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„Es war Erde in ihnen“.

Zur Erdmetaphorik
in Paul Celans Niemandsrose

BACHELORARBEIT

Vorgelegt am Institut für Germanistik der Karl-Franzens- Universität bei


Dr. habil. Helga Mitterbauer

von Verena Walzl


Graz, 15.07.2011
INHALTSVERZEICHNIS

1 Einleitung 3

2 Paul Celan 5

3 Die Niemandsrose. Verdichtete Poesie? 7

4 Erde als Metapher bei Paul Celan 8

4.1 Kulturgeschichtlicher Hintergrund des Elements Erde 9

4.2 Es war Erde in Ihnen 11

4. 3 Psalm 14

4. 4 Schwarzerde und andere Gedichte 18

5 Zusammenfassung 21

6 Literaturverzeichnis 24

2
1 Einleitung

„... nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die
ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“1

Mit diesem Satz konstatierte Theodor W. Adorno in seinen 1953 abgeschlossenen Essays
zu Kulturkritik und Gesellschaft die Unmöglichkeit, nach den Schrecken des Holocausts Lyrik zu
schreiben. Nicht nur die scheinbare Unmöglichkeit, das Unaussprechliche zu versprachlichen,
sondern auch die durch die nationalsozialistische Propagandamaschinerie kontaminierte Sprache
stellte für literarisches Schaffen nach dem Zweiten Weltkrieg ein besonderes Problem dar. Die
Lyrik Paul Celans kann als Gegenbeweis zu Adornos These verstanden werden. In Celans
populärstem Gedicht Todesfuge, welches im Mai 1945 in Bukarest entstanden ist, nimmt er
direkten Bezug auf die Schrecken des Holocausts und betont 1959 gegenüber dem Schriftsteller
Rolf Schroers: „Die Todesfuge ist ein Grabmal“.2 Die Begriffsfelder rund um das Wort „Erde“
manifestierten sich im Kontext des Grabens und der Gräber so bereits in der frühen Lyrik Celans
und ziehen sich durch sämtliche seiner Gedichtbände. Vor allem in Paul Celans Gedichtband Die
Niemandsrose, welcher in folgender Arbeit genauer betrachtet werden soll, spielt Erde auch in
einem elementaren, globalen und vor allem alttestamentarischen Sinn eine wichtige Rolle.
Ziel der Arbeit ist es, die Erdmetaphorik in Paul Celans Niemandsrose genauer zu
analysieren und herauszustellen, dass die beachtliche Anzahl an Erd-nahen und Erd-verwandten
Begriffsfeldern einen essentiellen und bislang nicht ausreichend beachteten Aspekt in Paul Celans
Schaffen darstellt. Als Arbeitsmethode habe ich neben der Verwendung von Fachliteratur in
einem ersten Schritt versucht, meine eigenen Assoziationsketten zu den einzelnen Gedichten
herzustellen, um so die bereits vorhandenen Fachtexte um mein persönliches Leseempfinden zu
bereichern. Die persönliche Leseerfahrung und Assoziationen, ohne das genaue Studieren der
Kommentare, ist jedem der intensiver besprochenen Gedichte vorangestellt und wird durch die
Fachtexte ergänzt.
Die Primärtexte habe ich aus Barbara Wiedemanns kommentierter Taschenbuch-
Gesamtausgabe der Gedichte Celans entnommen, die 2005 im Suhrkamp-Verlag erschienen ist.
Nicht nur aufgrund der praktikablen Benützung, sondern auch aufgrund des umfangreichen
Kommentars und des noch jungen Erscheinungsdatums habe ich mich gegen die üblicherweise

1
Theodor W. Adorno: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Ungekürzte Ausgabe. München: Deutscher
Taschenbuch Verlag 1963, S. 26.
2
Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hrsg. und kommentiert von Barbara
Wiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, S. 608f. (Sigle PCG)

3
verwendete Ausgabe der gesammelten Werke Paul Celans, welche unter anderem von Beda
Allemann herausgegeben wurde und 1983 ebenfalls im Suhrkamp-Verlag erschienen ist,
entschieden.
Als besonders hilfreiche Sekundärliteratur hat sich außerdem der „Kommentar zu Paul
Celans Niemandsrose“, der von Jürgen Lehmann herausgegeben wurde, erwiesen.

2 Paul Celan

Paul Celans Lyrik gilt allgemeinhin als schwer zugänglich, dunkel und hermetisch verdichtet. Die
von ihr ausgehende Faszination spiegelt sich auch in den zahlreichen Publikationen wider, die es
in beachtlichem Ausmaß zu Paul Celan gibt und die die verschiedensten Erklärungsversuche
bieten. Er selbst wehrte sich gegen die ihm vorgeworfene Verschlossenheit und entgegnete einst
einem fragenden Leser: „Lesen Sie! Immerzu nur lesen, das Verständnis kommt von selbst.“3 Dem
gegenüber steht eine andere Aussage Celans, in der er empfiehlt, dass man sich nur die Mühe
machen sollte, seine angeblichen Neologismen in entsprechenden Fachwörterbüchern
nachzuschlagen.4 Dieser Empfehlung sind etliche Publikationen gefolgt, welche die
anspruchsvolle und in viele Fachgebiete reichende Sprache Celans zu entschlüsseln versuchen.
Der Sprachkosmos Celans reicht unter anderem in medizinisch-anatomische, mineralogische,
biologische, astronomische, intertextuelle, philosophische, theologische und zugleich auch
poetologisch-sprachbezogene Ebenen. Die beiden Aussagen Celans deuten nicht nur auf die
breitgefächerten Lesarten, sondern auch auf einen möglichst unvoreingenommenen Lesezugang
hin. Jedes seiner Gedichte ist zugleich Kunstwerk, Sprachgebilde und oft auch Klangerfahrung,
das sich bei genauerer Betrachtung einem tieferen Verständnis nicht mehr verschließt.5
Die Bedeutung Celans für die jüngere Literaturgeschichtsschreibung lässt sich vor allem
auch aus seiner Position als jüdischer Dichter in deutscher Sprache nach dem Zweiten Weltkrieg
her ableiten. Celan gilt als Paradebeispiel des Gegenbeweises zu Adornos These, dass es nach
Ausschwitz unmöglich sei, Gedichte zu schreiben. Neben Nelly Sachs ist Paul Celan einer der
wichtigsten jüdischen Dichter der Nachkriegszeit, die im deutschsprachigen Raum gewirkt haben.
Ihre bewegten Lebensgeschichten sind zwar untrennbar mit ihrer Lyrik verbunden, doch können

3
PCG S. 2.
4
Vgl. Irene Fußl: „Geschenke an Aufmerksame“. Hebräische Intertextualität und mystische Weltauffassung in der
Lyrik Paul Celans. Tübingen: Niemeyer 2008. (= Conditio Judaica. Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen
Literatur- und Kulturgeschichte. 68.) S. 1.
5
Vgl. ebd., S. 1f. Vgl. hierzu auch Perez, Juliana P.: Offene Gedichte. Eine Studie über Paul Celans DIE
NIEMANDSROSE Gedichte. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010. Der Titel „Offene Gedichte“ ist als
programmatisch zu verstehen: Perez deutet auf die Offenheit Celans Gedichte hin und verweist auf Celans Lektüre
und Übersetzung der Gedichte Ossip Mandelstams, die er selbst als offen bezeichnet.

4
die Gedichte nicht auf eine simple biographische Leseweise heruntergekürzt werden. Über Celans
lyrisches Ich und die Bedeutung der Biographie für sein literarisches Schaffen hat sich Sieghild
Bogumil-Notz folgend geäußert:
„Das Gedächtnis der unter dem Nazi-Regime verfolgten und im Holocaust umgekommenen Juden, in
welches auch die Erinnerung an den Tod seiner Eltern in einem ukrainischen Arbeitslager einbegriffen ist,
bildet den folgenreichen Ursprung seiner Dichtung. Damit liefert Todesfuge den Gegenbeweis gegen
Adornos kurz zuvor geäußerte These, dass es unmöglich sei, nach Ausschwitz Gedichte zu schreiben. C.
trägt die Sprache im Gegenteil in den Bereich des Unaussprechbaren, des Leids und des Todes.“[]6

Von dieser Sprachposition spricht Celan in seiner Lyrik jedoch nicht aus der Sicht eines
subjektiv klagenden Sprechers. Das traditionelle poetische Subjekt existiert in diesem Sinne nicht
mehr, vielmehr nimmt der Sprecher eine Vermittlerfunktion für die von ihm evozierten Bilder
ein. Diese Bilder wiederum sind selbst nicht mimetisch und können auch nicht als solche gelesen
werden. Die Mimesis bezeichnet die künstlerische Nachgestaltung oder Abbildung der
Wirklichkeit. Bogumil-Notz beschreibt Celans Lyrik vielmehr als Begehen und Eröffnen einer
poetischen Dreidimensionalität, durch die Räume eröffnet werden, in denen Erinnerungen als
Appell und Anredemöglichkeiten zur Sprache kommen. Für Celan stellen Gedichte in diesem
Sinn zugleich Wirklichkeitssuche und Wirklichkeitsentwurf dar. Wichtig ist auch die oftmals
angesprochene Dialogizität von Celans Lyrik, die sich gegen Martin Heideggers monologische
Sprachauffassung stellt. Anders als Heidegger sieht Celan jedes Gedicht auch als Dialog zwischen
sprechendem und rezipierendem Subjekt. Ein Du, auf welches sich die Gedichte stets beziehen,
äußert sich teils explizit, teils ist es aber auch versteckt und im Text impliziert.7
Um ein grundlegendes Verständnis von Celans Lyrik zu gewährleisten, soll im Folgenden
auch kurz auf die wichtigsten biographischen Daten Celans eingegangen werden. Paul Celan
wurde 1920 unter dem Namen Paul Antschel als Sohn deutschsprachiger jüdischer Eltern in
Czernowitz in der Bukowina geboren. 1941 besetzten deutsche und rumänische Truppen die
Stadt und ein jüdisches Ghetto entstand. Während Celan in ein Arbeitslager gebracht wurde,
wurden seine Eltern 1942 verschleppt und in das KZ Michailowka bei Gasin deportiert, wo beide
ums Leben kamen. Nach der Auflösung der Arbeitslager 1944 kehrte er zunächst nach
Czernowitz zurück und übersiedelte ein Jahr später nach Bukarest, wo 1947 in der Zeitschrift
Contemporanul die Todesfuge in rumänischer Sprache erschien. Ab 1948 lebte er nach einem
einjährigen Wiener Aufenthalt, bei dem er Ingeborg Bachmann kennengelernt hatte, in Paris.
1952 nahm er an einer Tagung der Gruppe 47 teil, erst danach fand seine Dichtung eine
wachsende Leserschaft in Österreich und Deutschland. Nachdem Celan ab 1950 Opfer einer
Verleumdungskampagne durch die Witwe des Dichters Yvan Goll geworden war, die ihn mit

6 Sieghild Bogumil-Notz: Celan, Paul. In: Poetiken. Autoren – Texte – Begriffe. Hrsg. von Monika Schmitz-Emans
unter Mitarb. von Kai Fischer. Berlin u.a.: de Gruyter 2009, S. 79.
7
Vgl. ebd., S. 79f.

5
heftigen Plagiatsvorwürfen anfeindete, konnte sich Celans Psyche nicht mehr erholen. Auf den
ersten Klinikaufenthalt folgten zeitlebens auch Depressionen, vor allem am Ende seines Lebens
im Jahr 1970, an dem er vermutlich den Freitod in der Seine gesucht hat.8

3 Die Niemandsrose. Verdichtete Poesie?

Der Gedichtband Niemandsrose war der vierte zu Lebzeiten Paul Celans erschienene und entstand
in dem Zeitraum zwischen 1959 und 1963. Zu diesem Zeitpunkt kulminierte die psychische
Belastung Celans erstmals in einer klinischen Behandlung. Die vielen Auseinandersetzungen mit
Kollegen und Kritikern in der sogenannten Goll-Affäre, in der Plagiatsvorwürfe gegen Celan
gerichtet wurden, führten schließlich zu schweren psychischen Beeinträchtigungen. Celan
fürchtete einen europaweiten neuaufkeimenden Antisemitismus und fühlte sich durch die
Diffamierungen in Zusammenhang mit den Plagiatsvorwürfen existenziell und künstlerisch
gefährdet. Thematisch spiegeln sich diese Umstände in dem Gedichtband durch eine vertiefte
Auseinandersetzung mit dem Judentum und eine für Celan neuerliche und ebenso vertiefte
Auseinandersetzung mit der russischsprachigen Literatur wider. In keinem anderen Gedichtband
treten verhältnismäßig so viele jüdische Namen, Begriffe, Rituale und mythologische, mystische
und theologische Kontexte auf. Die Gedichte sind dialogisch angelegt und beziehen sich auf
Nelly Sachs als Vertreterin des westeuropäischen Judentums und auf Ossip Mandelstam9 als
Vertreter des osteuropäischen Judentums. In Ossip Mandelstam sah Celan die ideale
Verbindungsfigur zwischen russischsprachiger Literatur und Judentum und ihm galt auch die
Widmung der Niemandsrose.10
Die Komposition des Gedichtbandes ist aufgeteilt in vier Abteilungen, die wiederum
durch Leitmotive miteinander verbunden sind. Die Anzahl der Gedichte innerhalb einer
Abteilung ist sehr unterschiedlich (17, 14, 10 und 12 Gedichte). Der Name Mandelstams kommt
in jedem der vier Abteilungen als Ganzes oder in Teilen vor. Im ersten Abschnitt werden zentrale
Fragen und Motive erstmals erwähnt, so beschäftigen sich die Gedichte Es war Erde in ihnen und
Psalm mit der Frage nach der Schöpfung, während Zürich, Zum Storchen und Soviel Gestirne die

8
Vgl. Peter Großens: Leben und Werk – eine kurze Chronik. In: Celan Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg.
von Markus May; Peter Großens; Jürgen Lehmann. Stuttgart; Weimar: Metzler 2008, S. 9-15.
9
Die genaue Widmung lautet: Dem Andenken Ossip Mandestams. Mandelstam lebte von 1898 bis 1938 und gilt als
eine der wichtigsten lyrischen Inspirationsquellen und Anregungen Celans. Celan übersetzte zahlreiche Texte
Mandelstams, sah sich mit ihm aber auch durch dessen politische Verfolgung als Dichter und Jude verbunden. Vgl.
Christine Ivanović: Widmung. In: Kommentar zu Paul Celans „Die Niemandsrose“. Hrsg. von Jürgen Lehmann.
Unter Mitarbeit von Christine Ivanovic. Heidelberg: Winter 1997. (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. Dritte
Folge. 149.) S. 45.
10
Vgl. Jürgen Lehmann: Die Niemandsrose. In: Celan Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Markus May;
Peter Großens; Jürgen Lehmann. Stuttgart; Weimar: Metzler 2008, S. 80f.

6
Frage nach dem Wissen und Nichtwissen behandeln. Kein anderer Teil bezieht sich so sehr auf
jüdische und vor allem auch kabbalistische Kontexte, die in einem engen Zusammenhang mit
Nelly Sachs11 stehen. Im zweiten Abschnitt geht es um die Thematik der Versehrtheit und im
Besonderen der Beschneidung, zudem werden Trennung und Erinnerung thematisiert (Erratisch;
Einem, der vor der Tür stand). Der dritte Teil liest sich wie eine Antwort auf den ersten Teil und
thematisiert wiederum das Kosmische. Im letzten Teil dominiert schließlich das Motiv der Rose,
und war der erste Teil noch Ankündigung und Vorbereitung, so präsentiert sich der letzte als
Erfüllung und Vollendung der aufgeworfenen Fragen.12

4 Erde als Metapher bei Paul Celan

„ ... dass die Todesfuge auch dies für mich ist: eine Grabschrift und ein Grab. [...] Auch meine Mutter hat nur
dieses Grab“13

Bereits Paul Celans frühe Gedichte, wie etwa Nähe der Gräber oder Todesfuge stehen der
Erdmetaphorik in ihrer Auseinandersetzung mit Vergänglichkeit, Tod und Totenkulten
thematisch nahe. Aus der Kulturgeschichte der Erde, im Sinne von Humus bzw. Erdboden ist
auch die Verbindung zu Begräbnisriten nicht wegzudenken. In Nähe der Gräber aus Celans erstem
veröffentlichen Gedichtband Sand aus den Urnen wird schon durch die Titelgebungen klar, dass
die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit bereits zu Beginn seines Schreibens zentral war.
Die Titel der Gedichte sind zunächst noch selbstredend und erklärend, was sich in
fortschreitenden Schaffensperioden verändern sollte und die Metaphern rund um das Begriffsfeld
„Erde“ später komplexer und unverständlicher gemacht hat.
Bereits in der Todesfuge wird dem „Grab in der Erde“ ein „Grab in den Lüften“
gegenübergestellt, jedoch betont er in einem Brief an Walter Jens, dass es sich bei dem Grab in
den Lüften weder um eine Entlehnung noch um eine Metapher handle. Diese Form der
paradoxen Umkehr ist eine Spezialität von Celans Lyrik. Weitere Hinweise, dass hier zweifelsfrei
nur die Verbrennungen der jüdischen Opfer in den Konzentrationslagern gemeint sein können,
finden sich in derselben Verszeile: „Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den
Lüften da liegt man nicht eng“ (V 15) Durch das von Asche bedeckte Haar von Sulamith, einer
bedeutenden Frauenfigur aus dem Hohen Lied, wird das Sinnbild für die Verbrennungen
innerhalb einer Verszeile gedoppelt.14

11
Das Gedicht Zürich, Zum Storchen ist Nelly Sachs gewidmet und bezieht sich auf die erste persönliche Begegnung
der beiden im Züricher Hotel Zum Storchen am Christi Himmelfahrt Tag 1960. Vgl. PCG S. 676.
12
Vgl. Lehmann, Die Niemandsrose, S. 82f.
13
PCG S. 608.
14
Vgl. ebd., S. 608f.

7
Erneut begegnet einem die Erdmetaphorik in Celans Niemandsrose. In diesem
Gedichtband sind es insgesamt zwölf Gedichte, in denen sich Relevantes rund um das
Begriffsfeld Erde finden lässt. Eine quantitative Auflistung der Nennungen ist hilfreich, um
darzustellen, wie intensiv Celan diese Begriffe beschäftigt haben. Die am häufigsten genannten
sind „Erde“, „Lehm“ und „graben“. „Erde“ selbst findet sich insgesamt siebenmal, dazu
kommen die noch nicht gezählten Adjektive und Komposita „erdig“, „Schwarzerde“, „Neben-
Erde“ und „Erdteile“, die jeweils einmal vorkommen. „Acker“ und „Fruchtboden“ werden
ebenfalls jeweils einmal erwähnt. Neben dem bereits genannten Verb „graben“ sollte auch die
Erwähnung der „Gräber“ nicht fehlen. Zudem kommt noch ein Begriffskomplex rund um
„Staub“ mit „Staubfaden“, „Staubkissen“ und „Staubfarbene“.
Die Niemandsrose beginnt mit dem Gedicht Es war Erde in ihnen und endet mit In der Luft.
Auch in In der Luft ist die Erdmetaphorik noch stark vorhanden, obwohl das Element der Luft im
letzten Teil des Gedichtbandes mit Windmühlen bereits früher präsent ist. Auch außerhalb der
Niemandsrose spielt die Erdmetaphorik in der Lyrik Celans eine Rolle, als Beispiele sollen hier nur
einige Gedichte erwähnt werden: Der Sand aus den Urnen, Aschenglorie, Lehmige Opfergüsse, Aus dem
Moorboden und Hochmoor.

4.1 Kulturgeschichtlicher Hintergrund des Elements Erde

Die Kulturgeschichte des Elements Erde ist bereits in einem rein eurozentristischen Kontext
äußerst umfangreich und vielschichtig. In vielen frühen Kulturen ist Erde der Ausgang allen
Lebens und wird meist einer weiblichen Gottheit oder Macht zugeordnet. Der wichtigen
lebenserhaltenden Funktion des fruchtbaren Ackerbodens wurde schon in der griechischen
Mythologie mit der Göttin Demeter eine entsprechende Personifizierung gegeben. Vor allem im
20. Jahrhundert wurde vermehrt auf alte Mythen zurückgegriffen. Politische Brisanz bei den
Nationalsozialisten, romantische Verklärung durch die New-Age-Bewegung und Berufung auf
Mutter Erde in den frühen Jahren des Feminismus, aber auch im Umweltschutz, sind nur kleine
Teile des Prismas.
Im Schöpfungsmythos des Alten Testaments wird Erde zunächst als Ausdruck für die
verbundene Ordnung des Oben und Unten sowie von Geist und Materie verstanden. Zur
Erschaffung der eigentlichen Erdkugel kam es erst am dritten Tag, worauf sie dann zum Inbild
des Vergänglichen und des Geschöpflichen wurde.15 Die biblische Vorstellung der Erschaffung
der Erde gleicht in ihren Grundzügen jener der antiken Mythologie. Gaia entspringt dem Chaos

15
Manfred Lurker (Hrsg.): Wörterbuch biblischer Bilder und Symbole. 3., erw. Aufl.. München: Kösel 1987, S. 93f.
s.v. Erde, Erdboden

8
und schließt sich in einer heiligen Hochzeit mit Uranos, dem Himmel, zusammen, der zuvor aus
Gaia selbst hervorgegangen ist.16
Schließlich wurde auch der Mensch aus dem Ackerboden erschaffen. Bei Gen 2,7 heißt
es: „Da machte Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in
seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.“
Diese Vorstellung der Abstammung bzw. der Erschaffung des Menschen aus der Erde
wurde auch bei Ovid formuliert, der sich an die griechische Mythologie anlehnte. Nach antiker
Vorstellung wurde der Mensch vom Titanensohn Prometheus aus der befruchteten Erde, die mit
Wasser vermischt wurde, nach dem Abbild der Götter geformt. Ähnlich der biblischen Genesis,
der ägyptischen Religionstradition und alten sumerischen Überlieferungen wird bei Ovid die Idee
der skulpturalen Schöpfung des Menschen aus Erde bzw. Lehm weitergetragen. Die
etymologische Abkunft Adams aus dem femininen Wort „adama“ (= Erde) entspricht dem
Begriff „homo“ (= Mensch), der aus dem wiederum weiblichen Wort „humus“ (=Boden)
hervorgegangen ist.17 Nach dem Ableben kommt es zum Wiedereingehen der menschlichen
Überreste in die Erde: „ ... bis du wieder zur Erde kehrst, von der du genommen bist; denn Erde
bist du und zur Erde musst du zurück“ (Gen 3,19)
Besonders im 19. und 20. Jahrhundert zeigte sich die politische Brisanz von Erde. Im
Bereich des Nationalismus und der sogenannten „Heimat-Verbundenheit“ bzw. im Kontext
verschiedener Kriegsschauplätze ist Erde auch immer mit Vaterland und Heimat-Erde
verbunden worden. Bereits zu früheren Zeitpunkten galt Erde als Teilhabe an den Opfern, die
tote Kriegshelden für eine Gemeinschaft erbracht haben. Beispielsweise wurde Waterloo in den
Jahren nach 1815 zu einer hochfrequentierten Pilgerstätte und Erde vom Schlachtboden mutierte
zu einer Art Berührungsreliquie. Hier zeigt sich auch die Idee der Speicherbarkeit, die Erde in
sich trägt. Durch das Sterben der Krieger und ihren Eingang in den Boden bezeugt die Erde den
Tod und speichert die in ihr aufgehobenen Toten.18
In der Blut-und-Boden-Ideologie der Nationalsozialisten wurde Erde zugleich auch
höchst politisch aufgeladen, was zu zahlreichen Vertreibungen und Enteignungen führte.
Menschen, die vermeintlich nicht das richtige „Blut“ hatten, wurden enteignet, vertrieben und
umgebracht. Die „Bodenpolitik“ wurde nicht nur im Zusammenhang mit Landbesitz zu einem

16
Vgl. Gernot Böhme; Hartmut Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente. Hrsg. von
Klaus Michael Meyer-Abich. München: C.H. Beck 1996, S. 33.
17
Vgl. ebd., S. 45-47. Die hebräische Mythologie kennt zur Erschaffung Adams mehrere Varianten. Beispielsweise
wird auf Jahwes Befehl die Erde von Adam entbunden wird bzw. wird Adam aus reinem Staub mit angerührtem
Wasser geformt. Vgl. ebd., S. 47.
18
Vgl. Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. München: C.H. Beck 2001,
S. 125.

9
entscheidenden Faktor, sondern wurde geradezu zur Grundlage des sozialen und politischen
Lebens und diente als Rechtfertigung für die Siedlungspolitik des Zweiten Weltkrieges.19
Das Schicksal von Paul Celans Familie kann exemplarisch für die weit reichenden Folgen
dieser Art von Politik gesehen werden. Ein weiterer wichtiger Faktor, der im Zusammenhang mit
den Gräueltaten des Nationalsozialismus und insbesondere mit der Lyrik Celans zusammenhängt,
war das durch Kriegsvollstrecker praktizierte und überwachte Graben der eigenen Gräber, wie es
von den Opfern in zahlreichen Vernichtungslagern durchgeführt werden musste. Celan
thematisierte dies bereits in der Todesfuge (V 8 „er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein
Grab in der Erde“). In welchem Zusammenhang diese kulturgeschichtlichen Hintergründe mit
der Lyrik Paul Celans im Konkreten stehen, soll nun im Folgenden bei der genauen
Interpretation erläutert werden.

4.3 Es war Erde in ihnen

1 ES WAR ERDE IN IHNEN, und


2 sie gruben.
3 Sie gruben und gruben, so ging
4 ihr Tag dahin, ihre Nacht. Und sie lobten nicht Gott,
5 der, so hörten sie, alles dies wollte,
6 der, so hörten sie, alles dies wußte.
7 Sie gruben und hörten nichts mehr;
8 sie wurden nicht weise, erfanden kein Lied,
9 erdachten sich keinerlei Sprache.
10 Sie gruben.
11 Es kam eine Stille, es kam auch ein Sturm,
12 es kamen die Meere alle.
13 Ich grabe, du gräbst, und es gräbt auch der Wurm,
14 und das Singende dort sagt: sie graben.
15 O einer, o keiner, o niemand, o du:
16 Wohin gings, da’s nirgendhin ging?
17 O du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu,
18 und am Finger erwacht uns der Ring.20

Es war Erde in ihnen ist das Eröffnungsgedicht des gesamten Bandes und behandelt in sich
zentrale Fragestellungen, die für die kommenden Gedichte ebenso relevant sind. Stellt man sich
den Eingangssatz „Es war Erde in ihnen“ zunächst bildlich vor, eröffnet sich beim Lesen der
ersten Zeile bereits ein dunkles und bedrückendes Bild. Der Ort des Grabens ist jedenfalls
unterirdisch, eventuell, auf einer anderen, psychischen Ebene gesehen, auch unterbewusst.

19
Vgl. Anna Bramwell: Blut und Boden. In: Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 3. Hrsg. von Etienne Francois und
Hagen Schulze. C.H. Beck: München 2001, S. 380.
20 PCG S. 125.

10
Irgendetwas scheint jedenfalls verschüttet zu sein, auch wenn das Graben zunächst unspezifisch
bleibt. Dazu passend wäre auch das nächste Gedicht des Bandes, Das Wort vom Zur-Tiefe-Gehn, das
ebenfalls in einem unbestimmten Raum angesiedelt ist und mit der Tiefe wiederum an etwas
Verborgenes, Vergrabenes und Verschüttetes denken lässt (V 5 - 8 „Weißt du, der Raum ist
unendlich, / weißt du, du brauchst nicht zu fliegen, / weißt du, was sich in dein Aug schrieb, /
vertieft uns die Tiefe“). Die Grabenden, die nicht genauer beschrieben werden, tragen Erde in
sich und sind von Erde umgeben. Hier lassen sich verschiedenartigste Assoziationsketten bilden.
Einerseits bestehen Menschen nach der antiken Vier-Elemente-Lehre auch im übertragenen
Sinne in quantitativ unterschiedlichen Bestandteilen aus Erde, Wasser, Feuer und Luft,
andererseits wurde der Mensch in diversen religiösen Vorstellungswelten aus Erde geschaffen
und geht nach dem Tod wieder in sie ein. Das Graben kann auch als psychisches Suchen
verstanden werden, wie man es etwa von dem Sprichwort „In der Vergangenheit graben“ kennt.
In den folgenden Versen stellt sich heraus, dass das Graben eine permanente und wiederholende
Tätigkeit ist, losgelöst von Raum und Zeit, die daran vorbeifliegt (V 3-4). In V 4 wird Gott
thematisiert und es stellt sich die Frage, warum die Grabenden Gott nicht loben, wo sie doch
ganz offensichtlich über seine Existenz Bescheid wissen. Vielleicht loben die Grabenden Gott
nicht, weil sie ihn beschuldigen, nichts an ihrem Schicksal zu ändern, bzw. weil Gott dieses
Schicksal für sie sogar wollte.21 (V 6) Die weitere Verwahrlosung der Grabenden zeigt sich in V 7
– 8, in denen das ziellose, monotone und aussichtslose Graben fortgesetzt wird. Es sind deutliche
Anzeichen fehlender und vergehender Vitalität, dass das Hörvermögen (V 7 „und hörten nichts
mehr“), Wissenszuwachs (V 8 „sie wurden nicht weise“) und Phantasie und Kreativität (V 8 - 9
„erfanden kein Lied, / erdachten sich keinerlei Sprache) abhandengekommen sind. In V 11 – 14
kommt es zu einer deutlichen Veränderung der Konstitution der Grabenden durch äußere
Naturgewalten (V 11-12 „es kam auch ein Sturm, / es kamen die Meere alle“). Offen bleibt
zunächst, was es mit dem Singenden in V 14 auf sich hat. Eine mögliche Verbindung besteht
einerseits zur Todesfuge, die für das gesamte Gedicht eine wichtige Referenz ist: „stecht tiefer die
Spaten ihr einen ihr andern singet und spielt“ und „das Singende“ beinhaltet.22 (V 16)
Andererseits kann auch Psalm 137, der von der Forschungsliteratur bereits mit der Todesfuge in
Verbindung gebracht wurde, dazu ergänzt werden.

21
Vgl. dazu auch: Jan-Heiner Tück: Gelobt seist du, Niemand. Paul Celans Dichtung - Eine theologische
Provokation. Frankfurt am Main: Josef Knecht 2000, S. 50-70. Nach meiner eigenen Interpretation habe ich bei Jan-
Heiner Tück ähnliche Ansätze bezüglich der Ausweglosigkeit des Grabens und des psychischen Kontexts gefunden.
22
Zum musikalischen Kontext soll auch erwähnt sein, dass die Todesfuge im Erstdruck in rumänischer Sprache
unter dem Titel Tangoul mortii, was übersetzt Todestango heißt und sich auf Elemente des Totentanzes bezieht,
erschienen ist. Vgl. PCG S. 607.

11
„An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Unsere Harfen hingen wir
an die Weiden, die daselbst sind. Denn dort hießen uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserem
Heulen fröhlich sein: Singet uns ein Lied von Zion! Wie sollen wir des Herrn Lied singen in fremden
Landen? Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde ich meiner Rechten vergessen. Meine Zunge soll an
meinem Gaumen kleben.“ (Ps 137, 1-6)

Die Aufforderung an die im Exil gefangen Gehaltenen war es, ein Lied zu singen, was das Volk
dem Feind jedoch verweigerte. Den Juden, die sich in der Todesfuge, angehalten von den
Aufsehern der Konzentrationslager, selbst ihr Grab schaufeln mussten, wurde in makabrer Art
und Weise ebenso befohlen, das Graben mit Musik und Gesang zu begleiten (V 16). Beide
Referenzstellen verweisen auf den Befehl des Singens durch eine feindlich gesinnte Macht,
allerdings kann „das Singende“ nicht genauer spezifiziert werden.23
Auch Jan-Heiner Tück stellt im Zusammenhang mit V 4 aus Es war Erde in ihnen eine
Verbindung zu Psalm 137 her. Ähnlich wie den Grabenden, die ein Loben Gottes verweigern,
verweigerte auch das Volk Israels im babylonischen Exil das Gotteslob. Die Verweigerung des
Gotteslobs in Psalm 137 ist jedoch eine Form der Treue des Gottesvolkes, da es das Singen
seiner heiligen Lieder für die Feinde verweigert. Ein möglicher Gegenentwurf wäre, dass bei
Celan Gott selbst für das Verstummen des Gotteslobes verantwortlich ist, da er sein Volk
wissentlich in seinem Unglück belässt.24
Für die formale Betrachtung des Gedichts soll zunächst auf den Zusammenhang
zwischen dem Gedicht und der traditionellen Form der Psalmenlyrik hingewiesen werden. Im
Alten Testament gibt es 150 Psalmen, wobei die meisten vor allem Hymnen und Klagelieder sind.
Die wesentlichsten Charakteristika der Psalmen sind ihre dialogische Struktur, ihre eindringliche
Bildhaftigkeit, eine einfache und konkrete Metaphorik, überschwängliche Expressivität und
formelhafte Wiederholungen. Psalmen folgen keinerlei festem metrischem Schema oder Reim
und ihre Versbildung wird durch einen syntaktischen Gleichlauf der Verse, den sogenannten
parallelismus membrorum, bedingt. Die Psalmenlyrik steht zwischen Poesie und Prosa sowie
zwischen Musik und Sprache. Nach 1945 kam es wieder zu einem vermehrten Rückgriff auf diese
traditionsreiche Form. Man versuchte eine angemessene Form für die Klage um die jüdischen
Opfer des Holocausts bzw. der Shoah zu finden. So bediente sich etwa Nelly Sachs in ihrem

23
Hendrik Birus bringt „das Singende“ ebenso mit der Todesfuge in Verbindung und löst es in seinem Kommentar
wie folgt auf: „Die quasi-epische Distanz gegenüber den Grabenden wird noch durch das Neutrum „das Singende“ –
womit in Celans Lyrik auch Abstrakta wie „das Wort“, „die Zeit“, „die Endlichkeit“ oder andere Wesen „jenseits /
der Menschen“ gemeint sein können – verstärkt: keine überzeitliche, transzendente Instanz, doch zugleich nicht
notwendig zur Kette der Lebewesen, vom Menschen bis herab zum Wurm, gehörig.“ Hendrik Birus: Es war Erde in
ihnen. In: Kommentar zu Paul Celans „Die Niemandsrose“, S. 54.
24
Vgl. Tück, Gelobt seist du, Niemand, S. 55f.

12
Gedicht Chöre nach Mitternacht bzw. auch Ingeborg Bachmann in Die gestundene Zeit der
Formenelemente des Psalms.25
Die diversen Stilmittel der Wiederholung, zu denen zum Beispiel Anaphern („Sie
gruben“), Anadiplosen (V 1 und 2) bzw. auch Epanalepsen (V 3 „sie gruben und gruben“)
gehören, rühren somit von der Gattung des Psalms her und stehen auch im intertextuellen Bezug
zum wiederholenden und litaneiartigen Charakter der Todesfuge. Peter Hühn hat die Rolle des
Sprechers genauer untersucht und unterscheidet dafür zwei Sequenzen innerhalb des Gedichtes.
Sequenz A erstreckt sich von Vers 1 bis 12 und Sequenz B von Vers 13 bis 18. In Sequenz A
erzählt der Sprecher das Geschehen in Präteritum und verweist auf ein „sie“, das eine nicht
weitergehend spezifizierte Gruppe von Menschen meint (V 1 „Es war Erde in Ihnen und sie
gruben“). Hingegen tritt in Sequenz B der Sprecher als Individuum hervor (V 13 „ich grabe“)
und spricht zugleich ein weiteres menschliches Individuum (V 13 „du gräbst“) und ein
nichtmenschliches Individuum, den Wurm, an. Alle drei Individuen gehen der Tätigkeit des
Grabens jedoch in Präsensform nach. „Es war Erde in ihnen“ bezeichnet eine Konstitution des
menschlichen Kollektivs. Das Verb „graben“ zeigt an, dass das Kollektiv bearbeitet, was es in
sich trägt. In V 11 und 12 werden dem Element Erde, das dem Kollektiv innewohnt und in dem
das Kollektiv gräbt, die beiden konträren Elemente Luft und Wasser entgegengestellt („es kam
auch ein Sturm und es kamen die Meere alle“). Das Eintreten dieser elementaren Mächte führt zu
einer Auslöschung, die zugleich den Wandel zu Sequenz B darstellt. Im Gegensatz zum
richtungs- und ziellosen Graben in Sequenz A wird das Graben in Sequenz B problematisiert und
hinterfragt (V 16 „wohin gings wenns nirgendhin ging“). Hier verdeutlicht sich eine klare
Suchbewegung im Graben (V 15 „O einer, o keiner, o niemand, o du“) und daraufhin offenbar
das Auffinden eines „Dus“ (V 17 „ich grab mich dir zu“). Schließlich kommt es in der letzten
Verszeile zum symbolträchtigen Erwachen eines Rings am Finger der beiden Individuen.26

4.4 Psalm
PSALM
1 Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
2 niemand bespricht unsern Staub.
3 Niemand.
4 Gelobt seist du, Niemand.
5 Dir zulieb wollen
6 wir blühn.
7 Dir

25
Vgl. Helmut Gall: Psalm. In: Sachlexikon Literatur. Hrsg. von Volker Meid. München: Deutscher Taschenbuch
Verlag 2000, S. 719f.
26
Peter Hühn: Paul Celan. "Es war Erde in ihnen". In: Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen
Gedichten vom 16. Bis zum 20. Jahrhundert. Hrsg. von Jörg Schönert; Peter Hühn; Malte Stein. Berlin; New York:
de Gruyter 2007. (= Narratologia. 11.) S. 282 – 286.

13
8 entgegen.
9 Ein Nichts
10 waren wir, sind wir, werden
11 wir bleiben, blühend:
12 die Nichts-, die
13 Niemandsrose.
14 Mit
15 dem Griffel seelenhell,
16 dem Staubfaden himmelswüst,
17 der Krone rot
18 vom Purpurwort, das wir sangen
19 über, o über
20 dem Dorn.

Bereits der Titel Psalm verrät, dass sich dieses Gedicht wiederum an die Formenelemente der
Psalmenlyrik anlehnt und sich mit einem biblischen Thema auseinandersetzt. Die ersten drei
Verszeilen verbindet die Stilfigur der Anapher, da jede Zeile mit „niemand“ beginnt und sich
Celan wiederum des parallelismus membrorum der klassischen Psalmendichtung bedient, was
zugleich auch eine besondere Bedeutung auf das wiederholte Wort legt. Das „niemand“ der
ersten Verszeilen ist eine Leerstelle, an der eigentlich „Gott“ stehen sollte. Hier bezieht sich
Celan wiederum auf den biblischen Schöpfungsmythos der Genesis, allerdings wurde in der
jüdischen-kabbalistischen Tradition nicht nur der Mensch, sondern auch der Golem aus Lehm
geformt. In V 2 wird mit „niemand bespricht unsern Staub“ möglicherweise auf Gen 2,7
verwiesen: „Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den
Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.“ In diesem Sinne wäre das Besprechen mit
dem Einblasen des Lebensodem gleichzusetzen. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass der Staub
auch im Sinne von Blütenstaub verstanden werden kann, denn das durch vier Strophen geteilte
Gedicht beinhaltet in den Strophen 2 bis 4 immer auch Begriffe aus der Biologie.
Die nächste Strophe beginnt mit einer Abwandlung der Gebetsformel „Gelobt seist du,
Christus“, die in christlichen Messen normalerweise nach der Lesung aus dem Evangelium
gesprochen wird, zu dem Satz „Gelobt seist du, Niemand“. Durch die Großschreibung von
„Niemand“ wird nochmals ein Akzent darauf gelegt. Der Satz eröffnet zugleich auch eine direkte
Ansprache der Leerstelle, die im gesamten Absatz beibehalten wird. Auch eine Bemühung des
Kollektivs, um „Niemand“ entgegenzukommen, ist erkennbar, allerdings führen diese
Bemühungen wiederum ins Nichts und sind somit vergeblich (V 7 -8 „Dir / entgegen“). Der Satz
„Gelobt seist du, Niemand“ könnte auch damit zusammenhängen, dass im jüdischen Glauben
Christus nicht als Sohn Gottes anerkannt wurde und er aufgrund der Nicht-Existenz des
Gottessohnes aus jüdischer Glaubenssicht als Niemand bezeichnet wird.

14
In der Fachliteratur findet der Christus-Bezug keine Bestätigung. Das „Gelobt seist du,
Niemand“ wird in der Literatur als Umkehr des Gotteslobes verstanden und wird im
Zusammenhang mit den häufigen Formeln „Gelobt sei der Herr“ oder „Gelobt sei Gott“ aus
dem Alten Testament interpretiert.27
In der dritten Strophe zeigt sich, dass auch das Kollektiv „wir“ mit einem Nichts und
somit einer Leerstelle aus der Sicht des Sprechers gleichgesetzt wird. Wenn man an den
alltäglichen Sprachgebrauch denkt, so ist jemand ein Nichts, wenn es ihm an Wertigkeit bzw.
Status im gesellschaftlichen System mangelt. Wird das Nichts im Zusammenhang mit dem
Hilfszeitwort „sein“ mit einer Person in Verbindung gebracht, ist es meist eine degradierende
Aussage. Als Beispiel wäre hier „Du bist ein Nichts“ anzuführen. Vielleicht verbindet Celan mit
dieser mangelnden Wertigkeit das Schicksal des jüdischen Volkes, das seit jeher verfolgt und
denunziert wurde. Jedenfalls scheint es von Seiten des Sprechers für das Kollektiv keinen
Ausbruch daraus zu geben, da es wiederholend in drei Zeitstufen auftritt (V 10 – 11 „waren wir,
sind wir, werden / wir bleiben“). Die „Niemandsrose“, die dem Gedichtband seinen Namen
gegeben hat, wird verbunden mit der „Nichtsrose“ genannt (V 12-13 „die Nichts-, die
Niemandsrose“). Wenn man nun bereits in den früheren Gedichtzeilen bei „Niemand“ an
Christus gedacht hat, so ist auch hier die Konnotation zum Rosenkranzgebet bzw. zur
Dornenkrone Christi naheliegend.28
Die vierte und letzte Strophe verschreibt sich komplett der Niemandsrose. In V 16 gibt
es einen neuerlichen Verweis auf Staub durch den „Staubfaden“, der ein Fachbegriff aus der
Biologie ist und einen Teil der Blüte ist, „die Krone rot“ (V 17) und das „Purpurwort, das wir
sangen“ (V 18) lassen wiederum an das blutende Haupt Christi beim Aufsetzen der Dornenkrone
denken. Besonders die letzte Verszeile gibt mit „dem Dorn“ nochmals einen entscheidenden
Hinweis auf die Dornenkrone und die Passion Christi.
Viele der oben genannten Aspekte finden sich auch in der Fachliteratur und in den
Kommentaren wieder. Die früh hergestellte Verbindung zu Christus vor allem in V 4 und 13
scheint im Zusammenhang mit dem letzten Absatz, der durch die Attribute „Krone“,
„Purpurwort“ und „Dorn“ in der Fachliteratur sehr wohl mit der Passion Christi in Verbindung
gebracht wird, gerechtfertigt. Offensichtlich hat sich noch niemand gefragt, warum ausgerechnet
allein im letzten Absatz auf den christlichen Glauben Bezug genommen wird, während sich der
Rest des Gedichts auf den jüdischen Gott des Alten Testaments bezieht. Hierzu muss ergänzend
gesagt werden, dass es auch Interpretationsansätze gibt, nach denen die Rose zugleich auch als

27
Vgl. etwa PCG S. 679.
28
Wieder muss darauf hingewiesen werden, dass die Niemandsrose in diesem Absatz des Gedichtes in keiner der mir
zur Verfügung stehenden Fachliteraturen mit Christus gleichgesetzt wird.

15
Symbol für das Volk Israel steht. So heißt es etwa beim Propheten Hosea29: „Ich will Israel wie
ein Tau sein, dass er soll blühen wie eine Rose, und seine Wurzeln sollen ausschlagen wie der
Libanon“30 Hos. 14, 6
Die Verbindung zwischen dem „Einblasen des Lebensodem“ und dem „Besprechen des
Staubs“ in V 2 wird auch von Tück hergestellt, der ebenfalls auf den Golem-Mythos31 verweist.
Der Staub kann aber auch im Zusammenhang mit der Vergänglichkeit gesehen werden, zumal er
auch eine Chiffre für Kreatürlichkeit, Tod und die allgemeine Sterblichkeit des Menschen ist.
Tück stellt die These auf, dass das Gedicht stellvertretend für die Toten spricht, die im Psalm um
eine Wiederherstellung bzw. Neuschöpfung bitten. Zur Frage nach dem Niemand gibt es diverse
Deutungsansätze, die von einer radikalen antitheologischen Negation der Existenz Gottes bis hin
zur Verherrlichung Gottes durch das Verweigern der Verwendung seines Namens, um einen
Missbrauch zu verhindern, reichen. Die zahlreichen Paradoxons und Widersprüche müssen diese
Frage offen lassen.32
Der Gesamteindruck von Psalm bleibt ein düsterer und undurchsichtiger. Wenn auch
verschiedene Interpretationsansätze verfolgt werden können, bleibt aufgrund der Vielzahl der
Möglichkeiten kein einheitliches Bild vom Gedicht als Gesamtes zurück, zumindest wenn man es
auf Gedeih und Verderb bis ins letzte Detail analysieren will. Mit etwas Abstand und den nötigen
Hintergrundinformationen fügt sich das Gedicht in seiner Auseinandersetzung mit der Shoah,
seinen biblischen Bezügen und seinem bedrückenden Grundton nahtlos in die Reihe von
Todesfuge und Es war Erde in ihnen. Bernd Auerochs hat sich in seiner Interpretation zu Psalm mit
der „Dunkelheit“ und der Undurchsichtigkeit Celans auseinandergesetzt und zitiert dabei Celans
Eigenaussage aus einem Entwurf für seine Büchnerpreisrede: „Das Gedicht ist als Gedicht
dunkel, es ist dunkel, weil es das Gedicht ist. [...] das Gedicht will verstanden sein, es will gerade,
weil es dunkel ist verstanden sein – { - }: als Gedicht, als ‚Gedichtdunkel’“33 Celans Lyrik wirkt
dadurch oft kryptisch, da sie weitgreifende, oft historische Bedeutungszusammenhänge auf
knappste Anspielungen zusammenkürzt. Sogar Einzelwörter können bei Celan eine ganze Flut
von Bedeutungshinweisen eröffnen. Die zahlreichen Neologismen und Versatzstücke aus
verschiedenen Fachsprachen sind der Verknappung zuträglich. Die Gedichte erbauen eine eigene

29
Vgl. Tück, Gelobt seist du, Niemand, S. 89.
30
Die Rose kommt nur in der Lutherbibel von 1545 und 1912 vor, in den späteren Bibelübersetzungen und der
Lutherbibel von 1984 ist die Rose durch eine Lilie ersetzt.
31
Vgl. dazu Gershom Sholem: Die Vorstellungen vom Golem in ihren tellurischen und magischen Beziehungen. In:
Gershom Sholem. Zur Kabbala und ihrer Symbolik. 6. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 210: „Die
polnischen Juden machen nach gewissen gesprochenen Gebeten und gehaltenen Fasttagen die Gestalt eines
Menschen aus Ton oder Lehmen, und wenn sie das wundertätige Schemaphoras darüber sprechen, so muss er
lebendig werden.“
32
Vgl. Tück, Gelobt seist du, Niemand, S. 76-79.
33
Paul Celan: Der Meridian. Endfassung – Vorstufen – Materialien. Hrsg. von Bernhard Böschenstein u. Heino
Schmull. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 140.

16
sprachliche Wirklichkeit, die in einem hohen Grad selbstreferenziell ist und innerhalb des
Celan’schen Sprachkosmos bleibt.34

6 Schwarzerde und andere Gedichte

„Poesie ist ein Pflug, der die Zeit in der Weise aufreißt, dass ihre Tiefenschichten, ihre Schwarzerde zutage tritt.“35

1 SCHWARZERDE, schwarze
2 Erde du, Stunden-
3 mutter
4 Verzweiflung:

5 Ein aus der Hand und ihrer


6 Wunde dir Zu-
7 geborenes schließt
8 deine Kelche.36

Für Ossip Mandelstam war die Erde ein symbolischer Platzhalter für die Zeit bzw. der
Vergangenheit, die durch die Poesie im Akt des „Pflügens“ in ihren Tiefenschichten erfasst
werden kann. Während Celan an der Niemandsrose schrieb, übersetzte er zeitgleich mehrere
Gedichte des russischsprachigen Dichters Mandelstam und widmete diesem auch den gesamten
Band.37
Die „Schwarzerde“ ist bei Mandelstam die fruchtbare, durch historische Erfahrung
geschwärzte Erde. Auf diese Fruchtbarkeit geht Celan bereits im Gedicht Radix, Matrix ein, das
Schwarzerde vorangeht. Hier sind es die Bilder des „Ackers“ (V 14) und des „Fruchtbodens“ (V
31), die für das Fruchtbare der Dichtung stehen. Das „Schwarze“ der Schwarzerde ist bei Celan
allerdings nicht mehr nur das Fruchtbare der Poesie, sondern drückt auch „Verzweiflung“ (V 4)
und Versehrtheit aus. Schwarzerde ist in diesem Sinn ein Gedicht über das Dichten selbst. Das
Wort „Schwarzerde“ selbst ist eine Übersetzung des russischen Wortes černozem, eine bis zu 20
Meter tiefe und äußerst fruchtbare Humusschicht, die sich in großen Gebieten Südrusslands, der
Ukraine und des nordöstlichen Balkans einschließlich der Bukowina finden lässt. Auch Celans

34
Auerochs, Bernd: Gründung und Auslöschung des Judentums. Zu Paul Celans Gedicht "Psalm". In:
Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 45 (2004), S. 265.
35
Ossip Mandelstam: Das Wort und die Kultur. In: Ossip Mandelstam: Über den Gesprächspartner. Hrsg. von
Ralph Dutli. Zürich: Amman 1991, S. 84-47. Dieses Zitat Mandelstams wurde bei der Rundfunksendung Die Dichtung
Ossip Mandelstams von Celan explizit hervorgehoben. Vgl. Germinal Čivikov: Schwarzerde. In: Kommentar zu Paul
Celans „Die Niemandsrose“, S. 170.
36 PCG S 141
37
Juliana P. Perez: Offene Gedichte. Eine Studie über Paul Celans DIE NIEMANDSROSE Gedichte. Würzburg:
Königshausen & Neumann 2010, S. 41.

17
Geburtsstadt Czernowitz, die sich in der Bukowina befindet, hängt lexikalisch mit „Schwarzerde“
zusammen. (černyi = schwarz) Auch Mandelstam verfasste in Voronež, einem Gebiet inmitten
der südrussischen Schwarzerderegion, ein Gedicht mit dem Titel Schwarzerde. Die „Stunden-/
mutter“ (V 2-3) liest sich in einem rhythmischen und akustischen Parallelismus zu „schwarze /
Erde“ (V 1-2) und erzeugt so ein Beziehungsgeflecht dieser Wörter, indem es die bekannten
Topoi „Mutter Erde“ und „schwarze Stunden“ bildet. Hier klingt aber auch das Motiv der
ermordeten Mutter an. Der Kelch in V 8 ist wie die „Krone“ aus Psalm zur christlichen Symbolik
zu rechnen, der eine Erweiterung der christlichen Leidenssymbolik ist. Das „schließen“ könnte in
Verbindung zu dem häufig von Celan verwendeten Motiv der „Urne“ stehen, das entweder den
Akt des Bewahrens oder den Akt der Selbstauslöschung anzeigt.38
Wie bereits angeklungen, hängt auch das Gedicht Radix, Matrix, das Schwarzerde
vorangeht, mit der Erdmetaphorik zusammen. Das lateinische Wort „radix“ bezeichnet die
Baumwurzel und lässt sich so auf Ursprung, Herkunft und Geschlecht beziehen. Unter „radix
virilis“ wird „männliches Glied“ verstanden. Das Wort „Matrix“ hingegen ist in seiner
biologischen Bedeutung mit Mutterleib, Gebärmutter, Mutterschoß, Mutterboden und vor allem
dem pflanzlichen Nährboden verbunden. Inhaltlich stellt sich die Frage nach Abstammung und
Identität, aber es behandelt auch poetologische Fragen. Für die Frage nach der Erdmetaphorik
sind die beiden Wörter „Ackerboden“ und „Fruchtboden“ bedeutend.39

30 auch dieser
31 Fruchtboden klafft,
32 dieses
33 Hinab
34 ist die eine der wild-
35 blühenden Kronen.40

Poetologisch gesehen liegt die Bedeutung des „Fruchtbodens“, der eigentlich ein botanischer
Terminus ist, im Sinne der Kultur und der sprachlichen Substanz, in der das Gedicht wurzelt. Die
deutsche Sprache wird als „Nährboden“ für den „keimenden“ Antisemitismus gesehen. Das
Klaffen hängt somit auch mit dem Abgrund der Sprache als Heimat zusammen und ist ebenso
der gemeinsame Fruchtboden von Celan, Nelly Sachs und Ossip Mandelstam.41
Die Erde im planetarischen Sinne lässt sich im Gedicht Eis, Eden finden, wo von den
„hellen Erden“42 (V 6) die Rede ist. Auch in Le Menhir ist Erde in einem globalen Zusammenhang
anzutreffen: „ Wachsendes / Steingrau / Graugestalt, augen- / loser du, Steinblick, mit dem uns
38
Germinal Čivikov: Schwarzerde. In: Kommentar zu Paul Celans „Die Niemandsrose“, S. 170-172.
39
Vgl. ebd., S. 163f.
40 PCG S. 140. Letzte Strophe aus Radix, Matrix.
41
Vgl. Čivikov: Radix, Matrix. In: Kommentar zu Paul Celans „Die Niemandsrose“, S. 168.
42
PCG S. 132.

18
/ die Erde hervortrat, menschlich, / auf Dunkel-, auf Weißheidewegen, / abends, vor / dir,
Himmelsschlucht.“43 Im Gedicht Was geschah? ist von der „Neben-Erde“ die Rede, ein möglicher
Bezug auf Walter Benjamin, der von einer „Gegen- oder Nebenerde“ sprach bzw. auch auf Jean
Paul, der sich eine „schöne“ Nebenerde als planetarische Alternative zu „dieser wüsten
schmutzigen Welt“ entwarf.44 Die Erden in den beiden Gedichten Hinausgekrönt und Hüttenfenster
sind ähnlich angelegt. „Und es steigt eine Erde herauf, die unsere / diese“45 (Hinausgekrönt V 35-
36) korrespondiert mit „ziehst, mit Herzfingern, an / dir, Erde / du kommst, du kommst, /
wohnen werden wir, wohnen, etwas“. (Hüttenfenster V 8-11) Auch die “Gräber” werden in
Hüttenfenster in V 30 direkt benannt und stehen möglicherweise im Zusammenhang mit dem
Prager Judenfriedhof.
In Einiges Handähnliches heißt es: „Rasch – Verzweiflungen, ihr / Töpfer! – rasch / gab die
Stunde den Lehm her, rasch / war die Träne gewonnen -:“46 ( V 4-7) Der Bezug auf die
Schöpfungsgeschichte kommt hier in einer Kontrafaktur vor. Zwei weitere Gedichte der
Niemandsrose haben einen Bezug zu Erdmetaphorik. Zum einen ist es Die Silbe Schmerz und zum
anderen das Abschlussgedicht des Bandes In der Luft. In Die Silbe Schmerz sind es die “Erdteile”,
die mit den “Herzteilen” in einen Parallelismus gestellt werden.
Das Gedicht In der Luft beendet die Niemandsrose, das mit Es war Erde in ihnen eine
Klammer bildet. Vom Element Erde wurde zum Element Luft übergegangen, jedoch ist die
Erdmetaphorik auch hier noch entscheidend, bzw. korrespondiert sie mit der Luft, wie es in der
ersten Strophe sehr gut zu sehen ist.

1 In der Luft, da bleibt deine Wurzel, da,


2 in der Luft.
3 Wo sich das Irdische ballt, erdig,
4 Atem-und-Lehm.47

Der sogenannte Baum der Kabbala, Lebensbaum oder auch Sefiroth-Baum ist ein Baum, der der
Darstellung der 10 Sefirot dient und dessen Wurzeln in die Luft stehen. Margarete Susmann
beschreibt den Lebensbaum in ihrer Publikation Deutung biblischer Gestalten wie folgt:

“Der Baum des Volkes ist aus dem heimatlichen Erdreich ausgerissen, er wächst und wurzelt nicht mehr. Da ward
Ezechiel gewiss: Die Wurzelung war verfehlt.48 Und nun geschieht das Ungeheure: der Prophet ergreift mit

43
Ebd., S. 150.
44
Vgl. Otto Lorenz: Was geschah? In: Kommentar zu Paul Celans „Die Niemandsrose“, S. 267.
45
PCG S. 154
46
Ebd., S. 138.
47 Erste Strophe des Gedichts In der Luft. PCG S. 166.

19
gewaltiger Hand den im Leeren hängenden Baum, reißt ihn vollends heraus aus dem alten Erdreich, reißt auch noch
die letzten Wurzelfasern, die sehnsüchtig im Heimatboden hängen, aus, reißt ihn herum in die entgegengesetzte
Richtung und pflanzt ihn in einer ungeheuren Umkehrung gegen alles natürliche Wachstum, die Wurzeln nach oben,
wieder ein.49

Intertextuell verweist In der Luft aufgrund des Motivs der Wurzel auf Radix, Matrix, das wiederum
in enger Verbindung mit Schwarzerde steht. Die Anklänge an die Genesis durch die Verbindung
von “Atem-und-Lehm” (V 4) lassen hingegen an die Gedichte Psalm und Es war Erde in ihnen
denken, mit dem Celan seinen Gedichtband begonnen hat.

5 Zusammenfassung

Der Weg in den Sprachkosmos Paul Celans ist unabhängig davon, ob man Fachliteratur dazu
liest oder nicht, ein intensiver und zuweilen auch anstrengender, zuletzt aber vor allem auch ein
lohnender Weg. So ist es beispielsweise eine lustvolle Herangehensweise, die Gedichte zunächst
unbefangen auf sich wirken zu lassen und danach wie bei einem Ratespiel zu versuchen,
möglichst viele Konnotationen herzustellen, um sie dann beim Vergleich mit der Fachliteratur
auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Diese methodische Vorgehensweise wurde von mir bei Es
war Erde in ihnen und Psalm ausreizend angewandt. Es ist nach wie vor faszinierend, wie der
belesene Paul Celan sein Wissen und breitgefächertes Interesse in seine Lyrik eingeflochten hat.
Das Interesse und die Hinterfragung nach Erdmotiven und Erdmetaphern mag zunächst
ungewöhnlich klingen, doch das Durchforschen der Gedichte hat sich bald als lohnendes
Unterfangen herausgestellt. Allein in der Niemandsrose sind es 12 Gedichte, die sich explizit auf
Erde beziehen. Eröffnung und Abschluss des Bandes stehen ebenfalls ganz im Zeichen der
Elemente, die wohl im Wesentlichen durch Ossip Mandelstams Verständnis von Erde als Symbol
für Zeit und Vergänglichkeit zusammengehalten werden.
Als Ausblick wäre festzuhalten, dass die Gegenüberstellung von Erde und Luft, die durch
die Sinnklammer zwischen Es war Erde in ihnen und In der Luft gebildet wurde, bereits in der
Todesfuge mit dem “Grab in den Lüften” eine spannende und durchaus erprobte war. Die
Interpretationen und die immer wieder neu herzustellenden intertextuellen Bezüge werden
weiterwachsen, solange Interesse an Celans Lyrik besteht.
Celans biographischer Hintergrund, die Motive und Themen seiner Lyrik und der schwer-
lastende Ton, den sie anschlägt, rühren in einer bleibenden Weise an und bleiben einem als

48 Paul Celan hat diese Textstelle in dem Expemplar seiner Bibliothek unterstrichen. Der gesamte Textausschnitt
wurde von ihm außerdem noch mit diversen Randzeichnungen versehen. Vgl. PCG S. 716
49 Margarete Susman: Deutung biblischer Gestalten. Konstanz; Stuttgart: Diana 1960, S. 26f.

20
Leseerinnerung bestimmt lange erhalten. Celan ist nicht kurzlebig, geht nicht schnell vorbei,
sondern bleibt bei einem und ruft in Erinnerung, dass schon mit einem einzigen Wort oft viel
gesagt sein kann.

21
6 Literaturverzeichnis

PRIMÄRLITERATUR

Celan, Paul: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hrsg. und
kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.

Celan, Paul: Der Meridian. Endfassung – Vorstufen – Materialien. Hrsg. von Bernhard
Böschenstein u. Heino Schmull. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999.

SEKUNDÄRLITERATUR

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Deutscher Taschenbuch Verlag 1963.

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Čivikov, Germinal: Schwarzerde. Kommentar zu Paul Celans „Die Niemandsrose“. Hrsg. von
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zur neueren Literaturgeschichte. Dritte Folge. 149.) S. 170-172.

Čivikov, Germinal: Radix, Matrix. Kommentar zu Paul Celans „Die Niemandsrose“. Hrsg. von
Jürgen Lehmann. Unter Mitarbeit von Christine Ivanovic. Heidelberg: Winter 1997. (= Beiträge
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Fußl, Irene: „Geschenke an Aufmerksame“. Hebräische Intertextualität und mystische


Weltauffassung in der Lyrik Paul Celans. Tübingen: Niemeyer 2008. (= Conditio Judaica. Studien
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22
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Lurker, Manfred (Hrsg.): Wörterbuch biblischer Bilder und Symbole. 3., erw. Aufl.. München:
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Beck 2001.

23

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