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Gesundheit und

Gesellschaft
Das AOK-Forum für Politik,
Praxis und Wissenschaft
Spezial Ausgabe 11/2023

Kraftakt für
die Pflege
Personal sichern
Inhalt

Start Förderprogramm 360° Pflege Advanced Practice Nursing

3 Grußwort von 14 Die Mischung macht’s 21 Eigenverantwortliches


Christine Vogler Arbeiten macht den
Fachkräftezuwanderung Pflegeberuf attraktiver
Überblick
16 Anwerben mit Augenmaß
4 Mit kleinen Schritten Statements
Ausbildung in der Pflege 22 Was tun gegen den
Interview mit
Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey 17 Besser, aber noch Fachkräftemangel in der
9 „Die Aufgaben neu nicht gut Pflege?
verteilen“ Arbeitsmarkt- und Interview mit
Pflegeforschung Prof. Dr. Uta Gaidys
Reportage
18 Das große Ganze 24 „Wir brauchen Pflegen­
10 Pflege hat Zukunft
im Blick de, die Pflege evidenz­
Personalbemessung basiert gestalten“
Community Health Nursing
13 Selbstbewusst pflegen
20 Mehr Kompetenzen für
die Pflege

AOK-Bundesverband (Hrsg.) dbfk.de


Lese- und Gut abgestimmt Portal des Deutschen Berufsver-
Interdisziplinäre Teams in
Webtipps der Versorgung.
bandes für Pflegeberufe.
Unter → Veröffentlichungen →
G+G-Spezial, 03/2018
Downloads finden Sie die
Literatur
Broschüre „Community Health
Internet
N. Szepan, M. Evans Nursing – Aufgaben und Praxis­
Über den Applaus hinaus aok.de/pp profile“
In: Gesundheit und Gesellschaft Portal der AOK-Gemeinschaft. Unter
dip.de
04/2023, Seite 32–37. Auch im → Unsere Agenda → Qualität in der
Pflege sowie → Gesundheitspolitik → Website des Deutschen Instituts
G+G-Archiv zu finden unter
Hintergründe → Pflege finden sich für angewandte Pflegeforschung
gg-digital.de
vielfältige Informationen rund um e. V. (DIP). Unter → Projekte DIP-
M. Ebbinghaus die soziale Pflegeversicherung. Institut → abgeschlossene Projekte
Pflege? Damit kann ich mich finden Sie die wissenschaftliche
(nicht) sehen lassen www.aok.de/gp/
Das Fachportal der AOK für Begleitreflexion des Förderpro-
In: BIBB-Report 1/2022, Bonn
Beschäftigte im Gesundheitswesen gramms „360° Pflege – Qualifika-
Bundesministerium für Familie, bietet im Bereich → Pflege vielfältige tionsmix für Patient:innen – in der
Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) Fachinformationen rund um die Praxis“
Zweiter Bericht zur Ausbildungs­ ambulante und stationäre Pflege.
offensive Pflege (2019–2023) hwa-online.de
Berlin, 2022 bundesgesundheitsministerium.de Infos zum Projekt „Es ist unsere
Die Fortschritte im Rahmen der Pflege!“ zur Personalbemessung
AOK-Bundesverband (Hrsg.) Konzertierten Aktion Pflege
stellt die Hans-Weinberger-
Der Weg ist das Ziel dokumentiert das Bundesgesund-
Akademie der AWO unter dem
Für mehr Pflegeverständnis heitsministerium unter → Service →
Titelfoto: iStock.com/RichVintage

in der Praxis Begriffe von A–Z → K → Konzertierte Stichpunkt → Forschung bereit.


G+G-Spezial, 03/2022 Aktion Pflege

Spezial ist eine Verlagsbeilage von G+G


Impressum: Gesundheit und Gesellschaft, Rosenthaler Straße 31, 10178 Berlin. G+G erscheint im KomPart-Verlag (kompart.de).
Redaktion: Otmar Müller, Silke Heller-Jung, Bernhard Hoffmann (verantwortlich) | Creative Director: Martin Geiger
Grafik: Geertje Steglich | Herausgeber: Abteilung Pflege des AOK-Bundesverbandes | Stand: Oktober 2023 | 23-0485

2 G+G Spezial · Ausgabe 11/2023


Start

Mut und
Verantwortung
Der Fachkräftemangel in der Pflege spitzt sich
immer weiter zu. Jetzt muss unverzüglich
gehandelt werden, mahnt Christine Vogler.

D ie Fachkräftesicherung in der Pflege entschei-


­det darüber, wie der Zusammenhalt unserer
Gesellschaft und damit unserer Demokratie
tens müssen durchlässige und bundesweit gültige
Pflegebildungsstrukturen geschaffen werden.
Die Zahlen zum Pflegenotstand sprechen
gelingt. Kommt die Botschaft bisher bei allen an? bereits heute eine verzweifelte Sprache. Wer jetzt
Nein, das tut sie nicht! Denn überwiegend beschäf- noch seitens der Politik, der Kassen und Sozialhilfe-
tigen wir uns mit der Pflege dann, wenn wir davon träger zaudert, denkt, am Status quo festhalten zu
persönlich betroffen sind. Wir erkennen die umfas- können, oder es mit schönen Worten probiert, der
sende Bedeutung von pflegerischer Versorgung erst hat die Zeichen nicht erkannt. Und er verkennt
dann, wenn es darum geht, beispielsweise für seine eigene Verantwortung für unsere Gesell-
unsere Angehörigen Pflegeleistungen zu organi- schaft und unser Land!
sieren – und in keinem Pflegeheim ein Platz frei ist Die Profession Pflege gibt den Rhythmus vor. Sie
oder der Pflegedienst keine neuen Kunden mehr benötigt einen Aufbruch, der weit über das hinaus-
aufnehmen kann, weil es bereits heute zu wenig geht, was wir uns heute vorstellen können. Das
Pflegende gibt. Die dann eintretende Bestürzung Zeitfenster zur Sicherung der pflegerischen Versor-
hinterlässt tiefe Spuren und Verzweiflung. Unsere gung ist kleiner geworden. Mit Mut und Kraft
Haltung und unsere Handlungen zum Thema müssen gemeinsam die richtigen Schritte
Pflege müssen sich sofort entscheidend ändern. gegangen werden!
Der Frage nachzugehen, was zu tun ist, damit
die pflegerische Versorgung gesichert ist, heißt,
alle Maßnahmen auf die beruflich Pflegenden wie
auch auf die Pflege durch Angehörige auszurichten,
und drittens auf die frühzeitige Prävention.
Mit Blick auf die Profession wiederholen wir seit Christine Vogler
Jahren vier Forderungen. Benötigt werden erstens Präsidentin des Deutschen
bessere Arbeitsbedingungen. Hierzu gehören die Pflegerats e. V. (DPR)
Personalausstattung und die Lohnsituation wie
auch eine bessere Organisation, Kommunikation
und Führung in den Unternehmen. Zweitens benö-
tigt die Profession Pflege Selbstverwaltungsstruk- „Unsere Haltung und unsere
Handlungen zum Thema
Foto: Christine Vogler

turen im Bund und in den Ländern. Hier gilt es, in


allen Ländern Pflegekammern aufzubauen. Drit-
tens geht es um die selbstständige Ausübung von
Pflege müssen sich sofort
Heilkunde und damit die Ermöglichung, endlich entscheidend ändern.“
unseren Beruf souverän ausüben zu können. Vier-

G+G Spezial · Ausgabe 11/2023 3


Überblick

Mit kleinen Schritten


Fachkräfte sichern und so eine qualifizierte Pflege ermöglichen – das
wird eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen der
kommenden Jahre. Politik und Praxis müssen dafür neue Konzepte
entwickeln und an vielen Stellschrauben nachjustieren.
Text: Nadine-Michèle Szepan und Yvonne Ehmen

B
erichte über akuten Per- tur für Arbeit im Mai 2023: Ihr Be- me der Anzahl von Menschen mit
sonalmangel in Pfle- richt zur Arbeitsmarktsituation Pflege- und Unterstützungsbedarf.
geeinrichtungen, die im Pflegebereich zeigt, dass in der Gleichzeitig wird das Erwerbsper-
Nichteinhaltung der Per- Langzeitpflege derzeit über 17.000 sonenpotenzial abnehmen, wo-
sonalschlüssel und dar- und in der akutstationären Pflege durch sich das Konkurrieren um
aus resultierende Belegungs- und über 14.000 Pflegefachpersonen Fachkräfte branchenübergreifend
Versorgungsstopps, die Schließung fehlen. verschärft. Aktuell weisen bereits
von Stationen sowie lange Wartelis- Eine Entspannung ist mit Blick 200 Berufe in Deutschland Anzei-
ten zur Aufnahme pflegebedürftiger auf die Bevölkerungsentwicklung chen eines Engpasses auf. Alle Pro-
Menschen unterstreichen deutlich, in Deutschland weder mittel- noch gnosen deuten darauf hin, dass es
dass es einen Fachkräfte-Engpass langfristig erwartbar. Im Gegen- auch künftig kein ausreichendes
bereits gibt. Einen weiteren Beleg teil: Der demografische Wandel Pflegepersonal geben wird, um den
dafür liefert auch die Bundesagen- führt zu einer deutlichen Zunah- Versorgungsbedarf abzudecken:

Foto: iStock.com/nes

Keine guten Aussichten: Es wird immer schwieriger, Nachwuchs für die Pflege zu gewinnen und zu halten.

4 G+G Spezial · Ausgabe 11/2023


Überblick

Für 2030 wird bereits eine Perso- 2018 haben drei Bundesministe- sundheitsberuf wieder attraktiver
nallücke von 186.000 Vollzeitkräf- rien (Gesundheit, Arbeit, Familie) zu machen. Das zentrale Augen-
ten erwartet. Mit dem Ausscheiden zu Beginn der damaligen Legisla- merk der KAP liegt auf der Langzeit-
der sogenannten Babyboomer aus turperiode gemeinsam die Konzer- pflege und verfolgt Strategien zur
dem aktiven Arbeitsleben bis 2035 tierte Aktion Pflege (KAP) ins Le- Gewinnung von Auszubildenden,
wird mit einer Personallücke von ben gerufen. Damit verbunden war zur Stärkung von Aus-, Fort- und
bis zu 307.000 qualifizierten Pflege- das Versprechen an das Pflegeper- Weiterbildung, zur Vermeidung von
personen gerechnet. Folglich wird sonal, verbindliche Ziele und kon- Berufsflucht, zum Wiedereinstieg in
es für pflegebedürftige Menschen krete Maßnahmen zu vereinbaren, den Beruf und zur Gewinnung von
und ihre Angehörigen zunehmend um die Arbeitsbedingungen in der Pflegefachpersonen aus dem Aus-
schwieriger, die notwendige pflege- Pflege spürbar zu verbessern. Ziel land. Ferner wurden Strategien zur
rische Unterstützung zuverlässig in der Maßnahmen sollte es sein, die flächendeckenden Entlohnung in
Anspruch nehmen zu können. Pflege als selbstverantworteten Ge- der Altenpflege nach Tarif verfolgt
und Impulse gesetzt, um innovative
Versorgungsansätze mit erweiterten
Handlungsautonomien von Pflege-
Auf den Punkt gebracht fachpersonen voranzutreiben.

„Die Pflege braucht eine Erste Anfangserfolge


eigenständigere Rolle“ Weder der Gesetzgeber noch die
Dr. Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende gemeinsame und soziale Selbst-
des AOK-Bundesverbandes verwaltung auf Bundes- und Lan-
desebene haben die Hände in den
Die Pflege leidet unter einem ellen Kompetenzen der Pflege
Schoß gelegt. Zahlreiche Vereinba-
akuten Fachkräftemangel. Wie zielgerichteter einsetzen. Weil rungen aus der KAP wurden umge-
lässt sich die Pflege für die Pflegende grundsätzlich interpro- setzt oder zumindest angestoßen;
Zukunft sicherstellen? fessionell arbeiten, ergibt sich der Umsetzungsstand ist transpa-
Die Zukunft der Pflege muss ein daraus auch die Chance für einen
rent in zwei Monitoringberichten
Mix aus innovativer Pflege-Leis- niedrigschwelligen Zugang zu
tungserbringung und Prävention anderen Versorgungsbereichen.
der Bundesregierung dokumentiert
von Pflegebedürftigkeit sein. Um Die Pflegeprofession muss zum worden. Neuen Zahlen der Bun-
dem Fachkräftemangel zu selbstverständlichen Bestandteil desagentur zufolge zeigen die An-
begegnen, müssen sich die lokaler Versorgungs- und Koopera- strengungen auch Früchte. So ist
Gesundheitsberufe verändern. Sie tionsstrukturen werden.
die Beschäftigung von Pflegefach-
müssen bereit sein, Aufgaben Die Pflegeversicherung setzt auf
umzuverteilen und interprofessio- die Pflegebereitschaft des
und Pflegeassistenzpersonen vor
nell zusammen zuarbeiten. Die familiären und nachbarschaft­ und auch noch zu Beginn der Co-
Diskussion über Kompetenzen von lichen Umfelds. Wie kann das vid-Pandemie mit einem Plus von
Pflegenden und auch über neue gelingen? elf Prozent (166.000 Beschäftigte)
Kooperationen ist nicht primär aus Ob ein Leben unter Bedingungen
stärker gewachsen als die Beschäf-
der Perspektive der Berufsgruppen von Pflegebedürftigkeit, insbeson-
zu führen, sondern konsequent aus dere in Pflegearrangements,
tigten insgesamt (sieben Prozent).
Sicht der Menschen mit einem gelingt, hängt im Wesentlichen Und auch die Erfolge zur Anwer-
Versorgungsbedarf. von den äußeren Bedingungen ab. bung von Pflegefachpersonen aus
Wie können Berufsbilder in der Die familiäre und gesellschaftliche dem Ausland, etwa im Rahmen
Pflege effizient für die Versorgung Pflege- und Unterstützungsbereit-
von Triple Win oder sonstiger Mi­
eingesetzt werden? schaft sind dabei unverzichtbare
Der bisherige Weg, der Gesund- Bausteine. Wir benötigen dafür
gration, sind durch weiterhin spür-
heitsfachprofession Pflege eine sozialräumliche Strukturen, die bar wachsende Ausländeranteile
eigenständigere Rolle in der eine Vernetzung von familiärer belegt. Auch die Bezahlung von
Versorgung einzuräumen, ist oder ehrenamtlicher Pflege und Gehältern in der Pflege auf Tarif-
richtig. Wir müssen die individu- der Pflegeprofession ermöglichen.
niveau resultierte aus den Maßnah-
men der KAP. 

G+G Spezial · Ausgabe 11/2023 5


Überblick

Der Druck steigt


Die wichtigsten Zahlen und Fakten zum Thema machen deutlich,
wie groß der Fachkräftemangel in der Pflege schon ist und wie er
sich weiterentwickeln wird.

Weniger neue Auszubildende Gründe für unbesetzte


Auszubildende, die eine Ausbildung zur Ausbildungsstellen in der Pflege
Pflegefachperson gestartet haben

Angaben in %
56.300
53.610 80,1 80,1
52.300 Neuverträge 73,2
69,9
65,3

50,5
45,2
– 7%
Quelle: destatis

zum Vorjahr 29,6


23,8

Quelle: BIBB
2020 2021 2022
Krankenhaus Ambulante Stationäre
Pflege Pflege

zu wenig Bewerbende
Entwicklung des Fachkräftemangels Bewerbende ungeeignet
So viele Pflegefachpersonen fehlen heute und in Zukunft Bewerbende vor Ausbildungsbeginn abgesprungen

307.000
Quelle: Bundesagentur für Arbeit

Schätzung

186.000
Schätzung
Menschen, die in
Pflegeeinrichtungen arbeiten
31.000

2023 2030 2035


1,25 Millionen
1,15

Steigender Bedarf
+ 9%
Zunahme an Menschen mit einem Pflegebedarf
zum Vorjahr
6,3
Quelle: destatis

4,96

4,13

Millionen Pflegebedürftige 3,14 2017 2021


2,86
2,5 2,63
2,25 2,34
2,02 2,04 2,08 2,13
Abbildungen: AOK
Quelle: destatis

Die Zahl der Menschen, die in Pflegeeinrich-


1999 2003 2007 2011 2015 2019 ……… 2035 tungen arbeiten, ist zwischen 2017 und 2021
um neun Prozent angestiegen. Im gleichen
Zeitraum stieg die Zahl der Pflegebedürftigen
Immer mehr Menschen sind in Deutschland im Zuge der Alterung der
(siehe Grafik links) allerdings um 21 Prozent.
Gesellschaft von Pflegebedürftigkeit betroffen.

6 G+G Spezial · Ausgabe 11/2023


Überblick

Die hierzu im Sommer 2021 eta­ Das große Maßnahmenbündel, mit möglichkeiten und die daraus resul-
blierte gesetzliche Verpflichtung für dem sich die Rahmenbedingungen tierenden Berufsbilder in der Pflege
Pflegeeinrichtungen, ihr Pflegeper- verbessern lassen, setzen Politik für die Versorgung haben.
sonal mindestens auf Tarifniveau und Akteure in der Pflege weiter-
zu bezahlen, haben die Gehälter in hin engagiert um. Jede Stellschrau-
Personalintensive Strukturen
der Altenpflege sprunghaft anstei- be, und sei sie noch so klein, ist ein
gen lassen, knapp sieben Prozent wichtiger Beitrag für eine lang- Eine zentrale Frage bleibt aber bis-
im April 2022 gegenüber 2021, nach- fristige Fachkräftesicherung. Stol- lang unbeantwortet: Was, wenn
dem die Gehälter im Zeitraum 2010 persteine auf diesem Weg müssen die Fachkräftesicherungsstrate-
bis 2020 schon um mehr als 30 Pro- möglichst schnell beseitigt werden. gie nicht aufgeht? Wer pflegt uns
zent gestiegen waren. Sie liegen da- dann? Werden wir uns weiterhin
mit zwar über der Lohnentwicklung die heutigen tradierten personal-
Mehr Verantwortung
von Beschäftigten mit vergleichba- intensiven Versorgungsstrukturen
rer Qualifikation in der Gesamt- So gibt es etwa nach wie vor viele im bisherigen Umfang leisten kön-
wirtschaft, aber das in der letzten Vorbehalte von unterschiedlichen nen? Wie kann der Anspruch von
Legislatur verfolgte Ziel einer flä- Seiten, der Pflege mehr Verantwor- hilfe- und pflegebedürftigen Men-
chendeckenden Tarifbindung in tung zu übertragen. Zudem haben schen auf fachpflegerische Beglei-
der Pflege bleibt bisher verfehlt. viele Akteure und Meinungsbildner tung realisiert werden? Und vor
Allerdings haben die ersten Er- ein divergierendes Verständnis zu allem mit Augenmerk auf zentra-
folge zum Beschäftigungsaufbau in bestimmten Pflege-Berufsbildern, le Strategien zur Gesunderhaltung
der Bevölkerung und damit auch

„Die ersten Erfolge zum


zur Vermeidung von Pflegebedürf-
tigkeit: Wie können pflegerische
Handlungsfelder der Gesundheits-

Beschäftigungsaufbau in förderung und Prävention geziel-


ter genutzt werden, um positiven

der Pflege haben seit Einfluss auf die Inzidenz, also die
Häufigkeit von Pflegebedürftigkeit,

Anfang 2022 spürbar an zu nehmen und damit den pflegeri-


schen Bedarf zu reduzieren? In wel-

Dynamik verloren.“
cher Form leisten innovative Ver-
sorgungsformen einen Beitrag zum
effizienten Einsatz von Pflege, aber
auch zu den Arbeitsbedingungen
der Pflege seit Anfang 2022 spürbar so zum Beispiel bei der Community von Pflegepersonal? Wie kann der
an Dynamik verloren. Insbesonde- Health Nurse, bei der es sich eben Bewusstseinswandel auch bei der
re ist die Zahl der neu abgeschlos- nicht um eine „weitergebildete Ge- Profession Pflege geschafft werden
senen Ausbildungsverträge für die meindeschwester“ handelt (siehe – dass sie sich auf ihre Kernaufga-
generalistische Ausbildung zur dazu auch den Beitrag auf Seite 20). ben konzentriert und die Verant-
Pflegefachperson zuletzt um sieben Hier empfiehlt es sich dringend, wortung für den personzentrier-
Prozent gesunken. Ob die Ursachen Klarheit zu schaffen und die kom- ten Pflegeprozess übernimmt? Wie
in der Pandemie begründet liegen plexe Bildungsarchitektur in der müssen die Rollen von Pflegefach-
und inwieweit sie einen nachhalti- Pflege neu zu ordnen. personen nicht nur im Zusammen-
gen Effekt auf die Attraktivität des Einige Maßnahmen und Ideen spiel mit anderen Gesundheitspro-
Pflegeberufes haben, gilt es noch aus der Pflegepraxis, der Wissen- fessionen, sondern auch innerhalb
zu analysieren. Aber es verdeut- schaft und der Politik werden in der Pflege im Verhältnis zum Assis-
licht, dass die bisher realisierten diesem G+G Spezial beleuchtet. Ein tenzpersonal und zu weiteren an
Maßnahmen der KAP nicht ausrei- besonderes Augenmerk richten wir der Versorgung Beteiligten modern
chen, um langfristige, krisenstabile dabei darauf, welche Potenziale die beschrieben werden? Das sind zen-
Beschäftigungseffekte zu erzielen. unterschiedlichen Ausbildungs- trale Fragestellungen, an deren

G+G Spezial · Ausgabe 11/2023 7


Überblick

Zielstellungen sich die strategi- Mit dem ganzheitlichen ressourcen- rung des Pflegebedürftigkeitsbegrif-
schen Weiterentwicklungen des orientierten Pflegeverständnis geht fes noch kein Standard.
Sozialrechts und des Berufsrechts ein Perspektivwechsel einher, der Die Umsetzung der Vorbehalts-
zu orientieren haben. sich von einer allein defizitbezo- aufgabe, also die Gestaltung und
genen Sicht auf den zu pflegenden Steuerung des Pflegeprozesses durch
Menschen abwendet und stärker Pflegefachpersonen, sorgt sogar in-
Neues Pflegeverständnis
eine ressourcenorientierte Sichtwei- nerhalb der Berufsgruppe für Unsi-
Zwei zentrale Reformen der Vergan- se betont. Das bedeutet, dass pflege- cherheit und löst auch hier Wünsche
genheit haben die Handlungsauto- rische Aufgaben und Maßnahmen von Pflegefachpersonen aus, einzel-
nomie von Pflegefachpersonen in den stets personen- und situationsorien- ne Pflegehandlungen eindeutig und
Mittelpunkt gesetzt und damit die tiert gestaltet werden müssen. Sie rechtssicher als Vorbehaltsaufgabe
Weichen für eine zukunftsfeste Leis- sollten das Ziel verfolgen, Fähigkei- aufzulisten und von anderen nicht
tungsfähigkeit des Systems gestellt: ten zu fördern, bei herausfordern- vorbehaltenen Aufgaben abzugren-
das mit dem „neuen Pflegebedürftig- dem Verhalten zu unterstützen, zen. Hier wird es auch eine große
keitsbegriff“ etablierte ganzheitliche die Selbstpflege und Pflegekompe- Herausforderung sein, einen Wandel
personzentrierte und ressourcen- tenz von pflegenden Angehörigen von kleinteiligen Tätigkeitsfixierun-
orientierte Pflegeverständnis (2017) zu fördern und Prävention bei Pfle- gen hin zu Verantwortungsübernah-
und die mit dem Pflegeberufegesetz gebedürftigkeit oder auch Eduka- me personzentrierter Pflegeprozesse
(2020) eingeführte Vorbehaltsaufga- tionsprogramme aufzulegen. In der auszulösen.
be, also die alleinige Verantwortung Pflegepraxis ist aber diese Neuaus- Mit der Roadmap der KAP zur
der Pflegefachperson für die Pflege- richtung pflegerischen Handelns weiteren Umsetzung des Pflegebe-
prozesssteuerung. auch im siebten Jahr nach Einfüh- dürftigkeitsbegriffes in der Praxis ist
ein Handlungsleitfaden für die rele-
vanten Akteure gegeben. Die Dis-
kussion innerhalb der Pflegeberufe
Gesundheitspolitik zur Umsetzung der Vorbehaltsauf-
gaben hat erst begonnen. Wichtig
„Gute Ausbildung, bleibt, dass der gesetzliche Rahmen
attraktive und auch die untergesetzlichen
Normen sowie jegliche Weiterent-
Arbeitsbedingungen“ wicklungen diesen mühsamen, aber
Karl-Josef Laumann ist Gesundheitsminister notwendigen Weg gehen und nicht
in Nordrhein-Westfalen. konterkarieren. Dazu gehört auch,
im Rahmen der Umsetzung der Pfle-
Die Fachkräftesicherung in der der Fachkräfteoffensive NRW. Die
Pflege ist eine große Herausforde- nordrhein-westfälische Landes- gepersonalbemessungssysteme –
rung. Klar ist: Die Schulabgänge- regierung hat deshalb die sowohl für die Langzeitpflege wie
rinnen und -abgänger müssen für Pflegeausbildung bereits auch für das Krankenhaus – die
den Pflegeberuf begeistert umfassend gestärkt und in den Komplexität der individuellen pfle-
werden. Dafür müssen die vergangenen Jahren den Kapazi-
gerischen Situationen zur Grundla-
Attraktivität der Pflegeausbil- tätsausbau sowie die Modernisie-
dung sowie die vielfältigen und rung der Schulen des Gesund- ge des Mitarbeitereinsatzes zu ma-
verantwortungsvollen Tätigkeits- heitswesens mit insgesamt 350 chen und die Entscheidung darüber
felder in der Pflege noch sicht- Millionen Euro gefördert. Die den Pflegefachpersonen im Rahmen
Foto: Land NRW/Ralph Sondermann

barer werden. Nur mit einer Einführung der generalistischen der ihnen vorbehaltenen Aufgaben
starken Ausbildung und attrak- Ausbildung hat die Attraktivität
zu überlassen. Es bleibt also noch
tiven Arbeitsbedingungen kann der Pflegeausbildung zusätzlich
die Zukunft der Pflege gesichert gesteigert und die Durchlässigkeit viel zu tun. 
werden. Darüber sind wir uns in der Ausbildungswege – von der
der Gesundheitsministerkonferenz generalistischen Pflegefachassis-
Nadine-Michèle Szepan leitet die Pfle-
einig und dieses Ziel verfolgen wir tenz bis zur akademisch ausgebil-
geabteilung im AOK-Bundesverband,
in Nordrhein-Westfalen auch mit deten Pflegefachkraft – erhöht.
Yvonne Ehmen ist Referatsleiterin in
dieser Abteilung.

8 G+G Spezial · Ausgabe 11/2023


Interview

„Die Aufgaben neu verteilen“


Der Umstieg auf die generalisierte Pflege erfordert auch eine Weiterentwicklung
der Fort- und Weiterbildung, findet Adelheid Kuhlmey. Dies sei eine wichtige
Voraussetzung für eine gelingende interprofessionelle Zusammenarbeit.

Wo liegen eigentlich die Interprofessionelles Arbeiten ist


Reibungspunkte in der interpro­ kein Selbstläufer – brauchen wir
fessionellen Zusammenarbeit die interprofessionelle Ausbil­
von Medizin und Pflege? dung?
Adelheid Kuhlmey: Ein zentrales Ja, wir müssen die Ausbildungen
Problem ist, dass die verschie- in den Gesundheitsberufen
denen Professionen vorrangig konsequent interprofessionell
jeweils ihre eigenen Aufgaben ausrichten. Wir brauchen dabei
und Abläufe abarbeiten und es einerseits klare Berufs- bezie-
kein gemeinsames Ziel gibt, bei hungsweise Professionenbilder
dem die verschiedenen Schritte „Wir müssen die und müssen andererseits
koordiniert ineinandergreifen. Fortbildungen Schnittflächen definieren, wo
Unser Gesundheitssystem weist zum Beispiel Pflegestudierende
neu regeln.“
teilweise immer noch Professio- und angehende Ärztinnen und
nenbilder und eine Arbeitsteilung Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey Ärzte gemeinsame Module in der
ist Direktorin des Instituts für
auf, die aus dem ausgehenden Ausbildung haben. Wir brauchen
Medizinische Soziologie und
19. Jahrhundert stammen. Wir Rehabilitationswissenschaft an möglichst schnell Klarheit, wie
müssen ganz grundlegend die der Charité Berlin. genau eine interprofessionelle
Aufgaben zwischen den verschie- Ausbildung aussehen könnte und
denen Professionen neu verteilen. wie man dafür die Curricula
Zudem müssen Fort- und Weiter- einzelner Gesundheitsberufe
Wie gelingt eine gute Interpro­ bildungen in der Pflege neu anpassen müsste.
fessionalität auf Augenhöhe? geregelt werden.
Wir müssen damit schon in der Wer könnte dabei die Steuerung
Ausbildung ansetzen, etwa indem Was konkret sollte sich ändern? übernehmen?
wir das Wissen über die Kompe- Wenn man generalisiert Eine zentrale Verantwortung
tenzen anderer Gesundheitsbe- ausbilden will – und ich halte das kann ich mir nicht vorstellen. Alle
rufe erhöhen und gemeinsame für eine wichtige Weiterentwick- Ausbildenden in den Gesund-
Ausbildungsinhalte schaffen. In lung in der Pflegeausbildung –, heitsberufen und die entspre-
der Pflege brauchen wir einen muss auch die Fort- und Weiter- chenden Berufsverbände sind
konsequenten Ausbau der Akade- bildung entsprechend weiterent- hier gemeinsam in der Verant-
misierung. Wir haben eine Quote wickelt werden. Bei einer Subspe- wortung. Wir brauchen einen
von zwei Prozent der Pflegefach- zialisierung durch Fortbildung Aushandlungsprozess, an dem
personen mit akademischer sollte ganz klar geregelt sein, alle Player beteiligt sind und in
Ausbildung, das muss mehr wie damit bestimmte Titel dessen Verlauf der arbeitsteilige
werden. Vor allem aber benötigen erworben werden können, welche Prozess in der Gesundheitsver-
wir klar geregelte Rahmenbedin- zusätzlichen Tätigkeiten im Beruf sorgung gemeinsam völlig neu
gungen, welche Aufgaben diese anschließend mit diesen Titeln gestaltet wird.
Foto: Charité

Pflegefachpersonen übernehmen übernommen werden dürfen und


sollen und welche Auswirkung wie sich das im Gehalt wider-
das Studium auf ihr Gehalt hat. spiegelt. Interview: Otmar Müller

G+G Spezial · Ausgabe 11/2023 9


Reportage

Pflege hat Zukunft


Bundesweit mangelt es an Pflegepersonal. Die Evangelische
Heimstiftung Baden-Württemberg geht bei der Suche nach Lösungen
neue Wege. Ein Hausbesuch von Isabell Stettin im Johanniterstift in
Plochingen bei Stuttgart.
Text: Isabell Stettin Fotos: Verena Müller

D
iellza Destani beugt ein Konto mit ihnen. Für manche
sich zu der alten werden die Kollegen zur Ersatzfa-
Dame, die in einem milie in der Ferne. Doch Auszubil-
Sessel in einer Zeit- dende und Fachkräfte aus anderen
schrift blättert. Mit Ländern anzuziehen, so wie über
sanfter Stimme lädt sie sie zum das Programm des Diakonischen
Nachmittagskaffee ein, hilft ihr Werkes, ist nur ein Baustein, um
beim Aufstehen. „Der hier darf dem Pflegenotstand zu begegnen.
auch mit“, sagt Destani mit einem
Lächeln, setzt den Kuschelhund der
Lange Wartelisten
Frau auf ihren Rollator und führt
sie vorsichtig an den Tisch. Ihr Kol- Das Versorgungsangebot schrumpft
lege Leonard Bajrami schenkt Tee trotz steigender Nachfrage. Zu 96
ein und verteilt Kuchen. Prozent sind die Einrichtungen der
Hausdirektor Tobias Lechner legt im Evangelischen Heimstiftung ausge-
Arbeitsalltag großen Wert auf lastet, ein herausragender Schnitt.
Ankommen leicht gemacht
gegenseitigen Respekt, Empathie und Doch auch hier bleiben Betten leer,
Als Diellza Destani vor fünf Jahren Humor. weil Personal fehlt. „Verzweifelte
nach Deutschland kam und ihre Angehörige ablehnen zu müssen,
Ausbildung im Johanniterstift der Tobias Lechner besucht die Wohn- die auf der Suche nach einem Platz
Evangelischen Heimstiftung in Plo- gruppe, begrüßt die junge Frau sind, ist immer dramatisch“, sagt
chingen bei Stuttgart begann, war mit Handschlag. Der Hausdirek- Lechner. „Schließlich wollen wir
für die Pflegefachfrau vieles fremd. tor weiß, wie wichtig Zusammen- da sein, um pflegebedürftigen Men-
In ihrer Heimat im Kosovo hatte sie halt für die Mitarbeiterinnen und schen zu helfen.“ Die Wartelisten
in einer Klinik gearbeitet. Fachlich Mitarbeiter ist, Respekt, Empathie sind lang. Allein in Stuttgart fehlen
fühlte sie sich schnell sicher. „Doch und Humor. Er erinnert sich an den derzeit rund 1.500 Pflegeplätze.
mir fiel es schwer, den schwäbi- Tag, als Destani und die anderen Für das Pflegepersonal wiede-
schen Dialekt zu verstehen.“ Sie am Flughafen ankamen. Lechner rum bedeutet der Engpass, dass
lacht. „Die Unterstützung der ande- und die Ausbildungskoordinatorin es seinen Arbeitsplatz freier wäh-
ren hat mir ein gutes Gefühl gege- Claudia Hofmann nahmen sie in len kann. Viele entscheiden sich
ben.“ Diellza Destani streicht sich Empfang. Sie vermittelten bezahl- bewusst für die Heimstiftung. Mit
ein paar Locken aus dem Gesicht. bare Unterkünfte, halfen beim Ein- mehr als 170 Einrichtungen in ganz
„Ich fühle mich wohl hier, vor al- richten und Einleben, begleiteten Baden-Württemberg und 10.000
lem mit unserem Team.“ sie bei Behördengängen, eröffneten Beschäftigten ist sie das größte

10 G+G Spezial · Ausgabe 11/2023


Reportage

Pflegefachfrau Diellza Destani kam aus dem Kosovo nach


Schwaben. Ihr neuer Arbeitgeber und die Kolleginnen sorgten dafür,
dass sie sich schnell heimisch fühlte.

schees über die Pflege


aufräumen und zeigen,
dass es möglich ist,
Berivan Acikabac hat sich für eine
Karriere zu machen. Er
Ausbildung im Johanniterstift in
selbst hat sich als junger Mann bei Plochingen entschieden.
der Bundeswehr zum Pflegehelfer
ausbilden lassen, ist Sozialpädago-
ge und war lange selbst Heimleiter. Dafür brauchen wir zufriedene
Mitarbeitende. Damit erreichen
wir wirtschaftlichen Erfolg.“ Die
Zufriedene Beschäftigte
Beschäftigten geben ihm recht:
Die Bezahlung nach den kirchli- Rund 95 Prozent gaben in einer Be-
chen Arbeitsvertragsregelungen fragung an, dass sie sich gut aufge-
der Diakonie Deutschland mit Ein- hoben fühlen. Die Gesamtzufrie-
Dennis Kunberger fand bei der stiegsgehältern um die 3.500 Euro denheit liegt bei 80 Prozent, unter
Evangelischen Heimstiftung ist überdurchschnittlich. 2024 er- den 800 Auszubildenden sogar bei
interessante berufliche Perspektiven. höht die Leitung außerdem die Ge- 90 Prozent. „Ab dem nächsten Jahr
hälter für alle um 5,2 Prozent und bekommen wir 31 Urlaubstage“, er-
diakonische Pflegeunternehmen. zahlt eine Inflationsausgleichsprä- zählt Diellza Destani bei einer kur-
„Als gemeinnütziger Träger war mie von 3.000 Euro. zen Pause im Garten.
uns früh klar, dass es wichtiger ist, „Wir setzen den bundesweit mit Sonnenlicht flutet die Gänge
auf das Wohlbefinden unserer Be- am besten Personalschlüssel und des Johanniterstifts. Der denkmal-
schäftigten zu achten, als auf die eine hohe Fachkraftquote um“, sagt geschützte Altbau war einst ein
Rendite“, sagt Bernhard Schnei- Schneider. „Das führt dazu, dass Krankenhaus, das Gebäude wurde
der. Der Hauptgeschäftsführer der wir auch die höchsten Kosten, die aufwendig renoviert. Es gibt ein
Heimstiftung will die Pflege profes- höchsten Pflegesätze haben. Doch Café, einen Friseur und einen An-
sionell und menschlich gestalten wir sind damit erfolgreich, weil wir dachtsraum. Ehrenamtliche kom-
– zu fairen Bedingungen. Bereits dank gutem Personal gute Qualität men zum Singen, die Bewohner
2013 hat er eine Personalstrategie anbieten.“ Sein Dreiklang lautet: machen Gymnastik oder basteln,
entwickelt: Schneider will mit Kli- „Wir wollen zufriedene Kunden. Lesungen finden statt.

G+G Spezial · Ausgabe 11/2023 11


Reportage

Auf der Suche nach


Pflegefachpersonen geht die
Evangelische Heimstiftung
auch ungewöhnliche Wege und
setzt unter anderem auf
Mitarbeitergewinnung per
Brötchentüte.

Für Ausbildungskoordinatorin Claudia Hofmann ist die Pflege der


schönste Beruf der Welt.

Es ist ein lebendiger Ort, ein zu erfahren, auch das ge-


Arbeitsplatz, der Raum gibt zum hört für Hofmann dazu:
Wachsen. So wie Claudia Hofmann. „Gemeinsame Ausflüge
Sie trägt das Haar kurz – und ein und Geburtstagsgeschen-
herzliches Lachen auf den Lippen. ke sind schöne Zeichen,
„Kein Tag ist wie der andere“, sagt doch es geht auch um
Hofmann. „Für mich ist die Pfle- Anerkennung und Motivation im folgen. Darum findet die Heimstif-
ge der schönste Beruf der Welt.“ Arbeitsalltag“, sagt sie. „Toll finde tung kreative Wege, Aufmerksam-
Früher war sie Medizinisch-tech- ich, dass Kollegen eine Prämie be- keit zu schaffen – auch fernab von
nische Assistentin, 2011 begann kommen, wenn sie für jemanden Social Media. Durch Plochingen
sie als Quereinsteigerin ihre Pfle- einspringen.“ Dass der Einsatz ho- rollt ein Bus, der auf Karrierechan-
geausbildung – mit 42 Jahren. Als noriert, nicht als selbstverständlich cen bei der Heimstiftung verweist:
Mutter profitierte sie davon, bei der gesehen wird, ist für sie ein wichti- „Stell dir vor, dein Job ist der bewe-
Heimstiftung Teilzeit arbeiten zu ges Signal. gendste der Welt“. Auf Brötchentüt-
können. Heute leitet sie als Ausbil- Auch ihr Kollege Dennis Kun- chen in der Bäckerei locken Stellen-
dungskoordinatorin in Plochingen berger hat bei der Heimstiftung sei- angebote: „Steig ein in die gute
den Nachwuchs an und fördert an- nen Weg gemacht. Er kam als Zivi di- Pflege“. Immer wieder werben Mit-
dere auf ihrem Weg. rekt nach der Schule, entschied sich arbeitende neue Kolleginnen und
für eine Ausbildung und ein berufs- Kollegen. Dafür erhalten sie 300
begleitendes Studium in der Pfle- Euro „Finderlohn“. Es sind kleine
Individuelle Lösungen
ge. Heute vertritt er Tobias Lech- und große Ideen, viele Ansätze, die
Die Vereinbarkeit von Familie und ner als Hausdirektor und trägt bald die Heimstiftung erprobt. Nicht alle
Beruf gilt als ein wichtiger Schlüs- Verantwortung für ein anderes funktionieren – und nicht immer ist
sel gegen den Fachkräftemangel. Haus – mit 34 Jahren. Dass durch klar, was Wirkung zeigt. „Doch un-
Den einzelnen Menschen mit sei- den Wegfall des Wehr- und Zivil- abhängig davon, ob sich jemand
nen Bedürfnissen zu sehen und zu dienstes die meisten Heranwach- nun wegen der Bäckertüten bei uns
fördern, individuelle Lösungen zu senden kaum Berührungspunk- bewirbt: Wir erzeugen damit Reich-
finden, das ist ihr wichtig. Eltern te mit der Pflege haben, sieht er weite, schaffen Bewusstsein“, sagt
bekommen darum Hilfe bei der Su- als einen Grund, warum es immer Tobias Lechner. „Wer motiviert ist,
che nach Kita-Plätzen. Die Arbeits- schwerer wird, Nachwuchs zu fin- kann viel erreichen.“ Lechner glaubt
zeiten sind an die Öffnungszeiten den. „Wir müssen mehr junge Men- daran: Pflege hat Zukunft. 
der Kindergärten angepasst. schen erreichen, die einen sinnstif-
Oft sind es kleine Stellschrau- tenden Beruf suchen.“ Isabell Stettin ist freiberufliche Jour-
ben, die einen großen Unterschied In Zukunft gehen weit mehr nalistin und arbeitet in der Reporter-
machen. Wertschätzung im Alltag Pflegepersonen in Rente, als neue gemeinschaft Zeitenspiegel.

12 G+G Spezial · Ausgabe 11/2023


Personalbemessung

Selbstbewusst pflegen
Seit Juli 2023 gilt die neue Personalbemessung in der Langzeitpflege.
Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Bayern setzt dabei auf eine wertegeleitete
Personal- und Organisationsentwicklung.

Inflation, Personalmangel und Gesundheit und Pflege, seit De- Teams und die Bedarfe der Bewoh-
Imageprobleme sind nur einige zember 2022 drei Jahre lang neun nerinnen und Bewohner miteinan-
der vielschichtigen Herausforde- Pflegeeinrichtungen des AWO-Be- der in Einklang zu bringen. Mit den
rungen, mit denen Pflegeeinrich- zirksverbandes Ober- und Mittel- Teams wird in den Einrichtungen
tungen konfrontiert sind. Die neue franken und des AWO-Kreisver- das Gelingende im Pflegealltag er-
Personalbemessung erfordert zu- bandes München-Stadt auf ihrem mittelt und daraus resultierende
sätzliche Anstrengungen. Das So- Weg hin zu einer Organisation, in Kompetenzen abgeleitet.
zialgesetzbuch XI (§ 113c) sieht der Potenziale und das Gelingen-
vor, dass die Personalbemessungs- de im Mittelpunkt stehen und die
Kreative Lösungen
schlüssel für Assistenz-, Hilfskraft- Kompetenzen jedes Einzelnen be-
und Fachkraftpersonal in vollsta- rücksichtigt und sichtbar gemacht Daraus entwickelt sich ein neues
tionären Pflegeeinrichtungen ab werden. Ziel ist es, aufbauend auf Selbstbewusstsein, das sich auf die
Juli 2023 in den Pflegesatzverhand- den ermittelten Kompetenzen der Mitarbeitenden und die (Arbeits)-
lungen nicht mehr überschritten Mitarbeitenden und über eine rein Organisation auswirkt. Der Mangel
werden dürfen. Werden sie den- verrechnende Zuordnung zu den an ausgebildeter Pflegeassistenz,
noch überstiegen, ist dies mit ge- Qualifikationsniveaus hinaus eine der partielle Fortbildungsbedarf
eigneten Maßnahmen der Perso- qualitätsgeleitete Pflege mit einem der Pflegefachpersonen sowie der
nal- und Organisationsentwicklung selbstbewussten Pflegeteam zu er- notwendige Spagat zwischen Ar-
zu begründen. Solche Maßnahmen möglichen. beits-, Leistungserbringer- und
entwickelt die AWO Bayern derzeit Ordnungsrecht erfordern einen
in einem Projekt. kreativen Umgang mit den neuen
Kompetenzen gezielt nutzen
Vorgaben. Die Prozessbegleitung
Dieser Perspektivwechsel bildet die im Projekt und passgenaue Schu-
Die Stärken im Blick
Grundlage dafür, die Qualität der lungen helfen, den Pflegenden
Jahrzehntelang lag der Fokus vor Pflege, das Kompetenzprofil des neue Handlungsspielräume zu er-
allem auf den Defiziten der Pflege, öffnen. Ein regelmäßiger Erfah-
nicht auf ihren Stärken. Mit einer rungsaustausch auf Trägerebene,
solchen Sichtweise kann eine In-
novation, wie sie das neue Perso-
Passgenaue eine gesonderte Leitungsqualifika-
tion sowie eine enge Kommunika-
nalbemessungsverfahren verlangt, Schulungen eröffnen tion mit Heimaufsichten flankieren
kaum gelingen – so lautet die These den Pflegenden die Maßnahmen. Der neue Blick-

neue Handlungs­
des Projekts „Es ist unsere Pflege! winkel und die vertiefte Herange-
Maßnahmen der wertegeleiteten hensweise im Projekt zeigen einen
Personal- und Organisationsent- spielräume. Weg auf, die notwendigen Verände-
wicklung zur Umsetzung der Per- rungen gemeinsam mit den Pfle-
sonalbemessung nach § 113c SGB XI genden zu gestalten. 
in Pflegeeinrichtungen der AWO in
Bayern“. In dessen Rahmen beglei-
Illustration: AOK

tet die Hans-Weinberger-Akademie


Ulrike Weiß leitet die Abteilung
der AWO e. V., gefördert durch das Senioren & Pflege im AWO Bezirksver-
Bayerische Staatsministerium für band Ober- und Mittelfranken e. V.

G+G Spezial · Ausgabe 11/2023 13


Förderprogramm 360° Pflege

Die Mischung macht’s


Ein wissenschaftlich begleitetes Programm der Robert Bosch
Stiftung zeigt auf, wie beruflich und akademisch qualifiziertes
Pflegefachpersonal erfolgreich in der Praxis zusammenarbeiten kann.
Text: Frank Weidner und Christina Schubert

U
m den komplexen Versorgungspraxis herausgebildet Trotz anfänglicher Vorbehalte und
Versorgungsbedarfen und in der Erprobung bewährt. Für Sorgen in den bestehenden Pflege-
kranker und pflege- bachelorqualifizierte Pflegefach- teams gegenüber studierten Pfle-
bedürftiger Menschen personen handelt es sich um das genden haben sich im Laufe der
auch in Zukunft ge- Profil einer Pflegefachleitung, die Projekte überall Akzeptanz und gute
recht werden zu können, braucht auf Stationen und Wohnbereichen Kooperationen zum Wohle der zu
es vielfältige Kompetenzen in al- integriert ist und fachgebietsbreit versorgenden Menschen durchge-
len Versorgungssektoren – so auch wissenschaftsfundierte Aufgaben setzt. In den Evaluationen und Be-
die Kompetenzen von akademisch übernimmt. Beim Profil für Mas- wertungen zeigten sich zahlreiche
ausgebildeten Pflegefachpersonen. terqualifizierte handelt es sich um Belege für die Beiträge der AQP zur
Auch mit Blick auf die Fachkräfte- Pflegeexperten, die übergreifend Sicherung und Weiterentwicklung
sicherung ist es wichtig, die Viel- für Abteilungen oder zentral in der Versorgungsqualität, wie etwa
falt an vorhandenen Qualifikations- Einrichtungen eingesetzt werden, eine verstärkte Patienten- und Pfle-
niveaus gezielt in der Praxis einzu- um zu spezifischen Versorgungs- geprozessorientierung und bessere
setzen. Insbesondere der Einbezug fragen auf der Grundlage ihrer Ex- Kooperationen in den Teams. Die
von akademisch qualifizierten Pfle- pertise zu intervenieren. Dazu wer- neuen Berufsprofile bieten Perspek-
gefachpersonen (kurz AQP) findet den sie auch von Pflegenden und tiven für attraktive Karrieremöglich-
bislang aber kaum statt. Im Förder- anderen Professionen der Teams keiten mit Verantwortungsübernah-
programm „360° Pflege – Qualifi- konsiliarisch angefordert. Die AQP men, Entscheidungsspielräumen
kationsmix für Patientinnen und tragen zu einer wissenschafts- und angemessener Vergütung. Die
Patienten – in der Praxis“ der Ro- fundierten und evidenzbasierten innovativen Entwicklungen führten
bert Bosch Stiftung GmbH wurden pflegerischen Versorgung und zur bereits zu positiven Veränderungen
in Kliniken, vollstationären Lang- Qualitätssicherung in den Pflege- hinsichtlich der Personalgewinnung
zeitpflegeeinrichtungen und einem teams bei, planen und steuern, ba- und -bindung in den Einrichtungen.
Pflegedienst neue Konzepte der er- sierend auf ihrem Qualifikations-
weiterten pflegerischen Versor- niveau und ihrer Berufserfahrung,
Enge Begleitung der Teams
gungspraxis entwickelt, erprobt und entsprechend komplexe Pflege-
implementiert. Das Deutsche Insti- prozesse. Sie übernehmen Versor- Als förderlich für den Entwi-
tut für angewandte Pflegeforschung gungsaufgaben, beraten Patienten, cklungs- und Umsetzungsprozess
e. V. (DIP) hat das Programm wis- Angehörige, Kollegen und andere erwiesen sich in den teilnehmen-
senschaftlich begleitet. Berufsgruppen, fördern Innova- den Einrichtungen die enge Beglei-
tionen in den Einrichtungen und tung und Unterstützung der Teams
übernehmen Leitungsverantwor- durch die verantwortlichen Pfle-
Geschärfte Aufgabenprofile
tung. Zudem kann eigenständige gedienstleitungen sowie Verände-
Im Kern haben sich im Förderpro- Heilkundeausübung zu den Aufga- rungen bisheriger organisationaler
gramm zwei Profile für AQP in der ben gehören. Strukturen. Die frühzeitige Infor-

14 G+G Spezial · Ausgabe 11/2023


Förderprogramm 360° Pflege

mation und Einbindung der Mit- In allen Projekteinrichtungen gesetz ist ein erster Schritt. Es si-
arbeiter, die Wertschätzung aller wurden nach Abschluss des För- chert den Pflegestudierenden eine
Qualifikationsniveaus, eine grund- derprogramms die Wege zur Im- Vergütung wie den Pflegeauszubil-
sätzliche Offenheit und Bereitschaft plementierung des erweiterten Qua- denden zu und es sorgt im Pflege-
zum Wandel sowie Klarheit und lifikationsmixes als erfolgreich und studium für die Qualifikation zur
Transparenz von Entscheidungen unumkehrbar angesehen – auch um selbstständigen Heilkundeaus-
stärken die Bereitschaft zur Verän- sich in der Konkurrenz mit anderen übung in den Versorgungsberei-
derung in den teilnehmenden Ein- Einrichtungen um Versorgungsqua- chen Demenz, Diabetes und Wund-
richtungen. lität und Personalbestand behaup- versorgung. Allerdings braucht es
Hemmend wirkten sich ins- ten zu können. Die neuen Konzepte zur Integration von AQP in die Pra-
besondere zum Start der Projek- zeigen auch für andere Einrichtun- xisteams weitere finanzielle Mittel
te hohe Arbeitsbelastungen, Vor- gen differenzierte Wege auf. Die für Hochschulen, Krankenhäuser
behalte und Entwertungsängste, Chancen sollten erkannt und der und Pflegeeinrichtungen. Zudem
fehlendes Vertrauen und voran- erweiterte Qualifikationsmix flä- müssen langfristig die leistungs-
gegangene Enttäuschungen, ein chendeckend eingeführt werden. und berufsrechtlichen Möglichkei-
mangelndes Angebot an studier- Einrichtungen, die diesen Weg ge- ten bezüglich des Einsatzes und der
ten Pflegefachpersonen als auch hen möchten, bekommen durch die Refinanzierung von AQP gesetzlich
die Corona-Pandemie aus. Durch verschiedenen Ansätze, Ergebnis- ausgeschöpft sowie die Tarifsyste-
intensive Überzeugungsarbeit und se und Erfahrungen hervorragende matik durch die Tarifparteien wei-
individuelle Lösungen war jedoch Grundlagen zur Orientierung. terentwickelt werden.
keines der Vorhaben in den Ein-
richtungen gefährdet. Zum Ende
Die nächsten Schritte Aufwertung der Pflege
der Projektlaufzeit war es vor allem
die fehlende Regelfinanzierung, Das vom Bundestag jetzt verab- Für eine wirksame, flächendecken-
die eine Verstetigung erschwerte. schiedete Pflegestudiumstärkungs- de Teilakademisierung der Pflege
in allen Versorgungsbereichen wer-
den nach Berechnungen des DIP
zukünftig mindestens 150.000 AQP
Mehr Versorgungsqualität in der Pflege benötigt. Wenn die Voraussetzun-
Erweiterte pflegerische Versorgungspraxis mit Einbindung akademisch gen geschaffen würden, dass ab
qualifizierter Pflegefachpersonen (AQP). 2027 in jedem Jahr rund 10.000
junge Menschen ein berufsbefähi-
gendes Pflegestudium in Deutsch-
AQP-Pflegeexpertise
land aufnehmen und davon ein
Be knappes Drittel ein Masterstudium
ra
ng tu anschließen könnten,
anschließen könnten,würden
würden in
tu ng
/B era /B
eg
ns
il lei etwa
in 20 Jahren
etwa die benötigten
20 Jahren rund
die benötigten
Ko tun
g 150.000
rund AQP zur
150.000 AQPVerfügung stehen.
zur Verfügung
Dies wäre
stehen. einwäre
Dies wichtiger BeitragBei-
ein wichtiger zur
Konsil/
Beratung/ Professionalisierung
trag und Aufwer-
zur Professionalisierung und
Schulung tung der Pflege
Aufwertung und
der somitund
Pflege zur somit
nach-
Ko
o pe haltigen
zur künftigen
nachhaltigen Versorgungs-
künftigen Versor-
Ärzteschaft/ ra u ng Menschen
tio rg und Fachkräftesicherung
gungs- und Fachkräftesicherung in
Gesundheits- n rso mit Pflegebedarf/
Ve Deutschland. 
fachberufe Angehörige

Prof. Dr. Frank Weidner ist Direktor des


Abbildung:AOK

Pflegeteams mit erweitertem Deutschen Instituts für angewandte


Qualifikationsmix Pflegeforschung e. V. (DIP) in Köln.
Christina Schubert ist wissenschaft-
liche Mitarbeiterin im DIP.

G+G Spezial · Ausgabe 11/2023 15


Fachkräftezuwanderung

Anwerben mit Augenmaß


Der Personalengpass in der Pflege lässt sich nur zum Teil durch die Anwerbung
von Fachkräften aus dem Ausland ausgleichen. Alexander Kubis erklärt,
unter welchen Rahmenbedingungen das möglich ist.

Die gestiegene Inflation, höhere tive Gesundheitsvorsorge oder eine sektor reicht jedoch nicht aus. Des-
Leitzinsen sowie gestiegene Ener- verbesserte Vereinbarkeit von Pri- halb suchen Betriebe auch aktiv im
giepreise bremsen die wirtschaft- vatleben und Arbeit. Dies verbes- Ausland und versuchen, potenziel-
liche Aktivität. Im zweiten Quartal sert auch die Konkurrenzfähigkeit le Beschäftigte anzuwerben. 2022
2023 lag die Gesamtzahl der offe- im Wettbewerb um neue Fachkräf- suchten die Betriebe im Gesund-
nen Stellen fast zehn Prozent unter te. Gerade bei (regional verfestig- heits- und Sozialwesen bei rund
dem hohen Niveau des Vorjahres. ten) Engpässen ist und bleibt die sieben Prozent aller sozialversiche-
Die konjunkturelle Abkühlung überregionale Gewinnung von rungspflichtigen Neueinstellungen
trifft aber nicht alle Branchen glei- Fachkräften aber ein Weg, dem Per- auch im Ausland nach geeignetem
chermaßen. Im Gesundheits- und sonalmangel entgegenzuwirken. Personal.
Sozialwesen lag die Zahl der offe- Bei den Gesundheitsberufen besa-
nen Stellen mit rund 290.000 deut- ßen im Dezember 2022 im Bereich
Konsens als Voraussetzung
lich über dem Vorjahresniveau. der sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigung rund zehn Prozent Doch gerade im Bereich der Pflege
der Fachkräfte eine ausländische gibt es besondere Herausforderun-
Bedarf bleibt hoch
Nationalität. Rund die Hälfte von gen. Das aktive Anwerben in Dritt-
Deutschland hat trotz einer mög- ihnen kam aus einem Nicht-EU- staaten muss und darf nur im Kon-
licherweise hohen Zuwanderung Staat. sens mit den Herkunftsländern
in den kommenden Jahren eine al- geschehen. Nicht zuletzt der „Code
ternde Gesellschaft. Auch wenn die of Practice“ der Weltgesundheits-
Aktive Suche im Ausland
Bevölkerung in diesem Fall weniger organisation (WHO) verlangt, dabei
stark schrumpft, altern natürlich Ein Teil der Arbeitsmigration er- mögliche Risiken für das Gesund-
auch diese Zugewanderten. Der Be- folgt selbstständig von der Bewer- heitssystem sowie die Entwick-
darf an Fachkräften in den Gesund- berseite aus; diese selbstständige lungsperspektiven der Herkunfts-
heitsberufen bleibt darum hoch. Zuwanderung in den Gesundheits- länder im Blick zu behalten.
Gleichzeitig steigt in den kom- Albanien etwa beklagte jüngst
menden Jahren durch vermehr- einen Ärzteexodus aus dem West-
te Altersabgänge der Ersatzbedarf „Nur eine balkan. Die Erfahrung zeigt, dass
an gut geschultem Fachpersonal. erfolgreiche die aktive Anwerbung im Pflegebe-
Gerade der personalintensive Pfle-
gebereich steht vor besonderen
Integration nützt reich als ein stetig zu evaluierender
Prozess zu verstehen ist, der nur im
Herausforderungen bei der Fach- langfristig.“ gegenseitigen Einvernehmen gelin-
kräftebeschaffung. gen kann. Zudem gilt: Nur eine er-
Die aktive Gewinnung von folgreiche Integration der angewor-
Fachkräften im Ausland kann dabei benen Beschäftigten in die
nur ein Baustein im Umgang mit Gesellschaft und den Arbeitsmarkt
den Problemen am Arbeitsmarkt nützt langfristig. 
sein. Unternehmen sollten auch
Illustration: AOK

mehr investieren, um Arbeitskräf- Dr. Alexander Kubis ist wissenschaftli-


te zu halten, beispielsweise durch cher Mitarbeiter im Institut für Arbeits-
attraktive Konditionen, eine proak- markt- und Berufsforschung (IAB).

16 G+G Spezial · Ausgabe 11/2023


Ausbildung in der Pflege

Besser, aber noch nicht gut


Die Einführung der generalistischen Ausbildung in der Pflege war richtig.
Ihr Start war aber nicht gut vorbereitet, sagt Selina Mooswald und beschreibt,
wo nachgebessert werden sollte.

Die generalistische Ausbildung auf das erweiterte Tätigkeitsprofil


zum Pflegefachmann oder zur vorbereitet und bieten keine at-
Pflegefachfrau führt seit 2020 die traktiven Jobchancen. Viele Pfle-
drei bisher eigenständigen Ausbil- gefachpersonen wechseln darum
dungsberufe der Gesundheits- und die berufliche Nische, verlassen
Krankenpflege, Gesundheits- und die direkte Patientenversorgung
Kinderkrankenpflege sowie Alten- oder wandern in andere Länder ab.
pflege zusammen. Den Start der Dringender Handlungsbedarf be-
Generalistik begleiteten diverse steht auch bei der ungelösten Frage
Hindernisse: So belastete die Co- der Finanzierung von primärquali-
rona-Pandemie das gesamte Ge- fizierenden Pflegestudiengängen in
sundheitswesen massiv. Die neue Die generalistische Verantwortung der Länder.
Ausbildung traf auf einen Mangel Ausbildung ist richtig.
an Praxisanleitenden, der auf den
Fortschritt gebremst
allgemeinen Fachkräftemangel so-
wie fehlende Anreize zur Weiterbil- vermittelt werden. Der Bochumer Wir müssen uns den wahren Ursa-
dung zurückzuführen ist. Zwar gibt Bund fordert deshalb eine längere chen für den Fachkräftemangel in
es die gesetzliche Vorgabe, mindes- Ausbildungszeit von vier Jahren. der Pflege stellen. Es braucht eine
tens zehn Prozent der Einsatzzeit Vor der Umstrukturierung der angemessene Bezahlung, moderne,
geplante Anleitung leisten zu müs- Ausbildung hätte man in jedem attraktive Tätigkeitsfelder sowie
sen. Die dafür nötige Freistellung Fall die Themen Fachkräfteman- die generelle Bereitschaft, die Pfle-
von Praxisanleitenden kann jedoch gel, Entlohnung und Arbeitsbedin- ge als eigenständige Profession
regelmäßig nicht gewährleistet gungen angehen müssen. Es war wahrzunehmen und wertzuschät-
werden. Hinzu kommt ein Mangel falsch, die Ausbildungsreform in zen. Dafür ist ein Zusammenspiel
an geeigneten Praxisplätzen für die den Mangel hinein zu implemen- aller relevanten Akteure nötig: Der
Pflichteinsätze. tieren. Unter dem Druck der äuße- Berufsstand muss sich gewerk-
ren Umstände war die Reform ein schaftlich, in Fachverbänden und
weiterer Stressor für Einrichtungen mittels Pflegekammern organisie-
Das Ende des Sonderwegs
und Beschäftigte. ren. Auf politischer Ebene braucht
Der Start der Generalistik war man- Auch die längst überfällige Aka- es Finanzreformen, die unsere Pro-
gelhaft vorbereitet, unzureichend demisierung des Pflegefachberufs fession auf wissenschaftlichem
durchdacht und kam zu einem un- wird durch Faktoren wie unat- Niveau flächendeckend stützen.
günstigen Zeitpunkt. Grundsätzlich traktive Arbeitsbedingungen, eine Und die Gesellschaft muss erken-
war es aber richtig, dass Deutsch- international nicht konkurrenzfä- nen, dass die Profession Pflege aus
land den Sonderweg mit drei von- hige Bezahlung und vor allem den sämtlichen Feldern der medizi-
einander getrennten Ausbildungs- Mangel an adäquaten Tätigkeitsfel- nisch-pflegerischen Versorgung
gängen beendet hat und sich nun dern gebremst. Akademisierte Pfle- nicht wegzudenken ist. 
an internationalen Ausbildungs- gefachpersonen finden in Deutsch-
Illustration: AOK

standards orientiert. Allerdings land oft keinen Arbeitsplatz in der Selina Mooswald ist Vorstandsvor-
können die Inhalte aus drei Aus- direkten Versorgung von Men- sitzende des BochumerBund – Fach-
bildungen nicht in nur drei Jahren schen. Arbeitgeber sind meist nicht gewerkschaft für die Pflege.

G+G Spezial · Ausgabe 11/2023 17


Arbeitsmarkt- und Pflegeforschung

Das große
Ganze im Blick
Wer erfolgreich Fachpersonal in der Pflege
gewinnen will, muss die Dimensionen
Handlungsautonomie, Arbeitsmarkt und
Arbeitsbedingungen zusammen denken.
Text: Michaela Evans

I
n der Pflege werden Pflegefach- und Therapieberufe sowie für das
personen mit und ohne Spezia- Hebammenwesen zwischen 10 und
lisierung sowie Führungskräf- 20 Prozent. Gemäß den Daten des
te bundesweit händeringend Bundesinstituts für Berufsbildung
gesucht. Unstrittig ist, dass es (BIBB) lag die Akademisierungsquo-
zeitnah wirksamer Strategien der te für das Jahr 2021 jedoch nur bei handelt werden. Während in der
Fachkräftesicherung bedarf. Denn 1,74 Prozent. Dimension „Arbeitsmarkt“ vor
nicht zuletzt die anstehenden Ren- allem Strategien für mehr Köp-
teneintritte und der damit deutlich fe für die Pflege im Mittelpunkt
Dysfunktionale Befangenheit
steigende Pflegebedarf drohen die stehen, adressiert die Dimension
Fachkräftesituation künftig weiter Auch mit Blick auf Strategien „Arbeitsbedingungen“ insbeson-
zu verschärfen. Hinzu kommt, dass zur Fachkräftesicherung ist noch dere berufliche Aufstiegs- und
nach Angaben des Statistischen Luft nach oben. Denn diesbezüg- Weiterentwicklungschancen, Rah-
Bundesamtes die Zahl der neu ab- liche Diskurse sind durch eine menbedingungen der Entloh-
geschlossenen Ausbildungsverträ- dysfunktionale Befangenheit der- nung oder Entlastungspotenziale
ge zur Pflegefachfrau beziehungs- art geprägt, dass die Dimensionen durch Arbeitsgestaltung. „Profes-
weise zum Pflegefachmann rück- Arbeitsmarkt, Arbeitsbedingungen sionalisierung“ hingegen adres-
läufig ist: So wurden nach Angaben und Professionalisierung struk- siert primär kompetenzfokussierte
des Statistischen Bundesamtes im turell getrennt voneinander ver- Weiterentwicklungs- und Durch-
Jahr 2022 mit insgesamt 52.100 setzungspotenziale (neuer) pfle-
neu abgeschlossenen Ausbildungs- gerischer Aufgaben- und Verant-
verträgen in der Pflegeausbildung Beim Blick auf wortungsfelder in der Versorgung.

die Entwicklung der


bundesweit sieben Prozent weniger Doch oftmals fehlt es an ihrer
Ausbildungsverträge abgeschlossen potenzialbezogenen arbeits(markt)
als noch im Vorjahr. Beim Blick auf hochschulischen politischen „Übersetzung“. Im
die Entwicklung der hochschuli- Ausbildung ist die branchenübergreifenden Wettbe-
schen Ausbildung ist die Bilanz werb um Auszubildende und Fach-
ebenfalls eher ernüchternd. Der
Bilanz ebenfalls eher kräfte müssten die beruflichen Ent-
Wissenschaftsrat fordert eine Aka- ernüchternd. wicklungs-, Spezialisierungs- und
demisierungsquote für die Pflege- Karrierechancen generalistisch

18 G+G Spezial · Ausgabe 11/2023


Arbeitsmarkt- und Pflegeforschung

Arbeiten auf Augenhöhe: Bessere Arbeitsbedingungen und


für Pflegefachpersonen mehr Handlungsautonomie in den
ein Merkmal für einen
Pflegeberufen sind komplementäre
zukunftsfähigen Job
Strategien der Fachkräftesicherung,
die intensiver als bislang zusam-
lung und pflegerische Versorgungs- mengedacht und über berufsbiogra-
gestaltung. phische Verläufe hinweg gestaltet
Durch diese Fragmentierungen werden müssen. Deswegen braucht
bleiben strategisch wichtige Wei- es Aufmerksamkeit dafür, welche
chen zur Fachkräftesicherung in der Spielräume für mehr Handlungs-
Pflege unberücksichtigt, tradierte autonomie in neuen Versorgungs-
professions- und versorgungspoliti- formen zur Weiterentwicklung der
sche Strukturen unangetastet. Nach Arbeitsbedingungen gewonnen
wie vor dominiert das Primat einer werden können: Lotsinnen- und Ca-
ärzte- und medizinzentrierten Ver- se-Management-Modelle, Commu-
sorgungsgestaltung. Und dies, ob- nity Nursing oder Gemeinde-
wohl vorliegende Befunde in eine schwesterPlus oder andere Formen
andere Richtung weisen. Denn die interprofessioneller Versorgung
personellen Ressourcen sind auch und Arbeitsgestaltung sind hier als
in der Medizin knapp. Wer Fach- Beispiele aus der gesundheitspoliti-
personal in der Pflege sichern will, schen Debatte zu nennen. Darüber
muss deshalb umdenken in Rich- hinaus ist in den Blick zu nehmen,
tung einer neuen Verantwortungs- welche individuellen und betrieb-
verteilung zwischen den Gesund- lichen Rahmenbedingungen dazu
heitsfachberufen. beitragen können, persönliche
ausgebildeter Pflegeberufe und Laufbahnen in der Pflege mit der
berufsbiografische Möglichkeiten Weiterentwicklung pflegerischer
Verantwortung neu verteilen
des Wechsels pflegerischer Versor- Versorgungslösungen zu verknüp-
gungsbereiche (etwa vom Kran- Zum einen sind ressourcenbezoge- fen. Dazu zählen etwa Weiterbil-
kenhaus in die Schule als „School ne Imagedimensionen wie Vermö- dungsfonds, betriebliche Entlas-
Nurse“ oder in die präventive am- gen/Können, Bildung, Intellekt und tungsangebote für Qualifizierungs­
bulante Versorgung) viel stärker Ansehen der Pflegeberufe entschei- phasen oder fachlich modernisierte
in den Fokus rücken. Und umge- dend dafür, ob sich Jugendliche und modularisierte Weiterbildungs-
kehrt: Während einerseits beruf- eine Pflegeausbildung vorstellen strukturen für Führungskräfte in
liche Aufstiegs- und Weiterent- können. Zum anderen haben das der Pflege. Schließlich wäre zu prü-
wicklungschancen in der Pflege als Arbeiten auf Augenhöhe, die Stär- fen, inwieweit bei der Förderung
Merkmale guter Arbeit thematisiert kung der Profession und pflegeri- neuer Versorgungsformen – etwa
werden, fehlt der Brückenschlag scher Kompetenzen, aber auch fach- über den Innovationsfonds des Ge-
zu einer professionalisierungssen- liche Aufstiegsmöglichkeiten und meinsamen Bundesausschusses
siblen Arbeitsmarkt- und -gestal- die Unterstützung beruflicher Lauf- (GBA) – in den begleitenden Evalua-
tungspolitik. Hier geht es um mehr bahnwege in der Präferenzordnung tionen arbeits(markt)bezogene An-
Handlungs- und Entscheidungs- beruflich Pflegender eine hohe Rele- forderungen und Wirkungseffekte
Foto: iStock.com/miodrag ignjatovic

spielräume für Pflegefachperso- vanz. Dies sind die entscheidenden stärkere Berücksichtigung finden
nen in der Versorgung, um die an- Faktoren für die Bereitschaft zur sollten.
gemessene Vergütung beruflicher Erhöhung der Arbeitszeit oder der
Aufstiege und Spezialisierungen, Rückkehr in den Pflegeberuf. Aus
Michaela Evans ist Direktorin des
aber auch um die Weiterentwick- der Sicht von Pflegefachpersonen
Forschungsschwerpunktes „Arbeit und
lung der Kompetenzen von Füh- handelt es sich hierbei zudem um Wandel“ am Institut Arbeit und Tech-
rungskräften in der Pflege mit Blick relevante Merkmale zukunftsfähi- nik (IAT) der Westfälischen Hochschule
auf die Themen Personalentwick- ger Arbeitsplätze. Gelsenkirchen (www.iat.eu).

G+G Spezial · Ausgabe 11/2023 19


Community Health Nursing

Mehr Kompetenzen für die Pflege


Im Ausland haben sich Community Health Nurses in der wohnortnahen Pflege
und Gesundheitsversorgung bereits bewährt. In Deutschland gibt es nun
erste Initiativen zur Etablierung einer evidenzbasierten und wohnortnahen
Primärversorgung durch akademisierte Pflegefachpersonen.

Text: Marie-Christin Petrasch

Pflegefachpersonen, die sich mit bessern, müssen berufsrechtliche eines interprofessionellen Teams
dem Studiengang „Community Regeln sowie das Sozialrecht ange- Menschen in jeder Lebenslage und
Health Nursing“ auf die Gemein- passt werden. Erst dann könnten Altersspanne bei der Bewältigung
degesundheitspflege spezialisie- Community Health Nurses in Me- des Alltags. Sie sind erste Ansprech-
ren, sind hoch qualifizierte Exper- dizinischen Versorgungszentren, partnerinnen und Ansprechpart-
tinnen und Experten mit einem Polikliniken oder im Öffentlichen ner für Menschen mit Pflegebedarf,
Masterabschluss. Der Studiengang Gesundheitsdienst mit erweiterten aber auch für Patienten mit einer
wird in Deutschland erst seit we- Kompetenzbereichen eingesetzt oder mehreren chronischen Erkran-
nigen Jahren angeboten und qua- werden. kungen. Internationale Studien be-
lifiziert dazu, eine wohnortnahe legen, dass dieser erweiterte Pflege-
patientenorientierte Pflege sowie ansatz nicht nur kosteneffizient ist,
Im Ausland bewährt
die Gesundheitsförderung von Pa- sondern auch von den Patientinnen
tientinnen und Patienten sicherzu- Ein Blick ins Ausland zeigt: Das Mo- und Patienten, insbesondere in be-
stellen. Community Health Nurses dell der lokalen Gesundheitsver- sonders schutzbedürftigen Bevölke-
können neben pflegerischen Aufga- sorgung durch Community Health rungsgruppen, positiv wahrgenom-
ben also auch Präventionsangebote Nurses hat sich in Ländern wie Ka- men wird.
machen oder die Behandlung von nada, Schweden und Finnland be- Das Masterstudium als Commu-
chronisch Kranken koordinieren, reits bewährt. Dort unterstützen sie nity Health Nurse legt einen starken
was auch die Steuerung ganzer Ver- etwa in Gesundheitszentren als Teil Fokus auf die Verbindung von Theo-
sorgungsprozesse beinhalten kann. rie und Praxis, wobei je nach Stand-
ort verschiedene Schwerpunkte ge-
setzt werden. Studienvoraussetzung
Mögliche Einsatzgebiete
sind eine abgeschlossene Berufsaus-
Der Fokus liegt darauf, eine Ver- bildung als Pflegefachperson und
sorgung bereitzustellen, die sich ein Bachelorabschluss. Die Studie-
auf den Alltag der Menschen kon- renden verfügen in der Regel über
zentriert, gesundheitsfördernd langjährige Berufserfahrung in der
wirkt und auf wissenschaftlichen Pflege. Die Attraktivität des Stu-
Erkenntnissen beruht. Dabei steht diums liegt besonders in der Mög-
immer der Mensch mit seinen Be- lichkeit einer erweiterten, evidenz-
dürfnissen im Mittelpunkt, um eine basierten Pflegepraxis, die eine
umfassende und bedarfsgerechte umfassende und patientenzentrier-
Versorgung sicherzustellen. Um das
Community Health te Versorgung ermöglicht. 
entlastende Potenzial der umfas- Nurses können auch
send ausgebildeten Studienabgän- die Behandlung von
Illustration: AOK

Marie-Christin Petrasch ist Commu-


ger künftig vollständig zu nutzen
und so die Gesundheitsversorgung chronisch Kranken nity Health Nurse und arbeitet als
Referentin in der Pflegeabteilung des
in unterversorgten Gebieten zu ver- steuern. AOK-Bundesverbandes.

20 G+G Spezial · Ausgabe 11/2023


Advanced Practice Nursing

Eigenverantwortliches Arbeiten
macht Pflegeberuf attraktiver
Advanced Practice Nurses sind hoch qualifizierte Pflegefachpersonen.
Wie ihr Einsatz die Versorgung effizient gestaltet, Patienten nützt und die
Berufszufriedenheit verbessert, wissen Maria Gerz und Renate Stemmer.

Der Fachkräftemangel stellt die keit von Familie und Beruf spielt
ambulante Gesundheitsversorgung dabei auch der Grad der Autono-
in Deutschland vor große Heraus- mie eine Rolle. Diese ist ein zen­
forderungen. Immer weniger Haus- trales Merkmal der APN-Tätigkeit
ärzte stehen zur Verfügung, um im- und die Voraussetzung für einen
mer mehr Patienten zu versorgen. erfolgreichen Umgang mit komple-
Durch die Zunahme chronischer xen Versorgungssituationen.
Erkrankungen und Multimorbidi-
tät entstehen komplexe Gesund-
Anspruchsvolles Berufsprofil
heitsbedarfe. Hier setzt das durch
den Innovationsfonds geförderte Eigenverantwortlich und den eige-
Projekt „FAMOUS – Fallbezogene nen Kompetenzen gemäß arbeiten

Advanced Practice
Versorgung multimorbider Patient- zu können, geht mit einer hohen Be-
Innen in der Hausarztpraxis durch rufszufriedenheit einher und ver-
Advanced Practice Nurses“ an. Ad- Nurses sind hoch mag akademisierte Pflegefachperso-
vanced Practice Nurses (APNs) sind qualiziert. nen im Beruf zu halten. Die
erfahrene, spezifisch qualifizier- APN-Rolle erweitert das Profil des
te Pflegefachpersonen mit einem Pflegeberufs, eröffnet patientenna-
Masterabschluss in einem pflege- Sie schulen eigenverantwortlich he Karriereoptionen und hat das
bezogenen Studiengang. Patienten und Angehörige, um die Potenzial, den Pflegeberuf für Perso-
Versorgungsqualität und Selbst- nen mit hoher Verantwortungsbe-
wirksamkeit zu verbessern. reitschaft attraktiv zu machen. 
Passgenaue Unterstützung
Die APNs arbeiten eng mit den
Im Projekt übernehmen APNs in an der Versorgung beteiligten Netz-
Hausarztpraxen die fallbezogene, werkpartnern, wie Fachärzten, Maria Gerz ist Advanced Practice
personenzentrierte Versorgung Pflegediensten, Apotheken, Sani- Nurse (M.Sc.) im Projekt FAMOUS.
von Patienten mit komplexen Ver- tätshäusern, Selbsthilfegruppen, Prof. Dr. Renate Stemmer lehrt Pflege-
wissenschaft und Pflegemanagement
sorgungsbedarfen. Sie erheben Physio- und Ergotherapeuten, zu-
an der Katholischen Hochschule Mainz.
strukturiert die gesundheitlichen, sammen. Dabei sorgen sie für einen
pflegerischen und sozialen Unter- strukturierten Informationstrans-
stützungsbedarfe und entwickeln fer, der ein wichtiger Faktor für die
gemeinsam mit den Betroffenen Versorgungsqualität ist. Weitere Informationen
einen Versorgungsplan. Sie füh- Der Fachkräftemangel in der
Das Projekt FAMOUS wird unter
ren körperliche Untersuchungen Pflege wird oft mit einer man- Konsortialführung von Renate
bei chronisch kranken Menschen gelnden Attraktivität des Berufs
Illustration: AOK

Stemmer an der Katholischen


durch, erkennen Veränderungen begründet. Neben den Arbeitsbe- Hochschule Mainz durchgeführt.
im Gesundheitszustand und leiten dingungen, der Entlohnung, den www.kh-mz.de/famous
entsprechende Maßnahmen ein. Arbeitszeiten und der Vereinbar-

G+G Spezial · Ausgabe 11/2023 21


Statements

Was tun gegen den Fachkräftemangel


in der Pflege?
Expertinnen und Experten aus Politik und Pflege bringen auf den Punkt, was zu tun
ist, um Fachkräfte zu sichern und die Pflege zukunftsfest zu machen.

Es muss gewaltig etwas geschehen, damit Deutschland nicht mit


Hochgeschwindigkeit in eine pflegerische Unterversorgung rauscht.
Neben dem bereits akuten Mangel an Mitarbeitern droht in der Pflege
demnächst ein Mangel an Angeboten. Das ist dramatisch für die
Betroffenen und hat längst Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Angehö-
rige von Pflegebedürftigen werden durch familiäre Pflege gebunden
und verschärfen damit den Arbeitskräftemangel in anderen Branchen.
Wir müssen schnell, ausreichend, entsprechend einsetzbares und
finanziertes sowie nachhaltig zur Verfügung stehendes Arbeitskräfte-
potenzial aus dem Ausland für die Langzeitpflege in Deutschland
gewinnen. Zuwanderungswillige Pflegefach- und Assistenzpersonen oder
interessierte Auszubildende aus dem Ausland müssen so einfach wie
möglich zuwandern können und dann schnell anerkannt werden. Gleich-
zeitig müssen die Ausbildung in Deutschland vereinfacht und die
Schulkapazitäten ausgeweitet werden.
Bernd Meurer, Präsident des Bundesverbandes
privater Anbieter sozialer Dienste e. V. (bpa)

Für die bessere Bezahlung von Pflegepersonal wurde schon manches


getan, wenn auch noch nicht genug. Schwierig wird es bei der Personal-
ausstattung oder den Arbeitszeiten. Pflege funktioniert eben nicht mit
einer Vier-Tage-Woche oder Homeoffice. Aber es gibt Lösungsansätze:
Wir fordern eine schnellere Anerkennung ausländischer Abschlüsse. Das
neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist ein erster wichtiger Schritt. In
Fotos: bpa, Deutscher Caritasverband, StMGP, BMG

einigen Caritasverbänden haben wir Pflegepools aufgebaut – Caritas-


Mitarbeitende, die als Springer Teil des Pflegeteams und dabei flexibel
einsetzbar sind. Wir wollen damit den Einsatz von fremden und teuren
Leiharbeitskräften vermeiden. Auch die Digitalisierung bietet Entlas-
tungsmöglichkeiten. Unser Pflegepersonal ist gegenüber digitaler Trans-
formation – etwa bei der Dokumentation – sehr aufgeschlossen. Gleich-
zeitig müssen wir die Pflege entbürokratisieren. Nur mit solchen
Maßnahmen kann es gelingen, vorhandenes Pflegepersonal zu binden
und neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen.
Dr. Susanne Pauser, Vorständin des Deutschen Caritasverbandes
für Personal und Digitalisierung

22 G+G Spezial · Ausgabe 11/2023


Statements

Angesichts des demografischen Wandels und des branchenübergrei-


fenden Personalbedarfs müssen Bemühungen zur Personalsicherung
mehrdimensional sein. Neben guten Ausbildungs- und Arbeitsbedin-
gungen und Maßnahmen der Mitarbeiterbindung sollten auch eine
Senkung der Arbeitsunfähigkeitsquoten und eine konsequente Organisa-
tionsentwicklung in den Einrichtungen in den Blick genommen werden.
Eine personenzentrierte Ausrichtung der pflegerischen Angebote sowie
der Abbau von Sektorengrenzen könnten personelle Potenziale heben
und die Entstehung attraktiverer Arbeitsplätze unterstützen.
Maßnahmen der Organisationsentwicklung infolge des neuen Personal-
bemessungssystems und die generalistische Ausbildung, die ein sekto-
renübergreifendes Pflegeverständnis implementiert, sind wichtige
Schritte auf diesem Weg. Diese Ansätze gilt es, unter Einbindung digi-
taler Lösungen, konsequent weiterzuverfolgen.“
Dr. Bernhard Opolony, Leiter der Abteilung Pflege im
Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege

Fachkräftesicherung im Gesundheitswesen steht ganz oben auf der


politischen Agenda. In der Pflege wurde schon viel erreicht: Bedarfsorien-
tierte Personalbemessung, mehr Befugnisse für Pflegefachpersonen,
Entlohnung nach Tarif, bessere Ausbildung und Auslandsanwerbung,
Digitalisierung – und eine gezielte Unterstützung für Pflegeeinrichtungen
bei der Umsetzung dieser Prozesse. Klar ist: Was im Gesetz steht, gilt
zwar sofort – aber wir werden weiter beharrlich sein müssen, damit die
Botschaft ankommt. Die Rahmenbedingungen in der Pflege verbessern
sich, es lohnt sich, die positiven Veränderungen mitzugestalten. Mehr
Personal ist jedoch nicht die einzige Lösung – wir müssen auch prüfen,
wo unsere Systeme besser und effizienter werden können, damit wir eine
gute Versorgungs- und eine gute Arbeitsqualität sichern.
Dr. Martin Schölkopf, Leiter der Abteilung Pflegeversicherung und -stärkung
im Bundesministerium für Gesundheit

G+G Spezial · Ausgabe 11/2023 23


Interview

„Wir brauchen Pflegende, die


Pflege evidenzbasiert gestalten“
Der Wissenschaftsrat empfiehlt, dass mindestens jede zehnte Pflegefachperson
in Deutschland eine akademische Ausbildung haben sollte. Was dafür nötig ist
und welche Vorteile damit verbunden sind, erklärt Uta Gaidys.

Der Wissenschaftsrat hat sich plin Pflege. Für eine gute


bereits 2012 dafür ausgespro­ Gesundheitsversorgung brau-
chen, dass zehn bis 20 Prozent chen wir Pflegende, die pflegeri-
eines Ausbildungsjahrgangs in sche Fragestellungen mit
der Pflege eine akademische wissenschaftlichen Methoden
Ausbildung haben sollten. beantworten können.
Warum?
Uta Gaidys: Wir brauchen einen Was ist nötig, um die Akademi­
höheren Anteil von akademi- sierungsquote zu erhöhen?
sierten Pflegenden, die in der Wir müssen die Pflege als
Lage sind, Pflege evidenzbasiert „Wissen muss Profession, als Beruf und als
zu gestalten und wissenschaft- in der Versorgung Wissenschaft, so attraktiv
liche Erkenntnisse im Versor- machen, dass Menschen sagen:
wirken.“
gungsalltag umzusetzen. Diesem Aufgabenfeld möchte
Akademisch ausgebildete Pfle- Prof. Dr. Uta Gaidys ist ich mich widmen, weil es einer-
ausgebildete Krankenschwester,
gende müssen nicht nur im seits eine hohe Sinnhaftigkeit
Professorin für Pflegewissen-
Management, sondern vor allem schaft an der Hochschule für verspricht und andererseits auch
auch unmittelbar in der Patien- Angewandte Wissenschaften eine hohe kognitive Leistungsbe-
tenversorgung präsent sein. Bei Hamburg und Mitglied des reitschaft erfordert. Ich glaube,
einer Akademisierungsquote von Wissenschaftsrats. beides haben wir bisher noch
zehn bis 20 Prozent, so die nicht gut zusammengebracht.
Überlegung, können wir davon Nötig ist außerdem eine höhere
ausgehen, dass wissenschafts- Autonomie und Verantwortungs-
basiertes Wissen wirklich eine All das sind pflegerische übergabe an Pflegende. Sie
Wirkung in der Versorgung Aufgaben. Wir sehen, dass in müssen in der Lage sein, Versor-
entfalten kann. Europa in einem Großteil der gungsentscheidungen selbst-
Länder Pflegende studieren. Und ständig zu treffen. Das heißt: Sie
Ist diese Zielmarke nach wie vor wir sehen, welche Wirkung das brauchen Kompetenz für diese
aktuell? entfalten kann. Der Wissen- Entscheidungen. Sie müssen
Wir Menschen werden immer schaftsrat möchte Empfeh- rechenschaftspflichtig werden
älter. Mit zunehmendem Alter lungen geben, die realistisch für diese Entscheidungen, und
steigt das Risiko für chronische umgesetzt werden können, in das bedeutet wiederum einen
Erkrankungen, für Demenzen einer realistischen Zeit. Auf großen eigenen Gestaltungs-
und vieles mehr. Da gibt es einen jeden Fall sind zehn bis 20 spielraum für ihre Berufsaus-
hohen Pflege-, Beratungs- und Prozent akademisch ausgebil- übung.
Foto: Beate Krol

Schulungsbedarf und eine große dete Pflegende eine gute


Notwendigkeit, Angehörige in Ausgangsbasis, auch für die
die Versorgung einzubeziehen. weitere Entwicklung der Diszi- Interview: Silke Heller-Jung

24 G+G Spezial · Ausgabe 11/2023

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