässigung von Reibungskräften entspricht die
ze und nicht des Schwerpunktes berechnet wurde. Mit dem Abnahme der potenziellen Energie beim Herabrollen gerade
Teil I

Steiner’schen Satz lässt sich der Trägheitstensor bezüglich der Zunahme der kinetischen Energie. Der Potenzialnull-
des Schwerpunktes angeben. Da der Schwerpunkt genau punkt kann beliebig verschoben werden, sodass wir
wie die Spitze ebenfalls auf der x3 -Achse liegt, ändert sich
das Trägheitsmoment 33 dabei nicht. Der Schwerpunkt ei- 3
0DED MV 2 C Mgh (4.205)
nes Kegels liegt von der Spitze (z D 0) aus gesehen bei 4
z D 3H=4. Daher muss 11 um den Term 9MH 2 =16 ver- für die Energie E schreiben können, wobei h < 0 die Höhe
kleinert werden. Dies führt auf des Schwerpunktes bezüglich der Anfangslage ist. Aufgrund
  der Geometrie ist die zurückgelegte Strecke entlang der Ebe-
3 1
11 D M R2 C H 2 : (4.198) ne
20 4 h
sD : (4.206)
sin ˛
Für H D 2R ist ein Kreiskegel ein Kugelkreisel.
Dabei gilt außerdem

4.4 v D sP < 0 (4.207)

und somit
(a) Der Zylinderschwerpunkt legt in einem infinitesimalen Zeit- 3 2
intervall die Strecke ds D V dt zurück. Dies muss gleichzei- sP C gs sin ˛ D 0: (4.208)
4
tig der abgerollten Bogenlänge entsprechen. In der gleichen
Einmaliges Ableiten nach der Zeit ergibt
Zeit muss er sich um einen Winkel d' D ! dt drehen. Win-
kel und Bogenlänge sind über ds D R d' verknüpft. Daher 3
folgt sPsR D gPs sin ˛ (4.209)
2
V D R!: (4.199)
und schließlich
(b) Die kinetische Energie der Translation ist
2
sR D  sin ˛g < 0: (4.210)
1 3
TS D MV 2 : (4.200)
2 Die Beschleunigung ist dem Betrage nach aus zwei Gründen
geringer als die beim freien Fall: Zum einen wirkt auf-
Für die Rotation gilt grund der schiefen Ebene nur ein Teil der Gewichtskraft
entlang der Ebene. Andererseits beansprucht die Drehbe-
1 wegung einen Teil der kinetischen Energie, welcher der
TR D ! 2 ; (4.201)
2 Schwerpunktsbewegung fehlt.
wobei  das Trägheitsmoment bezüglich des Schwerpunk-
tes für eine Drehung um die Symmetrieachse ist. Aus der 4.5
vorherigen Aufgabe bzw. aus der Literatur wissen wir, dass
(a) Zunächst berechnen wir das Trägheitsmoment bezüglich der
1 Drehachse eO 2 . Offensichtlich ist
 D MR2 (4.202)
2 Oe2 D eO >
2 e
O2: (4.211)
ist. Insgesamt gilt also Der Steiner’sche Satz erlaubt die Berechnung des Trägheits-
moments bezüglich des Fixpunktes,
1 1 3
TD MV 2 C MR2 ! 2 D MV 2 : (4.203)
2 4 4 F D Oe2 C MR2 ; (4.212)

Der Zylinder hat daher eine um den Faktor 3=2 höhere ki- wobei R D jXj ist. Das Trägheitsmoment F ist in S kon-
netische Energie als eine Punktmasse M mit der gleichen stant, da R2 konstant ist.
Geschwindigkeit V. (b) Das wirkende Drehmoment ist
(c) Die auf den Zylinder wirkende Kraft lässt sich in zwei An-
teile zerlegen. Eine Komponente wirkt senkrecht auf die M D R  FG D MgR  eO 3 D MgR sin ˛ eO 2 : (4.213)
schiefe Ebene und trägt nicht zur Beschleunigung bei. Die
andere wirkt parallel zur schiefen Ebene. Dies führt auf eine Die relevante Komponente der Drehmomentgleichung lautet
Kraft dann
d
F D Mg sin ˛: (4.204)  MgR sin ˛ D .F !2 / : (4.214)
dt
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 161

Wir nutzen aus, dass F konstant ist, und identifizieren !P 2 D (c) Offensichtlich unterscheiden sich die beiden Oszillationsfre-
˛.
R Damit folgt schließlich quenzen P und 'P dem Betrag nach. Dies liegt daran, dass die

Teil I
Matrix R nicht symmetrisch ist. Im einen Fall wird die drit-
 MgR sin ˛ D F ˛:
R (4.215) te Zeile, im anderen die dritte Spalte für die Transformation
(c) Für kleine Winkel ˛ ist verwendet. Das Verhältnis der beiden Frequenzen lautet

sin ˛ ˛ (4.216) P   3
D cos #: (4.224)
eine gute Näherung. Damit erhält man die Bewegungsglei- 'P 3
chung eines harmonischen Oszillators,
Je nach der Art des Kreisels (oblat,  < 3 , oder prolat,
˛R D 2 ˛ (4.217)  > 3 ) und der Neigung # der Figurenachse zur Drehim-
mit pulsachse kann der Quotient beliebige positive oder negative
MgR Werte annehmen. Beide Frequenzen sind dem Betrag nach
2 D : (4.218) identisch, wenn
F
3
Die Lösung ist cos # D (4.225)
  3
˛.t/ D ˛O sin .t C 0/ : (4.219)
gilt.
Die Integrationskonstanten (maximale Auslenkung ˛O und (d) Die Frequenz 0 lässt sich in der Form
Phasenwinkel 0 ) sind aus den Anfangsbedingungen zu be-
stimmen. L
(d)  (und damit auch die Schwingungsdauer) würde unver- 0 D 3
(4.226)
ändert bleiben, da das Trägheitsmoment proportional zur  cos #
Gesamtmasse ist, F / M.
schreiben. Der Drehimpuls ist entlang eO 3 ausgerichtet, L D
L eO 3 . Der Grenzfall cos # ! 0 entspricht # ! 90ı . Ande-
4.6 rerseits folgt aus (4.221), dass die Projektion von L auf die
(a) Wir beginnen mit (4.12), was auf unser Problem angewandt Figurenachse eO 3 ebenfalls cos # ist:

eO 
i e
O 3 D ri3 und eO 
3 e
Oj D r3j L O
3 DLe3 D L cos #
(4.220) (4.227)
ergibt. Dies bedeutet, dass die Entwicklungskoeffizienten
von eO 3 in der Basis von S gerade durch die drei Matrixele- Somit ist
L
mente ri3 gegeben sind. Daher kann man die Entwicklung 0 D (4.228)

eO 3 D sin # sin eO 
1 C sin # cos eO 
2 C cos # eO 
3 (4.221)
völlig unabhängig vom Winkel # zwischen Figurenachse
direkt aus der Matrix R ablesen. Analog findet man und Drehimpuls.
eO 
3 D sin ' sin # e
O 1  cos ' sin # eO 2 C cos # eO 3 : (4.222) (e) Die Winkelgeschwindigkeit erfüllt

Diese Gleichungen sind für Kreisel aller Art gültig, da bisher w D 'P eO 3 C #P eO K C P eO 
3: (4.229)
keinerlei Annahmen gemacht wurden.
(b) Für den kräftefreien symmetrischen Kreisel ist insbesondere
Um ihre Komponenten in S zu berechnen, muss sie auf die
# eine Konstante. Dies bedeutet, dass die Zeitabhängigkeit
Vektoren eO i projiziert werden. Der erste Term in (4.229) ist
von eO 3 in S und von eO 
3 in S nur in bzw. ' enthalten ist.
trivial. Der letzte wurde bereits in (4.222) bestimmt. Die
Hier wissen wir, dass P und 'P Konstanten sind. Wir hatten Knotenlinie lässt sich direkt aus Abb. 4.3 zu
im Text
3 !3
P D  D   3 !3 ; 'P D 0 D (4.223)
eO K D cos ' eO 1 C sin ' eO 2 (4.230)
  cos #
gefunden. Anhand von (4.221) und (4.222) sieht man somit, ablesen. Nach einer kurzen Sortierung folgt das Endergebnis
dass die Projektionen von eO  3 auf e O 3 und von eO 3 auf eO 
3 kon- 0 1 0 1 0 1 0 1
stant sind. Doch eO  3 führt in der O
e 1 e2 -Ebene eine Oszillation
-O !1 0 cos ' sin ' sin #
mit Frequenz 'P D 0 aus, denn es gilt ' D 0 tC'0 . Gleich- @!2 A D 'P @0A C #P @ sin ' A C P @ cos ' sin # A :
zeitig oszilliert eO 3 in der eO  e
1 -O 2 -Ebene mit Frequenz
P D , !3 1 0 cos #
da überdies D t C 0 erfüllt ist. Es ist dabei allerdings (4.231)
zu beachten, dass beide Oszillationen gegenläufig sind, da in
(4.222) ein Minuszeichen auftritt.
162 4 Starre Körper

4.7 ausgenutzt, wobei ! die Winkelgeschwindigkeit der Erdro-


tation ist.
Teil I

(a) Die Änderung des Drehimpulses aufgrund des Drehmo- (d) Mit den bekannten bzw. in der Literatur zu findenden Werten
ments von Sonne oder Mond lautet
 1
dL D ;
D M Sonne C M Mond : (4.232)  300
dt cos #0 D 0;917;
Multipliziert man diese Gleichung mit L, so erhalten wir G D 6;67  1011 m3 kg1 s2 ;
MSonne D 1;99  1030 kg;
1 d.L  L/ (4.238)
D L.M Sonne C M Mond /  eO 
3 D 0; (4.233) MMond D 7;35  1022 kg;
2 dt
dSonne D 1;50  1011 m;
denn das Kreuzprodukt im Drehmoment steht senkrecht auf
eO 
3 . Es kann sich also nur die Richtung von L ändern.
dMond D 3;84  108 m;
(b) Multiplikation von (4.232) mit eO 3 ergibt 2
!D
86400 s
d.L  eO 3 /
D .MSonne C M Mond /  eO 3 D 0: (4.234)
dt berechnet man, dass die durch Sonne und Mond verursach-
ten Präzessionsfrequenzen
Der Richtungsvektor eO 3 lässt sich in die Zeitableitung zie-
hen, da er konstant ist (das ungestrichene System ist in guter !P;Sonne D 2;48  1012 s1 ;
Näherung ein Inertialsystem). Das Skalarprodukt mit den (4.239)
Drehmomenten verschwindet, da diese senkrecht auf eO 3 ste- !P;Mond D 5;46  1012 s1
hen. Somit muss L3 D L  eO 3 konstant sein.
(c) Ausgehend von (4.232) findet man zunächst mithilfe von sind. Der Beitrag des Mondes zur Präzession ist etwa dop-
(4.169): pelt so groß wie derjenige der Sonne.
Dies ist übrigens qualitativ dasselbe Ergebnis, das wir be-
d.LOe X 3GMi reits bei der Abschätzung der Gezeitenkräfte in Abschn. 3.6
3/
D 3
cos #0 .Oe3  eO 
3 /; (4.235) gefunden haben. Der Grund ist, dass sowohl die Gezeiten-
dt i
2d i kräfte als auch die Drehmomente auf die Erde proportional
zu Mi =di3 sind und .MMond =dMond
3
/=.MSonne=dSonne
3
/ 2;2
wobei über die Beiträge von Sonne und Mond summiert gilt.
wird. Es ist nun leicht, die Präzessionsfrequenz durch einen Insgesamt ergibt sich
Vergleich aufzuschreiben:
!P D 7;94  1012 s1 (4.240)
1 X 3GMi
!P D  cos #0 Oe3
L i 2di3 und damit eine Präzessionsperiode
X 3GMi (4.236)

D cos #0 eO 3 : 2
2d 3 ! TP D D 25:100 Jahre: (4.241)
i i !P
Im letzten Schritt wurde Dieses Ergebnis liegt sehr nahe an dem durch astronomische
Beobachtungen ermittelten Wert von 25:800 Jahren.
L D ! (4.237)
Antworten zu den Selbstfragen 163

Antworten zu den Selbstfragen

Teil I
Antwort 30 3 bleibt unverändert, und 1 und 2 (mit 1 D
2 ) sind im Schwerpunktsystem jeweils um mR2 kleiner.

Antwort 33 Die Euler-Gleichungen sind drei Differenzialglei-


chungen zweiter Ordnung. Die drei Erhaltungssätze im obigen
Beispiel führen jedoch auf drei Differenzialgleichungen erster
Ordnung. Diese sind mathematisch wesentlich leichter zu be-
handeln.
164 4 Starre Körper

Literatur
Teil I

Arens, T., Hettlich, F., Karpfinger, C., Kockelkorn, U., Lich- Weiterführende Literatur
tenegger, K., Stachel H.: Mathematik. 2. Aufl., Spektrum
Akademischer Verlag, Heidelberg (2012)
Goldstein, H.: Klassische Mechanik. Akademische Verlagsge-
sellschaft, Wiesbaden (1981)
Lagrange-Formalismus und
5

Teil I
Variationsrechnung
Was sind Zwangskräfte?

Wie löst man die


Bewegungsgleichungen
unter
Zwangsbedingungen?

Welche Bedeutung haben


generalisierte Koordinaten?

Was sind die Vorteile des


Lagrange-Formalismus?

Was sind
Variationsprinzipien, und
welche Bedeutung haben
sie für die Mechanik?

Welcher Zusammenhang
besteht zwischen
Symmetrien und
Erhaltungsgrößen?

5.1 Systeme mit Zwangsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166


5.2 Lagrange-Gleichungen erster Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
5.3 Lagrange-Gleichungen zweiter Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
5.4 Beispiele zur Anwendung des Lagrange-Formalismus . . . . . . . . . . 181
5.5 Variationsrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
5.6 Symmetrien und Erhaltungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
Antworten zu den Selbstfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 165
166 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

In alltäglichen Situationen sind die Newton’schen Bewegungsglei- Kugel auf Tisch


chungen in ihrer bisherigen Form praktisch unbrauchbar, denn
Teil I

sogenannte Zwangsbedingungen (z. B. Bewegung auf einer schie-


Eine unter dem Einfluss der Schwerkraft (FG D mgOe3 ),
fen Ebene) führen auf zunächst unbekannte Zwangskräfte, die
aber auf einem waagerechten Tisch rollende Kugel ist
nicht ohne Weiteres in den Bewegungsgleichungen berücksichtigt
ein Beispiel für ein System mit einer Zwangsbedingung
werden können. In diesem Kapitel werden Methoden entwickelt,
(x3 D const). Die Zwangskraft wirkt in diesem Fall der
diese Zwangsbedingungen mathematisch zu behandeln. Dies führt
Gravitationskraft entgegen,
zunächst auf Erweiterungen der Newton’schen Gleichungen. Im
Anschluss wird mit den Lagrange-Gleichungen eine koordinaten-
Z D FG ; (5.1)
unabhängige Formulierung der Bewegungsgleichungen hergeleitet.
Sie sind von entscheidender Wichtigkeit für die gesamte theoreti-
sodass die Gesamtkraft auf die Kugel F D FG C Z D 0
sche Physik und bilden die Grundlage für die modernen Feldtheorien
ist. Anderenfalls würde die Kugel nach unten beschleu-
wie Elektrodynamik oder Quantenfeldtheorie.
nigt werden, was aufgrund der Tischplatte aber nicht
Weiterhin werden Variationsprinzipien besprochen, mit denen eine möglich ist. Die Zwangskraft wird in diesem Fall vom
äußerst kompakte und elegante Formulierung vieler physikalischer Tisch auf die Kugel ausgeübt, die Gravitationskraft hin-
Gesetze erreicht werden kann. Symmetrien und Erhaltungssätze gegen von der Erde auf die Kugel. J
spielen eine zentrale Rolle in der Physik. Ihre systematische Unter-
suchung bildet den Abschluss dieses Kapitels.
Uns sind bereits äußere Zwangsbedingungen begegnet, z. B.
Das vorliegende Kapitel ist wohl das wichtigste im Mechanik-Teil. in der Form einer schiefen Ebene, auf der ein Zylinder rollt
Es ist auch das anspruchsvollste und erfordert vom Leser eine kon- (Aufgabe 4.4), oder eine festgelegte Drehachse, welche die Be-
zentrierte Mitarbeit und viel Übung. wegung eines Pendels einschränkt. Es wurde außerdem bereits
erwähnt, dass Zwangsbedingungen die Anzahl der Freiheitsgra-
de eines Systems reduzieren. Beispielsweise besitzt ein starrer
Körper, wenn er keinen äußeren Zwängen unterliegt, sechs
5.1 Systeme mit Freiheitsgrade (drei für die Schwerpunktsbewegung, drei für
die Rotation). Ein physikalisches Pendel (Aufgabe 4.5) besitzt
Zwangsbedingungen allerdings nur einen Freiheitsgrad, nämlich den Auslenkungs-
winkel. Weitere Beispiele für Zwangsbedingungen sind zwei
durch eine Stange verbundene Punktmassen (Abschn. 4.2) oder
Die Newton’schen Bewegungsgleichungen lassen sich auf freie eine an einem Faden herumgeschleuderte Punktmasse.
Punktmassen oder Punktmassen unter dem Einfluss bekann-
ter Kräfte anwenden. Häufig unterliegen mechanische Systeme Ohne Zwangsbedingungen hat ein System mit N Punktmas-
aber sogenannten Zwangsbedingungen, die nicht direkt in Form sen F D 3N Freiheitsgrade: Jede der N Punktmassen wird
von äußeren Kräften formuliert werden können. Beispiele hier- durch einen dreidimensionalen kartesischen Koordinatenvektor
für sind die Bewegung einer Kugel auf einer schiefen Ebene xi dargestellt. Mathematisch werden Freiheitsgrade durch unab-
oder ein Pendel, das sich nur innerhalb einer Koordinaten- hängige Parameter beschrieben, die zur vollständigen Charakte-
ebene bewegen kann. Dieser Abschnitt liefert eine Einführung risierung der Lage des Systems notwendig sind. Zwangsbedin-
in die Formulierung von Zwangsbedingungen. Anhand eines gungen führen Abhängigkeiten dieser Parameter ein, sodass die
Beispiels (sphärisches Pendel) wird vorgeführt, wie sich die Be- Anzahl der unabhängigen Parameter abnimmt. So ist die For-
wegungsgleichungen in Anwesenheit von Zwangsbedingungen derung, dass zwei Punktmassen einen konstanten Abstand l12
prinzipiell aufstellen und lösen lassen. haben, eine Zwangsbedingung jx1  x2 j D l12 D const, und es
bleiben nur fünf von sechs Freiheitsgraden übrig.
Doch wie lassen sich Zwangsbedingungen nun mathematisch
formulieren?
Zwangsbedingungen
Holonome Zwangsbedingungen
In Kap. 4 wurden starre Körper diskutiert, deren innere Mas- In vielen Fällen lassen sich Zwangsbedingungen in der
senelemente durch innere Zwangsbedingungen (oder auch Ne- Form
benbedingungen) paarweise konstante Abstände besitzen. Die fa .t; x1 ; : : : ; xN / D 0 .1  a  r/ (5.2)
mathematische Form dieser Zwangsbedingungen wurde bisher
allerdings nicht näher spezifiziert. Dies soll im Folgenden nach- schreiben, wobei r die Anzahl der Zwangsbedingungen
geholt werden. Zwangsbedingungen treten in der Bewegungs- ist. Man nennt Zwangsbedingungen der Form (5.2) holo-
gleichung in der Form von zunächst unbekannten Zwangskräf- nom.
ten Z auf, welche die Bewegung einschränken.
5.1 Systeme mit Zwangsbedingungen 167

Wir verlangen, dass die holonomen Zwangsbedingungen min- Beispielsweise wird die Bewegung einer Punktmasse im Inne-
destens zweimal differenzierbare Funktionen der N Koordi- ren einer Hohlkugel durch die nichtholonome Zwangsbedin-

Teil I
natenvektoren xi sind. Die Anzahl der Freiheitsgrade bei r gung
Zwangsbedingungen ist x2  R2  0 (5.7)
beschrieben. Im Folgenden werden überwiegend holonome
F D 3N  r: (5.3) Zwangsbedingungen diskutiert.
Achtung Durch die Zwangsbedingungen sind nicht nur die
Frage 1 Koordinaten eingeschränkt. Auch die Anfangsbedingungen, die
Zeigen Sie, dass die zuvor erwähnte Zwangsbedingung eines zur Lösung mechanischer Probleme nötig sind, müssen mit den
festen Abstands zweier Punktmassen als Zwangsbedingungen vereinbar sein. Dies wird in Kürze an ei-
nem Beispiel verdeutlicht. J
f D .x1  x2 /2  l212 D 0 (5.4)

notiert werden kann. Diese Funktion ist problemlos differen- Verallgemeinerte Koordinaten
zierbar.
Im weiteren Verlauf dieses Kapitels soll überwiegend auf die
Vektorschreibweise xi verzichtet werden. Anstatt über N Vekto-
Bewegung auf Ebene und Kugel ren xi zu sprechen, schreiben wir vorzugsweise xi (1  i  3N).
Dies ändert nichts am physikalischen Inhalt, reduziert aber die
Ist die Bewegung einer Punktmasse auf eine Ebene mit Anzahl der Indizes, die verwendet werden müssen.
Normalenvektor nO eingeschränkt, so lautet die Zwangs-
bedingung Die 3N Koordinaten xi eines Systems von Punktmassen spannen
f D x  nO D 0: (5.5) einen 3N-dimensionalen Parameterraum auf. Zwangsbedingun-
gen verhindern, dass alle Punkte dieses Raumes erreicht werden
Hier wurde angenommen, dass der Koordinatenursprung können. Der Konfigurationsraum ist jener Teil des 3N-dimen-
in der Ebene liegt. Kann sich eine Punktmasse nur auf der sionalen Raumes, der von den Koordinaten der N Punktmassen
Oberfläche einer Kugel mit Radius R bewegen, kann die erreicht werden kann. Man spricht hier von einer .3N  r/-
Zwangsbedingung als dimensionalen Untermannigfaltigkeit (Forster 2012), die durch
die r Zwangsbedingungen definiert wird.
f D x2  R2 D 0 (5.6) Mannigfaltigkeiten werden im „Mathematischen Hintergrund“
5.1 erläutert. Das komplette Verständnis des Konzepts ist an
formuliert werden, wenn der Ursprung im Kugelmittel- dieser Stelle nicht erforderlich, wird aber in vielen anderen Be-
punkt liegt. J reichen der Physik (insbesondere bei der Behandlung von Lie-
Gruppen im „Mathematischen Hintergrund“ 27.1 und in der all-
gemeinen Relativitätstheorie) benötigt.
Frage 2
Machen Sie sich klar, dass keine Freiheitsgrade mehr übrig blei- Kugelschale und Torus
ben, wenn r D 3N ist. In diesem Fall ist das System vollständig
durch die Zwangsbedingungen bestimmt, und es findet keine Der Konfigurationsraum einer einzelnen freien Punkt-
Dynamik mehr statt. masse ist der dreidimensionale reelle Raum R3 . Durch
die Zwangsbedingung x2  R2 D 0 wird eine Kugelscha-
le als zweidimensionale Untermannigfaltigkeit definiert.
Ein weiteres Beispiel ist eine Torusoberfläche im dreidi-
Nichtholonome, rheonome und skleronome Zwangsbe-
mensionalen Raum wie in Abb. 5.2 gezeigt.
dingungen
Man kann die Torusoberfläche durch die holonome Be-
Alle Zwangsbedingungen, die sich nicht in der Form (5.2)
dingung
schreiben lassen, heißen nichtholonom. Dazu gehören
insbesondere (aber nicht ausschließlich) Zwangsbedin-  2  
gungen, die sich nur als Ungleichung formulieren lassen. f D R2  r2 C 2R2 x23  x21  x22
   2
 2r2 x21 C x22 C x23 C x21 C x22 C x23 (5.8)
Man unterscheidet außerdem zeitabhängige bzw. rheono-
me und zeitunabhängige bzw. skleronome Zwangsbedin- D0
gungen. Diese Begriffe stammen aus dem Griechischen
(rheos: fließend, skleros: starr). ausdrücken.
168 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

5.1 Mathematischer Hintergrund: Mannigfaltigkeiten


Teil I

Eine Verallgemeinerung euklidischer Räume

Mannigfaltigkeiten treten in der Physik meistens dann auf, U zu. Er wird als Karte bezeichnet und definiert ein lokales
wenn in irgendeiner Weise gekrümmte Flächen oder ge- Koordinatensystem auf der offenen Teilmenge D.
krümmte Räume betrachtet werden. Insbesondere in der all-
Eine Menge von Karten fhi g bildet einen Atlas der Man-
gemeinen Relativitätstheorie treten Mannigfaltigkeiten ganz
nigfaltigkeit, wenn die Definitionsbereiche Di der Karten
natürlich auf und sind dort auch unumgänglich. Lose gespro-
chen, handelt es sich bei einer n-dimensionalen Mannigfal- die Mannigfaltigkeit vollständig überdecken. Sei ein solcher
Atlas gegeben und seien ferner zwei teilweise überlappen-
tigkeit M um einen Raum, der nur lokal so aussieht wie ein
n-dimensionaler euklidischer Raum, global aber gekrümmt de Definitionsbereiche Di und Dj herausgegriffen, die von
sein kann. den Karten hi und hj auf offene Teilmengen Ui und Uj des
Rn abgebildet werden. Dann heißt die Abbildung hj ı h1 i
Um mit Mannigfaltigkeiten physikalisch umgehen zu kön- Kartenwechsel auf der Schnittmenge der Definitionsbereiche
nen, müssen sie genügend zusammenhängend und glatt sein. Di \ Dj . Er entspricht einem Wechsel des Koordinatensys-
Mathematisch präzisiert man diese Eigenschaften auf die fol- tems. Da es sich bei einem Kartenwechsel um eine Abbil-
gende Weise. dung aus dem Rn in den Rn handelt, ist aus der reellen
Analysis bekannt, was Differenzierbarkeit bedeutet. Wenn
Zunächst fordert man, dass die Mannigfaltigkeit ein topo-
alle Kartenwechsel eines Atlas differenzierbar sind, heißt
logischer Raum mit einer höchstens abzählbaren Basis sein
der Atlas selbst differenzierbar. Eine Mannigfaltigkeit heißt
soll. Das bedeutet, dass eine Mannigfaltigkeit M mit einem
differenzierbar, wenn sie mit einem differenzierbaren Atlas
System aus höchstens abzählbar vielen offenen Teilmengen
ausgestattet ist.
Ti  M ausgestattet ist, deren Durchschnitte und Vereini-
gungen selbst alle wieder offene Teilmengen von M sind. Das vielleicht nächstliegende Beispiel einer zweidimensio-
Entscheidend ist hier, dass die Teilmengen offen sind. Durch nalen Mannigfaltigkeit ist die Oberfläche einer Kugel, die
diese zunächst sehr abstrakt wirkende Forderung erreicht 2-Sphäre S2 . In einer hinreichend kleinen Umgebung jedes
man, dass Abbildungen von M in den Rn stetig sind. Punktes kann sie homöomorph in den R2 abgebildet werden,
wie jede Landkarte der Erdoberfläche belegt. Auf einer Halb-
Weiterhin verlangt man, dass sich zwei beliebige Punk-
kugel lässt sich beispielsweise eine Karte dadurch einfüh-
te in M mit offenen Teilmengen von M umgeben lassen,
ren, dass alle Punkte der Halbkugel längs ihrer Polachse auf
die nicht überlappen. Damit erfüllt ein solcher topologi-
die Tangentialebene an den Pol projiziert werden (Abb. 5.1).
scher Raum das Hausdorff’sche Trennungsaxiom und wird
Sechs solcher Karten, salopp gesprochen je eine für die obe-
auch topologischer Hausdorff-Raum genannt. Damit ist die
re, untere, vordere, hintere, rechte und linke Halbkugel, bilden
Mannigfaltigkeit für physikalische Anwendungen genügend
zusammen einen differenzierbaren Atlas der 2-Sphäre.
zusammenhängend.
Nun bleibt noch zu klären, was es bedeuten soll, dass eine
Mannigfaltigkeit lokal wie ein n-dimensionaler euklidischer
Raum „aussehen“ soll. Dazu wird festgelegt, dass es zu je-
dem Punkt der Mannigfaltigkeit eine offene Umgebung gibt,
die durch eine bijektive, stetige Abbildung mit ebenfalls ste-
tiger Umkehrabbildung in eine offene Teilmenge des Rn
abgebildet werden kann. Eine solche Abbildung heißt Ho-
möomorphismus.
Zusammenfassend definiert man eine n-dimensionale Man-
nigfaltigkeit also als einen topologischen Hausdorff-Raum
mit endlicher Basis der Topologie, der lokal homöomorph
zum Rn ist.
Sei nun D  M und h ein Homöomorphismus, der D in
U  Rn abbildet,

hWD!U; p 7! h.p/ D .x1 ; : : : ; xn / ;


Abb. 5.1 Ein Beispiel für eine Mannigfaltigkeit ist die Kugeloberfläche in
wobei D und U offen seien. Der Homöomorphismus h ordnet zwei Dimensionen. Hier ist eine Karte angedeutet, welche die obere Halbku-
demnach jedem Punkt p 2 D ein n-Tupel reeller Zahlen aus gel auf eine Tangentialebene an den Nordpol der Kugel projiziert
5.1 Systeme mit Zwangsbedingungen 169

e3
e3

Teil I
r

O R

e1 e2 F G = −mge3
R

Abb. 5.2 Eine Torusoberfläche ist ein Beispiel für eine zweidimen-
sionale Untermannigfaltigkeit im dreidimensionalen Raum. Die beiden Abb. 5.3 Das sphärische Pendel kann man sich als eine Punktmasse vorstellen,
Radien r und R definieren die Gestalt des Torus J die zu einem Aufhängepunkt (Ursprung O) den konstanten Abstand R besitzt.
Das Pendel kann unter dem Einfluss der Schwerkraft schwingen

Verallgemeinerte Koordinaten
Achtung In der Regel lassen sich die generalisierten Koor-
Anstelle der 3N abhängigen Parameter xi kann man F D dinaten nicht zu Vektoren wie xi zusammenfassen. Man behan-
3N  r unabhängige Parameter qj (1  j  F) definieren, delt dann die 3N  r generalisierten Koordinaten wie skalare
die nicht durch die Zwangsbedingungen eingeschränkt Größen. J
werden. Diese werden als neue, verallgemeinerte Koor-
dinaten verwendet. Man spricht auch von generalisierten Wir führen die symbolische Abkürzung x für die Menge aller
Koordinaten. Parameter xi sowie q für die Menge aller Parameter qj ein. Wir
schreiben daher in Kurzform x D x.q/. Die verallgemeinerten
Koordinaten werden noch eine wichtige Rolle spielen.
Sind die r Zwangsbedingungen holonom, lassen sich die Punkte
in Konfigurationen wie folgt

xi D xi .t; q1 ; : : : ; qF / .1  i  3N/ (5.9)


Das sphärische Pendel
darstellen, d. h., die 3N Parameter xi sind Funktionen der F
Parameter qj . Im Fall von zeitabhängigen Zwangsbedingungen
hängen die xi nicht nur implizit über die qj , sondern auch noch Anhand des sphärischen Pendels lässt sich die Problematik der
zusätzlich direkt von t ab, was durch das erste Argument ausge- Zwangsbedingungen und Zwangskräfte sowie eines Lösungs-
drückt wird. verfahrens anschaulich darstellen. Beim sphärischen Pendel
handelt es sich um eine Punktmasse m, die sich unter dem Ein-
Bewegung auf einer Kugeloberfläche fluss der Schwerkraft FG D mg D mgOe3 auf der Oberfläche
einer Kugel mit Radius R bewegt (Abb. 5.3). Man kann sich bei-
Für die Bewegung auf einer Kugeloberfläche mit Radius spielsweise vorstellen, dass die Punktmasse an einer masselosen
R lauten die drei kartesischen Koordinaten einer Punkt- Stange der Länge R befestigt ist oder sich in einer halbkugelför-
masse migen Schüssel befindet. Der Ursprung O liege im Mittelpunkt
x1 D R sin # cos '; der Kugel, daher lautet die holonome Zwangsbedingung
x2 D R sin # sin '; (5.10)
x3 D R cos #: f .x.t// D x2 .t/  R2 D 0: (5.11)

Da R konstant ist, gilt xi D xi .#; '/, und die beiden Hier wurde berücksichtigt, dass die Bahnkurve x.t/ eine Funk-
unabhängigen Parameter können als q1 D # 2 Œ0; / tion der Zeit ist. Da die Zeitabhängigkeit nur implizit über die
und q2 D ' 2 Œ0; 2 / repräsentiert werden. Offensicht- Bahnkurve x.t/ in (5.11) eingeht, handelt es sich um eine skle-
lich werden q1 und q2 nicht durch die Zwangsbedingung ronome Zwangsbedingung. Eine rheonome Zwangsbedingung
eingeschränkt. Sie eignen sich daher als generalisierte läge beispielsweise vor, wenn der Kugelradius bzw. die Stan-
Koordinaten für das Problem. J genlänge selbst eine Funktion der Zeit wäre, also R D R.t/.
Dies wird in Aufgabe 5.4 aufgegriffen.
170 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

Vertiefung: Nichtholonome Zwangsbedingungen


Teil I

Einige nichtholonome Zwangsbedingungen können in der den kann. Dies führt wieder auf die Form fa .t; x/ D 0 in
differenziellen Form (5.2). Ansonsten ist eine Integration erst nach Lösung des
Problems möglich, und es handelt sich um eine nichtinte-
X
3N
Aa;i dxi D Aa;0 dt .1  a  r/ grierbare Zwangsbedingung.
iD1
Ein Beispiel für eine nichtholonome Zwangsbedingung ist
angegeben werden. Dies schließt allerdings holonome die Bewegung eines Schlittschuhs auf einer ebenen Eis-
Zwangsbedingungen mit ein, indem man fläche. Der Schlittschuh kann sich nur in Kufenrichtung
@fa @fa bewegen, d. h. v  l D 0, wobei v die momentane Ge-
Aa;i D ; Aa;0 D schwindigkeit und l der Vektor entlang des Schlittschuhs ist.
@xi @t
Dies ist eine Zwangsbedingung an die Geschwindigkeit und
schreibt. Im Fall holonomer Zwangsbedingungen handelt es nicht die Position des Schlittschuhs. Man kann zeigen, dass
sich um ein totales Differenzial, das direkt aufintegriert wer- sie nichtintegrierbar und damit nichtholonom ist.

Im Folgenden schreiben wir die Zeitabhängigkeiten nicht mehr Stange wirken. Da wir allerdings noch nicht wissen, welchen
explizit an. Die ersten beiden Zeitableitungen der Zwangsbedin- Betrag die Zwangskraft hat, notieren wir
gung lauten
Z D 2x: (5.16)
fP .x/ D 2x  xP D 0; fR .x/ D 2Px2 C 2x  xR D 0: (5.12)
Man nennt den Proportionalitätsfaktor  einen Lagrange-Mul-
Da die Zwangsbedingungen zu allen Zeiten gelten, erfüllen die tiplikator. Der Grund für den zusätzlichen Faktor 2 wird später
Anfangsbedingungen erläutert. Wir werden nun sehen, dass  D .t; x; xP / eine unbe-
kannte Funktion ist, die so zu bestimmen ist, dass (5.15), also
x20  R2 D 0; x0  v 0 D 0; (5.13)
mRx D mg C 2x; (5.17)
wobei v D xP die Geschwindigkeit ist. Wir wissen, dass die
Bewegung einer freien Punktmasse durch drei Differenzialglei- mit den Zwangsbedingungen vereinbar ist.
chungen zweiter Ordnung beschrieben wird, deren vollständige
Integration sechs Parameter (z. B. in Form von Anfangsbedin- Frage 4
gungen) benötigt. Wegen (5.13) bleiben davon allerdings nur An dieser Stelle kann man sich bereits überlegen, dass  ne-
vier unabhängige übrig. gativ sein muss. Fragen Sie sich dazu, in welche Richtung die
Zwangskraft zeigen muss, um die Punktmasse auf der Kugel-
Frage 3 oberfläche zu halten.
Überlegen Sie sich anhand von (5.13), dass die Anfangsge-
schwindigkeit v 0 tangential zur Kugeloberfläche verläuft.
Um den Lagrange-Multiplikator zu finden, multiplizieren wir
die Bewegungsgleichung skalar mit x:
Offensichtlich steht die Zwangsbedingung (5.11) im Wider-
mx  xR D mx  g C 2x2 : (5.18)
spruch zur Lösung der Newton’schen Bewegungsgleichung ei-
ner Punktmasse im Schwerefeld:
Wegen (5.12) und x2 D R2 können wir
1 2
x.t/ D gt C v 0 t C x0 : (5.14)  mPx2 D mx  g C 2R2 (5.19)
2

Wir müssen daher eine Zwangskraft Z einführen, um die Be- schreiben. Schließlich erhält man
wegungsgleichung mit der Zwangsbedingung kompatibel zu m  2 
machen; wir schreiben 2 D  2
xP C x  g ; (5.20)
R
mRx D mg C Z: (5.15) weswegen die Zwangskraft

Diese Zwangskraft kann nur von der Stange bzw. von der Schüs- m  2 
ZD 2
xP C x  g x (5.21)
sel auf die Punktmasse ausgeübt werden und muss entlang der R
5.2 Lagrange-Gleichungen erster Art 171

lautet. Wie ist dies zu interpretieren? Die Zwangskraft kompen- Zwangskraft berechnen können. Wir wollen uns nun überle-
siert zum einen die Komponente m.g  eO r /Oer der Schwerkraft gen, wie dies bei allgemeinen Problemen bewerkstelligt werden

Teil I
in Stangenrichtung. Außerdem wirkt sie der Zentrifugalkraft kann.
mPx2 rO =R entgegen. Selbstverständlich ist genau dies notwendig,
um die Punktmasse auf der Kugeloberfläche zu halten. Eine Zwangsbedingung für eine Punktmasse in der Form
f .t; x/ D 0 lässt sich geometrisch interpretieren: Sie definiert
eine (zeitabhängige) Fläche im Raum, auf der sich die Punkt-
Zwangskräfte masse bewegen kann. Entlang dieser Fläche ist f identisch null
und somit konstant. Darum muss der Gradient r f .t; x/ senk-
Wir sehen, dass hier die Zwangskraft, wie auch in all- recht auf der Fläche stehen. Andererseits kann die Zwangskraft
gemeineren Fällen, vom momentanen Bewegungszustand Z nur senkrecht zu f .t; x/ D 0 sein, da sie die Tangentialbewe-
(z. B. der Geschwindigkeit) abhängt. Da dieser bei der gung nicht beeinflussen darf. Allgemein können wir also
Formulierung des Problems in der Regel unbekannt ist,
lassen sich die Newton’schen Bewegungsgleichungen in
Z D r f (5.24)
Anwesenheit von Zwangsbedingungen nicht direkt in her-
kömmlicher Weise lösen.
schreiben. Dies ist der zentrale Punkt, der die Berücksichti-
gung von Zwangsbedingungen in den Bewegungsgleichungen
Wir wollen noch untersuchen, ob die Zwangskraft Arbeit am ermöglicht. Im Falle des sphärischen Pendels erhalten wir we-
System verrichtet. Offenbar zeigt die Zwangskraft immer in gen (5.11)
radialer Richtung, während eine Bewegung, dx D v dt, nur tan- Z D r f D 2x; (5.25)
gential zur Kugeloberfläche möglich ist, d. h.
was identisch mit (5.16) ist. Dies erklärt auch, warum zuvor
noch ein Faktor 2 eingeführt wurde.
AZ D Z  dx D 0: (5.22)

Tatsächlich ist es eine Eigenschaft der skleronomen Zwangs- Lagrange-Gleichungen erster Art für eine Punktmasse
kräfte, dass sie keine Arbeit am System verrichten. Wir werden unter dem Einfluss einer Zwangsbedingung
in Kürze wieder darauf zurückkommen.
Gibt es eine holonome Zwangsbedingung
Abschließend können wir noch die resultierende Bewegungs-
gleichung ohne Lagrange-Multiplikator angeben: f .t; x/ D 0; (5.26)

1  2  so führt dies auf eine Zwangskraft


xR D g  xP C x  g x: (5.23)
R2
Z D r f (5.27)
Diese Gleichung kann noch vereinfacht werden, indem die
Energieerhaltung berücksichtigt wird. Dies wird dem interes- mit einem Lagrange-Multiplikator . Die Lagrange-Glei-
sierten Leser überlassen. chungen erster Art lauten dann

mRx D F C r f (5.28)
5.2 Lagrange-Gleichungen erster Art mit der angewandten Kraft F aus den Newton’schen Be-
wegungsgleichungen.
Es wird im Folgenden ein allgemeiner Formalismus hergeleitet,
mit dem sich mechanische Systeme in Anwesenheit von holono-
men Zwangskräften beschreiben lassen. Das Ergebnis sind die Die Lagrange-Gleichungen erster Ordnung sind eine Erweite-
Lagrange-Gleichungen erster Art. Diese Formulierung erlaubt rung der Newton’schen Bewegungsgleichungen. Sie ermögli-
eine Berechnung der Zwangskräfte, die dann physikalisch inter- chen die Berücksichtigung von a priori unbekannten Zwangs-
pretiert werden können. Es wird weiterhin die Energieerhaltung kräften, die aus geometrischen Zwangsbedingungen hervor-
in Anwesenheit von Zwangskräften untersucht. gehen. Gibt es N Punktmassen und r < 3N unabhängige
Zwangsbedingungen fa .t; x/, wird jede einzelne durch einen ei-
genen Lagrange-Multiplikator a beschrieben. Die einzelnen
Zwangskräfte können superponiert werden, sodass die Menge
Zwangskräfte und Lagrange-Multiplikatoren aller Zwangskräfte

X
r
Im vorherigen Abschnitt haben wir anhand eines Spezialfalls Zi D a r i fa .1  i  N/ (5.29)
gesehen, wie wir mithilfe eines Lagrange-Multiplikators die aD1
172 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

lauten. Hier ist r i der Gradient bezüglich der Koordinaten der Fi aus einem Potenzial abgeleitet werden können:
i-ten Punktmasse. Gehen wir wieder zur komponentenweisen
Teil I

Darstellung über, schreiben wir stattdessen Fi D r i V: (5.33)


X
r
@fa
Zi D a .1  i  3N/: (5.30) Wir unterscheiden hier nicht zwischen äußeren und inneren
aD1
@xi Kräften, da dies für die Diskussion an dieser Stelle belanglos
ist. Wie aus Abschn. 3.1 bekannt, gilt zunächst in Abwesenheit
von Reibungs- und Zwangskräften
Lagrange-Gleichungen erster Art für Systeme von
Punktmassen d
.T C V/ D 0; (5.34)
Für ein System von N Punktmassen unter dem Ein- dt
fluss von r unabhängigen holonomen Zwangsbedingun-
gen fa .t; x1 ; : : : ; xN / lauten die Lagrange-Gleichungen wobei T die kinetische Energie ist. Nun müssen wir allerdings
erster Art zusätzlich noch den Einfluss der Zwangskräfte Zi betrachten.
Wiederholt man unter Berücksichtigung der Zwangskräfte die
X
r Rechnungen, die auf (3.33) geführt haben, taucht zunächst ein
mi xR i D Fi C a r i fa .1  i  N/ (5.31) Zusatzterm
aD1

X
N X
r X
N
bzw. Zi  xP i D a .r i fa /  xP i (5.35)
X
r
@fa
iD1 aD1 iD1
mi xR i D Fi C a .1  i  3N/ (5.32)
aD1
@xi auf. Die Nebenbedingungen erfüllen fa D 0, daher muss auch
ihre totale Zeitableitung verschwinden:
in der komponentenweisen Darstellung.
dfa X N
@fa
0D D .r i fa /  xP i C : (5.36)
Es handelt sich bei den Lagrange-Gleichungen erster Art um dt iD1
@t
3N Bewegungsgleichungen zweiter Ordnung sowie r Zwangs-
bedingungen in Form von algebraischen Gleichungen. Sind An dieser Stelle erlauben wir auch rheonome holonome
die entsprechenden Anfangsbedingungen und die angewandten Zwangsbedingungen. Dies wird an einem Beispiel in Aufgabe
Kräfte Fi bekannt, können damit im Prinzip die r Lagrange- 5.4 verdeutlicht. Gleichung (5.35) und (5.36) führen schließlich
Multiplikatoren a und die N Bahnkurven xi berechnet werden. auf den Energiesatz unter Berücksichtigung von Zwangsbedin-
gungen.
Man unterscheidet äußere und innere Zwangsbedingungen. Äu-
ßere führen auf Zwangskräfte, die nur auf einzelne Punktmassen
wirken. Innere hingegen führen Zwangskräfte zwischen Paaren
Energiesatz unter Berücksichtigung von Zwangsbedin-
von Punktmassen ein. Beispiele sind x21 R2 D 0 für eine äußere
gungen
und .x1 x2 /2 l212 D 0 für eine innere Zwangsbedingung. Letz-
tere entspricht zwei Punktmassen an einer Stange. Als weiteres Sind die angewandten Kräfte Fi konservativ, lautet der
Beispiel kann wieder der starre Körper herangezogen werden, Energiesatz in Anwesenheit von holonomen Zwangsbe-
für den alle Punktmassen paarweise konstante Abstände besit- dingungen
zen. Aufgrund der normalerweise großen Zahl der Punktmassen
im starren Körper wird anstelle der Lagrange-Gleichungen ers- d Xr
@fa
ter Art jedoch der Formalismus aus Kap. 4 bevorzugt. .T C V/ D  a : (5.37)
dt aD1
@t

Die Energie ist erhalten, wenn die Zwangsbedingungen


skleronom sind, d. h. ihre partiellen Zeitableitungen ver-
Energiesatz in Anwesenheit schwinden.
von Zwangsbedingungen

Nachdem nun besprochen wurde, wie Zwangsbedingungen in Frage 5


den Newton’schen Bewegungsgleichungen berücksichtigt wer- Überprüfen Sie die Rechenschritte, die auf den Energiesatz
den können, untersuchen wir den Energiesatz in solch einem (5.37) führen.
System. Zunächst nehmen wir an, dass alle angewandten Kräfte
5.2 Lagrange-Gleichungen erster Art 173

Vertiefung: Virtuelle Verrückungen und das d’Alembert’sche Prinzip

Teil I
Historisch spielten die von d’Alembert eingeführten vir- Die Zwangskräfte treten in dieser Formulierung nicht mehr
tuellen Verrückungen eine wichtige Rolle. Diesen Zugang explizit auf; sie sind allerdings indirekt enthalten, da die vir-
verfolgen wir hier zwar nicht, er soll aber der Vollständig- tuellen Verrückungen nicht unabhängig voneinander sind.
keit halber kurz vorgestellt werden. Wir sehen, dass die Summe der angewandten Kräfte Fi
Eine virtuelle Verrückung ıxi der Punktmasse mi ist eine und der Trägheitskräfte mi xR i unter virtuellen Verrückun-
nichtreale Verschiebung bei fester Zeit t, die mit den Zwangs- gen keine Arbeit leisten. Dies trifft wegen (5.37) bei realen
bedingungen fa zur Zeit t verträglich ist. So kann beispiels- Verrückungen dxi nur auf skleronome Zwangsbedingungen
weise eine virtuelle Verrückung beim sphärischen Pendel nur zu.
tangential zur Kugeloberfläche erfolgen. Wir schreiben
Als Beispiel betrachten wir zwei Massen, die durch einen
0 D fa .x1 C ıx1 ; : : : ; xN C ıxN / starren Stab miteinander verbunden sind. Es gibt daher eine
X
N Zwangsbedingung .x1  x2 /2  l212 D 0 mit einem Lagrange-
D fa .x1 ; : : : ; xN / C .r i fa /  ıxi : Multiplikator . Die beiden Massen können offenbar belie-
iD1 big mit ıx1 und ıx2 verrückt werden, solange die Differenz
P ıx1 ıx2 keine Komponente entlang des Stabes hat, denn der
Wegen fa .x1 ; : : : ; xN / D 0 folgt zunächst i .r i fa /  ıxi D 0.
Die virtuellen Verrückungen stehen also senkrecht auf den Stab muss auch unter virtuellen Verrückungen gleich lang
durch fa festgelegten Oberflächen. Wir multiplizieren mit a , bleiben. Also ist
summieren über alle r Zwangsbedingungen und schreiben
wegen (5.29) .x1  x2 /  .ıx1  ıx2 / D 0:
X
r X
N X
N
a .r i fa /  ıxi D Zi  ıxi D 0: Andererseits erfüllen die Zwangskräfte das dritte New-
aD1 iD1 iD1
ton’sche Axiom, Z1 D Z2 , und sie wirken entlang des
Die Zwangskräfte leisten also keine Arbeit bei virtuellen Stabes. Damit muss
Verrückungen. Dies wird als das d’Alembert’sche Prinzip be-
zeichnet. Aus mi xR i D Fi C Zi folgt dann direkt
Z1  .ıx1  ıx2 / D Z1  ıx1 C Z2  ıx2 D 0
X
N
.Fi  mi xR i /  ıxi D 0:
iD1 gelten.

Allgemeines Lösungsverfahren durch erhält man demnach die r Gleichungen


Eliminierung der Lagrange-Multiplikatoren
X3N
@fa
0 D fRa D xR i  ga .t; x; xP / ; (5.39)
Anhand des Beispiels des sphärischen Pendels haben wir bereits iD1
@xi
gesehen, wie sich der Lagrange-Multiplikator und die damit
verbundene Zwangskraft berechnen lassen. Nun wollen wir ein
welche die Beschleunigungen xR i nur linear enthalten. Die Grö-
allgemeines Lösungsverfahren der Bewegungsgleichungen in
ßen ga fassen pauschal alle übrigen Terme zusammen, die bei
Anwesenheit holonomer Zwangsbedingungen angeben, in des-
den Ableitungen durch die Kettenregel entstehen.
sen Verlauf die Lagrange-Multiplikatoren eliminiert werden.
Für nichtholonome Zwangsbedingungen lässt sich kein gene-
relles Verfahren angeben. Achtung Der Punkt über einer Größe, die neben der Zeit
noch von anderen Größen abhängt, bezeichnet in der Regel
Der erste Schritt nach der Aufstellung der Bewegungsgleichun- die vollständige und nicht die partielle Zeitableitung, sofern es
gen (5.31) und der r holonomen Zwangsbedingungen fa .t; x/ D nicht anders definiert wird. J
0 ist die Berechnung der zweiten Zeitableitung aller Zwangsbe-
dingungen. Ausgehend von Frage 6
Überlegen Sie sich, dass die Terme ga nur von der Zeit t sowie
X
3N
@fa @fa den Orten xi und Geschwindigkeiten xP i abhängen. Sie enthalten
0 D fPa D xP i C (5.38) jedoch nicht die Beschleunigungen xR i . Wie sehen die ga aus?
iD1
@xi @t
174 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

Durch Einsetzen der Bewegungsgleichungen (5.32) in (5.39) z


lassen sich alle Beschleunigungen eliminieren:
Teil I

X3N
1 @fa X
r
fb X3N
1 @fa
b D ga  Fi : (5.40)
iD1
mi @xi bD1 @xi iD1
mi @xi
m2
Dies ist ein lineares, inhomogenes Gleichungssystem mit r Glei-
chungen für die r Lagrange-Multiplikatoren. Die Koeffizienten L
der b hängen dabei nicht mehr von den Beschleunigungen xR i FG
ab. Die Lösung dieses Gleichungssystems sind die Lagrange- m1
Multiplikatoren in der Gestalt
x
a D a .t; x; xP / .1  a  r/: (5.41)

Die gefundenen a können dann in die Bewegungsgleichungen


(5.32) eingesetzt werden:

X
r
@fa
mi xR i D Fi C a .t; x; xP / .1  i  3N/: (5.42)
aD1
@xi

Diese Gleichungen werden mit den üblichen Methoden ge- Abb. 5.4 Zwei Punktmassen können sich zusammen auf einer Kreuzschiene
löst, denen wir im Verlauf des Buches bereits begegnet sind. bewegen. Ihr Abstand L wird dabei festgehalten. Zusätzlich wirkt die Gravitati-
Insbesondere wird dieses Vorgehen durch das Auffinden von onskraft FG
Erhaltungsgrößen (z. B. der Energie oder des Drehimpulses)
vereinfacht. Es muss allerdings beachtet werden, dass die An-
fangsbedingungen zur Zeit t0 mit den Zwangsbedingungen Insgesamt gibt es die fünf Zwangsbedingungen
verträglich sein müssen:
f1 D x21 C z22  L2 D 0;
ˇ
0 D fa .t; x/j tDt0 ; 0 D fPa .t; x; xP /ˇ tDt0 : (5.43) f2 D x2 D 0; f3 D z1 D 0; (5.44)
f4 D y1 D 0; f5 D y2 D 0:
Sind die Bewegungsgleichungen gelöst, d. h. alle Bahnkurven
Dies würde auf fünf Lagrange-Multiplikatoren und ein lineares
bekannt, lassen sich die Lagrange-Multiplikatoren (5.41) in ex-
Gleichungssystem mit fünf Unbekannten führen. Offensichtlich
pliziter Form angeben. Falls gewünscht, können weiterhin die
ist die Bewegung auf die x-z-Ebene eingeschränkt. Man kann
Zwangskräfte mithilfe von (5.29) berechnet und anschließend
das System daher von vornherein in zwei Dimensionen formu-
physikalisch interpretiert werden.
lieren und benötigt dann nur noch drei Zwangsbedingungen.
Frage 7 Die beiden Zwangsbedingungen f4 und f5 führen auf
Nachdem nun das allgemeine Lösungsverfahren bekannt ist,
schauen Sie sich das sphärische Pendel in Abschn. 5.1 unter fP4 D yP 1 D 0; fR4 D yR 1 D 0;
(5.45)
diesen Gesichtspunkten erneut an. fP5 D yP 2 D 0; fR5 D yR 2 D 0:
Es gibt daher keine Dynamik entlang der y-Achse. Etwaige
Kräfte in y-Richtung werden vollständig durch die entsprechen-
den Zwangskräfte kompensiert.
Beispiel: Punktmassen auf einer Kreuzschiene
Einschränkung der Bewegung auf eine Koordinaten-
Zum Abschluss der Lagrange-Gleichungen erster Art betrach- ebene
ten wir ein konkretes Beispiel mit vollständigem Lösungsweg.
Wird die Bewegung des gesamten Systems auf eine Koor-
Ein weiteres Beispiel ist in Aufgabe 5.1 zu finden.
dinatenebene beschränkt, so lässt sich das System direkt
Wir stellen uns zwei sich kreuzende Schienen wie in Abb. 5.4 im zweidimensionalen Raum formulieren. Dies reduziert
vor. Die Punktmasse m1 kann sich nur entlang der x-Achse, die die Anzahl der Zwangsbedingungen und Lagrange-Mul-
Punktmasse m2 nur entlang der z-Achse bewegen. Beide Massen tiplikatoren. Dies gilt entsprechend auch, wenn die Be-
sind durch einen masselosen starren Stab der Länge L verbun- wegung auf eine einzige Koordinatenachse eingeschränkt
den. Es wirkt weiterhin die Schwerebeschleunigung g entlang wird.
der negativen z-Achse.
5.2 Lagrange-Gleichungen erster Art 175

Teil I
Abb. 5.5 Löst man die Bewegungsgleichungen für die Kreuzschiene ohne Gravitation und für zwei gleiche Massen, findet man eine einfache Bewegungsform:
Beide Massen schwingen um den Mittelpunkt, die eine waagerecht, die andere senkrecht. Die Bildsequenz entspricht dem zeitlichen Verlauf. Beide Schwingungen
sind um 90ı phasenverschoben, und der Abstand der Punktmassen bleibt stets konstant

Wir fahren daher nur mit den Zwangsbedingungen f1 bis f3 fort Die beiden übrigen Gleichungen lösen wir nur für den Spezi-
und beschränken uns auf die vier Koordinaten x1 , z1 sowie x2 alfall m1 D m2 D m und g D 0 (d. h. in Abwesenheit von
und z2 . Nur ein Freiheitsgrad kann übrig bleiben. Gravitation):
Die Ableitungen der Zwangsbedingungen nach den Koordina- 2E 2E
mRx1 D  x1 ; mRz2 D  z2 : (5.52)
ten, die nicht identisch verschwinden, lauten L2 L2
Hier wurde f1 D 0, also x21 C z22 D L2 ausgenutzt. Weiterhin
@f1 @f1 @f2 @f3
D 2x1 ; D 2z2 ; D 1; D 1: (5.46) wurde berücksichtigt, dass die Energie
@x1 @z2 @x2 @z1
m 2 
ED xP C zP 22 (5.53)
Wir erhalten die vier Bewegungsgleichungen (5.32) 2 1
erhalten ist, da die Zwangsbedingungen skleronom sind. Die
m1 xR 1 D 21 x1 ; m1 zR 1 D m1 g C 3 ; Bewegungsgleichungen führen beide auf harmonische Schwin-
(5.47)
m2 xR 2 D 2 ; m2 zR 2 D m2 g C 21 z2 : gungen
x1 D A1 cos .!t  1/ ; z2 D A2 cos .!t  2/ (5.54)
Hier wurde die Gravitationskraft berücksichtigt. Die zweiten
Zeitableitungen der Zwangsbedingungen lauten mit der Frequenz
2E
  !2 D
: (5.55)
0 D fR1 D 2 xP 21 C x1 xR 1 C zP 22 C z2 zR 2 ; mL2
0 D fR2 D xR 2 ; (5.48) Die Zwangsbedingung f1 verlangt
0 D fR3 D zR 1 ; A21 cos2 .!t  1/ C A22 cos2 .!t  2/ D L2 D const; (5.56)
die linke Seite der Gleichung muss also konstant sein. Dies kann
in die wir die Bewegungsgleichungen (5.47) einsetzen. Das re-
nur für A21 D A22 D L2 und 2 D 1 ˙ 90ı erfüllt werden, da
sultierende Gleichungssystem ist diagonal, und man kann jede
 
Gleichung direkt nach einem der Lagrange-Multiplikatoren auf- cos2 .!t  1 / C cos2 !t  1 ˙ 90ı
lösen: (5.57)
D cos2 .!t  1 / C sin2 .!t  1 / D 1
xP 2 C zP 22  z2 g
1 D   21 ; 2 D 0; 3 D m1 g: (5.49) gilt. Beide Punktmassen schwingen daher mit einer gegenseiti-
2 x1 =m1 C z22 =m2 gen Phasenverscheibung von 90ı und einer Amplitude L um den
Ursprung. Dies ist in Abb. 5.5 dargestellt. Für diesen Spezialfall
Einsetzen der Lagrange-Multiplikatoren in (5.47) führt auf ist nur ein Lagrange-Multiplikator ungleich null:
E
xP 21 C zP 22  z2 g 1 D  : (5.58)
m1 xR 1 D  x1 ; m1 zR 1 D 0; L2
x21 =m1 C z22 =m2
(5.50) Dies führt auf die Zwangskräfte
xP 21 C zP 22  z2 g
m2 xR 2 D 0; m2 zR 2 D  z2  m2 g: 2E 2E
x21 =m1 C z22 =m2 Zx;1 D  x1 ; Zz;2 D  2 z2 ; (5.59)
L2 L
Die Gleichungen für z1 und x2 führen mit den Anfangsbedin- die man auch direkt aus (5.52) ablesen kann, da keine an-
gungen auf die bereits bekannten Ergebnisse gewandten Kräfte auf die beiden Punktmassen wirken. Die
Zwangskräfte sind gerade die für die Schwingung verantwort-
z1 D 0; x2 D 0: (5.51) lichen Rückstellkräfte.
176 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

5.3 Lagrange-Gleichungen Der letzte Term verschwindet aber wegen (5.62). Die F resul-
tierenden Gleichungen
zweiter Art
Teil I

X
3N
@xi X @xi
3N
mi xR i D Fi (5.64)
@qj @qj
Die Lagrange-Gleichungen erster Art umfassen einen Satz von iD1 iD1
3N Gleichungen für die Koordinaten xi sowie r algebraische hängen nun nicht mehr explizit von den Zwangsbedingungen
Gleichungen für die Zwangsbedingungen. Dies führt auf ins- ab. Man nennt die Terme
gesamt 3N  r Freiheitsgrade. Es stellt sich nun die Frage, ob es
nicht eine einfachere Möglichkeit gibt, nur die Bewegungsglei- X
3N
@xi
chungen der unabhängigen Freiheitsgrade direkt aufzustellen. Qj WD Fi (5.65)
iD1
@qj
Dies ist insbesondere dann von Vorteil, wenn man an den
Lagrange-Multiplikatoren und Zwangskräften gar nicht interes- die generalisierten Kräfte, da sie für die generalisierten Koor-
siert ist. Tatsächlich kann man dies erreichen, indem man von dinaten qj eine ähnliche Rolle spielen wie die Kräfte Fi für die
vornherein generalisierte (und damit unabhängige) Koordinaten kartesischen Koordinaten xi .
einführt, was schließlich auf die Lagrange-Gleichungen zweiter
Art führt. Achtung An dieser Stelle wurden die holonomen Zwangs-
bedingungen bereits verwertet: Obwohl sie nicht direkt in den
Rechnungen auftreten, sind sie durch eine geeignete Wahl der
generalisierten Koordinaten berücksichtigt worden. Als Ergeb-
Einführung der generalisierten Koordinaten nis erhält man nun F (anstatt 3N) Gleichungen der Form (5.64)
für F unabhängige Koordinaten. Die Zwangskräfte treten also
und Eliminierung der Zwangsbedingungen überhaupt nicht mehr auf. Die eigentliche problemabhängige
Aufgabe besteht darin, F geeignete, generalisierte (d. h. unab-
Die F generalisierten Koordinaten und die 3N kartesischen Ko- hängige) Koordinaten qj zu finden. J
ordinaten erfüllen den Zusammenhang

xi D xi .t; q1 ; : : : ; qF / .1  i  3N/: (5.60) Herleitung der Lagrange-Gleichungen


zweiter Art
Die Unabhängigkeit der Zwangsbedingungen von den generali-
sierten Koordinaten kann mathematisch als Die F Gleichungen (5.64) liegen noch in einer unpraktischen
Form vor. Wir schreiben zunächst die linke Seite um:
@fa  
D0 (5.61) @xi d @xi d @xi
@qj mi xR i D mi xP i  mi xP i : (5.66)
@qj dt @qj dt @qj
geschrieben werden. Aufgrund der Kettenregel wird dies zu Die Zeitableitung im zweiten Term auf der rechten Seite von
(5.66) lässt sich durch Vertauschen der partiellen Ableitungen
X3N
@fa @xi umformen:
D 0: (5.62)
@xi @qj X @2 xi
F
iD1 d @xi @2 xi
D qP k C
dt @qj kD1
@qk @qj @t@qj
Frage 8 ! (5.67)
@ XF
@xi @xi @Pxi
Überlegen Sie sich, dass die Zwangsbedingungen fa unabhängig D qP k C D :
von den generalisierten Koordinaten qj sein müssen. Ansons- @qj kD1
@qk @t @qj
ten wären die qj durch diese Zwangsbedingungen eingeschränkt
Im letzten Schritt wurde
und damit voneinander abhängig, was genau der Definition der
generalisierten Koordinaten widerspricht. X
F
@xi @xi
xP i D qPj C (5.68)
jD1
@qj @t
Im nächsten Schritt multiplizieren wir die Lagrange-Gleichun-
ausgenutzt, was auch auf den Zusammenhang
gen erster Art mit den partiellen Ableitungen @xi =@qj und
summieren über i: @Pxi @xi
D (5.69)
@Pqj @qj
X
3N
@xi X
3N
@xi X
r X
3N
@fa @xi
mi xR i D Fi C a : (5.63) führt, denn die kartesischen Koordinaten xi hängen nur von den
iD1
@qj iD1
@qj aD1 iD1 @xi @qj qj , nicht aber von ihren Ableitungen qPj ab. Man nennt die qPj auch
5.3 Lagrange-Gleichungen zweiter Art 177

die generalisierten Geschwindigkeiten. Die Zwischenergebnis-


se aus (5.67) und (5.69) werden in (5.66) eingesetzt: generalisierte Koordinate ist, gilt

Teil I
 
mi xR i
@xi
D
d
mi xP i
@Pxi @Pxi
 mi xP i : (5.70) xP 1 D R#P cos # cos '  R'P sin # sin ';
@qj dt @Pqj @qj
xP 2 D R#P cos # sin ' C R'P sin # cos '; (5.75)
Nun verwenden wir die kinetische Energie xP 3 D R#P sin #:

1X
3N
TD mi xP 2i (5.71) Durch Einsetzen und eine einfache Rechnung überzeugt
2 iD1 man sich davon, dass

1 X 2 mR2  P 2 
3
und schreiben damit
TD mi xP i D # C 'P 2 sin2 # (5.76)
X
3N 2 iD1 2
@xi d @T @T
mi xR i D  : (5.72)
iD1
@qj dt @P
q j @qj gilt.

Wegen (5.64) und (5.65) erhalten wir schließlich die Lagrange-


Gleichungen zweiter Art. Zeigen Sie dies.

Dies ist die kinetische Energie für die Bewegung einer


Lagrange-Gleichungen zweiter Art Punktmasse in Kugelkoordinaten für festen Radius R. Die
beiden Lagrange-Gleichungen zweiter Art lauten somit
Für holonome Zwangsbedingungen lauten die Bewe-
gungsgleichungen der generalisierten Koordinaten d P
mR2 # D Q# ;
d @T @T  dt
 D Qj ; .1  j  F/: (5.77)
(5.73) d  
dt @Pqj @qj mR 2
'P sin2 '  'P 2 cos ' sin ' D Q' :
dt

Diese beiden Bewegungsgleichungen für # und ' sind


Achtung Es wurden bisher keinerlei Bedingungen an die ge- für gegebene generalisierte Kräfte Q# und Q' zu lösen.
neralisierten Kräfte Qj gestellt. So können diese konservative Sind die Kräfte nur in kartesischer Form bekannt, kann
und auch dissipative Anteile enthalten. Wir kommen in Kürze man die Qj mit (5.65) berechnen. Man beachte, dass die
darauf zurück. J Zwangsbedingung (Bewegung auf der Kugeloberfläche)
nur bei der Wahl der generalisierten Koordinaten einge-
Bevor die Lagrange-Gleichungen zweiter Art angewandt wer- gangen ist, nicht aber bei den expliziten Rechnungen.
den können, muss man sich überlegen, wie die kinetische
Energie T, die eigentlich eine Funktion der Geschwindigkei- Die allgemeine Bewegung in Kugelkoordinaten wird in
ten xP i ist, durch die qj und qPj ausgedrückt werden kann. Wegen Aufgabe 5.3 besprochen. J
(5.60) gilt

xP i D xP i .t; q1 ; : : : ; qF ; qP 1 ; : : : qP F / .1  i  3N/; (5.74)

d. h., die Zeitableitungen der kartesischen Koordinaten sind im


Allgemeinen Funktionen der generalisierten Koordinaten und Lagrange-Funktion für konservative Kräfte
ihrer Zeitableitungen. Ist dieser Zusammenhang bekannt, kön-
nen die Ableitungen in (5.73) berechnet werden. Um zwischen
beiden Formulierungen zu unterscheiden, schreibt man häufig Wir spalten die Kräfte Fi nun in zwei Anteile auf: einen konser-
auch T.Px/ bzw. T.t; q; qP /. Obwohl beide Funktionen mathe- vativen, Fi.k/ , und einen dissipativen, Fi.d/ (siehe Abschn. 1.6).
matisch unterschiedlich sind, ist die physikalische Größe, die Analog schreiben wir
kinetische Energie, dieselbe.
X
3N
@xi X
3N
@xi
Qj.k/ D Fi.k/ ; Qj.d/ D Fi.d/ : (5.78)
Kugelkoordinaten iD1
@qj iD1
@qj

In (5.10) wurden bereits generalisierte Koordinaten für Die konservativen Kräfte lassen sich aus einem Potenzial ablei-
die Bewegung einer Punktmasse auf einer Kugeloberflä- ten:
che angegeben. Da der Kugelradius R konstant und keine @V.t; x/
Fi.k/ D  : (5.79)
@xi
178 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

Wir finden somit Wie später noch erarbeitet wird, ergeben sich aus dem La-
grange-Formalismus die Erhaltungsgrößen eines Systems in
Teil I

X
3N
@V.t; x/ @xi @V.t; x.t; q// natürlicher Weise. Ein weiterer Vorteil ist, dass es sich bei der
Qj.k/ D  D : (5.80) Lagrange-Funktion um eine skalare Größe handelt, die in der
iD1
@xi @qj @qj
Regel leichter als die vektoriellen Kraftgleichungen aufgestellt
werden kann.
Dies verdeutlicht, warum wir die Qj anfangs als generalisierte
Kräfte bezeichnet haben.
Newton’sche Bewegungsgleichungen
Die Lagrange-Gleichungen zweiter Art lassen sich nun umfor-
mulieren. Wir definieren die Lagrange-Funktion Generalisierte Koordinaten können natürlich auch für
Systeme ohne Zwangsbedingungen verwendet werden. In
L WD T  V D T.t; q; qP /  V.t; q/ (5.81) diesem Fall entspricht die Anzahl der generalisierten Ko-
ordinaten qj der Anzahl der ursprünglichen kartesischen
und schreiben Koordinaten xi .
d @L @L
 D Qj.d/ : (5.82) Als einfachstes Beispiel betrachten wir die kartesischen
dt @Pqj @qj
Koordinaten qj D xj einer Punktmasse m. Die kinetische
Dies ist möglich, da das Potenzial V nicht von den generali- Energie und das Potenzial lauten
sierten Geschwindigkeiten qP abhängt. Beschränkt man sich auf
1 X 2
3
konservative Systeme, findet man die wichtigen Lagrange-Glei-
chungen zweiter Art für konservative Systeme. TD m xP ; V D V.x/: (5.85)
2 iD1 i

Lagrange-Gleichungen zweiter Art für konservative Dies führt wegen (5.81) und (5.83) direkt auf die bekann-
Systeme ten Newton’schen Bewegungsgleichungen

Für konservative Systeme mit holonomen Zwangsbedin- @V


gungen lauten die Bewegungsgleichungen der generali- mRxi D  .1  i  3/; (5.86)
@xi
sierten Koordinaten
die selbstverständlich im allgemeineren Lagrange-For-
d @L @L
 D 0 .1  j  F/: (5.83) malismus enthalten sind. Diese Aussage lässt sich leicht
dt @Pqj @qj auf Systeme von Punktmassen ausweiten. J
Hier ist
L.t; q; qP / WD T.t; q; qP /  V.t; q/ (5.84) Eine weitere Anwendung der Lagrange-Gleichungen ohne
die Lagrange-Funktion des Systems. Zwangsbedingungen ist das Aufstellen der Bewegungsglei-
chungen in nichtkartesischen Koordinaten. So können die Be-
wegungsgleichungen in Kugelkoordinaten mit nur wenigen
Rechenschritten aus (5.83) hergeleitet werden. Dies wird in
Man nennt (5.83) auch kurz die Lagrange-Gleichungen (oder
Aufgabe 5.3 an einem Beispiel durchgeführt.
Euler-Lagrange-Gleichungen, wie später noch begründet wird).
Die Anwendung des Lagrange-Formalismus auf eine Punktla-
Bei den Lagrange-Gleichungen handelt es sich um F Differenzi- dung im elektromagnetischen Feld wird in der Literatur vielfach
algleichungen zweiter Ordnung, zu deren vollständiger Lösung bereits in der Mechanik vorgestellt. Wir verschieben diese Dis-
2F Integrationskonstanten (z. B. in Form von Anfangsbedingun- kussion stattdessen auf Abschn. 20.1.
gen) benötigt werden.
Der Lagrange-Formalismus, der im Wesentlichen aus dem Kon-
zept der generalisierten Koordinaten und den Bewegungsglei-
chungen (5.83) besteht, stellt einen entscheidenden Schritt in
Zyklische Koordinaten und generalisierte
der Entwicklung der Mechanik im Speziellen und der gesamten Impulse
theoretischen Physik im Allgemeinen dar und ist daraus nicht
mehr wegzudenken. Dies wird sich noch in den weiteren Teilen
dieses Buches (vor allem in Kap. 20) zeigen. Kanonisch konjugierter Impuls als Erhaltungsgröße

Während die Newton’schen Gesetze für kartesische Koordina- Man bezeichnet


@L
ten formuliert wurden, ist der Lagrange-Formalismus koordi- pj WD (5.87)
natenunabhängig: Die Wahl der generalisierten Koordinaten ist @Pqj
beliebig, so lange sie mit den Zwangsbedingungen vereinbar ist.
5.3 Lagrange-Gleichungen zweiter Art 179

Drehimpuls erhalten. Wir werden dies in Kürze am Beispiel des


als den generalisierten Impuls zur Koordinate qj oder auch schweren Kreisels sehen.

Teil I
den kanonisch konjugierten Impuls. Der Name „Impuls“
ist gerechtfertigt, wie sich später noch zeigen wird.
Dieser erlaubt oft eine rasche Identifizierung von Erhal- Energieerhaltung
tungsgrößen des betrachteten Systems: Eine Koordinate
qj heißt zyklisch, wenn die Lagrange-Funktion nicht von
ihr abhängt. In diesem Fall lautet die entsprechende Be- Im vorherigen Abschnitt wurde gezeigt, dass erhaltene kon-
wegungsgleichung (5.83) einfach jugierte Impulse direkt von der Lagrange-Funktion abgelesen
werden können. Gilt dies auch für die Energie? In der Tat kann
d @L man der Lagrange-Funktion direkt ansehen, ob die Energie er-
D pPj D 0: (5.88) halten ist. Dies soll im Folgenden gezeigt werden. Wir werden
dt @Pqj
sehen, dass die Energieerhaltung eng mit der Invarianz unter
Dies bedeutet, dass der kanonische Impuls pj eine Erhal- Zeitverschiebungen verknüpft ist.
tungsgröße ist. Wir untersuchen zunächst die Zeitableitung der Lagrange-Funk-
Ist eine generalisierte Koordinate qj zyklisch, so ist ihr tion:
konjugierter Impuls pj eine Erhaltungsgröße. Jede zykli- dL X  @L dqi @L dPqi

@L
sche Koordinate führt daher auf einen Erhaltungssatz, D C C : (5.90)
dt @qi dt @Pqi dt @t
was einer ersten Integration der Bewegungsgleichung ent- i
spricht.
Sind nun alle Kräfte im System konservativ, d. h. kann man
alle Kräfte aus einem Potenzial V ableiten, so gelten die Be-
wegungsgleichungen (5.83):
Unabhängigkeit von einer Koordinate bedeutet Symmetrie be-
züglich Verschiebungen, Drehungen usw.; also deutet sich hier @L d @L
ein Zusammenhang zwischen Symmetrien und Erhaltungssät- D : (5.91)
@qi dt @Pqi
zen an. Dies vereinfacht die mathematische Behandlung der
Bewegungsgleichungen wesentlich. Man kann daher
Die generalisierten Koordinaten sollten nach Möglichkeit so ge- dL X  d @L @L dPqi

@L
wählt werden, dass möglichst viele von ihnen zyklisch sind. D qP i C C
dt dt @Pqi @Pqi dt @t
Verallgemeinerte Koordinaten werden daher geschickterweise i
(5.92)
so gewählt, dass sie der Symmetrie des Problems angepasst d X @L @L
D qP i C
sind. dt i @Pqi @t
Die Lagrange-Gleichungen nehmen eine anschauliche Form an,
falls die kinetische Energie nicht von qi abhängt. Dann ist oder auch !
@L d X @L
@L=@qi die Ableitung der potenziellen Energie nach der ge- D L qP i (5.93)
neralisierten Koordinate qi , d. h. die generalisierte Kraft Qi . Da @t dt i
@Pqi
@L=@Pqi weiterhin der generalisierte Impuls pi ist, drücken die
Lagrange-Gleichungen letztlich „nur“ das zweite Newton’sche schreiben.
Axiom in verallgemeinerten Koordinaten aus: pP i D Qi . Wir beschränken uns nun auf Systeme, deren Lagrange-Funk-
tion nicht explizit von der Zeit abhängt, @L=@t D 0. Dies sind
Frage 9 Systeme, deren holonome Zwangsbedingungen skleronom sind.
Überlegen Sie sich die Form der Lagrange-Funktion einer freien Eine Zeitverschiebung t ! t C t0 lässt die Lagrange-Funkti-
Punktmasse in kartesischen Koordinaten. Sind die Koordinaten on dann invariant. Solche Systeme heißen zeitlich homogen (ein
xi zyklisch? Welche Konsequenz hat dies für die verbundenen Fadenpendel mit variabler Fadenlänge beispielsweise würde auf
Impulse einen nichtverschwindenden Term @L=@t führen; Aufgabe 5.3).
@L
pi D D mPxi ‹ (5.89) Offensichtlich folgt dann
@Pxi
!
d X @L
qP i  L D 0; (5.94)
Ohne Beweis halten wir noch einen nützlichen Zusammenhang dt i
@Pqi
fest. Handelt es sich bei qj um eine Winkelkoordinate, die eine
Drehung um die Achse nO beschreibt, so ist der dazu konju- und die Größe
X @L
gierte Impuls pj gerade der Drehimpuls um diese Achse. Ist H WD qP i L (5.95)
also eine Winkelkoordinate zyklisch, ist der damit verbundene i
@Pqi
180 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

ist eine Erhaltungsgröße, falls @L=@t D 0 ist. Die Größe H


ist die sogenannte Hamilton-Funktion. In Kap. 7 kommen wir Das System ist konservativ; alle Kräfte lassen sich aus
Teil I

ausführlicher auf sie zu sprechen. Nun soll aber noch gezeigt V ableiten.
werden, dass H der Gesamtenergie des Systems entspricht. Das Potenzial V ist geschwindigkeitsunabhängig.
Für geschwindigkeitsunabhängige Systeme, also Systeme mit Alle Zwangsbedingungen sind skleronom.
@V=@Pqi D 0, die wir hier betrachten, ist
@L @T
pi D D : (5.96)
@Pqi @Pqi
Schwerer symmetrischer Kreisel
An dieser Stelle müssen wir einen kleinen Exkurs vorneh-
men und uns die Struktur der kinetischen Energie T genauer Der schwere symmetrische Kreisel ist ein Beispiel für
anschauen. Wir hatten bereits gesehen, dass die Zwangsbedin- ein System, dessen Bewegung unter Verwendung des La-
gungen in der Gestalt (5.60) formuliert werden können. Dies grange-Formalismus einfacher studiert werden kann als
führte auf die Geschwindigkeiten (5.68). Die partielle Zeit- der Zugang, der in Abschn. 4.7 verfolgt wurde.
ableitung @xi =@t verschwindet dort nur dann nicht, wenn die
Zwangsbedingungen rheonom sind, also explizit von der Zeit Wir erinnern uns, dass ein Kreisel mit einem festen Unter-
abhängen. Wir beschränken uns nun auf skleronome Zwangs- stützungspunkt noch drei Rotationsfreiheitsgrade besitzt.
bedingungen, für die dann Die Euler-Winkel eignen sich in diesem Fall für die be-
nötigten generalisierten Koordinaten, d. h., wir schreiben
XF
@xi .q1 ; q2 ; q3 / D .#; '; /.
xP i D qPj (5.97)
jD1
@qj Die Energie des schweren symmetrischen Kreisels wurde
bereits in (4.159) als Funktion der Euler-Winkel angege-
erfüllt ist. Die kinetische Energie lautet damit ben. Man kann also direkt die Lagrange-Funktion L D
0 12 T  V hinschreiben:
1X X XF
@x
 P2   
1 2
mi @
i A
TD mi xP 2i D qPj : (5.98) 3 P
2 i 2 i @qj LD # C 'P 2 sin2 # C C 'P cos #
jD1 2 2
 MgR cos #:
Die kinetische Energie ist somit eine homogene quadratische
(5.102)
Funktion der generalisierten Geschwindigkeiten qPj , wenn alle
Hierbei sind  und 3 die Hauptträgheitsmomente be-
Zwangsbedingungen skleronom sind. Hier kann man das Euler-
züglich des Stützpunktes, und R ist der Abstand des
Theorem über homogene Funktion (3.181) anwenden. Es führt
Schwerpunktes vom Stützpunkt. Man sieht sofort, dass
auf die Identität
X @T sowohl ' als auch zyklische Koordinaten sind. Ihre
qP i D 2T: (5.99) konjugierten Impulse,
i
@Pqi
p' D  'P sin2 # C 3 cos #. P C 'P cos #/;
Frage 10 (5.103)
Frischen Sie Ihre Erinnerungen an das Euler-Theorem auf und p D 3 . P C 'P cos #/;
überlegen Sie sich, wie es auf (5.99) führt.
sind somit erhalten. Wegen (4.155) und (4.158) können
wir p als L3 und p' als L3 identifizieren. Die erhaltenen
Die Hamilton-Funktion erfüllt somit konjugierten Impulse entsprechen daher den Projektionen
des Drehimpulses auf die Figurenachse und auf die Wir-
H D 2T  L D 2T  .T  V/ D T C V D EI (5.100)
kungsachse der Gravitationskraft. Weiterhin sehen wir,
sie entspricht der Gesamtenergie des Systems. dass die Lagrange-Funktion nicht explizit von der Zeit
abhängt, weswegen die Energie E D T C V erhalten ist:
Hamilton-Funktion und Gesamtenergie
Die Hamilton-Funktion  P2   
3 P 2
ED # C 'P 2 sin2 # C C 'P cos #
X 2 2
@L
HD qP i L (5.101) C MgR cos # D const:
i
@Pqi (5.104)
Die drei Erhaltungsgrößen des schweren symmetrischen
ist gleich der erhaltenen Gesamtenergie des Systems, Kreisels lassen sich also direkt an der Lagrange-Funktion
wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: ablesen.
5.4 Beispiele zur Anwendung des Lagrange-Formalismus 181

Die Lagrange-Funktion ist somit


Die Lagrange-Gleichungen des schweren symmetrischen m  2 P 2

Teil I
Kreisels wurden hier gar nicht benötigt, da die drei Er- LD xP C d  mgd sin ˛: (5.109)
2 2
haltungsgrößen (E, p und p' ) auf drei einfachere Glei-
chungen geführt haben. Es bleibt dem interessierten Leser Frage 11
überlassen, die entsprechenden Lagrange-Gleichungen
als Übung abzuleiten. J Überprüfen Sie diese Überlegungen und Rechenschritte.

Wir haben es mit zwei Freiheitsgraden zu tun und erhalten zwei


Lagrange-Gleichungen. Über

5.4 Beispiele zur Anwendung @L


D 0;
d @L
D mRx2 (5.110)
@x2 dt @Px2
des Lagrange-Formalismus
und
@L d @L
Dieser Abschnitt enthält einige Anwendungen des Lagrange- D mg sin ˛; D mdR (5.111)
Formalismus, die vom Identifizieren der Zwangsbedingungen @d dt @dP
bis hin zum (näherungsweisen) Lösen der Bewegungsgleichun- folgen also die Bewegungsgleichungen
gen reichen. Nach den ersten recht theoretischen und abstrakten
Abschnitten wird hier das explizite Rechnen geübt. Weitere Bei- xR 2 D 0; dR D g sin ˛: (5.112)
spiele finden sich in Aufgabe 5.1 und 5.2.
Die Gleichung für x2 war zu erwarten, da die Projektion der Gra-
vitationsbeschleunigung auf die x2 -Achse null ist. Allerdings
gibt es, je nach Wert von ˛, einen Anteil der Gravitations-
Schiefe Ebene beschleunigung, der entlang der d-Achse zeigt. Mithilfe von
(5.106) kann man bei Bedarf wieder auf die drei ursprünglichen
(und abhängigen) Koordinaten zurücktransformieren.
Die schiefe Ebene ist ein häufig verwendetes und sehr einfa-
ches Beispiel zur Anwendung des Lagrange-Formalismus. Man
betrachte eine Punktmasse m, die unter dem Einfluss der Gravi-
tationskraft (FG D mgOe3 ) reibungsfrei auf einer Ebene gleiten Rollpendel
kann. Der Normalenvektor der Ebene sei nO D .sin ˛; 0; cos ˛/>
und damit um einen Winkel ˛ gegen die Senkrechte (Oe3 ) ge-
Das Rollpendel (Abb. 5.6) besteht aus einer Masse m1 , die sich
kippt. Außerdem soll der Ursprung in der Ebene liegen. Wie
nur entlang der x-Achse auf einer Schiene reibungsfrei bewe-
lauten die Bewegungsgleichungen der Punktmasse auf dieser
gen kann, sowie einer Masse m2 , die sich nur in der x-z-Ebene
Ebene?
bewegen darf und dabei einen festen Abstand R zur Masse m1
Man könnte natürlich den klassischen Weg gehen und die Be- besitzen soll. Zusätzlich wirkt die homogene Schwerebeschleu-
wegungsgleichungen für .x1 ; x2 ; x3 / aufstellen. Hier wollen wir nigung g entlang der negativen z-Achse. Die vier holonomen
aber mit x2 und d angepasste Koordinaten einführen. Neben der Zwangsbedingungen lauten also
kartesischen Koordinate x2 verwenden wir d als diejenige Ko-
ordinate, die in der Ebene liegt und senkrecht zu x2 verläuft: y1 D 0; y2 D 0; z1 D 0 (5.113)

eO d D Oe1 cos ˛ C eO 3 sin ˛ D .cos˛; 0; sin ˛/> : (5.105) und


.x1  x2 /2 C z22  R2 D 0: (5.114)
Die Koordinaten hängen über
Sie führen auf F D 2 Freiheitsgrade. Wir wählen die beiden ge-
x1 D d cos ˛; x3 D d sin ˛; d D
2
x21 C x23 (5.106) neralisierten Koordinaten q1 D x1 und q2 D ' (wie in Abb. 5.6
definiert). Weiterhin gilt
miteinander zusammen. Die beiden kartesischen Koordinaten x1
und x3 sind wegen x3 =x1 D  tan ˛ nicht unabhängig. Die kine- x2 D x1 C R sin '; z2 D R cos ' (5.115)
tische Energie ist offensichtlich
für die abhängigen Koordinaten von m2 .
m  2 P 2
TD xP C d ; (5.107) Die kinetische Energie ist
2 2
1 1  
und die potenzielle Energie der Punktmasse im Gravitations- TD m1 xP 21 C m2 xP 22 C zP 22
feld, ausgedrückt durch d, lautet 2 2 (5.116)
m1 C m2 2 m2  2 2 
D xP 1 C R 'P C 2RPx1 'P cos ' ;
V D mgx3 D mgd sin ˛: (5.108) 2 2
182 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

Übersicht: Lagrange-Formalismus
Teil I

Zusammenfassung der Schritte zur Problemlösung

Im Lagrange-Formalismus kann der typische Lösungsweg 4. Suchen Sie nach zyklischen Koordinaten. Für sie sind die
für ein Problem mit konservativen Kräften folgendermaßen damit verbundenen generalisierten Impulse
zusammengefasst werden:
@L
1. Überlegen Sie sich für ein gegebenes System mit N pj D
@Pqj
Punktmassen, dass die r holonomen Zwangsbedingungen
holonom sind. Dies führt auf F D 3N  r Freiheitsgra-
de. Die funktionale Form fa .x/ der Zwangsbedingungen erhalten.
muss dabei gar nicht bekannt sein. 5. Verwenden Sie für die nichtzyklischen Koordinaten die
2. Suchen Sie F generalisierte Koordinaten qj , die nicht Lagrange-Gleichungen
durch die Zwangsbedingungen eingeschränkt sind. Die
ursprünglichen kartesischen Koordinaten erfüllen dabei d @L @L
 D 0;
dt @Pqj @qj
xi .t; q1 ; : : : ; qF / .1  i  3N/:

3. Stellen Sie die Lagrange-Funktion um die Bewegungsgleichungen zu erhalten.


6. Lösen Sie die resultierenden Bewegungsgleichungen und
L.t; q; qP / D T.t; q; qP /  V.t; q/ diskutieren Sie gegebenenfalls die Ergebnisse.

auf.

z Es gibt mit x1 eine zyklische Variable. Der damit verbundene


erhaltene Impuls,
m1
@L
p1 D D .m1 C m2 /Px1 C m2 R'P cos ' D const; (5.119)
x @Px1

ϕ entspricht dem Gesamtimpuls entlang der x-Achse. Wir nutzen


diese Erhaltungsgröße aus und lösen zunächst nach xP 1 auf, wo-
R bei wir M WD m1 C m2 verwenden:
p1 m2
xP 1 D  R'P cos ': (5.120)
M M
m2 Diese Gleichung kann direkt aufintegriert werden:

FG p1 m2
x1 .t/  x1 .0/ D t R Œsin '.t/  sin '.0/ : (5.121)
M M
Offensichtlich muss noch eine Aussage über die Zeitabhängig-
Abb. 5.6 Beim Rollpendel kann die Masse m1 reibungsfrei auf einer Schiene keit '.t/ getroffen werden. Dazu schreiben wir die entsprechen-
rollen. Eine zweite Masse m2 ist daran mit einem masselosen Stab der Länge R de Lagrange-Gleichung auf. Nach kurzer Rechnung findet man
befestigt und kann unter dem Einfluss der Schwerkraft schwingen
R'R C xR 1 cos ' C g sin ' D 0: (5.122)

die potenzielle Energie


Frage 12
V D m2 gR cos ': (5.117) Verwenden Sie die Lagrange-Gleichung, um diese Bewegungs-
gleichung für ' zu erhalten.
Die Lagrange-Funktion lautet
1 1   Dies kann für kleine Auslenkungen vereinfacht werden, indem
LD .m1 C m2 /Px21 C m2 R2 'P 2 C 2RPx1 'P cos '
2 2 (5.118) man
C m2 gR cos ': cos ' 1; sin ' ' (5.123)
5.4 Beispiele zur Anwendung des Lagrange-Formalismus 183

und damit z
R'R C xR 1 C g' D 0 (5.124)

Teil I
schreibt. Wir eliminieren xR 1 aus der Bewegungsgleichung für ',
indem wir (5.120) einmal nach der Zeit ableiten, nachdem wir
die Näherung (5.123) verwendet haben. Dies führt wegen ψ

m2 R
xR 1  R'R (5.125) g
Θ, M
M r
auf
g M
'R  ': (5.126)
R m1
Bei (5.126) handelt es sich um eine harmonische Schwingungs-
gleichung, die zu

g M m
'.t/ D A sin .!t  0/ ; !2 D (5.127)
R m1

aufintegriert werden kann, wobei A und 0 die Amplitude und


ein Phasenwinkel sind, die durch die Anfangsbedingungen fest- Abb. 5.7 Das doppelte Jo-Jo besteht aus einem starren Körper (Masse M,
Trägheitsmoment ), das unter dem Einfluss der Schwerkraft von einem Faden
gelegt sind. Damit ist auch die Zeitabhängigkeit von x1 in abrollt. Gleichzeitig rollt ein weiterer Faden mit einer Masse m ab, die in einem
(5.121) gegeben. Gefäß mit Wasser eingetaucht und damit einer Reibungskraft unterworfen ist

Frage 13
Überlegen Sie sich, dass die zwei Freiheitsgrade des Problems Aufhängepunkt des oberen Fadens. Die x3 -Achse zeigt nach
mit vier Anfangsbedingungen für p1 und x.0/ sowie A und 0 oben; die Gravitationsbeschleunigung erfüllt demnach g D
versehen sind. gOe3 . Alle linearen Bewegungen können nur entlang der x3 -
Achse stattfinden. Wir verwenden daher jeweils die Koordinaten
z und Z sowie die Geschwindigkeiten zP und ZP für die Punktmas-
Sind alle vier Anfangsbedingungen bekannt, sind die beiden Be-
se und das Jo-Jo. Weiterhin befindet sich die Punktmasse m in
wegungsgleichungen vollständig gelöst, jedenfalls solange die
einem Behälter mit Wasser, sodass m eine dissipative Reibungs-
Näherung (5.123) erfüllt ist. Andernfalls ist das Problem nicht
kraft
analytisch, wohl aber mit numerischen Methoden lösbar.
F .d/ D KPz (5.128)
Mit der zusätzlichen Zwangsbedingung x1 D const reduziert
sich das Rollpendelproblem auf das einfache Stangenpendel. In erfährt (siehe (1.31)) beim Fall mit Stokes’scher Reibung).
diesem Fall gibt es mit ' nur eine generalisierte Koordinate und
Achtung Man beachte, dass (5.128) keine Zwangsbedingung
keine zyklische Koordinate. Interessierte Leser können diesen
darstellt, da sie nicht die Unabhängigkeit der Koordinaten ein-
Spezialfall schnell ableiten, indem x1 in der Lagrange-Funktion
schränkt. J
als konstant behandelt wird.
Zunächst überlegt man sich, wie viele Freiheitsgrade das Sys-
tem ohne Zwangsbedingungen hätte und wie viele Zwangsbe-
dingungen zu berücksichtigen sind. Das Jo-Jo als starrer Körper
Doppeltes Jo-Jo mit Reibung hat ursprünglich sechs, die Punktmasse drei Freiheitsgrade.
Die folgenden Zwangsbedingungen sind zu berücksichtigen (in
Wie in Abb. 5.7 dargestellt, stellen wir uns ein Jo-Jo (Masse M Klammern steht die Anzahl der damit verbundenen unabhängi-
und Trägheitsmoment  bezüglich der Drehachse) vor, das an gen Zwangsbedingungen):
einem Faden abrollt. Der Faden ist an einem Punkt oberhalb des
Jo-Jos befestigt und mit einem Radius R um das Jo-Jo gewickelt. Schwerpunktsbewegung des Jo-Jos entlang einer Achse (2),
Das Jo-Jo ist so gebaut, dass ein zweiter Faden an ihm befestigt feste Rotationsachse des Jo-Jos (2),
ist, an welchem eine Punktmasse m hängt. Dieser zweite Faden Abrollbedingung für das Jo-Jo (1),
ist mit einem Radius r um das Jo-Jo gewickelt. Rollt das Jo- Bewegung der Punktmasse entlang einer Achse (2),
Jo vom oberen Faden ab, so wickelt sich gleichzeitig der untere Abrollbedingung für Punktmasse (1).
Faden ab.
Der Drehwinkel des Jo-Jos ist so definiert, dass er beim Ab- Es gibt acht Zwangsbedingungen und damit nur einen Freiheits-
rollen anwächst. Wir legen den Koordinatenursprung in den grad.
184 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

Frage 14 Man findet schnell die Lagrange-Funktion, in der nur noch


und P auftreten:
Überlegen Sie sich, dass alle Zwangsbedingungen holonom
Teil I

sind. Ansonsten wären die Lagrange-Gleichungen zweiter Art


L D TM C Tm  VM  Vm
gar nicht anwendbar!
1
D MR2 C  C m.R C r/2 P 2
2 (5.134)
Die vier Bedingungen, welche die Bewegungen auf die x3 - C gŒMR C m.R C r/  C
Achse einschränken, sind offensichtlich holonom. Die Abroll- 1
bedingungen sind in diesem Fall ebenfalls holonom, da sie als D 1 P 2 C 2 g  C:
2
Relationen zwischen den Koordinaten dargestellt werden kön-
nen, wie wir in (5.131) und (5.132) sehen werden. Die Fixierung Die Konstante C hängt von Z0 und z0 ab und fällt beim Ableiten
der Drehachse kann durch eine geeignete Festlegung der Euler- der Lagrange-Funktion weg. Dies entspricht der freien Wahl des
Winkel erreicht werden (# D 90ı und ' D 0ı ; siehe Abb. 4.3) Referenzpunktes der potenziellen Energie. Es wurden weiterhin
und ist deshalb ebenfalls holonom. die Abkürzungen 1 und 2 eingeführt. Gleichung (5.134) hat
dieselbe Form wie die Lagrange-Funktion einer Punktmasse im
Es bieten sich im Wesentlichen drei Koordinaten zur Beschrei-
freien Fall.
bung des letzten Freiheitsgrades an: , z oder Z. Wir entschei-
den uns für den Rollwinkel . Man könnte alternativ eine der Frage 15
anderen beiden verwenden. Überlegen Sie sich, dass die Lagrange-Funktion für eine frei
Es müssen nun die gesamte kinetische und potenzielle Energie fallende Punktmasse als
als Funktion von und P aufgeschrieben werden. Die Rei- 1 2
bungskraft der Punktmasse wird als generalisierte, dissipative LD mPz C mgz (5.135)
2
Kraft Q.d/ (5.78) berücksichtigt.
geschrieben werden kann.
Die kinetische Energie des Jo-Jos besteht aus einem Schwer-
punkts- und einem Rotationsanteil. Der konservative Anteil der
Kräfte, die Gewichtskraft, kann in Form eines Potenzials be- Wir erwarten daher ein qualitativ ähnliches Verhalten für in
rücksichtigt werden. Wir schreiben (5.134) und z in (5.135), allerdings sind die Koeffizienten 1
und 2 im Falle des Doppeljojos nicht identisch.
1 1
TM D M ZP 2 C  P 2 ; VM D MgZ: (5.129) Die Bewegungsgleichung für das Jo-Jo folgt aus (5.82):
2 2

Für die Punktmasse gilt 1 R  2 g D Q.d/ : (5.136)

1 2 Es muss noch die generalisierte Reibungskraft aufgestellt wer-


Tm D mPz ; Vm D mgz: (5.130) den. Die Reibungskraft (5.128) wirkt nur auf die Punktmasse m
2
und nur in x3 -Richtung. Daher gibt es lediglich den Beitrag
Es sind nun Z, z sowie ZP und zP zu eliminieren und durch und
P zu ersetzen. Man kann sich leicht überlegen, dass für das Jo- Fz.d/ D KPz: (5.137)
Jo
Z D Z0  R (5.131) Wegen (5.78) gilt

@z
gilt, denn es bewegt sich beim Abrollen nach unten. Hier ist Z0 Q.d/ D Fz.d/ D K.R C r/2 P : (5.138)
eine konstante Referenzhöhe, die in den Bewegungsgleichun- @
gen nicht auftreten wird. Es ist zu beachten, dass beliebige
reelle Werte annehmen kann und nicht auf das Intervall Œ0; 2 / Schließlich lautet die Bewegungsgleichung
eingeschränkt ist.
1 R  2 g D 3 K P ; (5.139)
Für die Punktmasse gilt
wobei 3 D .R C r/2 als weitere Abkürzung eingeführt
z D z0  R r ; (5.132) wurde. Gleichung (5.139) ist mit dem Ausdruck (1.32) der Sto-
kes’schen Reibung zu vergleichen. Ist (5.139) gelöst, können
denn die Bewegung der Punktmasse wird durch das Abrollen die Bewegungen von z und Z aus (5.131) und (5.132) gewonnen
beider Fäden beeinflusst. Analog verwenden wir eine konstante werden. Es handelt sich bei (5.139) um eine lineare, inhomoge-
Referenzhöhe z0 . Da die Radien R und r konstant sind, folgt ne Differenzialgleichung erster Ordnung in P . Hier bietet sich
der Ansatz h i
ZP D R P ; zP D .R C r/ P : (5.133) P D !1 1  e .tt0 / (5.140)
5.4 Beispiele zur Anwendung des Lagrange-Formalismus 185

an. !1 D P j t!1 ist die Endwinkelgeschwindigkeit, und  ist Im Inertialsystem formuliert lautet die Lagrange-Funktion
ein Parameter, der vom Reibungskoeffizienten K abhängt. Die-
1 2

Teil I
ser Ansatz beruht auf den beiden Annahmen, dass zu Beginn L.x; xP / D mPx  V.x/: (5.147)
(t D t0 ) das System in Ruhe ist und der Endzustand P D !1 2
asymptotisch erreicht wird. Wir wollen allerdings die Bewegungsgleichungen für die gestri-
chenen Koordinaten aufstellen. Dazu müssen x und xP durch Ort
Frage 16 und Geschwindigkeit im gestrichenen System (x0 und xP 0 ) ersetzt
Zeigen Sie, dass der Ansatz (5.140) auf die Gleichung werden. Die Lagrange-Funktion lautet dann (Striche bezeichnen
hier keine Ableitungen, sondern lediglich das gewählte Koordi-
.3 K!1  2 g/ C !1 .1   3 K/ e .tt0 /
D 0 (5.141) natensystem)
1  2
führt. L0 .x0 ; xP 0 / Dm xP 0 C !0  x0  b0  V.x0 /
2
m  
D xP 02 C mPx0  !0  x0  b0 (5.148)
Damit diese Gleichung zu allen Zeiten t erfüllt ist, müssen 2
m 0  0 2
C !  x  b0  V 0 .x0 /:
3 K!1  2 g D 0 (5.142) 2
Es ist wieder zu beachten, dass die Lagrange-Funktionen L.x; xP /
und und L0 .x0 ; xP 0 / sowie die Potenziale V.x/ und V 0 .x0 / zwar jeweils
1   3 K D 0 (5.143) dieselbe Größe beschreiben, aber im Allgemeinen unterschied-
liche Funktionen ihrer Argumente sind. Die genaue Form des
separat gelten. Die erste Gleichung führt auf die Endwinkelge- Potenzials spielt hier keine Rolle. Die Winkelgeschwindigkeit
schwindigkeit !0 und die Verschiebung b0 sind vorgegeben und verhalten sich
bei der Differenziation nach x0 und xP 0 wie Konstanten.
2 g .MR C mR C mr/g
!1 D D ; (5.144) Die Ableitung nach den Koordinaten lautet
3 K .R C r/2 K
dL0 dV 0 .x0 /
0
D mPx0  !0 C m !0  .x0  b0 /  !0  : (5.149)
die zweite auf den noch fehlenden Parameter dx dx0
3 K .R C r/2 K Frage 18
D D : (5.145)
1 MR C  C .R C r/2
2
Überprüfen Sie dies mithilfe der Komponentenschreibweise.
Es ist trivial, (5.140) noch einmal aufzuintegrieren. Dies erfor-
dert noch eine Anfangsbedingung für den Winkel. Somit ist das Weiterhin ist
Problem des doppelten Jo-Jos mit Reibung exakt und vollstän- @L0  
dig gelöst. D mPx0 C m!0  x0  b0 : (5.150)
@Px0
Wir berechnen noch
d @L0  
Rotierende Bezugssysteme x0 C m!
0 D mR P 0  x0  b0 C m!0  xP 0 ; (5.151)
dt @Px
0
In Kap. 2 wurden die Bewegungsgleichungen einer Punktmasse wobei wir bP D 0 angenommen haben (Ausschluss einer relati-
in rotierenden Bezugssystemen aufgestellt. Wir können dies je- ven linearen Geschwindigkeit zwischen den Bezugssystemen).
doch mithilfe des Lagrange-Formalismus mit weniger Aufwand Die Bewegungsgleichung (5.83) lautet dann
durchführen. Man erinnere sich dabei an (2.74): dV 0 .x0 /  
 D mRx0 C m!
P 0  x0  b0 C 2m!0  xP 0
  dx 0 (5.152)
xP D R> xP 0 C !0  x0  b0 : (5.146)
C m!0  !0  .x0  b0 /
Diese Gleichung verknüpft die Geschwindigkeit xP in einem In- und entspricht somit genau der Lösung (2.79), die wir bereits
ertialsystem (ungestrichen) mit der Geschwindigkeit xP 0 in einem gefunden haben.
dazu mit !0 rotierenden System (gestrichen).
Dieses Beispiel zeigt die Mächtigkeit des Lagrange-Forma-
Frage 17 lismus. Auch bei Problemen ohne Zwangsbedingungen ist er
Rufen Sie sich die Bedeutung der restlichen Symbole in Erin- extrem nützlich, wie hier bei Koordinatentransformationen. Der
nerung. Übergang von kartesischen Koordinaten zu Kugelkoordinaten
wird in Aufgabe 5.3 durchgeführt.
186 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

5.5 Variationsrechnung
y
Teil I

In diesem Abschnitt werden die Grundlagen der Variationsrech-


n1 n2
nung diskutiert. Mit ihrer Hilfe lassen sich Integralprinzipien,
wie das Fermat’sche oder das Hamilton’sche Prinzip formu- x2
lieren. Wir werden sehen, dass sich aus dem Hamilton’schen
Prinzip die Bewegungsgleichungen der Mechanik ableiten las-
sen. Dazu wird die sogenannte Wirkung als das Zeitintegral y + δy
α2
der Lagrange-Funktion eingeführt. Die Wirkung ist in vielen α1 y
Bereichen der Physik von zentraler Bedeutung (siehe auch
Kap. 20). Aufgrund seiner Kompaktheit und Eleganz ist das
Hamilton’sche Prinzip von großer Bedeutung für die Physik.
Anschließend wird gezeigt, wie sich die Variationsrechnung auf
Probleme mit Nebenbedingungen anwenden lässt.
x1

x
Mathematische Grundlagen und physikalische
Abb. 5.8 Zur Lichtbrechung: Das Licht wählt denjenigen Weg, der die
Bedeutung gesamte Laufzeit zwischen zwei Punkten minimiert. Dies führt auf das
Brechungsgesetz
Die Newton’schen Bewegungsgleichungen und die Lagrange-
Gleichungen sind Differenzialgleichungen. Ist der Zustand ei- Der Lichtstrahl laufe von einem Punkt x1 im linken zu
nes Systems zu einer gegebenen Zeit t bekannt, so kann man einem Punkt x2 im rechten Halbraum, wobei wir zur Ver-
daraus den Zustand zur Zeit t C dt berechnen. Im Idealfall lässt einfachung z D 0 setzen. In beiden Halbräumen folgt das
sich die gesamte Bahnkurve des Systems durch Integration der Licht jeweils einer Geraden. Der Übergang zwischen den
Bewegungsgleichungen in geschlossener Form angeben. Dieser Halbräumen findet per Definition im Punkt .0; y; 0/ statt.
Zugang kann als Differenzialprinzip bezeichnet werden. Die gesamte Lichtlaufzeit ist
q q
Es ist allerdings möglich, die Bewegungsgleichungen aus einem n1 n2
D x21 C .y  y1 /2 C x22 C .y2  y/2 : (5.153)
Prinzip abzuleiten, das die gesamte Bahnkurve – und nicht einen c c
infinitesimalen Abschnitt – als Grundlage nimmt. Hier spricht
man auch von dem Integralprinzip. Was hat es mit dieser Aus- Die Vakuumlichtgeschwindigkeit c ist in den Halbräumen
sage auf sich? jeweils um den Faktor n1 bzw. n2 vermindert. Das Fer-
mat’sche Prinzip lautet
Um dies genauer zu verstehen, müssen wir ein wenig aus-
holen und einige mathematische Grundlagen bereitstellen. Im ı D 0; (5.154)
Rahmen der Differenzialrechnung ist es eine leichte Übung,
stationäre Punkte einer Funktion y.x/ zu finden: Diese Punkte denn die Lichtlaufzeit soll extremal (in diesem Fall mi-
erfüllen dy=dxjxDa D 0. Dabei kann es sich um ein Maximum, nimal) sein. Eine Störung von  entspricht einer kleinen
Minimum oder einen Sattelpunkt handeln. Die Variationsrech- Verschiebung ıy. Die Anfangs- und Endpunkte x1 und x2
nung hingegen macht es sich zur Aufgabe, Funktionen y.x/ zu bleiben unverändert. Es folgt
finden, die ein bestimmtes Integral über eine Funktion dieser
Funktion extremal machen. Funktionen von Funktionen nennt d
ı D ıy D 0 (5.155)
man Funktionale (siehe „Mathematischen Hintergrund“ 5.2). dy
Dies führt auf die Extremalprinzipien, die in der Physik eine
wichtige Rolle spielen. und somit
n1 y  y1 n2 y2  y
q D q : (5.156)
Fermat’sches Prinzip c x2 C .y  y /2 c x2 C .y  y/2
1 1 1 2

Ein eingängiges Beispiel für ein Extremalprinzip kommt Dies lässt sich durch die Winkel der Lichtstrahlen darstel-
aus der geometrischen Optik: Das Fermat’sche Prinzip len (Abb. 5.8). Man findet mit
besagt, dass längs eines tatsächlich realisierten Licht-
strahles die Lichtlaufzeit extremal wird. Betrachten wir n1 sin ˛1 D n2 sin ˛2 (5.157)
zwei Halbräume mit unterschiedlichen Brechungsindizes
n1 (links) und n2 (rechts), wie in Abb. 5.8 dargestellt. das Brechungsgesetz. J
5.5 Variationsrechnung 187

5.2 Mathematischer Hintergrund: Funktionale

Teil I
Die Variationsrechnung verallgemeinert die Extremwertbe- Ein weiteres Beispiel sind die bestimmten Integrale
stimmung von „gewöhnlichen“ Funktionen: Sie fragt näm- der auf dem Intervall Œa; b 2 R stetigen Funktionen
lich nach stationären Punkten (Maximum, Minimum, Sat- C 0 .Œa; b; R/. Betrachten wir konkret die bekannten In-
telpunkt) von sogenannten Funktionalen. Wir müssen daher tegralregeln
zunächst verstehen, was Funktionale sind. Ein Funktional ist
grob gesprochen eine Funktion auf Funktionen. Zb Zb Zb
f1 .x/ dx C f2 .x/ dx D .f1 .x/ C f2 .x// dx
Definition Genauer sei V ein K-Vektorraum (K 2 fR; Cg).
Dann ist ein Funktional T eine Abbildung a a a

T W V ! K: und

Man unterscheidet zwischen linearen und nichtlinearen Zb Zb


Funktionalen, wobei in der Literatur mit einem Funktional ˛ f .x/ D .˛f .x// dx;
oft ein lineares Funktional gemeint ist. Ein lineares Funk- a a
tional ist eine lineare Abbildung. Dabei ist die Menge der
linearen Funktionale wieder ein Vektorraum über K, da man so sehen wir, dass das durch die Integration definierte
für T1 ; T2 2 V und ˛ 2 K Funktional I W C 0 .Œa; b; R/ ! R linear ist.
Anders verhält es sich bei dem Bogenlängenfunktional.
.T1 C T2 /.x/ WD T1 .x/ C T2 .x/ und .˛T1 /.x/ WD ˛.T1 .x// Es sei  W Œa; b ! R3 eine stetig differenzierbare Kurve
im R3 . Dann definiert die Abbildung
definieren kann. Entsprechend heißt ein Funktional, das die
obigen Eigenschaften nicht erfüllt, nichtlinear.
Zb
L W C 1 .Œa; b; R3 / ! R;  7! L. / D jj.s/jj
P ds
Beispiele a
Die Dirac-Distribution (Distributionen werden in Kap. 11
genauer betrachtet) ist ein erstes einfaches Beispiel für ein ebenfalls ein Funktional, das die Bogenlänge der Kur-
Funktional. Dazu sei V der Vektorraum aller Funktionen ve im Intervall Œa; b ergibt. Da die Norm jj.s/jj P wegen
der Form R ! R. Dann definiert jjP1 .s/jj C jjP2 .s/jj  jjP1.s/ C P2 .s/jj i. A. nicht linear
ist, handelt es sich um ein nichtlineares Funktional.
ı W V ! R; f 7! ıŒ f  D f .0/

ein lineares Funktional, d. h., der Funktion f wird ihr Wert Literatur
an der Stelle 0 zugewiesen. Von der Dirac-Distribution
wird in der theoretischen Physik reger Gebrauch gemacht. Arens, T., et al.: Mathematik. 2. Aufl., Spektrum Akade-
Sie wird in Kap. 11 gründlich diskutiert. mischer Verlag, 2012

In diesem Abschnitt wird das folgende von Euler aufgeworfe- gen Parameters x. Die Endpunkte x0 und x1 sind vorgegeben,
ne Problem sehr wichtig werden: Man finde diejenige Funktion ebenso die Werte y.x0 / und y.x1 /.
y.x/, für die das Integral
Man kann sich leicht vorstellen, dass das Integral F von der
Zx1 Gestalt von y.x/ abhängt. Wir nehmen nun an, dass F für eine
FŒy D f .x; y; y0 / dx (5.158) Funktion y.x/ extremal ist. Wodurch unterscheiden sich jedoch
x0
alle anderen möglichen Funktionen yQ .x/ von y.x/?

extremal ist. Ob es sich um ein Maximum, ein Minimum oder


einen Sattelpunkt handelt, hängt vom gegebenen Problem ab Funktionale
und muss gegebenenfalls zusätzlich untersucht werden. Hier
und im weiteren Verlauf ist y0 WD dy=dx die Ableitung von y.x/ Wir betrachten als Beispiel die Funktion y.x/ D x2 im
nach x. Des Weiteren ist f eine vorgegebene skalare Funktion Intervall Œ0; 1. Wir wählen f .x; y; y0 / D y  y0 x, was auf
der Funktion y.x/, ihrer Ableitung y0 .x/ sowie des unabhängi-
188 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

y
das Funktional
Teil I

Z1 Z1 P1 (x1 , y1 )
 2  y1
FŒy D y.x/  y0 .x/x dx D x  2x2 dx
0 0
ˇ
3 ˇ1
ỹ(x)
x 1
D  ˇˇ D  (5.159) δy(x)
3 0 3 y(x)

führt. Nehmen wir nun eine weitere Funktion yQ .x/ D x,


die yQ .0/ D y.0/ und yQ .1/ D y.1/ erfüllt.

Überprüfen Sie, dass dies FŒQy D 0 ergibt.


y0
P0 (x0 , y0 )
Offensichtlich ergeben beide Funktionen unterschiedli-
che Integrale. J x0 x1 x

Abb. 5.9 Eine kleine Störung ıy.x/ führt von y.x/ auf eine alternative Funkti-
Historisch wurde die Variationsrechnung im Jahre 1696 durch on. Die beiden Endpunkte P0 .x0 ; y0 / und P1 .x1 ; y1 / bleiben dabei fest
den Schweizer Mathematiker Johann Bernoulli (1667–1748)
begründet, der das Problem der Brachistochrone löste. Dabei
ging es darum, diejenige Kurve zu finden, auf der sich eine Näherung gleich demjenigen längs yQ .x/ D y.x/ C ıy.x/ ist. Ma-
Punktmasse reibungsfrei am schnellsten von einem Punkt zu ei- thematisch schreiben wir
nem anderen bewegt (Aufgabe 5.5).
Zx1 Zx1 
So wie man bei Funktionen extremale Punkte durch die Be- @f @f d.ıy/
trachtung von Tangenten diskutieren kann, betrachten wir nun 0 D ıF D ıf dx D ıy C 0 dx; (5.164)
@y @y dx
eine infinitesimale Störung um die gesuchte Funktion y. Da- x0 x0
zu führen wir eine weitere Funktion yQ ein, die sich für alle
x 2 Œx0 ; x1  nur um eine infinitesimale Funktion ıy von y un- wobei (5.162) verwendet wurde. Mithilfe einer partiellen Inte-
terscheidet (Abb. 5.9): gration lässt sich der zweite Summand umformen. Man schreibt

yQ .x/ D y.x/ C ıy.x/: (5.160) Zx1 ˇ Zx1  


@f d.ıy/ @f ˇˇx1 d @f
dx D ıy  ıy dx (5.165)
Dabei muss ıy.x0 / D ıy.x1 / D 0 erfüllen, da die Endpunkte @y0 dx @y0 ˇx0 dx @y0
festgehalten werden. Genau wie y.x/ soll ıy.x/ differenzierbar x0 x0

sein. Die Variation von f ist dann definiert als


und sieht, dass der Randterm verschwindet, da ıy.x0 / D
ıf D f .x; yQ ; yQ 0 /  f .x; y; y0 / ıy.x1 / D 0 gilt.
(5.161)
D f .x; y C ıy; y0 C ıy0 /  f .x; y; y0 /: Frage 19
0 0 Vergewissern Sie sich, dass Sie die partielle Integration verstan-
Man vergleicht also f .x; y; y / mit f .x; yQ ; yQ / bei gleichen Wer-
den haben.
ten x, sodass ıx D 0 gilt. Es lässt sich leicht zeigen, dass die
Ableitung nach x und die Variation ı vertauschen:
 
dy d.y C ıy/ d.y/ d.ıy/ Daher muss also
ı D  D : (5.162)
dx dx dx dx Zx1 
@f d @f
Aufgrund der Kettenregel kann man die Variation (5.161) auch 0 D ıF D  ıy.x/ dx (5.166)
@y dx @y0
in der Form   x0
@f @f dy
ıf D ıy C 0 ı (5.163)
@y @y dx gelten, wenn F stationär ist. Wir haben nun fast das Ziel erreicht.
Es wurden bislang keinerlei Anforderungen an die Variation
schreiben.
ıy.x/ gestellt (abgesehen davon, dass sie infinitesimal sein soll).
Der entscheidende Gedanke ist nun, dass für y.x/ das Integral Das Ergebnis in (5.166) muss also für alle infinitesimalen Varia-
extremal (stationär) ist, wenn das Integral längs y.x/ in erster tionen gelten. Daher muss der Integrand selbst verschwinden.
5.5 Variationsrechnung 189

Euler-Gleichung der Variationsrechnung einführen. Offensichtlich lässt sich dann die Euler-Glei-

Teil I
chung (5.168) anwenden:
Das Integral
Zx1
d @f @f
FŒy D f .x; y; y0 / dx (5.167)  D 0: (5.172)
dx @y0 @y
x0

wird bei festgehaltenen Randpunkten y.x0 / und y.x1 / ex- Da f nicht von y, sondern nur von y0 abhängt, folgt
tremal, wenn die Funktion y.x/ die Euler-Gleichung
d y0 y0
p D0 H) p D const:
d @f @f dx 1 C y02 1 C y02
 D0 (5.168) (5.173)
dx @y0 @y
Diese Gleichung ist nur für y0 D m D const erfüllbar und
erfüllt. Diese Gleichung ist also die notwendige Bedin- führt auf die Lösung
gung an y.x/. Eine Funktion y.x/, die (5.168) erfüllt, heißt
Extremale. y D mx C c: (5.174)

Dies ist die Gleichung einer Geraden in der x-y-Ebene mit


Die Euler-Gleichung ist eine Differenzialgleichung zweiter Steigung m. Die Steigung und die Integrationskonstante c
Ordnung, die linear in y00 ist (dies folgt aus der Kettenregel, sind so zu bestimmen, dass die Gerade durch die beiden
wenn f in (5.168) höchstens von der ersten Ableitung y0 ab- Punkte x0 und x1 läuft.
hängt, da die Ableitung nach x dann eine innere Ableitung y00
erzeugt, die nur linear vorkommt). Um sie zu lösen, sind zwei Streng genommen müsste man noch zeigen, dass die Ge-
Integrationskonstanten notwendig. Dies können entweder die rade tatsächlich auf eine minimale und nicht bloß eine
Endpunkte y.x0 / und y.x1 / sein oder aber die „Anfangsbedin- extremale Länge führt.
gungen“ y.x0 / und y0 .x0 /. Denkbar sind auch andere unabhän- In Aufgabe 5.6 wird die kürzeste Verbindung zwischen
gige Kombinationen wie y.x0 / und y0 .x1 /. Mathematisch sind zwei Punkten auf der Kugeloberfläche bestimmt. J
diese Zugänge äquivalent. Es hängt vom physikalischen Pro-
blem ab, welche Randbedingungen vorgegeben werden.
Frage 20
Kürzeste Verbindung zweier Punkte
Schauen Sie sich erneut das Fermat’sche Prinzip an und denken
Wie verläuft die kürzeste Verbindung zweier Punkte x0 Sie sich die Laufzeit des Lichtes als eine Funktion .y/. Die
und x1 im Raum? Wir werden bei der folgenden Rech- Anwendung der Euler-Gleichung (5.168) mit f .y/ D .y/ führt
nung keine Überraschung erleben: Es handelt sich selbst- dann sofort auf (5.156).
verständlich um eine Gerade.
Dazu müssen wir zunächst das Wegintegral zwischen den Die Variationsrechnung wird in Aufgabe 5.5 verwendet, um die
beiden festen Endpunkten x0 und x1 formulieren. Zur Ver- Brachistochrone zu finden, also diejenige Kurve, auf der ei-
einfachung legen wir die beiden Punkte (und die gesamte ne Punktmasse im Gravitationsfeld am schnellsten reibungsfrei
Kurve) in die x-y-Ebene und schreiben zunächst das Weg- gleitet.
element p
ds D dx2 C dy2 : (5.169)
Die Länge einer Kurve zwischen x0 und x1 ist Verallgemeinerung der Euler-Gleichung
s auf mehrere abhängige Variablen
Zs1 Z 1/
x.s  2
dy
lD ds D 1C dx: (5.170)
dx Für viele Probleme reicht es aus, die Variation mit nur einer ab-
s0 x.s0 /
hängigen Funktion y.x/ durchzuführen. Wir werden allerdings
in Kürze eine Erweiterung auf beliebig viele abhängige Funk-
Da die Länge minimal sein soll, fordern wir ıl D 0. Wei- tionen yi .x/ (1  i  N) benötigen.
terhin lässt sich die Funktion
Das Integral (5.158) lautet dann zunächst
s
p  2
0 02
dy Zx1
f .y / D 1 C y D 1 C (5.171)  
dx FŒy1 ; : : : ; yN  D f x; y1 ; : : : ; yN ; y01 : : : y0N dx (5.175)
x0
190 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

Vertiefung: Variationsrechnung
Teil I

Praktische Rechenvereinfachung für die Stationaritätsbedingung

In (5.160) wurde die Variation der Funktion y.x/ eingeführt. und kann mit den üblichen Methoden der Differenzialrech-
Im Allgemeinen ist die Variationsrechnung mit Funktiona- nung behandelt werden. Dies soll im Folgenden ausgenutzt
len schwieriger zu handhaben als die Kurvendiskussion einer werden.
Funktion. Der Grund ist, dass das Argument eines Funktio-
Unter der Variation von F versteht man nun den Ausdruck
nals eine Funktion ist – und keine einfache Zahl.
ˇ
Hier werden im Prinzip dieselben Rechnungen wie im dF ˇˇ
ıF D d:
Haupttext durchgeführt, allerdings mathematisch stringenter d ˇ D0
als dort.
Analog ist
Für unsere Zwecke lässt sich eine formale Vereinfachung
ˇ
anwenden, bei der das Funktional in eine Funktion umge- @y ˇˇ
ıy D d
wandelt werden kann. Betrachten wir dazu ein Funktional @ ˇ D0
Zx1
die Variation von y.
FŒy D f .x; y; y0 / dx:
x0
Kommen wir nun zurück zum Problem der unbekannten
Funktion y.x/. Zunächst ist
Gesucht ist diejenige Funktion y.x/, die FŒy für feste End-
ˇ Zx1  
punkte y.x0 / und y.x1 / stationär macht. Der Strich steht hier dF ˇˇ @f @y @f @y0
0D D C 0 dx:
und im Folgenden für die Ableitung nach x. d ˇ D0 @y @ @y @
x0
Nun schreiben wir, ausgehend von (5.160):
Mithilfe der üblichen partiellen Integration und der Bedin-
y.x; / WD y.x/ C ıy.x; / D y.x; 0/ C  .x/: gung, dass die Variation von y an den Rändern verschwindet,
folgt
Wir parametrisieren die Variation von y.x/ also mit einem
Parameter  und führen eine beliebige Funktion .x/ ein, ˇ Zx1  
dF ˇˇ @f d @f @y
deren Gestalt hier keine Rolle spielt. Es wird lediglich ver- 0D D  dx:
langt, dass sie bei x0 und x1 verschwindet. Die Funktion d ˇ D0 @y dx @y0 @
x0
y.x/ D y.x; 0/ ist noch unbekannt; wir wissen allerdings,
dass sie sich für  D 0 aus y.x; / ergibt. Wir halten in Ge- Multipliziert man beide Seiten mit d und betrachtet den
danken y.x/ und .x/ fest und definieren nun die Funktion Grenzfall  D 0, erhalten wir offensichtlich die Gleichung

F./ WD FŒy C  ; Zx1  


@f d @f
0 D ıF D  ıy dx;
die dann nur noch von  abhängt. Entscheidend ist nun, dass @y dx @y0
x0
die Funktion F./ für  D 0 einen stationären Punkt hat,
denn für  D 0 ergibt sich die Funktion y.x/, von der wir in der  nicht mehr auftritt. An dieser Stelle kommt die Belie-
wissen, dass sie das Funktional stationär macht. Die Statio- bigkeit der Variation ıy bzw. von ins Spiel: Die Variation
naritätsbedingung lautet nun von F kann nur dann allgemein verschwinden, wenn der
ˇ Ausdruck in den Klammern null ist. Dies führt wieder un-
dF ˇˇ mittelbar auf die Euler-Gleichung (5.168) für y.x/ – analog
D0
d ˇ D0
zu dem im Haupttext vorgestellten Vorgehen.

oder in Kurzform wieder wobei wir y und y0 stellvertretend für alle yi und y0i schreiben.
Wir nehmen hier nun schon vorweg, dass in der Mechanik die yi
Zx1 und y0i später durch die voneinander unabhängigen, generalisier-
FŒy D f .x; y; y0 / dx; (5.176) ten Koordinaten qi und ihre Zeitableitungen qP i sowie x durch die
x0 Zeit t ersetzt werden. Die Anzahl N der von x bzw. t abhängigen
5.5 Variationsrechnung 191

Parametern entspricht dann gerade der Anzahl der Freiheitsgra- nannt wird. Jeder mögliche Systemzustand q entspricht genau
de des Systems. einem Punkt in diesem Konfigurationsraum, der als RF darge-

Teil I
stellt werden kann. Der Konfigurationsraum ist in der Regel kein
Gesucht ist nun der Satz von Funktionen yi .x/ (1  i  N),
Vektorraum, wie man sich am Beispiel der Euler-Winkel schnell
für die das Funktional FŒy mit den festen Randbedingungen
klarmachen kann.
yi .x0 / D yi;0 und yi .x1 / D yi;1 stationär wird. Die Variation ıf
lautet in diesem Fall
Kreisel im Konfigurationsraum
@f @f @f @f
ıf D ıy1 C : : : C ıyN C 0 ıy01 C : : : C 0 ıy0N
@y1 @yN @y1 @yN Ein freier Kreisel hat sechs Freiheitsgrade, z. B. drei
X  @f @f 0
 Schwerpunkts- und drei Orientierungskoordinaten, X und
D ıyi C 0 ıyi : #, ', . Man kann diese sechs Koordinaten als die gene-
@yi @yi
i ralisierten Koordinaten verwenden: q D .q1 ; : : : ; q6 / D
(5.177) .X1 ; X2 ; X3 ; #; '; /. Alle erdenklichen Konfigurationen
Sie muss erneut dieses Kreisels werden durch genau einen Punkt q in
Zx1
einem sechsdimensionalen Konfigurationsraum beschrie-
0 D ıF D ıf dx (5.178)
ben. J
x0

erfüllen. Es ist nun wieder eine partielle Integration durchzufüh-


Die Zeitentwicklung dieses Systems wird dann durch eine Kur-
ren, diesmal allerdings für N Terme. Die Berechnung ist jedoch
ve q.t/ im Konfigurationsraum beschrieben, wobei die Zeit ein
vollständig analog zum vorherigen Fall mit nur einer abhängi-
geeigneter Bahnparameter ist. Man nennt q.t/ die Bahn des
gen Variablen, da für jeden Term die Randterme aufgrund der
Systems. Im Folgenden soll die Bahn zwischen zwei festen Zeit-
festen Randbedingungen verschwinden. Dies führt zunächst auf
punkten t0 und t1 betrachtet werden.
Zx1 X  
@f d @f Der Konfigurationsraum RF entspricht im Allgemeinen nicht
0 D ıF D  ıyi .x/ dx: (5.179) dem euklidischen Raum R3 , sondern kann eine Mannigfaltig-
i
@yi dx @y0i
x0 keit sein. Es gibt jedoch Ausnahmen, wie beispielsweise eine
Punktmasse, deren drei kartesische Koordinaten x als generali-
Frage 21 sierte Koordinaten q D .x1 ; x2 ; x3 / verwendet werden.
Zeigen Sie, aufbauend auf der partiellen Integration für eine ein-
zelne abhängige Funktion y.x/, dass (5.178) auf (5.179) führt. Angenommen, die Bewegungsgleichungen eines konservativen
Systems können aus einer Lagrange-Funktion L.t; q; qP / herge-
leitet werden. Dies führt (bei gegebenen Anfangsbedingungen)
Da die Variationen ıyi .x/ erneut beliebig wählbar sind, folgen auf eine Bahn q.t/. Wir wollen uns im Folgenden auf ein be-
die Euler-Gleichungen für mehrere abhängige Variablen. liebiges Zeitintervall t0  t  t1 konzentrieren. Wodurch
unterscheidet sich diese Bahnkurve von allen anderen Bahn-
Euler-Gleichungen für mehrere abhängige Variablen kurven qQ .t/, welche die Punkte q.t0 / und q.t1 / verbinden, in
Wirklichkeit aber nicht beobachtet werden? Dazu führt man zu-
Gibt es N abhängige Variablen yi .x/, so lautet die Erwei- nächst die sogenannte Wirkung als Funktional
terung von (5.168):
Zt1
d @f @f SŒq WD L.t; q; qP / dt (5.181)
 D 0 .1  i  N/: (5.180)
dx @y0i @yi t0

Es sind also N partielle Differenzialgleichungen zweiter ein. Sie ist nichts weiter als das Zeitintegral der Lagrange-
Ordnung unter Berücksichtigung der 2N Randbedingun- Funktion entlang der tatsächlichen Bahn q.t/. Die physikalische
gen yi .x0 / D yi;0 und yi .x1 / D yi;1 zu lösen. Einheit der Wirkung ist Energie mal Zeit. Man erkennt sofort
die Äquivalenz mit (5.176). Mithilfe der Wirkung lässt sich nun
ein Integralprinzip postulieren.

Das Hamilton’sche Prinzip Hamilton’sches Prinzip der stationären Wirkung


der stationären Wirkung Entlang der tatsächlichen Bahn q.t/ zwischen den Zeiten
t0 und t1 wird die Wirkung (5.181) extremal. Es gilt also
Nach diesem mathematischen Exkurs kommen wir zurück zur Zt1
Mechanik. Wir stellen uns zunächst ein mechanisches System
0 D ıS D ıL.t; q; qP / dt (5.182)
mit F Freiheitsgraden und den generalisierten Koordinaten q D
.q1 ; : : : ; qF / vor. Es soll daran erinnert werden, dass der durch t0
alle Parameter q aufgespannte Raum Konfigurationsraum ge-
192 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

Vertiefung: Variationsrechnung
Teil I

Höhere Ableitungen und mehrere unabhängige Parameter

Bei bestimmten Problemen nimmt das zu variierende Inte- Was passiert, wenn man n unabhängige Parameter xj zu be-
gral die Gestalt rücksichtigen hat? In diesem Fall ist
Zx1
Zx1;1 Zxn;1  
FŒy D f .x; y; y0 ; y00 / dx @y @y
FŒy D dx1 : : : dxn f x1 ; : : : ; xn ; y; ;:::; :
x0 @x1 @xn
x1;0 xn;0
an (beispielsweise bei der Balkenbiegung, die wir hier aller-
dings nicht besprechen). Auch hier sollen an den Rand- Wieder werden festgehaltene Randpunkte y.x0;1 ; : : : ; x0;n /
punkten die Werte von y, aber auch die von y0 festgehalten und y.x1;1 ; : : : ; x1;n / betrachtet. Die resultierenden Euler-
werden. Man kann dann durch zweifache partielle Integrati- Gleichungen lauten
on zeigen, dass die entsprechenden Euler-Gleichungen
d2 @f d @f @f Xn
@ @f @f
00  0 C D0 .1  i  N/  D0 .1  i  N/:
dx @yi
2 dx @yi @yi @xj @.@yi =@xj / @yi
jD1
lauten und somit Differenzialgleichungen vierter Ordnung
sind. Es sind also weitere Randbedingungen zu spezifizieren, Anwendungen mit mehreren unabhängigen Parametern fin-
um die Gleichungen lösen zu können. det man vor allem in Feldtheorien.

und Endpunkte der Bahn, also q.t0 / und q.t1 /, wieder festgehal-
für eine infinitesimale Variation der Wirkung. Diese Aus- ten werden. Das Ergebnis lautet also
sage wird auch als das Wirkungsprinzip oder Prinzip der
stationären Wirkung bezeichnet. d @L @L
 D0 .1  i  F/ (5.183)
dt @Pqi @qi

Das Wirkungsprinzip ist sehr abstrakt und hat auf den ersten für die F generalisierten Koordinaten qi .t/. Diese Gleichungen
Blick mit den Bewegungsgleichungen der Mechanik nichts zu nennt man daher auch die Euler-Lagrange-Gleichungen.
tun. Tatsächlich aber ist die Wichtigkeit des Wirkungsprinzips
für die theoretische Physik nicht hoch genug einzustufen. So
wird im Anschluss gezeigt, wie sich die Lagrange-Gleichungen Äquivalenz von Hamilton’schem Prinzip und Lagrange-
zweiter Art aus (5.182) herleiten lassen. Gleichungen

Achtung Da in den meisten mechanischen Problemen die Alle Rechenschritte, die vom Hamilton’schen Prinzip auf
Wirkung entlang der tatsächlichen Bahn minimal wird, spricht (5.183) führen, sind umkehrbar. Daher sind das Hamil-
man auch vom Prinzip der kleinsten Wirkung. Da aber nicht in ton’sche Prinzip (5.182) und die Euler-Lagrange-Glei-
allen Fällen die Wirkung minimal ist, handelt es sich um eine chungen (5.183) äquivalent.
sprachliche Ungenauigkeit, und man sollte besser vom Prinzip
der extremalen Wirkung sprechen. J
Warum ist das Hamilton’sche Prinzip nun so wichtig? In Ab-
schn. 5.3 wurden die Lagrange-Gleichungen aus den New-
ton’schen Axiomen hergeleitet. Die Newton’schen Axiome
Herleitung der Lagrange-Gleichungen haben allerdings den großen Nachteil, dass sie nicht invari-
aus dem Hamilton’schen Prinzip ant unter Koordinatentransformationen sind, die keine Galilei-
Transformationen sind. So gelten die Newton’schen Axiome
in ihrer ursprünglichen Form beispielsweise nicht in Kugelko-
Im Grunde wurde mit der Bereitstellung von (5.180) bereits
ordinaten oder beschleunigten Bezugssystemen; die Lagrange-
alles gesagt, was nötig ist, um die Lagrange-Gleichungen zwei-
Gleichungen sind von dieser Einschränkung nicht betroffen.
ter Art aus dem Hamilton’schen Prinzip abzuleiten. Dazu muss
Das Hamilton’sche Prinzip stellt die Bewegungsgleichungen
man lediglich erkennen, dass die Funktion f .x; y; y0 / durch die
und damit die Dynamik auf ein tieferes Fundament.
Lagrange-Funktion L.t; q; qP / ersetzt wird. Die Wirkung SŒq
übernimmt die Rolle des Funktionals FŒy. Der unabhängige Pa- Wir werden weiterhin in Kap. 20 sehen, dass das Wirkungsprin-
rameter x wird zur Zeit t. Es ist zu beachten, dass die Anfangs- zip äußerst fruchtbar für die Formulierung von Feldtheorien ist.
5.5 Variationsrechnung 193

Tatsächlich lässt sich das Variationsprinzip in fast allen Berei- (5.176) extremal machen, wobei aber gleichzeitig r Nebenbe-
chen der theoretischen Physik anwenden, um verallgemeinerte dingungen

Teil I
Bewegungsgleichungen zu erhalten. Dies zeigt letztlich, dass Zx1
viele Gebiete der Physik in ihrer zugrunde liegenden Struktur Fj D fj .x; y; y0 / dx D Cj D const .1  j  r/ (5.184)
sehr ähnlich sind, selbst wenn völlig unterschiedliche Systeme
x0
betrachtet werden (wie z. B. Punktmassen, elektromagnetische
Felder und Kosmologie). Die Wirkung S spielt insbesondere ei- erfüllt sein sollen. Hier ist darauf zu achten, dass für das
ne wichtige Rolle in der Quantenmechanik. Dies kommt bei der Funktional F als auch für alle Nebenbedingungen Fj dieselben
Pfadintegralquantisierung eines physikalischen Systems (Ab- Integrationsgrenzen (x0 und x1 ) zu verwenden sind. Man kann
schn. 25.5) besonders klar zum Ausdruck. dann zeigen, dass das Funktional
Das Hamilton’sche Prinzip führt im Gegensatz zum Lagrange- X
r
F  WD F  j Fj (5.185)
Formalismus nicht zu einer weiteren Vereinfachung von kon-
jD1
kreten Berechnungen der Bewegungsgleichungen. Vielmehr ist
es ein fundamentales Prinzip, das koordinatenunabhängig ist. ebenfalls stationär ist, wobei r konstante Lagrange-Multipli-
Es bietet eine äußerst elegante und kompakte Formulierung der katoren eingeführt wurden. Daraus lassen sich die Euler-Glei-
mechanischen Gesetze. chungen für isoperimetrische Nebenbedingungen ableiten.

Euler-Gleichungen für isoperimetrische Nebenbedin-


gungen
Berücksichtigung von isoperimetrischen
und holonomen Nebenbedingungen Die N Funktionen yi .x/ lassen sich aus
d @f  @f 
 D 0 .1  i  N/ (5.186)
Bisher wurde nur die Variationsrechnung ohne Nebenbedingun- dx @y0i @yi
gen vorgestellt. Dieses Werkzeug stößt allerdings schnell an bestimmen, wobei
seine Grenzen. Betrachten wir dazu folgende Problemstellung:
Eine Konservenfabrik möchte die Kosten reduzieren. Schnell X
r
f  WD f  j fj (5.187)
kommt man auf die Idee, die Materialmenge für die Konserven
jD1
zu verringern, also ihre Oberfläche zu minimieren. Offensicht-
lich ist die Oberfläche minimal, wenn die Konserve sehr klein ist.
wird. Dies ist allerdings eine unbrauchbare Lösung, da das Kon-
servenvolumen dabei ebenfalls abnimmt. Mathematisch muss
Wir haben es mit N Differenzialgleichungen zweiter Ordnung
man stattdessen fragen: Wie lässt sich die Oberfläche einer Kon-
zu tun, die mit den 2N Randbedingungen yi .x0 / und yi .x1 / gelöst
servendose bei konstantem Volumen minimieren? Dies führt auf
werden können. Es treten dabei noch die r Lagrange-Multiplika-
isoperimetrische Nebenbedingungen, bei denen ein Integral (in
toren auf, die sich mithilfe der Nebenbedingungen eliminieren
diesem Fall das Volumen) bei der Variation festgehalten wird.
lassen.
Eine andere typische Problemstellung ist, den kürzesten Weg
auf einer bestimmten Oberfläche zu finden. Der kürzeste Ab- Größte eingeschlossene Fläche
stand zwischen zwei Punkten ist, wie wir bereits gefunden
hatten, eine Gerade. Allerdings können Flugzeuge nie ihren Ein klassisches Beispiel ist das Auffinden derjenigen ge-
Zielflughafen direkt ansteuern, da sie sonst durch die Erde hin- schlossenen Kurve r.'/ in einer Ebene, die – bei festem
durch fliegen müssten. Diese und ähnliche Probleme lassen Umfang – die größte Fläche einschließt. Es ist also die
sich unter Berücksichtigung von holonomen Nebenbedingungen Fläche
lösen. Eine kürzeste Verbindung entlang einer vorgegebenen Z2
1
Fläche nennt man Geodäte oder geodätische Linie. Sie spielen AD r2 .'/ d' (5.188)
2
in der allgemeinen Relativitätstheorie (die gekrümmte Räume 0
beschreibt) eine fundamentale Rolle. zu maximieren, wobei der Umfang
Anstatt die technischen Herleitungen im Detail vorzuführen, Z p Z2 p
wollen wir uns in diesem Abschnitt auf die Ergebnisse konzen- UD dx2 C dy2 D r2 C r02 d' (5.189)
trieren, um einen Geschmack davon zu vermitteln, wie realisti-
@A 0
sche Probleme behandelt werden können. Für eine gründlichere
Herleitung soll auf die Literatur verwiesen werden (Fließbach mit r0 D dr=d' konstant ist. Es ist
2015). r2 p
f D   r2 C r02 ; (5.190)
Betrachten wir zunächst isoperimetrische Probleme. Gesucht 2
sind diejenigen Kurven yi .x/ (1  i  N), die das Funktional
194 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

y2
was auf die Euler-Gleichung
Teil I

    f1 (y1 , y2 ) = 0
d r0 r
p C r p D0 (5.191)
d' r2 C r02 r2 C r02

führt. Nach einer kurzen Rechnung folgt daraus

1 r2  2r02  r00 r
D D const: (5.192) F = C1
 .r2 C r02 /3=2
F = C2
F = C3
Diese Differenzialgleichung wird unter anderem von r D
 D const gelöst, wie man durch Einsetzen schnell sieht. F = C4
Es handelt sich also um einen Kreis mit Radius . Man F = C5
kann mithilfe von (1.123) und ein wenig Geduld auch di- F = C6
rekt zeigen, dass der linke Ausdruck in (5.192) die (hier
konstante) Krümmung der Kurve r.'/ in Polarkoordina- y1
ten beschreibt. J
Abb. 5.10 In diesem Beispiel soll F.y1 ; y2 / unter der Nebenbedingung
f1 .y1 ; y2 / D 0 minimiert werden (holonome Nebenbedingung). Das absolute
Minimum von F ist als blauer Punkt markiert. Die schwarzen Linien entspre-
Im Gegensatz zu isoperimetrischen Nebenbedingungen lassen chen „Höhenlinien“ mit konstanten Werten für F, wobei C1 < C2 < : : : < C6
sich holonome Nebenbedingungen (Abb. 5.10) folgendermaßen ist. Die Nebenbedingung f1 entspricht einer Kurve in der y1 -y2 -Ebene. Der rote
berücksichtigen: Erneut soll das Funktional (5.176) extremal Punkt ist dann das Minimum von F auf der Kurve f1
werden. Diesmal sollen allerdings r < N holonome Nebenbe-
dingungen
Im Grunde lassen sich die holonomen Nebenbedingungen von
fj .x; y/ D 0 .1  j  r/ (5.193) Anfang an umgehen, indem man unabhängige Koordinaten
wählt, die an das Problem angepasst sind (siehe dazu auch Auf-
vorliegen. Für diese Situation lassen sich die Euler-Gleichungen gabe 5.3 und 5.6). Isoperimetrische Nebenbedingungen können
für holonome Nebenbedingungen herleiten. allerdings nicht als holonome Nebenbedingungen geschrieben
werden; sie lassen sich also nicht durch geschickte Koordina-
tenwahl absorbieren, denn die Lagrange-Gleichungen zweiter
Euler-Gleichungen für holonome Nebenbedingungen Art sind nur mit holonomen Nebenbedingungen kompatibel.

Die N Funktionen yi .x/ lassen sich aus Aus (5.194) folgen unmittelbar die Lagrange-Gleichungen ers-
ter Art (5.32), wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind:
Xr Die abhängigen Parameter yi beschreiben kartesische Koordi-
d @f @f @fj
0  D j .x/ .1  i  N/ (5.194) naten xi , der unabhängige Parameter x ist die Zeit t, und die
dx @yi @yi jD1
@y i Lagrange-Funktion lautet
X mi
bestimmen. LD xP 2i  V.t; x/: (5.195)
i
2

Erneut hat man es mit N Differenzialgleichungen zweiter Ord- Frage 22


nung zu tun. Die r Lagrange-Multiplikatoren j .x/, die nun
Überprüfen Sie diese Aussage.
Funktionen des Parameters x sein dürfen, lassen sich aus den
Nebenbedingungen bestimmen.

Man kann sich anschaulich klarmachen, warum für holonome


Nebenbedingungen – im Gegensatz zu den isoperimetrischen
Nebenbedingungen – die Lagrange-Multiplikatoren Funktionen
5.6 Symmetrien und Erhaltungssätze
von x sein können. Isoperimetrische Nebenbedingungen sind
Integralbedingungen: Es muss lediglich ein gegebenes Integral Symmetrien spielen in der Physik eine grundlegende Rolle. In
über ein Intervall erfüllt sein. Holonome Nebenbedingungen diesem Abschnitt wird gezeigt, dass Symmetrien – Transforma-
sind wesentlich stärker, denn sie erzwingen an jedem Ort x eine tionen, welche die Dynamik invariant lassen – auf Erhaltungs-
Nebenbedingung. größen führen. Zyklische Koordinaten sind nur ein einfaches
5.6 Symmetrien und Erhaltungssätze 195

Beispiel dafür. Diese Überlegungen führen auf das wesent- Wir werden in Kap. 7 außerdem noch sehen, dass die Lagrange-
lich allgemeinere Noether-Theorem, das jeder kontinuierlichen Gleichungen ihre Form (5.83) behalten, wenn man von einem

Teil I
Symmetrie einen Erhaltungssatz zuordnet. Dabei kommen wir Satz generalisierter Koordinaten zu einem anderen wechselt,
wieder auf die Galilei-Transformationen zu sprechen; es wird qi ! Qi .t; q/.
gezeigt, dass sie eng mit der Homogenität von Raum und Zeit
sowie der Isotropie des Raumes verflochten sind. In Abschn. 2.2 wurden die Galilei-Transformationen diskutiert.
Sie beschreiben den Übergang zwischen beliebigen Inertial-
systemen, in denen dasselbe physikalische System beobachtet
wird. Es handelt sich also um passive Koordinatentransforma-
Unbestimmtheit der Lagrange-Funktion tionen. Wir wissen bereits, dass unter Galilei-Transformationen
und Galilei-Invarianz die Newton’schen Bewegungsgleichungen invariant bleiben.
Dies führt auf die Frage, was mit der Lagrange-Funktion ge-
Die Lagrange-Funktion ist nicht eindeutig: Es können beliebig schieht, wenn die Koordinaten einer solchen Transformation
viele Lagrange-Funktionen angegeben werden, die auf diesel- unterworfen werden.
ben Bewegungsgleichungen führen. Hier beschränken wir uns Dazu betrachten wir ein System mit N Punktmassen, de-
allerdings auf den Spezialfall, dass zur Lagrange-Funktion ei- ren Bewegungsgleichungen sich aus einer Lagrange-Funktion
ne totale Zeitableitung addiert wird. Man betrachte dazu eine L.t; x; xP / ableiten lassen. Wir haben bereits gesehen, dass eine
beliebige Funktion f .t; q/ und die Transformation allgemeine Galilei-Transformation von einem ungestrichenen
df .t; q/ zu einem gestrichenen Inertialsystem durch (2.36) und (2.37),
L ! L0 D L C : (5.196)
dt
x0 D R.x  b/; t0 D t  t0 ; (5.198)
Am schnellsten sieht man, dass der Zusatzterm keinen Einfluss
auf die Bewegungsgleichungen hat, indem man das Hamil-
beschrieben wird. Sie enthält eine Verschiebung des Zeitnull-
ton’sche Prinzip (5.182) anwendet. Die Wirkung wird nur durch
punktes um t0 D const sowie des Koordinatenursprungs um b
eine Konstante geändert,
(mit bP D const) und eine Drehung der Koordinatenachsen (mit
S ! S0 D S C f .q.t1/; t1 /  f .q.t0/; t0 /; (5.197) Drehmatrix R D const). Eine zeitabhängige Drehmatrix würde
auf Scheinkräfte und damit modifizierte Bewegungsgleichun-
welche bei der Variation keine Rolle spielt. Die Lagrange- gen führen. Aus dem gleichen Grund muss bP konstant sein. Eine
Funktionen L und L0 führen daher auf ununterscheidbare Be- konstante Verschiebung des Zeitnullpunktes wirkt sich nicht auf
wegungsgleichungen. Zeitableitungen aus.
Die Lagrange-Funktion im gestrichenen Inertialsystem lautet,
Freiheit in der Wahl der Lagrange-Funktion ausgedrückt durch die ungestrichenen Koordinaten:
Die Bewegungsgleichungen bleiben invariant, wenn zu
1X
der Lagrange-Funktion die totale Zeitableitung einer L.t0 ; x0 ; xP 0 / D mi xP 02 0 0
i  V .x /
Funktion f .t; q/ addiert wird. 2 i
1X  
D mi xP 2i  V x.x0 /
2 i
Die Invarianz der Bewegungsgleichungen unter der Transfor-
X (5.199)
bP X
mation (5.196) lässt sich auch direkt, aber mit ein wenig mehr 2
Aufwand zeigen (Aufgabe 5.7). C bP  mi xP i C mi
i
2 i
Achtung Diese Unbestimmtheit der Lagrange-Funktion wird
gelegentlich als Eichinvarianz der klassischen Mechanik be- X bP X
2
D L.t; x; xP / C bP  mi xP i C mi :
zeichnet, ist aber von der Eichinvarianz, wie sie in Feldtheorien 2 i
i
eine bedeutende Rolle spielt (siehe Kap. 11 und 20) zu unter-
scheiden. Im Falle der Eichinvarianz von Feldtheorien geht es
Hier ist V 0 .x0 / eine anderen Funktion als V.x/, die aber dasselbe
um eine Redundanz der dynamischen Variablen, während auch
Potenzial beschreibt.
in Feldtheorien ohne Eichinvarianz eine analoge Unbestimmt-
heit der Lagrange-Funktion vorliegt. J Frage 24
Frage 23 Führen Sie diese Rechnung explizit durch. Arbeiten Sie dazu
Zeigen Sie, dass die Bewegungsgleichungen auch invariant am besten mit der Indexschreibweise.
bleiben, wenn man die gesamte Lagrange-Funktion mit einer
Konstanten multipliziert. Diese Art von Invarianz interessiert
uns im Folgenden jedoch nicht. Man sieht, dass die Transformation Zusatzterme in L erzeugt.
Wir zeigen nun, dass es eine Funktion f gibt, deren totale Zeit-
196 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

ableitung die Form der Zusatzterme in (5.199) annimmt: Frage 26


df .t; x/ X @f .t; x/ @f .t; x/ Denken Sie über Symmetrien nach. Ein Quadrat ist symme-
Teil I

D xP i  C trisch unter Drehungen um einen Winkel, der ein ganzzahliges


dt @x i @t
i Vielfaches von 90ı ist. Dies ist eine diskrete Symmetrie. Ein
(5.200)
X P2 X
b Kreis kann um jeden beliebig kleinen Winkel gedreht werden
D bP  mi xP i C mi : und ändert sich dabei nicht. Dies ist eine kontinuierliche Sym-
2 i
i metrie. Machen Sie sich klar, dass Spiegelsymmetrien in einer
Offensichtlich erfüllt Koordinate (wie z. B. bei einer Gitarre) immer diskret sind und
man nicht kontinuierlich spiegeln kann. Denken Sie dabei an die
X bP t X
2
f .t; x/ D bP  mi xi C mi (5.201) Determinante der entsprechenden Transformationen.
i
2 i

diese Gleichung, wobei benutzt wurde, dass bP konstant ist. Der Ansatz in (5.202) wird nun verallgemeinert. Betrachten wir
eine infinitesimale Transformation
Frage 25
qi ! q0i D qi C  qQ i .t; q; qP /; t ! t0 D t C  Qt.t; q; qP /: (5.203)
Überprüfen Sie dies.
Hier ist  erneut ein kontinuierlicher, aber infinitesimaler Para-
meter. Die endlichen Größen qQ i und Qt dürfen selbst Funktionen
Für bP D 0 sind sowohl die Bewegungsgleichungen als auch der Koordinaten, Geschwindigkeiten und der Zeit sein. Die Pro-
die Lagrange-Funktion selbst invariant unter Galilei-Transfor- dukte  qQ i und  Qt sind insgesamt wieder infinitesimale Größen.
mationen. Ist bP 6D 0, d. h. sind beide Inertialsysteme relativ Höhere Terme in  können vernachlässigt werden. Für  D 0 ist
zueinander bewegt, bleibt die Lagrange-Funktion nicht invari- die Transformation die Identität.
ant. Allerdings können die Zusatzterme als totale Zeitableitung
geschrieben werden. Wir kommen am Ende dieses Kapitels Die Bewegungsgleichungen bleiben dann invariant, wenn sich
nochmals auf diesen Punkt zurück. die Wirkung S unter dieser Transformation höchstens um eine
Konstante ändert:
0
Zt1   Zt1 Zt1
dq0 df
Das Noether-Theorem dt0 L t0 ; q0 ; 0 D dt L.t; q; qP / C  dt : (5.204)
dt dt
t00 t0 t0

Wir kommen nun zu einer allgemeineren Betrachtung von Da die Transformation (5.203) infinitesimal ist, muss auch der
Symmetrien und Erhaltungsgrößen. Dieser Abschnitt ist kon- zweite Term auf der rechten Seite von (5.204) infinitesimal sein.
zeptionell und technisch anspruchsvoller als die vorherigen. Er Genau wie qQ i und Qt ist f endlich, das Produkt f aber infinite-
kann beim ersten Lesen übersprungen werden. simal. Hier und im Folgenden bedeuten Punkte die Ableitung
Es wurde bereits in Abschn. 5.3 gefunden, dass zyklische Ko- nach t; die Ableitung nach t0 wird explizit aufgeschrieben, um
ordinaten auf erhaltene konjugierte Impulse führen. Anders Verwechslungen zu vermeiden.
formuliert bedeutet diese Aussage: Ist die Lagrange-Funktion Unser Ziel ist es nun, die Invarianzbedingung (5.204) so umzu-
(und damit die Wirkung) eines mechanischen Systems unter der formen, dass wir eine klare Aussage daraus herleiten können.
Verschiebung einer Koordinate qi invariant, so ist der zugehöri- Zunächst lässt sich das erste Integral in (5.204) umformen:
ge konjugierte Impuls pi erhalten. In diesem Fall ist qi zyklisch,
0
tritt also in der Lagrange-Funktion überhaupt nicht auf. Dies Zt1   Zt1  
dq0 dq0 dt0
kann auch durch dt0 L t0 ; q0 ; 0 D dt L t0 ; q0 ; 0 : (5.205)
dL dt dt dt
qi ! q0i D qi C  H) D0 (5.202) t00 t0
d
Die Invarianzbedingung (5.204) verlangt dann für die Integran-
ausgedrückt werden. Dabei ist  ein kontinuierlicher Parameter.
Ist qi zyklisch, muss die Lagrange-Funktion auch unabhängig
den  0
df 0 0 dq
von  sein; daher muss die Ableitung in (5.202) verschwinden.  D L t ; q ; 0 Pt0  L.t; q; qP /; (5.206)
dt dt
In anderen Worten: Die Lagrange-Funktion ist invariant unter
der Transformation (5.202), egal welchen Wert  auch annimmt. da die Zeitpunkte t0 und t1 beliebig sind.
Man spricht hier von einer kontinuierlichen Symmetrie der La- Man kann die transformierte Lagrange-Funktion mit  als Ent-
grange-Funktion. wicklungsparameter um  D 0 entwickeln:
Im Alltag wird der Begriff „Symmetrie“ meist in Bezug auf  0
0 0 dq
Spiegelungen verwendet. Physikalisch und mathematisch be- L t ; q ; 0 Pt0
dt
deutet er, dass ein System unter einer bestimmten Transfor-    ˇ (5.207)
d dq0 ˇ
mation (Spiegelung, Drehung, Verschiebung, Vertauschung von D L .t; q; qP / C  L t0 ; q0 ; 0 Pt0 ˇˇ :
Variablen usw.) sich nicht ändert. d dt D0
5.6 Symmetrien und Erhaltungssätze 197

Es wurde dabei ausgenutzt, dass L .t0 ; q0 ; dq0 =dt0 / Pt0 j D0 D Hier wurden bisher nur die Kettenregel und die Produktregel
L.t; q; qP / ist. Setzt man (5.207) in (5.206) ein, findet man die verwendet. Weiterhin ist

Teil I
neue Invarianzbedingung.
df X @L X @L   @L
D qQ i C qPQ i  qP iPQt C Qt C LPQt
dt i
@qi i
@Pqi @t
Invarianzbedingung !
X  @L @L P
 X @L @L
Die Bewegungsgleichungen sind dann unter einer infini- D qQ i C qQ i C L  qP i PQt C Qt:
tesimalen Transformation (5.203) invariant, wenn i
@qi @Pqi i
@Pqi @t
   ˇ (5.212)
d dq0 ˇ df Im ersten Schritt wurde  D 0 ausgeführt, im zweiten wur-
L t0 ; q0 ; 0 Pt0 ˇˇ D (5.208)
d dt D0 dt den die Terme sortiert. Es ist zu beachten, dass die Lagrange-
Funktion nun wieder eine Funktion L.t; q; qP / ist und somit
für eine beliebige Funktion f gilt. das ursprüngliche, nichttransformierte System beschreibt. Ins-
besondere bedeutet dies, dass die Lagrange-Gleichungen (5.83)
und das damit hergeleitete Ergebnis (5.93) verwendet werden
Praktisch bedeutet dies, dass für eine gegebene Lagrange- können, um mit der Umformung fortzufahren:
Funktion und eine gegebene Transformation (5.203) überprüft !
werden muss, ob der Term auf der linken Seite von (5.208) als df d X @L X @L @L
totale Zeitableitung einer Funktion f geschrieben werden kann. D qQ i C L  qP i PQt C Qt
dt dt i @Pqi i
@P
q i @t
Ist dies nicht der Fall, sind die Bewegungsgleichungen nicht in- " ! # (5.213)
variant. Verschwindet die rechte Seite von (5.208), so ist die d X @L X @L
Wirkung selbst invariant. D qQ i C L  qP i Qt :
dt i
@Pqi i
@Pqi
Es fehlt noch ein wichtiger Zusammenhang: Da zyklische Ko-
ordinaten auf erhaltene Impulse führen, stellt sich die Frage, ob
eine Symmetrie der Form (5.208) nicht auch mit einer entspre- Frage 27
chenden Erhaltungsgröße zusammenhängt. Dies ist tatsächlich Rechnen Sie (5.213) nach, indem Sie alle Zwischenschritte
der Fall, und es wird im Folgenden hergeleitet, wie diese Erhal- überprüfen.
tungsgröße direkt berechnet werden kann.
Um (5.208) weiter umzuformen, benötigen wir einige Hilfsglei- Wir haben nun das Ziel erreicht: Die linke und die rechte Seite
chungen. Zum einen gilt von (5.213) sind totale Zeitableitungen. Ihre Differenz hat daher
eine verschwindende totale Zeitableitung und stellt somit eine
qP 0i D qP i C  qPQ i ; Pt0 D Pt C  PQt D 1 C  PQt: (5.209) erhaltene Größe dar.

Daraus folgt
Noether-Theorem
dq0i dt qP i C  qPQ i   
D 0 qP 0i D D 1   PQt qP i C  qPQ i Sind die Bewegungsgleichungen unter der infinitesima-
dt0 dt 1 C  QPt (5.210) len Koordinatentransformation (5.203) invariant, d. h. gilt
D qP i C  qQ i  qP i  PQt:
P (5.208), so ist die Größe
!
X @L X @L
Die letzten beiden Umformungen sind zulässig, da  infinitesi- I.t; q; qP / D qQ i C L  qP i Qt  f (5.214)
mal ist. Wir schreiben (5.208) als i
@Pqi i
@Pqi

df d h   iˇ
ˇ
L t C  Qt; q C  qQ ; qP C  qPQ   qP PQt 1 C  PQt ˇ
eine Erhaltungsgröße. Dies bedeutet: Zu jeder infinitesi-
D
dt d D0 malen Transformation, welche die Wirkung höchstens um
ˇ
X @L  ˇ eine Konstante ändert, gibt es eine Erhaltungsgröße.
ˇ
D qQ i 1 C  PQt ˇ
@ .q i C  Q
q i / ˇ
i D0
ˇ
X     ˇ Man verwendet zunächst (5.208), um zu überprüfen, ob eine
@L ˇ
C   qQP i  qP iPQt 1 C  PQt ˇˇ kontinuierliche Symmetrie vorliegt. Dabei erhält man automa-
i @ q P i C  qPQ i   qP i PQt ˇ tisch die Funktion f . Die damit verbundene Erhaltungsgröße
D0
 ˇˇ ˇ lässt sich dann mithilfe von (5.214) bestimmen.
@L ˇ
C Qt 1 C  PQt ˇˇ C LPQtˇ :
@ .t C  Qt/ D0 D0 Achtung Diskrete Symmetrien wie Spiegelungen können
(5.211) mit dieser Methode nicht erfasst werden. J
198 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

Energieerhaltung aus Symmetrie Betrachten wir beispielsweise eine Masse, die mit einem Faden
an einem Nagel an der Zimmerdecke befestigt ist. Dies ist nichts
Teil I

weiter als das sphärische Pendel (Abschn. 5.1). Wir haben ge-
Welche Erhaltungsgröße folgt aus einer Invarianz unter
lernt, wie man die Lagrange-Funktion für die unter dem Einfluss
konstanter Verschiebung des Zeitnullpunktes? Hierzu be-
der Schwerkraft schwingende Masse aufstellen und die Bewe-
trachtet man eine infinitesimale Transformation (5.203)
gungsgleichungen ableiten kann. Doch wird dabei der Nagel,
mit qQ i D 0. Eine infinitesimale Verschiebung der Zeit-
die Wand, ja alles andere im Universum ignoriert.
koordinate ist durch Qt D const gegeben. Es gilt zunächst
dL=d D 0 und dPt0 =d D PQt D 0. Aus (5.208) folgt dann Durch die Position des Nagels und die Richtung der Gravitati-
df =dt D 0, d. h., f ist eine Konstante, die keine Rolle onskraft sind ein Punkt und eine Richtung ausgezeichnet. Man
spielt und gleich null gesetzt werden kann. Das Noether- findet schnell, dass keine Komponente des Impulses der Masse
Theorem (5.214) besagt dann, dass erhalten ist. Allerdings sind der Drehimpuls um die senkrechte
Achse (Richtung der Gravitationskraft) und die Energie erhal-
X @L
HD qP i  L (5.215) ten. Dies hängt mit den Symmetrieeigenschaften der Lagrange-
i
@Pqi Funktion zusammen.

erhalten ist. Dies ist gerade die Gesamtenergie des Sys- Stellen wir uns nun ein abgeschlossenes System von N Punkt-
tems, siehe (5.95). J massen vor, auf das keine äußeren Kräfte irgendeiner Art
wirken. Alle inneren Kräfte sollen durch nicht näher bestimmte
Paarwechselwirkungen beschrieben werden können. Dies soll
ebenfalls für mögliche Zwangskräfte gelten. Die Lagrange-
Zeittranslationsinvarianz und Energieerhaltung Funktion lautet dann, in kartesischen Koordinaten formuliert:
1X 1X
Ist die Wirkung invariant unter einer konstanten Verschie- L.x; xP / D mi xP 2i  Vij .jxi  xj j/: (5.217)
bung des Zeitnullpunktes, so ist die Gesamtenergie des 2 i 2
j6Di
Systems erhalten.
Welche allgemeinen Erhaltungsgrößen ergeben sich daraus?
Zunächst sieht man, dass L nicht explizit von der Zeit t abhängt.
Frage 28 Die Lagrange-Funktion beschreibt also ein System, das inva-
Eine zyklische Koordinate qi ist ein Spezialfall mit der Trans- riant unter Zeitverschiebungen ist. In diesem Zusammenhang
formation q0i D qi C ; t0 D t; d. h. qQ i D const und Qt D 0. Alle spricht man von der Homogenität der Zeit: Es spielt keine Rolle,
anderen Koordinaten qj bleiben unverändert, qQj D 0 (j 6D i). wann das System betrachtet wird. Es ergibt sich immer die glei-
Zeigen Sie, dass die entsprechende Invariante dann der zu qi che Dynamik, unabhängig davon ob diese gestern, heute oder
konjugierte Impuls ist: morgen studiert wird. Wir haben bereits gesehen, dass dies auf
die Energieerhaltung führt.
@L
I.t; q; qP / D D pi : (5.216) Eine Verschiebung aller N Punktmassen um einen Vektor b,
@Pqi
d. h. xi ! xi C b mit b D const, ändert weder die Geschwin-
Verfahren Sie dabei ähnlich wie im vorherigen Beispiel. digkeiten xP i noch die relativen Abstände jxi  xj j. Daher ist L
unter solch einer Verschiebung invariant. Das Noether-Theorem
(5.214) besagt dann, dass die Größe
In Aufgabe 5.8 wird der Zusammenhang zwischen der Isotropie X @L X
des Raumes und der Drehimpulserhaltung hergeleitet. ID bD pi  b D P  b (5.218)
i
@Px i i

erhalten ist. Hier ist pi der Impuls der Punktmasse mi und


Isotropie und Homogenität des Raumes, P der Gesamtimpuls des Systems. Da die Invarianz für jede
beliebige Verschiebung b gilt, muss P selbst eine Erhaltungs-
Homogenität der Zeit, Relativitätsprinzip größe sein. Man nennt diese Unabhängigkeit von räumlichen
Verschiebungen die Homogenität des Raumes: Das System als
Dieser sehr theoretische Abschnitt wird nun mit einigen wich- Ganzes kann beliebig verschoben werden. Die Dynamik des
tigen Aussagen über Symmetrien in physikalischen Systemen Systems ist unabhängig davon, an welchem Ort sie stattfindet.
abgeschlossen. Dies ist selbstverständlich nur für abgeschlossene Systeme der
Es ist streng zu unterscheiden zwischen offenen und abge- Fall. Beispielsweise herrscht auf dem Mond ein anderes Gravi-
schlossenen Systemen. Offene Systeme sind z. B. solche, bei tationsfeld als auf der Erde. Fallexperimente gehen deshalb an
denen äußere Kräfte (wie Gravitation) oder Zwangskräfte auf beiden Orten unterschiedlich aus. Allerdings sind solche Syste-
Teile des Systems wirken. Es wird dabei allerdings nicht da- me offen, da die Gravitation dann eine äußere Kraft ist.
nach gefragt, welche Effekte dies auf die Teile außerhalb des Eine ähnliche Argumentation gilt für Drehungen des gesamten
physikalischen Systems hat. Systems. Die Drehung soll durch eine beliebige Drehmatrix R
5.6 Symmetrien und Erhaltungssätze 199

beschrieben werden. Wir wissen bereits, dass Beträge und Ab- Wirkung, wohl aber die Bewegungsgleichungen invariant blei-
stände unter Drehungen invariant sind, d. h., Drehungen haben ben. Verwendet man die Gesamtmasse M und die Lage des

Teil I
auf die Terme xP 2i und jxi  xj j keinen Einfluss. Es muss also ei- Schwerpunktes X, so hat man zunächst
ne Erhaltungsgröße mit solch einer Drehung verbunden sein. In
P
f D MX  b: (5.221)
Aufgabe 5.8 wird gezeigt, dass dann der Gesamtdrehimpuls L
erhalten ist. Diese Invarianz unter Drehungen ist die Isotropie Wir berechnen die damit verbundene Erhaltungsgröße aus dem
des Raumes. Für ein abgeschlossenes System spielt also seine Noether-Theorem (5.214). Dazu benötigen wir noch den Term
Orientierung keine Rolle. Für Fallexperimente gilt dies nicht,
X @L X
da mit der Gravitationskraft eine Richtung ausgezeichnet ist. P D
bt P D M XP  bt:
mi xP i  bt (5.222)
@Pxi
Achtung Ist ein System nur invariant unter Verschiebung in i i
eine bestimmte Richtung b0 , so ist nur der Impuls in ebendie- Demnach muss
ser Richtung erhalten. Genauso ist nur der Drehimpuls um eine  
bestimmte Achse nO 0 erhalten, falls das System nur invariant ge- I D M XP  bt
P  MX  bP D M Xt
P  X  bP (5.223)
genüber Drehungen um ebendiese Achse ist. Dies entspricht
jeweils dem Fall, dass nur eine generalisierte Koordinate (und die gesuchte Erhaltungsgröße sein. Da bP beliebig gewählt wer-
nicht drei) zyklisch ist. J den kann, besagt dieser Erhaltungssatz nichts anderes, als dass
sich der Schwerpunkt geradlinig-gleichförmig bewegt. Dies ent-
Frage 29 spricht dem bekannten Äquivalenzprinzip: Die Bewegungsglei-
Ein Elektron befinde sich in einem (unendlich ausgedehnten) chungen der Mechanik sind invariant unter Transformationen
Plattenkondensator. Die elektrischen Feldlinien stehen dabei zwischen Inertialsystemen, die konstante Relativgeschwindig-
senkrecht auf den Platten. Welche Erhaltungsgröße ergibt sich keiten mit einschließen.
hieraus für das Elektron?

Isotropie und Homogenität des Raumes, Homogenität


Es gibt mit dem Relativitätsprinzip noch eine weitere Symme-
der Zeit, Relativitätsprinzip
trie, die auf eine Erhaltungsgröße führt. In Abschn. 2.2 wurden
die Galilei-Transformationen diskutiert. Sie beschreiben den Für abgeschlossene physikalische Systeme mit einer La-
Übergang zwischen beliebigen Inertialsystemen; dabei bleiben grange-Funktion der Form (5.217) gelten die folgenden
die Newton’schen Bewegungsgleichungen invariant. Allerdings vier wichtigen Prinzipien, die man umgekehrt benutzen
handelt es sich dabei um passive Koordinatentransformationen, kann, um die erhaltenen Größen zu definieren:
bei denen das physikalische System unverändert bleibt, aber das
Koordinatensystem transformiert wird. Homogenität der Zeit: Die Bewegungsgleichungen
An dieser Stelle fragen wir allerdings nach aktiven Trans- sind invariant unter einer willkürlichen Verschiebung
formationen, d. h. nach einer Translation oder Drehung des des Zeitnullpunktes. Man definiert allgemein die Ener-
eigentlichen Systems innerhalb desselben Koordinatensystems. gie als diejenige erhaltene Größe, die sich aus der
Welche Auswirkungen hat es nun, wenn wir das System in einen Homogenität der Zeit ergibt.
Zustand versetzen, bei dem sich jede Punktmasse mi mit einer Homogenität des Raumes: Eine willkürliche Verschie-
bung aller Punktmassen hat keinen Einfluss auf die
konstanten Relativgeschwindigkeit bP bezüglich ihrer ursprüng-
lichen Position bewegt? Bewegungsgleichungen. Man definiert allgemein den
Gesamtimpuls als diejenige erhaltene Größe, die sich
Dazu betrachten wir die Änderung, welche die Ersetzung t ! aus der Homogenität des Raumes ergibt.
t0 D t, xi ! xi C btP und xP i ! xP i C bP in der Lagrange-Funktion Isotropie des Raumes: Auch unter willkürlichen Dre-
verursacht. Die Lagrange-Funktion wird zu hungen des Systems bleiben die Bewegungsgleichun-
1X 1X gen invariant. Es ist keine Richtung ausgezeichnet.
L.t; x; xP / D mi xP 2i  Vij .jxi  xj j/ Allgemein wird der Gesamtdrehimpuls als diejenige
2 i 2 Erhaltungsgröße definiert, die sich aus der Isotropie
j6Di
(5.219) des Raumes ergibt.
X  2 bP X
2
P
C b  mi xP i C mi : Relativitätsprinzip: Die Bewegungsgleichungen sind
i
2 i invariant unter Transformationen, bei denen der
Schwerpunkt mit einer konstanten Geschwindigkeit bP
Es ist nun die Ableitung (5.208) zu berechnen. Dies führt auf bewegt wird.
!
df X d X
D bP  mi xP i D bP  mi xi ; (5.220)
dt i
dt i Frage 30
Man vergleiche diese zehn Symmetrien und Erhaltungsgrößen
wobei verwendet wurde, dass bP konstant ist. Dies bedeutet, dass mit den Parametern einer allgemeinen Galilei-Transformation.
wir eine Symmetrie gefunden haben, unter der zwar nicht die
200 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

Aufgaben
Teil I

Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen

5.1 Perle auf rotierendem Stab Eine Perle gleite an m1 befestigt. Die zweite Punktmasse kann in der x-z-Ebene
reibungsfrei und ohne angewandte Kräfte auf einem Stab, der unter dem Einfluss der homogenen Schwerkraft FG D m2 gOez
sich in der x-y-Ebene mit konstanter Winkelgeschwindigkeit ! schwingen. Der Auslenkungswinkel des Pendels ist '.
um den Ursprung dreht.
(a) Wählen Sie geeignete verallgemeinerte Koordinaten und
(a) Stellen Sie die Bewegungsgleichung mithilfe der Lagrange- stellen Sie die Lagrange-Funktion auf.
Gleichungen erster Art auf. Lösen Sie die Bewegungsglei- (b) Leiten Sie die Bewegungsgleichungen ab.
chung. Führen Sie die Rechnungen in Zylinderkoordinaten (c) Nehmen Sie nun an, dass der Auslenkungswinkel ' klein ist.
durch. Wie lautet die Zwangskraft? Welche Bedeutung hat Zeigen Sie, dass sich beide Bewegungsgleichungen jeweils
sie? Ist die Energie erhalten? in der Form
(b) Verwenden Sie die Lagrange-Gleichungen zweiter Art für aRq C bq D f .q0 ; qP 0 ; qR 0 / (5.224)
dasselbe Problem, um die Bewegungsgleichungen aufzustel-
schreiben lassen. Hier sind a und b konstante Koeffizienten,
len. Wie sieht es mit der Energieerhaltung aus?
q ist die eine und q0 die andere verallgemeinerte Koordinate.
Beide Bewegungsgleichungen beschreiben eine erzwungene
x
Schwingung. Dies wird in Kap. 6 genauer diskutiert.
m1

5.3 Bewegungsgleichungen in Kugelkoordinaten


k k
aus dem Lagrange-Formalismus
ϕ
(a) Stellen Sie die Bewegungsgleichungen einer Punktmasse
l in Kugelkoordinaten auf. Nutzen Sie dazu den Lagrange-
FG
Formalismus. Das Potenzial soll dabei eine allgemeine
Funktion V.r; #; '/ sein.
(b) Eine Punktmasse bewege sich in einem radialsymmetri-
m2 schen Potenzial V.r/. Allerdings ist ihre Bewegung durch
eine Zwangsbedingung nur auf einer Kegeloberfläche mit
Öffnungswinkel # D #0 möglich. Stellen Sie die Bewe-
gungsgleichungen für dieses Problem auf. Zeigen Sie, dass
z die Radialgleichung in der Form
Abb. 5.11 Die Massen m1 und m2 sind durch einen Stab der Länge l ver- @Veff
bunden. Während m1 über zwei Federn mit Federkostanten k an den Wänden mRr D  (5.225)
@r
befestigt ist, kann m2 an m1 unter dem Einfluss der Gravitationskraft FG schwin-
gen geschrieben werden kann. Wie lautet das effektive Potenzial
Veff ? Für welchen Wert #0 ergibt sich das Zweikörper-Zen-
5.2 Pendel an Federn Eine Punktmasse m1 ist wie tralkraftproblem aus Abschn. 3.2 als Spezialfall?
in Abb. 5.11 durch zwei Federn an zwei Wänden befestigt. Die (c) Überlegen Sie sich den Fall, dass die Zwangsbedingung
Ruhelänge der Federn entspricht gerade dem Fall, dass m1 sich nicht zu einer Bewegung auf einem Kegel führt, sondern zu
in der Mitte zwischen den Wänden befindet. Beide Federn ha- einer Bewegung auf einer Ebene mit ' D '0 . Stellen Sie die
ben die gleiche Federkonstante k, d. h., die Rückstellkraft ist Bewegungsgleichungen auf und lösen Sie sie für die kräf-
jeweils dem Betrag nach jFj D kjxj. Die Punktmasse m1 darf tefreie Bewegung in der Form r.#/. Welche Gestalt hat die
sich nur waagerecht (entlang der x-Achse) bewegen. Es ist eine resultierende Bahnkurve? (Diese letzte Frage lässt sich auch
weitere Punktmasse m2 mit einem masselosen Stab der Länge l direkt durch Nachdenken beantworten.)
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 201

Lösungshinweis: Die gesuchten Lagrange-Gleichungen lau- gelöst werden kann, wobei ˛ der Bahnparameter und C eine
ten geeignet zu wählende Konstante ist. Die damit beschriebene

Teil I
  Kurve ist eine Zykloide (Abb. 5.12a). Überlegen Sie sich, wie
d @V
.mPr/  mr #P 2 C 'P 2 sin2 # D  ; Sie den Parameter C für gegebene Anfangs- und Endpunkte be-
dt @r stimmen können.
d  2 P @V
mr #  mr 'P sin # cos # D  ;
2 2
(5.226) 5.6 Kürzeste Verbindung auf Kugeloberfläche
dt @#
d  2  @V Was ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten auf
mr 'P sin2 # D  : einer Kugeloberfläche mit Radius R? Hier könnte man das Ver-
dt @'
fahren der holonomen Nebenbedingungen in Kugelkoordinaten
verwenden, um die gesuchte Kurve auf r  R D 0 einzu-
5.4 Pendel mit variabler Fadenlänge Erweitern schränken. Dies führt allerdings zu aufwendigen Rechnungen.
Sie das Problem des sphärischen Pendels in Abb. 5.3 in folgen- Einfacher ist es, direkt eine Parametrisierung auf der Kugelober-
der Weise: Die Fadenlänge sei eine vorgegebener Funktion der fläche zu verwenden.
Zeit, R D R.t/.
(a) Wie lautet das Linienelement ds auf der Kugeloberfläche?
(a) Wie lautet die Lagrange-Funktion in Kugelkoordinaten? (b) Stellen Sie die Euler-Gleichung für die gesuchte Funktion
Nutzen Sie dazu die Ergebnisse aus Aufgabe 5.3. Was ist '.#/ auf. Zeigen Sie, dass
bei der Aufstellung der Bewegungsgleichungen zu beachten
(denken Sie dabei an die Anzahl der Freiheitsgrade)? Wie
' D C1  arcsin.C2 cot #/ (5.229)
lauten die Bewegungsgleichungen?
(b) Zeigen Sie, dass die Hamilton-Funktion nicht der Energie
entspricht. Was ist die Ursache? Zeigen Sie, dass die Energie diese Differenzialgleichung löst (C1 und C2 sind Integrati-
erhalten ist, wenn R.t/ konstant ist. Wie lautet die Änderung onskonstanten).
der Energie mit der Zeit? (c) Schreiben Sie die Lösung (5.229) in kartesischen Koordi-
naten. Verwenden Sie dazu das trigonometrische Additions-
theorem sin.˛ˇ/ D sin ˛ cos ˇcos ˛ sin ˇ. Interpretieren
5.5 Brachistochrone Finden Sie die Kurve y.x/, Sie das Ergebnis.
entlang der eine Punktmasse im homogenen Gravitationsfeld
reibungsfrei am schnellsten von einem Punkt .x0 ; 0/ zu einem
Punkt .x1 ; y1 / mit x1 6D x0 und y1 > 0 gleitet. Dabei stellt y.x/ 5.7 Unbestimmtheit der Lagrange-Funktion
eine Zwangsbedingung dar. Die y-Achse zeigt hier ebenso wie Zeigen Sie durch Einsetzen in die Euler-Lagrange-Gleichung,
die Gravitationskraft nach unten. dass eine Eichtransformation
Die Punktmasse soll zu Beginn bei y D 0 ruhen. Die resul-
df .t; q/
tierende Kurve nennt man Brachistochrone. Gehen Sie von der L0 .t; q; qP / D L.t; q; qP / C (5.230)
Energieerhaltung aus: Die Zunahme der kinetischen Energie dt
entspricht der durchfallenen Potenzialdifferenz:
keinen Einfluss auf die Bewegungsgleichungen hat. Hier reicht
m m 2  es aus, nur eine generalisierte Koordinate q zu berücksichtigen.
mgy D v 2 D xP C yP 2 : (5.227)
2 2 Das Ergebnis lässt sich direkt auf mehrere generalisierte Koor-
dinaten verallgemeinern.
Stellen Sie zunächst einen Ausdruck für die benötigte Zeit auf
und formen Sie ihn so um, dass er die Gestalt (5.158) annimmt. 5.8 Isotropie des Raumes und Drehimpulserhal-
Stellen Sie die Differenzialgleichung für y.x/ auf. tung Im Text wurde gezeigt, dass die Lagrange-Funktion
(5.217) invariant ist, wenn alle Punktmassen mit derselben
Lösungshinweis: Die umständlich lange Rechnung ausgehend
beliebigen Drehmatrix R um den Ursprung gedreht werden.
von der Euler-Gleichung lässt sich umgehen, wenn man nach
Schreiben Sie diese Drehung in Form einer infinitesimalen
Erhaltungsgrößen Ausschau hält.
Transformation (5.203) auf. Verwenden Sie dazu infinitesimale
Überprüfen Sie anschließend, dass die Differenzialgleichung Drehungen, wie sie in Abschn. 2.3 eingeführt wurden. Benut-
durch die Parametrisierung zen Sie die Indexschreibweise, anstatt mit Vektoren zu arbeiten.
Welches Ergebnis liefert (5.208)? Wie lautet die damit verbun-
x.˛/ D x0 C C.˛  sin ˛/; y.˛/ D C.1  cos ˛/ (5.228) dene Erhaltungsgröße?
202 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben


Teil I

5.1 Die resultierenden Bewegungsgleichungen sind also

(a) Die Perle kann sich nur entlang des Stabes bewegen; sie m%R  m%'P 2 D 0; m%'R D 0: (5.239)
besitzt also nur einen Freiheitsgrad. Die beiden Zwangsbe-
dingungen lauten Hier sind wir einen kleinen Umweg gegangen, um das
Schema zum allgemeinen Lösen der Lagrange-Gleichungen
f1 D '  !t D 0; f2 D z D 0: (5.231) erster Art einzuhalten. Wegen ' D !t mit konstantem !
hätte man aber auch direkt 'R D 0 hinschreiben können. Die
Hier ist ' der Polarwinkel in der x-y-Ebene. Es ist für das Zeitableitung 'P D ! ist also konstant. Dies liefert die end-
Endergebnis unerheblich, ob die Rechnungen in Zylinder- gültige Form der Bewegungsgleichung für %:
oder kartesischen Koordinaten durchgeführt werden; Zylin-
derkoordinaten sind aber aufgrund der Rotationssymmetrie %R D ! 2 %: (5.240)
einfacher. Da die Bewegung vollständig in einer Ebene
stattfindet, kann das äquivalente zweidimensionale Problem Nehmen wir an, dass % 6D 0 erfüllt ist, so lautet die allge-
behandelt werden. Es ist daher nur eine Zwangsbedingung meine Lösung
mit einem Lagrange-Multiplikator  nötig:
%.t/ D %C eC!t C % e!t : (5.241)
mRx D r f ; z D 0: (5.232)
Wie zu erwarten gibt es für die Bewegung von % zwei
Der Gradient in Zylinderkoodinaten lautet wegen der Unab- Integrationskonstanten, die durch die Anfangsbedingungen
hängigkeit von z und (2.113): gegeben sind. Die Perle wird sich langfristig immer nach
außen bewegen, wenn nicht gerade %C D 0 gilt.
@f 1 @f Die Zwangskraft lautet
r f D eO % C eO ' : (5.233)
@% % @'
P eO ' :
Z D r f D 2m%! (5.242)
Der Ortsvektor liegt in der x-y-Ebene und zeigt in radiale
Richtung. Daher kann er als Dies ist die Kraft, welche die Perle auf dem Stab hält; sie
entspricht nicht der Zentrifugalkraft. Da sich die Perle frei in
radialer Richtung bewegen kann, wird die Zentrifugalkraft
x D %Oe% (5.234)
durch keine Zwangskraft kompensiert.
Die Energiegleichung (5.37) führt wegen V D 0 auf
geschrieben werden. Glücklicherweise wurde die Beschleu-
nigung in Zylinderkoordinaten bereits in (2.123) angegeben. dT @f
Wegen z D 0 ist zunächst D  D 2m%%P '!
P D 2m%%!
P 2: (5.243)
dt @t
 
xR D %R  %'P 2 eO % C .%'R C 2%P '/
P eO ' : (5.235) Die Energie nimmt daher stark zu, wenn sich die Perle radial
nach außen bewegt.
Die Koeffizienten der Basisvektoren eO % und eO ' müssen die (b) Die Lagrange-Funktion lautet wegen V D 0 in Zylinderko-
Bewegungsgleichung erfüllen. Dies führt auf das Zwischen- ordinaten
ergebnis m 2 
LDTD %P C %2 ! 2 : (5.244)
2
@f  @f Es gibt nur einen Freiheitsgrad und mit % nur eine verallge-
m%R  m%'P 2 D  ; m%'R C 2m%P 'P D : (5.236)
@% % @' meinerte Koordinate. Die Bewegungsgleichung kann direkt
hingeschrieben werden:
Offensichtlich ist @f =@% D 0 und @f =@' D 1. Die zweite
Zeitableitung der Zwangsbedingung lautet m%R D m%! 2 : (5.245)

fR D 'R D 0 (5.237) Dies entspricht bereits (5.240) aus dem ersten Aufgabenteil.
Die Lösung der Bewegungsgleichung muss selbstverständ-
und führt nach Einsetzen in (5.236) auf lich nicht wiederholt werden.
Wie sieht es aber mit der Energieerhaltung im Formalis-
 D 2m%%P ':
P (5.238) mus der Lagrange-Gleichungen zweiter Art aus? Hier soll
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 203

an (5.101) erinnert werden. Da die Zwangsbedingung f D Nach Ausführung der Zeitableitung verbleiben die Glei-
'  !t D 0 nicht skleronom ist, chungen

Teil I
@f .m1 C m2 /Rx C m2 l'R cos '  m2 l'P 2 sin ' C 2kx D 0 (5.255)
D ! 6D 0; (5.246)
@t
und
entspricht die Hamilton-Funktion nicht der Energie. Den- l'R C xR cos ' C g sin ' D 0: (5.256)
noch ist die Hamilton-Funktion (5.101) eine Erhaltungsgrö-
ße, da die Lagrange-Funktion nicht explizit von der Zeit t (c) Kleine Winkel bedeuten, dass die trigonometrischen Funk-
abhängt. Wir haben im ersten Aufgabenteil schon gesehen, tionen entwickelt werden können:
dass die Energie nicht erhalten wird, da die Zwangskraft Ar-
beit am System leistet. sin ' '; cos ' 1: (5.257)

Die Bewegungsgleichung für x nimmt dann die folgende


5.2
Form an:
(a) Wir wählen die Koordinaten so, dass die Punktmasse m1 im  
Gleichgewicht x D 0 und z D 0 erfüllt. Die y-Koordinate .m1 C m2 /Rx C 2kx D m2 l 'P 2 '  'R : (5.258)
spielt hier für beide Punktmassen keine Rolle. Es gibt mit
Entsprechend erhält man für '
x und ' zwei Freiheitsgrade. Die Koordinaten der beiden
Punktmassen lauten
l'R C g' D Rx: (5.259)
   
x x C l sin '
x1 D ; x2 D : (5.247) Beide Gleichungen haben die Form (5.224). Die Bewe-
0 l cos '
gungsgleichungen sind nicht einfach zu lösen, da sie eng
Daraus ergeben sich die Geschwindigkeiten miteinander gekoppelt sind: Die Argumente auf den rechten
    Seiten von (5.258) und (5.259) erhalten jeweils die andere
xP xP C l'P cos ' Koordinate, (5.258) sogar den nichtlinearen Term 'P 2 '.
xP 1 D ; xP 2 D : (5.248)
0 l'P sin '
5.3
Die kinetische Energie lautet
m1 2 m2  2  (a) Die Koordinaten der Punktmasse in Kugelkoordinaten lau-
TD xP C xP C l2 'P 2 C 2lPx'P cos ' : (5.249) ten gemäß (2.115)
2 2
Die Auslenkung x der ersten Punktmasse hängt mit der in x1 D r sin # cos ';
den Federn gespeicherten potenziellen Enregie zusammen: x2 D r sin # sin '; (5.260)
k k x3 D r cos #:
V1 D .x/2 C x2 D kx2 : (5.250)
2 2
Es gibt keine Zwangsbedingungen; es müssen also alle drei
Die zweite Punktmasse bewegt sich im homogenen Schwe- Koordinaten .r; #; '/ berücksichtigt werden. Um die kine-
refeld und hat die potenzielle Energie tische Energie T in Kugelkoordinaten zu erhalten, müssen
die ersten Zeitableitungen bestimmt werden. Dabei hängen
V2 D m2 gl cos ': (5.251) sowohl r, # als auch ' von der Zeit ab. Das Ergebnis ist

Es ergibt sich die Lagrange-Funktion xP 1 D rP sin # cos ' C r#P cos # cos '  r'P sin # sin ';
m1 C m2 2 m2 2 2 xP 2 D rP sin # sin ' C r#P cos # sin ' C r'P sin # cos ';
LD xP C l 'P C m2 l.Px'P C g/ cos '  kx2 :
2 2
(5.252) xP 3 D rP cos #  r#P sin #:
(b) Aus der Lagrange-Funktion (5.252) folgen die Bewegungs- (5.261)
gleichungen Die kinetische Energie lautet
m 2 
d TD xP C xP 22 C xP 23
Œ.m1 C m2 /Px C m2 l'P cos ' C 2kx D 0 (5.253) 2h1
dt m 2  i (5.262)
D rP C r2 #P 2 C 'P 2 sin2 # :
und 2

d Der Umformungsschritt besteht vor allem aus Fleiß-


m2 l2 'P C m2 lPx cos ' C m2 l.Px'P C g/ sin ' D 0: (5.254) arbeit und mehrfacher Anwendung der Identität
dt
204 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

sin2 x C cos2 x D 1, bereitet aber keine konzeptionellen (c) Für die Zwangsbedingung
Schwierigkeiten. Man erkennt, dass keine gemischten Ter-
Teil I

me wie rP #P oder #P 'P auftreten. f D '  '0 D 0 (5.270)


Die Lagrange-Gleichungen für r, # und ' sind
und die kräftefreie Bewegung ist die Lagrange-Funktion
  @V
m 2 
d
.mPr/  mr #P 2 C 'P 2 sin2 # D  ;
dt @r LDTD rP C r2 #P 2 : (5.271)
d  2P
2
@V
mr #  mr 'P sin # cos # D  ;
2 2
(5.263)
dt @# Hier sind r und # die beiden unabhängigen Koordinaten.
d  2  @V Entsprechend findet man schnell die Bewegungsgleichungen
mr 'P sin2 # D  :
dt @'
d
.mPr/  mr#P 2 D 0;
Diese Berechnung ist wesentlich einfacher, als den ur- dt
d  2P
(5.272)
sprünglichen Weg über zeitabhängige Basisvektoren (Ab-
schn. 2.5) zu gehen. mr # D 0:
dt
(b) Die Zwangsbedingung ist holonom und lautet
Hier ist # zyklisch und der konjugierte Impuls p# D mr2 #P
f D #  #0 D 0: (5.264) erhalten. Die Radialgleichung vereinfacht sich zu
Glücklicherweise ist sie mit den Kugelkoordinaten verträg-
d p2#
lich. Deswegen gibt es nur noch zwei unabhängige Parame- mRr D  : (5.273)
ter: den Radius r und den Azimutwinkel '. Da # nicht mehr dr 2mr2
zu den generalisierten Koordinaten gehört, sind einfach alle Nach Multiplikation mit rP D dr=dt lässt sich dies zu
Terme #P aus der Lagrange-Funktion zu streichen, und # ist
durch die Konstante #0 zu ersetzen. Dies führt auf m 2 p2
rP D  # 2 C C (5.274)
m 2  2 2mr
LD rP C r2 'P 2 sin2 #0  V.r/: (5.265)
2
aufintegrieren. Dies ist genau die Radialgleichung (3.53) für
Die Bewegungsgleichungen lauten demnach V D 0 bzw. (3.66) für ˛ D 0. Es ist nur ' durch # zu
ersetzen. Die Lösung ist daher mit (3.75) schon bekannt:
d   @V
.mPr/  mr 'P 2 sin2 #0 D  ;
dt @r p# =r
(5.266) #  #00 D  arcsin p : (5.275)
d  2  2mC
mr 'P sin #0 D 0:
2
dt
Hier ist #00 eine zweite Integrationskonstante. Leicht umge-
Der konjugierte Impuls p' D mr2 'P sin2 #0 (hier also der formt lautet die allgemeine Lösung also
Drehimpuls) ist erhalten und kann verwendet werden, um 'P
aus der Bewegungsgleichung für r zu eliminieren: p#
r cos.#  #p / D p ; (5.276)
2mC
p2' @V
mRr  D : (5.267) wobei #p der Winkel ist, bei dem die Punktmasse den kleins-
mr3 sin #02 @r
ten Abstand vom Ursprung besitzt. Anhand von Abb. 2.15
Wir schreiben diese Gleichung als sieht man, dass (5.276) eine Gerade in Kugelkoordinaten be-
schreibt. Sie liegt in der Ebene,pdie durch ' D '0 festgelegt
@Veff ist, und läuft im Abstand p# = 2mC am Ursprung vorbei.
mRr D  (5.268)
@r Dass es sich um eine Gerade handelt, liegt auf der Hand:
Die kräftefreie Bewegung einer Punktmasse in einer Ebene
mit dem effektiven Potenzial
kann nur entlang einer Geraden erfolgen.
p2'
Veff D V.r/ C : (5.269)
2mr2 sin2 #0 5.4

Für #0 D 90ı reduzieren sich die Gleichungen genau auf (a) Es kann zunächst direkt die Lagrange-Funktion in Kugelko-
diejenigen in Abschn. 3.2. Die Bewegungsgleichungen sind ordinaten aufgeschrieben werden:
bis auf konstante Vorfaktoren identisch zu denen, die in Ab-
schn. 3.2 diskutiert wurden. Daher unterscheiden sich die LDTV
Lösungsverfahren nicht von denen, die in Kap. 3 besprochen mh 2  i (5.277)
wurden. D RP C R2 #P 2 C 'P 2 sin2 #  mgr cos #:
2
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 205

Bei der Aufstellung der Bewegungsgleichung ist zu beach- wobei s der Bahnparameter ist. Er erfüllt
ten, dass nur # und ' Freiheitsgrade sind. Es gibt daher nur p p

Teil I
zwei Lagrange-Gleichungen. Obwohl der Radius und seine ds D dx2 C dy2 D dx 1 C y02 : (5.285)
Zeitableitung in der Lagrange-Funktion auftreten, handelt es
sich dabei um eine vorgegebene Funktion ohne Freiheit. Die Die Bahngeschwindigkeit ist
Bewegungsgleichungen lauten
p
vD 2gy: (5.286)
mR2 #R C2mRRP #P D mR2 'P 2 sin # cos # CmgR sin # (5.278)
Folglich lautet das zu minimierende Integral
und
Zx1 s
mR 'R sin # C 2mR 'P #P sin # cos #
2 2 2 1 C y02
D dx : (5.287)
(5.279) 2gy
C 2mRRP 'P sin2 # D 0: x0

(b) Die Energie lautet Die „Lagrange-Funktion“ des Problems,


s
E DT CV 1 C y02
mh 2  i LD ; (5.288)
D RP C R2 #P 2 C 'P 2 sin2 # C mgR cos #: 2gy
2
(5.280)
hängt nicht vom Parameter x ab. Dieser ist analog zur Zeit t.
Im Gegensatz dazu berechnet sich die Hamilton-Funktion
Somit muss die „Energie“
aus (5.95):
@L
@L @L E D y0 L (5.289)
H D #P C 'P L @y0
@#P @'P
(5.281)
D mR2 #P 2 C mR2 'P 2 sin2 #  .T  V/ erhalten sein. Dies ist eine Differenzialgleichung erster Ord-
D T  mRP 2 C V D E  mRP 2 : nung, die anstelle der Euler-Gleichung verwendet werden kann.
Eine kurze Rechnung führt auf
Die Hamilton-Funktion unterscheidet sich von der Energie, p 1
da die Zwangsbedingung r  R.t/ D 0 rheonom ist. Es ist E 2g D  p D const: (5.290)
die Zeitableitung der Energie gesucht: y .1 C y02 /

dE h  i Separiert man die Veränderlichen, lautet die Differenzialglei-


D m RP RR C mRRP #P 2 C 'P 2 sin2 # chung schließlich
dt  
C mR2 #P #R C 'P 'R sin2 # C 'P 2 #P sin # cos # dy
dx D p (5.291)
C mg.RP cos #  R#P sin #/: 2C=y  1
(5.282)
Durch Ausnutzen der Bewegungsgleichungen lassen sich mit C D 1=.4gE2/.
die zweiten Ableitungen #R und 'R eliminieren; der Ausdruck Wir berechnen die Ableitungen der Parametrisierung (5.228):
reduziert sich nach kurzer Rechnung auf
  dx dy
dE D C.1  cos ˛/; D C sin ˛: (5.292)
D mRP RR C g cos #  R#P 2  R'P sin2 # : (5.283) d˛ d˛
dt
Dies führt auf
Ist die Fadenlänge R konstant, so ist RP D 0; dies führt auf dy sin ˛
D : (5.293)
den Spezialfall einer skleronomen Zwangsbedingung mit dx 1  cos ˛
Energieerhaltung. Die Hamilton-Funktion entspricht dann
Andererseits ist
der Energie.
s r
dy 2C 2
D 1D  1: (5.294)
5.5 Die benötigte Zeit ist dx y 1  cos ˛

Zs1 Man kann nun durch eine kurze Umformung (auf einen Bruch-
ds
D ; (5.284) strich bringen, dann mit 1cos ˛ erweitern) zeigen, dass (5.293)
v
s0 und (5.294) äquivalent sind.
206 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

a b
Teil I

P0 F (α)
0,5 1 x

2
0,5

(α1 , 1)
1

1
P1
y
0 1 2 3 α

Abb. 5.12 Die Brachistochrone in a ist die Kurve, auf der eine Punktmasse reibungsfrei am schnellsten vom Punkt P0 nach P1 gleitet. Hier wurde der Endpunkt
.1; 1/> willkürlich gewählt. Die Funktion F.˛/ in b wird benötigt, um die Gestalt der Brachistochrone festzulegen. Für einen gegebenen Wert F.˛1 / (die gewählten
Punkte P0 und P1 führen auf F.˛1 / D 1) lässt sich der Parameter ˛1 ablesen oder numerisch berechnen

Um die Zykloide für zwei gegebene Punkte .x0 ; 0/ und .x1 ; y1 / Demnach muss
zu bestimmen, muss C so gewählt werden, dass die Kurve durch
beide Punkte läuft. Man sieht direkt, dass der Anfangspunkt ' 0 sin2 #
 1=2 D K (5.300)
˛ D 0 entspricht. Der Endpunkt erfüllt wegen (5.228) 1 C ' 02 sin2 #

x1 .˛1 /  x0 .0/ ˛1  sin ˛1 eine Konstante sein.


D DW F.˛1 /: (5.295) Es werden folgende Ableitungen benötigt:
y.˛1 /  y.0/ 1  cos ˛1
d 1 d 1
Hier ist ˛1 der Wert des Bahnparameters, für den die Kurve den arcsin x D p ; cot x D  2 : (5.301)
Endpunkt .x1 ; y1 / erreicht. Die linke Seite von (5.295) ist be-
dx 1  x2 dx sin x
kannt, wenn die Punkte gegeben sind. Die Funktion F.˛/ ist im Daher ist
Intervall Œ0; 2 / streng monoton steigend und kann numerisch C2 1
invertiert werden, um ˛1 zu bestimmen (Abb. 5.12b). Der Wert '0 D q : (5.302)
sin2 # 1  C2 cot2 #
für C ist dann aus (5.228), 2

1  cos ˛1 Durch Einsetzen in (5.300) und elementares Umformen er-


CD ; (5.296)
y1 hält man zunächst
C2 p 1
zu berechnen. 1C22 cot2 #
KD r
5.6 C22
1C 1
sin2 # 1C22 cot2 # (5.303)
(a) Das Linienelement in Kugelkoordinaten (2.117) ist s
q sin2 #
D C2 :
ds D dr2 C r2 d# 2 C r2 sin2 # d' 2: (5.297) sin #  C22 cos2 # C C22
2

Beschränkt man sich auf die Kugeloberfläche, so ist dr D 0. Eine weitere kurze Rechnung führt auf
Außerdem ist unser Ziel, eine Parametrisierung '.#/ mit
' 0 D d'=d# zu erhalten: C2
KD q : (5.304)
q 1 C C22
ds D R 1 C ' 02 sin2 # d#: (5.298)
Da sowohl K als auch C2 Konstanten sind, löst (5.229) tat-
(b) Die resultierende Euler-Gleichung ist
sächlich die Euler-Gleichung.
d ' 0 sin2 # (c) Die Lösung (5.229) schreiben wir als
D 0: (5.299)
d# 1 C ' 02 sin2 # 1=2

RC2 cot # D R sin.C1  '/ (5.305)
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 207

bzw. Die Transformation x0a;i D rij xa;j muss zunächst in die Form
RC2 cos # D R sin.C1  '/ sin # x0a;i D xa;i C  xQ a;i gebracht werden. Für eine infinitesimale Dre-

Teil I
hung gilt
D R sin # .sin C1 cos '  cos C1 sin '/ :
(5.306) rij D ıij C "ijk d D ıij C "ijk  nk : (5.313)
k
In kartesischen Koordinaten lautet dies
0 1 0 1
sin C1 R sin # cos ' Dabei ist d k ein infinitesimaler Drehwinkel, und  zeigt in
@ cos C1 A  @ R sin # sin ' A D 0: (5.307) Richtung der Drehachse n. O Alternativ können wir dafür  nk
C2 0 schreiben, wobei  infinitesimal und der konstante Winkel
endlich ist. Das Levi-Civita-Symbol "ijk und der infinitesima-
Es handelt sich dabei um die Schnittgleichung einer Ebene le Parameter  sind dabei streng voneinander zu unterscheiden.
mit Normalenvektor n D .sin C1 ;  cos C1 ; C2 /> mit einer Ein Vergleich zeigt
Kugel mit Radius R und Mittelpunkt im Ursprung. Die Ebe-
ne n  x D 0 läuft durch den Ursprung. Daher handelt es sich xQ a;i D "ijk nk xa;j ; (5.314)
bei den Schnitten um Großkreise. Die kürzeste Verbindung
zweier Punkte auf der Kugeloberfläche ist also ein Segment d. h., die Änderung von xa;i hängt von xa;j ab. Dies ist bei Dre-
desjenigen Großkreises, auf dem die Punkte liegen. hungen nicht anders zu erwarten. Wegen Qt D 0 und t0 D t folgt
zunächst
5.7 Die Euler-Lagrange-Gleichung lautet
xPQ a;i D "ijk nk xP a;j : (5.315)
d @L @L
 D 0: (5.308)
dt @Pq @q Die folgende Rechnung dient lediglich der Übung, liefert aber
keine neuen Erkenntnisse: Wir berechnen nun
Durch die Funktion f .t; q/ werden die Beiträge
xP 0a;i xP 0a;i D xP a;i xP a;i C 2"ijk xP a;i xP a;j nk ; (5.316)
d @ df .t; q/ @ df .t; q/ ‹
 D0 (5.309)
dt @Pq dt @q dt wobei die Einstein’sche Summenkonvention die Summation
über i; j; k impliziert und der  2 -Term vernachlässigt wur-
hinzugefügt. Es ist zu untersuchen, ob sie tatsächlich verschwin- de. Wegen der Eigenschaften des Levi-Civita-Symbols ist
den. Zunächst ist "ijk xP a;i xP a;j D 0 und somit xP 02
a Dx
P 2a .
df .t; q/ @f .t; q/ @f .t; q/ Ganz analog findet man, dass jxa  xb j invariant ist. Somit tritt
D qP C : (5.310)  in der Lagrange-Funktion überhaupt nicht auf:
dt @q @t
   ˇ
Der erste Beitrag in (5.309) lautet damit d dq0 ˇ
L t0 ; q0 ; 0 Pt0 ˇˇ D 0: (5.317)
d dt D0
d @ df .t; q/ d @f .t; q/ @2 f .t; q/ @2 f .t; q/
D D qP C ; (5.311)
dt @Pq dt dt @q @q 2 @t@q Wir haben eine Symmetrie gefunden.

der zweite ist Mit dem Noether-Theorem (5.214) lässt sich die zugehörige Er-
haltungsgröße bestimmen. Wegen Qt D 0 und f D 0 folgt
@ df .t; q/ @2 f .t; q/ @2 f .t; q/
D P
q C : (5.312) X @L X
@q dt @q2 @q@t ID xQ a;i D pa;i "ijk nk xa;j
a
@Pxa;i a
Sind die Ableitungen vertauschbar, heben sich die Terme paar- X (5.318)
weise auf, und die Bewegungsgleichungen sind tatsächlich D "ijk nk pa;i xa;j D nO  L:
invariant. a

5.8 Um Verwechslungen zu vermeiden, verwenden wir die In- Es ist also die Projektion des Gesamtdrehimpulses L auf die
dizes i; j; k für die Koordinaten und a; b für Punktmassen. Die Achse nO erhalten. Da nO aber beliebig ist, ist der Drehimpuls L
i-te Komponente des Ortsvektors der Punktmasse a ist xa;i . selbst eine Erhaltungsgröße.
208 5 Lagrange-Formalismus und Variationsrechnung

Antworten zu den Selbstfragen


Teil I

Antwort 26 Drehungen haben stets Determinante C1, Spiege-


lungen 1.

Antwort 29 Da das System invariant unter Translationen pa-


rallel zu den Platten ist, ist die parallele Impulskomponente
erhalten. Die Impulskomponente entlang des Feldes ist aller-
dings nicht erhalten, da das Feld das Elektron in diese Richtung
beschleunigt bzw. weil das System in dieser Richtung nicht in-
variant unter Verschiebungen ist.
Literatur 209

Literatur

Teil I
Fließbach, T.: Mechanik: Lehrbuch zur Theoretischen Physik I. Weiterführende Literatur
SpringerSpektrum, Wiesbaden (2015)
Forster, O.: Analysis 3: Maß- und Integrationstheorie, Integral- Goldstein, H.: Klassische Mechanik. Akademische Verlagsge-
sätze im IRn und Anwendungen (Aufbaukurs Mathematik). sellschaft, Wiesbaden (1981)
SpringerSpektrum, Wiesbaden (2012)
Schwingungen
6

Teil I
Was sind kleine
Schwingungen, und warum
sind sie so wichtig?

Wie werden schwingende


Systeme durch Dämpfung
beeinflusst?

Was ist Resonanz, und


wann spielt sie eine Rolle?

Wie beschreibt man


Systeme gekoppelter
Oszillatoren?

Bei welchen Systemen sind


Schwingungen wichtig?

6.1 Freie Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212


6.2 Gedämpfte Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
6.3 Erzwungene Schwingungen und Resonanz . . . . . . . . . . . . . . . . 222
6.4 Kleine Schwingungen gekoppelter Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . 225
6.5 Anwendungen gekoppelter Oszillatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 211
212 6 Schwingungen

Dieses Kapitel beschäftigt sich genauer mit den für die Physik ex- Ob die Bewegungsgleichung
trem wichtigen harmonischen Schwingungen. Sie sind deshalb von
Teil I

so grundlegender Bedeutung, da sich fast alle Kräfte lokal linea- d @L @L d mPq2 dh dV


risieren lassen. Harmonische Schwingungen spielen beispielsweise D H) m h.q/Pq D  (6.3)
dt @Pq @q dt 2 dq dq
auch in der Akustik und der Spektroskopie eine große Rolle.
analytisch lösbar ist und wie ihre Lösung aussieht, hängt von der
In Abschn. 6.1 werden freie Schwingungen eines Systems mit nur Gestalt der Funktion h.q/ und der potenziellen Energie V.q/ ab.
einem einzigen Freiheitsgrad gründlicher untersucht. Die Erweite-
rung auf ein System mit Dissipation wird in Abschn. 6.2 besprochen. Frage 2
Von außen erzwungene Schwingungen werden anschließend in In Abschn. 1.4 wurde der harmonische Oszillator mit Potenzial
Abschn. 6.3 diskutiert. Dabei ist die sogenannte Resonanz ein (1.94) behandelt. Welche Funktionen h.q/ und V.q/ entspre-
wichtiger Effekt. In Abschn. 6.4 kommen wir auf Systeme zu spre- chen einem harmonischen Oszillator? Erinnern Sie sich auch,
chen, bei denen mehrere gekoppelte Freiheitsgrade gleichzeitig dass die Bewegungsgleichung des harmonischen Oszillators mit
schwingen können. Dies erlaubt die Berechnung einiger realisti- (1.102) analytisch gelöst werden kann.
scher Systeme mit vielen Freiheitsgraden (Abschn. 6.5).

Man sagt, dass das System im Gleichgewicht ist, wenn die


Gesamtkraft verschwindet. Dies bedeutet, dass sich die Punkt-
6.1 Freie Schwingungen masse an einem stationären Punkt q0 des Potenzials befinden
muss, an dem dV=dqjqDq0 D 0 gilt.

In diesem Abschnitt beschränken wir uns auf Systeme mit


einem einzigen Freiheitsgrad. Dies kann beispielsweise die Mechanisches Gleichgewicht
Auslenkung eines Fadenpendels sein, bei der die generalisier- Eine Punktmasse befindet sich im Gleichgewicht am sta-
te Koordinate der Auslenkungswinkel ist. Es kann sich aber tionären Ort q0 , wenn die Summe aller auf sie wirkenden
auch um die Auslenkung eines Federpendels handeln, die als generalisierten Kräfte verschwindet:
kartesische Koordinate gewählt werden kann. In jedem Fall soll
ˇ
es mit Ausnahme einer konservativen Rückstellkraft keine wei- dV ˇˇ
QD D 0: (6.4)
teren Kräfte geben. Insbesondere werden Reibungskräfte und dq ˇqDq0
äußere treibende Kräfte erst in späteren Abschnitten berück-
sichtigt. Wir werden feststellen, dass die komplexen Zahlen zur
Beschreibung harmonischer Schwingungen sehr nützlich sind.
Dieser stationäre Punkt kann ein Minimum, ein Maximum oder
ein Sattelpunkt des Potenzials sein (Abb. 6.1). Im ersten Fall
ist das Gleichgewicht stabil, da eine kleine Auslenkung auf ei-
ne Kraft führt, welche die Punktmasse zurück zum stationären
Allgemeine Bewegungsgleichung Punkt treibt. In den beiden anderen Fällen ist das Gleichge-
und Gleichgewicht wicht instabil: Eine Auslenkung führt auf eine Kraft, welche
die Punktmasse weg vom stationären Punkt beschleunigt. Man
kann sich dies gut an einem Ball vorstellen, der in einer Mulde
Für einen einzigen Freiheitsgrad q in Abwesenheit dissipativer bzw. auf einem Hügel liegt und leicht angestoßen wird.
Kräfte lautet die Lagrange-Funktion allgemein

L D T.q; qP /  V.q/: (6.1)


Entwicklung der kinetischen Energie
Hat man es nur mit einer Punktmasse m und einem Freiheitsgrad und des Potenzials
q zu tun und sind alle eventuell auftretenden Zwangsbedingun-
gen skleronom (zeitunabhängig), lautet die kinetische Energie
(5.98) Die Funktion h.q/ und das Potenzial V.q/ können im Allge-
1 meinen alle möglichen Gestalten annehmen. In vielen Fällen ist
T.q; qP / D mh.q/Pq2: (6.2) jedoch die folgende Situation relevant: Das Potenzial besitzt ein
2 lokales Minimum bei q0 , und die Auslenkung aus dem stabi-
Hier ist h.q/ > 0 eine reine Funktion der generalisierten Koor- len Gleichgewicht, x WD q  q0 , ist klein. Man kann dann h.x/
dinate q, nicht jedoch ihrer Ableitung qP . und V.x/ um x D 0 bzw. q D q0 entwickeln und Terme hö-
herer Ordnung in x vernachlässigen (eigentlich sind h.x/, V.x/
Frage 1 und h.q/, V.q/ jeweils unterschiedliche Funktionen ihrer Argu-
Zeigen Sie, dass (6.2) aus (5.98) folgt und dass h.q/ > 0 ist. mente, beschreiben aber die gleiche Physik). Wir werden sehen,
dass die Entwicklung letztlich auf eine Bewegungsgleichung
6.1 Freie Schwingungen 213

a b c d
V

Teil I
q0

q0 q0

q0

q q q q

Abb. 6.1 Mögliche stationäre Punkte eines Potenzials V.q/. a Ein Minimum bei q0 bildet ein stabiles Gleichgewicht , bei dem Auslenkungen auf Rückstellkräfte
führen. b Das Gleichgewicht ist instabil, wenn es sich um ein Maximum handelt, da Auslenkungen in jede Richtung auf Kräfte führen, welche die Auslenkung
vergrößern. c Sattelpunkte führen ebenfalls auf instabile Gleichgewichte. Nicht alle Auslenkungen führen auf Rückstellkräfte. d Hängt das Potenzial gar nicht von q
ab, ist das Gleichgewicht indifferent . Es treten keine Kräfte beim Auslenken auf

einer harmonischen Schwingung führt, die wesentlich leichter sind bereits von höherer Ordnung und können vernachlässigt
zu handhaben ist als die allgemeine Bewegungsgleichung (6.3). werden. Die Voraussetzung hier ist, dass xP und x beide von der-
Man spricht deshalb auch von kleinen Schwingungen, da die selben Ordnung sind.
vereinfachte Bewegungsgleichung nur für kleine Auslenkungen
x gültig ist. Frage 3
Wir entwickeln das Potenzial um das Minimum bei x D 0 und Überlegen Sie sich, dass xP und x von der gleichen Ordnung
schreiben: sind. Dazu betrachte man die Lösung (1.102) der harmonischen
ˇ ˇ Schwingung und berechne die erste Zeitableitung: Die maxima-
dV.x/ ˇˇ 1 d2 V.x/ ˇˇ le Geschwindigkeit ist proportional zur Auslenkung, xP / x.
V.x/ D V.0/ C x C x2
dx ˇxD0 2 dx2 ˇxD0
1 ˇ (6.5)
X 1 dn V.x/ ˇˇ
C xn
: Im Grenzfall kleiner Schwingungen lautet die Lagrange-Funk-
nŠ dxn ˇ
nD3 xD0 tion also
1 2 1 2
L D T.Px/  V.x/ D mPQ x  Vx Q ; (6.7)
Der erste Term auf der rechten Seite ist der konstante Wert 2 2
des Potenzials im Minimum. Er spielt in den Bewegungsglei- ˇ
chungen keine Rolle. Der zweite Term ist der lineare Beitrag wobei die Konstanten mQ WD mh.0/ und VQ WD d2 V.x/=dx2 ˇxD0
der Entwicklung und verschwindet per Konstruktion, da das zur Abkürzung eingeführt wurden.
Potenzial um sein Minimum entwickelt wird. Beschränkt man
sich auf kleine Schwingungen, ist x klein, und Terme höherer Frage 4
Ordnung in x können vernachlässigt werden. In vielen Anwen- Überlegen Sie sich, dass VQ positiv sein muss, wenn das Poten-
dungen spielt nur der quadratische Term eine wichtige Rolle, zial bei q0 ein Minimum besitzt.
und alle Terme xn mit n  3 werden ignoriert. Dies führt offen-
sichtlich auf das Potenzial einer harmonischen Schwingung.
Achtung Selbstverständlich kann nicht in allen Situationen
davon ausgegangen werden, dass die Auslenkungen klein sind. Eigenfrequenz der freien kleinen Schwingung
Dann muss man entweder das Potenzial V.q/ vollständig be-
rücksichtigen oder aber weitere Terme der Entwicklung mitneh-
men. Schwingungen, bei denen höhere Terme von x eingehen, Aus (6.7) folgt die Bewegungsgleichung für die freie kleine
sind anharmonisch, da sie nicht durch einfache Sinus- oder Ko- Schwingung eines einzelnen Freiheitsgrads:
sinusfunktionen beschrieben werden können. J
Es ist noch die kinetische Energie zu entwickeln. Hier ist xR C !02 x D 0: (6.8)
" 1 ˇ #
mPx2 X 1 dn h.x/ ˇˇ Wir haben dabei s
T.x; xP / D h.0/ C x :
n
(6.6)
2 nŠ dxn ˇ VQ
nD1 xD0
!0 WD (6.9)
mQ
Da der Vorfaktor bereits von zweiter Ordnung in xP ist, muss
aus der Reihenentwicklung in der Klammer nur der konstan- definiert. Man kann ohne Einschränkung der Allgemeinheit for-
te Beitrag h.0/ berücksichtigt werden. Kombinationen wie xP 2 x dern, dass !0 > 0 ist.
214 6 Schwingungen

6.1 Mathematischer Hintergrund: Lineare Differenzialgleichungen


Teil I

Homogene und inhomogene Differenzialgleichungen, Fundamentalsystem

Wir haben bereits im „Mathematischen Hintergrund“ 1.4 sind, so kann man dies mit der Wronski-Determinante über-
gelernt, was man allgemein unter einer (gewöhnlichen) Dif- prüfen. Diese ist definiert als
ferenzialgleichung (DGL) versteht. Wir wollen uns hier 0 1
genauer mit einer speziellen Art, nämlich den linearen Dif- y1 .x/ y2 .x/  yn .x/
ferenzialgleichungen, beschäftigen. B y1.1/ .x/ y2.1/ .x/  yn.1/ .x/ C
B C
W.x/ WD det B :: :: : :: C:
@ : : :: : A
Lineare Differenzialgleichung Eine DGL für die Funktion y1.n1/ .x/ y2.n1/ .x/  yn.n1/ .x/
y.x/ heißt linear, wenn y.x/ und all ihre Ableitungen höchs-
tens linear vorkommen: Gilt nun W.x/ ¤ 0 für ein x 2 I, so sind die Funktionen
yi .x/ linear unabhängig. Die Umkehrung gilt jedoch nicht,
Cn .x/y.n/ .x/ C    C C1 .x/y.1/ .x/ C C0 .x/y.x/ D f .x/: d. h., aus W.x/ D 0 für alle x 2 I folgt nicht die lineare
Abhängigkeit.
y.n/ .x/ bezeichnet die n-te Ableitung von y.x/ nach x. Alle
Ci .x/; y.x/ und f .x/ sind reellwertige Funktionen. Ist y.n/ .x/ Im Falle einer linearen DGL zweiter Ordnung ist also der
die höchste auftretende Ableitung, so ist die DGL von n-ter Term W.x/ D y1 .x/y02 .x/  y2 .x/y01 .x/ zu überprüfen.
Ordnung. Die Gleichung heißt homogen, falls f .x/ D 0, und
ansonsten inhomogen. Man spricht von einer DGL mit kon- Lösung der inhomogenen Gleichung Die allgemeine Lö-
stanten Koeffizienten, wenn alle Ci nicht von x abhängen und sung einer inhomogenen linearen DGL erhält man durch
somit Konstanten sind. Addition der allgemeinen Lösung der dazugehörigen homo-
genen Gleichung zu einer speziellen Lösung der inhomoge-
Betrachtet man vektorwertige Funktionen y.x/ und f .x/ mit nen Gleichung (auch partikuläre Lösung yp .x/ genannt). Die
Werten in Rk , so hat die Gleichung die Form allgemeine Lösung hat also die Form

Cn .x/y.n/ .x/ C    C C1 .x/y.1/ .x/ C C0 .x/y.x/ D f .x/; X


n
y.x/ D ai .x/yi .x/ C yp .x/;
wobei die Ci .x/ matrixwertige Funktionen sind (d. h., für iD1

jedes x ist Ci .x/ eine quadratische k  k-Matrix). Diese Glei- wobei ai reelle Zahlen sind und die yi .x/ ein Fundamental-
chung kann man auch als ein System von k reellwertigen system der homogenen Gleichung bilden.
eindimensionalen Gleichungen ansehen. Deswegen spricht
man hier auch von einem Differenzialgleichungssystem. Eindeutigkeit von Lösungen DGL der Ordnung n haben
n linear unabhängige Lösungen; es gibt also insbesonde-
Die Lösung y.x/ einer DGL muss nicht auf ganz R definiert re keine eindeutige Lösung. Will man eine eindeutige Lö-
sein, selbst wenn die vorkommenden Funktionen Ci .x/ und sung erhalten, so muss man weitere Bedingungen an die
f .x/ auf ganz R definiert sind. Wir bezeichnen im Folgen- DGL stellen. Dies wird üblicherweise in der Form von An-
den mit I das Intervall (das auch ganz R sein kann), auf dem fangs(wert)bedingungen getan. Dabei gibt man beispielswei-
Lösungen der DGL definiert sind. se für einen Wert x0 im Lösungsintervall I die Anfangswerte
y.k/ .x0 / für k D 0; : : : ; n  1 vor. Durch Vorgabe dieser n un-
Lösungsraum im homogenen Fall Ist eine DGL n-ter Ord- abhängigen Bedingungen erhält man eine eindeutige Lösung
nung homogen und sind y1 .x/ und y2 .x/ zwei ihrer Lösun- im n-dimensionalen Lösungsraum. Diese kann man berech-
gen, so ist für alle a1 ; a2 2 R auch die Linearkombination nen, indem man die Anfangswerte in die allgemeine Lösung
a1 y1 .x/ C a2 y2 .x/ eine Lösung, d. h., die Lösungen bilden der DGL einsetzt und das entstehende Gleichungssystem löst.
einen reellen Vektorraum. Dieser hat die Dimension n, es
Ein einfaches Beispiel ist die Schwingungsgleichung
gibt also n linear unabhängige Lösungen. P Dabei sind Funk-
tionen gi .x/ linear unabhängig, wenn aus niD1 ai gi .x/ D 0 C2 y00 .x/ C C0 y.x/ D 0:
für alle x 2 I schon ai D 0 für alle i folgt. Eine Basis
des Lösungsraumes, d. h. n linear unabhängige Lösungen, Da dies eine homogene lineare DGL zweiter Ordnung ist,
bezeichnet man auch als Fundamentalsystem. Jede der n Lö- gibt es ein Fundamentalsystem mit zwei p unabhängigen Lö-
sungen ist dann eine Fundamentallösung. sungen.
p Diese sind z. B. y1 .x/ D sin. C0 =C2 x/ und y2 .x/ D
cos. C0 =C2 x/. Die allgemeine Lösung hat die Form y.x/ D
Wronski-Determinante Wenn man herausfinden möchte, a1 y1 .x/ C a2 y2 .x/. Erst durch Angabe zweier Anfangswerte
ob n Lösungen yi .x/ einer linearen DGL linear unabhängig werden a1 und a2 festgelegt; die Lösung wird dann eindeutig.
6.1 Freie Schwingungen 215

Fadenpendel Die Kreisfrequenz !0 ist die Eigenfrequenz der harmonischen


Schwingung, die nur durch die Eigenschaften des Systems

Teil I
(Masse und Form des Potenzials), nicht aber durch die Anfangs-
Betrachten wir erneut das mathematische Fadenpendel
bedingungen bestimmt ist. (Streng genommen ist die Eigenfre-
der Masse m und Länge l, das sich nur in der x-z-Ebene
quenz zwar f0 D !0 =.2 /, doch wird diese Unterscheidung im
bewegen kann. Die Gravitationskraft zeigt in die negative
physikalischen Sprachgebrauch häufig unterschlagen.)
z-Richtung. Der einzige Freiheitsgrad ist der Auslen-
kungswinkel aus der Ruhelage (Gleichgewicht). Für die
kinetische und die potenzielle Energie gilt

TD
1 2 P2
ml ; V D mgl cos : (6.10)
Kepler-Problem
2
Die kinetische Energie muss nicht entwickelt werden, da Zur Anwendung betrachten wir nochmals das Kepler-Problem
T nicht von abhängt. Wegen cos 1  2 =2 folgt aus Abschn. 3.3. Wir wissen bereits, dass die radiale Bewegung
jedoch für das Potenzial durch (3.66) und (3.67) beschrieben wird. Man kann dies so in-
terpretieren: Der Freiheitsgrad r hat eine kinetische Energie
1
V mgl 2
: (6.11)
2  2
T.Pr/ D rP (6.16)
2
Der konstante Term wurde dabei bereits ignoriert. Mit
Q D ml2 und VQ D mgl folgt das bekannte Ergebnis
m und bewegt sich in einem Potenzial
s
r
VQ g L2 ˛
!0 D D : (6.12) V.r/ D  ; (6.17)
mQ l 2r2 r

Analog kann man das physikalische Pendel diskutieren, wobei L der Drehimpuls der Punktmasse (und nicht die La-
das bereits in Aufgabe 4.5 untersucht wurde. J grange-Funktion) ist.

Achtung Beim Kepler-Problem gibt es mehr als nur einen


Bei (6.8) handelt es sich um eine gewöhnliche lineare homogene Freiheitsgrad. Allerdings ist die Bewegung des Freiheitsgrades
Differenzialgleichung (DGL) zweiter Ordnung mit konstanten r von denen der anderen entkoppelt. Seine Bewegungsgleichung
Koeffizienten („Mathematischer Hintergrund“ 6.1). Um sie zu kann also als die eines Systems mit nur einem Freiheitsgrad an-
lösen, benötigt man ein Fundamentalsystem aus zwei linear un- gesehen werden. Dabei ist der Drehimpuls L eine von außen
abhängigen Lösungen x1 .t/ und x2 .t/. Wir wissen bereits, dass vorgegebene Konstante. J
(1.102) die allgemeine Lösung dieser DGL ist. Wie schon in
Aufgabe 1.7 gezeigt, kann man (1.102) alternativ als Linear- Bewegt sich die Punktmasse nahezu auf einer Kreisbahn, kann
kombination der beiden fundamentalen Lösungen sin.!0 t/ und die radiale Bewegung durch eine kleine Schwingung appro-
cos.!0 t/ ausdrücken: ximiert werden. Dies ist möglich, da das Potenzial V.r/ ein
Minimum hat, dessen Lage r0 gerade dem Radius der Kreisbahn
x.t/ D a1 sin.!0 t/ C a2 cos.!0 t/: (6.13) entspricht.

Man kann mithilfe der Wronski-Determinante schnell zeigen, Frage 5


dass die beiden Fundamentallösungen linear unabhängig sind Wie lautet die Bedingung, dass das Kepler-Problem eine kreis-
(„Mathematischer Hintergrund“ 6.1): förmige Bahn erlaubt? In diesem Fall ist der Gleichgewichtsra-
ˇ ˇ dius
ˇx1 .t/ x2 .t/ˇ
WDˇ ˇ ˇ L2
xP 1 .t/ xP 2 .t/ˇ r0 D : (6.18)
ˇ ˇ (6.14) ˛
ˇ sin.!0 t/ cos.!0 t/ ˇˇ
D ˇˇ D ! D
6 0:
!0 cos.!0 t/ !0 sin.!0 t/ˇ 0
Berechnen Sie diesen, indem Sie nach stationären Punkten von
V.r/ suchen.
Die Anfangsbedingungen legen die Werte der beiden Konstan-
ten a1 und a2 fest. Sind die Anfangsauslenkung x0 D x.t D 0/
und die Anfangsgeschwindigkeit v0 D xP .t D 0/ gegeben, folgt Wir erlauben nun nur kleine Abweichungen von diesem Radius
durch Einsetzen (siehe „Mathematischen Hintergrund“ 6.3) und schreiben
v0 L2
a1 D ; a2 D x0 : (6.15) x D r  r0 D r  : (6.19)
!0 ˛
216 6 Schwingungen

6.2 Mathematischer Hintergrund: Komplexe Zahlen


Teil I

Definition und Rechenregeln

Durch die Einführung von negativen Zahlen wurde es ermög- Dieses Betragsquadrat von z lässt sich ausnutzen, um die
licht, Lösungen für beliebige lineare Gleichungen angeben Division zweier komplexer Zahlen zu definieren, indem man
zu können. Quadratische Gleichungen wie x2 D 1 haben sie auf die Division durch eine reelle Zahl reduziert:
dagegen keine Lösung über den reellen Zahlen. Die komple-
xen Zahlen wurden im 16. Jahrhundert von dem italienischen z1 z1 z .x1 C i y1 /.x2  i y2 /
D  D
2
:
Mathematiker Gerolamo Cardano (1501–1576) eingeführt, z2 z2 z2 x22 C y22
als er merkte, dass er kubische Gleichungen lösen konnte,
indem er mit fiktiven Lösungen von über den reellen Zah-
len unlösbaren quadratischen Gleichungen weiterrechnete. Darstellungen Jede komplexe Zahl lässt sich eindeutig als
Leonhard Euler führte dazu im 18. Jahrhundert die imagi- Punkt in einer zweidimensionalen Zahlenebene (Gauß’sche
näre Einheit i ein, dessen Quadrat 1 ist, also i2 D 1. Zahlenebene; Abb. 6.2) mit Koordinaten .x; y/ interpretie-
ren. Man nennt x den Realteil und y den Imaginärteil. Die
Addition zweier komplexer Zahlen entspricht dann der Vek-
Definition Eine komplexe Zahl wird definiert als eine Zahl
toraddition in der Gauß’schen Zahlenebene. Dabei ist der
der Form z D x C i y 2 C mit x; y 2 R. Zwei komplexe
Betrag einer komplexen Zahl der Abstand r D jzj dieses
Zahlen z1;2 D x1;2 C i y1;2 lassen sich dann folgendermaßen
Punktes vom Ursprung.
addieren und multiplizieren:
In Aufgabe 6.1 wird gezeigt, dass man die komplexe Expo-
z1 C z2 D .x1 C x2 / C i .y1 C y2 /; nentialfunktion als
z1  z2 D x1 x2 C i .x1 y2 C x2 y1 / C i2 y1 y2
ei ' D cos ' C i sin '; '2R
D .x1 x2  y1 y2 / C i .x1 y2 C x2 y1 /:
schreiben kann. Diese sogenannte Euler’sche Formel ist ex-
trem hilfreich und wird in der Physik häufig eingesetzt.
Algebraische Abgeschlossenheit Die große Bedeutung der Daraus ergibt sich der wichtige, in Abb. 6.2 illustrierte Zu-
komplexen Zahlen liegt nun unter anderem darin begründet, sammenhang
dass jede algebraische Gleichung vom Grad größer null über
den komplexen Zahlen eine Lösung besitzt (Fundamental- z D x C i y D r.cos ' C i sin '/ D rei ' :
satz der Algebra).
Hier ist ' eine reelle Phase, die tan ' D y=x erfüllt.
Körpereigenschaften C ist mit den obigen Operationen ein
Körper mit null 0 C i 0 und eins 1 C i 0: Im z

.x C i y/ C .0 C i 0/ D .x C 0/ C i .y C 0/ D x C i y;
.x C i y/  .1 C i 0/ D .x  1  y  0/ C i .x  0 C y  1/ z = a + ib = reiφ
D x C i y: b

Das multiplikative Inverse z1 D z0 D x0 C i y0 zu einer r


komplexen Zahl z D x C i y erhalten wir, indem wir i

.x C i y/  .x0 C i y0 / D .xx0  yy0 / C i .xy0 C yx0 / D 1 C i 0


φ

lösen, was xx0  yy0 D 1 und xy0 C yx0 D 0 bzw. x0 D −1 0 1 a Re z


x=.x2 C y2 / und y0 D y=.x2 C y2 / erfordert und für z 6D 0
definiert ist.
Abb. 6.2 Jede komplexe Zahl z D xCi y lässt sich als Punkt in der komple-
xen Zahlenebene mit Koordinaten .x; y/ darstellen. In der Polardarstellung
Komplexe Konjugation und Division Die komplex konju- ordnet man der komplexen Zahl das eindeutige Tupel .r; '/, d. h. Betrag (Ab-
gierte Zahl z einer komplexen Zahl z D x C i y erhält man stand vom Ursprung) und Phase (Winkel zur reellen Achse) zu: z D rei ' .
durch Multiplikation ihres Imaginärteils mit 1: z D xi y. Beide Darstellungen sind äquivalent
Es gilt dann
Somit lassen sich die Kosinus- und Sinusfunktionen durch
jzj2 WD zz D z z D x2 C y2 2 R: die komplexe Exponentialfunktion ausdrücken:
6.1 Freie Schwingungen 217

ei x C ei x ei x  ei x Literatur


cos x D ; sin x D :
2 2i

Teil I
Arens, T., et al.: Mathematik. 2. Aufl., Spektrum Akade-
Diese Identitäten erlauben es, häufig verwendete Beziehun- mischer Verlag (2012)
gen der trigonometrischen Funktionen bequem abzuleiten Freitag, E., Busam, R.: Funktionentheorie 1. 4. Aufl.,
(Aufgabe 6.1). Springer Verlag (2006)

Die Bahngleichung lautet

r.'/ D r0 C ır cos.!0 t  ı0 / (6.22)

mit Amplitude ır r0 und Phasenverschiebung ı0 , die bei-


de aus den Anfangsbedingungen folgen. Andererseits lautet das
dritte Kepler’sche Gesetz für die Umlauffrequenz
s
˛
!U D ; (6.23)
r03

wobei die große Halbachse a durch den Radius r0 ersetzt wurde,


da die Bewegung näherungsweise auf einer Kreisbahn erfolgen
soll. Wir nutzen noch die Relation (6.18) zwischen Radius und
Drehimpuls aus und finden nach kurzer Rechnung für das Ver-
hältnis der Frequenzen
!0
D 1: (6.24)
!U

Was bedeutet dies? Ist die Schwingung für die radiale Bewe-
gung klein, dauert sie genauso lang wie ein Umlauf (Abb. 6.3).
Abb. 6.3 Gebundene Kepler-Bahnen, die nur geringfügig von der Kreisbahn
(blau ) abweichen, lassen sich wegen (6.22) als radiale Schwingung (rot ) um
Dies ist in Übereinstimmung mit der allgemeinen Lösung des
die Kreisbahn auffassen. Dabei ist die Oszillationsperiode exakt identisch mit Kepler-Problems, die auch gültig ist, wenn die radiale Bewe-
der Umlaufdauer, und die Bahn ist nach einem Umlauf geschlossen. Die roten gung keine kleine Schwingung mehr ist: Im Allgemeinen sind
Punkte markieren die Orte, an denen das Argument des Kosinus die Werte 0, die gebundenen Bahnen Ellipsenbahnen. Pro Umlauf gibt es ge-
=2, und 3 =2 annimmt nau ein Perihel und ein Aphel, und das Perihel ist fest. Dies
entspricht exakt einer radialen Schwingung pro Umlauf.
In Aufgabe 6.2 wird dies auf beliebige Potenzpotenziale verall-
Damit ist es möglich, V.x/ zu formulieren. Wir berechnen die gemeinert.
zweite Ableitung

ˇ
d2 V.x/ ˇˇ
x2 Darstellung harmonischer Schwingungen
dx2 ˇxD0
 2 ˇ mit komplexen Zahlen
L ˛ ˇ
D 3 4 2 3 ˇ x2
r r ˇ
xD0 (6.20)
2 3 Schwingungen lassen sich mithilfe der komplexen Zahlen
2  ˛ 3 („Mathematischer Hintergrund“ 6.2) elegant beschreiben. Dazu
6 3L 2˛ 7
D 4  4   3 5 x2 D ˛ x2 : multiplizieren wir (6.8) mit 2Px und schreiben
L2 L2 L2
 ˛ ˛
dPx2 dx2
2PxxR C 2!02 xP x D 0 H) C !02 D 0: (6.25)
dt dt
Damit finden wir für die radiale Schwingung die Frequenz
Eine erste Integration führt auf
s s
VQ ˛  ˛ 3 ˛ 2 xP
!0 D D D 3 : (6.21) xP 2 D !02 x2 H) D ˙i!0 ; (6.26)
mQ  L 2 L x
218 6 Schwingungen

6.3 Mathematischer Hintergrund: Lineare Differenzialgleichungen


Teil I

Lösungsstrategien

Im „Mathematischen Hintergrund“ 6.1 wurden lineare Dif- Diese Methode hat ihren Namen daher, dass die Lösung
ferenzialgleichungen (DGL) definiert. Hier beschäftigen wir der homogenen Gleichung  f D 0) gegeben ist
 R (d. h. für
uns damit, wie man einige Klassen solcher Gleichungen lö- x
durch y.x/ D K  exp  x0 c.s/ ds mit einer Konstanten
sen kann.
K. Im inhomogenen Fall variiert man nun diese Konstan-
Lösungsansätze Es gibt kein Lösungsverfahren, das man te K, d. h., man erlaubt eine x-Abhängigkeit und schreibt
für jede lineare DGL anwenden kann. Für relativ einfache K.x/. Dies führt auf die obige Lösung.
Formen gibt es aber Lösungsverfahren, von denen wir hier
zwei vorstellen wollen:
Beispiel Wir wollen mithilfe des Exponentialansatzes eine
Exponentialansatz: (Euler-Ansatz) Haben wir es mit ei- spezielle Lösung der DGL
ner linearen DGL mit konstanten Koeffizienten und einer
exponentiellen Inhomogenität, d. h. einer DGL der Form y00 .x/  2y0 .x/ C 2y.x/ D x2 e.1Ci/x
y.n/ .x/ C cn1 y.n1/ .x/ C    C c0 y.x/
  mit l D 2 bestimmen. Das charakteristische Polynom ist
D e.aCib/x al xl C    C a1 x C a0 p.t/ D t2  2t C 2, und 1 C i ist einfache Nullstelle von p
(d. h. m D 1). Also gibt es eine partikuläre Lösung der Form
mit ci ; ai 2 C und a; b 2 R, zu tun, so kann man den
Exponentialansatz benutzen, der auf Euler zurückgeht.  
Wir betrachten das sogenannte charakteristische Polynom yp .x/ D e.1Ci/x b1 x C b2 x2 C b3 x3 :
der DGL, das durch
Es gilt dann
p.t/ WD tn C cn1 tn1 C    C c0
y0p .x/ D e.1Ci/x b1 C 2b2 x C 3b3 x2
gegeben ist. Bezeichnet dann m die Nullstellenordnung  
von p in a C ib, d. h. C .1 C i/ b1 x C b2 x2 C b3 x3
n o
m D min k 2 N0 W p.k/ .a C ib/ ¤ 0 ; und
 
so gibt es eine partikuläre Lösung der Form y00p .x/ D e.1Ci/x 2b2 C 6b3 x C 2.1 C i/ b1 C 2b2 x C 3b3 x2
 
C .1 C i/2 b1 x C b2 x2 C b3 x3 :
X
mCl
yp .x/ D e.aCbi/x bj xj
jDm Setzt man nun yp .x/ und die beiden Ableitungen in die ur-
sprüngliche DGL ein, so erhält man die Gleichung
mit bj 2 C. Dieser Ansatz funktioniert auch, wenn a C i b
keine Nullstelle von p ist; in diesem Fall ist m D 0. e.1Ci/x .2b2 C 2b1 i/ C .6b3 C 4b2 i/x C .6b3 i/x2
Die Koeffizienten bj lassen sich berechnen, indem man
die partikuläre Lösung in die DGL einsetzt, Koeffizienten D x2 e.1Ci/x :
vergleicht und das resultierende lineare Gleichungssys-
tem löst. Durch Koeffizientenvergleich ergibt sich das lineare Glei-
Variation der Konstanten: Hat die DGL die Form chungssystem

y0 .x/ C c.x/y.x/ D f .x/; y.x0 / D y0 ; 2b2 C 2b1 i D 0; 6b3 C 4b2 i D 0; 6b3 i D 1:


d. h., handelt es sich um eine lineare DGL erster Ordnung
mit einer Anfangswertbedingung, so ist die Lösung gege- Die eindeutige Lösung dieses Gleichungssystems ist b1 D
ben durch i=4, b2 D 1=4, b3 D i=6, eine spezielle Lösung ist also
2 x 3 gegeben durch
Z R Rx
t  
y.x/ D 4 e x0 c.s/ ds
f .t/ dt C y0 5 e x0 c.s/ ds : i 1 i
yp .x/ D x C x2  x3 e.1Ci/x :
x0 4 4 6
6.2 Gedämpfte Schwingungen 219

wobei die imaginäre Einheit i (mit i2 D 1) verwendet wur- Lineare Reibungskraft
de. Wir ignorieren hier Integrationskonstanten, um die einfachst

Teil I
mögliche Lösung zu finden.
Die Bewegung des Freiheitsgrades q soll gedämpft sein. Die
Man kann nun eine zweite Integration durchführen. Mit dabei auftretende Reibungskraft lässt sich wie in (5.82) in der
Lagrange-Gleichung für q berücksichtigen. Wir nehmen an,
xP d ln x dass die generalisierte dissipative Kraft linear in qP ist (siehe
D D ˙i!0 (6.27) auch Stokes’sche Reibung in Abschn. 1.3). Anstatt jedoch wie-
x dt
der beim Lagrange-Formalismus für q zu starten, gehen wir von
der Näherung (6.8) aus und addieren eine in xP lineare Reibungs-
folgt
kraft:
x.t/ D e˙i!0 t ; (6.28) xR C 2Px C !02 x D 0: (6.31)
Der Reibungskoeffizient  > 0 ist vorgegeben.
wobei wir erneut eine mögliche Integrationskonstante ignoriert
haben. Die allgemeine Lösung lautet Reibungsterme, die quadratisch in xP sind, machen die mathema-
tische Behandlung wesentlich komplizierter, da die Bewegungs-
x.t/ D Ae˙i.!0 t /
(6.29) gleichung dann nichtlinear ist. Wir beschränken uns auf den
einfacheren, linearen Fall, der oftmals eine gute Beschreibung
der Realität darstellt (beispielsweise die Reibung eines Pendels
mit den reellen Konstanten A (Amplitude) und (Phasenver- in einem Wassergefäß).
schiebung).
Es ist zu beachten, dass  dieselbe Einheit besitzt wie !0 ,
Achtung Da physikalische Größen stets reell sind, kann die nämlich s1 . Damit kann 1= als die Zeitspanne interpretiert
komplexe Lösung in der Form (6.28) nicht die physikalische werden, nach der die Oszillation stark abgedämpft ist.
Lösung sein. Allerdings sind sowohl der Real- als auch der
Imaginärteil von (6.28) reelle Größen, welche die beiden Fun-
damentallösungen ergeben. J
Lösung mit komplexen Zahlen
Es gilt
  Genau wie bei (6.8) handelt es sich bei (6.31) um eine gewöhnli-
x1 D Im x D Im e˙i!0 t D sin .˙!0 t/ ; che lineare homogene DGL zweiter Ordnung. Es werden wieder
  (6.30) zwei linear unabhängige Lösungen benötigt, deren Linearkom-
x2 D Re x D Re e˙i!0 t D cos .˙!0 t/ : bination die vollständige Lösung bildet. Für derartige Probleme
kann man stets den auf Euler zurückgehenden Exponentialan-
satz
Die verschiedenen Vorzeichen ergeben keine neuen Lösungen:
z.t/ D ei!t 2 C; ! 2 C (6.32)
Beim Kosinus führen beide wegen cos.C / D cos. / auf
dasselbe Ergebnis, beim Sinus wegen sin.C / D  sin. / machen („Mathematischer Hintergrund“ 6.3). Mithilfe der kom-
lediglich auf einen Vorfaktor, der sowieso frei wählbar ist. Für plexen Zahlen kann die allgemeine Lösung schnell erhalten
die Rechnungen bieten sich wegen (6.30) komplexe Zahlen an; werden. Dazu schreiben wir zunächst
bei der Interpretation der Lösung müssen Real- und Imaginärteil
allerdings separat untersucht werden. In Aufgabe 6.1 wird das zR C 2Pz C !02 z D 0; z 2 C; (6.33)
Rechnen mit komplexen Zahlen vertieft.
da bei einer komplexen Lösung z auch Real- x1 .t/ D Re z und
Imaginärteil x2 .t/ D Im z jeweils Lösungen sind.
Die komplexe Bewegungsgleichung lautet
 2 
6.2 Gedämpfte Schwingungen ! C 2i! C !02 ei!t D 0: (6.34)

Bis zu diesem Punkt wurden die freien kleinen Schwingun- Frage 6


gen eines einzelnen Freiheitsgrades untersucht. In vielen An- Zeigen Sie dies, indem Sie die Zeitableitungen der Ansatzfunk-
wendungen treten jedoch dissipative Kräfte auf, die zu einer tion berechnen.
Dämpfung der Schwingung führen. In diesem Abschnitt wird
der Einfluss einer linearen Dämpfung untersucht. Man unter- Die Bewegungsgleichung ist für alle Zeiten t zu erfüllen, was
scheidet die drei Fälle der schwachen, starken und kritischen nur möglich ist, wenn der zeitunabhängige Term in der Klam-
Dämpfung. Weiterhin wird mithilfe der erarbeiteten Metho- mer identisch verschwindet:
den die Lösung der Bewegungsgleichungen des Foucault’schen
Pendels gefunden, die bereits in Abschn. 2.4 aufgestellt wurden.  ! 2 C 2i! C !02 D 0: (6.35)
220 6 Schwingungen

x(t)
λ= 0
Allgemeine Lösung des schwach gedämpften Oszilla-
Teil I

λ = ω0 /4
tors
x(0) λ = ω0 /2
λ = ω0 Die Auslenkung des schwach gedämpften Oszillators
λ = 2ω0 ( < !0 ) ist
λ = 4ω0
x.t/ D e t Œa1 sin.!t/
Q C a2 cos.!t/
Q
  (6.40)
0
Q
D Ae t
Q  ıQ
cos !t
1 2 3 ω0 /(2π)t
q
mit !Q D !02  2 .

Man sieht, dass die schwache Dämpfung zu einer Schwingung


führt, deren Amplitude exponentiell abklingt. Nach der Zeit
Abb. 6.4 Bahnkurven für verschiedene Dämpfungskoeffizienten . Alle Bahn- t D 1= ist aufgrund der Reibungskraft die Amplitude auf
kurven haben die Anfangsbedingungen xP .0/ D 0. Die ungedämpfte Schwin- e1 0;37 des Anfangswertes abgefallen. Man nennt die Zeit
gung,  D 0, hat die Oszillationsfrequenz !0 . Für  < !0 ist die Dämpfung 1= auch die Relaxationszeit der Schwingung. Die Schwin-
schwach, und die Frequenz ist kleiner als !0 . Der Spezialfall  D !0 entspricht gungsfrequenz !Q ist gegenüber der Eigenfrequenz !0 reduziert:
der kritischen Dämpfung. Größere Dämpfungskoeffizienten führen auf starke
Dämpfung, bei der es – wie bei der kritischen Dämpfung – keine Oszillation
!Q < !0 . Die beiden Integrationskonstanten (entweder als a1
mehr gibt Q werden durch die Anfangsbedingun-
und a2 oder als AQ und ı)
gen bestimmt. Typische Lösungen x.t/ sind in Abb. 6.4 gezeigt.

Es soll daran erinnert werden, dass  und !0 die ursprünglichen


Eigenschaften des Systems sind und ! bisher nicht bekannt ist.
Man kann die in ! quadratische Gleichung (6.35) nach ! auflö- Starke Dämpfung
sen und findet die beiden Lösungen
q q Von starker Dämpfung spricht man, wenn  > !0 ist. In diesem
!˙ D i ˙ .i/2 C !02 D i ˙ !02  2 D i ˙ !: Q (6.36) Fall ist !Q imaginär:
q
Zur Abkürzung wurde die Größe
!Q D i 2  !02 D i!;
N !N 2 R: (6.41)
q
!Q WD !02  2 (6.37) Die allgemeine Lösung ist
eingeführt. Da das Argument der Wurzel in (6.37) negativ, po-
x.t/ D a1 e. C!/t
N
C a2 e. !/t
N
: (6.42)
sitiv oder null sein kann, müssen wir eine Fallunterscheidung
durchführen.
Somit gibt es keine Oszillation, und die Bewegung klingt
exponentiell ab, wie in Abb. 6.4 dargestellt. Die beiden Integra-
tionskonstanten a1 und a2 werden wieder durch die Anfangsbe-
Schwache Dämpfung dingungen festgelegt.

Man nennt die Dämpfung schwach, wenn  < !0 ist. Das Argu-
ment der Wurzel in (6.37) ist dann positiv, und !Q ist reell. Ohne Kritische Dämpfung
Beschränkung der Allgemeinheit können wir !Q > 0 annehmen.
Dies führt auf die Lösung
Der Spezialfall  D !0 trennt die schwache und die starke
z˙ .t/ D e t e˙i!t
Q
: (6.38) Dämpfung. Dies bedeutet, dass wir nur noch eine Fundamen-
tallösung
Aus dem Real- und Imaginärteil ergeben sich zwei linear unab- x1 .t/ D e t (6.43)
hängige, reelle Lösungen:
kennen, da !Q D 0 ist. Wir benötigen allerdings eine zwei-
x1 .t/ D e t cos.!t/;
Q x2 .t/ D e t sin.!t/:
Q (6.39) te Fundamentallösung, um die DGL (6.31) allgemein zu lösen
(siehe „Mathematischen Hintergrund“ 6.1). In solchen Situa-
Die allgemeine Lösung ist eine Linearkombination. tionen lässt sich die d’Alembert-Reduktion anwenden: Hat man
6.2 Gedämpfte Schwingungen 221

eine lineare DGL n-ter Ordnung und kennt eine Fundamental-


lösung x1 .t/, so kann man durch den Ansatz geschrieben werden (wobei wir vereinfachend bloß x und

Teil I
y verwenden). Hier ist
x2 .t/ D f .t/x1 .t/ (6.44) r
geff
!0 D (6.50)
das Problem auf eine DGL .n  1/-ter Ordnung reduzieren. In l
unserem Fall führt dies zunächst auf
die Eigenfrequenz des Pendels mit Fadenlänge l im ho-
    mogenen Schwerefeld mit effektiver Beschleunigung geff .
fR x1 C 2fP xP 1 C f xR 1 C 2 fP x1 C f xP 1 C !02 fx1 D 0: (6.45)
Zur Abkürzung wurde 0 D  sin # eingeführt. Für die
Winkelgeschwindigkeit der Erde schreiben wir hier 
(anstatt ! wie in Abschn. 2.4), und # ist die geografische
Frage 7
Breite. Wir kombinieren beide Gleichungen in (6.49), in-
Überprüfen Sie die Gültigkeit dieser Gleichung. dem die zweite mit i multipliziert und zur ersten addiert
wird:

Da aber laut Bedingung zR C 2i0 zP C !02 z D 0; z D x C iy: (6.51)

xR 1 C 2Px1 C !02 x1 D 0 (6.46) Gleichung (6.51) hat die Form einer gedämpften Schwin-
gung mit imaginärer Dämpfung  D i0 .
gilt und außerdem aus (6.43) folgt, dass xP D x ist, bleibt fR D
0. Dies wird durch f D t gelöst. Die zweite Fundamentallösung Überlegen Sie sich, dass die „Dämpfung“ schwach ist.
lautet also Dazu vergleicht man die typische Schwingungsdauer ei-
x2 D te t : (6.47) nes Pendels (einige Sekunden) mit der Rotationsperiode
der Erde (fast 105 Sekunden). Also ist 0 !0 und
!Q !0 .
Tatsächlich kann man immer einen Ansatz der Art (6.44) pro-
bieren. Ob man damit auf eine handhabbare Bestimmungsglei- Die Lösung der Bewegungsgleichung (6.49) ist bereits
chung für f .t/ stößt, ist eine ganz andere Frage. In diesem Fall bekannt:
führt dieser Ansatz jedenfalls zum Erfolg. 0
z.t/ D ei t e˙i!0 t : (6.52)
Frage 8 Hier ist allerdings zu beachten, dass der Term exp.i0 t/
Überprüfen Sie mithilfe der Wronski-Determinante, dass x1 und wegen des imaginären Exponenten keine Dämpfung be-
x2 linear unabhängig sind. schreibt, sondern eine weitere Oszillation mit der Fre-
quenz 0 , denn jexp.i0 t/j D 1. Wir schreiben (6.52)
um:
Der sogenannte aperiodische Grenzfall hat dann die allgemeine 0
Lösung x.t/ C iy.t/ D ei t .x0 .t/ C iy0 .t// : (6.53)
x.t/ D .a1 C a2 t/ e t (6.48) Dabei wurden mit x0 .t/ und y0 .t/ die Lösungen, die man
für 0 D 0 erhalten würde, verwendet.
mit den Integrationskonstanten a1 und a2 (Abb. 6.4). In Aufgabe
6.4 wird gezeigt, wie man dies auch durch den Grenzfall !Q ! 0
aus (6.40) erhalten kann. Zeigen Sie, dass man (6.53) in der Matrixform
     
x.t/ cos .0 t/ sin .0 t/ x0 .t/
D  (6.54)
Foucault’sches Pendel y.t/  sin .0 t/ cos .0 t/ y0 .t/

In Abschn. 2.4 wurden die Bewegungsgleichungen des schreiben kann. Berechnen Sie dazu jeweils den Real-
Foucault’schen Pendels abgeleitet, aber noch nicht gelöst. und Imaginärteil von (6.53).
Dies wollen wir an dieser Stelle nachholen. Gleichung
(2.91) und (2.92) können in der Form Die Matrix in (6.54) beschreibt offensichtlich eine Dre-
hung in der x-y-Ebene. Die Drehfrequenz 0 D  sin #
xR  20 yP C !02 x D 0; hängt dabei von der geografischen Breite # ab. Am
(6.49) Äquator verschwindet sie vollständig, und die Schwin-
yR C 20 xP C !02 y D 0 gungsebene des Pendels ist für einen erdgebundenen
Beobachter fest. J
222 6 Schwingungen

6.3 Erzwungene Schwingungen Man beachte, dass die Winkelgeschwindigkeit ! im Exponen-


ten derjenigen der äußeren Kraft Fe entspricht. Im Allgemeinen
und Resonanz
Teil I

ist ! 6D !0 und ! 6D !Q (Gleichung (6.9) und (6.37)).


Es ist nun also die Amplitude z0 zu bestimmen. Einsetzen von
Bisher wurden nur Schwingungen untersucht, die sich für ein (6.59) in (6.57) ergibt zunächst
System ergeben, das einmalig ausgelenkt und dann sich selbst
 2 
überlassen wird. Hier betrachten wir nun das Verhalten eines ! C 2i! C !02 z0 D c; (6.60)
schwingenden Freiheitsgrades, der kontinuierlich von außen an-
geregt wird. was sich leicht nach z0 auflösen lässt:
Hat die Anregung eine sinusförmige Zeitabhängigkeit, findet c
man Resonanzverhalten: Die Amplitude der Schwingung hängt z0 D : (6.61)
stark von der Frequenz der Anregung ab und wird in einem !02  !2 C 2i!
schmalen Frequenzbereich maximal.
Für  6D 0 ist z0 offensichtlich eine komplexe Zahl. Unser Ziel
Resonanzen sind für die gesamte Physik wichtig: Die natürli- ist es jetzt, z0 in die Polardarstellung
che Breite von Spektrallinien lässt sich verstehen, wenn man
einen einfachen Resonanzeffekt zugrunde legt. In der Kern- z0 D Aeiı D jz0 jeiı (6.62)
und Elementarteilchenphysik spielen Resonanzen fundamentale
Rollen. Für die Bauphysik ist das Verständnis von Resonanzef- zu überführen (das Minuszeichen wird eingeführt, um am Ende
fekten entscheidend, da der Wind als äußere Anregung wirkt auf eine gebräuchliche Darstellung zu kommen). Es ist dazu am
und Gebäude in Schwingungen versetzen kann. Auch aus der einfachsten, zunächst die Form
Akustik und Elektrotechnik sind Resonanzen nicht wegzuden-
ken. z0 D Re z0 C i Im z0 (6.63)

zu erhalten.
Allgemeine Lösung für periodischen Antrieb Frage 9
Zeigen Sie, dass sich
Sei x die Koordinate eines Freiheitsgrades. Dieser soll nun eine  
äußere periodische Kraft c !02  ! 2
Re z0 D  2 ;
Fe .t/ D mc
Q cos.!t/ (6.55) !02  ! 2 C 42 ! 2
(6.64)
2c!
erfahren, sodass die Bewegungsgleichung Im z0 D  2
!0  ! 2 C 42 ! 2
2

xR C 2Px C !02 x D c cos.!t/ (6.56)


ergibt. Dabei ist c reell, da die äußere Kraft Fe eine physikali-
lautet. Es wird erneut ein Lösungsansatz in der komplexen Zah- sche (und damit reelle) Größe ist.
lenebene verwendet, daher schreiben wir zunächst

zR C 2Pz C !02 z D cei!t : (6.57) Es ist nun eine arithmetische Übung, die Amplitude A und die
Phase ı zu bestimmen:
Aus z.t/ 2 C ist später die reelle Lösung x.t/ D Re z.t/ q
zu bestimmen. Im Gegensatz zu (6.31) handelt es sich bei c
A.!/ D Re 2 z0 C Im 2 z0 D q 2 ;
(6.57) um eine gewöhnliche inhomogene lineare DGL zweiter
!02  ! 2 C 42 ! 2
Ordnung. Zu ihrer vollständigen Lösung benötigt man die allge-
meine Lösung der zugehörigen homogenen Gleichung und eine Im z0 2!
tan ı.!/ D  D 2 :
partikuläre Lösung der inhomogenen Gleichung (siehe „Ma- Re z0 !0  ! 2
thematischen Hintergrund“ 6.1). Die homogene Lösung ist mit (6.65)
(6.38) bereits bekannt: Wir haben mit

zh .t/ D e t e˙i!t
Q
: (6.58) xp .t/ D Re zp .t/ D A.!/ cos.!t  ı.!// (6.66)

Wie erhalten wir nun eine partikuläre Lösung? Erneut versuchen eine partikuläre Lösung von (6.56) gefunden. Die allgemeine
wir den Euler-Ansatz (siehe „Mathematischen Hintergrund“ Lösung von (6.56) für  < !0 ist also
6.3)
zp .t/ D z0 ei!t ; z0 D const: (6.59) Q  t cos.!t
x.t/ D A.!/ cos.!t  ı.!// C Ae Q
Q  ı/: (6.67)
6.3 Erzwungene Schwingungen und Resonanz 223

a b
ω02

Teil I
A λ = ω0 /1 δ/π
c
λ = ω0 /2 1
λ = ω0 /5
λ = ω0 /10
4

0,5
2 λ = ω0 /1
λ = ω0 /2
λ = ω0 /5
λ = ω0 /10
0 0
0 0,5 1 1,5 ω/ω0 0 0,5 1 1,5 ω/ω0

Abb. 6.5 Amplitude (a) und Phasenverschiebung (b) der Schwingung mit periodischem Antrieb. Für schwache Dämpfung,   !0 , besitzt die Amplitude ein
ausgeprägtes Maximum mit Breite   2 nahe der Eigenfrequenz !0 . Die Phasenverschiebung ı gibt an, wie stark die Schwingung relativ zur Anregung verzögert
ist. Für ! D !0 schwingt der Oszillator genau mit 90ı Phasenverschiebung, unabhängig von der Dämpfung 

Die Amplitude A.!/ und Phasenverschiebung ı.!/ hängen von Frage 10


der äußeren Anregungsfrequenz ! ab und sind durch (6.65) Zeigen Sie (6.68) und (6.69), indem Sie von dA.!/=d! D 0
festgelegt. Mit AQ und ıQ stehen zwei Integrationskonstanten zur ausgehen.
Verfügung, die durch die Anfangsbedingungen bestimmt wer-
den.
Man definiert die Halbwertsbreite  der Resonanz durch die
Für große Zeiten, t 1=, bleibt aufgrund der Dämp- Bedingung
fung exp.t/ nur die partikuläre Lösung übrig. Nach einer 1
Einschwingung schwingt der Oszillator also mit derselben Fre- A2 .!˙ / D A2max ; (6.70)
2
quenz wie die äußere Kraft, und der Schwingungszustand hängt
nicht mehr von den Anfangsbedingungen AQ und ıQ ab. Die Phase d. h., man bestimmt die beiden Werte !˙ , die (6.70) erfüllen,
ist im eingeschwungenen Zustand gegenüber der Anregung um und berechnet
ı.!/ verschoben.  WD !C  ! : (6.71)

Während des Einschwingens kann es zu einer Schwebung kom- Nach kurzer Rechnung findet man
men, da (6.67) für t 1= aus zwei Schwingungsanteilen mit q
Frequenzen !Q und ! besteht. Wir kommen in Aufgabe 6.3 auf !˙
2
D !max
2
˙ 2 !02  2 : (6.72)
Schwebungen zurück.
Zwei Halbwertsbreiten sind ebenfalls in Abb. 6.5 eingezeich-
net. In (6.70) verwendet man das Quadrat der Amplitude, da
die Intensität einer Schwingung (d. h. die mit der Schwingung
Resonanz und Halbwertsbreite verbundenen Energie) proportional zum Amplitudenquadrat ist.
Frage 11
Für gegebene Eigenfrequenz !0 und Dämpfung  ist die Ampli- Rechnen Sie (6.72) nach.
tude A.!/ in (6.65) eine Funktion der Anregungsfrequenz !. In
Abb. 6.5 sind einige Funktionen A.!/ dargestellt. Man erkennt
das typische Resonanzverhalten: Die Kurvenschar A.!/ besitzt Für sehr große Anregungsfrequenzen, ! ! 1, wird wegen
ein Maximum A ! 0 die Schwingungsanregung sehr klein. Dies liegt an
c der Trägheit des Oszillators, der auf die hohe Anregungsfre-
Amax D q (6.68) quenz nicht mehr reagieren kann. Außerdem sehen wir, dass für
2 !02  2 ! ! 0 gerade A ! c=!02 D mc= Q VQ D Fmax =VQ folgt. Die Am-
plitude des schwingenden Systems wird dann also direkt durch
bei der Anregungsfrequenz die Amplitude der Kraft bestimmt.
q Genau wie die Amplitude A.!/ ist auch die Phasenverschie-
!max D !02  22 ; (6.69) bung ı.!/ für gegebene Eigenfrequenz !0 und Dämpfung 
eine Funktion der Anregungsfrequenz !. In Abb. 6.5 sind ei-
der sogenannten Resonanzfrequenz. nige Kurven der Schar ı.!/ gezeigt. Die Phasenverschiebung
224 6 Schwingungen

Vertiefung: Allgemeine Lösung für erzwungene Schwingungen


Teil I

Suszeptibilität und Fourier-Transformation

Bisher kennen wir mit (6.67) nur die allgemeine Lösung Z


C1
für getriebene Oszillationen, wenn die Anregung Fe .t/ pe- 1
FQ e .!/ D p Fe .t/ei!t dt
riodisch ist. Was passiert jedoch, wenn die Anregung eine 2
1
beliebige Funktion der Zeit ist? In diesem Fall kann man zei-
gen, dass die partikuläre Lösung die Fourier-Transformierte von Fe .t/ ist.
0 1 Die mathematischen Methoden, um mit diesen Gleichun-
Z
C1
1 FQ e .!/ gen arbeiten zu können, werden erst in Kap. 13 ausführlich
xp .t/ D Re @ p .!/ei!t d! A
2 mQ besprochen. Anschaulich wird die Kraft Fe .t/ zunächst als
1
lineare Überlagerung von harmonischen Schwingungen ge-
schrieben; dies ist gerade die Idee hinter der Fourier-Trans-
lautet, wobei formation. Die Funktion FQ e .!/ gibt dann an, wie stark der
Anteil der Schwingung ei!t mit Frequenz ! zu Fe .t/ bei-
1 trägt. Da die Schwingungsgleichung eine lineare DGL ist,
.!/ D
!02  !2C 2i! können Lösungen linear überlagert werden; in diesem Fall
wird die Überlagerung durch Integration über alle !-Beiträ-
die sogenannte Suszeptibilität (siehe auch (6.61)) und ge erreicht.

ist eine monoton ansteigende Funktion von ! und nähert sich Man kann den Ausdruck (6.72) für die Halbwertsbreite  ent-
in den Grenzfällen ! ! 0 und ! ! 1 jeweils den Werten wickeln und findet nach kurzer Rechnung
ı ! 0 und ı ! an. Wird das System gerade mit der Eigen-
frequenz !0 angeregt, ist die Phasenverschiebung stets =2 und !˙ !max ˙  (6.74)
damit unabhängig von .
und somit
Eine positive Phasenverschiebung bedeutet, dass die Schwin-  2: (6.75)
gung der Anregung „hinterher läuft“. Bei sehr kleinen Anre-
gungsfrequenzen ! ! 0 ist die Phasenverschiebung ı klein,
und die Schwingung folgt der Anregung fast instantan. Bei ho- Frage 12
hen Anregungsfrequenzen ist die Phasenverschiebung ı , Entwickeln Sie !˙ in (6.72), indem Sie ausnutzen, dass =!0
und die Schwingung ist gegenphasig zur Anregung. eine kleine Größe ist.
Es ist noch erwähnenswert, dass es auch parametrische Reso-
nanz gibt, bei der nicht ein inhomogener Term (d. h. eine Kraft) Somit wird der Resonanzbereich des Oszillators bei schwacher
in der Gleichung auftaucht, sondern ein Systemparameter zeit- Dämpfung sehr schmal.
abhängig gemacht wird (z. B. eine Oszillation der Länge eines
Fadenpendels). Achtung Man darf nicht vergessen, dass wir im Allgemein-
fall noch immer kleine Schwingungen betrachten, bei denen nur
die führende Ordnung in x bzw. xP mitgenommen wird. Resonan-
zen bei schwacher Dämpfung führen allerdings auf sehr große
Amplituden, bei denen die Näherung einer kleinen Schwingung
Schwache Dämpfung unter Umständen nicht mehr gültig ist. Eine exakte Lösung ist
daher stark problemspezifisch und kann wesentlich aufwendiger
Im Grenzfall schwacher Dämpfung,  !0 , vereinfachen sich sein als das hier vorgestellte Vorgehen. J
die Resonanzgleichungen. Zunächst gilt

c 2
Amax ; !max !0  !0 ; (6.73) Energieumsatz
2!0 !0

d. h., die Resonanzfrequenz ist nur geringfügig kleiner als die Aufgrund der Reibungskraft
Eigenfrequenz !0 . Wegen  !0 ist Amax c=!02 D A.! D
0/. FR D 2mP
Qx (6.76)
6.4 Kleine Schwingungen gekoppelter Systeme 225

geht dem mechanischen System Energie in Form von Wärme (1  i  F). In Anwesenheit von r holonomen Zwangsbedin-
verloren. Es soll nun bestimmt werden, wie viel Energie im gungen ist F D 3N  r. Dämpfungseffekte berücksichtigen wir

Teil I
eingeschwungenen Zustand pro Periode dissipiert wird und ent- nicht, da sie im Allgemeinen zu sehr aufwendigen Rechnun-
sprechend auch wieder von außen zugeführt werden muss. Dazu gen führen. Äußere Kräfte, die nicht im betrachteten Potenzial
muss die Verlustleistung P D FR xP über eine Periode gemittelt enthalten sind, werden zunächst ignoriert, aber in Aufgabe 6.7
werden, indem zuvor für xP die Zeitableitung der partikulären hinzugefügt. Ein einfaches Beispiel sind die sechs Freiheitsgra-
Lösung (6.66) eingesetzt wird: de zweier Punktmassen m1 und m2 , die durch eine elastische
˝ ˛ ˝ ˛ Feder miteinander verbunden sind.
hPi D  2mP Q x2 D 2mAQ 2 .!/! 2 sin2 .!t  ı/
(6.77) Alle Kräfte sollen aus einem Potenzial V.q/ ableitbar sein,
D mAQ 2 .!/! 2:
wobei wieder q stellvertretend für alle F generalisierten Koor-
Es wurde dabei ausgenutzt, dass der über eine Periode gemit- dinaten qi geschrieben wird.
telte Wert von sin2 .!t/ gerade 12 ergibt. Wegen A.!/ ist die Das Potenzial V.q/ ist nun eine mehrdimensionale Abbildung
dissipierte Leistung stark von der Anregungsfrequenz ! abhän- RF ! R. Das System ist dann im Gleichgewicht am Punkt
gig. q0 D .q1;0 ; : : : ; qF;0 /, wenn alle F generalisierten Kräfte ver-
Frage 13 schwinden:
˝ ˛ ˇ
Zeigen Sie, dass sin2 .!t/ D 12 ist, wenn über eine Periode @V ˇˇ
Qi D D 0 .1  i  F/: (6.78)
@qi ˇqDq0
gemittelt wird.

In der Praxis können Resonanzeffekte vor allem bei schwacher Genau wie in (6.5) wird das Potenzial um dieses Gleichgewicht
Dämpfung verheerende Auswirkungen haben. So sind in der entwickelt und nur der in den Koordinaten i WD qi  qi;0 qua-
Vergangenheit mehrere Brücken durch Resonanzkatastrophen dratische Term mitgenommen:
(verursacht durch Wind oder im Gleichschritt marschierende
ˇ
1 X @2 V ˇˇ 1 X
Soldaten) eingestürzt. Einigen Menschen wird nachgesagt, dass F F
V./   D Vij i j : (6.79)
sie ein Weinglas durch ihre Stimme zum Zerspringen bringen 2 i;jD1 @i @j ˇD0
i j
2 i;jD1
können. Dies ist jedoch schon aufgrund der geringen Anre-
gungsleistung der menschlichen Stimme nicht möglich. Eine
wichtige Maßnahme gegen Resonanzkatastrophen ist die Ver- Man beachte, dass Pi D qP i wegen qi;0 D const gilt.
größerung der Dämpfung .
Das Potenzial V wird in der Regel Terme beinhalten, die
der Kopplung zweier Freiheitsgrade entsprechen. Eine häufige
Form ist / .i j /2 (elastische Kopplung). Wirken äußere Kräf-
6.4 Kleine Schwingungen te, kommen auch Terme / i2 vor. Dies werden wir später noch
sehen.
gekoppelter Systeme
Frage 14
Häufig hat man es in realistischen Anwendungen mit Systemen Schauen Sie sich erneut die allgemeine Taylor-Entwicklung für
F gekoppelter Freiheitsgrade zu tun. Es sind dann die Bewe- mehrdimensionale Funktionen V./ D V.1 ; : : : ; F / an und
gungsgleichungen der Freiheitsgrade simultan zu lösen. Dies vergewissern Sie sich, dass (6.79) die Verallgemeinerung des
erfordert im Allgemeinen ein stark vom Problem abhängiges quadratischen Terms in (6.5) ist.
Vorgehen. Befindet sich das System allerdings in einem Zu-
stand nahe des Gleichgewichts, lässt sich ein relativ einfacher
Formalismus ableiten, mit dem sich die Bewegungsgleichungen Auch die kinetische Energie wird wie in (6.6) entwickelt. Man
dieser Systeme lösen lassen. In diesem Abschnitt wird gezeigt, findet
1 X PP
F
wie sich die Bewegungsgleichungen entkoppeln lassen, indem
T Tij i j : (6.80)
geeignete Koordinaten (Normalkoordinaten) eingeführt werden. 2 i;jD1
Als Ergebnis erhält man F einfache Schwingungsgleichungen,
eine für jede Normalkoordinate. Die Lösungen der entkoppelten Die Elemente Tij ergeben sich aus der kinetischen Energie. Hat
Gleichungen sind aus Abschn. 6.1 bereits bekannt. man es insgesamt mit N Punktmassen mit kartesischen Koordi-
naten xk zu tun, dann ist wegen (5.98):

X  ˇ
@xk @xk ˇˇ
N
Bewegungsgleichungen Tij WD mk  : (6.81)
kD1
@qi @qj ˇD0
Als Verallgemeinerung von (6.1) betrachten wir nun ein ge-
koppeltes System von F Freiheitsgraden mit Koordinaten qi Die F 2 Größen Tij sind konstant.
226 6 Schwingungen

Anwendung: Spektrallinien
Teil I

Zusammenhang mit angeregten Elektronenschwingungen

Elektronen in der Atomhülle, die von einer einfallenden dieser Strahlung. Es entsteht eine Absorptionslinie mit einem
elektromagnetischen Welle angeregt werden, können als Profil A2 .!/. Dieses wird als Lorentz-Profil bezeichnet. We-
schwingende Dipole beschrieben werden. Das anregende gen  !0 ist die Dämpfung schwach, und die natürliche
elektrische Feld soll eine ebene, monochromatische Welle Linienbreite ist
sein:
2q2 !02
E.t/ D E0 cos.!t/:  D 2 D :
3mc3
Die auf das Elektron mit Ladung q und Masse m wirkende
Typische Breiten von Spektrallinien sind  108 s1 . Dies
Lorentz-Kraft ist
ist mit dem Frequenzbereich des sichtbaren Lichtes zu ver-
gleichen, der sich von 3;7  1013 s1 (rot) bis 7;5  1013 s1
Fe .t/ D mRx D qE.t/ D qE0 cos.!t/:
(blau) erstreckt. Eine Spektrallinie ist also etwa eine Million
Zusätzlich führt das Elektron eine durch den Atomkern be- mal schmaler als der sichtbare elektromagnetische Spektral-
dingte harmonische Schwingung mit der Eigenfrequenz !0 bereich. Abbildung 6.6 zeigt das Emissionsspektrum einer
aus. Leuchtstofflampe.

Beschleunigte Ladungen strahlen sogenannte Bremsstrah-


lung ab; sie verlieren also Energie, und die Schwingung ist
gedämpft. In Kap. 19 wird gezeigt, dass der Dämpfungsko-
effizient

q2 !02
D
3mc3
ist, wobei c die Lichtgeschwindigkeit ist. Die Elektronen-
ladung wird hier in cgs-Einheiten angegeben: q D 4;8 
1010 g1=2 cm3=2 s1 . Demzufolge ist die Resonanzkurve

qE0 =m
A.!/ D q 2 :
!02  ! 2 C 42 ! 2 Abb. 6.6 Emissionsspektrum des Lichtes einer Leuchtstofflampe. Ein Emis-
sionsspektrum entsteht dadurch, dass eine Lichtquelle nur Licht bestimmter
Frequenzen emittiert. Im Gegensatz dazu wird ein Absorptionssprektrum er-
Wird das Elektron durch elektromagnetische Strahlung mit zeugt, indem Licht mit einer kontinuierlichen Frequenzverteilung durch ein
kontinuierlichem Spektrum beleuchtet, absorbiert es Anteile optisches Medium läuft, das bestimmte Frequenzen absorbiert (© Sheevar)

Die Lagrange-Funktion lautet Wegen T D const folgen mit dem Koordinatenvektor  WD


.1 ; : : : ; F /> aus (6.82) die Bewegungsgleichungen in Matrix-
1 X PP 1 X
F F
form:
LDT V D Tij i j  Vij i j : (6.82)
2 i;jD1 2 i;jD1
T R C V D 0: (6.84)
Bei V und T handelt es sich um quadratische Formen. Beide
können durch symmetrische F  F-Matrizen dargestellt werden.
Es handelt sich dabei um ein gekoppeltes System von F linea-
Wir definieren
0 1 0 1 ren und homogenen DGL zweiter Ordnung und mit konstanten
T11    T1F V11    V1F Koeffizienten. Gleichung (6.84) ist die Verallgemeinerung der
B C B : C
T WD @ ::: ::
: A ; V WD @ ::
::
: A:
harmonischen Schwingungsgleichung (6.8) auf mehrere Frei-
heitsgrade.
TF1    TFF VF1    VFF
(6.83)
Die Symmetrie von T und V, also T > D T und V > D V, ergibt Die kinetische Energie kann niemals negativ werden. Daher
>
sich offensichtlich direkt aus ihren Definitionen. muss für beliebige P der Zusammenhang P T P  0 gelten.
6.4 Kleine Schwingungen gekoppelter Systeme 227

Frage 15 und schreiben damit


Zeigen Sie, dass dies hier gilt, indem Sie sich zunächst überle- T D B0> B0 : (6.88)

Teil I
gen, dass
!2
XN XF
@xk Frage 16
P > T P D mk qP i (6.85)
@qi Überlegen Sie sich, dass
kD1 iD1

erfüllt ist. .det/B0 > 0 (6.89)

ist (dies gilt jedenfalls dann, wenn .det/R D C1 erfüllt ist, wor-
Die Matrix T muss also positiv-semidefinit sein. Im Rahmen auf wir uns hier beschränken wollen).
der quadratischen Näherung muss die kinetische Energie T > 0
erfüllen, wenn mindestens eine Geschwindigkeit Pi 6D 0 ist.
Wir werden bald ausnutzen, dass die Matrix B0 nur bis auf eine
Wenn wir den trivialen Fall ignorieren, in dem alle Pi null sind, orthogonale Transformation S festgelegt ist, denn die Matrix
muss die Matrix T daher sogar positiv-definit sein.
B  SB0 (6.90)

erfüllt ebenfalls
Einführung von Normalkoordinaten T D B> B; (6.91)
und Diagonalisierung der Matrizen
wie man schnell nachrechnet. Wir führen nun die Normalkoor-
dinaten  0 als Linearkombination der ursprünglichen Koordina-
Die Gestalt der Matrizen T und V hängt von der Problemstel- ten  ein:
lung ab. Im Allgemeinen werden die Bewegungsgleichungen  0 WD B: (6.92)
verschiedener Freiheitsgrade allerdings gekoppelt sein, d. h., die
Bewegungsgleichung für i enthält generell andere j und Rj . Wegen .det/B 6D 0 ist die Koordinatentransformation invertier-
Dies ist dann der Fall, wenn T und V nicht diagonal sind. bar:
 D A 0 ; A D B1 : (6.93)
Wir werden in Kürze sehen, dass sich die Bewegungsgleichun-
gen dank ihrer Linearität entkoppeln lassen. Dazu müssen F
Frage 17
sogenannte Normalkoordinaten i0 .1 ; : : : ; F / eingeführt wer-
>
den; es ist also eine Koordinatentransformation notwendig. Als Zeigen Sie, dass sich die kinetische Energie T D P T =2
P in
Ergebnis erhält man F Bewegungsgleichungen für jeweils eine der Form
Normalkoordinate, die nicht von den F  1 anderen Normalko- 1 0> 0
T D P P (6.94)
ordinaten abhängen. Normalkoordinaten beschreiben somit die 2
Eigenschwingungen bzw. Eigenmoden des Systems. Solch ein schreiben lässt.
Gleichungssystem ist wesentlich einfacher zu untersuchen und
zu interpretieren als ein gekoppeltes System.
Die potenzielle Energie lautet, ausgedrückt durch die Normal-
Das Ziel ist es, die beiden Matrizen T und V simultan zu dia-
koordinaten  0 :
gonalisieren, denn dann sind die Bewegungsgleichungen (6.84)
entkoppelt. Wir werden nun zunächst T diagonalisieren und 1 > 1
anschließend zeigen, dass durch eine geschickte Wahl der Ko- VD  V D  0> A> VA 0 : (6.95)
2 2
ordinatentransformation gleichzeitig V diagonalisiert werden
kann. Für die folgenden Rechnungen werden einige Ergebnis- Bisher wurde die Freiheit der Wahl von S nicht ausgenutzt. Mit
se der linearen Algebra benötigt.
B  SB0 H) A D B1 D B01 S1 DW A0 S> (6.96)
Auch in der Quantenmechanik spielt die simultane Diagonali-
sierung von Matrizen eine entscheidende Rolle, wie in Teil III lässt sich daher (wegen S1 D S> ) die Matrix A0 definieren
noch deutlich werden wird. und es gilt:  
Aus der linearen Algebra ist bekannt, dass sich jede symme- A> VA D S A0> VA0 S> : (6.97)
trische reelle Matrix diagonalisieren lässt und alle Eigenwerte
reell sind. Daher gilt Der eingeklammerte Term ist eine symmetrische und daher dia-
T D R> DR (6.86) gonalisierbare Matrix. Man kann nun die Transformation S so
wählen, dass sie den eingeklammerten Term in (6.97) diagona-
mit einer orthogonalen Matrix R und der diagonalen Matrix lisiert und somit
D D diag.t1 ; : : : ; tF /. Aufgrund der Positiv-Definitheit von T
sind alle F Zahlen ti positiv. Wir definieren nun die Matrix A> VA D diag.1 ; : : : ; F / (6.98)
p p 
B0 WD diag t1 ; : : : ; tF R (6.87) ist.
228 6 Schwingungen
p
Da alle Eigenwerte ti positiv sind, sind alle ti reell. Daher sind wobei die aij die Matrixelemente von A sind. Es folgt mit
0 0
auch die Matrizen A, A , B und B reell. Weiterhin ist die Matrix (6.102) und (6.103) die Eigenwertgleichung
Teil I

V symmetrisch, und all ihre Eigenwerte i sind ebenfalls reell


(aber nicht zwangsläufig positiv). Vai D i Tai .1  i  F/: (6.104)
Zusammengefasst lauten die kinetische und potenzielle Energie
Es ist zu beachten, dass ai kein 3-, sondern ein F-Tupel ist und
damit im Allgemeinen keinen kartesischen Vektor darstellt.
1 X P 02 1X
F F
TD  ; VD i  02 ; (6.99) Achtung Im Gegensatz zu den Eigenwertgleichungen, die
2 iD1 i 2 iD1 i
uns bisher begegnet sind, ist hier die Einheitsmatrix durch die
wenn sie durch die Normalkoordinaten ausgedrückt werden. Matrix T ersetzt worden. Man sagt, T ist der metrische Ten-
Die F entkoppelten Bewegungsgleichungen für die unabhängi- sor des Eigenwertproblems. Alle Sätze über das gewöhnliche
gen Koordinaten i0 lauten schließlich Eigenwertproblem sind vollständig auf das vorliegende Eigen-
wertproblem übertragbar, wobei T die Rolle der Einheitsmatrix
übernimmt. Die mathematischen Methoden sind dabei identisch
Ri0 C i i0 D 0 .1  i  F/: (6.100)
zu denen, die bei der Diagonalisierung des Trägheitstensors in
Kap. 4 besprochen wurden, wobei hier die Matrizen F-dimen-
Die Bewegungsgleichung für i0 ist unabhängig von allen an-
sional sind. J
deren Normalkoordinaten j0 und ihren Ableitungen Rj0 . Die F
Zahlen i sind eng verknüpft mit den Eigenwerten der Matrix Um die F Eigenvektoren ai zu bestimmen, ist zunächst die cha-
V. Ein Vergleich mit (6.8) zeigt, dass i die quadratische Eigen- rakteristische Gleichung
frequenz der Koordinate i0 ist:
det.V  T/ D 0 (6.105)
i DW !i;0
2
: (6.101)
zu lösen. Als Ergebnis erhält man die F reellen Eigenwerte i ,
Im Gegensatz zu den ti kann man allgemein nichts über die die teilweise oder vollständig entartet sein können. Für nicht-
Vorzeichen der i sagen. Sie hängen vom Potenzial V.q/ ab. Ins- entartete Eigenwerte sind die zugehörigen Eigenvektoren ai au-
besondere kann i negativ und die entsprechende Eigenfrequenz tomatisch orthonormal bezüglich der Matrix T:
imaginär sein. Wir kommen später wieder darauf zurück. Vor-
her soll allerdings noch beantwortet werden, wie man die hier A> TA D A> B> BA D IF H) a>
i Taj D ıij : (6.106)
beschriebene Diagonalisierung praktisch durchführt und wie die
Normalkoordinaten erhalten werden können. Hier ist IF die F  F-Einheitsmatrix. Sind Eigenwerte entartet,
so sind die entsprechenden Eigenvektoren so zu wählen, dass
sie paarweise orthonormal sind. Gleichung (6.106) beschreibt
eine verallgemeinerte Orthonormalitätsrelation.
Bestimmung der Normalkoordinaten

Um das Problem zu diagonalisieren und aus den Koordinaten


 die Normalkoordinaten  0 zu erhalten, benötigt man die F Allgemeine Lösung und Stabilität
Eigenwerte i und die Matrix B bzw. A D B1 . Es wird nun
ein Verfahren vorgestellt, wie man beides gewinnen kann.
Die Diskussion der F Gleichungen (6.100) ist vollständig ana-
Zunächst gehen wir von (6.98) aus und schreiben wegen B> D log zu der in Abschn. 6.1. Insbesondere kann man den komple-
.A> /1 , B> D B> BB1 und B> B D T: xen Ansatz exp.i!i t/ mit !i2 D i für die Lösung von (6.100)
verfolgen und anschließend die allgemeine Lösung als Line-
VA D B> diag.1 ; : : : ; F / D TA diag.1 ; : : : ; F /: (6.102) arkombination der Real- und Imaginärteile konstruieren. Man
unterscheidet dabei die folgenden Fälle:
Frage 18
1. Sind allepEigenwerte i > 0, dann sind alle Eigenfrequenzen
Vollziehen Sie diese Zwischenschritte nach.
!i;0 D i reell und alle Lösungen harmonische Schwin-
gungen,
Die gesuchte reelle Matrix A wird in F Spaltenvektoren ai zer- i0 .t/ D Ci cos.!i;0 t  ıi /; (6.107)
legt: 0 1
a1i mit reellen Integrationskonstanten Ci und ıi . In diesem Fall
B :: C besitzt das Potenzial V.q/ in q0 ein striktes Minimum, d. h.,
A D .a1 ; : : : ; aF /; ai D @ : A ; (6.103) für jede kleine Auslenkung ıq aus dem Gleichgewicht ist
aFi V.q0 C ıq/ > V.q0 /, und das System ist stabil (Abb. 6.7).
6.4 Kleine Schwingungen gekoppelter Systeme 229

Übersicht: Lösung der gekoppelten Bewegungsgleichungen

Teil I
Zusammenfassend geht man folgendermaßen vor: 3. Bestimmen Sie die F Eigenvektoren ai , die Vai D i Tai
erfüllen und der Orthonormalitätsrelation a>
i Taj D ıij
1. Stellen Sie für das vorliegende Problem die Matrizen T genügen. Dies führt auf die Transformationsmatrix A.
und V auf. 4. Falls gewünscht, lassen sich die Normalkoordinaten über
2. Finden Sie die Lösungen der charakteristischen Glei-  D A 0 bestimmen.
chung det.V  T/ D 0. Somit sind die F Eigenwerte
i bekannt.

a V b V

S(q1,0 , q2,0 )
Pmin (q1,0 , q2,0 )

q1 q2 q1 q2

Abb. 6.7 Stabilität von Gleichgewichten am Beispiel F D 2. (a) Der Punkt Pmin .q1;0 ; q2;0 / ist ein lokales Minimum der Potenziallandschaft V.q1 ; q2 /. Das
Gleichgewicht ist sowohl für q1 als auch für q2 stabil. (b) Der Punkt S.q1;0 ; q2;0 / ist ein Sattelpunkt, der für q1 ein lokales Minimum, für q2 aber ein lokales
Maximum darstellt. So ist zwar das Gleichgewicht von q1 stabil, nicht aber das für q2

Die allgemeine Lösung der Bewegungsgleichungen für das Kraft verbunden ist. Wir werden in Abschn. 6.5 noch sehen,
Gesamtsystem ist dann die lineare Überlagerung dass dieser Fall typisch für Systeme ist, die keinen äuße-
ren Kräften unterworfen sind und deren Schwerpunkt sich
X
F X
F mit konstanter Geschwindigkeit bewegen kann (Impulser-
.t/ D ai i0 .t/ D ai Ci cos.!i;0 t  ıi /: (6.108) haltung des Schwerpunktes).
iD1 iD1

Man nennt die Eigenfrequenzen !i;0 auch Normalfrequen- Die Integrationskonstanten Ci und ıi lassen sich folgenderma-
zen. ßen bestimmen: Zur Zeit t D 0 ist
2. Ist mindestens ein Eigenwert i  0, dann kann i0 im
Rahmen der harmonischen Näherung unbegrenzt wachsen. X
F X
F

Insbesondere kann es für i < 0 zum exponentiellen Wachs- 0 D ai Ci cos ıi ; P 0 D ai Ci !i;0 sin ıi : (6.111)
tum von i0 kommen: iD1 iD1

p Aus der Orthonormalität der Eigenvektoren ai bezüglich der


i0 / e˙ j i jt
: (6.109) Matrix T folgt
Für i < 0 ist das System also instabil, da keine kleine a> a> P
i T 0 D Ci cos ıi ; i T  0 D Ci !i;0 sin ıi : (6.112)
Schwingungen um den vermeintlichen Gleichgewichtspunkt
möglich sind. Für eine genauere Analyse solcher Systeme Dies erlaubt die Berechnung der gesuchten Integrationskonstan-
müssen allerdings Terme höherer Ordnung hinzugezogen ten.
werden, was auf äußerst problemspezifische Rechnungen
führt. Für i D 0 löst Man spricht von Normalschwingungen oder Eigenschwingun-
gen, wenn nur genau eine Normalkoordinate angeregt ist:
i0 D i;0
0
C Pi;0
0
t; 0
i;0 ; Pi;0
0
D const (6.110)
.t/ D ai Ci cos.!i;0 t  ıi /; Cj D 0 .j 6D i/: (6.113)
die Bewegungsgleichung. Diese Situation wird als indiffe-
rentes Gleichgewicht bezeichnet, da das Potenzial entlang Im Allgemeinen ist die Lösung (6.108) eine lineare Superpo-
i0 konstant ist und mit einer Auslenkung von i0 keine sition von Normalschwingungen. Die Vektoren ai geben die
230 6 Schwingungen

relativen Amplituden der Eigenschwingungen der gekoppelten


Punktmassen für die i-te Eigenmode an. Insbesondere bedeutet Hier ist zu beachten, dass V symmetrisch formuliert wer-
Teil I

ai / .1; 1; : : : ; 1/> , dass die Amplituden aller Punktmassen für den muss. Dazu haben wir den Mischterm / '1 '2 durch
die i-te Eigenmode gleich sind. zwei dividiert und ihn auf die beiden Nebendiagonalele-
In Aufgabe 6.7 wird gezeigt, wie sich äußere Kräfte, die nicht mente verteilt.
in V enthalten sind, in den Formalismus der Normalkoordinaten Die charakteristische Gleichung det.V  T/ D 0 lautet
einbinden lassen.
l2 .mg C Dl  ml/2  D2 l2 D 0; (6.118)
Frage 19
Überlegen Sie sich, dass die Bahnkurve .t/ im F-dimensiona- und die beiden Lösungen sind
len Parameterraum periodisch ist, wenn alle F Eigenfrequenzen
!i;0 in einem rationalen Verhältnis zueinander stehen. Ansons- g g D
1 D > 0; 2 D C 2 > 0: (6.119)
ten ist die Bahnkurve .t/ nicht geschlossen und kehrt niemals l l m
in ihren Anfangszustand zurück.
In jedem Fall handelt es sich also um stabile Schwingun-
gen beider Freiheitsgrade. Es sind nun die Eigenvektoren
Zwei elastisch gekoppelte Punktmassen zu bestimmen:
 
Der in diesem Abschnitt vorgestellte Formalismus soll mgl C Dl2  i ml2 Dl2
a D 0:
hier an einem einfachen Beispiel verdeutlicht werden: Dl2 mgl C Dl2  i ml2 i
Zwei Punktmassen der Masse m hängen jeweils an ebe- (6.120)
nen Pendeln der Länge l. Die beiden Aufhängepunkte Für den ersten Eigenwert folgt
haben einen Abstand x0 . Die Pendel seien durch eine  2   
Dl Dl2 1
Feder mit der Federkonstanten D und der Ruhelänge x0 a1 D 0 H) a1 / :
miteinander gekoppelt. Beide Pendel sollen nur in der ge- Dl 2
Dl 2 1
meinsamen Ebene schwingen können. Somit gibt es mit (6.121)
den beiden Auslenkungswinkeln '1 und '2 nur zwei Frei-
heitsgrade. Die kinetische Energie ist Der zweite Eigenwert führt auf
   
ml2  2  Dl2 Dl2 1
TD 'P 1 C 'P 22 : (6.114) 2 a2 D 0 H) a2 / :
2 Dl Dl
2 1
Beiträge zur potenziellen Energie kommen vom homoge- (6.122)
nen Schwerefeld und der Feder:
V D mgl.cos '1 C cos '2 / Es sollen noch beide Eigenvektoren bezüglich T nor-
miert werden, d. h., wir fordern a>i Taj D ıij . Zunächst
D hp i2 (6.115)
C .x1  x2 /2 C .y1  y2 /2  x0 : sieht man schnell, dass a1 und a2 bezüglich T orthogonal
2 zueinander sind. Dies muss so sein, da die beiden Eigen-
werte nicht entartet sind. Die noch fehlende Normierung
Sind die Auslenkungen klein, können die Auslenkungen
führt auf
y1 und y2 gegenüber x1 und x2 vernachlässigt werden.
   
Weiterhin verwenden wir die Näherungen x1 D l sin '1 1 1 1 1
x0 C l'2 und cos '1;2 1  '1;2
2
=2. Ignoriert a1 D p ; a2 D p : (6.123)
l'1 , x2
2ml 2 1 2ml 2 1
man den konstanten Term, lautet die potenzielle Energie
Dies entspricht im Wesentlichen (bis auf Vorfaktoren) ei-
mgl  2  Dl2
ner Zerlegung in Schwerpunkts- und Relativkoordinaten
V '1 C '22 C .'1  '2 /2 : (6.116)
2 2 der beiden Punktmassen. Die beiden Normalschwingun-
Der Gravitationsbeitrag entspricht einem äußeren Poten- gen haben die folgenden Bedeutungen:
zial, der Federbeitrag einer Kopplung der Freiheitsgrade
(Wechselwirkung, innere Kräfte). Wir notieren die beiden 1. Die beiden Punktmassen schwingen gleichphasig
Matrizen (a1 ), d. h. xP 1 D xP 2 .
  2. Die beiden Punktmassen schwingen gegenphasig (a2 ),
T D ml2
1 0
; d. h. xP 1 D Px2 .
0 1
    (6.117) p
1 0 1 1 Beide Normalschwingungen haben mit !1;0 D 1
V D mgl C Dl2 : p
0 1 1 1 und !2;0 D 2 verschiedene Eigenfrequenzen. Dies
6.5 Anwendungen gekoppelter Oszillatoren 231

m D M D m
liegt daran, dass die Feder bei der gleichphasigen Nor-

Teil I
malschwingung keine Rolle spielt und die Rückstellkraft
(d. h. diejenige Kraft, die der Auslenkung entgegenwirkt)  
nur aufgrund der Gravitation zustande kommt. Bei der
Abb. 6.8 Modell des hier betrachteten linearen dreiatomigen Moleküls
gegenphasigen Normalschwingung wird die Feder ge-
dehnt und gestaucht, und die Federkonstante D geht in
die Schwingungsfrequenz ein. Die allgemeine Lösung
x.t/ D .x1 .t/; x2 .t//> ist eine lineare Überlagerung die- m 2  M
ser Schwingungen, TD xP 1 C xP 23 C xP 22 ;
2 2 (6.125)
D
x.t/ D a1 C1 cos.!1;0 t  ı1 / VD .x2  x1  `/2 C .x3  x2  `/2 :
2
C a2 C2 cos.!2;0 t  ı2 /; (6.124)
Alle Terme sind bereits höchstens quadratisch in den Koor-
und die Amplituden und Phasenverschiebungen der bei- dinaten und ihren Ableitungen; T und V müssen also nicht
den Normalschwingungen sind durch die (hier nicht ge- entwickelt werden.
gebenen) Anfangsbedingungen festgelegt. In Aufgabe 6.3 Für x2  x1 D ` und x3  x2 D ` besteht Gleichgewicht.
wird gezeigt, dass bei gekoppelten Pendeln Schwebungen Offensichtlich ist das Problem translationsinvariant: Wird das
auftreten können. J gesamte Molekül entlang der x-Achse verschoben, ändert sich
die Lagrange-Funktion L D T  V nicht. Das Noether-Theo-
rem besagt hier demnach, dass der Gesamtimpuls entlang der x-
Achse erhalten ist. Dies wird uns später bei der Diskussion der
Eigenwerte wieder begegnen. Außerdem ist wegen der Zeitun-
6.5 Anwendungen gekoppelter abhängigkeit von L die Energie erhalten.
Oszillatoren Frage 20
Vergewissern Sie sich, dass für x2  x1 D ` und x3  x2 D `
Abschnitt 6.4 ist recht theoretisch, liefert aber wesentliche Ein- Gleichgewicht besteht.
blicke in die mathematischen Methoden der Physik. Um diese
Erfahrung auf praktische Probleme anzuwenden, betrachten wir Es bietet sich an, auf einen anderen Koordinatensatz i zu
zwei Beispielsysteme, die für die Physik und Technik sehr wechseln, der die Auslenkung aus den Gleichgewichtslagen be-
wichtig sind: die Schwingungen eines linearen dreiatomigen schreibt:
Moleküls und die lineare Kette als Modell eines eindimensiona-
len Kristalls. Die hier erarbeiteten Ergebnisse spielen eine große 1 D x1 C `; 2 D x2 ; 3 D x3  `: (6.126)
Rolle in der Spektroskopie und der Festkörperphysik.
Daraus ergeben sich die Energieterme
1  P2 
TD m1 C M P22 C mP32 ;
Schwingungen eines linearen, 2 (6.127)
D
dreiatomigen Moleküls VD .2  1 /2 C .3  2 /2 :
2
Die Matrizen T und V können direkt abgelesen werden:
Eine wichtige Anwendung gekoppelter Oszillatoren ist das 0 1 0 1
lineare, dreiatomige Molekül (Abb. 6.8). Das Molekül sei sym- m 0 0 D D 0
metrisch: Ein zentrales Atom der Masse M befinde sich am Ort T D @ 0 M 0 A ; V D @D 2D DA : (6.128)
x2 zwischen zwei Atomen der Masse m an den Orten x1 und x3 . 0 0 m 0 D D
Beide äußeren Atome sollen mit dem zentralen Atom wechsel-
wirken. Dieses Modell ist beispielsweise eine Näherung für das Die Nebendiagonalelemente von V beschreiben die Potenzial-
Kohlendioxidmolekül, nicht jedoch für das nichtlineare Wasser- kopplung der Koordinaten. Zum Beispiel erkennt man an der
molekül. Matrix, dass 1 und 3 nicht miteinander gekoppelt sind, da die
13- und 31-Komponenten null sind.
Die Wechselwirkung kann durch eine harmonische Kraft mit
Federkonstante D und Gleichgewichtslänge ` approximiert wer- Der zweite Schritt ist die Bestimmung der drei Eigenwerte i .
den. Zur Vereinfachung erlauben wir nur Schwingungen entlang Die charakteristische Gleichung det.V  T/ D 0 lautet
der Molekülachse (x-Achse). 0 1
D  m D 0
Zunächst sind die dynamischen Matrizen T und V aufzustellen. det @ D 2D  M D A D 0 (6.129)
Dazu bestimmen wir die kinetische und potenzielle Energie: 0 D D  m
232 6 Schwingungen

oder durch Entwickeln nach der ersten Spalte oder Zeile ω1


Teil I

.D  m/ .2D  M/.D  m/  D2  D2 .D  m/ D 0: ω2


(6.130)
Die erste Lösung findet man sofort durch Ausklammern:
ω3
D
1 D > 0: (6.131) Abb. 6.9 Gezeigt sind die drei möglichen Eigenmoden des linearen dreiatomi-
m
gen Moleküls (!1 : gegenphasige Schwingung der beiden kleinen Massen; !2 :
Die übrige Gleichung ist gegenphasige Schwingung der großen Masse gegenüber den beiden gleichpha-
sig schwingenden kleinen Massen; !3 : Translation des gesamten Moleküls)
.2D  M/.D  m/  2D2 D 0
(6.132)
H) .Mm  MD  2mD/ D 0
Frage 21
und wird durch Rechnen Sie die Normierung explizit nach.
 
D 2D
2 D C >0 (6.133)
m M Der dritte Eigenwert ergibt zunächst das Gleichungssystem
0 10 1
und D D 0 a31
3 D 0 (6.134) @D 2D DA @a32 A D 0: (6.140)
0 D D a33
gelöst. Zwei Eigenwerte sind positiv und führen auf Eigen-
schwingungen. Der andere ist null und hängt mit der Transla- Es erfordert a31 D a32 D a33 . Die Orthonormalitätsrelation
tionssymmetrie des Systems zusammen. Die Eigenfrequenzen führt anschließend auf
sind 0 1
s  1
r  1 @1A :
D D 2m a3 D p (6.141)
!1;0 D ; !2;0 D 1C ; !3;0 D 0: 2m C M 1
m m M
(6.135)
Welche physikalische Bedeutung haben die drei Eigenvekto-
Im dritten Schritt sind die drei Eigenvektoren ai zu berechnen. ren? Der Vektor a1 entspricht einer gegenphasigen Schwingung
Sie erlauben die physikalische Interpretation der Eigenschwin- der beiden äußeren Atome. Das mittlere ruht dabei. Dies sieht
gungen. Wir beginnen mit dem ersten Eigenwert und schreiben man an dem Vektor .1; 0; 1/> , der die Schwingungsampli-
0 10 1 tuden beschreibt: Die Amplitude des mittleren Oszillators ist
0 D 0 a11 null, die anderen sind vom Betrag gleich, aber entgegengesetzt.
@D D.2  M=m/ DA @a12 A D 0: (6.136) Die Eigenschwingung a2 beschreibt eine Bewegung, bei der das
0 D 0 a13 mittlere Atom gegenphasig gegen die beiden äußeren gleich-
phasig schwingenden Atome schwingt. Der Eigenwert 3 D 0
Es folgt a12 D 0 und a13 D a11 . Der Eigenvektor a1 ist somit
führt auf eine Bewegung, bei der sich alle Atome mit gleicher
bis auf einen Faktor festgelegt. Aus der Orthonormalitätsrelati-
Geschwindigkeit entlang der x-Achse bewegen. Darin zeigt sich
on a>1 Ta1 D 1 erhalten wir gerade die Gesamtimpulserhaltung entlang der x-Achse.
0 1
1 @1A Frage 22
a1 D p 0 : (6.137) Machen Sie sich klar, dass wegen 3 D 0 keine Schwingung,
2m 1
sondern eine Translation vorliegt. Die Geschwindigkeiten der
Punktmassen sind dann proportional zu den Einträgen des Vek-
Aus dem zweiten Eigenwert folgt tors a3 (und in diesem Fall somit alle gleich).
0 10 1
D 2m
M
D 0 a21
@ D D M D A @a22 A D 0: (6.138) In diesem System gibt es daher zwei Schwingungs- und einen
m
Translationsfreiheitsgrad (und nicht drei Schwingungsfreiheits-
0 D D 2m M
a23
grade). Abbildung 6.9 veranschaulicht die drei Eigenmoden.
Dies verlangt a21 D a23 und a22 D 2a21 m=M. Schließlich Die allgemeine Lösung ist
lautet der zweite normierte Eigenvektor .t/ D a1 C1 cos.!1;0 t  ı1 / C a2 C2 cos.!2;0 t  ı2 /
s 0 1 (6.142)
M 1 C a3 .3;0 C P3;0 t/
a2 D @2m=M A : (6.139)
2m.2m C M/ 1 mit den sechs Integrationskonstanten C1 , C2 , ı1 , ı2 , 3;0 , P3;0 .
6.5 Anwendungen gekoppelter Oszillatoren 233

D Gleichungen entkoppelt. Wir stellen also nicht die Matrizen V


und T auf, wie wir es bisher getan haben.
m

Teil I
a
Wir beginnen mit dem Ansatz
Abb. 6.10 Die lineare Kette besteht aus lauter identischen Punktmassen mit  
Masse m und Gleichgewichtsabstand a. Alle Punktmassen sind über jeweils eine j D Re Aj ei!t ; (6.147)
Feder der Stärke D mit den beiden nächsten Nachbarn verbunden
wobei ! identisch für alle Oszillatoren ist. Über die komple-
xen Amplituden Aj der individuellen Oszillatoren wird an dieser
Frage 23 Stelle noch nichts gesagt. Wir erlauben jedoch, dass sie für
Zeigen Sie, dass jede der drei Normalschwingungen (und damit jeden Oszillator verschieden sein können. Daraus ergibt sich
auch jede beliebige Überlagerung) die Impulserhaltung erfüllt. folgendes System von zeitunabhängigen komplexen Gleichun-
Berechnen Sie dazu den Impuls gen:  
m! 2 Aj D D 2Aj  AjC1  Aj1 : (6.148)
px D mPx1 C M xP 2 C mPx3 ; (6.143)
Sind die Aj erst bestimmt, liefert der Realteil (6.147) die Bahn-
der sich durch Einsetzen der jeweiligen Lösungen ai (1  i  3) kurven der Oszillatoren.
ergibt.
Offensichtlich sind die Gleichungen (6.148) noch gekoppelt.
Der nächste Schritt besteht also darin, zu „raten“, wie Aj mit
Weitere Beispiele gekoppelter Oszillatoren werden in Aufgabe Aj˙1 zusammenhängt. Der einfachste Ansatz lautet
6.5 und 6.6 behandelt.
AjC1 D cAj H) Aj D cj A0 ; (6.149)

wobei c ein komplexer, aber konstanter Faktor ist, der selbst


Lineare Kette nicht von j abhängt. Somit bekommt man entkoppelte Gleichun-
gen der Gestalt
Zum Abschluss betrachten wir ein für die Festkörperphysik  
m! 2 D D 2  c  c1 : (6.150)
wichtiges Modell: die lineare Kette als Approximation eines
eindimensionalen Kristalls (Abb. 6.10).
Ohne weitere Angaben können wir nicht fortfahren. Es feh-
Im Gleichgewicht befinden sich lauter identische Punktmassen len nun Randbedingungen, die das Gleichungssystem schließen.
mj an den Orten Eine solche Randbedingung (periodische Randbedingung) soll
xj D aj .j 2 Z/: (6.144) im Folgenden vorgerechnet werden; die Randbedingung einge-
spannter Enden wird in Aufgabe 6.8 behandelt.
Hier ist a der Gitterabstand, d. h. der Gleichgewichtsabstand be-
nachbarter Punktmassen. Jede Punktmasse ist mit ihren beiden Periodische Randbedingungen werden häufig in der Festkörper-
Nachbarn durch jeweils eine Feder mit Elastizitätskonstante D physik oder der Fluiddynamik, aber auch in anderen Disziplinen
verbunden. Die Auslenkung aus der Ruhelage der Punktmasse j der Physik verwendet. Im vorliegenden Fall bedeuten sie mathe-
ist j . Damit folgt für die kinetische und die potenzielle Energie matisch notiert
jCN D j : (6.151)
m X P2 D X 2
TD  ; VD jC1  j : (6.145) Hier ist N eine natürliche Zahl (die in der Anwendung hinrei-
2 j j 2 j
chend groß sein muss), die angibt, nach wie vielen Punktmassen
das System sich periodisch wiederholt. Dies bedeutet wegen
Frage 24 (6.149)
Zeigen Sie, ausgehend von den Lagrange-Gleichungen, dass die
cN D 1 H) c D e2 in=N
.n 2 Z/: (6.152)
Bewegungsgleichung für j
   
mRj D D j  jC1 C j  j1 (6.146) Da sich das System nach N Punktmassen wiederholt, schränkt
man n normalerweise auf das Intervall ŒN=2; CN=2 ein.
lautet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass jede Koordinate j in
zwei Summanden des Potenzials vorkommt. Man definiert die Wellenzahl für dieses Problem,
2 n
k WD ; (6.153)
Mit (6.146) haben wir ein gekoppeltes System von Oszillatoren aN
vorliegen. Wir werden nun in zwei Schritten die Gleichungen und schreibt alternativ:
entkoppeln. Im ersten lösen wir die Zeitabhängigkeit der Os-
zillatoren. Mit dem zweiten Schritt werden die verbleibenden c D eika : (6.154)
234 6 Schwingungen

ω(k) Schwingung also als Superposition von Fundamentalwellen mit


p bestimmter Wellenlänge zerlegen. Die dabei erlaubten Wellen-
Teil I

4D/m zahlen sind durch (6.153) gegeben. Allerdings stehen auch k


und ! in enger Beziehung. Wie wir sofort sehen werden, kön-
nen k und ! nicht unabhängig voneinander gewählt werden.
Gleichung (6.150) nimmt zunächst die Form
 
m! 2 D D 2  eika  eika (6.158)
an. Diese Gleichung heißt Dispersionsrelation und legt fest, wie
sich die Frequenz ! in Abhängigkeit von der Wellenzahl k ver-
−π/a 0 π/a k hält. Nach kurzer Rechnung findet man
r ˇ ˇ
4D ˇˇ ka ˇˇ
Abb. 6.11 Dispersionsrelation der longitudinal schwingenden linearen Kette. !.k/ D sin : (6.159)
Für große Wellenlängen (kleine Wellenzahlen k) ist das Verhalten linear. Ist die m ˇ 2ˇ
p der Gitterkonstanten a, flacht !.k/ ab und erreicht
Wellenlänge in der Nähe
schließlich den Wert 4D=m Dieser Zusammenhang ist in Abb. 6.11 grafisch gezeigt.

Frage 25
Die Wellenzahl kann wegen n 2 Z nur diskrete Werte und k nur Zeigen Sie (6.159), indem Sie die Identitäten cos x D .eix C
Werte zwischen ˙ =a annehmen. Gleichung (6.154) beschreibt eix /=2 und 1  cos x D 2 sin2 .x=2/ verwenden.
eine Welle (siehe unten) entlang der Kette. Sie hat die Wellen-
länge
2 Wegen n 2 Z erlaubt man hier negative und positive k. Je
D H) c D e2 ia= : (6.155) nach Vorzeichen läuft die Welle entweder nach rechts oder nach
k
links. Für jkaj 1 (d. h.  a) lässt sich die Dispersionsrela-
Aus (6.153) folgt, dass die „Kettenlänge“ aN ein ganzzahliges tion linearisieren: r
Vielfaches der Wellenlänge  ist: D
! jkaj : (6.160)
aN m
D : (6.156)
n In diesem Grenzfall „sieht“ die Welle das Gitter nicht, da der
Dies ist eine direkte Folge der angesetzten Periodizität. Abstand benachbarter Punktmassen sehr viel kleiner als die
Wellenlänge ist, und die Frequenz ! ist proportional zur Wel-
Insgesamt erhalten wir als Lösung lenzahl k. Je größer k wird (d. h., je kleiner  wird), desto mehr
  weicht die Dispersionsrelation von einem linearen Verhalten ab.
j D Re Aei.kaj!t/ ; (6.157)
Frage 26
wobei willkürlich A D A0 verwendet wurde. (Man könnte auch Überlegen Sie sich, dass es eine kleinste sinnvolle Wellenlänge
jede andere Punktmasse als Referenz verwenden und die j- gibt. Sie werden finden, dass die kleinste Wellenlänge 2a ist.
Verschiebung durch eine Phase in der Exponentialfunktion be- Dies entspricht genau dem Fall, dass alle geraden Punktmassen
rücksichtigen.) gegenphasig zu allen ungeraden Punktmassen schwingen.
Die Exponentialfunktion beschreibt eine Welle. Für eine festge-
haltene Punktmasse j bedeutet eine Welle eine Oszillation in der
Wellen, die – wie in diesem Beispiel – entlang ihrer Ausbrei-
Zeit mit Frequenz !. Betrachtet man im Gegensatz dazu das Ge-
tungsrichtung schwingen, nennt man Longitudinalschwingun-
samtsystem zu einer festen Zeit t, hat man es mit einer räumlich
gen. Beispiele dafür sind Schallwellen in Luft und Wasser. Für
ausgedehnten Welle mit Wellenzahl k zu tun.
elastische Materialien (im Wesentlichen Festkörper) sind auch
Aufgrund der Linearität der Bewegungsgleichung (6.146) sind Transversalwellen möglich, bei der die Oszillationen recht-
Linearkombinationen von Lösungen (6.157) mit verschiede- winklig zur Ausbreitungsrichtung stattfinden. Wir kommen in
nen k und ! wieder Lösungen. Man kann eine allgemeine Kap. 8 darauf zurück.
Aufgaben 235

Aufgaben

Teil I
Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen

6.1 Die Euler’sche Formel Es soll das Rechnen mit (c) Wie lautet die Oszillationsfrequenz der Punktmasse in dem
den komplexen Zahlen geübt werden. Potenzial (6.165)? Drücken Sie die Umlauffrequenz eben-
falls durch L,  und r0 aus. Bestimmen Sie das Verhältnis
(a) Schreiben Sie die Taylor-Reihe (siehe „Mathematischen dieser Frequenzen und zeigen Sie, dass es lediglich von ˇ
Hintergrund“ 1.8) der Exponentialfunktion ex (x 2 R) um abhängt. Was bedeutet das Ergebnis für das Potenzial eines
x D 0 auf und ersetzen Sie danach x durch das komplexe harmonischen Oszillators (ˇ D 2)?
Argument ix. Sortieren Sie die Reihe nach reellen und ima-
ginären Termen. Zeigen Sie damit, dass
6.3 Schwebung Gleichung (6.124) beschreibt die
eix D cos x C i sin x (6.161) Bewegung eines Doppelpendels.
gilt und damit
(a) Betrachten Sie die Anfangsbedingungen, bei denen das ers-
e Ce
ix ix
e e
ix ix te Pendel maximal ausgelenkt ist und das zweite sich am
cos x D ; sin x D : (6.162) tiefsten Punkt befindet. Die Anfangsgeschwindigkeiten bei-
2 2i der Pendel seien null. Wie lauten dann die Bahnkurven für
(b) Zeigen Sie die Identität die beiden Pendel?
(b) Die Bahnkurven liegen noch als Überlagerung zweier Ko-
cos.x C y/ C cos.x  y/ sinusfunktionen vor. Formen Sie jeweils die Summe in ein
cos x cos y D (6.163)
2 Produkt von trigonometrischen Funktionen um.
mithilfe der komplexen Exponentialfunktion. (c) Die resultierenden Gleichungen beschreiben eine Schwe-
bung. Setzen Sie dazu die Oszillationsfrequenzen ein und
gehen Sie vom Fall einer schwachen Kopplung der Oszilla-
6.2 Potenzpotenziale Das radiale Schwingungs- toren aus (D=m g=l). Skizzieren Sie die Bewegungen der
verhalten einer Punktmasse im Kepler-Potenzial (siehe (6.17)) beiden Massen.
wird hier auf beliebige Potenzpotenziale verallgemeinert. Gege- (d) Was bedeutet diese Bewegung für die Energiebilanz?
ben sei das kugelsymmetrische Potenzial

V.r/ D ˛rˇ (6.164) Lösungshinweis:


mit zunächst beliebigen reellen Parametern ˛ und ˇ.
(b) Verwenden Sie geeignete trigonometrische Additionstheore-
(a) Wie lautet das effektive Potenzial U.r/, das in (3.54) defi- me.
niert wurde? Unter welchen Umständen existiert für dieses
Potenzial eine stabile Gleichgewichtslage r0 ? 6.4 Kritische Dämpfung Es ist die zweite Funda-
(b) Entwickeln Sie das effektive Potenzial um seine Gleichge- mentallösung (6.47) für die kritische Dämpfung,
wichtslage für die in Teilaufgabe (a) ermittelten möglichen
Werte der Parameter. Verwenden Sie dazu die Variable x D
x2 D te t ; (6.166)
r  r0 und gehen Sie bis zur zweiten Ordnung in x. Zeigen
Sie, dass sich das Ergebnis in der Gestalt
als Grenzfall aus der schwachen Dämpfung abzuleiten. Be-
1 .ˇ C 2/L2 2 trachten Sie dazu die allgemeine Lösung (6.40) der schwachen
U.x/ D x (6.165) Dämpfung:
2 r04
schreiben lässt. x.t/ D e t ŒC1 sin.!t/
Q C C2 cos.!t/
Q : (6.167)
236 6 Schwingungen

Wählen Sie die Anfangsbedingungen x.0/ D 0 und xP .0/ D v0 . Lösungshinweis: Entwicklen Sie bei der potenziellen Ener-
Wie lautet die Bahnkurve? Führen Sie den Grenzfall !Q ! 0 gie zuerst die Terme innerhalb der Wurzeln, dann die Wurzeln
Teil I

durch und zeigen Sie damit (6.166). selbst.


Lösungshinweis: Denken Sie an die Regel von L’Hospital aus 6.6 Kreisförmig gekoppelte Oszillatoren Man
der Analysis. betrachte drei identische Punktmassen m, die sich auf einem
6.5 Drehbar gekoppelte Oszillatoren Zwei Kreisring mit Radius R bewegen können (dies entspricht einer
Punktmassen m sind mit einer masselosen Stange der Län- linearen Kette mit periodischen Randbedingungen). Jede Masse
ge L miteinander verbunden (Abb. 6.12). Beide Massen sind ist jeweils mit ihren beiden Nachbarn durch identische Federn
außerdem noch über eine Feder (Federkonstante D, Gleich- mit Federkonstante D gekoppelt. Nehmen Sie für das Potenzial
gewichtslänge l) an je einer Wand befestigt. Der Abstand der einer Feder, welche die Masen mi und mj verbindet, die Form
Wände ist H, und die Fixpunkte der Federn sind auf der x-
Achse an den Orten x˙ D ˙H=2. Die Massen dürfen sich so VD
D
.  j /2 (6.169)
i
bewegen, dass sich ihr gemeinsamer Mittelpunkt entlang der x- 2
Achse, aber nicht entlang der y-Achse verschieben kann. Außer-
dem ist die Stange in der x-y-Ebene drehbar. Gravitationskräfte an, wobei die drei Freiheitsgrade i die Winkel der Punktmas-
sind zu vernachlässigen. sen bezüglich eines beliebigen Referenzpunktes auf dem Kreis
sind.
(a) Führen Sie x und ' als unabhängige generalisierte Koordi-
naten ein, wobei x die Verschiebung der Stange entlang der Stellen Sie die dynamischen Matrizen T und V auf und lösen
x-Achse und ' der Drehwinkel der Stange ist. Im Gleichge- Sie das dadurch definierte Eigenwertproblem. Berechnen Sie
wicht soll x D 0 und ' D 0 gelten. Wie lauten die kinetische die drei Eigenvektoren (sie müssen nicht normiert werden) und
und die potenzielle Energie des Systems? interpretieren Sie das Ergebnis.
(b) Entwickeln Sie beide Energien, sodass sie höchstens quadra-
Lösungshinweis: Um die charakteristische Gleichung zu lö-
tisch in den Koordinaten x und ' sind. Zeigen Sie, dass dann
sen, sollten Sie zuvor das charakteristische Polynom faktorisie-
gilt:
ren.
  
D 1 l
V 2x C LH
2
 '2 : (6.168) 6.7 Kräfte auf gekoppelte Oszillatoren Bei der
2 2 HL Diskussion kleiner Schwingungen gekoppelter Systeme in Ab-
schn. 6.4 wurden bisher nur Kräfte berücksichtigt, die sich
(c) Zeigen Sie, dass die Gleichgewichtskonfiguration .x; '/ D
aus dem gegebenen Potenzial ableiten lassen. Angenommen je-
.0; 0/ nur dann stabil ist, wenn l < .H  L/=2 gilt. Wie ist
der Freiheitsgrad i erfährt zusätzlich eine generalisierte äußere
dies anschaulich zu begründen?
Kraft Qi (egal, ob aus einem Potenzial ableitbar oder nicht), wie
(d) Stellen Sie die Matrizen Tij und Vij auf. Bestimmen Sie die
gehen diese dann in die entkoppelten Gleichungen für die Nor-
Eigenwerte und Eigenvektoren des Problems. Letztere müs-
malkoordinaten i0 ein? Verwenden Sie dazu die Matrizen A und
sen nicht normiert werden. Welche physikalische Bedeutung
B aus (6.93).
haben die Normalkoordinaten?
6.8 Lineare Kette mit eingespannten Enden Im
x1 Gegensatz zur linearen Kette mit periodischen Randbedingun-
D
gen in Abschn. 6.5 betrachten wir eine Kette der Länge N C 2
m mit zwei eingespannten Enden. Dies bedeutet, dass
O
x− ϕ x+ x
L
x2 A0 D ANC1 D 0 (6.170)
D
m gilt. Welche Schwingungsform hat dies zur Folge?

H Lösungshinweis: Verfolgen Sie statt (6.149) den Ansatz

Abb. 6.12 Gekoppelte Oszillatoren. Zwei Punktmassen m sind über eine mas- Aj D cj AC C cj A .AC ; A 6D 0/ (6.171)
selose Stange der Länge L verbunden. Die beiden Punktmassen sind über Federn
der Stärke D an den Wänden befestigt. Das Pendel hat einen Rotationsfreiheits-
grad ' (in der x-y-Ebene) und einen Translationsfreiheitsgrad x bezüglich des mit Konstanten AC und A und schreiben Sie c in der Form
Ursprungs O eika .
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 237

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben

Teil I
6.1 6.2

(a) Das effektive Potenzial für radialsymmetrische Probleme


(a) Die Taylor-Reihe der Exponentialfunktion lautet
mit Drehimpulserhaltung lautet hier
X1 j
x L2
ex D : (6.172) U.r/ D ˛rˇ C ; (6.178)
jD0
jŠ 2r2
wobei L der konstante Bahndrehimpuls und  die reduzierte
Ersetzt man x durch ix, sind alle ungeraden Potenzen von ix Masse ist.
imaginär und alle geraden Potenzen reell. Daher ist Ein stabiles Gleichgewicht existiert, wenn U.r/ ein lokales
Minimum besitzt. Wir berechnen die erste Ableitung:
1
X X1 1
.ix/j .ix/2j X .ix/2jC1
eix D D C ; (6.173) L2
jŠ .2j/Š .2j C 1/Š U 0 .r/ D ˛ˇrˇ1  : (6.179)
jD0 jD0 jD0 r3

wobei die erste Summe reell, die zweite imaginär ist. Ein Aus U 0 .r0 / D 0 folgt die Lage möglicher Extrema:
Vergleich mit Aufgabe 1.7 zeigt, dass diese beiden Summen
L2
gerade den Entwicklungen von Kosinus und Sinus entspre- r0ˇC2 D : (6.180)
chen: ˛ˇ

1
X 1
X Wir fordern also neben ˛ 6D 0 und ˇ 6D 0 (was auf ver-
.ix/2j .1/j x2j
D D cos x; schwindende oder konstante Potenziale führen würde) noch
jD0
.2j/Š jD0
.2j/Š ˛ˇ > 0, da r0 positiv sein soll. Die zweite Ableitung lautet
1 1
(6.174)
X .ix/2jC1 X i.1/j x2jC1 3L2
D D i sin x: U 00 .r/ D ˛ˇ.ˇ  1/rˇ2 C : (6.181)
jD0
.2j C 1/Š jD0
.2j C 1/Š r4
Existiert ein lokales Minimum, so muss U 00 .r0 / > 0 gelten:
Daraus folgt (6.161). Um (6.162) zu zeigen, nutzen wir
aus, dass cos x symmetrisch, sin x antisymmetrisch unter der 3L2
Spiegelung x ! x ist. Wir schreiben zunächst ˛ˇ.ˇ  1/r0ˇC2 C >0 H) ˇ > 2: (6.182)


eix D cos x  i sin x (6.175) Im letzten Schritt wurde (6.180) verwendet. Sowohl für das
Kepler- bzw. Coulomb-Potenzial (ˇ D 1) als auch das
und sehen dann unmittelbar: harmonische Oszillatorpotenzial (ˇ D 2) findet man also
stabile Gleichgewichte (jedenfalls dann, wenn ˛ˇ > 0 er-
füllt ist).
eix C eix D 2 cos x; eix  eix D 2i sin x: (6.176)
(b) Die Entwicklung bis zur zweiten Ordnung lautet
Auflösen nach cos x bzw. sin x führt auf (6.162). 1
(b) Um (6.163) abzuleiten, schreibt man den Kosinus zunächst U.r0 C r/ D U.r0 / C U 0 .r0 /x C U 00 .r0 /x2 : (6.183)
2
mithilfe der komplexen Exponentialfunktion (6.162):
Den konstanten Term unterschlagen wir, da er die Dynamik
ix iy nicht beeinflusst. Die erste Ordnung verschwindet, da r0 die
e Ce e Ce
ix iy
cos x cos y D Gleichgewichtslage ist. Es verbleibt
2 2
ei.xCy/ C ei.xCy/ ei.xy/ C ei.xy/ 1 .ˇ C 2/L2 2
D C U.x/ D x : (6.184)
4 4 2 r04
cos.x C y/ C cos.x  y/
D : Aus Gründen der Übersicht ersetzen wir nicht den Term r04
2
(6.177) im Nenner. Dies wäre mithilfe von (6.180) aber problemlos
Durch einfaches Umsortieren folgt also die Behauptung. möglich.
238 6 Schwingungen

(c) Wir wissen, dass für ein quadratisches Potenzial der Form (b) Die Bahnkurven der beiden Massen lauten
V.x/ D Dx2 =2 die Oszillationsfrequenz gerade durch ! 2 D
Teil I

D=m gegeben ist, wobei m die Masse des Oszillators ist. Auf A
x1 D Œcos.!1 t/ C cos.!2 t/
das vorliegende Problem angewandt erhält man analog 2  
!  !  !2 C !1
2 1
p L D A cos t cos t ;
!D ˇC2 : (6.185) 2 2
r02 (6.193)
A
x2 D Œcos.!1 t/  cos.!2 t/
2  
Die Umlauffrequenz ist !  !  !2 C !1
2 1
D A sin t sin t :
2 v 2 2
!U D D ; (6.186)
T r0 Für die Umformungen wurden
wobei wir in guter Näherung annehmen können, dass die xCy xy
Bahngeschwindigkeit v konstant ist, wenn x klein ist. Es ist cos x C cos y D 2 cos cos (6.194)
2 2
L und
vD I (6.187)
r0
xCy xy
cos x  cos y D 2 sin sin (6.195)
also gilt 2 2
L
!U D : (6.188) verwendet. Man sieht bereits, dass sowohl die Summe als
r02 auch die Differenz der Oszillationsfrequenzen wichtige Rol-
len spielen.
Somit ist das Verhältnis der Frequenzen
(c) Die Oszillationsfrequenzen (6.119) sind
! p r
D ˇ C 2: (6.189) g
!U !1 D ;
l
r r   (6.196)
Für ˇ D 1 hatten wir in (6.24) bereits !=!U D 1 gefun- g D g Dl
den. Der harmonische Oszillator führt mit ˇ D 2 stattdessen !2 D C2 1C ;
l m l mg
auf !=!U D 2, d. h., man beobachtet zwei radiale Schwin-
gungen pro Umlauf. wenn Dl mg ist. Somit ist die Differenz
s
6.3 lD
!2  !1 (6.197)
gm
(a) Aus (6.124) folgen die Geschwindigkeiten
sehr viel kleiner als die Summe
xP D a1 !1 C1 sin.!1 tı1 /a2 !2 C2 sin.!2 tı2 /; (6.190) r
g
!2 C !1 2 : (6.198)
wobei wir zur Abkürzung !1 D !1;0 und !2 D !2;0 schrei- l
ben. Der Vektor x fasst dabei die beiden Freiheitsgrade x1
Die Bewegungen von x1 und x2 sind folgendermaßen cha-
und x2 zusammen, die in diesem Fall den Auslenkungswin-
rakterisiert: Die Pendel schwingen mit einer Frequenz !2 C
keln der beiden Pendel entspricht. Damit die Geschwindig-
!1 , wobei die Schwingungsamplitude durch eine langsame
keiten bei t D 0 verschwinden, muss zunächst ı1 D 0 und
Oszillation mit !2  !1 moduliert ist. Dies ist in Abb. 6.13
ı2 D 0 gelten. Weiterhin soll die Anfangsposition der ersten
an einem Beispiel dargestellt.
Masse A, die der zweiten Masse 0 sein. Mithilfe von (6.123)
(d) Die beiden Pendel tauschen im Laufe der Zeit Energie mit-
ist
1 1 einander aus. Zu Beginn ist die Schwingungsamplitude des
x1 .0/ D p C1 C p C2 D A; ersten Pendels maximal, die des zweiten null. Der Energie-
l 2m l 2m austausch ist periodisch. Nach der Zeit =Œ2.!2 !1 / ist die
(6.191)
1 1 Energie vollständig auf das zweite Pendel übergegangen.
x2 .0/ D p C1  p C2 D 0:
l 2m l 2m
Es muss also C1 D C2 gelten und schließlich 6.4 Mit den Anfangsbedingungen x.0/ D 0 und xP .0/ D v0
folgen aus (6.167) die Konstanten C1 und C2 :
r
m
C1 D lA: (6.192) v0
2 C1 D ; C2 D 0: (6.199)
!Q
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 239

x Für die potenzielle Energie findet man


x1 (t)

Teil I
A D
VD .jx1  x j  l/2 C .jx2  xC j  l/2 : (6.204)
2

Die Koordinaten der Punktmassen sind


0
π π (ω2 − ω1 )t    
2 x1 x  L2 cos '
x1 D D ;
y1 L
sin '
   2 L  (6.205)
−A
x x C 2 cos '
x2 D 2 D :
y2  L2 sin '

Die Koordinaten der Fixpunkte der Federn sind


x
 H
˙2
A x˙ D : (6.206)
0
x2 (t)
Die kinetische Energie, ausgedrückt durch x und ', erhält
0 man nach kurzer Rechnung:
π π (ω2 − ω1 )t
2
 
m L2
TD 2Px2 C 'P 2 : (6.207)
2 2
−A
Der erste Term ist der Beitrag der Schwerpunktbewegung,
der zweite ist der Beitrag durch die Ablenkung der Punkt-
Abb. 6.13 Auslenkungen der ersten (rot, oben ) und der zweiten (blau, unten ) massen von der x-Achse weg. Die potenzielle Energie erfor-
der beiden gekoppelten Punktmassen aus Aufgabe 6.3. Während die Schwin- dert mehr Aufwand:
gung selbst mit hoher Frequenz stattfindet, ändert sich die Amplitude derart,
dass langsam zunächst Energie vom ersten auf das zweite Pendel und später s   !2
D H L2 C H2
wieder auf das erste Pendel übertragen wird
VD x2 C xH  L C x cos ' C l
2 2 4
D
Somit lautet die Bahnkurve C (6.208)
2
s   !2
 t sin.!t/
Q H L2 C H2
x.t/ D v0 te ; (6.200)  x2  xH  L  x cos ' C l :
!t
Q 2 4
wobei mit t erweitert wurde. Der Grenzfall !Q ! 0 lässt sich mit
der Regel von L’Hospital leicht durchführen: (b) Die kinetische Energie ist bereits in der gewünschten Form.
Sie muss nicht entwickelt werden. Die potenzielle Ener-
sin.!t/
Q d sin.!t/=d.
Q !t/
Q gie lässt sich in mehreren Schritten vereinfachen. Innerhalb
lim D lim der Wurzel dürfen die Koordinaten höchstens quadratisch
!!0
Q !t
Q !!0
Q d.!t/=d.
Q !t/
Q (6.201) vorkommen, da wir uns auf eine kleine Schwingung be-
D lim cos.!t/
Q D 1: schränken. Man kann daher den Kosinus durch 1  ' 2 =2
!!0
Q
ersetzen. Die Terme x' 2 können vernachlässigt werden. Die
Für !Q ! 0 ist also restlichen Terme lassen sich sortieren und zusammenfassen.
Durch mehrfache Anwendung der binomischen Formeln
x.t/ D v0 te t
(6.202)
folgt
und somit (6.166) eine Fundamentallösung. 0s 12
 
D H  L 2 LH 2
6.5 V @ xC C '  lA
2 2 4
(a) Die kinetische Energie in kartesischen Koordinaten lautet 0s 12 (6.209)
 2
D LH LH 2 A
m 2  C @ xC C ' l :
TD xP 1 C xP 22 : (6.203) 2 2 4
2
240 6 Schwingungen

Wir müssen nun die Wurzeln entwickeln. Zur Abkürzung (c) Das Gleichgewicht ist nur dann stabil, wenn der Punkt
schreiben wir .x; '/ D .0; 0/ ein lokales Minimum des Potenzials ist. Dies
Teil I

s ist wegen 2 > 0 für die x-Koordinate der Fall. Für ' ist dies
 
H  L 2 LH 2 nur erfüllt, wenn
˛D xC C ' ;  
2 4 1 l
s (6.210) LH  >0 (6.217)
  2 HL
L  H 2 LH 2
ˇD xC C ' :
2 4 gilt. Dies führt direkt auf l < .H  L/=2. Anschaulich be-
deutet dies, dass die Gleichgewichtslänge der Federn kürzer
Zunächst ist sein muss als der Abstand der Punktmassen zu den Wänden.
So ziehen sich die Federn zusammen und die Massen mit
D 2 
V ˛ C ˇ 2 C 2l2  2l.˛ C ˇ/ (6.211) sich, also in Richtung der Wände. Damit bevorzugt der Stab
2 ' D 0. Ist l größer, dehnen sich die Federn aus. Eine kleine
 
D .H  L/2 LH 2 Störung würde dann dazu führen, dass sich der Stab dreht
D 2x2 C C ' C 2l2  2l.˛ C ˇ/ :
2 2 2 und eine Gleichgewichtskonfiguration mit ' 0 6D 0 anstrebt.
Davon gibt es aufgrund der Symmetrie allerdings zwei, d. h.,
Hier sind – mit Ausnahme von ˛ und ˇ – bereits alle Ter- C' 0 und ' 0 sind möglich.
me entweder konstant oder quadratisch in den Koordinaten. (d) Die Matrizen lauten
Wir müssen daher noch ˛ und ˇ entwickeln. Da sich beide    
nur durch ein Vorzeichen unterscheiden, betrachten wir im 2 0 2  0 
TDm 2 ; V D D :
Folgenden erst nur ˛. Um die zweiten Ableitungen zu be- 0 L2 0 LH 12  HL l

rechnen, notieren wir zunächst die ersten Ableitungen: (6.218)


 
@˛ HL 1 @˛ LH 1 Das Problem ist offensichtlich bereits diagonal. Die Eigen-
D xC ; D ' : (6.212)
@x 2 ˛ @' 4 ˛ werte folgen nach kurzer Rechnung aus V  T und (6.105):
 
Daraus folgen die zweiten Ableitungen D 2DH 1 l
1 D ; 2 D  : (6.219)
m mL 2 H  L
 
@2 ˛ 1 HL 2 1
D  xC ; Die (nichtnormierten) Eigenvektoren sind offenbar .1; 0/>
@x@x ˛ 2 ˛3 und .0; 1/> . Der erste beschreibt die Schwingung des Sta-
 
@2 ˛ LH 1 LH 2 1 bes entlang der x-Achse, der zweite die Rotationsoszillation
D  ' ; (6.213)
um die neutrale Orientierung ' D 0. Anzumerken ist noch,
@'@' 4 ˛ 4 ˛3
  dass der zweite Eigenwert verschwindet, wenn die Ruhelän-
@2 ˛ @2 ˛ H  L LH 1
D D xC ' : ge der Federn genau l D .HL/=2 ist. Anschaulich bedeutet
@x@' @'@x 2 4 ˛3 dies, dass dann eine Winkelauslenkung keine Rückstellkraft
erzeugt, da – gemäß der Enwicklung bis zur zweiten Ord-
Sie sind für .x; '/ D .0; 0/ auszuwerten. Mit
nung – die Federlänge dabei unverändert bleibt.
jH  Lj
˛.x D 0; ' D 0/ D (6.214) 6.6 Die kinetische und potenzielle Energie lauten einfach
2
folgt mR2  P 2 P2 P2

ˇ TD 1 C 2 C 3 ;
@2 ˛ ˇˇ 2 (6.220)
D 0;
@x@x ˇ0
D
VD . 1  2/ C . 2  3/ C . 3  1/ :
2 2 2
ˇ 2
@2 ˛ ˇˇ 1 LH
D ; (6.215) Beide müssen nicht entwickelt werden, und die entsprechenden
@'@' ˇ0 2HL
ˇ ˇ Matrizen sind
@2 ˛ ˇˇ @2 ˛ ˇˇ 0 1 0 1
D D 0: 1 0 0 2 1 1
@x@' ˇ0 @'@x ˇ0 T D mR2 @0 1 0A ; V D D @1 2 1A : (6.221)
Man kann sich leicht davon überzeugen, dass für ˇ diesel- 0 0 1 1 1 2
ben Ergebnisse wie (6.215) folgen. Damit ist das Potenzial, Die Eigenwertgleichung lautet demnach
wenn konstante Terme vernachlässigt werden: ˇ ˇ
   ˇ2D  mR2 D D ˇ
ˇ ˇ
V
D
2x C LH
2 1

l
'2 : (6.216) det.V  T/ D ˇˇ D 2D  mR2 D ˇ:
ˇ
2 2 HL ˇ D D 2D  mR2ˇ

Dies ist die gesuchte Näherung (6.168). (6.222)


Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 241

Zur Vereinfachung definieren wir A WD 2D  mR2 und berech- überprüft leicht, dass a2 D .1; 1; 2/> sowohl die Eigenwert-
nen die Determinante (mit einer Entwicklung nach der ersten gleichung erfüllt als auch orthogonal auf a1 steht.

Teil I
Spalte bzw. Zeile)
Die Mode a1 entspricht einer ruhenden dritten Punktmasse,
ˇ ˇ
ˇ A D Dˇ während die beiden übrigen mit identischer Amplitude gegen-
ˇ ˇ
det.V  T/ D ˇˇD A Dˇˇ einander schwingen. Dagegen schwingen in der Mode a2 die
ˇD D A ˇ beiden ersten Punktmassen zusammen gegen die dritte, deren
Amplitude doppelt so groß ist. Die Lösungen sind symmetrisch
D A.A2  D2 / C D.AD  D2 /  D.D2 C AD/ unter paarweiser Vertauschung beliebiger Punktmassen.
D .A C D/ A.A  D/  2D2 : (6.223) 6.7 Wir schreiben zur besseren Übersicht zunächst die Aus-
gangsgleichungen (6.84)
Alternativ hätte man die Regel von Sarrus (siehe „Mathemati-
schen Hintergrund“ 2.2) verwenden können. Im letzten Schritt T R C V D Q (6.229)
wurde die dritte binomische Formel A2  D2 D .A C D/.A  D/
ausgenutzt und der gemeinsame Faktor .ACD/ ausgeklammert. mit Q D .Q1 ; : : : ; QF /> und die Zielgleichungen (6.100)
Die erste Lösung von det.V  T/ D 0 sieht man sofort:
Ri0 C i i0 D Q0i .1  i  F/; (6.230)
A1 D D: (6.224)

Die beiden anderen folgen nach kurzer Rechnung aus der ver- wobei die Q0i zu identifizieren sind. Multiplikation von (6.229)
bleibenden quadratischen Gleichung: mit A> von links führt wegen T D B> B und A D B1 auf

A2 D D; A3 D 2D: (6.225) BR C A> V D A> Q: (6.231)

Es muss nun noch die Lösung für die Eigenwerte  gefunden Wir ersetzen nun die alten Koordinaten durch die Normalkoor-
werden. Sie erhält man aus A D 2D  mR2 : dinaten und verwenden dafür  D A 0 :
0
1;2 D
3D
; 3 D 0: (6.226) R C A> VA 0 D A> Q: (6.232)
mR2
Wegen A> VA D diag.1 ; : : : ; F / folgt sofort
Wir haben es also mit zwei entarteten und einem verschwinden-
den Eigenwert zu tun.
X
f

Beginnen wir mit 3 . Die Eigenwertgleichung ist dann Ri0 C i i0 D Aji Qj .1  i  F/: (6.233)
0 10 1 0 1 jD1
2 1 1 a31 0
D @1 2 1A @a32 A D @0A : (6.227) Damit haben wir den Zusammenhang zwischen Q und Q0 ge-
1 1 2 a33 0 funden:
Q0 D A> Q; Q D B> Q0 : (6.234)
Diese Vektorgleichung wird durch Vielfache von a3 D
.1; 1; 1/> gelöst, was der gleichförmigen Drehung aller Punkt- Die Kräfte, die auf die Normalkoordinaten  0 wirken, sind Li-
massen entlang des Kreisrings entspricht. Dabei drehen sich nearkombinationen (vermittelt durch A) der Kräfte, die auf die
alle Punktmassen mit derselben Geschwindigkeit in dieselbe Freiheitsgrade  ausgeübt werden. Die F entkoppelten Glei-
Richtung. Es handelt sich um eine Translationsmode und kei- chungen (6.233) können mit den bekannten Methoden gelöst
ne Schwingungsmode. werden.

Für 1;2 ergibt sich die Situation 6.8 Zunächst wendet man den Ansatz (6.171) auf A0 und ANC1
an:
0 10 1 0 1
1 1 1 a11 0
D @1 1 1A @a12 A D @0A (6.228) A0 D AC C A D 0; ANC1 D cNC1 AC C c.NC1/ A D 0:
1 1 1 a13 0 (6.235)
Hieraus folgt neben A D AC D A die Bedingung
und entsprechend für a2 . Aufgrund der Entartung sind nun zwei
bezüglich T orthogonale Vektoren a1 und a2 zu konstruieren. c2.NC1/ D 1 H) cDe in=.NC1/
.n 2 Z/: (6.236)
Wir beginnen willkürlich mit a1 D .1; 1; 0/> , was offensicht-
lich der Eigenwertgleichung genügt. Die Wellenzahl ist in diesem Fall
Da T ein Vielfaches der Einheitsmatrix ist, entspricht die Ortho- n
kD .n 2 Z/: (6.237)
gonalitätsbedingung der üblichen im kartesischen Raum. Man .N C 1/a
242 6 Schwingungen

Es gibt jeweils unendlich viele Wellenzahlen k, die auf dieselbe


Welle führen. Ohne Einschränkung der Allgemeinheit fordern
Teil I

wir daher 0  n < N C 1. Aus (6.171) folgt


 
Aj D A eikaj  eikaj D 2iA sin.kaj/: (6.238)

Dies entspricht einer stehenden Welle mit je einem Knoten an


jedem Ende der Kette. Die allgemeine Lösung ist eine Überlage-
rung dieser Wellen, wobei k aus (6.237) gewählt werden muss.
In Kap. 8 kommen wir darauf im Detail zu sprechen.
Hamilton-Formalismus
7

Teil I
Welche Bedeutung hat die
Hamilton-Funktion in der
Physik?

Warum sind die


kanonischen Gleichungen
äquivalent zu den
Lagrange-Gleichungen?

Welche Eigenschaften
haben kanonische
Transformationen?

Was hat die Hamilton-


Jacobi-Theorie der
klassischen Mechanik mit
der Quantenmechanik zu
tun?

7.1 Hamilton-Funktion und kanonische Gleichungen . . . . . . . . . . . . 244


7.2 Kanonische Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
7.3 Grundlagen der Hamilton-Jacobi-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
So geht’s weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 243
244 7 Hamilton-Formalismus

Bereits in Abschn. 5.3 wurde die Hamilton-Funktion eingeführt; sie beschreiben lassen, wobei die f Parameter qi geeignete gene-
spielte bisher aber keine zentrale Rolle in der Mechanik. Dies än- ralisierte Koordinaten sind, mit deren Hilfe alle holonomen
Teil I

dert sich hier nun grundlegend. Es wird in Abschn. 7.1 gezeigt, Zwangsbedingungen eliminiert wurden. Die Gleichungen in
dass man – auf der Hamilton-Funktion aufbauend – einen wei- (7.1) sind f Differenzialgleichungen zweiter Ordnung, deren
teren Zugang zu mechanischen Problemen einschlagen kann, der vollständige Lösung 2f Integrationsvariablen (z. B. in Form von
sich vom Aufstellen der Newton’schen Bewegungsgleichungen und Anfangsbedingungen) erfordert. Im Lagrange-Formalismus be-
auch vom Lagrange-Formalismus unterscheidet. Als Ergebnis finden trachtet man den f -dimensionalen Konfigurationsraum, der von
wir die kanonischen Bewegungsgleichungen. den f verallgemeinerten Koordinaten qi aufgespannt wird, so-
wie die f verallgemeinerten Geschwindigkeiten qP i .
Wir werden in Abschn. 7.2 sehen, dass Koordinaten und Impulse in
der Hamilton’schen Mechanik gleichberechtigt sind und sogar inein- Die verallgemeinerten Impulse, generalisierten Impulse oder
ander transformiert werden können. Die sogenannten kanonischen kanonisch konjugierten Impulse sind bei gegebener Lagrange-
Transformationen erlauben eine Vereinfachung der Bewegungsglei- Funktion L definiert als (Gleichung (5.87))
chungen.
Obwohl die hier vorgeführten Methoden keine wesentlichen rech- @L
pi WD : (7.2)
nerischen Vereinfachungen für das Lösen mechanischer Probleme @Pqi
mit sich bringen, so ist dieses Kapitel doch von entscheidender
Bedeutung für die weiteren Teile dieses Buches. Insbesondere die Man beachte, dass pi im Allgemeinen nicht die Dimension ei-
Quantenmechanik baut auf der Hamilton-Jacobi-Theorie auf, die in nes Impulses besitzt. Allerdings hat das Produkt qi pi stets die
Abschn. 7.3 angesprochen wird. Auch die statistische Physik und Dimension einer Wirkung (Energie mal Zeit), was sich unmit-
die Theorie chaotischer Systeme profitieren von einer Formulierung telbar an (7.2) ablesen lässt.
ausgehend vom Hamilton-Formalismus.
Wie die Hamilton-Funktion die Entwicklung physikalischer Systeme
im sogenannten Phasenraum bestimmt, wird im Kasten „Vertie-
fung: Phasenfluss und Liouville’scher Satz“ in Abschn. 34.1 wieder
aufgegriffen. Die kanonischen Gleichungen

Im Hamilton-Formalismus werden die Geschwindigkeiten qP i


7.1 Hamilton-Funktion und durch die Impulse pi ersetzt. Dazu wird die aus (7.2) folgende
Relation umgekehrt:
kanonische Gleichungen
pi D pi .t; q; qP / H) qP i D qP i .t; q; p/: (7.3)
In diesem Abschnitt wird eine Einführung in den Hamilton-
Formalismus gegeben. Anstelle der Lagrange-Funktion steht Wir verstehen unter q, qP und p wieder die Kurzform für alle qi ,
die Hamilton-Funktion im Mittelpunkt. Sie kann mittels einer qP i und pi (1  i  f ).
Legendre-Transformation aus der Lagrange-Funktion gewon-
nen werden. Die zu den Lagrange-Gleichungen äquivalenten Achtung Ist die Funktion pi D pi .Pqi / nicht monoton, so muss
kanonischen Gleichungen lassen sich mithilfe der Poisson- man pi als abschnittsweise monotone Funktion definieren und
Klammern in kompakter Form schreiben. Die Quantenmecha- dann in jedem Abschnitt separat umkehren. In vielen Fällen ist
nik baut in großen Teilen auf dieser Struktur auf. aber L quadratisch in qP i und somit pi linear in qP i , sodass die
Umkehrung keine Schwierigkeiten bereitet. J

Man verwendet anschließend die 2f Werte .q; p/ D


Wiederholung der Grundlagen .q1 ; : : : ; qf ; p1 ; : : : ; pf / als Zustandsparameter des Systems.
des Lagrange-Formalismus
Phasenraum
Betrachten wir wieder ein System mit f Freiheitsgraden. Al-
le eventuell herrschenden Zwangsbedingungen sollen holonom Den von den 2f Parametern q und p aufgespannten Raum
sein, sodass sich eine Lagrange-Funktion L definieren lässt. Wir nennt man Phasenraum. Jeder Bewegungszustand des
haben gesehen, dass sich Probleme dieser Art im Allgemeinen Systems entspricht genau einem Punkt im Phasenraum
elegant mithilfe der Lagrange-Gleichungen R2f . Entsprechend lässt sich jeder Kurve im Phasenraum
(auch Trajektorie genannt) eine Bahn im Konfigurations-
d @L @L raum Rf zuordnen.
 D0 .1  i  f / (7.1)
dt @Pqi @qi
7.1 Hamilton-Funktion und kanonische Gleichungen 245

Harmonischer Oszillator Hilfe. Sie lautet

X
f

Teil I
Die Lagrange-Funktion des harmonischen Oszillators mit H.t; q; p/ D qP i pi  L.t; q; qP /; qP i D qP i .t; q; p/: (7.7)
einem kartesischen Freiheitsgrad lautet iD1

m 2 k 2 m 2  Dies ist so zu verstehen, dass zwar formal qP und p gleichzeitig in


L.t; x; xP / D xP  x D xP  !02 x2 : (7.4)
2 2 2 H auftreten, die Geschwindigkeiten qP aber über qP i D qP i .t; q; p/
eliminiert werden. Bei dem Übergang (7.7) von L nach H
Man berechnet zunächst den zu x kanonisch konjugierten hat man es mit einer sogenannten Legendre-Transformation zu
Impuls tun. Ihre Bedeutung und grundlegenden mathematischen Eigen-
@L
pD D mPx: (7.5) schaften werden im „Mathematischen Hintergrund“ 7.1 näher
@Px beleuchtet.

Die allgemeine Lösung der Bewegungsgleichung des Aufgrund ihrer Abhängigkeit von t, q und p ist das totale Diffe-
harmonischen Oszillators ist bereits bekannt. Zusammen- renzial der Hamilton-Funktion H
gefasst für Koordinate und Impuls lautet sie X  @H @H

@H
    dH D dqi C dpi C dt: (7.8)
x cos.!0 t  0 / i
@q i @p i @t
DA ; (7.6)
p m!0 sin.!0 t  0 /
Andererseits folgt aus (7.7) zunächst
X 
wobei der Phasenwinkel 0 wie auch die Amplitude A
durch die Anfangsbedingungen festgelegt wird. Das Er- @L @L @L
dH D pi dPqi C qP i dpi  dqi  dPqi  dt: (7.9)
gebnis ist eine Ellipse im Phasenraum (Abb. 7.1). i
@q i @P
q i @t

Machen Sie sich klar, dass (7.6) tatsächlich eine Ellipse An dieser Stelle kann der konjugierte Impuls (7.2) verwendet
mit Halbachsen A und m!0 A beschreibt. werden, und die beiden Terme mit dPqi heben sich gegenseitig
auf. Übrig bleibt
X @L

@L
p dH D qP i dpi  dqi  dt: (7.10)
i
@qi @t

mω0 A
Vergleicht man (7.10) mit (7.8), folgen die Ableitungen

@H @H @L @H @L
D qP i ; D ; D : (7.11)
@pi @qi @qi @t @t
A x
Frage 1
Machen Sie sich mithilfe der Lagrange-Gleichungen in (7.1)
klar, dass
d @L @L
pP i D D (7.12)
dt @Pqi @qi
gilt.
Abb. 7.1 Phasenraumtrajektorie des ungedämpften, freien harmoni-
schen Oszillators mit Schwingungsamplitude A und Impulsamplitude
m!0 A. Die Trajektorie ist geschlossen und läuft – je nach Anfangsbe- Schließlich erhält man die Hamilton’schen kanonischen Glei-
dingung – im Uhrzeiger- oder Gegenuhrzeigersinn J chungen.

Hamilton’sche kanonische Gleichungen


@H @H
D qP i ; D Ppi .1  i  f / (7.13)
@pi @qi
Da die Lagrange-Gleichungen in (7.1) Ableitungen nach qP bein-
halten, stellt sich die Frage, wie die Bewegungsgleichungen
lauten, wenn das System durch .q; p/ anstatt durch .q; qP / be- Achtung Wir sehen, dass die kanonischen Gleichungen in
schrieben wird. Hier kommt die Hamilton-Funktion (5.95) zu (7.13) sehr symmetrisch sind. Vertauscht man Ort und Impuls,
246 7 Hamilton-Formalismus

7.1 Mathematischer Hintergrund: Legendre-Transformationen


Teil I

Grundlagen und anschauliche Bedeutung

Die Legendre-Transformation ist ein grundlegendes Werk- Legendre-Transformation und Tangentensteigung Die Le-
zeug zur Funktionentransformation und findet zahlreiche gendre-Transformierte ordnet der Steigung einer jeden
Anwendungen in der Theorie der Differenzialgleichungen Tangente an f .x/ deren (negativen) y-Achsenabschnitt zu
und der Variationsrechnung. (Abb. 7.2): Die Funktionsvorschrift einer Tangente t.x/ an
eine Funktion f .x/ im Punkt .x0 ; f .x0 // mit Steigung m D
Idee und anschauliche Interpretation Betrachten wir ei- f 0 .x0 / und y-Achsenabschnitt b ist
ne strikt konvexe und stetig differenzierbare Funktion f W
I  R ! R in einer Variablen (eine strikt konvexe Funk-
tion zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Ableitung streng t.x/ D mx C b H) t.x0 / D f .x0 / D mx0 C b:
monoton wachsend ist). Der Graph von f .x/ ist als Menge
von Punkten .x; f .x// gegeben. Alternativ kann man sich den Andererseits lautet die Legendre-Transformierte von f .x/ ge-
Graphen einer konvexen Funktion als die Einhüllende aller rade gŒf 0 .x/ D f 0 .x/x  f .x/ und speziell bei x D x0 :
ihrer Tangenten vorstellen, wie es in Abb. 7.2 angedeutet ist. g.m/ D mx0  f .x0 /. Durch Elimination von f .x0 / (erreicht
durch die Kombination der Gleichungen für g.m/ und t.x0 /)
Ziel der Legendre-Transformation ist es nun, f .x/ durch die
folgt sofort die Behauptung g.m/ D gŒf 0 .x0 / D b.
einhüllenden Tangenten – und nicht durch f .x/ selbst – zu
beschreiben. Dazu führt man eine Funktion g.y/ ein, wobei
y.x/ WD f 0 .x/ gerade die Steigung von f .x/ bei x und g.y/ f (x)
noch zu bestimmen ist. Letztlich eliminiert man also die Va- f (x)
riable x zugunsten von y, d. h. durch die Ableitung von f
nach x.
In der Physik erlaubt dies wegen p D @L=@Pq die Erset- ∂f (x)
zung der Geschwindigkeit qP in der Lagrange-Funktion L.Pq/ ∂x
durch den entsprechenden konjugierten Impuls p in der Ha- ∂ f (x)
milton-Funktion H.p/. In Abschn. 35.1 wird die Legendre- −g[f  (x1 )] ∂x
Transformation außerdem ausgenutzt, um verschiedene ther- x1 x2
−g[f  (x2 )] x
modynamische Potenziale zu definieren. Allerdings besitzen
die in der Thermodynamik auftretenden Funktionen häufig
keine strikt monoton steigenden Ableitungen mehr, und man Abb. 7.2 Zur anschaulichen Bedeutung der Legendre-Transformation
muss das Konzept der Legendre-Transformation erweitern,
während die kinetische Energie T.Pq/ in der Mechanik prak-
tisch immer eine konvexe Funktion ist. Herleitung mit vollständigem Differenzial Wir setzen y D
df =dx und schreiben das vollständige Differenzial von f .x/:
Durchführung Die Legendre-Transformierte der Funktion
f .x/ ist eine Funktion g.y/, die gegeben ist durch
df
df D dx D y dx:
g.y/ WD yx.y/  f .x.y// dx

mit y.x/ D f 0 .x/. Die Rücktransformierte ist wieder Für das vollständige Differenzial der Transformierten g.y/
fordern wir nun
f .x/ D xy.x/  g.y.x//
mit x.y/ D g0 .y/, wie in Aufgabe 7.2 gezeigt wird. dg D
dg Š
dy D x dy:
dy
Beispiel Wir betrachten die Funktion f .x/ D x2 . Wegen
y.x/ D f 0 .x/ D 2x ist x.y/ D y=2. Somit lautet die Legendre-
Weiterhin ist d.xy/ D y dx C x dy, und ein Vergleich liefert
Transformierte von f .x/
sofort dg D d.xy  f /, was nach einer Integration dann die
y y2 y2 y2 Legendre-Transformation g.y/ D yx.y/  f .x.y// liefert.
g.y/ D y  f .x.y// D  D :
2 2 4 4 Je nach Zweckmäßigkeit kann man auch dg D x dy ver-
In diesem Spezialfall ist auch die Legendre-Transformierte langen, was auf die Transformation g.y/ D f .x.y//  yx.y/
eine Parabel. Weiterhin ist dann bei der Rücktransformation führt. Die Rücktransformierte lautet dann trotzdem wieder
x.y/ D g0 .y/ D y=2 und somit y.x/ D 2x. Man findet also f .x/. Mathematisch spielt das Vorzeichen bei der Legendre-
sofort die ursprüngliche Funktion f .x/ D 2x2  x2 D x2 . Transformation keine Rolle.
7.1 Hamilton-Funktion und kanonische Gleichungen 247

Mehrere Parameter Hängt eine Funktion f von mehreren Literatur


unabhängigen Parametern x1 ; : : : ; xn ab, so kann man jeden

Teil I
einzelnen Parameter xi durch @f =@xi ersetzen, indem man
jeweils eine Legendre-Transformation mit partiellen Ablei- Zia, R.K.P. et al.: Making sense of the Legendre trans-
tungen durchführt. form. Am. J. Phys. 77, 614 (2009)

ändert sich nur das Vorzeichen. Wir werden noch sehen, dass lautet und somit mit der Energie übereinstimmt. Die kanoni-
die Unterscheidung zwischen Ort und Impuls im Hamilton-For- schen Gleichungen lauten erwartungsgemäß
malismus verschwimmt. J p
xP D ; pP D r V.x/: (7.17)
Das in nur der Hälfte der Gleichungen auftretende Minuszei- m
chen führt zu einer sogenannten symplektischen Struktur der
Hamilton’schen Gleichungen auf dem Phasenraum. Dies ist für
die Liouville’sche Gleichung in der statistischen Physik von In Aufgabe 7.1 werden die kanonischen Gleichungen für eine
großer Bedeutung (Abschn. 34.1). Punktmasse in Kugelkoordinaten für ein Zentralkraftfeld aufge-
stellt. Die Hamilton-Funktion und die kanonischen Gleichungen
Bei den kanonischen Gleichungen handelt es sich im Gegensatz einer Punktladung im elektromagnetischen Feld werden erst in
zu den Lagrange-Gleichungen um 2f Differenzialgleichungen Kap. 20 diskutiert.
erster Ordnung. Beide Gleichungssysteme sind jedoch äquiva-
lent. Eine vollständige Lösung der kanonischen Gleichungen
ist möglich, wenn zu einer Zeit sämtliche Orte und Impulse
bekannt sind; dies sind gerade 2f Anfangsbedingungen und ent- Vorteile des Hamilton-Formalismus
spricht einem wohldefinierten Punkt im Phasenraum. Ist also ein
Punkt im Phasenraum gegeben, folgt daraus die Bewegung im Warum ist es sinnvoll, statt f Differenzialgleichungen zweiter
Phasenraum zu allen Zeiten. Ordnung 2f Differenzialgleichungen erster Ordnung zu betrach-
ten? Wie bereits erwähnt, ist der Hamilton-Formalismus eine
fruchtbare Grundlage für die Untersuchung chaotischer Syste-
Harmonischer Oszillator
me (wie im Abschnitt „So geht’s weiter“ am Ende des Kapitels
beleuchtet) und die Quantenmechanik direkt im Hamilton-For-
Aus der Lagrange-Funktion des harmonischen Oszillators
malismus verwurzelt.
(7.4) und dem kanonisch konjugierten Impuls (7.5) folgt
die Hamilton-Funktion Es gibt noch einen weiteren Vorteil. Wegen (7.11) vereinfa-
chen zyklische Variablen (Abschn. 5.3) nicht nur im Lagrange-,
p2 m sondern auch im Hamilton-Formalismus das Lösen der Bewe-
H.x; p/ D xP p  L.x; xP / D C !02 x2 : (7.14)
2m 2 gungsgleichungen. Zunächst erkennt man, dass eine Koordinate
genau dann in H zyklisch ist, wenn sie in L zyklisch ist. Die
Für H D E D const ist dies genau eine Ellipse im Pha- Vereinfachung ist im Hamilton-Formalismus allerdings noch
senraum. weitreichender, denn jede zyklische Koordinate qi eliminiert ei-
Die Hamilton’schen Gleichungen sind ne der 2f Gleichungen in (7.13), nämlich

p @H
xP D ; pP D m!02 x: (7.15) D Ppi D 0: (7.18)
m @qi
Da pi somit erhalten ist (d. h. keine Veränderliche mehr ist) und
Während die erste Gleichung nichts anderes ist als die
H nicht mehr von qi abhängt, kann H als eine Funktion der
Definition des Impulses, ist die zweite die Bewegungs-
restlichen f  2 Koordinaten und Impulse angesehen werden,
gleichung. Dieses Beispiel mag hier trivial erscheinen, ist
was die weitere Diskussion vereinfacht. Im Idealfall sind alle
aber für das weitere Verständnis hilfreich. J
Koordinaten zyklisch. Dann sind wegen pP i D 0 alle konjugier-
ten Impulse erhalten, und H ist (wenn überhaupt) nur noch eine
Funktion der Zeit t.
Frage 2
Nehmen Sie die Lagrange-Funktion einer Punktmasse im drei-
dimensionalen kartesischen Raum unter Einfluss konservativer
Kräfte. Zeigen Sie, dass die Hamilton-Funktion Bedeutung der Hamilton-Funktion

p2 Die Hamilton-Funktion wurde bereits in (5.95) eingeführt.


H.x; p/ D C V.x/ (7.16)
2m Allerdings wurde dort der Übergang von qP nach p noch nicht
248 7 Hamilton-Formalismus

vollzogen. Wir wissen, dass die Hamilton-Funktion H der Ener- Wir fragen nun: Was kann man über die Zeitentwicklung einer
gie E entspricht (oder genauer: dass die Hamilton-Funktion, Observablen sagen, wenn die Hamilton-Funktion des Systems
Teil I

ausgewertet am Ort und mit dem Impuls einer Punktmasse, bekannt ist? Diese Fragestellung wird später in der Quantenme-
der Energie der Punktmasse entspricht), wenn alle herrschenden chanik von grundlegender Wichtigkeit sein. Dazu schreiben wir
Zwangsbedingungen skleronom sind. Ein Gegenbeispiel hatten die totale Zeitableitung
wir in Aufgabe 5.4 gesehen: Dort wurde explizit gezeigt, dass
die rheonome Zwangsbedingung auf H 6D E führt. dF X  @F @F

@F
D qP i C pP i C
Wegen (7.11) ist die Hamilton-Funktion H genau dann explizit dt i
@q i @p i @t
zeitabhängig, wenn dies auch für die Lagrange-Funktion gilt – 
X @F @H  (7.21)
@F @H @F
unabhängig davon, ob H der Energie entspricht oder nicht. Au- D  C ;
ßerdem gilt wegen der kanonischen Gleichungen i
@qi @pi @pi @qi @t

dH X  @H @H

@H @H
D qP i C pP i C D : (7.19) wobei die kanonischen Gleichungen in (7.13) ausgenutzt wur-
dt i
@q i @p i @t @t den. Zur Abkürzung führt man die Poisson-Klammer ein.

Jede Zeitabhängigkeit von H ist also vollständig durch die parti-


elle Ableitung erfasst; darum ist H eine Erhaltungsgröße, wenn Poisson-Klammer
L nicht explizit von der Zeit abhängt (siehe Noether-Theorem in
Sind zwei Observablen F und G gegeben, so lautet die
Abschn. 5.6).
Poisson-Klammer (benannt nach dem französischen Ma-
Für den Fall, dass H der Energie E enspricht, ist zu betonen, dass thematiker und Physiker Siméon Denis Poisson, 1781–
H eine Funktion der Koordinaten q und kanonischen Impulse p 1840)
ist, während die Energie stattdessen häufig als Funktion von q
und qP geschrieben wird. X  @F @G @F @G 
fF; Gg WD  : (7.22)
@qi @pi @pi @qi
Frage 3 i

Für den Fall, dass mindestens eine Zwangsbedingung rheonom


ist, L und H aber keine explizite Funktionen der Zeit sind, so ist
H zwar erhalten, entspricht aber nicht der Energie. Interessierte Folglich kann die Zeitentwicklung einer Observablen in der
Leser sind dazu eingeladen, einen solchen Fall zu konstruieren. kompakten Gestalt

Achtung Entspricht die Hamilton-Funktion H der Gesamt- dF @F


D fF; Hg C (7.23)
energie E, dann kann H prinzipiell direkt aufgeschrieben wer- dt @t
den, indem E durch die generalisierten Koordinaten q und
Impulse p ausgedrückt wird, solange letztere bekannt sind. In geschrieben werden.
Kap. 20 werden wir Situationen begegnen, in denen die kano-
nischen Impulse nicht den „kinetischen“ Impulsen entsprechen,
die man aus der Mechanik kennt. In solchen Fällen kommt man Poisson-Klammer und Erhaltungsgrößen
nicht umhin, die kanonischen Impulse zunächst aus der La- Verschwindet die Poisson-Klammer einer Observablen F
grange-Funktion L herzuleiten, was letztlich bedeutet, dass man mit der Hamilton-Funktion H und ist F nicht explizit
erst L aufstellt und anschließend mithilfe der berechneten kano- zeitabhängig, d. h. @F=@t D 0, so ist F ein Integral der
nischen Impulse mittels einer Legendre-Transformation auf H Bewegung, also eine Erhaltungsgröße. Diese Schlussfol-
transformieren muss. J gerung gilt auch in die andere Richtung.

Zeitentwicklung und Poisson-Klammern Energieerhaltung

Wir definieren eine Observable F als eine physikalische Größe Wegen der offensichtlichen Identität fH; Hg D 0 ist für
eines Systems, die vollständig durch die Koordinaten, Impulse FDH
und die Zeit bestimmt ist: dH @H
D ; (7.24)
dt @t
F D F.t; q; p/: (7.20)
was wir schon vorher gesehen haben. Ist H nun nicht ex-
Die einfachsten Beispiele für Observablen sind die Orte qi und plizit zeitabhängig, muss H eine Erhaltungsgröße sein.
Impulse pi oder die Energie in der Form H.t; q; p/ sowie der J
Drehimpuls.
7.2 Kanonische Transformationen 249

Übersicht: Rechenregeln für Poisson-Klammern

Teil I
Für die Poisson-Klammern gelten die unten aufgeführten Re- fA; B C Cg D fA; Bg C fA; Cg (Distributivgesetz)
chenregeln. Dazu betrachten wir die Observablen A, B und C fA; Bg D fA; Bg D fA; Bg
sowie eine reelle Zahl : fA; BCg D BfA; Cg C CfA; Bg (Produktregel)
ffA; Bg; Cg C ffB; Cg; Ag C ffC; Ag; Bg D 0 (Jacobi-Iden-
fA; Bg D fB; Ag H) fA; Ag D 0 (Antikommutativität) tität)

Frage 4 wird nun gezeigt, dass es eine Klasse von Phasenraumtrans-


Zur Veranschaulichung bietet es sich an, die kanonischen Glei- formationen (d. h. einem Übergang zu neuen generalisierten
chungen als Spezialfall von (7.23) zu schreiben. Nutzen Sie Koordinaten und Impulsen) gibt, unter denen die kanonischen
dazu Gleichungen invariant sind. Dies führt auf die sogenannten er-
zeugenden Funktionen dieser Transformationen. Kanonische
@qi @qi @pi @pi
D ıij ; D 0; D 0; D ıij (7.25) Transformationen können eingesetzt werden, um die Bewe-
@qj @pj @qj @pj gungsgleichungen zu vereinfachen.
aus und berechnen Sie fqi ; Hg und fpi ; Hg. Achtung: Hier wer-
den die qi , pi und t als unabhängige Parameter verwendet, d. h.
@qi =@t D 0 und @pi =@t D 0. Ableitung der kanonischen Gleichungen
aus dem Wirkungsprinzip
Die wichtigsten Rechenregeln der Poisson-Klammern sind im
Kasten „Übersicht: Rechenregeln für Poisson-Klammern“ zu-
sammengefasst. Die kanonischen Gleichungen in (7.13) wurden in Abschn. 7.1
durch einen Vergleich der totalen Differenziale der Hamilton-
Frage 5 und Lagrange-Funktionen abgeleitet. Beide Mechanismen sind
Leiten Sie die Rechenregeln der Poisson-Klammern aus ihrer also gleichwertig. Häufig findet man in der Literatur einen äqui-
Definition ab (Jacobi-Identität für besonders Fleißige). Zeigen valenten Zugang: Es lassen sich die kanonischen Gleichungen
Sie außerdem die wichtigen Relationen direkt aus dem Wirkungsprinzip ableiten.
fqi ; qj g D 0; fpi ; pj g D 0; fqi ; pj g D ıij ; (7.26) Frage 6
die auch fundamentale Poisson-Klammern genannt werden. Rufen Sie sich die Variationsverfahren aus Abschn. 5.5 in Erin-
nerung.

Des Weiteren wird in Aufgabe 7.3 gezeigt, dass die Komponen-


ten des Drehimpulses in kartesischen Koordinaten, also Li D Dazu betrachten wir erneut die Wirkung als Zeitintegral der La-
"ijk xj pk , der Relation grange-Funktion:

fLi ; Lj g D "ijk Lk (7.27) Zt1 Zt1 "X #


S D L.t; q; qP / dt D qP i pi  H.t; q; p/ dt: (7.28)
genügen. t0 t0 i

Achtung In der Quantenmechanik werden die Poisson-Klam- Ihre Variation bei festgehaltener Zeit ist
mern durch die wichtigen Kommutatoren ersetzt (Kap. 23). Sie
XZ 
t1
geben an, ob zwei quantenmechanische Operatoren vertauschbar @H @H
sind (d. h. ob die Reihenfolge ihrer Anwendung auf einen quan- ıS D pi ı qP i C qP i ıpi  ıqi  ıpi dt: (7.29)
tenmechanischen Zustand eine Rolle spielt). J i
@qi @pi
t0

Offensichtlich erhält man durch eine partielle Integration des


ersten Terms
7.2 Kanonische Transformationen ˇt1
XZ ˇ XZ
t1 t1
X ˇ
pi ı qP i dt D pi ıqi ˇ  pP i ıqi dt: (7.30)
Die kanonischen Gleichungen werden – ähnlich wie die La- ˇ
i t0 i t0 i t0
grange-Gleichungen – aus einem Variationsprinzip abgeleitet.
Bisher wurde in den meisten Anwendungen mit einem konkre- Da die Variation mit festen Endpunkten durchgeführt wird,
ten Satz generalisierter Koordinaten und Impulse gerechnet. Es muss ıqi bei t D t0 und t D t1 verschwinden. Darum lässt sich
250 7 Hamilton-Formalismus

die Variation in folgender Form schreiben: Dies ist in der Tat immer der Fall; sie sind sogar gleichwertig,
wenn wir fordern, dass die Abbildung auch umkehrbar ist, was
X Z    
t1
Teil I

@H @H nun gezeigt werden soll.


ıS D qP i  ıpi  pP i C ıqi dt: (7.31)
i
@pi @qi Zunächst ist
t0 X @qi
qP i D P j C @qi :
Q (7.34)
Verlangt man wieder, dass die Variation ıS für die tatsächliche @Qj @t
j
Bahnkurve verschwindet, und nimmt man an, dass sämtliche
Variationen ıpi und ıqi beliebig sind, müssen die Terme in den Man kann daher direkt
runden Klammern verschwinden. Dies führt aber gerade auf die
kanonischen Gleichungen. Die Herleitung ist vollständig um- @Pqi @qi
D (7.35)
kehrbar, daher folgt die Äquivalenz des Wirkungsprinzips und P
@Qj @Qj
der kanonischen Gleichungen.
ablesen. Ausgedrückt durch die neuen Koordinaten lautet die
Lagrange-Funktion
Äquivalenz des Wirkungsprinzips und der kanonischen P D L.t; q.t; Q/; qP .t; Q; Q//:
P
L0 .t; Q; Q/ (7.36)
Gleichungen
Das Prinzip ıS D 0 ist äquivalent zu den kanonischen Es soll betont werden, dass beide Lagrange-Funktionen zwar
Gleichungen (7.13), welche die Bewegung im Phasen- dasselbe physikalische System beschreiben, im Allgemeinen
raum beschreiben. aber unterscheidliche Funktionen ihrer Argumente sein werden.
Man kann die folgenden Ableitungen leicht nachrechnen:
@L0 X  @L @qi @L @Pqi
Hier wurde verwendet, dass die generalisierten Koordinaten und D C ;
Impulse unabhängige Größen sind. Somit hat man es mit 2f @Qj i
@q i @Qj @P
qi @Qj
unabhängigen Parametern zu tun, was letztlich auf 2f Bewe- @L0 X @L @Pqi X @L @qi
gungsgleichungen erster Ordnung führt. Bei der Ableitung der D D ; (7.37)
Pj
@Q @Pqi @QPj @Pqi @Qj
Lagrange-Gleichungen aus dem Wirkungsprinzip wurde nur die i i

Unabhängigkeit der f Koordinaten verlangt, was f Differenzi- d @L0 X  d @L  @qi @L @Pqi


D C :
algleichungen zweiter Ordnung zur Folge hatte. Im Hamilton- Pj
dt @Q dt @Pq i @Q j @P
qi @Qj
i
Formalismus führt dies auf die eher unanschauliche Tatsache,
dass die generalisierten Impulse p gleichberechtigt zu den ge- Diese Zwischenergebnisse lassen sich zusammenfassen zu
neralisierten Koordinaten q sind. Man erkennt dies schon an der
d @L0 @L0 X  d @L 
@L @qi
Form der kanonischen Gleichungen in (7.13), die bis auf ein  D  D 0: (7.38)
Vorzeichen symmetrisch unter der Vertauschung q $ p sind. P j @Qj
dt @Q dt @Pqi @qi @Qj
i

Im letzten Schritt wurde die Gültigkeit von (7.32) ausgenutzt.


Hier erkennt man, dass die Lagrange-Gleichungen tatsächlich
Forminvarianz der Lagrange-Gleichungen ebenso für die Koordinaten Q gelten, wenn sie für q gültig sind.
Wir stellen die Forderung der Umkehrbarkeit der Abbil-
Bevor wir zu den eigentlichen kanonischen Transformationen dung, d. h., die Rücktransformation q D q.t; Q/ soll existie-
kommen, machen wir einen kleinen Exkurs zurück zum Lagran- ren. Dies ist dann möglich, wenn die Funktionaldeterminante
ge-Formalismus. Wir erinnern uns, dass – im Gegensatz zu den det.@Qj =@qi / 6D 0 erfüllt. Wir verzichten hier auf einen Be-
Newton’schen Bewegungsgleichungen – ein wesentlicher Vor- weis dieses Zusammenhangs. Ist also die Punkttransformation
teil die Koordinatenunabhängigkeit der Lagrange-Gleichungen umkehrbar, so kann (7.38) direkt invertiert werden, und die Aus-
ist. Dies wurde bisher nicht explizit gezeigt. sage ist auch in die Rückrichtung korrekt: Aus Gleichung (7.32)
Wir nehmen an, dass die Lagrange-Gleichungen folgt (7.33) und umgekehrt. Somit sind die Lagrange-Gleichun-
gen invariant unter Punkttransformationen.
d @L @L
 D0 .1  i  f / (7.32)
dt @Pqi @qi
für einen bestimmten Koordinatensatz q D .q1 ; : : : ; qf / gel- Kanonische Transformationen
ten. Führt man nun f neue Koordinaten Q D .Q1 ; : : : ; Qf /
mit Q D Q.t; q/ ein (man nennt Transformationen der Gestalt
Q D Q.t; q/ Punkttransformationen, da sie nur auf die Koordi- Es wurde eben gezeigt, dass die Lagrange-Gleichungen in-
naten wirken), gelten die f Gleichungen variant unter Punkttransformationen Q D Q.t; q/ sind. Im
Hamilton-Formalismus kann man allerdings noch viel weiter
d @L @L gehen. Da wir bereits gesehen haben, dass Koordinaten und Im-
 D 0: (7.33)
P i @Qi
dt @Q pulse ähnliche Rollen spielen und gleichberechtigt sind, liegt es
7.2 Kanonische Transformationen 251

auf der Hand, auch Transformationen Erzeugende


Q D Q.t; q; p/; P D P.t; q; p/ (7.39)

Teil I
mit neuen Koordinaten Q und Impulsen P zuzulassen. Man nennt die Funktion F Erzeugende der kanonischen Trans-
formation (meist nur kurz Erzeugende) und bezeichnet sie, je
Man kann berechtigterweise fragen, ob dies nur eine theoreti- nach der Wahl der unabhängigen Parameter, als
sche Spielerei oder eine praktische Vereinfachung zu erwarten
ist. Tatsächlich können Transformationen der Art (7.39) aus-
genutzt werden, um möglichst viele zyklische Koordinaten zu F1 .t; q; Q/; F2 .t; q; P/; F3 .t; p; Q/;
(7.43)
erhalten, was wiederum das Lösen der Bewegungsgleichungen F4 .t; p; P/; F5 .t; q; p/; F6 .t; Q; P/:
wesentlich erleichtern kann. Dies ist die Hauptmotivation für
die Diskussion der kanonischen Transformationen. Wir kom- Die Indexreihenfolge kann sich in anderen Mechanikbüchern
men in Aufgabe 7.7 darauf zurück. davon unterscheiden, was allerdings nichts am physikalischen
Wir schränken alle möglichen Transformationen (7.39) jedoch Inhalt ändert. Zunächst einmal erkennen wir, dass die Funktion
durch die Forderung ein, dass die Form der kanonischen Glei- F beliebig ist, solange sie differenzierbar ist, denn wir setzen
chungen erhalten sein soll, d. h., es soll nur voraus, dass die vollständige Zeitableitung dF=dt existiert.
Dies garantiert automatisch die Invarianz der Bewegungsglei-
0
P j D @H ; @H 0 chungen.
Q PP j D  (7.40)
@Pj @Qj
Frage 7
gelten, wobei H 0 .t; Q; P/ eine noch zu bestimmende Funktion Überlegen Sie sich, dass Punkttransformationen Q.t; q/ nicht
ist, welche die Rolle der Hamilton-Funktion H.t; q; p/ über- durch F1 .t; q; Q/ vermittelt werden können. Denken Sie dabei
nimmt. daran, welche der 4f Parameter .q; p/ und .Q; P/ voneinander
abhängig sind. Punkttransformationen werden in Aufgabe 7.4
noch genauer behandelt.
Kanonische Transformationen
Unter kanonischen Transformationen versteht man Trans-
formationen in (7.39), welche die Form der kanonischen Bis zu diesem Punkt ist nichts Physikalisches geschehen, und
Gleichungen invariant lassen und somit (7.40) erfüllen, es stellen sich sofort mehrere Fragen: Wie hängt die Erzeugen-
wobei H 0 .t; Q; P/ eine geeignete Funktion ist. de F mit der gewünschten Transformation (7.39) zusammen?
Wie lautet, für eine gegebene Funktion F, die neue Funkti-
on H 0 .t; Q; P/, welche die Rolle der Hamilton-Funktion über-
Da die Bewegungsgleichungen invariant bleiben sollen, kann nimmt? Dazu betrachten wir zunächst eine Transformation mit
sich die Wirkung S beim Übergang .q; p/ ! .Q; P/ nur um F1 .t; q; Q/.
eine Konstante ändern:
Zt1 Das Differenzial der Wirkung (7.42) lässt sich schreiben als
0 dF
SDS C dt D S0 C ŒF.t1 /  F.t0 /: (7.41) X  
t0
dt .pi dqi  Pi dQi / C H 0  H dt D dF1 .t; q; Q/: (7.44)
i
Diese Argumentation ist uns bereits in Kap. 5 mehrfach begeg-
net. Hier bedeutet dies Da wir hier q und Q als die unabhängigen Parameter der Trans-
X formation wählen, ist zunächst
pi qP i  H.t; q; p/
i X  @F1 @F1

@F1
X dF.t; q; p; Q; P/ (7.42) dF1 .t; q; Q/ D dqi C dQi C dt: (7.45)
D P i  H 0 .t; Q; P/ C
Pi Q ; @qi @Qi @t
i
i
dt

wobei F zunächst eine Funktion von allen alten und neuen Koor- Vergleicht man die Koeffizienten in (7.44) und (7.45), folgen die
dinaten und Impulsen sowie der Zeit sein kann. Es ist dabei aber drei Identitäten
zu beachten, dass wegen der Transformationsvorschrift (7.39)
@F1 @F1 @F1
die alten und neuen Koordinaten und Impulse nicht unabhängig pi D ; Pi D  ; H0 D H C : (7.46)
sind. Von den 4f Größen .q; p/ und .Q; P/ sind nur 2f un- @qi @Qi @t
abhängig. Es ist eine Frage der Zweckmäßigkeit, welche der
Parameter man als unabhängige Größen wählt. Beispielsweise Die neue Hamilton-Funktion H 0 muss noch als Funktion der
kann man sich für die alten .q; p/ oder die neuen Parameter neuen Parameter .Q; P/ ausgedrückt werden. Dazu müssen die
.Q; P/ oder aber für Mischungen davon, wie .q; P/ oder .Q; p/, Transformationsgleichungen in (7.39) bekannt sein. Sie folgen
entscheiden. aus den ersten beiden Gleichungen in (7.46).
252 7 Hamilton-Formalismus

Nun wird auch klar, warum die Funktion F Erzeugende heißt: Bestimmung der Transformationsgleichungen
Durch ihre Wahl werden die Transformationsgleichungen in
Teil I

(7.39) und die neue Hamilton-Funktion H 0 festgelegt. Aller-


Um die Transformationsgleichungen in (7.39) für eine ge-
dings müssen die Rechnungen für die anderen Erzeugenden in
gebene Erzeugende zu erhalten, betrachten wir ein etwas
(7.43) wiederholt werden, um die zu (7.46) analogen Trans-
komplizierteres Beispiel. Nehmen wir die Erzeugende
formationsgleichungen zu bestimmen. Zusammengefasst lauten
die entsprechenden Gleichungen
F2 .q; P/ D P Œln.P=q/  1 (7.50)
@F2 .t; q; P/ @F2 .t; q; P/
pi D ; Qi D ; für ein System mit einem Freiheitsgrad. Man berechnet
@qi @Pi zunächst
@F3 .t; p; Q/ @F3 .t; p; Q/ @F2
qi D  ; Pi D  ; (7.47) QD D ln.P=q/; (7.51)
@pi @Qi @P
@F4 .t; p; P/ @F4 .t; p; P/ was man direkt nach
qi D  ; Qi D :
@pi @Pi
q.Q; P/ D PeQ (7.52)
Die Anwendung der Erzeugenden F5 .t; q; p/ und F6 .t; Q; P/
führt in der Regel auf aufwendige Rechnungen. Diese Fälle sol- auflösen kann. Somit ist die erste Transformationsglei-
len hier nicht behandelt werden. chung bekannt. Der alte Impuls erfüllt zunächst

@F2 P
Vertauschung von Orten und Impulsen pD D : (7.53)
@q q
Eines der einfachsten konkreten Beispiele ist die Wahl Hier kann man das bekannte Ergebnis für q einsetzen und
X bekommt die zweite Transformationsgleichung
F1 D qi Qi : (7.48)
i p.Q/ D eQ : (7.54)

Dies führt wegen (7.46) auf Die Umkehrtransformation lautet

pi D Qi ; Pi D qi (7.49) Q.p/ D ln p; P.q; p/ D qp: (7.55)

und entspricht somit (bis auf ein Vorzeichen) einer Ver- Da F2 zeitunabhängig ist, kann man
tauschung der Koordinaten und Impulse! Es wird hier
einmal mehr deutlich, dass Orte und Impulse im Hamil- H 0 .Q; P/ D HŒq.Q; P/; p.Q/ (7.56)
ton-Formalismus gleichwertig sind. Die neue Hamilton-
Funktion H 0 lässt sich bei bekanntem H direkt angeben, bei bekannter Hamilton-Funktion H.q; p/ direkt hin-
indem die Transformationsgleichungen in (7.49) ausge- schreiben. Ob dies letztlich auf Bewegungsgleichungen
nutzt werden und die partielle Ableitung @F1 =@t addiert führt, die einfacher zu lösen sind, hängt von den expli-
wird (solange sie – wie in diesem Beispiel – nicht ver- ziten funktionalen Formen von H 0 .Q; P/ sowie H.q; p/
schwindet). J ab. J

Die neue Hamilton-Funktion H 0 ergibt sich – wie in (7.46) – Frage 8


stets aus der alten Funktion H plus der partiellen Zeitableitung Überzeugen Sie sich davon, dass
der entsprechenden Erzeugenden. Die Gleichungen für F2 wer- X
F2 .t; q; P/ D qi Pi (7.57)
den in Aufgabe 7.5 abgeleitet (der interessierte Leser wird dazu
i
motiviert, auch die beiden übrigen Gleichungssätze nachzurech-
nen). die identische Transformation mit Qi D qi und Pi D pi erzeugt.
Ist die Erzeugende zeitunabhängig, erhält man H 0 direkt aus H,
indem die Parameter .q; p/ entsprechend der Rücktransforma- Praktisch kann man beliebige Erzeugende hinschreiben und
tionen q.Q; P/ und p.Q; P/ durch .Q; P/ ersetzt werden. In den ausprobieren, ob die dadurch vermittelten Transformationen
Aufgaben 7.4 und 7.7 wird das Rechnen mit den Erzeugenden Vorteile mit sich bringen. Beispielsweise wird in Aufgabe 7.7
vertieft; unter anderem wird in Aufgabe 7.4 gezeigt, dass alle eine Transformation durchgeführt, mit deren Hilfe sich das
Punkttransformationen kanonisch sind, solange die Transforma- Problem des harmonischen Oszillators auf alternative (und in-
tionsgleichung Q.t; q/ differenzierbar ist. struktive) Weise lösen lässt.
7.2 Kanonische Transformationen 253

In Wirklichkeit ist das Auffinden einer Erzeugenden generell Invarianz der Poisson-Klammern
nicht einfacher als das direkte Lösen des Problems in den

Teil I
ursprünglichen Koordinaten; es wird also lediglich der Re-
chenaufwand verschoben. Daher bieten sich die kanonischen Wir wissen nun, wie man eine kanonische Transformation
Transformationen nicht für Alltagsprobleme an. durchführt, wenn die Erzeugende bekannt ist. Wie kann man
nun aber entscheiden, ob bereits definierte Transformationsglei-
Die Bedeutung der kanonischen Transformationen ist vielmehr, chungen eine kanonische Transformation beschreiben?
das theoretische Verständnis der Mechanik zu erweitern und auf
die Hamilton-Jacobi-Theorie vorzubereiten, die in Abschn. 7.3 In den vorhergehenden Abschnitten wurde über kanonische
kurz vorgestellt wird. Dort sprechen wir auch die sogenannten Transformationen gesprochen. Dabei wird von einem generali-
Winkel- und Wirkungsvariablen an, die eine wichtige An- sierten Koordinatensatz .q; p/ auf einen anderen .Q; P/ gewech-
wendung der kanonischen Transformationen sind und in der selt. Wie verhalten sich dabei die Poisson-Klammern? Zunächst
Geschichte der theoretischen Physik eine nicht unwichtige Rol- schreiben wir (7.22) explizit als
le gespielt haben.
X  @F @G @F @G 
fF; Ggq;p D  ;
Schwerpunktskoordinaten i
@qi @pi @pi @qi
X  @F @G @F @G
 (7.62)
Um zu illustrieren, dass eine bekannte Erzeugende ein fF; GgQ;P D  ;
Problem vereinfachen kann, betrachten wir zwei Punkt- i
@Qi @Pi @Pi @Qi
massen m1 und m2 in einer Dimension mit Gesamtmasse
M D m1 C m2 und die Erzeugende um zwischen beiden Koordinatensätzen unterscheiden zu kön-
nen; F und G sind dabei, je nach Wahl der Koordinaten, Funk-
m1 x1 C m2 x2 tionen F.t; q; p/ und G.t; q; p/ bzw. F.t; Q; P/ und G.t; Q; P/.
F2 .x1 ; x2 ; P1 ; P2 / D P1 C .x1  x2 /P2 ;
M F.t; q; p/ und F.t; Q; P/ sind – genau wie G.t; q; p/ und
(7.58) G.t; Q; P/ – unterschiedliche Funktionen ihrer Argumente; man
wobei wir mit xi D qi verdeutlichen, dass kartesische Ko- müsste streng genommen zwischen ihnen unterscheiden, was
ordinaten verwendet werden. wir aus Übersichtsgründen unterschlagen.
Wie lauten nun die neuen Koordinaten Xi und die Impulse Man kann nun zeigen, dass die folgenden Zusammenhänge und
Pi ? Zunächst ist Aussagen gelten:
@F2 m1 x1 C m2 x2 @F2
X1 D D ; X2 D
D x1  x2 : 1. Eine Transformation ist genau dann kanonisch, wenn die
@P1 M @P2 fundamentalen Poisson-Klammern invariant sind. Dies ist
(7.59)
Dies sind gerade die Schwerpunkts- und Relativkoordi- eine sehr praktische Aussage: Für eine vorgegebene, von
naten. Außerdem ist den kanonischen Variablen .q; p/ ausgehende Transforma-
tion Q.q; p/, P.q; p/ genügt es also zu überprüfen, ob die
@F2 m1 @F2 m2 Relationen
p1 D D P1 C P2 ; p2 D
D P1  P2 :
@x1 M @x2 M
(7.60) fQi ; Qj gq;p D 0; fPi ; Pj gq;p D 0;
fQi ; Pj gq;p D ıij
Aus diesen Gleichungen lassen sich sofort die neuen Im- (7.63)
pulse bestimmen: erfüllt sind. Dies wird in Aufgabe 7.6 an einem Beispiel vor-
geführt.
m2 p1  m1 p2 2. Die Poisson-Klammern sind invariant unter kanonischen
P1 D p1 C p2 ; P2 D : (7.61)
M Transformationen, d. h., das Ergebnis hängt nicht davon ab,
welcher Satz kanonischer Variablen zur Auswertung ver-
Wir haben es hier mit Schwerpunkts- und „Relativim-
wendet wird:
puls“ zu tun.
Dies vereinfacht offensichtlich die Beschreibung für iso- fF; Ggq;p D fF; GgQ;P : (7.64)
lierte Systeme, da dort der Gesamtimpuls P1 erhalten und
X1 zyklisch ist (Kap. 3 und 5). Insbesondere sind die fundamentalen Poisson-Klammern in
(7.26) invariant.
Der aufmerksame Leser erkennt, dass es sich hier „nur“
um eine Punkttransformation handelt. Dieses Beispiel
erfordert also gar nicht die volle Mächtigkeit der ka- Es soll an dieser Stelle auf einen Beweis der beiden obigen
nonischen Transformationen und zeigt, dass kanonische Aussagen verzichtet werden. Interessierte Leser finden im Me-
Transformationen vielmehr dem theoretischen Verständ- chanik-Lehrbuch von Goldstein (1981) eine sorgfältige und
nis dienen. J umfassende Darstellung, die für unsere Zwecke jedoch zu ein-
gehend und ausführlich ist.
254 7 Hamilton-Formalismus

Vertiefung: Zusammenhang zwischen den Erzeugenden


Teil I

In Aufgabe 7.5 wird folgender Zusammenhang gezeigt: Er- Ohne Beweis halten wir weiterhin fest, dass sich analog auch
zeugen F1 .t; q; Q/ und F2 .t; q; P/ dieselbe kanonische Trans- F3 .t; p; Q/ und F4 .t; p; P/ als Legendre-Transformierte von
formation, d. h. führen beide auf dieselben Beziehungen F1 .t; q; Q/ schreiben lassen, solange sie dieselbe kanonische
Qi .t; q; p/ und Pi .t; q; p/, so gilt Transformation erzeugen:
X
F2 .t; q; P/ D F1 .t; q; Q/ C Qi Pi .t; q; Q/ X
F3 .t; p; Q/ D F1 .t; q; Q/  qi pi ;
i
X @F1 .t; q; Q/
i
D F1 .t; q; Q/  Qi : X @F1
@Qi D F1 .t; q; Q/  qi ;
i
i
@qi
X
Wir stellen also fest, dass die Erzeugende F2 die Legend- F4 .t; p; P/ D F1 .t; q; Q/  .qi pi  Qi Pi /
re-Transformierte von F1 ist, wobei auf der rechten Seite i
noch Qi .t; q; P/ eingesetzt werden muss. Dies zeigt, wie die X  @F1 @F1

.q; Q/-Abhängigkeit durch eine .q; P/-Abhängigkeit ersetzt D F1 .t; q; Q/  qi C Qi :
@qi @Qi
werden kann. i

Frage 9
Beim Übergang F1 ! F4 muss eine doppelte Legendre-
Als konkretes Beispiel können Sie sich davon überzeugen,
Transformation verwendet werden, um sowohl den Über-
dass
gang q ! p als auch Q ! P vorzunehmen.
F1 .q; Q/ D qeQ
Welche Implikation hat dies? Man kann sich – je
und nach praktischem Nutzen – aussuchen, welche Erzeugen-
de man für eine kanonische Transformation verwendet.
F2 .q; P/ D P Œln.P=q/  1 Kennt man F1 für eine gegebene Transformation, lassen
sich alle anderen Erzeugenden berechnen. Durch Auflö-
auf dieselben Transformationsgleichungen führen und sen kann man (mit einigen Ausnahmen) von jeder Er-
gleichzeitig die obige Gleichung für F2 .t; q; P/ erfüllt ist. zeugenden zu jeder anderen wechseln. Dies funktioniert
Nutzen Sie dazu die Ergebnisse aus, die wir bereits aus (7.50) nicht immer, da beispielsweise Punkttransformationen nicht
abgeleitet haben. durch die Erzeugende F1 .t; q; Q/ beschrieben werden kön-
nen.

Abschließend soll nochmals betont werden, dass alle Transfor- trischen Optik und der Quantenmechanik erlaubt (Abschn. 17.3
mationen, die sich aus Erzeugenden ableiten lassen, automa- und 31.3). In letzterer ist die Prinzipalfunktion eng mit der
tisch kanonisch sind. Für eine gegebene Erzeugende lassen sich Wellenfunktion verknüpft. Dieser Abschnitt enthält eine kurze
also die neuen kanonischen Koordinaten bestimmen. Einführung, ohne zu sehr in mathematische Details abzugleiten.

7.3 Grundlagen der Hamilton- Transformation auf Ruhe,


Jacobi-Theorie Hamilton-Jacobi-Gleichung

Die Hamilton-Jacobi-Theorie ist wohl einer der Höhepunkte Wir haben gesehen, dass man mithilfe von kanonischen Trans-
der Erkenntnisse, die aus der klassischen Mechanik abgeleitet formationen die alten Koordinaten und Impulse durch neue
wurden. Die Grundidee dieser Theorie ist es, eine Erzeugende ersetzen kann. Dabei wird auch die Hamilton-Funktion trans-
zu finden, welche die Hamilton-Funktion auf null transfor- formiert.
miert. Aus dieser Erzeugenden, die auch Wirkungsfunktion
oder Prinzipalfunktion genannt wird, lassen sich dann die Be- Im Folgenden beschränken wir uns auf die Erzeugende
wegungsgleichungen ableiten, die zu den kanonischen Glei- F2 .t; q; P/ mit
chungen äquivalent sind. Der entscheidende Punkt ist, dass @F2 @F2
pj D ; Qj D : (7.65)
diese Betrachtungsweise einen direkten Übergang zur geome- @qj @Pj
7.3 Grundlagen der Hamilton-Jacobi-Theorie 255

Vertiefung: Winkel- und Wirkungsvariable

Teil I
Bedeutung für die Physik

Zur Beschreibung periodischer Systeme (d. h., die qi sollen Historisch waren Winkel- und Wirkungsvariablen wichtig
periodische Funktionen bzw. die Bahnkurven wie in Abb. 7.1 für die Entwicklung der Quantenmechanik. Beispielsweise
geschlossen sein) haben sich die sogenannten Winkelvaria- lässt sich das Bohr’sche Atommodell
H mithilfe dieses An-
blen i WD Qi und ihr kanonisch konjugierten Impulse, die satzes lösen, indem das Integral pi dqi quantisiert wird
Wirkungsvariablen Ji WD Pi , als sehr nützlich erwiesen. (Abschn. 31.3).
Der Name „Winkelvariable“ zeigt bereits die geometrische
Bedeutung dieser Variable in periodischen Systemen: Dort Existiert ein Satz von Winkel- und Wirkungsvariablen, so
handelt es sich bei den i um Winkel. Der Begriff „Wir- lassen sich die entsprechenden Bewegungsgleichungen di-
kungsvariable“ ist gerechtfertigt, da ihre Definition rekt integrieren, da sie linear sind. Solche Systeme heißen
dann integrabel bzw. lösbar.
I
Ji D pi dqi Integrable Systeme nehmen in der physikalischen Literatur
einen breiten Raum ein; sie sind aber insofern sehr spezi-
ell, als sie eine maximale Zahl an Erhaltungsgrößen besitzen,
starke Ähnlichkeit mit der Wirkung hat (Goldstein 1981). nämlich die Wirkungsvariablen. Insbesondere bei Systemen
mit vielen Freiheitsgraden ist dies aber eine recht wirklich-
Ausgehend von der Definition von Ji zeigt sich, dass die
keitsferne Situation.
transformierte Hamilton-Funktion nur noch eine Funktion
der Wirkungsvariablen ist: H 0 D H 0 .J/. Die Winkelvariablen Nichtintegrable Systeme (wie beispielsweise das allgemei-
sind dann alle zyklisch und alle Wirkungsvariablen erhalten ne Dreikörperproblem) zeichnen sich dadurch aus, dass man
nicht global (d. h. entlang der gesamten Bahnkurve) auf
Ji D const: Winkel- und Wirkungsvariablen transformieren kann, da
es weniger als f Erhaltungsgrößen gibt. Allerdings kann
In diesem Fall sind die Bewegungsgleichungen für die i tri- man immer lokal, also in einer Umgebung eines Punktes
vial zu lösen: im Phasenraum, auf Variablen analog zu den Winkel- und
Wirkungsvariablen transformieren. Nichtintegrable Systeme
i .t/ D !i t C i .0/: neigen zu chaotischem Verhalten, d. h., eine kleine Variati-
on der Anfangsbedingungen führt zu stark unterschiedlichen
Hier wurde Phasenraumtrajektorien bzw. Bahnkurven (z. B. ein Billard-
spiel). Die Untersuchung solcher nichtintegrabler Systeme
!i WD Pi D const ist Gegenstand der Chaosforschung.

gesetzt.
Literatur
Die charakteristische Funktion W aus (7.76) ist gerade die
für die Transformation benötigte Erzeugende. In Aufgabe Goldstein, H.: Klassische Mechanik. Akademische Ver-
7.7 wird ein Beispiel gezeigt. lagsgesellschaft, 1981

Sowohl die Koordinatensätze .q; p/ als auch .Q; P/ sind kano-


nisch. Die Hamilton-Funktion erfüllt Hamilton-Jacobi-Gleichung
Eine Erzeugende S.t; q; P/, welche die Hamilton-Jacobi-
@F2
H 0 .t; Q; P/ D H.t; q; p/ C : (7.66) Gleichung  
@t @S @S
H t; q; C D0 (7.67)
@q @t
Wir fragen nun: Wie lautet diejenige Erzeugende S.t; q; P/ WD
F2 .t; q; P/, für welche die transformierte Hamilton-Funktion H 0 erfüllt, führt auf H 0 D 0. Gleichung (7.67) ist die Bestim-
identisch verschwindet? Dies führt wegen (7.65) und (7.66) un- mungsgleichung für S.t; q; P/.
mittelbar auf die Hamilton-Jacobi-Gleichung.
256 7 Hamilton-Formalismus

Bei (7.67) handelt es sich um eine Differenzialgleichung erster Wirkungsfunktion und Wirkung
Ordnung in den f Koordinaten qi und der Zeit t. Man bezeich-
Teil I

net ihre Lösung S.t; q; P/ auch als Prinzipalfunktion oder – wie


noch deutlich werden wird – Wirkungsfunktion. Um zu verstehen, welche Bedeutung die Prinzipalfunktion S
hat, berechnen wir ihre Zeitableitung. Sie lautet
Die mit S.t; q; P/ verbundene Transformation nennt man auch X @S
eine Transformation auf Ruhe, da die Hamilton-Funktion H 0 dS.t; q; a/ @S
D qP i C : (7.71)
verschwindet und die neuen Variablen .Q; P/ keine Dynamik dt i
@qi @t
besitzen: Aus den kanonischen Gleichungen für H 0 folgt näm-
lich sofort, dass Hier wurde verwendet, dass die ai konstant sind. Weiterhin sind
mit (7.65) und (7.67) die übrigen partiellen Ableitungen be-
Qi D const; Pi D const .1  i  f / (7.68) kannt. Es folgt

dS.t; q; a/ X
erfüllt ist. D pi qP i  H D L: (7.72)
dt i
Was hat man durch solch eine Transformation auf Ruhe ge-
wonnen? Warum ist sie interessant? Tatsächlich lassen sich die Die Zeitableitung von S entspricht also gerade der Lagrange-
Bewegungsgleichungen der Mechanik lösen, indem man die Funktion des Systems. Eine formale Integration ist trivial:
Hamilton-Jacobi-Gleichung löst. Z
S.t; q; a/ D L dt C const: (7.73)
Wir wollen an dieser Stelle nicht im Detail erläutern, wie man
aus (7.67) die Dynamik des Systems erhält; dies würde zu weit
Bis auf eine unbedeutende Konstante ist die Prinzipalfunktion
führen. Das Vorgehen soll aber kurz umrissen werden. Der erste
S (entlang der Bahnkurve q.t/ integriert) also die Wirkung des
Schritt besteht darin, aus (7.67) die Funktion S.t; q; P/ zu ermit-
Systems. Dies rechtfertigt die alternative Bezeichung Wirkungs-
teln. Dabei kann man die f erhaltenen Impulse ai WD Pi D const
funktion. Die Prinzipalfunktion darf allerdings nicht direkt mit
als unbeteiligte Parameter ausnutzen. Man erhält somit zunächst
der Wirkung des Systems gleichgesetzt werden.
eine Funktion S.t; q; a/, zu der außerdem eine beliebige Kon-
stante hinzuaddiert werden kann. Frage 11
Rufen Sie sich die Definition der Wirkung in Kap. 5 in Erinne-
Frage 10 rung.
Überlegen Sie sich, dass solch eine Konstante nicht in (7.67)
auftreten kann.
Achtung Man könnte meinen, dass man bloß die Lagrange-
Funktion L nach der Zeit integrieren müsste, um die gesuchte
Wirkungsfunktion S.t; q; P/ zu erhalten. Damit wäre die Dyna-
Die Impulse pi ergeben sich dann aus (7.65). Anschließend nutzt
mik des Systems also praktisch bekannt und das Problem gelöst.
man
Dies funktioniert allerdings nicht, da die Integration entlang der
@S.t; q; a/
bi WD Qi D D const (7.69) tatsächlichen Bahnkurve zu erfolgen hat. Diese ist jedoch zu Be-
@ai ginn gar nicht bekannt. Tatsächlich sind in der Wirkung, wie sie
in Kap. 5 definiert wurde, die beiden Endpunkte der Bahn fest,
aus. Als Ergebnis hat man ein System von f Gleichungen für während in der Prinzipalfunktion die Endpunkte variabel sind.
die f Koordinaten qi mit 2f Konstanten ai und bi . Dies lässt sich Man beachte vor allem die Gleichungen
formal nach
qi D qi .t; b; a/ .1  i  f / (7.70) @S.t; q; P/ @S.t; q; P/
D pi ; D H.t; q; P/; (7.74)
@qi @t
auflösen, was schließlich die Lösung der Bewegungsgleichun-
welche die partiellen Ableitungen der Wirkung mit den Im-
gen darstellt. Die Konstanten ai und bi sind dann gerade die
pulsen und der Energie des Systems verknüpfen. Dies wird
benötigten 2f Anfangsbedingungen des Problems.
insbesondere von Landau und Lifshitz (1969, Abschnitt 43)
Anschaulich sorgt die Transformation Q.t; q; p/, P.t; q; p/ dafür, deutlich herausgearbeitet. J
dass die Koordinaten und Impulse zu einer Zeit t > t0 auf ihre
Werte zur Zeit t0 transformiert werden, da die Qi D bi und Pi D
ai konstant sind und damit zu allen Zeiten ihren Anfangswerten
entsprechen. In der Quantenmechanik spielt beispielsweise das
Zeitunabhängige Hamilton-Jacobi-Gleichung
sogenannte Heisenberg-Bild (Kap. 25) eine wichtige Rolle, in
dem die Zeitabhängigkeit vollständig von den quantenmechani- Die Prinzipalfunktion S.t; q; a/ ist generell explizit zeitabhän-
schen Zuständen auf die Operatoren abgewälzt wird. gig. In vielen Fällen ist die Hamilton-Funktion jedoch erhalten
7.3 Grundlagen der Hamilton-Jacobi-Theorie 257

und hängt nicht explizit von der Zeit ab:


ausgenutzt werden. Sie lautet hier
H D H.q; p/:

Teil I
(7.75) "     #
1 @W 2 @W 2 @W 2
Dann ist es möglich, eine Separation durchzuführen, bei der die C C DE (7.81)
Zeitabhängigkeit abgespalten wird: 2m @x1 @x2 @x3

S.t; q; a/ D W.q; a/  a0 t: (7.76) mit konstanter Energie E.

Hier ist a0 eine noch näher zu spezifizierende Größe. Dies führt Anstatt diese Gleichung direkt zu lösen, probieren wir
den Ansatz
auf eine vereinfachte Hamilton-Jacobi-Gleichung, die nicht
mehr von der Zeit abhängt. W.x; a/ D x  a (7.82)
für die charakteristische Funktion. Durch Einsetzen fin-
Zeitunabhängige Hamilton-Jacobi-Gleichung den wir, dass
a2
Die zeitunabhängige Hamilton-Jacobi-Gleichung lautet ED (7.83)
2m
H.q; @W=@q/ D a0 : (7.77) erfüllt sein muss. Die Prinzipalfunktion lautet also

a2
S.t; x; a/ D x  a  t: (7.84)
2m
Frage 12 Die konjugierten Impulse erfüllen
Zeigen Sie, wie (7.77) mit dem gewählten Ansatz (7.76) aus
(7.67) folgt. @S
pi D D ai D Pi D const: (7.85)
@xi

Wir sehen also, dass a0 gerade der konstante Wert der Hamil- Durch die kanonische Transformation werden die Impul-
ton-Funktion ist. Entspricht die Hamilton-Funktion der Energie se also nicht verändert.
(dies muss nicht zwangsläufig der Fall sein), so ist offensichtlich Von Interesse sind die Bahnkurven. Dazu berechnen wir
zunächst die konstanten Terme
a0 D E (7.78)
@S ai
die erhaltene Gesamtenergie des Systems. bi D D xi  t D const: (7.86)
@ai m
Die zeitunabhängige Hamilton-Jacobi-Gleichung ist nun eine Man erhält durch Auflösen sofort die Bahnkurven
Bestimmungsgleichung für die konstante Funktion W.q; a/. Sie
wird charakteristische Funktion genannt und spielt in der Quan- a
x.t; b; a/ D b C t: (7.87)
tenmechanik (22.3) eine gewisse Rolle. m

Es ist stark problemabhängig, wie aufwendig das Lösen von Hier ist b der Anfangsort, d. h. x.t D 0/, und a D p der
(7.77), d. h. das Auffinden von W.q; a/, ist. Man kann kein erhaltene Impuls. Die sechs Konstanten b und a sind also
Standardverfahren dafür angeben. Hier wollen wir lediglich ein die benötigten Anfangsbedingungen. J
einfaches Beispiel zeigen.

Freie Punktmasse Allgemein kann man sagen, dass nur solche Probleme mit ver-
tretbarem Aufwand durch den hier vorgestellten Formalismus
Eine freie Punktmasse in drei Dimensionen besitzt die zu lösen sind, die „entkoppelt“ werden können. Entkoppeln be-
Lagrange- und Hamilton-Funktionen deutet hier, dass man die Koordinaten des Problems so wählen
kann, dass die Hamilton-Funktion die Gestalt
m 2 1 2
LD xP ; HD p; (7.79) X
2 2m
H.q; p/ D Hi .qi ; pi / (7.88)
wenn wir von kartesischen Koordinaten x ausgehen. Der i
Impuls ist
p D mPx: (7.80) annimmt, wobei i über alle Freiheitsgrade läuft. Sie ist dann die
Summe lauter Funktionen, die jeweils nur von einer Koordina-
Da H zeitunabhängig ist und der Energie entspricht, kann te und ihrem konjugierten Impuls abhängen. Dann ist auch ein
die zeitunabhängige Hamilton-Jacobi-Gleichung (7.77) analoger Separationsansatz für die charakteristische Funktion
möglich, der das Lösungsverfahren entscheidend vereinfacht.
258 7 Hamilton-Formalismus

Anwendung: Wellenmechanik
Teil I

Zusammenhang mit geometrischer Optik und Quantenmechanik

Wir beschränken uns hier auf eine einzelne Punktmasse m in Quantenmechanik (und zwar derjenige, den man durch die
kartesischen Koordinaten x. Dann lautet die Hamilton-Jaco- Grenzbetrachtung S=h ! 1 findet, wobei h die Planck’sche
bi-Gleichung (7.67) Konstante ist).

@S Der Zusammenhang mit der geometrischen Optik wird deut-


H.t; q; r S/ C D 0: lich, wenn man die Geschwindigkeit berechnet, mit der
@t
sich die Wellenfronten ausbreiten. Dazu vergleicht man den
Der konjugierte Impuls p D r S ist der Gradient der Prin- Abstand ds zweier Niveauflächen zu infinitesimal unter-
zipalfunktion S. Er steht somit senkrecht auf Flächen mit schiedlichen Zeiten t und t C dt. Man kann zeigen, dass die
konstantem S. Wir nehmen weiterhin an, dass die Energie charakteristische Funktion W.x/ dabei den Zusammenhang
E erhalten ist und der Hamilton-Funktion entspricht. Somit
separieren wir die Prinzipalfunktion gemäß dW
jr Wj D
ds
S.t; x/ D W.x/  Et:
erfüllt und die lokale Wellengeschwindigkeit durch
Die Hamilton-Funktion hat die Form
ds.x/ E E
p2 u.x/ WD D p D
H.x; p/ D C V.x/ dt 2m.E  V.x// jr W.x/j
2m
mit einem Potenzial V.x/. gegeben ist. Sie hängt über das Potenzial vom Ort ab. In
der geometrischen Optik ist die Ausbreitungsgeschwindig-
Flächen mit konstantem S wandern mit der Zeit durch den keit von Licht analog
Raum und entsprechen zu einer gegebenen festen Zeit gerade
den Flächen mit konstantem W. Die Trajektorie der Punkt- c
u.x/ D :
masse steht dabei stets senkrecht auf den Niveauflächen. n.x/
Dies erinnert stark an die Ausbreitung von Wellenfronten.
In Abschn. 17.3 und 22.3 greifen wir diese Idee wieder auf. Hier ist c die Lichtgeschwindigkeit und n.x/ der Bre-
In der Quantenmechanik wird die Prinzipalfunktion nähe- chungsindex, der ebenfalls eine Funktion des Ortes ist. Der
rungsweise zur Phase der Wellenfunktion . Dort ist dann Brechungsindex n.x/ ist also eng mit dem Gradienten der
die klassische Mechanik ein wohldefinierter Grenzfall der charakteristischen Funktion W.x/ verbunden.
So geht’s weiter 259

So geht’s weiter

Teil I
Determinismus und Chaos Dort hat man es dann wie im Falle der schwingenden Atwood’
schen Maschine oder des Doppelpendels mit komplexen, ge-
Lässt sich das Verhalten der Natur eindeutig aus einer univer- koppelten, nichtlinearen Bewegungsgleichungen zu tun, welche
sellen, fundamentalen Theorie herleiten? Der von dieser Frage nur noch numerisch lösbar sind. Das Verhalten der chaotischen
implizierte Determinismus in der klassischen Physik wurde Systeme erscheint auf lange Zeiten gesehen als irregulär und
schon vom französischen Wissenschaftler Pierre-Simon Laplace ungeordnet. Dennoch können sich nach einiger Zeit bestimmte
mathematisch untersucht. Für Laplace war die Welt vollstän- Muster bilden, die durch universelle Konstanten gegeben sind.
dig determiniert: Würde man nur die Anfangsbedingungen und Ein typisches Verhalten von chaotischen Systemen ist die Bifur-
die Bewegungsgesetze der klassischen Physik genau kennen, kation zusammen mit der Selbstreproduktion von bestimmten
so ließe sich jeder zukünftige Zustand des Universums aus den Formen, die allein gesehen nicht regulär sind, sich aber im-
mathematischen Differenzialgleichungen genau berechnen. Auf mer wiederholen. Ein schönes Beispiel hierfür ist der Baum des
diese Weise wäre es nach Laplace also zumindest im Prinzip Pythagoras (Abb. 7.3), dessen kleiner werdende Verästelungen
möglich, ein in diesem Zusammenhang oft als Laplace’scher immer wieder die Form der vorherigen Struktur reproduzieren.
Dämon bezeichnetes Wesen zu postulieren, das alles vorhersagt, Wie genau können wir uns diesem Begriff des Chaos nä-
was geschehen wird und alles erklärt, was jemals geschehen ist. hern? Schon bei der alltäglichen Beobachtung der vielfältigen
Dass es in der Praxis jedoch unmöglich sein könnte, diese so Vorgänge in der Natur sehen wir, dass bereits die klassische
determinierte Zukunft eindeutig vorherzusagen, war auch schon Physik eine immense Fülle von Möglichkeiten für uns be-
Laplace bewusst, da es beispielsweise in einem System von reithält. Auch hier können wir unter Umständen nicht alles
vielen Freiheitsgraden empirisch nicht möglich ist, alle An- berechnen – was sich allein daraus ergibt, dass man es oft mit
fangsbedingungen genau zu bestimmen. Diese Einsicht zeigt komplexen Systemen zu tun hat, die aus sehr vielen einzelnen
sich auch in den Ergebnissen der Chaosforschung: Schlägt ein Teilchen bestehen. Diese Feststellung mag zunächst trivial klin-
Schmetterling in China mit den Flügeln, kann man daraus nicht gen, sie ist jedoch sehr wichtig im Hinblick auf das bessere
das Wetter in Europa berechnen, wenngleich ein Zusammen- Verständnis der fundamentalen Gesetze der Natur und deren Be-
hang zwischen beiden Ereignissen bestehen kann. deutung.
Ein Spiel, das sehr gut die Problematik verdeutlicht, ist Mikado,
welches aus einer großen Anzahl gleichartiger, lediglich ver-
schieden markierter Stäbchen besteht. Diese werden, nachdem
sie gebündelt und mit der Hand festgehalten werden, plötzlich
losgelassen und verteilen sich dann in großer Unordnung über
die Tischoberfläche. Die Ausgangslage ist dabei offensichtlich
immer die gleiche: Vor dem Loslassen sind alle Mikadostäbchen
parallel und gleich ausgerichtet. Es ist aber praktisch unmöglich,
dass sie sich, nachdem sie die Hand verlassen haben, immer
gleich über den Tisch verteilen. Trotz scheinbar gleicher An-
fangsbedingungen sieht jedes Spiel vollkommen anders aus,
und dabei gibt es eine immense Anzahl von Mustern, welche
die Mikadostäbchen auf dem Tisch bilden können. Obwohl es
sich um klassische Physik handelt, durch welche die Stäbchen
beschreibbar sind, sind diese Muster schwer von uns vorher-
zusagen und auch schwer zu berechnen, obwohl die zugrunde
liegenden Gleichungen sehr einfach sind und wir im Prinzip alle
Informationen besitzen, um die Lage der einzelnen Mikadostäb-
chen berechnen zu können.
Betrachten wir im Gegensatz dazu beim Billard den Lauf der
Billardkugel, dann können wir mit etwas Geschick und Übung
Abb. 7.3 Der Baum des Pythagoras
sehr gut vorausbestimmen und auch berechnen, wie sich die Ku-
gel verhalten wird. Stößt eine Billardkugel an den Rand des
Die Chaosforschung befasst sich mit dynamischen, nichtlinea- Billardtisches, so ist der Ausfallswinkel (in Abwesenheit eines
ren Systemen, deren jeweiliges Verhalten sehr empfindlich von Spins der Kugel) immer gleich dem Einfallswinkel, und der Stoß
den gewählten Anfangsbedingungen abhängt. Dies mag einer- der Billardkugeln untereinander folgt ähnlich einfachen Gesetz-
seits in Systemen mit vielen Freiheitsgraden der Fall sein, an- mäßigkeiten, nämlich des elastischen Stoßes mit Impuls- und
dererseits jedoch auch in solchen mit wenigen Freiheitsgraden. Energierhaltung.
260 7 Hamilton-Formalismus

Was unterscheidet nun Mikadostäbchen von Billardkugeln? lardkugel sehr geordnet und gleichmäßig aus. Hier liegt also
Teil I

Warum verhalten sich nun die einen und die andern au- kein chaotisches System vor. Dies ändert sich, wenn wir einen
genscheinlich ganz unterschiedlich, obwohl beide doch den stadionförmigen Billardtisch betrachten. Dies ist das sogenann-
gleichen physikalischen Gesetzen folgen? Ein Grund für die te chaotische Billard oder auch, benannt nach dem russischen
Unvorhersagbarkeit beim Mikadospiel ist die große Zahl der Mathematiker Yakov Sinai ( 1935), das Sinai-Billard. Hier
Stäbchen. Es ist deshalb nämlich nicht möglich, vor dem Fallen- verlaufen die Trajektorien der Billardkugeln nicht mehr gleich-
lassen der Stäbchen immer die gleichen Anfangsbedingungen mäßig, sondern ungeordnet, oder wie man sagt, chaotisch. Man
herzustellen. Schon das leichteste Zittern in der Hand oder kann dabei die Länge der geraden Seiten im stadionförmigen
ein geringfügiges Abweichen in der Ausgangskonfiguration hat Billardtisch als den Parameter ansehen, der das Chaos bestimmt.
einen dramatischen Effekt auf die Endkonfiguration: Alle diese Ist dieser Parameter gleich null, dann gibt es kein Chaos. Ist der
Fluktuationen am Anfang werden durch die Vielzahl der Stäb- Parameter allerdings nur um einen kleinen Betrag von Null ver-
chen enorm verstärkt. Trotz grundsätzlicher Beschreibung durch schieden, dann setzt das chaotische Verhalten ein.
eine deterministische Theorie kann man daher keine eindeutige
Vorhersage treffen.
Im Gegensatz dazu folgt die Bahn einer einzelnen Billardkugel
immer einem eindeutigen und vorhersagbaren Weg, wenn wir
die Billardkugel immer gleich anstoßen und somit in diesem
Fall keine Fluktuation besteht. Solche physikalischen Systeme
mit einer großen Anzahl von beteiligten Körpern und eventu-
ell auch mit fluktuierenden Anfangsbedingungen lassen sich am
besten mit den Methoden der Statistik behandeln.
Wir sehen nun, wie leicht deterministische Theorien übergehen
in eine statistische Beschreibung. So ist die klassische Mecha-
nik zusammen mit der Gravitationstheorie von Newton eine
vollkommen deterministische Theorie, die bei vorgegebenen
Anfangsbedingungen eindeutige Vorhersagen über die Bahn von
Planeten oder anderen Körpern ermöglicht. Die Reproduzierbar-
keit der Anfangsbedingungen ist jedoch bei einem Experiment
in Rahmen der klassischen Physik eine wichtige Voraussetzung,
um ein eindeutiges Ergebnis zu erhalten.
Wenn allerdings ein physikalisches System aus einer großen
Anzahl von Körpern besteht, dann wird es immer schwieriger,
gleiche Anfangsbedingungen für alle beteiligten Teilchen her-
zustellen und die Berechnungen konkret und analytisch durch-
zuführen. In diesem Fall kann man statistische Aussagen über
den Endzustand treffen, wobei oft auch die analytischen Berech-
nungen durch aufwendige Simulationen an Computern ersetzt
werden müssen. Es gibt auch Vielteilchensysteme, die nunmehr
ein ungeordnetes Verhalten aufweisen und Gegenstand der so-
genannten Chaosforschung sind.
Nehmen wir nun an, dass die Billardkugeln nicht abgebremst
werden, sondern idealerweise unendlich lange rollen können,
und verfolgen wir ferner die Bahnen der Billardkugeln über
einen sehr großen Zeitraum hinweg. Dann sehen wir, dass,
obwohl die Bahnen der Billardkugeln deterministisch vorherbe-
stimmt sind, wir doch ein Vielteilchensystem dadurch simulie-
Abb. 7.4 Drei verschiedene Billardtische
ren können, indem wir die Anfangsbedingungen, mit der wir die
Billardkugel anstoßen, immer wieder verändern. Das ungeord- Ein weiteres konkretes System, das ein interessantes chaotisches
nete, chaotische Verhalten von bestimmten Systemen kann man Verhalten an den Tag legt, ist das demografische Modell der Po-
sich daher auch anhand des Billardspiels verdeutlichen. pulation einer bestimmten Tierart. Das Anwachsen bzw. das Ab-
Schauen wir uns dies noch einmal etwas genauer an: Wir be- sterben der betrachteten Population hängt von zwei Faktoren ab:
trachten dafür einen rechteckigen oder auch einen kreisförmigen Durch die Fortpflanzung der Tiere vermehrt sich die Population
Billardtisch (Abb. 7.4). Wie wir wissen, wird die Billardkugel proportional zur Anzahl der schon vorhandenen Tiere im Folge-
am Rand des Tisches so reflektiert, dass Einfalls- und Aus- jahr um einen bestimmten Faktor. Andererseits verringert sich
fallswinkel genau übereinstimmen. Auf dem rechteckigen oder die Population der Tiere durch Verhungern, und zwar jährlich in
auf dem kreisförmigen Tisch sehen die Trajektorien der Bil- Abhängigkeit von der Differenz zwischen ihrer aktuelle Größe
So geht’s weiter 261

und einer maximal möglichen Größe. (Die maximale Anzahl ist Die mathematischen Berechnungen in diesem Modell führen zu

Teil I
durch das verfügbare Nahrungsangebot begrenzt.) einem sehr interessanten Ergebnis: Mit r zwischen 0 und 1 stirbt
Ohne auf die genauen Details einzugehen, lässt sich nun das An- die Population auf jeden Fall, alle Tiere verhungern schließlich,
wachsen oder auch das Abnehmen der Population in Abhängig- und man erhält also x D 0. Ab dem Wert r D 1 steigt die
keit von einem bestimmten Parameter r berechnen, der sowohl die asymptotische Population kontinuierlich an, und, egal ob man
Fortpflanzungsrate als auch die Verhungerungsrate berücksich- am Anfang viele oder wenige Tiere hat, ist der asymptotische
tigt. Wir können uns jetzt fragen, wie der asymptotische Populati- Populationswert x unabhängig von der gewählten Anfangspopu-
onswert x (x misst die Anzahl der Tiere nach vielen Jahren im Ver- lation. Hier liegt also genau ein Häufungspunkt vor. Ab einem
hältnis zum maximal möglichen Wert, liegt also immer zwischen bestimmten Parameterwert r ändert sich aber dieses Verhalten
0 und 1) von einer bestimmten, vorgegebenen Anfangspopulati- (Abb. 7.5). Nun beobachtet man, dass sich für den wachsenden
on abhängt. Strebt die Population immer gegen einen einzigen Parameter r die Anzahl der Häufungspunkte in der asymptoti-
Häufungspunkt x, oder gibt es mehrere solche Häufungspunkte, schen Populationsanzahl x immer bei einem bestimmten r-Wert
je nachdem wie viele Tiere am Anfang vorhanden sind? verdoppelt.
Dies ist die sogenannte Periodenverdopplung oder auch Bifurka-
tion; der Abstand zwischen den Werten für r, bei denen sich die
Anzahl der Häufungspunkte in der asymptotischen Population
1,0 ändert, heißt Bifurkationsintervall. Für kleine r-Werte bewirken
kleine Änderungen der Anfangswerte dabei normalerweise kei-
0,8 ne Änderung der Endpopulation. So führt im Falle von zwei
Häufungspunkten eine relativ kleine Anfangspopulation auf den
0,6 kleineren der beiden x-Werte und eine große Anfangspopulati-
on auf den größeren x-Wert. In diesem Bereich ist das Verhalten
x
der Population also noch regelmäßig.
0,4 Ab einem Wert r ' 3;57 stellt sich aber schlagartig das
Chaos ein: Die Folge springt zwischen nun instabilen Häu-
0,2 fungspunkten hin und her, schon winzige Änderungen der An-
fangspopulation resultieren in unterschiedlichsten Werten für x,
0,0 eine Eigenschaft des Chaos. Es gibt aber eine interessante Ei-
2,4 2,6 2,8 3,0 3,2 3,4 3,6 3,8 4,0 genschaft in diesem Populationsmodell: Das Längenverhältnis
r zweier aufeinanderfolgender Bifurkationsintervalle nähert sich
einer fundamentalen Konstante, der Feigenbaum-Konstante ı,
Abb. 7.5 Das Populationsdiagramm, das die asymptotische (relative) An- die den Wert ı ' 4;669 annimmt. Dieser Zahlenwert von ı wur-
zahl x einer bestimmten Tierpopulation nach vielen Jahren darstellt. Auf der de zuerst im Jahre 1977 von den Physikern Siegfried Großmann
x-Achse ist der Parameter r aufgetragen, der das Verhältnis der Fortpflan-
und Stefan Thomae publiziert. Mitchell Feigenbaum entdeckte
zungsrate zur Verhungerungsrate der Tiere bestimmt. Für größer werdendes
r verdoppelt sich die Anzahl der möglichen, asymptotischen Häufungswerte, dann im Jahre 1978 die Universalität dieser Konstante, denn sie
wobei ab r ' 3; 57 das chaotische Verhalten einsetzt: Die Werte der ver- bestimmt das chaotische Verhalten in vielen dynamischen Sys-
schiedenen Häufungspunkte variieren vollkommen unregelmäßig temen mit Bifurkation, wie z. B. auch beim Wetter.
262 7 Hamilton-Formalismus

Aufgaben
Teil I

Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen

7.1 Zentralpotenzial Betrachten Sie eine Punkt- (a) Warum kann eine Punkttransformation nicht durch
masse m im Zentralpotenzial V.r/. F1 .t; q; Q/ erzeugt werden?
(b) Gehen Sie im Folgenden von F2 .t; q; P/ aus, d. h., (7.93)
(a) Wie lautet die zugehörige Hamilton-Funktion in Kugelko- wird in der Form
ordinaten? Verwenden Sie dazu gegebenenfalls bekannte pi D hi .t; q; P/ (7.94)
Teilergebnisse aus Kap. 5.
(b) Gibt es zyklische Koordinaten? Wie lauten die kanonischen geschrieben. Wie lautet die allgemeine Form der Erzeugen-
Gleichungen? den F2 .t; q; P/, die auf die Punkttransformation (7.93) und
(c) Lösen Sie die Bewegungsgleichungen für # und '. Benut- (7.94) führt? Zeigen Sie, dass hi .t; q; P/ nur höchstens linear
zen Sie die Anfangsbedingung # D =2 (dies entspricht von den Impulsen Pi abhängen kann, wenn die Transforma-
einer geeigneten Wahl der Kugelkoordinaten). tion kanonisch ist. Zeigen Sie weiterhin, dass die Funktionen
(d) Zeigen Sie, dass die verbleibende Gleichung für r der Radi- fi .t; q/ und hi .t; q; P/ nicht eindeutig miteinander verknüpft
algleichung des Zentralkraftproblems entspricht. sind.
(c) Begründen Sie, warum alle Punkttransformationen mit dif-
ferenzierbaren fi .t; q/ kanonisch sind.
7.2 Inverse der Legendre-Transformation Die
Legendre-Transformierte einer konvexen Funktion f .x/ lautet
(siehe „Mathematischen Hintergrund“ 7.1) 7.5 Erzeugende Es soll die Erzeugende F2 .t; q; P/
genauer untersucht werden.
g.y/ D yx.y/  f .x.y//; (7.89)
(a) Leiten Sie die Transformationsgleichung (7.47) für
wobei F2 .t; q; P/ ab. Gehen Sie dabei von
y.x/ D f 0 .x/ (7.90)
X  
ist. Zeigen Sie, dass die Rücktransformation auf die Variable .pi dqi  Pi dQi / C H 0  H dt D dF20 .t; q; P/ (7.95)
x wieder auf die Funktion f .x/ führt. Somit ist auch bewiesen, i

dass bei Legendre-Transformationen keine Information der ur- aus, wobei F20 .t; q; P/ wie F2 von den unabhängigen Größen
sprünglichen Funktion f .x/ verloren geht. .q; P/ abhängt. Drücken Sie die dQi durch die Differenziale
7.3 Poisson-Klammern und Drehimpuls Berech- dqj und dPj aus. Zeigen Sie, dass die Relation
nen Sie für den Drehimpuls einer Punktmasse in kartesischen X
Koordinaten F20 .t; q; P/ C Qj .t; q; P/Pj D F2 .t; q; P/ (7.96)
Li D "ijk xj pk (7.91) j

die Poisson-Klammern (in den konjugierten Variablen x und p) zwischen F20 und F2 bestehen muss. Wie lautet die neue Ha-
fLj ; Lk g (was auf (7.27) führt) und fL2 ; Lk g. milton-Funktion H 0 ?
7.4 Punkttransformation Eine Punkttransformati- (b) Zeigen Sie damit, dass F1 .t; q; Q/ und F2 .t; q; P/ durch ei-
on wird durch ne Legendre-Transformation ineinander überführt werden
Qi D fi .t; q/ (7.92) können, wenn beide dieselbe kanonische Transformation er-
zeugen.
beschrieben. Über die Transformation der Impulse wird dabei
keine Aussage getroffen; man kann aber davon ausgehen, dass
sie allgemein 7.6 Ebene Polarkoordinaten Die ebenen Polarko-
ordinaten sind definiert durch
Pi D gi .t; q; p/ (7.93)
lautet. x D r cos '; y D r sin ': (7.97)
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 263

(a) Zeigen Sie mithilfe der Lagrange-Gleichungen, dass die zu und Kraftkonstante k. Im Text wurde bereits gezeigt, dass die
den Koordinaten .r; '/ konjugierten Impulse für eine freie Hamilton-Funktion

Teil I
Punktmasse
pr D mPr; p' D mr2 'P (7.98) p2 k p2 m! 2 2
HD C q2 D C q (7.100)
2m 2 2m 2
sind. Wie lauten die Hamilton’schen Gleichungen?
(b) Wie lauten die kartesischen Impulse px D mPx und py D mPy, lautet.
ausgedrückt durch .r; '/ und .pr ; p' /?
(c) Berechnen Sie alle fundamentalen Poisson-Klammern (a) Verwenden Sie die Erzeugende
fA; Bgr;';pr ;p' , wobei für A und B die kartesischen Koor-
dinaten und Impulse einzusetzen sind. Zeigen Sie, dass die m! 2
F1 .q; Q/ D q cot Q (7.101)
Transformation von kartesischen zu Polarkoordinaten kano- 2
nisch ist (man könnte auch die Poisson-Klammern bezüglich
der kartesischen Koordinaten berechnen, dies ist jedoch und bestimmen Sie die Transformationsgleichungen für den
schwieriger). Warum kann man auch direkt ohne die Berech- Übergang zu den neuen Koordinaten .Q; P/, d. h. q.Q; P/,
nung der fundamentalen Poisson-Klammern sagen, dass die p.Q; P/ und Q.q; p/, P.q; p/. Verwenden Sie dazu die Rela-
Transformation kanonisch ist? tion
(d) Überprüfen Sie, dass die Erzeugende 1
sin.arccot x/ D cos.arctan x/ D p : (7.102)
F3 .r; '; px ; py / D r.px cos ' C py sin '/ (7.99) 1 C x2

Wie lautet die Hamilton-Funktion H 0 .Q; P/? Zeigen Sie da-


diese Transformation erzeugt.
mit, dass Q eine zyklische Variable und P damit erhalten ist
(d. h., Q ist eine Winkel- und P eine Wirkungsvariable).
7.7 Harmonischer Oszillator und kanonische (b) Was bedeutet das Ergebnis für Q? Wie lautet die Bewe-
Transformation Wir betrachten den eindimensionalen, un- gungsgleichung für Q? Lösen Sie sie allgemein und geben
gedämpften und freien harmonischen Oszillator mit Masse m Sie damit schließlich die Lösung für q.t/ an.
264 7 Hamilton-Formalismus

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben


Teil I

7.1 Die erste entspricht der Definition des kanonischen Impulses


pr und liefert keine neue Information. Dies verhält sich bei
(a) Wir beginnen mit der Bestimmung der Lagrange-Funktion den entsprechenden Gleichungen für # und ' genauso. Wir
in Kugelkoordinaten. Die kinetische Energie T für Kugelko- schreiben daher nur noch die dynamische Gleichung, also
ordinaten wurde bereits in Aufgabe 5.3 bestimmt: die Zeitableitung des Impulses von #, auf:
mh 2  i
TD rP C r2 #P 2 C 'P 2 sin2 # : (7.103) @H p2'
2 pP # D  D cos #: (7.112)
@# mr2 sin3 #
Demnach ist die Lagrange-Funktion
(c) Wir nehmen an, dass #0 D =2 ist. Daher ist zur Zeit t D 0
mh 2  i
gerade cos # D 0 und pP # D 0. Dies bedeutet aber wegen
LDT V D rP C r2 #P 2 C 'P 2 sin2 #  V.r/:
2 (7.107), dass zu Beginn auch #P D 0 ist. Tatsächlich löst
(7.104)
#0 D =2 die Differenzialgleichung (7.112); # bleibt also
Die konjugierten Impulse sind
konstant:
@L #.t/ D #0 D =2 D const: (7.113)
pr D D mPr;
@Pr Die Bewegungsgleichung für ' ist trivial gelöst, da ' zy-
@L P klisch ist:
p# D D mr2 #; (7.105)
@#P p' D p';0 D const: (7.114)
@L
p' D D mr2 sin2 # ':
P Dies führt mit dem Ergebnis für # auf den bekannten Flä-
@'P chensatz p';0
Wir erhalten die Hamilton-Funktion durch Anwendung der 'P D ; (7.115)
mr2
Legendre-Transformation
wobei p';0 der konstante Drehimpuls der Punktmasse ist.
P # C 'p
H D rP pr C #p P ' L (7.106) Vergleichen Sie diese Ergebnisse mit der Diskussion des
Zentralkraftproblems in Abschn. 3.2.
und des anschließenden Übergangs P '/
.Pr; #; P ! (d) Die dynamische Gleichung für r nimmt nun die vereinfachte
.pr ; p# ; p' /. Dazu verwenden wir Form
p2';0 dV
pr p# p' mRr D  (7.116)
rP D ; #P D ; 'P D : (7.107) mr3 dr
m mr2 mr2 sin2 # an. Dies entspricht gerade dem Ausdruck in (3.60). Es ist
Man kann sich schnell vergewissern, dass das Ergebnis nur zu beachten, dass dort  (statt m) die reduzierte Masse
ist.
p2r p2 p2'
H D T CV D C #2 C C V.r/ (7.108)
2m 2mr 2mr2 sin2 # Wir sehen also, dass der Hamilton-Formalismus einen alternati-
ven Weg zum Auffinden der Bewegungsgleichungen erlaubt.
lautet.
(b) Der Winkel ' ist zyklisch und führt damit auf 7.2 In jedem Fall muss die Rücktransformation

@H h.x/ D xy.x/  g.y.x// (7.117)


pP ' D  D 0: (7.109)
@'
mit einer zu bestimmenden Funktion h.x/ erfüllen. Wir setzen
Die kanonischen Gleichungen für r lauten einfach (7.89) in (7.117) ein:
@H pr h.x/ D xy.x/  y.x/x.y.x// C f .x.y.x///: (7.118)
rP D D (7.110)
@pr m
Hier ist zu beachten, dass x.y.x// D x gilt; also ist
und
! h.x/ D xy.x/  y.x/x C f .x/: (7.119)
@H 1 p2' dV
pP r D  D p2# C  : (7.111)
@r mr3 sin2 # dr Es folgt sofort, dass h.x/  f .x/ ist, was zu zeigen war.
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 265

Klammern stammt. Im Folgenden wird die Summation über i, l


und m ausgeführt:

Teil I
fLj ; Lk g D "jrm "knr pm xn  "jln "knr xl pr
y = f  (x)
y D "rmj "rkn pm xn  "njl "nrk xl pr

x = g  (y)
D .ıkm ıjn  ımn ıjk /pm xn  .ıjr ıkl  ıjk ılr /xl pr (7.123)
g(y) + c
D pk xj  xk pj
D "jkl Ll :

f (x) − c Den letzten Schritt überprüft man mithilfe der Definition des
Drehimpulses (7.91).
Für die zweite zu bestimmende Poisson-Klammer sieht man zu-
x
nächst
Abb. 7.6 Geometrischer Beweis dafür, dass die Legendre-Transformation ihr
fL2 ; Lk g D fLj Lj ; Lk g; (7.124)
eigenes Inverses ist (Skarke 2013)
wobei über j summiert wird. Hier kann man die Produktregel

fA; BCg D BfA; Cg C CfA; Bg (7.125)


Ein geometrisch augenfälliger Beweis für die Tatsache, dass die
Legendre-Transformation ihr eigenes Inverses ist, ergibt sich ausnutzen:
durch die geometrische Interpretation der monton ansteigenden fLj Lj ; Lk g D 2Lj fLj ; Lk g: (7.126)
Funktion y.x/ D f 0 .x/ und ihrer Umkehrung x.y/ in Abb. 7.6,
bei der angenommen wurde, dass x und f 0 .x/ gleichzeitig positiv Wir sind damit schon fast fertig, denn man kann das Ergebnis
sind. Die Fläche unterhalb des Funktionsgraphen ist bis auf eine (7.123) verwenden:
Integrationskonstante die ursprüngliche Funktion f .x/. Um 90ı
gedreht kann der Funktionsgraph als x D g0 .y/ gelesen werden, fLj Lj ; Lk g D 2Lj "jkl Ll : (7.127)
wobei bis auf eine Konstante g.y/ die Fläche darunter ist. Die
Summe der beiden Flächen ist offenbar xy, Es wird über j und l summiert. Das Produkt Lj Ll ist symme-
trisch, das Levi-Civita-Symbol "jkl aber antisymmetrisch unter
f .x/ C g.y/ D xy; y D f 0 .x/ bzw. x D g0 .y/; (7.120) der Vertauschung j $ l. Daher ist das Ergebnis null:

was gerade der Definition der Legendre-Transformation ent- fL2 ; Lk g D 0: (7.128)


spricht. Diese Argumentation kann leicht auf die Fälle negati-
ver x und/oder negativer f 0 .x/ verallgemeinert werden (Skarke Die Ergebnisse (7.123) und (7.128) spielen in der Quantenme-
2013). chanik eine wichtige Rolle. Dort werden die Poisson-Klammern
durch die sogenannten Kommutatoren ersetzt.
7.3 Die Definition der Poisson-Klammern (7.22) ist
7.4
f  
X @F @G @F @G
fF; Gg WD  : (7.121) (a) Eine Punkttransformation bedeutet, dass die neuen Koordi-
@xi @pi @pi @xi
iD1 naten Qi von den alten qi abhängen. Da die Erzeugende F1
aber die Unabhängigkeit von qi und Qi voraussetzt, würde
Für F D Li und G D Lj findet man dies zu einem Widerspruch führen.
(b) Verwendet man F2 .t; q; P/, so gilt zunächst
X  @."jlm xl pm / @."knr xn pr /
fLj ; Lk g D
@xi @pi @F2 .t; q; P/
i Qi D D fi .t; q/: (7.129)
 @Pi
@."jlm xl pm / @.@"knr xn pr /
 (7.122)
@pi @xi Diese Gleichung kann aufintegriert werden zu
X 
D "jlm ıil pm "knr xn ıir  "jlm xl ıim "knr ıin pr : XZ X
i F2 .t; q; P/ D fi .t; q/ dPi D fi .t; q/Pi C C.t; q/:
i i
Bis hierhin wurden nur die Ableitungen berechnet. Es muss (7.130)
beachtet werden, dass über alle doppelt auftretenden Indizes Dies bedarf einiger Kommentare. Zum einen muss über i
summiert wird. Nur für den Index i wurde das Summenzeichen summiert werden, da über alle Pi , die voneinander unabhän-
explizit hingeschrieben, da es aus der Definition der Poisson- gig sind, zu integrieren ist. Dies entspricht dem Vorgehen,
266 7 Hamilton-Formalismus

das Potenzial aus einem konservativen Kraftfeld in kartesi- Wir benennen nun die Summationsindizes im zweiten Term
schen Koordinaten zu berechnen: Dort muss über alle drei auf der rechten Seite folgendermaßen um: i wird in j und
Teil I

kartesische Koordinaten integriert werden (Abschn. 1.6). Da gleichzeitig j in i umbenannt. Dies ist möglich, da über beide
die Funktionen fi nicht von den Pi abhängen, kann die Inte- Indizes summiert wird. Es folgt also
gration direkt ausgeführt werden. Dabei tritt im Allgemeinen
eine von Pi unabhängige „Integrationskonstante“ auf, die X @F 0 X X X @Qj
2
dqi D pi dqi  Pj dqi : (7.136)
jedoch von allen qi und der Zeit abhängen kann: C.t; q/.
i
@qi i j i
@qi
Schließlich muss noch
0 1
Da alle dqi unabhängig sind, kann man den Vergleich auf
@F2 @ @X
pi .t; q; P/ D D fj .t; q/Pj C C.t; q/A
@qi @qi @F20 X @Qj
j
pi D C Pj (7.137)
@qi @qi
D hi .t; q; P/ j
(7.131)
gelten. Da die Impulse Pi in F2 nur höchstens linear auf- reduzieren. Nun sind aber die Pj nach Voraussetzung von den
treten, gilt dies auch für hi . Die Funktionen fi .t; q/ und qi unabhängig; man kann also
hi .t; q; P/ sind also eng, aber nicht eindeutig miteinander 0 1
verknüpft: Die Wahl von C.t; q/ ist beliebig (die Funktion @ X @F2
muss jedoch differenzierbar sein). pi D @F20 C Qj Pj A D (7.138)
@qi j
@qi
(c) Es sind genau dann alle Punkttransformationen kanonisch,
wenn alle Funktionen fi .t; q/ mit kanonischen Transforma-
tionen vereinbar sind. Allerdings wird die Wahl von fi nur schreiben, was die erste zu zeigende Gleichung ist.
dadurch eingeschränkt, dass fi .t; q/ differenzierbar ist, da- Der Vergleich der Koeffizienten der dPi führt auf
mit die pi berechnet werden können. Ansonsten ist fi .t; q/ X @Qj
@F20
beliebig. D Pj : (7.139)
@Pi j
@Pi
7.5
Dies kann wegen @Pj =@Pi D ıij umgeschrieben werden in
(a) Das Differenzial von F20 ist
0 1
X  @F 0 @F20

@F 0 @ @ 0 X
0
dF2 .t; q; P/ D 2
dqi C dPi C 2 dt: (7.132) 0D F2 C Qj Pj A  Qi (7.140)
i
@qi @Pi @t @Pi j
Andererseits kennen wir das Differenzial (7.95). Offen-
sichtlich können die Differenziale noch nicht miteinander und schließlich in die gewünschte Form
verglichen werden, da in (7.132) dPi , in (7.95) aber dQi auf-
@F2
tritt. Da die qi und Pi die unabhängigen Größen sind, können Qi D : (7.141)
wir allerdings @Pi
X  @Qi @Qi

@Qi Es ist nur noch der Zusammenhang für die Hamilton-Funk-
dQi .t; q; P/ D dqj C dPj C dt (7.133)
@qj @Pj @t tionen H und H 0 zu zeigen. Ein Vergleich des Zeitdifferen-
j
zials führt auf
schreiben. Setzt man (7.133) in (7.95) ein, folgt X @Qi 
0 1 @F20 
D Pi C H0  H (7.142)
X X @Qi @t @t
dF20 .t; q; P/ D @pi dqi  Pi dqj A i

i j
@qj
oder, da die Pi und t unabhängig sind,
X X @Qi
 Pi dPj (7.134) !
@Pj @ X @F2
0 0
i j H DHC F2 C Qi Pi D H C : (7.143)
X   @t @t
@Qi i
 Pi dt C H 0  H dt:
i
@t (b) Wir haben gesehen, dass
Dies ist mit (7.132) zu vergleichen. Aufgrund der Unabhän- X
gigkeit der Differenziale gilt zunächst F2 .t; q; P/ D F20 .t; q; P/ C Qj Pj (7.144)
0 1 j
X @F 0 X X @Qi
2
dqi D @pi dqi  Pi dqj A : (7.135) gilt. Vergleicht man (7.44) und (7.95) und verlangt, dass man
i
@qi i j
@qj es mit derselben kanonischen Transformation zu tun hat, so
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 267

sieht man, dass F1 .t; q; Q/ und F20 .t; q; P/ identische Größen (c) Man erkennt bereits, dass es sich um eine Punkttransfor-
sind, allerdings ausgedrückt durch verschiedene unabhängi- mation handelt, da x und y nur von r und ' abhängen.

Teil I
ge Koordinaten. Somit ist Wir erwarten also, dass die Transformation kanonisch ist.
X Außerdem sind deswegen alle Ableitungen von x und y
F2 .t; q; P/ D F1 .t; q; Q/ C Qi Pi .t; q; Q/ nach pr und p' null, was die Berechnung der fundamenta-
i len Poisson-Klammern beschleunigt. Tatsächlich findet man
X @F1 .t; q; Q/ (7.145) dadurch schnell, dass die Poisson-Klammer fx; ygr;';pr ;p'
D F1 .t; q; Q/  Qi ; identisch verschwindet. Wegen der Definition der Poisson-
@Qi
i Klammern sind auch fx; xgr;';pr ;p' und fy; ygr;';pr ;p' sowie
fpx ; px gr;';pr ;p' und fpy ; py gr;';pr ;p' null. Wir verzichten im
d. h., die Erzeugenden F1 und F2 , welche dieselbe kanoni- Folgenden zur besseren Übersicht auf den Index der Pois-
sche Transformation erzeugen, gehen durch eine Legendre- son-Klammern. Es ist noch
Transformation ineinander über (wobei eine noch mögliche
Konstante ignoriert wurde). @px @py @px @py @px @py @px @py
fpx ; py g D C  
@r @pr @' @p' @pr @r @p' @'
p'  p'  cos '
7.6 D 2 sin2 ' C pr sin '  cos '
r r r
p' 1  p 
'
(a) Die Geschwindigkeiten sind C 2 cos2 ' C sin ' pr cos '  sin '
r r r
xP D rP cos '  r'P sin '; yP D rP sin ' C r'P cos ': (7.146) D 0:
(7.152)
Daraus folgt die kinetische Energie bzw. Lagrange-Funktion Wir berechnen die verbleibenden Poisson-Klammern,

m 2  fx; px g D cos2 ' C sin2 ' D 1;


LDTD rP C r2 'P 2 : (7.147) (7.153)
2 fy; py g D sin2 ' C cos2 ' D 1;
Die generalisierten Impulse lauten entsprechend sowie

@L @L fx; py g D cos ' sin '  sin ' cos ' D 0;


pr D D mPr; p' D D mr2 ':
P (7.148) (7.154)
@Pr @'P fy; px g D sin ' cos '  cos ' sin ' D 0:

Die Hamilton-Funktion ist Damit ist gezeigt, dass die Transformation tatsächlich kano-
! nisch ist.
1 p2r p2' (d) Aus der Erzeugenden F3 (7.99) lassen sich die folgenden
H D rP pr C 'p
P ' LD C 2 : (7.149) Gleichungen ableiten:
2 m mr
@F3
Aus ihr folgen die Hamilton’schen Gleichungen pr D  D px cos ' C py sin ';
@r
@F3
@H pr @H p' p' D  D px r sin ' C py r cos ';
rP D D ; 'P D D ; @'
@pr m @p' mr2 (7.155)
(7.150) @F3
@H p2' @H xD D r cos ';
pP r D  D pP ' D  D 0: @px
@r mr3 @'
@F3
yD D r sin ':
Da ' zyklisch ist, ist p' erhalten. Diese Gleichungen kön- @py
nen mit den Gleichungen des Zentralkraftproblems in Ab-
Die letzten beiden Gleichungen sind offensichtlich die be-
schn. 3.2 verglichen werden.
reits bekannten Transformationsgleichungen für die Orte.
(b) Durch Einsetzen von (7.148) in (7.146) folgt
Die ersten beiden lassen sich nach px und py auflösen, was
p' unmittelbar auf (7.151) führt.
px D mPx D pr cos '  sin ';
r (7.151)
p' 7.7
py D mPy D pr sin ' C cos ':
r
(a) Zunächst ist
Somit sind die kartesischen Koordinaten .x; y/ und Impul-
se .px ; py / als Funktion der Polarkoordinaten .r; '/ und der @F1 .q; Q/
pD D m!q cot Q: (7.156)
entsprechenden Impulse .pr ; p' / bekannt. @q
268 7 Hamilton-Formalismus

Der transformierte Impuls lautet wegen d cot x=dx D (b) Die neue Koordinate Q ist zyklisch und der generalisierte
1= sin2 x Impuls P erhalten. Da P bis auf einen konstanten Vorfak-
Teil I

tor der Energie entspricht, ist auch die Energie erhalten. Die
@F1 .q; Q/ m! q2 Bewegungsgleichung für Q lautet
PD D : (7.157)
@Q 2 sin2 Q
0
Man kann sofort die folgenden Transformationsgleichungen P D @H .Q; P/ D ! D const:
Q (7.164)
@P
ablesen:  
1 p
Q.q; p/ D arccot (7.158) Die Lösung ist daher
m! q
und r Q D !t C Q0 (7.165)
2P
jq.Q; P/j D jsin Qj: (7.159) mit einer geeignet zu wählenden Konstanten Q0 . Dieses Er-
m!
gebnis wird in (7.159) eingesetzt, wobei wir noch Q0 in 
Durch Einsetzen von (7.159) in (7.156) findet man die dritte umbenennen. Das Ergebnis ist die wohlbekannte Lösung
Gleichung: p
p.Q; P/ D 2m!P cos Q: (7.160) r
2E
q.t/ D sin.!t  /: (7.166)
Es verbleibt noch die Relation für P.q; p/. Sie folgt aus m! 2
(7.157) und (7.158). Mithilfe von (7.102) bekommt man
Der Term vor dem Sinus ist gerade die Amplitude und die
m! 2 p2 Phasenverschiebung der Schwingung.
P.q; p/ D q C : (7.161)
2 2m!
Man erkennt bereits, dass Obwohl die Bewegungsgleichung des harmonischen Oszilla-
tors einfacher bestimmt werden kann, ist dieses Beispiel doch
E sehr instruktiv. Insbesondere erkennt man, dass durch eine ge-
PD (7.162)
! eignete kanonische Transformation die Anzahl der zyklischen
ist. Wir wollen allerdings formal die Hamilton-Funktion Koordinaten erhöht werden kann. In diesem Fall gibt es so-
H 0 .Q; P/ berechnen, um dies zu zeigen. Setzt man in H.q; p/ gar keine nichtzyklische Koordinate mehr; man hat es also mit
die Transformationsgleichungen q.Q; P/ und p.Q; P/ ein, Winkel- und Wirkungsvariablen zu tun. Es wird weiterhin deut-
folgt lich, dass die generalisierten Koordinaten und Impulse mit den
kartesischen Koordinaten und Newton’schen Impulsen im All-
H 0 .Q; P/ D !P cos2 Q C !P sin2 Q D !P: (7.163) gemeinen nichts mehr zu tun haben.
Literatur 269

Literatur

Teil I
Goldstein, H.: Klassische Mechanik. Akademische Verlagsge-
sellschaft, Wiesbaden (1981)
Landau, L.D., Lifshitz, E.M.: Mechanics. Pergamon Press, Ox-
ford (1969)
Skarke, H.: Why is the Legendre transformation its own inver-
se? Am. J. Phys. 81, 554–555 (2013)
Kontinuumsmechanik
8

Teil I
Was ist ein elastisches
Kontinuum?

Was versteht man unter


einem Feld?

Wie lassen sich periodische


Vorgänge allgemein
beschreiben?

Was ist eine mechanische


Spannung?

Was ist der Unterschied


zwischen Festkörpern und
Fluiden?

Welche Bedeutung hat


Reibung in Fluiden?

8.1 Lineare Kette und Übergang zum Kontinuum . . . . . . . . . . . . . . . 272


8.2 Schwingende Saite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
8.3 Fourier-Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
8.4 Lagrange-Formalismus für Felder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
8.5 Grundlagen der Elastizitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
8.6 Ideale Fluiddynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
8.7 Viskosität und Navier-Stokes-Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
So geht’s weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Antworten zu den Selbstfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 271
272 8 Kontinuumsmechanik

Bisher haben wir uns entweder mit der Dynamik von Punktmassen Beim starren Körper wurde angenommen, dass die paarwei-
oder von starren Körpern beschäftigt. Die dabei gelernten Metho- sen Abstände der elementaren Punktmassen alle konstant sind.
Teil I

den und Verfahren reichen für viele physikalische Anwendungen Dies führte schließlich auf die Definition des Trägheitstensors
aus. In sehr vielen Problemen hat man es allerdings mit Systemen zu und auf die Euler’schen Bewegungsgleichungen für starre Kör-
tun, die sich am zweckmäßigsten durch ein nichtstarres Kontinuum per. Hier erlauben wir nun eine relative Bewegung benachbarter
beschreiben lassen. Beispiele sind Flüssigkeiten und Gase (zusam- Punktmassen im Rahmen einer elastischen Wechselwirkung.
mengefasst auch als Fluide bezeichnet) oder elastische Festkörper
Zunächst werden die resultierenden kontinuierlichen Bewe-
wie Gummibänder oder Gitarrensaiten.
gungsgleichungen für ein eindimensionales System abgeleitet.
Wir werden hier untersuchen, wie sich verformbare Kontinua ma- Dazu wird der Young’sche Elastizitätsmodul als Materialeigen-
thematisch beschreiben lassen und welche physikalischen Konse- schaft eingeführt. Außerdem finden wir Wellenlösungen für das
quenzen sich daraus ergeben. Zunächst wird der Kontinuumslimes elastische Band.
durchgeführt. Dies erfordert die Einführung von sogenannten Fel-
dern, die in der Elektrodynamik (Teil II) eine fundamentale Rolle
spielen werden. Die einfachsten Beispiele sind die lineare Kette und
die schwingende Saite in Abschn. 8.1 und 8.2.
Lineare Kette
Als mathematischer Exkurs werden die sogenannten Fourier-Reihen Wir beginnen mit einem der einfachsten elastischen Systeme
in Abschn. 8.3 diskutiert. Sie stellen ein wichtiges Hilfsmittel für in einer Dimension: die lineare Kette, die uns bereits in Ab-
viele Probleme in der Physik dar, z. B. für schwingende Kontinua. schn. 6.5 begegnet ist. Dazu betrachten wir N C 1 Punktmassen
Nach einer kurzer Einführung in den Lagrange-Formalismus für Fel- m, die sich im Gleichgewichtszustand an den Orten
der in Abschn. 8.4 beschäftigen wir uns mit den Grundlagen der
xi D ia0 .0  i  N/ (8.1)
Elastizitätstheorie (Abschn. 8.5). Dabei taucht auch der sogenann-
te Spannungstensor auf, der in Feldtheorien eine bedeutende Rolle befinden (Abb. 6.10). Hier ist a0 der Gleichgewichtsabstand
spielt. benachbarter Punktmassen. Alle Punktmassen sollen sich nur
Abschließend werden die Grundlagen der Fluiddynamik vorgestellt. entlang der x-Achse bewegen dürfen; ihre Auslenkungen aus
Wir beginnen mit einer Einführung in die Physik idealer Fluide (Ab- der Gleichgewichtslage seien qi . Zwischen benachbarten Punkt-
schn. 8.6), deren innere Reibung vernachlässigt wird. In Abschn. 8.7 massen sollen lineare (d. h. harmonische) Kräfte wirken.
wird diese Vereinfachung wieder aufgehoben und die sogenannte Wir können uns also lauter identische Federn mit Kraftkon-
Viskosität eingeführt. Dies führt auf die wichtigen Navier-Stokes- stanten D zwischen benachbarten Punktmassen vorstellen. Dies
Gleichungen. schränkt die Gültigkeit auf kleine Auslenkungen ein, wie be-
reits in Kap. 6 diskutiert. Allerdings lassen sich damit bereits
Das vorliegende Kapitel behandelt Probleme, die von einigen
eine Vielzahl von physikalischen Effekten erklären. Nichtlinea-
Dozenten in Vorlesungen der theoretischen Mechanik behandelt
re Wechselwirkungen würden den Umfang dieser Einführung
werden. Doch wohl keine einführende Mechanik-Vorlesung ist so
sprengen.
umfangreich, dass sie all diese Punkte abdecken kann. Dieses
Kapitel richtet sich vor allem an neugierige und fortgeschrittene Frage 1
Studenten. Da viele weiterführende Themen wie Elastizitätstheo- Schauen Sie sich erneut den Abschnitt über die lineare Kette in
rie oder Fluiddynamik ihre Wurzeln in der Mechanik haben, bietet Kap. 6 an.
es sich an, die Grundideen und Ansätze dieser Themen hier den
Lesern vorzustellen. Dabei werden teilweise Begriffe und Hilfsmit-
tel verwendet, die später vor allem in der Elektrodynamik wieder Die Kettenenden seien offen, d. h., die Punktmassen 0 und N
auftauchen (z. B. Felder, Oberflächenintegrale, die Kontinuitätsglei- haben nur einen Nachbarn. Die kinetische und die potenzielle
chung, der Spannungstensor). Eine Lektüre dieses Kapitels ist daher Energie lauten dann
nicht nur eine Ergänzung der Mechanik, sondern vereinfacht auch
mX 2 DX
N N
das Verständnis des Stoffes in späteren Semestern. TD qP ; VD .qi  qi1 /2 : (8.2)
2 iD0 i 2 iD1

Beachten Sie, dass die beiden Summen unterschiedliche Gren-


8.1 Lineare Kette und Übergang zen haben. Dies liegt daran, dass es bei N C 1 Punktmassen N
wechselwirkende Paare gibt, die zur potenziellen Energie bei-
zum Kontinuum tragen.
Die Lagrange-Funktion ist wie gewohnt
Wie schon beim starren Körper in Kap. 4 werden hier Sys-
teme behandelt, die eine sehr große Anzahl von Punktmassen mX 2 DX
N N
beinhalten. Eine explizite Beschreibung der Dynamik all dieser LDT V D qP i  .qi  qi1 /2 : (8.3)
2 iD0 2 iD1
Freiheitsgrade ist unpraktisch, wenn nicht sogar unmöglich.
8.1 Lineare Kette und Übergang zum Kontinuum 273

Offenbar ist die Energie E D T C V erhalten, da L nicht expli- a0


zit von der Zeit abhängt. Dies charakterisiert einen elastischen

Teil I
Körper.

Elastischer Körper
Einen Körper, dessen Punktmassen durch konservative
Kräfte wechselwirken, nennt man elastisch. Die Gesamt-
energie ergibt sich aus der kinetischen und der Wechsel-
wirkungsenergie. Wird ein elastischer Körper verformt, so
wird die zur Verformung benötigte Arbeit als elastische
(potenzielle) Energie gespeichert und kann wieder voll-
Abb. 8.1 Ohne äußere Kräfte beträgt der Gleichgewichtsabstand benachbarter
ständig in kinetische Energie umgewandelt werden (wobei
Punktmassen der Kette a0 (oben ). Ziehen Kräfte, die nur an den beiden äußeren
der Körper in seine Ursprungsgestalt zurückkehrt). Rei- Punktmassen angreifen, die Kette auseinander, verlängern sich alle Federn im
bungskräfte treten in einem idealen elastischen Körper Gleichgewicht um denselben Betrag (Mitte ). Dasselbe gilt für eine Kompression
nicht auf. (unten )

Die Bewegungsgleichungen für alle Punktmassen lassen sich Wir fragen nun nach der Gleichgewichtsbedingung unter dem
aus der Lagrange-Funktion ableiten: Einfluss der Kraft F. Das System ist vollständig im Gleichge-
mRq0  D.q1  q0 / D 0; wicht, wenn alle Beschleunigungen verschwinden, d. h., wenn
qR i D 0 für alle i gilt. Da unter dem Einfluss von Kräften die Or-
mRqi C D.qi  qi1 /  D.qiC1  qi / D 0 .0 < i < N/; te, an denen sich die Punktmassen im Gleichgewicht befinden,
mRqN C D.qN  qN1 / D 0: verändern können (man denke an eine Masse an einer Feder,
(8.4) die unter dem Einfluss der Schwerpunkt tiefer hängt), hat man
Wie bereits erwähnt, spielen die Punktmassen mit i D 0 und es folglich mit neuen Gleichgewichtslagen zu tun. Es folgt zum
i D N eine Sonderrolle, da sie an den Enden der Kette liegen. einen
F F
q1  q0 D ; qN  qN1 D (8.6)
D D
und zum anderen
Äußere Kräfte
qi  qi1 D qiC1  qi .0 < i < N/: (8.7)
Wir gehen nun einen Schritt weiter und lassen noch eine kon-
stante äußere Kraft F auf die linke Punktmasse (i D 0) und Man kann sich nun leicht davon überzeugen, dass (8.6) und (8.7)
eine entgegengesetzt wirkende Kraft CF auf die rechte Punkt- die Bedingungen
masse (i D N) wirken. Dadurch bleibt das System insgesamt
F
unbeschleunigt, doch die Dynamik der Punktmassen verändert qi  qi1 D .0 < i  N/ (8.8)
sich, wie wir in Kürze sehen werden. Ist F > 0, ziehen die D
Kräfte das System auseinander. Man sagt, es wirkt eine Zug- verlangen. Dies bedeutet, dass alle Federn sich um den gleichen
spannung. Ist dagegen F < 0, so wird das System komprimiert, Betrag F=D verlängern bzw. verkürzen (Abb. 8.1). Unter dem
und man spricht von einer Druckspannung.
Einfluss der Kraft F wird also der Gleichgewichtsabstand jeder
Durch die Anwesenheit der Kraft F bleiben fast alle Bewe- einzelnen Feder der Kette zu
gungsgleichungen unverändert, nur die für die Punktmassen 0
F
und N müssen modifiziert werden: a D a0 C : (8.9)
D
mRq0  D.q1  q0 / C F D 0;
(8.5)
mRqN C D.qN  qN1 /  F D 0: Achtung Der aufmerksame Leser könnte hier fragen, ob das
Ergebnis nicht um einen Faktor 2 daneben liegt. Da nämlich
Frage 2 die Kräfte ˙F links und rechts angreifen, wirkt auf jede Feder
Vergewissern Sie sich, dass die Bewegungsgleichungen in (8.5) die Gesamtkraft 2F, und somit müsste die Feder um den Betrag
korrekt sind. Modifizieren Sie dazu die Lagrange-Funktion, 2F=D gestreckt bzw. gestaucht werden. Dies ist allerdings eine
indem Sie dort Terme proportional zu Fq0 bzw. FqN berücksich- falsche Schlussfolgerung, die man sich leicht anhand des fol-
tigen. Es gibt also zwei zusätzliche Potenzialanteile, die gerade genden Beispiels überlegen kann. Wir stellen uns vor, dass eine
der Bewegung von der linken und der rechten Masse in einem Masse m an einer Feder mit Federkonstante D hängt, die an der
konstanten äußeren Kraftfeld entsprechen. Zimmerdecke befestigt ist. Auf m wirkt dann die Gravitations-
kraft F D mg, was auf eine Federverlängerung um den Betrag
274 8 Kontinuumsmechanik

F=D führt. Allerdings wirkt nun auf den Fixpunkt der Feder sehr kurz im Vergleich zur Kette ist. Man führt also den Über-
an der Decke eine entgegengesetzte Kraft F. Warum? Dies ist gang a0 ! 0 derart durch, dass die Gesamtlänge ` D Na0 ,
Teil I

gerade die Zwangskraft, welche die Feder an der Decke hält; der Elastizitätsmodul Y D Da0 und die Kettenmasse M D Nm
ansonsten würde die Feder abreißen und nach unten beschleu- konstant bleiben. Dies ist möglich, indem man die lineare Mas-
nigt werden. Da es der Feder aber völlig egal ist, ob es sich um sendichte
eine Zwangskraft oder um eine andere äußere Kraft handelt, ist M m
WD D (8.14)
die Feder an der Zimmerdecke äquivalent zu der linearen Kette ` a0
(mit einer einzigen Feder), und die Verlängerung wird durch F und den Elastizitätsmodul Y festhält (weswegen auch m ! 0
(und nicht durch 2F) bestimmt. J geht).
Frage 3 Dies führt auf eine wichtige Änderung in der mathematischen
Dieser Abschnitt ist leichter zu verstehen, wenn man sich den Beschreibung: Die bisher diskreten Auslenkungen qi .t/ werden
Fall N D 2 mit einer einzigen Feder vorstellt. Dann wirken zu einer kontinuierlichen Feldfunktion q.t; x/ (in vielen Lehrbü-
die beiden Kräfte ˙F direkt auf die alleinigen beiden Massen. chern wird eine andere Reihenfolge der Argumente verwendet;
Schauen Sie sich die obigen Rechnungen unter diesem Ge- wir schreiben aus Gründen der Konsistenz mit späteren Kapiteln
sichtspunkt erneut an. zuerst das Zeitargument). Man ordnet also jedem Raumpunkt x
entlang der Kette eine kontinuierliche Auslenkung zu.

Feld
Young’scher Elastizitätsmodul und Übergang In der Physik versteht man unter einem Feld eine Größe,
zum Kontinuum die eine Funktion des Ortes ist (z. B. eine Funktion von r
in drei Dimensionen). Zusätzlich kann ein Feld zeitabhän-
gig sein. Felder können skalar-, vektor- oder tensorwertig
Durch die äußere Kraft F wird die Gesamtlänge der Kette ` um sein. So ist beispielsweise die Temperaturkarte der Wetter-
einen Betrag vorhersage ein Skalarfeld, da die Temperatur eine skalare
F
` D N (8.10) Größe ist: T.r/. Ein Geschwindigkeitsfeld u.r/ hingegen
D ist eine vektorwertige Größe und wird beispielsweise ver-
verändert. Die Ruhelänge der Kette ist wendet, um die Strömung einer Flüssigkeit am Ort r zu
beschreiben.
` D Na0 : (8.11)
Tensorfelder sind weniger anschaulich, spielen aber in der theo-
Somit ist die relative Längenänderung retischen Physik eine große Rolle. Der Spannungstensor eines
elastischen Körpers oder einer Flüssigkeit ist ein Beispiel. Wir
` NF F F
D D D ; (8.12) kommen später im Kapitel darauf zurück.
` NDa0 Da0 Y
Wie kann man sich nun eine kontinuierliche Verformung q.t; x/
wobei wir mit vorstellen? Hierzu denke man sich zunächst die nichtdeformier-
Y WD Da0 (8.13) te Kette als kontinuierliches Material. Man ordnet nun jedem
Raumpunkt eine Markierung zu, die sich – von einem raum-
den Elastizitätsmodul Y definiert haben. Er bestimmt in der festen Koordinatensystem aus betrachtet – lokal mit der Kette
linearen Näherung die Dehnung bzw. Stauchung der Kette be- mitbewegt, wenn diese deformiert wird. Eine Markierung, die
dingt durch die äußere Kraft F. Der Elastizitätsmodul ist eine sich im unverformten Zustand am Ort x befunden hat, verschiebt
reine Materialeigenschaft der Kette. Je größer Y ist, desto stei- sich bei einer Verformung im Allgemeinen an einen anderen Ort
fer ist die Kette, und desto weniger wird sie durch eine äußere x0 . Die Differenz q D x0  x ordnet man dann dem ursprüng-
Kraft beeinflusst. Im Grenzfall Y ! 1 hat man es wieder mit lichen Referenzort x zu. Da die Verformung zeitabhängig sein
einem starren Körper zu tun. kann, schreiben wir letztlich also q.t; x/, was bedeutet, dass sich
die Markierung zur Zeit t am Ort x0 .t/ D x C q.t; x/ befindet.
Frage 4
Setzt man nun voraus, dass die Verformung q.x/ eine hinrei-
Der Elastizitätsmodul hat die Dimension einer Kraft. Er ent-
chend glatte Funktion ist, so kann man die Auslenkungen der
spricht derjenigen Kraft, bei der die Feder um ihre eigene Länge
benachbarten Punktmassen durch eine Taylor-Entwicklung be-
gedehnt bzw. gestaucht werden würde. Überlegen Sie sich,
schreiben:
warum wir deswegen stets F Y verlangen.
qi˙1 .t/ ! q.t; x ˙ a0 /
ˇ ˇ
@q ˇˇ a20 @2 q ˇˇ (8.15)
An dieser Stelle soll der Übergang zum Kontinuum vorgenom- D q.t; x/ ˙ a0 C C ::::
men werden. Praktisch bedeutet dies, dass eine einzelne Feder @x ˇ.t;x/ 2 @x2 ˇ.t;x/
8.1 Lineare Kette und Übergang zum Kontinuum 275

Selbstverständlich ist es mit diesen Definitionen nicht getan,


denn man ist an einer kontinuierlichen Beschreibung der Dy- Es handelt sich hierbei um eine lineare partielle Diffe-

Teil I
namik interessiert. Dazu muss man sich ansehen, was mit renzialgleichung zweiter Ordnung für die Funktion q.t; x/,
den Bewegungsgleichungen geschieht, wenn der Kontinuums- die auf dem Intervall Œ0; ` definiert ist.
limes durchgeführt wird. Hierbei gibt es zwei Möglichkeiten:
Zum einen können wir die für das diskrete System bekannten
Bewegungsgleichungen direkt kontinuierlich formulieren. Der Frage 5
elegantere Weg ist allerdings ein anderer: Zunächst kann man Zeigen Sie (8.19), indem Sie die Definitionen der Massendichte
die Lagrange-Funktion in ein Lagrange-Funktional der Ver- und des Elastizitätsmoduls Y ausnutzen.
schiebungsfunktion q.t; x/ umwandeln und anschließend daraus
die Bewegungsgleichungen ableiten.
In der Kontinuumsmechanik werden also die Bewegungsglei-
Wir wollen hier zunächst den ersten Weg bestreiten, da er chungen für Punktmassen durch partielle Differenzialgleichun-
einfacher ist. In Abschn. 8.4 holen wir schließlich den Kontinu- gen für Felder ersetzt. Wie in vielen anderen Bereichen der
umsübergang der Lagrange-Funktion nach. Es wird dort unter Physik ist diese Feldgleichung linear und erlaubt Wellenlösun-
anderem gezeigt, dass sich daraus dieselben Bewegungsglei- gen. Feldgleichungen werden uns in diesem Buch noch häufig
chungen ergeben. begegnen. Zu den besonders wichtigen Beispielen gehören die
Wir konzentrieren uns zunächst auf denjenigen Fall, bei dem Maxwell-Gleichungen der Elektrodynamik (Teil II) und die
keine äußeren Kräfte wirken (Kräfte werden in Abschn. 8.2 und Schrödinger-Gleichung der Quantenmechanik (Teil III).
Aufgabe 8.1 berücksichtigt). Für die Punktmassen, die nicht am Zum Lösen von (8.19) sind im Allgemeinen Randbedingungen
Rand liegen, gilt wegen (8.4) erforderlich, d. h., es sind Bedingungen an q.t; x/ an den Or-
ten x D 0 und x D ` zu stellen. Dies wird in Abschn. 8.2
mRqi  D.qiC1  2qi C qi1 / D 0 .0 < i < N/: (8.16) und Aufgabe 8.1 ausgeführt. Nun wollen wir allerdings erst das
unendliche Band betrachten, das ohne Randbedingungen aus-
Mithilfe der Kontinuumsnotation erhalten wir kommt.
qiC1  2qi C qi1
a20
(8.17)
Œq.x C a0 /  q.x/  Œq.x/  q.x  a0 / Die d’Alembert’sche Gleichung
! ;
a20
Wir beginnen mit einer mathematischen Untersuchung der
wobei wir nun die diskreten Punktmassen durch eine kontinu- Schwingungsgleichung (8.19). Dazu schreiben wir sie zunächst
ierliche Verteilung ersetzt haben. Der Term auf der rechten Seite in der Gestalt
kann im Kontinuumslimes a0 ! 0 als Differenzenquotient der  2 2 
ersten Ableitungen angesehen werden: @ 2 @
 v q.t; x/ D 0: (8.20)
@t2 @x2
q.xCa0 /q.x/ q.x/q.xa0 /
a0
 a0
Zur Abkürzung wurde
a0
ˇ ˇ (8.18) s
@q ˇ @q ˇ ˇ
@x ˇ
 @x ˇ
Y
@ qˇ
2
v WD (8.21)
D 2 ˇˇ :
x xa0
D
a0 @x x
mit der Dimension einer Geschwindigkeit eingeführt. Die phy-
Wir haben es also mit der zweiten Ableitung von q nach x zu
sikalische Bedeutung von v wird in Kürze deutlich werden. Der
tun. Ersetzt man nun die linke Seite von (8.17) durch die zweite
Term in der Klammer ist ein Differenzialoperator, der auf die
Ableitung, so ergeben sich die Bewegungsgleichungen im Kon-
Funktion q.t; x/ wirkt. Offenbar sind all diejenigen Funktionen
tinuumslimes.
Lösungen der Schwingungsgleichung, die der Differenzialope-
rator auf null abbildet. Wir fragen nun nach der allgemeinen
Kräftefreie Bewegungsgleichung Klasse von Lösungen q.t; x/.
des elastischen Bandes D’Alembert schlug 1747 einen eleganten Lösungsweg vor. Da-
Die Bewegungsgleichung des Bandes (d. h. der konti- zu werden der Ort x und die Zeit t durch zwei neue Variablen 
nuierlichen Kette) lautet in Abwesenheit von äußeren und  ersetzt:
Kräften
@2 q.t; x/ @2 q.t; x/  WD x C v t;  WD x  v t
 Y D 0: (8.19)  C   (8.22)
@t2 @x2 H) x D ; tD :
2 2v
276 8 Kontinuumsmechanik

Frage 6 t
Zeigen Sie, dass die Orts- und Zeitableitungen dann als
Teil I

 
@ @ @ @ @ @ x
D C ; Dv  (8.23)
@x @ @ @t @ @ h(x−vt) g(x+vt)

geschrieben werden können. Verwenden Sie dazu die Kettenre-


t > t
gel  
@q @ @ @ @
D C q (8.24)
@x @x @ @x @
x
und den entsprechenden Zusammenhang für die Zeitableitung.

Der Differenzialoperator in (8.20) wird somit zu t > t

 2  2
@2 2 @
2
@ @ @ @
 v D v2  v 2
C x
@t2 @x2 @ @ @ @
(8.25)
@ @
D 4v 2 :
@ @ Abb. 8.2 Die beiden Wellen h.x  v t/ (rot ) und g.x C v t/ (blau ) propagie-
ren mit der Zeit nach rechts bzw. links, ohne ihre Gestalt zu verändern (oben
und Mitte ). Überlappen sie (unten ), so ist die resultierende Auslenkung (grün )
d’Alembert’sche Schwingungsgleichung einfach die Summe von h und g

Mit den in (8.22) eingeführten Parametern  und  nimmt


die Schwingungsgleichung (8.20) die einfache Form
h.x/ zu einer Zeit t festgelegt, so behalten beide Funktionen ihre
Gestalt (genauer: ihren Graphen); sie verschieben sich ledig-
@2 q
D0 (8.26) lich mit der Zeit in verschiedene Richtungen nach links bzw.
@@ nach rechts. Die Geschwindigkeit dieser Ausbreitung ist gerade
an. durch v gegeben. Damit ist v die Wellengeschwindigkeit.
Achtung Der Begriff „Welle“ umfasst hier Funktionen, die
beliebig geformt sein dürfen, aber mit der korrekten Geschwin-
D’Alembert zeigte, dass jede Funktion der Form digkeit v laufen müssen. Sinusfunktionen der Form A sin.k.x ˙
v t// sind daher nur spezielle Lösungen. J
q.; / D g./ C h./ (8.27)
Unendliches Band
mit zwei beliebigen differenzierbaren Funktionen g./ und h./
die allgemeine Lösung der d’Alembert-Gleichung ist. Dieses Wir stellen uns ein unendlich ausgedehntes elastisches
Ergebnis erhält man direkt, indem man (8.26) einmal nach  Band vor, das sich durch die Schwingungsgleichung
und einmal nach  integriert. (8.20) beschreiben lässt. Zu Beginn seien die Auslenkung
und ihre Änderungsgeschwindigkeit überall bekannt:
Frage 7
Überprüfen Sie, dass (8.27) die d’Alembert-Gleichung löst. q.t D 0; x/ D q0 .x/; qP .t D 0; x/ D qP 0 .x/: (8.29)
Warum spielt eine additive Konstante keine Rolle?
Wie lautet nun die Auslenkung zu einer beliebigen Zeit?
Gesucht ist also die Lösung für q.t; x/ zu allen Zeiten.
Was bedeutet dies nun physikalisch? Wir transformieren dazu
Dazu gehen wir den Umweg über die d’Alembert-Para-
zurück auf die Parameter x und t und finden, dass
meter  und . Aus den Anfangsbedingungen und den
Definitionen von g und h folgt für t D 0 zunächst
q.t; x/ D g.x C v t/ C h.x  v t/ (8.28)
g.x/ C h.x/ D q0 .x/;
die Gestalt der allgemeinen Lösung ist. Die beiden Funktionen 0 0
(8.30)
g und h beschreiben Wellen, die sich in positive bzw. negative v g .x/  h .x/ D qP 0 .x/:
Richtung bewegen (Abb. 8.2). Der Strich steht dabei für die Ableitung nach dem Argu-
Analog zu g.x C v t/ beschreibt h.x  v t/ eine in positive Rich- ment von g bzw. h. Wir möchten als Erstes die Lösungen
tung laufende Welle. Sind die räumlichen Funktionen g.x/ und
8.2 Schwingende Saite 277

8.2 Schwingende Saite


für g.x C v t/ und h.x  v t/ finden. Dazu integrieren wir

Teil I
die zweite Gleichung in (8.30):
Die Bewegungsgleichung für das lineare Band wird nun auf den
Zx Fall einer dreidimensional schwingenden Saite verallgemeinert.
v Œg.x/  h.x/ D qP 0 .x0 / dx0 C C; (8.31) Wir lösen die Bewegungsgleichung für eine eingespannte Sai-
x0
te, d. h. eine Saite mit festgehaltenen Enden. Wir werden sehen,
dass sich transversale und longitudinale Schwingungen in der
wobei C eine Integrationskonstante ist. Dieses Zwischen- Saite mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ausbreiten. Die Er-
ergebnis lässt sich durch eine Addition bzw. Subtraktion gebnisse bieten auch einen Einblick in die Funktionsweise von
mit der ersten Gleichung in (8.30) kombinieren: Musikinstrumenten.
2 x 3
Z
q0 .x/ 1 4
g.x/ D C qP 0 .x0 / dx0 C C5 ;
2 2v Aufstellung der Bewegungsgleichung
x0
2 x 3 (8.32)
Z
q0 .x/ 1 4
h.x/ D  qP 0 .x0 / dx0 C C5 : Kommen wir nun zu einem interessanten Beispiel aus dem All-
2 2v tag: die Saite mit fest eingespannten Enden. Der Unterschied
x0
zum linearen Band ist, dass die Elemente der Saite in alle drei
Somit ist der Anfangszustand, ausgedrückt durch g und Raumrichtungen schwingen können. Wir verlangen allerdings,
h, bekannt. Da wir aber wissen, dass die Zeitentwicklung dass die ruhende Saite entlang der x-Achse verläuft. Erneut be-
von g und h lediglich darin besteht, dass die Funktionen ginnen wir mit einer diskreten Formulierung; den Übergang
entlang der x-Achse laufen, können wir direkt das Ergeb- zum Kontinuum führen wir durch, nachdem wir die diskreten
nis q.t; x/ zu allen Zeiten notieren. Dazu muss bloß das Bewegungsgleichungen aufgestellt haben.
Argument von g durch x C v t und das von h durch x  v t Die N C 1 Punktmassen m der Saite befinden sich im Gleichge-
ersetzt werden: wicht an den Orten
q.t; x/ D g.x C v t/ C h.x  v t/ xi D aiOex .0  1  N/: (8.34)
1
D Œq0 .x C v t/ C q0 .x  v t/ Hier ist a der Gleichgewichtsabstand benachbarter Punkte unter
2
0 xCv t 1 dem Einfluss der Einspannung, d. h. a > a0 . Die eingespannte
Z
1 @ Saite ist also länger als das freie Band:
C qP 0 .x0 / dx0 C CA
2v
x0 `0 WD Na > Na0 D `: (8.35)
0 xv t 1
Z Die Auslenkungen qi .t/ definieren wir nun bezüglich der einge-
1 @ (8.33)
 qP 0 .x0 / dx0 C CA spannten Ruhelagen in (8.34). Wie bereits erwähnt, können die
2v
x0 qi .t/ in eine beliebige Richtung zeigen; sie sind nicht auf die x-
1 Achse beschränkt (Abb. 8.3).
D Œq0 .x C v t/ C q0 .x  v t/
2 Aufgrund der eingespannten Enden sind die folgenden beiden
Z vt
xC Bedingungen zu allen Zeiten erfüllt:
1
C qP 0 .x0 / dx0 :
2v q0 .t/ D qN .t/ D 0: (8.36)
xv t
In Abschn. 8.1 wurde erläutert, dass sich eine Vorspannung
Man erkennt, dass ein Raumpunkt x zur Zeit t nur durch durch eine äußere Kraft F auf die beiden äußeren Punktmassen
anfängliche (t D 0) Störungen im Raumbereich Œx  erreichen lässt. In diesem Fall ist diese Kraft eine unbekannte
v t; x C v t beeinflusst wird. Daran sieht man erneut, dass Zwangskraft; wir wissen nur, dass sie die Randbedingungen in
sich die Wellen mit der Geschwindigkeit v ausbreiten. (8.36) erzeugt.
Es wird außerdem deutlich, dass man zu Beginn sowohl Die potenzielle Energie soll nur aus harmonischen Termen be-
den Auslenkungszustand q0 .x/ als auch seine Änderungs- stehen:
geschwindigkeit qP 0 .x/ kennen muss, um die Lösung in
DX
N
(8.33) eindeutig festzulegen. Der Grund ist, dass die
Schwingungsgleichung (8.20) eine partielle Differenzi- VD .j.xi C qi /  .xi1 C qi1 /j  a0 /2 : (8.37)
2 iD1
algleichung zweiter Ordnung in der Zeit ist. Wir haben
somit ein Anfangswertproblem gelöst. J Hier ist zu beachten, dass das globale Minimum der potenziel-
len Energie nur erreicht wird, wenn alle Federn die Länge a0
278 8 Kontinuumsmechanik

q = 0,q⊥ = 0 Nimmt man nun an, dass die relativen transversalen Auslen-
kungen zwischen zwei benachbarten Punktmassen klein sind
Teil I

gegenüber dem Abstand a, d. h.


 2  2
q = 0,q⊥ = 0 qi;?  qi1;? a C qi;k  qi1;k ; (8.40)
so kann man die Wurzel bis zur zweiten Ordnung in q entwi-
ckeln und findet
jxi  xi1 C qi  qi1 j
q = 0,q⊥ = 0
1 (8.41)
a C .qi;k  qi1;k / C .qi;?  qi1;? /2 :
2a
p
Dabei wurde neben 1 C x 1 C x=2 für x 1 noch ausge-
nutzt, dass im Nenner a C .qi;k  qi1;k / a ersetzt werden
kann, da auch die longitudinalen Auslenkungen klein sein sol-
len. Insgesamt folgt nun
q = 0,q⊥ = 0 .j.xi C qi /  .xi1 C qi1 /j  a0 /2
.a  a0 /2 C 2.a  a0 /.qi;k  qi1;k / (8.42)
a  a0
C .qi;k  qi1;k / C
2
.qi;?  qi1;? / ;
2
a
wobei alle Terme mit höherer als zweiter Ordnung in q vernach-
lässigt wurden.
Frage 9
Abb. 8.3 Eine eingespannte Kette bzw. Saite kann prinzipiell in alle Rich- Gehen Sie durch die Teilschritte, die auf (8.42) geführt haben.
tungen schwingen. In der oberen Abbildung ist die Kette im undeformierten Überprüfen Sie die Näherungen, indem Sie sich danach fragen,
Zustand gezeigt. Die beiden mittleren Abbildungen illustrieren eine reine Lon- welche Terme führend und welche vernachlässigbar sind.
gitudinal- bzw. Transversalverformung. Eine allgemeine Verformung ist in der
unteren Abbildung gezeigt. Die senkrechten grauen Linien deuten die longitudi-
nalen Ruhelagen der Punktmassen an Erinnern wir uns daran, was wir eigentlich erreichen wollen.
Wir müssen (8.42) über i summieren, um die potenzielle Ener-
gie und anschließend die Bewegungsgleichungen zu erhalten.
besitzen. Dies ist wegen der Vorspannung allerdings nicht mög- Die Konstante .a  a0 /2 fällt beim Aufstellen der Bewe-
lich, da mindestens immer eine Feder länger als a0 sein muss. gungsgleichungen fort; dieser Term kann also direkt gestrichen
werden. Da wir außerdem verlangt haben, dass die Saite fest
Frage 8
eingespannt ist und somit q0 D qN D 0 gilt, muss
Überlegen Sie sich, dass eine Druckspannung, also a0 > a bzw.
F < 0, auf eine instabile Situation führen würde. X
N
.qi;k  qi1;k / D 0 (8.43)
iD1
Im Folgenden soll der Ausdruck für die potenzielle Ener- sein, wie man schnell beweisen kann. Dieser Term trägt also
gie vereinfacht werden. Dazu sind einige Entwicklungen und auch nicht zur Dynamik bei. Weiterhin schreiben wir
Abschätzungen notwendig. Wir betrachten die Beträge in der
a  a0 a  a0 ` F F
potenziellen Energie genauer: D D D : (8.44)
a a0 ` Da0 Y
jxi  xi1 C qi  qi1 j
Hier ist F diejenige Kraft, die zur Vorspannung benötigt wird
D jaOex C qi  qi1 j (Abschn. 8.1), und man kann a im Nenner durch a0 ersetzen,
q
(8.38) wenn die Vorspannung klein ist: F Y.
D a2 C 2a.qi  qi1 /  eO x C .qi  qi1 /2
q Die Lagrange-Funktion lautet mit den oben durchgeführten Ver-
 2  2
D a C qi;k  qi1;k C qi;?  qi1;? : einfachungen schließlich
m X 2 
N1
Hier wurde die Auslenkung in einen Anteil parallel zur x-Achse
(longitudinaler Anteil) und einen orthogonalen bzw. transversa- LD qP i;k C qP 2i;?
2 iD1
len Anteil zerlegt:
0 1 N 
a0 X .qi;k  qi1;k /2 .q  q /2
0  Y C F i;? 2i1;? :
qi D qi;k eO x C qi;? ; qi;? D @qi;y A : 2 iD1 2
(8.39) a0 a0
qi;z (8.45)
8.2 Schwingende Saite 279

Wir sehen, dass die longitudinalen und transversalen Terme Transversal schwingende Saite
nicht gemischt sind, d. h., sie enthalten keine Produkte der Art

Teil I
qi;k qi;? . Die Bewegungsgleichungen für die qi;k und die qi;?
sind also entkoppelt. Dies ist eine Folge der vorgenomme- Es soll nun untersucht werden, wie eine eingespannte, trans-
nen Vereinfachungen. Höhere, hier vernachlässigte Terme der versal ausgelenkte Saite schwingt. Wir beschränken uns zur
potenziellen Energie sind gemischt, sodass die Bewegungsglei- Vereinfachung auf eine Schwingung entlang der y-Achse, was
chungen eigentlich gekoppelt sind. Allerdings ist diese Kopp- wegen der Symmetrie in der y-z-Ebene keine Einschränkung ist.
lung so schwach, dass wir sie hier getrost unterschlagen können. Es ist also die partielle Differenzialgleichung
Die Bewegungsgleichungen für die Punktmassen 0 < i < N @2 q.t; x/ 2 @ q.t; x/
2
sind analog zu (8.16). Sie folgen direkt aus der Lagrange-Funk-  v? D0 (8.49)
@t2 @x2
tion (8.45) und lauten
Y   mit den Randbedingungen
mRqi;k  qiC1;k  2qi;k C qi1;k D 0;
a0 q.t; 0/ D q.t; `0 / D 0 (8.50)
(8.46)
F  
mRqi;?  q  2qi;? C qi1;? D 0:
a0 iC1;? zu lösen, wobei wir zur Vereinfachung q.t; x/ statt qy .t; x/
Was bedeutet dies? Der Elastizitätsmodul Y ist für die Rück- schreiben.
stellkraft in x-Richtung verantwortlich. Dies haben wir bereits Randbedingungen der Art (8.50), bei denen die Funktion an ei-
in Abschn. 8.1 gesehen. Zusätzlich haben wir hier einen Term nem bestimmten Ort einen bestimmten Wert annehmen muss,
gefunden, der die Rückstellkraft in der y-z-Ebene beschreibt und nennt man Dirichlet’sche Randbedingungen. Weiterhin gibt es
durch die Vorspannung F erzeugt wird. Eine lose eingespannte Neumann’sche Randbedingungen, die eine Forderung an die
Saite mit F D 0 kann also nicht in der y-z-Ebene schwingen, da Ableitung der Funktion stellen. In Aufgabe 8.1 werden wir ei-
es (in erster Näherung) keine entsprechende Rückstellkraft gibt. ner Neumann’schen Randbedingung begegnen. Weiterhin wird
Frage 10 in Kap. 12 und 26 noch mehr über diese Randbedingungen ge-
sagt.
Vergewissern Sie sich, dass die Bewegungsgleichungen der dis-
kreten linearen Kette in Abschn. 8.1 aus (8.46) folgen, wenn Wir werden hier nicht den Ansatz von d’Alembert verfolgen.
man nur Auslenkungen entlang der x-Achse gestattet. Die li- Stattdessen schlagen wir einen anderen Weg ein, der auf die
neare Kette ist also nichts weiter als ein Spezialfall der (noch Fourier-Reihen führt, was in Kürze deutlich werden wird.
diskreten) Saite.
Für die lineare Kette in (6.147) wurden die Orts- und Zeitab-
hängigkeiten abgespalten, indem für alle Oszillatoren dieselbe
Es fehlt noch der Kontinuumslimes. Hier ist nichts Neues zu sa- Zeitabhängigkeit angesetzt wurde. Analog schreiben wir hier
gen. Man erhält ihn analog zu dem in Abschn. 8.1 vorgestellten
Verfahren. q.t; x/ D f .x/g.t/: (8.51)

(Separationsansätze wie dieser werden in Kap. 16 detailliert be-


Kräftefreie kontinuierliche Bewegungsgleichung
sprochen.) Dies ergibt unmittelbar
der schwingenden Saite
Die Bewegungsgleichungen der kontinuierlichen, kräfte- d2 g 2
2 d f 1 d2 g v?2
d2 f
f  v? g 2 D0 H) D : (8.52)
frei schwingenden Saite lauten dt 2 dx g dt 2 f dx2

@2 qk .t; x/ @2 qk .t; x/ Die linke Seite hängt nur noch von der Zeit t, die rechte nur
 Y D 0; noch vom Ort x ab. Damit die Gleichung zu allen Zeiten und an
@t2 @x2 (8.47)
@ q? .t; x/
2
@ q? .t; x/
2 allen Orten im Intervall .0; `0 / erfüllt ist, müssen beide Seiten
F D 0: der Gleichung einer Konstanten c entsprechen (das Minuszei-
@t 2 @x2 chen dient nur der Zweckmäßigkeit). Dies führt auf die zwei
Sie ist auf dem Intervall .0; `0 / definiert. Bestimmungsgleichungen

d2 g d2 f cf
D cg; D 2 : (8.53)
Wir sehen, dass mit dt2 dx2 v?
s s
Y F
vk WD ; v? WD (8.48) Frage 11
Überlegen Sie sich, dass c > 0 sein muss, damit die Lö-
die Ausbreitungsgeschwindigkeiten der longitudinalen und sung nicht exponentiell anwächst. Man hat es also mit zwei
transversalen Wellen im Allgemeinen unterschiedlich sind. Schwingungsgleichungen zu tun. Zeigen Sie weiterhin, dass die
280 8 Kontinuumsmechanik

Konstante c die Dimension einer quadratischen Kreisfrequenz


haben muss. n=4
Teil I

p
Führt man ! WD c ein, so lauten die Lösungen von (8.53)
  n=3
!
g.t/ D Ag cos.!t  g /; f .x/ D Af sin x f : (8.54)
v?

Es ergeben sich also vier Integrationskonstanten: zwei Ampli- n=2


tuden (Af und Ag ) und zwei Phasen ( f und g ). Für das Produkt
f .x/g.t/ kann man allerdings die beiden Konstanten Af und Ag
zu Af Ag zusammenfassen.
Die eigentlich interessanten Ergebnisse erhält man erst, wenn n=1
die Randbedingungen berücksichtigt werden. Um q.t; 0/ D 0
und q.t; `0 / D 0 zu erfüllen, könnte man Af D 0 fordern. Dies
führt allerdings auf den trivialen Fall einer ruhenden Saite und

soll nicht weiterverfolgt werden. Für Af 6D 0 folgt
Abb. 8.4 Eine eingespannte Saite der Länge `0 erlaubt stehende Wellen mit
! 0 diskreten Wellenlängen (8.57), hier gezeigt für n D 1; 2; 3; 4. Die Anzahl der
f D 0; ` Dn .n 2 N/: (8.55)
v? Knoten ist n C 1

Die Kreisfrequenz kann daher nur die diskreten Werte


v?
!n D n .n 2 N/ (8.56) Allgemeine Lösung der schwingenden Saite
`0
Die allgemeine Lösung der Bewegungsgleichung (8.49)
annehmen. Das Auftreten einer „Quantisierung“ (hier mit
für die schwingende Saite ist
„Quantenzahl“ n) durch die Anwesenheit von Randbedingun-
gen finden wir auch in der Quantenmechanik wieder. Dies wird 1
X
in Teil III gründlich untersucht. q.t; x/ D cn cos.!n t  n / sin.kn x/ (8.60)
Die Wellenlänge  ergibt sich aus dem Argument der Funktion nD1

f .x/, indem man diese als f .x/ D Af sin.2 x=  f / schreibt;


mit reellen Koeffizienten cn und diskreten Frequenzen
sie kann ebenfalls nur diskrete Werte annehmen:
s
2 2`0 F
n D v? D .n 2 N/: (8.57) !n D kn : (8.61)
!n n

Dies ist in Abb. 8.4 illustriert. Damit verbunden ist die soge-
nannte Wellenzahl

2 n Die noch unbekannten Konstanten cn und n (von denen es im


kn D D 0 .n 2 N/: (8.58) Prinzip unendlich viele gibt) lassen sich aus den Anfangsbedin-
n `
gungen q.0; x/ und qP .0; x/ bestimmen. Dies ist das sogenannte
Anfangswertproblem und führt auf eine Fourier-Reihe bezüg-
Bei Musikinstrumenten wie Geigen oder Gitarren nennt man die lich des Ortes x:
Lösung mit n D 1 den Grundton. Höhere n ergeben die Ober-
1
X
töne. Die Lösung für q.t; x/ für ein gegebenes n ist schließlich
q.0; x/ D cn cos n sin.kn x/ (8.62)
q.n/ .t; x/ D Cn cos.!n t  n / sin.kn x/ (8.59) nD1

bzw.
mit Amplituden Cn und Phasen n . Es handelt sich um stehende 1
X
Wellen mit Knoten bei x D 0 und x D `0 , also Punkten, bei qP .0; x/ D cn !n sin n sin.kn x/: (8.63)
denen die Auslenkung zu allen Zeiten verschwindet. nD1

Die Differenzialgleichung (8.49) ist linear und homogen. Man Fourier-Reihen und das Vorgehen zur Bestimmung der cn und
kann daher Lösungen beliebig superponieren. n werden in Abschn. 8.3 diskutiert.
8.3 Fourier-Reihen 281

Frage 12 Die Menge der Koeffizienten faj ; bj g (bzw. ihre Beträge, also
die Amplituden der Teilschwingungen) nennt man das Fourier-
Überlegen Sie sich, dass man ganz analoge Aussagen für die

Teil I
Spektrum der Funktion. Die Berechnung des Spektrums wird
longitudinal schwingende Saite erhält, wenn man lediglich F
oft auch als Fourier-Analyse der Funktion bezeichnet, das Zu-
durch Y und damit v? durch vk ersetzt.
sammensetzen der Funktion aus den einzelnen harmonischen
Schwingungen als Fourier-Synthese. Einige mathematische Ei-
genschaften von Funktionenfolgen und -reihen werden im „Ma-
thematischen Hintergrund“ 8.1 besprochen.
8.3 Fourier-Reihen In Anwendungen physikalischer Systeme verwendet man natür-
lich nicht die komplette unendliche Summe (8.65), sondern nur
Nach den ersten beiden überwiegend physikalisch geprägten einige Summanden, also eine Partialsumme der Reihe mit den
Abschnitten machen wir hier einen mathematischen Exkurs. ersten n Summanden:
Bisher wurden nur harmonische Schwingungen untersucht,
d. h. Schwingungen, deren Zeitentwicklung durch eine einfa- a0 X n

che Sinusfunktion darstellbar sind. Die meisten periodischen fn .t/ D p C aj cos.j!t/ C bj sin.j!t/ : (8.66)
2 jD1
Vorgänge in Natur und Technik sind aber keine harmoni-
schen Schwingungen (z. B. Töne von Musikinstrumenten oder
das Anschieben einer Schaukel). Es wird gezeigt, dass sich Um die bisher unbekannten Koeffizienten aj und bj zu be-
periodische Vorgänge allgemein als lineare Überlagerung har- stimmen, benutzt man folgende Beziehungen zwischen den
monischer Schwingungen darstellen lassen. Dies führt auf die Funktionen, die für alle i; j 2 N gelten und die man leicht nach-
Fourier-Reihen, die gründlich diskutiert werden. rechnen kann:
Z
cCT
T
gi .t/gj .t/ dt D ıij ;
2
Allgemeiner Formalismus c
Z
cCT
T
Wir beginnen diesen Abschnitt mit der Beobachtung, dass sich hi .t/hj .t/ dt D ıij ; (8.67)
nicht nur die Funktionen g.t/ D cos.!t/ und h.t/ D sin.!t/ 2
c
jeweils nach der Periode T D 2 =! wiederholen, sondern auch
Z
cCT
alle Sinus- und Kosinusfunktionen, deren Frequenzen ganzzah-
lige Vielfache davon sind, also allgemein gi .t/hj .t/ dt D 0:
gj .t/ WD cos.j!t/ und hj .t/ WD sin.j!t/ .j 2 N/: (8.64) c

Außerdem gilt dies auch für die konstanten Funktionen. Da die Der Wert für c ist aufgrund der Periodizität beliebig und wird
konstanten Funktionen wie die Kosinusfunktionen gerade sind in der Regel so gewählt, dass die Rechnung möglichst einfach
und man sie auch als Funktionen betrachten kann, deren Fre- wird. Man sagt auch, dass die Funktionen gj und hj ein bi-or-
quenz das Nullfache von ! ist, schreibt man für sie
p g0 . Weiter thogonales Funktionensystem bilden. Dieses Konzept wird in
unten werden wir sehen, dass die Wahl g0 .t/ D 1= 2 am güns- Kap. 13 ausführlich diskutiert.
tigsten für die weiteren Rechnungen ist. Außerdem wählen wir
Mithilfe der Beziehungen (8.67) lassen sich die Koeffizienten aj
h0 .t/ D 0.
und bj bestimmen.
Die Feldgleichung für die schwingende Saite (8.47) ist – wie
die meisten Feldgleichungen in der Physik – linear. Daher liegt
es nahe, einen beliebigen periodischen Vorgang als (unendliche) Fourier-Koeffizienten
Linearkombination der Funktionen gj .t/ und hj .t/ darzustellen. Die Fourier-Koeffizienten einer periodischen Funktion
f .t/ können über
Fourier-Reihe
Z
cCT
Funktionen der Periode T D 2 =! lassen sich durch eine 2
Fourier-Reihe darstellen: aj D f .t/gj .t/ dt;
T
1 c
X (8.68)
f .t/ D aj gj .t/ C bj hj .t/ Z
cCT
2
jD0 bj D f .t/hj .t/ dt
1
(8.65) T
a0 X c
D p C aj cos.j!t/ C bj sin.j!t/ :
2 jD1 berechnet werden.
282 8 Kontinuumsmechanik

8.1 Mathematischer Hintergrund: Funktionenfolgen und Funktionenreihen


Teil I

Punktweise und gleichförmige Konvergenz

Definition Eine Folge von Funktionen nennen wir Funktio- dem Intervall Œ0; 1 definierte Funktionenfolge .fn /n2N . Sie
nenfolge. Wir schreiben .fn /n2N , wobei fn Funktionen sind. konvergiert punktweise gegen 0, falls x 2 Œ0; 1/, und gegen
1, falls x D 1, denn 1n ! 1 und xn ! 0 für 0  x < 1.
Beispiel Ein einfaches Beispiel einer Funktionenfolge ist Diese Grenzfunktion ist aber nicht mehr stetig.
fn W x 7! xn , wobei n die natürlichen Zahlen durchläuft. Die
Folgenglieder lauten demnach f1 D x, f2 D x2 , f3 D x3 usw. Funktionenreihen Betrachtet man die Partialsumme
Konvergenz Wir unterscheiden zwischen punktweiser und X
n

gleichmäßiger Konvergenz von Funktionenfolgen. Es sei da- Sn .x/ D fk .x/


zu X eine nichtleere Menge und n 2 N. Die Funktionenfolge kD1
.fn /n2N heißt punktweise konvergent gegen f , wenn für je-
des feste x 2 X die Folge .fn .x//n2N gegen f .x/ konvergiert, als Summe der ersten n Glieder einer Funktionenfolge
d. h.: .fk /k2N , so ist eine Funktionenreihe gerade die Folge dieser
Partialsummen, also .Sn /n2N .
8" > 0 8x 2 X 9n0 2 N 8n  n0 W jfn .x/  f .x/j  ":
Fourier-Reihe Im Folgenden führen wir einige Aussagen
über die gleichmäßige Konvergenz von Fourier-Reihen an,
Die Funktionenfolge .fn /n2N heißt gleichmäßig konvergent
die in (8.65) definiert wurden:
gegen f , wenn das n0 in der Definition der punktweise kon-
vergenten Funktionenfolge nicht von x abhängt, also wenn
Sei f eine 2 -periodische Funktion. Dann konvergiert die
gilt:
Fourier-Reihe von f punktweise gegen f .
Ist f sogar stetig differenzierbar, dann konvergiert die
8" > 0 9n0 2 N 8x 2 X 8n  n0 W jfn .x/  f .x/j  ":
Fourier-Reihe gleichmäßig gegen
R f.
Dies bedeutet anschaulich, dass die Funktionenfolge für alle Ist f quadratintegrabel, d. h. jf .t/j2 dt < 1, so kon-
x „gleich schnell“ konvergiert. vergiert die Fourier-Reihe punktweise fast überall. (Die
Stellen, an denen die Reihe nicht konvergiert, sind die im
Diskussion der Konvergenzkriterien Ist eine Funktionen- Text erwähnten Unter- und Überschwinger.) Deshalb gilt
folge .fn /n2N gleichmäßig konvergent, so hat dies entschei- für n ! 1:
dende Vorteile, da gewisse Grenzbeziehungen vertauscht
werden dürfen: Z
cC2

jf .t/  fn .t/j2 dt ! 0:
Konvergiert eine Funktionenfolge .fn /n2N stetiger Funk- c
tionen gleichmäßig gegen eine Funktion f , so ist diese
wieder stetig. Man spricht von der Konvergenz im quadratischen Mittel.
Wenn die Folge differenzierbarer Funktionen .fn /n2N Dies ist der Satz von Carleson.
gleichmäßig gegen f konvergiert und die Ableitungen fn0
gleichmäßig konvergieren, so gilt lim fn0 D f 0 .
n!1 Wir halten fest:
Der gleichmäßige Grenzwert Riemann-integrierbarer
Funktionen ist Riemann-integrierbar, und es gilt: Gleichmäßige Konvergenz impliziert Konvergenz im qua-
dratischen Mittel.
Zb Zb Zb Aus der Konvergenz im quadratischen Mittel folgt nicht
lim fn .x/ dx D lim fn .x/ dx D f .x/ dx: die punktweise Konvergenz.
n!1 n!1
a a a

Literatur
Beispiel Im Gegensatz zum gleichmäßigen Limes stetiger
Funktionen muss der punktweise Limes nicht unbedingt wie- Modler, F., Kreh, M.: Tutorium Analysis 1 und Lineare
der stetig sein. Wir betrachten dazu die durch fn W x 7! xn auf Algebra 1. 3. Aufl., SpringerSpektrum (2014)
8.3 Fourier-Reihen 283

Vertiefung: Historische Entwicklung der Fourier-Reihen

Teil I
Die ersten Fourier-Reihen wurden schon im 18. Jahrhun- im Haupttext sehen). Erst 1966 fand der schwedische Ma-
dert von Euler, Lagrange und anderen aufgestellt. Doch erst thematiker Lennart Carleson ( 1928) durch eine geeignete
1822 behauptete Jean Baptiste Joseph Fourier (französischer Erweiterung des Konvergenzbegriffs einen Beweis dafür,
Mathematiker und Physiker, 1768–1830) in seinem Werk dass die Fourier-Reihe in gewissem Sinne tatsächlich für
Théorie analytique de la chaleur (Analytische Theorie der alle periodischen Funktionen konvergiert (siehe „Mathema-
Wärme), dass eine solche Reihenentwicklung für alle peri- tischen Hintergrund“ 8.1).
odischen Funktionen möglich wäre, ohne dies allerdings zu
beweisen. Die Behauptung wurde von den führenden Mathe-
matikern damals dementsprechend zunächst abgelehnt. Literatur
In den folgenden Jahrzehnten wurden dann auch Gegen-
beispiele gefunden, bei denen die Fourier-Reihe nicht im Fourier, J.B.J.: Théorie analytique de la chaleur. Firmin
üblichen Sinne konvergiert (ein Beispiel dafür werden wir Didot, 1822

Frage 13
p beschrieben und periodisch fortgesetzt, also I.t C2 n/ D
Zeigen Sie, dass die obige Wahl g0 .t/ D 1= 2 es ermöglicht,
in (8.67) und (8.68) einheitliche Formeln für alle j anzugeben, I.t/ für alle n 2 Z.
statt den Fall j D 0 getrennt zu behandeln. Diese Funktion ist ungerade; deshalb verschwinden al-
le Koeffizienten aj , da die Kosinusfunktionen alle gerade
sind (wähle hier c D 0):
Achtung Bei den Vorfaktoren sind auch verschiedene andere
Konventionen üblich: Manche Autoren p definieren p die Funktio- Z2
nen beispielsweise
p als g .t/ D 1= T, g .t/ D 2=T cos.j!t/ 1
0 j
aj D I.t/ cos.jt/ dt D 0: (8.70)
und hj .t/ D 2=T sin.j!t/, da die Funktionen dadurch nicht
0
nur orthogonal, sondern zusätzlich normiert sind (weshalb sie
insbesondere in der Quantenmechanik gerne benutzt werden). Zur Berechnung der Koeffizienten bj ist die Wahl c D
Die Gleichungen in (8.68) für die Berechnung der Koeffizienten  =2 günstiger:
und die Orthogonalitätsgleichungen in (8.67) ändern sich dann
entsprechend. J Z =2 3Z =2
1
Mit (8.68) ist auch das Anfangswertproblem in (8.62) und (8.63) bj D t sin.jt/ dt C .  t/ sin.jt/ dt: (8.71)
lösbar. Dazu muss man erkennen, dass wir es hier mit einer  =2 =2
Fourier-Reihe in der Zeit t, in Abschn. 8.2 aber mit einer Fou-
rier-Reihe im Ort x zu tun haben. Mathematisch sind beide Beide Integrale sind mittels partieller Integration leicht
Fälle aber äquivalent. Man muss die Fourier-Analyse sowohl auszuwerten. Daraus ergibt sich
für q.0; x/ als auch für qP .0; x/ durchführen und erhält so Aus-   (
drücke für cn cos n und cn !n sin n . Daraus lassen sich die 4 j 0 .j gerade/
bj D 2 sin D 4 .j1/=2 :
konstanten Phasen n bestimmen. Aufgrund der Randbedingun- j 2 j2  .1/ .j ungerade/
gen der eingespannten Saite verschwinden alle Kosinusbeiträge (8.72)
der Fourier-Reihe.
Damit hat man als Näherungen für I.t/ folgende Partial-
summen der Fourier-Reihe:
Dreiecksschwingung
4
Bei Streichinstrumenten hat die Intensität I eines Tones I1 .t/ D sin.t/;
näherungsweise den in Abb. 8.5 gezeigten zeitlichen Ver- 4 4
lauf. Beschränken wir uns zunächst auf den einfachen I3 .t/ D sin.t/ 
sin.3t/; (8.73)
9
Fall, dass die Periode genau T D 2 ist und die Am- 4 4 4
plitude =2, so wird die Intensität durch den Term I5 .t/ D sin.t/  sin.3t/ C sin.5t/:
9 25
(  
t  t<C2
I.t/ D  2  (8.69) Diese drei Näherungsfunktionen sind in Abb. 8.5 zusam-
 t C 2  t < C 32 men mit I.t/ dargestellt.
284 8 Kontinuumsmechanik

x.t/ D x0 sin.!t/, so wirkt nur während des zweiten Viertels


a b der Periode eine Kraft auf die Schaukel. Der Einfachheit hal-
ber nehmen wir dafür eine konstante Kraft FO an. Im Intervall
Teil I

I I
I I1 0  t  T gilt also
1 1 ( T 
FO  t  T2
F.t/ D 4 (8.74)
0 .sonst/
π 2π t π 2π t

und periodisch fortgesetzt, d. h. F.t C nT/ D F.t/ für alle n 2 Z


(Abb. 8.11).

c d
Da diese Funktion weder gerade noch ungerade ist, ergeben sich
I I hier für beide Sorten von Fourier-Koeffizienten im Allgemeinen
I3 I5 Werte ungleich null:
1 1 ZT p ZT=2
2 1 2 FO
a0 D F.t/ p dt D FO dt D p ; (8.75)
π 2π t π 2π t T 2 T 2 2
0 T=4

ZT ZT=2
2 2FO
aj D F.t/ cos.j!t/ dt D cos.j!t/ dt
T T
Abb. 8.5 Die periodische Dreiecksschwingung (rot ) aus (8.69) lässt 0 T=4
sich bereits durch die ersten Partialsummen in (8.73) ihrer Fourier-Rei-
he (gezeigt sind I1 , I3 und I5 ) gut annähern FO h  i
D sin.j /  sin j (8.76)
j 2
Wie man sieht, konvergiert die Fourier-Reihe hier schnell, 8
<0 .j gerade/
und schon niedrige Partialsummen stellen eine gute Nä-
D FO ;
herung dar. In Abb. 8.6 ist das zugehörige Spektrum zu :  .1/.j1/=2 .j ungerade/
sehen. j
ZT ZT=2
aj 2 2FO
bj D F.t/ sin.j!t/ dt D sin.j!t/ dt
bj T T
1 0 T=4

FO h  i
D cos.j /  cos j (8.77)
0,5 j 2
8
ˆ O
ˆ F  .1  .1/j=2 / .j gerade/
<
D Oj :
0 ˆF
0 1 2 3 4 5 6 7 j :̂ .j ungerade/
j
Abb. 8.6 Fourier-Spektrum der Dreiecksschwingung (8.69). Gezeigt Die ersten Partialsummen lauten also
sind die Koeffizienten der ersten sieben Teilschwingungen (Kosinus-
schwingungen in Rot, Sinusschwingungen in Orange ). In diesem Beispiel FO
sind alle Kosinusbeiträge null F0 .t/ D ;
4 
J
1 1 1
F1 .t/ D FO  cos.!t/ C sin.!t/ ;
4
 
1 1 1 1
F2 .t/ D FO  cos.!t/ C sin.!t/  sin.2!t/ ;
4
Schaukel anschieben 
1 1 1 1
F3 .t/ D FO  cos.!t/ C sin.!t/  sin.2!t/
4

Eine Schaukel schiebt man normalerweise nur in der Viertelpe- 1 1
C cos.3!t/ C sin.3!t/ :
riode an, in der sie sich auf einer der beiden Seiten gerade nach 3 3
unten bewegt. Beschreibt man die Schaukelbewegung durch (8.78)
8.3 Fourier-Reihen 285

Anwendung: Musikinstrumente

Teil I
Realistische Intensitätsverteilungen und ihre Fourier-Spektren

Die Dreiecksschwingung wurde als stark vereinfachte In- Dies liegt einerseits daran, dass reale Töne nie streng peri-
tensitätsverteilung eines Musikinstruments verwendet. Im odisch sind, andererseits aber auch an numerischen Fehlern
Folgenden werden einige reale Beispiele der Schallintensi- der verwendeten Algorithmen zur Fourier-Analyse.
täten von Musikinstrumenten gezeigt. Es ergeben sich hier
nicht nur einzelne Spitzen bei festen Frequenzen, sondern Die hier gezeigten Beispiele (Abb. 8.7 bis 8.10) wurden von
leicht verbreiterte Intensitätsverteilungen. Schülern der 10. bis 12. Klasse im Rahmen einer Sommer-
schule der Humboldt-Universität Berlin erstellt (Kramer &
Warmuth 2010).

Signal- |I|
starke
¨

0
0 0,005 0,01 0,015 0,02 Zeit [s] 0 500 1000 1500 2000 Frequenz [Hz]

Abb. 8.7 Signalstärke einer Flöte Abb. 8.9 Fourier-Spektrum der Flöte

Signal- |I|
starke
¨

0
0 0,005 0,01 0,015 0,02 Zeit [s] 0 500 1000 1500 2000 Frequenz [Hz]

Abb. 8.8 Signalstärke einer Violine Abb. 8.10 Fourier-Spektrum der Violine

Die Näherungskurven für die Partialsummen bis zu j D 10 bzw. Fourier-Reihe dennoch gegen F.t/ konvergiert, wird im „Ma-
20 bzw. 30 sind in Abb. 8.11 zusammen mit F.t/ dargestellt. thematischen Hintergrund“ 8.1 erläutert. Dieses Verhalten der
Abbildung 8.12 zeigt das Spektrum. Fourier-Reihe ist typisch bei Funktionen mit Sprungstellen und
wird als Gibbs’sches Phänomen bezeichnet.
Wie man anhand des zweiten Beispiels sieht, konvergieren hier
die Partialsummen deutlich schlechter als für die Dreiecks-
schwingung. Vor allem an den Stellen t D T=4 und t D T=2, Die oben erhaltene Fourier-Darstellung der Kraft kann man nun
an denen F.t/ unstetig ist, ergeben sich deutliche Abweichun- schließlich verwenden, um die Auslenkung der Schaukel zu
gen der Partialsummen zur Funktion, gegen die sie konvergieren bestimmen. Die Amplitude eines mit ! harmonisch angetrie-
sollen. Man spricht hier auch von Über- bzw. Unterschwingern. benen schwingenden Systems (was eine Schaukel für nicht zu
Es zeigt sich, dass diese Abweichungen auch für beliebige ho- große Auslenkungen in guter Näherung ist) haben wir in (6.65)
he Partialsummen nicht verschwinden. In welchem Sinne die berechnet. Übertragen auf das vorliegende System mit Auslen-
286 8 Kontinuumsmechanik

a I aj
Teil I

I 0,5 bj

−4 −2 2 4 6 8 t

0
−0,5
0 1 2 3 4 5 6 7 j

−1 −0,5

Abb. 8.12 Fourier-Spektrum der untersuchten periodischen Kraft F.t/ (8.74).


b Gezeigt sind die Koeffizienten der ersten sieben Teilschwingungen (Kosinus-
I
Schwingungen in Rot, Sinus-Schwingungen in Orange )
I10

−4 −2 2 4 6 8 t
falls die anregende Kraft sinusförmig mit Kreisfrequenz ! und
Amplitude FO ist. Das schwingende System ist neben der Masse
−0,5 noch durch seine Eigenfrequenz !0 und einen Dämpfungskoef-
fizienten  charakterisiert.

−1 Frage 14
Zeigen Sie, dass (6.65) für das vorliegende Problem in der Ge-
stalt (8.79) geschrieben werden kann.
c I
I20 Will man die gesamte Auswirkung der hier Fourier-analysierten
Kraft F.t/ auf die Schwingung wissen, so muss man die (un-
−4 −2 2 4 6 8 t endliche) Summe aus allen Teilschwingungen bilden, wobei die
Amplituden jeweils durch das Produkt aus den Fourier-Koeffi-
−0,5 zienten aj bzw. bj und dem Ausdruck (8.79) gegeben sind und !
je nach Summenglied durch das jeweilige j! zu ersetzen ist.
Man sieht hier also, wie man mithilfe der Fourier-Analyse all-
−1 gemein die Auswirkungen einer periodischen Anregung auf
ein harmonisch schwingendes System bestimmen kann. Das ist
natürlich nicht nur bei Schaukeln wichtig, sondern auch bei-
d I spielsweise in der Architektur, wenn es um die Stabilität von
Hochhäusern oder Brücken geht.
I30

−4 −2 2 4 6 8 t

Alternative Darstellungen der Fourier-Reihen


−0,5

Neben der Darstellung (8.65) sind noch andere möglich. So er-


−1 laubt es die Beziehung

cos.j!t  j / D cos.j!t/ cos j C sin.j!t/ sin j ; (8.80)


Abb. 8.11 Eine periodische Kraft F.t/ (rot ) und die Annäherungen durch die
Partialsummen ihrer Fourier-Reihe (F10 , F20 , F30 ). Man erkennt deutlich die jede Linearkombination von Sinus und Kosinus gleicher Fre-
Über- und Unterschwinger in der Nähe der Unstetigkeiten von F.t/
quenz auch als verschobene Kosinus- oder Sinusfunktion dar-
zustellen und umgekehrt. Daher kann man Fourier-Reihen auch
in der sogenannten Amplituden-Phasen-Darstellung schreiben:
kungsamplitude xO und Masse m gilt
O
F=m 1
X
xO D q 2 ; (8.79) f .t/ D Aj cos.j!t  j /: (8.81)
!02  ! 2 C 42 ! 2 jD0
8.4 Lagrange-Formalismus für Felder 287

Eine weitere Möglichkeit ist es, Sinus und Kosinus mittels äußere Kräfte und führen zunächst dafür den Kontinuumslimes
komplexer Exponentialfunktionen auszudrücken (siehe „Ma- durch. Im diskreten Fall haben wir (8.3):

Teil I
thematischen Hintergrund“ 6.2):
mX 2 DX
N N
LD qP  .qi  qi1 /2 : (8.85)
eij!t C eij!t 2 iD0 i 2 iD1
cos.j!t/ D ;
2 (8.82) Die Summe läuft über alle Punktmassen in der Kette.
eij!t  eij!t
sin.j!t/ D : Der Grenzfall kann genauso einfach durchgeführt werden wie
2i
für die Bewegungsgleichung in Abschn. 8.1: Es ist qi .t/ durch
Dies führt auf die sogenannte Exponentialdarstellung der Fou- q.t; x/ zu ersetzen; weiterhin führen wir die Massendichte D
rier-Reihe, m=a0 und den Elastizitätsmodul Y D Da0 ein. Der Differenzen-
C1
X quotient wird wieder zur ersten Ortsableitung:
f .t/ D cj eij!t ; (8.83)
qi .t/  qi1 .t/ @q.t; x/
jD1 ! : (8.86)
a0 @x
in der wegen der obigen Zusammenhänge nun auch negative Da wir nun über unendlich viele infinitesimale Massenelemente
Frequenzen auftreten. Die Koeffizienten berechnet man dann summieren, ersetzen wir die Summe durch ein Integral:
folgendermaßen: Z
X
a0 ! dx: (8.87)
Z
cCT
1 i
f .t/eij!t dt:
I
cj D (8.84)
T Hier ist I das Ortsintervall, das der Kettenausdehnung ent-
c
spricht, also beispielsweise I D Œ0; `. Es folgt
Diese Darstellung ist häufig einfacher, da Integrale mit Expo- Z "    #
nentialfunktionen oft leichter zu berechnen sind als Integrale @q.t; x/ 2 Y @q.t; x/ 2
LŒq D dx  : (8.88)
mit trigonometrischen Funktionen (siehe hierzu auch Kap. 13). 2 @t 2 @x
I

Frage 15
Vollziehen Sie den Übergang zum Kontinuum nach und über-
8.4 Lagrange-Formalismus für Felder prüfen Sie damit (8.88).

Dieser Abschnitt liefert eine kurze Einführung in den Lagrange- Achtung Offensichtlich haben wir es nun nicht mehr mit
Formalismus für Felder. Durch den Übergang zum Kontinuum einer Lagrange-Funktion, sondern mit einem Lagrange-Funk-
wird die Lagrange-Funktion eines diskreten Systems zu einem tional zu tun (siehe „Mathematischen Hintergrund“ 5.2). J
Lagrange-Funktional der betrachteten Felder. Dieses Funktio-
nal kann als Integral einer Lagrange-Dichte aufgefasst werden. Den Integranden in (8.88) nennt man Lagrange-Dichte L. Die-
Ausgehend vom Hamilton’schen Prinzip lassen sich daraus La- ser Name ist plausibel, da sich das Lagrange-Funktional über
grange-Gleichungen als Bewegungsgleichungen für die Felder Z
ableiten. Dabei lassen sich auch äußere Kräfte berücksichti- L D dx L.x/ (8.89)
gen. Abschließend werden die abgeleiteten Gleichungen auf I
drei Raumdimensionen verallgemeinert.
berechnen lässt. Im Gegensatz zu LŒq ist die Lagrange-Dichte
eine Funktion. Zur Erinnerung soll gesagt werden, dass Funk-
tionale Funktionen auf Zahlen abbilden, während Funktionen
von Funktionen wieder Funktionen sind.
Lagrange-Funktional und Lagrange-Dichte
Die Lagrange-Dichte selbst ist (wie die Lagrange-Funktion)
keine eindeutig bestimmte, messbare Größe, doch ist sie meist
In Abschn. 8.1 wurde bereits erwähnt, dass sich die Bewegungs- der Ausgangspunkt für Feldtheorien. Dies wird vor allem mit
gleichungen des Kontinuums ebenfalls aus einer geeigneten der Lagrange-Dichte des elektrodynamischen Feldes in Kap. 20
Lagrange-Funktion ableiten lassen. Aus Übersichtsgründen ha- deutlich werden.
ben wir uns bisher nicht mit dem Lagrange-Formalismus für
Felder beschäftigt. Dies soll nun in Grundzügen nachgeholt Wir sehen, dass sowohl die Zeit- als auch die Ortsableitung von
werden. q.t; x/ in das Lagrange-Funktional eingehen. An dieser Stelle
ist es nicht mehr direkt offensichtlich, wie sich die Bewegungs-
Wir beginnen der Einfachheit halber in einer räumlichen Di- gleichungen aus dem Lagrange-Funktional bzw. der Lagrange-
mension mit der Lagrange-Funktion der linearen Kette ohne Dichte ableiten lassen. Dies soll nun untersucht werden.
288 8 Kontinuumsmechanik

Ableitung der Bewegungsgleichungen Offensichtlich sind diese Ausdrücke wieder Funktionen von x
und t.
aus dem Lagrange-Funktional
Teil I

Die Variation (8.92) kann mithilfe von (8.91) umgeschrieben


werden:
Bisher kannten wir nur Situationen für diskrete Systeme mit
einer Lagrange-Funktion als Funktion von (generalisierten) Ko- Zt1 Z 
@L @L @ @L @
ordinaten und ihren ersten Zeitableitungen. Die Anzahl der ıS D dt dx ıq C ıq C 0 ıq : (8.94)
Freiheitsgrade war dabei stets endlich, und wir erhielten eine @q @Pq @t @q @x
t0 I
Lagrange-Gleichung für jeden Freiheitsgrad. Hier haben wir es
mit einem kontinuierlichen Feld und seinen Zeit- und Ortsablei- Wir können nun zwei partielle Integrationen durchführen: die
tungen zu tun. Die Anzahl der Freiheitsgrade ist jetzt unendlich, erste für den mittleren Term bezüglich der Zeit, die zweite für
da die Felder an jedem Ort x definiert sind. Wie kann man den rechten Term bezüglich des Ortes. Wir finden zunächst:
nun die Bewegungsgleichungen für diese Felder erhalten? Sie Zt1 Z Zt1 Z
folgen – wie schon in Kap. 5 gesehen – aus einem Variations- @L @ @ @L
dt dx ıq D  dt dx ıq : (8.95)
prinzip. @Pq @t @t @Pq
t0 I t0 I
Gesucht ist die Bewegungsgleichung für ein Feld q.t; x/. Wir
nehmen an, dass sowohl q.t; x/ selbst als auch die beiden Ab- Die Randterme haben wir gar nicht erst aufgeschrieben; sie
leitungen qP .t; x/ D @q.t; x/=@t und q0 .t; x/ D @q.t; x/=@x in L tragen nicht bei, da die Variation ıq zu den Zeiten t0 und t1
auftreten dürfen (wobei q0 – im Gegensatz zu qP – schon bekannt verschwinden soll. Es ist zu beachten, dass @L=@Pq wieder eine
ist, wenn q.x/ zu einer festen Zeit gegeben ist): L D L.t; q; qP /. Funktion von Ort und Zeit ist und wir daher die hier auftretende
Die Wirkung lautet Zeitableitung ausführen können.
Zt1 Zt1 Z Für die zweite partielle Integration folgt analog
SD dt L D dt dx L: (8.90) Zt1 Z Zt1 Z
@L @ @ @L
t0 t0 I dt dx 0 ıq D  dt dx ıq : (8.96)
@q @x @x @q0
Erneut verlangen wir, dass die Variation der Wirkung für festes t0 I t0 I

t0 und t1 verschwinden soll; wir gehen also vom Hamilton’schen Auch hier trägt der Oberflächenterm (in diesem Fall besteht er
Prinzip aus. Dazu ist es nötig zu fordern, dass die Variation von nur aus den beiden Randpunkten des Intervalls) nicht bei, da
q.t; x/ zu den Zeiten t0 und t1 an jedem Ort x 2 I null ist. die Variation ıq.t; x/ am Rand des betrachteten Ortsintervalls I
Weiterhin soll die Variation zu allen Zeiten an den räumlichen ebenfalls verschwinden soll.
Endpunkten verschwinden (hier: bei x D 0 und x D `).
Bringen wir nun alle Teilergebnisse zusammen, folgt für die Va-
Es sei ıq.t; x/ die Variation von q.t; x/. Dann sind die Variatio- riation der Wirkung schließlich
nen der Ableitungen durch
Zt1 Z 
@.ıq/ @.ıq/ @L @ @L @ @L
ı qP D und ıq0 D (8.91) ıS D dt dx   ıq: (8.97)
@t @x @q @t @Pq @x @q0
t0 I
gegeben (siehe (5.162)). Für die Variation der Wirkung folgt Frage 16
Zt1 Z  Rechnen Sie die Schritte nach, die auf (8.97) führen.
@L @L @L
ıS D dt dx ıq C ı qP C 0 ıq0 ; (8.92)
@q @Pq @q
t0 I Nun nutzen wir noch aus, dass die Variation ıq.t; x/ beliebig ist
(außer dass sie am zeitlichen und örtlichen Rand verschwinden
wobei wir aus Platzgründen die Zeit- und Ortsabhängigkeiten soll). Somit muss die eckige Klammer selbst verschwinden, und
von q.t; x/ nicht explizit aufgeschrieben haben. es folgt die Lagrange-Gleichung für das Feld q.t; x/.
Wie sind nun die Terme @L=@q usw. zu verstehen? Dazu be-
trachten wir q, qP und q0 als unabhängige Variablen. Konkret
Lagrange-Gleichung für eindimensionales Feld
bedeutet dies, dass speziell die Lagrange-Dichte in (8.88) die
folgenden Zusammenhänge erfüllt: Die Lagrange-Gleichung für das eindimensionale Feld
q.t; x/ lautet
@L
D 0; @L @ @L @ @L
@q.t; x/   D 0; (8.98)
@L @q @t @Pq @x @q0
D qP .t; x/; (8.93)
@Pq.t; x/ wobei die Lagrange-Dichte L neben q.t; x/ noch von den
@L beiden Ableitungen qP .t; x/ und q0 .t; x/ abhängen darf.
D Yq0 .t; x/:
@q0 .t; x/
8.4 Lagrange-Formalismus für Felder 289

Achtung Wir sehen, dass wir nur eine einzige Lagrange- Materials offensichtlich wenig geeignet. Wir geben daher noch
Gleichung erhalten, obwohl wir mit q.t; x/ unendlich viele Frei- die Erweiterungen der linearen Kette auf ein dreidimensionales

Teil I
heitsgrade betrachten (da x kontinuierlich ist). Wie ist dies zu elastisches System an. Dazu gehen wir von einem vektorwerti-
verstehen? Gleichung (8.98) ist eine partielle Differenzialglei- gen Feld q.t; r/ aus, da ein dreidimensionaler elastischer Körper
chung in t und x und liefert daher sozusagen für jedes x eine in der Regel in alle Richtungen deformiert werden kann. Die
Bewegungsgleichung. J Koordinaten r und die Verformung q sollen kartesische Größen
sein. Das Lagrange-Funktional lautet dann
Frage 17
Z h i
Zeigen Sie, dass die bereits bekannte Bewegungsgleichung
(8.19) mithilfe der Lagrange-Gleichung (8.98) aus der La- L D d3 r qP 2 .t; r/  V .q; r ı q/ ; (8.102)
2
grange-Dichte in (8.88) folgt. V

wobei nun die Massendichte im Bezug auf das Volumen ist.


Die Integration ist über das gesamte Volumen V des elastischen
Körpers auszuführen.
Äußere Kräfte
In (8.102) wurde die potenzielle Energiedichte V .q; r ı q/
eingeführt. Sie setzt sich in der Regel aus zwei Anteilen zu-
Wirken auf die Massenelemente der linearen Kette noch äußere sammen:
Kräfte, so addiert man einen entsprechenden Term zu der La-
grange-Dichte: V .q; r ı q/ D V .a/ .t; q/ C V .i/ .r ı q/: (8.103)
   
@q.t; x/ 2 Y @q.t; x/ 2 Der erste beschreibt den Einfluss äußerer Kräfte. Ähnlich wie in
LD  C f .t; x/q.t; x/: (8.99) (8.99) schreiben wir nun im dreidimensionalen Raum:
2 @t 2 @x
Hier ist f .t; x/ die Kraftdichte am Ort x, also eine Kraft pro Län- V .a/ .t; q/ D f .t; r/  q.t; r/: (8.104)
geneinheit. Die Gesamtkraft auf die Kette ist
Z Achtung Streng genommen handelt es sich hierbei um kein
F.t/ D dx f .t; x/: (8.100) Potenzial, da wir eine Zeitabhängigkeit erlauben, die zu einer
I Verletzung der Energieerhaltung führen kann. Der Einfachheit
halber schließen wir diesen Term aber in die Definition von V
Unter dem Einfluss dieser Kraftdichte nehmen die Bewegungs- ein. J
gleichungen die modifizierte Form
Der zweite Potenzialbeitrag stammt von der inneren Verfor-
@2 q.t; x/ @2 q.t; x/ mung des Körpers. Im eindimensionalen Fall haben wir dafür
Y D f .t; x/ (8.101)
@t 2 @x2  2
Y @q.t; x/
an. V .i/ D (8.105)
2 @x
Frage 18
Zeigen Sie dies mithilfe der Lagrange-Gleichung. geschrieben. Im dreidimensionalen Fall muss der Gradient r
statt der einfachen Ortsableitung @=@x verwendet werden. Die
innere Energie hängt also nicht von der Verformung q selbst ab,
Beim Lösen von (8.101) werden äußere Kräfte in der Regel als sondern nur von ihrem Gradienten. Beachten Sie dabei, dass be-
Funktionen von Ort und Zeit vorgegeben. reits in (8.4) nur die Differenzen der qi in die potenzielle Energie
In vielen Fällen hat man es mit der Gravitationskraft zu tun, die eingegangen sind.
auf alle Massenelemente wirkt. Es gibt aber auch viele Situa- Da q bereits ein Vektor ist, ist der Gradient r ı q D .@i qj / ein
tionen, in denen Kräfte nur an der Oberfläche eines elastischen Tensor zweiter Stufe und hat die Komponenten
Körpers angreifen – in diesem Fall an den Endpunkten der li- 0 1
nearen Kette. Dies sind beispielsweise Zug- oder Druckkräfte @x qx @x qy @x qz
durch Einspannen. Wir kommen später wieder darauf zurück.  D .ij / WD .@i qj / D @@y qx @y qy @y qz A : (8.106)
@z qx @z qy @z qz

Der Gradient eines Vektors q ist also nichts anderes als das
Verallgemeinerung auf drei räumliche Tensorprodukt des Nabla-Operators r und q (hier explizit als
Dimensionen dyadisches Produkt geschrieben; Abschn. 4.3) und entspricht
somit der Jacobi-Matrix von q.
Für die meisten realistischen Anwendungen ist eine eindi- Achtung Der Gradient eines Vektors ist unbedingt von der
mensionale Feldfunktion für die Verformung eines elastischen Divergenz zu unterscheiden. Beim ersten handelt es sich um
290 8 Kontinuumsmechanik

einen Tensor zweiter Stufe, beim zweiten um einen Skalar, da Innere potenzielle Energie
in div q D r  q D @i qi über den Index summiert wird. Wir
und Elastizitätstensor
Teil I

schreiben daher zur Verdeutlichung r ı q anstatt der häufig ver-


wendeten Form r q. J
Welche funktionale Form hat der Beitrag der inneren potenziel-
Frage 19 len Energiedichte V .i/ ./, die in der Lagrange-Dichte (8.102)
Stellen Sie sich einen elastischen Körper ohne äußere Kräfte eingeführt wurde? Diese Funktion hängt stark davon ab, wel-
vor. Überlegen Sie sich, dass eine homogene Verschiebung q für che molekularen Wechselwirkungen im elastischen Medium
alle Massenelemente die potenzielle Energie nicht ändert. Dazu vorherrschen. Allerdings erinnern wir uns hier an die kleinen
muss man sich überlegen, wie die innere Verformung aussieht, Schwingungen in Kap. 6 und die Entwicklung der potenziel-
wenn q homogen ist. len Energie in (6.5). Egal wie kompliziert die elastische Energie
auch aussehen mag, für kleine Verformungen lässt sich immer
eine „gutartige“ Näherung finden, die konkrete Rechnungen er-
In Abschn. 8.5 wird besprochen, welche funktionale Form die möglicht.
potenzielle Energiedichte V .i/ ./ für einen dreidimensionalen
Zunächst gehen wir davon aus, dass der Gradient der Verfor-
elastischen Körper annimmt.
mung,  D r ı q, hinreichend klein ist, sodass wir eine Taylor-
Wir beenden diesen Abschnitt mit den Lagrange-Gleichungen Entwicklung durchführen können. Wir entwickeln um den un-
in drei Dimensionen. deformierten Zustand, also  D 0, bis hin zur zweiten Ordnung
in :
ˇ ˇ
Lagrange-Gleichung für dreidimensionales Feld .i/ .i/ @V .i/ ˇˇ 1 @2 V .i/ ˇˇ
V ./ V .0/C ˇ ij C ˇ ij kl : (8.108)
Die Lagrange-Gleichungen für das dreidimensionale Feld @ij ˇ 2 @ij @kl ˇ
0 0
q.t; r/ lauten
Hier ist vor allem zu beachten, dass die Entwicklung im drei-
@L @ @L @ @L dimensionalen Raum durchzuführen ist und über alle Paare von
  D0 .i D x; y; z/: (8.107) Indizes summiert werden muss. Die Entwicklung ist ansonsten
@qi @t @Pqi @rj @.@j qi /
aber vollständig analog zu dem Vorgehen in (6.5).
Der konstante Term V .i/ .0/ in (8.108) spielt hier keine Rolle.
Hier ist über j zu summieren. Wir sehen, dass man eine partielle Da wir um den Gleichgewichtszustand  D 0 entwickelt haben,
Differenzialgleichung für jede Komponente des Feldes erhält. in dem die Energie ein Minimum besitzen soll, verschwindet die
Hat man es mit einem Skalarfeld zu tun, z. B. T.t; r/, so ist erste Ordnung der Entwicklung. Es verbleibt lediglich der Term
in (8.107) bloß qi durch T zu ersetzen, und es gibt nur eine zweiter Ordnung:
Lagrange-Gleichung. Es ist zu beachten, dass der Lagrange-For- ˇ
malismus für Felder viel mächtiger und allgemeiner ist, als es .i/ 1 @2 V .i/ ˇˇ 1
hier erscheinen mag. Vor allem in der Elektrodynamik spielt er V ./ ˇ ij kl DW Cijkl ij kl : (8.109)
2 @ij @kl ˇ 2
eine zentrale Rolle (Kap. 20). 0

Die Größe Cijkl ist vollständig durch die (unter Umständen orts-
Frage 20 abhängigen) Materialeigenschaften festgelegt, die wir hier – wie
Überlegen Sie sich, analog zum Vorgehen, das auf die eindi- beispielsweise eine Federkonstante – als gegeben ansehen kön-
mensionale Lagrange-Gleichung geführt hat, wie man (8.107) nen. Man nennt sie den Elastizitätstensor. Er wird im Kasten
erhalten kann. „Vertiefung: Elastizitätstensor“ näher charakterisiert.

Verzerrungstensor
8.5 Grundlagen
Wir betrachten die möglichen Verformungen eines elastischen
der Elastizitätstheorie Körpers noch etwas genauer. Häufig wird der Gradient der Ver-
formung in zwei Anteile zerlegt:
In diesem Abschnitt wird eine kurze Einführung in die linea-
@i qj D ij D ij C !ij : (8.110)
re Elastizitätstheorie gegeben. Dazu wird der Elastizitätstensor
eingeführt, der die elastischen Eigenschaften des betrachteten Man unterscheidet den symmetrischen Verzerrungstensor (häu-
Materials vollständig beschreibt. Weiterhin wird neben dem fig auch Scherungstensor genannt)
Verzerrungstensor noch der Spannungstensor definiert, der ei-
ne wichtige Größe in Feldtheorien ist und in seiner allgemeinen 1 
ij WD ij C ji D ji (8.111)
Gestalt in vielen Bereichen der Physik auftritt. 2
8.5 Grundlagen der Elastizitätstheorie 291

Vertiefung: Elastizitätstensor

Teil I
Vereinfachung durch Symmetriebeziehungen

Die elastischen Konstanten Cijkl bilden den Elastizitätsten- komprimiert wird. Die zweite, , wird auch häufig als Scher-
sor vierter Stufe mit insgesamt 34 D 81 Komponenten. Man modul oder Schubmodul G bezeichnet und charakterisiert das
hat es hier mit einem Tensor vierter Stufe zu tun, da er aus Verhalten des Materials unter Scherung. Der Elastizitätsmo-
dem quadratischen Entwicklungsterm bezüglich des Gradi- dul aus (8.13), der dort nur für ein eindimensionales Medium
enten der Verformungen stammt, der wiederum durch einen definiert wurde, wird für dreidimensionale Materialien durch
Tensor zweiter Stufe beschrieben wird. den Young’schen Elastizitätsmodul
Der Elastizitätstensor erfüllt allerdings eine Reihe von Sym-
.3 C 2/
metriebeziehungen, welche die Anzahl der unabhängigen ED
Komponenten stark reduzieren. In Einführungsbüchern der C
Elastizitätstheorie (Sadd 2009) wird gezeigt, dass die Bedin-
ersetzt, der die Dimension eines Drucks besitzt. Die beiden
gungen
Lamé-Konstanten lassen sich bestimmen, indem Material-
Cijkl D Cjikl ; Cijkl D Cijlk ; Cijkl D Cklij proben verformt und die dabei benötigten Kräfte gemessen
werden.
gelten, die „nur“ 21 unabhängige Komponenten übrig lassen.
Außerdem kann man in vielen Fällen in guter Näherung Es ist zu beachten, dass der Elastizitätstensor nur linea-
Materialien als homogen und isotrop betrachten. Die Ho- re, also kleine Verformungsgradienten beschreibt. Außerdem
mogenität hat zur Folge, dass der Elastizitätstensor nicht berücksichtigt diese einfache Theorie nicht die Plastizität.
vom Ort abhängt, was das Lösen der Bewegungsgleichungen Dabei handelt es sich um irreversible Verformungen, die
stark vereinfacht. Durch die Isotropie bleiben schließlich nur durch Umwandlung von mechanischer Energie in Wärme
noch zwei unabhängige Parameter übrig. Man schreibt den entstehen. Ganze Wissenschaftszweige, vor allem im Inge-
Elastizitätstensor dann häufig in der einfachen Form nieurswesen, beschäftigen sich mit nichtlinearen, nichtho-
  mogenen oder plastischen Materialeigenschaften. Die Auto-
Cijkl D ıij ıkl C  ıik ıjl C ıil ıjk :
mobilindustrie – um nur ein Anwendungsfeld zu nennen –
Man nennt  und  die erste und zweite Lamé-Konstante. Die ist bestrebt, leichtere, festere und günstigere Materialien für
erste, , beschreibt, wie sich das Material verhält, wenn es Karosserien zu entwickeln.

y y y Nur die Verzerrung geht in die potenzielle Energie ein, da eine


reine Drehung eines Massenelements nicht zur inneren Energie
beiträgt. Dies wird in Aufgabe 8.6 genauer diskutiert.

x x x Scherung
! = 0, ² = 0 ! = 0, ² = 0 ! = 0, ² = 0
Eine der einfachsten Verformungen ist eine Scherung:
Abb. 8.13 Durch die Zerlegung (8.110) werden Drehungen und Verzerrun- Ein elastischer Quader sei in der x-z-Ebene geschert
gen voneinander getrennt. Allgemeine Verformungen (rechts ) lassen sich als (Abb. 8.14). Dabei werden die Massenelemente entlang
Überlagerung einer reinen Drehung (links ) und einer reinen Verzerrung (Mitte ) der x-Achse verschoben, und man kann zunächst
darstellen
q.t; x/ D qx .z/Oex (8.113)

und den antisymmetrischen Drehungstensor schreiben, d. h., die Verformung hängt von der Lage z
der Massenelemente ab, nicht jedoch von x oder y; au-
1 
!ij WD ij  ji D !ji : (8.112) ßerdem sei die Verformung statisch, also zeitunabhängig.
2 Die Scherung soll linear in z sein:
Während !.t; r/ die Drehung eines lokalen Elements des Kör-
pers beschreibt, die Winkel und Längen invariant lässt (Auf- L
qx .z/ D z: (8.114)
gabe 8.6), erfasst .t; r/ eine tatsächliche Verzerrung am Ort r H
(Abb. 8.13).
292 8 Kontinuumsmechanik

z Es folgt
Teil I

@L @L @L
D fm ; D qP m ; D Cmnkl kl :
@qm @Pqm @mn
(8.118)
Die letzte Gleichung gilt wegen
ΔL
H @kl
D ımk ınl ; (8.119)
@mn
y
x da alle Elemente von  unabhängig sind.
B
L
Die Bewegungsgleichungen des linearen elastischen Me-
diums lauten also
Abb. 8.14 Zur Scherung eines Quaders in der x-z-Ebene. Die Scherung
wird durch das Verhältnis L=H D const definiert qR m D @n .Cmnkl kl / C fm ; (8.120)

Dann ist können aber noch in der Form


dqx L
zx D D D const (8.115)
dz H qR m D @n .Cmnkl kl / C fm (8.121)
die einzige nicht verschwindende Komponente des De-
geschrieben werden, da wir gesehen haben, dass nur der
formationsgradienten . Wir erhalten also
Anteil zur Energie beiträgt. J
0 1
0 0 0
D@0 0 0A
zx 0 0 Frage 21
0 1 (8.116) Überprüfen Sie explizit die Rechnungen, die auf (8.121) füh-
1@0 0 zx
H) D 0 0 0 A: ren. Arbeiten Sie dabei mit der Index-Notation und nutzen Sie
2  0 0 (8.110) sowie die Symmetrieeigenschaften des Elastizitätsten-
zx
sors aus.
Wir kommen in Aufgabe 8.7 nochmals auf die Scherung
zurück. J
Man erkennt, dass der erste Term auf der rechten Seite von
(8.121) die Divergenz der Größe Cijkl kl ist. Zur Abkürzung de-
finiert man nun den Spannungstensor als

Bewegungsgleichungen und Spannungstensor ij WD Cijkl kl ; (8.122)

d. h. als Kontraktion von C mit . Er ist wegen Cijkl D Cjikl


Eine grundlegende Größe in der Elastizitätstheorie ist der so-
symmetrisch: ij D ji .
genannte Spannungstensor, der in den Bewegungsgleichungen
auftritt. Diese stellen wir zunächst in einem Beispiel auf. Dazu
wenden wir die Lagrange-Gleichungen auf die Lagrange-Dichte Bewegungsgleichung des elastischen Mediums
des elastischen Mediums an.
Ein elastisches Medium erfüllt die Bewegungsgleichun-
gen
Bewegungsgleichungen des elastischen Mediums
qR i D @j ij C fi (8.123)
Wir betrachten nun die konkrete Lagrange-Dichte bzw. in Vektornotation formuliert:
1 qR D div C f:
LD qP 2 V .q; / D qP i qP i  Cijkl ij kl Cfi qi ; (8.117) (8.124)
2 2 2
wobei q,  und f im Allgemeinen Funktionen von Ort und Hier ist der Spannungstensor und div D .@j ij / seine
Zeit sind. Die Bewegungsgleichungen leiten wir mithilfe Divergenz (die in diesem Fall vektorwertig ist und daher
der Lagrange-Gleichungen (8.107) ab. fett geschrieben wird).
8.5 Grundlagen der Elastizitätstheorie 293

Während die Kinematik eines elastischen Materials durch seine


Verzerrungen beschrieben wird, benötigt man den Span- n
∂V

Teil I
nungstensor für die Dynamik. An dieser Stelle sind einige
Erklärungen notwendig. dA

V
Interpretation des Spannungstensors

Welche anschauliche Bedeutung hat (8.123) bzw. (8.124)? Die


Massenelemente des elastischen Körpers werden durch äußere
Kräfte f oder durch eine Inhomogenität der inneren Spannungen
beschleunigt. Dass äußere Kräfte zu einer Beschleunigung Abb. 8.15 Ein Volumen V wird von seiner Oberfläche @V eingeschlossen. Die
führen, ist wenig überraschend, doch es muss erläutert werden, Oberfläche besteht aus infinitesimalen Flächenelementen dA D dA nO , wobei
welche Bedeutung der Spannungstensor und seine Divergenz der Einheitsnormalenvektor nO stets nach außen zeigt
div bzw. @j ij haben.
In der Kontinuumsmechanik lassen sich Kräfte generell in zwei schreiben. Es soll nun der Term auf der linken Seite so umge-
Kategorien unterteilen: Volumenkräfte und Oberflächen- bzw. formt werden, dass wir anschaulich interpretieren können. An
Kontaktkräfte. Zu den Volumenkräften zählt beispielsweise die dieser Stelle kommt der Integralsatz von Gauß ins Spiel, der erst
Gravitation. Sie kann direkt als ein Term f D g in (8.124) im „Mathematischen Hintergrund“ 11.3 gründlich besprochen
berücksichtigt werden. Wir werden in Kürze sehen, dass mecha- wird (siehe hierzu auch den „Mathematischen Hintergrund“
nische Spannungen nichts weiter sind als Kräfte, die auf Flächen 1.9).
wirken. Dies zeigt eine enge Verwandtschaft von Spannungen
und Druck, wie wir in Abschn. 8.6 noch sehen werden. Der Satz von Gauß erlaubt es, Volumenintegrale einer Diver-
genz in ein Oberflächenintegral umzuformen:
Die Flächen, auf welche diese Spannungen wirken, können • —
äußere Flächen, also Oberflächen, von Objekten sein. Innere .@j vj / dV D vj dAj : (8.127)
Spannungen hingegen lassen sich als Kräfte interpretieren, die
auf (imaginäre, d. h. gedachte) Flächen wirken, die im Inneren V @V

eines Körpers verlaufen. Hier ist v D .vj / ein Vektorfeld und dA D .dAj / das orientierte
Stellen wir uns einen unbeschleunigten, aber deformierten elas- Flächenelement derjenigen Oberfläche @V, die das Volumen V
tischen Körper vor. Dieser wird wegen qR D 0 also durch die einschließt (Abb. 8.15). Die Richtung nO von dA D dA nO zeigt
Gleichung dabei senkrecht zur lokalen Oberfläche nach außen (d. h. fort
0 D div C f (8.125) vom eingeschlossenen Volumen); nO hängt also vom Ort ab.
beschrieben. Man spricht dann auch von der Statik. Aus Gleichung (8.127) lässt sich auf Tensorfelder beliebiger Stufe
der Newton’schen Mechanik wissen wir, dass unbeschleunig- verallgemeinern, hier dargestellt für einen Tensor zweiter Ord-
te Punktmassen insgesamt keine Kraft erfahren. Dies muss hier nung: • —
genauso für jedes beliebige Volumenelement gelten. Somit sieht .@j ij / dV D ij dAj : (8.128)
man bereits, dass es sich bei div um eine innere Kraft han-
deln muss, die vom Verzerrungszustand abhängt und gerade V @V

die äußere Kraft f kompensiert. Die Verzerrung des statischen


elastischen Körpers stellt sich also über (8.122) so ein, dass Wir erkennen, dass (8.128) die Komponentenschreibweise von
(8.125) erfüllt wird. • —
.div / dV D dA (8.129)
Frage 22
V @V
Wesentlich aufwendiger wird die Betrachtung, wenn der elas-
tische Körper nicht mehr im Gleichgewicht ist. Dann ist im und dass die linke Seite gerade der Ausdruck auf der linken Sei-
Allgemeinen qR 6D 0. Machen Sie sich klar, dass die Spannungs- te von (8.126) ist. Daraus folgt unmittelbar
inhomogenitäten div in diesem Fall die Volumenkräfte nicht — •
mehr ausgleichen. dA D  f dV: (8.130)
@V V
Betrachten wir nun ein Volumen V, in dem die Kraftdichte f Dies ist der Schlüssel zur Interpretation des Spannungstensors:
wirkt. Dann können wir Das Oberflächenintegral des Spannungstensors auf der linken
• •
Seite von (8.130) kompensiert in der Statik gerade die negati-
.div / dV D  f dV (8.126) ve Volumenkraft. Damit kann als ein Maß für die Kraft pro
V V Fläche, die an der Oberfläche @V angreift, interpretiert werden.
294 8 Kontinuumsmechanik

Handelt es sich bei @V um eine innere Fläche, die nicht im direk-


ten Kontakt zur Außenwelt steht, so werden die darauf wirkenden Somit sind alle sechs Integranden innerhalb ihrer Integra-
Teil I

Oberflächenkräfte durch das elastische Material selbst erzeugt tionsgrenzen konstant, und das gesamte Oberflächeninte-
(genauer gesagt: durch seine Verzerrung). Es handelt sich dabei gral lautet einfach
sozusagen um die elastischen Rückstellkräfte, welche die Verzer- a a a a 
rung auszugleichen versuchen. Wie bereits erwähnt, muss sich in ID C C C  a  a A D 0; (8.136)
2 2 2 2
der Statik die Verzerrung gerade so einstellen, dass die damit
verbundene Spannung überall die Volumenkraft kompensiert. wobei A D a2 die Fläche jeder Seite ist – in Übereinstim-
mung mit dem Gauß’schen Satz und der verschwinden-
Zur Veranschaulichung der Oberflächenintegration betrachten
den Divergenz. J
wir ein Beispiel.

Oberflächenintegral in kartesischen Koordinaten


Weitere Beispiele zur Berechnung von Oberflächenintegralen
Es soll das Oberflächenintegral eines Vektorfeldes v .r/ werden in Aufgabe 11.4 im Rahmen der Maxwell’schen Glei-
auf einem Würfel mit Kantenlänge a und Mittelpunkt im chungen besprochen.
Ursprung berechnet werden. Das Integral lautet zunächst Wie hängt nun die Spannung mit der Oberflächenkraft zusam-
— —
men? Die durch eine Spannung verursachte infinitesimale
ID v  dA D v  nO dA: (8.131) Kraft dF, die auf ein kleines Flächenelement dA D dA nO wirkt,
@V @V ist durch
Die Oberfläche eines Würfels besteht aus sechs einzelnen
Flächen; wir greifen uns davon zunächst willkürlich eine dF D dA D dA nO bzw: dFi D dA ij nOj (8.137)
heraus (und zwar die Fläche bei x D Ca=2):
gegeben. Dies erklärt auch, warum wir beispielsweise von
Z
Ca=2 Z
Ca=2
einem gespannten Faden sprechen: Durch eine äußere Kontakt-
ICx D dy dz v .Ca=2; y; z/  eO x dA: (8.132) kraft wird eine innere Spannung erzeugt, die der von außen
a=2 a=2 auferlegten Spannung entgegenwirkt.
Der Normalenvektor nO zeigt stets senkrecht nach außen. Achtung Die Kraft dF muss nicht zwangsläufig in diesel-
In diesem Beispiel ist die betrachtete Fläche eben, sodass O da ein Tensor zweiter Stufe ist.
be Richtung zeigen wie n,
der Normalenvektor über die gesamte Fläche ACx kon- Insbesondere kann die Kraft für eine endliche Spannung unter
Umständen sogar verschwinden, wenn nO entsprechend gewählt
stant ist und nO D eO x gilt (für die Fläche Ax bei x D a=2
gilt entsprechend nO D Oex ). Man betrachtet also das Vek- wird. J
torfeld v auf der angegebenen Fläche und projiziert es auf Frage 23
den dortigen Vektor n. O Der resultierende Ausdruck wird Denken Sie sich einen Spannungstensor, für den nur die Ele-
dann integriert. mente ij (i; j D x; y) nicht verschwinden. Berechnen Sie die
Wählen wir beispielsweise das konkrete Feld Kraft auf ein Flächenelement mit Normalenvektor nO D eO z . Was
0 1 sehen Sie?
x
v .r/ D @ y A ; (8.133)
2z
Spannungstensor
dessen Divergenz @x x C @y y  2@z z D 0 ist. Bei x D Ca=2
ist 0 1 Im Gegensatz zu einer Volumenkraft wie der Gravitation
a=2 a beschreibt der Spannungstensor Flächenkräfte: Auf ein
v .Ca=2; y; z/  eO x D @ y A  eO x D : (8.134) orientiertes Flächenelement dA wirkt die Kraft
2z 2
dF D dA: (8.138)
Die übrigen fünf entsprechenden Ausdrücke lauten
a
v .a=2; y; z/  eO x D ;
2
a In Abb. 8.16 ist ein Beispiel für eine Kraftverteilung in einem
v .x; Ca=2; z/  eOy D ; infinitesimalen Volumenelement dV gezeigt. Aus Gründen der
2
a (8.135) Anschaulichkeit betrachten wir nur ein zweidimensionales Pro-
v .x; a=2; z/  eOy D ; blem in der x-y-Ebene. Auf den vier Seiten des Quadrats sind
2
Spannungstensoren ˙x und ˙y definiert, die über die Norma-
v .x; y; Ca=2/  eO z D a;
lenvektoren ˙Oex und ˙Oey und (8.138) in Flächenkräften dF˙x
v .x; y; a=2/  eO z D a: und dF˙y resultieren. In der Statik müssen diese gerade eine
mögliche Volumenkraft f dV kompensieren.
8.5 Grundlagen der Elastizitätstheorie 295

+e
by
Diese Gleichungen kann man direkt aufintegrieren:

Teil I
σ +y
xz D Cxz ; yz D Cyz ; zz D Czz C gz: (8.141)
dF +y Hier sind die Cij Konstanten, die in der Bewegungsglei-
σ −x f dV dF +x
chung keine Rolle spielen. Über die anderen Kompo-
nenten des Spannungstensors können wir keine Aussage
−b
ex ex
+b
treffen. Entscheidend ist jedoch der zweite Term von zz :
dF −x
Die Größe gz beschreibt gerade die Inhomogenität der
σ +x Spannung, die nötig ist, um die Gravitationskraft zu kom-
pensieren.
Um besser zu verstehen, wie nun die Divergenz der
Spannung die Rolle einer Kraft übernimmt, legen wir in
dF −y σ −y Gedanken zwei Ebenen durch den Faden: die erste, A0 ,
bei z0 , die zweite, A00 , bei z00 D z0 C dz. Diese beiden Flä-
−ey chen grenzen ein kleines Fadenvolumen dV D A dz ein.
Es zeigen sowohl A0 als auch A00 von dem eingeschlosse-
Abb. 8.16 Ein Volumenelement (hier zur besseren Übersicht nur in zwei nen Volumenelement fort, wie in Abb. 8.17 gezeigt.
Dimensionen dargestellt) kann eine Volumenkraft f dV (rot ) und Oberflächen-
kräfte (blau ) erfahren. Auf jeder Seite sei eine konstante Spannung  definiert, z
die über den Normalenvektor auf eine entsprechende Flächenkraft führt, die all-
gemein nicht parallel zum Normalenvektor ist. In diesem Fall ist die Summe aller
Kräfte gerade null, sodass (8.125) gilt

n
Es muss noch erläutert werden, warum nur Inhomogenitäten des

Spannungstensors (ausgedrückt durch seine Divergenz) in die σzz
z 
A
Bewegungsgleichung eingehen und nicht selbst. Dies soll am
Beispiel der Spannung in einem hängenden Faden veranschau- dV dz
licht werden. Der Spannungstensor für die Scherung in (8.116) 
σzz
wird in Aufgabe 8.7 bestimmt. A z

g n
Faden im Gravitationsfeld
A
Stellen wir uns einen statischen Faden mit Querschnitts-
fläche A vor, der von der Decke herabhängt (Abb. 8.17).
Durch die Gravitation g D gOez wirkt eine äußere Kraft Abb. 8.17 Faden im Gravitationsfeld. Wegen der Gravitationsbe-
schleunigung g sind die Spannungen zz0 und zz00 auf den Querschnitts-
auf den Faden, und es wird sich ein Spannungszustand flächen A0 und A00 nicht gleich
einstellen, sodass (8.125) gilt. Die Spannungen im Fa-
den müssen also
A0 D A nO 0 D AOez ; A00 D A nO 00 D CAOez : (8.142)
@j xj D 0; @j yj D 0; @j zj D g (8.139)
Die Gravitationskraft, die auf das Volumen dV wirkt, ist
erfüllen. Für den Faden heißt dies, dass er trotz der Gra-
vitationskraft nicht beschleunigt wird, da an jedem Punkt Fz D  g dV D  gA dz: (8.143)
des Fadens die Gravitation durch die Divergenz des Span-
nungstensors genau ausgeglichen wird. Nun soll untersucht werden, welche Kraft durch die
Spannung auf dieses Volumenelement wirkt und ob sie
Wir können hier in guter Näherung annehmen, dass die die Gravitationskraft tatsächlich genau kompensiert. Die
Spannung sich über die Querschnittsfläche des Fadens Spannungen am Ort der beiden imaginären Flächen sind
nicht ändert. Dies bedeutet, dass Ableitungen von nach
x und y alle verschwinden. Es verbleibt zz0 D gz0 ; zz00 D gz00 > zz0 ; (8.144)

@z xz D 0; @z yz D 0; @z zz D g: (8.140) wobei wir die Konstante Czz gleich null gesetzt haben.
296 8 Kontinuumsmechanik

se das Lehrbuch von Stephani und Kluge (1995) zu nennen.


Nun können wir zunächst die Kräfte ausrechnen, die Dieser Abschnitt ist konzeptionell etwas anspruchsvoller; es
Teil I

durch die Spannungen an den Flächen A0 und A00 erzeugt werden viele neue Begriffe eingeführt. Aufgrund ihrer Wichtig-
werden. Diese Kräfte müssen entlang der z-Achse wirken. keit in vielen physikalischen und ingenieurswissenschaftlichen
Auf die Ebene A0 wirkt die Kraft Bereichen und wegen ihrer direkten Abstammung von der New-
ton’schen Mechanik soll hier aber nicht auf eine kompakte
Fz0 D zz0 A0z D zz0 A; (8.145) Einführung in die Fluiddynamik verzichtet werden.

während die auf die zweite Ebene A00 wirkende Kraft


Makroskopische Beschreibung
Fz00 D zz00 A00z D zz00 A (8.146)
von Gasen und Flüssigkeiten
ist. Neben der Gravitationskraft wirken auf das Volumen-
element also die beiden Oberflächenkräfte Fz0 und Fz00 . Gase und Flüssigkeiten sind für uns Menschen in erster Linie
Zusammen ergeben diese die Kraft makroskopische Substanzen: Mit bloßem Auge lässt sich kei-
ne innere Struktur erkennen, und man könnte denken, dass man
Fz0 C Fz00 D .zz00  zz0 /A: (8.147) beispielsweise einen Wassertropfen immer weiter teilen kann.
In Wirklichkeit bestehen aber Gase und Flüssigkeiten wie fast
Die Mantelfläche trägt nicht bei, da ihr Normalenvektor alle Materie auf der Erde aus Atomen und Molekülen. Ein Li-
innerhalb der x-y-Ebene liegt, in welcher der Spannungs- ter Wasser beinhaltet etwa 1024 Wassermoleküle; es ist daher
tensor laut Forderung konstant ist. absolut unpraktisch, Wasser im Alltag als Molekülwolke be-
schreiben zu wollen.
Die Gesamtkraft auf das Volumenelement verschwindet
tatsächlich: Glücklicherweise kann man mithilfe der Methoden der stati-
schen Physik (Teil IV) zeigen, dass sich Systeme mit sehr vielen
Fz0 C Fz00 C Fz D .zz00  zz0 /A  gA dz Teilchen durch einige wenige „effektive“ Größen beschreiben
(8.148)
D gA dz  gA dz D 0: lassen, wenn man sich nicht für die Bewegung der einzelnen
Moleküle interessieren kann oder will.
Die Gravitationskraft wird also dadurch kompensiert, Gase und Flüssigkeiten, die zusammengefasst auch als Fluide
dass wegen der Inhomogenität der Spannung auf die bei- bezeichnet werden, werden in erster Linie durch fünf Felder be-
den Flächen A0 und A00 unterschiedliche Kräfte wirken, schrieben, wenn man die Temperatur zunächst außen vorlässt:
deren Summe den Faden „oben“ halten. J Geschwindigkeit u.t; r/ (ein Vektorfeld oder entsprechend drei
Skalarfelder ui .t; r/), Massendichte .t; r/ (im Folgenden kurz
Dichte) und Druck P.t; r/. Das Geschwindigkeitsfeld gibt an,
wie schnell die Flüssigkeit strömt. Die Dichte wurde bereits für
das elastische Medium eingeführt. Der Druck ist konzeptionell
8.6 Ideale Fluiddynamik schwieriger zu verstehen, ist aber salopp gesprochen die Kraft
pro Fläche, mit der das Fluid gegen eine Wand drückt. Somit ist
der Druck nichts weiter als ein Anteil des Spannungstensors (Ab-
Wir haben in Abschn. 8.5 elastische Medien besprochen. In schn. 8.5). Wir kommen in Kürze wieder darauf zu sprechen.
unserem Alltag gibt es aber noch eine völlig unterschiedliche
Klasse von Stoffen: Flüssigkeiten und Gase (zusammen auch als Achtung Das elastische Medium wurde durch das Deforma-
Fluide bezeichnet). Wir leiten die Feldgleichungen für Fluide ab tionsfeld q.t; r/ beschrieben. Die Geschwindigkeit u.t; r/ eines
und unterscheiden dabei zwischen kompressiblen und inkom- Massenelements ist gerade die partielle Zeitableitung der De-
pressiblen Fluiden. formation: u D @q=@t. J
Hier beschäftigen wir uns zunächst mit den sogenannten idea- Der Unterschied zwischen einem elastischen Medium und ei-
len Fluiden, bei denen innere Reibungseffekte vernachlässigt nem Fluid ist, dass Fluide keine elastischen Eigenschaften
werden und Wärmetransport keine Rolle spielt. Als Ergebnis er- besitzen, d. h., ein „deformiertes“ Fluid kehrt nicht in den Aus-
halten wir die Kontinuitätsgleichung sowie die Euler-Gleichung gangszustand zurück, wenn die Deformationsursache (z. B. eine
für Fluide. Diese Feldgleichungen der Fluiddynamik werden äußere Kraft) abgeschaltet wird. Dies liegt an den Details der
für einige einfache Spezialfälle gelöst. Nichtideale Fluide, bei Molekülwechselwirkungen, die für Fluide und Festkörper un-
denen die Viskosität eine wichtige Rolle spielt, werden erst in terschiedlich sind.
Abschn. 8.7 angesprochen.
Zur makroskopischen Beschreibung eines Fluids denken wir
Dieser Abschnitt richtet sich vor allem an interessierte und mo- uns den Raum in lauter kleine Würfel mit Kantenlänge ` und
tivierte Studenten, da der Stoff in der Regel nicht in Mechanik- Mittelpunkten ri aufgeteilt, die zum einen groß gegenüber ein-
Vorlesungen behandelt wird – als Ausnahme ist beispielswei- zelnen Molekülen mit typischem Abstand d sind (sodass man
8.6 Ideale Fluiddynamik 297

gedachte Fläche in einem Material berechnen, so, wie wir es


bereits beim Spannungstensor des elastischen Mediums in Ab-

Teil I
schn. 8.5 gesehen haben. Hier ist allerdings zu beachten, dass
eine Fläche im Inneren eines Materials zwei Seiten hat (eine
in Richtung von n, O eine in Richtung von n). O Daher wirken
im Allgemeinen Kräfte von beiden Seiten auf die Fläche. Ist
ri der Druck auf beiden Seiten identisch, so heben sich die beiden
Kräfte, die auf jeweils eine Seite der Fläche wirken, gegensei-
tig auf, und die Fläche erfährt keine Gesamtkraft. Wir erkennen
d also, dass wir nur dann eine Nettokraft erwarten können, wenn
der Druck nicht konstant ist, wie wir später noch sehen werden.
Tatsächlich ist der Druck P Teil des Spannungstensors und wird
 in Fluiden leicht abweichend definiert: Es handelt sich dort um
den (negativen) isotropen Anteil des Spannungstensors , der
folgendermaßen über die Spur definiert ist:
L Sp . / ii
PD D : (8.150)
Abb. 8.18 Für den Kontinuumslimes wird ein Volumen mit Kantenlänge L in 3 3
Untervolumina mit Kantenlänge ` aufgeteilt, wobei ` noch groß gegenüber dem Somit lässt sich der Spannungstensor auch als
mittleren Abstand der Moleküle sein soll. Die diskreten Koordinaten ri dieser
0
Untervolumina werden dann durch eine kontinuierliche Variable r ersetzt, was D PI C (8.151)
im Fall `  L möglich ist 0
schreiben, wobei I die Einheitsmatrix und der spurfreie An-
teil des Spannungstensors ist.
über viele Moleküle in einem Würfel mitteln kann), zum anderen
Der mechanische Druck Pm und der auf dem Spannungstensor
aber klein gegenüber der Größe L des zu betrachtenden Systems
basierende Druck P sind nur identisch, wenn man Pm in (8.149)
(wie z. B. ein Eimer mit Wasser). Dies ist in Abb. 8.18 illustriert.
über alle Orientierungen nO mittelt. Um das zu sehen, setzen wir
Frage 24 (8.151) in (8.138) ein und finden
Es hat sich gezeigt, dass für die oben angedeutete Mittelung be- dF D PdA C 0
dA: (8.152)
reits kleine „Würfelchen“ mit etwa 103 Molekülen hinreichend
groß sind. Schätzen Sie ab, wie groß die Seitenlänge dieses Multiplikation mit dA=dA2 führt unmittelbar auf
Würfels dann für Wasser wäre. ˇ ˇ
Pm D ˇP C . 0 n/
O  nO ˇ : (8.153)

In diesem Fall können wir jedem dieser Würfel eine mittlere Ge- Frage 25
N ri /
N ri /, Massendichte N.t; ri / und Druck P.t;
schwindigkeit u.t;
Überprüfen Sie diese Rechnung.
zuordnen. Im Grenzfall L=` ! 1 und unter der Zusatzbedin-
gung `=d 1 kann man dann u.t; r/, .t; r/ und P.t; r/ als
kontinuierliche Felder einführen. Offensichtlich sind Pm und P im Allgemeinen nicht identisch,
Die statistische Physik beschäftigt sich beispielsweise mit der da der Term ij0 nO i nOj nicht zwangsläufig verschwindet. Mittelt
Frage, wie sich der Druck in solch einer Situation aus den mo- man allerdings über alle Orientierungen von n, O so gilt
lekularen Eigenschaften des Fluids ergibt. Wir wollen hier nicht “
˝ ˛ 1 ıij
im Detail darauf eingehen, werden den Druck aber nun mecha- nO i nOj D d nO i .#; '/Onj .#; '/ D ; (8.154)
nisch genauer definieren. 4 3
und man erhält (im Mittel) ij0 ıij D ii0 D 0, da 0 laut Konstruk-
tion spurfrei ist.
Mechanische Definition des Drucks Frage 26
Das Ergebnis in (8.154) kann man zeigen, indem die Integration
Mechanisch ist der Druck Pm auf eine kleine Fläche dA D dA nO in Kugelkoordinaten durchgeführt wird, wobei
nichts weiter als der Betrag der Komponente einer Kraft dF, die 0 1
senkrecht auf der Fläche steht (und damit parallel zu nO ist): sin # cos '
nO D @ sin # sin ' A (8.155)
jdF? j j.dF  n/
O nj
O cos #
Pm WD D : (8.149)
dA dA
zu verwenden ist. Fleißige Leser können dies explizit nachrech-
Dabei muss es sich bei dA nicht um einen Teil der Begren- nen.
zung eines Gefäßes handeln; man kann auch die Kraft auf eine
298 8 Kontinuumsmechanik

Kontinuitätsgleichung
Teil I

Es wurden bisher die relevanten Felder der Fluiddynamik de-


finiert, doch ist noch nichts dazu gesagt worden, wie die
entsprechenden Feldgleichungen aussehen.
Wir wissen, dass im Rahmen der klassischen Mechanik keine
Masse erzeugt oder vernichtet werden kann. Sie kann sich aller-
dings von einem Ort zu einem anderen bewegen.

Abb. 8.19 Ein in einem Behälter eingeschlossenes Fluid übt einen Druck auf Massenstrom
das Gefäß aus. Der Druck ist der mittlere Impulsübertrag pro Zeit und Fläche,
wenn Moleküle an der Wand reflektiert werden (die Geschwindigkeitsvektoren
der Moleküle sind als Pfeile dargestellt) Stellen wir uns eine Flüssigkeitsströmung mit homoge-
ner Geschwindigkeit u und konstanter Dichte vor. Eine
Flüssigkeitsmenge legt dann in einer infinitesimalen Zeit
Die Drücke Pm und P sind also gleichwertig in dem Sinne, dt die Strecke ds D u dt D unO dt zurück. Betrachten
dass P der orientierungsgemittelte mechanische Druck an einem wir eine gedachte infinitesimale Fläche, die so orien-
Punkt im Fluid ist. Insbesondere ist der Druck P in einem oben tiert ist, dass die Flüssigkeit senkrecht hindurchströmt
erwähnten Würfel mit Kantenlänge ` dann der Mittelwert der (Abb. 8.20): dA D dA n. O
Drücke, die auf jede der sechs Würfelseiten wirken.
dA
Es gibt verschiedene Ursachen von Drücken in der Physik. In
Fluiden wird der Druck durch die Eigenbewegung der Mole-
küle erzeugt, die sich ständig mit endlichen Geschwindigkeiten
bewegen und dabei gegen die Gefäßwände stoßen, selbst wenn n u
das Fluid augenscheinlich ruht (Abb. 8.19).
An dieser Stelle reicht es zu sagen, dass dieser thermody- dV
namische Druck proportional zum Quadrat der mittleren Ge-
schwindigkeit hv 2 i der Moleküle und somit proportional zur
Temperatur T des Fluids ist. Dies hängt mit dem sogenannten
Gleichverteilungssatz zusammen, der in der statischen Physik
u dt
besprochen wird (Abschn. 36.2). Hier fragen wir nicht weiter
nach den mikroskopischen Ursachen, sondern sehen den Druck Abb. 8.20 Zur Veranschaulichung des Massenflusses j
als zusätzliches Skalarfeld P.t; r/ an, das bei der makrosko-
pischen Beschreibung nicht vernachlässigt werden darf. Dann ist in dieser Zeit durch diese Fläche ein Flüssig-
keitsvolumen
Luftdruck
dV D ds  dA D dt dA u  nO D dt dA u (8.156)
An der Erdoberfläche herrscht ein Luftdruck von durch-
schnittlich rund 105 Pa (Pascal bzw. Newton pro Qua- geströmt. Die damit verbundene Masse ist
dratmeter). Dies entspricht der Gewichtskraft von 104 kg,
also 10 t, auf 1 m2 ! Wir spüren davon nichts, da in unse- dm D dV D dt dA u; (8.157)
rem Körper derselbe Druck herrscht und dem Luftdruck
entgegenwirkt. Allerdings nimmt beim Tauchen der Was- und die Masse, die pro Zeit durch diese Fläche fließt, ist
serdruck etwa alle 10 m um weitere 105 Pa zu, was man
vor allem in den Ohren spürt. dm
j WD D u; (8.158)
dt dA
Dieser Druckanstieg wird durch die nach unten zuneh-
mende Gewichtskraft erzeugt, mit der die Luft- bzw. was wir als Massenstrom oder Massenfluss definieren. Da
Wassersäule auf dem darunterliegenden Wasser lastet. der Massenstrom aber eine gerichtete Größe ist, schreibt
Dies wird später in einem Beispiel vorgerechnet. man allgemein
j WD u: (8.159)
In Abschn. 33.5 wird mehr über den Druck und seine phy-
sikalischen Einheiten gesagt. J J
8.6 Ideale Fluiddynamik 299

Die Definition (8.159) ist auch gültig, wenn das Geschwindig-


keitsfeld und die Dichte Funktionen von Zeit und Ort sind.

Teil I
n n
∂V

Massenstromdichte dA j
V V
Die Massenstromdichte lässt sich an jedem Ort allgemein j
∂V
als
j.t; r/ D .t; r/u.t; r/ (8.160)
schreiben. Sie gibt an, wie viel Masse sich pro Zeiteinheit
durch eine bestimmte Querschnittsfläche in eine bestimm-
Abb. 8.21 Die Divergenz eines Vektorfeldes gibt an, wie viel Fluss aus einem
te Richtung bewegt.
H Im linken Beispiel ist die Divergenz im Volumen V positiv, da
Punkt heraustritt.
ein Nettofluss @V j  dA > 0 vorliegt. Im rechten Beispiel verschwindet die
Divergenz, da der einlaufende vom auslaufenden Fluss kompensiert wird
Wir betrachten ein beliebiges, aber zeitlich konstantes Volumen
V mit geschlossener Oberfläche ” @V. Die Masse, die sich in die-
sem Volumen befindet, ist M D V dV. Sie kann sich zeitlich
ändern, genau dann, wenn gleichzeitig ein entsprechender Mas- Kontinuitätsgleichung
senbeitrag in Form von j entweder durch die Oberfläche @V ab-
oder einfließt. Angenommen, die Masse ändert sich in der Zeit Die Massenerhaltung von Fluiden lässt sich durch die lo-
dt um dM, so muss kale Bilanzgleichung
• —
dM @ @ @
MP D D dV D  j  nO dA (8.161) D div j bzw: D div . u/ (8.164)
dt @t @t @t
V @V
ausdrücken, die an jedem Ort r und zu jeder Zeit t gilt.
sein, wobei dA D dA nO das nach außen zeigende Flächen- Es handelt sich also um eine in und u lineare partielle
element ist. Die Zeitableitung kann in das Integral gezogen Differenzialgleichung erster Ordnung.
werden, da die Integrationsgrenzen als konstant gefordert wur-
den.
Frage 27 Bilanzgleichungen der Form (8.164) sind sehr wichtig in der
Physik und kommen in Feldtheorien häufig vor: Auf der linken
Vergewissern Sie sich, dass das Vorzeichen in (8.161) korrekt
Seite steht die partielle Zeitableitung der Dichte einer erhalte-
ist. Stellen Sie sich dazu eine Situation vor, in welcher der Strom
nen Größe und auf der rechten die Divergenz des zugehörigen
j überall nach außen zeigt, und fragen Sie nach den Vorzeichen
P Stromes. Gleichung (8.164) ist also ein Beispiel für einen dif-
von j  nO und M.
ferenziellen Erhaltungssatz. Dies wird in Teil II und III noch
deutlicher herausgearbeitet. Anschaulich bedeutet (8.164), dass
Wie in Abschn. 8.5 brauchen wir nun wieder den Satz von alles, was nicht an einem Ort bleibt, von diesem Ort wegfließen
Gauß, um Oberflächen- und Volumenintegrale ineinander zu muss.
überführen. Diesmal soll allerdings das Oberflächenintegral in Wir haben mit der Kontinuitätsgleichung (8.164) als Bilanzglei-
(8.161) in ein Volumenintegral einer Divergenz umgeformt wer- chung die erste Feldgleichung gefunden, welche die Dynamik
den. Hier lautet der Satz von Fluiden beschreibt. In Aufgabe 8.8 wird sie anhand eines
— • Beispiels vertieft.
j  dA D div j dV: (8.162)
@V

In Komponentenschreibweise lautet die Divergenz einfach Euler-Gleichung


div j D @k jk . Anschaulich gibt sie an, wie viel mehr Fluid aus
einem Punkt heraus- als hineinfließt (Abb. 8.21). Neben der Massenerhaltung gilt in der Mechanik außerdem
Mithilfe des Gauß’schen Satzes (8.162) folgt noch die Impulserhaltung: In einem abgeschlossenen System,
•   d. h. in Abwesenheit äußerer Kräfte, ist der Impuls konstant.
@ Man kann sich also direkt fragen, ob es nicht eine zu (8.164)
C div j dV D 0: (8.163)
@t äquivalente Differenzialgleichung für den Impuls gibt. Dies ist
V tatsächlich der Fall.
Allerdings ist das betrachtete Volumen beliebig, sodass der In- Zunächst erkennen wir, dass die Impulsdichte nichts weiter ist
tegrand selbst verschwinden muss. als die Massenstromdichte j, denn der Impulsbeitrag dp eines
300 8 Kontinuumsmechanik

Massenelements mit infinitesimalen Volumen dV und Masse dm


erfüllt wir zunächst an, dass die Flüssigkeit entlang der x-Achse
Teil I

fließt. Dann ist u D uOex und


dp
dp D dm u D dV u H) D u D j: (8.165) 0 2 1
dV u 0 0
M D u ı u D @ 0 0 0A ; (8.168)
0 0 0
Impulsdichte
Impulsdichte und Massenstromdichte sind identisch. und nur Mxx verschwindet nicht. Dies bedeutet, dass le-
diglich die x-Komponente der Impulsdichte entlang von
eO x strömt. J
Als Nächstes führen wir mit der Impulsstromdichte M diejenige
Größe ein, die sich zur Impulsdichte so verhält wie die Massen-
stromdichte j zur Dichte . Wir erhalten sie einfach, indem wir Frage 29
die Impulsdichte mit u multiplizieren: Wie lautet die Matrix M, wenn man die Strömung (oder das Ko-
ordinatensystem) so dreht, dass u D ux eO x Cuy eOy gilt? Zeigen Sie,
M WD j ı u D u ı u; Mkl D uk ul : (8.166) dass dann ein Teil der Impulsdichte ux entlang eOy und ein Teil
der Impulsdichte uy entlang eO x transportiert wird. Dies macht
Man erkennt, dass es sich dabei um einen symmetrischen Tensor deutlich, warum M ein Tensor (und nicht bloß ein Skalar) sein
zweiter Stufe handelt; es ist somit unbedingt darauf zu achten, muss.
dass M nicht das Skalarprodukt von j und u ist, sondern das
Tensorprodukt.
Um nun die zu (8.164) äquivalente lokale Bilanzgleichung für
Der Vorgang des Mitbewegtwerdens durch ein Strömungsfeld die Impulsdichte zu erhalten, ersetzen wir einfach in (8.164)
heißt Advektion; wir haben es also mit einer Advektion des durch j D u und schreiben zunächst:
Impulses (gelegentlich, vor allem in der Meterologie, auch als
Konvektion des Impulses bezeichnet) zu tun. @. u/ @. ui /
D div . u ı u/ () D @j . ui uj /:
@t @t
Frage 28 (8.169)
Machen Sie sich den Zusammenhang zwischen (8.166) und Hier ist wieder zu beachten, dass die Divergenz eines Tensors
(8.160) klar. Die Stromdichte j beschreibt die Advektion der zweiter Stufe ein Vektor ist.
Masse. Wie ist (8.169) zu verstehen? Auf der linken Seite steht die zeit-
liche Änderung der Impulsdichte. Ändert sich die Impulsdichte
an einem Ort, so muss ein entsprechender Impulsbetrag ein-
Die Impulsstromdichte M beschreibt, wie die Impulsdichtekom- oder abfließen. Dies wird gerade durch den Term auf der rech-
ponente jk entlang von eO D ul =juj strömt. Dies ist schwieriger ten Seite, also die Divergenz von M, beschrieben, ganz analog
vorstellbar als der Transport der Massendichte. Es hilft hier, sich zu der Dichte in der Kontinuitätsgleichung.
die drei Komponenten jk als einzelne Skalarfelder zu denken;
Allerdings ist diese Gleichung noch nicht vollständig, da es wei-
dann ist M bloß eine Zusammenfassung der drei Ströme jk u.
tere Mechanismen gibt, die eine Impulsänderung verursachen.
Mithilfe von M lässt sich der Impuls dp berechnen, der pro Zeit Der erste solche Beitrag stammt von äußeren Kräften. Wir füh-
dt durch eine orientierte Fläche dA transportiert wird: ren mit f .t; r/ eine Kraftdichte (Kraft pro Volumen) ein, die auf
die Flüssigkeit wirken kann. Diese ist vollständig analog zu der
dp D M dA dt oder dpk D Mkl dAl dt: (8.167) Kraftdichte in (8.124). Es handelt sich dabei in der Regel um die
Gravitation; es können aber bei bestimmten (geladenen) Flüs-
Da M ein Tensor ist, sind dp und dA in der Regel nicht paral- sigkeiten auch elektromagnetische Kräfte sein. Eine von außen
lel, d. h., es kann beispielsweise Impuls entlang der x-Achse in vorgegebene Kraftdichte f .t; r/ führt auf eine Beschleunigung
Richtung von eOy strömen. Dies macht man sich am besten an- zur Zeit t am Ort r und somit zu einer weiteren Änderung der
hand eines Beispiels klar. Impulsdichte. Wir schreiben daher vorläufig für die Impulsän-
derung:
@. u/
D div . u ı u/ C f : (8.170)
Impulstransport @t

Kommen wir zurück zum bereits vorgestellten Beispiel Wir sind fast am Ziel, doch muss nun noch der Druck P be-
einer homogenen Strömung mit u D const: Nehmen rücksichtigt werden. Es wurde bereits diskutiert, dass der Druck
den isotropen Anteil des Spannungstensors ausmacht. In der
8.6 Ideale Fluiddynamik 301

idealen Fluiddynamik gibt es keinen spurfreien Anteil der Span- Tab. 8.1 Vergleich von erhaltenen Größen in der Fluiddynamik sowie ihren
nung, d. h., der in (8.151) definierte Anteil 0 verschwindet hier, Dichten, Strömen und Erhaltungssätzen. Der Gesamtimpuls ist nur erhalten,
wenn keine äußere Kräfte wirken

Teil I
und man kann zunächst
Größe Dichte Strom Erhaltungssatz
D PI (8.171) Masse jD u Kontinuitätsgleichung (8.164)
Impuls u M D uıu Euler-Gleichung (8.173)
schreiben.
Wir wissen, dass nicht der Spannungstensor selbst, sondern nur Zustandsgleichung
seine Divergenz in die Bewegungsgleichung eingeht. Es ist

div D div .PI/ D grad P: (8.172) Es fehlt an dieser Stelle noch eine Gleichung für die Dichte .
Gase ändern beispielsweise ihre Dichte mit dem Druck, dem
sie ausgesetzt sind. Ein ideales Gas, das in einem Volumen V
Es tritt also der Druckgradient in der Impulsgleichung auf.
eingesperrt ist, erfüllt bei konstanter Temperatur
Frage 30
PV D const: (8.174)
Zeigen Sie diese Identität mithilfe der Indexschreibweise.
Es ist also / P, da / 1=V gilt. Ideale Gase werden im
Rahmen der statischen Physik in Teil IV gründlich behandelt
Somit finden wir schließlich die Euler-Gleichung für ideale (Abschn. 35.3). Gase sind kompressible Fluide, deren Dichte
Fluide, bei denen innere Reibungseffekte und somit die Visko- vom Druck abhängt. Im Allgemeinen muss man also eine Zu-
sität vernachlässigt werden. standsgleichung .P/ angeben, welche die letzte verbleibende
Gleichung ist, die wir zur Beschreibung von idealen Fluiden be-
nötigen.
Euler-Gleichung für ideale Fluide
Wasser ist ein Beispiel für eine praktisch inkompressible Flüs-
Die Impulsdichte u genügt der Euler-Gleichung sigkeit, d. h., die Dichte von Wasser ist in sehr guter Näherung
und für alle praktischen Anwendungen stets konstant, auch
@. u/ wenn sich der Druck stark ändert: D const. Die Dichte ist
D div . u ı u/  grad P C f (8.173)
@t also zeit- und ortsunabhängig und kann vor alle Ableitungen
gezogen werden.
an jedem Ort r und zu jeder Zeit t. Dies sind drei
nichtlineare partielle Differenzialgleichungen. Wir sehen, dass es verschiedene Fluide gibt, die sich stark in
ihrer Zustandsgleichung unterscheiden. Die funktionale Form
.P/ wird durch die mikroskopische Natur der Fluide festgelegt;
Diese drei Gleichungen (eine für jede Komponente von u) bil- dies zu untersuchen, ist Aufgabe der statistischen Physik, auf
den zusätzlich zur Kontinuitätsgleichung (8.164) weitere Feld- die wir hier nicht näher eingehen wollen.
gleichungen zur Beschreibung von idealen Fluiden. Da wir mit Für inkompressible Fluide vereinfachen sich die bisher gefun-
, u und P aber fünf Felder haben, benötigen wir auch noch eine denen Feldgleichungen.
fünfte Feldgleichung, um Fluide vollständig charakterisieren zu
können. Wir kommen in Kürze darauf zurück.
Dynamik idealer, inkompressibler Fluide
Achtung Eigentlich müssen auch noch die Energieerhaltung
und der Wärmetransport in den Fluiden berücksichtigt werden. Die Feldgleichungen idealer, inkompressibler Fluide lau-
Dies führt mit der Energiedichte auf ein weiteres Feld und mit ten
der Energiegleichung auf eine weitere partielle Differenzialglei-
0 D div u;
chung. Die Diskussion der Energieerhaltung in Fluiden ist aber
erst dann sinnvoll, wenn die Grundlagen der Thermodynamik @u (8.175)
D  div .u ı u/  grad P C f ;
bereits behandelt und die Begriffe „Temperatur“ und „Entropie“ @t
definiert wurden. Dies wird erst in Teil IV geschehen. Es lässt
sich allerdings bereits sehr viel über Fluiddynamik sagen, oh- wobei D const die Zustandsgleichung ist.
ne die Energieerhaltung zu berücksichtigen (tatsächlich sind für
ideale Fluide die Impulsgleichung und die Energiegleichung bis
auf einen Faktor identisch und damit redundant). J Frage 31
Leiten Sie (8.175) aus (8.164) und (8.173) ab. Zeigen Sie wei-
Tabelle 8.1 fasst die beiden erhaltenen Größen Masse und terhin die Äquivalenz
Impuls mit ihren Dichten, Strömen und Erhaltungssätzen zu-
sammen. div .u ı u/ D .u  r /u; (8.176)
302 8 Kontinuumsmechanik

die für inkompressible Flüssigkeiten gilt. Dazu betrachtet man auch kompakter als
am besten die Gleichung in Komponentenschreibweise und
Teil I

zeigt dann du
D grad P C f (8.182)
@j .ui uj / D uj @j ui : (8.177) dt
formuliert werden.
Man nennt die vollständige Ableitung du=dt auch die konvekti-
Man nennt die erste Gleichung in (8.175) auch die Divergenz- ve oder substanzielle Ableitung der Geschwindigkeit. Ihr erster
freiheit des Geschwindigkeitsfeldes, die sich als inkompressi- Beitrag, @u=@t, erfasst nur die zeitliche Änderung an einem fes-
bler Spezialfall aus der Kontinuitätsgleichung ergibt. Sie ist ten Punkt im Raum. Aber .u  r /u beschreibt die Änderung,
wesentlich einfacher als die Kontinuitätsgleichung, da sie kei- die sich aufgrund der Bewegung zusammen mit der Flüssigkeit
ne Zeitableitung mehr enthält. ergibt, da die Geschwindigkeit in der Regel an verschiedenen
Orten verschiedene Werte hat.
Wassersäule im Gravitationsfeld
Wasserfall
Wir betrachten ein sehr einfaches Beispiel: eine ruhen-
de Wassersäule (Dichte w ) im Gravitationsfeld. Dann ist Wir betrachten dazu als Beispiel einen Wasserfall, von
u D 0 und f D w g. Bei u D 0 spricht man auch von der dem wir zur Vereinfachung annehmen, dass sein Strö-
Hydrostatik. Die Kontinuitätsgleichung ist trivial erfüllt, mungsfeld stationär, also nur eine Funktion des Ortes,
und die Euler-Gleichung wird zu ist: u.r/. Dies bedeutet, dass das Wasser an einem festen
Punkt stets mit derselben Geschwindigkeit strömt. Dies
grad P D w g; (8.178) impliziert sofort @u=@t D 0. Lässt man jedoch ein klei-
nes Boot auf dem Wasser treiben (Abb. 8.22), so wird
d. h., der Druck nimmt nach unten (also in Richtung von dieses beim Sturz im Wasserfall seine Geschwindigkeit
g) zu, um die Gravitationskraft auszugleichen. Wählen vergrößern; es wird also zusammen mit dem Wasser be-
wir das Koordinatensystem so, dass g D gOez gilt, dann schleunigt. Diese Geschwindigkeitsänderung wird gerade
ist die Lösung für den Druck einfach durch .u  r /u beschrieben.

P D P0  w gz; (8.179)

da Wasser inkompressibel und w somit konstant ist. Die


Integrationskonstante P0 beschreibt den Druck bei z D 0.
Auf der Erdoberfläche ist w g 104 N m3 , weswegen
der Druck pro Meter zusätzlicher Wassertiefe um etwa
104 Pa zunimmt. J

In Aufgabe 8.9 wird eine weitere Lösung der Euler-Gleichung


berechnet. Außerdem erlaubt die Euler-Gleichung Schallwel-
len, die im Kasten „Vertiefung: Schallwellen und Schallge-
schwindigkeit“ in Abschn. 35.3 diskutiert werden.

Abb. 8.22 In einem Wasserfall kann man in erster Näherung anneh-


men, dass das Strömungsfeld stationär ist. Dennoch wird das Wasser
bzw. eine mitbewegte Masse wie ein kleines Boot während des Falls be-
Vollständige Zeitableitung und ihre Bedeutung schleunigt. Die Pfeile geben Richtung und Betrag der Geschwindigkeit
an
Häufig schreibt man die inkompressible Euler-Gleichung in der J
Gestalt

@u Frage 32
C .u  r /u D grad P C f : (8.180)
@t Unter welchen Umständen gilt @u=@t 6D 0 und gleichzeitig
.u  r /u D 0?
Dies kann wegen u D u.t; r/ mithilfe der Kettenregel
 
du @u dr @u In ihrer Form (8.182) erkennt man am besten, dass die Euler-
D C r uD C .u  r /u (8.181)
dt @t dt @t Gleichung eine Verallgemeinerung des zweiten Newton’schen
8.7 Viskosität und Navier-Stokes-Gleichung 303

Axioms pP D F ist. Dabei wird der Impuls p durch seine Dichte Wärme umgewandelt wird. In diesem Abschnitt soll eine Erwei-
j D u und die Kraft F durch ihre Dichte f ersetzt. Der Druck- terung der Euler-Gleichung (8.173) diskutiert werden, welche

Teil I
gradient kann als zusätzlicher Kraftbeitrag angesehen werden, die sogenannte Viskosität eines Fluids berücksichtigt.
der mit den Methoden der Thermodynamik begründet werden
kann. Man hätte die inkompressible Euler-Gleichung auch di- Viskosität ist jedem aus dem Alltag geläufig: Man kann in Was-
rekt ausgehend vom zweiten Newton’schen Axiom aufstellen ser nicht so schnell laufen wie in der Luft, und Honig tropft nur
können; wir sind jedoch einen anderen Weg gegangen, um an sehr langsam von einem Löffel auf das Brötchen. Beide Effek-
die Spannungen der Kontinua anzuschließen. te rühren daher, dass Fluide eine innere Reibung erfahren, wenn
sie fließen. Für Honig ist sie sehr viel größer als für Wasser oder
gar für Luft.
Aufgrund eines zusätzlichen Impulstransportmechanismus (der
Cauchy-Gleichung durch die endliche freie Weglänge der Moleküle verursacht
wird) kommt es zu Viskosität. Dies bedeutet, dass man die vis-
Die allgemeinste Impulsgleichung, die man für ein nichtrelati- kosen Effekte durch einen additiven Zusatzterm in der Euler-
vistisches Kontinuum angeben kann, ist die Cauchy-Gleichung. Gleichung (8.173) bzw. einen Beitrag zum Spannungstensor der
Sie lautet Flüssigkeit berücksichtigen muss.
dj
D div C f : (8.183)
dt
Hier wird nicht näher spezifiziert, welche Form der Spannungs- Ableitung des viskosen Reibungsterms
tensor hat; es wird lediglich verlangt, dass die Impulsdichte
sich durch äußere Kräfte oder Inhomogenitäten der Spannungen
ändert – unabhängig davon, welche funktionale Form der Span- Um die viskose Reibung in die Euler-Gleichung einzubauen,
nungstensor besitzt. Für elastische Stoffe beinhaltet er einen müssen wir uns überlegen, welche Eigenschaften sie erfüllt. Es
elastischen Term (z. B. Cijkl kl ). Ideale Fluide erfüllen dagegen gibt zwar rigorose Methoden, um den Reibungsterm aus den
D PI. Für viskose Flüssigkeiten, die nun besprochen wer- mikroskopischen Eigenschaften der Fluide abzuleiten, doch ist
den, ergibt sich noch ein Zusatzterm. dies an dieser Stelle zu aufwendig – solche Ableitungen werden
in Büchern über die kinetische Theorie der Gase durchgeführt,
was wiederum ein gutes Verständnis der statistischen Physik
voraussetzt (Hänel 2004). Tatsächlich lässt sich aber der visko-
8.7 Viskosität und Navier-Stokes- se Zusatzterm relativ leicht durch physikalische Überlegungen
Gleichung konstruieren, was für unsere Zwecke völlig ausreicht und in
vielen Büchern über Fluiddynamik ähnlich gehandhabt wird
(Landau & Lifshitz 1991).
In realen Fluiden finden innere Reibungsprozesse statt. Dieser
Effekt bildet – neben dem advektiven Transport – einen zu- Aus Kap. 1 wissen wir, dass Reibungskräfte mit Relativge-
sätzlichen Mechanismus für den Impulstransport. Die Euler- schwindigkeiten zusammenhängen: Bewegt sich beispielsweise
Gleichung muss daher um einen entsprechenden Term erweitert eine Masse in einem Wasserbehälter, so ist die Stokes’sche Rei-
werden, der die sogenannte Viskosität (d. h. die Zähigkeit eines bungskraft proportional zur Geschwindigkeit der Masse relativ
Fluids) beinhaltet. Die sich daraus ergebenden Navier-Stokes- zum umgebenden Wasser. Wir wollen also auch hier verlan-
Gleichungen sind von entscheidender Bedeutung in vielen Be- gen, dass die viskose Reibung ebenfalls proportional zu einer
reichen der Physik sowie des Ingenieurswesens. Geschwindigkeitsdifferenz ist. Doch was bedeutet Geschwin-
digkeitsdifferenz in einer Flüssigkeit?
Dieser Abschnitt kann nur eine grundlegende Einführung in
der Physik nichtidealer Fluide liefern. Es wird die funktiona- Wir stellen uns zunächst zwei Flüssigkeitsschichten vor, die sich
le Form des Viskositätsterms des Spannungstensors bzw. der parallel zueinander bewegen (Abb. 8.23). Die obere habe die
Navier-Stokes-Gleichung abgeleitet und mit dem sogenannten Geschwindigkeit uC , die untere u 6D uC . Beide Schichten
Poiseuille-Fluss eine analytische Lösung der Navier-Stokes- haben die Dicke h, sodass man sagen kann, dass die Geschwin-
Gleichungen bestimmt. digkeitsdifferenz ıu WD uC  u über einen Abstand h auftritt.
Wir nehmen nun an, dass eine in ıu lineare Reibungskraft

Aıu
FC D  D F (8.184)
Viskosität h

auf die obere Flüssigkeitsschicht und eine betragsmäßig gleiche


Ideale Fluide, wie sie in Abschn. 8.6 eingeführt wurden, gibt es Reibungskraft
in Wirklichkeit nicht. Tatsächlich finden in allen Fluiden Rei- Aıu
bungsprozesse statt, die dazu führen, dass kinetische Energie in F D C D CF (8.185)
h
304 8 Kontinuumsmechanik

Solch eine Spannung haben wir bereits in Abb. 8.14 gesehen:


u+ Die dort dargestellte Verzerrung wird durch eine Kraft in x-
Teil I

h Richtung erreicht, die parallel zur x-y-Ebene wirkt. J

Normal- und Scherspannungen

h Presst man seine Hand senkrecht auf eine Tischplatte, so


u−
ist dies – wie der Druck – ein Beispiel für eine Normal-
spannung. Fährt man nun aber mit der Hand parallel zur
Oberfläche über die Platte, so spürt man eine Reibungs-
Abb. 8.23 Bewegen sich zwei Flüssigkeitsschichten mit unterschiedlichen Ge-
schwindigkeiten parallel zueinander, so führt dies in einer viskosen Flüssigkeit
kraft. Dies ist ein Beispiel für eine Scherspannung, bei
zu Reibungskräften zwischen diesen Schichten der die Kraft parallel anstatt senkrecht zur Angriffsfläche
wirkt. J

auf die untere Flüssigkeitsschicht wirkt. Dabei ist die Richtung


von F˙ (anti)parallel zu u . Die Proportionalitätskonstante  in (8.187) nennen wir nun Vis-
kosität. Sie ist eine Materialeigenschaft und legt fest, wie stark
Weiterhin soll A die Kontaktfläche der beiden Schichten und  die innere Reibung ist.
eine Konstante sein, um die wir uns später kümmern werden.
Es ist anschaulich klar, dass die Gesamtkraft proportional zur Der Gesamtimpuls bleibt unter dem Einfluss der Reibungskraft
Fläche A sein muss, da eine doppelte Fläche (und damit eine (8.184) erhalten. Demnach wird aufgrund der Viskosität ledig-
doppelte Flüssigkeitsmenge) zu einer doppelten Reibungskraft lich Impuls von Bereichen mit viel Impuls an Regionen mit
führt. weniger Impuls verteilt. Dieser Impulstransportmechanismus
findet vollständig ohne Massentransport statt, d. h., die beiden
Dass die Dicke h im Nenner auftreten muss, kann man sich oben betrachteten Flüssigkeitsschichten tauschen keine Masse
so vorstellen: Teilt man die beiden Schichten in insgesamt vier aus. Man spricht auch von einer Impulsdiffusion, doch dies soll
Schichten der Dicke h=2 mit relativen Geschwindigkeitsdiffe- nur am Rande erwähnt werden.
renzen ıu=2 auf, so soll das gleiche Ergebnis herauskommen;
daher sollte F / ıu=h gelten. Wir nehmen zur Vereinfachung
weiterhin an, dass wir es mit einer inkompressiblen Flüssigkeit
zu tun haben und die Dichte überall konstant ist. Interpretation der Viskosität
Frage 33
Machen Sie sich klar, dass der Ansatz (8.184) für die Rei- Die Viskosität ist in erster Linie nichts weiter als eine mate-
bungskraft den Gesamtimpuls der Flüssigkeit erhält. Zeigen Sie rialspezifische Proportionalitätsgröße, mit der man von einem
außerdem, dass die Reibungskraft dafür sorgt, dass sich die Ge- Geschwindigkeitsgradienten du=dh zu der damit verbundenen
schwindigkeiten der beiden Schichten einander angleichen. Scherspannung  gelangt. Man nennt  auch häufig etwas prä-
ziser dynamische Viskosität und zerlegt sie über

Durch die Reibungskraft wirkt auf ein Flächenelement dA zwi- D  (8.188)


schen den Schichten die Spannung
in zwei Faktoren, um die Dichteabhängigkeit abzuspalten (nor-
dF ıu malerweise ist  proportional zu ). Hier ist  die kinematische
 D D : (8.186)
dA h Viskosität. Die Einheit von  ist Pa s. Entsprechend ist die Ein-
heit von  durch m2 s1 gegeben.
Wir führen nun den Grenzfall h ! 0 durch und verlangen, dass
das Geschwindigkeitsfeld stetig ist. Aus der Differenz ıu wird Die Viskositäten der meisten Fluide lassen sich in Tabellen in
dann du, und die viskose Spannung ist der Literatur finden. Sie hängen von der Temperatur ab, was ein
Hinweis auf ihren thermodynamischen Ursprung ist. Bei Raum-
dF du temperatur ist die Viskosität von Wasser (in SI-Einheiten) etwa
 D D : (8.187) 0;001 Pa s, Blut ist etwa viermal und Honig 4000-mal viskoser.
dA dh
Dagegen ist die Viskosität von Luft etwa 50-mal geringer als die
von Wasser.
Achtung Die viskose Spannung sieht zwar ähnlich aus wie
der Druck, der ebenfalls als Kraft pro Fläche definiert ist. Aller- Man kann die Viskosität experimentell messen, indem man
dings wirkt eine Druckkraft stets senkrecht auf eine Fläche, beispielsweise eine Flüssigkeit einer bekannten Scherspannung
während die Reibungskraft hier parallel zur Fläche wirkt. Man aussetzt und den dabei auftretenden Geschwindigkeitsgradien-
nennt diese Spannung daher auch häufig eine Scherspannung. ten misst.
8.7 Viskosität und Navier-Stokes-Gleichung 305

Navier-Stokes-Gleichung der bereits im „Mathematischen Hintergrund“ 1.7 eingeführt


wurde.

Teil I
Nun wollen wir noch zum dreidimensionalen Fall überge-
hen und die entsprechenden Feldgleichungen formulieren. In
(8.187) ist u durch u zu ersetzen und die Ableitung nach h Die Navier-Stokes-Gleichung ist wesentlich realistischer für all-
durch den Gradienten r . Wir wissen, dass der Spannungsten- tägliche Probleme als die Euler-Gleichung, da alle Flüssigkeiten
sor ein Tensor zweiter Stufe ist. Dies führt auf den viskosen viskos sind.
Spannungstensor für ein beliebiges Geschwindigkeitsfeld, den
man zusätzlich noch symmetrisiert: Der antisymmetrische An- Zur Veranschaulichung berechnen wir eine der einfachsten Lö-
teil .@i uj  @j ui / spielt keine Rolle, da er wie in (8.112) nur eine sungen, welche die Navier-Stokes-Gleichung erlaubt.
reibungsfreie Drehung beschreibt; er tritt in den Feldgleichun-
gen nicht auf.
Poiseuille-Fluss
Viskoser Spannungstensor
Wir betrachten zwei unendlich ausgedehnte Platten paral-
Für ein beliebiges Strömungsfeld u.t; r/ lautet der Beitrag lel zur x-y-Ebene mit Abstand 2D (Abb. 8.24). Wir den-
der viskosen Reibung zum Spannungstensor ken uns den Zwischenraum mit einer viskosen Flüssigkeit
  (Viskosität , Dichte ) gefüllt. Durch einen konstanten
D  grad u C .grad u/> (8.189) Druckgradienten entlang der (negativen) x-Achse wird
eine Strömung erzeugt. Gravitation wird vernachlässigt.
Diese Konfiguration nennt man ebenen Poiseuille-Fluss
bzw.   (nach dem französischen Physiker Jean Louis Léonard
 ;ij D  @i uj C @j ui : (8.190) Marie Poiseuille, 1797–1869). Er lässt sich analytisch lö-
sen, wie nun gezeigt wird.

Da, wie bereits gesehen, nur die Divergenz des Spannungs- z


tensors in die Euler-Gleichung eingeht, muss man div bzw.
@j  ;ij zur rechten Seite von (8.173) addieren.

Navier-Stokes-Gleichung D
für inkompressible Flüssigkeit
∇P
Für eine inkompressible Flüssigkeit ( D const) lautet die x
Impulsgleichung statt (8.182) ux (z)
D
du
D grad P C u C f : (8.191)
dt
Sie wird auch inkompressible Navier-Stokes-Gleichung Abb. 8.24 Der ebene Poiseuille-Fluss ist die Strömung, die sich durch
einen konstanten Druckgradienten zwischen zwei parallelen Platten er-
genannt (nach dem französischen Mathematiker und Phy- gibt
siker Claude Louis Marie Henri Navier, 1785–1836, und
dem irischen Mathematiker und Physiker Sir George Ga- Um die Navier-Stokes-Gleichungen lösen zu können,
briel Stokes, 1819–1903). brauchen wir im Allgemeinen Rand- und Anfangsbe-
dingungen. Die Randbedingungen sind derart, dass die
Flüssigkeit an den Platten ruht, also u.z D ˙D/ D 0.
Frage 34 Diese Randbedingung (auch Haftbedingung genannt) gilt
Zeigen Sie mithilfe der Inkompressibilität der Flüssigkeit, dass an fast allen Kontaktflächen und ist experimentell sehr gut
div D u (8.192) bestätigt.
Für den Poiseuille-Fluss sind die Anfangsbedingungen
gilt (wenn man annimmt, dass  nicht vom Ort abhängt, was für
nicht wichtig, da sich nach einer gewissen Zeit (für nicht
homogene Fluide der Fall ist). Gehen Sie dafür von der Kompo-
zu schnelle Strömungen; siehe Abschnitt „So geht’s wei-
nentenschreibweise aus und verwenden Sie die Definition des
ter“ am Ende dieses Kapitels) ein stationärer Zustand
Laplace-Operators
einstellt, der durch @u=@t D 0 ausgezeichnet ist. Wir fra-
@2 u @2 u @2 u gen hier nur nach diesem stationären Zustand.
u D C C D @i @i u; (8.193)
@x2 @y2 @z2
306 8 Kontinuumsmechanik

Es verbleibt die stationäre Navier-Stokes-Gleichung zu Die allgemeine Lösung dieser Gleichung ist nach zwei-
Teil I

lösen: maliger Integration schnell gefunden:

.u  r /u D grad P C u; (8.194) P0 2


ux D  z C C1 z C C2 : (8.197)
2
0
wobei der Druck P D P0  P x vorgegeben ist. Der kon-
stante Druckgradient lautet damit Man muss nun die Randbedingungen ausnutzen, um die
0 01 beiden Integrationskonstanten festzulegen. Aus ux .z D
P ˙D/ D 0 folgt nach kurzer Rechnung
grad P D  @ 0 A D const: (8.195)
0 P0  2 
ux .z/ D D  z2 .D  z  CD/: (8.198)
2
Aufgrund der Symmetrie kann die Strömung dann nur
entlang der x-Achse fließen: u D .ux ; 0; 0/> . Außerdem Die Flüssigkeit fließt daher in positive x-Richtung und
wird die Geschwindigkeit ux von z, wegen der Symmetrie somit entgegen dem Druckgradienten, also von einem
aber nicht von x oder y abhängen. Daraus folgt, dass der Gebiet mit höherem zu einem Gebiet mit niedrigerem
Term .u  r /u verschwindet. Druck. Das Geschwindigkeitsprofil ux .z/ ist parabolisch
und ebenfalls in Abb. 8.24 gezeigt.
Rechnen Sie dies ausgehend von ux D ux .z/ explizit nach.
Führen Sie die Integration und die Rechnung zur Bestim-
mung der Integrationskonstanten explizit durch. Zeigen
Damit lautet die relevante Komponente der Impulsglei- Sie außerdem, dass die Kontinuitätsgleichung erfüllt ist.
chung
d2 ux
 2 D P0 : (8.196) Der Poiseuille-Fluss in einem Rohr mit rundem Quer-
dz schnitt wird in Aufgabe 8.10 berechnet. J
So geht’s weiter 307

So geht’s weiter

Teil I
Fluiddynamik in Physik und Technik wobei uc und `c eine typische Geschwindigkeit und Länge des
betrachteten Systems sind und sich die Differenzialoperatoren
Die Navier-Stokes-Gleichungen spielen fast überall dort eine entsprechend wie rQ D `c r und  Q D `2c  verhalten. Außer-
wichtige Rolle, wo die Beschreibung von Fluiden berücksichtigt dem wurde die dimensionslose Reynolds-Zahl (benannt nach
werden muss. Dazu gehören Wettervorhersage, Blutfluss, che- dem britischen Physiker Osborne Reynolds, 1842–1912, der die-
mische Industrie, Luft- und Raumfahrt oder Sternentwicklung – se bereits durch Stokes eingeführte Zahl populär machte)
um nur einige wenige Beispiele zu nennen. uc `c
Aufgrund ihrer Nichtlinearität (die Geschwindigkeit kommt Re WD (8.201)

quadratisch vor) und da es sich bei ihnen um partielle Differen-
zialgleichungen handelt, sind die Navier-Stokes-Gleichungen definiert.
generell nur sehr schwer zu lösen. Hinzu kommen die benö- Für das bereits angesprochene Beispiel wählt man typischer-
tigten Rand- und Anfangsbedingungen, die bei realistischen weise den Durchmesser der Kaffeetasse für `c und die Ge-
Problemen beliebig kompliziert werden können. Je komplexer schwindigkeit des Löffels für uc . Man kann sich sehr leicht
die betrachtete Geometrie ist, desto aufwendiger wird die Lö- vorstellen, dass verschiedene physikalische Systeme auf völlig
sung des Problems. Beispiele sind Ozeanströmungen entlang unterschiedliche Reynolds-Zahlen führen. Die folgende Tabelle
einer Küste oder die Strömung in veränderlichen Geometrien gibt einen kurzen Überblick:
(z. B. Suspensionen, d. h. Flüssigkeiten mit suspendierten Teil- System `c uc Re
chen, deren Oberflächen sowohl komplexe Randbedingungen schwimmende Bakterien 1 m 10 m=s 105
für die Flüssigkeit darstellen, die aber auch durch die umgeben- Blutfluss in Kapillargefäßen 10 m 1 mm=s 102
de Flüssigkeit mitbewegt werden). In vielen Fluiden kommt es Blutfluss in Aorta 1 cm 10 cm=s 103
zudem zu chemischen Reaktionen (reaktiven Strömungen), die schwimmender Mensch 1m 1 m=s 106
sowohl durch die Strömung beeinflusst werden als auch auf die- Passagierflugzeug 10 m 200 m=s 108
se zurückwirken.
Häufig kommen noch weitere Komplikationen hinzu: Beispiels- Eine physikalisch wichtige Folgerung der dimensionslosen
weise gibt es kompressible Fluide (die weitere Terme in der Gleichung (8.199) ist das Ähnlichkeitsgesetz der Navier-Stokes-
Navier-Stokes-Gleichung erfordern) oder Fluide mit veränder- Gleichung. Es besagt, dass sich alle Strömungen mit gleicher
licher bzw. inhomogener Viskosität. Geometrie (d. h. gleichen Anfangs- und Randbedingungen) und
In diesem Ausblick soll nur auf drei Punkte eingegangen gleicher Reynolds-Zahl ähnlich verhalten, egal welche physika-
werden: Turbulenz, Oberflächenspannung und numerische Lö- lischen Werte , uc , `c und  im Detail annehmen. Beispielswei-
sungsansätze. Das Gebiet der Fluiddynamik ist jedoch viel se lässt sich die in Abb. 8.25 gezeigte Wirbelstraße (die dort auf
umfangreicher und hat in der aktuellen Forschung nichts von der Skala von vielen Kilometern existiert) auch im Labor auf
seiner ursprünglichen Faszination verloren. der Zentimeterskala erzeugen. Dies ist für das Testen der Aero-
dynamik von Fahr- und Flugzeugen wichtig, die im Windkanal
anhand von Miniaturmodellen untersucht werden kann.
Turbulenz
Die Navier-Stokes-Gleichungen gestatten turbulente Lösungen.
Turbulenz bedeutet, dass im Strömungsfeld scheinbar willkür-
liche und stark zeitabhängige Strukturen auftreten, die sich
analytisch nur sehr schwer beschreiben lassen. Prominente All-
tagsbeispiele sind das Mischen von Kaffee und Milch oder
Luftwirbel, die durch Wind erzeugt werden.
Um zu verstehen, wann Turbulenz auftritt, schreiben wir (8.191)
in dimensionsloser Form:
@uQ 1 Q
C .uQ  rQ /uQ D rQ PQ C uQ C fQ : (8.199)
@Qt Re
Dies lässt sich durch die folgenden Ersetzungen erreichen Abb. 8.25 Eine Kármán’sche Wirbelstraße (nach dem österreichischem
(sämtliche mit einer Tilde versehenen Größen sind dimensions- Physiker Theodore von Kármán , 1881–1963) in der Nähe der Insel Robinsón
los): Crusoe (Chile), aufgenommen von Landsat 7 am 15. September 1999. Die
Wirbelstraße wird durch einen Berg verursacht, der die Luftströmung stört.
u r t P f
uQ D ; rQ D ; Qt D ; PQ D 2 ; fQ D 2 ; Die Wirbelstraße selbst ist noch nicht turbulent, da das Wirbelmuster regel-
uc `c `c =uc uc uc =`c mäßig ist. Wirbelstraßen können schon ab Re  50 entstehen, wohingegen
(8.200) „echte“ Turbulenz erst ab Re  1000 auftritt
308 8 Kontinuumsmechanik

Turbulenz tritt auf, wenn die Reynolds-Zahl hinreichend groß mit einem Durchmesser von bis zu wenigen Millimetern ku-
Teil I

(und damit die viskose Reibung relativ unwichtig) ist. Da die gelförmig sind. Größere Tropfen unterliegen dem Einfluss der
kinetische Energie der Strömung so nur langsam in Wärme um- Schwerkraft und werden daher verformt. Dies kann man bei-
gewandelt wird, verbleibt sie lange in der Strömung; es bilden spielsweise bei einem tropfenden Wasserhahn beobachten.
sich dann häufig Wirbel wie in Abb. 8.25 gezeigt. Mechanisch kann man die Oberflächenspannung folgenderma-
Der Grenzbereich zwischen laminarer (d. h. nichtturbulenter) ßen verstehen: Stoßen sich zwei Fluide aufgrund ihrer mo-
und turbulenter Strömung liegt im Bereich um Re 103 , ist lekularen Eigenschaften ab (z. B. Öl und Wasser), so ist es
aber stark problemspezifisch. energetisch ungünstig, die Grenzfläche zwischen diesen beiden
Turbulente Strömungen haben die Eigenschaft, dass größere Phasen zu vergrößern. Es kostet also eine Energie E, um die
Wirbel nach und nach in kleinere zerfallen. Dieser Prozess fin- Grenzfläche um eine Fläche A zu erhöhen. Die Oberflächen-
det so lange statt, bis die kleinsten Wirbel aufgrund von viskoser spannung ist gerade das Verhältnis
Dissipation verschwinden, d. h., ihre kinetische Energie wird
letztlich in Wärme umgewandelt. Dass dies nur in den klei- E
D (8.202)
neren Wirbeln geschieht, erkennt man an der Definition der A
Reynolds-Zahl: Die lokale Reynolds-Zahl (definiert durch die
Wirbelgröße und -geschwindigkeit) ist bei kleineren Wirbeln und damit eine Art Grenzflächenenergiedichte. Umgekehrt be-
wesentlich kleiner, sodass dort die viskose Reibung wichtig deutet dies, dass eine existierende Grenzfläche einer äußeren
wird. Die Längenskala, unterhalb der Wirbel durch Dissipation (nicht zu großen) Kraft entgegenwirken kann, indem sich die
zerfallen, nennt man Mikroskala von Kolmogorow (der russische Grenzfläche verformt und eine zusätzliche Gegenspannung er-
Mathematiker Andrei Nikolajewitsch Kolmogorow, 1903–1987, zeugt. Dies erlaubt es einem Wasserläufer, auf einer Wassero-
leistete wegweisende Beiträge zur Theorie der Turbulenz). berfläche zu laufen, ohne diese zu durchdringen (Abb. 8.26).
Da Turbulenz vor allem bei der Wettervorhersage und in in-
dustriellen Produktionsprozessen eine große Rolle spielt, ist
ihr Verständnis von großer Wichtigkeit. Ausgesprochen schwie-
rig wird die Beschreibung turbulenter Systeme aufgrund der
großen Spanne der relevanten Längenskalen. Die größte Ska-
la ist selbstverständlich die Systemgröße selbst. Die kleinste
relevante Skala ist gerade die Kolmogorow-Länge. In vielen
Systemen trennen diese beiden Skalen viele Größenordnungen.

Oberflächenspannung
Die Navier-Stokes-Gleichungen (8.191) beschreiben zunächst
nur eine einzelne Fluidphase (verschiedene Fluidphasen sind
beispielsweise Wasser und Luft oder Wasser und Öl). Hat man
es mit mehreren Phasen zu tun, so müssen zusätzliche Gleichun-
gen bzw. Terme berücksichtigt werden, die das Verhalten der
Grenzflächen zwischen diesen Phasen beschreiben.
Ist Wasser (oder ein anderes Fluid) in Kontakt mit einem zwei-
ten Fluid, so spielt die molekulare Wechselwirkung zwischen
diesen Phasen eine wichtige Rolle. Beispielsweise wechselwir-
ken zwei Wassermoleküle ganz anders miteinander als zwei Abb. 8.26 Ein Wasserläufer kann aufgrund der Oberflächenspannung auf
Stickstoffmoleküle der Luft oder ein Wasser- und ein Stickstoff- einer Wasseroberfläche (Grenzfläche zwischen Wasser und Luft) laufen, oh-
ne dabei unterzugehen
molekül. Je nach Art dieser Wechselwirkungen kann sich eine
sogenannte Oberflächenspannung zwischen den beiden Phasen Es ist wichtig zu betonen, dass die Oberflächenspannung keine
ergeben. Eigenschaft eines Fluids ist, sondern stets zwei nicht misch-
Wassermoleküle ziehen sich aufgrund ihrer Dipolwechselwir- bare Fluide charakterisiert. Mischbare Fluide (z. B. Alkohol
kung gegenseitig stark an. Es ist daher energetisch günstiger, und Wasser) bilden keine Grenzfläche, da ihre molekularen
wenn ein gegebenes Wasservolumen (z. B. ein Tropfen in Luft) Wechselwirkungen ähnlich sind und keine makroskopische Ab-
eine minimale Oberfläche hat, sodass eine möglichst gerin- stoßung resultiert. Folglich gibt es keine Oberflächenspannung
ge Anzahl von Wassermolekülen weniger Nachbarn vorfindet zwischen mischbaren Fluiden. Diese Effekte sind temperaturab-
als diejenigen Moleküle, die sich im Inneren des Volumens hängig; so gibt es Fluide, die in bestimmten Temperaturinterval-
befinden. Dies ist der Grund, warum kleinere Wassertropfen len mischbar und in anderen nicht mischbar sind.
So geht’s weiter 309

Die Oberflächenspannung zwischen Luft und Wasser beträgt bei hydrophilen und bei > 90ı von hydrophoben Oberflächen.

Teil I
20 ı C etwa 0;073 J=m2. Damit lässt sich abschätzen, für wel- Von besonderem Interesse sind superhydrophobe Materialien
che Ausdehnungen Wassertropfen durch Oberflächenspannung mit einem Kontaktwinkel > 150ı (Lotuseffekt; Abb. 8.28). An
(und nicht durch Gravitation) dominiert werden. Hierzu betrach- diesen perlt Wasser ab und transportiert mögliche Verschmut-
tet man einen Wassertropfen mit Radius r, Oberfläche A und zungen fort; solche Materialien sind also potenziell selbstreini-
Volumen V. Die Kraft, mit der die Oberflächenspannung den gend.
Wassertropfen zusammenhält, ist von der Ordnung

F D A D 4  r: (8.203)
r
Dagegen wirkt insgesamt eine Gravitationskraft

4
Fg D gV D gr3 (8.204)
3
auf den Tropfen. Also haben wir
r
gr2 
F > Fg H) > H) r <  3 mm:
3 g
p (8.205)
Im letzten Schritt wurde der numerische Faktor 3  1
ignoriert. Man nennt r die Kapillarlänge von Wasser. Wir se- Abb. 8.28 Der Kontaktwinkel von Wassertropfen auf einem Lotusblatt ist
hen, dass Oberflächenspannungen nur für kleine Ausdehnungen mit etwa 150ı sehr groß. Das Wasser perlt daher ab und kann das Blatt
(kleiner als wenige Millimeter) wichtig sind und demnach nur nicht benetzen
Insekten, nicht aber Säugetiere, über Wasser laufen können.
Noch interessanter wird es, wenn zwei nicht mischbare Fluide
mit einem Festkörper in Kontakt kommen (Abb. 8.27). Dort hat
Numerische Lösungsansätze
man es dann mit drei verschiedenen Oberflächenspannungen zu
tun (1f zwischen Fluid 1 und Festkörper, 2f zwischen Fluid
In den meisten Fällen werden die Navier-Stokes-Gleichungen
2 und Festkörper sowie 12 zwischen Fluid 1 und Fluid 2). Je
numerisch, also mithilfe von Computeralgorithmen, gelöst.
nach Verhältnis dieser drei Oberflächenspannungen ergibt sich
Es gibt eine Vielzahl klassischer CFD-Werkzeuge (Computatio-
ein anderer Kontaktwinkel der Fluid-Fluid-Grenzfläche an der
nal Fluid Dynamics), die mittlerweile extrem ausgereift sind.
Oberfläche des Festkörpers.
Dazu gehören die Finite-Differenzen- und Finite-Volumen-Me-
1 thoden, aber auch Finite-Elemente- und Spektralmethoden. In
γ12
den vergangenen 20 Jahren wurden allerdings eine ganze Rei-
he weitere Methoden entwickelt, die als Navier-Stokes-Löser
2 verwendet werden können, obwohl sie nicht direkt auf einer
γ2f γ1f Diskretisierung der Navier-Stokes-Gleichungen aufbauen. Bei-
◦ ◦ ◦
spiele sind die Lattice-Boltzmann- oder Dissipative-Particle-
θ < 90 θ = 90 θ >90
Dynamics-Methode.
Abb. 8.27 Der Kontaktwinkel wird durch die Steigung der Tangente an
Eine Gemeinsamkeit der meisten dieser Methoden ist die not-
die Fluid-Fluid-Oberfläche am gemeinsamen Kontaktpunkt aller drei Phasen wendige Diskretisierung des Raumes und der Zeit. Der einfachs-
definiert und ist eine Funktion der drei Oberflächenspannungen 12 , 1f und te (aber nicht immer der sinnvollste und effizienteste) Zugang ist
2f es, den Raum durch ein orthogonales und regelmäßiges Gitter
Der Kontaktwinkel ist über die Young-Laplace-Gleichung (nach mit Gitterkonstante x zu beschreiben sowie die Zeit in äquidi-
dem englischen Physiker Thomas Young, 1773–1829, und Pier- stante Zeitschritte der Länge t zu unterteilen. Die Gleichungen
re-Simon Laplace) festgelegt: werden dann nur an diskreten Orten und zu diskreten Zeiten ge-
löst.
1f  2f Dies soll kurz anhand der Finite-Differenzen-Methode illustriert
cos D : (8.206)
12 werden. Um die Ableitung von u.x/ an einem Gitterpunkt xi mit
Nachbarn xi˙1 im Abstand x zu bestimmen, berechnet man in
Diese Gleichung lässt sich unmittelbar aus der Forderung eines erster Näherung
mechanischen Kräftegleichgewichts ableiten.
Am häufigsten findet man die Situation, dass die beiden Fluide u.xiC1 /  u.xi1 /
gerade Wasser und Luft sind. Dann spricht man bei < 90ı von u0 .xi / : (8.207)
2x
310 8 Kontinuumsmechanik

Entsprechend kann die zweite Ableitung folgendermaßen ange- te verfeinerter Algorithmen wie die sogenannten Runge-Kutta-
Teil I

nähert werden (siehe auch (8.18)): Verfahren.


u.xi1 /  2u.xi / C u.xiC1 /
u00 .xi / : (8.208) Literatur
.x/2
Das Voranschreiten in der Zeit stellt eine andere Herausforde- Davidson, P. A.: Turbulence: An Introduction for Scientists
rung dar. Die einfachste Zeitintegration stellt das explizite Euler- and Engineers. Oxford University Press, 2004
Verfahren dar. Für die Geschwindigkeit an einem gegebenen Ferziger, J. H, Peric, M., Leonard, A.: Computational Me-
Punkt im Raum gilt dann (mit tjC1 D tj C t) thods for Fluid Dynamics. 3. Aufl., Springer Verlag, 2002
Oertel, H. Jr. et al.: Prandtl – Führer durch die Strömungs-
u.tjC1 / D u.tj / C uP .tj /t; (8.209) lehre: Grundlagen und Phänomene. 13. Aufl., Springer Ver-
lag, 2012
wobei die zeitliche Änderung uP .tj / bekannt sein muss. Dieses Succi, S.: The Lattice Boltzmann Equation: For Fluid Dyna-
Verfahren ist relativ ungenau; es gibt aber eine große Palet- mics and Beyond. Oxford University Press, 2001
Aufgaben 311

Aufgaben

Teil I
Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen

8.1 Randbedingungen für das elastische Band eingespannter Einheitslänge wirkt die Kraft  auf den Rand der
Am Beispiel der eingespannten Saite wurde in Abschn. 8.2 Membran. Die Gesamtkraft, die bei x D 0 bzw. x D `x die
gezeigt, wie sich Dirichlet’sche Randbedingungen, also z. B. Membran einspannt, ist also `y bzw. C`y . Entsprechend
q.t; 0/ D q.t; `/ D 0, berücksichtigen lassen. In dieser Auf- wird bei y D 0 bzw. y D `y die Membran gerade mit `x
gabe sollen die Neumann’schen Randbedingungen betrachtet bzw. C`x festgehalten. Ansonsten sei die Membran kräftefrei.
werden. Wir verlangen hier, dass das Band aus Abschn. 8.1 am Zeigen Sie, dass die Funktion
Rand einer Kraft F ausgesetzt ist. Es ist aber im Vorfeld nicht
klar, wie die Verformung q.t; x/ bei x D 0 und x D ` aussieht. qz .t; x; y/ D f .t/g.x/h.y/ (8.213)

(a) Zeigen Sie, dass (8.5) im Kontinuumslimes die Form mit


f .t/ D Cf sin.!t  f /;
ˇ ˇ
@2 q ˇˇ Y @q ˇˇ F g.x/ D Cg sin.kx x  g /; (8.214)
ˇ C ˇ D (8.210)
@t xD` a0 @x xD`
2 a0 h.y/ D Ch sin.ky y  h /
die Differenzialgleichung (8.211) löst. Wie muss dazu ! als
annimmt. Eine entsprechende Gleichung gilt auch an der
Funktion von kx und ky gewählt werden? Wie sind die Integra-
Stelle x D 0.
tionskonstanten zu wählen, damit die Randbedingungen erfüllt
(b) Leiten Sie einen Zusammenhang ab, der verhindert, dass
sind? Zeigen Sie dann, dass die allgemeine Lösung durch eine
(8.210) im Grenzfall a0 ! 0 divergiert. Zeigen Sie damit,
Fourier-Reihe in x und y gegeben ist.
dass die äußere Kraft am Rand eine Bedingung an die ers-
te Ortsableitung von q stellt (und nicht an die Funktion q Lösungshinweis: Bedenken Sie bei der Konstruktion der all-
selbst). Damit handelt es sich um eine Neumann’sche Rand- gemeinen Lösung, dass die Schwingungsgleichung (8.211) li-
bedingung. near und homogen ist.
8.2 Schwingende Membran Wir betrachten eine 8.3 Fourier-Reihe für (un)gerade Funktionen
zweidimensionale elastische Membran in der x-y-Ebene, die bei Zeigen Sie, dass bei geraden Funktionen alle Koeffizienten bj
x D 0 und x D `x sowie bei y D 0 und y D `y eingespannt ist. der Fourier-Reihe gleich null sind, bei ungeraden Funktionen
Gesucht ist die allgemeine Lösung qz .t; x; y/ für die Auslenkung alle Koeffizienten aj .
der Membran entlang der z-Achse. Dies könnte beispielswei- Lösungshinweis: Wählen Sie c geeignet.
se das einfache Modell einer rechteckigen Trommel sein. Man
kann die Bewegungsgleichung der schwingenden Saite (8.47) 8.4 Sägezahnkurve Stellen Sie die Funktion
verallgemeinern und findet für die Membran ganz analog f .t/ D t für 0  t < 1 (und periodisch fortgesetzt) als Fou-
rier-Reihe dar.
 
@2 qz @2 qz Lösungshinweis: Die Funktion f ist weder gerade noch un-
qR z  v?
2
C D 0: (8.211)
@x2 @y2 gerade. Durch eine Verschiebung nach unten erhält man jedoch
eine ungerade Funktion.
Die Wellengeschwindigkeit erfüllt
8.5 Darstellungen der Fourier-Reihe Ermitteln
r Sie die Zusammenhänge zwischen den Koeffizienten aj ; bj der

v? D ; (8.212) Fourier-Reihe mit Sinus- und Kosinusfunktionen einerseits und
den Koeffizienten cj der Fourier-Reihe in der Exponential-Dar-
stellung andererseits.
wobei die Massendichte bezogen auf die Fläche ist und die
Spannung  die zur Kraft F in (8.47) analoge Größe. Die 8.6 Drehungstensor Es soll gezeigt werden, dass
Spannung hat die Bedeutung einer Kraft pro Länge, d. h., pro der Tensor !ij aus (8.112) eine Drehung beschreibt und daher
312 8 Kontinuumsmechanik

nicht zu Verformungsenergie des elastischen Körpers beiträgt. konstanter Winkelgeschwindigkeit ! D ! eO z um seine Symme-
Zur Vereinfachung betrachten wir ein infinitesimales Flächen- trieachse gedreht, die durch den Ursprung verläuft. Gravitation
Teil I

element in zwei Dimensionen, das von zwei (nicht notwendiger- soll vernachlässigt werden. Es kann angenommen werden, dass
weise orthogonalen) Vektoren da und db aufgespannt wird. Nun sich die Flüssigkeit mit dem Zylinder dreht und sich in einem
betrachten wir dasselbe Flächenelement im verformten Zustand stationären Zustand befindet.
mit
da0i D dai C ij daj D .ıij C ij / daj ;
(8.215) (a) Wie lautet das stationäre Geschwindigkeitsfeld u.%; '/ für
db0i D dbi C ij dbj D .ıij C ij / dbj ;
% D x2 C y2 < R (' ist der Polarwinkel)?
wobei  D .ij / D .@i qj / den Verformungszustand des Flächen- (b) Zeigen Sie, dass die Kontinuitätsgleichung erfüllt ist.
elements charakterisiert. (c) Bestimmen Sie den Druck P.%/ so, dass die Euler-Gleichung
erfüllt wird. Welche anschauliche Rolle spielt der Druck
Zeigen Sie, dass das Flächenelement lediglich gedreht (und
hier?
nicht verzerrt) wird, genau dann, wenn ij D !ij ist.
Lösungshinweis: Überprüfen Sie dazu, unter welchen Um-
Lösungshinweis: Aufgrund der Symmetrie entlang der z-
ständen die Bedingung da0i db0i D dai dbi erfüllt ist, d. h., wann
Achse kann das äquivalente zweidimensionale Problem in der
Längen- und Winkelinvarianz vorherrschen (Invarianz des Ska-
x-y-Ebene behandelt werden. Verwenden Sie die Zylinderkoor-
larprodukts).
dinaten aus Abschn. 2.5. Die Divergenz in Zylinderkoordinaten
8.7 Spannungstensor für elastisches Medium lautet
(a) Bestimmen Sie den Spannungstensor (8.122) für das elasti- 1 @.%u% / 1 @u' @uz
sche Medium mit dem Elastizitätstensor div u D C C (8.219)
% @% % @' @z
 
Cijkl D ıij ıkl C  ıik ıjl C ıil ıjk : (8.216)
mit
Das Ergebnis ist das isotrope Hooke’sche Gesetz als kontinu-
ierliche Erweiterung der eindimensionalen Federgleichung 0 1 0 1 0 1
cos '  sin ' 0
F D Dq.x/ D D.x  x0 /: (8.217) u D u% @ sin ' A C u' @ cos ' A C uz @0A : (8.220)
0 0 1
(b) Wie lautet der Spannungstensor für die Verzerrung
0 1 Achten Sie darauf, dass sowohl die radiale Koordinate % als
1 @ 0 0 zx A auch die Dichte in den Rechnungen auftreten.
D 0 0 0 ; (8.218)
2  0 0
zx
8.10 Poiseuille-Fluss in Rohr Betrachten Sie ein
die in (8.116) gefunden wurde? Rohr mit kreisförmigem Querschnitt (Radius R) entlang der
(c) Berechnen Sie die äußere Kraft F, die an der Oberseite des z-Achse. Ein Druckgradient grad P D .0; 0; P0 /> D const
in Abb. 8.14 gezeigten Quaders angreifen muss, damit sich treibt eine imkompressible Strömung an, von der angenommen
im statischen Fall der in Teilaufgabe (b) gefundene Span- werden kann, dass sie stationär ist. Leiten Sie ausgehend von
nungstensor ergibt. In welche Richtung wirkt die Kraft? den Navier-Stokes-Gleichungen und unter der Annahme, dass
Dies erlaubt die Bestimmung des Schermoduls , wenn bei die Geschwindigkeit an der Oberfläche des Rohres verschwin-
bekannter Kraft F die resultierende Scherung zx gemessen det, das Geschwindigkeitsfeld u.%/ ab.
wird.
Berechnen Sie außerdem den Volumenstrom durch eine Quer-
8.8 Fluss im Rohr mit variabler Querschnittsflä-
schnittsfläche des Rohres.
che Eine inkompressible Flüssigkeit (d. h. D const und
div u D 0) fließe durch ein Rohr mit einer variablen Quer- Lösungshinweis: Verwenden Sie Zylinderkoordinaten und
schnittsfläche. Welcher Zusammenhang besteht zwischen der den entsprechenden Laplace-Operator
mittleren Geschwindigkeit der Flüssigkeit auf einer beliebigen
ebenen Querschnittsfläche und dem Flächeninhalt dieser Quer-  
schnittsfläche? Gehen Sie dabei vom Gauß’schen Satz aus. 1 @ @f 1 @2 f @2 f
f .%; '; z/ D % C 2 2 C 2: (8.221)
% @% @% % @' @z
Lösungshinweis: Die genaue Gestalt des Geschwindigkeits-
feldes ist unerheblich. Es ist nur wichtig anzunehmen, dass an
der Rohrinnenwand die Geschwindigkeit der Flüssigkeit überall Nutzen Sie außerdem die Symmetrieüberlegungen aus, die be-
verschwindet. reits in Abschn. 8.7 für den planaren Poiseuille-Fluss verwendet
wurden.
8.9 Rotierende Flüssigkeit Betrachten Sie einen
unendlich langen Zylinder mit Radius R, der mit einer in- Fordern Sie bei der Integration, dass u für % ! 0 nicht diver-
kompressiblen Flüssigkeit gefüllt ist. Dieser Zylinder wird mit gieren soll.
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 313

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben

Teil I
8.1 Somit lautet eine Lösung

(a) Ausgehend von .nx ;ny /


qz .t; x; y/ D Cnx ;ny sin.!t  nx ;ny / sin.kx x/ sin.ky y/
mRqN C k.qN  qN1 /  F D 0 (8.222) (8.231)
mit Cnx ;ny D Cf Cg Ch für einen gegebenen Satz .nx ; ny / und der
folgt mit den Definitionen von Massendichte und Young- Nebenbedingung (8.229).
Modulus zunächst
Y qN  qN1 F Da die Ausgangsgleichung (8.211) linear und homogen ist,
qR N C D : (8.223) erhält man die allgemeine Lösung durch eine beliebige Line-
a0 a0 a0 arkombination der Lösungen (8.231) für verschiedene .nx ; ny /:
Im Grenzfall a0 ! 0 ersetzen wir qi .t/ durch q.t; x/, wobei
qN .t/ gerade q.t; `/ entspricht und der Differenzenquotient 1 X
X 1
.nx ;ny /
zur ersten Ableitung von q.t; x/ nach x wird. Da das Band qz .t; x; y/ D qz .t; x; y/: (8.232)
hier nur bei x D ` betrachtet wird, erhält man damit bereits nx D1 ny D1
(8.210).
(b) Damit (8.210) im Kontinuumslimes a0 ! 0 nicht divergiert, Dies ist aber nichts anderes als eine Fourier-Reihe in x und y,
schreiben wir zunächst die nur Sinusbeiträge beinhaltet. Die Cnx ;ny und nx ;ny sind In-
ˇ  ˇ 
@2 q ˇˇ 1 @q ˇˇ tegrationskonstanten. Einige der Eigenmoden sind in Abb. 8.29
C Y  F D0 (8.224) gezeigt.
@t2 ˇxD` a0 @x ˇxD`
und verlangen, dass der umklammerte Ausdruck verschwin- 8.3 Für eine gerade Funktion f gilt f .t/ D f .t/. Die Koeffizi-
den muss. Somit lautet die Randbedingung enten berechnet man mit der Wahl c D T=2 über
ˇ
@q ˇˇ F ZT=2
D : (8.225)
@x ˇxD` Y bj D
2
f .t/ sin.j!t/ dt: (8.233)
T
Dies bedeutet, dass die an einem Ende angreifende Kraft T=2
eine Bedingung an die erste Ableitung von q.x/ am Rand
stellt. Ein völlig analoger Ausdruck folgt für x D 0. Mit der Substitution t0 D t wird dies zu

8.2 Der Ansatz (8.213), eingesetzt in (8.211), führt allgemein Z


T=2
2
auf bj D f .t0 / sin.j!t0 /.dt0 /
fR gh  v?
2
.fg00 h C fgh00 / D 0: (8.226) T
T=2
(8.234)
Speziell gilt hier Z
T=2
2
fR D ! 2 f ; g00 D kx2 g; h00 D ky2 h: (8.227) D f .t0 / sin.j!t0 / dt0 ;
T
T=2
Es folgt also
 2  wobei ausgenutzt wurde, dass f gerade und die Sinusfunktionen
 ! 2 fgh C v?
2
kx C ky2 fgh D 0; (8.228)
ungerade sind.
was für  2 
! 2 D v?
2
kx C ky2 (8.229) Vertauscht man die Integrationsgrenzen, dann folgt sofort

erfüllt ist.
ZT=2
2
Nun erfordern die Randbedingungen, dass g.0/ D g.`x / D 0 bj D  f .t0 / sin.j!t0 / dt0 (8.235)
und h.0/ D h.`y / D 0 ist. Dies wird durch g D h D 0 erfüllt T
T=2
sowie durch die Bedingungen
nx ny und deswegen bj D bj und folglich bj D 0. Völlig äquivalent
kx D ; ky D .nx ; ny 2 N/: (8.230)
`x `y zeigt man die andere Behauptung.
314 8 Kontinuumsmechanik

nx = 1, ny = 1 Mittels partieller Integration erhält man leicht bj D 1=.j /,


g(x)h(y) also insgesamt die Fourier-Reihe
Teil I

1
1 1 X sin.2 jt/
f .t/ D  : (8.237)
2 jD1
j

8.5 Schreibt man

aj cos.j!t/ C bj sin.j!t/
   
y aj bj aj bj (8.238)
D C eij!t C  eij!t
x 2 2i 2 2i

und benutzt, dass dies gleich dem Summenglied cj exp.ij!t/ C


cj exp.ij!t/ sein muss, so erhält man für j > 0 sofort
nx = 3, ny = 2
g(x)h(y)
aj  ibj aj C ibj
cj D und cj D : (8.239)
2 2
Im Fall j D 0 folgt dagegen
a0
c0 D p : (8.240)
2

In der anderen Richtung hat man also


y
aj D cj C cj und bj D i.cj  cj /: (8.241)
x

8.6 Wir berechnen das Skalarprodukt der Vektoren da0 und db0 :
nx = 7, ny = 5
g(x)h(y) da0  db0 D da0i db0i D .ıij C ij /.ıik C ik / daj dbk
(8.242)
D .ıkj C kj C jk C ij ik / daj dbk :

Da die Verformung ij klein sein soll, kann der in  quadratische


Term vernachlässigt werden. Es verbleibt also

da0  db0 D da  db C .kj C jk / daj dbk : (8.243)

Vom trivialen Fall  D 0 abgesehen, kann da0  db0 D da  db


nur genau dann verschwinden, wenn
y

x kj D jk (8.244)

Abb. 8.29 Einige Eigenmoden der rechteckigen Membran (von oben nach un- erfüllt ist, d. h. wenn  antisymmetrisch und somit ij D !ij ist.
ten : nx D 1 und ny D 1, nx D 3 und nx D 2, nx D 7 und nx D 5) Damit ist gezeigt, dass die Transformation  D ! das Flächen-
element lediglich dreht und nicht verzerrt.
8.7
8.4 Die Funktion fN .t/ D t  1=2 (und periodisch fortgesetzt)
ist ungerade, also hat man sofort aNj D 0 für alle j und damit (a) Der Spannungstensor ist definiert als
p
a0 = 2 D 1=2 und aj D 0 für j > 0. Die restlichen Koeffizienten
ij D Cijkl kl : (8.245)
sind
Wir multiplizieren also (8.216) mit kl und vereinfachen. Der
Z1 erste Term ergibt
2
bj D t sin.2 jt/ dt: (8.236)
1
0 ıij ıkl kl D ıij kk : (8.246)
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 315

Dies ist also proportional zur Spur kk des Verzerrungsten- Mit der Projektion un D u  nO der Geschwindigkeit auf die Flä-
sors. Der zweite Term lautet chennormale nO gilt in kompakter Form

Teil I
    “ “
 ıik ıjl C ıil ıjk kl D  ij C ji : (8.247) un dA D un dA: (8.255)
A1 A2
Zusammengefasst und wegen der Symmetrie des Verzer-
rungstensors erhalten wir Nun ist aber ’
un dA
uN n.1/
A1
ij D kk ıij C 2ij : (8.248) D (8.256)
A1
Diese Gleichung erlaubt es, direkt die Spannung für einen die mittlere (projizierte)’Geschwindigkeit der Flüssigkeit auf
gegebenen Verzerrungszustand auszurechnen. der ersten Fläche A1 D A1 dA (eine analoge Aussage gilt für
(b) Zunächst sehen wir, dass die Spur der Verzerrung (8.218) die zweite Fläche), und wir schreiben demnach
verschwindet (kk D 0); daher ist der Spannungstensor ein-
fach A1 uN n.1/ D A2 uN n.2/ : (8.257)
ij D 2ij D zx .ıiz ıjx C ıix ıjz / (8.249)
Dies bedeutet, dass das Produkt aus Querschnittsfläche und
bzw. mittlerer Geschwindigkeit für alle gleichzeitig betrachteten
0 1 Querschnittsflächen identisch ist, denn die Wahl der beiden Flä-
0 0 1
D zx @0 0 0A : (8.250) chen war beliebig. Die Flüssigkeit muss also in einem engeren
1 0 0 Abschnitt schneller fließen.
8.9
(c) Die Oberflächenkraft, die notwendig ist, um die Verzerrung
(8.218) bzw. Spannung (8.250) zu erreichen, ergibt sich aus (a) Der Geschwindigkeitsvektor muss überall in der x-y-Ebene
liegen. Bei einer Rotation ! D ! eO z lautet das rotierende
F D A; (8.251) Geschwindigkeitsfeld
0 1
wobei A D AOez die orientierte Fläche der Oberseite des Qua-  sin '
ders ist. Wegen eO z D .0; 0; 1/> findet man sofort u.%; '/ D !% @ cos ' A D !%Oe' : (8.258)
0
0 1
Azx
F D @ 0 A: (8.252) (b) Die Kontinuitätsgleichung für eine inkompressible Flüssig-
0 keit lautet einfach div u D 0, wobei hier die Divergenz
in Zylinderkoordinaten verwendet werden muss. Da nur
u' D !% als Funktion von % auftritt, folgt direkt, dass die
8.8 Eine inkompressible Flüssigkeit erfüllt div j D div u D 0. Divergenz verschwindet. Die Kontinuitätsgleichung ist also
Der Satz von Gauß in (8.162) besagt dann: erfüllt.
(c) Da keine Volumenkraft vorliegt und das Problem statisch ist,
— • bleibt von der inkompressiblen Euler-Gleichung (8.175) le-
u  dA D div u dV D 0: (8.253) diglich
@V div.u ı u/ D grad P (8.259)

Als Integrationsvolumen wählen wir den Innenraum des Roh- übrig. Dies kann wegen der Divergenzfreiheit in folgender
res (einschließlich seiner inneren Oberfläche), begrenzt durch Form in Koordinatendarstellung geschrieben werden:
zwei ebene und zueinander parallele Flächen. Wir zerlegen die
ui @i uj D @j P: (8.260)
dadurch definierte geschlossene Integrationsoberfläche nun in
drei Teile: die beiden ebenen Querschnittsflächen (A1 und A2 ) Es ist also zunächst der Gradient der Geschwindigkeit,
und die Rohrinnenwand. Entsprechend der Annahme trägt die grad u, zu berechnen. Mithilfe von (2.113) lässt sich dies
Rohrinnenwand nicht zum Integral bei, da dort überall u D 0 in Zylinderkoordinaten leicht durchführen:
gilt. Die beiden betrachteten ebenen Flächen sind antiparallel
zueinander, da das Flächenelement dA überall nach außen zeigt. @u 1 @u @u
Die erste Fläche hat demnach einen Normalenvektor nO D const, grad u D eO % ı C eO ' ı C eO z ı : (8.261)
@% % @' @z
die zweite entsprechend nO D const. Es verbleibt
“ “ Hier bleibt wegen (8.258) lediglich
u  nO dA D u  nO dA: (8.254) @.!%/ @Oe'
grad u D eO % ı eO ' C ! eO ' ı (8.262)
A1 A2 @% @'
316 8 Kontinuumsmechanik

übrig, wobei noch @Oe' =@' D Oe% gilt. Wir erhalten also Nun dividieren wir diese Gleichung durch % und integrieren er-
neut:
P0
Teil I

grad u D ! .Oe% ı eO '  eO ' ı eO % / 6D 0; (8.263)


uz D  %2 C C1 ln % C C2 : (8.271)
4
da die Reihenfolge der beiden Vektoren eO % und eO ' nicht ein-
fach vertauscht werden darf. Von links mit u> multipliziert Die beiden Integrationskonstanten C1 und C2 sind nun so zu
ergibt sich bestimmen, dass uz .R/ D 0 ist. Dies ist allerdings nur eine
Bedingung an zwei Konstanten. Wir sehen außerdem, dass der
.ui @i uj / D u> .grad u/ Term ln % für % ! 0 divergiert. Dies darf allerdings nicht sein,
da das Strömungsfeld im gesamten Rohrinnenraum regulär sein
D ! 2 %Oe>
' .O
e% ı eO '  eO ' ı eO % / D ! 2 %Oe% : soll. Es muss also C1 D 0 erfüllt sein. Die verbleibende Kon-
(8.264) stante C2 wählen wir dann so, dass die Randbedingung erfüllt
Der Druck lässt sich dann über ist:
P0 2
grad P D ! 2 %Oe% (8.265) uz .% D R/ D 0 H) C2 D R: (8.272)
4
bestimmen. Daraus lässt sich ablesen, dass der Druck nur Insgesamt lautet die Lösung also
eine radiale Abhängigkeit haben kann:
P0  2 
! 2
2 uz D R  %2 .%  R/: (8.273)
PD % ; (8.266) 4
2
Auch in einem Rohr mit kreisförmigem Querschnitt ist das
wobei eine beliebige und unwichtige Konstante ignoriert Geschwindigkeitsfeld parabolisch, allerdings in der Radiusko-
wurde. Der Gradient des Druckes ergibt genau diejenige ordinate %. Außerdem unterscheiden sich die Vorfaktoren hier
Kraft, welche die Flüssigkeit auf der stationären Kreisbahn und in (8.198) um einen Faktor 2.
hält; es handelt sich dabei also um die der Zentrifugalkraft
entgegenwirkende Kraft. Die Gesamtmenge (d. h. das Gesamtvolumen) an Flüssigkeit,
die pro Zeiteinheit durch eine Querschnittsfläche des Rohres
fließt, ist
8.10 Im stationären Zustand lautet die Navier-Stokes-Glei- Z Z2 ZR
chung
.u  r /u D grad P C u: (8.267) I D uz dA D d' uz % d%: (8.274)
0 0
Aufgrund der Symmetrie kann die Strömung nur in z-Richtung
fließen, und das Geschwindigkeitsfeld kann nur vom Abstand % Beide Integrationen sind trivial ausführbar. Die Winkelintegra-
zur Mittelachse abhängen. Der Gradient von u ist somit senk- tion ergibt lediglich einen Faktor 2 . Das verbleibende Integral
recht zu u selbst, sodass .u  r /u D 0 ist. Es verbleibt daher nur lautet
die z-Komponente der Navier-Stokes-Gleichung:
ZR ZR
P0  
uz D P : 0
(8.268) uz % d% D R2 %  %3 d%
4
0 0 (8.275)
Es ist nun zu beachten, dass die Integration in Zylinderkoordi- P0  4  P0 R4
naten durchzuführen ist. D R =2  R4 =4 D :
4 16
Da wir annehmen, dass uz nur von % abhängt, können die Ablei-
tungen nach ' und z ignoriert werden. Das Problem lautet also Der Gesamtfluss ist also
 
1 @ @uz P0 P0 R4
% D : (8.269) ID : (8.276)
% @% @%  8

Wir multiplizieren mit % und integrieren: Dieses letzte Ergebnis wird auch als Hagen-Poiseuille-Gesetz
bezeichnet (nach dem deutschen Ingenieur Gotthilf Heinrich
@uz P0 Ludwig Hagen, 1797–1884). Es ist von großer Bedeutung für
% D  %2 C C1 : (8.270)
@% 2 die Hydraulik und technische Anwendungen.
Antworten zu den Selbstfragen 317

Antworten zu den Selbstfragen

Teil I
Antwort 19 Ist q im gesamten Körper identisch, so ist er per Antwort 24 Der typische Molekülabstand ist von der Grö-
Definition nicht verformt, sondern nur verschoben; eine bloße ßenordnung 109 m; mit einer linearen Ausdehnung von zehn
Verschiebung des Körpers in Abwesenheit äußerer Kräfte än- Molekülen ergibt dies eine Kantenlänge von etwa 10 nm.
dert aber nicht seine potenzielle Energie.
Antwort 32 Jedes Strömungsfeld mit u D u.t/ erfüllt diese
Antwort 23 Die Kraft ist null. Forderung. Dies ist aber wesentlich schwieriger zu realisieren
als ein stationäres Feld u.r/.
318 8 Kontinuumsmechanik

Literatur
Teil I

Hänel, D.: Molekulare Gasdynamik: Einführung in die kine- Sadd, M.H.: Elasticity: Theory, Applications, and Numerics.
tische Theorie der Gase und Lattice-Boltzmann-Methoden. Academic Press, Amsterdam (2009)
Springer, Berlin (2004)
Stephani, H., Kluge, G.: Theoretische Mechanik: Grundlagen
Kramer, J., Warmuth, E.: Sommerschule „Lust auf Mathema- und Übungen. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg
tik“ (2010), http://didaktik.mathematik.hu-_berlin.de/files/ (1995)
bericht_1_11.pdf. Zugegriffen: 5. September 2013
Landau, L., Lifschitz, E.: Lehrbuch der theoretischen Physik,
10 Bde., Bd. 6, Hydrodynamik. Harri Deutsch, Frankfurt
(1991)
Spezielle Relativitätstheorie
9

Teil I
Warum verlangt die
Konstanz der
Lichtgeschwindigkeit die
Relativität der Zeit?

Ist die Lorentz-Kontraktion


wirklich oder scheinbar?

Welche Geometrie hat das


vierdimensionale Raum-
Zeit-Kontinuum?

Was sind Vergangenheit,


Gegenwart und Zukunft in
der Relativitätstheorie?

Was bräuchte es für den


Bau einer Zeitmaschine?

9.1 Anfang und Ende der Äther-Vorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321


9.2 Lorentz-Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
9.3 Minkowski-Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
9.4 Viererformalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
So geht’s weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 319
320 9 Spezielle Relativitätstheorie

Dass sich physikalische Wirkungen nie schneller als mit Lichtge-


schwindigkeit ausbreiten, ist heutzutage allgemein bekannt, ob-
Teil I

wohl es im Alltagsleben und auch für einen Großteil der Experimen-


talphysik keine bedeutende Rolle spielt. Aber allein die Tatsache
der Existenz einer absoluten Grenzgeschwindigkeit unterminiert die
Grundlage, auf der die Newton’sche Mechanik aufgebaut wurde,
denn in dieser haben nur Beschleunigungen eine absolute Bedeu-
tung, während Geschwindigkeiten relativ und damit beliebig sind.
Da das Licht selbst ein elektrodynamisches Phänomen ist, wird
die spezielle Relativitätstheorie, in der die Lichtgeschwindigkeit
paradoxerweise eine absolute Bedeutung bekommt, üblicherwei-
se erst in einem fortgeschrittenen Stadium von Elektrodynamik-
Vorlesungen behandelt. In diesem Buch wird die Relativitätstheo-
rie dementsprechend auch erst in Kap. 18 dazu herangezogen, die
Elektrodynamik von einer höheren Warte aus zu betrachten. Das
Studium des vorliegenden und des nächsten Kapitels kann daher
auch auf diesen Zeitpunkt verschoben werden. Alternativ kann aber
auch ganz ohne die Elektrodynamik bereits jetzt die relativistische
Kinematik und (im folgenden Kapitel) die relativistische Mechanik
studiert werden. Abb. 9.1 Albert Einstein (1879–1955) (mit freundlicher Genehmigung der Rus-
sischen Akademie der Wissenschaften)
Albert Einstein (1879–1955; Abb. 9.1) hatte 1905 als junger Pa-
tentamtsbeamter in seiner Arbeit „Zur Elektrodynamik bewegter
Körper“ (Einstein 1905) nicht so sehr die Elektrodynamik, sondern lich auf sie stoßen, da einige experimentelle Tests der speziellen
vielmehr die Newton’sche Mechanik revolutioniert, auch wenn das Relativitätstheorie auch Effekte der allgemeinen Relativitätstheo-
zur damaligen Zeit keine praktischen Auswirkungen hatte. In der rie involvieren. Ebenso wie die spezielle Relativitätstheorie die
Newton’schen Mechanik gibt es wegen der Gleichberechtigung al- Newton’sche Physik nicht überflüssig macht, sondern als Grenzfall
ler Inertialsysteme keinen absoluten Raum, aber sehr wohl eine weiterhin enthält, so stellt auch die spezielle Relativitätstheorie ein
absolute Zeit. Schon vor Einstein hatten Physiker und insbeson- weiterhin gültiges Gebäude dar, solange die Krümmung von Raum
dere der französische Mathematiker Henri Poincaré (1854–1912) und Zeit, die in der allgemeinen Relativitätstheorie hinzukommt,
erkannt, dass es in der Elektrodynamik Sinn ergibt, beobachterab- vernachlässigbar ist.
hängige Zeitkoordinaten einzuführen, aber vor einer Aufgabe des
Konzepts einer absoluten Zeit waren alle zurückgeschreckt. Bevor wir uns im nächsten Kapitel einer relativistischen Formulie-
Einstein durchschlug nicht nur den gordischen Knoten des Äthers rung der Mechanik zuwenden, muss die kinematische Grundlage,
der Elektrodynamik, sondern insbesondere den der Newton’schen die bisher durch das Galilei’sche Relativitätsprinzip bereitgestellt
Zeit. Nur dadurch kann das Relativitätsprinzip der Mechanik, näm- wurde, neu erarbeitet werden. Abschitt 9.1 behandelt die em-
lich die Äquivalenz aller Inertialsysteme, mit der Existenz einer pirischen Grundlagen für das neue Relativitätsprinzip Einsteins,
absoluten Grenzgeschwindigkeit in Einklang gebracht werden. Die das zur Aufgabe des Begriffs einer absoluten Zeit führt. An die
dafür erforderliche Modifikation der Galilei-Transformationen war Stelle der Galilei-Transformationen treten dabei die Lorentz-Trans-
auch schon in der Elektrodynamik aufgefunden und in ihrer endgül- formationen, die in Abschn. 9.2 besprochen werden. Statt eines
tigen Form zuvor von Poincaré nach dem niederländische Physiker dreidimensionalen euklidischen Raumes und einer absoluten Zeit
Hendrik Lorentz (1853–1923) als Lorentz-Transformation bezeich- bildet nun ein vierdimensionales Raum-Zeit-Kontinuum die Are-
net und veröffentlicht worden. na der Physik, der sogenannte Minkowski-Raum, benannt nach
Einsteins Mathematiklehrer am Polytechnikum in Zürich, Hermann
In Einsteins spezieller Relativitätstheorie sind sowohl Raum als auch Minkowski (1864–1909), dem die moderne Formulierung der spezi-
Zeit relative Begriffe, und dieser Schritt erwies sich als ungemein ellen Relativitätstheorie zu verdanken ist. Mithilfe der sogenannten
fruchtbar. Insbesondere wurde es notwendig, die Newton’sche Gra- Minkowski-Diagramme werden wir in Abschn. 9.3 die paradox
vitationstheorie mit einer endlichen Ausbreitungsgeschwindigkeit anmutenden Effekte der speziellen Relativitätstheorie studieren
von physikalischen Wirkungen in Einklang zu bringen. Dies führte und die kausale Struktur, die in der Minkowski-Welt die Physik
zu einer noch gewaltigeren Revolution unserer Vorstellungen von bestimmt, diskutieren. In Abschn. 9.4 wird als neues Werkzeug
Raum und Zeit, die Einstein im November 1915 in Gestalt der allge- der Viererformalismus eingeführt, in dem die Dreiervektoren des
meinen Relativitätstheorie zuwege brachte. Diese kann in diesem vertrauten euklidischen Raumes zu Vierergrößen in einen pseu-
Buch leider nicht entwickelt werden; wir werden aber gelegent- doeuklidischen Raum verallgemeinert werden.
9.1 Anfang und Ende der Äther-Vorstellung 321

9.1 Anfang und Ende Der Äther


der Äther-Vorstellung

Teil I
Insbesondere die Wellentheorie des Lichtes, die von dem nie-
derländischen Astronomen, Mathematiker und Physiker Chris-
Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit tiaan Huygens (1629–1695) begründet wurde, legte die Exis-
tenz eines Mediums nahe, das sowohl feste Materie wie den
ansonsten leeren Raum des Weltalls durchdringt, den Äther
Ob sich Licht mit endlicher oder unendlicher Geschwindigkeit
(nach dem griechischen Wort für den blauen Himmel), in dem
ausbreitet, war von der Antike bis ins 16. Jahrhundert eine um-
sich Licht so ausbreitet wie Schall in Luft. Aristoteles hatte den
strittene Frage. Die aristotelische Naturphilosophie ging von
ursprünglich rein mythologisch verstandenen Äther als fünftes
einer unendlichen Geschwindigkeit aus, und dies wurde auch
Element (Quintessenz) den klassischen Elementen Platons hin-
von Johannes Kepler (1571–1630) und René Descartes (1596–
zugefügt, das unveränderlich und ohne die Eigenschaften der
1650) für wahr gehalten. Galileo Galilei (1564–1641) war
übrigen Materie die sich ewig drehenden himmlischen Sphären
vermutlich der Erste, der diese Frage experimentell entschei-
ausfüllt.
den wollte, und stellte dazu Versuche mit Signallaternen an,
die auf weit entfernten Hügeln von Gehilfen bedient wurden. Während Huygens sich das Licht noch als Longitudinalwelle
Unter Einrechnung der menschlichen Reaktionszeit konnte er im Äther vorstellte, ging der französische Physiker Augustin
damit immerhin nachweisen, dass die Lichtgeschwindigkeit zu- Jean Fresnel (1788–1827), der viel zur Entwicklung der Wellen-
mindest höher als ein paar Kilometer pro Sekunde sein müsse. theorie und Optik beitrug, von der Vorstellung eines elastischen
Festkörpers aus, in dem sich Licht als Transversalwelle isotrop
Ein klarer Beleg für die Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit
ausbreitet. Fresnel leitete 1818 aus der Vorstellung eines Äthers
wurde 1676 vom dänischen Astronomen Ole Rømer (1644–
und der Notwendigkeit, diesen mit der veränderten Lichtge-
1710) durch Beobachtung des Jupitermondes Io geliefert. Io
schwindigkeit c=n in transparenten Medien mit Brechungsindex
umkreist den Jupiter in einer annähernd kreisförmigen Bahn mit
n > 1 in Einklang zu bringen, sogar eine Vorhersage für die teil-
einer Umlaufzeit von ungefähr 42,5 Stunden, und Bedeckungen
weise Mitführung des Äthers in bewegter Materie her, aufgrund
von Io durch Jupiter lassen sich präzise vorhersagen. Abhän-
dessen die Lichtgeschwindigkeit dann
gig davon, ob sich die Erde bei ihrem Umlauf um die Sonne
auf derselben Seite wie Jupiter oder entgegengesetzt befindet,  
c 1 c
kommt es aber zu Unterschieden im Zeitplan im Ausmaß von C 1 2 v  Cv
etwa 20 Minuten, die Rømer als zusätzliche Lichtlaufzeit durch n n n
den Durchmesser der Erdbahn identifizierte. Damit konnte die
betragen solle, wobei v die Geschwindigkeit des Mediums
Lichtgeschwindigkeit in der richtigen Größenordnung geschätzt
ist. Der dabei auftretende Fresnel’sche Mitführungskoeffizient
werden.
 < 1 wurde 1851 von Fizeau tatsächlich experimentell nach-
Eine schon recht genaue Bestimmung der Lichtgeschwindigkeit gewiesen, blieb aber rätselhaft, nicht zuletzt weil der Bre-
lieferte der englische Geistliche und Astronom James Bradley chungsindex frequenzabhängig ist. Damit müsste für jede Farbe
(1693–1762) im Jahre 1728 durch die richtige Interpretation der des Lichtes eine separate Komponente des Äthers existieren, die
von ihm entdeckten Aberration des Sternenlichtes. Fixsterne, unterschiedlich stark von bewegter Materie mitgeführt werden
die sich im Zenit befinden, beschreiben während eines Jahres sollte, was der Vorstellung eines universellen Äthers überhaupt
kreisförmige Bewegungen im Bogensekundenbereich, die daher nicht entsprach. (Die endgültige Erklärung dieses Phänomens
kommen, dass sich die Erde mit etwa vE 30 km/s senkrecht liefert die relativistischen Elektrodynamik, wie in Abschn. 18.6
zur Lichtausbreitung bewegt, sodass das Licht nicht mehr genau gezeigt werden wird.)
senkrecht von oben zu kommen scheint. Dies ist insbesondere
Mangels Alternativen hielten die Physiker des 19. Jahrhun-
in der Newton’schen Korpuskeltheorie der Lichtausbreitung na-
derts an der Vorstellung eines Äthers fest, und es wurde in
heliegend. So wie Regen schräg von vorne zu kommen scheint,
verschiedenen Experimenten versucht, den Äther und das von
wenn man sich darin vorwärts bewegt, erhalten Lichtstrahlen
ihm ausgezeichnete Inertialsystem aufzuspüren. Apparaturen,
eine Neigung mit einem kleinen Winkel tan ˛ D vE =c. Da Brad-
die sich gegenüber dem Äther bewegen, sollten eine gewis-
ley die Bahngeschwindigkeit der Erde hinreichend gut kannte,
se Richtungsabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit feststellen.
konnte er die Lichtgeschwindigkeit schon mit Prozentgenauig-
Da sich die Erde mit etwa 104 c um die Sonne bewegt, sollte
keit berechnen.
es entsprechende Abweichungen für erdgebundene Experimen-
Die erste terrestrische Messung der Lichtgeschwindigkeit ge- te geben, sofern der Äther nicht in der Umgebung der Erde von
lang 1849 dem französischen Physiker Hippolyte Fizeau (1819– dieser mitgeführt wird. Gegen diese Möglichkeit spricht aller-
1896) mit einer stark verbesserten Version der frühen Experi- dings die erwähnte Aberration des Sternenlichtes. Licht, das in
mente Galileis. Der entfernte Gehilfe wurde dabei durch einen Richtung der Erdbewegung ausgesandt wird, sollte sich somit
Spiegel ersetzt und der Signalgeber durch ein sich schnell dre- aufgrund des Gegenwindes, den der Äther liefert, ein wenig
hendes Zahnrad, mit dem sowohl das Licht gepulst ausgesandt verlangsamt, in der anderen Richtung entsprechend schneller
als auch das reflektierte Licht selektiv detektiert wurde. ausbreiten.
322 9 Spezielle Relativitätstheorie

S2
Teil I

l2 S1

L
S0 l1

Abb. 9.3 Aufbau des Michelson-Morley-Experiments aus dem Jahr 1887, bei
Abb. 9.2 Prinzipieller Aufbau eines Michelson-Interferometers dem jeder Strahlengang dreifach gespiegelt wurde. In der Mitte befindet sich
neben dem halbversilberten Spiegel noch ein Glaselement, das dafür sorgt,
dass beide Strahlengänge durch dieselbe Menge an Glas geführt werden. Die
Apparatur ist auf flüssigem Quecksilber drehbar gelagert, um möglichst erschüt-
Michelson-Morley-Experiment terungsfrei gedreht werden zu können

Das erste aussagekräftige Experiment zur Messung dieser soge-


nannten Ätherdrift wurde 1887 in Cleveland, Ohio, von dem l1 v l2
amerikanischen Physiker Albert Michelson (1852–1931) zu-
sammen mit dem amerikanischen Chemiker Edward Morley
(1838–1923) durchgeführt. Schon 1881 hatte Michelson ein In-
terferometer zu diesem Zweck konstruiert und damit in Potsdam
experimentiert, aber die Empfindlichkeit war nicht hoch genug,
um den negativen Ausgang signifikant zu machen.
vtr1ück vthin
1 vthin
2 vtr2ück
In einem Michelson-Interferometer (Abb. 9.2) wird ein mono-
chromatischer Lichtstrahl mittels eines halbversilberten Spie- Abb. 9.4 Lichtbahnen im Michelson-Interferometer, das sich gegenüber dem
Ruhesystem des Äthers mit Geschwindigkeit v nach rechts bewegt, links für
gels in zwei Teilstrahlen aufgespalten, die auf zwei rechtwinklig den Interferometerarm 1, rechts für Arm 2
zueinander stehenden Wegen laufen, bevor sie in einem Beob-
achtungsfernrohr wieder zusammengeführt werden. In diesem
entstehen dann Interferenzmuster, die sich ändern, sobald die
verlängerte Laufzeit zum Spiegel S1 ist:
Laufzeitdifferenz des Lichtes in den zwei Strahlengängen leicht
geändert wird. Im Michelson-Morley-Experiment wurde das l1 C l1hin l1
gesamte Interferometer drehbar gelagert, um den „Ätherwind“ t1hin D ; l1hin D v t1hin H) t1hin D
:
aus unterschiedlichen Richtungen wirken zu lassen. Außerdem c cv
(9.1)
wurden die beiden Strahlengänge mehrfach gespiegelt, um die Für den Rückweg braucht das Licht umgekehrt um l1rück D
effektive Länge des Interferometers auf etwa 20 m zu erhöhen v t1rück weniger Weg zurückzulegen und damit weniger Zeit:
(Abb. 9.3), wodurch die Empfindlichkeit des Interferometers um
eine Größenordnung gegenüber dem ersten Experiment von Mi- l1  l1rück l1
chelson verbessert werden konnte. t1rück D ; l1rück D v t1rück H) t1rück D :
c cCv
(9.2)
Wir wollen nun für das in Abb. 9.2 skizzierte Interferometer Auf dem Hinweg ist also die Lichtgeschwindigkeit um v re-
die Laufzeitunterschiede bestimmen, die sich für unterschiedli- duziert, auf dem Rückweg um denselben Betrag erhöht. Diese
che Orientierungen gegenüber dem angenommenen Ätherwind Effekte heben sich aber nicht ganz auf: Zusammen ergibt dies
ergeben. Nehmen wir dazu zunächst an, dass sich das Interfe- für den Strahlengang entlang des Interferometerarmes 1 die Zeit
rometer mit einer Geschwindigkeit v entlang des Interferome-
terarmes mit Länge l1 gegenüber dem Ruhesystem des Äthers 2l1 1
t1 D t1hin C t1rück D ; (9.3)
bewegt. In letzterem ist die Lichtgeschwindigkeit durch c gege- c 1  v 2 =c2
ben und in allen Richtungen gleich (Abb. 9.4). Bezüglich dieses
Inertialsystems läuft aber der Spiegel S1 dem Licht davon, und in der sich die Beiträge erster Ordnung in v =c kompensieren
zwar um die Strecke l1hin D v t1hin , wobei t1hin die durch l1hin und nur ein Effekt der Ordnung v 2 =c2 übrig bleibt. Allerdings
9.1 Anfang und Ende der Äther-Vorstellung 323

gibt es auch im zweiten Arm einen Effekt, an den Michel- 0,05 λ


son bei seinem ersten Experiment nicht gedacht hatte und der

Teil I
diese Laufzeitänderung noch etwas weiter reduziert. Die Seit- 0,00
wärtsbewegung verlängert den Weg des Lichtes aus Sicht des
Äthersystems, weil es die Hypothenuse eines rechtwinkligen
Dreiecks mit Katheten l2 und l2hin D v t2hin bildet, sodass 0,05

q
1 l2
t2hin D l22 C .l2hin /2 ; t2hin D p D t2rück (9.4) 0,00
c c2  v2 N O S
S W N
und daher
2l2 1 Abb. 9.5 Die von Michelson und Morley 1887 gemessenen Verschiebungen
t2 D t2hin C t2rück D p (9.5) der Interferenzmuster in Einheiten der Wellenlänge  bei einer Drehung des
c 1  v 2 =c2
Interferometers (rote Linie ) um 180ı im Vergleich zu einem Achtel der zu er-
wartenden Werte (gestrichelte Linie ), wenn v durch die Orbitalgeschwindigkeit
ist. der Erde um die Sonne gegeben ist. Das obere Ergebnis gehört zu Beobachtun-
Wegen gen zur Mittagszeit, das untere zur Abendzeit

 4
1 v2 v
D1C C O ; (9.6) Längenkontraktions-
1  v 2 =c2 c2 c4
  und Zeitdilatationshypothesen
1 1 v2 v4
p D1C C O (9.7)
1  v 2 =c2 2 c2 c4
Als Erklärung für den negativen Ausgang des Michelson-Mor-
halbiert sich für l D l1 l2 der Laufzeitunterschied auf den ley-Experiments schlugen 1889 der irische Physiker George
beiden Strahlengängen, bleibt aber von der Ordnung v 2 =c2 . Fitzgerald (1851–1901) und 1892 der niederländische Physiker
Hendrik Lorentz (1853–1923) vor, dass jeder Körper p bei einer
Beim Michelson-Morley-Experiment wurden diese Laufzeit-
unterschiede auf Veränderungen bei geänderter Orientierung Bewegung gegenüber dem Äther um einen Faktor 1  v 2 =c2
bezüglich der Bewegung der Erde untersucht. Bei einer kom- verkürzt würde. Eine Motivation für diese Längenkontrakti-
pletten Drehung des Interferometers sollte v zwischendurch onshypothese war das 1888 von dem britischen Physiker und
einmal entlang Arm 1 und einmal entlang Arm 2 orientiert sein. Mathematiker Oliver Heaviside gefundene Ergebnis, dass in
Im ersteren Fall müsste der Laufzeitunterschied der Elektrodynamik bewegte Ladungen entsprechend gestauch-
te Ellipsoide als Äquipotenzialflächen haben (wie wir in Kap. 18
2l1 1 2l2 1 noch sehen werden). Wenn alle Materie durch elektrodynami-
t1  t2 D  p (9.8)
c 1  v 2 =c2 c 1  v 2 =c2 sche Kräfte zusammengehalten wird, ist diese Hypothese also
gar nicht so weit hergeholt.
betragen und nach einer Drehung, die Arm 2 in die Richtung Mit der Längenkontraktionshypothese ist (9.8) folgendermaßen
von v zeigen lässt: zu modifizieren:
2l1 1 2l2 1 p
Nt1  Nt2 D p  ; (9.9) 2Œl Ruhe 1  v 2 =c2  1 2l Ruhe 1
c 1  v 2 =c2 c 1  v 2 =c2 t1  t2 D 1  2 p
c 1  v =c
2 2 c 1  v 2 =c2
sodass mit l D l1 l2 und v c ein Effekt von 2Œl1Ruhe  l2Ruhe  1
D p D Nt1  Nt2 :
c 1  v 2 =c2
2l v 2 (9.11)
t D j.t1  t2 /  .Nt1  Nt2 /j (9.10)
c c2 Damit wird die Ätherdrift im Michelson-Morley-Experiment
praktisch unbeobachtbar, da eine Drehung der Apparatur zu kei-
erzielbar sein sollte. Die von Michelson und Morley gemesse-
nen Laufzeitunterschieden führt. Effekte könnten sich nur durch
nen Laufzeitunterschiede waren aber innerhalb der Messgenau-
eine Änderung des Betrags von v ergeben, wenn beispielsweise
igkeiten mit null verträglich, obwohl die Empfindlichkeit der
das Sonnensystem als Ganzes gegenüber dem Äther in Bewe-
Apparatur mehr als ausreichend war. In Abb. 9.5 sind die Mess-
gung ist und sich die Bahngeschwindigkeit der Erde im Lauf
ergebnisse mit einem Achtel des erwarteten Wertes verglichen,
des Jahres einmal zur Geschwindigkeit der Sonne addiert und
der sich ergibt, wenn für v die Orbitalgeschwindigkeit der Er-
ein halbes Jahr später entgegengerichtet ist.
de (etwa 30 km/s) um die Sonne eingesetzt wird. (Ein fast 100-
mal so großer Effekt wäre übrigens zu erwarten, wenn die Ge- Lorentz, der irische Physiker Joseph Larmor (1857–1942) und
schwindigkeit eingesetzt wird, mit der das Sonnensystem um der französische Mathematiker Henri Poincaré (1854–1912)
das Zentrum der Milchstraße läuft.) stießen aber in der Folge auf die von Poincaré nach Ersterem
324 9 Spezielle Relativitätstheorie

innere Vakuumhülle ne absolute Bewegung experimentell festzustellen (Poincaré


1905). Dennoch hielt Poincaré wie zuvor Lorentz an der Vor-
Teil I

Wassermantel stellung eines Äthers fest, der – wenn auch unbeobachtbar –


(Temperatur konstant den absoluten Raum und die absolute Zeit definieren sollte.
bei ±0,001◦ C)
Einstein, der die Arbeiten von Lorentz kannte, kam unabhängig
Quarz- von Poincaré zu demselben Schluss, war aber radikaler in sei-
platte
nem Denken und verzichtete komplett auf die Vorstellung eines
Äthers und einer damit verbundenen absoluten Zeit. 1905 for-
mulierte er in einer von drei bahnbrechenden Arbeiten (Einstein
1905) seine spezielle Relativitätstheorie mit einem einschnei-
Detektor denden Zusatz zum klassischen Relativitätsprinzip.

Postulate der speziellen Relativitätstheorie


Relativitätsprinzip In allen zueinander gleichförmig be-
Linse wegten Bezugssystemen (Inertialsystemen) laufen physi-
kalische Vorgänge bei gleichen Bedingungen gleich ab.
Abb. 9.6 Aufbau des Kennedy-Thorndike-Experiments aus dem Jahr 1932 Konstanz der Lichtgeschwindigkeit In allen Inertial-
systemen ist die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum (unab-
hängig vom Bewegungszustand der Quellen) gleich groß.
benannte Lorentz-Transformation, bei der neben räumlichen
Abständen auch Zeitintervalle vom Bewegungszustand gegen-
über dem Äther abhängig wurden. Demzufolge
p sollten Prozesse Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist im Widerspruch
im bewegten System um einen Faktor 1  v 2 =c2 langsamer zur Galilei-Invarianz der Newton’schen Mechanik, die wir in
ablaufen, effektiv beschrieben durch eine lokale Zeit; damit soll- Kap. 2 diskutiert haben. Diese kann also nur näherungswei-
te die Ätherdrift komplett unbeobachtbar werden: se gültig sein, solange alle Geschwindigkeiten klein gegenüber
der Lichtgeschwindigkeit sind, und ist durch eine relativistische
1 Mechanik zu ersetzen.
Œt1  t2 Äther D p Œt1  t2 lokal
1  v 2 =c2
(9.12) Für Einstein war das berühmte Michelson-Morley-Experiment
2Œl Ruhe  l2Ruhe  1 übrigens nicht ausschlaggebend. Er war bereits durch das Fi-
D 1 p ;
c 1  v 2 =c2 zeau’sche Mitführungsexperiment davon überzeugt, dass die
Vorstellung eines universellen Äthers unhaltbar war (man muss-
woraus folgt: te ja für jede Farbe einen eigenen Äther annehmen), und konnte
später nicht mehr sagen, ob er 1905 vom Michelson-Morley-Ex-
2.l1Ruhe  l2Ruhe / periment überhaupt wusste (Holton 1969; Fölsing 1999). Das
Œt1  t2 lokal D : (9.13) Michelson-Morley-Experiment war allerdings für Lorentz ein
c
Schlüsselexperiment, und dessen von Einstein als ungenügend
Eine experimentelle Bestätigung, dass auch der Betrag von v empfundene Hypothesen bereiteten den Weg für die spezielle
keinen Einfluss auf die Laufzeitunterschiede hat, gelang erst Relativitätstheorie. Lorentz zollte Einsteins Relativitätstheorie
viel später, 1932, in einem Experiment von R. J. Kennedy später jeden Respekt, auch wenn er selbst weiterhin der Äther-
und E. M. Thorndike (Abb. 9.6). In diesem wurde eine Va- vorstellung nicht abschwören wollte. Michelson, der 1907 den
riante des Michelson-Interferometers verwendet, mit ungleich Nobelpreis für sein Interferometer und die damit verbunde-
langen Interferometerarmen, starr auf einer thermisch isolier- nen neuen messtechnischen Möglichkeiten erhielt, bedauerte
ten Quarzplatte montiert, sodass es über mehrere Monate stabile dagegen zeitlebens seinen Beitrag zum „Monstrum“ der Rela-
Beobachtungen zuließ. tivitätstheorie.

Einstein’sches Relativitätsprinzip Relativität der Gleichzeitigkeit

Mit der Invarianz aller elektrodynamischen Phänomene unter Der radikale Schritt Einsteins bestand darin, die Konstanz der
der von Lorentz und Larmor gefundenen Transformation, die Vakuumlichtgeschwindigkeit in allen Inertialsystemen zu einem
1905 von Poincaré nachgewiesen wurde, war der Äther unbeob- Axiom zu erheben, sodass es nicht mehr nur um elektromagneti-
achtbar geworden. Poincaré formulierte dies noch vor Einstein sche Phänomene ging, sondern um die Grundlage der gesamten
sogar als Prinzip der Relativität und der Unmöglichkeit, ei- Physik. Insbesondere musste die bisherige Vorstellung einer
9.2 Lorentz-Transformationen 325

A A y y y y

Teil I
v −v
B C B C
v
vt vt
Abb. 9.7 Wird in der Mitte einer Rakete ein Licht eingeschaltet (Ereignis A), so
werden die gegenüberliegenden Wände für einen Beobachter, der in demselben x x x x
Inertialsystem ruht, gleichzeitig erhellt (Ereignisse B und C). Bewegt sich die
Rakete gegenüber dem Beobachter, dann können B und C für diesen wegen der
z z z z
Konstanz der Lichtgeschwindigkeit nicht mehr gleichzeitig sein, da das Licht für
ihn unterschiedliche Strecken zurückzulegen hat. (Wegen der Lorentz-Kontrak-
tion ist die bewegte Rakete auch noch kürzer für diesen Beobachter, was aber Abb. 9.8 Standardkoordinatenwahl für die Transformation zwischen zwei In-
keinen Unterschied für die Asymmetrie macht, die die Gleichzeitigkeit von B und ertialsystemen, die sich mit Geschwindigkeit v zueinander bewegen. Bei t D
C aufhebt.) t0 D 0 sollen sie ihren gemeinsamen Koordinatenursprung haben, die x- und x0 -
Achsen sollen parallel zu v sein, und es soll keine Drehung um letztere im Spiel
sein
absoluten Zeit aufgegeben werden, die in der Newton’schen
Mechanik unabhängig vom Bezugssystem für jeden Beobach-
ter gleich verrinnt und deshalb in den Galilei-Transformationen
(2.40) bis auf eine mögliche Verschiebung des Zeitnullpunktes 9.2 Lorentz-Transformationen
unverändert bleibt.
Das Relativitätsprinzip und die Konstanz der Lichtgeschwindig- Wir wollen nun unter Aufgabe einer absoluten Zeit die Transfor-
keit sind aber mit einer absoluten Zeit unvereinbar, wie leicht mationsgleichungen zwischen zwei Inertialsystemen S und S0
einzusehen ist. Nehmen wir als ein Beispiel eine gleichför- herleiten, die sich mit einer Geschwindigkeit v < c zueinander
mig bewegte Rakete, in der exakt in der Mitte eine Lichtquelle bewegen, und zwar so, dass das Postulat der Konstanz der Licht-
eingeschaltet wird. Für alle Beobachter im Inertialsystem der geschwindigkeit respektiert wird. Als Standardkoordinatenwahl
Rakete wird die vordere und hintere Wand der Rakete gleich- werden wir in beiden Systemen kartesische Koordinaten ver-
zeitig erhellt (Abb. 9.7). Wird dies aber aus dem Inertialsystem wenden, die zum Zeitpunkt t D t0 D 0 einen gemeinsamen
einer anderen Rakete, die sich mit großer Geschwindigkeit ge- Koordinatenursprung haben und die so orientiert sind, dass sich
genüber der ersten bewegt, beobachtet, ergibt sich ein anderes das System S0 entlang der positiven x-Achse von S bewegt.
Bild. Auch in diesem Inertialsystem breitet sich das Licht in alle Es soll auch keine Drehung im Spiel sein, sodass die Ebenen
Richtungen mit der gleichen Geschwindigkeit aus, aber die vor- y D 0 und z D 0 den Ebenen y0 D 0 und z0 D 0 entsprechen
dere und hintere Wand der ersten Rakete bewegt sich nun vom (Abb. 9.8).
Punkt, wo das Licht seinen Ursprung hat, weg bzw. auf ihn zu. Mit Galilei-Transformationen entspräche dies (2.40) mit R D I,
Das Licht muss daher in der einen Richtung eine längere und b0 D 0 und t0 D 0, nämlich x0 D x  v t, y0 D y, z0 D z,
in der anderen eine kürzere Strecke durchlaufen, sodass für das t0 D t, und dies sollte im Grenzfall c ! 1 auch bei den relati-
bewegte Inertialsystem die vordere und die hintere Wand in der vistischen Transformationsgleichungen wieder herauskommen.
ersten Rakete nicht mehr gleichzeitig erhellt werden. Wenn sich (Für Galilei-Transformationen hatte man übrigens vor Einstein
die Rakete gegenüber dem zweiten Inertialsystem nach vorne keinen eigenen Namen. Diese erschienen einfach zu selbstver-
bewegt, wird die hintere Wand zuerst erhellt, ansonsten ist die ständlich. Erst 1909 führte der österreichische Physiker und
zeitliche Reihenfolge gerade vertauscht. Philosoph Philipp Frank, 1884–1966, diese Bezeichnung ein.)
Es ist nicht verwunderlich, dass vor Einstein kein Physiker an Für die Suche nach verallgemeinerten, relativistischen Transfor-
der absoluten Zeit rütteln wollte, schon gar nicht an Begriffen mationsgleichungen können wir uns auf lineare Transformatio-
wie „Gleichzeitigkeit“ und „zeitliche Abfolgen“, denn eine sau- nen beschränken, denn ansonsten würden gerade gleichförmig
bere Trennung von Vergangenheit und Zukunft ist unabdingbar durchlaufene (und damit kräftefreie) Teilchenbahnen in S nicht
für Kausalität und Berechenbarkeit. Es wird auch nur dann zu auf solche in S0 abgebildet werden. Mit den Forderungen
keinem Problem, wenn es keine Möglichkeit gibt, die Lichtge-
schwindigkeit zu überschreiten (was in der Newton’schen Me- x0 D 0 () x D v t;
chanik mit den Galilei-Transformationen aber möglich wäre). xD0 () x0 D v t0 ;
(9.14)
Frage 1 y0 D 0 () y D 0;
Erweitern Sie das Gedankenexperiment mit den zueinander be- z0 D 0 () z D 0;
wegten Raketen um ein mit Überlichtgeschwindigkeit von einer
Wand zur anderen fliegendes Insekt, und überlegen Sie sich, die jeweils für alle nicht beteiligten Koordinaten zu erfüllen
dass es zugleich in einem Inertialsystem vorwärts in der Zeit sind, ist diese lineare Transformation weiter eingeschränkt auf
und im anderen rückwärts in der Zeit reisend erscheinen könnte.
Q
x0 D A.x  v t/; y0 D Cy; z0 D Cz: (9.15)
326 9 Spezielle Relativitätstheorie

Da die zweite Forderung in (9.14) für alle y und z zu gelten hat,


bleibt als möglicher linearer Ansatz für die Transformation der Lorentz-Transformation in x -Richtung
Teil I

Zeit
t0 D Bt  Dx: (9.16) In Matrixform geschrieben lautet die Lorentz-Transfor-
mation von einem Inertialsystem S auf ein Inertialsystem
Da x D 0 nun x0 D v t0 verlangt und für x D 0 einerseits S0 , das sich gegenüber S mit Geschwindigkeit v D ˇ c in
x0 D Av t und weiter t0 D Bt ist, können wir B D A setzen. positiver x-Richtung bewegt:
0 01 0 1 0 1
Die Koeffizienten C und CQ können aufgrund der Isotropie des ct  ˇ 0 0 ct
0
Raumes nur vom Betrag von v abhängen, treten also unverän- B x C Bˇ  0 0C B x C
dert bei der inversen Transformation auf, sodass auch y D Cy0 , @ y0 A D @ 0 0 1 0A @ y A
; (9.21)
Q 0 und damit C2 D CQ 2 D 1 sein muss. Wenn wir C D 1
z D Cz z0 0 0 0 1 z
und CQ D 1 ausschließen, was einer bloßen Spiegelung von y „ ƒ‚ …
ƒ.v /
bzw. z entsprechen würde, können wir schon einmal
mit den gebräuchlichen Abkürzungen
y0 D y; z0 D z (9.17)
v 1
ˇ WD ;  WD p : (9.22)
setzen. c 1  ˇ2
Aufgrund der postulierten Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
müssen die restlichen Koeffizienten nun so beschaffen sein, dass Die inverse Transformation zu dieser „Standard-Lorentz-Trans-
eine (notwendigerweise isotrope) Lichtausbreitung in S einer formation“ ist durch v ! v bzw. ˇ ! ˇ gegeben,
solchen in S0 entspricht. Betrachten wir dazu eine Kugelwel- ƒ1 .v / D ƒ.v /, also
le, die im Koordinatenursprung bei t D t0 D 0 emittiert wird. In 0 1 0 1 0 01
ct  ˇ 0 0 ct
S ist diese durch
B x C Bˇ  0 0C B x0 C
x2 C y2 C z2 D c2 t2 (9.18) @yA D @ 0 0 1 0A @ y0 A
: (9.23)

gegeben und in S0 durch z 0 0 0 1 z0

x02 C y02 C z02 D c2 t02 Frage 3


Verifizieren Sie durch Ausmultiplizieren dieser Matrizen, dass
D A2 .x2  2xv t C v 2 t2 / C y2 C z2 (9.19) sie tatsächlich zueinander invers sind! Zeigen Sie außerdem:
D c .A t  2ADtx C D x /:
2 2 2 2 2
det ƒ.v / D 1: (9.24)
Übereinstimmung mit (9.18) wird erreicht durch
In obiger symmetrischer Form publizierte Poincaré diese Trans-
1 v
ADBD p ; DD A; (9.20) formation 1905 wenige Wochen, bevor Einstein seine Arbeit
1  v 2 =c2 c2 zur speziellen Relativitätstheorie einreichte, und nannte sie
Lorentz-Transformation (Poincaré 1905). Diese Transforma-
wobei wir die positive Wurzel wählen, damit für v D 0 die tion wurde von Lorentz 1892 in einer Form aufgestellt, die
Transformation zur Identität wird (und nicht zu einer noch mög- bei der Transformation der Zeitvariablen Fehler der Ordnung
lichen Spiegelung von x und t). v 2 =c2 zuließ. Erstmals komplett formulierte sie Larmor 1897.
Eine Version, die sich nur durch eine Skalentransformation da-
Frage 2
von unterscheidet, wurde übrigens bereits 1887 vom Göttinger
Rechnen Sie dies nach! Physiker Woldemar Voigt (1850–1919) bei der Analyse der Wel-
lengleichung gefunden (Voigt 1887), war ihrer Zeit aber zu
weit voraus, um voll verstanden zu werden, und blieb unbeach-
Im Grenzfall c ! 1 ist offensichtlich A D B D 1 und D D 0,
tet. (Skalentransformation bedeutet hier, dass alle Längen- und
und alles reduziert sich auf die einfachen Galilei-Transforma-
Zeiteinheiten um einen gemeinsamen Faktor verändert werden.
tionen. Nur in diesem Fall hat die Zeit bis auf Verschiebungen
Die Physik ist im Allgemeinen nicht invariant unter Skalen-
des Zeitnullpunktes eine absolute Bedeutung. Wie wir schon
transformationen, die Wellengleichung dagegen schon.)
aus dem Relativitätsprinzip gefolgert haben, muss eine endliche
invariante Geschwindigkeit c zu einer nichttrivialen Transfor-
mation der Zeitkoordinate führen.
Bevor wir weitere Konsequenzen diskutieren, werden wir zu- Lorentz- und Poincaré-Gruppe
nächst unseren Formalismus zur Umrechnung zwischen Inerti-
alsystemen den neuen Gegebenheiten anpassen und die Trans- Poincaré zeigte auch bereits 1905, dass die Lorentz-Trans-
formationsgleichungen in Matrixnotation zusammenfassen. formationen für beliebig orientierte Geschwindigkeiten v mit
9.2 Lorentz-Transformationen 327

Vertiefung: Lorentz-Transformation als imaginäre Drehung

Teil I
Geschwindigkeit und Rapidität

Wie Poincaré schon 1905 bemerkte, geht die Lorentz-Trans- verwendet, wo Geschwindigkeiten sehr nahe bei c vorkom-
formation in eine gewöhnliche Drehung über, wenn die Zeit men und daher ˇ eine unpraktische Größe darstellt. Beson-
rein imaginär gewählt wird, ct D ix4 . Eine Drehung in der ders nützlich ist darüber hinaus, dass im Gegensatz zu ˇ die
x-x4 -Ebene kann durch eine Matrix Rapidität  eine additive Größe ist. So wie sich Drehwinkel
 0    einfach addieren, wenn immer um die gleiche Achse gedreht
x cos ' sin ' x wird, so addieren sich bei Geschwindigkeitstransformatio-
0 D
x4  sin ' cos ' x4 nen in ein und derselben Richtung die entsprechenden Werte
von . Das relativistische Additionstheorem für gleichge-
dargestellt werden. Mit  D i', cos ' D cosh , i sin ' D richtete Geschwindigkeiten (9.31) wird mit ˇ D tanh 1 ,
sinh  erhält man ˇw 0 D tanh 2 und ˇw D tanh 3 schlicht (Aufgabe 9.5):
 0      
ct cosh   sinh  ct  ˇ ct 1 C 2 D 3 :
D D
x0  sinh  cosh  x ˇ  x

mit der Identifikation β

v tanh ξ
ˇ D tanh ;  D cosh : 1
c
Die neue Variable (Abb. 9.9)
ξ
1 1Cˇ
 D artanh ˇ  ln
2 1ˇ −1

wird Rapidität (rapidity) genannt und hat einen Wertebe-


reich, der im Gegensatz zu ˇ 2 .1; 1/ von 1 bis C1 Abb. 9.9 Die Geschwindigkeit ˇ D v =c als Funktion der Rapiditätsvaria-
reicht. Diese Variable wird häufig in der Hochenergiephysik blen : ˇ D tanh 

jv j < c zusammen mit den räumlichen Drehungen eine mathe- invariant bleiben. Sie sind also durch Matrizen
matische Gruppe bilden. Die Lorentz-Transformationen unter  
Ausschluss von Drehungen werden im Folgenden gelegent- 1 0>
ƒ.R/ D (9.26)
lich als „reine Geschwindigkeitstransformationen“ bezeichnet 0 R
(in der englischsprachigen Literatur wird dafür der Ausdruck
Lorentz boost verwendet). Die gesamte Lorentz-Gruppe ver- dargestellt, wobei R eine orthogonale Matrix (R> D R1 ) ist.
allgemeinert die orthogonale Gruppe der dreidimensionalen
Drehungen auf vierdimensionale Transformationen, welche die Die räumlichen Drehungen bilden eine Untergruppe: Zwei be-
quadratische Form liebige Drehungen hintereinander ausgeführt ergeben wieder
eine Drehung. Für beliebige Geschwindigkeitstransformationen
s2 WD c2 t2  x2  y2  z2 (9.25) gilt dies nicht unbedingt, das Resultat kann eine Kombination
einer Geschwindigkeitstransformation mit einer Drehung sein
invariant lassen. In obiger Herleitung der Lorentz-Transforma- (siehe hierzu den Abschnitt „So geht’s weiter“ am Ende dieses
tionen haben wir bei dem Vergleich von (9.18) und (9.19) Kapitels).
primär gefordert, dass s2 D 0 auf s02 D 0 führt. Da wir aber
mit y0 D y und z0 D z dafür gesorgt haben, dass eine zu- Werden zwei Geschwindigkeitstransformationen mit gleichge-
sätzliche Reskalierung aller Koordinaten ausgeschlossen wurde, richteten Relativgeschwindigkeiten hintereinander ausgeführt,
haben wir tatsächlich die Invarianz von s2 verwendet. (Verlangt ist das Ergebnis wieder eine reine Geschwindigkeitstransforma-
man nur die Invarianz von s2 D 0, so führt dies auf die größere tion. Allerdings addieren sich Geschwindigkeiten nicht länger
Gruppe der konformen Transformationen; die Physik ist darun- einfach.
ter aber nur in Ausnahmefällen invariant.)
Betrachten wir dazu drei Inertialsysteme, S, S0 und S00 . S0 soll
Die dreidimensionalen Drehungen sind diejenigen Lorentz- sich wieder mit Geschwindigkeit v in positive x-Richtung be-
Transformationen, bei denen separat x2 C y2 C z2 und die Zeit t züglich S bewegen. Bezüglich S0 soll sich das dritte System S00
328 9 Spezielle Relativitätstheorie

mit Geschwindigkeit w 0 bewegen, ebenfalls in positive x-Rich- und die drei Parameter, die eine zusätzliche Drehung festlegen
tung: (z. B. die drei Euler-Winkel). Eine allgemeine Lorentz-Trans-
Teil I

ƒ.v / ƒ.w 0 / formationsmatrix, die über diese Parameter kontinuierlich mit


S ! S0 ! S00 :
der Einheitsmatrix verbunden ist, lässt sich immer durch das
Wir wollen nun wissen, mit welcher Geschwindigkeit w sich S00 Produkt von zwei Drehungen und der Standard-Lorentz-Trans-
bezüglich des Ausgangssystems S bewegt: formation (9.21) in x-Richtung darstellen:
0 1
ƒ.w /    ˇ 0 0  
S ! S00 : 1 0 >
Bˇ  0 0C 1 0>
ƒD ; (9.32)
0 R2 @ 0 0 1 0A 0 R1
Für die Transformationsmatrizen bedeutet dies 0 0 0 1

ƒ.w 0 / ƒ.v / D ƒ.w /: (9.27) wobei die erste Drehmatrix das Koordinatensystem von S so
dreht, dass der Geschwindigkeitsvektor v , mit dem sich S0 be-
züglich S bewegt, in positive x-Richtung zeigt. Ist v D 0, so
Frage 4 kombinieren sich die beiden Drehungen natürlich auf eine ein-
Begründen Sie, warum hier ƒ.v / rechts von ƒ.w 0 / steht (auch zige Drehmatrix.
wenn das für die folgende Rechnung nicht wichtig ist). Eine reine Geschwindigkeitstransformation ergibt sich für R2 D
R1 >
1 D R1 . Diese hat dann die Form
!
Wir betrachten also   v >=c
0 1 0 1 > (9.33)
w 0 ˇw 0 w 0 0 0 v ˇv v 0 0  v =c I C .  1/ v vv2
Bˇw 0 w 0 w 0 0 0C Bˇv v v 0 0C
@ 0 0 1 0A @ 0 0 1 0A
und ist im Gegensatz zur allgemeinsten Lorentz-Transforma-
tionsmatrix symmetrisch. Um das Ergebnis (9.33) einzusehen,
0 0 0 1 0 0 0 1
0 1 genügt es, sich davon zu überzeugen, dass dies für v D
w 0 v .1 C ˇw 0 ˇv / w 0 v .ˇw 0 C ˇv / 0 0 .v ; 0; 0/> gerade die Standard-Lorentz-Transformation (9.21)
Bw 0 v .ˇw 0 C ˇv / w 0 v .1 C ˇw 0 ˇv / 0 0C gibt und dass Drehmatrizen R1 und R2 D R> 1 die Spalten- und
D@
0 0 1 0A Zeilenvektoren v > und v in eine beliebige Richtung drehen.
0 0 0 1
0 1 Frage 5
w ˇw w 0 0
Zeigen Sie anhand von (9.33), dass zwei reine Geschwin-
Š Bˇw w w 0 0C
D@ :
1 0A
digkeitstransformationen hintereinander ausgeführt im Allge-
0 0
meinen keine reine Geschwindigkeitstransformation ergeben
0 0 0 1
können, weil die resultierende Matrix nicht mehr symmetrisch
(9.28)
ist, wenn die Geschwindigkeitsvektoren v 1 und v 2 in unter-
Ein Vergleich der letzten beiden Matrizen ergibt
schiedliche Richtungen zeigen.
w 0 v .1 C ˇw 0 ˇv / D w ; w 0 v .ˇw 0 C ˇv / D ˇw w ;
(9.29) Zwei reine Geschwindigkeitstransformationen hintereinander
woraus bei Division dieser beiden Gleichungen ausgeführt ergeben eine reine Geschwindigkeitstransformation
in einer Richtung, die in der von v 1 und v 2 aufgespannten Ebe-
ˇw 0 C ˇv ne liegt, kombiniert mit einer Drehung, wobei die Drehachse
ˇw D (9.30)
1 C ˇw 0 ˇv sowie die Größe der Drehung durch den axialen Vektor v 1  v 2
bestimmt sind. Explizite allgemeine Formeln dafür sind etwas
bzw. unübersichtlich (Sexl & Urbantke 1992); in Aufgabe 9.7 wird
w0 C v
wD (9.31) der Fall, dass eine der beiden Geschwindigkeiten klein ist, be-
1 C w 0 v =c2 handelt, was ausreicht, um den in der Atomphysik wichtigen
folgt. Wir sehen, dass es unmöglich ist, durch die Addition Effekt der Thomas-Präzession herzuleiten, der am Ende des Ka-
von zwei Geschwindigkeiten, die beide kleiner als c sind, die pitels im Abschnitt „So geht’s weiter“ diskutiert wird.
Lichtgeschwindigkeit zu überschreiten. So ergibt im Extremfall Zusätzlich zu diesen Transformationen gibt es noch drei dis-
w 0 D v D c ebenfalls w D .c C c/=2 D c. (Das Additionstheo- krete Operationen, die (9.25) unverändert lassen: Zeitspiegelung
rem für beliebige, nicht gleichgerichtete Geschwindigkeiten .T/, räumliche Spiegelung .P/, auch Paritätstransformation
werden wir in Abschn. 9.4 herleiten.) genannt, und die Kombination von beiden .PT/ mit Transfor-
Die gesamte Gruppe der Lorentz-Transformationen, die Dre- mationsmatrizen:
   
hungen und Geschwindigkeitstransformationen beinhaltet, ist 1 0> 1 0>
ƒ.T/ D ; ƒ.P/ D ; ƒ.PT/ D I4 :
durch sechs kontinuierlich veränderliche Größen parametri- 0 I 0 I
siert: die drei Komponenten eines Geschwindigkeitsvektors v (9.34)
9.2 Lorentz-Transformationen 329

Vertiefung: Komponenten der Lorentz-Gruppe

Teil I
Diskrete Symmetrien und deren Verletzung in der Teilchenphysik

Wären alle Vorzeichen in der quadratischen Form s2 in die mit der sogenannten schwachen Kernkraft zusammen-
(9.25) gleich, hätten wir einfach orthogonale Transformatio- hängen, gefunden. (Die Verletzung der Zeitspiegelungsin-
nen in vier Dimensionen vorliegen, was gruppentheoretisch varianz ergibt sich dabei indirekt aus einer Verletzung der
als O(4) notiert würde (siehe auch den „Mathematischen kombinierten Symmetrie von Raumspiegelung (P) und Aus-
Hintergrund“ 27.1). Weil s2 nicht mehr positiv definit ist, tausch von Teilchen mit ihren Antiteilchen (C für charge
spricht man von pseudoorthogonalen Transformationen. Die conjuction oder Ladungskonjugationssymmetrie), was als
Lorentz-Gruppe ist speziell die pseudoorthogonale Gruppe CP-Verletzung bezeichnet wird.)
O(3,1), wobei das Zahlenpaar die Vorzeichenstruktur in s2
Die Paritätsverletzung der schwachen Kernkraft war 1956
angibt und ein globaler Vorzeichenwechsel keinen Unter-
von den chinesisch-stämmigen amerikanischen theoreti-
schied macht: O(1,3) und O(3,1) sind identische Gruppen.
schen Physikern Tsung-Dao Lee (*1926) und Chen-Ning
Die Lorentz-Transformationen, bei denen keine zeitlichen Yang (*1922) postuliert und 1957 von der chinesisch-ameri-
oder räumlichen Spiegelungen inkludiert sind, heißen eigent- kanischen Physikerin Chien-Shiung Wu (1912–1997) expe-
liche orthochrone (zeitrichtige) Lorentz-Transformationen. rimentell nachgewiesen worden. Die CP-Verletzung ist im
Vergleich zur Paritätsverletzung ein noch subtilerer Effekt.
Die Bezeichnung „eigentlich“ bezieht sich dabei auf die Ei-
Entdeckt wurde sie (völlig überraschend) 1964 von den ame-
genschaft det ƒ D 1 (siehe „Mathematischen Hintergrund“
rikanischen Physikern James Cronin (*1931) und Val Fitch
2.2), was auch von ƒ.PT/ erfüllt wird. Gruppentheoretisch
(*1923) im Zerfall von neutralen K-Mesonen (auch Kao-
wird dies SO(3,1) notiert, wobei „S“ für „speziell“, in diesem
nen genannt). Erst viel später, 2001, wurde sie auch bei
Zusammenhang ein Synonym für „eigentlich“, steht.
weiteren Elementarteilchen, den sogenannten B-Mesonen,
Bezeichnen wir orthochrone und nichtorthochrone Trans- durch das amerikanische BaBar- und das japanische BELLE-
formationen mit einem oberen Index " bzw. # und die Experiment (Abb. 9.10) nachgewiesen. Die CP-Verletzung
möglichen Werte der Determinante ˙1 mit einem unteren In- hängt eng mit der noch völlig ungeklärten Frage zusammen,
dex ˙, so können wir zusammenfassend die Lorentz-Gruppe warum unser Universum so viel mehr Materie als Antimate-
in vier disjunkte Komponenten zerlegen: rie enthält.
" #
L  O.3;1/ D LC [ LC [ L" #
 [ L :
„ ƒ‚ …
SO.3;1/

Die Komponente L" "


C D SO.3;1/ beinhaltet die Identität
und wird daher auch als Komponente der Einheit bezeich-
net. Sie bildet eine zusammenhängende Mannigfaltigkeit
(siehe den „Mathematischen Hintergrund“ 5.1), weil ihre
Elemente durch eine kontinuierliche Variation von Parame-
tern ineinander übergeführt werden können. Die anderen
Zusammenhangskomponenten sind als Mannigfaltigkeit be-
trachtet Kopien, die sich durch Kombination aller Elemente
der Lie-Gruppe L" C mit den diskreten Operationen T, P und
PT ergeben:
" " # "
L"
 D PLC ; L#
 D T LC ; LC D PT LC : Abb. 9.10 Schema des BELLE-Experiments am japanischen Teilchenbe-
schleunigerzentrum KEK in Tsukuba, mit dem die CP-Verletzung bei B-
(Für eine ausführlichere Diskussion des Begriffs „Lie-Grup- Mesonen untersucht wird
pe“ siehe den „Mathematischen Hintergrund“ 27.1.)
Die spezielle Relativitätstheorie und darauf aufbauende Literatur
Theorien bis hin zu relativistischen Quantenfeldtheorien ver-
langen in Wirklichkeit nur Invarianz der Naturgesetze unter Sexl, R. U., Urbantke, H. K.: Relativität, Gruppen, Teil-
der Gruppe L" C . Tatsächlich hat man in der Teilchenphysik chen. Springer Verlag, 1992
sowohl Paritätsverletzung als auch Verletzung der Zeitspie- Griffiths, D.: Introduction to Elementary Particles.
gelungsinvarianz in den fundamentalen Wechselwirkungen, 2. Aufl., Wiley-VCH, 2008
330 9 Spezielle Relativitätstheorie

Jede dieser Transformationen ergibt nur Sinn als passive Trans- (a) (b)
formation der Koordinaten, d. h., sie können im Gegensatz zu ct
Teil I

den Drehungen und Geschwindigkeitstransformationen nicht


durch eine aktive Veränderung des Inertialsystems selbst in-
duziert werden. (Für mathematische und auch physikalische
Implikationen siehe den Kasten „Vertiefung: Komponenten der (c)
Lorentz-Gruppe“.)
Lässt man zusätzlich zu diesen Lorentz-Transformationen auch
noch eine Verschiebung des Koordinatenursprungs zu,
0 1 20 1 0 13
ct0 ct ct0
0
Bx C 6B x C B x0 C7
@ y0 A D ƒ 4@ y A  @ y A5 ; (9.35)
0
z0 z z0 x

so spricht man von der (zehnparametrigen) Poincaré-Gruppe.


Diese verallgemeinert die Gruppe der Galilei-Transformatio- Abb. 9.11 Minkowski-Diagramm mit Weltlinien für ein ruhendes Teilchen (a),
nen, bei der wir ja auch Verschiebungen des Koordinatenur- ein ungleichförmig bewegtes Teilchen, dessen Geschwindigkeit überall unter der
Lichtgeschwindigkeit bleibt (b), und ein Photon, das sich mit Lichtgeschwindig-
sprungs und des Zeitnullpunktes zugelassen haben. Im Fol- keit nach rechts bewegt (c)
genden werden wir aber der Einfachheit halber immer den
Koordinatenursprung und Zeitnullpunkt für unterschiedliche In-
ertialsysteme zusammenfallen lassen.
speziellen Relativitätstheorie Einsteins entwickelte. Minkowski
(1909), der am Polytechnikum in Zürich Ende der 1890er Jahre
Einsteins Lehrer gewesen war, stellte seinen vierdimensionalen
9.3 Minkowski-Raum Raum in einem Vortrag in Köln 1908 mit den pathetischen Wor-
ten vor: „Von Stund an sollen Raum für sich und Zeit für sich
völlig zu Schatten herabsinken und nur noch eine Art Union der
Die symmetrische Struktur der Lorentz-Transformationsmatrix beiden soll Selbständigkeit bewahren.“
(9.21), bei der Raum- und Zeitkoordinaten, letztere multipliziert
mit c, gleichermaßen transformiert werden, legt eine vierdimen- Im Minkowski-Raum wird ein ausdehnungsloses Punktteilchen
sionale Beschreibung mit Koordinaten durch eine eindimensionale Weltlinie dargestellt, die seine ge-
samte Geschichte wiedergibt. Wenn man auf die Darstellung
0 1 von zumindest einer räumlichen Dimension verzichten kann,
ct
BxC lassen sich die Prozesse im Minkowski-Raum durch Minkowski-

x D @ A;  2 f0; 1; 2; 3g (9.36) Diagramme wiedergeben, die für die Diskussion und Auflösung
y
z der scheinbaren Paradoxa der speziellen Relativitätstheorie äu-
ßerst hilfreich sind. In diesen werden traditionellerweise die
nahe. Der Index , der nun vier Werte zu durchlaufen hat, wird zeitartige Koordinate eines Inertialsystems S, ct, als vertika-
dabei willkürlich oben notiert (was im Folgenden noch eine le Achse und ein bis maximal zwei räumliche Koordinaten
spezielle Bedeutung gewinnen wird), und der zusätzliche In- durch horizontale Achsen dargestellt. Eine physikalisch mög-
dex für die Koordinate ct wird als nullter vereinbart: x0 WD ct. liche Weltlinie eines Teilchens mit Masse ist dann eine Linie,
Indizes, die mit griechischen Kleinbuchstaben notiert werden, die überall eine Steigung von mindestens 45ı hat. Ist die Linie
werden im Folgenden immer von 0 bis 3 laufen; lateinische vertikal, dann ruht das Teilchen gerade im betrachteten Inertial-
Kleinbuchstaben bleiben für räumliche Komponenten von 1 bis system. Lichtsignale (quantentheoretisch masselose Photonen)
3 reserviert. haben im Vakuum Weltlinien, die mit exakt 45ı verlaufen
(Abb. 9.11).
Achtung Die nun hochgestellten Indizes dürfen natürlich
nicht mit Exponenten verwechselt werden. Ob es sich in einem
konkreten Fall um obere Indizes oder Exponenten handelt, wird
sich immer eindeutig aus dem Zusammenhang ergeben. J Geometrische Darstellung der Lorentz-
Ein Punkt des vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuums, der
Transformation in einem Minkowski-Diagramm
in einem Bezugssystem durch die Koordinaten x beschrie-
ben wird, wird als Ereignis bezeichnet. Das gesamte Raum- In einem Minkowski-Diagramm können wir auch übersichtlich
Zeit-Kontinuum bildet den Minkowski-Raum, benannt nach dem darstellen, mit welchen Koordinaten ein gegenüber S bewegtes
deutschen Mathematiker Hermann Minkowski (1864–1909), Inertialsystem S0 die Ereignisse parametrisiert, die in S mit obi-
der 1908 eine konsequent vierdimensionale Formulierung der gem rechtwinkligen Koordinatensystem dargestellt werden.
9.3 Minkowski-Raum 331

ct ct ct

Teil I
ct ct
ct

βγ 1
γ
x x
1 1
1 1 1

1

1
βγ
x
α
α 1
1 γ x
1 x

Abb. 9.12 Geometrische Darstellung der Lorentz-Transformation in einem 1
Minkowski-Diagramm (gezeichnet für den Wert ˇ D 3=5 D 0;6, bei dem auch
 eine rationale Zahl ist, nämlich  D 5=4 D 1;25) x

Abb. 9.13 Die räumlichen und zeitartigen Einheitsvektoren von verschiedenen


Dazu beschränken wir uns auf die Koordinaten ct und x und Inertialsystemen S0 ; S00 ; : : : liegen im Minkowski-Diagramm von S auf Einheits-
stellen die Linien, die zu ct0 D 0 und x0 D 0 gehören, in den hyperbeln
ungestrichenen Koordinaten dar. Die inverse Lorentz-Transfor-
mation (9.23) ergibt
     0 die zeitartigen auf x02  c2 t02 D 1 (mit einer beliebigen Maß-
ct  ˇ ct einheit für die Länge).
D
x ˇ  x0
      Frage 6
 ˇ 1  ˇ 0 0
D ct0 C x (9.37) Skizzieren Sie nun analog zu Abb. 9.12 ein Minkowski-Dia-
ˇ  0 ˇ  1 gramm für das Bezugssystem S0 mit rechtwinkligen Koordi-
   
 ˇ 0 natenachsen ct0 und x0 , in dem die Koordinatenachsen von S
D ct0 C x:
ˇ  dargestellt sind.

Der räumliche Koordinatenursprung x0 D 0 (also die ct0 -Ach-


se) stellt sich klarerweise als gerade Linie dar mit Neigung
tan ˛ D ˇ  v =c gegenüber der ct-Achse, die das Weg-Zeit- Längenkontraktion
Diagramm des sich nach rechts bewegenden Systems wieder-
gibt. Neu (gegenüber Galilei-Transformationen) ist hier, dass zu
Um die physikalische Bedeutung der veränderten Einheiten auf
einer Einheit von ct0 der Wert  > 1 in der Koordinate ct gehört
den Koordinatenachsen des bewegten Systems S0 zu verstehen,
(Abb. 9.12).
müssen wir uns darüber Klarheit verschaffen, was Längen- und
Noch ungewohnter ist freilich, dass die Linie ct0 D 0 (die x0 - Zeitmessungen in den verschiedenen Inertialsystemen konkret
Achse) gegenüber der x-Achse geneigt ist, ebenfalls mit tan ˛ D bedeuten.
ˇ, was zur Folge hat, dass abhängig von der Entfernung vom
Längen- und Zeitintervalle zwischen zwei Raumzeitpunkten
Koordinatenursprung die Zeitangabe t0 D 0 zu buchstäblich al-
transformieren sich, wenn wir uns auf Geschwindigkeitstrans-
len möglichen Werten von t gehört.
formationen in x-Richtung beschränken, gemäß
Das Koordinatensystem von S0 stellt sich also gegenüber dem
von S als schiefwinklig heraus. Linien mit konstantem Wert ct0 c t0 D .c t  ˇx/; c t D .c t0 C ˇx0 /; (9.38)
sind immer parallel zur x0 -Achse, genauso wie alle Linien mit x0 D .x  ˇ c t/; x D .x0 C ˇ c t0 /: (9.39)
festem x0 dieselbe Neigung wie die ct0 -Achse haben.
Da per Konstruktion x2  c2 t2 D x02  c2 t02 ist, liegen für belie- Betrachten wir zunächst Längenmessungen. Im Ruhesystem
bige Werte der Geschwindigkeit die räumlichen und zeitartigen gibt es dazu keine Mehrdeutigkeit, aber bei einem bewegten
Einheitsvektoren auf einer Hyperbel (Abb. 9.13), die räumli- Maßstab muss natürlich darauf geachtet werden, dass die Posi-
chen auf einem Ast der Einheitshyperbel x02  c2 t02 D 1 und tionen der beiden Enden zum gleichen Zeitpunkt aufgezeichnet
332 9 Spezielle Relativitätstheorie

a b

ct ct ct ct
Teil I

1 1

x x
1 1

1 1

1 /γ
1/γ

1 x 1 x

Abb. 9.14 Lorentz-Kontraktion. Vergleichen zwei Inertialsysteme ihre Maßstäbe, so erweist sich in jedem der Maßstab des anderen verkürzt. Im linken Diagramm
(a) wird der sich nach rechts bewegende Maßstab (rot ), der in S0 ruht und dort die Länge 1 hat, in S zum Zeitpunkt t D 0 durch Vergleich mit dem dort ruhenden
(grün ) gemessen und hat die Länge 1=. Im rechten Diagramm (b) wird der in S ruhende Maßstab analog in S0 gemessen. Hier findet die Messung bei t0 D 0 statt,
und er ist wiederum verkürzt. Wie man sieht, sind die Ereignispunkte, zu denen die jeweiligen Messungen stattfinden, nicht identisch

werden. Dazu benötigt man im Prinzip mehrere Beobachter, die vom Koordinatenursprung bis 1 bzw. 10 ausfüllen und vom je-
über den Raum verteilt sind und synchronisierte Uhren besit- weils anderen System aus gemessen werden. Die Weltlinien von
zen, es sei denn, ein einzelner Beobachter sorgt dafür, dass er Anfang und Ende der Maßstäbe sind jeweils die Koordinaten-
bei visuellen Beobachtungen präzise die Laufzeit des Lichtes achsen ct und ct0 und dazu parallele Linien durch 1 bzw. 10 . Bei
herausrechnet. einer vergleichenden Messung in S wird bei t D 0 und bei einer
in S0 bei t0 D 0 gemessen. Die Enden der Maßstäbe werden also
Ruht ein Maßstab der Länge L0 in S0 , dann füllt er dort das Inter- in diesen beiden Fällen bei unterschiedlichen Raumzeitpunkten
vall x0 D L0 für beliebige t0 aus. Bei der Messung in S muss betrachtet (Abb. 9.14). In beiden Fällen ergibt sich, dass be-
aber t D 0 verlangt werden, denn dort ist er in Bewegung. Die züglich des jeweils ruhenden Maßstabes der bewegte Maßstab
linke Relation in (9.39) ergibt damit verkürzt ist.
ˇ
ˇ
L D xˇ D x0 = D L0 = < L0 : (9.40)
tD0
Zeitdilatation
Der bewegte Maßstab erweist sich daher um den Faktor 1= D
p
1  ˇ 2 verkürzt.
Betrachten wir nun Zeitmessungen mit zueinander bewegten
Dasselbe ergibt sich bei vertauschten Rollen. Ruht der Maßstab Uhren. In jedem Inertialsystem sollen über den Raum verteilt
in S, gilt dort x D L0 für beliebige t. Die Messung vom Uhren vorliegen, die in diesem System ruhen und bezüglich die-
bewegten System S0 aus verlangt nun t0 D 0. Jetzt kann die ses Systems synchronisiert sind.
rechte Relation in (9.39) verwendet werden, und diese führt auf
Ruht eine Uhr in S0 und bewegt sich daher gegenüber S, so muss
ˇ ihre Zeitangabe T0 D t0 entlang ihrer Flugbahn (gegeben
ˇ
L D x0 ˇ 0 D x= D L0 = < L0 : (9.41) durch x0 D 0) mit den Uhren von S verglichen werden. Die
t D0
rechte Relation in (9.38) ergibt damit
Beim Vergleich ihrer Maßstäbe kommen Beobachter in S und S0 ˇ
ˇ
also jeweils zu dem Schluss, dass der des anderen verkürzt ist. T D tˇ D T0 > T0 : (9.42)
x0 D0
Es liegt hier aber überhaupt kein Widerspruch vor, denn wegen
der Relativität der Zeit gehören zu den jeweiligen Messungen Die bewegte Uhr geht also langsamer als die Uhren von S.
unterschiedliche Ereignispaare, wie man sich am besten anhand
eines Minkowski-Diagramms vor Augen führt. Frage 7
Rechnen Sie nach, dass dieselbe Schlussfolgerung für in S ru-
Betrachten wir dazu zwei Einheitsmaßstäbe, die jeweils in S hende Uhren gilt, wenn sie mit denen von S0 verglichen werden!
und S0 ruhen und entlang der x- bzw. x0 -Achse die Strecke
9.3 Minkowski-Raum 333

a b
ct ct ct ct

Teil I
1:15

1:00
1:15

1 1:15 1:15 1
1:15 x 1:15 1:00 x
1:00
1:00 1:00
1
1
1:00
0:00
1 1
0:00

0:00 0:00 0:00


0:00
1 x x
1

Abb. 9.15 Zeitdilatation. (a) Eine in S0 ruhende Uhr (rot ) wird mit den Uhren (grün ) von S verglichen. (b) Die umgekehrte Situation

Wieder lässt sich am besten anhand eines Minkowski-Dia-


gramms zeigen, dass hier kein Widerspruch vorliegt, weil un- werden. Sie hilft auch oft, Zerfallsketten von Elementar-
terschiedliche Raumzeitpunkte im Spiel sind (Abb. 9.15). teilchen besser auflösen zu können, weil sie durch die
Zeitdilatation gedehnt und damit vergrößert werden. J
„Lebensdauerverlängerung“ für Elementarteilchen

Eine eindrucksvolle Bestätigung der relativistischen Zeit-


dilatation wird durch die kosmische Strahlung geliefert
und die von ihr in den oberen Schichten der Atmosphä- Kausalität
re erzeugten kurzlebigen Myonen. Diese 1936 entdeckten
Elementarteilchen haben in ihrem Ruhesystem eine Le-
bensdauer von ungefähr  2;2 s, mit der sie nach dem Wie wir gesehen haben, ist Gleichzeitigkeit in der speziellen
exponentiellen Gesetz et= zerfallen. Sie werden typi- Relativitätstheorie eine Eigenschaft eines Paares von Ereig-
scherweise in etwa 10 km Höhe in Kernreaktionen als nissen, die vom Bezugssystem abhängt. Jedes Inertialsystem
Zerfallsprodukte der noch kurzlebigeren Pionen erzeugt kann ohne Bezug auf andere Systeme seine Uhren an unter-
und haben Geschwindigkeiten von über 0;99c. schiedlichen Orten xA und xB sinnvoll synchronisieren, indem
verlangt wird, dass zur gleichen Koordinatenzeit ausgesand-
Ihre charakteristische Reichweite wäre ohne Berücksich- te Lichtsignale gleichzeitig bei einem Beobachter in der Mitte
tigung der Zeitdilatation etwa 2;2  106 s  3  108 m=s zwischen den beiden Orten bei .xA C xB /=2 eintreffen. Wegen
660 m, und somit sollte auf der Erdoberfläche ihr Fluss der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit synchronisiert aber je-
um einen Faktor e10:000=660 3  107 reduziert sein. des Inertialsystem seine Uhren damit anders. Auf diese Weise
Tatsächlich erreicht etwa ein Drittel der Myonen die lässt sich zu einem Paar von gleichzeitigen Ereignissen in ei-
Erdoberfläche, weil sie bei ˇ über 0,99 um einen Faktor  nem System immer eines finden, in dem Ereignis A früher als
von 7 und mehr langlebiger werden. Schon bei  D 7 er- B stattfindet, und auch eines, in dem dies genau umgekehrt der
gibt sich eine Reduktion um nur mehr e.10:000=660/=7 Fall ist.
0;1. Die Zeitdilatation ist hier also alles andere als ein
kleiner Effekt; der Myonenfluss auf der Erdoberfläche Über eines können sich aber alle Beobachter einig sein: Wenn
wird durch sie um das Millionenfache angehoben! es ein System gibt, in dem A und B gleichzeitig sind, so ist die
Größe
Die Verlängerung der Lebensdauer instabiler Elementar-
s2 D c2 t2  x2  y2  z2 (9.43)
teilchen mit relativistischen Geschwindigkeiten wird
auch routinemäßig in Teilchenphysikexperimenten be- mit x D xB  xA immer negativ. Diese Größe bleibt ja unter
obachtet und muss bei deren Analyse berücksichtigt Lorentz-Transformationen unverändert, und laut Voraussetzung
verschwindet t D tB  tA in einem Inertialsystem.
334 9 Spezielle Relativitätstheorie

Beispiel: Paradoxon von der bewegten Leiter und dem zu kleinen Abstellraum
Teil I

Starre Körper in der speziellen Relativitätstheorie

Die spezielle Relativitätstheorie ist voll von scheinbaren die Tür hinter dem Gesellen schließt, denn die physikalische
Widersprüchen, deren Auflösung aber wertvolle Einsichten Auswirkung davon, dass das vordere Ende gestoppt wurde,
liefern kann. Ein populäres Paradoxon zur Längenkontrakti- kann sich höchstens mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten, in
on, das in verschiedenen Varianten formuliert werden kann, Form einer Stoßwelle. Erst später kommt die Stoßwelle am
lautet wie folgt: Ein Malermeister hat eine 10 m lange Lei- hinteren Ende an, die dabei womöglich die Leiter komplett
ter, aber sein Abstellraum misst nur 8 m. Er verlangt daher zerstört hat. Wenn sie elastisch genug ist, kann die Leiter
von seinem Gesellen, mit geschulterter Leiter und einer Ge- auch einfach Richtung Tür expandieren und dann vielleicht
schwindigkeit 35 c in den Abstellraum zu rennen. Die Leiter diese zerstören.
ist dank Lorentz-Kontraktion mit  D 54 auf 10= D 8 m Jedenfalls passiert all das erst eine Weile, nachdem die Tür
verkürzt. Der Malermeister will in dem Augenblick die Tür geschlossen wurde und das hintere Ende sogar ein Stück weit
schließen, in dem die Leiter gerade in den Abstellraum passt. in den Abstellraum vorgedrungen ist. Seine Bahnkurve ist bis
Aus der Sicht des Gesellen sieht die Sache aber bedenklich zum Eintreffen der Stoßwelle gegeben durch
anders aus. Für ihn ist nun der Abstellraum auf 8= D 6;4 m
geschrumpft, während er in seinem Bezugssytem eine 10 m 3
xE D ct;
lange Leiter transportiert (Abb. 9.16). Kann der Malermeis- 5
ter wirklich die Tür hinter ihm schließen?
wenn im Bezugssystem des Abstellraumes die Tür bei x D 0
angenommen ist und t D 0 als der Zeitpunkt, zu dem die Tür
a b c geschlossen werden konnte. Die Stoßwelle läuft ab t D 0
von x D 8 m zu kleineren Werten von x. Mit Lichtgeschwin-
10 m v 8m 10 m digkeit gibt das

8m 8m
v
6,4 m xS D 8 m  ct:
Die Stoßwelle trifft auf das hintere Ende bei xE D xS , woraus
Abb. 9.16 (a) Eine 10 m lange Leiter und ein Abstellraum mit einer Länge ct D 5m und xE D 3m folgt. Das heißt, dass der Maler-
von 8 m. (b) Die mit  1 D 45 Lorentz-kontrahierte Leiter scheint im Be- meister auch noch die Tür schließen hätte können, wenn der
zugssystem des Abstellraumes in diesen zu passen. (c) Im Bezugssystem der Abstellraum bloß 5 m groß gewesen wäre!
Leiter ist ein mit  1 D 45 Lorentz-kontrahierter Abstellraum erst recht zu
klein Frage 8
Zeichnen Sie ein Minkowski-Diagramm, das die Gescheh-
Vom Standpunkt des Malermeisters und dem Ruhesystem nisse wiedergibt! (Die Werte von ˇ und  sind hier genauso
des Abstellraumes ist tatsächlich klar, dass die Leiter hin- gewählt wie in Abb. 9.12.)
einpasst. Gleichzeitiges Messen des vorderen und hinteren
Endes ergibt eine Lorentz-kontrahierte Länge. Die Frage ist
vielmehr, was passiert, nachdem er die Tür geschlossen hat. Was dieses Paradoxon und seine Auflösung lehrt, ist, dass
Das vordere Ende der Leiter stößt hier an die Wand des Ab- es in der speziellen Relativitätstheorie keine starren Körper
stellraumes und kommt abrupt zum Stillstand. Das hintere geben kann. Wird ein Körper an einem Ende beschleunigt,
Ende läuft aber unvermindert weiter, während der Meister dann folgt der Rest nie instantan.

Gibt es umgekehrt ein Inertialsystem, in dem A und B am selben finiert dies gleichsam eine ausgedehnte Gegenwart (oder auch
Ort stattfinden, aber tB > tA ist, dann sind sich alle Beobachter absolutes Anderswo, da es im umgekehrten Fall einer zeitartigen
darüber einig, dass s2 > 0 ist, und das bedeutet weiter, dass Trennung immer ein System gibt, in dem die zwei Ereignisse am
auch für alle anderen Beobachter Ereignis B in der Zukunft von gleichen Ort stattfinden).
A liegt.
s2 D 0 charakterisiert Ereignisse, die mit A durch Austausch
Wir können demnach Vergangenheit und Zukunft eines Ereig- von Signalen mit Lichtgeschwindigkeit verbunden werden kön-
nisses A dadurch charakterisieren, dass s2 > 0 ist, und t < 0 nen, und definiert damit den Lichtkegel über A. Diese Ereignisse
bzw. t > 0. Man nennt dann die Ereignisse zeitartig getrennt. sind dann lichtartig zueinander. Je nach Vorzeichen von t liegt
Ist s2 < 0, spricht man von raumartiger Trennung. In diesem B auf dem Vorwärts- oder Rückwärtslichtkegel. In Abb. 9.19 ist
Fall gibt es immer ein Inertialsystem, in dem das Ereignispaar dies für den Fall dargestellt, dass Ereignis A mit dem Koordina-
gleichzeitig ist. Für den Beobachter am Referenzereignis A de- tenursprung zusammenfällt.
9.3 Minkowski-Raum 335

Vertiefung: (Un-)Sichtbarkeit der Lorentz-Kontraktion

Teil I
Wie wirklich ist die Lorentz-Kontraktion?

Lorentz-Kontraktion wie auch Zeitdilation sind Aussagen L 0v/c


darüber, was ein relativ zu einem Objekt bewegter Beobach- L 0/γ
ter misst. Da Geschwindigkeiten keine absolute Bedeutung L 0/γ
haben, passiert einem Lorentz-kontrahierten Objekt selbst
natürlich nichts; in seinem Ruhesystem ist es immer gleich v
L0
lang. Dennoch ist die Lorentz-Kontraktion ein objektives Laufzeit
L0
Phänomen, das durch die Messprozedur eindeutig feststeht: L 0/c L0
Wird in einem Inertialsystem ein dazu bewegtes Objekt zu ruhender
Würfel
einem in diesem System wohldefinierten Zeitpunkt vermes- α
sen, stellt es sich als in Bewegungsrichtung verkürzt heraus.
Foto- α
Wird aber ein bewegtes Objekt von einem einzelnen Beob- platte
L 0v/c L 0/γ L 0v/c L 0/γ
achter, der ja nicht gleichzeitig an mehreren Orten sein kann,
angesehen, dann sind dafür auch noch die Laufzeiten des
Lichtes in Rechnung zu stellen, die bei einem ausgedehn-
ten Objekt bei Bewegungen nahe der Lichtgeschwindigkeit
nicht vernachlässigbar sind. Dies kann sogar, wie wir se-
hen werden, dazu führen, dass die Lorentz-Kontraktion gar
nicht als solche sichtbar wird. Eigenartigerweise dauerte es
Abb. 9.17 Parallelstrahlenprojektion eines bewegten Würfels (v D 12 c)
bis 1959, bis dies durch voneinander unabhängige Arbeiten
im Vergleich zu einem ruhenden, aber gedrehten Würfel. Im linken Teil-
der Physiker Roger Penrose (*1931) und James Terrell syste- bild, in dem ein bewegter Würfel fotografiert wird, sind die Abbilder der
matisch untersucht wurde (Penrose 1959; Terrell 1959). (In weiter entfernten Würfelkanten um das Produkt von Lichtlaufzeit L0 =c
einer weitgehend unbekannt gebliebenen Publikation hatte und Geschwindigkeit v so verschoben, dass auf der Fotoplatte exakt das-
allerdings der österreichische Physiker Anton Lampa (1868– selbe Bild wie bei einem ruhenden Würfel entsteht, der um den Winkel
1938) die optische Manifestation der Lorentz-Kontraktion ˛ D arccos.v =c/ gedreht wurde (rechtes Teilbild )
schon 1924 richtig behandelt; Lampa 1924.)
Die Kombination von Lorentz-Kontraktion und Lichtlauf-
Eine besonders einfache, wenn auch nicht ganz realistische
zeiten erscheint ganz allgemein bei Parallelstrahlenprojek-
optische Beobachtungsform ist die einer fotografischen Auf-
tion als reine Drehung, die Penrose-Terrell-Drehung genannt
nahme mittels einer Parallelstrahlenprojektion. Werden bei
wird.
einem Schnappschuss zu einem Zeitpunkt nur die exakt pa-
rallel auf eine Fotoplatte eintreffenden Strahlen registriert, so Bei realistischeren Beobachtungen mittels Zentralprojektion
entsteht ein lebensgroßes Abbild. treten aber bei geringen Entfernungen zum Objekt perspek-
Betrachten wir als Beispiel einen Würfel mit Kantenlänge L0 , tivische Verzerrungen auf, die in Abb. 9.18 für unterschied-
der sich mit Geschwindigkeit v parallel zu einer solchen Fo- liche Geschwindigkeiten dargestellt sind. In diesen Fällen
toplatte nach rechts bewegt (Abb. 9.17), so werden wegen der nähert sich der visuelle Eindruck doch wieder dem eines in
endlichen Laufzeit des Lichtes die hinteren und die vorderen Längsrichtung verkürzten Würfels.
Kanten bei unterschiedlichen Zeiten aufgenommen. Das Bild
der hinteren, weiter entfernten Kanten kommt von einer Posi-
tion des Würfels, die er um L0 =c früher hatte als die, bei der
die der Fotoplatte nähere Seite registriert wird. Die linke hin-
tere Kante wird dadurch auch nicht länger von der vorderen
verdeckt und erscheint auf dem Foto um L0 v =c nach links ver-
schoben. Ist der Würfel durchscheinend, wird auch die rechte
hintere Kante abgebildet und ist gegenüber der vorderen rech- v = 0,3 c v = 0,7 c v = 0,95 c
ten Kante in gleicher Weise verschoben.
Abb. 9.18 Relativistisch bewegter Würfel aus geringer Entfernung (Zen-
Gerade weil der Würfel in der Bewegungsrichtung auf L0 = tralprojektion)
Lorentz-kontrahiert ist, entsteht ein Abbild, das von einem
gedrehten unverkürzten Würfel nicht unterschieden
p werden Eine Zusammenstellung einer Vielzahl an Animationen, die
kann: Die beiden Faktoren v =c und 1= D 1  v 2 =c2 ver- das Erscheinungsbild relativistisch bewegter Körper bis hin
halten sich wie Sinus und Kosinus zueinander – setzen wir zu einer relativistischen Fahrt durch die Innenstadt von Tü-
v =c D cos ˛, dann ist 1= D sin ˛. bingen zeigt, findet sich in Kraus & Borchers (2005).
336 9 Spezielle Relativitätstheorie

ct A(lice)
ct B(ob)
Zukunft ct
Teil I

s2 > 0, t>0

E1 E2

s2 < 0 E3
x
Gegenwart x

s2 = 0 x
s2 > 0, t<0 Lichtkegel

Vergangenheit
Abb. 9.20 Könnten Signale mit Überlichtgeschwindigkeit übertragen werden
Abb. 9.19 Lichtkegel, Vergangenheit und Zukunft bezüglich des Koordina- (hier der Einfachheit mit unendlicher Geschwindigkeit dargestellt), dann wäre
tenursprungs eine Signalübertragung in die Vergangenheit möglich

Überlichtgeschwindigkeit verletzt Kausalität! das Lorentz-invariante Wegelement

Anhand von Minkowski-Diagrammen kann man sich ds2 D c2 dt2  dx2  dy2  dz2 D ds02 (9.44)
sofort davon überzeugen, dass man seine eigene Ver-
immer eine positive Größe ist. Betrachten wir ein Inertialsys-
gangenheit beeinflussen könnte, wenn es möglich wäre,
tem S0 , das zu einem gegebenen Zeitpunkt relativ zu S dieselbe
physikalische Wirkungen mit Überlichtgeschwindigkeit
Geschwindigkeit wie das Teilchen hat, sodass das Teilchen in
auszuüben. (Hypothetische Teilchen, die sich mit Über-
diesem System gerade ruht, so gilt ds2 D c2 dt02 , und das in-
lichtgeschwindigkeit bewegen, werden oft als Tachyonen
finitesimale Zeitintervall dt0 stimmt mit dem infinitesimalen
bezeichnet.)
Zeitintervall d der mitgeführten „inneren“ Uhr des Teilchens
Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass es möglich überein. Dies definiert die Eigenzeit eines Punktteilchens, die
wäre, in einem Inertialsystem tachyonische Signale mit bei allgemeiner, nicht gleichförmiger Bewegung mit keiner Ko-
so großer Überlichtgeschwindigkeit auszusenden, dass ordinatenzeit eines Inertialsystems übereinstimmen wird. Weil
sie im Minkowski-Diagramm als Linien erscheinen, die ds2 aber in jedem Inertialsystem gleich ist, können wir das Ei-
annähernd parallel zur zugehörigen x-Achse sind. genzeitintervall in den Koordinaten eines Inertialsystems als
Eine in System S ruhende Physikerin A(lice) braucht für  
dx2 C dy2 C dz2
die Kausalitätsverletzung nur einen Partner B(ob) in ei- d 2 D ds2 =c2 D dt2 1 
c2 dt2
nem sich mit großer Geschwindigkeit weg bewegenden   (9.45)
System S0 , dem sie zum Zeitpunkt von Ereignis E1 ein v 2 .t/
D dt2 1  2
solches Signal übermittelt. Wenn der Partner B zum Er- c
eignis E2 daraufhin ein ebensolches Signal, das sich nun
bezüglich S0 praktisch instantan ausbreitet, zurücksendet, angeben. Dies ist gerade die schon diskutierte Zeitdilatation, nur
kommt es bei Alice zu einem früheren Zeitpunkt an (Er- jetzt für infinitesimale Zeitintervalle und mit einer Geschwin-
eignis E3 ), als sie das Signal absetzte (Abb. 9.20). J digkeit, die nicht notwendigerweise konstant sein muss. Damit
können wir nun endliche Eigenzeitintervalle entlang einer be-
liebigen Weltlinie berechnen.

Eigenzeit für ein beliebig bewegtes Punktteilchen


Minkowski-Wegelement und Eigenzeit Sind A und B Ereignisse auf einer Weltlinie, die in einem
Inertialsystem durch eine Bahnkurve x.t/ mit Geschwin-
Weltlinien von Punktmassen verlaufen von jedem Inertialsys- digkeit v .t/ D dx.t/=dt gegeben ist, dann ist die Eigenzeit
tem aus betrachtet mit Geschwindigkeiten jdx=dtj < c, sodass
9.4 Viererformalismus 337

ct der Erde belassenen Atomuhr entsprach mit Prozentgenaugkeit


den Vorhersagen der Relativitätstheorie. Allerdings steuert hier,

Teil I
B
weil sich die beiden Atomuhren in unterschiedlichen Gravitati-
onspotenzialen befinden, die allgemeine Relativitätstheorie mit
der Gravitationsrotverschiebung einen entgegengesetzten und
zehnmal größeren Effekt bei. Die Zeitdilation, die sich auf dem
τB − τA < tB − tA
15 Stunden währenden Flug auf 5,7 ns aufaddierte, konnte dabei
aber dank der erzielten Genauigkeit exakt bestätigt werden.
tB − tA

Relativistische Effekte bei GPS


τB − τA = 0
Seit 1994 werden diese Phänomene durch die Flotte der
GPS-Satelliten zur geodätischen Positionsbestimmung
A quasi in Permanenz bestätigt. Diese Satelliten fliegen in
x 20.200 km Höhe mit einer Geschwindigkeit von etwa
14.000 km/h, was ˇ  105 und   1 8  1011 ent-
Abb. 9.21 Die Weltlinie, die zwei Ereignisse A und B durch eine Gerade ver- spricht. Die resultierende Zeitdilatation ist dabei um fast
bindet (gleichförmige Bewegung), hat die maximale Zeitdifferenz. Jede andere das Tausendfache höher als bei den historischen Experi-
Weltlinie hat eine kleinere Eigenzeit; bei einer Verbindung mit gestückelten licht- menten mit Flugzeugen und beträgt 7 s pro Tag. Die
artigen Linien wird die Eigenzeit sogar null Gravitationsrotverschiebung ist ebenfalls höher und trägt
C45 s pro Tag bei. Die gesamte Zeitverschiebung ist al-
so C38 s pro Tag oder C26 ns pro Minute. Das GPS-
System braucht eine Genauigkeit von etwa 30 ns für ei-
zwischen A und B gegeben durch ne Ortsauflösung von 10 m. Würden die relativistischen
Effekte nicht korrigiert (was durch eine leichte Verstim-
ZB ZtB mung der Frequenz der GPS-Atomuhren schon beim Start
dt
B  A D d D der Satelliten gemacht wird), ginge die Genauigkeit des
.v .t// GPS-Systems schon nach einer Minute verloren, und
A tA
s (9.46) nach einem Tag wäre der Fehler bereits 12 km! J
ZtB
v 2 .t/
D dt 1  2  tB  tA :
c
tA

9.4 Viererformalismus
Betrachten wir eine Weltlinie, die A und B durch eine gleichför-
mige Bewegung verbindet, dann definiert dies ein Inertialsys- Wir werden nun den Formalismus, den wir in Kap. 2 für Dre-
tem. In diesem ist v D 0 und das Eigenzeitintervall durch die hungen im dreidimensionalen euklidischen Raum entwickelt
Koordinatenzeitdifferenz gegeben. Jede andere Weltlinie, die haben, auf den nichteuklidischen Minkowski-Raum verallge-
von A nach B führt, hat also eine kleinere Eigenzeit (Abb. 9.21). meinern. Wie wir gesehen haben, sind Lorentz-Transformatio-
Die zeitlich längste Verbindung zwischen zwei Ereignissen nen pseudoorthogonale Transformationen der Inertialsysteme,
ist also die gerade Weltlinie im Minkowski-Raum! Die anfal- von denen aus Ereignisse, d. h. die Raumzeitpunkte des Min-
lende Eigenzeit wird dagegen beliebig klein, wenn Umwege kowski-Raumes, durch vierdimensionale Koordinaten parame-
mit Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit gemacht trisiert werden.
werden. Wenn wir für alle Inertialsysteme den Koordinatenursprung
gleich wählen, können wir einem Ereignis einen physikalischen
Dies führt auf das viel zitierte sogenannte Zwillingsparado-
Viererortsvektor x zuordnen, der aber in verschiedenen Inerti-
xon der speziellen Relativitätstheorie: Unternimmt von einem
alsystemen durch verschiedene Koordinaten x ,  D 0; : : : ; 3,
Zwillingspaar einer eine Reise durch den Weltraum mit Ge-
beschrieben wird, weil in den verschiedenen Inertialsystemen
schwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit, so kann er bei
verschiedene Basisvektoren ausgezeichnet wurden:
seiner Rückkehr den auf der Erde zurückgebliebenen Zwil-
ling um ein Vielfaches gealtert vorfinden (oder schon längst
X
3
nicht mehr am Leben). Ein Experiment dazu wurde tatsäch- x D x e  x e : (9.47)
lich mit Atomuhren von J. Hafele und R. Keating im Jahr D0
1971 mit einem gewöhnlichen Verkehrsflugzeug durchgeführt
und 1975 von Physikern der University of Maryland wieder- In diesem Ausdruck haben wir die Einstein’sche Summenkon-
holt. Der gemessene Gangunterschied der reisenden und der auf vention auf den vierdimensionalen Fall erweitert, wobei wir
338 9 Spezielle Relativitätstheorie

Vertiefung: Zwillingsparadoxon
Teil I

Worin besteht das Paradoxon?

Da die Zeitdilatation eine so vielfältig getestete Konsequenz ct


der speziellen Relativitätstheorie darstellt, scheint es ana-
B
chronistisch, beim Zwillingsparadoxon überhaupt noch von ct ct
einem Paradoxon zu sprechen. Die Geometrie des Minkow- Δτ (II)
E
ski-Raumes und der daraus folgende Eigenzeit-Begriff ist
nun einmal nichteuklidisch und gerade so, dass die schein- U 
bar kürzeste Verbindung über eine Gerade im Minkowski- x
Raum die längste Eigenzeit darstellt. U

Dass die spezielle Relativitätstheorie bei entsprechend ho- U


her Geschwindigkeit Zeitreisen in die Zukunft erlaubt, stellt
auch kein Paradoxon in Hinblick auf Kausalität dar, denn zu- (I)
ΔτE
rück geht es leider nicht.
A x
Dennoch ist es instruktiv, das Zwillingsparadoxon durch
folgende Zuspitzung zu einem Paradoxon zu machen: Wie
die Definition von Eigenzeitintervallen in (9.46) zeigt, spie-
len für die Reise in die Zukunft nicht die notwendigen
Beschleunigungsphasen des „Raketenzwillings“ eine Rolle,
sondern nur, dass er möglichst lange mit möglichst ho-
her Geschwindigkeit unterwegs ist. Er kann sich also nach x
kurzer Beschleunigungsphase lange Zeit von der Erde weg
bewegen und danach nach ebenso kurzer entgegengesetz- Die Zeit des Erdzwillings setzt sich demnach aus
ter Beschleunigungsphase wieder zur Erde zurück bewegen.
Damit befindet er sich praktisch dauernd in einem Inerti- E D E .A; U 0 / C E .U 0 ; U 00 / C E .U 00 ; B/
alsystem, und somit sollte der Raketenzwilling eigentlich
seinerseits dauernd eine langsamer vergehende Zeit beim auf zusammen, wobei A und B die Ereignisse Abflug und
der Erde zurückgebliebenen Zwilling feststellen können. Rückkehr bezeichnen. E .A; U 0 / und E .U 00 ; B/ sind die
oben mit E.I/ bzw. E.II/ bezeichneten Zeitintervalle.
Während der Wegflugphase (I), die im wegfliegenden Iner- E .U 0 ; U 00 / ist dafür verantwortlich, p
dass in Summe E
tialsystem S0 die Zeit R =2 dauert, vergeht im dazu relativ
doch die größere Zeit ist, E D R = 1  v 2 =c2 .
mit entgegengesetzterp Geschwindigkeit bewegten Erdsystem
.I/
S die Zeit E D 1  v 2 =c2 R =2, für die Rückflugpha- Die obigen Betrachtungen gehen von der Gleichzeitigkeit de-
se (II) gilt genau das Gleiche. Zusammenaddiert ist finiert durch bezugssystemabhängig synchronisierte Uhren
aus, während für Beobachtungen mit Licht oder Fernsehüber-
p tragung noch die Laufzeit eines Signals in Rechnung zu stel-
E.I/ C E.II/ D 1  v 2 =c2 R < R : len ist. Im Minkowski-Diagramm kann man die daraus re-
sultierende scheinbare Gleichzeitigkeit aber bequem ablesen,
Wie passt das damit zusammen, dass der Raketenzwilling da lichtschnelle Signale durch 45ı -Linien dargestellt wer-
den Erdzwilling bei der Rückkehr dann doch schneller ge- den (während Gleichzeitigkeit bezüglich eines Inertialsys-
altert vorfindet? tems durch Parallelität zu den räumlichen Richtungen defi-
niert ist). Damit lässt sich aus obigem Diagramm ablesen,
Der Grund, warum es nicht erlaubt ist, Ergebnisse aus unter- dass der Raketenzwilling bis zum Umkehrpunkt alle Ereignis-
schiedlichen Inertialsystemen zu stückeln, liegt darin, dass se auf der Erde in einer Zeitlupe wahrnimmt, die noch stärker
sie unterschiedliche Gleichzeitigkeitsbegriffe haben. Das ist, als es durch die Zeitdilation definiert wäre, denn es kommt
Umkehrereignis U des Raketenzwillings ist zu unterschied- noch die immer länger werdende Lichtlaufzeit dazu. Das Er-
lichen Ereignissen im Erdsystem gleichzeitig, je nachdem ob eignis, das er am Umkehrpunkt auf der Erde mitverfolgen
es im weg fliegenden oder zurück fliegenden Inertialsystem kann, liegt noch vor U 0 . Während der Rückflugphase sieht der
betrachtet wird, wie sich am besten in einem Minkowski- Raketenzwilling dagegen alles in einem entsprechend gestei-
Diagramm darstellen lässt: gerten Zeitraffer ablaufen.
9.4 Viererformalismus 339

zusätzlich vereinbaren, dass beim Indexpaar immer ein Index die Minkowski-Metrik genannt wird:
unten und einer oben zu stehen hat.
0 1

Teil I
1 0 0 0
Dementsprechend schreiben wir Lorentz-Transformationen als
B0 1 0 0C
. / D @ :
0A
(9.55)
x0 D ƒ  x ; (9.48) 0 0 1
0 0 0 1
wobei der untere Index bei ƒ  nach rechts gerückt ist, damit
klar ist, welcher der erste und welcher der zweite Index der Ma-
trix ist. Da nur die Koordinaten andere sind, der physikalische Achtung Die Minkowski-Metrik wird in der Literatur etwa
Vektor aber eine invariante Bedeutung hat, gleich häufig auch als Diagonalmatrix mit Einträgen ; C; C; C
definiert. In der Teilchenphysik wird meist (aber nicht immer)
x D x e D x0 e0 D ƒ  x e0 ; (9.49) die Metriksignatur (9.55) bevorzugt, in der allgemeinen Rela-
tivitätstheorie meist (aber auch nicht immer) die Signatur mit
folgt für die Basisvektoren überwiegend positiven Vorzeichen. J

e D ƒ  e0 : (9.50) Die Invarianz von

ds2 D  dx dx D  dx0 dx0 D  ƒ  ƒ  dx dx
Lassen wir zusätzlich Verschiebungen des Koordinatenur-
(9.56)
sprungs zu, so haben wir es mit den allgemeineren Poincaré-
charakterisiert damit Lorentz-Transformationen durch die Rela-
Transformationen zu tun:
tion
x0 D ƒ  .x  b /; (9.51)  ƒ  ƒ  D  : (9.57)

wobei b die Verschiebung des Zeitnullpunktes und die Ver-


schiebung des räumlichen Koordinatenursprungs zusammen- Frage 9
fasst. In diesem Fall transformieren aber Koordinatendifferen- Vollziehen Sie dies nach.
zen und Koordinatendifferenziale weiterhin homogen:

x0 D ƒ  x ; dx0 D ƒ  dx : (9.52) Der Minkowski-Raum ist damit ein metrischer Raum (siehe den
„Mathematischen Hintergrund“ 1.2), allerdings mit der Verall-
Dieses Transformationsverhalten stellt den Prototyp für Vierer- gemeinerung, dass die metrische Fundamentalform nicht positiv
vektoren dar. definit ist. Der mit dieser Metrik definierte „Abstand“ kann null
sein, auch wenn die Raumzeitpunkte getrennt sind, nämlich
wenn diese durch Lichtstrahlen miteinander verbunden werden
Transformationsverhalten eines Vierervektors
können.
a D a e ist ein Vierervektor mit kontravarianten
Durch diese Metrik haben wir eine (nicht positiv definite) Norm
Komponenten a , wenn letztere bei einer Poincaré-Trans-
für Vierervektoren eingeführt, speziell für Ortsdifferenzenvek-
formation (9.51) gemäß
toren,
a0 D ƒ  a (9.53)
s2 D hx; xi D x x he ; e i; (9.58)
„ ƒ‚ …
transformieren. 

und damit auch schon ein Lorentz-invariantes Skalarprodukt für


Die Bezeichnung „kontravariant“ erinnert daran, dass diese beliebige Vierervektoren a, b:
Komponenten entgegengesetzt zu den Basisvektoren transfor-
mieren. ha; bi D a b  : (9.59)

Unabhängig von der Existenz einer invarianten Metrik, mit der


Minkowski-Metrik wir dieses Skalarprodukt definieren konnten, existiert zu je-
dem Vektorraum ein dualer Vektorraum. Es ist dies einfach
Die Lorentz- bzw. Poincaré-Transformationen sind dadurch der Raum der linearen Abbildungen des Vektorraumes in den
charakterisiert, dass sie das Wegelement ds2 in (9.44) invari- zugrunde gelegten Zahlenkörper, hier die reellen Zahlen (sie-
ant lassen. Dies definiert eine metrische Fundamentalform des he den „Mathematischen Hintergrund“ 9.1). Eine Basis für den
Minkowski-Raumes, dualen Vektorraum können wir durch

ds2 D  dx dx ; (9.54) e .e / D ı (9.60)


340 9 Spezielle Relativitätstheorie

9.1 Mathematischer Hintergrund: Dualraum


Teil I

Bei der Betrachtung von Vektorräumen sind immer wieder Betrachten wir den Vektorraum K n zusammen mit der Stan-
Abbildungen wichtig, die linear sind. Eine besondere Rolle dardbasis .e1 ; : : : ; en /, so ist die duale Basis gegeben durch
spielen solche lineare Abbildungen, die in den Grundkörper .e 
1 ; : : : ; en /, wobei
abbilden. Damit wollen wir uns hier kurz beschäftigen.
e
i D .0; : : : ; 0; 1; 0; : : : ; 0/
Definition Sei K ein Körper (z. B. K D R) und V ein endlich
und die 1 jeweils an der i-ten Stelle steht.
dimensionaler K-Vektorraum (z. B. V D Rn /. Dann nennen
wir eine lineare Abbildung ' W V ! K eine Linearform. Die
Menge aller Linearformen bezeichnen wir mit V  . Dualität bei Skalarprodukträumen Gibt es auf dem Vek-
torraum V ein Skalarprodukt, so ist für jedes feste w 2 V die
Eine Linearform ist also eine Abbildung der Form Abbildung
.x1 ; x2 ; : : : ; xn / 7! a1 x1 C a2 x2 C : : : C an xn v 7! hw ; v i
für gewisse Konstanten a1 ; a2 ; : : : ; an 2 K. Der Dualraum
linear, also ein Element des Dualraumes V  . Ist nun um-
.K n / kann also mit dem Raum aller .1  n/-Matrizen, d. h.
gekehrt ' eine Linearform, so gibt es immer einen Vektor
Zeilenvektoren der Länge n, identifiziert werden. Die zu
w 2 V (dessen Komponenten von den Komponenten der Li-
a WD .a1 ; : : : ; an / gehörige Linearform 'a ist
nearform ' abhängen), sodass '.v / D hw ; v i für alle v 2 V
X
n
gilt. Mit anderen Worten: Jede Linearform lässt sich durch
'a .x/ D ax D ak xk 8x 2 V: ein Skalarprodukt darstellen.
kD1

Zum Beispiel ist ' W R3 ! R; '.x; y; z/ WD 3x C y C 4z eine In diesem Fall lässt sich eine Isomorphie zwischen Vektor-
Linearform, der dazugehörige Zeilenvektor ist .3; 1; 4/. Der raum und Dualraum sehr einfach darstellen, nämlich durch
Dualraum .R3 / besteht nun aus der Menge aller solcher Li- f W V ! V ; v 7! h; v i:
nearformen ' W R3 ! R.
Dualraum als Vektorraum Sind '; zwei Linearformen Der Dualraum im Unendlichdimensionalen In den späteren
und ˛ 2 K, so kann man die Summe ' C sowie das skalare Kapiteln werden unendlichdimensionale Vektorräume (z. B.
Produkt ˛' durch Funktionenräume) öfters eine wichtige Rolle spielen, insbe-
sondere in Teil III.
.' C /.x/ WD '.x/ C .x/; .˛'/.x/ D ˛'.x/ 8x 2 V
definieren. Mit diesen Verknüpfungen wird der Dualraum V  Ist V ein unendlichdimensionaler Vektorraum, so verlangt
selbst zu einem Vektorraum. Dieser Vektorraum hat wieder man für Elemente des Dualraumes zusätzlich die Stetigkeit
dieselbe Dimension wie V und ist deswegen isomorph zu V. und schreibt dann für den Dualraum V 0 . Zum Beispiel ist in
einem Hilbert-Raum H (definiert in Abschn. 23.1) für jedes
Duale Basis Wir hatten weiter oben bereits Linearformen feste y 2 H die Abbildung
mit Vektoren identifiziert. Dies wollen wir nun kurz präzi-
sieren. x 7! hx; yi

Da der Dualraum ein Vektorraum ist, können wir dort natür- eine stetige lineare Abbildung, also ein Element von H 0 .
lich eine Basis finden. Hierfür gibt es eine besonders güns- Für allgemeine unendlich dimensionale Vektorräume ist der
tige Wahl. Ist im Vektorraum V eine Basis .v1 ; v2 ; : : : ; vn / Dualraum V 0 nun nicht mehr unbedingt isomorph zum zu-
gewählt, so definieren wir vi 2 V  durch grunde liegenden Vektorraum V. Für Hilbert-Räume gilt die
Isomorphie jedoch. Genauer sagt der Darstellungssatz von
1; iDj Fréchet-Riesz, dass es zu jedem Element f 2 H 0 (also zu je-
vi .vj / D :
0; i¤j der stetigen, linearen Abbildung f W H ! R bzw. f W H !
Dann ist .v1 ; v2 ; : : : ; vn / eine Basis von V  . Wir nennen C) genau ein y 2 H gibt, sodass für alle x 2 H gilt:
diese die duale Basis. f .x/ D hx; yi:
Damit wird nun auch die Identifikation von Linearformen als
Vektoren klar: Bezüglich der dualen Basis sind die Vektor-
komponenten 'j der Linearform ' gerade die Werte '.vj /. Literatur
Schreibt
Pn man nämlich ' in der dualen Basis als ' D

iD1 ' i vi , so ist Modler, F., Kreh, M.: Tutorium Analysis 1 und Lineare
X
n Algebra 1. 3. Aufl., SpringerSpektrum (2014)
'.vj / D 'i vi .vj / D 'j : Arens et. al.: Mathematik. 2. Aufl., Spektrum Akademi-
iD1 scher Verlag (2012)
9.4 Viererformalismus 341

definieren, wobei die e mit oberem Index diese duale Basis Frage 10
darstellen und ı das vierdimensionale Kronecker-Symbol ist: Verifizieren Sie diese Aussage, indem Sie (9.57) auf beiden Sei-

Teil I
ten mit einer inversen Metrik multiplizieren.
1 D
ı D : (9.61)
0  6D 
Die zweifach unterschiedliche Indexposition hat zur Folge, dass
Die Metrik erlaubt es nun aber, die dualen Basisvektoren mit es zu einem Vorzeichenwechsel kommt, wenn davon ein Index
den ursprünglichen in Beziehung zu setzen. Multiplizieren wir zeitlich und einer räumlich ist. Für die Lorentz-Transformation,
(9.60) mit   , so ergibt sich die zu einer reinen Geschwindigkeitstransformation in x-Rich-
 tung gehört, bedeutet dies
 e .e / D  ; (9.62)
0 1
 ˇ 0 0
was dasselbe liefert wie das Skalarprodukt he ; e i. Wir können Bˇ  0 0C
.ƒ / D @ ;
also 0 0 1 0A
e D   e (9.63) 0 0 0 1
0 1 (9.71)
identifizieren.  Cˇ 0 0
Definieren wir die inverse Metrik  durch BCˇ  0 0C
.ƒ / D @ :
0 0 1 0A
   D ı ; (9.64) 0 0 0 1

können wir (9.63) auch nach den dualen Größen auflösen: Wie es sein muss, erhält man die inverse Matrix durch Änderung
  des Vorzeichens bei der Geschwindigkeit ˇ. Bei einer reinen
e D e : (9.65) Drehung  
1 0>
Die inverse Metrik ist hier zwar numerisch mit (9.55) identisch, .ƒ  .R// D
0 R
0 1
1 0 0 0
B0 1 0 0C ändert sich dagegen nichts; hier gibt ja auch schon die transpo-
. / D @ ;
0 0 1 0 A
(9.66) nierte Matrix das Inverse (man beachte die Transposition, die in
0 0 0 1 (9.70) im Spiel ist!).
Neben Vierervektoren können wir nun ganz analog auch Vierer-
ist aber konzeptionell von  zu unterscheiden. Hätten wir tensoren beliebiger Stufe definieren. Zum Beispiel transformie-
nämlich krummlinige Koordinaten verwendet, was im räumli- ren die Komponenten eines Tensors zweiter Stufe entsprechend
chen Teil nicht ungewöhnlich wäre, hätte die Metrik nicht zu der Indexposition:
sich selbst invers sein können.
0
Mit den dualen Basisvektoren (9.65) können wir nun allgemein t D ƒ ƒ t  ; t0 D ƒ ƒ t  ; (9.72)
Vierervektoren alternativ in dualer Basis und damit mit kovari-
wobei Indizes mit der Minkowski-Metrik von ko- zu kontra-
anten Komponenten schreiben:
variant verändert werden können: t  D    t . Als
a D a  e D a  e ; (9.67) Spezialfall haben wir bereits die Minkowski-Metrik kennenge-
lernt, die sich dadurch auszeichnet, ein invarianter Tensor zu
wobei die kovarianten Komponenten durch einen unteren Index sein:
notiert werden, der, wie man sagt, mit der Metrik nach unten 0 D ƒ ƒ   D  : (9.73)
gezogen wird:
a D  a ; (9.68) Frage 11
wodurch sich ein Unterschied im Vorzeichen in den räumlichen Überzeugen Sie sich anhand der Definition der invarianten Me-
Komponenten ergibt: a0 D a0 , a1 D a1 , a2 D a2 , a3 D a3 . trik, dass auch die Indizes der Minkowski-Metrik durch die
Metrik von ko- zu kontravariant umgewandelt werden können,
Die kovarianten Komponenten haben das entgegengesetzte
wobei das Kronecker-Symbol ı als gemischt ko- und kontra-
Transformationsverhalten zu den kontravarianten, weil sie wie
variante Darstellung der Minkowski-Metrik aufgefasst werden
die Basisvektoren e in (9.50) transformieren. Dieses lässt sich
kann.
mit Indexziehen auch in folgende Form bringen:

a0 D  a0 D  ƒ a D  ƒ   a : (9.69)


„ ƒ‚ … Werden dagegen Indizes „abgesättigt“, weil über sie unter Ver-
ƒ  wendung der Minkowski-Metrik summiert wird, reduziert sich
die Stufe eines Tensors. So transformiert das Produkt a b von
Die hierbei entstandene Matrix ƒ  erfüllt zwei Vierervektoren als Tensor zweiter Stufe, die Kontraktion

ƒ  ƒ  D ı : (9.70) a  b D  a b D a0 b0  ai bi (9.74)


342 9 Spezielle Relativitätstheorie

ist dagegen ein Lorentz-Skalar, d. h. eine Invariante unter Lo- in Übereinstimmung mit der Tatsache, dass in der Relativitäts-
rentz-Transformationen. Genauso gut lässt sich dies als a b D theorie c invariant unter Lorentz-Transformationen ist.
Teil I

a0 b0 C ai bi oder a b D a0 b0 C ai bi anschreiben, wobei nicht


vergessen werden darf, dass Heben oder Senken eines räumli- Frage 12
chen Index einen Vorzeichenwechsel bedeutet. Rechnen Sie u2 D c2 nach!
Achtung Wenn hier wie in der einschlägigen Literatur ver-
kürzend von ko- oder kontravarianten Vektoren oder Tensoren
und deren Transformationsverhalten die Rede ist, sind eigent- Da die Operation d=d eine Lorentz-invariante Bedeutung hat,
lich die Komponenten der Vektoren bzw. Tensoren gemeint. können wir durch eine Differenziation von u einen weiteren
(Physikalische Vektoren wie in (9.47) sowie physikalische Ten- Vierervektor definieren, der die gewöhnliche Beschleunigung
soren haben eine von Koordinatensystemen unabhängige Be- verallgemeinert, die Viererbeschleunigung
deutung.) J
du d2 x
a D D : (9.78)
d d 2
Vierergeschwindigkeit und -beschleunigung Aus u u D c2 folgt durch Differenziation

Das einzige konkrete Beispiel für einen Vierervektor in der obi- u a D 0; (9.79)
gen Darlegung war der Viererortsvektor bzw. Differenzen davon
und die infinitesimalen Differenziale dx . (Ein weiteres wichti- d. h., die Viererbeschleunigung ist im Sinne der Minkowski-
ges Beispiel wird in Aufgabe 9.8 vorgestellt: der Vierergradient, Geometrie überall orthogonal auf die Vierergeschwindigkeit.
der ab Kap. 18 sehr wichtig werden wird.) Im Gegensatz zu letzterer ist die Viererbeschleunigung ein
raumartiger Vierervektor. Das Viererquadrat von a ist wieder
Ist eine Weltlinie eines Punktteilchens gegeben, können wir
eine Lorentz-invariante Größe. Um sie zu berechnen, genügt es,
weitere Vierervektoren betrachten. Eine solche Weltlinie ist ge- dies in einem Inertialsystem zu tun; die Lorentz-Invarianz stellt
geben durch eine Linie x D x .t/, wobei t ein geeigneter sicher, dass das Ergebnis für alle Inertialsysteme gilt. Betrachten
Kurvenparameter ist. Weil eine physikalisch realisierbare Welt-
wir ein Inertialsystem, in dem zu einem gegebenen Zeitpunkt
linie aber überall zeitartig ist, d. h. ds2 D  dx dx > 0, ist v .t/ D 0 ist. Berechnen wir nun in diesem System
in jedem Inertialsystem die jeweilige Koordinatenzeit ein geeig-
neter Parameter.  
du du d c
In einem gegebenen Inertialsystem ist dx.t/=dt D v .t/ die Ge- a D D D  .v / ; (9.80)
d dt dt v
schwindigkeit des Punktteilchens zum Zeitpunkt t. Weil die Zeit
nichttrivial transformiert, ist allerdings dx .t/=dt kein Vierer- dann ist  D 1 und wegen
vektor. Dieses Manko lässt sichpaber beheben, indem dt durch
das Eigenzeitdifferenzial d D ds2 =c ersetzt wird, denn letz- d 1 dv
teres ist ein Lorentz-Skalar. D 2  3 v  a; a (9.81)
dt c dt

auch d=dt D 0, wenn v .t/ D 0 ist. Bezeichnen wir mit


Vierergeschwindigkeit
aQ die Dreierbeschleunigung im momentanen Ruhesystem des
Die Vierergeschwindigkeit ist durch Teilchens, so folgt in diesem a D .0; aQ /> und daher in je-
dem System a a D .Qa/2 . Das invariante Viererquadrat
dx dx dt der Viererbeschleunigung ist also (für jeden Zeitpunkt) durch
u D D (9.75)
d dt d den Betrag der gewöhnlichen Beschleunigung im momenta-
nen Ruhesystem gegeben. (Der allgemeine Zusammenhang von
definiert. Sie hängt wegen dt=d D .v / mit der Dreier- Dreier- und Viererbeschleunigung wird in Aufgabe 9.6 ausge-
geschwindigkeit v gemäß arbeitet.)
 
c
u D .v / (9.76)
v
Herleitung des allgemeinen
zusammen.
Geschwindigkeitsadditionstheorems
Aus dem Vierervektor u können wir durch Quadrieren mit der
Das Transformationsverhalten von Dreiergeschwindigkeiten
Minkowski-Metrik einen Lorentz-Skalar bilden, der die Dimen-
unter Lorentz-Transformationen beinhaltet das relativistische
sion einer Geschwindigkeit zum Quadrat hat. Es gilt
Geschwindigkeitsadditionstheorem, das wir für parallele Ge-
u2  u u D c2 ; (9.77) schwindigkeiten in (9.31) hergeleitet hatten.
9.4 Viererformalismus 343

Betrachten wir nun eine Vierergeschwindigkeit u D oder andersherum


.w /.c; w /> mit beliebig orientierter Dreiergeschwindigkeit
w und machen eine Standard-Lorentz-Transformation in posi- wx0 C v

Teil I
wx D ;
tiver x-Richtung mit Geschwindigkeit v , dann können wir die 1 C vwx0 =c2
0 (9.87)
transformierte Geschwindigkeit einfach aus 1 wy;z
wy;z D ;
.v / 1 C vwx0 =c2
u0 .w 0 / D ƒ.v /  u .w / (9.82)
in Verallgemeinerung von (9.31), wo w und w 0 nur Komponen-
extrahieren. Komponentenweise angeschrieben lautet dies ten in x-Richtung hatten.
 v   vwx  Frage 13
u00 D .v / u0  u1 H) .w 0 / D .v /.w / 1  2 ;
c c Betrachten Sie den Fall wx0
D 0 und machen Sie sich das Ergeb-
(9.83) nis als Effekt der Zeitdilatation plausibel. (Denken Sie daran,
 v 
u01 D .v / u1  u0 H) .w 0 /wx0 D .v /.w /.wx  v /; dass Distanzen in transversaler Richtung nicht Lorentz-kontra-
c hiert werden.)
(9.84)
u02;3 D u2;3 H) .w 0 /wy;z
0
D .w /wy;z : (9.85)
Für die Beträge der Geschwindigkeiten gilt nun, wie man nach-
rechnen kann:
Division der letzten beiden Gleichungen jeweils durch die erste
liefert w2 .1  w 02 =c2 / .1  v 2 =c2 /
wx  v D1 : (9.88)
wx0 D ; c2 .1 C v  w 0 =c2 /2
1  vwx =c2
(9.86)
0 1 wy;z Daraus geht wieder hervor, dass die Lichtgeschwindigkeit nicht
wy;z D
.v / 1  vwx =c2 erreicht werden kann, wenn w 0 und v kleiner als c sind.
344 9 Spezielle Relativitätstheorie

So geht’s weiter
Teil I

Thomas-Präzession: hat das Objekt aus Sicht des Laborsystems die Geschwindigkeit
v C dv , aber B.t/ hat nun eine andere räumliche Orientierung
Die Relativität von Richtungen
als das System S00 , das durch ƒ.v C dv / mit dem Laborsys-
tem rotationsfrei verknüpft ist. Die Systeme B.t/ und B.t C dt/
Das Produkt von zwei Lorentz-Transformationen, die reine Ge-
unterscheiden sich definitionsgemäß um eine reine Geschwin-
schwindigkeitstransformationen sind, ist nur dann wieder eine
digkeitstransformation ƒ.dv 0 /, während S0 und S00 durch
reine Geschwindigkeitstransformation, wenn die dabei invol-
vierten Geschwindigkeiten v 1 und v 2 parallel sind. Andernfalls
ƒ.v C dv / ƒ1 .v / D ƒ.R/ ƒ.dv 0 / (9.89)
ist immer auch eine Drehung des räumlichen Koordinatensys-
tems im Spiel.
verknüpft sind, wie das Diagramm in Abb. 9.22 zeigt.
Betrachtet man von einem Inertialsystem aus eine allgemeine,
nicht gleichförmige Bewegung eines Objekts, das in seinem S
Eigensystem eine Richtung auszeichnet, wie z. B. einen Krei- B(t + dt)
selkompass oder ein Elementarteilchen mit Spin (Abschn. 21.6),
dann ändert sich diese Richtung vom Inertialsystem aus betrach- Λ(R)
tet, auch wenn im Eigensystem des Objekts keine Drehmomente Λ(dv  )
im Spiel sind.
Λ(R)· Λ(dv  )
Betrachten wir beispielsweise zwei Raketen, die Kreiselkom-
B(t) = S  S 
passe mitführen und die anfangs in einem gemeinsamen Iner-
tialsystem sind. Beschleunigt eine dieser Raketen zuerst auf
Geschwindigkeit v 1 und danach auf eine zusätzliche Geschwin- Λ(v) Λ(v + dv)
digkeit v 2 ¬ v 1 , dann hat sich ihr Kreiselkompass gegenüber
S
der zweiten Rakete verdreht, wenn diese durch eine einzige li-
neare Beschleunigung in das neue Inertialsystem überwechselt.
Das ist ein rein relativistischer Effekt, der in der Newton’schen Abb. 9.22 Ein Objekt, das dadurch beschleunigt wird, dass Kräfte nur auf
Mechanik keine Entsprechung hat. den Schwerpunkt wirken, wird durch ein Bezugssystem B.t/ beschrieben,
Wird nun ein Objekt auf einer ständig beschleunigten Bahn- das über eine kontinuierliche Abfolge von reinen Geschwindigkeitstransfor-
kurve bewegt, z. B. auf einer Kreisbahn, dann ändert sich, von mationen definiert ist. In diesem ändern sich durch mitgeführte Kreiselkom-
passe oder Spins definierte Richtungen nicht. Von einem festen Laborsystem
einem Inertialsystem aus betrachtet, das mitgeführte räumli-
S aus betrachtet sind momentane Inertialsysteme S und S00 des beschleunigt
che Koordinatensystem (definiert durch Kreiselkompass oder bewegten Objekts, die dieselbe räumliche Orientierung wie das Laborsys-
Spin) kontinuierlich. Dieser ausschließlich kinematische Effekt tem haben, mit diesem durch reine Geschwindigkeitstransformationen (hier
heißt Thomas-Präzession nach dem englischen Physiker Lle- ƒ.v / bzw. ƒ.v C dv /) verknüpft. Wird B.t/ D S0 gewählt, so unter-
wellyn Hilleth Thomas (1903–1992). Die Bedingung an das scheidet sich zu einem infinitesimal späteren Zeitpunkt B.t C dt/ von S00 im
mitgeführte Koordinatensystem eines beschleunigten Objekts, Allgemeinen um eine infinitesimale Drehung
nämlich dass dieses aus seiner Perspektive rotationsfrei gehalten Hierbei ist
wird und aus einer kontinuierlichen Abfolge von reinen Ge-
schwindigkeitstransformationen besteht, heißt Fermi-Walker- v  dv
dv 0 D  dv C .  1/ v; (9.90)
Transport, benannt nach dem italienischen Physiker Enrico v2
Fermi (1901–1954) und dem britischen Mathematiker und Kos-
mologen Arthur Geoffrey Walker (1909–2001). in Übereinstimmung mit dem allgemeinen relativistischen Ad-
Betrachten wir nun von einem Laborsystem S aus die Flug- ditionstheorem für Geschwindigkeiten, während die (infinitesi-
bahn eines Objekts mit Spin (Elektron oder Kreiselkompass), male) Drehmatrix durch
dann können wir zu jedem Zeitpunkt t, zu dem sich das Objekt
mit Geschwindigkeit v .t/ bewegt, mit einer reinen Geschwin- .  1/
R D I C dR D I C .v d v >  d v v > / (9.91)
digkeitstransformation ƒ.v .t// in das momentane Ruhesystem v2
des Objekts übergehen und dadurch das räumliche Koordina-
gegeben ist, wie in Aufgabe 9.7 gezeigt wird. Schreibt man
tensystem des vom Objekt mitgeführten Systems mit dem des
Laborsystems vergleichen. Bezeichnen wir mit B.t/ das aus
x00 D Rx0 D x0 C x0  d; (9.92)
der Sicht des beschleunigten Objekts rotationsfrei gehaltene
Koordinatensystem, dann können wir es zu einem Zeitpunkt t
dann ist der infinitesimale Drehvektor
gleich ausrichten wie ein Inertialsystem S0 , das mit dem Labor-
system durch eine reine Geschwindigkeitstransformation ƒ.v / .  1/
verknüpft ist. Zu einem infinitesimal späteren Zeitpunkt t C dt d D v  dv : (9.93)
v2
So geht’s weiter 345

Vom mitgeführten System aus betrachtet unterscheidet sich S00 Atomkern bewegt, wird durch die Kraft ma D V 0 .r/er D

Teil I
von B.t C dt/ nur durch eine passive Koordinatentransforma- rV 0 .r/=r auf seiner Bahn gehalten. Der Spin des Elektrons, das
tion ƒ.dR/. Aus der Sicht des Laborsystems S hat sich das sich in guter Näherung nichtrelativistisch bewegt, erfährt damit
mitgeführte System B zusammen mit einem damit verbundenen eine Präzession der Gestalt
Spinvektor S aber um ƒ1 .dR/ aktiv gedreht:
1 v r 0 1 V 0 .r/
D V .r/ D  2 2 L ; (9.98)
dS D S  d D d  S: (9.94) 2
2c mr 2m c r

Dieser präzediert also gemäß wobei L D r  .mv / der Bahndrehimpuls des Elektrons ist. Dies
gibt eine Korrektur zur Spin-Bahn-Wechselwirkungsenergie des
dS d Elektrons, die sich aus der magnetischen Wechselwirkung von
D S DS (9.95)
dt dt Bahndrehimpuls und Spin in der nichtrelativistischen Quanten-
mechanik ergibt (wie in Abschn. 29.3 hergeleitet werden wird).
mit einer Winkelgeschwindigkeit
Bemerkenswerterweise haben dieser dynamische Beitrag und
.  1/ dv .  1/ der rein kinematische der Thomas-Präzession dieselbe Form,
D v D v  a; (9.96) wobei letzterer den Effekt um einen Faktor 12 vermindert. Dieser
v2 dt v2
Korrekturfaktor 12 wird in der Quantenmechanik auch Thomas-
die durch die momentane Geschwindigkeit und Beschleunigung Faktor genannt.
1 v2
bestimmt ist. Ist v c, dann ist dies wegen   1 2 c2
näherungsweise
1
  2 v  a: (9.97) Geodätische Präzession
2c
Man beachte, dass  abhängig von der Relativgeschwindigkeit
und Lense-Thirring-Effekt
des Beobachters in S ist. In einem momentanen Ruhesystem ist
Ein analoger Effekt existiert auch im Gravitationsfeld, zu dessen
insbesondere die Geschwindigkeit v D 0, und der Spinvektor
Berechnung aber die allgemeine Relativitätstheorie herangezo-
präzediert gerade nicht. Durchläuft ein Objekt eine geschlossene
gen werden muss. Dieser Effekt, der geodätische Präzession
Bahn und kommt in das Ausgangssystem zurück, dann kommt
genannt wird, wurde schon 1916 von dem niederländischen
es aber zu einer eindeutig definierten Verdrehung des Spinvek-
Astronomen Willem de Sitter (1872–1934) berechnet, also elf
tors, die davon abhängt, wie groß die Beschleunigung entlang
Jahre vor dem speziell-relativistischen der Thomas-Präzession
der Bahnkurve war.
(und weniger als ein Jahr nach Aufstellung der allgemeinen Re-
lativitätstheorie). Der allgemein-relativistische Effekt hat wie-
der die Form (9.98), wobei nun V.r/ das Gravitationspotenzial
darstellt, ist aber sogar um einen Faktor 3 größer, denn er setzt
sich aus einer „gravi-magnetischen“ Spin-Bahn-Kopplung zu-
sammen, die exakt analog zur Thomas-Präzession ist, und einem
doppelt so großen weiteren Beitrag von der Raumkrümmung.
Für Satelliten auf einem erdnahen Orbit beträgt diese geodäti-
sche Präzession einige Bogensekunden pro Jahr.
Zusätzlich dazu gibt es den noch subtileren, 1918 von Josef
Lense (österreichischer Mathematiker, 1890–1985) und Hans
Thirring (österreichischer Physiker, 1888–1976) gefundenen
und nach ihnen benannten Effekt des frame dragging, der von
der Rotation der Erde selbst hervorgerufen wird. Ein massiver
rotierender Körper krümmt demnach nicht nur die Raumzeit,
Abb. 9.23 Der 2004 gestartete NASA-Satellit Gravity Probe B, der 2011 die sondern verdrillt sie auch etwas, was zu einer weiteren Prä-
allgemein-relativistischen Effekte der geodätischen Präzession (6,6 Bogen- zession führt, die als „gravi-magnetische“ Spin-Spin-Wechsel-
sekunden pro Jahr) sowie den Lense-Thirring-Effekt (39 Millibogensekunden wirkung angesehen werden kann. Für Erdsatelliten macht der
pro Jahr) mit einer Genauigkeit von 0,01 % bzw. 1 % bestätigen konnte. Da- Lense-Thirring-Effekt nur etwa 40 Millibogensekunden pro Jahr
zu führte dieser Satellit vier aus schnell rotierenden supraleitenden Kugeln aus, kann von der geodätischen Präzession aber unterschieden
bestehende Gyroskope mit (© NASA/MSFC)
werden, weil er im Allgemeinen eine andere räumliche Dreh-
Mit diesem relativistischen Effekt der Thomas-Präzession konn- achse hat. Beide Effekte konnten 2011 von dem 2004 gestarteten
te 1927 Thomas einen Widerspruch beseitigen, der sich in der Satelliten Gravity Probe B (Abb. 9.23) mit hoher Genauigkeit
nichtrelativistischen Quantenmechanik bei der Berechnung der bestätigt werden. (Für eine hervorragende Diskussion dieser Ef-
Feinstruktur von Atomen ergeben hatte: Ein Elektron, das sich fekte und ihre Bedeutung für die allgemeine Relativitätstheorie
in einem radialsymmetrischen Potenzial V.r/ D Ze=r um den siehe Overduin 2008.)
346 9 Spezielle Relativitätstheorie

Aufgaben
Teil I

Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen

9.1 Vorbeiflug von Teilchen an Stab In einem In- Faden miteinander verbunden sind. Zum Zeitpunkt t D 0 sol-
ertialsystem S bewege sich ein Stab der Ruhelänge L0 mit der len sie exakt gleichzeitig starten und durch einen identischen
Geschwindigkeit v in seiner Längsrichtung. Mit entgegenge- Beschleunigungsvorgang in x-Richtung auf eine bestimmte Ge-
setzt gleicher Geschwindigkeit fliege ein Punktteilchen auf den schwindigkeit v gebracht werden. Vom Inertialsystem S, in dem
Stab zu und an ihm vorbei. sie gestartet sind, aus betrachtet, halten die beiden Raketen im-
mer den gleichen Abstand, während der mitgeführte Faden, der
(a) Wie lange dauert der Vorbeiflug im Inertialsystem S? die Raketen verbindet, auf eine Länge L D L0 =.v / Lorentz-
(b) Wie lange im Ruhesystem S0 des Stabes? kontrahiert wird. Wenn der Faden nicht dehnbar ist, sollte er
(c) Wie lange im Ruhesystem S00 des Punktteilchens? reißen. Kann das sein? Im Bezugssystem der beiden Raketen ist
Für welchen Fall ist das Ergebnis maximal bzw. minimal? natürlich keine Lorentz-Kontraktion vorhanden. Reißt nun der
Faden, oder reißt er nicht?
Empfehlenswerte Zusatzaufgabe: Fertigen Sie Minkowski-Dia-
gramme dazu an. Lösungshinweis: Stellen Sie die Ereignisse in einem Minkow-
ski-Diagramm dar. Nehmen Sie an, dass die Beschleunigungs-
Lösungshinweis: Definieren Sie sorgfältig die zwei Ereignis- phase selbst vernachlässigbar kurz ist und sich danach beide Ra-
se, die zum Zusammentreffen von Teilchen und Anfangs- bzw. keten mit gleicher Geschwindigkeit in positive x-Richtung bewe-
Endpunkt des Stabes gehören, und führen Sie die notwendi- gen. Die Frage kann dann ohne Rechnung beantwortet werden.
gen Lorentz-Transformationenen durch. Kontrollieren Sie Ihr
Ergebnis durch eine alternative Berechnung mit der Formel für 9.4 Relativistischer Zaubertrick mit Stab und
relativistische Geschwindigkeitsaddition. Lochplatte Ein zerbrechlicher Stab und eine massive Loch-
platte werden im Laborsystem S eines Trickkünstlers wie in
9.2 Zeitdilatation durch Erdrotation „Man Abb. 9.24 skizziert auf zueinander rechtwinkligen Bahnen mit
schließt daraus, daß eine am Erdäquator befindliche Unruh- relativistischer Geschwindigkeit aufeinander geschossen. Die
uhr um einen sehr kleinen Betrag langsamer laufen muß als Länge des Stabes und der Durchmesser des Loches sind in Ruhe
eine genau gleich beschaffene, sonst gleichen Bedingungen un- gleich, sodass der Stab gerade nicht durch das runde Loch ge-
terworfene, an einem Erdpole befindliche Uhr“ schrieb Einstein schoben werden kann, wenn er parallel zur Platte liegt (solange
(1905) in seiner Arbeit „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“. seine Enden nicht zum Loch passend abgerundet werden). Bei
Schätzen Sie den Effekt ab, wenn vernachlässigt wird, dass relativistischer Bewegung des Stabes in seiner Längsrichtung p
die Erdoberfläche am Pol und am Äquator unterschiedliches wird der Stab aber Lorentz-kontrahiert (bei z. B. vx =c D 3=4
Gravitationspotenzial hat und man eigentlich die Gravitations- und .vx / D 2 gerade auf die Hälfte) und sollte bequem und
rotverschiebung in die Rechnung einbeziehen müsste. Wie groß unbeschadet durch die Lochplatte durchgehen, die bei ihrer Be-
ist der Effekt nach einem Tag? wegung in Richtung senkrecht zur Platte (mit Geschwindigkeit
9.3 Bell’sches Raumschiffparadoxon Der nordiri- vy , die nicht unbedingt relativistisch sein muss) nur in ihrer Di-
sche Physiker John S. Bell (1928–1990), bekannt durch die cke Lorentz-kontrahiert wird und sonst ihre Form beibehält.
nach ihm benannten Ungleichungen, die in der Interpretation Aus der Sicht des Ruhesystems des Stabes sieht dies aber un-
der Quantenmechanik eine bedeutende Rolle spielen (Kap. 24), möglich aus, denn hier sollte die Lochplatte, die sich nun auf
berichtet in seinem Buch (Bell 1987), dass er mit folgendem schräger Bahn auf den Stab zu bewegt, in der Längsrichtung
Paradoxon sogar seine Physikerkollegen am CERN verblüffen Lorentz-kontrahiert sein, sodass der Stab schon gar nicht durch-
konnte und dass eine Mehrheit davon zunächst spontan für die passt. Eine Kollision scheint zu drohen, bei der die Enden des
falsche Lösung votierte. Stabes massiv geköpft werden.
Man betrachte zwei identische Raketen, die entlang der x- Lösen Sie dieses Paradoxon auf, indem Sie die Trajektorien der
Achse in ihrem gemeinsamen Ruhesystem S einen Abstand Endpunkte des Stabes und der Randpunktes des Loches in der
L0 haben, über den sie durch einen fragilen, nicht dehnbaren xy-Ebene in beiden Inertialsystemen analysieren.
Aufgaben 347

z Dazu sollen die Koordinatensysteme von momentanen Ruhe-


systemen entlang der Bahnkurve des Teilchens zu infinitesimal

Teil I
y unterschiedlichen Zeitpunkten verglichen werden, zu denen das
Ruhelänge Teilchen bezüglich eines Laborsystems S die Geschwindigkeit
2a v (System S0 ) bzw. v C dv (System S00 ) hat. Vom Laborsystem
S sollen sich S0 und S00 nur um reine Geschwindigkeitstrans-
formationen ƒ.v / bzw. ƒ.v C dv / unterscheiden und somit
dieselbe räumliche Orientierung wie das Laborsystems haben.
Vom rotationsfrei mitgeführten Eigensystem des Teilchens aus
x betrachtet, unterscheiden sich aber S0 und S00 um eine zusätzli-
a che Drehung von einer reinen Geschwindigkeitstransformation
ƒ.dv 0 /.
Um diese zu bestimmen, berechne man das Produkt

Abb. 9.24 Ein Stab mit Ruhelänge 2a sei im Laborsystem S entlang der x-
ƒ.v C dv / ƒ1 .v /; (9.101)
Richtung positioniert, eine Platte mit einem Loch mit Radius a senkrecht zur y-
Achse. Dann werden beide in Bewegung versetzt, sodass sie sich zum Zeitpunkt um das sich aus der Perspektive des Laborsystems die Koor-
t D 0 im Koordinatenursprung überlappen. Wenn beide in Ruhe sind, soll der dinatensysteme S0 und S00 von einer reinen Geschwindigkeits-
Stab gerade nicht in das Loch passen, da der Stab eckig und das Loch rund ist. transformation unterscheiden (siehe Abb. 9.22). Man zeige, dass
Mit relativistischer Geschwindigkeit, z. B. mit  D 2, aufeinander geschossen, zusätzlich zur reinen Geschwindigkeitstransformation ƒ.dv 0 /
ist aber der Stab im Laborsystem Lorentz-kontrahiert und das Loch nicht, er soll-
mit
te also bequem durch das Loch passen. Im Ruhesystem des Stabes kommt die v  dv
Lochplatte auf schräger Bahn auf den Stab zu, wobei das Loch nun in der Längs- dv 0 D  dv C .  1/ 2 v (9.102)
richtung Lorentz-kontrahiert sein und damit der Stab nicht mehr durchpassen v
können sollte. Was passiert wirklich? eine infinitesimale räumlichen Drehung mit Drehmatrix
9.5 Additivität von Rapidität Im Kasten „Vertie- .  1/
fung: Lorentz-Transformation als imaginäre Drehung“ wurde R D I C dR D I C .v dv >  dv v > / (9.103)
v2
als alternatives Maß für Geschwindigkeit die Rapidität  ein-
geführt, auftritt.
v
ˇ  D tanh ;  D cosh : (9.99)
c Lösungshinweis: Überlegen Sie sich dafür, welche Struktur
die Transformationsmatrix bei einer Zusammensetzung von ei-
Während der Wertebereich von ˇ in Lorentz-Transformationen
ner infinitesimalen Geschwindigkeitstransformation und einer
durch 1 < ˇ < 1 beschränkt ist, hat man 1 <  < 1.
infinitesimalen Drehung hat.
Zeigen Sie, dass bei der Kombination von Lorentz-Transfor-
mationen mit gleichgerichteten Geschwindigkeiten v 1 k v 2 die 9.8 Vierergradient Ein Beispiel für einen Vierer-
zugehörigen Rapiditäten 1 , 2 einfach addiert werden: vektor, der natürlicherweise mit kovarianten Komponenten de-
finiert wird, ist der später (ab Kap. 18) noch sehr wichtig
3 D 2 C 1 : (9.100) werdende Vierergradient
1 
@ @
Lösungshinweis: Verwenden Sie die Darstellung der hyper- @ WD D c t : (9.104)
bolischen Funktionen durch Exponentialfunktionen, um deren @x r
Additionstheoreme herzuleiten.
(a) Zeigen Sie, dass dieser unter einer Lorentz-Transformation
9.6 Zusammenhang Dreier- und Viererbeschleu- entsprechend
nigung Berechnen Sie die Dreierkomponenten der Viererbe- @0 D ƒ  @ (9.105)
schleunigung (9.78).
transformiert, also entgegengesetzt zu x0 D ƒ  x .
9.7 Thomas-Präzession Da sich das Produkt von
(b) Berechnen Sie damit
zwei nicht gleichgerichteten reinen Geschwindigkeitstransfor-
@ x (9.106)
mationen von einer reinen Geschwindigkeitsaddition mit rela-
tivistisch addierten Geschwindigkeiten dadurch unterscheidet, und  
dass noch eine räumliche Drehung im Spiel ist, erfährt das räum- @ s2 D @  x x (9.107)
liche Koordinatensystem, das von einem beschleunigt bewegten
Teilchen mitgeführt wird, bezüglich eines festen Inertialsystems und zeigen Sie, dass die Ergebnisse unter homogenen
eine kontinuierliche Drehung, die am Ende dieses Kapitels im Lorentz-Transformationen entsprechend ihrer Indexstellung
Abschnitt „So geht’s weiter“ besprochene Thomas-Präzession. transformieren.
348 9 Spezielle Relativitätstheorie

Lösungen zu den Aufgaben


Teil I

p
9.1 (a) t D 2Lv0 1  ˇ 2 ; (b) t0 D 2Lv0 .1 C ˇ 2 /; (c) t00 D
L0
2v
.1  ˇ 2 /. Somit ist t0 > t > t00 .
9.2   1 1;2  1012. Pro Tag etwa 0,1 µs.
 >
9.6 .a / D  2 .v /  2 .v / vca ; a C  2 .v / .v ca/
2
v
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 349

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben

Teil I
9.1 Nehmen wir an, dass sich der Stab entlang der x-Achse (c) Für das Ruhesystem des Teilchens S00 ist eine Lorentz-
nach rechts bewegt und sich zum Zeitpunkt t D 0 das linke Transformation analog zu (9.112), aber mit umgekehrter Ge-
Ende des Stabes bei x D 0 und das rechte bei x D L befindet. schwindigkeit durchzuführen, mit dem Ergebnis
(L ist damit definiert als die Länge des bewegten Stabes in S.)
Bezeichnen wir die x-Koordinate des rechten bzw. linken Endes ct00 D  ct C ˇx
mit x˙ , dann wird die Bewegung des Stabes in S durch L L0   (9.115)
D .c  v ˇ/ D c 1  ˇ2 :
x D v t; xC D L C v t (9.108) 2v 2v

beschrieben. Das Punktteilchen bewege sich in negative x-Rich- Für die direkte Berechnung über Geschwindigkeit und Län-
tung und treffe zum Zeitpunkt t D 0 gerade auf das vordere ge des Stabes ist die nun unterschiedliche Lorentz-Kontrak-
(rechte) Ende bei x D L. Seine Bewegung wird dann beschrie- tion des Stabes zu berücksichtigen. Die Geschwindigkeit des
ben durch Stabes in S00 hat analog zu Teilaufgabe (b) den Betrag
xP D L  v t: (9.109)
2v
Die Ereignisse E1 und E2 , die dadurch definiert sind, dass das v 00 D : (9.116)
1 C ˇ2
Teilchen gerade mit dem vorderen bzw. hinteren Ende gleichauf
ist, sind in S somit parametrisiert durch Damit ist
E1 .xC D xP / W t D 0; x D LI s s
(9.110) 00 v 002 4ˇ 2
L L D L0 1  2 D L0 1 
E2 .x D xP / W tD ; x D L=2: c .1 C ˇ 2 /2
2v s (9.117)
Davon ausgehend betrachten wir nun die Situation in den drei .1 C ˇ 2 /2  4ˇ 2 1  ˇ2
D L0 D L0 :
Bezugssystemen: .1 C ˇ / 2 2 1 C ˇ2
(a) In S ist das Zeitintervall einfach von der Koordinatenzeit t Daraus folgt
abzulesen.
p Wegen der Lorentz-Kontraktion ist L D L0 = D
L0 1  ˇ ; die Zeit für den Vorbeiflug ist also
2
L00 L0  
t00 D D 1  ˇ2 ; (9.118)
L L0 p v 00 2v
t D D 1  ˇ2 : (9.111)
2v 2v
in Übereinstimmung mit (9.115).
(b) Das Bezugssystem S0 , in dem der Stab ruht, bewegt sich in
positive x-Richtung. Lorentz-Transformation der Intervalle
t D L=.2v /, x D L=2 (Koordinaten von E2 minus Ko- Der Vorbeiflug dauert also in allen drei Bezugssystemen un-
ordinaten von E1 ) ergibt terschiedlich lang; am kürzesten ist er im Bezugssystem des
Teilchens, am längsten im Bezugssystem des Stabes, t0 >
ct0 D  ct  ˇx t > t00 .
L L0   (9.112) 9.2 Der Äquatorumfang beträgt ziemlich genau 40.000 km, der
D .c C v ˇ/ D c 1 C ˇ2 :
2v 2v Tag hat 86.400 s, damit bewegt man sich am Äquator mit etwa
Betrachten wir alternativ die Geschwindigkeit des Teilchens 460 m/s, und die Abweichung des  -Faktors von 1 ist
im Ruhesystem des Stabes, so ist diese durch die relativis-
1 1 v2
tische Addition von zwei gleich großen Geschwindigkeiten  1D p 1 1;2  1012 : (9.119)
mit Betrag v gegeben, mit dem Ergebnis 1  v 2 =c2 2 c2
v Cv
v0 D : (9.113) Pro Tag kämen etwa 0;1 s zusammen, also ein mit heutigen
1 C v 2 =c2 Atomuhren sehr leicht messbarer Effekt.
In S0 dauert der Vorbeiflug entlang der Ruhelänge des Stabes Was Einstein 1905 verständlicherweise nicht in Rechnung stell-
damit te, ist aber, dass wegen der Erdabplattung das reine Gravitati-
L0 L0  
t0 D 0 D 1 C ˇ2 ; (9.114) onspotenzial der Erde (d. h. ohne Zentrifugalpotenzial) an den
v 2v Polen der Erde stärker negativ ist als am Äquator, sodass hier die
in Übereinstimmung mit (9.112). Gravitationsrotverschiebung nicht vernachlässigt werden kann,
350 9 Spezielle Relativitätstheorie

ct ct y
Teil I

vy
vx
(t = 0)
S:
x −a a x
a a
L0 −γ γ

Abb. 9.26 Zusammentreffen von Stab und Lochplatte aus Abb. 9.24 aus der
Sicht des Laborsystems S. Mit  D 2 ist der Stab in Längsrichtung auf die Hälfte
reduziert und passt bequem durch das Loch der mit vy senkrecht dazu bewegten
Platte
L0 x

In diesem Bezugssystem ist der Faden einfach deshalb gerissen,


L0 weil die vordere Rakete früher gestartet ist.
ctR
Zu diesem Paradoxon gibt es übrigens eine ausgedehnte und
teilweise kontroverse Literatur (Petkov 2009).
Abb. 9.25 Bell’sches Raumschiffparadoxon. Zwei Raketen, die über einen un-
dehnbaren Faden der Länge L0 miteinander verbunden sind, starten gleichzeitig 9.4 Im Laborsystem ist die Situation klar, der Stab wird auf
zum Zeitpunkt t D 0 und werden auf gleiche Geschwindigkeit in positive x- Länge 2a= kontrahiert und passt durch das Loch (hinreichend
Richtung gebracht. Reißt der Faden, der zwischen den Raketen gespannt wurde, dünne Platte und hinreichend dünner Stab vorausgesetzt bzw.
aufgrund der Lorentz-Kontraktion? ein vy , das nicht allzu niedrig ist). Die Trajektorien von Platte
und Stab in der xy-Ebene sind in Abb. 9.26 skizziert.

die mit umgekehrten Vorzeichen beiträgt. Die Erdabplattung ist Im Ruhesystem S0 des Stabes sind die Trajektorien der rechten
nun gerade so, dass sich Unterschiede im Gravitationspotenzial und linken Randpunkte des Loches entscheidend. Schreiben wir
und dem Zentrifugalpotenzial die Waage halten, was zur Fol- diese im Laborsystem S als
ge hat, dass sich Gravitationsrotverschiebung und Zeitdilatation  >
in der betrachteten Ordnung kompensieren (Cocke 1966). Um x
˙
.t/ D .ct; l˙ .t//> D ct; ˙a; vy t; 0 ; (9.120)
am Pol auf gleichem Gravitationspotenzial wie am Äquator auf
Meeresniveau zu sein, sodass obiges Resultat doch herauskäme, wobei der Index ˙ den rechten bzw. linken Randpunkt des Lo-
müsste man sich dort etwa 10 km oberhalb des Meeresspiegel ches bezeichnet, dann ergeben sich die Trajektorien im System
befinden. (Zum Vergleich: Die Erdabplattung macht etwa 20 km S0 durch eine Standard-Lorentz-Transformation mit Geschwin-
Unterschied im Radius aus.) digkeit v  vx :
9.3 Der Faden muss reißen, denn die Lorentz-Kontraktion in  0 0 >
S ist ein objektives Phänomen. Die Frage ist also, wie sich das x0
˙
.t0 / D ct˙ ; l˙
Reißen des Fadens im Bezugssystem der bewegten Raketen dar-  h v i > (9.121)
stellt. D c t  2 .˙a/ ; .˙a  v t/; vy t; 0 :
c
Wie bei eigentlich allen Paradoxa der speziellen Relativitäts-
Um die Trajektorien in S0 darzustellen, muss in diesem Ergebnis
theorie liegt der Schlüssel im Begriff der Gleichzeitigkeit.
noch t zugunsten von t0 D  Œt  cv2 .˙a/ eliminiert werden:
Gleichzeitigkeit im System des Startsystems S ist eine klar defi-
nierte und intuitiv einsichtige Angelegenheit. Dass die Raketen
gleichzeitig starten, braucht entweder perfekt synchronisierte 1 0 va
tD t ˙ 2: (9.122)
Uhren, oder das Startsignal wird von einem Punkt aus den Ra-  c
keten übermittelt, der sich im gleichen Abstand von den beiden
Raketen befindet. Damit bekommen wir für die räumlichen Koordinaten

Vom Bezugssystem der bewegten Raketen aus betrachtet bedeu-    >


v v2 1 0 va
tet Gleichzeitigkeit allerdings etwas grundsätzlich anderes. Wie l0˙ .t0 / D  ˙a  t0  2 .˙a/ ; vy t ˙ 2 ;0
 c  c
das Minkowski-Diagramm (Abb. 9.25) zeigt, sind von diesem   >
Bezugssystem aus betrachtet die Zeiten, zu denen die beiden a 1 0 va
D ˙  v t0 ; vy t ˙ 2 ;0 ;
Raketen gestartet sind, nicht gleich. Ist der Startzeitpunkt der   c
hinteren (linken) Rakete t D t0 D 0, dann ist der Startzeitpunkt (9.123)
der vorderen (rechten) Raketen bei t0 D tR0 < 0 (Abb. 9.25). grafisch dargestellt in Abb. 9.27 für  D 2 und vy D v =2.
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 351

y dann ergibt sich für zwei hintereinander ausgeführte Transfor-


mationen mit Geschwindigkeiten v1 und v2 mit den Abkürzun-

Teil I
gen ch1;2 WD cosh 1;2 und sh1;2 WD sinh 1;2 :
  
ch2 sh2 ch1 sh1
sh2 ch2 sh1 ch1
−a  
S :
ch2 ch1 C sh2 sh1 .ch2 sh1 C sh2 ch1 /
D (9.128)
a a γa x .ch2 sh1 C sh2 ch1 / ch2 ch1 C sh2 sh1
γ
 
ch3 sh3
D :
t = γva sh3 ch3
c2

t = 0 t = − γva
c2
Mit der expliziten Darstellung durch e-Funktionen

e C e e  e
Abb. 9.27 Zusammentreffen von Stab und Lochplatte aus Abb. 9.24 aus der cosh  D ; sinh  D (9.129)
Sicht des Stabes. Hier bewegt sich die Platte mit vx0 D v auf den Stab zu, 2 2
mit etwas reduzierter vertikaler Geschwindigkeit vy0 D vy = aufgrund der Zeit-
dilatation. Die horizontale Ausdehnung des Loches ist nun auf 2 a Lorentz-
zeigt man leicht die Additionstheoreme für die Hyperbelfunk-
kontrahiert, aber es kommt zu keiner Kollision, weil die Platte nicht mehr paral-
tionen
lel zum Stab ist, sondern gerade so gedreht, dass das vordere und hintere Ende
die horizontale Achse bei ˙a kreuzen, in Übereinstimmung mit den relativen cosh.2 C 1 / D cosh 2 cosh 1 C sinh 2 sinh 1 ; (9.130)
Abständen im Laborsystem (aber nun nicht mehr zu gleichen Zeiten) sinh.2 C 1 / D cosh 2 sinh 1 C sinh 2 cosh 1 ; (9.131)

und somit 3 D 2 C 1 .
Zum Zeitpunkt t0 D 0, an dem die Mittelpunkte von Loch und
9.6 Mit a D dv =dt ist
Stab zusammenfallen, ist
 > d  d
0 a vy v a D u D  u
l˙ .0/ D ˙ ; ˙a 2 ; 0 : (9.124) d   dt 
 c     (9.132)
d c d c 0
D  D  C 2 :
Die x0 -Koordinaten der Randpunkte des Loches sind also tat- dt v dt v a
sächlich auf ihren durch die Lorentz-Kontraktion zu erwar-
tenden Positionen, aber gleichzeitig sind die zugehörigen y0 - Die Ableitung des  -Faktors gibt dabei
Komponenten ungleich null – eine Kollision findet nicht statt,  1=2
weil die Platte in S0 gedreht ist! d d v2
D 1 2
Die beiden Randpunkte kreuzen die x0 -Achse zu unterschiedli- dt dt c
  3=2 (9.133)
chen Zeiten, 1 v2 2v  a  3v  a
D  1 2 D :
va 2 c c2 c2
.l0˙ /y D 0 ) t˙
0
D ; (9.125)
c2
an den Stellen Damit ist
   
1 v2 v a .v  a/v >
.l0˙ /x .t˙
0
/ D ˙a C 2 D ˙a: (9.126) .a / D  2 .v /  2 .v / ; a C  2 .v / : (9.134)
 c c c2
Damit sind die Verhältnisse der x0 -Abstände bei y0 D 0 wieder
dieselben wie schon im Laborsystem festgestellt: Die Rand- 9.7 Eine infinitesimale Geschwindigkeitstransformation hat die
punkte des Loches kreuzen die x0 -Achse um einen Faktor  Form
von den Stabenden entfernt. Dass sie dies zu unterschiedlichen  
0 dv 0> =c
0
Zeiten t˙ tun, hängt mit der Drehung zusammen, die somit ƒ.dv 0 / D I C ; (9.135)
dv 0 =c 0
als Konsequenz des veränderten Gleichzeitigkeitsbegriffs in S0
verstanden werden kann. (Zur Relativität von Richtungen siehe da  D 1 C O.dv 02 / ist, und eine infinitesimale Drehung
auch den Abschnitt „So geht’s weiter“ in diesem Kapitel.)
 
9.5 Schreiben wir die Lorentz-Transformation nur in den betei- 0 0>
ƒ.R/ D I C ; (9.136)
ligten Koordinaten als 0 dR
   
 ˇ cosh   sinh  wobei die räumliche Matrix dR antisymmetrisch ist (siehe Ab-
D ; (9.127)
ˇ   sinh  cosh  schn. 2.1).
352 9 Spezielle Relativitätstheorie

Die Zusammensetzung dieser beiden Transformationen ergibt mit


ˇı
  ı 0 D  ı C .  1/ ˇ: (9.143)
Teil I

0 dv 0> =c ˇ2
ƒ.R/ƒ.dv 0 / D I C 0 ; (9.137)
dv =c dR
Der Vergleich mit (9.137) gibt die Resultate (9.102) und (9.103)
wobei es in dieser Ordnung nicht auf die Reihenfolge ankommt; 9.8
die beiden infinitesimalen Matrizen werden einfach addiert.
Um keine Faktoren c schreiben zu müssen, definieren wir im (a) Mit der Kettenregel gilt
Folgenden neben ˇ D v =c ein infinitesimales ı WD dv =c.
@ @x0 @ @
Zu berechnen ist bis zur Ordnung ı @  D D ƒ  0 D ƒ  @0 : (9.144)
@x @x @x0 @x
 
@ Gemäß (9.70) ist ƒ mit invertierter Indexstellung die inverse
ƒ.ˇ C ı/ ƒ1 .ˇ/ D I C ı  ƒ.ˇ/ ƒ1 .ˇ/: (9.138)
@ˇ Matrix, mit der @0 extrahiert werden kann:

ƒ  @ D ƒ  ƒ  @0 D ı @0 D @0 : (9.145)


Eine reine Geschwindigkeitstransformation in beliebiger Rich-
tung ist gemäß (9.33) gegeben durch
(b)
0 >
1 @ 
  ˇ @ x  
x D ı ; (9.146)
@x
ƒ.ˇ/ D @ ˇ ˇ> A : (9.139)
 ˇ I C .  1/ 2 
ˇ da ı D 1 für D  und sonst null ist. Entsprechend der
Indexstellung mit einem oberen und einem unteren Index
transformiert die linke Seite unter Lorentz-Transformatio-
Wegen
@ nen gemäß
ı .ˇ/ D  3 ˇ  ı (9.140)

ƒ˛  ƒˇ  .@ x / D .ƒ˛  @ /.ƒˇ  x / D @0˛ x0ˇ ;
(siehe (9.133)) ergibt sich (9.147)
während das Kronecker-Delta auf der rechten Seite ein inva-
@ rianter Tensor ist, denn mit (9.70) ist
ıƒ WD ı  ƒ.ˇ/

  (9.141) ı˛0ˇ D ƒ˛  ƒˇ  ı

D ƒ˛  ƒˇ  D ı˛ˇ : (9.148)
3 ˇ  ı  3 ˇ  ı ˇ >   ı >
D
 3 ˇ  ı ˇ   ı M
Im zweiten zu berechnenden Ausdruck @ s2 ist s2 ein Lo-
mit rentz-Skalar, das Ergebnis muss also ein Lorentz-Vektor
 sein, der sich gemäß seiner Index-Stellung transformiert.
2ˇ  ı ˇ ˇ> ˇ ı> C ı ˇ> Nach der Produktregel ist
M D  3 ˇ  ı  .  1/ 2 C. 1/ :
ˇ ˇ 2 ˇ2  
@ s2 D @  x x D  ı
 
x C  x ı


Unter Verwendung der Identität  2 .1  ˇ 2 / D 1 findet man D  x C  x D 2x :


schließlich nach sorgfältiger Rechnung (9.149)
0 1 Mit unterem Index transformiert x0 D ƒ  x wie @
0 ı 0> (wovon man sich auch leicht am Beispiel einer Standard-
ıƒ ƒ 1
.ˇ/ D ıƒ ƒ.ˇ/ D @ ˇ ı>  ı ˇ> A Lorentz-Transformation überzeugt, in der gleichzeitig der
ı 0 .  1/
ˇ2 räumliche Vektor x in x und der Geschwindigkeitsvektor
(9.142) v in ƒ  ein negatives Vorzeichen bekommen).
Literatur 353

Literatur

Teil I
Bell, J.: How to teach special relativity. In: Speakable and Overduin, J.: Spacetime and Spin, http://einstein.stanford.
Unspeakable in Quantum Mechanics. Cambridge University edu/SPACETIME/spacetime4.html. Zugegriffen: 24. August
Press, Cambridge (1987) 2013.

Cocke, W. J.: Relativistic Corrections for Terrestrial Clock Syn- Penrose, R.: The Apparent Shape of a Relativistically Mo-
chronization, Phys. Rev. Lett. 16, 662–664 (1966) ving Sphere. Math. Proc. Cambridge Phil. Soc. 55, 137–139
(1959)
Einstein, A.: Zur Elektrodynamik bewegter Körper, Annalen der
Petkov, V.: Accelerating spaceships paradox and physical mea-
Physik 17, 891 (1905); on-line: http://wikilivres.ca/wiki/Zur_
ning of length contraction, arXiv:0903.5128, in: V. Petkov,
Elektrodynamik_bewegter_Körper
Relativity and the Nature of Spacetime. Springer, Berlin
Fölsing, A.: Albert Einstein. Suhrkamp, Frankfurt am Main (2009)
(1999) Poincaré, H., Sur la dynamique de l’électron, Comptes Rendus
Holton, G.: Einstein and the “Crucial” Experiment, Am. J. Phys. 140, 1504–1508 (1905); erweiterte Version in: Rendiconti del
Circolo matematico Rendiconti del Circolo di Palermo 21,
37, 968 (1969)
129–176 (1906) - on-line: http://fr.wikisource.org/wiki/Sur_
Kraus U., Borchers M.: Fast lichtschnell durch die Stadt, Physik la_dynamique_de_l’_électron_(juillet)
in unserer Zeit, Heft 2/2005, S. 64-69. Online: http://www. Sexl R.U., Urbantke, H.K.: Relativität, Gruppen, Teilchen.
tempolimit-_lichtgeschwindigkeit.de Springer, Wien (1992)
Lampa A.: Wie erscheint nach der Relativitätstheorie ein be- Terrell J.: Invisibility of the Lorentz Contraction. Physical Re-
wegter Stab einem ruhenden Beobachter? Zeitschrift für view 116, 1041–1045 (1959)
Physik 27, 138–148 (1924)
Voigt, W.: Über das Doppler’sche Princip, Nachrichten von
Minkowski, H.: Raum und Zeit, Jahresberichte der Deutschen der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften und der Georg-
Mathematiker- Vereinigung, Leipzig (1909). Online: http:// Augusts-Universität zu Göttingen, Nr. 8, 41–51 (1887), on-li-
de.wikisource.org/wiki/Raum_und_Zeit_(Minkowski) ne http://de.wikisource.org/wiki/Ueber_das_Doppler’_sche_
Princip
Relativistische Mechanik
10

Teil I
Was wird in der
relativistischen Mechanik
aus den Newton’schen
Axiomen?

Woraus folgt die berühmte


Gleichung E D mc2 ?

Was ist Masse?

Wie kann neue Materie


erzeugt werden?

10.1 Punktteilchen, Ruhemasse und Viererimpuls . . . . . . . . . . . . . . . 356


10.2 Relativistische Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
10.3 Relativistische Teilchenstöße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 374
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 355
356 10 Relativistische Mechanik

Wie wir in Kap. 9 gesehen haben, wird in der speziellen Relativitäts- Betrachten wir den einfachsten Fall eines strukturlosen freien
theorie der dreidimensionale euklidische Raum der Newton’schen Punktteilchens (ohne den bei Elementarteilchen noch mögli-
Teil I

Mechanik mit einer unabhängig definierten absoluten Zeit durch chen Spin, den intrinsischen Drehimpuls), dann ist sein Be-
den vierdimensionalen Minkowski-Raum ersetzt. Die Zeit spielt wegungszustand vollständig durch eine Weltlinie x .t/ be-
zwar weiterhin eine besondere Rolle, aber Gleichzeitigkeit ist nun schrieben, welche die gesamte Geschichte dieses Teilchens
ähnlich relativ wie schon vor der Relativitätstheorie die Aussage, wiedergibt. Dieser Weltlinie ist in Lorentz-invarianter Weise
zwei separate Ereignisse fänden am selben Ort statt. Dem Ein- eine Eigenzeit  zugeordnet, über die die Vierervektoren der
stein’schen Relativitätsprinzip und der Geometrie des Minkowski- Vierergeschwindigkeit u D dx =d und der Viererbeschleu-
Raumes wird man am besten durch die Verwendung von Vierergrö- nigung a D du =d definiert werden können.
ßen anstelle der gewohnten dreidimensionalen Vektoren gerecht.
Frage 1
In diesem Kapitel, in dem die relativistische Mechanik begründet Rufen Sie sich (ohne gleich nachzuschlagen) den Zusammen-
werden soll, werden wir daher in Abschn. 10.1 zuerst den Im- hang von Koordinaten- und Eigenzeit und damit von Vierer- und
puls eines Punktteilchens zu einer Vierergröße machen und damit Dreiergeschwindigkeit in Erinnerung.
in Abschn. 10.2 das zweite Newton’sche Axiom (Kraft als zeit-
liche Änderung des Impulses) neu formulieren. Dabei wird sich
herausstellen, dass Energie und Impuls ähnlich zu kombinieren sind
wie Zeit- und Raumkoordinaten. Als besonders folgenreicher neu- Ein elementares Punktteilchen ist durch seine invariante Mas-
er Aspekt stellt sich dabei heraus, dass die Masse nicht länger se charakterisiert, die dadurch definiert ist, dass man sie im
eine erhaltene Größe ist, sondern Energie in Masse und umge- (momentanen) Ruhesystem des Teilchens misst. Man nennt
kehrt umgewandelt werden kann. Ohne auf die dafür notwendigen diese so definierte Masse deshalb auch Ruhemasse. Für zu-
Wechselwirkungen eingehen zu müssen, werden in Abschn. 10.3 sammengesetzte Objekte wie Raketen macht es natürlich auch
zunächst relativistische Streuprozesse diskutiert, bei denen Mas- Sinn, eine zeitlich veränderliche Ruhemasse zu betrachten (sie-
sen erhalten bleiben, und danach solche, bei denen Materie erzeugt he Aufgabe 10.2). Die auf diese Weise definierte Masse ist
oder vernichtet wird. offensichtlich ein Lorentz-Skalar, d. h. eine Größe, die für je-
des Bezugssystem dieselbe Bedeutung hat: Jeder Beobachter
Das Eröffnungsbild dieses Kapitels zeigt die Produktion von zahlrei- übernimmt einfach den im Ruhesystem bestimmten Wert. Weil
chen Elementarteilchen bei einer hochenergetischen Kollision von das Produkt aus einem Vierervektor mit einer invarianten Größe
zwei Protonen im Large Hadron Collider des CERN (der im Eröff- wieder einen Vierervektor darstellt, kann ein Lorentz-kovarian-
nungsbild von Kap. 9 zu sehen ist), wobei in diesem konkreten ter Viererimpuls einfach durch das Produkt von Ruhemasse und
Ereignis aus den Zerfallsprodukten auf das lange gesuchte Higgs- Vierergeschwindigkeit definiert werden.
Teilchen geschlossen werden konnte. (Das Higgs-Teilchen, dessen
Entdeckung im Juli 2012 bekannt gegeben wurde, ist gemäß dem
Standardmodell der Teilchenphysik verantwortlich dafür, dass Ele- Viererimpuls
mentarteilchen wie Elektronen oder Quarks überhaupt eine Masse
Der Viererimpuls eines Punktteilchens mit Ruhemasse m
tragen.)
ist definiert durch

p WD m u : (10.1)

10.1 Punktteilchen, Ruhemasse In einem gegebenen Inertialsystem, in dem das Punktteil-


und Viererimpuls chen die Dreiergeschwindigkeit v .t/ hat, ist
 0  
p c
p D D m .v / : (10.2)
In Kap. 9 haben wir gesehen, dass es in der speziellen Relativi- p v
tätstheorie keine starren Körper geben kann. Ausdehnungslose
Punktteilchen machen jedoch in dieser Hinsicht keine prinzipi- Der Dreierimpuls ist damit durch
ellen Schwierigkeiten.
p D m .v / v (10.3)
Achtung Gewisse fundamentale Schwierigkeiten machen
allerdings die mit Punktteilchen verknüpften Felder, nämlich gegeben. Dies stimmt mit der nichtrelativistischen Defi-
wenn sie elektrische Ladung tragen und, allgemeiner, wenn man nition eines Impulses überein, wenn man eine geschwin-
das Gravitationsfeld einbezieht, das sie selbst erzeugen, auch digkeitsabhängige Masse m.v / D .v / m einführt (in der
wenn letzteres für Elementarteilchen praktisch völlig vernach- älteren Literatur auch relativistische Masse genannt). Im
lässigbar ist. Diese Felder werden am Ort des Punktteilchens Folgenden wird in Übereinstimmung mit den heutigen
unendlich und führen notwendigerweise dazu, dass man bei Gepflogenheiten m aber immer die Ruhemasse m D m.0/
hinreichend kleinen Abständen an die Grenzen der klassischen bezeichnen.
Physik stößt. J
10.2 Relativistische Bewegungsgleichungen 357

Da das Betragsquadrat der Vierergeschwindigkeit durch


u u D  u u D c2 gegeben ist, folgt für den Viererim- Zusammenhang von Viererkraft und Newton-Kraft

Teil I
puls
p p D .p0 /2  p2 D m2 c2 : (10.4) Bezeichnet in einem gegebenen Inertialsystem F weiter-
p hin die gewöhnliche Zeitableitung des (relativistischen)
Die Nullkomponente ist damit durch p0 D C m2 c2 C p2 ge- Impulses p, dann gilt
geben (positiv, weil in (10.2) m,  und c alles positive Größen    0
sind). Ihre physikalische Bedeutung wird im Folgenden klar F0 F
F D m D : (10.7)
werden, wenn wir die relativistische Verallgemeinerung der F F
Newton’schen Bewegungsgleichung betrachten.

10.2 Relativistische Achtung Ganz ähnlich wie bei der Vierergeschwindigkeit


Bewegungsgleichungen enthalten die räumlichen Komponenten nicht einfach die ent-
sprechende Dreiergröße, sondern es ist noch ein  -Faktor im
Spiel. Bei der Vierergeschwindigkeit hatten wir dies durch die
Viererkraft Notation mit unterschiedlichen Buchstaben (u und v ) berück-
sichtigt. Bei der Kraft ist aber darauf zu achten, ob es sich
um die räumlichen Komponenten einer Vierergröße oder die
So wie in der Newton’schen Bewegungsgleichung eine unter
Dreierkomponenten handelt, F m D .F/m ! Ebenso ist bei der
Galilei-Transformationen passend transformierende („Galilei-
Viererbeschleunigung am 6D .a/m . Diese beiden Größen wer-
Kovariante“) vektorielle Kraft durch
den allerdings eine Ausnahme bilden. Dennoch muss man auch
dp bei anderen Vierergrößen achtgeben, wenn räumliche Kompo-
FD (10.5) nenten betrachtet werden. So ist beim Viererimpuls zwar pm D
dt
.p/m , aber pm D m p D .p/m bringt ein anderes Vorzeichen
definiert wird, kann auch eine Lorentz-kovariante Kraft durch ins Spiel. J
Verwendung der entsprechenden Vierergrößen definiert werden.
Bei Objekten wie Punktteilchen, deren Masse zeitunabhängig
Viererkraft ist, folgt für die Viererkraft aus (10.6) weiterhin, dass Kraft
durch Masse mal Beschleunigung gegeben ist,
Eine Lorentz-kovariante Viererkraft ist durch die Ab-
leitung des Viererimpulses nach der Lorentz-invarianten
du
Eigenzeit gegeben: F D m D m a ; (10.8)
d

dp
F  WD : (10.6)
d aber nicht länger für die Dreiergrößen. Mit dem Zusammenhang
von Vierer- und Dreierbeschleunigung, der in Aufgabe 9.6 aus-
gerechnet wurde, gilt dies nur im momentanen Ruhesystem des
Teilchens, in dem v D 0 ist. In einem allgemeinen Bezugs-
Achtung Lorentz-Kovarianz bzw. das Attribut Lorentz-ko- system, gegenüber dem sich das Teilchen mit Geschwindigkeit
variant bedeuten hier lediglich, dass sich alle Vierergrößen v .t/ bewegt, ist
entsprechend ihrer Indexstruktur transformieren; die F  sind
eigentlich kontravariante Komponenten, aber wir könnten diese v a
Gleichung genauso gut mit unteren, kovarianten Komponenten F D m .v / a C m  3 .v / v: (10.9)
c2
anschreiben. Die zugehörigen physikalischen (abstrakten) Vek-
toren haben dagegen eine völlig invariante Bedeutung. J
Die relativistische Trägheitskraft zeigt also nicht notwendiger-
Wir können nun für ein gegebenes Inertialsystem mit sei- weise in dieselbe Richtung wie die Beschleunigung a D dv =dt.
ner Koordinatenzeit t die Definition der Newton-Kraft (10.5) Dies ist nur sichergestellt, wenn entweder v k a oder v ? a ist.
beibehalten und darin p als den relativistischen Dreierimpuls
einsetzen. Wegen Frage 2
d dt d d Überlegen Sie sich, dass aber eine Kraft, die immer in eine fixe
D D .v /
d d dt dt räumliche Richtung zeigt, ein anfänglich ruhendes Teilchen in
eine lineare beschleunigte Bewegung (d. h. entlang einer Gera-
sind die räumlichen Komponenten von F  aber nun durch  F
den) versetzt.
gegeben.
358 10 Relativistische Mechanik

Hyperbolische Bewegung
Diese Gleichung beschreibt eine Hyperbel mit einer licht-
Teil I

Betrachten wir nun den Fall, dass ein Teilchen durch eine artigen Asymptote, die bei c2 =Qa die ct-Achse schneidet
konstante Kraft beschleunigt wird, (Abb. 10.1).
dp
FD D const; (10.10)
dt
ct
was zumindest für beschränkte Raumbereiche durch ein
konstantes elektrisches Feld oder ein Gravitationsfeld lichtartige
physikalisch realisierbar ist. Asymptote

Bei konstanter Masse bedeutet konstante Newton-Kraft


bezüglich eines Inertialsystems auch konstante Kraft bzw.
Beschleunigung im Eigensystem des Teilchens, denn die Weltlinie mit
Lorentz-kovariante Definition konstanter Eigen-
   0 beschleunigung
d d c F c2 /ã
m a D m u D m  D F D
d d v F
(10.11)
reduziert sich in einem Inertialsystem, bezüglich dessen
das Teilchen instantan in Ruhe ist, wegen  D 1 und
@ t  / a  v D 0 wieder auf (10.10). Das Teilchen er- x
fährt also in seinem Eigensystem (das kein Inertialsystem
ist) eine konstante Beschleunigung aQ D jFj=m. In ei- Abb. 10.1 Hyperbolische Bewegung
nem festen Inertialsystem kann die Dreierbeschleunigung
dagegen keine Konstante sein, weil sonst die Geschwin-
digkeit linear mit der Koordinatenzeit wachsen müsste
Überzeugen Sie sich, dass das Resultat (10.15) für klei-
und irgendwann die Lichtgeschwindigkeit übersteigen
ne Zeiten mit dem nichtrelativistischen Ergebnis x.t/ D
würde.
.Qa=2/t2 übereinstimmt, das dagegen eine Parabel dar-
Nehmen wir an, dass das Teilchen in einem Inertialsystem stellt.
zum Zeitpunkt t D 0 im Ursprung ruht und in positiver
x-Richtung beschleunigt wird, dann folgt aus der Bewe-
gungsgleichung Wird ein Punktteilchen in alle Ewigkeit konstant be-
schleunigt, kann es ab dem Zeitpunkt t D c=Qa auch nicht
d mehr von einem Photon eingeholt werden, das ihm mit
m ..v / v / D mQa: (10.12)
dt Lichtgeschwindigkeit nachläuft. Für ein solches Punkt-
teilchen existiert daher ein Ereignishorizont – ein entspre-
Die Masse fällt aus dieser Gleichung heraus. Diese be- chender Beobachter ist von der Kenntnis aller Ereignisse
schreibt daher auch eine Rakete, deren Masse bei der jenseits eines Horizonts ausgeschlossen (in diesem Bei-
Beschleunigung allmählich abnimmt, aber bei der die Ei- spiel Rindler-Horizont genannt, nach dem theoretischen
genbeschleunigung aQ konstant gehalten wird (was einer Physiker Wolfgang Rindler, *1924). Während in diesem
abnehmenden Kraft entspricht). Beispiel der Ereignishorizont keine globale Bedeutung
Mit konstantem aQ kann diese Gleichung trivial integriert hat, spielen Ereignishorizonte in der allgemeinen Rela-
werden: tivitätstheorie eine fundamentale Rolle, da sie die kausale
v Struktur der gesamten Raumzeit bestimmen.
.v / v D p D aQ t: (10.13)
1  v 2 =c2 Die Eigenzeit entlang der hyperbolischen Weltlinie wird
in Aufgabe 10.1 berechnet und ergibt sich als
Aufgelöst nach v ,
aQ t c aQ t
vD
dx
D p ; D arsinh < t: (10.16)
(10.14) aQ c
dt 1 C aQ 2 t2 =c2
 p 
und nochmals integriert ergibt Mit arsinh z  ln z C z2 C 1 sieht man, dass  für
0s 1 große Zeiten nur logarithmisch mit t anwächst (während
c2 @ aQ 2 t2 für kleine Zeiten mit arsinh z D z C O.z2 / natürlich  t
x.t/ D 1 C 2  1A : (10.15) folgt). J
aQ c
10.2 Relativistische Bewegungsgleichungen 359

Relativistische Energie
gelassen wird. Masselose Teilchen haben jv j D c und

Teil I
jpj D E=c; sie werden durch einen lichtartigen Vierer-
Wie wir in (9.79) gefunden haben, ist die Viererbeschleuni- vektor (p p D 0) charakterisiert.
gung im Sinne der Minkowski-Metrik orthogonal zur Vierer-
geschwindigkeit. Für ein Punktteilchen folgt aus (10.8) daher
  Das wichtigste Beispiel für masselose Teilchen sind die in der
0 D m a u D F  u D  cF 0   F  v ; (10.17)
Quantenmechanik definierten Lichtquanten, die Photonen. Wie
in Kap. 21 begründet wird, sind Energie und Impuls von Photo-
woraus sich die Bedeutung von F 0  dp0 =d ablesen lässt: nen durch das Planck’sche Wirkungsquantum h mit Frequenz 
und Wellenlänge  von Licht verknüpft:
  dx  F  dx  dW d W
F0 D Fv D F D D D ;
c c dt c dt c dt d c hc
(10.18) E D jpj c D h D : (10.22)
wobei dW die Arbeit ist, die bei einer infinitesimalen Ver- 
schiebung dx von der Kraft F geleistet wird. Da gemäß (10.2)
p0   mc ist, gilt Für massive Punktteilchen haben wir dagegen den Zusammen-
hang
d d d  
WD .cp0 / D .v / mc2 : (10.19) s
d d d p p2
E D m2 c4 C p2 c2 D m c2 1C ; (10.23)
Wir können also abgesehen von einer beliebigen additiven Kon- m2 c2
stanten cp0 als relativistische Energie identifizieren: Wurde ein
anfänglich freies Teilchen eine Zeit lang durch äußere Kräfte der für v c nach Potenzen von p2 =.m2 c2 / entwickelt werden
beschleunigt, dann hat sich die Größe cp0 um die geleistete Ar- kann:
beit verändert.  
1 p2 1 .p 2 /2
E D m c2 1C  C : : :
Relativistische Energie 2 m2 c2 8 m4 c4
(10.24)
p2 .p2 /2
Die relativistische Energie eines (freien) Punktteilchens D m c2 C  C :::
2 m 8 m3 c2
ist definiert durch
Der zweite Term in dieser Entwicklung ist gerade die nicht-
E D .v / mc2 : (10.20) relativistische kinetische Energie, die weiteren Terme sind die
relativistische Korrekturen dazu:
Auch einer ruhenden Masse wird somit eine Energie zuge-
ordnet; man spricht daher von einer Äquivalenz von Masse E D m c2 C T: (10.25)
und Energie.

Achtung Die gängige Bezeichnung „massives“ Punktteil-


Achtung Die ursprünglich von Einstein angegebene berühm- chen soll nicht ausdrücken, dass ein Teilchen ungewöhnlich
te Relation E D mc2 bezieht sich auf die geschwindigkeits- große Masse besäße, sondern nur, dass die Masse für einen be-
abhängige Masse m.v /. Gerade wegen dieses direkten Zusam- deutenden Teil der Gesamtenergie verantwortlich ist. Wenn die
menhangs verzichtet man in der neueren Literatur aber auf den Energie sehr viel größer als die Ruheenergie mc2 ist, kann da-
Begriff einer geschwindigkeitsabhängigen Masse und bezieht gegen die Masse in niedrigster Ordnung vernachlässigt werden,
sich gleich auf die Energie. Der Begriff der Masse kann dann und man hat E jpj c. In diesem ultrarelativistischen Grenzfall
für die invariante Ruhemasse reserviert werden. J können massebehaftete Punktteilchen also näherungsweise wie
masselose Teilchen behandelt werden. J
Gleichung (10.4) gibt den relativistischen Zusammenhang von
Teilchenenergie und Teilchenimpuls an.

Relativistische Energie-Impuls-Beziehung Konservatives Kraftfeld


E2
.p0 /2  p2   p2 D m2 c2 (10.21) Ist ein Teilchen nicht frei, sondern einer Kraft ausgesetzt, die
c2
sich in einem Bezugssystem als Gradient eines zeitunabhängi-
Diese Relation behält ihre Gültigkeit auch für masselose gen Potenzials V.x/ darstellen lässt, F D r V, dann ist
Teilchen, wobei die Identifikation von p D  mv fallen
dW D F  dx D r V  dx D dV: (10.26)
360 10 Relativistische Mechanik

Mit dW D d. mc2 / folgt, dass die Kombination zeitabhängig werden. Die Erhaltung von Gesamtenergie und
Gesamtimpuls eines abgeschlossenen Systems von wechselwir-
Teil I

 m c2 C V D m c2 C T C V D E (10.27) kenden Teilchen ist, wie wir in Kap. 5 gesehen haben, eine
Konsequenz der Homogenität von Zeit und Raum.
in einem konservativen Kraftfeld eine Konstante der Bewegung
ist. Da V selbst nur bis auf eine Konstante bestimmt ist, ist Wechselwirkungen zwischen Teilchen sind typischerweise kon-
E nicht eindeutig bestimmt. Ist das Kraftfeld allerdings räum- zentriert auf kleine Raumzeitgebiete, nämlich wenn sich die
lich konzentriert und verschwindet für große Abstände, kann Teilchen hinreichend nahe kommen.
man V asymptotisch als null vereinbaren, sodass E dort mit der
Achtung Dies ist insbesondere für Kernkräfte der Fall. Bei
Definition der relativistischen Energie für freie Teilchen über-
langreichweitigen Kräften wie der Coulomb-Kraft ist die An-
einstimmt.
nahme, dass Wechselwirkungen räumlich begrenzt sind, streng
genommen nicht richtig, wie in Abschn. 32.4 noch diskutiert
Elektronenvolt als Einheit für Energie und Masse werden wird. Wir werden hier daher einfach annehmen, dass auf
größeren Abständen Coulomb-Kräfte abgeschirmt werden. J
Eine in der nichtrelativistischen Quantenmechanik ge-
legentlich verwendete Einheit für die Energie ist die Für eine überschaubare Zahl von Teilchen kann man diese Pro-
Änderung der potenziellen Energie, die ein Elektron beim zesse dadurch beschreiben, dass vor einem Wechselwirkungser-
Durchqueren einer Potenzialdifferenz von 1 V erfährt. eignis ein Satz fAg von Teilchen mit Impulsen pA vorliegt und
Diese Energieeinheit wird Elektronenvolt oder Elektron- nachher ein eventuell unterschiedlicher Satz fA0 g mit Impulsen
volt genannt; die Umrechnung in die SI-Einheit Joule ist pA0 . In Abwesenheit äußerer Kräfte gilt dann
dabei X X
1 eV 1;602  1019 J: (10.28) p  
vorher D pnachher D p D pA D pA0 : (10.32)
A A0
Photonen des sichtbaren Lichtes haben Energien zwi-
schen 1,6 und 3,3 eV. Bleiben die Teilchen bei einem solchen Stoß als solche erhalten,
Aufgrund der Äquivalenz von Energie und Masse kann ohne dass sich abgesehen vom Viererimpuls etwas an ihnen än-
man das Elektronenvolt auch zur Angabe von Ruhemas- dert (wie die Masse bei Elementarteilchen oder der innere Auf-
sen verwenden. Die Masse eines Elektrons ist z. B. bau bei zusammengesetzten Objekten), dann spricht man von
einem elastischen Stoß oder einer elastischer Streuung. In allen
mElektron 0;511 MeV=c2 ; (10.29) anderen Fällen hat man es mit einem inelastischen Stoß zu tun.
Wir haben elastische Stöße und Streuung bereits in Abschn. 3.4
die Masse eines Protons in der nichtrelativistischen Mechanik behandelt, sogar unter
Einbeziehung von Gravitations- oder Coulomb-Potenzialen.
mProton 0;938 272 GeV=c2 : (10.30) Ebenso wie im nichtrelativistischen Fall lassen sich aber auch
ohne die detaillierte Kenntnis der speziellen Wechselwirkungen
Das Giga-Elektronenvolt (GeV, also 109 eV) hat sich in allgemeine Aussagen über die mögliche Kinematik von Streu-
der modernen Teilchenphysik als gängige Einheit für die prozessen treffen, nämlich durch die Analyse der Konsequenzen
Angabe von Energien durchgesetzt. Für Massen und Im- der Energie-Impuls-Erhaltung. Ein wesentlicher Unterschied
pulse wird GeV=c2 bzw. GeV=c verwendet. J von relativistischen Teilchenstößen zum nichtrelativistischen
Fall ist nun, dass Masse im Allgemeinen keine weitere Er-
haltungsgröße ist; in der Relativitätstheorie ist dies nur bei
elastischen Stoßprozessen gegeben.

10.3 Relativistische Teilchenstöße Beispiele für elastische Stöße sind Kollisionen von Billardku-
geln, wenn die geringfügige Erwärmung beim Stoß vernach-
lässigt wird. Wird bei einem Stoß in nicht vernachlässigbarem
In Abwesenheit von Kräften ist der Viererimpuls eines Teil- Ausmaß kinetische Energie in Wärme umgewandelt, so gilt wei-
chens erhalten. Für mehrere nicht wechselwirkende Teilchen terhin die Erhaltung des Gesamtviererimpulses, aber die Teil-
kann man den Gesamtviererimpuls chen haben dann wegen der Äquivalenz von Energie und Masse
X  ein klein wenig unterschiedliche Ruhemassen. Ein drastische-
p D pA (10.31) res Beispiel für einen inelastischen Stoß ist, wenn Billardkugeln
A auseinanderbrechen oder wenn Objekte bei einem Stoß anei-
nanderkleben bleiben und somit ein neues zusammengesetztes
definieren, der ebenso erhalten ist, wobei der Index A die Teil-
Objekt bilden. In der nichtrelativistischen Mechanik wären auch
chen durchnummeriert.
hier die Summen der Ruhemassen erhalten. Bei Kollisionen von
Wirken Kräfte nur zwischen den einzelnen Teilchen, dann bleibt Elementarteilchen können dagegen überhaupt neue Teilchen
der Gesamtviererimpuls erhalten, auch wenn die einzelnen pA entstehen oder auch einlaufende komplett vernichtet werden;
10.3 Relativistische Teilchenstöße 361

dabei kann Energie in Masse oder umgekehrt umgewandelt wer- Elastischer Stoß zweier Teilchen
den.
im Schwerpunktsystem

Teil I
Wie schon in Abschn. 3.4 kann die Analyse von Streuprozessen
oft stark vereinfacht werden, wenn diese in speziellen Bezugs-
systemen betrachtet werden. Im nichtrelativistischen Fall erge- Betrachten wir den elastischen Stoß zweier Teilchen mit Ruhe-
ben sich die dafür notwendigen Transformationen von Energie massen mA und mB im Schwerpunktsystem, so können wir vor
und Impuls aus dem einfachen Additionsgesetz von Geschwin- dem Stoß schreiben
digkeiten. In der Relativitätstheorie sind Energie und Impuls    
E =c EB =c
aber Komponenten eines Vierervektors, die dabei einer Lorentz- pA D A ; pB D (10.37)
Transformation unterworfen sind. pA pA

mit den Viererquadraten

Schwerpunktsystem EA2 EB2


 pA2 D mA2 c2 ;  pA2 D mB2 c2 (10.38)
c2 c2
Ein Inertialsystem, in dem der Gesamtdreierimpuls verschwin-
det, definiert das Schwerpunktsystem (SPS). und nach dem Stoß
   
Frage 3 E 0 =c EB0 =c
pA0 D A ; pB0 D (10.39)
Überlegen Sie sich, dass ein Gesamtviererimpuls, der sich aus pA0 pA0
lauter zeit- oder lichtartigen Vierervektoren (pA pA D mA2 c2 
0) zusammensetzt, zeitartig ist, sodass sich das Schwerpunkt- mit
system gegenüber anderen Inertialsystemen mit Unterlichtge-
schwindigkeit bewegt. Ein lichtartiger Gesamtviererimpuls tritt EA20 EB20
 pA20 D mA2 c2 ;  pA20 D mB2 c2 : (10.40)
nur auf, wenn ausschließlich lichtartige Vierervektoren mit c2 c2
gleichgerichteten Dreierimpulsen addiert werden, was offenbar
keinem Stoßprozess entspricht. In der Gesamtviererimpulsbilanz (10.32) sind die räumlichen
Komponenten damit vorher und nachher null, sodass als einzige
(Die Antwort liefert die Dreiecksungleichung für die Addition Relation die Gesamtenergieerhaltung verbleibt:
von räumlichen Vektoren.)
EA C EB D EA0 C EB0 : (10.41)
In einem System mit einem Gesamtdreierimpuls p mit jpj <
p0 D E=c kann zuerst durch Drehung des Koordinatensystems Aus (10.38) und (10.40) folgt
p D jpjOex erreicht werden und dann durch die Standard-Lo-
rentz-Transformation (9.21) in positiver x-Richtung pSPS D 0 mA2 c4  mB2 c4 D EA2  EB2 D EA20  EB20 : (10.42)
durch
Division dieser Gleichung durch die vorhergehende gibt wegen
p1 jpj EA2  EB2 D .EA C EB /.EA  EB /
p1SPS D  p  ˇ p D 0
1 0
mit ˇ D 0 D : (10.33)
p E=c
EA  EB D EA0  EB0 ; (10.43)
Letzteres bestimmt die Schwerpunktgeschwindigkeit im ur-
sprünglichen Inertialsystem als
was zusammen mit (10.41) schließlich auf
jpj
vSPS D : (10.34) EA D EA0 ; EB D EB0 (10.44)
E=c2

führt. Das heißt, im Schwerpunktsystem bleiben bei einem


Das Quadrat des Gesamtviererimpulses ist eine Lorentz-Invari-
elastischen Stoß die Energien der beiden Teilchen separat erhal-
ante und definiert die invariante Schwerpunktmasse M:
ten. Wegen der Energie-Impuls-Relationen (10.38) und (10.40)
bedeutet dies auch, dass die Beträge der Dreierimpulse unver-
E2
p p D  p2 DW M 2 c2 : (10.35) ändert bleiben:
c2
Im Schwerpunktsystem ist jpA j D jpA0 j ; jpB j D jpB0 j : (10.45)
 
Mc Der elastische Stoß wird somit im Wesentlichen durch einen
p D : (10.36)
SPS 0 Streuwinkel # beschrieben (Abb. 10.2).
362 10 Relativistische Mechanik

y y
Teil I

p A
p A
A B
ϑ ϑA
pA pB = −pA pA ϑB
A B

pB  = −pA
pB 

x x

Abb. 10.2 Elastischer Stoß von zwei Teilchen im Schwerpunktsystem Abb. 10.3 Elastischer Stoß von zwei Teilchen im Laborsystem

Elastischer Stoß zweier Teilchen mit EA2 =c2  pA2 D mA2 c2 vorliegen. Der Gesamtviererimpuls ist
allgemein und im Laborsystem  >
EA C mB c2
p D pA C pB D ; pA ; 0; 0 D pA0 C pB0 :
c
Obige Ergebnisse für die Viererimpulse im Schwerpunktsystem (10.48)
können durch Lorentz-Transformationen in beliebige Inerti- Wählen wir das Koordinatensystem so, dass der Streuprozess
alsysteme übersetzt werden. Da Lorentz-Skalare aber dabei in der xy-Ebene stattfindet, so können wir die Viererimpulse
unverändert bleiben, ist es rechnerisch vorteilhaft, wann immer der beiden Teilchen nach dem Stoß durch Einführen zweier
möglich die Ergebnisse durch solche auszudrücken. Das zen- unterschiedlicher Winkel bezüglich der Kollisionsachse para-
trale Ergebnis des elastischen Stoßes zweier Teilchen ist (im metrisieren (Abb. 10.3):
Schwerpunktsystem) die Erhaltung der individuellen Energien  >
EA0
pA0 D ; pA0 cos #A ; pA0 sin #A ; 0 ;
c
EASPS D EASPS
0 ; EBSPS D EBSPS
0 :
 > (10.49)
 EB0
pB0 D ; pB cos #B ; pB sin #B ; 0
0 0
Dies sind die Nullkomponenten der Vierervektoren, aber im c
Schwerpunktsystem ergeben sich diese Relationen bis auf einen
mit
gemeinsamen Faktor M auch durch Kontraktion der Vierervek-
toren mit dem Schwerpunktimpuls (10.36): EA20 EB20
mA2 c2 D  pA20 ; mB2 c2 D  pB2 0 : (10.50)
c2 c2
pA p D pA0 p ; pB p D pB0 p : (10.46)
Aus der invarianten Relation pA p D pA0 p folgt damit
Die Größen in diesen Gleichungen sind Lorentz-invariante Ska-  
lare. In dieser Form kann das Ergebnis, das im Schwerpunktsys- EA EA C mB c2  c2 pA2
  (10.51)
tem gewonnen wurde, direkt in einem beliebigen Inertialsystem D EA0 EA C mB c2  c2 pA pA0 cos #A ;
verwertet werden. q
woraus sich mit pA0 D EA20 =c2  mA2 c2 die Energie EA0 bzw.
Als ein wichtiges Beispiel betrachten wir den elastischen Stoß,
bei dem ein gegenüber S bewegtes Teilchen A auf ein in S der Impuls pA0 als Funktion von #A bestimmen lässt. Analog
ruhendes Teilchen B (das „Target“) trifft. Das zugehörige In- gibt pB p D pB0 p im Laborsystem
ertialsystem S wird oft als Laborsystem bezeichnet, weil dies  
mB c2 EA C mB c2
vor der Entwicklung von modernen Teilchenbeschleunigern, die   (10.52)
zwei Strahlen von Teilchen aufeinander schießen können, die D EB0 EA C mB c2  c2 pA pB0 cos #B
typische Situation bei Streuexperimenten darstellte.
und damit EB0 als Funktion von #B . Der Zusammenhang von #B
Vor dem Stoß haben wir somit die Viererimpulsvektoren nun in und #A kann schließlich aus der y-Komponente von pA C pB D
der Form pA0 C pB0 gewonnen werden, was auf die Relation
 > pA0 .#A / sin #A D pB0 .#B / sin #B (10.53)
EA
pA D ; pA ; 0; 0 ; pB D .mB c; 0/ >
(10.47)
c führt.
10.3 Relativistische Teilchenstöße 363

Speziallfall Compton-Streuung muss aber wegen der Impulserhaltung in Ruhe sein, und seine
Energie ist dabei wegen Energieerhaltung

Teil I
Die obigen Formeln vereinfachen sich, wenn das einfal- 2m
lende Teilchen A masselos ist, sodass in (10.51) cpA D EA E D M c2 D 2.v / m c2 D p c2 > .2m/ c2 :
1  v 2 =c2
und cpA0 D EA0 gesetzt werden kann: (10.57)
  In diesem Fall wird also kinetische Energie in Ruhemasse um-
EA mB c2 D EA0 EA C mB c2  EA EA0 cos #A : (10.54) gewandelt. Sind diese Teilchen Materieklumpen, dann wurde
die kinetische Energie in innere, z. B. thermische, Energie um-
Division durch EA EA0 mB c2 ergibt gewandelt, die gemäß der Relativitätstheorie zur Ruhemasse
gerechnet werden muss und tatsächlich ebenso der Gravitation
1 1 1 unterworfen ist wie schwere Masse. Diese Effekte sind aber für
D C .1  cos #A /; (10.55)
EA0 EA mB c2 makroskopische Körper, für die die Lichtgeschwindigkeit prak-
tisch unerreichbar ist, vollkommen vernachlässigbar, da sie von
wobei alternativ 1  cos #A D 2 sin2 .#A =2/ geschrieben der Ordnung .v =c/2 sind. Findet eine Umwandlung von Mas-
werden kann. se in Energie in nennenswertem Ausmaß statt, spricht man von
einem Massendefekt (siehe hierzu Kasten „Anwendung: Mas-
Eine wichtige Anwendung dieses Falles ist die Compton-
Streuung von Photonen an Elektronen, die in Kap. 21 nä- sendefekt und Umwandlung von Masse in Energie“).
her besprochen werden wird (siehe Abb. 21.7). Da wie Für Elementarteilchen sind Umwandlungen von Energie in
erwähnt die Energie von Photonen proportional zur Fre- Masse und umgekehrt aber von zentraler Bedeutung. Die meis-
quenz und damit die inverse Energie proportional zur ten Elementarteilchen sind instabil und zerfallen unter Um-
Wellenlänge ist, beschreibt die Gleichung (10.55) die Zu- wandlung von Ruhemasse in kinetische Energie in andere
nahme der Wellenlänge von an Elektronen gestreuten Teilchen. Deren Masse muss in Summe kleiner sein als die Aus-
Photonen. J gangsmasse, andernfalls könnten mangels kinetischer Energie
die Zerfallsprodukte nicht auseinanderstreben, und der Zerfall
würde gar nicht stattfinden.
Hat das einlaufende Teilchen A mehr Masse als das ursprüng-
Betrachten wir dazu ein konkretes Beispiel, in dem ein insta-
lich ruhende Teilchen B, dann hat es auch nach dem Stoß eine
biles Elementarteilchen in zwei andere zerfällt (oft sind auch
Impulskomponente in Vorwärtsrichtung und daher einen Streu-
mehr als zwei Zerfallsprodukte im Spiel wie beim Zerfall des
winkel #A < =2. Dieser Umstand ist qualitativ der gleiche wie
Neutrons, das in ein Proton, ein Elektron und ein Antineutrino
in der nichtrelativistischen Mechanik (Abb. 3.12; mit #1 anstel-
zerfällt).
le von #A ), allerdings ist der Zusammenhang der Streuwinkel
in Schwerpunkt- und Laborsystem, der nichtrelativistisch durch
Zerfall eines Pions
(3.110) gegeben ist, nun etwas komplizierter. Der maximale
Winkel, um den das schwerere Teilchen A gestreut werden kann, Das in der Kernphysik eine zentrale Rolle spielende
ist, wie in Aufgabe 10.3 gezeigt wird, gegeben durch
positiv oder negativ geladene Pion ˙ zerfällt in ein
mB (ebenfalls instabiles, aber deutlich langlebigeres) leichte-
sin #Amax D für mA > mB : (10.56) res Myon ˙ mit etwa 34 der Masse eines Pions und ein
mA
fast masseloses Myon-Neutrino  bzw. Myon-Antineu-
Bemerkenswerterweise hängt dieses Ergebnis nur von den Mas- trino N  . (Lange Zeit nahm man sogar an, dass Neutrinos
sen ab, und nicht davon, wie hoch die Energie des einlaufenden exakt masselos sind. Wie man inzwischen weiß, haben
Teilchens ist. Es stimmt daher mit dem Ergebnis überein, das sie eine extrem kleine, aber nicht verschwindende Mas-
sich in der nichtrelativistischen Mechanik für den maximalen se.) Welche Energie und welche Geschwindigkeit hat ein
Streuwinkel ergibt. beim Zerfall eines ruhenden Pions entstehendes Myon?
Bezeichnen wir Energien, Impulse und Massen von Pio-
nen, Myonen und Neutrinos mit Indizes ; ;  (die nun
Inelastische Prozesse nicht mit Lorentz-Indizes verwechselt werden dürfen),
dann lautet die Energieerhaltung

Wie schon betont, ist in der Relativitätstheorie die Ruhemas- Evorher D m c2 D Enachher D E C E : (10.58)
se im Allgemeinen keine erhaltene Größe. Betrachten wir z. B. Das praktisch masselose Neutrino hat E D jp j c. Auf-
im Schwerpunktsystem zwei identische massive Teilchen die je- grund der Impulserhaltung ist
weils mit einer Geschwindigkeit v aufeinander zu fliegen und q
ein einziges Teilchen bilden, weil sie irgendwie aneinanderkle- jp j c D jp j c D E 2  m2 c4 : (10.59)

ben bleiben. Die einlaufenden Teilchen haben dann jeweils die
Energie E D .v / m c2 , das einzelne dabei entstehende Teilchen
364 10 Relativistische Mechanik

Anwendung: Massendefekt und Umwandlung von Masse in Energie


Teil I

Mit der Einstein’schen Äquivalenz von Energie und Mas- on dafür verantwortlich, dass ein Stern über Milliarden von
se ist das Ganze eines gebundenen Systems leichter als die Jahren am Leuchten gehalten werden kann, auch wenn dabei
Summe seiner Teile. nur noch einige Promille der Masse in Energie umgesetzt
werden.
Wird bei einer chemischen Reaktion Energie bei der Bil-
dung eines Bindungszustands frei, dann ist dieser sogenannte Die maximale Umwandlung von Masse in Energie geschieht
Massendefekt vernachlässigbar klein. Zum Beispiel hat er natürlich bei der vollständigen Zerstrahlung von Materie
bei der Bildung von Wasserstoff durch durch Annihilation mit Antimaterie, nur ist Antimaterie sehr
rar.
p C e ! H C 13;6 eV
Ein in vieler Hinsicht interessanter Fall wäre hier der hypo-
die Größenordnung  10 eV=1 GeV D 108; bei schwe- thetische Zerfall eines Protons
reren Molekülen und geringerer Bindungsenergie ist das
Verhältnis noch geringer. pC ! 0
C eC C 846;8 MeV;
Bedeutendere Massendefekte bis fast 1 % treten bei den Bin-
dungsenergien in Atomkernen auf, mit einem Maximum von wie er von gewissen Theorien jenseits des Standardmodells
etwa 8,8 MeV pro Nukleon bei Eisen und Nickel. Bei der der Teilchenphysik vorhergesagt wird und nach dem – bis-
Kernspaltung werden die Unterschiede in den Bindungs- her allerdings vergeblich – gefahndet wird (Abb. 10.5). Falls
energien bei schwereren Elementen ausgenützt und somit solche Prozesse tatsächlich möglich sind, dann nur mit Halb-
typischerweise nur 0,01–0,1 % der Masse in Energie umge- wertszeiten jenseits von 1034 Jahren, d. h. um Faktoren 1024
setzt; bei der Kernfusion, z. B. oder mehr über dem Alter des Universums von etwa 14 Mil-
liarden Jahren. Solche Theorien sagen aber auch die Exis-
2
H C 3 H ! 4 He C n C 17;6 MeV; tenz von magnetischen Monopolen vorher, die als Katalysator
für den Protonzerfall wirken können. Sollten jemals magneti-
erreicht man etwas bessere Verhältnisse von etwa 0,5 %. Im sche Monopole gefunden werden, könnte dies im Prinzip auch
Vergleich zu chemischen Reaktionen sind die freigesetzten Energiegewinnung in unvorstellbarem Ausmaß ermöglichen.
Energien pro Masse auf alle Fälle gewaltig (Abb. 10.4).

Abb. 10.4 Explosion der ersten Wasserstoffbombe mit 10,4 Megatonnen Abb. 10.5 Das unterirdische Experiment Superkamiokande in Japan in ei-
TNT-Äquivalent am 1. November 1952 auf der pazifischen Insel Elugelab, die ner Mine unter dem Berg Kamioka. Abgeschirmt von kosmischer Strahlung
dabei vollständig zerstört wurde (© NNSA) wurde in einem Detektor mit 50.000 t ultrareinem Wasser mithilfe von über
11.000 Photodetektoren und dem Tscherenkow-Effekt Ausschau nach Pro-
tonzerfällen gehalten und die aktuelle untere Schranke für die Lebensdauer
Die größten Bindungsenergien und damit die größten Mas- von Protonen bestimmt. Dieses Experiment entdeckte stattdessen 1998 das
Phänomen der Neutrinooszillation, bei der die von der Sonne in Kernreak-
sendefekte treten aber durch die gravitative Wechselwirkung
tionen ausgestrahlten Neutrinos ihre Identität ändern. Das Bild zeigt die
in der Astrophysik auf. Bei der Bildung von Sternen wer- Befüllung des mit Photomultipliern ausgekleideten Detektortanks mit Was-
den so bis zu 40 % der Ruhemasse in Energie umgewandelt ser und Wissenschaftler in einem Boot darin (© Kamioka Observatory, ICRR
und abgestrahlt. Einmal gebildet ist allerdings die Kernfusi- (Institute for Cosmic Ray Research), The University of Tokyo)
10.3 Relativistische Teilchenstöße 365

Eingesetzt in die Energiebilanz ergibt dies mit Energie-Impuls-Relationen

Teil I
q E2 EA20 EB20
m c2  E D E D jp j c D 2  m2 c4 : (10.60)
E  p2 D 0; pA
2
0 D m c D
2 2
pB2 0 : (10.65)
c2 c2 c2
Daraus folgt Die erste Relation, welche die Masselosigkeit des Pho-
m C
2
m2 2 tons ausdrückt, führt auf
E D c (10.61)
2m 0 D .EA0 C EB0 /2  c2 .pA0 C pB0 /2
und mit p D  mv und E D  mc2 D 2 m2 c4 C 2 c2
q q 
jp j m2  m2 7  pA20 C m2 c2 pB2 0 C m2 c2  pA0  pB0 :
v D D c c 0;28c (10.62)
E =c2 m2 C m2 25 (10.66)
Wegen pA0  pB0  pA0 pB0 ist aber der Ausdruck in der
für m 3
m . letzten Klammer größer als null, diese Gleichung hat also
4
keine Lösung. J
Es ist auch interessant, sich anzusehen, wie sich die
verfügbaren Energien aufteilen. Die in kinetische Ener-
gie umgewandelte Ruhemasse ist durch T D m c2  Kinematisch möglich sind dagegen Prozesse wie e C eC !
1
m c2 4
m c2 gegeben. Der Anteil, der auf das Neu- 2” (Elektron-Positron-Paarvernichtung in zwei Photonen), aber
trino entfällt, ist auch die Erzeugung von Elektron-Positron-Paaren durch ein
hochenergetisches Photon (”-Quant) in Materie, wo die Anwe-
m2  m2 2 7 1 senheit von Materie die Gesamtviererimpulserhaltung ermög-
T D jp j c D c  m c2 I (10.63)
2m 8 4 licht (”CX ! XCe CeC , auch Gamma-Konversion genannt).
Aus dem gleichen Grund ist es nicht möglich, dass ein freies
dieses trägt also den Großteil der kinetischen Energie Elektron spontan ein Photon emittiert (e ! e C ”), wäh-
davon. Da aber auf das Myon die restliche Ruhemasse rend dieser Prozess in Anwesenheit von Materie durchaus vor-
3
4
m c2 entfällt, ist dessen Gesamtenergie insgesamt kommt, z. B. bei der Tscherenkow-Strahlung (oft der englischen
höher. J Transliteration folgend Cherenkov-Strahlung geschrieben, be-
nannt nach dem russischen Physiker Pawel A. Tscherenkow,
1904–1990). Diese tritt immer auf, wenn sich Teilchen mit ei-
Der geringfügig kompliziertere Fall, wo ein massives Teilchen
ner Geschwindigkeit durch ein Medium bewegen, welche die
in zwei massive Teilchen zerfällt, wird in Aufgabe 10.8 behan-
reduzierte Lichtgeschwindigkeit in diesem Medium übersteigt
delt.
(siehe Kasten „Anwendung: Tscherenkow-Strahlung“).
Da Energie und Masse in vielfältiger Weise ineinander umge-
wandelt werden können, kann man sich auch fragen, ob ein mas-
seloses Teilchen wie das Photon bei hinreichend hoher Energie Teilchenerzeugung durch inelastische Stöße
in andere, massebehaftete Teilchen zerfallen kann, z. B. in ein
Elektron-Positron-Paar. Diese Frage kann man sofort negativ
beantworten, da dann ja auch umgekehrt die Paarvernichtung Eine notwendige Bedingung für die Paarerzeugung von mas-
eines Elektron-Positron-Paares in ein einzelnes Photon möglich siven Teilchen ist, dass genügend kinetische Energie dafür zur
sein müsste. Im Schwerpunktsystem ist das aber offenbar nicht Verfügung steht. Im Schwerpunktsystem steht die gesamte ki-
möglich, denn dies würde einen verschwindenden Gesamtdrei- netische Energie zur Disposition. Wird tatsächlich die gesamte
erimpuls verlangen, der auf das einzelne Photon entfiele. kinetische Energie in Masse umgewandelt, dann ruht die auf
diese Weise erzeugte Masse. Im Laborsystem ist dies nicht
Kann ein hochenergetisches Photon zerfallen? möglich, weil aufgrund der Gesamtdreierimpulserhaltung nach
dem Stoß der Schwerpunkt weiterhin in Bewegung sein muss,
Man kann dies auch durch direkte Rechnung in einem In- wenn auch mit verringerter Geschwindigkeit, da ja zusätzli-
ertialsystem entscheiden, in dem ein hochenergetisches che Masse erzeugt wurde. Ein historisch bedeutsames Problem
Photon den Impuls p und damit die Energie E D jpj c ist beispielsweise die Erzeugung von Antiprotonen durch die
trägt. Der hypothetische Zerfall eines Photons in zwei Kollision von Protonen im Laborsystem. Die Physiker Emilio
gleich schwere Teilchen A0 und B0 hat die Viererimpuls- Segrè (1905–1989) und Owen Chamberlain (1920–2006) wie-
bilanz sen 1955 die Existenz von Antiprotonen nach, indem sie am
     
E=c E 0 =c E 0 =c Lawrence Berkeley National Laboratory Materie mit Protonen
D A C B (10.64) beschossen, die gerade energiereich genug für die Erzeugung
p pA0 pB0
von Proton-Antiproton-Paaren waren.
366 10 Relativistische Mechanik

Vertiefung: Die Mandelstam-Variablen


Teil I

2!2-Prozesse

Für elastische und inelastische relativistische Kollisions- Elastische Streuung liegt für m3 D m1 und m4 D m2 vor; im
prozesse in der Teilchenphysik, bei der zwei einlaufende Fall von inelastischer 2!2-Streuung spricht man auch von
Teilchen in zwei (eventuell andere) auslaufende Teilchen quasielastischer Streuung.
übergehen, werden die Lorentz-invarianten Mandelstam-Va-
riablen Die Größe s ist durch die Schwerpunktsenergie gegeben:
s WD .p1 C p2 /2 D .p3 C p4 /2 s D .ESPS =c/2 ;
D m21 c2 C 2E1 E2 =c  2p1  p2 C
2
m22 c2 ; p
und es hat sich in der Hochenergiephysik inzwischen s als
t WD .p1  p3 / D .p2  p4 /
2 2
Synonym für die Schwerpunktsenergie etabliert, sodass viele
D m21 c2  2E1 E3 =c2 C 2p1  p3 C m23 c2 ; experimentelle Teilchenphysikpublikationen
p schon im Titel
angeben, bei welchem Wert s Daten genommen wurden.
u WD .p1  p4 /2 D .p2  p3 /2 (In der Teilchenphysik werden üblicherweise Einheiten ver-
D m21 c2  2E1 E4 =c2 C 2p1  p4 C m24 c2 wendet, bei denen c D 1 ist.)
definiert (benannt nach dem theoretischen Physiker Stanley
Die zweite unabhängige Größe t (oder auch u) charakteri-
Mandelstam, *1928), wobei die zwei einlaufenden Teilchen
siert den Impulsübertrag und damit den Streuwinkel zwi-
mit 1 und 2 und die auslaufenden mit 3 und 4 indiziert sind.
schen einlaufendem Teilchen 1 und auslaufendem Teilchen
Neben den Massenparametern sind dies die bezugssystem-
3 (bzw. 4).
unabhängigen Größen, mit denen 2!2-Prozesse beschrie-
ben werden können, wobei nur zwei davon unabhängig sind: In Aufgabe 10.7 werden Formeln hergeleitet, mit denen die
Wie man mit der Impulserhaltung p   
1 Cp2 D p3 Cp4 leicht Parameter von Schwerpunkt- und Laborsystemen durch die
nachrechnen kann (Aufgabe 10.6), gilt Mandelstam-Variablen ausgedrückt werden und damit auch
s C t C u D .m21 C m22 C m23 C m24 / c2 : bequem ineinander umgerechnet werden können.

Schwellenenergie für Antiprotonenerzeugung


 2
EA
Im Schwerpunktsystem ist die minimal notwendige Ener- C mc  pA2 D 2EA m C 2m2 c2 D 16m2 c2
c
gie dadurch bestimmt, dass nach der Kollision von zwei
Protonen vier Teilchen mit der gleichen Ruhemasse m D ) EA D 7 m c2 ;
mProton ohne kinetische Energie vorhanden sind. Der Ge- (10.71)
samtviererimpuls nach dem Stoß lautet im Schwerpunkt- was zu einem Gammafaktor
q . v / D 7 und einer Ge-
system demnach schwindigkeit von 48 49
c 0;9897 c gehört. Die kine-
  tische Energie des einlaufenden Protons ist damit
 4mc
pSPS;nachher D : (10.67)
0 T D EA  m c2 D 6 m c2 : (10.72)
Das Lorentz-invariante Quadrat davon, 7 m c2 6;6 GeV ist tatsächlich in etwa die Energie des
Protonenstrahles, der von Segrè und Chamberlain bei der
p
SPS;nachher p SPS;nachher D 16m c ;
2 2
(10.68) Suche nach Antiprotonen eingesetzt wurde (6,3 GeV).
ist im Laborsystem dasselbe und wegen der Gesamtim- Da von ihnen Kupferkerne beschossen wurden und die
pulserhaltung gegeben durch Protonen und Neutronen darin (im Vergleich zu diesen
Energien schwach, aber dennoch) gebunden sind, ist hier
p
LS;vorher p LS;vorher D 16m c :
2 2
(10.69) die Schwellenenergie für die Antiprotonenerzeugung ge-
ringfügig niedriger (siehe hierzu auch Aufgabe 10.4).
Im Laborsystem ist nun
    Hätte man nur in Rechnung gestellt, wie viel Energie die
EA =c mc Ruhemassen von einem zusätzlichen Teilchenpaar kos-
p D C (10.70)
LS;vorher pA 0 ten, hätte man auf eine kinetische Energie T von 2m c2
für das einlaufende Teilchen geschlossen. Die tatsächlich
mit EA2 =c2  pA2 D m2 c2 . Daraus folgt notwendige kinetische Energie ist aber das Dreifache. J
10.3 Relativistische Teilchenstöße 367

Anwendung: Tscherenkow-Strahlung

Teil I
Wenn geladene Teilchen schneller als das Licht sind

Durch rein kinematische Überlegungen, d. h., ohne Näheres Für n D 1 kann diese Gleichung wegen jpA j < EA =c nie
über die dahinter stehenden Wechselwirkungen (die Dyna- erfüllt werden – ein freies Teilchen kann kein masseloses
mik) zu wissen, lassen sich oft schon prinzipielle Aussagen Photon emittieren.
über die Möglichkeit von gewissen Prozessen treffen. Ein
Für n > 1 rückt dies aber in den Bereich des Möglichen. Hier
solches Beispiel war die Schlussfolgerung aus (10.66), dass
kann der letzte Term in der Klammer vernachlässigt werden,
ein noch so energiereiches Photon nicht spontan in massive
denn damit n 6D 1 ist, darf die Photonenenergie nicht viel
Teilchen zerfallen kann. Ganz ähnlich folgt, dass ein frei-
größer als einige Elektronenvolt sein, während schon die Ru-
es geladenes Teilchen nicht spontan ein masseloses Photon
hemasse der leichtesten geladenen Teilchen, der Elektronen,
emittieren kann.
511 keV=c2 beträgt. Es gilt also h EA für alle n 6D 1. Wir
Dies ist allerdings nicht mehr gegeben, wenn der Viererim- bekommen damit das einfache Kriterium
puls des Photons paradoxerweise nicht mehr lichtartig ist, EA =c 1 1
d. h. ein Viererquadrat ungleich null hat. Während auf fun- cos # D D :
jpA j n ˇA n
damentaler Ebene Photonen immer masselos sind und einen
lichtartigen Viererimpuls haben, führt, wie in Kap. 16 ge- Abstrahlung ist kinematisch erlaubt, wenn ˇA  1n oder
zeigt wird, die Lichtausbreitung in transparenter Materie vA  nc D c0 ist, wobei c0 die Lichtgeschwindigkeit im Me-
auf Wellenlängen, die gegenüber dem Vakuum durch Divi- dium ist. In diesem Fall können Photonen auf einem nach
sion durch einen Brechungsindex n > 1 verkleinert sind vorwärts gerichteten Kegel mit dem Öffnungswinkel # emit-
( D nc  1 ). Auf Lichtquanten umgemünzt, ergibt dies ef- tiert werden.
fektiv raumartige Viererimpulse (siehe (10.22))
Dies ist ganz analog zum Überschallkegel, der auftritt, wenn
0 h 1 sich ein Flugobjekt schneller als der Schall bewegt. Bewe-
  gen sich geladene Teilchen in einem Medium schneller als
B c C h 1
p
Ph D @ AD ; die Lichtgeschwindigkeit in diesem Medium, kommt es zur
h c n eO
eO Tscherenkow-Strahlung. Diese tritt z. B. in Abklingbecken
 von Kernreaktoren auf, wo sie durch schnelle Elektronen im
wobei eO die Ausbreitungsrichtung des Lichtquants ist und der Wasser hervorgerufen wird. In der Teilchenphysik kann der
Brechungsindex n von der Frequenz  abhängt. Insbesondere Tscherenkow-Effekt zum Nachweis von hochenergetischen
geht n für große Werte von  und damit für Photonenenergi- Teilchen genutzt werden. In der Astroteilchenphysik wer-
en E D h jenseits des optischen Spektrums gegen 1. den sogenannte Tscherenkow-Teleskope dafür eingesetzt,
die von hochenergetischer kosmischer Strahlung in der At-
Mit dieser Information kann die Emission eines Lichtquants mosphäre hervorgerufenen Teilchenschauer und damit ver-
in transparenter Materie über die relativistische Energie-Im- bundenen Tscherenkow-Blitze zu beobachten.
puls-Erhaltung diskutiert werden. Ist pA D .EA =c; pA /> der
Viererimpuls eines massiven hochenergetischen Teilchens
mit pA2 D m2 c2 , das nach Emission eines Photons den Vierer-
impuls pA0 D pA  p Ph mit unveränderter Masse pA0 D m c
2 2 2

haben soll, dann folgt aus letzterem

pA20 D m2 c2 D pA2  2pA  pPh C p2Ph


 
h EA h
)0D 2 C 2jpA j n cos # C .1  n2 / ;
c c c

wobei # der Winkel zwischen Photonimpuls und pA ist:

pPh
Abb. 10.6 Das Tscherenkow-Teleskop MAGIC (Major Atmospheric Gam-
ma-Ray Imaging Cherenkov) in über 2200 m Höhe auf der Kanarischen
ϑ Insel La Palma, das extrem hochenergetische kosmische Gammastrahlung
pA indirekt über die in der Atmosphäre entstehenden Tscherenkow-Lichtblitze
p A der ausgelösten elektromagnetischen Elektron-Positron-Schauer detektiert
(Max-Planck-Institut für Physik – MAGIC, © R. Wagner)
368 10 Relativistische Mechanik

Anwendung: Ultrahochenergetische kosmische Strahlung (UHECR) . . .


Teil I

. . . und deren oberes Ende: Der Greisen-Zatsepin-Kuzmin-Cutoff

Das Energiespektrum der primären kosmischen Strahlung, gegeben. Bei einer Frontalkollision ist der Protonenimpuls
die hauptsächlich aus Protonen und Heliumkernen besteht, dem Photonenimpuls entgegengerichtet, pp  p” D jpp jjp” j
wurde seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit immer mit jp” j D E” =c und, weil das Proton ultrarelativistisch ist,
ausgedehnteren Detektoren vermessen. Bei den höchsten ist jpp j Ep =c. Damit ergibt sich die Schwellenergie Ep aus
Energien müssen hier indirekte Methoden eingesetzt wer-
den wie die Vermessung der Teilchenschauer, die in der m2 c2 D m2p c2 C 4Ep E” =c2 ) Ep 2;5  1020 eV:
Atmosphäre erzeugt werden, oder die Beobachtung des
von solchen Schauern erzeugten Fluoreszenzlichtes (an den (Eine genauere Rechnung, welche die thermische Verteilung
Stickstoffmolekülen der Atmosphäre). der Photonenenergie berücksichtigt, sowie die Tatsache, dass
die -Resonanz keine scharfe Masse, sondern eine Massen-
Man nimmt an, dass der ultrahochenergetische Teil des
verteilung hat, führt auf eine etwas niedrigere Schwelle von
Spektrums, oberhalb von 1017 eV D 105 TeV, extragalak-
0;6  1020 eV.)
tischen Ursprungs ist und damit Distanzen im Bereich von
Millionen bis Milliarden Lichtjahren zu überbrücken hat. Dieser GZK-Cutoff wurde erstmals 2008 durch das High Re-
Schon 1962 wurden Ereignisse beobachtet, die zu einer Pri- solution Fly’s Eye Experiment (HiRes) in der Wüste von
märenergie von 1020 eV (108 TeV) gehören sollten, wobei Utah nachgewiesen, nachdem ein früheres Experiment kei-
bei diesen Energien der Fluss der kosmischen Strahlung nen Cutoff zu sehen schien. Inzwischen hat aber das Pierre-
schon extrem niedrig ist: ein Teilchen pro Quadratkilometer Auger-Observatorium in Argentinien die Ergebnisse von Hi-
pro Jahrhundert, d. h., man muss entsprechend große Aus- Res bestätigen können.
schnitte der Erdatmosphäre beobachten, um zu quantitativen
Aussagen zu kommen.
Fluss
1966 stellten der amerikanische Physiker Kenneth Greisen ·E 3
(1908–2007) und unabhängig davon die russischen Physiker
HiRes-II
Georgi T. Sazepin (englische Transliteration Zatsepin, 1917– HiRes-I
2010) und Wadim A. Kuzmin (*1937) die Vermutung auf,
dass es praktisch keine kosmische Strahlung mit Energien
jenseits von 1020 eV gäbe. Der kosmische Mikrowellen-
hintergrund, der das Nachleuchten des Urknalles darstellt
(siehe Kasten „Anwendung: Kosmische Hintergrundstrah-
lung“ in Abschn. 21.2) und ein Photonengas mit einer Dichte
von etwa 400 Photonen pro Kubikzentimeter bildet, sollte
nämlich für Protonen mit Energien oberhalb von 1020 eV un-
durchdringlich werden, wenn diese kosmische Distanzen zu 1017 1018 1019 1020 E [eV]
durchqueren haben. Dieser sogenannte GZK-Cutoff ergibt
sich aus einer inelastischen Kollision von Protonen mit Pho- Abb. 10.7 Das Energiespektrum des Flusses an ultrahochenergetischer
tonen, bei denen ein sogenanntes -Baryon erzeugt wird, kosmischer Strahlung bei Energien oberhalb von 1017 eV in einem doppelt
das danach in ein Proton und ein neutrales Pion zerfällt, logarithmischen Plot, wobei die stark abfallende Verteilung mit E 3 multipli-
ziert wurde (absolute Größe hier nicht näher spezifiziert)
pC C ” ! C ! pC C 0
:
Bei dieser Reaktion verliert ein Proton einen Teil seiner ki-
netischen Energie (durchschnittlich 20 %; siehe Aufgabe Literatur
10.9). Hat es danach noch immer hinreichend viel Ener-
gie, kann sich dieser Prozess wiederholen, bis es unter die
Greisen, K.: End to the Cosmic-Ray Spectrum? Physical
Schwellenenergie für diesen Prozess fällt. Diese Schwel-
Review Letters 16, 748–750 (1966)
lenenergie kann überschlagsmäßig leicht berechnet werden,
Zatsepin, G. T., Kuz’min, V. A.: Upper Limit of the Spec-
wenn man weiß, dass die Photonen eine mittlere Energie von
trum of Cosmic Rays. In: Journal of Experimental and
E” 0;6 meV haben und die Masse des C -Baryons (auch
Theoretical Physics Letters. 4, 78–80 (1966) online (frei):
-Resonanz genannt) bei 1;232 GeV=c2 liegt, während
http://www.jetpletters.ac.ru/ps/1624/article_24846.pdf
die Protonmasse laut (10.30) mp 0;938 GeV=c2 beträgt.
Nagano, M.: Search for the end of the energy spectrum
Die Schwerpunktsenergie für die Kollision eines Protons mit
of primary cosmic rays. New J. Phys. 11 065012 (2009)
einem Photon ist durch
http://iopscience.iop.org/1367-2630/11/6/065012/fulltext/
2
ESPS =c2 D .p  2 2 
p C p” /.pp  C p”  / D mp c C 2pp p”  (open access)
10.3 Relativistische Teilchenstöße 369

schossen werden, um im Wesentlichen die gesamte aufgewandte


Energie zur Teilchenerzeugung zur Verfügung zu haben.

Teil I
Hier werden ultrarelativistische Energien erreicht, bei denen
die Energie E D  m c2 m c2 ist, mit Gammafaktoren von
mehreren Tausend am Large Hadron Collider (LHC) des Euro-
päischen Teilchenphysiklabors CERN bei Genf (Abb. 10.8). Bei
diesen Energien wird die Energie, die zur Ruhemasse eines Pro-
tons gehört, vernachlässigbar. Berechnen wir zum Vergleich die
Energie, die man im Laborsystem für ultrarelativistische Ener-
gien aufzuwenden hätte, so ergibt sich aus (10.71)
2
ESPS =c2 D p p D 2EA m C 2m2 c2 2EA m; (10.73)
p
d. h., die Schwerpunktsenergie nimmt nur wie 2EA mc2 mit
der Strahlenergie EA zu, während bei einem Collider 2EA be-
reitgestellt werden. Für die Maximalenergie von 14 TeV (
15:000 m c2 ), für die das LHC ausgerichtet wurde, wäre bei ei-
nem festen Target die mit Beschleunigern unerreichbar hohe
Energie von etwa 105 TeV erforderlich.

Abb. 10.8 Fotomontage aus LHC-Beschleuniger und seiner unterirdischen Aus- Dermaßen hohe und noch höhere Energien kommen aber in der
dehnung bei Genf (© 2005 CERN, Fabienne Marcastel) kosmischen Strahlung (hauptsächlich in Form von Protonen)
vor, die uns von Quellen außerhalb unserer Galaxie erreichen.
Deren Entstehungsmechanismus ist noch weitgehend ungeklärt;
man nimmt an, dass sie z. B. von der Umgebung von ultramassi-
Moderne Teilchenbeschleuniger arbeiten in der Hochenergie- ven Schwarzen Löchern im Zentrum von aktiven Galaxien wie
physik, wo man nach neuen immer schwereren Teilchen sucht, Quasaren stammen (siehe Kasten „Anwendung: Ultrahochener-
daher mit Collidern, bei denen zwei Strahlen aufeinander ge- getische kosmische Strahlung“).
370 10 Relativistische Mechanik

Aufgaben
Teil I

Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen

10.1 Eigenzeit der hyperbolischen Bewegung und erhaltenen Beziehungen ins ursprüngliche Ruhesystem zu trans-
interstellare Reisen formieren.

(a) Leiten Sie für die hyperbolische Bewegung, d. h. eine Weltli- 10.3 Maximaler Ablenkungswinkel im Laborsys-
nie mit konstanter Eigenbeschleunigung aQ , den Zusammen- tem, wenn ein schweres Teilchen auf ein leichteres stößt
hang (10.16) zwischen Eigen- und Koordinatenzeit sowie Berechnen Sie den maximalen Streuwinkel #A , den eine Masse
geschlossene Ausdrücke für den Zusammenhang von zu- mA nach Kollision mit einer ursprünglich ruhenden leichteren
rückgelegter Strecke x und Eigenzeit  her. Masse mB im Laborsystem annehmen kann. Bestimmen Sie
(b) Berechnen Sie damit, wie viel Zeit eine Reise zum nächst- dafür über eine explizite Lorentz-Transformation wie #A mit
gelegenen Stern (Alpha Centauri, 4,2 Lichtjahre Entfernung) dem Streuwinkel im Schwerpunktsystem, #, der ja nicht ein-
bzw. zum Zentrum der Milchstraße (etwa 27.000 Lichtjah- geschränkt ist, zusammenhängt, und bestimmen Sie daraus den
re) brauchen würde, wenn man eine Rakete zur Verfügung maximalen Wert.
hat, die eine komfortable konstante Beschleunigung in der
Höhe der Erdbeschleunigung von 1 g 9;81m=s2 bereit- 10.4 Inelastische Kollision von Protonen und Kup-
stellt. Nach halber Strecke soll die Rakete um 180ı drehen, ferkernen Im Text wurde gezeigt, dass im Laborsystem bei
sodass die Abbremsung ebenfalls mit konstanter negativer der inelastischen Streuung von Protonen an Protonen das ein-
Beschleunigung von 1 g erfolgt. Vergleichen Sie die Eigen- laufende Proton eine Energie von über 7 m c2 haben muss,
zeit des Reisenden mit der Zeit der Startrampe. damit Antiprotonen erzeugt werden können. Bei der Entde-
ckung des Antiprotons wurde ein Protonenstrahl mit 6;7 m c2 D
6;3 GeV auf ein Kupfertarget (Atommasse ca. 63 Proton-
Lösungshinweis: Verwenden Sie die Ergebnisse (10.14) und massen) geschossen. Berechnen Sie die Schwellenenergie für
(10.15). Antiprotonenerzeugung unter der Annahme, dass die Nukleo-
10.2 Relativistische Raketengleichung Eine Ra- nen im Target fest gebunden sind (was sie bezüglich der hier
kete werde dadurch angetrieben, dass bezüglich ihres momen- eingesetzten Energien aber nicht sind).
tanen Ruhesystems kontinuierlich Masse mit einer konstanten
10.5 Energievorrat und Lebensdauer der Sonne
Geschwindigkeit w ausgestoßen wird.
Wie im Kasten „Anwendung: Massendefekt und Umwandlung
von Masse in Energie“ vermerkt, wird bei der Kernfusion etwa
(a) Welche Endgeschwindigkeit erreicht sie im Inertialsystem
0,5 % der Masse in Energie umgewandelt. Schätzen Sie damit
S der Startrampe, wenn sie ihren Vorrat an Brennstoff auf-
ab, wie viel Energie unsere Sonne, die eine Masse von etwa
gebraucht und ihre Ruhemasse von anfänglich m0 auf m
2  1030 kg besitzt, im Laufe ihrer Existenz abstrahlen kann, und
abgenommen hat?
daraus die maximale Lebensdauer, wenn Sie verwenden, dass
(b) Mit welcher Rate muss Masse ausgestoßen werden, damit
auf der Erde etwa 1500 W=m2 an Energie empfangen wird, wo-
die Beschleunigung im momentanen Ruhesystem konstant
bei die Erde ungefähr 150 Millionen km von der Sonne entfernt
ist? Wie nimmt in diesem Fall die Masse als Funktion der
ist.
Eigenzeit der Rakete ab?
10.6 Mandelstam-Variable Man zeige, dass die im
Lösungshinweis: Betrachten Sie zunächst ein Objekt mit Ru- Kasten „Vertiefung: Die Mandelstam-Variablen“ besprochenen
hemasse m, das sich in zwei Objekte mit Ruhemassen m1 und Größen
m2 teilt, die sich bezüglich des Schwerpunktsystems mit den s D .p1 C p2 /2 D .p3 C p4 /2 ;
Geschwindigkeiten v1 und v2 voneinander weg bewegen, und
spezialisieren Sie dann auf ein infinitesimales m2 D jdmj t D .p1  p3 /2 D .p2  p4 /2 ; (10.74)
mit v2 D w . Zur Aufstellung der Raketengleichung sind die u D .p1  p4 / D .p2  p3 /
2 2
Aufgaben 371

für einen elastischen oder inelastischen 2!2-Prozess mit Vie- Insbesondere folgt aus dem Vergleich von (10.78) und (10.84)
rerimpulsen die einfache Umrechnungsformel
p   

Teil I
1 C p2 D p3 C p4 (10.75) p
m2 c jp1 jLS D s jp1 jSPS : (10.89)
linear abhängig sind und
Man beachte auch, dass die Streuwinkel in der Variablen t bzw.
s C t C u D .m21 C m22 C m23 C m24 / c2 (10.76) u enthalten sind. Die Energien im Schwerpunktsystem sind da-
her unabhängig von Streuwinkeln, wohingegen im Laborsystem
erfüllen. Die durch die Viererimpulse p i beschriebenen Teil-
E3 und E4 von diesen abhängen.
chen i D 1; : : : ; 4 sollen dabei beliebige Ruhemassen mi haben. 10.8 Zerfall eines massiven Teilchens in zwei mas-
sive Tochterteilchen Berechnen Sie, wie sich im Schwer-
10.7 Umrechnung zwischen Schwerpunkt- und La-
punktsystem beim Zerfall eines massiven Teilchens mit Masse
borsystem mit Mandelstam-Variablen Zeigen Sie folgen-
M die verfügbare Energie auf zwei Teilchen aufteilt, wenn diese
de Beziehungen zwischen den in (10.74) definierten Mandel-
die Massen mA bzw. mB besitzen.
stam-Variablen für relativistische 2!2-Prozesse und den Wer-
ten von Energie und Impuls, wobei Lösungshinweis: Lösen Sie nicht wie beim Zerfall des Pions
die Energieerhaltungsgleichung direkt, sondern betrachten Sie
.a; b; c/ WD a2 C b2 C c2  2ab  2ac  2bc dafür die Lorentz-Invarianten pA2 WD pA pA und pB2 WD pB pB
und setzen Sie in diese die Energie-Impuls-Erhaltung ein. Dies
 a2  2a.b C c/ C .b  c/2
 p  vereinfacht die Rechnung merklich.
p 2 p p 2
 a bC c a b c 10.9 Energieverlust von ultrahochenergetischen
(10.77) Protonen bei Kollision mit Photonen des kosmischen
die sogenannte Dreiecks- oder Källén-Funktion (benannt nach Mikrowellenhintergrunds Im Kasten „Anwendung: Ultra-
dem schwedischen theoretischen Physiker Gunnar Källén, hochenergetische kosmische Strahlung“ wurde diskutiert, dass
1926–1968) ist: der inelastische Prozess pC C ” ! C ! pC C 0 für
Protonen mit Energien & 108 TeV und Photonen aus der kos-
mischen Hintergrundstrahlung dazu führt, dass die Protonen so
(a) im Schwerpunktsystem:
lange Energie verlieren, bis sie unter die zugehörige Schwellen-
1 energie fallen.
p21 D p22 D .s; m21 c2 ; m22 c2 /; (10.78)
4s Schätzen Sie den durchschnittlichen Energieverlust eines sol-
1 chen Protons bei einer derartigen Kollision ab, indem Sie den
p23 D p24 D .s; m23 c2 ; m24 c2 /; (10.79) minimalen und den maximalen Energieverlust berechnen, der
4s
s C .m21  m22 /c2 auftritt, wenn das C -Baryon im Schwerpunktsystem das se-
E1 =c D p ; (10.80) kundäre Proton in bzw. gegen die Richtung des einlaufenden
2 s Protons emittiert. Für den Prozess pC C ” ! C soll ange-
s C .m22  m21 /c2 nommen werden, dass die Energie gerade zur Entstehung eines
E2 =c D p ; (10.81)
2 s C -Baryons ausreicht.
s C .m23  m24 /c2 Berechnen Sie dazu die Energieaufteilungen für die Prozesse
E3 =c D p ; (10.82)
2 s pC C ” ! C und C ! pC C 0 mit den Formeln aus
Aufgabe 10.8 (mC D 1;232 GeV=c2 , mp D 0;938 GeV=c2 ,
s C .m24  m23 /c2
E4 =c D p I (10.83) m 0 D 0;135 GeV=c2 ) und transformieren Sie diese in das
2 s ursprüngliche Inertialsystem, in dem das Proton anfangs eine
Energie von etwa 1011 GeV hatte.
(b) im Laborsystem (p2 D 0):
Lösungshinweis: Nutzen Sie aus, dass sich die in (9.99) einge-
1 führte Rapidität  D arcosh .v / bei Lorentz-Transformationen
p21 D .s; m21 c2 ; m22 c2 /; (10.84) in einer festen Richtung additiv verhält.
4m22 c2
s  .m21 C m22 /c2 10.10 Rapidität und Pseudorapidität in der Teil-
E1 D ; (10.85) chenphysik In Teilchenkollisionen ist eine direkt zugängli-
2m2
che Observable der Winkel #, unter dem ein gestreutes oder
E2 D m2 c2 ; (10.86) neu erzeugtes Teilchen gegenüber der Strahlachse in den Detek-
.m22 C m23 /c2
u tor fliegt. In der Teilchenphysik wird dieser üblicherweise durch
E3 D ; (10.87) die äquivalente Größe der Pseudorapidität, definiert durch
2m2
.m2 C m24 /c2  t  
E4 D 2 : (10.88) #
2m2  WD  ln tan ; (10.90)
2
372 10 Relativistische Mechanik

angegeben (Abb. 10.9). η=0


ϑ = 90◦
Unter Rapidität versteht man in der Teilchenphysik dagegen die 75◦
Teil I

η = 0.5
in (9.99) eingeführte Rapidität artanh .v =c/, aber eingeschränkt
60◦
auf die longitudinale Komponente der Geschwindigkeit vk =c D
pk c=E:
pk c 45◦ η = 1
y WD artanh : (10.91)
E
Zeigen Sie, dass 30◦
η = 1.5
(a) im Hochenergielimes  1 die Pseudorapidität in die lon-
gitudinale Rapidität y übergeht;
η=2
(b) sich die Rapidität y unter Lorentz-Transformationen mit Ge-
15◦
schwindigkeit v D ˇc in longitudinaler Richtung gemäß η = 2.5
η=3
y0 D y  artanh ˇ (10.92) η=4
transformiert. ϑ = 0, η = ∞ (Strahlachse)

Lösungshinweis: Drücken Sie zuerst  durch Impulskompo- Abb. 10.9 Zusammenhang von Streuwinkel und Pseudorapidität
nenten pk D jpj cos # und p? D jpj sin # aus. Verwenden Sie
dazu die Identität
s
# 1  cos #
tan D : (10.93)
2 1 C cos #
Lösungen zu den Aufgaben 373

Lösungen zu den Aufgaben

Teil I
10.1 (b) Rakete: 3,5 bzw. 19,8 Jahre; Erde: 5,8 bzw 27.002 10.5 Ungefähr 67  109 Jahre.
Jahre
10.8
10.2 M 2 C mA2  mB2
v 1  .m=m0 / 2w =c EA =c2 D ;
D (10.94) 2M (10.95)
c 1 C .m=m0 /2w =c M 2 C mB2  mA2
EB =c2 D :
2M
Bei konstanter Beschleunigung a ist m./ D m0 ea=w .
10.3 sin #Amax D mB =mA . 10.9 Der minimale und maximale Energieverlust beträgt 3 %
bzw. 40 %.
10.4 EA 3;06 m c2 .
374 10 Relativistische Mechanik

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben


Teil I

10.1 Identifizieren wir m mit der Raketenmasse im momentanen


Inertialsystem SQ und m2 D jdmj mit dem infinitesimalen Mas-
(a) Die Eigenzeit entlang der hyperbolischen Weltlinie folgt mit senausstoß mit Geschwindigkeit v2 D w , dann ist v1 D dvQ
(10.14) aus die erzielte infinitesimale Geschwindigkeit. Der Faktor 1 in
s (10.103) ist dabei 1 bis auf Beiträge von höherer Ordnung, und
v2 dt man bekommt für die Massenänderung der Rakete
d D dt 1  2 D p (10.96)
c 1 C aQ 2 t2 =c2 dm jdmj dvQ
D D : (10.104)
durch einfache Integration: m m w

c aQ t Bewegt sich S mit Geschwindigkeit v D v .m/, dann folgt aus


D arsinh : (10.97) der relativistischen Geschwindigkeitsaddition
aQ c
Kombiniert mit (10.15) ergibt sich der Zusammenhang v C dvQ
v C dv D
  1 C v dvQ =c2
c2 aQ    (10.105)
x./ D cosh 1 (10.98) ) dv D .v C dvQ / 1  v dvQ =c2  v C O.dvQ 2 /
aQ c  
D dvQ 1  v 2 =c2 C O.dvQ 2 /:
bzw.  
c aQ x Umgeschrieben auf die Veränderung der Ruhemasse (die eine
.x/ D arcosh C 1 : (10.99) Lorentz-Invariante darstellt) ergibt dies mit (10.104)
aQ c2
(b) Mit c 2;998  108 m=s, 1 Jahr (y) 3;156  107 s, 1 Licht- dv =c w dm
D (10.106)
jahr (ly) 9;46  1015 m, aQ D 9;81 m=s2 ergibt sich die 1  v 2 =c2 c m
Eigenzeit für die beiden Reisen zu
und auf-integriert
1 D 2 .2;1 ly/ 3;5 y;
(10.100) 1 1 C v =c w
2 D 2 .13:500 ly/ 19;8 y: ln D  ln m C const; (10.107)
2 1  v =c c
Beide Reisedauern sind kürzer als die Lichtlaufzeit im Iner-
tialsystem der Startrampe, die zweite ist sogar weniger als wobei die Integrationskonstante dadurch fixiert ist, dass im Iner-
ein Tausendstel davon! Die Zeit, die während dieser Reise tialsystem S die Geschwindigkeit für m D m0 null ist. Damit
auf der Erde vergeht, ist natürlich größer: ergibt sich
 
1 C v =c m.v / 2w =c
t1 5;8 y; t2 27:002 y: (10.101) D : (10.108)
1  v =c m0
Mit den Ergebnissen aus Aufgabe 10.2 lässt sich berechnen, Dies ist eine lineare Gleichung in v =c mit der Lösung (10.94).
welche Massen Raketen mindestens haben müssten, mit de-
Teilaufgabe (b) ergibt sich aus (10.104) dividert durch das Ei-
nen solche Reisen im Prinzip möglich wären. Dies ist dem
genzeitdifferenzial d. Die Beschleunigung im momentanen
Leser überlassen.
Ruhesystem ist a D dvQ =d. Soll diese konstant gehalten wer-
den, ist
10.2 Energie-Impuls-Erhaltung für die Aufspaltung m ! m1 C dm a
D  m./ (10.109)
m2 ergibt im momentanen Ruhesystem von m d w
      mit der Lösung
mc c c
D 1 m1 C 2 m2 ; (10.102) m./ D m0 ea=w : (10.110)
0 v1 v2
Da bei konstanter Beschleunigung die Bewegung hyperbolisch
also
ist, kann mit (10.16) unmittelbar auf die Koordinatenzeit der
m D m1 1 C m2 2 ; 1 m1 v1 D 2 m2 v2 ; Startrampe umgerechnet werden.
 
v1 (10.103) 10.3 Bezeichnen wir den Betrag der gegengleichen einlaufen-
) m D m1 1 1 C :
v2 den Impulse pB D pA im Schwerpunktsystem mit p und die
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 375
q
zugehörigen Energien EA;B =c D p2 C mA;B 2
c2 , dann ist die bzw.
T D EA  m c2 D 2;06 m c2 : (10.117)
Geschwindigkeit, mit der sich Teilchen B im Schwerpunktsys-

Teil I
tem bewegt, gegeben durch ˇ D p c=EB . Ist die Kollisionsachse Wären Kupferkerne bei diesen Energien unzerstörbar, würden
die x-Achse, so führt eine Standard-Lorentz-Transformation in demnach nur 3 % der kinetischen Energie mehr nötig sein, als
negativer x-Richtung auf das Laborsystem, in dem Teilchen B die Ruheenergie eines Proton-Antiproton-Paares darstellt.
ruht. Der Viererimpuls von Teilchen A nach dem Stoß transfor-
miert sich vom Schwerpunkt- ins Laborsystem gemäß 10.5 Ein Massendefekt von 0,5 % der Masse der Sonne ent-
spricht einer Energiemenge von
0 10 1
 ˇ 0 0 EA =c
Bˇ  0 0C Bp cos # C 0;5  102  2  1030 kg  c2 9  1044 Ws: (10.118)
.pA0 /LS D@
0 0 1 0A @ p sin # A
0 0 0 1 0 Dies ist der geschätzte Energievorrat, der nach Entstehung der
0 1 (10.111) Sonne zur Abstrahlung zur Verfügung steht.
:::
B.EA C EB cos #/p=mB c2 C Die Leistung der Sonne ist gegeben durch die Oberfläche ei-
D@ A
p sin # ner Kugel mit Radius 150 Millionen Kilometer multipliziert mit
0 1500 W=m2 :

mit  D EB =mB c2 , ˇ D p=mB c. Das Verhältnis von y- und x- 4 .1;5  1011 m/2  1500 W=m2 4  1026 W: (10.119)
Komponente gibt
Dies reicht für etwa 2;1  1018 s oder etwa 67  109 Jahre,
mB c2 sin # wenn sie gleichmäßig strahlt. Die von Astrophysikern errech-
tan #A D : (10.112) nete Brenndauer unserer Sonne, bis sie das Endstadium eines
EA C EB cos #
weißen Zwerges erreicht, liegt tatsächlich unter diesem Wert –
Für mB < mA ist EB < EA , und der Nenner hat keine Nullstelle, bei etwa 12,5 Milliarden Jahren.
wenn # zwischen 0 und variiert, sodass #A < =2 bleibt 10.6 Mit p2i D m2 c2 ergibt Ausmultiplikation der definierenden
und auch für # ! wieder auf null geht. Dies bedeutet, dass Gleichungen
das einlaufende Teilchen A nicht zurückgestreut werden kann,
sondern immer einen Impuls in positiver x-Richtung behält. Der s C t C u D m21 c2 C 2p1  p2 C m22 c2
maximale Winkel #A ergibt sich aus
C m21 c2  2p1  p3 C m23 c2
d mB c .EB C EA cos #/
2
C m21 c2  2p1  p4 C m24 c2
tan #A D D0 (10.113)
d# .EA C EB cos #/2
X
4
D m2i c2 C 2m21 c2 C 2p1  .p2  p3  p4 /
für cos # D EB =EA . In (10.112) eingesetzt ergibt dies „ ƒ‚ …
iD1
p1
mB c 2
mB =mA X
4
tan #Amax D q D q (10.114) D m2i c2 :
EA2  EB2 1  mB2 =mA2
iD1
(10.120)
bzw. sin #Amax D mB =mA .
10.7
10.4 Aus
    (a) Im Schwerpunktsystem ist p1 D p2 und p3 D p4 . Damit
EA =c 63 m c
p D C ; ist
LS;vorher pA 0 s D .p1 C p2 /2 D .E1 =c C E2 =c/2
  (10.115) (10.121)
.3 C 63/ m c D .E12 C E22 C 2E1 E2 /=c2 ;
p
SPS;nachher D
0 q
und mit Ei =c D p2i C m2i c2 folgt
folgt nach Gleichsetzen der vom Bezugssystem unabhängigen
Viererquadrate
s  2p21  .m21 C m22 /c2 D 2E1 E2 =c2 : (10.122)
 2
EA
C 63mc  pA2 Nach dem Quadrieren dieser Gleichung fallen die Terme
c proportional zu .p21 /2 heraus, und man erhält
D 2  63EA m C .632 C 1/m2 c2 D 662 m2 c2 (10.116)
193 s2  4sp21  2s.m21 C m22 /c2 C .m21 C m22 /2 c4  4m21 m22 c4 D 0
) EA D m c2 3;06 m c2 (10.123)
63
376 10 Relativistische Mechanik

oder 10.9 Die Schwerpunktsenergie mC c2 teilt sich gemäß (10.95)


bei pC C ” ! C entsprechend
Teil I

4sp21 D s2  2s.m21 C m22 /c2 C .m21  m22 /2 c4


(10.124)
D .s; m21 c2 ; m22 c2 /; 1;2322 C 0;9382
Ep D GeV D 0;973 GeV;
2  1;232
(10.131)
woraus (10.78) folgt. Daraus lässt sich nun die Energie über 1;2322  0;9382
E” D GeV D 0;259 GeV
2  1;232
.s; m21 c2 ; m22 c2 / C 4s m21 c2
E12 =c2 D p21 C m21 c2 D
4s und bei C ! pC C 0
entsprechend
Œs C .m21  m22 /c2 2
D 1;2322 C 0;9382  0;1352
4s Ep D GeV D 0;966 GeV;
(10.125) 2  1;232
berechnen.
1;2322 C 0;1352  0;9382
Ganz analog folgen die restlichen Relationen im Schwer- E 0 D GeV D 0;266 GeV
punktsystem. 2  1;232
(10.132)
(b) Im Laborsystem ist p >
2 D .m2 c; 0/ , wodurch sich alle auf.
Mandelstam-Variablen unmittelbar durch die Energien aus-
drücken lassen: Die Rapidität des Protons beträgt im ersteren Fall 1 D
arcosh .Ep =mp c2 / D arcosh .0;973=0;938/ D 0;273, im letzte-
s D .p1 C p2 /2 D m21 c2 C 2E1 m2 C m22 c2 ; ren 2 D arcosh .0;966=0;938/ D 0;242. Wird das sekundäre
t D .p2  p4 /2 D m22 c2  2m2 E4 C m24 c2 ; (10.126) Proton in Richtung des primären emittiert, ist die Änderung
der Rapidität 1 D 0;03, bei entgegengesetzter Richtung
u D .p2  p3 / D2
m22 c2  2m2 E3 C m23 c2 : 2 D 0;515.
Daraus ergeben sich unmittelbar die angegebenen Aus- Bei sehr hohen kinetischen Energien und  1 gilt
drücke für die Energien Ei .
Die zugehörigen Impulse folgen aus der Energie-Impuls-Be- E 1 
D  D cosh  e : (10.133)
ziehung p2i D Ei2 =c2  m2i c2 , im Speziellen mc2 2

Œs  .m21 C m22 /c2 2  4m22 c2 .m21 c2 / Die berechneten Verschiebungen von  bedeuten eine Multi-
p21 D plikation mit den Faktoren
4m22 c2
(10.127)
1 e1 0;97; e2 0;60 (10.134)
D .s; m21 c2 ; m22 c2 /:
4m22 c2
und somit Energieverluste zwischen 3 % und 40 %. (Hier ist
der genaue Wert von  nicht wesentlich, solange  1 ist. Für
10.8 Im Schwerpunktsystem ist p D .Mc; 0/ D pA C pB . Die Ep  1011 GeV ist   26 und daher mehr als hinreichend
Energie-Impuls-Relation pB2 D mB2 c2 kann damit geschrieben groß.)
werden als
10.10
mB2 c2 D .p  pA /2 D p2  2p  pA C pA2
(10.128) (a) Mit
D M 2 c2  2MEA C mA2 c2 ;
s s
woraus # 1  cos # jpj  pk
M C  2
mA2 mB2 tan D D (10.135)
EA =c D 2
(10.129) 2 1 C cos # jpj C pk
2M
folgt. Analog erhält man ist
 
# 1 jpj C pk pk
M 2 C mB2  mA2  D  ln tan D ln D artanh :
EB =c D 2
: (10.130) 2 2 jpj  pk jpj
2M (10.136)
p
Für  D E=.mc2 / D p2 C m2 c2 =.mc/ 1 ist p2 m2 c2
Die Summe davon ist offensichtlich .EA C EB /=c2 D M, was und E jpjc. Die longitudinale Rapidität wird daher
gerade die Energieerhaltungsgleichung darstellt. Deren direkte
Lösung würde aber die Berechnung von pA2 D pB2 aus einer Glei- pk c pk
y D artanh artanh D . 1/: (10.137)
chung mit Wurzelausdrücken erfordern. E jpj
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 377

(b) Unter einer Lorentz-Transformation mit Geschwindigkeit Damit ist


cˇ in longitudinaler Richtung transformieren Energie und
0 0
1 E C pk c 1  E  ˇ pk c C  pk c  ˇ E

Teil I
Impuls als Vierervektor entsprechend
y0 D ln 0 0 D ln
2 E  pk c 2  E  ˇ pk c   pk c C ˇ E
E0 D  E  ˇ pk c;
1 .1  ˇ/.E C pk c/ 1 .1 C ˇ/
p0k D  pk  ˇ E=c; (10.138) D ln D y  ln
2 .1 C ˇ/.E  pk c/ 2 .1  ˇ/
p0? D p? : D y  artanh ˇ:
(10.139)
378 10 Relativistische Mechanik

Literatur
Teil I

Weiterführende Literatur

Byckling E., Kajantie K.: Particle Kinematics. Wiley, New York


(1973)
Elektrodynamik Teil II

Teil II
Inhaltsverzeichnis

11 Die Maxwell-Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381


12 Elektrostatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419
13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation
und Multipolentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
14 Elektrische Felder in Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485
15 Magnetismus und elektrische Ströme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
16 Ausbreitung elektromagnetischer Wellen . . . . . . . . . . . . . . . . . 553
17 Optik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585
18 Relativistische Formulierung der Elektrodynamik . . . . . . . . . . . . 613
19 Abstrahlung elektromagnetischer Wellen . . . . . . . . . . . . . . . . . 645
20 Lagrange- und Hamilton-Formalismus in der Elektrodynamik . . . . . 681

379
Die Maxwell-Gleichungen
11
Was unterscheidet
magnetische von
elektrischen Feldern?

Teil II
Was beinhaltet der
Feldbegriff?

Wie hängen Elektrizität


und Magnetismus
zusammen?

Warum sprengten die


Maxwell-Gleichungen die
nichtrelativistische Physik?

Kann man Feldern sowohl


Energie als auch Impuls
zuschreiben?

Wozu braucht man


Potenziale?

11.1 Aufstellung der fundamentalen Maxwell-Gleichungen . . . . . . . . . 383


11.2 Die Lichtgeschwindigkeit in den Maxwell-Gleichungen . . . . . . . . . 397
11.3 Maßsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
11.4 Energie- und Impulsbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400
11.5 Elektrodynamische Potenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 412
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 381
382 11 Die Maxwell-Gleichungen
Teil II

Abb. 11.1 Michael Faraday (1791–1867), © nickolae – Fotolia.com Abb. 11.2 James Clerk Maxwell (1831–1879), © nickolae – Fotolia.com

Die Elektrodynamik, die fundamentale Theorie, die elektrische und sen, was denn der praktische Wert dieser ganzen Forschung sei,
magnetische Felder miteinander untrennbar verknüpft, ist mit ihren worauf Faraday schlagfertig und mit nicht zu überbietendem pro-
vielfältigen Anwendungen aus unserer Zivilisation heutzutage nicht phetischen Weitblick antwortete: „One day, Sir, you may tax it.“
mehr wegzudenken. Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts kannte
die Physik aber nur eine qualitative Phänomenologie von nicht mit- Als für die theoretische Physik besonders bedeutsam erwies sich
einander in Beziehung gebrachten Erscheinungen von Elektrizität in der Folge der Begriff raumfüllender Felder, der langsam, aber si-
und Magnetismus. Dieses Gebiet war bis dahin wenig entwickelt cher zu einem Paradigmenwechsel führte, auch wenn die Mechanik
und entsprechend wenig attraktiv für die theoretische Physik, je- noch lange das Weltbild der Physiker prägte und man zunächst noch
denfalls im Vergleich zur klassischen Mechanik, die zu dieser Zeit nach mechanischen Modellen für die Maxwell’sche Theorie suchte.
bereits weitgehend ihre mathematische Vollendung erfuhr. Letztlich stellten sich aber die früheren Begriffe wie starre Körper,
Fernwirkungen, und auch die absolute Zeit der Newton’schen Me-
Ein entscheidender Entwicklungsschub fand in der ersten Hälfte des chanik als unhaltbar für die Fundamente der Physik heraus.
19. Jahrhunderts statt, nachdem 1820 der dänische Physiker Hans
Christian Oersted (1777–1851) entdeckt hatte, dass elektrische In diesem Kapitel werden wir die Aufstellung der fundamen-
Ströme Magnetfelder hervorrufen. Michael Faraday (1791–1867, talen Maxwell-Gleichungen induktiv, d. h. von den empirischen,
Abb. 11.1) suchte und fand 1831 die umgekehrte Verbindung, experimentellen Grundtatsachen ausgehend, nachvollziehen. So-
nämlich dass veränderliche Magnetfelder Ströme verursachen kön- bald die Maxwell-Gleichungen und die Kräfte auf Ladungsträger
nen. Das von Faraday geprägte intuitive Bild von raumfüllenden als fundamentale Naturgesetze niedergeschrieben sind, wobei als
Kraftlinien wurde vom schottischen Physiker James Clerk Maxwell technisches Detail die dabei eingesetzten Maßsysteme zu disku-
(1831–1879, Abb. 11.2) aufgegriffen und 1855 in eine mathe- tieren sind (Abschn. 11.3), werden wir bereits in Abschn. 11.4
matisch konsistente Formulierung gebracht, die er in mehreren zu den Energie- und Impulserhaltungssätzen der Elektrodynamik
Veröffentlichungen ausarbeitete (Maxwell 1873). Darin wurde ins- vordringen, in denen die Felder neben den Trägern elektrischer
besondere eine Wellentheorie entwickelt, die eine Vereinigung von Ladung als fundamentale und weitgehend gleichberechtigte Enti-
Optik und Elektrodynamik nahelegte. Der experimentelle Beweis täten in Erscheinung treten. Die Lösungsmethoden und vielfältigen
wurde 1886 von Heinrich Hertz (1857–1894) durch die Entdeckung Anwendungen der Elektrodynamik werden dann Gegenstand der
der elektromagnetischen Wellen geliefert. folgenden Kapitel sein. Dafür werden neben den elektrischen und
magnetischen Feldern am Ende dieses Kapitel in Abschn. 11.5 be-
Dies führte zu ungeahnten technischen Entwicklungen, insbeson- reits die elektrodynamischen Potenziale eingeführt, die zunächst
dere der elektrischen Energieversorgung und der Nachrichtenüber- als rein mathematische Hilfsfelder auftreten, aber letztlich eine
tragung durch Radiowellen. Noch 1850 hatte sich Faraday vom wesentliche Grundlage für die modernere Physik bis hin zur Quan-
damaligen britischen Schatzkanzler die Frage gefallen lassen müs- tenfeldtheorie bilden.
11.1 Aufstellung der fundamentalen Maxwell-Gleichungen 383

In Kap. 12 werden konkrete Lösungsmethoden zuerst in der Elektro- z


statik diskutiert, bevor in einem mathematischen Einschub (Kap. 13)
wichtiges theoretisches Rüstzeug entwickelt wird, das sich auch für
die Quantenmechanik als unverzichtbar erweisen wird. Wir dehnen
dann, was für Anwendungen sehr wichtig ist, die fundamentalen F 12
Maxwell-Gleichungen schrittweise zu phänomenologischen aus, in q1
denen Polarisationseffekte von makroskopischer Materie berück- +
r1 − r2
sichtigt und durch zusätzliche Felder beschrieben werden. Dies wird q2
zunächst für den elektrostatischen Fall in Kap. 14 durchgeführt und +
dann in Kap. 15 nach der Behandlung der Magnetostatik auf die r1 F 21
gesamte Elektrodynamik ausgedehnt. Die Ausbreitung elektroma- r2
gnetischer Wellen und die Optik sind Gegenstand von Kap. 16 und

Teil II
17. Dies führt uns wieder zum fundamentalen Charakter der Elek-
trodynamik zurück: Sie ist eine Feldtheorie, die den Gesetzen der
speziellen Relativitätstheorie unterworfen ist. Mithilfe des Vierer- x y
formalismus des Minkowski-Raumes bringen wir in Kap. 18 die
Grundgleichungen in eine Form, die den relativistischen Charakter Abb. 11.3 Coulomb-Kraft: Zwei gleichartige Ladungen stoßen sich ab, mit ge-
manifest macht. Dieser ist eng mit der kausalen Struktur verknüpft, gengleichen Kräften (F21 D F12 ), die invers proportional zum Quadrat der
die in Kap. 19 über die Abstrahlung elektromagnetischer Wellen ei- Entfernung sind
ne zentrale Rolle spielt. Schließlich wird in Kap. 20 der elegante
Lagrange-Formalismus der Mechanik aus Abschn. 5.3 so erweitert,
dass die relativistische Elektrodynamik darin Platz findet. sind, hatte Joseph Priestley (1733–1804) bereits 1767 aus Expe-
rimenten mit geladenen Hohlkugeln geschlossen (in der Folge
von Henry Cavendish, 1731–1810, verfeinert), was schließlich
Charles-Augustin de Coulomb (1736–1806) um 1785 direkt
mittels einer Drehwaage verifizierte. Dieses nun nach Coulomb
11.1 Aufstellung der fundamentalen benannte Gesetz wurde in der neueren Physik experimentell auf
allen Längenskalen von der Atomphysik bis zur Astrophysik be-
Maxwell-Gleichungen stätigt.
Analog zur Gravitationskraft zwischen zwei Punktmassen, (sie-
In dem vorliegenden Kapitel geht es zunächst darum, die fun- he (1.14)), aber mit einem anderen Vorzeichen, ergibt sich mit
damentalen Maxwell-Gleichungen aufzustellen und zu disku- einer positiven Proportionalitätskonstanten k die Kraft F12 auf
tieren, was sie auf der Ebene von Ladungsträgern im Vakuum eine Punktladung q1 am Ort r1 , hervorgerufen durch eine Punkt-
besagen – vorerst ohne die Komplikation von den in der Pra- ladung q2 , die am Ort r2 fixiert ist, durch (Abb. 11.3)
xis fast immer präsenten Eigenschaften von elektrisch neutraler
q1 q2 r1  r2
Materie wie Polarisierbarkeit, Para- und Diamagnetismus. F12 D k eO 12 ; eO 12 D : (11.1)
jr1  r2 j2 jr1  r2 j
Der Historie folgend beginnen wir mit der Elektrostatik und ent-
wickeln den Feldbegriff, den wir in Teil I schon kurz in Form Die Konstante k hängt vom verwendeten Maßsystem ab und
des Gravitationsfeldes kennengelernt hatten, weiter, wobei die legt implizit die Einheiten fest, in denen Ladungen q angege-
Verallgemeinerung auf den zeitabhängigen (dynamischen) Fall ben werden. Wir werden in der Folge noch weitere, zunächst
zur Erkenntnis führt, dass magnetische und elektrische Felder unbestimmte Proportionalitätskonstanten einführen und in Ab-
untrennbar zusammenhängen. schn. 11.3 die verschiedenen in der Physik und Technik ge-
bräuchlichen Maßsysteme vergleichen.
Eine weitere experimentelle Grundtatsache, die zum Coulomb-
Vom Coulomb’schen Gesetz Gesetz gehört, ist das Superpositionsprinzip: Wenn weitere La-
dungen q3 ; : : : ; qN vorhanden sind, ergibt sich die Kraft auf die
zur elektrischen Feldstärke Ladung q1 durch die (vektorielle) Summe der Zweikörperkräfte:

Im Gegensatz zur Gravitationskraft gibt es bei der Elektrizität X


N X
N
r1  ri
sowohl anziehende als auch abstoßende Kräfte. Gleichartiges F1 D F1i D k q1 qi : (11.2)
iD2 iD2
jr1  ri j3
stößt sich nun ab, während es für anziehende Kräfte unter-
schiedliche Ladungen braucht, wie Charles Dufay (1698–1739)
im Jahr 1733 als Erster erkannte. Dass wie bei der Gravitati- Ebenso wie es möglich war, die Gravitationskraft über ein
on die Kräfte invers proportional zum Quadrat des Abstands Gravitationsfeld zu beschreiben, das unabhängig vom physika-
384 11 Die Maxwell-Gleichungen

r0 dar. Gleichung (11.4) ist somit nichts anderes als das Cou-
lomb’sche Gesetz in einer Integraldarstellung.
Die Darstellung mit einer kontinuierlichen Ladungsverteilung
.r/ beinhaltet das Resultat (11.3) für den Fall von Punktla-
dungen als den Grenzfall, wo diese Punktladungen qi in kleinen
Bereichen um die Punkte ri konzentriert sind und dann die Aus-
dehnung dieser Bereiche verschwindend klein gemacht wird,
während qi unverändert bleibt. Weil in diesem Grenzfall die
+ Ladungsdichte .r/ an den Stellen ri unendlich wird, während
sie überall sonst verschwindet, ist diese nicht mehr durch ei-
ne gewöhnliche Funktion zu beschreiben, sondern durch eine
verallgemeinerte Funktion oder Distribution (siehe den „Mathe-
Teil II

matischen Hintergrund“ 11.1).

Dirac-Deltafunktion
Abb. 11.4 Elektrisches Feld einer positiven Ladung
Eine verallgemeinerte Funktion, die überall verschwindet, außer
an einem Punkt, und die an diesem so singulär ist, dass das Inte-
gral darüber eins ergibt, ist von Paul Dirac (1902–1984) in die
lischen Körper ist, mit dem es vermessen wird (siehe (1.17)), physikalische Literatur als „Deltafunktion“ eingeführt worden,
können wir die elektrische Feldstärke E.r/ definieren als die mit der Definition (in einer Variablen)
Kraft pro Ladung, die auf eine punktförmige Testladung wirkt, Z
wenn sie an die Stelle r gebracht wird und dabei die bereits vor-
ı.x/ D 0 8 x 6D 0; ı.x/ dx D 1: (11.5)
handenen Ladungen ortsfest bleiben (Abb. 11.4).

Wegen des linearen Zusammenhangs zwischen Kraft auf eine


Testladung und Ladung der Testladung gilt Ist f .x/ eine Funktion, die an der Stelle x D a stetig ist, gilt
damit Z
F.r/ X r  ri
E.r/ D Dk qi : (11.3) f .x/ ı.x  a/ dx D f .a/; (11.6)
q i
jr  ri j 3
sofern der Integrationsbereich den Punkt x D a enthält.
Das elektrische Feld und seine Feldstärke E.r/ erscheinen hier
zunächst nur als eine Hilfsgröße für die eigentlich physikalisch Auch (beliebig viele) Ableitungen der Dirac’schen Deltafunk-
relevante Größe der Kraft auf (Test-)Ladungen. Anstatt die vek- tion sind erlaubt und über partielle Integration definiert (solange
torielle Summe von Fernkräften für jeden Ort neu zu berechnen, die übrigen Funktionen unter dem Integral hinreichend oft dif-
wird das Konzept eines raumfüllenden Feldes E.r/ eingeführt ferenzierbar sind), ohne dass Randterme zu berücksichtigen
und die Kraft lokal durch Multiplikation mit q bestimmt. Die wären, z. B.
tiefere Bedeutung des Feldbegriffs kommt aber daher, dass Z Z
0
elektromagnetische Felder im dynamischen Fall auch von den f .x/ ı .x  a/ dx D  f 0 .x/ ı.x  a/ dx D f 0 .a/: (11.7)
Ladungsträgern getrennt werden und als Strahlung quasi ein
Eigenleben führen können, wie sich im Weiteren noch heraus-
stellen wird. Diese sogenannte Dirac’sche Deltafunktion kann als Grenzfall
von diversen stetigen Funktionen dargestellt werden. Beispiele
Die explizite Form des elektrischen Feldes für ein System von
sind
ruhenden Punktladungen (11.3) lässt sich unmittelbar auf eine
kontinuierliche Ladungsverteilung (Ladungsdichte) .r0 / ver- 1
lim p ex = D ı.x/;
2 2
allgemeinern: (11.8)
!0 
Z 1 
r  r0 lim D ı.x/: (11.9)
E.r/ D k dV 0 .r0 / : (11.4) !0 x C 2
2
jr  r0 j3

Das Integral stellt hier einfach die Aufsummation von allen Bei- Man kann aber auch unstetige Funktionen heranziehen, über die
trägen der infinitesimalen Ladungen dV 0 .r0 / an den Stellen ja problemlos integriert werden kann. Insbesondere hat man mit
11.1 Aufstellung der fundamentalen Maxwell-Gleichungen 385

Vertiefung: Gültigkeitsbereich des Superpositionsprinzips

Das Superpositionsprinzip des Coulomb’schen Kraftgeset- sogenannte Delbrück-Streuung, die Streuung von Photonen
zes (11.2) ist ganz analog zu dem der Newton’schen Gra- am Coulomb-Feld von Atomkernen mit großer Kernladungs-
vitationstheorie. Allerdings gilt dieses in der Einstein’schen zahl. Photonen, die Quanten des elektromagnetischen Fel-
Gravitationstheorie nicht mehr, sobald Gravitationseffekte des, werden also durch starke elektrische Felder beeinflusst;
so stark werden, dass die Newton’sche Theorie keine gute das Superpositionsprinzip für die Felder ist damit verletzt.
Näherung mehr darstellt, z. B. bei Schwarzen Löchern. In
der klassischen Elektrodynamik, in der das Coulomb’sche Dass die klassische Elektrodynamik bei vorgegebenen Quel-
Gesetz eingebettet ist, gilt das Superpositionsprinzip da- len eine lineare Theorie ist, in der das Superpositionsprin-
zip exakt gültig ist, stellt übrigens eine Ausnahme unter
gegen aufgrund der Linearität der Maxwell-Gleichungen

Teil II
exakt. den bekannten Grundkräften dar. Neben der gravitationellen
Wechselwirkung werden auch die starke und die schwa-
Erst beim Übergang zu einer Quanten(feld)theorie der Max- che Kernkraft durch nichtlineare Feldtheorien beschrieben.
well-Theorie, in der Quantenelektrodynamik, kommen hier Nichtlinearität in den fundamentalen Wechselwirkungen be-
im Prinzip Nichtlinearitäten ins Spiel. Es erfordert aber deutet, dass es zu Mehrkörperkräften kommt, die man in
extrem starke elektromagnetische Felder, um diese direkt der klassischen Mechanik üblicherweise ausschließt. Insbe-
nachweisen zu können (implizit sind sie natürlich über die sondere in der starken Kernkraft spielen Mehrkörperkräfte
vielfältigen Effekte der Quantenelektrodynamik präsent). aufgrund der Stärke dieser Wechselwirkung eine wichtige
Ein bereits experimentell verifiziertes Beispiel ist hier die Rolle.

der Heaviside’schen Stufenfunktion δ δ

8
<1 wenn x > 0 10 10
.x/ D (11.10)
:0 wenn x < 0
5 5
folgende Darstellung:

.x C /  .x  / −0,5 0 0,5 x −0,5 0 0,5 x


lim D ı.x/: (11.11)
!0 2
Abb. 11.5 Zwei Beispiele für die Darstellung der Dirac’schen Deltafunktion als
Die Dirac’sche Deltafunktion kann damit als Ableitung dieser Grenzwert von ı-Folgen (siehe (11.8) und (11.11))
eigentlich nicht differenzierbaren -Funktion aufgefasst wer-
den.
Hier oszillieren die Funktionen für x 6D 0 und  ! 0 immer
Frage 1 stärker um null. Das Lemma von Riemann-Lebesgue (Arens
Überzeugen Sie sich, dass die linke Seite von (11.11) mit klei- 2012) sorgt dann dafür, dass auch hier (11.6) realisiert wird.
ner werdendem  zunehmend besser die Eigenschaften in der
Definition (11.5) realisiert. Eine wichtige Eigenschaft der Deltafunktion ist (Aufgabe 11.6)

1
ı.cx/ D ı.x/; (11.13)
jcj
Abbildung 11.5 zeigt die zwei Beispiele (11.8) und (11.11)
für ı-Folgen. Es gibt auch Darstellungen der Deltafunktion als
Grenzwert einer Folge von Funktionen, die für x 6D 0 nicht ge- die sich für eine Funktion g.x/, die mehrere einfache Nullstellen
gen null konvergiert, wo aber das Integral über jedes Intervall, bei x D xk hat, auf
das x D 0 nicht enthält, verschwindet. Ein solches in der theo-
retischen Physik öfters auftretendes Beispiel ist X 1
ı.g.x// D ı.x  xk / (11.14)
k
jg0 .xk /j
1 sin.x=/
lim D ı.x/: (11.12)
!0 x verallgemeinert.
386 11 Die Maxwell-Gleichungen

11.1 Mathematischer Hintergrund: Distributionen

Distributionen sind ein wichtiger Begriff der Funktional- Ein wichtiges Beispiel für eine nichtreguläre Distribution ist
analysis, da sie eine besondere Art eines Funktionals (Ab- die Deltadistribution ıx0 , die einfach dadurch definiert ist,
schn. 5.5) definieren und Funktionen verallgemeinern (sie dass jeder Testfunktion ihr Funktionswert am Ort x0 2 
werden daher auch als verallgemeinerte Funktionen bezeich- zugewiesen wird:
net). Die Theorie der Distributionen erlaubt es insbesondere,
Funktionen abzuleiten, die im klassischen Sinn nicht dif- ıx0 W D ! C; ıx0 .'/ D '.x0 /:
ferenzierbar sind. Dazu betrachtet man zuerst Funktionen-
räume, die von besonders „gutartigen“ Funktionen gebildet Dies ist offenbar eine stetige Abbildung auf dem Testfunktio-
werden: nenraum D. Sie ist auch genau das, was die Physiker Dirac-
Teil II

Deltafunktion nennen und was alternativ als


Raum der Testfunktionen mit kompaktem Träger Für die- Z
sen verwenden wir C01 .Rn /, den linearen Raum aller Funk-
ıx0 .'/ D hıx0 ; 'i D ı.x  x0 / '.x/ dx D '.x0 /
tionen auf Rn , die unendlich oft differenzierbar sind und
einen kompakten Träger haben, d. h., sie sollen außerhalb ei-
ner kompakten Teilmenge des Rn identisch verschwinden. notiert wird. Die Schreibweise als Integral ist hierbei aber
(Kompaktheit im Rn bedeutet, dass die Menge abgeschlos- nur als Abbildungsvorschrift zu verstehen und nicht als Inte-
sen und beschränkt ist.) Auf diesem Raum lässt sich ohne gral im üblichen (Lebesgue’schen) Sinn.
Schwierigkeiten ein Konvergenzbegriff für Funktionenfol-
gen definieren. Mit der entsprechenden Topologie ausge- Der Schwartz-Raum und temperierte Distributionen Ei-
stattet bezeichnet man C01 .Rn / als den Testfunktionenraum ne wichtige Erweiterung des Testfunktionenraumes stellt der
D.Rn /. von Laurent Schwartz (1915–2002) im Jahr 1947 eingeführ-
te sogenannte Schwartz-Raum S.Rn / der schnell fallenden
Distributionen D0 sei der Raum aller stetigen linearen Ab- Funktionen dar. Dieser besteht aus Funktionen, die unend-
bildungen D ! C, also der Dualraum von D (für den lich oft differenzierbar sind, von denen aber nicht mehr
Begriff des Dualraumes siehe den „Mathematischen Hinter- verlangt wird, dass sie kompakten Träger haben, sondern
grund“ 9.1), wobei Stetigkeit durch den Konvergenzbegriff nur dass sie zusammen mit all ihren Ableitungen schnel-
in D definiert ist. Die Elemente von D0 nennt man Distri- ler abfallen als jedes inverse Polynom. (Ein Beispiel dafür
butionen. Distributionen stellen eine Verallgemeinerung von ist eine Gauß’sche Glockenkurve f .x/ D exp.x2 /; siehe
Funktionen dar, wie sich aus der folgenden Definition ergibt. Abb. 13.1.)
Reguläre Distributionen Eine Teilmenge der Distributio- Dieser Funktionenraum besitzt die Eigenschaft, dass je-
nen mit einer besonderen Eigenschaft sind die sogenannten des Produkt von zwei Elementen wieder ein Element des
regulären Distributionen, die durch lokal integrierbare Funk- Schwartz-Raumes ist und dass Elemente beliebig mit Po-
tionen f 2 L1loc .Rn / erzeugt werden. Letzteres bedeutet, dass lynomen multipliziert und beliebig oft abgeleitet werden
f W Rn ! C auf jeder kompakten Teilmenge des Rn inte- dürfen.
grierbar ist. Dann ergibt sich durch Die Elemente des Dualraumes des Schwartz-Raumes, also
Z die stetigen linearen Abbildungen der Form T W S.Rn / ! C,
f .'/ D f .x/ '.x/ dx; ' 2 C01 .Rn / heißen temperierte Distributionen. Dieser Raum wird ent-
Rn
sprechend als S0 .Rn / bezeichnet und stellt eine Einschrän-
kung des Raumes der Distributionen dar, S0 .Rn /  D0 .Rn /.
ein Funktional, das eine reguläre Distribution darstellt.
Die oben erwähnte Deltadistribution ist ein Beispiel für eine
Als andere Schreibweise verwendet man auch oft f .'/ D temperierte Distribution, da sie auch auf S.Rn / eine stetige
hf ; 'i. lineare Abbildung darstellt.

Um eine Ladungsdichte .r/ für Punktladungen anschreiben zu gegeben. Das elektrische Feld (11.3) für eine Zahl von Punkt-
können, benötigen wir die Verallgemeinerung der Dirac-Delta- ladungen qi , ergibt sich aus der Integraldarstellung (11.4) damit
funktion auf mehrere Variablen. In kartesischen Koordinaten ist durch
diese einfach durch X
.r0 / D qi ı.r0  ri /:
ı.r  ri / D ı.x  xi / ı.y  yi / ı.z  zi / (11.15) i
11.1 Aufstellung der fundamentalen Maxwell-Gleichungen 387

11.2 Mathematischer Hintergrund: Rechenregeln für Distributionen

Wir wollen hier die wichtigsten Rechenregeln für Distribu- Nun sei f eine nichtreguläre Distribution. Dann definieren
tionen darstellen und erinnern daran, dass der Testfunktio- wir für die Skalierung mit c 2 R n f0g
nenraum D mengentheoretisch durch C01 .Rn /, den Raum
der unendlich oft differenzierbaren Funktionen mit kom- 1 D   E
h f .c/; 'i WD f;' ;
paktem Träger, gegeben ist, und Distributionen die stetigen jcj c
linearen Funktionale darauf sind (siehe den „Mathemati-
schen Hintergrund“ 11.1). Im Folgenden betrachten wir nur wobei der Punkt ein Platzhalter für das Argument darstellt.
den Fall n D 1, wobei ähnliche Aussagen auch allgemein für Für die Translation mit a 2 R gilt
Rn gelten.

Teil II
h f .  a/; 'i WD h f ; '. C a/i :
0
Linearität Es seien f ; g 2 D zwei Distributionen und
'; 2 C01 .R/. Dann gilt für alle  2 R Ableitung Die Ableitung im distributionellen Sinne ist für
f 2 D0 durch
h f C g; 'i D h f ; 'i C hg; 'i ;
˝ ˛ ˝ ˛
h f ; ' C i D h f ; 'i C h f ; i ; f 0; ' D  f ; ' 0
hf ; 'i D h f ; 'i D  h f ; 'i :
gegeben. Da ' unendlich oft differenzierbar ist, sind damit
auch beliebig hohe Ableitungen einer Distribution definiert.
Skalierung und Translation Distributionen können skaliert
und translatiert werden. Dazu betrachten wir zuerst regulä- Multiplikation mit einer Funktion Es sei f 2 D0 eine
re Distributionen f , die durch lokal integrierbare Funktionen Distribution und g 2 C 1 .R/ eine unendlich oft stetig dif-
gegeben sind: ferenzierbare Funktion. Dann ist auch g  f 2 D0 , definiert
durch
Z
h f ; 'i D f .t/ '.t/ dt: hg f ; 'i D h f ; g'i ' 2 C01 .R/:
R
Für die Ableitung im distributionellen Sinn gilt weiterhin die
Produktregel
Dann gilt für c 2 R n f0g
Z Z .g f /0 D g f 0 C g0 f :
1 t
f .cs/ '.s/ ds D f .t/ ' dt;
jcj c Zu beachten ist allerdings, dass Produkte von Distributionen
R R nicht immer definiert sind.

und für a 2 R ergibt sich die Translationseigenschaft


Literatur
Z Z
f .s  a/ '.s/ ds D f .t/ '.t C a/ dt Arens, et al.: Mathematik. 2. Aufl., Spektrum Akademi-
R R scher Verlag (2012)
Walter, W.: Einführung in die Theorie der Distributionen.
für alle ' 2 C01 .R/. B. I. Wissenschaftsverlage (1994)

Mit dem Gauß’schen Integralsatz Dazu definieren wir den Fluss eines Vektorfeldes X.r/ durch ei-
zum Gauß’schen Gesetz ne Fläche F als das Flächenintegral
Z
˚ D df  X.r/: (11.16)
In der Formulierung des Coulomb’schen Gesetzes ist die we- F
sentliche Einschränkung enthalten, dass die Ladungsverteilung
.r0 / zeitlich unveränderlich ist. Ein zunächst äquivalentes, Hierbei ist das Flächenelement df D n df das Produkt aus dem
aber, wie sich herausstellt, allgemeiner gültiges Gesetz lässt sich Betrag des Flächenelements mit seinem Einheitsnormalenvek-
mithilfe des Gauß’schen Satzes der Vektoranalysis auffinden. tor, der die Richtung vorgibt, bezüglich der der Fluss betrachtet
388 11 Die Maxwell-Gleichungen

11.3 Mathematischer Hintergrund: Integralsätze der Vektoranalysis


Satz von Gauß und Satz von Stokes

Alternative Definition der Divergenz eines Vektorfeldes werden über die Grenzwerte von geschlossenen Wegintegra-
und der Satz von Gauß Die lokale Quellstärke oder Di- len:
vergenz eines stetig differenzierbaren Vektorfeldes X kann I
ohne Bezug auf Koordinaten auch definiert werden durch 1
n  rot X.r/ D lim dr  X;
den Grenzwert eines Flussintegrals F!0 F
@F
I
1
div X.r/ D lim df  X; wobei F eine Fläche mit geschlossener Randkurve @F ist, die
V
Teil II

V!0 den Punkt r einschließt und sich im Limes F ! 0 auf diesen


@V
zusammenzieht. Dabei ist in diesem Limes n die Flächennor-
male, die so orientiert ist, dass Umlaufsinn durch @F und n
wobei V ein Volumen und @V dessen Randfläche ist, das
eine Rechtsschraube bilden (Abschn. 1.6). Um alle Kompo-
den Punkt r einschließt und sich im Limes V ! 0 auf
nenten der Rotation auf diese Weise zu definieren, muss der
diesen Punkt zusammenzieht (Volumen und Volumeninhalt
Limes in drei Dimensionen dreimal mit linear unabhängigen
der Einfachheit halber mit denselben Symbolen bezeichnet).
Flächennormalen durchgeführt werden. In kartesischen Ko-
Das vektorielle Oberflächenelement df zeigt dabei in den
ordinaten kann man anhand von infinitesimalen Rechtecken,
Außenraum des Volumens (siehe z. B. Arens 2012 für ei-
die in den drei Koordinatenebenen liegen, leicht zeigen, dass
ne ausführliche Diskussion von Oberflächenintegralen). In
diese Definition mit der aus Abschn. 1.6 übereinstimmt:
kartesischen Koordinaten kann man anhand eines infinitesi-
malen Würfelvolumens leicht nachweisen, dass dies mit der
rot X D r  X; .rot X/i D "ijk @j Xk :
Definition in Abschn. 1.6,
Analog zur obigen Vorgangsweise kann die Zirkulation ei-
div X.r/ D r  X D @i Xi nes Vektorfeldes entlang der Randkurve einer ausgedehnten
Fläche F durch eine Zerlegung in Teilflächen Fn berechnet
(mit Einstein’scher Summenkonvention), übereinstimmt. werden:
Der Fluss des Vektorfeldes X durch die Randfläche eines 2 3
I XN I
ausgedehnten Volumens mit stückweise glattem Rand kann 61 7
berechnet werden, indem das Volumen in eine Anzahl N von dr  X D Fn 4 drn  X5 :
Fn
Volumina Vn mit Randflächen @Vn zerlegt, @F
nD1
@Fn

2 3
I N I I Die Beiträge von Randkurven @Fn , die im Inneren der Flä-
X X
N
61 7 che verlaufen, heben sich hierbei weg, weil benachbarte drn
df  X D df n  X D Vn 4 df n  X5 ;
Vn entgegengesetzt orientiert sind und X als stetig differenzier-
nD1 nD1
@V @Vn @Vn bar vorausgesetzt ist (Abb. 11.6b). Im Limes N ! 1 und
Fn ! 0 rechtfertigt der Mittelwertsatz der Integralrechnung
und der Limes N ! 1, Vn ! 0 durchgeführt wird. den Satz von Stokes:
Wegen der geforderten stetigen Differenzierbarkeit von X I Z
heben sich dabei alle Beiträge der Randflächen im Inne- dr  X D df  rot X:
ren des Volumens weg, da dort zu jedem Flächenelement
einer Randfläche ein benachbartes mit entgegengesetztem @F F

Normalenvektor existiert (Abb. 11.6a). Der Mittelwertsatz


der Integralrechnung rechtfertigt dann die Grenzwertbildung Durch den Übergang von gewöhnlichen Funktionen zu
und führt schließlich auf den Satz von Gauß: verallgemeinerten Funktionen, den Distributionen, kann
schließlich die Beschränkung auf überall stetig differenzier-
I Z
bare Vektorfelder aufgehoben werden.
df  X D dV div X:
@V V Weitere Verallgemeinerungen Der Differenzialoperator
rot , der aus einem Vektorfeld wieder ein Vektorfeld macht,
funktioniert in dieser Weise nur in drei Dimensionen, wäh-
Alternative Definition der Rotation eines Vektorfeldes und rend die Divergenz und auch der Satz von Gauß ohne
der Satz von Stokes Die lokale Wirbelstärke oder Rotation Weiteres in beliebige Dimensionen verallgemeinert werden
eines stetig differenzierbaren Vektorfeldes X kann definiert können.
11.1 Aufstellung der fundamentalen Maxwell-Gleichungen 389

Tatsächlich ist aber der Satz von Stokes der allgemeinere Élie Joseph Cartan (1869–1951) zurückgeht, auf das Kon-
und enthält den Satz von Gauß als Spezialfall. Dazu muss zept der äußeren Ableitung von Differenzialformen, die im
allerdings der Differenzialoperator rot durch eine antisym- Wesentlichen antisymmetrische Tensorfelder darstellen. (Ei-
metrisierte Ableitung ohne Verwendung des Levi-Civita- ne pädagogische Einführung in diesen sehr mächtigen und
Symbols ersetzt werden. Dies führt in der modernen Formu- eleganten, wenn auch gewöhnungsbedürftigen Formalismus
lierung der Differenzialgeometrie, die auf den Mathematiker findet sich z. B. in Misner et al. 1973.)

a X b X

df 1

Teil II
df 2 df dr
V1
V2
X
X F3
F1
dr 1

dr 2
F4
V3 F2
V4

Abb. 11.6 Der Fluss durch die Oberfläche eines Volumens (a) und die Zirkulation eines Vektorfeldes um den Rand einer Fläche (b) kann zerlegt werden in die Bei-
träge von Teilvolumina Vi bzw. Teilflächen Fi . Die Beiträge von den Rändern im Inneren heben sich in beiden Fällen weg. Im Fall des Flusses eines Vektorfeldes haben
die benachbarten vektoriellen Oberflächenelemente df i , und im Fall der Zirkulation die aneinandergrenzenden vektoriellen Wegelemente dri entgegengesetztes
Vorzeichen

wird. Wenn # der Winkel zwischen X.r/ und n am Ort r ist, V


haben wir d˚ D jXj cos.#/ df . Zeigt X in Richtung von n, ist ∂V
dieser Beitrag zum Fluss positiv, bei entgegengesetzter Rich-
tung negativ, und wenn X parallel zur Fläche liegt und daher
n  X D 0 ist, verschwindet er.
dV
Der Gauß’sche Integralsatz – oder auch Satz von Gauß (Carl X
Friedrich Gauß, 1777–1855; Abb. 11.8) erlaubt es, den Fluss df
eines Vektorfeldes durch eine geschlossene Oberfläche als ein
b3
e
Volumenintegral über die Divergenz des Vektorfeldes darzustel-
len (Abb. 11.7).
r

Gauß’scher Integralsatz (Divergenzsatz)


I Z
df  X.r/ D dV div X: (11.17) e2
e1
@V V

Hierbei ist V das von der Randfläche @V eingeschlossene Abb. 11.7 Der Gauß’sche Integralsatz erlaubt es, den Fluss eines Vektorfeldes
Volumen. durch die Oberfläche @V eines Volumens V durch Aufintegration der lokalen
Quellstärke (Divergenz) des Vektorfeldes zu berechnen

In kartesischen Koordinaten und Indexschreibweise lautet die-


ser Satz alternativ was klarmacht, dass in (11.17) anstelle eines Vektorfeldes X
Z Z auch ein Tensorfeld auftreten kann (was wir später in diesem
dfi .: : :/ D dV @i .: : :/ ; (11.18) Kapitel, in (11.119), auch verwenden werden). In der Versi-
@V V on (11.18) kann offenbar auch einfach eine skalare Funktion f
390 11 Die Maxwell-Gleichungen

∂V

df
Teil II

r

Abb. 11.9 Bei einem Vektorfeld kann man die Feldlinien als Linien eines Flus-
ses ansehen, wenn man keine Feldlinien an Punkten entspringen lässt, wo die
Divergenz des Vektorfeldes null ist (hier überall außer bei r0 ). Die Dichte der
Feldlinien gibt dann die Feldstärke wieder, und das Verschwinden des totalen
Flusses durch eine geschlossenen Fläche wird damit anschaulich gemacht, wie
in dieser Abbildung für .r  r0 /=jr  r0 j3 mit r0 außerhalb von V. (Um das Bild
nicht zu unübersichtlich zu machen, sind nur die Feldlinien in einer (Halb-)Ebene
durch r0 dargestellt)
Abb. 11.8 Carl Friedrich Gauß (1777–1855), © nickolae – Fotolia.com

stehen, was der Möglichkeit entspricht, X D f a mit einem be-


liebigen konstanten Vektor a anzusetzen und diesen beliebigen
Vektor a auf beiden Seiten herauszukürzen. ∂V
0
Wir wenden diesen Satz nun auf das Vektorfeld .r  r /=jr 
r0 j3 an, das im Coulomb’schen Gesetz die zentrale Rolle spielt.
Dieses Vektorfeld ist divergenzfrei, zumindest solange r 6D r0
ist (Aufgabe 11.3):
df
r  r0
div D 0; r 6D r0 : (11.19)
jr  r0 j3

Der Gauß’sche Satz impliziert daher, dass der Fluss dieses Vek-
torfeldes durch den Rand eines Volumens V, das den Punkt r0
nicht enthält, verschwindet (Abb. 11.9):
I Abb. 11.10 Der Fluss des Vektorfeldes .rr0 /=jrr0 j3 durch eine geschlosse-
r  r0
df  D 0; r0 62 V: (11.20) ne Oberfläche kann, wenn der singuläre Punkt r0 im eingeschlossenen Volumen
jr  r0 j3 enthalten ist, auf den durch eine Kugel mit Mittelpunkt r0 zurückgeführt werden
@V

Wenn r0 in V enthalten ist, kann man, ohne den Fluss durch die
Oberfläche @V zu verändern, das Volumen zunächst so weit ver- Frage 2
formen, dass es eine perfekte Kugel mit r0 als Mittelpunkt bildet Vollziehen Sie diese Rechnung nach! Falls nötig, rekapitulieren
(Abb. 11.10) – wegen (11.20) verschwinden die Beiträge der Sie die Definition des Raumwinkelelements in (3.127) (siehe
dabei entfernten Volumina. Auf der resultierenden Kugelober- auch Aufgabe 11.4).
fläche zeigt das betrachtete Vektorfeld dann strikt radial nach
außen. Nach einer Ersetzung von r  r0 ! r ergibt sich für den
Fluss des betrachteten Vektorfeldes in diesem Fall Zusammengefasst:
I Z Z
eO r eO r I
df  2 D r2 d eO r  2 D d D 4 : r  r0 4 wenn r0 2 V,
jrj jrj df  D (11.22)
jrjDconst jrjDconst jr  r0 j3 0 wenn r0 62 V.
(11.21) @V
11.1 Aufstellung der fundamentalen Maxwell-Gleichungen 391

Diese Formel kann nun dazu verwendet werden, den Fluss des dem statischen Coulomb-Gesetz hergeleitet haben, das aber
elektrischen Feldes, das durch (11.4) gegeben ist, durch eine allgemeinere Gültigkeit hat: Es ist dies eine erste Maxwell-Glei-
beliebige geschlossene Fläche @V zu berechnen: chung, die unverändert auch in dynamischen, zeitabhängigen
I I Z Situationen gilt. Dass dem so ist, wird erst bestätigt werden,
r  r0 wenn wir die Maxwell-Gleichungen in ihrer Gesamtheit be-
df  E.r/ D k df  dV 0 .r0 /
jr  r0 j3 trachten und ihre Konsistenz überprüfen können.
@V @V
Z I Ein wesentlicher Unterschied von (11.24) gegenüber dem
r  r0
D k dV 0 .r0 / df  (11.23) Coulomb’schen Gesetz ist der lokale Charakter. Das Cou-
jr  r0 j3
@V lomb’sche Gesetz stellt eine Fernbeziehung zwischen Ursache
Z (der Ladungsverteilung) und Wirkung (dem Kraftfeld) dar; das
D 4 k dV .r0 / DW 4 k QV :
0
Gauß’sche Gesetz verknüpft dagegen die lokal bestimmbaren
Ableitungen des Feldes mit ihrer Quelle.

Teil II
V

Der elektrische Fluss durch die Oberfläche eines Volumens ist


demnach durch die darin enthaltene Ladung QV gegeben. Erste Maxwell-Gleichung: Gauß’sches Gesetz

Mittels des Gauß’schen Satzes kann nun auch Das Gauß’sche Gesetz setzt den elektrischen Fluss durch
H die linke Sei-
eine geschlossene Oberfläche mit der eingeschlossenen
te
R als Volumenintegral geschrieben werden, @V df  E.r/ D
dV div E.r/, und weil die Gleichung für beliebige Volumina Ladung in Beziehung und lautet in differenzieller Form
V
gilt, können wir auf die Gleichheit der Integranden schließen:
div E.t; r/ D 4 k .t; r/: (11.28)
div E.r/ D 4 k .r/: (11.24)
Dies ist eine Maxwell-Gleichung, d. h. eine Feldglei-
Wir haben damit gezeigt, dass (11.19) inklusive des singulären chung der Elektrodynamik und im Gegensatz zum Cou-
Punktes geschrieben werden kann als lomb’schen Gesetz nicht auf die Elektrostatik beschränkt.
Das heißt, (11.23) gilt auch, wenn alle Größen zusätzlich
r  r0 von der Zeit t abhängen:
div D 4 ı.r  r0 /: (11.25)
jr  r0 j3 I Z
df  E.t; r/ D 4 k dV 0 .t; r0 /
Frage 3 @V V (11.29)
Schließen Sie mithilfe von (11.25) direkt von (11.4) auf (11.24)!
 4 k QV .t/:

Das Vektorfeld .r  r0 /=jr  r0 j3 lässt sich wiederum als Gradi-


entenfeld darstellen:
1 1 Abwesenheit von magnetischen Monopolen
r 0
D r .x  x0 /2 C .y  y0 /2 C .z  z0 /2 2
jr  r j
1 3
D .x  x0 /2 C .y  y0 /2 C .z  z0 /2 2 Magnetische Phänomene waren anhand von magnetischen Mi-
20 1 neralien seit der Antike bekannt und auch das Erdmagnetfeld
x  x0 wurde schon in der Antike zur Richtungsbestimmung verwen-
 2 @ y  y0 A det. Wie der englische Arzt und Physiker William Gilbert
z  z0 (1544–1603) bereits im Jahr 1600 feststellte, scheint es keine
r  r0 magnetischen Ladungen zu geben, sondern nur magnetische Di-
D ; (11.26) pole mit untrennbaren Nord- und Südpolen. Aus dieser empiri-
jr  r0 j3
schen Tatsache ergibt sich unmittelbar eine Maxwell-Gleichung
und somit können wir (11.25) alternativ auch schreiben als für Magnetfelder, die wie das Gauß’sche Gesetz im dynami-
schen (zeitabhängigen) Fall unverändert bleibt.
1
 D 4 ı.r  r0 / (11.27)
jr  r0 j
Zweite Maxwell-Gleichung
mit dem (schon in Kap. 2 ausführlicher diskutierten) Laplace- Die Abwesenheit magnetischer Monopole bedingt die
Operator  D r  r D @i @i . zweite Maxwell-Gleichung
Die Integralrelation (11.23) und die äquivalente Differenzi-
algleichung (11.24) stellen die Integralform bzw. die Diffe- div B.t; r/ D 0: (11.30)
renzialform des Gauß’schen Gesetzes dar, das wir zwar aus
392 11 Die Maxwell-Gleichungen

B0 B0

B0

Bm
Teil II

Abb. 11.12 Gauß’sche Methode zur Ausmessung von Magnetfeldern: Mit ei-
ner Magnetnadel kann zunächst die Richtung des Magnetfeldes B0 bestimmt
Abb. 11.11 Magnetfeldlinien, sichtbar gemacht durch Eisenfeilspäne, die ma- und dann durch Überlagerung des Feldes Bm einer zweiten identischen Magnet-
gnetische Dipole bilden und sich entlang der Feldlinien ausrichten nadel auf den Betrag jB0 j geschlossen werden

für Magnetfelder ausgenützt wird. Zunächst lässt sich dank der


B ist die magnetische Feldstärke und wird auch magneti- vektoriellen Addition des noch unbekannten Magnetfeldes B0
sche Flussdichte oder magnetische Induktion genannt, ins- und des Magnetfeldes des Dipols Bm experimentell leicht be-
besondere in der phänomenologischen Elektrodynamik, stätigen, dass das Magnetfeld des Dipols in der Richtung von m
wo der Begriff magnetische Feldstärke historisch bedingt mit der dritten Potenz des Abstands abnimmt:
unglücklicherweise für das dort eingeführte H-Feld reser-
viert wird. 2
Bm D k2b m für r k m; (11.33)
r3

Die Integralversion dazu lautet, dass der magnetische Fluss wobei k2b eine weitere maßsystemabhängige Konstante ist. (Ge-
durch jede geschlossene Oberfläche verschwindet: nau genommen gilt dies nur für Abstände, die hinreichend groß
I im Vergleich zur Ausdehnung der Magnetnadel sind.)
df  B.t; r/ D 0 8 V: (11.31) Hat man nun mit einer Magnetnadel mit Stärke m die Richtung
@V des zu bestimmenden Feldes B0 ermittelt, dann kann man die
Stärke von B0 bestimmen, indem man senkrecht dazu in einem
Das Fehlen von magnetischen Testladungen (also Monopolen)
Abstand r eine zweite Magnetnadel anbringt und damit ein ge-
macht das Ausmessen von Magnetfeldern nun wesentlich um-
störtes Magnetfeld B0 C Bm erzeugt, das um einen Winkel ˛
ständlicher als das von elektrischen Feldern.
gedreht ist (angezeigt durch die erste Magnetnadel; Abb. 11.12).
Die Richtung von Magnetfeldern kann noch leicht dadurch Dieser Winkel ist gegeben durch
bestimmt werden, dass in einem Magnetfeld auf Dipole ein
Drehmoment wirkt, das diese parallel zum Feld ausrichtet jBm j 2 jmj
tan ˛ D D k2b 3 ; (11.34)
(Abb. 11.11). Wenn m Stärke und Richtung eines magnetischen jB0 j r jB0 j
Dipols angibt, dann ist das Drehmoment in einem äußeren Ma-
gnetfeld B0 durch wo im Gegensatz zu vorher der Quotient der Beträge von m
N D k2a m  B0 (11.32) und B0 eingeht. Die Kombination der beiden Messungen erlaubt
dann beide Beträge zu bestimmen.
gegeben (hier und in späteren Kapiteln alternativ als N notiert,
da M auch Magnetisierung bedeuten kann). Die Proportionali-
tätskonstante k2a hängt wieder vom gewählten Maßsystem ab.
Über die leicht messbare Stärke des Drehmoments (z. B. durch Magnetfelder und stationäre elektrische
das Schwingungsverhalten eines drehbaren Dipols mit bekann- Ströme
tem Trägheitsmoment) erfährt man offenbar nur etwas über
das Produkt der Beträge von m und B0 . Gauß, der sich auch
mit der Vermessung des Erdmagnetfeldes beschäftigte, ersann Der Zusammenhang von magnetischen mit elektrischen Phä-
eine Methode zur Vermessung von Magnetfeldern, wo dieses nomenen wurde erst im 19. Jahrhundert entdeckt, nachdem
Problem durch die Verwendung eines zweiten, identischen ma- es 1794 Alessandro Volta (1745–1827) mit seinen Volta’schen
gnetischen Dipols gelöst wird, wobei das Superpositionsprinzip Säulen ermöglichte, stationäre elektrische Ströme herzustellen
11.1 Aufstellung der fundamentalen Maxwell-Gleichungen 393

Vertiefung: Magnetische Monopole

Etliche Theorien jenseits des Standardmodells der Ele- well-Gleichungen zu verallgemeinern – die zweite Maxwell-
mentarteilchenphysik sagen die Existenz von magnetischen Gleichung (11.30) einfach durch Einführen einer magneti-
Monopolen voraus, die aber so massereich sein sollen schen Ladungsdichte und das Faraday’sche Induktionsgesetz
( 1014:::18 fach schwerer als Protonen), dass sie in irdi- (11.50) durch einen magnetischen Verschiebungsstrom.
schen Teilchenbeschleunigern nicht produziert werden kön-
Dirac zeigte bereits 1931, dass die Existenz von magneti-
nen, aber eventuell als Relikte des Urknalls im Universum
vorkommen könnten. Mit supraleitenden Spulen kann nach schen Monopolen in der Quantentheorie nur möglich ist,
ihnen Ausschau gehalten werden, und einmal wurde auch wenn die elektrische Ladung in der Natur quantisiert vor-
kommt, letztere Tatsache also elegant erklären würde. Elek-
schon angeblich auf diese Weise ein magnetischer Monopol

Teil II
gesichtet (Cabrera 1982). Das fragliche Ereignis fand am Va- trische und magnetische Ladungen zusammen müssen näm-
lentinstag 1982, den 14. Februar (um 14 Uhr lokaler Zeit) lich die Dirac’sche Quantisierungsbedingung
statt und wiederholte sich seither nicht. „c
qe qm D n; n2Z
Sollte jemals die Existenz von magnetischen Monopolen ex- 2
perimentell nachgewiesen werden können, wären die Max- erfüllen (siehe dazu auch Aufgabe 11.14).

und mit diesen zu experimentieren. Im Juli 1820 veröffent- z


lichte der dänische Physiker Hans Christian Oersted (1777–
1851) seine Beobachtung, dass Magnetnadeln in der Nähe
eines stromdurchflossenen Leiters abgelenkt werden, und erreg-
te damit beträchtliches Aufsehen. Schon im Oktober desselben
Jahres stellten Jean-Baptiste Biot (1774–1862) und Félix Sa-
vart (1791–1841) das nach ihnen benannte Gesetz auf, das
von Pierre-Simon Laplace (1749–1827) kurz danach mathema-
tisch präzisiert wurde. Wieder ist ein Superpositionsprinzip im
Spiel, allerdings komplizierter als im Coulomb’schen Gesetz
(und auch schwieriger nachzuweisen, weil Stromkreise natur- dB
gemäß ausgedehnte Gebilde sind).

Biot-Savart-Gesetz für stationäre Ströme Idl

Der Magnetfeldbeitrag eines von einem zeitlich konstan- r


ten Strom I durchflossenen Leiterelements dl im Ab-
stand r vom Leiterelement beträgt (Abb. 11.13) x y

I dl  r Abb. 11.13 Magnetfeldbeitrag eines infinitesimalen Stromelements Idl / eO z


dB D k3 : (11.35) in verschiedenen Richtungen bei konstantem Abstand. In der Abbildung variiert
r3
r bei konstantem jrj in der yz-Ebene. dB steht senkrecht auf eO r und eO z , mit
Betrag jdBj / sin #, wenn # der Winkel zwischen eO z und eO r ist. Für andere
Richtungen von r stelle man sich das Bild um die z-Achse rotiert vor
Die Proportionalitätskonstante k3 hängt wiederum vom gewähl-
ten Maßsystem ab (Abschn. 11.3).
Das Superpositionsprinzip ergibt damit für eine geschlossene Frage 4
(infinitesimal dünne) Leiterschleife L
Wie kann j.r0 / für infinitesimal dünne Leiter (z. B. entlang der
I z-Achse) mit Dirac-Deltafunktionen dargestellt werden?
Idr0  .r  r0 /
B.r/ D k3 (11.36)
jr  r0 j3
L
Mit (11.26) und der Antisymmetrie des äußeren Produkts lässt
und allgemeiner für eine stationäre räumliche Stromdichte j.r0 / sich (11.37) auch darstellen als
Z Z
j.r0 /  .r  r0 / j.r0 /
B.r/ D k3 dV 0 : (11.37) B.r/ D k3 r  dV 0 : (11.38)
jr  r0 j3 jr  r0 j
394 11 Die Maxwell-Gleichungen

Weil r  .r  A/ D div rot A  0 gilt, ist damit gezeigt, dass Zeitabhängigkeit, Kontinuitätsgleichung
das Biot-Savart-Gesetz mit div B D 0 konsistent ist.
und Maxwell’scher Verschiebungsstrom
Für stationäre Ströme, bei denen keine zeitlich veränderli-
chen Ladungsverteilungen im Spiel sind, müssen sich in jedem Wenn sich die elektrische Ladung in einem gegebenen Volumen
HRaumgebiet V Zufluss und Abfluss aufheben, d. h., es muss V als Funktion der Zeit verändert, fließt wegen der Ladungser-
R@V df  j D 0 gelten. Der Gauß’sche Satz impliziert daher haltung ein Nettostrom durch den Rand @V, und dies impliziert
V dV div j D 0, und weil dies für beliebige V gilt, folgt dar- wegen des Gauß’schen Satzes eine nicht verschwindende Diver-
aus genz der Stromdichte:
div j D 0 für stationäre Verhältnisse. (11.39) Z
d d
I@V D  QV D  dV
dt dt
Aus (11.37) lässt sich unter der Voraussetzung von div j D 0 der
Teil II

V
differenzielle Zusammenhang I Z (11.43)
D df  j D dV div j:
rot B.r/ D 4 k3 j.r/ (11.40) @V V

Da dies für beliebige V gilt, folgt allgemein die sogenannte


herleiten: Mithilfe von (11.25) ergibt sich dies aus dem ersten Kontinuitätsgleichung.
Beitrag auf der rechten Seite von
Z Kontinuitätsgleichung
.r  r0 /
rot B.r/ D k3 dV 0 j.r0 / div
jr  r0 j3 Die Erhaltung von elektrischer Ladung wird lokal durch
Z (11.41) den differenziellen Zusammenhang von Raumladungs-
.r  r0 / dichte und Stromdichte j gemäß
 k3 dV 0 .j.r0 /  r / :
jr  r0 j3
@
div j C D0 (11.44)
Im zweiten Beitrag können wir dagegen r durch r erset- 0 @t
zen und dann partiell integrieren, womit dieser sich wegen
beschrieben. Analoge Relationen lassen sich generell
r 0  j.r0 / D 0 als null herausstellt.
für Erhaltungsgrößen formulieren (z. B. für Masse durch
Massendichte und Massenstromdichte) formulieren. Auch
Frage 5 diese werden als Kontinuitätsgleichung bezeichnet.
Leiten Sie explizit (11.41) aus (11.37) in Indexschreibweise un-
ter Zuhilfenahme von "ijk "klm D ıil ıjm  ıim ıjl her.
Folglich ist bei veränderlichen Ladungsverteilungen die rechte
Seite von (11.40) nicht mehr divergenzfrei und diese Gleichung
Aus (11.40) folgt mit dem Satz von Stokes (1.160), dass die Zir- inkonsistent.
kulation des Magnetfeldes entlang einer geschlossenen Kurve C
Unter Zuhilfenahme der ersten Maxwell-Gleichung (11.24), die
durch den Stromfluss I durch die von dieser eingeschlossenen besagt, dass D .4 k/1 div E gilt, kann aber auch im dynami-
Fläche bestimmt wird: schen Fall ein divergenzfreier effektiver Strom definiert werden:
I Z  
dr  B.r/ D 4 k3 I D 4 k3 df  j.r/; (11.42) 1 @
div jC E D 0: (11.45)
C F
4 k @t

Maxwell gelangte 1855 zu dem nach ihm benannten Satz


wobei F eine beliebige von C berandete Fläche ist (C D @F). von in sich widerspruchsfreien Gleichungen, indem er eine
Dieser Zusammenhang heißt (zweites) Ampère’sches Gesetz, entsprechend korrigierte Stromdichte als Quellterm von rot B
Durchflutungsgesetz oder auch Oersted’sches Gesetz. Anders postulierte. Der Korrekturterm .4 k/1 @ t E wird Maxwell’scher
als im Fall von elektrischen Feldstärken, wo der Übergang vom Verschiebungsstrom genannt. Abbildung 11.14 illustriert, wie
Coulomb-Gesetz zum Gauß’schen Gesetz schon die Verallge- sich elektrischer Strom und Verschiebungsstrom zu einem ins-
meinerung von Statik zu Dynamik liefert, gelten sowohl das gesamt divergenzfreien effektiven Strom kombinieren, wenn
Biot-Savart’sche als auch das Oersted’sche Gesetz nur im statio- beispielsweise beim Aufladen eines Kondensators Ladungen
nären (zeitunabhängigen) Fall. Der Grund dafür ist, dass (11.40) akkumuliert werden.
div rot B  0 verlangt, sodass die Stromdichte ebenfalls diver-
genzfrei sein muss, was aber im dynamischen Fall nicht mehr Damit ergibt sich eine weitere Maxwell-Gleichung, die traditio-
gegeben ist. nell als vierte Maxwell-Gleichung bezeichnet wird.
11.1 Aufstellung der fundamentalen Maxwell-Gleichungen 395

∂ Wegen des Stokes’schen Integralsatzes ist


∂t E
I Z
dr  E D df  rot E; (11.49)
LD@F F
∂V
und da dies für beliebige Leiterschleifen L und den von ihnen
aufgespannten Flächen F gilt, führt dies auf die differenzielle
I I
Form des Induktionsgesetzes, die als dritte Maxwell-Gleichung
bezeichnet wird.

Dritte Maxwell-Gleichung: Differenzielle Form

Teil II
des Induktionsgesetzes
@
rot E.t; r/ D k4 B.t; r/ (11.50)
@t

Die (positive) Proportionalitätskonstante k4 hängt wieder vom


Abb. 11.14 Elektrischer Strom und Maxwell’scher Verschiebungsstrom beim verwendeten Maßsystem ab (Abschn. 11.3). Das negative Vor-
Aufladen eines Kondensators. Im Gegensatz zum elektrischen Strom allein ist zeichen auf den rechten Seiten von (11.48) und (11.50) hat
die Summe von j und .4 k/1 @ t E divergenzfrei, der Gesamtfluss durch jede zur Folge, dass der induzierte Strom und das von ihm hervor-
geschlossene Fläche @V also null gerufene Magnetfeld der Änderung des magnetischen Flusses
entgegenwirkt (Lenz’sche Regel).
Faraday entdeckte den Effekt der nach ihm benannten Induktion
im Jahre 1831 bei einer bewussten Suche nach einem Pendant
Vierte Maxwell-Gleichung: Das Ampère’sche Gesetz
zum von Oersted entdeckten Phänomen, wo erstmals elektri-
ergänzt um den Maxwell’schen Verschiebungsstrom
sche und magnetische Erscheinungen in Verbindung gebracht
k3 @ wurden und elektrische Ströme, also Veränderungen von elek-
rot B.t; r/ D 4 k3 j.t; r/ C E.t; r/ (11.46) trischen Ladungsverteilungen, zu magnetischen Auswirkungen
k @t
führten. Er entwickelte dabei die Vorstellung von elektrischen
und magnetischen Kraftlinien und gilt daher als der Pionier des
Mit dem Satz von Stokes (1.160) lautet die Integralversion dazu Feldbegriffs, der von Maxwell schließlich mathematisch kon-
sistent ausformuliert wurde.
I Z Z
k3 d Tatsächlich ist das Induktionsgesetz in der Form (11.50), in der
dr  B D 4 k3 df  j C df  E: (11.47) Leiterschleifen nicht mehr vorkommen, eine rein feldtheoreti-
k dt
@F F F sche Aussage. Die Integralversion (11.48) ist dementsprechend
auch für beliebige geschlossene Wege und die davon aufge-
Zusätzlich zum elektrischen Strom durch die Fläche F ist al- spannten Flächen gültig.
so die zeitliche Änderung des elektrischen Flusses durch diese
verantwortlich für die Zirkulation des Magnetfeldes (manchmal
auch magnetische Ringspannung genannt).
Lorentz-Kraft

Von Biot und Savart und in der Folge von André-Marie Ampère
Faraday’sches Induktionsgesetz (1775–1836) wurden die Kräfte, die Magnetfelder auf elek-
trische Ströme ausüben, systematisch untersucht und das Am-
père’sche Kraftgesetz (auch erstes Ampère’sches Gesetz) aufge-
Das Faraday’sche Induktionsgesetz verbindet umgekehrt Ände- stellt: In einem statischen äußeren Magnetfeld B wirkt auf ein
rungen des magnetischen Flusses durch eine Leiterschleife mit von einem Strom I durchflossenes Leiterelement dl die Kraft
der in dieser induzierten elektrischen Ringspannung (und einem
dadurch hervorgerufenen elektrischen Strom): dF D k4 Idl  B: (11.51)
I Z Die hier auftretende Proportionalitätskonstante ist dieselbe wie
d d
dr  E D k4 ˚m  k4 df  B: (11.48) im Faraday’schen Induktionsgesetz (11.48), wie wir im Folgen-
dt dt
LD@F F den bestätigen werden.
396 11 Die Maxwell-Gleichungen

Die gesamte Kraft auf eine Leiterschleife L ergibt sich durch


das Superpositionsprinzip als
I Ft+dt
F D k4 Idr0  B.r0 / (11.52) Lt+dt
L vdt
df dM
und bei allgemeineren, räumlich ausgedehnten Stromdichten dr Lt
durch Z
Ft
F D k4 dV 0 j.r0 /  B.r0 /: (11.53)

In letzterem Ausdruck haben wir eine räumliche Kraftdichte


Teil II

vorliegen, die kombiniert mit der elektrischen Kraft auf eventu- Abb. 11.15 Wegen div B D 0 ist der gesamte magnetische Fluss durch eine
ell vorhandenen Raumladungsdichten die sogenannte Lorentz- geschlossene Oberfläche immer null. Dadurch lässt sich die infinitesimale Än-
Kraftdichte definiert: derung des magnetischen Flusses durch eine Leiterschleife L t gemäß (11.60)
mit dem Fluss durch die bei der Verschiebung der Leiterschleife überstrichene
f L .t; r/ D E.t; r/ C k4 j.t; r/  B.t; r/: (11.54) infinitesimale Mantelfläche dM in Beziehung setzen

Ein wichtiger Spezialfall ist eine bewegte Punktladung q mit


(Abb. 11.15). Wir haben damit
Bahnkurve x.t/. Mithilfe von Dirac-Deltafunktionen können die
I I Z
Ladungs- und Stromdichten wie folgt angeschrieben werden:
dt .v  B/  dr D .dr  v dt/  B D df  B: (11.59)
.t; r/ D q ı.r  x.t// (11.55) L L dM

 q ı.x  x.t// ı.y  y.t// ı.z  z.t//; Wegen der Divergenzfreiheit von B ist aber der gesamte ma-
j.t; r/ D q v .t/ı.r  x.t// (11.56) gnetische Fluss durch die geschlossene Fläche, die von den
infinitesimal verschobenen Flächen des Drahtringes zusammen
mit Momentangeschwindigkeit v .t/ D dx.t/=dt. Die Integrati- mit der infinitesimalen Mantelfläche aufgespannt wird, null:
on über einen Raumbereich, der (nur) dieses Punktteilchen zu Z
einem gegebenen Zeitpunkt enthält, liefert die Lorentz-Kraft df  B C ˚m .F tCdt /  ˚m .F t / D 0 (11.60)
Z dM
F.t/ D dV 0 f L .t; r0 /
(11.57) mit @F t D L t , und wir erhalten
V3fx.t/g R
D q ŒE.t; x.t// C k4 v .t/  B.t; x.t// : dM df  B d
D  ˚m .F t /: (11.61)
dt dt
Hier werden die elektromagnetischen Felder am Ort des Punkt-
teilchens ausgewertet, was nur dann sinnvoll ist, wenn das dort Frage 6
singuläre Eigenfeld ignoriert wird. Überzeugen Sie sich von der Richtigkeit der Vorzeichen im
Wie schon angedeutet, hängt das Faraday’sche Induktionsgesetz Ausdruck (11.60).
mit der Lorentz-Kraft zusammen, auch wenn es als rein feld-
theoretische Gleichung, für die keine Ladungsträger involviert Dies ergibt schließlich
sein müssen, eine eigenständige Gültigkeit hat. I
d
Betrachten wir dazu einen Ring aus einem Metalldraht, der Eind  dr D k4 ˚m .F t / (11.62)
sich in einem reinen Magnetfeld bewegt, dann wirkt auf die dt
L
Leitungselektronen die Kraft q k4 v  B. Vom Standpunkt der
Leitungselektronen, die in ihrem jeweiligen Ruhesystem natür- als Induktionsgesetz für bewegte Leiter in einem gegebenen (rei-
lich v D 0 haben, kann diese Kraft aber nur als eine elektrische nen) Magnetfeld.
erscheinen, mit Eind D k4 v B, und für den gesamten Drahtring Dieser Effekt sollte aber nicht davon abhängen, ob sich der
gilt I I Leiter in einem inhomogenen Magnetfeld bewegt oder ob sich
Eind  dr D k4 .v  B/  dr: (11.58) die dieses Feld erzeugenden Quellen bewegen. Für ruhende
Leiterschleifen und veränderliche Magnetfelder bekommen wir
L L
diesen Effekt aber nur, wenn wir annehmen, dass veränder-
Im Laborsystem, in dem B gegeben ist, bewegt sich dieser liche Magnetfelder ein elektrisches Feld bedingen, das nicht
Drahtring und überstreicht in der Zeit dt eine infinitesima- wirbelfrei ist und für beliebige geschlossene Kurven durch die
le Mantelfläche dM mit Oberflächenelement df D dr  v dt Integralrelation (11.48) gegeben ist.
11.3 Maßsysteme 397

11.2 Die Lichtgeschwindigkeit Geschwindigkeitstransformationen, sofern nicht ein Bezugssys-


tem aus physikalischen Gründen ausgezeichnet ist. Wie schon
in den Maxwell-Gleichungen in Teil I in den Kapiteln zur speziellen Relativitätstheorie be-
sprochen verliefen die Versuche, die Eigengeschwindigkeit des
Äthers, dem physikalischen Medium, in dem diese Wellen-
Die beim Aufstellen der Maxwell-Gleichungen unbestimmt ge-
ausbreitung gedacht wurde, zu messen, allesamt negativ. Die
lassenen Proportionalitätskonstanten k; k2a ; k2b ; k3 und k4 sind
Maxwell-Gleichungen sind nicht nur in einem Inertialsystem, in
nicht komplett voneinander unabhängig und damit nicht ganz
dem dieser Äther in Ruhe ist, gültig, sondern in jedem gleichför-
willkürlich wählbar, denn es steckt in ihnen eine wesentliche
mig bewegten. Wir werden dies später systematisch diskutieren
physikalische Größe, die Lichtgeschwindigkeit.
und die Maxwell-Gleichungen in Kap. 18 in eine Lorentz-kova-
Betrachten wir die Maxwell-Gleichungen im leeren Raum, in riante Form bringen.
Abwesenheit von elektrischen Ladungen und Strömen,
Der absolute, invariante Charakter der Lichtgeschwindigkeit im

Teil II
div E D 0; div B D 0; (11.63) Vakuum wird in modernen metrischen Maßsystemen sogar dazu
ausgenützt, die Längeneinheit Meter aus der Sekunde abzulei-
@ k3 @ ten, indem c der genormte Wert 299 792 458 m/s zugewiesen
rot E D k4 B; rot B D E; (11.64)
@t k @t wird. Die Beziehung (11.67) hat zur Folge, dass bei der Festle-
gung von Maßsystemen in der Elektrodynamik noch über zwei
dann können wir diese Differenzialgleichungen für E und B ent- der drei Konstanten k; k3 ; k4 unabhängig verfügt werden kann.
koppeln, indem wir von den letzten beiden Gleichungen noch
einmal die Rotation bilden und die rechten Seiten mit der je- Bei der Diskussion von magnetischen Dipolen haben wir zwei
weils anderen Gleichung auswerten. Das führt auf den rechten weitere Konstanten eingeführt, k2a und k2b , da auch Einheiten
Seiten zu Zeitableitungen zweiter Ordnung, während auf der für magnetische Dipole festzulegen sind. Tatsächlich ist nur eine
linken Seite die Beziehung von diesen beiden Konstanten frei wählbar. Es lässt sich nämlich
zeigen (Aufgabe 11.9), dass die Kombination
rot rot D grad div   (11.65)
k k2b
D c2 (11.68)
verwendet werden kann (siehe hierzu auch Abschn. 11.5). Da k32 k2a
im Vakuum die Divergenz beider Felder verschwindet, bleibt
nur der Laplace-Operator  übrig, und wir finden für E (und ist. (Die übrigen Faktoren in (11.32) und (11.33) wurden gerade
gleichermaßen für B) die Gleichung so gewählt, dass hier keine zusätzlichen numerischen Faktoren
auftreten.)
k3 k4 @2
E D E: (11.66)
k @t2
Diese Gleichung ist eine Wellengleichung, und k3 k4 =k hat of- 11.3 Maßsysteme
fenbar die physikalische Dimension eines inversen Quadrats
einer Geschwindigkeit, nämlich der Lichtgeschwindigkeit, mit
der sich alle elektromagnetischen Wellen im Vakuum ausbrei- Um nicht weiter drei der fünf Proportionalitätskonstanten
ten: k; k2a ; k2b ; k3 und k4 mitschleppen zu müssen, werden wir ab
k3 k4 1 dem nächsten Abschnitt ein spezielles Maßsystem verwen-
D 2: (11.67) den und alle diese Konstanten geeignet fixieren. Zuvor sollen
k c
allerdings die in der physikalischen und technischen Literatur
Dass in der Kombination dieser in den Gleichungen des Elek- gebräuchlichen Maßsysteme kurz diskutiert werden.
tromagnetismus auftretenden Konstanten unabhängig vom ver-
wendeten Maßsystem gerade die Lichtgeschwindigkeit steckt, Die verschiedenen historisch bedingten Maßsysteme unter-
war schon 1857 Wilhelm Weber (1804–1891) und Rudolf Kohl- scheiden sich in der Elektrodynamik leider stärker voneinander
rausch (1809–1858) aufgefallen, bevor Maxwell erkannte, dass als die diversen Einheitensysteme in Geometrie und Mechanik.
in seinen Gleichungen die Wellenausbreitung von elektroma- Zum Beispiel kann eine Masse in Gramm, Kilogramm oder Un-
gnetischen Feldern im Vakuum enthalten ist. Experimentell zen angegeben werden, sie bleibt ein und dieselbe physikalische
bestätigt wurde dies 1886, einige Jahre nach Maxwells frühem Größe; die Umrechnung der jeweiligen Maßzahl ist einfach eine
Tod, durch Heinrich Hertz (1857–1894). Die Ausbreitung elek- dimensionslose Zahl.
tromagnetischer Wellen und die Optik, die damit als Teilgebiet
In der Elektrodynamik werden in den unterschiedlichen Maß-
der Elektrodynamik erkannt wurde, werden wir in Kap. 16 und
systemen mit unterschiedlichen ki aber die elektromagneti-
17 weiter betrachten.
schen Größen unterschiedlich definiert und sollten eigentlich
Das Auftreten der Lichtgeschwindigkeit in den Konstanten der durch verschiedene Symbole unterschieden werden. So haben
Maxwell-Gleichungen bedeutet einen offensichtlichen Konflikt in manchen Systemen elektrische und magnetische Felder glei-
mit der üblichen Invarianz der Naturgesetze unter Galilei’schen che Dimension, während in anderen noch dimensionsbehaftete
398 11 Die Maxwell-Gleichungen

Tab. 11.1 Proportionalitätskonstanten in den verschiedenen Maßsystemen der


Elektrodynamik div B D 0 (11.70)
Maßsystem k k2a k2b k3 k4 1 @
esE (ESU) 1 c2 1 1=c2 1 rot E D  B (11.71)
emE (EMU) c2 1 1 1 1 c @t
4 1 @
Gauß 1 1 1 1=c 1=c rot B D jC E (11.72)
SI 1=.4 0 / 1=0 1=.4 / 0 =.4 / 1 c c @t
Heaviside-Lorentz 1=.4 / 1 1=.4 / 1=.4 c/ 1=c 1
fL D E C j  B (11.73)
c

Faktoren benötigt werden, um sie quantitativ vergleichen zu


können. Wir werden im Folgenden die verschiedenen elektro- Im Gauß’schen System (wie in allen CGS-Systemen) werden
Teil II

magnetischen Größen in den unterschiedlichen Maßsystemen keine neuen Grundeinheiten für elektrische Ladung oder Strom-
daher mit einem Etikett versehen, ŒMS ; EŒMS : : : ; wobei [MS] stärke oder auch die Feldstärken definiert, da alles durch die
das jeweilige durch die Gesamtheit der ki festgelegte Maßsys- Einheiten der Mechanik bereits festgelegt werden kann. Das
tem bezeichnet. Coulomb’sche Gesetz bedingt, dass das Quadrat einer elektri-
schen Ladung die Dimension von Kraft mal Längenquadrat hat:

ŒQ2 D ŒF  ŒL2 : (11.74)


CGS-Einheiten
Und da Kraft die Dimension von Masse (ŒM) mal Beschleuni-
gung (ŒL=ŒT2 ) hat, folgt für die Dimension der elektrischen
Innerhalb des älteren CGS-Systems waren in der Vergangenheit Ladung
eine Reihe von unterschiedlichen Systemen gebräuchlich. ŒQ D ŒM1=2 ŒL3=2 ŒT1 : (11.75)
Nur in alten Lehrbüchern zu finden sind das sogenannte elek-
trostatische CGS-Einheitensystem (esE oder ESU) und das (Die eckigen Klammern um Q, M, L und T bedeuten hier, dass
elektromagnetische CGS-System (emE oder EMU). In diesen wir uns nur für die physikalische Dimension interessieren, nicht
Systemen wird das Induktionsgesetz durch k4 D 1 maximal ver- für reine Zahlen, die, wie man sagt, dimensionslos sind.) Daher
einfacht und der gemäß (11.67) auftretende Faktor c2 entweder ist im CGS-System die Einheit für Ladung g1=2 cm3=2 s1 , und
aus der Definition der elektrischen Ladung oder aus der Defini- diese Kombination wird als Statcoulomb (statC) bezeichnet.
tion der magnetischen Quellterme herausgehalten (Tab. 11.1). 1 statC ist einfach die Ladungsmenge, die im Abstand von 1 cm
von einer identischen Ladung die Kraft von 1 dyn D 1 g cm s2
Allerdings impliziert k4 D 1 und damit rot E D @ t B, dass verursacht. Die Einheit für elektrische (und damit für magneti-
elektrische und magnetische Felder unterschiedliche Dimension sche) Feldstärke ist Kraft- pro Ladungseinheit, also dyn=statC;
tragen, denn die räumliche Ableitung hat inverse Längendi- im Zusammenhang mit Magnetfeldern wird diese Einheit als
mension und die zeitliche Ableitung inverse Zeitdimension. Gauß (G) bezeichnet, und sie ist weiterhin eine gebräuchli-
Verhältnisse von E- und B-Felder haben dann die Dimension che Einheit, die mit der SI-Einheit Tesla (T) relativ einfach
einer Geschwindigkeit. Es ist daher symmetrischer, die ohnehin per 1 T D 104 G zusammenhängt. Ganz ähnlich können alle
irgendwo in den Konstanten auftretende Lichtgeschwindigkeit anderen Einheiten der Elektrodynamik auf die der Mechanik
in k4 zu stecken und k4 D 1=c zu setzen. Diese Wahl wird im zurückgeführt werden. Mit Ausnahme der Einheit Gauß sind
Gauß’schen Maßsystem getroffen, das auch „gemischtes CGS- aber die übrigen Einheiten des Gauß’schen Systems wie Statvolt
System“ genannt wird, weil einerseits wie im esE das Cou- (statV) und Statampere (statA) inzwischen unüblich und durch
lomb-Gesetz durch k D 1 einfachst möglich gehalten wird die des SI-Systems verdrängt worden. (Eine Umrechnungsta-
und andererseits wie im emE die magnetischen Größen durch belle findet sich am Ende dieses Abschnitts.)
k2a D k2b D 1 definiert werden.
Die Grundgleichungen der Elektrodynamik sind in diesem Sys-
tem sehr symmetrisch und daher in der Literatur zur theore- SI- bzw. MKSA-System
tischen Physik weiterhin sehr verbreitet. Im Folgenden wird,
wenn nicht anders angegeben, das Gauß’sche System verwen-
det werden. Auch im SI- bzw. MKSA-System werden die verschiedenen
Einheiten der Elektrodynamik letztlich aus der Mechanik abge-
leitet, allerdings wird dabei eine neue Grundeinheit postuliert,
Grundgleichungen im Gauß’schen System das Ampere (A), und dessen Definition in die Proportionalitäts-
konstanten ki eingebaut.
div E D 4 (11.69) In diesem Maßsystem wurde 1948 das Ampere als jene Strom-
menge definiert, die beim Durchgang durch zwei unendlich
11.3 Maßsysteme 399

lange, parallele, geradlinige Drähte mit vernachlässigbar klei- Heaviside-Lorentz-System


nem Querschnitt bei 1 m Abstand eine Kraft von 2  107 N je
Meter der Doppelleitung hervorruft.
In der theoretischen Physik, speziell in der Teilchenphysik, ist
Dabei bezieht man sich auf die aus den Grundgleichungen her- eine Variante des Gauß’schen Systems sehr verbreitet, bei der
leitbare Formel (Aufgabe 11.7) wie im SI-System in den Maxwell-Gleichungen keine Faktoren
4 aufscheinen, aber kein 0 oder 0 eingeführt wird.
2I1 I2
F=l D k3 k4 ; (11.76)
d
Grundgleichungen im Heaviside-Lorentz-System
wobei I1 , I2 die Stromstärken in idealisierten parallelen Leitern
mit Abstand d sind. Wie in den älteren, unsymmetrischen CGS-
Systemen wird im SI-System k4ŒSI D 1 gewählt, d. h., man defi- div EŒH D ŒH
(11.85)

Teil II
ŒH
niert
0 div B D0 (11.86)
k3ŒSI  D 107 N=A2 ; (11.77) 1 @ ŒH
4 rot EŒH D  B (11.87)
wobei 0 die Permeabilitätskonstante des Vakuums genannt c @t
1 1 @ ŒH
wird. Offensichtlich handelt es sich dabei aber um keine Na- rot BŒH D jŒH C E (11.88)
turkonstante, sondern um eine reine Konvention. c c @t
1
Wegen (11.67) ist k damit auf k D c2 k3 fixiert, und man definiert f L D ŒH EŒH C jŒH  BŒH (11.89)
c
1 1
kŒSI D ; 0  I (11.78)
4 0 c2  0 In der Teilchenphysik werden darüber hinaus gern natürli-
0 ist die sogenannte Dielektrizitätskonstante des Vakuums. che anstelle der CGS-Einheiten verwendet. Hierbei wird c D
1 gesetzt, wodurch Längeneinheiten durch Zeiteinheiten de-
finiert werden (ganz ähnlich wie in der Astronomie, wo das
Grundgleichungen im SI-System Lichtjahr eine gebräuchliche Längeneinheit ist). Allerdings
kann man dies weitertreiben, und auch die Naturkonstante des
1 Planck’schen Wirkungsquantums (siehe hierzu Kap. 21) „ D 1
div EŒSI D ŒSI
(11.79) setzen, womit Zeit- und Längeneinheiten durch inverse Energie-
0
einheiten gegeben werden. In der Hochenergiephysik hat sich
div BŒSI D 0 (11.80) hierbei das Gigaelektronenvolt (GeV) als geläufige Einheit ein-
@ gebürgert. 1 eV ist die Energie, die eine Elementarladung beim
rot EŒSI D  BŒSI (11.81) Durchqueren einer Potenzialdifferenz von 1 Volt gewinnt oder
@t
@ ŒSI verliert; 1 GeV ist näherungsweise die Ruheenergie bzw. Ru-
rot BŒSI D 0 jŒSI C 0 0 E (11.82) hemasse eines Protons (wegen c D 1 sind auch Energie- und
@t
Masseneinheiten gleichgesetzt), und 1 GeV1 entspricht nähe-
f L D ŒSI EŒSI C jŒSI  BŒSI (11.83) rungsweise 0;2 fm (0;2  1015 m).

Hierbei ist 0 0  1=c2 .

Umrechnungsvorschriften
Diese Gleichungen lassen sich etwas übersichtlicher schreiben,
wenn man bereits auf der Ebene der fundamentalen Maxwell-
Um Formeln aus dem Gauß’schen System in das SI-System
Gleichungen in den zwei Gleichungen, in denen die Quellen
oder das Heaviside-Lorentz-System umzuschreiben, genügt es,
eingehen, die magnetische Feldstärke als HŒSI D 1
0 B
ŒSI
und folgende Identifikationen zu machen (während Größen aus der
ŒSI
das sogenannte dielektrische Verschiebungsfeld D D 0 EŒSI Mechanik unberührt bleiben):
einführt. (Im Gauß’schen System werden die Felder D und H
p p
dagegen erst in der phänomenologischen Beschreibung von Ma- E D 4 0 EŒSI D 4 EŒH ; (11.90)
terie, in Kap. 14 und 15, eingeführt.) s
4 p
Die Definition des magnetischen Moments wird im SI-System BD BŒSI D 4 BŒH ; (11.91)
schließlich durch 0
1 ŒSI 1 ŒH
ŒSI 1 ŒSI 1 D p D p ; (11.92)
k2a D ; k2b D (11.84) 4 0 4
0 4
1 1
jD p jŒSI D p jŒH ; (11.93)
fixiert. 4 0 4
400 11 Die Maxwell-Gleichungen

Vertiefung: Verschiedene Definitionen von Ampere

Die aus theoretischer Sicht etwas willkürliche Definition sogenannte „internationale Ampere“ über eine bestimmte
einer Grundeinheit Ampere rührt historisch daher, dass es ur- Menge an elektrolytischer Abscheidung von Silber aus einer
sprünglich (1881) als ein Zehntel des Abampere (abA) oder Silbernitratlösung festlegte, aber mit der Zeit nicht mehr mit
auch Biot (Bi), der Einheit der Stromstärke im emE-System, hinreichender Genauigkeit mit der ursprünglichen Definiti-
definiert worden war. In diesem System ist k3 k4 D 1, und on übereinstimmte. Mit der SI-Definition des sogenannten
das Abampere ist die Stromstärke, die gemäß (11.76) zu der absoluten Ampere kehrte man 1948 zur ursprünglichen De-
Kraft von 2 dyn pro Zentimeter Leiterlänge bei 1 cm Abstand finition zurück.
der parallelen Leiter gehört. (Während 1 abA D 10 A eine
Aktuell wird allerdings eine neue SI-Definition diskutiert,
etwas große Stromeinheit darstellt, ist im Gauß’schen Sys-
Teil II

tem das Statampere, für dessen Definition k3 k4 D 1=c2 die die Amperesekunde als ein bestimmtes Vielfaches der
1021 .cm=s/2 ins Spiel kommt, die extrem winzige Strom- Elementarladung festschreibt. Damit wird im SI-System die
Elementarladung den Status einer Naturkonstante verlieren
menge von etwa 1=3 Nanoampere, die zur Kraft von
2  1021 dyn gehört.) und dieser Status stattdessen auf 0 bzw. 0 übergehen. Letz-
tere werden dann nur mehr näherungsweise durch (11.77)
Aus praktischen Gründen hatte sich später eine Definition und (11.78) gegeben und mit einem gewissen experimentel-
von Stromstärken und Ladungsmengen eingebürgert, die das len Fehler behaftet sein.

r r
mD
0 ŒSI
m D
1 ŒH
m : (11.94) 11.4 Energie- und Impulsbilanz
4 4

Umgekehrt können damit leicht Formeln aus anderen Lehrbü- In einem dynamischen System beschrieben durch Bewegungs-
chern, die das SI-System oder das Heaviside-Lorentz-System gleichungen für geladene Teilchen und Maxwell-Gleichungen
benutzen, in das hier verwendete Gauß’sche System umge- für die elektromagnetischen Felder, die letztlich wieder von ge-
rechnet werden. (Für die Umrechnung der diversen Einheiten ladenen Teilchen herrühren, kann es zu einem regen Austausch
zwischen Gauß’schem und SI-System siehe Kasten „Übersicht: von Energie und Impuls kommen. Wir werden nun zeigen, dass
Umrechnungstabelle“.) diese Erhaltungssätzen unterworfen sind und dass den Feldern
dabei eine weitgehend eigenständige Rolle als Träger von Ener-
Im Folgenden werden wir uns auf das Gauß’sche Maßsystem gie und Impuls zukommt.
beschränken. In diesem lauten die Maxwell-Gleichungen, noch-
mals alternativ mit r angeschrieben,

r ED4 ; (11.95) Energiesatz der Elektrodynamik


1 4
r  B  @t E D j; (11.96) Die mechanische Arbeit, die an einer Punktladung q am Ort x.t/
c c
r  B D 0; (11.97) während der infinitesimalen Zeit dt durch elektromagnetische
Felder geleistet wird, ist durch das Skalarprodukt von Lorentz-
1
r  E C @ t B D 0; (11.98) Kraft  v 
c FDq EC B (11.100)
c rDx.t/
wobei wir die beiden letzten Gleichungen, in denen keine Quell-
terme auftreten, als homogene Maxwell-Gleichungen und die und der infinitesimalen Verschiebung ds D v dt gegeben:
beiden ersten als inhomogene bezeichnen werden. Vervollstän-  v 
digt werden sie durch Bewegungsgleichungen für die Träger dW mech D F  ds D q E C  B  v dt D q E  v dt:
c
von Ladungs- und Stromdichten, in denen die Lorentz-Kraft- (11.101)
dichte Wir ersehen daraus, dass das Magnetfeld keinen Beitrag liefert,
1 weil die von ihm verursachten Kräfte immer senkrecht auf der
fL D E C j  B (11.99)
c momentanen Geschwindigkeit stehen.
eingeht. Dieses Resultat für eine einzelne Punktladung können wir mit
j.t; r/ D qv .t/ı.r  x.t// auch schreiben als
Frage 7
Z
Wie schreiben sich diese Gleichungen explizit in Indexschreib- dWVmech
weise für kartesische Koordinaten (mit Summenkonvention)? D dV j.t; r/  E.t; r/; (11.102)
dt
V
11.4 Energie- und Impulsbilanz 401

Übersicht: Umrechnungstabelle
Umrechnung zwischen Gauß’schem und SI-System

Größe Symbol 1 SI Einheit entspricht x Gauß-Einheiten


Länge l 1 Meter (m) 102 Zentimeter (cm)
Masse m 1 Kilogramm (kg) 103 Gramm (g)
Zeit t 1 Sekunde (s) 1 Sekunde (s)
Frequenz f ; ; !=.2 / 1 Hertz (Hz) (D 1=s) 1 Hertz (Hz)
Kraft F 1 Newton (N) 105 dyn
Arbeit, Energie W; E 1 Joule (J) 107 erg

Teil II
Energiedichte w 1 Joule=m3 10 erg=cm3
Leistung P 1 Watt (W) 107 erg=s
Drehmoment M; N 1 Nm 107 dyn cm
Größe Symbol 1 SI Einheit entspricht x Gauß-Einheiten
1
elektrische Ladung Q; q 1 Coulomb (C) (D As) 3Q  109 statC ( g1=2 cm3=2 s )
elektrische Ladungsdichte 1 Coulomb=m3 3Q  103 statC=cm 3
1
elektrisches Potenzial ;U 1 Volt (V) (D W=A) 1
3Q00
statV ( g1=2 cm1=2 s )
elektrische Feldstärke E 1 Volt=m 1
3Q
 104 statV=cm
elektrische Verschiebung D 1 Coulomb=m 2
3Q  4  105 statV=cm
elektrische Polarisation P 1 Coulomb=m2 3Q  105 statC=cm2
elektrisches Dipolmoment p 1 Coulomb m 3Q  1011 statC cm
elektrischer Fluss ˚e 1 As 3Q  4  109 statC
Größe Symbol 1 SI Einheit entspricht x Gauß-Einheiten
2
elektrischer Strom I 1 Ampere (A) 3Q  109 statA ( g1=2 cm3=2 s )
elektrische Stromdichte j 1 Ampere=m2 3Q  105 statA=cm 2

magnetische Induktion B 1 Tesla (T) (D Wb=m2 ) 104 Gauß (G)


magnetische Feldstärke H 1 Ampere=m 4  103 Oersted (Oe)
Magnetisierung M 1 Ampere=m 103 Oersted (Oe)
magnetisches Moment m 1 Ampere m2 103 erg=G
magnetischer Fluss ˚m 1 Weber (Wb) (D Vs) 108 Maxwell (Mx)
Größe Symbol 1 SI Einheit entspricht x Gauß-Einheiten
elektrische Leitfähigkeit  1 Siemens=m ( 1 =m) 9Q  109 1/s
elektrischer Widerstand R 1 Ohm () (D V=A) 1
9Q
 1011 s=cm
elektrische Kapazität C 1 Farad (F) (D As=V) Q9  1011 cm
Induktivität L 1 Henry (H) (D Vs=A) 1
9Q
 1011 s2 =cm

3Q WD 2;99792458, 9Q WD 3Q 2

sofern im Volumen V gerade dieses eine Punktteilchen zum Umformungen zu erkennen, worin die elektromagnetische Feld-
betrachteten Zeitpunkt enthalten ist. Dank des Superpositions- energie besteht, die hier in mechanische Energie umgewandelt
prinzips ist der Ausdruck auf der rechten Seite aber allgemeiner wird. (Da wir hier auf mikroskopischer Ebene arbeiten, haben
gültig. Für beliebige Ladungs- und Stromverteilungen und j wir nur mechanische Energie zu betrachten; auf makrosko-
lautet die Leistungsdichte pischer Ebene erscheint diese oft in Form von thermischer
Energie.)
@ t wmech .t; r/ D j.t; r/  E.t; r/; (11.103)
Die inhomogene Maxwell-Gleichung (11.96) kann rückwärts
gelesen werden als Gleichung für j,
wobei wir mit wmech eine Dichte für die mit den Ladungs-
und Stromverteilungen verbundene Energie eingeführt haben. c 1
(Arbeit bzw. Energie bezeichnen wir hier mit dem Symbol W jD r B @ t E; (11.104)
4 4
anstatt mit A oder E, um Verwechslungen mit Vektorpotenzial
und elektrischer Feldstärke zu vermeiden.) und liefert multipliziert mit E einen Term, der wie die Leis-
tungsdichte eine totale Zeitableitung darstellt:
Mithilfe der Maxwell-Gleichungen lässt sich diese Leistungs-
dichte rein durch elektromagnetische Feldgrößen ausdrücken. 1 1
Dies erlaubt, wie wir gleich sehen werden, nach geeigneten  E  @ t E D  @ t .E2 /: (11.105)
4 8
402 11 Die Maxwell-Gleichungen

Der weitere Term proportional zu E  .r  B/ enthält räumliche


Ableitungen, auf eine totale räumliche Ableitung fehlt aber ein Energie(erhaltungs)satz der Elektrodynamik
Term, wie folgende Rechnung in Indexnotation zeigt: I
d
.W mech C WVem / D  df  S (11.113)
Ei "ijk @j Bk D @j .Ei "ijk Bk /  .@j Ei /"ijk Bk dt V
@V
(11.106)
D @j ."jik Ei Bk / C Bk "kji @j Ei : Er besagt, dass die zeitliche Änderung der gesamten im
Volumen V vorhandenen Energie (mechanische Energie
In Vektoranalysisnotation haben wir damit gezeigt, dass gilt: und elektromagnetische Feldenergie) bestimmt ist durch
einen durch das Poynting-Vektorfeld gegebenen Energie-
E  .r  B/ D r  .E  B/ C B  .r  E/: (11.107) strom durch die Oberfläche des Volumens.
Teil II

Im letzten Term lässt sich aber die homogene Maxwell-Glei- Vorausgesetzt wird hierbei, dass das Volumen V so gewählt
chung (11.98) verwenden, und dies liefert eine weitere totale ist, dass zum betrachteten Zeitpunkt keine Ladungsträger die-
Zeitableitung: ses verlassen oder in dieses eintreten.
1 1 1
B  .r  E/ D  B  .@ t B/ D  @ t .B2 /: (11.108)
c c 2
Impulssatz der Elektrodynamik
Mit allen Vorfaktoren bekommen wir damit j  E dargestellt als
totale Raum- und Zeitableitungen von Größen, die nur aus den Ganz analog zum Energieerhaltungssatz kann man auch einen
Feldstärken gebildet sind Impulssatz für die Elektrodynamik aufstellen. Die zeitliche
Änderung des mechanischen Impulses Pmech
V aller in einem Vo-
@ t wmech D j  E (11.109) lumen V vorhandenen Ladungsträger und Ströme ist durch das
 c   
1 2 Volumenintegral über die Lorentz-Kraftdichte (11.54) gegeben:
D r  E  B  @t .E C B2 / : Z  
4 8 d mech 1
PV D FmechV D dV E C j  B : (11.114)
dt c
Diese Gleichung hat die Form einer Kontinuitätsgleichung V
(ganz analog zu (11.44)),
Wieder können die inhomogenen Maxwell-Gleichungen zu-
erst dazu verwendet werden, die Quellterme (diesmal sowohl
@t w C r  S D 0 mit w D wmech C wem : (11.110)
j als auch ) durch die elektromagnetischen Feldstärken aus-
zudrücken. In einem zweiten Schritt können die entstehenden
Diese legt nahe, neben der mechanischen Energiedichte wmech Ausdrücke dann als totale räumliche und zeitliche Ableitungen
eine Energiedichte und eine Energiestromdichte des elektroma- dargestellt werden. Das Resultat ist (siehe Aufgabe 11.11 für
gnetischen Feldes zu definieren. die zugehörige Rechnung)
 
1 1
Energiedichte des elektromagnetischen Feldes E C j  B D @ t .E  B/k
c k 4 c
 (11.115)
1  2  1 1
wem D E C B2 (11.111) C @i Ei Ek C Bi Bk  ıik .E2 C B2 / :
8 4 2
Die Größe, die unter der Zeitableitung steht, repräsentiert die
Impulsdichte des elektromagnetischen Feldes und gleicht bis auf
einen Vorfaktor dem Poynting-Vektorfeld.
Energiestromdichte des elektromagnetischen Feldes
c
SD .E  B/ ; (11.112)
4 Impulsdichte des elektromagnetischen Feldes
auch als Poynting-Vektorfeld bezeichnet (benannt nach 1 1
gem D .E  B/ D 2 S (11.116)
dem britischen Physiker John Henry Poynting, 1852– 4 c c
1914).
Über das Volumen integriert ergibt dies den darin enthaltenen
Feldimpuls: Z
Die Integration über ein Volumen V mit Rand @V unter Ver-
wendung des Gauß’schen Satzes liefert eine Beziehung, die die Pem D dV gem : (11.117)
Energiebilanz für dieses Volumen beschreibt. V
11.4 Energie- und Impulsbilanz 403

Der Term, der sich als totale räumliche Ableitung schreiben die von Poynting-Vektor und Maxwell’schem Spannungstensor
ließ, ist nun die Divergenz eines symmetrischen Tensors zwei- geliefert werden, im Allgemeinen nicht vernachlässigbar wer-
ter Stufe, der die Impulsstromdichte darstellt und Maxwell’scher den können.
Spannungstensor genannt wird:
Achtung Dafür, dass im elektromagnetischen Feld Impuls
 und Energieströme vorliegen, ist es nicht notwendig, dass dieses
1 1 wie bei Strahlungsfeldern zeitlich veränderlich ist. Impuls- und
Tik D Ei Ek C Bi Bk  ıik .E2 C B2 / : (11.118)
4 2 Energiestromdichte sind beide proportional zu E  B und kom-
men ins Spiel, sobald gleichzeitig E- und B-Felder vorhanden
(Der Begriff „Spannung“ ist hier in einem mechanischen und sind, die nicht überall parallel sind. J
nicht elektrischen Sinn zu verstehen.) Die Integration von @i Tik
über ein Volumen V lässt sich mit dem Gauß’schen Satz, bei Feynman’sches Scheibenparadoxon
dem der zusätzliche Index k überhaupt keine Rolle spielt, wieder

Teil II
als ein Oberflächenintegral darstellen. Dies führt auf eine Bi- Auf einer drehbaren isolierenden Scheibe seien posi-
lanzgleichung für den gesamten in V enthaltenen Impuls, wenn tiv geladene Partikel kreisförmig um eine supraleitende
wiederum angenommen wird, dass zum betrachteten Zeitpunkt Spule angeordnet, in der ein konstanter Strom fließt
keine Ladungsträger den Rand @V durchqueren. (Abb. 11.16). Diese Anordnung hat keinen mechanischen
Drehimpuls, zumindest wenn man sich für die Zwecke
dieses Gedankenexperiments vorstellt, dass der Strom
Impuls(erhaltungs)satz der Elektrodynamik aus gegenläufigen Strömen von gleich schweren positiven
I
d  mech  und negativen Ladungsträgern gebildet wird. Wird nun
P C Pem
V k D dfi Tik (11.119) der Stromfluss unterbrochen, weil z. B. eine Erhöhung
dt V
@V der Umgebungstemperatur die Supraleitfähigkeit zerstört
hat, dann folgt aus dem Faraday’schen Induktionsgesetz,
dass entlang des Kreises, auf dem die Ladungen sitzen,
ein tangentiales elektrisches Feld induziert wird. Dieses
Der Impulserhaltungssatz (11.119) stellt die zeitliche Änderung sollte die drehbare Scheibe zum Rotieren bringen kön-
des Impulses in einem Volumen über den „Impulsfluss“ durch nen. Aber wie kann das mit der Drehimpulserhaltung in
den Rand dieses Volumens dar. Er erlaubt es, die gesamte auf Einklang sein, wenn doch der anfängliche mechanische
ein Volumen V einwirkende Kraft als ein Integral über die Span- Drehimpuls null war (Feynman et al. 2005)?
nung (Kraft pro Fläche) auf dessen Oberfläche darzustellen. Je
nach Richtung dieser Kraft bezüglich der Flächennormale (die
immer nach außen zeigt) gibt es Beiträge, die Druck, Zug oder
Scherspannungen entsprechen. Druck und Zug sind hier Kräf-
te, die entgegen bzw. in Richtung der Flächennormale wirken;
Scherspannungen sind Kräfte orthogonal dazu, also tangential supraleitende
zur betrachteten Fläche (siehe hierzu auch Abschn. 8.5). Spule

Frage 8
positiv geladene
Lesen Sie aus (11.118) die Tatsache ab, dass eine (elektri- Kugeln
sche oder magnetische) Feldstärke entlang oder entgegen der
Flächennormale immer Zug bedeutet, während tangentiale Fel-
der immer zu Druck führen. (Das heißt, Feldlinien kann man I
sich gleichsam wie gespannte Gummibänder mit einer gewissen
Dicke vorstellen, die bei seitlicher Kompression Gegendruck
entwickeln.)

Energie- und Impulssatz demonstrieren die Tragweite des Feld-


begriffs, der von Maxwell zu voller Reife gebracht wurde. Die
elektromagnetischen Felder erscheinen als eigenständige phy- Abb. 11.16 Feynman’sches Scheibenparadoxon. Wird der Stromfluss
sikalische Objekte, die mehr sind als Hilfsgrößen, mit denen in der supraleitenden Spule durch Erwärmung gestoppt, sollte aufgrund
über die Kräfte zwischen elektrischen Ladungen und Strömen der Faraday’schen Induktion ein tangentiales elektrisches Feld induziert
werden, das die Scheibe in Rotation versetzt. Oder widerspräche dies der
Buch geführt wird. Wie wir später noch sehen werden, gibt es
Erhaltung des Drehimpulses, da anfangs kein mechanischer Drehimpuls
neben Feldern, die wie 1=r2 abfallen, auch noch Strahlungsan- vorhanden ist und die elektromagnetischen Größen allesamt stationär
teile, bei denen E und B nur wie 1=r gehen, sodass auch im sind?
Limes unendlich großer Volumina V die Oberflächenbeiträge,
404 11 Die Maxwell-Gleichungen

Die Auflösung dieses Rätsels liegt darin, dass im elek- B D r  A; (11.125)


tromagnetischen Feld ein Drehimpuls gespeichert ist,
obwohl dieses rein statisch ist. Die Impulsdichte gem D
.E  B/=.4 c/ verschwindet nicht, wenn nichtparallele weil allgemein gilt, dass die Divergenz eines Rotationsfeldes
E- und B-Felder vorhanden sind, und können wie hier ei- verschwindet:
ne Drehimpulsdichte r  gem für das elektromagnetische
r  .r  A/  0: (11.126)
Feld ergeben, die über den ganzen Raum aufintegriert un-
gleich null ist. (Für eine explizite Rechnung hierzu vgl.
Ma 1986; für eine Variante dieses Paradoxons, die auf Eingesetzt in (11.123) ergibt dies, dass folgende Rotation ver-
einfachere Rechnungen führt, vgl. Griffiths 2011, Kap. schwinden muss:
8.2.4.) J  
Teil II

1
r  E C @ t A D 0: (11.127)
c

Dies kann gelöst werden, indem der Ausdruck in der Klammer


als Gradient eines skalaren Potenzials geschrieben wird:
11.5 Elektrodynamische Potenziale
1
Wir wenden uns nun wieder den Maxwell-Gleichungen selbst E D r  @ t A; (11.128)
zu, mit dem Ziel, etwas über ihre konkrete Lösbarkeit auszu- c
sagen. Dies wird uns auf Hilfsgrößen führen, die nur bedingt
physikalisch interpretierbar sind, aber dennoch eine erstaunlich
weil außerdem allgemein gilt, dass die Rotation eines Gradien-
fundamentale Rolle spielen (siehe hierzu Abschnitt „So geht’s
tenfeldes verschwindet:
weiter“ am Ende von Teil II).
Die Maxwell-Gleichungen sind ein System von (gekoppelten) r  .r /  0: (11.129)
partiellen Differenzialgleichungen erster Ordnung. Die inhomo-
genen Maxwell-Gleichungen
Frage 9
r ED4 ; (11.120) Übersetzen Sie (11.126) und (11.129) in Indexschreibweise und
1 4 überzeugen Sie sich dadurch von der Gültigkeit dieser Glei-
r  B  @t E D j (11.121) chungen! Erinnern Sie sich dabei an den Satz von Schwarz über
c c
die Vertauschbarkeit partieller Ableitungen.
als auch die homogenen Maxwell-Gleichungen

r  B D 0; (11.122) Betrachtet man die beiden Terme auf der rechten Seite von
(11.128), so erkennt man, dass die Potenziale und A gleiche
1 physikalische Dimension haben, da sowohl r als auch @=@.ct/
r  E C @t B D 0 (11.123)
c die Dimension einer inversen Länge haben.
sind jeweils eine skalare und eine vektorielle Gleichung. Kom-
ponentenweise betrachtet sind dies acht Gleichungen für sechs
zu bestimmende Felder. Diese Gleichungen sind offenbar teil- Feldgleichungen der elektromagnetischen
weise redundant. In der Tat sind sie auch nicht für beliebige
Quellterme lösbar, sondern nur wenn diese die Kontinuitätsglei- Potenziale
chung (11.44) erfüllen:
Durch Einsetzen von (11.125) und (11.128) in die Maxwell-
r  j C @ t D 0: (11.124) Gleichungen ergeben sich partielle Differenzialgleichungen
zweiter Ordnung. Gleichung (11.120) führt auf
Diese wurde ja bei der Einführung des Maxwell’schen Verschie-
bungsstromes verwendet. 1
 C @ t r  A D 4 : (11.130)
Die homogenen Maxwell-Gleichungen können ganz allgemein c
dadurch gelöst werden, dass neue Felder, die Potenziale, einge-
führt werden. Gleichung r B D 0 kann erfüllt werden, indem B Für (11.121) benötigen wir die schon früher verwendete Bezie-
als Rotation eines anderen Vektorfeldes, des Vektorpotenzials A, hung (11.65), die wir nun etwas näher besprechen werden. In
geschrieben wird, Indexnotation berechnet sich rot rot A D r  .r  A/ wie folgt:
11.5 Elektrodynamische Potenziale 405

Mit freiem (äußeren) Index i haben wir "ijk @j ."klm @l Am / auszu- Frage 10
werten. Dabei können wir Rechnen Sie explizit nach, dass die Feldstärken E und B unter
"ijk "klm D ıil ıjm  ıim ıjl Eichtransformationen invariant sind.

verwenden. Der erste Term liefert @i @j Aj , der zweite @j @j Ai D


Ai , also Die gewisse Freiheit, die sich durch die Möglichkeit von
Eichtransformationen ergibt, lässt sich dazu benützen, Rela-
r  .r  A/ D r .r  A/  A: (11.131) tionen zwischen den Potenzialen herzustellen, die die Bestim-
mungsgleichungen für die Potenziale vereinfachen. Da eine
Achtung Diese Rechnung zeigt, dass wir nur in den hier- skalare Funktion .t; r/ offen ist, kann man genau eine weitere
bei verwendeten kartesischen Komponenten erwarten können, skalare Bedingung auferlegen.
dass .A/i einfach Ai ist. Würde A in anderen Komponenten

Teil II
angegeben, wäre das nicht der Fall. Wenn z. B. in Kugelkoordi-
naten gerechnet wird, ist es daher ratsam, weiterhin Ax ; Ay ; Az
zu verwenden und diese kartesischen Komponenten von Ku- Lorenz-Eichung
gelkoordinaten abhängen zu lassen. Nur dann ist der Laplace-
Operator der übliche skalare Operator, mit seiner bekannten In der sogenannten Lorenz-Eichung, die auf den dänischen Phy-
Form in Kugelkoordinaten (2.134). Andernfalls müssten wir siker Ludvig Lorenz (1829–1891) zurückgeht, verlangt man als
einen sogenannten Vektor-Laplace-Operator einführen, der die zusätzliche Bedingung
Komponenten von Ar ; A# ; A' mischt. J
1
Gleichung (11.121) liefert somit r  A C @t D 0 (11.136)
c
   
1 1 4 und erreicht damit, dass die Differenzialgleichungen für die Po-
  2 @2t A  r r  A C @ t D  j: (11.132)
c c c tenziale, (11.132) und (11.133), voneinander entkoppeln. Diese
vereinfachen sich damit zu separaten inhomogenen Wellenglei-
Mittels trivialer Addition und Subtraktion einer zweiten Zeitab- chungen,
leitung von kann auch (11.130) in eine recht ähnliche Form
gebracht werden:  .t; r/ D 4 .t; r/; (11.137)
    4
1 1 1 A.t; r/ D j.t; r/; (11.138)
  2 @2t C @t r  A C @t D 4 : (11.133) c
c c c
mit dem sogenannten d’Alembert-Operator (auch Wellenopera-
tor oder Quabla-Operator)
Eichinvarianz 1 2
 WD @  ; (11.139)
c2 t
Durch den Übergang zu den Potenzialen , A haben wir nur der in Kap. 16 und 19 noch eingehender betrachtet werden wird.
noch vier Feldkomponenten zu bestimmen, was der Anzahl
Gleichung (11.136) eliminiert übrigens die Möglichkeit zu
an Komponenten in den verbleibenden inhomogenen Max-
Eichtransformationen nicht vollständig; es bleibt eine Rest-
well-Gleichungen entspricht. Dies ist für viele Anwendungen
Eichfreiheit mit Eichfunktionen , die  D 0 erfüllen (siehe
eine bedeutende Vereinfachung, und wir werden in den folgen-
Aufgabe 11.15).
den Kapiteln davon oft Gebrauch machen. Allerdings sind die
vier Differenzialgleichungen (11.132) und (11.133) nicht ganz Die Eichbedingung (11.136) wird oft als Lorentz-Eichung be-
unabhängig. Wir haben ja noch die Kontinuitätsgleichung gege- zeichnet und damit fälschlicherweise dem bekannteren hollän-
ben, und die entsprechende Kombination der linken Seiten von dischen Physiker Hendrik Lorentz (1853–1928) zugeschrieben.
(11.132) und (11.133) verschwindet. Das bedeutet einerseits, Wie wir in Kap. 18 sehen werden, ist die Lorenz-Eichung zu-
dass ohne Erfüllung der Kontinuitätsgleichung diese Differen- fälligerweise invariant unter Lorentz-Transformationen, sodass
zialgleichungen nicht konsistent sind, und andererseits, dass die zumindest diesbezüglich die Bezeichnung als Lorentz-Eichung
vier Feldkomponenten , A eine gewisse Redundanz haben. gerechtfertigt ist.
Tatsächlich ändern sich die elektromagnetischen Felder E und B
nicht, wenn die Potenziale durch folgende Eichtransformation
verändert werden: Coulomb-Eichung
0 1
.t; r/ D .t; r/ C @ t .t; r/; (11.134)
c Eine andere nützliche Eichung ist die sogenannte Coulomb-
A0 .t; r/ D A.t; r/  r .t; r/; (11.135) oder Strahlungseichung
wobei die Eichfunktion .t; r/ beliebig ist. r  A D 0: (11.140)
406 11 Die Maxwell-Gleichungen

Übersicht: Grundgleichungen der Elektrodynamik

Zum Abschluss dieses Abschnitts fassen wir die Grundglei- entsprechenden elektrischen Strom durch die Oberfläche @V
chungen der Elektrodynamik nochmals zusammen: ändern:
Z
In dem in diesem Buch verwendeten Gauß’schen Maßsystem d d
lauten die Maxwell-Gleichungen im Vakuum in differenziel- I@V D  QV D  dV
dt dt
ler Form V
I Z (11.150)
div E D 4 ; (11.141) D df  j D dV div j:
div B D 0; (11.142) @V V
Teil II

1 @
rot E D  B; (11.143) In äußeren elektromagnetischen Feldern wirkt auf die La-
c @t
4 1@ dungs- und Stromverteilungen die Lorentz-Kraftdichte
rot B D jC E (11.144)
c c @t 1
fL D E C j  B: (11.151)
und in Integralversion c
I Z Auf materielle Körper mit Volumen V, in denen Ladungsträ-
df  E D 4 dV ; (11.145) ger gebunden sind, wirkt die Lorentz-Kraft
@V V Z
I
F D dV f L : (11.152)
df  B D 0; (11.146)
V
@V
I Z
1 d 1d
dr  E D  ˚m   df  B; (11.147) Speziell für Punktteilchen mit Ladung q, Bahnkurve x.t/ und
c dt c dt
@F F Geschwindigkeit v .t/ lautet die Lorentz-Kraft
I Z Z
4 1d 
dr  B D df  j C df  E: (11.148) v .t/
c c dt F.t/ D q E.t; x.t// C  B.t; x.t// : (11.153)
@F F F c

Damit die Maxwell-Gleichungen lösbar sind, müssen die Die Bewegungsgleichung für ein Punktteilchen ist per Defi-
Ladungs- und Stromdichten bzw. j als „Integrabilitätsbe- nition gegeben durch
dingung“ die Kontinuitätsgleichung
d
@ p.t/ D F.t/; (11.154)
div j C D0 (11.149) dt
@t
wobei p im Allgemeinen der relativistische Impuls (10.3) ist,
erfüllen, die ein Ausdruck der Ladungserhaltung ist: Die der sich in der nichtrelativistischen Näherung auf mv redu-
Ladung Q in einem Volumen V kann sich nur bei einem ziert.

Damit entkoppelt zumindest die Gleichung für von der für A , die über (11.155) bestimmt wurden, auf die rechte Seite, so
und in ersterer treten zudem nur räumliche Ableitungen auf: erhält man eine inhomogene Wellengleichung mit modifizierter
Stromdichte, die als transversale Stromdichte bezeichnet wird:
 .t; r/ D 4 .t; r/: (11.155)
 
4 1 4
Das heißt, man kann auch in zeitabhängigen Situationen A.t; r/ D j.t; r/  r @t DW j .t; r/: (11.156)
c 4 c T
durch die instantane Ladungsverteilung bestimmen und dabei
auf die (noch zu besprechenden) Methoden der Elektrostatik
zurückgreifen. Allerdings gibt dies nur einen Beitrag zum elek- Frage 11
trischen Feld E, den sogenannten Coulomb-Anteil. Für das Überzeugen Sie sich, dass in Übereinstimmung mit r  A D 0
gesamte E-Feld wird gemäß (11.128) auch noch das Vektorpo- auch r  jT D 0 gilt, sofern j die Kontinuitätsgleichung (11.44)
tenzial A benötigt, für das eine partielle Differenzialgleichung erfüllt.
inklusive Zeitableitungen zu lösen ist. Bringt man die Terme mit
11.5 Elektrodynamische Potenziale 407

Neben Lorenz- und Coulomb-Eichung gibt es noch zahlreiche mit einem konstanten Vektor n oder die temporale Eichung
weitere Möglichkeiten, die Eichfreiheit zu fixieren; dies wird D 0 (auch Weyl-Eichung genannt). Lorenz- und Coulomb-
gelegentlich ausgenutzt, um konkrete Probleme geschickt zu Eichung stellen aber die mit Abstand wichtigsten Eichungen
vereinfachen. Beispiele sind die axiale Eichung n  A D 0 dar.

Teil II
408 11 Die Maxwell-Gleichungen

Aufgaben

Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen
Teil II

11.1 Elektrische Ladungseinheiten Im Gauß’schen einem leitenden Faden der Länge L aufgehängt sind und die
Maßsystem ist die Einheit der Ladung, das Statcoulomb sich eine zentral aufgebrachte Gesamtladung Q symmetrisch
(statC oder auch esu) definiert als die Ladungsmenge, die teilen (Abb. 11.18). Leiten Sie eine Bestimmungsgleichung für
zwischen zwei gleichen Punktladungen dieser Stärke im Ab- den Winkel # ab, bei dem sich eine Gleichgewichtslage ergibt.
stand von 1 cm auf eine Kraft von 1 dyn D 105 N führt. Welche Ladung führt bei L D 10 cm, m D 10 g und Erdbe-
Welche Kraft üben zwei Ladungen von jeweils 1 Coulomb schleunigung g D 9;81 m/s2 auf einen Ausschlag von 45ı (in
(1 Amperesekunde), der Ladungseinheit im SI-System, in ei- CGS und in SI-Einheiten)?
nem Abstand von 1 m aufeinander aus? Wie vergleicht sich das
mit dem Schub eines Spaceshuttles beim Start, der 34.677 kN
beträgt? ϑ

11.2 Elektroskop Ein einfaches Gerät zur Messung


von elektrischer Ladung ist ein Elektroskop. Die auf die beweg- L
lichen Metallteile aufgebrachte Ladung führt zu Abstoßung, die
sich mit der Schwerkraft die Waage hält (Abb. 11.17). T

FC

m, q
mg

Abb. 11.18 Ein einfaches, symmetrisches Elektroskop – realisiert durch zwei


identische Metallkugeln, die mit leitenden Drähten an einem gemeinsamen
Punkt aufgehängt sind. Die zentral aufgebrachte Ladung verteilt sich auf die
beiden Kugeln, q D Q=2, die sich durch die Coulomb-Kraft abstoßen, während
die Schwerkraft dem entgegenwirkt

Lösungshinweis: Eine stabile Lage erfordert, dass die Kraft


auf die Punktladungen F der Zugspannung T in den Aufhän-
gungsdrähten das Gleichgewicht hält (Abb. 11.18).
11.3 Divergenzfreiheit des Coulomb-Feldes ab-
seits des Ursprungs Zeigen Sie (11.19):
r  r0
div D 0; r 6D r0
jr  r0 j3
durch explizite Rechnung in Indexschreibweise.
Abb. 11.17 Ein Präzisionselektroskop anno 1908, bei dem bei einer elek- 11.4 Etüde in Oberflächenintegralen: Gauß’scher
trischen Aufladung ein Blättchen von der vertikalen Stange abgestoßen wird Satz für Kugel, Würfel und Zylinder Berechnen Sie für das
(Wikipedia, public domain) Vektorfeld X D r=r3 , das zu einer Punktladung mit Stärke 1 im
Ursprung gehört, den Fluss durch die Oberfläche von
Als eine Variante davon sollen zwei identische Metallkugeln
mit Masse m dienen, die an einem gemeinsamen Punkt mit (a) einer Kugel mit Radius R mit Mittelpunkt im Ursprung,
Aufgaben 409

(b) einem Würfel mit Seitenflächen bei x D ˙1, y D ˙1 und


z D ˙1,
(c) einem Zylinder mit der z-Achse als Symmetrieachse, Radius
B
1 und z 2 Œ1; 1,

und verifizieren Sie, dass das Resultat in allen drei Fällen 4 ist.

Lösungshinweis: Die auftretenden Integrale sind alle elemen-


tar, wenn auch nicht alle ganz trivial. Verwenden Sie bei Bedarf
eine Formelsammlung dafür.

11.5 Fluss durch Kugeloberfläche mit Quelle an

Teil II
beliebigem Ort Legen wir das Koordinatensystem so, dass Abb. 11.19 Messung von Magnetfeldern durch die in einer rotierenden Spule
die z-Achse durch die beliebige Position einer Punktladung der induzierte Wechselspannung
Stärke 1 geht, sodass sie sich bei z D d befindet, und berech-
nen wir den Fluss durch eine Kugeloberfläche um den Ursprung Lösungshinweis: 1 statV 300 V.
mit Radius R, so sollte das Ergebnis konstant 4 sein, solange
d < R ist, und für alle d > R verschwinden. Verifizieren Sie 11.9 Fundamentale Geschwindigkeit in den
dies durch direkte Rechnung! Grundgleichungen Bestimmen Sie in einem Maßsystem
mit noch nicht festgelegten ki die physikalische Dimension
Lösungshinweis: Verwenden Sie bei Bedarf eine For- von Ladung ŒQ, Stromstärke ŒI, magnetischem Moment ŒM,
melsammlung für das auftretende Integral und achten Sie auf elektrischer Feldstärke ŒE und magnetischer Feldstärke ŒB aus-
Vorzeichen beim Vereinfachen von Wurzeln von quadratischen gedrückt durch die Dimensionen der ki und die mechanischen
Ausdrücken. Grundgrößen Masse, Länge und Zeit. Zeigen Sie damit, dass
k k2b =.k32 k2a / die Dimension einer Geschwindigkeit zum Qua-
11.6 Deltafunktion mit reskaliertem Argument drat hat.
Zeigen Sie, dass für die Dirac’sche Deltafunktion
Lösungshinweis: Verwenden Sie neben dem Coulomb-Kraft-
1 gesetz und den Gleichungen, in denen k2a und k2b eingeführt
ı.cx/ D ı.x/ (11.157) wurden, das Durchflutungsgesetz (11.42).
jcj
11.10 Induktionsgesetz mit magnetischen Mono-
gilt. polen Wie wäre das Induktionsgesetz (11.143) abzuän-
R1 dern, wenn es magnetische Monopolladungsdichten gäbe, d. h.
Lösungshinweis: Betrachten Sie 1 dx f .x/ ı.cx/. div B D 4 m 6D 0?
11.7 Kraft zwischen parallelen Stromleitern Be- 11.11 Impulserhaltungssatz der Elektrodynamik
rechnen Sie die Kraft pro Längeneinheit, die zwei parallele Leiten Sie den Impulserhaltungssatz der Elektrodynamik
unendlich lange stromführende Leiter mit vernachlässigbarem (11.115) unter Verwendung der Indexschreibweise her.
Querschnitt aufeinander ausüben (für beliebige Maßsysteme).
11.12 Spur des Maxwell’schen Spannungstensors
Lösungshinweis: Berechnen Sie zuerst das Magnetfeld eines Wie wir in Abschn. 11.4 gesehen haben, ist die Impulsdichte
einzelnen unendlich langen Drahtes und verwenden Sie dazu die des elektromagnetischen Feldes direkt proportional zur Ener-
Integralversion des Oersted’schen Gesetzes (11.42) und Rotati- gieflussdichte (Poynting-Vektor). Außerdem gibt es noch einen
onssymmetrie im Falle eines einzelnen Drahtes. weiteren engen Zusammenhang zwischen Energie und Impuls:
Für den Maxwell’schen Spannungstensor (der ja die Impuls-
11.8 Generator als Magnetometer Eine Methode, flussdichte beschreibt) gilt:
Magnetfelder auszumessen, ist über das Faraday’sche Induk-
tionsgesetz (11.143) mithilfe von rotierenden
H Leiterschleifen Sp T  Tii D wem : (11.158)
(Abb. 11.19). Die induzierte Ringspannung dr  E verschwin-
det, wenn die Rotationsachse in Richtung des Magnetfeldes Beweisen Sie diese Beziehung.
zeigt, und wird maximal senkrecht dazu. Welche Amplitude er-
reicht die Wechselspannung maximal für eine Spule mit N D 11.13 Coulomb-Kraft und Maxwell’scher Span-
1000 Windungen und Querschnitt F D 10 cm2 bei 10 Umdre- nungstensor Bestätigen Sie die Richtigkeit des Impulserhal-
hungen in der Sekunde im Erdmagnetfeld, wenn dieses 0,5 G tungssatzes, indem Sie ihn dazu verwenden, die wohlbekannte
stark ist? Kontrollieren Sie Ihre Rechnung, indem Sie einmal Coulomb-Kraft, die zwei gleich große Ladungen bei z D ˙a=2
das SI-System und einmal das Gauß’sche Maßsystem verwen- aufeinander ausüben, über das Oberflächenintegral des Max-
den. well’schen Spannungstensors entlang der Symmetrieebene
410 11 Die Maxwell-Gleichungen

z D 0 zu berechnen. Nehmen Sie einmal gleichnamige und wenn darin die Eichfunktion  so gewählt wird, dass
einmal entgegengesetzte Ladungen an.
11.14 Ruhende elektrische Ladungen zusammen 1
mit ruhenden magnetischen Monopolen besitzen Dreh-   D r  A C @ t (11.160)
c
impuls! Gegeben sei eine elektrische Ladung qe im Ursprung
und eine (hypothetische) magnetische Monopolladung qm auf
der z-Achse bei z D d. Das kombinierte elektrische und ma- gilt. Dies zeigt im Übrigen, dass die Eichfreiheit noch nicht
gnetische Feld hat eine nichttrivale Impulsdichte gem sowie eine komplett fixiert ist. Wenn die Lorenz-Eichbedingung erfüllt ist,
Drehimpulsdichte r  gem . Zeigen Sie, dass wie zu erwarten ist, kann man noch weitere Eichtransformationen durchführen mit
der Gesamtimpuls des Feldes verschwindet, aber überraschen- Eichfunktionen , die  D 0 erfüllen.
derweise ein Gesamtdrehimpuls vorliegt, der darüber hinaus
vom Abstand d komplett unabhängig ist. (In der Quantenmecha- Wie lauten die analogen Aussagen für die Coulomb-Eichung?
Teil II

nik werden wir sehen, dass Drehimpulse immer quantisiert sind


und ganzzahlige Vielfache von „=2 sein müssen. Aus dieser 11.16 Coulomb-Eichung Zeigen Sie, dass in der
Rechnung lässt sich damit die Dirac’sche Quantisierungsbedin- Coulomb-Eichung die beiden Anteile von E definiert durch
gung
„c
qe qm D n; n 2 Z (11.159) 1
2 E D r  @ t A DW EC C ET (11.161)
c
für elektrische und magnetische Monopolladungen ableiten, die
Dirac 1931 auf ganz andere Weise fand. Diese impliziert, dass
die Existenz eines einzigen magnetischen Monopols irgendwo eine Aufspaltung von E in einen wirbelfreien und einen diver-
im Universum die Quantisierung der elektrischen Ladungen er- genzfreien Anteil liefern:
klären könnte.)
Lösungshinweis: Verwenden Sie Kugelkoordinaten und füh- rot EC D 0; div ET D 0: (11.162)
ren Sie zuerst die radiale Integration aus.
11.15 Eichfixierung Rechnen Sie nach, dass die Lo- (EC wird dabei als Coulomb-Anteil, ET als transversaler Anteil
renz-Eichung nach einer Eichtransformation erreicht wird, bezeichnet.)
Lösungen zu den Aufgaben 411

Lösungen zu den Aufgaben

11.1 9  109 N 259 Spaceshuttles beim Start. 11.8 3,14 mV


11.2 11.10
Q2 4 1@
tan # sin # D k
2
(11.163) rot E D  j  B (11.165)
16mgL2 c m c @t

Daraus ergibt sich # D =4 bei Q D 0;934 µC oder 2801 statC. 11.14 Der gesamte Drehimpuls dieser Konfiguration ist

Teil II
11.7 Das Magnetfeld eines einzelnen unendlich langen Drahtes qe qm
entlang der z-Achse, durch den ein Strom der Stärke I1 fließt, ist LD zO :
c
in Zylinderkoordinaten gegeben durch

2I1 11.15 In der Coulomb-Eichung ist  D r  A zu lösen.


B D k3 eO ' : (11.164) Dies bestimmt  bis auf Lösungen der homogenen Laplace-
%
Gleichung  D 0.
Die Kraft zwischen zwei Leitern ist gegeben durch (11.76).
412 11 Die Maxwell-Gleichungen

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben

11.1 Im SI-System lautet das Coulomb-Kraftgesetz (a) In Kugelkoordinaten ist auf der Kugel mit Radius R
ˇ
1 q1 q2 ˇ eO r  r ˇˇ 1
FD : (11.166) df D r2 dˇrDR eO r ; D 2 (11.172)
4 0 r 2 r3 ˇrDR R
Mit (11.77) und (11.78) ergibt sich: und
I Z2 Z
c2 0 R2 d
Teil II

1 N
D D c2 107 2 D d' sin # d#
4 0 4 A R2
(11.167) rDR 0 0
2
m N m2 N (11.173)
9  1016 2 107 2 D 9  109 2 : Z1
s A C
D2 d.cos #/ D 4 :
Während 1 Amperesekunde für einen Akku eine sehr geringe
1
Ladungsmenge darstellt, ist also 1 Coulomb als isolierte Ladung
eine extrem große Ladungsmenge. (b) In kartesischen Koordinaten ist
11.2 Die gesamte Kraft F D T setzt sich vektoriell aus auf- .x; y; z/>
einander senkrecht stehender Schwerkraft und Coulomb-Kraft XD : (11.174)
.x2 C y2 C z2 /3=2
zusammen, deren Beträge gegeben sind durch
Weil das Feld symmetrisch um den Ursprung und der Mit-
.Q=2/2 telpunkt des Würfels ebenfalls im Ursprung ist, genügt es,
FG D mg D F cos #; FC D k D F sin #:
.2L sin #/2 den Beitrag einer Seitenfläche zu berechnen und dann mit
(11.168) 6 zu multiplizieren. Nehmen wir die obere Seitenfläche bei
Der Quotient FC =FG führt unmittelbar auf (11.163). z D 1, dann ist
Bei einem Winkel von # D =4pist die linke Seite von (11.163) 1
df D dxdy eO z ; eO z  XjzD1 D (11.175)
gleich 1=2, und damit Q D 8mgL2 =k. In CGS-Einheiten, .x2 C y2 C 1/3=2
p k D 1 ist, ist g D 981 cm=s einzusetzen, sodass Q D
2
wo und
7:848:000 2801 in statC resultiert. In SI-Einheiten ist (sie-
he (11.167)) numerisch k 9  109 . Die Zahlenwerte für die Z1 Z1 Z1
1 1 2
übrigen
p Größen sind m D 0;01, g D 9;81, L D 0;1, somit dx dy 2 D dy p
.x C y C 1/3=2
2 y2 C 1 2 C y2
Q 8;72  1013 0;934  106 C. 1 1 1
ˇ1
11.3 Wegen @=@xi D @=@.xi  x0i / genügt es, @i .xi =r3 / D 0 für ˇ
p y ˇ 1 2
r 6D 0 zu überprüfen. Mit r D xj xj haben wir D 2 arctan p ˇ D 4 arctan p D :
2Cy ˇ
2
yD1
3 3
2xj ıji xi (11.176)
@i r D D ; (11.169) Mit 6 multipliziert ergibt dies wieder 4 .
2r r
(c) Beim Zylinder müssen zwei unterschiedliche Beiträge be-
in Vektornotation also rechnet werden: die zwei Deckflächen und die p Mantelfläche.
r r D eO r : (11.170) Verwenden wir hier Zylinderkoordinaten % D x2 C y2 und
Differenziation gemäß der Produktregel gibt damit z, dann tritt auf der oberen Deckfläche bei z D 1 der gleiche
Integrand wie in (11.176) auf, nur dass jetzt über einen Ein-
xi ıii 1 xi heitskreis zu integrieren ist:
@i D 3  3 4 xi : “
r3 r r r dx dy
Zu beachten ist, dass in ıii D 3 implizit eine Summation steckt. .x C y2 C 1/3=2
2
Damit heben sich die beiden Beiträge auf der rechten Seite auf, x2 Cy2 1
jedenfalls solange der singuläre Punkt r D 0 ausgespart bleibt. Z1
1 (11.177)
11.4 Zu berechnen ist jeweils das Oberflächenintegral D2 % d%
.%2 C 1/3=2
I I
df  r 0
ˇ1
df  X D : (11.171) 1 ˇ p
r3 D 2 ˇ D .2  2/:
@V @V .%2 C 1/1=2 ˇ0
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 413

Bei der unteren Deckfläche zeigt df in Richtung Oez , aber entlang der z-Achse, durch den ein Strom mit der Stärke I1
auch die z-Komponente von X hat ein anderes Vorzeichen, fließt, liefert
sodass wieder dasselbe Ergebnis entsteht. pDie beiden Deck- 2 %B' D 4 k3 I1 ; (11.183)
flächen ergeben also zusammen 2 .2  2/.
Auf der Mantelfläche ist df D d'dz eO % . Die %-Komponente wobei wir aufgrund der Symmetrie annehmen können, dass B'
von X ist entlang des Kreises konstant ist. Daraus folgt (11.164).
%
eO %  X D 2 ; (11.178) Die infinitesimale Version des Ampère’schen Kraftgesetzes
.% C z2 /3=2
(11.51) liefert damit für Leiterelemente dl / eO z mit Stromstärke
was nun bei % D 1 auszuwerten und zu integrieren ist: I2 und Abstand % D d

Z2 Z1 p 2k3 2I1 I2
1 dF D k4 I2 I1 dl .Oez  eO ' / D k3 k4 .Oe% / dl: (11.184)
d' dz D 2 2: (11.179) d d

Teil II
.1 C z2 /3=2
0 1
Wegen der Konstanz in der z-Richtung folgt daraus eine anzie-
Deckflächen hende Kraft mit der Stärke (11.76) pro Längeneinheit.
p und Mantelflächen
p zusammen ergeben wieder
2 .2  2/ C 2 2D4 . 11.8 Wenn die Fläche so rotiert, dass sie immer wieder senk-
recht zum Magnetfeld orientiert ist und damit maximal wird, ist
11.5 Das Feld der Punktladung mit Stärke 1 ist nun gegeben der magnetische Fluss gegeben durch ˚m D NFB cos.2 t/ mit
durch  D 10 s1 . InH SI-Einheiten ist B D 0;5  104 Tesla und die
r  dOez Ringspannung dr  E D @ t ˚m D NFB 2  sin.2 t/. Im
: (11.180) SI-System ist F D 0;001 m2 und damit die Amplitude in Volt
jr  dOez j3
gleich NFB 2  D  103 .
Der Fluss durch die Kugeloberfläche mit Radius R ist damit in
Kugelkoordinaten (mit z D r cos #) In Gauß’schen Einheiten ist B D 0;5 G und F D 10 cm2
einzusetzen und zusätzlich mit k4 D 1=c 1=.3  1010 / in
I I
r  dOez r  dOez CGS-Einheiten zu multiplizieren. Zur Umrechnung in V ist mit
df  D R2 d eO r  300 zu multiplizieren. Um das Ergebnis gleich in V und nicht
jr  dOez j3 jr  dOez j3
rDR rDR in statV zu bekommen, kann also k4 D 108 gesetzt werden.
Z1 11.9 Aus dem Coulomb-Gesetz (11.1) und (11.3) folgt
R  d cos #
D 2 R2 d.cos #/
.R2
 2dR cos # C d 2 /3=2
1 (11.181) ŒF D ŒkQ2 L2  D ŒQŒE; (11.185)
 !
1 1
D .R  d / p
2 2
p also
d .R  d/2 .R C d/2 ŒQ2 D Œk1 FL2  D Œk1 ML3 T 2  (11.186)
p p
 .R  d/2 C .R C d/2 : und damit
ŒQ D Œk1=2 M 1=2 L3=2 T 1 ; (11.187)
p
Mit .R2  d 2 / D .R C d/.R  d/ und .R  d/2 D jR  dj ergibt ŒI D ŒQT 1 ; (11.188)
dies
ŒE D ŒFQ1  D ŒQ1 MLT 2 
Œ.R C d/ sgn.R  d/  .R  d/  jR  dj C .R C d/ ; (11.189)
d D Œk1=2 M 1=2 L1=2 T 1 :
(11.182)
wobei sgn.x/ das Vorzeichen von x gibt. Für d < R ist das Er- Das Durchflutungsgesetz (11.42) setzt ŒB mit ŒI bzw. ŒQ in
gebnis damit d 4d D 4 ; für d > R heben sich alle Terme weg. Beziehung:
11.6 Bei einer Variablensubstitution cx D x0 , dx D dx0 =c ist ŒBL D Œk3 I D Œk3 QT 1 
zu beachten, dass die Integrationsgrenzen zu vertauschen sind, (11.190)
wenn c < 0 ist, sodass gilt: D Œk1=2 k3 M 1=2 L3=2 T 2 ;

Z1 Z1 also
dx0 f .0/ ŒB D Œk1=2 k3 M 1=2 L1=2 T 2 :
dx f .x/ ı.cx/ D f .x0 =c/ ı.x0 / D : (11.191)
jcj jcj
1 1
Andererseits legt die Form eines magnetischen Dipolfeldes
(11.33) ŒB durch ŒM fest:
11.7 Die Integralversion des Oersted’schen Gesetzes (11.42)
mit C ein Kreis mit Radius % um einen unendlich langen Draht ŒB D Œk2b ML3 ; (11.192)
414 11 Die Maxwell-Gleichungen

und das Drehmoment (11.32) stellt eine weitere Beziehung zur Unter Verwendung von
Mechanik her:
ŒN D ŒFL D Œk2a MB: (11.193) "kij "imn D ıim ıjn  ıin ıjm

Aus (11.192) folgt eine Möglichkeit, ŒM darzustellen: haben wir damit
 
ŒM D Œk1=2 k2b
1
k3 M 1=2 L7=2 T 2 ; (11.194) 1
E C j  B D @ t
1
.E  B/k
c k 4 c
während bei der Bildung des Quotienten von (11.192) und 1
(11.193) diese Größe herausfällt: C Œ.@m Em /Ek C Em .@m Ek /  .@k Em /Em 
4
1
Œk2b L3 =.k2a B/ D ŒBF 1 L1  D ŒBM 1 L2 T 2 : (11.195) C ŒCBm .@m Bk /  .@k Bm /Bm  :
4
Teil II

Damit bekommen wir Wegen div B D @m Bm D 0 können alle räumlichen Ablei-


tungen als totale geschrieben werden: .@k Em /Em D 12 @k E2 ,
Œk2b =k2a  D ŒB2 LM 1 T 2  D Œk1 k32 L2 T 2 ; (11.196) .@m Em /Ek C Em .@m Ek / D @m .Em Ek / usw. Abgesehen von ei-
ner Umbenennung der Summationsindizes ist dies identisch zu
was zu zeigen war. (11.115).
11.10 Bildet man die Divergenz von (11.50) so erhält man die 11.12
Forderung
1
1 Tii D ıii wem  .Ei Ei C Bi Bi /
0  div .rot E/ D  @ t div B: (11.197) 4
c 1  2 
D 3 wem  2 E C B2
8
Mit div B D 4 m 6D 0 ist das nur verträglich, solange
D 3 wem  2 wem D wem :
@ t m D 0 ist. Im allgemeinen Fall von zeitabhängigen m
braucht es eine Kontinuitätsgleichung, die einer magnetischen
Ladungserhaltung entspricht: 11.13 Die Feldstärke, die zu einer Ladung q bei z D a=2 und
einer Ladung ˙q bei z D a=2 gehört, ist auf z D 0 offensicht-
@t m C r  jm D 0; (11.198) lich invariant unter Drehungen um die z-Achse. Entlang der x-
Achse tragen die beiden Ladungen
wobei jm eine magnetische Stromdichte ist. Wir können also die 0 1
rechte Seite von (11.197) wieder auf null bekommen, wenn wir x
Cq @ 0 A
(11.50) auf E.x; 0; 0/ D 2
4 1 @ .x C a =4/
2 3=2
a=2
rot E D  jm  B 0 1 (11.201)
c c @t
˙q x
verallgemeinern. C 2 @ 0 A
.x C a2 =4/3=2 a=2
11.11 Verwenden der inhomogenen Maxwell-Gleichungen er-
laubt es, die beiden Ausdrücke auf der linken Seite von (11.115)
bei. Für die beiden Fälle, Abstoßung und Anziehung, haben wir
ausschließlich durch Feldstärken darzustellen:
also
1
. E/k D .@m Em /Ek ; (11.199) ECC .x; 0; 0/ D q
2x
eO 1 ; (11.202)
 4  .x2
C a2 =4/3=2
1 1 1 a
j  B D "kij "imn .@m Bn /  .@ t Ei / Bj : (11.200) EC .x; 0; 0/ D q 2 eO 3 : (11.203)
c k 4 c .x C a2 =4/3=2
Ziel der Rechnung ist es, totale räumliche oder zeitliche Ablei- Die Kraft auf die Ladung bei z D a=2 kann mit dem Impuls-
tungen zu bekommen. Beginnen wir mit den zeitlichen Ablei- erhaltungssatz (11.119) als Oberflächenintegral
tungen, so können wir den letzten Term schreiben als
I
.@ t Ei /Bj D @ t .Ei Bj /  Ei .@ t Bj / .Fmech /k D dfi Tik (11.204)
@V
und für die Zeitableitung von Bj das Induktionsgesetz einsetzen:
geschrieben werden, das den unteren Halbraum (z < 0) um-
1 schließt (der Beitrag Pem tritt nur auf, wenn gleichzeitig elek-
@ t Bj D "jmn @m En : trische und magnetische Felder im Spiel sind). Die Beiträge
c
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 415

zum Oberflächenintegral im Unendlichen verschwinden, und es mit x D r sin #; z D r cos #. Die Impulsdichte ist damit
bleibt ein Integral über die Ebene z D 0 mit df D dx dy eO 3 . 0 1
Die Kraft auf die Ladung im oberen Halbraum ergibt sich durch 0
1 qe qm
dasselbe Integral, aber mit df D dx dy .Oe3 /. gem D .E  B/ D @xd A :
4 c 4 cr3 ..z  d/2 C x2 /3=2 0
Vom Maxwell’schen Spannungstensor (11.118) werden nur die
Komponenten T3k benötigt: (11.211)

1 1 Für positive x zeigt gem in positive y-Richtung; symmetrisch da-
T3k D E3 Ek  ı3k E2 : (11.205)
4 2 zu für negative x in negative y-Richtung. Das Vektorfeld gem
verläuft also im ganzen Raum im selben Rotationssinn um die
Im Fall von (11.202) ist E3 D 0, und wir haben nur einen Bei- z-Achse. Dies macht schon klar, dass der Gesamtimpuls des
trag vom zweiten Term elektromagnetischen Feldes null ist, der Gesamtdrehimpuls aber

Teil II
nicht verschwindet.
CC 1 CC
T3k .x; 0; 0/ D  ŒE .x; 0; 0/2 ı3k ; (11.206) Die Drehimpulsdichte des Feldes um einen Referenzpunkt r0 ist
8
durch .r  r0 /  gem gegeben. Diese Dichte hängt offenbar von
während im Fall von (11.203) Ek D jEjık3 gilt und der erste r0 ab, aber weil der Gesamtimpuls verschwindet, ist das Integral
Beitrag zu T3k durch den zweiten halbiert wird: darüber, der Gesamtdrehimpuls, unabhängig von r0 . Wir kön-
nen ihn daher ohne Beschränkung der Allgemeinheit bei r D 0
C 1 C belassen. Die entsprechende Drehimpulsdichte lautet
T3k .x; 0; 0/ D C ŒE .x; 0; 0/2 ı3k : (11.207)
8 0 1
qe qm d xz
Damit haben wir schon verifiziert, dass die Kraft auf die La- @ 0 A:
r  gem D (11.212)
dung im unteren Halbraum bei gleichnamigen Ladungen in die 4 cr3 ..z  d/2 C x2 /3=2 x2
negative z-Richtung und bei entgegengesetzten Ladungen in die
positive zeigt. Die Integrale über T33 können wir wegen der In-
varianz bei Drehungen um die z-Achse in Polarkoordinaten auf Wegen der Antisymmetrie der x-Komponente unter x ! x ist
der Ebene z D 0 unmittelbar schreiben als nach Integration über den gesamten Raum Lx D 0, und nur die
z-Komponente kann beitragen. Diese ist durch folgendes Inte-

CC
gral gegeben:
dx dy T33 .x; y; 0/
Z1 Z1
Z1 (11.208) qe qm dx2
q 4r2 q2 Lz D 2 d.cos #/ r2 dr ;
D 2 r dr D  ; 4 cr3 ..z  d/2 C x2 /3=2
8 .r2 C a2 =4/3 a2 1 0
0 (11.213)
wiederum mit x D r sin #; z D r cos #. Mit Variablen rN D r=d
wobei das Integral nach Substitution r2 ! s elementar ist, und und cos # D  lässt sich dies umschreiben auf

C
dx dy T33 .x; y; 0/ Z1 Z1
qe qm rN
Lz D d .1   2 / dNr ; (11.214)
Z1 (11.209) 2c .Nr2  2 rN C 1/3=2
q a2 q2 1 0
D 2 r dr 2 D C :
8 .r C a2 =4/3 a2
0 womit gezeigt ist, dass L unabhängig von d ist. Es bleibt noch,
die Integrale auszuwerten. Die rN -Integration ergibt 1=.1  /,
Das ist, wie zu zeigen war, der jeweils richtige Ausdruck für die und die -Integration damit
Coulomb-Kraft.
11.14 Wegen der Drehsymmetrie um die z-Achse können wir Z1 Z1
1  2
uns auf ' D 0, also y D 0 beschränken, da die Integration d D d .1 C / D 2;
1
über ' nur einen Faktor 2 besteuern wird. Für die Berechnung 1 1
der äußeren Produkte ist es bequem, alle Vektoren in kartesi-
schen Komponenten anzugeben und erst die Integrationen in also insgesamt Lz D qe qm =c.
Kugelkoordinaten durchzuführen. Die Felder der elektrischen
und magnetischen Monopolladungen lauten in der xz-Ebene 11.15 Nach einer Eichtransformation
0 1 0 1 0 1
qe @ x A qm x .t; r/ D .t; r/ C @ t .t; r/; (11.215)
ED 3 0 ; BD @ 0 A (11.210) c
r z ..z  d/2 C x2 /3=2 z  d A0 .t; r/ D A.t; r/  r .t; r/ (11.216)
416 11 Die Maxwell-Gleichungen

sollen die neuen Potenziale in der Lorenz-Eichung r  A0 C


1
@ 0 D 0 bzw. in der Coulomb-Eichung r  A0 D 0 erfüllen.
c t
Im Fall der Lorenz-Eichung ergibt dies die Forderung

1 1
0 D r  A C @ t  r 2  C 2 @2t 
c c (11.217)
1
D r  A C @ t C ;
c
während im Fall der Coulomb-Eichung die zeitlichen Ablei-
tungsterme fehlen und  !  zu ersetzen ist.
11.16 EC ist ein Gradientenfeld, daher verschwindet die Rotati-
Teil II

on; div ET D 0 folgt aus r  A D 0 nach Vertauschen von r und


@ t , was natürlich die Voraussetzungen des Satzes von Schwarz
benötigt, die im Regelfall gelten.
Literatur 417

Literatur

Arens, T., et al.: Mathematik. 2. Aufl., Spektrum Akademischer Ma, T.-Z.E.: Field angular momentum in Feynman’s disk para-
Verlag (2012) dox. Am. J. Phys. 54, 949–950 (1986)
Cabrera, B.: First results from a superconductive detector for Maxwell, J.C.: A Treatise on Electricity and Magnetism. Mac-
moving magnetic monopoles. Phys. Rev. Lett. 48, 1378–1381 millan, New York (1873). Online: https://en.wikisource.
(1982) org/wiki/A_Treatise_on_Electricity_and_Magnetism Zuge-
griffen: 22. Juli 2014
Feynman, R., Leighton, R.B., Sands, M.: The Feynman Lectures

Teil II
on Physics, Bd. II, Benjamin Cummings, Pearson Education, Misner, C.W., Thorne, K.S., Wheeler, J.A.: Gravitation. Free-
Inc, USA (2005) man, New York (1973)
Griffiths, D.J.: Elektrodynamik. Pearson, München (2011)
Elektrostatik
12
Wie löst man
elektrostatische
Problemstellungen?

Teil II
Wozu sind Green’sche
Funktionen gut?

Wie kann man elektrische


Felder abschirmen?

Wie viel Energie steckt in


einem geladenen
Kondensator?

Warum spüren wir das


permanente
elektrostatische Feld der
Erde nicht?

12.1 Das elektrostatische Potenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420


12.2 Green’sche Funktionen und Randwertprobleme . . . . . . . . . . . . . 422
12.3 Randbedingungen auf Leiteroberflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . 425
12.4 Bildladungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426
12.5 Elektrische Kapazität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
12.6 Elektrostatische Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 440
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 419
420 12 Elektrostatik

Es war eine entscheidende intellektuelle Leistung der Physiker und Die Kontinuitätsgleichung r  j D @ t verlangt bei zeit-
Mathematiker des 19. Jahrhunderts, die elektrischen und magne- unabhängigen Raumladungsdichten , dass j divergenzfrei ist;
tischen Phänomene in einer gemeinsamen Theorie, der Elektrody- entsprechende elektrische Ströme mit geschlossenen Stromli-
namik, zu vereinigen und dabei dem Begriff von physikalischen nien sind also mathematisch möglich. Physikalisch stellt dies
Feldern zu einem Durchbruch zu verhelfen. Im Folgenden werden natürlich eine Idealisierung dar, denn auf atomarer Ebene
wir diese Vereinigung aber vorerst wieder aufheben, indem wir sind punktförmig konzentrierte Ladungsverteilungen im Spiel,
uns auf zeitunabhängige Probleme beschränken. Wenn Ladungen und elektrische Ströme werden durch Bewegungen dieser La-
und Ströme zeitlich unveränderlich sind, zerfallen die Maxwell-Glei- dungsverteilungen gegeneinander gebildet. Auf makroskopi-
chungen in separate Gleichungen für elektrische und magnetische scher Ebene können diese Ladungsverteilungen aber gut durch
Felder, die unabhängig voneinander gelöst (und superponiert) wer- kontinuierliche approximiert werden, und solange der Fluss
den können. dieser Ladungsverteilungen stationär ist, sind die Raumladungs-
dichten zeitunabhängig (oder überhaupt null, wenn exakt entge-
Die Gleichungen der Elektrostatik im Vakuum führen auf Pro-
Teil II

gengesetzte Raumladungsdichten vorliegen).


blemstellungen, die denen der Newton’schen Gravitationstheorie
ähnlich sind. Zusätzlich werden wir aber Randbedingungen an die Im statischen Fall entkoppeln also elektrische und magnetische
elektrostatischen Felder diskutieren, insbesondere solche, die durch Felder und können separat gelöst werden. Die Gleichungen der
(perfekt) leitende Körper ins Spiel gebracht werden. Magnetostatik werden wir in Abschn. 15.1 besprechen und uns
hier auf die der Elektrostatik beschränken.
Die Methodik, mit der diese Fragestellungen behandelt werden
können, ist die Potenzialtheorie, die ebenfalls im 19. Jahrhundert Um homogene Maxwell-Gleichungen zu lösen, haben wir in
entwickelt wurde, insbesondere von den Mathematikern George Abschn. 11.5 die elektrodynamischen Potenziale eingeführt.
Green (1793–1841) und Carl Friedrich Gauß (1777–1855). Für elektrostatische Felder brauchen wir davon nur das skalare
Potenzial .r/, das in diesem Zusammenhang als elektrosta-
tisches Potenzial bezeichnet wird, und mit dem sich E als
Gradientenfeld darstellt:
12.1 Das elektrostatische Potenzial
E.r/ D r .r/: (12.5)

Sind elektrische und magnetische Felder zeitunabhängig, weil Da E die Kraft pro Ladung auf eine Testladung darstellt, haben
alle elektrische Ladungen und eventuell stromführende Lei- wir es in der Elektrostatik mit einem konservativen Kraftfeld
ter räumlich festgehalten werden, sodass sie nicht unter dem zu tun, und stellt auch im Sinne der Mechanik ein Potenzial
Einfluss der Lorentz-Kraft zu dynamischen Problemstellun- dar, nämlich die potenzielle Energie einer Einheitsladung. Völ-
gen führen, dann reduzieren sich die Maxwell-Gleichungen lig analog zu (1.165) bekommen wir Potenzialdifferenzen als
(11.141) bis (11.144) auf zwei Paare von rein räumlichen parti-
ellen Differenzialgleichungen. Zr
.r/  .r0 / D U D  E.r0 /  dr0 : (12.6)
r0
Feldgleichungen der Elektrostatik
Die Potenzialdifferenz zwischen den Punkten r und r0 wird auch
als elektrische Spannung U bezeichnet. Die Arbeit, die geleistet
r  E.r/ D 4 .r/ (12.1)
werden muss, um eine Ladung q von r0 nach r zu verschieben,
r  E.r/ D 0 (12.2) ist durch qU gegeben.
Abbildung 12.1 und 12.2 zeigen als Beispiel die elektrischen
Feldlinien eines elektrischen Feldes, das von drei stationären
Ladungen der Stärke q, 2q und 3q (q > 0) hervorgerufen wird,
Feldgleichungen der Magnetostatik sowie das zugehörige elektrostatische Potenzial.
Die verschwindende Rotation (12.2) stellt dabei sicher, dass das
4
r  B.r/ D j.r/ (12.3) Wegintegral unabhängig vom Weg von r0 nach r ist. Insbeson-
c dere gilt, dass Ringspannungen, also elektrische Spannungen
r  B.r/ D 0 (12.4) entlang von geschlossenen Pfaden, verschwinden:
I
E  dr D 0: (12.7)
Frage 1
Elektrische Ströme werden durch elektrische Ladungen gebil- Frage 2
det, die sich bewegen. Warum ist dies kein Widerspruch zu der Erinnern Sie sich: Wie lässt sich dieses Integral mit rot E an-
Annahme von statischen Quellen? schreiben?
12.1 Das elektrostatische Potenzial 421

Die Poisson-Gleichung

Eingesetzt in (12.1) ergibt (12.5) die sogenannte Poisson-Glei-


chung (benannt nach dem französischen Mathematiker und
Physiker Siméon Denis Poisson, 1781–1840).

Poisson-Gleichung
 .r/ D 4 .r/ (12.8)

Teil II
Eine quellenfreie Poisson-Gleichung mit  0, die homoge-
ne Poisson-Gleichung, wird auch kurz als Laplace-Gleichung
Abb. 12.1 Elektrisches Feld bei einer Konfiguration von drei elektrischen La-
dungen, von denen zwei positiv und eine negativ ist, mit Stärken (von oben nach bezeichnet; Lösungen der Laplace-Gleichung werden in der
unten ) q, 2q und 3q sowie die Äquipotenziallinien des zugehörigen elektro- Mathematik als harmonische Funktionen bezeichnet.
statischen Potenzials (alles nur in der Ebene, in der die drei Ladungen liegen).
Dieses mit der M ATHEMATICA-Routine StreamPlot erzeugte Bild gibt aller- Mit dem Coulomb’schen Gesetz, das uns das elektrische Feld
dings nur lokal die Feldlinienverteilung richtig wieder, denn strenggenommen von Punktladungen angibt, haben wir in (11.4) auch schon die
sollten Feldlinien nur an Quellen entspringen oder enden, damit aus ihrer Dichte allgemeine Lösung für eine kontinuierliche Ladungsverteilung
die Feldstärke abgelesen werden kann
(bestehend aus einem Kontinuum von infinitesimalen Punktla-
dungen dV) angegeben:
Z
Umgekehrt ist klar, dass diese Aussage nur in der Elektrosta- r  r0
tik allgemein gültig ist. Gleichung (12.2) ist ja die statische E.r/ D dV 0 .r0 / : (12.9)
jr  r0 j3
Version des Induktionsgesetzes; bei zeitlich veränderlichen Ma-
gnetfeldern wird U wegabhängig und kann in diesem Fall nicht
(Die Konstante k in (11.4) ist für das von uns verwendete
mehr als Potenzialdifferenz dargestellt werden. Die linke Sei-
Gauß’sche Maßsystem nun eins gesetzt.)
te von (12.7) kann dann ungleich null sein und wird auch
(leicht irreführend) elektromotorische Kraft (EMK) genannt. In Wie wir bereits für Magnetfelder in (11.37)–(11.38) ausgenutzt
diesen Ausdruck für die Arbeit für eine Einheitsladung bei Ver- haben, lässt sich das Vektorfeld .r  r0 /=jr  r0 j3 gemäß (11.26)
schiebung entlang eines geschlossenen Weges geht, wie wir in als Gradientenfeld darstellen,
(11.101) gesehen haben, nur das elektrische Feld ein.
r  r0 1
0
D r ; (12.10)
jr  r j 3 jr  r0 j

und damit aus (12.9) und E D r die entsprechende Lösung


für ablesen,
Z
1
.r/ D dV 0 .r0 / ; (12.11)
jr  r0 j

wodurch sich ein etwas einfacheres Integral als in (12.9) er-


gibt. Es ist dies die allgemeine Lösung für den Fall, dass die
Ladungsdichte im gesamten Raum R3 gegeben ist und na-
türliche Randbedingungen verlangt werden. Darunter versteht
man die Forderung, dass das Potenzial und damit das elektri-
sche Feld im Unendlichen (r ! 1) verschwinden und keine
Randbedingungen im Endlichen vorliegen. (Vorausgesetzt wird
hier übrigens, dass das Integral in (12.11) existiert, und da in
Wirklichkeit die Ladungsdichte wegen der Existenz einer
Elementarladung nicht beliebig klein gemacht werden kann, oh-
Abb. 12.2 Betrag des elektrostatisches Potenzials, das zu der Ladungskonfigu- ne zu verschwinden, bedeutet dies, dass die Ladungsverteilung
ration von Abb. 12.1 gehört (in der Ebene, in der die drei Ladungen liegen) endliche Ausdehnung hat.)
422 12 Elektrostatik

12.2 Green’sche Funktionen gilt. Diese Forderung stellt für alle hier betrachteten Randbe-
dingungen keine wesentliche Einschränkung dar, wie man im
und Randwertprobleme Einzelnen beweisen kann (siehe Kasten „Vertiefung: Symme-
trie der Green-Funktionen des Laplace-Operators“).

Die Funktion 1=jr  r0 j im Integranden von (12.11) ist offen-


bar das Potenzial pro Ladung für eine Punktladung am Ort r0 .
Sie erfüllt folgende Gleichung im Sinn von verallgemeinerten Randwertprobleme der Potenzialtheorie
Funktionen:
1
 D 4 ı.r  r0 /; (12.12) Eine zentrale Aufgabenstellung in der Potenzialtheorie ist, dass
jr  r0 j eine Lösung der Poisson-Gleichung in einem Volumen V ge-
sucht wird, während am Rand @V dieses Volumens Bedingun-
Teil II

wie sich auch aus Kombination der in Kap. 11 hergeleiteten


gen an das Potenzial gestellt werden. Zwei wichtige Klassen
Gleichung (11.25) mit (12.10) ergibt.
von Randwertproblemen sind hierbei:
Frage 3
Dirichlet-Randwertprobleme (nach dem deutschen Mathe-
Verifizieren Sie damit unter Anwendung der Rechenregeln für matiker Johann Peter Gustav Lejeune Dirichlet, 1805–1859):
die Dirac’sche Deltafunktion, dass (12.11) die Poisson-Glei- Auf dem Rand @V eines Volumens V ist der Wert des Poten-
chung (12.8) erfüllt! zials vorgegeben:
.r/jr2@V : (12.19)

Wir haben damit ein Beispiel für eine sogenannte Green’sche Neumann-Randwertprobleme (nach dem deutschen Mathe-
Funktion des Laplace-Operators vorliegen, die allgemeiner matiker Carl Gottfried Neumann, 1832–1925): Auf dem
durch Rand @V eines Volumens V ist die Normalableitung vorge-
geben:
G.r; r0 / D 4 ı.r  r0 / (12.13)
ˇ ˇ
@ ˇ ˇ
definiert ist. Die Funktion 1=jr  r0 j ist eine Partikulärlösung .r/ˇˇ D n.r/  r .r/ˇˇ ; (12.20)
@n r2@V
dieser Gleichung, mit der die Lösung (12.11) der Poisson-Glei- r2@V
chung für natürliche Randbedingungen als
wobei n.r/ die Flächennormale ist (df D n.r/df ).
Z
.r/ D dV 0 G.r; r0 / .r0 / (12.14)
Randwertprobleme in der Elektrostatik sind meistens Dirichlet-
Randwertprobleme; Neumann-Randbedingungen sind eher sel-
geschrieben werden kann. Lösungen der Poisson-Gleichung, ten.
die (bei gleichen Quellen) anderen Randbedingungen genügen,
unterscheiden sich davon durch homogene Lösungen, d. h. Lö-
sungen ohne Quellterm, mit anderen Worten also Lösungen der
Laplace-Gleichung Eindeutigkeit der Lösung
 hom .r/ D 0: (12.15)
Wir werden nun zeigen, dass das Dirichlet-Randwertproblem
Ganz analog kann man die allgemeinste Green’sche Funktion eine eindeutige Lösung hat und dass das Neumann-Randwert-
als problem bis auf eine physikalisch irrelevante Konstante eben-
1 falls eindeutig lösbar ist.
G.r; r0 / D C Ghom .r; r0 / (12.16)
jr  r0 j Dazu nehmen wir an, wir hätten zwei Lösungen 1 und 2 , die
beide die Poisson-Gleichung erfüllen und beide der vorgegebe-
schreiben, wobei Ghom .r; r0 / eine Lösung der Laplace-Glei- nen Dirichlet- oder Neumann-Randbedingung genügen:
chung bezüglich des ersten Arguments ist:
 1;2 .r/ D 4 .r/: (12.21)
Ghom .r; r0 / D 0: (12.17)
Die Differenz  D 1  2 erfüllt dann in V die Laplace-Glei-
Wir werden im Folgenden zusätzlich verlangen, dass Ghom .r; r /0 chung
wie die Partikulärlösung 1=jr  r0 j symmetrisch in r und r0 ist, .r/ D 0 (12.22)
sodass
und am Rand @V entweder  D 0 (bei Dirichlet-Randbedingun-
G.r; r0 / D G.r0 ; r/ (12.18) gen) oder @n  D 0 (bei Neumann-Randbedingungen).
12.2 Green’sche Funktionen und Randwertprobleme 423

Vertiefung: Symmetrie der Green-Funktionen des Laplace-Operators

In der Elektrostatik sind die Green-Funktionen des Laplace- erreicht werden kann, ohne dass Randterme übrig bleiben,
Operators für gewöhnlich symmetrisch unter Austausch ih- d. h., das Analogon zur rechten Seite von (12.26) verschwin-
rer Argumente, und wir haben uns in (12.18) für das Weitere det. Dies ist z. B. der Fall, wenn die Funktionen am Rand @V
auf solche beschränkt. null sind, woraus geschlossen werden kann, dass die Dirich-
In Abschn. 19.1 werden wir auch Green’sche Funktio- let-Green-Funktion, welche die homogene Randbedingung
nen für den Wellenoperator einführen, wo gerade die phy- (12.29) erfüllt, symmetrisch ist.
sikalisch interessanten Randbedingungen auf asymmetri-
sche Green’sche Funktionen führen werden. Die Symmetrie Auf diese Weise kann man auch zeigen, dass Green-Funktio-
nen des Laplace-Operators symmetrisch bleiben, wenn etwas

Teil II
(12.18) ist also keine von vornherein notwendige Eigen-
schaft einer Green-Funktion. kompliziertere Randbedingungen gefordert werden wie im
Fall von Robin-Randbedingungen, wo am Rand .a C b@n /
Im nächsten Kapitel (siehe (13.94)) und dann ausführlicher mit Konstanten a und b vorgegeben wird (benannt nach dem
in Teil III werden wir das Konzept von selbstadjungier- französischen Mathematiker V. Gustave Robin, 1855–1897),
ten Operatoren kennenlernen. Wie sich dort zeigt, haben oder abwechselnd Dirichlet- und Neumann-Randbedingun-
selbstadjungierte Operatoren immer symmetrische Green- gen auf komplementären Teilen des Randes. In all diesen
Funktionen. Ob nun ein Differenzialoperator selbstadjun- Fällen kann man das entsprechende Randwertproblem durch
giert ist, hängt entscheidend von den Randbedingungen ab. (12.28) lösen, wofür eine symmetrische Green-Funktion ge-
Um zu überprüfen, ob der Laplace-Operator bei gegebe- braucht wird, die zudem die homogenen Randbedingungen
nen Randbedingungen auf @V selbstadjungiert ist, hat man erfüllt, damit im Oberflächenintegral nur bekannte (weil vor-
zu prüfen, ob für alle Funktionen f und g, welche die be- gegebene) Randbedingungen an eingehen.
trachteten Randbedingungen an GD erfüllen, durch partielle
Integration Hat man nur irgendeine symmetrische Green-Funktion, dann
Z Z ist zwar (12.28) weiterhin eine streng gültige Identität, aber
dV f  g D dV g  f sie ist unbrauchbar für das Auffinden einer Lösung des Rand-
V V wertproblems.

Für eine beliebige Funktion .r/ gilt Dirichlet- und Neumann-Green-Funktionen


Z I
dV .r /2 C  D df  r ; (12.23)
Zu Dirichlet- und Neumann-Randwertaufgaben kann man ent-
V @V sprechend angepasste Green’sche Funktionen definieren. Dazu
was sich unmittelbar aus dem Gauß’schen Integralsatz (11.17) verwenden wir wieder den Gauß’schen Integralsatz (11.17) und
ergibt, wenn man dort X D r  einsetzt. betrachten das Vektorfeld X.r/ D '.r/r .r/ mit beliebigen
Funktionen '.r/ und .r/. Dies liefert den sogenannten ersten
Frage 4 Green’schen Satz:
Rechnen Sie dies nach. Z
dV 0 r 0 '.r0 /  r 0 .r0 / C '.r0 / 0 .r0 /
V
Für  D 1  2 verschwindet in (12.23) das Oberflächeninte- I (12.25)
gral, weil am Rand entweder  D 0 (Dirichlet) oder df r  D 0 D df 0  '.r0 /r 0 .r0 /:
(Neumann) ist. Auf der linken Seite verschwindet der zweite
@V
Term unter dem Integral wegen (12.22), und es folgt
Z Vertauschen wir in dieser Gleichung die beliebigen Funktionen
dV .r /2 D 0: (12.24) '.r/ und .r/ und subtrahieren das Ergebnis von (12.25), so
fallen auf der linken Seite die Produkte von einfach abgeleiteten
V
Funktionen heraus, und wir erhalten den zweiten Green’schen
Weil der Integrand hier aber eine überall positive Funktion ist, Satz:
impliziert dies r   0, d. h.,  muss in V konstant sein. Bei Z
Dirichlet-Randbedingungen ist aber am Rand  D 0 und daher dV 0 '.r0 /0 .r0 /  .r0 /0 '.r0 /
  0, d. h. 1  2 ; bei Neumann-Randbedingungen unter- V
scheiden sich 1 und 2 um eine nicht weiter eingeschränkte I (12.26)
Konstante, die aber für die elektrischen Feldstärken irrelevant D df 0  '.r0 /r 0 .r0 /  .r0 /r 0 '.r0 / :
ist (E1  E2 ). @V
424 12 Elektrostatik

Diese Identität wenden wir nun auf den Fall an, dass '.r0 / die r 2 V mit (12.13) und (12.18)
Lösung der Poisson-Gleichung (12.8) ist, '.r0 / D .r0 /; und I Z
für die zweite Funktion wählen wir .r0 / D G.r; r0 /, sodass df 0  r 0 G.r; r0 / D dV 0 0 G.r; r0 / D 4 : (12.31)
nur über das zweite Argument integriert wird. Die linke Seite
@V V
von (12.26) wird dann zu
Z Die Definition der Neumann-Green-Funktion ist daher statt-
0 0 0 0 0 0 0 dessen, dass die Normalableitung eine Konstante ist, die mit
dV .r / G.r; r /  G.r; r / .r /
(12.31) verträglich ist:
V
Z I
@ 0 4
D dV 0 4 .r0 / ı.r  r0 / C 4 G.r; r0 / .r0 / GN .r; r / D  mit A D df 0 ; (12.32)
(12.27) @n0 A
V @V
Z
Teil II

D 4 .r/ C 4 dV 0 G.r; r0 / .r0 /; worin A also der Flächeninhalt von @V ist. Das Oberflächen-
integral über .r0 /@n GN .r; r0 / liefert dann nur eine von r un-
V
abhängige Größe, den Mittelwert von auf dem Rand @V.
wobei wir die Symmetrie (12.18) und die definierende Glei- Da Neumann-Randwertaufgaben nur bis auf eine Konstante
chung (12.13) für die Green’sche Funktion verwendet haben. eindeutig lösbar sind, ist diese Konstante ohne Belang. Wir be-
Damit bekommen wir eine Gleichung, die .r/ mit r 2 V durch kommen somit, sofern eine Neumann-Green-Funktion vorliegt,
ein Volumenintegral und ein Oberflächenintegral darstellt: wiederum eine Integraldarstellung der Lösung des Randwert-
problems.
Z
.r/ D dV 0 G.r; r0 / .r0 /
Lösung der Neumann-Randwertaufgabe mit Neumann-
V
I Green-Funktion
1 Z
C df 0  G.r; r0 /r 0 .r0 /  .r0 /r 0 G.r; r0 / :
4 .r/ D dV 0 GN .r; r0 / .r0 / C h i@V
@V
V
(12.28) I (12.33)
1 @
In einer Dirichlet-Randwertaufgabe sind die Werte von auf @V C df 0 GN .r; r0 / .r0 /;
4 @n0
vorgegeben, während die Normalableitung von erst nach dem @V
Lösen dieser Aufgabe bekannt sein wird. Gleichung (12.28)
wobei h i@V der frei wählbare Mittelwert von auf dem
kann daher nur dann zum Auffinden dieser Lösung verwendet
Rand @V ist.
werden, wenn eine Green’sche Funktion G.r; r0 / vorliegt, die
verschwindet, wenn r0 auf @V liegt. Dies definiert die Dirichlet-
Green-Funktion als Green’sche Funktion mit der Randbedin- Die Lösungen für die Dirichlet- und Neumann-Randwertaufga-
gung ben mithilfe von zugehörigen Green-Funktionen setzen natür-
GD .r; r0 / D 0 für r0 2 @V: (12.29) lich voraus, dass letztere zur Verfügung stehen. Leider können
diese nur für spezielle, besonders symmetrische Situationen
Damit bekommen wir bei gegebener Dirichlet-Green-Funktion analytisch konstruiert werden. Hat man aber z. B. eine Dirichlet-
eine Integraldarstellung der gesuchten Lösung. Randwertaufgabe auf einem Rand @V für die spezielle Randbe-
dingung .r0 / D 0, r0 2 @V, für eine Punktladung q am Ort r00
für alle r00 2 V einmal gelöst, kennt man damit aufgrund von
Lösung der Dirichlet-Randwertaufgabe mit Dirichlet-
(12.30) die zu @V gehörende Dirichlet-Greenfunktion:
Green-Funktion
Z 1
.r/ D dV 0 GD .r; r0 / .r0 / GD .r; rq / D .r/; (12.34)
q
V
I (12.30) wobei .r/ die gefundene Lösung mit q am Ort rq ist.
1 @
 df 0 .r0 / GD .r; r0 /
4 @n0 Frage 5
@V
Leiten Sie diese Bedeutung von GD aus (12.30) ab, indem Sie
in dieser Gleichung für eine Punktladung spezialisieren und
dabei die gegebene Randbedingung an beachten.
Für Neumann-Randwertaufgaben benötigt man umgekehrt eine
Formel, in der am Rand noch nicht bekannt sein muss. Nun
kann man aber nicht erreichen, dass eine Green’sche Funktion Gleichung (12.30) liefert dann sofort die Verallgemeinerung
auf einer geschlossenen Fläche verschwindende Normalablei- dieser speziellen Lösung für verschwindende Randwerte auf be-
tung hat, denn mit dem Gauß’schen Satz ergibt sich wegen liebige Dirichlet-Randwertaufgaben mit gleicher Geometrie @V.
12.3 Randbedingungen auf Leiteroberflächen 425

Anwendung: Faraday’scher Käfig

In einem komplett von einem Leiter umschlossenen Hohl-


raum, in dem keine Ladungen enthalten sind, ist das elek-
trische Feld genauso wie im Inneren eines Leiters null. Die
innere Berandung bildet eine Äquipotenzialfläche, und die
(eindeutige) Lösung dieser speziellen Dirichlet-Randwert-
aufgabe ist schlicht, dass das Potenzial im ganzen Innenraum
konstant ist. Der Innenraum bildet dann einen sogenannten
Faraday’schen Käfig (Abb. 12.3), der alle äußeren elektri-
schen Felder abschirmt.

Teil II
Für praktische Zwecke muss die Leiteroberfläche nicht ein-
mal perfekt geschlossen sein, solange man es mit zeitlich
nicht zu schnell veränderlichen Feldern zu tun hat. Ein Käfig
aus Draht reicht oft aus. Auch in einem Auto aus metal-
lischem Blech ist man (trotz der Öffnungen in Form von
Fenstern) sicher, wenn ein Blitz einschlagen sollte. Felder
mit hinreichend großen Frequenzen und kleinen Wellenlän-
gen können aber eindringen, sonst könnte man ja aus einem Abb. 12.3 Um empfindliche Geräte von elektrischen Streufeldern abzu-
Drahtkäfig oder einem Auto nicht nach außen schauen. schirmen, werden Faraday’sche Käfige eingesetzt

12.3 Randbedingungen wird, dass sein Potenzial null ist, spricht man von einer Erdung,
die sich physikalisch durch eine leitende Verbindung mit der
auf Leiteroberflächen ferneren Umgebung realisieren lässt, über die elektrische La-
dung zu- oder abfließen kann. Das dazu nötige Erdungskabel
Eine einfache und in der Praxis besonders wichtige Randbe- selbst wird dabei meistens als vernachlässigbar für das elek-
dingung an elektrische Felder wird durch elektrische Leiter ins trostatische Randwertproblem betrachtet. Das Potenzial eines
Spiel gebracht. In einem elektrischen Leiter sind elektrische isolierten Leiters ist dagegen frei veränderlich. Mehrere von-
Ladungen (konkret die Leitungselektronen) weitgehend frei be- einander separierte Leiter können aber z. B. durch elektrische
weglich, sodass elektrische Felder im Inneren eines Leiters Batterien auf vorgegebenen Potenzialen gehalten werden.
sofort zu Bewegungen von diesen führen. Statische Verhältnis-
se liegen nur dann vor, wenn sich die Ladungsträger so weit Konstanz von auf einer Leiteroberfläche impliziert natürlich,
umgruppiert haben, dass im Inneren eines Leiters keine elek- dass die Tangentialableitungen davon verschwinden, und daher
trischen Felder mehr existieren, denn diese würden zu weiteren die Tangentialkomponenten der elektrischen Felder null sind.
Ladungsverschiebungen führen. Diese würden ja ansonsten wieder Ströme im Leiter hervorru-
fen. Normalkomponenten von elektrischen Feldern sind aber
möglich, weil man in der Elektrostatik annimmt, dass die La-
Elektrostatik in Anwesenheit von Leitern dungsträger nur im Bereich des Leiters frei beweglich sind,
dessen Oberfläche aber nicht verlassen können. (Wenn die Feld-
Im Inneren eines elektrischen Leiters mit (zusammenhän-
stärken so stark werden, dass tatsächlich Elektronen aus Leitern
gendem) Volumen VL gilt bei zeitunabhängigen Situatio-
herausgerissen werden können, hat man es offenbar nicht mehr
nen
mit zeitunabhängigen Verhältnissen zu tun.)
E.r/  0 ) .r/ D const: für r 2 VL : (12.35)
Normalkomponenten der elektrischen Felder auf einer Leiter-
oberfläche (En D n  E) geben direkt die dort vorhandene
Feldfreiheit im Inneren eines Leiters bedeutet wegen der
Oberflächenladung wieder, denn aus der Integralversion der ers-
ersten Maxwell-Gleichung div E D 4 , dass auch
ten Maxwell-Gleichung (11.145) bekommen wir für ein kleines
.r/  0 im Inneren des Leiters ist, d. h., die elektrische
Volumen um einen Oberflächenbereich F (Abb. 12.4)
Ladung eines Leiters ist auf der Leiteroberfläche verteilt.
Z Z
df En D 4 dV
Leiteroberflächen sind damit Äquipotenzialflächen. Das Po-
F V
(12.36)
tenzial im Unendlichen kann normalerweise auf null gesetzt
werden. Wenn dann für einen Leiter im Endlichen verlangt ) F En D 4 Q
426 12 Elektrostatik

E ΔF
ρ ρ

ΔV

Leiter

ρ Bild
Abb. 12.4 Randbedingung an der Grenzfläche eines elektrischen Leiters: Die
elektrische Feldstärke steht senkrecht auf die Oberfläche, während im Inneren Leiter ∂V
des Leiters das elektrische Feld verschwindet. Anwendung des Gauß’schen In-
tegralsatzes setzt den Fluss durch das infinitesimale Oberflächenelement F
Abb. 12.5 Bildladungsmethode schematisch: Die Randwertaufgabe einer ge-
Teil II

und damit die elektrische Feldstärke in Beziehung zur Oberflächenladungsdichte


gebenen Ladungsverteilung (rot ) in V D R3 nVL wird ersetzt durch eine im
(12.37)
gesamten Raum R3 , wobei eine fiktive Ladungsverteilung Bild (blau ) in VL
so bestimmt wird, dass die gegebenen Randbedingungen auf @V (gestrichelt )
erfüllt werden
und damit eine Oberflächenladungsdichte :

Q 1 Liegt in V eine Raumladungsdichte vor, können wir die Lö-


 D lim D En : (12.37) sung der Poisson-Gleichung allgemein schreiben als
F!0 F 4
Z
.r0 /
.r/ D dV 0 C hom .r/;  hom .r/ D 0: (12.39)
Die Gesamtladung eines Leiters mit Oberfläche F ist damit ge- jr  r0 j
geben durch das Oberflächenintegral V

I I In der sogenannten Bild- oder Spiegelladungsmethode nützt


QD df  D
1
df  E: (12.38) man aus, dass 1=jr  r0 j eine homogene Lösung in V ist, wenn
4 r0 außerhalb von V liegt. Man macht damit einen Ansatz
F F
Z 0
Bild .r /
hom .r/ D Bild .r/ D dV 0 ; r 2 V; (12.40)
In elektrostatischen Randwertproblemen wird typischerweise jr  r0 j
entweder das Potenzial eines Leiters oder die Gesamtladung Q, R3 nV
die ein isolierter Leiter trägt, vorgegeben. Beides zusammen
wobei Bild .r0 / mit r0 62 V so zu bestimmen ist, dass die Rand-
kann nicht vorgegeben werden, ebenso wenig die Oberflä-
bedingung auf @V erfüllt.
chenladungsdichte selbst, denn diese muss sich von selbst so
einstellen, dass im Inneren des Leiters kein elektrisches Feld Man ersetzt also durch diesen Ansatz das ursprüngliche Pro-
vorhanden ist. blem einer Ladungsverteilung im verbliebenen Volumen V mit
Randbedingung auf @V durch eines, das im gesamten Raum
Gemäß der oben eingeführten Terminologie hat man es je- formuliert wird, wobei im Leitervolumen VL eine fiktive Raum-
denfalls mit Dirichlet-Randbedingungen zu tun, nämlich der ladungsdichte so einzurichten ist, dass die Randbedingung auf
Vorgabe von Äquipotenzialflächen. Sind statt Potenzialen La- der geschlossenen Fläche @V erfüllt wird (Abb. 12.5).
dungen vorgegeben, sind die Randwerte von vorerst als
Erfolgsversprechend ist ein Bildladungsansatz typischerweise
Unbekannte einzuführen, die am Ende zu bestimmen sind.
nur bei einfachen geometrischen Verhältnissen und einfachen
Randbedingungen, wie z. B. von Leiteroberflächen. Wie wir an-
hand von konkreten Beispielen zeigen werden, können hier die
nötigen Ansätze oft durch Symmetrieüberlegungen und Spie-
12.4 Bildladungsmethode gelungen der Ladungsverteilungen an den Leiteroberflächen
erraten werden (daher auch die alternative Bezeichnung als
Spiegelladungsmethode).
Da im Inneren aller leitenden Körper das Feld komplett ab- In den elektrischen Leitern können, wie wir gesehen haben,
geschirmt ist, spielt sich die Elektrostatik in Anwesenheit von in Wirklichkeit nur Oberflächenladungsdichten vorliegen. Die-
leitenden Körpern mit gesamtem Volumen VL im verbleiben- se sind nach erfolgreicher Lösung durch (12.37) bestimmt und
den Volumen V D R3 nVL ab. Am Rand @V, der im Fall von haben per Konstruktion im freien Raum V denselben Effekt
mehreren voneinander getrennten Leitern aus entsprechend vie- wie die fiktiven Bildladungen. Im Inneren des elektrischen
len Teilen besteht, liegt dabei die Dirichlet-Randbedingung vor, Leiters sind die Verhältnisse natürlich drastisch andere: Die
dass das Potenzial jeweils konstant über die separaten Leiter- Oberflächenladungen bewirken, dass äußere elektrische Felder
oberflächen ist. komplett abgeschirmt werden und Feldfreiheit herrscht.
12.4 Bildladungsmethode 427

Punktladung vor einer ebenen Leiteroberfläche

Als erstes Beispiel zur Bildladungsmethode betrachten wir ei-


ne Punktladung vor einer ebenen Leiteroberfläche, die wir uns
unendlich ausgedehnt denken, sodass der Raum in zwei Hälften
geteilt wird. In der einen Hälfte sollen eine Punktladung plat-
ziert und die Effekte der auf dem Leiter hervorgerufenen Ober-
flächenladung studiert werden. Wir können ohne Beschränkung
der Allgemeinheit annehmen, dass dieser Halbraum durch z > 0
gegeben ist und die Leiteroberfläche bei z D 0 liegt. Die Punkt-
ladung q liege auf der z-Achse bei z D Cd. Die Hälfte hinter
dem Leiter, z < 0, ist feldfrei und könnte ebenso gut zur Gän-

Teil II
ze vom Leiter ausgefüllt sein. Der physikalisch interessierende
Raum V ist daher der Halbraum z > 0, und in diesem ist die
Poisson-Gleichung

 .r/ D 4 q ı.r  rq /; rq D .0; 0; d/ (12.41)


Abb. 12.6 Das Randwertproblem einer positiven Punktladung vor einer lei-
zu lösen mit der Randbedingung tenden Ebene wird in der Bildladungsmethode durch Einführen einer fiktiven
gegengleichen Ladung an der gespiegelten Position gelöst
.x; y; 0/ D 0: (12.42)

Gemäß (12.39) hat die gesuchte Lösung im Halbraum z > 0 die


Form
q
.r/ D C hom .r/;  hom .r/ D 0; (12.43)
jr  rq j

und eine homogene Lösung in diesem Halbraum ergibt sich,


wenn Bildladungen außerhalb davon, bei z < 0, angesetzt wer-
den.
In diesem einfachen Fall ist die Lösung leicht zu erraten: Nimmt
man an der gespiegelten Position r0q D .0; 0; d/ eine Bildla-
dung mit genau umgekehrter Stärke qBild D q, dann ist das
resultierende Potenzial
q q
.r/ D  (12.44)
jr  rq j jr  r0q j

auf der gesamten Ebene z D 0 zwischen Ladung und Bildla-


Abb. 12.7 Eine positive Punktladung vor einer leitenden Ebene influenziert ei-
dung aus Symmetriegründen null und damit die Randbedingung ne negative Oberflächenladung, sodass diese Ebene eine Äquipotenzialfläche
erfüllt (Abb. 12.6). Dieses Ergebnis erklärt auch die alternative bildet, auf der die elektrische Feldstärke senkrecht steht. Die Oberflächenla-
Bezeichnung von Bildladungen als Spiegelladungen. dungsdichte ist hier mit einer Dicke dargestellt, die ihrem Betrag entspricht. Bei
einem idealen Leiter ist sie ausschließlich auf der Oberfläche lokalisiert
Frage 6
Überprüfen Sie .x; y; 0/ D 0 durch eine explizite Auswertung
von (12.44) in kartesischen Koordinaten mit z D 0. R
auf der Leiterfläche induzierte Ladung ist dx dy .x; y/ D q,
wie man nachrechnen kann (Aufgabe 12.4), und wird in unse-
Die elektrische Feldstärke erhält man (bei z  0) aus E D r . rem idealisierten Fall einer unendlich ausgedehnten Leiterebene
Die influenzierte Oberflächenladungsdichte auf der Leiterober- aus dem Unendlichen herangeholt. (Diese bildet quasi ihre eige-
fläche bei z D 0 ergibt sich gemäß (12.37) als ne Erdung.)
1
.x; y/ D Ez .x; y; 0/: (12.45) Dieser Effekt, dass eine elektrische Ladung in der Nähe eines
4
ursprünglich ungeladenen Leiters auf dessen Oberfläche eine
In Abb. 12.7 ist diese als blaue Schicht auf der Leiteroberflä- Ladung mit umgekehrter Polarität hervorruft, wird elektrische
che mit einer Dicke proportional zu jj dargestellt. Die gesamte Influenz genannt. Dies führt dazu, dass die elektrische Ladung
428 12 Elektrostatik

vom Leiter angezogen wird, und zwar mit der Kraft y

q2
FD : (12.46)
4d 2
(0, R sin ϑ, R cos ϑ)

Frage 7
r
Begründen Sie dieses Ergebnis!
ϑ d
 
Dass diese Kraft für d ! 0 divergiert, ist allerdings eine Folge d ,q q z
der in diesem Limes unphysikalischen Idealisierung. Bei Ab-
ständen, die in den Bereich atomarer Abmessungen kommen,
Teil II

kann die Vorgabe einer unverrückbaren Äquipotenzialfläche bei


z D 0 nicht mehr aufrechterhalten werden. Es kommt stattdes-
sen zu komplizierteren Wechselwirkungen zwischen Metall und
Ladung, wobei die Kraft endlich bleibt, auch wenn das geladene
Punktteilchen auf das Metall trifft. Abb. 12.8 Ansatz einer Bildladung für die leitende Kugel

gilt. Die erste Relation ist eine quadratische Gleichung für d 0 ,


Punktladung vor einer leitenden Kugel
R2 C d 2 0
d 02  d C R2 D 0; (12.49)
Als nächstes instruktives Beispiel betrachten wir eine leitende d
Kugel im Feld einer Punktladung, wobei wir zunächst anneh-
men wollen, dass die Kugel geerdet ist und dadurch auf D 0 mit den zwei Lösungen
gehalten wird. 1
d0 D R2 C d 2 ˙ .R2  d 2 /
Als Bildladungsansatz für eine geerdete ( D 0) leitende Kugel 2d
(12.50)
mit Radius R und Mittelpunkt im Ursprung des Koordinaten- R2 =d
systems in Anwesenheit einer Punktladung q bei rq D .0; 0; d/, D :
d
d > R, versuchen wir es mit einer einzelnen Bildladung q0 im
Inneren der Kugel auf der Symmetrieachse bei r0q D .0; 0; d 0 /.
Die zweite Lösung, d 0 D d und damit q0 D q, eliminiert ein-
Wegen der Rotationssymmetrie um die z-Achse können wir uns fach die gegebene Ladung, verletzt aber die Vorgabe, dass die
z. B. auf die yz-Ebene beschränken und das Potenzial auf dem Bildladung im Inneren der Kugel liegen muss, damit außerhalb
Großkreis .0; R sin #; R cos #/ betrachten. Die superponierten dieser die Poisson-Gleichung unverändert bleibt. Die erste Lö-
Beiträge von der gegebenen Ladung und der angesetzten Bild- sung d 0 D R2 =d erfüllt dagegen d 0 < R und liefert damit das
ladung müssen dort zusammen null ergeben (Abb. 12.8): physikalische Resultat. Die dazu benötigte Bildladung ist be-
tragsmäßig kleiner als die reale Ladung und trägt umgekehrtes
Š q q0
0D p Cp Vorzeichen: r
R2 s2 C .d  Rc/2 R2 s2 C .Rc  d 0 /2 0 d0 R
q D q D q : (12.51)
q q0 d d
D p Cp
R2 C d 2  2dR cos # R2 C d 02  2d 0 R cos # q0 ist die Gesamtladung der Kugel, die in Wirklichkeit auf der
p 0
p Kugeloberfläche verteilt vorliegt (Aufgabe 12.5) und über die
q= 2dR q = 2d 0 R
D q Cq ; (12.47) Erdung auf die Kugel geholt werden konnte.
R2 Cd2 R2 Cd02
 cos # 2d0 R
 cos #
2dR Für sehr kleine Abstände der Punktladung von der Kugelober-
fläche, d  R R, geht die Lösung in die einer Punktladung
wobei in der ersten Zeile s D sin # und c D cos # abgekürzt vor einer leitenden Ebene über und dementsprechend wird q0 !
wurde. q, wobei die Kraft auf die Ladung proportional zum Kehrwert
Die beiden Beiträge müssen sich für alle Werte von # weghe- des Quadrats zum Abstand von der Leiteroberfläche ist:
ben. Wie die Umformung deutlich macht, ist das mit den beiden
freien Parametern q0 und d 0 tatsächlich zu erreichen, nämlich q2
F für d ! R: (12.52)
wenn 4.d  R/2

R2 C d 2 R2 C d 02 q q0
D ; p D p (12.48) Für große Abstände d R der Punktladung nähert sich die
d d0 d d0 Bildladung dem Mittelpunkt der Kugel, wobei ihre Stärke mit
12.4 Bildladungsmethode 429

Erdung

Teil II
Abb. 12.9 Lösung der Randwertaufgabe einer Punktladung vor einer geerde- Abb. 12.10 Wie Abb. 12.9, aber für eine ungeladene isolierte Kugel
ten leitenden Kugel mit Bildladungsmethode, wobei der Abstand der Punktla-
dung beim Dreifachen des Kugelradius liegt. In Wirklichkeit ist der Raum im
Inneren der Kugel feldfrei. Die Bildladungsmethode ersetzt die Ladungen auf der
Oberfläche der Kugel durch eine fiktive Ladung im Inneren Allerdings kann ausgehend von der Lösung mit Potenzial null
auf der Kugeloberfläche leicht eine mit konstantem Potenzial
ungleich null konstruiert werden. Dazu müssen wir lediglich ei-
dem Kehrwert von d abnimmt. Dementsprechend fällt die an- ne weitere fiktive Ladung q00 in den Ursprung der Kugel setzen,
ziehende Kraft der geerdeten Kugel auf die Punktladung gemäß denn diese addiert dann eine Konstante V0 D q00 =R zum Poten-
zial auf der Kugeloberfläche bei jrj D R.
q2 R Mit dieser allgemeineren Lösung können wir auch Aufga-
F für d R (12.53)
d3 benstellungen lösen, bei denen das Potenzial der Kugel nicht
vorgegeben ist, sondern nur die Tatsache, dass die Kugel-
ab.
oberfläche eine Äquipotenzialfläche ist. Wenn die Kugel nicht
Frage 8 geerdet, sondern ursprünglich ungeladen und isoliert ist, wenn
Vollziehen Sie diese beiden Ergebnisse nach! die Punktladung in ihre Nähe gebracht wird, dann muss V0
bzw. q00 so gewählt werden, dass die Gesamtladung der Kugel
null bleibt. Das wird einfach durch q00 D q0 erreicht. Ab-
Zusammenfassend können wir das elektrostatische Potenzial im bildung 12.10 zeigt die entsprechende Modifikation für den in
Außenraum einer geerdeten leitenden Kugel mit Radius R in Abb. 12.9 gezeigten Fall. (Ganz analog ist der Fall zu lösen,
Anwesenheit einer Punktladung q bei rq allgemein schreiben wenn die isolierte leitende Kugel eine Ladung Q trägt. Dann
als muss q00 D Q  q0 gewählt werden.)
q q R Frage 9
.r/ D  ;  : (12.54)
jr  rq j jr   2 rq j jrq j Lesen Sie aus obigen Feldlinienbildern ab, wo auf der Kugel-
oberfläche positive und wo negative Ladungen sitzen.
Äquipotenziallinien und elektrische Feldlinien sind in Abb. 12.9
für  D 1=3 illustriert.
Aufgrund des Superpositionsprinzips können wir auch leicht
auf beliebige Ladungskonfigurationen vor der leitenden Kugel Dirichlet-Green-Funktion für Ebene und Kugel
verallgemeinern. Dazu müssen wir nur für jede reelle Ladung
eine nach dem selben Muster konstruierte Bildladung einfüh-
ren. In (12.34) haben wir festgehalten, wie aus der allgemeinen
Lösung für das Potenzial einer Punktladung unter der Randbe-
Hätten wir aber in obigem Beispiel nicht vorgegeben, dass das dingung D 0 auf der geschlossenen Fläche @V die zu @V
Potenzial der Kugel null ist, sondern einen anderen Wert vor- gehörende Dirichlet-Green-Funktion abgelesen werden kann:
gegeben (physikalisch realisierbar durch eine Batterie, die in GD .r; rq / D .r/=q, wobei rq die Position von q ist.
den Erdungsdraht eingeschaltet wird), so wäre unser Ansatz mit
einer Bildladung pro reeller Punktladung gescheitert – (12.47) Mithilfe der Bildladungsmethode haben wir derartige Lösungen
wäre nicht für alle # erfüllbar gewesen. für den Fall einer unendlich ausgedehnten Ebene in (12.44) und
430 12 Elektrostatik

den einer Kugeloberfläche in (12.54) konstruiert. Die zugehöri- Im Fall der Kugel bei r0 D R müssen wir ganz analog für die
gen Dirichlet-Green-Funktionen sind somit Normalableitung von (12.58) im Fall von r > R nach @=@r0
und für r < R nach C@=@r0 ableiten. Dies ergibt
für die Ebene z D 0
@ 0 jr2  R2 j
1 1 GD .r; r /j r 0 DR D jr0 DR : (12.60)
GD .r; rq / D  ; r0q D rq jz!z ; (12.55) @n0 R.r2 C R2  2r  r0 /3=2
jr  rq j jr  r0q j

für die Kugel mit Radius R um den Ursprung Frage 10


Rechnen Sie diese beiden Ergebnisse nach!
1  R
GD .r; rq / D  ;  : (12.56)
jr  rq j jr   2 rq j jrq j
Teil II

Halbkugelschalen unter Spannung


Wie wir schon festgestellt haben, sind Dirichlet-Green-Funktio-
nen symmetrisch in ihren Argumenten. Dies wird für die obigen Betrachten wir z. B. eine leitende Kugelschale, die am
Beispiele erst offensichtlich, wenn wir sie etwas expliziter an- Äquator durchgeschnitten wurde und wo die beiden
schreiben: Hälften voneinander durch eine vernachlässigbar dünne
Isolierung getrennt und auf Potenzial C 0 bzw.  0 ge-
GD für die Ebene z D 0 bracht wurden.

1 z
GD .r; r0 / D p (12.57)
.x  x / C .y  y0 /2 C .z  z0 /2
0 2

1
p ; +φ0
.x  x / C .y  y0 /2 C .z C z0 /2
0 2

GD für die Kugel mit Radius R um den Ursprung

1
GD .r; r0 / D p
r2 C r02  2r  r0
1
p : (12.58) x y
r r =R C R2  2r  r0
2 02 2
−φ0

Dirichlet-Green-Funktionen erlauben es mit (12.30), die allge-


meinste Lösung für ein Dirichlet-Randwertproblem zu einer Wenn keine Raumladungsdichte vorliegt, ist die Lö-
gegebenen Geometrie in Integralform darzustellen. Anders als sung dieses Dirichlet-Randwertproblems (12.30) zufolge
in den obigen Beispielen können wir nun auch Fälle lösen, in durch
denen die geschlossenen Flächen nicht mehr Äquipotenzialflä- Z
d0 Rjr2  R2 j
chen sind. .r/ D .R; # 0 ; ' 0 / 2
4 .r C R2  2r  r0 /3=2
In der allgemeinen Lösung (12.30) geht neben der Dirichlet- (12.61)
Green-Funktion auch deren Normalableitung am Rand ein, so- gegeben, wobei wir (12.60) für die Normalableitung der
bald dort Potenziale ungleich null vorgegeben werden. Dirichlet-Green-Funktion verwendet haben. Hierbei ist
r  r0 für jr0 j D r0 D R, aber für allgemeine Richtungen
Im Fall der Dirichlet-Green-Funktion für die Ebene z0 D 0 zeigt
von r0 (parametrisiert durch den Raumwinkel 0 ) auszu-
für z > 0 (z < 0) die Flächennormale in negative (positive) z0 -
werten. In Kugelkoordinaten ergibt sich
Richtung (sie zeigt immer vom betrachteten Volumen V weg).
Dementsprechend erhalten wir für die Normalableitung von GD
r  r0 D rRŒcos # cos # 0 C sin # sin # 0 cos.'  ' 0 /:
aus (12.57)
(12.62)
Mit der Randbedingung
@ @
GD .r; r0 /jz0 D0 D GD .r; r0 /jz0 D0
@n0 @z0 C für 0  # 0 < =2
.R; # 0 ; ' 0 / D
0
(12.63)
2jzj  für =2  # 0 
D : (12.59) 0
Œ.x  x / C .y  y0 /2 C z2 3=2
0 2
12.5 Elektrische Kapazität 431

führt dies auf Computerunterstützung mit fast beliebiger Genauigkeit


2 3 ausgewertet werden, während eine direkte numerische
Z2 Z1 Z0 Lösung einer Dirichlet-Randwertaufgabe im dreidimen-
04 Rjr2  R2 j
d  d 5
0
.r/ D d' ; sionalen Raum, noch dazu mit unstetigen Randwerten
4 .r2 C R2  2r  r0 /3=2
0 0 1 wie in diesem Beispiel, weitaus schwieriger wäre. J
(12.64)
wobei   cos # 0 ist.
Für den speziellen Fall, dass r auf der z-Achse liegt, kann
dieses Integral elementar ausgeführt werden. Dann wird
nämlich rr0 D rR, die ' 0 -Abhängigkeit des Integranden 12.5 Elektrische Kapazität
fällt weg, und das -Integral ist von der Form

Teil II
Z Betrachten wir den speziellen, aber oft vorkommenden Fall,
2
.A C B /3=2 d D p : (12.65) dass alle elektrischen Ladungen auf einer Anzahl voneinander
B AC B getrennter Leiteroberflächen @Vj , j D 1; : : : ; N, eingesperrt sind
und keine Raumladungsdichten vorhanden sind. Auch wenn wir
Damit bekommen wir entlang der z-Achse
das zugehörige Dirichlet-Randwertproblem
2 
0 jz  R j
2
1 1 2
.z/ D C p : .r/ D j D const für r 2 @Vj (12.67)
2z jz  Rj jz C Rj z2 C R2
(12.66) nur für die einfachsten Konfigurationen explizit lösen werden
Für die anderen Richtungen von r kann das Integral können, so erlaubt uns das Superpositionsprinzip einige wich-
(12.64) nicht in geschlossener Form ausgewertet wer- tige Schlussfolgerungen bezüglich des Zusammenhangs von
den. Mit Mathematiksoftwarepaketen wie Mathematica elektrostatischem Potenzial und den elektrischen Ladungen in
oder Maple ist die numerische Auswertung aber problem- einem derartigen System. Die Lösung zu (12.67) ist wegen des
los. Der folgende Plot (produziert mit Mathematica) zeigt Superpositionsprinzips jedenfalls eine Linearkombination der
das Potenzial in der xz-Ebene. Das Potenzial ist extre- Form X
mal auf den Halbkugeln (hier Halbkreise). Im Innenraum .r/ D j Fj .r/; (12.68)
der Hohlkugel interpoliert das Potenzial stetig bis auf die j
Punkte, wo die Halbkugeln mit unterschiedlichem Poten-
wobei Fj .r/ die Lösung der Laplace-Gleichung ist, bei der das
zial aufeinander stoßen; im Außenraum fällt das Potenzial
Feld Fj auf @j V den Wert 1 und auf allen anderen Leiterober-
für große Abstände wie 1=r2 ab.
flächen den Wert 0 annimmt. Damit können wir die Ladung
2
Qi auf der Leiteroberfläche @Vi ebenfalls als Linearkombination
schreiben:
x/R 1
I I
0 1 1
Qi D df En D  df @n
−1 4 4
−2 @Vi @Vi
1
2 3
X6 1 I 7
φ/φ0
D 4 df @n Fj 5 j
j
4
0 @Vi
X
DW Cij j ; (12.69)
j
−1
2 wobei wir verwendet haben, dass gemäß (12.37) die Oberflä-
1
0 chenladungsdichte durch die Normalableitung von ausge-
z/R −1 drückt werden kann. Die hier auftretenden Koeffizienten Cij
2 werden Kapazitätskoeffizienten genannt. Diese sind symme-
trisch, Cij D Cji , wie in Aufgabe 12.7 gezeigt wird. Der
Auch wenn hier das Problem letztlich durch numerische Kapazitätskoeffizient Cij gibt dabei an, wie viel Ladung der Lei-
Integration gelöst werden musste, ist zu betonen, dass das ter i trägt, wenn Leiter j eine Einheit an Potenzial trägt und alle
Auffinden einer Integraldarstellung nahezu so gut ist wie anderen Leiter geerdet und daher auf Potenzial 0 sind.
eine Lösung in geschlossener Form. Integrale können mit Kapazitätskoeffizienten haben demnach die physikalische Di-
mension Ladung/Potenzial, was im Gauß’schen System gleich
432 12 Elektrostatik

Vertiefung: Weitere Methoden zur Lösung von Dirichlet-Randwertproblemen

Zur Lösung der Laplace-Gleichung mit Dirichlet-Rand- plexen Variable eine harmonische Funktion darstellen
bedingungen gibt es weitere analytische und numerische (siehe den „Mathematischen Hintergrund“ 13.1).
Methoden, die spezielle Eigenschaften von harmonischen Zum Beispiel ist das Potenzial .x; y/ eines zweidimen-
Funktionen ausnützen (hier ohne die zugehörigen Beweise sionalen Plattenkondensators mit .x; ˙b/ D ˙ 0 für
angeführt). jyj  b einfach durch D 0 y=b D . 0 =b/ Im z
gegeben. Die Geraden senkrecht dazu, gegeben durch
(a) Variationsrechnung: Harmonische Funktionen (Lösun- konstantes D . 0 =b/ Re z, stellen die elektrischen
gen der Laplace-Gleichung) können dadurch charakteri- Feldlinien dar. Mit komplexen Variablen z D x C iy
siert werden,R dass sie bei gegebenen Randbedingungen und u D C i ist die zugrunde liegende analytische
Teil II

das Integral V dV.r /2 minimieren. Wegen E D r Funktion einfach die lineare Funktion u D b0 z. Ana-
und (12.81) bedeutet dies physikalisch, dass die Lösung lytische Funktionen f .u/ stellen sogenannte konforme
die Feldenergie minimiert. Man kann dies ausnützen, um Abbildungen dar und liefern die Lösungen von Dirich-
Näherungslösungen zu finden, indem man eine hinrei- let-Randwertaufgaben für Probleme, wo die Randwerte
chend große Schar von Funktionen betrachtet, die alle die jetzt an anderen, geometrisch komplizierteren Orten an-
geforderten Randbedingungen erfüllen. Durch Variation genommen werden. Abbildung 12.12 wurde auf diese
der Parameter, von denen diese Funktionen abhängen, Weise berechnet. Die Transformation, die aus einem un-
sucht man dann nach einer, mit der obiges Energie-In- endlichen zweidimensionalen Plattenkondensator einen
tegral minimiert wird. macht, der bei x D Re z D 0 endet, ist
(b) Relaxationsmethode: Harmonische Funktionen können
auch durch ihre Mittelwerteigenschaft charakterisiert  
0 0
werden. Sie sind gerade die Funktionen, für die gilt, zD uC e u= 0
C1 :
b
dass der Funktionswert im Mittelpunkt einer Kugel gleich
dem räumlichen Mittel über die Kugel ist. Dies kann Bei festgehaltenem Im u D gibt z. / eine Para-
zur Konstruktion von numerischen Näherungslösungen meterstellung der Äquipotenzialflächen, während eine
auf einem räumlichen Gitter verwendet werden, indem Variation von bei festem Re u D die dazu überall
man eine grobe Interpolation der Randwerte sukzessiv normalen elektrischen Feldlinien gibt. Beides lässt sich
dadurch verbessert, dass man bei jeder Iteration den Mit- leicht mit moderner Mathematiksoftware plotten.
telwert über die Nachbarn eines Gitterpunktes bildet und
diesen Wert als neuen Potenzialwert abspeichert. Diese
Methode wird Relaxationsmethode genannt. Literatur
(c) Viele Potenzialprobleme, die nur von zwei Koordinaten
abhängen, weil sie bezüglich der dritten translationsinva- Lehner, G.: Elektromagnetische Feldtheorie für Ingenieu-
riant sind, können mit Methoden der komplexen Funk- re und Physiker. 7. Aufl., Springer (2010)
tionentheorie extrem elegant gelöst werden, da Real- und Pollack, G.L., Stump, D.: Electromagnetism. Cummings
Imaginärteil jeder analytischen Funktion von einer kom- (2002)

einer Länge (cm) ist (siehe in der „Übersicht: Umrechnungs- + +


tabelle“ in Abschn. 11.3). Im SI-System ist die Einheit für +Q
C2 U2
Kapazitäten dagegen 1 C/V D 1 Farad (F), benannt nach Mi- −Q
chael Faraday. +Q1 +Q2
U U C1 C2
+Q −Q1 −Q2
Bei zwei Leitern wird die Kapazität C im engeren Sinn dadurch C1 U1
definiert, dass man den Fall betrachtet, dass die Ladung auf den −Q
zwei Leitern gegengleich ist, Q1 D Q2 D Q, und den Quoti-
enten zur Potenzialdifferenz U D 1  2 bildet. Abb. 12.11 Serien- und Parallelschaltung von zwei Kondensatoren

Kapazität von zwei Leitern Das System aus zwei Leitern wird dann als Kondensator be-
Q zeichnet.
CD (12.70)
U Aus (12.70) lässt sich unmittelbar folgern, wie sich Kapazitäten
von Kondensatoren kombinieren, wenn sie wie in Abb. 12.11
12.5 Elektrische Kapazität 433

hintereinander (in Reihe) oder parallel geschaltet werden. Bei


Reihenschaltung addieren sich die Potenzialdifferenzen, wäh- liefert eine lineare Interpolation offenbar die gesuchte Lö-
rend die Ladungen gleich sind. Daher addieren sich in diesem sung:
Fall die Kehrwerte der Kapazitäten:
z  z2 z  z1
F1 .z/ D  ; F2 .z/ D : (12.74)
1 U U1 C U2 1 1 z2  z1 z2  z1
D D D C : (12.71)
CReihe Q Q C1 C2
Die zu D 1 F1 C 2 F2 gehörende elektrische Feldstär-
Werden sie dagegen parallel geschaltet, liegen an beiden die ke zeigt in z-Richtung und lautet
gleichen Spannungen, und die Ladungen des Gesamtsystems
 2
1 1  2
ergeben sich als die Summe der Ladungen auf den einzelnen Ez D D : (12.75)
Kondensatoren: z2  z1 d
Q1 C Q2 Die Oberflächenladungsdichte ist damit  D Ez =.4 /

Teil II
Cparallel D D C1 C C2 : (12.72) und die Ladung auf den Platten
U
A
Wenn das lineare Gleichungssystem (12.69) invertierbar ist, Q1 D . 1  2/ D Q2 : (12.76)
4 d
kann man die Kapazität C eines einzelnen Kondensators aus den
Cij des Systems von zwei Leitern durch Inversion dieser Matrix Die Kapazitätskoeffizienten sind damit alle ˙A=.4 d/,
ausrechnen: und auch die Kapazität des Plattenkondensators kann di-
rekt als
C11 C22  C12 C21 A
CD : (12.73) CD (12.77)
C11 C C12 C C21 C C22 4 d
abgelesen werden. Diese Größen haben in unserem
Ist (wie in den folgenden zwei Beispielen) dieses Gleichungs-
Gauß’schen Einheitensystem alle offensichtlich die Di-
system entartet, weil z. B. für beliebige 1;2 immer Q1 D Q2
mension einer Länge. Die Kapazität ist direkt proportio-
gilt, dann vereinfacht sich das Problem sogar, und man kann C
nal zur Plattenfläche des Plattenkondensators und nimmt
schon aus einer der beiden Gleichungen ablesen.
mit kleiner werdendem Abstand der Platten rapide zu.
(Bei zu kleinem d erreicht die Feldstärke schließlich
Plattenkondensator einen Wert, der die Ladungsträger aus dem Leiter heraus-
reißt; der Kondensator „schlägt durch“.) J
Betrachten wir einen Plattenkondensator mit Plattenab-
stand d und einer so großen Fläche A pro Platte, dass
Randeffekte vernachlässigt werden können. Eine Platte Kugelkondensator
sei bei z D z1 , die andere bei z D z2 D z1 C d posi-
tioniert. Ein Kugelkondensator besteht aus konzentrischen leiten-
den Kugelschalen, die bei r D R1 für die innere und
z r D R2 für die äußere Schale liegen sollen.

φ2 Leiter − Q1
z2
+ Q1
− Q1
d Vakuum R1
+ Q1 R2

z1 φ1
φ1

Vakuum

φ2

Die allgemeine Lösung setzt sich gemäß (12.67) aus Lö- Leiter
sungen der Laplace-Gleichung zusammen, die jeweils 1
auf der einen und 0 auf der anderen Platte ergeben. Weil Für diesen können wir ebenso leicht die Kapazität aus-
die Laplace-Gleichung zwei Differenziationen enthält, rechnen, weil wir schon kugelsymmetrische Lösungen
434 12 Elektrostatik

der Laplace-Gleichung kennen: Neben simplen Konstan-


ten löst 1=r die Laplace-Gleichung außerhalb des Ur-
sprungs, und wir benötigen eine Lösung ja nur zwischen
den Kugelschalen. Die entsprechenden Funktionen F1;2 ,
die bei r D R1;2 jeweils 1 sind und am anderen Rand null,
lauten

R1 R2
F1 .r/ D 1 ;
R2  R1 r

R2 R1
F2 .r/ D 1 : (12.78)
R2  R1 r
Teil II

Das elektrische Feld ist nun radial ausgerichtet und Q1


und Q2 ergeben sich mit D 1 F1 C 2 F2 und Er D
@r als
R1 R2 Abb. 12.12 Randfeld eines Plattenkondensators
Q1 D . 1  2/ (12.79)
R2  R1
und Q2 D Q1 , weil für die äußere Schale die Normal-
komponente En D Er ist. Wieder haben alle Kapazi-
tätskoeffizienten gleiche Beträge und die Kapazität des 12.6 Elektrostatische Energie
Kugelkondensators ist
 1 In (11.111) haben wir einen allgemein gültigen Ausdruck für
R1 R2 1 1
CD D  : (12.80) die Energiedichte des elektromagnetischen Feldes hergeleitet.
R2  R1 R1 R2 In der Elektrostatik reduziert sich dies auf wem D E2 =.8 /,
sodass die gesamte, in einem Volumen V vorhandene Energie
Lässt man den äußeren Radius gegen unendlich gehen,
durch Z
findet man das einfache Resultat für die Kapazität einer 1
leitenden Kugel (gegenüber dem Unendlichen) C D R1 . WV D dV E2 (12.81)
8
V
Eine Kugel mit Radius 1 cm hat also im Gauß’schen
Maßsystem einfach die Kapazität von 1 cm. In SI-Ein- gegeben ist. Mit E D r und  D 4 können wir dies
heiten (siehe die Umrechnungstabelle in Abschn. 11.3) wie folgt umformen:
entspricht C D 1 cm einem Wert von CŒSI 1;11  1012
F oder 1,11 pF. Umgekehrt sieht man, dass 1 Farad eine Z Z
1 1
enorme Kapazität darstellt: Eine (einzelne) Kugel mit ei- WV D dV r  r D dV Œr  . r /   
8 8
ner solchen Kapazität hätte einen Radius von 9 Millionen V V
Kilometer, das sind etwa 13 Sonnenradien. J Z I
1 1
D dV .r/ .r/ C df  r ; (12.82)
2 8
V @V
Während der Kugelkondensator ein endliches und damit rea-
lisierbares Beispiel für einen Kondensator darstellt, der in ge- wobei wir im letzten Schritt den Gauß’schen Integralsatz
schlossener Form berechenbar ist, ist dies für einen realistischen (11.17) verwendet haben.
Plattenkondensator, also einen, der nicht unendlich ausgedehnte
Platten hat, offenbar nicht der Fall. Hier kommen Randfelder ins
Spiel (Abb. 12.12), die aber, wenn der Plattenabstand sehr viel
kleiner als die Ausdehnung der Platten ist, für die Eigenschaften Elektrostatische Energie von Ladungen
des Kondensator als Ganzes vernachlässigbar werden. im Vakuum
Frage 11
Überlegen Sie sich, dass ein elektrisches Feld, das im Inneren Betrachten wir zuerst den Fall einer Ladungsverteilung und das
eines Plattenkondensators homogen senkrecht zu den Platten von ihr erzeugte elektrische Feld im gesamten Raum V D R3
stehen und am Rand abrupt enden würde, kein wirbelfreies
H E- bei natürlichen Randbedingungen, sodass das Oberflächeninte-
Feld wäre. Betrachten Sie dafür z. B. die Zirkulation dr  E gral in (12.82) verschwindet und wir für die allgemeine Lö-
entlang des gestrichelten Weges in Abb. 12.12. sung der Poisson-Gleichung bei natürlichen Randbedingungen,
(12.11), einsetzen können. Die elektrostatische Gesamtenergie
12.6 Elektrostatische Energie 435

ist dann explizit durch die Ladungsverteilung ausgedrückt: Schon in Kap. 11 waren wir mit einer solchen Schwierigkeit
konfrontiert: Bei der Lorentz-Kraft auf Punktladungen muss-
Z Z
1 1 .r/ .r0 / ten wir das Eigenfeld ausklammern, um keine Unendlichkeiten
WD dV .r/ .r/ D dVdV 0 : (12.83) zu bekommen, während es für die Lorentz-Kraftdichte von
2 2 jr  r0 j
kontinuierlichen Ladungsverteilungen keine Probleme gab. Für
letztere muss auch bei den Energieausdrücken nichts abge-
Im ersten Ausdruck verwundert vielleicht der Faktor 1=2, denn
zogen werden, denn solange die Integrale regulär sind, sind
die potenzielle Energie einer Ladung q am Ort r in einem ge-
die Selbstenergiebeiträge von infinitesimalen Volumenelemen-
gebenen Potenzial .r/ ist einfach q .r/. Um dies besser zu
ten eben infinitesimal, d. h., sie verschwinden völlig, wenn sie
verstehen, zerlegen wir .r/ in Bestandteile i .r/ und schreiben
punktuell betrachtet werden.
X Wirkliche Punktladungen machen aber offenbar Probleme, wie
.r/ D i .r/: (12.84) im dynamischen Fall am Ende von Abschn. 18.4 nochmals dis-

Teil II
i
kutiert werden wird. Letzten Endes weisen diese Probleme über
die klassische Elektrodynamik hinaus und können erst in der
Aufgrund des Superpositionsprinzips können wir auch Quantenfeldtheorie beherrscht werden.
X
.r/ D i .r/;  i .r/ D 4 i .r/ (12.85) Selbstenergie einer dünnen Kugelschale
i
Betrachten wir die Energie, die in einer homogen gelade-
aufspalten. Damit bekommen wir für (12.83) eine Doppelsum- nen infinitesimal dünnen Kugelschale mit Radius R und
me: Gesamtladung Q steckt. Die Ladungsverteilung ist dann
durch die Distribution
Z
1 XX
WD dV i .r/ j .r/ Q
2 i j .r; #; '/ D ı.r  R/ (12.89)
4 R2
Z XZ (12.86)
1X
D dV i .r/ i .r/ C dV i .r/ j .r/: gegeben. Obwohl diese Ladungsverteilung nicht kontinu-
2 i i<j ierlich, sondern singulär ist, existiert damit das doppelte
Volumenintegral in (12.83) und kann ohne Weiteres di-
Hierbei stellt der erste Beitrag in der zweiten Zeile die Selbst- rekt ausgewertet werden (Aufgabe 12.8).
energien und der zweite Beitrag die Wechselwirkungsenergien Am einfachsten berechnet sich die Feldenergie aber über
der verschiedenen Teile der Ladungsverteilung dar. Wegen der die zugehörige Feldstärke und die Formel (12.81). Inner-
Symmetrie in letzterem, halb der Kugelschale ist das elektrische Feld null und
außerhalb durch
Z Z 0
i .r/ j .r /
dV i .r/ j .r/ D dVdV 0 ; (12.87) Q
jr  r0 j Er .r/ D ; r>R (12.90)
r2
P P P gegeben. Damit ergibt sich
konnten wir statt 12 i6Dj D 12 i<j C 12 i>j im Wechsel-
P
wirkungsanteil i<j schreiben, und den Faktor 12 weglassen. Z1
Damit sehen wir, dass der Vorfaktor 12 in (12.83) gerade notwen- 1 Q2 2 Q2
WD 4 4
r dr D : (12.91)
dig war, um die Wechselwirkung von einem j mit den übrigen 8 r 2R
R
Ladungen nicht doppelt zu zählen.

Wenn die Ladungsverteilung nicht kontinuierlich ist, sondern Dieser Ausdruck divergiert, wenn R ! 0 geht und die
eine Anzahl von Punktladungen durch eine Summe von Dirac- Ladungsverteilung diejenige einer Punktladung wird. Mit
Delta-Funktionen darstellt, verliert der Selbstenergiebeitrag sei- der Einstein’schen Äquivalenz von Energie und Masse
nen Sinn – er wird schlicht unendlich. In diesem Fall behält man (Kap. 10) sollte eine solche Ladungsverteilung unend-
für die elektrostatische Energie nur den Wechselwirkungsanteil liche Masse bedingen. Der Wert von R, bei dem die
und ignoriert die unendliche Selbstenergie: Selbstenergie einer Elementarladung Q D e mit der Ru-
heenergie me c2 eines Elektrons übereinstimmt, sodass die
X qi qj 1 X qi qj Masse eines Elektrons durch die elektrische Feldenergie
W ww D D : (12.88) erklärt werden könnte, ist
jri  rj j 2 jri  rj j
i<j i6Dj
e2
RD : (12.92)
Im Gegensatz zum positiv definiten Ausdruck (12.81) kann 2me c2
W ww sowohl positiv als auch negativ sein.
436 12 Elektrostatik

dichte D 0), vereinfacht sich (12.82) gemäß


Die charakteristische Länge e =.me c / 2;81810
2 2 13 I
cm 1 X 1X
wird als klassischer Elektronenradius bezeichnet (obwohl WD df  r D i Qi ; (12.93)
8 2 i
für das Modell einer Kugelschale diese Größe gerade den i
@Vi
Elektronendurchmesser darstellt).
da Leiter Äquipotenzialflächen darstellen und das Oberflächen-
In der Teilchenphysik findet man allerdings keinen Hin- integral wie in (12.69) gerade die darauf befindliche Ladung
weis auf eine derartige Ausdehnung von Elektronen; ergibt. In (12.69) wurden letztere wiederum als Linearkombi-
diese zeigen auch auf Längenskalen von der Ordnung nation der Potenziale dargestellt. Für die Energie von geladenen
1017cm keine Abweichung von einer punktförmigen Leitersystemen ergibt sich damit eine quadratische Form in den
Ladungsverteilung. J Potenzialen.
Teil II

Elektrostatische Energie eines Systems von geladenen


Leitern
1X 1X
WD i Qi D i Cij j (12.94)
Energie von geladenen Leitersystemen 2 i 2 ij

Für den Spezialfall eines Kondensators mit Q1 D Q2 D


Beim Vorliegen von Randbedingungen im Endlichen, z. B. bei Q und U D 1  2 folgt mit (12.70)
Dirichlet-Randwert-Aufgaben, sind für die Feldenergie in der
Form (12.82) im Allgemeinen Volumen- und Oberflächenbei- 1 Q2
WD CU 2 D : (12.95)
träge im Spiel. Wenn wir wieder ein System von Leitern mit 2 2C
Ladungen ausschließlich auf diesen betrachten (Raumladungs-
Aufgaben 437

Aufgaben

Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen

Teil II
12.1 Symmetrie der Dirichlet-Green-Funktion kosmische Strahlung
Zeigen Sie, dass eine Green’sche Funktion des Laplace-Ope- Ionosphare
¨ + + +
rators, die (12.13) und zusätzlich G.r; r0 / D 0 für r 2 @V + + + +
+ +
+ +
für ein Volumen V erfüllt, notwendigerweise symmetrisch ist + +

und damit eine Dirichlet-Green-Funktion darstellt. Physika- Ionen


lisch gesprochen wird damit gezeigt, dass auch in Anwesenheit
einer geerdeten Leiteroberfläche ein Beobachter das gleiche
elektrostatische Potenzial einer im freien Raum platzierten
Punktladung vorfindet, wenn er den Platz mit der Punktladung
− − −
austauscht. −
− −

− −
− −
Lösungshinweis: Verwenden Sie den zweiten Green’schen − −

Satz (12.26) mit '.r0 / D G.r0 ; r1 / und .r0 / D G.r0 ; r2 /. Erdoberflache


¨

12.2 Atmosphärische Elektrizität In der Erdatmo- Abb. 12.13 Globaler atmosphärisch-elektrischer Stromkreis
sphäre gibt es neben starken und stark veränderlichen elektri-
Außerdem: Warum spüren wir die doch stattliche Schönwetter-
schen Feldern bei Gewittern auch ein permanentes atmosphä-
feldstärke von etwa 130 V=m nicht, obwohl auf eine Körper-
risches elektrisches Feld bei Schönwetter, das senkrecht zur
größe von 170 cm die bedrohlich hohe Spannung von 220 V
Erdoberfläche steht (nach unten gerichtet), mit einer mittleren
kommen sollte? (Bei besonders ionenarmer Luft und damit be-
Feldstärke von durchschnittlich etwa 130 V/m in SI-Einhei-
sonders hohem spezifischen Widerstand derselben erreicht die
ten. Entdeckt wurde dieses schon 1752 von Louis Guillaume
Feldstärke sogar oft ein Vielfaches davon.)
Le Monnier (1717–1799) und seither von Meteorologen und
Physikern ausgiebig studiert, aber erst um 1920 von dem No- Lösungshinweis: Um durchgehend in SI-Einheiten rechnen zu
belpreisträger und Erfinder der Nebelkammer C. R. T. Wilson können, übersetzen Sie am besten (12.37) zuerst in dieses Maß-
(1869–1959) als zu einem globalen elektrischen Stromkreis ge- system!
hörig verstanden, der von der beständigen Gewittertätigkeit auf
12.3 Geladene Halbkugelschale Eine dünne halb-
der Erde gespeist wird. Gewitter entladen Gewitterwolken, la-
kugelförmige Schale mit Radius R trage eine homogene Ober-
den aber dabei die Erdoberfläche negativ und die leitenden
flächenladungsdichte . Berechnen Sie das Potenzial entlang
Schichten der oberen Atmosphäre positiv auf (Abb. 12.13).
der Symmetrieachse! Überprüfen Sie Ihr Ergebnis, indem Sie
Außerhalb von Gewittern fließt ein beständiger winziger Entla-
das Potenzial im Kugelmittelpunkt ausrechnen, wofür keine In-
dungsstrom von einigen pA/m2 , der der andauernden Aufladung
tegrale zu lösen sind!
durch die Gewitter das Gleichgewicht hält. (Eine lesenswer-
te Diskussion der komplexen zugrunde liegenden Physik – die 12.4 Elektrische Influenz auf einer Ebene Berech-
immer noch nicht vollständig verstanden ist – findet sich bei nen Sie die Oberflächenladungsdichte (12.45), die eine Punkt-
Feynman et al. 2005, und eine aktuellere Diskussion z. B. bei ladung q im Abstand d vor einer Leiterhalbebene auf dieser
Harrison 2004.) influenziert, und verifizieren Sie, dass die Gesamtladung der
Leiteroberfläche den Wert q hat.
Die Erdoberfläche kann in guter Näherung als Leiteroberfläche
Lösungshinweis: Das Integral für die Gesamtladung wird am
betrachtet werden. Welche Oberflächenladungsdichte herrscht
besten in Polarkoordinaten ausgeführt.
demnach (bei Schönwetter) auf dieser (in SI-Einheiten)? Wie-
vielen Elektronen pro Quadratmillimeter entspricht dies? Wie 12.5 Elektrische Influenz auf geerdeter Kugel
groß ist die gesamte Ladung der Erdoberfläche (gegengleich der Berechnen Sie die Ladungsverteilung auf der geerdeten lei-
in der Atmosphäre vorhandenen)? tenden Kugel mit Radius R im Feld einer Punktladung q im
438 12 Elektrostatik

Abstand d vom Mittelpunkt der Kugel. (Plotten Sie das Ergebnis Lösungshinweis: Lösen Sie dieses Problem mithilfe der Di-
auch mit Mathematiksoftware, wenn Sie solche zur Verfügung richlet-Green-Funktion für die Ebene und werten Sie die (ele-
haben.) Überprüfen Sie das Ergebnis durch Integration über die mentare) Integration in radialer Richtung aus.
Kugeloberfläche, das mit dem Wert der Bildladung übereinstim-
men muss. 12.7 Kapazitätskoeffizienten und Dirichlet-Green-
Funktion Es sei GD die Dirichlet-Green-Funktion zu einer
Lösungshinweis: Verwenden Sie die Bildladungslösung aus Konfiguration von N elektrischen Leitern mit voneinander ge-
Abschn. 12.4. trennten Oberflächen @Vj . Leiten Sie damit einen expliziten
12.6 Potenzial über einer Metallscheibe mit elek- Ausdruck für die Kapazitätskoeffizienten Cij in (12.69) her, der
trischer Spannung in geerdeter Ebene Bestimmen Sie das zeigt, dass diese symmetrisch sind, Cij D Cji , da GD immer
elektrostatische Potenzial oberhalb einer unendlich ausgedehn- symmetrisch ist, wie explizit in Aufgabe 12.1 bewiesen wurde.
ten leitenden geerdeten Ebene bei z D 0, in welche eine 12.8 Selbstenergie einer geladenen Kugelschale
Teil II

Metallscheibe mit Radius a eingefügt ist, die auf Potenzial Berechnen Sie die Selbstenergie einer homogen geladenen in-
CU gehalten wird. Der notwendige isolierende Spalt zwischen finitesimal dünnen Kugelschale mit Ladungsverteilung (12.89)
Scheibe und geerdeter Ebene soll dabei vernachlässigbar klein direkt über das doppelte Volumenintegral in (12.83).
sein. Das Potenzial senkrecht über dem Mittelpunkt der Schei-
be soll dabei in geschlossener Form ausgewertet werden; für Lösungshinweis: Verwenden Sie für die zwei Volumeninte-
den übrigen Raum ist eine Integraldarstellung aufzustellen, die grale Kugelkoordinaten und legen Sie die Polarachsen so, dass
optional numerisch ausgewertet und geplottet werden kann. eines der Integrale ein triviales Raumwinkelintegral hat.
Lösungen zu den Aufgaben 439

Lösungen zu den Aufgaben

 
12.2  D 0 En 8;854  1012  .130/ C/m2 D 1;15  109 jzj
12.6 .0; 0; z/ D U 1  p
C/m2 , entspricht etwa 7000 Elektronen pro Quadratmillimeter. a 2 C z2
QErdoberfl: 590:000 C.
12.7
12.3 I I
1
p Cij D  df  r df 0  r 0 GD .r; r0 / (12.98)
R2 C z2  jR  zj .4 /2
.z/ D 2 R ; .0/ D 2 R:

Teil II
@Vi @Vj
z
(12.96)
12.4  D qd=.2 r3/, wobei r die Distanz der Punktladung 12.8 (12.91)
vom betrachteten Punkt auf der Leiteroberfläche ist.
12.5
q  .1   2 /
 D (12.97)
4 R .1 C  2  2 cos #/3=2
2

mit  D R=d < 1.


440 12 Elektrostatik

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben

12.1 Mit '.r0 / D G.r0 ; r1 / und .r0 / D G.r0 ; r2 / verschwindet Entlang der z-Achse ist der Integrand '-unabhängig, und man
mit der Voraussetzung G.r; r0 / D 0 für r 2 @V die rechte Seite bekommt
von (12.26), und man bekommt mit (12.13)
Z1
1
Z .z/ D 2 R  2
d.cos # 0 / p
dV 0 G.r0 ; r1 /0 G.r0 ; r2 /  G.r0 ; r2 /0 G.r0 ; r1 / R C z  2R z cos # 0
2 2
0
1 p 2 ˇ1
Teil II

V
Z ˇ
D 2 R2  R C z2  2R z  ˇ
D 4 dV 0 G.r0 ; r1 /ı.r0  r2 /  G.r0 ; r2 /ı.r0  r1 / D 0 Rz D0
p p
R2 C z2  .R  z/2
V D 2 R
z
p
und daher G.r2 ; r1 /  G.r1 ; r2 / D 0. G ist also symmetrisch R2 C z2  jR  zj
D 2 R : (12.101)
in den Argumenten und erfüllt damit neben der vorausgesetzten z
Eigenschaft G.r; r0 / D 0 für r 2 @V auch G.r0 ; r/ D 0 für r0 2
@V, was gemäß (12.29) die Dirichlet-Green-Funktion definiert. Vom Kugelmittelpunkt bei z D 0 haben alle Ladungsbeiträge
die Distanz R. Das Potenzial bei z D 0 ist daher .0/ D Q=R
(Neumann-Green-Funktionen sind nicht notwendigerweise mit Q D .4 R2 /=2. Dies stimmt mit dem Limes z ! 0 von
symmetrisch, aber auch nicht eindeutig definiert. Es ist aller- (12.101) überein: .0/ D 2 R.
dings immer möglich, aus einer unsymmetrischen eine symme- 12.4 Das in (12.44) erhaltene Potenzial lautet in kartesischen
trische zu machen. Für einen expliziten, konstruktiven Beweis Koordinaten
siehe Kim & Jackson 1993.)
q q
.r/ D p p :
12.2 Wegen (11.90) und (11.92) wird aus (12.37) beim Über- x2 C y2 C .z  d/2 x C y C .z C d/2
2 2

gang von Gauß’schem zu SI-System (12.102)


Für (12.45) benötigen wir

 ŒSI D 0 EnŒSI (12.99) @


Ez D 
@z
mit 0 8;854  1012 C/Vm. Die Dichte an Elektronen ergibt q.z  d/ q.z C d/
D  2
sich durch die Größe der Elementarladung, die näherungsweise Œx2 C C .z  d/ 
y2 2 3=2 Œx C y C .z C d/2 3=2
2

1;6  1019 C beträgt.


im Limes z ! 0. Dies gibt
Der mittlere Erdradius R˚ ist etwa 6370 km. Für die Gesamt-
ladung QErdoberfl: ist  ŒSI mit dem Betrag der Erdoberfläche qd qd
.x; y/ D  : (12.103)
4 R2˚ 5;1  1014 m2 zu multiplizieren. 2 .x2 C y2 C d 2 /3=2 2 r3

Menschen, aber auch die meisten anderen Objekte auf der Erde Die Gesamtladung ergibt sich durch Integration über die Ebene
sind (insbesondere im Vergleich zur Luft) relativ gute Leiter. z D 0:
Ihre Oberfläche bildet zusammen mit der Erdoberfläche eine
Äquipotenzialfläche, sodass zwischen Scheitel und Sohle eines Z Z2 Z1
q d
Menschen keine nennenswerten elektrischen Spannungen auf- QD dxdy  D d' d% %
treten (Abb. 12.14). 2 .%2 C d 2 /3=2
0 0 (12.104)
ˇ1
ˇ
12.3 Das Problem kann durch Integration von (12.11) gelöst qd ˇ
D p ˇ D q:
werden, wobei das Integral nur über eine Hemisphäre (cos # 0 > % Cd ˇ
2 2
0
0) bei r0 D R geht:
12.5 Auf der Kugeloberfläche ist
Z2 Z1
1 ˇ
.r/ D R2  d' 0 d.cos # 0 / : (12.100) 1 @ ˇˇ
jr  r0 j  D : (12.105)
0 0 4 @r ˇrDR
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 441

+300 V
+300 V

+200 V
+200 V − −

− −
+100 V −
E = 130 V/m −
+100 V −

− −
− −
0 − − − − − − − − − − − − − 0 − − − − − − − − − − −

Teil II
Abb. 12.14 Die Erdoberfläche bildet zusammen mit Objekten darauf eine Äquipotenzialfläche. Das permanente atmosphärische elektrische Feld bei Schönwetter
wird dadurch deformiert

Das Potenzial, das von Ladung und Bildladung zusammen (12.59) folgt
erzeugt wird, ist in der Parametrisierung aus (12.47) für allge-
meine r Z2 Za
d' RdR
.x; y; z/ D Ujzj
q q 0 2 .R2 C 2  2R cos ' C z2 /3=2
D p Cp : 0 0
r2 C d2  2dr cos # r2 C d 02  2d 0 r cos # Z2 "
(12.106) d' 1 p
D Ujzj 2 C z2
Daraus ergibt sich 2 z2 C 2 sin '
2
0
#
ˇ ˇ 2
C z2  a cos '
ˇ @ ˇˇ p
Er ˇ D  ˇ a2 C 2 C z2  2a cos '
rDR @r rDR
p (12.109)
R  d cos #
Dq C .q ! q0 ; d ! d 0 /: mit D x2 C y2 . Dieses Integral kann nicht in geschlossener
ŒR2 C d 2  2dR cos #3=2 Form ausgewertet werden; eine numerische Auswertung ist in
Abb. 12.15 wiedergegeben. Für D 0 wird aber das '-Integral
Nach Einsetzen von q0 D qR=d und d 0 D R2 =d findet man, trivial, und wir erhalten
dass sich der Kosinus im Zähler weghebt und sich das Ergebnis  
als jzj
.0; 0; z/ D U 1  p : (12.110)
a 2 C z2
 
1 1 qR d2
D Er D 1
4 4 ŒR2 C d 2  2dR cos #3=2 R2
(12.107) φ/U
schreiben lässt bzw. mit  D R=d wie oben angegeben. 1,0

Die Ladung auf der Kugel ist damit 0,8

0,6
Z1
Q D 2 R2 d.cos #/
0,4
1
Z1
q 1 0,2
D   .1   2 / d.cos #/
2 .1 C 2  2 cos #/3=2
1
D q D q0 : 0 0,5 1 1,5 2 ρ/a
(12.108)
Abb. 12.15 Numerische Auswertung von in (12.109) als Funktion von für
zunehmende vertikale Abstände z D 0 : : : 2 in 0,1-Schritten. Bei z D 0 ist
12.6 Aus der allgemeinen Lösung (12.30) mit D 0 und dem das Potenzial stufenförmig, bei höheren Abständen dagegen glatt, wobei es für
Resultat für die Normalableitung der Dirichlet-Green-Funktion > a nichtmonotones Verhalten als Funktion von z aufweist
442 12 Elektrostatik

12.7 Die Lösung der Dirichlet-Randwertaufgabe ist formal 12.8 Auszuwerten ist
durch (12.30) gegeben, wobei die Raumladungsdichte D 0
ist, da alle Ladungen auf dem Z1 Z Z1 Z
P Rand des Volumen V lokalisiert 1
sind, das durch V D Rn. Vj / gegeben ist. Zu beachten ist WD r dr d r02 dr0 d0
2
2
dabei, dass die vektoriellen Oberflächendifferenziale df ins Äu- 0 0
ßere von V zeigen, während die Oberflächendifferenziale df i  2
Q ı.r  R/ ı.r0  R/ (12.113)
der einzelnen Leitervolumina Vi in  p
4 R2 r2 C r02  2r  r0
I 2 Z Z 0
1 Q d d 1
Qi D  df  r (12.111) D p ;
4 2 4 4 2R .1  cos  /
2
@Vi

von den Leitern weg orientiert sind. Unter Berücksichtigung des wobei  der Winkel zwischen den Richtungen  und 0 ist.
Teil II

Vorzeichenwechsels bei der Einschränkung df ! df i auf @Vi Da über alle Richtungen integriert wird, können wir für 0 aber
können wir mithilfe von (12.30) das Potenzial angegeben als die Winkel # 0 und ' 0 so einführen, dass die zweite Einheitsku-
gel ihren Nordpol bei # D 0 hat. Damit können wir  durch
I # 0 ersetzen, das erste Raumwinkelintegral wird trivial, und wir
1 X
.r/ D C i df 0  r GD .r; r0 /; (12.112) bekommen
4 i
@Vi
Z1
Q2 1 Q2
wobei wir .r0 / D i auf @Vi verwendet und vor das Integral WD p d.cos # 0 / p D : (12.114)
gezogen haben, da es auf einer Leiteroberfläche eine Konstante 4 2R 1  cos # 0 2R
1
ist. Einsetzen
P von (12.112) in (12.111) erlaubt es, die Cij gemäß
Qi D j Cij j abzulesen. Wir sehen, dass in dieser Rechnung – im Gegensatz zu (12.91) –
der Integrand für die Selbstenergie zwar singulär, aber integra-
bel ist.
Literatur 443

Literatur

Feynman, R., Leighton, R.B., Sands, M.: The Feynman Lectures


on Physics, Bd. II, Kapitel 9. Benjamin Cummings, Pearson
Education, Inc, USA (2005)
Harrison, R.G.: The global atmospheric electrical circuit and
climate. Surv. Geophys. 25, 441–484 (2004). Online: http://
arxiv.org/abs/physics/0506077

Teil II
Kim, K.-J., Jackson, J.D.: Proof that the Neumann Green’s func-
tion in electrostatics can be symmetrized. Am. J. Phys. 61,
1144–1146 (1993)
Vollständige
Funktionensysteme:
13
Fourier-Transformation und
Multipolentwicklung

Teil II
Wie kann das Konzept der
Fourier-Reihen auch auf
nicht periodische
Funktionen erweitert
werden?

Welche mathematischen
Hintergründe stecken
hinter einer Fourier-Reihe?

Wie kann das Potenzial


einer Ladungsverteilung
allgemein näherungsweise
dargestellt werden?

Inwiefern ist das Konzept


der vollständigen
Funktionensysteme dafür
hilfreich?

13.1 Das Fourier-Integral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446


13.2 Integrale in der komplexen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450
13.3 Vollständige Funktionensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458
13.4 Multipolentwicklung in kartesischen Koordinaten . . . . . . . . . . . . 462
13.5 Die Kugelflächenfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466
13.6 Multipolentwicklung in Kugelkoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . 469
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 476
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 445
446 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

Nach der Betrachtung der Grundgleichungen der Elektrodynamik hier speziell mit c D T=2 gewählt. In der ersten Gleichung er-
und elektrostatischer Probleme in Kap. 11 und 12 werden wir nun weitern wir zunächst die Summanden mit !:
einige mathematische Methoden kennenlernen, die nicht nur für die 1
X cj ij!t
Elektrodynamik, sondern auch für viele andere Gebiete der theore- f .t/ D ! e : (13.2)
tischen Physik große Bedeutung haben. jD1
!

Wir bauen dafür zunächst auf den Fourier-Reihen auf, die wir in Ab- Die Summe läuft hier über unendlich viele Frequenzen !j D j!.
schn. 8.3 kennengelernt haben. Die Idee der Fourier-Reihen kann Der Abstand der einzelnen Frequenzen ist dabei !jC1  !j D
man auf mehrere Weisen verallgemeinern. Einerseits gelangt man ! DW !. Es ergibt sich also
so zum Fourier-Integral, das in Abschn. 13.1 diskutiert wird. Zur
eigentlichen Berechnung dieser Integrale benötigt man häufig eini- 1
X
ges Grundwissen aus der komplexen Funktionentheorie, die auch in f .t/ D  ! fQ .!j /ei!j t
Teil II

vielen anderen Bereichen der theoretischen Physik grundlegend ist; jD1


dieses wird in Abschn. 13.2 dargestellt. ZT=2 (13.3)
cj 1
Eine andere mögliche Verallgemeinerung führt zur Theorie der voll- mit fQ .!j / WD D dt f .t/ei!j t
:
! 2
ständigen Funktionensysteme mit der in der Elektrodynamik sehr T=2
wichtigen Anwendung der Multipolentwicklung, die im Rest des Ka-
pitels dargestellt wird. Die vollständigen Funktionensysteme bilden Im Grenzübergang T ! 1 rücken die Frequenzen immer näher
außerdem auch eine der wichtigsten theoretischen Grundlagen für zusammen; es gilt also ! ! d!, und die Summe geht in
die Quantenmechanik. ein Integral über. Damit ergibt sich schließlich (schreibe statt
!j kurz !)
Z1
f .t/ D d! fQ .!/ei!t
13.1 Das Fourier-Integral 1
Z1
(13.4)
1
mit fQ .!/ D dt f .t/ei!t :
Durch Fourier-Reihen können periodische Vorgänge als eine 2
1
(unendliche) Linearkombination von trigonometrischen Funk-
tionen dargestellt werden. Bei vielen Anwendungen (beispiels- In der Literatur ist stattdessen eine andere Darstellung üblicher,
weise in der elektronischen Signalverarbeitung) treten aber auch bei welcher der Vorfaktor 1=2 symmetrisch auf die beiden For-
nicht periodische Signale auf (z. B. Spannungspulse). Es stellt meln verteilt ist; diese werden wir zukünftig auch verwenden.
sich die Frage, ob eine ähnliche Darstellung auch bei solchen
Signalen möglich ist. Die Antwort ist ja – der Trick dabei ist, Fourier-Transformation
ein solches Signal als einen periodischen Vorgang mit unendlich
langer Periode zu betrachten. Dies soll im Folgenden genauer Eine zeitabhängige Funktion f .t/ und ihre Fourier-Trans-
ausgeführt werden. formierte fQ .!/ sind folgendermaßen miteinander ver-
knüpft:

Z1
1
Allgemeiner Formalismus f .t/ D p d! fQ .!/ei!t
2
1
(13.5)
Z1
1
Wir gehen aus von der Exponentialdarstellung (8.83) und (8.84) mit fQ .!/ D p dt f .t/ei!t :
der Fourier-Reihe einer periodischen Funktion f .t/ mit Periode 2
1
T und Kreisfrequenz ! D 2 =T:

1
X Die Funktion fQ .!/ heißt die (kontinuierliche) Fourier-Trans-
f .t/ D cj eij!t
formierte der Funktion f .t/ – und entsprechend f die Fourier-
jD1
Rücktransformierte von fQ . Auch hier spricht man oft von einer
(13.1) Fourier-Analyse der Funktion f . Einige wichtige Eigenschaf-
ZT=2
1 ten der Fourier-Transformation sind im Kasten „Übersicht:
mit cj D dt f .t/eij!t ; Wichtige Eigenschaften der Fourier-Transformation“ zusam-
T
T=2 mengestellt.
13.1 Das Fourier-Integral 447

a b
I I˜

1
1

0,5
0,5

Teil II
−4 −2 0 2 4 t −4 −2 0 2 4 ω

Abb. 13.1 Die Fourier-Transformierte QI .!/ einer Gauß’schen Glockenkurve I.t/ D I0 et
2 = 2
(a) ist wieder eine Gauß’sche Glockenkurve (b). Hier dargestellt sind
speziell die Kurven für  D 2 und I0 D 1

Übersicht: Wichtige Eigenschaften der Fourier-Transformation

Ausgehend von der allgemeinen Definition (13.5) kann man Für quadratintegrable Funktionen (also Funktionen, bei
viele allgemeine Aussagen über Fourier-Transformierte tref- denen das Integral über ihr (Betrags-)Quadrat endlich ist),
fen: gilt der Satz von Plancherel:
B
Linearität: ˛f C ˇg D ˛ fQ C ˇ gQ
Verschiebung: wenn g.t/ D f .t C a/ ist, dann ist gQ .!/ D Z1 Z1
ei!a fQ .!/ dt jf .t/j2 D d! jfQ .!/j2
Komplexe Konjugation: fe .!/ D fQ .!/; Fourier-Trans- 1 1
formierte von reellen Funktionen (f D f  ) sind also
immer gerade Funktionen (fQ .!/ D fQ .!/)
Ableitung entspricht Multiplikation mit Frequenz: (siehe dazu auch Kap. 22). Da die Energiedichte einer
e
f 0 .!/ D i! fQ .!/ Welle ja im Allgemeinen durch das Quadrat der Ampli-
Eine Multiplikation zweier Funktionen entspricht einem tude gegeben ist, bedeutet dies anschaulich: Die gesamte
„Faltungsintegral“: Energie in einer Welle ist dieselbe, gleichgültig, ob man
A
.f  g/.!/ D p
1 R1
1 d! g
0
Q .! 0 / fQ .!  ! 0 /
diese als Integral über die Zeit oder über die Frequenz-
komponenten berechnet.
2

Gauß-Kurve
Zunächst werden die beiden Exponenten zusammenge-
Eine Gauß’sche Glockenkurve (Abb. 13.1a) ist ein be- fasst, und der Vorfaktor wird ausgeklammert:
sonders einfaches Signal. Für die Intensität gilt dabei in
Z1  
Abhängigkeit von der Zeit: I0 1 2
IQ .!/ D p dt exp  2 .t C i! t/ : (13.8)
2
2 
I.t/ D I0 et
2 = 2
: (13.6) 1

Die Kurve hat also die „zeitliche Breite“ t D . Quadratische Ergänzung im Exponenten führt auf
Die Fourier-Transformierte ist dann IQ .!/ (13.9)
Z1 Z1  2
!!
1 I0 1 i! 2 !2 4
IQ.!/ D p dt I0 et
2 = 2
ei!t : (13.7) D p dt exp  tC C :
2 2 2 2 4
1 1
448 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

a V b

0 0
2 4 r
2 4 k
−10
−2
−20

−4 −30
Teil II

Abb. 13.2 Für einen sphärischen Potenzialtopf (a) (siehe (13.20)) ergibt sich die in (b) dargestellte Fourier-Transformierte. Dargestellt ist jeweils der Radialanteil,
hier speziell für die Parameter V0 D 5 und R D 3

hohe, Gauß-Kurve betrachten. Ihre Fourier-Transformierte er-


Zieht man die konstanten Faktoren vor das Integral und gibt sich sehr einfach:
substituiert  
i! 2 Z1
t0 D t C =; (13.10) 1 ei!t0
2 ıQt0 .!/ D p dt ı.t  t0 / ei!t D p ; (13.14)
2 2
so erhält man 1

Z1 Q Q
I0  02 pspeziell für t0 D 0 die konstante Funktion ı0 .!/ D ı.!/ D
also
IQ .!/ D p e ! =4 dt0 et :
2 2
(13.11) 1= 2 . Dieses Ergebnis erhält man auch durch einen geeigne-
2 ten Grenzübergang: Die Fourier-Transformierte von
1
p
Das übrige Integral ergibt einen Faktor (siehe For- 1
p et =
2 2
f .t/ D (13.15)
melsammlungen; eine Herleitung findet sich im Kas- 
ten „Vertiefung: Das uneigentliche Integral über die
Gauß’sche Glockenkurve“). (Da t0 komplex ist, müsste ist laut dem Ergebnis (13.12)
man hier eigentlich noch genauer argumentieren, dass das 1
fQ .!/ D p e ! =4 :
2 2
Integral überhaupt konvergiert. Dafür werden aber Me- (13.16)
2
thoden der komplexen Funktionentheorie benötigt, die an
dieser Stelle nicht diskutiert werden sollen.) Für  ! 0 gilt f .t/ ! ı.t/, also folgt wieder
Die Fourier-Transformierte einer Gauß-Kurve ist damit Q 1
ı.!/ D p : (13.17)
I0  2
IQ.!/ D p e ! =4 ;
2 2
(13.12)
2 Mit (13.5) ergibt sich daraus schließlich der wichtige Zusam-
also wieder eine Gauß-Kurve (Abb. 13.1b)! Die Breite die- menhang
Z1
ser Kurve im „Frequenzraum“ ist allerdings ! D 2=, 1
ı.t  t0 / D ei!.tt0 / d!: (13.18)
d. h., je schmäler das ursprüngliche Signal ist, desto breiter 2
ist die Kurve seiner Fourier-Transformierten. J 1

Man kann zeigen, dass ein ähnlicher Zusammenhang wie hier bei
der Gauß-Kurve allgemein zwischen jedem zeitlichen Signal und Räumliche Fourier-Transformierte
seiner Fourier-Transformierten besteht. Insbesondere ergibt sich
t  ! D 2I (13.13) Eine weitere mögliche Verallgemeinerung ist es, auch für Funk-
tionen des Raumes die Fourier-Transformierte zu berechnen.
dies wird auch in der Quantenmechanik noch eine große Rolle
spielen (wo dann auch genau definiert wird, was man im allge- Frage 1
meinen Fall unter der Breite einer Kurve zu verstehen hat).
Überlegen Sie sich, wie die entsprechende Darstellung für eine
Wie in Kap. 11 besprochen wurde, kann man insbesondere die Funktion der drei Raumkoordinaten aussehen muss.
Deltafunktion als eine unendlich schmale, aber auch unendlich
13.1 Das Fourier-Integral 449

Vertiefung: Das uneigentliche Integral über die Gauß’sche Glockenkurve

Zu berechnen ist Exponentialfaktoren multiplizieren:



Z1
dxdy e.x
2 Cy2 /
x2
D :
e dx:
1
Es bleibt also das Integral einer Funktion von zwei Varia-
blen über diese beiden Variablen, jeweils von 1 bis 1.
Statt dies direkt auszuwerten, betrachtet man zunächst das Dies kann man nun als ein Integral über die zweidimensio-
Quadrat dieses Ausdrucks: nale Ebene auffassen. Statt der kartesischen Koordinaten x

Teil II
und y in dieser Ebene kann man aber genauso gut auch Po-
0 12 0 10 1
Z1 Z1 Z1 larkoordinaten r und ' verwenden. Man kann also schreiben:
@ ex2
dxA D @ x2
e dxA @ ex2
dxA :
Z2 Z1
1 1 1
d' rdr er :
2
D
0 0
Die beiden Integrale sind unabhängig voneinander, also kann
man im zweiten Integral die Integrationsvariable auch umbe-
Das Integral über ' ergibt sofort 2 , das Integral über r ist
nennen:
auch leicht auszuwerten (beispielsweise mittels der Substitu-
0 10 1 tion z D r2 ) und ergibt 1=2. Insgesamt ist also
Z1 Z1
D@ ex2
dxA @ y2
e dyA : 0 12
Z1
1 1 @ ex2
dxA D :
1
Diese beiden Integrale kann man nun wiederum zu einem
doppelten Integral zusammenfassen, außerdem kann man die Damit ist die im Text verwendete Formel bewiesen.

Die Zeitvariable t wird dabei durch die Ortsvariable x ersetzt


und die Kreisfrequenz ! durch die Wellenzahl k D 2 =: Für Kugelkoordinaten zu verwenden:
eine Funktion aller drei Raumkoordinaten ist die Darstellung
entsprechend: Z1 Z1 Z2
1
Q
V.k/ D p r2 dr d cos # d' V.r/eikr :
. 2 /3
Z1 0 1 0
1 (13.21)
f .r/ D p d3 k fQ .k/eikr
. 2 /3 Legt man das Koordinatensystem zum Integrieren so,
1 dass k in Richtung der z-Achse zeigt (was wegen der
(13.19)
Z1 sphärischen Symmetrie immer möglich ist), so ist k  r D
1
mit fQ .k/ D p d3 x f .r/eikr : kr cos #, wobei k D jkj und r D jrj. Man hat also
. 2 /3
1
ZR Z1 Z2
V0
Q
V.k/ D p 2
r dr d cos # d' eikr cos # :
Sphärischer Potenzialtopf . 2 /3
0 1 0
(13.22)
Betrachten wir als Beispiel einen sogenannten sphäri- Die beiden Winkelintegrale sind leicht auszuführen; man
schen Potenzialtopf endlicher Tiefe V0 und Radius R: erhält
( ZR
V0 für r  R V0 eikr  eikr
V.r/ D : (13.20) Q
V.k/ D p r dr
0 für r > R k 2 i
0
(13.23)
ZR
Da das Potenzial sphärisch symmetrisch ist, bietet es sich 2V0
an, für das räumliche Integral der Fourier-Transformation D p r dr sin.kr/:
k 2
0
450 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

Im z
Auch das Integral über den Radius ist nun leicht auszu-
werten; das Endergebnis ist Weg II
z2
2V0 kR cos.kR/  sin.kR/
Q
V.k/ Q
D V.k/ D p : (13.24)
2 k3

Die Fourier-Transformierte ist also wie die ursprüngliche Weg I


Funktion sphärisch symmetrisch; man kann zeigen, dass
dieser Zusammenhang immer gilt (siehe Aufgabe 13.1).
Beide Funktionen sind in Abb. 13.2 dargestellt. J Weg III
Teil II

z1

13.2 Integrale in der komplexen


Ebene Re z

Abb. 13.3 Jeden Weg I zwischen zwei Punkten z1 und z2 der komplexen Ebene
Zur Berechnung von Fourier-Transformierten wird über kom- kann man auch darstellen als einen anderen Weg II plus einen geschlossenen
plexwertige Funktionen integriert; die Integrationsvariable ist Weg III
aber immer noch reell. In vielen Fällen kann die Integration er-
leichtert (oder sogar erst ermöglicht) werden, indem man auch Abschnitt beschäftigen, für erstere gilt zunächst der Integralsatz
für die Integrationsvariable komplexe Zahlen zulässt. Im Fol- von Cauchy (nach dem französischen Mathematiker Augustin
genden wird zunächst diskutiert, worauf bei Integrationen in Louis Cauchy, 1789–1857, der viele zentrale Beiträge zur Theo-
der komplexen Zahlenebene zu achten ist. Anschließend wird rie der komplexen Funktionen leistete).
an einem Beispiel gezeigt, wie diese Methoden bei der Fourier-
Transformation anwendbar sind.
Cauchy’scher Integralsatz
Für jeden geschlossenen Weg, der ein Gebiet der komple-
Cauchy’scher Integralsatz xen Ebene einschließt, in dem eine Funktion f analytisch
ist, gilt I
Ist die Integrationsvariable in einem Integral komplex, so ist zu- f .z/ dz D 0: (13.25)
nächst zu beachten, dass von einem Punkt in der komplexen
Ebene zu einem anderen integriert wird. Von einem Punkt zu
einem anderen gibt es aber in der Ebene unendlich viele verschie-
dene Wege. Das Integral ist somit nur dann eindeutig definiert, Das bedeutet aber, dass für Integrale über solche Funktionen
wenn sein Wert vom gewählten Weg unabhängig ist. Hier soll zu- der Wert vom gewählten Weg unabhängig ist, denn man kann
nächst untersucht werden, unter welchen Voraussetzungen dies jedes Integral entlang eines Weges in ein Integral über einen
der Fall ist. Dafür müssen wir aber erst einige wichtige Begriffe anderen Weg plus ein geschlossenes Wegintegral umschreiben
der (komplexen) Funktionentheorie kennenlernen. (Abb. 13.3):

Viele komplexwertigen Funktionen mit komplexen Argumen- Zz2 Zz2 I


ten, denen man als Physiker begegnet, sind sogenannte holo- f .z/ dzI D f .z/ dzII C f .z/ dzIII
morphe Funktionen; das sind Funktionen, die in einem kom-
z1 z1
plexen Gebiet überall differenzierbar sind. Äquivalent dazu ist (13.26)
bei komplexen Funktionen die (ältere) Bezeichnung analyti- Zz2
sche Funktionen; das sind Funktionen, die man (lokal) durch D f .z/ dzII C 0:
eine konvergente Potenzreihe darstellen kann. Dazu gehören
z1
beispielsweise alle Polynomfunktionen, Exponentialfunktionen
und die trigonometrischen Funktionen. Hat eine Funktion dage-
Die Schreibweise dzI des Differenzials soll hier andeuten, dass
gen isolierte Polstellen, so bezeichnet man sie als meromorph.
entlang Weg I integriert wird; dzII und dzIII entsprechend.
Genauer wird dies in den „Mathematischen Hintergründen“
13.1 bis 13.3 erklärt.
Ein analoges Ergebnis kennen wir schon von konservativen
Für die beiden Spezialfälle analytischer und meromorpher Kraftfeldern im dreidimensionalen Raum (Kap. 1): Ein Kraft-
Funktionen ist die obige Frage nach der Wegunabhängigkeit feld ist konservativ, wenn seine Rotation verschwindet (dies
von Integralen beantwortbar. Mit letzteren wird sich der nächste entspricht hier, dass f holomorph bzw. analytisch ist; siehe
13.2 Integrale in der komplexen Ebene 451

die Cauchy-Riemann’schen Differenzialgleichungen im „Ma-


thematischen Hintergrund“ 13.1!). Dann ist das Wegintegral der Residuum an einer Polstelle erster Ordnung
Kraft entlang jedes geschlossenen Weges gleich null, und der
Wert jedes Wegintegrals von einem Punkt zu einem anderen ist Das Residuum einer meromorphen Funktion f , die bei z0
unabhängig von der Wahl des Weges. einen Pol erster Ordnung hat, ist

Resz0 f .z/ D lim .z  z0 /f .z/: (13.31)


Einfaches Integral auf zwei Wegen z!z0

Das Integral
Z1 Das Residuum eines Pols ist in gewissem Sinne ein Maß für sei-
z2 dz (13.27) ne „Stärke“: Betrachtet man speziell eine einfache gebrochen-
1
rationale Funktion wie

Teil II
a
soll berechnet werden. f .z/ D ; (13.32)
z  z0
Einerseits kann man die direkte Verbindungsstrecke
zwischen den beiden Punkten der komplexen Ebene so ist
auf der reellen Achse als Integrationsweg verwenden a
(Abb. 13.4a): Resz0 f .z/ D lim .z  z0 / D a: (13.33)
z!z0 z  z0
Z1 Z1  1 (Allgemeiner ist das Residuum der Koeffizient des Summanden
1 3 2 1=.z  z0 / in einer Laurent-Reihenentwicklung an der Polstelle;
z dz D
2
x dx D
2
x D ; (13.28)
3 1 3 siehe „Mathematischen Hintergrund“ 13.3.)
1 1
Der Residuensatz macht analog zum Cauchy’schen Integralsatz
wobei x für den Realteil von z geschrieben wurde. Ande- eine Aussage über das Ergebnis eines geschlossenen Weginte-
rerseits könnte man aber auch entlang eines Halbkreises grals in der komplexen Ebene.
integrieren (Abb. 13.4b):

Z1 Z0  0 Residuensatz
1 3i' 2
z2 dz D e2i' iei' d' D ie D ; (13.29)
3i 3 Für jeden geschlossenen Weg, der ein Gebiet der komple-
1 xen Ebene einschließt, in dem eine meromorphe Funktion
f nur isolierte Polstellen z1 ; : : : ; zn hat, gilt
wobei die Substitution z D ei' verwendet wurde.
I X n
Da die Funktion f .z/ D z2 im betrachteten Gebiet (und f .z/ dz D 2 i Reszj f .z/: (13.34)
sogar in ganz C) analytisch ist, ergibt sich für beide Wege jD1
(und auch alle anderen) derselbe Wert des Integrals. J

Zu beachten ist außerdem, dass der Weg im mathematisch po-


sitiven Sinn und nur einmal zu durchlaufen ist; wird er im
Residuensatz mathematisch negativen Sinn durchlaufen, so ändert sich aller-
dings nur das Vorzeichen des Integrals.

Oft muss man über meromorphe Funktionen, also Funktio- Frage 2


nen mit (isolierten) Polstellen, integrieren. Das geschlossene Machen Sie sich klar, dass das Ergebnis des Integrals unabhän-
Wegintegral einer solchen Funktion um eine solche Polstelle gig vom gewählten Weg ist, solange dieser nur alle Polstellen
verschwindet dann im Gegensatz zu analytischen Funktionen im mathematisch positiven Sinn einmal umschließt.
nicht mehr.
Hier benötigt man zunächst den Begriff des Residuums einer Auch hier gibt es wieder ein Analogon zu reellen Wegintegra-
solchen Funktion f .z/ an einer Polstelle z0 : len über Kraftfelder: Für das Magnetfeld gilt bekanntlich das
I Ampère’sche Gesetz
1
Resz0 f .z/ WD f .z/ dz; (13.30) I
2 i 4 I
B  ds D ; (13.35)
c
wobei der geschlossene Integrationsweg genau die eine Polstel-
le z0 einschließt. Für eine Polstelle erster Ordnung kann das d. h., das Integral der magnetischen Flussdichte entlang eines
Residuum aber auch einfacher berechnet werden. geschlossenes Weges ist proportional zu den eingeschlossenen
452 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

13.1 Mathematischer Hintergrund: Komplexe Funktionen I


Definition von holomorphen Funktionen und die Cauchy-Riemann’schen Differenzialgleichungen

Bisher haben wir fast ausschließlich reellwertige Funktionen der Definition her sind holomorphe Funktionen zunächst nur
betrachtet. Wir werden uns jetzt fragen, wann wir Abbildun- differenzierbar und nicht glatt. Eine schöne Eigenschaft ist
gen der Form f W G  C ! C (komplex) differenzierbar aber, dass einmal differenzierbar bei holomorphen Funktio-
nennen, und sehen, dass die komplexe Differenzierbarkeit nen automatisch unendlich oft differenzierbar bedeutet.
zwar genauso definiert ist wie im Reellen, aber dass die
holomorphen Funktionen (das sind Funktionen, die überall Betrachten wir die reelle Auffassung einer komplexen Funk-
tion, so erhalten wir die Jacobi-Matrix (das Differenzial) von
komplex differenzierbar sind) schöne Eigenschaften besit-
zen, die für reelle Funktionen nicht gelten. f gerade durch
Teil II

 
Gebiet und komplexe Funktionen Eine offene Teilmenge ux .z0 / uy .z0 /
.Df /jz0 D :
G  C heißt ein Gebiet, wenn G zusammenhängend ist, vx .z0 / vy .z0 /
d. h. sind U; V  G zwei offene, disjunkte Teilmengen mit
U [ V D G, so gilt entweder U D ; oder V D ;. Insbesondere existieren also die ersten partiellen Ableitun-
gen der Komponentenfunktionen u und v . Sind umgekehrt u
Ein Beispiel für ein Gebiet ist die offene Kreisscheibe D D und v partiell differenzierbar und sind die Ableitungen ste-
fz 2 C W jzj < Rg. tig, so ist auch f reell-differenzierbar, und es gilt
Eine komplexe Funktion ist einfach eine Funktion der Form  
f W G  C ! C. ux uy
Df D : (1)
vx vy
Eine komplexe Funktion bildet also eine Teilmenge G  C
in die komplexen Zahlen C ab. Somit ist für eine komple-
xe Zahl z 2 G  C auch der Funktionswert f .z/ 2 C eine Komplexe Struktur und Cauchy-Riemann’sche-Differenzi-
komplexe Zahl. Wir können daher mit z D x C i  y auch f .z/ algleichungen Die lineare Abbildung J, gegeben durch
in Real- und Imaginärteil zerlegen. Wir erhalten dann zwei  
Funktionen u; v W G  R2 ! R2 (da C  R2 ) mit 0 1
J WD ;
1 0
f D u C i  v ; f .z/ D f .x C i  y/ D u.x; y/ C i  v .x; y/:
die der Multiplikation mit i entspricht, heißt komplexe Struk-
Zusammenfassend: Zu einer komplexen Funktion f : G ! tur.
C gibt es immer eine reelle Darstellung f .x; y/ D
Multiplizieren wir die Matrix aus (1) mit der komplexen
.u.x; y/; v .x; y// und eine komplexe Auffassung f .z/ D f .xC
Struktur J und nutzen aus, dass dies sowohl von links als
i  y/ D u.x; y/ C i  v .x; y/. Dies entspricht auch unserer Vor-
auch von rechts auf dasselbe Ergebnis führen sollte (da (1)
stellung einer komplexen Zahl z, die wir in kartesischer Form
eine komplexe Zahl darstellen soll), so erhalten wir ge-
z D xCiy oder als Zahlenpaar z D .x; y/ auf der Gauß’schen
rade die sogenannten Cauchy-Riemann’schen-Differenzial-
Zahlenebene schreiben können.
gleichungen
Holomorphe Funktionen Sei G  C ein Gebiet. Eine Funk-     
tion f W G ! C heißt in z0 2 G komplex differenzierbar, uy ux ux uy 0 1
D
wenn vy vx vx vy 1 0
    
f .z/  f .z0 / 0 1 ux uy vx vy
D D ;
f 0 .z0 / WD lim 1 0 vx vy ux uy
z!z0 z  z0
und so
existiert. f heißt in G holomorph, wenn f 0 .z/ für alle z 2 G
existiert.
ux D vy und uy D vx :
Die holomorphen Funktionen im Komplexen sind quasi die
glatten Funktionen im Reellen. Deshalb ist die komplexe Daraus folgt sofort, dass Real- und Imaginärteil analytischer
Differenzierbarkeit auch gerade so definiert wie die reelle Funktionen jeweils die Laplace-Gleichung erfüllen:
Differenzierbarkeit, und zwar mithilfe des Differenzenquo-
tienten, wie man dies aus der Analysis kennt. Genauer: Von u D uxx C uyy D 0 und v D vxx C vyy D 0:
13.2 Integrale in der komplexen Ebene 453

a Im z b Im z

1 1

−1 1 Re z −1 1 Re z

Teil II
−1 −1

R1
Abb. 13.4 Zur Berechnung des Integrals 1 z2 dz können verschiedene Integrationswege in der komplexen Ebene benutzt werden, z. B. (a) entlang der reellen
Achse oder (b) auf einem Halbkreis in der oberen Halbebene

Strömen. Speziell für einen unendlich langen geraden Leiter hat


man für den Betrag der Flussdichte Im z
2I
B. / D ; (13.36) 1
c
wobei der Abstand zum Leiter ist. B hat also eine Polstelle ers-
ter Ordnung, und auch hier ist das Ergebnis des geschlossenen
Wegintegrals ein Maß für die „Stärke“ des Pols in B (das Ergeb-
nis unterscheidet sich von dem aus dem Residuensatz letztlich Polstelle
nur durch einen hier fehlenden Faktor i).

Einfacher Pol im Ursprung −1 1 Re z

Betrachten wir als einfaches Beispiel zur Illustration des


Residuensatzes die Funktion f .z/ D 1=z, integriert auf
dem Einheitskreis um den Ursprung (Abb. 13.5):
I Z2 −1
1 1 i'
dz D ie d' D Œi'20 D 2 i: (13.37)
z ei' Abb. 13.5 Die Funktion f .z/ D 1=z hat im Ursprung eine Polstelle; sie
0
wird hier entlang einem Einheitskreis um den Ursprung integriert
Andererseits ist aber
1 Z2
Res0 D 1; (13.38) 1 h i.1n/' i2
z iei.1n/' d' D e D 0; (13.40)
.1  n/ 0
also ergibt sich auch nach dem Residuensatz 0
I
1 1 da ei.1n/' eine periodische Funktion ist.
dz D 2 i Res0 D 2 i: (13.39)
z z Es ist also nur der Fall n D 1, der hier aus der Reihe tanzt
und für das Residuum verantwortlich ist. Tatsächlich ist
Was hätte ein reiner Pol höherer Ordnung, f .z/ D 1=zn , n gemäß der Definition des Residuums im „Mathemati-
eine natürliche Zahl > 1, ergeben? schen Hintergrund“ 13.3
1
Für f .z/ D 1=zn mit einer ganzen Zahl n ¤ 1 hat man Res0 D 0; n 6D 1: (13.41)
zn
anstelle von (13.37) J
454 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

13.2 Mathematischer Hintergrund: Komplexe Funktionen II


Potenzreihen und Beispiele

Für ein Gebiet G  C und eine komplexe Funktion f W G ! weise die Formel von Cauchy-Hadamard
C kann gezeigt werden, dass folgende Aussagen äquivalent
sind: 1
rD p
lim supn!1 n
jan j
f ist in G holomorph.
f ist in G unendlich oft komplex differenzierbar. bzw. die Formel
f ist in jedem Punkt z0 2 G in eine Potenzreihe der Form
jan j
r D lim ;
Teil II

1
X n!1 janC1j
f .z/ D an .z  z0 /n
immer unter der Voraussetzung, dass die Grenzwerte über-
nD0
haupt existieren.
.n/
mit an D f nŠ.z0 / entwickelbar.
f ist in G reell-differenzierbar, und es gelten in G die Beispiele
Cauchy-Riemann’schen Differenzialgleichungen.
Jeder Punkt in G besitzt eine offene Umgebung, in der f Wir betrachten die Funktion f .z/ D z3 . Dann ist natür-
eine Stammfunktion besitzt. lich f 0 .z/ D 3z2 . Weiter errechnet man, dass u.x; y/ D
x3  3xy2 und v .x; y/ D 3x2 y  y3 und folglich
Die Cauchy-Riemann’schen Differenzialgleichungen liefern
ux .x; y/ D 3x2  3y2 D vy .x; y/;
also ein gutes Kriterium, um zu entscheiden, ob eine Funkti-
on komplex differenzierbar ist oder nicht. uy .x; y/ D 6xy D vx .x; y/:
Da die partiellen Ableitungen stetig sind, ist f reell-diffe-
Potenzreihen
P im Komplexen Gegeben sei eine Potenzreihe
renzierbar. Die Cauchy-Riemann’schen Differenzialglei-
f .z/ D 1nD0 an .z a/ . Dann tritt genau einer der drei Fälle
n
chungen sind ebenfalls erfüllt, und daher ist f holomorph.
auf:
Betrachte die Funktion f .z/ D z, die jeder komple-
f konvergiert in nur einem Punkt z0 D a. xen Zahl ihr komplex Konjugiertes zuordnet. Dann gilt
f konvergiert auf ganz C. f .z/ D f .x C i  y/ D x  i  y und somit u.x; y/ D x und
Es existiert ein eindeutig bestimmtes r  0 mit der v .x; y/ D y. Folglich erhalten wir
Eigenschaft, dass f in einem Kreis um a mit Radius r kon-
vergiert und außerhalb divergiert. ux .x; y/ D vy .x; y/ und uy .x; y/ D vx .x; y/:

Damit sind die Cauchy-Riemann’schen Differenzialglei-


r 2 Œ0; 1/ heißt der Konvergenzradius von f . Wie im Reel- chungen nirgends erfüllt (ux D 1 ¤ vy D 1) und f
len gilt nirgends komplex differenzierbar.
( 1
)
X
r WD sup jz0  aj W an .z0  a/ ist konvergent :
n
a2C Literatur
nD0

Auch die Formeln zur Berechnung von r sind genauso wie Freitag, E., Busam, R.: Funktionentheorie 1. 4. Aufl.,
die in Analysis-Vorlesungen behandelten. Es gilt beispiels- Springer (2006)
13.2 Integrale in der komplexen Ebene 455

13.3 Mathematischer Hintergrund: Komplexe Funktionen III


Singularitäten und meromorphe Funktionen

Wir haben bereits erfahren, wann man komplexe Funktionen Laurent-Reihen Da Funktionen mit isolierten Singularitäten
differenzierbar nennt. Wir wollen nun Funktionen betrach- „fast“ überall holomorph sind, lassen sie sich auch „fast“ als
ten, die noch „fast“ überall holomorph sind. Dazu sei G  C Potenzreihe darstellen.
ein Gebiet.
Eine Laurent-Reihe ist eine Reihe der Form
Definition isolierte Singularitäten Ist f : G ! C eine 1
holomorphe Funktion und z0 2 C, so heißt z0 isolierte Sin- X
L.z/ D an .z  z0 /n
gularität von f , wenn es ein r > 0 gibt, sodass

Teil II
nD1

fz 2 C W jz  z0 j < rgnfz0 g  G; 1
X X1
an
WD C an .z  z0 /n :
d. h., wenn es eine Umgebung von z0 gibt, die ganz in G liegt, nD1
.z  z 0 / n
nD0
sodass f dort überall bis auf Ausnahme von z0 holomorph
ist. Man unterscheidet drei verschiedene Arten von isolier- Die erste Summe auf der rechten Seite nennt man Hauptteil,
ten Singularitäten: die zweite nennt man Nebenteil der Laurent-Reihe. a1 ist
genau das im Text besprochene Residuum der Funktion bei
Eine isolierte Singularität heißt hebbar, wenn es eine ho- z0 .
lomorphe Funktion g W G [ fz0 g ! C gibt, sodass g
eingeschränkt auf G wieder f ist. Eine Laurent-Reihe ist zunächst einmal einfach die formale
Eine isolierte Singularität heißt Pol, wenn lim jf .z/j ! Summe von zwei unendlichen Reihen, im Prinzip also eine
z!z0
1. Potenzreihe, die sowohl positive als auch negative Potenzen
Eine isolierte Singularität heißt wesentlich, wenn sie we- hat. In dem Fall, dass Haupt- und Nebenteil konvergieren,
der hebbar noch Pol ist. ist die Laurent-Reihe auch als Funktion definiert als Sum-
me der Teile. Das Konvergenzgebiet ist in diesem Falle ein
Kreisring.
Eine hebbare Singularität ist also eine Singularität, die ei-
gentlich gar keine ist, und ein Pol ist eine Singularität, bei Ist f : G ! C eine holomorphe Funktion mit einer isolier-
der die Funktion betragsmäßig gegen 1 geht. Wichtig ist ten Singularität in z0 , so ist f um z0 in eine Laurent-Reihe
jedoch, dass die Singularitäten isoliert liegen müssen, d. h. entwickelbar.
weder am Rand des Definitionsbereichs noch gehäuft auftre- Mit Laurent-Reihen kann man nun die Art der isolierten Sin-
ten dürfen. gularität klassifizieren:
Hat f an der Stelle z0 einen Pol, so ist die Funktion 1=f in
einer Umgebung von z0 definiert, und es gilt .1=f /.z0/ D 0. z0 ist genau dann hebbar, wenn der Hauptteil verschwin-
Die Ordnung des Pols von f ist definiert als die Ordnung der det.
Nullstelle von 1=f . Dabei hat eine Funktion g an der Stelle z0 ist genau dann Pol n-ter Ordnung, wenn an ¤ 0 und
z0 genau dann eine Nullstelle der Ordnung n, wenn am D 0 für alle m > n.
z0 ist genau dann wesentlich, wenn der Hauptteil eine un-
g.z0 / D g0 .z0 / D    D g.n1/ .z0 / D 0; g.n/ .z0 / ¤ 0: endliche Summe ist.

Die Funktion f .z/ D z=z hat bei z0 D 0 eine durch Meromorphe Funktionen Dies sind Funktionen, die bis
f .0/ D 1 hebbare Singularität. auf isolierte Singularitäten überall holomorph sind. Genau-
Die Funktion f .z/ D 1=zn hat bei z0 D 0 einen Pol n-ter er nennt man eine Funktion f meromorph in G, wenn es eine
Ordnung. Teilmenge P.f /  G gibt, sodass gilt:
Die Funktion f .z/ D exp.1=z/ hat bei z0 D 0 eine
wesentliche Singularität. Dabei ist die komplexe Expo- Die Menge P.f / besitzt keinen Häufungspunkt in G.
nentialfunktion exp wie im Reellen durch die Potenzrei- f ist in GnP.f / holomorph, und jeder Punkt von P.f / ist
henentwicklung erklärt. entweder hebbar oder ein Pol.
456 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

Beispiele Literatur
Sind p und q Polynome, so ist f .z/ D p.z/=q.z/ eine me-
Freitag, E., Busam, R.: Funktionentheorie 1. 4. Aufl.,
romorphe Funktion.
Springer (2006)
Ist f ¤ 0 holomorph, so ist 1=f meromorph. Auch für
meromorphes f ¤ 0 ist 1=f meromorph.
Die Funktion exp.1=z/ ist nicht meromorph.

In konkreten Anwendungen des Residuensatzes verwendet man


oft Integrationswege, die „im Unendlichen“ geschlossen sind. z D Rei' substituieren. Insgesamt ergibt sich dann
Teil II

ZR Z
Geschlossener Integrationsweg im Unendlichen 1 iRei'
dzrA D d' C : (13.46)
1 C z2 1 C R2 e2i'
R 0
Um diese Methode zu verdeutlichen, betrachten wir als
einfaches Beispiel das Integral
Im z
Z1
1
dx: (13.42) R
1 C x2 Hk
1
Polstelle

Mittels der Substitution x D tan  kann man leicht zeigen, gW


dass sich für den Wert dieses Integrals ergibt.
1
Stattdessen kann man aber auch den Integranden als kom-
plexe Funktion f .z/ D 1=.1 C z2/ D 1=..z C i/.z  i// mit
den beiden Polstellen erster Ordnung z1 D i und z2 D i
−R 0 rA R Re z
ansehen. Wir betrachten zunächst nur das Integral

ZR Abb. 13.6 Die Funktion f .z/ D 1=.1 C z2 / kann entlang der re-
1 ellen Achse (rA) oder entlang eines Halbkreises (Hk) mit Radius R in
dz: (13.43) der oberen Halbebene integriert werden. Außerdem ist hier die Polstelle
1 C z2
R der Funktion bei z D i gezeigt, und ein geschlossener Integrationsweg
(gW), sodass für die Wege rA = Hk + gW gilt
Als Integrationsweg in der komplexen Ebene wählen wir
dann einen Halbkreis (Hk) mit Radius R > 1 um den Schließlich führen wir den Limes R ! 1 aus, betrach-
Ursprung, der oberhalb der reellen Achse verläuft. Die- ten also letztlich einen geschlossenen Integrationsweg,
ser Integrationsweg hängt mit dem ursprünglichen Weg der aus der kompletten reellen Achse und einem Halb-
entlang der reellen Achse (rA) durch Addition eines ge- kreis „im Unendlichen“ besteht. Der erste Summand geht
schlossenen Weges (gW) zusammen, der von R nach R in diesem Limes gegen null, und wir erhalten wieder das
und dann entlang des Halbkreises von R nach R zurück- Ergebnis
läuft (Abb. 13.6):
Z1 Z1
1 1
ZR Z I dx D dzrA D : (13.47)
1 1 1 1 C x2 1 C z2
dzrA D dzHk C dzgW : 1 1
1 C z2 1 C z2 1 C z2
R
(13.44) Statt eines Halbkreises oberhalb der reellen Achse hät-
Der geschlossene Weg enthält die Polstelle z1 D i; für das te man hier auch einen unterhalb verwenden können.
Residuum ergibt sich Der geschlossene Integrationsweg wäre dann allerdings
im mathematisch negativen Sinn verlaufen, sodass man
1 1 im Residuensatz ein zusätzliches Minuszeichen hätte ver-
Resi D : (13.45)
1 C z2 2i wenden müssen. Außerdem hätte das Residuum des Pols
bei z2 D i zum Integral beigetragen statt das des Pols
Nach dem Residuensatz liefert das geschlossene Wegin- bei z1 D i. Insgesamt würde sich dadurch auch bei dieser
tegral somit den Wert . Im Halbkreisintegral kann man Rechnung derselbe Wert ergeben. J
13.2 Integrale in der komplexen Ebene 457

Anwendung: Die Green’sche Funktion zu berechnen, wobei zur Abkürzung rN D jr  r0 j gesetzt wurde.
Die Winkelintegrationen sind leicht ausführbar:
zum Laplace-Operator
Z1 ikNr
0 1 e  eikNr
Mithilfe der Fourier-Transformation und des Residuensatzes G.r  r / D k 2 dk: (13.54)
kann die Green’sche Funktion zum Laplace-Operator berech-
iNr k C k02
0
net werden. Dies wurde zwar bereits im vorhergehenden Kapitel
durchgeführt, jedoch werden wir hier Methoden kennenlernen, Das Integral kann man nun zunächst aufteilen in
die auch in anderen Zusammenhängen nützlich sind. Insbeson- Z1 Z1
dere betrachten wir zunächst die allgemeinere Differenzialglei- eikNr eikNr
k 2 dk  k dk: (13.55)
chung k C k02 k2 C k02
.  k02 / .r/ D 4 .r/: (13.48) 0 0

Geht man dann im zweiten Integral von k zu k über, so kann

Teil II
Dies ist die Differenzialgleichung für ein sogenanntes Yukawa- man beide Integrale wieder zusammenfassen und hat
Potenzial, das in der Teilchenphysik eine große Rolle spielt.
Für k0 D ik ist dies außerdem eine (inhomogene) Form der Z1
01 zeiz
sogenannten Helmholtz-Gleichung, die beispielsweise bei Ab- G.r  r / D dz; (13.56)
strahlvorgängen (Abschn. 19.3) und in der Quantenmechanik iNr z2 C .k0 rN /2
1
(Kap. 32) wichtig ist.
wobei außerdem z D kNr substitutiert wurde.
Die Differenzialgleichung für die zugehörige Green’sche Funk-
Der Integrand hat Pole in der komplexen Ebene bei ˙ik0 rN , al-
tion ist entsprechend
so kann das Integral ähnlich wie im Beispiel oben mithilfe des
.  k02 /G.r  r0 / D 4 ı.r  r0 /: (13.49) Residuensatzes ausgewertet werden. Wir schließen den Integra-
tionsweg wieder durch einen Halbkreis „im Unendlichen“. Im
Im Limes k0 ! 0 erhalten wir daraus die Green’sche Funktion Beispiel oben ging der Beitrag dieses Halbkreises für R ! 1
zum Laplace-Operator. gegen null, egal, ob der Halbkreis ober- oder unterhalb der k-
Achse geschlossen wurde. Dies ist hier anders: Im Zähler der
Zunächst setzen wir in (13.48) auf beiden Seiten die Fourier-
Integranden steht die Exponentialfunktion eiz D eiRe zIm z , für
Transformierten ein und benutzen dabei das Ergebnis (13.18),
Im z ! 1 (Halbkreis „im Unendlichen“ in der unteren Halb-
auf drei Dimensionen verallgemeinert:
ebene) würde der Integrand also divergieren.
Z Z
d3 k Q ik.rr0 / 4 0 Deshalb muss der Halbkreis hier in der oberen Halbebene ge-
.  k02 / p 3 G.k/e D d3 k eik.rr / :
.2 / 3 schlossen werden. Für R ! 1 gilt dann auch Im z ! 1;
2
die Exponentialfunktion und damit der komplette Integrand ge-
(13.50) hen also gegen null, und das Integral über den Halbkreis liefert
Der Differenzialoperator wirkt nur auf den Exponentialfaktor, wieder keinen Beitrag. Es bleibt wieder nur das geschlossene
also kann die Ableitung sofort berechnet werden und ergibt ein- Wegintegral (entlang der reellen Achse und über den Halbkreis
fach einen Faktor k2 . Da die Integranden auf beiden Seiten „im Unendlichen“ zurück; siehe Abb. 13.6) übrig:
gleich sein müssen, folgt: I
1 zeiz
4 1 G.r  r0 / D dz; (13.57)
Q
G.k/ D p 3 2 : (13.51) iNr z C .k0 rN /2
2
k C k02
2 das nun mittels des Residuensatzes berechnet werden kann:
2 zeiz
G.r  r0 / D Resik0 Nr 2 (13.58)
Frage 3 rN z C .k0 rN /2
Zeigen Sie dies. mit dem Residuum
zeiz ek0Nr
Daraus erhalten wir nun durch Rücktransformation die lim .z  ik0 rN / D : (13.59)
z!ik0 Nr z2 C .k0 rN / 2 2
Green’sche Funktion:
Z Frage 4
0 4 1 0
G.r  r / D d3 k 2 eik.rr / : (13.52) Rechnen Sie dies nach; faktorisieren Sie dafür zunächst den
.2 /3 k C k02
Nenner.
Geht man zu Kugelkoordinaten im k-Raum über, so hat man

Z1 Z1 Z2 Schließlich bleibt nur


0 4 eikNr cos #
G.r  r / D k dk d cos # d' 2
2
(13.53) ek0 Nr
.2 /3 k C k02 G.r  r0 / D ; (13.60)
0 1 0 rN
458 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

was sich für k0 ! 0 auf das bekannte Ergebnis die nur in einer Periode überhaupt definiert sind; die Darstellung
stimmt dann allerdings nur innerhalb dieses Intervalls.)
1
G.r  r0 / D (13.61) Aus der Vektorrechnung kennen wir bereits eine Analogie zu
jr  r0 j einer solchen Darstellung einer Funktion – die Darstellung ei-
nes Vektors v bezüglich der Basisvektoren eOj sieht prinzipiell
reduziert, wobei wieder rN D jr  r0 j eingesetzt wurde.
genauso aus: X
vD aj eOj : (13.64)
j
13.3 Vollständige Verwendet man dabei speziell eine orthonormale Basis,
Funktionensysteme X
eOj  eO k D hOej ; eO k i D .ej /i .ek /i D ıjk ; (13.65)
Teil II

i
In Abschn. 13.1 haben wir eine Möglichkeit kennengelernt, das
so kann man die Koeffizienten folgendermaßen berechnen:
Konzept der Fourier-Reihen zu verallgemeinern: die Fourier- X
Integrale. Hier wird nun eine zweite Verallgemeinerung in eine aj D v  eOj D hv ; eOj i D vk .ej /k ; (13.66)
andere Richtung betrachtet: Die Fourier-Reihe ist ein spezi- k
elles Beispiel für eine Entwicklung nach einem sogenannten
vollständigen Funktionensystem. Dieser mathematische Hin- wobei der Summationsindex k die Komponenten der Vekto-
tergrund soll hier erläutert und die Idee an einem zweiten ren durchnummeriert und wir die in der Mathematik übliche
wichtigen Beispiel, den Legendre-Polynomen, nochmals de- Schreibweise h ; i für ein Skalarprodukt verwendet haben.
monstriert werden. Vergleichen wir damit die Beziehungen zwischen Sinusfunktio-
nen zu unterschiedlichen Werten von j und die Berechnung der
Koeffizienten bj :
Die Fourier-Reihe als Entwicklung nach einem ZT=2
T
vollständigen Funktionensystem sin.j!t/ sin.k!t/ dt D ıjk (13.67)
2
T=2

Beginnen wir direkt mit der Definition des zentralen Begriffs. und
ZT=2
2
bj D f .t/ sin.j!t/ dt: (13.68)
Entwicklung nach einem vollständigen Funktionen- T
system T=2

Ein System (im mathematischen Sinne eine Familie) fk Die Beziehungen für die Funktionen sehen denen für die Vek-
von Funktionen heißt vollständig auf einem Intervall I, toren sehr ähnlich (bis auf Vorfaktoren T=2 bzw. 2=T, die man
wenn man alle Funktionen f , die auf I definiert (und aber durch Umskalieren der Funktionen hj .t/ leicht loswerden
quadratintegrabel; siehe unten) sind, danach entwickeln, könnte); im Prinzip werden nur Summen über Produkte von
d. h. als (unendliche) Linearkombination dieser Funktio- Vektorkomponenten durch Integrale über Produkte von Funk-
nen schreiben kann: tionswerten ersetzt.
X Frage 5
f .x/ D aj fj .x/: (13.62)
Wie könnte man dementsprechend ein Skalarprodukt für Funk-
j
tionen definieren?

Als Beispiel dafür kennen wir schon die Fourier-Reihe, hier der Es liegt deshalb nahe, das Konzept des Skalarprodukts auf
Einfachheit halber zunächst nur für ungerade Funktionen: Funktionen zu erweitern.
1
X
f .t/ D bj sin.j!t/: (13.63) Skalarprodukt für Funktionen
jD0
Für Funktionen f und g, die auf einem Intervall I definiert
Die Funktionen hj .t/ D sin.j!t/ stellen also z. B. auf dem In- sind, definieren wir
tervall I D ŒT=2; T=2 (mit T D 2 =!) ein vollständiges
Z
System dar, nach dem man alle ungeraden Funktionen entwi-
ckeln kann, die bei t D ˙T=2 verschwinden. (Anmerkung: hf ; gi WD f  .x/g.x/ dx: (13.69)
Bisher wurden Fourier-Reihen nur für periodische Funktionen I
benutzt, aber man kann prinzipiell auch Funktionen darstellen,
13.3 Vollständige Funktionensysteme 459

Dabei ist zu beachten, dass dieses Skalarprodukt sinnvoll nur Achtung Da das Skalarprodukt nur für quadratintegrable
für sogenannte quadratintegrable Funktionen definiert ist, also Funktionen definiert ist, folgt, dass auch nur solche Funktionen
Funktionen, für die das Integral nach einem vollständigen System entwickelt werden können –
Z wie oben bereits vorausgesetzt. Insbesondere für Deltafunk-
jf .x/j2 dx < 1 (13.70) tionen und harmonische Funktionen (mit I D R) sollte dies
eigentlich nicht möglich sein. Allerdings sind diese Funktionen
I
temperierte Distributionen, für die ebenfalls ein Skalarprodukt
ist; der Vektorraum dieser Funktionen wird mit L2 .C/ bezeich- sinnvoll definierbar ist (siehe den „Mathematischen Hinter-
net. Im Interesse der Allgemeinheit haben wir die Beziehungen grund“ 11.1). Man gelangt so zum sogenannten Gelfand’schen
hier direkt für komplexe Funktionen hingeschrieben; bei reellen Raumtripel (siehe dazu die mathematische Literatur). J
Funktionen entfällt die komplexe Konjugation bzw. der Betrag.
(Anmerkung: Außerdem kann das Skalarprodukt noch verallge- Die Vollständigkeitseigenschaft eines Funktionensystems wird

Teil II
meinert werden, beispielsweise durch eine „Gewichtsfunktion“; oft auch anders dargestellt (dies ist beispielsweise in der Quan-
siehe dazu Aufgabe 13.6.) tenmechanik wichtig; man spricht dann auch von einer Zerle-
gung der Eins).
Mithilfe dieses Skalarprodukts kann man für die Koeffizienten
nun kurz schreiben:
2
bj D hhj ; f i; (13.71) Vollständigkeit eines Funktionensystems
T
Ein Funktionensystem fj ist vollständig, wenn gilt:
und die Beziehung zwischen verschiedenen Sinusfunktionen
wird X
T fj  .x0 /fj .x/ D ı.x0  x/: (13.76)
hhj ; hk i D ıjk : (13.72)
2 j

In diesem Sinne bilden die Sinusfunktionen ein orthogonales


Funktionensystem. Die Kosinusfunktionen erfüllen eine äquiva-
lente Orthogonalitätsrelation, außerdem sind alle Sinusfunktio- Diese Gleichung ist als eine Gleichung zwischen Distributionen
nen orthogonal zu allen Kosinusfunktionen – man hat bei den zu verstehen: Beide Seiten sind auf Testfunktionen anzuwen-
Fourier-Reihen also ein „doppelt orthogonales“ oder eben bi- den, d. h. beide Seiten müssen mit f .x0 / multipliziert und über x0
orthogonales Funktionensystem. integriert werden. Unter Verwendung von (13.74) gelangt man
Häufig verwendet man ein orthonormales Funktionensystem, dann wieder zurück zur gewohnten Darstellung (13.62).
also ein System von Funktionen, die nicht nur orthogonal zu-
einander sind, sondern auch die Norm 1 haben. Frage 6
Zeigen Sie dies.
Orthonormalitätsrelation für ein Funktionensystem
Ein Funktionensystem fk heißt orthonormal, wenn gilt:
Abschließend noch zwei Anmerkungen:
hfj ; fk i D ıjk : (13.73)
Die Reihe (13.62) muss nicht im üblichen Sinne gegen
die eigentliche Funktion f .x/ konvergieren, sondern nur im
Damit können wir die Berechnung der Koeffizienten auch mit-
sogenannten „quadratischen
Pn Mittel“, d. h., für die Partial-
tels des Skalarprodukts formulieren.
summen f .n/ .x/ WD jD0 aj fj .x/ muss gelten:

Berechnung der Koeffizienten bei einem orthonorma- Z


len Funktionensystem lim jf .x/  f .n/ .x/j2 dx ! 0: (13.77)
n!1
Die Koeffizienten aj für die Entwicklung einer Funktion I

f nach einem orthonormalen Funktionensystem fj ergeben


sich aus (Zur Konvergenz von Funktionenreihen siehe auch den „Ma-
aj D hfj ; f i: (13.74) thematischen Hintergrund“ 8.1.)
Auch bei der kontinuierlichen Fourier-Transformation han-
delt es sich letztlich um eine Entwicklung nach einem voll-
Letztlich kommt man dadurch auf die einfache Darstellung ständigen orthogonalen Funktionensystem. Weil das Funk-
X tionensystem aber in diesem Fall überabzählbar viele Funk-
f .x/ D hfj ; f ifj .x/: (13.75) tionen enthält, steht dann in (13.62) statt einer Summe ein
j Integral.
460 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

Die Legendre-Polynome
sen Anteil von f1 ab, so bleibt eine Funktion übrig, die
orthogonal zu p0 ist. Die konkrete Auswertung der Ska-
Betrachten wir als zweites konkretes Beispiel neben der larprodukte ergibt
Fourier-Reihe die Entwicklung nach einem in der Physik
oft benutzten orthogonalen Funktionensystem, den soge-
Z1 Z1
nannten Legendre-Polynomen (nach dem französischen
Mathematiker Adrien-Marie Legendre, 1752–1833, der hp0 ; f1 i D p0 .x/f1 .x/ dx D x dx D 0 (13.81)
sie aber ursprünglich in einem anderen Zusammenhang 1 1
einführte; siehe Abschn. 13.6).
und
Systeme von Polynomen zu verwenden, liegt nahe, da
diese besonders einfache Funktionen sind. So ist bei-
Teil II

Z1 Z1
spielsweise auch die Taylor-Reihe letztlich eine Entwick-
lung nach einem System von Polynomen, in diesem Fall hp0 ; p0 i D p0 .x/p0 .x/ dx D dx D 2; (13.82)
den einfachen Polynomen (bzw. eigentlich Monomen) 1 1
xk . Um die oben gefundene Beziehung (13.74) für die
Berechnung der Koeffizienten verwenden zu können, be- also hat man hier einfach
nötigen wir aber speziell ein orthogonales System.
p1 .x/ D f1 .x/ D x1 D x: (13.83)
Für die Orthogonalitätsbeziehung zwischen Polynomen
definieren wir zunächst ein passendes Skalarprodukt.
Die allgemeine Form (13.69) wurde oben angegeben; es
bleibt, das Intervall I zu wählen. Bei den Legendre-Poly- Bei der Berechnung des nächsten Polynoms p2 muss man
nomen ist I D Œ1I 1, außerdem sind sie reell. Man hat nun die Anteile, die parallel zu p0 und zu p1 sind, subtra-
also hieren:
Z1
hp0 ; f2 i hp1 ; f2 i
hf ; gi D f .x/g.x/ dx: (13.78) p2 .x/ D f2 .x/  p0 .x/  p1 .x/; (13.84)
hp0 ; p0 i hp1 ; p1 i
1

Unser Ziel ist nun, das System xk von Polynomen mithilfe wobei sich für die noch fehlenden Skalarprodukte Fol-
dieses Skalarprodukts in ein orthogonales System umzu- gendes ergibt:
wandeln. 2
hp0 ; f2 i D ;
3
hp1 ; f2 i D 0; (13.85)
Erinnern Sie sich, wie man ein System von Vektoren
orthogonalisiert, und überlegen Sie, wie man dies auf 2
hp1 ; p1 i D :
Funktionen anwenden kann. 3

Dies gelingt genauso wie bei Vektoren mittels des Gram-


Rechnen Sie dies nach.
Schmidt’schen Orthogonalisierungsverfahrens: Wir ge-
hen aus von den Polynomen fj .x/ D xj . Als erstes
Polynom p0 wählen wir
Letztlich findet man also

p0 .x/ D f0 .x/ D x0 D 1: (13.79) 1


p2 .x/ D x2  : (13.86)
3
Ein zweites, dazu orthogonales Polynom p1 erhalten wir
folgendermaßen: So kann man induktiv fortfahren; für das Polynom pj hat
man
hp0 ; f1 i
p1 .x/ D f1 .x/  p0 .x/: (13.80)
hp0 ; p0 i X
j1
hpk ; fj i
pj .x/ D fj .x/  pk .x/ (13.87)
Anschaulich ist der zweite Summand der Anteil der kD0
hp k ; pk i
Funktion f1 , der (im Sinne des Skalarprodukts zwischen
Funktionen) parallel zur Funktion p0 ist. Zieht man die- zu berechnen.
13.3 Vollständige Funktionensysteme 461

Will man nicht nur ein orthogonales, sondern sogar ein Mit der hier benutzten Normierung folgt (Aufgabe 32.3)
orthonormales System pNj von Polynomen, so muss man
zusätzlich noch jede Funktion durch ihre Norm, also die Z1
2
Wurzel aus dem Skalarprodukt mit sich selbst, teilen: Pj .x/Pk .x/ dx D ıjk : (13.91)
2j C 1
pj .x/ 1
pNj .x/ D p : (13.88)
hpj ; pj i
Die Legendre-Polynome kann man übrigens auch direkt
berechnen; es gilt die Formel von Rodrigues (nach dem
Bei den Legendre-Polynomen Pj wird stattdessen übli-
französischer Mathematiker, Bankier und Sozialreformer
cherweise die Bedingung gewählt, dass Pj .1/ D 1 sein
Olinde Rodrigues, 1795–1851):
soll. Die ersten beiden Polynome p0 und p1 erfüllen die-

Teil II
se Bedingung bereits, das dritte Polynom p2 muss man
1 dj 2
aber umskalieren (wodurch sich an der Orthogonalität na- Pj .x/ D .x  1/j ; (13.92)
türlich nichts ändert). Schließlich ergibt sich folgendes 2j jŠ dx j
vollständige orthogonale System von Funktionen:
die wir in Abschn. 27.6 beweisen werden. J
P0 .x/ D 1;
P1 .x/ D x;
1
P2 .x/ D .3x2  1/;
2 Orthogonale Funktionensysteme
1 3 (13.89)
P3 .x/ D .5x  3x/; als Eigenfunktionen selbstadjungierter
2
1 Differenzialoperatoren
P4 .x/ D .35x4  30x2 C 3/;
8
::: D ::: Am Beispiel der Legendre-Polynome wurde gezeigt, wie man
ein vollständiges orthogonales (oder orthonormales) Funktio-
Die Graphen dieser Funktionen sind in Abb. 13.7 darge- nensystem erhalten kann: Man definiert ein Skalarprodukt auf
stellt. dem gewünschten Intervall, wählt dann ein beliebiges vollstän-
diges Funktionensystem und führt dafür eine Gram-Schmidt-
Pn(x)
Orthogonalisierung durch (bzw. normiert die Funktionen an-
1 schließend noch).
Neben diesem Verfahren gibt es eine weitere Methode, die man
wieder durch eine Analogie zur Vektorrechnung erhält: Aus
0,5 der linearen Algebra ist bekannt, dass die Eigenvektoren einer
symmetrischen bzw. hermiteschen Matrix A (also die Vekto-
ren v , für die Av D v gilt, wobei  eine konstante Zahl
ist) eine orthogonale Basis bilden. Die Symmetrie bzw. Her-
−1 1 mitezität der Matrix kann man direkt sehen (A> D A bzw.
A D A), üblicherweise wird sie aber in der Mathematik über
x
−0,5
das Skalarprodukt definiert: Eine Matrix A heißt symmetrisch
P0 P1
bzw. hermitesch, wenn für alle Vektoren u und v
P2 P3
−1 hu; Av i D hAu; v i (13.93)
P4
gilt, wobei das Skalarprodukt jeweils auf reellen bzw. komple-
Abb. 13.7 Die Graphen der ersten fünf Legendre-Polynome (13.89). xen Vektoren definiert ist.
Die Normierungsbedingung Pj .1/ D 1 und die Beziehung (13.90) sind
deutlich erkennbar Frage 7
Überlegen Sie sich, wie man diese Konzepte auf Differenzial-
Wie man an den Graphen sieht und auch allgemein be- operatoren und Funktionen verallgemeinern kann.
weisen kann, gilt

Pj .1/ D .1/j : (13.90) Ein analoges Konzept gibt es auch beim Skalarprodukt zwi-
schen Funktionen.
462 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

13.4 Multipolentwicklung
Selbstadjungierte Differenzialoperatoren
in kartesischen Koordinaten
Ein Differenzialoperator D heißt selbstadjungiert bezüg-
lich eines Skalarprodukts, wenn für alle Funktionen f und
g, für die das Skalarprodukt definiert ist, gilt: Eine sehr wichtige Anwendung des Konzepts der Entwicklung
nach einem vollständigen orthogonalen Funktionensystem ist
hf ; Dgi D hDf ; gi: (13.94) die Multipolentwicklung. Die dabei auftretenden sogenannten
Kugelflächenfunktionen sind beispielsweise auch in der Quan-
Eine Funktion f heißt Eigenfunktion zu einem Diffenzial- tenmechanik unverzichtbar, wie wir in Kap. 27 sehen werden.
operator D zum Eigenwert , wenn Physikalisch motiviert ist die Multipolentwicklung letztlich da-
durch, dass man für eine beliebige Ladungsverteilung wissen
Df D f (13.95)
Teil II

will, wie sich das elektrische Potenzial bzw. das elektrische


Feld für große Abstände zur Ladungsverteilung näherungsweise
gilt. Die Eigenfunktionen zu einem selbstadjungierten verhält. Dies werden wir in diesem Abschnitt zunächst in karte-
Differenzialoperator bilden immer ein vollständiges or- sischen Koordinaten betrachten; in den beiden darauf folgenden
thogonales Funktionensystem. Abschnitten wird diese Frage dann in den (hier besonders prak-
tischen) Kugelkoordinaten diskutiert.
Dabei ist allerdings darauf zu achten, dass (13.94) im Allge-
meinen nur gilt, wenn die entsprechenden Funktionen partiell
integriert werden können und die Randterme dabei wegfallen. Entwicklung der Green’schen Funktion
Das Konzept der selbstadjungierten Operatoren wird später in
der Quantenmechanik noch sehr wichtig werden (Kap. 23). Wir gehen aus vom Zusammenhang zwischen Potenzial und La-
Wir illustrieren dies nochmals an den beiden behandelten Bei- dungsdichte Z
spielen. .r/ D G.r  r0 / .r0 / dV 0 (13.99)
Das bi-orthogonale System der Funktionen gj .t/ D cos.j!t/ mit der Green’schen Funktion
und hj .t/ D sin.j!t/ besteht aus Eigenfunktionen zum Dif-
ferenzialoperator D D d2 =dt2 mit den Eigenwerten j D 1
j2 ! 2 : G.r  r0 / D (13.100)
jr  r0 j
d2 und interessieren uns dafür, wie das Potenzial für große Abstän-
cos.j!t/ D j2 ! 2 cos.j!t/;
dt2 de r r0 , also r0 =r 1 aussieht. Dafür schreiben wir die
(13.96)
d2 Green’sche Funktion zunächst geeignet um:
sin.j!t/ D j2 ! 2 sin.j!t/:
dt2
1 1
G.r  r0 / D p D p
Hier treten zwei Gruppen von (linear unabhängigen) Eigen- 0
.r  r / 2 r  2r  r0 C r02
2
funktionen auf, weil der Differenzialoperator von zweiter  1=2 (13.101)
Ordnung ist. 1 2r  r0 r02
D 1 2 C 2 :
Die Legendre-Polynome Pj erfüllen die Legendre’sche Diffe- r r r
renzialgleichung
Dann benutzen wir, dass für x 1 näherungsweise gilt:
.1  x2 /Pj00 .x/  2xPj0 .x/ C j.j C 1/Pj .x/ D 0: (13.97)
n.n  1/ 2
.1 C x/n D 1 C nx C x C O.x3 /: (13.102)
Sie sind also Eigenfunktionen zum Differenzialoperator D D 2
.1  x2 / d2 =dx2  2x d=dx mit Eigenwerten j D j.j C 1/:
Damit erhalten wir für die Green’sche Funktion:
 
d2 d "
.1  x2 / 2  2x Pj .x/ D j.j C 1/Pj .x/: (13.98) 1 r  r0 r02
0
dx dx G.r  r / D 1C 2  2 (13.103)
r r 2r
Auch hier gibt es eine zweite Gruppe von (linear unabhän-  2  0 3 ! #
gigen) Eigenfunktionen, die sogenannten Legendre-Funktio- 3 2r  r0 r02 r
C  2 C 2 CO
nen zweiter Art, die allerdings keine Polynome mehr sind 8 r r r
und für jxj ! ˙1 divergieren. Diese zweite Gruppe ist in 0 0 2 2 02  03 
1 rr 3.r  r /  r r r
der Physik von untergeordneter Bedeutung und soll deshalb D C 3 C 5
C O :
hier nicht näher diskutiert werden (siehe aber Aufgabe 14.8). r r 2r r4
13.4 Multipolentwicklung in kartesischen Koordinaten 463

Frage 8 Zu beachten ist hier noch, dass man bei der Berechnung des
Vollziehen Sie diese Rechnung nach. Quadrupolmoments scheinbar neun Volumenintegrale auszu-
werten hat. Aus der Definition (13.108) sieht man aber leicht,
dass Q eine symmetrische Matrix mit Spur 0 ist; letztlich sind
Den Zähler im dritten Bruch schreibt man nun folgendermaßen also nur fünf der Matrixelemente zu berechnen.
um: Achtung Abschließend sei darauf hingewiesen, dass manche
 2 Autoren das Quadrupolmoment anders definieren:
3.r0  r/2  r02 r2 D 3 x0i xi  r02 xi xi
Z  
D 3x0i xi xj0 xj  r02 ıij xi xj (13.104) 1
Qij WD .r0 / x0i xj0  r02 ıij dV 0 ; (13.111)
D .3x0i xj0 02
 r ıij /xi xj : 3
also im Vergleich mit unserer Definition noch einen Faktor 1=3
Damit wird die Green’sche Funktion

Teil II
hinein multiplizieren, und manchmal auch eine etwas andere
1 1 1 .Or/i .3x0i xj0  r02 ıij /.Or/j Darstellung des Potenzials wählen: Da
G.r  r0 / D C 2 rO  r0 C C :::  
r r 2 r3 1
(13.105) x0i xj0  r02 ıij r2 ıij D 0 (13.112)
mit dem Einheitsvektor rO in radialer Richtung. 3
gilt, wie man leicht nachrechnet, kann der Quadrupolanteil des
Potenzials auch geschrieben werden als
Dipol- und Quadrupolmomente 1 1 3xi xj  r2 ıij
Q .r/ D 3
Qij : (13.113)
2r r2
Den Ausdruck (13.105) setzen wir nun in (13.99) für das Poten- J
zial ein. Es ergibt sich:
Z Z Frage 9
1 1
.r/ D .r0 / dV 0 C 2 rO  .r0 /r0 dV 0 Zeigen Sie dies.
r r
Z
1 1
C .Or/i .r0 /.3x0i xj0  r02 ıij / dV 0 .Or/j
2 r3 Homogen geladenes Rotationsellipsoid
C::: (13.106)
Atomkerne kann man oft in guter Näherung als homo-
Das erste Integral erkennt man als die Gesamtladung q wieder. gen geladene Rotationsellipsoide ansehen. Will man das
Für die anderen beiden Integrale führt man folgende Abkürzun- elektrische Potenzial eines Atomkerns näherungsweise
gen ein: Z berechnen, so muss man die Multipolmomente eines sol-
p WD .r0 /r0 dV 0 (13.107) chen Rotationsellipsoids kennen.

z
heißt das (elektrische) Dipolmoment der Ladungsverteilung; der
Tensor zweiter Stufe Q mit den Komponenten
Z
Qij WD .r0 /.3x0i xj0  r02 ıij / dV 0 ; (13.108)

also Z
z0
QD .r0 /.3r0 r0>  r02 I/ dV 0 ; (13.109)

heißt ihr Quadrupolmoment. Die Gesamtladung nennt man


manchmal auch das Monopolmoment. Den Grund für diese Be-
zeichnungen werden wir später in Abschn. 13.6 erfahren. Mit y
diesen Abkürzungen hat man die kurze Darstellung

q rO  p 1 rO > QOr x
.r/ D C 2 C C ::: (13.110)
r r 2 r3 0
Den ersten Term erkennt man als das Potenzial einer Punkt-
ladung (im Ursprung) wieder. Jeder der folgenden Terme fällt Abb. 13.8 Ein homogen geladenes Rotationsellipsoid (Radius %0 , Hö-
dann jeweils schneller mit dem Abstand zur Ladungsverteilung he z0 ) kann als gutes Modell für einen Atomkern dienen
ab.
464 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

Legen wir das Koordinatensystem so, dass die Rotations- ergibt sich schließlich
achse die z-Achse ist, wird solch ein Ellipsoid (Halbach-
4 1
sen %0 und z0 ; Abb. 13.8) beschrieben durch Q11 D Q22 D z0 %20 .%20  z20 / D
q.%20  z20 /;
0
 2  2 15 5
% z 8 2
C  1; (13.114) Q33 D z0 %20 .z20  %20 /
0 D  q.%0  z0 /:
2 2
%0 z0 15 5
(13.120)
wobei wir wegen der Symmetrie des Problems Zylinder- Man hat also Q11 D Q22 D Q33 =2, und die Spur von Q
koordinaten %, ' und z verwenden. ist in der Tat null: Q11 C Q22 C Q33 D 0. Dies hätte man
Man hat dann zunächst für die Gesamtladung: natürlich auch von vornherein verwenden können, um die
p Rechnung zu vereinfachen.
Z%0 z0 Z
1.%=%0/
2
Z2
Teil II

qD % d% Schließlich ergibt sich für das elektrische Potenzial bis


dz d' 0; (13.115)
p
einschließlich des Quadrupolmoments
0 z0 1.%=%0 /2 0
q q.%20  z20 /.%2  2z2 /
wobei 0 die (konstante) Ladungsdichte des Ellipsoids ist. .%; z/ D p C p 5 (13.121)
Die Integrale sind alle leicht ausführbar; man erhält %2 C z2 10 %2 C z2
4 2
qD% z0 0 D V 0 ; (13.116) bzw. in Kugelkoordinaten
3 0
wobei V das Volumen des Ellipsoids ist. Für das Dipol- q q.z20  %20 /.3 cos2 #  1/
.r; #/ D C : (13.122)
moment erhält man r 10r3
p 0 1
Z%0 Z
z0 1.%=% 0/
2
Z2 % cos ' Die Winkelabhängigkeit proportional zu 3 cos2 #  1 ist
p D % d% dz d' 0 @ % sin ' A : typisch für das Quadrupolpotenzial einer zur z-Achse
0
p
0
z rotationssymmetrischen Ladungsverteilung. Diese Win-
z0 2 1.%=%0 /
(13.117) kelabhängigkeit ist in Abb. 13.9 dargestellt.
Aus Symmetriegründen verschwinden alle diese Integra- z
le; man hat also
p D 0: (13.118)
Es bleiben die Matrixelemente von Q zu berechnen. Be-
trachte zunächst die Nicht-Diagonalelemente. Bei Q12 D
Q21 hat man ein Integral über 3%2 sin ' cos ' auszuwer-
ten, bei Q13 D Q31 über 3%z cos ' und schließlich bei
Q23 D Q32 über 3%z sin '. Man sieht leicht, dass die
Winkelintegrale über all diese Ausdrücke verschwinden –
alle Nicht-Diagonalelemente sind hier gleich null. (Man
kann einfach zeigen, dass dies für alle Ladungsverteilun-
gen gilt, die zylindersymmetrisch um die z-Achse sind).
Bei den Diagonalelementen sind Integrale über
3%2 cos2 '  %2  z2 bzw. 3%2 sin2 '  %2  z2 bzw.
3z2  %2  z2 zu berechnen. Fasst man zusammen und x y
führt zunächst die Winkelintegrale aus, so verbleiben
Integrale über 12 %2  z2 (bei Q11 und Q22 ergeben sich
aufgrund der Symmetrie dieselben Ergebnisse) und
2z2  %2 . Mit
p
Z%0 z0 Z
1.%=%0/
2 Abb. 13.9 Die Winkelabhängigkeit des Quadrupolanteils im skalaren
4 Potenzial des Rotationsellipsoids aus Abb. 13.8. Die dargestellte Ober-
% d% % dz D
2
z0 %4 ;
p
15 0 fläche gibt den Betrag von für einen festen Radius r in Abhängigkeit
0 z0 1.%=%0 /2 von den Winkeln # und ' an: Für den Abstand eines Punktes P auf der
p (13.119) Oberfläche, dessen Ortsvektor die Winkel # und ' hat, zum Ursprung gilt
Z%0 Z
z0 1.%=% 0/
2
jeweils OPN D j Q .#; '/j, wobei Q für den Quadrupolterm des Poten-
2 3 2 zials steht. Die Farbe gibt das Vorzeichen von Q an: Wenn z20 > %20 ist,
%d% z2 dz D z%
p
15 0 0 so steht rot für positive Werte und blau für negative, im anderen Fall um-
0 z0 1.%=%0 /2 gekehrt. (Siehe hierzu auch die Kugelflächenfunktion Y20 in Abb. 13.10!)
13.4 Multipolentwicklung in kartesischen Koordinaten 465

Setzt man dies nun in (13.125) ein, so ergibt sich schließlich


Für den Spezialfall einer homogen geladenen Kugel hat mittels der bekannten Definitionen von Monopol-, Dipol- und
man z0 D %0 ; der Beitrag des Quadrupolmoments ver- Quadrupolmomenten
schwindet dann, und man hat nur den bekannten Beitrag ˇ
der Gesamtladung (des Monopolmoments). J 1 @Ei ˇˇ
W D q .0/  p  E.0/  Qij C ::: (13.129)
6 @xj ˇ0

Man sagt, der Monopol (die Gesamtladung) wechselwirkt mit


dem oder „koppelt an“ das Potenzial, der Dipol an das elektri-
Wechselwirkung einer Ladungsverteilung sche Feld und der Quadrupol an die Ableitung des elektrischen
mit einem äußeren elektrischen Feld Feldes.

Teil II
Die potenzielle Energie W einer einzelnen (Punkt-)Ladung q am Wechselwirkung zweier Dipole
Ort r in einem gegebenen äußeren elektrischen Feld mit Poten-
zial ist bekanntlich Für das Potenzial eines Dipols p1 gilt laut Abschn. 13.4

W D q .r/: (13.123) rO  p1
.r/ D : (13.130)
r2
Möchte man die potenzielle Energie einer vollständigen La-
dungsverteilung angeben, so kann man diese in infinitesimale Daraus berechnet man leicht das elektrische Feld zu
Stücke unterteilen und für jedes die potenzielle Energie einzeln
3.p1  rO /Or  p1
berechnen: E.r/ D ; (13.131)
r3
dW D dq .r/ D .r/ dV .r/: (13.124)
und die Wechselwirkungsenergie mit einem zweiten Di-
pol p2 ist
Insgesamt ergibt sich
Z p1  p2  3.p1  rO/.p2  rO/
WD dV .r/ .r/: (13.125) W D p2  E D : (13.132)
r3

Dieses Integral wird im Allgemeinen nur schwierig auszuwer- Rechnen Sie die Ausdrücke für das elektrische Feld und
ten sein; es bietet sich somit wieder an, für das Potenzial eine die Wechselwirkungsenergie explizit nach.
Näherung zu verwenden. Wir werden sehen, dass auch hier
letztlich die Multipolentwicklung nützlich sein wird. Die Wechselwirkungsenergie zweier Dipole hängt also
nicht nur von ihrem Abstand ab, sondern auch davon, wie
Im Folgenden nehmen wir an, dass sich die Ladungsverteilung sie zueinander ausgerichtet sind. Außerdem fällt sie mit
um den Ursprung befindet und sich das Potenzial im Bereich der der dritten Potenz des Abstands ab (bei Monopolen ist es
Ladungsverteilung nur schwach ändert. Dann können wir eine bekanntlich die erste Potenz). J
Taylor-Entwicklung um den Ursprung durchführen:
ˇ
1 @2 ˇˇ
.r/ D .0/ C r  r j0 C xi xj C ::: Außerdem kann man allgemein die Kraft betrachten, die auf ei-
2 @xi @xj ˇ0 ne Ladungsverteilung wirkt:
ˇ (13.126)
1 @Ei ˇˇ
D .0/  r  E.0/  xi xj C::: Z
2 @x ˇ j 0 FD dV .r/E.r/: (13.133)
Da es sich bei um ein äußeres Feld handeln soll, befinden
sich seine Quellen nicht im Bereich der Ladungsverteilung; wir Auch für das elektrische Feld kann man eine Taylor-Entwick-
haben dort also sicher r  E D 0. Deshalb können wir einen lung um den Ursprung ansetzen:
Term
r2 r2 @Ei ˇ
r ED ıij (13.127) 1 @2 E ˇˇ
E.r/ D E.0/ C .r  r / Ej0 C xi xj C :::
6 6 @xj 2 @xi @xj ˇ0
addieren und erhalten D E.0/ C .r  r / Ej0 (13.134)
ˇ ˇ
@Ei ˇˇ 1  @E ˇ2
1 C 3xi xj  r ıij
2 ˇ C :::;
.r/ D .0/  r  E.0/  .3xi xj  r ıij / C : : : (13.128) @xi @xj ˇ0
2
6 @x ˇ
j 0
6
466 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

wobei benutzt wurde, dass für das äußere Feld im Bereich der Die Laplace-Gleichung in Kugelkoordinaten
Ladungsverteilung

E D grad ˆ D grad ˆ D 0 (13.135) Statt von (13.99) auszugehen und diesen Ausdruck in eine Reihe
für r r0 zu entwickeln, starten wir direkt von der Laplace-
gilt. Eingesetzt in (13.133) hat man dann Gleichung
ˇ  .r/ D 0; (13.144)
1 @2 E ˇˇ
F D qE.0/ C .p  r / Ej0 C Qij C ::: (13.136)
6 @xi @xj ˇ0
die außerhalb der Ladungsverteilung gilt, und lösen diese
Insbesondere folgt, dass auf Dipol- und Quadrupolmomente in Gleichung in Kugelkoordinaten (der Laplace-Operator in Ku-
homogenen elektrischen Feldern keine Kräfte wirken. gelkoordinaten wurde bereits in (2.133) gegeben):
Teil II

Dennoch können auf diese Drehmomente wirken, wie man aus  


1
derselben Taylor-Entwicklung sieht: r C 2  .r; #; '/ D 0 (13.145)
r
Z
M D dV .r/ r  E.r/ mit
Z (13.137)
D dV .r/ r  .E.0/ C .r  r / Ej0 C : : :/ : 1 @2 1 @ @
r D r D 2 r2 ;
r @r2 r @r @r
(13.146)
Der erste Summand ergibt das Drehmoment auf einen Dipol: 1 @ @ 1 @2
 D sin # C :
sin # @# @# sin2 # @' 2
M Dipol D p  E.0/: (13.138)
Diese partielle Differenzialgleichung lösen wir nun mit ei-
Im zweiten kann man zunächst in Komponenten schreiben: nem Separationsansatz, d. h., wir setzen die gesuchte Funktion
.r; #; ') als ein Produkt von zwei Funktionen R bzw. Y an, die
1 @Ej
.r  .r  r / E/l D "ijl 3xi xk : (13.139) jeweils nur von r bzw. # und ' abhängen (siehe hierzu auch den
3 @xk „Mathematischen Hintergrund“ 13.4):
Da in der Elektrostatik gilt
.r; #; '/ D R.r/Y.#; '/: (13.147)
@Ej
.rot E/l D "ijl D 0; (13.140)
@xi
Setzt man dies in die Laplace-Gleichung ein, so erhält man zu-
folgt nächst

1   @Ej 1
.r  .r  r / E/l D "ijl 3xi xk  r2 ıik : (13.141) .r R.r// Y.#; '/ C R.r/ . Y.#; '// D 0: (13.148)
3 @xk r2
Damit ist Nun bringt man alle Terme, die nur von r abhängen, auf eine
ˇ Seite und alle anderen Terme auf die andere:
1 @Ej ˇˇ
MQuadrupol;l D "ijl Qik ; (13.142)
3 @xk ˇ0 r2 r R.r/  Y.#; '/
D : (13.149)
also R.r/ Y.#; '/
1
M Quadrupol D .Qr /  Ej0 : (13.143)
3 Beide Seiten können aber nur dann für alle Werte der Variablen
gleich sein, wenn sie gleich einer Konstanten C sind:

r2 r R.r/  Y.#; '/


13.5 Die Kugelflächenfunktionen R.r/
D
Y.#; '/
D C; (13.150)

In Abschn. 13.4 haben wir gesehen, dass man das Potenzial au- also
ßerhalb einer Ladungsverteilung in eine Reihe entwickeln kann,
wobei die aufeinanderfolgenden Summanden immer stärker mit @ 2@
r R.r/ D C R.r/ und  Y.#; '/ D C Y.#; '/:
dem Abstand r zur Ladungsverteilung abfallen. Es liegt also na- @r @r
he, von vornherein mit Kugelkoordinaten zu arbeiten. (13.151)
13.5 Die Kugelflächenfunktionen 467

13.4 Mathematischer Hintergrund: Separationsansatz zum Lösen partieller Differenzial-


gleichungen

Für lineare Differenzialgleichungen der Form Dx u.x; t/ D die mit Standardmethoden gelöst werden können.
D t u.x; t/, wobei Dx und D t Differenzialoperatoren sind, die Wir betrachten die Differenzialgleichung
nur auf die Variablen x bzw. t wirken, gibt es einen speziel-
len Lösungsansatz, der in der Literatur als Separationsansatz uP C xu0 D 0 , uP D xu0 :
bzw. Bernoulli’scher Ansatz bekannt ist.
Separationsansatz Dabei wird der Ansatz u.x; t/ D Setzen wir wieder mit u.x; t/ D X.x/T.t/ an, so erhalten
X.x/T.t/ gemacht, und es ergibt sich insgesamt wir sofort

Teil II
Dx X.x/ D t T.t/
.Dx X/T D X.D t T/ , D : X TP C xX 0 T D 0;
X.x/ T.t/
Hier muss natürlich u ¤ 0 gelten. Jetzt sehen wir, dass beide wobei jetzt eine Division durch u D XT
Quotienten konstant sind und wir daher die Variablen x und
t separieren können. Dies führt mit Trennung der Variablen TP xX 0
auf eine Berechnung von Eigenwerten, genauer auf D
T X
Dx X D X und D t T D T;
ergibt. Dies liefert die beiden Eigenwertprobleme
wobei  die Separationskonstante bezeichnet.

TP D T und X 0 D  X;
Beispiele x
Wir betrachten die Wellengleichung die mit Standardmethoden gelöst werden können.
uR .x; t/  c2 u00 .x; t/ D 0 , uR .x; t/ D c2 u00 .x; t/
und verwenden den Separationsansatz u.x; t/ D X.x/T.t/. Literatur
Dies liefert die beiden gewöhnlichen Differenzialglei-
chungen
Arens et al.: Mathematik. 2. Aufl., Spektrum Akademi-
TR D T und c2 X 00 D X; scher Verlag (2012)

Damit wurde die ursprüngliche partielle Differenzialgleichung Die winkelabhängigen Lösungsfunktionen


in zwei Gleichungen für die beiden einzelnen Faktoren zerlegt
(„separiert“). Die erste Gleichung ist leicht lösbar; es gibt zwei
(linear unabhängige) Gruppen von Lösungen: Die Differenzialgleichung für die Funktion Y wird nun

1  Yl .#; '/ D l.l C 1/Yl .#; '/: (13.153)


R.r/ D rl und R.r/ D ; (13.152)
rlC1
Gesucht sind somit die Eigenfunktionen zum Differenzialope-
wobei C D l.l C 1/ ist und l eine beliebige reelle Zahl. rator  mit den Eigenwerten l.l C 1/.

Frage 10 Frage 11
Vollziehen Sie diese Rechnung nach und leiten Sie die Lösun- Überlegen Sie sich, wie ein entsprechendes Skalarprodukt für
gen her. (komplexe) Funktionen, die auf der Kugeloberfläche definiert
sind, aussehen muss.

Da wir uns im Außenraum der Ladungsverteilung befinden,


sollte das Potenzial mit dem Abstand r abfallen; dafür ist natür- Definiert man für Funktionen, die auf der Kugeloberfläche qua-
lich nur die zweite Gruppe von Lösungen relevant. Die anderen dratintegrabel sind, das Skalarprodukt
Lösungen können allerdings je nach Randbedingungen durch- Z
aus auch sinnvoll sein. hf ; gi D d f  .#; '/g.#; '/; (13.154)
468 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

so kann man leicht zeigen, dass dieser Differenzialoperator Tab. 13.1 Die ersten neun Kugelflächenfunktionen
selbstadjungiert ist. Seine Eigenfunktionen Yl .#; '/ bilden des-
lD0 lD1 lD2
halb ein vollständiges orthogonales System, nach dem man alle q
diese Funktionen entwickeln kann. Man bezeichnet die Funktio- m D 2 15
32
sin2 # e2i'
nen Yl .#; '/ als Kugelflächenfunktionen (spherical harmonics). q q
m D 1 8
3
sin # ei' 15
8
sin # cos # ei'
Um die Funktionen zu bestimmen, kann man einen weiteren q q q
Separationsansatz machen. Der Differenzialoperator für ' legt mD0 4
1
4
3
cos # 16 .3 cos #  1/
5 2

q q
dabei den Exponentialansatz
mD1  83 sin # ei'  815 sin # cos # ei'
q
Ylm .#; '/ D Xlm .#/e im'
(13.155) mD2 15
32
sin2 # e2i'
Teil II

nahe – mit einer zunächst beliebigen Zahl m, die der Eigenwert


von Ylm bezüglich dieses Differenzialoperators ist.
dementsprechend als zugeordnete Legendre-Funktionen (oft
Frage 12 auch unrichtig als zugeordnete Legendre-Polynome) bezeich-
Warum muss m eine ganze Zahl sein? net. Die detaillierte Herleitung dieser Funktionen soll hier aber
nicht mehr gezeigt werden; in Abschn. 27.6 werden wir sehen,
wie man sie explizit konstruieren kann.
Aus Es stellt sich schließlich heraus, dass es Lösungen nur für m D
Ylm .#; 2 / D Ylm .#; 0/ (13.156) l; l C 1; :::; 0; :::; l  1; l gibt (und damit l eine natürliche Zahl
sein muss) und man diese beispielsweise folgendermaßen be-
folgt, dass m eine ganze Zahl sein muss. Setzt man diesen An- rechnen kann:
satz ein, so bleibt schließlich die Differenzialgleichung
dm 0
  Plm .x/ D .1/m .1  x2 /m=2 P .x/ (13.161)
1 @ @ m2 dxm l
sin #  Xlm .#/ D l.l C 1/Xlm .#/
sin # @# @# sin2 # für m > 0 und
(13.157)
zu lösen. Durch die Substitution x D cos # kann man sie um- .l  m/Š m
schreiben zu Pm
l .x/ D .1/
m
P .x/: (13.162)
.l C m/Š l
 
d d m2
.1  x2 /  Plm .x/ D l.l C 1/Plm .x/
dx dx 1  x2 Abschließend müssen die Funktionen Ylm noch normiert wer-
(13.158) den.
mit Plm .cos #/ D Xlm .#/. Mithilfe der Produktregel kann der
erste Differenzialoperator noch umgeformt werden, sodass man
schließlich erhält: Kugelflächenfunktionen
  Für jede natürliche Zahl l und m D l; lC1; :::; 0; :::; l
d2 d m2
.1  x2 / 2  2x  Plm .x/ 1; l sind die Funktionen
dx dx 1  x2 (13.159) s
D l.l C 1/Plm .x/: 2l C 1 .l  m/Š m
Ylm .#; '/ D P .cos #/eim' (13.163)
4 .l C m/Š l
Frage 13 Eigenfunktionen zum Winkelanteil des Laplace-Opera-
Zeigen Sie dies. tors in Kugelkoordinaten.

Speziell für m D 0 ist dies aber gerade die Legendre-Differen- Die Kugelflächenfunktionen findet man in der mathematischen
zialgleichung (13.97): Literatur tabelliert; in Tab. 13.1 sind die ersten neun beispielhaft
  angegeben.
2
2 d d
.1  x / 2  2x C l.l C 1/ P0l .x/ D 0: (13.160) In Abb. 13.10 sind einige der Kugelflächenfunktionen grafisch
dx dx
dargestellt (siehe auch das Eröffnungsbild dieses Kapitels).
Die Funktionen P0l sind also genau die Legendre-Polynome. Abschließend seien nochmals die grundlegenden Eigenschaften
Die Lösungen der allgemeinen Gleichung mit m ¤ 0 werden der Kugelflächenfunktionen zusammengestellt.
13.6 Multipolentwicklung in Kugelkoordinaten 469

Man kann also jede Funktion, die von # und ' abhängt,
nach ihnen entwickeln:
1 X
X l
f .#; '/ D alm Ylm .#; '/ (13.166)
lD0 mDl

l = 0, m = 0 l = 1, m = 0 l = 1, m = 1 mit
Z
alm D d0 Ylm

.# 0 ; ' 0 /f .# 0 ; ' 0 /: (13.167)

Teil II
Weitere oft benötigte Eigenschaften finden sich im Kasten „Ver-
tiefung: Weitere Eigenschaften der Kugelflächenfunktionen“.
Nun können wir allgemein angeben, wie Lösungen der Laplace-
Gleichung in Kugelkoordinaten aussehen.

l = 2, m = 0 l = 2, m = 1 l = 2, m = 2
Lösungen der Laplace-Gleichung in Kugelkoordinaten
Jede Lösung der Laplace-Gleichung (13.144) kann in Ku-
gelkoordinaten folgendermaßen geschrieben werden:

X1 X l 
1
.r; #; '/ D Alm rl C Blm lC1 Ylm .#; '/
lD0 mDl
r
(13.168)
mit im Allgemeinen komplexen Konstanten Alm und Blm ,
die von den Randbedingungen abhängen.
Handelt es sich um zylindersymmetrische, d. h. von ' un-
l = 3, m = 0 l = 3, m = 1 l = 3, m = 2 abhängige Probleme, so vereinfacht sich dies zu
1 
X 1
0 π 2π
.r; #/ D Al rl C Bl Pl .cos #/: (13.169)
lD0
rlC1
Abb. 13.10 Einige Kugelflächenfunktionen. Hier wurde wie in Abb. 13.9 eine
Polardarstellung gewählt: Der Abstand eines Punktes P auf der Oberfläche zum
Ursprung gibt jeweils den Betrag jYlm .#; '/j an. Die Ylm sind (für m ¤ 0) im
Gegensatz zu in Abb. 13.9 aber komplexe Funktionen; ihre jeweilige Phase
argYlm .#; '/ an einem Punkt P ist farblich codiert dargestellt
13.6 Multipolentwicklung
in Kugelkoordinaten
Die Kugelflächenfunktionen als ein vollständiges Nach dem im vorhergehenden Abschnitt Erarbeiteten können
orthonormales Funktionensystem wir nun sagen, dass jede Lösung der Laplace-Gleichung, also
Wie bereits erwähnt, sind die Kugelflächenfunktionen or- das Potenzial im Außenraum einer Ladungsverteilung, folgen-
thonormal, dermaßen darstellbar ist (siehe (13.168) mit Alm D 0):
Z

d Ylm .#; '/Yl0 m0 .#; '/ D ıll0 ımm0 ; (13.164) 1 X
X l
1
.r; #; '/ D B Y .#; '/:
lC1 lm lm
(13.170)
und bilden ein vollständiges System: lD0 mDl
r
1 X
X l
 Es bleibt, die Koeffizienten Blm in Abhängigkeit von der La-
Ylm .# 0 ; ' 0 /Ylm .#; '/
(13.165) dungsverteilung .r/ zu bestimmen. Wie schon bei der Mul-
lD0 mDl
tipolentwicklung in kartesischen Koordinaten gehen wir auch
D ı.cos # 0  cos #/ı.' 0  '/: hier von der Green’schen Funktion aus, da wir damit das Poten-
zial für jede beliebige Ladungsverteilung berechnen können.
470 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

Vertiefung: Weitere Eigenschaften der Kugelflächenfunktionen

Der Zusammenhang zwischen einer Kugelflächenfunk- wobei ˛ der Winkel zwischen den beiden Vektoren r und
tion und ihrer komplex konjugierten ist durch r0 ist, deren Richtung jeweils durch die Winkel # und '
bzw. # 0 und ' 0 beschrieben wird.
Ylm D .1/m Yl;m (1) Wegen der Normierung Pk .1/ D 1 der Legendre-Polyno-
me hat man immer
gegeben. r
Bei einer Punktspiegelung am Ursprung (Paritätstransfor- 2l C 1
Yl0 .0; '/ D ; (4)
mation r ! r) gilt # !  # und ' ! C ' und 4
Teil II

Ylm .  #; C '/ D .1/l Ylm .#; '/: (2) wegen der Beziehung Pk .1/ D .1/k außerdem immer
r
Führt man nur die Summe über m aus statt auch über l, so 2l C 1
erhält man statt der Deltafunktionen in (13.165) wieder Yl0 . ; '/ D .1/l (5)
4
ein Legendre-Polynom:
und wegen (13.161)
4 Xl
Pl .cos ˛/ D Y  .# 0 ; ' 0 /Ylm .#; '/; (3) Ylm .0; '/ D Ylm . ; '/ D 0 für m ¤ 0: (6)
2l C 1 mDl lm

Entwicklung der Green’schen Funktion gelten. Es ist also

ı.r  r0 /
Gesucht ist nun zunächst die Multipolentwicklung der ı.r  r0 / D ı.cos #  cos # 0 /ı.'  ' 0 /: (13.174)
Green’schen Funktion in Kugelkoordinaten: r02

X1 X l
1 Benutzt man die Vollständigkeit (13.165) der Kugelflächen-
D Glm .r; r0 ; # 0 ; ' 0 /Ylm .#; '/: (13.171) funktionen, erhält man daraus
jr  r0 j lD0 mDl

1
Wir sind letztlich nur an der Abhängigkeit von den Koordina- ı.r  r0 / X X  0 0
l
ten r; #; ' interessiert, führen die Entwicklung also für diese ı.r  r0 / D Ylm .# ; ' /Ylm .#; '/: (13.175)
ungestrichenen Koordinaten durch. Die Entwicklungskoeffizi- r2 lD0 mDl
enten Glm hängen deswegen nicht nur von r, sondern auch von
allen gestrichenen Koordinaten ab. Hier wurde außerdem noch ausgenutzt, dass man wegen der
Diese Koeffizienten Glm nach der allgemeinen Gleichung Deltafunktion r0 durch r ersetzen kann.
(13.167) zu berechnen, wäre sehr schwierig. Wir wählen statt-
Setzt man dies und (13.171) in die Differenzialgleichung
dessen einen anderen Weg: Die Green’sche Funktion erfüllt
(13.172) ein und betrachtet jedes Summenglied einzeln, so folgt
bekanntlich die Differenzialgleichung
1  
 D 4 ı.r  r0 /: (13.172)  Glm .r; r0 ; # 0 ; ' 0 /Ylm .#; '/
jr  r0 j
ı.r  r0 /  0 0 (13.176)
Kennt man die Multipolentwicklung der Deltafunktion, so kann D 4 Ylm .# ; ' /Ylm .#; '/:
r2
man die Multipolentwickung der Green’schen Funktion im We-
sentlichen durch Lösen dieser Differenzialgleichung erhalten. Spaltet man den Laplace-Operator wieder in den Radial- und
Die Multipolentwicklung der Deltafunktion kann man aber den Winkelanteil auf und benutzt, dass die Kugelflächenfunk-
leicht bestimmen: Für eine beliebige Funktion f muss immer tionen Eigenfunktionen zum Winkelanteil sind, so reduziert sich
Z dies schließlich auf
f .r/ D dV 0 ı.r  r0 /f .r0 /
 
Z Z l.l C 1/
r  Glm .r; r0 ; # 0 ; ' 0 /
D dr0 ı.r  r0 / d cos # 0 ı.cos #  cos # 0 / r2
(13.177)
Z ı.r  r0 /  0 0
 d' 0 ı.'  ' 0 / f .r0 ; # 0 ; ' 0 / (13.173) D 4 Ylm .# ; ' /:
r2
13.6 Multipolentwicklung in Kugelkoordinaten 471

Frage 14 mit zunächst noch unbekannten Funktionen Al .r0 / und Bl .r0 /.


Vollziehen Sie die letzten beiden Zwischenschritte nach. Ein Zusammenhang zwischen diesen ergibt sich aus der Stetig-
keit der gl : Es muss gelten:

Das heißt, man kann schreiben Al .r0 /r0l D Bl .r0 /r0l1 : (13.185)

Glm .r; r0 ; # 0 ; ' 0 / D gl .r; r0 /Ylm



.# 0 ; ' 0 /; (13.178)
Setzt man nun
und die Funktionen gl erfüllen dann die Differenzialgleichung
Cl D Al .r0 /r0lC1 D Bl .r0 /r0l (13.186)
  0
r r  l.l C 1/ gl .r; r /
2
  und berücksichtigt, dass die Funktionen gl die Dimension einer
d 2d
D  l.l C 1/ gl .r; r0 /

Teil II
r (13.179) inversen Länge haben müssen, so folgt, dass die Cl Konstanten
dr dr sind, die weder von r noch von r0 abhängen.
D 4 ı.r  r0 /:
Damit hat man die symmetrische Darstellung

Wir setzen voraus, dass die Funktionen gl stetig sind. Die Delta- 8
ˆ rl
funktion auf der rechten Seite der Differenzialgleichung führt < für r < r0
0
gl .r; r / D Cl r0lC1 : (13.187)
aber dazu, dass sie bei r D r0 nicht differenzierbar sind, wie r 0l
:̂ für r > r0
man folgendermaßen sieht: Zunächst integriert man die Diffe- rlC1
renzialgleichung (13.179) um r D r0 :
0C
rZ   Frage 15
d 2d Zeigen Sie dies.
r  l.l C 1/ gl .r; r0 / dr D 4 : (13.180)
dr dr
r0 

Setzt man dies in (13.181) ein, so ergibt sich


Wegen der Stetigkeit der gl verschwindet das Integral über den
zweiten Summanden, das über den ersten Summanden ist dage-  
r0l .r0  /l1 4
gen direkt ausführbar. Es bleibt Cl .l  1/ l D (13.188)
0
.r C / lC2 r0lC1 r02
 rDr0 C
d 4
gl .r; r0 / D ; (13.181) bzw. für  ! 0
dr rDr0  r02
 
l  1 l 4
womit die Behauptung gezeigt ist. Cl  02 D (13.189)
r02 r r02
0
Für r ¤ r reduziert sich die Differenzialgleichung (13.179)
dagegen auf und damit
4
Cl D : (13.190)
r2 r gl .r; r0 / D l.l C 1/gl .r; r0 / (13.182) 2l C 1

mit den bereits bekannten Lösungen (13.152) Führt man außerdem noch die Abkürzungen r< D min.r; r0 /
und r> D max.r; r0 / ein, hat man letztlich
1
gl .r; r0 / D rl und gl .r; r0 / D : (13.183)
rlC1 4 l
r<
gl .r; r0 / D (13.191)
Die erste Gruppe von Lösungen divergiert für r ! 1, die zwei- 2l C 1 r>
lC1

te Gruppe für r ! 0. Die Green’sche Funktion G.r  r0 / ist in


beiden Fällen aber endlich (für festes r0 geht sie im ersten Fall und damit für die gesuchte Multipolentwicklung der
gegen null, im zweiten Fall gegen 1=r0 ), also setzen sich die Green’schen Funktion
Funktionen gl aus zwei Abschnitten zusammen: In einem Ab-
X1 X l l
schnitt gilt die erste Art von Lösung, im anderen Abschnitt die 1 4 r< 
andere. Wie gezeigt sind die gl für r D r0 nicht differenzierbar, 0
D Ylm .#; '/Ylm .# 0 ; ' 0 /:
jr  r j lD0 mDl
2l C 1 r lC1
>
also liegt die Grenze zwischen den beiden Abschnitten genau (13.192)
an dieser Stelle. Es gilt somit:
Schließlich kann man noch die Beziehung (3) aus dem Kas-
0 Al .r0 /rl für r < r0 ten „Vertiefung: Weitere Eigenschaften der Kugelflächenfunk-
gl .r; r / D (13.184)
Bl .r0 / rlC1
1
für r > r0 tionen“ einsetzen; damit ergibt sich ein Ausdruck für die
472 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

Green’sche Funktion, der besonders bei zylindersymmetrischen Achtung Auch hier gibt es wieder unterschiedliche Kon-
Problemen oft einfacher sein kann: ventionen: Manche Autoren verwenden in der Definition der
Multipolmomente die Kugelflächenfunktionen selbst statt ihrer
X rl 1
1 <
komplex konjugierten, manche ziehen den Faktor 4 =.2l C 1/
D P .cos ˛/:
lC1 l
(13.193) aus der Definition heraus usw. J
jr  r j
0
lD0 r>
Wir haben nun das Ziel erreicht: Das Potenzial im Außenraum
Dabei ist ˛ wieder der Winkel zwischen den beiden Vektoren r einer Ladungsverteilung wurde nach Potenzen des Abstands
und r0 . entwickelt. Zur Berechnung des Summengliedes mit der Potenz
.lC1/ werden dabei jeweils 2lC1 Multipolmomente benötigt.
(Historische Anmerkung: Als Legendre die Gravitationskraft Analog zur Multipolentwicklung in kartesischen Koordinaten
von Ellipsoiden untersuchte, fand er für das Newton’sche Gra- nennt man das Multipolmoment für l D 0 das Monopolmoment,
vitationspotenzial genau solch eine Entwicklung – und führte die drei für l D 1 die Dipolmomente und die fünf für l D 2 die
Teil II

dabei die heute nach ihm benannten Polynome ein.) Quadrupolmomente.

Die Anzahl der Komponenten ist hier jeweils gleich wie bei der
kartesischen Multipolentwicklung, und man kann auch Formeln
Sphärische Multipolmomente aufstellen, mit denen man die einen in der anderen umrech-
nen kann (Aufgabe 13.13). Allerdings ist bei der Abzählung
der Komponenten zu beachten, dass die sphärischen Multipol-
Wir setzen nun den Ausdruck (13.192) in die Gleichung für das momente eigentlich komplexe Größen sind. Aus der Definition
Potenzial ein: (13.196) und den Eigenschaften der Kugelflächenfunktionen
folgt aber, dass immer q lm D .1/ ql;m ist; deshalb hat man
m
1 X
X l
4 für jedes l letztlich doch nur 2l C 1 unabhängige reelle Größen.
.r/ D Ylm .#; '/
lD0 mDl
2l C1
Z (13.194)
l
r< Punktladungen auf der z -Achse
0 0 
dV .r / lC1 Ylm .# 0 ; ' 0 /:
r> Wir betrachten drei Punktladungen auf der z-Achse, wo-
bei zwei der Größe q sich bei z D ˙a befinden, die dritte
Im Allgemeinen hat man endliche Ladungsverteilungen, d. h., der Größe 2q im Ursprung (Abb. 13.11).
es wird einen Radius r0 geben, sodass .r0 / D 0 für r0 > r0 ist.
Betrachtet man das Potenzial im Außenraum dieser Ladungs- z
verteilung, so ist r > r0  r0 , also r< D r0 und r> D r, und
damit
X 4 Z
Ylm .#; '/
.r/ D dV 0 .r0 /r0l Ylm

.# 0 ; ' 0 /: q

l;m
2l C 1 r lC1 a
(13.195)
Dies ist die gesuchte Multipolentwicklung des Potenzials in Ku-
gelkoordinaten.
−2q

Sphärische Multipolentwicklung 0
Definiert man durch
Z x y
4
qlm D dV 0 .r0 /r0l Ylm

.# 0 ; ' 0 / (13.196)
2l C 1
−a
q
die sphärischen Multipolmomente der Ladungsverteilung
, so ist die Multipolentwicklung des Potenzials gege-
ben durch
1 X
X l
1 Abb. 13.11 Eine Ladungsverteilung aus drei Punktladungen auf der z-
.r/ D qlm Ylm .#; '/: (13.197) Achse: Im Ursprung befindet sich eine Punktladung der Stärke 2q, im
rlC1
lD0 mDl Abstand a darüber und darunter jeweils eine der Stärke q
13.6 Multipolentwicklung in Kugelkoordinaten 473

Vertiefung: Bezeichnung der Multipolmomente

Die Multipolmomente zum Index l sind jeweils nach der Po- Es gibt kein Koordinatensystem, in dem dieses Multipolmo-
tenz 2l benannt: ment gleich null wäre. Hat man weniger Punktladungen, so
können bei ungünstiger Wahl des Koordinatensystems zwar
l D 0: Monopol, 20 D 1 auch höhere Momente auftreten, es existiert dann jedoch
l D 1: Dipol, 21 D 2 immer mindestens ein Koordinatensystem, in dem sie ver-
l D 2: Quadrupol, 22 D 4 schwinden (siehe Aufgabe 13.7).
l D 3: 23 D 8, deshalb spricht man hier vom Oktupol
Das erste nicht verschwindende Multipolmoment ist immer
usw. von der Wahl des Koordinatensystems unabhängig, die höhe-

Teil II
ren dagegen sind davon abhängig. Dies sieht man bereits am
Diese Bezeichnungen haben folgenden Grund: Man braucht einfachen Beispiel einer Punktladung: Ihr Monopolmoment,
mindestens 2l Punktladungen gleichen Betrags, um ein nicht- also die Gesamtladung, ist unabhängig vom Koordinatensys-
triviales Multipolmoment der Ordnung l zu erhalten (siehe tem; ihr Dipolmoment hängt dagegen offensichtlich von der
z. B. Wangsness 1986, S. 133ff). Nicht trivial bedeutet hier: Wahl des Ursprungs ab.

Die Ladungsdichte ist also Weitere Eigenschaften der Kugelflächenfunktionen“), so


ergibt sich sofort
.r/ D qı.x/ı.y/ Œı.z  a/ C ı.z C a/  2ı.z/ qlm D 0 (13.202)
(13.198)
für m ¤ 0 und
bzw. in Kugelkoordinaten umgerechnet
r
4
qı.'/ ql0 D qal 1 C .1/l
.r/ D 2 Œı.r  a/ı.#/ C ı.r  a/ı.#  / 2l C 1
r sin # 8
2ı.r/ı.#/ : (13.199) < 0 für ungerade l
D q (13.203)
: 2 4
qal für gerade l:
2lC1
Eingesetzt in (13.196) kann man die Integrationen sofort
ausführen; der Fall l D 0 ist dabei aber zunächst getrennt
Das erste nicht verschwindende Multipolmoment ist hier
zu betrachten. Man hat dann nur m D 0, also
das Quadrupolmoment
   r
q00 D 4 q Y00 .0; 0/ C Y00 . ; 0/  2Y00 .0; 0/ 16
q20 D qa2 ; (13.204)
D 0; (13.200) 5
und für das Potenzial ergibt sich
da Y00 eine konstante Funktion ist. Das Monopolmoment
dieser Ladungsverteilung verschwindet somit – wie man  3
1 qa
natürlich auch direkt sieht: Die Gesamtladung ist null. .r/ D 3
q 20 Y20 .#; '/ C O
r r4
Für l ¤ 0 liefert der dritte Summand wegen der Delta- a
funktion in r dagegen keinen Beitrag, und man hat nur qa2 qa2
D .3 cos 2
#  1/ C  O : (13.205)
r3 r3 r
4 qal   Somit hat man hier die gleiche Radius- und Winkelab-
qlm D Y .0; 0/ C Ylm . ; 0/ : (13.201)
2l C 1 lm hängigkeit wie beim Rotationsellipsoid in Abschn. 13.4.
Ein reines Quadrupolfeld erhält man schließlich im Li-
Benutzt man einige der allgemeinen Eigenschaften der mes a ! 0 und q ! 1, wobei qa2 konstant gehalten
Kugelflächenfunktionen (siehe den Kasten „Vertiefung: wird. J
474 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

Aufgaben

Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen
Teil II

13.1 Sphärisch symmetrische Fourier-Transforma- (a) indem Sie als Weg ein Quadrat der Seitenlänge 2a wählen,
tion Beweisen Sie: Wenn eine Funktion f .r/ sphärisch sym- das symmetrisch zum Ursprung liegt und dessen Seiten pa-
metrisch ist, dann gilt dies auch für ihre Fourier-Transformierte rallel zu den Achsen liegen, und
fQ .k/. (b) mittels des Cauchy’schen Integralsatzes.
13.2 Diskrete Fourier-Transformation Die Funkti-
on fn .x/ (n eine natürliche Zahl) habe den Wert 1 in 2n C 1 13.4 Residuensatz Berechnen Sie das Integral
Intervallen der Breite x0 und dem Abstand d und ansonsten den I
Wert 0, wobei der Funktionsgraph symmetrisch zur y-Achse sei 1
dz; (13.208)
(die Abbildung stellt diese Funktion speziell für n D 3 dar). z
f(x) (a) indem Sie als Weg ein Quadrat der Seitenlänge 2a wählen,
das symmetrisch zum Ursprung liegt und dessen Seiten pa-
1 rallel zu den Achsen liegen, und
(b) mittels des Residuensatzes.

13.5 Geschlossener Integrationsweg im Unendli-


chen Berechnen Sie das Integral
x
x0 d Z1
1
dx (13.209)
1 C x4
(a) Berechnen Sie die Fourier-Transformierte fQn .k/ und stellen 1
Sie die Funktion fn .x/ damit dar.
mithilfe eines „im Unendlichen“ geschlossenen Integrationswe-
(b) Die Funktion f .x/ WD limn!1 fn .x/ ist periodisch („Git- ges in der komplexen Ebene.
ter“), kann also durch eine Fourier-Reihe dargestellt werden.
Ermitteln Sie diese Darstellung (mit Exponentialfunktionen 13.6 Vollständiges Funktionensystem: Hermite-
als Basisfunktionen). Polynome Gegeben sei die Menge von Funktionen
(c) Begründen Sie mittels Ihrer Ergebnisse aus Teilaufgabe (a)
fn .x/ D xn ex
2 =2
und (b), dass gilt: ; (13.210)
1
X 1
X wobei n alle natürlichen Zahlen durchlaufe. Ermitteln Sie für
eijx D 2 ı.x  2 m/: (13.206) n D 0; 1; 2; 3 daraus orthonormierte Funktionen hn .x/ bezüg-
jD1 mD1
lich des Skalarprodukts
Dies ist ein diskretes Analogon zu (13.18.)
Z1
Lösungshinweis: (a) Verwenden Sie das Verhalten der Fou- hf ; gi D f .x/g.x/ dx: (13.211)
rier-Transformation unter Verschiebungen aus dem Kasten 1
„Übersicht: Wichtige Eigenschaften der Fourier-Transforma-
Anmerkung: Stattdessen kann man das Skalarprodukt auch all-
tion“ in Abschn. 13.1.
gemeiner definieren mit einer sogenannten Gewichtsfunktion
13.3 Cauchy’scher Integralsatz Berechnen Sie das .x/:
Integral I Z1
z dz; (13.207) hf ; gi D f .x/g.x/ .x/ dx: (13.212)
1
Aufgaben 475

Mit .x/ D ex sind dann die Polynome gesucht, die bezüglich
2
Ermitteln Sie die (kartesischen) Multipolmomente dieser La-
dieses Skalarprodukts orthonormal sind („Hermite-Polynome“; dungsverteilung bis einschließlich des Quadrupolmoments. Was
diese sind in der Quantenmechanik wichtig). ergibt sich speziell für a D b D c?

13.7 Multipolmomente und Wahl des Koordina- 13.11 Sphärische Multipolmomente und Potenzial
tensystems Beweisen Sie: Beweisen Sie: Das elektrische Potenzial hat genau dann die
Winkelabhängigkeit einer der Kugelflächenfunktionen, wenn
(a) Ist die Gesamtladung einer Ladungsverteilung null, so ist ihr dies auch für die Ladungsverteilung (mit derselben Kugelflä-
(kartesisches) Dipolmoment unabhängig von einer Verschie- chenfunktion) gilt.
bung des Koordinatensystems. Lösungshinweis: „Genau dann“ bedeutet Äquivalenz beider
(b) Sind die Gesamtladung und das Dipolmoment einer La- Aussagen, es sind also beide Richtungen der Behauptung zu zei-
dungsverteilung null, so ist ihr (kartesisches) Quadrupolmo- gen.

Teil II
ment unabhängig von einer Verschiebung des Koordinaten-
systems. 13.12 Vektorwertiges Oberflächenintegral Bewei-
sen Sie folgende Formel, bei der über die Oberfläche einer
Kugel mit Radius R um den Ursprung integriert wird, wobei der
13.8 Kartesische Multipolmomente: Ladungen im bei der Integration festgehaltene Ort r0 innerhalb oder außerhalb
Quadrat Gegeben sei eine Ladungsverteilung aus vier Punkt- der Kugel liegen kann:
ladungen vom Betrag q0 , die sich an den Ecken eines Quadrates I
der Seitenlänge 2a befinden, dessen Mittelpunkt der Ursprung 3 1 r0
df 0
D : (13.213)
ist und dessen Seiten parallel zu den Koordinatenachsen liegen. 4 R3 jr  r j Œmax.r0 ; R/3
Das Vorzeichen der Punktladung sei positiv am Punkt .a; a/ rDR

und wechsle von Ecke zu Ecke ab. Ermitteln Sie das elektri-
sche Potenzial dieser Ladungsverteilung bis einschließlich des Lösungshinweis: Verwenden Sie Kugelkoordinaten, bei denen
(kartesischen) Quadrupolmoments. die z-Achse in die Richtung von r0 zeigt, und die Entwicklung
von 1=jr  r0 j nach Kugelflächenfunktionen oder Legendre-Po-
13.9 Kartesische Multipolmomente: Quader In
lynomen.
einem Quader mit Seitenlängen 2a, 2b und 2c, dessen Mit-
telpunkt der Ursprung ist und dessen Kanten parallel zu den 13.13 Sphärische und kartesische Multipolmomen-
Achsen liegen, sei die Ladungsdichte proportional zu zn (n te Ermitteln Sie die Zusammenhänge zwischen den kartesi-
sei eine nicht negative ganze Zahl) und habe bei z D c den schen und den sphärischen Multipolmomenten bis einschließ-
Wert 0 , sei aber unabhängig von x und y. Ermitteln Sie die lich des Quadrupolmoments.
(kartesischen) Multipolmomente dieser Ladungsverteilung bis
einschließlich des Quadrupolmoments. Lösungshinweis: Benutzen Sie die expliziten Ausdrücke für
die Kugelflächenfunktionen Ylm bis zu l D 2.
Lösungshinweis: Unterscheiden Sie die beiden Fälle, dass n
eine gerade bzw. eine ungerade Zahl ist. 13.14 Sphärische Multipolmomente: Kreisscheibe
Bei einer Ladungsverteilung sei die Ladungsdichte nur ungleich
13.10 Kartesische Multipolmomente: Pyramide null in einer Kreisscheibe mit Radius r0 in der x-y-Ebene um den
Eine homogene Ladungsverteilung (Ladungsdichte 0 ) habe Ursprung. In dieser Kreisscheibe habe die Flächenladungsdich-
die Form einer dreiseitigen Pyramide mit den Eckpunkten te den Wert 0 . Ermitteln Sie die sphärischen Multipolmomente
O.0I 0I 0/, A.aI 0I 0/, B.0I bI 0/ und C.0I 0I c/ (siehe Abbil- dieser Ladungsverteilung.
dung).
Lösungshinweis: Benutzen Sie Eigenschaften der Kugelflä-
chenfunktionen bzw. der (zugeordneten) Legendre-Funktionen
z aus diesem Kapitel und der mathematischen Literatur.
13.15 Sphärische Multipolmomente: Kreislinie Ei-
ne Ladungsverteilung sei nur ungleich null auf einer Kreislinie
mit Radius r0 in der x-z-Ebene um den Ursprung. Die Kreis-
c linie habe die Linienladungsdichte 0 . Begründen Sie: Die
sphärischen Multipolmomente dieser Ladungsverteilung ver-
schwinden nur dann nicht, wenn l und m beide gerade Zahlen
sind.
Lösungshinweis: Benutzen Sie Eigenschaften der Kugelflä-
b
a chenfunktionen bzw. der (zugeordneten) Legendre-Funktionen
x y aus diesem Kapitel und der mathematischen Literatur.
476 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben

13.1 Die räumliche Fourier-Transformierte ist Mithilfe der Regel für die Fourier-Transformierte einer ver-
Z schobenen Funktion erhält man
Qf .k/ D  1  d3 x f .r/eikr n r  
p 3 X 2 sin kx20 ij.x0 Cd/k
2 fQn .k/ D  e : (13.220)
Z (13.214) jDn
k
1
D p 3 d3 x f .r/eikr cos ˛ Den konstanten Faktor kann man vor die Summe ziehen und
Teil II

2 bei der Summationsvariable das Vorzeichen vertauschen,


ohne etwas an der Summe zu ändern:
für eine sphärisch symmetrische Funktion f , wobei k D jkj und r   n
sin kx20 X
r D jrj gesetzt wurde und ˛ der Winkel zwischen diesen beiden Qfn .k/ D  2 eij.x0 Cd/k : (13.221)
Vektoren ist. Wegen der Symmetrie kann man das Koordinaten- k jDn
system zur Integration aber immer so legen, dass ˛ gleich dem Damit ist also
Winkel # von r zur z-Achse ist. Somit ist  kx0 
Z1 X
n
sin
Z1 Z2 Z1 fn .x/ D  2
eij.x0 Cd/k eikx dk: (13.222)
1 k
fQ .k/ D p 3 r2 dr f .r/ d' d cos # eikr cos # : 1 jDn

2 0 0 1 (b) In der Exponentialdarstellung der Fourier-Reihe ergeben


(13.215) sich die Koeffizienten laut (8.84) folgendermaßen:
Diesem Ausdruck sieht man bereits direkt an, dass er nur noch x0Z
=2Cd
von k D jkj abhängt, aber nicht von der Orientierung von k, also 1
cm D f .x/e2 imx=.x0 Cd/ dx; (13.223)
sphärisch symmetrisch ist. Man kann ihn allerdings noch weiter x0 C d
x0 =2
auswerten:
wobei hier c D x0 =2 gewählt wurde und
Z1
Qf .k/ D p1 eikr  eikr 2 2
r2 dr f .r/ !D D (13.224)
2 ikr T x0 C d
0
(13.216) ist. Da im gewählten Integrationsbereich f .x/ nur zwischen
Z1  
2 x x0 =2 und x0 =2 von null verschieden ist und dort den Wert
D p xf sin x dx; 1 hat, haben wir
2 k3 k
0
Z
x0 =2
1
wobei noch x D kr substituiert wurde. cm D e2 imx=.x0 Cd/
dx
x0 C d
x0 =2 (13.225)
13.2  
1 2 mx0
D sin
(a) Definiert man zur Abkürzung m 2.x0 C d/
und mit (8.83) die Fourier-Reihendarstellung
1 für  x0 =2  x  x0 =2  
g.x/ D ; (13.217) 1
X 1 2 mx0
0 sonst imx=.x0 Cd/
f .x/ D  sin e2 :
mD1
m 2.x0 C d/
so kann man schreiben: (13.226)
(c) Mit den beiden Darstellungen für f .x/ aus Teilaufgabe (a)
X
n
f .x/ D g.x  j.x0 C d//: (13.218) und (b) muss gelten:
Z1   1
jDn sin kx20 X ij.x0 Cd/k ikx
 e e dk
k jD1
Berechnen wir zunächst die Fourier-Transformierte von g: 1 (13.227)
X1  
xZ0 =2 r  kx0  1 2 mX0 2 imX
D sin e ;
1 ikx 2 sin m 2
gQ .k/ D p e dx D  2
: (13.219) mD1
2 k
x0 =2 wobei zur Abkürzung X D x=.x0 C d/ eingeführt wurde.
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 477

Multiplizieren wir nun beide Seiten mit  und ersetzen 13.4


k D k0 =.x0 C d/. Dies führt auf
0 1
Z1  0  1 (a) Mit derselben Parametrisierung des Integrals wie in der vor-
1 k X0 ik0 X @ X ijk0 A 0 herigen Aufgabe ergibt sich
sin e e dk
k0 2 jD1
1 (13.228)
1   I Za Za
X 1 2 mX0 2 imX 1 1 1
D2 sin e : dz D  dx  i dy
2 m 2 z x C ia a C iy
mD1 a a
Za Za
Auf der rechten Seite der Gleichung wurde dabei noch ein 1 1
Faktor 2 vor die Summe gezogen. Vergleicht man die bei- C dx C i dy
x  ia a C iy
den Seiten, so sieht man, dass vom Integral über k0 nur eine a a

Teil II
Za Za (13.233)
Summe über die diskreten Werte 2 m übrig bleibt. Also gilt
2ia 2ia
D dx C dy
1
X 1
X   x2 C a2 y2 C a2
ijk0
e D2 ı k0  2 m : (13.229) a a

jD1 mD1 Z1
du
D 4i ;
Dies war zu zeigen. u2 C 1
1

13.3 wobei x D au bzw. y D au substituiert wurde. Dieses Inte-


gral kann elementar ausgewertet werden:
(a) Die vier Seiten des Quadrats (startend beim Punkt .a; a/ der
komplexen Ebene, im mathematisch positiven Sinn) sind be-
schrieben durch Z1
du
4i D 4i Œarctan u11 D 2 i: (13.234)
z D x C ia mit  a  x  a; u2 C1
1
z D a C iy mit  a  y  a;
(13.230)
z D x  ia mit  a  x  a; (b) Der Residuensatz ergibt
z D a C iy mit  a  y  a:
I
1 1
Damit ist dz D 2 i Res0 D 2 i; (13.235)
z z
I Za Za
z dz D .x C ia/ dx C .a C iy/i dy da das Residuum an der einzigen Polstelle z1 D 0 innerhalb
a a
des Quadrats gleich 1 ist.
Za Za
C .x  ia/ dx C .a C iy/i dy
13.5 Wie im Beispiel in Abschn. 13.2 wird zunächst das Inte-
a a
gral entlang der reellen Achse von R bis R betrachtet und der
Za Za
Integrationsweg mit einem Halbkreis in der oberen Halbebene
D .x C ia/ dx  .a C iy/i dy (13.231) um den Ursprung geschlossen (alternativ kann auch ein Halb-
a a kreis in der unteren Halbebene benutzt werden, wobei dann aber
Za Za auf das entgegengesetzte Vorzeichen zu achten ist):
C .x  ia/ dx C .a C iy/i dy
a a ZR Z I
1 1 1
Za Za dzrA D dzHk C dzgW : (13.236)
1 C z4 1 C z4 1 C z4
D 2ia dx C 2ia dy D 0: R
a a
Wiederum wie im Beispiel kann man leicht argumentieren, dass
(b) Der Cauchy’sche Integralsatz ergibt direkt der Beitrag des Halbkreises für R ! 1 gegen 0 geht. Es bleibt
I also wieder
z dz D 0; (13.232)
Z1 I
1 1
da die Funktion f .z/ D z analytisch ist (innerhalb des Qua- dx D dzgW : (13.237)
drats, aber natürlich auch in der ganzen komplexen Ebene). 1 C x4 1 C z4
1
478 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

Das Integral über den geschlossenen Weg wird mit dem Residu- also ist s
ensatz ausgewertet. Der Integrand hat die Polstellen 1
p ex =2 :
2
h0 .x/ D (13.245)
1
z1 D e i=4
D p .1 C i/;
2 Um h1 zu erhalten, wird von f1 zunächst wieder der Teil abge-
1 zogen, der parallel zu h0 ist:
z2 D e 3 i=4
D p .1 C i/;
2
(13.238) hh0 ; f1 i
1 fN1 .x/ D f1 .x/  h0 .x/ D f1 .x/  hh0 ; f1 ih0 .x/; (13.246)
z3 D e 5 i=4
D p .1  i/; hh0 ; h0 i
2
1 da h0 bereits normiert ist. Mit
z4 D e7 i=4
D p .1  i/
2 Z1
Teil II

xex dx D 0
2
und lässt sich damit schreiben als hh0 ; f1 i / (13.247)
1 1 1
D : (13.239)
1 C z4 .z  z1 /.z  z2 /.z  z3 /.z  z4 / ergibt sich
fN1 .x/ D f1 .x/ D xex =2 :
2
Die Residuen der beiden Pole in der oberen Halbebene sind (13.248)
dann
Auch diese Funktion wird normiert:
1 z  z1
Resz1 D lim Z1 p
1 C z4 z!z1 .z  z1 /.z  z2 /.z  z3 /.z  z4 /
hfN1 ; fN1 i D x2 ex dx D
2
; (13.249)
1 2
D 1
.z1  z2 /.z1  z3 /.z1  z4 /
p
2 also s
D ; 2
4i.1 C i/ h1 .x/ D p xex =2 :
2
(13.250)
1 1
Resz2 D
1Cz 4 .z2  z1 /.z2  z3 /.z2  z4 / Mit
p
2 p p
4
D : 1
4i.1  i/ hh0 ; f2 i D p
4
D und hh1 ; f2 i D 0 (13.251)
2 2
(13.240)
Damit hat man erhält man  
Z1   Nf2 .x/ D x2  1 ex2 =2 (13.252)
1 1 1 2
dx D 2 i Res z1 C Res z2
1 C x4 1 C z4 1 C z4
1 und mit
p   p
2 1 1 2 Z1   p
D C D : 1 x2
2 1Ci 1i 2 hfN2 ; fN2 i D x x C
4 2
e dx D (13.253)
(13.241) 4 2
1
13.6 Für die Berechnung der Integrale benötigt man die allge-
meinen Formeln
dann s  
2 1 x2 =2
Z1 h2 .x/ D p x2  e : (13.254)
2
x2nC1 ex dx D 0
2
(13.242)
1 Schließlich ergibt sich aus
(wegen Symmetrie) und fN3 .x/ D f3 .x/  hh0 ; f3 ih0 .x/
(13.255)
Z1  hh1 ; f3 ih1 .x/  hh2 ; f3 ih2 .x/
.2n  1/ŠŠ p
x2n ex dx D
2
; (13.243)
2n zunächst  
1 3
fN3 .x/ D x3  x ex =2
2
(13.256)
die man leicht in Formelsammlungen findet. Zunächst wird die 2
Funktion f0 normiert: und dann
Z1  
p 2 3
x  x ex =2 :
2
hf0 ; f0 i D ex2
dx D ; (13.244) h3 .x/ D p p 3
(13.257)
3 2
1
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 479

13.7 Auch die x-Komponente des Dipolmoments verschwindet:


Z
(a) Das Dipolmoment ist p1 D x .r/ dV D aq0  .a/q0 C .a/q0  aq0 D 0;
Z (13.267)
pD dV r .r/: (13.258) ebenso p2 D 0. Wegen der Deltafunktion in z ist außerdem auch
p3 D 0. Für die Diagonalelemente des Quadrupoltensors hat
Unter einer Verschiebung des Koordinatensystems um r0 hat man Z
 2 
man Q11 D 3x  r2 .r/ dV
0
.r/ D .r  r0 / (13.259) Z
 2 
D 2x  y2  z2 .r/ dV;
und damit
Z (13.268)
Z Z  2 

Teil II
Q22 D 2y  x2  z2 .r/ dV;
p0 D dV r 0 .r/ D dV r .r  r0 /
Z
Z (13.260)  2 
Q33 D 2z  x2  y2 .r/ dV:
D dV 0 .r0 C r0 / .r0 /;
Wir berechnen zunächst
wobei r0 D r  r0 gesetzt und dV D dV 0 ausgenutzt wurde. Z Z Z
Dies ergibt aber x2 .r/ dV D y2 .r/ dV D z2 .r/ dV D 0 (13.269)
Z Z
(das letzte Integral ergibt sich wieder sofort wegen der Delta-
p0 D dV 0 r0 .r0 / C r0 dV 0 .r0 / D p C qr0 : (13.261)
funktion in z) und damit

Ist die Gesamtladung q D 0, so ist damit in der Tat p D p0 . Q11 D Q22 D Q33 D 0: (13.270)
(b) Die Komponenten des Quadrupolmoments sind Aus dem gleichen Grund erhält man außerdem sofort
Z
  Q13 D Q23 D 0: (13.271)
Qij D .r/ 3xi xj  r2 ıij dV: (13.262)
Letztlich bleiben als einzige nicht verschwindende Komponen-
Unter einer Verschiebung des Koordinatensystems erhält ten
Z
man wie eben
Q12 D Q21 D 3xy .r/ dV D 12a2 q0 : (13.272)
Z 
Q0ij D .r0 / 3.x0i C x0;i /.xj0 C x0;j / Damit ist das elektrische Potenzial bis einschließlich des Qua-
 (13.263) drupolanteils
 .r0 C r0 /2 ıij dV 0 : 0 10 1
1 0 12a2q0 0 x
Löst man die Klammern auf und integriert die Summanden .r/ D 5 .x; y; z/> @ 12a2q0 0 0 A@ y A
2r 0 0 0 z
einzeln, führt dies auf
xy sin2 # sin.2'/
Q0ij D Qij C .3x0;i pj C 3pi x0;j  2p  r0 ıij / D 12a2 q0 D 6a 2
q 0 : (13.273)
(13.264) r5 r3
C .3x0;i x0;j  r20 ıij /q:
13.9 Die Ladungsdichte ist
Verschwinden Gesamtladung q und Dipolmoment p, so ist 8  n
ˆ z
< 0 c für  a  x  a; b  y  b;
damit in der Tat Q0 D Q.
.r/ D c  z  c : (13.274)
:̂0 sonst
13.8 Die Ladungsdichte ist
Für die Gesamtladung erhält man zunächst
.r/ D q0 ı.z/ Œı.x  a/ı.y  a/  ı.x C a/ı.y  a/ Z Zc
(13.265) 1
C ı.x C a/ı.y C a/  ı.x  a/ı.y C a/ : qD .r/ dV D 2a  2b  0  n zn dz
c
c (13.275)
Für das Monopolmoment, also die Gesamtladung, ergibt sich (
damit sofort das offensichtliche Ergebnis
8abc0
D nC1 für gerade n
V0
D nC1 ;
Z 0 für ungerade n
qD .r/ dV D q0  q0 C q0  q0 D 0: (13.266) wobei V das Volumen des Quaders ist.
480 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

Wegen der Unabhängigkeit der Ladungsdichte von x und y sind 13.10 Die hier auftretenden Integrale können alle folgenderma-
bei p1 und p2 die Integranden jeweils ungerade Funktionen in x ßen geschrieben werden:
bzw. y, und man erhält sofort
b ba x c ac x bc y
Z Za Z Z
p1 D p2 D 0: (13.276) dV D dx dy dz
0 0 0
Bei p3 ist wieder eine Fallunterscheidung nötig: Z1 Z 0
1x 0
Z y
1x 0

D abc dx0 dy0 dz0


Z Zc
1 0 0 0
(13.282)
p3 D z .r/ dV D 2a  2b  0  znC1 dz 0 0 0
cn Z1 Z
1y Z z
1y
Teil II

c
( (13.277) D abc dy0 dz0 dx0
0 für gerade n
D 8abc2 0 : 0 0 0
nC2
D V0 c
nC2
für ungerade n Z1 Z 0
1z Z 0 x0
1z

D abc dz0 dx0 dy0 ;


Für die Komponenten des Quadrupoltensors hat man zunächst 0 0 0
bei geraden n
wobei x0 D x=a, y0 D y=b und z0 D z=c substituiert wurden
Z 2 2
V 0a qa und die letzten beiden Zusammenhänge aus Symmetriegründen
x2 .r/ dV D D ; gelten. Damit hat man zunächst für die Gesamtladung
3.n C 1/ 3
Z
qb2
y2 .r/ dV D ; (13.278) Z1 Z 0
1x 0
Z y
1x 0
3
Z q D abc dx0 dy0 dz0
V 0 c2 nC1 2 0
z2 .r/ dV D D qc
nC3 nC3 0 0 0

Z1 Z 0
1x

und damit D abc 0 dx0 dy0 .1  x0  y0 /


0 0
 (13.283)
2a2  b2 n C 1 2 Z1  
Q11 Dq  c ; 1
3 nC3 D abc 0 dx0 .1  x0 /.1  x0 /  .1  x0 /2
2
 2 0
2b  a2 n C 1 2
Q22 Dq  c ; (13.279) Z1
3 nC3 1 1
D abc 0 dx0 .1  x0 /2 D abc 0  DV 0;
 2 6
n C 1 2 a2 C b2 0
Q33 Dq 2 c  :
nC3 3
wobei man das Volumen V D abc=6 der Pyramida auch ele-
mentargeometrisch berechnen kann.
Bei ungeraden n ist dagegen
Die x-Komponente des Dipolmoments ist entsprechend
Q11 D Q22 D Q33 D 0: (13.280)
0 0
Z1 Z 0
1x Z y
1x
0 0
Für die Nicht-Diagonalelemente ergibt sich p1 D abc dx dy dz0 ax0 0
0 0 0
(13.284)
Q12 D Q13 D Q23 D 0 (13.281) 2 Z1 2
a bc a bc qa
dx0 x0 .1  x0 /2 D
0 0
D D
2 24 4
für alle n, da immer Integranden auftreten, die ungerade in x 0
bzw. in y sind.
und aus Symmetriegründen
Das elektrische Potenzial hat für gerade n also einen Monopol-
und einen Quadrupolanteil, für ungerade n dagegen nur einen qb qc
Dipolanteil. p2 D ; p3 D : (13.285)
4 4
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 481

Für den Quadrupoltensor berechnen wir wieder erst so gilt dies auch für die Ladungsverteilung. Dies folgt direkt aus
der Poisson-Gleichung und daraus, dass die Kugelflächenfunk-
Z
qa2 tionen Eigenfunktionen zum Laplace-Operator sind:
x2 .r/ dV D ;
10
Z 
qb2 .r/ D  .r/
y2 .r/ dV D ; (13.286) 4
Z
10 r N .r/  Ylm .#; '/ N
qc2 D Ylm .#; '/  .r/
z2 .r/ dV D 4 4 r2 (13.292)
10 r2 r N .r/ C l.l C 1/ N .r/
D Ylm .#; '/
und damit 4 r2
q.2a2  b2  c2 / D N.r/Ylm .#; '/:
Q11 D ;

Teil II
10
q.2b2  c2  a2 / Nun zeigen wir die andere Richtung: Hat die Ladungsverteilung
Q22 D ; (13.287) die Winkelabhängigkeit einer der Kugelflächenfunktionen,
10
q.2c2  a2  b2 /
Q33 D : .r/ D N.r/Ylm .#; '/; (13.293)
10
Die Nicht-Diagonalelemente sind etwas aufwendiger zu berech- so gilt dies auch für das Potenzial. Dies folgt aus der Multi-
nen, hier beispielhaft polentwicklung und der Orthogonalität der Kugelflächenfunk-
tionen:
Z1 Z 0
1x Z1
0 0 4
dy0 y0 .1  x0  y0 /
0
Q12 D 3a b c
2 2
0 dx x ql0 m0 D r02 dr0 N .r0 /r0l
2l0 C 1
0 0 0
Z
Z1 
1  d Ylm .# 0 ; ' 0 /Yl0 m0 .# 0 ; ' 0 /
0
(13.294)
D 3a2 b2 c 0 dx0 x0 .1  x0 / .1  x0 /2
2
0 Z1
4 0
1 (13.288) D dr0 N .r0 /r0l C2 ıll0 ımm0 ;
 .1  x0 /3 2l0 C 1
3 0

Z1
a2 b2 c 0 also
D dx0 x0 .1  x0 /3
2 1 0
0 X 1 X
l
4
.r/ D ıll0 ımm0 Yl0 m0 .#; '/
a2 b2 c 0 1 3qab rl0 C1 2l0C1
D  D Z
l0 D0 m0 Dl0
2 20 20 0
 dr0 N.r0 /r0l C2 (13.295)
und aus Symmetriegründen R 0
4 dr N .r0 /r0lC2
qac qbc D Ylm .#; '/
Q13 D ; Q23 D : (13.289) 2l C 1 rlC1
20 20 D N .r/Ylm .#; '/:

Für a D b D c hat man speziell 13.12 In Kugelkoordinaten ist das Oberflächenelement in


(13.213) durch
Q11 D Q22 D Q33 D 0; (13.290)
3qa 2 df D R2 d eO r
Q12 D Q13 D Q23 D :  
20 D R2 d sin # cos ' eO x C sin # sin ' eOy C cos # eO z
(13.296)
Der Quadrupoltensor hat in diesem Fall also nur Komponenten
außerhalb der Diagonalen. gegeben. Wenn r0 auf der z-Achse liegt, kann die Entwicklung
13.11 Zunächst zeigen wir: Hat das Potenzial die Winkelab- (13.193) mit ˛ D # verwendet werden:
hängigkeit einer der Kugelflächenfunktionen, 1
1 X rl
<
D P .cos #/:
lC1 l
(13.297)
.r/ D N .r/Ylm .#; '/; (13.291) jr  r0 eO z j r
lD0 >
482 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

Die '-Integration verschwindet für die Beiträge proportional zu entsprechend r


R2 R2
eO x und eOy wegen 0 cos ' d' D 0 sin ' d' D 0. Auszuwer- 2
ten bleibt q1;1 D .p1 C ip2 /: (13.304)
3
I
1 Auf ähnliche Weise erhält man dann auch
df
jr  r0 eO z j r
rDR
(13.298) q20 D Q33 ;
1
X l Z1 5
r< r
D 2 R eO z
2
lC1
cos # Pl .cos #/d.cos #/: 2
lD0 r> q21 D  .Q13  iQ23 /;
1 15
r
2
Da cos #  P1 .cos #/ ist, liefert das verbleibende Integral mit q2;1 D .Q13 C iQ23 /; (13.305)
Teil II

(13.91) 15
r
1 q22 D .Q11  Q22  2iQ13 /;
X l
r< 2 4 2 r< 30
2 R2 eO z ıl1 D R eO z 2 ; (13.299) r
lC1
lD0 r>
2l C 1 3 r>
q2;2 D .Q11  Q22 C 2iQ13 /:
30
wobei r< D min.R; r0 / und r> D max.R; r0 / ist. Wird eO z wieder
allgemeiner als r0 =r0 geschrieben, so erhalten wir 13.14 Die Ladungsdichte ist
8
I ˆR
0 < für r0 > R ı.cos #/
1 4 2r 02 .r/ D 0 (13.306)
df 0
D R 0 rr0 : (13.300) r
jr  r j 3 r :̂ 0
für r < R
rDR
R2 für r  r0 und ansonsten null. Damit hat man
Damit hat man das angegebene Ergebnis (13.213).
Zr0 Z2 Z1
4 0
13.13 Zunächst hat man für das Monopolmoment qlm D 2
r dr r l1
d' d cos #
2l C 1
Z 0 0 1
4 
q0 0 D dV 0 .r0 /r00 Y00

.# 0 ; ' 0 /  ı.cos #/Ylm .#; '/: (13.307)
20C1
Z r (13.301)
0 0 1 p Die Integrale über r und # können sofort ausgeführt werden:
D4 dV .r / D 4 q:
4
Z2
4 0 r0lC2 
Bei den Dipolmomenten ist qlm D d' Ylm . =2; '/: (13.308)
.2l C 1/.l C 2/
Z 0
4
q1 0 D dV 0 .r0 /r01 Y10

.# 0 ; ' 0 /
21C1 Für das Integral über ' beachte, dass die '-Abhängigkeit von
Z r
4 3 Ylm allein in dem Faktor eim' steckt. Wegen
D dV 0 .r0 /r0 cos # 0 (13.302)
3 4
r Z r Z2
4 4
D dV 0 .r0 /z0 D p3 eim' d' D 2 ım 0 (13.309)
3 3
0

und
folgt sofort, dass qlm D 0 ist für alle m ¤ 0 und
Z r
4 3 0
q1 1 D  dV 0 .r0 /r0 sin # 0 ei' 8 2 0 r0lC2
r
3 8 ql0 D Y  . =2; 0/
Z .2l C 1/.l C 2/ l0
2 (13.310)
D dV 0 .r0 /r0 sin # 0 .cos ' 0  i sin ' 0 / r
3 2 0 r0lC2 4
r Z D Pl .0/:
2 lC2 2l C 1
D dV 0 .r0 /.x0  iy0 /
3
r Für die weitere Auswertung benutzt man zunächst, dass für
2 ungerade l die Legendre-Funktionen Pl ungerade Funktionen
D .p1  ip2 /I (13.303)
3 sind, also Pl .0/ D 0 gilt. Für gerade l kann man dagegen
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 483

beispielsweise folgende Formel benutzen, die man in der ma- gilt, folgt sofort, dass qlm D 0 für alle ungeraden m und dass
 
thematischen Literatur findet: man für gerade m die Summe Ylm .#; 0/ C Ylm .#; / durch
   s
1 X
l=2
l 2l  2k 2l C 1 .l  m/Š m
Pl .x/ D .1/ k
xl2k : (13.311) 
2l kD0 k l 2Ylm .#; 0/ D2 P .cos #/ (13.318)
4 .l C m/Š l

Für x D 0 bleibt nur der Summand mit k D l=2 übrig, also


ersetzen kann. Im Folgenden beschränken wir uns auf gerade m
  und haben somit
.1/ l=2
l
Pl .0/ D : (13.312)
2l l=2 s Z1
4 .l  m/Š d cos # m
Schließlich bleibt für gerade l: qlm D 20 r0lC1 P .cos #/

Teil II
2l C 1 .l C m/Š sin # l
1
r  
2 0 r0lC2 4 .1/l=2 l s Z1
ql0 D : (13.313) 4 .l  m/Š P m .x/
lC2 2l C 1 2l l=2 D 20 r0lC1 dx p l :
2l C 1 .l C m/Š 1  x2
1
Alle anderen Multipolmomente verschwinden.
(13.319)
13.15 Die Ladungsdichte ist
Für ungerade l sind die Legendre-Polynome Pl ungerade Funk-
ı.r  r0 / .ı.'/ C ı.'  // tionen. Wegen (13.161) gilt dies bei geradem m auch für die
.r/ D 0 : (13.314) zugeordneten Legendre-Funktionen. Für ungerade l verschwin-
r sin #
det also das Integral und damit qlm .
Eingesetzt in die allgemeine Gleichung für die sphärischen Mul-
Anmerkung: Zumindest für m D 0 kann man das Integral auch
tipolmomente (13.196) ist zunächst
exakt auswerten; es gilt nämlich (Gradshteyn & Ryzhik 1994):
Z1 Z2
4 0 Z1  2
qlm D r2 dr rl1 ı.r  r0 / d' .1=2 C n/
2l C 1 .1  x2 /1=2 P2n .x/dx D (13.320)
0 0 nŠ
(13.315)
Z1 1
d cos # 
 .ı.'/ C ı.'  // Ylm .#; '/:
sin # für alle natürlichen Zahlen n. (Die Gammafunktion .x/ wird
1
im „Mathematischen Hintergrund“ 32.1 ausführlicher disku-
Die Integrale über r und ' können sofort ausgeführt werden: tiert.) Benutzt man außerdem noch, dass für die Gammafunktion

Z1 .2n C 1/ŠŠ .2n C 1/ŠŠ p


4 0 r0lC1 d cos #   
 .1=2 C n/ D .1=2/ D ; (13.321)
qlm D Ylm .#; 0/ C Ylm .#; / : 2n 2n
2l C 1 sin #
1
(13.316) gilt, so erhält man schließlich
Für die weitere Auswertung dieses Ausdrucks beachtet man zu-
nächst, dass der von ' abhängige Anteil von Ylm durch eim' s  2
gegeben ist. Da aber 4 3 .l C 1/ŠŠ
ql 0 D 2 1l
0 r0lC1 (13.322)
2l C 1 .l=2/Š
2 für gerade m
eim0 Ceim D 1 C.1/m D (13.317)
0 für ungerade m für alle geraden l.
484 13 Vollständige Funktionensysteme: Fourier-Transformation und Multipolentwicklung

Literatur

Gradshteyn, I.S., Ryzhjk, J.M.: Table Of Integrals, Series, And


Products. 5. Aufl., Academic Press, New York (1994)
Wangsness, R.K.: Electromagnetic Fields. 2. Aufl., Wiley, Ho-
boken (1986)
Teil II
Elektrische Felder in Materie
14
Wie kommt man der
Komplexität von
Ladungsverteilungen auf

Teil II
atomarer Ebene bei?

Wie reagiert nicht leitende


Materie auf elektrische
Felder?

Wie setzt man vollständige


Funktionensysteme zur
Lösung von Rand-
wertproblemen ein?

Wie verallgemeinern sich


Energiebetrachtungen in
Anwesenheit von Materie?

Warum wird ein


Dielektrikum in einen
Kondensator hinein-
gezogen?

14.1 Makroskopische Elektrostatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486


14.2 Anschlussbedingungen an Grenzflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
14.3 Potenzialgleichung in Dielektrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492
14.4 Elektrostatische Energie in linearen Medien . . . . . . . . . . . . . . . 495
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 503
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 485
486 14 Elektrische Felder in Materie

Die Maxwell-Gleichungen, wie wir sie bis jetzt diskutiert haben, Damit erfüllen die gemittelten Größen dieselben Maxwell-
sind fundamentale, auf mikroskopischem Niveau gültige Grundglei- Gleichungen wie die mikroskopisch vorhandenen.
chungen. Sobald man es mit makroskopischen Körpern zu tun hat,
In diesem Kapitel werden wir ausschließlich Fälle betrachten,
sind die tatsächlichen auf atomarer oder molekularer Ebene vor-
in denen abgesehen von thermischen und Quantenfluktuatio-
liegenden Ladungsverteilungen natürlich viel zu komplex, als dass
nen keine Zeitabhängigkeit im Spiel ist, und damit die auf
man direkt mit ihnen Berechnungen anstellen könnte. Zudem sind
mikroskopischer Ebene vorhandene Zeitabhängigkeit nach der
alle mikroskopischen Ladungsträger in permanenter thermischer
Mittelung verschwindet und so auf den linken Seiten von (14.1)
Bewegung. Eine Beschreibung mit den Methoden der Elektrostatik
bis (14.3) das Argument t wegfällt. Später werden wir aber
kann also nur im Mittel gültig sein.
die Verallgemeinerung auf eine zeitabhängige makroskopische
In Abschn. 14.1 werden wir eine entsprechende Mittelungsproze- Elektrodynamik betrachten, bei der die gemittelten Größen auch
dur einführen und dabei finden, dass das Verhalten von Materie in zeitabhängig sein dürfen, allerdings ebenfalls in geglätteter
Anwesenheit von elektrischen Feldern phänomenologisch durch Po- Form, ohne die mikroskopischen Zeitskalen.
Teil II

larisationsfelder und dielektrische Verschiebungsfelder beschrieben


Bei der Mittelung über Ladungsverteilungen und resultieren-
werden kann. In Kap. 15 werden wir dann sehen, dass sich dieser
de Felder ist es nützlich, mikroskopische Monopol- und Di-
Zugang auch auf die Magnetostatik und eine komplette makrosko-
polanteile voneinander zu unterscheiden. Wenn erstere auf
pische Elektrodynamik ausdehnen lässt.
makroskopischer Ebene vorhanden sind, dann sind sie als La-
Da Materie in der Wirklichkeit immer endliche Ausdehnung besitzt, dungsüberschüsse typischerweise makroskopisch verschiebbar,
kommt den Anschlussbedingungen an Grenzflächen von Materie während Dipolanteile typischerweise von in der Materie ge-
eine wichtige Rolle zu. Diese werden in Abschn. 14.2 hergeleitet, bundenen Ladungsträgern herrühren, die aber aufgrund äußerer
bevor die Methoden der Potenzialtheorie in Abschn. 14.3 auf den Felder kollektives Verhalten zeigen können.
Fall verallgemeinert werden, dass elektrisch polarisierbare Materie
Betrachten wir demgemäß einen aus vielen Atomen oder Mole-
vorhanden ist. In Abschn. 14.4 wird diskutiert, wie sich Energie-
külen zusammengesetzten Körper und entwickeln den Beitrag
betrachtungen in Anwesenheit von Materie im elektrostatischen
des j-ten Moleküls zum elektrostatischen Potenzial in einer
Fall verallgemeinern; die endgültige Verallgemeinerung in der vol-
Multipolentwicklung analog zu (13.110), wobei wir uns auf die
len Elektrodynamik ist Kap. 15 vorbehalten.
Dipolnäherung beschränken und Quadrupol- und höhere Beiträ-
ge vernachlässigen, die viel schneller abfallen:

1 1
14.1 Makroskopische Elektrostatik .j/
.r/ D q.j/ C p .j/  r .j/ C :::
jr  rj j jr  rj j
(14.4)
1 1
Ausmittelung der atomaren Strukturen D q.j/  p .j/  r C :::
jr  rj j jr  rj j

Um die atomaren Strukturen in den Ladungsverteilungen und Die mikroskopische Monopol- und Dipolladungsverteilung er-
den von ihnen erzeugten Feldern auszumitteln und durch ma- gibt sich durch Summation über alle Moleküle, die wir mit
kroskopisch glatte Funktionen darstellen zu können, führen wir X X
eine Mittelungsfunktion
R f .r0 / ein, die um r0 D 0 konzen- mol .r/ D q.j/ ı.rrj /; mol .r/ D p .j/ ı.rrj / (14.5)
triert ist, sodass dV f .r0 / D 1 gilt, während f verschwindet
0
j j
oder vernachlässigbar klein wird, sobald jr0 j einige Hundert
Atomabstände erreicht. Wichtig ist hierbei nur, dass die auf bezeichnen.
atomarer Größenordnung wild fluktuierenden Ladungsvertei- Das zum aufsummierten Potenzial gehörige elektrische Feld
lungen hinreichend geglättet werden, aber alle makroskopisch schreibt sich damit auf molekularer Ebene als
interessanten Variationen erhalten bleiben.
Z 00
mol .r / 1
Wir definieren damit für alle betrachteten Felder gemittelte Grö- Emol .r/ D r dV 00 00
 mol .r00 /  r
ßen wie folgt: jr  r j jr  r00 j
(14.6)
Z und gemittelt
h .t; r/i D dV 0 f .r0 / .t; r C r0 /; (14.1) Z Z 00
Z mol .r /
hEmol .r/i D dV 0 f .r0 / .r / dV 00
h .t; r/i D dV 0 f .r0 / .t; r C r0 /; (14.2) jr C r0  r00 j
(14.7)
Z 1
 mol .r00 /  r :
hE.t; r/i D dV 0 f .r0 / E.t; r C r0 /: (14.3) jr C r0  r00 j

Diese lineare Mitteilungsvorschrift ist offensichtlich mit Diffe- Wenn wir davon die Divergenz bilden, so können wir r .r / D
renziationen vertauschbar, also z. B. hr  E.t; r/i D r  hE.t; r/i.  auf 1=jr C r0  r00 j wirken lassen und unter Verwendung
14.1 Makroskopische Elektrostatik 487

von  jr C : : : j1 D 4 ı.r C : : :/ das r00 -Integral auswerten, Px ρP =−∂xPx


wobei Mittelungsintegrale der Form (14.1) resultieren:
Z
r  hEmol .r/i D dV 0 f .r0 /
Z  x

 dV 00 mol .r00 /  mol .r00 /  r 4 ı.r C r0  r00 /


x
D4 h mol .r/i  4 r  h mol .r/i: (14.8)
−+
− + −+
− + −+
− + −+
− + −+
− + − +

Wir haben damit h i für alle Moleküle durch eine Monopol- und −+
− + −+
−+ −+
− + −+
− + −+
− + ^
− +
=
eine Dipolladungsdichte repräsentiert. −+
−+ −+
−+ −+
−+ −+
−+ −+
−+ − +
−+
−+ −+
−+ −+
−+ −+
−+ −+
−+ − +

Teil II
Falls außerhalb der betrachteten Materie noch weitere La-
dungsverteilungen im Spiel sind, dann können wir wegen des Abb. 14.1 Ein elektrisch polarisierter Körper, bei dem mikroskopische elek-
Superpositionsprinzips deren Maxwell-Gleichung trische Dipole alle in einer Richtung ausgerichtet sind, hat ein im Inneren
konstantes P-Feld und eine an den Rändern konzentrierte Polarisationsladungs-
r  Eext .r/ D 4 ext .r/ (14.9) dichte P . Im Limes vernachlässigbar kleiner atomarer Längenskalen wird
letztere durch Deltafunktionen beschrieben
separat lösen und einfach addieren:

r  hE.r/i D 4 h .r/i D 4 Œh frei .r/i Ch mat .r/i ; (14.10) Da P nur in Anwesenheit von Materie auftritt, ist trivialerwei-
se der Fluss dieses Vektorfeldes durch eine geschlossene Fläche
wobei wir folgende Notationen eingeführt haben: @V, die im Vakuum verläuft und ein Materiestück komplett um-
schließt, null. Dies impliziert mit dem Gauß’schen Integralsatz
h frei .r/iD h mol .r/i C ext .r/; (14.11) I Z Z
h mat .r/i D r  h mol .r/i: (14.12)  df  P D  dV r  P D dV P D 0; (14.15)
@V V V
Die Bezeichnung „mat“ soll dabei daran erinnern, dass h mat .r/i
die in der Materie gebundene Ladungsverteilung repräsentiert, d. h., dass sich über das gesamte Material gerechnet positive und
während die Ladungsüberschüsse h mol .r/i sowie die externen negative Beiträge zur Polarisationsladungsdichte P die Waage
Ladungsverteilungen h ext .r/i nicht in dieser Weise gebunden halten – etwaige Überschussladung ist immer Teil der freien La-
sind. dungsdichte f .
Ist ein Körper durch eine konstante elektrische Polarisation cha-
rakterisiert, so verschwindet im Inneren P identisch und bildet
Phänomenologische Grundgleichungen eine deltafunktionsförmig auf der Oberfläche konzentrierte Po-
der Elektrostatik larisationsflächenladungsdichte als näherungsweise Beschrei-
bung der mikroskopischen Ladungsverteilungen (Abb. 14.1).

In der makroskopischen Formulierung werden wir im Folgen- Das gemittelte elektrische Feld erfüllt nun
den die Mittelungssymbole einfach weglassen und
div E D 4 . f C P/ D4 f  4 div P; (14.16)
hEi ! E; h frei i ! f
wobei P im Gegensatz zu den freien Ladungsdichten f nor-
malerweise nicht direkt vorgegeben werden kann, sondern sich
ersetzen, weil wir die auf mikroskopischer Ebene vorhandenen
unter dem Einfluss elektrischer Felder erst einstellt. Da P die
und dort stark fluktuierenden elektrischen Felder E und La-
Divergenz des Vektorfeldes P ist, kann es aber mit E kombiniert
dungsdichten nicht wirklich betrachten können.
werden.
Für die gemittelte Dipolladungsdichte führen wir die Bezeich-
nung
Phänomenologische Maxwell-Gleichungen
P.r/ WD h mol .r/i (14.13)
in der Elektrostatik
ein, wobei das Feld P elektrische Polarisation genannt wird. Durch Einführen des sogenannten dielektrischen Ver-
Die Größe h mat .r/i D r  h mol .r/i wird ab nun Polarisa- schiebungsfeldes
tionsladungsdichte heißen und mit P bezeichnet, sodass gilt:
D D E C 4 P; (14.17)
P D r  P: (14.14)
488 14 Elektrische Felder in Materie

Achtung Im SI-System, wo dem Vakuum formal eine Di-


kurz dielektrische Verschiebung, erhalten wir neue inho- elektrizitätskonstante 0 zugeordnet wird, wird das Verhältnis
mogene Maxwell-Gleichungen, in denen nur noch die  ŒSI =0 (D  im Gauß’schen System) relative Dielektrizitäts-
freie, nicht in Materie gebundene Ladungsverteilung als konstante oder Dielektrizitätszahl genannt und zur Unterschei-
Quelle auftritt, während die homogene Maxwell-Glei- dung mit r bezeichnet. Zu beachten ist auch, dass ŒSI
e D 4 e
chung weiterhin von E (nicht aber von D) erfüllt wird: gilt. J

div D D 4 f; (14.18) In linearen Medien und bei statischen Verhältnissen ist e im-
mer positiv und dementsprechend   1. Materalien mit  > 1
rot E D 0: (14.19)
nennt man Dielektrika. Sind in einem Medium innere Dipol-
Wie wir in Abschn. 15.7 noch diskutieren werden, bleibt momente bereits vorhanden, die ohne äußere Felder ungeordnet
(14.18) analog zu (11.28) auch im dynamischen, zeitab- sind und durch äußere Felder zunehmend ausgerichtet werden,
hängigen Fall gültig. (rot E D 0 ist dagegen der statische hat man es mit Orientierungspolarisation zu tun. Ein Beispiel
Teil II

Grenzfall des Faraday’schen Induktionsgesetzes und im hierfür ist Wasser – H2 O-Moleküle haben ein permanentes elek-
dynamischen Fall natürlich wieder durch (11.143) zu er- trisches Dipolmoment.
setzen.)
Wenn  1 ist und D; P als Funktionen von E nichtlineares
Verhalten zeigen, weil es zu spontanen kollektiven Ausrich-
In SI-Einheiten definiert man dagegen (siehe Aufgabe 14.1 für tungen der permanenten elektrischen Dipole kommen kann,
die Herleitung) spricht man von ferroelektrischen Medien, in Anlehnung an das
Phänomen des Ferromagnetismus (Kap. 15), wo sich magne-
DŒSI D 0 EŒSI C PŒSI ; (14.20) tische Dipole unterhalb einer kritischen Temperatur kollektiv
ausrichten können (auch wenn Eisen kein Beispiel für ein Ferro-
und die Maxwell-Gleichung für DŒSI lautet elektrikum ist). Ferroelektrizität wurde erst im 20. Jahrhundert
entdeckt, erstmals bei Seignettesalz, einem Salz der Weinsäure.
div DŒSI D f
ŒSI
: (14.21)
Ein anderer und allgemeiner möglicher Mechanismus zur Aus-
Die Grundgleichungen der makroskopischen Elektrostatik ha- bildung von elektrischer Polarisation ist die Deformationspo-
ben damit dieselbe Form wie in Kap. 12, nur haben wir nun larisation. Hierbei werden Dipolmomente durch Ladungsver-
doppelt so viele Felder (E und P bzw. E und D). Damit diese schiebungen auf atomarer oder molekularer Ebene generiert,
lösbar werden, brauchen wir weitere Gleichungen, phänomeno- entweder zusätzlich zu schon vorhandenen permanenten Dipol-
logische Materialgleichungen (auch konstitutive Gleichungen momenten oder auch wenn ohne äußere Felder die Moleküle
genannt), die P in elektrisch polarisierbarer Materie durch E unpolar sind. Während die Orientierungspolarisation stark tem-
(bzw. D durch E) bestimmen: peraturabhängig ist, da thermische Bewegung die Ausrichtung
von molekularen Dipolen durch äußere Felder stört, ist die
P D PŒE: (14.22) Deformationspolarisation weitgehend unabhängig von der Tem-
peratur.
Manchmal werden zur Unterscheidung von Deformations- und
Materialgleichungen für Dielektrika Orientierungspolarisation die Begriffe eigentlich dielektrisch
und paraelektrisch verwendet. Eigentlich dielektrische Substan-
Für die meisten Materialien gilt bei hinreichend schwachen und zen haben typischerweise  sehr nahe bei 1, während es Wasser
schwach veränderlichen äußeren elektrischen Feldern, dass die mit seinen polaren Molekülen bei Raumtemperatur auf den
Polarisation P linear mit E zunimmt. Für derartige lineare Me- vergleichsweise hohen Wert von  80 bringt. Der Begriff Pa-
dien definiert man die elektrische Suszeptibilität e durch raelektrikum ist aber üblicherweise reserviert für Substanzen,
in denen  1 ist und bei denen es bereits zu nicht linea-
P.r/ D e E.r/: (14.23) rem Verhalten kommt, aber noch ohne spontane Ausrichtung
der permanenten elektrischen Dipole. Ein Beispiel für eine sol-
Bei inhomogener Materie, wenn etwa die Dichte variiert, kann che Substanz ist Strontiumtitanat SrTiO3 mit   300.
e selbst eine Funktion von r sein, und bei anisotroper Materie
mit ausgezeichneten Raumrichtungen wie bei Kristallen kann
e ein Tensor sein, sodass Pi D .e /ij Ej gilt. Wir werden aller-
dings im Folgenden immer annehmen, dass e eine einfache Formel von Clausius-Mossotti
Materialkonstante ist.
Wenn P linear von E abhängt, dann gilt dies auch für die dielek- Eine Verbindung zwischen makroskopischer Polarisierbarkeit,
trische Verschiebung D: charakterisiert durch e , und einer mikroskopischen Polarisier-
D D .1 C 4 e /E  E; (14.24) barkeit ˛, definiert durch

wobei  Dielektrizitätskonstante genannt wird. pmol D ˛Eloc ; (14.25)


14.1 Makroskopische Elektrostatik 489

wobei Eloc das lokal auf ein Molekül wirkendes Feld ist, ergibt
sich dadurch, dass P D Nhpi mit N der Anzahl der Moleküle +++
++++++++++
pro Einheitsvolumen ist. Für das lokal wirksame Feld Eloc müs- +
+++ ++
++ +++
sen wir aber berücksichtigen, dass die induzierte Polarisation + +
eines Moleküls durch alle anderen Objekte mit Ausnahme des + +
+ +
betrachteten Moleküls verursacht wird. Wir werden dies nähe-
rungsweise berücksichtigen, indem wir eine kleine Kugel mit +
Radius R um das herausgegriffene Molekül bilden und dort die d

ansonsten homogen angenommene Polarisation P null setzen.
Wegen des Superpositionsprinzips können wir die zugehörige − −
− −
Feldstärke dadurch ausrechnen, dass wir das elektrische Feld − −
−− −−
einer homogen polarisierten Kugel in derem Ursprung ausrech- − − −−−
−−−− − −−−
−−−− −
nen und dies dann vom mittleren Feld E D P=e subtrahieren.

Teil II
−−

Feld in einer homogen polarisierten Kugel Abb. 14.2 Die Polarisationsladungsdichte einer homogen polarisierten
Kugel entspricht der Überlagerung von zwei homogen geladenen Ku-
Eine homogen polarisierte Kugel mit Radius R um den geln, deren Mittelpunkte leicht gegeneinander verschoben sind
Ursprung ist in Kugelkoordinaten gegeben durch
Wir brauchen also nur das Feld im Inneren einer homogen
P0 für r < R geladenen Kugel berechnen und zwei entgegengesetzt ge-
P D P0 .R  r/ D (14.26) ladene Konfigurationen entsprechend superponieren. Das
0 für r > R.
elektrische Feld einer kugelsymmetrischen Ladungsver-
Dies geht einher mit einer Polarisationsladungsdichte teilung ist radial gerichtet und im Abstand r durch die
eingeschlossene Ladung Q.r/ D .4 r3 =3/ 0 gegeben:
@
P D r  P D P0  rO .R  r/ r 4
@r (14.27) E˙ .r/ D ˙Q.r/ D˙ 0 r; r < R: (14.29)
D CP0  rO ı.r  R/: r3 3

Das zugehörige E-Feld könnte man im Prinzip direkt über Das Feld von zwei verschobenen Kugeln ist im Überlap-
(12.9) ausrechnen, was aber einigermaßen mühsam wird. pungsbereich
In Abschn. 14.3 werden wir den mathematischen Apparat 4
aus Kap. 13 dazu verwenden, um solche Probleme syste- EC .r  d=2/ C E .r C d=2/ D  d (14.30)
3
matisch anzugehen.
also völlig konstant. Mit P0 D 0 d bekommen wir dem-
Der Fall einer homogen polarisierten Kugel kann unter nach für das Feld im Inneren einer homogen polarisierten
Ausnutzung des Superpositionsprinzips aber auch direkt Kugel das bemerkenswerte Resultat, dass dieses dort kon-
und zudem physikalisch sehr anschaulich dadurch ge- stant ist, mit der Stärke
löst werden, dass wir zwei homogen geladene Kugeln
betrachten, die übereinanderliegen und entgegengesetzt 4
ED P: (14.31)
geladen, aber ein wenig gegeneinander verschoben sind. 3
Dann heben sich im Überlappungsbereich ihre Ladungen
(Ein ähnliches Ergebnis gilt auch für Ellipsoide, wie in
auf, aber an den Rändern bekommen wir eine Ladungs-
der relativ anspruchsvollen Aufgabe 14.8 gezeigt wird.)
verteilung, die im Grenzfall infinitesimaler Verschiebung
und gleichzeitig divergierender Ladungsdichte die dis- Der Wert des D-Feldes ist damit D D E C 4 P D
tributionelle Polarisationsladungsdichte (14.27) ergibt. C.8 =3/P. Obwohl ein permanent polarisierter Körper
(Abb. 14.2) (ein Elektret) ein stark nichtlineares Medium darstellt,
bei dem P, E und D nicht von vornherein parallel sein
Mit ˙ .r/ D ˙ 0 .R  r/ für die Ladungsverteilungen
müssen, ist dies beim Kugelelektreten (jedenfalls in Ab-
der noch unverschobenen Kugeln erhalten wir nämlich
wesenheit äußerer Felder) der Fall. J
für eine (infinitesimale) Verschiebung ihrer Mittelpunk-
te um ˙d=2
Frage 1
D C .r  d=2/ C  .r C d=2/
(14.28) Um zu würdigen, wie bemerkenswert das Ergebnis (14.31)
D  0 d  r .R  r/: ist, überlegen Sie qualitativ, wie die Felder E und D bei ei-
nem permanent polarisierten Quader oder Zylinder (wird als
Wir können somit P0 D 0d identifizieren. Stabelektret bezeichnet) in etwa aussehen, wenn P im Inneren
konstant ist. Denken Sie dabei daran, dass das E-Feld dem eines
490 14 Elektrische Felder in Materie

Kondensators mit eckigen bzw. runden Platten ähnlich ist (vgl. n


Lorrain et al. 1995, Abb. 9.4, für ein detailliertes Feldlinienbild). Fläche Δa

2
Mit dem Ergebnis (14.31) können wir unsere Betrachtungen zur Höhe
mikroskopischen Polarisierbarkeit fortsetzen. Um das am Ort Δh
eines Moleküls lokal wirksame Feld Eloc zu bestimmen, set-
zen wir dort das Polarisationsfeld null, indem wir das Feld einer 1
kleinen homogen polarisierten Kugel subtrahieren. Wir bekom-
men damit
4
Eloc D E C P (14.32) Abb. 14.3 Zur Herleitung der Anschlussbedingung für D
3
Teil II

und folglich
  In Dielektrika dagegen sind Ladungsverschiebungen auf ato-
4
P D N˛Eloc D N˛ E C P ; (14.33) mare Abstände beschränkt, sie sind daher Isolatoren. (Eine
3 eventuell vorhandene schwache Leitfähigkeit werden wir in die-
sem Kapitel vernachlässigen.) Elektrische Felder werden nicht
woraus wir komplett abgeschirmt, und demnach besteht kein Grund dafür,

PD E  e E (14.34) dass ihre Oberflächen Äquipotenzialflächen darstellen sollten.
1  4 N˛=3
erhalten. Mit  D 1C4 e liefert dies die sogenannte Clausius- Um die Anschluss- oder Übergangsbedingungen von Feldern an
Mossotti-Formel der Grenzfläche von Dielektrika zu bestimmen, gehen wir von
3 1 der Integralversion der Grundgleichungen der makroskopischen
˛D : (14.35) Elektrostatik aus.
4 N C2
Das Gauß’sche Gesetz für die freie Ladungsdichte lautet
Frage 2
Rechnen Sie diese nach! I Z
df  D D 4 dV f ; (14.36)
@V V
Wir haben in dieser Rechnung ignoriert, dass auf mikroskopi-
scher Ebene die Felder von benachbarten Molekülen ebenfalls und dies liefert eine Anschlussbedingung für das Feld D wie
Abweichungen vom mittleren Feld ergeben könnten. Tatsäch- folgt.
lich ging in obiger Rechnung nicht ein, wie groß nun der Radius
R der Kugel war, die wir aus dem Dielektrikum herausgeschnit- Wenn wir einen Punkt an einer Grenzfläche zweier Dielektrika
ten haben. Die Clausius-Mossotti-Formel ist daher auch nur betrachten (oder auch zwischen einem Dielektrikum und dem
gültig, wenn dies mikroskopisch deshalb zutrifft, weil entwe- leeren Raum), dann können wir ein infinitesimales Volumen um
der die Moleküle äußerst symmetrisch angeordnet sind und sich diesen Punkt legen, das, wie in Abb. 14.3 gezeigt, eine infinite-
diese Beiträge aus Symmetriegründen kompensieren, oder weil simale Fläche a aus der Grenzfläche beinhaltet und mit einer
die übrigen Moleküle so regellos verteilt sind, dass sich ihre infinitesimalen Höhe ˙h=2 beidseitig umschließt. Wenn n der
Beiträge wegmitteln. Normalenvektor auf der Grenzfläche ist, der von Medium 1 zu
Medium 2 zeigt, dann ist der Fluss von D durch die Oberfläche
durch n  .D2  D1 /a gegeben, weil auf der Seite von Medium
2 das vektorielle Flächenelement df proportional zu n und auf
14.2 Anschlussbedingungen der Seite von Medium 1 proportional zu n ist. D1 und D2 sind
hierbei die Grenzwerte von D, wenn man sich der Grenzfläche
an Grenzflächen von Medium 1 bzw. Medium 2 annähert (und keine Komponen-
ten!).
Wenn Materie vorhanden ist, haben wir es normalerweise mit
begrenzter Ausdehnung derselben und daher mit Grenzflächen Frage 3
zwischen Gebieten mit unterschiedlichen Materialkonstanten zu Überlegen Sie sich, dass nur die Deckflächen zum Nettofluss
tun. beitragen, wenn D innerhalb eines Mediums stetig und daher
Im Fall von elektrischen Leitern konnten wir das von ihnen ein- näherungsweise konstant ist.
geschlossene Volumen vom gesamten Raum subtrahieren, wo-
bei an den entstehenden Rändern die einfache Randbedingung
von Äquipotenzialflächen für das elektrostatische Potenzial zu Auf der rechten Seite von (14.36) bekommen wir 4 mal die
fordern war. infinitesimale Ladung Q D f ah. Im Limes a ! 0,
14.2 Anschlussbedingungen an Grenzflächen 491

h ! 0 ergibt dies n
Länge Δl
Z
h=2
2
n  .D2  D1 / D 4 lim f dh DW 4 f : (14.37)
h!0 Höhe Δh
h=2
t
Falls f eine kontinuierliche Ladungsverteilung ist, verschwin- 1
det im Limes h ! 0 die rechte Seite. Falls aber eine ı-förmig
auf der Grenzfläche lokalisierte freie Ladung vorliegt, gibt f
die entsprechende freie Flächenladungsdichte an.
Die Anschlussbedingung (14.37) besagt somit, dass die Nor- Abb. 14.4 Zur Herleitung der Anschlussbedingung für E
malkomponente von D stetig ist, falls keine freie Flächenla-

Teil II
dungsdichte f vorliegt. In Anwesenheit einer freien Flächenla-
dungsdichte wird die Diskontinuität in der Normalkomponente Die Anschlussbedingung, die wir aus rot E D 0 gefolgert
durch 4 f festgelegt. (In Analogie zur räumlichen Divergenz haben, gilt auch im allgemeinen dynamischen Fall mit Zeitab-
(14.18) wird dies gelegentlich als Flächendivergenz bezeichnet hängigkeiten. Wir hätten dann auf der rechten Seite von (14.39)
und DivD DW n  .D2  D1 / D 4 f geschrieben.) eigentlich die Zeitableitung des magnetischen Flusses durch die
infinitesimale Fläche F anschreiben müssen. Da wir aber die
An einer Grenzfläche von zwei Gebieten mit 1 6D 2 kommt es Situation betrachtet haben, wo @F entlang der Grenzfläche im
im Allgemeinen, auch wenn f D 0 ist, zu einer Diskontinuität Limes h ! 0 geführt wird und dabei die Fläche F ver-
in nE und nP, die mit einer Polarisationsflächenladungsdichte schwindet, bleibt es bei der Anschlussbedingung (14.41). Die
Anschlussbedingung für D hingegen hatten wir ohnehin aus der
P DW n  .P2  P1 / (14.38) (wie wir noch diskutieren werden) allgemeingültigen Gleichung
div D D 4 f und ihrer Integralversion (14.36) gefolgert. Beide
einhergeht (siehe (14.14)). Ein Beispiel dafür haben wir bereits Anschlussbedingungen gelten somit ganz allgemein an Grenz-
in Abb. 14.1 gesehen. flächen von Medien.
Eine weitere Anschlussbedingung, diesmal für das E-Feld, folgt
aus rot E D 0 und der entsprechenden Integralgleichung
I Anschlussbedingungen von D- und E-Feldern
dr  E D 0; (14.39) in der makroskopischen Elektrodynamik

@F An einer Grenzfläche von zwei Medien sind die Normal-


komponenten von D nur unstetig, wenn auf dieser eine
wobei wir, wie in Abb. 14.4 skizziert, einen infinitesimal kleinen freie Flächenladungsdichte f vorliegt:
geschlossenen Weg @F wählen, der im infinitesimalen Abstand
h=2 einmal oberhalb und einmal unterhalb der Grenzfläche n  .D2  D1 / D 4 f ; (14.42)
ein infinitesimales Stück l parallel zu dieser verläuft. Wenn
t einen Einheitsvektor in einer solchen Richtung tangential zur wobei n die Flächennormale ist, die von Medium 1 zu Me-
Fläche bezeichnet, führt dies auf die Bedingung dium 2 zeigt, und D1;2 der Vektor des D-Feldes an der
Oberfläche, wenn man sich dieser von Medium 1 bzw. 2
t  .E2  E1 / D 0: (14.40)
ausgehend nähert.
Dies gilt natürlich für eine beliebige Wahl einer tangentia- Die Tangentialkomponenten der E-Felder sind hingegen
len Richtung für die infinitesimale Rechteckschleife. Die For- immer stetig:
derung, dass für zwei unabhängige tangentiale Richtungen t
jeweils das Skalarprodukt mit .E2  E1 / verschwindet, ist äqui- n  .E2  E1 / D 0: (14.43)
valent zu der vektoriellen Gleichung

n  .E2  E1 / D 0; (14.41)

wobei n die Flächennormale ist. (Mit n von Medium 1 zu Medi- Feldlinienverlauf an Grenzflächen
um 2 zeigend wird diese Differenz der Tangentialkomponenten
von E an der Grenzfläche gelegentlich als Flächenrotation be-
zeichnet und Rot E D n  .E2  E1 / geschrieben. Um keine Betrachten wir die Grenzfläche von zwei isotropen Medien mit
Verwechslung mit gewöhnlicher Rotation und Divergenz, die Dielektrizitätskonstanten 1 und 2 , dann gilt auf den beiden
klein rot und div geschrieben werden, zu riskieren, werden wir Seiten der Grenzfläche jeweils
im Folgenden die Operatoren Flächenrotation und Flächendi-
vergenz aber nicht in dieser Form verwenden.) D1 .r/ D 1 E1 .r/; D2 .r/ D 2 E2 .r/: (14.44)
492 14 Elektrische Felder in Materie

D- und E-Felder zeigen also in gleiche Richtungen, haben aber 1 n 2


unterschiedliche Beträge. Wenn ˛1 und ˛2 die Winkel sind,
welche die gemeinsamen Feldlinien von D und E mit der Flä- D2
chennormale in den Medien 1 und 2 einschließen, dann folgt bei
Abwesenheit von freier Flächenladungsdichte aus nD1 D nD2
E2 E2tg
1 jE1 j cos ˛1 D 2 jE2 j cos ˛2 ; (14.45) α2
=
D1
E1 E1tg
während die Stetigkeit der Tangentialkomponenten von E
α1

jE1 j sin ˛1 D jE2 j sin ˛2 (14.46)


n · D1 = n · D2
Teil II

verlangt. Division der letzten Gleichung durch die vorige ergibt

tan ˛1 tan ˛2
D : (14.47) Abb. 14.5 Brechung der Feldlinien: E (rot ), D (blau ), beim Übergang von ei-
1 2 nem Dielektrikum mit 1 D 1;5 zu einem mit 2 D 2. Da angenommen wurde,
dass keine freien Flächenladungsdichten vorliegen, ist beim Übergang zwischen
Das bedeutet, dass beim Übergang von einem Medium mit 1 zu den zwei Medien die Normalkomponente von D stetig. Die Tangentialkompo-
einem mit 2 > 1 , also zu einem elektrisch dichteren Medium, nente von E ist generell stetig
die Feldlinie von der Flächennormale weg gebrochen wird und
vice versa. Dies ist, wie wir in Abschn. 17.2 noch sehen werden,
qualitativ entgegengesetzt den Verhältnissen bei der Brechung Frage 4
von Licht beim Übergang von einem optisch dünneren zu einem
Machen Sie sich anhand von Abb. 14.5 klar, dass im Allge-
optisch dichteren Medium. (Zudem tritt beim Brechungsgesetz
der Optik jeweils der Sinus anstelle des Tangens des Brechungs- Hmeinen das D-Feld auf eine nichtverschwindende Zirkulation
winkels auf.) @F dr  D führt, wenn @F wie in (14.39) gewählt wird.

Bei einer grafischen Darstellung von ausgedehnten Feldlinien-


bildern würde man übrigens in diesem Fall, wo keine Quellen In räumlichen Gebieten, in denen ein konstantes  vorliegt und
für D im Spiel sind, nur die Feldlinien von D alle durch die D.r/ D E.r/ ist, führt die inhomogene Maxwell-Gleichung
Grenzschicht hindurchgehen lassen. Für E gibt es dagegen (14.18) aber weiterhin auf eine Poisson-Gleichung.
an der Grenzschicht Quellen, in Form der Polarisationsflä-
chenladungsdichte P , an denen zusätzliche Feldlinien für E
Poisson-Gleichung für homogene isotrope Medien
entspringen können, sodass man auf den beiden Seiten unter-
schiedliche Dichten von Feldlinien zeichnen sollte, wenn auch Für den Raumbereich, über den  konstant ist, gilt
die Richtungen für D und E immer gleich sind.
4
Die Randbedingung, die ein elektrischer Leiter in der Elektro-  .r/ D  f .r/: (14.49)
statik mit sich bringt, kann formal mit dem Limes  ! 1 für 
den Leiter identifiziert werden. Aus 2 ! 1 folgt in Medium
1, dass ˛1 D 0 sein muss und E1 damit senkrecht auf die Grenz-
Damit können wir die allgemeine Lösung dank (12.12) unmit-
fläche steht, und in Medium 2, dass jE2 j D 0 wird. (Das Feld D
telbar angeben als
braucht man in diesem Fall in Medium 2 nicht mehr betrachten.)
Z 0
1 f .r /
.r/ D dV 0 C hom .r/;  hom .r/ D 0; (14.50)
" jr  r0 j
14.3 Potenzialgleichung V

in Dielektrika wobei das Volumen V konstantes  aufweisen muss und die


homogene Lösung hom .r/ so zu bestimmen ist, dass die An-
schlussbedingungen (14.42) und (14.43) erfüllt werden.
Da auch in der makroskopischen Elektrostatik rot E D 0 im
gesamten Raum, über alle etwaigen Grenzflächen hinweg, er-
füllt ist, ändert sich nichts an der Möglichkeit, E als negativen
Gradienten des skalaren Potenzials darzustellen: Bildladungsmethode
E.r/ D r .r/: (14.48)
Eine mögliche Vorgangsweise, eine geeignete homogene Lö-
Für die dielektrische Verschiebung D gilt dies hingegen nicht! sung in (14.50) zu konstruieren, ist genau wie in Kap. 12 der
14.3 Potenzialgleichung in Dielektrika 493

Bildladungsansatz, bei dem fiktive Ladungen außerhalb des be-


trachteten Volumens V angesetzt werden: Ob ein Ansatz ausreichend ist, sieht man erst im Nach-
Z 0 hinein. Die Felder sind nun mit noch zu bestimmenden q0
Bild .r /
hom .r/ D Bild .r/ D dV 0 ; r 2 V: (14.51) und q00 in den beiden Halbräumen gegeben durch
jr  r0 j
R3 nV 8
ˆ q q0
Allerdings sind nun auch für die an V angrenzenden Gebiete ˆ
< C z>0
jr  dOez j jr C dOez j
ebenfalls Bildladungsansätze zu machen – wenn diese nicht ge- .r/ D (14.52)
ˆ q00
rade feldfreie Leiter sind –, um dort die anzupassenden Felder :̂ z<0
zu berechnen. jr  dOez j

und damit
Punktladung vor dielektrischem Halbraum

Teil II
8
ˆ r  dOez r C dOez
In Kap. 12 konnten wir das Beispiel einer Punktladung ˆ
<q C q0 z>0
jr  dOez j3 jr C dOez j3
vor einem leitenden Halbraum erfolgreich und einfach E.r/ D
ˆ r  dOez
mittels Bildladungsansatz lösen. Nun betrachten wir das :̂ q00 z < 0:
analoge Problem mit einem Dielektrikum, das den Halb- jr  dOez j3
raum z < 0 komplett ausfüllt. Die Punktladung befinde (14.53)
sich bei x D y D 0 und z D d. Die Bedingung (14.43), dass E an der Grenzfläche stetige
Tangentialkomponenten haben muss, ergibt

r r
q C q0 2
.r2
Cd / 2 3=2 .r C d 2 /3=2
r (14.54)
d D q00 2
.r C d 2 /3=2
q z

für alle r D .x; y; 0/, was mit

q C q0 D q00 (14.55)

Da wir nun die Felder für zwei Raumbereiche zu bestim- erreicht wird.
men haben, für das Vakuum im Halbraum z > 0 und auch
Die weitere Bedingung (14.42), dass D an der Grenzflä-
im Inneren des Dielektrikums, machen wir jeweils einen
che stetige Normalkomponenten haben muss, verlangt für
Bildladungsansatz, bei dem fiktive Ladungen außerhalb
alle r D .x; y; 0/
des gerade betrachteten Volumens positioniert werden.
Für die Rechnung in Halbraum z > 0 nehmen wir wie im
dOez dOez
Fall des leitenden Mediums eine zu bestimmende Bildla- q C q0 2
dung q0 bei x D y D 0 und z D d an. Für das Innere .r2 C d 2 /3=2 .r C d 2 /3=2
(14.56)
des Dielektrikums dürfen wir natürlich keine (freie) La- dOez
dung bei z < 0 haben, also setzen wir eine Bildladung D  q00 2 ;
.r C d 2 /3=2
bei positiven z an. Wir versuchen es der Symmetrie we-
gen mit einer Ladung q00 bei x D y D 0 und z D d, also was hingegen
der Position der wirklich in diesem Gebiet vorhandenen
 q C q0 D  q00 (14.57)
Ladung:
erfordert.
Berechnung für z < 0: Berechnung für z > 0:
Die Anschlussbedingungen reduzieren sich also auf zwei
algebraische Gleichungen für die zwei Unbekannten q0
und q00 mit der Lösung
d d d
1 2
  z q0 D q ; q00 D q : (14.58)
q q q C1 C1

Feld Feld von Das resultierende elektrische Feld (14.53) ist in Abb. 14.6
von q  q und q  dargestellt.
494 14 Elektrische Felder in Materie

ten als z-Achse genommen wird, bezüglich der der Polarwinkel


# eingeführt wird.
Da nirgends (zumindest nicht im Endlichen) freie Ladungen
vorhanden sind, haben wir sowohl im Außenraum wie im
Innenraum der dielektrischen Kugel nach Lösungen der La-
place-Gleichung zu suchen, welche die Anschlussbedingungen
(14.42) (mit f D 0) und (14.43) erfüllen.
Im Außenraum haben wir nun keine natürlichen Randbedingun-
gen vorliegen, da asymptotisch ein homogenes elektrisches Feld
E0 D E0 eO z und demnach ein Potenzial .r ! 1/ ! E0 z D
E0 r cos # gegeben ist. Die Lösung der Laplace-Gleichung für
Teil II

den Außenraum  a .r; #; '/ D 0, deren allgemeinste Form in


Kugelkoordinaten in (13.168) aufgestellt wurde, hat somit die
Form
r
4 X 1
a .r; #; '/ D E0 r Y10 .#/ C Blm lC1 Ylm .#; '/;
Abb. 14.6 Elektrische Feldstärke einer Ladung vor einem dielektri-
schen Halbraum. Außerhalb des Dielektrikums wird dem Feld der Punkt- 3 lm
r
ladung das der Polarisationsladungen auf der Grenzfläche überlagert, (14.59)
das in seiner Wirkung einer fiktiven Bildladung im Inneren des Dielektri- q
kums entspricht. Im Inneren des Dielektrikums hat das elektrische Feld wobei wir Y10 .#/ D 4
3
cos # verwendet haben.
die Form einer einzelnen Ladung mit verminderter Stärke J
Im Innenraum suchen wir eine Lösung von  i .r; #; '/ D 0.
Regularität im Ursprung schränkt die allgemeine Lösung
Frage 5 (13.168) nun ein auf:
Überzeugen Sie sich, dass der formale Limes  ! 1 auf die X
bekannte Lösung einer Punktladung vor einer leitenden Ebene i .r; #; '/ D Alm rl Ylm .#; '/: (14.60)
lm
zurückführt.

Die Anschlussbedingung (14.42) (mit f D 0) verlangt Stetig-


Im Allgemeinen werden aber Bildladungsansätze für Dielektri- keit der Radialkomponente des D-Feldes und (14.43) Stetigkeit
ka wesentlich komplizierter als im Fall von Leitern. Während der #- und '-Komponenten des E-Feldes. Für i,a bedeutet dies
im Beispiel des dielektrischen Halbraumes der Ansatz mit einer ˇ ˇ
einzelnen Bildladung an der gespiegelten Position zum Erfolg @ i ˇˇ @ a ˇˇ
 D (14.61)
führt, scheitert nun ein solcher für den Fall einer Punktladung @r ˇrDR @r ˇrDR
vor einer dielektrischen Kugel. (Dieses Problem wird in Aufga-
be 14.4 behandelt, allerdings mit den allgemeiner zielführenden bzw.
Methoden, die wir im Folgenden besprechen werden.) ˇ ˇ ˇ ˇ
@ i ˇˇ @ a ˇˇ @ i ˇˇ @ a ˇˇ
D ; D : (14.62)
@# ˇrDR @# ˇrDR @' ˇrDR @' ˇrDR

Verwendung von vollständigen Letzteres ist bis auf eine additive winkelunabhängige Konstante
Funktionensystemen anhand des Beispiels einer äquivalent zu
dielektrischen Kugel in einem ursprünglich
i .r D R; #; '/ D a .r D R; #; '/: (14.63)
homogenen Feld
Aber es dürfen sich diese Randwerte auch nicht um eine Kon-
Hat eine Randwertaufgabe ein hinreichendes Maß an Symme- stante unterscheiden. Dies würde eine divergente radiale Ab-
trie, kann man mit Entwicklungen des Potenzials nach entspre- leitung @r D Er ergeben; die Anschlussbedingung (14.61)
chenden vollständigen Funktionensystemen ans Ziel kommen. verlangt aber nur einen endlichen Sprung von Er .

Als ein instruktives Beispiel betrachten wir dafür eine dielektri- Wenn nicht gleichzeitig l D 1 und m D 0 ist, bekommen wir
sche Kugel mit Dielektrizitätskonstante  und Radius R in einem somit das Gleichungssystem
äußeren, ursprünglich homogenen elektrischen Feld der Stärke
lC1
E0 .  Alm l Rl1 D Blm ;
RlC2 (14.64)
Für dieses Problem bieten sich die Kugelkoordinaten an, wobei 1
die durch das elektrische Feld ausgezeichnete Richtung am bes- Alm Rl D Blm lC1 ;
R
14.4 Elektrostatische Energie in linearen Medien 495

das nur die triviale Lösung

Alm D 0 D Blm für .l; m/ 6D .1; 0/ (14.65)

besitzt. Für l D 1 und m D 0 haben wir dagegen ein inhomoge-


nes Gleichungssystem
r
4 2
A10 D E0  B10 3 ;
3 R
r (14.66)
4 1
A10 R D E0 R C B10 2
3 R
mit der Lösung

Teil II
r r
3 4 1 3 4
A10 D E0 ; B10 D R E0 :
C2 3 C2 3
(14.67) Abb. 14.7 Dielektrische Kugel in einem ursprünglich homogenen elektrischen
Feld: Die Abschwächung des E-Feldes im Inneren kommt von negativen Polarisa-
Damit ist die gesamte Lösung für das elektrostatische Potenzial tionsflächenladungsdichten am unteren Rand der Kugel, an denen E-Feldlinine
gegeben durch enden und die bei ihren positiven Gegenstücken am oberen Rand wieder ent-
springen; für die dielektrische Verschiebung D ist dies nicht der Fall, solange
3 keine freien Flächenladungsdichten vorliegen
i .r/ D E0 r cos #;
C2
rp 1 3
a .r/ D E0 r cos # C mit p D R E0 :
r3 C2 Abschließend halten wir noch fest, dass wir anstelle der allge-
(14.68) meinsten regulären Lösung in Kugelkoordinaten auch mit einem
einfacheren Ansatz mit Legendre-Polynomen (13.169) hätten
Frage 6
arbeiten können, da das Problem offenbar Rotationssymmetrie
Vollziehen Sie das nach! um die z-Achse besitzt. (Auch ein Ansatz ausschließlich mit
dem .l D 1/-Anteil wäre zielführend gewesen – und nicht
Im Außenraum ist also dem asymptotischen Feld ein elektri- weiter bedenklich, solange überprüft wird, dass auch alle An-
sches Dipolfeld mit Dipolmoment p / E0 überlagert, während schluss- und Randbedingungen erfüllt werden konnten.)
im Innenraum ein homogenes elektrisches Feld vorliegt, das ge-
genüber dem asymptotisch vorhandenen abgeschwächt ist (da
 > 1): 14.4 Elektrostatische Energie
3
Ei D E0 : (14.69)
C2 in linearen Medien
Diese von der Geometrie des Dielektrikums bestimmte Ab-
schwächung wird auch als Entelektrisierung bezeichnet. In In (12.81) hatten wir die elektrostatische Feldenergie durch In-
Aufgabe 14.7 und 14.8 wird sie für die Fälle einer dünnen Plat- tegration über die Energiedichte wem D E2 =.8 / erhalten. Dies
te, eines dünnen Stabes und eines Ellipsoids berechnet. ist in der makroskopischen Elektrostatik aus mehreren Grün-
Die dielektrische Verschiebung ist dagegen im Innenraum der den nicht mehr anwendbar. Das Feld E ist nun ein gemitteltes,
Kugel größer als E0 (Abb. 14.7): E D hEmikr i, und das Quadrat eines Mittelwertes ist nicht das-
selbe wie der Mittelwert eines quadratischen Ausdrucks:
3 Z Z
Di D E0 : (14.70)
C2 dV hE2mikr i 6D dV hEmikr i2 :

Wir haben also gefunden, dass die dielektrische Kugel im äuße-


ren Feld homogen polarisiert wird mit Andererseits sind wir sicher nicht an der im mikroskopischen
Feld abgebildeten Selbstenergie der Materie interessiert, son-
1 1 3 1 dern nur an der Energie, die notwendig ist, um diese in einen
PD .D  E/ D Ei D E0 ; (14.71)
4 4 4 C2 bestimmten Polarisationszustand zu versetzen, wenn eine Kon-
figuration aus freien Ladungen f zusammengestellt werden
was konsistent mit unserem früheren Ergebnis ist, dass eine
soll.
homogen polarisierte Kugel im Inneren ein homogenes elektri-
sches Feld besitzt. Des Weiteren sehen wir, dass das Dipolmo- Um einen relevanten Ausdruck für die elektrostatische Energie
ment p, das in der Außenraumlösung auftrat, mit dem Produkt in Anwesenheit von Materie zu bekommen, betrachten wir zu-
aus P und dem Volumen der Kugel, 4 R3 =3, übereinstimmt. nächst die Änderung der Energie einer Ladungskonfiguration
496 14 Elektrische Felder in Materie

bei einer infinitesimalen Veränderung der freien Ladungsdich- f C P enthält auch die Polarisationsflächenladungsdichte, die
te, f .r/ ! f .r/ C ı f .r/. Diese Energieänderung ist gegeben im Dielektrikum induziert wird und ein entgegengesetztes Vor-
durch die Arbeit, die geleistet werden muss, um die infini- zeichen trägt. Gleichung (12.69) verallgemeinert sich damit zu
tesimale Ladungsmenge ı f aus dem Unendlichen an ihren I I
Bestimmungsort r zu bringen, und dies ist durch das aktuelle 1 
Qi D df Dn D  df @n
elektrische Feld bestimmt. Weil ı f als infinitesimal angenom- 4 4
@Vi @Vi
men ist, brauchen wir uns dabei nicht um die Rückwirkungen 2 3
auf E oder den Polarisationszustand zu kümmern. Im statischen
X6  I
Fall ist E weiterhin einfach der negative Gradient des Potenzials 7
D 4 df @n Fj 5 j
. Die Energieänderung ist damit durch j
4
@Vi
Z X X
ıW D dV .r/ ı f .r/ (14.72)  Cij. / j D Cijvac j : (14.77)
Teil II

j j

gegeben, wobei .r/ das ursprünglich von f verursachte elek- Die Kapazitätskoeffizienten erhöhen sich also alle einfach um
trostatische Potenzial ist. Wegen r  D D 4 f haben wir einen Faktor  > 1.

1 Entsprechend sind auch die Resultate für die Kapazität eines


ı f D r  ıD (14.73) Platten- oder Kugelkondensators, (12.77) und (12.80), mit  zu
4 multiplizieren, wenn diese mit einem Dielektrikum ausgefüllt
und damit nach einer partiellen Integration sind. Wir haben generell
Z Z C. /
D  Cvac : (14.78)
1 1
ıW D dV .r .r//  ıD D dV E  ıD: (14.74)
4 4
Da die Kapazität das Verhältnis von (freier) Ladung und Po-
In einem linearen Medium, d. h. D D E mit einem , das nicht tenzialdifferenz angibt, C D Q=U, erhöht ein Dielektrikum
wiederum vom elektrischen Feld abhängt (aber ansonsten belie- die gespeicherte Ladung bei vorgegebener Potenzialdifferenz
big sein darf, also vom Ort abhängen kann), gilt (aufrechterhalten z. B. durch eine angeschlossene Batterie). Bei
gleichen Potenzialdifferenzen haben wir im Raum zwischen den
1 Leitern, wo die homogene Laplace-Gleichung gilt, auch gleiche
E  ıD D ı.E  D/: (14.75) Potenzialfelder und damit gleiche elektrische Felder E D r .
2
Daraus folgt unmittelbar, dass die elektrostatische Energiedich-
In diesem Fall kann ein expliziter Ausdruck für die elektrostati- te E  D=.8 / D E2 =.8 / ebenfalls um einen einfachen Faktor
sche Energie unmittelbar angegeben werden.  erhöht ist, in Übereinstimmung mit (12.95), W D 12 CU 2 .

Elektrische Feldenergie in linearen Medien


Z Kräfte auf Dielektrika
1
WD dV E.r/  D.r/ (14.76)
8
Auf Polarisationsladungen, die in Dielektrika in äußeren elek-
trischen Feldern influenziert werden, wirken entsprechende
Wie wir in Kap. 15 sehen werden, behält dieser Ausdruck für Coulomb-Kräfte. Da die Gesamtladung durch die Polarisation
lineare Medien sogar in dynamischen Situationen seine Gültig- unverändert bleibt, sind allerdings inhomogene äußere Felder
keit. nötig, damit es zu einer nichtverschwindenden Nettokraft auf
einen dielektrischen Körper kommt.
Im oben diskutierten Beispiel einer dielektrischen Kugel, die
Kapazitäten mit Dielektrika in ein ursprünglich homogenes Feld gebracht wird, ist diese
Nettokraft offensichtlich null, da die in der oberen Hemisphäre
influenzierten positiven Ladungen aus Symmetriegründen mit
In Abschn. 12.5 haben wir den Fall betrachtet, dass in einem derselben Stärke nach oben gezogen werden wie die negativen
ansonsten leeren Raum ein System von Leitern angeordnet ist, Ladungen auf der unteren Hemisphäre nach unten. In einem in-
die elektrische Ladungen tragen, und wir haben zugehörige Ka- homogenen äußeren Feld würden aber die Ladungsanteile, die
pazitätskoeffizienten definiert. Wenn nun der Raum zwischen sich in Regionen mit größerer Feldstärke befinden, die Ober-
den Leitern nicht leer, sondern von einem Dielektrikum erfüllt hand bekommen und den Körper in dessen Richtung ziehen.
ist, ändert sich an der Herleitung von (12.69) lediglich, dass Dadurch ergibt sich generell das physikalische Phänomen, dass
die Ladung auf den Leitern über die Normalkomponente von auf dielektrische Körper Kräfte wirken, die in Richtung höherer
D zu berechnen ist, f D Dn =.4 / D En =.4 /, denn En =4 D Feldstärke zeigen.
14.4 Elektrostatische Energie in linearen Medien 497

+Q was wiederum einfach dadurch erfüllt ist, dass E konstant in z-


d Richtung zeigt.


Die Konstanz des E-Feldes impliziert, dass entlang der Platten
−Q die totalen Flächenladungsdichten ebenfalls konstant sind:

ges jEz j U
ξ
b ˙ D ˙ D˙ : (14.81)
4 4 d
l
Dies stimmt aber nur in dem Bereich, in dem der Kondensator
Abb. 14.8 Plattenkondensator mit teilweise eingeschobenem Dielektrikum kein Dielektrikum aufweist, mit der freien, auf den leiten-
den Platten vorhandenen Flächenladungsdichten überein. In den
ges
Bereichen mit Dielektrikum inkludiert ˙ auch die Polarisa-

Teil II
tionsflächenladungsdichte, die im Dielektrikum gebunden ist.
Als ein Beispiel, wo diese Kräfte in guter Näherung durch ein- Die freie Ladungsdichte ist dort um die Dielektrizitätskonstante
fache Energiebetrachtungen berechnet werden können, soll im  erhöht:
Folgenden ein ausgedehnter Plattenkondensator betrachtet wer- jDz j U
den, in den ein Dielektrikum nur teilweise eingeschoben ist f ˙ D ˙ D ˙ ; (14.82)
4 4 d
(Abb. 14.8).
während die Differenz durch die entgegengesetzte Polarisa-
Wenn wir Randeffekte vernachlässigen, kann das Feld in einem tionsflächenladungsdichte aufgebracht wird:
Plattenkondensator, in dem ein exakt senkrecht zu den Platten
abgeschnittenes Dielektrikum vorliegt, ohne komplizierte Rech- U
P ˙ D .  1/ : (14.83)
nung angegeben werden: Im Raum zwischen den parallelen 4 d
Platten, die beide Äquipotenzialflächen darstellen, ist offenbar
Ist das Dielektrikum wie in Abb. 14.8 gezeichnet um eine Stre-
eine linear interpolierende Funktion eine Lösung der Laplace-
cke , 0    l, in einen Plattenkondensator mit Länge
Gleichung  D 0. Liegen die Platten bei z D 0 und z D d
l und Breite b eingeschoben, dann verteilt sich die freie Ge-
und sind die Potenziale gegeben durch .z D 0/ D  und
samtladung ˙Q auf den Kondensatorplatten so, dass sie beim
.z D d/ D C , so ist diese Lösung
Dielektrikum eine um den Faktor  erhöhte Flächendichte an-
.z/ D C Uz=d; U  nimmt. Es gilt dann
 C : (14.79)
U
Da wir aber ein Dielektrikum vorliegen haben, das den Zwi- Q D ŒAD  C AV  D CU;
schenraum nur teilweise ausfüllt, ist noch nicht sichergestellt, 4 d (14.84)
dass dies weiterhin eine gültige Lösung ist, denn das Dielektri- AD D b; AV D .l  /b;
kum unterteilt den Zwischenraum in zwei Teilräume, in denen
wobei AD und AV die Fläche des Bereichs einer Platte mit und
jeweils die Laplace-Gleichung gilt, aber mit Vorgabe der An-
ohne Dielektrikum bezeichnet und C die (-abhängige) Kapazi-
schlussbedingungen (14.42) und (14.43). Zu (14.79) gehört nun
tät ist.
eine konstante Feldstärke
Je nach physikalischer Realisierung kann entweder die Ladung
U
E D r .z/ D  eO z : (14.80) Q oder die Spannung U des Kondensators fest vorgegeben sein.
d Die Spannung U kann konstant gehalten werden, wenn er an
Dies erfüllt bereits die Forderung, dass die Tangentialkompo- eine stabile Batterie angeschlossen bleibt. Wenn er dagegen
nenten von E an den Grenzflächen stetig sein müssen, einfach von der Batterie getrennt wurde, nachdem er einmal aufgeladen
dadurch, dass E dort konstant ist. Des Weiteren muss die Nor- wurde, ist Q konstant.
malkomponente von D an der Grenze zwischen Dielektrikum Im Fall einer konstanten Ladung Q hängt gemäß (14.84) U bzw.
und Vakuum stetig sein, wenn dort keine freien Ladungen sein die Feldstärke jEj D U=d davon ab, wie weit das Dielektrikum
sollen. Dies ist aber einfach dadurch erfüllt, dass D proportional eingeschoben ist:
zu E ist und letzteres keine Normalkomponente hat.
4 Q
Frage 7 jEj D E./ D : (14.85)
AD  C AV
Welche der Anschlussbedingungen (14.42) und (14.43) wird
durch (14.79) verletzt, wenn die Grenzfläche zwischen Dielek- Die elektrostatische Feldenergie ist gemäß (14.76) im Bereich
trikum und Vakuum nicht senkrecht zu den Platten verläuft? des Dielektrikums um einen Faktor  gegenüber der Energie-
dichte im Vakuum erhöht und ergibt sich, da jEj im Inneren des
Kondensators konstant ist, zu
An den Grenzflächen des Dielektrikums, wo dieses an die
Kondensatorplatten anstößt, sowie auf den Kondensatorplatten E2
selbst müssen die Tangentialkomponenten von E verschwinden, WD ŒAD  C AV  d: (14.86)
8
498 14 Elektrische Felder in Materie

Bei konstantem Q und damit -abhängiger Feldstärke (14.85)


ergibt dies

2 Q2 d 1
W D W./ D ; (14.87)
b l C .  1/

d. h., die Feldenergie nimmt ab, wenn das Dielektrikum weiter


eingeschoben wird und  anwächst (solange 0 <  < l). Die frei
werdende Energie steht zur Verfügung, um das Dielektrikum in
Bewegung zu setzen und mit der Kraft

@W 2 Q2 d .  1/
Teil II

Fx D  D (14.88)
@ b Œl C .  1/2

in den Kondensator hineinzuziehen.

An dieser Stelle sollte man sich fragen, wo diese Kraft über- Abb. 14.9 Kraft auf Dielektrikum in einem Plattenkondensator: Das elektri-
haupt angreifen kann, wenn alle Ladungen (freie und gebunde- sche Feld greift an Polarisationsladungen auf der Oberfläche des Dielektrikums
ne) als Oberflächenladungsdichten entlang der Platten konzen- an. Aber nur die Teile, die außerhalb des Kondensators liegen, tragen zur Kraft
(grün ) bei, die das Dielektrikum in den Kondensator hineinzieht, denn im Inne-
triert sind und dort die elektrische Feldstärke exakt senkrecht zu
ren des Kondensators stehen die elektrischen Feldlinen (rot ) auf der Oberfläche
den Platten steht. Die Lösung dieses Rätsels liegt gerade in den der Dielektrikums alle exakt senkrecht
Randeffekten, die wir in der analytischen Behandlung vernach-
lässigt haben. Etwas außerhalb des Plattenkondensators gibt es
auch noch Polarisationsflächenladungsdichten am Dielektrikum
und elektrische Randfelder, die dort nicht mehr senkrecht ste- hin durch die rechte Seite von (14.88) gegeben. Umgeschrieben
hen, sondern eine horizontale Komponente haben, mit der sie auf U ergibt dies
an den Polarisationsladungen angreifen und diese in den Kon- U2 b
Fx D .  1/: (14.91)
densator hineinziehen können (Abb. 14.9). 8 d

Eine Berechnung der Kraft anhand der Feld- und Ladungs- Dies ist nun nicht mehr gleich  @W
@
, sondern gerade C @W
@
! Der
verteilungen außerhalb des Plattenkondensators wäre allerdings Grund dafür ist, dass der Kondensator mit seinem Dielektrikum
ungemein schwierig. Im Grenzfall eines Plattenkondensators, kein abgeschlossenes System mehr darstellt – in die Energie-
dessen transversale Ausdehnung groß im Vergleich zum Plat- bilanz müssen nun auch die Beiträge der Batterie einbezogen
tenabstand ist, ist aber die -abhängige Feldenergie, die wir in werden. Bei konstanter Spannung wird Energie zugeführt, in-
einer vergleichsweise äußerst einfachen Rechnung bestimmt ha- dem zusätzliche Ladung auf die Potenzialdifferenz U gebracht
ben, eine sehr gute Näherung. Damit ist auch die Kraft auf das wird, wenn das Dielektrikum um ein Stück ı weiter in den
Dielektrikum mit gleich guter Genauigkeit bestimmt. Kondensator vorrückt und die Kapazität anwächst:
Betrachten wir abschließend den Fall, dass nicht die Ladung Q Ub
sondern die Kondensatorspannung U fest vorgegeben ist, weil ıWB D U ıQ D U .  1/ı: (14.92)
4 d
der Kondensator an der Batterie, mit der er aufgeladen wurde,
angeschlossen bleibt. Dann ändert sich an den vorhergehenden Dabei wächst die Feldenergie gemäß (14.90) um den Betrag
Ergebnissen nur, dass jetzt Q von  abhängt und mit diesem
anwächst, während E D U=d konstant bleibt: U2 b 1
ıW D .  1/ı D ıWB ; (14.93)
8 d 2
Ub
Q D Q./ D Œl C .  1/: (14.89)
4 d während eine zweite Hälfte der von der Batterie gelieferten
Energie der am Dielektrikum geleisteten Arbeit entspricht: Mit
Die Feldenergie ist nun durch (14.91) ergibt dies ebenso

U2 b U2 b 1
W D W./ D Œl C .  1/ .U D const/ (14.90) Fx ı D .  1/ı D ıWB : (14.94)
8 d 8 d 2
gegeben und wächst ebenfalls mit  an. Die Kraft auf das Damit erklärt sich das scheinbar verkehrte Vorzeichen in
Dielektrikum wird aber von den Ladungsverteilungen und Feld- Fx ı D CıW. Der Beitrag der Batterie ist gerade doppelt
stärken im Kondensator realisiert und hängt nicht davon ab, ob so groß wie die Änderung der Feldenergie, sodass Fx ı 
die Batterie gerade an- oder abgeklemmt ist. Sie ist also weiter- ıWmech D ıW C ıWB D CıW resultiert.
Aufgaben 499

Aufgaben

Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen

Teil II
14.1 Die phänomenologischen Maxwell-Gleichun- Ein Separationsansatz .%; '/ D R.%/˚.'/ (siehe den „Mathe-
gen im SI-System Wiederholen Sie die Herleitung der phä- matischen Hintergrund“ 13.4) führt auf das benötigte vollstän-
nomenologischen Maxwell-Gleichungen der Elektrostatik im dige Funktionensystem für z-unabhängige Probleme.
SI-System.
14.4 Ladung vor dielektrischer Kugel Eine Punkt-
14.2 Polarisationsflächenladungsdichte Zeigen ladung q befinde sich vor einer dielektrischen Kugel mit Radius
Sie, dass, auch wenn (bzw. gerade wenn) an einer Grenzfläche R und Dielektrizitätskonstante . Der Abstand vom Mittel-
von zwei Dielektrika mit 1 6D 2 keine freie Oberflächenla- punkt der Kugel sei d > R. Man berechne das Potenzial
dungsdichte verliegt, die Polarisationsflächenladungsdichte im und die Felder E und P im ganzen Raum sowie die Polarisa-
Allgemeinen nicht verschwindet, und drücken Sie diese durch tionsraumladungsdichte und Polarisationsflächenladungsdichte
den Wert von D auf der Grenzfläche aus. mit zugehörigen Gesamtladungen. Betrachten Sie den Grenz-
14.3 Dielektrischer Zylinder im elektrischen Feld fall  ! 1, der das Problem auf das einer Punktladung vor
und vollständige Funktionensysteme in der Ebene In einem idealen Leiter reduziert.
Abschn. 14.3 wurde eine dielektrische Kugel in einem ur-
sprünglich homogenen Feld behandelt, indem die allgemeine Lösungshinweis: Die Methode der Bildladungen ist in diesem
Lösung der Laplace-Gleichung in Kugelkoordinaten herangezo- Beispiel nicht zielführend. Verwenden Sie daher eine Entwick-
gen wurde. Lösen Sie das analoge Problem für einen unendlich lung nach Kugelfunktionen (13.169), mit der die Zylindersym-
langen dielektrischen Zylinder mit der z-Achse als Symmetrie- metrie ausgenutzt werden kann, wenn die Punktladung auf die
achse und Radius a, der sich in einem ursprünglich homogenen z-Achse gesetzt wird. Die Reihenentwicklung für das Potenzial
Feld E D E0 xO befindet, und berechnen Sie das elektrostatische einer Punktladung wurde bereits in (13.193) hergeleitet.
Potenzial im Innen- und Außenraum des Zylinders.
14.5 Teilweise gefüllter Kugelkondensator Be-
Zeigen Sie zunächst, dass die allgemeinste Lösung der Laplace- trachten Sie den Kugelkondensator aus Abschn. 12.5 mit inne-
Gleichung in Zylinderkoordinaten (2.109), wenn keine z-Ab- rem und äußeren Radius R1 bzw. R2 , dessen Kapazität in (12.80)
hängigkeit vorliegt, durch angegeben ist. Nehmen Sie an, dass gerade halb so viel Dielek-
trikum zur Verfügung steht, wie nötig wäre, um ihn ganz zu
.%; '/ D A0 C B0 ln % füllen. Berechnen Sie die Kapazität für die Fälle, dass das Di-
X1  elektrikum (Abb. 14.10)
1
C Am %m C Bm m cos.m'/
mD1
% (14.95)
X1 
1
C A0m %m C B0m m sin.m'/ R2
mD1
%
R1
  
gegeben ist.
Lösungshinweis: Der Laplace-Operator in Zylinderkoordina-
ten %; '; z lautet Leiter Leiter Leiter
(a) (b) (c)
1 @ @ 1 @ @ 2 2
D % C 2 2 C 2: (14.96) Abb. 14.10 Drei Möglichkeiten, das Innere eines Kugelkondensators zur Hälfte
% @% @% % @' @z mit Dielektrikum zu füllen, die unterschiedliche Kapazität ergeben
500 14 Elektrische Felder in Materie

(a) den Kugelkondensator bis zum Äquator der beiden Kugeln vergleichen Sie mit dem Ergebnis (14.69) für eine dielektrische
ausfüllt, Kugel im äußeren Feld.
(b) symmetrisch die innere Kugeloberfläche umschließt,
(c) symmetrisch die äußere Kugeloberfläche auskleidet. 14.8 Homogen polarisiertes Ellipsoid Ein ge-
strecktes Rotationsellipsoid, d. h. ein Körper, der durch eine um
ihre längere Achse rotierte Ellipse gebildet wird, sei perma-
Diskutieren Sie, welche Konfiguration die größte Kapazität er- nent polarisiert mit konstantem Polarisationsvektorfeld P, das
zielt. in Richtung der Rotationsachse zeigt.
14.6 Flüssigkeit hebender Zylinderkondensator
Ein Kondensator, der aus zwei langen, koaxialen zylindrischen z/a
Leitern mit Radien a und b, b > a, besteht und durch eine Batte-
rie auf einer Spannung U gehalten wird, taucht senkrecht in eine
Teil II

dielektrische Flüssigkeit mit Massendichte  ein. Berechnen v=0


1
Sie aus der Höhe h, auf die die Flüssigkeit im Inneren entgegen 1,5 v= 8π

der Schwerkraft gehoben wird, die elektrische Suszeptibilität


bzw. die Dielektrizitätskonstante der Flüssigkeit (Abb. 14.11). v= 1

U v= 3

u = 1,0 0,8 0,6 0,4


0,2 0 v= 1

1,0 0,5 0,5 1,0 /a


h

5
v= 8π

3
v= 4π

a 1,5 7
v= 8π
b v=π

Abb. 14.11 Ein in eine dielektrische Flüssigkeit eingetauchter Zylinderkonden-


sator hebt diese gegen die Schwerkraft. Aus der Steighöhe lässt sich auf die Abb. 14.12 Gestreckte (prolate) sphäroidale Koordinaten. Flächen mit kon-
Dielektrizitätskonstante schließen stantem u bzw. konstantem v bilden Ellipsoide bzw. Hyperboloide mit gemein-
samen Brennpunkten
p auf der z-Achse bei z D ˙a. Die horizontale Achse wird
Lösungshinweis: Bestimmen Sie zuerst Potenzial und Feld- durch %=a D x2 C y2 =a gebildet
stärke eines Zylinderkondensators, der teilweise mit Dielektri-
kum ausgefüllt ist, und betrachten Sie dann die Energiebilanz Man berechne das elektrostatische Potenzial innerhalb und au-
bestehend aus den Energiebeiträgen des Feldes und der Batterie ßerhalb des Ellipsoids, dessen längere Halbachse mit Länge Z
sowie der potenziellen Energie im Gravitationsfeld. in z-Richtung zeigt, und dessen Radius in der xy-Ebene den Be-
14.7 Dünne Platte und dünner Stab in einem äu- trag R < Z hat, durch Lösen der Laplace-Gleichung in einem
ßeren elektrischen Feld Gegeben sei ein ursprünglich ho- Koordinatensystem der Form
mogenes elektrisches Feld E0 , in das
x D a sinh u sin v cos ';
(a) eine dünne dielektrische Platte senkrecht zu E0 (d. h. Nor- y D a sinh u sin v sin '; (14.97)
malenvektor parallel zu E0 ), z D a cosh u cos v
(b) ein dünner dielektrischer Stab parallel zu E0
mit 0  u < 1, 0  v  und 0  ' < 2 sowie einer
eingebracht wird. („Dünn“ bedeutet hier, dass die Ausdehnung geeignet zu wählenden Konstante a. Diese Koordinaten heißen
von Platte und Stab so groß im Vergleich zu deren Dicke sein gestreckt-sphäroidale oder auch prolat-sphäroidale Koordinaten
soll, dass Randeffekte vernachlässigt werden können.) Berech- Abb. 14.12). (Bei oblaten (gestauchten) sphäroidalen Koordina-
nen Sie das elektrische Feld im Inneren dieser Objekte und ten sind sinh und cosh auszutauschen.)
Aufgaben 501

Dazu separiere man die Laplace-Gleichung unter Ausnützen der Argument des Logarithmus definiert; die hier verwendete Defi-
'-Unabhängigkeit des Problems in den Variablen nition ist so gewählt, dass die Ql für  > 1 reell sind.)

 WD cosh u 2 Œ1; 1/;  WD cos v 2 Œ1; 1 (14.98) Lösungshinweis: In den prolat-sphäroidalen Koordinaten stel-
len Flächen mit konstantem u oder alternativ  Ellipsoide mit
und zeige, dass die allgemeine '-unabhängige Lösung gegeben Halbachsen a sinh u (senkrecht zur z-Achse) und a cosh u (ent-
ist durch lang der z-Achse) dar. Das Verhältnis R=Z < 1 bestimmt daher
den Wert der Variablen  D 0  cosh u0 , bei der sich die
1
X Oberfläche des Ellipsoids befindet:
.; / D ŒAl Pl ./ C Bl Ql ./ Pl ./; (14.99)
lD0 q
sinh u0 20  1 R
wobei die Funktionen Pl Legendre-Polynome und die Ql Le- tanh u0 D  D : (14.103)
cosh u0 0 Z

Teil II
gendre-Funktionen zweiter Art sind. Letztere sind ebenfalls Lö-
sungen der Legendre’schen Differenzialgleichung, verschwin- p
den aber im Gegensatz zu den Legendre-Polynomen für  ! 1 (0 ist gerade die inverse Exzentrizität, 1
0 D 1  R2 =Z 2 .)
(während die Legendre-Polynome mit l > 0 divergieren). Die Konstante a in den angepassten Koordinaten (14.97) ist da-
mit so zu wählen, dass
Die niedrigsten Legendre-Funktionen zweiter Art lauten
q
1 C1 Z D a0 D a cosh u0 ; R D a 20  1 D a sinh u0 (14.104)
Q0 ./ D ln ; (14.100)
2 1
 C1 ist.
Q1 ./ D ln  1; (14.101)
2 1
Der niedrigstmögliche Wert  D 1 gehört dann zum Intervall
1 C1 3
Q2 ./ D P2 ./ ln  ; (14.102) a  z  a auf der z-Achse, das ein entartetes Ellipsoid
2 1 2 darstellt, während für Ellipsoide mit nichtverschwindendem Vo-
lumen a < Z ist.
wobei die Ql ./ für große  bis auf Vorfaktoren wie .lC1/
abfallen. (Anmerkung: die Legendre-Funktionen zweiter Art Beginnen Sie damit, den Laplace-Operator mit den Formeln aus
werden in der Literatur oft mit einem anderen Vorzeichen im Abschn. 2.5 in die Koordinaten  und  umzurechnen.
502 14 Elektrische Felder in Materie

Lösungen zu den Aufgaben

14.2   14.6
1 1 1
P D  nD (14.105)
4 2 1 1 gh.b2  a2 / ln.b=a/
e D D (14.106)
4 U2
1
14.3 Für % < a ist Ei D 2
E,
C1 0
PD 2
1
E.
C1 0

14.4 Die Felder können nicht durch elementare Funktionen, 14.7 Für die Platte ist Ei D 1 E0 , für den Stab Ei D E0 . Das
Teil II

sondern nur in Form einer Reihenentwicklung angegeben wer- analoge Ergebnis für die Kugel liegt zwischen diesen Werten.
den.
H Für die Polarisationsladungen erhält man P  0, QP D
df P D 0.
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 503

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben

14.1 Im SI-System steht auf den rechten Seiten von (14.4) und setzen wir an:
(14.8) gemäß (11.90) und (11.92) ein Vorfaktor 1=.4 0/. Da-
1
X
mit ist
i .%; '/ D A0 C Am %m cos.m'/ C A0m %m sin.m'/ :
r h0 EŒSI
mol .r/i Dh ŒSI
mol .r/i r h ŒSI
mol .r/i: (14.107) mD1
(14.112)
Mit den gleichen Identifikationen wie (14.11) und (14.13), näm- Im Außenraum liegt asymptotisch ein homogenes elektrisches

Teil II
lich Feld vor, das die Randbedingung

ŒSI
Dh ŒSI ŒSI
PŒSI D h ŒSI ! E0 x D E0 % cos ' (14.113)
f mol i C ext ; mol i; (14.108)

wird nun DŒSI D 0 EŒSI C PŒSI definiert, was auf vorgibt (eine noch mögliche Konstante kann null gesetzt wer-
den). Damit ist die allgemeine Lösung im Außenraum
div DŒSI D f
ŒSI
(14.109)
a .%; '/ D E0 % cos ' (14.114)
führt. Die homogenen Maxwell-Gleichungen sind weiterhin X1 
1 1
durch (11.81) gegeben, nur sind die Felder nun einer Mittelung C Bm m cos.m'/ C B0m m sin.m'/ :
% %
über atomare Skalen unterworfen. mD1

14.2 In Abwesenheit einer freien Flächenladungsdichte f gilt Die Anschlussbedingungen (14.42) (mit f D 0) und (14.43)
gemäß (14.42) n  D2 D n  D1 . Wegen P D .D  E/=.4 / und implizieren
(14.38) ist P D n  .P2  P1 / D Cn  .E2  E1 /=.4 /, was
ˇ ˇ ˇ ˇ
durch E1;2 D D1;2 =1;2 auf D umgeschrieben (14.105) ergibt, @ i ˇˇ @ a ˇˇ @ i ˇˇ @ a ˇˇ
 D ; D : (14.115)
wobei wegen der Stetigkeit von nD für diese Komponente nicht @% ˇ%Da @% ˇ%Da @' ˇ%Da @' ˇ%Da
mehr zwischen Medium 1 und 2 unterschieden werden muss.
14.3 Separation der Variablen der effektiv zweidimensionalen Für alle Koeffizienten mit m 6D 1 und auch für A01 und B01 lie-
Laplace-Gleichung  .%; '/ D 0 führt auf die Gleichungen fert dies ein homogenes Gleichungssystem, das nur die triviale
Lösung besitzt. Die Koeffizienten ungleich null folgen aus
˚ 00 .'/ C ˚.'/ D 0; (14.110)
1  1 1
R00 .%/ C R0 .%/  2 R.%/ D 0: (14.111) A1 D E0  B1 ; A1 D E0 C B1 (14.116)
% % a2 a2
und lauten
Verlangt man Periodizität .%; '/ D .%; ' C 2 /, wird p die
erste Gleichung
p durch
p trigonometrische Funktionen sin. '/ 2 1
und cos. '/ mit  D m 2 Z und die zweite Gleichung A1 D  E0 ; B1 D E0 a2 : (14.117)
C1 C1
durch %˙m gelöst. Für den Fall m D 0 hat die zweite Gleichung
neben der Konstanten %0 auch noch die Lösung ln %. Damit er- Im Innenraum liegt damit wieder ein homogenes elektrisches
gibt sich die allgemeine Lösung der Laplace-Gleichung für das Feld vor,
effektiv zweidimensionale Problem mit Periodizität in ' durch 2
Ei D E0 ; (14.118)
die Reihenentwicklung (14.95). C1
Wird ein endliches Gebiet betrachtet und Regularität im Ur- das gegenüber dem ursprünglich vorhandenen reduziert ist. Im
sprung gefordert, dann sind die Koeffizienten B0 , Bm und B0m Zylinder liegt eine homogene Polarisation vor:
null zu setzen. Bei natürlichen Randbedingungen in einem un-
endlichen Gebiet, das den Ursprung nicht enthält, werden nur 1 1 1 1
PD .D  E/ D Ei D E0 : (14.119)
die Terme mit den Koeffizienten Bm und B0m behalten. Der lo- 4 4 2 C1
garithmische Term mit Koeffizient B0 ist nur relevant, wenn ein
endliches Gebiet betrachtet wird, in dem der Ursprung nicht ent- Im Außenraum % > a wird dem ursprünglich homogenen Feld
halten ist (z. B. ein Kreisring). ein Feld überlagert, das zu einem Potenzial der Form

Im vorliegenden Problem betrachten wir einmal den Außen- cos ' x


P
D 2 a2 jPj D 2 a2 jPj 2 (14.120)
raum und einmal den Innenraum des Zylinders. Im Innenraum a
% x C y2
504 14 Elektrische Felder in Materie

gehört. (Zum Vergleich: Ein Dipolfeld, wie es bei der homogen und ergeben
polarisierten Kugel auftrat, fällt invers proportional zum Qua-
drat der radialen Koordinate ab.) In kartesischen Koordinaten 2l C 1 q .  1/l q R2lC1
Al D ; Bl D  :
lautet das zusätzliche E-Feld . C 1/l C 1 d lC1 . C 1/l C 1 d lC1
0 2 1 (14.128)
2 a2 jPj @x  y A
2 Das Potenzial im Innen- und Außenraum der Kugel ist damit be-
Ea D 2
P
2xy : (14.121) stimmt. Wäre die homogene Lösung im Außenraum, die durch
.x C y2 /2 0 die Reihe mit den Koeffizienten Bl beigesteuert wird, dort äqui-
valent zu einer fiktiven Punktladung auf der Symmetrieachse im
Inneren der Kugel bei z D d 0 , so müsste Bl / d 0l ohne weitere
14.4 Im Außenraum der Kugel erfüllt das Potenzial die Pois- l-Abhängigkeit sein. Offenbar ist hier die Bildladungsmethode
son-Gleichung nicht zielführend, auch nicht mit mehreren solchen diskreten
 D 4 qı.r  dOz/; (14.122)
Teil II

Bildladungen.
wobei wir die Punktladung auf der z-Achse bei z D d angenom- Die Felder E, P lassen sich mit
men haben. Da das Problem dann rotationsinvariant um die z-
@ 1@
Achse ist, können wir in Kugelkoordinaten '-unabhängige Lö- Er D  ; E# D  ; E' D 0;
sungsansätze machen. Die allgemeine Lösung für r > R ist @r r @# (14.129)
somit gegeben durch 1
PD E
4
X 1
q 1 durch ähnliche Reihendarstellungen angeben.
a .r; #/ D C Bl lC1 Pl .cos #/; (14.123)
jr  dOzj lD0 r Die Polarisationsraumladungsdichte verschwindet,
1 1
wobei der erste Term das Potenzial der Punktladung bei natür- P D div P D  div E D  D 0; (14.130)
lichen Randbedingungen ist und die unendliche Summe der im 4 4
Unendlichen reguläre Anteil der allgemeinen Lösung der homo- weil im Innenraum die homogene Laplace-Gleichung erfüllt
genen Laplace-Gleichung bei Zylindersymmetrie von (13.169). ist. An der Oberfläche der Kugel ist die Polarisationsflächen-
ladungsdichte P gegeben durch
Im Inneren der Kugel erfüllt das Potenzial die homogene La-
place-Gleichung, da dort keine freien Ladungen vorliegen und P D Oer  .Pa  Pi /jrDR (14.131)
 konstant ist. Deshalb kann dort der im Ursprung reguläre An- 1  lC1
1 X .2l C 1/l R
teil von (13.169) angesetzt werden: D q Pl .cos #/:
4 R2 lD1 . C 1/l C 1 d
1
X
i .r; #/ D Al rl Pl .cos #/ (14.124) Wegen des bei der Differenziation entstandenen Faktors l haben
lD0 wir die untere Summationsgrenze auf l D 1 gesetzt. Das Feh-
len des Monopolanteils l D 0 hat zur Folge, dass die gesamte
für r < R. auf der Kugeloberfläche induzierte Polarisationsladung null ist,
Die Anschlussbedingungen an der Kugeloberfläche sind diesel- denn
ben wie in (14.61) bis (14.63). Um daraus die Koeffizienten Al , I Z1
Bl zu bestimmen, muss auch der erste Term in (14.123) nach Le- QP D df P D 2 R2 d.cos #/ P .#/
gendre-Polynomen entwickelt werden. Die Lösung dazu wurde
1
bereits in (13.193) angegeben und lautet: (14.132)
Z1
1
1
X rl  2 R2 d.cos #/ P0 .cos #/ P .#/ D 0
<
D P .cos #/;
lC1 l
(14.125)
jr  dOzj lD0 r >
1

wegen
wobei r< D min.r; d/ und r> D max.r; d/ ist. Für die An- Z1
schlussbedingungen ist r D R zu setzen, daher r< D R und 2
r> D d. Diese implizieren dx P0 .x/Pl .x/ D ı0l : (14.133)
.2l C 1/
1
1
X X1 
qRl Bl
Al R Pl D
l
lC1
C lC1 Pl ; (14.126) Betrachten wir schließlich  ! 1 als Grenzfall, der der leiten-
lD0 lD0
d R den Kugel entspricht, dann verschwinden alle Al für l > 0, und
X1 X1  es bleibt nur die von  unabhängige Konstante A0 , sodass
lqRl1 .l C 1/Bl
 lAl Rl1 Pl D  Pl (14.127) q
lD0 lD0
d lC1 RlC2 i ! A0 D : (14.134)
d
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 505

Bei den Bl müssen wir ebenfalls l D 0 und l > 0 im Limes Kehrwerte. Ohne Dielektrikum gilt
 ! 1 separat berechnen. Für l > 0 erhalten wir    
1 1 1 1
 l C1 D CI1 C CII1 WD  C  (14.138)
qR R2 R1 R R R2
Bl !  ; (14.135)
d d
in Übereinstimmung mit C1 D .1=R1  1=R2 /. Durch ein Di-
aber B0 D 0. Die Außenraumlösung hat damit die Form elektrikum in einem der beiden Teilkondensatoren wird in den
(14.125) mit d ! d 0 D R2 =d und Ladung q0 D qR=d, aller- Fällen (b) und (c) die Teilkapazität CI bzw. CII um einen Faktor
dings abzüglich des Terms mit l D 0. Dies entspricht genau der  erhöht. Dies ergibt
Lösung einer ungeladenen leitenden Kugel im Feld einer Punkt-
CI CII CI CII
ladung, die wir in Abschn. 12.4 diskutiert haben, wo zusätzlich C.b/ D ; C.c/ D : (14.139)
zur Bildladung q0 bei z D d 0 eine weitere mit q00 D q0 bei CI C CII CI C CII

Teil II
z D 0 einzuführen war.
Daraus kann man ablesen, dass es für den Zweck einer Maxi-
14.5 Im Fall (a) liegt die Grenzfläche zwischen Dielektrikum mierung der Gesamtkapazität am günstigsten ist, den kleineren
und Vakuum parallel zur radialen Richtung, in die auch das der beiden Werte CI und CII durch einen Faktor  > 1 zu ver-
elektrische Feld zeigt. Das elektrische Feld ist also bei gege- größern. Mit obigem Wert für R stellt sich heraus, dass immer
bener Potenzialdifferenz dasselbe wie ohne Dielektrikum, aber CII > CI und daher immer C.b/ > C.c/ ist.
wegen f D Dr =.4 / erhöht sich die freie Flächenladungsdich- Ob C.a/ größer oder kleiner als C.b/ ist, hängt dagegen sowohl
te auf den bedeckten Halbkugelschalen um einen Faktor : von  als auch vom Verhältnis R2 =R1 ab. Es ist leicht einzuse-
hen, dass für hinreichend große  immer Fall (a) gewinnt, denn
1C
C.a/ D C (14.136) C.a/ wächst für große  linear und unbeschränkt, während C.b/
2 für  ! 1 gegen CII konvergiert, denn in diesem Limes wird
der Kugelkondensator effektiv auf die zwei Radien R2 und R
mit C D .1=R1 1=R2 /1 aus dem Ergebnis für den Vakuumfall verkleinert. Für hinreichend kleines   1 gewinnt dagegen im-
(12.80). mer C.b/ , wie man durch eine Taylor-Entwicklung nachweisen
In den beiden anderen Fällen interpoliert das Potenzial nicht kann:
glatt mit einem 1=r-Verhalten zwischen den Kugelschalen, die 1
weiterhin Äquipotenzialflächen mit 1;2 bilden, sondern mit ei- C.a/ =C D 1 C .  1/; (14.140)
nem Knick, erzwungen durch die Stetigkeit von Dr D Er D 2 
@r bei r D R , wo die Dielektrizitätskonstante von 1 auf  .b/ R2
C =C D 1 C f .  1/ C O..  1/2 / (14.141)
springt. Die Bedingung, dass R das Innere des Kugelkonden- R1
sators durch eine weitere Kugeloberfläche in gleiche Volumina
teilt, ergibt mit der Funktion
"  1=3 #
4 14 x 2
.R3  R31 / D .R3  R31 / f .x/ D 1 : (14.142)
3 2 3 2 x1 1Cx
 3 1=3 (14.137)
R1 C R32
)R D : Diese interpoliert für x 2 .1; 1/ zwischen 1
2
und 1.
2
14.6 Das elektrische Feld ist in einem Zylinderkondensator
Das Potenzial .R / kann durch die Anschlussbedingung durch radial orientiert. Mit dem Gauß’schen Integralsatz findet man
eine einfache, wenn auch etwas längliche Rechnung bestimmt leicht, dass es invers proportional zum Abstand % von der Zylin-
werden, wodurch die Feldstärken und die freien Flächenla- derachse geht und daher das Potenzial proportional zu ln % ist
dungsdichten und somit die Ladung des Kugelkondensators in (siehe die allgemeine Lösung der Laplace-Gleichung für effek-
Abhängigkeit der Potenzialdifferenz 1  2 bestimmt werden tiv zweidimensionale Probleme, (14.95), wonach die allgemeine
können. Weiterhin gilt Q2 D Q1 , und die Kapazität kann aus Lösung bei '-Unabhängigkeit D A0 C B0 ln % lautet). Mit
Q1 =. 1  2 / abgelesen werden. .% D a/  .% D b/ D U ist bis auf eine irrelevante Konstan-
te
Diese Rechnung kann aber durch folgende Überlegung etwas
abgekürzt werden: Die Fälle (b) und (c) stellen gleichsam eine U U 1
.%/ D  ln %; ED eO % : (14.143)
serielle Schaltung von zwei Kondensatoren dar, denn die Trenn- ln.b=a/ ln.b=a/ %
fläche bei r D R ist eine Äquipotenzialfläche, und man kann
sich vorstellen, dass für die nach innen gewandte Seite eine La- Im Bereich des Kondensators mit dielektrischer Flüssigkeit ist
dung Q1 und für die nach außen gewandte Seite CQ1 D Q2 D D E. An der Grenzfläche ist die Anschlussbedingung, dass
vorliegt, sodass in Summe null Ladung vorhanden ist. Bei ei- das E-Feld stetige Tangentialkomponenten haben muss, durch
ner seriellen Schaltung von zwei Kapazitäten addieren sich die obige Lösung erfüllt; die anderen Komponenten sind alle null.
506 14 Elektrische Felder in Materie

Wie wir in Abschn. 14.4 gesehen haben, wird ein Dielektrikum 14.7 Für die Platte folgt aus der Stetigkeit der Normalkompo-
in den Kondensator gezogen, wobei bei konstanter Ladung die nente von D:
Feldenergie vermindert wird, während bei konstant gehaltenem
Potenzial die notwendige mechanische Energie von der Batterie Di D Da H) Ei D Ea D E0 ; (14.150)
geliefert und die Feldenergie weiter erhöht wird.
Die Steighöhe der dielektrischen Flüssigkeit lässt sich durch die da die Felder senkrecht zur Oberfläche stehen.
Energiebilanz Für den dünnen Stab ist nur dessen Mantelfläche von Bedeu-
ıWB D ıW C ıWmech (14.144) tung, die parallel zu E0 orientiert ist. Stetigkeit der Tangential-
ermitteln, wobei ıWB die von der Batterie geleistete Arbeit, ıW komponente von E führt nun auf
die Änderung der Feldenergie und ıWmech die mechanische Ar-
beit im Schwerefeld ist, wenn die Flüssigkeit um den Betrag ıh Ei D Ea D E0 : (14.151)
Teil II

steigt.
Hier ist wie bei der Kugel Di > Da .
Wegen des konstanten Potenzials und der konstanten Stärke des
E-Feldes nimmt die Ladung im Kondensator zu, wenn h um Für die Kugel gilt gemäß (14.69) Ei D C2 3
E0 . Wegen  > 1
ıh erhöht wird. Die freie Oberflächenladungsdichte ist durch liegt dieses Ergebnis zwischen den extremalen Werten von dün-
f D D% =4 D E% =4 gegeben. Ohne die Flüssigkeit ist ner Platte und dünnem Stab:
 D 1, nach Aufsteigen der Flüssigkeit kommt auf der Strecke
ıh der Faktor  > 1 des Dielektrikums hinzu, daher nimmt am 1 3 3
D < < 1: (14.152)
inneren Leiter, der gegenüber dem äußeren das Potenzial U hat,  3 C2
die Ladung um
1 1 In Aufgabe 14.3 wurde überdies der merklich aufwendigere Fall
ıQ D E% .a/2 aıh D Uıh (14.145) eines dünnen Stabes quer zu den Feldlinien gelöst. Der Faktor
4 2 ln.b=a/
2=. C 1/, der sich dort ergab, liegt zwischen den Werten von
zu (und die Ladung am äußeren Leiter gegengleich ab). Es wird dünner Platte und Kugel.
also die Ladungsmenge ıQ auf die Potenzialdifferenz U geho-
14.8 Der Laplace-Operator ist in allgemeinen orthogonalen Ko-
ben, und es ist
ordinaten durch (2.131) gegeben, wofür die Metrikkoeffizienten
1 hi gemäß (2.106) zu berechnen sind. In den prolat-sphäroidalen
ıWB D U ıQ D U 2 ıh: (14.146) Koordinaten (14.97) mit den alternativen Variablen (14.98),
2 ln.b=a/
p p
Wieder ist diese EnergieR das Doppelte des Betrags, um den x D a 2  1 1   2 cos ';
sich die Feldenergie 81 E  D dV im Kondensator erhöht: Die p p
y D a 2  1 1   2 sin '; (14.153)
Energiedichte erhöht sich im infinitesimal dünnen Kreisring mit
z 2 .h; h C ıh/ um 81 .  1/E2 , und Integration über diesen z D a  ;
ergibt
erhält man
Zb 2   2
1 h2 D a2 ;
ıW D ıh 2 % d% E 2
2  1
8
a 2   2 (14.154)
h2 D a2 ;
Zb 1  2
  1 U 2 ıh d% 1
D D U 2 ıh: h2' D a2 .2  1/.1   2 /
4 Œln.b=a/2 % 4 ln.b=a/
a
(14.147) und damit
Damit steht wegen ıWB  ıW D ıW der gleiche Betrag zur 
Verfügung, um Arbeit gegen das Gravitationsfeld zu leisten. Um 1 @ 2 @ @ @
D 2 2 .  1/ C .1   2 /
eine weitere Kreisringscheibe an Flüssigkeit der Dicke ıh auf a .   2 / @ @ @ @
die Höhe h zu heben, braucht es die Arbeit (14.155)
2   2 @2
C 2 :
ıWmech D gh.b2  a2 / ıh; (14.148) .  1/.1   2 / @' 2

wobei g die Erdbeschleunigung ist und .b2  a2 / ıh das Vo-


lumen der zusätzlichen Flüssigkeit. Vergleich von (14.147) mit Für Potenziale ohne '-Abhängigkeit lautet somit die Laplace-
(14.148) ergibt Gleichung

4 gh.b2  a2 / ln.b=a/ @ 2 @ @ @
1D : (14.149) .  1/ C .1   2 / D 0: (14.156)
U2 @ @ @ @
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 507

Zur Auffindung eines vollständigen Funktionensystems macht Die Anschlussbedingungen erfordern Stetigkeit der Tangential-
man den Separationsansatz komponenten von E D r an der Oberfläche bei  D 0
sowie Stetigkeit der Normalkomponenten von D.
D f ./ g./; (14.157)
Die einzige Tangentialkomponente, die E bei '-Unabhängigkeit
was auf des Problems haben kann, ist durch @ gegeben. Es muss
also auf der gesamten Oberfläche
1 1
@ .1   2 / @ g./ D @ .1  2 / @ f ./ D  (14.158)
g f @ @
 i .0 ; / D a .0 ; / (14.165)
@ @
führt. Für beide Funktionen ergibt sich hier die gleiche Legend-
re’sche Differenzialgleichung: gelten. Bis auf eine additive -unabhängige Konstante ist damit

Teil II
00 0
.1   / g  2g  g D 0;
2
(14.159)
i .0 ; / D a .0 ; /; (14.166)
00 0
.1   /f  2f  f D 0;
2
(14.160)
aber es ist auch keine additive Konstante möglich, weil sonst die
allerdings ist der Wertebereich von  und  unterschiedlich. In Ableitung in Normalenrichtung singulär wäre. Letztere geht in
der ersten hat man  2 Œ1; 1, wobei  D ˙1 der z-Achse die Berechnung der Komponente D D eO  D ein. Im Außen-
entspricht, sodass g./ dort regulär sein muss. Dies verlangt raum ist D D E, im Innenraum D D E C 4 P mit P D jPj zO .
 D l.l C 1/ mit l 2 N0 und die bekannten Legendre-Po- Stetigkeit der Normalkomponente von D verlangt nun
lynome als zugehörige reguläre Lösungen:
ˇ ˇ
ˇ ˇ
g./ D Pl ./: (14.161)  eO  r aˇ D Oe  r i ˇ C 4 jPj eO  zO: (14.167)
D 0 D 0

Damit ist auch eine mögliche Lösung für f ./ mit 1   < 1 Der Einheitsvektor eO ist gegeben durch
durch Pl gegeben, die bei  D 1 regulär ist, aber für  ! 1
ˇ ˇ
divergiert, wenn l > 0 ist. Eine zweite Klasse von Lösungen ist 1 @r ˇ @r ˇ
durch die Legendre-Funktionen zweiter Art gegeben, Ql , die für eO D ; N  ˇˇ ˇˇ : (14.168)
N @ @
 ! 1 verschwinden, aber bei  D 1 singulär sind. Dies ist
ganz ähnlich der allgemeinen Lösung in Kugelkoordinaten, wo Der Faktor 1=N fällt aus der Anschlussbedingung für D her-
positive und negative Potenzen der Radialkoordinate vorkamen, aus, sodass wir diese unter Verwendung von
die entweder im Ursprung oder im Unendlichen divergierten.
Den Funktionen rl und r.lC1/ entsprechen nun die Funktionen @r @ @r @z
Pl ./ bzw. Ql ./, wobei für große Abstände r  a gilt. r D ;  zO D D a (14.169)
@ @ @ @
Das Analogon zur allgemeinen Lösung der Laplace-Gleichung
in Kugelkoordinaten, bei der auf '-Unabhängigkeit einge- schreiben können als
schränkt wird, ˇ
@ ˇ @ ˇˇ
1   aˇ D iˇ C 4 jPj a; (14.170)
X 1 @ D 0 @ D 0
.r; cos #/ D Al rl C Bl lC1 Pl .cos #/; (14.162)
r
lD0 wobei im letzten Term  D P1 ./ identifiziert werden kann.
lautet in den gestreckt-sphäroidalen Koordinaten somit Damit ist klar, dass nur die Koeffizienten A1 und B1 ungleich
null sein werden. Die Anschlussbedingung (14.166) gibt
1
X
.;   cos v / D ŒAl Pl ./ C Bl Ql ./ Pl .cos v /: B1 Q1 .0 / D A1 P1 .0 / D A1 0 ; (14.171)
lD0
(14.163) die Bedingung (14.170)
Für den Außenraum des Ellipsoids sind nun die Al null zu
setzen, für den Innenraum die Bl , damit die Lösung im Unend-  B1 Q01 .0 / D A1 C 4 ajPj: (14.172)
lichen bzw. im Inneren regulär ist:
Dies führt auf
1
X
i .; / D Al Pl ./ Pl ./; B1 D 4 a jPj .20  1/0 ;
 
lD0
(14.164) 1 0 C 1 1 (14.173)
1
X A1 D B1 ln  :
2 0  1 0
a .; / D Bl Ql ./ Pl ./:
lD0
508 14 Elektrische Felder in Materie

Damit ist das Potenzial überall bestimmt. Im Inneren des Ellip- verschwindet N. (Für gestauchte Ellipsoide, die eine separate
soids ist Rechnung erfordern, wird übrigens N > 13 und erreicht im Ex-
tremfall einer dünnen Scheibe den Wert N D 1; Letzteres wird
A1 in Aufgabe 14.7 gezeigt.)
i D A1 P1 ./ P1 ./ D A1   D z (14.174)
a
Der Koeffizient B1 im Ergebnis für das Potenzial im Außenraum
und daher Ei D  Aa1 zO konstant. Mit (14.173) ist kann mit dem gesamten Dipolmoment p D jPjV des Ellipsoids
in Verbindung gebracht werden, wenn verwendet wird, dass das
Volumen des Ellipsoids gegeben ist durch
Ei D 4 PN.0 /;
 
0 0 C 1 (14.175) 4 2 4 4 3 2
N.0 / D .0  1/
2
ln 1 ; VD RZD .a sinh u0 /2 a cosh u0 D a .0  1/0 :
2 0  1 3 3 3
(14.176)
Teil II

wobei N.0 / Entelektrifizierungsfaktor genannt wird, da im Damit ist


3p
Fall, dass P durch ein äußeres elektrisches Feld hervorgerufen a D 2 Q1 ./ cos v : (14.177)
wird, das von P hervorgerufene Feld dem äußeren mit die- a
sem Faktor entgegenwirkt. Für verschwindende Exzentrizität Für große Abstände nähern sich die sphäroidalen Koordinaten
(1
0 ! 0), also für den Fall einer Kugel, ist N D 13 , in Über- Kugelkoordinaten an, wobei a ! r und v ! # wird. Mit
einstimmung mit dem Ergebnis (14.31). Für endliche Werte von Q1 ./ ! 1=.32/, wie man aus (14.101) ableiten kann, sehen
0 ist N < 13 ; im Grenzfall maximaler Exzentrizität 0 ! 1, wir, dass erwartungsgemäß das Potenzial bei großen Abständen
in dem das Ellipsoid zu einem unendlich dünnen Stab entartet, in das eines Dipols der Stärke p übergeht.
Literatur 509

Literatur

Lorrain, P., Corson, D.R., Lorrain, F.: Elektromagnetische Fel-


der und Wellen. De Gruyter, Berlin (1995)

Teil II
Magnetismus und elektrische
Ströme
15
Wie lassen sich die
Methoden der Elektrostatik
auf die Magnetostatik

Teil II
übertragen?

Was unterscheidet
magnetische Dipole von
elektrischen?

Was ist Magnetisierung?

Warum schweben
Supraleiter über
Magneten?

Was ist eine magnetische


Flasche?

Wie wird Strom erzeugt?

Wie wird elektrische


Energie zum Verbraucher
transportiert?

15.1 Magnetostatik im Vakuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512


15.2 Makroskopische Magnetostatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515
15.3 Lösungsmethoden der Magnetostatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522
15.4 Magnetostatische Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526
15.5 Bewegung von geladenen Teilchen in Magnetfeldern . . . . . . . . . . 530
15.6 Elektromotorische Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533
15.7 Makroskopische Elektrodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 546
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 511
512 15 Magnetismus und elektrische Ströme

Obwohl bei elektrischen Strömen elektrische Ladungsträger in Be- Magnetostatik. Letztere lauten:
wegung sind, ergeben sich oft stationäre Situationen, bei denen die
Phänomene des Magnetismus mit zeitunabhängigen Feldgleichun- 4
r  B.r/ D j.r/; (15.1)
gen beschrieben werden können. Dabei ist es natürlich wichtig, c
dass nicht die Bewegung der einzelnen Elementarladungen verfolgt r  B.r/ D 0: (15.2)
wird, sondern Ströme durch Verschiebungen von kontinuierlichen
Ladungsverteilungen auf makroskopischem Niveau beschrieben Hierbei ist j.r/ eine stationäre Stromverteilung, d. h., weder
werden. Ändern sich diese Ströme nicht in der Zeit – weder in die Stromstärke noch die räumliche Anordnung der elektrischen
ihrer Stärke noch in ihrer Lage –, dann können magnetische Phäno- Ströme darf sich verändern.
mene komplett unabhängig von elektrischen beschrieben werden,
nämlich durch die Magnetostatik. Da hier die Quellen allerdings Frage 1
vektoriellen Charakter haben – Ströme haben ja eine Richtung –, Warum ist die Stromdichte, die mit einer einzelnen gleichförmig
Teil II

ist die Magnetostatik gelegentlich etwas mühsamer als die Elektro- bewegten Punktladung verbunden ist, keine stationäre Strom-
statik, aber es gibt auch viele Gemeinsamkeiten in der Methodik. verteilung?

Wie schon in der Elektrostatik sind in vielen Anwendungen Polari- (Hinweis: Die Antwort steckt in der expliziten Darstellung
sationseffekte der Materie zu berücksichtigen, die sich als Magneti- (11.56).)
sierung manifestieren. Diese kann – im Gegensatz zur Elektrostatik,
wo Polarisation immer zu einer Abschwächung des elektrischen Fel-
des führt – sowohl abschwächend als auch verstärkend wirken. Für stationäre Stromverteilungen reduziert sich die Kontinui-
Extreme Verstärkungen treten durch das Phänomen des Ferro- tätsgleichung (11.44) auf
magnetismus auf, der entscheidenden Anteil an der technischen
Bedeutung von Magnetismus hat. (Das Eröffnungsbild dieses Kapi- r  j.r/ D 0; (15.3)
tels zeigt den gigantischen Magneten, der den ALICE-Detektor am
Large Hadron Collider des CERN umschließt – mit geöffneten „Tü- d. h., die Ströme haben keine Quellen oder Senken – Abfluss
ren“ und vor Einbau des Detektors.) und Zufluss von elektrischen Strömen addieren sich für jedes
beliebige Volumen auf null.
Einen anderen Extremfall stellen Supraleiter dar, die Magnetfelder
komplett aus ihrem Inneren verdrängen und deren wichtigste Ei-
genschaften wir mit den Methoden der klassischen Elektrodynamik
beschreiben werden, obwohl das Phänomen der Supraleitung selbst Vektorpotenzialgleichung
jenseits der klassischen Physik liegt.

Schrittweise werden wir in diesem Kapitel dann auch inhärent dyna- Wiederum können wir in einem ersten Schritt die homogene
mische Situationen betrachten. Neben den Feldgleichungen werden Gleichung r  B D 0 durch Übergang zu den elektrodynami-
wir insbesondere die Bewegungsgleichungen von geladenen Teil- schen Potenzialen, die wir in Abschn. 11.5 eingeführt haben,
chen in gegebenen Magnetfeldern studieren, die sich wegen der lösen:
Lorentz-Kraft völlig anders verhalten, als man es von konservativen B D r  A; (15.4)
Kraftfeldern gewohnt ist. wobei zu A ein beliebiges Gradientenfeld addiert werden kann,
Zum Schluss dieses Kapitels werden wir die makroskopische Be- weil dies das Magnetfeld unverändert lässt:
schreibung des Zusammenspiels von Materie und elektromagneti-
schen Feldern auf den uneingeschränkt zeitabhängigen Fall erwei- A ! A0 D A  r : (15.5)
tern. Elektrische und magnetische Phänomene können dann nicht
mehr getrennt behandelt werden, aber die Struktur der phänome- Diese (schon in Abschn. 11.5 diskutierte) Eichfreiheit können
nologischen Maxwell-Gleichungen ist von gleicher Eleganz wie auf wir durch die Coulomb-Eichbedingung (11.140),
fundamentaler Ebene, auch wenn diese durch Materialgleichungen
zu ergänzen sind, damit die Feldgleichungen gelöst werden können. r  A D 0; (15.6)

fixieren.
Einsetzen von (15.4) in die inhomogene Gleichung (15.1) liefert
15.1 Magnetostatik im Vakuum mit (11.131) die (Vektor-)Poisson-Gleichung

4
Wie wir zu Beginn von Kap. 12 festgestellt haben, zerfallen A.r/ D  j.r/; (15.7)
c
die Maxwell-Gleichungen bei Zeitunabhängigkeit von Feldern
und deren Quellen in zwei voneinander entkoppelte Gleichungs- was natürlich mit dem statischen Grenzfall der allgemeineren
systeme: die Grundgleichungen der Elektrostatik und die der Gleichung (11.132) übereinstimmt.
15.1 Magnetostatik im Vakuum 513

Achtung Wie schon in Abschn. 11.5 betont, ist diese Vektor-


Poisson-Gleichung in Komponenten einfach Aus (15.11) ergibt sich, dass A nur eine z-Komponente
hat, da dr0 in z-Richtung zeigt. In Zylinderkoordinaten
4 hängt Az wegen der Rotationssymmetrie des Problems
Ai .r/ D  j .r/; i 2 .x; y; z/; (15.8)
c i nicht von ' ab und ist gegeben durch
solange für A kartesische Komponenten verwendet werden. Zz2
I 1
Wenn andere als kartesische Koordinatensysteme eingesetzt Az .%; z/ D dz0 p
werden sollen, ist es daher vorteilhaft, weiterhin die vektoriel- c %2 C .z0  z/2
z1
len Größen in kartesischen Komponenten anzuschreiben, damit
zZ2 z
auch in krummlinigen Koordinaten der gewöhnliche skalare La- I 1 (15.13)
place-Operator eingesetzt werden kann. J D dNz p
c %2 C zN 2

Teil II
z1 z
In kartesischen Komponenten haben wir also einfach drei sepa-
rate Poisson-Gleichungen, anstelle von bloß einer wie im Fall I  p ˇz2 z
ˇ
D ln zN C 2 C zN2 ˇ :
der Elektrostatik. Wir können daher von dort unmittelbar die c NzDz1 z
allgemeine Lösung übernehmen, sofern natürliche Randbedin-
gungen vorliegen (d. h., es werden keine Randbedingungen im Für ein Leiterstück von z1 D L bis z2 D L ergibt dies
Endlichen auferlegt, und Felder und Quellen fallen im Unendli- p
chen hinreichend schnell ab): I .L  z/2 C %2 C L  z
Az .%; z/ D ln p : (15.14)
Z c .L C z/2 C %2  .L C z/
0
1 j.r /
A.r/ D dV 0 (15.9)
c jr  r0 j Für einen langen Leiter bzw. hinreichend nahe am Leiter-
stück, L % und L z, haben wir nach einer Taylor-
mit A D .Ax ; Ay ; Az /> und j D . jx ; jy ; jz /> . Diese Lösung er- Entwicklung des Arguments des Logarithmus
füllt die Coulomb-Eichbedingung, wenn r  j D 0 erfüllt ist und
die Quellen so beschaffen sind, dass das Integral (15.9) auch I 2L C : : : 2I 2L
Az D ln D ln
existiert (Aufgabe 15.1). c 12 %2 =L C : : : c % (15.15)
   
Eingesetzt in (15.4) ergibt sich mithilfe von (11.26) die Integral- CO .%=L/ C O .z=L/ :
2 2

version des Biot-Savart-Gesetzes (11.37):


Im Limes L ! 1 divergiert somit A. Allerdings ist dies
Z
1 j.r0 /  .r  r0 /
0
kein Problem für B D r  A, da die Unendlichkeit ein
B.r/ D dV : (15.10) konstanter Beitrag ist (wegen ln.2L=%/ D ln.2L/  ln.%/)
c jr  r0 j3
und bei der Differenziation herausfällt. Das resultierende
B-Feld hat dabei nur eine Komponente in '-Richtung,
Speziell für eine einzelne, linienförmige Leiterschleife reduziert
sich dV 0 j.r0 / auf Idr0 , mit konstanter Stromstärke I, die vor das @Az 2I 1
Integral gezogen werden kann: B' D  D ; (15.16)
@% c %
I
I dr0 wie wir schon in den Aufgaben zu Kap. 11, (11.164), (viel
A.r/ D ; (15.11)
c jr  r0 j einfacher) aus der Integralversion des Oersted’schen Ge-
I
I dr0  .r  r0 / setzes (11.42) abgeleitet haben.
B.r/ D : (15.12)
c jr  r0 j3 Mit dem Ergebnis (15.13) lässt sich auch unmittelbar
das Magnetfeld einer kompletten Leiterschleife, die ein
Stromführendes gerades Leiterstück Polygon bildet, d. h. aus lauter geraden Leiterstücken zu-
sammengesetzt ist, durch Superposition angeben. Das
Berechnet werden soll nun der Beitrag eines stromführen- Feld von gekrümmten Leiterschleifen führt dagegen auf
den geraden linienförmigen Leiterstücks, das auf der z- anders geartete Integrale. Im Fall einer kreisförmigen
Achse das Intervall .z1 ; z2 / ausfüllt, zu Magnetfeld B bzw. Leiterschleife kann man nur entlang der Symmetrieachse
Vektorpotenzial A. Ein begrenztes Leiterstück verletzt elementare Ausdrücke angeben (Aufgabe 15.2); abseits
zwar für sich genommen die Forderung der Stromerhal- davon ergeben sich sogenannte elliptische Integrale. J
tung, aber dank des Superpositionsprinzips spricht nichts
dagegen, solche begrenzten Leiterstücke für sich zu be-
trachten und die zugehörigen Anteile zum Gesamtfeld Für den Fall, dass Randbedingungen im Endlichen vorliegen,
einer geschlossenen Leiterschleife einzeln zu berechnen. sind die Lösungen (15.9) bzw. (15.10) für natürliche Randbe-
dingungen noch durch Addition von homogenen Lösungen so
514 15 Magnetismus und elektrische Ströme

zu modifizieren, dass die gewünschten Randbedingungen er-


füllt werden. Wir werden Lösungsmethoden dazu erst etwas Definition des magnetischen Dipolmoments
später diskutieren, und zwar nach der Erweiterung zur makro-
skopischen Magnetostatik und der Diskussion der Rand- und Das magnetische Dipolmoment einer Stromverteilung ist
Anschlussbedingungen, die sich dort ergeben. gegeben durch
Z
1
mD dV r  j.r/: (15.23)
2c
Magnetisches Dipolmoment
Dipolmoment einer Leiterschleife
Betrachten wir eine um den Ursprung des Koordinatensystems
lokalisierte Stromverteilung j.r/, d. h. j.r/ D 0 für jrj > R Eine geschlossene Leiterschleife L, in der ein Strom der
Teil II

bei hinreichend großem R, dann können wir die allgemeine Lö- Stärke I fließt, hat mit j.r0 /dV 0 ! I dr0 das magnetische
sung für natürliche Randbedingungen (15.9) ganz ähnlich wie Dipolmoment
das elektrostatische Potenzial in Abschn. 13.4 nach inversen I
Potenzen von r D jrj entwickeln. Mit I
mD r  dr: (15.24)
2c
1 1 r  r0 L
0
D C 3 C ::: für r > r0 (15.17)
jr  r j r r
Dieser Ausdruck kann mithilfe des Stokes’schen Sat-
bekommen wir zes (siehe den „Mathematischen Hintergrund“ 11.3) noch
Z Z vereinfacht werden. In Indexschreibweise lautet dieser
1 xj
Ai .r/ D dV 0 ji .r0 / C 3 dV 0 xj0 ji .r0 / C : : : (15.18) für L D @F, wobei F eine von L eingeschlossene Flä-
cr cr che bezeichnet,
I Z
Der erste Beitrag würde einem Monopolbeitrag entsprechen und
ist tatsächlich null. Wegen r 0  j.r0 / D @0k jk .r0 / D 0 kann näm- dxk .: : :/ D dfi "ijk @j .: : :/; (15.25)
lich ji als totale Ableitung geschrieben werden: @F F

@0k .x0i jk / D ıki jk D ji : (15.19) und dies liefert


I Z
I I
Daher kann mit dem Gauß’schen Satz das Volumenintegral über ml D "lmk xm dxk D dfi "ijk @j ."lmk xm /
j in ein Oberflächenintegral umgeformt werden, aber bei ei- 2c 2c
@F F
ner lokalisierten Stromverteilung verschwindet der Integrand Z Z
I I
für alle Volumina V, welche die Stromverteilung komplett ein- D dfi "ijk "ljk D dfl ; (15.26)
schließen: 2c c
F F
Z Z I
dV 0 ji .r0 / D dV 0 @0k .x0i jk / D dfk0 x0i jk D 0: (15.20) wobei "ijk "ljk D 2ıil verwendet wurde. Somit ist
V V @V
Z
I I
mD df  f F ; (15.27)
Ist V hinreichend groß, haben wir nämlich jj@V  0, und wir c c
F
können auf V ! R3 erweitern.
wobei die drei Komponenten von f F die drei verschie-
Im zweiten Term von (15.18) kann man folgende Umformung
denen Projektionen der eingeschlossenen Fläche F auf
verwenden:
die Ebenen senkrecht zur x, y und z-Achse sind. Ist die
1 1 Leiterfläche eben mit Normalenvektor n, ist dies einfach
xj0 ji D  "ijk "klm x0l jm C @0m . jm xj0 x0i /: (15.21) m D cI jFjn, wobei jFj den Flächeninhalt angibt. J
2 2

Frage 2
Rechnen Sie diese Identität nach. Vektorpotenzial und Magnetfeld eines reinen magnetischen Di-
pols (Punktdipol) lauten
Unter einem Integral über ein Volumen, das die Stromverteilung mr
ADipol .r/ D ; (15.28)
vollständig einschließt, verschwindet wiederum der letzte Term r3
in (15.21) und wir können damit (15.18) alternativ schreiben als 3 .m  r/ r  r2 m
Z BDipol .r/ D r  ADipol D : (15.29)
r   r5
A.r/ D   dV 0 r0  j.r0 / C : : : (15.22)
2cr 3 Frage 3
Rechnen Sie (15.29) in Indexschreibweise nach.
Dieser führende Term stellt den Dipolbeitrag dar.
15.2 Makroskopische Magnetostatik 515

der ausrichten lassen; zusätzlich lassen sich in den Elektronen-


hüllen von Atomen Kreisströme induzieren. Beide werden oft
kollektiv als Ampère’sche Molekularströme bezeichnet, nach-
dem Ampère 1822 ihre Existenz postulierte. Allerdings ist eine
klassische Beschreibung nicht wirklich möglich, da die Quan-
tenmechanik hier eine zentrale Rolle spielt, wie in Kap. 29
gezeigt wird.

Phänomenologische Grundgleichungen
der Magnetostatik

Teil II
Um die Effekte von Magnetfeldern in Materie rein phäno-
menologisch zu beschreiben, ist es zunächst, genauso wie in
der makroskopischen Elektrostatik in Abschn. 14.1, notwendig,
über die atomaren Strukturen zu mitteln. Mit der dort eingeführ-
ten Mittelungsprozedur definieren wir
Z
hj.r/i D dV 0 f .r0 / j.t; r C r0 /; (15.30)
Z
hA.r/i D dV 0 f .r0 / A.t; r C r0 /; (15.31)
Z
hB.r/i D dV 0 f .r0 / B.t; r C r0 /

 hr  A.r/i D r  hA.r/i; (15.32)


Abb. 15.1 Vergleich von elektrischen und magnetischen Feldern, die von zwei
Punktladungen (oberes Bild ) bzw. von einem Kreisstrom (unteres Bild ) erzeugt R
werden. Vom Kreisstrom sind nur die Durchstoßpunkte mit der Zeichenebene
wobei dV 0 f .r0 / D 1 sein soll mit einer Glättungsfunktion
angegeben, aus der er auf der linken Seite aus dieser heraus und auf der rech- f , die auf einen mikroskopisch großen, aber makroskopisch
ten wieder hinein fließt. Wie man sieht, haben beide Felder für große Abstände kleinen Bereich um den Ursprung konzentriert ist. Die auf
dieselbe Dipolform, für kleine Abstände ergeben sich aber wesentliche Unter- mikroskopischer Ebene vorhandenen Zeitabhängigkeiten ver-
schiede schwinden wieder, solange auf makroskopischer Ebene statio-
näre Verhältnisse vorliegen. Später werden wir auch zeitabhän-
gige Probleme betrachten; die räumliche Mittelung sorgt dann
Das magnetische Feld eines magnetischen Dipols hat damit ge- dafür, dass nur makroskopisch interessante Zeitabhängigkei-
nau dieselbe Form wie das elektrische Feld eines elektrischen ten übrig bleiben. Diese Mittelungsprozedur ist jedenfalls, wie
Dipols, (13.131), wenn E durch B und p durch m ersetzt wird. schon in Abschn. 14.1 besprochen, vertauschbar mit Ableitun-
gen nach den Argumenten der gemittelten Felder.
Wie Abb. 15.1 zeigt, unterscheiden sich aber die elektrischen
und magnetischen Felder, die von zwei gegengleichen Punktla- Wieder entwickeln wir die Felder der einzelnen Moleküle
dungen bzw. von einem Kreisstrom erzeugt werden und die für nach Multipolen, wobei normalerweise nur Dipolbeiträge wich-
große Abstände Dipolfelder ergeben, im Nahfeldbereich recht tig sind und höhere Multipolmomente vernachlässigt werden
stark voneinander. Wie im Kasten „Vertiefung: Mittelwertsät- können, weil sie schneller abfallen (für eine Diskussion von hö-
ze der Elektrostatik und der Magnetostatik“ gezeigt wird, gibt heren Multipolbeiträgen vgl. de Groot 1969). Für das Feld des
es auch im Limes punktförmiger elektrischer und magnetischer j-ten Moleküls haben wir
Dipole noch einen Unterschied zu beachten, der Dirac-ı-förmig
r  rj 1
im Ursprung lokalisiert ist. A.j/ .r/ D m.j/  C : : : D m.j/  r C :::;
jr  rj j3 jr  rj j
(15.33)
und die mikroskopische Verteilung von magnetischen Dipolen
15.2 Makroskopische Magnetostatik schreiben wir als
X
mol .r/ D m.j/ ı.r  rj /: (15.34)
Auf atomarer und molekularer Ebene existieren mikroskopische j
magnetische Dipolmomente in verschiedenen Formen. Zum
einen haben alle elektrisch geladenen Elementarteilchen intrin- Wenn wir eventuell vorhandene, nicht an Moleküle gebunde-
sische magnetische Momente, die sich durch äußere Magnetfel- ne Stromdichten als Leitungsstromdichte jleit bezeichnen, ergibt
516 15 Magnetismus und elektrische Ströme

Vertiefung: Mittelwertsätze der Elektrostatik und der Magnetostatik


Elektrische und magnetische Punktdipole und Kontaktterme

In der Elektro- und Magnetostatik lassen sich bei natürli- Berechnet man andererseits direkt den Mittelwert der elek-
chen Randbedingungen folgende Ausdrücke für elektrische trischen bzw. magnetischen Felder, die zu einem reinen
und magnetische Felder herleiten, die über eine Vollkugel Dipolfeld gehören, so findet man bei der Integration für jede
mit Radius R gemittelt werden: Kugelschale mit festem Abstand r null:
Z Z Z
hEiR WD
3 3 .p  r/ r  r2 p 3 .m  r/ r  r2 m
4 R3
dV E.r/ d D0D d ;
r5 r5
Teil II

r<R
Z Z
r0 1 da mit p bzw. m in z-Richtung diese Integrale nur Beiträge
D dV 0 .r0 /  3 dV 0 .r0 / r0 proportional zu eO z geben können, in Kugelkoordinaten die
r 0 3 R
r0 >R r0 <R entsprechende Komponente aber auf
1 <
DW E.0/>  p ; Z1
R3
d.cos #/Œ3 cos2 #  1 D 0
wobei E.0/> der Anteil des elektrischen Feldes im Mittel- 1
punkt der Kugel ist, der von den Quellen außerhalb der Kugel
erzeugt wird, und p< das Dipolmoment der Ladungsvertei- führt.
lung innerhalb der Kugel ist; analog:
Das heißt, die elektrischen und magnetischen Dipolfelder
Z 0 0 Z können nicht einschließlich des Ursprungs des Dipols gültig
1 r  j.r / 2 1
hBiR D dV 0 C 3 dV 0 r0  j.r0 / sein. Die Mittelwertsätze zeigen, dass sie dort um folgende
c r03 R 2c Kontaktterme zu modifzieren sind:
r0 >R r0 <R

2 < 3 .p  r/ r  r2 p 4
DW B.0/> C m : EPktdipol .r/ D  p ı.r/;
R3 r5 3
3 .m  r/ r  r2 m 8
(Der Beweis dieser Mittelwertsätze der Elektro- und Magne- BPktdipol .r/ D C m ı.r/:
r5 3
tostatik wird in Aufgabe 15.3 erbracht.)
Betrachtet man nun Dipole mit verschwindender räumlicher Die Vorzeichen dieser Kontaktterme passen zu der Tatsache,
Ausdehnung (Punktdipole) im Inneren der Mittelungskugel dass das elektrische Feld zwischen zwei Punktladungen, die
und keine weiteren Quellen außerhalb dieser, dann besagen einen Dipol bilden, entgegengesetzt zur Richtung des Di-
die Mittelwertsätze, dass der Mittelwert des elektrischen und pols zeigt, während das magnetische Feld im Zentrum einer
des magnetischen Feldes durch p=R3 bzw. C2m=R3 gege- Leiterschleife dieselbe Richtung wie das zugehörige magne-
ben ist. tische Moment hat (siehe Abb. 15.1).

sich für das gesamte (noch ungemittelte) Vektorpotenzial der Frage 4


genäherte Ausdruck Was folgt daraus für den Quellterm der Vektor-Poisson-Glei-
Z chung für hA.r/i?
jleit .r00 / 1
A.r/ D dV 00 00
 mol .r00 /  r (15.35)
c jr  r j jr  r00 j
und gemittelt
Z Z
jleit .r00 / Wenn wir auf beiden Seiten  anwenden, bekommen wir auf
hA.r/i D dV 0 f .r0 / dV 00 der rechten Seite eine Dirac-Deltafunktion,
c jr C r0  r00 j

00 1 1
 mol .r /r : (15.36)  D 4 ı.r C r0  r00 /; (15.37)
jr C r0  r00 j jr C r0  r00 j
15.2 Makroskopische Magnetostatik 517

sodass das Integral über r00 trivial ausgewertet werden kann, was
auf Phänomenologische Grundgleichungen
in der Magnetostatik
4
hA.r/i D r  hB.r/i D hj .r/i C 4 r  h mol .r/i Durch Einführen der makroskopischen magnetischen
c leit
4 Feldstärke H
DW hj .r/i H DB4 M (15.44)
c ges
(15.38)
führt. können wir neue inhomogene Grundgleichungen aufstel-
len, in denen nur noch die freie Leitungsstromdichte jf als
Für die gemittelte magnetische Dipoldichte in der Materie füh- Quelle aufscheint, während die homogene Maxwell-Glei-
ren wir die Bezeichnung Magnetisierung M.r/ ein: chung weiterhin von B (nicht aber im Allgemeinen von
H) erfüllt wird:

Teil II
M.r/ WD h mol .r/i: (15.39)
4
Die Rotation dieses Feldes liefert gemäß (15.38) einen Teil der rot H D j; (15.45)
c f
gesamten Stromdichte, der als Magnetisierungsstromdichte div B D 0: (15.46)
jM WD c r  M (15.40) Die inhomogene Gleichung (15.45) verlangt, dass
bezeichnet wird. Da M definitionsgemäß im Vakuum null div jf D 0 (15.47)
ist, verschwindet ein geschlossenes Wegintegral, welches im
Vakuum verläuft und ein Materiestück umschließt. Mit dem ist, kann also nicht in der vollen, zeitabhängigen Elek-
Stokes’schen Satz ergibt dies für eine von einem solchen Weg trodynamik gültig bleiben, da im Allgemeinen div jf D
begrenzte Fläche F, die das Materiestück vollständig durch- @ t f gilt.
trennt, die Aussage
I Z Z
1
dr  M D df  .r  M/ D df  jM D 0: (15.41) (Die vollen makroskopischen Maxwell-Gleichungen werden in
c
@F F F Abschn. 15.7 diskutiert werden.)

Die Magnetisierungsstromdichte liefert also keinen Beitrag In SI-Einheiten definiert man dagegen
zum Gesamtstrom durch beliebige Schnittflächen, die Materie
1 ŒSI
komplett durchschneiden; dieser wird wenig überraschend aus- HŒSI D B  MŒSI ; (15.48)
schließlich von hjleit i geliefert. 0

Frage 5 und (15.45) lautet damit


Überlegen Sie sich, warum jM einen Nettofluss durch Flächen
ergeben kann, wenn F keine vollständige Schnittfläche ist! Stel- rot HŒSI D jŒSI
f : (15.49)
len Sie sich dabei jM z. B. als winzige Kreisströme im Inneren
der Materie vor.
Achtung Wie in der „Übersicht: Umrechnungstabelle“ in
Abschn. 11.3 zusammengefasst, wird als Einheit für das B-
Da wir für die phänomenologischen Grundgleichungen der Feld das Gauß (G) verwendet, für das H-Feld das Oersted
Magnetostatik nur noch gemittelte Größen betrachten werden, (Oe), was als Einheit mit dem Gauß identisch ist (beide
lassen wir im Folgenden die Mittelungssymbole beim B-Feld sind nichts weiter als 1 cm1=2 g1=2 s1 ). Im SI-System ha-
und dem freien Leitungsstrom weg, den wir in Analogie zu f ben B- und H-Felder dagegen unterschiedliche physikalische
als jf bezeichnen: Dimension, weil 0 keine reine Zahl ist: Das H-Feld wird in
Einheiten von Magnetisierung (magnetisches Moment pro Vo-
hBi ! B; hjleit i ! jf : (15.42) lumen, Ampere  m2 =m3 D Ampere=m) angegeben, das B-
Feld dagegen in Einheiten von magnetischer Fluss pro Fläche
Gleichung (15.38) lautet damit (Weber=m2 D Tesla D 104 Gauß). J

4 4 Da historisch bedingt das phänomenologische Hilfsfeld H als


rot B D .j C jM / D j C 4 rot M: (15.43) magnetische Feldstärke bezeichnet wird, wird zur Unterschei-
c f c f
dung in Anwesenheit von Materie oft das (gemittelte) funda-
Da die Magnetisierungsstromdichte als Rotation des Magneti- mentale Feld B als magnetische Flussdichte oder magnetische
sierungsfeldes M auftritt, kann dieses mit B kombiniert und zu Induktion bezeichnet, wobei darauf zu achten ist, dass die letz-
einem Hilfsfeld zusammengefasst werden. tere Namensgebung nicht zu Verwechslungen mit den anderen
518 15 Magnetismus und elektrische Ströme

Verwendungen des Wortes „Induktion“ in der Elektrodyna- Bevorzugung von H zusammen. In dem aus (15.51) folgenden
mik führt. (Im Vakuum fallen H und B natürlich zusammen.) linearen Zusammenhang von B und H wird die Permeabilitäts-
Diese Bezeichnungen dürfen außerdem nicht darüber hinweg konstante  definiert durch
täuschen, dass das B-Feld das tatsächliche (gemittelte) Magnet-
feld in der Materie darstellt. Die Reservierung des Begriffs der B D H C 4 M D .1 C 4 m /H DW H: (15.52)
magnetischen Feldstärke für H ist daher, wie der bedeutende
theoretische Physiker Arnold Sommerfeld (1868–1951) formu- Achtung Im SI-System, in dem auch dem Vakuum eine Per-
lierte, „unglücklich gewählt“ und „sollte soweit als möglich meabilitätskonstante zugeordnet wird, entspricht obiges  der
vermieden werden“ (Sommerfeld 1988). Da die Bezeichnun- relativen Permeabilitätskonstanten r D ŒSI =0 . Zu beachten
gen mit den Symbolen B und H universell und unstrittig sind, ist außerdem, dass sich in diesen zwei Maßsystemen die ma-
kann man jedenfalls einfach von B- und H-Feldern sprechen, gnetischen Suszeptibilitäten wegen ŒSI
m D 4 m um gut eine
um Missverständnisse zu vermeiden. Größenordnung unterscheiden. J
Teil II

Von einem praktischen Gesichtspunkt gesehen, ist das H-Feld Ähnlich wie im Fall von elektrisch polarisierbarer Materie
im Inneren von Materie allerdings experimentell leichter fest- macht es einen Unterschied, ob auf molekularer Ebene perma-
zulegen als das fundamentale B-Feld. Die Integralversion von nente magnetische Dipole vorhanden sind, die durch Magnet-
(15.45) lautet felder ausgerichtet werden können, oder nicht. Ohne diese hat
I Z man es generell mit Diamagnetismus zu tun. Das Einschalten
4 4 äußerer Magnetfelder induziert hier mikroskopische Ringströ-
dr  H.r/ D I df  jf .r/: (15.50)
c c me, deren magnetisches Moment gemäß der Lenz’schen Regel
@F F dem äußeren Feld entgegengerichtet ist, sodass m negativ ist.
Die Beträge von m sind hierbei aber typischerweise sehr klein
Da Leitungsströme für gewöhnlich von außen durch Anschlie- gegen eins; Wasser und Kupfer haben beispielsweise m
ßen an Batterien und andere Stromquellen zugeführt werden, 7  107 bzw. 8  107 .
sind sie direkt messbar, und damit ist die Zirkulation des H-Fel-
des gegeben. Wenn gewisse Symmetrien in der Anordnung der Wenn molekulare permanente magnetische Dipolmomente vor-
Materie vorhanden sind, lässt sich damit oft schon H komplett handen sind, die ohne äußere Magnetfelder ungeordnet sind,
bestimmen. Das B-Feld hängt dagegen von der nicht so direkt kommt es dagegen zu Paramagnetismus. Hier ist m positiv;
kontrollierbaren Magnetisierbarkeit der Materie ab, wo oft so- die Ausrichtung der magnetischen Dipolmomente durch äußere
gar die Vorgeschichte der Magnetisierung eine Rolle spielt. In Felder verstärkt hier das Feld. Der Grund für das anders gear-
der Elektrostatik hatten wir dagegen bei den Beispielen von tete Verhalten im Vergleich zu Orientierungspolarisation in der
Kondensatoren, die mit polarisierbarem Material gefüllt wur- Elektrostatik liegt darin, dass magnetische Dipolmomente nicht
den, deren Potenziale als experimentell direkt messbare Größen. aus entgegengesetzten magnetischen Monopolladungen aufge-
Aus den Potenzialen lassen sich (wieder bei hinreichender Sym- baut sind, an denen Feldlinien entspringen und enden könnten.
metrie) die E-Felder direkt bestimmen, während die D-Felder Während im Inneren eines elektrischen Dipols, der aus zwei
davon abhängen, wie sich die Ladungen auf den Platten ei- entgegengesetzten, voneinander separierten Ladungen besteht,
nes Kondensators verteilen. Dies erklärt zumindest teilweise, das von ihm erzeugte elektrische Feld umgekehrt orientiert ist,
warum historisch den H- und E-Feldern eine primäre Rolle zu- ist dies im Inneren eines magnetischen Dipols, der von einem
geschrieben wurde. Ringstrom gebildet wird, eben nicht der Fall (siehe Abb. 15.1).
Paramagnetismus ist wie die elektrische Orientierungspolari-
sation ein Phänomen, das mit der Temperatur abnimmt, denn
höhere Temperatur erhöht die Unordnung. Für lineare Medi-
Materialgleichungen für magnetische Medien en verhält sich m typischerweise umgekehrt proportional zur
absoluten Temperatur, während Diamagnetismus ebenso wie
Um die phänomologischen Grundgleichungen für die B- und H- elektrische Deformationspolarisation weitgehend temperatur-
Felder lösen zu können, bedarf es wieder zusätzlicher („konsti- unabhängig ist. Ein Beispiel für ein paramagnetisches Material
tutiver“) Gleichungen, die z. B. M als Funktion der Felder E und ist Aluminium mit m  C1;7  106 bei Raumtemperatur.
H bestimmen. Beim Ferromagnetismus kommt es unterhalb einer kritischen
In linearen Medien sind Polarisation und Magnetisierung direkt Temperatur, der sogenannten Curie-Temperatur (benannt nach
proportional zu den elektrischen und magnetischen Feldstärken. Pierre Curie, 1859–1906), zur spontanen Ausrichtung von ma-
Analog zur elektrischen Suszeptibilität definiert ein linearer Zu- gnetischen Momenten innerhalb von räumlich mehr oder weni-
sammenhang ger ausgedehnten Domänen oder Weiss’schen Bezirken (benannt
M D m H (15.51) nach dem französischen Physiker Pierre-Ernest Weiss, 1865–
1940). Verantwortlich für diese kollektive Ausrichtung sind
die magnetische Suszeptibilität m . Dass hier H und nicht übrigens nicht allein die magnetischen Wechselwirkungen zwi-
das fundamentalere B-Feld verwendet wird, hängt mit der oben schen den elementaren Dipolmomenten, sondern die Gesetze
angesprochenen historisch und auch experimentell bedingten der Quantenmechanik, wie in Abschn. 36.6 diskutiert wird.
15.2 Makroskopische Magnetostatik 519

MR

Abb. 15.2 Vergrößerung von Weiss’schen Bezirken bei Anlegen eines äußeren −HC H
Magnetfeldes

Das prominenteste Beispiel eines ferromagnetischen Materials

Teil II
ist das namensgebende Eisen (lateinisch ferrum), wo es im In-
Abb. 15.3 Magnetisierungskurve eines Ferromagneten. Die blaue Kurve stellt
neren einer isolierten Domäne zu einem Magnetfeld von etwas die Neukurve dar, wenn ursprünglich keine Magnetisierung vorhanden war; die
über 2 Tesla (20.000 Gauß) kommt. Makroskopische Objekte rote Kurve gibt die Hysterese wieder, die sich ergibt, wenn das Feld nach der
aus Eisen bestehen aber aus sehr vielen Domänen, die norma- Sättigung wieder verringert wird und in der Folge mit wechselnder Polarität auf
lerweise Ausdehnungen im Bereich von wenigen Mikrometern Sättigungsstärke gebracht wird. Die Magnetisierung bei H D 0 definiert die
haben, und die Magnetisierung mittelt sich weitgehend zu null. Remanenzfeldstärke BR D 4 MR ; der Wert von H, bei dem M wieder auf
Wird aber ein äußeres Magnetfeld angelegt, verschieben sich null gebracht werden kann, heißt Koerzitivfeldstärke HC . (Wie später in diesem
Kapitel noch ausgeführt wird, beziehen sich die Werte MR und HC auf den Fall
die Grenzen zwischen den Domänen zugunsten von Domänen eines idealen, unendlich langen Stabmagneten; für andere Geometrien ist die
mit Magnetisierung in Richtung des äußeren Feldes (Abb. 15.2), tatsächliche Remanenzfeldstärke geringer)
und es kommt zu einer großen Verstärkung des Magnetfeldes
innerhalb des Ferromagneten durch die zunehmend geordnete
n
Magnetisierung. Die Magnetisierung nimmt zunächst in etwa
Fläche Δa
linear zu, bis schließlich Sättigung eintritt. Wird das äußere
Magnetfeld wieder abgeschaltet, geht auch die Magnetisierung 2
wieder zurück, verschwindet aber nicht mehr ganz (Remanenz). Höhe
Zur Entmagnetisierung braucht es dann ein gewisses entge- Δh
gengesetztes Feld. Der Zusammenhang von äußeren Feldern
und Magnetisierung, MŒH, ist damit nicht nur nichtlinear, son-
1
dern auch von der Vorgeschichte abhängig (Abb. 15.3), was als
Hysterese bezeichnet wird (abgeleitet vom griechischen Wort
hysteros für „hinterher“, „später“).
Abb. 15.4 Zur Herleitung der Anschlussbedingung für B

n
Anschlussbedingungen an Grenzflächen Länge Δl

2
Da jede Materie von begrenzter Ausdehnung ist, müssen wir uns
wie in Abschn. 14.2 überlegen, welche Anschlussbedingungen
die phänomenologischen Felder an den Grenzflächen zu erfül- t
len haben. Dazu betrachten wir wieder die Integralversionen der 1
relevanten Gleichungen. kf

Das B-Feld erfüllt die homogene Maxwell-Gleichung


div B D 0, und damit gilt für jedes beliebige Volumen Abb. 15.5 Zur Herleitung der Anschlussbedingung für H
I
df  B D 0: (15.53)
@V d. h., die Normalkomponente von B ist auf der Grenzfläche ste-
tig.
Mit einem infinitesimalen Volumen um einen Punkt auf der
Grenzfläche von zwei magnetischen Medien (oder von einem Für das H-Feld gilt dagegen die Integralgleichung (15.50):
Medium und angrenzendem Vakuum), wie in Abb. 15.4 darge-
stellt, bekommen wir im Limes a ! 0, h ! 0 I Z
4
dr  H.r/ D df  jf .r/; (15.55)
c
n  .B2  B1 / D 0; (15.54) @F F
520 15 Magnetismus und elektrische Ströme

Vertiefung: Supraleiter als idealer Diamagnet


Viele Eigenschaften folgen unmittelbar aus den Anschlussbedingungen

Der niederländische Physiker und Nobelpreisträger Heike


Kamerlingh Onnes (1853–1926) entdeckte 1911, drei Jahre
nachdem es ihm geglückt war, flüssiges Helium herzustellen,
das Phänomen der Supraleitung. Unterhalb einer kritischen
Temperatur verlieren einige Materialien ihren elektrischen
Widerstand und werden zu perfekten Leitern. Wie wir in
Kap. 12 gesehen haben, ist dann im Inneren das elektrische
Feld null, und an der Oberfläche kann das elektrische Feld
Teil II

keine Tangentialkomponenten haben. Mindestens so bemer-


kenswert ist der 1933 von Walther Meißner (1882–1974) und
Robert Ochsenfeld (1901–1993) entdeckte Effekt, dass ein
Supraleiter (erster Art) Magnetfelder komplett aus seinem
Inneren verdrängt und somit einen idealen Diamagneten mit
 D 0 bildet. (Daneben gibt es noch Supraleiter zweiter Art
(Typ II), bei denen das verdrängte Magnetfeld in Vortizes im
Inneren des Supraleiters konzentriert wird.) Elektromagneti- Abb. 15.6 Ein keramischer Hochtemperatursupraleiter, der über einem Per-
sche Felder sind an der Oberfläche eines Supraleiters nicht manentmagneten schwebt (© Henry Mühlpfordt)
wirklich diskontinuierlich, sondern fallen exponentiell mit c
einer Eindringtiefe von  0;1 µm ab. (Die in der Folge ent- kD n  B: (3)
wickelte feldtheoretische Beschreibung findet sich übrigens 4
auch in der Teilchenphysik als Erklärung der kurzen Reich- Ströme fließen in einem Supraleiter also ausschließlich ent-
weite der schwachen Kernkraft in Form des von Peter Higgs lang der Oberfläche, dort aber ohne das Vorliegen von
(*1929) und anderen postulierten Higgs-Mechanismus.) tangentialen elektrischen Feldern und damit ohne Potenzi-
aldifferenzen, also komplett widerstandsfrei.
Obwohl das Phänomen der Supraleitung nur quantentheo-
retisch zu verstehen ist, können etliche Konsequenzen mit Aus der Abwesenheit von tangentialen elektrischen Feldern
den Methoden der klassischen Elektrodynamik beschrieben lässt sich zudem ablesen, dass der magnetische Fluss durch
werden. Die Eigenschaft, dass im Inneren eines Supraleiters einen supraleitenden Ring unveränderlich ist:
B  0 gilt, impliziert wegen (15.60), dass auf der Oberfläche Z Z I
d @
des Supraleiters ˆm D df  B D  df  rot E D  ds  E D 0;
dt @t
F F @F
nBD0
wobei @F auf der Oberfläche des Supraleiters verläuft. Befand
gelten muss. Das heißt, das Magnetfeld ist auf der Oberflä- sich z. B. ein solcher Ring im Feld eines Magneten, während
che strikt tangential und umfließt den Supraleiter. Mit dem er in den supraleitenden Zustand versetzt wurde, und wird
Maxwell’schen Spannungstensor (11.118) folgt daraus, dass dann der Magnet entfernt, induziert das im Ring einen Strom
auf der Oberfläche eine Flächenkraft mit einer Stärke, die den magnetischen Fluss aufrechterhält
  (Abb. 15.7, wobei hier die Fläche F eine ist, die von einem
1 1 1 Kreis entlang der Innenseite des Ringes begrenzt wird).
ni Tik D ni Bi Bk  ıik B2 D  nk B2 (1)
4 2 8

herrscht, die Druck auf den Supraleiter ausübt. Insbesondere


wird er von Gebieten mit höherer magnetischer Flussdichte
abgestoßen (Abb. 15.6).

Des Weiteren folgt überraschenderweise aus B  0 und


E  0, dass im Inneren des Supraleiters keine elektrischen
Ströme möglich sind:
c
jD rot B  0: (2) Abb. 15.7 Induktion eines Nettostroms in einem supraleitend gemach-
4 ten Ring, der sich zuvor in einem homogenen Magnetfeld befand. Links:
Supraleitfähigkeit bedingt bei einem äußeren Magnetfeld Oberflächenströ-
Auf der Oberfläche des Supraleiters ist aber ein tangentiales
me gemäß (3), die an der Außen- und Innenseite gegenläufig sind. Rechts:
Magnetfeld möglich, und damit ergibt sich ganz analog zu Nach Abschalten des äußeren Magnetfeldes halten die Oberflächenströme
(15.61) die Möglichkeit von Oberflächenströmen: den magnetischen Fluss aufrecht
15.2 Makroskopische Magnetostatik 521

wobei wir einen infinitesimal kleinen Weg @F wie in Abb. 15.5


wählen. Für infinitesimale l und h ! 0 bekommen wir Anschlussbedingung von B- und H-Feldern in der ma-
kroskopischen Elektrodynamik
Z
h=2
4 An einer Grenzfläche von zwei Medien ist die Normal-
l t  .H2  H1 / D l lim a  jf dh komponente von B immer stetig:
c h!0
h=2 (15.56)
4 n  .B2  B1 / D 0; (15.60)
DW a  kf l;
c
wobei n die Flächennormale ist, die von Medium 1 zu Me-
wobei a D n  t der Einheitsvektor zur Flächennormale der infi- dium 2 zeigt, und B1;2 der Vektor des B-Feldes an der
nitesimalen Fläche F ist. Bei einer kontinuierlichen räumlichen Grenzfläche, wenn man sich dieser von Medium 1 bzw. 2
ausgehend nähert.

Teil II
Stromdichte jf verschwindet das Flussintegral über a  jf , wenn
die Fläche hl gegen null geht. Ist aber ein Dirac-ı-förmig Die Tangentialkomponenten der H-Felder sind dann und
auf der Oberfläche lokalisierter Strom vorhanden, dann gibt kf nur dann unstetig, wenn sich auf der Grenzfläche eine
die entsprechende freie Oberflächenstromdichte an, und wir er- freie Flächenstromdichte kf befindet:
halten
4 4
t  .H2  H1 / D a  kf : (15.57) n  .H2  H 1 / D k: (15.61)
c c f

Den Einheitsvektor t können wir alternativ als t D a  n an-


schreiben und verwenden, dass gilt: An einer Grenzfläche kommt es auch in Abwesenheit freier
Flächenstromdichten im Allgemeinen zu Unstetigkeiten in den
Tangentialkomponenten von B und M, die mit einer Magneti-
t  .H2  H1 / D .a  n/  .H2  H1 / D n  .H2  H1 /  a:
sierungs-Flächenstromdichte verbunden sind:
(15.58)
kM D c n  .M2  M 1 /
Frage 6 c (15.62)
Vergewissern Sie sich von der Zyklizität des Spatprodukts D n  .B  H/2  .B  H/1 :
4

.a  b/  c D .b  c/  a D .c  a/  b;
Feldlinienverlauf an Grenzflächen
indem Sie dies in Indexschreibweise mittels "-Symbol anschrei-
ben und dessen Eigenschaften in Erinnerung rufen.
An einer Grenzfläche von zwei isotropen magnetischen Medien
mit Permeabilitätskonstanten 1 und 2 haben wir

Nun ist t bzw. a eine beliebige tangentiale Richtung senkrecht B1 .r/ D 1 H1 .r/; B2 .r/ D 2 H2 .r/: (15.63)
zu n, und kf liegt voraussetzungsgemäß auch in dieser Tan-
gentialebene. Wir können damit a in dieser Gleichung einfach B- und H-Felder zeigen also in gleiche Richtungen, haben aber
weglassen und auf unterschiedliche Beträge. Wenn ˛1 und ˛2 die Winkel sind, die
die gemeinsamen Feldlinien von B und H mit der Flächen-
normalen in den Medien 1 und 2 einschließen, dann folgt aus
4
n  .H2  H1 / D k (15.59) n  B1 D n  B2 :
c f
1 jH1 j cos ˛1 D 2 jH2 j cos ˛2 ; (15.64)
schließen.
während die Stetigkeit der Tangentialkomponenten von H (in
Obwohl (15.55), aus der wir (15.59) gewonnen haben, nur im Abwesenheit von freien Oberflächenstromdichten)
statischen Fall gültig ist, behält diese Anschlussbedingung ihre
Gültigkeit auch in der vollen makroskopischen Elektrodyna- jH1 j sin ˛1 D jH2 j sin ˛2 (15.65)
mik, die wir in Abschn. 15.7 aufstellen werden. Wie schon
verlangt (Abb. 15.8). Division dieser Gleichung durch die vori-
im Vakuum wird die inhomogene Gleichung (15.45) um einen
ge ergibt
Maxwell’schen Verschiebungsstrom zu modifizieren sein. Die- tan ˛1 tan ˛2
ser wird aber aus Feldgrößen gebildet, die im Gegensatz zu D ; (15.66)
1 2
den Quelltermen keine Dirac-ı-förmig auf den Oberflächen
lokalisierten Singularitäten aufweisen dürfen. Die gefundenen ganz in Entsprechung zu (14.47) in der makroskopischen Elek-
Anschlussbedingungen gelten somit ganz allgemein. trostatik, wenn  durch  ausgetauscht wird.
522 15 Magnetismus und elektrische Ströme

μ1 n μ2 Abschn. 14.3 ersetzt man dabei das Problem für das jeweils be-
trachtete Volumen Vi mit den dort vorhandenen tatsächlichen
B2 Stromdichten durch eines, das den ganzen Raum einnimmt,
in dem im komplementären Volumen R3 nV zusätzlich fiktive
Stromdichten jBild angesetzt werden. Dies ist für jedes Teilvolu-
H2 H2tg men durchzuführen, und die verschiedenen Bildströme sind so
α2 zu bestimmen, dass die Anschlussbedingungen erfüllt werden.
=
B1
H1 H1tg
α1
Strom vor dia- oder paramagnetischem Halbraum
n · B1 = n · B2
Gegeben sei ein linienförmiger Strom der Stärke I in z-
Teil II

Richtung, der im Abstand d parallel zu einem magne-


tischen Medium mit Permeabilitätskonstante  verläuft,
Abb. 15.8 Brechung der Feldlinien: B (grün ), H (blau ), beim Übergang von das den Halbraum x < 0 ausfüllt. Wie lautet das Magnet-
einem Medium mit 1 D 1;5 zu einem mit 2 D 2. Da angenommen wurde, feld im gesamten Raum, und welche Kraft wirkt auf den
dass keine freien Flächenströme vorliegen, ist beim Übergang zwischen den zwei Stromleiter?
Medien die Tangentialkomponente von H stetig. Die Normalkomponente von B
ist generell stetig
y

μ
15.3 Lösungsmethoden
der Magnetostatik d
x
Da auch in der makroskopischen Elektrodynamik r B D 0 gilt, I
kann diese homogene Maxwell-Gleichung im gesamten Raum
durch ein Vektorpotenzial A mit B D r  A gelöst und die
Eichfreiheit durch r  A D 0 fixiert werden.
Sind im Raum stückweise homogene und isotrope lineare Medi-
en mit Materialkonstanten i vorhanden, die jeweils Volumina Ganz analog zum Beispiel einer Punktladung vor einem
Vi einnehmen, dann haben wir B.r/ D i H.r/ für r 2 Vi , und dielektrischen Halbraum aus Abschn. 14.3 ersetzen wir
es gilt eine Vektor-Poisson-Gleichung analog zu (15.7) für die die physikalische Situation durch zwei Ersatzprobleme.
einzelnen Bereiche Für den Halbraum x > 0 nehmen wir an, dass neben dem
4 Strom I bei x D d ein paralleler Bildstrom I 0 bei x D d
A.r/ D  i jf .r/; r 2 Vi : (15.67) vorliegt; für den Halbraum x < 0 nehmen wir an, dass
c zusätzlich zum Strom I bei x D d ein Bildstrom auftritt,
Die allgemeine Lösung dieser Gleichung lautet für kartesische den wir zu einem Strom I 00 bei x D d zusammenfassen:
Komponenten (A D .Ax ; Ay ; Az /> , jf D . jf x ; jf y ; jf z /> )
Berechnung für x < 0: Berechnung für x > 0:
Z
 j .r0 / y y
A.r/ D i dV 0 f 0 C Ahom .r/; r 2 Vi (15.68)
c jr  r j
Vi

mit A D 0. Die Schwierigkeit besteht nun vor allem darin,


hom
d d d
ein Ahom zu finden, mit dem die Anschlussbedingungen an den I 
I 
I
x
Grenzen der Bereiche Vi erfüllt werden können.

Feld Feld von


von I  I und I 
Bildstrommethode
Das B-Feld eines unendlich langen geraden linienförmi-
Bei hinreichend einfachen geometrischen Verhältnissen kann gen Stromes wurde in Aufgabe 11.7 (siehe (11.164)),
hier das Analogon zur Bildladungsmethode der Elektrosta- berechnet. In kartesischen Koordinaten lautet damit der
tik, eine Bildstrommethode, zum Ziel führen. Ebenso wie in
15.3 Lösungsmethoden der Magnetostatik 523

a y/d b y/d
μ1 μ=0

1
−1

0
x/d x/d

Teil II
1
−1

Abb. 15.9 B-Felder für einen linienförmigen Strom parallel zu einem Halbraum mit (a)  1 (ferromagnetisches Medium) und (b) einem mit  D 0 (Supraleiter).
a Im Falle des ferromagnetischen Mediums ist das Feld vor dem Medium gleich dem von zwei parallelen Strömen annähernd gleicher Stärke, während im Inneren
des Ferromagneten das Feld die Form eines einzelnen Linienstromes bei x D d mit näherungsweise doppelter Stärke des freien Stromes hat. Die Feldlinien haben
dementsprechend dort die Form von Kreisen mit Mittelpunkten bei x D d. b Im Falle des Supraleiters ist das supraleitende Medium feldfrei. Im Halbraum vor dem
Supraleiter ist das Feld gleich dem von zwei parallelen Strömen mit exakt entgegengesetzter Stärke. Die resultierenden Feldlinien haben hier die Form von Kreisen
mit unterschiedlichen Mittelpunkten bei x > d

Ansatz für die beiden Halbräume Die Kraft pro Längeneinheit des Stromleiters ergibt sich
0 1 durch das zu I 0 gehörige Magnetfeld an der Stelle des
y
2I 1
@x  d A Stromleiters bei x D d und y D 0 als
Bjx>0 D (15.69)
c .x  d/ C y
2 2
0 0 1
0 1 1 I 2I 0 1 @ 0 A
y F D eO z  2d
2I 0 1 @x C d A ; l c c .2d/2 0
C
c .x C d/2 C y2 0 (15.73)

0 1 I I0   1 I2
D Oex D O
e :
2I 00 1 y c2 d x
 C 1 c2 d
Bjx<0 D @x  d A : (15.70)
c .x  d/2 C y2 0 Der Stromleiter wird also vom Medium angezogen, wenn
Die Anschlussbedingungen fordern nun Stetigkeit der dieses paramagnetisch ( > 1) ist; in diesem Fall
Normalkomponente Bx und Stetigkeit der Tangentialkom- hat der Bildstrom bzw. der auf der Oberfläche lokali-
ponente Hy auf der Grenzfläche x D 0, wobei für Hy D sierte Magnetisierungsstrom dieselbe Richtung wie der
physikalische Linienstrom. Im Fall eines diamagneti-
1
 y
B im linken und Hy D By im rechten Halbraum gilt.
schen Mediums wird dagegen ein entgegengerichteter
Daraus ergibt sich
Strom induziert, der zu Abstoßung führt (siehe hierzu
1 00 den Kasten „Vertiefung: Supraleiter als idealer Diama-
I C I 0 D I 00 ; I  I0 D I (15.71)
 gnet“).
und somit Im Fall eines ferromagnetischen Mediums  1 sowie
1 2 im Fall eines Supraleiters ( D 0) wird der Bildstrom I 0
I0 D I; I 00 D I; (15.72) betragsmäßig gleich stark wie I. Für diese beiden Felder
C1 C1
sind die Feldlinienbilder des B-Feldes in Abb. 15.9 dar-
womit die B-Felder im ganzen Raum bestimmt sind. gestellt. J
524 15 Magnetismus und elektrische Ströme

aus (11.164) übertragen und haben


2I 1
H' D : (15.75)
C c %
In Zylinderkoordinaten lässt sich unmittelbar ein skalares ma-
gnetisches Potenzial angeben, das für % 6D 0 auf dieses Ergebnis
führt:
2I 1 @
m D '; H' D  (15.76)
G c % @' m
(siehe (2.113) für den Gradienten in Zylinderkoordinaten).
Allerdings ist dann m keine eindeutige Funktion des Ortes
mehr: ' D 0 und ' D 2 geben dieselben Punkte im Raum,
Teil II

Abb. 15.10 Ein Integrationsweg in einem nicht einfach zusammenhängenden


Gebiet G
haben aber unterschiedliches m . Eine Lösung für dieses Pro-
blem ist nun, nicht nur die z-Achse auszunehmen, sondern die
z-Achse zusammen mit der Halbebene ' D 0. Wenn die z-Ach-
se nicht mehr umrundet werden kann, ist das Gebiet im obigen
Frage 7 Sinn einfach zusammenhängend und m tatsächlich eindeutig
Welche Kraft wirkt daher auf einen stromführenden Leiter einen definiert. (Diese Vorgehensweise entspricht der Einführung von
halben Meter vor einem ferromagnetischen bzw. supraleitenden sogenannten Verzweigungsschnitten in der Funktionentheorie;
Halbraum pro Meter Länge, wenn die Stromstärke 1 A beträgt? siehe den „Mathematischen Hintergrund“ 26.1.)
(Hinweis: Die Antwort liefert die Definition des Ampere.) Im Folgenden betrachten wir Beispiele, wo im Endlichen nir-
gends freie Ströme vorliegen und wir daher im ganzen Raum
H D r m ansetzen können.

Feld einer homogen magnetisierten Kugel


Methode des skalaren magnetischen Potenzials
Gegeben sei eine homogen magnetisierte Vollkugel mit
Radius R und Magnetisierung
Liegen in einem Gebiet Vi überhaupt keine freien Ströme vor,
so kann man die dann homogene Gleichung für H, nämlich MOz r<R
M.r/ D (15.77)
rot H D 0, durch Einführen eines skalaren magnetischen Po- 0 r > R:
tenzials m mit
Aus B D H C 4 M zusammen mit r  B D 0 folgt
H.r/ D r m .r/; jf .r/ D 0; r 2 Vi (15.74)
 m D 4 r M D 0 (15.78)
lösen und auf Methoden der Elektrostatik zurückgreifen. Im für die Bereiche innerhalb und außerhalb der Kugel.
Gegensatz zur Elektrostatik muss aber m nicht immer eine
eindeutige Funktion des Ortes sein. Dies ist nur garantiert, Überlegen Sie sich, dass die Kugeloberfläche selbst dabei
wenn das Gebiet Vi einfach zusammenhängend ist (siehe hier- auszunehmen ist.
zu auch Abschn. 1.6). Einfach zusammenhängend heißt, dass
jede geschlossene Kurve, die in Vi verläuft, auf einen Punkt
m erfüllt also im Innen- und im Außenraum jeweils die
stetig zusammengezogen werden kann, ohne das stromfreie Ge-
Laplace-Gleichung, deren allgemeine Lösung in Kugel-
biet Vi verlassen zu müssen. Ein einfaches Gegenbeispiel ist in
koordinaten durch (13.168) bzw. für die hier vorliegende
Abb. 15.10 dargestellt.
'-Unabhängigkeit durch (13.169) gegeben ist. Regulari-
Frage 8 tät von m bei r D 0 und für r ! 1 schränken die
jeweiligen Reihen ein auf
Überlegen Sie sich, dass ein eindeutig definiertes
H skalares Po-
tenzial m verschwindende Zirkulation C dr  H bedeutet und 1
X
m .r; #/ D ˛l rl Pl .cos #/ für r < R
i
damit wegen des Oersted’schen Gesetzes kein Strom von C ein- (15.79)
geschlossen sein kann. lD0

und
1
X
Ein instruktives Gegenbeispiel liefert der einfache Fall eines un- 1
m .r; #/ D ˇl Pl .cos #/ für r > R: (15.80)
a
endlich langen linienförmigen Stromes I entlang der z-Achse. rlC1
Ist V der gesamte Raum ohne die Punkte auf der z-Achse, kön- lD0
nen wir in Zylinderkoordinaten . ; '; z/ die bekannte Lösung
15.3 Lösungsmethoden der Magnetostatik 525

Auf der Kugeloberfläche r D R liegt Dirac-ı-förmig kon-


zentriert ein nichttrivialer Quellterm 4 r  M vor (wie
man leicht zeigen kann ist r  M D M cos # ı.r  R/),
und wir könnten damit auch direkt die entsprechende
Poisson-Gleichung lösen. Allerdings ist es einfacher, die
Koeffizienten in den Reihen der Innen- und Außenraum-
lösung durch die Anschlussbedingungen festzulegen. Auf
der Kugelfläche müssen in Abwesenheit freier Oberflä-
chenströme gemäß (15.61) die Tangentialkomponenten
von H stetig sein, also H# und H' . Dies wird durch Ste-
tigkeit von m bei r D R erreicht:

Teil II
B H
m .R; #/ D m .R; #/:
i a
(15.81)
Abb. 15.11 Magnetisierte Kugel. Die Feldlinien des B-Feldes (grün ) bilden hier
Außerdem muss die Normalkomponente von B stetig geschlossene Kurven, die zwar auf der Grenzfläche einen Knick haben, aber dort
sein, also Br D Hr C 4 Mr . Die Radialkomponente von weder enden noch entspringen. Die Feldlinien des H-Feldes (blau ) haben dage-
M ist nun unstetig: gen Quellen auf der Oberfläche, gegeben durch den Magnetisierungsstrom. Im
Gegensatz zu den B-Feldern ist aber in Abwesenheit von freien Oberflächenströ-
M cos # r<R men die Tangentialkomponente auf der Oberfläche stetig
Mr D rO  zO M D ; (15.82)
0 r>R

und mit Hr D @r m bekommen wir


ˇ ˇ Wie in Abb. 15.11 dargestellt, bilden die Feldlinien des
@ mi ˇˇ @ ma ˇˇ
 C 4 M cos # D  : (15.83) B-Feldes geschlossene Kurven, da überall div B D 0
@r ˇrDR @r ˇrDR gilt. Für das H-Feld ist dagegen div H D 4 r  M D
4 M cos # ı.r  R/ auf der Oberfläche der Kugel nicht
Offenbar genügt es, in der allgemeinen Lösung nur die null; entsprechend können dort Feldlinien entspringen
Beiträge mit l D 1 (P1 .cos #/ D cos #) zu behalten, um oder enden. Umgekehrt erfüllt das H-Feld im gesamten
diese Anschlussbedingungen erfüllen zu können. Mit Raum rot H D 0, da wir keine freien Ströme im Spiel
haben, was wiederum für das B-Feld nur abseits der Ku-
1 geloberfläche zutrifft; rot B hat dort Quellen, nämlich
i
m D ˛1 r cos #; a
m D ˇ1 cos # (15.84)
r2 eine Flächenmagnetisierungsstromdichte, die in Analo-
gie zu (15.61) gegeben ist durch den Sprung in den
ergeben die Anschlussbedingungen (15.81) und (15.83) Tangentialkomponenten von B:
1 2
˛1 R D ˇ1 ; ˛1 C 4 M D ˇ ; (15.85) 4
R2 R3 1 n  .B2  B1 / D k : (15.89)
c M
was durch
J
4 4 R3
˛1 D M; ˇ1 D M (15.86)
3 3
Magnetisierbare Kugel in einem äußeren Feld
gelöst wird.
Im Außenraum ist das Feld dasjenige eines Dipols der Mit ganz ähnlicher Methodik hätten wir auch das Pro-
Stärke jmj D ˇ1 : blem einer Kugel aus einem linearen magnetischen Me-
dium mit Permeabilitätskonstante  und linearem Zu-
rm 4 R3 sammenhang B D H in einem homogenen äußeren
a
m D ; mD MOz; (15.87)
r3 3 Magnetfeld lösen können. Wie im Beispiel einer dielek-
trischen Kugel in einem ursprünglich homogenen elek-
während im Innenraum das Feld homogen ist: i
m D ˛1 z trischen Feld (Abschn. 14.3) hätten wir statt natürlicher
und damit Hi D ˛1 zO , d. h. Randbedingung m .r ! 1/ ! B0 z D B0 r cos #
verlangt und diesen Term zur angesetzten Außenraumlö-
4 8 sung hinzugegeben. Ebenso wie dort ergibt sich für die
Hi D  M; Bi D H i C 4 M D C M: (15.88)
3 3 Lösung im Inneren der Kugel ein konstantes Feld, und im
526 15 Magnetismus und elektrische Ströme

M
Außenraum überlagert sich ein Dipolfeld dem ursprüng-
lich homogenen Feld.
Diese Lösung können wir nun aber auch aus der obigen
Lösung für eine homogen magnetisierte Kugel ableiten,
indem wir einfach ein im gesamten Raum konstantes Feld
B0 D H0 D B0 zO superponieren und erst nachträglich
die Magnetisierung M abhängig vom Feld im Inneren H
machen. Dies ist auch deshalb vorteilhaft, weil magneti-
sierbare Materie oft nichtlineare Materialgleichungen hat. H + 4πM/3 = 0

Im Innenraum der Kugel haben wir demnach statt (15.88)


Teil II

4 8
H i D B0  M; Bi D B0 C M: (15.90)
3 3

Da im Außenraum B und H zusammenfallen und wir Abb. 15.12 Magnetisierung einer ferromagnetischen Kugel nach dem Ab-
schalten äußerer Felder: Die Remanenzmagnetisierung ergibt sich durch Schnei-
auch hier B0 addiert haben, sind offensichtlich weiterhin
den der Hysteresekurve mit der Geraden H C 4 NM D 0, wobei der
die Anschlussbedingungen (stetige Normalkomponenten Entmagnetisierungsfaktor N D 13 für die Kugelgeometrie beträgt. Für prolate,
für B und stetige Tangentialkomponenten für H) erfüllt. zigarrenförmige Geometrien ist N niedriger und die Gerade steiler; für abge-
flachte (oblate) Geometrien ist N größer und die Gerade flacher
Ist die Materialgleichung, die M bestimmt, ein linearer
Zusammenhang Bi D Hi , dann folgt
 
8 4
B0 C M D  B0  M : (15.91) Problem für ein Ellipsoid anstatt einer Kugel, ergeben
3 3
sich andere Steigungen für die Gerade: flacher für oblate,
Daraus ergibt sich scheibenartige Gebilde, steiler für prolate, zigarrenför-
mige. (Die in Abb. 15.3 eingezeichnete Remanenzma-
3 1
MD B ; (15.92) gnetisierung bezieht sich auf den Grenzfall eines dün-
4 C2 0 nen Stabes, der zu einer senkrechten Gerade gehört.)
Dementsprechend lassen sich bei Stabmagneten generell
in kompletter Analogie zum Ergebnis (14.71) für die Po-
höhere Magnetisierungen erreichen als bei scheibenför-
larisation einer dielektrischen Kugel im äußeren Feld.
migen Magneten.
Allerdings kann im Gegensatz zur Dielektrizitätskonstan-
ten  die Permeabilitätskonstante  größer oder kleiner Der Faktor N in H D B0  4 NM, der für die Kugel
als 1 sein. Im paramagnetischen Fall  > 1 ist M paral- N D 13 ist und allgemein zwischen 0 und 1 liegen kann,
lel zu B0 , im diamagnetischen dagegen entgegengesetzt. heißt Entmagnetisierungsfaktor. Er stimmt mit dem Ent-
Entsprechend wird das Magnetfeld im Inneren der Kugel, elektrifizierungsfaktor (14.175) überein, der in Aufgabe
14.8 für ein elektrisch polarisiertes prolates Ellipsoid be-
3
Bi D B0 ; (15.93) rechnet wurde. J
1C 2


verstärkt oder abgeschwächt.


Ist die Kugel dagegen ferromagnetisch mit einer nicht-
linearen Magnetisierungskurve M.H/, die noch dazu 15.4 Magnetostatische Energie
Hysterese aufweist wie in Abb. 15.3, dann muss diese
Materialgleichung zusammen mit dem obigen Ergebnis In (11.111) haben wir einen auf fundamentaler Ebene allge-
H D B0  43 M im Allgemeinen numerisch aufgelöst meingültigen Ausdruck für die Energiedichte des elektroma-
werden. Die Kurve M.H/ ist somit mit der Geraden M D gnetischen Feldes hergeleitet. Magnetfelder tragen dazu wem D
4
3
.B0  H/ zu schneiden und liefert dann die Magneti- 8
1
B2 bei, sodass die gesamte, in einem Volumen V vorhandene
sierung als Funktion von B0 . In Abb. 15.12 ist dies für Energie in der Magnetostatik durch
verschwindendes äußeres Feld B0 D 0 skizziert, was die Z
1
Remanenzmagnetisierung festlegt. WV D dV B2 (15.94)
8
Dieses Ergebnis ist übrigens von der Geometrie des V
ferromagnetischen Körpers abhängig. Löst man dieses gegeben ist. Dass hier im Vergleich zu (12.81) einfach E
durch B zu ersetzen ist, ist allerdings etwas trügerisch. Bei der
15.4 Magnetostatische Energie 527

Herleitung des Energiesatzes haben wir ja gesehen, dass nur Wechselwirkungsenergien


elektrische Felder Arbeit an Ladungsträgern verrichten. Wenn
und Induktionskoeffizienten
sich ein magnetisches Feld aufbaut, sind es in Wirklichkeit die
durch das Faraday’sche Induktionsgesetz rot E D  1c @ t B damit
unweigerlich einhergehenden elektrischen Felder, die letztlich Wenn natürliche Randbedingungen vorliegen wie im Fall von
für den Aufbau von magnetischer Feldenergie verantwortlich Stromverteilungen, die sich im Vakuum befinden und im End-
sind. lichen lokalisiert sind, dann können wir mit der Lösung der
Vektor-Poisson-Gleichung (15.9) den Ausdruck (15.96) für die
Mit B D r  A und r  B D 4
c
j können wir (15.94) auch Feldenergie auch schreiben als
alternativ schreiben als
Z ZZ
Z 1 1 j.r/  j.r0 /
1 WD dV A  j D dVdV 0 : (15.98)
WV D dV B  .r  A/ 2c 2 c2 jr  r0 j

Teil II
8
V
Z Z Frage 9
1 1
D dV r  .A  B/ C dVA  .r  B/ Begründen Sie, dass in dem Fall, dass der gesamte Raum durch
8 8 ein homogenes Medium mit Permeabilitätskonstante  ausge-
V V
I Z füllt ist, obiger Ausdruck einfach mit  zu multiplizieren ist
1 1 und alle j durch jf zu ersetzen sind.
D df  .A  B/ C dVA  j : (15.95)
8 2c
@V V
P
Bei einer Aufteilung von j in Subsysteme j.r/ D n jn .r/ führt
Wenn V der gesamte Raum ist und natürliche Randbedingungen dies auf
vorliegen, sodass die Felder im Unendlichen abfallen, ist die ZZ
1 X j .r0 / jm .r/
magnetische Feldenergie durch WD 2 dVdV 0 n
2c n;m jr  r0 j
Z ZZ
WD
1
dVA  j 1 X j .r0 / jn .r/
2c
(15.96) D 2 dVdV 0 n
2c n jr  r0 j
V
Z Z
1 X j .r0 / jm .r/
C 2 dVdV 0 n ; (15.99)
gegeben. c n<m jr  r0 j
In der makroskopischen Magnetostatik ist ganz analog zur
wobei wir in Selbstenergien (n D m) und Wechselwirkungs-
Situation in der makroskopischen Elektrostatik und wie in Ab-
energien (n 6D m) aufgeteilt und bei letzteren die Summation
schn. 14.4 diskutiert der Ausdruck (15.94) nicht mehr gültig.
auf unterschiedliche Paarungen erstreckt haben, was den Faktor
Die notwendige Verallgemeinerung lässt sich allerdings im 1
kürzen ließ.
Gegensatz zur Situation in der Elektrostatik nicht allein aus 2
der Magnetostatik begründen, da für Energiebetrachtungen die Oft hat man es mit einem System von separaten linienförmigen
Gleichungen der makroskopischen Elektrodynamik gebraucht Stromkreisen Cn zu tun, in denen jeweils ein konstanter Strom
werden; magnetische Feldenergie ist wie erwähnt ohne das dy- In fließt. Dann reduziert sich in den Integralen dV jn .r/ ! In dr,
namische Induktionsgesetz nicht erklärbar. und wir bekommen Linien- statt Volumenintegrale:
I I
Wie wir in Abschn. 15.7 sehen werden, behält aber der Aus- 1X 1 drn  drm
druck (15.96) in der makroskopischen Magnetostatik für lineare WD I I
2 n;m n m c2 jrn  rm j
Medien seine Gültigkeit, wenn dort j durch die freie Stromdich- Cm Cn
te jf ersetzt wird. Mit jf D 4c r  H kann dies nach einer 1 X
partiellen Integration auch wieder mit Feldgrößen allein ge- DW L I I : (15.100)
2 n;m nm n m
schrieben werden.
Die Koeffizienten Lnm D Lmn hängen offenbar nur von der
Magnetische Feldenergie in linearen Medien Geometrie der Anordnung der Stromkreise ab und werden
Z Induktionskoeffizienten genannt. Die für die Selbstenergie ver-
1 antwortlichen Koeffizienten mit n D m heißen Selbstinduktions-
WD dVB  H (15.97)
8 koeffizienten, die für die Wechselwirkungsenergie verantwortli-
chen mit n 6D m Gegeninduktionskoeffizienten.
528 15 Magnetismus und elektrische Ströme

Diese Koeffizienten geben auch unmittelbar den linearen Zu- beispielsweise logarithmisch von diesem Querschnitt ab (Be-
.n/
sammenhang des magnetischen Flusses ˚n WD ˆm durch die cker & Sauter 1964).
n-te Leiterschleife mit den einzelnen Stromstärken an:
Als ein wichtiges Beispiel, wo die Selbstinduktivität ausge-
Z Z
rechnet werden kann, ohne auf unendliche Beiträge von der
˚n D df n  B D df n  rot A Selbstenergie zu stoßen, soll die Selbstinduktion einer langen
Fn Fn Spule berechnet werden, bei der die Stromverteilung, wie wir
I sehen werden, als ein Flächenstrom idealisiert werden kann.
D drn  A.rn / (15.101) Außerdem können wir hier den Selbstinduktionskoeffizienten
Cn einfach aus der Abhängigkeit der direkt berechneten Feldener-
X I I gie vom Quadrat der Stromstärke ablesen.
1 drn  drm
D Im ;
m
c jrn  rm j
Teil II

Cn Cm Selbstinduktion einer langen Spule


also
1 X In einer unendlich langen Spule mit konstantem, aber an-
˚n D Lnm Im : (15.102) sonsten beliebigem Querschnitt, in der ein Strom in so
c m engen Windungen fließt, dass er homogen die Längsachse
umkreist, herrscht ein im Inneren lokalisiertes homogenes
Vergleicht man dies mit den Relationen, die in der Elektrostatik Feld. Dies kann man daraus schließen, dass im Weginte-
(Abschn. 12.6) durch die Kapazitätskoeffizienten geliefert wur- gral I
den, nämlich 4
1X ds  B D I (15.107)
W el D C (15.103) c F
2 m;n mn m n @F

bei einer Wahl des Weges @F wie in Abb. 15.13 das


und X Teilstück C1 an beliebiger Stelle im Inneren positioniert
Qm D Cmn n; (15.104)
werden kann. Im Außenraum ist die Position von C3
n
ebenfalls beliebig, aber dort verschwindet das Feld für
so fällt auf, dass einmal Quellen (die In ) und einmal Feldgrößen große Abstände; somit muss es dort identisch null sein.
(die n ) auf der rechten Seite stehen. Dies ist aus praktischer
Sicht insofern vorteilhaft, als Ströme und Potenziale die ex- B
perimentell am direktesten messbaren Größen darstellen. Da
die Feldenergie aber eine positiv definite Größe ist und damit
die quadratischen Ausdrücke in den In bzw. n positiv definite C2
quadratische Bilinearformen sind, existieren auch die inversen
Matrizen zu Lmn bzw. Cmn . Wir könnten also genauso gut

1 X 1 X
1 C3 NI C1 l
W el D C Q Q ; D Cmn Qn (15.105)
2 m;n mn m n m
n

schreiben oder die magnetische Feldenergie als quadratische C4


Form der ˚n darstellen.
Bei den oben für linienförmige Stromverteilungen definier-
ten Induktionskoeffizienten stellt sich allerdings das Problem,
dass die Darstellung der Selbstinduktionskoeffizienten durch I
das zweifache Wegintegral über ein und denselben Weg,
Abb. 15.13 Zur Berechnung des Magnetfeldes im Inneren einer un-
I I 0 endlich langen Spule mit konstantem, aber ansonsten beliebigen Quer-
1 dr  dr
Lnn D ; (15.106) schnitt, die so eng gewickelt sein soll, dass der Strom annähernd
c2 jr  r0 j homogen und rein azimuthal fließt. Das Magnetfeld ist im Inneren ho-
Cn Cn mogen und in Längsrichtung orientiert, während es außerhalb identisch
verschwindet. Dies folgt aus dem Wegintegral (15.107) und der Tat-
singulär ist. Um hier ein endliches Ergebnis zu bekommen, sache, dass die Teile des Weges C1 sowie C3 an beliebiger Stelle im
muss die Idealisierung eines unendlich dünnen Leiters aufge- Inneren bzw. im Äußeren der Spule sein können. Das Feld ist also überall
geben und die Rechnung mit einer Stromverteilung über einen homogen, während es bei großen Abständen von der Achse gegen null
endlichen Querschnitt durchgeführt werden. Das Ergebnis für zu gehen hat
die Selbstinduktion einer unendlich dünnen Leiterschleife hängt
15.4 Magnetostatische Energie 529

Subsysteme j und j ext . Da sich dieser Term aus zwei identischen


Betrachten wir nun eine Spule der Länge ` mit N Windun- Beiträgen zusammensetzt, fällt dabei der Faktor 12 weg.
gen, die so lang sei, dass wir sie durch einen entsprechen-
den Ausschnitt aus der unendlich langen Spule annähern Wie im Fall einer Ladungsverteilung in einem äußeren elek-
können, weil Randeffekte bei hinreichender Länge ver- trischen Feld, (13.125), wollen wir nun diesen Ausdruck unter
nachlässigbar werden. Dann liefert eine Integration mit der Annahme näherungsweise berechnen, dass das magnetische
C1 der Länge ` das Ergebnis Feld B D r A schwach über die Ausdehnung der Ladungsver-
teilung j veränderlich ist. Dann können wir wieder eine Taylor-
4 Entwicklung um die Position von j durchführen, die wir ohne
`B D NI; (15.108) Beschränkung der Allgemeinheit mit dem Ursprung identifizie-
c
ren können:
weil der Strom die Fläche F so oft durchfließt, wie Win- ˇ
ˇ

Teil II
dungen vorhanden sind. Die Spule selbst können wir A.r/ D A.0/ C .r  r /Aˇ C : : : (15.112)
als N Ringströme auffassen, wobei jede der N Flächen 0
über Verzweigungsschnitte mit der nächsten verbunden
ist. Der gesamte magnetische Fluss durch die Spule ist Dies gibt
daher ˆm D NBjFj, wobei jFj der Flächeninhalt des Z
Querschnittes ist. 1
W ww
D dV j.r/  A.0/ (15.113)
c
Die Selbstinduktion L ergibt sich dann aus Z ˇ
1   ˇ
C dV j.r/ r  r R  A.R/ˇ C :::
1 4 NIjFj 4 N 2V c RD0
LD ˆm =I D N =I D (15.109)
c c2 ` c2 `2 R
Wie wir schon in (15.20) gezeigt haben, ist dV j D 0, und
mit V  jFj`. Dasselbe Ergebnis finden wir, wenn wir der erste Term verschwindet daher. Für den zweiten Term kön-
stattdessen die im Volumen V enthaltene Feldenergie nen wir wieder die Umformung (15.21) verwenden (hier ohne
WV D 81 B2 V durch I 2 =2 dividieren: gestrichene Variablen). Dies ergibt
 2 Z ˇ
1 B2 V 1 4 N 1 ˇ
LD D V: (15.110) W ww D dV .r  j.r//  r R  A.R/ˇ C:::
4 I 2 4 c` 2c
Z
RD0
1   ˇˇ
D dV .r  j.r//  r R  A.R/ ˇ C :::
Ist im Inneren der Spule nicht Vakuum, sondern ein ma- 2c RD0
gnetisches Material mit Permeabilitätskonstante  vor- D m  B.0/ C : : : (15.114)
handen, dann erhöht sich die Feldenergie und damit L um
diesen Faktor: Es gilt dann H D 4c NI=` und B D H in
WV D 81 BHV. J
Frage 10
Verifizieren Sie diese Herleitung mit (15.20) in Indexschreib-
weise.

Lokalisierte Stromverteilung
Verschieben wir die fest vorgegebene Stromverteilung, ohne ih-
in einem äußeren Feld re Form und Stärke zu verändern an einen anderen Punkt R 6D 0,
dann bekommen wir die nun R-abhängige Wechselwirkungs-
Betrachten wir nun eine lokalisierte Stromverteilung in einem energie
äußeren Magnetfeld und die dazu gehörende Wechselwirkungs- W ww .R/ D m  B.R/ C : : : (15.115)
energie. Diese ist durch
Z Dieses Ergebnis unterscheidet sich überraschenderweise von
1 der Wechselwirkungsenergie eines elektrischen Dipols in einem
W ww
D dV A  j (15.111)
c äußeren elektrischen Feld im Vorzeichen ((13.129) beinhaltet
p  E). Dies scheint nicht zur empirischen Tatsache zu pas-
gegeben, ohne den Faktor 12 , der in (15.98) auftaucht, denn A ist sen, dass sich magnetische Dipole in äußeren Magnetfeldern
hier nicht das zu j gehörende Gesamtfeld. Das Feld wird hier ganz analog zu elektrischen Dipolen in elektrischen Feldern ver-
stattdessen von irgendwelchen nicht explizit angeführten exter- halten. Wir können Letzteres auch direkt nachrechnen, indem
nen Stromverteilungen j ext erzeugt, und W ww entspricht daher wir die Lorentz-Kraft auf eine lokalisierte Stromverteilung be-
dem letzten Term in (15.99) in einer Aufteilung von j ges in zwei trachten.
530 15 Magnetismus und elektrische Ströme

Eine ganz analoge Rechnung wie zuvor zur Wechselwirkungs- durch eine äußere Batterie konstant gehalten wird. Wie wir in
energie liefert (14.94) gesehen haben, trägt auch dort die äußere Batterie gera-
Z de die doppelte Feldenergie bei.
1
FD dV j.r/  B.r/
c Zum Abschluss soll der Vollständigkeit halber auch noch das
Z mechanische Drehmoment N auf eine lokalisierte Stromver-
1
D dV j.r/  .r  r R / B.R/ RD0 C : : : teilung im äußeren Magnetfeld berechnet werden. (Da M in
c
Z ˇ diesem Abschnitt für die Magnetisierung vergeben ist, verwen-
1 ˇ
D dV j.r/ .r  r R /  B.R/ˇ C ::: (15.116) den wir als Formelzeichen für das Drehmoment nun N.) Analog
c RD0 zu (15.117) entwickeln wir
Wieder können wir (15.21) verwenden, um dies umzuformen Z
auf 1
ND dVr  .j  B/ (15.121)
Teil II

 Z ˇ c
Z Z
1 ˇ 1 1
FD dV .r  j.r//  r R  B.R/ˇ C ::: D dV .r  B.0// j.r/  B.0/ dV .r  j.r// C : : :
2c RD0
c c
ˇ
ˇ
D m  r R  B.R/ˇ C :::
ˇ RD0 mit dem Unterschied, dass hier schon der niedrigste Term der
ˇ
D r R .m  B.R// ˇ C :::; (15.117) Taylor-Entwicklung von B den führenden Beitrag liefern wird.
RD0 Das letzte Integral verschwindet, weil es wegen
wobei im letzten Schritt r  B D 0 verwendet wurde.  
1
Dieser Ausdruck stimmt in Form und Vorzeichen mit der Kraft xi ji D @i xx j (15.122)
2 j j i
überein, die ein elektrischer Dipol in einem elektrischen Feld
erfährt. Letztere hatten wir in (13.136) als .p  r / Ej0 bestimmt.
Wegen r  E D 0 gilt @i Ej D @j Ei , und es ist daher mit dem Gauß’schen Satz als Oberflächenintegral geschrieben
werden kann, die Stromverteilung aber voraussetzungsgemäß
Œ.p  r / Ej D pi @i Ej D pi @j Ei D Œr .p  E/j : (15.118) lokalisiert ist. Das andere Integral kann wieder mittels (15.21)
umgeschrieben werden und ergibt
(Analoges gilt auch für den magnetischen Dipol, denn die Quel- Z
len des äußeren Magnetfeldes sind voraussetzungsgemäß weiter 1
ND dV Œr  j.r/  B.0/ C : : :
weg, sodass am Ort des Dipols r  B D 0 gilt.) Wir sehen al- 2
so, dass für die Kräfte auf elektrische und magnetische Dipole D m  B.0/ C : : : (15.123)
die Vorzeichen übereinstimmen, nicht aber für die zugehörigen
Wechselwirkungsenergien.
Dies ist ganz analog zum Drehmoment p  E auf einen elek-
Die Kraft auf elektrische Dipole ist der negative Gradient von trischen Dipol in (13.138). Beide stellen sich im mechanischen
.p  E/, und damit ist diese Wechselwirkungsenergie zugleich Gleichgewicht parallel zu den zugehörigen äußeren Feldern ein.
das mechanische Potenzial für elektrische Dipole. Bei magneti-
schen Dipolen hat aber die Wechselwirkungsenergie gerade das
umgekehrte Vorzeichen:

W ww D Cm  B; W mech D m  B: (15.119)
15.5 Bewegung von geladenen
Teilchen in Magnetfeldern
Dies wird gelegentlich als magnetostatisches Paradoxon be-
zeichnet. Die Auflösung dieses Paradoxons ist, dass man Strom-
kreise in einem inhomogenen Magnetfeld nicht verschieben Die Bewegung geladener Teilchen im konservativen Kraftfeld
kann, ohne Induktionsspannungen zu generieren, die die Ströme elektrostatischer Felder ist ganz analog zu der von Punktmassen
verändern würden, wenn nicht Energie von außen so nachgelie- im Gravitationsfeld, wie wir sie in Teil I studiert haben, zumin-
fert wird, dass sie dennoch konstant bleiben. Bei starren und dest solange man von Abstrahlungseffekten absehen kann, die
konstant gehaltenen Strömen wird die Feldenergie nun maxi- wir in Kap. 19 betrachten werden.
miert. Eine externe Stromquelle, die für die Aufrechterhaltung
der Ströme sorgt, muss offenbar gerade das Doppelte der Feld- Magnetfelder üben die Lorentz-Kraft qc v B auf Punktladungen
energie beitragen: mit Ladung q aus und führen zu qualitativ sehr unterschiedli-
chen Effekten. Insbesondere tragen sie nicht zur Arbeit bei, wie
W ww D W mech C W ext D W ww C W ext ) W ext D 2W ww : wir schon in (11.101) gesehen haben. Sind nur Magnetfelder
(15.120) vorhanden, ändert sich daher nie der Betrag von v , wohl aber
Die Situation ist also ganz ähnlich der eines Dielektrikums, dessen Richtung (außer v ist exakt parallel zu B, denn dann
das in einen Kondensator hineingezogen wird, dessen Potenzial verschwindet die Lorentz-Kraft).
15.5 Bewegung von geladenen Teilchen in Magnetfeldern 531

Bewegung in einem homogenen Magnetfeld z

In einem äußeren magnetischen Feld lautet die Bewegungsglei- B


chung für eine Punktladung mit Masse m

d q
mv .t/ D v  B.x.t//: (15.124)
dt c
Ist das Magnetfeld räumlich und zeitlich konstant und wählen
wir in kartesischen Koordinaten die z-Richtung in Richtung von
B, so haben wir die folgenden gekoppelten Differenzialglei-
chungen für die Komponenten von v :

Teil II
0 1 0 1 x y
v
d @ x A @
!B vy
qB
vy D !B vx A ; !B D : (15.125) Abb. 15.14 Ein positiv geladenes Teilchen in einem homogenen Magnetfeld
dt vz 0 mc mit generischer Anfangsgeschwindigkeit rotiert im Uhrzeigersinn in der xy-Ebe-
ne, wenn das Magnetfeld in die positive z-Richtung zeigt, und bewegt sich
(Diese Form bleibt sogar bei gleichförmig entlang der z-Achse. Die Bahnkurve ist somit eine Schraubenlinie
p relativistischer Bewegung erhalten, mit konstanter Steigung
wenn m durch  m D m= 1  .v =c/2 ersetzt wird, da jv j und
damit  nicht von der Zeit abhängt.)
Diese Gleichungen können durch nochmaliges Ableiten entkop- Liegt zusätzlich zu einem homogenen Magnetfeld ein homoge-
pelt werden und führen auf Schwingungsgleichungen nes elektrisches Feld vor, können die Bewegungsgleichungen
ebenfalls leicht gelöst werden (Aufgabe 15.10). Bemerkens-
vRx D !B2 vx ; vRy D !B2 vy : (15.126) werterweise können nur E-Feldkomponenten in Richtung des
homogenen B-Feldes ein Teilchen unbeschränkt beschleunigen.
Nehmen wir z. B. an, dass die Geschwindigkeit zum Zeitpunkt Ein E-Feld senkrecht zum B-Feld führt dagegen zu einer pe-
t D 0 keine Komponente in y-Richtung hat, was durch geeignete riodischen Bewegung in Richtung des E-Feldes und zu einer
Koordinatenwahl immer möglich ist, dann ist die Lösung für gleichförmigen Bewegung senkrecht zu E und B.
v .t/ gegeben durch
0 1
vx .0/ cos !B t
v .t/ D @ vx .0/ sin !B t A : (15.127) Magnetischer Spiegel und magnetische Flasche
vz .0/

Integration über t gibt die Bahnkurve Betrachten wir wieder den Fall, dass sich ein Teilchen in einem
reinen Magnetfeld bewegt, das weitgehend homogen ist, sodass
0 1
a sin !B t vx .0/
es sich in Schraubenbewegung entlang der Richtung von B fort-
x.t/ D x.0/ C @ a Œcos !B t  1 A ; aD : bewegt. Was passiert, wenn es dabei in eine Region kommt, in
vz .0/ t !B der das Magnetfeld an Stärke zunimmt?
(15.128) Diese Frage lässt sich näherungsweise durch folgende Überle-
Frage 11 gung beantworten. Wenn das Magnetfeld bezüglich der Schrau-
Wie würde die Lösung aussehen, wenn vx .0/ null sein soll und benlinie in etwa zylindersymmetrisch bleibt, dann liegt nähe-
stattdessen vy .0/ vorgegeben wird? rungsweise eine Rotationssymmetrie vor, die sicherstellt, dass
der Drehimpuls des Teilchens während seiner Driftbewegung
erhalten bleibt. Der Drehimpuls ist proportional zum Produkt
Das geladene Teilchen rotiert also in der xy-Ebene mit Kreisfre- aus Larmor-Radius und Geschwindigkeit um die Rotationsach-
quenz !B , während es sich gleichförmig in z-Richtung bewegt se, av? , wobei
(Abb. 15.14). Es folgt somit einer Schraubenlinie mit konstan-
ter Steigung. Der Radius a D v? =!B wird als Larmor-Radius v? D a!B D aqBz =.mc/ (15.129)
bezeichnet; die Kreisfrequenz !B wird manchmal Zyklotronfre-
quenz genannt, nach dem ersten modernen Teilchenbeschleuni- ist. Aus der Konstanz von av? folgt damit a2 Bz D const, was
ger, wo geladene Teilchen durch elektrische Felder mit dieser bedeutet, dass der magnetische Fluss innerhalb der Schrauben-
Frequenz bei ihrer Kreisbewegung beschleunigt werden (und linie ebenfalls konstant bleibt. In anderen Worten, das Teilchen
dabei Geschwindigkeit aufnehmen, wodurch sich a vergrößert, folgt auf seiner Spiralbahn den magnetischen Flussröhren, die
wenn nicht gleichzeitig das B-Feld erhöht wird). von den Magnetfeldlinien gebildet werden (Abb. 15.19).
532 15 Magnetismus und elektrische Ströme

Anwendung: Zyklotronbewegung von geladenen Teilchen im Magnetfeld

Der Umstand, dass geladene Teilchen in einem Magnet-  m zu ersetzen, sodass bei der Beschleunigung das Ma-
feld auf eine Kreisbahn gezwungen werden, wird in Teil- gnetfeld erhöht werden muss, damit die Zyklotronfrequenz
chenbeschleunigern ausgenützt, um Teilchen immer wie- konstant bleibt. Dies wird in sogenannten Synchrotronbe-
der dieselbe Beschleunigungsstrecke durchlaufen zu lassen schleunigern gemacht, die in der Hochenergieteilchenphysik
(Abb. 15.15). eingesetzt werden.
Die Zyklotronbewegung hat aber weitere Anwendungen
jenseits der namensgebenden Teilchenbeschleuniger. In
der Elementarteilchenphysik wird die Abhängigkeit des
Teil II

Krümmungsradius von Impuls und Ladung zur Teilche-


nidentifikation verwendet (Abb. 15.16). Im Massenspek-
trometer wird dieser Effekt zur Analyse von Proben
auf chemische und Isotopen-Zusammensetzung eingesetzt
(Abb. 15.17).

schwere
Magnetfeld Ionen

leichte
Ionen
Detektor
Abb. 15.15 Das 88-Zoll-Zyklotron des Lawrence Berkeley National Labora-
Ionenquelle
tory (© 2010 The Regents of the University of California, Lawrence Berkeley
National Laboratory)
Abb. 15.17 Funktionsweise eines Massenspektrometers
Das erste Zyklotron zur Teilchenbeschleunigung wurde
von dem amerikanischen Physiker Ernest Lawrence (1901– In der Kernfusionsforschung werden die geladenen Ionen
1958, Nobelpreis 1939) an der University of California eines Plasmas im sogenannten Tokamak magnetisch ein-
in Berkeley im Jahr 1932 gebaut, in dem Teilchen durch geschlossen, indem das Magnetfeld in der Form eines
elektromagnetische Felder mit einer Frequenz, die durch Torus in sich geschlossen wird. („Tokamak“ ist ein russi-
die Zyklotronfrequenz !B gegeben ist, beschleunigt wer- sches Akronym für „toroidale Kammer mit Magnetspulen“;
den. Abb. 15.18.)

Abb. 15.16 In älteren Teilchendetektoren wurden sogenannte Blasen-


kammern eingesetzt, in denen Teilchenbahnen durch ihre Ionisationsspuren
sichtbar gemacht und dank eines äußeren Magnetfeldes identifizierbar
wurden. Dieses Prinzip findet sich auch in den meisten modernen Teilchen-
detektoren Abb. 15.18 JET (Joint European Torus), ein Tokamak zur Kernfusionsfor-
schung, bei dem ein Plasma magnetisch eingeschlossen wird. Das Bild zeigt
Bei höheren, relativistischen Energien ist in (15.125) m das Innere des Tokamaks in Fotomontage mit dem Plasma (© EFDA, www.
durch die relativistische, geschwindigkeitsabhängige Masse efda.org)
15.6 Elektromotorische Kräfte 533

Abb. 15.19 Bahnkurve eines geladenen Teilchens im inhomogenen Magnet-

Teil II
feld (hier für ein negativ geladenes Teilchen): Näherungsweise ist die Bewegung
so, dass der eingeschlossene magnetische Fluss konstant bleibt Abb. 15.20 Eine Visualisierung der Van-Allen-Gürtel, die von den Van-Allen-
Probes-Satelliten der NASA vermessen werden. Die Strahlungsgürtel sind hier
in Gelb dargestellt, die Zwischenräume in Grün. Zusätzlich zu den bereits 1958
entdeckten zwei Strahlungsgürteln wurde 2012 gefunden, dass zeitweilig ein
Frage 12 dritter Gürtel erscheinen kann. Gezeigt sind hier die Verhältnisse in der Ebene
Wie ändert sich daher a und v? in Abhängigkeit von Bz ? quer zum Sonnenwind; in Richtung des Sonnenwindes führt dieser zu Deforma-
tionen des Magnetfeldes und damit auch der Van-Allen-Gürtel (© NASA, Van
Allen Probes, Goddard Space Flight Center)
Wenn die Stärke des Magnetfeldes zunimmt, rücken diese Feld-
linien näher aneinander, und die Kreisbewegung verändert sich
dabei gemäß
1 p
a / p ; v? / Bz : (15.130)
Bz

Nun ist aber die Energie eines Teilchens in einem reinen Ma-
gnetfeld erhalten, sodass
m 2  m
TD vz C v?
2
D vz2 C jmjBz .z/ (15.131)
2 2
gilt, wobei jmj das magnetische Moment ist, das zur Rotati-
on des Teilchens um die z-Achse gehört, wie in Aufgabe 15.8
gezeigt wird. Offenbar ist eine Bewegung in z-Richtung nur
in Bereichen möglich, in denen Bz < T=jmj ist, da nur dann
vz2 > 0 sein kann. Bezüglich der Bewegung in z-Richtung
verhält sich Bz .z/ wie ein Potenzial, das eine Kraft jmj@z Bz
Abb. 15.21 Das Erdmagnetfeld bildet eine natürliche magnetische Flasche, da
verursacht, durch die ein Teilchen, das sich in Richtung zuneh- die Feldstärke in Richtung der Pole zunimmt. Energiereiche geladene Teilchen
mender Magnetfeldstärke bewegt, abgebremst und schließlich aus dem Sonnenwind und der kosmischen Strahlung werden darin eingefangen
elastisch in die entgegengesetzte Richtung reflektiert wird. Das und bewegen sich in verschiedenen Strahlungsgürteln, die nach dem Astrophysi-
Vorzeichen der Ladung spielt hierbei keine Rolle; nur der Um- ker James Van Allen benannt sind. In einem inneren Gürtel sind dabei Protonen,
laufsinn um die z-Achse hängt davon ab. in einem äußeren Elektronen eingefangen

Dieses Phänomen wird als magnetischer Spiegel bezeichnet.


Sonnenwind und der kosmischen Strahlung gefangen sind. Die
Wenn auch in der entgegengesetzten Richtung eine Region mit
Teilchen pendeln dabei zwischen Nord- und Südpol mit Peri-
zunehmendem Magnetfeld vorliegt, nennt man diese Konfigura-
odendauern im Sekundenbereich (Abb. 15.20 und 15.21).
tion magnetische Flasche (siehe Aufgabe 15.9 für ein konkretes
Beispiel). Es eignet sich allerdings nur bis zu einem gewis-
sen Grad zum Einschluss von bewegten geladenen Teilchen,
wie sie in einem Plasma vorliegen – Teilchen mit zu geringen 15.6 Elektromotorische Kräfte
transversalen Geschwindigkeiten können aus dieser Flasche ja
entkommen.
Eine wichtige, in der Natur vorkommende magnetische Flasche
Ohm’sches Gesetz
wird vom Erdmagnetfeld gebildet, wo im Van-Allen-Gürtel (be-
nannt nach dem US-amerikanischen Astrophysiker James Van Um in Materie elektrische Ströme zu erzeugen und auch um
Allen, 1914–2006) energiereiche geladene Teilchen aus dem diese Bewegung von freien Ladungsträgern aufrechtzuerhalten,
534 15 Magnetismus und elektrische Ströme

bedarf es im Allgemeinen elektrischer Felder. Die zahlreichen jf D r . Setzt man dies in die hier zeitunabhängige Konti-
Stöße, die die Ladungsträger dabei erfahren, führen in vielen nuitätsgleichung
Fällen zu einer effektiven Reibungskraft, die linear zur Ge-
schwindigkeit und damit proportional zur Stromdichte jf ist @ f
(eine Ausnahme bilden hier Supraleiter; siehe Kasten „Ver- r  jf C D r  jf D 0 (15.134)
@t
tiefung: Supraleiter als idealer Diamagnet“). Ein stationärer
Zustand stellt sich offenbar dann ein, wenn die einwirkende ein, folgt
Kraft der Reibungskraft die Waage hält. Da äußere elektroma- r  .r / D 0: (15.135)
gnetische Felder auf Ladungsträger die Lorentz-Kraft ausüben,
wird diese Situation durch eine Proportionalität Ist ferner  eine Konstante, so erfüllt die Laplace-Glei-
  chung, und das Innere des Leiters muss ladungsfrei sein: f D
1  41  D 0. Eventuelle elektrische Ladungen können dann
jf D  E C v  B (15.132)
Teil II

c wie bei perfekten Leitern nur auf der Oberfläche lokalisiert sein.

beschrieben, wobei  die spezifische Leitfähigkeit des Materials Frage 13


ist (nicht zu verwechseln mit einer Flächenladungsdichte, für Überlegen Sie sich, dass dies in einem inhomogenen Leiter mit
die dasselbe Symbol verwendet wird) und v die Driftgeschwin- räumlich variabler Leitfähigkeit .r/ nicht mehr der Fall ist!
digkeit der beteiligten Ladungsträger, d. h. eine gemittelte Ge- Zeigen Sie, dass dann im stationären Fall f D jf  r .4 .r//1
schwindigkeit, bei der die ungeordnete thermische Bewegung gilt.
herausfällt.
In den meisten Fällen ist die Driftgeschwindigkeit v so viel
kleiner als die Lichtgeschwindigkeit, dass der Beitrag von Ma- Stromverteilung in einem zylinderförmigen Leiter
gnetfeldern in (15.132) komplett vernachlässigbar wird und
somit jf und E linear zusammenhängen (zumindest solange die Auf den Deckflächen eines zylinderförmigen Leiters mit
Feldstärken nicht so groß werden, dass nichtlineare Effekte ins konstanter Querschnittsfläche F (beliebiger Form), Län-
Spiel kommen). Ein solcher Zusammenhang heißt nach dem ge ` und konstanter Leitfähigkeit  seien metallische
deutschen Physiker Georg Simon Ohm (1789–1854) Ohm’sches Elektroden angebracht, die auf einer Potenzialdifferenz U
Gesetz. gehalten werden. Welcher Strom bildet sich aus?
Zunächst soll gezeigt werden, dass die Stromverteilung
Ohm’sches Gesetz homogen ist: Weil  konstant ist, erfüllt das Potenzial
die Laplace-Gleichung,  D 0. Auf der Mantelflä-
jf D E (15.133) che des Zylinders muss jf tangential sein, damit dort kein
Strom zu- oder abfließt. Mit jf D r gibt das die Neu-
Die spezifische Leitfähigkeit  ist eine Materialkonstan-
mann-Randbedingung n  r D 0 auf den Mantelflächen,
te, die typischerweise von der Temperatur abhängt und in
während auf den Deckflächen durch die vorgegebenen
anisotroper Materie auch ein Tensor sein kann. Der Kehr-
Potenziale Dirichlet-Randbedingungen vorliegen. Damit
wert von  heißt spezifischer Widerstand und wird mit
ist das Potenzial eindeutig festgelegt, und die Lösung der
D 1= bezeichnet (ebenfalls nicht mit Ladungsdichten
Laplace-Gleichung mit diesen Randbedingungen ist auch
zu verwechseln!).
leicht zu erraten: ist konstant auf einem Querschnitt und
 hat wie die Reibungskraft nur ein mögliches Vorzeichen linear entlang der Zylinderachse. Ist letztere die z-Achse,
und ist immer positiv (oder null). dann ist bis auf eine additive Konstante
U
.z/ D Uz=`; jf D E D r D  zO :
Der spezifische Widerstand variiert enorm zwischen guten Iso- `
(15.136)
latoren und guten Leitern: Der Unterschied zwischen Quarzglas
und Metallen wie Kupfer und Silber beträgt etwa 22 Größenord- Der gesamte Strom durch den Zylinder ist einfach
nungen (Zehnerpotenzen). Halbleiter wie reines Silizium liegen
im Bereich des geometrischen Mittels davon. Bei Metallen ist F
I D jjf jF D U: (15.137)
die Leitfähigkeit so hoch, dass in ihrem Inneren die elektri- `
J
sche Feldstärke meist vernachlässigt werden kann, auch wenn
beträchtliche Ströme fließen.
Hat man in einem (nicht perfekten) Leiter einen stationären Achtung Dieses Ergebnis einer homogenen Stromverteilung
Strom jf und zugehörig ein zeitunabhängiges elektrisches Feld, gilt streng genommen nur für stationäre Ströme mit vernach-
dann kann wegen r  E D 0 dieses durch das elektrostati- lässigbar kleiner Driftgeschwindigkeit der Ladungsträger. Be-
sche Potenzial dargestellt werden, E D r , und wir haben rücksichtigt man diese, findet man etwas inhomogene Strom-
15.6 Elektromotorische Kräfte 535

Vertiefung: Alfvén’scher Satz


Eingefrorene Feldlinien in einem Plasma

Für eine perfekt leitende Flüssigkeit gilt der in der Magne- Die Annahme einer unendlichen Leitfähigkeit ist tatsäch-
tohydrodynamik sehr wichtige, vom schwedischen Plasma- lich eine gute Näherung für die meisten in der Astrophy-
physiker und Nobelpreisträger Hannes Alfvén (1908–1995) sik auftretenden Plasmen und auch in Anwendungen in
aufgestellte Satz, dass der magnetische Fluss durch eine der Kernfusionsforschung. Diese Näherung wird auch idea-
Schleife, die sich mit der Flüssigkeit bewegt, zeitlich kon- le Magnetohydrodynamik genannt, im Gegensatz zur noch
stant ist. schwierigeren resistiven Magnetohydrodynamik.
Dieser Satz folgt direkt aus den Überlegungen, mit denen
Magnetfeld und Plasma sind in der idealen Magnetohydro-

Teil II
wir das Induktionsgesetz (11.62) für bewegte Leiterschlei-
namik so stark aneinandergekoppelt sind, dass man davon
fen in Abschn. 11.1 hergeleitet haben. Dazu müssen wir statt
spricht, dass die Magnetfeldlinien „eingefroren“ sind. Dies
einer Leiterschleife bloß einen Ring aus Ladungsträgern be-
bedeutet, dass nicht nur das Plasma das Magnetfeld in sei-
trachten und der Eigenbewegung dieser Plasmabestandteile
ner Bewegung mitnimmt, sondern dass auch umgekehrt die
folgen, anstatt die Bewegung vorzugeben. Wenn wir außer-
Bewegung des Plasmas durch das Magnetfeld bestimmt sein
dem zulassen, dass das äußere Magnetfeld explizit von der
kann, wenn dessen Druck dominiert (neben dem Druck
Zeit abhängt, bekommen wir für die Änderung des Flusses
geht zudem die Krümmung der Magnetfeldlinien in die
durch eine mitbewegte Schleife L D @F mit den Bezeich-
magnetohydrodynamischen Gleichungen ein). So wird in
nungen von Abb. 11.15 anstelle von (11.60)
der dichten Photosphäre der Sonne das Magnetfeld durch
Z Z die Konvektion des Plasmas bestimmt, in der dünnen Son-
ˆm .F tCdt /  ˆm .F t / D dt df  @ t B  df  B: (1) nenkorona aber bestimmt das Magnetfeld dessen Struktur
Ft dM (Abb. 15.22).

Mit (11.59) und dem Satz von Stokes lässt sich das umfor-
men auf:
Z I
ˆm .F tCdt /  ˆm .F t / D dt df  @ t B  dt .v  B/  dr
Ft Lt
Z
 
D dt df  @ t B  r  .v  B/ : (2)
Ft

Da die Ströme in einem Plasma endlich sind, folgt aus dem


Ohm’schen Gesetz in der Form (15.132) und der Annahme
unendlicher Leitfähigkeit  ! 1
1
ED v B (3)
c
und aus der homogenen Maxwell-Gleichung r  E D
 1c @ t B:

@ t B D r  .v  B/: (4) Abb. 15.22 Eine extrem massive Sonneneruption, die vom Solar Dynamics
Observatory (SDO) der NASA am 31. August 2012 beobachtet wurde (http://
Damit verschwindet aber die rechte Seite von (2). svs.gsfc.nasa.gov/vis/a010000/a011000/a011095/index.html)

verteilungen, in Einklang damit, dass sich parallele Stromfäden In der Elektrotechnik wird das Ohm’sche Gesetz normalerweise
anziehen, sowie nicht triviale Ladungsverteilungen (Gabuzda nicht für Stromdichten, sondern für aufintegrierte Ströme for-
1993). Diese Effekte sind normalerweise vernachlässigbar, kön- muliert:
nen aber in der Plasmaphysik bedeutsam werden (Pinch- oder U D R I; (15.138)
Einschnüreffekt). Bei hochfrequenten Wechselströmen ist die
Situation allerdings wesentlich anders. Durch den sogenannten wobei U die Potenzialdifferenz und I der damit einhergehende
Skin-Effekt (siehe hierzu Aufgabe 16.5) konzentriert sich dann Strom in einem Stromkreis sind. Die Proportionalitätskonstante
der Stromfluss an der Oberfläche eines Leiters. J R wird als Widerstand bezeichnet. Dieser hängt von der Geo-
536 15 Magnetismus und elektrische Ströme

metrie und der Leitfähigkeit ab, wie wir im obigen Beispiel Faraday’sche Induktion
gesehen haben, in dem er für einen Körper mit konstantem
Querschnitt F und Länge ` als R D `=.F/ bestimmt wurde.
Wenn irgendwo in der von Stromkreisen eingeschlossenen Flä-
In SI-Einheiten wird Widerstand in Ohm () angegeben; 1   che zeitabhängige Magnetfelder vorhanden sind, kann eine
1 V=1 A. Der Kehrwert, die Leitfähigkeit G D 1=R wird in der elektromotorische Kraft auch dadurch realisiert werden. Dann
weniger gebräuchlichen SI-Einheit Siemens (S), benannt nach existiert eine elektrische Ringspannung
Werner von Siemens (1816–1892), angegeben, und ist einfach
1 , was in der englischsprachigen Literatur gelegentlich in- I
formell als mho (Ã) bezeichnet wird. (Die entsprechenden U Ring D dr  E.ind/
CGS-Einheiten sind so wie das Statampere technisch sehr
@F
unhandliche Größen. Das Statohm ist einfach eine inverse
Z (15.142)
Geschwindigkeit, 1 stat  D 1 s cm1 , und entspricht etwa
Teil II

1d 1 d
1012 .) D df  B D  ˆ .F/;
c dt c dt m
In elektrischen Widerständen wird gegen die Reibungskräfte F
Arbeit geleistet, die in Wärme umgewandelt wird. Die pro Zeit-
einheit durch jf geleistete Arbeit in einem Volumen V ist analog für die ebenfalls die Bezeichnung EMK verwendet wird. Die
zu (11.103) durch Z Veränderung des magnetischen Flusses ˆm kann dabei entwe-
P D dV jf  E (15.139) der dadurch zustande kommen, dass sich eine Leiterschleife
L D @F in einem Magnetfeld bewegt oder dass sich bei un-
V veränderlichem Rand @F das Magnetfeld ändert (Kap. 11).
mit jf D E gegeben. Für einen Widerstand mit konstanter
Stromdichte senkrecht auf eine Querschnittsfläche A ist I D Ein Beispiel für Ersteres haben wir bereits in Aufgabe 11.8,
Ajjf j und damit der Ausmessung von Magnetfeldern durch rotierende Spulen,
ˇZ ˇ betrachtet. Viel wichtiger ist allerdings die Anwendung als
ˇ ˇ U2 Stromgenerator. Ist im Stromkreis @F ein elektrischer Verbrau-
P D I ˇˇ d` .r /ˇˇ D I U D I 2 R D : (15.140)
R cher (d. h. Widerstand R) vorhanden, wird auf der einen Seite
Mit SI-Einheiten Volt, Ampere und Ohm erhält man P in Watt mechanische Energie in elektrische umgewandelt, die über elek-
(Joule/Sekunde). trische Leitungen zum Verbraucher R weitergeleitet wird. In
diesem Fall erfordert das mechanische Drehen einer Spule so
In einem stationären Stromkreis muss diese dissipierte Energie
viel Energie, wie durch den resultierenden Strom durch Wider-
beständig nachgeliefert werden. Falls die (makroskopischen)
stände in Wärme umgewandelt wird.
Felder überall zeitunabhängig sind, gilt rot E D 0 und daher
I
dr  E D 0 (15.141)
Einfacher Generator
entlang einer Stromschleife. Damit auf Teilstrecken der Strom-
schleife der Strom gemäß jf D E ( > 0) in Richtung der Betrachten wir ein noch einfacheres Beispiel für einen
elektrischen Feldstärke fließen kann, muss es Bereiche geben, Stromgenerator: eine rechteckige Leiterschleife mit Wi-
in denen Ladungsträger entgegengesetzt zur elektrostatischen derstand R, die sich zum Teil in einem Gebiet mit kon-
Kraft bewegt werden. Diese äußeren Kräfte werden als elek- stantem Magnetfeld senkrecht zur Schleife befindet und
tromotorische Kräfte bezeichnet und können auf verschiedenste aus dieser mit einer Geschwindigkeit v herausgezogen
Weise realisiert sein. In Batterien sind es chemische Kräfte wird.
durch Konzentrationsgefälle von geladenen Ionen, und in einem
Van-de-Graaff-Generator werden Elektronen mechanisch trans-
portiert. Die Festkörperphysik liefert darüber hinaus die Mög-
lichkeit zu Elektronentransport aufgrund von mechanischem C1
Druck (Piezoelektrizität), Temperaturunterschieden (Thermo-
elektrizität), Licht (photoelektrischer Effekt), und dergleichen. I
Die Potenzialdifferenz U, die durch diese äußeren Kräfte auf- FL
gebaut wird, wird als elektromotorische Kraft des Stromkreises l h R
(kurz EMK) bezeichnet, obwohl ein Potenzial vielmehr Kraft
...

C2 v v
mal Weg pro Ladung ist.
Spannungsquellen haben oft einen nicht vernachlässigbaren in- C3
neren Widerstand Ri , sodass die von ihnen gelieferte Spannung B
...
beim Einschalten eines Stromes I um den Betrag Ri I absinkt.
Hat der Stromkreis selbst einen Widerstand R, gilt U  Ri I D
RI.
15.6 Elektromotorische Kräfte 537

Eisenkern
Zeigt das Magnetfeld aus der gezeichneten Ebene heraus,
dann ist der magnetische Fluss durch die Leiterschlei-
fe (mit Flächennormale ebenfalls aus der Zeichenebene
heraus zeigend) ˆm D B l h und die im mathematisch
positiven Sinn (entgegen dem Uhrzeigersinn) berechne-
te Ringspannung, die zu einem Strom in selber Richtung Primärspule
führt, durch N1 Sekundärspule
N2
 
1d 1 dl Bv h
U Ring
D ˆ D B  hD (15.143)
c dt m c dt c

Teil II
gegeben. Wie man sieht, ist der hervorgerufene Strom
so gerichtet, dass das von ihm dabei erzeugte Magnet- magnetische
rFluss Φ Kern
m
feld den abnehmenden Fluss durch die Leiterschleife zu
vergrößern sucht, in Übereinstimmung mit der bekann-
Abb. 15.23 In einem Transformator wird über einen gemeinsamen Eisenkern
ten Lenz’schen Regel, nach der sich das Vorzeichen von der magnetische Fluss von zwei Spulen gekoppelt. Der Fluss in den Spulen ist
induzierten Strömen gerade so einstellt, dass einer Fluss- durch das Produkt von Windungszahl (N1 bzw. N2 ) und Fluss im Eisenkern ˆKern
m
änderung (wenn auch unvollkommen) entgegengewirkt gegeben
wird. Wir werden im Weiteren annehmen, dass diese zu-
sätzliche Flussänderung in unserem Fall vernachlässigbar
ist. gleichzeitig unveränderter Geometrie (diese legt ja die Lnm fest)
Bei einem Widerstand R im Stromkreis gibt dies nach induzieren Ringspannungen in den verschiedenen Stromkreisen
dem Ohm’schen Gesetz (15.138) den Strom I D U Ring =R demnach gemäß
und damit eine Leistung P D U Ring I. Diese Leistung X dIm
muss von demjenigen erbracht werden, der die Leiter- UnRing D  Lnm : (15.146)
schleife aus dem Magnetfeld herauszieht. Tatsächlich ist m
dt
dies exakt gleich der Arbeit pro Zeiteinheit, die gegen
die Lorentz-Kraft geleistet werden muss, die sich durch Man spricht hier von induktiver Kopplung von Stromkreisen.
die erzwungene Bewegung des elektrischen Stromes im Eine wichtige Anwendung ist der Transformator (Abb. 15.23).
magnetischen Feld ergibt. Die Lorentz-Kraft ist, wie man Hier wird der magnetische Fluss in einer Spule in einem Strom-
mithilfe der Rechte-Hand-Regel sieht, entlang der Leiter- kreis über einen gemeinsamen Eisenkern mit einer weiteren
schleife nach außen gerichtet. Die Teilstücke C1 und C3 Spule in einem anderen Stromkreis verknüpft. Der Fluss in einer
kompensieren sich dabei, und auf C2 mit der Länge h Spule mit N Windungen ist nun das N-fache des Flusses ˆKern
wirkt für B D B eO z und v D v eO x die Kraft m
im Eisenkern. Die elektromotorischen Kräfte in beiden Spulen
sind damit proportional zueinander:
IB
F D Oex h: (15.144)
c .1/ .2/
ˆm D N1 ˆKern
m ; ˆm D N2 ˆKern
m
Die zugehörige Leistung ist durch dW=dt D .F  eO x dx/=dt (15.147)
Ring N Ring
gegeben, hat also den Betrag ) U2 D 2 U1 :
N1
IB
PD h v; (15.145) Wechselspannungen lassen sich damit mit dem Faktor N2 =N1 ,
c
dem sogenannten Übersetzungsverhältnis, erhöhen oder ernied-
was exakt mit P D UI übereinstimmt. J rigen.
Über die Selbstinduktivität Lnn führen Stromänderungen in ei-
nem Stromkreis auch zu Rückwirkungen auf ihn selbst. Wird
Ströme können natürlich auch generiert werden, wenn die
in einer Spule der Stromfluss plötzlich unterbrochen, können
Schleife nicht bewegt wird und sich stattdessen der magnetische
enorme elektrische Spannungen entstehen, da auch bei mä-
Fluss ändert, entweder weil der Magnet weggezogen wird oder
ßigen Stromstärken I die abrupte Änderung dI=dt sehr groß
wenn das Magnetfeld durch einen anderen Stromkreis erzeugt
werden kann. Deshalb kommt es beim Ausstecken von elektri-
wurde und sich dessen Strom ändert.
schen Geräten leicht zu Funken. Dies wird auch in technischen
Wenn mehrere Stromkreise vorhanden sind, sind die magne- Anwendungen wie Zündkerzen und dergleichen ausgenutzt.
tischen Flüsse durch sie, wie wir in (15.102) gesehen haben, Umgekehrt kann der Strom in einem Stromkreis, der eine
über die Induktionskoeffizienten Lnm mit den individuellen Selbstinduktivität L und einen Widerstand R enthält, nicht
Stromstärken verknüpft. Zeitliche Änderungen der Ströme bei diskontinuierlich eingeschaltet werden. Beim Anlegen einer
538 15 Magnetismus und elektrische Ströme

Spannung U ist die induzierte Spannung LdI=dt zu berück-


sichtigen, und es gilt Grundgleichungen der makroskopischen Elektrodyna-
mik (phänomenologische Maxwell-Gleichungen)
dI
UL D I R: (15.148)
dt
div D D 4 f; (15.153)
Wird dieser Stromkreis zum Zeitpunkt t D 0 geschlossen, so-
dass I.0/ D 0 ist, ist mit dieser Anfangsbedingung die Lösung div B D 0; (15.154)
dieser Differenzialgleichung 1 @
rot E D  B; (15.155)
c @t
U 
I.t/ D 1  e.R=L/t : (15.149) 4 1@
R rot H D j C D; (15.156)
c f c @t
Der Strom erreicht den stationären Wert U=R nur asymptotisch,
Teil II

charakterisiert durch eine Zeitkonstante  D L=R. mit D D E C 4 P, B D H C 4 M.


Diese Gleichungen sind um Materialgleichungen zu er-
gänzen, die P und M in Abhängigkeit von elektromagne-
15.7 Makroskopische tischen Feldern bestimmen lassen.

Elektrodynamik In linearen Medien sind (bei zeitlich nicht zu rasch verän-


derlichen Feldern) P und damit D proportional zu E:

Für die Diskussion der Faraday’schen Induktion in materiellen P D e E; D D .1 C 4 e /E  E; (15.157)


Stromkreisen war die homogene Maxwell-Gleichung rot E D
 1c @ t B die Grundlage. Diese Gleichung gilt unverändert in sowie M und damit B proportional zu H:
der makroskopischen Elektrodynamik, weil in Materie nur der
Übergang zu gemittelten Feldern notwendig war und dies eine M D m H; B D .1 C 4 m /H  H: (15.158)
lineare Operation ist, die mit der Struktur der Maxwell-Glei-
chungen verträglich ist.
In Ohm’schen Leitern gilt darüber hinaus die Material-
Die Gleichung rot H D 4c jf , mit der Magnetfelder in der gleichung jf D E mit der spezifischen Leitfähigkeit .
makroskopischen Magnetostatik berechnet werden können, ist
aber offenbar im dynamischen Fall inkonsistent, aus demselben
Grund, der in Abschn. 11.1 auf den Maxwell’schen Verschie-
bungsstrom führte: Bei zeitabhängigen Quellen f und jf sind Achtung Bei zeitlich stark veränderlichen Feldern können
diese durch die Kontinuitätsgleichung auch lineare Medien im Allgemeinen nicht mehr durch einfache
Konstanten  und  beschrieben werden. Eine räumlich lokale
@ lineare Reaktion der Materie kann aber durch frequenzabhän-
div jf D  (15.150)
@t f gige Materialkonstanten beschrieben werden. (Proportionalität
von Fourier-Komponenten im „Frequenzraum“ entspricht ein
genauso verbunden wie die fundamentalen Quellen: Zeitliche komplizierterer, nichtlokaler Zusammenhang im „Zeitraum“
Veränderungen von freien Ladungsdichten führen auf freie (Lei- über ein Faltungsintegral; siehe Abschnitt „So geht’s weiter“ in
tungs-)Ströme, und ein Nettozufluss von elektrischem Strom Kap. 16.) J
führt zu (Monopol-)Ladungsdichten. Da div rot H  0 ist, muss
in der Gleichung für rot H die rechte Seite durch eine mani- Wegen D D E C 4 P setzt sich der aus Konsistenzgründen
fest divergenzfreie Größe ersetzt werden. Mit (14.18), die wir in @
eingeführte neue Maxwell’sche Verschiebungsstrom 41 @t D aus
der makroskopischen Elektrostatik erhalten hatten, kann wieder dem gemittelten fundamentalen Maxwell’schen Verschiebungs-
die Zeitableitung der Ladungsdichte als Divergenz geschrieben @
strom 41 @t E und einem tatsächlichen Strom in den gebundenen
werden: Quellen zusammen, der Polarisationsstrom heißt, und durch die
@ 1 @
D div D: (15.151) Polarisationsstromdichte
@t f 4 @t
Damit gilt   @
1 @ jP WD P (15.159)
div jf C D D 0; (15.152) @t
4 @t
beschrieben wird. Dieser Strom gehört zur Polarisationsla-
was auf den Maxwell’schen Verschiebungsstrom für die makro-
dungsdichte P D div P und bildet mit dieser eine Kontinui-
skopische Elektrodynamik führt. Dieser ergibt sich also einfach
tätsgleichung.
durch die Ersetzung von @ t E durch @ t D. Damit kann auch für
den makroskopischen Fall ein widerspruchsfreies System von @
div jP D  : (15.160)
Gleichungen aufgestellt werden. @t P
15.7 Makroskopische Elektrodynamik 539

Anwendung: Elektrotechnische Stromkreise


Komplexer Wechselstromwiderstand, Wirk- und Blindleistung, Kirchhoff’sche Gesetze

Sind in einem (einfachen) Stromkreis ein Widerstand R, eine (ist am Ende einer Rechnung eine nichtlineare Operation wie
Induktivität L und eine Kapazität C hintereinander geschal- Quadrieren des Stromes nötig, ist allerdings vorher der Real-
tet, dann ist die äußere Spannung U die Summe aus dem teil zu nehmen). Obige Differenzialgleichung wird dann zur
Spannungsabfall UR D I R am Widerstand, der induktiven algebraischen komplexen Gleichung
Spannung UL D L dI=dt und der Potenzialdifferenz UC an  
den Anschlüssen des Kondensators (Abb. 15.24): 1
U D i!L C R C I DW Z.!/ I DW .R C iX/I:
i!C
dI

Teil II
U D RI C L C UC :
dt Z wird dabei komplexer Wechselstromwiderstand genannt. R
wird als Wirkwiderstand oder Resistanz,
p X als Blindwider-
Die induktive Spannung UL wurde hier mit einem umgekehr-
stand oder Reaktanz und jZj D R2 C X 2 als Scheinwider-
ten (nämlich positiven) Vorzeichen definiert, um sie auf der
stand oder Impedanz bezeichnet. Die Bedeutung der Phase
rechten Seite zu den Potenzialdifferenzen der anderen Bau-
der komplexen Größe Z, ' D arctan.X=R/, liegt in einer
elemente addieren zu können, anstatt sie wie in (15.148) zur
Phasenverschiebung von Spannung gegenüber Strom: Wenn
angelegten Spannung hinzuzuzählen.
die Amplitude I0 reell ist und daher Re I D I0 cos.!t/, dann
ist Re U D U0 cos.!t C '/.
I
R L C Eine nichttriviale Phasenverschiebung führt dazu, dass die
Leistung P.t/ D .Re U/.Re I/ nicht mehr ausschließlich po-
sitiv ist:

∼U UR UL UC
P.t/ D I0 U0 cos ' cos2 !t  I0 U0 sin ' sin !t cos !t:

Der erste Term oszilliert zwischen null und I0 U0 cos ', ist
also über eine Periodendauer gemittelt 12 I0 U0 cos '. Dieses
Abb. 15.24 Einfacher Stromkreis mit serieller Schaltung eines Widerstands Zeitmittel wird Wirkleistung genannt,
R, einer Spule mit Induktivität L und eines Kondensators mit Kapazität C
1 1
Pwirk D I U cos ' D RI02 D R Ieff 2
;
Die Potenzialdifferenz am Kondensator hängt gemäß (12.70) 2 0 0 2
linear mit seiner Ladung zusammen, und die zeitliche Ver- p
änderung dieser Ladung mit dem Strom, der in den Kon- wobei Ieff D I0 = 2 den zeitlichen Mittelwert von
p
densator hinein fließt, da wir einen einfachen Stromkreis ŒRe I.t/2 darstellt und als effektive Stromstärke bezeich-
angenommen haben: net wird. Der zweite Term oszilliert wegen sin !t cos !t D
1
sin 2!t um null und definiert die Blindleistung
Zt 2
Q d
UC D ; I D Q; QD dt0 I.t0 /; 1 1
C dt Pblind D I0 U0 sin ' D XI02 D XIeff
2
:
t0 2 2
wobei angenommen wurde, dass der Kondensator zum Zeit- Dieser Anteil der Leistung wird nicht im Stromkreis ver-
punkt t0 ungeladen ist. Differenziation nach t liefert braucht, sondern nur zwischen Quelle und Stromkreis hin-
und herbewegt. In der Praxis kann dies allerdings trotzdem
1 zu Verlusten führen, nämlich im Wirkwiderstand von Zulei-
P
U.t/ D L IR C R IP C I:
C tungen.
Hat man es mit einer Wechselspannung mit fester Frequenz Für kompliziertere Zusammenschaltungen von Widerstän-
zu tun, ist es bequem, eine komplexe Notation I.t/ D I0 ei!t den, Induktivitäten und Kapazitäten in sogenannten passi-
zu verwenden (in der Elektrotechnik wird leider nicht die ven linearen Netzwerken gelten die Kirchhoff’schen Gesetze
Physikerkonvention ei!t geteilt) und erst am Ende einer (benannt nach dem deutschen Physiker Gustav Robert Kirch-
Rechnung zu reellen Größen durch I ! Re I überzugehen hoff, 1824–1887):
540 15 Magnetismus und elektrische Ströme

1. Stromerhaltung bei Verzweigungen (Knotenregel): 2. In jeder geschlossenen Stromschleife ist die Summe der
Teilspannungen null (Maschensatz):
X
In D 0; X
Ui D 0;
n
i

wobei die Ströme In alle entweder zu- oder abfließend ge- wobei der Umlaufsinn das Vorzeichen der Ui vorgibt.
nommen werden.
Diese zwei Gesetze folgen unmittelbar aus div jf D 0 bzw.
rot E D 0 oder (15.141).
Teil II

Frage 14 ausdrücken, indem wir die Maxwell-Gleichung (15.156) rück-


wärts lesen:
Überzeugen Sie sich von der (trivialen) Richtigkeit dieser Glei-
chung.  
c 1@
jf D r H D : (15.163)
4 c @t
Betrachten wir die Rotation des (gemittelten) fundamentalen B- Mit dem Analogon zu (11.107),
Feldes, so ergibt sich
E  .r  H/ D r  .E  H/ C H  .r  E/ (15.164)
rot B D rot H C 4 rot M
4 1@ 4 4 und unter Verwendung der homogenen Maxwell-Gleichung
D jf C EC jP C j ; (15.161) (15.155) im letzten Term bekommen wir anstelle von (11.109)
c c @t c c M
nun
wobei wir jM D crot M wie in (15.40) definiert verwendet ha-
ben. Abgesehen vom fundamentalen Maxwell’schen Verschie- @ t wmech D jf  E (15.165)
bungsstrom 41 @t @
E können wir insgesamt drei Strombeiträge  c   
1 @D @B
identifizieren. Dem freien Leitungsstrom jf stehen zwei Arten D r  EH  E CH :
4 4 @t @t
von gebundenen Stromdichten gegenüber: die Magnetisierungs-
stromdichte jM und die elektrische Polarisationsstromdichte. Für den Fall, dass D D E und B D H ist und  und  darin
Die Magnetisierungsstromdichte geht dabei in keine Kontinui- einfach Konstanten sind, gilt
tätsgleichung ein, weil sie als Rotation von M automatisch
divergenzfrei ist: @D 1@ @B 1@
div jM D 0: (15.162) E D .E  D/ ; H D .H  B/ ; (15.166)
@t 2 @t @t 2 @t
Der Grund dafür ist, dass für Veränderungen in den Ampè- und wir bekommen wieder eine lokale Bilanzgleichung der
re’schen Molekularströmen keine räumlichen Ladungsverschie- Form
bungen betrachtet werden müssen.
@t w C r  S D 0 mit w D wmech C wem (15.167)

und damit einen Energieerhaltungssatz


Energie- und Impulsbilanz für lineare Medien I
d
.WVmech C WVem / D  df  S: (15.168)
dt
In (15.139) haben wir speziell die mit den freien Quellen as- @V
soziierte Leistungsdichte jf  E betrachtet. Auf fundamentaler
Ebene wird auch an den gebundenen Strömen Arbeit verrichtet. In diesen sind nun das Poynting-Vektorfeld und die Energie-
In einfachen linearen Medien wird diese Arbeit aber nicht dissi- dichte des elektromagnetischen Feldes durch
piert (in Wärme umgewandelt), sondern gespeichert. Damit ist
es sinnvoll, sie in der elektromagnetischen Energiedichte zu in- c 1
SD .E  H/ ; wem D .E  D C H  B/ (15.169)
kludieren, wie wir es in den Ausdrücken (14.76) und (15.97) 4 8
für elektrostatische und magnetostatische Feldenergie gemacht
haben. definiert. Dies zeigt, dass die Energiedichten, die wir in (14.76)
und (15.97) in der makroskopischen Elektro- und Magnetostatik
Wir versuchen, dies nun auf den dynamischen Fall auszudehnen betrachtet hatten, auch im dynamischen Fall gültig sind, voraus-
und den Energiesatz der Elektrodynamik auf jf  E zu über- gesetzt allerdings, wir haben es mit einfachen linearen Medien
tragen. Wie in Abschn. 11.4 können wir jf durch Feldgrößen zu tun, in denen  und  konstant sind.
15.7 Makroskopische Elektrodynamik 541

Achtung Die Umformungen in (15.166), die auf totale Zeit-


ableitungen führten, gelten nicht, wenn D oder H einen zeitab- wird nicht im Inneren transportiert! (Sie wird aber im In-
hängige Zusammenhang mit E und B haben, wie im Fall von neren des Widerstands durch den elektrischen Strom in
Hysterese, oder auch bei frequenzabhängigen Materialkonstan- Wärme umgewandelt.)
ten. In diesen Fällen gilt der Energieerhaltungssatz nicht mehr,
weil dann Energie in der Materie durch dissipative Effekte ab-
sorbiert werden kann, zusätzlich zu den Ohm’schen Verlusten,
die durch jf  E beschrieben werden. J
j

Teil II
Energiefluss in Stromkreis mit Widerstand

Betrachten wir einen kreisförmigen Zylinder mit Radius


a und Länge ` aus einem Material mit Leitfähigkeit ,
an den über perfekt leitende Drähte mittels einer Batte- a
rie ein Potenzial U angelegt wird. Wie wir in (15.136)
gesehen haben, ist die Feldstärke in diesem Widerstand Abb. 15.25 Felder auf der Oberfläche eines zylindrischen Widerstands,
E D U=` und homogen in Längsrichtung orientiert. Der in dem ein Strom mit Dichte j fließt. Der Poynting-Vektor S D 4c E H
Strom ist I D U=R mit R D `=. a2 /, und im Wider- ist hier radial nach innen gerichtet
stand wird elektrische Energie in Wärme umgewandelt,
mit der Leistung Bei einer ebenfalls zylindrischen Batterie sind die Ver-
hältnisse ähnlich, nur ist dort der innere Stromfluss
Z
U2 dem elektrischen Feld entgegengerichtet (aufrechterhal-
PD dVjf  E D I 2 R D : (15.170) ten durch die elektromotorische Kraft der Batterie). Das
R
V H-Feld hat daher die entgegengesetzte Orientierung, und
der Poynting-Vektor zeigt nach außen.
Das Magnetfeld des Widerstands ist tangential orientiert
und in Abhängigkeit vom Abstand % von der Zylinderach-
se durch ein Integral um einen Kreis mit Radius % gemäß +
S
(15.55) als I
E
4 I.%=a/ 2
%a H
2 %H D (15.171) S
c I %a
E
H
gegeben (Abb. 15.25). Auf der Oberfläche des Wider- E
S
stands ist damit H D 2I=.ac/ D 2U=.acR/. Das
I
Poynting-Vektorfeld, das den Energiestrom wiedergibt, H
S
ist radial in das Innere des Widerstands gerichtet und hat – S
I
auf der Oberfläche den Betrag Batterie
H

c c U 2U S I
SD EH D : (15.172) Widerstand
4 4 ` acR
Abb. 15.26 Der Energiefluss, beschrieben durch das Poynting-Vektor-
Die Oberfläche des Zylinders ist 2 a`, wodurch der Ener-
feld S, in einem Stromkreis bestehend aus einer zylindrischen Batterie,
giefluss durch die Oberfläche, wie es sein muss, obigem die über annähernd perfekt leitende Drähte mit einem zylindrischen Wi-
Ergebnis für P gleicht: derstand verbunden ist
I
U2
P D  df  S D 2 a`S D ; (15.173)
R Betrachten wir nun einen geschlossenen Stromkreis, in
@V dem eine zylindrische Batterie mit einem zylindrischen
wobei S und df entgegengesetzt gerichtet sind. Widerstand durch annähernd perfekt leitende Drähte ver-
bunden ist. Entlang der Drähte herrscht ebenfalls ein
Die im Widerstand verbrauchte Energie strömt also über diese umkreisendes Magnetfeld, aber da es vorausset-
die elektromagnetischen Felder auf der Oberfläche zu und zungsgemäß zu keinem Spannungsabfall kommt, ist das
542 15 Magnetismus und elektrische Ströme

Der Term, der eine totale Zeitableitung ist, repräsentiert wieder


elektrische Feld hier radial nach außen gerichtet, sodass die Impulsdichte des elektromagnetischen Feldes:
der Poynting-Vektor nun tangential ist. Die Feldenergie
1
wird hier also im Außenraum in Längsrichtung weiter- gem D .D  B/: (15.175)
transportiert. 4 c
In einem linearen Medium mit Materialkonstanten  und  ist
Der gesamte Energiefluss stellt sich wie in Abb. 15.26
er wieder proportional zum Poynting-Vektorfeld:
skizziert dar. Er verlässt die zylindrische Batterie über de-
ren Mantelfläche und strömt in den Verbraucher, den zy- 
gem D S: (15.176)
lindrischen Widerstand, durch dessen Mantelfläche hin- c2
ein, entlang des Poynting-Vektorfeldes S. Die Energie
Wie wir im nächsten Kapitel noch im Detail diskutieren werden,
wird also nicht durch die Ladungsträger über den Draht
ändert sich hier effektiv die Lichtgeschwindigkeit um einem
p
Teil II

herangeführt (diese werden nur für die Aufrechterhaltung


Faktor 1= .
des Magnetfeldes benötigt), sondern durch die elektroma-
gnetischen Felder im freien Raum dazwischen. J Der Term, der sich (dank der Annahme eines linearen Medi-
ums) als totale räumliche Ableitung schreiben ließ, definiert den
Maxwell’schen Spannungstensor in Materie:
Ganz ähnlich können wir den Impulssatz der mikroskopischen 
Elektrodynamik (11.115) auf den makroskopischen Fall über- 1 1
Tik D Di Ek C Bi Hk  ıik .E  D C B  H/ : (15.177)
tragen, sofern einfache lineare Medien vorliegen. Die analoge 4 2
Rechnung führt nun auf
Damit lässt sich wieder ein Impulserhaltungssatz in der Form
  I
1 1 d  mech 
fE C jf  B D @ t .D  B/k (15.174) PV C Pem V k D dfi Tik (15.178)
c k 4 c dt
 @V
1 1
C @i Di Ek C Bi Hk  ıik .E  D C H  B/ : aufstellen.
4 2
Aufgaben 543

Aufgaben

Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen

Teil II
15.1 Coulomb-Eichung in der Magnetostatik Zei- Lösungshinweis: Verwenden Sie die allgemeinen Lösungen
gen Sie, dass die in (15.9) angegebene Lösung der Vektor- der Potenziale bei natürlichen Randbedingungen.
Poisson-Gleichung bei natürlichen Randbedingungen die Cou-
lomb-Eichbedingung erfüllt, wenn r  j D 0 gilt. 15.4 Induktion von Magnetisierungs-Flächenströ-
men In (15.69) bis (15.72) wurde das Magnetfeld bestimmt,
15.2 Kreisförmige Leiterschleife Berechnen Sie das ein linienförmiger Strom parallel zu einem dia- oder pa-
das Vektorpotenzial und das Magnetfeld einer kreisförmigen ramagnetischen Halbraum hervorruft. Berechnen Sie die dabei
Leiterschleife mit Radius a und Stromstärke I in der Umgebung induzierte Magnetisierungsflächenstromdichte und daraus den
der Symmetrieachse (Abb. 15.27). zugehörigen Gesamtmagnetisierungsstrom. Vergleichen Sie das
Ergebnis mit dem Bildstrom in (15.72).
z
15.5 Abschirmung von Magnetfeldern Berechnen
er
^
Sie den Faktor, um den ein äußeres homogenes Magnetfeld
im Inneren einer Kugelschale (innerer Radius R1 , äußerer

^
R2 ) mit hoher Permeabilitätskonstante  abgeschwächt wird
r (Abb. 15.28). Welche Reduktion wird für  D 106 bei einer
dünnen Schale mit R2 D 1;01R1 erreicht?
^

ϑ
I

ϕ
r y
ϕ e ϕ
^

Abb. 15.27 Kreisförmige Leiterschleife und Parametrisierung von Quell- und R2


Aufpunkten in Kugelkoordinaten
R1
Lösungshinweis: Verwenden Sie Zylinder- oder Kugelkoordi-
naten und überlegen Sie sich zuerst, welche Komponente von A
als einzige nicht verschwindet. Entwickeln Sie den Integranden
für das Vektorpotenzial nach einem geeigneten Parameter, der
in der Nähe der Symmetrieachse klein wird.
15.3 Mittelwertsätze der Elektro- und Magneto-
statik Beweisen Sie die im Kasten „Vertiefung: Mittelwert-
sätze der Elektrostatik und der Magnetostatik“ angegebenen Abb. 15.28 Abschirmung von Magnetfeldern durch eine Kugelschale mit ho-
Ausdrücke für die Mittelung von E- und B-Feldern über eine her Permeabilitätskonstante 
Vollkugel mit Radius R mithilfe der in Aufgabe 13.12 bewiese-
nen Formel 15.6 Selbstinduktivität eines Koaxialkabels Be-
8 rechnen Sie den Selbstinduktionskoeffizienten pro Längenein-
I ˆ
<
1
für r0 > R
3 1 0 03 heit eines Koaxialkabels, das aus einem zylindrischen Leiter mit
df D r r : (15.179)
4 R3 jr  r0 j 1 Radius a und einer äußeren zylindrischen leitenden Hülle von
:̂ für r0 < R
rDR R 3 vernachlässigbarer Dicke und Radius b besteht. Der Strom soll
544 15 Magnetismus und elektrische Ströme

dabei in Längsrichtung entgegengesetzt im inneren und äußeren z


Leiter fließen, wobei der Stromfluss im inneren Zylinder gleich-
mäßig über den Querschnitt verteilt sein soll (Abb. 15.29).

h a
Was ändert sich, wenn der innere Leiter ebenfalls durch einen
Hohlzylinder mit vernachlässigbarer Wanddicke ersetzt wird?
r1
Und was ändert sich, wenn der isolierende Zwischenraum durch ϕ2
ein Material mit Permeabilitätskonstante  ausgefüllt wird? ϕ1
y
x
Lösungshinweis: Berechnen Sie den Selbstinduktionskoeffi- r2
Teil II

zienten über die Abhängigkeit der magnetische Feldenergie −h


von der Stromstärke und berechnen Sie dafür das Magnetfeld
aus dem Oersted’schen Gesetz (Ampère’sches Durchflutungs-
gesetz) unter Ausnutzung der Zylindersymmetrie.

Abb. 15.30 Zwei parallele kreisförmige Stromleiter mit Radius a und Abstand
2h

μ 15.8 Magnetisches Moment bei Zyklotronbewe-


gung Berechnen Sie das magnetisches Moment m eines ge-
ladenen Teilchens mit Ladung q und Masse M, das durch ein
homogenes Magnetfeld B auf einer Kreisbahn gemäß (15.128)
gehalten wird. Vergleichen Sie die kinetische Energie T des
a Teilchens mit m  B.
15.9 Feldlinien in einer magnetischen Flasche
Gegeben sei ein zylindersymmetrisches Magnetfeld der Form
b
B.%; '; z/ D B% .%; z/ eO % C Bz .z/ eO z (15.181)
Abb. 15.29 Koaxialkabel, bestehend aus einem zylindrischen Leiter mit Radius
a und einer äußeren zylindrischen leitenden Hülle von vernachlässigbarer Dicke mit einem bestimmten Profil Bz .z/. Berechnen Sie B% sowie den
und Radius b
Verlauf der magnetischen Feldlinien in der Zylinderkoordinate
% als Funktion von z: % D %.z/.
15.10 Punktladung in homogenen E- und B-Fel-
15.7 Gegeninduktion von zwei parallelen Kreisen dern Lösen Sie die Bewegungsgleichung für ein (nichtrela-
Zeigen Sie, dass der Gegeninduktionskoeffizient von zwei par- tivistisches) geladenes Punktteilchen, wenn zusätzlich zu einem
allelen kreisförmigen Stromleitern mit Radius a bei z D ˙h homogenen Magnetfeld in z-Richtung wie in (15.125) ein ho-
(Abb. 15.30) folgende Integraldarstellung hat: mogenes elektrisches Feld mit beliebiger Richtung vorhanden
ist.
Z2 Lösungshinweis: Ein elektrisches Feld macht aus der homo-
a2 cos '
L12 D 2 d' q : (15.180) genen Differenzialgleichung (15.125) für v .t/ eine inhomoge-
c h2 C 12 a2 .1  cos '/ ne. Die allgemeine Lösung ergibt sich durch Addition einer
0
speziellen inhomogenen Lösung zur allgemeinen homogenen
Lösung. Suchen Sie daher nach der einfachsten inhomogenen
Optional: Werten Sie dieses Integral unter Zuhilfenahme von Lösung. Es gibt eine, bei der keine Beschleunigungen in der xy-
mathematischer Computersoftware numerisch aus. Ebene auftreten.
Lösungen zu den Aufgaben 545

Lösungen zu den Aufgaben

15.4 15.9 B% .%; z/ D %B0z .z/=2. Die Feldlinien dazu sind durch
1 I d p
kM D eO (15.182) %.z/ D C= Bz .z/ mit verschiedenen Konstanten C gegeben.
 C 1 d C y2 z
2

15.8 T D m  B

Teil II
546 15 Magnetismus und elektrische Ströme

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben

15.1 Differenziation unter dem Integral führt auf mit 'N D '  ' 0 und
Z
1 1 2ar
r  A.r/ D dV 0 j.r0 /  r  WD sin # 2 Œ0; 1: (15.189)
c jr  r0 j r2 C a2
Z
1 1
D dV 0 j.r0 /  r 0 (15.183)
c jr  r0 j (Die dazu orthogonale Projektion cos ' eO x C sin ' eOy  A führt
Z  
j.r0 /
Teil II

1 auf ein Integral mit sin 'N im Zähler des Integranden, das aus
D dV 0 r 0  ;
c jr  r0 j Symmetriegründen null ist.)

wobei im letzten Schritt r 0  j.r0 / D 0 ausgenutzt wurde. Be- Der Integrand hat eine Singularität, wenn  D 1 ist, was aber
trachten wir zunächst ein endlich großes Volumen, dann kann nur auf dem Kreisstrom selbst (r D a und # D =2) der Fall
mit dem Gauß’schen Satz das letzte Integral in ein Oberflächen- ist. Insbesondere für kleine Werte von r sin # a, also in der
integral umgewandelt werden: Nähe der Symmetrieachse, ist  ein kleiner Parameter, nach dem
Z   I   der Integrand entwickelt werden kann.  1 deckt übrigens
j.r0 / j.r0 / nicht nur die Umgebung der z-Achse, sondern auch das Fernfeld
dV 0 r 0  D df 0
 : (15.184)
jr  r0 j jr  r0 j r a ab.
V @V
Ohne diese Entwicklung ist das Integral nicht durch elementare
Für die Existenz des Integrals in (15.9) ist es notwendig, dass Funktionen darstellbar, sondern führt auf spezielle Funktionen,
der Integrand j.r0 /=jr  r0 j im Unendlichen abfällt, nämlich die vollständigen elliptischen Integrale (siehe hierzu die Lösung
gerade so, dass Integrale über Kugelschalen für divergierende zu Aufgabe 15.7).
Radien gegen null gehen. Damit verschwindet das Oberflächen-
integral im Limes V ! R3 . Die Wurzel im Nenner des Integranden kann für  < 1 in eine
Taylor-Reihe entwickelt werden:
15.2 Das Vektorpotenzial ist für einen Kreisstrom um den Ur-
sprung gegeben durch 1 1 3
p D 1 C  cos 'N C 2 cos2 'N C : : : ; (15.190)
Z I 1   cos 'N 2 8
1 j.r0 / I dr0
AD dV 0 D ; (15.185)
c jr  r0 j c jr  r0 j wobei nach der Integration nur ungerade Potenzen in  auftre-
r0 Da
ten:
wobei A und j in kartesischen Komponenten aufzufassen sind.
Für die Koordinaten sind Kugel- oder Zylinderkoordinaten ei- Z2
cos 'N
ne angepasste Wahl. Mit der z-Achse als Symmetrieachse ist in d'N p D  C O.3 /: (15.191)
Kugelkoordinaten für r0 D a 1   cos 'N 2
0
0 2 0 0
.r  r / D r C a  2ar sin # .cos ' cos ' C sin ' sin ' /
2 2
Damit ergibt sich für  1
D r2 C a2  2ar sin # cos.'  ' 0 /
(15.186) I a2 r sin #
A' ; (15.192)
und c .r2C a2 /3=2
dr0 D a eO ' 0 d' 0 D a  sin ' 0 eO x C cos ' 0 eOy d' 0 : (15.187) woraus das B-Feld über B D rot A berechnet werden kann.
Letzteres macht klar, dass A nur x- und y-Komponenten hat. Die In Kugelkoordinaten ist
einzige nicht verschwindende Komponente ist dabei
1 @  
A' D eO '  A D  sin ' eO x C cos ' eOy  A Br D sin # A'
r sin # @#
Z2 I a2 2 cos #
Ia cos 'N ; (15.193)
D d'N p ; c .r2 C a2 /3=2
c r2 C a2  2ar sin # cos 'N
0 (15.188) 1 @  
B# D  r A'
Z2 r @r
Ia cos 'N
D p d'N p I a2 .r2  2a2 / sin #
c r 2 C a2 1   cos 'N ; (15.194)
0 c .r2 C a2 /5=2
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 547

B' D 0: (15.195) 15.4 Mit der Definition (15.62) und der Stetigkeit der Tangen-
tialkomponenten von H aufgrund der Abwesenheit von freien
Auf der z-Achse verschwindet sin #, während Br auf der po- Flächenstromdichten folgt
sitiven z-Achse positives Vorzeichen und auf der negativen z- c
Achse negatives Vorzeichen hat. B zeigt also in positive z-Rich- kM D c eO x  .M>  M < /jxD0 D eO  .B>  B< /jxD0
4 x
tung, mit c 1 I d
D eO ŒB>  By< jxD0 D eO :
4 z y  C 1 d 2 C y2 z
I a2 2 (15.201)
Bjz-Achse D eO : (15.196)
c .z2 C a2 /3=2 z Aufintegriert über y ergibt dies den Gesamtmagnetisierungs-
strom auf der Grenzfläche, der in z-Richtung fließt, wegen
Dieses Ergebnis ist auf der z-Achse exakt, da dort der Entwick-
lungsparameter  verschwindet. Der Vorfaktor ist dabei genau Z1
dy

Teil II
das magnetische Moment entsprechend (15.27): D (15.202)
d 2 C y2 d
1
I a2 zu
jmj D : (15.197) 1
c IM D I  I0: (15.203)
C1
15.3 Unter Verwendung der allgemeinen Lösung für die Poten- 15.5 Da keine freien Ströme vorhanden sind, kann mit einem
ziale bei natürlichen Randbedingungen kann die Mittelung über skalaren magnetischen Potenzial (15.74) gearbeitet werden,
eine Vollkugel wie folgt umgeformt werden: H D r m , für das in den drei Raumbereichen (Außen-
Z Z raum (a) und Innenraum (i) der Kugelschale sowie der Bereich
3 3
hEiR D dV E.r/ D  dV r .r/ der Kugelschale (s) selbst) jeweils die Laplace-Gleichung gilt,
4 R3 4 R3  m D 0.
r<R r<R
I
3 Die Randbedingung im Unendlichen ist durch ein homoge-
D df .r/ nes B-Feld gegeben, das in Kugelkoordinaten mit z-Achse in
4 R3
rDR Richtung des asymptotischen Magnetfeldes durch einen Beitrag
I Z
3 .r0 / m D B0 z D B0 r cos # beschrieben wird, wobei B0 die Stär-
D df dV 0 ke des Feldes ohne die Hohlkugel darstellt.
4 R 3 jr  r0 j
rDR
Z I Da cos # D P1 .cos #/ ist, machen wir einen Ansatz, der von
3 1
D  dV 0 .r0 / df ; der allgemeinen zylindersymmetrischen Lösung der Laplace-
4 R3 jr  r0 j Gleichung (13.169) nur die Terme mit l D 1 beibehält. Im Au-
rDR
(15.198) ßenraum können wir nur einen im Unendlichen regulären Term
Z Z hinzugeben, damit die Randbedingung im Unendlichen aufrecht
3 3
hBiR D dV B.r/ D dV r  A.r/ bleibt:
4 R3 4 R3
r<R
I
r<R ˛
m D B0 r cos # C 2 cos #; r > R2 :
a
3 (15.204)
D df  A.r/ r
4 R3 Für den Bereich der Kugelschale gibt es zwei mögliche Terme:
rDR
I Z 0  
3 1 j.r / s
D ˇ C cos #; R1 < r < R2 ;
D df  dV 0 m r
r2
(15.205)
4 R3 c jr  r0 j
rDR
Z I während im Innenraum der im Ursprung singuläre Term weg-
1 0 0 3 1 zulassen ist:
D dV j.r /  df :
c 4 R3 jr  r0 j m D ı r cos #;
i
r < R1 : (15.206)
rDR
(15.199) Die Forderungen der Stetigkeit von bei R2 und R1 , aber Un-
m
Mit (15.179) zerfallen beide Ergebnisse in zwei Anteile, einen stetigkeiten in @r m gemäß
über den Außenraum der Kugel, wo die Quellen mit
@r m .R2 /
a
D  @r m .R2 /;
s
 @r m .R1 /
s
D m .R1 /
i
(15.207)
ˇ
r0
r  r ˇˇ 0
D (15.200) liefern
r03 jr  r0 j3 ˇrD0
˛  R32 ˇ   D R32 B0 ;
so kombiniert werden, dass das Integral das im Ursprung er- R31 ˇ C   R31 ı D 0;
zeugte Feld darstellt, während für den Innenraum der Ausdruck (15.208)
für das elektrische bzw. magnetische Dipolmoment bezüglich 2˛ C R32 ˇ  2 D R32 B0 ;
des Ursprungs entsteht. R31 ˇ  2  R31 ı D 0:
548 15 Magnetismus und elektrische Ströme

Auflösen dieses linearen Gleichungssystems liefert für den Ko- In Kugelkoordinaten oder auch Zylinderkoordinaten ist
effizienten der Lösung im Inneren der Kugelschale
.r1  r2 /2 D a2 .cos '1  cos '2 /2 C a2 .sin '1  sin '2 /2 C 4h2
9
ı DB D i
B : D 2a2 1  cos.'1  '2 / C 4h2 ;
.2 C 1/. C 2/  2.R1 =R2 /3 .  1/2 0
(15.209) (15.217)
Im Limes  1 vereinfacht sich das Verhältnis vom Feld im dr1  dr2 D a2 cos.'1  '2 / d'1 d'2 ; (15.218)
Inneren der Kugelschale zu B0 : und die Linienintegrale reduzieren sich auf zwei Integrationen
9 über '1 und '2 , jeweils von 0 bis 2 . Durch die Variablensub-
Bi =B0 ! : (15.210) stitution ' D '1  '2 entkoppeln diese. Die Integration über '2
2Œ1  .R1 =R2 /3 
ergibt einen Vorfaktor 2 , und es bleibt das nicht durch elemen-
Für  D 106 bei R2 D 1;01R1 ist Bi 0;000 15 B0 . tare Funktionen lösbare Integral (15.180).
Teil II

15.6 Wegen der Zylindersymmetrie hat das B-Feld nur eine Symbolische Mathematiksoftware wie M APLE oder M ATHE -
Komponente B' , die durch das Oersted’sche Gesetz bei Inte- MATICA weiß, dass dieses Integral durch die speziellen Funktio-
gration entlang eines Kreises mit Radius r um die Zylinderachse nen der vollständigen elliptischen Integrale erster und zweiter
durch Art, K.x/ und E.x/, dargestellt werden kann, für die diverse
I Reihendarstellungen angegeben werden können. Das Resultat
4 (15.180) lautet damit
B  dr D 2 % B' .%/ D I.%/ (15.211)
c
%Dconst 4 a
L12 D f .h=a/; (15.219)
gegeben ist, wobei I.%/ der eingeschlossene Strom ist. Ist der c2
gesamte Strom in einer Richtung durch I gegeben, dann ist 1 a2
f .h=a/ D .2  k2 /K.k2 /  2E.k2 / ; k2 WD
8 k a2 C h2
< %2 =a2 für 0  %  a
I.%/ D I 1 für a  %  b (15.212) mit
: 0 für % > b:
Z =2
Integration der magnetischen Feldenergie auf einer Länge l ent- K.m/ D .1  m sin2 /1=2 d ; (15.220)
lang der Zylinderachse gibt
0
Z Zb Zb  2 Z =2
1 l l 2I.%/
WD dV B2 D d% % B2' .%/ D d% % E.m/ D .1  m sin2 /C1=2 d : (15.221)
8 4 4 c%
V 0 0 0
2 3
 2 Z a Zb
l 2I 4 d% %3
1 Š 1 (Die Bezeichnung „vollständig“ für diese elliptischen Integra-
D C d% 5 D LI 2 : (15.213)
4 c a4 % 2 le bezieht sich dabei auf die obere Integrationsgrenze =2; für
0 a allgemeine obere Integrationsgrenzen spricht man von unvoll-
Ausführen der elementaren Integrale ergibt ständigen elliptischen Integralen.) Damit lassen sich folgende
asymptotische Ausdrücke angeben:
 
1 1 b 8
L=l D 2 C 2 ln : (15.214) ˆ 4a
c 2 a <ln 2 h a
f .h=a/  h 3 (15.222)
:̂ a
Wird der innere Vollzylinder durch einen dünnen Hohlzylinder h a:
ersetzt, dann ist das Feld für % < a null, und L reduziert sich auf 16 h3

2 b In Abb. 15.31 werden diese mit der vollen Funktion f .h=a/ ver-
L=l D 2
ln : (15.215)
c a glichen.
Ist der Raum zwischen a und b mit einem Medium mit Per- 15.8 Ein Teilchen, das sich mit einer Geschwindigkeit v? senk-
meabilitätskonstante  ausgefüllt, ist der Beitrag proportional recht zu B bewegt, wird gemäß (15.128) auf eine Kreisbahn
zu ln.b=a/ mit  zu multiplizieren. x.t/ mit Radius a D v? Mc=.qB/ gezwungen. Die zugehörige
15.7 Die Definition der Gegeninduktionskoeffizienten in Stromdichte ist
(15.100) führt auf das doppelte Linienintegral j.r/ D qv ı.r  x.t//: (15.223)
I I Das magnetische Moment lässt sich am einfachsten berechnen,
1 dr1  dr2
L12 D 2 : (15.216) wenn als Koordinatenursprung der Kreismittelpunkt gewählt
c jr1  r2 j
L1 L2 wird. Dann steht v senkrecht zum Ortsvektor im Integral von
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 549

10

0,1 z

0,01

Teil II
0,001
0 1 2 3 4 5 h/a

Abb. 15.31 Gegeninduktionskoeffizient von zwei parallelen kreisförmigen Lei- Abb. 15.32 Teilchen in einer magnetischen Flasche. Das Magnetfeld ist rotati-
tern: f .h=a/ D L12 =.4 a=c2 / als Funktion von h=a zusammen mit den onssymmetrisch um die z-Achse; das Teilchen bewegt sich auf einer Spiralbahn
asymptotischen Ausdrücken (15.222) um diese und wird gestoppt und dann reflektiert, wenn es in den Bereich höherer
Feldstärke kommt

(15.23), und man erhält unmittelbar den (zeitunabhängigen)


Wert mit der Lösung
1=2
Z 2 2 %.z/ D C Bz .z/ : (15.230)
1 1 O D q a B: (15.224)
mD dV r  j.r/ D aqv? B
2c 2c 2Mc2
In Abb. 15.32 sind die Feldlinien für ein Profil dargestellt,
Die kinetische Energie des Teilchens ist bei dem durch die Überlagerung von zwei tanh-Funktionen
das Magnetfeld auf das Vierfache des Wertes im Zentrum an-
M 2 M q2 a2 B2 steigt, wenn man sich von diesem in positiver oder negativer
TD v? D : (15.225) z-Richtung entfernt. Auch dargestellt ist die Bahnkurve für ein
2 2 M 2 c2
Teilchen, das sich entsprechend der Energiebilanz (15.131) dar-
Somit ist T D m  B. in auf einer Spiralbahn bewegt. Diese wird an einem Punkt, an
dem Bz einen für die Anfangsgeschwindigkeiten vz , v? kriti-
15.9 In Zylinderkoordinaten ist schen Wert erreicht, gestoppt und reflektiert.
1 @   1 @ @ 15.10 Wir können durch Drehen des Koordinatensystems um
div B D % B% C B C B D 0: (15.226) die z-Achse immer erreichen, dass das E-Feld in der yz-Ebene
% @% % @' ' @z z
liegt, d. h. keine x-Komponente besitzt. Die Differenzialglei-
Im vorliegenden Fall ist B' D 0 und Bz unabhängig von %. chung (15.125) verallgemeinert sich dann auf
Damit ist 0 1 0 1 0 1
v
d @ xA @ B y A
! v
q @ A
0
qB
Z% vy D !B vx C Ey ; !B D : (15.231)
%2 dt v m mc
% B% .%; z/ D B0z .z/ d%0 %0 D B0z .z/ ; (15.227) z 0 E z
2
0
Die Bewegung in z-Richtung kann unabhängig von der in der
wobei die Integrationskonstante durch die Forderung fixiert xy-Ebene gelöst werden und ist durch
wurde, dass B% auf der Symmetrieachse verschwinden muss. qEz 2
z.t/ D t C vz .0/ t C z.0/ (15.232)
Feldlinien sind an jedem Punkt tangential zum Feld. Eine Feld- 2m
linie, die in Zylinderkoordinaten durch %.z/ gegeben ist, hat an
jedem Punkt eine Steigung, die durch das Verhältnis B% =Bz ge- gegeben.
geben ist: Für die Bewegung in der xy-Ebene lässt sich eine beschleuni-
d%.z/ B% % B0z .z/ gungsfreie Bahn durch vy  0 und !B vx D mq Ey wählen. In
D D : (15.228)
dz Bz 2 Bz .z/ diesem Fall balanciert die Lorentz-Kraft / v  B, die dann
nur eine y-Komponente besitzt, gerade die elektrostatische Kraft
Separation der Variablen ergibt durch die y-Komponente von E. Diese Driftgeschwindigkeit hat
den Wert
1 d%.z/ d ln %.z/ 1 d ln Bz .z/ cEy
D D (15.229) vxDrift D ; (15.233)
% dz dz 2 dz B
550 15 Magnetismus und elektrische Ströme

sodass die Annahme einer nichtrelativistischen Bewegung nur y


gilt, wenn Ey B ist (siehe Aufgabe 18.7 und 18.8 für den
relativistischen Fall).
Die allgemeine Lösung ergibt sich somit durch Addition dieser
gleichförmigen Driftbewegung in x-Richtung und der beschleu-
nigten Bewegung in z-Richtung gemäß (15.232) zur homogenen
Lösung ohne elektrisches Feld, der schraubenförmigen Bahn
(15.128): x
0 cEy 1
B a sin ! t C t
B
B
B C C
x.t/ D x.0/ C B a Œcos !B t  1 C Abb. 15.33 Bahnkurve eines geladenen Punktteilchens im Feld homogener B-
Teil II

B C (15.234)
@ qE A und E-Felder in der Ebene senkrecht zum Magnetfeld. Ist die Geschwindigkeit in
t C vz .0/t
z 2 dieser Ebene anfänglich null, entsteht eine Zykloide (Radlaufkurve; grün ). Ist die
2m Anfangsgeschwindigkeit ungleich null in Richtung oder entgegen der Richtung
der Driftbewegung, entsteht eine verkürzte (blau ) oder verlängerte (rot ) Zykloi-
mit a D vx .0/=!B, wobei wieder angenommen wurde, dass de (auch Trochoiden genannt). Die Anfangswerte von y sind hier so gewählt,
zum Zeitpunkt t D 0 keine Geschwindigkeitskomponente in dass die verschiedenen Radlaufkurven zu einem auf der x-Achse rollenden Rad
y-Richtung vorliegt (was durch Wahl des Zeitnullpunktes im- gehören
mer erreicht werden kann). Die Form der Bewegung hängt
nun nur vom Anfangswert vx .0/ ab. Ist dieser null, also das
Teilchen anfangs komplett in Ruhe bezüglich der xy-Ebene, laufkurve) bildet. Das ist die Bahn, die ein Punkt auf dem Rand
dann beschleunigt Ey das Teilchen in y-Richtung, woraufhin eines Rades durchläuft, wenn das Rad auf einer Geraden abge-
die Lorentz-Kraft zu einer Ablenkung in x-Richtung führt, die rollt wird. Ist vx .0/ kleiner als null, dann entsteht eine verkürzte
schließlich die Oberhand bekommt und das Teilchen auf den Zykloide, die einem Punkt innerhalb des Rades entspricht; ist
Ausgangswert der y-Koordinate zurückwirft. Es entsteht dabei vx .0/ größer als null, dann liegt ein analog mitgeführter Punkt
aber eine Driftbewegung in x-Richtung, also senkrecht auf B außerhalb des Abrollradius (Abb. 15.33). Diese modifizierten
und E, wobei die Bahnkurve eine sogenannte Zykloide (Rad- Zykloiden werden auch Trochoiden genannt.
Literatur 551

Literatur

Becker B., Sauter, F.: Theorie der Elektrizität. Teubner, Stuttgart Gabuzda D.C.: The charge densities in a current-carrying wire.
(1964) Am. J. Phys. 61, 360 (1993)
de Groot, S.R.: The Maxwell Equations. Non-relativistic and Sommerfeld, A.: Vorlesungen über die theoretische Physik,
relativistic derivations from electron theory. North-Holland, Bd. 3: Elektrodynamik, 4. Aufl. Verlag Harri Deutsch, Frank-
Amsterdam (1969) furt (1988)

Teil II
Ausbreitung
elektromagnetischer Wellen
16
Welche grundlegenden
Eigenschaften haben
elektromagnetische

Teil II
Wellen?

Welchen Einfluss haben


Medien auf elektro-
magnetische Wellen?

Wie breiten sich elektro-


magnetische Wellen in
Hohlleitern aus?

16.1 Ausbreitung im Vakuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554


16.2 Ausbreitung in homogenen, linearen Medien . . . . . . . . . . . . . . 560
16.3 Ausbreitung in Hohlleitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567
So geht’s weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 578
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 553
554 16 Ausbreitung elektromagnetischer Wellen

Das Licht der Sterne erreicht uns aus großen Entfernungen durch Oben eingesetzt ergibt dies
das Vakuum des Weltalls; sehr lange war aber nicht klar, was
Licht überhaupt ist und wie es sich durch das Vakuum ausbrei- 1 2
.grad div  / E D  @ E: (16.5)
ten kann. Maxwell äußerte bereits kurz nach Aufstellen seiner c2 t
Gleichungen die Vermutung, dass es „elektromagnetische Wellen“
Verwendet man nun noch, dass im Vakuum div E D 0 gilt, und
gäbe und Licht eine solche sei. Im Jahre 1886 bestätigte dann der
bringt alles auf eine Seite, so hat man
deutsche Physiker Heinrich Hertz experimentell, dass elektromagne-
tische Wellen in der Tat existieren und sich auch genauso verhalten  
1 2
wie Lichtwellen (siehe auch Kap. 19). @   E.t; r/ D 0: (16.6)
c2 t
Zunächst wurde jedoch noch davon ausgegangen, dass elektroma-
gnetische Wellen (wie die schon bekannten mechanischen Wellen) Den Differenzialoperator in Klammern nennt man den
ein Medium benötigen, um sich auszubreiten, dass also das ge- d’Alembert-Operator oder auch Wellenoperator und schreibt oft
Teil II

samte Weltall mit einem „Äther“ ausgefüllt ist. In den folgenden kurz für ihn ein Quadrat (deswegen spricht man manchmal auch
Jahrzehnten ergaben sich aber zunehmend experimentelle Befunde vom Quabla-Operator):
gegen diese Annahme, und Einsteins spezielle Relativitätstheorie
zeigte dann endgültig, dass ein Äther nicht nötig ist: Licht kann sich E.t; r/ D 0: (16.7)
auch durch ein reines Vakuum ausbreiten.
Licht hat aber zahlreiche Wirkungen auf Materie. Eine besonders Achtung Manche Autoren verwenden hier genau die umge-
eindrucksvolle wird beim Eröffnungsbild dieses Kapitels sichtbar: kehrte Vorzeichenkonvention und definieren
Der Strahlungsdruck des Sonnenlichtes sorgt dafür, dass ein Komet 1 2
nicht nur einen Schweif hat (der durch den Sonnenwind, also ge- D @ : (16.8)
c2 t
ladene Teilchen, die von der Sonne abgegeben werden, entsteht),
sondern auch noch einen zweiten sogenannten Strahlungsschweif. J
Sowohl die Ausbreitung von elektromagnetischen Wellen im Vaku- Mit völlig äquivalenten Schritten erhält man, beginnend mit
um als auch einige ihrer Wechselwirkungen mit Materie werden in
diesem Kapitel genauer beleuchtet. 1
rot B.t; r/ D @ t E; (16.9)
c
dann auch die äquivalente Gleichung für die magnetische Fluss-
16.1 Ausbreitung im Vakuum dichte:
B.t; r/ D 0: (16.10)

Die Wellengleichung Frage 1


Leiten Sie diese Gleichung her.
Zunächst betrachten wir den schon in Abschn. 11.2 kurz disku-
tierten einfachen Fall der Ausbreitung von elektromagnetischen
Wellen im Vakuum, setzen also  D  D 1 und D 0 D j. Wir Auf den ersten Blick wirkt dies nun so, als ob im Vakuum
beginnen mit der Maxwell-Gleichung das elektrische und magnetische Feld völlig unabhängig von-
einander wären – die beiden Gleichungen (16.7) und (16.10)
1 enthalten ja jeweils nur noch eines der Felder (die Differenzial-
rot E D  @ t B: (16.1) gleichungen für die Felder sind entkoppelt).
c
Von dieser Gleichung nehmen wir wiederum die Rotation (und Allerdings gelten natürlich immer noch alle vier Maxwell-Glei-
benutzen, dass dieser Differenzialoperator mit der partiellen chungen, insbesondere auch die beiden Rotationsgleichungen,
Ableitung nach der Zeit vertauschbar ist): mit denen wir die Herleitung angefangen haben. Also hängen
die Felder immer noch voneinander ab, und die beiden Wellen-
1 gleichungen können eben nicht unabhängig voneinander gelöst
rot rot E D  @ t rot B: (16.2) werden.
c
Nun benutzen wir außerdem noch die Maxwell-Gleichung

rot B D
1
@t E (16.3)
Spezialfall: Ebene monochromatische Wellen
c
und die allgemein gültige Beziehung Die beiden Wellengleichungen haben eine Vielzahl von Lösun-
gen; im Folgenden beschränken wir uns zunächst auf einen sehr
rot rot D grad div  : (16.4) einfachen Spezialfall.
16.1 Ausbreitung im Vakuum 555

Betrachten wir vorerst nur das elektrische Feld. Um die parti- so würde sich die Welle entgegengesetzt zu k ausbreiten). Da
elle Differenzialgleichung (16.7) zu lösen, versuchen wir einen zu einer festen Zeit t jeweils für alle Punkte der Welle, für die
Separationsansatz (wie bereits bei der schwingenden Saite in kr konstant ist, die Phase gleich ist, sind die Wellenfronten hier
Abschn. 8.2). Dabei setzen wir zunächst an, dass das elektrische Ebenen senkrecht zu k. Deshalb spricht man von einer ebenen
Feld überall in dieselbe Richtung zeigt: Welle.

E.t; r/ D E0 R.r/T.t/ (16.11) Ebenso erhält man für die magnetische Flussdichte die einfache
Lösung
0 0
mit konstantem Vektor E0 und Funktionen R bzw. T, die nur von B.t; r/ D B0 ei.k r! t/ (16.18)
den räumlichen Koordinaten bzw. nur von der Zeit abhängen. mit konstanten Vektoren B0 (welcher wiederum komplex sein
Eingesetzt in die Differenzialgleichung erhält man
kann) und k0 ; außerdem muss ! 0 D k0 c gelten.
1 2

Teil II
Wie eingangs erwähnt, sind die beiden Lösungen (16.17) und
E0 R.r/ @ T.t/ D E0 T.t/R.r/ (16.12)
c2 t (16.18) aber nicht unabhängig voneinander, sondern über die
Maxwell-Gleichungen miteinander verknüpft. Wir setzen diese
bzw. nach Separation der Variablen Lösungen also zunächst in die beiden Rotations-Maxwell-Glei-
chungen ein. Das führt auf
@2t T.t/ R.r/
D : (16.13) 0 0
2
c T.t/ R.r/ k  E0 ei.kr!t/ D k0 B0 ei.k r! t/ ;
0 0
(16.19)
Beide Seiten müssen nun gleich einer Konstante sein; aus Grün- k0  B0 ei.k r! t/ D kE0 ei.kr!t/ :
den, die gleich klar werden, schreiben wir für diese k2 . Wir
haben somit Die beiden Gleichungen können offenbar nur dann für alle Orte
und Zeiten erfüllt sein, wenn
@2t T.t/ D k2 c2 T.t/ und R.r/ D k2 R.r/: (16.14)
k0 D k (16.20)
Es ist vorteilhaft, diese Differenzialgleichungen im Komplexen
zu lösen. Da die zugrunde liegenden Wellengleichungen (16.7) (und offensichtlich damit auch ! 0 D !) gilt und
und (16.10) linear sind und auch keine komplexen Koeffizienten
enthalten, sind Real- und Imaginärteil separat jeweils Lösun- B0 D kO  E0 ;
(16.21)
gen; man erhält also zwei reelle Lösungen auf einmal. Auch der E0 D kO  B0 ;
konstante Vektor E0 kann deshalb im Allgemeinen komplex ge-
wählt werden. wobei kO ein Einheitsvektor in Richtung von k ist. Zunächst sieht
Die erste der beiden Gleichungen hat offensichtlich die einfache man hieran, dass
Lösung kO  E0 D kO  B0 D 0 (16.22)
T.t/ D eikct (16.15) gilt. Dasselbe Ergebnis erhält man auch, wenn man die Lö-
(die Wahl des Vorzeichens hier wird weiter unten klar werden), sungen (16.17) und (16.18) in die beiden Divergenz-Maxwell-
also letztlich schlicht eine harmonische Schwingung mit der Gleichungen einsetzt.
Kreisfrequenz ! D kc. Die Gleichung für die Funktion R kann Frage 3
mit einem weiteren Separationsansatz für die einzelnen (karte- Führen Sie dies durch.
sischen) Koordinaten gelöst werden. Man erhält

R.r/ D eikr (16.16) Daraus folgt dann auch, dass die Beträge der Amplitudenvekto-
ren gleich groß sein müssen:
mit einem Vektor k, für den k D k gilt.
2 2

jE0 j D jB0 j: (16.23)


Frage 2
Führen Sie diesen Separationsansatz explizit durch.
Monochromatische ebene elektromagnetische Wellen
im Vakuum
Insgesamt ergibt sich also
Für die Felder gilt
E.t; r/ D E0 ei.kr!t/ ; (16.17)
E.t; r/ D E0 ei.kr!t/ ;
was offensichtlich eine monochromatische Welle beschreibt, die (16.24)
sich mit der Geschwindigkeit c in Richtung des Vektors k aus- B.t; r/ D B0 ei.kr!t/ ;
breitet (hätte man das Vorzeichen oben anders herum gewählt,
556 16 Ausbreitung elektromagnetischer Wellen

allerdings als das Produkt aus einer komplexen Zahl z D ei'


wobei k der Wellenvektor ist und E0 und B0 (fast) beliebi- vom Betrag 1 und einem reellen Vektor E0r dargestellt werden.
ge Vektoren. Dabei gelten folgende Einschränkungen: Dann hat man:
 
Zwischen Wellenvektor und Kreisfrequenz besteht der E.t; r/ D Re E0r ei.kr!tC'/
Zusammenhang ! D jkjc; dies bezeichnet man als die (16.26)
Dispersionsrelation der Welle. D E0r cos .k  r  !t C '/ ;
Die Vektoren E0 und B0 stehen senkrecht zum Wel-
lenvektor; dies bezeichnet man als Transversalität der also wieder eine linear polarisierte Welle mit Amplitudenvektor
Welle. E0r , die nun aber um ' phasenverschoben ist.
Außerdem stehen E0 und B0 auch noch senkrecht zu- Im allgemeinen Fall wähle man zunächst zwei senkrechte Vek-
einander, genauer: Die drei Vektoren k, E0 und B0 toren eO 1 und eO 2 in einer Ebene senkrecht zu k. Dann kann man
Teil II

bilden in dieser Reihenfolge ein Rechtssystem. den Amplitudenvektor immer als eine Linearkombination fol-
Elektrisches und magnetisches Feld haben immer den- gender Form schreiben (der Grund dafür wird weiter unten klar
selben Betrag (jEj D jBj) und dieselbe Phase. werden):

E0 D EC0 ei' .Oe1 C iOe2 / C E0 ei.'C'/ .Oe1  iOe2 /


Als physikalisch sinnvolle Lösungen ergeben sich (als Real- h i
=2
und Imaginärteile der oben angegebenen Lösungen) also letzt- D .EC0 C E0 ei' /Oe1 C .EC0  E0 ei' /ei eO 2 ei' ;
lich Sinuswellen. Mit den komplexen Lösungen ist aber viel
(16.27)
einfacher zu rechnen; dass man am Schluss der Rechnung den
Realteil des Ergebnisses nehmen muss, wird im Allgemeinen
nicht explizit angegeben. (Vorsicht: Dies gilt nur, solange die wobei EC0 und E0 reelle Zahlen sind und ' die Phasenver-
Ergebnisse linear in den Feldern sind! Ein Gegenbeispiel wer- schiebung zwischen den beiden Komponenten EC und E ist.
den wir in Abschn. 16.2 beim Poynting-Vektor sehen.)
Frage 4
Wegen der engen Zusammenhänge zwischen der elektrischen Vollziehen Sie diese beiden möglichen Schreibweisen nach.
und magnetischen Feldstärke wird im Folgenden außerdem
meist nur die elektrische Feldstärke betrachtet; die entsprechen-
den Aussagen für die magnetische Feldstärke ergeben sich dann Nimmt man wieder den Realteil, so ergibt sich für das Feld
unmittelbar.
E.t; r/ D .EC0 cos C E0 cos. C '// eO 1
(16.28)
 .EC0 sin  E0 sin. C '// eO 2 ;

Polarisation wobei hier zur Abkürzung D k  r  !t C ' eingeführt wurde.


Im Spezialfall ' D 0 kann man dies kürzer schreiben als
Je nachdem, ob der konstante Vektor E0 seinerseits reell oder
komplex ist, ergeben sich deutlich unterschiedliche Wellen. Be- E.t; r/ D E10 cos eO 1  E20 sin eO 2 DW E1 eO 1 C E2 eO 2 (16.29)
trachten wir zunächst den einfachen Fall, dass E0 reell ist. Dann
ergibt sich als reelle Lösung der Wellengleichung einfach mit E10 D EC0 C E0 und E20 D EC0  E0 . Dies beschreibt
eine Ellipse, deren Halbachsen in Richtung der Vektoren eO 1 und
E.t; r/ D E0 cos .k  r  !t/ : (16.25) eO 2 liegen und die Längen E10 und E20 haben, wie man leicht
sieht:
Genauso gut könnte man als physikalische Lösung natürlich
auch den Imaginärteil nehmen; dann ergibt sich entsprechend E12 E2
2
C 22 D cos2 C sin2 D 1: (16.30)
eine Sinusfunktion. E10 E20
Bei dieser Welle zeigt die elektrische Feldstärke für alle Orte
und Zeiten immer in dieselbe (bzw. die entgegengesetzte) Rich- Die Spitze des elektrischen Feldvektors bewegt sich hier also
tung; man spricht hier von einer linear polarisierten Welle. In auf einer Ellipse um die Ausbreitungsrichtung; deshalb spricht
Abb. 16.1 ist eine solche monochromatische ebene linear pola- man von elliptischer Polarisation.
risierte Welle dargestellt, die sich in z-Richtung ausbreitet.
Auch im Fall ' ¤ 0 ergibt sich eine Ellipse, deren Halbach-
Wenn der Vektor E0 dagegen komplex ist, so kann man ihn aus sen die Längen E10 und E20 haben; dann liegen die Halbachsen
Real- und Imaginärteil zusammengesetzt schreiben; es treten al- aber nicht in Richtung von eO 1 und eO 2 , sondern sind um den Win-
so im Allgemeinen zwei verschiedene reelle Vektoren auf. Im kel '=2 dagegen gedreht (Abb. 16.2). Der Beweis bleibt dem
Spezialfall, dass diese beiden Vektoren gleich sind, kann E0 Leser überlassen (Aufgabe 16.1).
16.1 Ausbreitung im Vakuum 557

Teil II
z

Abb. 16.1 Die elektrische (rot ) und magnetische (blau ) Feldstärke bei einer monochromatischen ebenen linear polarisierten elektromagnetischen Welle, die sich in
z-Richtung ausbreitet, zu einem festen Zeitpunkt. E zeigt dabei in x-Richtung, B in y-Richtung; auf allen Ebenen parallel zur x-y-Ebene ist die Phase jeweils gleich.
Für den Ausschnitt der Welle, der sich direkt entlang der z-Achse bewegt, sind zusätzlich die entsprechenden Sinuskurven eingezeichnet

x2 y

E20

Δϕ/2
x1 E

E10 x
z

Abb. 16.3 Eine linkszirkular polarisierte ebene Welle, die sich in z-Richtung
ausbreitet. Dargestellt ist nur das elektrische Feld und nur der Ausschnitt der
Welle, der sich direkt entlang der z-Achse ausbreitet; auf jeder Geraden parallel
zur z-Achse hat E denselben Verlauf (vgl. mit der ebenen Welle in Abb. 16.1)
Abb. 16.2 Bei allgemeiner elliptischer Polarisation bewegt sich der elektrische
Feldvektor auf einer Ellipse mit großen Halbachsen E10 D EC0 C E0 und
E20 D EC0  E0 , die um den Winkel '=2 gegen die x1 -Achse gedreht ist,
wobei ' die Phasenverschiebung zwischen den Komponenten EC und E ist oft auch von positiver bzw. negativer Helizität). Abbildung 16.3
zeigt beispielhaft eine linkszirkular polarisierte Welle.

Diese beiden Spezialfälle entsprechen jeweils E0 D 0 bzw.


Im Spezialfall E10 D ˙E20 wird aus der Ellipse ein Kreis, und EC0 D 0. Aus der Darstellung (16.27) sehen wir also, dass je-
man spricht dann von einer links- bzw. rechtszirkular polarisier- de ebene monochromatische Welle als Linearkombination aus
ten Welle, je nachdem, ob sich der elektrische Feldvektor gegen einer links- und einer rechtszirkular polarisierten Welle (die im
oder mit dem Uhrzeigersinn dreht, wenn man entgegen k auf Allgemeinen gegeneinander phasenverschoben sind) dargestellt
die Welle schaut (in der Teilchenphysik spricht man stattdessen werden kann.
558 16 Ausbreitung elektromagnetischer Wellen

Anwendung in der Technik: Polarisiertes Licht

Einige Kristalle lassen jeweils nur elektromagnetische Wel- Das Himmelsblau ist teilweise polarisiertes Licht; mit
len (insbesondere Licht) durch, die in einer bestimmten geeigneten Polarisationsfiltern kann man in der Fo-
Richtung linear polarisiert sind. Von Wellen, die in anderen tografie diese Hintergrundfarbe unterdrücken und da-
Richtungen linear polarisiert sind, wird nur der Anteil durch- durch beispielsweise Wolken deutlicher hervortreten las-
gelassen, der zu dieser Richtung parallel ist; insbesondere sen.
werden also Wellen, deren Polarisationsrichtung senkrecht In Flüssigkristall-(LCD-)Bildschirmen werden alle Pixel
zur Vorzugsrichtung steht, vollständig absorbiert. ständig von hinten mit polarisiertem Licht beleuchtet.
Vor den Pixeln befindet sich eine Schicht aus Flüs-
Solche Polarisationsfilter haben vielfältige technische An- sigkristallen. Legt man eine elektrische Spannung an,
Teil II

wendungen: so richten sich die Kristalle in einer Vorzugsrichtung


aus, und die Schicht wirkt als Polarisationsfilter. Bei
In Polarimetern werden sie eingesetzt, um die Polarisa- geeigneter Ausrichtung wird die Hintergrundbeleuch-
tionsrichtung von Licht zu messen und damit beispiels- tung vollständig absorbiert, das Pixel wird also dun-
weise die optische Aktivität von Stoffen zu bestimmen. kel.
Man kann damit unerwünschte Reflexionen an glat-
ten, nicht metallischen Oberflächen wie Glas oder Was- Zirkular polarisierte Wellen treten dagegen beispielsweise
ser weitgehend unterdrücken, da reflektiertes Licht be- bei Übergängen zwischen verschiedenen Energieniveaus von
vorzugt in einer bestimmten Richtung polarisiert ist Atomen auf. Eine technische Anwendung findet zirkular po-
(Abschn. 17.2). larisiertes Licht bei manchen 3-D-Brillen im Kino.

Die allgemeine Lösung der Wellengleichung Nimmt man auch noch Wellen hinzu, die sich in der entge-
gengesetzten Richtung ausbreiten, so erhält man schließlich die
allgemeine Lösung.
Die oben angegebenen Lösungen (16.17) und (16.18) sind na-
türlich nur Spezialfälle. Da die Wellengleichung (16.7) linear
ist, sind aber auch beliebige Linearkombinationen dieser Lö-
sungen selbst wieder Lösungen. Beschränken wir uns dabei Allgemeine Lösung der Wellengleichung
zunächst auf Linearkombinationen von Wellen, die sich alle in für vorgegebene Richtung
derselben Richtung kO ausbreiten, also von Termen der Form Felder der Form
O
E0 .k/eik.krct/ ; (16.31) E.t; r/ D E1 .xk  ct/ C E2 .xk C ct/ (16.33)
wobei E0 nun von der Wellenzahl k D jkj abhängt. Eine belie-
sind die allgemeinen Lösungen der Wellengleichung für
bige Linearkombination dieser Wellen ist ein Integral über diese
einzelnen Terme: Wellen, die transversal zur Richtung kO sind, wobei xk D
Z kO  r ist.
E.t; r/ D E0 .k/eik.xk ct/ dk; (16.32)

Dieses Ergebnis kann man auch auf andere Weise gewinnen:


wobei hier zur Abkürzung noch xk D kO  r gesetzt wurde. Dies
Wir führen die neuen Koordinaten
ist aber (bis auf Vorfaktoren) einfach die Fourier-Transformierte
der Funktion E0 .k/ bezüglich des Terms xk ct. Da letztlich jede
beliebige (physikalisch relevante) Funktion durch ein Fourier-  D xk  ct und  D xk C ct (16.34)
Integral darstellbar ist, erhält man somit das Ergebnis, dass alle
Funktionen der Form E.t; r/ D f .xk  ct/ elektromagnetische
Wellen darstellen, die sich in Richtung von kO ausbreiten und ein. Für die Ableitungen einer beliebigen Funktion g.; / be-
deutet das
deren Wellenfronten Ebenen senkrecht zu kO sind.
Da bei allen Einzelwellen die Vektoren k, E0 .k/ und B0 .k/ je-  
@g @g @g @g O
weils ein Rechtssystem bilden, gilt dies auch für die gesamten rg D r C r D C k;
@ @ @ @
Vektoren k, E.t; r/ und B.t; r/; da es hier keine feste Wellenzahl   (16.35)
mehr gibt, kann man aber für diese gesamte Welle natürlich kei- @g @g @ @g @ @g @g
D C D  C c:
ne Dispersionsrelation mehr angeben. @t @ @t @ @t @ @
16.1 Ausbreitung im Vakuum 559

Aus dem d’Alembert-Operator wird also Kugelwellen


1
 D 2 @2t  r 2
c Bisher wurden Lösungen der Wellengleichung in kartesischen
    Koordinaten betrachtet. In vielen Rechnungen wird jedoch eine
1 @ @ 2 2 @ @ 2 O2
D 2  C c  C k (16.36) Ausbreitung einer elektromagnetischen Welle von einer (nä-
c @ @ @ @
herungsweise) punktförmigen Quelle aus in alle Richtungen
@2 betrachtet. Erfolgt die Ausstrahlung in alle Richtungen gleich-
D 4 :
@@ förmig, so sind die Wellenfronten Kugelschalen. Daher ist es
naheliegend, die Lösung der Wellengleichung in Kugelkoordi-
Frage 5 naten zu betrachten. Hier sei dies der Einfachheit halber nur für
Zeigen Sie, dass (16.36) tatsächlich gilt. eine skalare Funktion ‰.t; r/ vorgeführt:
 

Teil II
1 @2
Für eine Funktion der Form ‰.t; r/ D   r ‰.t; r/ D 0: (16.42)
c2 @t2
f .; / D g./ C h./ D g.xk  ct/ C h.xk C ct/ (16.37) Betrachtet man wieder eine monochromatische Welle mit ! D
kc, also
mit beliebigen Funktionen g und h folgt
‰.t; r/ D R.r/ei!t ; (16.43)
@2
f D 4 .g./ C h.// D 0: (16.38) und schreibt den Radialanteil des Laplace-Operators aus, so
@@ wird dies  
1 d2
(Dies ist die bereits in Abschn. 8.1 erwähnte d’Alembert’sche k2  r R.r/ D 0: (16.44)
Schwingungsgleichung.) Das heißt aber gerade wieder, dass r dr2
die allgemeinen Lösungen der Wellengleichung für Wellen, die Mit dem Ansatz
transversal zu kO (und damit eben) sind, Felder der Form R.r/ D
u.r/
(16.45)
r
E.t; r/ D E1 .xk  ct/ C E2 .xk C ct/ (16.39)
vereinfacht sich dies zu
sind.
u00 .r/ D k2 u.r/; (16.46)
Abschließend lassen wir die Bedingung, dass alle Teilwel-
len sich in derselben Richtung ausbreiten sollen, fallen. Die was offensichtlich die Lösungen
allgemeinsten Lösungen der Wellengleichung kann man dann
u.r/ D e˙ikr (16.47)
folgendermaßen schreiben:
Z hat. Insgesamt ergibt sich damit
Q
E.t; r/ D d3 k E.k/ei.krjkjct/
; (16.40)
ei.˙kr!t/
‰.t; r/ D : (16.48)
Q
entsprechend für B.t; r/, wobei die Vektoren k, E.k/ Q
und B.k/ r
jeweils ein Rechtssystem bilden. Bei diesen allgemeinen Lösun- Wie man leicht einsieht, ergibt sich bei der Wahl des negativen
gen ist aber keine Richtung mehr ausgezeichnet; deshalb kann Vorzeichens eine Welle, die entgegengesetzt zu r, also nach in-
man hier nicht mehr sinnvoll davon sprechen, dass die dadurch nen, läuft. Physikalisch sinnvoll sind aber für gewöhnlich nur
beschriebenen Wellen transversal sind. Wellen, die sich nach außen ausbreiten, also beschränkt man
Zu beachten ist außerdem noch, dass die Formel hier zwar sehr sich meist auf die Lösungen mit positivem Vorzeichen.
ähnlich aussieht wie eine Fourier-Transformation der Funktion Allerdings ist zu beachten, dass dies nur für r ¤ 0 eine Lösung
Q
E.k/, wegen der zusätzlichen Zeitabhängigkeit im Integranden, der Wellengleichung ist. Einerseits ist für r D 0 die Funktion ‰
welche den Betrag von k enthält, aber keine ist. singulär, was physikalisch wenig Sinn ergibt. Andererseits kann
man zeigen, dass
Frage 6
Z
Wie könnte man dieses Ergebnis dennoch als Fourier-Integral   eikr
dV  C k2 D 4 (16.49)
schreiben? (Tipp: Verwenden Sie ein zusätzliches Integral über r
! und eine Deltafunktion.)
gilt; also ist
  eikr
Mittels einer passenden Deltafunktion kann man die allgemeine  C k2 D 4 ı.r/: (16.50)
r
Lösung der Wellengleichung aber als vierdimensionales Fou-
rier-Integral schreiben: Abschließend sei noch bemerkt, dass hier nur die kugelsym-
Z metrische Lösung der Wellengleichung in Kugelkoordinaten
E.t; r/ D d3 kd! E.k;Q !/ei.kr!t/ ı.!  jkjc/: (16.41) berechnet wurde; allgemein lösen werden wir diese Gleichung
in Kap. 19.
560 16 Ausbreitung elektromagnetischer Wellen

Die Lösungen in Zylinderkoordinaten: Frage 8


Bessel-Funktionen Vollziehen Sie den Schritt von (16.57) zu (16.58) nach.

Viele zylindersymmetrische Probleme führen auf die Bes- Die Lösungen dieser Differenzialgleichung sind die Bessel-
sel’sche Differenzialgleichung, deren Lösungen entsprechend Funktionen, zu denen es eine reichhaltige mathematische Lite-
Bessel-Funktionen genannt werden. Beispielhaft seien hier die ratur gibt (siehe auch den „Mathematischen Hintergrund“ 16.1).
Lösungen der Wellengleichung in Zylinderkoordinaten bespro- Benannt sind sie nach dem deutschen Mathematiker Friedrich
chen; weitere wichtige Anwendungen finden die Funktionen Wilhelm Bessel (1784–1846), der auch viele wichtige Beiträge
beispielsweise beim Skineffekt (Aufgabe 16.5) und in der Optik zur Geodäsie und Astronomie lieferte (so maß er etwa erstmals
(Beugung an einer Kreisscheibe, Abschn. 17.4). eine Fixsternparallaxe).
Wie bereits bei den Kugelwellen betrachten wir hier der Ein- Da es sich um eine Differenzialgleichung zweiter Ordnung han-
Teil II

fachheit halber nur eine skalare Funktion ‰ und eine mono- delt, ergeben sich zwei Klassen von Lösungen: die Bessel-
chromatische Welle mit ! D kc. Wir machen dann für den Funktionen erster Art (oder „Gattung“) Jm .x/ und zweiter Art
räumlichen Anteil von ‰ einen Separationsansatz: Ym .x/. Letztere werden nach dem deutschen Mathematiker Carl
Gottfried Neumann (1832–1925) oft auch als Neumann-Funk-
‰.%; ; z/ D R.%/e˙im eikz z : (16.51) tionen bezeichnet und mit Nm abgekürzt. Beide Klassen von
Funktionen sind (für ganzzahlige Indizes) nicht in geschlosse-
Frage 7 ner Form durch elementare Funktionen darstellbar.
Warum muss m eine natürliche Zahl sein? Die Lösungen der Wellengleichung in Zylinderkoordinaten sind
damit schließlich
Da  q 
‰.%; 2 ; z/ D ‰.%; 0; z/ (16.52) ‰.t; %; ; z/ D A Jm k2  kz2 %
q  (16.59)
gelten muss, ist m eine natürliche Zahl. Der Laplace-Operator
in Zylinderkoordinaten ist CB Ym k2  kz2 % ei.kz zkct˙m /

1 1 mit beliebigen reellen Konstanten A, B, k > kz und einer belie-


D @% %@% C 2 @2 C @2z : (16.53)
% % bigen natürlichen Zahl m. Natürlich gilt auch hier wieder, dass
Linearkombinationen dieser grundlegenden Lösungen ebenfalls
Setzt man dies und den Separationsansatz in die Wellenglei-
Lösungen sind.
chung ein, so erhält man letztlich folgende Differenzialglei-
chung für R:
 
%@% %@%  m2 C .k2  kz2 /%2 R.%/ D 0: (16.54)
16.2 Ausbreitung in homogenen,
Schreibt man nun abkürzend linearen Medien
q
Q
x D k2  kz2 % und R.x/ D R.%/; (16.55)
Je nach Frequenz bzw. Wellenlänge sind Medien bekanntlich für
so hat man elektromagnetische Wellen verschieden transparent, d. h., die
d Wellen können sich in den Medien unterschiedlich gut ausbrei-
%@% D x (16.56)
dx ten. Dies soll im Folgenden näher untersucht werden.
und damit Wir betrachten dabei nur den einfachen Spezialfall unendlich
  ausgedehnter, homogener, linearer Medien. Das heißt, es beste-
d d
x Q
x  m2 C x2 R.x/ D 0: (16.57) hen lineare Zusammenhänge zwischen elektrischem Verschie-
dx dx
bungsstrom und elektrischer Feldstärke, magnetischer Feldstär-
Den Differenzialoperator kann man mithilfe der Produktregel ke und magnetischer Flussdichte und zwischen Stromdichte und
noch umschreiben, sodass sich schließlich die Bessel’sche Dif- elektrischer Feldstärke:
ferenzialgleichung ergibt.
D D E; B D H; j D E; (16.60)

Bessel’sche Differenzialgleichung wobei die Dielektrizitätszahl , die Permeabilitätszahl  und die


  Leitfähigkeit  (räumlich und zeitlich) konstante Skalare sind.
d2 d
Q
x2 2 C x C x2  m2 R.x/ D0 (16.58) Außerdem sollen die Medien elektrisch neutral sein, also
dx dx
D 0: (16.61)
16.2 Ausbreitung in homogenen, linearen Medien 561

16.1 Mathematischer Hintergrund: Bessel-Funktionen

Wie bereits im Text angesprochen, führt die Wellengleichung Z


1
in Zylinderkoordinaten auf die Bessel’sche Differenzialglei- Yn .x/ D sin.x sin t  nt/ dt
chung und die Bessel-Funktionen. Diese und einige andere 0
eng damit zusammenhängende Differenzialgleichungen und
Z1
Funktionen sollen hier näher besprochen werden. 1
 ex sinh t .ent C cos. n/ent / dt:
Bessel-Funktionen erster und zweiter Art und Hankel- 0
Funktionen Durch die Separation der Wellengleichung in
Zylinder- oder Polarkoordinaten erhält man die Bessel’sche Mithilfe dieser Darstellung lässt sich etwas über das asym-
ptotische Verhalten der Bessel-Funktionen sagen: Für x !

Teil II
Differenzialgleichung
1 gilt
x2 y00 C xy0 C .x2  n2 /y D 0: r 
2 n 
Jn .x/  cos x   ;
x 4 2
Hierbei kann man n auch als komplexen Parameter betrach- r 
ten. 2 n 
Yn .x/  sin x   :
x 4 2
Eine Lösung dieser Differenzialgleichung ist die Bessel-
Funktion erster Art:
Sphärische Bessel-Funktionen Betrachtet man statt der
 x n X
1
.1/ k  x 2k Wellengleichung die Helmholtz-Gleichung, so erhält man in
Jn .x/ D : Kugelkoordinaten
2 kD0
.k C 1/.n C k C 1/ 2
x2 u00 C 2xu0 C .x2  n.n C 1//u D 0:
Dabei ist die Gammafunktion eine Verallgemeinerung der
p
Fakultät (siehe auch den „Mathematischen Hintergrund“ Nach der Substitution u.x/ D y.x/= x wird hieraus
32.1): Es gilt .n C 1/ D nŠ für alle natürlichen Zahlen n.
 !
Da die Bessel’sche Differenzialgleichung eine Gleichung 2 00 0 1 2
x y C xy C x  n C y D 0;
2
zweiter Ordnung ist, gibt es ein Fundamentalsystem aus zwei 2
linear unabhängigen Lösungen. Eine zweite, linear unabhän-
gige, Lösung dieser Gleichung ist d. h. die Bessel’sche Differenzialgleichung mit Parameter
k D n C 1=2. Hierbei betrachten wir nur ganzzahlige n. Man
cos.n /Jn .x/  Jn .x/ definiert deshalb für n 2 Z
Yn .x/ D ;
sin.n / r
jn .x/ D JnC1=2 .x/;
wobei für ganzzahlige Parameter k der Limes n ! k zu 2x
nehmen ist. Diese Funktionen nennt man Bessel-Funktionen r
zweiter Art. Mit den Funktionen J und Y definiert man yn .x/ D YnC1=2 .x/;
2x
r
Hn.1/ .x/ D Jn .x/ C iYn .x/; Hn.2/ .x/ D Jn .x/  iYn .x/ hn.1;2/ .x/ D H .1;2/ .x/
2x nC1=2
und nennt diese Hankel-Funktionen.
und nennt dies die sphärischen Bessel-Funktionen bzw.
Integraldarstellungen und asymptotisches Verhalten Es sphärischen Hankel-Funktionen. Diese Funktionen werden
gibt viele alternative Darstellungen für Bessel-Funktionen, in Kap. 19 wichtig werden.
z. B. als Summe oder Integral. Eine davon wollen wir hier
angeben. Es gilt Literatur
Z
1 Cohen, H.: Number Theory, Bd. II: Analytic and Modern
Jn .x/ D cos.x sin t  nt/ dt
Tools. Springer (2007) (behandelt bei Bessel-Funktionen
0
nur die Grundzüge)
Z1 Watson, G.N.: A Treatise on the Theory of Bessel Func-
sin. n/
 ex sinh tnt dt; tions. Cambridge University Press (1922) (schönes Buch
0 mit viel Stoff, am Anfang nicht ganz leicht zu lesen)
562 16 Ausbreitung elektromagnetischer Wellen

Die Maxwell’schen Gleichungen lauten dann Speziell in nicht leitfähigen Medien (Isolatoren) ist  D 0, und
die Telegrafengleichungen reduzieren sich auf simple Wellen-
div E D 0; gleichungen,
div H D 0; 0 E D 0 H D 0 (16.70)

rot E D  @ t H; (16.62) mit den bereits bekannten Lösungen
c
4   E.t; r/ D E0 ei.kr!t/ ;
rot H D E C @ t E: (16.71)
c c
H.t; r/ D H0 ei.kr!t/ ;

wobei hier aber nun die Dispersionsrelation


Die Telegrafengleichungen
c
Teil II

! D jkjc0 D jkj p (16.72)



Frage 9
Wie kann man hier wieder Wellengleichungen herleiten? lautet, d. h., die Wellen breiten sich im Medium mit der Ge-
schwindigkeit c0 aus statt mit der Vakuumlichtgeschwindigkeit
c. Zu beachten ist hier außerdem noch, dass  und  (und damit
Die Herleitung der entkoppelten Differenzialgleichungen für c0 ) ihrerseits im Allgemeinen auch von der Kreisfrequenz ! ab-
die Felder funktioniert im Prinzip genauso wie bei den Wellen hängen (siehe dazu Abschnitt „So geht’s weiter“ am Ende des
im Vakuum (Abschn. 16.1): Wir nehmen zunächst die Rotation Kapitels).
der vierten Maxwell-Gleichung:
Das Verhältnis aus der Vakuumlichtgeschwindigkeit c und der
4   Lichtgeschwindigkeit c0 im Medium wird bekanntlich als Bre-
rot rot H D rot E C @ t rot E: (16.63) chungsindex n bezeichnet (Kap. 17). Wir haben somit
c c
Mit c p jkj
n.!/ D D .!/.!/ D ; (16.73)
rot rot D grad div  ; (16.64) c0 .!/ k0
der zweiten und der dritten Gleichung wird dies zu wobei die Abkkürzung k0 D !=c für die Wellenzahl im Vakuum
4   eingeführt wurde.
 H D  @ t H  2 @2t H: (16.65)
c2 c Gehen wir nun wieder zu leitenden Medien mit  ¤ 0 zurück
und setzen versuchsweise die bekannten Lösungen mit ebenen
Definieren wir c Wellen in die Telegrafengleichungen ein. Dies führt bei der
c0 D p (16.66) elektrischen Feldstärke auf

und !2 4 i!
1  C k2 D : (16.74)
0 D 02 @2t  ; (16.67) c02 c2
c
so kann man dies schließlich schreiben als Frage 11
Leiten Sie diesen Zusammenhang her.
4 
0 H D  @ t H: (16.68)
c2
Setzt man den Zusammenhang zwischen c0 und c ein, so erhält
Auf äquivalente Weise kann man auch die Gleichung
man
4   
0 E D  @t E (16.69) ! 2  4 i! 4 i ! 2
c2 k2 D C D  1 C : (16.75)
c2 c2 ! c2
herleiten.
Mit der Abkürzung
Frage 10  
Führen Sie diese Herleitung durch. 4 i
D 1C (16.76)
!

Diese beiden Gleichungen werden die Telegrafengleichungen ergibt sich die Dispersionsrelation
genannt. Der Name stammt daher, dass die Gleichungen ur-
sprünglich aufgestellt wurden, um die Fortpflanzung von Tele- !2 c
k2 D  bzw. ! D jkj p : (16.77)
grafensignalen entlang von Kabeln zu beschreiben. c2 
16.2 Ausbreitung in homogenen, linearen Medien 563

Vergleicht man mit (16.72), so sieht man, dass  in leiten- Statt des reellen Brechungsindex in (16.73) setzen wir nun
den Medien die Rolle von  in Nichtleitern übernimmt; diese r
Größe wird deshalb auch als verallgemeinerte Dielektrizitäts- p p 4 
konstante bezeichnet.  ist aber komplex, sodass sich nun durch n C i D  D  1 C i (16.85)
!
die Dispersionsrelation für reelle Wellenvektoren eine komple-
xe Kreisfrequenz ergibt (bzw. umgekehrt). Die Konsequenzen an. Da wegen der Dispersionrelation (16.77)
daraus werden wir im Folgenden näher betrachten.
k2 .kr C iki /2
Hier sei abschließend nur noch bemerkt, dass wegen der ers- .n C i/2 D 2
D (16.86)
ten beiden Maxwell-Gleichungen die Wellen im Medium immer k0 k02
noch transversal sind; aus der dritten Gleichung kann man aber
folgern, dass die Beträge der Amplitudenvektoren nicht mehr gelten muss, haben wir
gleich groß sind, sondern stattdessen

Teil II
kr ki
! nD und  D : (16.87)
jEj D jHj (16.78) k0 k0
kc
 ist also ein Maß dafür, wie stark die Welle absorbiert wird;
gilt, woraus für Leiter bzw. Nichtleiter
daher wird diese Größe als Extinktionskoeffizient bezeichnet.
p p p p Dafür soll nun noch ein expliziter Ausdruck hergeleitet werden.
jEj D jHj bzw. jEj D jHj (16.79)
Quadrieren von (16.85) ergibt
folgt.
Frage 12 4 
n2   2 C 2in D  C i : (16.88)
Zeigen Sie, dass (16.79) in der Tat gilt. !
Der Realteil hiervon ist

n2   2 D : (16.89)
Eindringtiefe
Andererseits führt das Betragsquadrat von (16.85) auf
Wie bereits bemerkt, ist k nun für eine vorgegebene reelle Kreis- s
 2
frequenz ! komplex. Wir betrachten hier nur den einfachen Fall, 4 
n2 C  2 D  1 C : (16.90)
dass Real- und Imaginärteil von k zueinander parallel sind (ein !
Beispiel, bei dem das nicht so ist, wird uns bei der Totalreflexion
in Abschn. 17.2 begegnen). Dann kann man schreiben: Subtrahiert man (16.89) von (16.90), so ergibt sich nun sofort
4  s
k D .kr C iki /kO und  D r C ii D  C i : (16.80)  2
! 4 
2 D  1 C
2
 ; (16.91)
!
Zunächst ergibt sich für das elektrische Feld damit

E.t; r/ D E0 eikr xk eki xk ei!t : (16.81) also


0s 11=2
Der Realteil von k gibt also die übliche Wellenzahl an, wohinge- r  2
 @ 4 
gen der Imaginärteil eine Dämpfung der Welle beschreibt. Die D 1C  1A : (16.92)
2 !
Wellenlänge im Medium ist damit
2
D : (16.82) Frage 13
kr
Begründen Sie, dass  positiv sein muss.
Die typische Längenskala
1 Insbesondere sehen wir, dass für  ! 1 auch  ! 1 folgt
dD ; (16.83)
ki und damit d ! 0, d. h., eine elektromagnetische Welle kann in
auf welcher die Dämpfung erfolgt, heißt die Eindringtiefe der einen idealen Leiter nicht eindringen. In nicht leitenden Medien
Welle. Innerhalb einer Wellenlänge wird die Welle also um den ( D 0) hat man dagegen  D 0, also d ! 1. Elektromagne-
Faktor tische Wellen können beliebig weit eindringen, nicht leitende
eki D e2 ki =kr (16.84) Medien sind also vollständig transparent (solange  reell ist;
siehe Abschnitt „So geht’s weiter“ für den allgemeineren Fall
gedämpft. komplexer ).
564 16 Ausbreitung elektromagnetischer Wellen

Tab. 16.1 Typische Werte für Eindringtiefen elektromagnetischer Wellen in schmalen Bereich um eine Wellenzahl k0 von null verschieden
Materie ist, was bei den meisten physikalisch relevanten Wellenpaketen
Material 50 Hz 1 MHz 3 GHz erfüllt ist. Dann können wir für ! eine Taylor-Entwicklung an-
Aluminium 1,1 cm 85 µm 1,6 µm setzen:
ˇ
Kupfer 0,9 cm 66 µm 1,2 µm
@! ˇˇ
Meerwasser 30 m 20 cm kein guter Leiter !.k/ D !.k0 / C .k  k0 / C : : : (16.98)
@k ˇ k0

Damit wird die Phase der Exponentialfunktion


Für technisch übliche Frequenzen und gute Leiter gilt im Allge-
meinen =! . Das Ergebnis (16.92) vereinfacht sich dann kxk  !t
ˇ
zu r @! ˇˇ
2  D kxk  !.k0 /t  .k  k0 /t
D ; @k ˇk0
Teil II

(16.93) (16.99)
! ˇ ! ˇ !
@! ˇˇ @! ˇˇ
und für die Eindringtiefe gilt damit näherungsweise D k0  !.k0 / t C k xk  t ;
@k ˇk0 @k ˇk0
c
dD p : (16.94) und für das Feld folgt
2 !
ˇ ! !
Typische Werte sind in Tab. 16.1 zusammengefasst. 1 @! ˇˇ
E.t; xk / D p exp i k0  !.k0 / t
2 @k ˇk0
Z ˇ !!
@! ˇ
Q
 dk E.k/ exp ik xk  ˇ t (16.100)
Wellenpakete und Dispersion @k ˇk0
ˇ !
@! ˇˇ
Von einem Wellenpaket spricht man bei einem Wellenzug, der Dei'.t/
E 0; xk  t :
räumlich und zeitlich begrenzt ist (z. B. eine Gauß’sche Glo- @k ˇk0
ckenkurve; man spricht dann von einem Gauß’schen Wellenpa- Das Feld zu einer späteren Zeit t ergibt sich also durch Verschie-
ket). Wie alle anderen Wellen auch lässt sich ein Wellenpaket, ben des Feldes zur Zeit t D 0 um
das sich in einer bestimmten Richtung kO ausbreitet, als Fourier- ˇ
Integral darstellen: @! ˇˇ
xk D t (16.101)
Z @k ˇ k0
1 Q
E.t; xk / D p dk E.k/ ei.kxk !t/ ; (16.95) (und Multiplikation mit einer zeitabhängigen Phase). Mit an-
2
deren Worten: Das Wellenpaket als Ganzes breitet sich mit der
O gesetzt wurde. In einem (nicht leitenden) Gruppengeschwindigkeit
wobei wieder xk D kr
ˇ
Medium hat man die Dispersionsrelation @! ˇˇ
cgr .k0 / D (16.102)
c @k ˇk0
! D kc0 D k p : (16.96)
 aus.

Somit kann man die Phase der Exponentialfunktion auch schrei-


ben als
kxk  !t D k.xk  c0 t/: (16.97) Energie und Impuls in elektromagnetischen
c0 gibt also die Geschwindigkeit an, mit der sich die Phase einer
Wellen
Teilwelle jeweils ausbreitet, und heißt deshalb Phasengeschwin-
digkeit cph . Da im Allgemeinen  (und manchmal auch ) aber Aus Kap. 11 ist bekannt, dass der Poynting-Vektor
seinerseits wieder von k abhängt, hängt auch c0 von k ab: Wellen c
verschiedener Wellenlängen breiten sich in Medien unterschied- SD .E  H/ (16.103)
4
lich schnell aus; man spricht von Dispersion.
den Energiefluss von elektromagnetischen Feldern beschreibt.
Das führt im Allgemeinen dazu, dass Wellenpakete mit der Zeit
auseinanderlaufen. Trotzdem kann man in vielen Fällen auch Achtung Wenn hier für die Felder E und H komplexe Nota-
für das gesamte Paket eine Geschwindigkeit angeben; diese be- tion verwendet wird, dann ist diese Formel als
zeichnet man als Gruppengeschwindigkeit. c
SD .Re E  Re H/
Um einen expliziten Ausdruck für die Gruppengeschwindig- 4
Q
keit zu gewinnen, gehen wir davon aus, dass E.k/ nur in einem zu verstehen. J
16.2 Ausbreitung in homogenen, linearen Medien 565

Vertiefung: Anomale Dispersion und scheinbare Überlichtgeschwindigkeit von Signalen

Die Gruppengeschwindigkeit wird oft als die Geschwin- das lichtschnelle Paket früher empfangen als das scheinbar
digkeit betrachtet, mit der ein Wellenpaket Energie bzw. überlichtschnelle.
Informationen überträgt. Dies stimmt zwar in vielen Fällen,
jedoch kann die Gruppengeschwindigkeit unter bestimm- I
ten Umständen auch größer als die Lichtgeschwindigkeit im
Vakuum sein. Ein Kriterium dafür erhält man, wenn man zu-
nächst die Dispersionsrelation als
! !
kD D n.!/

Teil II
c0 c
schreibt. Man erhält dann
c
cgr .!0 / D ˇ :
@n ˇ Is
n.!0/ C !0 @! ˇ!
0

Ist x
ˇ
@n ˇˇ Abb. 16.4 Ein Gauß’sches Wellenpaket, das sich im Vakuum ausbreitet
<0
@! ˇ!0 (rot ), und eines, das sich in einem Medium mit cgr > c ausbreitet (blau ),
nach derselben Zeit. Das „überlichtschnelle“ Wellenpaket ist weiter vorn,
aber auch kleiner, und liegt vollständig innerhalb des „lichtschnellen“. Jede
(man spricht dann von anomaler Dispersion), so kann der vorgegebene Schwellenintensität Is wird vom scheinbar überlichtschnellen
Nenner des Bruches kleiner als 1 werden, also cgr > c. deshalb erst später erreicht
Allerdings können dennoch keine Signale mit Überlichtge-
schwindigkeit übertragen werden: Man kann zeigen, dass Außerdem gilt in Bereichen anomaler Dispersion meist, dass
in Bereichen anomaler Dispersion immer auch Absorption sich das Wellenpaket sehr stark verformt und der Begriff
stattfindet. Das Maximum des Wellenpakets hat zwar nach der Gruppengeschwindigkeit deshalb sowieso nicht mehr
derselben Zeit einen weiteren Weg zurückgelegt als dassel- sinnvoll ist. Im Allgemeinen ist also zwischen der Gruppen-
be Wellenpaket im Vakuum (Geschwindigkeit c), allerdings geschwindigkeit und der sogenannten Signalgeschwindigkeit
ist es auch kleiner geworden, sodass das „überlichtschnelle“ bzw. Frontgeschwindigkeit zu unterscheiden. Letztere gibt,
Wellenpaket nun vollständig innerhalb des „lichtschnellen“ wie der Name schon sagt, an, wie schnell sich die Front ei-
Pakets liegt (in Abb. 16.4 für Gauß’sche Wellenpakete skiz- nes Signals ausbreitet. Berechnen kann man sie mit
ziert).
!.k/
Insbesondere gilt deswegen: Jeder vorgegebene Schwellen- cfr D lim cph .k/ D lim :
k!1 k!1 k
wert Is wird vom scheinbar überlichtschnellen Wellenpaket
erst später erreicht als vom lichtschnellen Paket. Das ist we- Man kann zeigen, dass die Frontgeschwindigkeit nie größer
sentlich für die Informationsübertragung. Jeder Empfänger als die (Vakuum-)Lichtgeschwindigkeit sein kann. Genauer
spricht erst ab einem gewissen Schwellenwert an; also wird diskutiert wird dies zum Beispiel in Sexl & Urbantke 1992.

Bei monochromatischen elektromagnetischen Wellen in linea- schreiben. Da E und D parallel sind, haben wir
ren, homogenen, nicht leitenden Medien kann man dies explizit
sehen: Da die Feldstärken E und H und der Wellenvektor k ein
c c0
Rechtssystem bilden, ergibt sich zunächst für das Kreuzprodukt SD p .E  D/ kO D O
.E  D/ k; (16.106)
c 4  4
SD jEjjHjkO (16.104)
4
mit einem Einheitsvektor kO in Ausbreitungsrichtung. Mit wobei noch der Zusammenhang aus (16.72) für die Lichtge-
(16.78) kann man für den Betrag der magnetischen Feldstärke schwindigkeit im Medium eingesetzt wurde. Außerdem folgt
dann aus (16.78), dass
1
jHj D p jDj (16.105)
 EDD BH (16.107)
566 16 Ausbreitung elektromagnetischer Wellen

Anwendung: Beispiele für Lichtdruck

Die Übertragung von Impuls von elektromagnetischen Wel- der dunklen Seite stärker als vor der reflektierenden, und übt
len auf Materie kann experimentell gezeigt werden, bei- deswegen auf die dunklere Seite auch einen stärkeren Druck
spielsweise durch sogenannte Lichtmühlen. Diese bestehen aus. Wenn der Versuch nicht im Vakuum durchgeführt wird,
aus einem oder mehreren drehbaren Armen, die an ihren dreht sich das Rad also mit der reflektierenden Seite voraus
Enden je ein Plättchen mit je einer dunklen und einer spie- (vgl. auch Tipler & Mosca 2009, Aufgabe 29.51).
gelnden Seite haben (Abb. 16.5). An der dunklen Seite wird
das Licht absorbiert, an der anderen reflektiert; der Impuls- Ein zweites (sehr hübsches) Beispiel für den Strahlungs-
übertrag ist also an der spiegelnden Seite doppelt so hoch wie druck sind die Kometenschweife: Durch den Impulsfluss der
an der dunklen, und die Mühle dreht sich mit der dunklen Sonnenstrahlung wird eine Kraft auf Staubteilchen ausgeübt.
Teil II

Seite voraus. Also bilden sich, wenn sich der Komet der Sonne annähert
und Staub und Gas von ihm abdampft, von der Sonne weg
gerichtete Strahlungsschweife, die viele Millionen Kilome-
ter lang werden (siehe das Eröffnungsbild dieses Kapitels).
Der zweite dort sichtbare Schweif entsteht durch den soge-
nannten Sonnenwind: geladene Teilchen, die von der Sonne
abgegeben werden. Wegen des Magnetfeldes der Sonne be-
wegen sich diese Teilchen nicht radial nach außen von der
Sonne weg, sondern in gekrümmten Bahnen – daher haben
die beiden Schweife unterschiedliche Richtungen.
Als drittes Beispiel seien Sonnensegel genannt: Das von der
Sonne abgegebene Licht übt in Erdnähe zwar nur einen
Druck von 9,1 µN/m2 aus. Benutzt man sehr große Flä-
chen, auf welche die Sonnenstrahlung einwirkt (mehrere
10 bis mehrere 100 m2 ) und plant genügend Zeit für die
Beschleunigung ein, so kann dies dennoch als Antrieb für
Raumsonden dienen. Das Konzept wurde bei der japanischen
Sonde IKAROS bereits erfolgreich getestet (Abb. 16.6).

Abb. 16.5 Lichtmühle: Auf die hellen Seiten der Plättchen wirkt der Licht-
druck stärker als auf die dunklen, sodass sich die Arme (im Vakuum) mit der
dunklen Seite voraus drehen. In handelsüblichen Lichtmühlen herrscht aller-
dings kein Vakuum, deshalb drehen sich diese anders herum, da die Luft vor
der dunklen Seite stärker aufgeheizt wird. (© Buntbarsch – Fotolia.com)

Es muss allerdings darauf geachtet werden, dass die Dreh-


bewegung nicht durch Luftströmungen beeinflusst wird: Die Abb. 16.6 Die japanische Sonde IKAROS (Mitte) mit ihrem quadratischen
Luft wird ebenfalls durch das Licht aufgeheizt, und zwar vor Sonnensegel (künstlerische Darstellung). (© JAXA)
16.3 Ausbreitung in Hohlleitern 567

gilt. Damit ist Hohlleiter; das sind einfach Metallrohre mit im Allgemeinen
rechteckigem oder rundem Querschnitt.
c0
SD O
.E  D C B  H/ kO D c0 wem k; (16.108) Im Folgenden betrachten wir solche (unendlich langen) geraden
8 Rohre, die entlang der z-Achse verlaufen.
wobei noch die Definition (11.111) der elektromagnetischen Frage 14
Energiedichte eingesetzt wurde. Der Poynting-Vektor ist al- Warum können sich in solchen Rohren keine üblichen ebenen
so das Produkt aus der Ausbreitungsgeschwindigkeit und der Wellen ausbreiten?
Energiedichte und zeigt in Richtung des Wellenvektors. Dies
stimmt mit der Interpretation dieses Vektors als Energiefluss-
dichte überein. Ebene Wellen der Form

Abschließend soll der Impulsfluss interpretiert werden. In E.t; r/ D E0 ei.kz z!t/ ;

Teil II
(16.111)
Kap. 11 wurde hergeleitet, dass für die zeitliche Änderung des H.t; r/ D H0 ei.kz z!t/
Gesamtimpulses (elektromagnetischer plus mechanischer Im-
puls) gilt: mit konstanten Vektoren E0 und H 0 senkrecht zur z-Richtung
können hier keine Lösungen sein, weil im Leiter E D 0 gelten
Z
d und wegen der Randbedingungen für elektrische Felder daher
.p C pmech / D  Tn dA; (16.109) auch E senkrecht auf allen Seitenflächen stehen muss.
dt em

wobei T der Maxwell’sche Spannungstensor ist. Tn gibt den Rechteckiger Hohlleiter


Impulsfluss, also die Impulsänderung pro Zeit und Fläche, durch
eine Fläche mit Normalenvektor n an. Damit beschreibt Tn dA Betrachten wir zunächst als einfaches Beispiel ein unend-
die Impulsänderung pro Zeit – also eine Kraft dF. lich langes Metallrohr (ideal leitend) mit rechteckigem
Querschnitt. Dabei sei eine der unendlich langen Sei-
Genauer: Treffen elektromagnetische Wellen auf Reine Fläche tenkanten des Rohres die z-Achse, und die Seiten des
Normalenvektor n, so wird auf diese die Kraft .n  dF/ D
Rmit > Rechtecks (Seitenlängen a und b, die Wanddicke sei
.n Tn/ dA ausgeübt. Ist die Fläche eben und ist T auf der ge- vernachlässigbar) liegen parallel zur x- bzw. y-Achse
samten Fläche A konstant, dann ergibt sich F D .n> Tn/ A bzw. (Abb. 16.7).
F=A D n> Tn. Eine Kraft pro Fläche ist aber ein Druck.
y

Strahlungsdruck
Elektromagnetische Strahlung übt auf eine Fläche mit a
Normalenvektor n also den Strahlungsdruck
X b
PStrahlung D n> Tn D Tij ni nj (16.110)
i;j
x
z
aus.
Abb. 16.7 Ein rechteckiger, unendlich langer Hohlleiter entlang der z-
Achse mit Seitenlängen a und b
Insbesondere bei Licht gibt es dafür mehrere anschauliche
Beispiele, von denen im Kasten „Anwendung: Beispiele für
Wir versuchen nun einen Ansatz in der Form
Lichtdruck“ einige beschrieben sind.
0 1
E0x .x; y/
E.t; r/ D @ E0y .x; y/ A ei.kz z!t/ : (16.112)
0
16.3 Ausbreitung in Hohlleitern
Dies beschreibt immer noch eine transversale Welle, die
Elektromagnetische Wellen mit Frequenzen von einigen Gi- sich in z-Richtung, also entlang des Rohres, ausbreitet;
gahertz können in Kabeln nur mit relativ hohen Verlusten nun hängt die Amplitude aber von x und y ab. Die Rand-
übertragen werden: Sie breiten sich in den Kabeln nur in ei- bedingungen legen insbesondere fest:
ner dünnen Oberflächenschicht aus (Skineffekt; Aufgabe 16.5);
deshalb haben Kabel für hochfrequente Wellen einen relativ E0x .x; 0/ D E0x .x; b/ D E0y .0; y/ D E0y .a; y/ D 0:
hohen Widerstand. Aus diesem Grund benutzt man zur Übertra- (16.113)
gung von hochfrequenten Wellen stattdessen meist sogenannte
568 16 Ausbreitung elektromagnetischer Wellen

Setzt man den Ansatz (16.112) in die Wellengleichung Dies kann nur dann für alle x und y gelten, wenn
ein, so erhält man zunächst die beiden Gleichungen m x n y
  fx0 .x/ D C sin und gy0 .y/ D C sin
!2 a b
 2 C kz2  @2x  @y2 E0x .x; y/ D 0;
c (16.122)
  (16.114)
!2
 2 C kz2  @2x  @y2 E0y .x; y/ D 0: ist. Durch Aufintegrieren erhält man sofort
c
aC m x bC n y
Überlegen Sie sich, wie man diese Differenzialgleichun- fx .x/ D  cos und gy .y/ D cos :
m a n b
gen lösen könnte. (16.123)
Teil II

Zum Lösen dieser Gleichungen machen wir Separations- Die Integrationskonstanten werden hier gleich null ge-
ansätze, setzt, da wir sonst im Fall n D m D 0 konstante Felder
erhalten würden, die ja bereits anfangs ausgeschlossen
E0x .x; y/ D fx .x/gx .y/ und E0y .x; y/ D fy .x/gy .y/;
wurden.
(16.115)
Damit sind die gesamten Lösungen
wobei die Randbedingungen
m x n y
gx .0/ D gx .b/ D fy .0/ D fy .a/ D 0 (16.116) Ex .t; r/ D EO x cos sin ei.kz z!t/ ;
 m xa  n yb
gelten müssen. Die Separationsansätze führen auf Ey .t; r/ D EO y sin cos ei.kz z!t/ ;
a b
fx00 g00 !2 Ez .t; r/ D 0 (16.124)
C x C 2  kz2 D 0;
fx gx c
00 00 (16.117) mit natürlichen Zahlen m und n; man spricht von ver-
fy gy !2 schiedenen (Schwingungs-)Moden des Hohlleiters.
C C 2  kz2 D 0:
fy gy c
In den Amplitudenfaktoren EO x und EO y wurden hier alle
Aus den Gleichungen folgt wie üblich, dass fx00 =fx , g00x =gx , konstanten Faktoren zusammengefasst. Aus der Rech-
fy00 =fy und gy00 =gy jeweils konstant sein müssen. Betrachten nung oben sieht man, dass für sie
wir zunächst die Funktionen, für die wir Randbedingun-
gen vorgegeben haben. Aus b m EO x D a n EO y (16.125)

g00x .y/ D c1 gx .y/ und fy00 .x/ D c2 fy .x/ (16.118) gelten muss. Durch Einsetzen der Lösungen in die Wel-
lengleichung erhält man außerdem die Dispersionsrelati-
folgt sofort, dass die Lösungen (komplexe) Exponential- on für diesen rechteckigen Hohlleiter:
funktionen bzw. Linearkombinationen davon sind. Man
sieht leicht ein, dass die Randbedingungen nur für fol- ! 2  m c 2  n c 2
gende Funktionen erfüllt sind: kz2 D   : (16.126)
c2 a b
n y m x
gx .y/ D sin und fy .x/ D sin Da kz2 > 0 sein muss, ist im Hohlleiter also für jede vor-
b a
(16.119) gegebene Kreisfrequenz ! nur eine endliche Anzahl an
diskreten Werten für kz und damit für die Wellenlänge
mit c1 D  .n =b/2 und c2 D  .m =a/2 und natürli- möglich. Andersherum gibt es für jede Mode mit vorge-
chen Zahlen n und m. gebenem m und n eine Grenzfrequenz. Für

Die restlichen Funktionen fx und gy sind zunächst nicht  m c 2  n c 2


durch die Randbedingungen genauer festgelegt. Es muss !2 < C (16.127)
a b
aber natürlich
div E D 0 (16.120) kann sich keine Welle dieser Mode im Hohlleiter ausbrei-
ten, sondern die Schwingung wird exponentiell gedämpft.
gelten. Setzt man die Separationsansätze und die explizi-
ten Lösungen für gx und fy ein, so ergibt sich Schließlich kann man mit
n y m x 1 !
fx0 .x/ sin C sin gy0 .y/ D 0: (16.121) rot E D  @ t H D i H (16.128)
b a c c
16.3 Ausbreitung in Hohlleitern 569

Im Folgenden sollen in der x-y-Ebene beliebige (auch krummli-


die magnetische Feldstärke berechnen, wobei auch H0 nige) Koordinaten zugelassen werden. Wir teilen E auf in einen
nun von x und y abhängt: transversalen Anteil und den Anteil in z-Richtung:

ckz m x n y
Hx .t; r/ D  EO y sin cos ei.kz z!t/ ; E D Et C Ez eO z : (16.131)
! a b
m x n y
ckz Genauso verfahren wir mit B und mit r . Nun zeigen wir, dass
Hy .t; r/ D  EO x cos sin ei.kz z!t/ ;
! a b die transversalen Komponenten der Felder bei Kenntnis der z-
c h m n i Komponenten schon vollständig bestimmt sind.
Hz .t; r/ D  EO y C EO x (16.129)
! a b Wir beginnen mit der Maxwell-Gleichung
m x n y

Teil II
 cos cos iei.kz z!t/ :
a b 1
rot E D  @ t B: (16.132)
c
Rechnen Sie (16.129) mittels (16.128) explizit aus.
Diese wird zu
Es ergibt sich also das überraschende Ergebnis, dass H
(im Gegensatz zu E) nicht transversal ist! !
.rt C eO z @z /  .Et C Ez eO z / D i .Bt C Bz eO z /; (16.133)
Die hier gefundene Klasse von Moden nennt man deshalb c
transversal elektrisch, kurz TE-Moden. Berechnet man
stattdessen zunächst das magnetische Feld mit den Rand- also
bedingungen, dass H parallel zum Leiter ist und Hz D 0
(also H transversal), so erhält man entsprechend TM-Mo- !
rt  Et C rt  .Ez eO z / C ikz .Oez  Et / D i .Bt C Bz eO z /: (16.134)
den, bei denen dann E longitudinale Komponenten hat. c

Physikalisch kann man dieses Ergebnis folgendermaßen Von dieser Gleichung nehmen wir nun von links das Kreuzpro-
interpretieren: Der Hohlleiter wird durch die durchlau- dukt mit eO z und benutzen
fende elektromagnetische Welle zu Eigenschwingungen
angeregt. Diese Eigenschwingungen können auch Feld-
komponenten parallel zur Ausbreitungsrichtung der Wel- eO z  .rt  Et / D 0;
le haben; deshalb ergibt sich hier eine (scheinbar) longi- eO z  .rt  .Ez eO z // D rt Ez ; (16.135)
tudinale Welle. J eO z  .Oez  Et / D Et :

Frage 15
Allgemeiner Zusammenhang zwischen Rechnen Sie diese Zwischenschritte nach.
transversalen und longitudinalen Komponenten

Nach diesem speziellen Beispiel betrachten wir nun ein Me- Damit bleibt also
tallrohr mit beliebig geformtem (aber konstantem) Querschnitt,
!
das sich entlang der z-Achse erstreckt. Im Allgemeinen wird rt Ez  ikz Et D i .Oez  Bt /: (16.136)
die Wellengleichung dann nur schwierig zu lösen sein; insbe- c
sondere bei Verwendung von krummlinigen Koordinaten ist die
Wirkung des Laplace-Operators auf ein Vektorfeld bereits nicht Ebenso zeigt man
einfach zu berechnen. Hier soll deshalb ein allgemeines Verfah-
ren hergeleitet werden, das diese Schwierigkeiten weitgehend !
rt Bz  ikz Bt D i .Oez  Et /: (16.137)
vereinfacht. c
Die Welle soll sich in z-Richtung ausbreiten, also machen wir
einen Ansatz der Form Nun nehmen wir das Kreuzprodukt von (16.136) von links mit
eO z und multiplizieren mit i!=c. Das ergibt zunächst
E.t; r/ D E0 .x; y/ei.kz z!t/ (16.130)
! ! !2
und ebenso für B. i .Oez  rt Ez / C kz .Oez  Et / D 2 Bt : (16.138)
c c c
570 16 Ausbreitung elektromagnetischer Wellen

Setzt man (16.137) ein, wird dies zu bzw.

! !2 ikz
i .Oez  rt Ez / C ikz .rt Bz  ikz Bt / D 2 Bt : (16.139) Et D rt Ez ;
c c ! 2 =c2  kz2
(16.143)
i!=c !
Also ergibt sich letztlich Bt D 2 2 .Oez  rt Ez / D .Oez  Et /:
! =c  kz2 kz c
i ! 
Bt D .Oez  rt Ez / C kz rt Bz : (16.140) Die z-Komponenten kann man wiederum berechnen aus der
! 2 =c2  kz2 c Wellengleichung
 
Ebenso zeigt man !2
t  kz2 C 2 ‰ D 0; (16.144)
 !  c
Teil II

i
Et D 2 2  .Oez  rt Bz / C kz rt Ez : (16.141)
! =c  kz
2 c wobei jeweils ‰ D Bz bzw. ‰ D Ez ist. Damit reduziert sich das
Problem, die möglichen TE-Moden bzw. TM-Moden in einem
Hohlleiter zu finden, auf das Lösen einer einzigen (skalaren)
Frage 16 Wellengleichung und die anschließende Berücksichtigung der
Zeigen Sie dies. Randbedingungen.
Insbesondere ergibt sich hier das allgemeine Ergebnis, dass für
Damit sind die Transversalkomponenten der Felder eindeutig kz2  ! 2 =c2 ¤ 0, also t ‰ ¤ 0, keine TEM-Moden (Ez D Bz D
durch Ez und Bz bestimmt; dies war zu zeigen. Insbesondere 0) möglich sind. Im Gegensatz zur Ausbreitung im Vakuum sind
hat man bei TE-Moden bzw. TM-Moden jeweils die einfachen elektromagnetische Wellen in Hohlleitern also im Allgemeinen
Ergebnisse nicht rein transversal.
Allgemein kann man zeigen, dass es keine TEM-Moden geben
i!=c !
Et D  .Oez  rt Bz / D  .Oez  Bt /; kann, wenn der Leiterquerschnitt einfach zusammenhängend
! 2 =c2  kz2 kz c ist. In Koaxialkabeln dagegen besteht der Hohlleiter aus zwei
(16.142) konzentrischen zylindrischen Leitern; der Hohlleiterquerschnitt
ikz
Bt D 2 2 rt Bz ist dann nicht einfach zusammenhängend, und TEM-Moden
! =c  kz2 sind möglich.
So geht’s weiter 571

So geht’s weiter
Wie in Abschn. 16.2 erwähnt wurde, hängen in Medien sowohl womit wir für die Stromdichte
die Dielektrizitätszahl  als auch die Permeabilitätszahl  im
Allgemeinen von der Frequenz ! ab; daraus ergibt sich eine Fre- ne e2 1
quenzabhängigkeit des Brechungsindexes. jD E (16.149)
m   i!
Einige Gründe dafür sollen hier diskutiert werden, wobei wir
uns allerdings auf  beschränken, da in optischen Anwendungen erhalten (die physikalisch relevante Stromdichte ist natürlich
meist in guter Näherung  1 gilt. Die beiden hier vorge- wie üblich der Realteil hiervon). Für die Leitfähigkeit folgt dar-
stellten Modelle sind relativ grob, stimmen aber trotzdem in aus
vielen Fällen recht gut mit realen Phänomenen überein. (Für ei-

Teil II
ne e2 1
ne tiefergehende Diskussion sei auf Werke zur Festkörperphysik  .!/ D : (16.150)
verwiesen.) m   i!
Außerdem werden wir allgemeine Zusammenhänge zwischen
Dispersion und Absorption herleiten, die sogenannten Disper- Insbesondere für ! ! 0 ist
sionsrelationen von Kramers und Kronig.
ne e2
0 WD  .0/ D ; (16.151)
m
Freie Elektronen in einem Leiter
die Leitfähigkeit 0 für stationäre Ströme ist also proportional
und die Plasmafrequenz zum Inversen des Reibungskoeffizienten  .
Eingesetzt in (16.76) haben wir nun
Nach (16.76) hängt die (verallgemeinerte) Dielektrizitätszahl 
bereits direkt von ! ab. Hinzu kommt allerdings, dass die Leit-  
4 i 0 
fähigkeit  im Allgemeinen ihrerseits auch von ! abhängt. D 1C
Um dies zu verstehen, betrachten wir als einfaches Modell ein !   i!
  (16.152)
Medium, in dem sich Elektronen relativ frei bewegen können; es i
D  1 C !p2 :
soll nur eine zur Geschwindigkeit proportionale Reibungskraft !.  i!/
auftreten (Drude-Modell, 1900, nach dem deutschen Physiker
Paul Karl Ludwig Drude, 1863–1906). Dies gilt beispielsweise Die hier zur Abkürzung geschriebene Plasmafrequenz
in einem Plasma, aber auch für Metalle ist das bei hohen Fre-
quenzen eine brauchbare Näherung. r
4 0 
In einem Volumen V befinden sich Ne Elektronen mit den Ge- !p D (16.153)
schwindigkeiten v i , auf welche jeweils das elektrische Feld E 
wirke. Dann gelten die Bewegungsgleichungen
ist dabei die Frequenz der Eigenschwingungen der Elektronen.
e Typische Werte sind beispielsweise 3;8  1015 Hz für Aluminium
vP i D  E   v i (16.145)
m und 1;6  1016 Hz für Kupfer.
mit dem Reibungskoeffizienten  . Die Stromdichte ist Interessant ist vor allem der Grenzfall hoher Frequenzen, !
 . Dann ergibt sich einfach
1X
jD .ev i / ; (16.146)
V i !
!p2
also folgt D 1 : (16.154)
!2
Ne e2 ne e2
@t j D E  j D E   j; (16.147)
mV m Insbesondere für ! > !p ist die verallgemeinerte Dielektrizi-
wobei ne die Elektronendichte ist. tätszahl positiv und damit der Brechungsindex rein reell. Da die
Schwingt das elektrische Feld harmonisch mit der Frequenz !, Absorption von elektromagnetischen Wellen durch den Imagi-
so wird die Stromdichte sicher mit derselben Frequenz harmo- närteil des Brechungsindexes beschrieben wird, folgt, dass Wel-
nisch schwingen. Also ist len mit hohen Frequenzen nicht absorbiert werden. Physikalisch
bedeutet dies, dass Metalle bei genügend hohen Frequenzen
@ t j D i!j; (16.148) (beispielsweise Röntgenstrahlung) durchsichtig sind.
572 16 Ausbreitung elektromagnetischer Wellen

Harmonisch gebundene Elektronen Summand klein ist verglichen mit 1, also  1 gilt; dies ist
beispielsweise in vielen Gasen eine gute Näherung. Für den
in einem Isolator
komplexen Brechungsindex gilt
Auch in Isolatoren ( ! 0) wie beispielsweise Ionenkristal- p
len oder (neutralen) Gasen hängt die Dielektrizitätszahl von n C i D : (16.161)
der Frequenz ab. Dies rührt daher, dass selbst gebundene Elek- p
tronen von einer einfallenden elektromagnetischen Welle zu Mit der Näherung 1Cx 1 C x=2 für x 1 folgt
Schwingungen angeregt werden können, wodurch das Medi-
um (veränderlich) polarisiert wird – und in Kap. 14 haben wir 1 4 ne e2 1
gesehen, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der n D 1 C Re
2 m !02  ! 2  i!
Polarisation eines Mediums und seiner Dielektrizitätszahl gibt
Teil II

(siehe insbesondere (14.23) und (14.24)). 2 ne e2 !02  ! 2


D1C ;
Betrachten wir als einfaches Modell wieder Elektronen, deren m .!0  ! 2 /2 C  2 ! 2
2
(16.162)
Bewegung mit einer Konstanten  gedämpft wird. Im Gegen- 1 4 ne e2 1
satz zum vorhergehenden Abschnitt sollen sie aber nicht frei D Im
2 m !02  ! 2  i!
sein, sondern harmonisch gebunden mit der Eigenfrequenz !0
(Lorentz-Oszillator-Modell, um 1905, nach dem bekannten Ma- 2 ne e2 !
D :
thematiker und Physiker Hendrik Antoon Lorentz, 1853–1928). m .!0  ! 2 /2 C  2 ! 2
2

Die Bewegungsgleichung für ein Elektron ist also


 
m xR C  xP C !02 x D eE (16.155)

bzw. mit einer harmonischen Zeitabhängigkeit


 
m ! 2  i! C !02 x D eE: (16.156)

Für das Dipolmoment p D ex folgt daraus

e2 1 κ
pD E: (16.157)
m !02  ! 2  i! ω0 ω
n−1
Hat man im betrachteten Material wieder die Elektronendichte
ne , so folgt

ne e2 1
PD E D e E (16.158) Abb. 16.8 Die Frequenzabhängigkeit von Brechungsindex n und Extinkti-
m !02  ! 2  i!
onskoeffizient  im Lorentz-Oszillator-Modell (für !0 D 10 und  D 1). Bei
der Eigenfrequenz !0 der Oszillatoren hat  ein Maximum, n fällt dagegen
mit  D 1 C 4 e , also
monoton ab (anomale Dispersion). Auf der Achse sind außerdem !0 ˙ 
markiert. Man erkennt, dass  ein Maß für die Breite des Maximums bzw.
4 ne e2 1 des Bereichs anomaler Dispersion ist
.!/ D 1 C : (16.159)
m !02  ! 2  i!
Diese Ergebnisse sind in Abb. 16.8 grafisch dargestellt. Man
Verallgemeinert man dies auf mehrere Arten von Oszillatoren sieht zunächst, dass  bei !0 ein Maximum hat. Die physika-
mit Eigenfrequenzen !k , Dämpfungskonstanten k und Dich- lische Interpretation ist naheliegend: bei der Resonanzfrequenz
ten nk (beispielsweise unterschiedlich stark gebundene bzw. der Oszillatoren wird am meisten absorbiert.
gedämpfte Elektronen oder unterschiedliche Ionen in einem Io- Außerdem ist zu erkennen, dass für die meisten Werte von !
nenkristall), so ergibt sich der Brechungsindex monoton ansteigt; man spricht von norma-
ler Dispersion. Nur in einem engen Bereich in der Nähe des
4 e2 X nk Maximums von  nimmt n mit wachsendem ! ab (anomale Di-
.!/ D 1 C : (16.160)
m k
!k
2
 ! 2  i !
k spersion).
Diese engen Zusammenhänge zwischen n und  sind letztlich
Außerdem ist anzumerken, dass in Leitern neben diesen Beitrag auf Beziehungen zwischen dem Real- und dem Imaginärteil von
auch der im vorherigen hergeleitete von den Leitungselektronen  zurückzuführen. Im folgenden Abschnitt werden wir zeigen,
tritt. Dieser ist im Allgemeinen aber bei deutlich anderen Fre- dass sich solche Beziehungen aus sehr wenigen allgemeinen
quenzen wichtig und wird deshalb im Folgenden ignoriert. Grundannahmen ergeben. Zwischen Dispersion und Absorpti-
Wir beschränken uns nun wieder auf den Fall nur einer Sorte on bestehen also allgemein enge Zusammenhänge, nicht nur in
von Oszillatoren. Außerdem nehmen wir an, dass der zweite diesem einfachen Modell.
So geht’s weiter 573

Die Dispersionsrelationen von Kramers sein müssen:


und Kronig
r .!/ D r .!/ und i .!/ D i .!/: (16.168)
Zunächst gehen wir davon aus, dass der Zusammenhang zwi-
schen elektrischem Feld und Polarisation linear ist. Außerdem Aus (16.80) können wir außerdem folgern, dass für ! ! 0
berücksichtigen wir, dass die Polarisation an einer Stelle r im
Allgemeinen nicht nur von der elektrischen Feldstärke zur sel- 4 
r ! stat und i ! (16.169)
ben Zeit abhängen kann, sondern auch von der „Vorgeschichte“ !
des Systems, also der elektrischen Feldstärken zu früheren Zei-
ten. Andererseits gehen wir aber davon aus, dass P und E lokal gelten sollte, wobei stat den statischen Wert der Dielektrizitäts-
(in r) zusammenhängen, d. h., die Polarisation an einer Stelle r zahl bezeichnet. i hat also einen Pol bei ! D 0, der von der

Teil II
hängt auch nur von der elektrischen Feldstärke an dieser Stelle endlichen Leitfähigkeit stammt; bei Nichtleitern ( 0) kann
an. dieser meist vernachlässigt werden.
Der allgemeinste lineare, isotrope, räumlich lokale Ansatz ist Wir definieren nun durch
also
Z1
D.t; r/ D E.t; r/ C 4 P.t; r/
g./ D f . /ei d (16.170)
Z1
(16.163) 0
D E.t; r/ C f . /E.t  ; r/d:
1 eine analytische Fortsetzung von .!/  1 in die gesamte kom-
Eine Polarisation kann aber nicht auftreten, bevor die Teilchen plexe Ebene; für die komplexe Verallgemeinerung der Frequenz
des Körpers das elektrische Feld spüren (Kausalität!). Also muss ! schreiben wir also  (mit den Real- und Imaginärteilen r und
i ).
f . / D 0 gelten für  < 0.
Außerdem setzen wir für die Funktion f . / noch voraus, dass sie Für i > 0 ist diese Funktion sicher definiert und analytisch, da
für  ! 1 nicht stärker als eine positive Potenz von  wächst. dann der Integrand exponentiell gedämpft ist (hier wird die Vor-
aussetzung benutzt, dass f . / höchstens wie eine positive Potenz
Auch diese Forderung ist sicher physikalisch sinnvoll: Im All-
gemeinen wird sogar eher f . / ! 0 gelten für  ! 1, da von  wächst). Auf der reellen Achse hat g./ dagegen wegen
(16.169) bei  D 0 einen Pol erster Ordnung.
die Polarisation des Mediums nicht vom Wert des elektrischen
Außerdem gilt in der oberen Halbebene g./ ! 0 für jj ! 1:
Feldes zu beliebig fernen Zeiten in der Vergangenheit abhängen
sollte. Für i ! 1 folgt das aus dem exponentiellen Abfall des Ex-
ponenten, für r ! 1 daraus, dass dann (für festes i ) der
Eine Fourier-Transformation überführt das obige Faltungsinte-
Integrand unendlich schnell oszilliert.
gral in ein Produkt:
Aus dem oben Gesagten können wir folgern, dass die Funktion
Q
D.!; Q
r/ D E.!; Q
r/ C fQ .!/E.!; r/: (16.164)
g./
Definiert man die frequenzabhängige Dielektrizitätszahl durch (16.171)
 !
Q
D.!; Q
r/ D .!/E.!; r/; (16.165)
für jedes feste ! in der oberen Halbebene analytisch ist, für
so folgt jj ! 1 gegen null geht und auf der reellen Achse Polstel-
len erster Ordnung bei  D 0 und  D ! hat. Integrieren wir
Z1 diese Funktion über einen beliebigen geschlossenen Weg in der
.!/ D 1 C fQ .!/ D 1 C f . /ei! d; (16.166) oberen Halbebene, so muss sich wegen der Analytizität null er-
0 geben (Cauchy’scher Integralsatz):

wobei die Kausalitätsbedingung f . / D 0 für  < 0 berücksich- I


g./
tigt wurde. d D 0: (16.172)
 !
Hieraus kann man zunächst ablesen, dass

  .!/ D .!/ (16.167) Wir wählen nun als Integrationsweg einen Halbkreisbogen in
der oberen Halbebene „im Unendlichen“ und schließen diesen
gilt; damit kann man die Funktion  analytisch zu negativen entlang der reellen Achse. Die beiden Polstellen werden dabei
Frequenzen fortsetzen. Daraus folgt auch für die Real- und Ima- durch kleine Halbkreisbögen (Radius r) umgangen. Der gesam-
ginärteile r bzw. i , dass sie gerade bzw. ungerade Funktionen te Integrationsweg ist in Abb. 16.9 dargestellt.
574 16 Ausbreitung elektromagnetischer Wellen

Im ζ wobei das Verhalten der Real- und Imaginärteile von  für


 ! 0 aus (16.169) benutzt wurde, und

g./
ResD! D lim g./ D g.!/: (16.176)
 ! !!

Die linke Seite von (16.174) ist dagegen für r ! 0 der


Cauchy’sche Hauptwert des Integrals. Insgesamt ergibt sich so-
HkI HkII mit
r r Z1
4 i 1 g./
g.!/ D C P d: (16.177)
0 ω Re ζ ! i !
Teil II

1
Abb. 16.9 Der für den Beweis der Kramers-Kronig-Relationen gewählte
Nimmt man davon den Real- und Imaginärteil, so hat man die
Integrationsweg: entlang der reellen Achse, wobei die Polstellen des Inte-
granden g./=.  !/ bei  D 0 und  D ! durch kleine Halbkreise mit Dispersionsrelationen von Kramers und Kronig (nach dem nie-
Radius r umgangen werden, und zurück entlang eines Halbkreises in der derländischen Physiker Hendrik Anthony Kramers, 1894–1952,
oberen Halbebene „im Unendlichen“ und dem deutsch/US-amerikanischen Physiker Ralph de Laer
Kronig, 1904–1995):
Nach dem eben Gesagten liefert der Halbkreis „im Unendli-
chen“ keinen Beitrag; also muss die Integration entlang der
Z1
reellen Achse plus der beiden Halbkreise um die Pole ihrerseits 1 i ./
r .!/ D 1 C P d;
bereits null ergeben. Die Integration entlang der reellen Achse !
muss damit das Negative der Integrale über die beiden Halbkrei- 1

se ergeben: Z1
4  1 r ./
0 1 i .!/ D  P d: (16.178)
! !
Zr !rZ Z1 1
B C g./
@ C C A d
! Für Anwendungen in der Physik ist es sinnvoll, diese Ergebnisse
1 r !Cr
Z Z noch auf Integrale über nur positive Frequenzen umzuschreiben.
g./ g./ Hierfür kann man die Symmetrien (16.168) von r und i unter
D d  d: (16.173)
! ! ! ! ! ausnutzen.
HkI HkII
Das Endresultat ist
Letztere kann man aber (für r ! 0) analog zum Residuensatz
Z1
auswerten. Beide Polstellen werden hier zwar nur halb umlau- 2 i ./
fen, außerdem im mathematisch negativen Sinn. Für r ! 0 r .!/ D 1 C P d;
2  !2
verhält sich der Integrand an den Polstellen aber wie const= 0
bzw. wie const=.  !/; mit einer Rechnung völlig analog zu Z1
4  2! r ./
(13.37) bis (13.39) folgt deshalb, dass die Halbkreise das jeweils i .!/ D  P d: (16.179)
i -fache der Residuen liefern: ! 2  !2
0
0 1
Zr Z
!r Z1
B C g./ Dies sind allgemeingültige Beziehungen zwischen dem Real-
@ C C A d und Imaginärteil der Dielektrizitätszahl. Vorausgesetzt wurden
!
1 r !Cr letztlich nur wenige physikalisch sinnvolle Forderungen an f . /
  und das Verhalten von  für ! ! 0. Ähnlich kann man auch
g./ g./
Di ResD0 C ResD! : (16.174) allgemeine Beziehungen zwischen n und  herleiten. Daraus er-
 !  !
gibt sich, dass die beim Lorentz-Oszillator-Modell gefundenen
Die Residuen sind Zusammenhänge allgemein gelten:
g./ g./ 1
ResD0 D lim D  lim  ../  1/ (a) Für Frequenzen, bei denen ein Material transparent ist (
! !0   ! ! !0
1), ist die Dispersion normal (dn=d! > 0).
i 4 i (b) Tritt Absorption auf ( 1), so ist die Dispersion anomal
D  lim i ./ D  ; (16.175)
! !0 ! (dn=d! < 0).
Aufgaben 575

Aufgaben

Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen

Teil II
16.1 Elliptische und zirkulare Polarisation Zei- ren Hauptachsenverhältnis gegeben ist durch
gen Sie: Für 0  < 2 beschreibt v
u q
u
x D Œa cos C b cos. C '/ eO 1 b u I  I 2  4Ex0
2 2
Ey0 sin2 '
(16.180) Du
t q (16.183)
 Œa sin  b sin. C '/ eO 2 a I C I 2  4Ex0
2 2
Ey0 sin2 '

mit zueinander senkrechten Einheitsvektoren eO 1 und eO 2 eine El-


lipse, deren Halbachsen die Längen a C b bzw. a  b haben und und deren große Hauptachse gegenüber der x-Achse um den
gegenüber eO 1 bzw. eO 2 um den Winkel '=2 gedreht sind. Winkel ˛ gedreht ist, wobei gilt
q
Lösungshinweis: Schreiben Sie die Argumente von sin und 2
Ey0  Ex0
2
C I 2  4Ex0
2 2
Ey0 sin2 '
cos als D . C '=2/  '=2 bzw. C ' D . C tan ˛ D : (16.184)
'=2/ C '=2 und verwenden Sie die trigonometrischen Ad- 2Ex0 Ey0 cos '
ditionstheoreme.
16.2 Elliptische und lineare Polarisation Im Ka- 16.3 Stokes-Parameter Zur Beschreibung der Po-
piteltext und in Aufgabe 16.1 wurde gezeigt, dass sich als Li- larisation elektromagnetischer Wellen werden oft die Stokes-
nearkombination zweier zueinander phasenverschobener links- Parameter .II MI CI S/ verwendet (auch mit .II QI UI V/ oder
und rechtszirkular polarisierter Wellen eine allgemeine ellip- .S0 I S1 I S2 I S3 / bezeichnet; Stokes selbst benutzte .AI BI CI D/).
tisch polarisierte Welle ergibt; die links- und rechtszirkular Dabei ist I die gesamte Intensität, und für die anderen Kompo-
polarisierten Wellen bilden also eine Basis, aus der man beliebig nenten gilt:
polarisierte Wellen zusammensetzen kann. Hier soll nun gezeigt M D I0ı  I90ı ;
werden, dass die linear polarisierten Wellen ebenfalls eine sol- C D I45ı  I135ı ; (16.185)
che Basis bilden.
S D ILZ  IRZ ;
Gegeben sei eine Summe zweier gegeneinander phasenverscho-
wobei I˛ jeweils für die Intensität steht, die hinter einem linea-
bener Wellen, von denen die eine in x-, die andere in y-Richtung
ren Polarisator gemessen wird, der gegenüber der x-Achse um
linear polarisiert ist (wobei die x- und y-Achsen beliebig senk-
den Winkel ˛ gedreht ist, und ILZ bzw. IRZ für die Intensitä-
recht zur Ausbreitung in z-Richtung gewählt wurden):
ten der links- bzw. rechtszirkular polarisierten Anteile. Die x-
und y-Achse werden dabei willkürlich festgelegt senkrecht zur
E.t; r/ D Ex0 ei.kz!t/ eO x C Ey0 ei.kz!tC'/ eOy (16.181) Ausbreitung in z-Richtung. (Beachten Sie: Teilweise sind auch
andere Vorzeichenkonventionen üblich.) Die Wirkung von opti-
mit reellen Amplituden Ex0 und Ey0 ; die gesamte Intensität ist schen Geräten auf die Polarisation kann dann mit 44-Matrizen
also I D Ex0
2
C Ey0
2
. (Müller-Matrizen) beschrieben werden.
Natürliche Strahlungsquellen senden im Allgemeinen nicht
(a) Zeigen Sie zunächst, dass gilt
oder nur teilweise polarisiertes Licht aus. Dies kann man im
Formalismus der Stokes-Parameter durch Einführung des Po-
jEx .t; r/j2 jEy .t; r/j2 2ReEx Ey cos ' larisationsgrades und zeitliche Mittelung berücksichtigen. Der
2
C 2
 D 2 sin2 ':
Ex0 Ey0 Ex0 Ey0 Einfachheit halber betrachten wir hier aber nur vollständig pola-
(16.182) risierte Wellen. Diese sind letztlich immer elliptisch polarisiert;
(b) Zeigen Sie mittels einer Hauptachsentransformation, dass lineare und zirkulare Polarisation sind davon lediglich Spezial-
die Gleichung in Teilaufgabe (a) eine Ellipse beschreibt, de- fälle.
576 16 Ausbreitung elektromagnetischer Wellen

(a) Begründen Sie, dass Lösungshinweis: Betrachten Sie das Volumenintegral der lin-
ken Seite über eine Kugel um den Ursprung und benutzen Sie
M D Ex0
2
 Ey0
2
; den Gauß’schen Satz.
C D 2Ex0 Ey0 cos '; (16.186)
16.5 Skineffekt Im Folgenden soll gezeigt werden,
S D 2Ex0 Ey0 sin ' dass Wechselstrom hoher Frequenzen in metallischen Leitern
bevorzugt nur in einer relativ dünnen Oberflächenschicht fließt
gilt, wobei Ex0 und Ey0 jeweils für die Amplituden der elek- (Skineffekt). Wir betrachten dafür einen einfachen Spezialfall:
trischen Feldstärken in x- bzw. y-Richtung stehen und ' für Ein unendlich langer, homogener, gerader Leiter (Leitfähigkeit
die Phasenverschiebung zwischen Ex und Ey . Zeigen Sie au- ), der entlang der z-Achse liegt und den Radius %0 hat, werde
ßerdem, dass von einem harmonischen Wechselstrom I.t/ D I0 ei!t durch-
M 2 C C 2 C S2 D I 2 (16.187) flossen.
Teil II

gilt, die vier Parameter also nicht unabhängig voneinander


sind. (a) Zeigen Sie zunächst, dass für die Stromdichte näherungs-
(b) Begründen Sie, dass weise
4 i!
j C jD0 (16.190)
M D I cos 2! cos 2˛; c2
C D I cos 2! sin 2˛; (16.188)
gilt, wenn  ! und  D 1 ist.
S D I sin 2! (b) Lösen Sie die Differenzialgleichung allgemein.
(c) Finden Sie die spezielle Lösung für die gegebenen physika-
gilt, wobei ˛ die Neigung der großen Halbachse der Ellipse, lischen Randbedingungen.
auf der E umläuft, gegen die x-Achse und tan ! das Ver-
hältnis b=a der kleinen Halbachse b zur großen Halbachse
a angibt. Hat ! (und damit auch S) positives Vorzeichen, so Lösungshinweis:
handelt es sich um links-, ansonsten um rechtselliptisch po-
larisiertes Licht. Geben Sie außerdem mittels dieser Formeln
eine geometrische Interpretation der Koordinaten .MI CI S/ (a) Benutzen Sie die Telegrafengleichung (16.69).
an. (b) Für jz ergibt sich eine Bessel’sche Differenzialgleichung
(c) Geben Sie für folgende Polarisationszustände jeweils die (16.58); die Lösungen sind also Bessel-Funktionen (aller-
zugehörigen Stokes-Parameter an: (1) in x-Richtung linear dings mit komplexem Argument).
polarisiert, (2) in y-Richtung linear polarisiert, (3) in einem (c) Beachten Sie das Verhalten von J0 .x/ bzw. Y0 .x/ für x ! 0
Winkel von 45ı zur x-Achse linear polarisiert, (4) in einem und die gesamte Stromstärke I0 .
Winkel von 135ı zur y-Achse linear polarisiert, (5) rechts-
zirkular polarisiert, (6) linkszirkular polarisiert, (7) elliptisch
polarisiert, wobei das Achsenverhältnis 1:2 beträgt und die 16.6 Geschwindigkeiten im rechteckigen Hohllei-
große Halbachse in x-Richtung zeigt, (8) elliptisch polari- ter Ermitteln Sie explizite Ausdrücke für die Phasen-, Grup-
siert mit demselben Achsenverhältnis, die große Halbachse pen- und Frontgeschwindigkeit in einem rechteckigen Hohllei-
aber in y-Richtung zeigt, (9) elliptisch polarisiert, wobei die ter (Seitenlängen a und b) und vergleichen Sie jeweils mit der
große Halbachse mit der x-Achsepden Winkel 22;5ı ein- Vakuumlichtgeschwindigkeit. Welcher Zusammenhang besteht
p hier zwischen Phasen- und Gruppengeschwindigkeit?
schließt und das Achsenverhältnis 3  2 ist.
(d) Geben Sie für folgende optische „Geräte“ die zugehörige Lösungshinweis: Verwenden Sie die Dispersionsrelation
Matrix an: (1) homogener Absorber mit Transmissionsko- (16.126); die hier relevante Wellenzahl ist natürlich kz .
effizient T, (2) linearer Polarisator in x-Richtung, (3) =4-
Plättchen, bei dem die schnelle Achse in x-Richtung zeigt. 16.7 Zylindrischer Hohlleiter Ermitteln Sie die Fel-
der und die Dispersionsrelation bei den TM-Moden eines
Lösungshinweis: unendlich langen metallischen Hohlleiters mit kreisförmigem
Querschnitt (Radius %0 ), dessen Mittelachse die z-Achse ist.
(b) Benutzen Sie die Ergebnisse aus Aufgabe 16.2 und schrei-
Lösungshinweis: Verwenden Sie die Lösungen der Wellen-
ben Sie diese zunächst mithilfe der Formeln in Teilaufgabe
gleichung in Zylinderkoordinaten (16.59) für Ez sowie die
(a) kürzer.
Beziehungen (16.143) und beachten Sie die Randbedingungen
bei TM-Moden. Die Nullstellen von Bessel-Funktionen finden
16.4 Green’sche Funktion zur Helmholtz-Glei- sich in der mathematischen Literatur.
chung Zeigen Sie:
16.8 Natürliche Linienbreite Strahlt ein Atom oder
eikr Molekül, das von einem angeregten Zustand in einen niedri-
. C k /2
D 4 ı.r/: (16.189) geren übergeht, eine elektromagnetische Welle der Frequenz
r
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 577

!0 ab, so muss die Amplitude dieser Welle zeitlich abnehmen abgestrahlte Energie pro infinitesimalem Frequenzintervall von
(warum?). Im Allgemeinen ergibt sich deshalb für die elektri- ! abhängt. Interpretieren Sie Ihr Ergebnis.
sche Feldstärke dieser Welle am Ort des Atoms eine exponen-
tiell gedämpfte Schwingung (Anfangsamplitude E0 , Frequenz Lösungshinweis: Überlegen Sie sich, wie der Poynting-Vek-
!0 , Dämpfungskonstante  ). Berechnen Sie die Fourier-Trans- tor einer ebenen monochromatischen Welle im Vakuum von der
Q
formierte E.!/ der elektrischen Feldstärke und daraus, wie die elektrischen Feldstärke abhängt.

Teil II
578 16 Ausbreitung elektromagnetischer Wellen

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben

16.1 Zunächst schreiben wir Nun definieren wir

cos D cosŒ. C '=2/  '=2 eO 01 WD cos.'=2/Oe1 C sin.'=2/Oe2 ;


(16.198)
D cos. C '=2/ cos.'=2/ (16.191) eO 02 WD sin.'=2/Oe1  cos.'=2/Oe2 :
C sin. C '=2/ sin.'=2/;
eO 01 und eO 02 gehen aus eO 1 und eO 2 jeweils durch eine Drehung um
'=2 hervor, sind also ebenfalls zueinander senkrechte Ein-
Teil II

cos. C '/ D cosŒ. C '=2/ C '=2


D cos. C '=2/ cos.'=2/ (16.192) heitsvektoren. Man kann dann einfach schreiben
 sin. C '=2/ sin.'=2/; x D x01 . /Oe01 C x02 . /Oe02 (16.199)
sin D sinŒ. C '=2/  '=2
mit
D sin. C '=2/ cos.'=2/ (16.193) x01 . / WD .a C b/ cos. C '=2/;
(16.200)
 cos. C '=2/ sin.'=2/ x02 . / WD .a  b/ sin. C '=2/:
und Dann gilt:

sin. C '/ D sinŒ. C '=2/ C '=2 .x01 . //2 .x02 . //2


D sin. C '=2/ cos.'=2/ C
(16.194) .a C b/2 .a  b/2
C cos. C '=2/ sin.'=2/: (16.201)
D cos2 . C '=2/ C sin2 . C '=2/
D 1:
Setzt man dies alles in (16.180) ein, so hat man den reichlich
unübersichtlichen Ausdruck
Dies ist aber nun genau die Gleichung einer Ellipse, deren große
x D Œa cos. C '=2/ cos.'=2/ Halbachsen die Längen a C b bzw. a  b haben.
C a sin. C '=2/ sin.'=2/ 16.2
C b cos. C '=2/ cos.'=2/
(a) Dies ist einfach nachzurechnen:
 b sin. C '=2/ sin.'=2/Oe1
(16.195)
 Œa sin. C '=2/ cos.'=2/ jEx .t; r/j2 jEy .t; r/j2
D D1 (16.202)
 a cos. C '=2/ sin.'=2/ 2
Ex0 2
Ey0
 b sin. C '=2/ cos.'=2/
 b cos. C '=2/ sin.'=2/Oe2 : und
2ReEx Ey cos '
D 2 cos2 ': (16.203)
Zunächst fassen wir bei beiden Vektoren jeweils die Terme mit Ex0 Ey0
derselben Winkelabhängigkeit zusammen: Daraus folgt sofort die Behauptung.
(b) Die Gleichung ist auch folgendermaßen darstellbar:
x D Œ.a C b/ cos. C '=2/ cos.'=2/
 
C .a  b/ sin. C '=2/ sin.'=2/Oe1 > Ex
(16.196) .Ex ; Ey / A D 1; (16.204)
 Œ.a  b/ sin. C '=2/ cos.'=2/ Ey
 .a C b/ cos. C '=2/ sin.'=2/Oe2 : wobei die Matrix A folgende Gestalt hat:
Dann lösen wir die Klammern auf und fassen jeweils die Terme 0 1 cos ' 1
mit derselben Abhängigkeit von zusammen: 
B 2Ex0 sin2 '
2
2Ex0 Ey0 sin2 ' C
B C: (16.205)
@ cos ' 1 A
x D .a C b/ cos. C '=2/ 
2Ex0 Ey0 sin2 ' 2
2Ey0 sin2 '
 Œcos.'=2/Oe1 C sin.'=2/Oe2 
(16.197)
C .a  b/ sin. C '=2/ Für das Hauptachsenverhältnis ist nur das Verhältnis der
 Œsin.'=2/Oe1  cos.'=2/Oe2  : Eigenwerte dieser Matrix wesentlich, für den Tangens des
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 579

Drehwinkels nur das Verhältnis der Komponenten der Ei- 16.3


genvektoren. Beides ändert sich nicht, wenn man die Matrix
mit einer beliebigen Konstanten multipliziert. Wir arbeiten
deshalb im Folgenden mit der Matrix B D A2Ex0 Ey0 sin2 ',
2 2
(a) Ein Polarisator, der um 0ı bzw. 90ı gegen die x-Achse
also gedreht ist, lässt nur die Ex - bzw. die Ey -Komponente des
  elektrischen Feldes durch; also ist I0ı D Ex02
und I90ı D Ey0
2
2
Ey0 Ex0 Ey0 cos '
BD : (16.206) und damit M D Ex0  Ey0 .
2 2
Ex0 Ey0 cos ' 2
Ex0
Schreibt man für den elektrischen Feldvektor
Zunächst bestimmen wir die Eigenwerte dieser Matrix aus
der charakteristischen Gleichung:  
Ex0 eO x C Ey0 ei' eOy ei.kz!t/
 
.Ey0
2
 /.Ex0
2
 /  Ex0
2 2
Ey0 cos2 ' D 0: (16.207) Ex0 C Ey0 ei' Ex0  Ey0 ei'
D p eO 45ı C p eO 135ı ei.kz!t/ ;

Teil II
2 2
Ausmultiplizieren und Vereinfachen führt auf eine quadrati- (16.215)
sche Gleichung mit den Lösungen wobei eO x bzw. eOy Einheitsvektoren in x- bzw. y- Richtung
q und eO 45ı bzw. eO 135ı entsprechend gedrehte Einheitsvektoren
I ˙ I 2  4Ex0 Ey0 sin2 '
2 2 sind, so ergibt sich zunächst
1;2 D : (16.208)
2
1 ˇˇ ˇ2
Zunächst sehen wir, dass beide Eigenwerte positiv sind, also I45ı D Ex0 C Ey0 ei' ˇ
handelt es sich hier in der Tat um eine Ellipse. Deren Halb- 2
1 2 1 2
achsen ergeben sich direkt aus den Eigenwerten: D Ex0 C Ey0 C Ex0 Ey0 cos ';
2 2 (16.216)
1 1 1ˇ ˇ2
aD p und b D p ; (16.209) I135ı D ˇEx0  Ey0 ei' ˇ
1 2 2
1 2 1 2
wobei 1 bzw. 2 die Lösung mit dem negativen bzw. D Ex0 C Ey0  Ex0 Ey0 cos ';
2 2
dem positiven Vorzeichen der Wurzel ist. Aus diesen Zu-
sammenhängen erhält man die obige Behauptung über das
Achsenverhältnis. also C D 2Ex0 Ey0 cos '. Schreibt man dagegen den elek-
Den Drehwinkel erhalten wir aus den Eigenvektoren, da ja trischen Feldvektor wie in Abschn. 16.1 als Summe eines
die Drehmatrix, mit der die Matrix B in Diagonalgestalt links- und rechtszirkular polarisierten Anteils, d. h.
gebracht wird, aus den Eigenvektoren aufgebaut ist. Der Ei-
genvektor v 1 zu 1 entspricht der ersten Spalte der Matrix. 1   1  
Somit kann man schreiben E D ELZ p eO x C iOey C ERZ p eO x  iOey ; (16.217)
2 2
 
cos ˛
v1 D ; (16.210)
sin ˛ so ist zunächst ILZ D jELZ j2 und IRZ D jERZ j2 . Da aber
andererseits
und man erhält den Tangens des Winkels als
v1y Ex0  iEy0 ei' Ex0 C iEy0 ei'
tan ˛ D : (16.211) ELZ D p und ERZ D p
v1x
2 2
Es bleibt noch v 1 zu bestimmen. Diesen Eigenvektor erhält (16.218)
man aus gilt, ergibt sich
.B  1 E2 /v 1 D 0: (16.212)
1 2 1 2
Es muss also jELZ j2 D E C E C Ex0 Ey0 sin ';
2 x0 2 y0 (16.219)
.b11  1 /v1x C b12 v1y D 0 (16.213) 1 2 1 2
jERZ j2 D Ex0 C E  Ex0 Ey0 sin '
2 2 y0
gelten (und eine weitere Gleichung, die sich aus der zweiten
Zeile der Matrix ergibt, aber zu demselben Ergebnis führt). und damit S D 2Ex0 Ey0 sin '.
Somit hat man Dass M 2 CC2 CS2 D I 2 ist, zeigt man einfach durch direktes
1  b11
tan ˛ D ; (16.214) Nachrechnen.
b12
(b) Zunächst ist aus S D ILZ  IRZ klar, dass das Vorzeichen von
woraus man sofort das oben angegebene Ergebnis erhält. S die Richtung der elliptischen Polarisation angibt.
580 16 Ausbreitung elektromagnetischer Wellen

Die Ergebnisse aus Aufgabe 16.2 kann man mittels der For- ist hier einfach
meln in Teilaufgabe (a) auch kürzer schreiben: 0 1
T 0 0 0
s p B 0 T 0 0 C
@ 0 :
0 A
b I  I 2  S2 (16.223)
tan ! D D p (16.220) 0 T
a I C I 2  S2 0 0 0 T
s p
I  M 2 C C2 (2) Nach dem Polarisator muss sowohl die gesamte Intensi-
D p ;
I C M 2 C C2 tät also auch diejenige in x-Richtung gleich derjenigen
p p sein, die man vorher in x-Richtung hatte, die Intensität in
M C I 2  S2 M C M 2 C C2
tan ˛ D D : y-Richtung muss dagegen verschwinden. Also hat man
C C
I 0 D M 0 D I0ı und C0 D S0 D 0:
Teil II

(16.224)
Außerdem gelten die trigonometrischen Beziehungen
Da aber offensichtlich
2 tan !
sin.2!/ D 2 sin ! cos ! D ; ICM
1 C tan2 ! I0ı D (16.225)
(16.221)
1  tan2 ! 2
cos.2!/ D cos2 !  sin2 ! D
1 C tan2 ! gilt, folgt sofort die Matrix
und entsprechend für ˛. Setzt man die obigen Ausdrücke für 0 1
0;5 0;5 0 0
tan ! und tan ˛ ein, so erhält man nach einigen Umformun- B 0;5 0;5 0 0 C
@ 0 :
0 A
gen (16.226)
0 0
S 0 0 0 0
sin.2!/ D ;
I
p
M 2 C C2 (3) Das =4-Plättchen vermindert die Phasenverschiebung
cos.2!/ D ; der y-Komponente gegenüber der x-Komponente um
I
C
(16.222) =2; die Amplituden ändern sich nicht. Also ändern sich
sin.2˛/ D p ; I und M nicht, aber mit den Formeln in Teilaufgabe (a)
M 2 C C2 folgt sofort
M
cos.2˛/ D p ;
M C C2
2 C0 D S und S0 D C: (16.227)

woraus sofort die angegebenen Ergebnisse für M, C und S Damit ist die Matrix
folgen.
0 1
Interpretiert man .MI CI S/ als kartesische Koordinaten in 1 0 0 0
einem dreidimensionalen Raum, so entspricht jeder Polari- B 0 1 0 0 C
@ 0 :
1 A
(16.228)
sationszustand einem Punkt auf der Oberfläche einer Kugel 0 0
mit Radius I, der sogenannten PoincarKe-Kugel. Die Winkel 0 0 1 0
2! bzw. 2˛ entsprechen dabei jeweils der Breite bzw. Länge
auf dieser Kugel, und das Vorzeichen von !, d. h., der Um-
laufsinn der Polarisation gibt an, ob der Punkt auf der oberen 16.4 Zunächst ist die Funktion eikr =r eine Lösung der Wellen-
oder unteren Halbkugel liegt. gleichung, d. h., es gilt
(c) Alle Ergebnisse erhält man leicht direkt oder nach kurzer
eikr
Rechnung aus den Formeln in Teilaufgabe (b): . C k2 / D0 (16.229)
(1) .II II 0I 0/ r
(2) .II II 0I 0/
überall dort, wo die Funktion überhaupt differenzierbar ist. Pro-
(3) .II 0I II 0/
bleme macht also nur der Ursprung selbst. Dort hat die Funktion
(4) .II 0I II 0/
eine Polstelle, die Ableitung wird somit auch unendlich groß.
(5) .II 0I 0I I/
Dieses Verhalten passt zu dem der Deltafunktion, die sich erge-
(6) .II 0I 0I I/
ben soll.
(7) .II 0;6II 0I 0;8I/
(8) .II 0;6II
p 0Ip 0;8I/ p Außerdem muss das Volumenintegral über eine Deltafunktion 1
(9) .II I= 3I I= 3I I= 3/ ergeben, d. h., es muss hier
(d) (1) Ein isotroper Absorber absorbiert in allen Richtungen Z
denselben Anteil der Intensität, also ändern sich alle Sto- eikr
kes-Parameter um denselben Faktor T, d. h., die Matrix dV. C k2 / D 4 (16.230)
r
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 581

gelten. Dieses Volumenintegral ist noch zu berechnen: Da aber  ! vorausgesetzt wurde, kann der erste Term
Z ikr Z Z gegenüber dem auf der rechten Seite vernachlässigt werden,
2 e eikr eikr und es bleibt
dV. C k / D dV Ck 2
dV : (16.231) 4 i!
r r r j C j D 0: (16.239)
c2
Wir integrieren über eine Kugel mit Radius R um den Ursprung.
Das erste Integral kann man dann mit dem Gauß’schen Satz (b) Der Strom fließt in z-Richtung. Wegen der Symmetrie des
umschreiben, beim zweiten Integral kann man die Winkelinte- Systems ist j außerdem sicher von z und ' unabhängig. Es
grationen ausführen: gilt also:
j.r/ D jz .%/Oez : (16.240)
I   ZR
eikr Setzt man dies in die Differenzialgleichung ein und benutzt
D R d eO r  r
2
C4 k 2
reikr dr: (16.232) die explizite Gestalt des Laplace-Operators in Zylinderkoor-
r rDR
dinaten, so ergibt sich für jz die Differenzialgleichung

Teil II
@V 0
 
Für die Ableitung ergibt sich 1 4 i!
@% %@% C jz .%/ D 0: (16.241)
    % c2
eikr 1 eikR
eO r  r D ik  : (16.233)
r rDR R R Nach Umschreiben des Differenzialoperators und Multipli-
zieren mit %2 bleibt
Damit erhält man für das Volumenintegral zunächst  
4 i! 2
ZR %2 @2% C %@% C % jz .%/ D 0: (16.242)
c2
D 4 .ikR  1/ e ikR
C4 k 2
reikr dr: (16.234)
0
Nun schreibt man noch zur Abkürzung
r
Nun führt man das Integral über r aus: c2 p p
dD ; i x D %=d; Qj. i x/ D jz .%/:
ZR ZR 4 !
1 @ (16.243)
reikr dr D eikr dr Dann hat man schlussendlich
i @k
0 0  2  p
2 d d 2 Q
1 @ eikR  1 (16.235) x 2 C x C x j. i x/ D 0: (16.244)
D dx dx
i @k ik
ikReikR  .eikR  1/ Dies ist aber einfach die Bessel’sche Differenzialgleichung
D : mit m D 0. Die allgemeinen Lösungen sind also
k2
p  p 
Damit bleibt für das Volumenintegral jz .%/ D AJ0 i %=d C BY0 i %=d (16.245)
 
D 4 .ikR  1/ eikR  4 ikReikR  .eikR  1/ ; mit den Bessel-Funktionen erster und zweiter Art und nullter
(16.236)
D 4 ; Ordnung J0 und Y0 .
(c) Für x ! 0 gilt Y0 .x/ ! 1. Eine physikalisch sinnvolle
was zu zeigen war. Lösung haben wir deshalb nur für B D 0. Die Konstante A
Anmerkung: Dieses Resultat kennen wir übrigens bereits. Die können wir aus der Bedingung
hier betrachtete Funktion ist letztlich nichts anderes als die Lö- Z
sung der Helmholtz-Gleichung, die in Abschn. 13.2 berechnet j  df D I (16.246)
wurde; man muss nur in der dort gefundenen Lösung (13.60) k0 A
durch ik ersetzen.
bestimmen. Hier wird über eine Kreisscheibe integriert:
16.5
Z2 Z%0
(a) Aus der Telegrafengleichung (16.69) folgt mit j D E sofort
d' % jz .%/ d% D I0 : (16.247)
4 
0 j D  2 @ t j:
0 0
(16.237)
c
Die Winkelintegration ist sofort ausführbar. Für die radiale
Da j sicher dieselbe harmonische Zeitabhängigkeit hat wie Integration beachte
I, kann man die Zeitableitungen gleich ausführen und erhält
Zx0
 
!2 4 i! xJ0 .x/ dx D x0 J1 .x0 /: (16.248)
 02   j D j: (16.238)
c c2 0
582 16 Ausbreitung elektromagnetischer Wellen

Damit ergibt sich schließlich Dies führt auf q 


2 Ad p  Jm k2  kz2 %0 D 0: (16.258)
p %0 J1 i %0 =d D I0 ; (16.249)
i
Es muss somit q
also p  k2  kz2 %0 D xmn (16.259)
p i %=d
i I0 J0
jz .%/ D p : (16.250) gelten, wobei xmn für die nte Nullstelle der Bessel-Funkti-
2 d%0 J i % =d on Jm steht (diese kann man in der mathematischen Literatur
1 0
nachlesen). Damit haben wir für die TM-Moden die Dispersi-
onsrelation  
16.6 Zunächst haben wir aus (16.126): !2 xmn 2
r D C kz2 ; (16.260)
 m c 2  n c 2 %0
Teil II

c2
!.kz / D c kz2 C C : (16.251)
a b und für das elektrische Feld in z-Richtung ergibt sich jeweils
Damit ist also einfach  
xmn
s Ez .t; %; '; z/ D E0z Jm % ei.kz z!t˙m'/ (16.261)
 2  2 %0
!.kz / m c n c
cph .kz / D Dc 1C C : (16.252)
kz kz a kz b mit m D 0; 1; 2; : : : und n D 1; 2; 3; : : : Außerdem gilt natürlich
Die Gruppengeschwindigkeit ist dagegen Bz D 0; (16.262)
@!.kz / kz
cgr .kz / D D cq  2  2 da wir ja die TM-Moden betrachten.
@kz
kz2 C ma c C n b c
(16.253) Die restlichen Feldkomponenten in den transversalen Richtun-
c gen erhält man mithilfe von (16.143). Im Folgenden sind jeweils
D r  2  2 : nur die Abhängigkeiten von % explizit angegeben; die Abhän-
1 C mkz ac C nkz bc gigkeiten von t, ' und z sind wie bei Ez .

Also gilt hier immer cph > c und cgr < c, genauer sogar ikz
E% .%/ D @% Ez
! 2 =c2  kz2
cph  cgr D c2 : (16.254)  
ikz xmn E0z 0 xmn
D 2 2 J % ;
Die Frontgeschwindigkeit, die letztlich die Geschwindigkeit an- ! =c  kz2 %0 m
%0
gibt, mit der Informationen übertragen werden, ist dagegen 1 ikz
exakt gleich der Vakuumgeschwindigkeit: E' .%/ D @' Ez
% ! =c2  kz2
2
 
cfr D lim cph .kz / D c: (16.255) Jm x%mn0 %
kz !1 mkz
D E0z ;
! 2 =c2  kz2 % (16.263)
16.7 Die Wellengleichung für Ez führt in Zylinderkoordinaten !
B% .%/ D  E'
auf eine Bessel’sche Differenzialgleichung. Die Lösungen für kz c
Ez sind daher zunächst (mit ! D kc):  
m !=c J xmn
%
 q  m %0
D˙ 2 2 E0z ;
Ez .t; %; '; z/ D A Jm k2  kz2 % ! =c  kz2 %
q  !
B' .%/ D E%
CB Ym k2  kz2 % ei.kz z!t˙m'/ : kz c
 
i!=c xmn E0z 0 xmn
(16.256) D 2 2 J % :
Die Funktionen Ym .x/ sind für x ! 0 aber alle divergent, sodass ! =c  kz2 %0 m
%0
sich physikalisch sinnvolle Lösungen nur für B D 0 ergeben.
Für A schreiben wir im Folgenden einfach E0z . Für die Ableitungen der Bessel-Funktionen könnte man außer-
dem noch den allgemeinen Zusammenhang
Außerdem ist wieder die Randbedingung zu erfüllen, dass die
Tangentialkomponente von E auf der Oberfläche des Leiters 1
Jm0 .x/ D ŒJm1 .x/  JmC1 .x/ (16.264)
verschwinden muss, d. h. 2
Ez .t; %0 ; '; z/ D 0: (16.257) verwenden.
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 583

16.8 Die abgestrahlte Energie pro Zeiteinheit und damit auch Vakuum die Amplituden des elektrischen und magnetischen
die elektrische Feldstärke muss zeitlich abnehmen, weil insge- Feldes gleich sind, ist die abgestrahlte Energie (pro Frequenz-
samt ja nur eine endliche gesamte Energiemenge abgestrahlt intervall) letztlich einfach proportional zum (Betrags-)Quadrat
wird. Speziell bei einer exponentiell gedämpften Schwingung der elektrischen Feldstärke, also proportional zu
gilt für die elektrische Feldstärke in Abhängigkeit von der Zeit:
0 für t < 0  2 C !2
E.t/ D : (16.265) : (16.267)
E0 cos.!0 t/e t
für t  0 .! 2  !02  2 /2 C 4 2 ! 2
Die Fourier-Transformierte ist also
Z1 Dies beschreibt eine typische
q Resonanzkurve mit dem Maxi-
QE.!/ D pE0 eŒi.!0 !/ t C eŒi.!0 !/ t mum bei der Frequenz !0 C  2 und der Breite 2 . Obwohl
2
d!
2 2 die Energie eigentlich bei der festen Frequenz !0 abgestrahlt

Teil II
0
 
E0 1 1 q scharfe Linie bei !0 ,
wird, ergibt sich im Spektrum also keine
D p C sondern eine verbreiterte Linie bei !02 C  2 . Diese Verbrei-
2 2 i.!0  !/   i.!0  !/  
E0  C i! terung (und Verschiebung) der Linie rührt nur daher, dass die
D p : (16.266) Abstrahlung zeitlich abnehmen muss, geschieht also völlig ohne
2 !02  ! 2 C  2 C 2i! äußere Einflüsse (wobei die Linie umso schmäler ist, je länger
Da der Poynting-Vektor proportional zur elektromagnetischen die Abstrahlung dauert). Deshalb spricht man hier von der na-
Energiedichte ist und in einer elektromagnetischen Welle im türlichen Linienbreite.
584 16 Ausbreitung elektromagnetischer Wellen

Literatur

Sexl, R.U., Urbantke, H.K.: Relativität, Gruppen, Teilchen,


3. Aufl., Springer, Wien (1992)
Tipler, P.A., Mosca, G.: Physik für Wissenschaftler und Inge-
nieure, 6. Aufl., Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg
(2009)
Teil II
Optik
17
Was passiert mit
Lichtstrahlen an der
Grenzfläche zweier

Teil II
Medien?

Wie kann die Ausbreitung


von Lichtstrahlen in
inhomogenen Medien
beschrieben werden?

Welchen Einfluss haben die


Welleneigenschaften des
Lichtes auf seine
Ausbreitung?

17.1 Wellenoptik kontra geometrische Optik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586


17.2 Brechung und Reflexion an Grenzflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . 586
17.3 Die Eikonalgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592
17.4 Beugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 607
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 585
586 17 Optik

Die Optik beschäftigt sich speziell mit der Ausbreitung von Licht (die (a) In homogenen Medien sind die grundlegenden Lösungen der
meisten ihrer Ergebnisse sind aber auch auf andere elektromagne- Wellengleichung ebene Wellen; bei diesen gibt die Richtung
tische Wellen übertragbar). In vielen Fällen genügt es dabei, davon des Wellenvektors direkt die Strahlrichtung an.
auszugehen, dass Licht sich in Strahlen ausbreitet; der Wellencha- (b) Für jede ebene Welle ergibt die Ersetzung k ! k wieder
rakter des Lichtes kann vernachlässigt werden. eine Lösung der Wellengleichung.
(c) Diese Gesetze werden im nächsten Abschnitt aus der Wel-
Dies ist insbesondere der Fall, wenn die charakteristischen Längen lenoptik hergeleitet.
des betrachteten Problems (beispielsweise Durchmesser einer Blen- (d) In der Wellenoptik addieren sich zwar die Amplituden E,
de oder Dicke einer Linse) sehr groß gegenüber der Wellenlänge nicht die Intensitäten jEj2 , man hat also jE1 C E2 j2 D
des Lichtes sind: Dann sind typische Welleneffekte wie Beugung, jE1 j2 CjE2 j2 C2 Re .E1 E2 /. Der dritte Term beschreibt aber
Interferenz und Polarisation vernachlässigbar (Abschn. 17.1). Die Interferenzeffekte und kann sowohl positive als auch nega-
Funktionsweise von typischen optischen Geräten wie beispielswei- tive Beiträge liefern; im zeitlichen Mittel verschwindet er
se Teleskopen und Mikroskopen kann deshalb im Rahmen des
Teil II

also für natürliche (nichtkohärente) Lichtquellen. Aber auch


Brechungs- und des Reflexionsgesetzes, die wir in Abschn. 17.2 be- für kohärente Lichtquellen wie beispielsweise Laser kann
sprechen werden, großenteils verstanden werden. dieser Term vernachlässigt werden, wenn alle relevanten
Diese Gesetze können rein mit der geometrischen Optik begrün- Systemabmessungen (deutlich) größer als die Wellenlänge
det werden, auch wenn sie letztlich auf dem Verhalten von Wellen sind: dann verschwindet das räumliche Mittel über die Inter-
beruhen, wie hier gezeigt werden wird. Auch Brechungserscheinun- ferenzen, und auch Beugungseffekte können vernachlässigt
gen in der Atmosphäre, die beispielsweise zu Luftspiegelungen und werden (siehe Abschn. 17.2).
zur sogenannten astronomischen Refraktion führen, können rein im
Rahmen der geometrischen Optik diskutiert werden – aber auch Im ganzen Kapitel betrachten wir nur monochromatische Wel-
hier existiert ein enger Zusammenhang zur Wellenoptik, die soge- len, die Zeitabhängigkeit der Wellenfunktionen ist also immer
nannte Eikonalgleichung (Abschn. 17.3). durch ei!t gegeben. In vielen Fällen, wenn die Polarisation
der Wellen nicht wesentlich ist, betrachten wir außerdem der
Sind die betrachteten Längenskalen dagegen vergleichbar mit der Einfachheit halber statt der elektrischen und magnetischen Fel-
Lichtwellenlänge oder ist man an typischen Welleneigenschaften der nur eine skalare Funktion ‰.
wie der Polarisation interessiert, so muss man zur Berechnung die
Wellenoptik benutzen. Dies ist beispielsweise bei der Brechung und
Reflexion wichtig, wenn man genau daran interessiert ist, welcher
Anteil des Lichtes gebrochen bzw. reflektiert wird – dies hängt 17.2 Brechung und Reflexion
von der Polarisation des Lichtes ab. Für die Behandlung von Beu-
gungserscheinungen, die beispielsweise das Auflösungsvermögen
an Grenzflächen
von Mikroskopen begrenzen, wird schließlich der Wellencharakter
des Lichtes essenziell (Abschn. 17.4). Ein Standardproblem der Optik ist das Verhalten von Licht
an Grenzflächen zwischen zwei Medien, beispielsweise beim
Übergang von Luft zu Wasser oder Glas (oder umgekehrt). Aus
der Erfahrung wissen wir, dass dabei im Allgemeinen ein Teil
17.1 Wellenoptik kontra des Lichtes reflektiert wird und der Rest zwar ins Medium ein-
tritt, aber dabei die Ausbreitungsrichtung ändert. Man spricht
geometrische Optik hier von Brechung.
Im Folgenden sollen nun zunächst die bekannten Gesetze für
Die geometrische Optik bzw. Strahlenoptik geht von einigen Reflexion und Brechung aus der Wellenoptik hergeleitet wer-
grundlegenden Annahmen aus: den. Anschließend wird untersucht, wovon es abhängt, welcher
Anteil des Lichtes jeweils reflektiert bzw. gebrochen wird.
(a) In homogenen Medien breitet sich Licht in parallelen, gerad-
linigen Strahlen aus.
(b) Der Lichtweg ist umkehrbar.
(c) An Grenzflächen gelten das Reflexions- und das Brechungs- Das Reflexions- und das Brechungsgesetz
gesetz.
(d) Lichtstrahlen sind superponierbar; die Intensitäten addieren Die beiden (nichtleitenden) Medien haben im Allgemeinen
sich. unterschiedliche Dielektrizitätskonstanten 1 , 2 und Permea-
bilitäten 1 , 2 . Im Folgenden sei die Grenzfläche zwischen
den beiden Medien die x-y-Ebene, der Wellenvektor der ein-
All diese Annahmen können aus der Wellenoptik direkt ge- fallenden Welle liege in der y-z-Ebene (Abb. 17.1). Außerdem
folgert werden bzw. sind mit dieser für kleine Wellenlängen betrachten wir hier speziell wieder nur ebene, monochromati-
verträglich: sche Wellen.
17.2 Brechung und Reflexion an Grenzflächen 587

z Es ergibt sich also:


1, μ1
k k h 00
r! 00 t/
1 E0 ei.kr!t/ C 1 E000 ei.k
0 0
i (17.4)
2 E00 ei.k r! t/  eO z D 0;

h 00 00
ϕ1 E0 ei.kr!t/ C E000 ei.k r! t/
0 0
i (17.5)
y
E00 ei.k r! t/  eO z D 0:
ϕ2
Die Gleichungen (17.4) und (17.5) können nur dann für alle

Teil II
Zeiten t gelten, wenn die zeitabhängigen Argumente der Ex-
ponentialfunktionen gleich sind, wenn also gilt:

! D ! 0 D ! 00 : (17.6)
k
2 , μ2
Man erhält somit zunächst:
Abb. 17.1 Elektromagnetische ebene Wellen an der Grenzfläche zweier Me-
dien: einfallend (rot ), durchgehend (blau ) und reflektiert (gelb ). Gezeigt sind Einfallende, durchgehende und reflektierte Welle haben
jeweils beispielhaft einige Strahlen bzw. die zugehörigen Wellenvektoren
alle dieselbe Frequenz.

Wir setzen nun an, dass man im oberen Halbraum (z > 0) zwei Außerdem gilt bei monochromatischen elektromagnetischen
ebene Wellen hat – die einfallende und die reflektierte – im unte- Wellen, dass man die magnetische Flussdichte einfach aus dem
ren eine – die durchgehende (transmittierte), gebrochene Welle. elektrischen Feld berechnen kann mittels
Die Amplituden des elektrischen Feldes seien für die einfallen-
de Welle E0 , für die durchgehende E00 und für die reflektierte BD
c
.k  E/: (17.7)
E000 ; die Wellenvektoren entsprechend k, k0 und k00 (Abb. 17.1) !
und die Frequenzen !, ! 0 und ! 00 . Damit haben wir:
Frage 2
E D E0 ei.kr!t/ ; Was folgt dann aus der Stetigkeit der magnetischen Feldstärke
0 0 bzw. Flussdichte?
E0 D E00 ei.k r! t/ ; (17.1)
i.k00 r! 00 t/
E00 D E000 e :
Nutzt man außerdem noch die bekannten Stetigkeitsbedingun-
gen für das magnetische Feld (Abschn. 15.2)
Um Beziehungen zwischen den Amplituden und den Wellen-
vektoren zu finden, betrachtet man die Stetigkeitsbedingungen B? C B00? D B0? I Hk C H 00k D H0k (17.8)
an der Grenzfläche. Diese hat den Normalenvektor eO z ; die Nor-
mal- und Tangentialkomponente eines gegebenen Vektors a aus, erhält man schließlich zusätzlich (die zeitlichen Exponen-
erhält man mittels tialfunktionen wurden bereits gekürzt):

ja? j D ja  eO z jI jak j D ja  eO z j: (17.2) h 00


k  E0 eikr C k00  E000 eik r (17.9)

0
i
Frage 1 k0  E00 eik r  eO z D 0;
Erinnern Sie sich: Welche Komponenten der elektrischen Feld- 
stärke bzw. Verschiebungsdichte sind jeweils stetig? 1 1 00 00
k  E0 eikr C k  E000 eik r (17.10)
1 1
1 0
Wie in Abschn. 14.2 gezeigt wurde, sind die Normalkomponen-  k0  E00 eik r  eO z D 0:
2
ten der Verschiebungsdichte und die Tangentialkomponenten
der Feldstärke stetig: Die Beziehungen (17.4), (17.5), (17.9) und (17.10) werden wir
erst im nächsten Abschnitt voll ausnutzen. Hier sollen zunächst
D? C D00? D D0? I Ek C E00k D E0k : (17.3) Beziehungen zwischen den Wellenvektoren hergeleitet werden.
588 17 Optik

Der Wellenvektor der einfallenden Welle soll, wie gesagt, in der


y-z-Ebene liegen; er hat somit die Gestalt Reflexionsgesetz
>
k D k.0; sin '1 ;  cos '1 / ; (17.11) Der Wellenvektor der reflektierten Welle hat zur z-Achse
(also zum Lot der Grenzfläche) denselben Winkel wie der
wobei k D jkj und '1 der Winkel ist, den k zur z-Achse hat.
Wellenvektor der einfallenden Welle, kurz:
Damit gilt
k  r D k sin '1 y  k cos '1 z D k sin '1 y; (17.12) Einfallswinkel D Ausfallswinkel:
da wir die Stetigkeit an der Grenzfläche z D 0 betrachten. Für
die beiden anderen Wellenvektoren ergibt sich
Außerdem gilt:
k0  r D kx0 x C ky0 yI k00  r D kx00 x C ky00 y: (17.13) ky0 D k0 sin '2 ; (17.21)
Teil II

Die Stetigkeitsbedingungen können aber nur dann für alle x


und y erfüllt sein, wenn die Abhängigkeit aller drei Expo- wobei '2 nun der Winkel von k0 zur z-Achse ist. Da aber, wie
nentialfunktionen von diesen Variablen gleich ist. Aus der x- oben hergeleitet, wegen der Stetigkeit ky0 D k sin '1 gilt, folgt
Abhängigkeit ergibt sich mit (17.17)
r
sin '1 k0 c1  2 2
0 D kx0 D kx00 ; (17.14) D D D : (17.22)
sin '2 k c2  1 1
d. h.:
Nun definiert man den sogenannten Brechungsindex durch
Alle drei Wellenvektoren liegen in einer Ebene (hier: der p
n WD : (17.23)
y-z-Ebene).
Es folgt sofort, dass
Außerdem folgt aus der y-Abhängigkeit cVakuum
nD (17.24)
cMaterie
k sin '1 D ky0 D ky00 : (17.15)
Die Wellenvektoren der durchgehenden und der reflektierten gilt. Je größer n für einen Stoff ist, desto langsamer ist das Licht
Welle haben also folgende Gestalt: in ihm. Man spricht von optisch dichten bzw. optisch dünnen
Medien für große bzw. kleine n.
k0 D .0; k sin '1 ; kz0 /> I k00 D .0; k sin '1 ; kz00 /> : (17.16)
Setzt man in der obigen Formel die Brechungsindizes ein, so
Aus der Dispersionsrelation für Wellen in nichtleitenden Medi- erhält man schließlich das Brechungsgesetz.
en ergibt sich außerdem
c1
jkj D k D jk00 jI jk0 j D k D k0 ; (17.17) Snellius’sches Brechungsgesetz
c2
Zwischen den Winkeln zum Lot, den Brechungsindizes
wobei c1 und c2 die Ausbreitungsgeschwindigkeiten der elek- und den Lichtgeschwindigkeiten in den beiden Medien
tromagnetischen Wellen in den beiden Medien sind. Da aber bestehen die Beziehungen
mit der oben angegebenen Gestalt des Vektors k00
q sin '1 n2 c1
k D jk00 j D k2 sin2 '1 C .kz00 /2 (17.18) D D : (17.25)
sin '2 n1 c2
gilt, folgt
q Im optisch dichteren Medium ist also jeweils der Winkel
kz00 D ˙ k2  k2 sin2 '1 D ˙k cos '1 : (17.19) zum Lot kleiner als im optisch dünneren, oder kurz: Licht-
strahlen werden im optisch dichteren Medium zum Lot
hin gebrochen.
Frage 3
Warum ist hier nur das positive Vorzeichen sinnvoll?
Das Gesetz wurde mehrfach unabhängig voneinander entdeckt:
Da nach Voraussetzung k00 ¤ k gilt (die reflektierte Welle soll bereits 972 vom persischen Mathematiker und Physiker Ibn
nicht mit der einfallenden übereinstimmen), kann nur das posi- Sahl (um 940–1000), 1601 vom englischen Physiker und Astro-
tive Vorzeichen richtig sein: nomen Thomas Harriot (1560–1621), der es allerdings nicht
k00 D .0; k sin '1 ; k cos '1 /> : (17.20) veröffentlichte, und 1621 schließlich vom dänischen Astrono-
men und Mathematiker Willebrord Snellius (1580–1626). Auch
Damit haben wir das Reflexionsgesetz gezeigt. die Arbeit von Snellius blieb allerdings zu seinen Lebzeiten
17.2 Brechung und Reflexion an Grenzflächen 589

Anwendung in der Technik: Röntgenteleskope

Normale Teleskope für sichtbares Licht arbeiten mit Lin- sen. Um Strahlen in verschiedenen Abständen zur optischen
sen oder Parabolspiegeln, um das einfallende Licht in ei- Achse alle im selben Punkt zu bündeln, müssen mehrere
nem Brennpunkt zu bündeln. Bei Röntgenstrahlen ist beides solcher Anordnungen mit verschiedenen Radien ineinander-
kaum möglich: Der Brechungsindex für Röntgenstrahlung geschachtelt werden. Es entsteht ein sogenanntes Wolter-
ist sehr nahe an 1, sodass sie mit Linsen kaum zu bündeln Teleskop (nach seinem Erfinder, dem deutschen Physiker
ist. Andererseits durchdringt sie Materie sehr leicht und wird Hans Wolter, 1911–1978, benannt; Abb. 17.2).
kaum reflektiert, sodass auch eine Bündelung mit Parabol-
spiegeln nicht möglich erscheint.

Teil II
Abhilfe schafft hier die Totalreflexion. Der Brechungsindex
für Röntgenstrahlung in Materie ist knapp kleiner als 1 (die
Phasengeschwindigkeit in Materie ist also größer als die
Vakuumlichtgeschwindigkeit!), wohingegen der Brechungs-
index im Vakuum natürlich 1 ist. Der Übergang vom Vakuum
in Materie ist für Röntgenstrahlung damit ein Übergang in
ein optisch dünneres Medium – also ist dabei Totalreflexion
möglich.
Der Winkel zur Oberfläche muss dafür bei üblichen Me-
tallen kleiner als etwa 3ı sein, die Röntgenstrahlung muss
somit sehr flach streifend einfallen. Für die Bündelung al-
ler Strahlen in einem festen Abstand zu optischen Achse
sind deshalb Kombinationen aus Rotationsparaboloiden (wie
bei optischen Teleskopen) und -hyperboloiden nötig, die Abb. 17.2 Schematische Darstellung des Strahlengangs im Wolter-Tele-
wegen des flachen Einfalls sehr lang gezogen sein müs- skop des Chandra-Röntgenobservatoriums (© NASA/CXC/D. Berry 2009)

unveröffentlicht, sodass das Gesetz erst 1637 von Descartes Damit ist der Vektor k0 zwar komplex, aber dennoch ist k02 re-
erstmals publik gemacht wurde. Entsprechend ist es im engli- ell (was es wegen der Dispersionsrelation ja auch sein muss);
schen Sprachraum teilweise auch als das Snell-Descartes law dies ist möglich, weil der Real- und der Imaginärteil des Vek-
bekannt. tors senkrecht zueinander stehen: k0 D ky0 eOy C kz0 eO z mit reellem
ky0 und imaginärem kz0 . Im optisch dünneren Medium erfolgt so-
Eine schöne Anwendung findet das Brechungsgesetz bei der mit zwar eine Ausbreitung der Welle in y-Richtung, parallel zur
Entstehung eines Regenbogens (Aufgabe 17.1). Grenzfläche; in z-Richtung, senkrecht zur Grenzfläche, gibt es
Schließlich kann man auch noch kz0 ausrechnen: aber nur eine exponentiell mit dem Abstand zur Grenzfläche ab-
nehmende Schwingung. Es folgt also:

c21 2 n2
.kz0 /2 C k2 sin2 '1 D jk0 j D 2
k D 22 k2 ; (17.26) Ab einem Grenzwinkel
c2 n1
n2
sin '1;gr D (17.28)
also n1
s
n22
kz0 D k  sin2 '1 D k0 cos '2 : (17.27) gibt es keine durchgehende Welle mehr, sondern nur noch
n21 eine reflektierte. Man spricht dementsprechend von Total-
reflexion.
(kz0 muss negativ sein, da die durchgehende Welle nach unten
weiterläuft.) Falls n2 < n1 ist (Übergang vom optisch dich-
teren ins optisch dünnere Medium), kann es aber passieren, dass Im Kasten „Anwendung in der Technik: Röntgenteleskope“
sin '1 > n2 =n1 ist – der Ausdruck unter der Wurzel würde dann wird beschrieben, warum die Totalreflexion in der Röntgen-
negativ werden, kz0 also rein imaginär. astronomie eine wichtige Rolle spielt.

Frage 4 Die geometrischen Verhältnisse sind nun geklärt; über die Am-
Wie verhält sich dann die Welle in diesem Bereich? plituden E0 , E00 und E000 haben wir bis jetzt aber noch überhaupt
nichts ausgesagt. Dies soll im nächsten Abschnitt geschehen.
590 17 Optik

Einfluss der Polarisation


Reflexion bei Polarisation senkrecht zur Einfallsebene
Um quantitative Aussagen über das Verhalten der Amplituden Zwischen den Amplituden der reflektierten und der ein-
treffen zu können, muss man die Polarisation der einfallenden fallenden Welle besteht der Zusammenhang
Welle berücksichtigen. Dabei sind zwei Fälle zu unterscheiden:
Der Vektor der elektrischen Feldstärke kann sowohl senkrecht E000 sin.'1  '2 /
D : (17.35)
zur Einfallsebene (hier: y-z-Ebene) als auch parallel zu ihr E0 sin.'1 C '2 /
schwingen (Abb. 17.3); alle anderen Fälle ergeben sich als Line-
arkombination hieraus. Zur Vereinfachung beschränken wir uns
im Folgenden auf den Punkt mit r D 0; die Exponentialfaktoren
fallen dann alle weg. Setzt man dies wieder in E00 D E0 C E000 ein, so kann man auch
eine Beziehung für die Amplitude der gebrochenen Welle fin-
Teil II

Wir betrachten zunächst den ersten Fall: E0 DW E0 eO x senkrecht den.


zur Einfallsebene; wegen der Symmetrie und der Stetigkeit
erwartet man, dass dann auch E00 und E000 senkrecht zur Einfalls-
ebene liegen. Da der Normalenvektor eO z in der Einfallsebene Brechung bei Polarisation senkrecht zur Einfallsebene
liegt, folgt also: E0  eO z D E00  eO z D E000  eO z D 0. Gleichung
(17.4) ist damit trivial erfüllt. Aus (17.5) erhält man dagegen Zwischen den Amplituden der gebrochenen und der ein-
fallenden Welle besteht der Zusammenhang
0 D .E0 C E000  E00 /.Oex  eO z /; (17.29)
E00 2 sin '2 cos '1
also E0 C E000 D E00 . Dasselbe Ergebnis erhält man aus (17.9) D : (17.36)
E0 sin.'1 C '2 /
durch explizites Berechnen der Terme .k  E0 /  eO z .
Frage 5
Vollziehen Sie dies nach. Frage 6
Rechnen Sie (17.35) und (17.36) explizit nach.
Bei (17.10) formt man zunächst die Kreuzprodukte um:

.kE0 / eO z D E0 .Oez k/k.Oez E0 / D E0 eO x k cos '1 : (17.30)


Den anderen Fall, also E0 parallel zur Einfallsebene, besprechen
Führt man dies für die anderen beiden Kreuzprodukte genauso wir hier nur ansatzweise; die expliziten Rechnungen kann der
durch, geht (17.10) über in Leser selbst durchführen (Aufgabe 17.2). Hier entfällt (17.9),
und aus den anderen drei Gleichungen erhält man nach längerer,
k k 00 k0 0 aber nicht grundsätzlich schwieriger Rechnung die gesuchten
 E0 cos '1 C E0 cos '1 C E cos '2 D 0: (17.31) Ergebnisse.
1 1 2 0
Nimmt man nun zur Vereinfachung an, dass 1 D 2 D 1
ist (dies gilt in guter Näherung für die meisten Medien bei den Reflexion und Brechung bei Polarisation parallel zur
Frequenzen von Licht), und teilt die Gleichung durch k, so hat Einfallsebene
man
Zwischen den Amplituden der reflektierten bzw. der ge-
k0 brochenen und der einfallenden Welle bestehen die Zu-
E0 cos '1  E000 cos '1  E00 cos '2 D 0: (17.32)
k sammenhänge
Dann setzt man für k0 =k das Brechungsgesetz aus (17.22) ein E000 tan.'1  '2 /
und teilt außerdem noch durch cos '1 : D (17.37)
E0 tan.'1 C '2 /
tan '1
E0  E000  E00 D 0: (17.33) und
tan '2
E00 2 sin '2 cos '1
Nutzt man die aus (17.5) gefolgerte Beziehung E00 D E0 C E000 , D : (17.38)
so erhält man E0 sin.'1 C '2 / cos.'1  '2 /
tan '1
E0  E000  .E0 C E000 / D 0: (17.34)
tan '2
Die Beziehungen (17.35), (17.36), (17.37) und (17.38) heißen
Mit einigen trigonometrischen Umformungen gelangt man dann Fresnel’sche Formeln (nach Augustin Jean Fresnel, der sie 1818
zu dem gesuchten Ergebnis. veröffentlichte).
17.2 Brechung und Reflexion an Grenzflächen 591

a z b z
1, μ1 1, μ1
k k k k

E0 E0

y y

Teil II
k k
2, μ2 2, μ2

Abb. 17.3 Zum Einfluss der Polarisation bei der Brechung: Die Richtung der elektrischen Feldstärke kann (a) senkrecht zur Einfallsebene oder (b) parallel zur
Einfallsebene sein

Ein Spezialfall tritt auf, wenn '1 C'2 D 90ı ist, denn dann folgt Der Reflexionskoeffizient R ist definiert als das Verhältnis der
für parallel zur Einfallsebene polarisiertes Licht aus (17.37): reflektierten Leistung zur auf die Grenzfläche einfallenden Leis-
tung. Die Leistung ist proportional zur Energieflussdichte in der
E000 D 0: (17.39) elektromagnetischen Welle und diese wiederum zum Quadrat
der elektrischen Feldstärke. Somit hat man einfach
Es gibt also keinen reflektierten Strahl, der parallel zur Ein-  2
fallsebene polarisiert ist! Mithilfe des Brechungsgesetzes kann E000
RD : (17.42)
man den Einfallswinkel '1 , bei dem dies geschieht, bestimmen: E0
sin '2 D sin.90ı  '1 / D cos '1 , und damit
Entsprechend ist der Transmissionskoeffizient T definiert als
n2 sin '1 das Verhältnis der Leistung im gebrochenen Strahl zur auf
D D tan '1 : (17.40)
n1 sin '2 die Grenzfläche einfallenden Leistung. Hier ist allerdings ei-
nerseits noch zu berücksichtigen, dass die Energieflussdichte
Dies definiert den Brewster-Winkel. proportional zum Brechungsindex ist, und andererseits, dass der
einfallende und der gebrochene Strahl einen unterschiedlichen
Winkel zur Grenzfläche haben.
Brewster-Winkel
Bei Einfall unter dem Winkel Frage 7
Wie muss man den Transmissionskoeffizienten also definieren?
n2
tan '1;Br D (17.41)
n1
Daraus ergibt sich ein unterschiedlicher Energiefluss senkrecht
zum Lot wird Licht, das parallel zur Einfallsebene polari- zur Grenzfläche, der durch einen zusätzlichen Kosinusfaktor be-
siert ist, nicht reflektiert. rücksichtigt werden muss. Insgesamt hat man dann
 2  2
n2 cos '2 E00 tan '1 E00
(Benannt ist dieser Winkel nach dem schottischen Physiker Sir TD D : (17.43)
David Brewster, 1781–1868). n1 cos '1 E0 tan '2 E0

Fällt beliebig polarisiertes Licht im Brewster-Winkel auf eine Es muss natürlich


Oberfläche, so wird also nur der Anteil reflektiert, der senkrecht RCT D1 (17.44)
zur Einfallsebene schwingt. Auf diese Weise kann man eine Re-
flexion an einer Grenzfläche dazu benutzen, um Licht linear zu gelten; die explizite Rechnung wird dem Leser als Aufgabe 17.3
polarisieren. überlassen.
592 17 Optik

a b
R R
1 1
n1 /n2 = 1/1,33 n1 /n2 = 1,33/1
0,8 0,8

0,6 0,6

0,4 0,4
Teil II

0,2 R⊥ 0,2 R⊥
R R
ϕ1,gr
0 0
0◦ 20◦ 40◦ ϕ1,Br 80◦ ϕ1 0◦ 20◦ ϕ1,Br 60◦ 80◦ ϕ1

Abb. 17.4 Reflexionskoeffizenten für Polarisation senkrecht (R? , rot ) bzw. parallel (Rk , blau ) zur Einfallsebene beim Übergang vom optisch dünneren ins optisch
dichtere Medium (a) bzw. beim Übergang vom optisch dichteren ins optisch dünnere Medium (b)

In Abb. 17.4 sind die Reflexionskoeffizienten jeweils für Po- In vielen interessanten Fällen erfolgt die Änderung des Bre-
larisation senkrecht (R? ) und parallel zur Einfallsebene (Rk ) chungsindexes aber langsam verglichen mit der Wellenlänge.
dargestellt, in Abb. 17.4a für n1 < n2 (speziell n2 D 1; 33n1, Für diese Fälle kann man mithilfe der Eikonalgleichung die
dies entspricht z. B. einem Übergang von Luft in Wasser an ei- Ausbreitung der Wellen und damit auch die Form der Licht-
ner Seeoberfläche), in Abb. 17.4b für n2 > n1 (speziell n1 D strahlen berechnen.
1; 33n2 , also Übergang von Wasser in Luft).
In beiden Abbildungen sieht man zunächst, dass Rk beim
Brewster-Winkel '1;Br verschwindet. In Abb. 17.4b ist außer- Herleitung der Eikonalgleichung
dem die Totalreflexion zu erkennen: Für Winkel größer als '1;gr
sind beide Reflexionskoeffizienten gleich 1. Dies bedeutet an- Zunächst ist zu bemerken, dass in inhomogenen Medien im
schaulich, dass man nur eine Spiegelung des Seegrundes sieht, Allgemeinen sowohl  als auch  vom Ort abhängen. Dies ist
wenn man von unter Wasser aus unter solchen großen Winkeln eigentlich bei den Maxwell-Gleichungen zu berücksichtigen; es
(zum Lot) auf eine Seeoberfläche schaut; nur für kleinere Win- gilt beispielsweise
kel (zum Lot) kann man aus dem Wasser heraus die Umgebung
sehen. div D D div .E/ D E  grad  C  div E: (17.45)
Sieht man von außen auf die Seeoberfläche, so ist für kleine
Da wir aber voraussetzen, dass sich der Brechungsindex nur
Winkel zum Lot, also wenn man nahezu senkrecht auf die Ober-
langsam ändert, können Ableitungen von  und  vernachläs-
fläche schaut, die Reflexion klein; in diesem Fall kann man den
sigt werden.
Seegrund gut erkennen. Für große Winkel zum Lot, also flachen
Blick auf die Seeoberfläche, ist dagegen die Reflexion groß, und Im Folgenden betrachten wir der Einfachheit halber nur eine
man sieht fast nur ein Spiegelbild der Umgebung. skalare Funktion ‰.r/; die Zeitabhängigkeit sei durch ei!t
gegeben. Außerdem verwenden wir die bekannte Dispersions-
relation
! !
kD 0 D n.r/ DW n.r/k0 ; (17.46)
17.3 Die Eikonalgleichung c .r/ c
wobei c0 die Lichtgeschwindigkeit im Medium ist, die nun
wegen des ortsabhängigen Brechungsindexes n ihrerseits orts-
Neben der Ausbreitung in homogenen Medien und dem Über-
abhängig ist.
gang zwischen zwei solchen Medien betrachtet man oft auch die
Lichtausbreitung in inhomogenen Medien wie beispielsweise Aus der Wellengleichung in nichtleitenden Medien
der Atmosphäre. Die Lichtstrahlen werden dann im Allgemei-  
nen keine Geraden mehr sein, sondern gekrümmte Kurven. 0 ‰.r/ei!t D 0 (17.47)
17.3 Die Eikonalgleichung 593

folgt  
 C k02 n2 .r/ ‰.r/ D 0: (17.48) Eikonalgleichung
Zwischen dem Eikonal S und dem (ortsabhängigen) Bre-
Frage 8 chungsindex n besteht der Zusammenhang
Zeigen Sie dies.
.grad S.r//2 D n2 .r/; (17.55)
Zum Lösen dieser Gleichung schreiben wir die komplexe Funk-
sofern sich n nur langsam ändert.
tion ‰ als
‰.r/ D ‰0 .r/eik0 S.r/ (17.49)
mit reellen Funktionen ‰0 und S. Wie üblich ist dabei ‰0 die

Teil II
(nun ortsabhängige) Amplitude; die Phasenfunktion S heißt das
Eikonal. Die Bedeutung des Eikonals
Zunächst bemerken wir, dass für konstantes n die Lösungen von
(17.48) einfach wieder ebene Wellen wären, also
Zur Interpretation des Eikonals S entwickeln wir die Wel-
‰0 .r/e ik0 S.r/
D ‰0 e ikr
; (17.50) lenfunktion ‰ lokal in eine Taylor-Reihe, wobei wir wieder
verwenden, dass Ableitungen von ‰0 und von grad S vernach-
und damit lässigt werden können:
kr
S.r/ D ; (17.51)  
k0 ‰.r0 C r0 / ‰0 .r0 / exp ik0 S.r0 / C grad Sjr0  r0 :
(17.56)
also
Wir definieren nun
k
‰0 D const und grad S D D const: (17.52) O 0 D ‰0 .r0 / exp Œik0 S.r0 /
k0 ‰ (17.57)

Ist n dagegen langsam veränderlich, kann man davon ausgehen, und


dass auch ‰0 und grad S nur langsam veränderlich sind; Ablei- grad S
kO D : (17.58)
tungen dieser Größen können somit vernachlässigt werden. n
Berechnen wir in dieser Näherung nun die Wirkung des La- Aus der Eikonalgleichung folgt, dass dies ein Einheitsvektor ist.
place-Operators auf ‰: Dann kann man die Wellenfunktion schreiben als
 
grad ‰.r/ D grad ‰0 .r/eik0 S.r/ O 0 eik0 nkO.r0 /r0 D ‰
‰.r/ D ‰.r0 C r0 / D ‰ O 0 eik.r0 /r0 : (17.59)

D .grad ‰0 .r// eik0 S.r/ (17.53) Lokal sieht die Welle also genauso aus wie eine ebene Welle
C ‰0 .r/ ik0 eik0 S.r/ grad S.r/ mit Amplitude ‰ O 0 , Wellenzahl k D k0 n und Ausbreitungsrich-
O
tung k.
ik0 ‰.r/grad S.r/;

also Außerdem gibt es noch einen engen Zusammenhang des Eiko-


nals mit der sogenannten optischen Weglänge
‰ D div grad ‰
D div Œik0 ‰.r/grad S.r/ ZQ
D ik0 grad S.r/  grad ‰.r/ lopt D n.r/ ds; (17.60)
(17.54)
C ik0 ‰.r/ div grad S.r/ P

ik0 grad S.r/  Œik0 ‰.r/grad S.r/ wobei jeweils entlang eines Weges bzw. Lichtstrahles von P zu
D k02 ‰.r/ .grad S.r//2 : Q zu integrieren ist.
Nach (17.58) ist die Richtung eines Lichtstrahles lokal jeweils
Frage 9 durch den Gradienten des Eikonals gegeben. Für die Länge ei-
Vollziehen Sie dies nach. nes infinitesimalen Wegstückes entlang eines Lichtstrahles kann
man also schreiben
Aus der Wellengleichung (17.48) folgt damit die Eikonalglei- grad S
O D dr  kO D dr 
ds D jdrj D jdrjjkj ; (17.61)
chung. n
594 17 Optik

kann man als Verallgemeinerung des Brechungsgesetzes von


Snellius betrachten. Im Kasten „Anwendung: Astronomische
Refraktion“ wird beschrieben, welche Auswirkungen dies für
die Astronomie hat.

Das Fermat’sche Prinzip

Die oben definierte optische Weglänge spielt im Fermat’schen


Prinzip der geometrischen Optik eine große Rolle (nach dem
Teil II

Abb. 17.5 Verhalten einer ebene Welle bzw. von Lichtstrahlen beim Eindrin- französischen Mathematiker und Juristen Pierre de Fermat, et-
gen in ein inhomogenes Medium (rechte Hälfte ; die Stärke der Einfärbung stellt wa 1607–1665; siehe auch Abschn. 5.5).
die optische Dichte dar): Die Wellenfronten werden verzerrt, die Lichtstrahlen in
Richtung der zunehmenden optischen Dichte gebrochen
Fermat’sches Prinzip
Licht nimmt zwischen zwei Punkten stets den Weg, auf
wobei dr der Vektor von einem Punkt auf dem Lichtstrahl zu
dem es am wenigsten oder am meisten Zeit benötigt, oder,
einem infinitesimal benachbarten ist und ausgenutzt wurde, dass
äquivalent, auf dem die optische Weglänge extremal ist.
dr parallel zu kO ist. Damit ergibt sich für die optische Weglänge

ZQ
Dieses Prinzip kann also statt der Eikonalgleichung für die Be-
lopt D dr  grad S D S.Q/  S.P/: (17.62)
rechnung von S benutzt werden. Auch das Reflexions- und das
P Brechungsgesetz können daraus hergeleitet werden; dies wird
dem Leser in Aufgabe 17.5 überlassen. Eine weitere Anwen-
Bedeutung des Eikonals dung zur Lichtausbreitung in inhomogenen Medien findet sich
in Aufgabe 17.6.
Das Eikonal ist ein Maß für die optische Weglänge.
Flächen gleicher Phase, also Wellenfronten, sind durch Dass die beiden Formulierungen des Prinzips äquivalent sind,
S D const festgelegt. lässt sich leicht zeigen: Den Ausdruck (17.60) für die optische
grad S gibt lokal die Ausbreitungsrichtung der Wel- Weglänge kann man mit der lokalen Lichtgeschwindigkeit
le, also die Strahlrichtung, an. Das heißt, Lichtstrahlen
ds c
folgen Kurven, zu denen an jedem Punkt der Vektor D c0 .r/ D (17.63)
grad S jeweils tangential ist, die also jeweils senkrecht dt n.r/
auf den Wellenfronten stehen.
einfach umschreiben:

Anzumerken ist noch, dass auch zwischen dem Eikonal und der ZtQ
 
Prinzipalfunktion, die bereits in Abschn. 7.3 diskutiert wurde, lopt D c dt D c tQ  tP ; (17.64)
ein Zusammenhang besteht. Im Rahmen der semiklassischen tP
Näherung in der Quantenmechanik (Kap. 31) werden wir da-
rauf noch näher eingehen. woran man sofort sieht, dass eine extremale Laufzeit des Lichtes
Damit kann man die Lichtausbreitung in einem inhomogenen dasselbe bedeutet wie eine extremale optische Weglänge.
Medium nun qualitativ verstehen. In Abb. 17.5 fällt eine ebene
Begründen kann man das Fermat’sche Prinzip mithilfe der Inter-
Welle aus dem Vakuum auf ein Medium, in dem der Bre-
ferenz: Unterscheiden sich benachbarte Wege von einem Punkt
chungsindex von oben nach unten zunimmt (dargestellt durch
P zu einem Punkt Q stark in der optischen Weglänge, so treten
die zunehmende Einfärbung).
große Phasenverschiebungen auf, und die Wellen interferieren
In Bereichen mit größerem Brechungsindex (höherer optischer destruktiv. Unterscheiden sich die Weglängen benachbarter We-
Dichte) ist die Lichtgeschwindigkeit kleiner, die Welle kommt ge dagegen kaum, so interferieren die Wellen konstruktiv. Also
langsamer vorwärts; alternativ ausgedrückt: Für jeweils gleiche führt nur ein Weg, dessen Weglänge sich kaum von der be-
optische Weglänge ist der tatsächlich zurückgelegte Weg jeweils nachbarter Wege unterscheidet (und damit also extremal ist),
kleiner. Die Wellenfronten werden also wie in der Abbildung dazu, dass am Ende tatsächlich noch eine von null verschiede-
gezeigt verformt. Da die Lichtstrahlen immer senkrecht zu den ne Intensität und damit ein sichtbares Bild übrig bleibt. (Daher
Wellenfronten stehen, werden die Strahlen somit nach unten, zu stammt wohl letztlich auch der Name „Eikonal“: Das altgriechi-
den Bereichen größerer optischer Dichte hin, gekrümmt. Dies sche Wort eikon heißt „Bild“.)
17.3 Die Eikonalgleichung 595

Anwendung: Astronomische Refraktion

Lichtstrahlen aus dem Weltraum durchqueren auf ihrem Weg


Zenit scheinbare Position
zum Boden unterschiedlich dichte Luftschichten; der Ver-
lauf der Lichtstrahlen ist deshalb im Allgemeinen (außer bei
tatsächlicher
senkrechtem Einfall) gekrümmt. Dies führt dazu, dass man Lichtweg
Sonne, Mond und Sterne nicht an ihrer eigentlichen Positi-
on am Himmel sieht, sondern (leicht) angehoben gegenüber
dem Horizont. Diesen Effekt bezeichnet man als astronomi-
sche Refraktion (Abb. 17.6). α reale Position
β (gerade Linie zum Stern)

Teil II
α
Deswegen kann man die Sonne selbst dann noch (direkt)
über dem Horizont sehen, wenn sie eigentlich schon unter-
gegangen ist (d. h., dass eine Gerade vom Beobachter zur Erde
Sonne den Erdboden schneiden würde). Da dieser Effekt von
der Höhe des beobachteten Gegenstands über dem Horizont
Abb. 17.6 Astronomische Refraktion: Da der Lichtweg in der Atmosphäre
abhängt, wirkt er außerdem auf den Teil der Sonne, der wei-
gekrümmt ist, scheinen die Sterne höher über dem Horizont zu sein, als sie
ter unten steht, stärker als auf die Teile weiter oben, sodass es eigentlich sind (der „Zenitwinkel“ ˛ 0 wird um ˇ auf ˛ verkleinert). Hier
die Sonne insgesamt „abgeplattet“ erscheinen kann (siehe ist der Effekt zur Verdeutlichung stark übertrieben dargestellt; in der Realität
das Eröffnungsbild dieses Kapitels). macht dies weniger als 1ı aus

Die Strahlengleichung (17.55) rein aus der obigen Identität (17.65) herleiten können –
dann wäre uns aber der Zusammenhang mit der Wellenoptik
entgangen.
In der oben angegebenen Form (17.55) ist die Eikonalgleichung
nur für sehr einfache Geometrien lösbar (Aufgabe 17.4). Man
schreibt sie deswegen zunächst noch etwas um. Benutzt man
(17.58), so ergibt sich die offensichtliche Identität Luftspiegelung über einer heißen Oberfläche
 2
nkO D n2 : (17.65) Der Brechungsindex von Luft hängt von ihrer Dichte und
damit von ihrer Temperatur ab: Luft höherer Temperatur
Dann betrachtet man zwei infinitesimal benachbarte Punkte auf hat eine geringere Dichte und damit einen kleineren Bre-
einem Lichtstrahl mit Ortsvektoren r und r0 und schreibt damit chungsindex als kalte Luft. Somit führt eine Schichtung
O
dr D ds k; (17.66) von unterschiedlich warmen Luftmassen übereinander zu
einer gekrümmten Fortpflanzung von Lichtstrahlen. Dies
wobei ds die Länge des infinitesimalen Wegstückes entlang des
kann sogar dazu führen, dass ein Lichtstrahl, der aus-
Strahles vom einen Punkt zum anderen ist. Damit haben wir
gehend von einem Gegenstand ursprünglich nach unten
dann  
dr dr 2 zeigte, so weit gekrümmt wird, dass er stattdessen nun
O
D k H) n D n2 : (17.67) nach oben verläuft. Für den Beobachter, den dieser Licht-
ds ds strahl erreicht, sieht es aus, als ob sich der Gegenstand am
Von der letzten Gleichung nehmen wir nun den Gradienten. Es Boden oder dicht darüber spiegelt – es entsteht also eine
ergibt sich   Luftspiegelung (Fata Morgana).
dr dr
2n  r n D 2n grad n: (17.68) Dies soll im Folgenden mithilfe der Strahlengleichung für
ds ds ein einfaches Beispiel vorgerechnet werden. Wir betrach-
ten zwei Luftschichten, die durch die x-Achse getrennt
Frage 10 seien (Abb. 17.7). In der oberen Schicht (Bereich I) sei
Rechnen Sie dies nach. der Brechungsindex konstant, in der unteren (die sich di-
rekt über dem Boden befinde; Bereich II) nehme er in
Abhängigkeit von y quadratisch ab:
Das kann man auch kurz schreiben als
 
d dr n0 für y > 0
n.r/ D grad n.r/: (17.69) n.y/ D (17.70)
ds ds n0  n1 y2 für y  0

Dies wird manchmal als die Strahlengleichung bezeichnet. Wir mit n0 & 1 und n1 > 0.
hätten sie natürlich auch ohne Kenntnis der Eikonalgleichung
596 17 Optik

Da natürlich der Brechungsindex in Luft größer als 1 sein bzw.


muss, folgt leicht für die maximale Dicke dieser Schicht
s n0 .y/ 1 2n1
y00 .x/ D D .2n1 y/  y:
n0  1 n.y/ n0  n1 y2 n0
jyj  : (17.71) (17.77)
n1
Die Lösungen dieser Differenzialgleichung sind Sinus-
Es gilt also sicher auch
und Kosinusfunktionen. Berücksichtigt man noch die
n1 y2 n0 : (17.72) Randbedingungen, ergibt sich schließlich

r s !
Außerdem nehmen wir im Folgenden an, dass die Licht- n0 2n1
y.x/ D m sin x ; (17.78)
Teil II

strahlen in y-Richtung nur sehr schwach abgelenkt wer- 2n1 n0


den und wir deshalb in der Strahlengleichung
ds dx (17.73) wobei das Argument des Sinus von 0 bis läuft.
Die Lichtstrahlen durchlaufen also genau eine halbe Si-
nähern können. Für den Ortsvektor entlang des Strahles
nusschwingung im Bereich mit variablem Brechungsin-
setzen wir an   dex und verlassen ihn dann wieder in demselben Winkel
x
rD : (17.74) nach oben, mit dem sie nach unten in ihn eingetreten sind.
y.x/
Wir betrachten nun Lichtstrahlen, die von oberhalb der Die Amplitude dieser halben Sinusschwingung kann na-
x-Achse gerade einfallen und genau im Ursprung in den türlich höchstens so groß wie die Schichtdicke sein, also
Bereich unter der x-Achse mit variablem Brechungsindex gilt s
r
eintreten (Abb. 17.7). Die Randbedingungen sind somit n0 n0  1
jmj  (17.79)
2n1 n1
y.0/ D 0 und y0 .0/ D m (17.75)
mit einer Steigung m < 0. und damit s
2.n0  1/
y
jmj  : (17.80)
n0

Für typische Werte wie n0 D 1;0003 ergibt sich jmj 


Bereich I 0;024 – es können also nur Lichtstrahlen mit Eintrittswin-
kel von kleiner etwa 1;4ı auf diese Weise wieder nach
oben umgelenkt werden. Dies zeigt uns, dass Luftspie-
gelungen nur in großer Entfernung, nahe des Horizonts,
sichtbar sein können. J

x=0 x
17.4 Beugung
Bereich II
heiße Oberfläche Bisher wurde nur die Ausbreitung von Wellen bzw. Strahlen in
transparenten Medien oder an deren Grenzflächen untersucht.
Abb. 17.7 Der Strahlenverlauf bei einer Luftspiegelung über einer Nichttransparente Materie absorbiert (und reflektiert) elektro-
heißen Oberfläche: Luft höherer Temperatur (durch den Farbverlauf an- magnetische Wellen jedoch. Steht den Wellen ein Hindernis
gedeutet ) hat einen kleineren Brechungsindex, deshalb werden die entgegen, so ist deshalb zu erwarten, dass es Bereiche gibt,
Strahlen nach oben gebogen in die sie nicht gelangen können. Offensichtlich ist das beim
Schattenwurf beleuchteter Gegenstände. Unter gewissen Vor-
Betrachtet man nun die y-Komponente der Strahlenglei-
aussetzungen können die Wellen jedoch auch in die Bereiche
chung (der Gradient von n in x-Richtung ist natürlich
gelangen, die eigentlich abgeschirmt sind; man sagt hier, die
null), so hat man
Wellen werden um ein Hindernis herum gebeugt.
 
d dy.x/ dn
n.y/ D (17.76) Grundlage dafür ist das Huygens’sche Prinzip, das besagt, dass
dx dx dy man sich jeden Punkt einer Wellenfront als Ausgangspunkt ei-
ner Kugelwelle vorstellen kann. Der niederländische Astronom,
17.4 Beugung 597

Mathematiker und Physiker Christiaan Huygens (1629–1695)


formulierte dieses Prinzip bereits 1679; eine erste mathema-
A2
tische Begründung auf der Grundlage der Wellengleichung
lieferte aber erst der deutsche Physiker Gustav Robert Kirch-
hoff (1824–1887) im Jahre 1882.
Kirchhoffs Herleitung hatte zwar mathematisch noch große
Lücken, liefert aber in den meisten praktisch interessierenden n
.
Fällen dennoch dieselben Ergebnisse wie eine mathematisch P
korrekte Behandlung. Wir werden deshalb im Folgenden Kirch-
hoffs Herleitung nachvollziehen und nur an einigen Stellen auf RP
die auftretenden Probleme und deren mögliche Lösung kurz R
hinweisen.

Teil II
rP
r r

Herleitung des Huygens’schen Prinzips


A1
Wir arbeiten hier wieder nur mit einer skalaren Funktion ‰
(„skalare Beugungstheorie“); die zusätzlichen Komplikationen, Abb. 17.8 Geometrische Anordnung zur Herleitung des Huygens’schen Prin-
die sich bei Berücksichtung des Vektorcharakters der elektri- zips. Vom Punkt P aus fällt eine Kugelwelle auf die Fläche A1 (Blende ) mit
schen und magnetischen Felder ergeben, werden beispielsweise Normalenvektor n; gesucht ist die Feldstärke auf der Fläche A2 (Schirm ). r ist ein
in Jackson (2006) ausführlich behandelt. Außerdem betrachten Vektor zum Beobachtungspunkt auf dem Schirm, r0 ein Vektor zu einem Punkt
auf der Blende. Die Vektoren R und RP werden später im Text erläutert
wir hier nur monochromatische Wellen, die sich (bis auf den
Einfluss der Hindernisse) im Vakuum ausbreiten.
Die Geometrie des Problems sei folgendermaßen (Abb. 17.8): Auf der linken Seite im Green’schen Satz kann man so-
Wir haben eine Fläche A1 mit Öffnungen darin („Blende“) und wohl im Minuenden als auch im Subtrahenden einen Term
eine Fläche A2 („Schirm“), wobei beide Flächen zusammen ei- ‰.r0 /k2 G.r; r0 / hinzufügen,
ne geschlossene Fläche A bilden (dies kann durch Hinzufügen
   
von Flächen „im Unendlichen“ immer erreicht werden) und sich ‰.r0 / 0 C k2 G.r; r0 /  G.r; r0 / 0 C k2 ‰.r0 /; (17.85)
der Schirm sehr weit entfernt von den Öffnungen befindet. Die
Flächen schließen insgesamt das Volumen V ein.  
und dann die Wirkung des Differenzialoperators 0 C k2 auf
Auf die Blende fällt nun eine Kugelwelle, die vom Punkt P aus- ‰ bzw. G ausnutzen. Integriert man schließlich über die Delta-
geht (allgemeinere Quellen können letztlich einfach als Summe funktion, so folgt
aus Punktquellen betrachtet werden), der ebenfalls sehr weit von I
 
den Öffnungen entfernt ist. Gesucht ist die Feldstärke auf dem  4 ‰.r/ D df 0  ‰.r0 /r 0 G.r; r0 /  G.r; r0 /r 0 ‰.r0 / :
Schirm.
A
Um ‰ zu berechnen, gehen wir aus vom Green’schen Satz (17.86)
(12.26):
Z Frage 11
  Rechnen Sie dies nach.
‰.r0 /0 G.r; r0 /  G.r; r0 /0 ‰.r0 / dV 0
V
I (17.81)
  Da vorausgesetzt wurde, dass A2 weit entfernt ist, kann man
D df 0  ‰.r0 /r 0 G.r; r0 /  G.r; r0 /r 0 ‰.r0 / ;
davon ausgehen, dass die Wellen sich dort wie auslaufende
A Kugelwellen verhalten, also mit r01 abfallen; dieselbe Abhän-
wobei G die Green’sche Funktion zur Helmholtz-Gleichung gigkeit ergibt sich für die Green’sche Funktion. Das Produkt aus
((13.60) mit k0 D ik) ist, ‰ und der Ableitung von G bzw. umgekehrt fällt dann mit r03
0 ab; also verschwindet der Beitrag des Oberflächenintegrals über
eikjrr j den Schirm A2 für r0 ! 1. Damit bleibt
G.r; r0 / D ; (17.82)
jr  r0 j Z
1  
also   ‰.r/ D df 0 G.r; r0 /r?
0
‰.r0 /  ‰.r0 /r?
0
G.r; r0 / ;
0 C k2 G.r; r0 / D 4 ı.r  r0 / (17.83) 4
A1

gilt, und ‰ die Wellengleichung im Vakuum löst: (17.87)


 0  wobei der infinitesimale Flächenvektor als df 0 D df 0 n ge-
 C k2 ‰.r0 / D 0: (17.84) schrieben und für die Ableitung senkrecht zur Fläche dann die
598 17 Optik

Abkürzung r? 0
D n  r 0 eingeführt wurde (der Normalenvek- Frage 12
tor n zeigt dabei wie üblich nach außen). Dieser Ausdruck wird Vollziehen Sie die Zwischenschritte nach.
auch als Kirchhoff’sches Integral bezeichnet.
Kirchhoff traf nun einige Annahmen.
Ebenso folgt
 
Annahmen der Kirchhoff’schen Beugungstheorie 0 eikRP 1 eikRP
r? D  cos ˚P ik  (17.91)
Auf der Blende A1 gilt: RP RP RP

Außerhalb der Öffnungen ist ‰ D r?0


‰.r0 / D 0. mit dem Winkel ˚P zwischen RP und n.
In den Öffnungen nimmt ‰ dieselben Werte an wie bei Da sowohl Quelle als auch Schirm als sehr weit entfernt von den
Teil II

Abwesenheit des Schirmes, also Öffnungen angenommen wurden, hat man sicher
eikjrrP j 2 1 1
‰.r/jÖffnungen D C (17.88) kD und k : (17.92)
jr  rP j  R RP
mit einer Konstanten C. Damit bleibt
Z
C eikRP eikR
Beide Annahmen sind eigentlich mathematisch inkonsistent: ‰.r/ D  df 0 .cos ˚P C cos ˚/ : (17.93)
4 RP R
Ö
(a) Man kann zeigen, dass ‰ überall verschwinden muss, wenn
auf einem endlichen Flächenstück sowohl ‰ selbst als auch
die Normalableitung von ‰ verschwindet. Im Folgenden betrachten wir nur kleine Winkel, also senkrech-
(b) Berechnet man ‰ in den Öffnungen mit (17.87), so ergeben ter Einfall und nahezu senkrechter Ausfall der Wellen. Letzteres
sich nicht dieselben Werte wie bei Abwesenheit des Schir- ist erfüllt, wenn die Abmessungen der Öffnung groß verglichen
mes. mit der Wellenlänge sind, wie wir im nächsten Unterabschnitt
sehen werden. Dann haben wir
Zur Behebung dieser Probleme müsste man eine andere
eikRP
Green’sche Funktion verwenden, die sinnvolle Dirichlet’sche const und cos ˚P C cos ˚ 2; (17.94)
oder Neumann’sche Randbedingungen auf A1 berücksichtigt. RP
Aber Kirchhoffs Ansatz liefert trotz dieser Inkonsistenzen in
den meisten praktischen Fällen sinnvolle Ergebnisse; wir wer- und es ergibt sich schließlich einfach
den hier deshalb weiter damit arbeiten. Eine genauere Diskus- Z
sion dieser Thematik findet sich ebenfalls in Jackson (2006); eikR
‰.r/ C0 df 0 ; (17.95)
weiter unten wird noch kurz darauf eingegangen, wie sich die R
notwendigen Änderungen auswirken. Ö

Berücksichtigt man die Kirchhoff’schen Annahmen und setzt wobei die Konstanten zu C0 zusammengefasst wurden. Damit
die expliziten Ausdrücke für ‰ und G ein, so hat man ist das Huygens’sches Prinzip gezeigt.
Z  
C eikR 0 eikRP eikRP 0 eikR
‰.r/ D df 0 r?  r ; (17.89) Huygens’sches Prinzip
4 R RP RP ? R
Ö
Von jedem Punkt der Öffnung geht eine Kugelwelle aus,
0 0 deren Stärke von der einfallenden Welle bestimmt wird;
wobei zur Abkürzung RP D r  rP und R D r  r geschrieben
das gesamte Feld ergibt sich durch Addition all dieser Ku-
wurde und nur über die Öffnungen (Ö) zu integrieren ist. Wir
gelwellen.
berechnen nun die Ableitungen:

0 eikR eikR   eikR


r? D n  r0 D n  r 0 R @R (17.90) Abschließend sei noch angemerkt, dass sich bei mathematisch
R R R
  ikR   ikR konsistenter Behandlung des Problems (Berücksichtigung der
D n  RO ik  1 e D cos ˚ ik  1 e Randbedingungen, Verwendung einer passenden Green’schen
R R R R Funktion) praktisch dasselbe Ergebnis ergibt: Der Winkelfaktor
cos ˚P C cos ˚ ist dann zwar anders, in der Kleinwinkelnä-
O in Richtung von R und dem Winkel
mit einem Einheitsvektor R herung kann man aber auch dann für diesen Faktor einfach 2
˚ zwischen R und n. annähern.
17.4 Beugung 599

Schatten Dieses Bild ist natürlich nur sehr qualitativ zu verstehen; in rea-
len Fällen hat man meist keine klar gegeneinander abgegrenzten
Beugung Bereiche von „geometrischem Bild“, „Beugungsbereich“ und
θ
„Schatten“, sondern die einzelnen Bereiche gehen kontinuier-
lich ineinander über. Außerdem gibt es im Allgemeinen nicht
nur jeweils einen Bereich mit konstruktiver und destruktiver In-
terferenz, sondern die Bereiche wechseln sich ab. Dennoch ist
geometrische es in dem Bereich, in dem laut geometrischer Optik das meiste
Lichtausbreitung Licht sein sollte, auch in praktisch allen realistischen Beispielen
tatsächlich am hellsten, und der Bereich, in dem laut geometri-
scher Optik Schatten sein sollte, ist dunkler.
Die Größe des Beugungswinkels kann man qualitativ abschät-

Teil II
θ zen: Durch die Blende wird aus der ebenen Welle ein Teil der
Beugung
Breite a „ausgeschnitten“. Der Breite a im „normalen“ Raum
entspricht laut der Theorie der Fourier-Transformation aber ei-
ne Breite k im „Wellenzahlraum“, wobei
einfallende Blende Kugelwellenfronten
ebene Welle
k  a 2 (17.96)
Abb. 17.9 Beugung an einer rechteckigen Öffnung bzw. einem Spalt: einfal-
gilt (vgl. die Breiten der Gauß-Kurven im Beispiel in Ab-
lende ebene Welle, auslaufende Kugelwellen, Verlauf der Strahlen laut geome-
trischer Optik und laut Beugungstheorie schn. 13.1); die „Unschärfe“ k gilt dabei für die Komponente
des Wellenzahlvektors parallel zur Öffnung. Für den Winkel (im
Bogenmaß) gilt andererseits aber auch
Beugung, qualitativ erklärt k
: (17.97)
k
Eine anschauliche Vorstellung von den Vorgängen an einer Öff- Insgesamt ergibt sich
nung in einer Blende erhält man, wenn man sich zunächst eine
rechteckige Öffnung der Breite a  anschaut. Dies ist in 2 
Abb. 17.9 qualitativ dargestellt. Wir betrachten dabei nur die D ; (17.98)
ak a
Vorgänge in einer Ebene, die Ausdehnung der Öffnung senk-
recht dazu wird ignoriert bzw. als unendlich groß betrachtet der Beugungswinkel ist also grob von der Größenordnung der
(„Spalt“). Wellenlänge geteilt durch die Breite der Öffnung. Damit ist
nun auch gezeigt, dass die Kleinwinkelnäherung tatsächlich
Da die Quelle als weit entfernt angenommen wird, können wir gerechtfertigt ist, wenn die Öffnung sehr viel größer als die
die einfallende Welle als (nahezu) eben betrachten. Laut dem Wellenlänge ist. Speziell für sichtbares Licht ergibt sich bei ei-
Huygens’schen Prinzip kann man dann jeden Punkt der Öff- ner Spaltbreite von 5 mm (z. B. Türspalt) ein Winkel von der
nung als Quelle einer Kugelwelle betrachten. Für einige Punkte Größenordnung weniger Bogenminuten – mit bloßem Auge al-
in der Öffnung sind jeweils zwei Wellenfronten dieser Kugel- so nicht zu erkennen.
wellen (zu zwei unterschiedlichen Radien) dargestellt.
Dort, wo sich die Wellenfronten alle überlagern, hat man
konstruktive Interferenz, d. h. die Wellen verstärken sich ge-
genseitig – man sieht dort also Licht. In Abb. 17.9 ist dieser Fraunhofer’sche Beugung
Bereich jeweils durch eine gelbe Linie markiert. Er ist parallel
zur Öffnung und hat etwa dieselbe Größe; dies entspricht dem In vielen Fällen ist die Ausdehnung d der Öffnung klein vergli-
Strahlenverlauf in der geometrischen Optik: Das Bild des Spal- chen mit dem Abstand des Schirmes. Gilt insbesondere
tes (bei senkrechtem Lichteinfall auf die Blende) ist eine helle
Fläche von derselben Größe wie der Spalt. d  d2
; also 1; (17.99)
R d R
Allerdings erstreckt sich dieser Bereich bei genauerer Betrach-
tung doch etwas über die eigentliche Spaltbreite hinaus. Selbst so spricht man von Fraunhofer-Beugung (nach dem deutschen
bei parallelem Einfall der Lichtstrahlen können diese auch Physiker Joseph von Fraunhofer, 1787–1826). Ist diese Nähe-
in Bereiche gelangen, die laut geometrischer Optik eigentlich rung nicht brauchbar, gilt aber immer noch .d=R/2 =d,
nicht zugänglich sein sollten. Dies ist die Beugung der Licht- so hat man Fresnel-Beugung. Im Rahmen der Kirchhoff’schen
strahlen. In Bereiche noch weiter außen gelangt kein Licht, dort Beugungstheorie wurde außerdem bereits vorausgesetzt, dass
hat man also Schatten (genauer: destruktive Interferenz – die =d 1 ist. Dennoch ist in vielen realen Sitationen der Ab-
Kugelwellen löschen sich dort gegenseitig aus). stand R so groß, dass auch (17.99) erfüllt ist.
600 17 Optik

Fraunhofer-Beugung
Die Amplitude ‰ am Ort r ergibt sich mittels des folgen-
RO den Integrals über die Öffnung(en) in der Blende:
Z
eikRO
O ‰.r/ C0 d2 x eikx ; (17.105)
R RO
Ö
x
wobei O ein beliebig gewählter Punkt in der Öffnung ist,
RO der Vektor von diesem Punkt zum Beobachter und x
ein Vektor, der von O aus die anderen Punkte der Öffnung
Teil II

überstreicht (Abb. 17.10). Außerdem ist

r  rO RO
Abb. 17.10 Vektoren zur Berechnung der Fraunhofer-Beugung an einer belie- kDk Dk : (17.106)
bigen Öffnung: O ist ein beliebiger fester Punkt in der Öffnung, der Vektor x jr  rO j RO
überstreicht die anderen Punkte der Öffnung, RO geht von O zum Beobachter

Die Lichtintensität ist proportional zum (Betrags-)Quadrat der


Für Fraunhofer-Beugung kann man den Ausdruck (17.95) wei- Amplitude ‰ der Welle; der exponentielle Vorfaktor ergibt für
ter vereinfachen. Betrachten wir dafür einen festen Punkt O in die Intensität somit einfach 1:
der Öffnung (Abb. 17.10) und schreiben ˇ ˇ2
ˇZ ˇ
1 ˇ ˇ
00 ˇ
I D C 2 ˇ d xe ikx ˇ
ˇ ;
2
R D r  rO  x D RO  x: (17.100) (17.107)
RO ˇ ˇ
Ö
Damit haben wir zunächst
wobei alle konstanten Vorfaktoren nun in C00 zusammengefasst
s
q wurden. Legt man außerdem das Koordinatensystem so, dass O
2RO  x x2
RD R2O  2RO  x C x2 D RO 1 2
C 2 der Ursprung ist, hat man zunächst
RO RO
r
RO  x x2 .RO  x/2 RO D r und k D k D kOr: (17.108)
RO  C  ; (17.101) r
RO 2RO 2R3O
Liegt die (flache) Blendenöffnung außerdem komplett in der
wobei jxj jRO j benutzt wurde, und damit x-y-Ebene, ergibt sich speziell für r D rOez (geometrische Strahl-
richtung) k  x D 0 und damit
!
eikR eikRO ikx ikx2 i .k  x/2 ˇ ˇ2
e exp  (17.102) ˇZ ˇ
1 ˇ ˇ 2
R RO 2RO 2kRO I0 D C00 2 ˇ d2 xˇ D C00 A ; (17.109)
ˇ ˇ r2
r ˇ ˇ
Ö
mit der Abkürzung k D kRO =RO .
wobei A der Flächeninhalt der Blendenöffnung ist. Damit hat
Frage 13
man schließlich
Vollziehen Sie diese Näherungen nach.
ˇ ˇ2
ˇZ ˇ ˇ ˇ
I 1 ˇ ˇ ˇ A.Or/ ˇ2
D 2 ˇˇ d2 x eikOrx ˇˇ D ˇˇ ˇ ; (17.110)
Da hier nun aber nach der Voraussetzung (17.99) I0 A ˇ ˇ A ˇ
Ö
2 2 2
kx x d wobei abkürzend noch
D  1 (17.103)
2RO RO RO Z
A.Or/ WD d2 x eikOrx (17.111)
und
.k  x/2
k x 2 2
d 2 Ö
  1 (17.104)
2kRO 2kRO R2O definiert wurde.
ist, kann der hintere Exponentialfaktor vernachlässigt werden, Betrachtet man nur das Verhältnis der Lichtintensität zur In-
womit ein einfaches Ergebnis folgt. tensität in geometrischer Strahlrichtung, so kürzen sich alle
17.4 Beugung 601

unbekannten Vorfaktoren heraus, und man muss letztlich nur


noch das Integral A.Or/ über die Öffnung berechnen. Außerdem bzw. mit der Substitution z D k% sin zu
hängt dieses Verhältnis nicht mehr von der Entfernung zur Öff-
nung, sondern nur noch von der Richtung ab. k%Z0 sin  Z2
1
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass Beugung auch oft A. / D z dz d' eiz cos ' : (17.116)
k2 sin2
zur Strukturaufklärung eingesetzt wird. Dies kann man sich hier 0 0
so vorstellen, dass sich in der Öffnung Materie befindet, die an
unterschiedlichen Punkten die einfallende Welle unterschied- Wir führen nun zunächst das Integral über ' aus. Dafür
lich stark streut. Die Amplituden der entstehenden Kugelwellen kann man folgende Formel aus der mathematischen Lite-
hängen dann vom Ort ab, und man hat ratur benutzen:
Z
eikRO Z2
‰.r/ d2 x C0 .x/eikx : (17.112)

Teil II
RO d' eiz cos ' D 2 J0 .z/; (17.117)
Ö
0
Das Integral ist nun aber (bis auf Vorfaktoren) nichts anderes
als die (zweidimensionale) Fourier-Transformierte von C0 .x/. wobei J0 die Bessel-Funktion erster Art und nullter Ord-
Deshalb rechnet man die Fraunhofer-Beugung zur sogenannten nung ist (siehe Abschn. 16.1). Damit haben wir zunächst
Fourier-Optik.
k%Z0 sin 
Beugung an einer kreisförmigen Öffnung 2
A. / D z J0 .z/ dz: (17.118)
k2 sin2
In optischen Anwendungen hat man oft den Fall, dass 0

Licht an kreisförmigen Öffnungen gebeugt wird (bei-


spielsweise Einfassungen von Linsen bei Teleskop und Auch das Integral über z ist mittels der Formel
Mikroskop). Dieser wichtige Fall soll deshalb hier bei-
spielhaft diskutiert werden. Der deutlich einfachere Fall Zz0
einer rechteckigen Öffnung wird dem Leser überlassen z J0 .z/ dz D z0 J1 .z0 / (17.119)
(Aufgabe 17.7). 0

Wir benutzen Gleichung (17.110), die sich aus der Fraun- aus der mathematischen Literatur leicht ausführbar, wo-
hofer-Näherung ergibt. Das Integral über die Öffnung ist bei J1 nun die Bessel-Funktion erster Art und erster
nun einfach ein Integral über eine Kreisscheibe mit Ra- Ordnung ist, und man erhält
dius %0 , die in der x-y-Ebene liegt und deren Mittelpunkt
der Ursprung ist. 2 k%0 sin 2J1 .k%0 sin /
A. / D J1 .k%0 sin / D A
k2 sin2 k%0 sin
Welche Koordinatenwahl liegt nun nahe? (17.120)
mit dem Flächeninhalt A D %20 der Kreisöffnung.
Dementsprechend verwenden wir Polarkoordinaten % und
' für den Vektor x; der Vektor rO habe die Winkel 'r und Speziell in geometrischer Strahlrichtung hat man damit
(letzteren zur z-Achse). Dann hat man zunächst das konsistente Ergebnis

rO  x D % sin .cos ' cos 'r C sin ' sin 'r / 2J1 .z/
(17.113) A.0/ D A  lim D A: (17.121)
D % sin cos.'  'r / z!0 z
und damit Die Intensität I auf dem Schirm ergibt sich also zu
Z%0 Z2  2
I. / 2J1 .k%0 sin /
A. ; 'r / D % d% d' eik% sin  cos.''r / : (17.114) D : (17.122)
I.0/ k%0 sin
0 0

Macht man die Variablentransformation '  'r ! ' und Diese Größe ist in Abb. 17.11 für k%0 D 10 in Abhän-
nutzt die Periodizität des Kosinus aus, vereinfacht sich gigkeit des Winkels dargestellt. Abbildung 17.12 zeigt
das zunächst zu das sich ergebende Beugungsbild direkt. Dieses Bild
wird auch als Beugungsscheibchen oder Airy-Scheib-
Z%0 Z2
chen bezeichnet (nach dem englischen Mathematiker und
A. / D % d% d' eik% sin  cos ' (17.115) Astronomen Sir George Biddell Airy, 1801–1892). Insbe-
0 0 sondere sieht man, dass auf der z-Achse, also direkt in
602 17 Optik

Blickrichtung zur Quelle, die Intensität immer am höchs- und für die Intensität auf der z-Achse gilt
ten ist.
ˇ ˇ
ˇZ  2 ˇ2
1 ˇ ikx ˇ
I(θ)/I(0)
I0 / 2 ˇ d2 x exp ˇ
ˇ 2RO ˇˇ
1 RO ˇ
Ö
ˇ% ˇ (17.124)
ˇZ 0  2 ˇ2
0,8 4 2 ˇˇ ik% ˇˇ
D 2 ˇ % d% exp ;
RO ˇ 2RO ˇˇ
0
0,6

wobei die Winkelintegration bereits ausgeführt wurde.


Teil II

0,4 Mit der Substitution u D .k%2 /=.2RO / wird dies zu


ˇ 2 ˇ2
ˇ k%0Z=.2RO / ˇ
0,2 ˇ ˇ
ˇ iu ˇ
I0 / ˇ du e ˇ
ˇ ˇ
0 ˇ 0 ˇ (17.125)
0◦ 1◦ 2◦ 3◦ 4◦ 5◦ 6◦ θ ˇ ˇ
ˇ eik%20 =.2RO /  1 ˇ2  2
ˇ ˇ k%0
Abb. 17.11 Die Intensität bei Beugung an einer kreisförmigen Öffnung Dˇ ˇ D 4 sin2
:
(hier speziell für k%0 D 10 mit der Wellenzahl k und dem Radius %0 ),
ˇ i ˇ 4RO
dargestellt als Funktion des Beugungswinkels . Wie man sieht, fällt die
Intensität rasch ab und steigt dann kaum wieder an: Bereits die Intensi-
tät des zweiten Maximums beträgt nur noch wenige Prozent des ersten Damit hat man das überraschende Ergebnis, dass für Ra-
dien %0 mit
k%20
Dn ; (17.126)
4RO
wobei n eine natürliche Zahl ist, direkt in Blickrichtung
der Quelle die Intensität verschwindet!
Im Kasten „Anwendung in der Technik: Fresnel-Zonen-
linsen“ wird beschrieben, wie die Fresnel-Beugung an
kreisförmigen Öffnungen in optischen Geräten sinnvoll
eingesetzt werden kann. J

Das Babinet’sche Prinzip

Abb. 17.12 Das Beugungsbild, das bei Fraunhofer-Beugung an einer Abschließend sei noch ein allgemeines Resultat zur Beugung
kreisförmigen Öffnung entsteht. Das erste Maximum ist im Vergleich mit genannt, das vom französischen Physiker Jacques Babinet
den folgenden sehr groß; damit man die weiteren Maxima noch erkennt, (1794–1872) im Jahre 1837 aufgestellt wurde.
ist hier ein „überbelichtetes“ Bild gezeigt: Alle Intensitäten, die größer
als 20 % der Intensität des Hauptmaximums sind, sind weiß dargestellt
(siehe die angegebene Farbskala) Babinet’sches Prinzip

Beschränkt man sich auf einen Beobachter auf der z-Ach- Die Beugungsbilder einer Blende und der dazu komple-
se, so kann die Rechnung aber auch für Fresnel-Beugung mentären Blende sind gleich.
durchgeführt werden. Man hat dann k  x D 0. Damit
bleibt vom Exponentialfaktor in (17.102) nur
 2 „Komplementäre Blende“ heißt dabei, dass in der ursprüng-
eikR eikRO ikx
exp ; (17.123) lichen Blende jeweils Öffnungen durch undurchlässige Teile
R RO 2RO ersetzt werden, und umgekehrt (Abb. 17.14). Unter dem Beu-
gungsbild versteht man hier den Anteil des Bildes auf dem
17.4 Beugung 603

Vertiefung: Begrenzung der Auflösung

Beugung an (kreisförmigen) Öffnungen stellt für optische von derselben Größenordnung wie die Begrenzung des Auf-
Instrumente wie Mikroskope und Teleskope, aber auch für lösungsvermögens, die durch Luftunruhen entsteht. Auch
das Auge, ein Problem dar: Sie begrenzt die Auflösung. durch Verwendung größerer Teleskope ist die Auflösung also
Unter dem Auflösungsvermögen eines optischen Instruments kaum noch zu steigern.
versteht man dabei anschaulich den kleinsten noch wahr-
Das menschliche Auge erreicht dagegen selbst unter idealen
nehmbaren Abstand zweier punktförmiger Objekte.
Bedingungen nur ein Auflösungsvermögen von etwa einer
Als Kriterium dafür benutzt man, dass sich die Beugungs- halben bis zu einer Bogenminute; dies entspricht etwa einem
scheibchen zweier benachbarter Punktquellen überlappen, Punktabstand von 1 mm in einer Entfernung von 3–6 m.

Teil II
genauer: dass das erste Minimum des Beugungsbildes einer
Punktquelle gerade mit dem mittleren Maximum einer dane-
benliegenden Punktquelle zusammenfällt (Abb. 17.13). Bei
Teleskopen spricht man hier vom Rayleigh-Kriterium, bei
Mikroskopen von der Abbe’schen Auflösungsgrenze (nach
dem deutschen Physiker Ernst Abbe, 1840–1905); beide be-
deuten letztlich genau dasselbe.
Allgemein wird das erste Minimum der Intensität durch die
erste Nullstelle z1 3;8317 der Funktion J1 .z/ bestimmt,
befindet sich also beim Winkel
3;8317 
sin 1 1;22 ;
k%0 d

wobei d D 2%0 der Durchmesser der Öffnung ist. Ha-


ben zwei Punkte einen Winkelabstand, der kleiner als dieser
Winkel 1 ist, so sind sie nicht mehr unterscheidbar.
Für ein Teleskop mit einem Linsendurchmesser von d D Abb. 17.13 Beugungsscheibchen für zwei dicht nebeneinanderliegende
10 cm ergibt sich für sichtbares Licht ( D 600 nm) ein Punktquellen; die beiden Punkte sind gerade noch unterscheidbar (auch hier
Winkel von etwa 1,5 Bogensekunden. Dies ist aber schon ist ein „überbelichtetes“ Bild gezeigt; siehe Abb. 17.12)

Schirm, der nicht der geometrischen Optik entspricht, sondern


rein aus der Beugung entsteht.
Das Prinzip ist einfach zu beweisen. Dazu zerlegen wir das Feld
zunächst in einen „geometrischen“ Anteil, der sich ergeben wür-
de, wenn die geometrische Optik streng gelten würde, und einen
„Beugungs“-anteil, der die Korrekturen dazu umfasst,

‰ D ‰geo C ‰beug ; (17.127)

und ebenso für das Feld ‰ c , das sich bei der komplementären
Blende ergeben würde:

‰ c D ‰geo
c
C ‰beug
c
: (17.128)

Offensichtlich muss die Summe aus ‰geo und ‰geo


c
gleich der
einfallenden Welle ‰0 sein:

‰geo C ‰geo
c
D ‰0 : (17.129)
Blende komplementäre Blende
Andererseits ist nach Kirchhoffs Annahmen das Feld in den Öff-
nungen jeweils gleich dem ungestörten Feld. Damit gilt in der Abb. 17.14 Eine Blende und die dazu komplementäre Blende
604 17 Optik

Anwendung in der Technik: Fresnel-Zonenlinsen

Es wurde gezeigt, dass Fresnel-Beugung an einer kreisför-


migen Öffnung in Strahlrichtung der Quelle für bestimmte
Radien (17.38) der Öffnung zu destruktiver Interferenz führt.
Dies kann man vermeiden, indem man die Öffnung in Form
konzentrischer Ringe gestaltet, wobei jeweils die Bereiche,
die zur destruktiven Interferenz beitragen, ausgeblendet wer-
den (Abb. 17.15). Alternativ kann man statt undurchsichtiger
Blenden an diesen Stellen auch ein transparentes Material
verwenden, dessen Dicke so gewählt wird, dass sich eine
Teil II

Phasenverschiebung der Wellen um 180ı und damit dann


wieder konstruktive Interferenz ergibt.

Solche Fresnel-Zonenlinsen oder -platten können beispiels-


weise genutzt werden, um Röntgenstrahlung durch Beugung
in einem Brennpunkt zu bündeln. (Wie bereits bei den
Röntgenteleskopen diskutiert wurde, ist eine Bündelung von
Röntgenstrahlung durch Brechung nur sehr schwer möglich).
Aber auch bei optischen Teleskopen kann die Anwendung
von solchen Zonenlinsen vorteilhaft sein: Sie erfordern zur
Lichtbündelung nur eine dünne Folie, was im Vergleich zu
Linsen- oder Spiegelteleskopen eine enorme Gewichtser-
sparnis bedeutet.
Abb. 17.15 Grundsätzlicher Aufbau einer Fresnel-Zonenlinse. Die konzen-
trischen Ringe blenden die Strahlen, die zu destruktiver Interferenz führen,
aus. Durch Fresnel-Beugung ergibt sich eine Bündelung des Lichtes oder der
Röntgenstrahlung (© Tom Murphy VII)

Ebene der Blende (und deshalb auch im gesamten Raum) eben- Die Feldstärke des gebeugten Anteils ist also bei der komple-
falls mentären Blende gleich groß, aber um 180ı phasenverschoben
gegenüber der ursprünglichen Blende. Da aber die Intensität I
‰ C ‰ c D ‰0 : (17.130)
proportional zum (Betrags-)Quadrat der Feldstärke ist, folgt
Insgesamt folgt aus diesen beiden Gleichungen leicht I c D I; (17.132)

‰beug
c
D ‰beug : (17.131) was zu zeigen war.
Aufgaben 605

Aufgaben

Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen

Teil II
17.1 Regenbogen Die Abbildung illustriert, wie gesuchten Ergebnisse zu erhalten, ist an mehreren Stellen die
Sonnenlicht in einem Regentropfen gebrochen wird. Anwendung der trigonometrischen Additionstheoreme nötig.

17.3 Reflexions- und Transmissionskoeffizienten


ϕ1
Zeigen Sie durch explizite Berechnung der entsprechenden
Sonne
Winkelabhängigkeiten, dass bei der Brechung für die Reflexi-
ϕ2 ons- und Transmissionskoeffizienten für Polarisation (a) senk-
recht bzw. (b) parallel zur Einfallsebene jeweils R C T D 1 gilt.
ϕ2
ϕ2 Lösungshinweis: Verwenden Sie die Fresnel’schen Formeln
und die Definitionen der Reflexions- und Transmissionskoeffizi-
enten in Abschn. 17.2. Die Rechnungen sind nicht grundsätzlich
schwierig, aber unübersichtlich, und erfordern Geschick im
ϕ2 Umgang mit den trigonometrischen Additionstheoremen.

17.4 Eikonale Zeigen Sie, dass (a) ebene Wellen und


ϕ1
(b) Kugelwellen die Eikonalgleichung für konstantes n lösen,
ϕ3 und geben Sie jeweils das zugehörige Eikonal S an.

17.5 Reflexionsgesetz und Brechungsgesetz mit


Fermat
Der Winkel '3 , unter dem ein eigentlich von der Sonne kom-
mender Lichtstrahl nach Brechung im Regentropfen zu sehen
ist, hängt vom Einfallswinkel '1 ab. Es gibt jedoch einen be- (a) Leiten Sie das Reflexionsgesetz aus dem Fermat’schen Prin-
stimmten Einfallswinkel, bei dem kleine Änderungen zu prak- zip her. Verwenden Sie dabei die in der Abbildung gezeigten
tisch keinen Änderungen in '3 führen. Benachbarte Strahlen Bezeichnungen.
verstärken sich bei diesem bestimmten Einfallswinkel also; auf B
diese Weise entsteht der sichtbare Regenbogen. Berechnen Sie A
diesen Einfallswinkel und den zugehörigen Winkel '3 , unter
dem der Regenboden dann zu sehen ist. Verwenden Sie da-
bei für die Brechungsindizes von Luft bzw. Wasser die Werte b
h
n1 D 1 bzw. n2 D 1;33.
α β
Lösungshinweis: Dass kleine Änderungen des Einfallswin- O n1
kels zu praktisch keinen Änderungen in '3 führen, bedeutet n2
rechnerisch einfach, dass die Ableitung von '3 nach '1 ver- x a−x
schwinden muss. a

17.2 Fresnel’sche Formeln Leiten Sie die Fres-


nel’schen Formeln (17.37) und (17.38) her.
(b) Leiten Sie das Brechungsgesetz aus dem Fermat’schen Prin-
Lösungshinweis: Die Vorgehensweise ist fast völlig analog zip her. Verwenden Sie dabei die in der Abbildung gezeigten
zu der bei der Herleitung von (17.35) und (17.36). Um die Bezeichnungen.
606 17 Optik

A (c) Leiten Sie aus der Differenzialgleichung für Lichtstrahlen,


welche die x-Achse an einer beliebigen Stelle x0 berühren,
folgenden Zusammenhang her:
h p
n.y/ D n.0/ 1 C y02 : (17.135)
α
O n1 (d) Ermitteln Sie damit, wie der Brechungsindex von y abhän-
n2 gen muss, damit der Lichtstrahl einer Parabel y D a.x  x0 /2
x β folgt.
(e) Für den Brechungsindex eines Mediums gelte speziell
b
n.y/ D n0 C n1 y: (17.136)
Teil II

B Ein Lichtstrahl soll im Ursprung parallel zur x-Achse in die-


ses Medium eintreten. Ermitteln Sie die Kurve y.x/ dieses
a−x Lichtstrahles.
a
Lösungshinweis: (a) Stellen Sie die optische Weglänge als
Funktional der Kurve y.x/ dar und benutzen Sie die Variati-
Lösungshinweis: Schreiben Sie jeweils die Bedingung, dass onsrechnung. (c) Nach Multiplizieren der Differenzialgleichung
die Weglängen maximal sein sollen, zunächst mithilfe von x und mit y0 kann diese aufintegriert werden. (e) Das Ergebnis aus
gehen Sie dann zu einer Beschreibung mit den Winkeln über. Teilaufgabe (c) führt hier auf eine einfache Differenzialglei-
chung; das Eikonal erhält man über die optische Weglänge.
17.6 Brechung in inhomogenem Medium Der
Brechungsindex eines Mediums hänge nur von y ab. Die Licht- 17.7 Fraunhofer-Beugung an Rechtecken Eine
strahlen in diesem Medium sollen sich nur in der x-y-Ebene Blende liege in der x-y-Ebene, der Schirm stehe parallel dazu
befinden, können also durch Kurven y.x/ beschrieben werden. im Abstand D, wobei für die Abmessungen a und b der Öffnun-
gen in der Blende a D und b D gelte. Berechnen Sie in
der Fraunhofer’schen Näherung die Intensität in Abhängigkeit
(a) Leiten Sie aus dem Fermat’schen Prinzip ab, dass dann fol-
der Koordinaten x und y auf dem Schirm für folgende Öffnun-
gende Differenzialgleichung gilt:
gen:
ny00  .1 C y02 /n0 D 0; (17.133) (a) Vier Öffnungen von vernachlässigbarer Größe mit Koordi-
naten, für die jxj D a und jyj D b gilt.
wobei (b) Eine Öffnung in Gestalt der Kanten eines Rechtecks, wobei
dy dn jeweils jxj D a und jyj  b bzw. jxj  a und jyj D b gilt.
y0 D und n0 D (17.134)
dx dy (c) Eine rechteckige Öffnung mit jxj  a und jyj  b.
ist.
(b) Begründen Sie aus der Differenzialgleichung, dass Licht- Lösungshinweis: Beschreiben Sie Öffnungen von vernachläs-
strahlen immer in die Richtung der größeren optischen sigbarer Größe bzw. Breite mit Deltafunktionen. Benutzen Sie
Dichte gekrümmt sind. die Näherungen x D und y D (warum gilt das?).
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 607

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben

17.1 Zunächst überlegt man sich, dass der Lichtstrahl bei Ein- mit eO z den Winkel 90ı '1 einschließt und E00 mit eO z den Winkel
und Austritt in den Regentropfen jeweils um den Winkel '1 '2 90ı  '2 , aber E000 mit eO z den Winkel .90ı  '1 /. Aus (17.5)
nach rechts gedreht wird und bei der Reflexion um 180ı  2'2 , folgt dann mit
insgesamt also um ' D 180ı C 2'1  4'2 . Damit ergibt sich
E0  eO z D E0 sin.90ı  '1 /Oex D E0 cos '1 eO x (17.146)
ı
'3 D 180  ' D 4'2  2'1 ; (17.137)
und ebenso für die anderen beiden Summanden, dass

Teil II
und mit dem Brechungsgesetz folgt
  E0 cos '1  E000 cos '1  E00 cos '2 D 0 (17.147)
n1
'3 D 4 arcsin sin '1  2'1 : (17.138)
n2 gelten muss und deshalb

'3 ist unabhängig von kleinen Änderungen in '1 , wenn cos '1
E00 D .E0  E000 /: (17.148)
cos '2
d'3
D0 (17.139)
d'1 Ähnlich liefern (17.4) und (17.10) die beiden Bedingungen

ist, also 2 sin '2 0


4 nn21 cos '1 E0 C E000  E D 0;
r 1 sin '1 0 (17.149)
 2  2 D 0: (17.140)
kE0 C kE000  k0 E00 D 0:
1  n2 sin '1
n1

p
Benutzt man das Brechungsgesetz und n D , so folgt aus
Daraus erhält man zunächst leicht
beiden Gleichungen
 2  2
n1 n1
16 cos '1 D 4  4
2
sin2 '1 : (17.141) sin '1 0
n2 n2 E0 C E000  E D 0: (17.150)
sin '2 0
Verwendet man dann sin2 '1 D 1  cos2 '1 und führt einige
Setzen wir darin das Ergebnis für E00 von oben ein und teilen
algebraische Umformungen durch, so hat man schließlich
noch durch E0 , so bleibt
v !
u  
u 1  n2 2 E000 sin '1 cos '1 E000
cos '1 D t 1 : (17.142) 1C  1 D0 (17.151)
3 n1 E0 sin '2 cos '2 E0

bzw. nach Umformen


Setzt man die konkret gegebenen Zahlenwerte ein, so ergibt sich
E000 sin '1 cos '1  sin '2 cos '2
'1 59;6ı : (17.143) D : (17.152)
E0 sin '1 cos '1 C sin '2 cos '2
Mit dem Brechungsgesetz erhält man daraus Im Prinzip ist dies bereits die Fresnel’sche Formel (17.37).
ı Das dort angegebene Ergebnis erhält man, indem man 1 D
'2 40;4 (17.144)
cos2 ' C sin2 ' in beiden Summanden im Zähler einfügt und
und damit schließlich für den Winkel, unter dem der Regenbo- ihn folgendermaßen umschreibt:
gen sichtbar ist:  
'3 42ı : (17.145) sin '1 cos '1 cos2 '2 C sin2 '2
 
 sin '2 cos '2 sin2 '1 C cos2 '1
17.2 Zunächst sieht man leicht ein, dass aus (17.9) einfach 0 D D sin '1 cos '1 cos2 '2  sin2 '1 sin '2 cos '2
0 folgt: Da k und E0 jeweils beide in der y-z-Ebene liegen, steht
ihr Kreuzprodukt senkrecht zu dieser Ebene, also ist .k  E0 /   sin '2 cos2 '1 cos '2 C sin '1 sin2 '2 cos '1 (17.153)
eO z D 0. D .sin '1 cos '2  sin '2 cos '1 /
Berücksichtigt man, dass die elektrischen Feldvektoren jeweils  .cos '1 cos '2  sin '1 sin '2 /
senkrecht zu den Wellenvektoren stehen, so sieht man, dass E0 D sin.'1  '2 / cos.'1 C '2 /:
608 17 Optik

Verfährt man im Nenner ebenso, bleibt (b) Bei Polarisation parallel zur Einfallsebene hat man
E000 sin.'1  '2 / cos.'1 C '2 / tan.'1  '2 /  
D D : (17.154) tan.'1  '2 / 2
E0 sin.'1 C '2 / cos.'1  '2 / tan.'1 C '2 / Rk D ;
tan.'1 C '2 /
Aus dem Ergebnis, das wir oben aus (17.5) gewonnen hatten,  2 (17.163)
tan '1 2 sin '2 cos '1
folgt außerdem Tk D :
  tan '2 sin.'1 C '2 / cos.'1  '2 /
E00 cos '1 E00
D 1 0 : (17.155) Den Reflexionskoeffizienten kann man zunächst umschrei-
E0 cos '2 E0
ben als
Setzen wir nun das Ergebnis für E000 =E0 (vor den letzten Umfor-  2
mungen) darin ein, so haben wir sin.'1  '2 / cos.'1 C '2 /
  Rk D : (17.164)
Teil II

E00 cos '1 sin '1 cos '1  sin '2 cos '2 sin.'1 C '2 / cos.'1  '2 /
D 1
E0 cos '2 sin '1 cos '1 C sin '2 cos '2 Damit haben beide Brüche wieder einen gemeinsamen Fak-
(17.156)
2 sin '2 cos '1 tor im Nenner, und es genügt, die restlichen Terme zu
D :
sin '1 cos '1 C sin '2 cos '2 betrachten. Beim Transmissionskoeffizienten ergibt sich ge-
nau wie oben zunächst
Den Nenner kann man wie eben umschreiben, sodass sich
schließlich ergibt: tan '1
.2 sin '2 cos '1 /2 D 4 sin '1 sin '2 cos '1 cos '2 :
E00 2 sin '2 cos '1 tan '2
D : (17.157) (17.165)
E0 sin.'1 C '2 / cos.'1  '2 / Beim Reflexionskoeffizienten haben wir zu berechnen:

17.3 sin2 .'1  '2 / cos2 .'1 C '2 /


(a) Bei Polarisation senkrecht zur Einfallsebene hat man D .sin '1 cos '2  sin '2 cos '1 /2
 00 2    .cos '1 cos '2  sin '1 sin '2 /2
E0 sin.'2  '1 / 2 
R? D D ; (17.158)
E0 sin.'1 C '2 / D sin2 '1 cos2 '2  2 sin '1 sin '2 cos '1 cos '2
 2   
tan '1 E00 tan '1 2 sin '2 cos '1 2 C sin2 '2 cos2 '1
T? D D : 
tan '2 E0 tan '2 sin.'1 C '2 /  cos2 '1 cos2 '2  2 sin '1 sin '2 cos '1 cos '2

Beide Brüche haben im Nenner den Term sin2 .'1 C '2 / C sin2 '1 sin2 '2
gemeinsam. Betrachten wir zunächst nur die restlichen Fak- D sin2 '1 cos2 '1 cos4 '2 C sin4 '1 sin2 '2 cos2 '2
toren:
C sin2 '2 cos4 '1 cos2 '2 C sin2 '1 sin4 '2 cos2 '1
sin2 .'2  '1 / D .sin '2 cos '1  sin '1 cos '2 /2
C 4 sin2 '1 sin2 '2 cos2 '1 cos2 '2
D sin2 '2 cos2 '1 C sin2 '1 cos2 '2 (17.159)
 2 sin '1 sin '2 cos '1 cos '2
 2 sin '1 sin '2 cos '1 cos '2 
 sin2 '1 cos2 '2 C sin2 '2 cos2 '1
und 
C cos2 '1 cos2 '2 C sin2 '1 sin2 '2 : (17.166)
tan '1 tan '1
.2 sin '2 cos '1 /2 D 4 sin2 '2 cos2 '1 (17.160)
tan '2 tan '2 Wie man leicht sieht, ist der Ausdruck in den Klammern der
D 4 sin '1 sin '2 cos '1 cos '2 : letzten beiden Zeilen einfach 1. Addiert man den Term vom
Transmissionskoeffizienten, so bleibt schließlich
Die Summe dieser beiden Terme ist
D sin2 '1 cos2 '1 cos4 '2 C sin4 '1 sin2 '2 cos2 '2
D sin2 '2 cos2 '1 C sin2 '1 cos2 '2
C 2 sin '1 sin '2 cos '1 cos '2 C sin2 '2 cos4 '1 cos2 '2 C sin2 '1 sin4 '2 cos2 '1
(17.161) C 4 sin2 '1 sin2 '2 cos2 '1 cos2 '2
D .sin '2 cos '1 C sin '1 cos '2 /2
C 2 sin '1 sin '2 cos '1 cos '2 : (17.167)
D sin2 .'1 C '2 /;
also gleich dem gemeinsamen Nenner der beiden Brüche. Führt man nun alle Rechenschritte von oben einfach rück-
Damit ist tatsächlich wärts aus, so kann man dies auch schreiben als

R? C T? D 1: (17.162) D Œsin.'1 C '2 / cos.'1  '2 /2 : (17.168)


Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 609

In der Summe ergibt sich somit wieder genau der gemeinsa- Die Quotienten links und rechts sind aber nun nichts anderes
me Nenner, und es gilt tatsächlich als der jeweilige Sinus des zugehörigen Winkels. Wir haben
also
Rk C Tk D 1: (17.169) sin ˛ D sin ˇ; (17.181)
und da ˛ und ˇ beide offensichtlich zwischen 0ı und 90ı
17.4 liegen müssen, folgt sofort
(a) Bei einer ebenen Welle ist ˛ D ˇ; (17.182)
‰.r/ D ‰0 e ikr
(17.170) was zu zeigen war.
mit konstanten ‰0 und k. Vergleicht man mit dem allgemei- (b) Die optische Weglänge ist in Abhängigkeit von x:
p p

Teil II
nen Ansatz zur Lösung von (17.48), so ist
lopt .x/ D n1 x2 C h2 C n2 .a  x/2 C b2 : (17.183)
k  r D k0 S.r/: (17.171)
Dies soll extremal sein:
Es gilt also
kr dlopt .x/
S.r/ D D nkO  r: (17.172) D 0: (17.184)
k0 dx

Daraus folgt Aus dieser Bedingung ergibt sich leicht


O
grad S D nk; (17.173) x ax
n1 p D n2 p : (17.185)
woran man sofort sieht, dass dieses S die Eikonalgleichung x2 C h2 .a  x/2 C b2
löst.
(b) Bei einer Kugelwelle ist Die Ausdrücke links und rechts sind aber nun nichts anderes
als der jeweilige Sinus des zugehörigen Winkels. Wir haben
eikr also
‰.r/ D ‰0 (17.174) n1 sin ˛ D n2 sin ˇ; (17.186)
r
mit konstanten ‰0 und k. Vergleicht man mit dem allgemei- und daraus folgt sofort das Brechungsgesetz
nen Ansatz zur Lösung von (17.48), so ist sin ˛ n2
D : (17.187)
kr D k0 S.r/: (17.175) sin ˇ n1

Es gilt also (Übrigens wurde dieses Beispiel bereits in Kap. 5 komplett


kr vorgerechnet.)
S.r/ D D nr: (17.176)
k0
Daraus folgt 17.6
grad S D nOr; (17.177)
(a) In Abhängigkeit vom Lichtweg y.x/ ist die optische Weglän-
woran man sofort sieht, dass dieses S die Eikonalgleichung ge zwischen zwei Stellen x1 und x2 allgemein
löst.
Zx2 p Z p
x2

lopt D n.y/ dx2 C dy2 D n.y/ 1 C y02 dx:


17.5
x1 x1
(a) Die optische Weglänge ist in Abhängigkeit von x: (17.188)
Dieser Ausdruck soll extremal werden. Schreiben wir für
p p 
lopt .x/ D n1 x2 C h2 C .a  x/2 C b2 : (17.178) den Integranden kurz N.y; y0 /, so muss laut der Variati-
onsrechnung eine Euler-Lagrange-Gleichung für N gelten
(siehe das Hamilton’sche Prinzip in Abschn. 5.5):
Dies soll extremal sein:
dlopt .x/ d @N @N
D 0: (17.179)  D 0: (17.189)
dx dx @y0 @y

Aus dieser Bedingung ergibt sich leicht Das führt zunächst auf
x ax d n.y/y0 p
p D p : (17.180) p  n0 .y/ 1 C y02 D 0 (17.190)
x2 C h2 .a  x/2 C b2 dx 1 C y02
610 17 Optik

bzw. nach dem Berechnen der x-Ableitung auf Setzen wir n1


zD1C y; (17.201)
y02 y00 p n0
0 0
n p Cn p 3 n 1 C y02 D 0: (17.191) so haben wir
1 C y02 1 C y02 dz n1 p 2
D z  1: (17.202)
dx n0
Daraus ergibt sich leicht die angegebene Differenzialglei- Nach Trennung der Variablen kann man diese Differenzial-
chung. gleichung leicht aufintegrieren; es ergibt sich
(b) Es gilt
1 C y02 0 n1
y00 D n: (17.192) arcosh z D x C k: (17.203)
n n0

Da sicher n > 0 ist, folgt, dass die Vorzeichen von y00 und n0 Aus der Randbedingung y.0/ D 0 folgt k D 0 und damit
Teil II

gleich sind. Nimmt n0 nach oben zu, also n0 > 0, gilt deshalb letztlich
  
auch y00 > 0. Das bedeutet aber, dass der Lichtstrahl links- n0 n1
gekrümmt ist, d. h. in die Richtung der größeren optischen y.x/ D cosh x 1 : (17.204)
n1 n0
Dichte. Entsprechend argumentiert man für n0 < 0.
(c) Wir bringen alle Terme mit Ableitungen von y auf eine Seite, 17.7 Wir benutzen das Ergebnis (17.110) mit
alle Terme mit n und Ableitungen davon auf die andere Seite Z
und multiplizieren mit y0 : 0
A.x; y/ D d2 x0 eikOrx (17.205)
0 00 0 0
yy ny Ö
D : (17.193)
1 C y02 n und Z
Berücksichtigt man, dass AD d2 x0 : (17.206)
Ö
dn dy dn.y.x//
n0 y0 D D (17.194) Für den Einheitsvektor können wir schreiben:
dy dx dx 0 1 0 1
1 x x=D
ist, so kann man dies auch schreiben als rO D p @ y A @y=DA (17.207)
D2 C x2 C y2 D 1
1 d d
ln.1 C y02 / D ln n: (17.195)
2 dx dx Hier wurde x D und y D genähert, da die Fraunhofer’sche
Näherung ja nur für kleine Winkel gilt. Damit haben wir dann
Aufintegrieren ergibt
xx0 yy0
p rO  x0 D C : (17.208)
ln 1C y02 D ln n C k: (17.196) D D
Außerdem definieren wir die Abkürzungen
Die Integrationskonstante kann aus den Randbedingungen
y.x0 / D y0 .x0 / D 0 zu k D  ln n.0/ bestimmt werden. ka kb
˛D und ˇ D : (17.209)
Damit folgt das angegebene Ergebnis. D D
(d) Für y D a.x  x0 /2 hat man y0 D 2a.x  x0 /, also gilt
(a) Beschreibt man die vier Öffnungen mit Deltafunktionen, al-
y.x0 / D y0 .x0 / D 0, und das Ergebnis aus (c) kann ver-
so ı.x0  a/ı.y0  b/ usw., so ergeben die Integrale über die
wendet werden:
Blendenöffnung(en) hier insgesamt
p p
n.y/ D n.0/ 1 C y02 D n.0/ 1 C 4a2 .x  x0 /2 : A.x; y/ D ei.xa=DCyb=D/ C ei.xa=DCyb=D/
(17.197)
Für a.xx0 /2 kann man hier aber einfach wieder y einsetzen; C ei.xa=Dyb=D/ C ei.xa=Dyb=D/
  
es ergibt sich p D eikxa=D C eikxa=D eikyb=D C eikyb=D
n.y/ D n.0/ 1 C 4ay: (17.198)
D 4 cos.˛x/ cos.ˇy/
(e) Aus Teilaufgabe (c) erhalten wir (17.210)
p und
n0 C n1 y D n0 1 C y02 (17.199) A D 4: (17.211)
Damit haben wir einfach
und damit s
 
n1 2 I
D cos2 .˛x/ cos2 .ˇy/:
y0 D 1 C y  1: (17.200) I0
(17.212)
n0
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 611

(b) Wir integrieren entlang der Kanten; bei den Kanten in x0 - Damit haben wir
Richtung hat man Deltafunktionen ı.y0  b/ bzw. ı.y0 C b/,  
I a sin.˛x/ b sin.ˇy/ 2
bei den Kanten in y0 -Richtung entsprechend Deltafunktio- D cos.ˇy/ C cos.˛x/ :
nen für x0 . Damit ergibt sich I0 a C b ˛x aCb ˇy
(17.215)
Za  
0
A.x; y/ D dx0 eikxx =D eikyb=D C eikyb=D (c) Hier muss über das ganze Rechteck integriert werden:
a Za Zb
0 0
  Zb A.x; y/ D dx0 eikxx =D dy0 eikyy =D
ikyy0 =D
C eikxa=D C eikxa=D dy0 e a b
b eikxa=D  eikxa=D eikyb=D  eikyb=D (17.216)
(17.213) D

Teil II
ikxa=D
eikxa=D
e ikx=D iky=D
D 2 cos.kyb=D/
ikx=D sin.˛x/ sin.ˇy/
D4 :
eikyb=D  eikyb=D ˛x=a ˇy=b
C 2 cos.kxa=D/
iky=D Außerdem ist offensichtlich
sin.˛x/ sin.ˇy/
D4 cos.ˇy/ C 4 cos.˛x/ : A D 4ab: (17.217)
˛x=a ˇy=b
Damit haben wir
Außerdem erhält man    
I sin.˛x/ 2 sin.ˇy/ 2
D : (17.218)
A D 4a C 4b: (17.214) I0 ˛x ˇy
612 17 Optik

Literatur

Jackson, J.D.: Klassische Elektrodynamik. 4. Aufl. De Gruyter,


Berlin (2006)
Teil II
Relativistische Formulierung
der Elektrodynamik
18
Warum und wie sind
elektrische und
magnetische Felder für

Teil II
gegeneinander bewegte
Beobachter zu
transformieren?

Wie kann man die


Maxwell-Gleichungen
gleich für beliebige
Inertialsysteme
anschreiben?

Was passiert mit dem


elektrischen Feld einer
Punktladung, wenn diese
plötzlich beschleunigt
wird?

Wie sähe Licht aus, wenn


man ihm mit Licht-
geschwindigkeit
nachlaufen könnte?

Welche Material-
18.1 Repetitorium: Spezielle Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . 614 gleichungen haben
18.2 Manifest Lorentz-kovariante Maxwell-Gleichungen . . . . . . . . . . . 617 bewegte Medien?
18.3 Lorentz-Transformation von Feldstärken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620
18.4 Elektromagnetische Viererkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625
18.5 Relativistische Effekte in der Wellenausbreitung . . . . . . . . . . . . . 627
18.6 Relativistische Elektrodynamik in Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . 629
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 639
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_18, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 613
614 18 Relativistische Formulierung der Elektrodynamik

Schon vor der Formulierung der speziellen Relativitätstheorie durch Die solchermaßen definierten Koordinaten werden durch
Einstein hatten Lorentz und Poincaré das Transformationsverhalten 0 01
elektromagnetischer Felder unter einem Wechsel des Inertialsys- x  
tems herausgefunden und waren dabei auf die Effekte der Lorentz- Bx1 C ct
 B C
.x / D @ 2 A WD ;  2 f0; 1; 2; 3g (18.1)
Kontraktion und sogar der Zeitdilatation gestoßen. Einsteins spezi- x r
elle Relativitätstheorie und insbesondere der „Viererformalismus“ 3
x
des Minkowski-Raumes, in dem das Newton’sche Konzept der ab-
soluten Zeit aufgegeben wird, erlaubt es, die Maxwell-Gleichungen in einen Viererortsvektor zusammengefasst. Hierbei wird durch
in eine elegante und auch praktische Lorentz-kovariante Form zu Multiplikation mit der Lichtgeschwindigkeit c aus der Zeitkoor-
bringen, in der elektrische und magnetische Felder endgültig ver- dinate eine Koordinate mit der physikalischen Dimension einer
einheitlicht werden. Länge gemacht und als nullte den drei räumlichen hinzugefügt.
Räumliche Indizes werden weiter mit lateinischen Buchstaben
Zu diesem Zweck werden wir in Abschn. 18.1 zunächst die Viererno-
Teil II

notiert, während für Viererindizes griechische Buchstaben ver-


tation aus Kap. 9 und 10 rekapitulieren und die wichtigsten Aspekte
wendet werden, ; ; ; ; : : : 2 f0; 1; 2; 3g.
des Minkowski-Raumes in Erinnerung rufen. Falls diese Kapitel aus
Teil I übersprungen wurden, wäre nun auch ein guter Zeitpunkt, die Achtung In der nichtrelativistischen Mechanik werden die
spezielle Relativitätstheorie anhand der Kap. 9 und 10 ausführlicher räumlichen kartesischen Koordinaten normalerweise mit un-
zu studieren. teren Indizes geschrieben. Im Folgenden gilt immer r D
.x1 ; x2 ; x3 /> D .x; y; z/> mit oberen Indizes, die nicht mit
In Abschn. 18.2 wird geklärt, wie sich die verschiedenen Grö-
Exponenten verwechselt werden dürfen (was aus dem Kontext
ßen der Elektrodynamik in Vierergrößen kombinieren lassen und
abzulesen ist). Untere Indizes sind von nun an für andersgearte-
manifest Lorentz-kovariante Maxwell-Gleichungen formuliert wer-
te Größen reserviert. J
den können. Damit wird in Abschn. 18.3 bestimmt, wie sich die
elektromagnetischen Felder bei einem Wechsel von Bezugssyste- Die operative Definition einer Koordinatenzeit, die zur Syn-
men transformieren. Dies wird auch einen ersten Blick auf den chronisation Lichtsignale benötigt, zusammen mit der expe-
Mechanismus der Abstrahlung von elektromagnetischen Feldern rimentellen Tatsache, dass die Lichtgeschwindigkeit in jedem
bei beschleunigter Bewegung von Ladungsträgern erlauben. In Inertialsystem gleich ist, steht im Widerspruch zur absoluten
Abschn. 18.4 werden dann auch die Bewegungsgleichungen für ge- Zeit der Newton’schen Mechanik. Bei einem Wechsel des Iner-
ladene Teilchen in eine Lorentz-kovariante Form gebracht, und der tialsystems sind daher im Allgemeinen nicht nur die räumlichen
Energie-Impuls-Satz der Elektrodynamik wird erneut hergeleitet. Koordinaten zu transformieren, sondern alle vier Raumzeitkoor-
Relativistische Effekte in der Wellenausbreitung, nämlich Doppler- dinaten. Wie in Kap. 9 gezeigt wurde, sind diese Transformatio-
Effekt und Aberration, werden in Abschn. 18.5 besprochen. Schließ- nen dadurch charakterisiert, dass sie die quadratische Form
lich wird in Abschn. 18.6 gezeigt, wie auch die phänomenologische
Elektrodynamik in Anwesenheit von elektrisch und magnetisch ds2 D .dx0 /2  .dx1 /2  .dx2 /2  .dx3 /2 (18.2)
polarisierbarer Materie Lorentz-kovariant formuliert werden kann,
womit Effekte wie Unipolarinduktion und der Fresnel’sche Mitfüh- in Koordinatendifferenzialen invariant lassen. Solche Transfor-
rungskoeffizient im Experiment von Fizeau konsistent behandelt mationen zwischen zwei Inertialsystemen S und S0 heißen Poin-
werden können. caré-Transformationen. Bleibt der Viererkoordinatenursprung
unverändert, spricht man von (homogenen) Lorentz-Transfor-
mationen.

18.1 Repetitorium: Bewegen sich die im Inertialsystem S0 ruhenden Objekte mit


der Geschwindigkeit v in positive x-Richtung bezüglich S, so
Spezielle Relativitätstheorie lautet diese spezielle Standard-Lorentz-Transformation
0 1 0 1 0 1
ct0  ˇ 0 0 ct
Minkowski-Raum und Viererformalismus 0
B x C Bˇ  0 0C B x C
@ y0 A D @ 0 0 1 0A @ y A
;

Die Arena der speziellen Relativitätstheorie ist der Minkowski- z0 0 0 0 1 z (18.3)


Raum, ein vierdimensionales Raumzeitkontinuum, das als un- v 1
ˇD ; D p :
endlich ausgedehnt, homogen und isotrop vorausgesetzt wird. c 1  ˇ2
Die Punkte dieses Raumes werden Ereignisse genannt, die in
einem Inertialsystem S durch ihre (im Folgenden immer kar-
tesischen) räumlichen Koordinaten r und eine Zeitkoordinate t Frage 1
identifiziert werden. Die Zeit wird dabei durch Uhren gemessen, Überzeugen Sie sich, dass in S0 ruhende Punkte mit x0 D 0 den
die in einem Inertialsystem ruhen und in diesem (durch symme- Punkten von S entlang x D v t entsprechen.
trischen Austausch von Lichtsignalen) synchronisiert wurden.
18.1 Repetitorium: Spezielle Relativitätstheorie 615

In Vierernotation schreiben wir eine solche Lorentz-Transfor- Für endliche Differenzen von Koordinaten x D x .E1 / 
mation als x .E2 /, also für nicht nur infinitesimal separierte Ereignisse
x0 D   x ; (18.4) E1;2 , definiert
s2 D  x x (18.13)
wobei wir die Einstein’sche Summenkonvention auf Viererin-
dizes ausdehnen, mit der zusätzlichen Vereinbarung, dass bei einen Lorentz-invarianten (für alle Inertialsysteme gleichen)
Summationen immer ein Index unten und einer oben zu schrei- „Abstand“, der positiv, null oder negativ sein kann.
ben ist. Die allgemeineren Poincaré-Transformationen unter-
scheiden sich davon nur durch die mögliche Verschiebung der Der Wert s2 D 0 bedeutet, dass die beiden Ereignisse durch
vier Koordinatenursprünge durch einen konstanten Vierervektor Lichtsignale miteinander verbunden werden können. Dieser Ab-
b : stand heißt dann lichtartig. Ist s2 > 0, heißt der Abstand
x0 D   .x  b /: (18.5) zeitartig, da x0 D ct dominiert. Dann reicht eine Geschwin-
digkeit kleiner als die Lichtgeschwindigkeit, um E1 und E2

Teil II
Bei Koordinatendifferenzen und -differenzialen fallen die Kon- miteinander zu verbinden. In diesen beiden Fällen ist das Ereig-
stanten b heraus, sodass diese immer homogen transformie- nis mit der größeren Koordinatenzeit kausal durch das andere
ren: beeinflussbar und liegt somit in der Zukunft des letzteren. Man
dx0 D   dx : (18.6) sagt dazu auch, es liegt im Vorwärtslichtkegel. Wenn s2 < 0
ist, heißt der Abstand raumartig, und die Ereignisse sind kausal
Unter Verwendung der Einstein’schen Summenkonvention entkoppelt. Es lässt sich dann sogar immer ein Inertialsystem
schreiben wir ds2 als finden, in dem x0 D 0 ist, sodass für dieses System die Er-
eignisse gleichzeitig sind. Die nicht positiv definite Metrik 
ds2 D  dx dx (18.7) legt also die Kausalstruktur des Raumes fest.
Die Komponenten x bzw. dx heißen kontravariante Kompo-
mit der Minkowski-Metrik nenten, weil sie sich unter Lorentz-Transformation entgegen-
0 1 gesetzt zu einem System von (abstrakten) Basisvektoren e
1 0 0 0
transformieren, mit denen analog zu (2.1) ein physikalischer
B0 1 0 0C
. / D @ : Vektor als x D x e zu verstehen ist.
0A
(18.8)
0 0 1
0 0 0 1 Wegen der Invarianz von ds2 transformieren die Größen

Es gilt per Definition dx WD  dx (18.14)

ds2 D  dx dx D  dx0 dx0 ebenfalls entgegengesetzt zu dx und somit gleich wie die Ba-
(18.9)
D      dx dx : sisvektoren. Sie heißen deshalb kovariante Komponenten.
Der Zusammenhang a D  a für die Komponenten eines
Lorentz-Transformationen sind also charakterisiert durch (nach
allgemeinen Vierervektors a lässt sich auch invertieren und als
Umbenennen von Summationsindizes)
a D  a (18.15)
     D  : (18.10)
schreiben, wobei . / die inverse Matrix von . / ist, für
Als Matrizen angeschrieben, wo der erste Index immer die Zei-
die
len und der zweite die Spalten durchnummeriert, lautet dies
   D ı (18.16)
>  D : (18.11) gilt, wobei ı das übliche Kronecker-Symbol darstellt,
Für die Standard-Lorentz-Transformation (18.3) hat die Trans-
1 D
position der ersten Matrix keinen Effekt, da dort   eine ı D ; (18.17)
0  6D 
symmetrische Matrix ist. Dies zeichnet ganz allgemein rei-
ne Geschwindigkeitstransformationen (Lorentz boosts) aus. Zu
das in dieser speziellen Indexstellung ebenfalls ein invarianter
der Gruppe der Lorentz-Transformationen zählen aber auch die
Tensor ist.
räumlichen Drehungen mit unbeteiligter Zeitkoordinate. Diese
Transformationen haben die Form Achtung Als Matrizen sind . / und . / numerisch
  identisch; ein direktes Gleichsetzen ist aber wegen der unter-
 1 0> schiedlichen Indexstellung nicht zulässig. (Metrik und inverse
.  / D ; (18.12)
0 R Metrik fallen auch nicht mehr zusammen, wenn zu krummlini-
gen Koordinaten oder den gekrümmten Räumen der allgemei-
wobei R eine orthogonale Matrix ist, R> D R1 . nen Relativitätstheorie übergegangen wird.) J
616 18 Relativistische Formulierung der Elektrodynamik

Natürlicherweise kovariant transformieren auch Vierergradien- Weltlinien, Eigenzeit und Viererimpuls


ten,   1 
@ @
D c t ; (18.18) Die Bahn eines Punktteilchens kann in einem Inertialsystem S
@x r
durch die Bahnkurve x.t/ als Funktion der Koordinatenzeit t und
da wegen der Kettenregel im Viererformalismus durch die sogenannte Weltlinie im Min-
kowski-Raum,  
@ @x0 @ @
D D   0 (18.19) 
x .t/ D
ct
;
@x @x @x0 @x x.t/
(18.25)
gilt. Man schreibt daher diese Vierergrößen als
angegeben werden. (Der Übersichtlichkeit halber klammern wir
@ hier und auch öfters im Folgenden bei der Identifikation der
@ WD  : (18.20)
@x Viererkomponenten diese nicht mehr ein.) Wird wie üblich die
Teil II

zeitliche Koordinate x0 vertikal aufgetragen, ist dies eine Kur-


Um in einem Transformationsgesetz für kovariante Kompo-
ve, die überall steiler als 45ı verläuft, damit zu jedem Zeitpunkt
nenten wie @ D   @0 die Transformationsmatrix auf die
die Geschwindigkeit v .t/ D dx=dt kleiner als die Lichtge-
andere Seite schreiben zu können, verwenden wir (18.10) zur
schwindigkeit bleibt (jv j < c). Lichtteilchen (Photonen) breiten
Bestimmung des Inversen von  und ziehen den Index mit
sich im Vakuum mit Lichtgeschwindigkeit aus und haben dann
  nach oben, wodurch rechts die Einheitsmatrix in der Ge-
gerade Weltlinien mit einer Steigung von genau 45ı (siehe
stalt von ı entsteht. Dies gibt
Abb. 9.11).

      D    D ı ; (18.21) Unter dem Einfluss von äußeren Kräften ändert sich der Verlauf
  der Weltlinie eines Punktteilchens innerhalb der Grenzen, die
woraus wir schließen, dass das Inverse zu   einfach 
vom Lichtkegel an jedem Punkt gesetzt werden. Die Weltlinie
mit veränderten Indexpositionen ist. Damit bekommen wir als
ist daher überall durch ein Wegelement mit ds2 > 0 charakte-
Transformationsgesetz für kovariante Komponenten
risiert. Da diese Größe Lorentz-invariant ist, ist auch garantiert,
@0 D   @ : (18.22) dass das Teilchen von jedem Inertialsystem aus als eines beob-
achtet wird, das sich mit Unterlichtgeschwindigkeit bewegt.
Frage 2 Obwohl es in der speziellen Relativitätstheorie keine absolute

Was ist @ in Komponenten, und wie transformiert diese Grö- Zeit gibt und ein ungleichförmig bewegtes Teilchen auch kein
ße? Inertialsystem definiert, kann dem Teilchen ein invarianter Zeit-
begriff zugeordnet werden. In einem Inertialsystem, in dem das
Teilchen zu einem gegebenen Zeitpunkt momentan in Ruhe ist
Hat eine Größe im Viererformalismus mehrere Indizes, trans- (dx=dt D 0), gilt in diesem Augenblick
formiert jeder entsprechend seiner Position. Werden Indizes
kontrahiert wie im Skalarprodukt ds2 D c2 dt2 : (18.26)
a b D  a b D a0 b0 C ai bi D a0 b0  ai bi ; (18.23) Wegen der Lorentz-Invarianz von ds2 gibt
s
dann ist es eine Invariante unter Lorentz-Transformationen
p  
(Lorentz-Skalar). dx.t/ 2 2
d D ds=c D dt  dx.t/ =c D dt 1 
2 2 2 =c
dt
Frage 3
dt
Verifizieren Sie diese Aussage mit den Transformationsmatri- D (18.27)
zen   und   . Überprüfen Sie auch, dass diese für die .v .t//
Standard-Lorentz-Transformation (18.3) tatsächlich inverse Ge- für beliebige Inertialsysteme die differenzielle Eigenzeit des
schwindigkeitstransformationen darstellen. Teilchens an. Aufintegriert über ein Zeitintervall t1 bis t2 eines
gegebenen Inertialsystems ist die Eigenzeit, die für ein beliebig
Ein wichtiges Beispiel für eine Lorentz-Invariante ist der in den bewegtes Teilchen währenddessen vergeht, gegeben durch
vorhergehenden Kapiteln schon öfters benötigte Wellenoperator
Zt2
dt
1  D  .t2  t1 /; (18.28)
  2 @2t   D @ @  @2 : (18.24) .v .t//
c t1
Dessen Invarianz spiegelt ja gerade die Konstanz und Isotropie
da   1 ist.
der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum wider. (In Medien, wo c
durch c=n ersetzt wird, ist dies offensichtlich nicht mehr ge- Während die gewöhnliche Dreiergeschwindigkeit dx=dt ein
geben, wie wir in Abschn. 18.6 noch ausführlicher diskutieren kompliziertes Transformationsverhalten bei Wechsel des Be-
werden.) zugssystems hat, transformiert wegen der Invarianz von d die
18.2 Manifest Lorentz-kovariante Maxwell-Gleichungen 617

Vierergeschwindigkeit, definiert durch entfernt. Poincaré hatte zwar schon erkannt, dass diese Trans-
  formationsgleichungen Drehungen in einem vierdimensionalen
dx dt dx c Raum mit imaginärer Zeit entsprechen, verfolgte diesen Zugang
u D D D .v .t// ; (18.29)
d d dt v .t/ aber nicht weiter. Eine konsequent vierdimensionale Formu-
lierung der Elektrodynamik wurde von Hermann Minkowski
unter Lorentz-Transformationen entsprechend der Indexstel- (1908) aufgestellt und nach dessen frühem Tod (1909 an ei-
lung, d. h., u0 D   u . ner damals unbehandelbaren Blinddarmentzündung) von dem
deutschen Physiker Arnold Sommerfeld (1868–1951) weiterent-
Frage 4 wickelt.
Rechnen Sie nach, dass das Viererquadrat u u , wie es sein
muss, eine Lorentz-Invariante ist, nämlich c2 .

Viererstromdichte

Teil II
Multiplikation mit der Ruhemasse m eines Teilchens definiert
den Viererimpuls
Für die Potenziale und A ist zunächst nicht klar, ob sie
p D mu ; p0 D E=c D  mc; p D  mv : (18.30) zusammengefasst ko- oder kontravariant unter Lorentz-Trans-
formationen transformieren. Diese Frage ist am leichtesten
Hierbei ist E die relativistische Energie, die in Ruhe gleich mc2 über die Quellterme zu beantworten, denn und j müssen für
ist und bei nichtrelativistischen Geschwindigkeiten ˇ D v =c die Konsistenz der Maxwell-Gleichungen die Kontinuitätsglei-
1 die gewohnte nichtrelativistische kinetische Energie als chung (11.5), nämlich
Term zweiter Ordnung in ˇ enthält:
@
r jC D 0; (18.33)
 
2 1=2 mv 2 @t
E D cp D mc 1  v =c
0 2 2
D mc C
2
C O.ˇ 4 /:
2
(18.31) erfüllen. Diese Gleichung muss für jedes Inertialsystem Gültig-
 keit haben und sollte daher Lorentz-invariant sein. Von den dar-
Das Viererquadrat von p ist
in auftretenden raumzeitlichen Ableitungen wissen wir schon,
p p D E2 =c2  p2 D m2 c2 ; (18.32) dass sie den Vierergradienten
 
was die relativistische Energie-Impuls-Beziehung E2 D m2 c4 C .1=c/ @=@t
@ D (18.34)
c2 p2 beinhaltet. r

bilden. Die Kontinuitätsgleichung lässt sich offenbar als Lo-


rentz-Skalar
18.2 Manifest Lorentz-kovariante @ j D @0 j0 C @m jm D 0 (18.35)
Maxwell-Gleichungen schreiben, wenn und j in
 
c
Wie schon mehrfach angemerkt, war es die Elektrodynamik, j D (18.36)
die Einstein zur Formulierung der speziellen Relativitätstheorie j
führte. Die Maxwell-Gleichungen sind relativistische Gleichun-
gen, was durch ihre übliche nichtrelativistische Formulierung mit oberen Indizes, also als Komponenten eines kontravarianten
nicht aufgehoben, sondern nur verschleiert wird. Für eine Lo- Vektorfeldes, zusammengefasst werden.
rentz-kovariante Formulierung gilt es, Vierergrößen zu identi- Damit ist das Transformationsverhalten unter Lorentz-Transfor-
fizieren, in denen die elektrischen und magnetischen Feldstär- mationen festgelegt: Es ist exakt analog zu dem von Viererorts-
ken mit ihren Quellen, den Ladungs- und Stromdichten, Platz vektoren (und entgegengesetzt zu dem von Vierergradienten).
finden. Wie dies gehen soll, ist für die elektromagnetischen Für die Standard-Lorentz-Transformation in x-Richtung ergibt
Feldstärken zunächst nicht offensichtlich. Allerdings haben wir sich
schon gesehen, dass die homogenen Maxwell-Gleichungen ein
für alle Mal gelöst werden können, wenn man zu den Potenzia- c 0 .x0 / D  c .x/  ˇj1 .x/ ;
len und A übergeht, die vier Felder darstellen, genauso wie
die vier Quellterme und j. Wenn man schon den Viererfor- j01 .x0 / D  j1 .x/  ˇc .x/ D  j1 .x/  v .x/ ;
malismus kennt, ist es nicht weiter verwunderlich, dass diese j02;3 .x0 / D j2;3 .x/; (18.37)
jeweils in Vierervektorfelder zusammengefasst werden können.
Einstein hatte diesen anfangs natürlich noch nicht zur Verfü- wobei sich die Argumente auf ein und denselben Raumzeit-
gung, und auch die Transformationsgleichungen, die vor ihm punkt beziehen, links durch x0 und rechts durch x repräsen-
Lorentz und Poincaré aufgestellt hatten, waren davon noch weit tiert.
618 18 Relativistische Formulierung der Elektrodynamik

y
Transformation von Linienladungen und -strömen = 0, jx

Betrachten wir in einem Inertialsystem S eine auf der x-


v+
Achse lokalisierte Linienladungsdichte
x
D ı.y/ı.z/; (18.38) v−

wobei  die Ladung pro Längeneinheit ist. Bei einer z


Lorentz-Transformation auf S0 , das sich in positiver x-
Richtung mit Geschwindigkeit v bewegt, wird daraus y  
= 0, jx
0 v
D ; j0x D v  D v 0 : (18.39)
Teil II

v +
0
Wie zu erwarten, liegt in S nun ein elektrischer Strom
j0x D v 0 vor, da sich von S0 aus gesehen alle Ladungs- x
träger mit Geschwindigkeit v nach links bewegen. Die v −
Ladungsdichte ist gegenüber dem System, in dem die Li-
nienladung ruht, allerdings um einen Faktor  erhöht. z
Dies ist eine direkte Konsequenz der Lorentz-Kontrakti-
Abb. 18.1 Neutraler Strom als gegeneinander bewegte Linienladungen in S
on, denn diese führt dazu, dass die gleiche Ladung auf wird zu Strom plus Nettolinienladung in S0
eine um den Faktor  verkürzte Strecke kommt.
Betrachten wir nun den umgekehrten Fall, dass in S eine
reine Linienstromdichte vorliegt, gegengesetzter Richtung bewegen (Abb. 18.1). Die Ladung, die
in S0 auftritt, erklärt sich dann als die unterschiedliche Lorentz-
jx D Iı.y/ı.z/; (18.40) Kontraktion, die diese ursprünglich kompensierenden Dichten
in diesem System erfahren, da sich die Geschwindigkeit für die
aber D 0. Dann ergibt dieselbe Lorentz-Transformation eine verringert und für die andere erhöht.
0
c D ˇ Iı.y0 /ı.z0 /; j0x D  jx : (18.41)

Nun ist der Strom erhöht, aber viel bemerkenswerter ist, Viererpotenzial
dass in S0 auch eine Ladungsdichte auftritt.
Die Notwendigkeit dafür erhellt sich, wenn wir zusätzlich In (11.132) und (11.133) haben wir die Feldgleichungen für die
eine Punktladung betrachten, die sich im ursprünglichen Potenziale und A bereits in eine sehr symmetrische Form ge-
System S in einem gewissen Abstand von der Linien- bracht:
stromdichte befindet. Für einen Beobachter in S wirken  
keine Kräfte auf das Punktteilchen, solange sich die 1 1
 C @ t r  A C @ t D 4 ;
Ladung dort in Ruhe befindet. Für Beobachter in S0 be- c c
  (18.42)
wegt sich die Ladung aber entlang der Linienstromdichte. 1 4
Da das Magnetfeld des Stromes diesen kreisförmig um- A  r r  A C @ t D  j:
c c
schließt, gibt es hier eine Kraft / qv 0  B0 , die je nach
Vorzeichen der Ladung in Richtung der x0 -Achse oder
von dieser weg zeigt. Da aber in S0 auch eine elektri- Nachdem wir erkannt haben, dass .c ; j/ den Vierervektor j
sche Ladungsdichte 0 vorliegt, gibt es zusätzlich eine bilden und gemäß (18.24)  D @2 eine Lorentz-Invariante ist,
Coulomb-Kraft senkrecht zur x0 -Achse, die gerade der ist klar, dass die Kombination . ; A/ wie j die kontravarianten
magnetischen die Waage hält. J Komponenten eines Vierervektorfeldes bildet:
 
A D : (18.43)
Dieses Beispiel macht deutlich, dass elektrische und magneti- A
sche Felder nur verschiedene Seiten einer Medaille sind. Die
Existenz magnetischer Felder und der zugehörigen Lorentz-
Kraft ist ein rein relativistischer Effekt! Der Term .r  A C 1c @ t / in (18.42) ist dementsprechend ein
Lorentz-Skalar,
Man kann dies noch klarer machen, indem man den Fall, wo in
S nur ein Strom vorliegt, physikalisch dadurch realisiert, dass 1
sich zwei Linienladungen mit kompensierender Stärke in ent- @ A D @ t C r  A; (18.44)
c
18.2 Manifest Lorentz-kovariante Maxwell-Gleichungen 619

während die Ableitungsoperatoren davor, . 1c @ t ; r /, passender- Damit ist explizit gezeigt, dass die Differenzialoperatoren in den
weise die kontravarianten Komponenten des Vierergradienten inhomogenen Maxwell-Gleichungen zusammengenommen die
sind: 1  Viererdivergenz des Feldstärketensors bilden. Diese können al-
  @ so elegant in einer Gleichung zusammengefasst werden.
@ D  @ D c t : (18.45)
r

Die inhomogenen Maxwell-Gleichungen in (18.42) lassen sich Inhomogene Maxwell-Gleichungen in Vierernotation


damit mit den Viererpotenzialen in eine Gleichung zusammen- 4 
fassen: @ F  D j (18.52)
c
4 
.@ @ /A C @ .@ A / D  j (18.46)
c
Die Kontinuitätsgleichung @ j D 0 ergibt sich unmittelbar als

Teil II
oder, mit umbenannten Indizes und einem Vierergradienten aus- Integrabilitätsbedingung (Konsistenzforderung) dieses Systems
geklammert: von partiellen Differenzialgleichungen, nämlich aus der Tatsa-
che, dass F  ein antisymmetrischer Tensor ist, während @ @
  4  symmetrisch ist.
@ @ A  @ A D j : (18.47)
c

Feldstärketensor Dualer Feldstärketensor

Der antisymmetrische Lorentz-Tensor Sofern nicht wie oben die homogenen Maxwell-Gleichungen
schon durch Verwendung der Potenziale erfüllt sind, brauchen
F  WD @ A  @ A ; (18.48) wir auch noch eine Lorentz-kovariante Formulierung für die
homogenen Maxwell-Gleichungen. Dafür führen wir folgende
der in der Zusammenfassung der inhomogenen Maxwell-Glei- Verallgemeinerung des dreidimensionalen Levi-Civita-Symbols
chungen in (18.47) auftritt, heißt Feldstärketensor. Er enthält auf vier Indizes ein:
die elektrischen und magnetischen Feldstärken verteilt auf die
sechs unabhängigen Einträge, die eine antisymmetrische Matrix 8
< C1 wenn  gerade Permutation von 0123,
bietet, gemäß "  WD 1 wenn  ungerade Permutation von 0123,
: 0 sonst.
0 1
0 Ex Ey Ez
(18.53)
BEx 0 Bz By C
F  D@ D F  :
Bx A
(18.49)
Ey Bz 0 Achtung Mit dieser Definition ist "0123 D C1, aber "0123 D
Ez By Bx 0 00 11 22 33 "0123 D 1. Das könnte genau andersherum auch
definiert werden, und tatsächlich finden sich diese nur durch ein
Frage 5 globales Vorzeichen unterschiedlichen Definitionen etwa gleich
häufig in den Lehrbüchern. J
Verifizieren Sie die Übereinstimmung mit den Definitionen der
Potenziale (11.128) und (11.125). Beachten Sie dabei das Vor- Ganz ähnlich wie in drei Dimensionen stellt "  einen
zeichen in (18.45)! numerisch invarianten Tensor dar, wenn man sich auf Trans-
formationen beschränkt, deren Determinante eins ist. Dies wird
von den Lorentz-Transformationen erfüllt, die entweder reine
Wird der Feldstärketensor mit unteren Indizes geschrieben, dre-
Geschwindigkeitstransformationen oder Drehungen sind, ohne
hen sich nur die Vorzeichen der gemischt räumlich-zeitlichen
zusätzlich eine Raumspiegelung oder Zeitumkehr zu beinhalten.
Komponenten, also der elektrischen Feldstärken, um. Es gilt
Mit diesem "-Tensor wird der duale Feldstärketensor definiert
als
Ei D F0i D @0 Ai  @i A0 D Fi0 D F i0 D F 0i ;
1 1 (18.50) 0 1
Bi D  "ijk Fjk D  "ijk F jk ; Fij D "ijk Bk : 0 Bx By
Bz
2 2 1   BBx 0 Ey C
Ez
FQ  WD " F  D @ :
2 By Ez 0Ex A
Gleichung (18.47) enthält nun auf der linken Seite Bz Ey Ex0
    (18.54)
0 C @i F i0 r E Im Vergleich zu F  ist hier E ! B und B ! E aus-
.@ F  / D D :
@0 F 0n C @i F in  c @t E C r  B
1
getauscht. Genau derselbe Austausch passiert beim Wechsel
(18.51) zwischen inhomogenen und homogenen Maxwell-Gleichungen.
620 18 Relativistische Formulierung der Elektrodynamik

Damit können wir die homogenen Maxwell-Gleichungen Lo- ist), dann sind diese, wie schon in Abschn. 11.5 besprochen,
rentz-kovariant anschreiben als nicht eindeutig, sondern können durch die Eichtransformatio-
nen (11.134) und (11.135) verändert werden, ohne dass sich die
@ FQ  D 0: (18.55) Feldstärken ändern. Diese Eichtransformationen lauten auf Ebe-
ne der Viererpotenziale einfach
Frage 6
Brechen Sie diese Gleichungen auf Dreiernotation herunter und A .x/ ! A .x/ C @ .x/; (18.59)
überzeugen Sie sich, dass dies auf die gewohnten homogenen
Maxwell-Gleichungen führt. was in F  D @ A  @ A wegen .@ @  @ @ / D 0
herausfällt. (Offensichtlich muss .x/ dafür so beschaffen sein,
dass die Voraussetzungen des Schwarz’schen Satzes nicht ver-
letzt werden.)
Teil II

Homogene Maxwell-Gleichungen in Vierernotation


Mit dem dualen Feldstärketensor sind die homogenen Diese Eichfreiheit kann zu einer Vereinfachung der Feldglei-
Maxwell-Gleichungen in Vierernotation gegeben durch chungen für die Viererpotenziale genutzt werden, die darüber
hinaus in allen Inertialsystemen gleichzeitig wirksam ist. Die
1   Lorenz-Eichbedingung (die wie schon erwähnt auf den Dänen
@ FQ  D 0; FQ  D " F  : (18.56) Ludvig Lorenz und nicht auf den Niederländer Hendrik Lorentz
2
zurückgeht) lautet kovariant geschrieben
Alternativ kann dies auch direkt mit dem Feldstärketensor
geschrieben werden als @ A D 0 (18.60)
     
@ F C@ F C@ F D 0: (18.57) und ist damit Lorentz-invariant. Andere Eichbedingungen wie
die Coulomb-Eichung sind natürlich ebenso zulässig, gelten
dann aber nur in gewissen Inertialsystemen.
Frage 7
Überzeugen Sie sich davon, dass (18.57) ebenso wie (18.56) Mit der Lorentz-invarianten Lorenz-Eichbedingung vereinfacht
einen Satz von vier Gleichungen darstellt. Zeigen Sie die Äqui- sich (18.47) zur inhomogenen Wellengleichung
valenz entweder explizit oder durch die Beobachtung, dass
"  invariant unter zyklischer Vertauschung von drei Indi- 4 
A D j : (18.61)
zes ist, wenn ein vierter festgehalten wird. c

Durch F  D @ A  @ A werden die homogenen Maxwell-


Gleichungen @ FQ  D 0 automatisch gelöst:

1   18.3 Lorentz-Transformation


@ FQ  D @ " F 
2 von Feldstärken
1   (18.58)
D " .@ @ A  @ @ A /
2
D"  
@ @ A D 0; F  transformiert entsprechend der Indexstellung unter x0 D
  x gemäß
wobei im zweiten Summanden in der Klammer zunächst die
Indizes umbenannt wurden und danach verwendet wurde, dass F 0  .x0 / D     F   .x/: (18.62)
(unter den Voraussetzungen des Schwarz’schen Satzes) die par-
tiellen Ableitungen vertauschbar sind, @ @ D @ @ , während Das Argument des Feldstärketensors bezieht sich dabei auf
eine entsprechende Vertauschung der Indizes des antisymmetri- denselben Raumzeitpunkt, dargestellt durch die jeweiligen Ko-
schen "-Tensors ein negatives Vorzeichen gäbe. ordinaten des betrachteten Bezugssystems.

Betrachten wir unsere Standard-Lorentz-Transformation in x-


Richtung,
Eichtransformationen
0 1
 ˇ 0 0
Wurden die homogenen Maxwell-Gleichungen durch Einfüh-  Bˇ  0 0C
.  / D @ ;
0A
(18.63)
rung der Viererpotenziale gemäß F  D @ A  @ A gelöst 0 0 1
(was in einfach zusammenhängenden Gebieten immer möglich 0 0 0 1
18.3 Lorentz-Transformation von Feldstärken 621

so ergibt einfaches Ausmultiplizieren als Matrizen F 0  D


  F     D .F> / , seine Platten in einer Längsrichtung bewegen. Zusätzlich
0 1 entsteht ein magnetisches Feld in y-Richtung, das von ei-
0 Ex0 Ey0 Ez0 nem Flächenstrom in x-Richtung produziert wird.
BEx0 0 B0z By0 C
B 0 0 C (18.64)
@Ey Bz 0 B0x A z z
Ez0 By0 B0x 0
0 10 10 1 +σ
v
 ˇ 0 0 0 Ex Ey Ez  ˇ 0 0
Bˇ  0 0C BEx 0 Bz By C Bˇ  0 0C E
D@ ;
0 0 1 0A @Ey Bz 0 Bx A @ 0 0 1 0A x x
0 0 01 Ez By Bx 0 0 0 01
−σ

Teil II
für die kartesischen Komponenten der elektrischen und magne-
tischen Feldstärken:
Orientieren wir den Plattenkondensator dagegen senk-
Ex0 D Ex ; Ey0 D .Ey  ˇBz /; Ez0 D .Ez C ˇBy /; recht zur Bewegungsrichtung, sodass das E-Feld in x-
B0x D Bx ; By0 D .By C ˇEz /; B0z D .Bz  ˇEy /: Richtung zeigt, ändert sich die Flächenladungsdichte
(18.65) nicht, und dazu passend ist Ex0 D Ex , denn die Nor-
Für eine beliebige Richtung der Relativgeschwindigkeit der In- malkomponente des elektrischen Feldes ist unmittelbar
ertialsysteme kann dies etwas allgemeiner geschrieben werden durch 4  gegeben. Obwohl in dieser Situation offen-
als sichtlich eine nichttriviale Stromdichte j0x vorliegt, gibt
E0k D Ek ; E0? D  .E? C ˇ  B? / ; es in S0 gemäß (18.65) kein Magnetfeld. Der Grund ist
(18.66)
B0k D Bk ; B0? D  .B?  ˇ  E? / ; die Symmetrie des Problems – die Magnetfeldbeiträge
(schon von einer Kondensatorplatte für sich) heben sich
wobei die Bezeichnungen k und ? die Anteile der Dreierfeld- in der Superposition auf (siehe hierzu auch den Kasten
stärken parallel bzw. senkrecht zum Geschwindigkeitsvektor „Vertiefung: Magnetfelder in anderen als drei Raumdi-
ˇ D v =c bedeuten. (Man beachte hier den Unterschied zum mensionen“). Die Lorentz-Transformation liefert dieses
Transformationsverhalten von Vierervektoren, bei denen sich Ergebnis frei Haus.
gerade die Dreiervektoren parallel zu v verändern, während da-
zu senkrechte gleich bleiben.) z E z

Frage 8
v
Überzeugen Sie sich, dass (18.66) für v D v eO x wieder (18.65)
+σ −σ
ergibt und dass durch die Isotropie (Drehinvarianz) des Raumes
damit die allgemeinere Form schon bewiesen ist. x x

Bewegter Kondensator und bewegte Spule

Als einfache Beispiele, in denen die Transformationsge- Betrachten wir nun eine unendlich ausgedehnte zylin-
setze für die Feldstärkekomponenten, die so ganz anders derförmige Spule, deren Achse in x-Richtung zeigt. In
strukturiert sind als die von anderen Dreiergrößen, ver- diesem Fall fließt bei einer idealen, infinitesimal fein ge-
ständlich werden, sollen einmal ein unendlich ausgedehn- wickelten Spule der Strom in der Ebene senkrecht zur
ter Plattenkondensator und einmal eine unendlich lange x-Achse und erzeugt ein Magnetfeld in x-Richtung. Wird
Spule betrachtet werden. Beide liefern einfachste phy- die Spule in x-Richtung bewegt, bleibt gemäß (18.65)
sikalische Realisierungen von homogenen Feldstärken, B0x D Bx . Dies passt dazu, dass jy;z unter einer Lor-
die wir in Inertialsystemen vergleichen wollen, die sich entz-Transformation in x-Richtung unverändert bleiben.
um eine Standard-Lorentz-Transformation in x-Richtung Letzteres überrascht vielleicht, wenn man sich eine Spu-
voneinander unterscheiden. le mit N Windungen pro Längeneinheit vor Augen hält,
denn die Lorentz-Kontraktion in x-Richtung erhöht na-
Ist in S ein Plattenkondensator vorhanden, dessen Plat- türlich die Zahl der Windungen in S0 auf N 0 D  N
ten bei z D ˙a positioniert sind, dann haben wir ein pro neuer Längeneinheit. Warum kommt dieser Umstand
homogenes elektrisches Feld in z-Richtung vorliegen. In in den Transformationsgesetzen für jy;z nicht zum Vor-
S0 ist gemäß (18.65) Ez0 D  Ez um den  -Faktor erhöht. schein? Die Antwort ist, dass Strom durch transportierte
Die Ursache dafür liegt offenbar in der Lorentz-Kontrak- Ladung pro Zeiteinheit gegeben ist. Während die Ladung
tion der Oberflächenladung des Kondensators, wenn sich invariant ist, ist es die Zeit nicht. Die Zeitdilatation lässt
622 18 Relativistische Formulierung der Elektrodynamik

kompliziertere Lorentz-Skalare wie z. B. F  F F  F im-


den Strom in S0 um einen kompensierenden Faktor  mer durch die quadratischen Invarianten darstellen lassen: Ein
langsamer fließen, sodass die Stromdichte transversal zur Lorentz-Skalar muss unter anderem invariant unter gewöhnli-
Bewegungsrichtung unverändert bleibt. chen Drehungen sein, aber aus E und B lassen sich nur drei
Skalare bezüglich Drehungen bilden, nämlich E2 , B2 und E  B.
z z Wie ein Blick auf (18.66) lehrt, sind aber E2 oder B2 für sich
y y
genommen keine Lorentz-Skalare, es gibt also maximal zwei
I B v Invarianten.

Frage 9
x x Rechnen Sie (18.67) bis (18.69) nach.
Teil II

N
Die Lorentz-Invarianz von (18.67) und (18.68) bedeutet, dass
J bei einem Wechsel des Inertialsystems von S auf S0 die entspre-
chenden Kombinationen der elektromagnetischen Feldstärken
unverändert bleiben:

E2 .x/  B2 .x/ D E 02 .x0 /  B 02 .x0 /;


(18.70)
Invarianten des Feldstärketensors E.x/  B.x/ D E0 .x0 /  B0 .x0 /;

wobei sich die unterschiedlichen Koordinaten x und x0 auf ein


Wie wir gesehen haben, transformieren die sechs Komponen- und denselben Raumzeitpunkt beziehen.
ten von F  im Verbund, und es werden dabei elektrische
und magnetische Komponenten im Allgemeinen gemischt. Aus Daraus lassen sich unmittelbar eine Reihe von nützlichen Aus-
dem Vierertensorfeld F  lassen sich aber Lorentz-Skalarfel- sagen für beliebige Inertialsysteme folgern. (Dass Spiegelungen
der konstruieren, die invariant unter Lorentz-Transformationen für (18.68) ausgeschlossen werden müssen, stellt keine physi-
sind (d. h., sie verändern sich nur insofern, als die Raumzeit- kalisch relevante Einschränkung dar, denn diese kommen bei
punkte, über denen sie definiert sind, in den unterschiedlichen einem aktiven Wechsel von einem Inertialsystem in ein anderes
Inertialsystemen unterschiedliche Koordinaten haben). nicht vor.)

Um einen Lorentz-Skalar zu bekommen, müssen die Indizes Ist jEj kleiner, größer oder gleich jBj in einem Inertialsystem
„abgesättigt“ werden. Das einfachste wäre eine Kontraktion mit S, so gilt dies in jedem.
der Metrik  , aber F   verschwindet identisch, weil Ist der Winkel #, den E und B in einem System einschließen,
F  antisymmetrisch und  symmetrisch ist. Wir brauchen kleiner als 90ı (größer als 90ı ), dann ist E  B > 0 (< 0),
also einen weiteren antisymmetrischen Tensor, und davon haben und dasselbe gilt in allen anderen Systemen.
wir bereits zwei zur Verfügung: F  selbst sowie den dualen Ist E in einem System null, dann ist in allen anderen Sys-
Feldstärketensor FQ  . Dies führt auf die beiden Invarianten des temen E0 senkrecht auf B0 und jE0 j < jB0 j. Ist umgekehrt
Feldstärketensors B in einem System null, dann ist in allen anderen Systemen
E0 senkrecht auf B0 und jE0 j > jB0 j. (Ohne Beweis sei an-
F  F D 2 .E2  B2 /; (18.67) gemerkt, dass auch die Umkehrung dieser Schlussfolgerung
gilt.)
F  FQ  D 4 E  B: (18.68)
Ist E senkrecht zu B und jEj D jBj in einem System, dann
stehen auch in allen anderen Systemen die Felder senkrecht
Dabei ist F  F ein echter Lorentz-Skalar; F  FQ  ist aufeinander und sind betragsgleich.
dagegen ein Lorentz-Pseudoskalar, der unter allen Lorentz-
Transformationen mit det.  / D 1 invariant bleibt, aber sein
Vorzeichen ändert, wenn eine Spiegelung der räumlichen Koor-
dinaten oder eine Zeitumkehrtransformation gemacht wird. Die Feld einer gleichförmig bewegten Punktladung
weitere Möglichkeit, den dualen Feldstärketensor mit sich selbst
zu multiplizieren, liefert nichts Neues mehr:
Als ein für das Weitere sehr instruktives Beispiel werden wir
F Q  FQ   F 
F : (18.69) nun das Feld einer gleichförmig bewegten Punktladung durch
Lorentz-Transformation des Coulomb-Feldes einer ruhenden
Punktladung berechnen. Im Ruhesystem S liegt nur ein E-Feld
Man kann sich auch leicht davon überzeugen, dass es nicht vor,
mehr unabhängige Invarianten des Feldstärketensors als die eO r .x; y; z/>
EDq 2 Dq 2 ; (18.71)
quadratischen Formen (18.67) und (18.68) gibt und dass sich r .x C y2 C z2 /3=2
18.3 Lorentz-Transformation von Feldstärken 623

a y b y c y

E(r) E  (r) E  (r  )

x x x

Teil II
Abb. 18.2 Lorentz-Transformation des elektrischen Feldes einer Punktladung. (a) Im Ruhesystem des Teilchens zeigt das E.r/-Feld radial nach außen und fällt mit
dem Quadrat der Entfernung isotrop ab, hier gezeigt für zwei Radien und acht Richtungen. (b) Im System S0 , zu einem Zeitpunkt, in dem sich das Teilchen im Ursprung
befindet, messen die bewegten Beobachter veränderte Felder E0 an denselben Punkten. Werden diese Ergebnisse in den Koordinaten des Ruheystems dargestellt
(weil z. B. die bewegten Beobachter diese Ergebnisse an die ruhenden kommuniziert haben), dann ergibt sich ein Feldlinienbild, in dem die Feldstärken nicht mehr zur
momentanen Position der Punktladung zeigen, weil alle transversalen Komponenten um einen Faktor  (hier  D 2) vergrößert sind, nicht aber Ex . (Die Feldlinien
wären hier durch Kurven y D Cx dargestellt.) (c) Im System S0 sind aber die Messpunkte nicht mehr kreisförmig angeordnet, sondern Lorentz-kontrahiert. Dadurch
rücken diese um einen Faktor 1= in x0 -Richtung zusammen, und die Feldstärken zeigen allesamt wieder auf den momentanen Aufenthaltspunkt der Punktladung.
Die Feldstärken sind in transversaler Richtung um einen Faktor  verstärkt. Messen die bewegten Beobachter die Feldstärke in allen Richtungen in gleichem Abstand
von der Punktladung, ergibt sich wegen der Lorentz-Kontraktion außerdem eine Reduktion von Ex0 , weil dieses nun bei größeren Werten x betrachtet wird. Da
das Feld mit dem Quadrat der Entfernung abfällt, erweist es sich für die Beobachter als um 1= 2 in Richtung der Geschwindigkeit reduziert. Das Verhältnis von
maximalen zu minimalen Werten des E0 -Feldes bei konstantem jx0 j beträgt daher  3

anhand von einigen repräsentativen Feldstärke-Vektoren dar- gegeben ist, wobei wir R0 D r0 C v t0 als Abstandsvektor von
gestellt in Abb. 18.2a. Im entlang der positiven x-Achse mit r0 zum momentanen Ort des Punktteilchens bei v t0 eingeführt
Geschwindigkeit v bewegten System S0 , aus dessen Warte sich haben. Durch diese Umrechnung bekommt nun auch Ex0 einen
die Punktladung nach links mit der Bahnkurve x0 .t0 / D v t0 Faktor  , und E0 stellt sich als proportional zu R0 heraus:
bewegt, können wir die Feldstärken unmittelbar aus (18.65) ge-
winnen: q R0
E0 .t0 ; r0 / D : (18.74)
. 2 R02
x C Ry C Rz /
02 02 3=2
Ex0 D Ex ; Ey0 D  Ey ; Ez0 D  Ez ;
0
B D  ˇ  E D ˇ  E ; 0
ˇ D ˇ eO x ;
(18.72) Im System S0 zeigen die elektrischen Feldstärken also weiterhin
radial vom momentanen Ort des Punktteilchens weg. Aller-
wobei die Felder am selben Raumzeitpunkt umzurechnen sind. dings ist ihre Stärke nicht mehr isotrop, sondern in transversalen
Richtungen (R0x D 0) um einen Faktor  größer als im Ruhesys-
Frage 10 tem. In longitudinaler Richtung ist dagegen die Feldstärke um
Warum vereinfacht sich  ˇ  E auf ˇ  E0 ? =. 2/3=2 D 1= 2 vermindert (Abb. 18.2c).
Bezeichnen wir mit # den Winkel zwischen R0 und der x0 -Ach-
se, auf der sich die Punktladung bewegt, so kann das elektrische
Wenn ein Team von synchronisierten Beobachtern in S0 ihre Feld alternativ geschrieben werden als
Messwerte an Physiker im Ruhesystem S übermitteln und letz-
tere aufgrund dieser Informationen ein Feldlinienbild in ihrem q R0
E0 .t0 ; r0 / D
Koordinatensystem zeichnen, werden sie finden, dass die Feld- . 2 R02 cos2 # C R02 sin2 #/3=2
linien E0 keine geraden Linien mehr sind und dass abseits der (18.75)
q.1  ˇ 2 / R0
x-Achse die Vektoren E0 nicht mehr radial nach außen gerichtet D :
sind (Abb. 18.2b). .1  ˇ 2 sin #/3=2 R03
2

Die Beobachter in S0 haben allerdings ihr eigenes Koordinaten- Das Magnetfeld ist durch B0 D ˇ  E0 D ˇ eO 0x  E0 gege-
system, das durch die Rücktransformation ben mit Stärke jB0 j D ˇjE0 sin #j. Die magnetischen Feldlinien
bilden dabei Kreise um die x0 -Achse, die im Uhrzeigersinn ver-
x D .x0 C v t0 /   R0x ; y D y0  Ry0 ; z D z0  R0z laufen, wenn man einer sich entfernenden positiven Ladung q
(18.73) hinterherblickt.
624 18 Relativistische Formulierung der Elektrodynamik

E
B

D
B
A
v θ
cΔt

vΔt
Teil II

Abb. 18.4 Elektrisches Feld einer plötzlich abgestoppten Punktladung, die sich
zuvor gleichförmig nach links bewegte. Außerhalb einer Kugel mit Radius ct,
wobei t die Zeit ist, die seit der Abbremsung vergangen ist, zeigen die elek-
trischen Feldlinien auf die Position (grauer Punkt ), wo sich die Punktladung bei
fortgesetzter gleichförmiger Bewegung befinden würde. Die Information, dass
Abb. 18.3 Elektrische Feldlinien einer bewegten Punktladung die Punktladung gestoppt wurde, breitet sich mit Lichtgeschwindigkeit in Form
einer Schockfront aus. Die Feldlinien innerhalb und außerhalb dieser Schock-
front sind so miteinander verbunden, dass der Nettofluss durch die Oberfläche
des blau markierten Volumens verschwindet, was auf die Beziehung (18.76) für
Frage 11 die Winkel und 0 führt
Betrachten Sie die Zirkulation des elektrischen Feldes entlang
der Kontur ABCD in Abb. 18.3 und schließen Sie daraus, dass
zu diesem Feld ein zeitlich veränderliches magnetisches Feld lich momentanen Aufenthaltsort des Teilchens bei x0 D v t0
gehören muss. zeigen. Für Abstände r0 < ct0 können wir dagegen die Lösung
für eine ruhende Punktladung annehmen, ohne gegen die Prin-
zipien der Relativitätstheorie zu verstoßen.

Die Lösung, die sich ergibt, wenn auf einer kugelförmigen


Feld einer plötzlich abgestoppten Punktladung Grenzfläche r0 D ct0 die beiden Feldkonfigurationen für eine
ruhende und eine gleichförmig bewegte Punktladung aneinan-
der gestückelt werden, ist die einer Schockfront, die sich mit
Anhand der Resultate für das Feld einer gleichförmig bewegten Lichtgeschwindigkeit vom Ursprung, wo die abrupte Abbrem-
Punktladung können wir uns schon überlegen, wie das Feld aus- sung erfolgte, ausbreitet (Abb. 18.4).
sehen kann, wenn die Bewegung nicht gleichförmig ist. Diese
Fragestellung wird im nächsten Kapitel systematisch betrach- Frage 12
tet werden, aber wir können bereits grundlegende Einsichten Überlegen Sie sich, wie das zu Abb. 18.4 analoge elektrische
gewinnen, indem wir uns überlegen, wie zwei unterschiedliche Feldlinienbild aussieht, wenn eine Punktladung ursprünglich
gleichförmige Bewegungszustände kombiniert werden können, ruhte und dann plötzlich auf relativistische Geschwindigkeit be-
sodass die Grundprinzipien der Relativitätstheorie erfüllt wer- schleunigt wurde (Purcell 1989, Abb. 5.17).
den.

Zu diesem Zweck nehmen wir an, dass eine gleichförmige


Bewegung abrupt gestoppt wird. Die Punktladung soll bei- Da die Stückelung der beiden Lösungen im ladungsfreien Raum
spielsweise bei negativen Zeiten wie zuvor entlang der x-Achse durchzuführen ist, müssen die elektrischen Feldlinien diesseits
mit Geschwindigkeit v eO x gelaufen sein, aber beim Zeitpunkt und jenseits der Schockfront so miteinander verbunden werden,
t0 D 0 abrupt zum Stillstand gebracht worden sein. Für positive dass das elektrische Feld divergenzfrei bleibt. Der elektrische
Zeiten t0 > 0 haben wir dann einfach eine ruhende Punktladung Fluss durch eine geschlossene Oberfläche muss null sein, so-
mit ihrem Coulomb-Feld vorliegen, aber diese Lösung kann lange diese nicht das gestoppte Teilchen einschließt. Betrachten
nicht für den gesamten Raum gültig sein, denn die Informati- wir dazu die Oberfläche des Volumens, das sich ergibt, wenn
on, dass die Ladung gestoppt wurde, kann sich nicht schneller das blau schattierte Gebiet in Abb. 18.4 um die Symmetrieachse
als mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. rotiert wird. Die Feldlinien durchstoßen hier zwei Kugelkap-
pen, von denen sich eine innerhalb und eine außerhalb der
Für Abstände r0 > ct0 kann das elektromagnetische Feld da- Schockfront befindet. Die Fläche, mit der diese verbunden
her nur so aussehen, als würde sich die Punktladung weiterhin sind, folgt dabei dem Feldlinienverlauf, sodass dort kein Fluss
gleichförmig bewegen. Die elektrischen Feldlinien sind dort, durch diesen Teil der geschlossenen Oberfläche auftritt. Aus
wie wir gesehen haben, gerade Linien, die auf den vermeint- der Bedingung, dass der Fluss durch die beiden Kugelkappen
18.4 Elektromagnetische Viererkräfte 625

gegengleich ist, kann nun der Zusammenhang zwischen den Bewegungsgleichung für ein geladenes
Feldlinien berechnet werden. Wie in Aufgabe 18.3 gezeigt wird,
Punktteilchen in einem äußeren Feld
ergibt sich damit folgende Beziehung zwischen den Winkeln
bzw. 0 , die die Feldlinien auf beiden Seiten der Schockfront
mit der x-Achse einschließen: Ein Punktteilchen mit Ladung q und Bahnkurve x.t/ bezüglich
eines Inertialsystems S hat als Viererstromdichte
0
tan D  tan : (18.76) ! !
 c c d
j D Dq ı.rx.t//; v .t/ D x.t/; (18.80)
j v .t/ dt
Frage 13
Verifizieren Sie, dass diese Winkeländerung genau dieselbe ist, während sein Viererimpuls durch
die ein Stab aufgrund der Lorentz-Kontraktion erfährt, wenn er !

Teil II
in seinem Ruhesystem den Winkel mit der Achse der Lorentz-   c
Transformation einschließt. Damit ist die Feldlinienverteilung p D mu D m (18.81)
v
einer gleichförmig bewegten Punktladung (siehe Abb. 18.3)
exakt dieselbe wie eine, die man erhält, wenn man diese im Ru- gegeben ist.
hesystem durch ein Bündel von gleichmäßig verteilten starren
Speichen darstellt und dieses Lorentz-transformiert. Die Bewegungsgleichung ist damit bestimmt durch
Z Z
d  1 q
p D dV f  D dV F  j D F  .t; x.t// u =:
dt c c
(18.82)
In Dreierkomponenten ausgeschrieben ist dies
18.4 Elektromagnetische
d 0 d q
Viererkräfte p D E=c D E  v ; (18.83)
dt dt c
d v .t/
p D F.t/ D q E.t; x.t// C  B.t; x.t// ; (18.84)
dt c
Viererkraftdichte
also die gewohnten Ausdrücke für Leistung und Lorentz-Kraft
auf der rechten Seite, während auf der linken Seite die relati-
Die (Dreier-)Lorentz-Kraftdichte (11.5) kann mit F D Ei ,
i0
vistischen Ausdrücke für Energie und Impuls einzusetzen sind,
F ij D "ijk Bk und j D .c ; j/ unmittelbar in eine aufschluss-
E D .v / m c2 und p D .v / mv .
reiche Form gebracht werden:
Mit dem  -Faktor auf die linke Seite gebracht, kann (18.82)
1 1 auch als Lorentz-kovariante Gleichung angeschrieben werden,
f L D E C j  B D .j0 E C j  B/ die die Eigenzeit  anstelle der Koordinatenzeit t beinhaltet:
c
0 10 0 c 1
F
1 @ 20 0 j  F 12 2
j  F 13 j3
d  d q
D F j  F 21 j1  F 23 j3 A p D mu D F  .x.// u ; (18.85)
c F 30 j0  F 31 j1  F 32 j2 d d c
   
1 i 1 i wobei wir  d=dt D d=d verwendet haben.
D F  j D F j : (18.77)
c c Eine nicht unbedeutende Einschränkung ist hier übrigens die
Betonung auf Bewegung in einem äußeren Feld. Normalerweise
Offenbar ist alles, was f L zu einem Vierervektor fehlt, die Null- kann man das Eigenfeld ignorieren, weil die Unendlichkeiten,
komponente die für ein Punktteilchen damit verbunden sind, keine dynami-
1 1 sche Rolle spielen sollten. Bei beschleunigter Bewegung ist es
fL0 D F 0 j D E  j: (18.78)
c c aber nicht ausgeschlossen, dass sich das Eigenfeld des Teilchens
bzw. endliche Anteile davon ändern, und es kommt zur Frage
Dies ist bis auf den Faktor 1=c genau die in (11.103) definierte nach der korrekten Berücksichtung von Strahlungsrückwirkun-
Leistungsdichte, womit wir eine Viererkraftdichte gen, die wir in obigen Bewegungsgleichungen vernachlässigt
haben. Auch im Kap. 19 zu Abstrahlungsproblemen werden wir
1  diese vernachlässigen, da hier die klassische Elektrodynamik
f D F j (18.79)
c an ihre Grenzen stößt und eine vollständige Behandlung erst
im Rahmen der Quantenelektrodynamik möglich wird (für eine
identifizieren können, die sich aus Lorentz-Kraftdichte und Diskussion der Strahlungsrückwirkung im Rahmen der klassi-
Leistungsdichte dividiert durch c zusammensetzt. schen Elektrodynamik vgl. z. B. Griffiths 2011, Jackson 2006).
626 18 Relativistische Formulierung der Elektrodynamik

Vertiefung: Magnetfelder in anderen als drei Raumdimensionen

Oft erschließen sich tiefere Einblicke durch den Versuch, Dimensionen ist, dass wir eine zweidimensionale Ebene
einen Sachverhalt zu verallgemeinern und damit seine Gren- durch einen einzigen Normalenvektor charakterisieren kön-
zen auszuloten. Mit dem Lorentz-kovarianten Viererforma- nen.
lismus haben wir das Werkzeug in der Hand, um diskutieren
zu können, wie Elektromagnetismus in anderen als drei Physikalisch machen sich Magnetfelder durch die Lorentz-
Raumdimensionen aussieht. Weniger als drei Raumdimen- Kraft bemerkbar, die, wie in (18.77) gezeigt, durch
sionen können tatsächlich ohne Weiteres realisiert werden:
1 i 1
Effektiv zwei- oder eindimensionale Situationen entstehen fi D F j D F i0  F ij jj
schon dadurch, dass alle Felder und Quellen von einer oder c c
Teil II

zwei kartesischen Koordinaten unabhängig sind. Höhere Di- gebildet wird. Coulomb-Kräfte sind Produkte aus skalaren
mensionen kommen erst ins Spiel, wenn mit der Möglichkeit Ladungsdichten und elektrischen Feldstärken, letztere haben
spekuliert wird, dass auf fundamentalster Ebene noch mehr daher gleich viele Komponenten wie Raumdimensionen vor-
als drei Raumdimensionen existieren, wie das in der Super- handen sind; der magnetische Teil der Lorentz-Kraft (die
stringtheorie tatsächlich gemacht wird. Lorentz-Kraft im engeren Sinn) ist dagegen eine tensoriel-
Dass in der Elektrodynamik die elektrischen und magneti- le Kraft: Der antisymmetrische Tensor Fij enthält für jede
schen Felder beide durch Dreiervektoren gegeben sind, stellt Ebene, die f i und jj aufspannen, ein zugehöriges Kraftfeld,
sich dabei als Spezifikum der vierdimensionalen Minkowski- nämlich die entsprechende Magnetfeldkomponente.
Welt heraus. Die elektromagnetischen Felder werden hier Eine unmittelbare Konsequenz ist, dass für d D 1 überhaupt
ja in den antisymmetrischen Tensor F  zusammengefasst, kein Platz für Magnetfelder ist. Die einzige Komponente von
und dieser bietet Platz für zwei Dreiervektoren: Die elektri- F  ist dann F01 D F10 D Ex . Aus diesem Grund gab es
schen Felder werden in Ei D F0i untergebracht, und die drei auch für den effektiv eindimensionalen Fall eines unendlich
Komponenten des B-Feldes haben in den antisymmetrischen ausgedehnten Plattenkondensators, der sich quer zu seinen
räumlichen Komponenten Fij D "ijk Bk Platz. Platten bewegt (wobei die Situation eindimensional bleibt),
kein Magnetfeld, obwohl elektrische Ströme jx vorliegen.
Hätten wir nicht drei, sondern d Raumdimensionen, gäbe es
weiterhin ein Vektorfeld Ei D F0i , nur eben mit d Kompo- Ist ein physikalisches System effektiv zweidimensional (weil
nenten, aber beim Magnetfeld sieht die Sache ganz anders wie bei der unendlich ausgehnten Spule alles translationsin-
aus: Fij hat im Allgemeinen d.d  1/=2 Komponenten, das variant entlang ihrer Achse ist), dann kann es nur eine Ma-
ist nur in d D 3 dasselbe wie d. Dass wir mit Fij D "ijk Bk gnetfeldkomponente geben, F12 , die aus dreidimensionaler
wieder auf einen Vektor mit d Komponenten kommen, funk- Sicht ein B-Feld in z-Richtung ist. Für einen zweidimen-
tioniert offenbar auch nur in d D 3 Dimensionen, denn die sionalen Flachländler, der die dritte Dimension nicht kennt,
Anzahl der Indizes des räumlichen Levi-Civita-Symbols ist würde sich dieses einfach als ein skalares Feld wie Druck
an d gebunden. oder Temperatur darstellen.
Die Struktur des Feldstärketensors zeigt aber unmittelbar, Umgekehrt sieht man für den Fall von höheren Dimensio-
was Magnetfelder eigentlich sind: Felder, deren Kompo- nen, dass die Zahl der Magnetfeldkomponenten quadratisch
nenten zu einem Paar von Indizes gehören, so wie zweidi- mit der Zahl der Raumdimensionen zunimmt. Mit den neun
mensionale Ebenen primär durch ein Paar von Richtungen räumlichen Dimensionen, die die Superstringtheorie fordert,
charakterisiert werden und es auch eine Spezialität von drei kommt man bereits auf 36 Stück.

Elektromagnetischer Energie-Impuls-Tensor Die inhomogenen Maxwell-Gleichungen rückwärts gelesen lau-


ten

In Abschn. 11.4 haben wir Energie- und Impulssatz der Elek- c 


j D @ F  ; (18.86)
trodynamik aus der Leistungsdichte und aus der Lorentz-Kraft- 4
dichte hergeleitet, indem wir mithilfe der inhomogenen Max-
well-Gleichungen in diesen die Quellen durch Felder ersetzt
wodurch die Viererkraftdichte durch einen bilinearen Ausdruck
und dann alles mithilfe der homogenen Maxwell-Gleichungen
in den Feldstärken geschrieben werden kann:
in eine Form gebracht haben, die totale zeitliche oder räumliche
Ableitungen darstellen. Im Viererformalismus lassen sich die
Herleitung des Energiesatzes und die Herleitung des Impulssat- 1  
zes in einem erledigen. f D F @ F  : (18.87)
4
18.5 Relativistische Effekte in der Wellenausbreitung 627

Ziel ist es nun, die rechte Seite als totale Ableitung darzustellen. Dass sich die räumlichen Komponenten von T  vom Max-
Mit der Umformung well’schen Spannungstensor T um ein Vorzeichen unterschei-
den, hat nichts mit den Vorzeichen in der Minkowski-Metrik zu
1     1 tun, sondern liegt an der Vorzeichenwahl in (18.92), die rein
f D @ F F   F  @ F  (18.88)
4 4 historisch bedingt ist. Der Maxwell’sche Spannungstensor wur-
de so eingeführt, dass er Flächenkräfte auf ein geschlossenes
ist der erste Term eine totale Ableitung, während im zwei- Volumen wiedergibt, während Energie- und Impulsströme so
ten Term der Vierergradient nicht mehr mit dem abzuleitenden definiert sind, dass sie aus einem geschlossenen Volumen heraus
Feldstärketensor kontrahiert ist. In letzterem können nun die ho- zeigen.
mogenen Maxwell-Gleichungen in der Form (18.57) verwendet
werden, um nachzuweisen, dass auch der zweite Term eine to- Sind keine Ladungsträger vorhanden, an denen die elektroma-
tale Ableitung ist: gnetischen Felder Kräfte ausüben und Arbeit verrichten können,
ist

Teil II
F  @ F  D F @ F  D F  @ F  (18.89) @ T  D 0 .f  D 0/: (18.94)
1 Man sagt dazu auch, dass in diesem Fall T  kovariant erhalten
D F  .@ F  C @ F  /
2 sei. Für jeden Wert des Index  hat man nämlich eine Kontinui-
1 1 tätsgleichung vorliegen. So wie die Kontinuitätsgleichung für
D  F  @ F  D @ .F  F   /: den Viererstrom, @ j D 0, die Erhaltung von elektrischer La-
2 4 R
dung Q D dV bedeutet, impliziert dies die Erhaltung von
Hierbei wurden im ersten Schritt die Summationsindizes ;  vier weiteren Größen, nämlich Energie und Dreierimpuls des
einfach ausgetauscht (da über beide summiert wird, ist es egal, Feldes. Diese können ebenfalls wieder in eine Vierergröße zu-
wie sie heißen), im zweiten Schritt wurde F D F  zusam- sammengefasst werden:
men mit F  D F  verwendet, und im dritten Schritt wurde Z
die damit gezeigte Gleichheit von F  @ F  mit F  @ F   1
PFeld D dV T 0 : (18.95)
ausgenutzt, um ersteres als die Hälfte der Summe dieser Aus- c
drücke zu schreiben. Damit kann (18.57) eingesetzt werden, um
den freien (äußeren) Index auf die Viererableitung zu übertra- In Anwesenheit von Ladungsträgern (geladenen Elementarteil-
gen. Im letzten Schritt wurde dann nochmals die Antisymmetrie chen) gilt für den Viererimpuls, den diese gemeinsam tragen,
F  D F   verwendet und die Viererableitung vor den qua- die Kraftgleichung
dratischen Ausdruck geschrieben. Insgesamt ergibt dies Z
d 
  PTeilchen D dVf  : (18.96)
1 1 dt
f D  @ F  F  C  F  F   DW @ T  ;
4 4 Die lokale Bilanzgleichung
(18.90)
wobei auch der erste Term aus (18.88) unter Ausnutzung der f  C @ T  D 0
Antisymmetrie des Feldstärketensors etwas umgestellt wurde.
Der Ausdruck in der Klammer von (18.90) definiert den sym- lässt sich damit nach Integration über den ganzen Raum als glo-
metrischen elektromagnetischen Energie-Impuls-Tensor T  . bale Bilanzgleichung für Viererimpulse schreiben:
Vergleichen wir mit Energie- und Impulssatz aus Abschn. 11.4, Z
d  d
PTeilchen C P D  dV @i T i : (18.97)
@ dt dt Feld
cf 0 D E  j D  wem  r  S; (18.91)
@t
@ em
fL D  g C r  T; (18.92)
@t
18.5 Relativistische Effekte
wobei wem die Energiedichte des elektromagnetischen Feldes, S
der Poynting-Vektor, gem die Feldimpulsdichte und T der Max- in der Wellenausbreitung
well’sche Spannungstensor sind, so können wir im Vierertensor
T  folgenden Inhalt identifizieren: Im Vakuum, d. h. ohne Quellen, reduzieren sich die inhomoge-
nen Maxwell-Gleichungen (18.52) auf
1  2 
T 00 D wem D E C B2 ; (18.93)
8 @ F  D 0: (18.98)
1 1
T 0i D c.gem /i D T i0 D .S/i D .E  B/i ; Kontrahieren wir die homogenen Maxwell-Gleichungen in der
c 4 
1 1 Form (18.57) mit einem weiteren Vierergradienten @ ,
T ij D .T/ij D  Ei Ej C Bi Bj  ıij .E2 C B2 / :  
4 2 @ @ F  C @ F  C @ F  D 0; (18.99)
628 18 Relativistische Formulierung der Elektrodynamik

dann folgt mit der vorhergehenden Gleichung unmittelbar dann ergibt sich für den Lorentz-transformierten Wellenvektor

@ @ F    F  D 0: 0 1 0 10 1
(18.100) k0  ˇ 0 0 k
0 0
Bk cos ˛ C Bˇ  0 0C Bk cos ˛ C
k0 D@ 0 D
Jede Komponente von F  erfüllt also (wie wir schon wissen) k sin ˛ 0 A @ 0 0 1 0A @ k sin ˛ A
eine Wellengleichung. 0 0 0 0 1 0
0 1
 k.1 C ˇ cos ˛/
B  k.ˇ C cos ˛/ C
D@ A: (18.106)
Ebene Wellen k sin ˛
0
Ebene elektromagnetische Wellen ergeben sich durch den An-
Vergleichen wir die nullten Komponenten, so sehen wir, dass
Teil II

satz  gilt:
F  .x/ D Re f  eik x (18.101)
k0 !0
D D .1 C ˇ cos ˛/: (18.107)
mit einem (im Allgemeinen komplexen) konstanten Tensor f  k !
und einem reellen konstanten Vierervektor k . Damit reduziert
sich die Wellengleichung (18.100) auf die algebraische Glei- Ein maximaler Effekt tritt auf, wenn ˛ D 0 oder ist. Dann
chung läuft der Beobachter in S0 der Welle entgegen bzw. davon. Für
k k D 0: (18.102) kleine Geschwindigkeiten ˇ D v =c 1 ist
Der Vergleich mit den ebenen Wellen, wie wir sie in Kap. 16  2
diskutiert haben, !0 v cos ˛ v
D1C CO 2 ; (18.108)
! c c
i!tCikx ik x i  x
e De De  k
; (18.103)
was dem klassischen Doppler-Effekt entspricht (benannt nach
zeigt, dass der Viererwellenvektor k folgende Komponenten dem österreichischen Physiker Christian Doppler, 1803–1853):
hat: ! ! ! Frequenzen erhöhen oder erniedrigen sich gemäß dem Verhält-
 k0 !=c jkj nis von der Geschwindigkeit, mit dem sich ein Beobachter auf
k D D D : (18.104)
k k k eine Quelle zu oder von einer Quelle weg bewegt, mit der Aus-
breitungsgeschwindigkeit der Wellen.
Die Dispersionsrelation ! D cjkj  ck ist dabei eine Konse-
quenz von (18.102). Die Relativitätstheorie liefert einen zusätzlichen  -Faktor, der
sogar für ˛ D ˙ =2 zu einer Frequenzänderung führt, also
Frage 14 zu einem transversalen Doppler-Effekt. Dieser Effekt ist offen-
Überzeugen Sie sich, dass in den darüber hinaus zu fordernden kundig eine Konsequenz der Zeitdilatation und wurde erstmals
Gleichungen k f  D 0 und k fQ  D 0 gerade die Bedingun- 1938 von H. E. Ives und G. R. Stilwell experimentell nachge-
gen stecken, dass in ebenen Wellen E- und B-Felder und k ein wiesen.
orthogonales Dreibein bilden, wobei jEj D jBj ist.
Zusätzlich zur Frequenzänderung kommt es auch zu einer Än-
derung der Ausbreitungsrichtung. Dieser Effekt wird in der
Astronomie, wo er eine wichtige Rolle spielt und 1725 vom
englischen Astronomen James Bradley (1693–1762) entdeckt
Doppler-Effekt und Aberration wurde, Aberration des Lichtes genannt.
Bradley wollte eigentlich die jährliche Parallaxe von nahen Ster-
Betrachten wir nun eine Standard-Lorentz-Transformation von nen bestimmen, d. h. die kleine Winkeländerung, die sich ergibt,
einem Inertialsystem S auf ein System S0 , das sich mit Ge- wenn diese von entgegengesetzten Punkten auf der Umlauf-
schwindigkeit v in positiver x-Richtung bewegt. Die Feldstärke- bahn der Erde um die Sonne beobachtet werden. Da sogar die
amplituden f  transformieren wie in Abschn. 18.3 diskutiert, nächsten Sterne so weit entfernt sind, dass jährliche Parallaxen
und k transformiert als kontravarianter Vierervektor. Parame- deutlich unter einer Bogensekunde liegen, gelang es erst Fried-
trisieren wir die Richtung von k mit einem Winkel ˛ bezüglich rich Wilhelm Bessel (1784–1846) im Jahr 1838, entsprechend
der x-Achse so, dass k in der xy-Ebene liegt und für spitze Win- genaue Beobachtungen durchzuführen. (1 Parallaxensekunde,
kel ˛ der Geschwindigkeit v entgegengesetzt ist, kurz 1 Parsec (pc), entspricht einer Entfernung von 3,26 Licht-
0 1 jahren; der sonnennächste Stern Proxima Centauri ist aber schon
1 4,2 Lichtjahre entfernt.)
B cos ˛ C
k D k @ ;
 sin ˛ A
(18.105)
Die scheinbare Bewegung eines Sternes aufgrund dieser Par-
0 allaxe hat zudem eine Phase, die nicht zu der von Bradley
18.6 Relativistische Elektrodynamik in Materie 629

18.6 Relativistische Elektrodynamik


in Materie
Die phänomenologischen Maxwell-Gleichungen in Materie, die
wir in Abschn. 15.7 aufgestellt haben, unterscheiden sich von
den fundamentalen durch eine Ersetzung der Felder E und B
in den inhomogenen Gleichungen durch D und H sowie ei-
ner Einschränkung der Quellen auf die freien Ladungs- und
Stromdichten f und jf . Wir können diese in eine Form ana-
log zu (18.52) bringen, wenn wir statt des Tensors F  , der
die E- und B-Felder zusammenfasst, einen weiteren antisym-

Teil II
metrischen Tensor definieren, der auf die gleiche Weise D und
Abb. 18.5 Die Aberration des Sternenlichtes ist analog zum Laufen im Regen: H kombiniert:
Für den Laufenden kommt der Regen nicht mehr senkrecht von oben
0 1
0 Dx Dy Dz
BDx 0 Hz Hy C
D D@ :
Hx A
(18.111)
Dy Hz 0
beobachteten Aberration passt. Bradley erkannte, dass es die Dz Hy Hx 0
Geschwindigkeit der Erde sein muss, die mit etwa einem Zehn-
tausendstel der Lichtgeschwindigkeit zu Richtungsänderungen Die homogenen Maxwell-Gleichungen sind hingegen unverän-
von bis zu 104 rad ( 20 Bogensekunden) führt. Der Effekt dert gültig (allerdings mit Feldern E und B, die durch Mittelung
ist dabei ganz ähnlich dem, den man erfährt, wenn man sich im von der atomistischen Feinstruktur befreit wurden).
Regen, der senkrecht auf die Erde fällt, vorwärts bewegt. Dann
scheint der Regen nicht mehr exakt von oben, sondern etwas von Phänomenologische Maxwell-Gleichungen in Viererno-
vorn zu kommen (Abb. 18.5). Dies erklärte auch die verschobe- tation
ne Phase, denn die Bahngeschwindigkeit steht immer senkrecht
4 
zum Bahnvektor der Umlaufbahn der Erde. @ D D j ;
c f (18.112)
Bradley hatte bei seiner Erklärung der Aberration die New- @ FQ  D0
ton’sche Korpuskeltheorie des Lichtes angenommen, die eine
natürliche Erklärung über die Geschwindigkeitsaddition liefer- mit jf D .c f ; jf /.
te. Die Maxwell’sche Theorie mit der Vorstellung eines Äthers
konnte dies nicht mehr so leicht erklären. Wenn das Ruhesystem
des Äthers das der Fixsterne ist, sollte es auch zu keiner Aber- Die Differenz zwischen den phänomenologischen Feldern D; H
ration kommen, so wie es in der Akustik keine Aberration gibt und den fundamentalen (aber gemittelten) Feldern E; B sind die
und die Ausbreitungsrichtung durch das Ruhesystem der Luft Felder der elektrischen Polarisation und Magnetisierung,
fixiert wird.
.D; H/ D .E; B/ C 4 .P; M/; (18.113)
Mit der Relativitätstheorie ist diese Schwierigkeit aber wieder
beseitigt. Aus der Gleichung für k01 bzw. k02 in (18.106) ergibt wodurch klar wird, wie P und M in einen Vierertensor zu
sich mit (18.107) kombinieren sind. Wir können einen antisymmetrischen vierdi-
mensionalen Polarisationsfeldtensor analog zu F  und D
definieren, aber mit einem unterschiedlichen Vorzeichen in den
cos ˛ C ˇ
cos ˛ 0 D ; (18.109) magnetischen Einträgen:
1 C ˇ cos ˛
0 1
1 sin ˛ 0 Px Py Pz
0
sin ˛ D : (18.110) BPx 0 Mz My C
 1 C ˇ cos ˛ P D@ :
Mx A
(18.114)
Py Mz 0
Pz My Mx 0

Frage 15
Es reicht hier natürlich eine der beiden Gleichungen aus, um ˛ 0 Achtung Dieser wird manchmal Momententensor genannt,
zu bestimmen. Überprüfen Sie, dass, wie es sein muss, sin2 ˛ 0 C weil P und M die in Materie gebundenen elektrischen und
cos2 ˛ 0 D 1 ist. magnetischen Dipolmomente repräsentieren, und manchmal
auch Polarisationstensor. Der Begriff „Polarisationstensor“ ist
630 18 Relativistische Formulierung der Elektrodynamik

Vertiefung: Relativistische Aberration als stereografische Projektion


Unsichtbarkeit der Lorentz-Kontraktion für Kugeln

Von Roger Penrose (*1931) stammt folgende alternative Beide hier involvierten Operationen, die stereografische Pro-
Darstellung der Formeln für die relativistische Aberration jektion und die Skalierung auf der Projektionsebene sind
(Penrose 1959). Ersetzt man im Ergebnis (18.109) jeden Ko- konforme Abbildungen, d. h., sie sind winkeltreu. Insbe-
sinus durch sondere werden Kreise auf Kreise abgebildet, sodass weit
entfernte Kugeln trotz der Lorentz-Kontraktion immer noch
1  tan2 .x=2/ als Kugeln erscheinen. Es ist dies ein Spezialfall des schon
cos x D ;
1 C tan2 .x=2/ in Kap. 9 besprochenen Phänomens, dass die Lorentz-Kon-
traktion bei Parallelstrahlenprojektion unsichtbar bleibt.
Teil II

dann kann man diese wie folgt umformen:

˛0 ˛
 ˛

1  tan2 1  tan2 Cˇ 1C tan2
2
D 2
 2
 P̄
tan2 ˛2 C ˇ 1  tan2 ˛2
0
1C tan2 ˛2 1C P
1 1ˇ
1Cˇ
tan2 ˛2
D ; P  P¯
1C 1ˇ
1Cˇ
tan2 ˛2 tan α
2


tan α2
woraus man ablesen kann, dass α/2 
α
α
α /2
s
˛0 1ˇ ˛ B, B 
tan D tan
2 1Cˇ 2

gilt. Diese Formel kann man geometrisch folgendermaßen


interpretieren. Die Gesamtheit der Richtungen, aus der ein Himmelssphäre Projektions-
Lichtstrahl in S oder S0 erscheinen kann, ist gegeben durch kO
ebene
0
bzw. kO und bildet eine Kugeloberfläche, die Himmelssphä- Abb. 18.6 Geometrische Interpretation der Formel für relativistische Ab-
re. Die Abbildung, die durch die Lorentz-Transformation in erration als Kombination von stereografischer Projektion und zentrischer
positive x-Richtung den Punkt P für einen Beobachter B in S Streckung
auf den Punkt P0 für B0 in S0 überführt, bekommt man geo-
metrisch, indem man eine stereografische Projektion auf eine Frage 16
Ebene durchführt, welche die Himmelssphäre am Durch- Verifizieren Sie die Behauptung, dass tan ˛2 gerade die ste-
stoßpunkt der x-Achse berührt. Das Abbild PN wird danach reografische Projektion des Punktes P wiedergibt. Verwen-
um einen Faktor den Sie dabei die trigonometrischen Relationen
s
1Cˇ ˛ sin ˛ sin ˛2
f D ; tan D D ;
1ˇ 2 1 C cos ˛ cos ˛2

wie in Abb. 18.6 gezeigt, bezüglich des Ursprungs in der Pro- die sich mit sin ˛ D 2 sin ˛2 cos ˛2 und 1 C cos ˛ D
jektionsebene auf PN 0 skaliert und mit umgekehrter stereogra- 2 cos2 ˛2 leicht verifizieren lassen.
fischer Projektion auf die Himmelssphäre von S0 übersetzt.

allerdings in der Quantenelektrodynamik mit einer anderen unmittelbar deren Transformationsverhalten bei einem Wechsel
Bedeutung belegt, weshalb wir P etwas präziser als Polarisa- des Bezugssystems. Für D und H ist dieses identisch mit dem
tionsfeldtensor bezeichnen werden. In der Literatur wird dieser von E und B in (18.66), während für P und M ein zusätzliches
Tensor auch oft mit einem anderen globalen Vorzeichen de- Vorzeichen ins Spiel kommt:
finiert, sodass dann P statt M die von der Struktur von F 
abweichenden Vorzeichen erhält. J
P0k D Pk ; P0? D  .P?  ˇ  M ? / ;
Die Zusammenfassung der phänomenologischen Dreiervektor- (18.115)
felder D, H, P, M in Vierertensoren D und P liefert M 0k D M k ; M 0? D  .M ? C ˇ  P? / :
18.6 Relativistische Elektrodynamik in Materie 631

Vertiefung: Umformung der fundamentalen auf phänomenologische Maxwell-Gleichungen


Warum es möglich war, nochmals aus relativistischer Sicht

Eine Aufteilung der Quellen j in freie und in gebundene, In Dreiernotation haben wir damit folgende Neuaufteilungen
durchgeführt:
j D j 
f C jmat
(
(eventuelle Mittelungsprozeduren hier nicht extra notiert), D D Ef C rot V
ED D4 P mit
ist wegen der Linearität der Maxwell-Gleichungen unpro- 4 P D Emat  rot V;
blematisch. Wir könnten im Prinzip die resultierenden Teil- ( 1 @
probleme separat lösen und danach die Lösungen einfach H D Bf C r V 0 C c @t
V
BDHC4 M

Teil II
mit
superponieren, F  D Ff C Fmat

mit 4 M D Bf  r V 0  1 @
c @t
V:

4 
@ Ff D j ; @ FO f D 0; Für die elektrischen Feldgrößen ist dies am einfachsten zu
c f
verstehen: Außerhalb der Materie ist Emat divergenzfrei,
4 

@ Fmat D j ; @ FO mat

D 0: kann dort also als Rotation eines Vektorfeldes angesetzt wer-
c mat den. Dies kann dann zu Ef hinzugeschlagen werden, ohne
Da die in Materie gebundenen Quellen aber nicht unabhän- dessen inhomogene Gleichung zu verändern. In Abb. 18.7 ist
gig von den äußeren Feldern vorgebbar sind, hat dies keinen dies am Beispiel einer dielektrischen Kugel im homogenen
praktischen Wert. Stattdessen macht man eine Neuaufteilung Feld eines Plattenkondensators illustriert. Bei den inhomoge-
in einen Feldstärketensor D und einen Polarisationsfeld- nen Maxwell-Gleichungen für die magnetischen Feldgrößen
tensor P , wobei letzterer nur im Inneren von Materie sind zusätzlich Verschiebungsströme im Spiel, wie in Ab-
ungleich null ist (im Gegensatz zu den von jmat hervorge- schn. 15.7 diskutiert. Deren konsistente Berücksichtigung ist
 durch die Zusammenfassung in Vierertensoren manifest ge-
rufenen Feldern Fmat !):
macht.
F  D Ff C Fmat

D D C .4 /P ;
Ef + rot V = D
und zwar so, dass D weiterhin die inhomogenen Max- +++++++

well-Gleichungen @ D D 4c jf erfüllt, womit auch



.4 /P dieselben inhomogenen Gleichungen wie Fmat E = D − 4πP
erfüllen muss. Bei dieser Neuaufteilung wird also zu Ff

ein Tensor addiert und von Fmat weggenommen, der außer-

halb der Materie mit Fmat zusammenfällt, aber homogene
Maxwell-Gleichungen zu erfüllen hat:

Q  ;
D D Ff C W 
.4 /P D Fmat Q  ;
W −−−−−−−

Q  D 0:
@ W −−
− −

Die Gleichung @ W Q  D 0 kann dadurch automatisch


Q  der duale Tensor zu einem Hilfs-
+ +
erfüllt werden, dass W ++

feldstärkentensor W  mit Hilfsviererpotenzialen V  D E mat − rot V = −4πP


.V 0 ; V/ ist:
Abb. 18.7 Übergang zu phänomenologischen Feldern durch Addition von
1   dualen Hilfsgrößen am Beispiel einer dielektrischen Kugel im homogenen
Q  D
W " W  ; W  D @ V  @ V :
2 Feld eines Plattenkondensators

Ruht die Materie im System S0 , das sich mit Geschwindigkeit ˇ hang in der Praxis auf  2
gegenüber S bewegt, kann man durch die inverse Transforma- v v
tion P und M durch die entsprechenden Größen im Ruhesystem P D P0 C  M0 C O 2 ;
c c
S0 ausdrücken. Da man es meist mit nichtrelativistischen Ge-  2 (18.116)
v v
schwindigkeiten zu tun hat, vereinfacht sich dieser Zusammen- M D M 0   P0 C O 2 :
c c
632 18 Relativistische Formulierung der Elektrodynamik

Hat man in S0 Materie vorliegen, die entweder ausschließlich Achtung Es wird nicht vorausgesetzt, dass die Materie in
elektrische Polarisation oder Magnetisierung aufweist, so gilt einem Inertialsystem ruht. Die gewöhnlichen Materialgleichun-
für die bewegte Materie, dass sie sowohl elektrisch als auch gen können zu einem gegebenen Zeitpunkt in jenem Inertialsys-
magnetisch polarisiert erscheint (siehe Kasten „Anwendung: tem formuliert werden, das mit dem momentanen Ruhesystem
Unipolarinduktion“). der Materie (oder eines Ausschnitts davon) zusammenfällt.
Die kovariante Formulierung (18.119) beinhaltet dann einfach
In Abschn. 15.7 wurden die Energie-Impuls-Sätze der Elek- einen zeitabhängigen Vektor u , der die Weltlinie eines Ma-
trodynamik auf den makroskopischen Fall mit linearen und teriestückes verfolgt. (Eventuell muss u sogar ortsabhängig
nichtdissipativen Medien verallgemeinert. Wie in Aufgabe 18.6 gemacht werden, wenn die Materie nicht durch eine einzige
gezeigt wird, können diese bei einem linearen und konstanten Weltlinie beschrieben werden kann, weil sie beispielsweise ro-
Zusammenhang der Feldstärketensoren D und F  kovari- tiert.) J
ant geschrieben werden als
Teil II

In einem Bezugssystem, gegenüber dem die Materie die Ge-


1  schwindigkeit v hat und damit die Vierergeschwindigkeit u D
ff WD 
F jf  D @ TM ; (18.117)
c .c; v /> , lauten die Materialgleichungen (18.119) für räumli-
che Komponenten explizit
wobei der Energie-Impuls-Tensor in Anwesenheit von linearen
Medien
v  v 
    DC H D EC B ;
 1  1   c c
TM WD D  F C  D  F   (18.121)
4 4 v v
  (18.118) B ED H D :
w cg em> c c
D 1
c
S T
Die nullte Komponente von (18.119) lautet
auch als Minkowski-Tensor bezeichnet wird. Im Gegensatz zum
fundamentalen Energie-Impuls-Tensor (18.90) ist dieser nicht D  v D  E  v; B  v D  H  v; (18.122)
symmetrisch.
Achtung Hat man es mit nichtlinearen oder linearen dissi- was aber keine zusätzliche Information enthält, denn dies folgt
pativen oder inhomogenen Systemen zu tun, dann kann formal auch aus (18.121).
noch immer ein kovarianter Minkowski-Tensor gemäß (18.118)
definiert werden; er erfüllt dann aber nicht (18.117). J Frage 17
Leiten Sie diese Gleichungen aus (18.119) her! (Beachten Sie
dabei, dass dort u mit unterem Index auftritt!)

Materialgleichungen
für bewegte lineare Medien Für v c können wir (18.121) näherungsweise nach D und
B auflösen, indem wir Terme der Ordnung vc2 vernachlässigen
2

Die Anwesenheit von Materie zeichnet ein Bezugssystem aus, (siehe Aufgabe 18.9 für die vollständige Lösung):
nämlich das, in dem sie ruht. In diesem Bezugssystem kön-
nen wir Materialgleichungen wie D D E und B D H mit  2
v v
der üblichen Bedeutung formulieren. Dies lässt sich auf be- D D E C .  1/ HCO 2 ;
c c
liebige Inertialsysteme verallgemeinern, wenn wir als weitere  2 (18.123)
Vierergröße die Vierergeschwindigkeit u der Materie ins Spiel v v
B D H  .  1/  E C O 2 :
bringen, die im Ruhesystem durch uRuhe D .c; 0/> gegeben ist. c c
Damit lauten obige Materialgleichungen
Damit liegen wieder Materialgleichungen in einer brauchbaren
D u D  F  u ; FQ  u D  D
Q  u ; (18.119) Form vor, um die phänomenologischen Maxwell-Gleichungen
lösen zu können. Wie man sieht, werden aber in bewegter Ma-
Q  ganz analog zu FQ  die
wobei der duale Feldstärketensor D terie die elektrischen und magnetischen Felder nicht nur durch
D- und H-Felder gemäß D ! H, H ! D vertauscht: die Maxwell-Gleichungen, sondern auch durch die Material-
0 1 gleichungen gekoppelt.
0 Hx Hy Hz
Q  D
1   BHx 0 Dz Dy C Ist die betrachtete Materie leitfähig, wird auch eine relativis-
" D@ :
Dx A
D D 
2 Hy Dz 0 tische Verallgemeinerung des Ohm’schen Gesetzes (15.133)
Hz Dy Dx 0 benötigt. Diese wird im Kasten „Vertiefung: Relativistische
(18.120) Form des Ohm’schen Gesetzes“ besprochen.
18.6 Relativistische Elektrodynamik in Materie 633

Anwendung: Unipolarinduktion
Relativistische Erklärung durch Lorentz-Transformation von Magnetisierung

Wird magnetisierte Materie mit Magnetisierung M mit ei- Wie die Herleitung zeigt, ist sie ein relativistischer Effekt,
ner (nichtrelativistischen) Geschwindigkeit v bewegt, so ist gerade so wie auch die Lorentz-Kraft ein relativistischer
die Änderung der Magnetisierung ein normalerweise ver- Effekt ist. In der Tat kann das induzierte elektrische Feld
nachlässigbarer Effekt der Ordnung vc2 , während die neu
2
E D ˇ  B, das wegen E D 4 P und B D C4 M
entstandene elektrische Polarisation von der Ordnung vc ist, mit P D ˇ  M verbunden ist, einfach dadurch verstanden
werden, dass sich Ladungsträger bei einer Bewegung im Ma-
v
PD  M; (18.124) gnetfeld so weit verschieben, dass sich in einem stationären
c Zustand der Lorentz-Kraft-Beitrag q ˇ B mit qE die Waage

Teil II
und als führender Term auftritt. In Abwesenheit von freien hält.
Ladungen bedeutet dies wegen D D 0 das Auftreten eines
elektrischen Feldes E D 4 P, was mit elektrisch leitfähi- Frage 18
gem Material zu elektrischen Strömen führt. Zeigen Sie, dass die Potenzialdifferenz zwischen den
Dieses Phänomen wird Unipolarinduktion genannt und kann Schleifkontakten in Abb. 18.8 durch
technisch z. B. realisiert werden, indem ein zylindrischer
magnetisierter Eisenkörper um seine Achse rotiert wird ZRB
1
(Abb. 18.8). Durch Schleifkontakte kann die entstehende Po- UD E% d% D !B.RB2  RA2 / (18.125)
tenzialdifferenz abgegriffen bzw. Strom entnommen werden. 2c
RA
Wegen des dabei erzielbaren niedrigen inneren Widerstands
lassen sich damit sehr hohe Stromstärken im Kilo- und
Megaamperebereich erzielen, wenn auch eher geringe Span- gegeben ist (wenn kein Strom abgenommen wird und daher
nungen. Rückwirkungen auf das Magnetfeld entfallen).

U
Der erste induktive Stromgenerator basierte ebenfalls auf
Unipolarinduktion. In der Faraday’schen Scheibe erzeugte
Faraday bereits 1831 einen elektrischen Strom, indem er ei-
RB ne leitfähige Scheibe in einem Magnetfeld rotieren ließ. Das
RA B = 4πM Lorentz-Kraftgesetz, mit dem es sich erklären lässt, wurde
übrigens erst über ein halbes Jahrhundert später formuliert.
ω Der Erste, der es explizit und auch richtig postulierte, war
Oliver Heaviside (englischer Physiker und als solcher Au-
todidakt, 1850–1925) im Jahr 1889. Mit dem Coulomb-
Abb. 18.8 Unipolarmaschine (auch homopolarer Generator ), basierend Kraftgesetz zusammengefasst wurde es 1895 von Lorentz
auf der Rotation eines in Längsrichtung magnetisierten Zylinders. (Für einen formuliert, der die Geschwindigkeit darin als Relativge-
langen Zylinder gilt in guter Näherung B D 4 M wie in Abschn. 15.3 ge- schwindigkeit zum Äther interpretierte.
zeigt wurde.)
Die Umkehrung des Unipolargenerators ist der Homopolar-
Die Unipolarinduktion stellt ein bemerkenswertes Beispiel
motor, den Faraday schon 1821 realisiert hatte und bei dem
für eine Induktion dar, die nicht auf der Faraday’schen In-
er einen in Quecksilber getauchten stromführenden Draht in
duktion
Z einem Magnetfeld rotieren ließ.
1 d 1 d
U@F D  ˆm D  df  B
c dt c dt Unipolargenerator und Homopolarmotor spielen heutzutage
F
eine eher untergeordnete Rolle in technischen Anwendun-
beruht, denn der magnetische Fluss ˆm ist in der Konfigu- gen. Die Unipolarinduktion tritt aber vielfach in der Astro-
ration von Abb. 18.8 für jede infrage kommende Fläche F physik auf, nämlich bei großräumigen Bewegungen von
konstant. ionisiertem Gas in ausgedehnten Magnetfeldern.
634 18 Relativistische Formulierung der Elektrodynamik

Vertiefung: Relativistische Form des Ohm’schen Gesetzes


Der Unterschied von Leitungs- und Konvektionsstrom

Im Ruhesystem der Materie lautet das Ohm’sche Gesetz der Leitungsstrom damit durch

jf D E: j  
L D jf  jK :

Als relativistische Verallgemeinerung bietet sich j f D Die korrekte Verallgemeinerung des Ohm’schen Gesetzes
  lautet daher
1
c
F u  an, da sich das im Ruhesystem wegen u Ruhe D
>
.c; 0/ auf obige Gleichung reduziert. Es gibt hier allerdings  
j
L D F u ;
Teil II

eine Schwierigkeit, falls im Ruhesystem der Materie auch ei- c


ne Ladungsdichte Ruhe D c12 j f u vorliegen sollte. Wegen
der Antisymmetrie von F  verschwindet die doppelte Kon- wobei die Konsistenz durch j
L u  0 sichergestellt ist. Für
traktion F  u u  0, sodass j f D c F
1 
u auf einen den räumlichen Anteil des Leitungsstromes folgt damit
Widerspruch führt, wenn Ruhe nicht verschwindet.
 v 
Der Grund dafür ist, dass eine Ladungsdichte im Ruhesys- jL D  E C  B ;
c
tem der Materie in einem bewegten System als sogenannter
Konvektionsstrom zur Stromdichte beträgt. Das Ohm’sche während die nullte Komponente auf
Gesetz gilt allerdings nur für den Leitungsstrom. Der Kon-
vektionsstrom ist gegeben durch  1
L D E  v D 2 jL  v
c2 c
jf  u 
j
K D Ruhe u

 u ; führt.
c2

Wellenausbreitung in bewegten Dielektrika Nochmalige Bildung der Rotation dieser Gleichungen entkop-
pelt diese, und wir bekommen

In Abwesenheit von freien Ladungen und Strömen lauten die 1@   1  v  2
Maxwell-Gleichungen in Materie D D  C r D;
c @t  c
 (18.129)
1@ 1@   1  v  2
div D D 0; rot E D  B; B D  C r B:
c @t c @t  c
(18.126)
1 @
div B D 0; rot H D D: Streng genommen sollten wir hier keine Beiträge der Ordnung
c @t v 2 =c2 mitnehmen; wir werden sie aber im Folgenden auch nicht
Wir wollen nun Wellengleichungen für ein als Ganzes gleich- brauchen.
förmig bewegtes Dielektrikum herleiten, das sich mit konstanter Frage 19
Geschwindigkeit v bewegt. Dazu können wir wegen der Diver-
Überlegen Sie sich, dass bis auf Beiträge der Ordnung vc2 auch
2
genzfreiheit von D und B
die Felder E und H dieselben Wellengleichungen erfüllen, in-
rot rot D D D; rot rot B D B (18.127) dem Sie die Materialgleichungen (18.123) heranziehen
 2 und wie
oben ausnutzen, dass ˇ  H D 1 ˇ  B C O vc2 und ˇ  E D
verwenden. Wir berechnen dafür zunächst rot D und rot B über  2
die Materialgleichungen (18.123). Bilden wir von diesen die
1
ˇ  D C O vc2 ist.
Rotation unter Vernachlässigung von Termen der Ordnung vc2 ,
2

dann können wir in diesen


 auf der rechten Seite verwenden,dass Betrachten wir nun monochromatische ebene Wellen der Form
ˇ  H D ˇ  B= C O c2 und ˇ  E D ˇ  D= C O vc2
v2 2

D.t; r/ D Re D0 ei!tCikr (18.130)


ist, und bekommen das Gleichungspaar
und analog für die übrigen Felder, dann bekommen wir mit der
1@   1  v  p
Identifikation n D  die Dispersionsrelation
rot D D  B  r B;
c @t  c  2
  (18.128)
1@   1 v ! n2  1 v
rot B D  DC  r D: k 2 D n2   k : (18.131)
c @t  c c n2 c
18.6 Relativistische Elektrodynamik in Materie 635

R2 diert. Wie in Abschn. 9.1 erwähnt, wurde dieser Effekt ursprüng-


lich schon 1818 von Fresnel vorgeschlagen und schließlich 1851
v von dem französischen Physiker und Privatgelehrten Hippoly-
te Fizeau (1819–1896) experimentell nachgewiesen (Abb. 18.9).
In den Jahren nach der Aufstellung der Maxwell-Gleichungen
blieb dieser empirische Befund rätselhaft, weil man annehmen
musste, dass der Äther vom Medium zum Teil mitgeführt wird.
Da der Brechungsindex aber in Wirklichkeit frequenzabhängig
v ist, müsste es allerdings verschiedene Äther für die verschiede-
L R1 nen Farben des Lichtes geben. Wie in Kap. 9 erwähnt, war das
S
Fizeau’sche Experiment für Einstein eines der wichtigsten Hin-
weise, dass es wohl gar keinen Äther gäbe.

Teil II
In der speziellen Relativitätstheorie kann der Mitführungskoef-
fizient in der Tat einfach als Ergebnis der relativistischen Ge-
Abb. 18.9 Schematischer Aufbau des Fizeau’schen Experiments zur Mes- schwindigkeitsaddition verstanden werden: Bei gleichgerichte-
sung des Mitführungskoeffizienten. Über einen halbversilberten Spiegel wird ein
Lichtstrahl in zwei Teilstrahlen zerlegt, die durch Röhren geführt werden, in de-
ten Geschwindigkeiten nc und v addieren sich diese relativistisch
nen Wasser mit entgegengesetzter Geschwindigkeit strömt (die Zuleitungen sind gemäß
hier nicht eingezeichnet). Die Laufzeitunterschiede werden durch Interferenzen
c
in einem Beobachtungsfernrohr gemessen Cv c  v
 2 
v
n D Cv 1 CO 2
1v n nc c
1C (18.134)
nc
Da wir aber nur bis Ordnung v =c gerechnet haben, ist es kor-    2
c 1 v
rekter, diese in linearer Form anzuschreiben: D Cv 1 2 CO 2 :
n n c
c n2  1
!D kC v  k: (18.132) Bei einer nicht vernachlässigbaren Frequenzabhängigkeit von
n n2
n kommt es übrigens zu einer Korrektur des Wertes von , da
Wenn ˛ den Winkel zwischen Wellenvektor und Geschwin- die Frequenz des Lichtes im Ruhesystem der Materie durch
digkeit der Materie bezeichnet, erhalten wir für die Wellenge- den Doppler-Effekt eine andere als im Laborsystem ist. Die-
schwindigkeit ser Zusatzterm wurde 1895 von Lorentz postuliert, womit der
  Mitführungskoeffizient insgesamt
! c 1
cbew.Mat. D D C 1  2 v cos ˛ 1 ! dn
k n n (18.133) D1 C (18.135)
n 2 n d!
 cruh.Mat. C  v cos ˛:
lautet.
Der Koeffizient  wird Fresnel’scher Mitführungskoeffizient ge-
nannt. Er gibt an, dass sich abhängig vom Brechungsindex die Frage 20
Geschwindigkeit eines Mediums, in dem sich Licht ausbreitet, Leiten Sie diesen Zusatzterm aus dem Doppler-Effekt her!
nur teilweise zur Ausbreitungsgeschwindigkeit im Medium ad-
636 18 Relativistische Formulierung der Elektrodynamik

Aufgaben

Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen
Teil II

18.1 Lorentz-Boost eines Plattenkondensators zurückgeführt werden.


senkrecht zu den Platten Im Text wurde gezeigt, dass
18.4 Wie sieht Licht aus, wenn man ihm mit
sich am homogenen elektrischen Feld eines unendlich ausge-
Lichtgeschwindigkeit nachläuft? Betrachten Sie eine ebe-
dehnten Plattenkondensators nichts ändert, wenn eine Lorentz-
ne Welle, die sich in x-Richtung ausbreitet und linear polarisiert
Transformation mit Geschwindigkeit senkrecht zu den Platten
ist gemäß Ey .t; x/ D E0 cos.!.t  xc //. Wie stellt sich das Feld in
ausgeführt wird. Nicht einmal ein magnetisches Feld kommt
einem Bezugssystem S0 dar, das sich mit Geschwindigkeit v in
hinzu, da dies die Symmetrie des Problems nicht erlaubt. Über-
positiver x-Richtung bewegt? Betrachten Sie insbesondere den
prüfen Sie diese Aussagen, indem Sie das rein elektrostatische
Limes v ! c und beantworten Sie damit die Frage, die sich Ein-
Potenzial im Ruhesystem des Kondensators, A D . ; 0/,
stein als Jugendlicher stellte, nämlich wie Licht aussieht, wenn
D Ex für x 2 .0; d/, in ein Inertialsystem, das sich mit Ge-
man ihm mit Lichtgeschwindigkeit nachläuft.
schwindigkeit v in positiver x-Richtung bewegt, transformieren.
18.5 Lorentz-Transformation von Energie und Im-
Lösen Sie dabei folgendes Paradoxon auf: Im bewegten Sys- puls eines Ausschnitts einer ebenen Welle Betrachten
tem ist der Plattenabstand Lorentz-kontrahiert, somit sollte Sie nochmals Aufgabe 18.4, den Fall einer ebenen Welle, die
bei gleichem E die Potenzialdifferenz an den Platten sinken. in Ausbreitungsrichtung Lorentz-transformiert wird. Berechnen
Tatsächlich wird sie aber bei der Lorentz-Transformation als Sie mit den Ergebnissen von Aufgabe 18.4 Feldenergie und -im-
Nullkomponente eines Vierervektors um einen Faktor  erhöht: puls, EV und PV , die im System S in einem ruhenden endlichen
0
D . Volumen V vorhanden sind, und berechnen Sie die entspre-
Lösungshinweis: Hier ist es besser, zuerst sorgfältig zu rech- chenden Ergebnisse im System S0 für dasselbe, nun Lorentz-
nen und dann zu denken! kontrahierte Volumen. Nehmen Sie dabei der Einfachheit hal-
ber eine zirkular polarisierte Welle an, für die die Energiedichte
18.2 Lorentz-Invariante des Feldstärketensors als räumlich konstant ist. Zeigen Sie, dass EV0 und P0V nicht mit
Test Überprüfen Sie, dass die in (18.75) angegebene Lösung dem Ergebnis einer Lorentz-Transformation des vermeintlichen
für die Feldstärke einer gleichförmig bewegten Punktladung zu- Vierervektors . 1c EV ; PV / übereinstimmt. Suchen Sie nach einer
sammen mit dem Magnetfeld B0 D ˇ  E0 die Relationen in Lösung dieses Paradoxons!
(18.70) erfüllt. Lösungshinweis: Überlegen Sie, ob das betrachtete Volumen
geeignet ist, eine kovariante Definition von Energie und Impuls
Lösungshinweis: Beachten Sie den Zusammenhang (18.73)
in einem Ausschnitt des elektromagnetischen Feldes zu definie-
zwischen gestrichenen und ungestrichenen Koordinaten.
ren.
18.3 Knick der Feldlinien bei der Schockwelle ei- 18.6 Energie-Impuls-Tensor in linearen Medien
ner plötzlich gestoppten Punktladung Berechnen Sie den Verallgemeinern Sie die Herleitung des elektromagnetischen
Zusammenhang (18.76) für die elektrischen Feldlinien einer ru- Energie-Impuls-Tensors aus (18.90) auf den Fall eines linearen
henden und einer bewegten Punktladung aus der Forderung, Mediums. Überlegen Sie sich, woran diese Herleitung scheitert,
dass der elektrische Fluss durch eine Kugelkappe mit Öffnungs- wenn das Medium nicht durch einfache Materialkonstanten,
winkel bzw. 0 gleich ist (siehe Abb. 18.4). sondern durch ortsabhängige Parameter charakterisiert ist.
Lösungshinweis: Verwenden Sie die in (18.75) angegebene 18.7 Relativistische Bewegung in zueinander
Lösung für das elektrische Feld einer gleichförmig bewegten senkrechten homogenen E- und B-Feldern In Ab-
Punktladung. Das auftretende Integral kann auf schn. 15.5 und in Aufgabe 15.10 haben wir die Bewegung
Z eines Teilchens in homogenen E- und B-Feldern betrachtet.
dx x In einem reinen Magnetfeld hatten wir gefunden, dass die Be-
D p (18.136)
.a2 Cx /
2 3=2
a a2 C x2
2 wegung eine Spiralbahn ist, wobei wir schon bemerkt hatten,
Aufgaben 637

dass die relativistische Verallgemeinerung nur einen inversen  - Betrag Bestimmen Sie die Bahnkurve eines geladenen Teil-
Faktor für die Zyklotronfrequenz bedeutet. Werden elektrische chens für den Fall betragsgleicher zueinander senkrechter
Felder hinzugenommen, wird die Bewegung komplizierter. In homogener E- und B-Felder mit der Anfangsbedingung, dass
Aufgabe 15.10 wurde nur der nichtrelativistische Fall betrach- das Teilchen ursprünglich im Ursprung des Koordinatensystems
tet, der gegeben ist, wenn die E-Feldkomponente senkrecht ruhte. (Sind homogene E- und B-Felder in einem Inertialsystem
zum Magnetfeld sehr viel kleiner als der Betrag des Magnet- betragsgleich und zueinander senkrecht, dann sind sie das in je-
feldes ist. In diesem Fall ergab sich eine Bahnkurve, die in der dem. Wir können daher ohne Beschränkung der Allgemeinheit
Ebene senkrecht zum Magnetfeld die Form einer oszillierenden annehmen, dass das Teilchen zu einem vorgegebenen Zeitpunkt
Radlaufkurve (Trochoide) hat. in Ruhe war.)
Zeigen Sie (ohne Rechnung), dass keine oszillierenden Be-
wegungen mehr möglich sind, wenn ein E-Feld vorliegt, das Lösungshinweis: Identifizieren Sie zunächst anhand von
senkrecht auf B steht und dessen Betrag größer als der des B- (18.83) eine Konstante der Bewegung. Um die Bahnkurve

Teil II
Feldes ist, während für den umgekehrten Fall immer Oszillatio- aufzufinden, muss sie zudem nicht unbedingt durch die Koor-
nen auftreten. dinatenzeit parametrisiert werden. Es kann auch eine andere
Zusatzfrage: Was bedeutet das hier im Gauß’schen Maßsystem monoton anwachsende Größe dafür verwendet werden.
formulierte Kriterium, dass das E-Feld größer oder kleiner als
das B-Feld ist, im SI-System? 18.9 Materialgleichungen eines linearen Medi-
Lösungshinweis: Verwenden Sie die Invarianten des Feldstär- ums Lösen Sie die Materialgleichungen in bewegter Materie
ketensors für die Argumentation. (18.121) nach D, B als Funktionen von E, H auf!
18.8 Relativistische Bewegung in zueinander
senkrechten homogenen E- und B-Feldern mit gleichem Lösungshinweis: Nutzen Sie dabei (18.122) aus.
638 18 Relativistische Formulierung der Elektrodynamik

Lösungen zu den Aufgaben

18.4
s
  x  1ˇ
Ey0 .t0 ; x0 / D b E0 cos b ! t  mit b D
c 1Cˇ
(18.137)
18.6 Gleichungen (18.117) und (18.118)
Teil II

18.9
1
DD
1  ˇ 2
˚ 
 E.1  ˇ 2 / C .  1/ Œˇ  H  ˇ .ˇ  E/
1
BD (18.138)
1  ˇ 2
˚ 
 H.1  ˇ 2 /  .  1/ Œˇ  E C ˇ .ˇ  H/
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 639

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben

18.1 Im relativ zum Ruhesystem des Kondensators bewegten Für die bewegte Punktladung ergibt sich mit (18.75)
System ist 0 D  D  Ex, sodass tatsächlich das Potenzial
0
auf den Platten erhöht ist. Um die Feldstärke E0 auszurech- Z 0
sin # d#
nen, ist aber zu berücksichtigen, dass es im bewegten System ˆ0e D 2 q.1  ˇ / 2
auch ein Vektorpotenzial gibt, obwohl gar kein Magnetfeld ins .1  ˇ 2 sin2 #/3=2
0
Spiel kommen kann:
Z1
dx

Teil II
D 2 q.1  ˇ / 2 (18.145)
A0x D ˇ D ˇEx: (18.139) .1  ˇ 2 .1  x2 //3=2
cos  0
!
Dieses muss aber in den neuen Koordinaten angeschrieben wer- 0
cos
den, x D .x0 C ˇct0 /, und in diesen Koordinaten ist A0 D2 q 1 p ;
1  ˇ 2 sin2 0
zeitabhängig, sodass auch das Vektorpotenzial zu E0 beiträgt:
wobei im Integral x D cos # substituiert wurde. Aus ˆe D ˆ0e
1
Ex0 D @0x 0
 @0t A0x D . 2  ˇ 2  2 /E D E: (18.140) ergibt sich damit
c
0
cos
0 0 0 p D cos : (18.146)
Das Magnetfeld verschwindet wegen B D r  A  0 auch 1  ˇ 2 sin2 0
in S0 .
p
18.2 Die Identität E.x/  B.x/ D E0 .x0 /  B0 .x0 / ist erfüllt, weil Berechnet man damit sin D 1  cos 2 , so findet man
in S das Magnetfeld B  0 ist und in S0 das Magnetfeld B0 p
orthogonal zu E0 steht. 1  ˇ 2 sin 0
sin D p (18.147)
02 0 02 0
1  ˇ 2 sin2 0
Es bleibt zu zeigen, dass E .x /  B .x / D E .x/ erfüllt ist. 2

E2 .x/ D q2 =r4 lautet in den gestrichenen Koordinaten (18.73) und nach Division dieser Gleichungen
p
0
0 q2 tan D 1  ˇ 2 tan ; (18.148)
E .x.x // D 2 02
2
: (18.141)
. Rx C Ry02 C R02
z /
2
also (18.76).
02 02 0
Mit B D ˇ 2 E sin # und E aus (18.74) ergibt sich
2 18.4 Eine linear polarisierte ebene Welle, die sich in positiver
x-Richtung mit elektrischem Feld E D Ey yO ausbreitet, hat ein
q2  2 R02 Magnetfeld Bz D Ey . Mit (18.65) folgt
E 02 .x0 /  B 02 .x0 / D .1  ˇ 2 sin2 #/;
. 2 R02
C Ry02 C R02
x z / 3
Ey0 D .Ey  ˇBz /
(18.142) s
wobei # der Winkel zwischen R0 und ˇ ist. Wegen ˇ 2  2 D 1ˇ 1ˇ
 2  1 und 1  sin2 # D cos2 # ist (wie schon in (18.75) ver- D Ey .1  ˇ/ D Ey p D Ey :
„ ƒ‚ … 1  ˇ2 1Cˇ
wendet) b
(18.149)
0
 2 R02 .1  ˇ 2 sin2 #/ D  2 R02 cos2 # C R02 sin2 # Mit der (inversen) Lorentz-Transformation t D .t0 C ˇ xc /,
0
(18.143) x
D .ˇt0 C xc / ergibt sich für das Argument der Felder
D  2 R02 02 02
x C Ry C Rz :
c

  
x x0
! t D !.1  ˇ/ t0  : (18.150)
c c
18.3 Für die ruhende Punktladung ist der elektrische Fluss
durch eine Kugelkappe mit Öffnungswinkel
Damit ist die Frequenz in S0 in Übereinstimmung mit dem
Ergebnis für den relativistischen Doppler-Effekt (18.107) für
Z cos ˛ D 1 gegeben durch
q
ˆe D 2 2 r2 sin # d# D 2 q.1  cos /: (18.144)
r
0 ! 0 D .1  ˇ/ ! D b !: (18.151)
640 18 Relativistische Formulierung der Elektrodynamik

Im Limes ˇ D vc ! 1 gehen also sowohl die Frequenz als auch gegeben. Betrachten wir z. B. den Zeitpunkt t0 D 0, dann liegt
die Amplitude der elektromagnetischen Felder gegen null. eine Grenze bei x0 D 0, während die andere durch
18.5 Für die ebene Welle ist wegen E ? B und jEj D jBj
 x0 D L C ˇx0 (18.159)
1 2
T 00 D wem D T 01 D cjgem j D E ; (18.152) gegeben ist. Dieser Wert von x0 definiert nun L0 und ist offenbar
4
nicht durch L= , sondern durch
und bei zirkularer Polarisation sind diese Felder homogen im
gesamten Raum. Energie und Impuls in einem in S ruhenden 1
 L0 D L C ˇL0 ) L0 D L (18.160)
Volumen V sind damit einfach .1  ˇ/
V 2
EV D cPV D E : (18.153) gegeben. Damit ist der fehlende Faktor .1  ˇ/1 gefunden, der
4
notwendig ist, damit Energie und Impuls des betrachteten Volu-
Teil II

Gemäß der Lösung von Aufgabe 18.4 ist im System S0 mens wie Komponenten eines Vierervektors transformieren:
jE0 j D .1  ˇ/ jEj: (18.154) EV0N D VN 0 wem
0
D .1  ˇ/EVN D b EVN : (18.161)
Weil dies in den Energie- und Impulsdichten quadratisch auf-
Das Volumen muss dafür offenbar ein mit Lichtgeschwindigkeit
tritt, haben wir
mitgeführtes sein.
1 2
T 000 D wem
0
D T 001 D cjg0em j D  2 .1  ˇ/2 E : (18.155) Diese Überlegung findet sich übrigens im Wesentlichen genau
4 so in Einsteins berühmter Veröffentlichung aus dem Jahr 1905,
Das Volumen V bewegt sich nun bezüglich S0 mit Geschwin- in dem er die spezielle Relativitätstheorie begründete (Einstein
digkeit v in x-Richtung. Es wird also in dieser einen Richtung 1905, §8). Er kommentiert dies dann mit der Feststellung: „Es
Lorentz-kontrahiert, sodass V 0 D V= gilt. Damit bekommen ist bemerkenswert, dass die Energie und die Frequenz eines
wir Lichtkomplexes sich nach demselben Gesetze mit dem Bewe-
EV0 D V 0 wem
0
D .1  ˇ/2 EV (18.156) gungszustande des Beobachters ändern.“ Unter Lichtkomplex
versteht er hierbei gerade den mit Lichtgeschwindigkeit mitge-
und denselben Zusammenhang für P0V und PV . Ein Viererim- führten Ausschnitt einer ebenen Welle. Ohne dieses Ergebnis
puls mit Komponenten . 1c EV ; PV ; 0; 0/ würde bei einer Lorentz- wäre Einsteins unmittelbar zuvor veröffentlichte Lichtquanten-
Transformation aber einen Faktor .1ˇ/ für jede Komponente hypothese, die ja E D „! setzt und mit der wir uns in Teil III
bekommen, und nicht .1  ˇ/2 . auseinandersetzen werden, nicht mit seiner speziellen Relativi-
Was haben wir hier falsch gemacht? Nun, wir haben ein Volu- tätstheorie in Einklang gewesen (für weitere Diskussionen von
men betrachtet, in das elektromagnetische Wellen auf der einen Subtilitäten im Zusammenhang mit der Lorentz-Transformation
Seite ein- und auf der anderen Seite wieder austreten, jeweils von elektromagnetischer Feldenergie vgl. Avron 1999).
mit Lichtgeschwindigkeit. In einem bewegten Volumen ist das 18.6 In die Viererkraftdichte für die freien Quellen
zwar weiterhin der Fall, aber wir haben bei der Lorentz-Trans-
formation nicht in Rechnung gestellt, dass die Ränder dieses 1 
Volumens in den beiden Systemen zu unterschiedlichen Zeiten ff D F jf  (18.162)
c
betrachtet werden.
wird jf  D 4
c
@ D  eingesetzt:
In der Definition des Viererfeldimpulses in (18.95) war wesent-
lich, dass über den gesamten Raum integriert werden kann und 1  
dass Beiträge vom Unendlichen verschwinden. Dies ist bei einer ff D F @ D 
ebenen Welle nicht mehr der Fall. Wenn wir die Energie eines 4 (18.163)
1     1
endlichen Bereichs betrachten wollen, bei dem sichergestellt D @ F D   D  @ F  ;
ist, dass bei der Transformation nichts an den Rändern verlo- 4 4
ren geht, sollten wir diesen mit der ebenen Welle mitbewegen. und der letzte Term wird wie in (18.89) umgeformt:
Da es nur um ein Volumen zum Zweck der Rechnung geht und
um keinen realen Behälter, ist dies kein Problem. Betrachten D  @ F  D D @ F  D D  @ F 
wir also ein Volumen V, N das sich in S mit Lichtgeschwindig-
1
keit in positive x-Richtung bewegt und von Flächen bei x D ct D D  .@ F  C @ F  / (18.164)
und x D L C ct begrenzt wird. Sind die Flächen in transversaler 2
1
Richtung F, so ist das Volumen zu einem beliebigen Zeitpunkt D  D  @ F  :
VN D LF. Im System S0 sind die Grenzflächen durch 2
   
x D ct )  ˇct0 C x0 D  ct0 C ˇx0 ; (18.157) Hierbei konnte im letzten Schritt wieder die homogene Max-
 0 0
  0 0
 well-Gleichung (18.57) eingesetzt werden, um den freien (äu-
x D L C ct )  ˇct C x D L C  ct C ˇx (18.158) ßeren) Index auf die Viererableitung zu übertragen. In (18.89)
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 641

konnte an dieser Stelle aber @ vor den ganzen Ausdruck gezo- die Abkürzung F D qEy D qBz ein, dann lauten die Bewe-
gen und dafür mit 12 multipliziert werden. Im Allgemeinen gilt gungsgleichungen (18.84)
also nur
d q 1
 px D vy Bz D F vy ; (18.169)
1   1 dt c c
ff D  @ F  D  C D  @ F   6 @ TM 
: 
4 2 d q vx 
(18.165) py D qEy  vx Bz D F 1  ; (18.170)
dt c c
Ist aber etwa komponentenweise D  D const  F  , wobei die d
Konstante nicht einheitlich sein muss, dann kann wieder pz D 0; (18.171)
dt
1   während (18.83)
D  @ F   D @ D  F   (18.166)
2
d 0 d d
p c  E D qEy vy D F vy D c px

Teil II
(18.172)
geschrieben werden, sodass (18.117) mit (18.118) gilt. Dies ist dt dt dt
erfüllt, wenn in einem Inertialsystem D D E und H D 1 B mit
ergibt, wobei im letzten Schritt (18.169) verwendet wurde. Dar-
konstanten  und  gilt.
aus folgt, dass E  cpx eine Konstante der Bewegung ist. Zum
Die Herleitung zeigt auch, dass es wesentlich für eine Bilanz- Zeitpunkt null, zu dem das Teilchen ruht, ist E D mc2 und
gleichung für ff mit einem bestimmten Index  ist, dass @ px D 0, also gilt für die gesamte Bewegung
mit eben diesem Index mit den Materialkonstanten vertauscht
werden kann. Hat man z. B. Inhomogenitäten in einer räumli- E  c px D m c2 : (18.173)
chen Richtung, dann wird nur der Impulssatz bezüglich dieser q
Richtung verletzt. Hat man dagegen räumliche Homogenität, Da pz D 0 bleibt, ist E D m2 c4 C c2 .p2x C py2 /, und wir kön-
aber frequenzabhängige Materialkonstanten, dann scheitert die nen px durch py ausdrücken. Eine kurze Rechnung ergibt
Ableitung nur für @0 , d. h., der Energiesatz gilt nicht mehr, in
Übereinstimmung damit, dass in diesem Fall Dissipation von py2 py2
px D ; E D m c2 C c px D m c2 C : (18.174)
Energie im Medium auftreten kann. 2m c 2m
18.7 Die Invarianten des Feldstärketensors sind bis auf Vor- Damit können die Bewegungsgleichungen (18.169) und
faktoren durch die Ausdrücke E2  B2 und E  B gegeben. Ist (18.170) entkoppelt werden. Insbesondere finden wir
E  B D 0 und sind die Beträge von E und B ungleich, dann gibt 
es immer ein Inertialsystem, in dem ein reines E- oder ein rei- d vx 
py D F 1 
nes B-Feld vorliegt. Ist E betragsmäßig das größere, dann gibt dt c
 (18.175)
es ein Bezugssystem, in dem das Teilchen einem reinen E-Feld px c  E  px c mc2
ausgesetzt ist, sodass eine konstante Kraft in einer Richtung DF 1 DF DF
E E E
vorliegt. Die Bewegung hat dann offensichtlich keinen oszil-
lierenden Anteil, und das gilt auch für alle dazu gleichförmig und damit
bewegten Bezugssysteme. Ist B betragsmäßig das größere Feld, !
py2
dann gibt es ein Bezugssystem, in dem ein reines Magnetfeld E dpy D m c C 2
dpy D F m c2 dt: (18.176)
vorliegt, für das die Bewegung eine Schraubenlinie ist. In da- 2m
zu gleichförmig bewegten Bezugssystemen hat die Bewegung
weiterhin oszillierende Anteile. Integration mit der Anfangsbedinung py .0/ D 0 führt auf

Zusatzfrage: Gemäß den Umrechnungsvorschriften (11.90) und py3


(11.91) übersetzt sich E ? B von Gauß’schen in SI-Einheiten Ft D py C : (18.177)
6m2 c2
als s
p 4 Anstatt diese kubische Gleichung zu lösen, kann man auch
4 0 EŒSI ? BŒSI ; (18.167) mit py als Bahnparameter weiter machen, da t eine monotone
0
Funktion von py ist. Auf diese Weise findet man mit dpy =dt D
also Fmc2 =E und dt=dpy D E=.Fmc2 /
1
EŒSI ? p BŒSI D c BŒSI : (18.168) dy dy dt py c2 dt py
 0 0 D D D : (18.178)
dpy dt dpy E dpy Fm
Bei einer magnetischen Flussdichte von 1 Tesla (T) liegt das
Kriterium für die elektrische Feldstärke also bei ungefähr 3  108 Mit dem Zusammenhang zwischen px und py ergibt sich des
V/m; bei 1 Gauß (G) immer noch bei 3  104 V/m. Weiteren

18.8 Legen wir das Koordinatensystem so, dass das B-Feld in dx dx dt px c2 dt py2
D D D : (18.179)
z-Richtung und das E-Feld in y-Richtung zeigt, und führen wir dpy dt dpy E dpy 2Fm2 c
642 18 Relativistische Formulierung der Elektrodynamik

Daraus kann man ablesen, dass die Bahnkurve die Gestalt x /


ct
y3=2 hat, sodass letztlich die Bewegung in x-Richtung dominiert,
obwohl sie in y-Richtung startet.
x
Für große Zeiten wird gemäß (18.177) py3  6m2 c2 F t und daher

x.t/  ct; y.t/ / t2=3 ; yP / t1=3 ; (18.181)


y
sodass schließlich die Geschwindigkeit in y-Richtung wieder
abnimmt, während die Geschwindigkeit in x-Richtung asympto-
dx/dt tisch gegen die Lichtgeschwindigkeit geht. In Abb. 18.10 sind
die Ergebnisse für x.t/ und y.t/ grafisch dargestellt, zusammen
mit den Geschwindigkeiten xP .t/ und yP .t/.
Teil II

dy/dt
18.9 Die erste Gleichung in (18.121) ergibt nach Bildung eines
ct
äußeren Produkts mit ˇ D 1c v unter Verwendung von a  .b 
c/ D b.a  c/  c.a  b/
Abb. 18.10 Relativistische Bewegung in homogenen E- und B-Feldern mit
Ey D Bz . Ein geladenes Teilchen wird in die Richtung senkrecht auf die bei- ˇD D ˇ.ˇH/Cˇ 2 HCˇECˇ.ˇB/ˇ 2 B: (18.182)
den Felder auf annähernd Lichtgeschwindigkeit beschleunigt; x.t/ (blaue Kurve )
nähert sich asymptotisch const C c t. In Richtung des E-Feldes (y.t/; rote Kur- Ersetzt man darin gemäß (18.122) auf der rechten Seite .ˇB/ D
ve ) nimmt die Geschwindigkeit dagegen zuerst zu und dann wieder ab (hellrote .ˇ  H/, dann kann dies in der zweiten Gleichung in (18.121)
Kurve )
dazu verwendet werden, B durch E und H auszudrücken.
Analog kann aus der zweiten Gleichung in (18.121) ˇ  B be-
Eine einfache Integration liefert dann unter Berücksichtigung rechnet und mit .ˇ  D/ D .ˇ  E/ über die erste Gleichung D
der Anfangsbedingung durch E und H dargestellt werden.

py3 py2
x.py / D ; y.py / D : (18.180)
6Fm2 c 2Fm
Literatur 643

Literatur

Avron, J.E., Berg, E., Goldsmith, D., Gordon, A.: Is the number Minkowski H.: Die Grundgleichungen für die elektromagne-
of photons a classical invariant? Eur. J. Phys. 20, 153 (1999). tischen Vorgänge in bewegten Körpern. Nachrichten von
http://arxiv.org/abs/physics/9810039 der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathe-
matisch-Physikalische Klasse, S. 53–111 (1908). Online:
Einstein, A.: Zur Elektrodynamik bewegter Körper. Ann. Phys.
http://de.wikisource.org/wiki/Die_Grundgleichungen_für_
17, 891 (1905)
die_elektromagnetischen_Vorgänge_in_bewegten_Körpern
Griffiths, D.J.: Elektrodynamik. Pearson, München (2011)

Teil II
Penrose, R.: The Apparent Shape of a Relativistically Moving
Jackson, J.D.: Klassische Elektrodynamik. De Gruyter, Berlin Sphere. Math. Proc. Cambridge Phil. Soc. 55, 137 (1959)
(2006)
Purcell, E.M.: Elektrizität und Magnetismus. Vieweg, Wiesba-
den (1989)
Abstrahlung
elektromagnetischer Wellen
19
Wie kann man allgemein
die Potenziale einer
vorgegebenen Ladungs-

Teil II
und Stromverteilung
berechnen?

Wie strahlt eine bewegte


Punktladung?

Wie sieht die


Multipolentwicklung im
dynamischen Fall aus?

Welche Besonderheiten
ergeben sich bei der
Abstrahlung durch
relativistisch bewegte
Punktladungen?

19.1 Retardierte Potenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646


19.2 Bewegte Punktladung: Liénard-Wiechert-Potenziale . . . . . . . . . . 649
19.3 Der Hertz’sche Dipol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656
19.4 Multipolstrahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658
19.5 Abstrahlung durch relativistisch bewegte Teilchen . . . . . . . . . . . . 661
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 671
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_19, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 645
646 19 Abstrahlung elektromagnetischer Wellen

Ende des 19. Jahrhunderts begann Heinrich Hertz (1857–1894), Frage 1


kurz zuvor zum Professor für Experimentalphysik am Polytechni-
Überlegen Sie sich, wie man die inhomogenen Differenzialglei-
kum in Karlsruhe berufen, mit elektromagnetischen Schwingungen
chungen (19.1) allgemein lösen könnte; denken Sie dabei an die
in Spulen zu experimentieren. Es war bereits bekannt, dass es bei
allgemeine Lösung in der Elektrostatik.
Spulen, die an einer Stelle unterbrochen sind, an dieser Stelle zu
Funkenüberschlägen kommen kann.
Zufällig bemerkte Hertz bei seinen Untersuchungen, dass auch bei Wie bereits in der Elektrostatik benutzt man zur Lösung
einer zweiten, mit der ersten nicht elektrisch verbundenen Spule dieser inhomogenen Differenzialgleichungen eine passende
Funken übersprangen. Damit waren erstmals elektromagnetische Green’sche Funktion. Gesucht ist also eine Funktion G, für die
Wellen erzeugt und wieder empfangen worden, auch wenn das gilt:
Hertz zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht bewusst war. G.t; t0 ; r; r0 / D 4 ı.t  t0 /ı.r  r0 /: (19.3)
Damit hat man
Teil II

In der Folgezeit untersuchte er die Übertragung der Funken nä-


Z
her. Statt der Sendespule verwendete er bald nur noch zwei lange
Drähte mit großen Kugeln als Ladungsspeicher an den vonein- .t; r/ D dV 0 dt0 G.t; t0 ; r; r0 / .t0 ; r0 /;
ander abgewandten Enden und kleinen Kugeln an den einander Z (19.4)
1
zugewandten Enden; diese Anordnung bezeichnete er als „großen A.t; r/ D dV 0 dt0 G.t; t0 ; r; r0 /j.t0 ; r0 /;
c
Oszillator“. Wurde an diese Anordnung eine Spule angeschlossen,
in der elektromagnetische Schwingungen stattfanden, so sprangen und die elektrischen und magnetischen Felder ergeben sich dar-
zwischen den kleinen Kugeln periodisch Funken über – und eine aus wie bekannt als Ableitungen.
elektromagnetische Welle wurde abgestrahlt.
Heutzutage verwendet man natürlich keine Funken mehr zur Erzeu-
gung elektromagnetischer Wellen; in Worten wie „Funk“ ist aber Ansatz für die Green’sche Funktion
der Ursprung dieser Technik immer noch erhalten geblieben. Das
Eröffnungsbild des Kapitels zeigt eine Briefmarke, die von der Deut-
schen Post 1983 zur Feier dieser Entdeckung herausgegeben wurde. Zunächst ist anzunehmen, dass die Green’sche Funktion, wie
auch die rechte Seite der Differenzialgleichung (19.3), nur von
Letztlich war der von Hertz benutzte „große Oszillator“ ein elektri- den Differenzen R WD r  r0 und  WD t  t0 abhängt. Außerdem
scher Dipol mit einem zeitabhängigen Dipolmoment. Hertz hat also erinnern wir uns daran, dass durch eine Fourier-Transformation
experimentell gezeigt, dass ein mit der Zeit veränderlicher elektri- ein Ableitungsoperator in eine Multiplikation übergeht, was die
scher Dipol elektromagnetische Wellen abstrahlt. In diesem Kapitel Rechnung stark vereinfacht. Also setzen wir an:
werden wir den theoretischen Hintergrund sowohl für diese Dipol-
strahlung als auch für die Abstrahlung von elektromagnetischen G.t; t0 ; r; r0 / D G.; R/
Wellen durch bewegte Punktladungen und allgemeine Ladungs- Z
1 Q
und Stromverteilungen genauer betrachten. D p d3 k d! G.!; k/ei.kR! / : (19.5)
. 2 /4
Setzt man diesen Ansatz in die Differenzialgleichung (19.3) ein
und benutzt die bekannte Fourier-Darstellung der Deltafunk-
19.1 Retardierte Potenziale tion, so ergibt sich leicht

Q 1 1
Wir suchen hier nun die Felder, die sich für eine beliebige G.!; k/ D !2
: (19.6)
zeitabhängige Ladungs- und Stromverteilung ergeben. Daher k 
2
c2
müssen wir jetzt die Maxwell-Gleichungen in voller Allge-
meinheit lösen. Wie in Kap. 11 bereits gezeigt wurde, können Frage 2
diese aber durch Einführung des skalaren Potenzials und des Zeigen Sie dies.
Vektorpotenzials A und der Wahl einer geeigneten Eichung ent-
koppelt werden. Am einfachsten werden die Gleichungen in der
Lorenz-Eichung: Es bleibt dann „nur“ noch, die Rücktransformation dieser Fou-
rier-Transformierten zu berechnen. Wir haben also folgendes
 .t; r/ D 4 .t; r/; Mehrfachintegral auszuwerten:
4 (19.1) Z
A.t; r/ D j.t; r/; c2 1 ei.kR! /
c G.; R/ D p d3 k d! : (19.7)
. 2 / 4 c2 k2  ! 2
wobei
1
divA C @ t D 0 (19.2) Der Wert dieses Integrals ist wegen der Polstellen allerdings
c nicht eindeutig definiert; dies werden wir im Folgenden noch
gilt. genauer diskutieren.
19.1 Retardierte Potenziale 647

Auswertung der Integrale Im ω

Da der Integrand sphärisch symmetrisch ist, können zunächst


die Winkelintegrale leicht ausgeführt werden. Es bleibt: −ck +ck

Z1 Z1 rA Re ω
c2   ei!
k dk eikR  eikR d! 2 2 : (19.8)
2 2 iR c k  !2
0 1

Hk
Frage 3
Zeigen Sie dies und überlegen Sie sich, mithilfe welchen ma- gW

Teil II
thematischen Satzes man die !-Integration ausführen könnte.
Abb. 19.1 Integrationsweg für das im Text besprochene !-Integral: entlang
Der Integrand hat Polstellen bei ! D ˙ck. Um die Integration der reellen Achse (rA) oder über einen geschlossenen Integrationsweg (gW). Das
Integral entlang des Halbkreis (Hk) im Unendlichen trägt dabei nichts bei. Au-
über ! auszuführen, bietet es sich also an, den Residuensatz mit ßerdem sind die Polstellen des Integranden bei ! D ˙ck gezeigt; diese werden
einem „im Unendlichen“ geschlossenen Integrationsweg gW zu durch den Integrationsweg gW umgangen, sodass sie innerhalb des vom Weg
verwenden (Abschn. 13.2). Dabei müssen wir wieder darauf umschlossenen Gebiets liegen
achten, dass der Beitrag des Integranden auf dem Halbkreis „im
Unendlichen“ verschwindet.
Beginnen wir mit dem Exponentialfaktor: ei! soll ver- Lösung der homogenen Gleichung plus eine spezielle Lösung
schwinden, wenn der Imaginärteil von ! gegen unendlich der inhomogenen Gleichung). Die physikalische Interpretati-
(Halbkreis oben geschlossen) oder minus unendlich (Halbkreis on ist dagegen letztlich, dass die Green’sche Funktion von
unten geschlossen) geht. Dies ist offensichtlich dann der Fall, den Randbedingungen (hier: sowohl räumlich als auch zeitlich)
wenn  < 0 bzw.  > 0, also t < t0 bzw. t > t0 gilt. Da in abhängt (siehe die Diskussion der Dirichlet’schen und Neu-
(19.4) über alle t0 zu integrieren ist und daher  positiv oder mann’schen Randbedingungen in Kap. 12).
negativ sein kann, müssen wir beide Fälle durchrechnen und je- Wir betrachten nun eine Wahl des Integrationsweges, bei dem
weils den Integrationsweg so schließen, dass der schließende beide Pole in der oberen Halbebene umgangen werden (z. B.
Halbkreis nichts beiträgt. durch zwei kleine Halbkreise; da der Integrand abseits der re-
Bei der Anwendung des Residuensatzes haben wir aber nun das ellen Achse analytisch ist, kommt es nicht darauf an, wie der
Problem, dass die beiden Pole des Integranden gerade auf dem Integrationsweg genau verläuft, solange er oben herumgeht).
Integrationsweg entlang der reellen Achse liegen. Dies bedeu- Beginnen wir mit der Auswertung für  > 0, so ist der Integra-
tet, dass das Integral (19.7) nicht wohldefiniert ist. Man kann es tionsweg, wie oben diskutiert, unten zu schließen. Der gesamte
eindeutig machen, indem man den Integrationsweg ins Komple- nun verwendete Integrationsweg einschließlich der Pole ist in
xe verformt und die Pole auf einer Seite umgeht. Das Ergebnis Abb. 19.1 dargestellt.
des Integrals hängt aber nun natürlich davon ab, wie der Inte- Da dieser Integrationsweg die Pole einschließt, sind nun die Re-
grationsweg gewählt wird (da der Integrand bei den Polstellen siduen der beiden Pole zu berechnen:
ja nicht analytisch ist).
ei! 1 ick
Dies ist allerdings nicht wirklich ein Problem, sondern im lim .!  .˙ck// D e : (19.10)
!!˙ck c2 k2  !2 2kc
Gegenteil sogar zu erwarten: Wir suchen ja eine Lösung der
Differenzialgleichung (19.3). Wendet man den Differenzialope- Damit ist das !-Integral:
rator auf die Fourier-Darstellung (19.7) an, so ergibt sich Z1
ei! 2 i  ick 
Z Z d! D e  eick
c2 1 c2 k2! 2 2kc
G.; R/ D p d3 k d! ei.kR! / : (19.9) 1 (19.11)
. 2 /4
gW i 
D eick  eick :
kc
Der Integrand ist nun analytisch, und damit ändert das Verfor-
men des Weges nichts am Ergebnis dieses Integrals – es ergibt (Das zusätzliche Minuszeichen stammt daher, dass der ge-
sich immer die gewünschte Deltafunktion. schlossene Integrationsweg im mathematisch negativen Sinn
durchlaufen wird.) Es bleibt also für die Green’sche Funktion
Je nach Wahl des Integrationsweges entlang der Achse erhält
man also unterschiedliche Green’sche Funktionen, die aber al- Z1
c   
le die Differenzialgleichung (19.3) erfüllen. Dies entspricht G.; R/ D dk eikR  eikR eick  eick :
2 R
mathematisch der Tatsache, dass eine inhomogene Differen- 0
zialgleichung stets unendlich viele Lösungen hat (allgemeine (19.12)
648 19 Abstrahlung elektromagnetischer Wellen

Nun multiplizieren wir die Klammern aus und fassen jeweils Diese verschwindet für  > 0; auch hier kann aber wegen der
zwei der Summanden nach einem Übergang k ! k zusam- Deltafunktion auf ein explizites Anschreiben des Faktors .t0 
men: t/ verzichtet werden.
Z1   Frage 4
c
G.; R/ D dk eik.Rc /  eik.RCc / : (19.13) Leiten Sie diese avancierte Green’sche Funktion her.
2 R
1

Das verbleibende Integral kann direkt ausgewertet werden; um


die Green’sche Funktion auf die allgemein übliche Form zu
bringen, machen wir vorher aber noch die Variablentransforma- Physikalische Interpretation der Lösung
tion x D kc:
Teil II

Z1   Vergleichen wir die Differenzialgleichung (19.3) mit der für das


1
G.; R/ D dx eix. R=c/  eix. CR=c/ : (19.14) skalare Potenzial (19.1). Die Deltafunktionen auf der rechten
2 R Seite von (19.3) kann man dann als eine Punktladung der Stär-
1
ke q D 1 interpretieren, die zum Zeitpunkt t0 am Ort r0 erscheint
Damit bleibt schließlich und gleich wieder verschwindet. Die Green’sche Funktion über-
nimmt die Rolle des skalaren Potenzials dieser Ladung zum
ı.  R=c/  ı. C R=c/ Zeitpunkt t am Ort r. Die Deltafunktion in der retardierten
G.; R/ D : (19.15)
R Green’schen Funktion (19.16) sorgt dann dafür, dass das Po-
tenzial an einem vorgegebenen Ort r nur zum Zeitpunkt
Zu beachten ist außerdem noch, dass wir  > 0 vorausgesetzt
hatten und natürlich auch R > 0 ist – damit ist das Argument der jr  r0 j
zweiten Deltafunktion immer größer als null, ihr Beitrag ver- t D t0 C (19.18)
schwindet also. c

Hat man dagegen  < 0, so muss der Halbkreis in der oberen nicht verschwindet. Seit dem Zeitpunkt t0 , zu der die Punktla-
Halbebene geschlossen werden, damit sein Beitrag zum Integral dung erschien, ist also die Zeitspanne
verschwindet. Den Integrationsweg gW entlang der Achse be-
hält man aber bei, umgeht die Pole also weiterhin durch kleine jr  r0 j
t D (19.19)
Halbkreise in der oberen Halbebene. Damit schließt der gesam- c
te Integrationsweg die Pole nicht ein, das Integral verschwindet
also für  < 0 für den gewählten Weg gW entlang der Achse. vergangen. Dies ist aber natürlich genau die Zeit, die ein Si-
gnal braucht, um sich mit Lichtgeschwindigkeit vom Ort r0 ,
Setzt man die Abkürzungen von oben wieder ein, hat man an dem sich die Punktladung befand, zum Ort r, an dem das
schließlich die sogenannte retardierte Green’sche Funktion. Feld beobachtet wird, auszubreiten. Die retardierte Green’sche
Funktion beschreibt also die Ausbreitung eines Signals mit
Retardierte Green’sche Funktion Lichtgeschwindigkeit bzw. die zukünftigen Auswirkungen einer
Änderung in der Ladungs- bzw. Stromverteilung.
Eine Green’sche Funktion zum d’Alembert-Operator ist
  Setzt man die retardierte Green’sche Funktion in (19.4) für die
ı t  t0  jrr0 j Potenziale ein und führt die Integrationen über t0 aus, so erhält
c
Gret .t; t0 ; r; r0 / D : (19.16) man entsprechend die retardierten Potenziale.
jr  r0 j

Retardierte Potenziale
Eigentlich ist hier noch ein Faktor .t  t0 / zu ergänzen, da die Die Potenziale zu einer vorgegebenen orts- und zeitsab-
Funktion für  < 0 ja verschwindet. Durch die Deltafunktion hängigen Ladungsverteilung .t; r/ und Stromverteilung
wird dies aber bereits gewährleistet. j.t; r/ kann man folgendermaßen berechnen:
Alternativ kann man den Integrationsweg entlang der reellen  
Achse natürlich auch so wählen, dass die Polstellen in der un- Z t jrr0 j 0
;r
c
teren Halbebene umgangen werden. Dann erhält man mit völlig .t; r/ D dV 0 ;
analogen Rechenschritten schließlich die sogenannte avancierte jr  r0 j
  (19.20)
Green’sche Funktion
Z j t  jrr
0j
; r 0
  1 c
ı t  t0 C jrr
0j A.t; r/ D dV 0 :
c c jr  r0 j
Gav .t; t0 ; r; r0 / D : (19.17)
jr  r0 j
19.2 Bewegte Punktladung: Liénard-Wiechert-Potenziale 649

Das heißt, der Wert der Potenziale am Ort r zum Zeitpunkt t


hängt von den Werten der Ladungs- bzw. Stromdichte zum frü-
heren Zeitpunkt
jr  r0 j
t0 D t  (19.21)
c
R
ab. Dies berücksichtigt wieder genau die Zeit, die ein Signal ẋ
benötigt, um sich mit Lichtgeschwindigkeit von r0 nach r aus-
zubreiten. Daher stammt die Bezeichnung „retardiert“ – unter
r
einer Retardierung versteht man allgemein eine zeitliche Verzö-
x
gerung.
Bei der avancierten Green’schen Funktion dagegen liegt die

Teil II
Zeit, zu der beobachtet wird, vor der Zeit, zu der die Punkt-
ladung auftaucht. Entsprechend werden durch die zugehörigen
avancierten Potenziale Felder zu einer Zeit vor der entsprechen- Abb. 19.2 Eine Punktladung der Stärke q bewegt sich auf einer Bahnkurve
den Änderung der Ladungs- und Stromverteilung beschrieben. x.t/. Gezeigt sind außerdem der Vektor xP .t/ der Momentangeschwindigkeit, der
Dies kann man physikalisch so interpretieren, dass man daran Ortsvektor r des Beobachters und der Vektor R von der Punktladung zum Beob-
achter
interessiert ist, welche Felder für eine vorgegebene Änderung
der Ladungs- und Stromverteilung nötig sind.
Anders gesagt: Die retardierten Potenziale beschreiben die Ab- Zur Berechnung der Potenziale ist es hier günstiger, statt der
strahlung elektromagnetischer Wellen durch eine Ladungs- und Ausdrücke (19.20) für die retardierten Potenziale die allge-
Stromverteilung, die avancierten Potenziale dagegen den Emp- meinen Zusammenhänge in (19.4) zu verwenden und statt der
fang der Wellen. Meist ist man an der Abstrahlung interessiert, zeitlichen zunächst die räumlichen Integrale auszuführen. Es
verwendet also die retardierte Green’sche Funktion. bleibt dann
Abschließend sei noch angemerkt, dass man die Pole auch an-   
Z ı t0  t  jrx.t0 /j
ders hätte umgehen können – beispielsweise den linken in der c
unteren, den rechten in der oberen Halbebene. Dies führt auf .t; r/ D q dt0 ;
jr  x.t0 /j
wieder eine andere Green’sche Funktion, oft Feynman-Green-    (19.23)
Z ı t0  t  jrx.t0 /j xP .t0 /
Funktion oder auch Feynman-Propagator genannt (nach dem q c
Nobelpreisträger Richard Feynman, 1918–1988), die insbeson- A.t; r/ D dt0 :
c jr  x.t0 /j
dere in der Quantenfeldtheorie wichtig ist.
Frage 5
Zeigen Sie dies unter Verwendung von (19.16) und (19.22).
19.2 Bewegte Punktladung:
Liénard-Wiechert-Potenziale Das Argument der Deltafunktionen ist hier eine komplizierte
Funktion von t0 , daher können die zeitlichen Integrationen nicht
In vielen physikalischen Situationen ist man daran interes- direkt ausgeführt werden. Stattdessen ist zunächst die Glei-
siert, welche elektromagnetischen Wellen eine einzelne bewegte chung
X 1
Punktladung abgibt. Dies ist beispielsweise wesentlich für die ı.f .t// D ı.t  ti / (19.24)
Brems- und die Synchrotronstrahlung, kann aber theoretisch i
jf 0 .ti /j
auch für die Berechnung der Abstrahlung einer beliebigen
Ladungs- und Stromverteilung benutzt werden. Solche Vertei- (siehe (11.14)) anzuwenden, wobei ti die einfachen Nullstellen
lungen kann man sich ja letztlich immer aus bewegten Punktla- der Funktion f sind. Hier haben wir
dungen zusammengesetzt denken.
jr  x.t0 /j R.t0 /
f .t0 / D t0  t C D t0  t C ; (19.25)
c c

Allgemeine Berechnung der Potenziale wobei zur Abkürzung der Vektor R.t0 / WD r  x.t0 / vom mo-
mentanen Ort der Punktladung zum Beobachtungsort eingeführt
wurde. Nach kurzer Rechnung ergibt sich
Wir betrachten eine Punktladung der Stärke q, die sich entlang
einer vorgegebenen Bahnkurve x.t/ bewege (Abb. 19.2). Dann f 0 .t0 / D 1  ˇ.t0 /  eO R .t0 / (19.26)
hat man
.t; r/ D qı.r  x.t//; mit einem Einheitsvektor eO R .t0 / in Richtung von R.t0 / und der
(19.22)
j.t; r/ D qPx.t/ı.r  x.t//: bekannten Abkürzung ˇ D xP =c.
650 19 Abstrahlung elektromagnetischer Wellen

Frage 6 Kovariante Formulierung und Interpretation


Führen Sie diese kurze Rechnung durch. der Liénard-Wiechert-Potenziale

Zunächst sehen wir, dass die Bedingung (19.28) für die Zeitre-
Da sicher jˇj < 1 ist und außerdem für beliebige Vektoren im-
tardierung auch geschrieben werden kann als
mer a  b  jajjbj gilt, ist das Produkt in diesem Ausdruck sicher
< 1, der gesamte Ausdruck also immer positiv, und die Betrags-  2
striche in (19.24) sind hier unnötig. c2 .t  t0 /2 D R2 .t0 / D r  x.t0 / (19.29)

Da sich die Punktladung sicher unterlichtschnell bewegt, kann oder mit dem Vierervektor
zum Potenzial an jedem festen Ort r zu jedem Zeitpunkt t au-
ßerdem immer nur ihre Bewegung zu einem einzigen Zeitpunkt R .t0 / D r  x .t0 / D .ct; r/  .ct0 ; x.t0 // (19.30)
Teil II

t0 beitragen. Deshalb ist auch die Summierung unnötig, und


es bleiben schließlich die sogenannten Liénard-Wiechert-Poten- auch kurz als
ziale. R R D 0: (19.31)
Dies drückt aus, dass sich elektromagnetische Felder auf dem
Lichtkegel ausbreiten.
Liénard-Wiechert-Potenziale
Den Nenner in den Potenzialen (19.27) kann man mit diesem
Die Potenziale einer Punktladung, die sich auf einer Bahn
Vierervektor nun auch einfach schreiben als
x.t/ bewegt, kann man folgendermaßen berechnen:
  1  2 
ˇ R.t0 / 1  ˇ.t0 /  eO R .t0 / D  c .t  t0 /  xP  R
q ˇ c
.t; r/ D ˇ ;
R.t / .1  ˇ.t /  eO R .t // ˇ t0 Dt R.t0 /
0 0 0 (19.32)
1 0  0
c D u .t /R .t /
ˇ (19.27) c
qˇ.t0 / ˇ
A.t; r/ D ˇ :
R.t0 / .1  ˇ.t0 /  eO R .t0 // ˇ t0 Dt R.t0 / mit der Vierergeschwindigkeit u .
c

Frage 7
Dabei ist ˇ WD xP =c, R ein Vektor vom momentanen Ort
der Ladung zum Beobachter und eO R ein Einheitsvektor in Wie sieht somit die kovariante Formulierung aus?
dessen Richtung.
Damit können wir die Liénard-Wiechert-Potenziale nun kovari-
ant schreiben.
Benannt sind diese Potenziale nach dem französischen Physi-
ker und Ingenieur Alfred-Marie Liénard (1869–1958), der sie
1898 das erste Mal herleitete, und dem deutschen Physiker und Liénard-Wiechert-Potenziale in kovarianter Formulie-
Seismologen Emil Wiechert (1861–1928), der unabhängig von rung
Liénard zwei Jahre später ebenfalls auf diese Ausdrücke kam. Die Potenziale aus (19.27) kann man kovariant einfach
darstellen als
Natürlich sind die Lösungen nur in impliziter Form angegeben;
ˇ
um die Potenziale konkret zu berechnen, ist jeweils noch die qu .t0 / ˇˇ
A D : (19.33)
Gleichung u .t0 /R ˇR R D0
R.t0 /
t0 D t  (19.28)
c
Betrachten wir insbesondere ein Bezugssystem, das sich mit
zu lösen (die entsprechende Zeit t0 wird oft als retardierte Zeit derselben Geschwindigkeit wie die Punktladung bewegt. Dann
bezeichnet). Dies ist allerdings für praktisch alle physikalisch ist
sinnvollen Situationen nur näherungsweise möglich. Ein kon- u D .c; 0/; (19.34)
kretes Beispiel dazu wird im Folgenden ausführlich diskutiert
werden; der exakt lösbare Fall einer gleichförmig bewegten und die Potenziale (19.33) sind einfach
Punktladung wird dagegen als Aufgabe 19.3 gestellt. Zunächst
q
sollen die Ergebnisse (19.27) aber noch kovariant geschrieben D und A D 0; (19.35)
werden, was es möglich macht, sie genauer zu interpretieren. R.t0 /
19.2 Bewegte Punktladung: Liénard-Wiechert-Potenziale 651

also genau die Potenziale einer ruhenden Punktladung (dies er-


gibt sich natürlich auch direkt aus (19.27)). Die zusätzlichen und
Faktoren
1  ˇ.t0 /  eO R .t0 / (19.36) 1
1 C ˇ.t0 /  eO R .t0 / 1 C ˇ.t0 /  eO r ;
1  ˇ.t0 /  eO R .t0 /
in den Nennern der Liénard-Wiechert-Potenziale in (19.27) (19.39)
stammen somit letztlich aus dem Übergang von einem Be- wobei eO r nun ein Einheitsvektor in Richtung von r ist.
zugssystem, in dem die Punktladung ruht, in eines, in dem sie
sich bewegt, sprich: aus einer Lorentz-Transformation der Po- Da der Ausdruck für A bereits einen Faktor ˇ.t0 / enthält,
tenziale. Dies kann man auch explizit nachrechnen, der hier genügt es dort, von den obigen Entwicklungen nur jeweils
gegangene Weg über die kovariante Formulierung ist aber deut- die Terme nullter Ordnung mitzunehmen; bei braucht
lich einfacher. man dagegen auch die Terme erster Ordnung. Es ergibt
sich also zunächst

Teil II
 ˇ
q eO r  x.t0 / ˇ
.t; r/ D 1C C eO r  ˇ.t / ˇˇ
0
0
;
Harmonisch schwingende Punktladung r r t0 Dt R.tc /
q ˇ
A.t; r/ D ˇ.t0 /ˇ t0 Dt R.t0 / : (19.40)
Kommen wir nun zu einem konkreten Beispiel, wie man die r c

Liénard-Wiechert-Potenziale (19.27) zumindest näherungswei-


se berechnen kann. Es bleibt noch, die Retardierung der Zeit zu berücksichti-
gen. Wir haben
Großer Abstand und langsame Bewegung R.t0 / 1  r
t0 D t  t r  eO r  x.t0 / t  ; (19.41)
c c c
Wir betrachten als Bewegung der Punktladung eine har-
monische Schwingung um den Ursprung: also einfach

x.t/ D x0 sin.!t/: (19.37) x.t0 / D x0 sin.!t  kr/ (19.42)

Alle anderen möglichen Bewegungen können hieraus und


theoretisch mithilfe einer Fourier-Transformation zusam-
1 @x.t0 /
mengesetzt werden; in der Praxis wird dies aber meist zu ˇ.t0 / D D kx0 cos.!t  kr/; (19.43)
aufwendig sein. c @t0

Im Folgenden berechnen wir die Potenziale und die wobei wie üblich die Wellenzahl k D !=c ist. Damit sind
Felder, die durch diese bewegte Punktladung erzeugt wer- schließlich die Potenziale in führender Ordnung

q
den, unter Voraussetzung einiger Näherungen:
eO r  x0
.t; r/ D 1C sin.!t  kr/
Der Abstand des Beobachters ist groß im Vergleich zur r r 
Amplitude der Schwingung: r jx0 j. C kOer  x0 cos.!t  kr/ ;
Die Punktladung bewegt sich langsam verglichen mit
q
der Lichtgeschwindigkeit: jˇj 1. A.t; r/ D kx0 cos.!t  kr/: (19.44)
r

Die zweite Bedingung kann umformuliert werden zu Daraus erhält man durch Ableiten die Feldstärken
!jx0 j c, was wiederum gleichbedeutend mit jx0 j 
q q
ist, d. h., die Amplitude der Schwingung ist klein vergli- E.t; r/ D eO r C k2 x0 sin.!t  kr/ (19.45)
chen mit der Wellenlänge der abgegebenen Strahlung. r2  r 
q
 3 x0 sin.!t  kr/ C kr cos.!t  kr/
Wir entwickeln nun die Liénard-Wiechert-Potenziale r 
nach jx0 j=r und jˇj bis zur jeweils ersten Ordnung; auch q
C 3 eO r .Oer  x0 / 3 sin.!t  kr/
Terme, die beide Ausdrücke gleichzeitig in erster Ord- r 
nung enthalten, werden vernachlässigt.
C 3kr cos.!t  kr/  .kr/2 sin.!t  kr/ ;
Zunächst hat man
kr sin.!t  kr/  cos.!t  kr/
B.t; r/ D qk eO r  x0 :
1 1 r  x.t0 / r2
C (19.38)
R.t0 / r r3 J
652 19 Abstrahlung elektromagnetischer Wellen

Abb. 19.3 Felder eines harmonisch schwingenden Dipols. Dargestellt sind jeweils die elektrischen (rot ) und magnetischen (blau ) Felder für t D T=4, T=2, 3T=4
Teil II

und T mit der Schwingungsperiode T D 2 =!

Im Rahmen der betrachteten Näherungen (großer Abstand des Das elektrische Feld ist hier also genau dasselbe wie bei ei-
Beobachters und langsame Bewegung der Punktladung) sind ner ruhenden Punktladung plus einem statischen Dipol, nur die
dies vollständige Ergebnisse. Die dadurch beschriebenen Felder Stärke des Dipolmoments hängt nun von der Zeit ab. Wie man
sind in Abb. 19.3 für verschiedene Zeiten dargestellt. außerdem leicht nachrechnet, steht das magnetische Feld hier
senkrecht zum elektrischen Feld und zur Schwingungsrichtung
Um nähere Einsicht in das Verhalten der Felder zu gewinnen,
der Ladung.
betrachtet man nun noch zwei Spezialfälle, in denen weitere
Vereinfachungen möglich sind. Im Fernfeld ergeben sich dagegen deutlich andere Aussagen.
Hier haben wir kr 1; bei den Feldern bleibt somit nur
In den bisherigen Voraussetzungen wurden nur Aussagen über
die relative Größe der Quelle und der Wellenlänge bzw. der Grö- qk2 sin.!t  kr/  
ße der Quelle und den Abstand des Beobachters gemacht, über E.t; r/ D x0  eO r ŒOer  x0  ;
r (19.49)
das Verhältnis zwischen Wellenlänge und Abstand des Beob-
achters wurde nichts gesagt. Man unterscheidet hier: k2 sin.!t  kr/
B.t; r/ D qOer  x0 :
r
Nahfeld r , also insgesamt für die drei relevanten Grö-
Berücksichtigt man, dass
ßen jx0 j r ,
Fernfeld r , also insgesamt jx0 j  r. pR .t  r=c/ D q k2 c2 x0 sin.!t  kr/ (19.50)

Betrachten wir zunächst das Nahfeld. Hier hat man kr 1, also ist, so kann man auch dies wieder kürzer schreiben.
bleibt nur
q q q Fernfeld einer harmonisch schwingenden Punktladung
E.t; r/ D 2 eO r  3 x0 sin.!t/ C 3 eO r .Oer  x0 /3 sin.!t/;
r r r
kx0 cos.!t/ Für eine Punktladung, die harmonisch um den Ursprung
B.t; r/ D q  eO r : (19.46) schwingt (elektrisches Dipolmoment p), sind die Feldstär-
r2 ken fern der Ladung
Berücksichtigt man, dass die schwingende Punktladung das Di-
polmoment eO r ŒOer  pR .t  r=c/  pR .t  r=c/
E.t; r/ D ;
p.t/ D qx.t/ D q x0 sin.!t/ (19.47) rc2 (19.51)
pR .t  r=c/
hat, so kann man dies auch kürzer schreiben. B.t; r/ D  eO r :
rc2

Nahfeld einer harmonisch schwingenden Punktladung


Die Ergebnisse sehen auf den ersten Blick recht ähnlich wie
Für eine Punktladung, die harmonisch um den Ursprung die im Nahfeld aus – es ergibt sich fast (bis auf den fehlen-
schwingt (elektrisches Dipolmoment p), sind die Feldstär- den Faktor 3) wieder ein elektrisches Dipolfeld. Beim näheren
ken nahe der Ladung Hinsehen fällt aber auf, dass statt des Dipolmoments hier des-
sen zweite zeitliche Ableitung steht (was hier natürlich dasselbe
q 3Oer ŒOer  p.t/  p.t/
E.t; r/ D eO r C ; ist wie das Dipolmoment multipliziert mit ! 2 ). Außerdem ist
r2 r3 (19.48) nicht dessen Wert zum Zeitpunkt t, sondern zur retardierten Zeit
pP .t/ t  r=c für die Feldstärken wesentlich. Letzteres berücksichtigt
B.t; r/ D 2  eO r :
r c die Ausbreitung der elektromagnetischen Wellen mit der Licht-
geschwindigkeit c.
19.2 Bewegte Punktladung: Liénard-Wiechert-Potenziale 653

z Frage 8
Üerprüfen Sie, dass die entstehenden Wellen transversal sind
und die Felder senkrecht aufeinander stehen.

Für die gesamte durch die Oberfläche einer Kugel im Abstand r


abgestrahlte Leistung muss man nun noch den Poynting-Vektor
integrieren. Mit Z
8
d sin2 # D (19.54)
3

x y erhält man
I

Teil II
2Rp2 .t  r=c/ 2! 4 p20
P.t; r/ D df  S D D sin2 .!t  kr/:
3c3 3c3
Abb. 19.4 Abstrahlungscharakteristik eines harmonisch schwingenden Dipols (19.55)
(hier: Punktladung, die entlang der z-Achse um den Ursprung schwingt). Darge-
Meist ist man am zeitlichen Mittelwert der abgestrahlten Leis-
stellt ist der abgestrahlte Energiefluss in Abhängigkeit vom Winkel zur z-Achse
(Polardarstellung: der Abstand eines Punktes auf der Oberfläche zum Ursprung tung interessiert.
ist proportional zum Betrag von S in dieser Richtung). Man sieht, dass insbeson-
dere in Schwingungsrichtung nichts abgestrahlt wird
Von einer harmonisch schwingenden Punktladung
abgestrahlte Leistung

Des Weiteren ergibt sich zwar dieselbe Winkelabhängigkeit wie Eine Punktladung, die mit der Kreisfrequenz ! und der
bei einem statischen Dipolfeld, die Radialabhängigkeit ist aber Amplitude x0 harmonisch um den Ursprung schwingt,
anders: Die Feldstärke ist nun proportional zu r1 statt zu r3 . strahlt im zeitlichen Mittel die Leistung
Das Fernfeld fällt mit zunehmendem Radius also viel langsamer
ab als das Nahfeld – und genau deswegen ist das Nahfeld nur ! 4 p20 ! 4 q2 x20
hPi D D (19.56)
nahe dem Dipol wesentlich. 3c3 3c3
Ist man an der gesamten abgestrahlten Energie interessiert, so ab.
benötigt man noch den Poynting-Vektor im Fernfeld. Dieser er-
gibt sich nach kurzer Rechnung aus der Definition (11.112) und
(19.51) zu Für Dipolstrahlung ist diese Abhängigkeit von der Amplitude
pR 2  .Oer  pR /2 (proportional zu p20 ) und der Frequenz (proportional zu ! 4 ) ty-
S.t; r/ D eO r : (19.52) pisch, wie wir im Folgenden ebenfalls noch sehen werden.
4 c3 r2
Der Ausdruck im Zähler kann dann noch mittels des Winkels Andererseits kann man für r D 0 auch schreiben:
zwischen eO r und p ausgedrückt werden. 2q2 xR 2 .t/
P.t/ D : (19.57)
3c3
Abstrahlung einer harmonisch schwingenden Punkt-
Streng genommen gehört dies natürlich nicht zum Fernfeld –
ladung
dies ist aber zulässig, wenn man nur an der Abstrahlung inter-
Für eine Punktladung, die harmonisch um den Ursprung essiert ist. Die abgestrahlte Leistung ist also proportional zum
schwingt, ist der Poynting-Vektor fern der Ladung Quadrat der Beschleunigung der Punktladung. Dieser Zusam-
menhang gilt nicht nur bei einer harmonischen Schwingung,
pR 2 .t  r=c/ sin2 # sondern allgemein, und ist als die (nichtrelativistische) Larmor-
S.t; r/ D eO r ; (19.53) Formel bekannt. In Abschn. 19.5 werden wir nochmals näher
4 c3 r2
darauf eingehen. Hier sollen zunächst noch zwei Folgerungen
wobei # der Winkel zwischen der Schwingungsrichtung aus der Abstrahlung einer schwingenden Punktladung bespro-
der Punktladung und der Beobachtungsrichtung ist. chen werden.

Die Abstrahlung erfolgt also radial nach außen, die Winkel-


abhängigkeit der Intensität ist sin2 #, und die Intensität nimmt
Thomson-Streuung
proportional zu r2 ab. Dies ist die typische Abstrahlungscha-
rakteristik eines schwingenden Dipols, wie wir im Folgenden Trifft eine monochromatische, ebene, linear polarisierte elek-
noch sehen werden; sie ist in Abb. 19.4 grafisch dargestellt. tromagnetische Welle auf eine Punktladung (z. B. ein Elektron),
654 19 Abstrahlung elektromagnetischer Wellen

so regt sie diese zu einer harmonischen Schwingung an. Wie Andererseits gilt im zeitlichen Mittel für den Betrag des Ener-
wir gerade gesehen haben, wird die Punktladung dann ihrerseits giestromes der einfallenden elektromagnetischen Welle
wieder Strahlung abgeben – und zwar nicht nur in die Rich-
tung, in die sich die einfallende Welle bewegt, sondern laut der c 2
hSi D E : (19.65)
Abstrahlungscharakteristik (19.53) in alle Richtungen außer der 8 0
Schwingungsrichtung. Die einfallende Welle wird also (teilwei-
se) gestreut. Der Streuwirkungsquerschnitt  ist definiert als der Quotient
aus gestreuter Leistung und einfallendem Energiestrom. Somit
Betrachten wir solch eine einfallende Welle und ihre Wirkung ergibt sich
auf eine Punktladung q, die sich ursprünglich im Ursprung be-
findet. Dort hat man die Felder 8 q4 !4
.!/ D : (19.66)
3m2 c4 .!02  ! 2 /2
E.t/ D E0 cos .!t/ ;
Teil II

(19.58)
B.t/ D B0 cos .!t/ Oft interessiert nur der Grenzfall ! !0 (dies entspricht
der Streuung an einem freien oder nur sehr schwach gebunde-
mit reellen, konstanten Amplitudenvektoren E0 und B0 . Auf die nen Teilchen, ist also beispielsweise in Plasmen wichtig). Man
Punktladung wirkt dann die Kraft spricht dann von Thomson-Streuung (nach dem britischen Phy-
siker Sir Joseph John Thomson, 1856–1940, dem Entdecker des
F.t/ D mRx.t/ D qE.t/ C qˇ  B.t/  m!02 x.t/; (19.59) Elektrons).
wobei wir noch berücksichtigt haben, dass ein gebundenes
Teilchen im Allgemeinen auch Eigenschwingungen mit der Fre- Thomson-Streuquerschnitt
quenz !0 ausführen wird.
Der Wirkungsquerschnitt für die Streuung einer elektro-
Betrachten wir wieder nur langsame Bewegungen der Punktla- magnetischen Welle an einem harmonisch gebundenen
dung (jPxj c), so kann der zweite Summand gegenüber dem Teilchen ist
ersten vernachlässigt werden (da bei einer ebenen Welle im Va- 8 q4
kuum E und B ja denselben Betrag haben), und es bleibt T D ; (19.67)
3m2 c4
q
xR .t/ D E.t/  !02 x.t/: (19.60) wenn die Frequenz der Welle sehr viel größer ist als die
m
Eigenfrequenz des Teilchens.
Die Punktladung führt also erzwungene Schwingungen aus.
Frage 9
Speziell für Elektronen erhält man den konkreten Zahlenwert
Erinnern Sie sich an die Mechanik: Welcher Zusammenhang
T D 6;64  1025 cm2 (D 0;664 barn).
ergibt sich bei einer erzwungenen Schwingung zwischen einer
äußeren periodischen Kraft und der Auslenkung? Zur Veranschaulichung kann man hier auch den sogenann-
ten klassischen Elektronenradius einführen (siehe auch Ab-
schn. 12.6): Setzt man an, dass die Ruheenergie me c2 des
Mit dem Wissen aus der Mechanik (Kap. 6) folgt, dass bei der
Elektrons gleich seiner potenziellen Energie e2 =re im eigenen
periodischen äußeren Anregung (19.58)
Feld ist, so ergibt sich
1 q
x.t/ D E.t/ (19.61) e2
!02 ! m
2
re D .D 2:8  1015 m/: (19.68)
me c2
gilt, also
!2 q (Es ist aber anzumerken, dass nach heutigem Wissen der tat-
xR .t/ D  E.t/: (19.62)
!02 ! m
2 sächliche Elektronenradius kleiner als 1019 m ist; nach dem
gegenwärtigen Standardmodell der Teilchenphysik sind Elek-
Setzen wir dies in (19.57) ein, so erhalten wir für die von der tronen sogar punktförmig.) Damit kann der Thomson-Streu-
Punktladung abgestrahlte Leistung sofort querschnitt einfach geschrieben werden als

2q4 E2 .t/ !4 8 2
P.t/ D (19.63) T D r : (19.69)
3c m .!0  ! 2 /2
3 2 2 3 e

bzw. nach zeitlicher Mittelung Die Querschnittsfläche, die ein Elektron einer einfallenden elek-
tromagnetischen Welle hoher Frequenz entgegensetzt, ist also
q4 E20 !4 um den Faktor 83 größer als die nach der obigen Abschätzung zu
hPi D : (19.64)
3c3 m2 .!0  ! 2 /2
2 erwartende Querschnittsfläche.
19.2 Bewegte Punktladung: Liénard-Wiechert-Potenziale 655

Vertiefung: Warum ist der Himmel blau?

Fällt Sonnenlicht in die Atmosphäre ein, so trifft es auf


Teilchen, die sehr viel kleiner als seine Wellenlänge sind
(sichtbares Licht hat Wellenlängen von einigen Hundert Na-
nometern, die Gasteilchen der Atmosphäre typische Größen
von wenigen Nanometern). Daher gilt für die Eigenschwin-
gungsfrequenz !0 der Elektronen in diesen Gasteilchen im
Vergleich zur Lichtfrequenz ! meist !0 !.
In diesem Grenzfall ergibt sich aus (19.66)

Teil II
!4
R .!/ D T :
!04

Man spricht dann von Rayleigh-Streuung, nach dem engli-


schen Physiker John William Strutt, dritter Baron Rayleigh
(1842–1919), der die blaue Farbe des Himmels damit erklär-
Abb. 19.5 Vergleich des natürlichen Sonnenspektrums (orange ) mit dem
te: Die Frequenz von blauem Licht ist deutlich höher als die Spektrum des gestreuten Lichtes (blau ); gezeigt ist außerdem der Bereich
von rotem, also wird es nach diesem Ergebnis viel stärker der sichtbaren Lichtfarben (© Herbert Weidner)
gestreut. Daher sieht man, wenn man einen beliebigen Aus-
schnitt des Himmels betrachtet, vor allem den blauen Anteil
Bei niedrigem Sonnenstand legt das Sonnenlicht einen
des gestreuten Sonnenlichtes – der Himmel erscheint blau.
weiteren Weg durch die Atmosphäre zurück. Dann wird
Quantitativ wird dies durch Abb. 19.5 beschrieben: Die oran- noch mehr Licht mit höheren Frequenzen weg gestreut, bis
gefarbene Kurve stellt dabei das Spektrum der Sonne dar, die schließlich vor allem rotes Licht übrig bleibt – deshalb er-
blaue Kurve zeigt dagegen das Spektrum des Streulichtes. scheint die Sonne kurz nach Sonnenaufgang bzw. kurz vor
Bei letzterem ist das Maximum in den UV-Bereich verscho- Sonnenuntergang rot. Befinden sich mehr Teilchen in der
ben – es enthält nun also deutlich mehr blaue Anteile als Luft (z. B. Staub nach einem Vulkanausbruch), so verstärkt
andere Farben. sich dieser Effekt noch.

Strahlungsdämpfung Im zeitlichen Mittel soll dies gleich der abgestrahlten Leistung


(19.55) sein. Wir haben also

Wir haben gesehen, dass eine harmonisch schwingende Punkt- 2q2 hvP 2 i
D hFStr  v i: (19.72)
ladung elektromagnetische Wellen abstrahlt, also ständig Ener- 3c3
gie verliert. Dies kann man sich auch so vorstellen, dass die
abgegebenen elektromagnetischen Wellen ihrerseits wieder eine Die zeitliche Mittelung erfolgt über eine Periode der Schwin-
(abbremsende) Kraft auf die Punktladung ausüben; man nennt gung. Ausführlich geschrieben gilt
diesen Effekt Strahlungsdämpfung. Im Folgenden soll ein expli-
ziter Ausdruck für diese Kraft hergeleitet werden. ZT
1
hvP 2 i D vP 2 dt: (19.73)
Die Bewegungsgleichung der Punktladung sei insgesamt T
0

mvP D F C FStr ; (19.70) Hier kann man nun partiell integrieren; die Randterme fallen
wegen der vorausgesetzten periodischen Bewegung weg. Es er-
gibt sich
wobei FStr für die Strahlungsdämpfungskraft steht und F für
alle anderen Kräfte, die auf die Punktladung wirken (z. B. die ZT
Rückstellkraft der harmonischen Schwingung und/oder Kräfte 1
hvP i D 
2
v  vR dt D hv  vR i: (19.74)
einer einfallenden elektromagnetischen Welle). Die durch die T
Strahlungsdämpfungskraft der Punktladung entzogene Leistung 0
ist dann
Ein Vergleich mit dem Ansatz (19.71) führt dann auf das ge-
PStr D FStr  v : (19.71) suchte Ergebnis.
656 19 Abstrahlung elektromagnetischer Wellen

Für die Funktionen 0 und A gelten dabei die Differenzialglei-


Strahlungsdämpfungskraft chungen  
 C k2 0 .r/ D 4 0 .r/;
Auf eine harmonisch schwingende Punktladung wirkt
  4 (19.79)
durch die Abgabe von elektromagnetischer Strahlung im  C k2 A0 .r/ D  j0 .r/:
Mittel die Kraft c

2q2 vR 2q2«x Frage 10


FStr D D : (19.75) Vollziehen Sie (19.78) und (19.79) nach.
3c3 3c3

Wir haben hier also nochmals gezeigt, dass die Green’sche


Man kann zeigen, dass diese Strahlungsdämpfung, sofern ihre
Funktion zur sogenannten Helmholtz-Gleichung, also
Teil II

Stärke klein ist verglichen mit der anregenden Kraft, zu einer


expontiell gedämpften Schwingung führt (Aufgabe 19.4).  
 C k2 G.r; r0 / D 4 ı.r  r0 /; (19.80)

gegeben ist durch

19.3 Der Hertz’sche Dipol 0


eikjrr j
G.r; r0 / D (19.81)
jr  r0 j
Im vorhergehenden Abschnitt wurde die Abstrahlung elek- (Abschn. 13.2). Die Gleichung ist benannt nach dem deutschen
tromagnetischer Wellen durch einen speziellen schwingenden Universalgelehrten Hermann Ludwig Ferdinand von Helmholtz
Dipol, eine harmonisch schwingende Punktladung, ausführlich (1821–1894), der auch „Reichskanzler der Physik“ genannt
betrachtet. Hier soll nun gezeigt werden, dass die dort erhal- wurde.
tenen Ergebnisse allgemein für jede Ladungsverteilung gelten,
deren elektrisches Dipolmoment harmonisch variiert. Es soll al-
so gelten:
p.t/ D p0 ei!t : (19.76) Potenziale für große Abstände
Man spricht dann von einem Hertz’schen Dipol (siehe den Ein- Völlig analog zur Multipolentwicklung (in kartesischen Ko-
leitungstext dieses Kapitels). ordinaten) im statischen Fall (Abschn. 13.4) können wir die
Potenziale für große Abstände näherungsweise berechnen, in-
dem wir zunächst die Green’sche Funktion entwickeln. Wir
betrachten hier nur das Fernfeld, d. h., wir haben
Helmholtz-Gleichung und zugehörige
Green’sche Funktion r0  r: (19.82)

Allgemeiner betrachten wir hier nun eine (räumlich begrenzte) Zunächst folgt aus r0 r:
Ladungs- und Stromverteilung mit harmonischer Zeitabhängig-  
eO r  r0 2 
keit: kjr  r0 j D kr 1  C O r0 =r
r
i!t 0
.t; r/ D 0 .r/e und j.t; r/ D j0 .r/ei!t : (19.77) D kr  k  r C : : : (19.83)

mit dem Wellenvektor k D kOer in radialer Richtung und


Setzt man diese Ansätze in die allgemeinen Formeln (19.20) für 
1 1 eO r  r0  2 
die retardierten Potenziale ein, so erhält man leicht das Ergeb- 0
D 1 C C O r =r ; (19.84)
nis, dass auch die Potenziale eine harmonische Zeitabhängigkeit jr  r0 j r r
(mit derselben Frequenz) haben:
also
Z 0 ikjrr0 j  
0 .r /e 0
eikjrr j eikr ikr0 eO r  r0
0 .r/ D dV 0 ; D 1C C :::
jr  r0 j jr  r0 j r
e
r
(19.85)
(19.78)
Z 0
1 j0 .r0 / eikjrr j Da aber außerdem kr0
A0 .r/ D dV 0 : 1 gilt, kann auch der Exponentialfak-
c jr  r0 j tor noch entwickelt werden:
0  
Hier ist wieder k D !=c. eikr D 1  ik  r0 C O .kr0 /2 ; (19.86)
19.3 Der Hertz’sche Dipol 657

sodass Das zweite Integral ergibt wieder das elektrische Dipolmoment.


0   Das erste Integral kann man dagegen mit dem Gauß’schen Satz
eikjrr j eikr 0 eO r  r0 in ein Integral über die Oberfläche des Integrationsvolumens
D 1  ik  r C C ::: (19.87)
jr  r0 j r r umschreiben. Damit findet man
Z I  
folgt. j 1
dV 0 0 D .df 0 /> r0 j>
0  ikp0 : (19.96)
c c
Frage 11
Rechnen Sie diese Näherungen nach. Da die Stromverteilung aber als räumlich begrenzt voraus-
gesetzt wurde, verschwindet das Oberflächenintegral. Für das
Vektorpotenzial bleibt in dieser Näherung schließlich
Andererseits gilt im Fernfeld auch k 1=r; deshalb kann der
dritte Summand in der Klammer gegenüber dem zweiten ver- eikr
A0 .r/ D ik p :

Teil II
nachlässigt werden, und es bleibt (19.97)
r 0
Z
eikr  
0 .r/ D dV 0 0 .r0 / 1  ik  r0 ;
r
Z (19.88) Dipolstrahlung
eikr j .r0 /  
A0 .r/ D dV 0 0 1  ik  r0 :
r c
Die elektrischen und magnetischen Felder erhält man wiederum
Hier sieht man bereits, dass sich für die Potenziale radial aus- durch Ableiten der Potenziale, wobei die harmonische Zeitab-
laufende Wellen ergeben. Außerdem können beim skalaren hängigkeit natürlich mit berücksichtigt werden muss.
Potenzial die Definitionen der Gesamtladung und des Dipolmo-
Betrachten wir nur die physikalisch relevanten Realteile, so er-
ments verwendet werden; damit kann man kurz schreiben:
gibt sich
eikr
0 .r/ D .q0  ik  p0 / : (19.89) kq0 sin.kr  !t/
r E.t; r/ D
r
k2 Œp0  .p0  eO r /Oer  cos.kr  !t/
Beim Vektorpotenzial beachte man zunächst, dass aus der C ;
Kontinuitätsgleichung für die hier angenommene harmonische r
Zeitabhängigkeit k p0 cos.kr  !t/
2

j B.t; r/ D eO r  : (19.98)
div 0 D ik 0 (19.90) r
c
folgt. Die Divergenz von j0 ist aber sicher von derselben Grö- Frage 12
ßenordnung wie j0 =r0 , also ist j0 =c selbst bereits von derselben Berechnen Sie diese Feldstärken.
Größenordnung wie ikr0 0 . In der Entwicklung oben genügt es
somit bei A0 , nur die erste Ordnung mitzunehmen: Berücksichtigt man, dass
Z  
eikr j0 .r0 / Re .Rp.t  r=c// D Re ! 2 p.t  r=c/
A0 .r/ D dV 0 : (19.91) (19.99)
r c D k2 c2 p0 cos.kr  !t/
Dieses Integral kann man nun noch weiter umschreiben. Hierfür
gilt, so kann man dies auch kürzer schreiben als (den Realteil
benutzt man die Beziehung
von)
 
@0i ri0 j0 j D rj0 divj0 C j0 j ; (19.92) kq0 sin.kr  !t/
E.t; r/ D
also   r
.r 0 /> r0 j> D r0 divj0 C j0 : (19.93) eO r ŒOer  pR .t  r=c/  pR .t  r=c/
0 C ;
rc2
Mithilfe der Kontinuitätsgleichung führt dies auf pR .t  r=c/
B.t; r/ D  eO r : (19.100)
  rc2
j0 1
D .r 0 /> r0 j>
0  ikr0 0 : (19.94) Für den Dipolanteil erhält man also genau dieselben Felder wie
c c
bereits bei der harmonisch schwingenden Punktladung in Ab-
Damit erhält man für das Integral: schn. 19.2.
Z Z   Z
j 1 Hier haben wir allerdings auch noch einen Anteil mit der Ge-
dV 0 0 D dV 0 .r 0 /> r0 j>
0  ik dV 0 r0 0 : (19.95) samtladung. Betrachten wir dessen Beitrag Sq zum Poynting-
c c
658 19 Abstrahlung elektromagnetischer Wellen

Vektor; dieser ergibt sich aus dem ersten Summanden beim Multipolentwicklung der Green’schen Funktion
elektrischen Feld und dem magnetischen Feld in (19.100). Nach
zur Helmholtz-Gleichung
einer kurzen Rechnung hat man

ck3 Wie im statischen Fall entwickeln wir zunächst die Green’sche


Sq D q0 .p0  eO r /Oer  p0 sin.kr  !t/ cos.kr  !t/: Funktion. Die Rechnung läuft praktisch genauso ab wie in Ab-
4 r2
(19.101) schn. 13.6. Wir setzen zunächst
Dieser Anteil des Poynting-Vektors zeigt nun aber nicht radial 1 X
nach außen, sondern ist immer tangential zu jeder Kugelober-
0
eikjrr j X l
D Glm .r; r0 ; # 0 ; ' 0 /Ylm .#; '/ (19.106)
fläche gerichtet. Wie man sofort einsieht, ist jr  r0 j lD0 mDl

.p0  eO r /Oer  p0  eO r D 0; (19.102) an und benutzen für die Deltafunktion wieder die Entwicklung
Teil II

1
ı.r  r0 / X X  0 0
l
also
Sq  eO r D 0: (19.103) ı.r  r0 / D Ylm .# ; ' /Ylm .#; '/: (19.107)
r02 lD0 mDl
Außerdem verschwindet das zeitliche Mittel über Sq . Die har-
monisch veränderliche Gesamtladung trägt also nichts zur Ab- Setzt man beides in die Helmholtz-Gleichung
strahlung bei. 0
  eikjrr j
 C k2 D 4 ı.r  r0 / (19.108)
jr  r0 j
Es gibt keine elektromagnetische Monopolstrahlung.
ein und benutzt die Darstellung (2.133) des Laplace-Operators
in Kugelkoordinaten, so kommt man zu
Dies wird in Aufgabe 19.5 nochmals näher diskutiert.  
l.l C 1/
Für die Dipolstrahlung ergeben sich dagegen, da ja die Felder r  C k 2
Glm .r; r0 ; # 0 ; ' 0 /
r2
dieselben sind, wieder genau dieselben Ergebnisse wie in Ab- (19.109)
ı.r  r0 /  0 0
schn. 19.2. D 4 Ylm .# ; ' /:
r2
Wieder folgt, dass man
Abstrahlungscharakteristik und mittlere abgestrahlte
Leistung eines harmonisch schwingenden Dipols Glm .r; r0 ; # 0 ; ' 0 / D gl .r; r0 /Ylm

.# 0 ; ' 0 / (19.110)
Für einen harmonisch schwingenden elektrischen Dipol p schreiben kann; die Funktionen gl erfüllen hier aber nun die Dif-
ist der Poynting-Vektor im Fernfeld ferenzialgleichung
 2 
pR 2 .t  r=c/ sin2 # r r  l.l C 1/ C k2 r2 gl .r; r0 / D 4 ı.r  r0 /: (19.111)
S.t; r/ D eO r ; (19.104)
4 c3 r2
Frage 13
und im Mittel wird die Leistung Vollziehen Sie die Rechenschritte bis zu diesem Ergebnis im
Einzelnen nach.
! 4 p20
hPi D (19.105)
3c3
Außerdem setzen wir erneut voraus, dass die Funktionen
abgegeben. gl .r; r0 / stetig sind. Wieder folgt, dass sie bei r D r0 nicht diffe-
renzierbar sind, sondern dass
 r0 C
d 4
lim gl .r; r0 / D  02 (19.112)
!0 dr r0  r
19.4 Multipolstrahlung gilt.
Zunächst ist aber noch die Differenzialgleichung für den Fall
Wie wir in Abschn. 19.3 gesehen haben, ergeben sich auch im
r ¤ r0 zu lösen, also
dynamischen Fall, wie bereits in der Elektrostatik, im Fernfeld
 2 
ein Monopol- und ein Dipolanteil. Es liegt also nahe, wie in r r  l.l C 1/ C k2 r2 gl .r/
Abschn. 13.6 eine allgemeine sphärische Multipolentwicklung  
d2 d
der Potenziale durchzuführen. Wir betrachten auch hier wieder D r2 2 C 2r  l.l C 1/ C k2 r2 gl .r/
nur räumlich begrenzte, harmonisch schwingende Ladungs- und dr dr
Stromverteilungen. D 0; (19.113)
19.4 Multipolstrahlung 659

Anwendung in der Technik: UKW-Sender

Die Abstrahlung (und der Empfang) elektromagnetischer


Wellen ist aus unserer heutigen Welt natürlich nicht mehr
wegzudenken. Neben elektromagnetischen Wellen im Ra-
diobereich, die (unter anderem) für Radio, Fernsehen und
Funk verwendet werden, gehören auch die Erzeugung von
Röntgenstrahlung für Medizin und Forschung sowie von Mi-
krowellen zum Erhitzen von Speisen, aber auch zur Kommu-
nikation mit drahtlosen Telefonen und in der Radartechnik zu
den zahlreichen technischen Anwendungen.

Teil II
Letztere werden später genauer diskutiert werden; hier soll
nur kurz auf die Erzeugung von UKW-Radiowellen ein-
gegangen werden. Hierzu verwendet man im Wesentlichen
einfach einen geraden Metallstab (Abb. 19.6), dessen Länge
gerade die Hälfte der Wellenlänge beträgt. Schließt man in
der Mitte eine Wechselspannung an, so bildet sich in dem
Metallstab eine stehende harmonische elektromagnetische
Welle aus. Man hat dann einen Hertz’schen Dipol, der elek-
tromagnetische Strahlung abgibt.

Abb. 19.6 Ein Dipol einer UKW-Antenne (© KATHREIN-Werke KG, Rosen-


heim)

wobei abkürzend die Abhängigkeit der gl von r0 hier nicht ex-


plizit ausgeschrieben wurde. Substituiert man nun x D kr und Sphärische Bessel-Funktionen
setzt gl .r/ D fl .x/, dann hat man
Die Lösungen der Differenzialgleichung (19.116) sind
  r r
d2 d
x2 C 2x  l.l C 1/ C x2 fl .x/ D 0: (19.114) jl .x/ D JlC 1 .x/ und yl .x/ D YlC 1 .x/:
dx2 dx 2x 2 2x 2

(19.117)
Dies sieht nun aber einer Bessel’schen Differenzialgleichung
(siehe (16.58)) sehr ähnlich. Durch eine weitere Transformation
erhält man daraus tatsächlich eine Bessel’sche Differenzialglei- Wie bereits bei den gewohnten („zylindrischen“) Bessel-Funk-
chung: Setzt man tionen (mit ganzzahligem Index) werden die Funktionen zweiter
r
Art yl oft auch Neumann-Funktionen genannt und mit nl be-
fl .x/ D ul .x/ (19.115) zeichnet. Außerdem definiert man noch die sogenannten sphä-
2x
rischen Hankel-Funktionen erster und zweiter Art durch die
p komplexen Linearkombinationen (nach dem deutschen Mathe-
(wobei der konstante Faktor =2 nur Konvention und für die matiker Hermann Hankel, 1839–1873)
Rechnung eigentlich nicht nötig ist), dann gilt für ul die Diffe-
renzialgleichung
hl.1/ .x/ D jl .x/ C iyl .x/ und hl.2/ .x/ D jl .x/  iyl .x/:
  ! (19.118)
d2 d 1 2
x 2 Cx Cx  lC
2 2
ul .x/ D 0: (19.116)
dx dx 2
Zu den sphärischen Bessel-Funktionen gibt es wie auch zu den
zylindrischen eine reichhaltige mathematische Literatur (vgl.
Lösungen sind hier also die Bessel-Funktionen JlC1=2 .x/ (ers- z. B. Boas 2005 und für einige grundlegende Eigenschaften
ter Art) und YlC1=2 .x/ (zweiter Art) zu halbzahligen Indizes. den Kasten „Übersicht: Wichtige Eigenschaften der sphärischen
Insgesamt spricht man nun von sphärischen Bessel-Funktionen Bessel-Funktionen“). Abbildung 19.7 stellt jeweils die ersten
(siehe auch den „Mathematischen Hintergrund“ 16.1). drei sphärischen Bessel-Funktionen erster bzw. zweiter Art dar.
660 19 Abstrahlung elektromagnetischer Wellen

a b
jl (x) yl (x)

1 1
j0
j1
y0
y1
j2
y2

π 3π 4π x π 3π 4π x
Teil II

−1 −1

Abb. 19.7 Die jeweils ersten drei sphärischen Bessel-Funktionen erster (a) bzw. zweiter (b) Art

Übersicht: Wichtige Eigenschaften der sphärischen Bessel-Funktionen

Zusammenhang mit trigonometrischen Funktionen: Verhalten für x ! 1:


 l
l 1 d sin x  
jl .x/ D .x/ sin x  2l
x dx x jl .x/ !
 l x
1 d cos x  
yl .x/ D .x/l cos x  2l
x dx x yl .x/ ! 
Verhalten für x ! 0: x

xl eix
jl .x/ ! hl.1/ .x/ ! .i/lC1
.2l C 1/ŠŠ x
.2l  1/ŠŠ
yl .x/ !  Wronski-Determinante:
xlC1
Dabei bedeutet die Doppelfakultät .2n C 1/ŠŠ einer unge- 1
raden Zahl 2nC1 das Produkt aller ungeraden Zahlen von jl .x/y0l .x/  j0l .x/yl .x/ D
x2
1 bis 2n C 1.

Für x ! 0 divergieren die Funktionen yl , die Funktionen jl sind wobei wieder r< D min.r; r0 / und r> D max.r; r0 / gesetzt
dagegen proportional zu xl ; außerdem verhalten sich für x ! 1 wurde. Die Normierungskonstanten Cl kann man mithilfe der
die Hankel-Funktionen erster Art wie auslaufende Kugelwellen. Wronski-Determinante aus der Bedingung (19.112) berechnen;
man erhält
Frage 14
Cl D 4 ik: (19.120)
Wie sollten also die Funktionen gl hier allgemein aussehen? Er-
innern Sie sich an den Ansatz im statischen Fall!
Frage 15
Da die Funktionen gl für kleine r nicht divergieren sollten und Rechnen Sie dies nach.
für große r auslaufende Wellen beschreiben sollen, liegt analog
zum statischen Fall folgender Ansatz nahe:
Setzt man alle Ergebnisse zusammen, so ergibt sich schluss-
gl .r; r0 / D Cl jl .kr< / hl.1/ .kr> /; (19.119) endlich als sphärische Multipolentwicklung für die Green’sche
19.5 Abstrahlung durch relativistisch bewegte Teilchen 661

Funktion zur Helmholtz-Gleichung: Somit ergibt sich genau dieselbe Beziehung wie bei den sta-
0
tischen Multipolmomenten (13.196). Dies erklärt unsere Wahl
eikjrr j der Vorfaktoren oben.
(19.121)
jr  r0 j Abschließend können wir nochmals das skalare Potenzial für
1 X
X l die Dipolstrahlung berechnen. In den Multipolentwicklungen
D 4 ik jl .kr< /hl.1/ .kr> /Ylm .#; '/Ylm

.# 0 ; ' 0 /: sind dafür nur die Terme bis zu l D 1 mitzunehmen. Der Zusam-
lD0 mDl menhang zu den kartesischen Multipolmomenten ist (Aufgabe
13.13)
p
q00 D 4 q;
Dynamische sphärische Multipolmomente r
4
q10 D p3 ;

Teil II
Auch das weitere Vorgehen ist völlig analog zu Abschn. 13.6: 3
r
Wir setzen die Green’sche Funktion in die Beziehungen (19.4) 2
für die Potenziale ein und betrachten nur den Fall, dass man sich q11 D  .p1  ip2 /;
3
außerhalb der Ladungs- und Stromverteilung befindet (r > r0 ). r
2
Für das skalare Potenzial hat man dann q1;1 D .p1 C ip2 /: (19.127)
3
1 X
X l
hl.1/ .kr/Ylm .#; '/ Daraus erhält man zunächst
0 .r/ D 4 ik
Z
lD0 mDl (19.122) q00 Y00 .#; '/ D q0 ;
0 0 0  X
 dV 0 .r /jl .kr /Ylm .# 0 ; ' 0 /: q1m Y1m .#; '/ D p0  eO r (19.128)
m
Definiert man die dynamischen sphärischen Multipolmomente
und damit
durch eikr
Z 0 .r/ D.q0  ik  p0 / ; (19.129)
4 .2l  1/ŠŠ r
qlm D dV 0 0 .r0 /jl .kr0 /Ylm

.# 0 ; ' 0 /; (19.123)
kl was genau mit dem Ergebnis in Abschn. 19.3 übereinstimmt.
so hat man für die sphärische Multipolentwicklung des skalaren
Potenzials
1 X
X l
19.5 Abstrahlung durch
iklC1 qlm
0 .r/ D hl.1/ .kr/ Ylm .#; '/: (19.124) relativistisch bewegte Teilchen
lD0 mDl
.2l  1/ŠŠ

Bisher wurde überall vorausgesetzt, dass sich die Quelle der


Achtung In der Literatur sind wiederum verschiedene Kon- Strahlung (z. B. eine Punktladung) verglichen mit der Licht-
ventionen für die Vorfaktoren üblich; der Vorteil unserer Wahl geschwindigkeit langsam bewegt. In vielen physikalischen Si-
wird weiter unten klar werden. J tuationen treten jedoch auch schnell bewegte Ladungen auf,
Insbesondere im Fernfeld (kr 1) reduziert sich dies auf beispielsweise bei der Synchrotronstrahlung, die sowohl für die
Teilchen- als auch für die Astrophysik wichtig ist. Auch wenn
1
eikr X X .ik/l qlm
l die Näherung „langsame Bewegung“ wegfällt, können dennoch
0 .r/ D Ylm .#; '/; (19.125) viele allgemeine Ergebnisse hergeleitet werden.
r lD0 mDl .2l  1/ŠŠ

also eine radial auslaufende Welle, deren Winkelabhängigkeit


durch die Multipolmomente bestimmt wird. Man sieht, dass Felder bei relativistischer Bewegung
die Beitrage höherer Multipolmomente einerseits mit steigen-
den Potenzen von k unterdrückt und andererseits jeweils um 90ı
gegeneinander phasenverschoben sind (da jeweils ein zusätzli- Wir gehen zurück zu den allgemeinen Ausdrücken (19.27) für
cher Faktor i D ei =2 auftritt). die Liénard-Wiechert-Potenziale und schreiben diese nun in der
Form
Betrachtet man außerdem die andere übliche Voraussetzung, ˇ
q ˇ
dass die Quelle klein verglichen mit der Wellenlänge ist (kr0 .t; r/ D ˇ ;
1), so kann man auch die Multipolmomente einfach darstellen: R.t0 /  ˇ.t0 /  R.t0 / ˇ t0 Dt R.t0 /
Z ˇ c
(19.130)
qˇ.t0 / ˇ
4 A.t; r/ D ˇ :
qlm D dV 0 0 .r0 /r0l Ylm

.# 0 ; ' 0 /: (19.126) R.t0 /  ˇ.t0 /  R.t0 / ˇ t0 Dt R.t0 /
2l C 1 c
662 19 Abstrahlung elektromagnetischer Wellen

Anwendung in der Technik: Magnetrons

Mikrowellen (sowohl für Mikrowellenherde im Haushalt als


auch beispielsweise in der Radartechnik) werden in Vakuum-
röhren erzeugt, meist in sogenannten Magnetrons. Hierfür
wird letztlich eine sich drehende Ladungsverteilung benutzt,
− +
was analog zu einer harmonisch schwingenden Ladungs-
verteilung ist. Abbildung 19.8 illustriert die grundsätzliche
Funktionsweise:
+ −
Aus der Glühkathode in der Mitte treten Elektronen aus.
Teil II

Diese werden durch ein elektrisches Feld zunächst nach au-


ßen beschleunigt, durch ein zusätzliches Magnetfeld aber
dann auf Epizykloidenbahnen gezwungen. Die Elektronen
geben bei dieser beschleunigten Bewegung selbst wieder- − +
um elektromagnetische Strahlung ab und regen die runden
Öffnungen in der Wand (Hohlraumresonatoren) zu Eigen-
schwingungen an. + −
Die Felder dieser Hohlraumresonatoren beeinflussen ihrer-
seits wieder die Elektronen: Einige werden abgebremst,
einige beschleunigt, sodass sich Bereiche höherer und nied-
rigerer Elektronendichte ausbilden. Diese Elektronenwolken
(ein rotierendes „Speichenrad“) beeinflussen dann wiederum Abb. 19.8 Elektronendichteverteilung im Magnetron (rot ) und die elektri-
die Schwingungen der Hohlraumresonatoren. Die insgesamt schen Felder der Hohlraumresonatoren (blau )
resultierende Strahlung wird schließlich aus dem Magnetron
durch einen Hohlleiter ausgekoppelt.

Daraus sollen allgemein die elektrischen und magnetischen Fel- Koordinaten)


der berechnet werden. Dafür benötigen wir partielle Ableitun-
1 d  
gen dieser Ausdrücke nach der Zeit t und den Ortskoordinaten r dt0 D OeR .t0 /  r  x.t0 / dr˛
des Beobachters. Die Potenziale hängen aber von der retardier- c dr˛
 
ten Zeit t0 ab und diese wiederum von t und r. Betrachten wir 0 1 dx.t0 /
D OeR .t /  eO ˛  dr˛
deshalb zunächst die partiellen Ableitungen von t0 . c dr˛
  (19.133)
1 dt0
Für die Zeitabhängigkeit haben wir (bei konstantem r): D OeR .t0 /  eO ˛  ˇ.t0 / dr˛
c dr˛
1 dR 0 d 1
dt0 D dt  0
dt D dt  eO R .t0 /  R.t0 /dt0 D  eO R .t0 /  eO ˛ C eO R .t0 /  ˇ.t0 /dt0
c dt c dt0 c
d  
D dt  eO R .t0 /  0
r  x.t0 / dt0 und damit
c dt
@t0 1 eO R .t0 /  eO ˛
D dt C eO R .t0 /  ˇ.t0 /dt0 (19.131) D ; (19.134)
@r˛ c 1  eO R .t0 /  ˇ.t0 /
und damit also
@t0 1 1 eO R .t0 /
D : (19.132) r t0 D  : (19.135)
@t 1  eO R .t0 /  ˇ.t0 / c 1  eO R .t0 /  ˇ.t0 /

Zwischen einer „retardierten“ Zeitspanne t0 , die für die be- Mit (19.132) und (19.135) sowie der Kettenregel können wir
wegte Punktladung vergeht, und der vom Beobachter gemesse- nun die Ableitungen einer beliebigen Funktion f .t; r/ berech-
nen Zeitspanne t hat man somit denselben Lorentz-Umrech- nen:
nungsfaktor, der bereits bei den Liénard-Wiechert-Potenzialen @f 1 @f
auftritt. D ;
@t 1  eO R .t0 /  ˇ.t0 / @t0
(19.136)
Ebenso hat man bei der Abhängigkeit von der räumlichen Koor- 1 eO R .t0 / @f
r f D r 0f  ;
dinate r˛ (bei konstantem t und konstanten anderen räumlichen c 1  eO R .t /  ˇ.t / @t0
0 0
19.5 Abstrahlung durch relativistisch bewegte Teilchen 663

wobei r 0 f die Änderung von f mit den räumlichen Koordinaten Außerdem benötigen wir den Gradienten des skalaren Potenzi-
zur festen Zeit t0 bezeichnet. als
q eO R 1 q
Ermitteln wir damit zunächst die Zeitableitung des Vektorpo- r D r0  @ t0
R  ˇ  R 1  eO R  ˇ c R  ˇ  R
tenzials: q
D r 0 .R  ˇ  R/
.R  ˇ  R/2
1 @A q 1 ˇ
D @ t0 (19.137) qOeR 1
c @t 1  eO R  ˇ c R  ˇ  R C @ t0 .R  ˇ  R/ : (19.140)
! .1  eO R  ˇ/ .R  ˇ  R/2 c
q P̌ ˇ 1c @ t0 .R  ˇ  R/
D  Mit
1  eO R  ˇ Rc .1  ˇ  eO R / R2 .1  ˇ  eO R /2 r 0 .R  ˇ  R/ D eO R  ˇ (19.141)
 
q P̌ qˇ eO R  ˇ C 1c P̌  R  ˇ 2

Teil II
D C ; und der bereits beim Vektorpotenzial verwendeten Zeitableitung
Rc .1  ˇ  eO R /2 R2 .1  ˇ  eO R /3 wird dies zu
 
q .OeR  ˇ/ qOeR eO R  ˇ C 1c P̌  R  ˇ 2
P D ˇ und R=c
P D OeR  ˇ und damit r D 
wobei R=c R2 .1  ˇ  eO R /2 R2 .1  ˇ  eO R /3
 
qOeR P̌  eO R
1 1  ; (19.142)
@ t0 .R  ˇ  R/ D OeR  ˇ  P̌  R C ˇ 2 (19.138) Rc .1  ˇ  eO R /3
c c
wobei im letzten Schritt wieder nur große Abstände R c=ˇP
verwendet wurden. betrachtet wurden.
Insgesamt erhält man damit für das elektrische Feld in großem
Frage 16 Abstand
Vollziehen Sie die Berechnung der Zeitableitung des Vektorpo- 1 @A
tenzials in allen Zwischenschritten nach. E D r  (19.143)
c @t
q  
D P̌ .1  ˇ  eO R /  .OeR  ˇ/ P̌  eO R :
Rc .1  ˇ  eO R /3
Hier treten nun einerseits Terme auf, die proportional zu 1=R2 Mithilfe der bekannten Vektoridentität a  .b  c/ D b .a  c/ 
P
sind, und andererseits Terme proportional zu ˇ=.Rc/. Erstere c .a  b/ kann man dies schließlich umschreiben zu
hängen außerdem nur von der Geschwindigkeit der Punktla- q  
dung ab, treten also auch bei einer gleichförmig bewegten ED 3
eO R  .OeR  ˇ/  P̌ : (19.144)
Punktladung auf; die anderen Terme sind dagegen proportional Rc .1  ˇ  eO R /
zur Beschleunigung. Dementsprechend spricht man manchmal
auch von Geschwindigkeits- bzw. Beschleunigungsfeldern. Es bleibt noch das Magnetfeld aus B D r  A zu berechnen:
qˇ eO R 1 qˇ
Die Beschleunigungsfelder haben die typische 1=R-Abhängig- B D r0    @ t0
R  ˇ  R 1  eO R  ˇ c R  ˇ  R
keit von Strahlungsfeldern. Wie wir weiter unten sehen werden, q qOeR 1 ˇ
bilden für diese auch das elektrische und magnetische Feld (E D r0 ˇ  @ t0
und B) sowie die radiale Richtung von der Punktladung weg RˇR 1  eO R  ˇ c R  ˇ  R
 
(OeR ) ein Rechtssystem. Die Beschleunigungsfelder beschreiben q .OeR  ˇ/  ˇ q eO R  P̌
also von der Punktladung auslaufende elektromagnetische Wel- D 
R2 .1  ˇ  eO R /2 Rc .1  ˇ  eO R /2
len.  
q .OeR  ˇ/ eO R  ˇ C 1c P̌  R  ˇ 2
 ; (19.145)
Für große Abstände des Beobachters zur bewegten Punktladung R2 .1  ˇ  eO R /3
(R P können die Geschwindigkeitsfelder vernachlässigt
c=ˇ) wobei für die räumlichen und zeitlichen Ableitungen die Zwi-
werden, und es bleibt schenergebnisse aus den Rechnungen oben verwendet wurden.
Betrachtet man wieder nur große Abstände, so bleibt hier
1 
1 @A q P̌ qˇ P̌  R    
C c q eO R  P̌ q .OeR  ˇ/ P̌  eO R
c @t Rc .1  ˇ  eO R /2 R2 .1  ˇ  eO R /3 BD 
(19.139) Rc .1  ˇ  eO R /2 Rc .1  ˇ  eO R /3
    (19.146)
P̌ .1  ˇ  eO R / C ˇ P̌  eO R P̌ .1  ˇ  eO R / C ˇ P̌  eO R
Dq : D q eO R  :
Rc .1  ˇ  eO R /3 Rc .1  ˇ  eO R /3
664 19 Abstrahlung elektromagnetischer Wellen

Nutzt man aus, dass eO R  eO R D 0 ist, kann man den Zähler auch
schreiben als Larmor-Formel
  Eine nichtrelativistisch bewegte Punktladung gibt, wenn
P̌ .1  ˇ  eO R /  .OeR  ˇ/ P̌  eO R (19.147)
sie beschleunigt wird, die Leistung
und wie beim elektrischen Feld diesen Ausdruck wieder mithil-
2q2 ˇP 2 2q2 xR 2
fe der Vektoridentität umschreiben. Es bleibt schließlich PD D (19.153)
3c 3c3
q  
BD eO R  eO R  .OeR  ˇ/  P̌ durch elektromagnetische Strahlung ab.
Rc .1  ˇ  eO R /3
D eO R  E: (19.148)
Dieses Ergebnis hatten wir bereits in (19.57) für eine harmo-
Teil II

nisch schwingende Punktladung erhalten; hier sehen wir nun,


Frage 17 dass es allgemein für jede beschleunigte Punktladung gilt.
Prüfen Sie nach, dass die Vektoren eO R , E und B insgesamt ein
orthogonales Rechtssystem bilden. Warum ist dies zu erwarten?
Synchrotronstrahlung

Wir betrachten nun speziell die relativistische Bewegung


einer Punktladung auf einer Kreisbahn; dies ist sowohl
Die Larmor-Formel – für die Teilchen- als auch die Astrophysik wichtig (siehe
den Kasten „Anwendung: Synchrotronstrahlung in Teil-
relativistisch und nichtrelativistisch chen- und Astrophysik“). Die dabei abgegebene Strah-
lung wird als Synchrotronstrahlung bezeichnet (nach den
Aus den Feldern können wir nun den Poynting-Vektor berech- in der Teilchenphysik verwendeten Synchrotronbeschleu-
nen. Mit nigern).

c c 2 Wir schreiben zunächst das doppelte Kreuzprodukt in


SD .E  .OeR  E// D E eO R ; (19.149) (19.151) wieder ausführlich:
4 4
 2
da E senkrecht zu eO R steht, erhalten wir eO R  .OeR  ˇ/  P̌
 
D eO R  P̌ .OeR  ˇ/  .1  eO R  ˇ/ P̌
2
 2
q2 eO R  .OeR  ˇ/  P̌  2  
SD eO R : (19.150) D eO R  P̌ 1  2OeR  ˇ C ˇ 2
4 c R2 .1  ˇ  eO R /6  
 2 eO R  P̌ .OeR  ˇ/  P̌  .1  eO R  ˇ/
Durch ein infinitesimales Raumwinkelelement d fließt also C .1  eO R  ˇ/2 ˇP 2 : (19.154)
die Leistung
 2 Für eine Kreisbewegung gilt aber ˇ  P̌ D 0, also ist
dP q2 eO R  .OeR  ˇ/  P̌
D R S  eO R D
2
: (19.151)    2
d 4 c .1  ˇ  eO R /6 eO R  P̌ .OeR  ˇ/  P̌ D eO R  P̌ : (19.155)

Will man die gesamte abgegebene Leistung berechnen, so ist Damit können die Terme der ersten und zweiten Zeile zu-
dieser Ausdruck noch über den Raumwinkel zu integrieren. Die- sammengefasst werden, und es bleibt
se Integration ist wegen der komplizierten Winkelabhängigkeit
 2  
sehr aufwendig. Hier sei nur das Ergebnis angegeben: 1 C ˇ 2 C .1  eO R  ˇ/2 ˇP 2
eO R  P̌
  2    2  1  2 (19.156)
2q2 ˇP 2  ˇ  P̌ 2q2  6 ˇP 2  ˇ  P̌ D .1  eO R  ˇ/2 ˇP 2  2 eO R  P̌ :

PD D :
3c.1  ˇ 2 /3 3c
(19.152) Schließlich wird (19.151) zu
 2 !
Im nichtrelativistischen Grenzfall ˇ 1 bleibt nur das als dP q2 eO R  P̌
Larmor-Formel bekannte Ergebnis (nach dem irischen Physi- D ˇP 2  :
ker und Mathematiker Sir Joseph Larmor, 1857–1942, der diese d 4 c .1  eO R  ˇ/4  2 .1  eO R  ˇ/2
Formel 1897 fand), wovon (19.152) die relativistische Verallge- (19.157)
meinerung ist.
19.5 Abstrahlung durch relativistisch bewegte Teilchen 665

Anwendung in der Technik: Röntgenröhren

Röntgenstrahlung wird erzeugt, indem Elektronen in einer


Vakuumröhre (Röntgenröhre; Abb. 19.9) beschleunigt wer-
den (durch eine Spannung von einigen Kilovolt, also auf
nichtrelativistische Geschwindigkeiten) und dann auf eine
metallische Anode auftreffen. In dieser werden sie von den
Kernen stark abgelenkt und abgebremst, geben also nach
der Larmor-Formel (19.153) elektromagnetische Strahlung
ab (die vorherige Beschleunigung ist nicht stark genug, um
Röntgenstrahlung zu erzeugen).

Teil II
Man spricht dementsprechend von Bremsstrahlung – ein Abb. 19.9 Eine Röntgenröhre: Links werden die Elektronen aus der Ka-
deutscher Begriff, der auch ins Englische übernommen wur- thode emittiert und dann zur drehbaren Anode rechts hin beschleunigt (©
de. Die Anode wird dabei im Allgemeinen gedreht, sodass Rschiedon)
der Elektronenstrahl nicht ständig auf dieselbe Stelle auf-
trifft, was schnell zu einer Überhitzung führen würde.

Abb. 19.10 Die Abstrahlungscharakteristik einer auf einer Kreisbahn (gelb ) umlaufenden Punktladung in dem Augenblick, in dem sie durch den Ursprung läuft, in
Abhängigkeit vom Winkel. a Abstrahlung für ˇ D 0;1, b Abstrahlung für ˇ D 0;6; der jeweilige Geschwindigkeitsvektor ist in Rot eingezeichnet. Die abgestrahlte
Leistung ist hier so normiert, dass die Intensität in z-Richtung genau 1 ist, da sonst eine vergleichende Darstellung für die beiden Werte von ˇ kaum möglich wäre:
Die insgesamt abgestrahlte Leistung wächst für ˇ ! 1 sehr stark an (siehe (19.164))

Zur weiteren konkreten Auswertung beschränken wir Dann haben wir


uns nun auf folgende spezielle Situation, an der al-
le relevanten Informationen hergeleitet werden können 0 1
(Abb. 19.10): sin # cos '
eO R D eO r  0 D @ sin # sin ' A ; ˇ D ˇ eO z ; P̌ D ˇP eOy
Die Punktladung läuft auf einer Kreisbahn in der y-z- cos #
Ebene um, die durch den Ursprung verläuft und deren (19.158)
Mittelpunkt auf der positiven y-Achse liegt. und damit
Die Punktladung befindet sich zur Beobachtungszeit
gerade im Ursprung und bewegt sich in positive z-
Richtung. eO R ˇ D ˇ cos # und eO R  P̌ D ˇP sin # sin '; (19.159)
666 19 Abstrahlung elektromagnetischer Wellen

also Damit ist die insgesamt abgestrahlte Leistung


!
q2 ˇP 2 sin2 # sin2 ' 2q2  4 ˇP 2
dP
D 1 : PD : (19.163)
3c
d 4 c .1  ˇ cos #/4  2 .1  ˇ cos #/2
Setzt man außerdem auch noch die Zentripetalbeschleu-
(19.160)
nigung ˇP D cˇ 2 =r ein, hat man schließlich
Die Abstrahlungscharakteristik der Synchrotronstrah- 2q2 cˇ 4  4 2q2 cˇ 4
lung, also die Winkelabhängigkeit der abgestrahlten Leis- PD D : (19.164)
3r2 3r2 .1  ˇ 2 /
tung, ist in Abb. 19.10 für zwei verschiedene Werte
von ˇ dargestellt. Man sieht deutlich, dass mit zuneh-
Teil II

Oft ist man an der pro Umlauf insgesamt abgestrahlten


mender Geschwindigkeit die Abstrahlung immer mehr
Energie interessiert; diese ergibt sich nun leicht zu
in Bewegungsrichtung konzentriert ist. Dies kann man
auch rechnerisch zeigen: Für die Standardabweichung 2 r 4 q2 ˇ 3  4
des Winkels # ergibt sich (ohne Beweis) E D P T D P D : (19.165)
ˇc 3r
p 1 Benutzen wir außerdem noch den Zusammenhang E D
h# 2 i D ! 0 für ˇ ! 1: (19.161)  mc2 für die Gesamtenergie der Teilchen, so haben wir

4 q2 ˇ 3 E 4
Die Abstrahlung ist dann um die Bewegungsrichtung E D : (19.166)
3rm4 c8
der Punktladung symmetrisch. Für ˇ ! 0 ergibt sich
dagegen dieselbe um die Beschleunigungsrichtung sym- Die Energieänderung pro Umlauf wächst mit der Energie
metrische Abstrahlungscharakteristik wie beim (nichtre- des Teilchens also sehr stark an.
lativistisch) schwingenden Dipol (siehe Abb. 19.4).
Man kann zudem angeben, wie die abgegebene Leistung
Um die gesamte abgestrahlte Leistung zu berechnen, von der angreifenden Kraft abhängt. Da bei einer Kreis-
müssten wir (19.160) nun noch über den kompletten bewegung mit konstanter Geschwindigkeit P D 0 ist, hat
Raumwinkel integrieren. Stattdessen verwenden wir aber man
d. mv /
einfach das allgemeine Ergebnis (19.152). Da die Vekto- FD D c m P̌ ; (19.167)
ren ˇ und P̌ bei der Kreisbewegung immer senkrecht auf- dt
einander stehen, erhalten wir für den Ausdruck im Zähler also folgt
2q2 2 2
PD  F : (19.168)
3m2 c3
 2   ˇP 2
ˇP 2  ˇ  P̌ D ˇP 2  ˇ 2 ˇP 2 D ˇP 2 1  ˇ 2 D 2 : In Aufgabe 19.10 werden wir sehen, dass sich für eine
 konstant beschleunigte geradlinige Bewegung eine deut-
(19.162) lich andere Abhängigkeit ergibt. J
19.5 Abstrahlung durch relativistisch bewegte Teilchen 667

Anwendung: Synchrotronstrahlung in Teilchen- und Astrophysik

Bei vielen Experimenten der Elementarteilchenphysik wer- Eigenschaften wie hoher Intensität, breitem Spektrum, ho-
den Teilchen wie Protonen oder Elektronen mit hohen her Bündelung und Polarisation viele Anwendungen zur
Geschwindigkeiten aufeinandergeschossen und dann die Er- Materialuntersuchung von der Oberflächenphysik bis zur
gebnisse der Kollision untersucht. Zur Beschleunigung der Biochemie und Medizin. Inzwischen werden sogar Syn-
Teilchen wird meist ein Ringbeschleuniger (Synchrotron) chrotronstrahlungsquellen eigens für solche Anwendungen
verwendet, den die Teilchen vielfach durchlaufen, um eine gebaut; das neueste Konzept dabei ist der sogenannte Freie-
möglichst lange Beschleunigungsstrecke zu erreichen. Die Elektronen-Laser, bei dem durch die spezielle Bauweise
Teilchen laufen also (näherungsweise) auf einer Kreisbahn erreicht wird, dass eine große Anzahl von Elektronen gleich-
um und geben damit Synchrotronstrahlung ab. zeitig kohärente Strahlung abgibt.

Teil II
Die Teilchen haben in diesen Beschleunigern nahezu Licht- Außerdem tritt Synchrotronstrahlung auch in der Astrophy-
geschwindigkeit (im Large Hadron Collider sind beispiels- sik auf: Beispielsweise Neutronensterne haben sehr starke
weise 99,9999991% geplant); wir können in (19.166) also in Magnetfelder, in denen geladene Teilchen auf Kreis- oder
sehr guter Näherung ˇ D 1 setzen. Wir sehen dann, dass der Spiralbahnen umlaufen können. Neutronensterne rotieren
Energieverlust pro Umlauf bei vorgegebener Gesamtenergie schnell um ihre eigene Achse. Die abgegebene Synchrotron-
umgekehrt proportional zur Masse der Teilchen hoch vier strahlung wird in einem engen Kegel emittiert, sodass ein
und zum Radius des Beschleunigers ist. Deshalb ist es güns- „Leuchtturmeffekt“ entsteht: Der Strahl kann nur einmal pro
tig, schwerere Teilchen statt Elektronen zu verwenden und Umlauf die Erde treffen. Man empfängt von dem Neutro-
den Beschleuniger möglichst groß zu bauen. Beides wurde nenstern also periodisch elektromagnetische Pulse; deshalb
beim Large Hadron Collider berücksichtigt. Der unterirdi- spricht man von einem Pulsar (Abb. 19.12).
sche Ring, in dem Protonen beschleunigt werden, hat einen
Radius von etwa 4,25 km (Abb. 19.11).

Abb. 19.11 Ein Luftbild der Umgebung von Genf (Schweiz), auf dem unter
anderem der unterirdische Ring des Large Hadron Collider eingetragen ist
(gelb ). (© 2008 CERN, Maximilien Brice)
Abb. 19.12 Im Krebsnebel befindet sich ein Pulsar. Aber auch im weiteren
Umkreis dieses Neutronensterns ist das Magnetfeld immer noch so stark,
Früher wurde die Synchrotronstrahlung nur als Ärgernis be- dass Synchrotronstrahlung entsteht; so kommt das blaue Leuchten zustande
trachtet. Inzwischen findet sie jedoch dank ihrer besonderer (© NASA, ESA, J. Hester & A. Loll, Arizona State University 2005)
668 19 Abstrahlung elektromagnetischer Wellen

Aufgaben

Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen
Teil II

19.1 Retardierte und avancierte Green’sche Funk- (c) Berechnen Sie daraus die tatsächlichen elektrischen und ma-
tion Zeigen Sie, dass die retardierte und die avancierte gnetischen Felder und diskutieren Sie das Ergebnis.
Green’sche Funktion (19.16) und (19.17) tatsächlich die Dif-
ferenzialgleichung
Lösungshinweis: Verwenden Sie (19.20) für Teilaufgabe (b).
G.t; t0 ; r; r0 / D 4 ı.t  t0 /ı.r  r0 / (19.169)
19.3 Gleichförmig bewegte Punktladung
lösen, dass also
0 0
(a) G.t; t ; r; r / D 0 (19.170)
(a) Begründen Sie ohne Rechnung, dass eine gleichförmig be-
für r ¤ r0 gilt und dass wegte Punktladung keine Energie abstrahlen sollte.
Z
(b) Berechnen Sie für eine gleichförmig bewegte Punktladung
(b) G.t; t0 ; r; r0 / dV 0 D 4 ı.t  t0 / (19.171) (Geschwindigkeitsvektor v ), die sich zur Zeit t D 0 im Ur-
ist, wenn über ein Volumen integriert wird, das den Punkt mit sprung befindet, explizit die retardierte Zeit (19.28).
(c) Zeigen Sie, dass die zugehörigen Liénard-Wiechert-Poten-
dem Ortsvektor r0 enthält.
ziale gegeben sind durch
Lösungshinweis: Führen Sie die Rechnungen zunächst nur für
die retardierte Green’sche Funktion durch und überlegen Sie q
.t; r/ D p ;
anschließend, wie sie sich für die avancierte Funktion ändert. R.t/ 1  ˇ 2 sin2 #
(b) Verwenden Sie bei der räumlichen Ableitung von G den (19.174)

Gauß’schen Satz. Bei der zeitlichen Ableitung führen Sie zu- A.t; r/ D p D ˇ .t; r/;
nächst das Integral aus und berechnen danach die Ableitungen. R.t/ 1  ˇ 2 sin2 #
19.2 Ampère’sches Gesetz ungültig? Betrachten wobei
Sie folgende physikalische Situation: Entlang der z-Achse be- R.t/ D r  v t (19.175)
finde sich ein unendlich langer und unendlich dünner, idealer
Leiter, in dem zur Zeit t D 0 plötzlich ein Strom der Stärke I nun der Vektor vom momentanen Ort der Punktladung zum
eingeschaltet wird. Nach dem Ampère’schen Gesetz gilt dann Beobachter und # der Winkel zwischen diesem Vektor und
für die magnetische Feldstärke im Abstand % zur z-Achse v ist.
2I (d) Begründen Sie, dass hier B D ˇ  E ist.
B.%/ D ; (19.172) (e) Berechnen Sie daraus die elektrische und die magnetische
c%
Feldstärke sowie den Poynting-Vektor. Bestätigen Sie damit,
und zwar zu jeder beliebig kleinen Zeit t > 0. Im Widerspruch
dass keine Energieabstrahlung erfolgt.
zur lichtschnellen Ausbreitung elektromagnetischer Felder hat
sich die Änderung der magnetischen Feldstärke hier also schein-
bar instantan bis in unendliche Entfernung ausgebreitet. (Anmerkung: Die elektrische und magnetische Feldstärke einer
gleichförmig bewegten Punktladung wurde bereits in Kap. 18
(a) Erklären Sie, welcher Fehler bei der Herleitung dieses Er-
mittels einer Lorentz-Transformation berechnet.)
gebnisses gemacht wurde.
(b) Zeigen Sie, dass sich für die Potenziale Lösungshinweis:
.t; r/ D 0;
0s 1 (a) Verwenden Sie das Relativitätsprinzip.
2I c2 t2 (19.173) (b) Beachten Sie insbesondere auch den Grenzfall ˇ ! 0.
A.t; r/ D eO z .ct  %/ arsinh @  1A (c) Verwenden Sie im Nenner, dass R.t0 / D c.t  t0 / gilt, setzen
c %2
Sie das Ergebnis aus Teilaufgabe (b) ein und verwenden Sie
ergibt. anschließend für r den Zusammenhang mit R.t/.
Aufgaben 669

19.4 Strahlungsdämpfung Betrachten Sie eine har- Lösungshinweis: Verwenden Sie (19.105) für Teilaufgabe (b).
monisch schwingende Punktladung (Stärke q, Eigenfrequenz
!0 , Masse m), auf die zusätzlich eine Strahlungsdämpfungskraft 19.8 Magnetische Dipolstrahlung Wir betrachten
(19.75) wirkt, deren Stärke klein verglichen mit der Rückstell- einen kreisförmigen, unendlich dünnen Leiter in der x-y-Ebene
kraft ist. Zeigen Sie, dass unter der Annahme, dass sich die mit Radius %0 , dessen Mittelpunkt der Ursprung ist. Der Lei-
Schwingungsfrequenz der Punktladung durch diese Kraft kaum ter werde von einem Strom der Amplitude I0 mit harmonischer
ändert, Zeitabhängigkeit in mathematisch positiver Richtung durchflos-
x.t/ D x0 ei!0 t t (19.176) sen; wir haben also in Zylinderkoordinaten

mit dem Dämpfungsfaktor


j.t; r/ D I0 ı.%  %0 /ı.z/Oe' ei!t : (19.179)
q !02
2
D (19.177) Dabei gelte !%0 =c 1.

Teil II
3mc3
gilt.
(a) Zeigen Sie, dass die Ladungsdichte zeitlich konstant ist,
19.5 Keine Monopolstrahlung Begründen Sie mit- und berechnen Sie das magnetische Dipolmoment m dieser
tels der Kontinuitätsgleichung rechnerisch, dass es keine end- Stromverteilung.
lich ausgedehnte, harmonisch veränderliche Ladungs- und (b) Berechnen Sie das retardierte Vektorpotenzial in großem
Stromverteilung geben kann, die ein nichtverschwindendes Mo- Abstand (Fernfeld) in Abhängigkeit der Amplitude des ma-
nopolmoment hat. Geben Sie auch eine anschauliche Begrün- gnetischen Dipolmoments.
dung an. (c) Berechnen Sie daraus die elektromagnetischen Feldstärken
und den Poynting-Vektor in Abhängigkeit des magnetischen
19.6 Larmor-Formel aus Dimensionsbetrachtung
Dipolmoments. Vergleichen Sie mit dem Ergebnis (19.53)
Geht man davon aus, dass die gesamte abgestrahlte Leistung
bei der elektrischen Dipolstrahlung.
einer beschleunigten Punktladung durch ein Potenzgesetz be-
schreibbar ist, so kann man die Abhängigkeiten der Leistung
von den relevanten Größen auch ohne explizite Herleitung der
Larmor-Formel (19.57) bestimmen. Es ist davon auszugehen, Lösungshinweis: Das magnetische Dipolmoment wurde in
dass die Leistung nur von der Stärke der Beschleunigung und (15.23) definiert. Gehen Sie bei Teilaufgabe (b) analog zu Ab-
der Größe der Ladung abhängt; außerdem kann die Lichtge- schn. 19.3 vor. Begründen Sie, dass bei der Entwicklung des
schwindigkeit als konstanter Faktor auftreten. Also liegt ein Vektorpotenzials nun auch die nächsthöhere Ordnung nötig ist,
Ansatz der Form und berechnen Sie diese.
P D const  xR k ql cm (19.178)
19.9 Sendeantenne: Sphärische Multipole Als
mit unbekannten Exponenten k, l und m und einer dimensions- Modell für eine Sendeantenne betrachten wir einen unendlich
losen Konstante nahe. Diese Exponenten können nun aber durch dünnen, geraden Leiter entlang der z-Achse, für dessen Aus-
reine Dimensionsbetrachtungen bestimmt werden: Die rechte dehnung =2  z  =2 gilt, wobei  die Wellenlänge der
Seite muss dieselbe Dimension haben wie die linke. ausgesandten Strahlung ist. In diesem Leiter fließt ein räumlich
konstanter Strom mit harmonischer Zeitabhängigkeit und Am-
(a) Benutzen Sie dies, um ein lineares Gleichungssystem für k, plitude I0 .
l und m aufzustellen.
(b) Lösen Sie das Gleichungssystem und vergleichen Sie Ihr Er-
gebnis mit (19.57). (a) Geben Sie die Stromdichte j.t; r/ für diesen Strom an und er-
mitteln Sie aus der Kontinuitätsgleichung die Ladungsdichte
.t; r/.
19.7 Sendeantenne: Dipolstrahlung Als Modell (b) Zeigen Sie, dass die dynamischen sphärischen Multipolmo-
für eine Sendeantenne betrachten wir einen unendlich dünnen, mente nur für m D 0 und ungerade l nicht verschwinden.
geraden Leiter entlang der z-Achse, für dessen Ausdehnung (c) Berechnen Sie das niedrigste nichtverschwindende Multi-
L=2  z  L=2 gilt. In diesem Leiter fließt ein Strom mit polmoment.
harmonischer Zeitabhängigkeit, dessen Amplitude in der Mitte
I0 ist und zu den Enden hin linear auf null abfällt.

(a) Geben Sie die Stromdichte j.t; r/ für diesen Strom an und er- Lösungshinweis: Schreiben Sie für Teilaufgabe (b) die La-
mitteln Sie aus der Kontinuitätsgleichung die Ladungsdichte dungsdichte in Kugelkoordinaten und verwenden Sie die Ergeb-
.t; r/. nisse aus Abschn. 19.4; außerdem benötigt man Eigenschaften
(b) Berechnen Sie das elektrische Dipolmoment der Antenne der Kugelflächenfunktionen aus Kap. 13. Verwenden Sie in
und daraus die gesamte im Mittel abgestrahlte Leistung in Teilaufgabe (c) Eigenschaften der sphärischen Bessel-Funktio-
Abhängigkeit von L und I0 . nen aus Abschn. 19.4.
670 19 Abstrahlung elektromagnetischer Wellen

19.10 Konstant beschleunigte Punktladung Eine tivistischen Grenzfall ( ! 1)


Punktladung bewege sich durch den Ursprung in z-Richtung
und werde konstant in Bewegungsrichtung beschleunigt. Be- 1
rechnen Sie (im Fernfeld) #max D p (19.180)
5
(a) die Abstrahlungscharakteristik (betrachten Sie dabei auch
den nichtrelativistischen Grenzfall) und gilt. Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse jeweils mit den Ergeb-
(b) die gesamte abgestrahlte Leistung, auch in Abhängigkeit der nissen bei der Synchrotronstrahlung.
wirkenden Kraft.
(c) Berechnen Sie außerdem, für welchen Winkel # die Ab-
strahlung am stärksten ist, und zeigen Sie, dass im hochrela- Lösungshinweis: Verwenden Sie (19.151) bzw. (19.152).
Teil II
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 671

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben

19.1 Die retardierte Green’sche Funktion kann man kurz Das zweite Integral kann man mit dem Gauß’schen Satz in
schreiben als   ein Oberflächenintegral umwandeln:
ı   Rc I
G.; R/ D : (19.181)
R df R  r R G.; R/jRDR0
(a) Die zweifache zeitliche Ableitung ist zunächst I    !
ıP   Rc0 ı   Rc0
  D dfR R O   RO
ıR   Rc R20

Teil II
R0 c
@ t G D @ G D
2 2
: (19.182)     
R R0 R0 R0
D4 P
ı   ı   : (19.187)
Bildet man dagegen den Gradienten, so hat man c c c
     
ıP   Rc 1O ı   Rc Für das erste Integral verwendet man, dass
grad G D r R G D   R  O
R;
R c R2  
R
(19.183) ı  D cı.R  c/ (19.188)
also ist c
ist. Dann kann man die Volumenintegration direkt ausfüh-
G D div grad G
 !  ren:

ıP   Rc 1O Z ZR0
D rR   R cı.R  c/
R c G.; R/ dVR D 4 R2 dR
    R
ıP   c R
1 0
C r R   RO
R c D 4 c  .R0  c/ .c/;
2
(19.189)
 !  
ı  c R
ı   Rc da die Deltafunktion nur dann einen Beitrag zum Integral
 rR  RO rR  RO
R2 R2 liefert, wenn 0 < c < R0 ist. Die erste zeitliche Ableitung
       des Integrals ist
ıR   Rc 1 O 2 ıP   Rc O 1O
D  R  R  R @ 4 c2  .R0  c/ .c/ (19.190)
R c R2 c h
   
Pı   R 2 Pı   R  1  D 4 c2 .R0  c/ .c/  cı.R0  c/ .c/
 c
 c
 R O R O
R Rc R2 c i
    C c .R0  c/ı.c/
2ı   Rc 2 ı   Rc 2 h i
C O
R  : (19.184)
R3 R2 R D 4 c2 .R0  c/ .c/  R0 ı.R0  c/ :
Alle Summanden bis auf den ersten heben sich nun gegen-
Dabei wurde im zweiten Term verwendet, dass wegen der
seitig weg. Es bleibt also
Deltafunktion c D R0 gilt und sicher .R0 / D 1 ist, und im
 
1 2 dritten Term, dass ı.c/ D 0 ist. Für die zweite zeitliche
G D @   G Ableitung berechnet man entsprechend
c2 t
   
1 ıR   Rc ıR   Rc 1 @2 4 c2  .R0  c/ .c/ (19.191)
D 2  D 0; (19.185) h i
c R R c2 0
D 4 c  cı.R0  c/ C cı.c/ C cR0 ı .R0  c/ ;
2

was zu zeigen war.


(b) Wir integrieren G.; R/ über eine Kugelschale mit Radius wobei im zweiten Term noch benutzt wurde, dass wegen der
R0 um den Ursprung (Integrale über alle anderen Volumina, Deltafunktion .R0  c/ D .R0 / D 1 ist. Also haben wir
die den Ursprung enthalten, ergeben dasselbe, da außerhalb Z
1 2
des Ursprungs G.; R/ D 0 gilt): @ G.; R/ dVR (19.192)
Z Z c2 
1 h i
G.; R/ dVR D 2 @2t G.; R/ dVR D 4  cı.R0  c/ C cı.c/ C cR0 ı 0 .R0  c/
c     
Z
R0 R0 R0
 G.; R/ dVR : (19.186) D 4 ı   C ı./  ıP   :
c c c
672 19 Abstrahlung elektromagnetischer Wellen

Im letzten Schritt wurde hier noch verwendet, dass die Damit man die Wurzel ziehen kann, muss c2 t2 %2  0 sein.
Ableitung der Deltafunktion eine ungerade Funktion ist. Ins- Zusammen mit der Bedingung t  0 führt das auf ct%  0.
gesamt bleibt schließlich Wir haben nun also
Z p
G.; R/ dVR D 4 ı./;
zC Zc2 t2 %2
(19.193) I dz0
A.t; r/ D eO z .ct  %/ : (19.201)
c p
jr  z0 eO z j
was zu zeigen war. z c2 t2 %2

Mit der Substitution u D z  z0 wird dies zunächst zu


Die avancierte Green’sche Funktion kann man kurz schreiben
p
als   C Zc2 t2 %2
ı  C Rc I du
Teil II

G.; R/ D : (19.194) A.t; r/ D eO z .ct  %/


R c p
jxOex C yOey C uOez j
 c2 t2 %2
Die Rechnungen laufen deshalb prinzipiell genauso, es sind nur p
C Zc2 t2 %2
einige Vorzeichen abzuändern. I du
D eO z .ct  %/ p : (19.202)
19.2 c p %2 C u2
 c2 t2 %2

(a) Das Ampère’sche Gesetz gilt nur in der Magnetostatik; hier


hat man jedoch ein zeitlich veränderliches Magnetfeld. Die- Mit v D u=% und unter Ausnutzen der Symmetrie des Inte-
ses induziert laut den Maxwell-Gleichungen ein ebenfalls granden erhält man
zeitlich veränderliches elektrisches Feld, und die Änderung p
dieses Feldes trägt dann seinerseits wieder zum Magnetfeld c2 tZ
2 %2 =%
2I dv
bei – dies ist zusätzlich zum Beitrag des Stromes zu berück- A.t; r/ D eO z .ct  %/ p
sichtigen. c 1 C v2
0
(b) Für die Stromdichte gilt 0s (19.203) 1
2I c2 t2
j.t; r/ D IOez .t/ı.x/ı.y/; (19.195) D eO z .ct  %/ arsinh @  1A :
c %2

die Ladungsdichte ist hier identisch null. Damit sind die Po-
tenziale (c) Daraus kann man nun die Feldstärken berechnen; nach eini-
D0 (19.196) gen Zwischenschritten erhält man

und 2I %
E.%; t/ D  eO z .ct  %/ p ;
  c% c2 t2  %2
Z ı.x0 /ı.y0 / t  jrr0 j (19.204)
I 0 c 2I ct
A.t; r/ D eO z dV B.%; t/ D eO ' .ct  %/ p :
c jr  r0 j c% c2 t2  %2
  (19.197)
Z1 t jrz0 eOz j
I 0 c Man erkennt, dass für ct < % die Feldstärken identisch null
D eO z dz :
c jr  z0 eO z j sind, im Einklang mit der Erwartung, dass das elektroma-
1 gnetische Feld, das durch Einschalten des Stromes entsteht,
die Zeit %=c braucht, um die Entfernung % vom Leiter zu
Wegen der -Funktion tragen zum Integral nur die z0 -Werte erreichen. Für ct ! % divergieren beide Feldstärken; dies
bei, für die kommt daher, dass ein instantanes Einschalten des Stromes
jr  z0 eO z j
t 0 (19.198) natürlich unphysikalisch ist.
c Außerdem ist der Grenzfall großer Zeiten interessant; dann
gilt. Einerseits ist das natürlich nur für t  0 möglich, ande- sollte man vom Einschalten des Stromes im Endlichen nichts
rerseits führt dies auf eine quadratische Ungleichung für z0 mehr merken und die Ergebnisse der Magnetostatik erhalten.
mit der Lösung Tatsächlich ergibt sich im Einklang mit der Erwartung für
ct % bei festem %
p p
z z2  r2 C c2 t2  z0  z C z2  r2 C c2 t2 ; (19.199)
2I 1
E.t; %/ D  eO z ! 0;
also c ct
(19.205)
2I
p p B.t; %/ D eO ' :
z  c2 t2  %2  z0  z C c2 t2  %2 : (19.200) c%
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 673

19.3 Damit ergeben sich nun sofort die angegebenen Potenziale.


(d) Wir haben A D ˇ , also
(a) Eine ruhende Punktladung gibt sicher weder Energie noch
Impuls ab. Nach dem Relativitätsprinzip kann also auch eine B D r  A D ˇ  r ; (19.214)
gleichförmig bewegte Ladung keine Energie abgeben.
(b) Für eine gleichförmig bewegte Punktladung, die sich zur da ˇ ein konstanter Vektor ist. Andererseits ist
Zeit t D 0 im Ursprung befindet, wird (19.28) zu
1P
jr  v t0 j E D r  A: (19.215)
t0 D t  (19.206) c
c
P k ˇ gelten.
Da für alle Zeiten A k ˇ erfüllt ist, muss auch A
mit konstantem Geschwindigkeitsvektor v D cˇ. Isolieren
des Betrags und Quadrieren führt dann auf die quadratische Es folgt
Gleichung ˇ  E D ˇ  r (19.216)

Teil II
  und damit B D ˇ  E.
rˇ r2
t02 .1  ˇ 2 /  2t0 t  C t2  2 D 0 (19.207) (e) Der Gradient des skalaren Potenzials ist
c c
 p 
mit den Lösungen qr R.t/ 1  ˇ 2 sin2 #
2 s 3 r D  
 2
c2 t2  r 2 R2 .t/ 1  ˇ 2 sin2 #
0
t1;2 D 4.ct  r  ˇ/ ˙ .ct  r  ˇ/2  5: q
c 2
qr R2 .t/  .ˇ  R.t//2
D  
(19.208) R2 .t/ 1  ˇ 2 sin2 #
h i
Für ˇ ! 0 reduziert sich dies auf qr R2 .t/  .ˇ  R.t//2
0 1h p i r D h i3=2 : (19.217)
t1;2 D ct ˙ c2 t2  .c2 t2  r2 / D t ˙ : (19.209) 2 R2 .t/  .ˇ  R.t//2
c c
Da t0 < t gelten muss, ist nur das negative Vorzeichen phy-
Dann hat man zunächst
sikalisch sinnvoll.
(c) Im Nenner der Potenziale haben wir r R2 .t/ D r R R2 .t/ D 2R.t/ (19.218)
0 O D R.t0 /  ˇ  R.t0 /
R.t /.1  ˇ  R/
  und wegen
D c.t  t0 /  ˇ  r  cˇt0
D c.t  t0 / C cˇ 2 t0  ˇ  r .ˇ  R.t//2 D ˇ 2 R2 .t/  .ˇ  R.t//2 (19.219)
c
D  2 t0 C ct  ˇ  r: (19.210) noch

Setzt man die Lösung aus Teilaufgabe (b) ein, so bleibt für r .ˇ  R.t//2 D 2ˇ 2 R  2 .ˇ  R.t// ˇ: (19.220)
den Nenner
s Insgesamt folgt also
c2 t2  r2
.ct  r  ˇ/2  : (19.211) q R.t/  ˇ 2 R.t/ C .ˇ  R.t// ˇ
2 r D  3=2
R3 .t/ 1  ˇ 2 sin2 #
Nun setzt man außerdem h i
r D R.t/ C v t (19.212) q 12 R.t/ C .ˇ  R.t// ˇ
D  3=2 : (19.221)
ein; der Ausdruck unter der Wurzel ist dann R3 .t/ 1  ˇ 2 sin2 #
 2 c2 t2  .R C cˇt/2 Genauso berechnet man
ct  R  ˇ  ctˇ 2 
2
  1 1
D ct 1  ˇ 2  R  ˇ
2 @t A D ˇ @t
c c h i
   
 1  ˇ 2 c2 t2 1  ˇ 2  R2  2ctR  ˇ q@ t R2 .t/  .ˇ  R.t//2
  D h
D .R  ˇ/2 C 1  ˇ 2 R2 i3=2
   2  2c R2 .t/  .ˇ  R.t//2
D R2 1  ˇ 2 1  R O  ˇO
q .ˇ  R.t// ˇ
  D  3=2 ; (19.222)
D R2 1  ˇ 2 sin2 # : (19.213) R3 1  ˇ 2 sin2 #
674 19 Abstrahlung elektromagnetischer Wellen

wobei verwendet wurde, dass wegen ˇ  R D ˇ  r die Es wurde aber vorausgesetzt, dass die Strahlungsdämpfungs-
zeitliche Ableitung des zweiten Summanden verschwindet. kraft klein im Vergleich zur Rückstellkraft ist; also gilt
Insgesamt ergibt sich damit für das elektrische Feld
2q2 3
1 ! m!02 (19.232)
E.t; r/ D r  @ t A 3c3
c
q (19.223) und damit, da ! !0 ist,
D  O
3=2 R:
 R 1  ˇ 2 sin2 #
2 2
2q2 !0
1: (19.233)
Der elektrische Feldstärkevektor zeigt also immer vom mo- 3mc3
mentanen Ort der Punktladung zum Beobachter (wie es für
Damit kann der zweite Summand in der Klammer oben ver-
das elektrische Feld einer Punktladung zu erwarten ist). Für
nachlässigt werden, und es bleibt
Teil II

das magnetische Feld hat man


q   q2 !02
B.t; r/ D   ˇ  O : (19.224)
R ! D i : (19.234)
 2 R2 1  ˇ 2 sin2 #
3=2 3mc3
Mit ! DW i erhält man dann genau das angegebene Ergeb-
Der magnetische Feldstärkevektor steht also immer senk-
nis.
recht auf der Richtung zum Beobachter und der Bewegungs-
richtung, d. h., die Magnetfeldlinien bilden geschlossene 19.5 Bei harmonischer Zeitabhängigkeit, also .t; r/ D
i!t
Kreise um die Gerade, auf der sich die Punktladung bewegt 0 .r/e , und äquivalent für die Stromdichte folgt aus der
(wie es für das magnetische Feld eines geraden Stromes Kontinuitätsgleichung sofort
ebenfalls zu erwarten ist).
Für den Poynting-Vektor erhält man schließlich div j0  i! 0 D 0: (19.235)

c q2   
O  ˇ  RO : (19.225) Für das Monopolmoment, also die Gesamtladung, ergibt sich
SD   R
4  4 R4 1  ˇ 2 sin2 # 3 dann ebenfalls eine harmonische Zeitabhängigkeit mit
Z Z
1
Da dieser Vektor aber offensichtlich senkrecht zu RO steht, q0 D 0 dV D div j0 dV: (19.236)
wird in Richtung eines Beobachters (an jeder beliebigen i!
Stelle) nichts abgestrahlt – was zu zeigen war. Das Volumen, über das integriert wird, sei dabei so gewählt,
dass die Ladungs- und Stromverteilung vollständig eingeschlos-
19.4 Die Bewegungsgleichung lautet sen ist; dies ist immer möglich, da die Verteilung als endlich
ausgedehnt vorausgesetzt wurde. Das Integral kann mittels des
2q2«x Gauß’schen Satzes in ein Oberflächenintegral umgewandelt
mRx C m!02 D : (19.226)
3c3 werden: I
1
Da dies eine lineare Differenzialgleichung ist, deren ungestörte q0 D df  j0 : (19.237)
i!
Lösungen harmonische Schwingungen sind, liegt der Ansatz
Da sich die Stromverteilung aber nach Voraussetzung vollstän-
x.t/ D x0 ei!t (19.227) dig im Inneren des Volumens befindet, ist auf der Oberfläche
j0 D 0 und damit
nahe. Einsetzen führt auf q0 D 0; (19.238)
2q2 3 was zu zeigen war.
 ! 2 C !02 D i ! : (19.228)
3mc3
Dieses Ergebnis kann man auch ohne Rechnung anschaulich
Die Schwingungsfrequenz soll sich durch die Dämpfung kaum verstehen: Nehmen wir an, wir könnten eine zeitlich veränder-
ändern, es soll also liche Ladungs- und Stromverteilung für alle Zeiten vollständig
! D !0 C ! (19.229) innerhalb eines bestimmten Gebiets einschließen. Die Gesamt-
ladung in diesem Gebiet kann sich aber natürlich nur ändern,
mit j!j !0 gelten. Dies ergibt
indem Ströme durch die Oberfläche fließen, da Ladungen we-
!2 !02 C 2! !0 und ! 3 !03 C 3! !02 : (19.230) der erzeugt noch vernichtet werden können. Damit ist die
Stromverteilung aber nicht vollständig innerhalb des Gebiets
Setzt man dies ein, so kommt man auf eingeschlossen – im Widerspruch zur Voraussetzung. Außer-
  dem befindet sich, nachdem Ströme nach außen geflossen sind,
q 2 !0 q2 !02 nun auch außerhalb des vorherigen Volumens eine Ladungsver-
1 C i 3 ! D i : (19.231)
mc 3mc3 teilung – ebenfalls im Widerspruch zur Voraussetzung.
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 675

19.6 (b) Nach Definition ist das elektrische Dipolmoment


Z
(a) Eine Leistung hat die physikalische Dimension p.t/ D r .t; r/ dV: (19.246)

ML2
; (19.239) Wegen der beiden Deltafunktionen hat p nur eine z-Kompo-
T3 nente; für diese gilt wegen der Thetafunktionen
wobei M, L und T jeweils für die Grunddimensionen Masse,
ZL=2
Länge und Zeit stehen. Das Produkt rechts hat dagegen die 2iI0 i!t
Dimension pz .t/ D e  z sgn z dz
!L
L=2
 k !l   (19.247)
L M 1=2 L3=2 L m ZL=2

Teil II
: (19.240) 2iI0 i!t iI0 L i!t
T2 T T D e 2 z dz D e :
!L 2!
0
Vergleicht man die Dimensionen auf beiden Seiten, so ergibt
sich Setzt man dies in (19.105) ein, folgt schließlich

3 ! 2 I02 L2
k C l C m D 2; hPi D : (19.248)
2 12c3
2k  l  m D 3;
1 19.8
l D 1: (19.241)
2
(a) Die Divergenz von j ist
(b) Aus der dritten Gleichung erhält man sofort l D 2, aus den
anderen beiden dann k D 2 und m D 3. Damit folgt 1 @j'
D 0; (19.249)
% @'
xR 2 q2
P D const  : (19.242) also ist nach der Kontinuitätsgleichung P D 0 und damit
c3
.t/ D const.
Dies stimmt mit der nichtrelativistischen Larmor-Formel Das magnetische Dipolmoment ist nach Definition
überein; die unbekannte dimensionslose Konstante ist 23 . Z
1
m.t/ D dV r  j
2c
Z
19.7 I0
D ei!t ı.%  %0 /ı.z/ Œ.%Oe% C zOez /  eO '  dV
2c
Z
(a) Die Beschränkung auf die z-Achse erreicht man mit zwei I0
Deltafunktionen, die Einschränkung in z-Richtung mit zwei D ei!t ı.%  %0 /ı.z/ .%Oez  zOe% / % d% d' dz
2c
Thetafunktionen und die lineare Abhängigkeit in bei- I0
de Richtungen schließlich mit einer Betragsfunktion. Die D ei!t 2 %20 eO z DW m0 ei!t : (19.250)
Stromdichte ist also j.t; r/ D jz .t; r/Oez mit 2c

  (b) In Abschn. 19.3 haben wir gesehen, dass im Fernfeld in


2jzj i!t niedrigster Ordnung
jz .t; r/ D I0 ı.x/ı.y/ .L=2 z/ .z CL=2/ 1  e :
L Z
(19.243) ei.kr!t/ j0 .r0 /
Aus der Kontinuitätsgleichung folgt dann A.t; r/ D dV 0 (19.251)
r c
@j0z gilt. Berechnet man das Volumenintegral für die hier gege-
div j0 D D i! 0 (19.244)
@z bene Stromverteilung, so ergibt sich allerdings wegen der
2 sgn z Periodizität von eO '
D I0 ı.x/ı.y/ .L=2  z/ .z C L=2/ ;
L Z
I0
dV 0 ı.%0  %0 /ı.z0 /Oe' 0 D 0: (19.252)
also c

2iI0 sgn z i!t Wir müssen deshalb auch die nächsthöhere Ordnung in der
.t; r/ D ı.x/ı.y/ .L=2  z/ .z C L=2/ e : Entwicklung nach kr0 berücksichtigen (die höheren Terme
!L
(19.245) der Entwicklung in r0 =r können weiterhin vernachlässigt
676 19 Abstrahlung elektromagnetischer Wellen

werden, da wir ja das Fernfeld betrachten), wir haben also da im Fernfeld k 1=r ist. Im zweiten Summanden stehen
(Abschn. 19.3) dagegen nur Ableitungen von eO r . Diese liefern jeweils einen
Z Faktor 1=r, aber keinen Faktor k; deshalb ist der zweite Sum-
ei.kr!t/ j .r0 /   mand im Fernfeld komplett vernachlässigbar. Es bleibt
A.t; r/ D dV 0 0 1  ik  r0 : (19.253)
r c
k2 ei.kr!t/
Das Integral über den ersten Summanden verschwindet, wie BD .Oer  .Oer  m0 //
eben gezeigt; es bleibt noch das Integral über den zweiten r (19.259)
Summanden zu berechnen. Dies ist k2 ei.kr!t/
D .m0  .Oer  m0 /Oer / ;
Z r
j .r0 /  
dV 0 0 k  r0
c wobei im letzten Schritt noch das doppelte Vektorprodukt
Z
I0   aufgelöst wurde. Für das Magnetfeld ergibt sich also die ty-
Teil II

D dV 0 ı.%0  %0 /ı.z0 /Oe' 0 k  r0 pische Winkelabhängigkeit eines Dipolfelds.


c
Für das elektrische Feld benötigt man den Gradienten des
Z2
I0 skalaren Potenzials und die zeitliche Ableitung des Vektor-
D %0 d' 0 eO ' 0 .k  %0 eO %0 / potenzials. Da die Ladungsdichte zeitlich konstant ist, hat
c
0 man aber auch ein zeitlich konstantes skalares Potenzial, das
Z2 somit nicht zur Abstrahlung beitragen kann. Damit ist ein-
I0 %20  
D d' 0  sin ' 0 eO x C cos ' 0 eOy fach
c

0
 1
E D  @t A
 kx cos ' 0 C ky sin ' 0 c
I0 %20   1 ik@ t ei.kr!t/
D ky eO x C kx eOy D .Oer  m0 /
c c r
I0 %20 k2 ei.kr!t/
D .Oez  k/ D m0  k; (19.254) D .m0  eO r / : (19.260)
c r
wobei Nimmt man schließlich die Realteile und berechnet daraus
den Poynting-Vektor, so ist
Z2
d' 0 sin ' 0 cos ' 0 D 0; c k4 cos2 .kr  !t/
0
SD
(19.255) 4 r2
Z2 Z2  .m0  eO r /  Œm0  .Oer  m0 /Oer 
d' 0 sin2 ' 0 D d' 0 cos2 ' 0 D
c k4 cos2 .kr  !t//
0 0 D  m20  .Oer  m0 /2 eO r
4 r2
benutzt wurde. Also ist c k4 m20 cos2 .kr  !t/
D sin2 # eO r ; (19.261)
4 r2
ikei.kr!t/
A.t; r/ D .Oer  m0 / : (19.256)
r wobei das doppelte Vektorprodukt aufgelöst und benutzt
wurde, dass m0 in z-Richtung zeigt. Dies kann man nun aber
(c) Das magnetische Feld ist
andererseits auch als
BD r A
! R 2 .t  r=c/ sin2 #
m
ikei.kr!t/ S.t; r/ D eO r (19.262)
D r  .Oer  m0 / 4 c3 r2
r
schreiben, wobei hier mit m nur der Realteil des magneti-
ikei.kr!t/ schen Dipolmoments gemeint ist. Für magnetische Dipol-
C .r  .Oer  m0 // : (19.257)
r strahlung ergibt sich also genau derselbe Ausdruck wie für
die elektrische Dipolstrahlung.
Betrachten wir die beiden Summanden einzeln. Im ersten hat
man zunächst
  19.9
ikei.kr!t/ ikei.kr!t/ 1
r D ik  eO r
r r r (a) Die Stromdichte lautet
(19.258)
k2 ei.kr!t/
 eO r ; j.t; r/ D I0 eO z ei!t ı.x/ı.y/ .=2  z/ .=2 C z/: (19.263)
r
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 677

Aus der Kontinuitätsgleichung folgt: 19.10


i 1 1 (a) Betrachten wir zunächst das doppelte Vektorprodukt in
.t; r/ D PD div j D @z jz (19.264)
! i! i! (19.151). Da Geschwindigkeits- und Beschleunigungsvek-
I0 i!t h
D e ı.x/ı.y/  ı.=2  z/ .=2 C z/ tor nun in dieselbe Richtung zeigen, bleibt hier
i! i h i  
C .=2  z/ı.=2 C z/ O  RO  P̌ D R
R O 2 P̌ :
O  P̌ RO  R (19.272)
iI0 i!t
D e ı.x/ı.y/ Œı.=2  z/  ı.=2 C z/ : Beachten wir außerdem, dass die Bewegung in z-Richtung
! erfolgt und die Punktladung nur im Ursprung betrachtet
(b) Für die Multipolmomente benötigen wir nur den räumlichen wird, so ist dies
Anteil der Ladungsdichte, diesen allerdings in Kugelkoordi- ˇP .cos # eO r  eO z / : (19.273)

Teil II
naten:
Das Quadrat davon ist
iI0 ı.#/  ı.#  /  
0 .r/ D ı.'/ı.r  =2/ : (19.265)
! r2 sin # ˇP 2 cos2 #  2 cos # eO r  eO z C 1 D ˇP 2 sin2 #: (19.274)
Damit haben wir Insgesamt ist die in eine bestimmte Richtung abgestrahlte
Z
4 .2l  1/ŠŠ iI0 Leistung pro infinitesimalem Raumwinkelelement
qlm D dV 0 ı.' 0 /ı.r0  =2/ (19.266)
kl !
ı.# 0 /  ı.# 0  / dP q2 ˇP 2 sin2 #
 jl .kr0 /Ylm

.# 0 ; ' 0 / D : (19.275)
r02 sin # 0 d 4 c .1  ˇ cos #/6
4 .2l  1/ŠŠ h i
 
D lC1
iI0 jl .k=2/ Ylm .0; 0/  Ylm . ; 0/ ; Im nichtrelativistischen Grenzfall ˇ ! 0 erhält man al-
ck so genau dasselbe Ergebnis (19.53) wie bei der harmonisch
wobei jl die sphärische Bessel-Funktion der Ordnung l ist. schwingenden Punktladung.
Benutzt man die Eigenschaften der Kugelflächenfunktionen (b) Für die gesamte abgestrahlte Leistung betrachten wir zu-
aus Kap. 13, so sieht man zunächst, dass dieser Ausdruck nächst den Zähler von (19.152). Wieder verschwindet der
nur für m D 0 nicht verschwindet; man hat dann zweite Summand wegen der Parallelität von Geschwindig-
r keit und Beschleunigung; es bleibt also nur
4 .2l  1/ŠŠ 2l C 1 h i
ql0 D iI j .k=2/ P .1/  P .1/
2q2  6 ˇP 2
0 l l l
cklC1 4
(19.267) PD : (19.276)
3c
mit den Legendre-Polynomen Pl . Da außerdem auch
Pl .1/ D 1 und Pl .1/ D .1/l gilt, folgt sofort, dass al- Für den Zusammenhang zwischen Beschleunigung und
le Multipolmomente mit geradem l verschwinden. Kraft erhält man hier nun
(c) Das niedrigste nichtverschwindende Multipolmoment ist
r d. mv / P 3 mcˇ C  mc P̌
FD D P mcˇ C  mc P̌ D ˇ ˇ
4 .2  1/ŠŠ 2C1 dt
q10 D iI j . =2/  .1  .1//
D  3 ˇ 2 mc P̌ C  3 .1  ˇ 2 /mc P̌ D c 3 m P̌ :
0 1
ck1C1 4 (19.277)
p
4 3 iI0
D j1 . =2/; (19.268) Daraus folgt
ck2
2q2 2
wobei noch k D 2 = eingesetzt wurde. Die sphärische PD F : (19.278)
3m2 c3
Bessel-Funktion erster Ordnung kann man auch noch expli-
zit auswerten. Es ist Ein Vergleich mit (19.168) zeigt, dass bei einer Beschleu-
  nigung in Bewegungsrichtung die abgegebene Leistung bei
1 d sin x sin x  x cos x gleicher Kraft um einen Faktor  2 kleiner ist als bei einer
j1 .x/ D x D ; (19.269)
x dx x x2 Beschleunigung senkrecht zur Bewegungsrichtung.
(c) Gesucht ist das Maximum der Funktion
also  2
2
j1 . =2/ D : (19.270) sin2 #
f .#/ D : (19.279)
.1  ˇ cos #/6
Damit haben wir schließlich
p Ableiten und gleich null setzen führt auf die Gleichung
16i 3 I0
q10 D : (19.271)
3=2 ck2 2 sin # cos #.1  ˇ cos #/  6ˇ sin3 # D 0: (19.280)
678 19 Abstrahlung elektromagnetischer Wellen

Hier kann man zunächst 2 sin # ausklammern, was auf die tung abgestrahlt. Genauer: Drücken wir ˇ durch  aus, so
Lösungen # D 0 und # D 180ı führt. Für beide Werte haben wir zunächst
ist die abgestrahlte Leistung aber gleich null, dies sind also p
absolute Minima. Es bleibt die Gleichung 1 C 1 C 24 .1  1= 2 /
cos #max D p : (19.283)
4 1  1= 2
cos #.1  ˇ cos #/  3ˇ sin2 # D 0: (19.281)
Für ˇ ! 1 gilt  ! 1 und #max ! 0, wir können also
Mit sin2 # D 1  cos2 # erhält man dann eine quadratische beide Seiten entwickeln. Dies führt nach einigen Zwischen-
Gleichung in cos #, die leicht lösbar ist. Schließlich ergibt schritten auf
sich p 1 2 1
1 C 1 C 24ˇ 2 1  #max D1 ; (19.284)
cos #max D : (19.282) 2 10 2

Teil II

woraus sofort die angegebene Beziehung folgt. Wie bei der


Für ˇ ! 1 folgt #max ! 0. Wie bereits bei der Synchrotron- Synchrotronstrahlung erfolgt auch hier die Abstrahlung vor
strahlung wird die Energie also vor allem in Bewegungsrich- allem in einem Winkel von der Größenordnung  1 .
Literatur 679

Literatur

Boas, M.L.: Mathematical Methods in the Physical Sciences.


3. Aufl., Wiley, Hoboken (2005)

Teil II
Lagrange- und Hamilton-
Formalismus in der
20
Elektrodynamik
Wie behandelt man eine

Teil II
relativistische Punktladung
im Lagrange- und
Hamilton-Formalismus?

Wie kann man die


Maxwell-Gleichungen aus
einer Lagrange-Funktion
ableiten?

Wie können das Noether-


Theorem sowie die Energie-
und Impulserhaltung auf
Feldtheorien angewandt
werden?

20.1 Bewegtes Punktteilchen – auch relativistisch . . . . . . . . . . . . . . . 682


20.2 Das elektromagnetische Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686
20.3 Das kovariante Noether-Theorem für Felder . . . . . . . . . . . . . . . 690
So geht’s weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 696
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_20, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 681
682 20 Lagrange- und Hamilton-Formalismus in der Elektrodynamik

In der Mechanik (Kap. 5 und 7) wurden zwei relativ abstrakte, Freie relativistische Bewegung
aber auch sehr allgemeine Formalismen hergeleitet, mittels derer
die Bewegungsgleichungen für ein gegebenes mechanisches Sys-
tem bestimmt werden können: der Lagrange- und der Hamilton- Zunächst soll der Fall ohne elektromagnetische Felder betrach-
Formalismus. Diese sollen nun auch auf die Elektrodynamik erwei- tet werden. Wir suchen also die Lagrange- und Hamilton-
tert werden. Funktion für ein freies Teilchen der Ruhemasse m. Mit unse-
ren Kenntnissen über die spezielle Relativitätstheorie kann das
Der Sinn ist nicht sofort einsichtig – in der Elektrodynamik sind aus der nichtrelativistischen Mechanik Bekannte nun auf eine
die Bewegungsgleichungen ja immer dieselben und folgen direkt relativistische Bewegung verallgemeinert werden. Ausgangs-
aus der Lorentz-Kraft. Die allgemeinen Formalismen haben dennoch punkt soll hierbei die Hamilton-Funktion sein. Diese ist ja im
mehrere Vorteile. Zunächst können alle physikalischen Gesetze der Allgemeinen (bei Abwesenheit von Zwangskräften bzw. wenn
Elektrodynamik in einem Ausdruck zusammengefasst werden: Aus diese zeitunabhängig sind) identisch mit der Gesamtenergie
der Lagrange-Funktion erhält man mittels der Euler-Lagrange-Glei- (Abschn. 7.1), und für ein relativistisches Teilchen ist sie durch
Teil II

chungen alle Bewegungsgleichungen, ebenso aus der Hamilton- (10.23) gegeben.


Funktion mittels der Hamilton-Gleichungen. Die Lagrange- und die
Hamilton-Funktion beschreiben also jeweils die komplette Physik
Hamilton-Funktion für ein freies relativistisches Teil-
des Systems.
chen
Außerdem fällt es bei der Formulierung mittels einer Lagrange-
Bei Abwesenheit von äußeren Kräften ist die Hamilton-
Funktion einfacher, allgemeine Prinzipien wie beispielsweise
Funktion für ein relativistisches Teilchen gegeben durch
den Zusammenhang zwischen Symmetrien und Erhaltungsgrößen
(Noether-Theorem) zu studieren; auch dies wurde bereits in der Me- p
chanik diskutiert. Und schließlich kann die Elektrodynamik, wenn H.x; p/ D p2 c2 C m2 c4 : (20.1)
sie auf diese Weise formuliert wird, leicht mit anderen Feldtheorien
verglichen und auch verallgemeinert werden, beispielsweise zu den
SU(N)-Eichtheorien der modernen Elementarteilchenphysik. Frage 1
Erinnern Sie sich an die Mechanik: Wie erhält man aus der Ha-
Konkrete Anwendungen findet der Hamilton-Formalismus vor al- milton-Funktion die Geschwindigkeit?
lem in der Quantenmechanik und Quantenfeldtheorie, wenn man
zum Hamilton-Operator übergeht. Der Lagrange-Formalismus ist
dagegen der Ausgangspunkt für den Pfadintegralformalismus, der Durch eine der beiden Hamilton-Gleichungen in (7.13) ist dann
ebenfalls sowohl für die Quantenmechanik als auch für die Quan- die Geschwindigkeit festgelegt:
tenfeldtheorie wichtig ist.
@H pi c2
In diesem Kapitel werden wir zunächst, wie bereits in der Mechanik, xP i D D p ; (20.2)
@pi p2 c2 C m2 c4
die Bewegung eines Punktteilchens mit dem Lagrange- und Hamil-
ton-Formalismus studieren, nun allerdings unter Einbeziehung der also ist wie bereits aus Abschn. 10.1 bekannt:
speziellen Relativitätstheorie und der Lorentz-Kraft (Abschn. 20.1).
Dann werden wir in Abschn. 20.2 den Formalismus auf die Felder mPx
pD q D  mPx: (20.3)
selbst anwenden, wobei wieder der aus der Mechanik bekann- 1 xP2
c2
te Formalismus relativistisch verallgemeinert wird. Abschließend
erweitert Abschn. 20.3 das bekannte Noether-Theorem auf allge-
meine Feldtheorien. Als eine spezielle Anwendung wird der Energie- Führt man nun eine Legendre-Transformation aus (siehe den
Impuls-Tensor der Elektrodynamik diskutiert. „Mathematischen Hintergrund“ 7.1), erhält man die Lagrange-
Funktion:

L.x; xP / D p  xP  H.x; p/
q
20.1 Bewegtes Punktteilchen – D  mPx2   2 m2 xP 2 c2 C m2 c4
auch relativistisch s
xP 2
D  mPx2  mc2  2 2 C 1
c
Wie schon in der Mechanik wollen wir die Bewegungsglei- v
u
chung für ein Punktteilchen finden. Neu hinzu kommt jedoch, u 1
D  mPx2  mc2 t D  m.Px2  c2 /
dass wir nun auch relativistische Effekte berücksichtigen und 2
1  xPc2
dass außerdem die Kräfte von elektromagnetischen Feldern her-
!
stammen. Es treten deshalb auch (durch die Lorentz-Kraft) xP 2 1
geschwindigkeitsabhängige Kräfte auf – bei denen nicht von D  mc 1  2 D  mc2 2 :
2
(20.4)
c 
vornherein klar ist, wie man mit ihnen umzugehen hat.
20.1 Bewegtes Punktteilchen – auch relativistisch 683

Da die Lorentz-Kraft vom Magnetfeld abhängt und dieses wie-


Lagrange-Funktion für ein freies relativistisches Teil- derum vom Vektorpotenzial A, liegt es nun nahe, analog zum
chen Term mit dem skalaren Potenzial noch einen hinzuzufügen, der
s das Vektorpotenzial enthält. Die Lagrange-Funktion muss aber
mc2 xP 2 ein Skalar sein – also kann der Term, der das Vektorpotenzial
L.x; xP / D  D mc2 1 : (20.5)
 c2 enthält, nur ein Skalarprodukt von A mit einem anderen Vektor
sein. Betrachten wir alle hier infrage kommenden Möglichkei-
ten:
Frage 2 (a) AA: Dann käme in der Lagrange-Funktion das Vektorpoten-
Überprüfen Sie alle Zwischenschritte, die auf (20.5) geführt ha- zial quadratisch vor, im Gegensatz zum skalaren Potenzial.
ben. (b) r A: Dann würde die Lagrange-Funktion eine Ableitung des

Teil II
Vektorpotenzials enthalten, wiederum im Gegensatz zum
Term mit dem skalaren Potenzial. (Außerdem würde dieser
Im Limes jPxj=c 1 ergibt dies Term in der Coulomb-Eichung identisch verschwinden.)
(c) x  A: Hier fehlt, dass die daraus abgeleitete Kraft von der
1 2 Geschwindigkeit abhängt; außerdem steht keine sinnvolle
L.x; xP / mPx  mc2 ; (20.6)
2 Konstante zur Verfügung, mit der man diesen Term auf die
richtige Einheit bringen könnte.
also gerade die nichtrelativistische kinetische Energie abzüglich
(d) xP  A: Dies scheint recht vielversprechend zu sein: Die Ge-
der Ruheenergie. Der letztere Beitrag ist dabei eine reine Kon-
schwindigkeit kommt in dem Term vor, und die richtige
stante, welche die Dynamik nicht beeinflusst.
Einheit erhält man, wenn man (wie üblich) noch einen Fak-
tor 1c einbaut.

Nichtrelativistisch bewegte Punktladung Fügt man die Ladung hinzu, hat man also den Ansatz
im elektromagnetischen Feld 1 2 xP
LD mPx  q C k q  A (20.9)
2 c
Im nächsten Schritt sollen nun elektromagnetische Kräfte auf mit einer noch festzulegenden Konstanten k. Dieser Ansatz wur-
das Teilchen wirken – zunächst betrachten wir allerdings der de rein aus physikalischen Plausibilitätsbetrachtungen gefun-
Einfachheit halber nur nichtrelativistische Bewegungen. Auf den; mathematisch wären alle vier angeführten Möglichkeiten
bewegte Punktladungen wirkt in elektromagnetischen Feldern akzeptabel, physikalisch gesehen ergibt aber nur die letzte wirk-
die Lorentz-Kraft; diese ist von der Geschwindigkeit abhängig. lich Sinn.
Prinzipiell kann man zwar auch dafür ein Potenzial angeben
(siehe (1.142)), es ist aber nicht klar, wie der entsprechende Die Ableitungen der Lagrange-Funktion sind
Term in der Lagrange-Funktion auszusehen hat. Andererseits
@L q
gilt nun auch nicht mehr unbedingt, dass die Hamilton-Funkti- D mPxi C k Ai ; (20.10)
on identisch mit der Gesamtenergie ist. Damit können wir nun @Pxi c
weder Lagrange- noch Hamilton-Funktion direkt angeben. @L @ xP @A
D q i C k q  i : (20.11)
@xi @x c @x
Wir gehen deshalb einen anderen Weg: Zunächst fordern wir,
dass die Euler-Lagrange-Gleichungen Bei der Berechnung der totalen Zeitableitung muss darauf ge-
achtet werden, dass A nicht nur explizit von der Zeit abhängt,
d @L @L sondern auch implizit über die Bahnkoordinaten:
 D0 (20.7)
dt @Pxi @xi
d i @Ai X @Ai @xj
A .t; x.t// D C D AP i C xP  r Ai : (20.12)
weiterhin gültig sein sollen. Die Lagrange-Funktion L muss dt @t j
@xj @t

nun so konstruiert werden, dass diese Formel die korrekte


Bewegungsgleichung für ein bewegtes Punktteilchen liefert. Setzt man diese Ausdrücke schließlich in die Euler-Lagrange-
(Erinnern wir uns an die Mechanik: L ist keine physikalisch Gleichung ein, hat man
messbare Größe, sondern eine reine mathematische Hilfsgröße,
die passend zur Problemstellung gewählt werden kann.) q q @ q @A
mRxi C k AP i C k xP  r Ai C q i  k xP  i D 0: (20.13)
c c @x c @x
Wir setzen hierfür zunächst die üblichen Terme für die kineti-
sche und die potenzielle Energie an: Nun fasst man die beiden Summanden mit xP zusammen und
benutzt  
1 2 @A
TD mPx und Vel D q : (20.8) xP  r Ai  i D  .Px  B/i : (20.14)
2 @x
684 20 Lagrange- und Hamilton-Formalismus in der Elektrodynamik

Frage 3 Frage 4
Zeigen Sie die Richtigkeit der Beziehung (20.14). Vergewissern Sie sich, dass Sie alle Zwischenschritte verstan-
den haben, die auf (20.19) führen.

Eingesetzt in (20.13) ergibt sich


  Man hat somit für H genau den Ausdruck, den man auch so-
1P q fort naiv für die Gesamtenergie angeschrieben hätte. Nur hätte
mRx D q r  k A C k .Px  B/ man dabei eben eine wichtige „Kleinigkeit“ verpasst: Der Im-
c c (20.15)
q puls, der in der kinetischen Energie steht, ist zwar weiterhin der
D qE C k .Px  B/ : kinetische Impuls pkin D mPx; in die Hamilton-Gleichungen geht
c
aber nicht dieser ein, sondern der kanonisch konjugierte Impuls
Durch Vergleich mit der Lorentz-Kraft folgt sofort k D 1, wo- p D pkin C qc A! Der Umweg über die Lagrange-Funktion war
Teil II

mit die gesuchte Lagrange-Funktion nun eindeutig bestimmt also nötig, um den korrekten Ausdruck für den kanonisch kon-
ist. (Dies hätte man übrigens auch aus der Forderung erhalten jugierten Impuls zu finden.
können, dass die Wirkung eichinvariant sein soll; siehe hierzu
Aufgabe 20.3.)

Relativistisch bewegte Punktladung


Lagrange-Funktion für eine nichtrelativistische Punkt-
ladung im elektromagnetischen Feld
im elektromagnetischen Feld
1 2 xP
L.x; xP / D mPx  q C q  A (20.16) Nachdem wir die Hamilton- und Lagrange-Funktionen für das
2 c
freie relativistische Punktteilchen und für die nichtrelativis-
tische Punktladung kennen, können wir es uns im Prinzip
aussuchen, wo wir bei der Behandlung der relativistisch be-
Um die Hamilton-Funktion zu finden, benötigen wir nun den
wegten Punktladung anfangen. Der Zugang über die Hamilton-
zu x kanonisch konjugierten Impuls. Dieser ergibt sich aus der
Funktion ist dabei aber leicht zu bevorzugen, da diese (als Ge-
Definition
@L samtenergie) eine noch halbwegs anschauliche Größe ist – im
pi D i : (20.17) Gegensatz zur Lagrange-Funktion. Die Wirkung hat allerdings
@Px
den Vorteil, Symmetrien wie die Eich- und Lorentz-Invarianz
deutlich zu machen, wie wir später sehen werden.
Kanonisch konjugierter Impuls für eine Punktladung im
elektromagnetischen Feld Frage 5
q q Überlegen Sie sich, bevor Sie weiterlesen, wie aufgrund der bis-
p D mPx C A D pkin C A (20.18) herigen Ergebnisse diese Hamilton-Funktion aussehen müsste.
c c

Wir haben hier das überraschende Ergebnis, dass der gewohnte Hamilton-Funktion für eine relativistische Punktladung
kinetische Impuls pkin D mPx bei Anwesenheit des elektrody- im elektromagnetischen Feld
namischen Vektorpotenzials nicht mehr identisch ist mit dem r
kanonisch konjugierten Impuls, der in die Hamilton-Gleichun- q 2
H.x; p/ D p  A c2 C m2 c4 C q (20.20)
gen eingeht. Dies ist auch insbesondere für die Quantenmecha- c
nik wichtig, da, wie wir dort sehen werden, der Impulsoperator
zum kanonisch konjugierten und nicht zum kinetischen Impuls
gehört. Die Konsequenzen daraus werden wir in Kap. 29 disku- Die Geschwindigkeit bekommt man aus einer der beiden Ha-
tieren. milton-Gleichungen:
Durch eine Legendre-Transformation gewinnt man nun die Ha-  
p  qc A c2
milton-Funktion: xP D q 2 : (20.21)
p  qc A c2 C m2 c4
H D p  xP  L
 2 Auflösen dieser Gleichung nach dem Ausdruck in der Klammer
p  qc A 1 p  qc A p  qc A q
D p  m C q   A liefert wie erwartet
m 2 m2 m c
 q 2
1 p  cA p 2 q
p AD q
mPx
D  mPx D pkin : (20.22)
D C q D kin C q : (20.19) c
2 m 2m 1  xP 2 =c2
20.1 Bewegtes Punktteilchen – auch relativistisch 685

Die Legendre-Transformation führt dann auf die Lagrange- Die Zeit t, nach der integriert wird, ist vom Bezugssystem ab-
Funktion: hängig. Es wäre deshalb naheliegend, stattdessen die Eigenzeit
 q  zu verwenden. Für diese gilt bekanntlich dt D  d. Definie-
q  ren wir
L D  mPx C A  xP   2 m2 xP 2 c2 C m2 c4  q q
c
q LQ WD  L D mc2  u A ; (20.27)
q c
D  mPx   2 m2 xP 2 c2 C m2 c4  q C A  xP
2
so wird die Wirkung zu
c
mc2 xP Z
D  q C q  A: (20.23) S D LQ d: (20.28)
.Px/ c

Frage 6 Diese Ausdrücke sind manifest Lorentz-invariant (aber nicht


eichinvariant; Aufgabe 20.3). Da die Wirkung das Integral

Teil II
Vollziehen Sie die Zwischenschritte nach, aus denen sich
(20.23) ergibt. dieser relativistischen Lagrange-Funktion über die (ebenfalls in-
variante) Eigenzeit ist, ergibt sich, dass auch die Wirkung ein
Lorentz-Skalar ist. Letzteres kann man auch daraus folgern,
Fassen wir abschließend noch einmal zusammen: dass die Bedingung ıS D 0 Lorentz-invariant sein muss, da sich
daraus ja die Bewegungsgleichungen ergeben.
Der kinetische Term in der Lagrange-Funktion ändert sich Insbesondere für ein freies Teilchen folgt nun
durch die Wechselwirkung mit einem elektromagnetischen Z
Feld nicht; er ist im nichtrelativistischen Fall gegeben durch
S D  mc2 d D mc2 : (20.29)
1
2
mPx2 , im relativistischen Fall durch mc2 = . Der Wech-
selwirkungsterm mit dem Feld ist in beiden Fällen gegeben
durch q C qc xP  A. Die Wirkung für jede vorgegebene Bahnkurve ist also propor-
In der Hamilton-Funktion ist der kinetische Term gegeben tional zu der Eigenzeit , die auf dieser Bahnkurve für das
q Teilchen vergeht. Damit ist in diesem Spezialfall das Hamil-
durch 2m pkin (nichtrelativistisch) bzw. p2kin c2 C m2 c4 (re-
1 2
ton’sche Prinzip äquivalent zum Fermat’schen Prinzip (siehe
lativistisch). auch Abschn. 5.5 und 17.3): Das Teilchen bewegt sich auf der
Im Falle einer Wechselwirkung mit einem elektromagneti- Bahn, auf welcher die (Eigen-)Zeit extremal wird.
schen Feld ist für den kinetischen Impuls der kanonische
Impuls minus die Wechselwirkung mit dem Vektorpotenzi- Auf den ersten Blick scheint das Ziel erreicht, die Lagrange-
al einzusetzen: pkin D p  qc A; zum kinetischen Term ist die Funktion für eine relativistische Punktladung kovariant aus-
potenzielle Energie q im skalaren Potenzial zu addieren. zudrücken. Allerdings ergibt sich beim ersten Summanden in
(20.27) ein Problem: Dieser ist konstant und würde deshalb bei
einer Variation der Wirkung einfach verschwinden, statt auf die
gewünschte Bewegungsgleichung zu führen. Die Abhängigkeit
Kovariante Formulierung der Wirkung eines freien Teilchens von der Bahn steckt letzt-
lich in den Integrationsgrenzen 1 und 2 , die in (20.29) nicht
explizit angeschrieben wurden, bzw. ihrer Differenz : For-
Da wir nun ein relativistisch bewegtes Teilchen betrachten, bie- dert man wie bei der Variation üblich, dass die Endpunkte der
tet es sich natürlich an, die Lagrange- und Hamilton-Funktion Bahnkurve zu festen Zeiten t1 und t2 festgehalten werden, so ist
jeweils mit Vierervektoren zu formulieren. Hierfür betrachten  ein Funktional der Bahnkurve.
wir die Lagrange-Funktion (20.23). Mit den Vierervektoren u
für die Geschwindigkeit und A für das Potenzial kann der Die Wirkung muss also noch umgeschrieben werden. Dazu
Wechselwirkungsterm geschrieben werden als bemerken wir zunächst, dass wir für das infinitesimale Eigen-
zeitintervall schreiben können:
xP q r
 q C q  A D  u A : (20.24) 1p 
1 dx dx 1p
c c d D dx dx D d D u u d:
c c d d c
(20.30)
Insgesamt ergibt sich damit zunächst Damit ist allerdings noch nicht viel gewonnen; wegen u u D
c2 ist dies eine reine Identität.
1 2 q 
L.x ; u / D  mc C u A : (20.25) Statt durch  können wir die Weltlinie aber auch durch einen an-
 c
deren Parameter , der streng monoton und differenzierbar mit
 zunimmt, parametrisieren. Führen wir die zugehörige „Vierer-
Betrachten wir die zugehörige Wirkung: geschwindigkeit“
Z
dx d
S D L dt: (20.26) uQ  WD D u (20.31)
d d
686 20 Lagrange- und Hamilton-Formalismus in der Elektrodynamik

ein, so folgt Erst nach Ausführen der Variation wird dann d D d ersetzt.
p p (Diese Nebenbedingung könnte formal durch Hinzufügen eines
cd D u u d D uQ  uQ  d: (20.32) passenden Summanden mit einem Lagrange’schen Multiplika-
tor zu LQ erzwungen werden.) Für die konkrete Rechnung sei auf
(Wählt man insbesondere für  die Koordinatenzeit t, so erhält Aufgabe 20.1 verwiesen.
man wieder (20.23).)
Schließlich kann man auch bei der Hamilton-Funktion relati-
Die Wirkung für ein freies Teilchen kann damit geschrieben vistische Argumente verwenden, da die Gesamtenergie propor-
werden als Z p tional zur Nullkomponente des Viererimpulses ist, H D cp0 .
S D  mc uQ  uQ  d: (20.33) Verwendet man die Hamilton-Funktion für ein freies relativisti-
sches Teilchen, so gilt
Da uQ  uQ  im Gegensatz zu u u nicht konstant sein muss, führt v
u 3
eine Variation mit der neuen „Vierergeschwindigkeit“ uQ  nun uX
Teil II

auf ein nicht verschwindendes Ergebnis. Andererseits wurde im cp0 D t .pi /2 c2 C m2 c4 : (20.38)
Wirkungsintegral nur eine Variablensubstitution vorgenommen, iD1

am Ergebnis (20.29) ändert sich dadurch also nichts. Macht man nun die Ersetzung
Auch im Wechselwirkungsterm kann man u durch uQ  er- q
setzen; damit folgt die gesuchte kovariante Formulierung der p ! p  A ; (20.39)
Lagrange-Funktion. c
so wird daraus
v
Wirkung und Lagrange-Funktion für eine relativistische u 3 
uX q 2
Punktladung im elektromagnetischen Feld, kovariant cp  q D t
0
pi  Ai c2 C m2 c4 : (20.40)
formuliert iD1
c
Für die Wirkung gilt
Damit erhält man wieder das schon bekannte Ergebnis (20.20).
Z Die Relativitätstheorie hilft hier also zu verstehen, warum nicht
SD LQ d (20.34) nur die Energie selbst durch den zusätzlichen Term q geändert
wird, sondern auch der Impuls durch den zusätzlichen Term qc A
mit einem Parameter , der die Bahnkurve beschreibt und ergänzt werden muss.
monoton mit der Eigenzeit  zunimmt. Die Lagrange- Die Regel (20.39), die angibt, wie der Viererimpuls geändert
Funktion ist gegeben durch werden muss, wenn man eine Wechselwirkung mit einem elek-
tromagnetischen Feld berücksichtigen will, wird oft als mini-
p q
Q  ; uQ  / D mc uQ  uQ   uQ  A
L.x (20.35) male Ersetzung/Erweiterung bezeichnet. Minimal bedeutet hier,
c dass für die Wechselwirkung nur die Ladung des betrachteten
Teilchens wichtig ist; alle anderen Eigenschaften wie beispiels-
mit
dx weise sein Dipolmoment werden vernachlässigt. Deshalb gilt
uQ   : (20.36) die Regel streng nur für Punktteilchen ohne innere Struktur, da
d
diese kein (elektrisches) Dipolmoment oder höhere Momente
haben können. Für Elektronen ist dieser Ansatz gerechtfertigt
Frage 7 (und experimentell gut überprüft); schon bei Protonen ergeben
sich (zumindest bei hohen Energien) deutliche Abweichungen.
Vollziehen Sie die Zwischenschritte, die hierauf geführt haben,
nach.

Um aus LQ die Bewegungsgleichung zu gewinnen, benutzt man


20.2 Das elektromagnetische Feld
schließlich die Euler-Lagrange-Gleichung in kovarianter Form.
Diese erhält man durch Variation der Wirkung, wenn x .1 / In Abschn. 20.1 haben wir aus dem Lagrange- und Hamilton-
und x .2 / festgehalten werden, wobei 1;2 die Integrations- Formalimus für ein Punktteilchen die richtige Bewegungsglei-
grenzen in (20.34) sind. chung für eine Punktladung im elektromagnetischen Feld (die
Lorentz-Kraft) herleiten können. Nun ist noch zu untersuchen,
wie auch die restlichen Grundgleichungen der Elektrodynamik,
Euler-Lagrange-Gleichung, kovariant formuliert also die Maxwell’schen Gleichungen, aus einer passend gewähl-
d @LQ @LQ ten Lagrange- bzw. Hamilton-Funktion ableitbar sind.
 D0 (20.37)
d @Qu @x Im Unterschied zum Punktteilchen benötigt man dafür aber
den Lagrange- und Hamilton-Formalismus für (relativistische)
20.2 Das elektromagnetische Feld 687

Felder. Dieser ist im Wesentlichen völlig analog zu dem für sich allerdings später herausstellen, dass die Herleitung der La-
Punktteilchen; im Folgenden werden die grundlegenden Be- grange-Dichte rein aus Symmetrieargumenten (Lorentz- und
griffe kurz zusammengestellt. Dieser wurde in der Mechanik Eichinvarianz) deutlich einfacher ist.
(Abschn. 8.4) schon kurz angesprochen, soll hier aber nochmals
Wir betrachten der Einfachheit halber zunächst nur elektrosta-
wiederholt und vertieft werden.
tische Probleme im Vakuum. In Analogie zur üblichen Gestalt
L D T  V der Lagrange-Funktion setzen wir für die Lagrange-
Dichte
Allgemeiner Formalismus 1 2 1
LES D E  D .r /2  (20.45)
8 8
Die relevanten generalisierten Koordinaten sind nun nicht mehr
die (endlich vielen) Koordinaten qi von Punktteilchen, sondern an, wobei der erste Term die elektrostatische Energiedichte ist

Teil II
die (unendlich vielen) Feldamplituden k .t; r/ an jedem Ort r und der zweite die Wechselwirkung mit einer äußeren Ladungs-
und zu jeder Zeit t, wobei direkt berücksichtigt wird, dass man verteilung beschreibt.
auch mehrere Felder k gleichzeitig haben kann (hier: elek- Die Ableitungen dieser Lagrange-Dichte sind
trisches und magnetisches Feld). Wir müssen also folgende
Ersetzungen vornehmen: @LES
D ;
qi ! k .t; r/;
@
(20.46)
P @LES 1 1
qP i ! r k .t; r/; k .t; r/; D @i D  Ei :
@ .@i / 4 4
L.qi ; qP i / ! L. k .t; r/; r k .t; r/; P k .t; r//;
@L @L (20.41) Die Euler-Lagrange-Gleichung
! ;
@qi @ k X @LES @LES LES
d @L X @L @L @i C @t  D0 (20.47)
! @i C @t : @ .@i / @P @
@ Pk
i
dt @Pqi i
@ .@i k /
führt dann sofort auf
Die Funktion L wird dabei als Lagrange-Dichte bezeichnet.
Die generalisierten Impulse werden definiert als div E D 4 ; (20.48)

@L also tatsächlich die Maxwell-Gleichung der Elektrostatik.


D ; (20.42)
@ Pk
k
Völlig analog können wir bei magnetostatischen Problemen an-
und mittels einer Legendre-Transformation erhält man dann die setzen:
Hamilton-Dichte 1 2 1 1 1
X LMS D B  jAD .r  A/2  j  A: (20.49)
H D P
k k  L: (20.43) 8 c 8 c
k
Die Euler-Lagrange-Gleichungen für die Felder Ai ergeben
dann die passende Maxwell-Gleichung der Magnetostatik:
Für die Wirkung gilt
Z Z  Z 4
1 rot B D j: (20.50)
SD L dV dt D L d4 x: (20.44) c
c
Die Lagrange-Dichte und damit auch die Hamilton-Dichte ha- Frage 8
ben also die Dimension einer Energiedichte. Statt Ladung q Leiten Sie (20.50) aus (20.49) her. Es genügt dabei, eine Kom-
und Geschwindigkeit xP eines Punktteilchens müssen nun auch ponente explizit zu berechnen; die beiden anderen ergeben sich
entsprechend die Ladungsdichte .t; r/ und Stromdichte j.t; r/ analog.
verwendet werden.

Für die komplette Elektrodynamik wäre es nun naheliegend,


die elektrostatischen und magnetostatischen Beiträge (20.45)
Nichtkovariante Formulierung und (20.49) einfach zu addieren. Daraus würden sich aller-
dings nicht die korrekten Maxwell-Gleichungen ergeben – beim
Wie bereits bei der Punktladung beginnen wir mit der nicht- Maxwell’schen Verschiebungsstrom hätte man das falsche Vor-
kovarianten Formulierung, da diese von der Energiedichte aus- zeichen. Statt dies direkt nachzurechnen, kann man auch den
gehen kann und deshalb etwas anschaulicher ist. Wieder wird Wechselwirkungsterm in (20.16) betrachten: Dort haben die
688 20 Lagrange- und Hamilton-Formalismus in der Elektrodynamik

beiden Summanden, welche die Wechselwirkung mit dem ska- Dies stimmt aber nun offensichtlich nicht mit der bekannten
laren bzw. dem Vektorpotenzial beschreiben, ja unterschiedliche Energiedichte der Elektrodynamik überein. Im Folgenden wer-
Vorzeichen (was aus der kovarianten Formulierung (20.35) so- den wir untersuchen, wie man diese Diskrepanz auflöst.
fort einsichtig ist).
Mit
Dies legt es nahe, die beiden Beiträge stattdessen zu subtrahie- 1
 AP D r C E (20.55)
ren – ein anderes Vorzeichen von (20.49) ändert ja nichts an c
(20.50). Damit erhält man tatsächlich die korrekte Lagrange-
Dichte. kann das Ergebnis zunächst umgeschrieben werden zu

1 1 2 1  2 
Lagrange-Dichte des elektromagnetischen Feldes im H D .r  E/ C E  E  B2
4 4 8 (20.56)
Vakuum 1 1  2 
Teil II

1  2  1 D .r  E/ C E C B2 :
LD E  B2  C jA (20.51) 4 8
8 c
Aus der Produktregel und der Quellenfreiheit (div E D 0) ergibt
sich
Dass die richtigen Gleichungen für die Potenziale aus dieser La-
grange-Dichte folgen, soll hier nicht explizit gezeigt werden. div . E/ D r  E C div E D r  E; (20.57)
In Aufgabe 20.2 kann sich der Leser (in kovarianter Formu-
lierung) selbst davon überzeugen. Setzt man die bekannten also folgt
Zusammenhänge zwischen den Feldstärken und den Potenzia-
len ein, so ergeben sich daraus die inhomogenen Maxwell- 1 1  2 
Gleichungen. Aus der Darstellung der Feldstärken mittels der H D div . E/ C E C B2 : (20.58)
4 8
Potenziale folgen außerdem automatisch die homogenen Max-
well-Gleichungen.
Der zweite Summand ist nun der übliche Ausdruck für die
Betrachten wir schließlich noch die Hamilton-Dichte, der Ein- Energiedichte. Beim ersten berücksichtigen wir, dass die Ge-
fachheit halber nur für den quellenfreien Fall. Dafür schreiben samtenergie gegeben ist durch das Integral über H :
wir die Lagrange-Dichte zunächst komplett mit den Potenzialen
Z Z
! 1 1  2 
  ED div . E/ d4 x C E C B2 d 4 x
1 1P 2 4 8
LD r C A  .rot A/2
(20.52) Z I Z (20.59)
8 c 1 1  2 
D . E/  d f dt C
2
E C B2 d4 x;
4 8
und ermitteln daraus die generalisierten Impulse. Bezeichnen
wir den generalisierten Impuls zu mit ˘0 und denjenigen zu wobei im ersten Term der Gauß’sche Satz benutzt wurde.
A mit …, so sind diese gegeben durch
Frage 10
@L Wie kann man begründen, dass das Oberflächenintegral nichts
˘0 .t; r/ D D 0;
P
@ .t; r/ zur Energie beiträgt?
@L
….t; r/ D (20.53)
P r/
@A.t;
  Damit das Volumenintegral definiert ist, müssen die elektri-
1 1 1 schen und magnetischen Feldstärken für r ! 1 stärker als mit
D r C AP D  E:
4 c c 4 c r3=2 abfallen; der Beitrag des Oberflächenintegrals geht dann
gegen null. Der erste Summand der Hamilton-Dichte trägt zur
Energie somit nichts bei; d. h., wir können für die Hamilton-
Frage 9
Dichte auch einfach
Führen Sie die Berechnung der generalisierten Impulse (20.53)
selbst durch. 1  2 
H D E C B2 (20.60)
8
Die Hamilton-Dichte erhält man durch die Legendre-Transfor- verwenden.
mation
In Abschn. 20.3 werden wir dem Problem, dass die Energie-
P …L
H D P ˘0 C A dichte bzw. sogar der komplette Energie-Impuls-Tensor nicht
1 P 1  2  (20.54) eindeutig definiert ist, nochmals begegnen und dann genauer be-
D AE E  B2 : sprechen.
4 c 8
20.2 Das elektromagnetische Feld 689

Felder und Punktladungen Zu bemerken wäre außerdem noch, dass diese Lagrange-Funkti-
on streng genommen eigentlich keine Funktion der Feldstärken
bzw. der Potenziale ist, sondern ein Funktional (siehe den „Ma-
Aus der Lagrange-Funktion (20.23) folgt die Bewegungsglei- thematischen Hintergrund“ 5.2), und dass man nun sogenannte
chung für eine Punktladung, aus der Lagrange-Dichte (20.51) Funktionalableitungen benutzen müsste, um die Maxwell-Glei-
folgen die Maxwell-Gleichungen. Will man alle Bewegungs- chungen daraus zu erhalten. Dies soll hier aber nicht weiter
gleichungen zugleich haben, so muss man beide kombinieren. vertieft werden.
Dafür kann man ausnutzen, dass jede Ladungs- und Stromver-
teilung letztlich aus bewegten Punktladungen zusammengesetzt
gedacht werden kann, d. h., wir können
Kovariante Formulierung
X
.t; r/ D qa ı.r  xa .t// ;

Teil II
a Schauen wir uns die Lagrange-Dichte (20.51) noch einmal ge-
X (20.61)
j.t; r/ D qa xP a .t/ ı.r  xa .t// nauer an. Die Terme  C 1c j  A kann man zum einfachen

a Ausdruck  c j A zusammenfassen.
1

schreiben, wobei qa die Ladungen der einzelnen Punktteilchen Frage 11


sind, die sich auf Bahnen xa .t/ bewegen. Wie kann der vordere Term kovariant geschrieben werden?
Denken Sie an die relativistischen Invarianten der Elektrody-
Definieren wir nun als gesamte Lagrange-Funktion namik in Abschn. 18.3.
X ma c2 Z
LD C L dV; (20.62) Auch den Ausdruck E2  B2 kann man leicht manifest Lorentz-
a
a
invariant schreiben: Wie bereits bekannt ist (18.67), gilt
wobei die ma die Ruhemassen der einzelnen Teilchen sind, F F  D 2E2 C 2B2 : (20.66)
1 Also kann die Lagrange-Dichte kurz, prägnant und manifest
a D q (20.63)
1  xP 2a =c2 Lorentz-invariant geschrieben werden.

gesetzt wurde, und L die Lagrange-Dichte (20.51) ist. Setzen Lagrange-Dichte des elektromagnetischen Feldes im
wir dann die Ladungs- und Stromdichten ein, erhalten wir Vakuum mit Quellen, kovariant formuliert

X ma c2 Z 1 1
1   LD F F   j A (20.67)
LD C E .t; r/  B .t; r/ dV
2 2
16 c
a
a 8
X Z
 qa ı .r  xa .t// .t; r/ dV (20.64) Das Verhalten dieser Lagrange-Dichte unter einer Eichtransfor-
a
Z mation wird ebenfalls in Aufgabe 20.3 diskutiert.
X xP a .t/
C qa ı .r  xa .t//  A.t; r/ dV: Stattdessen kann man auch anders argumentieren, um L herzu-
a
c leiten, ohne den Ausdruck (20.51) bereits zu kennen: Zunächst
beachten wir, dass die Wirkung S wieder ein Lorentz-Skalar sein
Die letzten beiden Integrale kann man mittels der Deltafunktio- sollte. Um das Verhalten von L unter Lorentz-Transformationen
nen ausführen. Es ergibt sich dann zu bestimmen, müssen wir deshalb untersuchen, wie sich das
Z Integrationsmaß d4 x verhält. Für die Umrechnung auf andere
X ma c2 1  2  Koordinaten benutzt man wie üblich die Jacobi-Determinante:
LD C E .t; r/  B2 .t; r/ dV ˇ  0 ˇ
a 8 ˇ ˇ 4
a @x
X X xP a .t/ d4 x0 D ˇˇdet 
ˇ d x:
ˇ (20.68)
 qa .t; xa .t// C qa  A.t; xa .t//: (20.65) @x
a a
c
Da aber bei Lorentz-Transformationen
@x0
Aus dieser Lagrange-Funktion kann man mittels der Euler- D  (20.69)
Lagrange-Gleichungen sowohl die Bewegungsgleichungen für @x
die Felder (die Maxwell-Gleichungen) als auch die für die ist, wobei für die Determinante der Transformationsmatrix
Punktladungen (die Lorentz-Kräfte) ableiten; dabei muss man det  D ˙1 gilt, folgt
allerdings im ersten Fall die Form (20.64) verwenden, im zwei-
ten Fall die Form (20.65). d4 x0 D d4 x: (20.70)
690 20 Lagrange- und Hamilton-Formalismus in der Elektrodynamik

Das vierdimensionale Integrationsmaß ist also Lorentz-invari- Ausmultiplizieren und Umbenennen einiger Indizes führt dann
ant. Damit folgt, dass auch die Lagrange-Dichte L ein Lorentz- zu der gewünschten Darstellung
Skalar sein muss.
1 1
Der Wechselwirkungsterm kann analog zur Lagrange-Funkti- LD .@ A /.@ A /  .@ A /.@ A /  j A :
8 c
on für eine Punktladung sofort mit j A =c angesetzt werden. (20.76)
Setzt man außerdem voraus, dass der „kinetische“ Term in der
Lagrange-Dichte proportional zum Quadrat der Feldstärken sein Frage 13
sollte, wie von der Energiedichte her bekannt, so können nur die Rechnen Sie den letzten Schritt explizit nach.
beiden Invarianten

F F  und F FQ  (20.71)


Teil II

aus (18.67) und (18.68) in der Lagrange-Dichte auftreten. Den 20.3 Das kovariante Noether-
zweiten Term kann man aber als eine totale Ableitung schrei-
ben; er kann deshalb zur Wirkung nur einen konstanten Beitrag
Theorem für Felder
liefern. (Außerdem ist er ein Pseudoskalar, ändert also unter
Raumspiegelungen sein Vorzeichen; die Maxwell-Gleichungen Aus der Mechanik (Abschn. 5.6) ist das Noether-Theorem be-
sind dagegen unter Raumspiegelungen invariant.) Für die La- kannt: Zu jeder kontinuierlichen Symmetrie der Wirkung gehört
grange-Dichte liegt somit folgender Ansatz nahe: jeweils eine Erhaltungsgröße. Man spricht von einer Symmetrie
der Wirkung, wenn die Bewegungsgleichungen unter einer Än-
1 derung der generalisierten Koordinaten invariant bleiben.
L D k  F F   j A : (20.72)
c
Hier soll nun gezeigt werden, wie man das Theorem auch für
Es bleibt dann nur noch die Konstante k zu bestimmen, z. B. aus Felder formulieren kann, und zwar direkt allgemein in kovari-
der Bedingung, dass die Euler-Lagrange-Gleichungen auf die anter Form. Als spezielle Anwendung wird dann die Energie-
Maxwell-Gleichungen führen müssen. und Impulserhaltung untersucht.

Frage 12 Frage 14
Wie sollte die kovariante Formulierung der Euler-Lagrange- Wie formuliert man allgemein die Erhaltung einer Größe, wenn
Gleichungen für Felder aussehen? auch ein Fluss dieser Größe berücksichtigt wird?

Die Euler-Lagrange-Gleichung lautet in kovarianter Formulie-


rung nun allgemein für beliebige Felder k : Herleitung des Theorems
@L @L
@  D 0: (20.73) Wir betrachten eine (infinitesimale) Änderung der Felder k,
@.@ k / @ k
von denen die Wirkung S abhängt:
Wendet man dies auf (20.67) an, so gewinnt man wieder die 0
Maxwell-Gleichungen (Aufgabe 20.2). Rein aus einfachen phy- k ! k D k C ı k: (20.77)
sikalischen Argumenten kann hier also die Form der Lagrange-
Dichte fast vollständig festgelegt werden.
Frage 15
Um die Euler-Lagrange-Gleichung anwenden zu können, müs- Überlegen Sie, um was sich die Lagrange-Dichte ändern kann,
sen wir die Lagrange-Dichte aber erst noch komplett durch die ohne dadurch die Bewegungsgleichungen zu ändern; denken Sie
Potenziale und deren Ableitungen ausdrücken. Setzt man den speziell an „Oberflächenterme“.
Zusammenhang

F  D @ A  @ A (20.74) Damit die Bewegungsgleichungen invariant sind, darf sich die


Lagrange-Dichte nur um eine Viererdivergenz ändern (diese
zwischen Feldstärketensor und Potenzialen ein, so wird die La- kann mithilfe des Gauß’schen Satzes in einen Oberflächenterm
grange-Dichte zunächst zu umgeschrieben werden, der nichts zur Wirkung beiträgt):

1   1 L ! L C ı L D L C @ J  (20.78)
LD .@ A  @ A / @ A  @ A  j A :
16 c
(20.75) mit einer Funktion J  .
20.3 Das kovariante Noether-Theorem für Felder 691

Andererseits kann man für die Änderung von L bei einer Ände-
rung der Felder auch schreiben: Die Änderung der Lagrange-Dichte kann man als
X @L X @L
ıL D ı C ı.@ ı L D @ L ıx (20.89)
k k /: (20.79)
k
@ k k
@.@ k /
schreiben. Somit ist
Zunächst gilt nun
J  D L ıx D  L ıx : (20.90)
ı.@ k / D @ .ı k /: (20.80)
Das Noether-Theorem (20.84) sagt daher aus, dass der
Außerdem kann man den ersten Term mit der Euler-Lagrange- folgende Strom erhalten ist:
Gleichung (20.73) ersetzen. Damit bekommt man insgesamt

Teil II
X @L

X @L

@L X @ k ıx   L ıx : (20.91)
ıL D @ ı
k C @ .ı k /: @.@ k /
k
@.@ k / k
@.@ k / k

(20.81) Da dies aber für beliebige Verschiebungen ıx gelten


Dies kann man mit der Produktregel zusammenfassen zu muss, folgt, dass der Tensor
X @L

X 
ı L D @ ı : @L
@.@ k /
k (20.82) T  D @ k   L (20.92)
k k
@.@ k /

Vergleichen wir dies mit (20.78), so muss erhalten ist. J


X @L

@ ı k D @ J  (20.83)
k
@.@ k / Auf diese Weise kann man den Energie-Impuls-Tensor für be-
liebige Felder aus der Lagrange-Dichte ableiten. Dies werden
gelten. Definiert man nun wir im Folgenden für die Elektrodynamik durchführen; dabei
werden wir allerdings sehen, dass sich noch einige Komplika-
X @L

tionen ergeben, die letztlich darauf zurückzuführen sind, dass
j D ı k  J ; (20.84) der so definierte Energie-Impuls-Tensor nicht eindeutig ist.
k
@.@ k /

ergibt sich schließlich

@ j D 0: (20.85)
Energie- und Impulserhaltung
in der Elektrodynamik
Das ist eine Kontinuitätsgleichung für den Strom j ; die zuge-
hörige Ladung ist also eine erhaltene Größe. Benutzen wir nun die Definition (20.92), um aus der Lagrange-
Dichte der Elektrodynamik die Energie-Impuls-Erhaltung her-
Der Energie-Impuls-Tensor zuleiten. Wir beschränken uns dabei auf den Fall ohne Quellen,
da sonst Energie und Impuls in den Feldern ja nicht erhalten
Aus der Mechanik (Abschn. 5.6) ist bekannt, dass die wären. Die inhomogenen Maxwell-Gleichungen ergeben hier
Energie- und Impulserhaltung aus der Invarianz der Wir-
kung bei zeitlichen bzw. räumlichen Verschiebungen @ F  D 0: (20.93)
folgen. Betrachten wir solch eine infinitesimale Verschie-
bung:
Zunächst benötigen wir die Ableitungen der Lagrange-Dichte
x ! x C ıx : (20.86)
nach den Ableitungen der Potenziale. Wie in Aufgabe 20.2 ge-
Die Änderung der Felder ergibt sich aus zeigt wird, ist
@L 1
  D  F  : (20.94)
k .x / ! k .x C ıx / D 
k .x / C @ 
k .x /ıx ; @.@ A / 4
(20.87)
also Der erste Summand in (20.92) ist also

ı k D@ k ıx : (20.88) 1  
 F @ A : (20.95)
4
692 20 Lagrange- und Hamilton-Formalismus in der Elektrodynamik

Für die Lagrange-Dichte selbst verwenden wir nun die Darstel- Da sich die beiden Tensoren nur um eine Ableitung unter-
lung (20.67), wobei j D 0 gesetzt wird. Insgesamt erhalten scheiden, folgt außerdem, dass die Volumenintegrale über die
wir Tensorelemente (d. h. die gesamte Energie und der gesamte
Impuls in den Feldern und die zugehörigen Flüsse) jeweils den-
T  D 
1  
F @ A C
1 
 F F  : (20.96) selben Wert ergeben. Man kann somit statt T  genauso gut
4 16 den Tensor TQ  verwenden.
Stellt man allerdings die naheliegende Forderung, dass der
Dieses Ergebnis stimmt aber nicht mit dem Energie-Impuls- Energie-Impuls-Tensor symmetrisch in den Indizes sein soll
Tensor überein, den wir bereits in Abschn. 18.4 hergeleitet ha- (dies ist unter anderem auch für die Drehimpulserhaltung wich-
ben! Einerseits erkennt man das sofort daran, dass der Tensor tig; Jackson 2006), so erhält man ein eindeutiges Ergebnis.
T  hier nicht symmetrisch bezüglich der beiden Indizes ist; Speziell für die Elektrodynamik kann man zeigen (Aufgabe
andererseits kann man auch eine Komponente des Tensors ex- 20.5), dass die Wahl
Teil II

plizit berechnen. Beispielsweise ist


1  
1 1 00 t 
D F A (20.101)
T 00
D  F 0 @0 A C  F F  4
4 16
(20.97)
1  2  auf den bekannten symmetrischen Energie-Impuls-Tensor
D EAP 1 E  B2 ;
4 c 8  
 1   1  
T D F F   F F (20.102)
was offensichtlich nicht mit der bekannten elektromagnetischen 4 4
Energiedichte übereinstimmt (aber mit (20.54)).
führt (nun wieder mit T statt mit TQ geschrieben). Zur Unter-
Frage 16 scheidung wird der obige Tensor (20.96) manchmal auch als
Vollziehen Sie die Berechnung von T 00 nach. kanonischer Energie-Impuls-Tensor bezeichnet.
Abschließend soll noch eine naheliegende Frage angesprochen
Wie in Abschn. 20.2 können wir dies allerdings noch umschrei- werden: Welcher der beiden Energie-Impuls-Tensoren ist denn
ben; wieder sieht man, dass sich der hier erhaltene Ausdruck nun der „richtige“, gibt also die tatsächlich vorhandenen Ener-
von der Energiedichte des elektromagnetischen Feldes nur um gie- und Impulsdichten wieder?
einen Oberflächenbeitrag unterscheidet, der zur Gesamtenergie Auf den ersten Blick scheint der symmetrische Energie- und
nicht beiträgt. Obwohl sich für T 00 hier ein anderer Ausdruck Impulstensor dies zu erfüllen – nicht nur, weil er mit dem
ergibt als für die bekannte elektromagnetische Energiedichte, bereits vorher hergeleiteten Ergebnis übereinstimmt, sondern
erhält man für die gesamte Energie in den Feldern somit den- auch, weil er im Gegensatz zum kanonischen eichinvariant ist.
noch denselben Wert! Man kann prinzipiell allerdings auch zu diesem noch eichinva-
riante symmetrische totale Ableitungsterme der Form .  
Dies hängt eng damit zusammen, dass der Energie-Impuls-Ten-
@ @ /f hinzuaddieren, die trivial erhalten sind und auch nicht
sor nicht eindeutig definiert ist: Betrachtet man den Ausdruck
Gesamtenergie und -impuls in den Feldern ändern.
TQ  D T  C @ t 
; (20.98) Letztlich entscheidbar ist die Frage erst im Rahmen der allge-
meinen Relativitätstheorie: Bei dieser geht der Energie-Impuls-
wobei der Tensor dritter Stufe t 
antisymmetrisch in den In- Tensor in die Feldgleichungen als Quellterm ein, sodass die
dizes  und  ist, so hat man Energie- und Impulsdichten selbst direkte physikalische Bedeu-
tung bekommen. Dort stellt sich dann heraus, dass der hier (und
@ @ t 
D 0; (20.99) früher schon) konstruierte symmetrische Tensor tatsächlich der
physikalisch sinnvolle ist.
da die Ableitungen vertauschbar sind, und deswegen Andererseits hat auch der kanonische Tensor eine gewisse Be-
rechtigung: Wir haben in diesem Kapitel ja bereits gesehen, dass
@ TQ  D @ T  : (20.100) im kanonischen Impuls für die Bewegung eines Teilchens das
Vektorpotenzial auftaucht. Wie sich herausstellt, spielen gerade
Aus der Erhaltung von T  folgt also die Erhaltung von TQ  – diese kanonischen Größen in der Quantenmechanik trotz ihrer
und umgekehrt. Eichabhängigkeit eine fundamentale Rolle (Kap. 29).
So geht’s weiter 693

So geht’s weiter
Eichfeldtheorien Felder führt, komplexwertig ist, werden ganz allgemein Quan-
tenfelder, die elektrisch geladene Materie beschreiben, durch
Wie wir gesehen haben, erlaubt es die Lagrange’sche For- komplexwertige Felder .x/ dargestellt. Deren Phase bleibt da-
mulierung der Elektrodynamik, über ein Wirkungsprinzip die bei aber lokal unbeobachtbar, sodass beispielsweise nur das
zugrunde liegenden Symmetrien manifest zu machen und über Betragsquadrat  physikalische Bedeutung hat und in der
das Noether-Theorem die damit verbundenen Erhaltungsgrößen Lagrange-Dichte auftritt. Ein invarianter kinetischer Term kann
zu bestimmen. (für skalare komplexwertige Felder) mithilfe der kovarianten
Eine weitere Symmetrie, die allerdings nicht zu weiteren Erhal- Ableitung z. B. durch
tungsgrößen führt, ist dabei die Eichinvarianz der elektroma-

Teil II
gnetischen Potenziale, die merkwürdigerweise unumgänglich ŒD .A/  D .A/ (20.106)
waren, um eine Lagrange-Dichte, die Ankopplung von Vierer-
aufgestellt werden, wobei unter einer Eichtransformation nun
stromdichten und die zugehörigen Euler-Lagrange-Gleichungen
gleichzeitig
zu formulieren. Immerhin sind in der Maxwell-Theorie die
elektromagnetischen Potenziale zunächst reine Hilfsgrößen, die A .x/ ! A .x/ C @ .x/; (20.107)
noch dazu uneindeutig sind, da sie nur bis auf Eichtransforma- q
i „c .x/
tionen .x/ ! e .x/ (20.108)
A ! A C @  (20.103)
transformiert wird.
festgelegt sind. Zu dieser Transformation gibt es nun allerdings eine nichttrivia-
Die Invarianz der Wirkung le globale Form, denn wenn .x/ D const gesetzt wird, wird
.x/ einer globalen Phasentransformation unterworfen (wäh-
Z
rend die A -Felder untransformiert bleiben). Dazu gehört auch
S D L.A ; @ A / d4 x (20.104)
eine Erhaltungsgröße gemäß dem Noether-Theorem: die elek-
trische Ladung! Diese stellt sich also als verbunden mit der
unter Eichtransformationen stellt eine lokale Symmetrietrans- Invarianz unter einer Transformation mit einer Phase, d. h. einer
formation dar – der Transformationsparameter ist hier ein Feld, unimodularen Zahl, heraus. Die damit verbundene Symmetrie-
nämlich .x/. Das Noether-Theorem verknüpft allerdings glo- gruppe kann damit mathematisch als U(1), die Gruppe der
bale Symmetrien mit Erhaltungsgrößen, nicht lokale. Die Be- unitären eindimensionalen Matrizen, identifiziert werden. Die
deutung der lokalen Symmetrie ist zunächst nur, dass hier eine Quantenelektrodynamik ist damit eine Eichtheorie, die eine glo-
Redundanz der dynamischen Variablen, der Eichpotenziale A , bale U(1)-Symmetrie zu einer lokalen Symmetrie erweitert. (Im
vorliegt. Rahmen der nichtrelativistischen Quantenmechanik wird diese
Diese lokale Symmetrie stellt sich aber als unverzichtbar her- Symmetrie in Kap. 29 noch ausführlich diskutiert werden.)
aus, um lokale Feldgleichungen aufstellen zu können, wenn das Bemerkenswerterweise folgen alle bisher bekannten fundamen-
elektromagnetische Feld über ein Wirkungsprinzip an geladene talen Wechselwirkungen von Elementarteilchen diesem Schema
Punktteilchen in minimaler Weise entsprechend (20.39) gekop- einer Eichfeldtheorie, allerdings mit komplizierteren, nämlich
pelt werden soll. nichtabelschen Symmetriegruppen, bei denen Transformationen
In der Quantenfeldtheorie werden Elementarteilchen durch in ihrer Reihenfolge nicht vertauschbar sind. Diese 1954 ent-
Quantenfelder beschrieben, denen ebenfalls eine Beschreibung deckten Yang-Mills-Theorien (benannt nach Chen-Ning Yang,
durch eine Lagrange’sche Feldtheorie zugrunde liegt. Das elek- *1922, und Robert Mills, 1927–1999) blieben zunächst unbe-
tromagnetische Feld wird dabei zu einem Quantenfeld der achtet und unverstanden, bis sie in den 1960er-Jahren eine Rolle
Photonen. Materieteilchen wie die Elektronen werden durch so- bei der Aufstellung des Standardmodells der Teilchenphysik
genannte Dirac-Felder beschrieben, manche Elementarteilchen zu spielen begannen, und erlangten insbesondere nach grund-
wie Pionen, die keinen Spin haben, durch einfachere Skalarfel- legenden Arbeiten von Gerard ’t Hooft (*1946) und Martinus
der. Die minimale Ersetzung p ! p  qc A für geladene Veltman (*1931), für die sie 1999 den Nobelpreis erhielten, ihre
Teilchen (20.39) wird dabei durch den Übergang von gewöhnli- zentrale Rolle.
chen Ableitungen zu (eich-)kovarianten Ableitungen Wir haben in der bisherigen klassischen Physik schon zwei
q  Beispiele für nichtabelsche Symmetriegruppen kennengelernt:
@ ! D .A/ D @ C i A (20.105) die Drehgruppe in drei Dimensionen, SO(3), und die Lorentz-
„c
Gruppe, SO(3,1). In der Teilchenphysik treten zwei weitere
realisiert, was damit zusammenhängt, dass in der Quantenme- nichtabelsche Gruppen auf: die auch in der nichtrelativistischen
chanik Impulse durch Ableitungsoperatoren dargestellt werden: Quantenmechanik wichtige Gruppe der unitären zweidimensio-
p ! i„@ , wie in Teil III gezeigt wird. Da die kovariante nalen Matrizen, SU(2), und die der unitären dreidimensionalen
Ableitung, die zur minimalen Kopplung an elektromagnetische Matrizen, SU(3).
694 20 Lagrange- und Hamilton-Formalismus in der Elektrodynamik

Letztere bilden die Symmetriegruppe der Quantenchromodyna- schen Ausdruck des (ebenfalls matrixwertigen) Tensors F
mik, die die Theorie der starken Kernkraft darstellt, während die gebildet wird, nämlich
Gruppe SU(2) bei der schwachen Kernkraft eine grundlegende
Rolle spielt, allerdings in etwas kompliziertem Wechselspiel mit L / Sp.F F  /; (20.110)
der Elektrodynamik und einem durch das 2012 entdeckte Higgs-
Teilchen verursachten spontanen Symmetriebrechung. ist dann nicht mehr bilinear in den Eichpotenzialen, sondern ent-
Das Prinzip einer nichtabelschen Eichfeldtheorie lässt sich da- hält auch tri- und quadrilineare Terme, die zu entsprechenden
her etwas übersichtlicher anhand der Quantenchromodynamik Selbstwechselwirkungen der Eichquanten gehören.
darstellen. Deren fundamentale Ladungsträger sind dabei die Die Nichtlinearität der Feldgleichungen (nichtabelsche Max-
sogenannten Quarks, die nun drei Arten von Ladungen tragen well-Gleichungen) macht Yang-Mills-Theorien extrem schwie-
können, entsprechend der Dimensionalität der SU(3)-Matrizen. rig zu behandeln. Sie sind auch Gegenstand eines der vom Clay
Teil II

Diese Ladungen werden Farbladungen genannt und z. B. mit Mathematics Institute formulierten Millennium Prize Problems,
den Bezeichnungen rot, grün und blau durchgezählt. Durch die für die jeweils 1 Million US-Dollar ausgelobt sind. Eine bis-
lokale Eichinvarianz haben diese Farben aber keine unabhängi- lang nur mit Computersimulationen bestätigte Eigenschaft ist
ge Bedeutung, sondern können durch SU(3)-Transformationen die des Confinement von Farbladungen in Bindungszuständen
weitgehend beliebig ineinander übergeführt werden, wobei aber von Quarks und Gluonen, die immer farbneutral sind. Es stellt
matrixwertige Eichfelder mitzutransformieren sind. sich dabei heraus, dass es unmöglich ist, ein einzelnes Quark aus
Es gibt nun so viele Eichfelder, wie es unabhängige Eich- einem solchen Bindungszustand (Hadron) herauszureißen. Die
parameter gibt. Bei der Drehgruppe waren das etwa die drei dafür notwendige Energie produziert immer Quark-Antiquark-
Drehwinkel. Bei der Gruppe SU(3) gibt es dagegen acht solche Paare, die sofort neue Bindungszustände ergeben. Tatsächlich
Parameter und dementsprechend acht nichtabelsche Eichpoten- konnten noch keine Quarks isoliert werden, die übrigens neben
ziale. Statt eines Photons gibt es nun acht Gluonen, welche die ihrer Farbladung elektrische Ladungen tragen, die 1=3 und 2=3
Wechselwirkungen zwischen den Quarks vermitteln. der Elementarladung e ausmachen.
Eine Besonderheit von nichtabelschen Eichfeldern ist nun, dass Das Konzept der Eichtheorien hat sich als ungemein fruchtbar
sie selbst Ladungen tragen und daher untereinander wechsel- in der theoretischen Teilchenphysik erwiesen, und alle Grund-
wirken können. Dies lässt sich folgendermaßen verstehen: So kräfte können soweit bekannt darauf zurückgeführt werden.
wie in der Elektrodynamik wird die Lagrange-Dichte der nicht- Man vermutet außerdem, dass die Eichgruppe des gegenwärti-
abelschen Eichfelder durch das Quadrat des Feldstärketensors gen Standardmodells der Teilchenphysik, U(1)SU(2)SU(3),
gebildet. In der Elektrodynamik kann dieser abgesehen von in wesentlich größere Symmetriegruppen wie z. B. SU(5) oder
einem Vorfaktor als Kommutator von zwei (eich-)kovarianten SO(10) eingebettet werden kann (Grand Unified Theories).
Ableitungen dargestellt werden: Auch die Gravitation, wie sie durch Einsteins allgemeine Relati-
vitätstheorie beschrieben wird, kann in einem gewissen Sinn als
ŒD .A/; D .A/  D .A/D .A/  D .A/D .A/ (20.109) eine Eichtheorie verstanden werden, nämlich als eine Theorie
q q mit lokaler Invarianz unter Koordinatentransformationen (Dif-
D i .@ A  @ A / D i F : feomorphismen). Das Eichfeld ist hier durch die Metrik des
„c „c
gekrümmten Raumes bzw. durch die zugehörigen Christoffel-
In nichtabelschen Eichtheorien sind aber die Eichpotenziale Ma- Symbole gegeben; der zugehörige Feldstärketensor ist ebenfalls
trizen, und es gibt einen zusätzlichen Term ŒA ; A , der in F darstellbar über den Kommutator von kovarianten Ableitungen,
enthalten ist. Die Lagrange-Dichte, die durch einen quadrati- was auf den Riemann’sche Krümmungstensor führt.
Aufgaben 695

Aufgaben

Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen

Teil II
20.1 Lagrange-Funktion(en) für Punktladung 20.4 Noether-Theorem für relativistische Punkt-
teilchen
(a) Leiten Sie aus der Lagrange-Funktion (20.35) in kovarianter
Formulierung die Bewegungsgleichung für eine Punktla-
(a) Leiten Sie das Noether-Theorem für relativistische Punkt-
dung her (also die Lorentz-Kraft).
teilchen her: Ändert sich unter einer infinitesimalen Ver-
(b) Wie ändert sich die Wirkung (20.34) unter einer differenzier-
schiebung der Raum-Zeit-Koordinaten ıx die Lagrange-
baren Reparametrisierung  ! 0 , wobei 0 streng monoton
Funktion (20.27) nur um eine totale Ableitung nach dem
mit  zunimmt?
Bahnparameter,
(c) Es wäre naheliegend, im kinetischen Term in (20.27) das
d Q
c2 durch u u zu ersetzen, sodass nach der Ersetzung von ı LQ D Q; (20.111)
u durch uQ  in der Lagrange-Funktion (20.35) schließlich d
mQu uQ  stehen würde. Welche Auswirkung hätte dies auf so ist
die Bewegungsgleichung? Wie ändert sich die Wirkung nun @LQ  Q
unter einer Reparametrisierung  ! 0 ? QD ıx  Q (20.112)
@Qu
Lösungshinweis: (a), (c) Verwenden Sie die Euler-Lagrange- eine Erhaltungsgröße, d. h., die Ableitung dieser Größe nach
Gleichung (20.37); nach Berechnen der Ableitungen von LQ set-  verschwindet.
zen Sie, wie im Kapiteltext beschrieben, d D d. (b) Begründen Sie damit für die Lagrange-Funktion (20.35)
20.2 Lagrange-Dichte(n) für elektromagnetisches einer Punktladung im elektromagnetischen Feld: Sind die
Feld Potenziale A invariant unter der Verschiebung ıx D b
mit einem konstanten Vierervektor b (sind sie also räum-
(a) Leiten Sie die Maxwell-Gleichungen aus der Lagrange- lich und zeitlich konstant), so bleibt der Viererimpuls der
Dichte (20.76) her. Punktladung erhalten.
(b) Ersetzen Sie den „kinetischen“ Term F F  =.16 / in
der Lagrange-Dichte (20.67) durch .@ A /.@ A /=.8 /.
(1) Unter welchen Voraussetzungen ergeben sich dennoch Lösungshinweis:
die Maxwell-Gleichungen?
(2) Unter welchen Voraussetzungen ändert sich die Lagran- (a) Die Rechnung läuft analog zur Herleitung des Noether-
ge-Dichte nur um eine totale Ableitung? Theorems für relativistische Felder.
Q D 0 wählen kann.
(b) Begründen Sie zunächst, dass man hier Q
Lösungshinweis: (a) Verwenden Sie (20.73).
20.3 Eichinvariant? 20.5 Kanonischer und symmetrischer Energie-Im-
(a) Die Lagrange-Funktion (20.35) und puls-Tensor Zeigen Sie: Durch Addition von @ t  mit
(b) die Lagrange-Dichte (20.67)
1  
sind zwar offensichtlich kovariant, aber nicht invariant unter t 
D F A (20.113)
4
Eichtransformationen. Zeigen Sie dies und begründen Sie je-
weils, dass Eichtransformationen dennoch keinen Einfluss auf gewinnt man aus dem kanonischen Energie-Impuls-Tensor
die Bewegungsgleichungen haben. (20.96) den symmetrischen Tensor (20.102).
696 20 Lagrange- und Hamilton-Formalismus in der Elektrodynamik

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben

20.1 also mit der Kettenregel


 
(a) Die Lagrange-Funktion ist d @LQ d du q @x
D m  .@ A
  /
p q d @Qu d d c @ (20.123)
Q  ; uQ  / D mc uQ  uQ   uQ  A :
L.x (20.114) d  q 

c D ma  .@ A /u :
d c
Zunächst folgt
Teil II

Die Euler-Lagrange-Gleichung (20.37) ergibt dann


@LQ q d  q q 

D  uQ  .@ A /; ma  .@ A /u C u .@ A / D 0;
@x c d c c
(20.115)
@LQ mc @.Qu uQ  / q (20.124)
D  p  A ; also
@Qu 2 uQ  uQ  @Qu c
q    q
wobei im ersten Term die Kettenregel benutzt wurde. Es ma D @ A  @ A u D F  u : (20.125)
c c
bleibt die Ableitung von uQ  uQ  nach uQ  zu berechnen. Da-
Dies ist die bekannte Bewegungsgleichung für eine Punkt-
für schreiben wir den Term zunächst um:
ladung im elektromagnetischen Feld in kovarianter Schreib-
uQ  uQ  D ˛ˇ uQ ˛ uQ ˇ : (20.116) weise.
(b) Ausführlich geschrieben ist die Wirkung (20.34)
Bei der Ableitung dieses Terms ist die Produktregel anzu- Z r !
wenden, und man muss berücksichtigen, dass dx dx q dx 
S D d mc  A : (20.126)
d d c d
@Qu 
D ı (20.117)
@Qu Unter der Reparametrisierung  ! 0 wird dies zu
Z
ist. Damit ergibt sich d 0
SD d
  d0
@.Qu uQ  / @.Qu˛ uQ ˇ / r !
˛ ˇ

D ˛ˇ 
D ˛ˇ ı uQ C uQ ˛ ı
ˇ
dx d0 dx d0 q dx d0 
@Qu @Qu  mc  A
˛ ˇ d0 d d0 d c d0 d
D ı uQ ˛ C uQ ˇ ı D 2Qu ; (20.118) !
Z r
0 dx dx q dx 
und es folgt D d mc  A : (20.127)
d0 d0 c d0
@LQ mcQu q
D p  A : (20.119) Die Wirkung hat nach der Reparametrisierung also genau
@Qu uQ  uQ  c dieselbe Form wie davor. Man spricht von einer Reparame-
Setzt man nun  D , also trisierungsinvarianz der Wirkung.
Die Forderung, dass 0 streng monoton und differenzierbar
d mit  zunimmt, stellt hier sicher, dass die Ableitungen von
uQ  D u ; (20.120)
d  nach 0 und umgekehrt überall existieren und positiv sind.
(c) Die Ableitung von LQ nach uQ  würde dann
kann man unter der Wurzel u u D c2 benutzen. Damit hat
man q d q
 2mQu  A D 2mu  A (20.128)
@LQ q d c d c

D u .@ A /;
@x c d (20.121) ergeben. An der Ableitung von LQ nach x würde sich nichts
@LQ q ändern. Offensichtlich erhält man damit nicht die richtige
D mu   A :
@Qu c Bewegungsgleichung.
Weiter berechnet man Der kinetische Teil der Wirkung würde sich außerdem unter
der Reparametrisierung folgendermaßen verhalten:
d @LQ d d @LQ Z  
D d 0 dx d0 dx d0
d @Qu  @Qu
d d 
 SD d m ; (20.129)
d du q dA .x .//
(20.122) d0 d0 d d0 d
D m  ;
d d c d wäre also nicht invariant.
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 697

20.2 gelten. Dies kann durch eine geeignete Eichtransformati-


on natürlich immer erreicht werden. (Dass Eichtransfor-
(a) Die Lagrange-Dichte ist mationen zu keiner Änderung der Bewegungsgleichun-
gen führen, wird in Teilaufgabe 20.3b gezeigt.)
1   1 (2) Die geänderte Lagrange-Dichte unterscheidet sich von
LD .@ A /.@ A /  .@ A /.@ A /  j A :
8 c der ursprünglichen um den Summanden
(20.130)
Für die Ableitung nach dem Viererpotenzial selbst hat man 1
.@ A /.@ A /: (20.140)
8
@L 1
D j : (20.131)
@A c Das kann mittels der Produktregel auch als

Bei der Ableitung nach Ableitungen des Vektorpotenzials 1  


@ .A @ A /  A @ @ A

Teil II
muss man, wie bei der Ableitung von u u in Aufgabe 20.1, (20.141)
8
die Produktregel beachten. Dabei schreibt man die Produkte
wieder zunächst mithilfe der Metrik und benutzt geschrieben werden. Der erste Summand ist eine tota-
le Ableitung; sein Beitrag zur Wirkung kann mithilfe
@.@ A / des Gauß’schen Satzes in ein Oberflächenintegral umge-
D ı ı  : (20.132)
@.@  A / schrieben werden. Er verschwindet also, wenn die Felder
hinreichend rasch abfallen. Der zweite Summand ver-
Man erhält dann insgesamt schwindet genau dann, wenn @ @ A = 0 ist; man erhält
somit dieselbe Bedingung wie in (1).
@L 1

D .2@  A  2@ A /
@.@ A / 8
20.3 Eine allgemeine Eichtransformation hat bekanntlich die
1 1 Form
D .@ A  @ A / D  F :
4 4 A ! A C @  (20.142)
(20.133)
Eingesetzt in die Euler-Lagrange-Gleichung (20.73) ergibt mit einer beliebigen skalaren Funktion .
dies sofort die inhomogenen Maxwell-Gleichungen in kova-
rianter Form (a) Der kinetische Term ändert sich unter der Eichtransformati-
4
@  F D j : (20.134) on offensichtlich nicht. Der potenzielle Term dagegen ändert
c sich:
Definiert man außerdem wie üblich q q q  
 uQ  A !  uQ  A  uQ  @  x ./ ; (20.143)
1  c c c
FQ  D  
F ; (20.135)
2 also ändert sich die Lagrange-Funktion um den zweiten
Summanden.
so folgen auch die homogenen Maxwell-Gleichungen sofort Dieser kann aber auch geschrieben werden als
aus der Antisymmetrie von :
q d   
@ FQ  D 0: (20.136)   x ./ : (20.144)
c d
(b) (1) Mit denselben Rechenschritten wie in Teilaufgabe (a) er- Die Wirkung ändert sich damit um
hält man nun
Z 2
@L 1 1 1 q d q
D  @ A D  F  @ A ;  .x .//d D  .x .// 2
; (20.145)

@.@ A / 4 4 4 c d c 1

(20.137) 1

die Ableitung nach den Potenzialen selbst bleibt gleich.


also um eine Konstante. Damit hat eine Eichtransformation
Aus der Euler-Lagrange-Gleichung folgt dann
letztlich keinen Einfluss auf die Bewegungsgleichungen.
4 (b) Der Feldstärketensor F  ist invariant unter einer Eichtrans-
@  F C @ @ A D j : (20.138) formation, wie man leicht zeigt:
c
Man erhält aus dieser abgeänderten Lagrange-Dichte al- F  D @ A  @ A
(20.146)
so nur dann die Maxwell-Gleichungen, wenn @ @ A D ! @ A C @ @   @ A  @ @ :
0 ist, d. h., es muss
Die Terme mit den Ableitungen von  heben sich gegensei-
@ A D const (20.139) tig weg, also bleibt nur @ A  @ A D F  übrig. Damit
698 20 Lagrange- und Hamilton-Formalismus in der Elektrodynamik

ist der erste Summand in der Lagrange-Dichte invariant un- (b) Zunächst folgt für ıx D b mit einem konstanten Vektor
ter Eichtransformationen. b sofort, dass ı uQ  D 0 ist. Damit haben wir also
Der Wechselwirkungsterm dagegen ändert sich:
@LQ  @LQ @LQ
ı LQ D 
ıx C  ı uQ  D  ıx : (20.157)
1 1 1
 j A !  j A  j @ ; (20.147) @x @Qu @x
c c c p
Da der kinetische Term mc uQ  uQ  von x unabhängig ist
also ändert sich die Lagrange-Dichte unter einer Eichtrans- und nach Voraussetzung A räumlich und zeitlich konstant
formation. Die Wirkung ändert sich dadurch um ist, folgt
Z ı LQ D 0: (20.158)
1
 j @  d4 x: (20.148) Die Lagrange-Funktion ändert sich unter dieser Transforma-
c
Q D 0 wählen. Andererseits ist
tion nicht; also können wir Q
Teil II

Schreiben wir dies zunächst mit der Produktregel um in


Z @LQ q
1    D mu  A (20.159)
 @ .j /  .@ j / d4 x: (20.149) @Qu c
c (siehe Aufgabe 20.1); somit folgt aus dem Noether-Theorem
Der zweite Summand verschwindet wegen der Kontinui- insgesamt, dass
tätsgleichung @ j D 0. Der erste dagegen kann mit dem  q 
Gauß’schen Satz in ein Oberflächenintegral umgewandelt mu  A b (20.160)
c
werden und liefert deshalb nur einen konstanten Beitrag zur
Wirkung, der wieder keinen Einfluss auf die Bewegungsglei- eine Erhaltungsgröße ist. Dies gilt für jeden Vektor b , da-
chungen hat. her ergeben sich die vier Erhaltungsgrößen
q q
 mu  A D p  A : (20.161)
20.4 c c
Das Viererpotenzial A wurde aber als räumlich und zeitlich
(a) Es gilt konstant vorausgesetzt – also ist auch der Viererimpuls p
@LQ  @LQ
ı LQ D ıx C ı uQ  : (20.150) für sich genommen schon zeitlich konstant und damit eine
@x @Qu Erhaltungsgröße.
Benutzt man nun Dieses Ergebnis ist letztlich trivial: Konstantes A heißt na-
  türlich verschwindende Feldstärken E und B. Somit wirken
 d  d  keine Kräfte, und der Viererimpuls ist konstant.
ı uQ D ı x D ıx (20.151)
d d
und die Euler-Lagrange-Gleichung (20.37), so wird dies zu 20.5 Wir haben zu zeigen:
! 1   1  1  
   F @ A C  F F  C @ F  A
d @LQ @LQ d 
Q
ıL D ıx
C ıx : (20.152) 4  16 4
d @Qu @Qu d 1 1
D F  F    F F  : (20.162)
4 4
Mit der Produktregel vereinfacht sich dies zu
! Die jeweils zweiten Summanden auf beiden Seiten stimmen be-
d @LQ  reits überein; es bleibt nur noch
Q
ıL D ıx : (20.153)
d @Qu  
F  @ A  @ F  A D F  F  (20.163)
Also muss !
d @LQ  d Q zu zeigen. Im zweiten Summanden auf der linken Seite kann
ıx D Q (20.154) man nun die Produktregel verwenden. Die Ableitung des Feld-
d @Qu d stärketensors verschwindet wegen der vorausgesetzten Quellen-
gelten und somit freiheit, also haben wir noch
! F  @ A  F  @ A D F  F  : (20.164)
d @LQ  Q
ıx  Q D 0: (20.155) Im ersten Summanden wird nun der Index umbenannt, außer-
d @Qu
dem werden die Positionen vertauscht:
Damit ist
@LQ F  @ A  F  @ A D F  F  : (20.165)
Q
Q D  ıx  Q (20.156)
@Qu Nach Ausklammern von F  erhält man auch auf der linken
eine Erhaltungsgröße. Seite schließlich F  F  , was zu zeigen war.
Literatur 699

Literatur

Jackson, J.D.: Klassische Elektrodynamik. 4. Aufl. De Gruyter,


Berlin (2006)

Teil II
Quantenmechanik Teil III

Teil III
Inhaltsverzeichnis

21 Die Entstehung der Quantenphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703


22 Wellenmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729
23 Formalismus der Quantenmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761
24 Observablen, Zustände und Unbestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . 795
25 Zeitentwicklung und Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 823
26 Eindimensionale Quantensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 849
27 Symmetrien und Erhaltungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889
28 Zentralkräfte – das Wasserstoffatom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919
29 Elektromagnetische Felder und der Spin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 947
30 Störungstheorie und Virialsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 971
31 Mehrteilchensysteme und weitere Näherungsmethoden . . . . . . . .1005
32 Streutheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1045

701
Die Entstehung der
Quantenphysik
21
Warum ändert glühendes
Eisen die Farbe bei
Temperaturänderung?

Besteht Licht aus Wellen


oder Teilchen?

Warum verschmelzen die


Elektronen nicht mit den
Atomkernen?

Was ist der tiefere Grund


für die Unschärferelation?

Teil III
21.1 Probleme der klassischen Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704
21.2 Hohlraumstrahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 706
21.3 Lichtquanten und Materiewellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 708
21.4 Quantisierungsregeln von Bohr und Sommerfeld . . . . . . . . . . . . 716
21.5 Emission, Absorption und Einstein-Koeffizienten . . . . . . . . . . . . . 719
21.6 Der Spin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 726
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_21, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 703
704 21 Die Entstehung der Quantenphysik

Ein Verständnis der modernen Naturwissenschaften ist ohne Kennt- sind dann durch die deterministischen Newton’schen Gleichun-
nis der Quantenmechanik, deren Grundgleichungen das Verhalten gen vollständig bestimmt.
mikroskopischer Objekte beschreibt, unmöglich. Ohne Quantenme-
Die Korpuskulartheorie der Materie wurde zunächst auf die
chanik gäbe es kein Verständnis der Eigenschaften von Molekülen,
Mechanik der Himmelskörper und auf makroskopische feste
Atomen und Atomkernen, Halbleitern, Lasern oder Elementarteil-
Körper angewandt. Nach der Atomhypothese der Chemiker An-
chen, und ohne Quantenmechanik könnten wir auch nicht begrei-
toine de Lavoisier, Joseph Proust, Joseph Gay-Lussac und John
fen, warum die Sonne schon mehrere Milliarden Jahre Energie
Dalton wurde sie auch zur grundlegenden Theorie der Materie
ausstrahlt. Die Quantentheorie darf wohl zu Recht als eine der größ-
im mikroskopischen Bereich. Inspiriert von dem Gesetz über die
ten naturwissenschaftlichen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts
Volumenverhältnisse reagierender Gase stellte Amedeo Avoga-
angesehen werden – revolutionär und von großem praktischen Nut-
dro (1776–1856) im Jahre 1811 seine berühmte Hypothese auf,
zen.
dass bei fester Temperatur T und festem Druck p gleiche Volu-
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ergaben sich in der Physik grund- mina von Gasen jeweils die gleiche Anzahl Moleküle enthalten,
legende Umwälzungen, die schließlich zur Relativitätstheorie und unabhängig von deren chemischer Zusammensetzung. Bezeich-
Quantenmechanik führten. Auf der atomaren bzw. subatomaren net v das molare Volumen, dann ist pv =kB T gegeben durch die
Skala werden die klassischen Gesetze durch die Gesetze der Avogadro-Konstante
Quantenmechanik abgelöst, und von diesen Gesetzen und ihren
Anwendungen handelt der dritte Teil des Buches. Viele atomare NA D 6;022 141 29.27/  1023 Mol1 : (21.1)
und molekulare Vorgänge werden bereits durch die nichtrelativis-
tische Quantenmechanik erklärt, und auf diese werden wir uns Diese Konstante spielt in Kap. 33 eine wichtige Rolle.
im Folgenden beschränken. Dieses Kapitel beschreibt die Entste- Ende des 19. Jahrhunderts brachten James Clerk Maxwell und
hung der Quantenmechanik. Besondere Beachtung findet dabei das Ludwig Boltzmann (1844–1906) die kinetische Theorie der Ga-
Planck’sche Gesetz für die Hohlraumstrahlung, der Welle-Teilchen-
Teil III

se, nach der die Temperatur mit der Bewegung der Atome
Dualismus und einige wichtige Experimente, die schon früh Proble- korreliert ist, zu einem gewissen Abschluss. Darin berech-
me der klassischen Physik offenbarten. nen sich makroskopische Größen wie Temperatur und Druck
als Mittelwerte von etwa NA mikroskopischen Freiheitsgraden.
Die entstehende statistische Mechanik beschränkt sich auf die
Berechnung von Mittelwerten und versucht nicht, die mikro-
21.1 Probleme der klassischen skopische Dynamik analytisch zu lösen. Diese Theorie wird in
Physik Teil IV ausführlich behandelt. Aufgrund der Untersuchung der
Brown’schen Bewegung von feinen Teilchen in Flüssigkeiten
oder Gasen wurde die reale Existenz von Atomen und Mole-
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts schien die Physik zu einem külen dann endgültig akzeptiert. Albert Einstein (1879–1955,
gewissen Abschluss gekommen zu sein. Dies geht aus dem Nobelpreis 1921 für die Deutung des Photoeffekts mithilfe
folgenden Zitat von Albert Michelson (1851–1931, Nobelpreis der Lichtquantenhypothese) und Marian Smoluchowski (1872–
1907 für seine optischen Präzisionsinstrumente) hervor: 1917) zeigten 1905, wie die Brown’sche Bewegung mithilfe
Die wichtigsten Grundgesetze und Grundtatsachen der statistischer Bewegungsgesetze Rückschlüsse auf die Moleküle
Physik sind alle schon entdeckt, und diese haben sich bis erlaubt. Zum Beispiel konnte auf diese Art die Avogadro’sche
jetzt so fest bewährt, dass die Möglichkeit, sie wegen neu- Zahl bestimmt werden.
er Entdeckungen beiseite zu schieben, außerordentlich
fern zu liegen scheint [. . .] Unsere künftigen Entdeckun-
gen müssen wir in den 6. Dezimalen suchen (Michelson
1903).
Strahlung
Am Ende der klassischen Periode bestand das Universum aus Isaac Newton versuchte, die Eigenschaften des Lichtes durch
Materie und Strahlung, wie sie durch die in den ersten bei- eine Korpuskulartheorie zu erklären. Die etwa zur selben Zeit
den Teilen des Buches vorgestellten Gesetze von Isaac Newton entwickelte Huygens’sche Wellentheorie des Lichtes fand an-
(1642–1727) und James Clerk Maxwell (1831–1879) beschrie- fänglich wenig Anhänger, da nur Schatten mit scharfen Kanten
ben werden. beobachtet wurden. Erst nach den Interferenzversuchen an en-
gen Schlitzen von Thomas Young (1773–1829) und insbeson-
dere Augustin Jean Fresnel (1788–1827) am Anfang des 19.
Materie Jahrhunderts änderte sich die Situation grundlegend. Als dann
Mitte des Jahrhunderts Léon Foucault (1819–1868) demons-
trierte, dass sich im Widerspruch zur Korpuskulartheorie Licht
Der Zustand der Materie ist durch Angabe der Positionen und in Wasser langsamer als in der Luft fortpflanzt, war dies keine
Impulse aller Materieteilchen zu einem festen Zeitpunkt ein- sonderliche Überraschung mehr, da sich die Wellentheorie des
deutig gegeben, und Zukunft sowie Vergangenheit des Systems Lichtes schon durchgesetzt hatte.
21.1 Probleme der klassischen Physik 705

Die Theorie des Lichtes kam mit der Maxwell’schen Theorie Elementarladung gelang dann Robert Millikan (1868–1953, No-
des Elektromagnetismus von 1864 zu einem gewissen Ab- belpreis 1923 für seine Beiträge zur Elementarladung und den
schluss (Teil II). In der Maxwell’schen Theorie für das elek- Photoeffekt) im Jahre 1911 in seinem berühmten Öltröpfchen-
trische und magnetische Feld hat die Strahlung unendlich viele versuch.
Freiheitsgrade, nämlich die Komponenten der Felder an jedem
Raumpunkt. Das Strahlungsfeld kann dabei nicht in lokalisierte Parallel dazu wurden mit der Entdeckung der Radioaktivität
Teilchen zerlegt werden. durch Henri Becquerel (1852–1908) im Jahre 1896 und den fol-
genden Experimenten von Marie Curie (1867–1934) und Pierre
Curie (1859–1906) die Eigenschaften von Atomkernen erkenn-
Der Zustand der Physik am Ende des 20. Jahrhundert bar. Im Jahre 1903 erhielten sie gemeinsam den Nobelpreis für
ihre Entdeckungen bzw. Untersuchungen von Strahlungsphäno-
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts konnten alle physi-
menen (Marie Curie erhielt 1911 einen zweiten Nobelpreis, und
kalischen Phänomene mit den klassischen Theorien von
zwar für Chemie). Hans Geiger (1882–1945), Ernest Marsden
Newton und Maxwell für Materie und Strahlung erklärt
(1889–1970) und Ernest Rutherford (1871–1937, Nobelpreis
werden. Es bestand ein hoher Grad an Vereinheitlichung,
1908 für seine Beiträge über den Zerfall von Elementen) un-
und die Physik stellte sich als abgeschlossenes und schein-
tersuchten systematisch die Streuung von Heliumkernen (˛-
bar widerspruchsfreies Gebäude dar.
Teilchen) an Atomen in dünnen Substanzschichten. In der Wil-
son’schen Nebelkammer war es möglich, die Bahnen der positiv
geladenen ˛-Teilchen direkt sichtbar zu machen und auszumes-
Der Wunsch nach einer Vereinheitlichung der physikalischen
sen. Erstaunlicherweise wurden diese nur selten mehr als 3ı von
Theorien im Rahmen einer mechanistischen Weltauffassung be-
ihrer Richtung abgelenkt – nur in einem von 8000 Fällen gab es
reitete allerdings Probleme bei der mechanistischen Erklärung
Ablenkwinkel von mehr als 90ı .
der elektromagnetischen Erscheinungen. Die Wellenausbrei-

Teil III
tung war schon durch die akustischen Vorgänge bekannt, wo Der Streuversuch zeigte somit, dass die positive Ladung und
sie eine makroskopische Erscheinung ist, die sich aus der ein Großteil der Masse der streuenden Atome in einem Atom-
mikroskopischen Bewegung von Atomen oder Molekülen ab- kern vereinigt sind. Aufgrund dieser Beobachtung entwickelten
leiten lässt. In Analogie suchte man nach einem Träger der Ernest Rutherford und Philipp Lenard (1862–1947, Nobelpreis
elektromagnetischen Wellen, dem sogenannten Äther. Auf die- 1905 für seine Arbeiten über die Kathodenstrahlen) das ers-
se Weise wollte man die Wellenausbreitung ebenfalls auf die te moderne Bild von Atomen. Danach besteht ein Atom aus
Kraftgesetze der Newton’schen Mechanik, angewandt auf einen einem kompakten positiv geladenen Kern der Ladung Ze, um
geeigneten Träger, zurückführen. Der negative Ausgang des Mi- den Z Elektronen kreisen. Dabei vereinigt der Atomkern fast
chelson-Morley-Experiments machte aber deutlich, dass eine die gesamte Atommasse in sich. Das Modell ähnelt einem Son-
derartige Erklärung des Elektromagnetismus unmöglich war. nensystem im Kleinen, bei dem die Gravitationskraft durch
Das augenscheinliche Paradoxon wurde endgültig im Rahmen die elektrische Kraft ersetzt wird. Die Coulomb-Anziehung des
der speziellen Relativitätstheorie gelöst (siehe auch das „Repe- Kernes, die Zentrifugalkräfte und die gegenseitige Abstoßung
titorium: Spezielle Relativitätstheorie“ in Kap. 18). der Elektronen sollten bewirken, dass die Elektronen stabile
Bahnen mit Radien von etwa 108 cm um den Kern vollführen
(Hantaro Nagaoka entwickelte bereits 1904 ein ähnliches Mo-
dell). Das Modell hatte aber ein großes Problem: Um nicht in
Erste Probleme mit der klassischen Physik den Atomkern zu fallen, müssen die Elektronen um den anzie-
henden Kern kreisen. Nach den Gesetzen der Elektrodynamik
Etwa um 1900 ermöglichte die fortschreitende Verbesserung der strahlen aber beschleunigte Ladungen Energie ab; somit müss-
experimentellen Techniken die Beobachtung einzelner mikro- ten die kreisenden Elektronen in den Kern stürzen.
skopischer Vorgänge und das Zählen mikroskopischer Teilchen.
Frage 1
Die Physiker konzentrierten sich im Wesentlichen auf
Zeigen Sie mithilfe der Resultate aus Kap. 19, dass das Elektron
die genaue Untersuchung der mikroskopischen Struktur der im Wasserstoffatom aufgrund dieser Abstrahlung nach etwa
Materie, 108 s in den Kern stürzen würde.
die Wechselwirkung der Teilchen untereinander und mit dem
elektromagnetischen Feld.
Bereits einige Monate vor Entdeckung der Radioaktivität fand
Wilhelm Conrad Röntgen (1845–1923, er erhielt 1901 den ers-
Bei diesen Untersuchungen traten in zunehmendem Maße Pro- ten vergebenen Nobelpreis für die Entdeckung der Röntgen-
bleme der klassischen Physik zutage. Joseph John Thomson strahlen) durch Zufall die nach ihm benannte Strahlung. Deren
(1856–1940, Nobelpreis 1906 für seine Beiträge zur Leitfä- Wellencharakter wurde 1912 von Max von Laue (1879–1960,
higkeit von Gasen) entdeckte 1897 das Elektron als Teilchen Nobelpreis 1914 für seine Entdeckung der Beugung von Rönt-
der Kathodenstrahlung und bestimmte das Verhältnis der Ele- genstrahlen beim Durchgang durch Kristalle) mit Beugungsex-
mentarladung zur Elektronenmasse e=me . Die Messung der perimenten an Kristallen nachgewiesen.
706 21 Die Entstehung der Quantenphysik

rot, und bei 600 ı C leuchtet er schlussendlich dunkelrot. Es gibt


also einen Zusammenhang zwischen Temperatur und Farbe des
Lichtes. Man sieht auch, dass bei der Abkühlung die Intensität
des abgestrahlten Lichtes abnimmt. Dies versteht man, da Licht
Energie hat und die Energie im Ofen mit der Temperatur ab-
nimmt. Aber warum ändert sich die Farbe des Lichts?
Der Raum im Töpferofen ist in guter Näherung ein Schwarzer
Körper. Ein Schwarzer Körper ist ein hypothetischer Kör-
per, der auf ihn treffende Strahlung jeglicher Wellenlänge und
Intensität vollständig absorbiert. Die Atome in den Wänden
wechselwirken mit den elektromagnetischen Wellen im Hohl-
raum: Sie absorbieren und emittieren Wellen. Dabei stellt sich
bald ein nur von der Temperatur T abhängiges Gleichgewicht
ein, in dem die Strahlung elektromagnetische Schwingungen
aller Frequenzen oder Wellenlängen enthält. Um die spektrale
Energieverteilung der Strahlung zu untersuchen, zerlegen wir
das Strahlungsfeld in seine Eigenschwingungen.

Spektrale Dichte der Oszillatoren


Teil III

Wir benötigen die Verteilung der Strahlungsenergie auf die


Abb. 21.1 Max Planck (1858–1947), © akg-images einzelnen Frequenzen, und diese Verteilung ist durch die spek-
trale Dichte gegeben. Dazu betrachten wir einen kubusförmigen
Hohlraum mit Seitenlänge L und Volumen V, der elektroma-
Seither vervollständigte sich die Kenntnis des Spektrums der gnetische Hohlraumstrahlung im thermischen Gleichgewicht
elektromagnetischen Wellen im Bereich kleiner Wellenlängen. enthält. Im Gleichgewicht bilden sich stehende Wellen aus, cha-
So wurde auch die elektromagnetische Struktur der  -Strah- rakterisiert durch ihren Wellenzahlvektor k. Wir wollen nun die
lung radioaktiver Stoffe erkannt. Die Spektralanalyse erweiterte Anzahl der Schwingungsmoden mit Frequenzen kleiner als eine
dabei nicht nur ihren Bereich, sondern wurde gleichzeitig im- Grenzfrequenz  abschätzen.
mer genauer. Sie lieferte eine Fülle von Daten über Emission, Der Wellenzahlvektor k zeigt in Richtung der Fortpflanzung,
Streuung und Absorption von Licht durch Materie. Beim Ver- und seine Länge bestimmt die Frequenz cjkj=2 der Eigen-
gleich der Voraussagen der Lorentz’schen Theorie mit den schwingung. Die Anzahl der Schwingungsmoden mit Frequen-
Daten zeigten sich Widersprüche zwischen klassischer Theorie zen kleiner als  ist also gleich der Anzahl der Wellenzahlvek-
und Erfahrung. toren innerhalb der Kugel mit Radius 2 =c:
Erste Probleme traten bei der Untersuchung der Spektralvertei-
2  !
lung der elektromagnetischen Strahlung im thermodynamischen N./ D ] k W jkj < D : (21.2)
Gleichgewicht mit der Materie auf. Die Lösung des Problems c c
gelang Max Planck (1858–1947, Mitbegründer der Quanten-
Für stehende Wellen in einem kubischen Hohlraum ist die Sei-
theorie, Nobelpreis 1919 für die Entdeckung des Planck’schen tenlänge L des Hohlraumes ein Vielfaches n der Wellenlänge;
Wirkungsquantums; Abb. 21.1) im Jahre 1900 und gilt als Ge- die erlaubten Wellenlängen sind also L=n, und deshalb hat das
burtsstunde der Quantentheorie. Wir wollen uns dieses Problem
Gitter im k-Raum die Dichte .L=2 /3 wie in Abb. 21.2 ange-
und seine Lösung nun etwas näher ansehen. deutet. Entsprechend ist
 3  3
4 2  L 4
N./ Š D V 3 : (21.3)
21.2 Hohlraumstrahlung 3 c 2 3c3

Zu jedem Wellenzahlvektor gehören zwei Freiheitsgrade; dies


In einem Töpferofen erreicht man Temperaturen von etwa sind die beiden unabhängigen Polarisationen der Strahlung, und
1200 ı C. Schaut man durch ein Guckloch ins Innere, dann sieht deshalb ist die Dichte der Zustände pro Frequenzintervall und
man eine orange-gelbe Farbe. Schaltet man die Heizung aus, Volumeneinheit gegeben durch
dann fällt die Temperatur nur langsam, und in guter Näherung
bleibt das Innere des Ofens im thermischen Gleichgewicht. Bei 2 dN./ 8
n./  D 3 2 : (21.4)
1000 ı C ist der Ofen orange, bei 800 ı C zwischen orange und V d c
21.2 Hohlraumstrahlung 707

k2 (21.5) und den experimentellen Ergebnissen zeugen eindeutig


vom Versagen der klassischen Physik bei der Erklärung der
2π/L Hohlraumstrahlung. Die klassische statistische Mechanik und
Elektrodynamik führen zusammen zwingend auf die falsche
Vorhersage (21.5). Wir müssen also mindestens eine der beiden
Theorien modifizieren, um den Widerspruch zu lösen.
T

Das Wien’sche Strahlungsgesetz


k1
L Unter der Annahme, dass ein Zusammenhang zwischen dem
gesuchten Strahlungsgesetz und der Maxwell’schen Geschwin-
Abb. 21.2 Hohlraumstrahlung und mögliche Wellenzahlvektoren
digkeitsverteilung existiert, wobei die Geschwindigkeit durch
eine nur frequenzabhängige Größe ersetzt werden soll, hat Wil-
helm Wien (1864–1928, Nobelpreis 1911 für die Arbeiten zur
Rayleigh-Jeans-Formel für große Wellenlängen Wärmestrahlung) folgende spektrale Energiedichte angegeben:

8 2
Im isotropen thermischen Gleichgewicht ist die mittlere Energie W .T; / D h eh=kB T : (21.7)
je Oszillator unabhängig von der Polarisation und der Richtung c3
von k. Gemäß dem Gleichverteilungssatz der klassischen Sta- Die hier aus Dimensionsgründen auftretende neue Naturkon-
tistik entfällt auf jeden harmonisch schwingenden Freiheitsgrad

Teil III
stante h ist das Planck’sche Wirkungsquantum. Oft führt man
die mittlere Energie kB T – unabhängig von seiner Frequenz. das reduzierte Wirkungsquantum
Der genaue Wert der Boltzmann-Konstanten kB findet sich in
(21.13). Der Gleichverteilungssatz wird in Kap. 36.1 behandelt. h
„D (21.8)
Durch Multiplikation mit (21.4) kam Lord Rayleigh (1842– 2
1919, Nobelpreis 1904 für die Bestimmung der Dichte der
wichtigsten Gase) im Juni 1900 zu der Formel für die spektrale ein, sodass h D „! gilt. Das Wien’sche Gesetz (21.7) repro-
Energiedichte: duziert die oben erwähnten Messungen der Hohlraumstrahlung
8 2 für kurze Wellenlängen hervorragend, versagt aber bei großen
R .T; / D kB T : (21.5) Wellenlängen. Im Gegensatz zur Rayleigh-Jeans-Formel ist sei-
c3 ne theoretische Begründung unbefriedigend.
Hier erscheint die Temperatur nur als Faktor, was bedeutet,
dass die Strahlungsintensität mit der Temperatur zunimmt. Die
Hohlraumfarbe wird aber durch die Frequenzverteilung der
Strahlung bestimmt und wäre nach (21.5) temperaturunabhän- Planck’sches Strahlungsgesetz
gig – im krassen Widerspruch zur Erfahrung. Übrigens irrte
Rayleigh um einen Faktor 8 bei der Abzählung der Wellenzahl- Im Geburtsjahr der Quantenmechanik stellte sich die Situation
vektoren. Sein Fehler wurde erst fünf Jahre später von James in Bezug auf die schwarze Strahlung wie folgt dar: Es exis-
Jeans korrigiert. tierten zwei Gesetze, das Wien’sche Stahlungsgesetz und das
Für große Wellenlängen oder kleine Frequenzen hat sich die- Rayleigh-Jeans-Gesetz. Ersteres stimmt nur bei kurzen Wellen-
se Formel als korrekt erwiesen. Allerdings stand sie bei hohen längen, und seine theoretische Begründung ist problematisch.
Frequenzen in Konflikt zu den Messungen von Otto Lummer, Das zweite stimmt nur bei großen Wellenlängen, obwohl es
Ernst Pringsheim, Heinrich Rubens und Ferdinand Kurlbaum. zwingend aus den Gesetzen der klassischen Physik folgt. Um
Dass das klassische Ergebnis (21.5) nicht in Ordnung sein kann, die beiden Gesetze zu kombinieren, hat Max Planck zwischen
erkennt man auch, wenn man damit die Energiedichte der elek- R und W interpoliert (tatsächlich hat er die zweiten Ab-
tromagnetischen Strahlung im Hohlraum berechnet: leitungen der Entropie nach der Energie auf einfache Weise
miteinander verbunden), was zum Planck’schen Strahlungsge-
Z Z1 setz
8 8 2 h
uD R d D kB T  2 d D 1 : (21.6) .T; / D 3 h=k T (21.9)
c3 c e B  1
0
führte (Planck 1900). Bei der Herleitung des Strahlungsgesetzes
Der divergente Beitrag zur unendlichen Energie rührt von den musste Max Planck annehmen, dass der Energieaustausch zwi-
Moden mit sehr hohen Frequenzen her. Deshalb sprach Paul schen den Atomen in der Umrandung (die er als harmonische
Ehrenfest (1880–1933) auch von einer Ultraviolettkatastro- Oszillatoren modellierte) und dem elektromagnetischen Strah-
phe. Diese Katastrophe wie auch die Diskrepanz zwischen lungsfeld nicht kontinuierlich, sondern nur in Form kleinster
708 21 Die Entstehung der Quantenphysik

ρ Ein Vergleich mit den experimentellen Werten für a und w er-


T1 gibt die Naturkonstanten kB und „. Deren heutige Werte sind

kB D 1;380 648 813.12/  1023 J K1 ;


(21.13)
„ D 1;054 571 726.47/  1034J s :
T2

T3
21.3 Lichtquanten
und Materiewellen
Rayleigh- hνmax ∝ T Wien hν
Jeans Zahlreiche in ihrer Beweiskraft zwingende Versuche zeigen,
dass das Licht ein Wellenvorgang ist. Es gibt jedoch eine Rei-
Abb. 21.3 Frequenzverteilung der Wärmestrahlungsintensität für drei ver- he genauso überzeugender Versuche, die sich mit einer solchen
schiedene Temperaturen T1 > T2 > T3 Vorstellung nicht erklären lassen. Man versteht sie aber sofort
mit der Annahme, dass das Licht aus Lichtteilchen – den Pho-
tonen – besteht.
Energiepakete stattfindet. Das physikalische Problem .T; / zu
erklären, war mitverantwortlich für die Geburt der Quantentheo-
rie.
Einsteins Lichtquantenhypothese
Teil III

Abbildung 21.3 zeigt die Spektraldichte für drei verschiedene


Temperaturen. Folgende Eigenschaften des Planck’schen Geset-
zes dienen als Hinweise für seine Richtigkeit: Albert Einstein (Abb. 21.6) wurde 1905 über die Analyse der für
große Frequenzen gültigen Wien’schen Strahlungsformel auf
die Lichtquantenhypothese geführt (Einstein 1905).
Für kurze Wellenlängen geht die spektrale Energiedichte
(21.9) in diejenige von Wien über und für große Wellenlän- Seine Hypothese besagt, dass die von einer elektromagneti-
gen in diejenige von Rayleigh und Jeans. schen Welle der Frequenz  transportierte Energie immer ein
Rubens und Kurlbaum überprüften 1901 die verschiedenen ganzzahliges Vielfaches von h D „! ist. Wir wenden die
Strahlungsformeln und bestätigten das Planck’sche Gesetz. Lichtquantenhypothese auf die Hohlraumstrahlung an, wobei
wir annehmen, dass die Zustände des Strahlungsfeldes einer
Boltzmann-Verteilung folgen. Dann ist die Wahrscheinlichkeit
Max Planck konnte die experimentell bekannte Konstante a wn für das Auffinden der Energie En D nh in einer Schwin-
im Stefan-Boltzmann-Gesetz, nach dem die Energiedichte der gungsmode der Frequenz  gleich
Strahlung im Hohlraum proportional zur vierten Potenz der
Temperatur des Schwarzen Körpers ist, eˇEn 1
wn D ; ˇD : (21.14)
Z Zˇ kB T
uD .; T/d D aT 4 ; (21.10) Der Nenner Zˇ muss so gewählt werden, dass die wn wie Wahr-
scheinlichkeiten zu Eins addieren. Wegen En D nh ist Zˇ eine
mit den Naturkonstanten kB und „ in Verbindung bringen. Mit- geometrische Reihe:
hilfe seines Gesetzes ergibt sich 1 1
X X  n 1
Zˇ D eˇEn D eˇh D : (21.15)
2
kB4 nD0 nD0
1  eˇh
aD : (21.11)
15 .„c/3
In der statistischen Physik nennt man Zˇ die Zustandssumme
Nach dem Wien’schen Verschiebungsgesetz (nicht zu verwech- (Kap. 36). Mit der Lichtquantenhypothese findet man dann für
seln mit dem Wien’schen Strahlungsgesetz) verschiebt sich bei die mittlere Energie der Schwingungsmode mit Frequenz 
steigender Temperatur das Maximum der spektralen Verteilung 1
X
zu höheren Frequenzen, max D w T. Das Planck’sche Gesetz d log Zˇ h
E.T; / D En wn D  D ˇh : (21.16)
bringt die experimentell bekannte Konstante w ebenfalls mit nD0
dˇ e 1
den Naturkonstanten kB und „ in Verbindung:
Multipliziert man diese mittlere Energie mit der Zustandsdichte
kB (21.4), so findet man das Planck’sche Strahlungsgesetz (21.9)
w 2;8221 : (21.12) wieder.
h
21.3 Lichtquanten und Materiewellen 709

Anwendung: Kosmische Hintergrundstrahlung

Die Hintergrundstrahlung wurde 1964 von Robert Wilson erhalten, allerdings mit sinkender Temperatur. Nach einer
(*1936) und Arno Penzias (*1933) von den Bell Laboratories Abschätzung von Alpher, Hermann und Georges Edouard
entdeckt. Im Jahr 1978 erhielten sie dafür den Nobelpreis. Lemaître (1894–1966) sollte die Hintergrundstrahlung ge-
Die Strahlung entpuppte sich als der erste direkte Beleg genwärtig eine Temperatur zwischen 1 und 5 K haben. Die
für die von George Gamov (1904–1968), Ralph Alpher Ausdehnung ihrer Wellenlänge zwischen der Entkopplung
(1921–2007), Robert Hermann (1914–1997) und Hans Be- von der Materie bis zur Gegenwart bewirkte eine extreme
the (1906–2005, Nobelpreis 1967 für seine Entdeckungen Rotverschiebung um den Faktor von etwa 1000, sodass die
über die Energieerzeugung in Sternen) vorgeschlagene Ur- Strahlung heute nur mit Radioantennen messbar ist.
knalltheorie.
Die Materie- und die Energiedichte der Strahlung im Univer- Mit Beobachtungen von der Erde, aus Ballonen und insbe-
sum wachsen mit abnehmendem Skalenparameter a wie sondere Satelliten, gelang es, das Spektrum der Hintergrund-
strahlung in verschiedenen Frequenzbändern zu bestimmen.
1 1 Die nahezu perfekte Schwarzkörperstrahlung hat gegenwär-
/ und u / 4 ;
a 3 a tig die Temperatur von .2;7255˙0;0006/ K. Jeder Kubikzen-
wobei der Skalenparameter die relativen Abstände zwischen timeter des Weltraumes enthält davon etwa 400 Photonen.
weit voneinander entfernten Galaxien bestimmt. Im frühen
dichten Universum war der Skalenparameter sehr viel klei-
ner, als er gegenwärtig ist. George Gamov folgerte, dass das
frühe Universum sehr heiß gewesen sein musste. Die Expan-

Teil III
sion führte zur Abkühlung, und bei Temperaturen von etwa
3000 K kombinierten Elektronen und Protonen zu durchsich-
tigen Wasserstoffatomen, und die Strahlung entkoppelte von
der Materie. Als Folge des thermischen Gleichgewichts vor
der Rekombination hat die kosmische Hintergrundstrahlung
(genauer: deren Monopolanteil) heute das perfekte Intensi-
tätsspektrum eines Schwarzen Körpers. Die aus dem COBE-
Satelliten (COBE: Cosmic Background Explorer) gewon-
nenen Datenpunkte folgen genau dem Planck’schen Gesetz
(Abb. 21.4).

Abb. 21.5 Die Raumsonde Planck (Planck Surveyor) der ESA

Die Photonen erreichen uns mit sehr hoher Isotropie. Die


größte globale Temperaturabweichung von rund 0;1 % wird
durch die Bewegung der Milchstraße relativ zum Mikro-
wellenhintergrund verursacht. Aber bei etwa 0;001 % Ab-
weichung und weniger beobachtet man Strukturen, deren
Ursprung in der sehr frühen Phase der kosmologischen
Entwicklung liegt. Die Anisotropien rühren z. B. von Dich-
teschwankungen zur Epoche der Entkopplung her, welche
sich als Schallwellen ausbreiten und zu Temperaturunter-
schieden der Strahlung führen. Zur genauen Messung der
Hintergrundstrahlung und ihrer Temperaturfluktuationen in
Abb. 21.4 Die vom COBE-Satelliten aus gemessene spektrale Verteilung
Abhängigkeit von der Winkelausdehnung haben besonders
der Hintergrundstrahlung. Die Fehlerbalken sind dabei kleiner als die Kur-
vendicke, und es ist das genaueste je gemessene Schwarzkörperspektrum der COBE-Satellit, das 2001 gestartete Satellitenteleskop
WMAP (Wilkinson Microwave Anisotropy Probe) und seit
Während der etwa 13;8 Milliarden Jahre dauernden Ex- 2009 die in Abb. 21.5 gezeigte Raumsonde Planck beigetra-
pansion des Universums blieb die Gleichgewichtsverteilung gen.
710 21 Die Entstehung der Quantenphysik

Die Beobachtungsergebnisse flossen in ein Standardmo- Dunklen Energie (etwa 69 %), etwa 26 % trägt die Dunkle
dell für die Zusammensetzung des Universums ein: Danach Materie bei, und nur etwa 5 % besteht aus uns bekannter
wird die Energiedichte des Universums dominiert von der Strahlung und Materie.

Vertiefung: Planck’sches Einheitensystem

Nach Einführung der Naturkonstanten „ erkannte Planck die die Boltzmann-Konstante kB zu 1 gesetzt, wodurch nur eine
Möglichkeit, damit ein universell gültiges System von Ein- Maßeinheit übrig bleibt. Durch die entsprechende Umrech-
heiten zu definieren und erwähnte diese bereits im Mai 1899 nung lassen sich dann Längen, Zeiten, Energien und Massen
(Planck 1899). Zu dieser Zeit war die Quantenmechanik sämtlich z. B. in Elektronenvolt (eV) ausdrücken. Überhaupt
noch gar nicht entdeckt. Die Planck-Einheiten ergeben sich ist die Boltzmann-Konstante eine verzichtbare „Naturkon-
aus einer Dimensionsbetrachtung, d. h. einer Suche nach ei- stante“, weil man anstelle der Temperatur ja direkt Energien
nem Ausdruck von der Dimension einer Masse, Länge, Zeit messen kann.
und Ladung, der nur Produkte und Quotienten von geeigne-
ten Potenzen der Naturkonstanten G; c und „ enthält. Man In der allgemeinen Relativitätstheorie hingegen vereinfachen
findet die Planck-Masse, die Planck-Länge, die Planck-Zeit sich die Formeln, wenn Lichtgeschwindigkeit und Gravita-
und die Planck-Ladung: tionskonstante zu 1 gesetzt werden; das ist das sogenannte
geometrische Einheitensystem.
 1=2
„c Die Planck-Einheiten vereinigen diese Ansätze und stellen
mpl D D 2;1765  108 kg ;
G damit das natürliche Einheitensystem der Quantengravitati-
Teil III

 1=2 on dar. Die Planck-Skala markiert deshalb auch die Grenze


„G
`pl D D 1;616199  1035 m ; für die Anwendbarkeit der bekannten Gesetze der Physik.
c3 Auf Distanzen der Größenordnung der Planck-Länge müss-
`P te die Physik mithilfe einer Quantentheorie der Gravitation
tpl D D 5;39106  1044 s beschrieben werden, die bisher nur in Ansätzen existiert. Bei
c
p Teilchen mit Energien auf der Skala der Planck-Masse wird
qpl D 4 „c D 1;8755459  1018 C :
die Compton-Wellenlänge (diese wird bald eingeführt) ver-
Benutzt man noch die Boltzmann-Konstante kB , so lässt sich gleichbar mit dem Schwarzschild-Radius.
eine Planck-Temperatur als weitere Grundgröße angeben: Frage 2
 1=2 Versuchen Sie, einige aus den fünf Grundgrößen abgeleite-
mP c2 „c5 te Größen im Planck’schen Einheitensystem zu bestimmen,
Tpl D D D 1;41679  1032 K :
kB GkB2 z. B. die Planck-Energie, die Planck-Dichte oder die Planck-
Spannung.
Zwischen zwei geladenen Teilchen mit Planck-Masse und
Planck-Ladung sind die Gravitationskraft und elektromagne-
tische Kraft exakt gleich groß. Die physikalische Bedeutung
Literatur
der Planck-Masse ist Gegenstand der Aufgabe 21.4.
In der relativistischen Quantenphysik werden oft die Licht- Planck, M.: Über irreversible Strahlungsvorgänge. Preu-
geschwindigkeit c, das Planck’sche Wirkungsquantum „ und ßische Akad. der Wiss., Bd. 5, 479 (1899)

Einstein war sich der Radikalität seiner Lichtquantenhypothe- Gegenspannung gemessene Energie der Elektronen nicht von
se bewusst und suchte nach Möglichkeiten der experimentellen der Intensität des Lichtes abhängt, sondern nur von der Fre-
Bestätigung. Eine solche fand er im lichtelektrischen Effekt quenz oder Wellenlänge. Wichtig ist außerdem – sofern das
(Photoeffekt). Experiment mit sehr schwachem Licht durchgeführt wird –,
dass Elektronen emittiert werden, sobald die Lichtquelle an-
Allgemein löst hinreichend kurzwelliges Licht aus Metallober- geschaltet ist, und nicht erst dann, wenn die Lichtwelle einem
flächen negative Ladungsträger, nämlich die von J. J. Thomson bestimmten Atom über eine gewisse Zeit hinweg genügend
entdeckten Elektronen, aus. Die Stärke des Stromes ist dabei Energie zugeführt hat.
proportional zur Intensität der Strahlung, vorausgesetzt, die Fre-
quenz des Lichtes ist größer als eine für das bestrahlte Metall Nach der Lichtquantenhypothese besteht die einfallende mo-
charakteristische Schwellfrequenz s . Philipp Lenard beobach- nochromatische Strahlung aus Photonen der Energie h. Ein
tete 1902 den klassisch unerklärlichen Effekt, dass die mit einer Elektron im Metall kann nun ein Photon absorbieren und ge-
21.3 Lichtquanten und Materiewellen 711

Absorption durch gebundene Elektronen durchlaufen. Wird E


wesentlich größer als die Bindungsenergie der Elektronen, so
wird die Absorption abgelöst durch die Streuung an quasifrei-
en Elektronen. Dieser Effekt wurde 1922 von Arthur Compton
(1892–1962) entdeckt, wofür er 1927 den Physik-Nobelpreis er-
hielt.
Elektromagnetische Strahlung breitet sich mit Lichtgeschwin-
digkeit aus. Die relativistische Energie eines Teilchens,

mc2 1
ED p mc2 C mv 2 C : : : ; (21.18)
1 v 2 =c2 2

ist nach unten beschränkt durch seine Ruheenergie mc2 , und


deshalb muss ein Lichtquant, dessen Energie h beliebig klein
werden kann, eine verschwindende Ruhemasse m haben. Die
relativistische Beziehung zwischen Energie und Impuls,

E2  c2 p2 D .mc2 /2 ; (21.19)

die in Kap. 10 diskutiert wird, impliziert dann für masselose


Lichtquanten der Energie h

Teil III
E h
jpj D D D „jkj : (21.20)
c c
Abb. 21.6 Albert Einstein (1879–1955), © akg-images
Für eine monochromatische Welle zeigt die Impulsdichte, ge-
geben durch den Poynting-Vektor, in Richtung des Wellenzahl-
vektors, und wir folgern p D „k.
winnt dabei nach dem als gültig vorausgesetzten Energiesatz
die Energie h. Nach Abzug der Austrittsarbeit W bleibt dem
austretenden Elektron noch die kinetische Energie: De-Broglie-Beziehung
1 W Energie und Impuls der Lichtteilchen stehen mit Frequenz
me v 2 D h  W H)   s D : (21.17) und Wellenzahlvektor der ebenen Welle wie folgt in Be-
2 h
ziehung:
Offensichtlich hängt diese nur von der Frequenz des einge-
strahlten Lichtes oder der Energie der auftreffenden Photonen E D h D „! und p D „k : (21.21)
ab. Die klassische Wellentheorie ist nicht in der Lage, diesen
Photoeffekt zu erklären: Nach der Maxwell’schen Theorie ist
die Energie einer elektromagnetischen Welle nämlich proportio- Glaubt man an die unbeschränkte Gültigkeit des Energie-Im-
nal zur Intensität der Quelle, und die Frequenz hat damit nichts puls-Erhaltungssatzes, so kann man diese Gleichungen bei Stö-
zu tun. ßen von Lichtquanten an Teilchen, z. B. Elektronen, testen.
Das Gesetz (21.17) wurde von Robert Millikan 1916 bestätigt, Tatsächlich hat die Photonenvorstellung folgenden zunächst
und die Konstante h hat genau denselben Wert wie die Konstan- rätselhaften Effekt aufgeklärt: Monochromatisches Röntgen-
te im Planck’schen Gesetz. Das Experiment von Millikan und licht wird durch Materie gestreut, wobei die Wellenlänge der
nachfolgende Experimente zeigen, dass für Metalle die Aus- gestreuten Strahlung größer ist als die der einfallenden Strah-
trittsarbeit in der Größenordnung von einigen Elektronenvolt lung. Mit zunehmendem Streuwinkel nimmt die Wellenlänge
(eV) liegt. Albert Einstein erhielt 1921 für seine Erklärung des der gestreuten Strahlung stetig zu und für Rückwärtsstreu-
Photoeffekts den Nobelpreis und nicht, wie häufig vermutet, für ung an Elektronen findet man eine Zunahme um 4;85 pm D
die Entdeckung der Relativitätstheorie. 0;00485 nm, unabhängig von der eingestrahlten Wellenlänge.
Die Beobachtungen waren mit der Vorstellung, eine elektro-
magnetische Welle werde an freien Elektronen gestreut, schwer
verträglich. Die Elektronen würden dann nämlich mit der Fre-
Compton-Effekt quenz der einfallenden Welle schwingen und eine Welle mit
unveränderter Frequenz aussenden. Dagegen ist im Teilchenbild
Wenn wir die Energie E D h der mit Materie wechselwirken- eine Zunahme der Wellenlänge gleichbedeutend mit einer Ener-
den Photonen allmählich steigern, wird zuerst das Stadium der gieabnahme. Die Lösung ist, dass die fehlende Energie von den
712 21 Die Entstehung der Quantenphysik

Materiewellen
hν /c

Die Schwierigkeit der klassischen Physik mit kleinen Struktu-


Photon hν/c Elektron ren – man denke nur an die Instabilität der Atome – erinnerte
θ Louis de Broglie (1892–1987, Nobelpreis 1929 für die Entde-
ckung der Wellennatur der Elektronen) an vergleichbare Pro-
vor dem Stoß nach dem Stoß bleme in der Optik. Für Beugung und Streuung von Licht an
mv Objekten, die verglichen mit der Wellenlänge groß sind, kann
man die Lichtausbreitung mit den Methoden der geometrischen
Optik beschreiben (siehe die entsprechenden Resultate in Ab-
q
schn. 17.1). Dabei stehen die Lichtstrahlen im Vordergrund,
Abb. 21.7 Die Streuung eines Photons an einem ruhenden Elektron. Die Erhal- ähnlich den Teilchenbahnen in der klassischen Mechanik.
tungssätze für Energie und Impuls sind auch mikroskopisch streng gültig Erst für kleine Objekte offenbart das Licht seinen Wellencha-
rakter, und Beugungs- sowie Interferenzerscheinungen treten
auf. Hier stellt sich die Frage, ob Teilchen ebenfalls einen Wel-
„Rückstoßelektronen“, die beim Streuprozess aus dem Atom lencharakter haben und es Materiewellen gibt. Falls ja, dann
herausgeschlagen werden, weggetragen wird. müssen Frequenz und Wellenlänge dieser Wellen auf ganz be-
Betrachten wir dazu den Stoß zwischen einem längs der x-Ach- stimmte Weise mit den Teilchenparametern Energie und Impuls
se einlaufenden Photon mit Energie h und Impuls „kx D h= zusammenhängen.
und einem ruhenden Elektron. Das Elektron habe nach dem Wenn wir dazu einmal eine monochromatische Lichtwelle be-
Stoß den Impuls q und das auslaufende Photon die Wellenlänge trachten, dann besteht diese aus Lichtteilchen der Energie E D
Teil III

0 (Abb. 21.7). h, und es ist naheliegend, diesen Zusammenhang zwischen


Die Impulserhaltung impliziert Energie und Frequenz für andere Teilchen zu übernehmen. Ein
Teilchen mit Masse m hat dann in seinem Ruhesystem die Ener-
h h gie mc2 und entsprechend eine Frequenz
D qx C 0 cos ;
  (21.22)
h Q D mc2 =h bzw. !Q D mc2 =„; (21.26)
0 D qy C 0 sin ;

wobei wir die Größen im Ruhesystem mit einer Schlange kenn-
und die Energieerhaltung lautet
zeichnen. Dem ruhenden Teilchen werde eine stationäre Welle
hc q hc
me c2 C D c m2e c2 C q2x C qy2 C 0 : (21.23) .Qt/ D ei!Q
Qt
(21.27)
  0

Bringen wir den letzten Term in der Energiebilanz nach links, zugeordnet.
dividieren durch c, quadrieren und benutzen dann die Impuls-
erhaltung, so ergibt sich nach Ausmultiplikation der folgende Wie sieht diese nun in einem Inertialsystem aus, in dem sich
Ausdruck für die Wellenlängenzunahme: das Teilchen mit der Geschwindigkeit v in die x-Richtung be-
wegt? Bezeichnet man die Koordinaten in diesem System mit
2h .t; x; y; z/, dann lautet die Lorentz-Transformation zwischen den
0   D  D sin2 : (21.24)
me c 2 beiden Inertialsystemen
Das Experiment bestätigt diese Gleichung glänzend.  vx
Qt D  t  2 ; xQ D  .x  v t/ : (21.28)
Frage 3 c
Führen Sie diese kurze Rechnung einmal selbst durch. Die Materiewelle sei ein Lorentz-Skalar. Dann hat sie im neuen
System die Form
Der Faktor 2h=.me c/ ist der bei einer Rückstreuung gefundene i!Q
Qt t v x=c2 /
experimentelle Wert. Die Hälfte davon, D 0e D 0 ei!.
Q
: (21.29)

h Einem bewegten Teilchen ordnet man demnach folgende Kreis-


e D D 0;00243 nm; (21.25)
me c frequenz und folgenden Wellenzahlvektor zu:
heißt Compton-Wellenlänge des Elektrons. Ein Photon mit die- !Q
ser Wellenlänge besitzt die Energie hc D me c2 , d. h. die der ! D  !Q und k D v: (21.30)
c2
Ruhemasse des Elektrons entsprechende Energie. Es würde bei
Rückwärtsstreuung an einem ruhenden Elektron seine Wellen- Mithilfe der Relation (21.26) findet man zwischen dem Wellen-
länge verdreifachen. zahlvektor und dem relativistischen Teilchenimpuls p D  mv
21.3 Lichtquanten und Materiewellen 713

die auch für Lichtteilchen gültige Beziehung k D p=„. Beach- Interferenzerscheinungen


tet man noch, dass die Energie eines relativistischen Teilchens
gleich E D  mc2 D  „!Q ist, dann findet man als Ergebnis den
Welle-Teilchen-Dualismus. Wenn materielle Teilchen Welleneigenschaften besitzen, dann
sollten sich auch Beugungs- und Interferenzerscheinungen bei
ihrer Ausbreitung nachweisen lassen. Die Wellennatur von
Welle-Teilchen-Dualismus Elektronen wurde allerdings erst nach Schaffung der Quanten-
mechanik überzeugend nachgewiesen.
Für materielle Teilchen besteht zwischen den Teilchen-
größen Energie und Impuls und den zugeordneten Wel- Clinton Davisson (1881–1958, Nobelpreis 1937 für die Entde-
leneigenschaften (Kreis-)Frequenz und Wellenzahlvektor ckung der Elektronenbeugung durch Kristalle) und sein damali-
analog zu den Photonen der Zusammenhang ger Assistent Lester Germer (1896–1971) sahen 1927 deutliche
Interferenzmaxima bei der Reflexion von Elektronen an Nickel-
E D „! und p D „k : (21.31) Einkristallen. Im ersten Experiment durchliefen die Elektro-
nen eine Beschleunigungsspannung von 54 V, was nach (21.33)
einer De-Broglie-Wellenlänge von  D 0;167 nm entspricht
Wird ein Elektron aus der Ruhe auf die Geschwindigkeit (Davisson & Germer 1927).
v D p=m gebracht, indem man es eine Potenzialdifferenz U
Die aus der Kristalloptik bekannte Bragg-Bedingung
durchlaufen lässt, so gilt nach dem Energiesatz im nichtrelati-
vistischen Grenzfall
n D 2d sin #; n2N (21.35)
 
p 2
1 h 2
D D eU : (21.32) mit Bragg-Winkel # ist die Voraussetzung für eine konstrukti-
2m 2m 

Teil III
ve Interferenz der reflektierten Wellen. Dabei ist d der Abstand
zwischen zwei parallelen Gitterebenen, # der Winkel zwischen
Die Auflösung nach  ergibt für die De-Broglie-Wellenlänge dem einfallendem Röntgenstrahl und der Gitterebene und n die
nach Durchlaufen der Strecke Ordnung des Interferenzmaximums. Nickelkristalle haben ei-
ne Gitterkonstante a D 0;352 nm, und der Abstand zwischen
h 1;226
D p p nm : (21.33) den relevanten Gitterebenen ist d D 0;094 nm. Das erste Inter-
2meU UŒVolt ferenzmaximum erschien bei einem Streuwinkel von 50ı bzw.
einem Bragg-Winkel von # D 65ı . In guter Übereinstimmung
Bei einer Spannung in der Größenordnung von 10 V besitzen mit dem obigen Wert für die De-Broglie-Wellenlänge ergibt die
Elektronen dann eine Wellenlänge im Nanometerbereich, in Bragg-Bedingung den Wert  D 0;170 nm.
dem auch der Atomabstand in Festkörpern liegt.
Im selben Jahr konnte George Paget Thomson (1892–1975)
beim Durchgang von interferierenden Elektronen durch dünne
Thermische De-Broglie-Wellenlänge Metallfolien die de Broglie’sche Beziehung  D h=mv eben-
falls bestätigen. Zusammen mit Clinton Davisson erhielt er im
In der Bose-Einstein-Kondensation (Abschn. 37.5) kühlt Jahr 1937 den Nobelpreis für den Nachweis, dass Elektronen
man das atomare Kondensat bis zu Temperaturen von auch Welleneigenschaften haben. Dies war übrigens 31 Jahre
etwa 10 nK ab. Für ein ideales Gas ist die mittlere kineti- nachdem sein Vater J. J. Thomson den Preis für den Nachweis
sche Energie der Atome hEi / kB T. Wählt man, motiviert erhielt, dass Elektronen Teilchen sind.
durch Resultate der statistischen Physik, den Proportiona-
litätsfaktor gleich , dann findet man mit der Beziehung Auch bei Atomstrahlen wurden 1929 Andeutungen von In-
 D h=p die thermische De-Broglie-Wellenlänge terferenzen gefunden, nämlich von Otto Stern (1888–1969,
Nobelpreis 1943 für seine Beiträge zur Entwicklung der Mo-
h 1;74 nm lekularstrahlmethode) bei der Streuung von He-Strahlen an
dB D p D p ; (21.34) Steinsalzkristallen und deutlichere von Immanuel Estermann
2 mkB T m=mp  TŒK
(1900–1973) und Otto Stern mit He- und H2 -Strahlen an LiF-
Kristallen.
worin mp die Masse des Protons bezeichnet. Sie be-
schreibt die mittlere De-Broglie-Wellenlänge von Teil- Ein schönes Experiment, das die Welleneigenschaften von Ma-
chen im Wärmebad der Temperatur T und charakterisiert terie offenbart, ist die Streuung von Elektronen an einem langen,
deren räumliche „Ausdehnung“. Atomare Gase aus Bo- geraden und positiv geladenen Metallfaden. Das Biprisma von
sonen kondensieren bei sehr tiefen Temperaturen, wenn Heinrich Düker (1923–1985) und Gottfried Möllenstedt (1912–
dB größer als der mittlere Abstand zwischen den Teil- 1997), die ihr Experiment 1956 durchführten, trennt zwei
chen wird. Für Rubidiumatome bei 10 nK ist dB 2 µm. Strahlen freier Elektronen, die aus einem elektronenoptisch auf
J 50 nm verkleinerten Bild einer Elektronenquelle kommen, und
lässt sie dann fast parallel wieder zusammenlaufen (Abb. 21.8).
714 21 Die Entstehung der Quantenphysik

Elektronen

Beugungsmuster

Abb. 21.10 Sukzessive Ausbildung eines Elektronenbeugungsbildes. Die Elek-


tronendichte im Strahl ist so niedrig, dass einzelne Elektronen nacheinander
+ auf dem örtlich auflösenden Detektorschirm als Pixel detektiert werden. Die
Beugungsbilder wurden nach Detektion verschiedener Elektronenzahlen auf-
Elektronen
genommen (Mit freundlicher Genehmigung des Central Research Laboratory,
Hitachi, Ltd., Japan)
Teil III

Interferenzmuster
langsamen Folge von einzelnen Teilchen erscheint das Interfe-
renzbild dann nach und nach. Nach dem Detektieren von immer
Abb. 21.8 Im Experiment von Düker und Möllenstedt werden Elektronen aus mehr Teilchen entsteht wieder das bekannte Muster. Dies wur-
einer nahezu punktförmigen Quelle auf einen Quarzfaden gelenkt und dahinter de in einer Neuauflage des Biprismaexperiments von Physikern
das Beugungsmuster betrachtet. (a) Bei geerdetem Faden sind an der Schatten- der Firma Hitachi mit modernen ortsauflösenden Halbleiterde-
grenze des Fadens die Beugungsmuster erkennbar. (b) Bei positiv geladenem tektoren demonstriert, die das Auftreten einzelner Elektronen
Faden werden die Elektronen zum Faden hin abgelenkt und interferieren hinter registrieren können (Endo et al. 1989).
dem Faden
Das Ergebnis der Experimente in Abb. 21.10 zeigt ganz klar das
unerwartete und anschaulich nicht zu verstehende Verhalten der
Elektronen bei ihrer Ausbreitung (Propagation) im Raum.
Obwohl jedes einzelne Elektron die früher oder später kom-
menden Elektronen nicht „sieht“, entsteht das bekannte Interfe-
renzmuster auf dem Detektor. Dies zwingt uns zu dem Schluss,
Abb. 21.9 Aufnahme der Elektroneninterferenz im Versuch von Düker und dass Interferenz nicht durch Wechselwirkung von verschiede-
Möllenstedt. Die Beschleunigungsspannung betrug 19,4 kV und die Fadenspan- nen Teilchen untereinander verursacht wird.
nung 5,8 V
Versucht man nun jedoch mit irgendeiner noch so raffinierten
Messung herauszufinden, auf welcher Seite des Metallfadens
die Elektronen zum Schirm gelangen, dann verschwindet das
Die Elektronen fliegen am Faden vorbei und werden von ihm Interferenzmuster. Das durch den Messprozess verursachte Ver-
zur Mitte hin abgelenkt. Aus dem beobachteten Interferenz- schwinden der Interferenz wird nach der Kopenhagener Deu-
muster kann man die Wellenlänge der Elektronen bestimmen. tung der Quantenmechanik durch den sogenannten Kollaps der
Abbildung 21.9 zeigt eines der von Düker und Möllenstedt auf- Wellenfunktion erklärt. Bei Interferenz benutzt das Teilchen al-
genommenen Interferenzmuster. le möglichen Wege zwischen Quelle und Schirm gleichzeitig
Für die Beschleunigungsspannung 19;4 kV und eine Fadenspan- und „entscheidet“ sich nicht für einen festen Weg. Es befindet
nung von 5;8 V findet man  D 8;72 pm. Dies ist in guter sich in einer Superposition aller Möglichkeiten. Eine Messung
Übereinstimmung mit der Beziehung von de Broglie, nach der des Weges führt dann dazu, dass nur noch der gemessene Weg
 D 8;70 pm ist. „durchlaufen“ wird und die Interferenz verschwindet. Man darf
also keinen der eingezeichneten Wege in Abb. 21.8 als tatsäch-
Die Interferenz kommt aber nicht, wie man erwarten könn-
lichen Weg des Elektrons ansehen.
te, durch die Wechselwirkung vieler gleichzeitig einfallender
Elektronen zustande, sondern man erhält das gleiche Interfe- Das erste Doppelspaltexperiment mit Elektronen wurde von
renzmuster auch bei minimaler Intensität der Quelle. Bei einer Claus Jönsson (*1930) erst im Jahre 1960 in Tübingen durch-
21.3 Lichtquanten und Materiewellen 715

genannt. Die Fourier-Transformation wird in Kap. 13 bespro-


chen.
Um diese Unschärferelationen einzusehen, genügt es, ein eindi-
mensionales Wellenpaket

Z
k0 Ck=2

u.t; x/ D a.k/ ei.kx!.k/t/ dk (21.37)


k0 k=2

zu betrachten, wobei a.k/ die Amplituden der Teilwellen be-


zeichnet. Licht hat die lineare Dispersionsrelation ! D cjkj,
aber im Folgenden soll diese nicht spezifiziert werden. Es sol-
d len ferner nur ebene Wellen mit Wellenzahlvektoren im kleinen
1 Intervall k k0 um k0 beitragen, in dem sich die Amplitude
2 a.k/ wenig ändert.
a Wir führen nun die Differenzvariable  D k  k0 ein und entwi-
ckeln !.k/ in eine Potenzreihe in , d. h. !.k/ D !0 C!00  C: : :
mit !0 D !.k0 / und !00 D ! 0 .k0 /. Beschränken wir uns auf die
ersten beiden Glieder, dann finden wir
Elektronenquelle
u.t; x/ a.k0 / ei.k0 x!0 t/ A.z/; z D x  !00 t ; (21.38)
Abb. 21.11 Teilchen werden auf einen Doppelspalt geschossen – dahinter re-

Teil III
gistriert ein ortsauflösender Teilchendetektor die ankommenden Teilchen mit Amplitudenfunktion

Z
k=2
2 sin.kz=2/
geführt. In einer Umfrage des Organs der englischen phy- A.z/ D d eiz D : (21.39)
z
sikalischen Gesellschaft Physics World nach dem schönsten k=2
Experiment aller Zeiten kam der Versuch von Jönsson auf den
ersten Platz. Abbildung 21.11 zeigt den schematischen Aufbau Frage 4
eines idealisierten Doppelspaltexperiments, bei dem Elektronen Überprüfen Sie das Ergebnis in (21.38) mit der in (21.39)
(bzw. Neutronen, Atome oder sogar Fullerenmoleküle) auf eine angegebenen Amplitudenfunktion A.z/. Es darf angenommen
Blende mit Doppelspalt fallen. Eine Photoplatte in der Schirm- werden, dass die k-Abhängigkeit von a.k/ vernachlässigbar ist.
ebene hinter dem Doppelspalt gibt dabei Informationen über
das von den auftreffenden Elektronen erzeugte Bild. Ähnlich
wie beim Young’schen Experiment zeigt sich auch in diesem In Abb. 21.12 ist die, verglichen mit der Exponentialfunktion in
Fall ein Interferenzmuster, in Einklang mit dem Welle-Teilchen- (21.38), langsam variierende Amplitudenfunktion gezeigt. Sie
Dualismus der Quantenmechanik. Wiederum verschwindet das nimmt ihren maximalen Wert k am Ursprung an und ver-
Interferenzmuster, wenn wir nachsehen, durch welchen Spalt schwindet an den Stellen zn D 2 n=k mit n D ˙1; ˙2,
die Elektronen propagieren. ˙3 : : : Der Abstand z D 4 =k der dem Maximum be-
nachbarten Knoten charakterisiert in etwa die Ausdehnung des
Wellenpakets. Damit ist die Unschärfe z umgekehrt proportio-
nal zur Unschärfe des Wellenzahlvektors k.
Grenzen der Auflösbarkeit Zu einer festen Zeit ist z D x, und wir finden

Die Wellennatur von Licht und Materie ist durch die Erfahrung x k 4 : (21.40)
zweifelsfrei belegt. Eine Welle ist aber niemals in einem Raum- Dagegen ist an einem festen Ort zk D !00 t k !t,
oder Zeitpunkt lokalisiert, und deshalb treten bei Wellenphäno- und wir erhalten
menen immer Unschärferelationen auf. Um eine Welle u.t; x/ t ! 4 : (21.41)
zu lokalisieren, braucht es Wellenpakete, und je lokalisierter das
Wellenpaket in Raum und Zeit ist, desto breitbandiger werden Eine vergleichbare Beziehung wurde am Anfang von Kap. 13
Wellenzahlvektor und Frequenz. In Gleichungen ausgedrückt: für ein Gauß’sches Wellenpaket abgeleitet.
Mit den De-Broglie-Relationen (21.31) folgen dann Unschär-
! t 4 und xi ki 4 ; i D 1; 2; 3 : (21.36) ferelationen zwischen Zeit und Energie bzw. zwischen Ort und
Impuls:
Diese Beziehungen folgen bereits aus den Eigenschaften der
Fourier-Transformation und werden oft prinzipielle Unschärfen t E 2h und xi pi 2h : (21.42)
716 21 Die Entstehung der Quantenphysik

A
len beschrieben, dann gehorchen ihre Energie und ihr
sin Δk1 z k1 = 2 k2 Impuls Unschärferelationen der Form in (21.42).
z

Der Welle-Teilchen-Dualismus und Heisenbergs Unschärferela-


sin Δk2 z
tion setzen der Genauigkeit jeder gleichzeitigen Messung von
z Ort und Impuls eines Teilchens eine grundsätzliche Grenze.
Es gab zahlreiche Versuche, Experimente vorzuschlagen, die
imstande sein sollten, genauere Messungen zu erzielen, als es
z die Unschärferelationen zulassen. Immer erwies sich jedoch bei
z1 sorgfältiger Untersuchung, dass dies nicht möglich ist. Mit kei-
ner noch so raffinierten Verbesserung der Experimentiertechnik
Abb. 21.12 Die Amplitude des Wellenpaketes ist um z D 0 konzentriert wird es gelingen, die prinzipiellen Unschärferelationen von Hei-
senberg zu umgehen. Unschärferelationen existieren nicht nur
für Ort und Impuls, sondern auch für andere Paare von beob-
achtbaren Größen, die man deswegen jeweils als unverträglich
bezeichnet. Dies wird in Kap. 24 näher ausgeführt.

21.4 Quantisierungsregeln von Bohr


und Sommerfeld
Teil III

Die ältere Quantentheorie beruht auf folgendem Verfahren: Man


nehme an, die materiellen Teilchen gehorchen den Gesetzen
der klassischen Mechanik. Man postuliere darüber hinaus, dass
von allen Lösungen der Bewegungsgleichungen nur diejeni-
gen übrig bleiben sollten, die bestimmten, ad hoc eingeführten
Quantisierungsregeln genügen. Diese Regeln implizieren dann
spezielle Bewegungen, die aufgrund der Hypothese als allein
realisierbar vorausgesetzt werden. Zu jeder dieser Bewegungen
gehört ein bestimmter Wert der Energie. Die so ermittelten dis-
kreten Energiewerte bilden das quantisierte Energiespektrum. In
derselben Weise erhält man ein Spektrum von erlaubten Werten
für andere Konstanten der Bewegung. Die oft diskreten Werte
für die Konstanten der Bewegung nennt man die Quantenzah-
len des Systems.
Das Aufstellen solcher „Quantisierungsregeln“ war in der äl-
teren Quantentheorie auch eine Sache der Intuition. Dabei
Abb. 21.13 Werner Heisenberg (1901–1976), © akg-images spielte das heuristische Bohr’sche Korrespondenzprinzip eine
wertvolle Rolle. Dieses besagt, dass die klassische Theorie ma-
kroskopisch richtig ist, d. h. im Grenzfall, wo die quantenhaften
Unstetigkeiten noch als unendlich klein angesehen werden kön-
Bis auf numerische Faktoren sind dies die Unschärferelationen
nen:
von Werner Heisenberg (1901–1976, Nobelpreis 1933 für die
Aufstellung der Quantenmechanik; Abb. 21.13). Im Rahmen
des Formalismus der Quantenmechanik werden wir später be- Bohr’sches Korrespondenzprinzip
weisen, dass sogar die Ungleichungen xi pj  „=2 ıij gelten,
Die Quantentheorie muss für große Quantenzahlen in die
wobei ıij das Kronecker-Symbol bezeichnet.
klassische Theorie übergehen. Unter Umständen muss
man Quantenzustände mit großen Quantenzahlen überla-
Unschärferelation und Welle-Teilchen Dualismus gern, um einen klassischen Zustand zu erhalten.

Die Unschärferelationen sind eine Konsequenz des Welle-


Teilchen-Dualismus. Werden Teilchen durch Materiewel- Zum Beispiel gehorcht die Hohlraumstrahlung dem Korrespon-
denzprinzip: Für Strahlungsmoden mit Photonenenergie h
21.4 Quantisierungsregeln von Bohr und Sommerfeld 717

Quantenmechanik Max Planck, Niels Bohr (1885–1962, No-


belpreis 1922 für die Erforschung der Struktur der Atome;
Abb. 21.14) und Arnold Sommerfeld (1868–1951) in den Jah-
ren 1911 bis 1917 formuliert.

Arnold Sommerfeld führte zur Beschreibung von Elektronen


auf Ellipsenbahnen die azimutale Quantenzahl ` ein, welche die
Quantisierung der Exzentrizität beschreibt. Die Exzentrizität im
verwandten klassischen Kepler-Problem wurde bereits in Kap. 3
eingeführt. Wie man die Quantisierung der Exzentrizität erhält,
ist Inhalt von Aufgabe 21.5.

Bohr-Sommerfeld-Quantisierung des Oszillators

Wir wenden die Bohr-Sommerfeld’sche Quantisierungs-


regel auf den eindimensionalen harmonischen Oszillator
mit Hamilton-Funktion

p2 m! 2 2
HD C x (21.44)
2m 2
an. Die Lösungen der Bewegungsgleichung lauten

Teil III
x.t/ D ˛ cos !t C ˇ sin !t ;
(21.45)
p.t/ D m!.ˇ cos !t  ˛ sin !t/
Abb. 21.14 Niels Bohr (1885–1962), © IAM/akg-images
und haben die Energie E D m! 2 .˛ 2 C ˇ 2 /=2. Das Wir-
kungsintegral ist
kB T ist die mittlere Energie einer Strahlungsmode sehr viel I
  2
größer als die Photonenenergie, und das Planck’sche Strah- S D p xP dt D m! ˛ 2 C ˇ 2 D E: (21.46)
lungsgesetz geht in das klassische Gesetz von Rayleigh und !
Jeans über.
Für periodische Systeme führt das Korrespondenzprinzip zu der Überprüfen Sie, dass die periodische Lösung in (21.45)
Bohr-Sommerfeld’schen Quantisierungsregel: die angegebene Energie und Wirkung hat.
I
Nach der Quantisierungsregel S D nh sind die erlaubten
S D p dq D nh; n D 1; 2; 3; : : : (21.43) Energien des Oszillators also Vielfache von „!:
E
E D En D n„! : (21.47)
Dabei wird über eine volle Periode der Bewegung mit fester
Energie E integriert. Das Integral ist die von der periodischen Bis auf eine additive Konstante sind dies die korrekten
Bahn im Phasenraum eingeschlossene Fläche, und es hat die
Energien des harmonischen Oszillators, der ausführlich
Einheit von (Impuls mal Länge) oder auch von (Energie mal
in Kap. 26 behandelt wird. J
Zeit). Dies ist gerade die Einheit der in Kap. 7 eingeführ-
ten klassischen Wirkung. Tatsächlich ist das Integral gerade
der zeitunabhängige Teil der Wirkung. Dies und die Bohr-
Sommerfeld’sche Quantisierungsregel werden im Rahmen der
halbklassischen Näherung in Abschn. 31.3 beprochen. Das so-
genannte Wirkungsintegral S in der Quantisierungsregel (21.43)
ist also immer ein Vielfaches einer kleinsten Wirkung h. Dies
Bohr’sches Modell des Wasserstoffatoms
erklärt den Namen Wirkungsquantum für die Naturkonstante h.
Es ist die im Planck’schen Gesetz und in den de Broglie’schen
Im Rutherford’schen Atommodell für das Wasserstoffatom und
Relationen auftretende Konstante.
wasserstoffähnliche Atome kreist das Elektron um den winzigen
Die Bohr-Sommerfeld’sche Quantisierungsbedingung und sei- Kern mit positiver Ladung Ze, wobei Z die Anzahl der posi-
ne Verallgemeinerungen wurden von den Mitbegründern der tiv geladenen Protonen angibt. Am Elektron greift infolge der
718 21 Die Entstehung der Quantenphysik

Kernladung Ze die Coulomb-Kraft


Vorhersagen des Bohr’schen Modells
Ze2
Fc D 2 (21.48) Die erlaubten Radien und Geschwindigkeiten sind
r
n2 e Z
rn D und vn D ˛c ; (21.57)
an, die entgegengesetzt gleich der Zentrifugalkraft me v =r ist.2
Z ˛ n
Das Kräftegleichgewicht bedingt
und die erlaubten Energien sind
me v 2 r D Ze2 : (21.49)  2
1 Z˛
En D  me c2 : (21.58)
2 n
Für Kreisbahnen lautet die Quantisierungsregel (21.43)
I
Für das Wasserstoffatom mit Z D 1 ist der Radius des kleinsten
S D me v r d' D 2 me v r D nh ; (21.50)
Orbits gleich dem Bohr’schen Radius
e
und der Drehimpuls L D me v r ist dann ein Vielfaches von „: aB D 0;0529 nm D 0;529 Å ; (21.59)
˛
L D me v r D n„; .n D 1; 2; 3; : : : / : (21.51) wobei die nützliche Längeneinheit Ångström eingeführt wurde,
1 Å D 0;1 nm. Die zugehörige Energie ist die Rydberg-Energie
Zusammen mit (21.49) führt dies auf folgende Quantisierung ˛2
E1 D Ry; Ry D me c2 13;6 eV : (21.60)
Teil III

von Radius und Geschwindigkeit: 2


Die dem Elektron im n’ten Orbit zugeordnete Materiewelle hat
n 2 „2 Ze2 mit (21.57) die De-Broglie-Wellenlänge
rn D und vn D : (21.52)
Zme e2 n„
h 2 n e 2 rn
n D D D : (21.61)
mvn Z ˛ n
Frage 5
Zeigen Sie, dass die zugehörigen Energien gegeben sind durch Frage 6
Überlegen Sie sich, dass die Quantisierung von Radius, Ge-
 2 schwindigkeit und Energie auch aus der Bedingung folgt, dass
me vn2 Ze2 me Ze2
En D  D 2 : (21.53) der Bahnumfang immer ein Vielfaches der Wellenlänge ist.
2 rn 2n „

Dann ist die Materiewelle des Elektrons, wie in Abb. 21.15 skiz-
Mit zunehmender Quantenzahl wird das Atom größer, und die ziert, eine stehende Welle und interferiert sich nicht weg.
Energien En liegen dichter.

An dieser Stelle ist es vorteilhaft, die dimensionslose Sommer-


feld’sche Feinstrukturkonstante
Die Bohr’schen Postulate

e2 1 Als neue, mit der klassischen Physik unvereinbare Postulate


˛D (21.54) führte Niels Bohr zur Deutung der Lichtemission folgende Pos-
„c 137;036
tulate ein:
einzuführen. Dann kann man die Radien der Kreisbahnen durch Für jedes Atom existieren stationäre Zustände, in denen
die reduzierte Compton-Wellenlänge des Elektrons
das Atom nicht strahlt. Eine Änderung seines Energieinhalts
kann nur durch den Übergang von einem stationären Zustand

e D 3;9  1013 m (21.55) in einen anderen erfolgen.
me c Die Frequenz der bei einem Übergang zwischen zwei sta-
tionären Zuständen ausgestrahlten oder absorbierten Wellen
und die Energien des Atoms durch die Ruheenergie des Elek- genügt der Bedingung
trons
h D Em  En ; (21.62)
me c2 0;51 MeV (21.56)
wobei Em und En die Energien dieser stationären Zustände
ausdrücken. sind.
21.5 Emission, Absorption und Einstein-Koeffizienten 719

E ; N = A e−E /kT

Elektron

Bk B k A k

Ek ; Nk = A e−Ek /kT
induziert spontan
Proton
Abb. 21.16 Übergangsraten zwischen zwei atomaren Zuständen mit den ent-
sprechenden Einstein-Koeffizienten

Dies führte ihn auf die induzierte (stimulierte) Emission: Hat


ein einfallendes Lichtteilchen die richtige Wellenlänge, so wird
das Atom eine identische Kopie des mit dem Atom zusam-
mentreffenden Photons aussenden. Das ausgesandte Photon hat
Abb. 21.15 Ein Elektron, das den Kern auf einer nach Bohr und Sommerfeld
dieselbe Wellenlänge, Phase und Richtung wie das eintreffende
erlaubten Bahn umläuft, bildet eine stehende Materiewelle
Photon. Die stimulierte Emission wird genauer in Abschn. 30.3
diskutiert.

Teil III
Nach diesen Postulaten kann ein Wasserstoffatom nur Strahlung Unter Berücksichtigung der induzierten Emission konnte Ein-
mit den Frequenzen stein das Planck’sche Gesetz herleiten. Bohr folgend nahm er
  dabei an, dass die Atome nur Zustände mit diskreten Energien
1 1 Ry
.n; m > n/ D  R; R D (21.63)
n2 m2 h E1 < E2 <    < Ek <    < E` < : : : (21.64)
emittieren oder absorbieren. Die auftretende Rydberg-Frequenz
hat den Wert R D 3;289 842  1015 Hz. Für jede Quantenzahl annehmen. Durch Absorption von Lichtquanten der Energie
n findet man eine Serie von möglichen Frequenzen oder Wel- h D E`  Ek kann das Atom im Zustand k mit Energie Ek in
lenlängen, und diejenigen mit n D 1; 2; : : : ; 5 sind in Tab. 21.1 einen Zustand ` mit größerer Energie E` angeregt werden. Um-
gelistet. kehrt kann durch Emission von Licht derselben Frequenz der
Zustand ` dann wieder in den Zustand k „zerfallen“. Im ther-
Tab. 21.1 Die Spektralserien für das Wasserstoffatom. Die Balmer-Serie ist die mischen Gleichgewicht ist die mittlere Anzahl der Atome mit
einzige, die größtenteils im sichtbaren Bereich liegt Energie Ek – man nennt diese auch mittlere Besetzungszahl –
n Serie entdeckt Farbe n;nC1 [nm] n;1 [nm] gleich
1 Lyman 1906 Ultraviolett 121 91 1
2 Balmer 1885 Sichtbar 656 365
Nk D AeˇEk ; ˇ D : (21.65)
kB T
3 Paschen 1908 Infrarot 1875 820
4 Brackett 1922 Infrarot 4050 1458 Diese nach Boltzmann benannte Verteilung der Atome auf die
5 Pfund 1924 fernes Infrarot 7456 2278 Zustände wird in Kap. 36.1 begründet. Je kleiner die Energie,
desto größer ist die Besetzungszahl. Dagegen sind Zustände
mit hohen Energien E kB T kaum besetzt. Der Faktor A
ist festgelegt durch die Bedingung, dass die Summe der Beset-
21.5 Emission, Absorption und zungszahlen Nk gleich der Anzahl der Atome ist.

Einstein-Koeffizienten Nun stellen wir die verschiedenen Möglichkeiten des Ener-


gieaustauschs zwischen Atomen und Strahlung zusammen und
geben die Häufigkeit der entsprechenden Ereignisse an. Die
Die Strahlung in einem Hohlraum ist in stetigem Kontakt mit
möglichen Prozesse sind in Abb. 21.16 eingezeichnet.
den Atomen der begrenzenden Wände. Dass die Atome Licht-
teilchen absorbieren und diese in der Regel kurz danach wieder
spontan abgeben können, war schon früh bekannt. In einer für Absorption Die Übergangsrate von k nach ` durch Absorp-
die Maser- und Laserphysik bahnbrechenden Arbeit ging Albert tionsprozesse ist proportional zu Nk und zur Intensität der
Einstein im Jahr 1916 der Frage nach, was beim Zusammen- Strahlung im entsprechenden Frequenzbereich:
treffen eines Lichtteilchens mit einem bereits angeregten Atom
geschehen kann (Einstein 1917). NP k`
abs
D Bk` .T; / Nk : (21.66)
720 21 Die Entstehung der Quantenphysik

Induzierte Emission Das Strahlungsfeld induziert Übergän- Im thermischen Gleichgewicht sind die Energieniveaus gemäß
ge aus dem Zustand ` in den Zustand k mit weniger Energie. der Boltzmann-Verteilung Nk / eˇEk bevölkert, und das Ver-
Die Rate ist proportional zu N` und : hältnis von induzierter Emission zur Absorption ist

NP `k
ind
D B`k .T; / N` : (21.67) NP `k
ind
N`
D D eh=kB T < 1 : (21.75)
Spontane Emission Auch in Abwesenheit des Strahlungs- NP k`
abs Nk
feldes zerfallen angeregte Atome spontan. Die Emissionsrate
von ` in k ist proportional zu N` : Im Gleichgewicht ist der Photonenverlust durch Absorption al-
so größer als der Photonengewinn durch induzierte Emission.
NP `k
spontan
D A`k N` : (21.68) Will man den Prozess der induzierten Emission zur Licht-
verstärkung ausnutzen, dann muss man zunächst einen Nicht-
Sind die Übergänge zwischen zwei Energieniveaus im Gleich- gleichgewichtszustand mit N` > Nk herstellen, eine sogenannte
gewicht, dann ist die Absorptionsrate gleich der Summe der Besetzungszahlinversion. Diese ist zur Lichtverstärkung mithil-
Emissionsraten, d. h. fe der induzierten Emission, wie sie in Lasern realisiert ist,
notwendig. Allerdings ist in einem Zweiniveausystem die Wahr-
.T; / Bk` Nk D .T; / B`k N` C A`k N` : (21.69) scheinlichkeit, dass ein Photon durch Absorption ein Elektron
auf ein höheres Niveau anhebt, genauso hoch wie die Wahr-
Wegen Nk / eˇEk ergibt sich mit E`  Ek D h die Beziehung scheinlichkeit, dass es eine stimulierte Emission auslöst. Aus
diesem Grund ist eine Realisierung eines Lasers mit Zweinive-
.T; / Bk` eˇh D .T; / B`k C A`k ; (21.70) ausystemen nicht möglich. Deshalb werden Laser mittels Drei-
oder Mehrniveausystemen konstruiert. Dies sind Systeme, bei
bzw.
denen drei oder mehr atomare Eigenzustände mit verschiedenen
Teil III

A`k
.T; / D ˇh
: (21.71) Energien an den Austauschprozessen beteiligt sind.
Bk` e  B`k
Die Einstein-Koeffizienten A`k ; B`k und Bk` hängen nur von der
Atomsorte ab, jedoch nicht von der Temperatur. Für hohe Tem-
peraturen kB T h muss nach dem Korrespondenzprinzip das
Rayleigh-Jeans-Gesetz gelten, also
21.6 Der Spin
A`k 8
.T; / D 3  2 kB T : (21.72) Im Bohr-Sommerfeld’schen Atommodell werden die Zustände
.Bk`  B`k / C ˇhBk` c mit derselben Energie durch die Quantenzahlen des Bahndreh-
Entwickelt man den mittleren Ausdruck in Potenzen von impulses charakterisiert. Der Drehimpuls in irgendeine Rich-
ˇh 1 und vergleicht mit der rechten Seite, dann folgen die tung ist ein ganzzahliges Vielfaches m von „, und es existiert
Relationen zwischen den Einstein-Koeffizienten. immer eine ungerade Anzahl von Zuständen mit derselben
Energie, wie wir in Kap. 28 sehen werden. Deshalb wurde er-
wartet, dass bei Anlegen eines Magnetfeldes jedes Niveau in
Relationen zwischen Einstein-Koeffizienten eine ungerade Anzahl von Niveaus aufspalten sollte. Wegen
dieser Aufspaltung im Magnetfeld heißt m auch magnetische
Die Koeffizienten für Emission und Absorption erfüllen
Quantenzahl. Aber die Spektraldaten von Alkalimetallen – die-
die Beziehungen
se besitzen ein schwach gebundenes Leuchtelektron – zeigen
A`k 3 eine Energieaufspaltung in allein zwei Niveaus.
Bk` D B`k ; D8 h 3 ; (21.73)
B`k c Alfred Landé (1888–1976) führte 1921 zur Beschreibung dieser
worin h gleich der Energiedifferenz E`  Ek ist. unerwarteten Dublettstruktur halbzahlige magnetische Quan-
tenzahlen ein. Wolfgang Pauli (1900–1958, Mitbegründer der
Quantenmechanik, Nobelpreis 1945 für die Formulierung des
Die Einstein-Koeffizienten für Absorption, induzierte Emission nach ihm benannten Ausschließungsprinzip; Abb. 21.17) ver-
oder spontane Emission sind gleich bzw. proportional. allgemeinerte 1924 die Termanalyse von Landé für das Pa-
schen-Back-Gebiet starker Magnetfelder. Dieser Effekt wird in
Frage 7
Kap. 29 behandelt, in dem auch der Spin ausführlich diskutiert
Zeigen Sie, dass durch Einsetzen in (21.71) sich das Planck’sche wird. In Paulis Worten:
Strahlungsgesetz
Die Dublettstruktur der Alkalispektren, sowie die Durch-
8 2 h
.T; / D  (21.74) brechung der Larmor-Theorems kommt durch eine eigen-
c3 eˇh  1 tümliche, klassisch nicht beschreibbare Art von Zwei-
ergibt. deutigkeit der quantentheoretischen Eigenschaften des
Leuchtelektrons zustande. (Pauli 1925)
21.6 Der Spin 721

Abb. 21.18 Schematischer Aufbau des Stern-Gerlach-Versuchs zur Messung


der Spinquantisierung. Silberatome aus einem Ofen werden mit einer Blende
in Richtung eines Magnetfeldes fokussiert. Das inhomogene Magnetfeld wird
durch ein asymmetrisches Eisenjoch erzeugt. Der Atomstrahl spaltet beim Gang
durch das Magnetfeld in zwei diskrete Teilstrahlen auf

Silberatomen (Gerlach & Stern 1922). Abbildung 21.18 zeigt


den schematischen Aufbau des Stern-Gerlach-Versuchs, das die

Teil III
überraschende Aufspaltung des Strahles in genau zwei Teil-
strahlen verdeutlicht.
Der Versuch zeigt, dass das magnetische Moment nur zwei
Abb. 21.17 Wolfgang Pauli (1900–1958), © akg/Science Photo Library mögliche Orientierungen relativ zum Magnetfeld annehmen
kann, entsprechend zweier Einstellmöglichkeiten des Drehim-
pulses in dieser Richtung.
Zur Modellierung von Paulis zweiwertigem Freiheitsgrad schlu- Die anfängliche Erklärung von Stern und Gerlach, nach der
gen die jungen Mitarbeiter von Paul Ehrenfest, Samuel Gouds- das vom Bahndrehimpuls induzierte magnetische Moment der
mit (1902–1978) und George Uhlenbeck (1900–1988), im Jahre Silberatome für die Aufspaltung der entarteten Energieniveaus
1925 vor, dem Elektron einen Eigendrehimpuls, Spin genannt, verantwortlich sei, ist allerdings nicht korrekt. Tatsächlich rührt
zuzuordnen. Der Elektronenspin sollte die Drehimpulsquanten- das magnetische Moment des Silberatoms im Grundzustand nur
zahl 1=2 haben, um die beobachtete Dublettstruktur zu erklären. vom Spin des Leuchtelektrons her, da alle anderen Elektronen
volle Schalen bilden und nach den Hund’schen Regeln nicht
zum Drehimpuls beitragen (das Schalenmodell für Atome wird
in Kap. 28 besprochen). Also ist nur das 5s-Leuchtelektron mit
Stern-Gerlach-Versuch
verschwindendem Bahndrehimpuls für den Gesamtdrehimpuls
verantwortlich.
Atome, deren Elektronenkonfigurationen einen Bahndrehim-
puls aufweisen, haben ein magnetisches Moment m propor-
tional zum Drehimpuls. Existiert entlang der z-Richtung ein Spin im Magnetfeld
inhomogenes Magnetfeld, dann wirkt auf ein Atom eine Kraft Das Silberatom verhält sich im Magnetfeld wie ein neu-
in z-Richtung: trales Teilchen mit Spin 1=2. Der zweiwertige Elektronen-
spin ist verantwortlich für die Aufspaltung des Atomstrah-
@ dB
Fz D .m  B/ mz : (21.76) les in zwei Teilstrahlen.
@z dz
Deshalb wird ein Atomstrahl bestehend aus Atomen mit magne-
Klassisch würden wir erwarten, dass die Drehimpulsrichtungen
tischem Moment im inhomogenen Magnetfeld abgelenkt. Sind
der einzelnen Teilchen im Strahl statistisch verteilt sind. Dann
der Drehimpuls und das entsprechende magnetische Moment mz
sollte der Strahl im inhomogenen Magnetfeld in z-Richtung
quantisiert, dann sollte der Strahl in diskreter statt kontinuierli-
kontinuierlich verbreitert werden, im Gegensatz zur beobachte-
cher Weise abgelenkt werden.
ten Aufspaltung in zwei getrennte Teilstrahlen. Wollte man das
Otto Stern und Walther Gerlach (1889–1979) gelang 1922 der Resultat im Stern-Gerlach-Versuch also klassisch interpretie-
Nachweis dieser Richtungsquantelung für einen Atomstrahl von ren, so müsste man schließen, dass die magnetischen Momente
722 21 Die Entstehung der Quantenphysik

(bzw. die Drehimpulse) der Strahlteilchen nicht statistisch ver- mit Spinkomponente sz D 1=2. Der in z-Richtung abgelenkte
teilt sind, sondern es zwei Teilchengruppen gibt, die den zwei Teilstrahl wird durch eine weitere Stern-Gerlach-Apparatur mit
Richtungen von m entsprechen. Man müsste schließen, dass Feld wieder in z-Richtung geschickt. Auf dem Schirm hinter
es in der Teilchenquelle einen Mechanismus gibt, der eine dem Magnetfeld sieht man nun nur eine Komponente, nämlich
Richtung für den Drehimpuls bzw. das magnetische Moment die sz D 1=2-Komponente. Da die anderen Atome ausgeblendet
auszeichnet. Ein Problem dieser Interpretation ist aber, dass das wurden, ist dies das erwartete Resultat.
Versuchsergebnis völlig unabhängig von der Richtung des Ma-
gnetfeldes relativ zum Strahl ist. Verändert man die Ausrichtung Wenn man nun in z-Richtung misst, die Komponente mit sz D
1=2 ausblendet und den verbleibenden Teilstrahl durch eine
des Magnetfeldes B relativ zum Strahl, so erhält man wieder ge-
Stern-Gerlach-Apparatur mit Magnetfeld in y-Richtung schickt,
nau zwei Strahlkomponenten.
so findet man auf dem Schirm zwei gleich starke Komponen-
Eine korrekte Beschreibung des experimentellen Befunds muss ten, die den beiden Spinkomponenten sy D ˙1=2 entsprechen.
berücksichtigen, dass die Richtung der Aufspaltung durch den Offensichtlich enthält die Komponente mit sz D 1=2 beide sy -
Magneten bestimmt wird und nicht durch die Richtung des ma- Komponenten mit gleicher Wahrscheinlichkeit.
gnetischen Moments eines Teilchens im Strahl. Offenbar dürfen
In einem weiteren Versuch geht man zuerst vor wie vorhin: Man
wir dem magnetischen Moment oder Spin eines einzelnen Teil-
misst in z-Richtung und schickt den Teilstrahl mit sz D 1=2
chens keine bestimmte Richtung zuschreiben. Der Magnet im
Experiment ist ein Analysator, der den Atomstrahl in zwei Teil- durch eine Apparatur in y-Richtung. Nun blendet man den
Strahl mit sy D 1=2 aus. Der verbleibende Strahl wird er-
strahlen aufspaltet und ein Zweizustandssystem erzeugt.
neut in eine Apparatur mit Magnetfeld in z-Richtung geleitet.
Da man bereits die Komponente mit sz D 1=2 ausgeblen-
det hatte, würde man nun erwarten, nur eine Komponente mit
Aufeinanderfolgende Stern-Gerlach-Versuche sz D 1=2 zu finden. Im Experiment werden aber beide Kompo-
Teil III

nenten mit gleicher Stärke gemessen. Dies bedeutet, dass durch


die Messung in y-Richtung die Kenntnis, die wir zuvor über sz
Der Atomstrahl propagiere in x-Richtung durch eine Stern-Ger- hatten, vollständig verloren geht. Es ist also unmöglich, gleich-
lach-Apparatur mit inhomogenem Magnetfeld in z-Richtung. zeitig die Komponenten des Spins in verschiedene Richtungen
Der in z-Richtung abgelenkte Teilstrahl besteht aus Atomen mit anzugeben. Ähnlich der Unschärferelation zwischen Impuls und
Spinkomponente sz D 1=2 (in Einheiten von „) und der in die Ort eines Teilchens ist dies ein typisch quantenmechanisches
entgegengesetzte Richtung abgelenkte Teilstrahl aus Atomen Phänomen.
Aufgaben 723

Aufgaben

Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen

Wellenlänge  D h=jpj zugeordnet. Eine quantenmechanische


Beschreibung wird relevant, wenn die De-Broglie-Wellenlänge
dV
größer ist als die charakteristische Ausdehnung des Systems.

(a) Wie groß ist die Wellenlänge eines thermischen Neutrons


r
mit kinetischer Energie 25 meV?
(b) Wie groß ist die Wellenlänge einer Langstreckenläuferin mit
der Masse 53 kg und der Geschwindigkeit 12 km=h?

Teil III
(c) Wie groß ist die Wellenlänge für ein Elektron mit der Ener-
gie 200 MeV?
θ
Vergleichen Sie die Größe der Objekte mit ihren Wellenlängen.
df Lösungshinweis: Eine weitere nützliche Konstante ist hc D
1;986 446  1025 J m D 1;239 842  106 eV  m. Ein Elektron
Abb. 21.19 Die im Gebiet dV enthaltene Energie der Hohlraumstrahlung brei-
tet sich isotrop mit Lichtgeschwindigkeit aus. Ein Teil der Strahlung verlässt den
ist innerhalb der experimentellen Genauigkeit von weniger als
Hohlraum durch das kleine Flächenstück df in der Berandung. Die Strahlung 1018 m ein punktförmiges Teilchen.
braucht zum Erreichen der Öffnung die Zeit t D r=c
21.3 Streuprozesse Ein Photon mit der Energie 1
21.1 Schwarzkörperstrahlung Es sei .; T/ die GeV trifft auf ein Proton in Ruhe. Wie groß ist der maximale
spektrale Energiedichte der Hohlraumstrahlung. Energieverlust?
Lösungshinweis: Das Photon erfährt bei einem frontalen Zu-
(a) Beweisen Sie, dass die pro Flächenelement der Berandung
sammenstoß den maximalen Impulsübertrag.
abgegebene spektrale Strahlungsleistung gegeben ist durch
c 21.4 Elementarteilchen als Schwarze Löcher?
w .; T/ D .; T/ : (21.77) Die Compton-Wellenlänge eines Teilchens erhält man durch
4
Gleichsetzen von h und mc2 . Versucht man nun, ein Teilchen
Wie lautet die Formel für die gesamte Strahlungsleistung ei- genauer als seine Compton-Wellenlänge zu lokalisieren, dann
nes Schwarzen Körpers der Temperatur T? wird aufgrund der Unschärferelation seine kinetische Energie
(b) Die Intensitätsverteilung an der Sonnenoberfläche entspricht derart groß, dass diese in Paare von Teilchen und Antiteilchen
in guter Näherung der eines Schwarzen Körpers mit Tem- umgewandelt wird. Als Folge kann ein Teilchen höchstens bis
peratur T 5770 K. Bekannt sind der Sonneradius rS auf seine Compton-Wellenlänge lokalisiert werden.
6;963  108 m und der Abstand zwischen Sonne und Erde,
d 1;496  1011 m. Welche Energie pro Flächeneinheit trifft (a) Berechnen Sie zuerst den Radius R eines kugelsymmetri-
dann auf ein der Sonne senkrecht gegenüberliegendes Flä- schen „Sterns“ der Masse M, für den die Fluchtgeschwindig-
chenstück auf der Erde? keit im Newton’schen Gravitationsfeld die Lichtgeschwin-
digkeit ist. Gravierende Objekte mit diesem Schwarzschild-
Lösungshinweis: Zur Berechnung der pro Zeitintervall durch Radius nennt man Schwarze Löcher. Bestimmen Sie den
das Flächenelement df in der Berandung transportierten Strah- Schwarzschildradius für ein Elektron und ein Proton.
lungsenergie betrachte man Abb. 21.19. (b) Was sind die Compton-Wellenlängen dieser Teilchen. Ver-
gleichen Sie die Schwarzschild-Radien mit der Compton-
21.2 De-Broglie-Wellenlänge Teilchen werden Ma- Wellenlängen und erklären Sie, warum man Elektron und
teriewellen mit Wellenzahlvektor k D p=„ oder De-Broglie- Proton nicht als Schwarze Löcher annehmen kann.
724 21 Die Entstehung der Quantenphysik

(c) Ab welcher Masse kann man daher frühestens von „Ele- wobei hier ausnahmsweise nicht über den doppelt vorkommen-
mentarteilchen als Schwarzen Löchern“ reden? Welcher den Index i summiert wird. Wenden Sie die Quantisierungsregel
Compton-Wellenlänge entspricht das? auf das Wasserstoffatom an. Dabei können Sie die klassische
Bewegung des Elektrons auf eine Ebene einschränken. Rechnen
Lösungshinweis: Zur Lösung der Teilaufgabe (a) benötigen Sie dazu die Radien der Umkehrpunkte aus, bei denen der Ra-
Sie nur die Newton’sche Mechanik und das Newton’sche Gra- dius maximal bzw. minimal ist. Welche Energien als Funktion
vitationspotenzial. der Quantenzahlen nr und n'  ` sind erlaubt?
Es ist ratsam, zur Beantwortung von Teilaufgabe (c) unter dem
Lösungshinweis: Das bei der Lösung auftretende Integral ist
Stichwort „Planck’sche Einheiten“ in Büchern oder dem Inter-
net zu recherchieren.
Zb
dx p p
21.5 Bohr-Sommerfeld-Quantisierung des H- .x  a/.b  x/ D .a C b/  ab ; (21.79)
Atoms Die Bohr-Sommerfeld-Quantisierungsregeln sind an- x 2
a
wendbar auf periodische Systeme mit f Freiheitsgraden. Dabei
muss sich jeder kanonische Impuls als Funktion seiner kon- wobei 0  a < b sein soll.
jugierten Koordinate und der anderen kanonischen Impulse
schreiben lassen. Dann besagt die Quantisierungsregel
I
pi dqi D hni ; ni D 0; 1; 2; : : : ; i D 1; : : : ; f ; (21.78)
C
Teil III
Lösungen zu den Aufgaben 725

Lösungen zu den Aufgaben

21.1
W Watt
D 1362 2 (21.80)
A m

21.2

(a)  1;8  1010 m


(b)  3;8  1036 m
(c)  6;2  1015 m

21.3 E D 681 MeV.


21.5 Der maximale und minimale Radius der Bahn sind

e2  p 
r˙ D 1 ˙ 1  2jEjL2 =me4 ; (21.81)
2jEj

Teil III
und für die Energie findet man

me4
ED : (21.82)
2„2 .nr C n' /2
726 21 Die Entstehung der Quantenphysik

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben

21.1 (c) Die Energie des Elektron ist sehr viel größer als seine Ruhe-
energie E0 D 0;51 MeV, und deshalb ist das Elektron stark
(a) Die im gezeigten Volumenelement dV D r2 sin # dr d# d' relativistisch, E2 D E02 C .pc/2 .pc/2 D .200 MeV/2 . Für
enthaltene Energie dV wird mit Lichtgeschwindigkeit iso- seine Wellenlänge erhält man  D hc=pc D 6;2  1015 m.
trop in alle Richtungen abgestrahlt. Der entsprechende Bei- Die De-Broglie-Wellenlänge des Elektrons ist also mindes-
trag zu der aus dem Flächenstück df am Ursprung austreten- tens 104 -mal größer als sein Radius.
den Energie ist df cos #=4 r2 , multipliziert mit der Energie
dV. Um die im Zeitintervall t austretende Energie zu be-
rechnen, integrieren wir über die Halbkugel mit Radius c t, 21.3 Der frontale Zusammenstoß kann als eindimensionales
aus der die Strahlung das Flächenstück erreichen kann. Da- Problem behandelt werden. Der Impuls des Photons vor dem
mit ist die pro Flächenelement in der Zeit t austretende Stoß sei q > 0 und sein Impuls nach dem Stoß q0 . Wir kennen
Strahlung das Vorzeichen von q0 noch nicht. Da sich das Proton anfänglich
Z in Ruhe befindet, muss sein Impuls nach dem Stoß q  q0 sein.
.; T/ cos # c .; T/ Aus der Energieerhaltung folgt
w .; T/ t D dV 2
D t ;
4 r 4 q
Halbkugel
(21.83) qc C mp c2 D jq0 jc C .mp c2 /2 C .q  q0 /2 c2 : (21.87)
Teil III

was zu beweisen war. Mit (21.10) findet man für die gesamte
Strahlungsleistung pro Flächenelement Bringen wir den ersten Term auf der rechten Seite nach links
und quadrieren, dann ergibt sich
W ca Watt
D T 4 ; D 5;370  108 : (21.84)
A 4 m2 K4 2mp c .q  jq0 j/ D .q  q0 /2  .q  jq0 j/2 : (21.88)
(b) Die auf der Erde pro Flächeneinheit ankommende Strah-
Für positive q0 verschwindet die rechte Seite, und es folgt
lungsleistung ist
q0 D q. Das Proton bleibt in Ruhe, und es gibt keinen Energie-
W  r 2 Watt übertrag. Für negative q0 ist
S
D T 4 1362 : (21.85)
A d m2 q
q0 D  : (21.89)
Der beobachtete Wert dieser sogenannten Solarkonstante ist 1 C 2q=mpc
1;367  103 Watt=m2 .
Der Energieverlust des Photons ist

21.2 2E2 1
E D .q  jq0 j/c D ; (21.90)
mp c2 1 C 2E =mp c2
(a) Die kinetische Energie eines thermischen Neutrons ist sehr
viel kleiner als seine Ruheenergie E0 D mn c2 D 939
worin E D qc die Energie des einlaufenden Photons ist. Für
MeV, und deshalb dürfen wir die nichtrelativistische Ener-
E D 1 GeV und mp c2 D 936 MeV erhalten wir E D
gie-Impuls-Beziehung Ekin D p2 =2mn D 25 MeV benutzen.
681 MeV.
Deshalb können wir schreiben:
21.4
.pc/2 D 2mn c2  Ekin D .6;85 keV/2 : (21.86)
(a) Für die Fluchtgeschwindigkeit sind die potenzielle Energie
Damit ist die De-Broglie-Wellenlänge  D hc=pc D 1;81 
und die kinetische Energie mit v D c gleich, d. h.
1010 m. Die Wellenlänge des thermischen Neutrons ist also
sehr viel größer als sein Durchmesser d D 1;7  1015 m.
(b) Die Langstreckenläuferin hat die kinetische Energie Ekin D mc2 GMm 2MG
D bzw. R D : (21.91)
mv 2 =2 D 294;44 J, die verglichen mit ihrer Ruheenergie 2 R c2
E0 D 4;76  1018 J verschwindend klein ist. Entsprechend ist
pc D 5;30  1010 J. Deshalb ist  D hc=pc D 3;8  1036 m. Die Schwarzschild-Radien des Elektrons und Protons sind
Die Langstreckenläuferin wird somit ihre Wellennatur nie
zeigen können. Re 1;353  1057 m ; Rp 2;484  1054 m : (21.92)
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 727

(b) Ihre Compton-Wellenlängen sind dagegen führt sofort auf die Quantisierung des Drehimpulses, L D n' „.
Zur Auswertung der zweiten Quantisierungsbedingung
e 2;426  1012 m; p 1;321  1015 m : (21.93) I
pr dr D nr h (21.97)
Dies bedeutet, dass es nicht möglich ist, die Elementarteil-
chen auf ihren Schwarzschild-Radius zu lokalisieren, um C

ein Schwarzes Loch zu erzeugen. Die nach der Unschär-


brauchen wir die Radien r˙ der Umkehrpunkte der Bahn. An
ferelation dazu nötige kinetische Energie übersteigt ihre
diesen verschwindet das Quadrat des radialen Impulses
Ruhenergien um viele Größenordnungen.
(c) Aus Gleichsetzen von  
e2 L2
p2r .r/ D 2mE 1 C  : (21.98)
h 2Gm Er 2mEr2
e D und R D 2
mc c
Damit sind der maximale und minimale Radius der Bahn
folgen die kritische Masse und Wellenlänge
e2  p 
 1=2  1=2 r˙ D 1 ˙ 1  2jEjL2 =me4 : (21.99)
hc 2hG 2jEj
m D ;  D :
2G c3
Die halbe Periode in .r; pr .r// beginnt z. B. beim minimalen
Radius und endet beim maximalen Radius. Die Quantisierungs-
Es sind bis auf Faktoren der Ordnung O.1/ die Planck-Mas-
bedingung (21.97) ist deshalb äquivalent zur Bedingung
se und die Planck-Länge.
ZrC

Teil III
21.5 Wir führen Polarkoordinaten r; ' in der Bahnebene ein. nr h D 2 pr .r/ dr
Dann lautet die Lagrange-Funktion für das Elektron im Cou- r
lomb-Feld (21.100)
m 2  e2 p Z p rC
LD rP C r2 'P 2 C : (21.94) dr
2 r D 2 2mjEj .r  r /.rC  r/ :
r
r
Der zu ' konjugierte Impuls p' D mr2 'P ist der erhaltene Dreh-
impuls L des Elektrons. Für gebundene Bahnen ist die erhaltene Zur Berechnung des Integrals benutzen wir (21.79) und erhalten
Energie negativ:
s
! 2me4
1 p2' e 2 nr h D  2 L: (21.101)
HD p2 C  D E < 0: (21.95) jEj
2m r r2 r
Mit L D n' „ führt die Auflösung nach der (negativen) Energie
Die erste Quantisierungsbedingung auf folgende Energieniveaus im Wasserstoffatom:
I
p' d' D 2 p' D n' h (21.96) me4
En D  mit n D nr C n' : (21.102)
C 2„2 n2
728 21 Die Entstehung der Quantenphysik

Literatur

Davisson, C.J., Germer, L.H.: Diffraction of electrons by a cry- Pauli, W.: Über den Einfluß der Geschwindigkeitsabhängigkeit
stal of nickel. Phys. Rev. 30, 705 (1927) der Elektronenmasse auf den Zeemaneffekt. Z. Phys. 31, 373
(1925)
Einstein, A.: Über einen die Erzeugung und Verwandlung
des Lichtes betreffenden heuristischen Gesichtspunkt. Ann. Planck, M.: Zur Theorie des Gesetzes der Energieverteilung im
Phys. 17, 132 (1905) Normalspektrum. VhDPG 2, 237 (1900)
Einstein, A.: Zur Quantentheorie der Strahlung. Phys. Z. 18, 121
(1917)
Endo, J., Ezawa, H., Kawasaki, T., Matsuda, T., Tonomura, A.: Weiterführende Literatur
Demonstration of single-electron buildup of an interference
pattern. Am. J. Phys. 57, 117 (1989) Hund, F.: Geschichte der Quantentheorie. 3. Aufl., Bibliogra-
Gerlach, W., Stern O.: Der experimentelle Nachweis der Rich- phisches Institut, Mannheim (1984)
tungsquantelung im Magnetfeld. Z. Phys. 9, 349; Das magne- Jammer, M.: The Conceptional Development of Quantum Me-
tische Moment des Silberatoms. Z. Phys. 9, 353 (1922) chanics. 2. Aufl., McGraw-Hill, New York (1989)
Michelson, A.A.: Light waves and their uses. University of Chi-
Teil III

cago Press, Chicago (1903)


Wellenmechanik
22
Was ist die Bedeutung der
Wellenfunktion .t; x/?

Wie bestimmt .t; x/ den


mittleren Impuls?

Wie lautet die Schrödinger-


Gleichung im äußeren
Potenzial?

In welchem Grenzfall geht


die Wellenmechanik in die
klassische Mechanik über?

Teil III
Für welche Hamilton-
Operatoren gilt die Wahr-
scheinlichkeitserhaltung?

22.1 Unbestimmtheit für materielle Teilchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730


22.2 Materiewellen für kräftefreie Teilchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732
22.3 Wellenmechanik mit Kräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740
22.4 Erhaltung der Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746
So geht’s weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 754
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_22, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 729
730 22 Wellenmechanik

Begriffe wie „Messung“ und „Vorhersage“ sind in der Quanten-


theorie sehr viel subtiler als in der klassischen Physik. Jegliche
Information, die wir über ein Quantensystem erhalten können,
kommt von Messungen, die sich immer auch auf das gemessene
System auswirken. Nur ein kombiniertes System aus mikroskopi-
schem Gegenstand und Messapparatur besitzt in dieser Theorie
wirklich physikalische Eigenschaften.
In diesem Kapitel stellen wir die von dem österreichischen Physiker
Erwin Schrödinger (1887–1961, Nobelpreis 1933 für die Weiterent-
wicklung der Quantenmechanik; Abb. 22.1) im Jahr 1926 entwickel-
te Wellenmechanik vor. Als Ausgangspunkt für die Aufstellung der
Schrödinger-Gleichung für ein allgemeines Hamilton’sches System
dient dabei die Hamilton-Jacobi-Gleichung des Systems. In späteren
Kapiteln werden wir die hier gewonnenen allgemeinen Resultate
auf spezielle und physikalisch relevante Systeme anwenden.

22.1 Unbestimmtheit für materielle


Teilchen
Teil III

Ohne gegenseitige physikalische Beeinflussung von Objekt und


Beobachtungsinstrument kann es keinen Messprozess geben.
Während in der klassischen Physik die physikalische Beeinflus-
sung des Objekts durch Messungen im Prinzip beliebig klein
gemacht werden kann, ist dies in der Quantenmechanik wegen
Abb. 22.1 Erwin Schrödinger (1887–1961), © akg/Science Photo Library der Endlichkeit von „ nicht mehr möglich. Exemplarisch zei-
gen wir, dass bei der Bestimmung von Ort und Impuls eines
Teilchens mit einem Mikroskop das Produkt von Orts- und Im-
Verglichen mit der klassischen Physik beschreitet man in der Quan- pulsunschärfe nach unten beschränkt ist und nicht null wird. Wir
tenmechanik begrifflich ein Neuland. Aufgrund des Welle-Teilchen- setzen dabei voraus, dass monochromatisches Licht aus Photo-
Dualismus ist es in der Quantenmechanik z. B. unmöglich, einem nen mit Energie E D „! und Impuls p D „k besteht und dass
Teilchen gleichzeitig einen festen Ort und einen festen Impuls zuzu- bei Kollisionen zwischen Photonen und geladenen Teilchen der
ordnen. Wir können nur noch Wahrscheinlichkeitsverteilungen für Energie-Impulssatz gilt. Daraus werden wir auf die schon von
Ort und Impuls angeben. Interferenzversuchen bekannte Teilchen-Welle-Doppelnatur der
Materie schließen.
Diese sind aber nicht unabhängig, da mit zunehmender Lokali-
sierung des Teilchens im Ortsraum die Unsicherheit über seinen
Impuls zunimmt und umgekehrt. Als Folge werden wir in der Quan- Ortsmessung
tenmechanik auf die eindeutige Objektivierbarkeit der Vorgänge
verzichten müssen, und die Gesetze werden die Form statistischer
Wir versuchen zuerst, den Ort eines Objekts durch Lichtstreu-
Gesetze annehmen.
ung zu bestimmen. Die Frequenz des einfallenden Lichtes sei
In der in diesem Kapitel vorgestellten Schrödinger’schen Wellen- , und die des gestreuten Lichtes sei  0 . Wir detektieren die ge-
mechanik wird dem materiellen Teilchen oder einem allgemeineren streute Lichtwelle mit einem Mikroskop, einer fotografischen
physikalischen System eine zeit- und ortsabhängige Wellenfunkti- Platte oder einem Zählrohr.
on zugeordnet, der die Rolle einer Wahrscheinlichkeitsamplitude Nach der Abbe’schen Theorie nimmt das beugungsbegrenzte
zukommt. Auflösungsvermögen eines Mikroskops und damit die Genau-
Zu jeder Zeit beschreibt sie den Zustand des Systems. Sie hat selbst igkeit der Ortsmessung des Teilchens in Abb. 22.2 mit zuneh-
keine anschauliche Bedeutung, aber j j2 beschreibt die Wahr- mender Wellenlänge ab.
scheinlichkeiten, mit denen die verschiedenen möglichen Lagen des Ein Mikroskop kann Objekte bis zu einer Größe xTeilchen auf-
Systems gemessen werden. Aus lassen sich auf diese Weise die lösen, die bei einem Öffnungswinkel # und einer Wellenlänge
Wahrscheinlichkeitsverteilungen von beobachtbaren Größen, z. B. des Streulichtes 0 durch die Beziehung
der Orte und Impulse, berechnen. Die Wellenfunktion erfüllt die
Schrödinger-Gleichung, deren Lösungen das zeitliche Verhalten des 0
xTeilchen (22.1)
Systems beschreiben. sin #
22.1 Unbestimmtheit für materielle Teilchen 731

Messungen und ist nicht nur dadurch bedingt, dass wir nicht
Objektlinse in der Lage sind, eine genauere Messung vorzunehmen. Eine
des Mikroskops ausführliche Begründung dieser Tatsache findet sich in Kap. 24.

Zeitmessung
y
ϑ/2
Gamma-
strahl λ Der Zeitpunkt der Streuung ist bis auf einen Fehler der Größe

Elektron 1 0
t  0
D (22.4)
 c
x
bestimmbar. Daraus folgt, dass der Zeitpunkt der Ortsmessung
Abb. 22.2 Mithilfe des Heisenberg’schen Gammastrahlenmikroskops wird
scharf bestimmbar wird im Grenzfall  0 ! 1 oder 0 ! 0.
festgestellt, wo sich das Elektron befindet. Die Position eines Elektrons wird ge-
messen, indem man es mit Licht bestrahlt und die von dem Teilchen abgelenkten Nun kann die Wellenlänge des gestreuten Lichtes aber nicht
Photonen registriert. Die Ortsbestimmung wird umso präziser, je kürzer die Wel- beliebig klein sein. Nach der Theorie des Compton-Effekts ist
lenlänge des verwendeten Lichtes ist. Weil damit jedoch der Rückstoß größer diese größer als die Wellenlänge der einlaufenden Photonen:

Teil III
wird, den ein abgelenktes Photon dem Elektron erteilt, ändert sich entsprechend
auch dessen Impuls
# h
0 D  C 2c sin2 mit c D : (22.5)
2 mc
gegeben ist. Für eine genaue Ortsbestimmung sind also eine
kurze Wellenlänge 0 und ein großer Öffnungswinkel # wün- Bei einer Ortsmessung mit #  =2 ist 0 größer oder gleich
schenswert. der Compton-Wellenlänge c des streuenden Teilchens. Des-
halb ist die Zeitauflösung der Ortsmessung an einem ruhenden
Teilchen durch die Compton-Zeit des Teilchens beschränkt:
Impulsmessung
c h
t  tc D D : (22.6)
Die Richtung des Streulichtes ist innerhalb des Öffnungswin- c mc2
kels # unbestimmt. Die Unschärfe von px;Photon ist demnach
px;Photon D „kx0 h sin #=0 . Wegen der Impulserhal- Die Compton-Zeit des Elektrons ist etwa 0;008 Attosekunden.
tung ist die Impulskomponente px;Teilchen nach dem Streuprozess Will man den Zeitpunkt der Ortsmessung bis auf die Comp-
auch nur bis auf einen Fehler der Größe ton-Zeit und den Teilchenort bis auf die Compton-Wellenlänge
h bestimmen, muss die Wellenlänge der einlaufenden Photonen
px;Teilchen D px;Photon sin # (22.2) kleiner als die Compton-Wellenlänge des Teilchens sein. Für
0
diese kurzen Wellenlängen übersteigt die Photonenenergie E
bekannt. Für eine genaue Impulsmessung sind eine große Wel- aber die Ruheenergie des streuenden Teilchens (siehe die Dis-
lenlänge 0 und ein kleiner Öffnungswinkel # erforderlich. kussion in Abschn. 21.3). Wird E aber größer als die doppelte
Ruheenergie, dann werden Paare von Teilchen und Antiteilchen
Für das Produkt von Orts- und Impulsunschärfe finden wir erzeugt. Diese spontane Paarproduktion ist ein relativistischer
Quanteneffekt, der im Rahmen der quantisierten Elektrody-
pTeilchen  xTeilchen & h: (22.3) namik sehr genau berechnet werden kann. Der Effekt setzt
einer genauen Orts- und Zeitbestimmung also eine prinzipielle
Schranke, die aber in nichtrelativistischen Systemen mit nieder-
Man könnte meinen, die Unbestimmtheitsrelation habe ihre Ur- energetischen Teilchen keine Rolle spielt.
sache in der Störung des Elektrons durch die Messung. Könnte
es sein, dass ohne diese Störung das Elektron einen wohl- Wir dürfen in einer nichtrelativistischen Quantentheorie anneh-
definierten Ort und Impuls hätte? Nach dem gegenwärtigen men, dass der Teilchenort und der Zeitpunkt der Ortsmessung
Verständnis der Quantenmechanik gilt die Unbestimmtheits- beliebig genau messbar sind. Deswegen ist Grundannahme I na-
relation aber für alle Quantenobjekte auch unabhängig von türlich.
732 22 Wellenmechanik

22.2 Materiewellen für kräftefreie


Grundannahme I
Teilchen
Für jeden Zustand eines Teilchens kann man zu jedem
Zeitpunkt eine Wahrscheinlichkeit w .t; x/ d3 x dafür ange-
ben, bei einer Messung des Teilchenortes diesen innerhalb Wir wollen nun kräftefreie Teilchen quantenmechanisch so be-
einer kleinen Umgebung des Punktes x vom Volumen d3 x schreiben, dass die Unbestimmtheitsrelationen und die soeben
zu finden. Zu jeder Zeit muss die Wahrscheinlichkeit, das formulierten Grundannahmen automatisch erfüllt sind. Die Re-
Teilchen irgendwo zu finden, gleich eins sein: lationen von de Broglie
Z E D „! und p D „k (22.13)
w .t; x/ d3 x D 1; 8t: (22.7)
und die Interferenzversuche mit materiellen Teilchen legen na-
he, eine Wellentheorie für Teilchen zu konstruieren.
Achtung Diese Annahme gilt nur im nichtrelativistischen
Grenzfall, also insbesondere nicht für Photonen. Im nichtre-
lativistischen Grenzfall kommen die Zeit und der Ort nicht
symmetrisch vor. J
Nichtrelativistische Teilchen
Eine analoge Grundannahme kann auch für Messungen des
In der klassischen Newton’schen Mechanik hat ein freies Teil-
Impulses gemacht werden. Im nichtrelativistischen Grenzfall
chen mit Geschwindigkeit v und Impuls p D mv die kinetische
sind der Zeitpunkt der Impulsmessung und der Teilchenimpuls
Energie
beliebig genau messbar, allerdings unter Einhaltung der Un-
p2
Teil III

schärferelation. Also fordern wir Grundannahme II. ED : (22.14)


2m
Grundannahme II Ordnet man dem materiellen Teilchen eine Wellenfunktion
.t; x/ zu, dann folgt aus den Beziehungen von de Broglie die
Für jeden Zustand eines Teilchens kann man zu jedem entsprechende Dispersionsrelation zwischen Kreisfrequenz und
Zeitpunkt eine Wahrscheinlichkeit wQ .t; p/ d3 p dafür an- Wellenzahlvektor
geben, bei einer Messung des Teilchenimpulses diesen in
einer kleinen Umgebung von p mit Volumen d3 p zu fin- p2 „k2
!D D : (22.15)
den. Man findet mit Sicherheit irgendeinen Impuls: 2m„ 2m
Z Die dem Teilchen zugeordnete Wellenfunktion schreibt man
wQ .t; p/ d3 p D 1; 8t: (22.8) nun als Überlagerung von ebenen Wellen
Z
.t; x/ / Q .k/ ei.kx!t/ d3 k; (22.16)
Sind w und wQ die Wahrscheinlichkeitsdichten für Ort und Im-
R3
puls des Teilchens, dann sind der mittlere Aufenthaltsort und
der mittlere Impuls zur Zeit t gleich wobei ! über die Dispersionsrelation von k abhängt. Mit den
Z Relationen von de Broglie kann man auch schreiben
hxi t D x w .t; x/ d3 x; (22.9) Z
Z .t; x/ D  Q .t; p/ eipx=„ d3 p; (22.17)
hpi t D p wQ .t; p/ d3 p: (22.10)
R3

Allgemeiner berechnen sich die Mittelwerte von Funktionen des wobei Q .t; p/ D eiEt=„ Q .0; p/
Ortes oder Impulses zur Zeit t gemäß
Z die impulsabhängige Energie (22.14) enthält.
hf .x/i t D f .x/ w .t; x/ d3 x; (22.11) Frage 1
Z Zeigen Sie den Schritt von (22.16) zu (22.17) unter Verwendung
hf .p/i t D f .p/ wQ .t; p/ d3 p: (22.12) von (22.14).

Wegen der Unbestimmtheitsrelation können die Wahrschein-


lichkeitsdichten w und wQ nicht unabhängig voneinander sein. Nach der Umkehrformel der Fourier-Transformationen ist
Im folgenden Abschnitt werden wir diese Dichten charakterisie- Z
ren und angeben, nach welchen Gesetzen sie sich mit der Zeit Q .t; p/ D  0 .t; x/ eipx=„ d3 x: (22.18)
ändern. R3
22.2 Materiewellen für kräftefreie Teilchen 733

Diese Beziehungen gelten nicht nur in drei, sondern auch in d Diese auf Max Born (1882–1970, Nobelpreis 1954 für seine
Dimensionen, wobei dann  0 D .2 „/d gilt. Wir wählen die statistische Interpretation der Wellenfunktion) zurückgehende
Konstanten  und  0 symmetrisch: Identifikation kann durch folgende Betrachtungen weiter plau-
sibel gemacht werden. Falls (22.23) gilt, findet man mit j j2 D

1 für den mittleren Aufenthaltsort eines Teilchens zur Zeit t
 D 0 D : (22.19)
.2 „/d=2 Z Z

hxi t D x j .t; x/j2 d3 x D .t; x/ x .t; x/ d3 x; (22.24)
Die Fourier-Transformation und ihre wesentlichen Eigenschaf- R3 R3
ten wurden bereits in Abschn. 13.1 diskutiert. Dort findet man
auch die Formel von Plancherel: wobei die Wellenfunktion auf eins normiert sein muss. Bei der
Z Z Fourier-Transformation geht die Multiplikation mit dem Argu-
f  .x/g.x/ dd x D fQ  .p/Qg.p/ dd p; (22.20) ment (hier x) in die Ableitung über:
Z
Rd Rd
f
x .t; p/ D  x .t; x/ eipx=„ d3 x (22.25)
für den Spezialfall f D g. Der Beweis für f ¤ g ist einfach: R3
Z
0 1 D  i„r p .t; x/ eipx=„ d3 x D i„r p Q .t; p/:
Z Z Z
f  .x/g.x/ dd x D  f  .x/ @ gQ .p/ eipx=„ dd pA dd x R3

Rd Rd Rd
Z Z   Frage 2
D f  .x/eipx=„ dd x gQ .p/ dd p Was heißt das für den Spezialfall einer ebenen Welle .x/ /

Teil III
Rd Rd
exp.iq  x=„/?
Z
D fQ  .p/Qg.p/ dd p: (22.21)
Nun benutzt man den Satz von Plancherel mit f D und g D
Rd
x in (22.24) und erhält für den mittleren Aufenthaltsort
Setzt man in dieser Gleichung f .x/ D g.x/ D .t; x/ und be- Z
rücksichtigt noch (22.17), dann folgt hxi t D i„ Q  .t; p/ r p Q .t; p/ d3 p: (22.26)
Z Z R3

j .t; x/j d x D
2 3
j Q .t; p/j2 d3 p Für die in (22.17) gegebene Zeitabhängigkeit der Wellenfunkti-
R3 R3 on im Impulsraum ist
Z
D j Q .p/j2 d3 p:  
(22.22) i„r p Q .t; p/ D eiEp t=„ i„r p C t r p E Q .0; p/: (22.27)
R3
Für ein freies Teilchen ist r p E D p=m; dies führt auf ein einfa-
Man sieht hier, dass die Integrale der nichtnegativen und zeit- ches Gesetz zur Beschreibung der Bewegung freier Teilchen.
abhängigen Dichten j .t; x/j2 im Ortsraum und j Q .t; p/j2 im
Impulsraum nicht von der Zeit abhängen. Man kann sie eins
Mittlere Bewegung eines freien Teilchens
wählen und diese Normierung auf eins bleibt dann zu allen
Zeiten erhalten. Diese Eigenschaften führen zu einer Annahme Im Mittel bewegt sich das freie Teilchen gleichförmig und
bezüglich der Wahrscheinlichkeitsdichten im Orts- und Impuls- geradlinig mit der mittleren Geschwindigkeit hpi0 =m:
raum.
Z
p hpi0
hxi t D hxi0 C t wQ .0; p/ d3 p D hxi0 C t:
m m
Wahrscheinlichkeitsdichten im Orts- und Impulsraum R3
(22.28)
Das Betragsquadrat der auf eins normierten Wellenfunk- Auf der rechten Seite stehen die Mittelwerte zur Anfangs-
tion im Ortsraum ist die Wahrscheinlichkeitsdichte im zeit.
Ortsraum und das Betragsquadrat ihrer Fouriertransfor-
mierten ist die Wahrscheinlichkeitsdichte im Impulsraum:
Der Erwartungswert des Ortes hxi genügt damit den Gesetzen
w .t; x/ D j .t; x/j2 und wQ .t; p/ D j Q .t; p/j2 : der klassischen Newton’schen Mechanik. Aus den Annahmen
(22.23) (22.23) folgen auch die Unbestimmtheitsrelationen zwischen
Ort und Impuls, wie bereits in Abschn. 21.3 gezeigt wurde.
734 22 Wellenmechanik

Frage 3
Für eine Welle mit allgemeiner Dispersionsrelation !.k/ defi- Zeitumkehr
niert man die in Abschn. 16.2 eingeführte Gruppengeschwin- Die zeitliche Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsvertei-
digkeit v gr D r k !. Mit den Beziehungen von de Broglie ist lung für eine Lösung der Schrödinger-Gleichung zeichnet
v gr D r p E. Überzeugen Sie sich davon, dass im allgemeinen keine Richtung der Zeit aus. Daraus folgt die Zeitumkehr-
Fall (22.28) durch die Beziehung invarianz der quantenmechanischen Gesetze.
hxi t D hxi0 C hv gr i0 t (22.29)
ersetzt wird. Gehen Sie dabei von (22.27) aus. Nach dem Relativitätsprinzip darf eine physikalische Theorie
kein Inertialsystem auszeichnen. Sind die typischen Geschwin-
digkeiten sehr viel kleiner als die Lichtgeschwindigkeit, dann
Nun kehren wir zur Fourier-Darstellung (22.17) der Wellen- sollten die Gesetze einer mikroskopischen Quantenmechanik al-
funktion zurück. Die auf beiden Seiten von (22.17) durchge- so kovariant unter den Symmetrietransformationen der nichtre-
führte Ableitung von .t; x/ nach der Zeit oder den Ortskoor- lativistischen Physik, d. h. den Galilei-Transformationen, sein.
dinaten führt unter dem Impulsintegral zu einer Multiplikation Bewegt sich das Inertialsystem I 0 relativ zum Inertialsystem I
mit der Energie oder den Impulskoordinaten: mit der Geschwindigkeit v , dann ist
Z
@
i„ .t; x/ D  E Q .t; p/ eipx=„ d3 p; x D x0 C v t; t D t0 ; (22.33)
@t
R3
Z (22.30) wobei .t; x/ die kartesische Koordinaten von I und .t0 ; x0 / die-
„2  .t; x/ D  p2 Q .t; p/ eipx=„ d3 p: jenigen von I 0 sind. In Aufgabe 22.1 am Ende des Kapitels
beweisen wir die Kovarianz der Schrödinger-Gleichung unter
Teil III

R3
Galilei-Transformationen.
Da Energie und Impuls über E D p2 =2m verknüpft sind, erfüllt
die Wellenfunktion somit eine lineare partielle Differenzialglei-
Galilei-Transformationen
chung mit erster Zeitableitung und zweiten Ableitungen nach
den Raumkoordinaten. Ohne äußere Felder transformiert eine Lösung 0 .t0 ; x0 /
der Schrödinger-Gleichung in I 0 unter einer Galilei-
Transformation in die Lösung
Schrödinger-Gleichung für ein freies Teilchen
Die Materiewelle für ein freies Teilchen erfüllt die zeitab- mv 2
hängige Schrödinger-Gleichung .t; x/ D ei.Etmv x/=„ .t0 ; x0 /; ED (22.34)
2

@ „2 der Schrödinger-Gleichung im Inertialsystem I .


i„ .t; x/ D   .t; x/: (22.31)
@t 2m
Einem in I 0 ruhenden Teilchen ordnet man eine konstante Wel-
Kennt man die Wellenfunktion zu irgendeiner festen Zeit, dann lenfunktion 0 zu. In I bewegt sich dann das Teilchen mit
bestimmt die Schrödinger-Gleichung die Wellenfunktion zu je- der Geschwindigkeit v und hat die Wellenfunktion .t; x/ D
der anderen Zeit. Man beachte, dass für eine anfänglich reelle 0 exp.ip  x=„  iEt=„/.
Wellenfunktion .0; x/ die Lösung zu späteren Zeiten im All-
gemeinen nicht mehr reell sein wird. Daraus folgt schon, dass
selbst nicht beobachtbar ist, da Observablen reell sein müssen.
Allgemeine Lösung
Löst nun .t; x/ die zeitabhängige Schrödinger-Gleichung,
dann löst auch die in der Zeit rückwärts propagierende Wellen- der freien Schrödinger-Gleichung
funktion

T .t; x/  .t; x/ (22.32) Wir konstruieren nun die Lösung der freien Schrödinger-Glei-
chung (22.31) für eine beliebige Anfangsbedingung .0; x/.
die Schrödinger-Gleichung.
Dazu untersuchen wir das Anfangswertproblem
Frage 4
Zeigen Sie, dass die Schrödinger-Gleichung löst. @ „2
T i„ D  mit .0; x/ D 0 .x/: (22.35)
@t 2m
Zu jeder in die Zukunft propagierenden Lösung existiert also Das Vorgehen ähnelt der Konstruktion von Green’schen Funk-
eine in die Vergangenheit propagierende Lösung T mit Wahr- tionen in der Elektrostatik in Kap. 12 oder in der Elektro-
scheinlichkeitsdichte wT .t; x/ D w .t; x/. dynamik in Abschn. 19.1. Allerdings handelt es sich bei der
22.2 Materiewellen für kräftefreie Teilchen 735

Vertiefung: Relativistische Wellengleichung

Die relativistisch korrekte Beziehung zwischen Energie und dann lautet die allgemeine Lösung
Impuls lautet bekanntlich Z

.t; x/ D d3 p ei.pxEt/ . 0 .p/ C i„ 0 .p/=E/
E2 D p2 c2 C .mc2 /2 : 2
Z

C d3 p ei.pxCEt/ . 0 .p/  i„ 0 .p/=E/ :
Ordnet man dem relativistischen freien Teilchen eine Wel- 2
lenfunktion .t; x/ zu, dann erwartet man folgende Disper- Für eine zeitsymmetrische Lösung verschwindet 0 , und die
sionsrelation zwischen Kreisfrequenz und Wellenzahlvektor: Lösungen mit positiver und negativer Energie tragen mit
q gleichem Gewicht zur Lösung .t; x/ bei.
!D k2 c2 C .mc2 =„/2 : In der Quantentheorie können die Lösungen mit negativer
Energie nicht weggelassen werden, ohne in Widersprüche
Dabei identifiziert man die Teilchengeschwindigkeit mit der zu geraten. Andererseits sind diese Lösungen mit negativen
Gruppengeschwindigkeit des Wellenpakets: Energien katastrophal, da mit zunehmender Geschwindigkeit
die Energie des Teilchens abnimmt. Das ist physikalisch un-
   pc 
kc sinnig. Für eine Überlagerung von Lösungen mit positiver
v gr D r k ! D cD c D r p E: und negativer Energie ist das Raumintegral von j .t; x/j2
! E
nicht mehr zeitunabhängig. Das Betragsquadrat der Wellen-
Diese ist für massive Teilchen kleiner als die Lichtgeschwin- funktion kann also nicht mehr als Aufenthaltswahrschein-

Teil III
digkeit. Dagegen bewegt sich die Phase einer ebenen Welle lichkeit für den Teilchenort interpretiert werden. Hier sieht
mit Überlichtgeschwindigkeit: man nochmals, dass die Annahmen der nichtrelativistischen
Quantenphysik (22.23) in einer relativistischen Quantenphy-
sik nicht mehr haltbar sind.
! c2
jv ph j D D > c:
jkj jv j Tatsächlich existiert keine konsistente relativistische Ein-
teilchenbeschreibung – eine relativistische Quantentheorie
Auch im relativistischen Fall hat die Wellenfunktion die Fou- ist notwendigerweise immer eine Mehrteilchentheorie, in
rier-Entwicklung (22.17). Da Energie und Impuls aber wie der Teilchen-Antiteilchen-Paare erzeugt werden können. Mit
wie oben angegeben verknüpft sind, erfüllt die Wellenglei- derartigen Effekten ist immer dann zu rechnen, wenn die
chung nun eine lineare Differenzialgleichung mit zweiter Energie des durch die relativistische Gleichung beschriebe-
Zeitableitung und zweiten Ableitungen nach den Raumko- nen Einzelteilchens die der Ruhemasse eines (geeigneten)
ordinaten: anderen Teilchens oder Teilchenpaares äquivalente Energie
übersteigt.
   mc 2
1 @2
 .t; x/ D  .t; x/: Die relativistische Klein-Gordon-Gleichung wurde bereits
c2 @t2 „ 1925 von Schrödinger aufgestellt, um das Spektrum des
Wasserstoffs zu erklären. Er glaubte anfänglich, dass sie das
Dies ist die nach dem schwedischen Physiker Oskar Benja- Elektron im Wasserstoffatom beschreibt. Aber schnell zeig-
min Klein (1894–1977) und dem deutschen Physiker Walter te sich, dass sie die Feinstruktur des Wasserstoffspektrums
Gordon (1893–1939) genannte Klein-Gordon-Gleichung: nicht erklären kann (die Feinstruktur des Wasserstoffatoms
  wird in Kap. 30 behandelt). Schrödinger hat seine Resulta-
m2 c2 te nicht publiziert, und dies mag erklären, warum die Klein-
C 2 .t; x/ D 0:
„ Gordon-Gleichung nicht seinen Namen trägt.
Unabhängig von Klein und Gordon fand auch Wladimir Fock
Neben den ebenen Wellen mit positiver Energie hat die Glei-
(1898–1974) die Gleichung, die deshalb auch Klein-Fock-
chung nun auch Lösungen mit negativer Energie:
Gordon Gleichung heißt. Heute wissen wir aber, dass sie nicht
p Elektronen beschreibt, sondern Teilchen ohne Spin, zum Bei-
E D  p2 c2 C .mc2 /2 : spiel Pionen oder Kaonen. Pionische und kaonische Atome,
dies sind Atome, bei denen ein Hüllenelektron durch ein nega-
Im Gegensatz zur Schrödinger-Gleichung enthält die Klein- tiv geladenes Pion oder Kaon ersetzt wurde, werden durch die
Gordon-Gleichung die zweite Ableitung nach der Zeit, und Klein-Gordon-Gleichung richtig beschrieben. Relativistische
jede Lösung ist eindeutig durch Angabe von 0 .x/ D Elektronen werden dagegen durch die wichtige Dirac-Glei-
.0; x/ und 0 .x/ D @ t .0; x/ bestimmt. Sind 0 .p/ und chung beschrieben. Mehr dazu findet man im Kasten „Vertie-
0 .p/ die Fourier-Transformierten von 0 .x/ und 0 .x/, fung: Die Dirac-Gleichung und der Spin“ in Kap. 29.
736 22 Wellenmechanik

Schrödinger-Gleichung um eine homogene Differenzialglei-


chung und nicht um eine inhomogene Differenzialgleichung, Der freie Propagator
wie sie in der Elektrodynamik oft auftritt.
Die Lösung der freien Schrödinger-Gleichung mit An-
Im ersten Schritt löst man das Anfangswertproblem für die spe- fangsbedingung .0; x/ D 0 .x/ lautet
zielle Anfangsbedingung
Z
0 .x/ D ı.x  y/; (22.36) .t; x/ D K0 .t; x  y/ 0 .y/ d3 y (22.43)
wobei auf der rechten Seite die 3-dimensionale ı-Distributi- R3

on im Ortsraum steht. Man bezeichnet die entsprechende, von


mit dem Integralkern (22.41), oft auch Propagator ge-
xy abhängige partikuläre Lösung der freien Schrödinger-Glei-
nannt.
chung mit K0 .t; x  y/. Sie wird auch Integralkern genannt.
Die Fourier-Transformierte der Delta-Distribution in (22.36) ist
eine ebene Welle, Wegen (22.42) erfüllt .t; x/ die geforderte Anfangsbedingung,
Z und wegen der Linearität der Schrödinger-Gleichung ist die li-
Q .0; p/ D  ı.x  y/ eipx=„ d3 p D  eipy=„ ; (22.37) neare Superposition der Lösungen K0 .t; x  y/ in (22.43) auch
wieder eine Lösung der Schrödinger-Gleichung. Sie ähnelt den
R3
Lösungen der inhomogenen partiellen Differenzialgleichungen
und mit E D p2 =2m führt die Fourier-Transformation (22.17) in der Elektrodynamik mithilfe von Green’schen Funktionen.
auf folgende Integraldarstellung der gesuchten Lösung im Orts- Wenn wir das Zerfließen von Wellenpaketen besprechen, wer-
raum: den wir das Faltungsintegral (22.43) für eine Gauß-Funktion 0
Z berechnen.
Teil III

2
K0 .t; x  y/ D  2 ei.p.xy/p t=2m/=„ d3 p: (22.38)
Für allgemeinere Systeme wird der Propagator jeweils von x
R3 und y einzeln abhängen und nicht nur von ihrer Differenz. Dann
Im Klammerausdruck im Exponenten ergänzen wir quadratisch hat die Lösung der zeitabhängigen Schrödinger-Gleichung die
(wobei wir vorübergehend x  y D  setzen): Form Z
 .t; x/ D K.t; x; y/ 0 .y/ d3 y: (22.44)
p2 t m m 2 t
p  D 2  p   : (22.39) R3
2m 2t t 2m
Man interpretiert dieses Ergebnis wie folgt: Der Propagator
Setzt man noch p  m=t D q, dann erhält man
K.t; x; y/ ist die Wahrscheinlichkeitsamplitude dafür, dass das
Z
2 Teilchen in der Zeit t von y nach x propagiert. In (22.44) wird
K0 .t; / D  2 eim =2t„ eitq =2m„ d3 q:
2
(22.40) der Propagator von y nach x mit der Wahrscheinlichkeitsampli-
R3 tude, das Teilchen anfänglich am Ort y zu finden, multipliziert.
Nach dem Superpositionsprinzip wird dieses Produkt über alle
Der Integrand fällt im Unendlichen nicht ab, und das Integral
Anfangspunkte integriert.
ist nicht wohldefiniert. Deshalb führt man zuerst einen konver-
genzerzeugenden Faktor ein, indem man im Exponent q durch Der Übergang von y nach x in der Zeit t Ct0 kann in zwei Schrit-
q D .1i"/` ersetzt. Für jedes positive " existiert das Gauß’sche ten geschehen. Entsprechend ist der Propagator K.t C t0 ; x; y/
Integral, und man erhält für " ! 0 das Resultat gleich dem Produkt der Propagatoren K.t; x; z/ und K.t0 ; z; y/
 m 3=2 integriert über alle Zwischenorte z.
eim.xy/ =2„t :
2
K0 .t; x  y/ D (22.41)
2 i„t
Propagation in zwei Schritten
Frage 5
Der Propagator erfüllt die Konvolutionseigenschaft
Rechnen Sie nach, dass dieser Kern K0 tatsächlich die freie
Schrödinger-Gleichung (22.35) erfüllt. Z
K.t C t0 ; x; y/ D K.t; x; z/K.t0 ; z; y/ d3 z: (22.45)
Aus der Fourier-Darstellung (22.38) folgt auch, dass der Kern
K0 die geforderte Anfangsbedingung erfüllt:
In Aufgabe 22.3 wird die Konvolutionseigenschaft für den Pro-
lim K0 .t; x  y/ D ı.x  y/: (22.42) pagator K0 des freien Teilchens auf der reellen Achse bewiesen.
t!0

Die Lösung des allgemeinen Anfangswertproblems (22.35) er- Frage 6


gibt sich nun durch eine Faltung (die Faltung von Funktionen Überprüfen Sie, dass daraus dieselbe Eigenschaft für den Pro-
wurde bereits in Abschn. 13.1 eingeführt) der partikulären Lö- pagator K0 .t; x  y/ des freien Teilchens im R3 folgt.
sung (22.41) mit der anfänglichen Wellenfunktion.
22.2 Materiewellen für kräftefreie Teilchen 737

Zerfließen von Wellenpaketen und die De-Broglie-Relationen führen dann, ähnlich wie in drei
Dimensionen, auf die freie Schrödinger-Gleichung in d Dimen-
sionen:
Ein anfänglich lokalisiertes Wellenpaket 0 .x/ zerfließt mit
fortschreitender Zeit. Dies folgt für eine anfängliche Wellen- @ .t; x/ „2 Xd
@2
funktion 0 , deren Betrag integrabel ist, sofort aus der Unglei- i„ D   .t; x/; D : (22.50)
chung @t 2m iD1
@x2i
ˇZ ˇ Z
ˇ ˇ Um die partikuläre Lösung für die spezielle Anfangsbedingung
ˇ f .x/g.x/ d3 x ˇ  jf .x/j jg.x/j d3 x; (22.46)
ˇ ˇ 0 .x/ D ı.x  y/ zu finden, bemerken wir, dass der Propagator
in drei Dimensionen faktorisiert:
angewandt auf die allgemeine Lösung der freien Schrödin-
ger-Gleichung (22.43): Der Betrag des Propagators der freien Y
3

Schrödinger-Gleichung in (22.41) ist nämlich ortsunabhängig, K0 .t; x  y/ D K0 .t; xi  yi /: (22.51)


iD1
sodass
ˇZ ˇ
ˇ ˇ Der auf der rechten Seite auftretende Faktor
j .t; x/j D ˇˇ K0 .t; x  y/ 0 .x/ d3 y ˇˇ
 m 1=2
 m 3=2 Z eim.xy/ =2„t
2
(22.47) K0 .t; x  y/ D (22.52)
C 2 i„t
 j 0 .y/j d3 y D 3=2
2 „t t
löst die freie Schrödinger-Gleichung in einer Dimension und
mit einer zeitunabhängigen Konstanten C. Also nimmt die strebt für kleine Zeiten gegen ı.x  y/. Umgekehrt ist der freie
Propagator in d Dimensionen das Produkt von d eindimensio-

Teil III
Wahrscheinlichkeitsdichte mit der dritten Potenz der Zeit ab:
nalen freien Propagatoren:
C2
w .t; x/ D j .t; x/j2  : (22.48)
t3 Y
d
K0 .t; x  y/ D K0 .t; xi  yi /
Die Breite .t/ eines Wellenpakets muss jedoch linear mit der iD1 (22.53)
Zeit zunehmen, damit die Wahrscheinlichkeit dafür, das freie  m d=2
eim.xy/ =2„t :
2
Teilchen irgendwo anzutreffen, stets eins ist: D
2 i„t
Z
C2 3
1D w .t; x/ d3 x /  .t/ H) .t/ t: (22.49) Frage 7
t3
R3 Überzeugen Sie sich davon, dass dieser Propagator die freie
Schrödinger-Gleichung mit Anfangsbedingung 0 .x/ D ı.x 
Das Zerfließen der Wahrscheinlichkeitsdichte (22.48) ist in y/ in d Dimensionen löst, wenn K0 .t; x  y/ die eindimensionale
Übereinstimmung mit der Geometrie des euklidischen Raumes Schrödinger-Gleichung mit Anfangsbedingung ı.x  y/ löst.
R3 : Für ein freies Teilchen wächst die Ausdehnung des Gebiets,
in dem es sich aufhält, linear mit der Zeit .t/ / t. Das Volu-
men des Gebiets wächst entsprechend mit t3 , und wegen der Die allgemeine Lösung des Anfangswertproblems erhält man
Wahrscheinlichkeitserhaltung muss dann die (typische) Wahr- wieder durch eine Faltung des Propagators mit der anfänglichen
scheinlichkeitsdichte mit t3 abnehmen. In d Dimensionen Wellenfunktion:
wächst das Volumen mit td , und wir erwarten, dass w .t; x/ 
C2 =td gilt.  m d=2 Z
eim.xy/ =2„t 0 .y/ dd y: (22.54)
2
.t; x/ D
2 i„t
Rd

Schrödinger-Gleichung Ähnlich wie in drei Dimensionen zerfließt jedes Wellenpaket in


für ein freies Teilchen im Rd der Zukunft:

C C2
Schränken wir die Teilchenbewegung auf eine Ebene oder auf j .t; x/j  ; w .t; x/  : (22.55)
t d=2 td
eine Gerade ein, dann wird die Wahrscheinlichkeitsamplitude
durch eine Wellenfunktion .t; x/ mit x 2 R2 oder .t; x/ mit Mit zunehmender Raumdimension hat das freie Teilchen mehr
x 2 R beschrieben. Wir betrachten hier etwas allgemeiner die Richtungen, in die es entweichen kann, und entsprechend
Materiewelle .t; x/ für ein freies Teilchen im d-dimensionalen schneller zerfließt die Wahrscheinlichkeitsdichte w .t; x/. We-
euklidischen Raum mit Koordinaten x 2 Rd . Die nichtrelati- gen der Zeitumkehrinvarianz der Wellenmechanik zerfließt das
vistische Beziehung zwischen Energie und Impuls E D p2 =2m Wellenpaket auch, wenn die Zeit (in Gedanken) rückwärts läuft.
738 22 Wellenmechanik

Gauß’sche Wellenpakete
|ψ(x, t)|2

Anfänglich werde ein freies Teilchen auf der Linie durch


eine Gauß’sche Funktion beschrieben:
t=0
 1=4 x2 =402
0 .x/ D 2 02 e : (22.56)

Die zugehörige anfängliche Wahrscheinlichkeitsdichte


t1 > 0
 1=2 x2 =202 t2 > t1
w .x; 0/ D j 0 .x/j
2
D 2 02 e (22.57)
t3 > t2

ist eine am Ursprung konzentrierte Gauß-Verteilung der


Breite 0 . Mithilfe der Gauß’schen Integralformel x
Z
Abb. 22.3 Das Betragsquadrat der Wellenfunktion für ein freies Teil-
dx e˛x
2 =2Cˇx
D .2 =˛/1=2 e ˇ
2 =2˛
; (22.58) chen mit anfänglich Gauß’scher Wellenfunktion. Mit fortschreitender
R Zeit zerfließt das Paket
J
gültig für Re .˛/ > 0, sieht man, dass 0 normiert ist.
Frage 8
Teil III

Für ˇ D 0 wurde das Integral in Abschn. 13.1 bestimmt. Ein anfänglich im Bereich 0 lokalisiertes (Gauß’sches) Wel-
Überzeugen Sie sich mithilfe einer quadratischen Ergän- lenpaket verdoppelt nach der Zeit T D 6m02 =„ seine Größe.
zung davon, dass die Formel auch für ˇ ¤ 0 gilt. Überzeugen Sie sich davon, dass für ein 1 g schweres Mar-
morkügelchen, lokalisiert innerhalb von 0;1 mm, diese Verdop-
pelungszeit etwa 1;8  1016 Jahre, also das 1:300:000-fache
Das Resultat (22.54) führt auf das Gauß’sche Integral, Alter des Universums, ist. Dagegen ist für ein freies Elek-
tron, anfänglich lokalisiert innerhalb eines Atomdurchmessers
.t; x/ von etwa 0;1 nm, die Verdoppelungszeit mikroskopisch klein,
 1=2 Z T 5;2  1016 s.
1 m 2 =2„ty2 =2 2
D eim.xy/ 0 dy;
.2 /3=4 i„t0
R

und kann mit obiger Integralformel berechnet werden: Korrespondenzregeln


 1=4 x2 =40 t
.t; x/ D 2  t2 e ; In diesem Abschnitt behandeln wir die wichtigen Korrespon-
(22.59) denzregeln im Orts- und Impulsraum. Dabei wollen wir anneh-
i„t
wobei  t D 0 C : men, dass die auftretenden Wellenfunktionen auf eins normiert
2m0 sind. Zuerst berechnen wir den mittleren Impuls eines Teilchens
mithilfe der Wahrscheinlichkeitsdichte im Impulsraum:
Die Wahrscheinlichkeitsdichte ist damit zu allen Zeiten Z Z
eine Gauß’sche Funktion, hpi t D p wQ .t; p/ d p D
3 Q  .t; p/p Q .t; p/ d3 p: (22.62)
 1=2 x2 =2jt j2 R3 R3
w .t; x/ D 2 j t j2 e ; (22.60)
Nun verfahren wir ähnlich bei der Berechnung des mittleren Or-
allerdings mit zeitabhängiger Breite j t j gegeben durch tes in (22.25). Bei einer Fourier-Rücktransformation geht die
Multiplikation mit dem Impuls in die Ableitung nach dem Ort
 2 über:
„t Z
j t j2 D 02 C : (22.61)
2m0 p Q .t; p/ D  .i„r x .t; x// eipx=„ d3 x: (22.63)
R3
Die Breite ist minimal bei der Präparation. In der Zukunft
und Vergangenheit wächst sie für große Zeiten linear mit Die Fourier-Rücktransformierte von p Q .t; p/ ist also
der Zeit an, wie in Abb. 22.3 dargestellt. „ „
r x .t; x/ D .Op /.t; x/ mit pO D r x: (22.64)
i i
22.2 Materiewellen für kräftefreie Teilchen 739

Mit dem Satz von Plancherel finden wir dann für den mittleren berechnet werden, wobei auf eins normiert ist. Die Schreib-
Impuls in der Ortsdarstellung: weise hOiO t betont, dass Observablen in der Quantenmechanik
Z Operatoren zugeordnet sind. Die explizite Form der linearen
 „
hpi t D .t; x/Op .t; x/ d3 x mit pO D r : (22.65) Operatoren hängt davon ab, ob man mit Wellenfunktionen
i im Orts- oder Impulsraum arbeitet. Man spricht in diesem
R3
Zusammenhang von der Orts- und Impulsdarstellung der Quan-
Wir erhalten somit im Ortsraum den wichtigen Zusammenhang tenmechanik. Später werden uns noch weitere Darstellungen
begegnen. Die obigen Betrachtungen führen uns ganz natürlich
auf die linearen Operatoren.

pO D r x: (22.66)
i
Lineare Operatoren
Die klassischen Observablen für ein Teilchen sind Funk-
Ähnlich findet man für den Erwartungswert einer Funktion f .p/
tionen f .x; p/ seiner Orts- und Impulskoordinaten. Der
des Impulses
Übergang zur Quantenmechanik erfolgt, indem den Ko-
Z

ordinaten x; p die Operatoren xO ; pO zugeordnet werden,
hf .p/i t D .t; x/f .Op/ .t; x/ d3 x: (22.67) wodurch aus f .x; p/ ein linearer Operator f .Ox; pO / wird.

Damit ist es uns gelungen, neben Erwartungswerten von Funk-


tionen des Ortes, Achtung Die Zuordnung ist oft nicht eindeutig und wird
Z durch physikalische Forderungen weiter eingeschränkt. Die
 wichtigste Forderung ist, dass die Erwartungswerte von Obser-
hf .x/i t D .t; x/f .x/ .t; x/ d3 x; (22.68)

Teil III
vablen reell sein müssen. Dies führt zur Bedingung, dass die
auch Erwartungswerte von Funktionen des Impulses im Orts- zugeordneten linearen Operatoren hermitesch sein müssen. Dies
raum zu charakterisieren, ohne die Impulsverteilungsfunktion wird weiter unten noch ausführlich besprochen. J
wQ zu bemühen. Abschließend bestimmen wir den Erwartungswert der impuls-
abhängigen Energie. Mit der Zeitabhängigkeit von Q .t; p/ in
Bei der Berechnung des Erwartungswertes von f .x/ multipli-
(22.17) gilt im Impulsraum
ziert man die Wellenfunktion .t; x/ mit f .x/, multipliziert mit
Z
der komplex konjugierten Wellenfunktion und integriert über
den Raum. Bei der Berechnung des Erwartungswertes von f .p/ hEi t D E wQ .t; p/ d3 p
ersetzt man p durch den Impulsoperator pO in (22.66), wirkt dann R3
Z (22.73)
mit dem Differenzialoperator f .Op/ auf .t; x/, multipliziert mit
 D Q  .t; p/ i„@ t Q .t; p/ d3 p:
.t; x/ und integriert über den Raum.
R3
Die Erwartungswerte können auch mit der auf eins normierten
Wellenfunktion im Impulsraum berechnet werden. Im Impuls- Die Fourier-Rücktransformation geschieht bei fester Zeit, so-
raum ergeben sich dass die Zeitableitung im Impulsraum in die Zeitableitung im
Z Ortsraum übergeht. Mit dem Satz von Plancherel folgt
hf .p/i t D Q  .t; p/ f .p/ Q .t; p/ d3 p; (22.69) Z

Z hEi t D .t; x/ i„@ t .t; x/ d3 x: (22.74)
hf .x/i t D 
.t; p/ f .Ox/ Q .t; p/ d3 p (22.70) R3

Neben Ort und Impuls wird also auch die Energie durch einen
mit Ortsoperator xO D i„r p . Wir erhalten also im Impulsraum auf die Wellenfunktionen wirkenden linearen Operator darge-
den wichtigen Zusammenhang stellt.

xO D i„r p : (22.71) Zusammenfassung Korrespondenzregeln


Die gewonnenen Übersetzungsvorschriften sind die Kor-
Im Impulsraum wird f .p/ zum Multiplikationsoperator und f .Ox/ respondenzregeln im Orts- und Impulsraum:
zum Differenzialoperator. Wir folgern, dass in der Quantenme-
chanik die Observablen Ort und Impuls als lineare Operatoren Observable klassisch Ortsraum Impulsraum
xO und pO auf die Wellenfunktionen wirken und die Erwartungs- Energie E i„@ t i„@ t
werte dieser Observablen nach der Vorschrift Ort x xO D x xO D i„r p
Z Impuls p pO D i„r x pO D p
O tD
hOi  O
O (22.72)
740 22 Wellenmechanik

Deutung von als Wahrscheinlichkeitsamplitude durch A-prio-


Dabei bedeutet xO D x, dass der lineare Operator xO , ange- ri-Bedingungen eingeschränkt:
wandt auf eine Wellenfunktion .t; x/ im Ortsraum, diese
mit dem Argument multipliziert, xO .t; x/ D x .t; x/. Die Wellengleichung sollte linear sein. Dann besitzen ihre
Ähnlich gilt pO Q .t; p/ D p Q .t; p/. Lösungen die für Wellen charakteristische Superpositionsei-
genschaft, gemäß welcher die Linearkombination mehrerer
Lösungen wieder eine Lösung der Gleichung ist.
Die Wellengleichung sollte eine Differenzialgleichung ers-
ter Ordnung in der Zeit sein. Das entspricht der Forderung,
Schrödinger-Gleichung dass die -Funktion zu einer festen Zeit t0 den Zustand eines
und Korrespondenzregeln abgeschlossenen Systems vollständig determiniert: Ist die
Differenzialgleichung nämlich erster Ordnung in der Zeit,
dann bestimmt .t0 / die Wellenfunktion zu allen Zeiten in
Die klassische Beziehung zwischen Energie und Impuls eines der Zukunft und der Vergangenheit.
nichtrelativistischen freien Teilchens ist E D p2 =2m. Nach den
Korrespondenzregeln im Ortsraum werden E und p zu Differen-
zialoperatoren, die auf Wellenfunktionen wirken. Entsprechend Wäre die Wellengleichung zweiter Ordnung in der Zeit, so
wird die klassische Beziehung zwischen Energie und Impuls zu müsste man die Wellenfunktion und ihre Zeitableitung zu ei-
einer auf Wellenfunktionen wirkenden Differenzialgleichung: ner festen Zeit t0 spezifizieren, damit ihre zeitliche Entwicklung
bestimmt ist. Der Zustand des Systems wäre dann nicht mehr al-
@ .t; x/ pO 2 lein durch die Wellenfunktion .t0 / bestimmt.
i„ D .t; x/ D H0 .Op/ .t; x/: (22.75)
@t 2m
Teil III

Im letzten Ausdruck tritt die Hamilton-Funktion des freien Teil-


chens auf. Darin wird der Impuls durch den Impulsoperator Ein Teilchen im Potenzial
ersetzt, und entsprechend heißt HO0 D H O 0 .Op/ Hamilton-Opera-
tor. In dieser Form erweist sich die Schrödinger-Gleichung als Die auf das Teilchen einwirkende Kraft sei eine Potenzialkraft,
verallgemeinerbar. F D r V, mit einem auf der Skala der Wellenlänge des Teil-
chens langsam veränderlichen Potenzial V.x/. Die Energie
Schrödinger-Gleichung im Impulsraum
p2
Im Impulsraum ist pO ein Multiplikationsoperator, und die ED C V.x/ (22.78)
2m
freie Schrödinger-Gleichung lautet
ist eine zeitunabhängige Konstante der Bewegung und bestimmt
@ Q .t; p/ p2 Q den ebenfalls langsam veränderlichen Impulsbetrag jp.x/j. Aber
i„ D H0 .Op/ Q .t; p/ D .t; p/: (22.76) auch die Richtung von p ändert sich nur langsam über eine
@t 2m
Wellenlänge. Dies folgt aus (22.78) und durch Lösung der Ha-
milton’schen Gleichungen
Der Hamilton-Operator ist nun ein Multiplikationsoperator, der
@H @H
die Wellenfunktion im Impulsraum mit H0 .p/ multipliziert. Die xP D ; pP D  : (22.79)
Lösung dieser gewöhnlichen Differenzialgleichung ist @p @x

Q .t; p/ D eitp2 =2m„ Q 0 .p/: Der Idee von de Broglie folgend ordnet man dem Teilchen eine
(22.77)
quasiebene Welle zu,
Bei der Fourier-Transformation in den Ortsraum geht das Pro-
dukt auf der rechten Seite in eine Faltung über und man gewinnt .t; x/ D ei.p.x/xEt/=„ ; (22.80)
wieder die Lösung (22.43).
wobei E und p über die Dispersionsrelation (22.78) verbunden
sind. Vernachlässigt man nun die Ortsabhängigkeit des langsam
variierenden Impulses, so ist
22.3 Wellenmechanik mit Kräften i„@ t .t; x/ D E .t; x/; „2  .t; x/p2 .x/ .t; x/:
(22.81)
Nach dem Studium der Materiewellen für freie Teilchen un- Ersetzt man durch ein Gleichheitszeichen, dann impliziert
tersuchen wir nun allgemeinere Systeme mit Wechselwirkung. (22.78) die zeitabhängige Schrödinger-Gleichung für ein Teil-
Deren Wellenmechanik kann man nicht deduktiv ableiten. Ihre chen im Potenzial:
Rechtfertigung besteht in der Übereinstimmung ihrer Vorher-
sagen mit den experimentell gewonnenen Ergebnissen. Nichts- @ .t; x/ „2
i„ D  .t; x/ C V.x/ .t; x/: (22.82)
destoweniger wird die Wahl der Wellengleichung durch die @t 2m
22.3 Wellenmechanik mit Kräften 741

Anwendung: COW-Experiment

Roberto Colella, Albert Overhauser und Samuel Werner de- Abschätzung zeigt
monstrierten 1975 in einem viel beachteten Experiment, dass
pO 2z  mgx 2  
 2
pO x pO 2x
Neutronen, die im Gravitationsfeld der Erde auf verschie- 1C ;
denen Wegen zwischen zwei Punkten propagieren, im All- 2m 2E 2 x 2m 2m
gemeinen mit einer relativen Phasenverschiebung den End-
punkt erreichen. Die Phasendifferenz kann mit der Schrödin- worin  die De-Broglie-Wellenlänge der Neutronen bezeich-
ger-Gleichung bestimmt und mit einem Interferenzexperi- net. Deshalb können wir die Ableitung nach z in (1) vernach-
ment gemessen werden. Das Potenzial auf der Erdoberfläche lässigen, was bedeutet, dass in (2) in sehr guter Näherung
wird in guter Näherung durch V.z/ D mgz modelliert, wobei eine Lösung der Schrödinger-Gleichung ist. Die Phasendif-
z die Höhe über dem Erdboden misst. Die zeitunabhängige ferenz zwischen der Propagation längs AC und längs BD ist
Schrödinger-Gleichung für das Neutron lautet damit in guter Näherung
! x 2 gm2
pO 2 AC  BD D .p.0/  p.z// A;
C mgz DE : (1) „ h2
2m
worin A D xz die von den beiden Abschnitten einge-
schlossene Fläche bezeichnet. Da die Gesamtenergie und das
Für Neutronen ist das Produkt aus Masse und Erdbeschleu- Potenzial zwischen den Abschnitten AB und CD identisch
nigung mg 1;03 neV=cm. Das Experiment wurde mit ther-
sind, fallen die Änderungen der Phase auf diesen Abschnit-
mischen Neutronen der kinetischen Energie Ekin 20 meV ten in der gesamten Phasendifferenz  D ABD  ACD der

Teil III
durchgeführt. Beim Interferenzversuch bewegen sich die beiden Wege heraus. Am Endpunkt D interferieren die bei-
Neutronen von Punkt A zu Punkt D entweder über Punkt B
den Wellen, und es entsteht ein Interferenzmuster:
oder über Punkt C in Abb. 22.4.
 
2 gm2
D / cos A :
Interferenz h2
B D
Die Phasendifferenz der beiden Strahlen an Punkt D kann va-
riiert werden, wenn man das Interferometer mit dem Winkel
Δz
' um die Achse AC dreht. Die relative Phasendifferenz am
Ort D ist dann
A C
 
Neutronen- 2 gm2
strahl AC  BD D A sin ':
h2
Δx
Der von Colella, Overhauser und Werner eingesetzte Neu-
Abb. 22.4 Schematische Darstellung eines Interferometers zur Messung troneninterferometer hatte eine Fläche A 9;948 cm2 und
der Interferenz zweier Neutronenstrahlen, die auf verschiedenen Wegen im die thermischen Neutronen eine Wellenlänge  D 1;445 
Gravitationsfeld propagieren 108 cm. Für diese Werte findet man

Wir betrachten eine von A nach C oder eine von B nach D in AC  BD 56;6 sin ':
x-Richtung propagierende ebene Welle
Berücksichtigt man noch die endliche Dicke der Interfero-
.x; z/ D ip.z/x=„
e (2) meterplatten, dann erhöht sich der Koeffizient auf 59;6. Der
0
aus dem Experiment gewonnene Wert stimmt mit der Vor-
mit einem höhenabhängigen Impuls in x-Richtung. Vernach- hersage der Schrödinger-Gleichung im Rahmen der Mess-
lässigen wir zunächst die Ableitung der Wellenfunktion nach genauigkeit überein. Die Genauigkeit der Experimente ist
z, dann ist sie eine Lösung der eindimensionalen zeitunab- heute besser als 1%. Die Übereinstimmung zwischen Theo-
hängigen Schrödinger-Gleichung mit einem z abhängigen rie und Experiment demonstriert eindrücklich, dass auch ein
Impuls: Gravitationspotenzial die Phase der Materiewellen kohärent
ändert.
p
p.z/ D 2m.E  mgz/:
Literatur
Die typischen Abmessungen des Interferometers betragen ei-
nige Zentimeter. Damit ist sowohl mgx als auch mgz sehr Colella, R., Overhauser, A.W., Werner, S.A.: Observati-
viel kleiner als die kinetische Energie der thermischen Neu- on of gravitationally induced quantum interference. Phys.
tronen, sodass in guter Näherung E Ekin gilt. Eine kurze Rev. Lett. 34 (1975)
742 22 Wellenmechanik

Von dieser wollen wir annehmen, dass sie auch für allgemeinere Die Lösungen der klassischen Bewegungsgleichungen können
Potenziale Gültigkeit hat. aus der Prinzipalfunktion rekonstruiert werden. Dazu löst man
das zweite Gleichungssystem in (22.86) zuesrt nach der Lage
des Systems q D q.t; t0 I q0 ; p; p0 / auf. Anschließerend wird q
Teilchen im Potenzialfeld
in das erste Gleichungssystem eingesetzt, um die Impulse p D
Damit hat die Schrödinger-Gleichung für ein Teilchen im p.t; t0 I q0 ; p0 / zu gewinnen.
Potenzialfeld die Form
Halten wir nun die Anfangswerte fest und variieren nur die End-
@ .t; x/ daten .t; q/, dann ergibt sich die nichtlineare Hamilton-Jacobi-
i„ O p; xO / .t; x/
D H.O (22.83) Gleichung für die Prinzipalfunktion:
@t

mit Impulsoperator (im Ortsraum) pO D i„r und @S  


C H t; q; r q S D 0: (22.87)
@t
„2
O p; xO / D 
H.O  C V.x/: (22.84) In der Gleichung werden nach der Vorschrift (22.86) die kano-
2m
nisch konjugierten Impulse in der Hamilton-Funktion H.t; q; p/
durch die Ableitungen der Prinzipalfunktion nach den verall-
Nach den Korrespondenzregeln erhält man den linearen Ha- gemeinerten Ortskoordinaten ersetzt. Die Beziehung p D r q S
milton-Operator HO D H.OO p; xO /, wenn man in der klassischen bedeutet geometrisch, dass die Impulse senkrecht zu den Ni-
Hamilton-Funktion H.p; x/ Ort und Impuls durch Orts- und Im- veauflächen von S sind.
pulsoperatoren ersetzt.
Prinzipalfunktion für den Oszillator
Teil III

Von der klassischen Mechanik Betrachten wir als einfaches Beispiel ein Teilchen der
zur Wellenmechanik Masse m in einem harmonischen Potenzial. Lagrange-
und Hamilton-Funktion haben die Form

Um allgemeinere klassische Hamilton’sche Systeme zu quan- mPx2 m! 2 2 p2 m! 2 2


tisieren, folgen wir einem zentralen Gedankengang von Schrö- LD  x ; HD C x ; (22.88)
2 2 2m 2
dinger, basierend auf der Theorie von Hamilton und Jacobi, die
in Abschn. 7.3 eingeführt wurde. Ähnlich wie die Strahlenop- worin ! die Kreisfrequenz des schwingenden Teilchens
tik der Grenzfall der Wellenoptik für kleine Wellenlängen ist, ist. Die klassische Lösung, die zur Zeit 0 bei x0 startet
sollte für kleine Wellenlängen auch die klassische Mechanik als und zur Zeit t bei x ankommt, lautet
Grenzfall einer neuen Mechanik, der Wellenmechanik, verstan-
x  x0 cos !t
den werden (Schrödinger 1926). x.s/ D x0 cos !s C sin !s: (22.89)
sin !t
Doch zuerst erinnern wir an die Hamilton-Jacobi-Theorie für
ein mechanisches System mit verallgemeinerten Koordinaten Entsprechend findet man die Prinzipalfunktion
q  .q1 ; : : : ; qf / im Konfigurationsraum. Sei L.t; q; qP / die La-
grange-Funktion und m!  2 
SD .x C x20 / cos !t  2x  x0 : (22.90)
2 sin !t
Zt
SD L .s; q.s/; qP .s// ds; q.t0 / D q0 ; q.t/ D q (22.85) Diese erfüllt die nichtlineare Hamilton-Jacobi-Gleichung
t0
@S 1 m! 2 2
C .r S/2 C x D 0: (22.91)
die klassische Wirkung einer Trajektorie, die zur Anfangszeit @t 2m 2
t0 bei q0 startet und zur Zeit t bei q endet. Wir betrachten nur
klassisch erlaubte Trajektorien, d. h. Lösungen der Euler-La-
Überzeugen Sie sich davon, das x.s/ die angegebene Wir-
grange-Gleichungen. Eine Lösung ist durch Anfangsort q0 und
kung hat und S die Hamilton-Jacobi-Gleichung erfüllt.
Anfangszeit t0 sowie Endort q und Endzeit t bestimmt. Deshalb
hängt die Wirkung einer klassisch erlaubten Trajektorie nur von
diesen Größen ab, S D S.t; qI t0 ; q0 /. Diese Funktion heißt Prin- Die allgemeinen Beziehungen (22.86) lauten nun
zipalfunktion und erzeugt kanonische Transformationen von m!
den zeitabhängigen Variablen .q; p/ auf die zeitunabhängigen p D r xS D .x cos !t  x0 / ;
Variablen .q0 ; p0 /: sin !t (22.92)
m!
p0 D r x0 S D .x  x0 cos !t/ ;
@S @S sin !t
pk D ; p0k D  : (22.86)
@qk @q0k
22.3 Wellenmechanik mit Kräften 743

Trajektorie
und durch Auflösung nach x und p gewinnt man die Tra-
jektorien im Phasenraum:
p0
x.t/ D x0 cos !t C sin !t;
m! (22.93)
p.t/ D p0 cos !t  m!x0 sin !t:
J
t5

Im stationären Fall mit zeitunabhängiger Hamilton-Funktion


t4
können wir die Zeitabhängigkeit der Prinzipalfunktion abspal-
ten: t3
S D W.q/  Et: (22.94) t2
t1
Die Funktion W.q/ erfüllt dann die zeitunabhängige Hamilton-
Jacobi-Gleichung
  Abb. 22.5 Die Niveauflächen der Prinzipalfunktion S propagieren durch den
@W
E D H q; ; (22.95) Raum, und die Trajektorien von Teilchen schneiden diese Flächen senkrecht. Die
@q Prinzipalfunktion hat die Eigenschaften einer Phasenfunktion in der Wellenme-
chanik
wobei die auftretende Konstante E die Energie des Systems ist.

Teil III
Wenn wir der Anschaulichkeit halber nur einen einzelnen Mas-
senpunkt mit kartesischen Koordinaten x betrachten, so gilt Phasenfunktion eng mit der Prinzipalfunktion der klassischen
Mechanik verbunden ist: Für eine verglichen mit den typischen
S.t; x/ D W.x/  Et: (22.96) Wellenlängen langsam variierende Phasenfunktion sollte diese
gegen die Prinzipalfunktion streben. Die Konstante „ hat die
Die Gleichung W D const definiert eine Fläche im dreidimen- Dimension einer Wirkung, und ein Vergleich von (22.98) mit
sionalen Raum. Gibt man der Konstanten verschiedene Werte, den Lösungen der freien Schrödinger-Gleichung zeigt, dass „
so erhält man eine Flächenschar (Abb. 22.5). Die Gleichung gerade die (reduzierte) Planck’sche Konstante ist.
S D const stellt eine bewegte Fläche dar, die in jedem Zeitpunkt Alle wichtigen Schrödinger-Gleichungen sind partielle Diffe-
mit einer Fläche der Schar W D const zusammenfällt. Die Flä- renzialgleichungen mit höchstens zweiten Ableitungen nach
chen S D const wandern mit der Zeit also über die Flächen den (verallgemeinerten) Koordinaten qk . Es genügt deshalb, nur
W D const hinweg. Dieser Vorgang erinnert an eine Wellenbe- Wellengleichungen mit ersten und zweiten Ableitungen nach
wegung, wobei die Flächen S D const eine Fortpflanzung von den Ortskoordinaten zu betrachten. Sind die Terme mit zweiten
Wellenflächen beschreibt. Dabei sind die Bahnkurven orthogo- Ableitungen der Phasenfunktion in
nal zu den Wellenflächen S D const oder W D const, ähnlich    
wie die Lichtstrahlen der geometrischen Optik orthogonal zu „ @ @˚
D
den optischen Wellenflächen sind. i @qi @qi
     (22.99)
Nach diesen Vorbereitungen wollen wir den Anschluss zur „ @ „ @ @˚ @˚ @2 ˚
D  i„
Schrödinger’schen Wellenmechanik herstellen. Eine allgemeine i @qi i @qj @qi @qj @qi @qj
lineare Wellengleichung für die Materiewellen .t; q1 ; : : : ; qf /,
welche erster Ordnung in der Zeitableitung ist, hat die Form vernachlässigbar, dann ist
   
  „ @ @˚
@ „ @ H t; q; H t; q; ; (22.100)
i„ D H t; q; (22.97) i @q @q
@t i @q
und die Wellengleichung (22.97) geht näherungsweise über in
mit einer noch unbestimmten Funktion H. Nun schreiben wir die Hamilton-Jacobi-Gleichung für die Phasenfunktion,
die Wellenfunktion als
 
@˚ @˚
D ei˚.t;q/=„ ; (22.98) C H t; q; 0; (22.101)
@t @q
wobei die Phasenfunktion ˚ die Dimension einer Wirkung ha- vorausgesetzt, wir wählen für H in der Wellengleichung (22.97)
ben soll. Die Niveauflächen dieser Funktion sind gerade die die klassische Hamilton-Funktion. Damit die Wellengleichung
Wellenflächen der Materiewelle . In Analogie zur Strahlen- für in die klassische Hamilton-Jacobi-Gleichung für ˚ über-
optik als Grenzfall der Wellenoptik erwarten wir, dass die geht, muss H die klassische Hamiltonfunkton sein.
744 22 Wellenmechanik

Der vernachlässigte Term mit den zweiten Ableitungen von ˚


in (22.99) ist von der relativen Ordnung „ und kann vernachläs- pulsoperator pO k ein Differenzialoperator:
sigt werden, wenn gilt
„ @ .t; q/
j„ @i @j ˚j j@i ˚@j ˚j: (22.102) qO k .t; q/ D qk .t; q/; pO k .t; q/ D :
i @qk
(22.105)
Der klassische Grenzfall wird also erreicht, wenn wir entweder
höhere Ableitungsterme vernachlässigen oder die Konstante „
(in Gedanken) gegen null streben lassen. Etwas genauer formu-
liert: Sind erste und zweite Ableitungen der Phasenfunktion von Propagator für den Oszillator
der gleichen Größenordnung, dann ist die Ungleichung (22.102)
Zur Illustration betrachten wir den harmonischen Oszil-
gleichbedeutend mit ˚ „. Im semiklassischen Grenzfall,
lator in d Dimensionen. Setzen wir die Parametrisierung
charakterisiert durch (22.102), geht die Phasenfunktion in die
D exp.i˚=„/ in die Schrödinger-Gleichung
Prinzipalfunktion S über, und wegen (22.86) ist dann @i ˚
@i S D pi . Setzen wir nun pi pj D h= in (22.102), dann @ „2 m! 2 2
nimmt diese Ungleichung folgende Form an: i„ D  C x (22.106)
@t 2m 2
ˇ ˇ ˇ ˇ
ˇ „@p=@q ˇ ˇ @ ˇ
ˇ ˇ ˇ ˇ 1: (22.103) ein, dann finden wir die partielle Differenzialgleichung
ˇ p2 ˇ ˇ @q ˇ
@˚ 1 m! 2 2 i„
Im semiklassischen Grenzfall ist die Längenskala, auf der sich 0D C .r ˚/2 C x  ˚: (22.107)
@t 2m 2 2m
die Wellenlänge ändert, sehr viel größer als die Wellenlänge.
Eine ausführliche Behandlung der semiklassischen Näherung Offensichtlich erfüllt die Phasenfunktion ˚ die Ha-
Teil III

findet sich in Kap. 31. milton-Jacobi-Gleichung, wenn wir höhere Ableitungen,


oder äquivalent dazu höhere Potenzen von „, vernachläs-
Über die Betrachtung des semiklassischen Grenzfalls haben wir sigen. Für die Prinzipalfunktion
eine Vorschrift zur Aufstellung einer Schrödinger-Gleichung für
beliebige Hamilton’sche Systeme gefunden. Gleichzeitig erge- m! ˚ 2  
S.t; x; y/ D x C y2 cos !t  2x  y
ben sich die allgemeinen Korrespondenzregeln, nach denen ein 2 sin !t
klassisches System im Ortsraum zu quantisieren ist. (22.108)
des harmonischen Oszillators ist die zweite Ableitung
ortsunabhängig, S D md! cot !t. Damit erfüllt die
Allgemeine Korrespondenzregeln Prinzipalfunktion die Differenzialgleichung (22.107) bis
Man ersetze in der klassischen Hamilton-Funktion die ka- auf einen zeitabhängigen aber ortsunabhängigen Term.
nonischen Impulse durch die partiellen Ableitungen nach Wir können also mit dem Ansatz ˚ D S C F.t/ leicht
den (verallgemeinerten) Koordinaten pk ! i„@k und eine Lösung konstruieren:
gleichzeitig die Koordinaten durch die Multiplikation der Da S die Hamilton-Jacobi-Gleichung erfüllt – dies ist die
Wellenfunktion mit den Koordinaten. Differenzialgleichung (22.107) ohne den letzten Term –
ist ˚ eine Lösung der Differenzialgleichung, wenn gilt
Dies führt zu folgender Vorschrift für das Auffinden der Schrö- i„ dF i„d! dF
dinger-Gleichung eines Hamilton’schen Systems. 0D S C D cot !t C : (22.109)
2m dt 2 dt
Die Integration ergibt 2F D i„d log.sin !t/ und ein-
Schrödinger-Gleichung für verallgemeinerte Koordina- gesetzt in (22.98) folgende Lösung der Schrödinger-
ten Gleichung:
In der Schrödinger’schen Wellenmechanik wird dem klas-
C
sischen System mit Hamilton-Funktion H.t; q; p/ eine y .t; x/ D eiS.t;x;y/=„ : (22.110)
Wellenfunktion .t; q/ im Konfigurationsraum mit Koor- .sin !t/d=2
dinaten q D .q1 ; : : : ; qf / zugeordnet, welche die zeitab-
Diese hängt parametrisch vom Anfangspunkt y der klas-
hängige Schrödinger-Gleichung erfüllt:
sischen Bahn ab. Wählen wir die Konstante
@ .t; q/  m! d=2
i„ O .t; qO ; pO / .t; q/:
DH (22.104) CD ; (22.111)
@t 2 i„
Darin ist nach den Korrespondenzregeln im q-Raum der dann geht die Lösung für !t ! 0 in den Propagator
Ortsoperator qO k ein Multiplikationsoperator und der Im- (22.53) für das freie Teilchen über. Insbesondere strebt
22.3 Wellenmechanik mit Kräften 745

Man ordnet dem Teilchen eine Wellenfunktion .t; x/ zu,


die Lösung y .t; x/  K.t; x; y/ für kleine Zeiten gegen dessen Zeitentwicklung durch eine Schrödinger-Gleichung de-
die Deltadistribution ı.x  y/. Deshalb ist terminiert ist. Zum Auffinden der Gleichung benötigt man
die Hamilton-Funktion eines Teilchen im elektromagnetischen
 m! d=2 Feld. Dazu ist es notwendig, anstelle des elektrischen und ma-
K.t; x; y/ D eiS.t;x;y/=„ (22.112) gnetischen Feldes die elektromagnetischen Potenziale .t; x/
2 i„ sin !t
und A.t; x/ einzuführen:
der Propagator für den harmonischen Oszillator. J
1@
E D r  A; B D rot A: (22.116)
c @t
Der Operator H O D H.t;O qO ; pO / ist der Hamilton-Operator für das
Die Bewegung eines geladenen Teilchens wird dann durch die
allgemeine Hamilton’sche System mit verallgemeinerten Koor-
O zeitunabhängig, und Hamilton-Funktion
dinaten q1 ; : : : ; qf . Im stationären Fall ist H
wir können die Zeitabhängigkeit faktorisieren: 1  q 2
HD p  A.t; x/ C q .t; x/ (22.117)
2m c
.t; q/ D eiEt=„ .q/: (22.113)
beschrieben (Kap. 20). Dies ist die einfachste Möglichkeit der
Diese Faktorisierung entspricht der Zerlegung S.t; q/ D Ankopplung des elektromagnetischen Feldes an die Teilchenbe-
W.q/  Et der Prinzipalfunktion für stationäre Systeme. Dem- wegung: Der kanonische Impuls p wird durch den kinetischen
zufolge werden wir die Konstante E als Energie des Quanten- Impuls p  .q=c/A ersetzt. Diese Substitution wird als minimale
systems interpretieren. Kopplung bezeichnet.

Teil III
Nach Einsetzen von (22.113) in die zeitabhängige Schrödinger-
Gleichung (22.104) ergibt sich die zeitunabhängige Schrödin- Schrödinger-Gleichung im elektromagnetischen Feld
ger-Gleichung. Nach den allgemeinen Korrespondenzregeln lautet die
zeitabhängige Schrödinger-Gleichung für ein geladenes
Teilchen im elektromagnetischen Feld
Zeitunabhängige Schrödinger-Gleichung
Für stationäre Systeme führt der Produktansatz (22.113) @
i„ O .t; x/;
.t; x/ D H
auf die zeitunabhängige Schrödinger-Gleichung für die @t
zeitunabhängige Wellenfunktion .q/:  2
1 „ q
HO D r  A.t; x/ C q .t; x/:
„ @ 2m i c
O q; pO / .q/ D E .q/;
H.O pO k D : (22.114) (22.118)
i @qk

Darin ist E die Energie des Quantensystems. Die Schrödinger-Gleichung ergibt sich aus der Gleichung für
das ungeladene (freie) Teilchen durch die Ersetzungen

Dies ist eine Eigenwertgleichung für den linearen Hamilton- iq


O Die Eigenfunktionen sind die Lösungen der zeit-
Operator H. r ! D D r  A.t; x/: (22.119)
„c
unabhängigen Schrödinger-Gleichung, und die Eigenwerte sind
die möglichen Energien des quantisierten Systems. Die linearen Operatoren .D1 ; D2 ; D3 / D D nennt man kovarian-
te Ableitungen. Sie transformieren kovariant unter Eichtransfor-
mationen der Potenziale (siehe die Diskussion in Kap. 29). Mit
ihrer Hilfe schreibt sich die Schrödinger-Gleichung wie folgt:
Wellengleichung bei elektromagnetischen
@ „2
Kräften i„ .t; x/ D  D2 .t; x/ C q .t; x/ .t; x/: (22.120)
@t 2m

In der klassischen Mechanik wird die Bewegung eines ge- Die minimale Kopplung an das elektromagnetische Feld lässt
ladenen Punktteilchens mit Masse m und Ladung q durch sich auf ein System von n geladenen Teilchen verallgemeinern.
die Newton’schen Bewegungsgleichungen beschrieben. Auf ein
Teilchen am Ort x mit der Geschwindigkeit xP wirkt dabei die Schrödinger-Gleichung für Mehrteilchensysteme
bekannte Lorentz-Kraft:
Für spinlose Punktteilchen mit Massen mk und Ladungen
 
1 qk in einem äußeren Feld hat der Hamilton-Operator im
F D q E.t; x/ C xP  B.t; x/ : (22.115)
c
746 22 Wellenmechanik

Ortsraum die Form


n 
X 
„2 2 Δ
∂Δ
O D
H  Dk C qk .t; xk / C V.x1 ; : : : ; xn /
kD1
2mk
iqk
mit Dk D r k  A.t; xk /: (22.121)
„c j
w(t, Δ)
Die Wechselwirkung der Teilchen untereinander wird
durch das Potenzial V beschrieben. r k bezeichnet den df
Gradienten bezüglich der Ortsvariablen des k-ten Teil-
chens.

Achtung Für nicht unterscheidbare Teilchen müssen die


Wellenfunktionen .t; x1 ; : : : ; xn / weiter eingeschränkt wer-
den. Dies wird in Abschn. 31.1 ausführlich besprochen. J Abb. 22.6 Die Wahrscheinlichkeit verhält sich wie eine inkompressible Flüs-
sigkeit. Die Änderung der Wahrscheinlichkeit w .t; / für den Aufenthalt des
Analytische oder genäherte Lösungen der zeitabhängigen bzw.
Quantensystems in einem Gebiet  ist gleich dem Fluss des Wahrscheinlich-
zeitunabhängigen Schrödinger-Gleichung für den Hamilton- keitsstromes durch die Oberfläche @ des Gebiets
Operator (22.121) für physikalisch interessante elektrische und
magnetische Felder zu finden ist ein Hauptanliegen der Quan-
Teil III

tenmechanik und ihrer Anwendungsgebiete. Geschlossene Lö-


sungen können leider nur in den wenigsten Fällen angegeben Dies ist eine Kontinuitätsgleichung:
werden. Für realistische Vielkörpersysteme ist man auf Nähe-
@w „ 
rungen oder numerische Lösungsverfahren angewiesen. Cr jD0 mit j D Im . r /: (22.124)
@t m

Für eine weit weg vom Ursprung genügend schnell abfallende


22.4 Erhaltung der Wellenfunktion folgt mit dem Gauß’schen Satz, dass das Raum-
integral von w .t; x/ zeitunabhängig ist. Integrieren wir nun die
Wahrscheinlichkeit Kontinuitätsgleichung über ein beliebiges Raumgebiet   R3 ,
so erhalten wir eine Bilanzgleichung für die Wahrscheinlichkeit.
Für ein freies Teilchen ist w .t; x/ d3 x die Wahrscheinlichkeit,
das Teilchen zur Zeit t in der Umgebung d3 x von x zu finden.
Erhaltung der Wahrscheinlichkeit
Diese Interpretation verlangt, dass das Integral von w über den
gesamten Raum, d. h. die Wahrscheinlichkeit, das Teilchen ir- Die zeitliche Änderung der Wahrscheinlichkeit für das
gendwo zu finden, zeitunabhängig ist. Wir werden sehen, dass Auffinden des Teilchens im Gebiet ,
diese Eigenschaft allen Quantensystemen mit geeignet gewähl- Z
ten Hamilton-Operatoren gemeinsam ist. w .t; / D w .t; x/ d3 x; (22.125)


Wahrscheinlichkeitserhaltung für ein Teilchen ist gleich dem Fluss der Stromdichte j durch die Oberflä-
che @ des Gebiets,
I
Für jede Lösung der Schrödinger-Gleichung ist d
w .t; / D  j.t; x/  df : (22.126)
dt
@w @ @  1 1 @
D 
C D 
.H HO
O / : 
@t @t @t i„ i„
(22.122) Das Vektorfeld j.t; x/ bestimmt den Fluss der Wahrschein-
Wir betrachten zuerst ein Teilchen im R3 mit kartesischen Ko- lichkeit und heißt Wahrscheinlichkeitsstromdichte.
ordinaten und Hamilton-Operator (22.84). Das reelle Potenzial
O hebt sich in der Differenz auf der rechten Seite weg:
in H
Die Wahrscheinlichkeit verhält sich also wie eine inkompressi-
@w i„   
 i„   
 ble Flüssigkeit: Sie kann weder vernichtet noch erzeugt werden.
D   D r r r : w .t; / kann sich nur ändern, wenn Wahrscheinlichkeit aus
@t 2m 2m
(22.123) dem Gebiet oder in das Gebiet fließt, wie in Abb. 22.6 skizziert.
22.4 Erhaltung der Wahrscheinlichkeit 747

Für reelle Wellenfunktionen (oder allgemeiner bei konstanter Die Wahrscheinlichkeitsdichte w D j j2 und die Komponenten
Phase) verschwindet die Wahrscheinlichkeitsstromdichte, und der Wahrscheinlichkeitsstromdichte
die Wahrscheinlichkeitsdichte ist zeitunabhängig. Die Wahr-
scheinlichkeitsdichte ist auch zeitunabhängig für Lösungen der X „  

jD Im Dk (22.132)
Schrödinger-Gleichung mit fester Enegie (22.113). Die zugehö- mk
k
rige Stromdichte hat dann weder Quellen noch Senken.
Die Stromdichte einer ebenen Welle D ˛ exp.ip  x=„/ ist hängen nun von den Koordinaten aller Teilchen ab. Es sind
ortsunabhängig: Funktionen auf dem 3n-dimensionalen Konfigurationsraum des
p Mehrteilchensystems.
j D j˛j2 : (22.127)
m
Frage 9
Die Wahrscheinlichkeit fließt in Richtung des Teilchenimpulses Beweisen Sie die Kontinuitätsgleichung (22.131) für n Teilchen
und ist proportional zur Intensität der Welle. Etwas allgemei- mit Massen mk und Ladungen qk im elektromagnetischen Feld.
ner findet man für den Erwartungswert des Impulses nach einer
partiellen Integration
Z Z Für eine auf eins normierte Wellenfunktion legt die Kontinui-
hOpi t D „ Im .  r / d3 x D m j.t; x/ d3 x: (22.128) tätsgleichung für n Teilchen nahe, das Integral
Z
Auch die Schrödinger-Gleichung (22.120) für ein geladenes w .t; / D j .t; x1 ; : : : ; xn /j2 d3 x1    d3 xn (22.133)
Teilchen im elektrischen und magnetischen Feld führt auf ei- 
ne Kontinuitätsgleichung. Dies zeigt man mühelos mit der in
Aufgabe 22.9 gezeigte Produktregel über ein Gebiet  D 1  2     n im Konfigurationsraum

Teil III
als Wahrscheinlichkeit zu interpretieren, das erste Teilchen im
.D / C 
D D r. 
/ (22.129) Gebiet 1  R3 zu finden, das zweite Teilchen im Gebiet 2 
R3 , usw. Wegen der Bilanzgleichung
für die kovariante Ableitung. I
d
w .t; / D  j.t; x1 ; : : : ; xn /  df (22.134)
Wahrscheinlichkeitserhaltung im E und B-Feld dt
@

Für ein Teilchen im äußeren elektromagnetischen Feld er-


verhält sich die Wahrscheinlichkeit dann wie eine inkompressi-
füllen die Wahrscheinlichkeitsdichte w D j j2 und die
ble Flüssigkeit im hochdimensionalen Konfigurationsraum.
Wahrscheinlichkeitsstromdichte

„ 
jD Im . D / (22.130)
m
Die Norm einer Wellenfunktion
die Kontinuitätsgleichung @ t w C r  j D 0.
Der Ausdruck für die Wahrscheinlichkeit, ein Teilchen irgend-
wo zu finden, definiert eine Norm auf dem Raum der Wellen-
Von dieser Sichtweise ausgehend nimmt man in der in den
funktionen. Das Quadrat der Norm ist
1950er Jahren formulierten unkonventionellen Deutung der
Quantenmechanik von David Bohm an, dass tatsächlich ein Z

Feld sei, auf dem ein allzeit im Raum wohldefiniertes Punktteil- k k2 D .x/ .x/ d3 x: (22.135)
chen „reitet“ (mehr dazu z. B. in Holland 1993). R3

Für eine auf eins normierte Wellenfunktion ist k k D 1. Die


Norm ist positiv und verschwindet nur für die Nullfunktion. Sie
Mehrteilchensysteme definiert ein Skalarprodukt h ; i von zwei Wellenfunktionen,

Für mehrere geladene Teilchen im elektromagnetischen Feld 4h ; i D k C k2  k  k2


erfüllt die Wellenfunktion .t; x1 ; : : : ; xk / die Schrödinger- (22.136)
C ik C i k2  i k  i k2 ;
Gleichung mit Hamilton-Operator (22.121). Nun nimmt die
Kontinuitätsgleichung folgende Form an:
und für ein Teilchen im R3 ist dieses gleich
@w X n
Z
C r k  j D 0: (22.131) h ; iD 
.x/ .x/ d3 x: (22.137)
@t kD1
748 22 Wellenmechanik

Das Skalarpodukt von Wellenfunktionen wird im nächsten Ka- Deshalb ist z. B. für ein Teilchen im R3 der Hamilton-Operator
pitel eine wichtige Rolle spielen. nur hermitesch auf einem Raum von Wellenfunktionen, die für
jxj ! 1 so schnell abfallen, dass das Flussintegral verschwin-
Die Wahrscheinlichkeit, das System irgendwo im Konfigurati-
det. Ob ein Operator hermitesch ist, hängt also auch von den
onsraum zu finden, ist nur zeitunabhängig, wenn
gewählten Randbedingungen an die -Funktionen ab.
d
i„ O i  hH
h ; i D h ;H O ; iD0 (22.138)
dt Wahrscheinlichkeitserhaltung und Hermitizität

verschwindet oder wenn Die Wahrscheinlichkeit ist erhalten, wenn H O hermitesch


ist. Diese Forderung schränkt die erlaubten Operatorord-
O i D hH
h ;H O ; i (22.139) nungen beim Übergang von der klassischen Hamilton-
Funktion zum Hamilton-Operator ein. Hat der Konfigura-
gilt. Dies ist eine Forderung an den Hamilton-Operator und an tionsraum C einen Rand @C , dann schränkt die Forderung
die erlaubten Wellenfunktionen. Wir wollen annehmen, dass die auch die erlaubten Randbedingungen für die Wellenfunk-
Wellenfunktionen superponiert werden können. Es sei ˛ D tionen ein.
C ˛ eine Linearkombination von und mit ˛ 2 C. Dann
ist für ˛ ¤ 0 die Bedingung (22.139) für ˛ äquivalent zu
Tatsächlich sind konsistente Randbedingungen die Ursache für
˛ h ˛ ; HO O
˛ i D ˛ hH ˛; ˛ i: (22.140) viele quantenmechanische Effekte. Für einfache Quantensyste-
me wird dies in Abschn. 26.1 diskutiert.
Wählt man nun die vier Werte ˛ 2 f˙1; ˙ig und summiert über
˛, dann heben sich die meisten Terme in den Summe weg, und Wahrscheinlichkeit und Randbedingungen
Teil III

es ergibt sich
h ;HO i D hH O ; i: (22.141) Wir betrachten ein freies Teilchen mit Hamilton-Operator

„2 d 2
Hermitesche Operatoren O D
H (22.144)
2m dx2
O mit der Eigenschaft (22.141) hei-
Lineare Operatoren H
ßen hermitesch. auf dem Intervall Œa; a der Länge L D 2a. Der Operator
ist hermitesch, wenn

Achtung Bedingung (22.139) und (22.141) sind nur dann Za


„2  
äquivalent, wenn die Wellenfunktionen superponiert werden O i  hH
h ;H O ; iD  00
 00
dx
2m
können, d. h. wenn der Funktionenraum linear ist. J a
Z
Wir werden immer fordern, dass HO hermitesch ist. Diese Forde- „2   0 0
0
D  dx
rung bestimmt schon in vielen Fällen die Ordnung der Operato- 2m
ren beim Übergang von der klassischen Hamilton-Funktion zum „2   0 0
 ˇˇCa
quantenmechanischen Hamilton-Operator mithilfe der Korre- D  ˇ
2m a
spondenzregeln. Hat der Konfigurationsraum C einen Rand @C , (22.145)
dann schränkt die Erhaltung der Wahrscheinlichkeit verschwindet.
I
d d Š
h ; i D w .t; C / D  j  df D 0 (22.142) Überzeugen Sie sich davon, dass dies gerade die Relation
dt dt (22.143) ist.
@C

auch die Randbedingungen für die Wellenfunktionen ein. Am Fordern wir, dass alle Wellenfunktionen oder deren Ab-
Rand müssen wir lineare, d. h. mit dem Superpositionsprinzip leitungen an den Randpunkten des Intervalls verschwin-
verträgliche Bedingungen, an die Wellenfunktionen fordern, da- den, dann ist HO hermitesch. Die Forderung .a/ D
mit im Mittel keine Wahrscheinlichkeit durch den Rand des .a/ D 1 ist dagegen nicht erlaubt. Erstens erfüllt ei-
Konfigurationsraumes fließt. Ein Vergleich von (22.139) und ne Superposition von Wellenfunktionen diese Bedingung
(22.142) führt auf nicht mehr, und zweitens verschwindet für diesen Fall
I (22.145) im Allgemeinen nicht. J

O i  hH
h ;H O ; iD j  df : (22.143)
i
@C
So geht’s weiter 749

So geht’s weiter
Allgemeine Potenzialprobleme Am Ende des Kapitels hatten wir gesehen, dass die mit der
Wahrscheinlichkeitsinterpretation verträgliche Wahl für den Ha-
Wir beschreiben die Lagen eines Systems mit verallgemeiner- milton-Operator die folgende ist:
ten Koordinaten q D fq1 ; : : : ; qf g im Konfigurationsraum C . Für
1 1 p ij 
ein Teilchen im R3 können dies Kugelkoordinaten sein oder im O D
H p pO i gg pOj C V.Oq/: (22.151)
Konfigurationsraum des Kreisels, dem reell-projektiven Raum 2 g
RP3 , die Euler-Winkel (der Kreisel wird in Kap. 4 behandelt).
Die kinetische Energie des Systems sei eine quadratische Funk- In der Ortsdarstellung ist iOpi D „@=@qi , und
tion der Geschwindigkeiten:
„2
O D
H g C V.q/ (22.152)
1X 2
TD gij .q/ qP i qPj : (22.146)
2 i;j enthält den Laplace-Beltrami-Operator
1 p ij 
Die symmetrische Matrixfunktion .gij / enthält die Abhängig- g D p @i gg @j : (22.153)
g
keit von Systemgrößen wie Massen oder Trägheitsmomente. Für
ein freies Teilchen ist gij proportional zum metrischen Tensor, Die zugehörige Schrödinger-Gleichung bestimmt die Zeitent-
der den Abstand zwischen zwei Punkten im Konfigurationsraum wicklung von allgemeinen Hamilton’schen Systemen mit Poten-
festlegt. Wir werden deshalb .gij / auch im allgemeineren Falle zialkräften.

Teil III
metrischen Tensor nennen. Die Lagrange-Funktion für ein Sys- Frage 10
tem mit Potenzialkräften ist dann Wie lautet der Hamilton-Operator für ein Teilchen in Kugel-
koordinaten?
1X
LD gij .q/ qP i qPj  V.q/: (22.147)
2 ij Mit Kugelkoordianten .q1 ; q2 ; q3 / D .r; #; '/ ist das Quadrat
der Geschwindigkeit
P X
Der zu qi kanonisch konjugierte Impuls ist pi D gij qPj , und
j v2 D gij qP i qPj D rP 2 C r2 #P 2 C r2 sin2 # 'P 2 ; (22.154)
die zu L gehörige Hamilton-Funktion lautet
i;j

1 X ij woraus man die Komponenten des metrischen Tensors gij ab-


HD g .q/pi pj C V.q/: (22.148)
2 ij liest (hier wurden die Masse des Teilchens nicht in der Metrik
absorbiert). Die Determinante der Metrik ist g D r4 sin2 #, und
die inverse Matrix lautet
Sie enthält die zu gij inverse Matrixfunktion gij , die durch
 
X gij D diag 1; r2 ; r2 sin2 # : (22.155)
j
gik gkj D ıi (22.149)
k In Kugelkoordianten hat der Laplace-Beltrami-Operator
(22.153) die Form
definiert ist. Wenn man den Korrespondenzregeln folgend ver- !
sucht, die klassischen Impulse durch Ableitungsoperatoren zu 2 1 @2'
g D @2r C @r C 2 @2# C cot # @# C : (22.156)
ersetzen, dann ergibt sich das schon erwähnte Ordnungspro- r r sin2 #
blem: Klassisch sind z. B. die Funktionen
Dieser wichtige Operator wurde bereits in Aufgabe 2.6 be-
1 p ij  rechnet und bei der Behandlung der Kugelflächenfunktionen in
gij pi pj und p pi gg pj ; (22.150) Abschn. 13.5 benutzt. Somit lautet der Hamilton-Operator für
g
ein Teilchen im R3 in Kugelkoordinaten
worin g die im Allgemeinen ortsabhängige Determinante des
„2
metrischen Tensors bezeichnet, identisch. In der Quantenme- O D
H g C V.r; #; '/: (22.157)
chanik sind die entsprechenden Operatoren aber nicht identisch, 2m
da die pO i im Allgemeinen nicht mit den ortsabhängigen Funktio- Dieses Resultat dient als möglicher Ausgangspunkt für die Be-
p
nen ggij kommutieren. handlung des Wasserstoffatoms.
750 22 Wellenmechanik

Wahrscheinlichkeitserhaltung für allgemeine Es genügt, die Normierung


Potenzialprobleme Z
p f
j .t; q/j2 gd q D 1 (22.160)
Für die Schrödinger-Gleichung mit Hamilton-Operator (22.152)
existiert eine Kontinuitätsgleichung für die Wahrscheinlichkeit. C

Bezeichnet @i die partielle Ableitung nach der Koordinate qi ,


dann gilt für zeitunabhängige gij zu einer festen Zeit vorzunehmen. Wegen der Kontinuitätsglei-
@ p   1p    chung gilt sie dann zu allen früheren und zu allen späteren
g D g O  .H
H O / Zeiten. Der Wurzelfaktor unter dem Integral sorgt dafür, dass
@t i„
die Wahrscheinlichkeit, das Quantensystem zur Zeit t im Teil-
i„ p   
D g g  .g / (22.158) gebiet   C des Konfigurationsraums zu finden,
2
i„ p ij   Z
D @i gg . @j  @j  / ; p
2 w .t; / D j .t; q/j2 g df q; (22.161)
wobei im letzten Ausdruck die Einstein’sche Summenkonven- 
tion Anwendung findet. Dabei ergibt sich mit der Produktregel
ein Term proportional zu gij .@i  @j  @i @j  /, der wegen
unabhängig von der Wahl der Koordinaten ist.
gij D gji verschwindet. Die verbleibenden Terme ergeben den
Laplace-Beltrami-Operator g . Dies rechtfertigt nachträglich Frage 11
die Operatorordnung in (22.151). Überzeugen Sie sich davon, dass die Wahrscheinlichkeit w .t; /
p und die Normierung auf eins unabhängig von der Koordina-
Teil III

Achtung Die Dichte w .t; q/ D g j .t; q/j2 enthält neben tenwahl ist. Unter einer Koordinatentransformation q ! q0 D
dem Betragsquadrat der Wellenfunktion auch die ortsabhän- q0 .q/ transformieren die Komponenten der Metrik gemäß
gige Determinante g von .gij /. J
X @qp0 @q0q
0
Kontinuitätsgleichung gij .q/ D gpq .q0 / : (22.162)
@qi @qj
Für nichtkartesische Koordinaten lautet die Kontinuitäts- p;q

gleichung

@ p  
 Die Erhaltung der Wahrscheinlichkeit für allgemeine Systeme,
w C @i j i D 0; j i D „ g gij Im @j : (22.159)
@t deren Lagrange-Funktionen quadratisch in den Geschwindig-
keiten sind, ist Gegenstand von Aufgabe (22.10).
Aufgaben 751

Aufgaben

Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen

22.1 Galilei-Kovarianz der Schrödinger-Gleichung (a) Berechnen Sie die Korrektur zur Kontinuitätsgleichung für
Hier beweisen wir die Kovarianz der Schrödinger-Gleichung die Wahrscheinlichkeitsdichte w D  und Wahrschein-
unter Galilei-Transformationen. Das Inertialsystem I 0 habe re- lichkeitstromdichte j D „ Im .  r /=m.
lativ zu I die konstante Geschwindigkeit v . Zur Zeit t D 0 (b) Wie ändert sich mit der Zeit die Wahrscheinlichkeit dafür,
seien die Ursprünge der beiden Systeme identisch. Die Bezie- das Teilchen irgendwo in R3 zu finden?
hung zwischen den Raumzeitkoordinaten in I und I 0 sind dann
gegeben durch 22.3 Faltung des freien Propagators Beweisen die
Faltungseigenschaft
x D x0 C v t; t D t0 :

Teil III
(22.163)
Z
(a) Es erfülle nun 0 .t0 ; x0 / die freie Schrödinger-Gleichung im K0 .t C t0 ; x; y/ D K0 .t; x; z/K0 .t0 ; z; y/ dz (22.167)
Inertialsystem I 0 . Zeigen Sie, dass
für den Propagator (22.52) des freien Teilchens auf der reellen
i .t;x/=„ 0 0 0 mv 2 Achse.
.t; x/ D e .t ; x /; D t  mv  x
2
(22.164) Lösungshinweis: Beim Beweis werden Sie das Gauß’sche In-
eine Lösung der freien Schrödinger-Gleichung im Inertial- tegral (22.58) benötigen, das auch für imaginäre ˛ gilt.
system I ist.
(b) Wie transformiert die Wellenfunktion für n freie Teilchen? 22.4 Anfangswertproblem für den Oszillator mit
(c) Welche Bedingung muss die Potenzialfunktion V in einer anfänglich Gauß’schen Wellenfunktion Wir be-
trachten den d-dimensionalen harmonischen Oszillator mit
Xn
„2 Masse m und Kreisfrequenz !. Zur Zeit t D 0 sei die auf eins
HO D  k C V.x1 ; : : : ; xn / (22.165) normierte Wellenfunktion des Oszillators eine Gauß’sche Funk-
2mk
kD1 tion:
erfüllen, damit die Schrödinger-Gleichung kovariant unter   d=4
m!ˇ
em!ˇx
2 =2„
Galilei-Transformationen transformiert? .x; 0/ D 0 .x/ D (22.168)

22.2 Komplexe Potenziale Wir wollen ein instabi- mit dimensionslosem Parameter ˇ.
les Quantensystem modellieren, z. B. ein Teilchen, das zerfallen
kann. In diesem Fall sollte die Gesamtwahrscheinlichkeit, das (a) Suchen Sie die Lösung der zeitabhängigen Schrödinger-
System irgendwo zu finden, mit der Zeit abnehmen: Gleichung mit dieser Anfangsbedingung.
(b) Bestimmen Sie für diese Lösung die Wahrscheinlichkeits-
Z
t!1 verteilung w .t; x/ für den Ort des Oszillators.
P.t/ D w .t; q/ df q ! 0: (22.166) (c) Für welchen Wert des Parameters ˇ ist w zeitunabhängig?
Zeigen Sie, dass für diesen Wert .t; x/ D eiEt=„ 0 .x/
Ein Zerfall ist möglich, wenn man komplexe Potenziale in der gilt. Bestimmen Sie den Wert der Energie E.
Schrödinger-Gleichung zulässt. Dann ist der Hamilton-Opera- (d) Zeigen Sie durch explizites Nachrechnen, dass 0 .x/ aus (c)
tor nicht mehr hermitesch, und die Wahrscheinlichkeit braucht die zeitunabhängige Schrödinger-Gleichung mit Energie E
nicht mehr erhalten zu sein. Was passiert, wenn wir in der erfüllt.
Schrödinger-Gleichung für ein Teilchen in R3 ein komplexes
Potenzial V.x/ D V0 .x/  i mit reellem V0 .x/ und positiver Lösungshinweis: Zur Lösung der zeitabhängigen Schrödin-
Konstante  zulassen? ger-Gleichung darf man den Kern (22.112) einsetzen. Die
752 22 Wellenmechanik

auftretende Faltung des Kerns mit 0 kann mit der Formel Lösungshinweis: In Teilaufgabe (c) genügt es, Wellenfunk-
tionen zu betrachten, für die j j  r˛ für große oder kleine
Z
1 .2 /d=2 1 .j;A1 j/ Radien gilt.
e 2 .y;Ay/C.j;y/ dd y D e2 (22.169)
.det A/1=2
22.8 Semiklassische Näherung für Potenzialpro-
berechnet werden. Darin sollte der Realteil der Matrix A positiv blem Wir betrachten ein Teilchen im Potenzial V.x/ und
sein. schreiben die Wellenfunktion gemäß
1=2 i˚ =„
22.5 Lösung der Hamilton-Jacobi-Gleichung für D e (22.173)
das freie Teilchen Die Lösung der zeitabhängigen Hamilton-
mit reellen Funktionen und ˚.
Jacobi-Gleichung (22.87) und der zeitunabhängigen Gleichung
(22.95) soll hier geübt werden. (a) Zeigen Sie, dass die zeitabhängige Schrödinger-Gleichung
(a) Bestimmen Sie die Prinzipalfunktion S für ein freies Teil- @ „2
chen der Masse m und diskutieren Sie deren Niveauflächen. i„ D  CV (22.174)
@t 2m
(b) Finden Sie die allgemeine Lösung W der zeitunabhängigen
Hamilton-Jacobi-Gleichung für das freie Teilchen und dis- äquivalent zu den beiden Gleichungen
kutiere deren Niveauflächen. !
(c) Warum ist @˚ 1 „2  1=2
C .r ˚/2 C V.x/ D (22.175)
eiEt=„ eiW=„ (22.170) @t 2m 2m 1=2

eine exakte Lösung der freien Schrödinger-Gleichung? und


Teil III

@
22.6 Beispiele von Schrödinger-Gleichungen Wie Cr jD0 mit j D r˚ (22.176)
@t m
lautet die Schrödinger-Gleichung für
ist. Was lernen Sie über die semiklassische Entwicklung,
(a) das Wasserstoffatom? wenn Sie mögliche Konvergenzprobleme nicht berücksich-
(b) das Heliumatom? tigen?
(b) Vernachlässigen Sie den Term der Ordnung „2 in (22.175).
Lösungshinweis: Sie dürfen annehmen, der Kern ruhe im Ur- Dann erhalten Sie die Hamilton-Jacobi-Gleichung. Die vom
sprung des Koordinatensystems. Ein ruhender Kern ist eine gute Anfangspunkt y und vom Endpunkt x der Bahn abhängige
Näherung, da er sehr viel schwerer als die Elektronen ist und Prinzipalfunktion S.t; x; y/ ist eine Lösung dieser Gleichung.
sich deshalb kaum bewegt. Zeigen Sie, dass
 
@˚.t; x; y/
22.7 Hamilton-Operatoren für verallgemeinerte sc D det  (22.177)
Koordinaten Geben Sie die Hamilton-Operatoren im Orts- @xi @yj
raum explizit an für folgende Systeme: eine Lösung der Kontinuitätsgleichung (22.176) ist, wenn
wir darin ˚ durch S nähern.
(a) Ein freies Teilchen im R2 , parametrisiert durch Polarkoordi-
naten r 2 Œ0; 1/ und ' 2 Œ0; 2 / mit Metrik Lösungshinweis: In Teilaufgabe (a) zerlege man die Schrödin-
ger-Gleichung in Real- und Imaginärteil. Zur Lösung der Teil-
ds D gij dqi dqj D dr C r d' :
2 2 2 2
(22.171) aufgabe (b) differenziere man die Hamilton-Jacobi-Gleichung
für S nach xi und yj und benutze dann die für jede invertier-
(b) Für den kräftefreien symmetrischen Kreisel mit Hauptträg- bare Matrix M mit det M > 0 gültige Identität ı det M D
heitsmomenten .A; A; C/. Seine kinetische Energie ist Tr.M 1 ıM/ det M. Diese folgt aus der Identität log.det M/ D
Tr.log M/ für Matrizen und der daraus folgenden Beziehung
A P2  C 
TD # C sin2 # 'P 2 C P C cos # 'P 2 ; (22.172) ı log det M D Tr.M 1 ıM/.
2 2
22.9 Der Schrödinger’sche Erhaltungssatz für ein
wobei C das Trägheitsmoment um die Symmetrieachse ist. geladenes Teilchen im elektromagnetischen Feld Zeigen
Die Koordinaten .q1 ; q2 ; q3 / D .#; ; '/ sind die aus der Sie, dass für jede Lösung der Schrödinger-Gleichung für ein ge-
klassischen Mechanik bekannten Euler-Winkel, die in Ab- ladenes Teilchen im elektromagnetischen Feld (22.120), die wir
schn. 4.1 diskutiert werden. hier nochmals in Erinnerung rufen,
(c) Wie müssen sich die Wellenfunktionen .t; x/ mit x 2 Rd
für r D jxj ! 0 und r ! 1 verhalten, damit sie auf eins @ „2 2 iq
normiert werden können? i„ D D Cq ; DDr A; (22.178)
@t 2m „c
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 753

die Wahrscheinlichkeitsdichte w D j j2 und die Wahrschein- Operatorordnung


lichkeitsstromdichte j D „ Im .  D /=m eine Kontinuitäts-
 
O D  p O i pggij O j C V.Oq/;
gleichung erfüllen. 1
H (22.181)
2 g
Lösungshinweis: Beweisen Sie zuerst, dass die kovariante Ab-
leitung D die Produktregel (22.129) erfüllt. wobei O i die Komponenten des kinetischen Impulses sind,

22.10 Hermitesche Hamilton-Operatoren in O i D pO i  Ai .Oq/; (22.182)


krummlinigen Koordinaten Wir betrachten ein physi-
kalisches System, dessen Lagen durch Koordinaten q D der Hamilton-Operator hermitesch ist. Beachten Sie, dass im
.q1 ; : : : ; qf / im Konfigurationsraum C beschrieben werden. Die allgemeinen Fall gij und seine Determinante g von den Orts-
allgemeinste, in den Geschwindigkeiten quadratische Lagran- operatoren qO i abhängen.
ge-Funktion hat die Form

1X X Lösungshinweis: Im Ortsraum ist der kinetische Impuls pro-


LD gij .q/Pqi qPj C Ai .q/Pqi  V.q/: (22.179) portional zur kovarianten Ableitung, und die qO i werden zu
2 ij i Multiplikationsoperatoren:

(a) Bestimmen Sie die klassische Hamilton-Funktion. „ i


Oi D Di ; Di D @i  Ai .q/: (22.183)
(b) Das koordinatenunabhängige Skalarprodukt ist i „
Z Deshalb ist im Ortsraum
 p
h ; iD .q/ .q/ g df q; (22.180)

Teil III
„2 p ij 
C HO D  p Di gg Dj C V.q/: (22.184)
2 g
wobei g die ortsabhängige Determinante der symmetrischen
Matrixfunktion .gij / bezeichnet. Zeigen Sie, dass mit der O
Benutzen Sie diese Ortsdarstellung für H.
754 22 Wellenmechanik

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben

22.1 22.2

(a) Zum Beweis benutzen wir die Kettenregel, um die Ablei- (a) Die Schrödinger-Gleichung und ihre komplex konjugierten
tungen nach den Koordinaten von I und I 0 in Beziehung zu Gleichungen lauten
bringen. Mit r D r 0 und
„2
d dt0 d dx0 0 d i„@ t D 4 C V  i ;
D 0
C r D 0  v  r0 (22.185) 2m (22.192)
dt dt dt dt dt „2

i„@ t D C 4   V   i 
:
folgt nun 2m
 
@ @ @ Multipliziert man die erste Gleichung mit  , die zweite
i„ D ei =„
i„C  i„ v  r 0 0
@t @t0 @t mit und addiert die resultierenden Ausdrücke, dann erhält
 man
„2 „2 i„ .r /2
  D ei =„
 0 C C
2m 2m 2m 2m „2
 i„@ t . 
/D r. 
r  r 0
/  2i 
i„ 2m
C r  r0 0
:
m
Teil III

bzw.
Erfüllt nun 0 die freie Schrödinger-Gleichung in I 0 , dann
erfüllt die freie Schrödinger-Gleichung in I , falls gilt @ t w .t; x/ C r  j D 2 w .t; x/: (22.193)

@ i„ .r /2 Nun integrieren wir über R3 und nehmen dabei an, dass die
r D mv ; D C : (22.186) Wellenfunktion und zugehörige Wahrscheinlichkeitsdichte
@t 2m 2m
w im räumlich-Unendlichen schnell abfallen. Dann ver-
Die erste Gleichung bedeutet, dass linear von den Ortsko- schwindet das Integral über r  j wegen des Gauß’schen
ordinaten abhängt, sodass sich die zweite Gleichung verein- Satzes, und wir erhalten
facht: Z Z
@ .r /2 d 2
D : (22.187) d3 x w .t; x/ D  d3 x w .t; x/:
@t 2m dt „
Die Phasenfunktion in (22.164) erfüllt diese Gleichungen.
(b) Die Differenzialgleichung für das Integral hat die einfache
(b) Für n freie Teilchen finden wir ganz analog die Bedingungen
Lösung
@ X .r k /2
r k D mk v ; D ; (22.188) „
@t 2mk P.t/ D e2t=„ P.0/  et= P.0/ mit  D :
k 2
und entsprechend hat die Phasenfunktion in Wir finden ein exponentielles Zerfallsgesetz mit Halbwerts-
i =„ 0 0
zeit .
.t; x1 ; : : : ; xn / D e .t ; x01 ; : : : ; x0n / (22.189)

die Form 22.3 Die Berechnung des Faltungsintegrals


X mk v 2 X Z
D tv mk  xk : (22.190) K0 .t; x; z/K0 .t0 ; z; y/ dz
2
k k
r r Z
m m
eim.xz/ =2„t eim.zy/ /=2„t dz
2 2
(c) Die Schrödinger-Gleichung für 0 impliziert diejenige für D
2 i„t 2 i„t0
, wenn die potenzielle Energie in allen Inertialsystemen r r
gleich ist: m m 2 0
eim.x =tCy =t /=2„ R
2
D 0
(22.194)
2 i„t 2 i„t
V 0 .x01 ; : : : ; x0n / D V.x1 ; : : : ; xn /: (22.191)
führt auf das Gauß’sche Integral
Die Differenzvektoren xk  x` sind unabhängig vom In- Z
ertialsystem, sodass ein nur von diesen Differenzvektoren 0 2 0 0

abhängiges Potenzial Galilei-invariant ist. R D eim.tCt /z =.2„tt / eimz.x=tCy=t /=„ dz: (22.195)
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 755

Die ist gerade das Integral (22.58) mit den Konstanten Dies führt auf folgende explizite Lösung der zeitabhängigen
Schrödinger-Gleichung:
m.t C t0 / m x y
˛D und ˇ D C : (22.196)    d=2
i„tt0 i„ t t0 m!ˇ d=4 1
Zur Auswertung benötigen wir .t; x/ D (22.204)
„ cos !t C iˇ sin !t
r s  
2 2 i„tt0 m!ˇ cos !t C iˇ 1 sin !t 2
D (22.197)  exp  x :
˛ m.t C t0 / 2„ cos !t C iˇ sin !t

und das Verhältnis Wollen wir dies mit der Lösung (22.59) für das freie Teil-
chen vergleichen, dann sollten wir zuerst mithilfe von
ˇ2 im  x y 2 tt0
D C 0
2˛ 2„ t t t C t0 „
 0  (22.198) 2m!ˇ D (22.205)
im t 2 t 2 02
D x C 0 y C 2xy :
2„.t C t0 / t t
Damit lautet das Faltungsintegral in (22.194) die Konstante ˇ eliminieren, damit die beiden Anfangsbe-
r dingungen (22.56) und (22.168) übereinstimmen, und erst
r r
m m im.x2 =tCy2 =t0 /=2„ 2 ˇ2 =2˛ danach ! gegen null streben lassen. Im Grenzfall ! ! 0
0
e e trägt ˇ sin.!t/ / t=02 bei, während ˇ 1 sin !t / .!=0 /2 t
2 i„t 2 i„t ˛
r (22.199) nicht beiträgt. Berücksichtigt man dies, dann strebt die all-
m 0
eim.xy/ =.2„.tCt // :
2
D gemeine Lösung (22.204) für ! ! 0 tatsächlich gegen die
2 i„m.t C t0 / Lösung für das freie Teilchen.

Teil III
Der letzte Ausdruck ist gerade der Propagator K0 .t C t0 ; x; y/. (b) Die Wahrscheinlichkeitsverteilung zu dieser Lösung ist eine
Gauß’sche Glockenkurve,
22.4
 d=2
1
ex
2 =2 2
(a) Mithilfe des Kerns K.t; x; y/ in (22.112) finden wir folgende w .t; x/ D j .t; x/j2 D t ; (22.206)
Integraldarstellung für die Lösung des Anfangsproblems: 2  t2
Z
.t; x/ D K.t; x; y/ 0 .y/ dd y mit zeitabhängiger Breite,
   1=2
m!ˇ d=4  m! d=2 „  1=2
D (22.200) t D cos2 !t C ˇ 2 sin2 !t : (22.207)
„ 2 i„ sin !t 2m!ˇ
 Z
im! 2 1
 exp x cot !t e 2 .y;Ay/C.j;y/ dd y: Die Verteilung ist eine periodische Funktion der Zeit mit der
2„
Periode =!. Ist die Zeit ein Vielfaches dieser Periode, dann
Der Exponent des Integranden enthält folgende Matrix und ist die Breite der Glockenkurve minimal.
folgenden Vektor: (c) Für den Wert ˇ D 1 ist  t und damit auch die Verteilung
zeitunabhängig. Für diesen Wert ist
m! im!
AD .ˇ  i cot !t/ I; jD x: (22.201)
„ „ sin !t .t; x/ D ei!t d=2 0 .x/
Zur Berechnung des Gauß’schen Integrals benutzen wir nun  m! d=4 (22.208)
em!x =2„ :
2
(22.169) und erhalten für das letzte Integral in (22.200) mit 0 .x/ D

Z  d=2
2 „ sin !t
: : : dd y D Die entsprechende Energie ist
m!.ˇ sin !t  i cos !t/
  (22.202)
im! x2 1 d
 exp  : ED „!: (22.209)
2„ sin !t cos !t C iˇ sin !t 2
Setzt man dies in (22.200) ein, dann ergibt das Produkt der Insbesondere ist die Energie für den eindimensionalen Os-
Exponentialfunktionen eine Exponentialfunktion mit Expo- zillator gleich „!=2.
nenten: (d) Für die Wellenfunktion (22.208) ist
 
im! x2 1
Exp D cos !t  r D
m!
2„ sin !t cos !t C iˇ sin !t 0

x 0
im! iˇ cos !t  sin !t 2   (22.210)
D x : (22.203) „2 d m! 2 2
2„ cos !t C iˇ sin !t   0 D „!  x 0;
2m 2 2
756 22 Wellenmechanik

und damit erfüllt sie die zeitunabhängige Schrödinger-Glei- p durch den Impulsoperator pO und x durch den Ortsoperator.
chung für den harmonischen Oszillator, Im Ortsraum ist dann
  „2 e2
„2 m! 2 2 O D
H  : (22.216)
 C x 0 DE 0; (22.211) 2me r
2m 2
Die Schrödinger-Gleichung für die Wellenfunktion des
zur Energie E in (22.209). Elektrons .t; x/ lautet
@ „2 e2
22.5 i„ D   : (22.217)
@t 2me r
(a) Ein freies Teilchen bewegt sich geradlinig und mit konstan- (b) Das Heliumatom besteht aus einem Kern mit zwei Protonen
ter Geschwindigkeit .x  x0 /=t während der Zeit t von x0 und zwei Neutronen, umgeben von zwei Elektronen. Je-
nach x, und deshalb ist seine Prinzipalfunktion des Elektron bewegt sich im anziehenden Coulomb-Feld des
Kerns mit Kernladung Z D 2. Zusätzlich erfahren die Elek-
Zt tronen die gegenseitigen Coulomb-Abstoßung. Sind x1 ; p1
m 2 m
SD v ds D .x  x0 /2 : (22.212) Ort und Impuls des ersten Elektrons und x2 ; p2 Ort und
2 2t Impuls des zweiten Elektrons, dann lautet die klassische Ha-
0
milton-Funktion für das Heliumatom
Die Niveauflächen sind konzentrische Kugelflächen um x0 ,  2 
p21 p22 2e 2e2 e2
und die zugehörigen Trajektorien beschreiben Teilchen, die HD C  C C : (22.218)
sich mit konstanter Geschwindigkeit von x0 wegbewegen. 2me 2me r1 r2 r12
Teil III

(b) Die zeitunabhängige Hamilton-Jacobi-Gleichung für das Hier bezeichnen rk D jxk j die Abstände der Elektronen vom
freie Teilchen lautet 2mE D .r W/2 . Es folgt, dass W eine li- Atomkern am Ursprung, und r12 D jx1  x2 j ist der Abstand
neare Funktion der Teilchenkoordinaten ist. Die allgemeine zwischen den Elektronen. Die Elektronen werden durch eine
Lösung hat die Form Materiewelle .t; x1 ; x2 / beschrieben. Nach den Korrespon-
denzregeln im Ortsraum wird pk zum Ableitungsoperator
p20 „=i r k , der auf die Koordinaten des k-ten Elektrons wirkt.
W.x/ D p0  .x  x0 / mit D E: (22.213)
2m Mit dieser Regel lautet der Hamilton-Operator für das Heli-
umatom
Die Niveauflächen von W sind Ebenen senkrecht zu p0 , und  2 
die zugehörigen Trajektorien gehören zu Teilchen, die sich „2 2e 2e2 e2
HO D .1 C 2 /  C C ; (22.219)
mit einem festen Impuls p0 bewegen. 2me r1 r2 r12
(c) Die ebenen Wellen
und die zeitabhängige Schrödinger-Gleichung lautet
e iW=„iEt=„
/e ip0 x=„iEt=„
(22.214) @ „2
i„ D  .1 C 2 /
@t 2me
lösen die Schrödinger-Gleichung, weil die zweiten und hö-  2  (22.220)
heren Ableitungen der Lösung W  Et der Hamilton-Jacobi- 2e 2e2 e2
 C C :
Gleichung verschwinden. Die Funktion exp.iS=„/ ist dage- r1 r2 r12
gen keine exakte Lösung, aber sie ist bis auf einen zeitab-
hängigen Faktor gleich dem Propagator (22.41). Achtung Die beiden Elektronen im Heliumatom sind nicht
unterscheidbar, und deshalb sind nicht alle Wellenfunktionen
zugelassen (Abschn. 31.1). J
22.6
22.7
(a) Das Wasserstoffatom besteht aus einem Proton und einem
Elektron. Ruht das Proton am Ursprung, dann ist die Energie (a) Der Hamilton-Operator für ein freies Teilchen in krummli-
des Atoms nigen Koordinaten ist
p2 e2
HD  ; (22.215) „2
2me r O D
H g (22.221)
2m
wobei me die Elektronenmasse bezeichnet (für das H-Atom
mit Laplace-Beltrami-Operator (22.153). Für Polarkoordi-
könnten wir die Kernbewegung berücksichtigen, indem wir
naten sind der metrische Tensor, seine Determinante und der
me durch die reduzierte Masse von Proton und Elektron
inverse metrische Tensor
ersetzen würden) und e die Elementarladung und r der    
Abstand zwischen dem Elektron und dem am Ursprung ru- 1 0 1 0
gij D 2 ; gij D 2 ; g D r2 : (22.222)
henden Proton. Nach den Korrespondenzregeln ersetzen wir 0 r 0 r
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 757

Für den Laplace-Operator in Polarkoordinaten findet man Für Polarkoordinaten in der Ebene ist d D 2, und die
   Wellenfunktionen müssen schneller als 1=r im Unendlichen
1  r 0 @r 1 1 abfallen und am Ursprung weniger singulär als 1=r sein.
D @r @' D @2r C @r C 2 @2' :
r 0 r1 @' r r
(22.223)
(b) Mit der Konvention .q1 ; q2 ; q3 / D .#; ; '/ führt ein Ver- 22.8
gleich der kinetischen Energie in (22.172) mit der allgemei-
nen Form (22.146) auf die symmetrische Matrix (a) Man findet
0 1  
A 0 0 @ @˚ i„ @
.gij / D @ 0 C cos # A D  C
 :
C i„ (22.230)
 @t @t 2 @t
0 C cos # A sin2 # C C cos2 #
(22.224) und
Gemäß der allgemeinen Vorschrift (22.151) benötigen wir
!
die Determinante „2 .r ˚/2 „2  1=2 i„
  D   r . r ˚/ :
g D det.gij / D CA2 sin2 #; (22.225) 2m 2m 2m 1=2 2m
p
und g multipliziert mit dem inversen Tensor: Der Realteil der Schrödinger-Gleichung ist von der Ordnung
p O.1/ und identisch zu (22.175). Der Imaginärteil ist von der
g .gij / Ordnung O.„/ und identisch zu (22.176). Diese Gleichung
0 1
p sin # 0 0 enthält kein „ und ist die bekannte Kontinuitätsgleichung für
D C@ 0 A
sin # C cos # cot #  cot # A : die Wahrscheinlichkeit.

Teil III
C
0  cot # 1= sin # Nachdem ˚ in Einheiten von „ geschrieben wurde, enthält
die Kontinuitätsgleichung kein „ mehr. Die zweite Glei-
Der Laplace-Beltrami-Operator hat nun die explizite Form chung (22.175) enthält nur das Quadrat von „. Man erwartet
   also eine Entwicklung der Lösungen in Potenzen von „2 .
1 @ @
g D sin # (b) Für „ D 0 ist (22.175) die klassische Hamilton-Jacobi-
A sin # @# @# Gleichung mit der Prinzipalfunktion S.t; x; y/ als Lösung.
  2
A @ Diese hängt ab von der Zeit, dem Anfangspunkt y und dem
C sin # C cos # cot # (22.226) Endpunkt x der klassischen Bahn. Differenzieren wir die
C @ 2
Hamilton-Jacobi-Gleichung für S nach xi und nach yj , dann
1 @2 @2
C  2 cot # ; folgt
sin # @' 2 @ @'
oder, nach einer einfachen Umformung: @ @2 S 1 @2 S @2 S 1 @S @3 S
0D C C
  @t @xi @yj m @xi @xk @xk @yj m @xk @xk @xi @yj
1 @ @ 1 @2 @ 1 1
g D sin # C D Mij C Nik Mkj C r Sr Mij ; (22.231)
A sin # @# @# C@ 2 @t m m
  (22.227)
1 1 @ @ 2
C  cot # : wobei die Matrixelemente der Matrizen M und N durch die
A sin # @' @
Gleichung definiert sind. Wir multiplizieren mit dem Ma-
Der Hamilton-Operator des kräftefreien symmetrischen trixelement .M 1 /`i der Inversen von M und summieren
Kreisels ist dann „2 g =2. über i und `. Dann ergibt sich mit Tr.M 1 NM/ D Tr N die
(c) Da wir das Verhalten der Wellenfunktionen für kleine und Gleichung
große Radien untersuchen wollen, benutzen wir Kugelko-  
ordinaten. Das Volumenelement ist dann poroportional zu @M 1 1  
Tr M 1 C Tr N C r S Tr M 1 r M : (22.232)
rd1 drd. Für eine Wellenfunktion, die für große oder klei- @t m m
ne Radien ein Potenzverhalten j j  r˛ zeigt, gilt
Z Z An dieser Stelle benutzen wir die im Hinweis angegebene
2p 1 Identität
k k / j j g dq / rd12˛ dr / rd2˛ 0 :
2

(22.228)  
ı det M D Tr M 1 ıM det M (22.233)
Für d  2˛ divergiert das Integral im Unendlichen und für
d  2˛ am Ursprung, sodass wir fordern
und folgern
(  
O rd=2 für r ! 1 @
j jD  d=2C  (22.229) 1 1
O r für r ! 0: det M C .Tr N/ det M C r Sr .det M/ D 0: (22.234)
@t m m
758 22 Wellenmechanik

Da Tr N D S ist, können die beiden letzten Terme mittels Die Geschwindigkeiten sind Linearkombinationen der kine-
der Produktregel kombiniert werden, und das führt auf die tischen Impulse i D pi  Ai . Die Hamilton-Funktion ist
Identität X 1 X ij
HD pi qP i  L D g i j C V.q/: (22.241)
@ 1 2 ij
det M C r .det M r S/ D 0: (22.235)
@t m
(b) Der angegebene Operator HO ist hermitesch, wenn
Setzen wir sc D det.M/ wie in (22.177), dann erfüllt
O i  hHO ; i
h ;H
dieses sc die Kontinuitätsgleichung (22.176). Das Minus-
Z  
vorzeichen unter der Determinante berücksichtigt, dass im „2 
 p ij   p 
generischen Fall M negativ definit ist. Zum Bespiel ist für D Di gg Dj  Di ggij Dj dq
2
das freie Teilchen und den harmonischen Oszillator (22.242)
verschwindet. Im Integral heben sich die inverse Wurzel von
m m!
MD I und M D  I: (22.236) g in (22.184) und die Wurzel von g im Integrationsmaß weg.
t sin !t Um die Notation zu vereinfachen, setzen wir vorübergehend
Ai =„ D Bi , sodass Di D @i  iBi ist. Dann schreibt sich der
22.9 Die Produktregel (22.129) beweisen wir durch Ausschrei- Integrand wie folgt:
ben der linken Seite dieser Regel: p ij   p 
.: : : / D  @i gg Dj  @i ggij Dj
.D / C  p p
D  i  Bi ggij Dj  iBi ggij .Dj / :
iq iq
D .r / C A 
C 
r  A  (22.237) In den beiden ersten Termen wälzen wir die Ableitung @i
„c „c über, wobei eine totale Ableitung entsteht:
Teil III

D .r / 
C r D r. 
/:  p p 
.: : : / D @i  ggij Dj  ggij .Dj /
  p ij
Daraus folgt nun ähnlich wie in (22.123) für Lösungen der  @i  C iBi  gg Dj (22.243)
Schrödinger-Gleichung die Kontinuitätsgleichung im äußeren p ij 
Feld: C gg .Dj / .@i  iBi / :
Die beiden Zeilen sind bis auf das Vorzeichen identisch und
@w 1    i„   2 
D O  .H
H O / D D  .D2 / heben sich weg. Wir erhalten
@t i„ 2m
i„    O i  hH
h ;H O ; i
D r D  .D / D r j: Z
p ij 
2m „ 
(22.244)
(22.238) D @i gg . Dj  .Dj / / :
2
22.10 Daraus folgt nun unmittelbar
d 1
(a) Der zu qi kanonisch konjugierte Impuls ist h ; i D h ;HO i  hHO ; i
dt i„Z
@L X (22.245)
pi D D gij qP j C Ai ; (22.239) D  div j dq;
@Pqi j C

und die Auflösung nach den Geschwindigkeiten führt auf wobei unter dem Integral die Wahrscheinlichkeitsstromdich-
te erscheint:
X X p   
qP i D gij .pj  Aj /; gik gkj D ı ij : (22.240) ji D „ ggij Im Dj : (22.246)
j k
Literatur 759

Literatur

Holland, P.: A Quantum Theory of Motion. Cambridge Univer- Weiterführende Literatur


sity Press, Cambridge (1993)
Schrödinger, E.: Quantisierung als Eigenwertproblem. Erste Frenkel, J.: Einführung in die Wellenmechanik. Springer, Berlin
Mitteilung. Ann. Phys. 79, 361 (1926); Quantisierung als (1929)
Eigenwertproblem. Zweite Mitteilung. Ann. Phys. 79, 489
(1926); Quantisierung als Eigenwertproblem. Dritte Mittei- Rollnik, H.: Quantentheorie 1. 2. Aufl., Springer, Berlin (2003)
lung. Ann. Phys. 80, 437 (1926); Quantisierung als Eigen-
wertproblem. Vierte Mitteilung. Ann. Phys. 81, 109 (1926)

Teil III
Formalismus der
Quantenmechanik
23
Warum sollen
Wellenfunktionen quadrat
integrabel sein?

Was ist der Hilbert-Raum


für unterscheidbare
Teilchen?

Was sind verschränkte


Zustände?

Warum sind hermitesche


und unitäre Operatoren in

Teil III
der Quantenmechanik von
besonderem Interesse?

Was meinen wir mit der


Zerlegung der Eins?

23.1 Hilbert-Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 762


23.2 Lineare Operatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769
23.3 Spektralzerlegung von selbstadjungierten Operatoren . . . . . . . . . 778
23.4 Inverse und unitäre Operatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 782
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785
Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 788
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 789
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 794

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_23, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 761
762 23 Formalismus der Quantenmechanik

In der Quantentheorie gilt das Superpositionsprinzip exakt für ab- seien nun und die Wellenfunktionen, welche die Elektronen
geschlossene Systeme. Das bedeutet erstens, dass sich beliebige bei geöffnetem Spalt 1 oder bei geöffnetem Spalt 2 beschreiben.
Zustände – in der Wellenmechanik dargestellt durch Wellenfunk- Nach dem Born’schen Postulat sind die Wahrscheinlichkeits-
tionen – zu einer bestimmten Zeit mit beliebigen komplexen Koeffi- verteilungen für die Detektion der Elektronen am Ort x des
zienten superponieren lassen und dadurch einen neuen möglichen Schirmes proportional zu
Zustand definieren, und zweitens, dass jede Superposition von Lö-
sungen der Schrödinger-Gleichung ebenfalls eine Lösung ist. Die w1 .x/ D j .x/j2 oder w2 .x/ D j .x/j2 : (23.1)
zweite Eigenschaft ist gleichbedeutend mit der Forderung, dass die Öffnet man nun beide Spalte, so entsteht ein Interferenzbild auf
Schrödinger-Gleichung linear ist. In der Quantenphysik kann man dem Schirm. Bei monochromatischen Wellen findet man eine
Zustände überlagern, die in der klassischen Physik als vollkommen Verstärkung dort, wo die Wegdifferenz von beiden Spalten ein
getrennt behandelt würden. Ein Elektron kann in einem Zustand ganzzahliges Vielfaches der Wellenlänge ist. Wegen der Inter-
sein, der eine Mischung aus „hier“ und „dort“ darstellt, in dem ferenz ist die Wahrscheinlichkeit dann nicht mehr einfach die
es also keinen eindeutig definierten Ort hat. Der Raum der Wellen- Summe der obigen Wahrscheinlichkeiten.
funktionen bildet also einen linearen Raum, einen Vektorraum. Man
spricht in diesem Zusammenhang vom Raum der Zustandsvektoren
in der Ortsdarstellung.
Die Wellenfunktionen definieren einen
Die Wellenfunktion selbst hat in der in Abschn. 24.1 vorgestellten
Standardinterpretation der Quantenmechanik keine physikalische Vektorraum
Bedeutung, aber ihr Betragsquadrat ist proportional zu einer Wahr-
scheinlichkeitsdichte. Diese Interpretation verlangt, dass das Be- Wie aus der Wellenoptik bekannt ist, überlagern sich die bei-
tragsquadrat integrierbar sein muss, und diese Bedingung versieht den Wellen: Sind Spalt 1 und Spalt 2 geöffnet, dann ist die
den linearen Raum der Zustandsvektoren mit einem Skalarprodukt. entsprechende Wellenfunktion c C d eine Linearkombina-
Teil III

Wir werden annehmen, dass der Vektorraum eine Basis besitzt und tion der Wellenfunktionen mit jeweils einem geöffneten Spalt,
unendlich-dimensional sein kann. Vektorräume mit dieser Eigen- wobei die komplexen Koeffizienten c und d die Amplituden
schaft nennt man Hilbert-Räume. Jeder endlich-dimensionale reelle der beiden Wellen charakterisieren. Ihre Werte hängen von der
oder komplexe Vektorraum mit Skalarprodukt ist ein Hilbert-Raum. experimentellen Anordnung ab. Nun ergibt sich eine Wahr-
scheinlichkeitsverteilung proportional zu
Nach dem Korrespondenzprinzip werden klassische Observablen bei
der „Quantisierung“ einer klassischen Theorie zu linearen Opera- jc C d j2 D jcj2 j j2 C jdj2j j2 C c d 
C cd  : 

toren auf dem Raum der Zustandsvektoren. Die Eigenwerte des (23.2)
Operators sind dann die messbaren Werte der zugeordneten Ob- Die beiden letzten Interferenzterme sind verantwortlich für die
servablen, und die diskrete Struktur in der Mikrophysik ist Ausdruck Welleneigenschaften von Teilchen. Wegen des Superpositions-
der Tatsache, dass diese Eigenwerte in vielen Fällen diskrete Werte prinzips bilden die Wellenfunktionen also einen Vektorraum.
annehmen. Das Verständnis der Quantisierung von physikalischen
Größen im Kontext eines Eigenwertproblems gelingt mit den Me-
VektorenP 1 ; 2 ; : : : heißen linear unabhängig, wenn die Glei-
chung cn n D 0 nur die triviale Lösung c1 D c2 D
thoden der linearen Algebra.
   D 0 hat; andernfalls heißen die Vektoren linear abhängig.
Für Quantensysteme mit einer endlichen Anzahl von Freiheits- Die maximale Anzahl der linear unabhängigen Vektoren in H
graden ist das Eigenwertproblem äquivalent zur Bestimmung der ist gleich der Dimension von H . Weitere Eigenschaften von
Eigenvektoren und Eigenwerte von gewissen Matrizen. Beispiele Vektoren und Vektorräumen finden Sie im „Mathematischen
von endlich-dimensionalen Systemen sind der Spin des Elektrons Hintergrund“ 1.1.
(wenn wir von der Bewegung im Raum absehen) oder Zwei-Ni-
veau bzw. Drei-Niveau-Systeme in der Atomphysik. Solche Systeme
Vektorraum
sind für Laser und Quantencomputer wichtig. Für ein System mit
unendlich vielen Freiheitsgraden werden Observablen zu linearen Die Menge der Wellenfunktionen bilden einen komplexen
Operatoren in einem unendlich-dimensionalen Hilbert-Raum. Nach Vektorraum H . Sind ; beliebige Vektoren in H und
Einführung einer Basis im Hilbert-Raum können Observablen durch c eine komplexe Zahl, dann sind auch
unendlich-dimensionale Matrizen dargestellt werden, und neben
der linearen Algebra braucht es einige Resultate der Analysis, um C D C und c (23.3)
die auftretenden Konvergenzfragen zu beantworten.
in H . Es existiert ein Nullvektor 0 2 H mit 0 C D ,
und es gilt

23.1 Hilbert-Räume c. C / D c C c ;
.c C d/ D c C d ;
In dem in Abschn. 21.3 vorgestellten Doppelspaltexperiment c.d / D .cd/ : (23.4)
bleibe zunächst jeweils einer der beiden Spalte geschlossen. Es
23.1 Hilbert-Räume 763

Norm und Skalarprodukt von Zustandsvektoren

Eine Wellenfunktion ist nur dann eine Wahrscheinlichkeitsam- φ ψ


plitude, wenn die nichtnegative Dichte w D j j2 zu eins
integriert. Für ein Teilchen im R3 definiert das Integral
Z
k k2 D d3 x j .x/j2 (23.5) φ+ψ

Abb. 23.1 Im Dreieck ist die Summe der Längen von zwei Dreiecksseiten im-
das Quadrat einer Norm auf dem Raum der Wellenfunktionen. mer größer oder gleich der Länge der dritten Seite
Mehr über Vektorräume mit einer Norm, sogenannte normierte
Räume, finden Sie im „Mathematischen Hintergrund“ 1.2.
Hat eine endliche Norm – derartige Wellenfunktionen hei- Achtung In welchem Argument das Skalarprodukt anti-line-
ßen quadratintegrabel – dann kann man durch Multiplikation ar ist, ist Konvention und wird in der mathematischen Literatur
von mit einer komplexen Zahl erreichen, dass die reskalierte oft anders herum gehandhabt. J
Wellenfunktion die Norm eins hat. Die reskalierte Wellenfunk-
tion mit k k D 1 nennt man auf eins normiert oder einfach nur Zwei Vektoren heißen orthogonal, wenn h ; i D 0 ist.
normiert. Ein Skalarprodukt erfüllt die wichtige und aus der euklidischen
Für die Summe zweier Zustandsvektoren findet man Geometrie schon bekannte Schwarz’sche Ungleichung.

Teil III
k C k2 D k k2 C k k2 C h ; i C h ; i ; (23.6) Schwarz’sche Ungleichung

wobei auf der rechten Seite das innere Produkt zweier Wellen- Das Skalarprodukt von zwei Vektoren ist durch das Pro-
funktionen auftritt: dukt ihrer Normen nach oben beschränkt:
Z
jh ; ij  k k  k k : (23.11)
h ; i D d3 x  .x/ .x/ : (23.7)
Daraus folgt unmittelbar die Dreiecksungleichung
Insbesondere ist
h ; i D k k2 : (23.8) k C k  k kCk k: (23.12)

Das innere Produkt hat alle Eigenschaften eines Skalarprodukts


(siehe dazu den „Mathematischen Hintergrund“ 1.3).
Beweis Für den Nullvektor gilt die Ungleichung (23.11) tri-
vialerweise, und man darf daher ¤ 0 annehmen. Für jedes
Skalarprodukt
komplexe c gilt
Ein Skalarprodukt in einem komplexen Vektorraum ist
hermitesch, linear im zweiten Argument und positiv: 0h c ; c i
(23.13)
D k k C jcj k k2  c h ; i  ch ; i :
2 2
h ; i D h ; i 2 C ;
h ; c1 1 C c2 2 i D c1 h ; 1 i C c2 h ; 2i ; Wählt man hier c D h ; i=k k2 und multipliziert die zugehö-
k k  h ; i > 0;
2
wenn ¤ 0; rige Ungleichung mit k k2 , dann erhält man die Schwarz’sche
(23.9) Ungleichung. Die Dreiecksungleichung folgt dann aus
wobei c1 ; c2 beliebige komplexe Zahlen sind.
k C k2 D k k2 C k k2 C h ; i C h ; i
(23.14)
 k k2 C k k2 C 2jh ; ij ;
Die Linearität im zweiten Argument impliziert wegen der Her-
mitizität die Antilinearität im ersten Argument:
wenn man den letzten Term mithilfe der Schwarz’schen Unglei-
chung (23.11) abschätzt. 
hc1 1 C c2 2; iD c
1h 1; iC c
2h 2; i: (23.10)
Die Dreiecksungleichung vergleicht die Seitenlängen des von
Das Skalarprodukt ist also linear im zweiten und anti-linear im ; und C aufgespannten Dreiecks (Abb. 23.1). Wegen
ersten Argument. Ein Vektorraum H mit Skalarprodukt heißt dieser Ungleichung ist jede Linearkombination von quadratin-
Prä-Hilbert-Raum. tegrablen Wellenfunktionen ebenfalls quadratintegrabel.
764 23 Formalismus der Quantenmechanik

Gram-Schmidt’sches Verfahren insbesondere bei Konvergenzfragen. Zu deren Untersuchung


braucht es einen Abstand, den man in einem Vektorraum mit
Skalarprodukt ganz natürlich definieren kann: Ähnlich wie im
Das folgende Orthogonalisierungsverfahren erzeugt aus n linear euklidischen Raum ist der Abstand zwischen zwei Vektoren
unabhängigen Vektoren f1 ; f2 ; : : : die gleiche Anzahl von ortho- und gleich der Norm (die Länge) des Differenzvektors  .
normierten Vektoren e1 ; e2 ; : : : mit
Der endlich-dimensionale Vektorraum der komplexen d-Tupel
hem ; en i D ımn ; (23.15) 0 1
c1
die denselben Unterraum aufspannen wie die ff1 ; f2 ; : : : g. Das Bc2 C
B C
c D B : C 2 Cd (23.21)
Verfahren wurde bereits in Abschn. 13.3 eingesetzt, um die Le- @ :: A
gendre-Polynome zu konstruieren. Im ersten Schritt des Verfah- cd
rens bestimmt man folgende n rekursiv definierte und paarweise
orthogonale Vektoren: versehen mit der Norm
 1=2
X
m1
kck D jc1 j2 C    C jcd j2 (23.22)
gm D fm  Pgk .fm /; 1  m  n: (23.16)
kD1 ist vollständig, d. h., jede Cauchy-Folge in C d konvergiert gegen
einen in C d liegenden Grenzwert.
Hier projiziert Pg auf den von g aufgespannten Unterraum:
Wir erinnern daran, dass für eine Cauchy-Folge die Folgenglie-
hg; f i der irgendwann beliebig nahe beieinander liegen, d. h., zu jedem
Pg .f / D g mit Pg .Pg .f // D Pg .f / : (23.17)
hg; gi positiven  existiert ein N 2 N, sodass
Teil III

Derartige Projektoren werden später eine wichtige Rolle spie- k m  nk < für alle m; n  N : (23.23)
len. Normieren wir die orthogonalen Vektoren gn , so erhalten
wir die orthonormierten Vektoren en . Man verlangt nun, dass auch im allgemeinen Fall die quanten-
mechanischen Zustandsvektoren Elemente in einem vollständi-
Frage 1 gen Vektorraum mit Skalarprodukt sind.
Überlegen Sie sich, welche orthogonale Basis Sie erhalten,
wenn das Verfahren auf die Monome f1; x; x2 ; : : : g im Vektor- Hilbert-Raum
raum der reellen Funktionen auf Œ1; 1 mit Skalarprodukt
Ein Prä-Hilbert-Raum (Vektorraum mit Skalarprodukt),
Z1 in dem jede Cauchy-Folge einen Grenzwert besitzt, heißt
hf ; gi D dx f .x/g.x/ (23.18) vollständig. Ein vollständiger Prä-Hilbert-Raum heißt
Hilbert-Raum.
1

angewandt wird. Sie sollten die bereits in Abschn. 13.3 bespro-


chenen Legendre-Polynome erhalten. Der Hilbert’sche Folgenraum

Man kann die Quantenmechanik mithilfe des Hil-


Das Gram-Schmidt’sche Verfahren liefert zuerst bert’schen Folgenraumes
1 3 n ˇ X o
g0 D 1; g1 D x; g2 D x2  ; g3 D x3  x; : : : (23.19) `2 D c D fck gk2N ˇ kck2 D jck j2 < 1 (23.24)
3 5 k

Skaliert man diese, sodass sie bei x D 1 den Wert 1 annehmen, als sogenannte Matrizenmechanik formulieren. Zum Bei-
dann erhält man in der Tat die Legendre-Polynome spiel sind die Folgen mit den Gliedern
gn .x/ 1 dn  2 n
Pn .x/ D D n x 1 : (23.20) 1 1
gn .1/ 2 nŠ dxn ck D ; ˛> (23.25)
k˛ 2
Elemente des Hilbert’schen Folgenraumes. Das Quadrat
Hilbert-Räume ihrer Norm ist gegeben durch die Riemann’sche Zeta-
funktion,
X1
1
Die in der Quantenmechanik auftretenden Vektorräume haben kck2 D D .2˛/ ; (23.26)
kD1
k2˛
oft eine unendliche Dimension, und es treten neben den al-
gebraischen auch analytische Methoden in den Vordergrund,
23.1 Hilbert-Räume 765

ψn
die in der Zahlentheorie eine bedeutende Rolle spielt. Der
Folgenraum ist ein Prä-Hilbert-Raum mit Skalarprodukt
X
hc; di D c dk : (23.27)
k k

Er ist sogar ein Hilbert-Raum mit den „Einheitsfolgen“


f1; 0; 0; : : : g; f0; 1; 0; : : : g; f0; 0; 1; 0; : : : g; : : : als Ba-
sis. Der Folgenraum ist der Prototyp eines Hilbert-Raum-
es: Jeder Hilbert-Raum mit einer abzählbaren Basis ist
isomorph zu diesem Raum. Dieser Isomorphismus erklärt
die Äquivalenz zwischen der Wellen- und der Matrizen- x
mechanik. J
Abb. 23.2 Eine Cauchy-Folge von stetigen Funktionen, die bezüglich des von
der Norm definierten Abstandsbegriffs gegen eine unstetige Stufenfunktion kon-
vergiert (mehr dazu in Aufgabe 23.2)
Frage 2
Überzeugen Sie sich davon, dass der Hilbert’sche Folgenraum
vollständig ist. rationsraum C  Rd mit endlicher Norm:
n Z o
ˇ
L2 . C / D W C 7! C ˇ k k2 D dd x j .x/j2 < 1 :
Zum Beweis betrachtet man eine Cauchy-Folge von Folgen
c.n/ 2 `2 und die Folge bestehend aus dem jeweils k’ten Glied C

Teil III
(23.29)
ck.n/ dieser Folgen. Dies sind die rot markierten Glieder in In L2 hat neben der Nullfunktion jede Funktion, die sich nur auf
einer Menge vom Maß null von der Nullfunktion unterscheidet,
c.1/ D fc1.1/ ; c2.1/ ; : : : ; ck.1/ ; : : : g eine verschwindende Norm.
c.2/ D fc1.2/ ; c2.2/ ; : : : ; ck.2/ ; : : : g Frage 3
(23.28)
c .3/
D fc1.3/ ; c2.3/ ; : : : ; ck.3/ ; : : : g Überlegen Sie sich, dass die messbare Dirichlet-Funktion, wel-
:: che die rationalen Zahlen auf 1 und die irrationalen Zahlen auf
: 0 abbildet, eine verschwindende Norm hat.

Mithilfe von jck.n/  ck.m/ j  kc.n/  c.m/ k beweist man nun


leicht, dass die Folge der rot markierten Glieder eine Cauchy- Aus k k D 0 folgt also nicht D 0, d. h., k::k definiert keine
Folge in C definiert. Da C vollständig ist, konvergiert diese Fol- Norm auf L2 . Um dieses Problem zu lösen, führt man Äquiva-
lenzklassen von quadratintegrablen Funktionen ein:
ge ck.n/ gegen ein ck . Für die Folge c D fck g muss man jetzt
noch zeigen, dass sie im Hilbert’schen Folgenraum liegt und ˚ ˇ 
Œ D 2 L2 . C / ˇ k  kD0 : (23.30)
dass kc.n/  ck ! 0 gilt. Den Beweis findet man z. B. in Fischer
und Kaul (1998).
Die Elemente einer Klasse sind quadratintegrable Funktionen,
Achtung Der Prä-Hilbert-Raum aller stetigen Funktionen die sich höchstens auf einer Menge vom Maß null unterschei-
auf dem Konfigurationsraum C  Rd ist nicht vollständig. Es den. Die lineare Struktur von L2 .C / ist verträglich mit dieser
existieren beispielsweise Cauchy-Folgen von stetigen Funktio- Klasseneinteilung, sodass die Klassen auch einen Vektorraum
nen, die gegen eine unstetige Funktion konvergieren (Funktio- bilden.
nenfolgen und deren Konvergenz werden auch im „Mathemati-
schen Hintergrund“ 8.1 behandelt). Abbildung 23.2 zeigt die in
L2 -Räume
Aufgabe 23.2 diskutierte Folge. J
Die Äquivalenzklassen von Funktionen
Ein Prä-Hilbert-Raum kann zu einem Hilbert-Raum vervoll-
ständigt werden, in dem er dicht liegt. Zum Beispiel führt die ˚ ˇ 
L2 .C / D Œ  ˇ 2 L2 .C / (23.31)
Vervollständigung des Prä-Hilbert-Raumes C01 .C / der belie-
big oft differenzierbaren Funktionen mit kompaktem Träger in
im Raum L2 .C / bilden einen Vektorraum, in dem es genau
C auf den Hilbert-Raum L2 .C /.
ein Element mit verschwindender Norm gibt, nämlich die
Um die wichtigen Räume L2 .C / zu charakterisieren, beginnt zur Nullfunktion gehörige Klasse. L2 .C / ist ein Hilbert-
man mit den quadratintegrablen Wellenfunktionen der Wellen- Raum, in dem jede Cauchy-Folge konvergiert.
mechanik. Diese sind (messbare) Funktionen auf dem Konfigu-
766 23 Formalismus der Quantenmechanik

In der Literatur wird zwischen dem Repräsentanten und seiner ψ3


Äquivalenzklasse kaum unterschieden, und auch wir werden die
eckigen Klammern um weglassen. Mit dieser Übereinkunft
schreiben wir für das L2 -Skalarprodukt
Z
h ; i D dd x  .x/ .x/ : (23.32)
C
c3 ψ3
Die Hilbert-Räume in der Quantenphysik besitzen eine abzähl- ψ
bare Basis; solche Räume nennt man separabel. Wir werden im
Folgenden immer voraussetzen, dass Hilbert-Räume diese Ei-
genschaft haben. Mithilfe des Gram-Schmidt’schen Verfahrens c2 ψ2
c1 ψ1
kann man aus einer abzählbaren Basis immer eine abzählbare
orthonormierte Basis konstruieren. Man spricht dann von einem
vollständigen Orthonormalsystem oder kurz von einer Ortho- ψ2
normalbasis.
Jeder Vektor im Hilbert-Raum ist als eine eindeutige Linear- ψ1
kombination der Basisvektoren darstellbar:
Abb. 23.3 Jeder Vektor ist eine eindeutige Linearkombination der (orthonor-
X
dim H
mierten) Basisvektoren
D cn : (23.33)
Teil III

n
nD1

Wie im Vektorraum R3 ist der Summand cn n in der Vollstän-


Ist dim H D 1, dann bilden die Partialsummen eine Cauchy- digkeitsrelation die Projektion von auf den Basisvektor n .
Folge und konvergieren gegen . Im Folgenden werden wir im- Dies ist in Abb. 23.3 gezeigt.
mer eine Orthonormalbasis wählen, für die h m ; n i D ımn ist.
Dann findet man den Entwicklungskoeffizienten cm , indem man Der Entwicklungskoeffizient cn D h n ; i entspricht dann dem
das Skalarprodukt von (23.33) mit dem Basisvektor m nimmt: Richtungskosinus und (23.36) wird zum Satz des Pythagoras im
X X Hilbert-Raum.
h m; iD cn h m; ni D cn ımn D cm : (23.34)
n n Die lineare Abbildung 7! fcn g vom Hilbert-Raum H in den
Hilbert’schen Folgenraum ist eine bijektive und längenerhalten-
Er ist somit gleich dem Skalarprodukt von m und . Diese de Abbildung.
Wahl für die Koeffizienten sorgt auch für die schnellste Konver-
genz der Partialsummen gegen (Aufgabe 23.1).
Zur Isomorphie zwischen Hilbert-Räumen

Vollständigkeitsrelation Jeder endlich-dimensionale Hilbert-Raum H über C ist


isomorph zu C dim.H / . Jeder separable Hilbert-Raum mit
Ist f n g eine Orthonormalbasis in einem Hilbert-Raum dim.H / D 1 ist isomorph zum Hilbert’schen Folgen-
H , dann hat jeder Vektor in H die Entwicklung raum `2 .
X X
D cn n D h n; i n : (23.35)
n n
Frage 4
Diese Beziehung heißt Vollständigkeitsrelation. Überzeugen Sie sich davon, dass die in (23.34) definierte Ab-
bildung ! fcn g von einem separablen Hilbert-Raum in den
Hilbert’schen Folgenraum bijektiv und linear ist.
Das Quadrat von k k kann durch die Entwicklungskoeffizien-
ten bezüglich einer Orthonormalbasis ausgedrückt werden:
X X Periodische Funktionen auf dem Intervall
k k2 D c
m cn h m; ni D jcn j2 D kck2 : (23.36)
m;n n
Periodische Funktionen auf dem Intervall Œ0; L können
Die Norm des Vektors ist also gleich der Norm der Koeffizi- als Funktionen auf einer Kreislinie S mit Umfang L auf-
entenfolge fcn g im Hilbert’schen Folgenraum.
23.1 Hilbert-Räume 767

Gemäß den Ausführungen in Kap. 22 ist für ein System mit


gefasst werden. Der Hilbert-Raum verallgemeinerten Koordinaten q D .q1 ; : : : ; qf / die Norm einer
Wellenfunktion durch ein gewichtetes Integral über den Konfi-
8 9
< ZL = gurationsraum C gegeben.
ˇ
L2 .S/ D .0/ D .L/ ˇ dx j j2 < 1 (23.37)
: ;
0 Gewichtete L2 -Räume

hat die Orthonormalbasis Für ein physikalisches System mit verallgemeinerten


Koordinaten tritt anstelle des Lebesgue-Maßes d f q ein
1 gewichtetes Maß. Der Hilbert-Raum L2 .C ; / besteht
n .x/ D p e2 ; n 2 Z:
inx=L
(23.38) dann aus den quadratintegrablen Funktionen mit endlicher
L
Norm
Die Isomorphie L2 .S/ ! `2 ist die Fourier-Transforma- 0 11=2
tion, die einer periodischen Funktion ihre Fourier-Koef- Z
fizienten zuordnet. Die Vollständigkeitsrelation (23.35) k kD@ df q j .q/j2 .q/A : (23.43)
lautet hier C

1 X In den meisten Anwendungen ist die Gewichtsfunktion


.x/ D p cn e2 inx=L
: (23.39) p
L  D g, worin g die Determinante der Riemann’schen
Metrik auf dem Konfigurationsraum C ist.
Dies ist die bekannte Fourier-Reihe für periodische Funk-
tionen. Die Fourier-Koeffizienten cn erhält man mithilfe
 

Teil III
der Fourier-Rücktransformation 2
Der Hilbert-Raum L2 R, e−x dx
Z
1
cn D h n ; i D p dx e2 inx=L .x/ : (23.40) Bei der Behandlung des harmonischen Oszillators in Ab-
L
schn. 26.3 werden wir auf den gewichteten Hilbert-Raum
In Aufgabe 23.3 betrachten wir die Vollständigkeitsre- der Funktionen auf R mit Skalarprodukt
lation für die periodische Dreiecksschwingung. Fourier- Z
h ; i D dx  .x/ .x/ ex
2
Reihen werden ausführlicher in Abschn. 8.3 behandelt. (23.44)
J R

geführt. Die Monome n .x/ D xn mit n 2 N0 sind we-


gen der Gauß’schen Gewichtsfunktion quadratintegrabel
und bilden eine nichtorthogonale Basis. Um eine ortho-
Wichtige Hilbert-Räume gonale Basis zu konstruieren, wendet man das Gram-
Schmidt’sche Verfahren auf die f n g an. Dies führt auf
die Hermite-Polynome
In der Ortsdarstellung ist die Wellenfunktion für ein System aus
N Teilchen eine quadratintegrable Funktion der Teilchenkoordi- dn F t .x/ ˇˇ 2
naten x1 ; : : : ; xN . Hn .x/ D ; F t .x/ D e2txt : (23.45)
dtn tD0
Die niedrigsten Hermite-Polynome sind
Mehrteilchensysteme
H0 D 1; H1 D 2x; H2 D 4x2  2; : : : (23.46)
Für N unterscheidbare Teilchen ist der Hilbert-Raum
  ˚  Das Skalarprodukt der erzeugenden Funktion F t in
L2 R3N D W R3N 7! C j k k2 < 1 (23.41) (23.45) für verschiedene Parameterwerte ist
p 2st
mit der quadrierten Norm hFs ; F t i D e : (23.47)
Z
k k2 D j .x1 ; : : : ; xN /j2 d3 x1    d3 xN : (23.42) Deshalb führt die Konstruktionsvorschrift (23.45) auf
p n
hHm ; Hn i D 2 nŠ ımn : (23.48)

Achtung Für nichtunterscheidbare Teilchen ist H ein Un- Weitere Eigenschaften der Hermite-Polynome findet man
terraum von L2 .R3N /. Dies wird in Abschn. 31.1 ausführlich in Abschn. 26.3 und in Aufgabe 13.6. J
diskutiert. J
768 23 Formalismus der Quantenmechanik

Direkte Summe von Hilbert-Räumen (Anti)symmetrische Wellenfunktionen

Wir betrachten den Hilbert-Raum L2 .R6 / für zwei Teil-


Es sei H ein Hilbert-Raum mit Untervektorräumen U; V . Dies chen. Jede Wellenfunktion .x; y/ kann eindeutig in
sind Teilmengen, die selbst Vektorräume bilden. Die Summe der ihren symmetrischen und antisymmetrischen Anteil zer-
beiden Unterräume legt werden:

UCV Df C j 2 U; 2 Vg (23.49) .x; y/ D 1


2
. .x; y/ C .y; x//
C . .x; y/ 
1
2
.y; x//
heißt direkt, wenn nur der Nullvektor in beiden Unterräumen  s .x; y/ C a .x; y/ : (23.54)
liegt, U \ V D f0g. Die direkte Summe wird mit U ˚ V
bezeichnet. Die Summe zweier Unterräume heißt orthogonal, Dies ist eine orthogonale Zerlegung in zwei Untervek-
U ? V , wenn jeder Vektor im ersten Unterraum senkrecht zu torräume. Ist nämlich s .x; y/ eine symmetrische und
a .x; y/ eine antisymmetrische Funktion, dann folgt
jedem Vektor im zweiten Unterraum ist.
Z
Frage 5
h s ; a i D d3 xd3 y s .x; y/ a .x; y/ (23.55)
Überzeugen Sie sich davon, dass eine orthogonale Summe eine Z
direkte Summe ist.
D  d3 xd3 y s .y; x/ a .y; x/ D h s ; a i

bzw. h s ; ai D 0. Deshalb ist


Teil III

Man kann auch die direkte Summe von Hilbert-Räumen bilden,


die nicht Unterräume eines gemeinsamen Raumes sind. Es sei- H D Hs ˚ Ha : (23.56)
en U und V Hilbert-Räume und U  V sei ihr kartesisches J
Produkt mit komponentenweiser Addition und Skalarmultipli-
kation. Die Menge der Paare . ; / 2 U  V versehen mit
dem Skalarprodukt Achtung Für drei oder mehr Teilchen kann eine beliebige
Wellenfunktion nicht mehr als Summe einer total symmetri-
h. ; /; . 0 ; 0
/iU˚V  h ; 0
iU C h ; 0
iV (23.50) schen und total antisymmetrischen Funktion geschrieben wer-
den. So ist der Hilbert-Raum für drei Teilchen die direkte
Summe von drei Unterräumen und für vier Teilchen die direkte
ist ebenfalls ein Hilbert-Raum, der auch mit U ˚ V bezeichnet
Summe von fünf Unterräumen. J
wird. Ein Vektor in der direkten Summe wird als Summe C
geschrieben. Sind f m g und f n g Basen von U und V , dann ist
f m g [ f n g eine Basis der direkten Summe. Daraus folgt sofort
Tensorprodukt von Hilbert-Räumen
dim .U ˚ V / D dim U C dim V : (23.51)
Neben der direkten Summe kann man auch mit dem Tensor-
Induktiv lässt sich nun auch die direkte Summe einer endlichen produkt aus zwei oder mehreren Hilbert-Räumen einen neuen
Anzahl von Hilbert-Räumen bilden: Hilbert-Raum konstruieren (siehe den „Mathematischen Hinter-
grund“ 4.1). Man führt das bilineare Tensorprodukt
H1 ˚ H2 ˚    ˚ HN : (23.52)
U˝V (23.57)
In der Quantenfeldtheorie verwendet man meist den sogenann- zweier Hilbert-Räume wie folgt ein: Ist f m g eine Basis von U
ten Fock-Raum (nach Wladimir Alexandrowitsch Fock, sowjeti-
und f n g eine Basis von V , dann bilden deren Tensorprodukte
scher Quantenfeldtheoretiker, 1898–1974)
f m ˝ n g eine Basis in U ˝ V . Jeder Vektor im Tensorpro-
dukt hat also die Entwicklung
1
M
F D HN ; (23.53) X
D cQ mn m ˝ n : (23.58)
ND0
m;n

um Übergänge von einem N-Teilchen-System im HN zu einem Die Dimension des Tensorprodukts ist demzufolge gleich
N C 1-Teilchen-System im HNC1 oder N  1-Teilchen-System
im HN1 in einem Raum beschreiben zu können. dim .U ˝ V / D dim U  dim V : (23.59)
23.2 Lineare Operatoren 769
P
Das Tensorprodukt eines beliebigen Vektors
P D cm m in
U mit einem beliebigen Vektor D dn n in V ergibt sich Dann enthält L2 .R/ ˝ L2 .R/ alle quadratintegrablen
dann aus der Bilinearität des Tensorprodukts: Funktionen über der Ebene R2 mit dem Skalarprodukt
X Z
˝ D cm dn m ˝ n : (23.60)
h; 0 i D dx dy  .x; y/0 .x; y/ : (23.65)
m;n

Hat ein Vektor in U ˝ V die Zerlegung ˝ , dann nennt man Dies ist gerade der Hilbert-Raum L2 .R2 /. Bilden die
ihn separabel. Nichtseparable Vektoren heißen verschränkt. Funktionen n .x/ eine Basis von L2 .R/, dann bilden
Frage 6 die Funktionen m .x/ n .y/ eine Basis im Produkt-
raum. Die Produktfunktionen .x; y/ D .x/ .y/ sind
Was kann man bei verschränkten Zuständen über den Rang
separabel. J
der Koeffizientenmatrix aussagen? (Hinweis: Die Lösung findet
man in der folgenden Definition über „Verschränkte Zustände“.)

Der Vektor (23.58) im Tensorprodukt ist genau dann separabel,


wenn cQ mn D cm dn ist oder, in Matrixnotation, wenn 23.2 Lineare Operatoren
cQ D cd > (23.61)
Der Begriff „linearer Operator“ ist synonym zum Begriff der
linearen Abbildung zwischen zwei Vektorräumen, in der Quan-
gilt. Matrizen dieser Form projizieren auf den Vektor c und ha-
tenmechanik sind dies lineare Abbildungen H 7! H . In der
ben den Rang eins. Umgekehrt hat jede Matrix mit Rang eins
Standard-Quantenmechanik treten nur lineare Operatoren auf,

Teil III
diese Darstellung. Separable und verschränkte Zustände werden
sodass man oft nur von Operatoren spricht, obwohl man lineare
in Aufgabe 23.4 näher untersucht.
Operatoren meint. Wichige Beispiele von linearen Operatoren
sind der Ortsoperator, Impulsoperator und Hamilton-Operator.
Verschränkte Zustände
P
Ein Zustand D m;n cQ mn m ˝ n im Produktraum Lineare Operatoren
U ˝ V ist genau dann verschränkt, wenn der Rang der
Ein Operator AO heißt linear, wenn für beliebige komplexe
Koeffizientenmatrix cQ D .Qcmn / größer ist als 1.
Zahlen c; d und Vektoren ; in einem Definitionsbe-
reich DA  H für den Operator gilt
Wir benötigen noch ein Skalarprodukt auf dem Produktraum.
Für separable Vektoren definiert man AO .c C d / D cAO C d AO : (23.66)
˝ ˛ ˝ ˛ ˝ ˛
˝ ; 0 ˝ 0 U˝V D ; 0 U  ; 0 V : (23.62)
Differenzial- und Integraloperatoren sind genauso linear wie die
Dieses Produkt ist linear im zweiten und anti-linear im ersten Multiplikation mit einer Konstanten oder einer Funktion.
Argument und damit für beliebige Vektoren im Tensorprodukt
erklärt, da jeder Vektor die Entwicklung (23.58) hat. Ist f m g
eine Orthonormalbasis in U und f n g eine Orthonormalbasis in Lineare Operatoren und zugeordnete Matrizen
V , dann ist f m ˝ n g eine Orthonormalbasis im Produktraum.

Man kann das Bild jedes Basisvektors wieder als Linearkombi-


Tensorprodukt von Funktionenräumen
nation der Basisvektoren schreiben. Ist f n g eine Orthonormal-
basis, dann gilt
Wir wählen für U den Hilbert-Raum L2 .R/ mit dem Ska-
larprodukt X
AO n D m amn mit amn D h m ; AO n i : (23.67)
Z m
h ; i D dx  .x/ 0 .x/
0
(23.63)
Die Matrixelemente amn legen den linearen Operator AO eindeu-
P
tig fest. Es sei D cn n . Entwickeln wir den Bildvektor AO
und für V ebenfalls L2 .R/ mit dem Skalarprodukt
ebenfalls nach den orthonormierten Basisvektoren,
Z X X X
h ; 0 i D dy  .y/ 0 .y/ : (23.64) 0
D c0m m D AO D cn AO n D cn amn m ;
m n n;m
(23.68)
770 23 Formalismus der Quantenmechanik

dann führt der Koeffizientenvergleich auf folgende lineare Be- Im Folgenden seien die Definitionsbereiche der Operatoren ent-
ziehung zwischen den Entwicklungskoeffizienten von Vektor weder geeignet gewählt, oder die Operatoren seien beschränkt
und Bildvektor: X und somit auf dem ganzen Hilbert-Raum definiert. Dann kann
c0m D amn cn : (23.69) man lineare Operatoren addieren oder mit einer komplexen Zahl
n multiplizieren,
Fassen wir die Entwicklungskoeffizienten fcn g zu einem Spal-
tenvektor c zusammen, dann ist (23.69) gerade die Multiplikati- .AO C B/
O D AO C BO ; O
.˛ A/ D ˛.AO / ; (23.74)
on der Matrix A D .amn / mit diesen Spaltenvektor, d. h.
und erhält wieder einen linearen Operator. Somit ist der Raum
0 1 0 1
c1 a11 a12 : : : der (beschränkten) linearen Operatoren selbst ein Vektorraum.
B C B C
c0 D Ac; c D @c2 A ; A D @a21 a22 : : :A : (23.70) Führt man lineare Abbildungen hintereinander aus, dann erhält
:: :: :: ::
: : : : man wieder eine lineare Abbildung. Dies definiert ein Produkt
von linearen beschränkten Operatoren:
Unglücklicherweise konvergieren die unendlichen Summen
nicht für alle unendlich-dimensionalen Matrizen und Koeffizi- .AO B/
O O BO / :
D A. (23.75)
entenvektoren.
Dieses Operatorprodukt ist bilinear:
 
Unbeschränkte und beschränkte Operatoren AO C BO CO D AO CO C BO CO ;
 
AO BO C CO D AO BO C AO CO ; (23.76)
Teil III

Viele Operatoren in der Quantenmechanik sind unbeschränkt.      


Ein Operator AO heißt unbeschränkt, wenn nicht alle Bildvekto- ˛ AO BO D ˛ AO BO D AO ˛ BO :
ren AO für 2 H eine endliche Norm haben. Dann ist man
gezwungen, einen linearen Unterraum DA  H als Definitions- Die linearen Operatoren bilden also nicht nur einen Vektor-
bereich für AO zu wählen, in dem das nicht mehr geschieht. Für raum, sondern sogar eine komplexe Algebra mit einer Norm,
die auftretenden Operatoren kann man aber immer einen dich- eine sogenannte normierte Algebra. Eine komplexe Algebra ist
ten Unterraum von H wählen. In Aufgabe 23.6 wird gezeigt, ein komplexer Vektorraum, auf dem neben der Addition eine
dass Orts- und Impulsoperator unbeschränkt sind. Als gemein- bilineare Multiplikation erklärt ist. Die Eigenschaften (23.76)
samer Definitionsbereich für diese Operatoren eignet sich der drücken genau die Bilinearität des Operatorprodukts aus.
Schwartz’sche Raum. Dies ist der dichte Unterraum der beliebig
Die Operatornorm des Produkts von zwei Operatoren ist nach
oft differenzierbaren Funktionen, deren Beträge im Unendli-
oben begrenzt durch das Produkt ihrer Normen:
chen schneller abfallen als jedes inverse Polynom (siehe den
„Mathematischen Hintergrund“ 11.1).
kAO Bk O kBk
O  kAk O : (23.77)
Für einen beschränkten Operator AO gibt es dagegen eine Kon-
stante cA  0, sodass
Frage 8
kAO k  cA k k für alle 2H: (23.71) Begründen Sie diese für Matrizen und beschränkte Operatoren
gültige Ungleichung. Ausgangspunkt könnte z. B. sein:
Die kleinstmögliche Konstante in dieser Ungleichung definiert
eine Operatornorm (siehe den „Mathematischen Hintergrund“ kAO BO k kAO BO k kBO k
1.2): D : (23.78)
k k kBO k k k

O D kAO k
kAk sup D sup kAO k : (23.72)
0¤ 2H k k k kD1
Projektionsoperatoren
Frage 7
Es sei 2 H ein Einheitsvektor, d. h. k k D 1. Dann
Überzeugen Sie sich davon, dass (23.72) eine Norm definiert projiziert der Operator
und insbesondere die Dreiecksungleichung im Hilbert-Raum
(23.12) die Dreiecksungleichung PO W !h ; i (23.79)
kAO C Bk O C kBk
O  kAk O (23.73) auf den eindimensionalen Unterraum definiert durch
wie in Abb. 23.4 gezeigt. Mihilfe des Verfahrens von
für beschränkte Operatoren bedingt.
23.2 Lineare Operatoren 771

Kommutator charakterisiert:
Gram-Schmidt ergänzen wir zu einer Orthonormalba-
O B
ŒA; O WD AO BO  BO AO D ŒB; O :
O A (23.81)
sis f ; 2 ; 3 ; : : : g und entwickeln den beliebigen Vektor
nach dieser Basis, D c C c2 2 C : : : Dann ist
Der Kommutator definiert eine Bilinearform
PO Dc und
O ˇ BO C  C
ŒA; O D ˇŒA;
O B O C
O C  ŒA; O ; (23.82)
kPO k jc j
D ; (23.80) welche die Jacobi-Identität (nach Carl Jacobi, 1804–1851) er-
k k kck
füllt:
wobei kck die Norm der Koeffizientenfolge im Hil- O ŒB; O C ŒB;
O C O A
O ŒC; O C ŒC;
O ŒA;
O B
O D 0:
ŒA; (23.83)
bert’schen Folgenraum ist. Das Maximum der rechten
Seite ist eins für die Folge fc ; 0; 0; : : : g, und deshalb ist Die Menge der beschränkten linearen Operatoren bildet also
kPO k D 1. Die Projektionsoperatoren sind beschränkt nicht nur eine normierte Algebra, sondern gleichzeitig eine
mit Norm eins. nichtabel’sche Lie-Algebra (siehe den „Mathematischen Hinter-
grund“ 27.1).
Bei der Berechnung der Kommutatoren von zusammengesetz-
ten Operatoren ist die Derivations- oder Produktregel sehr
hilfreich:
φ O BO C
ŒA; O D BŒ O C
O A; O C ŒA;
O B
O CO ;
(23.84)
ŒAO B; O D AŒ
O C O B; O C ŒA;
O C O C
O BO :

Teil III
Frage 9
ψ Überprüfen Sie die Jacobi-Identität und Produktregel explizit
durch Anwendung auf Elemente im Hilbert-Raum.
P̂ψ (φ)

Abb. 23.4 Der orthogonale Projektor PO projiziert jeden Vektor im Achtung Die Linearität der Operatoren impliziert nicht au-
Hilbert-Raum auf den linearen Unterraum definiert von . Die Norm tomatisch die Jacobi-Identität. Für singuläre und unbeschränkte
jedes zu nichtparallelen Vektors nimmt bei der Projektion ab, und Operatoren kann die Identität verletzt sein. Ein bekanntes Ge-
wegen PO . / D ist die Norm von PO gleich eins. Man sieht hier
genbeispiel ist die Bewegung eines geladenen Teilchens im Feld
auch, dass die nochmalige Anwendung von PO auf einen projizierten
eines magnetischen Monopols (Jackiw 1985). J
Zustand diesen nicht mehr verändert, sodass PO 2 D PO
J Zum Beispiel findet man für die Kommutatoren der Orts- und
Impulsoperatoren eines Teilchens, angewandt auf eine Wellen-
funktion im Ortsraum:
„ @ „ @
Die normierte Algebra der linearen Operatoren ŒOxi ; pOj  D xO i  .xi / D i„ıij : (23.85)
i @xj i @xj
Die Menge der beschränkten linearen Operatoren bilden
eine normierte Algebra über C. Die Addition und Mul- Dagegen kommutieren zwei Ortsoperatoren oder zwei Impuls-
tiplikation in der Algebra sind durch die Addition und operatoren miteinander, da im Ortsraum gilt:
Hintereinanderausführung der den Operatoren entspre-
chenden linearen Abbildungen erklärt. Die Norm (23.72) ŒOxi ; xOj  D .xi xj  xj xi / D 0 ;
erfüllt neben den üblichen Eigenschaften die Ungleichung „ @ „ @ „ @ „ @ (23.86)
ŒOpi ; pOj  D  D 0:
(23.77). i @xi i @xj i @xj i @xi
Die Wellenfunktion ist hier beliebig, und wir erhalten die Kom-
mutationsregeln für Orts- und Impulsoperatoren.

Kommutator von Operatoren Kommutationsregeln für Orts- und Impulsoperatoren


Die Komponenten des Orts- und Impulsoperators erfüllen
O BO / ¤ B.
Für viele Paare von Operatoren ist A. O AO /. Dies be- die Kommutationsregeln
O O O O
deutet, dass AB und BA verschiedene Operatoren sind oder dass
das Operatorprodukt nicht kommutativ ist. Die Nichtvertausch- ŒOxi ; pOj  D i„ıij und ŒOxi ; xOj  D ŒOpi ; pOj  D 0 : (23.87)
barkeit zweier Operatoren wird durch deren antisymmetrischen
772 23 Formalismus der Quantenmechanik

Frage 10 linearen Operatoren auf dem Hilbert-Raum sind beide antisym-


metrisch, bilinear und erfüllen die Produktregel sowie Jacobi-
Überzeugen Sie sich mithilfe der Produktregel und einer voll-
Identität. Die Poisson-Klammer von zwei Funktionen auf dem
ständigen Induktion von
Phasenraum ist bis auf einen Faktor i=„ gleich dem Kommuta-
ŒOxi ; pOjn  D i„ıij n pOjn1 ; tor der den Funktionen zugeordneten Operatoren. Insbesondere
(23.88) wird einer klassischen Observablen, d. h. einer reellen Funktion
ŒOpi ; xOjn  D i„ıij n xOjn1 : F.q; p/ ein hermitescher Operator F.Oq; pO / zugeordnet, d. h. eine
Observable in der Quantentheorie. Bei der „Quantisierung“ ei-
nes klassischen Systems wird dann die Poisson-Klammer durch
Der Kommutator mit xO i wirkt bis auf den Faktor i„ genauso den Kommutator ersetzt:
wie die Ableitung nach dem zu xO i konjugierten Impuls, und der
Kommutator mit pO i wirkt bis auf einen Faktor i„ wie die Ab- i O :
O G
fF; Gg ! ŒF; (23.93)
leitung nach dem zu pO i konjugierten Ortsoperator. „

Kommutatoren mit Orts- und Impulsoperatoren


Wegen der Linearität des Kommutators kann man die Dirac-Notation
Formeln in (23.88) zuerst auf Polynome und danach auf
Funktionen, die in Potenzreien entwickelbar sind, ausdeh- Bisher haben wir die Quantenmechanik in der Ortsdarstellung
nen: in Form der Schrödinger’schen Wellenmechanik kennengelernt.
h i O
O x; pO / D i„ @A.Ox; pO / ;
xO i ; A.O An einigen Stellen haben wir allerdings betont, dass die Theorie
@Opi auch in der äquivalenten Impulsdarstellung formuliert werden
(23.89)
Teil III

h i O x; pO /
@A.O kann. In diesem Abschnitt werden wir eine darstellungsunab-
O
pO i ; A.Ox; pO / D i„ : hängige Formulierung der Quantenmechanik einführen, die auf
@Oxi
Paul Dirac (1902–1984, Nobelpreis 1933 zusammen mit Erwin
Schrödinger für seine wichtigen Beiträge zur Quantentheorie
Bei der Berechnung der Ableitungen nach den Operatoren auf und Atomphysik; Abb. 23.5) zurückgeht.
den rechten Seiten betrachtet man diese als gewöhnliche kom- Die einhergehende Dirac’sche Notation offenbart die intrinsi-
mutierende Variablen. Zum Beispiel ist sche Struktur der Quantentheorie und ist gerade beim Übergang
O x; pO / zwischen verschiedenen Darstellungen sehr hilfreich. Die Be-
@A.O @A.x; p/ ˇˇ
D xDOx;pDOp
: (23.90) deutung der Dirac’schen Notation liegt in ihrer hervorragenden
@Opi @pi Mnemotechnik, die es gestattet, auch umfangreichere formale
Rechnungen wenig fehlerträchtig auszuführen. Die Situation ist
Achtung Hier darf man die Reihenfolge der Variablen vergleichbar mit derjenigen in der linearen Algebra. Auch hier
nicht ändern. Nach dieser Vorschrift ist dann ŒOxi ; pO a xO b pO c  D repräsentiert ein n-Tupel einen abstrakten Vektor bezüglich ei-
i„ıia xO b pO c C i„ıic pO a xO b . J ner Basis. Wechselt man die Basis, dann wird derselbe abstrakte
Vektor durch ein anderes n-Tupel dargestellt.
Für Systeme mit verallgemeinerten Koordinaten q D
.q1 ; : : : ; qf / und kanonisch konjugierten Impulsen p D Die grundlegenden Größen in der Dirac’schen Formulierung
.p1 ; : : : ; pf / lauten die entsprechenden Kommutationsregeln sind die Bras und Kets. Das Ket j i ist identisch mit dem Zu-
standsvektor , und die Menge der Kets bilden den Hilbert-
h i O
O q; pO / D i„ @A.Oq; pO / ;
qO k ; A.O
Raum H . Für das Skalarprodukt schreibt man
@Opk
(23.91)
h i O h ; i  h j i: (23.94)
O q; pO / D i„ A.Oq; pO / :
pO k ; A.O
@
@Oqk
Dagegen ist das Bra h j ein lineares beschränktes Funktio-
Die Ähnlichkeit zu den in Kap. 7 eingeführten Poisson-Klam- nal auf dem Hilbert-Raum. Lineare Funktionale sind lineare
mern der Orts- und Impulskoordinaten mit Funktionen auf dem Abbildungen H 7! C, und sie bilden den zu H dualen Vek-
Phasenraum, torraum H 0 . Nun existiert ein anti-linearer Isomorphismus von
@f .q; p/ H 7! H 0 , gegeben durch
fqi ; f .q; p/g D ;
@pi
(23.92) j i 7! F mit F . / D h j i 8 j i 2 H : (23.95)
@f .q; p/
fpi ; f .q; p/g D  ;
@qi Die inverse Abbildung ist
springt sofort ins Auge. Die Poisson-Klammer von zwei Funk-
tionen auf dem Phasenraum und der Kommutator von zwei F 7! j Fi mit h F j i D F. / 8 j i 2 H : (23.96)
23.2 Lineare Operatoren 773

Tab. 23.1 Vergleich der bisherigen Notation und der Dirac’schen Notation. (Der
adjungierte Operator AO  wird im folgenden Abschnitt eingeführt.)
bisherige Schreibweise Dirac’sche Schreibweise
H D f ; ; : : : g Hilbert-Raum H D fj i ; j i ; : : : g Ket-Raum
2H j i2H
C j iCj i
˛ ˛j i
h ; i h j i
F C DF CF h C j Dh jCh j
H 0 D fF ; F ; : : : g H 0 D fh j ; h j ; : : : g Bra-Raum
D AO ) F D FAO j i D AO j i ) h j D h j AO 

im Hilbert-Raum. Insbesondere ist j i h j der früher einge-


führte orthogonale Projektor PO , der auf den vom normierten
Ket j i aufgespannten eindimensionalen Unterraum projiziert.

Kets und Bras in endlich-dimensionalen Räumen

Es bilde fj n ig eine orthonormierte Basis in einem end-


lich-dimensionalen Hilbert-Raum. Dann können wir das

Teil III
Ket j i D c1 j 1 i C c2 j 2 i C : : : als Spaltenvektor mit
Komponenten fcn g und das Bra h j als Zeilenvektor mit
den konjugierten Komponenten fc n g auffassen:
0 1
c1
Bc2 C  
B C
Abb. 23.5 Paul Dirac (1902–1984), © akg/Science Photo Library j i 7! B : C ; h j 7! c  
1 ; c2 ; : : : ; cd : (23.100)
@ :: A
cd
In der Dirac’schen Notation bezeichnet man das j i zugeordne-
te Funktional F mit dem Bra h j. Von Dirac stammen sowohl Hat die Koeffizienten fdn g, dann sieht man sofort, dass
die Schreibweise als auch die Benennung. Letztere soll auf die X
spitze Klammer (angle bracket) im Skalarprodukt h ; i an- h j iD dn cn (23.101)
spielen. n

Frage 11 gerade das Skalarprodukt von j i und j i ist und


Überlegen Sie mithilfe der Schwarz’schen Ungleichung, dass 0 1
die Bijektion (23.95) zwischen H und H 0 eine längenerhalten- d1 c
1 d1 c2 ::: d1 c
n
Bd2 c d2 c ::: d2 c C
de anti-lineare Abbildung ist. Längenerhaltend bedeutet B 1 2 nC
j i h j D B :: :: :: C (23.102)
@ : : : A
kF k D sup jF . /j D k k ; (23.97) dn c
1 dn c
2 ::: dn c
n
k kD1

die Matrixdarstellung des linearen Operators j i h j. J


und anti-linear meint

F C DF CF ; F˛ D ˛ F (23.98) Im Ausdruck h j AO j i kann der lineare Operator entweder nach


links oder nach rechts wirken, sodass
für alle Vektoren und und alle ˛ 2 C.
h j AO j i D h j i D h j 0 i mit
(23.103)
O
hj D h j A; j0 i D AO j i :
Wirkt ein Bra auf ein Ket, so entsteht als Bracket-Ausdruck das
Skalarprodukt. Dagegen definiert j i h j die lineare Abbildung In Tab. 23.1 wird die bisherige Schreibweise mit der in der Lite-
ratur weitverbreiteten Dirac’schen Notation verglichen. Je nach
j i h j W ji ! h ji j i (23.99) Bedarf werden im Folgenden beide Notationen verwendet.
774 23 Formalismus der Quantenmechanik

In der Dirac’schen Notation schreibt sich z. B. die Eigenwert- Ordnung der Basisvektoren im Produktraum. Wählt man die
gleichung zum Eigenwert an gemäß Ordnung

AO j ni D an j ni : (23.104) j 1i ˝ j mi ; j 2i ˝ j mi ; j 3i ˝ j mi ; : : : (23.110)

Ist der Eigenwert an von AO nicht entartet, dann charakterisiert er dann entspricht dem Tensorprodukt AO ˝ BO die Matrix
den Eigenvektor, und man schreibt auch 0 1
a11 B a12 B a13 B : : :
O n i D an jan i :
Aja (23.105) Ba21 B a22 B a13 B : : :C
B C
Ba31 B a32 B a33 B : : :C : (23.111)
@ A
Der Index n kennzeichnet dann ebenfalls Eigenwert und Eigen- :: :: :: ::
: : : :
funktion eindeutig, und man kann die abstraktere Schreibweise

AO jni D an jni (23.106)


benutzen. Adjungierte Operatoren

Adjungierter Operator
Tensorprodukt von Operatoren
Der zu AO adjungierte Operator AO  ist definiert durch
Es sei H D U ˝ V das Tensorprodukt von zwei Hilbert-
h ; AO i D hAO  ; i :
Teil III

(23.112)
Räumen und AO und BO lineare Operatoren auf U und V . Man
definiert nun das Tensorprodukt der beiden Operatoren zuerst
In der Dirac’schen Notation lautet diese Bedingung
auf separablen Vektoren in H durch die Beziehung
h j AO j i D h j AO  j i : (23.113)
.AO ˝ B/
O .j i ˝ j i/ D AO j i ˝ BO j i : (23.107)

Mithilfe der Linearität ist das Tensorprodukt AO ˝ BO dann für Fragen nach dem Definitionsbereich von AO  relativ zum Defi-
beliebige Vektoren in U ˝ V erklärt.
nitionsbereich von AO werden kurz im „Mathematischen Hin-
Zum Beispiel kann man die Summe eines Operators auf U und tergrund“ 23.1 behandelt. Im Folgenden wollen wir wieder
eines Operators auf V auf dem Tensorprodukt definieren, indem annehmen, die Definitionsbereiche seien geeignet gewählt oder
man ihre trivialen Fortsetzungen addiert: die Operatoren seien beschränkt.

Frage 13
AO ˝ IV C IU ˝ BO : (23.108)
Was bedeuten diese Bedingungen für die Matrixelemente von AO
Man schreibt dann kurz AO C B,
O obwohl die beiden Operatoren bezüglich einer Basis im Hilbert-Raum?
auf verschiedenen Hilbert-Räumen wirken.
Frage 12 Für die Matrixelemente bezüglich einer Orthonormalbasis j ni
Nach Einführung von Orthonormalbasen j m i und j n i in U impliziert (23.112)
und V werden den Operatoren mithilfe von (23.67) Matrizen A
und B zugeordnet. Welche Matrix wird dann AO ˝ BO zugeordnet? Amn D h O
m; A ni D hAO  m; ni D .A /
nm : (23.114)

Dies ist eine aus der linearen Algebra bekannte Eigenschaft: Die
Das Tensorprodukt wirkt auf die Basisvektoren j mi ˝j ni im Matrix des adjungierten Operators AO  ist die transponierte und
Tensorprodukt wie folgt: komplex konjugierte der Matrix des Operators A. O
 
AO ˝ BO .j ˝j D AO j m i ˝ BO j n i Wir wollen noch die Frage beantworten, was das dem Ket AO j i
mi n i/
X zugeordnete Bra ist. Das j i zugeordnete Bra h j wirkt gemäß
ˇ ˛ ˇ ˛
D apm bqn ˇ p ˝ ˇ q : (23.109)
pq j i 7! h j i  h j i (23.115)

Damit die apm bqn leicht als Matrixelemente interpretiert wer- auf Vektoren und das zu AO j i gehörige Bra gemäß
den können, nummeriert man die Indexpaare .m; n/ mit einem
einzelnen Index k durch. Dies entspricht einer Wahl für die j i 7! h j AO j i D h j AO  j i : (23.116)
23.2 Lineare Operatoren 775

Im letzten Schritt wurde die Eigenschaft (23.113) benutzt. Dies Hermitesche Operatoren
bedeutet, dass
AO j i ! h j AO  : (23.117)
Diese Eigenschaft wurde als letzte Zeile in die Tab. 23.1 aufge- Der mittlere Ort und der mittlere Impuls sind messbare Größen;
nommen. daher sollten die Erwartungswerte

Was ist die Adjungierte eines Operatorpodukts? Um diese Fra-


h j xO i j i und h j pO i j i (23.124)
ge zu beantworten, formen wir das Matrixelement h ; AO BO i auf
zwei Arten um. Zuerst wenden wir (23.112) auf das Operator-
produkt an und finden reell sein für alle j i in einem geeignet gewählten Definitions-
bereich. Hermitesche Operatoren haben reelle Erwartungswerte
h ; AO BO i D h.AO B/
O  ; i: (23.118) (der Beweis folgt in (23.127)) und spielen deshalb eine heraus-
ragende Rolle in der Quantenmechanik. Insbesondere die Orts-
Danach wenden wir es auf die einzelnen Faktoren des Operator- und Impulsoperatoren sind hermitesch. Wir werden hier die
produkts an und erhalten wichtigsten Eigenschaften dieser Operatoren besprechen (siehe
auch den „Mathematischen Hintergrund“ 23.1).
h ; AO BO i D hAO  ; BO i D hBO  AO  ; i : (23.119)
Ob ein Operator hermitesch ist, hängt auch vom gewählten De-
Ein Vergleich der beiden Ausdrücke führt auf finitionsbereich ab. Dieser ist in vielen Fällen durch Glattheit-
und Abfalleigenschaften der erlaubten Funktionen spezifiziert.
.AO B/
O  D BO  AO  : (23.120)
Für einen Konfigurationsraum mit Rand @C müssen anstelle der
Abfalleigenschaften die Randbedingungen so gewählt werden,
Frage 14

Teil III
dass im Mittel keine Wahrscheinlichkeit ab- oder zufließt (siehe
Zeigen Sie, dass die &-Operation involutiv und anti-linear ist: das Resultat (22.143)). Für eindimensionale Hamilton-Operato-
ren wird das sehr ausführlich in Abschn. 26.1 diskutiert.
.AO  / D A;
O .AO C B/
O  D AO  C BO  ; O  D ˛  AO  :
.˛ A/
(23.121) Man nennt einen linearen Operator hermitesch oder selbstadjun-
giert, wenn er gleich seinem adjungierten Operator ist. Genau
genommen ist nicht jeder hermitesche Operator selbstadjungiert
Eine involutive Abbildung (eine Involution) ist eine selbstinver- (siehe den „Mathematischen Hintergrund“ 23.1). Aber jeder be-
se Abbildung: Wendet man sie zweimal an, dann erhält man die schränkte hermitesche Operator ist selbstadjungiert.
Identität. Aus der Involutionseigenschaft und (23.120) folgt nun
sofort, dass die beiden Operatoren
Selbstadjungierte Operatoren
AO  AO und AO AO  (23.122)
Ein Operator mit AO D AO  heißt selbstadjungiert. Dann gilt
ihre eigenen Adjungierten sind, z. B. .AO AO  / D AO AO  .
Frage 15 h ; AO i D hAO ; i bzw. h j AO j i D h j AO j i :
(23.125)
Ein Operator BO heißt nichtnegativ, wenn h ; BO i  0 ist für
Transponiert und komplex konjugiert man die Matrix ei-
alle ¤ 0. Überzeugen Sie sich davon, dass AO  AO und AO AO  nes selbstadjungierten Operators, dann geht diese in sich
nichtnegative Operatoren sind. über:
Amn D .A /mn  A nm (23.126)
Zum Beispiel gilt

h ; AO  AO i D hAO ; AO i  0 : (23.123) Achtung Wir werden annehmen, die Definitionsbereiche von


Bei der Faktorisierung von Hamilton-Operatoren in Kap. 26 AO und AO  seien gleich gewählt, sodass AO nicht nur hermitesch,
werden nichtnegative Operatoren der Form (23.122) auftreten. sondern auch selbstadjungiert ist. J

Wegen (23.125) sind alle Erwartungswerte eines hermiteschen


Eigenschaften der †-Abbildung Operators reell:
Die Abbildung AO 7! AO  ist eine anti-lineare Involution
O  D BO  AO  . Die Matrix des ad-
mit der Eigenschaft .AO B/ h j AO j i D h j AO j i 2 R : (23.127)
jungierten Operators erhält man durch Transposition und
komplexe Konjugation. Aufgrund dieser Eigenschaft sind die hermiteschen Operatoren
von herausgehobenem Interesse in der Quantenmechanik.
776 23 Formalismus der Quantenmechanik

Orts- und Impulsoperator sind hermitesch an entartet, so sind die Eigenfunktionen nicht automatisch or-
thogonal. In diesem Fall kann man sich mit dem Gram-Schmidt-
Verfahren Linearkombinationen der Eigenfunktionen zum sel-
Die Komponenten des Ortsoperators für ein Teilchen im
ben Eigenwert beschaffen, die orthogonal zueinander sind.
R3 sind auf dem Raum der schnell abfallenden differen-
zierbaren Funktionen hermitesch:
Z Eigenvektoren und Eigenwerte
h jOx i D d3 x  x Die Eigenwerte eines selbstadjungierten Operators sind
Z (23.128) reell, und die Eigenfunktionen mit diskreten Eigenwerten
D d3 x .x / D hx ; i ; können orthonormal gewählt werden:

während die Ableitungsoperatoren antihermitesch sind: AO jan i D an jan i ; an 2 R;


ham j an i D ımn :
(23.131)
Z
Die jan i bilden eine Orthonormalbasis, Eigenbasis ge-
h jr i D d3 x  r nannt.
Z (23.129)
D  d3 x .r / D hr ; i :
Die letzte Aussage bedeutet, dass jedes j i nach der Eigenbasis
eines selbstadjungierten Operators entwickelt werden kann:
Wegen der Antilinearität der Adjungation sind dann
die Komponenten des Impulsoperators pO hermitesch. X
j iD cn jan i mit cn D han j i : (23.132)
Es folgt, dass der mittlere Teilchenort und der mittle-
n
re Teilchenimpuls reell sind. Orts- und Impulsoperato-
Teil III

ren können zu selbstadjungierten Operatoren erweitert Schreiben wir dieses Ergebnis in der Form
werden. J X
j iD .jan i han j/ j i ; (23.133)
n
An dieser Stelle braucht man ein Ergebnis der Funktionalanaly-
sis (siehe den „Mathematischen Hintergrund“ 23.1). folgt unmittelbar die Zerlegung der Eins.

Eigenbasis eines selbstadjungierten Operators Zerlegung der Eins (diskretes Spektrum)

Jeder selbstadjungierte Operator AO kann diagonalisiert Die (orthonormierte) Eigenbasis eines selbstadjungierten
werden, und seine Eigenfunktionen bilden eine vollstän- Operators definiert eine Zerlegung der Eins:
dige Basis im Hilbert-Raum. X
ID jan i han j : (23.134)
n

Operatoren mit diskretem Spektrum Frage 16


Zeigen Sie, dass I jam i in der Tat für alle m identisch zu jam i ist.

Das Spektrum eines Operators ist die Menge seiner Eigenwer-


te. Die Eigenwerte eines selbstadjungierten Operators sind reell, Zu jedem selbstadjungierten Operator AO gehört eine Zerlegung
und das Spektrum ist somit eine Teilmenge von R. Wir nehmen des Eins-Operators. Wählt man die Eigenvektoren von AO als Ba-
zunächst an, diese bilden eine diskrete Menge. Dann sind die O
sis in H , dann spricht man von der A-Darstellung.
zugehörigen Eigenvektoren jan i normierbar und die Eigenvek-
toren zu verschiedenen Eigenwerten senkrecht aufeinander. Um Impulsoperator für quasiperiodische Funktionen
dies zu beweisen, setzt man für j i und j i in (23.125) die Ei-
genvektoren jam i und jan i ein mit dem Resultat Wir betrachten den Impulsoperator pO auf der Kreislinie S
mit Umfang L. Als Definitionsbreich wählen wir die be-
an ham j an i D a
m ham j an i : (23.130) liebig oft differenzierbaren quasiperiodischen Funktionen

Für n D m kann diese Gleichung nur gelten, wenn an reell ist. n o


Dp . / D 2 C1 .S/j .x C L/ D e2 i
.x/ :
Für verschiedene reelle Eigenwerte an ¤ am folgt hingegen,
dass die Eigenvektoren senkrecht sind, ham j an i D 0. Gibt es (23.135)
mehrere Eigenfunktionen mit demselben Eigenwert an , d. h. ist
23.2 Lineare Operatoren 777

23.1 Mathematischer Hintergrund: Operatoren


Hermitesche und selbstadjungierte Operatoren

Die selbstadjungierten Operatoren sind die wichtigsten Ope- Für Eigenwerte im diskreten Teil des Spektrums sind die zu-
ratoren in der Quantenmechanik. Wir wollen hier kurz auf gehörigen Eigenvektoren in
ihre grundlegende Eigenschaften eingehen.
AO jan i D an jan i ; an 2 R
Hermitesche und selbstadjungierte Operatoren Ein linea-
rer Operator mit dichtem Definitionsbereich DA  H besitzt
normierbar. Eigenvektoren mit Eigenwert im kontinuierli-
einen adjungierten Operator AO  . Dessen Definitionsbereich chen Spektrum,
DA ist die Menge aller Vektoren 2 H , für die ein Vektor
0
2 H existiert mit
AO jai D a jai ; a 2 R;
h jAO i D h 0
; i für alle 2 DA :
sind dagegen nicht normierbar, liegen also nicht in H .
Es ist dann AO  D 0
, bzw.
Orthogonalität und Normierung der Eigenfunktio-
O D hAO  ; i :
h ; Ai (1) nen

Ein Operator mit dichtem Definitionsbereich DA heißt: Man kann die Eigenfunktionen immer so wählen, dass
folgende Relationen gelten:

Teil III
(a) hermitesch, wenn DA  DA ist und für alle ; im De-
finitionsbereich DA gilt: ham jan i D ımn ; haj bi D ı.a  b/; han jai D 0 : (3)

h jAO i D hAO ; i : (2)


Die Menge aller Eigenfunktionen eines selbstadjungierten
(b) selbstadjungiert, wenn AO hermitesch und DA D DA ist. Operators – normierbar (eigentlich) oder nicht normierbar
(uneigentlich) – bildet ein vollständiges System. Jedes Ket
Der adjungierte Operator eines hermiteschen AO ist eine Er- kann nach ihnen entwickelt werden:
O Eine Erweiterung von AO ist ein Operator,
weiterung von A. X Z
O
der auf DA mit A übereinstimmt, aber einen größeren Defini- j iD cn jan i C da c.a/ jai :
tionsbereich hat. Ein hermitescher Operator hat keine, eine n
oder viele Erweiterungen. Bei der Erweiterung vergrößert
sich DA und gleichzeitig verkleinert sich DA . Nun versucht Die Entwicklungskoeffizienten cn und c.a/ bestimmen das
man so lange zu erweitern, bis DA D DA ist. Ket eindeutig. Das entsprechende Bra hat die Entwicklung
X Z
Achtung Nicht alle hermiteschen Operatoren haben ei-
ne selbstadjungierte Erweiterung. So existiert kein selbst- h jD c
n han j C da c .a/ haj :
adjungierter Impulsoperator auf RC (Bonneau et al. n

2001). J
Die erste Eigenschaft in (3) ist bereits bekannt. RUm die bei-
Vollständigkeit der Eigenvektoren Im allgemeinen Fall hat den anderen Relationen zu zeigen, sei j i D da c.a/ jai
das Spektrum eines selbstadjungierten Operators einen dis- ein Überlagerung der uneigentlichen Eigenvektoren. Dann
kreten und einen kontinuierlichen Anteil, wie in Abb. 23.6 ist
skizziert. Z Z
O DA
O
han j AO j i D da c.a/ ahan jai D an da c.a/han jai :
A
a1 a2

diskret kontinuierlich Spektrum Wir nehmen an, die Mengen fan g und fag seien disjunkt.
Dann impliziert diese Gleichung, da sie ja für beliebige
Abb. 23.6 Das Spektrum eines selbstadjungierten Operators enthält im Koeffizientenfunktionen c.a/ gilt, die Orthogonalität han j ai
Allgemeinen einen diskreten und kontinuierlichen Anteil D 0.
778 23 Formalismus der Quantenmechanik

Die letzte Gleichung in Literatur


Z Z
O DA
O
hbj AO j i D da c.a/ ahb jai D b da c.a/hb jai
A
Arens et al.: Mathematik. 2. Aufl., Spektrum Akademi-
scher Verlag (2012)
kann nur gelten, wenn hb jai proportional zu ı.ba/ ist. Nun Bonneau, G., Faraut, J., Valent, G.: Self-adjoint extensi-
kann man jede Eigenfunktion jai mit einer passenden Zahl ons of operators and the teaching of quantum mechanics.
multiplizieren, sodass die mittlere Beziehung in (3) gilt. Am. J. Phys., 69, 322 (2001)

Eigenwert nicht entartet, dann muss BO jan i ein Vielfaches von


Diese sind bis auf einen -abhängigen Phasenfaktor peri- jan i sein:
odisch. Obwohl sich die Operatoren mit verschiedenen BO jan i D bn jan i : (23.140)
nur in ihren Definitionsbereichen unterscheiden, sind sie
doch verschieden, da sie verschiedene Eigenwerte haben. Der Vektor jan i ist dann gleichzeitig Eigenvektor von AO und B.
O
Die Operatoren sind alle hermitesch, da für alle ; im
Ist der Eigenwert an entartet, dann können wir nur noch schlie-
Definitionsbereich die Kombination  periodisch ist O
und ßen, dass BO jan i in dem von den A-Eigenvektoren mit Eigenwert
an aufgespannten Unterraum liegt. Der selbstadjungierte Opera-
ZL tor BO bildet diesen Unterraum auf sich ab und kann auf diesem
„ d  
 Unterraum diagonalisiert werden. Die Eigenvektoren jan ; bm i
h ; pO i  hOp ; i D dx (23.136)
i dx von BO in diesem Unterraum sind automatisch Eigenvektoren von
Teil III

AO mit Eigenwert an . Bezüglich der neuen Basis sind die Opera-


0

verschwindet. Die normierten Eigenfunktionen von pO toren AO und BO beide diagonal.


sind ebene Wellen mit -abhängiger Wellenzahl
Kommutierende selbstadjungierte Operatoren
1 i .nC /x=L
n .x/ D p e2 ; n 2 Z; (23.137)
L Zwei selbstadjungierte Operatoren vertauschen genau
dann, wenn sie gleichzeitig diagonalisiert werden können.
und die zugehörigen Eigenwerte hängen linear von ab:

h Frage 17
pO n D pn n; pn D .n C / : (23.138)
L Überzeugen Sie sich von der Umkehrung der gezeigten Eigen-
Für jedes bilden die Eigenfunktionen eine Orthonor- schaft: Zwei gleichzeitig diagonalisierbare Operatoren vertau-
malbasis von H D L2 .S/. J schen miteinander.

Kommutierende Operatoren 23.3 Spektralzerlegung von


selbstadjungierten Operatoren
Wir wollen uns davon überzeugen, dass zwei kommutierende
selbstadjungierte Operatoren AO und BO gleichzeitig diagonalisiert
werden können. Dann existieren Basisvektoren, die gleichzeitig Für einen selbstadjungierten Operator ist das Spektrum eine
Teilmenge von R. Ist es diskret, dann sind die Eigenfunktionen
Eigenvektoren von AO und BO sind. Diese Beobachtung verein-
normierbar und definieren eine Basis im Hilbert-Raum. Andern-
facht sehr oft die Berechnung der Eigenwerte des Hamilton-
falls existieren nichtnormierbare Eigenfunktionen, ähnlich den
Operators.
ebenen Wellen. Diese heißen uneigentliche Eigenfunktionen.
Es sei nun jan i ein Eigenvektor von A.O Die an zu verschiedenen
n können gleich sein, d. h., entartete Eigenwerte können auftre-
ten. Nach Voraussetzung vertauschen AO und B. O Deshalb gilt
Operatoren mit rein diskretem Spektrum
AO BO jan i D BO AO jan i D an BO jan i ; (23.139)
was bedeutet, dass BO jeden Eigenvektor von AO auf einen Ei- Für ein rein diskretes Spektrum hat die Spektralzerlegung die-
genvektor von AO mit demselben Eigenwert abbildet. Ist der selbe Form wie für hermitesche Matrizen. Abweichend von der
23.3 Spektralzerlegung von selbstadjungierten Operatoren 779

bisherigen Notation werden nun die Eigenwerte und nicht die |a2
Eigenvektoren durchnummeriert. Dann gehören zu verschiede-
nen n verschiedene Eigenwerte an . Existieren mehrere orthonor-
male Eigenvektoren zum selben Eigenwert, so berücksichtigen
wir diese Entartung durch eine zusätzliche Quantenzahl  in P̂a2 H
jan ; i. Der orthogonale Projektor auf den von den Eigenvek- P̂a1 H
toren mit Eigenwert an aufgespannten Unterraum ist |a1 , 2
X
PO an D jan ; i han ; j : (23.141)


Ist an nicht entartet, dann entfällt die Summe. Der Projektor pro-
|a1 , 1
jiziert auf den Eigenraum PO an H zum Eigenwert an ,
X
PO an j i D cn; jan ; i ; cn; D han ; j i; (23.142) Abb. 23.7 Die Spektralprojektoren PO an projizieren auf orthogonale Eigenräu-
me PO an H H zu den Eigenwerten an von A O


und heißt Spektralprojektor.


fache des Vektors. Das bedeutet, dass zumindest für Funktionen
Frage 18 f , die in Potenzreihen entwickelt werden können,
Überlegen Sie sich, dass die Spektralprojektoren selbstadjun-
giert und idempotent sind, d. h. PO 2an D PO an erfüllen. O PO an D f .an /PO an
f .A/ (23.146)

Teil III
gilt. Multipliziert man nun die Zerlegung der Eins in (23.144)
Da die Eigenvektoren zu verschiedenen Eigenwerten senkrecht O dann ergibt sich die Spektralzerlegung.
mit f .A/,
zueinander stehen, sind die Eigenräume Pan H und Pam H zu
verschiedenen Eigenwerten orthogonal. Projizieren wir also
einen Vektor auf den Eigenraum zum Eigenwert an und den Spektralzerlegung (diskretes Spektrum)
resultierenden Vektor auf den Eigenraum zu einem anderen Ei- O eines selbstadjungierten Operators mit
Eine Funktion f .A/
genwert am , so erhalten wir den Nullvektor. diskretem Spektrum hat die spektrale Zerlegung
X
Spektralprojektoren O D
f .A/ f .an /PO an (23.147)
an
Die Spektralprojektoren sind hermitesch und orthogonal:
mit den Projektoren PO an auf die Eigenräume.
PO an D PO an ; PO am PO an D ıam an PO an : (23.143)

Die Zerlegung der Eins (23.134) schreibt sich mithilfe der In Aufgabe 23.7 illustrieren wir die Spektralzerlegung für das
Spektralprojektoren gemäß Beispiel einer einfachen Matrix und berechnen damit die Wur-
X zel der Matrix.
PO an D I : (23.144)
an

Operatoren mit rein kontinuierlichen Spektren


Die geometrische Interpretation dieser Eigenschaften wird in
Abb. 23.7 zum Ausdruck gebracht.
Wichtige Operatoren der Quantenmechanik haben keine diskre-
Die Zerlegung der Eins impliziert eine Zerlegung von H in die ten Eigenwerte, sondern nur ein Kontinuum von Eigenwerten.
direkte Summe der orthogonalen Eigenräume von A: O Dann sollte die Summe in der Spektralzerlegung (23.147) in ein
Integral übergehen.
M
H D PO an H : (23.145)
an Impulsoperator

Die Elemente in PO an H sind Eigenvektoren von AO mit Eigenwert Das Standardbeispiel eines hermiteschen Operators mit
an . Wendet man nun eine Operatorfunktion f .A/O auf einen Ei- kontinuierlichem Spektrum ist der Impulsoperator pO für
genvektor in diesem Unterraum an, dann erhält man das f .an/-
780 23 Formalismus der Quantenmechanik

Vollständigkeitsrelation: Allgemeiner Fall


ein Teilchen auf R. Die uneigentlichen Eigenfunktionen
im Ortsraum sind ebene Wellen
In der allgemeinen Situation hat das Spektrum eines selbstad-
1=2 jungierten Operators einen diskreten und einen kontinuierlichen
p .x/ De ;  D .2 „/ :
ipx=„
(23.148)
Anteil. Die Menge der eigentlichen und uneigentlichen Eigen-
Wie nach der allgemeinen Theorie erwartet sind diese funktionen bildet ein vollständiges System, und jedes Ket in
H kann nach ihnen entwickelt werden (siehe den „Mathema-
nicht quadratintegrabel und liegen somit nicht im Hilbert-
Raum. Nach der Fourier-Analysis ist eine Funktion im tischen Hintergrund“ 23.1):
Ortsraum L2 .R/ eine Überlagerung dieser Eigenfunktio- X Z
nen: Z j iD cn jan i C da c.a/ jai : (23.155)
.x/ D dp Q .p/ p .x/ : (23.149) n

Die Entwicklungskoeffizienten cn und c.a/ bestimmen das Ket


Die Entwicklungskoeffizienten Q .p/ berechnen sich mit eindeutig.
der inversen Fourier-Transformation:
Z Die eigentlichen und uneigentlichen Eigenfunktionen können
Q .p/ D dx p .x/ .x/ D h p ; i : immer so gewählt werden, dass folgende Orthogonalitätsrela-
(23.150) tionen gelten (siehe den „Mathematischen Hintergrund“ 23.1):

Auf der rechten Seite steht das L2 -Skalarprodukt der Ei- ham jan i D ımn ; haj bi D ı.a  b/ ; han jai D 0 : (23.156)
genfunktion p und . Eingesetzt in (23.149) erhält man
Genauso wie im diskreten Fall gewinnt man mit diesen Relatio-
Z
Teil III

nen die Entwicklungskoeffizienten als Skalarprodukt von j i


.x/ D dp h p; i p .x/ : (23.151) mit den Eigenvektoren

J cn D han j i und c.a/ D haj i : (23.157)

Eingesetzt in (23.155) erhält man für ein beliebiges Ket


Dies sollte mit der Entwicklung nach der Eigenbasis eines
Z !
selbstadjungierten Operators mit diskretem Spektrum vergli- X
chen werden: X j iD jan i han j C da jai haj j i : (23.158)
j iD han j i jan i : (23.152) n
n
Diese Zerlegung gilt für alle Kets, und es ergibt sich die Verall-
Es gibt zwei sichtbare Unterschiede: gemeinerung der Zerlegung der Eins in (23.134).
(a) Die Summe über die diskreten Eigenwerte an wird zu einem
Integral über die kontinuierlichen Eigenwerte p von pO . Zerlegung der Eins (allgemeiner Fall)
(b) Die Eigenfunktionen des Impulsoperators liegen nicht mehr
im Hilbert-Raum, da j p j D  konstant ist. Für einen selbstadjungierten Operator mit einem diskreten
und kontinuierlichen Anteil im Spektrum gilt
X Z
Frage 19
ID jan i han j C da jai haj : (23.159)
Überlegen Sie sich, dass die Eigenfunktionen des Impulsopera- n
tors folgende Orthogonalitätsbedingungen erfüllen:

h pj qi D ı.p  q/ : (23.153) Wirkt man nun mit dem zu j i in (23.155) dualen Bra (siehe
den „Mathematischen Hintergrund“ 23.1) auf j i in (23.155)
und benutzt die Orthogonalitätsrelationen für die Eigenvekto-
Für einen beliebigen selbstadjungierter Operator AO mit kontinu- ren, dann findet man für die Parseval-Gleichung
ierlichem Spektrum sind die Eigenwerte a in
X Z
h j i D jc j 2
C da jc.a/j2 : (23.160)
AO jai D a jai (23.154) n
n

immer noch reell, und die Eigenvektoren können immer noch


orthogonal gewählt werden. Aber ähnlich wie die Eigenzustän- Frage 20
de von pO können sie nicht mehr normiert werden. Man spricht Überprüfen Sie die Gültigkeit dieser Beziehung.
in diesem Zusammenhang von uneigentlichen Eigenfunktionen.
23.3 Spektralzerlegung von selbstadjungierten Operatoren 781

In der Zerlegung der Eins in (23.159) treten auf der rechten Seite
nur Eigenvektoren von AO auf, sodass Genauso führt man die Eigenzustände der kommutieren-
X Z den Komponenten des Impulsoperators ein,
O
f .A/ D f .an / jan i han j C da f .a/ jai haj : (23.161) Z
n pO jpi D p jpi mit d3 p jpi hpj D I ; (23.169)
O findet man
Für den Erwartungswert einer Operatorfunktion f .A/
somit den Ausdruck und entwickelt ein Ket nach diesen Eigenzuständen:
X Z Z Z
O j iD
h j f .A/ f .an / jcn j2 C da f .a/ jc.a/j2 (23.162) j i D d3 p hpj ijpi D d3 p Q .p/ jpi : (23.170)
n

mit den Entwicklungskoeffizienten (23.157). Für den Eins-Ope- Die Entwicklungskoeffizienten Q .p/ definieren die Wel-
rator ist dies gerade die Beziehung (23.160). lenfunktion im Impulsraum, und
Z
Orts- und Impulsoperator in Ortsdarstellung hxj i D d3 p hxj pihp j i (23.171)

Die verschiedenen Komponenten des Ortsoperators für


ordnet der Wellenfunktion im Impulsraum die Wellen-
ein Teilchen im R3 kommutieren und können gleichzeitig
funktion im Ortsraum zu:
diagonalisiert werden:
Z
xO jxi D x jxi : (23.163) .x/ D d3 p hxj pi Q .p/ : (23.172)

Teil III
Die entsprechende Zerlegung der Eins lautet Der Vergleich mit der Fourier-Transformation (23.149)
Z zeigt, dass
d3 x jxi hxj D I : (23.164)
hxj pi D p .x/ D  eipx=„ (23.173)
Man kann nun einen beliebigen Zustandsvektor j i nach gelten muss. J
den Eigenzuständen des Ortsoperators entwickeln:
Z Z
j i D d3 x hx j i jxi  d3 x .x/ jxi : (23.165)
Eine allgemeine Zerlegung der Eins (23.159) hat im Ortsraum
die Form
In der Ortsdarstellung ist der Ortsoperator diagonal und
X Z
j i wird durch die Entwicklungskoeffizienten .x/,
also die Wellenfunktion, charakterisiert. Die Relation hxj I jyi D hxj an i han j yi C da hxj ai haj yi : (23.174)
(23.160) reduziert sich auf folgende Identität der Wellen- n

mechanik:
Z Auf der linken Seite steht die Eins im Ortsraum, d. h. die
h j i D d3 x j .x/j2 : (23.166) Deltadistribution ı 3 .x  y/. Auf der rechten Seite stehen die
eigentlichen und uneigentlichen Eigenfunktionen von AO im
Ortsraum:
Ersetzen wir die Eins in .x/ D hxj I j i durch die Zerle-
gung (23.164) (wobei wir x durch y ersetzen), dann finden
wir hxj an i D n .x/ und hxj ai D a .x/ : (23.175)
Z Z
.x/ D d3 y hxj yi hyj i D d3 y hxj yi .y/
Zerlegung der Eins im Ortsraum
(23.167)
und somit folgende Darstellung der Eins im Ortsraum: Im Ortsraum R3 lautet die Vollständigkeitsrelation für die
Eigenfunktionen eines selbstadjungierten Operators
hxj yi D hxj I jyi D ı 3 .x  y/ : (23.168) Z
X

ı 3 .x  y/ D n .x/ n .y/ C da a .x/ a .y/ :
Dies ist gerade die Orthogonalitätsrelation für die unei- n
gentlichen Eigenfunktionen in (23.156). (23.176)
782 23 Formalismus der Quantenmechanik

Ein Operator AO wirkt wie folgt auf Wellenfunktionen im Orts- In der Quantenmechanik bilden die unitären Operatoren die
raum: wichtigste Klasse von invertierbaren Operatoren.
Z
O hyj i
.AO /.x/  hxj AO j i D d3 y hxj Ajyi Achtung Nicht jeder isometrische Operator ist unitär. Die
Schiebeoperatoren in Aufgabe 23.9 sind Gegenbeispiele. J
Z (23.177)
O
D d3 y hxj Ajyi .y/ : Eindimensionale hermitesche Matrizen sind reelle Zahlen, und
eindimensionale unitäre Matrizen sind unimodulare komplexe
Auf der rechten Seite erkennen wir die Faltung der Wellen- Zahlen. Jede unimodulare Zahl hat die Darstellung u D exp.ia/
funktion im Ortsraum mit den AO zugeordneten Matrixelementen mit einer reellen Phase a. Ein ähnlicher Zusammenhang besteht
O
hxj Ajyi  A.x; y/. In diesem Zusammenhang nennt man A.x; y/ zwischen unitären und selbstadjungierten Operatoren.
auch den Kern des Operators A.O
Selbstadjungierte und unitäre Operatoren
Jeder unitäre Operator hat die Darstellung
23.4 Inverse und unitäre Operatoren
O D eiAO ;
U AO D AO  : (23.182)
Neben den selbstadjungierten Operatoren spielen auch die Umgekehrt ist für jeden selbstadjungierten Operator AO der
unitären Operatoren eine herausragende Rolle in der Quan- O unitär.
Operator exp.iA/
tenphysik. Unitäre Operatoren erweitern das Konzept der or-
thogonalen Transformationen in endlich-dimensionalen reellen
Vektorräumen. Zum Beispiel wird die Zeitentwicklung der Zu- Die Unitarität von U O ist mit der Spektralzerlegung schnell be-
standsvektoren durch einen zeitabhängigen unitären Operator wiesen: Für ein AO mit diskretem Spektrum folgt aus (23.147)
Teil III

beschrieben. X X
UOU
O D eian eiam PO an PO am D PO an D I ; (23.183)
Ein linearer Operator heißt invertierbar, wenn er bijektiv ist, so-
an ;am
dass der inverse Operator AO 1 existiert. Es gilt
n

wobei die Orthogonalität der Spektralprojektoren benutzt wur-


AO AO 1 D AO 1 AO D I : (23.178) de.
Ist AO beschränkt und bijektiv, dann ist der inverse Operator au-
tomatisch beschränkt. Frage 22
Können Sie das Argument für Operatoren mit kontinuierlichem
Frage 21 Spektrum wiederholen (die Umkehrung zu zeigen, ist aufwen-
Überlegen Sie sich, dass ein linearer Operator AO genau dann diger)?
injektiv ist, wenn er nur den Nullvektor auf den Nullvektor ab-
bildet oder, in anderen Worten, wenn Kern.A/O D f0g.

Das Inverse des Produkts von zwei invertierbaren Operatoren ist


Spektraleigenschaften von unitären Operatoren
gleich dem vertauschten Produkt der beiden Inversen:
O D eiAO ein beliebiger unitärer Operator und jai ein
.AO B/
O 1 D BO 1 AO 1 : (23.179) Es sei nun U
O Dann gilt
Eigenvektor des selbstadjungierten Operators A.
Zum Beweis multipliziert man beide Seiten dieser Beziehung
mit AO BO und benutzt bei der Ausmultiplikation die Eigenschaft O jai D eiAO jai D eia jai :
U (23.184)
(23.178).
Jeder Eigenvektor von AO ist also auch Eigenvektor von U
O D eiAO
ia
mit dem Eigenwert e . Die Eigenwerte eines unitären Operators
sind demnach unimodulare komplexe Zahlen, und die Eigen-
Unitäre Operatoren funktionen bilden ein vollständiges Orthonormalsystem.
Ist AO selbstadjungiert, so ist auch jeder zu AO unitär ähnliche Ope-
Ein isometrischer Operator erzeugt eine längenerhaltende linea- rator VO AO VO 1 (mit unitärem V)O selbstadjungiert:
re Abbildung
 
hUO ; U
O i D hU O ; i D h ; i:
O U (23.180) VO AO VO 1 D VO 1 AO  VO  D VO AO VO 1 : (23.185)
Invertierbare isometrische Operatoren nennt man unitär, und sie Bezüglich einer beliebigen Orthonormalbasis wird die AO zu-
erfüllen geordnete Matrix nicht diagonal sein. Wählen wir aber die
U O DU
O U OUO D I O  D UO 1 :
bzw. U (23.181) O dann ist die zugehörige Matrix diagonal mit
Eigenbasis von A,
23.4 Inverse und unitäre Operatoren 783

23.2 Mathematischer Hintergrund: Spektralprojektoren

Spektralprojektoren Für einen s.a. Operator AO definiert die Spektralbereiche  und 0 disjunkt, d. h. ist  \
man für jedes (offene) Intervall   R den Projektor 0 D ;, dann sind die zugehörigen Projektoren orthogonal,
Z PO  PO 0 D 0. Für  D 0 ist
X
PO  D jan i han j C da jai haj : (1)
PO 
2
D PO  : (4)
nWan 2 a2
Die Projektoren haben also nur die Eigenwerte 0 und 1.
In der Literatur, z. B. dem zitierten Klassiker von J.M. Jauch
(1968), wird der Spektralprojektor PO  oft mit E bezeich- Die Eigenvektoren mit Eigenwert 1 liegen im Unterraum
net. PO  H und die Eigenvektoren mit Eigenwert 0 liegen im or-
thogonalen Komplement von PO  H .
Achtung Wie in (23.156) verzichten wir aus Gründen der
Lesbarkeit auf eine zusätzliche Quantenzahl bei entarteten Spektralprojektoren des Ortsoperators Wie wirken nun
Eigenwerten an . Deshalb brauchen die Eigenwerte an zu ver- die Spektralprojektoren
schiedenen n nicht verschieden zu sein. J
Z
Der Operator PO  projiziert senkrecht auf den von den Ei- PO  D d3 x jxi hxj ;   R3 (5)
genvektoren mit Eigenwerten in  aufgespannten Unterraum

PO  H . Enthält  nur einen Eigenwert an im diskreten Spek-
trum, dann projiziert von xO auf Wellenfunktionen im Ortsraum? Es gilt

Teil III
PO  D PO an (2) Z
.PO  /.x/ D hxj PO  j i D d3 y hxj yihy j i
auf den Eigenraum zu diesem Eigenwert. Diese Operatoren 
wurden bereits früher in (23.141) eingeführt. ( (6)
hx j i D .x/ falls x 2 
Diese orthogonalen Projektoren haben ähnliche Eigenschaf- D
0 falls x 62  ;
ten wie die Projektoren in (23.141): Sie sind hermitesch und
erfüllen
wobei im letzten Schritt hxj yi D ı.xy/ benutzt wurde. Die
PO R D I; PO  PO 0 D PO 0 PO  D PO \0 : (3) Projektion einer Gauß’schen Wellenfunktion für ein Intervall
 um den Ursprung ist in Abb. 23.8 gezeigt.
Die Eigenschaft PO  D PO  ist leicht einzusehen, da PO  eine
Überlagerung von hermiteschen Operatoren ist. Die erste Ei-
genschaft in (3) ist gerade die Zerlegung der Eins in (23.159).
PΔ ψ(x)
Man braucht also nur die letzte Eigenschaft zu beweisen. Mit
ψ(x)
den Orthogonalitätsrelationen (23.156) folgt
0 1
X Z
PO 0 PO  D @ jbm i hbm j C db jbi hbjA
bm 20 0
0 1 Δ x
X Z
@ jan i han j C da jai hajA Abb. 23.8 Die Projektion einer Wellenfunktion .x/ D hxj i auf den
an 2  Unterraum aufgespannt von den Eigenvektoren jxi mit Eigenwert x im In-
0 1 tervall  R
X Z
D@ jan i han j C da jai hajA
Diese Spektralprojektoren von xO werden uns bei der Diskus-
an 20 \ 0 \ sion des Messprozesses im Abschn. 24.1 wieder begegnen.
D PO 0 \ ;

was zu beweisen war. Literatur

Wir fassen zusammen: Die selbstadjungierten Spektralpro- Jauch, J.M.: Foundations of Quantum Mechanics. Addi-
O Sind
jektoren PO  kommutieren alle miteinander und mit A. son-Wesley (1968)
784 23 Formalismus der Quantenmechanik

den Eigenwerten auf der Diagonalen. Der Wechsel von der be-
liebigen Basis in die Eigenbasis von AO geschieht mit einem von der Impulsoperator auf der Kreislinie S mit Umfang L ist.
AO abhängigen unitären Operator VOA . Für reell-analytische Wellenfunktionen führt die Taylor-
Entwicklung von exp.iaOp=„/ in Potenzen von a auf die
Frage 23 Taylor-Reihe
Warum wird der Wechsel zwischen zwei Orthonormalbasen
fjnig und fjQnig durch einen unitären Operator VO geleistet?   a2
UOa .x/ D .x/ C a 0
.x/ C 00
.x/ C : : :

D .x C a/; a 2 R:
(23.188)
Diagonalisierung von unitären Operatoren
Die exponierten Impulse verschieben das Argument der
Zu jedem selbstadjungierten Operator AO und zugehörigem Wellenfunktion um a. Aus der letzten Darstellung entneh-
O existiert ein unitärer Ope-
O D exp.iA/ men wir, dass die Verschiebungsoperatoren U O a auf dem
unitären Operator U
rator VOA , sodass die den transformierten Operatoren ganzen Hilbert-Raum, im Beispiel L2 .S/, definiert sind.
Wie nach der allgemeinen Theorie erwartet sind sie uni-
O A D VOA1 AO VOA
D O U D VOA1 U
und D O VOA (23.186) tär:
Z
zugeordneten Matrizen DA und DU diagonal sind, mit den O O
hUa ; Ua i D dx  .x C a/ .x C a/ D h ; i :
reellen bzw. unimodularen Eigenwerten von AO und U
O auf S
der Diagonalen. (23.189)
Translationsoperatoren können natürlich auch auf dem
Hilbert-Raum L2 .R3 / definiert werden:
Teil III

   
Unitäre Translationsoperatoren Oa
U .x/ D eiaOp=„ .x/ D .x C a/ : (23.190)
Wir illustrieren nun die allgemeine Theorie anhand der
einparametrigen Schar von unitären Operatoren Wir werden dieses Resultat später noch brauchen. J

„ d
O a D eiaOp=„ ;
U wobei pO D (23.187)
i dx Weitere interessante Beispiele von unitären Operatoren werden
in Aufgabe 23.8 besprochen.
Aufgaben 785

Aufgaben

Gelegentlich enthalten die Aufgaben mehr Angaben, als für die Lösung erforderlich sind. Bei einigen anderen dagegen werden
Daten aus dem Allgemeinwissen, aus anderen Quellen oder sinnvolle Schätzungen benötigt.
leichte Aufgaben mit wenigen Rechenschritten
mittelschwere Aufgaben, die etwas Denkarbeit und unter Umständen die Kombination verschiedener Konzepte erfordern
anspruchsvolle Aufgaben, die fortgeschrittene Konzepte (unter Umständen auch aus späteren Kapiteln) oder eigene mathe-
matische Modellbildung benötigen

23.1 Optimale Entwicklungskoeffizienten Die (c) Berechnen Sie nun k k2 und überprüfen Sie die Parseval-
endliche Summe Gleichung X
.n/ k k2 D jck j2 : (23.195)
D c1 1 C    C cn n (23.191)
k
Lösungshinweis: Diese Aufgabe ist ähnlich zu Aufgabe 8.4.
soll den Vektor 2 H möglichst genau approximieren, d. h.,
In Teilaufgabe (c) werden Sie auf ein Reihe geführt, die Sie bei
die Entwicklungskoeffizienten ck sollen so gewählt werden,
Gradshteyn und Ryzhik (2007) finden.
dass der Abstand  D k  .n/ k minimal wird.

Teil III
(a) Überzeugen Sie sich davon, dass für orthonormierte k die 23.4 Verschränkung Gegeben sei ein zusammenge-
optimalen Koeffizienten ck D h k ; i sind. setztes System mit Zustandsraum H D H1 ˝ H2 . Betrachten
(b) Wie müssen die Koeffizienten gewählt werden, wenn die k Sie nun zwei sogenannte Qbits. Dies bedeutet H1 D H2 D
nicht orthonormiert sind? C 2 . Die Basis von C 2 sei j1i und j2i, und die Produktzustände
jai ˝ jbi werden mit jabi bezeichnet.
23.2 Der Raum der stetigen Funktionen ist unvoll-
(a) Für welche komplexen Koeffizienten ˛; ˇ;  und ı ist
ständig Zeigen Sie, dass der unendlich-dimensionale Vektor-
raum der stetigen Funktionen Œa; b ! C mit Skalarprodukt j i D ˛ j11i C ˇ j12i C  j21i C ı j22i (23.196)
Zb separabel?
 (b) Welcher der beiden Zustände j ˙ i D j11i C j12i C j21i ˙
h ; iD .x/ .x/ dx (23.192)
a
j22i ist verschränkt? Schreiben Sie den separablen Zustand
als Tensorprodukt von zwei Vektoren.
nicht vollständig ist. Es ist also nur ein Prä-Hilbert-Raum und
kein Hilbert-Raum. Lösungshinweis: Die Koeffizienten ˛; ˇ;  und ı definieren
Lösungshinweis: Man konstruiere eine Cauchy-Folge ähnlich eine Matrix. Im Kapiteltext wurde die Eigenschaft dieser Ma-
wie in Abbbildung 23.2 skizziert, die in der L2 -Norm gegen eine trix für separable Zustände diskutiert.
unstetige Funktion konvergiert.
23.5 Zerlegung eines Operators Zeigen Sie, dass
23.3 Approximation der Dreiecksschwingung ein linearer Operator AO die Darstellung AO D H O 2 mit zwei
O 1 C iH
Gegeben sei die stetige und periodische Dreiecksschwingung hermiteschen Operatoren H O 2 hat.
O 1 und H
mit der Periode 1. Im Intervall Œ0; 1 ist sie definiert durch Lösungshinweis: Vergleichen Sie mit dem Real- und Imagi-
( närteil einer komplexen Zahl.
x für 0  x < 12
.x/ D (23.193)
1  x für 12  x < 1 : 23.6 Orts- und Impulsoperator sind unbeschränkt
Wir wollen uns in dieser Aufgabe davon überzeugen, dass Orts-
(a) Berechnen Sie die Fourier-Koeffizienten cn mithilfe der und Impulsoperatoren unbeschränkt sind. Im Falle des Ortsope-
Fourier-Rücktransformation und gewinnen Sie damit die rators fehlt es einigen L2 -Funktionen an Abfalleigenschaften
Fourier-Reihe für .x/. und im Falle des Impulsoperators an Differenzierbarkeitseigen-
(b) Plotten Sie die approximierenden Funktionen schaften. Betrachten Sie die Wellenfunktionen
X r
.n/
.x/ D ck cos.2 ikx/ (23.194) a 1 p
.x/ D ; .x/ D a sign.x/ eajxj (23.197)
kD0;:::;n 1 C iax
auf dem Intervall Œ0; 2 für n D 1; 3 und 15. mit a > 0. Zeigen Sie, dass
786 23 Formalismus der Quantenmechanik

(a) und normierte Funktionen in L2 .R/ sind, (a) Zeigen Sie, dass RO eine Isometrie (d. h. längenerhaltend) ist.
(b) die Funktion x n nicht quadratintegrabel ist, Was ist die Norm von R?O
(c) die Funktion pO n nicht quadratintegrabel ist. (b) Argumentieren Sie, dass RO nicht surjektiv ist. Warum ist RO
nicht unitär?
23.7 Spektralzerlegung für eine Matrix Hier üben (c) Zeigen Sie, dass der zum Rechtsschiebeoperator adjungierte
wir die Spektralzerlegung anhand eines einfachen Beispiels. Operator der Linksschiebeoperator ist:
Dazu betrachten wir die symmetrische Matrix
0 1 LO W .b1 ; b2 ; b3 ; : : : / ! .b2 ; b3 ; b4 ; : : : / : (23.202)
1 @ 27 12 24A
AD 12 59 8 : (23.198) (d) Bestimmen Sie die Operatoren RO LO und LO R.
O
7 24 8 47 (e) Untersuchen Sie die Eigenwertgleichungen LO RO D  und
RO LO D  . Warum sind die Eigenwerte reell und nichtne-
(a) Berechnen Sie die Eigenwerte und die Eigenvektoren der
gativ?
Matrix .
(b) Wie lauten die Spektralprojektoren?
(c) Überzeugen Sie sich, dass diese alle Eigenschaften von Lösungshinweis: Unitäre Abbildungen müssen isometrisch
Spektralprojektoren
p erfüllen. und bijektiv sein.
(d) Berechnen Sie A mithilfe der Spektralzerlegung.
23.10 Nichthermitesche Hamilton-Operatoren Ei-
Lösungshinweis: Sie dürfen hier ein algebraisches Programm
ne antilineare Involution JO ist eine antilineare und selbstinverse
einsetzen.
Abbildung, d. h. JO JO D I. Ein linearer Operator HO sei invariant
unter einer antilinearen Involution (Symmetrie) JO , d. h.
23.8 Unitäre Operatoren Für quadratintegrable
Teil III

Funktionen definiert man den Paritäts-, Translations- und Dila-


O JO  D 0 :
ŒH; (23.203)
tationsoperator sowie den Operator der Fourier-Transformation
gemäß

.PO /.x/ D .x/ ; Theorem von Kramer und Wigner


.TO a /.x/ D .x  a/ ; Ist j i gleichzeitiger Eigenvektor von HO und JO , dann ist
O der zugehörige Eigenwert von H O reell.
.D /.x/ D  3=2
.x/ ;
Z
.FO /.k/ D  d3 x eikx .x/ (23.199)
Das Theorem findet Anwendung in der Spektroskopie für Ato-
mit  D .2 / 3=2
. me mit einer ungeraden Anzahl von Fermionen (z. B. das Deute-
rium mit je einem Elektron, Proton und Neutron) in elektrischen
(a) Bestimmen Sie die jeweiligen inversen Operatoren. Feldern. Dabei ist JO der Operator der Zeitumkehr. Beachten Sie,
(b) Verifizieren Sie die folgenden Relationen dass das Theorem auch für nichthermitesche Operatoren H O gilt.

FO PO D PO F;
O FO 2 D PO und FO TO a D EO a FO ; (23.200) Achtung Es wurde vorausgesetzt, dass JO und HO gleichzeitig
diagonalisiert werden können. Obwohl die Operatoren vertau-
indem Sie die verschiedenen Operatoren auf Wellenfunktio- schen, braucht das nicht wahr zu sein, da JO nichtlinear ist. J
nen im Ortsraum wirken lassen. Der Paritätsoperator wirkt
im k-Raum gemäß .PO Q /.k/ D Q .k/. Der Operator EO a ist (a) Beweisen Sie, dass die Eigenwerte einer antilinearen Involu-
definiert durch .EO a /.x/ D eiax .x/. tion unimodulare komplexe Zahlen (komplexe Zahlen vom
(c) Begründen Sie, warum diese Operatoren unitär sind. Betrag 1) sind.
(d) Was kann man aus FO 4 D 1 für die Eigenwerte von FO schlie- (b) Zeigen Sie dann, dass zu jedem Eigenvektor j i von JO im-
ßen? mer ein Eigenvektor proportional zu j i mit Eigenwert 1
existiert.
Lösungshinweis: Bei der Lösung der Aufgabe braucht man
(c) Beweisen Sie das Theorem von Kramer und Wigner.
Eigenschaften der Fourier-Transformation, wie man sie im
Kasten „Vertiefung: Wichtige Eigenschaften der Fourier-Trans-
formation“ in Abschn. 13.1 findet. Lösungshinweis: Beim Beweis des Theorems in Teilaufga-
be (a) wirke man mit JO auf die Eigenwertgleichung für j i
23.9 Schiebeoperatoren Wir betrachten den und vergleiche mit der Eigenwertgleichung für JO j i. In Teil-
O
Rechtsschiebeoperator R auf dem Hilbert’schen Folgenraum: aufgabe (b) sollten Sie zunächst allgemein überlegen, welchen
Eigenwert der Vektor ˛ j i hat, wenn j i den Eigenwert  hat;
RO W .c1 ; c2 ; c3 ; : : : / ! .0; c1 ; c2 ; : : : / (23.201) beachten Sie dabei die Antilinearität.
Aufgaben 787

23.11 PT-symmetrische Quantenmechanik Übli- die Länge 1 hat, also eine Phase ist. Die Umkehrtransformation
cherweise verlangt man in der Quantenmechanik die Bedingung lautet
HO D H O  , damit der Hamilton-Operator ein reelles Spektrum 1u
aDi : (23.208)
hat. Wenn man dagegen verlangt, dass HO mit der Zeitumkehr in 1Cu
Kombination mit der Raumspiegelung vertauscht, dann erhält
man eine große Klasse von nichthermiteschen Hamilton-Opera- Sie existiert nur, wenn 1 C u nicht verschwindet.
toren, die ebenfalls ein reelles Spektrum aufweisen.
In der Quantenmechanik sind die Spiegelung und Zeitumkehr (a) Zeigen Sie, dass für einen selbstadjungierten Operator AO die
im Ortsraum durch folgende lineare und antilineare Abbildun- Cayley-Transformierte
gen implementiert:   1
O D iI  AO iI C AO
U (23.209)
.PO /.t; x/ D .t; x/; .TO /.t; x/ D 
.t; x/ : (23.204)

Es sei JO D PO TO die gleichzeitige Spiegelung und Zeitumkehr. unitär ist.


(b) Zeigen Sie, dass die Umkehrtransformation
(a) Zeigen Sie, dass JO eine antilineare Involution ist.
(b) Beweisen Sie, dass JO wie folgt auf Funktionen des Impuls-   1
und Ortsoperators wirkt: AO D i I  U
O ICUO (23.210)
1 1
JO f .Ox/JO D f  .Ox/; JO f .Op/JO D f  .Op/ : (23.205) jedem unitären Operator U,O für den 1 kein Eigenwert ist,
(c) Folgern Sie nun, dass der für fast alle reellen ˛ 2 Œ1; 1/ einen selbstadjungierten Operator zuordnet.
(c) Berechnen Sie die Wirkung der Cayley-Transformierten des

Teil III
nichthermitesche Hamilton-Operator für ein Teilchen auf
der reellen Achse selbstadjungierten Operators AO D a  pO =„ mit a 2 Rn auf ei-
ne Wellenfunktion .x/.
1 2 (d) Entwickeln Sie die transformierte Wellenfunktion bis zur
O D
H pO C xO 2 .iOx/˛ (23.206)
2m zweiten Ordnung in a.

PT-symmetrisch ist, d. h. mit JO vertauscht.


Lösungshinweis: Mehr zu PT-symmetrischen Quantensyste- Lösungshinweis: Zeigen Sie zuerst, dass Inversion und Ad-
men finden Sie z. B. bei Bender und Boettcher (1998). jungation vertauschen. Bei Teilaufgabe (c) ist es hilfreich, wenn
man die Wirkung der Cayley-Transformierten im k-Raum be-
23.12 Cayley-Transformation Neben der Exponen- nutzt. Dabei werden Sie eventuell das Integral
tiation gibt es eine weitere Transformation, die einem selbst-
adjungierten Operator einen unitären Operator zuordnet. Diese Z1  
nach Cayley benannte Transformation ist motiviert durch die  d 1 C ia  k
d e 1C eiak D (23.211)
einfache Beobachtung, dass für jede reelle Zahl a die komplexe d 1  ia  k
0
Zahl
ia
uD (23.207) brauchen, um das auftretende Fourier-Integral zu berechnen.
iCa
788 23 Formalismus der Quantenmechanik

Lösungen zu den Aufgaben

23.2 Funktionenfolgen und Funktionenreihen werden im „Ma-


thematischen Hintergrund“ 8.1 besprochen.
23.7 Sie sollten die Eigenvektoren
0 1 0 1 0 1
1 @1A 1 @3A 1 @3A
c.1/ D p 3 ; c.2/ D p 1 ; c.3/ D p 1
10 0 35 5 14 2

finden.
23.8 Die Fourier-Transformation ist eine lineare Abbildung
L2 .R3 / 7! L2 .R3 /, welche Funktionen im Ortsraum in Funk-
tionen im Impulsraum abbildet. Deshalb ist a priori nicht klar,
was man mit Eigenfunktion der Fourier-Transformation meint.
In dieser Aufgabe meinen wir mit einer Eigenfunktion von FO
eine Funktion , für die .FO /.x/ ein Vielfaches von .x/ ist.
Teil III
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 789

Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben

23.1 gegen welche die n zwar nicht punktweise, aber bezüglich der
L2 -Norm konvergieren.
(a) Nach Voraussetzung
P sind die k orthonormiert, und deshalb
ist k .n/ k2 D jck j2 . Somit gilt Wir wollen zeigen, dass dies unmöglich ist. Dazu nehmen wir
an, die f n g konvergieren in der L2 -Norm gegen ein stetiges .
X X X Es seien ‰n und ‰ diejenigen Stammfunktionen von n und ,
2 D k k2  ck h ; ki  c
kh k; iC c
k ck : die am Ursprung verschwinden. Aus der Schwarz’schen Unglei-
k k
chung (23.11), angewandt auf die konstante Funktion 1 und die
Die Differenz wird minimal für Funktion j  n j, folgt
Zx
@2 ˇ ˇ
0D D c
k h ; ki ; (23.212) j‰.x/  ‰n .x/j D ˇ dt . .t/  n .t//
ˇ (23.217)
@ck
0
d. h. für die Wahl ck D h k ; i. Z2 p
(b) Sind die k nicht orthonormal,
P dann ist der letzte Term im  dt j .t/  n .t/j  2k  nk :
Ausdruck für 2 gleich k;l c k l h k ; l i. Die Extremalbe-
c
0
dingung führt dann auf das lineare Gleichungssystem
!

Teil III
X Strebt nunn in der L2 -Norm, dann gilt also punktweise
h k ; l icl D h k ; i : (23.213) (
0 für 0  x < 1
l ‰.x/ D lim ‰n .x/ D (23.218)
n!1 x  1 für 1  x  2 :
Um die Entwicklungskoeffizienten zu berechnen, muss man
die Matrix mit den Matrixelementen h k ; l i invertieren. Da die Stammfunktion ‰ im Punkt x D 1 nicht differenzierbar
ist, kann im Widerspruch zur Annahme nicht stetig sein.
23.2 Zum Beweis betrachte man folgende Folge von stetigen
Funktionen auf dem Intervall Œ0; 2: 23.3
( (a) Die Fourier-Koeffizienten ck sind
xn für 0  x < 1
n .x/ D (23.214)
1 für 1  x < 2 : Z2
1
c0 D dx .x/ D
Es ist eine Cauchy-Folge, weil das Abstandsquadrat zweier Ele- 4
0
mente der Folge
Z1=2 Z1
Z1 ck¤0 D dx x e2 ikx
C dx .1  x/ e2 ikx (23.219)
k m  nk
2
D dx .x  x /
m n 2
0 1=2
(
0
1=. k/2 k ungerade
1 1 2 (23.215) D
D C  0 k gerade.
2m C 1 2n C 1 m C n C 1
P
2.m  n/2 In der Fourier-Reihe ck Œcos.2 kx/  i sin.2 kx/ tragen
D
.2m C 1/.2n C 1/.m C n C 1/ nur die Kosinusfunktionen bei, da ck D ck ist. Fasst man
noch die Terme mit den Indizes k und k zusammen, dann
für alle m; n  N mit zunehmendem N gegen null strebt: ergibt sich
1 1 2 X 1
k m  nk
2
< : (23.216) .x/ D  2 cos.2 kx/ : (23.220)
2N C 1 4 k2
kD1;3;5;:::
Diese Cauchy-Folge von stetigen Funktionen konvergiert punkt-
(b) Die approximierenden Funktionen
weise gegen die unstetige Stufenfunktion, die auf dem Intervall
Œ0; 1/ den Wert 0 annimmt und auf dem Intervall Œ1; 2 den X
n
.n/ 1 2 1
Wert 1. Wir können diese Eigenschaft aber nicht direkt aus- .x/ D  2 2
cos.2 kx/ (23.221)
nutzen, da immer noch eine stetige Funktion existieren könnte, 4 kD1;3;5;:::
k
790 23 Formalismus der Quantenmechanik

ψ 23.5 Ähnlich wie man eine komplexe Zahl in Real- und Imagi-
närteil zerlegen kann, schreibt man

AO C AO  AO  AO 
O1 D
H O2 D
und H : (23.229)
2 2i
O Aber die beiden Operatoren
O 1 C iHO 2 D A.
Offensichtlich ist H
x
sind auch hermitesch. Berücksichtigt man die Antilinearität der
&-Operation und .AO  / D A,O dann folgt z. B.
Abb. 23.9 Approximation der Dreiecksschwingung durch die periodischen Ba-
sisfunktionen e2 ikx mit jkj  n. Die rote Kurve ist die Approximation mit AO   AO
O 2 D
H O2:
DH (23.230)
n D 1, die orangefarbene Kurve mit n D 3 und die blaue Kurve mit n D 15 2i

23.6
für n D 1; 3 und 15 sind in Abb. 23.9 dargestellt. Man sieht,
dass sich die Approximierende mit n D 15 der Dreiecks- (a) Diese Funktionen sind für a > 0 normiert:
schwingung schon sehr gut nähert. Z
a= 1 ˇ1
(c) Die quadrierte Norm der Dreiecksschwingung ist k k2 D dx D arctan.ax/ˇ1 D 1 :
1Ca x 2 2
R
Z1=2 Z1 (23.231)
1
k k D
2
dx x C
2
dx .1  x/2 D : (23.222) Weiterhin gilt
12
0 1=2
Z1
Teil III

Damit sollte k k2 D 2a dx e2ax D 1 : (23.232)


1 X 1 2 X 1 0
D c20 C c2k D C 4 (23.223)
12 16 k4 (b) Das Betragsquadrat
kD1;3;5;::: kD1;3;5;:::
a x2
gelten oder aufgelöst nach der Summe jx .x/j2 D (23.233)
1 C a2 x2
X 1 4
D : (23.224) strebt für große jxj gegen die Konstante 1=.a / und ist des-
kD1;3;5;:::
k4 96 halb nicht integrierbar. Für jedes a > 0 ist die Funktion .x/
nicht im Definitionsbereich des Ortsoperators, da x nicht
Diese korreke Formel findet man ebenfalls in Gradshteyn im Hilbert-Raum liegt.
und Ryzhik (2007). (c) Die Funktion springt am Ursprung, und ihre Ableitung ist
proportional zur Deltadistribution. Deshalb ist
23.4  2
jOp j2 D a„2 2ı.x/  aeajxj (23.234)
(a) Der Vektor j i ist separabel, wenn die Matrix
  nicht integrabel. Dies bedeutet, dass auch der Impulsopera-
˛ ˇ tor unbeschränkt ist.
cD (23.225)
 ı

den Rang 1 hat. Dies ist der Fall, wenn die beiden Spalten- 23.7
vektoren linear abhängig sind oder wenn die Determinante (a) Die Wurzeln des charakteristischen Polynoms
det.c/ D ˛ı  ˇ (23.226) det.I  A/ D 3  192 C 99  81 (23.235)
verschwindet. sind die Eigenwerte. Man findet die Werte
(b) Für die angegebenen Zustände ist
  1 D 2 D 9; 3 D 1 : (23.236)
1 1
c˙ D : (23.227)
1 ˙1 Der erste Eigenwert ist entartet, und somit ist die Wahl der
orthonormierten Eigenbasis nicht eindeutig. Durch Lösung
Die Determinante verschwindet für das positive Vorzeichen. der linearen Gleichungssysteme Ac.n/ D n c.n/ , z. B. mit-
Somit ist C separabel und  verschränkt. Man findet hilfe eines algebraischen Computerprogramms, findet man
problemlos die im Hinweis angegebenen orthonormierten
j Ci D .j1i C j2i/ ˝ .j1i C j2i/ : (23.228) Eigenvektoren.
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 791

(b) Der Spektralprojektor auf den Eigenraum von  D 9 ist wobei wir im letzten Schritt x durch x ersetzten. Bei der
0 1 Wirkung von PO FO müssen wir beachten, dass bei einer Spie-
1 5 3 6 gelung k das Vorzeichen wechselt, sodass
P9 D c.1/ c> > @ 3 13 2 A ;
.1/ C c.2/ c.2/ D  Z 
14 6 2 10
.PO FO /.k/ D PO  d3 x eikx .x/
(23.237)
und der Projektor auf den Eigenraum von  D 1 ist Z (23.247)
0 1 D  d xe
3 ikx
.x/ :
1 9 3 6
>
P1 D c.3/ c.3/ D @3 1 2A :
14 6 2 4
(23.238) Somit sind FO PO und PO FO identische Operatoren.
Die zweite Relation FO 2 D PO folgt aus
(c) Die Spektralprojektoren sind offensichtlich hermitesch und Z Z
haben die Eigenschaften .FO FO /.y/ D  2 d3 k eiky d3 x eikx .x/
Z (23.248)
P21;9 D P1;9 ; P1 P9 D P9 P1 D 0;P1 C P9 D I : D d3 x ı.x C y/ .x/ D .PO /.y/ :
(23.239)
(d) Mit den Eigenwerten und Spektralprojektoren können wir
eine beliebige Funktion der Matrix berechnen: Die dritte Relation FO TO a D EO a FO erhält man gemäß
Z
f .A/ D f .9/P D9 C f .1/P D1 : (23.240) .FO TO a /.k/ D  d3 x eikx .x  a/
(23.249)
Zum Beispiel ist D eika .FO /.k/ D .EO a FO /.k/ :

Teil III
0 1
p 1 @ 12 3 6 (c) Die Unitarität von TO a beweist man z. B. wie folgt:
A D 3P9 C P1 D 3 20 2A: (23.241)
7 6 Z
2 17
hTO a ; TO a i D d3 x  .x  a/ .x  a/ D h ; i ;

23.8 (23.250)
wobei im letzten Schritt die Integrationsvariable verschoben
(a) Ohne weitere Rechnung ist klar, dass gilt: wurde. Die Unitarität von PO beweist man genauso. Der Di-
latationsoperator ist unitär, weil
PO 1 D P;
O .TO a /1 D TO a ; O /1 D D
.D O 1= : (23.242) Z
O ;D
hD O i D d3 x 3  .x/ .x/
Die inverse Fouriertransformation lautet Z (23.251)
Z
D d3 y  .y/ .y/ D h ; i ;
.x/ D .FO 1 /.x/ D  d3 k eikx Q .k/ ; (23.243)

wobei die Integrationsvariable reskaliert wurde, x D y. Die


wie man durch direkte Rechnung nachweist:
Fourier-Transformation ist unitär aufgrund des Satzes von
Z Z Plancherel.
.FO 1 FO O /.y/ D  2 d3 k eiky d3 x eikx .x/ (d) Aus FO 4 D 1 kann man schließen, dass die Eigenwerte der
Z (23.244) Fourier-Transformation vierte Wurzeln aus 1 sein müssen:
D d3 x ı.x  y/ .x/ D .y/ : ˙1; ˙ i.

Hier wurde die Fourier-Darstellung der Deltadistribution 23.9


Z
d3 k eik.yx/ D .2 /3 ı.y  x/ (23.245) (a) Offensichtlich gilt für alle c 2 `2
X
O 2D
kRck jck j2 D kck2 ; (23.252)
benutzt, die in Abschn. 13.1 bewiesen wurde. k
(b) Der Operator FO PO wirkt auf eine Wellenfunktion im Ortsraum
gemäß was bedeutet, dass RO längenerhaltend ist. Natürlich ist die
Z Norm
.FO PO /.k/ D  d3 x eikx .x/ O
kRck
O D sup
kRk (23.253)
Z (23.246) kckD1 kck
D  d3 x eikx .x/ ; dann gleich eins.
792 23 Formalismus der Quantenmechanik

(b) Die Folge c D .˛; 0; 0; : : : / ist nicht im Bild von RO und 23.11
deshalb ist RO nicht surjektiv. Somit ist RO nicht bijektiv und
damit nicht unitär. (a) Der Spiegelungsoperator ist linear und die Zeitumkehr anti-
(c) Für alle Folgen b; c in `2 gilt linear. Insbesondere gelten
1
X
O D
hb; Rci b O O
.P.˛ //.t; x/ D ˛ .t; x/ D ˛.PO /.t; x/ ;
kC1 ck D hLb; ci ; (23.254)
(23.260)
kD1 O
.T.˛ //.t; x/ D ˛   .t; x/ D ˛  .TO /.t; x/ :
wie man leicht durch Einsetzen von (23.201) und (23.202)
nachprüft. Dann ist auch die Kombination JO D PO TO antilinear. JO wirkt
(d) Es gelten auf Wellenfunktionen im Ortsraum gemäß
O
L O
R
.c1 ; c2 ; c3 ; : : : / ! .c2 ; c3 ; c4 ; : : : / ! .0; c2 ; c3 ; : : : /; .JO /.t; x/ D 
.t; x/ : (23.261)
O
R LO
.c1 ; c2 ; c3 ; : : : / ! .0; c1 ; c2 ; : : : / ! .c1 ; c2 ; c3 ; : : : / ; Wendet man die Abbildung zweimal auf .t; x/ an, dann
erhält man wieder die ursprüngliche Wellenfunktion zurück,
sodass LO RO (zuerst RO anwenden und danach L)
O der Eins-Ope-
sodass JO JO D I gilt.
rator ist. Dagegen ist 1
(b) Wegen JO D JO ist
RO LO D diag .0; 1; 1; 1; : : : / (23.255)
 1

nicht der Eins-Operator. JO f .Ox/JO .t; x/ D f  .x/ .t; x/ ;
(e) Die beiden Operatoren haben beinahe dieselben Eigenwer-  1
 (23.262)
Teil III

te. Als Eins-Operator hat RO LO nur den unendlich entarteten JO f .Op/JO .t; x/ D f  .Op/ .t; x/ :
Eigenwert 1. Dagegen hat LO RO den einfachen Eigenwert 0
und den unendlich entarteten Eigenwert 1. Die Eigenwer- Hier wurde berücksichtigt, dass es für pO / ir x zwei Vorzei-
te müssen reell und nichtnegativ sein, weil LO RO D RO  RO und chenwechsel gibt: Unter einer Zeitumkehr geht i in i über,
RO LO D LO  LO selbstadjungierte und nichtnegative Operatoren und bei einer Spiegelung wechselt r x das Vorzeichen.
sind. (c) Offensichtlich gilt nun

1
23.10 JO pO 2 JO D .Op/2 D pO 2 ;
1
(23.263)
(a) Wirkt man mit JO auf die Eigenwertgleichung JO j i D  j i JO xO 2 .iOx/˛ JO D .Ox/2 .iOx/˛ D xO 2 .iOx/˛ ;
und benutzt dabei die Eigenschaften von JO , dann folgt
O sind
d. h., die beiden Operatoren pO 2 und xO 2 .iOx/˛ und damit H
JO JO j i D j i D  JO j i D jj2 j i ; (23.256)
jeweils PT-symmetrisch.
was bedeutet, dass  D ei unimodular ist.
(b) Es sei j i ein Eigenvektor von JO , d. h. JO j i D ei j i. Wir
definieren j 0 i D ei=2 j i / j i. Dann gilt 23.12
ˇ ˛ ˇ ˛
JO ˇ 0 D ei=2 JO j i D ei=2 j i D ˇ 0 : (23.257)
(a) Die Operationen Inversion und Adjungation vertauschen.
Somit ist j 0 i / j i Eigenvektor zum Eigenwert 1. Dies folgt für einen invertierbaren Operator BO aus
(c) Es sei j i Eigenvektor von HO zum Eigenwert E,
 
O j i D Ej i ;
H (23.258) BO 1 BO  D .BO BO 1 / D I D I ; (23.264)

und gleichzeitig Eigenvektor von JO zum Eigenwert 1. Wir-


ken wir mit JO auf die Eigenwertgleichung (23.258), dann woraus unmittelbar BO 1 D BO 1 folgt. Für jeden selbst-
folgt adjungierten Operator AO ist iI C AO invertierbar, da die
Eigenwerte von AO reell sind und entsprechend der Kern von
O j i D JO .E j i/ D E JO j i D E j i
JO H iI C AO verschwindet. Deshalb ist die Adjungierte des Opera-
(23.259)
O Oj iDH
HJ O j i D Ej i : tors in (23.209) gleich

O und JO , sodass auf den  1  


Nach Voraussetzung vertauschen H O  D iI C AO
U iI  AO ; (23.265)
linken Seiten die gleichen Größen stehen. Deshalb müssen
die beiden Ausdrücke auf den rechten Seiten gleich sein.
Daraus folgt, dass E reell sein muss. OU
was U O  D I impliziert.
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben 793

(b) Um die Adjungierte von AO in (23.210) zu finden, gebraucht Im letzten Schritt wurde partiell integriert. Die Darstellung
O  D UO 1 , sodass
man U macht deutlich, dass die unitären Operatoren U O a auf ganz
L2 .R / definiert sind.
n
 1   (d) Wir entwickeln das Ergebnis (23.267) bis zur zweiten Ord-
AO  D i I C UO 1 IUO 1
nung in a und erinnern uns daran, dass die Multiplikation
 1   mit dem Argument bei einer Fourier-Transformation in eine
D i U O C I/
O 1 .U O 1 .U
U O  I/ (23.266)
Ableitung übergeht. Dann findet man
 1  
O CI OU O 1 UO  I D AO :   Z
D i U U  
UOa .x/ D  dn k 1 C 2i.a  k/  2.a  k/2 C : : :
(c) Wir berechnen die Wirkung der Cayley-Transformierten von  eikx Q .k/
a  pO =„ auf eine Wellenfunktion im Ortsraum mithilfe der  
Fourier-Darstellung: D .x/ C 2 .a  r / C .a  r /2 C : : : .x/:
  Z
1 C ia  k ikx Q Aus dieser Entwickung entnimmt man, dass die Cayley-
UOa .x/ D  dn k e .k/ : (23.267)
1  ia  k Transformierte mit a=2 mit der Exponentialfunktion eiaOp=„
bis zur Ordnung a2 übereinstimmt.
Mithilfe des Integrals im Hinweis erhält man

  Z1  Z
d
Oa
U .x/ D  d e 1 C dn k eik.xCa/ Q .k/
d
0

Teil III
Z1  
 d
D d e 1C .x C a/
d
0
Z1
D  .x/ C 2 d e .x C a/ : (23.268)
0
794 23 Formalismus der Quantenmechanik

Literatur

Bender, C., Boettcher, S.: Real spectra in non-Hermitian Ha- Jackiw, R.: Three-cocycle in Mathematics and Physics. Phys.
miltonians having PT symmetry. Phys. Rev. Lett. 80, 5243 Rev. Lett. 54, 159 (1985)
(1998)
Fischer, H., Kaul, H.: Mathematik für Physiker 2. Teubner,
Wiesbaden (1998)
Weiterführende Literatur
Gradshteyn, I.S., Ryzhik, I.M.: Table of integrals, series, and Triebel, H.: Höhere Analysis. 2. Aufl., Harri Deutsch, Frankfurt
products. 7. Aufl., Academic Press, Burlington (2007) am Main (1980)
Teil III
Observablen, Zustände
und Unbestimmtheit
24
Was sind die möglichen
Messresultate für eine
Observable?

Was ist die Wahrschein-


lichkeit, ein Messresultat
zu finden?

Was versteht man


unter dem Kollaps der
Wellenfunktion?

Wie lautet die Unbe-

Teil III
stimmtheitsrelation für
zwei nichtverträgliche
Observablen?

24.1 Die Kopenhagener Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 796


24.2 Unbestimmtheitsrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803
24.3 Ist die Quantenmechanik vollständig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 804
24.4 Gemischte Zustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810
Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815
Ausführliche Lösungen zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 818
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 822

M. Bartelmann et al., Theoretische Physik, DOI 10.1007/978-3-642-54618-1_24, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 795
796 24 Observablen, Zustände und Unbestimmtheit

Wegen ihres beispiellosen und überwältigenden empirischen Er- Variablen hat. Dem irischen Physiker John Bell (1928–1990) ge-
folgs ist die Quantenmechanik eine der am besten gesicherten lang es, spezielle Fälle auszumachen, in denen sich quantitative
physikalischen Theorien überhaupt. Gleichzeitig wirft sie aber vie- Unterschiede zwischen Voraussagen von Theorien mit verborgenen
le tiefgründige konzeptionelle Probleme auf. Die Frage, wie sie zu Variablen und der Quantenmechanik ergeben. Theorien mit verbor-
interpretieren sei, wird seit Beginn kontrovers diskutiert – es gibt genen Variablen müssen die Bell’sche Ungleichung erfüllen, die wir
bis heute keine universell akzeptierte Interpretation der Quanten- besprechen werden. Im letzten Abschnitt führen wir eine allgemei-
mechanik. Viele fundamentale Fragen wie z. B. nach der Rolle des ne Klasse von Zuständen ein, die nicht durch Vektoren im Hilbert-
Beobachters beim Messprozess, der Überlagerung von makrosko- Raum dargestellt werden können. Sie beschreiben klassische Ge-
pisch unterscheidbaren Zuständen, der Nichtlokalität von Korre- mische von Ensembles von Quantensystemen in wohldefinierten
lationen oder des Indeterminismus der Quantenmechanik werden Zuständen. Der dabei entwickelte Dichtematrixformalismus wird in
nach wie vor lebhaft diskutiert. Die Formulierung einer konsisten- Abschn. 37.1 eine wichtige Rolle spielen.
ten Interpretation des mathematischen Formalismus oder sogar
einer alternativen Theorie der mikroskopischen Erscheinungen kann
deshalb durchaus als sinnvoller, wenn nicht notwendiger Bestand-
teil einer Quantentheorie angesehen werden, obwohl sich unter 24.1 Die Kopenhagener
Umständen Fragen nach „der korrekten Interpretation“ weder mit
experimentellen noch mit theoretischen Methoden der Physik be- Interpretation
antworten lassen. In Lehrbüchern findet man beinahe ausnahmslos
die von vielen Physikern bevorzugte Kopenhagener Interpretation Die weit verbreitete und von vielen Physikern akzeptierte In-
(auch orthodoxe oder Standardinterpretation genannt) – trotz des terpretation der Quantenmechanik und insbesondere des Mess-
darin enthaltenen schwierigen Komplementaritätsprinzips. Aber es prozesses – die ursprünglich von Bohr und Heisenberg während
sollte an dieser Stelle betont werden, dass uns bis zum heutigen ihrer Zusammenarbeit in Kopenhagen formulierte Kopenhage-
Teil III

Tage keine Tatsache bekannt ist, nach der die Kopenhagener Inter- ner Interpretation – hat sich über mehrere Jahrzehnte entwickelt.
pretation überholt wäre. Ihre wichtigsten Proponenten waren Werner Heisenberg (Hei-
Neben der in Abschn. 24.1 ausführlich vorgestellten Kopenhagener senberg 1958) und Niels Bohr (Bohr 1960). Ein entscheidender
Interpretation der Quantenmechanik entstanden im Laufe der Zeit Beitrag zur Interpretation wurde von Max Born geleistet – in
zahlreiche alternative Interpretationen oder sogar alternative Theo- seiner wichtigen Arbeit über die Quantenmechanik der Stoß-
rien für die mikroskopischen Erscheinungen. Bekanntere Beispiele vorgänge (Born 1928) ordnete er dem Betragsquadrat der
sind die Bohm’sche Mechanik, die Viele-Welten-Interpretation, das Wellenfunktion j j2 eine Wahrscheinlichkeit zu. Obwohl die
Dekohärenzprogramm oder Theorien mit konsistenten Historien. Ei- Kopenhagener Interpretation intern konsistent ist, wird sie nicht
nige dieser Alternativen werden im Folgenden kurz vorgestellt. von allen Physikern in vollem Umfang akzeptiert. Durch die
in den Postulaten vorgenommene strikte Trennung in einen
Im vorliegenden Kapitel steht der wichtige Messprozess in der quantenmechanischen und einen klassischen Bereich wird die
Quantenmechanik im Vordergrund. Dabei sollte man zwischen zwei Möglichkeit verneint, klassische Aspekte von Quantensystemen
Klassen von Größen unterscheiden: den direkt beobachtbaren und als Grenzfälle einer mikroskopischen Theorie herzuleiten.
den mittelbaren. Zur ersten Klasse gehören die messbaren Eigen-
werte von hermiteschen Operatoren oder Wahrscheinlichkeiten, Einige der unten vorgestellten Postulate der Kopenhagener
zur zweiten Klasse die Zustandsvektoren oder linearen hermite- Deutung haben wir in den vorangehenden Kapiteln schon dis-
schen Operatoren. Die in Abschn. 24.1 vorgestellte Kopenhagener kutiert. Andere sind intuitiv einsichtig und wurden implizit
Deutung, an deren mathematischer Ausformulierung Johann von bereits vorausgesetzt. Die ersten zwei Axiome über Zustände
Neumann (1903–1957, österreichisch-ungarischer Mathematiker, und Observablen geben an, wie ein physikalisches System in
mit wichtigen Beiträgen zur Quantenmechanik, Informationstheo- den mathematischen Formalismus übertragen wird. Die folgen-
rie, Funktionalanalysis und Gruppentheorie) wesentlich beteiligt den zwei Axiome über Messresultate und Wahrscheinlichkeiten
war, dient als Brücke zwischen Theorie und Experiment. Einige der sagen aus, wie bestimmte Resultate im mathematischen Forma-
Postulate sind naheliegend, und wir haben sie in unseren bisheri- lismus physikalisch gedeutet werden. Die letzten zwei Axiome
gen Betrachtungen auch schon benutzt. Anschließend werden wir über die ungestörte Zeitentwicklung und den Kollaps der Wel-
im Lichte der Kopenhagener Interpretation den Messprozess und lenfunktion zerlegen die Zustandsänderung in einen stetig-
die Präparation von reinen Zuständen mithilfe von Messungen dis- deterministischen Anteil einerseits sowie einen sprunghaft-zu-
kutieren. fallsbestimmten Anteil andererseits.

In Abschn. 24.2 besprechen wir die allgemeine Unbestimmtheitsre-


lation für Paare von Observablen. Sie besagt, dass die Messwerte
von nichtverträglichen Observablen (im strengen Sinn), z. B. Ort Erstes Postulat: Zustände
und Impuls eines Teilchens, niemals gleichzeitig beliebig genau
bestimmt werden können bzw. überhaupt konkret festliegen. In Ab-
schn. 24.3 gehen wir anhand des EPR-Paradoxons der Frage nach, Zwei Vektoren j i und  j i im Hilbert-Raum H beschreiben
ob die Quantenmechanik vollständig ist oder ob sie verborgene denselben Zustand falls die komplexe Zahl  nicht verschwin-
24.1 Die Kopenhagener Interpretation 797

det. Die Vektoren zu demselben Zustand definieren einen eindi- weitere Observablen, die klassisch nicht existieren, z. B. der
mensionalen Teilraum oder einen Strahl in H : Spin eines Teilchens.
Achtung Die manchmal geforderte Bedingung, wonach die
R D f j i ;  2 C n f0gg : (24.1) klassischen Poisson-Klammern
fF.q; p/; G.q; p/g D K.q; p/ (24.3)
Reine Zustände eines Quantensystems
durch die Kommutatoren
Reine Zustände eines physikalischen Systems werden
durch komplex-eindimensionale Teilräume in einem se- ŒF.Op/; G.Op/ D i„ K.Oq; pO / (24.4)
parablen komplexen Hilbert-Raum H dargestellt. zu ersetzen sind, lässt sich nach einem Theorem von Groene-
wold und van Hove (Groenewold 1946; van Hove 1951) nicht
konsistent durchführen (siehe auch Aufgabe 24.8). Man kann
Als Repräsentanten eines reinen Zustands wählt man oft einen lediglich die Bedingung
normierten Vektor j i des zugehörigen Teilraumes. Später
werden wir noch gemischte Zustände, dargestellt durch Dichte- ŒF.Op/; G.Op/ D i„ K.Oq; pO /  Œ1 C O.„/ (24.5)
operatoren bzw. ihre Dichtematrizen, kennenlernen. Im Rahmen
der Dichtematrixtheorie lässt sich ein reiner Zustand durch den fordern. Verglichen mit typischen Wirkungen sind „ und die
Projektionsoperator auf den entsprechenden Teilraum darstel- höheren Ordnungen verschwindend klein, und man kann nähe-
len. rungsweise die Ersetzung von (24.3) durch (24.4) annehmen. J
In dieser allgemeinen Formulierung unterscheidet das Obser-
Nur wenige Physiker zweifeln an diesem vom Superposi-
vablenaxiom allerdings kaum zwischen unterschiedlichen phy-
tionsprinzip nahegelegten Postulat, gemäß dem die Summe
sikalischen Systemen. Zur genaueren Charakterisierung des-

Teil III
zweier Zustandsvektoren und das Vielfache eines Zustandsvek-
selben braucht es noch die Auszeichnung eines Hamilton-
tors wieder einen Zustand repräsentieren, analog zur Addition
Operators.
und skalaren Multiplikation z. B. bei Lichtwellen. Auch die
Separabilität des komplexen Hilbert-Raumes, d. h. die Exis- Es stellt sich die Frage, wenn es zu jeder messbaren Größe
tenz einer abzählbaren Basis, ist wenig umstritten. Dagegen einen selbstadjungierten Operator gibt, ob es dann umgekehrt
ist die physikalische Bedeutung eines „Zustands“ Gegenstand zu jedem selbstadjungierten Operator auch eine messbare Grö-
von Diskussionen. Die Kopenhagener Deutung lässt diese Fra- ße gibt. So ist die Summe und das symmetrisierte Produkt von
ge offen. Interpretiert werden lediglich Absolutquadrate von beschränkten selbstadjungierten Operatoren wieder beschränkt
Produkten von Zuständen, z. B. j .x/j2 als Wahrscheinlich- und selbstadjungiert. Gibt es dann immer eine Messvorschrift
keitsdichte. Alternative Interpretationen der Quantenmechanik für die durch die Summe und das symmetrisierte Produkt darge-
setzen an dieser Stelle an. stellten Observablen, wenn Messvorschriften für die einzelnen
Observablen bekannt sind? Insbesondere für nichtverträgliche
Observablen folgt aus der Messvorschrift für die einzelnen Ob-
servablen keine Messvorschrift für ihre Summe.
Zweites Postulat: Observablen Achtung In vielen Büchern spricht man von hermiteschen
Operatoren, obwohl selbstadjungierte Operatoren gemeint sind,
Eine messbare Größe oder Observable eines physikalischen da der genaue Definitionsbereich oft irrelevant ist. J
Systems ist ein Objekt, das eine Messvorschrift repräsentiert.

Observablen eines Quantensystems Drittes Postulat: Messwerte


Die Observablen eines Systems werden durch lineare
selbstadjungierte Operatoren des Hilbert-Raumes darge- Es soll nun eine Observable mit zugehörigem selbstadjungier-
stellt. Die (verallgemeinerten) Orts- und Impulsoperato- ten Operator AO auf einem Hilbert-Raum gemessen werden,
ren erfüllen dabei die Vertauschungsregeln: z. B. die Energie, der Impuls oder der Ort eines Teilchens. In
Abschn. 23.2 wurde gezeigt, dass alle Eigenwerte eines selbst-
ŒOqi ; pOj  D i„ıij I : (24.2) adjungierten Operators reell sind.

Born’sche Regel für Messergebnisse


Klassische Observablen wie Ort, Impuls, Drehimpuls und Ener-
gie sind auch quantenmechanisch sinnvolle Variablen. Deren Das Spektrum eines selbstadjungierten Operators ent-
explizite Form folgt dann, von möglichen Ordnungsproblemen spricht den möglichen Messwerten einer Messung der
abgesehen, aus den Korrespondenzregeln und den Ausdrücken zugehörigen Observablen an dem System.
für Orts- und Impulsoperatoren. Darüber hinaus existieren noch
798 24 Observablen, Zustände und Unbestimmtheit

Die Bestimmung der möglichen Messresultate für eine Obser- Diese Wahrscheinlichkeitsinterpretation der Entwicklungskoef-
vable führt somit auf die Lösung des Eigenwertproblems für den fizienten fcn g in der Entwicklung von j i nach der orthonor-
zugeordneten Operator AO auf dem Hilbert-Raum der Zustands- mierten Eigenbasis von AO führt zu folgendem Erwartungswert
vektoren: für die Observable:
AO jan i D an jan i ; AO  D AO : (24.6) X
O
hAi D an jcn j2 D h j AO j i : (24.9)
Bilden die Eigenwerte an 2 R eine diskrete Menge, dann spricht
man von der Quantisierung der erlaubten Messwerte. Die zu-
gehörigen Eigenfunktionen jan i sind Elemente des Hilbert- Achtung Dieser Ausdruck für den Erwartungswert ist nur
Raumes. Die Eigenfunktionen mit Eigenwerten im Kontinu- korrekt, wenn j i auf eins normiert ist. Andernfalls muss man
um – man nennt sie uneigentliche Eigenfunktionen – liegen auf der rechten Seite noch durch h j i dividieren. J
dagegen mangels Normierbarkeit nicht im Hilbert-Raum. Nur
mithilfe von Superpositionen der uneigentlichen Eigenfunktio- Das Axiom kann auch für Observablen formuliert werden, de-
nen kann man Elemente des Hilbert-Raumes, dies sind dann ren Operatoren entartete Eigenwerte oder ein kontinuierliches
Wellenpakete, konstruieren. Spektrum haben. Für entartete Eigenwerte findet man die Ant-
wort in Aufgabe 24.1. Bei Messungen im Kontinuum sollte
man allerdings beachten, dass jede reale Messapparatur nur ein
begrenztes Auflösungsvermögen hat. Im allgemeinen Fall defi-
Viertes Postulat: Wahrscheinlichkeiten niert man deshalb die Wahrscheinlichkeit, ein Messresultat in
von Messresultaten   R zu finden, als
X Z
Mit welcher Wahrscheinlichkeit der reelle Eigenwert an einer wA; ./ D h j PO  j i D jcn j2 C da jc.a/j2 : (24.10)
Observablen mit Operator AO gemessen wird, hängt vom Zustand
Teil III

an 2 
des physikalischen Systems, repräsentiert durch einen normier-
ten Vektor j i 2 H , ab. Wir wollen vorerst annehmen, die
Eigenwerte an seien diskret und die zugehörigen Eigenvektoren Die spektralen Projektoren PO  wurden in Abschn. 23.3 ein-
jan i orthonormiert. Gemäß den Ausführungen in Abschn. 23.3 geführt (siehe auch den „Mathematischen Hintergrund“ 23.2).
kann jeder Vektor in H nach dieser Eigenbasis entwickelt PO  projiziert orthogonal auf den Unterraum PO  H des Hilbert-
werden. Raumes, aufgespannt von den Eigenvektoren mit Eigenwerten
im Intervall .

Wahrscheinlichkeit für Messresultate Sind die Eigenfunktionen gemäß (23.156) normiert, so sind die
Entwicklungskoeffizienten in (24.10) gegeben durch
Die Wahrscheinlichkeit, bei einer Messung der Observab-
len mit Operator AO im Zustand mit normiertem Zustands- cn D han j i und c.a/ D ha j i : (24.11)
vektor
X Wegen PO R D I ist für jeden Zustand des Systems die Wahr-
j iD cn jan i ; AO jan i D an jan i (24.7) scheinlichkeit, irgendein Messresultat zu finden, gleich eins.

Frage 3
den nichtentarteten diskreten Eigenwert an zu messen, ist
In Abschn. 23.3 wurde P PO  D PO  gezeigt, sodass PO  nur
O
wA; .an / D jcn j2 ; cn D han j i : (24.8) die Eigenwerte 0 und 1 haben kann. Zu welchen Observablen
gehören die spektralen Projektoren PO  ?

Frage 1
Da PO  nur die beiden Eigenwerte p D 0; 1 besitzt, findet man
Überlegen Sie sich, dass für alle Vektoren im Strahl R die bei Messung der zugehörigen Observablen nur einen dieser bei-
Wahrscheinlichkeiten jcn j2 gleich sind. den Werte. Wegen

PO  j i D p j i ) wA; ./ D p (24.12)


Anschaulich beschreibt han j i jan i die Projektion des Zu-
standsvektors j i auf den normierten Eigenvektor jan i. Das
findet man mit Sicherheit das Messresultat in  für Eigenvek-
Quadrat der Länge der projizierten Vektors j han j ij ist die
toren mit Eigenwert eins und mit Sicherheit ein Messresultat
Wahrscheinlichkeit für die Messung des Eigenwerts an .
außerhalb von  für Eigenvektoren mit Eigenwert null. Man
Frage 2 spricht in diesem Zusammenhang von einer Ja-nein-Apparatur.
Machen Sie sich diese Idee aus der linearen Algebra anschau- Der Erwartungswert h j PO  j i ist dann die Wahrscheinlich-
lich klar. keit, bei der Messung von AO im Zustand j i einen Wert in  zu
finden.
24.1 Die Kopenhagener Interpretation 799

Für die Observable Energie nannte Max Born (1928) die Wahr- Sechstes Postulat: Messprozess
scheinlichkeit jcn j2 die Häufigkeit dafür, dass in einem Haufen
gleicher, nichtgekoppelter Systeme der (nichtentartete) Energie-
wert En vorkommt. Ein Ensemble oder eine Gesamtheit ist eine Im Gegensatz zur klassischen Physik, wo man (zumindest im
derart große Menge von Systemen, dass es auf deren genaue Prinzip) mit Testteilchen störungsfreie Messungen vornehmen
Anzahl nicht mehr ankommt. Der Erwartungswert h j PO j i ei- kann, wird die Messung von Observablen eines Quantensystems
ner Ja-nein-Observablen ist dann die Häufigkeit, mit der bei dessen Zustand in der Regel ändern, sodass eine anschließen-
einer Messung mithilfe einer Ja-nein-Apparatur der Ja-Effekt de zweite Messung das System in einem anderen reduzierten
an der durch j i charakterisierten Gesamtheit auftritt. Die Zustand antreffen wird. Dies nennt man den Kollaps der Wel-
Schwankung der Häufigkeiten bei mehrfacher Wiederholung lenfunktion. Verschiedene Messapparaturen, die verschiedenen
des Experiments an identischen Systemen wird mit wachsender Observablen entsprechen, ändern den Zustand auf verschiedene
Anzahl Experimente kleiner. Weise.

Dies ist die sogenannte Ensemble-Interpretation der Quanten-


mechanik, in der die Wellenfunktion grundsätzlich nur große Kollaps der Wellenfunktion
Ensembles von Systemen beschreibt. Diese Interpretation ist auf Nach Messung einer Observablen mit Operator AO an
Einzelsysteme nicht anwendbar und umgeht damit Grundlagen- einem physikalischen System mit dem (nichtentarteten)
probleme, die auftreten, wenn man die Quantenmechanik auf Eigenwert an als Messwert befindet sich das System in
Einzelsysteme anwendet. dem zugehörigen Eigenzustand jan i.

Etwas genauer: Ein physikalisches System befinde sich vor


Fünftes Postulat: Ungestörte Zeitentwicklung

Teil III
Messung einer Observablen in einem Zustand beschrieben
durch den Vektor j i. Misst man nun für die Observable den
Eigenwert an , dann befindet sich das System nach der Messung
Dieses Postulat beschreibt die Dynamik eines abgeschlosse- in dem Zustand beschrieben durch
nen Quantensystems, das nicht mit der Umgebung (z. B. einem
Messgerät) in Wechselwirkung steht. Für ein abgeschlossenes PO an j i D han j i jan i / jan i : (24.14)
System ist die Zeitentwicklung durch eine lineare und deter-
ministische Evolutionsgleichung bestimmt. Ähnlich wie in der Der Messprozess führt im Allgemeinen also zu einer unsteti-
klassischen Physik spielt dabei die Energie, in der Quantenme- gen und nichtdeterministischen Änderung des Zustandsvektors
chanik in Form des Hamilton-Operators, eine besondere Rolle. von j i zu jan i. Während der Messung von AO kollabiert der
Zustandsvektor j i auf jan i. Bei einer anschließenden zweiten
Zeitentwicklung ohne äußere Einflüsse Messung von AO findet man dann mit Sicherheit wieder den Wert
an .
Die Zeitentwicklung eines abgeschlossenen Systems wird
im bisher benutzten Schrödinger-Bild (siehe Abschn. 25.3 Das Axiom konkretisiert, was nach der Wechselwirkung des zu
für andere Bilder) durch die Schrödinger-Gleichung untersuchenden Systems mit der makroskopischen Messappa-
ratur (oder allgemeiner einem klassischen System) geschehen
d ist. Es macht auch klar, dass die Kopenhagener Deutung ganz
i„ Oj i
j iDH (24.13) wesentlich auf der Trennung zwischen Quantensystem und klas-
dt
sischer Umgebung beruht. Es stellt sich hier natürlich die Frage,
O der selbstadjungierte Energieopera-
beschrieben, wobei H ob sich dieses Axiom aus dem vorigen Axiom über die freie
tor (Hamilton-Operator) des Systems ist. Zeitentwicklung ableiten lässt, wenn man das Messgerät als Teil
des Quantensystems auffasst (siehe Kasten „Vertiefung: Kollaps
der Wellenfunktion“).
Ohne Störung des Quantensystems, z. B. durch eine Messung, Die Verallgemeinerung des Postulats für Messungen von entar-
ändert sich der Zustand somit stetig und nicht etwa sprung- teten Eigenwerten oder Eigenwerten im kontinuierlichen Spek-
haft. Für einen selbstadjungierten Hamilton-Operator ist diese trum ist naheliegend. Bei einer derartigen Messung wird der
Zeitentwicklung unitär: Den Zustandsvektor zum Zeitpunkt t Ausgangszustand j i in folgender Weise verändert: Findet man
erhält man durch Anwendung eines unitären Zeitentwicklungs- einen Wert in , dann filtert die Messung die Komponente
operators auf den Zustandsvektor zum Zeitpunkt t0 in der Form
O t0 / j .t0 /i D j .t/i. Die unitäre Zeitentwicklung sorgt
U.t; PO  j i 2 PO  H (24.15)
dafür, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, ein abgeschlossenes
Quantensystem in irgendeinem Zustand anzutreffen, zu allen von j i heraus. Das Postulat verallgemeinert unsere früheren
Zeiten eins ist. Dies werden wir in Kap. 25 noch ausführlicher Ergebnisse über die Wahrscheinlichkeiten von Orts- und Im-
besprechen. pulsmessungen in Abschn. 22.1.
800 24 Observablen, Zustände und Unbestimmtheit

Ortsmessung Schrödingers Katze


Betrachten wir die Messung des Teilchenortes R3 . Nach der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik
Die zugehörigen Operatoren sind die (kommutierenden) von Niels Bohr, Max Born, Werner Heisenberg und Pascual
Komponenten von xO . Es sei also   R3 und PO  der Jordan ist im Allgemeinen der Zustand eines Quantensystems
Projektor auf denjenigen Unterraum von H , der von den vor der Messung eine kohärente Überlagerung vieler Eigen-
Eigenfunktionen des Ortsoperators mit Eigenwerten in zustände einer Observablen, auch Superposition genannt, und
 aufgespannt wird. Dann ist nach den Ergebnissen im kollabiert während der Messung irgendwie in einen Eigenzu-
„Mathematischen Hintergrund“ 23.2 die Wellenfunktion stand oder nur einige wenige Eigenzustände. Wie der Kollaps
eines Teilchens nach der Messung der Ortskoordinaten geschieht, darüber wird keine Aussage getroffen. Beim Doppel-
(Abb. 24.1) spaltexperiment nimmt das Teilchen alle möglichen Wege von
(
.x/ falls x 2  der Quelle zum Schirm. Aber sobald wir nachschauen, durch
.PO  /.x/ D (24.16) welchen Spalt das Teilchen propagierte, verschwindet das In-
0 falls x 62  :
terferenzmuster auf dem Schirm so, als wäre ein Punktteilchen
Die Eigenfunktionen von PO  zum Eigenwert 1 sind so- propagiert. Auch bekannte Physiker wie z. B. Albert Einstein
mit nur innerhalb und diejenigen zum Eigenwert 0 nur und Erwin Schrödinger, die ganz wesentlich zur Entwicklung
außerhalb von  ungleich null. Die Wahrscheinlichkeit, und zum Verständnis der Quantenmechanik beitrugen, haben
das Teilchen in  zu finden, ist gleich dem Mittelwert gerade diesen Aspekt der Kopenhagener Deutung, in der dem
des Projektors PO  im Zustand mit Zustandsvektor j i: Messprozess eine so herausragende Bedeutung zukommt, nie
Z Z akzeptiert.
h j PO  j i D d3 x j .x/j2 D d3 x w .x/ : (24.17)
Zum Beispiel kann man dann ohne Messung auch nicht mit Si-
Teil III

  cherheit sagen, ob ein radioaktives Element zerfallen ist oder


Dies ist das schon aus Abschn. 22.1 bekannte Ergebnis nicht. Schrödinger versuchte diese prinzipielle Unbestimmtheit
für die Wahrscheinlichkeit, das Teilchen in  zu finden. des Zerfallszeitpunktes durch sein berühmt gewordenes Katzen-
experiment ad absurdum zu führen. In seinen Worten:
ψ
Man kann auch ganz burleske Fälle konstruieren. Eine
Katze wird in eine Stahlkammer gesperrt, zusammen mit
vorher folgender Höllenmaschine (die man gegen den direkten
Zugriff der Katze sichern muss): In einem Geiger’schen
Zählrohr befindet sich eine winzige Menge radioaktiver
Substanz, so wenig, dass im Laufe einer Stunde vielleicht
eines von den Atomen zerfällt, ebenso wahrscheinlich
aber auch keines; geschieht es, so spricht das Zählrohr
an und betätigt über ein Relais ein Hämmerchen, das
x ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert. Hat man dieses
ganze System eine Stunde lang sich selbst überlassen, so
P̂Δ ψ wird man sich sagen, dass die Katze noch lebt, wenn in-
zwischen kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall
würde sie vergiftet haben. Die Psi-Funktion des ganzen
nachher Systems würde das so zum Ausdruck bringen, dass in
ihr die lebende und die tote Katze zu gleichen Teilen ge-
mischt oder verschmiert sind. (Schrödinger 1935)
Nach der Kopenhagener Interpretation ist also keine der beiden
Möglichkeiten – radioaktiver Zerfall und Vergiftung der Katze
oder kein Zerfall und lebende Katze – tatsächlich real, solange
x
man nicht nachschaut, was wirklich passiert ist.
Δ

Abb. 24.1 Die Wellenfunktion eines Teilchens vor und nach der Mes-
sung der Ortskoordinate. Findet man bei der Ortsmessung, dass sich das Verträgliche Observablen
Teilchen irgendwo im Gebiet  aufhält, dann kollabiert gemäß der Ko-
penhagener Interpretation die Wellenfunktion bei der Messung sofort.
Die Wellenfunktion bleibt in  unverändert und kollabiert ausserhalb Was folgt nun aus den Postulaten für das sequenzielle Messen
von  sprunghaft auf null von mehreren Observablen? Das System sei vor dem Mess-
J prozess in dem Zustand mit Zustandsvektor j i. Zur Verein-
fachung der Sprache werden wir im Folgenden oft vom Zustand
24.1 Die Kopenhagener Interpretation 801

Vertiefung: Kollaps der Wellenfunktion

Die Kopenhagener Interpretation ist intern konsistent. Aber Frage, warum denn eine quantenmechanische Messung kei-
man zahlt einen Preis für diese Konsistenz, weil man die ne Superposition von Zuständen liefert. Bei neueren Er-
Quantenmechanik im Wesentlichen auf einen Satz von Algo- klärungsversuchen dieses Rätsels spielt möglicherweise die
rithmen, wie es in den genannten Postulaten zum Ausdruck sogenannte Dekohärenz eine wichtige Rolle. Diese tritt bei
kommt, reduziert. Aber wegen der Trennung in ein quan- der Wechselwirkung eines Quantensystems mit seiner Um-
tenmechanisches Objekt und einen klassische Messapparat gebung immer auf – jede Art von Rauschen oder Verlusten
(bzw. einen Beobachter) ist es nicht mehr möglich, klas- führt zu einer raschen Zerstörung der Kohärenz. Dekohä-
sische Eigenschaften von Quantensystemen als Grenzfälle renzeffekte gelten als Bestandteil einer Erklärung des „klas-
einer mikroskopischen Theorie abzuleiten. Weiter stellt sich sischen“ Verhaltens makroskopischer Objekte. Dekohärenz
die Frage, was praktisch als geschlossenes System angese- führt zu einer irreversiblen Auslöschung von Interferenzter-
hen werden kann. Ist es beim Schrödinger’schen Katzenex- men in der Wellenfunktion und macht verständlich, warum
periment das radioaktive Element alleine, ist es der Inhalt bei makroskopischen Systemen keine Superpositionszustän-
des Kastens, ist es das gesamte Laboratorium oder doch erst de beobachtet werden. Durch die Dekohärenz werden Zu-
das gesamte Universum? Wo ist die Grenze zwischen Ob- stände zerstört, und es kommt zu einer selektiven Auswahl
jekt und Beobachter? Warum kann die Katze nicht schon als von robusten Zuständen, die gewissen Stabilitätskriterien
Beobachter angesehen werden? genügen. Nach der Theorie der Dekohärenz kollabiert die
Wellenfunktion nicht erst durch den Beobachtungsprozess,
Zu den frühen Kritikern der Kopenhagener Interpretation sondern durch die Wechselwirkungen mit der Umgebung.
gehörte Johann von Neumann, der sich mit seinen bedeu- Dieser Prozess kann quantenmechanisch beschrieben wer-

Teil III
tenden Beiträgen zu den mathematischen Grundlagen der den. Die Dekohärenzzeit, also die Zeit, die das System
Quantenmechanik (von Neumann 1932) verdient machte. Er zum Kollabieren benötigt, ist dabei umso kürzer, je größer
versuchte erfolglos, die Trennung in ein quantenmechani- die Masse des Systems ist. Schrödingers Katze muss nur
sches Objekt und einen klassischen Messapparat aufzuhe- noch unmerklich kurz in einem Überlagerungszustand aus
ben. Von Neumann nimmt an, dass das System eine gewisse lebendig und tot verharren. Je wohlgenährter sie ist, desto
Zeit mit dem Messapparat wechselwirkt, dessen Zeigerstel- schneller fällt die Entscheidung. Sie braucht keinen Beob-
lung das Messresultat anzeigt. Die Zeigerstellung nach der achter mehr, der nach ihr sieht. Es ist sogar möglich, die
Wechselwirkung hängt vom anfänglichen Zustand des Sys- theoretisch abgeleiteten Dekohärenzzeiten für gewisse Ver-
tems ab. Eine sorgfältige Analyse zeigt aber, dass, solange suchsanordnungen experimentell zu verifizieren (Haroche
der Messprozess quantenmechanisch beschrieben wird, kei- 1998).
ne Zustandsreduktion stattfinden kann. Nach der Messung
liegt dann eine Superposition von Zeigerstellungen vor. Allerdings löst die Dekohärenz das Messproblem auch nicht
vollständig, da sie nicht beschreibt, wie es zum Auftreten ei-
nes konkreten Ereignisses kommt.
Die Rolle der Dekohärenz

Die natürliche Annahme, dass die Schrödinger-Gleichung Literatur


auch die zeitliche Entwicklung eines abgeschlossenen ma-
kroskopischen Systems beschreibt, führt offensichtlich zu von Neumann, J.: Mathematische Grundlagen der Quan-
einem Widerspruch mit unserer Wahrnehmung, da die li- tenmechanik. 2. Aufl., Springer (1992) (zuerst 1932)
neare Schrödinger-Gleichung im Allgemeinen zur Überla- Haroche, S.: Entanglement, decoherence and the quan-
gerung verschiedener Realitäten führt. Es stellt sich die tum/classical boundary. Phys. Today 51(7), 36 (1998)

j i und der Observablen AO sprechen, obwohl streng genommen Liefert die folgende Messung von BO den Eigenwert bn , dann ist
j i einen Vektor und AO einen Operator bezeichnet. der Zustandsvektor des Systems nach dieser zweiten Messung
O
gleich dem entsprechenden B-Eigenvektor

Die Messung der Observablen AO liefere den konkreten Eigen- PO bn PO an j i : (24.19)


wert an . Dann ist nach den Postulaten der Quantenmechanik der
Zustandsvektor des Systems nach dieser ersten Messung gleich Zwei Observablen AO und BO heißen verträglich, wenn sie sich bei
O
dem entsprechenden A-Eigenvektor Messungen gegenseitig nicht stören, sodass es auf die Reihen-
folge der Messungen nicht ankommt. Das bedeutet insbeson-
dere, dass bei einer nochmaligen Messung von AO im Zustand
PO an j i D jan i : (24.18) (24.19) mit Sicherheit an bemessen wird. Der Endzustand ist
802 24 Observablen, Zustände und Unbestimmtheit

also gleichzeitig Eigenzustand von AO und B.


O Dies kann für al- Ist der gemeinsame Eigenraum PO bn PO am H von AO und BO mehr-
le möglichen Messresultate der beiden Observablen nur gelten, dimensional, dann legen die Quantenzahlen am und bn den
wenn diese gleichzeitig diagonalisierbar sind, also miteinander Systemzustand immer noch nicht fest, und es existiert eine wei-
vertauschen. tere, mit AO und BO verträgliche Observable C. O Finden wir bei
deren Messung den Eigenwert cp , dann kollabiert PO bn PO am H
nach der Messung in PO cp PO bn PO am H . Das Verfahren wird so lan-
Verträgliche Observablen
ge fortgesetzt, bis ein vollständiger Satz von kommutierenden
Zwei Observable heißen verträglich, wenn es nicht auf die Observablen zu einer eindeutigen Präparation eines Zustands
Reihenfolge ihrer Messung ankommt. Dies ist genau dann führt:
der Fall, wenn die zugehörigen Operatoren vertauschen. PO am PO bn PO cp    H D jam bn cp : : : i : (24.20)
Der Zustand ist dann durch die Angabe der Quantenzahlen (oder
Eigenwerte) am ; bn ; cp ; : : : des vollständigen Satzes von verträg-
lichen Observablen eindeutig bestimmt. Die vorgenommenen
Messungen zur Präparation eines Zustands können den anfäng-
Präparation eines reinen Zustands lichen Zustand merklich ändern. Wir kennen zwar den Zustand
nach den Messungen, nicht aber den Zustand davor.

Wir möchten mithilfe der Messung von Observablen A; O B;


O :::
Der Quanten-Zeno-Effekt
den Zustand eines physikalischen Systems eindeutig charakte-
risieren. Mit wenigen Ausnahmen verändert sich der Systemzu- Im Quanten-Zeno-Effekt wird ein Quantensystem durch
stand aber bei jeder Messung – nach der Kopenhagener Deutung eine hohe Anzahl von Messungen im anfänglichen Zu-
führt eine Messung zum Kollaps der Wellenfunktion –, und der
Teil III

stand eingefroren. Dies erinnert an die leicht lösbaren


mithilfe von Messungen präparierte Zustand wird im Allgemei- Bewegungsparadoxa des Zeno von Elea, z. B. dem für
nen nicht mehr der anfängliche Zustand des Systems sein. Achilles so enttäuschend endenden Wettrennen mit der
O Finden wir den Eigenwert Schildkröte. In der Quantenversion des Zeno-Effekts prä-
Wir messen zuerst die Observable A.
parieren wir zuerst einen Zustand 0 , z. B. durch Mes-
am (in diesem Zusammenhang spricht man auch von der Quan-
sung eines nichtentarteten Eigenwertes a0 einer Obser-
tenzahl am ), dann liegt nach der Messung der Zustandsvektor O Nun betrachten wir die zeitliche Entwicklung
im Unterraum PO am H  H , aufgespannt von den Eigenvek- vablen A.
toren zum Eigenwert am . Ist am nicht entartet, dann ist dieser dieses Zustands, sodass j .0/i  j 0 i ist. Ohne Störung
Unterraum eindimensional und legt den Zustand des Systems durch eine Messung entwickelt sich nun der Zustandsvek-
eindeutig fest. Ist am aber entartet, so ist PO am H mehrdimensio- tor gemäß der Schrödinger-Gleichung (24.13).
nal, und der Zustand des Systems ist durch die erste Messung, Die Verweilwahrscheinlichkeit des Systems im Anfangs-
d. h. die Quantenzahl am , noch nicht eindeutig festgelegt. zustand ist
p0 ./ D j h 0 j ./ij2 ; (24.21)
Frage 4
wobei  eine relativ zu den typischen Zeitskalen des Sys-
Der selbstadjungierte Operator AO habe mindestens einen entar-
tems kurze Zeit sein soll. Die Schrödinger-Gleichung
teten Eigenwert. Man überlege sich, dass es dann immer einen
impliziert
mit AO verträglichen selbstadjungierten Operator BO ¤ AO gibt.
dn 1
h 0j .t/ij tD0 D h O
0j H
n
j 0i : (24.22)
dtn .i„/n
Ist der Zustand nach Messung von AO nicht eindeutig bestimmt,
dann messen wir in einem zweiten Schritt eine mit AO verträg- Überzeugen Sie sich mithilfe der Schrödinger-Gleichung
liche Observable BO ¤ A. O Finden wir dabei den Eigenwert bn ,
von diesen Beziehungen.
dann liegt der Zustandsvektor nach der zweiten Messung im Un-
terraum PO bn PO am H D PO am PO bn H von H . Wir haben hier davon Benutzt man die Taylor-Koeffizienten (24.22) in (24.21)
Gebrauch gemacht, dass die Spektralprojektoren von zwei kom- und berücksichtigt, dass die Erwartungswerte der hermi-
mutierenden Operatoren vertauschen da, wie aus der linearen teschen Operatoren HO n reell sind, dann folgt
Algebra und Abschn. 23.2 bekannt ist, kommutierende Opera-
toren dieselbe Eigenbasis besitzen. O 2 C O. 3 / ;
p0 ./ D 1   2 .H/ (24.23)
Achtung Für nichtverträgliche AO und BO ist im Allgemeinen wobei das Schwankungsquadrat der Energie im Anfangs-
PO bn PO am H ¤ PO am PO bn H , und bei der Messung von BO geht die zustand auftritt:
bei der Messung von AO gewonnene Information teilweise oder
O 2Dh
.H/ O
0j H
2
j 0i h O
0j H j 0i
2
:
vollständig verloren. Bei einer anschließenden Messung von AO (24.24)
werden wir oft am nicht mehr finden. J
24.2 Unbestimmtheitsrelationen 803

Frage 5
Bei einer Messung der Observablen AO zum Zeitpunkt Zeigen Sie die letzte Gleichung in (24.28). Benutzen Sie dazu
 findet man mit Wahrscheinlichkeit p0 ./ den Eigen- die Beziehung (24.27).
wert a0 , und gemäß der Kopenhagener Interpretation
kollabiert dabei der Zustand j .t/i zu diesem Zeitpunkt
O also den
augenblicklich in den Eigenzustand j 0 i von A, Die Unschärfe verschwindet genau dann, wenn
Ausgangszustand. Nach der Messung wird die Zeitent-
wicklung dann wieder mit dem detektierten Zustand j 0 i ˝ ˛
AO jAO D 0 (24.29)
von vorn beginnen. Bei einer weiteren Messung von AO
zum späteren Zeitpunkt 2 kollabiert dann der Zustand
wieder mit derselben Wahrscheinlichkeit in den Anfangs- gilt, was gleichbedeutend mit AO j i D 0 ist.
zustand. Wir wiederholen den Messprozess nun n-mal,
sodass die Wahrscheinlichkeit, das System nach der n’ten
Messung zum Zeitpunkt t D n immer noch im Anfangs- Scharfe Observable
zustand zu finden, durch
Die Observable AO ist im Zustand j i genau dann scharf,
 n wenn j i ein Eigenvektor von AO ist, d. h. wenn gilt:
p0 .t/ D pn0 ./ O 2
1   2 .H/ O 2
1  t .H/
(24.25) AO j i D a j i ; O :
a D hAi (24.30)
gegeben ist. Dieser Ausdruck zeigt, dass die Wahrschein-
lichkeit nicht mehr quadratisch mit der Zeit t abfällt,
sondern linear. Machen wir eine sehr große Anzahl von
Es seien nun AO und BO zwei nicht notwendigerweise verträgliche

Teil III
Messungen in einem gegebenen Zeitintervall t, dann
Observablen. Wir werden für das Produkt ihrer Schwankungs-
lim p0 .t/ D lim Œp0 .t=n/n 7! 1 : (24.26) quadrate
n!1 n!1
O 2 j i h j .B/
h j .A/ O 2j i (24.31)
Dies bedeutet, dass für eine große Anzahl von Messun-
gen der anfänglich präparierte Zustand für eine gewisse eine untere Schranke gewinnen. Dazu führen wir einen Hilfs-
Zeit eingefroren bleibt. Bei der Beobachtung des Zer- operator und seinen adjungierten Operator
falls von kalten instabilen Natriumatomen, gefangen in
einer stehenden Lichtwelle, wurde der Quanten-Zeno-Ef- O ˛ D AO C i˛BO ; O ˛ D AO  i˛BO
Q Q (24.32)
fekt beobachtet. Man sah, dass für eine gewisse Zeit der
Zerfall nicht einem exponentiellen Gesetz gehorcht (Fi-
scher et al. 2001). J ein, die von dem reellen Parameter ˛ abhängen. Für jeden Wert
des Parameters gilt

O ˛ Q
h jQ O ˛ j i D kQ
O ˛ k2  0 : (24.33)

24.2 Unbestimmtheitsrelationen O ˛ j i D 0 gelten. Offen-


Das Gleichheitszeichen kann nur für Q
O B
bar ist ŒA; O B,
O D ŒA; O und somit gilt
Offensichtlich ist eine Observable in einem Zustand des Quan-
tensystems umso schärfer bestimmt, je weniger die Messre- O ˛ Q
Q O ˛ D .A/
O 2 C ˛ 2 .B/ O B
O 2 C i˛ŒA; O : (24.34)
sultate um ihren Mittelwert hAi O D h j AO j i streuen. D

Das könnte Ihnen auch gefallen