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DIE
WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR
ZEIT 3. MÄRZ 2016 No 11

In dieser Ausgabe:
Das neue Magazin
ZEIT Doctor
Antibiotika:
Wann sie wirklich
nötig sind – und
wann nicht
Rückenschmerzen:
Operieren oder
trainieren? Was
Ärzte wirklich
denken

Eine Volkspartei fürchtet das Volk


Titelillustration: Smetek für DIE ZEIT

Bei den Landtagswahlen können die Bürger zum ersten Mal über die Flüchtlingspolitik abstimmen.
Angela Merkel gibt sich gelassen. Doch gerade das macht die Basis der CDU so nervös.
Was die Wahlkämpfer zurzeit erleben, ist für viele von ihnen ein Schock DOSSIER

Nichts als primitive


VORWAHLEN IN DEN USA WAHLKAMPF MIT FLÜCHTLINGEN
Reflexe in unseren
Debatten!
Der Philosoph Peter
Brutal erfolgreich Die Angst regiert Sloterdijk wehrt sich
gegen seine Kritiker
Feuilleton, Seite 39
Donald Trump versetzt die Republikaner in Schockstarre. Dabei Gabriel entdeckt die Bedürftigen. Keine neuen Schulden, verspricht
treibt er deren Politik nur auf die Spitze VON KERSTIN KOHLENBERG die Union. Beides verfehlt den Kern des Problems VON MARC BROST
PROMINENT IGNORIERT

J K
etzt wollen die Republikaner es nicht Man nennt das trickle down economics. Es ist ann man das Richtige sagen und dieses Satzes die pure Übertreibung. Denn auch
gewesen sein. Dabei ist Donald Trump nicht gerade ein stolzes Bild, das die Partei da doch alles falsch machen? Sigmar für die Flüchtlinge ist nicht genug Geld da.
nichts anderes als ein Kind seiner Partei. von dem ehemaligen Rückgrat Amerikas malt, Gabriel kann es, und er beweist es Wir karren diese Menschen irgendwohin, in
Doch die weigert sich stur, Verantwortung der weißen Arbeiterschaft. Eher das von gebeug- auch jetzt wieder, da er ein Sozial- Gegenden, aus denen die Deutschen weggehen.
für ihn zu übernehmen. Monatelang hat ten Menschen, die am Boden die Krumen auf- paket für bedürftige Deutsche Wir stecken sie in Massenunterkünfte, Turn-
sie ihrem Intensivtäter wie gelähmt zu- sammeln. Die Unterschichten-Wähler haben fordert. Es stimmt schon: In diesem hallen, Lagerhallen. Wir geben ihnen keine
geschaut. Er war ihr peinlich, aber sie hoffte, er sich daran lange nicht gestört. Die Republikaner Land gibt es eine enorme Ungleichheit der Ein- Arbeit. Und dann hoffen wir, dass sie sich ruhig
würde bald von der Bildfläche verschwinden. Mitt- hatten es geschafft, liberale Anliegen wie das kommen, Vermögen und Chancen. Manche verhalten. Noch immer stauen sich beim Bundes-
lerweile jedoch steht der Partei der Angstschweiß Recht auf Abtreibung, die Freigabe der Homo- Menschen glauben, sie hätten von »der Politik« amt für Migration und Flüchtlinge mehr als
auf der Stirn, denn Trump gewann eine Vorwahl
nach der anderen und zwang der Grand Old
Ehe oder bessere Waffenkontrolle als bedrohli-
cher für die Arbeiter darzustellen als die Macht
nichts zu erwarten. Und einige dieser Menschen
werden deswegen die AfD wählen. Sie mögen frus-
600 000 unerledigte Fälle, und es wird sehr lange
dauern, über sie zu entscheiden. Gleichzeitig wird
Schlafgeschichte
Party seinen brutalen Stil auf (die Wahlergebnisse der Reichen. Geräuschlos wurden die Steuern triert sein. Bloß: Sie sind auch nicht dumm. jede noch so kleine Öffnung des Arbeitsmarktes, Die deutsche Möbelindustrie hat
des Super Tuesday lagen bei Redaktionsschluss der Reichen gesenkt, die staatlichen Leistungen Wenn der SPD-Chef wenige Tage vor wichti- jede Erleichterung und Unterstützung für Flücht- ihren Umsatz gesteigert, um 4,3
noch nicht vor). Dass er nur auf die Spitze treibt, für die Armen zurückgefahren, die Löhne ge- gen Wahlen die Bedürftigen entdeckt, dann dürf- linge von den Innen- und Sicherheitspolitikern Prozent im Inland, um 10,5 im
was die Partei ihm vorgemacht hat, wollen die kürzt und viele Jobs ins Ausland verlegt. Eben te das weniger inhaltlich als taktisch motiviert der Regierungskoalition blockiert – das könnte ja Ausland. Die inländische Zunah-
Republikaner nicht wahrhaben. mit diesem Modell hat die Partei den Boden für sein. Dann geht es ihm wohl nicht um die unge- noch mehr Menschen nach Deutschland locken. me des Matratzenverkaufs um 24
Trumps brutale Gefühlsoffensive bereitet. rechte Gesellschaft, sondern um die von den Aber genau darin steckt ein großer Irrtum: Prozent gibt zu denken. Schlafen
Dem Aufstand der Wähler will die Partei Wenn er jetzt sagt: Ich liebe die schlecht Aus- Sozialdemokraten empfundene Ungerechtigkeit, Denn auf diese Weise stoßen wir nicht jene ab, die Deutschen so fest und schwer,
einen Putsch entgegensetzen gebildeten, ich werde eure Sozialversicherung in der Wählergunst so miserabel dazustehen. Und die kommen wollen – sondern alle, die bereits da dass ihre Matratzen darunter lei-
schützen – dann findet Trump bei vielen Arbei- außerdem: Wenn das Erstarken der AfD dazu sind. Und wer so denkt, der muss auch die Symp- den? »Unsere ganze Geschichte ist
Sie waren es, die das wichtigste Werkzeug der tern Gehör. Dass er die Folter wieder einführen führt, dass die SPD das Soziale stärker betont – tome einer gescheiterten Integration benennen: bloß Geschichte des wachenden
demokratischen Politik – den Kompromiss – will und auch die Familien von Terroristen um- warum sollten die Bürger dann SPD wählen und Ghettoisierung, Kriminalisierung, Hass. Menschen«, sagte Lichtenberg, »an
zerstört haben. Im Kampf gegen Präsident bringen will, stört sie nicht. Es beweist ihnen nicht gleich die AfD? Eine Million Menschen aufzunehmen ist eine die Geschichte des schlafenden hat
Barack Obama wollten sie den totalen Sieg. Und eher, dass dieser Mann vor nichts zurückscheut. gesellschaftliche Ausnahmesituation, die mit nor- noch niemand gedacht.« GRN.
so stellten sie sich mit verschränkten Armen in Die Partei ist in Panik. Allein, es fehlen ihr die Wir stoßen nicht jene ab, die kommen maler Politik nicht zu bewältigen ist. Genau das Kleine Bilder (v. o.): Alessandro Gottardo für DIE
die Ecke und erklärten jeglichen Ausgleich zum Mittel, das Monster, das sie geschaffen hat, zu wollen, sondern alle, die bereits da sind aber suggeriert die Union. In der Logik von CDU ZEIT; Harald Braun/Plainpicture; CI2/Plainpicture
Verrat. Immer wieder drohten sie damit, die stoppen. Die Republikaner können sich nicht ein- und CSU gelten die Flüchtlinge als Haushalts-
Regierung zum Stillstand zu bringen, sollte diese mal untereinander auf ein Vorgehen einigen, wie Gabriel wird von der Angst getrieben, wie so viele risiko, gefährden zusätzliche Ausgaben das Ziel Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
ihren Vorstellungen nicht folgen. Und als jüngst das Schlimmste zu verhindern wäre: eine Kandi- Regierungsmitglieder in diesen Tagen, man erlebt der schwarzen Null. Man werde den Deutschen 20079 Hamburg
Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:
der republikanische Pragmatiker John Boehner, datur dieses Mannes oder gar seine Präsident- das als Journalist bei fast allen Gesprächen. Es gibt nichts zumuten, nicht einmal höhere Schulden. DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
Sprecher des Repräsentantenhauses, das Hand- schaft. Sie müssten dazu die Fehler der eigenen die Angst vor zu vielen Flüchtlingen, die ins Land So lautet Angela Merkels und Wolfgang Schäub-
ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
tuch warf, jubelte die Partei wie befreit. Warum Politik erkennen, die das Phänomen Trump mög- strömen könnten; die Angst vor einer Niederlage les wichtigste Botschaft. Das ist nicht weniger ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
also soll Donald Trump nun respektvoll und ge- lich gemacht haben. Stattdessen sehen sie schock- bei den Landtagswahlen; die Angst vor der AfD; populistisch als alles, was Gabriel sagt.
mäßigt auftreten, wenn seine Partei sich schon starr zu, wie er sie auf den Abgrund zutreibt. die Angst vor einem Auseinanderbrechen Europas; Im Augenblick dreht sich die Debatte allein ABONNENTENSERVICE:
seit Jahren in Respektlosigkeit und Blockade ge- Aus dem Undenkbaren ist das Wahrschein- und, ja, auch die Angst vor einem Terroranschlag darum, ob Merkel ihre Flüchtlingspolitik ändern Tel. 040 / 42 23 70 70,
fällt? Trump hat die Politik des Brutalismus nicht liche geworden: dass die republikanischen Wäh- im Land. Und weil so viel Angst herrscht, konzen- muss und ob aus ihrem Satz »Wir schaffen das« Fax 040 / 42 23 70 90,
erfunden, er hat sie nur perfektioniert. ler Donald Trump in den Zweikampf ums Weiße das Eingeständnis wird, es doch nicht zu schaf- E-Mail: abo@zeit.de
triert sich die Regierung auf die Steuerung und
Er wendet sie bevorzugt gegen Mexikaner, Haus schicken. Nun macht eine verzweifelte Idee Begrenzung des Menschenstroms, auf die Siche- fen. Tatsächlich müsste Merkel sich korrigieren
PREISE IM AUSLAND:
Muslime und Frauen an. Doch auch vor seiner die Runde: ob man nicht im Zweifelsfall die rung der europäischen Außengrenzen. Es ist das – indem sie endlich klarmacht, was es zu schaffen DKR 47,00/FIN 7,30/NOR 61,00/E 5,90/
eigenen Partei macht er nicht halt. Er pfeift auf Stimmen der Wähler einfach ignorieren solle, um Signal an die Verunsicherten im Innern. gilt: mehr Wohnungen, mehr Lehrer, mehr Poli- Kanaren 6,10/F 5,90/NL 5,10/
A 4,80/CHF 7.30/I 5,90/GR 6,50/
deren ideologische Vorgaben. Er ist gegen den dann unter Zuhilfenahme komplizierter Nomi- Aber zugleich wächst ein Problem heran, das zisten, Sprachkurse für Flüchtlinge, Ausbildungs- B 5,10/P 5,90/L 5,10/HUF 1990,00
Freihandel, gegen eine Kürzung der Sozialver- nierungsregeln Trump noch auf dem Parteitag täglich größer wird. Denn selbst wenn von heute plätze für Flüchtlinge, Studienplätze für Flücht-
sicherungsleistungen, und er kann Planned im Sommer zu verhindern. Dem Aufstand der auf morgen keine Flüchtlinge mehr nach linge. Und warum wagen wir in ungewöhnlichen
o
Parenthood, einem medizinischen Dienst, der
auch Abtreibungen vornimmt, viel Gutes abge-
winnen. Trump mischt Brutalismus mit Empa-
thie. Dass er damit so erfolgreich ist, treibt die
Wähler will die Partei einen Putsch entgegen-
setzen. Trump hat die Partei nicht zerstört, er hat
ihre Selbstdemontage nur vollendet. Irgendwann
muss sie neu gegründet werden. Am besten bald.
Deutschland kämen: Es sind ja immer noch etwa
eine Million Flüchtlinge im Land. Und so strei-
ten wir über Grenzkontrollen und die Begren-
zung der Zuwanderung – und entziehen uns der
Zeiten nicht ungewöhnliche Maßnahmen, etwa
ein Förderprogramm für alle Einheimischen, die
Flüchtlinge bei sich zu Hause aufnehmen? Damit
wir nicht eine Million neue Hilfsarbeiter bekom-
N 11
7 1. J A H RG A N G C 7451 C

Partei zum Wahnsinn. Denn Mitgefühl ist eine Aufgabe, die Menschen zu integrieren, die bereits men, sondern gut ausgebildete Menschen, die
Regung, die sie sich schon lange ausgetrieben hat. Siehe auch Wirtschaft, Seite 21: hier sind. Die Regierung müsse unbedingt den hier eingebunden sind, unsere Sprache können –

Seit Jahrzehnten wiederholen die Republika- Wie die Ungleichheit Trumps Aufstieg befördert Eindruck vermeiden, dass für die Flüchtlinge und unsere Werte kennen.
ner gebetsmühlenartig, dass die Arbeiterklasse Geld da sei, für die Deutschen aber nicht, hat
davon profitiere, wenn es den Reichen gut gehe. www.zeit.de/audio Gabriel gesagt. Dabei steckt schon im ersten Teil www.zeit.de/audio   
2 POLITIK LANDTAGSWAHLEN
3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

WORTE DER WOCHE

»Ich sehe nichts, was das


hervorrufen könnte, weil das alles
gut durchdacht ist und ja auch
logisch ist. Es zweifelt ja auch an
Der Neinsager
Er hat die Grünen in Baden-Württemberg zur Volkspartei gemacht,
dieser Logik keiner. Auch Horst
betet für Angela Merkel und düpiert ständig seine Partei.
Seehofer sagt: ›Ich wünsch dir
Ist Winfried Kretschmann in Wahrheit ein Schwarzer? VON MARIAM LAU
Erfolg auf diesem Weg.‹ Leider
glauben nur so viele nicht daran.«

W
ie gern würde die schon vor dem Wahlkampf 2011 so auseinander-
Angela Merkel, Bundeskanzlerin, in der
Talkshow von Anne Will auf die Frage, was
CDU über den Wahl- gelebt, dass Kretschmann verschiedentlich drauf
passieren müsse, damit Merkel sage, es werbespot der Grünen und dran war, aus der Politik ganz auszusteigen
gehe so nicht weiter in der Flüchtlingspolitik so richtig lachen. Die und seine Zeit nur noch mit Wandern, Schreinern
Kamera schweift über und seiner Hannah-Arendt-Lektüre zu verbringen
das verschneite Laiz, – zuletzt, als man ihn in eine Doppelspitze zwin-
»Ich glaube, Frau Steinbach ist einen Ortsteil von Sig- gen wollte. Als Ministerpräsident schockierte er
maringen, streift kurz den Kirchturm und landet die Partei damit, sich als erster und einziger Amts-
der lebende Beleg dafür, dass dann im Halbdunkel des Kretschmannschen inhaber bereit zu erklären, Atommüll im Ländle zu
wir eine Obergrenze tatsächlich Hobbykellers. An der Wand hängt ein Retro- deponieren. Keiner der Kernkraft-Befürworter,
Schild (»Gasthaus zum Lamm«), darunter hockt kein Unions-Ministerpräsident hatte sich je dazu
brauchen. Aber eine Obergrenze der Ministerpräsident im blauen Arbeitskittel, er durchgerungen.
hobelt, sägt und hämmert, aber immer »mit Noch toxischer als sein Ja zum Giftmüll, das in
für Dummheit.« Augenmaß«, wie er aus dem Off erklärt. Nach Wahrheit ein Nein zur Fundamentalopposition
Christian Lindner, Vorsitzender der FDP, über getaner Tischlerei tritt der 67-Jährige im Anzug und Verantwortungsverweigerung ist, war für die
ein Foto, das die CDU-Bundestagsabgeordnete ans Licht, steigt in seinen Mercedes S-Klasse mit Partei aber Kretschmanns Zustimmung zu den
Erika Steinbach twitterte, darauf ein kleines, Hybridantrieb und braust davon. Asylplänen der Bundesregierung, insbesondere
blondes Mädchen, umringt von Indern, Das Lachen über den »Moses aus Sigmarin- zur Ausweitung der Liste sicherer Herkunfts-
Überschrift: »Deutschland 2030«, Unterzeile: gen« ist den Christdemokraten zehn Tage vor länder. Auch Menschen vom Balkan, die im deut-
»Woher kommst du denn?« der Landtagswahl am 13. März allerdings schen Asylsystem ein besseres Leben suchen, hö-
gründlich vergangen. Winfried Kretschmann ist ren vom grünen Ministerpräsidenten ein deut-
nicht nur der mit Abstand beliebteste Minister- liches Nein. Nun sollen womöglich noch Marokko,
»Wenn wir Flüchtlingen – präsident der Republik. Er hat die Grünen, die Tunesien und Algerien zu sicheren Herkunfts-
Menschen, die in bitterer Not in jüngsten Umfragen mit 30,5 Prozent knapp ländern erklärt werden. Nicht nur die Grüne Ju-
vor der CDU liegen, auch ins Gelobte Land der gend schäumt. »Dass ein grüner Ministerpräsi-
sind – nur noch helfen dürfen, Volksparteien geführt – dahin also, wo seine dent sich ohne Grund auch nur dafür offen zeigt,
wenn wir anderen, die nicht in Parteifreunde im Rest der Republik immer den wieder einen Deal einzugehen, ist unverständlich
Gottseibeiuns vermutet haben. Für diese politi- und schäbig«, sagt deren frühere Sprecherin
so bitterer Not sind, das Gleiche sche Sensation hat sich in Baden-Württemberg Theresa Kalmer.
eine Erklärung herausgemendelt, die im Staats-
geben oder mehr, dann ist das ministerium nur zu gern bejaht wird: Der Kretschmann ist ein Flüchtlingskind,
erbarmungswürdig.« Kretsch sei einfach der bessere Konservative und sein Bruder starb in der Kälte
seine Partei die bessere CDU.
Wolfgang Schäuble, Bundesfinanzminister, Aber der wahre Grund dafür, dass 70 Prozent Kretschmann hat zwar emphatisch von Willkom-
über das von Bundeswirtschaftsminister der CDU-Wähler dem grünen Ministerpräsi- menskultur gesprochen. Baden-Württemberg hat
Sigmar Gabriel geforderte Solidaritätsprojekt für denten vertrauen (und 90 Prozent der eigenen eine Gruppe von 1000 jesidischen Frauen und
die deutsche Gesellschaft
Leute), ist ein anderer. Es ist ein eher unpoliti- Mädchen eingeflogen, die in den Händen des IS
scher, charakterlicher Grund. Winfried Kretsch- Grauenhaftes erlebt haben. Kretschmann benennt
mann ist ein Politiker, der öfter mal Nein sagt. aber auch die Schattenseiten der Migration. Wäh-
»Ich bin nicht hier, um das Zu Freunden wie zu Feinden, zu potenziellen rend der CDU-Spitzenkandidat Guido Wolf nicht
Unhaltbare zu verteidigen.« Wählern und Flüchtlingen, zu Wutbürgern und wusste, wie er sich zu den Ereignissen der Kölner
Atomkraftgegnern. Kein konziliantes »wenn Silvesternacht verhalten sollte, sprach Kretsch-
George Prell, ranghöchster Kardinal Australiens, wieder Geld da ist« oder »Ich würde ja gern, aber mann schlicht von »Horden junger Männer, die
zur Frage der Untersuchungskommission der mein Koalitionspartner will nicht«, sondern ein- schon vorher Verbrecher gewesen sind«.
australischen Regierung, ob die Kirche fach »Nein«. Nichts schafft so viel Vertrauen bei Das Leid der Flüchtlinge ist dem Ministerprä-
Kindesmissbrauch durch Kirchenvertreter
den Wählern wie die Bereitschaft eines Politi- sidenten keineswegs egal. Er ist selbst ein Flücht-
heruntergespielt habe
kers, sich aus Gründen der Staatsräson unbeliebt lingskind aus dem Ermland, auf dem langen Treck
zu machen. Richtung Westen starb sein Bruder in der Kälte.
»Wir werden das Unsrige tun, Als Kretschmann vor fünf Jahren mit schar- Kretschmann lässt keinen Zweifel daran, dass er
fem Bürstenhaarschnitt sein Amt antrat, um- hinter Angela Merkels Flüchtlingspolitik steht, er
damit das Ganze funktioniert.« schwärmten ihn seine Anhänger wie einen Re- betet sogar für die Kanzlerin. Ihn treibt »die Krise
volutionsführer, der ein halbes Jahrhundert hinter der Krise« um: der drohende Zerfall der
Baschar al-Assad, Präsident Syriens, über den CDU-Arroganz hinwegfegen würde. Dreißig Europäischen Union. Aber anders als seine Partei-
derzeitigen Waffenstillstand in Syrien Jahre lang hatte Kretschmann, hatten die Grü- freundin Simone Peter will Kretschmann nicht
nen in der Opposition gesessen, der Frust war einfach die Arme aufhalten. »Wir stoßen an reale
riesig. Zuletzt war auf der Straße sogar Blut ge- Grenzen«, hat er seinen Parteifreunden gesagt.
»Ich stand im Lift – flossen. Bei den Protesten gegen das Bahnhofs- Und den Satz, der in allen anderen Parteien selbst-
und ein anderer Abgeordneter projekt Stuttgart 21 war im September 2010 verständlich ist, bei den Grünen aber eine Kultur-
ein Mann erblindet, weil die Polizei demons- revolution bedeutet: »Nicht jeder kann bleiben.«
sagte: ›Dieser Aufzug ist trierende Bahnhofsgegner mit Wasserwerfern Kretschmann beschreibt das grüne Regierungs-
wirklich nicht für Putzfrauen.‹« bekämpft hatte. Im Frühjahr 2011 dann: der handeln in dieser Frage mit den Worten: »Wir
grüne Sieg. können Krise.« Er sagt nicht: Wir Grünen stehen
Dawn Butler, Abgeordnete des britischen Im Sommer sah man im Stuttgarter Schloss- für Offenheit. Und tatsächlich wünscht man sich
Unterhauses, auf die Frage, ob es Rassismus im park Kretschmanns grün-rote Sympathisanten als Berlinerin, das chaotische Lageso könne ein
britischen Parlament gebe. Den Namen des zusammenstehen und lachen. »Jetzt sind wir wenig dem Registrierzentrum in Heidelberg äh-
Abgeordneten, der diesen Satz gesagt haben soll, dran«, das war ihr Gefühl. Doch dem Triumph neln, wo Asylanträge innerhalb von 48 Stunden
wollte Butler nicht nennen folgte gleich die Niederlage: Eine Volksabstim- bearbeitet werden.
mung in der Landeshauptstadt ergab eine Mehr- Aus alldem ist bei vielen – auch in der CDU –
heit für Stuttgart 21, für das Bahnhofsprojekt, der Eindruck entstanden, Winfried Kretschmann
»Lasst uns diesen Planeten nicht das Kretschmann und seine Freunde 14 Jahre sei tatsächlich im Herzen schwarz. Aber das ist ein
als selbstverständlich erachten. lang erbittert bekämpft hatten und bis heute Irrtum. Nicht zuletzt seine Jahre auf einem katho-
falsch finden. Nun musste es ausgerechnet der lischen Internat, wo Schüler blutig geprügelt und
Ich erachte diese Nacht nicht als grüne Verkehrsminister Winfried Hermann falsche lateinische Konjugationen mit einer Kopf-
selbstverständlich.« umsetzen, der sich immer als Teil der Protest- nuss bestraft wurden, haben ihm tiefe Abscheu
bewegung gesehen hatte. vor angstgetriebener, autoritärer Herrschaft einge-
Leonardo DiCaprio, US-Schauspieler, impft. Ich selbst habe mal versucht, Kretschmann
in seiner Dankesrede zum Gewinn »Ich habe eine Bürgergesellschaft in einem Interview auf die konservative Fährte zu
des Oscars als bester Hauptdarsteller versprochen, kein Bürgerparadies« locken. Es ging um das Thema »Gender« im Se-
xualkundeunterricht, das auf den Straßen Baden-
Und was tat Kretschmann? Der Ministerpräsi- Württembergs einen regelrechten Kulturkampf
dent verpasste genau den Leuten, die liebend ausgelöst hatte. Auf meine leicht populistische
gern für ihn auf die Barrikaden geklettert wären, Frage, warum Fünftklässler schon wissen müss-
ZEITSPIEGEL einen Dämpfer. Nach dem Volksentscheid stell- ten, was »Transpersonen« sind, antwortete der
te Kretschmann sich praktisch ungeschützt vor frühere Gymnasiallehrer todernst: »Weil ›schwule
das Rathaus der Stadt. 5000 Zuhörer waren ge- Sau‹ auf dem Schulhof eines der beliebtesten
Wo der Rubel rollt kommen, darunter jede Menge Bahnhofsgegner Schimpfwörter geworden ist.« Gesellschaftspoli-
mit grauen Zöpfen, Spruchbändern und Triller- tisch trennt Kretschmann immer noch viel von
Zuletzt drohte Baden-Baden etwas in Ver- pfeifen. »Jetzt reden wir!«, schrien einige und den Christdemokraten. Er verachtet die baden-
gessenheit zu geraten. Im 19. Jahrhundert verlangten eine »Wahrheitskommission«, sonst württembergische CDU dafür, dass sie erst im
war das Städtchen ein Treffpunkt des Hoch- werde man doch »belogen und betrogen« – das Jahr 2012 zu ergründen versuchte, »was die Frauen
adels, der in der Spielbank den anstrengungs- alte Lied des Linkspopulismus. Das waren keine wollen«. Kretschmanns Prinzipienfestigkeit und
losen Wohlstand genoss. Inzwischen wird tollen Bilder für die Grünen in den Nachrich- seine regelmäßigen Kirchgänge mögen konserva-
Baden-Baden hauptsächlich von Russen be- ten. Der Antiparlamentarismus, die Irrationali- tiv erscheinen – ein Schwarzer ist er deshalb noch
völkert, die zwar auch sehr reich sind und tät der »Bewegung« – das hatte Kretschmann, lange nicht.
nicht sehr viel dafür getan haben, aber, was der früher dem Kommunistischen Bund West- Winfried Kretschmann, der wie kein anderer
den Glamourfaktor angeht, nicht ganz so viel deutschlands angehörte, immer irritiert. Be- Grüner die Hoffnung auf ein Bündnis mit der
Foto (Ausschnitt): Dennis Williamson

bieten können. Zum Glück ist Wolfgang fremdet starrte er in Stuttgart auf »seine« An- CDU verkörpert, kämpft in seinem Land nun da-
Schäuble etwas eingefallen: Im nächsten Jahr hänger. »Ich habe eine Bürgergesellschaft ver- für, weiter mit der SPD regieren zu können. Zu
übernimmt Deutschland die Präsidentschaft sprochen«, sagte er heiser in ein Mikrofon, »kein den Paradoxien dieser Wahl gehört, dass eine zweite
der G 20. Dann wird das Gipfeltreffen der Bürgerparadies. In einer Demokratie gibt es Amtszeit des grünen Ministerpräsidenten Merkels
Finanzminister und Notenbankchefs des kein ›richtig‹ und ›falsch‹. Es gibt nur Meinun- Flüchtlingspolitik bestätigen würde, ein Sieg des
Staatenverbands dem Vernehmen nach in gen, und eine setzt sich durch. Unsere hat sich CDU-Herausforderers dagegen nicht. Die Südwest-
Baden-Baden stattfinden. Für Schäuble wird nicht durchgesetzt.« Kein bedauerndes Lächeln, CDU, die eine grün-schwarze Koalition leichtfer-
es ein Heimspiel: Er stammt aus der Gegend. keine versöhnlichen Trostpflaster, keine juris- tig ausschloss, hat Angela Merkel sogar aufgefor-
Und vielleicht lässt sich sein russischer Kolle- tischen Finessen. Einfach Nein. Der Bahnhof dert, sich von ihrem »Stalker« Kretschmann zu
ge Anton Siluanow zu einem Spielchen über- wird gebaut, basta. Wandern, distanzieren. Bislang deutet nichts darauf hin, dass
reden – im Gedenken an glorreiche Zeiten Seinen Parteifreunden hat Kretschmann die- Schreinern, Kirchgang: Merkel das zu tun gedenkt.
und weil Moskau in Zeiten des Ölpreisver- ses brüske Nein wieder und wieder zugemutet, Kretschmann begeistert
falls jeden Euro gut gebrauchen kann. MAS sie kannten das bereits. Man hatte sich deswegen die Konservativen www.zeit.de/audio
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 POLITIK 3
LANDTAGSWAHLEN

Und was wird aus Merkel?


Die Landtagswahlen am 13. März sind die erste Abstimmung über die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. Aber was folgt daraus?
Die wichtigsten Fragen und Antworten VON PETER DAUSEND, MATTHIAS GEIS UND TINA HILDEBR ANDT

A
uf der Straße stehen neuerdings ßen Koalitionen gäbe. Diese Dynamik haben die Schmerzlich wäre sie trotzdem, weil das reiche Gesellschaft, sagt Gabriel und will die Brandgefahr reichen inzwischen bis in die bürgerliche Mitte. Illustration: Anne Vagt für DIE ZEIT (nach einer Vorlage von Daniel Erk)

wieder Menschen und brüllen: möglichen Profiteure Julia Klöckner und Guido Baden-Württemberg als Stammland der CDU gilt. mit einem Sozialpaket für Deutsche bekämpfen. Dort kann die neue Rechtspartei auch deshalb
»Wir sind das Volk!« – »Ihr seid Wolf dadurch gestört, dass sie sich von Merkel dis- Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass der Frust zu Indem sich der SPD-Chef diesen Satz zu eigen landen, weil sie ihren Extremismus mit Programm-
Idioten!«, schallt es ihnen viel- tanzierten – ganz im Gegensatz zum Grünen Win- einem Aufstand führt. Denn als einzige Alternative macht, legitimiert er allerdings Positionen der sätzen tarnt, die eher nach CSU als nach NPD
fach entgegen, es ist ein Kampf fried Kretschmann, der Merkel mit aufreizender zu Merkel gilt derzeit Wolfgang Schäuble. Und AfD, einer Partei, die er als rechtsradikal bezeich- klingen. Offen demonstrieren am ehesten Leute
um die Deutungshoheit über Inbrunst unterstützt (siehe Seite 2). Wenn Kretsch- dass Schäuble Merkel stürzen würde, gilt wiede- net. Das kann nicht funktionieren. wie Björn Hoecke oder Alexander Gauland, dass
das derzeit wichtigste politische mann gewinnt, Paradox Nummer zwei, bedeutet rum als ausgeschlossen. Er stünde allenfalls bereit, Schmeißt Gabriel im Fall eines Wahldesasters die AfD einen Angriff auf das politische System
Thema, die Flüchtlingspolitik. Dieser Kampf tobt das eine Stärkung von Merkels Position in der wenn Merkel sich zurückziehen würde. Doch da- selbst hin? Wohl kaum. Er bleibt, weil er weiß, dass und die demokratische Kultur der Bundesrepublik
auch deshalb so erbittert, weil das Volk bislang Flüchtlingspolitik und eine Ohrfeige für ihre eige- für gibt es keine Anzeichen. Nicht zuletzt von ih- ein Vizekanzler in einer so prekären Lage nicht verkörpert.
nicht entschieden hat, wie dieser Herausforderung nen Parteifreunde. Merkel gewönne damit zwar rem Vorgänger Gerhard Schröder, der nach einer desertiert. Und weil er beweisen will, dass seine Sechs Jahrzehnte hat das Tabu gegen Rechts ge-
begegnet werden soll. Merkel hält Kurs, das hat sie nicht direkt Macht hinzu, ihr Kurs in der Flücht- verlorenen Landtagswahl in NRW Neuwahlen im Kritiker unrecht haben. Er bleibt also aus einer wirkt, nun bröckelt es. Gemessen an der Größe der
zuletzt bei Anne Will in eindrucksvoller Unbeirrt- lingspolitik wäre aber dennoch erstmals legitimiert. Bund ausrief und verlor, hat Merkel gelernt: Ner- Mischung aus Verantwortungsbewusstsein und Zumutung (eine Million zugewanderte Muslime
heit bestätigt. Es ist ein Kurs, den man richtig oder Es ist jedenfalls absehbar, dass sich eine Mehrheit ven behalten, anstatt durch heroische Posen zu Trotz. Oder weil Malu Dreyer doch gewinnt. in einem Jahr), könnte man sagen: Kein Grund zur
falsch finden kann. Es ist aber auch ein Kurs, den der Bürger für diejenigen Parteien entscheidet, die beeindrucken. Sonst ernten andere, was man selbst Aufregung, schließlich geben 80 Prozent der Wäh-
bislang keine Volksabstimmung, keine Wahl de- grosso modo Merkels Kurs unterstützen – CDU, gesät hat. Mischt die AfD bald ler den sogenannten Systemparteien und nicht
mokratisch beglaubigt hat. SPD und Grüne. Die eindeutige Alternative, die Deutschland auf? deren Verächtern die Stimme. Doch Länder wie
Deshalb ist es mehr als ein Stimmungstest, AfD, wird relativ stark, aber kaum mit einer Mehr- Schmeißt der SPD-Vorsitzende Frankreich, Österreich und die Schweiz zeigen,
wenn am 13. März in den beiden großen west- heit aus den Wahlen hervorgehen. vielleicht von sich aus hin? Man ahnt, was passiert: Die AfD wird auch im wie es Rechtsparteien auch ohne Mehrheit gelingt,
deutschen Bundesländern Baden-Württemberg und Westen in die Parlamente einziehen, im Osten mit ihrer Agenda das politische System zu erschüt-
Rheinland-Pfalz sowie im ostdeutschen Sachsen- Könnte die Kanzlerin nach der Wahl Aus Sicht der Sozis ist es zum Heulen: Die Über- wird sie womöglich in die Nähe der 20-Prozent- tern. Der Erfolg der AfD entscheidet sich nicht in
Anhalt die Bürger zur Wahl gehen. stürzen oder gestürzt werden? kanzlerin schrumpft auf politisches Normalmaß, Marke kommen. Die Aufregung über ihren Erfolg den Landtagswahlen, sondern daran, ob Politik
die CSU randaliert, die CDU ist gespalten – doch wird groß sein, ungefähr so groß wie die Ver- und Gesellschaft es zulassen, dass sich die Statik
Ist das eine Abstimmung über Merkels Julia Klöckner ist für die CDU mehr als nur eine der SPD droht ein Totaldesaster. In Rheinland- suchung, ihn zugleich kleinzureden: So wie die der Republik nach rechts verschiebt.
Flüchtlingspolitik? Spitzenkandidatin, sie ist eine der wenigen Hoff- Pfalz könnte die Sympathieträgerin Malu Dreyer Flüchtlingskrise die AfD stark gemacht habe, wür- Die bevorstehenden Wahlen sind also wegen
nungsträgerinnen für die Zeit nach Merkel. stürzen und die SPD nach 25 Jahren die Macht den sinkende Flüchtlingszahlen die Partei auch der Paradoxien und schwer berechenbaren Neben-
Im Prinzip ja, aber das Kreuz bei der einen oder Klöckner hat in acht Jahren Kärrnerarbeit den verlieren. In Baden-Württemberg ist die SPD auf wieder zum Verschwinden bringen. Doch das ist wirkungen wie ein Endspiel, das leider im Nebel
anderen Partei ist keine eindeutige politische sauhaufenmäßigsten aller Landesverbände zu ei- Protestparteigröße gestaucht, in Sachsen-Anhalt ein Trugschluss. Denn das Meinungsspektrum, stattfindet. Wird Merkel nach den Landtagswah-
Willensbekundung. Gewiss, das Flüchtlingsthema ner geschlossenen Organisation gemacht. Sie ist könnte sie noch hinter der AfD landen. SPD-Vor- das die AfD bedient, geht weit über das Unbeha- len ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik ändern?
hat alle anderen Themen (Bildung, Verkehr, Haus- außerdem eine der beliebtesten Figuren der Partei. sitzende sind schon aus nichtigeren Gründen zu- gen an der Flüchtlingskrise hinaus. Sie ist für die Das ist die große Hoffnung ihrer Gegner. Mehr
halt) überlagert, die sonst eine Rolle gespielt hät- Sollte sie scheitern, wäre das für die CDU eine rückgetreten – oder -getreten worden. Doch einen Partei nur der spektakulärste Ausdruck eines Sys- Macht ist besser als weniger Macht, und gute
ten. Deshalb hat sich die AfD, die nach ihrer Spal- riesige Enttäuschung, an der sich der ganze ange- Putsch muss Sigmar Gabriel nicht fürchten. Nicht tems, dessen Auswüchse die AfD und ihre Anhän- Stimmung ist besser als schlechte. Deshalb sind die
tung schon fast am Ende schien, wieder gefangen. staute Frust der Partei entladen könnte. Guido weil, Paradox Nummer drei, die SPD-Führung ihn ger an den unterschiedlichsten Stellen aufspüren, Wahlen für Merkel natürlich nicht egal. Deshalb
Ausgerechnet ihr bevorstehender Einzug in die Wolf hingegen gilt als Symptom des grundlegen- für unverzichtbar hielte, sondern weil er gebraucht hassen und bekämpfen: von den Rundfunkgebüh- wird sie aber ihre Politik nicht ändern. Scheitert
Parlamente hat aber, Paradox Nummer eins, zur den Problems der CDU in Baden-Württemberg: wird, um die erwartete Schlappe bei der Bundes- ren übers Gendermainstreaming zu Bargeld und Wolf, dann scheitert Merkel noch lange nicht.
Folge, dass sowohl in Rheinland-Pfalz als auch in Er hält es immer noch für einen Irrtum, dass nach tagswahl 2017 abzuholen. Dass Gabriel nur noch Lügenpresse, von Inklusion bis Eurokratie. Alles, Sollte Merkel scheitern, dann nicht in Baden-
Baden-Württemberg am Ende die CDU-Kandida- Fukushima ein Grüner an die Macht kam, und will taktisch motivierten Rückhalt findet, liegt auch an was sich mit antielitärer Wut aufladen lässt, ist Württemberg, sondern in Europa.
ten Julia Klöckner und Guido Wolf regieren könn- immer noch nicht wahrhaben, dass der vermeint- seiner Irrlichterei, die er gerade wieder in der Stoff für die AfD. Das wird nicht einfach wieder
ten, selbst wenn die CDU Stimmen verliert. Dann liche Betriebsunfall Kretschmann weit ins bürger- Flüchtlingsdebatte demonstriert hat. »Für die verschwinden, so wenig wie die Flüchtlinge. Siehe auch Dossier, Seite 13:
nämlich, wenn die bisherigen Regierungen keine liche Wählerreservoir ausstrahlt. Wolfs Niederlage macht ihr alles, für uns macht ihr nichts«: Dieser Verunsicherung, Entfremdung und Frustra- Schaffen die das? Eine Reise durch die
Mehrheit mehr bekommen und es stattdessen gro- käme nicht so überraschend wie die Klöckners. »brandgefährliche« Satz fresse sich in die Mitte der tion, die die AfD in Widerstand verwandeln will, Zitterpartei CDU
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Verbotene Liebe
W
ie so oft im Leben passiert Popstar feierte, ließ Merkel die Deutschtürken und Erst wollte sie nicht, verbindliche Vereinbarung zustande bekommt, und unterstützen nun auch noch die Kurden von
auch in der Weltpolitik ihre alte Heimat links liegen. So beschränkte sie ihre wenn diese greift und die Flüchtlingszahlen zurück- der PYD in Syrien, die gerade ein Autonomiegebiet
gerade etwas eigentlich Handlungsmöglichkeiten, innen- wie geopolitisch. dann wollte er nicht. gehen, wird man in Europa bilanzieren: Das harte an der Grenze zur Türkei etablieren – ein Albtraum
Richtiges und Notwendi- Nun haben die neuen Flüchtlinge den zuvor Einge- Jetzt müssen sie beide. Ringen mit den Türken hat sich gelohnt. Erweist für Ankara, das die syrische PYD als Ableger der
ges zum denkbar schlech- wanderten ein unverhofftes Upgrade verschafft. sich die türkische Regierung als unzuverlässiger PKK und damit als Terrororganisation betrachtet.
testen Zeitpunkt. Die Kaum jemand redet mehr über die gestern noch so Zwischen Deutschland Partner und die Zahlen gehen nicht zurück, dann Die syrischen Kurden von der PYD bringen die Tür-
Flüchtlinge haben ein gravierend erscheinenden Integrationsprobleme der werden sich viele an die verstörenden Zwischenrufe kei in Gegensatz zu den USA, die die Miliz dieser
Land wieder in den Fokus europäischer Politik ge- Deutschtürken. Im Gegenteil: Die »alten« Migran-
und der Türkei aus dem türkischen Präsidentenpalast erinnern: an Partei als wichtigste Bodentruppe im Kampf gegen
rückt, das diese seit Jahren wie ein ungeliebtes Stief- ten werden womöglich jene sein, die die neuen beginnt etwas Neues die Drohung von Erdoğan, man könne ja auch »die den IS betrachten und nicht als Terrororganisation
kind behandelt hat: die Türkei. hauptsächlich integrieren. VON ÖZLEM TOPÇU Türen öffnen«, die Flüchtlinge in Busse stecken und wie die Türken. Auch mit den Beziehungen zu den
Da ist eine andere, eine neue Situation entstan- Noch vor einigen Jahren zeigte sich Erdoğan von ihnen »eine gute Reise« wünschen. anderen Ländern in der Region wie Syrien, Iran und
den, vielleicht kann man sie historisch nennen. seiner charmant-raubeinigen Seite, er schien die Nun, zur Wahrheit gehört auch: Es war Europa Ägypten ist es nicht zum Besten bestellt. Etwas bes-
Denn Europa braucht den ewigen, ungeliebten Kanzlerin bei jedem Besuch zu umgarnen. Der Tür- selbst, das der türkischen Regierung diese moralische ser sind sie zu Saudi-Arabien, Katar und Somalia –
Kandidaten jetzt dringend. Ausgerechnet in einem ke war der Star des Nahen Ostens, der ein politisches Position überlassen hat. Der türkische Präsident hat aber können sie ein Ersatz sein für die zum Westen?
Moment, in dem die Regierung von Staatspräsident Tabu nach dem anderen in seinem Land brach. So- sich über die von der EU zugesicherten drei Milliar- Abgesehen davon, dass bei den reichen arabischen
Tayyip Erdoğan zunehmend autoritärer agiert, muss gar einen Friedensprozess mit der PKK hatte er in den Euro Flüchtlingshilfe für die sein Land geärgert, Staaten von einer muslimischen Solidarität in der
die EU sie näher an sich binden. Ja, sie muss sich Gang gebracht. Unvergessen sein »Wir gehören zu- eine peinlich geringe Summe angesichts der Heraus- Flüchtlingsfrage auch nicht die Rede sein kann.
eine starke und stabile Türkei wünschen und an die sammen« in gebrochenem Deutsch, er hatte den forderungen. Auch wenn die Türkei (noch) keine Kurz gesagt: In Norden, Osten und Süden sieht es
Chance glauben, dass dieser auf den ersten Blick so Satz extra auswendig gelernt. Das war bei der Feier Integration von Flüchtlingen vorsieht wie etwa mit verlässlichen Partnern nicht gut aus. Als der
prekäre Moment sich irgendwann doch als der rich- zum 50. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbe- Deutschland, so hat sie sich dennoch der Menschen heutige Premierminister Davutoğlu noch Außen-
tige für die Annäherung erweisen wird. minister war, lautete seine Devise: Null Pro-
Lange haben die Europäer es sich bequem bleme mit den Nachbarn. Aus »null« ist in-
gemacht: Die Türkei war doch die Nachbarin zwischen »nur« geworden.
Syriens. Die Flüchtlinge, der Krieg, das waren Die Türkei hat also viel zu gewinnen, die
ihre Probleme. Vorbei – seit die Flüchtlinge Bundeskanzlerin dagegen viel zu verlieren.
über das Meer und den Balkan nach Europa Geht die Sache nicht gut aus, wird es heißen:
kommen. Angela Merkel hat unsere Werte verkauft. Sie
Jetzt haben viele den Blick geradegerückt: hat zur Verletzung von Menschenrechten,
Zwischen Syrien und der EU liegt nur die von Presse- und Meinungsfreiheit in der Tür-
Türkei. Angela Merkel hat das erkannt. Die kei geschwiegen, um ihren »schmutzigen
Flüchtlingsfrage ist inzwischen so entschei- Deal« zustande zu bekommen.
dend, dass man sagen kann: Eine gute Verein-
barung mit der Türkei beim EU-Gipfel am Die anderen
kommenden Montag ist genauso wichtig für Regierungskritiker und Opposition in der
die Bundeskanzlerin wie die drei Landtags- Türkei sagen das heute schon. Aber mit denen
wahlen. Wenn nicht wichtiger. trifft sich die Bundeskanzlerin gerade nicht.
Ausgerechnet Angela Merkel, ausgerech- Dabei gäbe es einiges zu besprechen. Etwa
net die Türkei. Doch die Geschichte der tür- die wieder aufgeflammten Kämpfe zwischen den
kischen Westbindung hat eine lange Vorge- türkischen Sicherheitskräften und der (auch in
schichte, reich an unerwiderter Liebe. den USA und der EU) als Terrororganisation
eingestuften kurdischen Arbeiterpartei PKK im
Soldaten ja, Bürger nein Südosten der Türkei, bei denen nicht nur Kom-
Die Türkei wurde nie ernsthaft als zukünfti- battanten, Polizisten und Soldaten sterben,
ges EU-Mitglied, aber immer als zuverlässiger sondern Hunderte von Zivilisten und darunter
Nato-Partner betrachtet. Aus dem Zweiten auch viele Kinder. Tausende wurden bereits zu
Weltkrieg hatte sich die noch junge Republik Binnenflüchtlingen, leiden unter monatelangen
heraushalten können. Aber als sich nach Ausgangssperren. Beide Seiten, so scheint es,
Kriegsende die Weltpolitik neu ausrichtete, nehmen wenig Rücksicht. Und dann ist das der
suchte und fand sich die Türkei schnell auf beispiellose Druck auf Medienhäuser und Jour-
der Seite des Westens und der USA wieder – nalisten, kombiniert mit einer erodierenden
und gegen die Sowjetunion. Gewaltenteilung. Zuletzt konnte man das ein-
Die Republikgründer waren fest ent- drücklich beobachten, als Can Dündar, Chef-
schlossen, sich einzureihen in die Riege der redakteur der regierungskritischen Tageszeitung
westlichen Staaten. Staatsgründer Kemal Ata- Cumhuriyet, und deren Ankara-Korrespondent
türk hatte die Devise ausgegeben, das Land Erdem Gül auf Geheiß des Verfassungsgerichts
möge gen Westen schauen und sich aus »der nach drei Monaten Haft entlassen wurden. Die
Region« (so nennen die Türken den Nahen Zeitung hatte über Waffentransporte des türki-
und Mittleren Osten) bis auf Weiteres he- schen Geheimdienstes nach Syrien berichtet.
raushalten. Der Osten, das war die Vergan- Die Regierung hatte Dündar und Gül Geheim-
genheit des niedergegangenen Osmanischen nisverrat und Spionage vorgeworfen. Das Ver-
Reichs; der Westen, das war die Zukunft ei- fassungsgericht jedoch sah in deren Verhaftung
ner neuen, modernen Türkei. Man folgte eine Verletzung der Pressefreiheit. Erdoğan kon-
nach Ende des Weltkrieges den USA fast be- terte, er erkenne die Entscheidung des höchsten
dingungslos. Die Leitlinie der Atatürkschen Gerichts nicht an.
Außenpolitik lautete: »Yurtta sulh, cihanda Hetz- und Hasskampagnen durch regie-
sulh!« (»Frieden in der Heimat, Frieden auf rungsnahe Medien gegen politische Gegner
der Welt«). sind an der Tagesordnung und werden vom
So reibungslos wie der Beitritt zur Nato politischen Establishment nicht verurteilt.
gestaltete sich die Beziehung zur EU nicht. Zuletzt wurden Ermittlungen gegen Hunderte
Der Traum von der Mitgliedschaft begann Akademiker eingeleitet, die einen »Aufruf für
1963 mit dem Assoziierungsabkommen. Für den Frieden« unterschrieben haben. In einem
die Türken folgte eine Geschichte voller De- resoluten Ton hatten sie das Ende der Kämpfe
Fotos (Ausschnitte): Reuters (Istanbul, 18.10.2015); bpk (u.)

mütigungen. Der erste Antrag auf Mitglied- im Südosten gefordert: »Wir wollen nicht
schaft wurde 1989 abgelehnt, 1999 ent- Teil dieser Schuld sein.«
schied die EU sich um und eröffnete die Das Land ist heute tief gespalten. Es gibt
Beitrittsverhandlungen. Der nächste Dämp- in der Türkei seit je viel Misstrauen und eine
fer folgte 2009, seitdem blockiert das junge ständige Angst um die »Einheit des Staates«,
EU-Mitglied Zypern, mit dessen griechi- die angeblich auch durch Machenschaften
schem Teil die Türkei seit Jahrzehnten im »ausländischer Kräfte« gefährdet sei. Leider
Streit lag, mit seinem Veto weitere Verhand- werden immer noch oft Minderheiten Opfer
lungen mit Ankara. des paranoiden politischen Diskurses. Pre-
Doch das Hauptproblem war, dass die mierminister Davutoğlu, eigentlich besonne-
Türkei in Sachen Demokratie seit Gründung ner als Erdoğan, sagte zuletzt in einer Rede
der Republik immer wieder zwei Schritte vor mit Blick auf die prokurdische Partei HDP:
und dann einen (oder zwei) zurück macht. »Die machen gemeinsame Sache mit Russ-
Vier Militärputsche hat das Land seit der land, wie die armenischen Banden.« Diese
Gründung hinter sich. Das Muster war stets angebliche »gemeinsame Sache armenischer
dasselbe: Immer, wenn der Staat ein wenig Banden mit Russland« hatte 1915 den Osma-
mehr Freiheit gestattet hatte, erschraken sich nen den Vorwand für den Mord an mehr als
seine Vertreter vor dem Bürger. Gleich zu Beginn abkommens. Unterdessen verzichtete Merkel nicht Kanzlerin und Präsident im in Not angenommen und nach eigenen Angaben einer Million Armenier geliefert. Die jüngste An-
zeigte sich das Schema: Der erste frei gewählte Pre- einmal bei Besuchen in seinem Land darauf, an die Istanbuler Yıldız-Palast etwa dreimal so viel Geld für sie aufgebracht, wie sie näherung der Kurden an Präsident Wladimir Putin
mierminister Adnan Menderes, ein streitbarer »privilegierte Partnerschaft« zu erinnern, die ihr lie- (Oktober 2015). jetzt erhalten soll. Die Türkei hat sich den Flücht- ist sicher fragwürdig, wie viele andere politische In-
Mann, endete am Galgen. Und dann errichtete man ber sei als eine vollwertige Mitgliedschaft. Sie hielt Die Geschichte der lingen gegenüber europäischer verhalten als Europa, stinktlosigkeiten der HDP zurzeit – aber diese Äu-
ihm ein prächtiges Mausoleum. Jeder Öffnung folg- ihn auf Abstand und damit das Land. Dann ging er türkischen Westbindung auch wenn nicht nur reine Barmherzigkeit eine ßerung des Premiers ist es, gelinde gesagt, ebenso.
te die Regression, darauf wieder eine Öffnung, auf auf Distanz. begann mit Staatsgründer Rolle gespielt haben mag, sondern strategische Ein Anruf bei Eyüp Burç zeigt das ganze Dilem-
diese erneute Regression ... Aber damals gab es auch noch keine Flüchtlinge. Kemal Atatürk (unten) Überlegungen vorherrschten. Für die betroffenen ma. Burç ist Programm-Chef bei İMC TV, einem
Seit mehr als 50 Jahren stellt sich nun schon die- Menschen ist das gleich. unabhängigen, prokurdischen Nachrichtensender,
selbe Frage: Wann ist die türkische Demokratie reif Die Wette In der Flüchtlingsfrage muss sich die türkische der als einer von wenigen nicht regierungskonform
für die EU-Mitgliedschaft? Es gab immer wieder Jetzt müssen gerade diese beiden politischen Führer Regierung sehr stark fühlen. Diese Stärke potenziert über die Situation im Südosten des Landes berich-
mal schlechte, dann mal bessere Zeiten. Im Moment zueinanderfinden. Die Illusion, man brauche einan- sich immer dann, wenn aus Brüssel Forderungen tet. Just während eines Interviews mit den freigelas-
sind eindeutig schlechtere. Dennoch sind die Chan- der nicht, scheint verflogen. Für Merkel ist die Tür- kommen wie kürzlich, als die Menschen anfingen, senen Journalisten der Cumhuriyet wurde die Sende-
cen für eine Annäherung so groß wie nie. kei wichtiger als manches EU-Mitglied. Erdoğan aus Aleppo in Richtung der geschlossenen türkischen frequenz auf Geheiß der Staatsanwaltschaft abge-
Und genau an dieser Stelle kommt die deutsche und sein Premierminister Ahmet Davutoğlu sind Grenze zu flüchten. Da erinnerte die Außenbeauf- schaltet. Der Vorwurf: unter anderem Interviews
Kanzlerin ins Spiel. Anders als ihr Vorgänger Ger- hilfreichere Gesprächspartner für Merkel als etwa tragte der EU, Federica Mogherini, die Türken, die mit Vertretern der PKK-Führung. »Natürlich müs-
hard Schröder war die CDU-Chefin immer gegen Victor Orbán, der ungarische Regierungschef, der bereits zweieinhalb Millionen Syrer im Land haben, sen die EU, Deutschland und die Türkei in der
einen EU-Beitritt der Türkei. Mitte der 2000er Jahre, sich aus der europäischen Solidarität verabschiedet an ihre »moralische und rechtliche Pflicht«, Schutz- Flüchtlingsfrage zusammenarbeiten«, sagt Burç, »aber
als es dem heutigen Staatspräsidenten und damaligen hat. Der Deal könnte lauten: Ernsthafte Beitrittsver- suchende aufzunehmen. Frau Merkel wird gerade zur Geisel gemacht.« Leute
Premierminister Erdoğan gar nicht schnell genug handlungen und visafreies Reisen gegen Kooperati- wie er sind enttäuscht von Europa. Die Bundes-
mit der Modernisierung und Demokratisierung sei- on in der Flüchtlingsfrage. Die Türken sollen nun Kaum noch Freunde kanzlerin, sagt er, dürfe nicht schweigen, Europa
nes Landes gehen konnte und seine AKP-Regierung die EU, die ihnen so lange den Eintritt verwehrt hat, Häufig ist dieser Tage zu hören, die EU dürfe sich müsse nun standhaft sein. »Europa hat lange ge-
Reformen anschob, stand Angela Merkel mit dem retten. Und damit auch gleich die Bundeskanzlerin, nicht durch die Türkei erpressbar machen lassen. kämpft für seine Werte. Sie sollten nicht verhandel-
Rücken zur Türkei und auch zu den Türkeistämmi- die einst nicht viel für die Türkei übrig hatte. Welch Doch schaut man mit etwas Ruhe auf die geostrate- bar sein.«
gen in Deutschland. Sie hielt betont Distanz. Das eine List der Geschichte. Wäre da nicht ein großes gische Situation des Landes, stellt man fest: Viel- Nicht verhandelbar. Genau diese Wendung hat
war einfach nicht ihre Welt. Während Erdoğan deut- Problem: das türkische Innenleben. leicht ist der türkische Hebel gar nicht so lang. Im die Bundeskanzlerin vor einiger Zeit auch schon mal
sche Hallen füllte und zu »seinem« Volk in Köln, Wenn die Bundeskanzlerin auf dem Brüsseler Norden sind die Russen seit dem Abschuss eines ih- benutzt. Damals kritisierte sie die Niederschlagung
Düsseldorf oder Berlin sprach, das ihn wie einen Gipfel eine aus europäisch-deutscher Sicht gute und rer Kampfjets auf Konfrontationskurs mit Ankara der Bürgerproteste im Istanbuler Gezi-Park.
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 POLITIK 5

Die griechisch-mazedonische Grenze am 29. Februar 2016

Fotos: Louisa Gouliamaki/AFP


So sieht die Politik der Tränen aus
Die Regierungen liegen im Streit, die Flüchtlinge verzweifeln. Kann Angela Merkel Europa noch retten? VON MATTHIAS KRUPA , MARK SCHIERITZ UND MICHAEL THUMANN

D
ie Tränengasschlacht an auch das Interesse. Denn im Kanzleramt rennen ihr beamte signalisieren zudem, dass sich die Deut- sollen: Kommt bloß nicht her, die Grenze nach Eu- bis ins Umfeld des EU-Ratspräsidenten Donald
der nordgriechischen Wirtschaftsführer die Türen ein und verlangen, dass schen bei der anstehenden Prüfung der Reform- ropa ist dicht. Wenn die österreichische Innenminis- Tusk. Der fürchtet, dass sich Europa von der
Grenze lehrt, wie ein Eu- Merkel die Reisefreiheit in der EU und damit den fortschritte in Athen großzügig zeigen könnten. terin Johanna Mikl-Leitner sagt, sie betreibe die Türkei abhängig macht. Er war reichlich frustriert,
ropa der Zäune aussieht. Binnenmarkt rette – Voraussetzung für den interna- Womöglich bekommen die Griechen gar den lang Schließung der Grenzen »auch für Deutschland«, als der türkische Präsident Erdoğan bei einem
Auf der einen Seite mit tionalen Erfolg deutscher Unternehmen. Sie argu- ersehnten Schuldenschnitt. Das wäre dann die dann spricht daraus die Überzeugung, dass die Me- Treffen im November gedroht hatte, er könnte
Schlagstöcken und Pisto- mentieren, dass Deutschlands Wohlstand ein Ergeb- Vollendung der neuen Achse Merkel–Tsipras. thode Merkel ohne einen gehörigen Schuss Orbánis- jederzeit die Grenzen auch nach Bulgarien öffnen
len ausgerüstete Polizis- nis der Offenheit sei, nicht eines der Abschottung. Schulden gegen Flüchtlinge: Das ist ein Teil des mus nicht funktioniert. Denkt man diese Politik und »Flüchtlinge in Busse setzen«. An diesem
ten. Auf der anderen revoltierende Flüchtlinge, Um ihre Pläne durchzusetzen, ist Merkel zu um- Deals, der Europas Zukunft sichern soll, bevor weiter, würde die Schengen-Außengrenze künftig Freitag versucht Tusk in Ankara herauszufinden,
Schreie, Verzweiflung – und die frustrierte fangreichen Zugeständnissen bereit. In Regierungs- Griechenland im Chaos versinkt. südlich von Ungarn und Slowenien verlaufen, Grie- was Erdoğan wirklich will.
Rückkehr in die Camps entlang der Grenze. kreisen ist zu hören, dass Deutschland notfalls im Für Merkels Gegenspieler Orbán zeigt der Flücht- chenland wäre de facto draußen. Die Flüchtlinge Die gemäßigten Orbánisten glauben weder
Was wird das für ein Europa? Seine Regie- Alleingang Flüchtlinge aus türkischen Lagern auf- lingsaufstand an der nordgriechischen Grenze, dass würden auf dem Balkan festsitzen. Das wäre der an die Türkei, noch vertrauen sie Merkel und
rungen streiten dieser Tage darum. Die Zahl nehmen würde, als Vorleistung gewissermaßen. Alles die Zäune noch nicht hoch genug sind. Aber auch Anti-Merkel-Plan. ihrem Verbündeten Tsipras. Die EU müsse auf-
der Migranten muss verringert werden, das ist in der Hoffnung, dass andere europäische Staaten die gemäßigten Orbánisten in Bratislava, Skopje, Auf dem Papier unterstützen die Staats- und Re- hören, »soziales Verständnis« für Länder zu zei-
der kleinste gemeinsame Nenner. Aber wie, wo nachziehen, wenn die Sache funktioniert. Warschau und neuerdings Wien sehen die Eskala- gierungschefs der EU Merkels Plan noch. Dieser bleibe gen, die in der Migrationskrise versagt hätten,
genau und in welcher Zeit, das ist alles um- Außerdem wäre Berlin bereit, sich den Deal ei- tion als Bestätigung ihres Kurses. In den Tränengas- »vorrangiges Ziel, um die Migrationsströme einzudäm- schimpft die slowakische Regierung. Die öster-
stritten. Auf der einen Seite steht Angela Mer- niges kosten zu lassen: Die Griechen können mit schwaden von Idomeni werden jene Bilder produ- men«, heißt es in der Erklärung des jüngsten Gipfels. reichische Innenministerin Mikl-Leitner wirft der
kel, die zumindest innerhalb Europas keine neuem Geld aus Brüssel rechnen, auch in Form ziert, die eine Botschaft in die Flüchtlingslager Jorda- Doch dass ausgerechnet die Türkei der EU zur Seite Regierung in Athen indirekt vor, sie wolle das
Grenzen schließen will. Auf der anderen Un- von »humanitärer Hilfe«. Deutsche Regierungs- niens und die Elendssiedlungen Pakistans tragen springen werde, daran wachsen die Zweifel. Sie reichen Anlanden von Flüchtlingen auf den griechischen
garns Premier Viktor Orbán, der Chefideologe Inseln gar nicht verhindern.
der nationalen Abschottung. Und je länger die ANZEIGE Wie einsam Merkels Athener Verbündete da-
Krise dauert, desto mehr Anhänger gewinnt stehen, zeigt das Verhalten der Mittelmeerstaaten,
der Orbánismus. Nicht immer kommt er so die keinem der beiden Lager angehören. In der
radikal daher wie das Original, es gibt auch ge- Euro-Krise vor einem Jahr überzeugte Frankreichs
mäßigte Orbánisten: die Ostmitteleuropäer, die Präsident François Hollande die Kanzlerin, den
nun in einer Art k. u. k. Zaunbau-Compagnie Griechen noch eine Chance zu geben. Nun, da es
die Balkanroute verbarrikadieren, unter der um den faktischen Rauswurf der Griechen aus
Führung Österreichs. Merkels ehemaliger Ver- dem Schengen-Raum geht, ist Hollande fast
bündeter hat inzwischen die Grenze fast kom- unsichtbar geworden. Er kämpft in diesen Wo-
plett abgeriegelt. chen um seine politische Zukunft. Als Bundes-
Bald muss sich entscheiden, ob es auf die genosse für Merkel fällt er aus.
Flüchtlingskrise noch eine gemeinsame euro- Auch die anderen Südländer lassen Merkel
päische Antwort geben wird. Eine Lösung mit und Tsipras im Stich. Spanien hat seine eigene
den Griechen – oder eine, die Griechenland zu Speziallösung gefunden. Das Land hat sich mit
einem großen Auffanglager der Nahostkriege Marokko arrangiert und seine Enklaven in
macht wie den Libanon, die Türkei und Jorda- Nordafrika mit martialischen Zäunen gesi-
nien. Daran könnte das Land zerbrechen, was chert. Seither kommen so gut wie keine Flücht-
zur Gefahr für die gesamte EU werden könnte. linge – was kümmert da das griechische Pro-
Der griechische Premier Alexis Tsipras tele- blem? Bleibt Italien. Premierminister Matteo
foniert in diesen Tagen viel mit Angela Mer- Renzi könnte ein Verbündeter sein. Er fürchtet,
kel. Am kommenden Montag werden die bei- dass viele Flüchtlinge, wenn die Balkanroute
den beim EU-Türkei-Gipfel aufeinandertref- erst einmal verschlossen wäre, wieder über das
fen. Als Verbündete. Ausgerechnet jener Tsi- Meer nach Italien ausweichen könnten. Zudem
pras, den Merkel und ihr Finanzminister sollen schon heute an der libyschen Küste bis
Wolfgang Schäuble im Sommer des vergange- zu 200 000 Menschen darauf warten, im Früh-
nen Jahres am liebsten aus der Währungsunion jahr oder Sommer mit Schleppern die Passage
geworfen hätten. Das ist lange vorbei, weil über das Mittelmeer nach Italien anzutreten.
Merkel mit Griechenland und der Türkei ver- Renzi ruft deshalb um Hilfe. Aber er zögert, die
sucht, in der Flüchtlingspolitik eine gesamt- Aufnahme von zusätzlichen Flüchtlingen aus
europäische Lösung zu finden. der Türkei zuzusagen – und fällt somit eben-
Unter Hochdruck haben Merkels Leute in den falls als Alliierter aus.
vergangenen Tagen die Details ihres Plans aus- Trotzdem verbreiten Merkels Unterhänd-
gearbeitet. Wie Zahnräder sollen die einzelnen ler Zuversicht. In den Gesprächen mit den
Elemente ineinandergreifen: Die Türkei verstärkt Türken seien Fortschritte erzielt worden. Der
mithilfe der in der Ägäis patrouillierenden Nato- Kanzlerin werde es gelingen, ihren Verbünde-
Verbände ihre Grenzkontrollen. Zudem nehmen ten Tsipras zu retten und damit sich selbst.
die Türken Flüchtlinge zurück, die es trotzdem Die Vorteile der europäischen Lösung liegen
nach Griechenland geschafft haben. Im Gegenzug für Berlin auf der Hand. Die richtig harten
werden Migranten aus den türkischen Lagern Eingriffe – Grenzsicherung, Nato-Patrouillen,
nach Europa geflogen. Mit anderen Mittelmeer- Abschiebung, Rückführung, Auswahl der
staaten werden ebenfalls Bedingungen für die Flüchtlingskontingente – werden an die euro-
Rücknahme illegaler Einwanderer ausgehandelt. päische Außengrenze oder gleich nach Anato-
Marokko hat bereits zugestimmt, aus Deutsch- lien verlagert. Den Deutschen bleiben hässli-
land abgeschobene Migranten wieder ins Land che Bilder an der eigenen Grenze erspart. Der
zu lassen (siehe Seite 7), auch mit Ägypten wird Aktionsplan mit der Türkei war Merkels Idee;
darüber gesprochen. »Wenn die ersten Flücht- das Treffen am kommenden Montag sei »ihr
linge von den Schiffen der Nato nicht nach Athen, Gipfel«, sagen die anderen Europäer.
sondern nach Izmir gebracht werden, haben wir Dann muss Merkel den Beweis antreten, dass
es geschafft«, heißt es in der Bundesregierung. ihr Plan besser funktioniert als der Orbánismus.
Merkels Plan würde einen Ring um Europa Und wenn die Zahl der Flüchtlinge in der Ägäis
ziehen. Der soll die Kanzlerin in die Lage ver- erkennbar sinkt, könnten auch andere EU-Staaten,
setzen, den Flüchtlingsstrom zu kontrollieren sogar Osteuropäer, ihre Grenzen vielleicht wieder
und zu reduzieren. Und indem die Europäer ein wenig öffnen. Bis dahin aber wird erst einmal
ihre Außengrenze schließen, können sie die dicht gemacht. So gut es eben geht.
Grenzen im Inneren offen lassen. Angela Mer-
kel glaubt, nur so lasse sich die europäische Siehe auch Wirtschaft, Seite 20:
Einheit retten. Das fordert die Moral, aber Comeback der Grenzen
6 POLITIK 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

Straßenszene in
Casablanca:
Marokkanische
Frauen haben weniger
Rechte als Männer.
Feministinnen fordern
härtere Strafen für
sexuelle Gewalt und
Frauenquoten

Fotos: Mark Henley/PANOS/VISUM; YouTubeVideograb (S. 7, v.o.); Alfredo Caliz/PANOS/VISUM (S. 8, o.); Baptiste de Ville d'Avray (u.)
Die Frauen,
der König
und ein Esel
Wie ist es, als arabische Frau gegen
Bevormundung und Belästigung zu kämpfen?
Eine Erkundung in Marokko
VON ELISABETH R AETHER

Rabat Man trifft sie in Marokko. Sie öffnen einem ihre siedlungen etwas außerhalb von Rabat, der Haupt- beachtet die Tiere. »Die Nachbarn respektieren lebens hinein ein Dickicht gegenseitiger Vor-

D
ie Ereignisse der Kölner Silves- Wohnzimmer, Küchen und Büros und erzählen in stadt von Marokko, wurden mitten in die Land- mich, aber sie denken, ich sei nicht normal.« würfe, die das Verhältnis zwischen dem Westen
ternacht sind aus den Nach- glasklaren Worten von ihrer Welt: Für sie ist der schaft gebaut. Sie fügt hinzu: »Sie haben vielleicht nicht und den Arabern bestimmen. Sie selbst hat mit
richten verschwunden, geblie- arabische Mann keine Gestalt, die in ihren Gedan- Fatima Outaleb sieht dem Esel vom Fenster ih- ganz unrecht.« ihrer feministischen NGO »Union de l’Action
ben ist die Ansicht, dass der ken oder in den Fernsehnachrichten lebt – sie woh- res Wintergartens aus zu. Jemand habe das Tier aus- Es begann damit, dass sie als Schulmädchen Féminine« drei Gesetzesentwürfe erarbeitet.
arabische Mann ein Frauen- nen mit ihm unter einem Dach. Er ist ihr Ehemann, gesetzt, sagt sie. Sie gibt ihm manchmal altes Brot. einen Wutanfall bekam, als ihre Mutter sie dazu 1. Sexuelle Nötigung im öffentlichen Raum
problem hat. In unserer Vor- ihr Sohn, ihr Bruder oder Vater. Das Gras ist trocken, weil es seit Monaten nicht bringen wollte, die schmutzigen Socken ihrer und häusliche Gewalt sollen Straftatbestand
stellung trägt er Jogginghose Weil dies aber eine Geschichte aus dem Morgen- geregnet hat, und der Esel ist schon ganz mager. Brüder nach dem Fußballspiel zu waschen. Ihre werden. Zu Letzterem gehört Vergewaltigung in
und Gelfrisur, und alles Weibliche überfordert ihn. land ist, werden darin auch eine schöne Prinzessin »Wie kann man so ein Tier einfach sich selbst Schwestern fanden nichts dabei. Aber Fatima der Ehe.
Viele haben Angst vor ihm, manche verachten ihn. und ein König von sagenhaftem Reichtum auftre- überlassen?«, fragt Outaleb. Sie füttert auch die ver- fing an zu brüllen: Warum muss ich das tun? 2. Es soll verboten werden, seine Töchter als
Wie wäre es aber, wenn wir versuchen würden, den ten. Die Erzählung beginnt an einem Sonntagnach- dreckten Katzen, die im Gebüsch vor der Garage Warum waschen die nicht selbst ihre Socken? Hausangestellte zu verkaufen, was so weit ver-
arabischen Mann zu verstehen? mittag im Februar mit einem Esel. leben, sagt ihnen zärtlich Guten Tag, wenn sie nach Warum darf ich nicht Fußball spielen? breitet ist, dass diese Kinder einen Namen haben:
Man würde wohl damit anfangen, diejenigen Er grast unter einer Palme auf dem Mittelstrei- Hause kommt, und verabschiedet sich, wenn sie Fatima wuchs in einem Bergdorf auf, ihre petites bonnes, »kleine Hausmädchen«.
zu befragen, die ihn gut kennen: die arabischen fen einer frisch asphaltierten Straße, die zwischen zum Einkaufen fährt. Die Leute in der Siedlung Eltern waren beide Analphabeten. Niemand hat- 3. Für das Parlament und die politischen Par-
Frauen. vertrockneten Feldern hindurchführt. Die Wohn- halten sie deshalb für eine Verrückte. Niemand sonst te ihr je etwas von Frauenrechten erzählt. Man- teien soll es eine Frauenquote geben.
che akzeptieren das, was sie umgibt, andere sind Damit sind allerdings nur einige Lücken und
mit einem Übermaß an Em- Probleme des marokkani-
pathie und Wut ausgestattet. schen Rechts benannt. Wei-
Sie blicken durch die Norma- tere sind: Eine Frau erbt nur
lität hindurch und entdecken die Hälfte dessen, was ein
Ungerechtigkeit. Mann erbt. Bei Wiederheirat
Die Wut überfällt Fatima verliert eine geschiedene
Outaleb jetzt noch manch- Frau das Sorgerecht für ihre
mal. Am Morgen hat sie in Kinder.
die Tastatur gehackt und auf In Marokko leiten Frauen
Facebook gepostet: »Ich bin heute Milliardenkonzerne und
angewidert und entsetzt über werden YouTube-Stars. Doch
die Ungerechtigkeiten, die bei Ehe- und Familienfragen
in meinem Land gesche- gelten die Prinzipien der
hen!!!!« Es ging um einen be- Scharia, die bekanntlich Män-
Seit der Kölner Silvesternacht gilt
sonders drastischen Fall von ner bevorzugt. In anderen
der arabische Mann als Grapscher
Korruption. Rechtsbereichen gibt es längst
Traditionalisten wollen, Fortschritte. Das Strafrecht
dass alles so bleibt, wie es an- beispielsweise folgt säkularen
geblich immer war. In Marokko lautet die Argu- Normen. Doch es hat für die allermeisten Leute
mentation ungefähr so: Menschenrechte sind ein keine große Bedeutung. Wenige Menschen wer-
Westimport, Frauenrechte sowieso. Individuelle den kriminell, während sehr viele heiraten und
Freiheit wird der arabisch-islamischen Kultur Kinder bekommen. Darin könnte die Erklärung
immer fremd bleiben. In diesem Punkt ist man liegen, warum die religiöse Tradition sich gerade
sich mit den Arabophoben des Westens einig, im Familienrecht so hartnäckig hält: Beim Fa-
wobei die einen ihr Urteil abschätzig meinen und milienrecht geht es wirklich um etwas. Und
es für die anderen ein Kompliment ist. zwar um Macht.
Auch unter Wohlmeinenden ist die Ansicht Solange das Gesetz so aussehe, sagt Fatima
verbreitet, die Araber und uns trenne nicht das Outaleb, sei es kein Wunder, dass viele marok-
Meer, das zwischen uns liegt, sondern etwas ganz kanische Männer Frauen wie Menschen zweiter
und gar Unüberwindbares, was wir Kultur nen- Klasse behandelten – ob in Marokko oder Köln:
nen. Doch heute, da sich so viele Menschen auf Warum sollte ein Mann eine Frau achten, wenn
den Weg machen und Grenzen überwinden, ihr diese Wertschätzung auf dem Papier nicht
könnte man auch mal Begriffe auf die Reise schi- zusteht?
cken: Man könnte versuchen, das EU-Nachbar- Zu jedem Zeitpunkt der Geschichte und in
land Marokko mit genau den Begrifflichkeiten jedem Land dieser Welt haben Männer Frauen
zu beschreiben, mit denen wir sonst uns Euro- schlecht behandelt, wenn das Recht sie nicht da-
päer beschreiben. von abgehalten hat. Auch in Westeuropa traten
Da wäre zum Beispiel das Wort Patriarchat. Männer nicht aus Einsicht ihre Privilegien ab.
Bei uns ist es zugegebenermaßen aus der Sie gaben nach erbitterten Kämpfen auf. Bis da-
Mode gekommen, aber es hat uns über Jahrzehnte hin ließ sich ihr Widerstand mühelos kulturell
dazu gedient, uns selbst besser zu verstehen. Es begründen. Schließlich war es noch fast jedem
ist auch viel präziser als der Begriff »Kultur«, der Denker des Abendlandes ein Anliegen gewesen,
annimmt, das Frauenbild einer Gesellschaft sei die Minderwertigkeit der Frau zu belegen:
nicht etwa ein hochkompliziertes Politikum, Platon, Augustinus, Darwin, Max Weber. Nur
sondern eine Frage von Geschmack und Sitte: So wenn man beide Augen zudrückt, kann man be-
wie die Araber gern geschmortes Kamelfleisch haupten, die Gleichberechtigung sei ein Funda-
essen, unterdrücken sie auch ihre Frauen. ment der westlichen Zivilisation. Statt darüber
Vielleicht können uns die Diskussionen über nachzudenken, warum arabische Männer ein
Männer und Frauen, die wir in den vergangenen Problem mit Frauen haben, könnte man also
Jahrzehnten geführt haben, dabei helfen, die ara- fragen, warum europäische Männer es offenbar
bischen Gesellschaften zu verstehen. Wir könn- halbwegs überwunden haben. Welche glücklichen
ten nüchterner auf diese Weltregion blicken – Umstände mussten zusammenkommen? Und
weder aggressiv noch naiv. lässt sich irgendwas davon auf die arabische
Gehört es zum Arabischsein dazu, Frauen zu Welt übertragen?
unterdrücken? Nach Ansicht von Fatima Outa- Rabat ist eine Stadt der Friedhöfe und Mo-
leb führt diese Frage geradewegs vorbei an den scheen. Der morbide Prunk scheint auf die Be-
konkreten Problemen eines arabischen Frauen- wohner eine einschläfernde Wirkung zu haben.
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 POLITIK 7

Die zurückgepfiffenen Söhne


Die Maghrebstaaten tun Bundesinnenminister Thomas de Maizière einen Gefallen: Sie nehmen ihre aus
Deutschland abgeschobenen Asylbewerber zurück VON MARIAM LAU

Algier, Rabat, Tunis schen Gefängnissen geschieht, machen die deut- Die meisten, die von dort nach Deutschland

A
uf der Fahrt vom Flughafen in Algier schen Behörden sich nicht zum Herzensanliegen. kommen, fliehen aus sozialen Gründen. De Mai-
zum Treffen mit dem französischen Sie haben gerade andere Prioritäten: Die Flücht- zière will deshalb vermeiden, dass sich mit dem
Amtskollegen passiert Thomas de Mai- lingszahlen müssen runter. Maghreb wiederholt, was die Bundesrepublik mit
zière eine riesige Baustelle. Hier ent- Wieder und wieder betont Thomas de Mai- dem Balkan erlebt hat: einen rasant ansteigenden
steht die größte Moschee Afrikas – entworfen von zière, wie sehr alle drei Maghrebstaaten darauf Zustrom in das Asylsystem von Leuten, die prak-
einem deutschen Architektenbüro. Der Bundes- drängten, als »sichere Herkunftsländer« aner- tisch keine Chance auf ein Aufenthaltsrecht ha-
innenminister ist zufrieden. Seine heikle Mission kannt zu werden. Was das ist, steht im Grund- ben. Die Tatsache, dass allein im Januar schon
– die Maghrebstaaten Algerien, Marokko und gesetz: nämlich »dass dort weder politische Ver- 1623 Marokkaner nach Deutschland kamen,
Tunesien sollen möglichst schnell möglichst viele folgung noch unmenschliche oder erniedrigen- weist in diese Richtung.
ihrer jüngst nach Deutschland eingereisten Bür- de Bestrafung oder Behandlung stattfindet«. Algerien und Marokko haben noch dazu ein
ger wieder zurücknehmen – stieß in Algier, Rabat Über Marokko allerdings berichtet Amnesty eigenes Flüchtlingsproblem: Immer mehr Men-
und Tunis auf Wohlwollen. International allein für 2015 von 175 Fällen, in schen aus der Südsahara versuchen ihr Glück im
»Die Vorfälle in Köln haben der Reputation denen Gefängnisinsassen gefoltert wurden. Ge- Norden. Marokko hatte ein Kontingent von
dieser Staaten geschadet«, sagt de Maizière. »Da fährdet sind nicht nur Oppositionelle, sondern 27 000 aufgenommen, in der Hoffnung, dann
gibt es ein gemeinsames Interesse, zu Lösungen auch Mitglieder der Organisation Frente Polisa- Ruhe zu haben. Aber wie das so ist mit Ober-
zu kommen.« Speziell die Marokkaner befürch- rio, einer sozialistischen Organisation in der grenzen: Das Kontingent entpuppte sich als An-
ten, dass Touristinnen nach den Übergriffen kei- Westsahara. Auch ein marokkanischer Journa- reiz zu kommen; der Zug nach Norden hält an.
ne Lust mehr haben, sich in ihr Land zu begeben. list in der deutschen Delegation erzählte, dass er Das bereitet den Behörden Sorgen. Ihnen ist
Etwa 10 000 meist junge Erwachsene aus Angst habe – vor Islamisten genauso wie vor jede echte Hilfe willkommen, gerade aus
Nordafrika sind allein 2015 nach Deutschland dem Geheimdienst. Deutschland. Es beeindruckte die Gesprächs-
Bauarbeiter scherzen mit eingereist, ihre Kriminalitätsrate ist außerge- Algerien wiederum hat zwar den zwanzig- partner de Maizières, dass die Deutsche Gesell-
einer Teilnehmerin bei wöhnlich hoch. Nicht zuletzt die alteingesessene jährigen Ausnahmezustand vor einigen Jahren schaft für internationale Zusammenarbeit ihnen
einem Frauenlauf in marokkanische Gemeinde in Deutschland drängt aufgehoben, aber die Versammlungsfreiheit ist Beratung anbietet, ohne eigene Geschäftsinteres-
Casablanca (oben). Ein darauf, die Newcomer abzuschieben. eingeschränkt, und auch in diesem Land sen zu verfolgen.
Paar genießt das Meer in De Maizières marokkanischer Amtskollege kommt es nach Angaben von Amnesty Interna- Natürlich steht der Minister auch unter dem
der Küstenstadt Asilah Anis Birou war im Bilde darüber, dass die Deut- tional zu Menschenrechtsverletzungen. Tune- Eindruck des nahenden EU-Gipfels am kom-
schen die Übergriffe von Köln zwar Maghrebi- sien schließlich ringt um seine frisch erkämpfte menden Montag. Die Bundesregierung braucht
nern zur Last legen, aber kaum konkrete Namen Demokratie – der letzte verbliebene Erfolg des jeden Erfolg, den sie bekommen kann. Ein Auf-
nennen können. Die Ausgereisten sollen in Zu- Arabischen Frühlings. Wer verhaftet wird, hat regerthema soll abgehakt werden – nämlich dass
kunft schneller, vor allem mittels Fingerabdrü- das Recht auf einen Anwalt, was keine Selbst- die Maghrebstaaten sich bislang weigerten, ihre
cken, identifiziert werden und auf diese Weise die verständlichkeit ist in dieser Weltgegend. Es gibt Bürger zurückzunehmen. Das ist genau die Mel-
Papiere bekommen, die eine Ausweisung über- Presse- und Versammlungsfreiheit, die Richter dung, die man sich zum Wochenende wünscht.
haupt erst möglich machen. allerdings stammen überwiegend aus der Ära Speziell die Bereitschaft der tunesischen Re-
Illegale Ausreise ist in Marokko strafbar. Wer des Diktators Ben Ali. Es gibt immer noch Fälle gierung zur Kooperation war für de Maizière eine
sich nachts in Rabat längere Zeit am Strand auf- von Polizeifolter, Schwule und Lesben werden große Erleichterung. Denn die Tunesier gehen
hält, bekommt Besuch von der Polizei, die dort verfolgt. vor allem nach Sachsen, ins Pegida-Land, wo sich
regelmäßig mit Taschenlampen vorbeischaut. Die Anerkennungsquote für Asylbewerber aus auch der Wahlkreis de Maizières befindet, näm-
Und was mit den Rückgeführten in marokkani- der Region ist gleichwohl verschwindend gering. lich in Meißen.

Verkäufer dösen in ihren winzigen Läden, in de- erwähnen. Die Minister ernennt der König, die
nen sie einzelne Schrauben anbieten. Ein Möbel- Richter kontrolliert er.
händler beugt sich tief über ein Tischchen, auf Seine Investmentfirma hält Mehrheitsanteile
das er in aufreizender Langsamkeit ein kompli- an Dutzenden Firmen aller Branchen – Energie,
ziertes Muster malt. Bergbau, Finanzdienstleistungen, Telekommuni-
In einem Büro gleich neben einer Moschee, kation, Immobilien, Kosmetik, Tourismus, Logis-
im Zentrum für Frauenforschung, arbeitet Asma tik. Mohammed VI. gehört zu den fünf reichsten
Lamrabet. Sie telefoniert im Stehen. Als sie auf- Männern Afrikas. Sein Land zählt der IWF zu den
gelegt hat, redet sie weiter. Sie wirft die Arme ärmsten der Welt.
hoch und sticht mit dem Finger in die Luft. Die Religion hindert die Leute daran, über
Ihr Anliegen erscheint von vornherein aus- diese Ungerechtigkeit in maßlose Wut zu geraten.
sichtslos: Woher sollen die Leute so viel Ener- Mohammed VI. hat nicht nur die weltliche
gie nehmen, wie sie ihr offenbar zur Verfügung Macht, er nennt sich auch Oberhaupt der Gläu-
steht? Wie sollen sie aus der Kraftlosigkeit fin- bigen. Er ist für die Marokkaner, was der Papst
den, in die ihr mühevolles Leben sie drängt? für die Katholiken ist. Der Personenkult hat ähn-
Der Islam müsse von innen heraus reformiert liche Ausmaße. Wenn der Hof vermeldet, dass
werden, erklärt Lamrabet. Man müsse eine femi- der König einen Schnupfen habe, quellen die so-
nistische Lesart der Texte eta- zialen Netzwerke über mit
blieren. Die Lesart sei so SPANIEN Genesungswünschen.
wichtig, weil den Koran selbst Mittelmeer Mohammed VI. zu wider-
sowieso kaum jemand lese. Atlantik sprechen ist praktisch nicht
Von Bedeutung seien die In- möglich. Aktivisten und Jour-
terpretationen, und die kä- nalisten werden abgehört, er-
men seit Jahrhunderten von RABAT presst und eingesperrt, Web-
Männern. sites werden lahmgelegt und
Deren Auffassung nach MAROKKO Computer gestohlen, Filme
sind Mann und Frau grund- und Bücher verboten, Wis-
sätzlich komplementär, wer- ALGERIEN senschaftler werden von Vor-
den ihre Rollen »nicht ver- tragsreisen abgehalten. Wenn
mischt«, wie der marokkani- die Leute über ihn sprechen,
sche Ministerpräsident es ZEIT-GRAFIK senken sie die Stimme, sodass
200 km
ausdrückt. Im idealen Patriar- man kaum noch versteht, was
chat sorgt der Mann für seine sie sagen. Sie sehen sich nach
Frau, die ihm im Gegenzug ergeben ist. allen Seiten um, verstummen mitten im Satz und
Der Islam ist in Marokko also die Rechtferti- gucken ihr Gegenüber aus Europa unglücklich an.
gung dafür, dass Frauen den Männern rechtlich Vielleicht ist es so: Der Gehorsam wird Kin-
nicht gleichgestellt sind. Asma Lamrabet will, dass dern in Marokko in die Wiege gelegt. Sie lernen
es genau andersherum ist. Der Islam solle die schon von ihren Eltern, dass nicht alle Menschen
Frauen befreien, so wie er auch sie selbst befreit gleich viel wert sind. Das Wort des Vaters zählt
habe. Als sie das sagt, sieht sie aus wie jemand, der mehr als das der Mutter. Ein Mädchen muss die
einen besonders unwahrscheinlichen Zaubertrick Socken ihrer Brüder waschen. Dass die Regeln
angekündigt hat. mehr oder weniger willkürlich sind, verstärkt nur
Wie soll das gehen? ihre Wirkung: Es geht darum, sich zu fügen.
Man müsse den Koran wie einen offenen Dieses Prinzip bestimmt jede Begegnung zwi-
Text lesen, sagt sie, ihn im Sinne der Menschen- schen Mann und Frau. Sie sind nicht gleich,
rechte verstehen. Die Botschaft des Korans sei in sondern König und Untertan.
etwa folgende: Die Menschenwürde ist ein Ge- Die jungen Männer von Rabat sitzen am
schenk Gottes. Der Rest ist Verhandlungssache. Nachmittag auf den Mauern an der Strandpro-
Manche erkennen in der islamischen Befrei- menade. Sie haben Kopfhörer im Ohr, rauchen
ungstheologie die Merkmale des Stockholm- Joints und starren auf die haushohen Wellen des
Syndroms: Die islamischen Feministinnen rich- Atlantiks, die sich an den Felsen brechen. Wenn
ten sich in den Bedingungen des Unterdrückers Frauen vorbeikommen, rufen sie ihnen etwas
ein, um das Beste daraus zu machen. hinterher. Oder sie zischen, säuseln, murmeln,
Aber Asma Lamrabet sagt: Zu den vielen zwinkern, winken. Das Repertoire scheint un-
Dingen, die das Patriarchat den Frauen vorent- erschöpflich. Ist es Anmache oder Einschüchte-
hält – sexuelle Freiheit, ökonomische Unabhän- rung? Vielleicht wird gar nicht unterschieden.
gigkeit –, gehört auch religiöse Spiritualität. Im Patriarchat geht es beim Sex weniger um In-
Frauen sind die Adressaten der kleinlichen Re- timität, Lust oder Sympathie. Auch beim Sex
geln der Religion. Die philosophische Dimen- geht es um Unterwerfung und Dominanz.
sion von Gott zu erfassen ist immer Männer- Was wäre, wenn Frauen und Männer selbst
sache. Spiritualität aber brauche der Mensch, entscheiden dürften, wie sie sich lieben wollen?
sagt Lamrabet, auch die Frau. Oder man lande Wenn nicht Furcht, Wut und ungerechte Gesetze
eben bei Yoga, Homöopathie und Horoskopen. zwischen ihnen stünden, sondern Solidarität sie
Religion ist nicht nur das, was Menschen im verbände? Der König befürchtet wahrscheinlich
Herzen glauben. Religion ist ein Mittel der Poli- zu Recht, dass er machtlos wäre gegen die Kräfte,
tik. Für den König Marokkos, Mohammed VI., die so entstünden.
ist Religion das wichtigste Machtinstrument. Die arabischen Männer von Köln haben ge-
Er ist ein König wie aus dem Märchen. Nicht lernt, dass eine Frau weniger wert ist als ein
nur hat er eine Prinzessin geheiratet, deren ho- Mann. Manche von ihnen werden sich bei uns
nigfarbene Augen alle verzaubern. Auch teilt er von dieser Vorstellung befreien. Zumindest ha-
seine Macht mit niemandem: Judikative, Exeku- ben sie die Gelegenheit dazu. Hier gibt es keinen
tive, Legislative, alles seins. Das Parlament, vom König, dessen Herrschaft auf der Ohnmacht der
Volk gewählt, darf das Wort Budget nicht einmal Frauen beruht. Hier gibt es eine Kanzlerin.
8 POLITIK 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

Weg aus
dem Westen

Illustration: Martin Burgdorff für DIE ZEIT; kl. Abb.: facebook/Markus.Frohnmaier (m.); dpa ([M], u.)
Der Chef der
AfD-Jugendorganisation träumt von
einem neuen Europa – als Russlands
Partner VON JOCHEN BITTNER

stand Baden- Dragana Trifcovic. »Nebenbei«, so schiebt er nach, Sehnsucht nach dem starken Mann, »der auch noch
Württemberg. »hat Belgrad sehr hübsche und stilvolle Frauen.« Die was gegen Schwule hat«.
Die Veranstaltung, Interviewerin Trifcovic ihrerseits glaubt, die West- Die Forderung nach einem Freihandelsabkommen
die nicht an die Presse europäer seien einer »globalen Oligarchie« unterwor- mit Russland habe er auf AfD-Veranstaltungen oft ge-
dringen sollte, lässt sich in fen, die ihnen letztlich keine Alternative zum »US- hört, amüsiert sich Henkel. »Ich habe dann immer
Teilen auf YouTube nachverfolgen. amerikanischen System« biete. gefragt: Wer von Ihnen hat in den letzten 20 Jahren
Unter dem Slogan »Neue Anführer für Mit Trifcovic, die nach eigenen Angaben die ein russisches Produkt gekauft?« Die Antwort: »Krim-
ein neues Europa« sitzen am 23. April 2014 »Selbstverteidigungskräfte in der Ostukraine« unter- Sekt!« Markus Frohnmaier nahm in Belgrad für sich
in einem Belgrader Hotel sechs junge Männer an stützt, ließ sich Markus Frohnmaier bei anderer Gele- in Anspruch, für die AfD zu sprechen. »Wir halten
einem Tisch, um örtlichen Journalisten von den Er- genheit vor dem Plakat einer Konferenz über die Zu- die Sanktionen gegen Russland für unnötig«, lautete
gebnissen ihres Treffens zu berichten. Der Gastgeber kunft des Donbass ablichten. Laut der Fotobeschrei- eine seiner offiziell klingenden Auskünfte.

N
ist Miroslav Parović, Präsident der Partei Drittes bung auf Frohnmaiers Facebook-Account gehörte Frohnmaier hat auf die Nachfragen der ZEIT
Serbien. Seine religiös-nationalistische Splitterpartei auch die Ostukraine zu seinen Reisezielen. Ein fröh- nicht reagiert, ebenso wenig der Bundesvorstand der
fordert eine Loslösung Europas von der Nato zu- liches Selfie vor einem Trupp Soldaten, der eine ge- AfD. Auch darüber, wer die Reisen finanziert habe,
gunsten einer neuen Achse Paris–Berlin–Belgrad– waltige Flagge der »Republik Donesk« über die Stra- gibt es keine klare Auskunft. Der AfD-Landesvor-
Moskau. Parović rühmt sich selbst, der erste ser- ße spannt, hat Frohnmaier mit »Parade in Donesk« stand Baden-Württemberg teilt lediglich mit, Frohn-
bische Politiker gewesen zu sein, der 2014 von der betitelt. Zahlreiche weitere Fotos zeigen ihn, zum Teil maier habe Auslandsreisen unternommen, die er
neuen Regierung der Krim emp- in freundschaftlicher Umarmung, »privat finanzierte«, teilweise mit Zuschüssen der JA.
icht bloß eine Alternative für Deutschland, am liebs- fangen wurde. mit Daniil A. Bisslinger, der in der Die russische Botschaft in Berlin versichert, sie unter-
ten gleich eine für Europa wünscht sich der Bundes- Mit am Tisch der Abschluss- russischen Botschaft in Berlin zu- stütze die JA »weder finanziell noch organisatorisch,
vorsitzende der AfD-Jugendorganisation (JA). Mar- Pressekonferenz sitzt auch Aleksan- ständig ist für Kontakte mit deut- noch beratend, noch auf irgendwelche andere Weise«.
kus Frohnmaier, ein 24 Jahre alter Jura-Student und dar Galkin, Vizepräsident der Ju- schen Jugendorganisationen. Ihr Attaché pflege Kontakte auch zu anderen Partei-
seit Mai 2015 an der Spitze der »Jungen Alternative« gendorganisation Einiges Russland, Hinter Frohnmaiers Ausflügen Jugendorganisationen, etwa zur Jungen Union. Ob
will Europa von der »russlandfeindlichen Außenpoli- der Partei Putins. Auf der Website steckt eine Richtungsfrage, die die der Kontakt zur JA überdurchschnittlich intensiv sei,
tik der USA« befreien. Schluss soll auch sein mit dem seiner Organisation werden des gesamte AfD betrifft: Ist der JA- lasse sich nicht sagen; darüber gebe es »keine beson-
»überzogenen Humanitarismus« einer Politik, die Öfteren Fotos und Namen von re- Chef bloß ein Sonderfall? Oder dere Statistik«.
»Anhänger archaischer Kulturen aus dem Orient und gimekritischen Journalisten veröf- repräsentiert er mittlerweile die Jörg Meuthen, der baden-württembergische AfD-
Afrika in unseren Kontinent« hineintrage. Und: Statt fentlicht; diese werden als »Verrä- JA-Chef Markus Frohnmaier außenpolitische Mehrheitsmeinung Spitzenkandidat, lässt über seinen Pressesprecher aus-
TTIP mit den USA sollte die EU lieber ein Freihan- ter« bezeichnet, die »bestraft« wer- auf Parteireise in Serbien der AfD in Baden-Württemberg – richten, dass die Diskussion mit Vertretern anderer
delsabkommen mit Russland abschließen. den müssten. Bisweilen hat das oder gar im Bund? politischer Richtungen »keinerlei Identifikation mit
Keine Frage, das sind alles legitime Positionen. blutige Folgen. Zumindest Jörg Meuthen, der deren Positionen« bedeute. Es sei in einer Demokra-
Allerdings vertritt sie Frohnmaier, der bei den an- An die »lieben Freunde«, wie Markus Frohnmaier damalige stellvertretende Landessprecher und heuti- tie selbstverständlich, sich auch mit Andersdenken-
stehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg während seines Redebeitrages seine Tischnachbarn ge AfD-Spitzenkandidat in Baden-Württemberg, den auszutauschen.
für den Kreis Villingen-Schwenningen kandidiert, im mehrfach nennt, richtet der junge AfD-Repräsentant habe Frohnmaier trotz heftiger Kritik aus den eige- Das ist sicher richtig. Außenpolitiker anderer Par-
Schulterschluss mit Verbündeten, die selbst innerhalb bedeutungsschwere Worte. »Die Weichenstellung, nen Reihen stets gewähren lassen, heißt es aus dem teien, ebenso wie Journalisten, nehmen immer wieder
der AfD als »ultra-rechts« eingestuft wurden. Und das die uns bevorsteht, ist für die Entwicklung unserer Kreis des ehemaligen Landesvorstandes. Womöglich, an Konferenzen teil, auf denen auch zweifelhafte
ist noch längst nicht alles, was an ihm auffällig ist. Vaterländer von größter Bedeutung. Es geht darum, so lautet eine Mutmaßung, habe die Anlehnung an Redner zugegen sind. Nur ist es im Fall Frohnmaiers
Frohnmaier hat schon so manche außenpolitische an welchem Partner wir uns in einer multipolaren Putins Weltbild das Ziel, die AfD zur ersten Wahl für nicht bei einem unverbindlichen Meinungsaustausch
Abenteuerreise im Namen seiner Partei unternommen. Welt orientieren wollen.« Für Frohnmaier ist diese viele Russlanddeutsche zu machen. Bei einigen hoch- geblieben. Der JA-Chef selbst sah das Treffen in Ser-
Nur, nicht alle in der Partei waren damit einverstanden. Frage offenbar nur eine rhetorische. Er schätzt die, rangigen AfD-Funktionären sei sie zudem eine Her- bien als »Grundstein« für das gemeinsame Projekt,
Besonders seine Reise nach Serbien schockierte einige wie er findet, kämpferischen Naturen seiner Gast- zensneigung, sagt der ehemalige Partei-Vize Hans- die Zusammenarbeit zwischen Russland, Serbien,
AfDler. »Das Aufgreifen dieser Veranstaltung durch die geber. »Im gesamten südosteuropäischen Raum ha- Olaf Henkel. »Eine Menge Leute in der AfD haben Deutschland und Frankreich zu »forcieren«. Er hoffe,
Presse würde einen erheblichen Schaden gegen die Al- ben sich die Menschen Stolz und Charakter erhalten, eine Amerika-Phobie. Alexander Gauland hat sie so schloss Frohnmaier seinen Vortrag in Belgrad,
ternative für Deutschland verursachen, was es zu ver- obwohl oder vielleicht auch weil die Geschichte dieser ebenso wie viele andere in der Parteispitze.« Putin sei »dass wir auch in Zukunft einige gemeinsame Kon-
hindern gilt«, schrieben sie in einem internen Bericht Region sehr konfliktreich war und ist«, sagt Frohn- für sie nicht nur attraktiv als personifizierter Anti- ferenzen abhalten können«. Aus Sicht seines Landes-
an den AfD-Bundesvorstand sowie an den Landesvor- maier im Interview mit der serbischen Publizistin Amerikanismus, sondern er verkörpere zudem die chefs Meuthen spricht offenbar nichts dagegen.

Brave Nazis
Diese Männer sollen die Demokratie gefährden? Eindrücke vom ersten Prozesstag im NPD-Verbotsverfahren VON HEINRICH WEFING

K
arlsruhe ist ein ganz guter Ort, um heiße ordnung stehe selbstverständlich im Parteiprogramm, findet das Gericht. Aber ist ein Richter wie der ehe- geteilt in Ost und West, der Kommunismus ver-
Luft abzukühlen. Am Dienstag scheint beteuerte NPD-Anwalt Peter Richter, und dass man malige saarländische Ministerpräsident Peter Müller schwunden und Deutschland seit 60 Jahren ein ge-
die badische Frühlingssonne freundlich, lieber unter Deutschen leben wolle, sei keineswegs wirklich unbefangen, der in seiner Zeit als Politiker festigter demokratischer Staat. Wie viel braucht es da
das gläserne Haus des Bundesverfas- Rassismus, sondern nur ein gesellschaftspolitisches das Gedankengut der NPD einmal »ekelerregend« für ein Parteiverbot?
sungsgerichts brummte vor Geschäftig- Anliegen. Deutsche verhielten sich untereinander nannte? Etwas mehr Begründungsaufwand hätte Im Grundgesetz steht dazu nur ein karger Satz.
keit, und der Rechtsstaat, den die NPD ja irgendwie halt solidarischer. Die Verhandlung lässt mitunter Voßkuhle da schon treiben dürfen. Der Artikel 21 Grundgesetz sagt bloß: »Parteien, die
bedrohen soll, zeigte sich erfreulich stabil. fast vergessen, wie widerlich die Partei auch daher- Immerhin geht es in dem Verfahren ja um fun- nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer An-
Am ersten Tag der mündlichen Verhandlung über kommen kann und wie gewalttätig ihr näheres damentale Fragen der Demokratie. Das ganze hänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokra-
ein NPD-Verbot erscheinen für die rechtsextreme und nächstes Umfeld ist. Aber nur fast. Grundgesetz ist darauf ausgelegt, der Minderheit tische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu be-
Partei in Karlsruhe keine tätowierten Hohlbirnen Das ist ja eine der friedensstiftenden die Chance zu geben, im politischen Mei- seitigen oder den Bestand der Bundesrepublik
oder dumpfe Rumgröler, sondern lauter Anzug- Eigenschaften eines Prozesses, dass nungskampf zur Mehrheit zu werden. Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.«
männer, seitengescheitelt, weich gespült. Sie stehen Hassprediger wenigstens für den Ein Parteiverbot macht diese Chance Was aber heißt das? Was heißt »darauf ausgehen«?
brav auf, wenn die Richter den Saal betreten, sagen Moment in Verfahrensbeteiligte brachial zunichte, endgültig und un- Wie viel vom Verhalten ihres Umfeldes muss sich
Bitte und Danke, wenn ihnen der Vorsitzende das verwandelt werden und Emotio- widerruflich. NPD-Anwalt Richter eine Partei zurechnen lassen? Wann wäre die Demo-
Wort erteilt, und müssen sich gelegentlich auch mal nen in Schriftsätze. Sehr gelassen, sprach dann doch einmal pathe- kratie beeinträchtigt? Reichen ein paar umstürzle-
vom Gericht verspotten lassen. Ob der Vortrag nicht beinahe lässig, hören sich die tisch, von einem drohenden »poli- rische Sätze im Parteiprogramm (»Ziele«)? Oder muss
ein bisschen dünn sei, fragte der Berichterstatter Pe- Richter den ganzen lieben langen tischen Todesurteil«, der Prozess- die Partei kurz vor der Machtergreifung stehen (»Be-
ter Müller den Anwalt der NPD einmal, und als der ersten Verhandlungstag über an, vertreter des Bundesrates, der Ber- stand ... gefährden«)?
NPD-Europa-Abgeordnete Udo Voigt erwähnt, wie die NPD durch ihren Anwalt liner Verfassungsrechtler Christoph Wort für Wort müssen das die Richter jetzt defi-
4000 Euro im Monat für einen V-Mann seien ja allerlei vermeintliche Prozesshinder- Möllers, dagegen von der notwendi- nieren und dann schauen, was davon für die NPD
wohl ein bisschen viel, lacht Gerichtspräsident An- nisse suggeriert, aber eben nicht bewei- gen »Intoleranz« der Demokratie gegen gilt unter den konkreten Umständen Deutschlands
dreas Voßkuhle laut auf, er habe da wohl einschlägige sen kann: dass noch nicht alle V-Leute der die Feinde der Demokratie. Tatsächlich im Frühjahr 2016. Es ist, kurz gesagt, ein Update für
Erfahrungen? Sicherheitsbehörden in der NPD »abgeschaltet« macht das Grundgesetz ein Parteienverbot extrem ein Parteiverbot im 21. Jahrhundert. Eine »normative
Die Hoffnung der NPD, auf großer Bühne, von oder abgezogen worden seien, die Partei weiter über- schwer: Allein das Verfassungsgericht darf darüber Vergewisserung, wer wir als Demokraten sind«, wie
Gleich zu Gleich mit lauter Ministerpräsidenten und wacht werde und sich daher nicht richtig verteidigen entscheiden, und für ein Verbot braucht es eine Zwei- Christoph Möllers meinte. Oder, anders formuliert:
hohen Staatsvertretern, für sich werben zu können, könne und, und, und. Viele der Behauptungen kom- drittelmehrheit unter den Richtern. Die Richter müssen erst einmal die Regeln bestim-
verflüchtigte sich im Gelächter. So wie sie am ersten men arg konstruiert daher, und die Richter zeigen bei Die beiden einzigen Parteiverbote, gegen die men und sie dann anwenden. So offen kreativ han-
Verhandlungstag in Karlsruhe auftreten, sind diese Redaktionsschluss am Dienstagabend wenig Nei- kaum verhüllte Nazi-Nachfolgepartei SRP 1952 und delt das Gericht selten.
selbst ernannten Nationaldemokraten keine Gefahr gung, das Verfahren an irgendwelchen Formfehlern gegen die stalinistisch ferngesteuerte KPD 1956, lie- Nicht umsonst bemerkte Andreas Voßkuhle in
für die Republik. Eher ein paar nervige Rechthaber scheitern zu lassen. gen mehr als zwei Generationen zurück. Damals wa- seiner Einführung, auch für das Bundesverfassungs-
und Haarspalter mit mittelguten Anwälten. Es gibt nur einen einzigen Moment, in dem man ren erst ein paar Jahre seit Kriegsende vergangen, gericht stelle das Verfahren »in vielfacher Hinsicht
Natürlich gehört genau das zur Prozessstrategie kurz Zweifel bekommen kann: schnell, fast zu schnell herrschte der Kalte Krieg, war die Demokratie in der eine besondere Herausforderung dar«. Allerdings ist
der NPD: so behäbig, so zivil, so unbedrohlich auf- werden die Befangenheitsanträge gegen nahezu alle Bundesrepublik noch eine ziemlich zarte Pflanze. das Gericht nicht dafür bekannt, sich selbst zu unter-
zutreten wie nur möglich. Kein Hass, nirgends. Das Richter abgebügelt. Alles in Ordnung, niemand hier Heute sind die Verhältnisse völlig andere, politisch, schätzen. Wann eine Entscheidung verkündet wird,
Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grund- ist irgendwie voreingenommen oder parteiisch, be- ökonomisch, gesellschaftlich: Die Welt ist nicht mehr ist noch ungewiss.
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 POLITIK 9

delhi vativ oder aufgrund mangelnder sozialer Chancen

V
on Zeit zu Zeit treffe ich mich in frustriert. Ich habe mit Dhanendra darüber gespro-
Delhi mit einem indischen Geheim- chen, was die Sicherheitskräfte gegen die Gefahr von
dienstmann im Ruhestand. Wir es- islamistischen Anschlägen und gegen die Ausbreitung
sen zu Mittag oder trinken Tee in der Dschihad-Ideologie tun. An der Polizei wird in
einem der Restaurants im Botschafts- Indien oft Kritik geübt wegen Korruption oder
viertel oder im India International schlichter Nachlässigkeit; der Gedanke, dass so eine
Centre, dem Lieblingsclub der pen- Truppe hoch motivierte Terrorkader aufhalten soll,
sionierten Beamten, Offiziere und Diplomaten der macht vielen Leuten Sorge.
Hauptstadt. Dhanendra verrät mir keine Geheimnisse Doch die Bilanz ist einstweilen nicht schlecht: seit
und erzählt keine Abenteuergeschichten aus der Welt Jahren kein spektakuläres Attentat, kaum indische Mit-
der Spione, er interessiert mich als politischer Kopf. kämpfer in den Reihen der internationalen Dschihadis-
Dem Aussehen nach erinnert er übrigens deutlich ten. Das bisher erfolgreiche Rezept, erklärt Dhanendra
stärker an einen behaglichen, wohlsituierten Gewürz- mit schelmischer Zufriedenheit, sei ein rustikales Pro-
händler als an James Bond; wahrscheinlich eine sehr blem-Management mit Bordmitteln. Sobald etwa den
hilfreiche Voraussetzung zur Ausübung des Berufs, Behörden bekannt werde, dass ein junger Mann sich dem
dem er jahrzehntelang nachgegangen ist. »Islamischen Staat« anschließen wolle, kontaktiere man
Bei unserem Curry oder Butter Chicken wandern wir seine Eltern und die lokalen Mullahs. Die denken oft
im Geiste über die Landkarte und sprechen Indiens Si- ziemlich fundamentalistisch und sind nicht immer Freun-
cherheitsprobleme durch. Da ist der Dauerkonflikt mit de des indischen Staates – aber die Idee, dass sich ihre
dem Atomstaat und Terrorland Pakistan. Da ist die Söhne oder Zöglinge ohne Erlaubnis auf eigene Faust in
Provinz Kaschmir, in der militante Rebellen für die Un- mörderische und selbstmörderische Abenteuer stürzen
abhängigkeit von Indien kämpfen. Im Osten kommen könnten, gefällt den familiären und geistlichen Autoritä-
in großer Zahl illegale Einwanderer aus dem Nachbar- ten überhaupt nicht. Sie nehmen den potenziellen Mi-
land Bangladesch über die Grenze. In mehreren Provin- litanten in einer Weise unter Aufsicht und rücken ihm
zen im Zentrum des Landes wiederum führen maois- den Kopf zurecht, wie die offiziel-
tische Guerilleros eine Art Mikro-Bürgerkrieg gegen den len Sicherheitsorgane das schwer-

Krise ist
Staat. Als wir uns das vorige Mal trafen, kam auch Nepal lich könnten. So wird gegen die
im Norden auf die Tagesordnung, wo Indien in die Ri- Attraktivität der neuen Dschihad-
valität zwischen zwei Bevölkerungsgruppen hineingezo- Ideologie die Kraft der traditionel-
gen wurde, die um die Machtverteilung stritten. Über len Sozialkontrolle mobilisiert.
zivile Übelstände wie den Smog in Delhi oder eine Über- Man könnte sich stattdessen
schwemmung in der südindischen Metropole Chennai natürlich auch vorstellen, Polizei
rede ich mit Dhanendra gar nicht erst. Das scheint mir
unter seiner strategischen Würde zu sein.
Neuerdings hinterlassen diese Gespräche einen merk-
würdigen, aber erhellenden Eindruck. Zu Hause in
Deutschland, Europa und im Westen überhaupt ist dies
und Geheimdienst so auszubau-
en, dass sie die 170 Millionen
Muslime des Landes engmaschig
überwachen können. Oder es
wäre ein gigantisches Informati-
auch nur
ein Wort
eine Zeit der Krisen. In Indien dagegen, so scheint mir, ons- und Bildungsprogramm
hat der Begriff der Krise im Grunde keinen Sinn. »Krise« denkbar, mit dem die Ideen der
setzt einen weitgehend reibungslos funktionierenden Aufklärung und der liberalen
Normalzustand voraus, der dann schockhaft unterbro- Demokratie bis in die äußersten
chen wird – und zu dem man, ist die Krise erst einmal Winkel des indischen Islams ver-
überwunden, wieder zurückkehrt. Doch diesen tenden- breitet werden könnten, um den
ziell perfekten, jedenfalls im Großen und Ganzen be- ideologischen Reiz des Radika- Europa kann von Indien lernen,
friedigenden Normalzustand gibt es in Indien in der lismus zu kontern. Aber ange-
Regel gar nicht. Die Krise selbst ist hier die Normalität. sichts der Ausmaße Indiens und wie Unerträgliches tragbar
Nicht nur wegen einer ganzen Palette von Militär- und der Begrenztheit seiner Mittel und Unmögliches wirklich wird
Polizeiproblemen, sondern auch aufgrund der wirt- sind das schlicht keine realisti-
schaftlichen und sozialen Nöte einer immer noch armen schen Optionen. Man muss mit VON JAN ROSS
Riesenbevölkerung. Häufige Naturkatastrophen und den Beständen wirtschaften und
wachsende Umweltsorgen nicht zu vergessen. Das alles die Gefahren, die man nicht aus-
muss von einem Staat gemanagt werden, der vielfach schalten kann, wenigstens in Schach halten.
schlecht ausgerüstet ist und nach dem veralteten Vorbild Die Krise als Dauerphänomen, mit den Problemen
der früheren britischen Kolonialobrigkeit operiert. jonglieren, statt sie zu lösen, das bloße Durchhalten
Unter solchen Bedingungen kann oft gar nicht da- schon ein großer Erfolg – das hört sich erst einmal
von die Rede sein, Probleme zu lösen. Die Unruhe- exotisch an, nach der Rückständigkeit von Ländern
herde, über die Dhanendra und ich reden, sind keine und Völkern, die man früher die »Dritte Welt« ge-
Ärgernisse, die sich aus der Welt schaffen ließen. Sie nannt hätte. Aber mittlerweile kann man da nicht
ähneln eher alten Bekannten, die man gelegentlich mehr so sicher sein. Inzwischen hat auch der wohl-
besucht und nach deren Befinden man sich erkundigt. habende, moderne Westen daran zu zweifeln begon-
Es gibt auf Hindi ein Wort für die Improvisations- nen, dass Krise wirklich ein Ausnahmezustand ist und
kunst, mit der man aus knappen Ressourcen das Beste man jemals wieder zur vorher selbstverständlichen
macht und sich für hartnäckige Verlegenheiten kreative Normalität zurückfinden wird. Wenn 2014 schon an-
Notbehelfe einfallen lässt: jugaad. Jugaad ist es, wenn strengend und konfus war, dann hat 2015 noch ein
der Dieselmotor einer Bewässerungspumpe zum An- ganz anderes Niveau von historischem Stress erzeugt,
trieb für einen selbst gebauten Kleinlastwagen um- und bislang herrscht nicht das Gefühl, als würde 2016

Foto (Ausschnitt): Vivek Prakash/Reuters


funktioniert wird. Oder wenn ein Chirurg bei der eine nachhaltige Entspannung bringen.
Operation eines Leistenbruchs das zerrissene Gewebe So ist die indische Krisennormalität der westlichen
nicht mit einem teuren Kunststoffgeflecht fixiert, Erfahrungswirklichkeit erstaunlich nahe gerückt. In
sondern mit einem Moskitonetz. Das ist der Einfalls- Berlin und Brüssel muss man zurzeit kaum weniger
reichtum, den hier auch die Politik braucht, ganz wie improvisieren und sich nach der Decke strecken als in
das Leben überhaupt. Bangalore und Bengalen.
So gehört zu den zahllosen Herausforderungen In- Die ganze Welt wird indischer. Und womöglich ist Rushhour auf dem
diens natürlich die Terrorgefahr. Hier leben mehr das Management des Unvollkommenen kein Zeichen Bahnhof von Mumbai
Muslime als in jedem islamischen Land, abgesehen beklagenswerter, irgendwann hoffentlich überwunde-
von Indonesien. Viele von ihnen sind extrem konser- ner Unterentwicklung. Sondern die Zukunft für alle.
10 POLITIK 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1
MEINUNG

ZEITGEIST

Trump überall
Die Verführer siegen, weil im Westen
die Etablierten nicht mehr hinhören
VON JOSEF JOFFE Heute
Nach einem Durchmarsch am Super Tuesday wird
Donald Trump wohl nicht mehr zu stoppen sein.
Hierzulande darf die AfD am 13. März mit zwei- 29. FEBRUAR 2016
stelligen Gewinnen rechnen. Was ist los im Westen,
wo die Ränder seit 1945 nur gelärmt, nicht gesiegt
haben? Und: Sind Trump und die Euro-Populisten Am sechsten Tag also schuf Gott
womöglich das gruselig verzerrte Spiegelbild von den Menschen und hauchte ihm
Obama und Merkel? Eine absurde Vorstellung:
unsere liberalen Regenten auf derselben Bühne mit Leben ein mit einem Fingerzeig.
Blut-und-Boden-Böslingen wie der ungarischen Und was wir immer schon ahn-
Jobbik und der belgischen Vlaams Belang? ten und jetzt fotografisch belegt
Der Populismus ist ein schwammig Ding. Im
Spektrum tummeln sich Hartlinke wie die spani- sehen: Gott ist eine Frau! Und
sche Podemos und die griechische Syriza. Sodann sie, nun ja, trägt blaue Putzhand-
die britische Ukip (antieuropäisch) und die italie- schuhe. Und, okay, sie haucht
nische Lega Nord (anti-Rom), aber beide demokra-
tisch. Was wäre der gemein- auch nicht einem richtigen Men-
same Nenner? Was hätte der schen richtiges Leben ein, son-
mit den freundlichen Politi- dern schickt sich lediglich an,
kern zu tun, die in Amerika
Foto: Larry Fiebert

Michelangelos David in Florenz


Foto: Alberto Pizzoli/AFP/Getty Images

und Kerneuropa regieren?


Der anschwellende Po- zu restaurieren, fachfrauisch so-
pulismus, der von links bis zusagen. Bleibt aber eine schöne
rechts reicht, gruppiert sich Idee, das mit dem weiblichen
um einen Kern: Abschot-
Josef Joffe tung und defensiver Natio- Gott. Am 8. März ist schließlich
ist Herausgeber nalismus vs. Öffnung und Weltfrauentag. MTH
der ZEIT Globalisierung. Auch wenn
ein Ozean zwischen Trump
und seinen EU-Kumpanen liegt, speisen sie sich
aus den gleichen Wurzeln: dem Ressentiment ge-
gen »die da oben«, gegen Freihandel, Fremde,
Flüchtlinge und Billigproduzenten. Was dem ei- NEIN. QUARTERLY
nen sein Mexikaner, ist dem anderen sein Muslim.
Sie wollen Mauern hochziehen, die den »kleinen
Mann« vor Job- und Statusverlust schützen. Die
Verheißung ist zugleich nationalistisch und »links«.
Yalla, Frau Merkel IDEOLOGIE DES ALLTAGS

Die AfD will Einkommenshilfen für Geringver- Die Kanzlerin hat im deutschen Fernsehen erklärt, wie sie die Flüchtlingszahl reduzieren will. Die eigentlichen
diener, Trump will eine Reichensteuer. Adressaten ihrer Worte aber gucken nicht die ARD, sondern Al-Dschasira VON YASSIN MUSHARBASH
Einst hatte der »kleine Mann« seine Partei: die
SPD hier, die Demokraten in den USA. Sie haben

E
aufgepasst, dass er nicht vom Wagen fiel; sie haben ine Stunde hat Angela Merkel sich inklusive Einschränkung des Familiennachzugs) Gemeinsamkeiten, ich habe Respekt. Als Oba-
seine Stimme verstärkt, seine Interessen legiti- vergangene Woche Zeit genommen, Einfluss auf die Menschen, die – oft gestützt auf ma anfing zu sprechen, verbreitete das Weiße
miert. Die heutige SPD aber kann sich zwischen um ihre Flüchtlingspolitik den Gerüchte oder Fehlinformationen – zu uns kom- Haus sofort eine arabische Übersetzung.
Kernklientel und Postmoderne (Genderpolitik, Deutschen zu erklären. Als alleiniger men wollen. Was also bis heute fehlt, ist eine ehr- Vergleichbare Akte sind bei deutschen Kanz- ERIC JAROSINSKI
Diversität, offene Grenzen) nicht entscheiden; Gast in der Talkshow von Anne liche Darstellung der deutschen Position in einer lern bisher selten gewesen, Willy Brandts Knie-
ergo Gabriels Schlingerkurs im 25-Prozent-Ghet- Will, perfekt platziert zwischen Tatort und Ta- Sprache, die sie verstehen. fall in Warschau ist da mit Abstand das mar-
to. Die Kanzlerin, die die SPD immer kleiner ge- gesthemen, erreichte die Kanzlerin über sechs Kürzlich etwa erklärte in der ZEIT (Nr. 9/16) kanteste Beispiel.
macht hat, bietet erst recht keinen Halt. Sie hat Millionen Menschen. Eine gute Quote für Sen- ein Syrer, dass er wegen des eingeschränkten Aber weder an Brandt noch an Obama #Soliprojekt
»keinen Plan B« für die Flüchtlinge; misslinge ihr der und Kanzlerin – und eine bessere als bei ei- Familiennachzugs in den Krieg nach Aleppo zu müsste Merkel sich messen lassen. Es würde
die Europäisierung, »muss ich weitermachen«. ner Regierungserklärung im Parlament allemal. seiner Familie zurückkehren werde. Die Ver- schon genügen, wenn sie in ihrer nüchternen
Die US-Demokraten haben einst Nord und Zwei Wochen vor den Wahlen in drei Bundes- wandten hatten ihn vorgeschickt, von Deutsch- Art einige Sätze wiederholte, die sie hier schon
Süd, Arbeiter und Intelligenz, Einheimische und ländern konnte Merkel dar- land aus sollte er sie nach- oft gesagt hat: dass Schutz bekommen wird, wer Was brauchen wir?
Einwanderer, Nationalisten und Weltbürger im legen, warum sie von einer holen. »Bevor ich gehe, ihn benötigt, aber nicht jeder bleiben und nicht
selben Zelt versammelt. In dem hausen jetzt eth- Obergrenze nichts hält, wie Was fehlt, ist eine klare möchte ich Sie aber noch jeder seine Familie nachholen kann. Dass Nord-
nische und sexuelle Minderheiten, die Hochgebil- die Verhandlungen mit der Darstellung der deutschen um eines bitten, Frau Mer- afrikaner faktisch keine Chance haben, Asyl zu
deten und Neureichen der Finanz- und Start-up- Türkei laufen und weshalb kel«, schrieb er. »Seien Sie erhalten. Dass deutsche Behörden bereits Ab- Mehr Solidarität.
Welt. Derweil sind die Republikaner, die einst für sie eine europäische Lö-
Position – und zwar in ehrlich mit uns Syrern! Es schiebungen nach Afghanistan planen. Dass sie
»My Street« und Wall Street vereinten, ins Evan- sung unabdingbar ist. der Sprache derjenigen, gibt Tausende, die noch selbst daran arbeitet, die Bedingungen für
gelikale und Marktliberale gerutscht. So weit, so gut. Aber die zu uns kommen wollen nach Deutschland kommen Syrien-Flüchtlinge in der Türkei, in Jordanien
Kleiner Mann, was nun?, fragte Hans Fallada wenn Angela Merkel die wollen. Ich sage meinen und im Libanon zu verbessern, eben damit sie Mit wem?
1932, kurz vor dem Sieg der Nationalsozialisten. Flüchtlingszahlen wirklich Verwandten in Aleppo bei nicht nach Europa strömen.
Heute fährt der auf Trump, den Mussolini aus reduzieren will, wie sie es mehrfach gesagt und jeder Gelegenheit: Kommt nicht! Aber niemand Ein solcher Akt strategischer Kommunika-
Manhattan, ab, der alles verspricht und nichts auch bei Anne Will betont hat, dann sollte sie hört auf mich. Also sagen Sie es ihnen, Frau tion wäre ein mächtiges Korrektiv für falsch Mit uns, der SPD.
halten kann. Oder auf die AfD. Das ist das Dum- sich zusätzlich direkt an jene wenden, um die es Merkel, damit nicht noch mehr Menschen ihr oder nur halb verstandene Signale. Nehmen wir
me an der Demokratie: Die Leute, die ihre Heimat geht. Die Kanzlerin muss sozusagen Arabisch Leben für nichts aufs Spiel setzen.« nur den Tweet des Bundesamtes für Migration
in den Volksparteien verloren haben, fühlen sich lernen: Sie sollte sich eine weitere Stunde Zeit Der Mann hat Recht. Es ist Zeit für public vom letzten Sommer über die Aussetzung der
verraten und tragen ihre Stimmen zu jenen »Start- nehmen, um sich einem Moderator eines arabi- diplomacy, so heißt im Fachjargon der interna- Dublin-Verordnung, der von vielen Syrern irr-
ups«, die in die Marktlücke vorgestoßen sind. schen Senders, etwa Al-Dschasira, zu stellen. tionalen Beziehungen die planvolle Ansprache tümlich als Einladung verstanden wurde. Als @NeinQuarterly kommentiert
Sollten die Etablierten mit den populistischen Iraker, Marokkaner, Ägypter, Syrer, Libyer und einer Öffentlichkeit außerhalb des eigenen Lan- Al-Dschasira erreicht Dutzende Millionen Eric Jarosinski, 44, auf Twitter das
Wölfen heulen? Nein. Merkel-Union und Obama- Tunesier sind zwar keine potenziellen Wähler, aber des – mit dem Ziel, dort die Wahrnehmung zu Menschen, der Konkurrent Al-Arabiya eben- Weltgeschehen. Seine abgründigen
Demokraten müssten nur zurück in die Mitte, wo ihre tausendfach individuell getroffenen Ent- verändern oder zu korrigieren. Barack Obama falls. Beide würden sich um ein Merkel-Inter- Sinnsprüche finden dort Zehntausende
sie die Deserteure wieder einfangen, indem sie de- scheidungen, sich auf den Weg nach Deutschland war noch nicht lange US-Präsident, als er 2009 view reißen. Yalla, es ist selten genug, dass man Follower. Jarosinski ist amerikanischer
ren legitime Bedürfnisse aufnehmen, statt sie zu machen, prägen die hiesigen Verhältnisse. Und in Kairo eine Rede an die arabische Welt hielt. mit Ehrlichkeit sein Ziel voranbringen kann. Germanist und deutscher Aphoristiker.
volkspädagogisch wegzutherapieren. Umso einfa- umgekehrt haben unsere politischen Entscheidun- Seine Botschaft: Die Bush-Jahre sind vorbei, Bei uns erscheint seine Printkolumne
cher wird es sein, die Extremisten zu isolieren. gen (zuletzt die Verabschiedung des Asylpakets II mein Blick auf euch ist anders, ich sehe unsere www.zeit.de/audio

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3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 POLITIK 11
MEINUNG

Zur Sau
gelacht
Wie die CDU das Politische im
Schweinefleisch entdeckte
Damals Vielleicht saß Heiner Rickers, schleswig-hol-

Abb.: »Die Erschaffung Adams« von Michelangelo (Detail, Sixitinische Kapelle, Rom; ca. 1508-1512)/F1online; kl. Foto: Axel Lauer
steinischer Landtagsabgeordneter und agrar-
politischer Sprecher der CDU, beim Mittag-
1508–1512 essen, als er überlegte, welche Sau er durchs
Dorf treiben könnte. Vielleicht stocherte er
in seinem Salat – schließlich hat die CDU-
Das Deckenfresko in der Sixtini- geführte Bundesregierung in einem natio-
schen Kapelle zeigt, wie es wirk- nalen Aktionsplan dazu aufgerufen, den
Fleischkonsum pro Kopf und Jahr zu halbie-
lich gewesen sein soll: Ein groß- ren – und sehnte sich nach einem Schnitzel
väterlicher Gott erweckt Adam mit Zigeunersoße. Und während sein Ma-
zum Leben. So stellte es sich zu- gen knurrte fiel ihm ein, dass das Wort Zi-
geuner ja auch verpönt ist. Kein Schnitzel,
mindest Michelangelo vor. Viel kein Soßenname, so dachte Herr Rickers
Schlimmes hat die Menschheit vielleicht, stattdessen Vegetarismus und Po-
seit der biblischen Szene verbro- litical Correctness. Für manche hat das eine
ja mit dem anderen zu tun. Vielleicht gehört
chen, wurde dafür erst aus dem auch Heiner Rickers zu denen, die gern alles
Paradies vertrieben und dann in einen Topf schmeißen. Und wenn in den
auf Erden allein gelassen, mit Topf schon kein Schweinefleisch kommt,
dann wenigstens eine ordentliche Portion
der Pest, zwei Weltkriegen und Ressentiment.
Donald Trump. Das Fresko ist Vielleicht also schob Heiner Rickers
darüber ganz rissig geworden, energisch den Salatteller zur Seite, klappte
es könnte auch mal wieder res- seinen Laptop auf und schrieb: »Die Lan-
desregierung wird aufgefordert, sich dafür
tauriert werden. Am besten von einzusetzen, dass Schweinefleisch auch wei-
einer Frau. MTH terhin im Nahrungsmittelangebot sowohl
öffentlicher Kantinen als auch in Kitas und
Schulen erhalten bleibt.«
Vielleicht überkam ihn beim Schreiben
die Erinnerung an seine Jugend, als der
Mett-Igel auf keiner Party fehlen durfte und
VON AUSSEN DAUSEND der Schokokuss noch Negerkuss hieß. Also
schrieb er weiter: »Der Minderheitenschutz
– auch aus religiösen Gründen – darf nicht

Krieg der Gewissheit Brad Pitt vom Ländle


dazu führen, dass eine Mehrheit aus falsch
verstandener Rücksichtnahme in ihrer freien
Entscheidung überstimmt wird.«
Vegetarier, Veganer, Muslime, so dachte
Total dafür oder absolut dagegen: Je komplizierter die Welt wird, Die Schauspielerin und der Minister. Oder: Herr Rickers vielleicht, diese Schweine-
desto simpler wird unsere Denkweise VON ADAM FLETCHER Warum Politik und Sex-Appeal zusammengehören wie Guido und Wolf fleischverächter sind doch alle gleich. Ob
nun Islamisierung der Kantinen oder Ver-
künastung des Schulessens – beides laufe

I
n Zeiten des Brexit als Engländer im genau, wer schuld ist. Und sie wissen genau, Neulich interviewte ich zusammen mit meinem und drei Wahlen verloren hat. Das Stück habe ihr aufs Gleiche hinaus: dem Deutschländer-
Ausland zu leben ist kein Zuckerschle- was zu tun und wer zu wählen ist. Diese Alles- wunderbaren Kollegen Marc Brost – das muss ich sehr gefallen, meinte sie, weshalb ich wiederum Würstchen werde der Garaus gemacht. Die-
cken. 87 Prozent aller Menschen, die wisser werden auch Wutbürger genannt. jetzt hier so hinschreiben, denn Brost ist mein Chef dachte: Die bekannte deutsche Schauspielerin inte- ses ganze Halali ums Halal, so langsam rei-
einem begegnen, fragen, welche Posi- Kennen Sie den Politiker-Syllogismus? Er – eine bekannte deutsche Schauspielerin. Die be- ressiert sich nicht nur für Politik und liest mich – sie che es. Also wirklich, das werde man ja wohl
tion man in dieser Frage vertritt. Indok- funktioniert in etwa so: Erstens, es muss et- kannte deutsche Schauspielerin spielt in einer Fern- hat auch noch Ahnung von Texten! Tolle Frau! noch mal sagen dürfen.
triniert von ihren eigenen Facebook-Chroni- was getan werden. Zweitens, das ist etwas. sehreihe eine Diplomatin, weshalb wir darüber rede- Mittlerweile weiß ich, dass das Interesse der tollen Tatsache jedenfalls ist, dass es im Kieler
ken, sind diese Menschen offenbar überzeugt, Drittens, folglich müssen wir das tun. ten, wie viel Schauspiel in der Politik steckt und wie Frau weniger meinem Text als dem Ton-in-Ton- Landtag nun die Drucksache 18/3947 gibt:
dass Meinungen nur in zwei Varianten existie- Der Politiker-Syllogismus hat seinen Ur- viel Diplomatie im Schauspiel – oder so ähnlich. Minister galt. Politik und Sex-Appeal gehören nun mal »Pluralismus statt Ideologie im Nahrungs-
ren: total dafür oder absolut dagegen. sprung in unserem Bedürfnis, als aktiv Han- Die bekannte deutsche Schauspielerin sprach zusammen – so wie Guido und Wolf. Dem CDU- mittelangebot öffentlicher Kantinen« heißt
Wenn ich meine Unsicherheit kundtue, ist delnde wahrgenommen zu werden – selbst mich auf ein Porträt an, das ich kurz zuvor über Spitzenmann in Baden-Württemberg bleibt also ein dieser CDU-Antrag. Bei den Unterzeich-
der Frager enttäuscht. »Sie wissen aber schon, wenn das, was wir tun, nicht das Richtige ist. einen Minister geschrieben hatte, der über Pegida Trost: Sollte er die Wahl verlieren, bekommt er Ange- nern steht an erster Stelle der Name von
dass Sie nach einem Brexit ein Visum brau- Ich glaube, dass sich diese zur Schau getragene schimpft, Anzug und Krawatte Ton in Ton trägt lina Jolie. Guidolie statt Brangelina. PETE R DAU S E N D Heiner Rickers. DAGMAR ROS E NFE LD
chen würden, um in Deutschland zu leben, Gewissheit auf etwas zurückführen lässt, das
oder?« – »Mhm«, antworte ich. – »Fänden Sie ich den Wutbürger-Syllogismus nenne. Er
das denn nicht lästig?« – »Doch, natürlich. geht folgendermaßen: Erstens, jemand ist
Ich hasse Formulare, Umzüge und die Vor- schuld. Zweitens, hier ist jemand. Drittens,
stellung, dass ich ausgewiesen werden könnte folglich ist er schuld.
und wieder in einem Land leben müsste, das Dieser jemand lässt sich beliebig benen-
ich eigentlich nicht besonders mag.« – »Wa- nen – je nach Laune, Fantasie, politischer
rum engagieren Sie sich denn dann nicht ak- Ideologie oder einfach nur danach, wer gera-
tiv dafür, dass England in Europa bleibt?« – de in der Nähe ist. Das können Immigranten
»Ich bin eigentlich eher gegen einen Austritt, wie ich sein, ein Bus voller Menschen, die vor
aber ich bin mir eben einfach nicht sicher, einem Krieg geflohen sind, Politiker wie An-
was für ein ganzes Land politisch und wirt- gela Merkel oder eine geheime Spezies gestalt-
schaftlich die beste Lösung wäre. Ich meine, wandlerischer Eidechsen.
ich kann ja noch nicht einmal einen Kuchen Letzten Endes aber ist es so, dass das politi-
backen, ohne dass er mir anbrennt ...« sche Personal kommt und geht, Parteien kom-
Das verdirbt meinem Gesprächspartner men und gehen – ja, selbst Länder kommen
vollends die Laune. Was bilde ich mir eigent- und gehen. Wir aber bleiben. Welche Option
lich ein, dass ich mir herausnehme, mich in für uns die richtige ist, darüber gibt es nun mal
einer zunehmend schwarz-weißen Welt für keine Gewissheit. Es gibt keine Handlungs-
grau zu entscheiden? Das ist zumindest mein anleitung, die uns Sicherheit bringt, damit wir
Eindruck – dass wir in einer Ära der ständig uns endlich den für uns wichtigen Dingen des
zunehmenden Gewissheit leben. Lebens widmen können – Zeit mit der Familie
verbringen, einen Kuchen backen oder die neue
Staffel von Better Call Saul anschauen.
Wenn wir das akzeptieren, dann können
Adam Fletcher ist Brite wir nicht umhin, uns in die Lage jener zu ver-
und lebt in Berlin. Er setzen, denen wir so gerne die Schuld in die
schrieb den Bestseller Schuhe schieben. Sind die Menschen, die wir
»How to Be German wählen, sicher, welche Hebel sie betätigen
in 50 Easy Steps« müssen? Was gibt ihnen die Sicherheit? Wir-
ken sie wie Menschen, die ihre Meinung än-
Ich habe das Gefühl, dass die Welt einer dern würden, wenn man ihnen überzeugende
riesigen und unfassbar komplizierten Maschine Beweise liefert, dass sie im Unrecht sind? An
gleicht – der Demokratie 3000. Einer Maschine welchen Hebeln ziehen eigentlich wir selbst
mit tausend nicht beschrifteten Hebeln. Und – und haben wir eine Vorstellung davon, was
jeden Tag kommen neue Bedienelemente hinzu. sie bewirken? Der Literaturnobelpreisträger
Man zieht an einem Hebel, und es geschieht André Gide sagte einmal: »Glaube denen, die
etwas – doch was, weiß man eben nicht. Viel- die Wahrheit suchen, und zweifle an denen,
leicht wird der Steuersatz um ein Prozent ge- die sie gefunden haben.«
senkt. Also betätigt man noch ein paar Hebel. Gewissheit ist letztlich die Wurzel des Ter-
Hier und da leuchten Lämpchen auf. Musik rors: Gewissheit über den einzig wahren Gott;
erklingt. Kanye West wird erfunden. Man zieht Gewissheit über das Recht eines Landes, auf
an weiteren Hebeln. Eine neue Partei entsteht. die Bodenschätze eines anderen zuzugreifen;
Prostitution wird legalisiert. Das macht Spaß. Gewissheit über das Recht eines Menschen,
Also noch ein paar Hebel mehr. Ups, versehent- einem anderen seinen Willen aufzuzwingen.
lich den Bankensektor dereguliert und einen Der gegenwärtige Krieg gegen Immigration
Krieg gegen Papua-Neuguinea angefangen, der und Flüchtlinge ist die jüngste beschämende
uns am Ende alle das Leben kostet. Well done! Stufe in unserem dauerhaften (und hoff-
Trotzdem habe ich, egal, wohin ich gehe nungslosen) Krieg gegen unsere Angst vor
oder in welchen sozialen Medien ich unter- dem Unbekannten. Darum, geschätzter Leser,
wegs bin, ständig das Gefühl, dass außer mir möchte ich – als ein Mann, der nicht einmal
vor dieser Teufelsmaschine nur noch Men- einen Kuchen backen kann – ganz bescheiden
schen stehen, die der absoluten Überzeugung einen Vorschlag äußern: Können wir bitte als
sind, den Mechanismus verstanden zu haben. nächsten Krieg einen Krieg gegen die Gewiss-
Dass es ihnen irgendwie gelungen ist, die ver- heit führen? Er wäre nötig.
zwickte und verschlungene Komplexität aller
Dinge zu durchschauen und einen Zustand Übersetzt aus dem Englischen von
der absoluten Klarheit zu erlangen. Sie wissen Christoph Bausum
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1

RECHT & UNRECHT 12

P
lötzlich regt er sich nicht mehr. Norbert K. Mehrfach wird er erwischt, doch trotz kein rechtsstaatlich faires Verfahren mehr mög- mark fuhr, sondern im Auftrag des KHK (Kriminal- dieser bereits am 27. Juli 2011 an Norbert K. schrieb.
Keine Hände, die abwinken, kein seiner Vorstrafen stets wieder auf freien Fuß gesetzt. lich.« Das Gutachten des von der Kammer einge- hauptkommissars, Anm. d. Red.) K.«. In diesem Fall Er schildert darin, wie ein hochrangiger Bandido so
Kopfschütteln, kein verächtliches »Norbert sagte mir, ich solle einfach meinen Joker setzten Psychologen Max Jäckel tut sein Übriges. hätten Beamte zudem dem ermittelnden Staatsanwalt brutal auf einen mutmaßlichen Überläufer eintrat,
Seufzen. Sonst ist Mario Forster ziehen, wenn die Bullen mich schnappen. Und das Der Sachverständige attestiert Forster eine Persön- »wahrheitswidrig« mitgeteilt, dass Forster vor der Tat dass er sich selbst dabei das Wadenbein brach. Dieser
immer in Aufruhr. Doch jetzt, als habe ich auch gemacht und ihn angerufen.« lichkeitsstörung mit »paranoiden und depressiven davon ausging, es handle sich um »Legalfracht«. Fall wurde von K. damals nicht verfolgt. Als Forster
der Mann, den er nur »den Turm« Doch im November 2011 wird es Forster zu Merkmalen«, er neige zum Festhalten an »irrigen, jetzt bei der Polizei zu dem Vorfall ausgesagt hat,
nennt, den Saal betritt, beugt Fors- gefährlich. Er weiß nicht, wie er den Bandidos er- möglicherweise wahnhaften Inhalten«. Mit Wissen der Polizei holte er tschechische wurde er binnen weniger Wochen doch noch in den
ter seinen Kopf so weit nach unten, als wolle er in klären soll, dass er nicht nur nach einer Festnahme Deswegen treten die BLKA-Beamten voller Selbst- Prostituierte in deutsche Bordelle Zeugenschutz aufgenommen. Die Staatsanwaltschaft
sich selbst verschwinden. wegen des Diebstahls von drei Minibaggern aus vertrauen in den Zeugenstand. Norbert K. und seine Regensburg hat den Rocker mittlerweile wegen ver-
Zum ersten Mal seit fast viereinhalb Jahren Dänemark im Wert von mehr als 100 000 Euro Kollegen sagen aus, von keiner einzigen Straftat ge- Der 143 Seiten starke Bericht ist ein Dokument suchten Totschlags angeklagt. Es ist eines von zig
treffen sich Mario Forster, Ex-V-Mann des Bayeri- umgehend entlassen wurde, sondern auch jetzt wusst und diese weder gedeckt noch geduldet zu der Schande für das Bayerische BLKA. Er legt Verbrechen, die durch Forsters Angaben schon vor
schen Landeskriminalamts (BLKA) bei den Bandi- nach einer Drogenfahrt mit knapp zehn Gramm haben. Eine Aufnahme ins Zeugenschutzprogramm, nahe, dass sich Beamte der »Beweismittelunterdrü- vielen Jahren hätten verfolgt werden können.
dos in Regensburg, und Ralf K., der ehemalige Crystal Meth. Ein Rocker bestellt ihn ins Club- die Forster so sehr ersehnt, sei unbegründet, da er nie ckung« schuldig gemacht haben könnten, um Auch der damalige BLKA-Präsident Dathe rückt
»Präsident« des dortigen Rockerclubs, wieder. haus, man müsse dringend reden. Forster ist sicher, einen tragfähigen Anfangsverdacht für die Ermittlung »keine (...) Ermittlungszwänge« bei den Kollegen durch den Zwischenbericht aus Nürnberg in den
»Wenn der mich in die Finger kriegt«, hatte der enttarnt worden zu sein. Er fürchtet um sein Le- einer Straftat geliefert habe. Das war, wie sich in- anderer Polizeistationen auszulösen. Für den Kri- Fokus. Als Forster sich mit seinem Fall an den Peti-
ehemalige V-Mann Forster dem ZEITmagazin vor ben. Gott vergibt, Bandidos tun es nicht. zwischen herausgestellt hat, eine Lüge. Die vier Be- minalhauptkommissar Norbert K. waren offenbar tionsausschuss des bayerischen Landtags wandte,
knapp zwei Jahren gesagt (Nr. 27/14), »tötet der Als er seinen Joker Norbert K. anruft, be- amten verstricken sich in Widersprüche, die die weder Forsters Hinweise auf Kokainmissbrauch schickte Dathe im Januar 2013 eine Stellungnahme
mich in drei Sekunden.« Und wenn man diesen schwichtigt der ihn: »Er versprach mir, dass sie Kammer aufgrund der Sperrerklärung zwar nicht und Dealerei oder eine Messerstecherei in Passau ans Innenministerium, deren Inhalt sich inzwischen
Mann sieht, ein ehemaliger Rocker, groß wie ein mich sofort in den Zeugenschutz nehmen, wenn auflösen kann, die sie aber immerhin dazu veranlasst, noch die auf Menschenhandel und auf die Bedro- als falsch herausgestellt hat. Er schreibt dort, es sei
kaltblütiges Pferd, versiert in der chinesischen »trotz einer besonderen Sensibilität der zuständigen
Kampfkunst Win Chun, dann hat man keinen VP-Führer« nicht zu verhindern gewesen, dass Fors-
Zweifel daran, dass er das könnte: einen Mann in ter »ohne Wissen des BLKA im Einsatzzeitraum
drei Sekunden töten. schwerwiegende Straftaten beging«. Dieses Wissen
Doch zwischen den beiden sitzen an diesem ver- gab es da aber bereits.
schneiten Januarmorgen zwei Berufsrichter, fünf Das BLKA will sich derzeit nicht zu dem Fall äu-
Rechtsanwälte und eine ganze Batterie an Polizei- Ein Schwerkrimineller hat vermutlich seine Taten mit Wissen ßern, fest steht jedoch: Alle sechs Beschuldigten
beamten. Forster hat hier nichts zu befürchten – wurden intern versetzt und führen keine V-Personen
außer einer erneuten Verurteilung für Verbrechen,
die er zwar begangen hat, für die er sich aber nicht
des Staates begangen. Ein Prozess wird zur Politikaffäre mehr. Auch Staatssekretär Gerhard Eck gerät in Er-
klärungsnot. Die Abgeordneten des Landttags erhiel-
schuldig fühlt. Er sagt: »Alles, was ich getan habe, VON DA N I E L M Ü L L E R ten von ihm im Februar 2013 eine aus heutiger Sicht
tat ich im Auftrag des Freistaates Bayern.« erstaunliche Antwort, die in weiten Teilen wort- oder
Hier, in Saal 0017 des Landgerichts Würzburg, zumindest inhaltsgleich mit dem Schreiben Dathes

Die Rache des V-Mannes


entscheidet sich in den nächsten Wochen vermut- an das Innenministerium ist. So schreibt Staatssekre-
lich bis Ende Mai das Schicksal eines Mannes, tär Eck, Forster habe keinen Auftrag gehabt, »außer-
dessen Geschichte sechs Beamte des bayerischen halb Bayerns oder im Ausland Daten zu erheben«. Er
Landeskriminalamtes den Job kosten könnte und wirft Forster zudem vor, »die von ihm begangenen
inzwischen auch den bayerischen Landtag beschäf- Straftaten als Teil seines Auftrags durch das BLKA
tigt. »Dieser Fall ist ein einziger Skandal«, sagt die hinzustellen und hieraus einen Rechtfertigungsgrund
rechtspolitische Sprecherin der Grünen und Vize- zu konstruieren«. Der zweithöchste Repräsentant des
präsidentin des bayerischen Landtags, Ulrike Gote. bayerischen Innenministeriums hat den Landtag so-
Vieles spricht für einen Untersuchungsausschuss. mit falsch informiert.
Mario Forster, der mittlerweile einen anderen Als die Ermittlungen aus Nürnberg Ende 2015
Namen trägt, dient sich 2009 dem BLKA als im Landtag ruchbar werden, stellen SPD und
V-Mann an. Nicht weil er plötzlich seine Liebe Grüne einen Dringlichkeitsantrag. Sie verlangen
zum Rechtsstaat entdeckt hätte, sondern weil er Antworten von der Landesregierung, wie es zu
Geld braucht. Er ist mehrfach vorbestraft, Hehle- diesem Desaster kommen konnte. »Es ist unerträg-
rei, Diebstahl, Körperverletzung, gerade hat er eine lich, wie der Rechtsstaat mit diesem Menschen
dreijährige Haftstrafe wegen Betrugs in besonders umgegangen ist«, sagt Ulrike Gote von den Grünen,
schwerem Fall abgesessen. Aber Forster wirkt wie »man hat ihn einfach hingehängt.«
einer, der einem Imker Honig verkaufen könnte: Bayerns Innenminister Joachim Herrmann ver-
Foto: privat

charmant, schlagfertig, witzig, und so überzeugt er sprach Aufklärung und legte im Januar einen
auch das BLKA von sich. Forster übernimmt in Zwischenbericht vor. Dieser enthält allerdings, wie
Absprache mit der Polizei einen Nachtclub, er soll Ulrike Gote sagt, »jede Menge Nebelkerzendeutsch«.
sich im Rauschgiftmilieu umhören. Mit Rockern Damals war er noch Rocker: Der ehemalige Polizeispitzel Mario Forster So bleibe Herrmann etwa die Antwort auf die Frage
hat er bis zu diesem Zeitpunkt nichts zu tun. schuldig, aus welchen Gründen die Sperrerklärung
Doch einige Monate später kommt er über einen gegen Forsters VP-Akten erlassen wurde. »Nur zu
flüchtigen Bekannten zu den Bandidos in Regensburg schreiben, die rechtlichen Gründe hätten vorgelegen,
– und sein V-Mann-Führer macht »vor Freude eine hat doch nichts mit Aufklärung zu tun. Sie sollen uns
Rolle rückwärts«, wie Forster sagt. Die Rocker agieren ich auffliege.« Doch Forster landet in Unter- die merkwürdigen Einlassungen der Polizisten als hung mit einer geladenen Waffe ein Grund, Er- die Gründe nennen!« Die Sperrerklärung, die Forsters
extrem klandestin, es führt kaum ein Weg in ihre suchungshaft. Und als er droht, sich öffentlich strafmildernd für Forster zu werten. »Die fühlten sich mittlungen einzuleiten. An seine Vorgesetzten Anwalt Alexander Schmidtgall einen »massiven
inneren Kreise. Doch Forster, der Menschenfänger, selbst zu enttarnen, lässt das BLKA ihn ganz fallen, völlig unangreifbar«, sagt Anwalt Schmidtgall, ein schreibt er: »Es geht bei allen Fällen darum, dass Eingriff der Exekutive in die Judikative« nennt, ist
wird bald Fahrer des dortigen Präsidenten Ralf K. will nichts mehr von ihm wissen. Im Oktober 2013 erfahrener Strafverteidiger aus Kulmbach. Es ist auch wir uns um die Vorgänge bemüht haben. Eine mittlerweile in weiten Teilen aufgehoben worden.
und erarbeitet sich das Vertrauen der Rocker – und verurteilt ihn das Landgericht Würzburg wegen die Arroganz, die diese Beamten nun einholt. Aufklärung der Sachverhalte bzw. Umsetzung in Forster hat sich in dem Würzburger Gerichtssaal
die Bewunderung seiner Führungsbeamten beim unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln zu Denn Norbert K., der Joker, steht nun seinerseits Ermittlungsverfahren ist (...) nicht erforderlich, inzwischen von dem Schock erholt, auf seinen ehe-
BLKA. In einem Evaluationsbericht heißt es, sein einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und zehn im Zentrum eines Ermittlungsverfahrens der Staats- lediglich, dass wir ›etwas‹ gemacht haben.« In den maligen »Präsidenten« Ralf K. zu treffen. Seine Arme
Einsatz könne »gar nicht hoch genug gewertet wer- Monaten, die er gegenwärtig absitzt. anwaltschaft Nürnberg-Fürth, der die fragwürdigen nachträglich fingierten VP-Berichten fehlten diese fahren wieder durch die Luft, bissig kommentiert er
den« und: »Die bislang erlangten Informationen der Auftritte der BLKA-Beamten im Landgericht Würz- und andere Hinweise auf Straftaten. Mit Wissen alles, was K. in seinen Augen falsch berichtet. Doch
Vertrauensperson (VP) übersteigen alle bisherigen Forsters Joker für alle Fälle kam aus dem burg nicht entgangen waren. Der Vorwurf lautet auf der Beamten verbrachte Forster weiterhin tsche- auch wenn Ralf K., der mittlerweile ebenfalls im
Infos zur Zielgruppe. Ein seit 2 Jahren laufender VE- Landeskriminalamt: Der Beamte Norbert K. besonders schweren Diebstahl in mittelbarer Täter- chische Prostituierte in die Bordelle der Republik. Zeugenschutz ist, weil er gegen seine ehemaligen Ka-
Einsatz war bislang vergleichsweise uneffektiv.« VE schaft. Es geht um die in Dänemark entwendeten Und das BLKA zahlte dafür. Auch für die Inserate, meraden ausgesagt hat, einige Details anders sieht als
steht für verdeckter Ermittler. Forster, der Berufs- Die Verurteilung hat auch damit zu tun, dass er Bagger. Auch fünf weitere BLKA-Beamte sind im mit denen Forster die Frauen angeworben hatte. Forster, so stützt er doch dessen Kernthese. Er sagt:
kriminelle, hat in kürzester Zeit mehr erreicht, als ein seine Version der Geschichte nicht beweisen kann. Zusammenhang mit der V-Mann-Tätigkeit Forsters Kostenaufstellungen, die darüber Aufschluss ge- »Ohne Marios Geld hätten wir die ganzen Dinger nie
Berufspolizist es je vermögen würde. Das wiederum liegt vor allem an einer Sperrerklä- in den Fokus der Ermittler gerückt, ihnen wird Straf- ben, wann Forster wofür welches Geld erhalten hat, drehen können.« Das BLKA hat demnach Forster
Doch um in einem Rockerclub an brisante In- rung, die das bayerische Innenministerium wäh- vereitlung im Amt vorgeworfen. Brisant ist die Frage, wurden ebenfalls frisiert. Stand dort vorher in der nicht nur zu Straftaten angestiftet, es hat sie durch
formationen zu gelangen, reicht es nicht, Koks zu rend des Prozesses auf alle Forster betreffenden wer von den möglichen Verfehlungen im BLKA ge- Betreffzeile »Fahrt zu BMC Padborg wg. Unter- ihre finanziellen Aufwendungen erst möglich ge-
schnüffeln und eine Harley-Davidson zu fahren. Akten erlässt. Das BLKA argumentiert, dass bei wusst und sie gedeckt haben könnte. Die Spuren schlagung« oder »Transport vo. Frauen f. Oberhau- macht. Dass Forster jetzt noch einmal vor Gericht
Wer wirklich etwas erfahren will, der muss, wie Offenlegung der Akteninhalte »Rückschlüsse auf führen bis ins bayerische Innenministerium. sen«, heißt es plötzlich nur noch »VP-Legenden- steht, ist einem Urteil des Bundesgerichtshofs ge-
Forster sagt, »das große Rad drehen«. Mit Drogen die Identitäten der anderen eingesetzten VPen ge- Laut einem Zwischenbericht des mit den Ermitt- pflege«. Einige VP-Berichte seien »zweifelsfrei mit schuldet. Die Bundesrichter haben die Revision der
dealen, Frauen beschaffen, auf welchem Wege zogen werden könnten« und dies »ihre zukünfti- lungen betrauten Kriminalfachdezernats 4 der Kripo falschen Inhalten versehen« worden, konstatierten Staatsanwaltschaft in Teilen für begründet erklärt. Sie
auch immer: Geld verdienen für den Club, der für gen Einsätze stark gefährden« würde. Nicht zu- Nürnberg, welcher der ZEIT vorliegt, steht »nach- die Kripo-Beamten aus Nürnberg, andere wurden sahen den Umstand, dass Forster bei der Einfuhr der
jeden Rocker wichtiger ist als die eigene Familie. letzt, schreibt BLKA-Präsident Peter Dathe an das weislich fest, dass die VP-Akte Forster nachträglich erst gar nicht in die Akte aufgenommen. Es könne Drogen ein Messer bei sich führte, welches womög-
Forster bringt tschechische Prostituierte über die Landgericht, könnte es auch »zu erheblichen Ge- mehrfach verändert wurde, um tatsächliche Erkennt- »nicht ausgeschlossen werden, dass einzelne Beamte lich als Waffe im Sinne des Strafgesetzbuches anzu-
Grenze in die Laufhäuser der Bandidos, besorgt fahren für Leib und Leben des Herrn Forster füh- nisse und Abläufe zu verschleiern«. In dem Fall der des BLKA anlässlich der Gerichtsverhandlung un- sehen ist, nicht ausreichend gewürdigt. Es ist nicht
Crystal Meth, klaut Bagger, schmuggelt Münzen. ren, die es zu vermeiden gilt«. Forsters Rechts- entwendeten Minibagger sei eindeutig, dass Forster eidliche Falschaussagen getätigt haben«. Diese These ohne Ironie, dass Forster sein rechtliches Gehör aus-
Immer, wie er sagt, mit dem Wissen seines VP-Führers anwalt Alexander Schmidtgall sagt: »Danach war »nicht aus eigenen Beweggründen (...) nach Däne- unterstützt auch eine E-Mail Mario Forsters, die gerechnet einem Geschenk der Bandidos verdankt.

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3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1

DOSSIER
Koloniale Erblasten:
Europa und die
heutigen Krisen in
Afrika und Mittelost
Seite 17 13

TITEL:
CDU – EINE
VOLKSPARTEI
FÜRCHTET
DAS VOLK

Schaffen die das? Wähler wenden sich von der Kanzlerin ab,
Bürgermeister schreiben Protestbriefe nach Berlin,
treue Anhänger der Union geben auf.
Wer hält noch zu Angela Merkel? Reise durch
die Zitterpartei CDU
Foto [M]: Markus Hintzen für DIE ZEIT

Auf einmal ist man


da draußen ziemlich
alleine: Das CDU-Mitglied
Erik Bertram (rechts) und
ein weiterer Helfer sind
als Wahlkämpfer in

W
ie viel Abneigung kann ein »Darf ich Ihnen was mitgeben?«, fragt er eine zum Kotzen. Früher war ich ein Fan von Frau Tiefe Verunsicherung und erbit- Heidelberg unterwegs
Mensch ertragen, bis er Frau, die ihr Fahrrad an ihm vorbeischiebt. Merkel, aber heute reagier ich allergisch, wenn ich terte Richtungsdebatten – den
verzweifelt? »Nein danke«, »CDU? Neeee!«, sagt sie. die sehe.« Grünen, der Linkspartei und der
»Nein«, »Bloß nicht!«, »Nicht mal Gummibärchen?« Zehn Minuten diskutieren die Rentner und SPD seit Langem bekannt – haben
antworten die Fußgänger, »Nein!« Bertram, dann zieht das Paar weiter. Bertram reibt mit einem Mal die Union erfasst, die gegen An-
die an Erik Bertram vor- Ein bitterkalter Wind fegt über den Bismarck- sich die frostigen Hände, er hat seine Handschuhe griffe auf ihr Fundament besser gewappnet schien
beilaufen. Sie schütteln platz, aus der Fußgängerzone hallt Akkordeon- vergessen. Er fragt sich, ob es die Menschen sind, als jede andere etablierte Partei in Deutschland.
den Kopf, weichen ihm aus, tun so, als sähen sie ihn gedudel. Erik Bertram und drei weitere Helfer sind die sich verändert haben – oder seine Partei. Die große Volkspartei muss das Volk fürchten, und
nicht. »Darf ich Ihnen noch was mitgeben?«, fragt heute hier, um die Landtagskandidatin Nicole Bertram hat sein Abitur mit eins Komma null die Frage lautet: Wird die Turbulenz bloß eine Epi-
er und streckt Passanten kleine Tüten mit Gummi- Marmé an ihrem Wahlkampfstand zu unterstützen: bestanden, sein Studium begann er mit 17, es folg- sode bleiben – oder ist sie der Beginn einer allmäh-
bärchen entgegen. eine blonde Frau Anfang 40, die Hund und Toch- ten Forschungsaufenthalte in Cambridge und Har- lichen Zersplitterung?
»Was ihr aus Deutschland gemacht habt! ter mitgebracht hat. Auf dem kleinen Tisch unterm vard. Seine Doktorarbeit in Astrophysik wurde aus- Es ist der Dienstagabend dieser Woche, noch
Schämt euch!«, sagt ein älterer Mann mit Filzhut CDU-Schirm liegen Luftballons, Kugelschreiber, gezeichnet. Er ist ein Mann, der alles richtig ma- knapp zwei Wochen bis zur Landtagswahl, als Erik
und Stock, der an Bertram vorbeigeht. Er hebt sei- Parteiprogramme und Flyer. Auf Plakaten steht chen will und dessen Ehrgeiz bisher immer belohnt Bertram in Freiburg aus dem ICE steigt und zum
nen Zeigefinger. »Deutschland war das Beste, und »Unsere Polizei wieder stark machen« und »Tempo wurde. Angela Merkel war der Schlüssel zu seinem Konzerthaus läuft. Er will Angela Merkel sehen, sie
jetzt ist es das Niederste.« machen beim Straßenbau«. Aber darüber wollen politischen Erfolg, sein Glücksbringer, der Grund, wird bei einer Wahlkampfveranstaltung gegen das
Es ist ein betongrauer Nachmittag im Februar, als die Passanten nicht reden. Sie interessieren sich für für den es sich zu kämpfen lohnte. Einmal, da war drohende Desaster ankämpfen.
Erik Bertram bei null Grad vor einem Sonnenschirm ein anderes Thema: »Für Flücht- er noch Chef der CDU-nahen Bertram geht vorbei an Polizisten in Schutz-
mit CDU-Logo auf dem Bismarckplatz in Heidelberg linge, sonst nichts, seit Monaten«, Studenten-Organisation RCDS, kleidung, an Mannschaftswagen und Blaulicht. Ein
steht, drei Wochen vor der Landtagswahl am sagt Erik Bertram. VON NADINE AHR , durfte er sie sogar im Kanzleramt mittelmäßig bedeutender Termin in einer mittel-
13. März. Der Platz ist ein Knotenpunkt der Stadt: Es sieht nicht gut aus für ihn AMR AI COEN , besuchen. mäßig bedeutenden Stadt, aber ein Aufgebot fast
Die Fußgängerzone der Altstadt endet hier, Straßen- und seine Partei. Erstmals in der Inzwischen spürt Bertram wie am 1. Mai in Berlin. Vor dem Konzerthaus
MATTHIAS GEIS,
bahnen und Busse fahren ab. Ein nicht abreißender Geschichte Baden-Württembergs nicht mehr nur die Wut der haben sich Hunderte Demonstranten versammelt:
Strom von Menschen zieht an Bertram vorbei. könnte die CDU bei den Land- TINA HILDEBR ANDT, Wähler auf der Straße. Er erlebt AfD-Anhänger, die »Stoppt Merkel«-Plakate hoch-
Er ist ein Mann von 28 Jahren im feinen Man- tagswahlen nur den zweiten Platz HENNING SUSSEBACH auch den Ärger seiner Partei- halten. Daneben Demonstranten, die gegen die
tel. Die dunklen Haare hat er zur Seite gegelt, er ist belegen, hinter den Grünen. Der UND STEFAN WILLEKE freunde auf die eigene Vorsitzen- AfD-Anhänger protestieren, die Gegen-Gegen-
sauber rasiert, die Zähne sind auffallend weiß. Man Südwesten, bisher Merkel-Land, de. Aber Bertram steckt nicht auf. demonstranten, wenn man so will.
könnte ihn für einen Unternehmensberater halten. steht auf der Kippe. »Ich bin rat- Er glaubt, dass die Geschichte »Merkel muss weg!«, skandieren die einen.
Aber Erik Bertram ist Physiker. »Wie Angela Mer- los«, sagt Bertram. »Wer Merkel Angela Merkel recht geben wird. »Nazis raus!«, die anderen.
kel«, sagt er, und diese Analogie scheint ihm zu ge- unterstützen will, denkt, er müsse grün wählen. Die Hauptaufgabe von Physikern sei es, Probleme Bertram drängelt sich durch die Massen, vorbei
fallen. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit an Und wer sie bestrafen will, wählt AfD.« zu lösen. Seit Jahren beschäftigt er sich damit, wie an der Absperrung und betritt die Halle. Aus dem
der Universität ist er seit einem Jahr stellvertreten- Ein Rentnerpaar kommt am CDU-Stand vor- Turbulenzen im Weltall die Entwicklung von Ster- Foyer betrachtet er das Spektakel auf dem Platz, als
der Kreisvorsitzender der CDU in Heidelberg. Wer bei. Beide tragen feste Halbschuhe und Steppjacke. nen beeinflussen. Stark vereinfacht kann man sa- eine Kolonne von schwarzen Audis vorfährt – und
ihn trifft, hat das Gefühl, dass er es noch sehr weit »Glauben Sie ja nicht, dass das alles schutzbedürfti- gen: Er kennt sich aus mit unruhigen Zeiten und Angela Merkel aussteigt.
bringen könnte. ge Flüchtlinge sind!«, sagt der Mann. »85 Prozent mit Sternen, die verglühen oder neu entstehen. Bertram lächelt in ihre Richtung. Wird sie ihn
Bertram sagt, er schätze es, wie Merkel Politik sind Analphabeten!« Die CDU und ihre Vorsitzende Angela Merkel wiedererkennen? Wird sie Zeit für ein Selfie haben?
mache: global und auf Jahrzehnte bedacht. »Ich »Was ist denn Ihre Lösung?«, fragt Bertram, of- sind in Turbulenzen geraten, die noch vor wenigen Hat sie nicht. Mit zügigen Schritten verschwindet
hege Bewunderung für die Bundeskanzlerin. Als fenbar ernsthaft interessiert. Monaten unvorstellbar erschienen. Den letzten sie im Saal. Rund 1500 Menschen applaudieren.
Physikerin sieht sie eben das große Ganze.« »Dicht machen! Zaun bauen! Alle zurückschi- Umfragen zufolge sind 59 Prozent der Deutschen Angela Merkel spricht sehr lange von ihrer
Es werden immer weniger in der CDU, die An- cken!«, antwortet der Rentner. »Vierzig Jahre habe unzufrieden mit dem politischen Kurs der Kanzle- Flüchtlingspolitik. Sie erwähnt die Angriffe auf
gela Merkel in diesen Tagen so offen unterstützen ich CDU gewählt. Jetzt kann ich nicht mehr.« rin. In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz Asylunterkünfte und die Silvesternacht von Köln.
wie Erik Bertram. Er hält zu ihr, obwohl sie ihm Der Rentner lässt sich nicht mehr bremsen. Er haben sich die Spitzenkandidaten der CDU vor Bertram sitzt im Publikum und nickt. Nach 40 Mi-
das Leben schwer macht. Seitdem jeden Monat sagt: »Wir sind ein Land von Luschen! Keiner redet den Wahlen von Merkels Position abgesetzt. Unter nuten, als Angela Merkel zum Ende kommt:
Zehntausende Flüchtlinge ins Land kommen und mehr Tacheles. Die Flüchtlinge denken doch, Umständen wird Bayerns Regierung vor dem Ver- Standing Ovations. Draußen vor dem Konzerthaus
Merkel ihr »Wir schaffen das« in die Welt gesetzt Deutschland ist ein Schlaraffenland! Da muss mal fassungsgericht gegen Merkels Politik der offenen aber brüllen die Demonstranten »Buuuuh!«. Bier-
hat, ist Bertram ein Außenseiter. Früher haben ihn jemand das Signal geben: Ihr seid hier nicht will- Grenzen klagen. Falls es so käme, würde in der flaschen fliegen, drei Menschen werden festgenom-
die Menschen, die er im Wahlkampf ansprach, ge- kommen! Aber die Politiker haben alle Schiss.« Union ein offener Machtkampf ausbrechen. Er men, eine Polizistin wird am Bein verletzt.
lobt, sie klopften ihm auf die Schulter. Die Straße Sein Frau nickt heftig. »Die Flüchtlinge«, sagt könnte das Ende der großen Koalition in Berlin Es ist noch nicht lange her, da war Deutschland
war auf seiner Seite. Heute ist die Straße gegen ihn. sie, »kriegen hier bald alles geschenkt. Das ist doch bedeuten. ein Land, dem es so gut ging, dass es sich gelegent-

Fortsetzung auf S. 14
14 DOSSIER 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

Schaffen die das? Fortsetzung von S. 13 land wird untergehen.« Von August bis Dezember nern viele Peters, Heinrichs und Josefs. Die west- Hundt in seinem Maileingang den Brief an die
ist die Zahl der Parteiaustritte von rund 1300 auf deutsche, katholische, männliche CDU. Kanzlerin fand, unterschrieb er sofort.
lich langweilte und nach existenziellen Aufgaben fast 3200 im Monat gestiegen. Meyer sagt: »Heute Die CDU mag eine Frau an ihrer Spitze haben, Heute, fast ein halbes Jahr später, ist nur noch
suchte. Nicht immer fand es eine. Im Jahr 2013 ist die politische Lage in Deutschland viel kon- sie hat eine weibliche Spitzenkandidatin in Rhein- schwer zu sagen, wer in der CDU eigentlich Populist
stand eine Bundestagswahl an, aber kein noch so fliktreicher als 2013. Das Thema Sicherheit ist viel land-Pfalz, sie stellt eine Verteidigungsministerin ist und wer Pragmatiker. Der Seehofer in Hundt leis-
scharfzüngiger Beobachter wäre auf die Idee ge- wichtiger geworden.« – aber außerhalb der großen Stadt, dort, wo die tet Widerstand auf dem Post- und Amtsweg. Die
kommen, den müden Wettstreit um Wählerstim- Wenn eine Partei zu zerreißen droht, kann es Politik den Menschen sehr nahe kommt, haben es Merkel in ihm kommt vor Publikum ohne jedes Res-
men einen Kampf zu nennen. Deutschland war sinnvoll sein, sich als Politiker vorab in zwei Per- sehr wenige Frauen auf die entscheidenden Posten sentiment aus. Den Abend in der Schützenhalle hat
damals mit sich selbst im Reinen, und die Partei, sönlichkeiten zu spalten. So macht das Stefan geschafft. Es ist kein Zufall, dass in diesem Text Hundt durchgeplant wie ein Regisseur, auf allen
die dieses Gefühl am besten verkörperte, war die Hundt, der 57-jährige Bürgermeister von Lenne- über die CDU kaum Frauen auftauchen – außer Stühlen Infoblätter mit Statistiken auslegen lassen.
stadt im Sauerland, Nordrhein-Westfalen. Hundt, Bürgermeister Stefan
Union. 2013, das ist nur drei Jahre her, aber diese der einen, an der sich all die Männer abarbeiten. Der größte Teil der Asylbewerber stamme aus Syrien,
ein schlaksiger Kahlkopf, läuft in die von Men- Hundt (links) bei einer
Zeit wirkt in der Rückschau wie eine Epoche, die Bevor er zur Schützenhalle fuhr, hatte Stefan die Mehrzahl seien Männer, unter den 586 Menschen
schengemurmel erfüllte Schützenhalle, die west- Bürgerversammlung in
schon Schimmel angesetzt hat. Hundt erzählt, wie es zu diesem Brief gekom- fänden sich 167 Kinder. Hundt lässt einen Mann der
Lennestadt. Der Ort
Der heute 47-jährige Lutz Agentur für Arbeit reden und einen Polizisten von
weigert sich, weitere
Meyer, Chef der Berliner »strafrechtlich relevanten Vorgängen mit Zuwande-
Flüchtlinge aufzunehmen
Werbeagentur Blumberry, wur- rungsbezug« berichten. Bislang in diesem Jahr: vier
de damals von der CDU-Füh- Ladendiebstähle und ein Schwarzfahrer. Nach einer
rung engagiert, um die The- guten Stunde greift der Bürgermeister wieder zum
men des Wahlkampfes hoch- Mikrofon und sagt: »Sie haben sicherlich Fragen.
zuziehen. Dachte er an die Feuer frei!«
CDU, kam ihm ein Möbel- Im Publikum springt ein Mann auf. Gescheiteltes
haus in den Sinn, Ikea. Er graues Haar, Schnauzbart, Lederblouson. »Ich komm
sprach von »einer Art Ikeaisie- gern nach vorn«, ruft er. Der Mann ist Mitglied in
rung der Partei« und meinte der Allianz für Fortschritt und Aufbruch (Alfa), die
damit: Die CDU ist für eine Bernd Lucke nach seinem Austritt aus der AfD ge-
breite Mehrheit der Bevölke- gründet hat. Kaum hält der Grauhaarige das Mikro-
rung einladend. Wem das Re- fon in der Hand, hallt seine Tirade durch die Halle:
gal Billy zu einfallslos ist, der »Die Polizei kann die Bürger nicht mehr schützen ...
fühlt sich vielleicht auf dem Kosten, die für uns Bürger anfallen ... liebe Lenne-
Schlafsofa Friheten wohl. Die städter Mitbürger, deshalb frage ich ...« Stöhnen im
Volkspartei – so sah er das da- Saal, Augenrollen, Pfiffe. Hundt beugt sich hinab
mals – war unschlagbar ge- zum Mikrofon und sagt langsam und leise, so souve-
worden, weil sie nicht mehr rän, wie man es einem CDU-Politiker kaum mehr
nur konservative oder christ- zutrauen würde: »Ich darf um Ruhe bitten.« Kann
liche Werte symbolisierte, sein, dass Stefan Hundt, ein Gegner Merkels, gerade
sondern auch die Partei der Merkels Macht sichert.
Großstädte geworden war. Die Es war im Spätsommer vergangenen Jahres, als
CDU stand für die Abkehr auch das CDU-Mitglied Karl-Hermann Bolldorf aus
von der Atomkraft, sie hatte der hessischen Kleinstadt Biedenkopf einen Brief
weibliche Minister, vielleicht schrieb. Nicht an die Kanzlerin, wie die Bürgermeis-
würde sie irgendwann sogar ter aus Nordrhein-Westfalen, sondern nur an seinen
ein Forum der digitalen Welt Kreisvorsitzenden. Bolldorf berichtete zunächst von
werden. kleinen Dingen. Davon, dass er bei der Kommunal-
Auf Facebook startete wahl auf einem schlechten Listenplatz gelandet sei.
Meyer einen Aufruf und sam- Das habe ihn gekränkt. Dann kam er auf die großen
Dinge. Darauf, dass die Kanzlerin die Grenzen nicht
Fotos: David Klammer für DIE ZEIT; Uwe Ansprach/dpa; Oliver Mark für DIE ZEIT

melte für ein Werbeplakat


5000 Fotos menschlicher für alle Flüchtlinge hätte öffnen dürfen. Und auf
Arme und Hände ein, Glied- die übertriebene Willkommenskultur. Deshalb, so
maßen des Merkel-Volkes. schrieb er, »möchte ich aus der CDU austreten«.
Die Bilder ließ er zu einer Karl-Hermann Bolldorf ist 67 Jahre alt. Als er in
großen Collage montieren, zu die CDU eintrat, war er 23 und hatte gerade seine
jener Raute, die Merkel oft Prüfung zum Verwaltungsbeamten bestanden. »Ich
mit ihren Händen formt. bin konservativ, ich konnte mich einfach gut mit der
Tagelang kontrollierte Meyer Partei identifizieren«, sagt Bolldorf.
persönlich die zugeschickten Während er davon erzählt, wie er anfangs bei
Bilder, damit bloß kein Kommunalwahlen von Tür zu Tür gelaufen sei und
Hitlergruß und kein Fuck- wie er später in Fußgängerzonen gestanden habe,
Finger aufs Plakat rutschte. lenkt er seinen Wagen über die hügeligen Landstra-
Am Ende fügte sich alles zur ßen rund um Biedenkopf. »Hier ist der Kaufland, da
Geste der beliebten Kanzle- habe ich mitgeholfen, dass der hierherkommt, dort
rin, und Meyer war zufrieden. das Ärztehaus, da das schönste Freibad im Land.«
Seit Merkel die CDU Dann sagt er: »Und hier, in dem Zimmer mit dem
übernahm, hat sie die Vorstel- Balkon, war mein Amtszimmer.« 18 Jahre lang war
lungen ihrer Partei an die neu- Karl-Hermann Bolldorf Bürgermeister von Bieden-
en Mehrheitsverhältnisse im kopf. Dann verlor er. Gegen
Land angepasst, nicht ruck- einen Mann von der SPD.
artig, sondern allmählich und vorsichtig. Die Das war 2010.
Union habe den Anschluss an die Realität verloren Von nun an musterte er
– so erklärte Merkel den Machtverlust Helmut seine Partei kritischer. Zuerst
Kohls im Jahr 1998. Jetzt versuchte sie, neue Brü- war es nur das vage Gefühl,
cken in die Gesellschaft zu schlagen. dass die CDU, seine CDU,
Merkel richtete das Familienbild der Union sich veränderte. Seit Angela
an den Bedürfnissen berufstätiger Frauen aus. Sie Merkel Kanzlerin ist, sei die
gewann die Partei für eine entspanntere Sicht auf CDU immer weiter nach
Einwanderung und Staatsbürgerschaft, sie ver- links gerückt. »Irgendwann
abschiedete sich von der Wehrpflicht. Als die fand ich, dass die Partei ein
Partei zuließ, dass homosexuelle Einheitsbrei mit der SPD
Partnerschaften der traditionellen war.« Es kamen ihm Zweifel,
Ehe weitgehend gleichgestellt doch die Beziehung hielt.
wurden, fiel das kaum noch auf. Der Werber Lutz Meyer Wie in einer Ehe, sagt Boll-
So wurde die Union nahbar montierte viele kleine dorf. Am Anfang stelle man
für Wähler, die zuvor in unerreich- Bilder von CDU-Fans zur fest, dass einen kleine Dinge
barer Ferne gewesen waren. Mer- Merkel-Raute. Ein Motiv ärgerten, man fühle sich ver-
kel gewann Milieus für die CDU, aus dem vergangenen letzt. Trotzdem trenne man
die zuvor sozialdemokratisch ge- Bundestagswahlkampf, fälische Variante des Bierzelts. Er sich nicht. Dann kam die
wählt hatten oder grün. Es war, als einer konfliktarmen Zeit hat eine Bürgerversammlung ein- Flüchtlingskrise.
hätte eine Zeitung ein neues De- berufen, jetzt sehen ihm 350 Au- Zunächst sprach Bolldorf
sign entworfen und dann eine genpaare zu, wie er sich ein Mi- darüber nur mit Bekannten,
groß angelegte Werbeaktion ge- krofon nimmt, zunächst »die »du, das ist nicht mehr meine
startet, um neue Abonnenten zu gewinnen. Vertreter der Geistlichkeit« begrüßt und mit sono- CDU«. Hinter vorgehaltener
Die Frage ist nur: Wie lange bleibt so ein neuer rer Raucherstimme sagt: »Ich hatte Ihnen ja ver- Hand hätten ihm viele Partei-
Abonnent? Und schafft man es, neue Abonnenten sprochen: Ich informiere Sie regelmäßig über den mitglieder recht gegeben. Die
zu gewinnen, ohne alte zu verprellen? Stand der Dinge.« anderen arrangierten sich mit
Das neue Design der CDU war geprägt von Der Stand der Dinge in Lennestadt: Auf gut der Verunsicherung, Bolldorf
der Farbe Orange. Lutz Meyer, der Werber, hatte 25 000 Einwohner kommen 586 Asylbewerber. zog seine Konsequenz. Der
das Orange nicht erfunden, aber er machte es im Nach Berechnungen des Bürgermeisters bedeutet Austritt, sagt er, sei schlimmer
Wahlkampf stark. Das staatsmännische CDU- das »104 Prozent Belegungsquote«. Die Stadt ist als eine Scheidung gewesen.
Blau verschwand nie ganz von den Plakaten, voll, ihr Haushalt ist tief ins Minus gerutscht. Bolldorf muss es wissen. Er
doch Meyer drängte es in den Hintergrund. Meyer 875 000 Euro haben die Flüchtlinge im vorigen hat zwei Ehen hinter sich.
war früher mal Mitglied der SPD, er schlendert Jahr gekostet, so viel wie alle freiwilligen Ausgaben Die meisten aus der CDU
lässig durchs Büro, trägt sein Hemd ohne Kra- für Musikschule, Bäder, Sportvereine zusammen. hätten sich von ihm abge-
watte, reißt gern ein paar Witze. Er ist ein biss- Deshalb hat der Bürgermeister jetzt mit dem wandt, erzählt Bolldorf.
chen so, wie man sich immer eine runderneuerte Stadtrat eine »Überlastungsanzeige« verabschiedet Vielleicht wären sie mit ihm
Union vorgestellt hat. Das Orange wurde Meyers – das heißt: Die Stadt weigert sich, neue Flücht- befreundet geblieben, wäre
Farbe: weil es auch im Milieu der Roten noch linge aufzunehmen, bevor nicht mehr Geld von er nicht drei Monate nach
zieht und den Willen zur gesellschaftlichen Inte- Land und Bund kommt. Die Obergrenze, in seinem CDU-Austritt zur
gration ausstrahlt. Lennestadt ist sie erreicht. AfD übergelaufen. Bei einem
Auf Meyers Plakaten sah man eine Familie, die Das ist der eine Stefan Hundt. Wie viel Veränderung Glas Wein unterhielt er sich
in der Küche Pfannkuchen zubereitet. Oder eine Der andere Stefan Hundt redet fast wie die hält die CDU aus, mit einem Kommunalpoliti-
Oma, die ihre Enkelin anlächelt. »Deutschlands Kanzlerin. Er wirbt darum, freie Wohnungen an men war. Den ganzen Sommer über war es ihm wie viel überfordert sie? ker der AfD. Nach einem weiteren Glas beschloss er
Zukunft in guten Händen«, lautete ein Slogan. Flüchtlinge zu vermieten. Sich als Pate zu engagie- gelungen, neue Flüchtlinge unterzubringen. Er Angela Merkel beim einzutreten. Das sei nicht geplant gewesen, sagt
Befragt man Meyer heute nach seiner Farben- ren. Er spricht von einem »dynamischen Prozess, hatte mit Schützen-, Sport- und Gesangsvereinen Wahlkampf-Auftritt Bolldorf. Aber, um ehrlich zu sein: »Mir war lang-
lehre, sagt er als Erstes, dass der Bundestagswahl- von dem niemand weiß, wie er in zwei, drei Mona- gesprochen, hatte hier eine freie Wohnung, dort in Walldorf, weilig, und meiner Lebensgefährtin gehe ich zu
kampf noch längst nicht begonnen habe und er ten aussieht«. einen leer stehenden Gasthof gefunden. Aber ir- Baden-Württemberg Hause nur auf die Nerven.« Vieles, was er an seiner
sich dazu nicht äußern könne. Er sagt aber auch: Seit sieben Jahren ist Hundt Bürgermeister, jüngs- gendwann antworteten die Menschen auf seine CDU früher geschätzt habe, finde er jetzt bei der
»Man müsste wohl das Blau wieder stärken. Die ter Thronfolger einer langen CDU-Dynastie. Im Fragen mit Gegenfragen: Wie viele noch? Wie AfD. »Das Konservative, das Hochhalten der deut-
Zeiten sind nicht mehr so orange.« Herbst hat sich Hundt geteilt, in ein Politwesen, halb soll das weitergehen? schen Kultur.«
Nie zuvor sind in der Bundesgeschäftsstelle der Merkel, halb Seehofer. Da schrieb er mit 214 anderen Die CDU war stets die Partei mit dem Motto Inzwischen, meint Bolldorf, korrigiere Merkel ih-
CDU so viele Beschwerden eingetroffen. Manch- Bürgermeistern aus Nordrhein-Westfalen einen Brief »Keine Experimente« – aber die Politik der Kanz- ren Kurs. Fluchtursachen würden bekämpft, das fin-
mal meldet sich ein aufgebrachter Anhänger, brüllt an die Kanzlerin, der so begann: »Sehr geehrte Frau lerin sei noch nicht mal mehr ein Experiment, det er gut. »Wenn die Kanzlerin gleich so reagiert
ins Telefon und legt auf. Es ist die Zeit des Protests Bundeskanzlerin Dr. Merkel, wir wenden uns in findet Hundt: »Ein Experiment mache ich ja mit hätte ...«, sagt er. Den Satz vollendet er nicht. Was
gegen die Eliten, die Zeit der Drohungen und großer Sorge um unser Land ... Anlass ist der massi- dem klaren Willen, ein Experiment zu machen.« dann? Wäre er dann nicht ausgetreten?
Wutanfälle. »Lügner, Heuchler und Täuscher«, ve und in erheblichem Umfang auch unkontrollierte Merkels Satz »Wir schaffen das« trage er nicht »Vielleicht. Ich glaube, dann hätte sich die Frage
schreiben verbitterte Bürger der CDU, »Deutsch- Zustrom von Flüchtlingen.« Unter den Unterzeich- mit. »Dazu müsste ich wissen, was ›das‹ ist.« Als für mich so nicht gestellt.« Bald ist Kommunalwahl in
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 DOSSIER 15

Hessen. Karl-Hermann Bolldorf steht auf Platz Was die Kanzlerin ihrer Partei mit der Po- Bundesregierung an der Rettung Hunderter Flücht- seiner Heimat stellt, dem Kreisverband Main-
zwei der Kreisliste. Für die AfD. litik grenzenloser Solidarität gegenüber den linge aus Vietnam, die auf Booten unterwegs waren. Kinzig in Hessen. Bald ist Kommunalwahl, da
Die CDU, das war stets die Staatspartei, die Flüchtlingen abverlangt, ist die Zertrümme- Zunächst wies Deutschland die Boatpeople ab. macht es sich gut, wenn sich »unser General«
Rechtspartei, die Ordnungspartei, die Realitäts- rung dessen, was vom Konservatismus der »Kümmern Sie sich, Teltschik«, sagte schließlich dem Volk zeigt. »Unser General.« So nennen sie
partei. Zu ihrem Selbstverständnis gehörte es, un- Union noch übrig war. Die Partei, die bis vor Kohl, und Teltschik kümmerte sich. Deutschland ihn, Peter Tauber, 41 Jahre alt, Generalsekretär
verrückbar in der Wirklichkeit zu stehen. Störun- wenigen Jahren die deutsche Staatsbürger- nahm die Vietnamesen auf. der CDU. Zu Kohls Zeiten wurden kantige
gen dieses Selbstbilds wurden nicht zugelassen. schaft kompromisslos von der Abstammung »Kohl würde heute nicht anders handeln, als es Männer mit hartleibigen Methoden Generalse-
Helmut Kohl, der Kanzler der Einheit, verstieß eines Menschen abhängig machte, jene Partei, Merkel tut«, meint Teltschik, »ich er- kretär. Dagegen wirkt Peter Tauber mit seiner
zwar mit seinen schwarzen Parteikassen gegen das die sich trotz düsterer demografischer Aus- kenne bei ihr keine großen Fehler. Sie schwarz umrandeten Intellektuellenbrille so zu-
Gesetz, aber seine Partei wischte diese Irritation sichten und jahrzehntelanger Zuwanderung Für Horst Teltschik, hätte nur die Gespräche mit der Türkei rückgenommen, als habe er vor, das Morgen-
mit dem Hinweis weg, dass er an allen historischen an die Idee klammerte, Deutschland sei kein ehemals Helmut Kohls früher beginnen müssen.« Als die Kanz- magazin zu moderieren.
Wendepunkten richtiggelegen habe: Westbindung, Einwanderungsland, erlebt jetzt etwas ganz Berater, ist der lerin die Grenzen für die Flüchtlinge In der Halle spricht die örtliche CDU-Spitzen-
Europa, deutsche Einheit. Was war schon der und gar Ungeheuerliches: Die Kanzlerin er- Kanzler-Abgesang eine öffnete, die in Ungarn festsaßen, habe kandidatin über Tourismusförderung und Ver-
Trickser Kohl gegen den Europäer Kohl? klärt die massenhafte Aufnahme von Flücht- vertraute Melodie. Kohl, sie etwas getan, das man ihr nicht zu- kehrswege. Das beherrschende Thema kommt erst
Die Linken, das waren die mit den sagt Teltschik, würde getraut habe: Sie habe ihr Herz spre- auf, als Tauber ankündigt, er werde keine Grund-
schöneren Träumen und Ideen – nur heute handeln wie Merkel chen lassen. Jetzt müsse sie bei ihrem satzrede zur Flüchtlingspolitik halten. Er sagt:
leider völlig unrealistisch. Die von der Weg bleiben. Ein Regierungschef müs- »Keine Angst!«
Union, das waren Menschen, die recht se zu seiner Überzeugung stehen, be- Tauber ist der modernste Generalsekretär, den
behielten. Und die, bei denen auch die sonders wenn sich Mehrheiten im die CDU je hatte. Er ist immer freundlich und
schwierigsten Aufgaben klappten. So Wahlvolk drehen. gut gelaunt. Als Merkel ihn zum General berief,
sah man sich, als Handwerksmeister So war es in Teltschiks Erinnerung, war das Erstaunen groß: Peter wer? Schon bald
der Macht. als Helmut Kohl den Nato-Doppel- verkündete Tauber Unerhörtes: Die Partei sei
Es war nie ganz klar, ob das Partei- beschluss durchsetzte, an dem sein Vor- nicht in erster Linie eine C-Partei, sondern viel-
volk der CDU, all die Bürgermeister gänger Helmut Schmidt gescheitert war. mehr eine U-Partei, eine Unionspartei, die Ge-
und Kreisräte, die Beisitzer und Schatz- Später, nach dem Fall der Mauer, mel- gensätze zusammenführe, eine Partei, in der auch
meister, Merkels Politik wirklich be- deten sich in Teilen der deutschen Öf- der Islam seinen Platz finde. Tauber twitterte viel,
grüßten. Aber das war nicht wichtig, fentlichkeit, auch innerhalb der SPD, ließ andere ausreden. Das war neu.
solange das Wahlvolk zur Kanzlerin viele Gegner und Skeptiker der Wieder- Peter Tauber hat das Volk in Gruppen einge-
hielt. Merkel sicherte der CDU die vereinigung zu Wort. Aber Kohl, teilt. Die erste Gruppe, das seien die Beseelten,
Macht, und das schützte sie gegen Schäuble und ihre Mitstreiter ließen treue Freunde der Willkommenskultur. Einige
Grundsatzkritik. Eine Rebellion wäre sich nicht beirren. Durchhalten, meint von ihnen träten in die CDU ein. Die zweite
ein sinnloser Aufstand gegen den Erfolg Teltschik, Kurskorrekturen zulassen, Gruppe bestehe aus Menschen, die an der Vor-
gewesen. Doch mit jedem Wähler, der aber durchhalten. Und die Quertreiber stellung hängen, die deutsche Staatsbürgerschaft
die Partei verlassen könnte, sinkt jetzt ignorieren. »Die Äußerungen von Horst müsse an die Abstammung gekoppelt sein. Eini-
die Ergebenheit der Funktionäre. Seehofer sind unerträglich. Sie machen ge dieser Parteimitglieder träten jetzt aus. Und
In die Geschichte der CDU wird die AfD nicht kleiner, aber sie schaden dann ist da noch die dritte Gruppe. Tauber
Angela Merkel als die Kanzlerin ein- der gesamten Union.« nennt sie die »Oh-Gott-oh-Gott-Gruppe«. Das
Fotos: Michael Herdlein für DIE ZEIT (oben klein); Markus Hintzen für DIE ZEIT

gehen, deren Amtszeit nicht christ- Mit Helmut Kohl verbindet Angela sind all jene Menschen, die sich vor der Zukunft
demokratische Grundsatztreue, sondern Merkel ein feines Gespür für Macht. Sie fürchten, normale Bürger – keine Enthusiasten,
schonungsloser Machtpragmatismus aus- zerstörte die Partei Kohls und führte sie aber auch keine Pessimisten.
zeichnete. Dieser Pragmatismus, das dadurch im Jahr 2005 zurück in die Re- Die Oh-Gott-oh-Gott-Menschen haben schon
Funktionieren, wurde zum Ideologie- gierung. Merkel besiegte den SPD- jetzt die Mehrheit. Sie sind schwer zu fassen. In-
ersatz. So entstand rechts von der CDU Kanzler Gerhard Schröder, sie deklas- zwischen weiß man nicht mehr genau, welche
der Raum für eine neue Partei, in der die sierte später ihre sozialdemokratischen Angst größer ist – die der Partei vor diesem Volk
Ideologie über dem Pragmatismus steht. Herausforderer Frank-Walter Steinmeier oder aber die des Volkes vor dieser Partei.
Die AfD. und Peer Steinbrück. Die 41,5 Prozent
In der Partei des Funktionierens da- Wählerstimmen, die CDU und CSU Die CDU hat sich nach links bewegt – und rechts von
gegen scheint jetzt nichts mehr zu klap- bei der Wahl im Jahr 2013 erzielten, sich einen Platz frei gemacht. Wer füllt diesen Raum?
pen, und das im Allerheiligsten der waren die stärkste Bestätigung für Mer- Lesen Sie dazu nächste Woche ein Dossier über die
Konservativen: dem Staat. Von Staats- kels Kurs. Angenommen, die CDU Neue Rechte
versagen ist die Rede, seit die Kanzlerin wäre so etwas wie ein Zeitungshaus,
im Fernsehen erklärte, dass sie die Gren- dann hätte sie Millionen neue Abon-
zen nicht schließen könne. Von allen nenten gefunden.
Zumutungen der letzten Monate war Doch nun, in der Flüchtlingskrise, be-
das für viele in der CDU die schlimms- ginnen sie davonzulaufen – und auch die HINTER DER GESCHICHTE
te. Eine Todsünde. alten Abonnenten schicken ihre Kündi-
Inzwischen kommt es vor, dass An- Ein Abtrünniger: gungsschreiben. Der Wähler ist flatterhaft Motiv der Recherche: Was geschieht
gela Merkel durch Albträume von Karl-Hermann Bolldorf geworden, und gerade die neuen Wähler, mit der CDU? Erodiert die Macht der
CDU-Mitgliedern geistert. Michael Barz schlief lingen aus einem fremden Kulturkreis zu ih- war für die CDU die durch die Öffnung der CDU angezogen wurden, größten deutschen Volkspartei? Und
tief und fest daheim in Greifswald, als sein Unter- rer Politik. Bürgermeister im sind offene, experimentierfreudige Menschen. Solche wenn ja: Wie weit ist dieser Prozess
bewusstsein in irgendeinem Gebirge unterwegs Was für Merkel eine neue Realität ist, ist für hessischen Biedenkopf. Wähler sind auch schnell wieder weg. fortgeschritten?
war, sehr steil ging es bergauf. Barz war mit seiner die Union der Ausnahmezustand. Merkels Bot- Seine neue politische Vor vielen Jahren, als die gesellschaftlichen Milieus Dauer der Recherche: Zwei Wochen
Frau auf Wanderschaft, aus unerfindlichen Grün- schaft lautet: Es wird nie mehr so, wie es früher Heimat ist die AfD noch nicht zersplittert waren, hatte die CDU sogar lang haben unsere Reporter in sieben
den war auch die Kanzlerin dabei. Barz erinnert einmal war. Früher, das war, als die Weltkrisen ihr eigenes Wetter. Sonnenschein, blauer Himmel, ein Bundesländern recherchiert, unter
sich, dass Merkel und seine Frau viel schneller auf- sich noch im Fernsehen abspielten und lauer Wind, das war CDU-Wetter. Die SPD hoffte anderem bei Wählern, Funktionären,
stiegen. »Es war schrecklich«, sagt er, »ich kam Deutschland nicht direkt betrafen. Für jene auf Platzregen, Schnee und Glatteis. Dann trauten Ex-Wählern und Ex-Funktionären.
nicht hinterher.« Teile der CDU, die an Traditionen und über- sich am Wahltag die Rentner nicht aus dem Haus, die Den Auftritt der Kanzlerin in Freiburg
Heißt das, er kann der Kanzlerin nicht mehr schaubaren Verhältnissen hängen, bricht heute vor allem der CDU zugerechnet wurden. Zeigte sich beobachtete eine Autorin am Dienstag-
folgen? ein Weltbild zusammen. Merkel aber orientiert die Sonne, wagten sich die konservativen Alten ins abend dieser Woche, kurz vor Redak-
Barz sitzt in Greifswald im ersten Café am Platze, sich längst nicht mehr an irgendeinem CDU- Wahllokal. Die Rechnung ging nicht immer auf, aber tionsschluss.
gotisches Gemäuer. Der Marktplatz vor den Fens- Landesverband, sondern an Europa. Das sie sagt etwas über politische Bindungen, die längst Auswahl der Gesprächspartner: Wer
tern sieht ganz so aus, als habe Helmut Kohl sein Fremdeln der CDU mit ihrer Vorsitzenden ist verschwunden sind. steht in den Städten und Gemeinden
Versprechen der blühenden Landschaften einge- deshalb keines dieser Probleme, die man gern Jetzt steuert der Identitätskonflikt der Union auf für die Politik der Kanzlerin ein? Wer
löst. Bunt geschminkte Häuser, Fischbuden, zu Kommunikationsproblemen herunterspielt, einen neuen Höhepunkt zu. Christdemokraten fra- müht sich im Wahlkampf? Wer hat die
Wimmelbuch-Leben. Für den 57-jährigen Barz sondern ein Symptom. Die Parteivorsitzende gen sich: Wer sind wir noch, und wenn ja, wie viele? Partei verlassen? Fragen wie diese führ-
steht fest: All das gibt es nur dank des »Weitblicks« hebt ab, die Partei schaut ihr verwundert hin- Rund 150 CDU-Mitglieder sind nach Roden- ten uns zu unseren Interviewpartnern.
der Christdemokraten. Barz trägt einen schwarzen terher. Und die Entfernung wächst und wächst. bach gekommen, als sich Peter Tauber Ende Februar
Anzug und ein weißes Hemd, ihm gehört hier das Es wäre interessant zu erfahren, was jener
größte Versicherungsbüro, bis 1990 hat er im Politiker über all das denkt, der die CDU län-
Greifswalder Atomkraftwerk gearbeitet. Barz wur- ger geführt und die Bundesrepublik länger re-
de in den fünfziger Jahren geboren, wie Merkel. Er giert hat als jeder andere. Aber Helmut Kohl
ist ostdeutsch, wie Merkel. Er ist 1990 in die CDU spricht kaum noch mit Journalisten, es geht
eingetreten, wie Merkel. Und er gehört demselben ihm nicht gut. Man kann aber einen Mann be-
Kreisverband an wie Merkel. suchen, der sich zutraut, in Kohls Sinne zu ant-
Barz ist, schon aus biografischen Gründen, ein worten. In Rottach-Egern am Tegernsee ist
Kanzlerinnenversteher. Gute Politik sei rational, Horst Teltschik zu Hause, der über Jahrzehnte
sie ähnele dem Bedienen einer Maschine. »Wenn eng mit Kohl zusammengearbeitet hat, als Be-
ich hier einen Hebel ziehe, gibt es da eine Reak- rater, Vertrauter, Sonderbeauftragter. Inzwi-
tion.« So habe Merkel noch jedes Problem weg- schen ist er Pensionär, 75 Jahre alt. Teltschik
geregelt. Nach Erik Bertram in Heidelberg ist Barz steht an der Tür seines Eigenheims und bittet
der zweite Anhänger, der das Bild vom technischen darum, dass man sich die Schuhe gründlich an
Regieren nutzt, um Angela Merkel zu verteidigen. der Fußmatte reinigen möge, bevor man das
Wie die spätere Kanzlerin war auch Barz bei gepflegte Wohnzimmer betritt.
der Revolution von 1989 nicht vorn dabei, eher Nichts ist von draußen zu hören, gelegentlich
ein stiller Zuschauer, seit seiner Kindheit auf die ein Windstoß, der gegen die Fensterscheiben
Bundesrepublik geeicht. Zum Abendbrot hörten drückt. Das nächste Flüchtlingsheim ist weit weg,
seine Eltern heimlich Deutschlandfunk. In der irgendwo in einer Turnhalle, und manchmal sieht
CDU ist er auch deshalb, weil er gegen die ande- man im Dorf einen Afrikaner auf einem Fahrrad.
ren Parteien ist. Die Linken sind für ihn unwähl- »Ich war ja auch ein Flüchtlingskind«, sagt
bar, die Grünen zu ideologisch, die AfD ist »von Horst Teltschik in das Ticken einer Standuhr
Putin bezahlt«, die SPD zu wankelmütig. Die hinein. Seine Familie wurde aus dem Sudeten-
CDU dagegen: solide, schwer, stabil. Wäre sie eine land vertrieben. Horst war fünf, als er mit den
Maschine, dann wohl ein riesiger Schiffsmotor. Eltern in Bayern ankam. Welche Arbeit haben
Barz’ Vertrauen in die CDU ist so groß, dass er wir überhaupt für die Fremden? Was können
das Parteiprogramm bis heute nicht gelesen hat. die denn? Die Fragen damals und heute ähneln
Während andere kritisieren, Merkel habe allein sich. Teltschiks Vater wurde Hilfsarbeiter auf
auf ihre Gefühle gehört, als sie die Flüchtlinge ins dem Bau, die Mutter kolorierte in Heimarbeit
Land ließ, findet Barz den Gedanken »nicht ganz Schwarz-Weiß-Fotos. Es war ein mühsamer
plausibel«. Im Herbst, als sich Tausende auf den Anfang, aber es ging bergauf.
Weg nach Deutschland machten, habe Merkel an Später, in Kohls Kanzleramt, las Teltschik in
der Maschine nur zwei Optionen gehabt: AUF Zeitungen und Magazinen ständig von einem
oder ZU. Beide schlecht. Ein politischer Störfall. Regierungschef, der kraftlos sei, hilflos, tapsig.
ZU hätte bedeutet, »dass Merkel als Ostdeutsche Helmut Kohl. »Tölpel am Werk«, schrieb der
gefragt worden wäre: Früher wurde Flüchtlingen Spiegel. Schon als Kohl Kanzlerkandidat war,
in den Rücken geschossen – heute erschießen wir 1979, hieß es auf dem Titel des Magazins: Kohl
sie von vorne?« Nach dem großen AUF, findet kaputt. So blieb es eigentlich die ganze Zeit.
Barz, bringe Merkel die Maschine langsam wieder Aber dieser Kanzler hielt sich 16 Jahre, von
unter Kontrolle, mit Geld, Geduld und Verhand- 1982 bis 1998. Er zog die Sache mit der deut-
lungen. Wolle man da jetzt lieber einen Heißsporn schen Einheit durch, er glaubte daran, den
stehen haben? Weg zu einer europäischen Einigung bereitete
Seinen Albtraum möchte Barz übrigens nicht er auch. Und immer schrieb irgendeine Zei-
deuten. Ihm ist nur aufgefallen, dass Merkel am tung: Jetzt ist Kohl wirklich am Ende.
Berg ein Tempo vorlegt, von dem er nicht weiß, ob Zwischendurch – den Geschichtsbüchern
es sich halten lässt. keine große Notiz wert – beteiligte sich die
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 DAS LESERZITAT

»Ich finde es schändlich, dass dieses Europa überall die Schotten

LESERBRIEFE ZUR AUSGABE N 0 9


dichtmacht. Doch gleichzeitig sehe ich, dass man nichts wirklich
›richtig‹ machen kann in diesem Dilemma.« Von Karin Thimme-Bodzin 16

Raubritterburgen
wieder aufbauen
Udo Di Fabio: »Wozu Grenzen
Flucht aus Deutschland Lebe wohl,
Großbritannien
Interview mit Gisela Stuart:
gut sind« ZE IT NR . 9 Offener Brief von Arif Abbas an Angela Merkel ZEIT NR . 9 »Richtige Schockwirkung« ZE IT NR . 9
Titelillustration: Paweł Jońca

Wenn man Udo Di Fabios Logik folgen und Es ist zynisch, was geschieht, wenn Sie wegen ist, wenn er erzählt, was alles nicht gut läuft. Kein nicht bewahren vor den Gefahren der Migration Ich stimme Gisela Stuart zu. Die Briten soll-
Schengen gegen »sichere« Grenzen ausspielen Ihrer Familie die mühselige Flucht auf sich ge- Wort davon, dass Deutschland überfordert ist. und den bitteren Enttäuschungen, die in ten die EU verlassen, und falls nicht, möchte
wollte, müsste man konsequenterweise mög- nommen haben, um dann festzustellen, dass Sie Kein Wort davon, was wir hätten anders machen Deutschland auf sie warten. ich auch ein Referendum in »Resteuropa«, ob
lichst viele der einst Europa zerklüftenden genau aus diesem Grund nun wieder zurück- sollen/können. Kein Wort davon, wie wir mit der Dr. Harald Streck, Murrhardt wir all den Ausnahmen für GB zustimmen
historischen Grenzen wiederherstellen; etwa müssen, weil man Ihnen inzwischen den Familien- großen Menge an Flüchtlingen umgehen sollen, und bereit sind, dafür zu zahlen!
die Zonengrenzen von 1945/47, als man die zuzug verwehrt. Ich glaube nicht, dass man Sie wenn die Infrastruktur dafür nie aufgebaut wur- An diesem einen Flüchtling »Arif Abbas« sehen Ganz Europa muss endlich aus seinem Traum
Behelfsbrücken zwischen Mainz und Wies- nicht will, es ist einfach die Unfähigkeit, das alles de. Wo ist der Blick über den Tellerrand? wir die Ausmaße der Überforderung unseres Lan- von Europa aufwachen. Spätestens die Flücht-
baden oder Ludwigshafen und Mannheim zu managen. Dr. Nadine Jäger, Zell am Main des. Dieser Mann hat sein Leben riskiert, weil er lingskrise hat gezeigt, dass Europa bzw. die
erst gar nicht und später nur nach strengsten So tut mir Frau Merkel leid, wenn sie doch end- voller Hoffnung war auf eine bessere Zukunft. EU eigentlich gar nicht existiert. Vielleicht
Kontrollen passieren durfte. Und wenn das lich mal versucht, es anders zu machen, und mit Ich kann einfach nicht verstehen, warum ein Va- Jetzt ist er im ordentlichen und schönen Deutsch- sollte alles aufgelöst werden, und dann fangen
nicht reicht, könnte man die zahlreichen Recht sagt, dass es nicht mehr ihr Land sei, wenn ter seine Familie in Aleppo allein zurücklässt und land – und in der harten Realität angekommen die von vorne an, die ein wirkliches Europa
Zoll- und Raubritterburgen am Rhein reakti- man kein freundliches Gesicht gegenüber den die gefahrvolle Reise nach Deutschland antritt. und verzweifelt an unserer deutschen Bürokratie. mit allen Konsequenzen wollen. Utopisch,
vieren und für diese neue Form von Sicher- Flüchtlingen zeigen könne. Ich finde es schänd- Ein Elektroingenieur muss wissen und weiß es Was für ein Albtraum! Die Regierung hat versagt, klar, aber der einzige Weg!
heit nutzen. lich, dass dieses Europa überall die Schotten wahrscheinlich auch, dass eine Familie mit vier weil Deutschland lieber mit schönen Worten re- Wolfgang Michel, Waldems
Als in der Pfalz geborener Europäer, der zu- dicht macht. Doch gleichzeitig sehe ich, dass Kindern im Alter von drei bis elf Jahren in einem giert als mit Taten.
fällig einen deutschen Pass trägt, stört mich man nichts wirklich »richtig« machen kann in wildfremden Land mit einer Million Flüchtlin- Das Schlimme an dieser ganzen Flüchtlingssache, Gisela Stuart hat nachvollziehbare Argumente
vor allem die Souveränitätshuberei David diesem Dilemma. gen in überschaubarer Zeit gar keine auch nur was mich eben als Bürgerin traurig macht: Ich bin für einen Ausstieg der Briten aus der EU auf-
Camerons, der Visegrad-Staaten und leider Karin Thimme-Bodzin, per E-Mail bescheidene Existenz finden kann. überzeugt, Deutschland, ja Europa hätte sowohl gezeigt und gleichzeitig der Gemeinschaft die
auch des Bundesverfassungsgerichts; in ih- Josef Vogt, Mülheim-Kärlich strukturell als auch finanziell und humanitär die Leviten gelesen.
nen sehe ich die wahren Totengräber der Ich habe den erschütternden Bericht von Arif Ab- Möglichkeiten gehabt zu agieren. Eine Bundes- Die EU ist in Wahrheit ein Saftladen, der
Europäischen Union. Mit den bisher erst bas gelesen und kann seine Entscheidung zurück- In dem offenen Brief an Frau Merkel lese ich, wehr verfügt über riesige beheizte Zelte – wo war wieder auf die Füße gestellt werden muss, be-
zum Teil verwirklichten Visionen der euro- zugehen nachvollziehen. Ich glaube aber, es gäbe dass Herr Abbas täglich fünf bis sechs Stunden sie, als wir sie brauchten im eigenen Land? So vor er auseinanderbricht. Und Deutschland
päischen Gründungsväter und -mütter hat auch eine andere, bessere Lösung. Ich wohne in mit seiner Frau in Syrien telefoniert. Können Sie viele willige Bürger, Freiwillige, Hilfsorganisatio- ist gerade dabei, sich vollständig zu isolieren.
das nichts zu tun. Wir brauchen jetzt erst der Nähe des Camps, in dem Arif Abbas lebt oder mir bitte mitteilen, was solche Gespräche kosten? nen waren von Anfang an da und leisteten Groß- Zu unserer Politik kann man beim besten
recht mehr Europa! gelebt hat. Wenn er noch hier ist, würde ich ihn Ich habe keine Vorstellung, da ich das Handy artiges! Warum werden nicht endlich kompetente Willen kein Vertrauen mehr haben.
Wolfgang Heinz, Bad Krozingen gern kennenlernen und versuchen, ihm zu helfen. selten nutze. Fachleute eingesetzt, die wirklich was von Krisen- Gunter Knauer, Meerbusch
Gerhard Dücker, per E-Mail Renate Storch, per E-Mail management verstehen?
Bemerkenswert ist Di Fabios Euphemismus, Vittoria Valenti, per E-Mail
über »soziale Ordnungen« zu schreiben, ob- Ich kann verstehen, dass es zermürbend ist, in ei- Wer kann das abertausendfache Leid ermessen,
wohl diese doch durch den Siegeszug der Be-
triebswirtschaft über sämtliche anderen ge-
nem Camp zu sitzen, während die Familie in Le-
bensgefahr schwebt. Ich kann verstehen, dass
das die krude »Willkommenskultur« der Merkel-
Regierung unter den Armen der Welt bisher an-
Der Artikel hat mich erschüttert, ich hoffe, er
löst etwas aus! Gibt es noch normale Flüge nach
Ein Vitamin fehlt
sellschaftlichen Bereiche längst im Aussterben Wünsche und Ansprüche geweckt wurden, als gerichtet hat, indem der vor allem in den arabi- Damaskus? Christoph Drösser: »Stimmt’s?«
begriffen sind. Eine Entsprechung liegt in der Angela Merkel so herzlich eingeladen hat. Und schen Medien kursierenden Einladung, Deutsch- Mindestens das Flugticket bis Ankara müsste
ZE IT NR . 9
Abspaltung bei großen Teilen der Bevölke- ich kann sogar verstehen, dass sich jeder Flücht- land sei zur Aufnahme von drei Millionen Mi- doch möglich sein, ich beteilige mich gern finan-
rung, sich mit jener denkwürdigen Willkom- ling ein ehrliches Wort aus der Politik wünscht. granten bereit, nicht entschieden widersprochen ziell. Gibt es eine Reaktion aus Berlin? Warum
menskultur für Flüchtlinge selbst zu feiern, Auch ich vermisse seit Monaten ein Konzept, eine wurde. Nun sitzt die Überzeugung »Angela Mer- muss er alles selber zahlen? Der Gedanke, dass er Herr Drösser erklärt, dass niemand einen
während die einheimischen Globalisierungs- strukturierte Herangehensweise. kel hat uns eingeladen« unauslöschlich in den den ganzen Weg wieder zurück über Land muss, Extra-Vitaminkick brauche, der sich einiger-
verlierer in ihrer unverschuldeten Not sich Aber ich kann überhaupt nicht verstehen, warum Köpfen der Elenden dieser Welt fest, und die Be- ist einfach nur gruselig! maßen ausgewogen ernähre. Das mag für die
selbst überlassen bleiben. der Blick des Autors nur auf sich selbst gerichtet schwörungsformel »Wir schaffen das« wird sie Arnold Kiel, per E-Mail meisten Vitamine zutreffen, gilt für Vitamin
Während lange Jahre dringend notwendige D aber definitiv nicht. Deutschland ist – an-
Investitionen für Bildung, Kinderbetreuung, ders als im Beitrag generell behauptet – ein
Pflege und bezahlbare Wohnungen unterlas- ausgesprochenes Vitamin-D-Mangel-Land.

Visionär oder Aufschneider?


sen wurden, sind urplötzlich angesichts der Ursachen sind unsere Lebensgewohnheiten
Flüchtlingsströme Gelder da. Eindrucksvoller (wenig Aufenthalt im Freien, UV-Schutz,
kann eine politische Kaste ihre Ignoranz Kleidung) und die genetische Disposition –
gegenüber dem Schicksal der inländischen insbesondere, aber nicht ausschließlich, bei
Habenichtse nicht ausdrücken. Interview mit Joschka Fischer: »Jetzt reden wir über alles« ZE IT NR . 9 Immigranten aus dem Süden. Folgen sind
Wolfgang Leiberg, per E-Mail Osteoporose und andere Mangelkrankheiten,
aber auch die Anfälligkeit für Depressionen.

V
Herr Di Fabio zeigt in seinem Artikel die Be- ielleicht hätte man Herrn Fischer doch wohl auch, dass auf dem Wege der Landnahme Hier nur drei Beispiele: Er begründet das Chaos im Leider sind diese Tatsachen zu wenig bekannt.
scheidenheit und Demut vor der Komplexität mal fragen sollen, ob sein Ressentiment und der ethnischen Säuberung der Staat Israel Nahen Osten damit, dass es »keine dominierende In Ihrem Beitrag haben Sie die Chance ver-
der Situation, die Herr Münkler letzte Woche gegen Russland/pro Europa vielleicht entstand – ein steter Quell für militärische Aus- Regionalmacht« gibt. Die hat es aber seit dem Ende passt, darüber aufzuklären.
vermissen ließ. Herr Di Fabios Artikel lädt daher rührt, dass seine damalige Außen- einandersetzungen, Repression und Vertreibung. des Osmanischen Reiches nicht mehr gegeben, auch Rolf Berndt, Dresden
ein zum Mitdenken, die Einschätzung von politik uns wesentlich an den heutigen Punkt ge- Und wie war das mit den Herren George Bush nicht zu Zeiten des äußeren Friedens unter dem
Herrn Münkler versuchte eher, auf die (hin- bracht hat: in einen neuen Kalten Krieg und einen und Dick Cheney, die nicht nur Saddam, sondern Schah, König Feisal, König Faruk, König Hussein,
teren) Plätze zu verweisen und Uniformität Bürgerkrieg. Vielleicht verdrängt er da doch was? gleich die gesamte Region zerlegt haben? König Saud und in den Jahrzehnten danach.
zu verordnen. Übrigens machen Statur und Gehabe eines preu- Bruno Fey, Putzbrunn Im Sykes-Picot-Abkommen wurden die kolonialen
Dr. Christian Voll, Passau ßischen Landjunkers noch lange keinen Real- Interessengebiete von Frankreich und Großbritan- IHRE POST
politiker – Bismarck hätte den kleinen Aufschnei- Ein recht analytisches und verständliches Inter- nien festgelegt, nicht aber die Staatsgrenzen – diese
der nicht übers Vorzimmer hinausgelassen. view eines Mannes, der ohne Schul- und Berufs- konnte jedes Land innerhalb seiner Einflusszone erreicht uns am schnellsten unter der
Matthias Meindl, Zürich abschluss sich selbst politisch hoch gebildet hat. frei bestimmen. E-Mail-Adresse leserbriefe@zeit.de.
BEILAGENHINWEIS Joschka Fischer ist ein Visionär, und es war bil- Und es dauerte auch nicht von 1848 bis 1989, »bis Leserbriefe werden von uns nach eigenem
Ich bewundere Herrn Fischer. Ich bewundere dend, wenn man ihn – und wenn nur auf der ein wiedervereinigtes demokratisches Deutschland Ermessen in der ZEIT und/oder auf ZEIT
Die heutige Ausgabe enthält in Teilauflagen Publi- ihn, weil kaum jemand mit so wenig Sachkennt- Bühne und im Wahlkampf – früher erleben Realität wurde«. War denn die Weimarer Republik ONLINE veröffentlicht. Für den Inhalt der
kationen folgender Unternehmen: Digitec Galaxus nis so weit gekommen ist wie er. Respekt! konnte. Ein Typ von Persönlichkeit, der vom von 1918 etwa keine Demokratie? Leserbriefe sind die Einsender verantwort-
AG, CH-8005 Zürich; Hansisches Druck- und Ver- Also die Herren Mark Sykes und François George- Aussterben bedroht ist. Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Heilmann, Berlin lich, die sich im Übrigen mit der Nennung
lagshaus GmbH, 60394 Frankfurt; Möbel Krieger Picot sind für die heutige Situation im Nahen Dr. Günter Schullenberg, Düsseldorf ihres Namens und ggf. ihres Wohnorts ein-
GmbH & Co. KG, 10785 Berlin; Outfittery GmbH, Osten verantwortlich. Ja da schau her! Da hat der »Jetzt reden wir über alles.« War das Teil eins, verstanden erklären. Zusätzlich können Sie
10999 Berlin; Schweiz Tourismus, CH-8002 große Staatsmann wohl übersehen, dass es nach Die gelegentlich sehr subjektiven Einschätzungen oder warum fehlt das Thema Israel/Palästina? Ich die Texte der ZEIT auf Twitter (@DIEZEIT)
Zürich; Walbusch Walter Busch GmbH & Co. KG, 1919 noch einen Weltkrieg gab, der sich unter von Herrn Fischer in allen Ehren – aber er springt finde, da muss nachgebessert werden. diskutieren und uns auf Facebook folgen
42646 Solingen anderem in Nordafrika abgespielt hat. Übersehen auch mit den historischen Fakten eigenwillig um. Heinz-Dieter Busch, Gau-Bischofsheim
3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

17
Weißer Herr, schwarze Knechte:
Szene aus der deutschen
Kolonie Togo, 1885 GESCHICHTE

Kein Platz an der Sonne

Foto (Ausschnitt): bpk


Der Mittlere Osten zerfällt, in Afrika versinken Staaten im Bürgerkrieg: Welche Verantwortung tragen die einstigen Kolonialmächte? VON WOLFGANG REINHARD

I
n einem mehr als 500 Jahre währenden Das Versagen schlägt sich auch in Zahlen nieder. getrennten oder zusammengespannten Ethnien folg- Marokko unterscheiden sich dabei kaum von spät- für Waffen durfte auch weiterhin Geld ausgegeben
Prozess hat sich Europa zum Herrn über In funktionierenden Staaten wird für staatliche Leis- ten. Dazu kommen unsinnige Größenunterschiede kolonialen Neukreationen wie Syrien und dem Liba- werden. In der Folge erodierten vielerorts die ohnehin
die Erde aufgeschwungen – in Kriegen tungen eine hohe Besteuerung in Kauf genommen. und eine ungleiche natürliche Ausstattung der neuen non, dem Irak und Transjordanien. Rivalisierende schwachen staatlichen Strukturen noch weiter.
und Eroberungszügen, mit Handel, Wis- Um 2000 lag die Staatsquote, also der Anteil der Staatsgebilde. Wohlhabenden Ländern wie Ghana Gruppensolidaritäten sind hier noch stärker als in Selbst unter den erschwerten Bedingungen der
senschaft und Technik. Kolonialreiche Staatsausgaben an der wirtschaftlichen Gesamtleis- und Nigeria stehen andere wie Tschad oder Niger Afrika, das territorial orientierte Nationalbewusstsein Schuldenkrise zeigte sich allerdings, dass der poli-
entstanden und vergingen. Neue Staaten tung, in Europa bei etwa 50 Prozent. Ebenfalls rund gegenüber, die zu den ärmsten der Welt gehören. ist noch schwächer ausgeprägt. Politische Einheit ließ tische Wille in den einzelnen Ländern mitentscheidet
erwuchsen aus ihren Ruinen. Heute ist 50 Prozent betrug der Anteil der Einkommensteuern In all diesen Staaten hatte der Versuch einer mo- sich nur mit der harten Hand von autoritären Monar- und nicht das koloniale Erbe allein die Entwicklung
das Zeitalter der europäischen Expansion Ge- an den Gesamtsteuereinnahmen. In der nachkolo- dernen Nationsbildung die Zerstörung der alten po- chen und Diktatoren aufrechterhalten. Anläufe zur bestimmt. So vollzog sich zwischen 1983 und 1990
schichte, aber seine Folgen sind gegenwärtiger nialen Welt belaufen sich beide Werte auf 15 bis litischen Vielfalt zur Voraussetzung – ein Ziel, das Demokratie nach dem zweiten Golfkrieg von 2003, überall in Lateinamerika ein Übergang zur Demo-
denn je. Im Mittleren Osten und auf dem afrikani- 20 Prozent; Steuerflucht ist dort noch selbstverständ- nicht erreicht wurde. Denn der moderne Staat blieb im Arabischen Frühling seit 2010 und seit der Er- kratie. 1986 wurde der Diktator Marcos auf den
schen Kontinent zerbrechen postkoloniale Staaten; licher als in Europa. Leistungsschwäche wegen Steuer- in den Augen der einheimischen Bevölkerung ein hebung gegen den syrischen Diktator im Jahr 2011 Philippinen gestürzt. In Afrika begann die Demokra-
in anderen Regionen behaupten sie sich erfolg- verweigerung und Steuerverweigerung wegen Leis- Werk der Kolonialherren, denen gegenüber man hatten Chaos zur Folge. Unter anderem wurden mus- tisierungswelle 1990. Deren Ergebnisse lassen freilich
reich. Wie sind diese so unterschiedlichen Ent- tungsschwäche ist der übliche Teufelskreis. keine Verpflichtung spürte und deren Eigentum man limische Bewegungen, die wie die Muslimbrüder in häufig zu wünschen übrig. Demokratie als stabiles
wicklungen und Krisen zu erklären? Die meist schlecht bezahlten Beamten sind zudem nach Kräften schädigte. Nur die neuen postkolonialen Ägypten die Wahlen gewonnen hatten, mit Gewalt an Erfolgsmodell hat sich außer in Indien bisher in
In der Debatte stehen sich oft zwei gleichermaßen anfällig für Korruption, denn viele haben ihre Stel- Staatseliten identifizierten sich im eigenen Interesse der Machtübernahme gehindert, was den islamischen keinem nachkolonialen Gemeinwesen bewährt und
holzschnittartige Deutungsmuster gegenüber. Ent- lung als persönliche Schützlinge der Machthaber be- mit ihrer Nation, die meisten Afrikaner hingegen Terrorismus und den 2014 proklamierten »Islamischen der moderne Staat als Ganzes nicht einmal dort.
weder werden die Verwerfungen in vielen Staaten kommen und betrachten sie als solidarisierten sich stärker denn Staat« nur fördern konnte. Die Ressentiments der
Afrikas und der arabischen Welt kulturalistisch oder Pfründe, die etwas abwerfen je mit ihrer wie auch immer Muslime richten sich allerdings in erster Linie gegen
gar rassistisch auf religiöse und ethnische Ursachen soll. Statt auf einer entperso- umschriebenen Ethnie. Diese den Westen, von dem sie sich seit 200 Jahren gedemü- Das Ende der westlichen Hegemonie
zurückführt. Oder man macht aus antiimperialis- nalisierten Rechtsordnung von Stärkung des ethnischen Be- tigt fühlen. Wer die Reaktion der Deutschen auf die Allen Rückschlägen zum Trotz bietet die nichtwest-
tischer Sicht »den Westen« und »den Kapitalismus« Gleichen basieren viele postko- Neue Serie: wusstseins und seine Steigerung viel geringeren Zumutungen des Vertrags von Ver- liche Welt heute keineswegs ein Bild homogenen
für alle Übel der postkolonialen Welt verantwortlich. loniale Staaten auf einer Ord- zum Rassismus bis hin zum sailles 1919 kennt, sollte dafür Verständnis aufbringen. Elends. Zuerst wurde es vom Aufschwung der kleinen
Der Gegensatz zwischen bösen Kolonialherren nung persönlicher Beziehungen Das Erbe Völkermord ist die schwerste Tiger Ostasiens (Taiwan, Südkorea, Singapur, Hong-
und ihren guten Opfern ist freilich nichts als die von Ungleichen – so wie es auch Erblast des Kolonialismus. kong) widerlegt. Indonesien, Malaysia und vor allem
politisch korrekte Umkehrung des Geschichtsbildes in den vormodernen Staaten der Kolonialzeit Ähnlich problematisch wie Der Weg in die Schuldenfalle China haben inzwischen nachgezogen, und Indien
der Kolonialmächte. In Wirklichkeit waren die Europas der Fall war. Zuerst im subsaharischen Afrika verlief Das Staatsversagen in den einstigen Kolonien hat aller- dürfte nicht weit davon entfernt sein. In Lateiname-
Kolonisierten keine passiven Objekte der Geschichte. kommt die Familie, dann das die Entwicklung in der isla- dings nicht nur politische, sondern auch wirtschaftli- rika gehört vor allem Brasilien zu den sogenannten
Sie haben die Kolonialherrschaft nicht nur unter- Netzwerk der Klienten, die ih- Im 19. Jahrhundert erreichte mischen Welt, wobei sich die che Gründe, und wie bei der Entwicklung des Staates Schwellenländern. Selbst für Teile Afrikas, einen der
laufen und manipuliert, sondern waren selbst an ihr rem Patron durch das Prinzip die Expansion der modernen kolonialen Erfahrungen hier greifen auch hier koloniale Strukturen, Fehlentschei- am raschesten wachsenden Märkte der Welt, gibt es
beteiligt. Keine Kolonialmacht konnte ohne ein- von Leistung und Gegenleistung Kolonialreiche ihren Höhe- deutlich voneinander unter- dungen postkolonialer Eliten und die Einflussnahme Daten, die auf eine Wende zum Besseren deuten. An
heimische Mitarbeiter auskommen. Häufig beruh- verpflichtet sind. punkt. Weite Teile Asiens und scheiden: Während die islami- ehemaliger Kolonialmächte ineinander. der sich weiter öffnenden Schere zwischen Reich und
te Kolonialherrschaft auf einem Bündnis der Kolo- Nun ließe sich einwenden, Afrikas sowie der Nahe und schen Länder Nordafrikas im Ob südamerikanisches Silber, kongolesisches Uran Arm und an der notorischen Korruption hat sich aber
nialherren mit alten oder auch neu geschaffenen das Verhalten der nachkolonia- Mittlere Osten standen unter späten 19. Jahrhundert unter oder arabisches Öl: Stets wurden die Kolonien auf nichts geändert, im Gegenteil.
indigenen Eliten zur Ausbeutung der kolonialen len Eliten könne kaum den eins- europäischer Kontrolle. In den direkte Kolonialherrschaft gera- Rohstoffproduktion für den Weltmarkt festgelegt und Dass gerade in Süd- und Ostasien der Aufschwung
Unterschichten. tigen Kolonialherren angekreidet kolonisierten Ländern regte ten waren, unterlagen das übri- als Absatzmärkte für Fertigwaren betrachtet. Profite so früh gelang, führt dabei abermals zur Frage nach
Aber auch die kulturalistischen Erklärungen werden. Doch damit würde man sich früh Widerstand, im Lauf ge Osmanische Reich und Per- wurden von Privatleuten gemacht, während die po- der staatlichen Entwicklung zurück. Denn hier er-
können die Folgen der Kolonialherrschaft nicht an- es sich zu leicht machen. Denn des 20. Jahrhunderts erlangten sien einer indirekten Kontrolle litische Kolonialherrschaft fast immer ein Zuschuss- wiesen sich die Bedingungen als sehr viel günstiger
gemessen beschreiben. Vielmehr gilt es, die Kontinui- der Kolonialismus begünstigte sie die Unabhängigkeit. der Großmächte. Nach dem unternehmen blieb. Die Beteiligung einheimischer als in Afrika oder dem Nahen und Mittleren Osten.
tät der ökonomischen und vor allem der staatlichen klientelistische Strukturen. Da Ersten Weltkrieg gewann Per- Eliten diente nicht zuletzt der Senkung der Herr- Entweder konnten die Staaten nach japanischem Vor-
Strukturen zu verstehen, die der Kolonialismus ge- der sparsame koloniale Staat – Die Folgen sind, wie die sien (von 1935 an sprach man schaftskosten. Kolonialismus wie Kapitalismus heißt bild an die Identität vormoderner Reiche anknüpfen.
schaffen hat. Das liegt schon deshalb nahe, weil der außer in Indien – keine leis- aktuellen Krisen von Syrien vom Iran) politische Unabhän- private Profite bei Sozialisierung von Verlusten. Oder es handelte sich um Gebiete, die durch lang
moderne europäische Zentralstaat politisch, finanziell tungsfähige Bürokratie hinterlas- bis zum Sudan zeigen, längst gigkeit zurück, während das Verschärft wurde diese Entwicklung in den ehema- dauernde Kolonialherrschaft in neue politische Ein-
und militärisch ein wichtiger Akteur des Kolonialis- sen hatte, blieb den nachkolo- nicht bewältigt. In loser Reihe zusammengeschrumpfte Osma- ligen Kolonien durch Entscheidungen, die unabhän- heiten verwandelt worden waren wie die Philippinen,
mus war. Seiner geballten Macht konnte außerhalb nialen Eliten oft gar nichts ande- widmen wir uns daher in den nische Reich zerbrach. Aus dem gige Regierungen weitgehend aus freien Stücken ge- Indonesien und selbst der indische Subkontinent, der
Europas niemand etwas entgegensetzen. Zugleich ist res übrig, als ihre Herrschaft auf kommenden Monaten der Kerngebiet ging die Türkei als troffen haben, die sich aber im Nachhinein als Fehler seine heutige Gliederung in die drei Staaten Indien,
der moderne Staat zu einem der beliebtesten Export- Netzwerke persönlicher Bezie- Frage, welche Spuren der neuer Staat hervor, die einstigen entpuppten. So war im Boom der Jahre 1950 bis 1970 Bangladesch und Pakistan der britischen Herrschaft
artikel der europäischen Expansion geworden. Alle hungen zu gründen. Kolonialismus hinterlassen hat, Reichsgebiete im Nahen Osten auch in Asien und Afrika der Optimismus groß. Man zu verdanken hat.
anderen Formen von Gemeinwesen, die es weltweit Das System erwies sich aller- welche Wunden er schlug, aber fielen als Mandate des Völker- betrieb eine nachfragefremde Industrialisierungspoli- Zugleich zeigt das Beispiel Asien, dass die Kolo-
vorher gab, sind von ihm verdrängt worden. dings auch als so komfortabel auch, welche Chancen er bot. bundes an England und Frank- tik, investierte in Prestigeobjekte, in den Ausbau der nialherrschaft bei allen Schrecken auch Freiräume
für die Beteiligten, dass sie nur reich, die prompt eine spät- Militär- und Staatsapparate, bewertete die Landes- eröffnete. Sie brachte eben nicht nur Unterdrückung,
zu gerne dabei blieben. Die kolonialistische Neugestaltung währungen zu hoch, vernachlässigte die Landwirt- sondern auch Befreiung von den Fesseln der Tradi-
Schwache Staaten, korrupte Eliten Ausgeschlossenen strebten ih- dieses Raumes vornahmen. Die schaft und verschuldete sich im Ausland. Wie Politiker tion. Neue wirtschaftliche Chancen wurden genutzt,
Theoretisch besteht die nachkoloniale politische Welt rerseits nach Beteiligung, anstatt das System infrage arabischen Länder am Persischen Golf waren ohnehin in den westlichen Industriestaaten auch, erlag man Frauen fanden neue Rollen, neues religiöses Leben
fast nur aus souveränen modernen Staaten. Auch die zu stellen. Denn dazu fehlten ihnen die Bürgerini- schon britische Protektorate. der allgemeinen Boomstimmung. Dazu kam die po- blühte auf, weltweite Kontakte und globale Mobilität
schwächsten unter ihnen haben nicht zuletzt dank tiativen und unabhängigen Medien einer Zivilgesell- Die Interessen Großbritanniens in dieser Region litische Notwendigkeit, durch großzügige Aufwen- wurden möglich, und ein kritisches, auch im Westen
den UN eine internationale Bestandsgarantie, wie sie schaft. Nicht selten griff das Militär nach der Macht. waren vielfältig. Es ging um Öl und die Kontrolle des dungen die staatstragenden Gruppen für die noch einflussreiches postkoloniales Denken entstand.
früher undenkbar gewesen wäre. Von einigen ara- Immer wieder wurden die Opfer von gestern zu den Sueskanals, der den Weg nach Indien abkürzte. Zu- instabilen Regime zu gewinnen. In diesem Zuge haben sich manche Länder nicht
bischen absoluten Monarchien abgesehen, erheben Tätern von morgen: Bokassa in der Zentralafrikani- gleich versuchte man seine verschiedenen politischen In den siebziger Jahren war die Prosperität dann nur Importartikel wie das westliche Staatskonzept an-
alle den Anspruch, demokratische Verfassungs- und schen Republik, Idi Amin in Uganda, Mobutu im Klienten zufriedenzustellen – die Araber, aber auch weltweit zu Ende. Zugleich explodierten die Energie- geeignet, sondern auch die englische Sprache. Unsere
Nationalstaaten zu sein. Praktisch allerdings ist eine Kongo, Mugabe in Simbabwe, Kim Jong Un in die neue jüdische Gemeinschaft in Palästina. Nach kosten wegen der Erhöhung des Ölpreises durch das Weltkultur ist demnach zwar europäischen Ursprungs,
staatliche Modernität im Sinne einer Einheitlichkeit Nordkorea und Suharto in Indonesien dürften die dem Zweiten Weltkrieg schließlich zogen sich die Kartell der Erdöl exportierenden Länder (Opec). Der aber längst nicht mehr europäischen Charakters. Die
von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt mit übelsten Kolonialgouverneure in den Schatten stel- Briten zurück. Finanzmarkt allerdings war von Petrodollar über- europäische Unterwerfung der Welt ist nur noch eine
Gewaltmonopol und Steuerhoheit fast nirgends ver- len, selbst wenn Völker lieber von ihresgleichen Fortan griffen die USA regelmäßig im Nahen schwemmt; den krisengeplagten Ländern in Latein- historische Feststellung. Damit sind die Historiker
wirklicht. Zwar sollten, wie früher in Europa, auch schlecht als von Fremden gut regiert werden wollen. Osten ein, um ihre Interessen und die ihrer Partner amerika, Afrika und Asien wurden Kredite nun fast neu gefordert. Auch nach seiner Aneignung muss das
in den ehemaligen Kolonialgebieten aus Staaten durchzusetzen. 1953 beseitigten sie zusammen mit nachgeworfen. Die Schuldenfalle klappte zu. problematische europäische Erbe reflexiv bewältigt
Nationen werden. Doch oft kann von einer Staats- den Briten den iranischen Reformpremier Mossadegh, Ab 1981 hatten viele Länder keine andere Wahl, werden. So leicht können sich die Europäer für ihre
nation kaum die Rede sein, lässt trotz Verfassung die Neubeginn in willkürlichen Grenzen um nicht den Zugriff auf die Ölquellen des Landes als sich den Strukturanpassungsprogrammen der wirtschaftlichen und politischen Hinterlassenschaften
Verwirklichung von Menschenrechten und Rechts- Besonders desaströs – die Aufzählung der Diktatoren zu verlieren. Von 1980 an unterstützten sie den ira- Weltbank und des Internationalen Währungsfonds nicht aus der Verantwortung stehlen.
staatlichkeit zu wünschen übrig. Die Gewaltenteilung deutet es an – verlief die Verstaatlichung der afrikani- kischen Diktator Saddam Hussein gegen die Isla- zu unterwerfen. Sanierungskredite gab es für den Preis
funktioniert nicht, mitunter herrscht sogar ein Terror schen Territorien. Aus 55 Kolonien mit willkürlichen mische Republik Iran – bis zu den beiden Golfkriegen einer Liberalisierung des Außenhandels und einer Der Autor ist Professor em. für Neuere Geschichte
von Staats wegen. Meistens ist der Staat nicht in der Grenzen sollten 1960 quasi über Nacht souveräne 1990/91 und 2003 gegen denselben Diktator. Abwertung der Landeswährung. Ferner mussten die an der Universität Freiburg. Bei C. H. Beck erscheint
Lage, seinen Untertanen Sicherheit, Rechtsschutz Staaten oder gar Nationen werden. Ständige Grenz- Das Ergebnis dieser Politik waren und sind stän- Staatsbetriebe privatisiert und die Staatsausgaben dieser Tage sein Buch »Die Unterwerfung der Welt.
oder gar soziale Geborgenheit zu gewährleisten. streitigkeiten und Konflikte zwischen den plötzlich dige Krisen. Die alten Staaten Ägypten, Iran und reduziert werden – zumindest die für das Personal, Globalgeschichte der europäischen Expansion«
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FUSSBALL 18

Die Zuhandenheit im Sport


Im Fußball gibt es immer neue Lösungen, aber keine definitiven Wahrheiten – ein sporthistorisches Essay
VON HANS ULRICH GUMBRECHT

Z
ur Fußballweltmeisterschaft 1974, Grundsituation ganz verschiedener, selbst früher Ihm entspricht eher Heideggers Gegenbegriff von Vorzeichen aufzufassen, die sie als ein Äquivalent der Vor allem seit Ende der gemütlichen Zeit, als die-
welche die Deutsche National- proletarischer Berufe. Die Konzentration hat ein der »Zuhandenheit« im Sinne unseres Verhältnisses elektronischen Technologie unter Jobs-Vorzeichen ser Sport noch stolz auf seinen Status der schöns-
mannschaft als Favorit zu Hause unerhörtes Kompensationsbedürfnis nach körper- zu einer immer schon vertrauten physischen Welt, erscheinen ließen, nämlich als einen Experimentier- ten Nebensache war, ist ein Bewusstsein von ver-
eher glanzlos gewann, spielte sie licher Bewegung als eigener physischer Aktivität in der man die Richtigkeit von Positionen und Ein- raum für neue Beziehungen und Choreografien im schiedenen Strategien und Systemen in den Vor-
zum ersten Mal ein gemeinsam und als Schauspiel geweckt. Zum anderen hat sich stellungen als Lösungen entdecken und immer Raum der Dinge und Körper. dergrund getreten: »Fußball total« (Johan Cruyff
gesungenes Lied ein. Der Titel das menschliche Welt- und Selbstbild verändert, weiter verbessern kann – aber keine definitiven Vielleicht liegt schon in der bis zur Banalität an- und sein Trainer Rinus Michels) oder »Catenac-
Fußball ist unser Leben und der weg vom beständigen Fortschritt, den wir als in- Wahrheiten findet. Nicht nur der Sport entwickelt gestiegenen Beliebtheit der Metapher von der Be- cio« (Giacinto Facchetti und Helenio Herrera),
berühmteste Vers »König Fußball regiert die Welt« tellektuelle Agenten zu steuern glaubten, hin zu sich zu einer neuen Dimension unserer Gegenwart zeichnung des Teams für bestimmte Formen von »One-Touch-Soccer« (Zinedine Zidane und Vi-
vergegenwärtigt uns heute den gesellschaftlichen einer sich verbreiternden Gegenwart von über- in der Sphäre der »Zuhandenheit«, sondern auch beruflicher Zusammenarbeit im Alltag eine erste cente del Bosque), »Tiki-Taka« mit »verdecktem
Status des Sports vor knapp vierzig Jahren. Humor- wältigender Komplexität. Unser Körper ist als die elektronische Technologie, welche unser Ver- Bestätigung der Intuition. Die Beziehung zwischen Mittelstürmer« (Pep Guardiola). Dazu passt auch
voll war jener Text gemeint, weil niemand im Ernst Gegenstand der Selbsterfahrung und der präventi- hältnis zum Raum und zum Wissen so nachhaltig den Spielern einer Mannschaft entsprechen ja weder die von Bundestrainer Joachim Löw entwickelte
annahm, der Fußball, und nicht Politik oder Wirt- ven Sorge wieder in der Vor- Konzeption einer neuen Raumdis-
schaft, könne wirklich die Welt regieren. Der Fuß- dergrund getreten. tribution verschiedener Funktions-
Fotos: Universal Music GmbH; Belga/imago (u.)

ball galt als eine der schönsten Nebensachen, das Dieser neue Rahmen unseres rollen, für die es noch keinen Be-
passte gut zur Freizeitkultur von Frohsinn und Lebens hat die traditionelle Ri- griff, aber eine Reihe sinnbildlicher
Gemütlichkeit. valität zwischen Amateursport Figuren wie Manuel Neuer, Tho-
Die vorher unpopulären Mannschaftsspiele und Berufssport zu einer ener- mas Müller oder Mesut Özil gibt.
hatten im Aufstieg des modernen Sports seit 1800 giegeladenen Komplementarität Als fließende Strukturen sozia-
mit einer Verzögerung von etwa fünfzig Jahren gemacht. Aufgrund von Impul- ler Organisation, und allgemeiner
eingesetzt und brauchten ein weiteres halbes Jahr- sen der physischen Selbstsorge als Formen unseres Zuhanden-
hundert, um internationale Publikumsfavoriten zu werden mehr und mehr Sport- heits-Verhältnisses zur Welt, sind
werden. Die Weltmeisterschaft 1930 in Montevi- arten praktiziert. Wir joggen solche Systeme gewiss Symptome
deo markierte gemeinsam mit den Olympischen morgens und schauen uns für Veränderungen in den Formen
Spielen sechs Jahre später in Berlin eine Ebene von abends den Marathon von Tokio unseres Zusammenlebens. Auf die-
Zuschauer- und Medienaufmerksamkeit, welche neben dem Champions-League- sen Aspekt des Fußballs als Aus-
die breite Mitte des 20. Jahrhunderts bestimmte. Halbfinale auf dem Laptop an. druck gesellschaftlicher Verände-
Seither ist eine beständige quantitative Steigerung Keine andere Bewegung nimmt rungen beginnen sich Geistes- und
in ihren verschiedenen Dimensionen in eine quali- heute mehr Raum in der sich für Sozialwissenschaftler nun zu kon-
tative Veränderung umgeschlagen. Nur ein paar die globale Mittelschicht immer zentrieren.
Hunderttausend Zuschauer sahen 1954 das weiter öffnenden Freizeit ein. Wie schwer es uns fällt, auf die
»Wunder von Bern« im Fernsehen. In den sechzi- Wie sollen wir auf diese Ent- Rede vom Team zu verzichten, ver-
ger Jahren empörte sich die Nation noch über ein wicklung reagieren? Vielleicht stärkt darüber hinaus die Intuition,
Monatsgehalt von 14 000 D-Mark, das Max Mer- hilft eine Verschiebung im Ver- dass die sich immer verändernden,
kel als Trainer bei 1860 München verdiente. Mitt- ständnis der scheinbar beiläufi- von genialen Spielern verkörperten
lerweile erreicht das Einkommen von großen Trai- gen Beschreibung eines genialen Choreografien längst schon einen
nern mehr als das Hundertfache. Die Einschalt- Rennpferds weiter, auf die man prägenden und inspirierenden Ein-
quoten bei Endspielen großer Turniere ist um das in Robert Musils Jahrhundert- fluss auf die soziale Wirklichkeit
zweistellig Tausendfache angewachsen, und Ein- Roman vom Mann ohne Eigen- genommen haben. Diese Denk-
trittskarten zu den Stadien können sich viele Fans schaften stößt. Während die möglichkeit macht die intellektuelle
kaum noch leisten. Spezialisten das Werk lange als Herausforderung des Fußballs – und
Andere Entwicklungen können wir nicht in ironische Kritik an einer spezi- des Sports überhaupt – in unserer
Zahlen fassen, weil sie sich vorerst nur unter be- fischen Form von Sportbegeiste- Gegenwart aus, weil erst sie das Vor-
stimmten Prämissen in unserer Alltagserfahrung rung interpretierten, wird es zeichen von der schönsten Neben-
zeigen: Ist zum Beispiel die Distanz zwischen SPD- heute zunehmend als Verweis sache hinter sich lässt. Sie muss nicht
und CDU-Wählern für das Gelingen von Ge- auf eine spezifische, in ihrer Be- unbedingt zu dem Versuch führen,
schäftsbeziehungen wirklich noch ein größeres sonderheit erst noch zu entfal- den Sport entschlossener als eine
Problem als die Rivalität zwischen Bayern- und tenden Art von Intelligenz auf- Quelle von Variationen in unserem
Dortmund-Anhängern? Kann sich ein aufstreben- gefasst. Ironisch wirkten Musils Weltverhältnis zu nutzen – weil ja
der Akademiker die früher als Grundbedingung Worte, solange wir ein klassi- gerade in der Distanz zum Alltag der
wissenschaftlicher Seriosität vorausgesetzte Fuß- sches Weltverhältnis unterstell- praktischen Ziele und Funktionen
ballabstinenz heute noch leisten? ten und für ausschließlich hiel- einer seiner Stärken liegt.
Solche Fragen mögen weiterhin klingen wie ten, was Martin Heidegger als Andererseits zeigt die Tatsache,
freundlich-ironische Pointen, in Wahrheit weisen »Vorhandenheit« beschrieben dass Fußballtrikots mit all ihren
sie auf längst reale Ambivalenzen hin. Gerade In- hat. So genial wie Einstein, Ma- Werbe-Komponenten längst zu ei-
tellektuelle versuchen einerseits aufzuschließen rie Curie oder Immanuel Kant Das Album »Fußball ist unser Leben« wurde von Jack White für die deutsche Mannschaft zur Weltmeisterschaft 1974 produziert nem international akzeptierten Stil
zum Spezialistendiskurs über Spielsysteme oder die kann nur die eine Form der In- der Alltagskleidung und zu einem
Dynamik des Transfermarktes und verfügen doch telligenz sein, die beobachtend entscheidenden Faktor im Budget
andererseits oft nur über abgegriffene kritische vor der Welt der Dinge und Körper steht, um sie in verändert hat, ohne uns je das Gefühl zu geben, auf unserem Begriff von Solidarität – sie müssen nicht der Sportunternehmen geworden sind, wie hoff-
Argumente, um die neue gesellschaftliche Promi- einer Weise zu analysieren, welche Wahrheiten ans einer einzelnen Innovation zu beruhen. So hat Steve von gleichen oder konvergenten Handlungsmotiven nungslos romantisch jedes Engagement wäre, den
nenz des Sports entweder als monströse Anomalie Licht bringt und Möglichkeiten der Veränderung er- Jobs, der bis heute am meisten bewunderte Protago- angetrieben sein – noch dem von Freundschaft. In- Fußball auf seine traditionell ausschließliche Posi-
zu verurteilen oder sie genauso hilflos zu einer öffnet. Das Leben des klassischen Genies und der nist des Silicon Valley, keine neuen Programmier- dividuelle Sympathie ist keine notwendige Voraus- tion als Teil unserer Freizeit zurückzuverweisen.
kollektiv-pädagogischen Hoffnung hochzujubeln. »Vorhandenheit« ist eine permanente Suche nach sprachen erfunden, sondern ein physisches Verhält- setzung für den Erfolg einer Mannschaft. Im Team Erst jenseits von Euphorie und Kulturpessimismus
Wie ist es seit der frühen Mitte des vergange- Wahrheit und Innovation. nis zu den Computern entwickelt. Darin fühlen wir verwirklicht sich eine flexible Modalität erfolgsorien- wird er zu einem faszinierenden Gegenstand der
nen Jahrhunderts zu dieser neuen Situation ge- Nichts unterscheidet sich davon deutlicher als uns wohl. Jobs hat über vielfache Variationen und tierter Sozialbeziehungen, für die wir keinen alltags- Analyse und Reflexion.
kommen? Entscheidend waren zwei konvergente die Lebensform eines genialen Sportlers, der als mit dem Gedanken an ästhetische Perfektionierung sprachlichen Begriff haben, sondern eben nur die
Entwicklungen außerhalb der institutionellen Körper zu einem als unveränderlich umschriebenen für die Erfindungen anderer (etwa für die Maus oder Anschauung des Sports. Hans Ulrich Gumbrecht ist ein deutsch-amerikanischer
Grenzen des Sports: zum einen unsere wachsende Raum gehört, innerhalb dessen er, bestimmte Re- den Touchscreen) den richtigen Ort im Bezug auf Die Absetzung des Fußballs vom Alltag als ei- Publizist und Literaturwissenschaftler an der
Konzentration auf den Computerbildschirm, also geln befolgend, Varianten in seinem Verhältnis zu unsere Körper entdeckt. Es käme also darauf an, ner Sphäre konkreter Zielsetzungen steigert seine Stanford University. In der ZEIT befasst er sich
eine Fusion von Bewusstsein und Software, als den Dingen und zu anderen Körpern durchspielt. Messis Tore und den Stil des FC Barcelona unter Produktivität als Ursprung von Verhaltensformen. viermal im Jahr mit dem Phänomen Fußball

M
an denkt nicht gleich an einen Trai- selbst zu Hause um Anerkennung ringen müssen. man. Zwei Mal hatte er ihn schon umworben, beim Vanhaezebrouck hat sie mit »nahe null« beziffert.

Big Hein
ner, wenn man Hein Vanhaeze- Denn nirgendwo sonst klafft zwischen dem Liga- dritten Mal sagte der Trainer endlich zu. De Witte Aber die Einnahmen aus der Champions League
brouck begegnet. Ein Mann von betrieb und der Nationalmannschaft eine solche ist Unternehmer, ein Patron mit festem Hände- summieren sich schon jetzt auf mehr als 28 Millio-
kräftiger Statur, mit breiter Stirn Lücke. Belgien steht auf Platz eins der Fifa-Weltrang- druck und weißem Haarkranz. Für das Gespräch nen Euro – für Gent eine riesige Summe. Und eine
und wenig Hals. Auch am Spiel- liste und zählt bei der Europameisterschaft im Sommer hat er die Presidential Sky Box ausgewählt, mit Blick Last. Denn mit dem Geld wachsen nicht nur die
Der Trainer des KAA Gent, feldrand erinnert der 51-Jährige eher an einen Land- zu den Favoriten. Aber wenn Marc Wilmots, der Na- in die menschenleere Arena. Als De Witte 1999 Prä- Möglichkeiten, sondern auch die Erwartungen. Das
arbeiter, der sich in einen Anzug gezwängt hat, als an tionaltrainer, seine Spieler beobachten will, muss er sident wurde, war die KAA Gent fast pleite. 23 Mil- ist am kleinen Fußballstandort Gent nicht anders als
Hein Vanhaezebrouck, ist einer einen modernen Übungsleiter. Auf der Pressekon- nach Manchester, Chelsea oder St. Petersburg fahren. lionen Euro Schulden drückten – eine unternehme- in den Metropolen. Bislang betrug der Jahresetat der
der letzten echten Typen im ferenz nach einem Spiel spült Vanhaezebrouck schon In Gent sah man ihn bislang selten. Auch deshalb rische Herausforderung, keine sportliche Mission. ersten Mannschaft etwa 20 Millionen Euro; kein
Profifußball VON MATTHIAS KRUPA mal zwei Bier hinunter – ja, man kann den Mann richten sich dort fast alle Augen auf den Trainer. De Witte sanierte den Verein, indem er zusammen Spieler verdiente mehr als eine Million Euro. Die
leicht unterschätzen. Dabei ist Big Hein, wie er in Belgische Experten antworten auf die Frage nach dem mit Michael Louwagie, dem Manager, einen Gehälter werden steigen müssen, wenn sie die
Belgien genannt wird, für eine jener Aschenputtel- Geheimnis der Mannschaft: Der Trainer ist der Star. schwungvollen Spielerhandel kreierte. »Costa Rica Mannschaft zusammenhalten wollen. Aber wollen
Geschichten verantwortlich, von denen der Fußball Fragt man Vanhaezebrouck, antwortet der: »Ich bin war ein gutes Land«, erinnert sich der Präsident, sie das überhaupt? Manager Louwagie hat unlängst
immer noch lebt. Im Sommer 2014 heuerte Van- ein Typ, der seine eigenen Ideen hat.« auch in Nordeuropa habe man »einige Funde« ge- in einem Interview erklärt, er werde Moses Simon,
haezebrouck im flämischen Gent an, bei einem zwar Tatsächlich ist es Vanhaezebrouck gelungen, in- macht. Günstig einkaufen, teuer verkaufen – wenige einen pfeilschnellen Linksaußen, im Sommer für
traditionsreichen, bis dahin aber ziemlich mittel- nerhalb eines Jahres aus einem Team von Namen- Vereine haben mit diesem Geschäftsmodell so viel 20 Millionen Euro verkaufen.
mäßigen Verein. Zwölf Monate später schipperten losen ein Kollektiv zu schaffen. Lange habe er über- Erfolg gehabt wie Gent. Auch Hein Vanhaezebrouck leugnet nicht, dass
der Trainer und seine Spieler mit einem großen Pokal legt: Wie kann man das Spielfeld am besten beset- Als die Schulden getilgt waren, folgte der nächste ihn ein Engagement im Ausland reizen könnte.
über die Kanäle der mittelalterlichen Stadt: Die zen? Mit welchem System kreiert man am ehesten Schritt: De Witte einigte sich mit der Stadt darauf, »Ich bin ehrgeizig, aber ich habe keinen Plan«. sagt
Koninklijke Atletiek Associatie Gent feierte ihren eigene Dominanz? Herausgekommen ist ein offen- ein neues Stadion zu bauen. 20 000 Zuschauer ha- der Trainer. Der Präsident würde ihn am liebsten
ersten Meistertitel. Noch einmal sechs Monate spä- sives 3-4-3-System, an dem Vanhaezebrouck auch ben darin Platz, zum Eröffnungsspiel vor zwei Jah- langfristig binden. Für zehn Jahre, warum nicht!
ter hat sich das Team für das Achtelfinale der Cham- gegen mutmaßlich stärkere Gegner bedingungslos ren kam nicht der FC Bayern oder Barcelona, son- De Witte träumt davon, Vanhaezebrouck könnte
pions League qualifiziert – eine der größten Über- festhält. Ballbesitz und Überzahl – es würde einen dern der VfB Stuttgart. Zum Stadion gehören ein für Gent das werden, was Arsène Wenger bei Arse-
raschungen in der Geschichte dieses Wettbewerbs. nicht wundern, wenn der vierschrötige Flame nun Supermarkt, ein Kindergarten, ein Fitnessstudio; nal ist: ein Coach auf Lebenszeit, das Gesicht einer
Im Hinspiel unterlag Gent dem VfL Wolfsburg zu anfangen würde, Teetasse und Zuckerwürfel auf oberhalb der Zuschauerränge wird eine Zeile mit Ära. Es wird schwierig, den Erfolg zu verstetigen.
Hause knapp mit 2 : 3, am Dienstag folgt das Rück- dem Tisch zu verschieben. Aber noch bevor man Büros vermietet. Natürlich hätten Vereine in Bel- Die zweite Meisterschaft ist schwieriger als die erste.
spiel. »Vielleicht«, sagt Hein Vanhaezebrouck, »war ihn nach Vorbildern fragen kann, erklärt Big Hein: gien nicht dieselben Möglichkeiten wie in Spanien, Im Moment steht die KAA Gent auf Platz zwei der
ich derjenige, der am wenigsten überrascht war.« So habe er schon in der zweiten belgischen Liga England oder Deutschland, sagt De Witte. Aber belgischen Liga, punktgleich hinter dem flämischen
Freitagmittag, das Trainingsgelände des belgischen spielen lassen, als er noch Trainer beim KV Kortrijk die Regeln, nach denen gespielt wird, seien ver- Rivalen aus Brügge.
Meisters liegt eingezwängt zwischen zwei Autobahnen. war. Und Pep Guardiola gerade erst in Barcelona gleichbar: »Am Ende geht es ums Geld.« Als Vanhaezebrouck von den Träumen seines
Vanhaezebrouck sitzt im Vereinsheim und rührt in angefangen habe. Wie gesagt, man kann Vanhaeze- Das Hinspiel des Champions-League-Achtel- Präsidenten hört, lacht er kurz auf: »Zehn Jahre? So
einer Tasse Tee. Nebenan essen seine Spieler zu Mittag: brouck leicht unterschätzen. finales hat Gent gegen Wolfsburg verloren, die etwas sagt man, wenn es gut läuft. Aber ein Trainer
Der 52-jährige Hein Vanhaezebrouck trainiert Depoitre, Kums, Dejaegere. Spieler, die bis vor Kur- Ivan De Witte, der Präsident der KAA Gent, ist Chancen, dass sich die Belgier doch noch für die ist wie ein Auto, wenn es nicht mehr funktioniert,
seit Juli 2014 den KAA Gent zem außerhalb Belgiens kaum einer kannte und die stolz auf den Coup mit Vanhaezebrouck. Das spürt nächste Runde qualifizieren, stehen nicht gut. wird ein neues gekauft.«
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WIRTSCHAFT 19

DIESE WOCHE

Foto (Ausschnitt): Thibault Camus/AP Photo/dpa picture-alliance (fotografiert am 06.07.2015) ; kl. Fotos (v.o.n.u.): Plainpicture; Langrock/Zenit/laif; Palmera für DIE ZEIT
Wer weniger Ungleichheit
will, muss das Verhalten
der Kinder verändern: Der
Ökonom Armin Falk sagt,
wie das gelingen kann Seite 22

Der Plan: Gewerkschafter


Michael Vassiliadis will
noch 30 Jahre lang
Braunkohle fördern und den
Ausstieg verzögern Seite 24

Wo bleibt er
denn nur?
Gemeinsam mit dem französischen Präsidenten ließe
»Pistoleiros« vertreiben
Kleinbauern in Brasilien.
Der ZEIT-Reporter erklärt,
was das mit deutschen
sich die EU-Krise lösen. Aber die Grande Nation Schnitzeln zu tun hat Seite 26
beschäftigt sich nur noch mit sich selbst VON GEORG BLUME

QUENGEL
-
ZO N E
Bundeskanzlerin Angela Merkel schaut sich nach Frankreichs Präsidenten François Hollande um

Zur Lage der Welten

I
m Januar trat der französische Präsident darin die untere Hälfte. »Dieses ganze Land von Paris »Die Lösung heißt: Wir wenden das Gesetz nicht an«, zukommen und größere Aufnahmebereitschaft für
vor den nationalen Wirtschafts- und So- bis zum Mittelmeer: eine Wüste, um die sich keiner sagt Cette. »Aber die Regierung setzt immer noch auf Flüchtlinge zu signalisieren, lässt die Regierung das MARCUS ROHWETTERS
zialrat und hielt eine dramatische Rede. mehr kümmert, in die keiner mehr investiert, die die staatliche Regelung.« Das aber ist Frankreichs altes Flüchtlingslager von Calais brutal räumen. Das ist
Über François Hollande prangten utopi- Leute verlassen.« Um ihn herum stehen ein Dutzend Problem: Auf Krisen reagiert der Staat mit neuen eine späte Reaktion darauf, dass FN-Chefin Marine wöchentliche Einkaufshilfe
sche Großgemälde aus der Nachkriegs- Unternehmer des Burgunds und pflichten ihm bei. Maßnahmen, die seine Rolle noch stärken, oder re- Le Pen in der Gegend um Calais im Dezember fast
zeit. Um ihn herum hatte sich die Elite Der Trend fiel dem Nationalen Statistik-Institut formiert halbherzig wie bei der Rente und der Arbeits- die Regionalwahlen gewonnen hätte. Als die Erde noch eine Scheibe war, war die
des Landes versammelt, vom Premiermi- erstmals vor zwei Jahren auf: Bis 2007 verteilte sich losenversicherung. Das Ergebnis ist immer das Glei- Selbst scheinbare Erfolge verweisen, genauer be- Welt noch in Ordnung: Sich mit Naturgeset-
nister bis zum Arbeitgeberchef. Hollande rief: »Ich das Wirtschaftswachstum noch relativ gleichmäßig che: Kein Wachstum, zweistellige Arbeitslosenraten trachtet, bloß auf die Krise. Der schwache Euro, zen zu befassen galt als schwarze Magie. Real
vertrete die Auffassung, dass wir angesichts der aufs Land. Doch seit dem Einbruch durch die Welt- und mehr Stimmen für den rechtsextremen Front niedrige Zinsen und billiges Öl helfen Frankreich. war, was man so glaubte – etwa die Sache mit
Weltunordnung, angesichts einer unsicheren wirt- finanzkrise können nur die großstädtischen Inseln National (FN). Bedrängt von den Rechten, heraus- 2015 stiegen nicht bloß die Exporte der Konzerne, der Scheibe. Erst nach und nach zerstörte die
schaftlichen Konjunktur und der hartnäckigen dem Niedergang widerstehen, der Rest des Landes gefordert von Terroristen und gefangen in der fran- auch die Zahl der exportierenden Firmen stieg um Wissenschaft derart naive Vorstellungen, und
Arbeitslosigkeit einen wirtschaftlichen und sozia- bleibt in Rezession oder Nullwachstum stecken. zösischen Staatstradition: So verpasst die Regierung gut drei Prozent auf 125 000, das Handelsdefizit sank so wissen wir heute, dass die Erde eine Kugel
len Ausnahmezustand erklären müssen.« Krankenhäuser, Kasernen, Universitäten, öffentliche den Zeitpunkt für Reformen, die den Wohlstand des um 22 Prozent auf 45,7 Milliarden Euro. Doch was ist, auf der sich alles um sich selber dreht.
Doch was folgte? Champagner mit Lachshappen! Verwaltungen – das sind heute die größten franzö- Landes heute noch sichern könnten, aber morgen bedeutet das? Dass Italien zweimal mehr Ausfuhr- Nun aber gibt es Hinweise darauf, dass
Alle stießen miteinander an, alle griffen zu. Eine gute sischen Arbeitgeber außerhalb der Metropolen. vielleicht schon nicht mehr. unternehmen zählte, ist ein starkes Indiz: Frankreich Physiker bald eine Theorie bestätigen könn-
Pariser Gewohnheit, mit der man jetzt mal brechen Auf der Suche nach Ursachen stößt man auf Die Deutschen musste das bisher nicht stören. Sie hat die Globalisierung bis heute nur zögerlich ange- ten, die bislang öffentlich bloß milde belächelt
sollte. Frankreich leidet unter einer verlorenen De- viele Anzeichen dafür, wie der französische Staat zu gewannen von Frankreich Marktanteile bei Autos und nommen. Vor zehn Jahren lag der französische Welt- wurde. Es geht um die Annahme, dass es nicht
kade, seit 2008 stagniert die Wirtschaft, und die stark und gleichzeitig zu schwach geworden ist. Und Maschinen. Auch die akute Krise der bretonischen exportanteil noch bei 4,5 Prozent, heute sind es noch nur eine, sondern in Wahrheit unendlich
Arbeitslosigkeit wächst. Gemessen an den Erfolgen wie schwer sich die französischen Eliten damit tun, Viehzüchter, deren gewalttätige Proteste in Frankreich 3,1 Prozent – ein Drittel ging verloren. viele Welten gibt, die sich zwar voneinander
seit dem Zweiten Weltkrieg, den Wohlstandsgewin- aus ihren 200 Jahre alten Traditionen auszubrechen. immer wieder die Schlagzeilen dominieren, hängt Der französische Ökonom Jean-Michel Six von unterscheiden, aber gleichzeitig und neben-
nen zwischen 1945 und 2007, herrscht tatsächlich Das an manchen Stellen noch von Napoleon er- mit dem globalen Siegeszug der deutschen Schlacht- der Rating-Agentur Standard & Poor’s drückt es ganz einander in einem Multiversum existieren.
ein »wirtschaftlicher und sozialer Ausnahmezustand«. schaffene und seither unveränderte Wirtschafts- und hofindustrie zusammen. Deutschland exportiert sachlich aus: »Unsere Wirtschaft bleibt hinter dem Grob gesagt.
Wenige Metropolen des Landes blühen, der Rest Sozialsystem schreit nach Reformen. Aber weder heute sogar mehr Käse als Frankreich. Bisher war das Aufschwung in Europa zurück.« Er sieht nicht Tatsächlich kennt jeder von uns diese Wel-
verarmt. In Paris, dem ewigen Paris, sieht, fühlt und Präsident noch Premierminis- schön, doch langsam wird der schwarz, er prognostiziert für dieses und nächstes Jahr ten: Möbelwelten, Badewelten, Genusswelten,
schmeckt man die wirtschaftliche Krise nicht. Eben- ter riskieren einen Schröder- in Brüssel so verlässliche Nach- sogar bis zu 1,6 Prozent Wachstum. Hoffnung auf Modewelten, Spielzeugwelten und viele ande-
so wenig in Lyon, Toulouse und Bordeaux. Unter Moment, der sie ihr Amt kos- Dramatischer Vorschlag: bar unberechenbar. Warum eine grundsätzliche Besserung hat er aber nicht: »Die re Welten mehr, übergreifend auch Einkaufs-
Führung von global erfolgreichen Wirtschaftszweigen ten könnte. Das Arbeitsrecht soll sonst würde er für die Land- Gewinne der französischen Unternehmen liegen im welten genannt. Einkaufswelten finden sich
wie der Kosmetikbranche in Paris, der Chemie- Selbst der jüngste, aufsehen- wirtschaft Subventionen zu- Vergleich zu Deutschland, Italien und Spanien seit in unendlich großer Zahl in Innenstädten und
industrie von Lyon, dem Flugzeugbau in Toulouse erregende Regierungsvorschlag eine Zeit lang außer rückfordern, die Europa gerade über zehn Jahren deutlich niedriger. Daran ändert auf grünen Wiesen, das sind Parallelwelten mit
und der Weinlobby von Bordeaux wachsen Frank- für eine Arbeitsrechtsreform Kraft gesetzt werden erst gestrichen hat? sich kaum etwas.« Daraus zieht Six den Schluss, dass zusätzlichen Parkplätzen.
reichs wichtigste Metropolen. Doch im übrigen Land, passt in dieses Bild. Der Präsi- Besonders dramatisch ist die heimischen Betriebe wenig investieren und un- Trotzdem haben Wissenschaft und Glaube
in einst reichen Provinzen wie dem Burgund entsteht dent und sein Premierminister der Rollenwechsel in der term Strich keine Arbeitsplätze schaffen werden. etwas übersehen. Denn erstens sind die Ein-
ein Mezzogiorno, eine riesige Region ähnlich wie in Manuel Valls wollten die letzte Reformchance vor Flüchtlingspolitik: Paris stimmt einer europäischen »Gerade die jungen Firmen mit dem größten kaufswelten nicht verschieden, sondern sehen
Süditalien, die jämmerlich verwaist. den Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr nutzen, Lösung samt gerechter Kontingentverteilung zwar Wachstumspotenzial wachsen bei uns langsamer als überall total identisch aus und verkaufen
Nur zwei Stunden Autobahnfahrt südlich von um aus dem Umfragetief zu herauszukommen – und zu, will aber nur 30 000 Flüchtlinge aufnehmen. Ver- anderswo«, fügt der Wirtschaftsprofessor Cette hin- durchweg das gleiche Zeug. Und zweitens
Paris liegt – im geografischen Zentrum des Landes dafür den Kündigungsschutz, der den Gewerkschaf- kehrte Welt: Frankreich war die erste Nation Europas, zu. Schnell wachsen zu wollen bedeute ja, Risiken wissen wir nun definitiv, dass die Welt weder
– die einst stolze Burgunder Kreisstadt Nevers. Ka- ten heilig ist, ein wenig lockern. Im Internet gibt es die Ende der siebziger Jahre mit offenen Armen die einzugehen, und die würden in Frankreich mit ho- Scheibe noch Kugel ist, sondern ein riesiges
thedrale und Loire-Brücke stehen noch, aber sonst schon 800 000 Unterschriften gegen das Vorhaben, vietnamesischen Bootsflüchtlinge empfing. Man hem Verwaltungsaufwand und hohen Kündigungs- Shoppingcenter. Was konsumkritische Zeit-
ist der Niedergang allgegenwärtig: In der Innenstadt und für den 9. März ist die Großdemo geplant – und nahm damals viermal so viele Flüchtlinge wie kosten bestraft. Unternehmer, die einmal scheiterten, genossen ja immer schon geahnt haben.
sind viele Läden verriegelt, in den Außenbezirken gleich rudert die Regierung wieder zurück. Premier Deutschland auf. so Cette, würden es selten ein zweites Mal versuchen. Die Einkaufswelten-Theorie erklärt auch
verwittern gar nicht so alte Industriehallen, Tausende Valls schiebt den Kabinettsbeschluss heraus, damit Krisenländer haben die Angewohnheit, geizig zu Aber am meisten sagt nicht die Hightechbranche, die Häufung von Jack-Wolfskin-Jacken im
sind weggezogen. »Wir sterben«, sagt Jean-Philippe es genug Zeit für Konsultationen und Änderungen werden. Ihre Mittelschichten verlieren die Wohl- sondern – wie im Krisendeutschland vor 15 Jahren öffentlichen Straßenbild. Die Träger solcher
Richard, der lokale Vorsitzende des französischen gibt. Ein Schnellverfahren im Parlament, von Valls standsperspektive, und das Vertrauen in die Demo- – die Bauindustrie über das Elend aus. »Das Kleidungsstücke wirken zwar wie Welten-
Unternehmerverbandes Medef. ursprünglich vorgesehen, schließt er nun aus. Das kratie leidet. Offiziell liegt die französische Arbeits- Schrumpfen der Bauwirtschaft zieht unsere ganze bummler, dürften in den allermeisten Fällen
Richard, 42, Dreiteiler, großer Geländewagen, Motto all dessen: verschieben und verwässern. losenquote bei 10,1 Prozent, aber nimmt man Sozial- Volkswirtschaft nach unten und erklärt zum großen aber lediglich einen Einkaufsbummel hinter
führt eine von ihm gegründete Zeitarbeitsfirma mit Frankreichs führender Arbeitsrechtsforscher hilfeempfänger und versteckte Arbeitslose in Aus- Teil unseren Rückstand gegenüber den Nachbar- sich haben. Und zwar in einer sich indoor
1000 Mitarbeitern. Er wurde gerade in den nationa- Gilbert Cette von der Universität Aix-Marseille war bildungsprogrammen hinzu, findet fast jeder fünfte ländern«, sagt der Standard-&-Poor’s-Volkswirt Six. befindenden Outdoorwelt. Gesegnet war das
len Vorstand seiner Organisation gewählt: weil er so von Anfang an kritisch. Wer die Provinz aus ihrer Franzose im werkfähigen Alter keinen Job mehr. Die Zahl der neuen Bauprojekte ist von einer halben Mittelalter. Als man noch nicht alles wusste,
aktiv ist, weil er seine Region nicht aufgibt, weil er wirtschaftlichen Malaise befreien will, müsse in ganz Erzielt Frankreich nicht bald Wirtschaftserfolge, Million im Jahr 2006 auf magere 350 000 gesunken. was man ahnte. Früher war alles besser.
eine Ausnahmeerscheinung ist. Doch Richard macht anderen Dimensionen denken, sagt er. Sein Vor- die auch die kleinen Leute spüren, dann verliert In der Kreisstadt Nevers singt Thierry Doubre das
sich keine Illusionen. Er steht vor den schlichten schlag: Die Regierung setzt das Arbeitsrecht vorüber- Deutschland seinen wichtigsten Partner in Europa. Klagelied dieser Rezession. Er ist ein Unternehmer Von Verkäufern genötigt? Genervt von Werbe-
Bungalow-Büros seines Verbandes in einer Industrie- gehend außer Kraft und überlässt es weitgehend Wie eng dessen Krise mit der EU-Politik zusammen- alten Schlages: aufbrausend, autoritär und besorgt Hohlsprech und Pseudo-Innovationen? Melden
zone von Nevers, zeichnet zur Verdeutlichung seiner Unternehmern und Gewerkschaftern, gemeinsam hängt, zeigen die Vorbereitungen für den EU-Gipfel Sie sich: quengelzone@zeit.de – oder folgen Sie
Worte eine Frankreichkarte in die Luft und umkreist eine Antwort auf akute, lokale Probleme zu finden. am 7. März. Statt Berlin endlich ein Stück entgegen- Fortsetzung auf S. 20 dem Autor auf Twitter unter @MRohwetter
20 WIRTSCHAFT 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

Comeback der Grenzen


MACHER UND MÄRKTE

Neue Pleiten im Fall


German Pellets
Mauern und Zäune kosten Wohlstand, Diese Nachricht dürfte mehreren Tausend ge-
prellten Investoren des insolventen Brennstoff-
so argumentieren Ökonomen seit Jahrhunderten. herstellers German Pellets (GP) aus Wismar die
Jetzt ändern sie ihre Meinung VON MARK SCHIERITZ Zornesröte ins Gesicht treiben: Am 18. Februar
haben sowohl die GP-Tochterfirma German
Pellets Louisiana als auch die dem Konzern
nahestehende Louisiana Pellets in den USA
Insolvenz und Gläubigerschutz nach Chapter
11 angemeldet. Das belegt ein Gerichtsdoku-
ment des »United States Bankrupcy Court for
War die Öffnung der
the Western District of Louisiana«, das der
EU-Grenzen ein Fehler?
ZEIT vorliegt. Damit sinken die Chancen der
Kapitalgeber und Gläubiger von German Pellets
weiter, dass sie noch etwas von ihrem Geld wie-
Ganz offenbar wurden die ökonomischen Vor- dersehen. Mehr als 250 Millionen Euro Anlage-

Illustration: Sina Giesecke für DIE ZEIT; Foto: BMW


teile offener Grenzen von offizieller Seite häufig kapital stehen allein in Deutschland auf dem
überschätzt. Dazu passen die Ergebnisse eines im Spiel – ein großer Teil stammt von Kleinanle-
Jahr 1988 von der EU-Kommission beauftragten gern (siehe ZEIT Nr. 5/16 und 9/16).
bußen hinnehmen und waren über Jahre hinweg Forscherteams, das die Vorteile des europäischen German Pellets Louisiana betreibt ein riesi-
auf staatliche Stütze angewiesen. Binnenmarkts abschätzen sollte. Die Experten ges Pelletwerk in den USA. Eigentümer der Fa-
Ein Team um den Düsseldorfer Wirtschafts- sagten fünf Millionen zusätzliche Jobs und eine brik ist Louisiana Pellets. Ihr schanzte GP über
professor Jens Südekum hat ähnliche Analysen Steigerung der Wirtschaftsleistung um sieben Pro- ein verschachteltes Firmenkonstrukt hohe zwei-
Tatsächlich hat die Globalisierung vielen Men- für Deutschland angestellt. Ergebnis: Hierzulande zent voraus. Jüngere Studien beziffern die Wachs- stellige Millionenbeträge zu – obwohl sie for-
schen in Asien und Lateinamerika erheblichen fiel es den von der Konkurrenz aus Fernost be- tumsgewinne nur noch auf rund zwei Prozent. mal vom Konzern unabhängig war und von GP
Wohlstand gebracht. Zwischen 1990 und 2015 ist troffenen Arbeitern in der Regel leichter als ihren Entsprechend moderat wären im Umkehrschluss Pachtzahlungen kassierte. Geschäftsführerin war
der Anteil derjenigen, die nach Definition der Kollegen in den USA, neue Jobs zu finden – un- wohl die wirtschaftlichen Einbußen, die die Anna Kathrin Leibold, Ehefrau des GP-Grün-

V
on einem kleinen Universitäts- Weltbank in absoluter Armut leben, von 37 auf ter anderem, weil in der Exportindustrie tatsäch- Wiedereinführung von Grenzkontrollen in Europa ders Peter Leibold. Dass die deutsche Insol-
büro in Cambridge aus bereitet weniger als 10 Prozent der Weltbevölkerung lich viele neue Stellen geschaffen wurden. Aller- hätte. Selbst die für offene Grenzen eintretende venzverwalterin an die an Louisiana Pellets ver-
David Autor die Weltrevolu- gesunken. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Ein- dings gilt auch für deutsche Beschäftigte: Nicht Bertelsmann-Stiftung beziffert die Wachstumsver- liehenen Millionen herankommt, ist nach den
tion vor. Autor ist Wirtschafts- kommen der Schwellen- und Entwicklungsländer alle finden nach dem Arbeitsplatzverlust schnell luste für Deutschland unter anderem durch länge- dortigen Insolvenzen ungewisser denn je.
professor am renommierten lag 1980 bei 14 Prozent des Niveaus der Industrie- einen neuen und gut bezahlten Job. Deshalb re Wartezeiten beim Gütertransport auf 77 Milli- Louisiana Pellets musste vors Bankrott-
Massachusetts Institute of Tech- nationen, heute liegt es bei etwa 23 Prozent. Global bringe die Öffnung der Grenzen »erhebliche arden Euro über einen Zeitraum von zehn Jahren. gericht, weil es Forderungen über 8,7 Millionen
nology, und er hat kürzlich eine betrachtet ist die Schere zwischen Reich und Arm Verteilungseffekte« mit sich. Die Globalisierung Auf das Jahr umgerechnet wären das gerade einmal Dollar nicht bedienen kann. Es hatte sich laut
Untersuchung veröffentlicht, deren Ergebnis in den vergangenen Jahren nicht auseinandergegan- macht also nicht alle reich, sondern einige reich 0,2 Prozent der Wirtschaftsleistung, was in etwa Gerichtsunterlagen auch am US-Kapitalmarkt
mehr als 200 Jahre Wirtschaftsgeschichte auf den gen: Sie hat sich geschlossen. und andere arm – und zwar in einem Ausmaß, dem Etat des Entwicklungsministeriums entspricht. mehr als 330 Millionen Dollar gepumpt. Wo das
Kopf zu stellen scheint: Es kann sich rechnen, das die meisten Ökonomen überrascht. Das würde das Land nicht umwerfen. Geld ist, weiß wohl nur Familie Leibold. CHE
Zäune hochzuziehen und Mauern zu bauen. Unter Ökonomen breitet sich eine neue Nach einer Studie des Weltbankökonomen
Das Papier hat seinen Verfasser über Nacht Globalisierungsskepsis aus Branko Milanović haben Arbeitnehmer mit einem Grenzkontrollen würden die deutsche
berühmt gemacht: Der Economist hat darüber Verdienst im oberen Mittelfeld des weltweiten Ein- Wirtschaft nicht umwerfen
berichtet, die New York Times ebenfalls – und
auch in Berliner Regierungskreisen hat man die
Den Preis dafür allerdings haben – so David Au-
tor – die Beschäftigten in den Industrienationen
kommensgefüges zwischen 1988 und 2008 real
gerechnet praktisch keine Einkommensgewinne War die Öffnung der Grenzen also ein historischer
299 Gramm?
politische Sprengkraft der Studie inzwischen er-
kannt. Angela Merkel will um jeden Preis ver-
bezahlt. Autor hat untersucht, wie sich die wach-
sende Konkurrenz durch Billiganbieter aus Chi-
erzielt. In diese Gruppe fallen die meisten der Be-
schäftigten in den alten Industrienationen. Für
Fehler, der schnellstmöglich rückgängig gemacht
werden sollte, wie es linke und rechte Globalisie-
Is mir egal
hindern, dass wegen der Flüchtlingskrise die na auf den Lebensstandard amerikanischer Ar- Milanović ist diese »Aushöhlung der Mittelklasse« rungskritiker fordern? So einfach ist die Sache nicht.
Grenzen in Europa wieder geschlossen werden – beitnehmer auswirkt. Bisher vermuteten Exper- ein wichtiger Grund für den Niedergang der etab- Auch Skeptiker wie David Autor zweifeln nicht
auch weil sie sonst »die Grundlage unseres Wohl- ten, dass einfache Arbeiter zwar aus ihren ange- lierten demokratischen Parteien. Die Öffnung der daran, dass freie Märkte die Welt reicher gemacht
stands« bedroht sieht. Was aber, wenn unser stammten Jobs gedrängt würden, aber dafür in Grenzen hat also jene Populisten stark gemacht, haben. Sie warnen aber davor, die Nachteile dieser
Wohlstand eine ganz andere Grundlage hat? anderen Branchen eine neue, womöglich sogar die sie nun wieder schließen wollen. Entwicklung zu verschweigen. Es gibt, wie es Cle-
Noch vor wenigen Jahren hat sich kaum ein besser bezahlte Anstellung fänden: Aus Bandar- Die neue Globalisierungsskepsis hat inzwischen mens Fuest, Präsident des Mannheimer Zentrums
Ökonom von Rang diese Frage gestellt. Die Ver- beitern werden Ingenieure oder Immobilienkauf- sogar den Internationalen Währungsfonds (IWF) für Europäische Wirtschaftsforschung formuliert,
treter der Zunft verstanden sich – seit Adam Smith leute. So steht es heute in den Lehrbüchern der erreicht – er gilt als das ideologische Zentrum des so etwas wie eine »optimale Grenzöffnung«.
im 18. Jahrhundert die modernen Wirtschafts- Wirtschaftswissenschaftler. Finanzkapitalismus. Unlängst veröffentlichte der Am Ende müssen Staaten bei der Wahl ihres
wissenschaften begründete – als Anwälte offener Doch das funktioniert offenbar in der Praxis IWF aber eine Studie, in der er seinen knapp 200 Grenzregimes also eine Güterabwägung treffen. Wie
Grenzen. Das Argument: Wenn Waren, Arbeit und häufig nicht, weil den Menschen die Umstellung Mitgliedsländern nahelegt, unter bestimmten Vo- sie ausfällt, hängt auch von den ökonomischen und Die neue Limousine emittiert so
Kapital möglichst ungehindert zirkulieren können, schwerfällt oder weil einfach nicht genug neue Jobs raussetzungen den grenzüberschreitenden Kapital- sozialen Gegebenheiten ab: vom Ausmaß der Un- viel CO ² wie drei Kleinwagen
dann hebt das den allgemeinen Wohlstand, weil entstehen. Laut Autor sind durch den Aufstieg verkehr einzuschränken. Die Washingtoner Orga- gleichheit etwa, das die Bevölkerung zu ertragen
jedes Land seine Stärken ausspielen kann. Schon Chinas in den USA nach der Jahrtausendwende nisation hatte zuvor jahrzehntelang argumentiert, bereit ist. Oder davon, wie viel Veränderung eine
Smith hatte erkannt, dass es für die Schotten wenig etwa 2,4 Millionen Arbeitsplätze vernichtet worden. dass freie Märkte das Kapital dorthin leiten, wo es Gesellschaft aushält. Auf Dauer werden sich offene Kommenden Montag feiert BMW seinen
sinnvoll sei, in Nebel und Nieselregen Trauben an- In vom Strukturwandel besonders betroffenen Re- am besten eingesetzt werden kann – und musste Grenzen nur durchsetzen lassen, wenn die Politik 100. Geburtstag. Zum Jubiläum setzt der Kon-
zubauen, wenn der Wein doch auch aus dem son- gionen wie dem Mittleren Westen mussten Ar- hilflos zusehen, wie spekulative Kapitalflüsse ganze dafür sorgt, dass die Globalisierungsgewinne nicht zern aber nicht etwa auf neue Elektromobile,
nigen Portugal importiert werden könne. beitnehmer dabei zum Teil erhebliche Gehaltsein- Länder destabilisierten. nur einer Minderheit zugutekommen. sondern altbewährte PS-Spielzeuge. Auf dem
Genfer Automobilsalon präsentierte BMW-
Chef Harald Krüger die Limousine BMW
760Li XDrive mit 12-Zylinder-Motor und All-
rad. Der Neue habe »610 PS und beschleunigt
Wo bleibt er ... Fortsetzung von S. 19 Niemand durchschaut mehr das komplizierte Nur einer in der sozialistischen Regierung hatte französischen Steve Jobs, da er wie der verstorbene in 3,7 von null auf 100 km/h«, sagte Krüger.
Steuerrecht. Verwaltungseinheiten wie die Depar- es gewagt, für große Reformen zu kämpfen: Der Apple-Chef offene Bühnen vor großen Leinwänden Nicht auswendig wisse er den CO₂-Wert, aber
um seine Arbeiter. Doubre, 52, besitzt eine riesige tements scheinen nur noch den für sie arbeitenden erst 37-jährige Wirtschaftsminister Emmanuel betrat, nur mit einem Mikrofon in der Hand. Er der sei »relativ hoch«. An der Infosäule neben
Fertigungshalle für alle denkbaren Fenster. Beamten zu dienen. Deshalb gibt es durchaus eine Macron kam aus der Finanzwirtschaft, hatte nie für predigte die Digitalisierung und berührte Tabus wie dem Fahrzeug stand: 12,8 Liter Verbrauch auf
Schwimmbäder, Turnhallen, Bürotürme – alles hat Reformmehrheit unter den Franzosen – zahlreiche ein Amt kandidiert – trotzdem wurde er schnell die 35-Stunden-Woche. Im Parlament legte er sich 100 Kilometer, macht 299 Gramm CO₂-Emis-
er schon verglast. Aber an diesem Morgen arbeiten Umfragen belegen das: für den Abbau des Staats- zum populärsten Regierungspolitiker. Die Franzo- mit den Lobbys der Notare, Gerichtsdiener und sionen pro Kilometer. Das ist in etwa so viel wie
nur noch drei Frauen in der Halle, in der bei voller apparats, für die Reduzierung der hohen Beamten- sen spürten, dass da jemand eine Idee hatte, wie es Arbeitsgerichte an, die jedem Kleinunternehmer bei drei Kleinwagen zusammen. Ökobewussten
Auslastung 20 Angestellte tätig sind. »Wir brauchen zahlen, aber auch für die Verlängerung des Renten- besser gehen könnte. Schon nannte man ihn den das Leben schwer machen. Er trotzte dem Bahn- Luxusautokunden bietet BMW die Hybrid-
Arbeit, sofort!«, sagt Doubre. Er rechnet vor: 120 alters und den sozialen Umbau. monopol, nahm es mit streikenden Taxifahrern auf variante 740e an. Bedenken, dass der sprit-
von 700 Bauunternehmen hätten im Departement Nur lebt das politische Personal vom überdehn- und verteidigte die Internet-Konkurrenz von Uber. schluckende 12-Zylinder die Bemühungen in
zwischen 2010 und 2015 aufgegeben. Die Zahl der ten Staat und ist ein Teil von ihm. Staatspräsident Wo er auftrat, stellte er Gründer neben sich. »Für Sachen Elektromobilität konterkarieren könn-
Beschäftigten in der Branche sei im gleichen Zeit- Hollande hat sein ganzes Leben in Eliteschulen und die Jugend ist es heute einfacher, Kunden als einen te, wischte Krüger beiseite. Angesichts der PS-
raum um 24 Prozent gesunken. »Das ist enorm viel. staatlichen Ministerien verbracht. Als er 2014 über Arbeitsplatz zu finden«, sagte er dann. Das machte orientierten Kundschaft in manchen Welt-
1014 Arbeitsplätze sind verloren, und zwar von gut die Territorialreform entscheiden musste, hatte ein Lust auf Unternehmertum und Fortschritt. regionen sei klar: »Wir brauchen beides.« DHL
ausgebildeten Leuten, die mitten im Leben stehen.«
Der Bauunternehmer weiß auch, warum: »Die
ihm vertrauter Ökonom, Philippe Aghion von der
Harvard-Universität, sämtliche Argumente aufgelis-
Schicksalstage Doch dann kam der 13. November, Terror in
Paris. Plötzlich waren andere Dinge wichtiger, der
hohen Wohlfahrtskosten zwingen den Staat zum
Sparen. Deshalb sind die öffentlichen Investitionen
tet, wonach eine Abschaffung der seit der Revolu-
tion von 1789 bestehenden Departements die ein-
für Europa Präsident und sein Premier ließen sich die Chance
nicht nehmen, den neuen Liebling der Leute brutal Schafft der digitale
in unserem Departement über die Jahre um 75 zig wirklich effiziente, nachhaltige Maßnahme sei. zu schwächen. Reformieren sollte jetzt die unerfah-
Prozent zurückgegangen. Keine der wechselnden
Regierungen in Paris macht sich eine Vorstellung
Doch Hollande sprang nicht über den Schatten
seiner revolutionären Vorväter, beließ lieber Tau- Flüchtlinge
rene Arbeitsministerin, und Macron darf nur noch
reden, nicht mehr handeln. Damit aber wiederholt
Wandel neue Jobs?
davon, welche Katastrophe das für uns bedeutet.« sende von Amts- und Würdenträgern im Amt, die Am 7. März treffen die Staats- und sich ein altes Problem: Die politische Klasse selbst

23
Vor Doubre auf dem Schreibtisch liegen die Unter- Frankreich keinen Nutzen mehr bringen. Es fällt Regierungschefs der EU in Brüssel ist nicht erneuerungsfähig. Wer herausragt, wird
lagen nie realisierter Projekte, etwa die abgesagte dem Establishment schwer, Dinge abzuschaffen, den türkischen Ministerpräsidenten einen Kopf kürzer gemacht.
Schwimmbad-Renovierung und ein auf Jahre ver- die über 200 Jahre gut funktionierten. Die untrenn- Ahmet Davutoğlu. Die Europäer Nicht weit von Nevers entfernt liegt an einer
schobener Schulbau. »Die privaten Aufträge haben bar verbunden scheinen mit einer stolzen französi- wollen die Türkei dazu bewegen, alten Brücke über einen Nebenarm der Loire das
nie gereicht. Wir brauchen den Staat als Investor, schen Tradition, die seit so langer Zeit Menschen- die Grenzen zu Griechenland für Industriestädtchen Decize. Schon Julius Cäsar

%
der uns mitzieht«, sagt Doubre. Seit dem 17. Jahr- rechte, Savoir-vivre und Fortschritt vereint. Eine Flüchtlinge zu schließen. Im weilte hier mit seinen Truppen. Heute sind die
hundert marschierte der Staat in Frankreich vorweg, Tradition, die Frankreich bis heute zum beliebtesten Gegenzug will die EU den Invasoren Chinesen, die eine lokale Gummifabrik
gab den Unternehmen mit seiner Industriepolitik Reiseland der Welt macht. Wer liebt nicht Paris, Türken eine begrenzte Anzahl von mit 300 Angestellten übernommen haben. Das
die Richtung vor. Das ging gut, solange es um den den Louvre und den Eiffelturm? Ist alles noch heil. Migranten abnehmen. rettet derzeit noch die Stadt. Trotzdem macht sich
Heimatmarkt und die Kolonien ging. Das funk- Warum also das Pariser Paradies umkrempeln? So der Schweißer Olivier Mielcarek große Sorgen.
der Großunternehmen rechnen
tionierte gerade noch so in Europa: siehe Airbus. denkt, tief im Unterbewusstsein, nach wie vor ein Zinsen Mielcarek, 42, in schwarzer Lederjacke, bestellt sich
mit zusätzlichen Arbeitsplätzen
Das scheiterte mit der Globalisierung. Kürzlich Großteil der politischen Elite Frankreichs. Sie lebt Am 10. März kommt der Rat der in einer Bar nach Feierabend einen Kaffee und
mussten die Chinesen Peugeot retten. in der Hauptstadt, fürchtet sich vor ihren Ghetto- Europäischen Zentralbank in schimpft über die Auswüchse des Wohlfahrtsstaats:
In Wirklichkeit hat der französische Staat abge- Vorstädten, jettet in andere Hauptstädte, weiß aber Frankfurt zusammen. Notenbank- Arbeitslose mit Kindern erhielten mehr als er ohne
wirtschaftet. Er hat sich übernommen, ihm fehlt nicht, was draußen in der Provinz los ist. präsident Mario Draghi will Kinder. Und dann erzählt er die Geschichte seines Wenn es um die Digitalisierung geht, gibt sich
die Kraft für Investitionen, auch dann, wenn die »Zum Reformieren bedarf es keines Bruchs. angesichts der eingetrübten Vetters, der es weit gebracht habe, ins Pariser Außen- die deutsche Wirtschaft verhalten optimistisch:
Provinz danach dürstet. Reformen erwachsen aus sozialem Frieden und er- Konjunkturaussichten noch mehr ministerium, und wie sie dort bei jedem Empfang 23 Prozent der Großunternehmen glauben, dass
Fast jeder Franzose kennt inzwischen die Zahlen: neuern ihn«, sprach der Präsident im vergangenen Geld in die Märkte pumpen – Champagner trinken würden. »Der hat keine Ah- sie dank neuer Technologien mehr Arbeitsplätze
57 Prozent Staatsanteil am Bruttosozialprodukt, Oktober bei einer Ordensverleihung an den ehema- doch die Zweifel am Erfolg einer nung mehr, wie es uns hier draußen heute geht.« schaffen als streichen werden, nur 18 Prozent
höher als in jedem vergleichbaren Industrieland; ligen Premierminister Michel Rocard im Élysée- solchen Politik wachsen. Oder vielleicht doch. Im Januar, bevor er zu rechnen unterm Strich mit einem Abbau. Das
Verdoppelung der Staatsschulden in 20 Jahren auf Palast. Das war ein Grundsatzbekenntnis, wie es Champagner und Lachs bat, rief François Hol- zeigt eine Studie der Digitalberatung Etventure,
heute 2100 Milliarden Euro, macht 97 Prozent des Hollande nur der 85-jährige Rocard, der Held der Grenzen lande: »Ich vertrete die Auffassung, dass wir ange- für die das Marktforschungsinstitut GfK rund
Bruttoinlandsprodukts. Fast jeder Franzose kennt französischen 68er und bis heute wichtigster Am 18. März treffen sich die EU- sichts der Weltunordnung, angesichts einer un- 2000 Unternehmen mit mehr als 250 Millionen
die Gründe: Die Sozialkassen machen jedes Jahr Modernisierer der französischen Linken, entlocken Chefs erneut in Brüssel. Dann sicheren wirtschaftlichen Konjunktur und der Euro Umsatz befragt hat. Die Studie zeigt auch,
Milliardendefizite. Zuletzt waren es 12,8 Milliarden konnte. Rocard weinte bei dem Fest. Vor allem aber sollen die Details der Einigung mit hartnäckigen Arbeitslosigkeit einen wirtschaftlichen wie sehr der digitale Wandel für Grabenkämpfe
Euro bei der staatlichen Krankenversicherung, zehn war die Veranstaltung zum Weinen! Gerade hier der Türkei geklärt werden. Wenn und sozialen Ausnahmezustand erklären müssen.« in den Unternehmen sorgt: Die Befragten sehen
Milliarden bei der Rentenkasse und 4,4 Milliarden zeigte Hollande seine Grenzen: Keinen Aufstand es keine Einigung gibt, könnten in der »Verteidigung bestehender Strukturen«
bei der Arbeitslosenversicherung. wagen! Als gäbe es die Wüste südlich von Paris auch neue Grenzkontrollen die größte Hürde für Veränderungen. J ET
Franzosen lieben es, über den aufgeblähten, nicht. Als würden Teile Frankreichs nicht sterben, beschlossen werden. Weitere Informationen im Internet:
bürgerfeindlichen Staatsapparat zu schimpfen. wie der Verbandschef Richard in Nevers sagt. www.zeit.de/frankreich M+M
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 WIRTSCHAFT 21

Foto: Mark Peterson/Redux/Redux/laif


Rache
von unten
Amerikas etablierte Parteiführer machten
lange Zeit Politik für die Reichen. So haben
sie den Populisten Donald Trump erst
ermöglicht VON HEIKE BUCHTER UND ROMAN PLETTER

Der Aufputscher Donald Trump und seine Fans

D
as Sedativum wirkt nicht Daniel Aaronson und Bhashkar Mazumder von der ihrer Sicht bislang unversicherte Migranten und
mehr. Drei Jahrzehnte lang Zentralbank in Chicago. Zwei Drittel der Amerika- Minderheiten unterstützen.
hat es viele Amerikaner ruhig ner erwarten einer Umfrage des Pew Research Cen- Die Parteiführung hat auch die Sorge der Basis
gestellt. Es drang in den acht- ter zufolge nicht, dass es ihren Kindern einmal besser vor legaler und illegaler Einwanderung unterschätzt,
ziger Jahren in ihre Köpfe ein gehen werde als ihnen, wenn sie sich nur anstrengten. als sie jüngst Einbürgerungen im Sinne ihrer Spen-
über die Reden des Präsiden- Trump verspricht diesen Menschen das Come- der erleichtern wollte. Gering qualifizierte Migran-
ten Ronald Reagan, der ihnen back des Amerikanischen Traums und dass er sie zu ten nützen vor allem Unternehmen, die billige
sagte, dass ein starker Staat ein schlechter Staat sei Gewinnern macht. Er sagt, und er sagt auch das Arbeitskräfte brauchen. Doch diejenigen, deren
und dass es auch den Armen besser gehe, wenn die wirklich genau so: »Wir werden so viel gewinnen. Arbeitsplätze durch Freihandel entweder nach
Reichen weniger Steuern bezahlten. Reagan nannte Ihr werdet müde sein vom Gewinnen. Ihr werdet China verlagert wurden oder die nun mit illegalen
das den trickle down-Effekt, den Sicker-Effekt: Der sagen: Bitte, Mister President, ich habe Kopfschmer- Einwanderern um schlecht bezahlte Arbeit kon-
Wohlstand würde durch die Schichten der Gesell- zen. Bitte gewinn nicht mehr so viel. Das ist schreck- kurrierten, hatten kein Interesse an den Plänen. Nur
schaft hindurchsickern, von oben nach unten. lich. Und ich werde sagen: Nein, wir müssen Ame- vier von zehn Republikanern sind einer Studie der
Das Sicker-Versprechen war im Wortsinn das rika wieder groß machen.« Associated Press zufolge dafür, dass illegal im Land
Mittel der Wahl aller folgenden Präsidenten. Sie Das klingt ein bisschen irre. Doch mit solchen lebende Ausländer die Staatsbürgerschaft bekom-
brauchten das Geld reicher Spender, um Kampagnen Auftritten hat der Geschäftsmann eine Marktlücke men können. Sie wollen nicht noch mehr verlieren.
finanzieren zu können, und versprachen den Geld- besetzt, die es gibt, weil die Republikaner auf der
gebern dafür niedrige Steuersätze und wenig Re- Jagd nach Spendern einen großen Teil ihrer Wähler Die Republikaner-Führung irrte und dachte,
gulierung ihrer Geschäfte. Und mit dem Sicker- aus den Augen verloren haben. die Basis fände ihr libertäres Projekt gut
Versprechen konnten sie dieses Programm gleich- Kaum etwas machte das so deutlich wie der
zeitig Mittelschichtswählern verkaufen, die davon letzte Auftritt Jeb Bushs als Kandidat. Nach Vater Trump macht diesen Leuten Angebote, damit sie
erst einmal gar nichts hatten. Dazu kam das noch und Bruder sollte der nächste Spross der Bush- sich besser fühlen: eine Mauer an der Grenze zu
größere Versprechen vom Amerikanischen Traum: Dynastie Präsident werden. Doch trotz der vollsten Mexiko, um Einwanderer fernzuhalten (und für die
Ein jeder kann reich werden, wenn er sich nur an- Kasse aller Anwärter gab er auf und leistete ver- Mexiko selbst bezahlen soll!); Strafzölle auf im-
strengt, am besten in einem freien Markt. Selbst gangene Woche Abbitte: »Es tut mir leid, dass ich portierte Autos, damit Konzerne Arbeitsplätze aus
Reagans linksliberaler Nachnachfolger, der Demokrat die Erwartungen enttäuscht habe.« Die Entschul- dem Ausland zurückholen; außerdem Strafen für
Bill Clinton, baute in den neunziger Jahren auf digung des müden Mannes galt dabei nicht den den Währungsmanipulator China. Wie Trump das
diese Ideen auf, als er seinen Wählern erfolgreich ver- Helfern oder Wählern, sie galt: den Spendern, vor durchsetzen will? Nun, er hat ein Buch über die
kaufte, dass weniger Sozialstaat in ihrem Interesse sei. allem Öl- und Gasunternehmern, denen Bushs »Kunst des Deals« geschrieben – Chinas Führer
Dann kam 2007 die große Finanzkrise. Clintons Programm weniger Regulierung ihrer Industrie ver- werden sich beugen. Das ungeliebte Obamacare
Nachfolger George W. Bush und Barack Obama sprach. Das Geld hat am Ende nichts gebracht. Im will Trump abschaffen und durch »etwas Unglaub-
blieben zwar noch tapfer beim alten Narrativ. Als sie Bundesstaat Iowa etwa hatte Bush so viel in die liches« ersetzen. Und die Steuern auf Einkommen
Banken mit Steuergeld retteten, erzählten ihre an der Kampagne gesteckt und so wenige Wähler gefunden, sollen sinken. Um das zu finanzieren, kündigt
Wall Street rekrutierten Finanzminister den Bürgern, dass ihn jede Stimme im Durchschnitt 2800 Dollar Trump an, Steuerschlupflöcher für große Unter-
dass auch dies im Interesse aller Amerikaner sei. kostete, zu mehr als 2,8 Prozent reichte es nicht. nehmen zu schließen.
Doch als ebendiese Banken gleichzeitig Millionen Bushs Ausscheiden zeigt den vorläufigen Zu- Auf einmal hängt alles miteinander zusammen:
Bürger als säumige Schuldner vor die Tür setzten, sammenbruch einer seit Jahrzehnten laufenden Einwanderung, Handel, große Konzerne gegen
war das vielen Amerikanern dann zu viel. Sie lassen politischen Maschine: Spenden brachten Mandate kleine Leute, das Gefühl, dass früher alles besser war.
sich seitdem nicht mehr mit dem Versprechen vom brachten spenderfreundliche Gesetze. Besonders Und Trump häkelt einen Kokon darum, mal mit
durchsickernden Wohlstand ruhig stellen – und die Republikaner verstanden sich als Partner der einer Masche linksrum, mal rechtsrum, in dem er es
Donald Trump nutzt das aus. Unternehmen. Bei diskreten Treffen ließen kon- vor allem abgehängten weißen Männern gemütlich
servative Tycoons Kandidaten vorsprechen. Die machen will, die überdurchschnittlich selten einen
Trump verspricht: Mit mir bekommt ihr Wahl entwickelte sich auf diese Weise zu einem Universitätsabschluss haben, deren Gehälter in den
Kopfschmerzen vom Gewinnen Wettrüsten. 2004 gaben die Kandidaten rund 700 vergangenen Jahren überdurchschnittlich stark ge-
Millionen Dollar aus, 2012 waren es 2,6 Milliarden. sunken sind, für deren Interessen es keine Spender
Nichts spiegelt die Verbrüderung des Milliardärs Der Publizist David Frum, einst Redenschreiber gibt – und die ihn vor allem zu Beginn seiner Kam-
mit den echten und den gefühlten ökonomischen George W. Bushs, hat kürzlich in einem Aufsatz für pagne groß gemacht haben. Inzwischen hat er seine
Verlierern so sehr wider wie die immer gleichen die Zeitschrift Atlantic nicht ohne Bitterkeit die Wählerbasis verbreitert.
Slogans, mit denen er auf nahezu jede Frage, also krasse Selbsttäuschung beschrieben, in die sich seine Trump finanziert seinen Wahlkampf selbst. Er
wirklich: jede Frage, antwortet: »Wir gewinnen Parteiführung hat treiben lassen, bis sie glaubte, mit macht sich lustig über die Konkurrenten, denen er
nicht mehr. Wir verlieren gegen China. Wir ver- den Wünschen der Spender auch jene ihrer Basis zu als Geschäftsmann Spenden zugesteckt hat: »Ich
lieren gegen Mexiko im Handel und an der Grenze. vertreten: »Eine Mehrheit der Republikaner macht gebe jedem. Wenn sie anrufen, gebe ich. Und
Wir verlieren gegen jeden.« sich Sorgen, dass die Vermögenden zu viel Macht wisst ihr was? Wenn ich etwas von ihnen brauche,
Trump gibt seinen Anhängern statt eines Sedati- ausüben. Ihre Parteiführer arbeiten daran, sicherzu- zwei Jahre später, drei Jahre später, dann rufe ich
vums Aufputschmittel. Mit Angriffen auf reiche stellen, dass genau diese Gruppen noch mehr Macht sie an. Sie sind da für mich. Und das ist ein kaput-
Spender, Freihandel, billige Arbeitskräfte aus dem ausüben können.« Sie senkten lieber die Steuern für tes System.« Trumps Unterstützer mögen, dass da
Ausland und Konzernprivilegien, mit Angriffen auf diejenigen, bei denen die Mehrheit ihrer Wähler an- mal einer die Wahrheit sagt. Das totalitäre Poten-
all das, was die etablierten Parteien mit der Erzählung gestellt ist, als für diese Wähler selbst. Mächtige Par- zial seiner Vorschläge wie Einreiseverbote für
vom durchsickernden Wohlstand gerechtfertigt lamentarier riskierten in Budgetverhandlungen mit Muslime oder Folter als Mittel der Politik scheint
haben, ist er zum aussichtsreichsten Anwärter auf die Obama sogar die Zahlungsunfähigkeit des Landes, sie eher zu begeistern denn abzuschrecken.
Kandidatur der Republikaner für die Präsidentschaft um ihre Agenda des kleinen Staates durchzusetzen. Die Tragik der republikanischen Partei ist, dass
geworden. Er macht zum Thema, was viele Bürger Bei einem großen Teil der Wählerschaft kommt ihre Führer Trump bislang nicht stoppen konnten,
in ihrem Alltag erleben: dass weder Geld von oben diese Politik nicht mehr an. Immerhin 30 Prozent der und auch das hat mit Spenden zu tun. Anfang 2010
zu ihnen durchsickert, noch dass ein jeder die Chance republikanischen Parteigänger befürworten den Mei- setzten sich konservative Aktivisten vor dem obersten
hat, es nach oben zu schaffen, kurz: dass viele Ame- nungsforschern von Gallup zufolge »heftige« Steuern Gerichtshof mit ihrer Forderung nach dem Ende
rikaner unter einer versiegelten Decke stehen. für Reiche. Die Parteiführung setzte 2012 dennoch von Spendenlimits durch. Es gibt seitdem sogenannte
Es spielt dabei keine Rolle, ob Trump recht hat, den Finanzmanager Mitt Romney als Spitzen- Super PACs, Organisationen, mit denen Superreiche
ob Amerika insgesamt wirklich verloren hat. Ent- kandidaten für die Präsidentschaftswahl durch, dessen Kandidaten nach Belieben unterstützen können.
scheidend ist, dass es genug wütende Verlierer gibt, Beteiligungsunternehmen für besonders gnadenlose Doch nun frisst die Revolution ihre Kandidaten.
die nichts abbekommen vom Wohlstand. Für sie Sparrunden bekannt war. Sein parteiinterner Rivale Die Partei müsste sich hinter einem Bewerber sam-
sieht die Welt mehr nach trickle up aus: danach, dass Mike Huckabee sagte einmal über ihn: »Romney sieht meln, um Trump zu verhindern. (Die meisten Al-
der Reichtum sich oben sammelt. Und diese Wahr- nicht aus wie der Typ, der dich anheuert. Er sieht aus ternativen wären vor wenigen Jahren selbst noch als
nehmung ist nicht falsch: Unter Reagan gehörten wie der Typ, der dich feuert.« konservative Extremisten durchgegangen, aber man
vor 30 Jahren den reichsten 0,1 Prozent der Amerika- Die Nominierung Romneys war nicht die ein- muss ja nehmen, was man kriegt an kleineren
ner 9 Prozent des nationalen Vermögens. Heute zige Fehleinschätzung des Partei-Establishments. Übeln.) Die Milliardäre hinter einzelnen Kandida-
besitzt diese Gruppe bereits 22 Prozent, dem obers- So machte es die Bekämpfung von Obamas Ge- ten geben nur nicht auf. So bleibt John Kasich, der
ten Prozent gehört fast die Hälfte. sundheitsversicherung zur Chiffre für den Kampf chancenlose Gouverneur aus Ohio, dank Wall-
Auch die Geschichte vom Amerikanischen um den kleinen Staat. Doch selbst die vom radikal- Street-Millionen im Rennen. Das kostet jene Kan-
Traum hat an Überzeugungskraft verloren. Die ge- konservativen Republikaner-Ableger Tea Party an- didaten Stimmen, die sonst vielleicht eine Mehrheit
sellschaftliche Durchlässigkeit ist seit Reagan gerin- gesprochenen Wähler sind nicht per se gegen So- moderater Wähler gegen Trump sammeln könnten.
ger geworden: »Besonders die Männer der Jahr- zialleistungen. Sie wollen nur, dass Sozialsysteme Erst haben die Republikaner das Land gespalten,
gänge, die in den späten Fünfzigern und Sechzigern jenen nutzen, die in sie einzahlen. Die Ablehnung jetzt machen sie ihre Partei kaputt.
geboren wurden, sind von der sinkenen sozialen der vornehmlich weißen Mittelschicht war auch
Mobilität betroffen«, schreiben die Ökonomen deswegen so stark, weil ihre eigenen Beiträge aus www.zeit.de/audio
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DIE ZEIT: Herr Professor Falk, in letzter Zeit verbin- gehe also mit zwei gleich begabten Kindern ins Ren-

»Ich will nur,


den Sie oft die Frage der Ungleichheit mit der unserer nen. Dem einen Kind gebe ich eine vernünftige Aus-
Persönlichkeit. Was haben beide miteinander zu tun? bildung und Unterstützung vom Elternhaus und be-
Armin Falk: Ich will verstehen, wie wir werden, was reite es auf das Leben vor – diese Person wird dann für
wir sind – also wie sich unsere Persönlichkeit entwi- die Gesellschaft produktiver sein, mal unabhängig
ckelt. Dazu gehören Präferenzen, Einstellungen, An- davon, dass dies wahrscheinlich auch zu einem glück-
sichten und Weltvorstellungen und die Frage, wie ver- licheren, gelungeneren Leben führt. Das andere Kind,
schieden Menschen überhaupt sind. Und jetzt kommt dem ich diese Chancen vorenthalte, kann das Poten-
es: Unterschiede in unseren Persönlichkeiten sind ein zial, das in ihm steckt, wahrscheinlich nicht heben.
möglicher Grund dafür, dass Ungleichheit entsteht. Wenn wir aber die Potenziale in der Gesellschaft nicht
ZEIT: Das müssen Sie genauer erklären. nutzen, dann ist das nicht nur ein Gerechtigkeits-,

dass Kinder,
Falk: Ganz einfach, weil Persönlichkeit und unsere sondern auch ein Effizienzproblem.
Vorstellung über die Welt unsere Entscheidungen ZEIT: Hinter der Kritik an Verhaltens- und Vertei-
und damit den Fortgang des Lebens beeinflussen: Zu- lungsforschung steckt auch die Sorge, dass die Öko-
friedenheit, Gesundheit, Ausbildung, Löhne, die Fra- nomie nach links treibt.
ge stabiler Familien- und Sozialverhältnisse. Und weil Falk: Ich habe diese Sorge nicht und wüsste auch
wir zeigen können, dass sich bereits im Kindesalter die nicht, warum das überhaupt eine Sorge begründen
Persönlichkeit in Abhängigkeit der Familie und des kann. Wissenschaft funktioniert grundsätzlich erst
sozioökonomischen Status unterschiedlich entwickelt. einmal nach ihren eigenen Regeln. Ich muss, wenn
Zum Beispiel sind Kinder je nach Herkunft geduldi- ich eine Behauptung aufstelle, gute Belege dafür vor-

die gleich gut


ger, risikobereiter oder eher bereit, mit anderen zu bringen, theoretisch, empirisch oder am besten bei-
kooperieren und ihnen zu vertrauen. des. Ich arbeite vor allem empirisch, und wenn ich
ZEIT: In dieser Woche startet Ihr neues Institut für eine Behauptung belastbar und robust unterlege,
die Erforschung von Verhalten und Ungleichheit. Es dann stellt sich zunächst nicht die Frage, wie man das
verbindet Ihre beiden Hauptinteressen miteinander ... politisch verortet. Die entscheidende Frage lautet: Ist
Falk: ... das soll natürlich kein Institut werden, das das ein wissenschaftlich relevanter Befund, ja oder
nur Dinge erforscht, die mich persönlich interessie- nein, ist er nach unseren Maßstäben überzeugend?
ren. Aber bei der Überlegung, welchen Gegenstand Und falls ja, dann folgt daraus später auch eine poli-
ein solches Institut haben kann und was es im Kern tische Beurteilung.
überhaupt rechtfertigen würde, sind diese beiden Fra- ZEIT: Trotzdem, das kennt man auch bei den Medi-

sind, gleiche
gen zentral. Wir wollen die Grundlagen der Ökono- en, ergibt sich schon durch die Wahl der Themen eine
mie weiterentwickeln und besser verstehen, woher Richtung.
unser ökonomisches und soziales Verhalten rührt. Falk: Als Wissenschaftler kann ich durch die Wahl
Hand in Hand damit geht eine politische Frage, ein meiner Themen zum Ausdruck bringen, was mich
politisches Unbehagen und empfindlich gestörtes berührt oder was mich an der sozialen Wirklichkeit
Gerechtigkeitsempfinden. In Deutschland und ande- interessiert, ja. Insofern sind die Themen, die Sozial-
ren Industrieländern klagt man zu Recht über die wissenschaftler behandeln, natürlich nie wertfrei.
wachsende Ungleichheit, versucht sie aber allzu oft Ich habe das beim ersten Lesen im Studium gar
erst zu beheben, nachdem sie schon entstanden ist – nicht verstanden, aber in Wissenschaft als Beruf hat
vor allem mit klassischen Instrumenten der Umver- Max Weber einen sehr guten Gedanken formuliert,

Chancen haben«
teilungs- und Arbeitsmarktpolitik. Dabei ist es effi- der mich zugleich irritiert und überzeugt hat. Die
zienter und gerechter, ihre Entstehung zu vermeiden. Frage, was Bedeutung hat in der Wissenschaft, was
Und damit stellt sich die Frage, warum Ungleichheit »bleibt«, kann selbst nicht mit wissenschaftlichen
überhaupt erst entsteht. Prinzipien beantwortet werden. Ich kann dafür kein
ZEIT: Gemeint ist das Glück oder Pech, in welche Modell befragen, das muss ich also immer selber
Familie man geboren wird? entscheiden, muss die Lücke mit eigenen Bewertun-
Falk: Ja. Es ist ein Skandal, dass unser Lebensschicksal gen füllen. Da ist jeder Wissenschaftler mit in der
maßgeblich vom Glück der Geburt bestimmt wird. Verantwortung.
Dann kommt hinzu, welche Fähigkeiten wir in der ZEIT: Zurück zur Ungleichheit, zum Glück der Ge-
Ungleichheit hat viel mit Persönlichkeit zu tun, sagt der Ökonom Kindheit erwerben, um das Leben bewältigen zu kön- burt und zur Frage, wie eine Gesellschaft damit um-
nen – und auch das ist sehr stark durch das Glück der geht: Gibt es Länder, von denen wir etwas lernen
Armin Falk im ZEIT-Gespräch – und die lässt sich verändern Geburt bestimmt. Welche Ressourcen zu Hause zur können?
Verfügung stehen, welche Vorbilder es gibt, wie anre- Falk: Ländervergleiche sind zwar schwierig, aber der
gend das Umfeld ist, ob es Möglichkeiten der Entfal- Blick nach Skandinavien zeigt, dass Gesellschaften
tung gibt, ob man unterstützt wird, ob man gefestigt, gut funktionieren können, wenn sie mehr Chancen-
gestärkt und in seinem Selbstvertrauen gefördert wird gleichheit schaffen. Bei der Bildung etwa: Wir tren-
– oder eben nicht. Klar ist: Wenn man die Bestim- nen die Kinder viel früher in ein mehrgliedriges
mung von Verhalten und Persönlichkeit besser ver- Schulsystem, was ich für einen fatalen Fehler halte.
steht, leistet man immer auch – und das ist eine wich- Nicht, dass ein Land einfach eine Blaupause für ein
tige Motivation – einen Beitrag zur Erklärung von anderes wäre. Jedes Land hat damit zu kämpfen, dass
Ungleichheit. Aus den gewonnenen Erkenntnissen die unmittelbaren Lebensumstände die Persönlichkeit
folgt der Auftrag, dass man günstig auf das soziale stark vorbestimmen. Und darin liegt ein doppelter
Umfeld von Kindern und Jugendlichen einwirkt. Auftrag: zu verstehen und zu verändern.
ZEIT: Da wird es politisch und, wenn man ideolo- ZEIT: Wenn Ungleichheit das Verhalten verändert,
gisch herangeht, auch gefährlich. heißt das doch auch, dass wachsende Ungleichheit
Falk: Mir geht es um Eingriffe auf Grundlage wissen- weitere Ungleichheit schafft.
schaftlicher Erkenntnisse, nicht um Weltanschauung. Falk: Eindeutig ja. Ein Beispiel: Viele Studien bele-
Da sind wir bei einem zentralen Thema dieses neuen gen, dass Präferenzen und Vorstellungen stark von
Instituts. Wir wollen in sogenannten Interventions- denen der Eltern geprägt werden. Ungleichheit wird
studien herausfinden, welche Faktoren der sozialen da allein schon durch die Weitergabe von Persönlich-
Umgebung tatsächlich kausale Wirkungen haben. keit vererbt. Hinzu kommt natürlich, dass sich auch
Die Ergebnisse werden durch Kontrollgruppen gesi- materielle Ungleichheit verfestigt und verstärkt. Inso-
chert, und diese kontrollierte Herangehensweise ist fern gilt wohl: Wenn man nichts tut, hat die Markt-
genau das Gegenteil von Ideologie. Wir untersuchen wirtschaft die Tendenz, dass die Ungleichheiten zu-
zum Beispiel, ob sich Mentorenprogramme günstig nehmen und Teile der Bevölkerung nicht mehr teil-
auf die Entwicklung der Persönlichkeit und die Le- haben am produktiven Geschehen.
bensverhältnisse auswirken. ZEIT: Wo sollte man vor allem ansetzen? Was hat be-
ZEIT: Ist die Frage wirklich neu? sonders großen Einfluss darauf, wie das Kind aufs
Falk: Sie ist insofern innovativ, als dass hier etwas ver- Lebens schaut und sich später auch wirtschaftlich ent-
sucht wird, das bisher von Verhaltensökonomen nicht wickeln kann?
so gern gesehen wurde: nämlich Persönlichkeitspsy- Falk: Ein Beispiel: Wir haben in einer Interventions-
chologie und Ökonomie miteinander zu verbinden. studie in Bonn und in Köln untersucht, inwiefern
Die Begründer der Verhaltensökonomie wurden zu man durch die Veränderung sozialer Umstände die
einer Zeit sozialisiert und ausgebildet, als die Persön- Entwicklung und den Bildungserfolg von Grund-
lichkeitspsychologie mehr oder weniger tot war. Die schulkindern verbessern kann. Die Veränderung der
erlebte ihre Renaissance erst später. Dadurch wurde Umstände erfolgte durch das Mentorenprogramm
vernachlässigt, dass Persönlichkeit für das ökonomi- »Balu und Du«. Wir haben Familien mit hohem und
sche Handeln eine zentrale Rolle spielt. Stattdessen niedrigem sozioökonomischen Status angeschaut. In
herrschte die Ansicht, dass nur soziale Faktoren – Si- Familien mit geringem Status haben wir nach dem
tuation, Kontext, Institution – unser Verhalten be- Zufallsprinzip zwei Gruppen gebildet. Die eine wurde
stimmen. Wir versuchen nun, beide Perspektiven in Teil des Programms, natürlich mit Einverständnis der
der Ökonomie zusammenzubringen. Familien. Ein Mentor hat das Kind dann über etwa
ZEIT: Für einen klassischen Marktökonomen kom- ein Jahr einmal in der Woche zu Hause besucht.
men da gleich zwei Feindbilder zusammen: sich auf ZEIT: Da sollen sozial benachteiligte Kinder Anre-
unser tatsächliches Verhalten, das oft nicht ganz ra- gungen erfahren ...
tional ist, zu konzentrieren und die Ungleichheit zen- Falk: ... der Mentor soll dem Kind das Gefühl geben,
tral in den Blick zu nehmen. Beides hat das Establish- da kommt jemand, um mich zu sehen, eine Art gro-
ment lange abgelehnt und tut es teilweise heute noch. ßer starker Bruder wie Balu, der Bär. Ein informelles
Ändert sich jetzt die Weltsicht der Ökonomie? Lernprogramm ist das, keines, das bessere Noten zum
Falk: In den vergangenen zehn oder zwanzig Jahren Ziel hat, sondern eine Stärkung der Persönlichkeit.
gab es große Veränderungen. Unser Feld hat sich ge- Entsprechend offen geht es zu, die Kinder und die
öffnet für Erkenntnisse aus benachbarten Fächern wie Mentoren machen die verschiedensten Dinge mit-
der Psychologie oder den Neurowissenschaften. Es einander, gehen Eis essen, besuchen den Zoo, lesen
war deshalb noch nie so aufregend wie heute, Öko- ein Buch, erzählen einfach nur, kochen was, gehen
nom oder Sozialwissenschaftler zu sein. Im Übrigen Fußball spielen, solche Dinge.
sollte man die Frage, was wir erforschen, nicht ideo- ZEIT: Und, kam etwas heraus?
logisch bestimmen. Jeder Wissenschaftler muss selbst Falk: Wir finden, dass diese eigentlich geringe Verän-
entscheiden, womit er sich befasst. Für mich gehört derung der sozialen Umgebung sich stark auswirken
ein besseres Verständnis der Ursachen von Ungleich- kann. Ein Beispiel ist die Prosozialität der Kinder, da
heit eindeutig zu diesen Fragen. Nicht bloß bei der gibt es bei Achtjährigen je nach Status schon große
Verteilung von Einkommen. Denken Sie an Bildungs- Unterschiede. Wir haben das gemessen mithilfe von
chancen oder an die Integration von Flüchtlingen, da Entscheidungsexperimenten, über Befragungen der
haben wir es mit riesigen Ungleichheiten zu tun. Mütter und Befragungen der Kinder ...
ZEIT: Haben die Ökonomen heute eine andere Sicht ZEIT: ... Prosozialität heißt Teamfähigkeit?
auf Ungleichheit als früher? Falk: Altruismus, Vertrauen oder auch die Bereitschaft,
Falk: Ich glaube schon, dass sich das Bild von der Un- sich um andere zu kümmern, schwachen Schülern zu
gleichheit geändert hat. Früher wollte man so einen helfen, solche Dinge. Und da finden wir zunächst:
Micky-Maus-Trade-off zwischen Gleichheit und Effi- Kinder aus Familien mit höherem sozioökonomischen
zienz herstellen nach dem Motto: Mehr Gleichheit Status sind im Schnitt deutlich prosozialer als Kinder
kostet Wachstum. Das war eine Karikatur der Wirk- aus Familien mit geringem Status. Wenn man jetzt
lichkeit, entstanden aus einer unterkomplexen Mo- aber Familien mit geringem Status hinzunimmt, zu
dellwelt. Inzwischen mehren sich ja die Befunde, dass denen für ein knappes Jahr ein Mentor kam, dann
sehr ungleiche Gesellschaften auch sehr ineffizient sieht man: Die Lücke wurde komplett geschlossen.
sind. Nehmen Sie nur die Bildungsungleichheit: Ich ZEIT: Komplett, ehrlich?
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 WIRTSCHAFT 23

Falk: Ja. Das heißt, man kann durch geringe Verän- chen Projekten möglicherweise erst nach fünf oder Falk: Ich glaube schon. Ein liberales Menschenbild globale Studie 80 000 Personen in 76 Ländern über

Foto: Ulf Huett Nilsson/Plainpicture; kl. Foto: Joe Sterbenc


derungen in der sozialen Umgebung die Verhaltens- zehn Jahren zeigt – wir werden also auch jetzt noch hieße doch, dass sich jeder nach seinen Möglichkei- ihre Präferenzen befragt. Ein Ergebnis: Es gibt welt-
oder Entwicklungsdefizite aufgrund von ungleichen Zeit brauchen, um die Wirkung messen zu können. ten entfalten können soll und eine Chance dazu hat. weit ausgeprägte Geschlechterunterschiede. Frauen
Startbedingungen ausgleichen. Die Effekte sehen wir Ein Beispiel: Wir mussten zwei Jahre nach Abschluss ZEIT: Aber Meritokratie heißt eben auch, dass der sind zum Beispiel weniger risikobereit als Männer,
auch zwei Jahre nach der Intervention noch. Vor al- der Intervention warten, um zu gucken, ob es posi- Bessere gewinnt und man entsprechend seiner Fä- gerade auch in hoch entwickelten Industriegesell-
lem profitiert haben übrigens Kinder, deren Mütter tive Effekte auf den kritischen Bildungsübergang higkeit und Bereitschaft zur Leistung einen größeren schaften. Man hätte denken können, das sei nur ein
wenig prosozial sind und relativ wenig intensiven gab, also die Entscheidung über die weiterführende Anteil am Kuchen gewinnt. Phänomen von armen, unfreien Gesellschaften. Aber
Austausch mit ihrem Kind haben. Und der Mentor Schule. Wir finden, dass Kinder im Mentorenpro- Falk: Natürlich muss man an diesem Prinzip fest- tatsächlich gilt: Gerade wo das Maß der geschlecht-
gleicht natürlich genau das durch die gemeinsamen gramm eine um 11 Prozentpunkte höhere Wahr- halten, es gibt viele Gründe, warum Ungleichheit als lichen Gleichbehandlung zunimmt und die Chancen
Aktivitäten aus. scheinlichkeit haben, aufs Gymnasium zu gehen als Folge eines fairen Wettbewerbs sinnvoll sein kann, für Frauen wachsen, entfernen Frauen sich weiter
ZEIT: Zwei Fragen dazu. Erstens: Warum ist Alt- Kinder der Kontrollgruppe. Ich appelliere an die etwa wegen der Leistungsanreize. Breche ich die Ver- von den Männern. Das heißt, wir sollten die Men-
ruismus ein Weg zu mehr Erfolg im Leben? Politik, mehr Interventionen zu ermöglichen. Nur bindung zwischen Leistung und Entlohnung, riskie- schen nicht gleichmachen, sondern nur ihre Chan-
Falk: Das habe ich nicht gesagt. Ich habe Defizite kausale Befunde erlauben eine rationale Politik. re ich, dass in der Gesellschaft viel weniger geleistet cen – wir sollten sie befähigen, souverän zu entschei- Armin Falk
benannt in Abhängigkeit des sozioökonomischen ZEIT: Wahrscheinlich haben diese Interventionen wird. Davon sollte man Abstand halten. Also: Wir den, was sie gerne tun. Es kann ja nicht darum gehen,
Hintergrunds. Und die lassen sich ausgleichen. Die- doch die größten Potenziale bei denen, die am be- wollen diesen Wettbewerb, und der Bessere soll auch jemandem einen Lebensstil vorzuschreiben.
ser Befund ist spannend, weil er zeigt, dass wir Un- nachteiligtsten sind, oder nicht? mehr haben, man kann sich aber fragen, wie viel ZEIT: Was an dieser Weltstudie der menschlichen Der 48-Jährige studierte
terschiede nicht einfach hinnehmen müssen. Und Falk: Das kann man nicht sagen, weil es möglicher- mehr tolerabel ist. Vorlieben hat Sie sonst besonders beeindruckt? erst in Köln und später
wir wissen aus weiteren Studien, dass Offenheit ge- weise auch ein Minimum an Potenzial und Bereit- ZEIT: Wo fragen Sie sich das? Falk: Zunächst wollte ich wissen, ob die Länder sich beim verhaltensöko-
genüber anderen Menschen in der Arbeitswelt zur schaft geben muss, um Effekte in Gang zu bringen. Falk: Zum Beispiel bei manchen Gehältern, etwa überhaupt groß unterscheiden. Das wusste man nomischen Vordenker
Kernkompetenz geworden ist und die Fähigkeit zu ZEIT: Kann man trotzdem sagen, dass Flüchtlinge denen, die in der Finanzindustrie bezahlt wurden. nämlich noch nicht. Tatsächlich ist es so. Ein Bei- Ernst Fehr in Zürich.
Empathie und Kooperation auch den Lebenserfolg ein herausstehender Anwendungsfall sind? Das hatte weniger mit Markt als mit Korruption spiel: Die afrikanischen Länder südlich der Sahara 2003 wurde Falk in
begünstigt. Das gibt der Politik einen Ansatzpunkt. Falk: Das auf jeden Fall. Sie sind auch ein unglaub- und dem Versagen von Aufsichtsgremien zu tun. zeigen ein enorm geringes Maß an prosozialen Ei- Bonn Professor und
ZEIT: Zweite Frage: Der Chef des Kieler Instituts lich gutes Beispiel, um zu zeigen, wie ineffizient Un- ZEIT: Wettbewerb, aber fair? genschaften. Das gilt für Altruismus, für Vertrauen Direktor eines Labors
für Weltwirtschaft, Dennis Snower, setzt auf Alt- gleichheit sein kann. Wenn wir bei der Integration Falk: Ja. Wenn man fast allen die Fähigkeit ver- und Reziprozität. für ökonomische
ruismusforschung und verfolgt mit anderen die und Förderung dieser in so vielfältiger Weise benach- schafft, regelmäßig irgendwo zur Arbeit zu erschei- ZEIT: Gibt es eine deutsche Besonderheit? Experimente. Zu seinen
Idee, dass man mehr Altruismus auch trainieren teiligten Menschen scheitern, nen und überhaupt ein ver- Falk: Weder positiv noch negativ. Wir können aber Stärken zählt das
kann – etwa durch Meditation. Ist das eine vernünf- dann ist das nicht nur herzlos, nünftiges Leben zu organisie- zeigen, dass die Ausstattung von Ländern mit Ge- Design solcher Studien.
tige Form der Intervention? sondern für unsere Gesellschaft Den Flüchtlingen einen ren, dann wäre ich schon sehr duld sehr gut vorhersagt, wie reich ein Land ist. In dieser Woche öffnet
Falk: Sie ist plausibel, auch wenn ich die Details ein riesiges Problem. Mentor oder Lotsen zufrieden. Darüber hinaus Und Deutschland ist als Industrieland recht gedul- sein neues Institut zur
nicht kenne. Aristoteles sagte, das Gute trete da- ZEIT: Die Frage ist ja, wie schei- kommt es zu Ungleichheiten dig. Wachstum entsteht ja durch Akkumulation. Erforschung von Ver-
durch in die Welt, dass wir es tun. Wir üben es lang- tert man nicht? Versuche ich an die Seite zu stellen durch unterschiedliche Intel- Ich muss in der Regel investieren in Humankapital halten und Ungleichheit,
sam ein, und es wird zur Routine. Dann überlegen ganz schnell, irgendwelche, auch würde viel bringen ligenz und anderes mehr. Da- oder physisches Kapital, um später ein höheres finanziert von der Post-
wir gar nicht jedes Mal, ob das Gute uns viel kostet subventionierte Jobs zu finden? für haben wir ja das progressi- Einkommen zu erzielen, und wenn ich nicht ge- Stiftung. Seine Forschung
– es ist Teil unserer Persönlichkeit geworden. Oder wie kann man vor allem ve Steuersystem, das denjeni- duldig bin, investiere ich weniger. Den Zusam- hat Falk vom Gossen-
ZEIT: Welche Interventionen würden uns derzeit bei den jungen Leuten kompensieren, was sie fami- gen belastet, der eben etwas intelligenter und leis- menhang von Geduld und Einkommen verbinden bis zum Leibniz-Preis
am meisten bringen? liär, kulturell, sozioökonomisch bisher nicht erfah- tungsfähiger auf die Welt gekommen ist und mit wir mit einem weiteren Befund: Je höher die Sterb- viele Auszeichnungen
Falk: Die auf die Persönlichkeit und nicht nur auf ren haben? seinem Geld anderen helfen kann. lichkeit in einem Land, desto geringer die Geduld. eingetragen.
einen lokalen Erfolg abzielen, also eine bessere Note Falk: Die Sprache zu lernen ist natürlich zentral. ZEIT: Wie stark ist der Faktor, dass erfolgreiche El- Hier erkennt man einen von Präferenzen gestütz-
in der nächsten Mathe-Klausur oder so etwas. Bloß Aber man muss mehr tun. Es wäre fatal, wenn die tern intelligentere Kinder haben? ten Teufelskreis der Armut. Ich werde in eine arme
sind solche längerfristigen Maßnahmen politisch jungen Erwachsenen jetzt nicht in den Arbeitsmarkt Falk: Es gibt eine starke Verbindung zwischen Intel- Gesellschaft mit geringer Lebenserwartung gebo-
nicht wirklich opportun, weil die Effekte sich erst im integriert würden und sich in keiner Weise produktiv ligenz und Einkommen, und Intelligenz wird zu ei- ren, werde unter diesen Bedingungen selbst unge-
Lebensverlauf zeigen. Man sollte aber möglichst früh am neuen Lebensort behaupten und zeigen können. nem großen Teil vererbt. duldig und reproduziere dadurch die schädlichen
im Leben beginnen, wenn der Entwicklungsprozess Das fördert den Eindruck, diese Menschen wollten ZEIT: Der dümmste Bauer erntet also mitnichten Lebensumstände.
in vollem Gange ist. Auch das unterstreicht: Statt nur auf Kosten der Allgemeinheit leben – was ich die größten Kartoffeln in Deutschland, sondern es ZEIT: Und, kann man Menschen auch geduldiger
später die Reparaturwerkstatt zu bemühen und Er- überhaupt nicht glaube. Erzwungene Nichttätigkeit gibt tatsächlich einen großen Zusammenhang zwi- machen?
wachsene über teure Arbeitsmarktprogramme wieder führt außerdem zu Stress, Mangel an Selbstwert und schen Intelligenz und Erfolg? Falk: Einerseits durch Institutionen, indem man
in den Arbeitsmarkt zu bringen, ist es sinnvoller und Selbstvertrauen, wie man aus Arbeitslosigkeitsstudien Falk: Eindeutig ja. Der Skandal besteht aber gerade Menschen beispielsweise zwingt, zu sparen. Ande-
effizienter, dieses Geld viel früher, nämlich in der weiß. Den Menschen einen Mentor oder Lotsen an darin, dass Kinder, die genauso intelligent sind wie rerseits durch bestimmte Interventionen, wie eine
Kindheit zu investieren – und zwar besonders für die die Seite zu stellen, würde auch viel bringen und für andere, aufgrund ihrer Herkunft oder der Fähigkei- Studie in der Türkei gezeigt hat. Allein es Kindern
Entwicklung von Verhalten und Persönlichkeit. die Flüchtlinge auf eine ganz konkrete Weise diesem ten ihrer Eltern schlechter abschneiden. Ich will nur, bewusst zu machen: Überleg mal, was würdest du
ZEIT: Weiß man schon genug, um es in nationale Land ein Gesicht geben. dass Kinder, die gleich gut sind, auch die gleichen dir wirklich gerne kaufen – und wenn du jetzt etwas
Politik zu übersetzen? ZEIT: Bei allem, was Sie und Ihre Kollegen heraus- Chancen haben. In diesem Zusammenhang fällt mir sparst, dann könntest du das vielleicht. Allein das
Falk: Nein, und das ist auch für mein Fach ein kriti- finden, lässt sich da noch die Idee hochhalten, dass auch ein interessanter Befund ein, der politisch etwas hatte mehr Geduld zur Folge.
scher Befund. Wir stehen noch ziemlich am Anfang. die Marktwirtschaft eine Leistungsgesellschaft, eine anstößig sein könnte. Es geht um Unterschiede zwi-
Das ist problematisch, weil sich der Erfolg von sol- sogenannte Meritokratie wäre? schen Männern und Frauen. Wir haben für eine Das Gespräch führte Uwe Jean Heuser
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Foto: Paul Langrock/Zenit/laif


Eine Frage der Perspektive:
Für den Gewerkschaftschef
Michael Vassiliadis hat die
Braunkohle Zukunft

Der Boss der Kohle AG


Gewerkschaftschef Michael Vassiliadis will den Ausstieg aus der Braunkohle verzögern:
Mithilfe seiner Seilschaften in Politik und Wirtschaft VON PETR A PINZLER UND CLAUS HECKING

E
s ist zuletzt nicht gut gelaufen dass das noch etwa 15 Jahre möglich ist. Das Er- Sicher ist: Vassiliadis wird dabei eine wichtige weltausschuss von Duisburg inzwischen gegen den nigen Jahren die EU und der damalige Bundeswirt-
für den Schutzpatron der Kohle. sparte soll den Konzernen dann weitere 15 Jahre Rolle spielen. Schließlich ist er ein begnadeter Kauf der Lausitz-Braunkohle durch die Steag aus- schaftsminister Rainer Brüderle (FDP) die Förde-
Wieder und wieder musste lang ausbezahlt werden: für den Weiterbetrieb bis Strippenzieher: in der Politik vernetzt wie sonst gesprochen. Auch in Dortmund ist der Widerstand rung schon 2014 stoppen wollten, blies der IG-
Deutschlands mächtigster Ge- zur Mitte des Jahrhunderts. keiner, und bei den Gewerkschaften bestimmt gegen eine finanzielle Beteiligung groß. BCE-Chef zum Widerstand. Und setzte sich durch.
werkschaftsführer Michael Vas- Nur, warum sollte Deutschland noch mindes- längst er die Energiepolitik. Kritiker bringt er gern Doch ob die Volksvertreter den Einstieg ver- Seither gilt Vassiliadis als graue Eminenz der
siliadis in den vergangenen Mo- tens 30 Jahre lang Braunkohle fördern, statt schnel- mal lautstark zum Schweigen, wenn er sie für ro- hindern können, ist ungewiss. Zwar gehört ihnen Energiepolitik. Als einer, der die Tradition der neun
naten dieses von ihm so verhass- ler auf sauberere Alternativen umzusteigen? Vassi- mantisch verschrobene Grüne hält – oder gar »Kli- das Unternehmen, doch in dessen Aufsichtsrat Buchstaben NRW-SPD-RWE pflegt. In keinem
te Schlagwort lesen: »Braunkohleausstieg«. Es liadis nennt den fossilen Brennstoff eine »Brücke«. mafundamentalisten«, wie er Kohlegegner nennt. sitzen die Manager ihrer Stadtwerke. Ob diese die anderen Bundesland sind Politik und Energiewirt-
häuften sich die Berichte von jungen, wilden Um- Sie werde Deutschland hinüber in eine saubere, Der Sohn eines griechischen Gastarbeiters hält die Expansion gen Osten blockieren, ist nicht ent- schaft so miteinander verwoben. Und überall hat
weltschützern, welche die Kohlegruben der RWE klimafreundliche Zukunft geleiten. Nach fast drei »deutsche CO₂-Problematik« für überschätzt – wohl schieden. Hinter den Kulissen wird emsig gerangelt. SPD-Mitglied Vassiliadis Verbündete. Im Aufsichts-
im Rheinland erstürmten. Von einer Menschen- Jahrzehnten als Berufsfunktionär weiß der 51-Jäh- auch, weil die grüne Wende eine Basis seiner Macht Immer geht es dann auch um den Plan B: da- rat der Steag sitzt neben ihm ein weiterer IG-BCE-
kette rund um einen Tagebau in der Lausitz. Von rige, wie wichtig solche warmen Worte sind. Auch bedroht: die alte Energiewirtschaft mit all den Ge- rum, dass die Steag selbst den Braunkohlekomplex Funktionär. Der Aufsichtsratschef war einst Schatz-
Umweltministerin Barbara Hendricks, die den wenn er selbst wenig von der Energiewende hält. werkschaftsmitgliedern, Betriebsräten, Aufsichts- in der Lausitz gar nicht kauft, sondern nur betreibt. meister der Dortmunder SPD. Deren Fraktion im
Abschied von der Braunkohleverstromung mit Der Fonds liefere der Industrie und dem Staat ratsposten für Arbeitnehmervertreter. Dass das Geld für die Übernahme von Investoren NRW-Landtag führt ein früherer IG-BCE-Gewerk-
ihrem extrem hohen Ausstoß von Kohlendioxid »Planungssicherheit«, wirbt Vassiliadis. Mit ihm Nur, warum sollte die Bundesregierung Vassilia- kommen würde. Solch ein Deal wäre für Kapital- schaftssekretär an. In der SPD-Bundestagsfraktion
(CO₂) »unaufhaltsam« nannte. könnten die Unternehmen den Rückbau der Kraft- dis’ Plan folgen? Warum sollten sich die Energie- geber aber erst attraktiv, wenn der Staat einen lang- prägt Vassiliadis’ ehemaliger Vize bei der IG BCE,
Am 11. Januar stellte dann auch noch der ein- werke und die Rekultivierung betreiben: ohne konzerne auf so eine Regelung einlassen und Geld fristigen Betrieb der Gruben und Kraftwerke garan- Ulrich Freese, die Energiepolitik mit. Der erklärte
flussreiche Thinktank Agora Energiewende ein Streit, ohne dass der Steuerzahler am Ende bluten in einen Fonds zahlen, wo sie es jetzt so dringend tiert – also sichere Einnahmen. Vassiliadis’ Fonds Braunkohle-Anhänger hat selbst als Gewerkschaft-
detailliertes Konzept für den Einstieg in den Aus- müsse. »Ohne einen Plan wird der Ausstieg aus der brauchen? Wer, wenn nicht der Steuerzahler, wird würde genau diese Gewissheit schaffen. ler in der Lausitz gearbeitet. Unter anderen saß oder
stieg aus dem Braunkohleabbau vor. Und Vassilia- Braunkohle kannibalistisch«, sagt Vassiliadis. die Braunkohlewirtschaft finanzieren, wenn das Für Vassiliadis wäre dann alles so, wie er es sich sitzt Freese in drei Aufsichtsräten von Vattenfall-
dis wusste: Jetzt brennt wirklich die Hütte! Die Beim ersten Hinhören klingt der Vorschlag ein- Ersparte vorzeitig aufgebraucht ist? Der Gewerk- vorstellt: Die Arbeitsplätze der Kumpel wären ge- Gesellschaften.
Agora wurde einst von Rainer Baake gegründet, leuchtend. Dieser Tage zeigt sich ja beim Atomaus- schaftler beantwortet derlei Fragen in Haltern nicht. sichert, Braunkohle würde sich langfristig lohnen Vassiliadis’ Netzwerk reicht noch weiter. Der
heute Staatssekretär und Energieexperte von Wirt- stieg, was passiert, wenn der Abschied von einer Ganz still wird Vassiliadis, fragt man ihn nach für Investoren – und die könnten einen Teil ihrer Sprecher der SPD-Arbeitsgruppe Wirtschaft und
schaftsminister Sigmar Gabriel. Es ist nicht gut für Technologie nicht frühzeitig geplant wird und der Steag oder Vattenfall. Dabei verbirgt sich hinter Profite in den Fonds geben, der den Weiterbetrieb Energie im Bundestag war Vorstandssekretär der
Vassiliadis, wenn Fachleute, die den Entscheidungs- Staat das Geld dafür nicht sicherstellt. Dann zahlt diesen beiden Unternehmen womöglich der Schlüs- der Gruben noch auf lange Zeit garantiert. IG BCE. Vassiliadis’ Lebenspartnerin Yasmin Fa-
trägern so nahestehen, konkret benennen, wie sie am Ende doch die Allgemeinheit für den Müll. Nur sel, um seinen Plan vollends zu verstehen. himi, bis Ende 2015 Generalsekretärin der SPD,
sich das Ende der Kohle vorstellen. hat der Fonds einen entscheidenden Haken: Er Die Steag ist Deutschlands fünftgrößter Strom- Der Gewerkschaftsboss hat einflussreiche ist heute Staatssekretärin im Arbeitsministerium.
Vassiliadis ist Chef der Industriegewerkschaft zögert den Abschied von der dreckigen Braunkohle erzeuger und gehört nordrhein-westfälischen Kom- Verbündete: Ganz besonders in der SPD Und Energiewendeminister Gabriel kennt Vassilia-
Bergbau, Chemie und Energie (IG BCE). Man kann hinaus. Der Gewerkschaftsboss gibt dies auch offen munen. Vassiliadis ist stellvertretender Aufsichts- dis aus gemeinsamen Jahren in Hannover. 2013
ihn sich als Mittelpunkt im Netz der Braunkohle- zu: Es sei doch besser, Strom weiter mit »kuscheliger ratschef. Die Steag will nun expandieren. Und ge- Würde dann auch noch das andere große deutsche wurde der SPD-Chef Mitglied der IG BCE.
Lobby vorstellen. Er hat Verbündete in den großen, Braunkohle« zu produzieren als mit tschechischem meinsam mit einem australischen Investmenthaus Kohleunternehmen RWE in den Fonds einzahlen, Wenn es hart auf hart kommt, setzt Vassiliadis
alten Energieunternehmen, der SPD und natürlich oder französischem Atomstrom. das Braunkohlegeschäft von Vattenfall überneh- entstünde so ein schlagkräftiges deutsches Braun- seine Macht aber auch gegen Genossen ein. Ver-
bei den Gewerkschaften. Noch leben von der Braun- men. Vattenfall wiederum will die Gruben und die kohle-Bündnis, eine Art Deutsche Braunkohle AG. gangenes Jahr traf es Gabriel. Dieser wollte
kohle 20 000 Kumpel, die meisten sind Gewerk- Zwei von drei Bürgern wollen den Einstieg Kraftwerke in der Lausitz dringend loswerden. Sie An ihr käme niemand vorbei. Und in ihr wäre Deutschlands CO₂-Bilanz verbessern und kündig-
schaftsmitglieder, in den Aufsichtsräten der Kon- in den Kohleausstieg vermiesen dem schwedischen Staatskonzern die niemand besser vernetzt als Michael Vassiliadis. te einen »Klimabeitrag« an: Besonders dreckige
zerne sitzen seine Kollegen. Ohne sie wäre Vassilia- Klimabilanz und das Image. Zu unsicher finden die Der Verlierer wäre allerdings das Klima. Meiler sollten zusätzliche Abgaben zahlen. Vassilia-
dis kein ganz so mächtiger Gewerkschafter mehr. Auf der einen Seite also die Umweltschützer, die Schweden zudem das Geschäft mit dem fossilen Ein Sprecher der Steag verweigert auf Anfrage dis ließ daraufhin 15 000 Kumpel und deren An-
Was also tun? Ein Gegenentwurf musste her. den schnellen Ausstieg wollen. So wie die meis- Brennstoff, zu unklar ist, wie lange das Baggern der ZEIT jeglichen Kommentar zur Lausitz. Und gehörige in Berlin vor dem Wirtschaftsministerium
Und zwar einer, der nicht gleich wirkt wie der ten Deutschen. Kohlestrom ist ähnlich unbeliebt noch lohnt. Eben deswegen gibt es bisher allerdings auch Vassiliadis will sich nicht äußern. Sein Vorbild sowie dem Kanzleramt marschieren. Und präsen-
platte Abwehrkampf einer Branche, deren Tage wie Atomkraft. In einer repräsentativen Umfrage auch nur drei Kaufinteressenten. Zwei tschechische aber könnte die Ruhrkohle AG sein. Diese Einheits- tierte einen Alternativplan: Die uralten Kraftwerke
gezählt sind. Ein Plan, der garantiert, dass Deutsch- des Forschungsinstituts Emnid für Greenpeace Investoren. Und: die Steag. gesellschaft entstand Ende der 1960er Jahre aus der sollten nicht verschrottet, sondern nur stillgelegt
land noch lange ein Kohleland bleibt. sagten zwei von drei Bürgern, die große Koalition Dass die Steag-Manager im Osten bei der Fusion von rund zwei Dutzend deutscher Stein- werden und so als »Kraftwerksreserve« dienen – falls
Vassiliadis startet seinen Konter am vergangenen solle jetzt den Ausstieg angehen. Braunkohle mitmischen wollen, sorgt bei ihren kohleunternehmen – und sicherte ihnen lange das es doch einmal zu Stromengpässen kommen sollte.
Freitagabend. Mit Ringen unter den Augen emp- Auf der anderen Seite Vassiliadis, der diesen Eigentümern in NRW für viel Ärger. Viele Kom- Überleben. Obwohl die Konkurrenz aus dem Aus- Ihre Betreiber sollten dafür eine Prämie erhalten.
fängt der 51-jährige Gewerkschaftschef langjährige Ausstieg so lange wie möglich hinauszögern will. munalpolitiker hatten gehofft, dass aus dem Kon- land viel billiger war, zögerte die Ruhrkohle AG das Am Ende kam es genauso. Aus dem Klima-
Mitstreiter und Journalisten in Haltern in Nord- Wem wird die Bundesregierung folgen? zern ein Vorzeigeunternehmen der Energiewende Ende des Bergbaus um Jahrzehnte hinaus. Die beitrag wurde ein Subventionspaket für die Kon-
rhein-Westfalen, einer Tagungsstätte der IG BCE. Kanzlerin Angela Merkel, Wirtschaftsminister würde. Umso entsetzter reagierten sie, als das Ma- Zeche zahlten die Stromverbraucher und Steuer- zerne. Sie erhalten 1,6 Milliarden Euro Prämie
Er ist erkältet. Doch als er seinen großen Plan vor- Sigmar Gabriel und Umweltministerin Barbara nagement Ende 2015 still und leise eine erste Of- zahler: mit mehr als 100 Milliarden Euro Subven- für teils mehr als 40 Jahre alte Meiler. Die bleiben
stellt, wirkt er hellwach und agil. Hendricks haben sich noch nicht festgelegt. Viel- ferte für Vattenfalls Braunkohle einreichte. »Wir tionen. Noch bis 2018 wird in zwei deutschen in »Bereitschaft« – und einige Arbeitsplätze erhal-
Ein Braunkohlefonds für ganz Deutschland leicht überlassen sie das heikle Thema auch der haben erst aus der Presse erfahren, dass die Steag an Gruben Steinkohle abgebaut, in mehr als 1000 ten. Zahlen muss den vergoldeten Ruhestand der
müsse geschaffen werden, fordert Vassiliadis. In den nächsten Regierung. Das wäre ganz in Vassiliadis’ dem Geschäft Interesse zeigt«, sagt etwa Christian Meter Tiefe. Ökonomischer Irrsinn, ökologisch deutsche Stromverbraucher, also die Allgemein-
Fonds einzahlen sollen alle Produzenten und Kraft- Sinne, schließlich würde er Zeit gewinnen. Haardt, Chef der CDU im Bochumer Stadtrat. fragwürdig, aber sozial verträglich. heit. Wie beim Steinkohlebergbau.
werksbetreiber, solange sie noch Geld mit den Diese Entscheidung könnte in den nächsten Fraktionsübergreifend haben sich die Räte von Dass die Kumpels noch immer unter Tage gehen Vassiliadis’ Braunkohlefonds würde diesen
braunen Brocken verdienen. Vassiliadis rechnet vor, Wochen fallen, nach den Landtagswahlen. Bochum, Essen und Oberhausen sowie der Um- dürfen, verdanken sie auch Vassiliadis. Als vor ei- Coup noch einmal toppen.

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3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 WIRTSCHAFT 25
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Urlaub bei Fidel PORT


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Kriege und Terroranschläge verunsichern deutsche Urlauber.
Sie zögern mit der Buchung und fliegen im Zweifel in die Karibik
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IL AN VON CLA AS TATJE UND JELK A LERCHE (GR AFIK )
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ährend sich die Reisebranche Eine Folge für deutsche Urlauber: »Bei den be-
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auf der Tourismusmesse ITB liebten Urlaubszielen am westlichen Mittelmeer S CHL A
H feiert, leiden viele Länder unter und an Nord- und Ostsee wird es kurzfristig kaum DEUT
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FRAN den Folgen der Terroranschläge. noch Verfügbarkeiten geben«, sagt René Herzog,
Das ergab der Gesellschaft für Zentraleuropa-Chef von DER Touristik.
Konsumforschung zufolge die Auswertung der Marktführer TUI ist optimistisch, dass sich
Daten von 1200 Reisebüros und mehr als 30 zumindest das Geschäft in der Türkei noch bele-
Online-Reiseportalen. Bis Ende Januar hatten eine ben könne, solange es nicht zu weiteren Terror-
Million weniger Menschen ihren nächsten Som- anschlägen komme. Massive Preissenkungen der
merurlaub gebucht als zum gleichen Zeitpunkt des türkischen Hoteliers und die Tatsache, dass in
Vorjahres. Wer buchte, suchte sich oft ein Ziel am Spanien langsam die Betten knapp werden, würden
westlichen Mittelmeer oder flog gleich nach Kuba, dafür sorgen, »dass sich der türkische Reisemarkt
das unter Altpräsident Fidel Castro zu einem der im Laufe des Sommers noch etwas erholt«, sagt ein
wachstumsstärksten Fernziele geworden ist. Sprecher des Unternehmens.
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USA Reisebuchungen für Sommer 2016
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> –50 % > +50 %

–20 % bis –49 % +20 % bis + 49 %

–10 % bis –19 % +10 % bis +19 %

0 % bis –9 % 0 % bis +9 %

ZEIT- GRAFIK/Quelle: GfK, Stichtag 31. 1. 2016


26 WIRTSCHAFT 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

Schüsse im Sojafeld
A
m Abend, als Antônio Bento Zaun umgeben und mit bewaffneten Sicherheits- dürfen, der Rest muss Wildnis bleiben. Antônio hat nahen Gestrüpp und legt sie stolz auf den Boden, sein Arzt erzählt im Vertrauen, dass es in Mato Grosso
von der goldenen Zukunft kräften besetzt, an die zwanzig finster blickende »Pis- schon genaue Pläne, er will Landwirtschaft betreiben, Gesicht verzerrt von Glück. »Sehen Sie, wie fruchtbar »viel sicherer« sei, ein Virus als die Ursache einer
spricht, als er einen Braten zer- toleiros«, über die man in der Gegend flüstert: alles genauso wie beim letzten Mal: Reis und Bohnen, dieser Boden ist? Hier ist das beste Stück Land von Durchfallerkrankung zu diagnostizieren – auch wenn
schneidet und die Streifen »zur ehemalige Sträflinge, alle wegen Kapitalverbrechen Kürbisse und Okra, Bananenstauden und Maniok- Mato Grosso!« man als Mediziner wisse, dass es ein Agrargiftstoff
Stärkung meiner Krieger« über vorbestraft! Bassan, der Großfarmer, wohnt, wenn er wurzeln, dazwischen Hühner und Schweine. Kein Binnen weniger Jahre sind in der Region auch gewesen sei. Im vergangenen Oktober reiste der
dem Feuer brät, weiß er noch in der Gegend ist, in einem Hotel mit Schwimmbad Soja und keine riesigen Rinderweiden, »die diesen neue Städte aus dem Nichts gewachsen, Kreationen Fraktionschef der Grünen, Anton Hofreiter, ins Her-
nichts von der Gewaltexplosion in einer nahen Stadt. Planeten eines Tages noch zugrunde richten«. Ohne aus Asphalt und Beton. Sorriso ist eine der wichtigs- kunftsland der deutschen Futtermittel. Er sprach mit
der nächsten Tage. Er malt sich nicht aus, dass man Das Schicksal der Menschen im Camp der Guten gewaltige Apparate, ohne riesige Mengen von Agro- ten von ihnen, eine Ortschaft mit 80 000 Einwoh- lokalen Politikern und erklärte danach entsetzt: »Ich
ihn wie ein Tier durch den Wald hetzen wird, dass Hoffnung ist bloß einer von vielen solcher Land- chemie, die mit Flugzeugen versprüht werden. nern und extrabreiten Durchfahrtstraßen für die fühle mich ein wenig an Mafiafilme erinnert.«
die Wächter des nahen Großfarmers mit Revolvern konflikte: Nach Auskunft der Landpastorale, einer Es gibt einen offiziellen Rechtsweg für das An- Landmaschinen und Laster. Das Wirtschaftswachs- Den brasilianischen Gastgebern kann solche
und Halbautomatikwaffen um sich schießen wer- Organisation der katholischen Kirche, sind in den liegen Antônios: Nachdem sie ihren Antrag auf das tum hat sich in zehn Jahren verfünffacht, die Zuwan- Kritik weitgehend egal sein: Häufiger noch als die
den. »Ich gehe davon aus, dass alles ruhig ablaufen vergangenen 15 Jahren mindestens 20 000 Familien Land vor Jahren fristgerecht gestellt haben, müssten derung ist hoch und die Arbeitslosigkeit gering. »An Deutschen kaufen Chinesen und US-Amerikaner
wird«, sagt der kurz gewachsene, stämmige Mann in Mato Grosso vertrieben worden, und die Zahl sie vom Staat ihre Parzellen zugewiesen bekommen. keinem anderen Ort in Brasilien wird so viel Mais brasilianische Erzeugnisse. Zugleich stehen auch
an der Feuerstelle. »Und wir werden nicht weichen.« nimmt zu. Die »Anzahl der Hinrichtungen« im Dafür gibt es Gesetze, Behörden, Polizeivorschriften. und Soja produziert, behauptet Dirceu Rossato, seit deutsche Firmen und ihre Interessenvertreter dem
Antônio blickt in ernste, entschlossene Gesichter, Rahmen solcher Konflikte liegt in Brasilien bei 30 bis In der Praxis läuft es aber nicht so – nicht in Mato 2013 der Bürgermeister. »Richten Sie doch bitte den Agrobusiness nah: Die Handelskammer-Vertreterin
eine Gruppe aus Bauern und Landarbeitern, die im 40 pro Jahr, in Mato Grosso allein ist es eine Hand- Grosso. Obwohl kein Jurist ernsthaft das Anrecht deutschen Unternehmern aus: Wir sind bereit für und Honorarkonsulin vor Ort, Tania Kramm da
Morgengrauen eine benachbarte Großfarm besetzen voll. Auf der einen Seite stehen: Bauern, die jeweils der Leute aus dem Camp der Guten Hoffnung an- weitere Investitionen!« Rossato ist ein Zahlengenie, Costa, ließ trotz mehrerer Nachfragen kein Gespräch
wollen. »Ich kann nicht länger wie ein Hund an der bis zu 100 Hektar in familiärer Landwirtschaft auf zweifelt, ist ihr Anliegen im »Zu erledigen«-Stapel ohne Notizen rasselt er die Kennziffern der Land- mit der ZEIT zum Thema zustande kommen. Ihr
Straße leben«, sagt der 45-Jährige und blinzelt in die staatlichem Boden bewirtschaften dürfen. Das sind örtlicher Gerichte gelandet – so wie Hunderte ande- nutzungsstatistik herunter. 65 000 Hektar Sojafläche, Vater ist selber ein Großfarmer und nach eigenem
improvisierte Laterne des Camps, eine Autobatterie keine riesigen Ländereien, aber klein sind sie auch re. Die zuständige Bundesbehörde und sogar der mehr als 350 000 Hektar Mais, 15 000 Hektar Bekunden ein guter Bekannter des brasilianischen
mit einer Leuchtstofflampe an einem Holzpfahl. nicht – ein deutscher Bauernhof hat im Durchschnitt Chef der örtlichen Polizeistation bestätigen, dass Baumwolle. Er erklärt, dass Sorriso auf Portugiesisch »Sojakönigs« Blairo Maggi. Der teilte telefonisch mit,
Gegenüber nicken einige kräftige Männer. Aber die rund 60 Hektar. Auf der anderen Seite steht das Agro- unrechtmäßige, gewaltsame Landbesetzungen durch »das Lächeln« heißt. Er, Rossato, sei also der Bürger- wie verärgert seine Geschäftspartner über manche
meisten sind Alte, Frauen und Kinder. Seit Monaten business: gigantische Rinderweiden, Monokulturen Agrarunternehmer ein großes Problem in der Ge- meister in der Stadt des Lächelns. Im Hauptberuf ist Besucher aus Deutschland seien. »Die fragen vorher
kampieren sie am Rand einer Straße, in Hängematten aus Mais und Soja bis an den Horizont, chemisch gend sind. Trotzdem reagiert die Polizei oft spät oder Rossato Großfarmer für Soja und Mais. Ihm gehören schon immer: Ist da ein Grüner bei?«
unter Plastikplanen, die jeden Nachmittag ein tropi- gedüngt und von Schädlingen befreit. gar nicht auf brutale Übergriffe durch Großfarmer fünf gigantische Silos aus Stahl und Beton, und seine Der Traum von Antônio Bento und den 100 Fa-
scher Regenfall auf die Probe stellt. Morgen soll sich Mit Deutschland hat das direkt zu tun. Sojapro- und ihre Pistoleiros. Manchmal drangsalieren sogar Unternehmen machen auch in Handel und Logistik. milien ohne Land ist zwei Tage nach der Besetzung
ihr Leben ändern. »Wir werden stark sein, weil wir dukte, die vor allem aus Brasilien kommen, werden die Beamten landlose Bauern im Wartestand, be- Rossato hat keine Zweifel daran, dass dies die Zu- erneut zerstoben. Im Morgengrauen kamen die
nichts zu verlieren haben«, sagt ein massiger schwar- in deutschen Ställen zunehmend an Schweine und schimpfen sie als »Vagabunden«. Die Landpastorale kunft ist. Eine hoch technologische, blitzsaubere und Pistoleiros zurück: Sie überfielen das Lager, sie trugen
zer Mann, wendet sich ab und geht schlafen. Was Geflügel verfüttert, in geringerem Umfang auch an sagenhaft effiziente Form des Landbaus. »Alle Straßen Masken über den Köpfen und 12er- und 38er-Waffen
gebe es auch sonst noch zu besprechen? Rinder. 6,4 Millionen Tonnen Sojabohnen und Soja- in meiner Stadt sind asphaltiert«, bemerkt der Bürger- in den Händen. Sie schossen um sich, bis eine Panik
Antônio Bento kämpft um ein Stück Land, das schrot brachten Importfirmen wie ADM, BayWa und Anbau in großem Stil meister, keine Ackerkrume klebt an seinem Schuh. die Leute ergriff. Sie traten Jugendliche zusammen
ihm nach brasilianischem Recht längst gehören müss- Agravis zuletzt nach Deutschland, zum größten Teil Forschungszentren, Saatgut-Produktionsstätten und und übergossen die Baracke, in der die Kinder schlie-
te – ihm und den knapp 100 Familien im Übergangs- aus Brasilien, und eine Auswahl nach sozialen oder Brasiliens industrielle Landwirtschaft ist Vertriebsbüros von Chemieunternehmen säumen die fen, mit Benzin. Dann drohten sie damit, sie anzu-
lager, das sie das »Camp der Guten Hoffnung« nen- ökologischen Kriterien spielt nur eine Nebenrolle. Big Business für Großfarmer und Chemieindustrie Zufahrtsstraßen, man liest Namen wie Monsanto, zünden – da war der Widerstand gebrochen. »Ich
nen. Das sattgrüne Acker- und Weideland in dieser Chemiefirmen wie Bayer und BASF beziehen erheb- Bayer und Dow. »Hochleistungs-Saatgut« verspricht habe um das Leben meiner Kinder gefleht«, berichtet
Gegend des brasilianischen Kernlandes ist überwie- liche Gewinne aus dem Verkauf von Düngemitteln Landwirtschaftliche Anteil der Landwirtschaft an eine Werbetafel. Im Radio warnen sie vor einer ein Vater unter Schock. Autos, Motorräder und die
Nutzfläche in Hektar der gesamten Beschäftigung
gend Staatseigentum, und es ist seit Jahrzehnten vor- und Schädlingsgiften in Brasilien. Gruppe landloser Menschen, die sich im Stadtgebiet neue Baracke gingen in Flammen auf. Antônio und
gesehen, dass darauf mittelgroße Bauernbetriebe bis Die Umweltschutzorganisation World Wide Fund 280 Mio. 5,9 % herumtreibt. Die Leute sollten die Augen aufhalten. vier weitere Anführer wurden in einer stundenlangen
zu 100 Hektar entstehen. Die Parzellen sind zur Ver- For Nature hat vor einigen Jahren berechnet: Die 17 16,7 Mio. 1,6 % Es klingt wie der Aufruf zur Hatz. Verfolgungsjagd mit Schüssen in den Wald gejagt.
Millionen Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche in Der Bürgermeister ist herzlich und hilfsbereit,
Deutschland würden sich durch die Importe sozusa- Anteil der Land- Pestizid-Einsatz doch es ist schwierig, ein Interview zu führen. Über
wirtschaft am BIP* in Tonnen pro Jahr
gen um sieben Millionen Hektar im Ausland erwei- Industrieansiedlungen und neue Straßen, Bahntrassen
tern. Allein Deutschlands Sojaimporte aus Brasilien 15,7 % ca. 936 000 und Wasserwege kann man mit ihm prima reden.
beanspruchen demnach eine Fläche von 1,6 Millio- 0,7 % ca. 45 000 Über Themen wie Bauernvertreibungen, den Ge-
Bürgermeister und reicher nen Hektar in dem südamerikanischen Land – ein sundheitsschutz und die Natur eher nicht. Man kann Antônio Bento, Kleinbauer
Brasilien Deutschland
Agrarunternehmer in einem: Acker so groß wie Schleswig-Holstein. Es führt also *Bruttoinlandsprodukt
ihn mit anerkannten Studien konfrontieren, nach und Anführer einer
Dirceu Rossato aus Sorriso ein direkter Weg von Brasilien zum Schnitzel im denen wegen der Monokultur-Wirtschaft jedes Jahr Gruppe von Landlosen
ZEIT-GRAFIK/Quelle:
deutschen Supermarkt. Bauernverband, Deutsche Handelsstatistik, CIA, Weltbank,
ein Giftregen von 136 Litern pro Einwohner um
teilung an Kleinbauern und landlose Landarbeiter Die Rückeroberung der Araúna-Farm sollte im Abracso, BUND, Umweltbundesamt, Pesticide Action Network Sorriso niedergeht, dass Rückstände sich bis in die Antônio hat die Hetzjagd überlebt, ein paar Tage
wie Antônio und seine Mitstreiter gedacht, zur Grün- Morgengrauen beginnen. Doch kurz nach neun, die Muttermilch nachweisen lassen. Dann antwortet nach der Besetzung telefoniert er aus einem Versteck
dung einer Existenz. Die Gruppe um Antônio hatte Tropensonne brennt gefühlt fast senkrecht herab, BR ASILIEN ARAÚNA-FARM Rossato nur: »Alles Legende.« Umweltschutz? Ge- und berichtet, dass er »um ein Haar entkommen« sei.
sogar schon mal auf diesem Land gewohnt. Zwischen kochen die Leute noch Kaffee, schnüren Hängemat- Novo sundheitsprobleme der Landarbeiter in der Stadt? Er dürfe sich aber nirgendwo sehen lassen, »ich wer-
2013 und 2015 hatten sie eine bäuerliche Idylle auf- ten und Matratzen auf die Dächer klappriger Autos, Mundo Da wechselt der Bürgermeister schnell das Thema de mit dem Tod bedroht«, und nach Todesdrohungen
gebaut. Da wohnten 100 Familien in Häuschen aus fassen sich in einem Kreis an den Händen und beten Sorriso und hält eine Grundsatzrede: Die Agrarunternehmer gegen seine Verwandten sei die ganze Familie unter-
BR A
Holz und Faserzement, zwischen Beeten voller Salat das Vaterunser. Ein Baby weint auf dem Arm seiner Mato Grosso SILIEN hätten das Wohl der Menschen am besten im Blick. getaucht. Vier weitere Kleinbauern aus dem Camp
und Ställen voller Hühner und Schweine. Einige von Mutter. Dann schwingt ein muskulöser Landarbeiter BOLIVIEN Der Staat und seine Aufseher sollten sich raushalten der Guten Hoffnung wurden tagelang vermisst, ein
ihnen holen nun Handys und Papierabzüge hervor, mit einer roten Kappe auf dem Kopf eine Axt und Cuiabá aus seiner Stadt. Sondereinsatzkommando der Polizei – das Stunden
SÜD
erinnern sich an die glückliche Zeit. Auf den Fotos zertrümmert das Vorhängeschloss am Tor zur Farm. ZEIT-GRAFIK AMERIK A So ähnlich reden auch andere Agrarunternehmer. nach Berichten von einem möglichen Massaker am
stehen sie mit Farmerhemden auf ihrer Scholle. Sie Der Trek aus Autos, Motorrädern und Fußgängern, 500 km Viele sind zugleich Bürgermeister und Gouverneure, Tatort erschien – suchte nach Leichen, fand aber
richteten Dorffeste mit rosafarbenen Kuchen aus. Der Hunden und Gänsen zieht los, die Anführer winken Parlamentsabgeordnete und Senatoren in der Haupt- keine. Die ZEIT hat dem Farmbesitzer eine schrift-
Schulbus kam, um die Kinder abzuholen. nervös, schnell soll es gehen. Ab und zu sieht man stadt Brasilia, wo die Agrarlobby aus dem Herzen des liche und wiederholte telefonische Interviewanfragen
Doch dies ist auch das Kernland der brasiliani- zwischen den Bäumen den weißen Hut und das vermutet, dass manche Polizisten und Richter be- Landes zunehmend Einfluss gewinnt. »Das Agro- zugeleitet, die er nach Zeugenaussagen bekommen
schen Agrarproduktion: ein Bundesstaat namens strahlend blaue Hemd einer Sicherheitskraft, hoch stochen worden sind, in einigen Fällen konnte das business ist die Berufung dieses Staates«, erklärt der hat, doch ein Gespräch kam nicht zustande.
Mato Grosso, zweieinhalbmal so groß wie Deutsch- zu Pferde, doch sie verschwinden wieder. nachgewiesen werden. stellvertretende Gouverneur von Mato Grosso, der Bei der Regierung und bei den Polizeibehörden
land und einer der weltgrößten Produzenten von »Heute bleibt alles ruhig«, beruhigt ein Vertreter Allerdings hat in diesen Breiten auch eine Grund- Großfarmer Carlos Fávaro. Alternativen könne man in der Hauptstadt von Mato Grosso, Cuiabá, ist
Mais, Soja und Rindfleisch. Es ist das Herzstück des der Landpastorale die Nerven, ein schlaksiger Mann überzeugung aus feudalen Zeiten überlebt: Ein sich dazu nicht vorstellen. »Sollen wir hier etwa eine seit den Ereignissen Aktionismus ausgebrochen:
brasilianischen Agrobusiness mit seinen riesenhaften mit hoher Stirn und imposanter Hakennase. »Die fazendeiro, ein Großgrundbesitzer, hat der Herr über Autofabrik eröffnen?« Kundschafter sind in die Region gereist, sie haben
Ländereien, die sich von Jahr zu Jahr weiter ausdeh- Probleme beginnen in den nächsten Tagen, falls die das Land zu sein, und landlose Menschen sind Ge- Umweltschutz- und Menschenrechtsgruppen die Gründung einer »Kommission« in Aussicht ge-
nen – in die Wälder, in die Reservate von Indianern, Pistoleiros einen Gegenschlag unternehmen oder mit sindel. »Diese erneute Besetzung durch die Bauern werfen den politisch Verantwortlichen vor, dass sie stellt, im Gouverneurspalast erwägt man die Ent-
in Naturschutzgebiete und die Äcker kleinerer Bau- der Polizei gemeinsame Sache machen.« Der Mann ist streng genommen nicht legal«, gibt ein örtlicher in Mato Grosso eine Welt geschaffen hätten, in der sendung eines »besonderen Polizeidelegierten aus
ern. Die Landwirtschaft von Mato Grosso macht ist sozusagen als Besetzungsberater dabei, und er hilft Vertreter der Landpastorale zu. Vor Jahren hätte eine Rechte und Gesetze nichts wert sind. Regionale der Hauptstadt, um die örtliche Polizei von dem
Millionäre und Milliardäre – was auch ruchlose Ge- zupackend beim Transport. Dann parliert er noch Richterin sogar ausdrücklich angeordnet, dass die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben buch- Fall zu entlasten«. Bis Redaktionsschluss war er
schäftsleute anzieht, die wenig Rücksicht nehmen auf über die jüngste Besetzung auf der Nachbarfarm. Da Bauern auf das Land nicht zurückkehren dürften, dicke Sammlungen von Fällen zusammengetragen, nicht benannt.
Recht und Gesetz, auf Umweltschutz oder die Men- wurden seinerzeit acht Leute erschossen. Er erzählt weil erst mal der Behördengang abgeschlossen werden in denen Politiker willkürlich Rechtsbestimmungen Die Bauern in spe campieren jetzt wieder am Rand
schen im Camp der Guten Hoffnung. Geschichten von einem Großfarmer am Ort, der solle. »Aber wenn die nicht kämpfen, sitzen sie in zugunsten der Agrarunternehmer geändert haben derselben Straße – sie besitzen noch weniger als zuvor.
Ein Großbauer mit Betrieben in mehreren Ge- Sklavenarbeiter wie Tiere hielt, der mal eine Miliz mit zehn Jahren noch hier am Straßenrand. Sie müssen sollen. Und andere Fälle, in denen Druck auf Richter Die Pistoleiros haben sämtliches Hab und Gut ver-
genden Brasiliens, Marcelo Bassan, firmiert heute als 200 bewaffneten Männern unter sich hatte und sogar die Behörden zwingen, dass sie ihren Job erledigen.« und Polizeichefs, Journalisten und Schulleiter aus- brannt. Die Zahl der bewaffneten Angestellten auf
Besitzer der nahe dem Camp gelegenen Araúna-Farm. die Bundespolizei in die Flucht jagen konnte. »Und Um zwanzig vor zehn erreichen die Farmbesetzer geübt worden sei, damit bloß nichts herauskomme der Araúna-Farm hat sich laut Berichten aus dem
Gegen Antônio und seine Leute führt er einen bitte- wissen Sie, was das Beste ist? Der ist für seine Ver- den schattigen Platz unter Bäumen, wo sie ihr Basis- über die Realitäten im brasilianischen Agrobusiness. Camp der Guten Hoffnung deutlich erhöht, und
ren Kampf um Land, das ihm juristisch gesehen gar brechen nie wirklich belangt worden, der lebt heute lager errichten wollen. Ringsherum standen einst ihre Den NGOs geht es dabei um einen ganzen Strauß angeblich ballern sie nachts mit Pistolen in der Nähe
nicht gehört. Angestellte der Großfarm haben die ganz friedlich in der Stadt.« Häuser, jetzt ahnt man das bloß noch, weil überall an Problemen: Landkonflikte und Umweltgifte, der improvisierten Schlafplätze herum und drohen
Familien mehrfach verscheucht, das letzte Mal im Die Araúna-Farm ist 14 000 Hektar groß, 230- verkohltes Holz auf dem Boden liegt. Die Männer Sklavenhaltung und Regenwald-Abholzung, Indianer- mit neuen Überfällen. Ein Landloser aus einem
vergangenen Jahr. Die Männer haben Häuser in mal so groß wie ein durchschnittlicher deutscher und Frauen legen nicht mal eine Pause ein. Sie räu- Vertreibungen und Gentechnik. Ihre Stimmen sind Camp an einer Nachbarfarm ist am Wochenende am
Brand gesteckt, Hunde und Milchkühe getötet, mit Bauernhof. Antônios Leute wollen davon 9000 Hekt- men den Boden frei, töten Giftschlangen mit Hacken, leise, und ihre Bekanntmachungen werden in der helllichten Tag erschossen worden.
Revolvern in die Luft und vor die Füße der Bauern ar für sich zurück. Die brasilianischen Umweltschutz- holen Äste für neue Baracken aus dem Wald. Ein Lokalpresse nicht gerne zitiert, manche NGO-
geschossen. Sie haben das Land mit einem schweren regeln sehen vor, dass sie dann 1800 Hektar beackern alter Mann schleppt eine Riesenmelone aus dem Vertreter haben sogar Morddrohungen erhalten. Ein Mitarbeit: Shanna Hanbury
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 WIRTSCHAFT 27

In Brasilien baut die mächtige Agrarindustrie Futter auch für deutsche Schweine und Hühner an. Dafür zahlen Tausende von Kleinbauern.
Manche mit ihrem Leben. Ein Besuch bei Menschen, die für ein Stück Land alles riskieren VON THOMAS FISCHERMANN UND GIORGIO PALMER A (FOTOS)

Fotos: Giorgio Palmera für DIE ZEIT:

Sehnsüchtig: Vertriebener Bauer schaut auf die Araúna- Dämmerstimmung: Radfahrerin in der
Farm (oben). Kampfbereit: Fernando Fernandes Cruz Agrarstadt Sorriso (oben). Stillstand: Der Morgen
kurz vor der Besetzung (Mitte). Erfolgreich: der Besetzung (Mitte). Soja: Der Speicher
Landwirte spazieren über die eroberte Farm (unten) eines Großgrundbesitzers (unten)
28 WIRTSCHAFT 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1
AUTO
Nummernschild
wird im Verkehr erfasst
Augenüberwachung
Sensor im Armaturen- erkennt Krankheiten
brett erkennt Müdigkeit
Fahrzeugkamera
als Beweissicherung
Navigationssystem prüft
Fahrverhalten

WOFÜR IST DAS DA?

Gorilla-Glas
G
las so kräftig wie ein Gorilla.
Klingt stark, oder? Hinter dem
Marketinggag steckt eine echte
Innovation. Kurze Vorgeschichte: Das
Glas unserer Autos soll vor Wind schüt-
zen, Lärm dämmen und die Karosse sta-
bil halten. Jahrzehnte dauerte es, bis sich
bei Windschutzscheiben das Verbundglas
durchsetzte. Zwei Glasschichten werden
hierbei mit einer reißfesten Folie verbun-
den. Diese sorgt bei Unfällen dafür, dass
das Glas »elastisch« bleibt und vor allem
die dolchartigen Splitter festhält. Der Fahrzeugschlüssel
US-Glashersteller Corning ist jetzt einen übermittelt Daten
Schritt weiter: Für den Sportwagen Ford
GT liefert er eine Windschutzscheibe aus automatische Speiche-
sogenanntem Gorilla-Glas, das Corning rung der Unfalldaten
vor neun Jahren ursprünglich für Touch-
screens entwickelt hat. Es soll fünfmal
stabiler als herkömmliches Verbundglas
sein, ist dünner, kratz- und bruchfester

Freude am Spionieren
und deutlich leichter. Im Ford GT, des-
sen Motorabdeckung ebenfalls aus dem
Material besteht, spart es 5,4 Kilo an
Gewicht. DIETHE R RODATZ

Künftig kann das Auto den Fahrer auf Alkohol und Drogen testen VON ADRIAN LOBE

D
as Auto stand einst für Auf- cken. Das gesamte Space Shuttle kam mit etwa sen Daten spezielle Tarife (siehe ZEIT Nr. Der Scheinwerferkegel wird in Echtzeit justiert.

Abbildung: Stefan Weichelt/Getty Images


DIE ZAHL
bruch, Fortschritt und Frei- 400 000 Zeilen Code aus. Die Technik ist mitt- 46/15). Die Sparkassen Direkt-Versicherung Diese Eye-Tracking-Technologie ist unter Da-
heit. Familien, die im Wirt- lerweile so komplex, dass Volkswagen Behörden prämiert jeden Monat den »besten Fahrer« und tenschützern umstritten, weil sie potenziell

80,1
schaftswunder der 1960er und Verbraucher jahrelang mit einfachen Soft- belohnt ihn mit einem kostenfreien Versiche- auch andere Informationen aus der Iris (etwa
Jahre genug Gespartes hat- wareprogrammen, die die Abgasnachbehandlung rungsschutz von einem Quartal. Auf der Web- Krankheiten oder Drogenabhängigkeit) heraus-
ten, fuhren mit dem VW- vom Straßenbetrieb auf Laborbetrieb umschalte- seite wird sogar eine anonymisierte Ehrentafel lesen kann.
Käfer über die Alpen nach ten, hinters Licht führen konnte, wie der Abgas- veröffentlicht mit der jeweiligen Gutschrift. Zum Es gibt sozusagen eine innere und äußere Lo-
Italien und machten Urlaub am Gardasee, an der skandal belegt. Beispiel: »Frau Sch. aus dem Weimarer Land, gik der Überwachung. Denn auch außerhalb des
Riviera oder Adria. Das Auto wurde zum Symbol Mit der nächsten Stufe der Digitalisierung wer- Prämie 233,96 €.« Das spornt an. Wer sich über- Automobils sind uns die Datensammler auf der
Millionen neue Autos sollen für Wohlstand und für Individualität. den Autofahrer ihre Freiheit nun endgültig los. In wachen lässt, spart Geld. Spur – etwa durch automatisierte Kennzeichen-
laut Prognose 2016 An der »Freude am Fahren«, dem Antrieb der immer mehr Fahrzeuge ist ein Unfalldatenspeicher Und was passiert mit den vielen Daten? Bei erfassung. Die bayerische Polizei scannt jeden
Mobilitätsgesellschaft, ändern bis heute auch kilo- (Event Data Recorder) eingebaut, eine Art Black- der Sparkasse Direkt heißt es dazu: »Die in Ihrem Monat acht Millionen Nummernschilder. An
weltweit verkauft werden. meterlange Staus nichts, die Pendler in Metropolen box, die Beschleunigungs- und Bremsdaten spei- Auto einzubauende Telematikbox übermittelt der Autobahn sind Kameras installiert, die mit
2,4 Prozent mehr als 2015. Tag für Tag stoisch ertragen. Das Auto ist Statement, chert und automatisch auswertet. Motto: »Sag während der Fahrt in einem Zeittakt von 20 Se- einem nicht sichtbaren Infrarotblitz das Kenn-
Vehikel für Genuss und Selbstverwirklichung. mir, wie du fährst, und ich sage dir, was du zahlst.« kunden Informationen über die Bewegung Ihres zeichen jedes durchfahrenden Autos registrieren.
Quelle: CAR-Institut Genug der Romantik: Autos sind schließlich Ein Unfalldatenspeicher registriert unablässig Da- Autos (Fahrtdaten). Ist die Zündung ausgeschal- In den USA, wo die automatisierte Kennzei-
auch rollende Computer, in denen durchschnitt- ten und errechnet nach jeder Strecke einen Punkt- tet, werden einmal pro Stunde die Standortdaten chenerfassung mittlerweile fast flächendeckend
lich 100 Millionen Zeilen Programmiercodes ste- wert (Score). Versicherungen entwickeln mit die- an das Hosting Center der Telefónica Digital In- zum Einsatz kommt, haben sich verschiedene
stance Servers (IS) in London übermittelt.« Erfassungsfirmen darauf spezialisiert, Num-
In den Erklärungen ist etwas mernschilder zu scannen und
nebulös von zwei getrennten diese mit Datenbanken abzu-
»Datenkreisen« die Rede. Zwar gleichen, in denen Autofahrer
wird betont, dass das deutsche registriert sind, die ihre Raten
Datenschutzrecht gelte. Doch Wem nicht rechtzeitig bezahlt haben.
was die von Telefónica beauf- Eines dieser Unternehmen ist
tragten Subunternehmen (unter gehören die die in Kalifornien ansässige Vi-
anderem in London) mit den gilant Solutions, die nach eige-
Daten genau machen, ist unklar. Daten? nen Angaben über 2,2 Milliar-
Dort gelten wiederum andere den geobasierte Kennzeichen-
Datenschutzbestimmungen. Die fotos verfügt. Der Bundesstaat
Frage ist auch, wem die Daten 95 Prozent Texas hat kürzlich mit dem
letztlich gehören. der europäischen Unternehmen einen Vertrag
Versicherungen können mit Autofahrer fordern über die Einführung eines sol-
der Technologie in Echtzeit über- gesetzliche Regelungen chen Systems abgeschlossen.
wachen, wer wann wohin fährt, für den Datentransfer Der Deal: Vigilant Solutions
wer wie häufig beschleunigt oder liefert kostenlos Technik und
bremst, und daraus berechnen, 91 Prozent darf dafür die Daten abgreifen.
wer einen besonders riskanten fordern eine mögliche Die Datenschützer der Nicht-
Fahrstil pflegt. Der japanische Abschaltung der regierungsorganisation Electro-
Autohersteller Subaru hat in Verbindung zum nic Frontier Foundation kriti-
Kooperation mit dem US-Versi- Autohersteller sierten, dass die aggregierten
cherer Liberty Mutual Insurance Daten sehr persönliche Infor-
eine App entwickelt, die diverse 90 Prozent mationen offenbaren können.
Verhaltensweisen des Fahrers finden, dass die Daten Kirchgänge, Arztbesuche und
analysiert und bereits während eines vernetzten Autos die Schlafenszeit. Mit den ver-
der Fahrt Tipps gibt, wie das dem Fahrer oder dem netzten Fahrzeugen sei zum
Fahrverhalten optimiert werden Eigentümer gehören ersten Mal eine lückenlose
kann. Subaru-Besitzer, die das Überwachung möglich.
Infotainment-System Starlink Quelle: Umfrage des Nebenbei mache sich der
nutzen, können eine App herun- Automobilweltverbandes Staat zum Schuldeneintreiber
terladen, die den Fahrer benach- FIA unter 12 000 Auto- eines Privatunternehmens.
richtigt, wenn er zu schnell be- fahrern in zwölf Hersteller nutzen die neuen
schleunigt oder bremst. Wer die europäischen Ländern Möglichkeiten, wo es geht. Der
Warnhinweise befolgt, bekommt ADAC hat in einer Auftragsar-
bis zu 30 Prozent Rabatt auf beit für den Welt-Autoverband
seine Kfz-Versicherung. FIA am Beispiel eines BMW 320d untersucht,
Die Digitalisierung der Autoindustrie, einer welche Daten im Fahrzeug gespeichert und nach
der großen Megatrends der Branche, ist auch außen gesendet werden. Der 13-seitige Ergebnis-
eine Überwachungsindustrie. bericht ist alarmierend: Vom Fahrzeugschlüssel
Volvo hat bereits 2014 einen Sensor im Ar- bis zum Fernlichtassistenten werden Daten er-
maturenbrett getestet, der unablässig die Augen fasst und zum Teil an BMW übermittelt. Die
und den Kopf des Fahrers beobachtet und so er- Daten sind für den Besitzer in den meisten Fällen
kennen soll, ob er müde und unkonzentriert ist. nicht einsehbar oder auslesbar. Der ADAC for-
Auch VW hat eine Müdigkeitserkennung entwi- dert daher, dass Fahrzeugbesitzer, freie Werkstät-
ckelt, die ab einer Geschwindigkeit von 65 Kilo- ten und Pannenhelfer »freien Lese-Zugang« zu
metern pro Stunde kontinuierlich das Fahr- allen Daten im Fahrzeug haben müssen.
verhalten analysiert und daraus Rückschlüsse auf Und selbst die Autofahrer helfen bereitwillig
die Fahrtüchtigkeit des Fahrers zulässt. Dabei mit beim Datensammeln. Das Geschäft mit Ka-
werden verschiedene Signale wie das Lenkver- meras, die sich Fahrer hinter die Frontscheibe
halten ausgewertet. Und die Ingenieure von Opel klemmen, boomt. Diese Dashcams filmen fort-
tüfteln an einem Scheinwerferstrahl, den Fahrer laufend den Verkehr und sollen im Zweifel als
mit ihren Augen lenken und dosieren können. Beweismittel nach Unfällen herhalten. So um-
Mithilfe einer Kamera wird die Blickrichtung des stritten der Einsatz des Materials vor Gericht
Fahrers erfasst, diese Informationen werden dann noch ist, so deutlich zeigt sich doch, dass vielen
in Datenbefehle transformiert, die die Stellmoto- Fahrern ihre persönliche Freiheit offenbar nur
ren der Licht-Projektoren blitzschnell ausrichten. noch ziemlich wenig wert ist.
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 WIRTSCHAFT 29

Jagt die Einhörnchen! Der wahre Feind


Die europäische Gründerszene schließt zum Silicon Valley auf. Das ist auch dem
Wettbewerb der Standorte um Start-ups zu verdanken VON JENS TÖNNESMANN des Skitourismus

N
iklas Zennström hat auf einer Welt- Dass Europa aufholt, hat verschiedene Gründe.
ANALYSE

Warum uns der Schnee nicht ausgeht,


karte akribisch die seltenen Fabelwe- Ein wichtiger ist, dass erfolgreiche Gründer ihr Ver-
sen der Wirtschaftswelt verzeichnet. mögen an die Einhörnchen in ihrer Heimat ver-
aber der Winterurlaub teurer wird VON GÜNTHER AIGNER
Jene jungen Technologiefirmen, die füttern, in der Hoffnung, dass daraus bald Ein-
mehr als eine Milliarde Dollar wert hörner werden. Ein weiterer ist, dass die Welt ver-

I
sind und im Sprachgebrauch von Start-up-Finan- flacht. So formuliert das Christian Leybold vom m Jahr 2000 erklärte der Klimafor- Wer sich jetzt fragt, wo denn die Klimaerwär- Pisten und verlässliche Beschneiungssysteme.

Fotos: Perktold (u.); Zangerl/Kaunertaler Gletscher


zierern Einhörner heißen. Mehr als die Hälfte der Risikokapitalgeber Eventures. Während Internet- scher Mojib Latif: »Winter mit star- mung in den Alpen geblieben ist oder warum Das müssen sie tun, weil die Touristen und
rund 240 Einhörner, die seit 2003 das Licht der unternehmen früher auf regionale Märkte ange- kem Frost und viel Schnee wie noch denn nun die Gletscher schrumpfen, dem sei Tagesbesucher es verlangen. Weil wir es ver-

FORUM
Welt erblickt haben, tummeln sich in Nordamerika, wiesen waren, können sie heute schnell weltweit vor zwanzig Jahren wird es in unse- gesagt: Die Sommer sind es! Die alpinen Berg- langen. Wir Skifahrer fahren überwiegend in
besonders im Silicon Valley. Doch Europa holt auf: expandieren – etwa, wenn sie Apps für Smartphones ren Breiten nicht mehr geben«. Ein sommer sind seit den 1980er Jahren deutlich jene Resorts, die großzügig investieren, kaufen
Inzwischen kommen 40 dieser Milliarden-Dollar- anbieten. Zugleich können sie günstig Dienste aus Jahr später schrieb der Weltklimarat milder geworden. Diese Erwärmung hat die Tem- dort die teuren Skitickets und jammern gleich-
Unternehmen vom hiesigen Kontinent, hat Zenn- aller Welt nutzen, die sie früher teuer regional ein- IPCC, dass die Klimaerwärmung peraturen im Jahresmittel nach oben geschraubt zeitig über die ausufernde Preispolitik. All die
ström festgestellt. »Das sollten wir feiern«, findet kaufen mussten. Außerdem seien die europäischen »in der nördlichen Hemisphäre, auf und lässt das »ewige Eis« schmelzen, welches technisch leicht veralteten, meist kleineren,
der Chef des Wagnisfinanzierers Atomico. Firmen günstiger bewertet als die amerikanischen. Landflächen und im Winterhalb- hauptsächlich auf die hochalpine Witterung von aber günstigen Skigebiete brauchen eigentlich
Macht Europa nun den USA ernsthaft Konkur- Europas Gründerszene hilft auch mit, dass ver- jahr« am schnellsten voranschreiten würde. Und Mai bis September reagiert. mehr Besucher. Dort kann man nach wie vor
renz? Aktuelle Zahlen legen das nahe. Laut dem Start- schiedene Landesverbände nun einen europäischen im Jahr 2005 sagte der österreichische Zukunfts- Bisher ist also jeder Abgesang auf den Ski- ordentlich Ski fahren, das wird aber zu wenig
up-Barometer der Beratungsgesellschaft EY sind die Start-up-Verband gründen: Das European Startup forscher Andreas Reiter: »2040 werden Tirols tourismus aus klimatologischer Sicht verfrüht. genutzt. Viele von ihnen werden in den nächs-
Network soll sich in Brüssel für eine gründerfreund- Skilehrer Wein anbauen.« Das tatsächliche Problem kommt aus einer ande- ten Jahren schließen müssen. Weniger weil sich
lichere Politik starkmachen. Wie viel auf diesem Der Skitourismus schien dem Ende nah. Bloß ren, ökonomischen Richtung. Das Skifahren das Klima wandelt, mehr weil das Anspruchs-
Feld zu tun ist, zeigt eine aktuelle Studie. Sie ver- hat sich das winterliche Klima im Gebirge nicht kostet mehr und mehr, vor allem in den sogenann- niveau der Skifahrer markant angestiegen ist.
gleicht die Start-up-Szene in zwölf EU-Ländern an die pessimistischen Prognosen gehalten. Über ten Premiumgebieten von Garmisch bis Kitzbühel. Auch die großen gesellschaftlichen Umwäl-
und Israel. Dabei zeigt sich: Jungunternehmer in die vergangenen 45 Jahre ist ab mittleren Höhen- Die Tageskarten marschieren in Zwei-Euro- zungen in Europa bleiben beim Skisport nicht
Deutschland sind vergleichsweise unzufrieden da- lagen der Alpen kein Trend zu wärmeren Wintern Schritten pro Saison nach oben. In Sölden, Ischgl außen vor. Die geringe Zahl der Geburten in
mit, wie die Bundesregierung sie unterstützt, ihre messbar. Auch nicht auf den Bergstationen der oder am Arlberg zahlt man in diesem Winter 51 den meisten mitteleuropäischen Ländern sorgt
Belange versteht. Am zufriedensten sind Gründer deutschen Mittelgebirge, beispielsweise am Feld- Euro für die Tageskarte, in der nächsten Saison dafür, dass in diesen Nationen zukünftig weni-
in den Niederlanden und Israel. berg im Schwarzwald, am Brocken im Harz oder werden es 53 Euro sein. Das bedeutet etwa vier ger potenzielle Skifahrer leben werden. Dazu
Was Studien wie diese aber auch beleuchten: wie auch am Fichtelberg im Erzgebirge. Die Mess- Prozent Preissteigerung im Jahr. kommt, dass ein rasant größer werdender Teil
intensiv der Wettbewerb um junge Technologie- daten sagen immer das, was Meteo Schweiz in Nicht der Schneefall bleibt daher aus, sondern der Einwohner Mitteleuropas gar nicht Ski
firmen inzwischen ist. Kürzlich pries eine Analyse einer Studie für das Alpenland diagnostiziert: »Am höchstens der Gast. Das Skifahren ist auf dem fahren will: Vor allem Menschen mit Migrations-
London als Standort für Finanztechnologiefirmen Übergang von den 1980er zu den 1990er Jahren Weg zum Luxussport, den sich nur noch Wohl- hintergrund haben meist keinen kulturellen
und wies darauf hin, dass einige deutsche Fintechs haben sich die Schweizer Bergwinter innerhalb habende leisten können. In den USA ist dies üb- Bezug zum Skifahren.
ihr Geschäft an die Themse verlagert hätten. Zeit- sehr kurzer Zeit markant erwärmt. In den an- rigens schon längst der Fall. In Österreich und Viel deutet also darauf hin, dass der Ski-
gleich warb die britische Wirtschaftsförderung auf schließenden zwei Jahrzehnten folgte eine signifi- Deutschland war Skifahren früher auch elitär, bis tourismus in der Breite zurückgeht, weil die wirt-
dem Portal deutsche-startups.de für London als kante Abkühlung zurück auf das Temperaturni- zum Wirtschaftswunder. Erst der gigantische Auf- schaftlichen und gesellschaftlichen Rahmen-
place to be. Und auch Vertreter aus Hamburg, veau vor der Erwärmung.« Insgesamt sei innerhalb schwung nach dem Zweiten Weltkrieg machte bedingungen in diese Richtung wirken. Aber
München und Berlin streiten immer wieder öffent- der vergangenen 50 Jahre kein Trend erkennbar, den Skisport später zum Volkssport. Und jetzt? wenig spricht für ein abruptes Ende als Folge des
lich, wer die besten Bedingungen für Gründer keiner zur Erwärmung, keiner zur Abkühlung. Während die Reallöhne seit 1990 in weiten Teilen Klimawandels. Die Skigeschichte in den Alpen
bietet; der Bundesverband Deutsche Startups ver- Freilich, im Hier und Jetzt nützt uns das wenig. Mitteleuropas sinken, steigen die Liftpreise und und im Schwarzwald ist etwa 125 Jahre alt. So
Investitionen in junge Unternehmen in Europa im gleicht die Städte Jahr für Jahr in allen Details. Der Winter 2015/16 glänzt – ähnlich wie auch teilweise auch die Hotelpreise um weit mehr als schnell, wie Schwarzseher meinen, wird sie nicht
Jahr 2015 um etwa die Hälfte gegenüber dem Vorjahr Dieser Wettbewerb mag schmerzhaft sein. Aber: der Vorwinter – durch Wärme. Dennoch fallen die allgemeine Inflationsrate. Die Nische für den zu Ende gehen.
gestiegen, auf insgesamt 11,8 Milliarden Euro. Der Wenn Köln sieht, was Berlin bietet, und Berlin die alpinen Wintertemperaturen im Trend der Skitourismus wird wieder kleiner, der Skisport
Studie zufolge floss davon fast jeder vierte Euro in staunt, was in London passiert, und man in ganz vergangenen 30 Jahre sogar leicht. Lange Schnee- etwas exklusiver.
deutsche Unternehmen und etwa jeder sechste in Europa die Entwicklungen im Silicon Valley ver- messreihen geben den Freunden des Skisports Wer aber ist schuld am »teuren Skifahren«? Der österreichische
Unternehmen aus Berlin, was die Stadt an der Spree folgt, dann strengen sich alle mehr an. Das ist gut, Hoffnung: Die Schneemengen haben in alpinen Am wenigsten sind es die Seilbahnbetriebe, die Skitourismus-Forscher
vor London und Paris zu »Europas Start-up-Haupt- wenn morgen noch viel mehr Einhörnchen und Lagen oberhalb von etwa 900 Meter Höhe in den den Preis anheben. Sie investieren massiv in Günther Aigner führt die
stadt« mache, so die Autoren der Studie. Einhörner auf dem Kontinent grasen sollen. vergangenen 100 Jahren auch nicht abgenommen. bequemere und schnellere Lifte, in gepflegte Plattform Zukunft Skisport
30 WIRTSCHAFT 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1
WAS BEWEGT MEGALOH?

Foto: Gene Glover für DIE ZEIT (fotografiert am 29.02.16); kl. Foto: Max Herre/Instagram
Die Schuhe mit den Stahlkappen trägt Megaloh nur für den Job. Ansonsten lieber Nike-Sneaker

Der Lagersänger
Uchenna van Capelleveen alias Megaloh ist einer der besten Rapper Deutschlands – und verlädt Pakete, weil er von der Musik allein nicht leben kann VON JANA GIOIA BAURMANN

E
s ist im Spätsommer 2014, irgend- zur Arbeit. Die wenigen, die mit ihm in der S-Bahn was ich kannte«, sagt er. Das heißt: amerikanischer werden – dann gab er auf. Grundstudium BWL – da-
wann zwischen 5 und 9 Uhr, als fahren, haben alle Mützen auf oder die Kapuze hoch- Rap. Er legt sich einen Künstlernamen zu, Megaloh, nach war Schluss. Sollte es mit der Musik nun auch
Uchenna van Capelleveen auf ei- gezogen, so als ob sie den Tag von sich fernhalten abgeleitet von Megalomanie, Größenwahn. so kommen? Wenn man Megaloh fragt, wer der
nem Paket sein Ebenbild ent- wollten. Auch Megaloh trägt Kapuze. Seine Füße härteste Gegner in seinem Leben ist, antwortet er
deckt. Als Lagerist ist es sein Job,
Pakete aus großen Containern
stecken in Arbeitsschuhen mit Stahlkappen, auf dem
Schoß liegt ein kleiner Rucksack. Es sind Erken-
Mama hat studiert, um der Armut zu entkommen //
doch ich bin weit weg von der Wurzel, seh’ ich darum so
Mathematik noch in die Frage hinein: »Ich selbst.«
Max Herre, der den deutschen Hip-Hop mit
auszuladen, ein paar Tausend am
Tag und bis zu 50 Kilogramm schwer.
nungsmerkmale einer Schicksalsgemeinschaft, die
jeden Morgen durch die Dunkelheit fährt.
verschwommen? (»Monster«, 2010)
der Musik seiner Band Freundeskreis maßgeblich geprägt hat
und mittlerweile auch als Produzent arbeitet, kannte
Auf der Fahrt schläft Megaloh selten, mindestens Die Eltern wollen, dass ihr Sohn studiert. Der grün- Megaloh schon eine Weile, 2011 nimmt er ihn bei
Ein Laster, zwei Laster, drei Laster, vier // Schweiß zehn Stationen lang kümmert er sich um sein musika- det aber erst mal ein Plattenlabel, Level Eight, zu- seinem Label Nesola unter Vertrag. »Wir haben uns
tropft, scheiß Job, kein Arbeitstier // Aber muss halt, lisches Leben. Er muss E-Mails beantworten, in de- sammen mit einem französischen Produzenten. Jede Streaming bringt Künstlern wenig das Demo-Tape angehört und waren uns sofort einig,
Rücken ist kaputt und die Luft kalt // Hol’ die Miete nen es um sein neues Album geht. Die Medien bitten Platte, die sie pressen lassen, kostet einen Euro, sie Spotify gab 2013 an, pro gespieltem dass man Uchenna fördern muss«, sagt Herre. Kurz
rein, während ihr Korken im Club knallt // Ich war um Interviews, Fans um Autogramme. Als er noch bestellen gleich mal 5000. Das Geld kommt nicht Song zwischen 0,6 und 0,84 US-Cent darauf erscheint Megaloh neben Max Herre in der
selbst mal so drauf // Doch mein Tag wird bestimmt eine andere Strecke fuhr, durch die Party-Epizentren wieder rein. Weil er verstehen will, wie ein Unterneh- an die Rechteinhaber zu zahlen. Ein Gala, er trägt einen eleganten Anzug. Megalohs
durch das Geld, das ich brauch (»Loser«, 2013) Berlins, konnte es passieren, dass Leute in die Stille men funktioniert, schreibt sich Megaloh an der Uni Großteil davon landet aber bei den Mutter kauft sich direkt eine Ausgabe.
des Abteils hinein seinen Namen riefen: »Megalooh!« ein, Betriebswirtschaft. Das Grundstudium schließt Plattenfirmen. Musikwissenschaftler
Nun also ein besonders wuchtiges Paket. Der Blick Die Digitalisierung der Musik hat einen neuen er noch ab, dann geht er nicht mehr hin und wird Peter Tschmuck sagt: »Streaming Schaue zehn Jahre zurück, bald komm’ ich ins Game //
von Uchenna van Capelleveen fällt auf das kleine Künstlertyp hervorgebracht: Man ist berühmt, auf exmatrikuliert. Megaloh irrt durchs Leben, die Mu- lohnt sich für die Labels und die Top- Ich mach’ euch keinen Vorwurf, denn ihr konntet es
Etikett, das außen auf der braunen Pappe klebt. YouTube und Spotify werden die eigenen Lieder sik ist seine einzige Konstante. Mit seinem Rap be- Stars. Die Mittelschicht der Musiker nicht sehen (»Was Ihr Seht«, 2016)
Darauf sieht er ein Foto – von sich selbst. millionenfach angeklickt und gestreamt. »Trotzdem«, dient er in dieser Zeit das Hip-Hop-Klischee. Wer dagegen bekommt kaum etwas.«
Wenn Uchenna van Capelleveen nicht Pakete aus sagt Benni Dernhoff, der als Produzent und Song- sich alte Videos anschaut, sieht Frauen mit halb Mit Max Herre und dessen Frau Joy Denalane rede
großen Containern auslädt, macht er unter dem writer für Künstler wie Kris von Revolverheld oder nackten Hintern, Gesichter mit Sonnenbrillen, Wer Geld will, muss auftreten er nicht über den Paket-Job, sagt Megaloh. »Ich
Künstlernamen Megaloh Musik. Megaloh ist MC, Nico Suave gearbeitet hat, »bleibt für die Musiker am Schnapsflaschen. In den Texten geht es viel ums Fi- Früher brachten CDs Künstlern das denke gleich, die haben Mitleid, das sehe ich in ihren
MC steht für »Master of Ceremonies«, oder einfach: Ende häufig kaum etwas übrig. Die Kiddies kennen cken, um Schwänze, um bitches. meiste Geld. Konzerte dienten dazu, Blicken. Und bemitleidet werden mag ich nicht.«
Rapper. In dem Paket sind die Plakate für seine an- dich zwar, aber leben kannst du davon nicht.« 2009 braucht Megaloh Geld, mit einem Musik- den Verkauf anzukurbeln. Heute ist es Ende des Jahres will Megaloh mit dem Job aufhören.
stehende Deutschlandtournee. verlag vereinbart er einen Vorschuss. Das bedeutet, umgekehrt. »Konzerte machen bis zu Er will endlich nicht mehr nur für die Musik, sondern
Der Moment vor dem Container ist ein Zufall, Zeit ist Geld, Geld ist knapp // Geld fällt nach oben, also dass er dem Verlag das Recht an seinen Songs über- 80 Prozent der Einnahmen von auch von der Musik leben können.
der viel erzählt über das Musikgeschäft, dessen öko- fällt nix ab (»Leben lieben lernen«, 2013) trägt. Der Vorschuss wird mit künftigen Gema- Musikern aus«, sagt Produzent Benni Mit Regenmacher wird es nun darum gehen, durch
nomische Spielregeln sich in den vergangenen Jahren Ansprüchen verrechnet. Megaloh lebt in der Hoff- Dernhoff. Wer aber auf Tournee das »Pop-Nadelöhr« zu kommen, so nennt es Max
drastisch verändert haben. Warum muss einer der Peter Tschmuck von der Universität für Musik und nung auf eine Karriere, die aber nicht kommt. Selbst gehen will, braucht ein Album. Das Herre. Doch gute Verkaufszahlen allein reichen nicht.
besten Rapper Deutschlands in einem Lager arbeiten, darstellende Kunst Wien erklärt es so: Der Trend gehe dann nicht, als er mit Xavier Naidoo Alles kann besser »Regenmacher«-Album von Megaloh Das meiste Geld verdient ein Künstler wie Megaloh
um sich das Musikmachen leisten zu können? Bei nicht nur vom Physischen ins Digitale, sondern auch werden singt und neben ihm im Video zu sehen ist. erscheint bei Nesola, dem Label von mit Liveauftritten. Um mehr Konzerte spielen zu
Rap denkt man doch eher an Geldscheine, die wie vom Download zum Streaming. Songs werden also 2010 veröffentlicht er das Album Monster, es soll sein Max Herre (siehe Foto unten). können, hat er sich im vergangenen Jahr sieben Ur-
Konfetti durch die Luft fliegen. An dicke Autos, immer seltener auf CD verkauft oder bei iTunes letztes sein. Immer wieder aufzustehen, nachdem laubstage aufgespart – für 2016.
Goldketten und Frauen, die kaum etwas anhaben. heruntergeladen. Stattdessen nutzen die Menschen man umgeworfen wurde, diesen Spruch hat Megaloh 3,7 Tickets pro Jahr Vergangener Freitag, früher Abend, Megaloh sitzt
2013 erschien Megalohs Album Endlich Unend- Anbieter wie Spotify. Dort können sie gegen eine 15 Jahre gelebt. Jetzt kann er nicht mehr. Mit Musik, Bei so vielen Tourneen muss ums wieder in der Bahn, jetzt auf dem Weg zur Probe. Vor
lich, mit dem er es in die Top Ten der Hip-Hop- Abo-Gebühr fast alle Bands hören – die aber erhalten glaubt er, lasse sich eh kein Geld verdienen. Er stellt Publikum gekämpft werden: Laut ein paar Jahren noch visualisierte ein Maybach Exe-
Charts schaffte. Kritiker feiern ihn seitdem als »Über- pro gespieltem Titel nur einen Cent-Betrag. Die das Album umsonst ins Netz. einer GfK-Studie besuchen die lero für ihn Erfolg. Das hat sich geändert. Megaloh
MC«. Szenegrößen wie Samy Deluxe, Jan Delay, Mathematik der Musik hat sich zu Ungunsten von Deutschen im Durchschnitt rund besitzt nicht einmal ein Auto. Nur eine Jahreskarte
Afrob und Max Herre arbeiten mit ihm zusammen, Künstlern wie Megaloh verändert (siehe Kasten). Ich bin in einer weißen Welt ein Brauner, lebe mit nem vier Kulturveranstaltungen jährlich, der Berliner Verkehrsbetriebe.
Letzterer nannte Megaloh »einen der besten Lyriker Um sich das Musikmachen leisten zu können, hat Trauma // leb’ ich meinen Traum, nur wenn ich lebe wie vor allem Konzerte. Der Probenraum ist eine WG in Berlin-Moabit,
des Landes«. An diesem Freitag erscheint sein neues Megaloh im Supermarkt gejobbt, er hat Bühnen auf- ein Gauner (»Gute Nacht«, 2010) Musa und Ghanaian Stallion wohnen hier. Megaloh
Album Regenmacher, und schon die erste Zeile im gebaut und Nachhilfe gegeben. Seit fünf Jahren ar- kennt die beiden seit seiner Kindheit, inzwischen
ersten Song macht klar, dass gute Kritik und viel Lob beitet er als Lagerist, 14 Euro verdient er die Stunde. Monster ist ein Ventil jahrelang aufgestauter Wut. Zu machen sie zusammen Musik. Musa und Ghanaian
noch immer nicht genug Geld bringen. Anfangs machte er noch Doppelschichten, inzwi- dem Frust über den eigenen Misserfolg kommt der Stallion haben gekocht, ein Geburtstagsessen für
schen, ein bescheidener Erfolg, ist es nur noch die erlebte Rassismus. Obwohl Megaloh in Frankfurt »Uche«, der am nächsten Tag 35 wird. Es gibt frit-
Sie fragen mich, kann ich inzwischen von der Mucke Frühschicht von 5 bis 9 Uhr. Danach setzt er sich an geboren ist, hört er immer wieder: »Nein, ich meine, tierte Kochbananen und Erdnusssoße, Hühnchen
leben? // Könnt mir noch immer um vier Uhr morgens den Laptop, um die Essenz seines Lebens in Reime wo kommst du denn wirklich her?« – weil seine mit Spinat. »Es hat sich ausgezahlt, dass ich so einen
im Bus begegnen (»Regenmacher«, 2016) zu fassen. An seinen 28 Urlaubstagen liegt Megaloh Mutter aus Nigeria stammt. Dass Megaloh Eine langen Atem hatte«, sagt Megaloh. Wenn er von
nicht am Strand, sondern steht auf der Bühne. kleine Nachtmusik von Mozart auf dem Klavier spie- seinem Teller aufschaut, auf die Tür, hängt da der
Vergangene Woche Freitag, 4.15 Uhr. Megaloh hat Nachts schläft er selten mehr als vier Stunden. len kann und Goethe mag, passt für viele nicht zu junge Megaloh, ein Tourplakat von 2005. Daneben
bereits 70 Liegestützen im Badezimmer hinter sich, Megaloh ist 13, als er zum ersten Mal Hip-Hop weit sitzenden Hosen und tätowierten Oberarmen. ein Schild, auf dem steht: »Never ever give up«.
für die anstehende Tournee will er fit sein. Nun sitzt hört. Er beginnt selbst zu reimen, »die ersten eigenen Als Jugendlicher war Megaloh kurz davor, in
er in der S-Bahn, einmal quer durch Berlin, sein Weg Texte waren natürlich scheiße, total angelehnt an das, den Leichtathletik-Nationalkader aufgenommen zu www.zeit.de/audio
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1

WISSEN
Doping in Freiburg:
Die Aufklärer treten
zurück – aufgrund
von Schikanen
Seite 36 31

Ackergift und
Schweinsgalopp
Glyphosat durchwinken? Das muss
die Bundesregierung verhindern

Glaubwürdigkeit: In der Politik ist das die


wertvollste Münze. Und sie ist leicht ver-
spielt. Besonders wenn es um den Schutz
der Gesundheit geht, so wie bei dem um-
strittenen Unkrautvernichtungsmittel Gly-
phosat. Da nährt Brüssel gerade das ver-
breitete Misstrauen der Bürger – mit einer
Entscheidung im Schweinsgalopp.
Es geht um die Frage, ob die Zulassung
für das Mittel um 15 Jahre verlängert wird.
Eigentlich hatte sich die EU-Kommission
bis Ende Juni Zeit für Beratungen ein-
geräumt, nachdem die IARC, die Krebs-

Mit dem Herbizid wird


der Acker für die
Aussaat vorbereitet

forschungsabteilung der Weltgesundheits-


organisation (WHO), letztes Jahr Gly-
phosat als »potenziell krebserregend« ein-
gestuft hatte. Nun aber sollen die Mit-
gliedsstaaten die Zulassung für das am
weitesten verbreitete Herbizid der Welt
bereits am 7. März durchwinken.
Formal läuft das Verfahren zwar korrekt:
Das deutsche Bundesamt für Risiko-
forschung (BfR) hat eine Unbedenklich-
keitserklärung geliefert, die der EU-Behörde
für Lebensmittelsicherheit (EFSA) als Basis
Foto [M]: Shutterstock/Composing DZ; kl. Fotos: Di Carlo Darsa/Colourbox; S. Wietzel-Winker/PantherMedia (v. o.); ZEIT-Grafik: Anne Gerdes
dient. Auf deren Urteil gründet der Brüsse-
ler Passierschein, der nur einen bestimmten
Beistoff verbietet und lasch ist beim Arten-
Eine neue Form der Erpressung hat sich etabliert. Cyberkriminelle legen Computer lahm und schutz. So steht es in dem Entwurf, den die
ZEIT einsehen konnte.
verlangen Lösegeld. Was passiert, wenn es ein Krankenhaus trifft – eine Rekonstruktion VON K AREN GR ASS Politisch handelt die EU-Kommission
aber fahrlässig, weil voreilig. Ernsthafte Be-
denken der Kritiker stehen weiter im Raum
– womit nicht etwa die »Studie« des Vereins

N
euss am Rhein, das Lukas- auf den Bildschirmen erscheint: Die Daten seien können. Am Nachmittag bekommen sie per Flug- geschickt. Bei Röntgenuntersuchungen mittels Herz- Umweltinstitut gemeint ist, die vergangene
krankenhaus im Februar verschlüsselt. Man solle eine spezielle E-Mail- blatt (»Abschaltung erforderlich«) die Anweisung: katheter stehen die nötigen Daten nicht schnell genug Woche lanciert wurde: In 14 Bieren will er
2016: Eines von fast zweitau- Adresse kontaktieren, um wieder Zugriff darauf »Ausnahmslos müssen alle Rechner ausgeschaltet bereit. Deshalb nimmt das Krankenhaus in den ersten Glyphosat gefunden haben, freilich in
send Krankenhäusern in zu bekommen. sein und bleiben.« Stunden keine Herzanfallpatienten an. Auch geplante niedrigster Dosierung. Nein, bei der Risiko-
Deutschland, es liegt westlich Operationen müssen verschoben werden. abwägung der Behörden haben ernst zu
von Düsseldorf. Die Klinik Ein perfides Geschäftsmodell hat sich bei Internet- Etwa eine Stunde später: nehmende Kritiker wie das IARC oder das
hat rund 500 Betten. Teile der kriminellen etabliert. Über fingierte Webseiten, E- Versichertenkarten können nicht mehr eingelesen Das Lukaskrankenhaus muss als vorbildlich gelten. Pesticide Action Network (PAN), ein Zu-
dunkelbraunen Backsteinfassade stammen von Mails mit trügerischen Links oder manipulierte Da- werden. Stattdessen werden Name, Geburtsdatum Ist doch in diesem Haus bereits umgesetzt, was sammenschluss von Pestizidgegnern, so viel
1911, die Wurzeln des Hauses gehen zurück auf teien schleusen sie Schadsoftware auf fremde Rechner et cetera jeder Neuaufnahme von Hand fest- Gesundheitsexperten schon lange fordern und was Intransparenz, Widersprüche und Einfluss
ein mittelalterliches Stift. Im Inneren stehen ein, wie ein trojanisches Pferd. Der »Trojaner« macht gehalten, wie in alten Zeiten. »Eine vollkommen vielerorts noch fehlt: der weitgehend papierlose Be- der Konzerne ausgemacht, dass die EU diese
moderne Geräte für die Herz- und Krebstherapie. die dort gespeicherten Daten unlesbar und verlangt ungewohnte Situation«, erinnert sich Reinartz. trieb. Nur an zwei von drei Krankenhäusern in Einwände nicht einfach vom Tisch wischen
Seit 15 Jahren läuft hier fast alles digital. Gerade für deren Entschlüsselung ein Lösegeld. Von »Ransom- Schnell wird es unübersichtlich in der Ambulanz, Deutschland gebe es eine umfassende elektronische kann. PAN reichte sogar Strafanzeigen ge-
war Karneval. ware« sprechen Sicherheitsexperten, ein Kofferwort die Ärzte geben der Kreisleitstelle das Signal: Keine Patientenakte, die Untersuchungs- und Behandlungs- gen die Behörden und den Glyphosat-
aus Software und »ransom« (engl. für Lösegeld). akuten Notfälle mehr schicken! ergebnisse für alle beteiligten Ärzte bereitstellt, befand Hersteller Monsanto ein.
Mittwoch, 10. Februar, 7.30 Uhr, Ambulanz: Das digitale Pendant zur Entführung trifft Vor zwei Jahren hatte das Krankenhaus weit- 2013 der Hospital Survey der EU-Kommission – das Weitere fundierte Urteile könnten einer
Am Aschermittwoch ist alles vorbei? In Neuss Privatleute, die nicht mehr an ihre Urlaubsfotos kom- gehend auf die elektronische Patientenakte umge- lag nur knapp über dem europäischen Durchschnitt. Entscheidung Glaubwürdigkeit verleihen.
fängt es gerade an. Klaus Reinartz will Vorbefunde men, Firmen, deren Buchhaltung lahmgelegt wird, stellt. Bis zu diesem Aschermittwoch gingen die Wenn die Kliniken ihre Daten digitalisiert haben, Und tatsächlich arbeitet die WHO gerade
eines Patienten ansehen. Doch an diesem Morgen oder eben große Datenbestände von Forschungs- Ärzte mit einem Tablet in der Kitteltasche auf gehen sie oft nicht den nächsten Schritt. Es gibt zwar an einer Neubewertung von Glyphosat.
scheitert der leitende Arzt der Ambulanz am instituten und Krankenhäusern. In einer Zeit der Visite. Außer bei laufenden Behandlungen wie Notfallpläne, wie mit einer starken Grippewelle um- Das IARC hatte nämlich bislang nur des-
Krankenhausinformationssystem, die Software Vernetzung und Digitalisierung zeigt es die Ver- Chemotherapie gibt es kaum noch analoge Doku- zugehen ist, aber nur jedes fünfte Krankenhaus hat sen allgemeines Risiko ermittelt, Krebs zu
zeigt ihm das Patientenprofil nicht. »Da reagierte wundbarkeit überlebenswichtiger Strukturen. mentationen über Vorbefunde von Patienten. ein ausreichendes Datensicherungssystem. In vielen erzeugen; jetzt aktualisiert ein anderes
einfach gar nichts mehr«, erinnert sich der große »Das, was sonst unsere Stärke war, dass wir am Kliniken könnten die Informationen erst nach 24 WHO-Gremium die Einschätzung der
Mann mit dem kurz geschnittenen grauen Haar- Zwischen 9 und 10 Uhr, EDV-Abteilung: Patientenbett sehr schnell sind, das war jetzt zu Stunden wiederhergestellt werden. Ausgerechnet im konkreten Risiken. Seriöserweise müsste
kranz und dem breiten Mund. »Wir haben das erst Der Leiter der IT-Abteilung kontaktiert zusam- unserer Achillesferse geworden«, sagt Tobias Umfeld lebenswichtiger Daten fehlt oft die Sensibili- die EU-Kommission wenigstens diese Ex-
alles gar nicht so ernst genommen, dachten, es sind men mit Ambulanzarzt Klaus Reinartz den Heintges, groß, schmal, rotblondes Haar und ste- tät für Cyberangriffe. »Meist verfügen die Kranken- pertise abwarten – sie kommt Mitte Mai.
die üblichen Zicken der Technik und dass es mit Verantwortlichen für den Krankenhauskrisenplan, chende blaue Augen, der medizinische Geschäfts- häuser über den Grundschutz mit Antivirenprogram- Stattdessen schafft Brüssel mit der Verlän-
einem Neustart getan sei.« Andreas Kremer. So viel scheint klar: Ein bös- führer des Lukaskrankenhauses. men und einer Firewall, aber nicht sehr viel mehr«, gerung der Zulassung Fakten. Schon
artiges Programm ist in das Netzwerk des Lukas- sagt Thorsten Holz, Professor für Systemsicherheit an munkeln die Gegner, diese »Planungs-
Zwischen 8 und 9 Uhr, Radiologie: krankenhauses eingedrungen. Es legt die befal- Am Nachmittag: der Ruhr-Universität Bochum. sicherheit« für die Konzerne solle gute
Auch bei den Radiologen laufen die Computer lenen Rechner lahm, und es könnte sich weiter Von »Handbetrieb« sprechen sie in Neuss mittlerwei- Stimmung bei den Verhandlungen für das
auffällig langsam. In anderen medizinischen Ab- ausbreiten – auf alle 800 Computerarbeitsplätze le, und er ist mühsam: Im Labor, mit sonst 800 Un- Donnerstag, 11. Februar: Handelsabkommen TTIP machen.
teilungen können die Mitarbeiter ebenfalls nicht und 100 Server der Klinik. Gemeinsam mit der tersuchungen und Befunden täglich, gehen jetzt nur Die Techniker haben eine schlaflose Nacht hinter Die Bundesregierung muss in der kom-
wie gewohnt arbeiten. Da taucht auf mehreren Geschäftsführung entscheiden die Männer, alle noch 100 durch. Die Analysegeräte scannen keine sich, die erste von vielen. Einige haben ein proviso- menden Woche in Brüssel auf einen Auf-
Monitoren eine Meldung auf. Die ersten Techni- Server und Netzwerke sofort abzustellen. Ab die- Strichcodes von den Laborproben mehr, alles muss risches Lager aufgeschlagen, Pizzakartons stapeln schub hinwirken. Sonst leidet die Glaub-
ker, die gerade ihren Dienst antreten, hören sofort sem Zeitpunkt sitzen die Mitarbeiter vor isolierten einzeln eingegeben werden. Weniger wichtige Labor- sich. Sie haben externe Fachleute hinzugezogen. würdigkeit – und zwar die von Politik und
von der Botschaft, die da in schlechtem Englisch Computern, mit denen sie nichts mehr anfangen proben werden an ein externes Labor in Düsseldorf Nun bittet die Klinik auch das Landeskriminalamt Wissenschaft. CHRISTIANE GREFE

Fortsetzung auf S. 32

Ablauf einer Datenentführung


Ein Durchbruch in der Genetik sorgt für
Debatten: Forscher können das Erbgut
6 nun so präzise manipulieren, dass sich ihr
Resultat von natürlichen Veränderungen
nicht mehr unterscheiden lässt.
@
Genome Editing war das Thema des
61. ZEIT Forums der Wissenschaft. Auf
1 2 3 4 Einladung der ZEIT, der ZEIT-Stiftung,
der Berlin-Brandenburgischen Akademie
Pay! der Wissenschaften sowie des Deutsch-
landfunks diskutierten der Hannoveraner
Pflanzengenetiker Jens Boch, der Theologe
Peter Dabrock vom Deutschen Ethikrat,
die Vizepräsidentin der Deutschen
5 Akademie der Naturforscher Leopoldina
Bärbel Friedrich und Hans Schöler,
Direktor am Max-Planck-Institut für
molekulare Biomedizin.
Ein Erpresser verschickt Ein argloser Nutzer öffnet den Auf dem Monitor erscheint Das Opfer überweist Geld in Vielleicht schickt der Täter
eine Welle von E-Mails mit Anhang (2). Der Trojaner ein Erpresserbrief mit einer sogenannten Bitcoins, deren dem Opfer ein Passwort, um Eine Aufzeichnung finden Sie unter:
fingierten Dateien (1) verschlüsselt seine Daten (3) Lösegeldforderung (4) Weg gut zu verschleiern ist (5) die Daten zu entschlüsseln (6) www.zeit.de/2016/zeitforum
32 WISSEN 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

Bestäuber gesucht
K
ann man mit einer einzigen Zahl Pflanzen wachsen, haben es Bestäuber schwer. forscher im Entomologischen Verein Krefeld. Seit
beschreiben, wie wichtig die Außerdem machen ihnen Arten, die aus anderen 1984 stellen seine Mitglieder Insektenfallen in die
Arbeit von Myriaden Bienen, Der UN-Weltrat für Biodiversität Erdteilen eingewandert sind, sich ausbreitende Heiden und Wälder Deutschlands, die aussehen wie
Schwebfliegen, Mücken, Fleder- Krankheiten und der Klimawandel zu schaffen. Gardinen. Jedes Jahr wiegen die Insektenfreunde, wie
mäusen und Kolibris ist, wenn legt seinen ersten Bericht vor – ein Fundament Die Aufzählung der Schwierigkeiten liest sich wie viel Getier ihnen in die Netze gegangen ist. Um
sie von Blüte zu Blüte fliegen? das Inventar eines vom Menschen gemachten durchschnittlich 80 Prozent sei das Gewicht des jähr-
Wenn sie nach Nektar suchen,
für den Artenschutz VON FRITZ HABEKUSS Kabinetts des Schreckens. Doch wenn man dem lichen Fangs bis heute zurückgegangen, bei den mehr
Pollen verteilen und damit die Grundlage dafür Bericht vorwirft, fahrlässig Weltuntergangsstimmung als 80 Standorten gebe es keine Ausnahmen vom
legen, dass wir leben können? Kann man ein Preis- zu verbreiten, tut man ihm Unrecht. Tatsächlich steht Negativtrend: »Überall sind die Zahlen im Keller«,
schild auf die Bestäuber kleben, auf die Äpfel, es um die Biodiversität auf der Erde schlecht, Exper- sagt Tumbrinck. Und die Hobbyforscher haben
Kakao, Mangos und Raps so dringend angewiesen ten schätzen, dass Arten heute tausend Mal so schnell weitere Pläne. Im Dachgeschoss des Vereinsheims liegt
sind? Ja, sagen die Autoren des allerersten Berichts aussterben wie in vorindustriellen Zeiten. Von dem ihr Datenschatz: Jedes zwischen 1984 und heute
des Weltrates für Biodiversität: Zwischen 235 und Ziel, den Verlust der Lebensräume, Arten und der gefangene Tier wurde in Krefeld in Alkohol eingelegt.
577 Milliarden Dollar bringt die tierische genetischen Vielfalt bis 2020 aufzuhalten, wie es die Jetzt wollen die Freizeit-Wissenschaftler gemeinsam
Bestäubungsarbeit jährlich ein, immerhin fünf bis Vereinten Nationen formuliert haben, entfernen wir mit Universitäten und einem Museum die Arten
acht Prozent des landwirtschaftlichen Ertrags. uns von Jahr zu Jahr mehr. bestimmen, Individuen auszählen und konkrete
Seit Montag ist der Bericht öffentlich. Er ordnet Der IPBES-Report ist eine gut fundierte Daten- Angaben darüber machen, welche Gruppen von
den Wust von Daten und Studien, damit Politiker grundlage. Auch wenn sie für Asien, Afrika oder Süd- Insekten wie stark zurückgegangen sind.
eine allgemein akzeptierte Grundlage haben, wenn amerika noch längst nicht vollständig ist. In der Genau an dieser Art von Langzeitstudien fehle es,
sie Entscheidungen treffen wollen. So ähnlich, wie es finalen Verhandlungsrunde, die am Freitag ver- sagt Alexandra-Maria Klein, Professorin an der
auch der Weltklimarat IPCC versucht. Der Report, gangener Woche in Kuala Lumpur, der Hauptstadt Universität Freiburg und Mitautorin des IPBES-
koordiniert vom UN-Weltrat für Biodiversität Malaysias, zu Ende ging, haben nicht nur Wissen- Berichtes. »Doch trotzdem haben wir genügend
(IPBES), ist deutlich in seiner Aussage: Den Bestäu- schaftler diskutiert, sondern auch Politiker aus mehr Daten, um sagen zu können, dass Bestäubervielfalt
bern dieser Welt geht es schlecht, und wir täten gut als 120 Staaten. Das macht den Bericht zu einem mit zunehmendem Verlust an natürlichen Lebens-
daran, etwas gegen ihren Rückgang zu unternehmen, politischen Instrument – und zwar einem, das sein räumen überall auf der Welt zurückgeht.« Klein
und zwar schnell. Obwohl der Report die globale Wissen nicht nur aus den vornehmlich englisch- forscht vor allem zu Ökologie von Bestäubern, und
Situation bewertet und damit so verschiedene sprachigen Fachjournalen rekrutiert, sondern auch ihre Arbeiten haben Erstaunliches gezeigt. Arten wie
Systeme wie die Maiswüsten Brandenburgs, die von den Erfahrungen indigener Gruppen erzählt. Wer Äpfel profitieren davon, wenn mehr Wildinsekten
Regenwälder Amazoniens oder die Savannen Afrikas im Report blättert, findet Anekdoten darüber, wie in der Plantage unterwegs sind. Diese werden ange-
gleichzeitig betrachtet, lässt sich der weltweite Rück- Stämme in Papua-Neuguinea imkern, Völker in lockt, wenn es viele verschiedene Blütenarten, Nist-
gang der Bestäuber auf einige Faktoren zurückführen, Mexiko Bienenstöcke aus Ton bauen oder Sammler plätze und Verstecke gibt. Die wilden Insekten stören
die sich überall auf der Erde ähneln. in Äthiopien wilden Honig ernten. »Das mit einzu- die domestizierten Bienen, die dann den Baum
Weltweit verändern Menschen Ökosysteme. Sie binden war nicht ganz einfach«, sagt Josef Settele vom wechseln und so die Pollen zwischen den einzelnen

Foto (Ausschnitt): Franz Metelec/Shotshop


bauen Straßen, legen Felder an, ziehen Städte hoch. Umweltforschungszentrum in Leipzig. Er verhandel- Sorten hin- und hertragen. Eine Kernaussage von
Mit steigender Bevölkerungszahl muss die Produk- te in Kuala Lumpur mit und war einer von vier Kleins Arbeit: Insekten-Multikulti zahlt sich aus, im
tion von Nahrungsmitteln zunehmen. Eine intensi- deutschen Wissenschaftlern, die den Report mitver- besten Fall auch wirtschaftlich.
vierte Landwirtschaft, deren Ergebnis die riesigen fasst haben. »Wir sollten zeigen, dass es möglich ist, Das zeigt genauso der Bestäuber-Bericht, wenn
Anpflanzungen von Ölpalmen in Indonesien, Kakao- auch anekdotisches Wissen in solch einen globalen auch in viel größerem Maßstab. Und er betont
plantagen in der Elfenbeinküste oder Sojafelder im Report einfließen zu lassen«, sagt Settele. zusätzlich den kulturellen, spirituellen und
Mittleren Westen der USA sind, lässt immer weniger Dass die Misere schon längst da ist, daran hat Josef ästhetischen Wert der Vielfalt. Den Teil also, der
Nischen übrig, in denen Bienen, Mücken oder Tumbrinck keine Zweifel. Tumbrinck ist Vorsitzender sich nicht mit einer Zahl bemessen lässt.
Fliegen überleben können. Mehr Pestizide werden Bald wieder in Aktion: Biene beim Bestäuben eines Gänseblümchens des nordrhein-westfälischen Landesverbands der
auf den Äckern verspritzt, und wo genveränderte Naturschutzorganisation Nabu, und er ist Hobby- www.zeit.de/audio

Wir haben Eure Daten! Fortsetzung von S. 31

um Hilfe. Vier Beamte werden im Schichtbetrieb anderen Abteilungen des Krankenhauses beson- zum Beispiel anfangs nur drei von 54 getesteten Vi- Montag, 22. Februar: mittwoch. Noch weiß er nicht, ob er Kosten im
nach Neuss geschickt, um den Urheber des ders wichtig ist, steht an oberster Stelle. Ab jetzt renscannern Locky auf. Mehrere Stunden bis mehrere Das Lukaskrankenhaus hebt alle Restriktionen für sechsstelligen Bereich verursacht hat oder gar
Schadens zu finden und das Einfallstor ins stehen die Blutanalysen hier wieder digital zur Tage benötigen die Hersteller von Antivirensoftware, Notfälle wieder auf. Ab jetzt – fast zwei Wochen siebenstellige. Der Fortschritt der Digitalisierung
Kliniknetz – ein Einsatz, der mindestens bis in den Verfügung. Ein erster Sieg über den Schädling. um ihre Produkte anzupassen. So mahnen Fachleute nachdem die Computer in der Ambulanz sich auf- lasse sich nicht zurückdrehen, sagt Heintges. Er
März hinein andauern wird. zu stetem Misstrauen gegenüber E-Mails mit Links fällig verhalten haben – wird wieder jeder Patient will die EDV »noch sicherer ausbauen und für ver-
Montag, 15. Februar: oder Anhängen, selbst wenn diese auf den ersten Blick wie gewohnt aufgenommen. Aber noch immer gleichbare Krisenfälle vorsorgen«. Die IT-Sicher-
Freitag, 12. Februar: Auf Tausenden Privatcomputern und Firmenrech- aus einer vertrauenswürdigen Quelle stammen. sind nicht einmal die Hälfte der 800 Computer- heit des Lukaskrankenhauses will er künftig vom
Die Neuss-Grevenbroicher Zeitung berichtet auf nern in Deutschland taucht eine andere Ransom- arbeitsplätze wieder in Betrieb. BSI zertifizieren lassen. Dafür müssen einzelne
ihrer ersten Seite über das Lukaskrankenhaus. Jetzt ware als jene von Neuss auf: der Kryptotrojaner Donnerstag, 18. Februar: Systeme stärker separiert aufgebaut und die Zu-
meldet auch eine Klinik in Arnsberg im Sauerland Locky. Offenbar schlummerte er schon länger auf Im Lukaskrankenhaus läuft die Strahlentherapie Schwer zu glauben, dass dies noch Glück im Unglück griffsrechte stärker beschränkt werden. In drei bis
einen Befall. Und eine in Kleve am Niederrhein den Geräten und wurde durch eine Zeitschaltung erstmals seit mehr als einer Woche wieder. Wäre ist. Die Neusser mussten kein Lösegeld zahlen, verlo- vier Jahren werde man vielleicht so weit sein.
bestätigt, dass sie bereits am Karnevalsdienstag aktiviert. »All of your files are encrypted ...«, beginnt die Zwangspause nur zwei Tage länger gewesen, ren praktisch keine Daten, weil das Timing auf ihrer
Opfer eines Kryptotrojaners geworden ist. Im der Erpresserbrief, den Locky anzeigt – »Alle deine hätten einige der etwa 80 Krebspatienten nicht Seite war: Beim ersten Anzeichen für eine erpres-
Krankenhaus von Winterberg wird man aufmerk- Dateien sind verschlüsselt«. Für den Code zum mehr länger warten können und die Klinik serische Verschlüsselung sollte der betroffene Rechner
sam und ergreift Vorsichtsmaßnahmen. Diese Vor- Entschlüsseln verlangen die Hintermänner den wechseln müssen. abgeschaltet werden. Nur so lässt sich verhindern,
kehrungen werden sich bald auszahlen: Am 18. Gegenwert von rund 300 Euro in der Digitalwäh- dass der Trojaner sich weiter ausbreitet und weiter
Februar wird ein Schädling in Winterberg bemerkt rung Bitcoin, deren Transfer sich besonders gut ver- Freitag, 19. Februar: verschlüsselt. Falls unklar ist, über welchen Computer
– und binnen eines Tages unschädlich gemacht. schleiern lässt. Das Bundesamt für Sicherheit in der Die zuständige Staatsanwaltschaft Köln ermittelt der Trojaner in ein Netzwerk gelangt ist, sind alle
Informationstechnik (BSI) warnt vor der Zahlung: im Fall des Lukaskrankenhauses wegen versuchter verdächtig. Seine Daten bekommt nur wieder, wer
Samstag, 13. Februar: Schon weil ungewiss sei, ob die Täter tatsächlich Erpressung. Den Verantwortlichen in der Klinik dann auf aktuelle Sicherungskopien zurückgreifen
Das Lukaskrankenhaus nimmt rund drei Tage die Daten freigäben oder ob sie neue Schadsoftware wird erst jetzt bewusst, womit sie es zu tun haben. kann. In Neuss wurden die letzten Backups in der Anfang März:
nach der Notabschaltung sämtlicher Computer schickten. Geschädigte sollten die Lösegeld- »Wir hatten den Begriff Ransomware vorher noch Nacht des Karnevalsdienstags erstellt, nur wenige Seit mehr als drei Wochen haben die Techniker jetzt
wieder schwere Notfälle wie Mehrfachverletzte forderung fotografieren und Anzeige erstatten. nie gehört«, sagt der Verantwortliche für den Stunden bevor der Kryptotrojaner sich bemerkbar im Trakt des Verwaltungsgebäudes eine Art Camp
oder Patienten mit Schädelbrüchen an, die bislang Krisenplan, Andreas Kremer, der auch der Presse- machte. Sofort reagiert, die richtigen Schlüsse gezogen aufgeschlagen. In dem engen Flur der EDV-Abteilung
in umliegende Krankenhäuser bis Düsseldorf und Das Risiko eines Befalls durch Kryptotrojaner lasse sprecher der Klinik ist. Auch wenn die Ermittler – trotzdem war die Erschütterung enorm. Was daraus stehen noch immer etliche Rechner herum. Sind sie
Mönchengladbach umgeleitet werden mussten. sich erheblich mindern, sagt das BSI. Jeder Computer- den Namen des digitalen Schädlings noch nicht folgt? Vielleicht das: Wenn die Digitalisierung und frei vom Trojaner geblieben? Müssen Daten wieder-
»Wir haben schon Meldungen bekommen, dass nutzer solle stets alle verfügbaren Updates installieren, nennen wollen, so scheint doch klar zu sein: Es war die Vernetzung der Kliniken voranschreitet, könnte es hergestellt werden? Schlummert der Schädling auch
die anderen Kliniken damit sehr viel zu tun hat- damit neu erkannte Sicherheitslücken geschlossen kein gezielter Angriff, sondern einfach nur Pech. in Zukunft sicherer sein, dass Patienten bei der Ent- in den Backups – und muss mit spezieller Software
ten«, sagt Klaus Reinartz aus der Notfallambulanz. werden (»gepatcht«). Wer Office-Programme benutzt, Denn solche Schädlinge zielen nicht auf einzelne lassung eine digitale Kopie ihrer Daten erhalten. gelöscht werden? Es sind noch längst nicht alle
sollte die automatische Ausführung von Makros de- Personen oder Einrichtungen. Sie werden breit Computer fertig überprüft. Auch interne E-Mails
Sonntag, 14. Februar: aktivieren. Und regelmäßige Sicherheitskopien gestreut, nur so lohnt sich der technische Aufwand Montag, 29. Februar, 9 Uhr, Krisenstab: verschicken oder Nachrichten von außen empfangen
Die ersten Computer werden wieder hochgefah- (»Backups«) sind Pflicht. Außerdem sollte ein Anti- für die Täter. Wer Millionen fingierte Mails ver- Noch immer tagen Tobias Heintges und sein Team können die Mitarbeiter nach wie vor nicht. Die
ren, einer nach dem anderen, dabei gilt eine virusprogramm installiert sein. Doch absolute Sicher- schickt, der verdient selbst dann noch gut, wenn täglich. Nach der Sitzung spricht der medizinische Rückkehr ins digitale Krankenhaus verläuft Schritt
strenge Prioritätenliste. Das Labor, das für alle heit bieten alle diese Maßnahmen nicht. So spürten nur jeder Abertausendste darauf hereinfällt. Geschäftsführer über die Lehren aus dem Ascher- für Schritt, ganz langsam.
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 WISSEN 33

Vision und A
bendkleider wie Raumanzüge, so sah eine eigene Struktur entstehen, deren Elemente Men-
der »space look« von Modedesignern schen und Rechner sind; ihr Verhalten untereinander
wie André Courrèges aus, das ist nun folgt Programmen, Protokollen, sozialen Anweisungen
ein halbes Jahrhundert her. Damals und Gesetzen.
wähnte sich der Zeitgeist unseres In ihr treten besonders interessante Akteure auf:
Teils der Welt auf der Reise in eine Roboter, die Körperwesen der Digitalisierung. Sie
Zukunft mit fliegenden Autos, finden sich so ziemlich überall; in der Fabrik und im
kostenloser Atomenergie und glücklicher Existenz auf Paketverteilzentrum, im OP-Saal, im Kinderzimmer
Mondfarmen. Das Kommende war ein immerwähren- und in der Küche, im Weltraum – und in den großen

Unbehagen
des Weihnachtsfest: lauter neue Sachen. Datenzentren, in denen sie mit Festplatten und
Heute ist es kaum noch möglich, über die einstigen anderen Datenträgern hantieren. Im Prinzip sind
Zukunftsfantasien ohne wehmütiges, ironisches Lächeln Roboter wie Computer aufgebaut: Eingang, Aus-
zu sprechen. An ihre Stelle ist, in den Worten des Schrift- gang, Speicher, Recheneinheit. Nur dass ihre
stellers Romaric Sangars, eine Art »Zukunftsnostalgie« Eingänge meist Sensoren sind und ihre Ausgänge
getreten. Der 39-Jährige hat Anfang des Jahres in der Aktoren (etwa Greifer, Bohrer und Abschuss-
nouvelle revue française einen bemerkenswerten Essay vorrichtungen oder Räder, Ketten und Beine).
über den Übergang »von voluntaristischer Euphorie Roboter nehmen aus der Welt Messdaten auf, um in
zum technischen Fatalismus« geschrieben: Früher habe diese Welt einzugreifen. Sie sind also ziemlich aktive
die Zukunft uns strahlend angelacht, heute werde sie Zwischenglieder des Netzes aus Menschen und Dingen.
Gestern träumten wir von uns »von einer autonomen technischen Entwicklung Und sie werfen eine neue Frage auf: Menschliche Hand-
fliegenden Autos. Heute aufgezwungen«. An die Stelle all der zauberhaften Din- lungen werden durch Dinge vermittelt, aber stimmt das
ge, die uns eines Tages umgeben sollten, sei die Aussicht vielleicht auch umgekehrt? Könnten unsere Hand-
fürchten wir uns vor dem auf totale Abhängigkeit von der Technik getreten. lungen mittlerweile als eine Art des Verkehrs zwischen
Diktat der Technik. Wo Zwar ließe sich gegen diesen Befund einiges ein- den Dingen betrachtet werden? Der Mensch wäre dann
wenden. Etwa dass es auch damals Zweifler am Fort- ein Zwischenglied der Dingwelt, und er lebte dann in
bleibt die Lust am Abenteuer? schritt gab. Und existieren nicht heute noch Scharen einem neuen Zustand, in der »Immersion Drei«.
unbeirrter Optimisten? Gewiss, aber die Mehrheitsver- Eine zutreffende Beschreibung unserer heutigen
VON GERO VON R ANDOW
hältnisse haben sich umgekehrt. Mag die Technik auch Welt ist das bisher nicht. Verhält sich jemand sklavisch
fröhlich blinken und surren, die Gedanken tun es nicht. zu den Dingen, so ist das eine individualpsychologische
Wenigstens sieht das aus europäischer Perspektive so Störung oder Ausdruck einer perversen Sozialbeziehung,
aus. Kalifornien, das Epizentrum des Technikoptimis- etwa im Fall des Markenklamotten-Wahns oder des
mus, liegt eben fernab von hier, nicht nur geografisch. Gadget-Fetischismus, deren aktive Glieder immer
Ein weiterer Einwand lautet: Deutschland könne noch Menschen sind, zwischen denen die Gegenstände
man nicht als technikpessimistisch bezeichnen, schließ- nur vermitteln. Selbst wenn wir Twitter oder Facebook
lich sei es das Land der Energiewende. Daran ist richtig, als digitale Dinge auffassen, die Handlungen anregen,
dass die Wende technischen Optimismus voraussetzt. an deren Ende Dinge in Form von Postings stehen –
Politisch und psychologisch ist sie jedoch die Abkehr selbst dann bleiben doch Twitter und Facebook Unter-
von einer technischen Utopie. Dort, wo sie ihrerseits nehmen in Menschenhand, deren Zwecke Profit,
Zustimmung zu Großtechnik (Windparks! Strom- Macht und Geltung heißen. Mit materiellen Struktu-
trassen!) verlangt, stößt auch sie auf Ablehnung. ren, die einen eigenen Willen ausüben, haben wir es
Die Beliebtheit von Elektronikmärkten wäre erst recht hier nicht zu tun.
kein schlüssiges Argument gegen die These, dass die Zeit Es muss allerdings nicht so bleiben, dass die Dinge
der technischen Glücksverheißungen abgelaufen sei. Wir nur Bindeglieder zwischen den Menschen sind. Spielen
statten unsere Umgebung zwar mit immer neuen Dingel- wir ein wenig mit diesem Gedanken.
chen aus. Aber wir entdecken keine neuen Welten, wir In dem Film Fluch der Karibik – Am Ende der Welt
schwimmen im Konsumstrom mit. Und demnächst spielt Stellan Skarsgård den Seeräuber Stiefelriemen-
hocken wir Melancholiker der einstigen Zukunft in so- Bill, der Teil eines Schiffes geworden ist, mit dessen
genannten Autos, die uns umsorgen werden wie eine Rumpf er verwachsen ist. Resignierend fügt er sich in
Gouvernante, oder in Smart Homes, die uns umhüllen diesen Zustand. Könnte es nicht sein, dass der Mensch
werden wie eine Gebärmutter. An die Stelle unbegrenzter in Zukunft in ähnlicher Weise von seiner Technikwelt
Möglichkeiten tritt umfassende Betreuung. Einst progres- umhüllt (sowie von Medizintechnik körperlich durch-
siv, werden wir regressiv. drungen) sein wird, in der er nur Teil eines Ganzen ist?
Man würde das alles gerne besser begreifen. Doch Eingepasst in eine Dingwelt, nur eben nicht in einen
während wir über die gegenständliche Welt vieles wis- Holzrumpf, sondern in ein hochmobiles Gewusel robo-
sen und über den Menschen einiges, ist das Verhältnis tischer Artefakte?
von Menschen und Sachen erheblich unklarer. Auch So ein Gewusel könnte durchaus Eigenleben ent-
weil die Techniksoziologie und die Technikgeschichte, wickeln. Etwa sobald sich intelligente Systeme selbst
welche sich mit diesem Verhältnis befassen, nicht im reproduzieren, wenn also zum Beispiel Roboter Roboter
Hauptgebäude der Wissenschaft residieren, sondern an bauen. Diese Idee verfolgt die Nasa seit rund 50 Jahren.
den entferntesten Enden der Seitenflügel ihr Dasein Zugegeben, wo so etwas im Labor umgesetzt wird,
fristen. Das ist merkwürdig. Schließlich befinden wir fallen die Resultate eher unspektakulär aus. Da schrau-
Menschen uns in Beziehungsnetzen, die durch Sachen ben beispielsweise künstliche Arme aneinander herum
vermittelt sind. Sachen, die bedient werden wollen und – besonders aufregend ist das nicht. Noch immer gilt,
ihrerseits Handlungen auslösen, schon vom frühen was der Aufklärer Fontenelle (1657 bis 1757) einst
Morgen an: der Wecker, die Nachttischlampe, das Ra- jemandem schrieb, der die Tiere als Maschinen ansah:
dio, die Dusche, womöglich die elektrische Zahnbürste »Legen Sie eine Hunde-Maschine neben eine Hündinnen-
– vom Handy oder vom Computer ganz zu schweigen. Maschine; es könnte eine dritte kleine Maschine daraus
Die Netze aus Menschen und Dingen haben sich auf entstehen: Wohingegen zwei Uhren ihr ganzes Leben
atemberaubende Weise verändert. Um das zu verstehen, lang nebeneinander liegen könnten, ohne dass sie eine
hilft der Begriff der Immersion; er kommt von immersio, dritte Uhr machen würden.«
dem Eintauchen. Vor der Epoche des Werkzeug- So sieht’s aus. Aber Software, die neuartige Software
gebrauchs lebten unsere Vorfahren im Zustand totalen erzeugt, die gibt es immerhin schon seit Jahrzehnten:
Eingetauchtseins. Sie waren der Natur unterworfen. sogenannte genetische Algorithmen, die nach dem Vor-
Nehmen wir als Beispiel das schnelle Laufen, dessen ur- bild der Natur mit Mutation, Rekombination und
sprüngliche Form wohl das Weglaufen war: Unser Selektion arbeiten. Denkbar, dass sie die Vorform einer
Urahn flitzte barfuß über die Savanne und spürte jeden Technik sind, die ein Eigenleben entwickeln wird. Sie
Stein. Nichts schob sich zwischen ihn und die Natur. wäre digital, also kommunikativ. Eine von solcher
Der nächste Schritt erfolgte in Sandalen. Als einige Technik durchdrungene Welt müsste man vielleicht
Primaten damit begannen, die Natur zu manipulieren, irgendwann als einen einzigen, der Evolution fähigen
mit Feuer, Jagdspeeren, Steinwerkzeugen, wurden sie Organismus auffassen. Als eine Art Gesamtroboter mit
zwar nicht von ihr unabhängig, aber immerhin auto- Gesamtintelligenz. Als einen Organismus, in dem –
nomer. Die Menschen arbeiteten sich mithilfe der wie in unseren Körpern auch – unterschiedlichste
Technik aus ihrer ursprünglichen Immersion heraus. Lebensformen zusammenwirken, darunter Menschen
Bald trugen die Menschen feste Schuhe und konnten in und Roboter, und der doch ein Ganzes wäre, das sich
ihnen schneller und weiter laufen als zuvor. intelligent verhielte. Homo sapiens wäre ihm ein
Irgendwann jedoch setzte etwas Erstaunliches ein: inneres Organ.
neuerliche Immersion, aber in eine andere Wirklich- Alles Science-Fiction. Natürlich. Der Computer war
keit, nämlich in die Technik. Dieses Eintauchen ver- übrigens auch einmal Science-Fiction.
läuft in drei Stufen; zwei durchleben wir derzeit, die Spinnen wir noch ein wenig fort: Lässt sich ein der-
dritte ist nur eine Möglichkeit. artiger Weltroboter wirklich nur als alles verschlingen-
Die erste Stufe, die wir »Immersion Eins« nennen des Ungeheuer denken? Nicht unbedingt. So ein Wesen
können, besteht darin, dass der Mensch sich vollständig könnte für Homo sapiens womöglich ein besseres Zu-
mit gemachten Gegenständen umgibt. Wieder ist er hause sein als die heutige Welt. Etwa dann, wenn die
ganz in eine Dingwelt eingelassen, diesmal aber in eine Erde zusätzlichen Schutz brauchen wird, vor kosmischen
künstliche. Wenn er sich zu Hause die Schuhe auszieht, Katastrophen wie Meteoriten oder Überraschungen wie
graben sich seine Zehen nicht mehr in die Erde. Heute der Begegnung mit außerirdischer Intelligenz.
leben wir in Wohnmaschinen, wie der legendäre Es gibt eine Naturromantik, die sich unseren
Architekt Le Corbusier unsere Häuser nannte. Morgens Planeten unter dem Namen Gaia als Persönlichkeit vor-
verlassen wir die Wohnmaschine, damit uns eine Trans- stellt. Ihr technoromantisches Pendant wäre ein Gaia-
portmaschine zur Arbeit bringt: in die Arbeitsmaschine. Roboter, in dem unsere Art überleben kann. Vielleicht
Das ist mehr als eine Metapher, viele Jobs kann man als würde er uns Menschen gar daran hindern, unsere
Mechanismus auffassen, in dem menschliche Aktionen kriegerischen Neigungen auszuleben.
von Dingen vermittelt werden. Die moderne Dingwelt Ende des Gedankenspiels. Angefügt sei nur, dass
ist eine Maschinenwelt. Informatiker und Physiker, unter ihnen Stephen
Allerdings hat sich in jüngster Zeit wieder etwas ver- Hawking, über derartige Themen ernsthaft und öffent-
ändert: Mit der Digitalisierung hat sich der kommuni- lich nachdenken. Allerdings sehen sie die Zukunft intel-
kative Charakter der Dinge voll herausbildet. Von ligenter Technik vorwiegend als Epoche neuartiger
Anbeginn war Technik auch ein Medium des zwischen- Risiken. Das entspricht der heutigen Gemütsverfas-
menschlichen Austauschs, nun allerdings ist beinahe sung. Unbekanntes tut sich auf, und die meisten be-
jeder Ort unserer Lebenswelt ein Kreuzungspunkt digi- gegnen ihm mit Skepsis. Angemessener als starrsinniger
taler Kommunikationskanäle geworden. Jogger tragen Optimismus ist sie allemal. Es wäre aber schade, würden
beispielsweise Schrittzähler, deren Daten über das In- daran Mut, Neugier und Humor zugrunde gehen.
ternet in die Datenbanken der Gesundheits-, Versiche-
rungs- und Werbewirtschaft wandern; ruft der Mensch
Illustration [M]: Klaus Bürgle/retro-futurismus.de

nach dem Sport seine Fitness-Website auf, wartet dort Dieser Artikel beruht auf einem Buch des
Belohnung auf ihn. Diese »Immersion Zwei« überla- Autors, das am 7. März erscheint:
gert die »Immersion Eins«: Unsere Realität voller Der Cyborg und das Krokodil:
künstlicher Dinge wird um eine weitere Wirklichkeits- Technik kann auch glücklich machen
schicht ergänzt. Digitalisierung und Internet lassen edition Körber-Stiftung (176 S., 14,– €)

Als Technik noch utopisch war:


»Wohnmaschinen« des
Illustrators Klaus Bürgle (1968)
36 WISSEN 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

Die Akte Freiburg


E
s ist fast zehn Jahre her, da hätte Sie sollte den größten Agierte Ursula Seelhorst aus eigenem Antrieb? Schwer
Letizia Paoli ganz einfach an Infor- denkbar – denn in Uni-Kreisen wird die Juristin als
mationen über das Breisgauer Dopingskandal in überaus korrekt und pflichtbewusst bezeichnet. Bis
Dopingsystem gelangen können. Deutschland aufklären. heute hat die Universität trotz mehrfacher Anfragen
Paoli wohnte damals in Horben, keine Auskunft über den mysteriösen Fall gegeben.
einem Vorort von Freiburg, und Jetzt trat fast die gesamte Rektor Hans-Jochen Schiewer sagte im Herbst 2014
lehrte als Gastdozentin für Krimi- lediglich lapidar: Die Unterlagen stünden der
nologie am Max-Planck-Institut für Strafrecht. Ei-
Kommission zurück, Kommission ja jetzt zur Verfügung.
ner ihrer Nachbarn, erzählt sie der ZEIT, war ein weil ihre Arbeit Bemerkenswert ist auch der Fall Fredy Stober. Der
quirliger Sportarzt, der nett grüßte und viel reiste. badische Sportfunktionär war einer der besten Ken-
In jenem Sommer 2006 fragte der nette Nachbar, sabotiert wurde ner der Szene. Als er im Dezember 2010 hundert-
ob Paoli in seiner Wohnung die Blumen gießen VON ANDREAS STREPENICK jährig starb, vermachte er seinen Nachlass dem Staats-
könnte. Er sei im Juli in Frankreich, bei der Tour de UND URS WILLMANN archiv Freiburg. Darunter befanden sich drei Akten-
France, und deshalb nicht zu Hause. Paoli sagte zu. ordner mit der Aufschrift »Doping«. Sie kamen nie
Wie man das halt so macht unter guten Nachbarn. im Archiv an. Wer ließ sie verschwinden? Das ist bis
Viel Arbeit kam damals auf sie zu. Die Sonne heute unklar. Die Akten bleiben verschollen.
knallte während des Fußball-Sommermärchens Im Jahr 2012 erbat die Kommission von der
vom Himmel – die Pflanzen hatten Durst. Paoli Stadt Freiburg alle Unterlagen, in denen die Klinik-
ahnte nicht, wer dieser Nachbar mit Namen Geschichte des dubiosen Freiburger Sportarztes
Lothar Heinrich war; weder für Sport interessierte Armin Klümper dokumentiert ist. In jener legen-
sie sich noch für Medizin. dären Einrichtung, die sich der einstige deutsche
Beides hat sich geändert. Heute weiß sie natür- Spitzensportmediziner von Stadt, Land und Bund
lich, bei wem genau sie die Blumen goss: bei jenem bauen ließ, wirkte Klümper von 1982 bis 2000.
Sportarzt von der Universität Freiburg, der zusam- Die Ambulanz war eine zentrale Drehscheibe des
men mit Andreas Schmid über Jahre das magenta- Dopings im westdeutschen Spitzensport. Am Ende
farbene Radfahrerteam des Telekom-Konzerns musste die Kommission zweieinhalb Jahre warten,
dopte und damit den wohl größten Sportskandal bis sie die Akten Ende 2014 einsehen durfte – zu
Deutschlands auslöste. Dass die Kriminologin einem Zeitpunkt, als die Universität die Kommis-
damals Zugang zur Freiburger Dopingwelt bekom- sion eigentlich längst hätte auflösen wollen.
men hat, ist aus heutiger Sicht eine beinahe komische Dabei blieb es nicht: Im Herbst 2014 entdeckte
Geschichte. Denn bereits 2007, im Jahr nach dem die Staatsanwaltschaft Freiburg sechzig Ermitt-
heißen Sommer, rückte das Bundeskriminalamt an, lungsakten in einem Keller ihrer »Außenstelle«,
durchsuchte die Privatgemächer des Arztes, stöberte wie die Behörde mitteilte. Dass diese Dokumente
in Kommoden, Kisten und im Kühlschrank. existierten, vermutete Letizia Paoli bereits im Jahr
Am frühen Morgen des 1. März 2016 sieht es 2012. Sie wusste, dass gegen Armin Klümper von
so aus: Letizia Paoli ist seit sieben Jahren Vorsitzen- 1984 bis 1989 mehrfach ermittelt worden war –
de einer Kommission, welche die dunkle Vergan- offiziell wegen Rezeptbetrugs. Also erbat sie Ein-
genheit der Universität und ihrer Stadt aufklären blick in die Akten. Und die hatten es in sich: Mit-
soll. Paoli, die hauptberuflich an der Universität hilfe der Dokumente lässt sich heute beweisen,
Leuven in Belgien arbeitet, kämpft nicht nur um dass Klümper mit Assistenzärzten nicht nur einen
jede Akte, sie kämpft auch gegen massive Wider- ganzen Sportfachverband, den Bund deutscher
stände. Tausende Dokumente sind verschollen, Radfahrer, sondern auch Fußballclubs wie den
wurden versteckt oder vernichtet. Allein die riesige VfB Stuttgart bis in die achtziger Jahre hinein
Menge an verschwundenen Akten sind Teil jener systematisch mit Anabolika beliefert hatte.
unglaublichen Geschichte, bei der man nicht Dubios ist auch das Verschwinden von Ver-
weiß: Ist hier Freiburg – oder Palermo? fahrensakten zu Todesfällen, mit denen Klümper
Ihrerseits macht die Universitätsleitung seit in Verbindung gebracht wird. Bekannt ist das
Jahren Druck: Paoli möge doch bitte nicht bum- Schicksal der Leichtathletin Birgit Dressel, sie
meln, sondern schleunigst die Arbeit abschließen. starb 1987. Im vergangenen Jahr wurde bekannt,
Gleichzeitig wird das Bild einer überforderten, dass die Staatsanwaltschaft Freiburg in einem
chaotischen und hysterischen Frau gezeichnet, weiteren Fall gegen Klümper ermittelt hat: Ver-
deren Kommunikationsstil zu wünschen übrig dacht auf fahrlässige Tötung im Jahr 2001. Über
lasse. Als dieser Vorwurf 2013 erstmals an sie das Ergebnis ist laut Süddeutscher Zeitung nichts
herangetragen wurde, konterte Paoli mit einem öffentlich bekannt geworden. Eine Verurteilung
186 Seiten umfassenden Rechenschaftsbericht, der jedenfalls gab es nicht. Die Ermittlungsakten
grobe Behinderungen dokumentiert. Sie legte an- wurden vernichtet, weil Freiburger Behörden sie
derthalb Jahre später einen weiteren Bericht vor, nicht als archivwürdig angesehen hätten.
der auf mehr als hundert Seiten darlegt, wie ihre Klümper lebt heute in Südafrika. Er verweigert
Aufklärungsarbeit systematisch torpediert wurde. Antworten auf alle Fragen. Seine Nachfolgeärzte,
Irgendwann in dieser Zeit muss die Kriminolo- deren Einrichtung nun »Die Sportorthopäden« heißt,
gin Paoli tatsächlich den Ton verschärft haben. wollen sich ebenfalls nicht zur eigenen Vergangenheit
Seither kommuniziert sie, wie Ermittler eben äußern. Eine Anfrage der ZEIT vom vergangenen
kommunizieren: hart, unnachgiebig, kompromiss- Jahr blieb unbeantwortet. Die Anfrage lasse »in ihrer
los in der Sache. Schließlich geht es um nichts Tendenz«, schreibt Ärztesprecher Dieter Heinold,
Geringeres als um die »rückhaltlose Aufklärung« »eine angemessene Gesamtwürdigung des Lebens-
der Freiburger Dopingvergangenheit – so lautet werks von Prof. Klümper vermissen«.
ihr Auftrag. Diesen Anspruch haben der Senat, Doch nicht nur Freiburger Behörden haben Akten
Ex-Rektor Wolfgang Jäger und der amtierende versteckt oder verschwinden lassen, auch das Land
Rektor Hans-Jochen Schiewer selbst formuliert. Baden-Württemberg mauerte lange Zeit. Hinter-
Daran muss man die Uni am Ende messen: ob sie grund: Die Freiburger Sportmedizin unter Klümpers
es mit der Aufklärung wirklich ernst meint. Intimfeind Keul erhielt über Jahrzehnte Zuwendun-
Die sechs Kommissionsmitglieder unter dem Vor- gen in Millionenhöhe vom Bund, aber auch vom
sitz Paolis glauben nicht mehr daran. Ihre jüngste Land. Wofür genau? In einigen Fällen konnte nach-
Entdeckung machten sie im Januar, als sie einen er- gewiesen werden, dass öffentliche Gelder in Doping-
neuten Forschungsskandal aufdeckten. Sie fanden projekte flossen. Mehrmals fragte Letizia Paoli bei
Plagiate und systematische Verfälschungen in Publi- den Stuttgarter Ministerien an, ob sie nun wirklich
kationen der Freiburger Sportmedizin. Am Dienstag alle Unterlagen erhalten habe, die die Freiburger
dieser Woche geben fünf Mitglieder der Kommission Sportmedizin betreffen. Im vergangenen Sommer
ihren Rücktritt bekannt, weil ihr nie völlige Unabhän- kam sie zu dem Schluss, dass ihr im Kultusministe-
gigkeit zugesichert wurde – auch nicht nach einem rium jahrelang ein Regalmeter Akten zu Dopingarzt
Ultimatum, das Uni-Rektor Schiewer am Montag Klümper vorenthalten worden sein muss.
um Mitternacht verstreichen ließ. Offen ist bei Re- Das Kultusministerium versprach, die Vorwürfe
daktionsschluss, ob auch die Vorsitzende Paoli dem der Kommission zu prüfen. Im Dezember 2015
Rücktritt ihrer Kollegen folgen wird – nach Informa- teilte es auf Anfrage der ZEIT mit, es habe »keine
tionen der Badischen Zeitung ist davon auszugehen. belastbaren Anhaltspunkte dafür« gefunden, dass
Doch wie glaubwürdig ist die Kommission ein früherer Referatsleiter Unterlagen vorenthalten
selbst? Die Fakten sind eindeutig: Mehrere Be- habe. In einer internen Stellungnahme habe er die
hörden und Institutionen hielten jahrelang Akten Vorwürfe in wesentlichen Punkten entkräftet. Eine
zurück. Das betraf nicht nur die Universität und Bitte auf Einsicht lehnt das Ministerium ab. Bei
deren Klinik, sondern auch die Freiburger Staats- der Stellungnahme des hochrangigen Ex-Beamten
anwaltschaft, die Stadtverwaltung, Sportverbände handle es sich um ein »dienstrechtliches Internum«.
und Ministerien in Baden-Württemberg. Letztmals tauchten Ende November in der
Besonders eindrucksvoll ist der Fall einer Freiburger Universität erneut Akten wie aus dem
führenden Justiziarin der Universität. Fünf Jahre Nichts auf. Zehn Ordner und eine weitere Mappe
lang, von 2007 bis 2012, deponierte Ursula Seel- mit der Aufschrift »Prof. Klümper« habe man erst
horst, eine Angestellte der Freiburger Universität, jetzt entdeckt, teilte die Universität mit. Die Kom-
drei Regalmeter Akten zur Geschichte der Freibur- mission möge den Fund studieren und etwaige
ger Sportmedizin in ihrer Wohnung respektive Erkenntnisse in ihren Endbericht einarbeiten,
Garage. Inhalt der Unterlagen: Dokumente über hieß es. Das ist doppelt peinlich. Denn zum einen
Fotos: [M] Jacky Naegelen/Reuters; Patrick Seeger/dpa (u.)

Joseph Keul. Der im Jahr 2000 verstorbene Arzt hatte das Bundeskriminalamt schon sehr früh alle
war der führende Olympia-Mediziner der Bundes- Räume durchsucht. Und zum anderen war es
republik. Seine Klinikabteilung, zu der auch An- Rüdiger Siewert, der Chef der Uni-Klinik höchst-
dreas Schmid und Lothar Heinrich gehörten, ver- persönlich, der im Januar 2013 Letizia Paoli auf-
sorgte Athleten verschiedener Sportarten mit gefordert hatte, endlich Ergebnisse vorzulegen.
Dopingmitteln. Letizia Paoli bekam erst vor vier Wie die Universität mit der Kommission kom-
Jahren Zugang zum geheimen Aktendepot. muniziert und wie zerrüttet das Verhältnis ist, wird
Mehrere Jahre lang kämpfte sie gegen die Justizia- an diesem Fall mit den Klümper-Akten besonders
rin der Uni unter anderem um die Freigabe von drei deutlich. Ein Sprecher der Hochschule betont,
Aktenordnern über die sogenannte Testosteron- Aufklärerin Letizia Paoli man habe die Paoli-Gruppe vor der Öffentlichkeit
Studie. Unter Führung von Joseph Keul war Ende (kleines Bild). Fahrer über die Entdeckung im November unterrichtet.
der achtziger Jahre die Wirkung des körpereigenen von T-Mobile, 2003 Erst auf Nachfrage räumt der Uni-Pressesprecher
Hormons auf Leistungssportler untersucht worden. ein, dass dies exakt sechs Minuten vorher ge-
Das Bundesinnenministerium finanzierte die schehen sei. Um 14.54 Uhr erhielten Paoli und
Forschung, die Ethikkommission der Universität Co. die Nachricht. Um 15 Uhr die Journalisten.
billigte sie. Heute zeichnet sich ab, dass es sich bei der
Studie um verdeckte Dopingforschung gehandelt hat. www.zeit.de/audio
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 WISSEN 37

Stimmt’s? Das Rumpeln des Grauens


Heidelberger Forscher ziehen gegen eine neue Straßenbahn vor Gericht. Warum? VON HALUK A MAIER- BORST

T
homas Ludwig stellt große Fragen und Vergangenes Jahr machte die Meldung die Runde,
hat noch größere Probleme. Ludwig dass amerikanische Astronomen sich über Rasen-
will wissen, wie das Wasser auf die mäherroboter beschwerten. Weil die Funksteue-
Werden die Hände sauberer, Erde kam, woraus unsere Atemluft be- rung der Maschinen ihre Radioteleskope störe.
wenn man sie mit warmem statt mit steht und wie sich unsere Erde geformt In Deutschland kommen sich Forscher und
kaltem Wasser wäscht? hat. Deshalb ringt der Heidelberger Geowissen- Städtebauer nicht zum ersten Mal ins Gehege.
schaftler mit den Molekülen und den Äonen. Auch Auch Freiburg plante eine neue Straßenbahnlinie
... fragt KRISTINA HOLZNER aus Stuttgart gegen die Rhein-Neckar-Verkehr GmbH kämpft entlang einiger Universitätsgebäude. Auch hier
er. Denn der Nahverkehrsbetrieb will das Straßen- hätten Elektronenmikroskope unter dem Tram-
bahnnetz weiter ausbauen. Und zwischen der rumpeln gelitten. Dort allerdings einigten sich

W
äscht man die Hände nur mit Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält, Stadt und Hochschule darauf, durch ein spezielles
Wasser, dann ist warm tatsäch- und der Chance auf eine Antwort darauf steht seit Gleisbett und eine unterirdische Stromführung die
lich besser als kalt. Insbesondere einer Weile der Plan für eine neue Tramlinie. Die Störungen zu minimieren. In Heidelberg fehlt von
fettiger Schmutz löst sich in soll einmal quer über den naturwissenschaftlichen solchen Kompromissen bislang jede Spur.
warmem Wasser besser, weil es Campus der Universität Heidelberg führen. Eine andere Streckenführung, einen Elektrobus
mehr Energie enthält als kaltes und so schneller Der Grund für Ludwigs Sorgen befindet sich habe man vorgeschlagen, erklärt der Rektor der
eine Fett-Wasser-Emulsion entsteht. im Keller des Instituts für Geowissenschaften und Universität, Bernhard Eitel. »Wir haben sogar zur
Richtig gelöst wird der Schmutz aber erst mit wiegt mehrere Tonnen. Mächtige Stahlrohre, Besichtigung und Diskussion mit Schnittchen ein-
Seife, die eine Brücke zwischen den Fett- und den Platten und Schrauben fügen sich zu einer silbrig geladen«, ergänzt Ludwig. Auf ihre Gesprächsange-
Wassermolekülen herstellt. Und wenn es nicht glänzenden Maschine, einer Ionensonde. Wuchtig bote, gar auf Kompromisse sei nicht eingegangen
nur um Schmutz geht, sondern um krankheits- wirkt diese, doch für Ludwig ist sie ein zartes worden, erklären beide Wissenschaftler überein-
erregende Bakterien, dann bringt reines Wasser Schätzchen. Als das Monstrum einmal unerwartet stimmend. Die Rhein-Neckar-Verkehr GmbH äu-
überhaupt nichts, egal welche Temperatur es hat. »klick« macht, schreckt der Forscher, ein Mann ßerte sich auf Anfrage lieber nicht. Nun liegt der
Das ergab ein Test der Universität Regensburg im von bärenhafter Statur, hoch. »Was macht ihr da? Streit inzwischen vor dem Richter. Die Lage
Jahr 2010. Die Forscher schmierten ihren Proban- Ihr könnt doch nicht einfach die Vakuumpumpe scheint, nun ja, verfahren.
den eine Bakterien-Suspension auf die Hände, anschmeißen«, raunzt er die Kollegen an. Bei der Die Antwort darauf, wie wichtig in Heidelberg
dann ging’s ans Waschen – warm und kalt, mit Ionensonde hört der Spaß auf. Ludwigs große Fragen sind, muss nun von aus-
und ohne Seife. Das Ergebnis: Ohne Seife nützte Mikrometergenau kann die Maschine Gesteins- wärts kommen. Am Mittwoch kommender Woche
auch das heißeste Waschen nichts, die Bakterien proben mit Ionen beschießen und herausfinden, entscheidet der Verwaltungsgerichtshof in Mann-
blieben an der Haut haften. Als »Psychohygiene« woraus diese bestehen. Mit der wuchtig-zarten Ma- heim darüber, wer in Heidelberg die Vorfahrt be-
bezeichnete der Studienleiter diese eher rituelle schine will Ludwig seine großen Fragen beantworten. kommt, Neugier oder Nahverkehr.
Art der Reinigung. Allerdings kann nicht nur ein falscher Knopfdruck
tterstock (l.)

Benutzten die Testpersonen dagegen Seife, der Sonde schaden. Auch kleinste Erschütterungen
dann beseitigte auch kaltes Wasser 99,9 Prozent bringen sie aus dem Tritt. Ganze Messreihen sind im
der Bazillen. Allerdings mussten sie dabei gründ- Eimer, wenn nur der Boden zittert, ein magnetisches
n/G etty Images [M]; Shu

lich vorgehen: 30 Sekunden lang, so schrieb es das Feld entsteht – Spuren von Chaos, wie sie nun einmal Mehr Wissen
Studienprotokoll vor, musste die Waschung dau- auftauchen würden, sobald eine Straßenbahn
ern. Wohl eher eine praxisferne Bedingung, wie 70 Meter entfernt vom Labor über die Gleise rattert. Jedes Jahrzehnt,
schon oberflächliche Beobachtungen auf öffent- So stehen sie sich in der Universitätsstadt jedes Land hat seine
lichen Toiletten zeigen. CHRISTOPH DRÖSSER Heidelberg in einer Lokalposse gegenüber: hier der typischen Gerüche.
Fotos: Dennis K Johnso

örtliche Verkehrsbetrieb und die Bürger, die eine Wie prägen sie uns?
neue Tramtrasse wollen; dort Wissenschaftler um
Das neue ZEIT Wissen:
Die Adressen für »Stimmt’s«-Fragen: Ludwig, die sich um allerlei zarte Instrumente wie
am Kiosk oder unter
DIE ZEIT, Stimmt’s?, 20079 Hamburg, Ionensonden und Elektronenmikroskope sorgen www.zeitabo.de
oder stimmts@zeit.de. und damit um die Grundlage ihrer Forschung.
Das »Stimmt’s?«-Archiv: www.zeit.de/stimmts Es ist eine Krux: Während wissenschaftliche Im Netz: Das Wetterphänomen El Niño sorgt
Tonnenschwerer Krawallmacher – eine Tram des Geräte präziser und empfindlicher werden, wächst weltweit für Extreme. www.zeit.de/el-nino
www.zeit.de/audio Verkehrsverbunds im Rhein-Neckar-Dreieck auch das Hintergrundrauschen unseres Alltags.

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38 WISSEN GRAFIK: FUKUSHIMA 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 11

ZUM RAUSTRENNEN
Leben nach dem Super-GAU
Am 11. März 2011 wurde Japan von einer Dreifach-Katastrophe getroffen: Dem stärksten Erdbeben seiner o
Geschichte, einem über zehn Meter hohen Tsunami, der viele Tote forderte, und als Folge von beidem der Zerstörung des
Atomkraftwerks Fukushima Daiichi. Fünf Jahre später hat sich die betroffene Region noch längst nicht erholt
N
Der Schaden Die Toten Die Strahlung Die Evakuierten 351
Während die Nachbarpräfektu- Nach offiziellen Angaben hat der Super-GAU In der Präfekturhauptstadt Fukushima, Die meisten aller im Umkreis der AKW-
ren vor allem von Erdbeben niemanden unmittelbar getötet. Über 2000 mehr als 60 Kilometer vom Unglücksort Ruine evakuierten Menschen konnten noch Die Themen der
und Tsunami betroffen Todesfälle wurden aber als indirekte Folge der entfernt, ist die Strahlenbelastung heute nicht in ihre Heimatorte zurückkehren, letzten Grafiken:
waren, entstanden in der Katastrophe offiziell anerkannt und Angehörige noch immer höher als vor dem Super-GAU viele werden es nie können
Präfektur Fukushima finanziell entschädigt. Dazu gehören Selbstmorde (zum Vergleich: München)
(rund zwei Millionen
Einwohner) mehr als
oder auch schwere Erkrankungen als Folge von der
Arbeit in der AKW-Ruine und der Evakuierung Fukushima München
164 200
150 500
350
126 900 99 800
Oscars
drei Viertel aller 0,04 2,74 0,20 0,12
Schäden durch die Jahr 1 Jahr 3 Jahr 5 105 300
(bis 10. 3. 2012) (bis 10. 3. 2014) (bis 20. 2. 2016)
Reaktorkatastrophe
Jahr 2 Jahr 4 349
(bis 10. 3. 2013) (bis 10. 3. 2015) Stechmücken
2010 2011 2015 2012

Radioaktivität in Mikrosievert pro Stunde


Juni Juni Juni Okt. Jan.

179
67 50 2012 2013 2014 2015 2016 348
336 Zahl der evakuierten Personen ZEIT-Produktion

Ausbreitung der
Radioaktivität über Weitere Grafiken
Die Altersverteilung 1386 die Luft im Internet:
www.zeit.de/grafik
Heute leben 14 Prozent weniger Kinder in
Dauerhaft
der Präfektur als vor dem Super-GAU. gesperrte
Der Anteil der über 65-Jährigen hat dagegen Gebiete
um neun Prozent zugenommen
Sperrgebiete, die
zur späteren
Wiederbesiedlung
dekontaminiert
werden

Gebiete, in denen
die Sperrung bald
aufgehoben werden
soll

20-Kilometer-
Radius, aus dem
bereits am 12. März
2011 alle Menschen
evakuiert werden
sollten

Der Tourismus Der Arbeitsmarkt Die Landwirtschaft


Bis heute haben sich die Gästezahlen in der Viele Menschen wollen nicht mehr in Strahlenbelastung, beschädigte Infrastruktur und das zerstörte Image haben
ehemals touristisch beliebten Präfektur nicht der Präfektur arbeiten, offene Stellen können den Umsatz von Landwirtschaft (links) und Seefischerei einbrechen lassen
vollständig erholt nicht besetzt werden
100
Präfektur offene Stellen
50 000
Japan Fukushima 100
40 000 87 88
Nach dem 79 79
GAU ca. 30 000
48
43
20 000 35
Ende 2015 Arbeitssuchende
10 000
2013
2010 2011 2012
April 2012 2013 2014 Dez. 2010 2011 2012 2013 2014
2011 2015 Umsatz in Prozent des Umsatzes vor dem GAU
Illustration:
Was bisher geschah Christine Rösch
(christineroesch.de)
Der Super-GAU in Fukushima hatte nicht nur für Japan Konsequenzen und Nora
Coenenberg (www.
nocoii.com)

Quelle:
11. März 12. März 15. März 30. Juni 30. September Mai 2012 Dezember 2012 August 2013 August 2015 Februar 2016 Präfektur Fuku-
Erdbeben, Tsunami Versagen der Kühl- Die sieben ältesten Bundestag und Erste Gebiete in Der letzte noch Japans Regierung Tepco teilt mit, dass Der erste Drei Reaktoren shima, TEPCO,
und darauf folgend systeme, Wasser- deutschen AKW Bundesrat der Präfektur aktive japanische wechselt, der täglich 300 Tonnen japa nische laufen wieder. James Daniell
Super-GAU im stoffexplosionen, werden abgeschaltet beschließen den Fukushima werden Reaktor wird angekündigte radioaktiv verseuchtes Reaktor wird Der Strompreis (KIT)
AKW Fukushima Evakuierung einer Atomausstieg bis wieder freigegeben abgeschaltet Atomausstieg wird Wasser aus der wieder in Be- ist 34 Prozent
Daiichi 20-Kilometer-Zone 2022 zurückgenommen Reaktorruine ins trieb genommen höher als vor
Recherche:
um das AKW Meer auslaufen dem Super-GAU
Dirk Asendorpf,
Felix Lill
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1

FEUILLETON
Oscar für seine wahre
Geschichte: Martin
Baron deckte Untaten
von Priestern auf
Seite 54 39

»Ich bin der König


der Welt!«
Wie politisch war die
Oscar-Verleihung wirklich?

Kein Zweifel: Selten kamen bei einer Oscar-


Verleihung so viele politische Themen zur
Sprache. Gleich zu Beginn gelang es Chris
Rock, dem schwarzen Gastgeber der 88. Aca-
demy Awards, auf coole Weise Stellung zu
beziehen zu der Debatte über die Vernachläs-

Fotos: Maurice Weiss/Ostkreuz; Mark Ralston/AFP/Getty Images (r.); Desiree Navarro/WireImage/Getty Images (o.)
sigung schwarzer Künstler bei den Nominie-
rungen. Mit einer genialen Begrüßung brach-
te er sein Leitmotiv des Abends auf den Punkt:
»Welcome to the White People’s Choice Awards!«
Es war eine Meisterleistung, wie Rock mit sa-
tirischer Subversion den Bogen schlug von den
Lynchmorden an Schwarzen im vergangenen
Jahrhundert bis zur amerikanischen Polizei-
gewalt von heute: »Black lives matter.«
Chris Rock setzte den Ton, und die poli-
tische Oscar-Nacht ging weiter. Die Reden
drehten sich um die Verschleierung des se-
xuellen Missbrauchs innerhalb der katho-
Der Streit lischen Kirche (Thema des Siegerfilms Spot-

Das Land diskutiert über Angela Merkels


Flüchtlingspolitik, auch Deutschlands
Denker von Navid Kermani bis Udo di
Fabio. Dabei haben Rüdiger Safranski
und Peter Sloterdijk vor einigen Wochen Lady Gaga bei ihrem
die Bundesregierung attackiert. Safranski Auftritt während
forderte in der Schweizer Weltwoche: der Oscar-Zeremonie
»Man muss in der Nähe der Bürger-
kriegsgebiete Zonen schaffen, wo die light), um den Klimawandel, um unter-
Flüchtlinge in Sicherheit sind, bis der drückte indigene Völker, um kapitalistische
Krieg beendet ist. Etwas anderes kann es Gier. Es ging um pakistanische Ehrenmorde,
nicht geben.« Notfalls müsse man die um die Rechte von Homosexuellen und
Grenzen schließen: »Merkel hat ganz Der Schriftsteller und Philosoph Peter Sloterdijk 2011 in Berlin Transgender-Menschen. Der US-Vizepräsi-
einfach nicht das demokratische Man- dent Joe Biden moderierte als Vertreter einer
dat, ein Land so zu verändern, wie das Kampagne gegen sexuelle Gewalt einen Show-
der Fall ist, wenn binnen Kurzem Aber- act von Lady Gaga. Sie präsentierte ihren Song

Primitive Reflexe
millionen islamische Einwanderer im Til It Happens to You, geschrieben für den
Land sind.« Sloterdijk diagnostizierte im Dokumentarfilm The Hunting Ground über
Magazin Cicero: »Die deutsche Regie- Vergewaltigungen an amerikanischen Univer-
rung hat sich in einem Akt des Souverä- sitäten. Zu den Schlussakkorden traten drei
nitätsverzichts der Überrollung preisge- Dutzend Opfer auf die Bühne und fassten sich
geben.« Und er prognostizierte: »Die und die Sängerin an den Händen.
Politik der offenen Grenzen kann final In der deutschen Flüchtlingsdebatte erleben Rüdiger Safranski und ich Beißwut, Polemik und Aber war es wirklich eine besonders po-
nicht gut gehen.« Daraufhin setzte die litische Oscar-Verleihung? Oder hat die re-
Kritik an den »neuen Nationalkonserva- Abweichungshass. Eine Antwort auf die Kritiker VON PETER SLOTERDIJK flexhafte Vereinnahmung eines Filmpreises
tiven« ein, die »schon den Stahlhelm auf- durch politische Appelle auch etwas Steri-
gesetzt« hätten, wie der Tagesspiegel les, Austauschbares? Wäre heute noch ein

E
meinte: »Stacheldraht ersetzt die Argu- s gibt in den Sozial- und Politik- geistvollen Novelle Der Tod Napoleons vorgeführt grafien, indes man noch immer einen Roman ver- Auftritt wie der von James Cameron mög-
mentation.« Richard David Precht wissenschaften seit Langem ein ge- haben. Sie verstanden sich darauf, zu enthüllen, in misst, der zeigte, wie Adolf H. nach der Entlassung lich, der 1998 mit dem Oscar für Titanic in
fühlte sich im Kölner Stadt-Anzeiger wisses Bedauern darüber, dass man welch eklatantem Maß das Reale selbst varianten- aus der Armee gemeinsam mit einem befreundeten der Hand schrie: »Ich bin der König der
durch Sloterdijks Wortwahl an den SS- mit Gesellschaften, Kulturen und trächtig ist. jüdischen Maler einen florierenden Postkarten-La- Welt!«? Oder die kürzeste Rede überhaupt,
Kommandanten von Auschwitz erinnert: Staaten im Ganzen keine kontrol- Im Allgemeinen jedoch dominiert bei Histori- den in Salzburg eröffnete, bis er schließlich 1932 1968 gehalten von Alfred Hitchcock:
»Wohltemperierte Grausamkeit« – so lierten Experimente durchführen kern wie bei Politologen und Sozialwissenschaftlern bei einer sommerlichen Alpenwanderung durch »Danke vielmals!« Irgendwann jedenfalls
Sloterdijks Charakterisierung von Grenz- kann. Stets bleibt man auf die Be- die Neigung zum Einknicken vor der Faktizität. Steinschlag tragisch verfrüht ums Leben kam. Aus sehnte man sich während dieser Academy
regimen besonders attraktiver Staaten – obachtung von Originalgeschehnissen aufgrund Man konnte dies jüngst anlässlich der Centenar- einem solchen Konjektural-Roman träte ein ande- Awards nach jemandem, der seinen Eltern,
»klingt für mich nach Rudolf Höß.« wirklichkeitsbildender Entscheidungen angewiesen, Veröffentlichungen zum »Ausbruch« des Ersten res 20. Jahrhundert ans Licht. dem lieben Gott und seinem Regisseur ge-
Schließlich kritisierte der Politikwissen- ohne eine vergleichbare Zweitwirklichkeit studieren Weltkrieges beobachten, als sich die Schilderer des Da für die Wissenschaft von sozialen Dingen der dankt hätte.
schaftler Herfried Münkler in der ZEIT zu können, in der alternative Entscheidungen zu Gewesenen zu Dutzenden vor den vollendeten Tat- Weg zum präzis überwachten Experimentieren mit Vielleicht sollte man diese Entwicklung
(Nr. 7/16) Safranski und Sloterdijk als anderen Geschehnissen führen würden. sachen zu Boden warfen. Nur bei wenigen kam die Staaten und Gesellschaften nicht offensteht, müs- einfach dialektisch sehen. Das amerikanische
»Grenzschließer unter den Intellektuel- Klügere Historiker kennen das Bedürfnis nach Einsicht zur Sprache, dass es sich letztlich um einen sen sich die Interessierten nach anderen Ansätzen Showbiz gibt sich auf geradezu rührende Weise
len«, deren »Denken in Metaphern« sie Konjektural-Geschichte. Sie befriedigen es gele- völlig überflüssigen Krieg gehandelt hatte, bei des- umsehen, wie man das offene Spiel des Werden- seriös, weil die amerikanische Politik gänzlich
daran hindere, »analytisch zu durchdrin- gentlich, indem sie die Frage »Was wäre gewesen, sen Auslösung der Zufall, die Fahrlässigkeit und die Könnenden auf dem Weg zur Gerinnung ins Fak- zum Showbiz, zum Zirkus, zur Arena ver-
gen, worüber sie redeten«. Jetzt reagiert wenn« mit rationalen Spekulationen über andere Verblendung – auch politischer Somnambulismus tische sichtbar macht. Tatsächlich finden sie einen kommen ist. Und die Oscar-Verleihung, ei-
Sloterdijk auf seine Kritiker. Der 68- Verläufe beantworten. Freiere Hand hinsichtlich genannt – sich die Hand reichten. Die meisten ver- derartigen Ansatz, der das Experiment teilweise er- gentlich globaler Inbegriff des Entertainments,
jährige Philosoph war in der deutschen der Plastizität des Zufälligen in der Geschichte ha- beugten sich in Resignation vor der Übermacht des setzt, sobald eine Gesellschaft und ihr Staat von wird zum politischen Symposium, während
Öffentlichkeit an fast allen intellektuel- ben ironiebegabte Romanciers, die dem So-und- Faktischen, als wollten sie Shakespeare recht geben, starken Krisen erschüttert werden. auf der politischen Bühne der USA ein Trash-
len Diskussionen der letzten Jahrzehnte nicht-anders-gewesen-Sein der wirklich geworde- wenn er in Macbeth schrieb, das Leben sei ein Mär- Begreiflicherweise leben Politologen und Sozio- Western mit Donald Trump in der Hauptrolle
beteiligt. Im Frühjahr erscheinen von nen Dinge den Kredit entziehen und aus den Bau- chen, erzählt von einem Idioten, voller Klang und logen auf, sobald sich größere Krisen abzeichnen. gedreht wird. K ATJA NICODEMUS
ihm im Suhrkamp Verlag Was geschah im steinen des Faktischen ganz andere Geschichten Raserei, signifying nothing. Aufgrund derselben Dis- Sie tun dies nicht nur, weil sie sich in solchen Zeiten
20. Jahrhundert? sowie sein Roman Das zusammensetzen – wie es Dieter Kühn in seinem positionen biegen sich die Bibliotheksregale unter Zum Oscar-Film über den Missbrauch in der
Schelling-Projekt. stimulierenden Roman N und Simon Leys in der der Last von Hunderten faktensüchtiger Hitler-Bio- Fortsetzung auf S. 40 Kirche siehe auch Glauben & Zweifeln, S. 54
40 FEUILLETON 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

Primitive Reflexe Fortsetzung von S. 39 In einer anderen Terminologie würde man vom Die Nuancenvernichtung stützt sich auf einen Ein kurzes Wort will ich anfügen zu der Pole- situativ richtig war, weil sie die plötzliche Wieder-
Einbruch der schlechten Spontaneität sprechen. furchtbaren Verbündeten: das menschliche Be- mik von Herfried Münkler gegen Safranskis und verhässlichung Deutschlands aufhielt. Sie ist es in-
weniger ungebraucht fühlen als sonst, sondern Schlecht ist Spontanes dann, wenn es die Brutali- dürfnis, recht gehabt zu haben und zu behalten. meine Äußerungen über deregulierte Migrationen zwischen gewiss nicht mehr. Dass die Kanzlerin
vor allem, weil in umfassenden Krisen die Fabrik sierung des verbalen und physischen Verkehrs un- Dass Menschen in ungewissen Welten an internen und übers Ufer getretene Flüchtlings-»Ströme«. sich mit der Gegensteuerung zu viel Zeit ließ, ist
des Sozialen, das komplizierte System der Stützen terstützt. Man darf davon überzeugt sein, Pawlow Kontinuitätskonstrukten arbeiten, versteht sich Der Fall hat eine aparte Seite, da Münkler kein als objektiver Fehler zu notieren. Doch selbst Otto
und Halterungen, die das unüberschaubare Gan- hätte die Entwicklung der deutschen Debatten mit ohne Aufwand. Die gelassene Beobachtung sol- kleiner Kläffer ist, wie ein Philosophie-Journalist von Bismarck bemerkte seinerzeit, seine als souve-
ze verfugen, viel deutlicher hervortritt als zu großem Interesse betrachtet. Er würde sich in sei- cher Manöver zu je eigenen Gunsten gilt als die aus der Narren-Hochburg Köln, der offensichtlich rän wahrgenommene europäische Gleichgewichts-
»normalen Zeiten«. Das gibt den Experten für ner reflexologischen Grundansicht bestätigt füh- Vorschule des Humors. Dieser weiß, das Ich-lüge- immer noch nicht weiß, wer und wie viele er ist. politik sei nicht mehr als »ein System von Aushil-
politische Dinge einen Zuwachs an Deutungs- len, sofern es tatsächlich oft nichts anderes als Aus- also-bin-Ich gehört zur Grundausrüstung jedes Münkler jedoch hat sich als Autor von Statur er- fen« gewesen. Der mächtigste Mann in Europas
kompetenz. Ein englisches Diktum sagt: Man’s löser-Zeichen sind, die bei Teilnehmern an aktuel- Einzelnen, der zu den Gerechtfertigten gehören wiesen. Umso erstaunlicher jüngerer Geschichte, Napo-
calamity is God’s opportunity – was wohl bedeuten len Diskussionen den Speichel fließen lassen, sollte möchte. Das Ich-sehe-wie du-dich-Gutlügst wird bleibt seine Fehllektüre-Leis- leon Bonaparte, bekannte in
soll, in der Not werde der Mensch für Transzen- es auch bereits digitaler Speichel sein. Bei manchen Teil entweder der Menschenverachtung oder des tung, die er in einem Artikel Herfried Münkler seinen Memoiren von Sankt
denz empfänglicher. In freier Analogie hierzu semantischen Stimuli wie »Grenze«, »Zuwande- Allesverstehens. dieser Zeitung von vor weni- sollte seine Helena, die Wahrheit sei, dass
könnte man bemerken, die Notstände der Gesell- rung« oder »Integration« ist die Futtererwartung Man hat zu wenig Aufmerksamkeit darauf gen Wochen zum Besten ge- er nie Herr seiner Handlun-
schaften seien Glücksfälle für den Sozialtheoreti- des erfolgreich dressierten Kulturteilnehmers so verwendet, dass in einer alphabetisierten Zivilisa- geben hat.
Ungezogenheiten gen gewesen sei. Man wäre
ker. Wo der gute Wille zur Theorie aufkommt, fest fixiert, dass der Saft sofort einschießt. Solange tion das Lügen eine Variante entwickelt: das ab- Es trifft zu, dass Safranski überdenken schlecht beraten, wollte man
erkennt man ihn an dem methodischen Amora- auf Foren genässt wird, darf man vermuten, die sichtliche schlechte Lesen, das heißt die prakti- und ich gegen die »Flutung« von einer in Vagheiten er-
lismus, der fordert, vitale Interessen und lokale Absonderungen blieben harmlos. Pawlows Hund sche Ausübung des Nuancen-Mords. Es sind na- Deutschlands mit unkontrol- fahrenen Übergangsfigur wie
Befangenheiten für die Dauer der Untersuchung hat ja nie jemanden gebissen, selbst wenn man ihn turgemäß politisierte oder politologisierende In- lierbaren Flüchtlingswellen Bedenken ausgedrückt Frau Merkel mehr erwarten als von jenen profil-
einzuklammern. Es ist behauptet worden, Theo- mit leeren Signalen abspeiste. tellektuelle, die bei diesem Vergehen die Täter- haben. Aus meiner Sicht bringen unsere Einlas- starken Heroen. Die Mäßigung der Ansprüche
rie, die etwas taugen soll, gedeihe nur in kühl- Unterhalb der Ebene kulturell erworbener be- statistik überproportional bevölkern. Sie fallen sungen eine linkskonservative Sorge um den ge- ändert am riskanten Gang der Dinge wenig. Auch
trockenen Räumen. »Guter Geist ist trocken«, dingter Reflexe brechen sich zugleich die vorkul- dadurch auf, dass sie Ideen umzingeln wie Frauen fährdeten sozialen Zusammenhalt auf den Begriff. die Fehler mittlerer Akteure vermögen auf längere
sagte vorzeiten Paul Valéry; Nietzsche hatte sinn- turellen Reflexe Bahn. Sie äußern sich in primärer in Silvesternächten. Linkskonservatismus, der meine Farbe ist seit Lan- Sicht bösartige Folgen nach sich zu ziehen. Dass
gemäß vorausgeschickt, wer denken will, muss Beißwut, in Abweichungshass und Denunziations- Der Verfasser dieser Zeilen hat aktuell Gelegen- gem, rechnet unter die Nuancen, die in Gefahr Politik sich mehr und mehr zum Fatalitäts-
gut frieren können. bereitschaft. Man kann in solchen Regungen die heit, die Wirksamkeit nivellierender Mechanismen sind, im differenzenfeindlichen Klima ausgelöscht management wandelt, liegt in der Natur multi-
Rache der unbedingten Reflexe an den bedingten dieses Typs zum soundsovielten Mal zu beobachten. zu werden. Aus meinen Optionen lesen diverse faktorieller Prozesse. Das Spiel mit dem Zufall
Auch die gegensätzlichsten Beobachter der erkennen. Wo Hemmungen am Werk sind, kön- Nach der Veröffentlichung eines Interviews im Fe- nuancenblinde Kommentatoren »nationalkonser- wird seinerseits immer zufälliger. Die Kunst, den
deutschen Zustände dieser Tage sind sich in Bezug nen Enthemmungen nicht weit sein. Das be- bruarheft der Debatten-Zeitschrift Cicero, das einige vative«, um nicht zu sagen neu-rechte Tendenzen Zufall zu zähmen, erweist sich als schwerer erlern-
auf eine Wahrnehmung einig: Es gibt einen hefti- bar denn je. Sie ist zur Stunde beim deutschen
gen Temperaturanstieg im nationalen Debatten- Außenminister in guten Händen.
klima. Während unser linksrheinischer Nachbar, Ich würde es begrüßen, wenn die ZEIT Rüdi-
seit geraumer Zeit zu unserem Erb-Freund mu- ger Safranski, Herfried Münkler und mich selbst
tiert, sich schon jahrelang leise fröstelnd seiner in fünf Jahren, sollten wir uns dann noch unter
Enttäuschung an sich selbst hingibt und mit uni- den Lebenden befinden, zu einem Austausch unse-
Foto: Nick Vedros & Assoc./Getty Images

polaren Depressionen ringt, ökonomisch wie psy- rer Perspektiven auf ein Podium einladen wollte.
chosozial, hat sich das Klima auf deutschem Bo- Qui vivra, verra. Ein Abgleich von Fehlbarkeiten
den eindeutig in die manische Richtung verscho- müsste für diejenigen, die später am Status quo an-
ben. Wir haben die 2-Grad-Grenze der tolerablen zuknüpfen haben, informativ sein.
Erwärmung bei Weitem überschritten. Im deut- Ich würde Herrn Münkler dann erneut die Frage
schen Mikroklima konstatiert man eine neue Auf- stellen, wie er seine erstaunliche Wandlung vom ge-
geregtheit, wie man sie seit den Tagen der RAF- lehrten Imperium-Versteher – eine Position, die man
Bekämpfung in den späten Siebzigern nicht mehr in Grenzen mitvollziehen kann – zum Kavaliers-Po-
gekannt hatte – im Übrigen eine bis heute unbe- litologen rechtfertigt, als welcher er jetzt Frau Merkels
griffene psychopolitische Lektion. Schon zu jener unbeirrbar konfusem Handeln ein grand design unter-
Zeit hatte sich gezeigt, was später im Umgang mit stellt. Offenbar verkennt er mit Absicht, in welchem
wiederkehrenden Terroranschlägen zur üblen Ausmaß politische Direktiven heute auf autohypno-
Normalität werden würde: dass eine Population tischen Mechanismen beruhen. Die Unmöglichkeit,
von 60 oder 80 Millionen Menschen sich durch den rechten Weg zu erkennen, wird mehr und mehr
eine Handvoll Krimineller, die sich als Kämpfer mit Selbstsuggestionen kompensiert. Im Reich der
gebärden, dank maßloser Übermediatisierung Autohypnose möchte man gern glauben, dass nicht
nadelstichartiger Angriffe in einen Zustand pani- nur Träume, sondern auch magische Formeln wahr
schen Thrills versetzen lässt. Die Einsicht wartet werden.
noch immer auf Nachvollzug, wonach der Baader- Erstaunlich ist, dass das autohypnotische Re-
Meinhof-Komplex eine systemisch bedingte Nie- gime für Politiker wie für Politologen gilt. Herr
derlage des Journalismus, ja des Mediensystems im Münkler will offensichtlich gern als Mitwisser ei-
Ganzen bedeutete. Faktisch funktionierte die me- ner an der Spitze des deutschen Staatswesens wal-
diale Spiegelung der Anschläge als der intensivste tenden strategischen Vernunft hervortreten. Sa-
Terror-Reklame-Service. Im Übrigen hätte es ge- franski und ich seien neben ihm nur unwissende
nügt, Lenins Dekrete über den Roten Terror von Privatiers. Wie gerne wollte ich, er behielte recht.
1918 wieder zu lesen, um zu begreifen, dass Terror Sind nach mehreren Jahren der bejahten Überrol-
nichts anderes als eine Version der Publizistik dar- lung erst einmal fünf Millionen Asylanten im
stellt. Leider sucht man dieses Dokument auf den Land, kann man nur noch dafür beten, es möge
Leselisten für Journalistikstudien bis heute vergeb- einen Masterplan gegeben haben. Vielleicht füllt
lich. Nur wer McLuhan und Lenin nebeneinander sich Merkels bis heute haltlose Rede von der »eu-
liest, wird verstehen, wieso das Medium die Bot- ropäischen Lösung« in den kommenden Jahren
schaft sein will. doch noch mit brauchbarer Substanz.
Man darf es als eine Ironie der Ideengeschichte Ich frage, mit Blick auf die jüngeren Beispiele
ansehen, wenn heute mehr als ein Grund erkennbar von Strategen-Scheitern: Waren nicht auf der
wird, warum man sich heutzutage erneut mit den weltpolitischen Bühne seit Jahrzehnten die stolzen
Pionieren der »materialistischen Psychologie« in der Konfliktberater und Strategien-Schmiede regel-
frühen Sowjetunion, namentlich Pawlow und Bech- mäßig die Blamierten, vom Vietnamkrieg bis zu
terew, befassen sollte. Vergessen wir für einen Mo- den irakischen und syrischen Debakeln? War
ment, was die meisten ohnehin nicht wussten: dass nicht die »strategische Rationalität«, vor allem in
Pawlow einer der größten Tierquäler der Menschheit- der münklerisch gedeuteten imperialen Außen-
geschichte war. Halten wir uns an das Bekannte: Er politik der USA, das Einfallstor der fatalsten Fehl-
Wenn die Glocke klingelt, fließt beim Hund
war der Entdecker eines der mächtigsten psycho- leistungen? Diente »Strategie« nicht stets als Aus-
der Speichel: Diesen Reflex entdeckte
physischen »Mechanismen«, die jemals experimentell rede für zukunftsblinden Interventionismus, be-
Iwan Petrowitsch Pawlow (1849–1936)
offengelegt wurden. Der Pawlowsche Hund wurde ginnend mit der Destabilisierung unwillkomme-
neben Laika, der Weltraum-Hündin, und neben ner Regime, endend mit der Überlassung ruinier-
Andy Warhols Cola-Dosen zu einer Welt-Ikone des ter Staaten an Chaos, Terror und nie beendbaren
20. Jahrhunderts, weil er die Darstellung des Kausal- wundernswerte Hemmungssystem »Hochkultur« mediologische Notizen zum Phänomen des Terroris- bis hin zur Unterstützung von irrwitzigen AfD- Bürgerkrieg? Diese Art von Strategie-Versteherei
zusammenhangs zwischen Zeichenwelt und Physio- überlebt aber nur, indem es Einbrüche aus dem mus und Anmerkungen zum Souveränitätsdefizit in Positionen heraus. Doch wer »herausliest«, liest auf der Basis von forscher Imperiophilie möge uns
logie in die Öffentlichkeit trug. Pawlows Hund ist Barbarischen, das heißt aus der Sphäre der der Berliner Asyl- und Einwanderungspolitik enthielt, hinein. Eine törichtere Verzerrung meiner An- weiterhin erspart bleiben.
ein so tragisches und betrogenes Tier wie Charlie Primär-Reflexe, früh genug in Schach hält. Eine überdies einen Hinweis auf die Verletzbarkeit und sichten und deren Begründungen lässt sich kaum Als nachdenklicher Staatsbürger der BRD, aus-
Chaplins Tramp der Archetypus des komischen ar- in Gang gesetzte Enthemmung des Primitiven Schutzwürdigkeit von Grenzen, brach ein Sturm von vorstellen. Ich habe nie einen Zweifel daran gelas- gestattet mit kritischen Impulsen klassisch euro-
men Tropfs war. Dass ihm der Speichel fließt, nur auf (auch wenn es ein »erworbenes Primitives« ist) »Kommentaren« los, der in keinem sinnvollen Ver- sen, dass ich, obschon von der universalistischen päischer Prägung, doch ohne mephistophelische
das Zeichen hin, das anfangs die Fütterung begleite- lässt sich nur noch schwer zurückdrängen. Dies hältnis zum Anlass steht. Linken herkommend, mit den Jahren auch lernen Ambitionen, würde ich wünschen, dass Herrn
te, auch wenn es später kein Futter mehr gab, enthält sollte man sich in Bezug auf ein Phänomen wie Es handelte sich offenkundig um einen Fall von wollte, bewahrenden »partikularen« Interessen Münkler auch in fünf Jahren noch eine akzeptable
einen abgründigen Hinweis auf die symbolabhängi- die »Alternative für Deutschland« vor Augen hal- Reflex-Polemik im Gewächshaus der diskutierenden ihr Recht zu lassen. Dies tue ich unter der Prä- Antwort auf die Fragen einfällt, die hiermit an-
ge Dressierbarkeit von lernfähigen Lebewesen. Die ten. Seit je ist das Schlimmere die Alternative Klasse. Den Anfang setzte ein Schnellschuss im misse, dass das freiheitsbewusste Partikulare bis gedeutet sind. Bis dahin sollte ein größerer Teil
Physis wird von der Zeichensphäre überlistet. zum Schlimmen. Berliner Tagesspiegel, in dem ein Übererregter es für auf Weiteres das einzig tragfähige Vehikel des des Publikums den Unterschied zwischen Ant-
Pawlow selbst schreckte Wer in den letzten Mona- klug hielt, über »Stahlhelme« auf den Köpfen von Universalen sei. worten und Ausreden besser eingeübt haben als
vor Anwendungen seiner Ent- ten einen Blick auf die De- vorgeblich »nationalkonservativen« Intellektuellen Da ich aber unter Intellektuellen nie an »Miss- heute. Um offen zu reden: Es wäre für Herrn
deckung auf Humangesell- Die Enthemmung des battenseiten sogenannter so- zu fabulieren. verständnisse« glaube (bei Naiven ist das anders), Münkler und für die Bürger unseres Landes, alte
schaften nicht zurück. Als Primitiven marschiert zialer Medien warf, konnte Ist es auch Schwachsinn, hat es doch Methode. sondern durchweg von intentionalen Falschlektü- und neue, eine enorme Erleichterung, könnten
tapferer Materialist übertrug nicht verkennen, in welchem Hätte sich der Verfasser mit meinen allgemein zu- ren ausgehe, das heißt bedingten Reflexen zweiten wir im Jahr 2020 sagen, Frau Merkel habe gegen
er, vom frühsowjetischen Zeit-
und lässt sich nur noch Ausmaß sich die Enthem- gänglichen Überlegungen zur Differenz zwischen Grades, halte ich es für sinnvoll, den Motiven von ihre Kritiker recht behalten. Wunder geschehen
geist beflügelt, das Muster des schwer zurückdrängen mung in Marsch gesetzt hat. modernen starkwandigen Container-Gesellschaf- evidenten Fehldeutungen nachzugehen. Für den aber nicht auf Bestellung.
bedingten Reflexes auf das Frühere Beobachter vergleich- ten und postmodernen dünnwandigen Membran- Augenblick beschränke ich mich auf den Fall In der Zwischenzeit, denke ich, sollte Herr
menschliche Zusammenleben barer Prozesse haben deren Gesellschaften (als zwei Aggregatzuständen von Münkler, da bei ihm keine pawlowschen Stich- Münkler die Gelegenheit nutzen, seine okkasio-
im Ganzen und deklarierte alles, was wir Kultur Dynamik längst hellsichtig auf den Begriff ge- Nationalstaatlichkeit) befasst, die ich im Kontext wort-Mechanismen unterstellt werden müssen. nellen Ungezogenheiten zu überdenken. Offenbar
nennen, zu einem riesenhaften Komplex aus be- bracht, wenn sie bemerkten, die Zivilisation sei zu der Sphären-Theorie von 1997 bis 2004 und in Seine Irritation durch Äußerungen von Safranski
dingten Reflexen. Scheinbar autonome Diszipli- jeder Zeit nicht mehr als ein dünner Firnis von dem Buch Im Weltinnenraum des Kapitals ent- und mir sollten in der Sache von anderer als bloß
nen wie Soziologie, Politologie, Kulturtheorie Konventionen über latenten, stets ausbruchsberei- wickelt hatte (unter Wiederverwendung von reflexologisch zu deutender Art sein.
und Semiotik, sie alle werden damit zu Sonder- ten Primitiv-Energien. Überdies sagt historische Dostojewskijs Metapher des Kristallpalasts), wäre Tatsächlich entwickelt sich unser Dissens aus
fällen der höheren Reflexologie. Auch die Erfahrung, dass keine Infamie lange warten musste, ihm seine kenntnisarme Selbsterhitzung erspart gegensätzlichen Beantwortungen der Frage, ob die
Strategiekunde, nicht selten (neben der Ästhetik) bis sich jemand bereitfand, sie zu begehen. geblieben. Merkel-Politik angesichts der Flüchtlingswelle seit
für das Summum situativer Urteilskraft gehalten, Im Übrigen stellt es ein klassisches Pawlow-Phä- dem letzten Sommer mehr ist als eine hilflose Re-
erscheint im Licht dieser ultrakühlen Logik bloß In einer Situation wie der heutigen kann sich ein nomen dar, wenn man nun sogar Rüdiger Safranski aktion auf Unerwartbares. Safranski und ich ha-
als eine Form der reflexiven Handhabung von be- Intellektueller als solcher nur betätigen und bestä- als xenophoben Extremisten und als Stimmungs- ben, unabhängig voneinander, der Volksmeinung
dingten Reflexen. tigen, indem er sich zu Spinozas Maxime bekennt: macher für rechtslastige Agitationen darstellen woll- recht gegeben, die in breitester Mehrheit dem Ein-
Wendet man sich, mit diesen Hinweisen vor »Nicht lachen, nicht Trübsal blasen, nicht verach- te. Ich habe in meinem Leben keinen großherzigeren, druck zustimmt, es habe sich bei der Merkelschen
Augen, dem zu, was sich in Deutschlands aktuel- ten, sondern Einsicht üben.« Nichts ist in der kol- menschenfreundlicheren und integrativeren Geist Willkommens-Propaganda um eine Improvisation stammen seine polemischen Thesen (er war erregt
ler »Debattenkultur« abspielt, so begreift man lektiven Konfusion mit ihren Überhitzungen und kennengelernt als ihn. Mit seinem gesamten Werk in letzter Minute gehandelt, die aus einer Verle- genug, meine und Safranskis Sorgen-Thesen als
unmittelbar das Drama des Kulturverlusts, das Zuspitzungen so ratsam und heilsam wie der Wille hat sich Safranski um die Versöhnung einer ge- genheit eine überlegte Maßnahme machen wollte. unbedarftes »Dahergerede« zu bezeichnen) doch
sich in den »sozialen Medien« wie in den ver- der Rückkehr zum intellegere – was bekanntlich so schichtskranken Kultur mit ihren besseren Potenzia- Eine solche Deutung wäre im Übrigen ganz be- auch zum Teil aus der Sphäre der vorkulturellen
meintlichen Qualitätsmedien täglich abrollt. viel wie »lesen in Zwischenräumen« bedeutet. len bemüht. Dank einer Reihe exzellenter Bücher über greiflich und nicht unbedingt ehrenrührig. Politik Reflexe, nicht zuletzt aus dem Revierverhalten
Nimmt man zur Kenntnis, dass Kultur von be- Man weiß, das erste Opfer der steigenden Pole- einige Große unserer Kunst- und Ideengeschichte in der überkomplexen Moderne ist in weitaus hö- und dem Streben nach Deutungshoheit. Sind un-
dingten Reflexen getragen wird und dass Zu- mik ist die Nuance. Wir haben es seit einer Weile hat er zahllosen Zeitgenossen den Zugang zu den herem Maß improvisatorisch bestimmt, als das sere Sorgen nicht zu real, als dass sie auf die Ebene
rückhaltung den Basishabitus von höherer Kul- mit einem bedenklichen Zug zur Nuancen- Klassikern deutscher Sprache neu erschlossen. Dass Wählervolk, das lieber an eine weit planende Intel- von Gezänk zwischen Krisen-Interpreten gezogen
tur in genere darstellt, so liegt auf der Hand, wie vernichtung zu tun – bedenklich vor allem des- sein Name jetzt von politischen Krankheitsgewinn- ligenz von oben glaubt, wahrhaben möchte. Dass werden dürften? Es kann nicht wahr sein, dass
sehr die Aufheizung des Debattenklimas in unse- wegen, weil allgemeine Lebenserfahrung weiß, lern für eine Agitation gegen einen Autor, der ihr es auf den Kommandohöhen nicht selten windig ausgerechnet unter Intellektuellen die unbeding-
rem Land auf eine Tendenz zur Entkulturalisie- dass zwischen Gut und Böse gelegentlich nur haar- Therapeut hätte sein können, mobilisiert werden soll, zugeht, will kaum jemand sich klarmachen. Es ten Reflexe gegenüber den bedingten die Ober-
rung hindeutet. feine Unterschiede liegen. kann man nur als Verkehrung ansehen. mag sogar sein, dass Angela Merkels erste Reaktion hand gewinnen.
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 FEUILLETON 41

Foto (Ausschnitt): Wolfgang Stahr für DIE ZEIT (Berlin, Hotel Oderberger, Februar 2016)
Maxim Biller im Berliner Hotel Oderberger: »Wenn ich jetzt 15 und nicht ich wäre, hätte ich die größte Lust, kurz Nazi zu werden«

DIE ZEIT: Herr Biller, demnächst erscheint ein Erleben etwas anderes: Zum Beispiel ist es mir un- spiel bei der jahrelangen Finanzierung der linken auf ein eigenes Ich, die eigene Biografie. Ich glaube Ich will nicht wissen, in wie vielen Wohnzimmern
Roman von Ihnen, er heißt Biografie und hat 900 möglich, über den Holocaust zu schreiben. Natür- Zeitschrift konkret. im Übrigen, dass die deutsche Geschichte erst 1989 von Wedding und Neukölln jeden Abend der
eng bedruckte Seiten. lich schreibe ich im Buch auch über den Holocaust. ZEIT: Dass es viele Verschwörungstheorien gibt, wieder begonnen hat. Man schließt heute wieder an Hisbollah-Sender Al-Manar läuft. In Berlin wer-
Maxim Biller: Ich habe 200 Seiten rausgeschmissen. Aber er beschäftigt mich in dem Sinne, dass ich heißt nicht, dass es keine Verschwörungen gibt? 1914 an oder das Jahr der Weltwirtschaftskrise. den immer wieder jüdische Fußballmannschaften
ZEIT: Oh, das muss hart gewesen sein. mich frage, welche Spuren er bei den Überlebenden Biller: Genau. ZEIT: Haben die Deutschen eigentlich Humor? von arabischen und sogar türkischen antisemitisch
Biller: Im Gegenteil. Ich hätte gern noch mehr ge- und den folgenden Generationen hinterlassen hat. ZEIT: Machen Sie sich überhaupt keine Sorgen, Biller: Ich überlege gerade, wie ich auf diese rheto- beschimpft und verprügelt. Aber das interessiert
strichen, aber es ging nicht. ZEIT: Na ja, es gibt ein paar sehr konkrete Parallelen dass man in Ihrem neuen Roman nach Spuren rische Frage witzig antworten könnte ... Nein, ich den vergangenheitsbewegten Deutschen natürlich
ZEIT: Man braucht Urlaub, um ihn zu lesen. Er ist zu Ihrem Leben, schon die Familie: tschechisch- lebender Personen sucht? Um Ihren Roman Esra weiß auch nicht, ob sie mit dem jüdischen Humor nicht. Und jetzt kommt doch Freud ins Spiel: Es
deutlich länger als die Blechtrommel von Grass. russischer Hintergrund, eine Intellektuellenfamilie, gab es 2003 einen Riesenwirbel. Er darf bis heute meines Buches etwas anfangen können, mit den gibt offenbar eine unbewusste, klammheimliche
Biller: Zum Glück. Da habe ich ihm etwas voraus. eine Schwester. Im Buch ist der Vater des Erzählers nicht erscheinen, weil sich eine ehemalige tragikomischen Situationen, und mit dem vielen Solidarität mit den Gegnern Israels. Die Deut-
ZEIT: Dumme Frage: Warum musste es nur so ein kommunistischer Spitzel, zumindest denken das Freundin von Ihnen und deren Mutter wiederer- Sex. Es gibt ja in der deutschen Literatur keinen Sex. schen vergessen: Zuerst trifft es immer die Juden,
umfassend werden? alle, und der Erzähler entdeckt belastende Doku- kannt glaubten. ZEIT: In fast jedem zeitgenössischen Roman gibt aber dann kommt ihr auch dran.
Biller: Dumme Antwort: Ich habe, wenn ich an- mente. Ihr Vater war nicht zufällig ein Spitzel? Biller: Ich habe vor etwas ganz anderem Angst. es doch heute Sex im Überfluss. ZEIT: Die Deutschen scheinen bei Ihnen ein un-
fange zu schreiben, nie eine Ahnung, wie lang ein Biller: Ach was, aber natürlich gibt es auch bei uns Neulich traf ich eine Buchhändlerin. Die sagte, sie Biller: Nein, und wenn, dann immer sehr indirekt, erschöpfliches Thema zu sein.
Buch wird. Ich habe oft nur den ersten Satz, in Familiengeheimnisse. Wir sind 1970 nach Ham- freue sich auf meinen Roman. Da sagte ich zu ihr: oder es driftet ab ins Fäkale. Deutsche Leser sind Biller: Ja, und wissen Sie, warum? Weil ich mit mei-
diesem Fall den Halbsatz »Vielleicht, aber nur viel- burg gekommen und lebten im Kreise von jüdischen »Ach, weißt du, das ist nichts für dich. Lies lieber prüde. Außer sie lesen das Buch eines Amerikaners. ner Literatur zur deutschen Literatur gehören
leicht wäre alles anders gekommen, wenn ...« Ich und osteuropäischen Emigranten. Man besuchte Uwe Tellkamp oder Heinz Strunk.« Mein Roman Quod licet Iovi, non licet bovi – was dem Jupiter er- möchte – es ist wahrscheinlich das alte Heinrich-
hatte diesmal noch die Idee gehabt, eine Geschichte sich fast jeden Tag, natürlich unangemeldet, und ich ist rasant geschrieben, eine einzige Kaskade, das laubt ist, ist dem Ochsen nicht erlaubt: Wenn Philip Heine-Drama – und hoffentlich auch gehöre, ich
über zwei beste Freunde zu schreiben. habe alle möglichen Biografien kennengelernt. Und Tempo ist enorm hoch. So schreibt weder ein deut- Roth pornografisch wird, dann liebt man das. Bei stehe ja zum Glück nicht außerhalb. Ich will meine
ZEIT: Da ist Solomon, der Ich-Erzähler, ein halb- mir hat man das immer gehasst. Ist ja klar, Amerika Welt teilen. Und ich will, dass die Deutschen ihre
erfolgreicher Schriftsteller, und Noah, der reiche ist weit weg. Aber wenn die 50-jährige Ärztin von Welt mit mir teilen. Na ja, vielleicht nicht immer.
Hallodri, der alles und nichts macht: Filme, Welt- einem deutschen Gegenwartsautor in ihrer Sexuali- Allein wenn ich sehe, wie man hier mit den Kindern
verbesserungsprojekte, überhaupt ein Abenteurer, tät infrage gestellt wird, dann ist die Hölle los. Ich umgeht! Preußen ist ja nicht totzukriegen. Wenn in
dem immer alles missglückt. Und der auch noch im
Sudan von Islamisten entführt worden sein soll.
Dann eint fast alle Protagonisten, dass in ihren Fa-
milien der Holocaust wütete. Es ist fast unmöglich,
dieses burleske, satirische Buch zusammenzufassen.
»Die Deutschen hoffe, ich mache mit meinen Vorsicht-bissiger-Jude-
Warnungen auf das Buch jetzt besonders neugierig.
ZEIT: Ist Ihr Buch eigentlich frauenfeindlich? Es ist
ja nicht nur so, dass genau beschrieben wird, wo die
Fingerchen überall hinwandern können. Über meh-
Prenzlauer Berg ein Kind hinfällt, bleibt die generv-
te Mutter bloß stehen und sagt: »Stell dich nicht so
an!« Eine russische Mutter rennt zu ihrem Kind,
reißt es hoch und bedeckt es mit Küssen.
ZEIT: Die Friedfertigkeit der Russen ist besonders

kriegen es ab«
Biller: Ich mag drei Arten von Literatur. Erstens: rere Seiten hinweg wird zum Beispiel darüber räso- berüchtigt.
die kurze, glasklare, hemingwayhafte Prosa. Zwei- niert, warum so viele Frauen eigentlich so dick sind. Biller: Okay, vielleicht müssen wir ein anderes
tens: den klassischen Roman mit einem allwissen- Biller: Es gibt keine frauenfeindliche Literatur, Volk als Gegenbeispiel nehmen. Ich wollte eh auf
den Erzähler. Drittens aber Romane, die gleich- wenn sie gut ist. Aber ich kenne das: Schon bei mei- etwas anderes hinaus: Die Deutschen haben ihre
zeitig wahnsinnig witzig und wahnsinnig ernst nem ersten Buch murrten die Buchhändlerinnen. Traumata bis heute immer weitervererbt, das ver-
sind. Die dritte Gattung ist selten, die gibt es in In Wahrheit hatte es aber eher damit zu tun, dass ich gessen sie, verdrängen sie, was auch immer. Trau-
Deutschland eigentlich gar nicht. Joseph Heller hinterher nichts mit ihnen trinken gehen wollte. mata schreiben sich aber ein, seelisch und, wie
hat ernsthafte Werke voller Humor geschrieben, Maxim Biller ist Schriftsteller und Kritiker beim »Literarischen Quartett«. ZEIT: Es gibt in Ihrem Roman auch satirische Sze- man inzwischen weiß, sogar genetisch. Deshalb
oder Jaroslav Hašek mit seinem Schwejk. Warum wird sein nächster Roman »Biografie« 900 Seiten lang? Wie wird nen, vor allem dann, wenn die Deutschen die Welt ist es ja so wichtig, über Biografien zu sprechen,
ZEIT: Ihr Buch steckt voller Gags, Sex spielt eine ihn wohl Christine Westermann finden? Und: Fürchtet er sich vor einem verbessern wollen. wie ich es in meinem Buch versuche. Das hilft,
ungeheuer große Rolle, das Buch ist versaut und Biller: Es ist das einzige Volk, das seine Opfer be- sich selbst zu verstehen, vielleicht sogar den einen
pornografisch. Es gibt fast keine Seite – ich über-
neuen Antisemitismus angesichts der Flüchtlingskrise? trauert. Immer wenn ich am Holocaust-Mahnmal oder anderen Defekt loszuwerden. Klingt schon
treibe nur leicht –, auf der nicht der Aggregat- in Berlin-Mitte stehe, denke ich aber, das ist gar kein wieder nach Freud, oder? Die Juden haben es mit
zustand von Penissen, kunstvolle Prostatamassagen Mahnmal, das ist ein Triumphbogen. Und dann ihren Biografien übrigens einfacher. Sie erinnern
oder die Wirkung von Peitschenhieben verhandelt gibt es derzeit diesen staatlich verordneten Anti- sich an ihre Vorfahren, an ihre Geschichte, das
werden. Warum eigentlich? damit alle möglichen, auch schuldhaften Verstri- scher noch ein amerikanischer Autor. Das Tempo ist faschismus. Wenn du den ganzen Tag den Leuten tun sie seit dem babylonischen Exil. Weil es über
Biller: Das kann ich nicht sagen. Ich weiß beim ckungen, wobei die meisten Menschen eher schwach heute in die amerikanischen Serien abgewandert, in eintrichterst: Wir waren Nazis, und ihr dürft keine lange Zeit kein Land gab, das sie bewohnten, war
Schreiben nicht, was mich lenkt. Ich bin zum Glück als böse sind. Oder böse sind, weil sie schwach sind. Romanen geht es eher gemächlich zur Sache. sein ... also, wenn ich jetzt 15 und nicht ich wäre, die Erinnerung an die Vorfahren eben ihr Land.
noch ahnungsloser als der spätere Leser. Oder soll ZEIT: Der Kommunismus basierte auf einer Kul- ZEIT: Nehmen wir an, das stimmt. Woran liegt das? hätte ich die größte Lust, kurz Nazi zu werden. Die Deutschen haben ein Land, aber keine Er-
ich etwa mein eigenes Buch interpretieren? tur des Verdachts. Auch darum kreist Ihr Buch. Biller: Daran, dass Intellektuelle wahrscheinlich ZEIT: Sie spielen auf die deutsche Willkommens- innerung an ihre Vorfahren. Woran soll sich der
ZEIT: Ja, bitte. Biller: Der Stalinismus spielt in meinem Roman immer denken, sie müssten das Gegenteil von dem kultur und die Flüchtlinge an? Deutsche auch erinnern? An eine gewonnene
Biller: Alle haben in diesem Roman Schreckliches eine größere Rolle als der Holocaust. Meine Familie machen, was der Mainstream macht. Zum Ansporn Biller: Ich frage mich, was mit dem Mitte-links- Fußball-WM vielleicht.
erlebt. Die Familien haben den Holocaust oder den stammt aus Russland, wir waren nicht unmittelbar habe ich Saul Bellows Humboldts Vermächtnis von Mainstream los ist. Wenn die das F-Wort hören und ZEIT: Ist es eigentlich ein Problem, einerseits im
Stalinismus durchlitten, der Sex ist ein Mittel, damit vom Holocaust betroffen. Mein Vater aber durch- 1975 gelesen, immer wieder während des Schrei- noch gar nicht wissen, was du sagen willst, dann Literarischen Quartett als Kritiker aufzutreten und
umzugehen. Es ist eine Binsenwahrheit, aber das lebte in der Sowjetunion die Terrorzeit Stalins, ging bens – auch so ein rasanter Roman. Ich habe ja ein drehen die schon durch. Die Mitte-links-Leute wol- andererseits selbst Literat zu sein?
macht sie nicht falsch: In der Sexualität verdichten 1946 nach Prag, besuchte das russische Gymnasium bisschen Angst, dass sich meine Leser mit meinem len der Welt zeigen: Wir sind nicht die Nazis, für die Biller: Zwei Wochen Lampenfieber sind proble-
sich gute und schlechte Aspekte jeder Biografie. und rebellierte als junger Kommunist gegen die Roman nicht identifizieren können, es gibt nur jü- ihr uns haltet. Das ist auch in Ordnung, es ist aber matisch. Ansonsten ist es völlig egal.
ZEIT: Ich dachte ja, Sie wollten auf das antisemi- Bürgerlichen. In Moskau studierte er dann Ge- dische Protagonisten, und die wenigen Deutschen ein bisschen fanatisch. Das kann man ja verstehen: ZEIT: Ist es nicht schade, dass Ihr Buch im Litera-
tische Klischee vom lüsternen Juden anspielen, auf schichte, entfernte sich allerdings innerlich schnell kriegen es richtig ab. Und dann das Thema der Bio- Da man nie zum selbstständigen Denken und Han- rischen Quartett nicht besprochen werden kann?
Dr. Freud und seine Zigarre. von Stalin, als der beschloss, sich auch noch die Ju- grafie. Die meisten Deutschen spalten ja ihre Bio- deln angeleitet wurde, wird es immer besonders Biller: Ich wundere mich überhaupt, dass Leute
Biller: Ich kenne mich mit Psychologie nicht aus, den vorzunehmen. Er wurde von einem Freund ver- grafie und damit ihre Familiengeschichte von ihrem emotional, wenn es doch mal ausnahmsweise ver- mit ihren Büchern im Literarischen Quartett vor-
von Freud besitze ich kein einziges Buch. Aber raten, musste über Nacht die Uni und die Partei unmittelbaren Gegenwartsleben ab. sucht wird. Ich frage mich manchmal, wie die Deut- kommen wollen. Dass wir alle vier ein Buch gut
klar, ich weiß schon, es gibt dieses Klischee und die verlassen und wieder in die Tschechoslowakei ab- ZEIT: Im Gegenteil: Man ist stolz darauf, dass man schen reagieren würden, wenn Millionen Juden auf finden, kommt doch so gut wie nie vor.
Literatur dazu: Portnoys Beschwerden von Philip hauen – zum Glück. Er arbeitete tagsüber in einer die Vergangenheit ständig bewältigt. der Flucht wären und nach Deutschland kämen. ZEIT: Kommen wir zu Ihren Mitstreitern. Was
Roth zum Beispiel. Das habe ich vor 100 Jahren Fabrik, nachts als Übersetzer. Später konnte er Biller: Nur ganz abstrakt. Versuchen Sie mal, einen Ob dann auch die ganzen Teddys und Lufballons an würde Christine Westermann über Ihr Buch sagen?
gelesen und finde es heute ziemlich fad. dann wegen seiner Übersetzertätigkeit auch ins Deutschen nach seinen Nazi-Eltern oder Nazi- den Bahnhöfen verteilt würden? Es kommen viele Biller: Sie würde sagen: »Ich habe so viel gelacht.
ZEIT: Man könnte denken, Ihr Buch ist ein Schlüs- Ausland reisen. So sind wir in Deutschland gelan- Großeltern zu befragen. Selbst Grass hatte seine Ge- Menschen aus Ländern, die sich seit Jahrzehnten im Viel mehr als in unserer Show.«
selroman: Der Protagonist hat mit Ihnen viele Ge- det und geblieben. Eine der Geschichten, die über schichte säuberlich abgetrennt von sich selbst. Heute Krieg mit Israel befinden. Ich habe das Gefühl, dass ZEIT: Und Volker Weidermann?
meinsamkeiten – Kindheit in Prag, Jugend in Ham- meinen Vater – wie früher oder später über jeden klopfen wir jeden einzelnen AfD-Politiker danach man Partei ergreift, ohne sich dessen bewusst zu Biller: »Ein Glück, dass es nicht so lang ist wie
burg, dann die Berliner Schriftsteller-Existenz ... Ostblock-Emigranten – kolportiert wurden, war ab, ob es einen Nazi-Großvater gab. Das finde ich ja sein. Da sind ja Leute dabei, die in der dritten, vier- Knausgårds Mein Kampf.«
Biller: Ich bin gerührt, schon jetzt bei Ihnen zu se- natürlich, dass er Agent war. Dauernd wurde er toll. Aber man macht das nur mit AfD-Leuten. ten Generation gehirngewaschen sind. Die denken, ZEIT: Was würde Maxim Biller sagen?
hen, wie so die gängigen Interpretationen funktio- angeblich am Flughafen von Prag gesichtet, obwohl ZEIT: Es gibt ja auch keine Sippenhaft. dass Juden kleine Kinder essen. Biller: Zu viele Juden.
nieren werden. Meine Absicht war vor allem, eine er in Deutschland war. Biller: Nein, aber es gibt Prägungen. Die Deutschen ZEIT: Das war jetzt vielleicht etwas zugespitzt und
Hammergeschichte zu erzählen. Klar: Man kann ZEIT: Es war eine Zeit, in der viele Intellektuelle haben ein fundamentales Problem mit ihrer Ge- verallgemeinernd gesagt? Der Roman »Biografie« (Kiepenheuer & Witsch;
nur über das schreiben, was man erlebt hat. Aber das auch im Westen als Agenten galten. schichte, weil es über Jahrhunderte hinweg nur eine Biller: Man muss Menschen, die vor einem Krieg 896 S., 29,99 €) erscheint am 8. April
heißt doch wiederum nicht, dass man in der Litera- Biller: Und das stimmte dann manchmal sogar. Die Untertanengeschichte gab. Du warst da für den oder vor einer Diktatur fliehen, helfen. Punkt.
tur sein Leben einfach kopiert. Ich meine mit dem DDR hatte oft ihre Finger im Spiel, wie zum Bei- Kaiser oder den Fürsten, du hattest kein Anrecht Aber man ignoriert das Antisemitismus-Problem. Das Gespräch führte Adam Soboczynski
42 FEUILLETON 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

S
icher ist es voreilig, die Landtagswahlen vom bedrängten, missbrauchten Bundestag wäh- So feingliedrig setzte

Abb.: [M] Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud Köln


am 13. März zum Plebiszit über die
Flüchtlingspolitik der Regierung zu er-
klären, aber ganz bestimmt werden
diese Wahlen den rechten Rand stabili-
Historisch rend der Schutzschirm-Beschlüsse wird ausgelas-
sen, die nun wirklich als widerlegt gelten darf.
Ein echter demokratiefeindlicher Topos ist al-
lerdings, die politischen Rettungs- und Reparatur-
Louis-François
Cassas das antike
Erbe am Ende des
18. Jahrhunderts ins
sieren. In Sachsen-Anhalt, wo die AfD auf 17 Pro-
zent (und mehr) geschätzt wird, verändert diese
Partei abermals ihr Gesicht. Sie trat während der
europäischen Schuldenkrise als bürgerlicher Pro-
unscharf operationen in einer Krise ohne Umschweife als
bereits eingetretene Katastrophe zu bewerten. Da
wird das Bestehende als krank denunziert. Man
muss den ESM oder die EZB-Maßnahmen nicht
Bild. Hier ein Detail
vom Turmgrab des
Iamblik in Palmyra

test gegen Merkels Finanzpolitik in die Öffent- bejubeln, aber Chaos haben sie nicht erzeugt. An
lichkeit, paarte sich später mit Pegida und mutier- dieser Stelle wird es bei der AfD schräg: Sie un-
te zu einer mindestens im Ton aggressiv fremden- terstellt bereits Hyperinflation und wirft sich vor
feindlichen Bewegung. Sie wird nun, Geschick den deutschen Sparer, der keine Zinsen mehr
vorausgesetzt, ein Bestandteil des parlamentari- einfährt, während die deutschen Exporte vom
schen Systems werden, sie wird Landespolitik be- schwachen Euro doch gerade profitieren.
treiben und ein Kümmerer-Image aufzubauen Vieles wird widersprüchlich, wenn der kleine
versuchen. Das ist keine strategische Entwicklung, Die AfD macht in Sachsen-Anhalt Mann auf der Straße von heute die alte Bundes-
sondern folgt Gelegenheiten. Auch die AfD weiß Wahlkampf mit Nostalgie – und der republik zurückerkämpfen soll. Harmlos ist das
nicht, was noch aus ihr wird. Idealisierung der alten Bundesrepublik auf dem Papier, aber wie bei allen Programmen
Vermutlich sind die Bedingungen für solche kommt es dabei auf die gesellschaftliche Rah-
rasanten, chamäleonhaften Wechsel ihrer politi-
zum geschlossenen Nationalstaat mung an, auf den stimmungstechnischen Reso-
schen Außenseite in Sachsen-Anhalt besonders VON THOMAS E . SCHMIDT nanzboden. Der ist nun einmal nationalistisch
günstig. Sachsen-Anhalt hat noch immer viele aufgeheizt. Dann sticht es im Jahre der großen
Arbeitslose und sehr geringe Haushaltseinkom- Flucht in die Augen, wenn hier eine alte BRD mit
men, seine Kommunen und Gemeinden sind vollen Souveränitätsrechten gemeint ist und eine
hoch verschuldet, die Bevölkerung schrumpft Art Naturzustand unter den Staaten unterstellt
stetig. Unter allen Bundesländern ist es das am tiven Theoretiker der alten Bundesrepublik ge- wird, in dem die Nationen »in freiem Wett-
geringsten kulturell eigensinnige, das Selbstwert- lesen, Hermann Lübbe oder Martin Kriele oder bewerb« Wohlstand erwirtschaften, ohne korrupte
gefühl seiner Bürger gilt als wenig entwickelt. Ernst-Wolfgang Böckenförde. Superstruktur einer EU, mit steuerbarer Preispoli-
Sachsen-Anhalt ist keine blühende Landschaft Gegen Zentralismus, Bürokratie und staat- tik und wohldefinierten nationalen Interessen.
geworden. Es macht den Anschein, als sei es nie liche Bevormundung zu wettern ist ein Topos des Das allerdings war auch zu Kohls Zeiten nicht
angekommen in der Bundesrepublik, und das
spüren seine Bewohner. Dort kann die AfD ihren
wohl größten Trumpf ausspielen: mehrdeutig zu
sein und doch entschieden, vielgestaltig und zu-
gespitzt zugleich, fürs Gewohnte streitend und
liberalen Konservatismus, das gilt ebenso für den
Subsidiaritätsgedanken. Stark auf Bildung zu set-
zen passt ins Bild, ebenso die Westbindung für
unantastbar zu erklären, den Mindestlohn abzu-
lehnen und für staatliche Einkommensaufsto-
so, und hier beginnt das Märchen oder die Uto-
pie der AfD, die historische Unschärfe, mit der
man mobilmachen kann, weil ein jeder sich das
Seine darunter vorstellen mag. Die idealisierte
Moderne von früher, die plötzlich klar gegliedert
Steine der
Sehnsucht
doch ganz neu, schillernd und anschlussfähig für ckungen zu plädieren. Was als »nationale Werte« ist und feste Grenzen aufweist, bietet jedem Un-
Misstrauen, Vorbehalte und Ängste aller Art. beschworen wird, bleibt schwammig. Die Ableh- behagen Zuflucht.
Die Wahlslogans der AfD: »Wir für unsere nung von TTIP und die Polemik gegen die sys- Und hier kommt auch Sachsen-Anhalt wieder
Heimat«, »Kinder willkommen. Ja zur Familie« temrelevanten Banken widersprechen einigen ins Spiel: Das Land der Frühaufsteher ist auch
klingen harmlos. Man könnte sie in den Flücht- wirtschaftsliberalen Pointen: Es möge kräftig de- das Land der Spätentwickler. Dort ist die DDR
lingsmonaten von 2016 sogar deeskalierend nen- reguliert werden, und die Subvention erneuerba- noch nicht verschwunden, vor allem sind es nicht
nen. »Stoppt Schulschließungen. Kita-Gebühren rer Energien gilt als Teufelswerk. die Verunsicherungen der Vereinigung. Wenn es In Palmyra haben die Terroristen viel
abschaffen« ist nicht anstößig, Zustimmung gibt So weit könnte das alles auch bei der CDU stimmt, dass in postkommunistischen Gesellschaf- mehr als antike Tempel und
es sicher für »TTIP verhindern. Souveränität ein- stehen, bei der alten, der vormerkelschen. Sogar ten ein über die Medien verbreiteter Normativis-
fordern!« oder »Steuerverschwender abwählen!«. die Forderung nach einem strengeren Asylrecht mus als eine Fortsetzung des universalmoralischen Säulen zerstört. Das zeigt eine
»Polizei stärken. Bürger schützen!« und »Grenzen könnte von dort übernommen sein. Grüne Tup- Geredes der alten Mächte verstanden wird, drän-
sichern! Asylchaos stoppen« werden schon etwas fer werden gezielt und mit Bedacht gesetzt, wozu gen sich als Alternative für Sachsen-Anhalt jetzt
Ausstellung in Köln VON HANNO R AUTERBERG
deutlicher. Selten zeigt die AfD Gesichter auf ih- die Trennung von Amt und Mandat gehört, der Ideenfragmente auf, die für Überschaubarkeit
ren blau-roten Plakaten, die aussehen sollen wie Verzicht auf genmanipulierte Saaten, die Feier der und Ordnung stehen und Eigeninteresse auszu-
alte der CDU. Der AfD-Wahlkampf ist kaum direkten Demokratie sowie eine starke Betonung drücken erlauben: das »Wir«, die »Heimat« gegen
personalisiert. Die Appelle sagen: Du selbst, Wäh- von Schutz- und Bürgerrechten. Bei Big Data eine fließende und dauerhaft inkludierende Ge-

V
ler, bist die politische Kraft, du benötigst keine setzt die AfD auf informationelle Selbstbestim- sellschaftlichkeit. Dann wird aus Anlass von Wah- erloren sind der Säulenwald, die aber, mit dem Ende des römischen Imperiums,
starken Mittelsleute. mung; Bespitzelung unter Freunden geht gar len die Beitrittsfrage noch einmal symbolisch ver- Tempel, Tore und Gräbertürme. in Vergessenheit geriet. Auch wenn schon andere
Die Programmaussagen der Partei bestätigen nicht. Doch dann drängt sich immer wieder ein handelt: Die Geschäftsgrundlage für ein gemein- Verschwunden ist aber auch Künstler vor ihm in Palmyra gewesen waren,
diesen Eindruck von Vertrauensseligkeit. Selbst in hysterisches Kieksen in die sonoren Grundtöne: sames Deutschland war die Welt des Helmut die Demut. Wer einst nach durfte sich Cassas als Entdecker fühlen. Das hei-
seinem Affekt gegen die EU klingen sie gemäßig- Die politische Korrektheit des (medialen) Redens Kohl, aber doch nicht die postmodern zerfranste Palmyra reiste, ins ferne Syrien, mische Publikum würde es ihm danken.
ter als alles, was etwa die britischen Tories in den gilt der Partei als ernsthafte Gefährdung der De- Republik Angela Merkels! Die AfD ist keine anti- für den schien die Gegenwart Ein umfangreiches Mappenwerk sollte ent-
letzten Monaten rhetorisch aufgefahren haben. mokratie. Und selbst wo die AfD richtigliegt, moderne Bewegung, eher eine, die eine ganz be- zu schrumpfen. Wie klein, wie stehen, so vollständig, so detailreich wie möglich.
Das Programm ist noch stark von den bürger- wenn sie beispielsweise den EU-Organen ein de- stimmte bundesrepublikanische Moderne roman- unbedeutend das eigene Leben wurde, wenn man Denn mehr noch als für exotische Reize interes-
lichen Wurzeln der Bewegung geprägt. Seine Be- mokratisches Legitimationsdefizit nachweist, fällt tisiert und politisiert. Dass die so niemals war, hinaustrat ins Wüstenlicht und sah, was zwei Jahr- sierte man sich in Frankreich für Präzision. Vor
grifflichkeit ist weder suggestiv noch demago- sie ins Geifern. Dann ist von »Betrug« und von trägt noch zur Faszination des Phänomens bei. tausende zurückgelassen hatten. Ein Ruinenfeld, allem die Bauherren und ihre Architekten woll-
gisch, vielmehr an den politisch-staatsrechtlichen »Rechtsbrüchen« die Rede, und eine Halunken- Nur in den Armen einer heftig schillernden Partei aus dem vereinzelt die Monumente wuchsen, ten sich inspirieren lassen, sie suchten nach Vor-
Diskussionen der vergangenen Jahrzehnte ausge- verschwörung von Politikern und Finanzwirt- darf man sich rechts und bürgerlich zugleich füh- würdevoll und ungemein verletzlich. Just in ihrer lagen, um ihren Klassizismus weiter zu verfei-
richtet. Seine Autoren haben die liberalkonserva- schaft wird angedeutet. Nicht einmal die Kamelle len – und immer im Recht. Vergänglichkeit war die Zeit wie stillgestellt. nern. Genau das sollte Cassas ihnen liefern.
Im vorigen Sommer dann war Schluss mit Bei manchen der großen Blätter, die in Köln
Stillstand. Terroristen machten nieder, was doch zu sehen sind (bis zum 8. Mai), meint man fast
ANZEIGE bleiben wollte, und ihre Attacken erschienen ein kataloghaft baufertiges Angebot vor sich zu
gerade deshalb besonders perfide, weil sie sich haben. So feingliedrig, so gegenwärtig ist das, was
an dem vergriffen, was ohnehin halb in Trüm- Cassas ins Bild setzte. Auf mögliche Unstimmig-
mern lag. An archaischen Bauwerken, die uns, keiten verzichtete er lieber, schließlich verlangten
gebrechlich wie sie waren, verblüffend nahe- seine Kunden nicht nur Präzision, sondern auch
standen. Natürlich wollten die Sprengmeister Perfektion. Wo Kapitelle bröckelten oder Skulp-
des »Islamischen Staats« davon nichts wissen. In turen der Kopf fehlte, ergänzte und retuschierte
ihrem Wahn der Stärke zerstörten sie Skulp- Cassas nach Kräften. Seine Antike ist klassischer
turen, Säulen, Türme und mit ihnen alle De- als klassisch. Aus zotteligen Löwenköpfen machte
mutsgefühle. Leider auch die vieler westlicher er bärtige Männerhäupter, aus Palmyras Theater
Beobachter. einen pantheongleichen Rundbau.
Eine erstaunliche Kampfeslust greift hier Diesen schönen Lügen, verführerisch in ihrer
neuerdings um sich, noch die besonnensten Mischung aus Empirie und Imagination, blieb
Forscher halten wütende Plädoyers, denn na- Cassas auch in seinen Panoramabildern treu, die
türlich, da müssten wir uns einig sein, dürfe der auf ein weites Echo trafen, bei Goethe, Hölderlin
Terror nicht das letzte Wort behalten, man und vielen anderen Antikenschwärmern. Sie alle
müsse dem Nihilismus etwas entgegensetzen, ließen sich von Palmyra begeistern, von den halb
ganz dringend und sofort. Selbst die kleine und verwitterten Ruinen, die eben weit mehr sind als
eigentlich sehr stille Ausstellung, die vorige nur historische Zeugnisse. Sie beleben unsere Ein-
Woche im Wallraf-Richartz-Museum in Köln bildungskraft, wie der Kurator der Kölner Aus-
eröffnet wurde, geriet gleich zu einem Forum stellung, Thomas Ketelsen, in seinem Katalogbei-
dieser erregten Debatte. Palmyra müsse wieder- trag aufzeigt – und werden gerade so, als Grund-
erstehen! Ganz gleich, wie totalitär und ge- steine der Fantasie, wichtig und wertvoll.
schichtsverachtend der IS auch sei, wir setzen Auch heute, da sich mit digitaler Technik al-
uns zur Wehr. Modernste Technik wird den les noch viel präziser dokumentieren lässt, be-
Wahn besiegen! wahren die Projektionen ihren Reiz, wie sich
So in etwa klingen die Appelle, die Horst aktuell bei dem Historiker Paul Veyne nachlesen
Bredekamp vorträgt, ein bekannter Kunsthisto- lässt (Palmyra – Requiem für eine Stadt, C. H.
riker, der in seinem Kölner Katalogbeitrag für Beck). Er singt das Lied der Multikulturalität,
eine »kämpferische Reproduktion« eintritt und denn für die Palmyrer habe sich alles mit allem
am liebsten wohl Bodentruppen schickte, um vertragen: aramäische Prägung, hellenistischer
dieses »Manifest des Widerstands« gleich an Ort Stil, römische Mode. »Sie waren stolz darauf,
und Stelle aufzurichten. Ähnlich plädiert auch echte Römer geworden zu sein, und blieben
der Archäologe Hermann Parzinger, der die Stif- doch sie selbst.« Selbst- und Fremdbestimmung
tung Preußischer Kulturbesitz leitet, für eine schienen kein Gegensatz zu sein.
möglichst rasche Rekonstruktion. Wenn er in Auch wenn es stimmt, dass viele der Bauten
dieser Woche nach Köln kommt, um wuchtig und Skulpturen auf hybride Weise vereinen, was
für ein neues Palmyra zu streiten, dürfte das vie- eigentlich getrennt lag, wirkt doch Veyne wie ein
len Zuhörern einleuchtend vorkommen. Mit moderner Cassas: Er lässt sich inspirieren, er
dem allerdings, was das Museum zeigt, hat es baut aus Ruinen seinen Traum der Gegenwart.
wenig zu tun. Die Kunst erzählt auf sanfte Weise Tatsächlich wäre die Architekturgeschichte
von einer anderen Wahrheit. ohne die Sehnsuchtsbilder aus der Wüste anders
Die herrlichsten Blätter sind hier versammelt, verlaufen. Schon im späten Barock wird Palmyra
Handskizzen und detailreiche Studien, die sich zur Chiffre einer wahren, besseren Welt, und der
dem französischen Zeichner Louis-François Cas- internationale Klassizismus, ob in Wörlitz, Peters-
sas verdanken. Am Ende des 18. Jahrhunderts burg oder London, erfuhr einen ungeahnten
war er nach Syrien aufgebrochen, um die antiken Schub. In diesen Bauten lebt Palmyra weiter, auch
Schätze, von denen so viel zu hören war, die aber wenn es die meisten nicht ahnen.
nur wenige je gesehen hatten, für alle Welt zu Was aber passiert, wenn man eine Ruine, von
erschließen. Damals eine weite und gefährliche der Zeit gezeichnet, neu erstellen möchte? Dann
Unternehmung, denn in der Wüste lauerten verliert sie, was sie kostbar macht: ihre Verletzt-
Diebe und hatten schon so manche Expedition heit. Dann öffnet sie nicht länger den Hallraum
ausgelöscht. Cassas wagte es trotzdem, zu verlo- der Imagination, sondern erweist sich als Tat un-
ckend schien ihm dieser Sehnsuchtsort, der einst serer Zeit. Dann wird sie, man kann es nicht an-
mit Pfeffer und Weihrauch, mit Elfenbein und ders sagen, ein zweites Mal zerstört.
kostbaren Tuchen reich geworden war und die
wunderbarsten Bauwerke hervorbrachte, dann www.zeit.de/audio
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 FEUILLETON 43
LITERATUR

Der Fährmann
Die Liebe zur Partisanin aus Łódź ist tot
Er übersetzte den polnischen Geist
ins Deutsche: Karl Dedecius
Im Nachlass entdeckt: »Der Überläufer«, Siegfried Lenz’ zweiter Roman, war zu provokant für seine Zeit VON HELMUT BÖTTIGER

D
ie Welt war als Zeitung gar nicht mal so glänzendes rotes Haar«, und er kann ihren grierte Schriftsteller sei wie »eine Linse, die die selbst dann Der Überläufer genannten Buches Es gab Zeiten in Europa, in denen Dichter wie
schlecht. Sie unterstand der britischen Militär- dazu passenden »grünblauen Augen« genauso Strahlen der Partisanen-Bosheit sammelt«. wird dessen politische Dimension ebenfalls informelle Botschafter von einem anderen
administration und stellte den 22-jährigen wenig widerstehen wie »dem herausfordern- Partisanen als Kämpfer für das Gute darzustel- kaum benannt. Interessant ist, dass sich Lenz Planeten wahrgenommen wurden und Lyrik-
Siegfried Lenz im Sommer 1948 als Volontär den Profil ihrer Brüste«. Er lässt sie illegal in len mutete in der frühen Bundesrepublik wie nach der Ablehnung nicht mehr lange mit dem Übersetzer sich als »Fährmänner« verstanden,
ein. Der ehemalige Marinesoldat erwies sich seinem Abteil eines Versorgungszuges mit- Vaterlandsverrat an. Überläufer aufgehalten hat und sich gleich ei- die Gedanken und Gefühle über den trennen-
als ziemlich pfiffig, wurde schnell Feuilleton- fahren und kommt ihr zwar nahe, aber nicht Aber das ist in diesem Roman noch längst nem nächsten Projekt widmete – es wurde zu den Fluss auf die andere Seite hinübersetzten.
redakteur und war dabei auch für die Fortset- zu nahe, er bleibt edelmütig und romantisch nicht alles. Denn Proska läuft schließlich so- dem großen Bestseller So zärtlich war Suleyken. So verstand auch Karl Dedecius seine Rolle
ROMAN

zungsromane zuständig – bis er flugs selber und fällt keineswegs roh über sie her. Dann gar zu den Partisanen über, er desertiert. Er Damit war die Welt vorerst wieder in Ordnung. – ein polnischer Deutscher oder deutscher
einen schrieb. Es waren Habichte in der Luft geht es Schlag auf Schlag: Sie gibt vor, in ei- kämpft, zusammen mit seinem Freund Der Überläufer ist ein interessantes Doku- Pole, 1921 im multikulturellen Łódź in eine
erschien im Lauf mehrerer Wochen Ende nem Krug die Asche ihres toten Bruders zu »Milchbrötchen«, mit dem er sich über den ment, und zwar nicht nur wegen der laute- deutsche Familie geboren, 1939 polnischer
1950 und hatte in der Buchausgabe dann be- transportieren, doch als sie bei einem Halt deutschen nationalistischen Wahn verstän- ren Haltung des Autors, der dem einfachen Abiturient, 1943 deutscher Soldat in Stalin-
achtlichen Erfolg. Der Verlag Hoffmann und des Zuges vor der Kontrolle flieht und nicht digt hat (ein »langhaariger« Künstlertyp, der Soldaten Gerechtigkeit widerfahren lassen grad. In der Gefangenschaft lernte er russische
Campe schloss mit dem hoffnungsvollen mehr zurückkommt, entdeckt Proska in die- sich manchmal ein vorwitziges Strähnchen möchte und gleichzeitig den deutschnationa- Lyrik, was gelegentlich auch die Herzen seiner
Autor sofort einen Vertrag für das nächste sem Krug vier Dynamitpatronen. hinter das Ohr streichen muss), auf der Seite len Wahn brandmarkt. Der Roman sagt auch russischen Bewacher erweichte. 1950 in die
Buch ab, es erntete nach den in seiner ästhetischen Anlage DDR entlassen, wechselte er bald nach West-
ersten Textauszügen auch gro- viel über seine Entstehungs- deutschland über, wo er nach langen Bemü-
ße Vorschusslorbeeren. Aber es zeit aus. Lenz zeigt keine hungen Unterschlupf bei der Allianz fand und

Foto: Sven Simon/ddp images


ist nie erschienen. Erst jetzt, im Scheu vor Kitsch und Kol- in freien Stunden polnische Lyrik übersetzte
Nachlass des im Herbst 2014 portage, er operiert mit star- – aus einer Sprache also, die im Deutschland
gestorbenen Autors, fand sich ken Gefühlen, und wenn die der fünfziger Jahre mit allem anderen als mit
das vollständig abgeschlossene rote Wanda effektvoll ihr Dichtern und Denkern assoziiert wurde.
Manuskript. Dahinter steckt Haar zurückwirft, wie das Dennoch wurde bereits sein erstes Bänd-
eine spannende Geschichte. Frauen halt so machen, wenn chen Lektion der Stille 1959 zum Geheimtipp.
Lenz setzte sich, wie einige sie sich ihrer Wirkung sicher Seine Übersetzung der Unfrisierten Gedanken,
andere Autoren der jüngeren sind, geht die Kriegsszenerie der Aphorismen von Stanisław Jerzy Lec,
Generation, direkt nach dem sofort in die Filmsprache von schlug wie eine Bombe ein. Über 300 000
Krieg mit der Erfahrung der Ruth Leuwerik und O. W. Exemplare wurden verkauft. Es folgten weite-
Front und des Nationalsozialis- Fischer über, die damals die re Übersetzungen polnischer Lyrik, Różewicz,
mus auseinander – ansonsten Herzen bewegte. Als es, an Herbert, Miłosz, Szymborska. Schon Anfang
gaben in der frühen Bundesrepu- einem verschwiegenen Teich der sechziger Jahre war Karl Dedecius eine In-
blik vor allem religiöse Überhö- hinter hohem Schilf, tatsäch- stitution. Wir polnischen Germanisten im
hungen, Naturbeschwörungen lich zum Geschlechtsverkehr düsteren Leipzig kopierten in der Deutschen
und allgemeine Schicksalsfragen zwischen dem Wehrmacht- Bücherei seine Übersetzungen, um sie in der
den Ton an. Schon mit dem Titel soldaten Proska und der Par- Katholischen Studentengemeinde unseren ver-
seines Debüts Es waren Habichte tisanin Wanda kommt, blen- dutzten Kommilitonen als »polnische Denkart«
in der Luft hatte Lenz die herr- det sich der Text aus und vorzutragen. Auch die Schwedische Akademie
schende Stimmung allerdings spricht stattdessen einen pa- hat wohl Gedichte von Czesław Miłosz, Jossif
geschickt aufgenommen, das ver- thetischen Kommentar aus Brodski und Wisława Szymborska über den
breitete Gefühl, die Deutschen dem Off, mit viel Tremolo »Fährmann« näher kennengelernt.
seien den Raubvögeln des Na- und lyrischer Diktion, der ad- Für uns junge Polen war er »unser« Pan
tionalsozialismus und den Flug- äquat nur von einem schnar- Karol. Er sprach ein wunderbares Polnisch, er
zeugen der Alliierten schutzlos renden Ufa-Schauspieler vor- atmete die polnische Literatur und Mentalität.
ausgeliefert gewesen. Auch das getragen werden könnte. Seine Nachdichtungen aber gehörten der
zweite Buch war als Thriller über Siegfried Lenz versuchte deutschen Lyrik an. Heinrich Olschowsky, in
den Krieg konzipiert, mit stark zwar in einer Überarbeitung Schlesien geboren, in Polen aufgewachsen und
durchscheinenden amerikani- seiner ersten Fassung be- in der DDR zum Professor für Polonistik be-
schen Vorbildern, wieder zielte stimmte Missverständnisse zu rufen, wies darauf 1990 in seiner Laudatio auf
der Titel dabei ins Innere der vermeiden, er nahm dezidiert Dedecius als Friedenspreisträger des Deutschen
deutschen Befindlichkeit: Es Stellung gegen das Sowjet- Buchhandels hin.
sollte ursprünglich ... da gibt’s ein regime. Proska wird von ei- Karl Dedecius’ Sprachgefühl und seine ver-
Wiedersehen heißen. Das zitierte Siegfried Lenz auf einem Bauernhof beim Hühnerfüttern in den 1970er Jahren nem knallharten General in wickelte Biografie hatten in den sechziger
ein bei Soldaten äußerst beliebtes der Ostzone als Bürgermeis- Jahren einen Resonanzboden in der »neuen
Lied: »In der Heimat, in der ter eingesetzt, doch er er- deutschen Ostpolitik«: in der Einsicht, dass
Heimat / Da gibt’s ein Wiedersehn«. Spätestens an dieser Stelle wird klar, wie der Roten Armee gegen die Deutschen. Da- kennt das Totalitäre und Diktatorische des man mit dem nicht nur insgeheim verachteten
Der Held Walter Proska bietet ein enormes Siegfried Lenz hier mit dem Feuer spielt. Denn mit verstößt er gegen den allgemein akzep- Systems und flieht in den Westen. Und die Nachbarn im Osten auskommen muss, weil
Identifikationspotenzial. Er sieht sich entsetz- seine Hauptfigur liebt eine Partisanin. Auch als tierten Ehrenkodex, auf den sich die deutsche Rahmenhandlung, mit einer tragischen er bei Gott mehr als nur eine sprachlose »ge-
lichen Situationen ausgesetzt und erlebt den der Zug in den Sümpfen bei Tamaschgrod auf Wehrmacht nach 1945 berief: Sie habe nach Zuspitzung in Proskas Familie, hebt das schichtliche Verfügungsmasse« ist. Die Ge-
Tod engster Gefährten mit, aber er ist ein tap- eine Mine fährt, Proska als Einziger überlebt ihren eigenen ehernen Gesetzen gehandelt, Ganze in die allgemeine Geworfenheit der dichte, die Dedecius verdeutschte, die Filme,
ferer Frontsoldat, der das Herz auf dem rechten und sich fortan in seiner neuen Einheit im die nichts mit den Verbrechen der National- menschlichen Existenz, in den schweren die Andrzej Wajda drehte, die Musik, die
Fleck hat und anständig bleibt. Dass es in der Kampf gegen die Partisanen befindet, erschei- sozialisten zu tun hätten. Angesichts der wüs- Schicksalssound der frühen Bundesrepu- Krzysztof Penderecki komponierte, verblüff-
Wehrmacht so etwas wie »Kameradschaft« ge- nen diese nicht als Unholde. Im Vergleich zu ten Polemik, die zur selben Zeit Alfred An- blik. Aber das nützte alles nichts. Die sub- ten durch eine Geschichtserfahrung, die kei-
ben konnte, zeigt sich auch an einigen anderen: dem deutschen Unteroffizier wirken sie gerade- dersch wegen seines Desertionsromans Die versiven politischen Botschaften des Ro- neswegs von einem fremden Planeten stamm-
an dem kauzigen »Langen« etwa, der aus Ober- zu menschlich. Anfang der fünfziger Jahre, als Kirschen der Freiheit entgegenschlug, ist zu mans wurden als bei Weitem wichtiger er- te. Sie waren durchaus ein Teil der deutschen
schlesien stammt und ausführlich in herzerwär- der Kalte Krieg auf seinen Höhepunkt zusteu- ahnen, auf welchem Feld sich Siegfried Lenz kannt und verworfen. Erfahrung. Der Lyriker und Dramatiker Ta-
mendem Dialekt sprechen darf, oder dem erte, musste das wie eine ungeheuere Provoka- mit diesem Roman bewegte. Andersch wurde Intellektuell verstiegen ist hier nichts, aber deusz Rożewicz schrieb 1988 in einem ver-
Feuerschlucker Baffi, der für jeden Spaß zu tion wirken. Der »Partisan« war für das deutsche in einer Art frühem Shitstorm der »Eid« ent- der Autor stürzt sich mutig auf Tabus. Der öffentlichten Brief an Karl Dedecius: Nach-
haben ist. Im direkten Kampfeinsatz stehen sie Selbstverständnis dieser Zeit nämlich ein Feind- gegengehalten, den der deutsche Soldat auf Roman frönt einer Überwältigungsdrama- dem der beim Turmbau zu Babel erboste Gott
aber alle ihren Mann. Die Gegenfigur ist der bild, das sich längst verselbstständigt hatte: seinen Dienstherrn (also den »Führer«) ge- turgie und trägt allenthalben ziemlich dick den Menschen die Sprache verwirrt hatte,
Korporal Stehauf, dem sie unterstellt sind: ein heimtückisch, hinterhältig, ein Gegner, der sich schworen hatte, und dieser sei allen niedrigen auf. Lenz arbeitet am Ende der 15 Kapitel des wurde ein Kind namens Karl geboren. Es
zynischer, fanatischer Unteroffizier, der Un- nicht in offener Feldschlacht stellt, sondern mit Beweggründen, die bis hin zur Desertion Romans auch gern mit dem Cliffhanger- übersetzte so lange das Wirre in verständliche
Siegfried Lenz: mensch schlechthin. seinen Gewehren feige in Baumkronen sitzt und führen könnten, weit übergeordnet. Effekt und generiert Spannungsmomente. Sprache, bis die beiden Völker ihre Literaturen
Der Überläufer. Lenz spielt vor allem auf der Klaviatur des in Zivilkleidung unkenntlich bleibt. Welcher Da ist es nicht weiter überraschend, dass der Doch wirklich spannend ist heute etwas an- und einander lieb gewannen. Wie dem auch
Roman; Verlag Melodrams. Seine Figur Proska stößt wäh- Assoziationsraum im Wort Partisan verborgen Verlag Lenz’ Roman, der zunächst so interessiert deres: Die Zeit Anfang der fünfziger Jahre er- sei: Sie dürfen nicht wieder den Geifernden
Hoffmann und rend des Rückzugs der Wehrmacht aus den liegt, zeigt sich etwa im Artikel zum 75. Ge- erwartet wurde, in dieser Form ablehnte. Der scheint hier wie in einem Konzentrat, und verfallen. ADAM KRZE MIŃ S KI
Campe, russischen Weiten im Sommer 1944 auf ein burtstag von Thomas Mann, den der Publizist zuständige Lektor Otto Görner argumentierte das ist ein ästhetisch wirksames Gegengift
Hamburg 2016; »Mädchen« (es ist 27 Jahre alt): eine »Taille, Gerhard Nebel 1950 ganz selbstverständlich in dabei eher verklausuliert. Im Kommentar zur gegen so manche aktuellen Verklärungen Der Publizist Adam Krzemiński arbeitet für die
363 S., 25,– € die schmal war wie ein Stundenglas«, »matt- der FAZ veröffentlichte: Der in die USA emi- jetzt vorliegenden ersten Ausgabe des von Lenz dieser Jahre. polnische Wochenzeitung »Polityka«

Wissen: Andreas Sentker (verantwortlich),


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Gunhild Lütge, Felix Rohrbeck, Marcus Rohwetter, Dr. Kolja Schmidt- Häuer, Dr. Hans Schuh-Tschan, Jana Simon, 17, rue Bleue, 75009 Paris, Tel.: 0033-173 71 21 95, Luther, Steffen Richter, Parvin Sadigh, Katharina Schuler, Projektreisen: Christopher Alexander Fax: 001-416/391 41 94
Rudzio, Claas Tatje, Christian Tenbrock Dr. Theo Sommer, Jens Tönnesmann, Dr. Volker Ullrich E-Mail: blumegeorg@yahoo.de Till Schwarze, Tilman Steffen, Michael Stürzenhofecker, Börsenpflichtblatt: An allen acht deutschen Wertpapierbörsen E-Mail: info@gcnews.ca ISSN: 0044-2070
44 FEUILLETON 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1
LITERATUR

KRIMIZEIT
Die blinde Superheldin Die zehn besten Kriminalromane
Unter Räubern
Besser als Bond: Andreas Pflügers Die Globalisierungstheoretikerin Saskia Sassen prangert die Probleme
kampfstarker Thriller »Endgültig« im März 2016 der Welt an, enthält uns aber Lösungen vor VON MARIA EXNER

J
Sie heißt Jenny Aaron. Sie ist blind und die Garry Disher: Tiverton, Südaustralien. Paul »Hirsch« Hirschhausen ist degradiert, a, sie scheint zu torkeln, diese Welt. mentaren Brutalität für die [...], die ihr Zu-
deutsche Antwort auf James Bond. Hauptfigur Bitter Wash Road auf einen Ein-Mann-Posten versetzt. Eine Sechzehnjährige wurde Wie eine Betrunkene stolpert unsere hause verloren.«

1
in Andreas Pflügers Thriller Endgültig. Es ist Aus dem Englischen von totgefahren. Hirsch (fast) allein gegen Sheriff, Vorgesetzte, Gegenwart von Krise zu Krise – aus Diese Phänomene weisen Sassen den Weg
wirklich lange her, dass ich ein Buch mit derart Peter Torberg; Dorfbonzen. Weizen, Wolle, früher Kupfer, leeres Land. Ganz, der Bankenkrise wurde die Griechen- zum Kernproblem der Gegenwart. Nach 1989
nägelkauender Spannung gelesen habe. Fast Unionsverlag, 352 S., 21,95 € ganz fein, staubtrocken und herzenswarm. landpleite, aus dem Syrienkrieg die habe der Siegeszug des deregulierten Finanz-
(–)
nichts ist schwerer, als nur mit Worten Action Flüchtlingskrise. Schlag auf Schlag folgen kapitalismus mit einer »Mischung aus Neue-
so zu beschreiben, dass in der Fantasie des Le- die Erschütterungen, und wenn die Welt- rungen von Technik, Märkten und Finanz-
sers filmische Szenen entstehen. Denn den Ryan Gattis: Los Angeles 1992. Aufruhr. Stadt ohne Staat. Hier: Feuerwehr, politik kurz innehält, sind es Terror und wesen sowie staatlichen Rahmenbedingungen«
Worten fehlen Sound, Bild, Licht, Dunkel, In den Straßen die Wut Nationalgarde, Killercops. Dort: Latino-Gangs. Kids als Mobster. Amok, Umweltzerstörung und Klimakata- den Boden bereitet für eine Konzentration des

2
nervenfetzende Musik – alles unmittelbar die Aus dem Englischen von Ingo Im Tumult Blutrechnungen begleichen. Ernesto, Bruder, guter strophen, die uns den Atem nehmen. Woher Reichtums zulasten der Bevölkerungen. »Räu-
Sinne Erregende und Aufpeitschende. Herzke; Rowohlt Polaris, Mann, totgeschleift. Unterm Qualm rennen, schießen sie: Trauer, aber diese ständigen Umwälzungen? Was berische Formationen« lautet der Begriff, den
Andreas Pflüger ist Drehbuchautor. Die 528 S., 6,99 € Fluchtversuche, Machokampf. 6 Tage Wahnsinn. Unbelievable. genau stimmt hier eigentlich nicht? Sassen für diesen giftigen Mix findet. »Eine
(2)
Liste der von ihm geschriebenen Tatorte ist Eine drängende Frage, der sich die Sozio- größere Domäne des Lebens« sei in Gefahr.
ellenlang. Nach Operation Rubikon von 1994 login Saskia Sassen widmet. Wie und wo die Wer so drastisch Alarm schlägt, sollte seine
– eine der eindringlichsten Darstellungen Barcelona, Moskau, Berlin. In Barcelona wird Spezialagentin abstrakte Logik des Politik- und Wirtschafts- These belegen oder zumindest glaubhaft ma-
deutscher Geheimdienstabgründe – ist End- Jenny Aaron angeschossen. Verrat, Mord, Bosheit. Jahre danach: systems, sprich: des Kapitalismus, konkret chen. Doch in den vier Kapiteln zu Staats-

3
gültig erst sein zweiter Roman. Andreas Pflüger: Die erblindete BKA-Profilerin stößt erneut auf den Widersacher wird, das beschäftigt die Professorin der schulden, Landverkauf, Finanzmärkten und
Es beginnt in Barcelona. Aaron und Kvist, Endgültig ihres Lebens. Perfekter, intelligenter Showdown über 48 Stunden. Columbia-Universität seit mehr als 30 Jahren. Umweltzerstörung schickt Sassen ihre Leser in
Top-Agenten der »Abteilung«, die noch ge- Suhrkamp, 459 S., 19,95 € Pflüger kann Action und mehr, so unique in D. Prägnant formulierte sie in ihrem Buch zur ein Labyrinth aus Fallbeispielen und Statistiken
(–)
heimer, hinterhältiger und kampferprobter ist »Global City«, wie die Finanzzentren der und gibt sich keine Mühe, ihnen Orientierung
als die GSG 9, geraten bei einer Lösegeld- Millionenstädte ähnlich viel oder mehr Macht zu geben. Die Ungerechtigkeiten der Welt
übergabe in eine mörderische Schießerei. Ross Thomas: Chicago, Washington, D. C. Gewerkschaftswahlen: Spielfeld für ausüben als gewählte Regierungen. Zuletzt werden im wilden Durcheinander zur Schau
Jenny Aaron lässt ihren Geliebten Kvist schwer Porkchoppers gewitzte Absahner. Ross Thomas, der wusste, wie man’s macht, schrieb sie über das Wesen von Terror und gestellt. Sassen verlässt sich auf die Macht des

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verletzt zurück. Verfolgungsjagd. Bei 260 km/h Aus dem Englischen von mixt einen Mordplan, eine gekaufte Wahl, eine Medienintrige, eine asymmetrischen Kriegen inmitten unserer Faktischen: Bei all der Schrecklichkeit, lieber
schießt ihr der Supergangster Holm in den Jochen Stremmel; traurige Vater-Sohn-Geschichte und das Porträt eines charmanten Großstädte, von Bagdad bis Paris. Macht- Leser, muss System dahinterstecken.
Kopf. Eine Szene, so schlicht, dass nicht einmal Alexander, 310 S., 14,90 € Säufers. Erstmals vollständig auf Deutsch. strukturen und Geografie zusammenzuden- Doch welches? 261 Seiten lang versteckt
(–)
der mit den längst zur Masche gewordenen ken und so Unsichtbares sichtbar zu machen, Sassen die Antwort darauf hinter unverständ-
Krimi-Prologen vertraute Leser vermutet, dass das ist Sassens Methode. lichen Formeln wie dieser: »Hinter den landes-
in ihr der Schlüssel zum Konflikt verborgen ist. Malla Nunn: Drakensberge, Südafrika, 1953. DS Cooper und DC Shabalala Mit dem Blick auf konkrete Orte und Er- typischen Einzelheiten der verschiedenen
Pflüger versteckt Sinn in Handlung. Tal des Schweigens sollen den Mord an einer schwarzen Landschönheit aufklären – die eignisse will sie auch in diesem Buch die Struk-

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Fünf Jahre später schüttet die ehemalige A. d. Engl. von Laudan & Arschkarte für Kriminalisten im Apartheidstaat. Fallstricke überall: turen fassen, die unsere Gegenwart zerrütten. Saskia Sassen:
Top-Agentin, jetzt Vernehmungsspezialistin Szelinski; Ariadne/Argument- Zulu-Traditionen, Rassistentraditionen, Frauenunterdrückung Als wesentlich betrachtet Sassen das Phäno- Ausgrenzungen. Brutalität
beim BKA, im Flugzeug ihrem Sitznachbarn Verlag, 318 S., 13,– € sowieso. Behutsam, fein und klug: Nunn. men der Ausgrenzungen, so der Titel ihres und Komplexität in der
(1)
versehentlich Kaffee über die Hose. »Sind Buchs. Die Armen und die Mittelschicht – so- globalen Wirtschaft.
Sie blind?«, flucht der. »Ja.« Eine geniale wohl der USA, als auch der Krisenstaaten A. d. Engl. v. Sebastian
Plot-Idee: Im Dunkel der Blindheit haben Cormac McCarthy: Knoxville, Tennessee. McCarthys Debüt: Ein Junge, ein Schnaps- Europas – werden aus ihren Häusern und Jobs Vogel; S. Fischer,
die Leser mehr Angst als die Heldin. Und Der Feldhüter schmuggler und ein alter Knorz ziehen ihren Weg. Ohne es zu gedrängt. Araber und Afrikaner fliehen vor Frankfurt a. M. 2015;

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eine Heldin ist sie: schön, schlau, kampfstark Aus dem Englischen von wissen, verbunden durch einen Toten. Drei Männer, Teil der Krieg und Hunger aus ihren Heimaten. 320 S., 24,99 €, als
E-Book 22,99 €
wie Peter O’Donnells Modesty Blaise, fitter Nikolaus Stingl; Natur, fern von Zivilisation und law, unterworfen kosmischem Zeitgleich vernichten Industrie und Ver-
als James Bond – und leidgeprüft. Gemessen Rowohlt, 288 S., 14,99 € Gesetz. Dabei: eine Katze, ein Hund, ein Habicht. müllung große Areale intakter Natur und
(–)
wird Jenny Aaron an ihrem Vater, dem bes- damit Lebensgrundlage für Menschen. globalen Krisen liegen emergente Trends des
ten Mann der GSG 9; Kontur gewann sie, Von »Ungleichheit« zu sprechen, schreibt Systems, die durch sehr wenige grundlegende
Tito Topin: Libyen 2011. Acht Menschen fliehen vor dem Bürgerkrieg, bloß Sassen, reiche angesichts dieser Zustände dynamische Prozesse geprägt werden.« Auch
Exodus aus Libyen raus. Zwangsstopp in einer umkämpften Wüstenstadt. Jetzt müssen nicht. Ausgrenzung sei zur Analyse der treffen- der Begriff der »räuberischen Formationen«

7
A. d. Frz. von Katharina sie sich ihrer persönlichen Wahrheit stellen. Was hat Gaddafis dere Begriff. Das Wohlstands- und Friedens- bleibt ein Code, der nicht aufgelöst wird. Statt
Grän; Distel Literaturverlag, »Verderbtheit« aus ihnen gemacht? Wie frei können sie werden? versprechen von Demokratie und freier Markt- das Geflecht aus willfährigen Regierungen,
233 S., 14,80 € Der erste Kriminalroman der »Arabellion«. wirtschaft gelte für immer weniger anstatt für der Finanzindustrie, der Weltbank und profit-
(3)
immer mehr Menschen. Der Reichtum kon- gierigen Monopolisten zu entwirren, ver-
Andreas Pflüger: zentriere sich, während die Armen marginali- heddert sie sich selbst darin.
Endgültig. Michael Robotham: Bath, Somerset. Psychiater Joe O’Loughlin zerrissen zwischen siert, getötet oder eingesperrt würden. Was wir Auch für einen Ansatz zur Lösung der
Suhrkamp, Berlin 2016; Der Schlafmacher Sorge um seine krebskranke Frau, seine Töchter und um den Fall: erleben, sei »eine neue Phase des Überlebens- beschriebenen Misere findet Sassen die

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459 S., 19,95 € Aus dem Englischen von Wo Harper Crow und ihre Mutter ermordet wurden, gibt es mehr kampfes«. Zugespitzt lautet Sassens These: Worte nicht. Das Positiv liegt bei ihr in der
Kristian Lutze; Spuren als nötig – ein oder zwei Serienkiller? Folgt nicht dem Geld, Was zur Ausbeutung nicht mehr nützt, lässt Vergangenheit, in einer von ihr behaupteten
indem sie sich verwundet aus dem Keller ei- Goldmann, 414 S., 14,99 € spürt nach Familiengeheimnissen. der Kapitalismus verschwinden, ob Mensch »keynesianischen Epoche«, in der die Ge-
(–)
nes Serienmörders befreite. Jetzt stößt sie in oder Natur. winne einer gezähmten Industrialisierung
Berlin, als sie den Tod einer Gefängnispsy- Wie genau er das macht, will die Autorin gleichermaßen Staaten und – nach zähem
chologin untersuchen soll, auf Spuren, die in Eugene McCabe: anhand von Extrembeispielen zeigen. Sie Arbeitskampf – dem Proletariat zugute-
ihre Vergangenheit zurückführen. Nach und Die Welt ist immer Fermanagh 1975. Doppelte Belagerung: Fünf IRA-Provisionals schildert etwa den Fall des Minenbesitzers kamen. Dass von der Emanzipation des
nach schält sich ihr Widersacher aus den noch schön besetzen das Haus des britischen Colonels Armstrong, um IRA- Frank Duval, der seit Mitte der siebziger Jah- Menschen von Ausbeutung und Zwang,
Schlieren des Vergessens. Denn Jenny
schießt und kämpft zwar trotz ihrer Blind-
heit besser als alle anderen – es gibt bewun-
dernswert choreografierte Szenen, darunter
eine Verfolgungsjagd auf gefrorenen Stra-
9 (–)
Aus dem Englischen von
Hans-Christian Oeser;
Steidl, 136 S., 16,– €

Joseph Kanon:
Gefangene freizupressen, belagert von der Army. Harter Roman
über das Sterben. Über Hass, Ideologie, Verrat und innere
Verwirrung. Späte Entdeckung eines Juwels.

Ost-Berlin 1949. Exil-Schriftsteller Alex Meier soll im CIA-Auftrag


re in den USA und Kanada hochgiftige Berg-
baubetriebe unterhielt. Dank schlauer Unter-
nehmensstrukturen und eines vorteilhaften
Insolvenzrechts wurde Duval nie für die ka-
tastrophalen Schäden belangt, die seine Minen
dem Versprechen der Moderne, in der Post-
moderne nicht mehr viel übrig bleibt, damit
hält sich Sassen eng entlang der Linie, die
ihre Londoner Kollegen Zygmunt Baumann
und Ulrich Beck gezogen haben.
ßen, bei der Jenny den Wagen nach den An- Leaving Berlin Kulturbund und Kommunisten bespitzeln. Atmosphärisch genau hinterließen: »In [einer] jahrzehntelangen Ab- Am wenigsten verzeihen kann ihr, wer ak-

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weisungen eines schwer verletzten Kollegen Aus dem Englischen von rekonstruiert: ein Mann im Kalten Krieg mit eigener Agenda folge von Gesetzesübertretungen und Firmen- tuelle Debatten verfolgt, dass sie die Digitali-
lenkt. Aber sie leidet unter psychisch beding- Elfriede Peschel; zwischen den Stühlen. Cameos: Brecht, Weigel, Janka, andere schließungen zahlte Frank Duval kein einziges sierung als derzeit treibende Kraft wirtschaft-
tem Gedächtnisverlust. Warum hat sie ihren Bertelsmann, 448 S., 9,99 € Kulturgrößen. Clever und ideologieresistent. Mal eine Strafe aus seinem persönlichen Ver- licher Entwicklungen ausblendet. Gerade die
(9)
Geliebten in Barcelona im Stich gelassen? mögen; er ließ einfach ein Unternehmen Finanzindustrie geht mit der The winner takes
Das wird sie nur erfahren, wenn sie dem bankrott gehen und gründete ein neues.« An it all-Logik des Silicon Valley eine Verbindung
Weg des Kriegers Bushidō treu bleibt. Hof- An jedem ersten Donnerstag des Monats geben 21 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich anderer Stelle geht Sassen der Subprime-Krise ein, die die Konzentration von Reichtum noch
fentlich über das atemberaubende Finale von und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die KrimiZEIT-Bestenliste ist von 2008 nach, in der giftige Hypotheken zur einmal um ein Vielfaches verstärkt – in den
Endgültig hinaus. TOBIAS GOHLIS
eine Kooperation der ZEIT mit dem Nordwestradio, einem Programm von Radio Bremen. Überschuldung von Millionen von US-Haus- USA, aber zunehmend auch im Rest der Welt.
Die Jury: Tobias Gohlis, Kolumnist der »ZEIT«, Sprecher der Jury | Volker Albers, »Hamburger Abendblatt« | Andreas Ammer,
»Druckfrisch«, DLF, BR | Gunter Blank, »Sonntagszeitung« | Thekla Dannenberg, »Perlentaucher« | Fritz Göttler, »Süddeutsche
halten führten. »Der Fall macht einige Aspekte Nachzulesen ist das etwa bei Andrew Keen in
Hier lesen Sie im Wechsel die Kolumnen von Zeitung« | Jutta Günther, Nordwestradio | Sonja Hartl, »Zeilenkino«, »Polar Noir« | Hannes Hintermeier, »Frankfurter Allgemeine der Umwandlung [vertrauter Objekte] in seiner Kritik The Internet Is Not the Answer.
Alexander Cammann über Hörbücher, von Zeitung« | Lore Kleinert, Literaturkritikerin | Elmar Krekeler, »Die Welt« | Kolja Mensing, Deutschlandradio Kultur | Finanzprodukte deutlich, insbesondere die Sassen schreibt dazu genau einen Satz: »Was
Tobias Gohlis über Kriminal- und von Marcus Müntefering, »Spiegel Online«, »Krimi-Welt« | Ulrich Noller, Deutsche Welle, WDR | Frank Rumpel, SWR | Nutzung komplexer Instrumente zur Schaf- wir technologisch für Elite halten, wirkt gegen
Ursula März über Unterhaltungsliteratur sowie Jan Christian Schmidt, »Kaliber 38« | Guido Schulenberg, Nordwestradio | Margarete von Schwarzkopf, Literaturkritikerin | fung eines kurzen, höchst profitablen Invest- uns.« Nur wie genau, das behält sie auch bei
von Franz Schuh über Taschenbücher Ingeborg Sperl, »Der Standard« | Sylvia Staude, »Frankfurter Rundschau« | Jochen Vogt, »NRZ«, »WAZ« mentkreislaufes für wenige und einer ele- diesem Thema lieber für sich.
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 FEUILLETON 45

Die
Schriftstellerin
Marion
Poschmann,
geboren 1969
in Essen

Foto (Ausschnitt): Dominik Butzmann/laif

Wort-Ikebana
Marion Poschmanns Gedichte in »Geliehene Landschaften« zeigen wie ihre Essays das
Denken in schönster Form VON HUBERT WINKELS

B
lumen sind nicht das Gegen- nigsberg wie das posthume Gespenst Mode gekommenen Lehrgedichts, Klas-
teil von Macht. Gedichte Kants. Wie Nebel durchziehen ihre Ge- sikern der Naturreflexion zudem. Elegien
auch nicht. Gleich im zwei- dichte die lichten Gefilde der Aufklä- sind sie, sofern sie das Schöne in seinem
ten Gedicht des Bandes sto- rung. Das heißt höchste Konzentration Verhältnis zur Leere denken, also nicht
ßen wir auf »Petunienlenin« für den Leser. mit Schiller vom Zerfall der Einheit, von
und »Chrysanthemenchruschtschow«. Die Erzromantikerin Poschmann ist einem Mangel her. Ikebana könnte hier
Einen ›Stalin aus Stiefmütterchen‹ gibt es der frühromantischen Bewusstseinspoesie als Modell gelten, das japanische Blumen-
auch. Das sind schrille Effekte mit ge- näher als der Natur- und Landschaftslyrik, stecken, oder die feinlinige Tuschezeich-
wagten semantischen Ligaturen. Fund- die sie immer wieder aufruft. Claudius, nung. Zwei der neun Kapitel haben japa-
stücke aus der politisch aufgeladenen Lehmann, Eich, Huchel und all die ande- nische Landschaften zum Gegenstand,
russischen Exklave Kaliningrad, die ren – sie schwingt mit ihnen weit aus über eins einen Garten bei Shanghai. Oft ist
Marion Poschmann durchstreift und mit Felder und Brachen, mit exakter Nomen- ein Park gemeint, manchmal eine Sied-
starken sprachlichen Markern versieht. klatur, assoziationsstark, doch mit stärke- lung, eine geologische oder eine geistig-
Dichtung, so suggeriert die Autorin, die rer Reflexionskontrolle. Sie hält die Fixie- sprachliche Formation. Immer bilden die
als Lyrikerin schon mit dem Peter- rung der Dinge in unserem Verständnis Übergänge zwischen der sprachlich-refle-
Huchel-Preis geehrte wurde und 2013 von Natur für eine Verkennung ihres xiven und der lokal-sinnlichen Dimen-
mit ihrem Roman Die Sonnenposition wie flüchtigen imaginären Charakters. Nebel, sion die bewegliche Infrastruktur. Doch
in diesem Jahr mit dem Gedichtband Rauch, Dunst, Ektoplasma sind ihr schon das vorgefundene Schöne selbst ist
Geliehene Landschaften für den Leipziger Medien der poetischen Welterkenntnis: versehrt und konstruiert. Im Kapitel
Buchpreis nominiert wurde, Dichtung So entstehen Gespenster in den Abseiten Matsushima kratzen alte Männer »mit
ist hinsichtlich des Machtpols nicht das unserer Künste und besonders sichtbar in Stahlbürsten / kontaminierte Schichten
andere, sondern sein Unbewusstes. Posch- der animistischen japanischen Kultur, in vom Randstein«, denn dieses windige
mann durchdringt und untergräbt ihn. deren verhangene Schönheit sich Marion Idyll liegt nahe bei Fukushima. Der Lite-
Kaliningrad hat noch den Krieg in den Poschmann verguckt hat. Der lunare ratengarten bei Shanghai besteht aus klei-
Knochen. Die Bernsteinmetropole Kö- Landschaftspark ist ihr Gefilde. Wohnort nen Nachbauten berühmter großer Parks
nigsberg, mit Einschlüssen der Sowjet- der Geister. Kaschierung der Brache. »Be- und Gärten. Und der Anblick des Fuji,
macht, glimmert im kantischen Licht. trachtung des Mondes in mondloser dieses in die Allsichtigkeit getriebenen
Knochen heißt das Gedicht. Auf »Tonnen Nacht«. Man könnte von einem poeti- Bergs der Götter, steht neben dem Gesang
von Knochen« breiten sich Poschmann- schen Sfumato sprechen, wenn Marion auf die Leere des Braunkohleabbaugebiets
sche Wortkombinate aus, in denen an der Poschmann nicht so vernünftig bliebe, Jülich – Grevenbroich – Erkelenz.
historischen Erinnerung gearbeitet wird. immer noch einmal von außen den poeti- Marion Poschmann gleitet meist
Der streng durchkomponierte Band schen Vorgang als solchen zu betrachten. mühelos von Motiv zu Motiv und meto-
mit weltweit auf Reisen »geliehenen Und das gelegentlich mit Humor. Für nymisch von Ort zu Ort. Nicht immer
Landschaften« beginnt schroff und laut, neue Träume einer Geisterseherin eignet kommt man mit, wird aber wieder aufge-
er führt im zweiten Kapitel zu einer Zeit sie sich nicht. nommen. Von harten Wendungen wie
zwischen abstrahierten Bäumen auf Form- »Du legst dich am Abend dicht an den »Blumen- und Blutsprachen« des
steinen in einem Ostberliner Kindergar- den Feldrand. Erdiges. Baustellenatem. / Anfangs oder dem »Plattenbaulaub«, das
ten und im dritten nach Coney Island, Objektkonstanz. Du nimmst eine sich um den Kindergarten in Lichterfelde
wo die USA sich extraschrill gebärden. Kapsel ein, du willst einschlafen. / rankt, hohlreliefgeprägte Formsteine des
Dann geht es nach Japan, nach Kyoto zu- Zwergatmosphäre. Erdarbeiten. Eini- real existierenden Sozialismus, die das gra-
nächst, wo der Ernstfall vor der Idylle ge Zwerge heben am Feldrand Röh- / fisch abstrahierte Springkraut zeigen. Blu-
steht – Gärten als »Regional Evacuation ren und Gänge aus, Löcher im unter- men in Beton. Leben in Abstraktion.
Sites«, Rettungsräume vor Erdbeben –, schwelligen Bergwerk deines Be- / Und dann finden wir die Abbildung
Marion dann in die Nähe des atomverseuchten wußtseins. Du willst etwas gegen sie dieser Formsteine und die Biologie des
Poschmann: Fukushima, wo Kiefern sich auf Meeres- tun, hast fast einen Schatten unter / Springkrauts in einem eigenen Aufsatz im
Mond- felsen krümmen. Nach und nach wird der Achsel gepackt. Dann entfleucht zweiten Buch von Marion Poschmann,
betrachtung der sprachliche Duktus weicher, das Sen- er. Du denkst noch: Um eine kleine / den gleichzeitig mit den Geliehenen Land-
in mondloser tenziöse nimmt ab, doch der Furor der Tablette zu schlucken, muß ich im schaften erschienenen Essays Mondbe-
Nacht. Durchdringung bleibt. Grunde nicht extra rausgehen.« trachtung in mondloser Nacht. Und das ist
220 S., 18,– € Marion Poschmann löst die Verfesti- Als Lehrgedichte und Elegien bezeichnet ein Glücksfall, ähnlich wie der kürzlich
gungen unserer Anschauungen, Vorstel- die Lyrikerin ihre neuen Gedichte. Das erschienene poetische Essayband der Lyri-
lungen und Begriffe in einer Art Schich- trifft den reflexiven Zug der neun thema- kerin Monika Rinck Risiko und Idiotie,
tenanalyse der Wirklichkeit auf. Die tisch enggeführten Gedichtblöcke mit je Bücher zweier Essayistinnen, deren Dich-
schöne Literatur ist ihr Erkenntnisinstru- neun Gedichten genau. Sie betrachten ei- tungen und Reflexionen gleichwertig
ment, ein bildgebendes Verfahren, das nen Weltausschnitt, rahmen ihn und ver- sind, weil die anschaulichen Überlegun-
verborgene Leerstellen, Linien und Ein- sehen ihn mit einem Außen. Als ob das gen der Essays eine Hohlform der intel-
schlüsse sichtbar macht. Eine Tomogra- Parkhaus im Fenster eines Museums zum lektuellen Anschauung in den Gedichten
fie des historisch-kulturellen Unbewuss- Beispiel dieses erst komplettierte. Der fer- bilden. Auch wenn Poschmanns Essays
ten. Dem Abwesenden, Unsichtbaren, ne Berg ist das häufigste Motiv der Gelie- und Reden zu unterschiedlichen Anlässen
der Leere gilt die Aufmerksamkeit. »So henen Landschaft in ostasiatischen Parks. entstanden, wirken sie wie aus einem
rede, Leere, ich sehe dich nicht«, heißt es Dieser Fachbegriff der Landschaftsgarten- Guss, und ihre kurz getaktete Einteilung
Marion in einem anderen Gedicht des ersten kunst markiert die fernöstliche Inspira- in ungefähr eine Seite lange, häufig per-
Poschmann: Kapitels Bernsteinpark Kaliningrad. Ma- tionsquelle Poschmanns. Doch sie kennt sönlich eingeleitete Betrachtungen zur Äs-
Geliehene
rion Poschmann traut dem kantischen auch die griechische Naturphilosophie thetik macht sie auch formal zu einem
Landschaften.
Lehrgedichte
Vorrang der Kategorien nicht. Sie zitiert und, ganz ökologisch heutig, Bruno La- Lesevergnügen. Beide Poschmann-Bücher
und Elegien. einmal den anderen Magus des Nordens, tours Subjektivität der natürlichen Dinge. zusammen bilden ein neues Ganzes, das
125 S., 19,95 €. Johann Georg Hamann, der die flüchtige Die Gedichte sind weit gereist, voll man sich mit Gewinn auch in abwech-
Beide Suhrkamp gesprochene Sprache am Werk weiß, wo Bildung, und sie lehren zu denken, wie selnder Lektüre gönnen darf. Hier steht
Verlag, Berlin feste Kategorien behauptet werden. Mit das schon bei Vergil oder Lukrez der das Denken nicht im Weg, sondern ist
2016 ihm geht Marion Poschmann durch Kö- Fall war, Vätern des heute eher aus der selber schön.
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Fotos (v. o.): Netflix/Planet Photos; Chad Batka/NYT/laif (Ausschnitt); Ulf Andersen/Getty Images [M]
Hat sich ins Amt des amerikanischen Präsidenten intrigiert und will sich nachträglich noch vom Volk wählen lassen: Francis Underwood (Kevin Spacey)

»Ideologie ist für Feiglinge«


Lässt sich Donald Trump von »House of Cards« inspirieren? Ein Gespräch über Realität und Fiktion mit Laura Eason, einer Autorin der Serie

Weltweit warten die Fans des skrupellosen Eason: Underwood ist das Gegenteil des aktuellen muss, damit die Leute ihn unterstützen. Und er nungsvollen Stimmung des Bill-Clinton-Amerika. Eason: Auf eine gewisse Art ist Francis Underwood
Machtmenschen Francis Underwood (Kevin Washington. Er ist die Verkörperung von Effizienz. schert sich nicht darum, dass er dazu auch oft das House of Cards dagegen spiegelt eher die depressive tatsächlich eine optimistische Figur. Er rettet Wa-
Spacey) auf den Start der vierten Staffel der Serie Schon als Fraktionsvorsitzender der Demokraten Gegenteil von dem behaupten muss, was er vor Stimmung des Post-Obama-Amerika wider. shington vor seinem eigenen Stillstand. Under-
»House of Cards«. In Deutschland läuft sie vom im Kongress hat er ein Gesetz nach dem anderen ein paar Jahren gesagt hat. Da ist sehr viel Francis Eason: Obama hat zu Beginn versucht, mit den wood will kein guter Mensch sein, er will effektiv
4. März an auf Sky. Laura Eason ist eine von auf den Weg gebracht. Dabei war ihm allerdings Underwood in Donald Trump. Auch Under- Republikanern zusammenzuarbeiten. Aber er sein. Denn Effizienz ist die Essenz seiner Macht.
sechs Drehbuchautoren, die in New York gemein- völlig egal, um welche Gesetze es sich handelte. wood geht es nur um die Macht. Dafür ist er be- stieß nur auf Ablehnung. Underwood ist der Es ist ein sehr zynischer Optimismus. Die Frage,
sam an den Episoden schreiben, gerade ist die Seine Macht speiste sich daraus, dass er Dinge er- reit, jede Grenze zu überschreiten. Und er zieht rücksichtslose Pragmatiker, den ein solches Sys- die die Serie stellt, lautet: Ist jemand wie Francis
fünfte Staffel fertig geworden. Die Autoren haben ledigt. Ideologie ist für ihn nur hinderlich, denn sie alle mit sich. Nachdem seine idealistische Ge- tem erzeugt. Pragmatiker hat es in der Politik Underwood an diesem Punkt in unserer amerika-
ein paar Wochen frei, und Eason empfängt zum macht Kompromisse unmöglich. Ideologie, sagt genkandidatin Heather Dunbar sieht, wie weit früher schon gegeben, Abraham Lincoln hat die nischen Demokratie die einzige Person, die noch
Besuch in ihrer Wohnung in Brooklyn. Underwood, ist für Feiglinge. Francis für den Sieg geht, beginnt auch sie, Sklaverei nur abschaffen können, weil er viele irgendetwas bewegen kann? Und was sagt das über
ZEIT: Das hätte auch Trump sagen können. schmutzige Tricks einzusetzen. den Zustand unserer Demokratie aus?
DIE ZEIT: Die letzte Staffel endete damit, dass Eason: Weil Trump genau wie Underwood die ZEIT: Sie glaubt allerdings, dass sie es tut, um ihre ZEIT: Können die Frauen die Demokratie retten?
Francis Underwood sich als Präsident zur Wie- Partei egal ist. Wie Underwood interessiert auch Ideale zu verteidigen. Die Frage, die dahintersteht, Underwoods demokratische Mitbewerberin um
derwahl stellt. Die neue startet nun, parallel zum er sich nur noch für sich selbst. Und das bedeutet, ist: Rechtfertigt der Zweck die Mittel? Und ab die Präsidentschaftskandidatur ist bislang noch
realen Wahlkampf in den USA, mit der Vorwahl dass er einen ganz anderen Weg zur Macht ein- wann verschwindet der Zweck hinter den Mitteln, Laura Eason schreibt fürs ein starkes moralisches Gegengewicht zu ihm.
in South Carolina. Hatte das Phänomen Trump schlagen kann. Bislang haben die Parteien ver- und der Machterhalt wird zum alleinigen Zweck? Fernsehen und fürs Theater, Und dann hat ihn Claire, seine Frau, in der letzten
schon Einfluss auf die neuen Folgen? sucht, ihre Macht zu sichern, indem sie die Kon- Eason: Das ist eine der großen Fragen, denen wir etwa ihr Erfolgsstück Episode verlassen. Kann er ohne Claire an der
Laura Eason: Als wir im Februar letzten Jahres zu trolle über Kongress, Weißes Haus und den mit der Serie nachgehen. Fast alle Politiker kom- »Sex with Strangers« Macht bleiben? Oder braucht er sie dazu?
schreiben begannen, hatte Donald Trump seine Obersten Gerichtshof behielten. Nur so war es in men mit guten Vorsätzen nach Washington. Aber Eason: Ich darf nichts Genaues sagen, aber es wird
Kandidatur zwar noch nicht bekannt gegeben. den letzten 25 Jahren möglich, genügend Einfluss im Laufe der Zeit beginnen diese Vorsätze zu ero- korrupte Deals eingegangen ist. Aber Lincoln tatsächlich darum gehen, wie groß Claires Ambi-
Aber für jemanden, der sich seit Jahren mit Wa- für politische Entscheidungen zu haben. Die dieren. Und sie lernen, wie Heather Dunbar, dass hat das für ein größeres moralisches Ziel getan. tionen sind. Wie lange muss eine sehr ambitio-
shington und der Mechanik der Macht beschäf- ideologische Reinheit wurde gewährleistet und der man mit Idealismus nicht weiterkommt. Diesen Francis Underwoods Ziel ist nur er selbst. nierte Frau, die mit einem sehr ambitionierten
tigt, war es nicht überraschend, dass ein Kandidat Kompromiss ausgerottet. Prozess zeigen wir in der Serie. ZEIT: Das ist auf den ersten Blick natürlich zy- Mann verheiratet ist, darauf warten, zum Zuge zu
wie Trump auftauchte. Unser politisches System ZEIT: Führen Trump und Underwood den Kom- ZEIT: House of Cards ist die zynische, postideo- nisch und abstoßend, zumal Underwood für die kommen? Sie hat Francis geholfen, Präsident zu
mit seiner wachsenden Unfähigkeit, Entscheidun- promiss jetzt als Weg zur Macht wieder ein? In der logische Antwort auf die ältere Washington-Serie Macht nicht einmal vor einem Mord zurück- werden. Aber wie kann sie jetzt ihr Ziel erreichen?
gen zu treffen, hat ihn mitverschuldet. Trumpschen Sonderform als »the art of the deal«? The West Wing. Dort strahlt das Weiße Haus re- schreckt. Man kann sich aber auch fragen: Was ZEIT: Das erinnert sehr an Hillary Clinton. Wird
ZEIT: Es scheint fast, als habe House of Cards das Eason: Genau, nur dass ihre Deals keiner Idee gelrecht vor Idealismus: Der Präsident wollte ur- ist schlimmer – ein sich blockierender Kongress, sie ihr Ziel erreichen?
Phänomen Trump vorweggenommen. Auch Fran- von einem besseren Amerika verpflichtet sind. sprünglich Priester werden, er hat einen Doktor der die Gesellschaft zum Stillstand bringt, oder Eason: Das ist die große Frage, oder?
cis Underwood ist ja eine Reaktion auf die Unbe- Woran glaubt Donald Trump? Ich habe nicht die in Ökonomie und ist die Verkörperung des ein Machtmechaniker wie Underwood, der die
weglichkeit und den Stillstand in Washington. geringste Idee. Er sagt genau das, was er sagen Gutmenschen. Die Serie entstand in der hoff- Maschine immerhin am Laufen hält? Das Gespräch führte Kerstin Kohlenberg

»Als deutscher Rentner hätte ich Angst«


Der preisgekrönte algerische Schriftsteller Kamel Daoud wehrt sich gegen die französische Elite, die ihn wegen seiner islamkritischen Kommentare scharf angegriffen hat

DIE ZEIT: Herr Daoud, gegen Sie läuft wegen Ihrer ZEIT: Wie erklären Sie sich die beißende Kritik der seine Kinder retten müsste: Ich würde durchs ZEIT: Dürfen wir darauf vertrauen, dass sich der ZEIT: Warum?
weltläufigen Schriften eine Fatwa. Zuletzt hat Ihnen aus Frankreich, wo man Sie bisher verehrte? Meer schwimmen und Stacheldrahtzäune zer- arabische Mann emanzipiert? Daoud: Wissen Sie, wie viel ein Roman kostet? 20
eine Gruppe von 19 französischen Wissenschaftlern Daoud: Frankreich ist heute ein von seinen Eli- schneiden! Jeder hat seine Gründe. Doch wenn Daoud: In der arabischen Welt haben wir eine Euro. Wissen Sie, wie viel eine Anleitung zum
»antihumanistische« Überzeugungen unterstellt, als ten blockiertes Land, das auf seine Probleme jeder seine Tür schließt, wird es nicht lange dauern, kranke Beziehung zur Frau. Trotz aller Unzuläng- Heiligen Krieg und zum Einschließen der eigenen
sie vor den in der Kölner Silvesternacht zutage ge- keine Antworten findet. Das führt bei vielen dann schießen wir von beiden Seiten durch die lichkeiten beneide ich den Westen um die Rolle Frau kostet? Null Euro.
tretenen Kulturkonflikten warnten. Auch ein Autor Franzosen zu extremen Positionen und zu Ab- Fenster. Die Flüchtlinge aber sind da und haben der Frau in seiner Gesellschaft. Wer aber eine kran- ZEIT: Reagiert der Westen angemessen in diesem
der New York Times ging scharf mit Ihnen ins Ge- lehnung. Ich fühle mich heute in Algerien viel ein Recht, ihre Kinder zu retten. Also müssen wir ke Beziehung zur Frau hat, hat auch eine kranke Krieg?
richt. Und jetzt wollen Sie, der in Frankreich mehr- freier als in Frankreich, auch wenn ich hier nicht nun, wie ich es sehe, eine gemeinsame Vernunft Beziehung zur Welt, was seine Kreativität, seine Daoud: Er begreift das historische Ausmaß des
fach preisgekrönte Journalist und Schriftsteller, sich viel Freiheit habe, denn in Frankreich gibt es finden. Aber wir sind weit vom Ziel entfernt. Freiheit, seinen Körper und seine Begierden be- Konflikts nicht. Die Terroristen dieser Welt den-
vom Journalismus zurückziehen? zu viele intellektuelle Tabus. Und diese Tabus ZEIT: Ihr Land erlebte am Ende der Kolonialzeit trifft. Wie können wir das Leben lieben, ohne die ken solidarisch. Wir nicht. Es gibt eine deutsche,
Kamel Daoud: Ich werde meine Musik nicht än- respektiere ich nicht. in den sechziger Jahren den Exodus von Millionen Frau zu lieben? Wie können wir Familien aufbau- eine französische, eine algerische Antwort auf den
dern. Ich werde meine Ideen und Positionen im- ZEIT: Von welchen Tabus sprechen Sie? nach Frankreich. Kann Deutschland aus dieser Er- en, wenn wir die Frau nicht respektieren? Ich habe Terrorismus. Mich erinnert das an die Differenzen
mer verteidigen. Ich akzeptiere nicht, dass man mir Daoud: Die große Frage, die sich heute der Mensch- fahrung lernen? früher einmal geschrieben: Wer die Frauen ein- zwischen Polen, Frankreich und Belgien während
aus der Ferne Lektionen erteilt. Ich bin Algerier, ich heit stellt, lautet: Was machen wir mit dem ande- Daoud: Zu spät. Die Leute sind ja schon bei euch. schließt, macht die Männer zu Gefangenen. des Aufstiegs des Faschismus in Deutschland. Die
lebe in der arabischen Welt. Ich habe das Recht auf ren? Müssen wir ihn töten, leugnen, ablehnen? Al- ZEIT: So wie Sie die Kölner Ereignisse jüngst be- ZEIT: Macht die arabische Frauenemanzipation deutschen Faschisten hatten eine globale Vision,
meine eigenen Überzeugungen. Aber ich bin müde. lein in einem Land zu leben ist nicht mehr möglich. schrieben, glauben Sie selbst nicht an eine gemein- nicht trotzdem Fortschritte? die anderen nur nationale Visionen. Aber nationale
Ich beziehe zu viel Prügel, hier in Algerien, jetzt Den anderen ins Meer zu werfen ist unmenschlich same Vernunft? Daoud: Gerade Westler, die die arabische Welt Visionen reichen nicht. Denn der Terrorismus hat
auch noch in Europa. Ich empfinde das als unge- und deshalb auch nicht möglich. Nicht für die Daoud: Es reicht eben nicht, den Leuten Papiere lieben, wollen das gerne glauben. Aber es tut mir eine Ideologie, die keine Grenzen kennt. Wie
recht. Ihre deutschen Leser können sich schwer Franzosen, nicht für die Deutschen. Was mache zu geben und sie in ein Heim zu stecken. Die ge- leid: Die Lage der Frau in der arabischen Welt einst die guten Deutschen der dreißiger Jahre in
vorstellen, wie groß der Druck ist, der auf ich also mit dem anderen? Die Eliten aber meinsame Vernunft stellt sich nicht von allein ein. bleibt tragisch. Von Freiheit kann keine Rede sein. ihrem Nachbarn urplötzlich den Antisemiten ent-
mir lastet. Er berührt mein Privatleben, wollen darauf keine Antwort geben. Der syrische Flüchtling lässt seinen Lebensstil Und ich glaube, wir werden ohne die Freiheit der decken mussten, begegnet uns der Terrorismus
meine Familie. Das entmutigt. Ich habe ZEIT: Die Deutschen, die Bundeskanz- nicht in Syrien zurück. Ich sage das nicht gerne, Frau nicht begreifen, was Freiheit ist. heute überall.
deshalb angekündigt, dass ich mich lerin an der Spitze, haben gerade eine weil man mich dafür sehr scharf angreift. Aber ZEIT: Wird die Freiheit in der arabischen Welt ZEIT: Haben Sie Angst?
zurückziehe, um Romane zu schrei- Million Flüchtlinge aufgenommen. Ist man muss es so sagen. Sonst geht es schief. nicht gerade gegen den »Islamischen Staat« vertei- Daoud: Ich habe immer noch viele Unterstützer.
ben, mich auszuruhen und nachzu- das keine Antwort? ZEIT: Sie warnen uns, dass hinter den Ereignissen digt? Ich bin nicht einsam. Bei mir zu Hause fühle ich
denken. Aber ich habe nie gesagt, Daoud: Seien wir doch ehrlich! Wenn ich von Köln die unterdrückte, aggressive Sexualität in Daoud: Wir werden alle nicht als Islamisten oder mich sicher.
dass ich aufgeben werde. ein älterer deutscher Rentner mit kleinem der arabischen Welt steckt? Terroristen geboren. Wir werden dazu gemacht – ZEIT: Glauben Sie noch an die Liebe zwischen
Haus und kleiner Pension und meinem ei- Daoud: Genau. Kulturelle Unterschiede zu leugnen mit den Ideen, die man uns in Büchern, mit Pre- Muslimen und Christen?
Kamel Daoud genen Lebensstil wäre und rund um mich he- ist keine Lösung. Sie bewusst ins Auge zu fassen ist digten und im Internet einimpft. Ganze Staaten Daoud: Sie müssen sich einfach ausziehen, verges-
schrieb für den rum die Leute ankommen sähe: Wie würde der Beginn einer Lösung. Das hat nichts mit Rassis- bezahlen dafür – und zwar dieselben, die auch alles sen, dass sie Christ und Muslim sind, und sich lie-
»Quotidien ich reagieren? Ich hätte Angst. Vielleicht mus zu tun, wie man mir ihn jetzt in Frankreich dafür tun, mein Ansehen zu zerstören. Zum Bei- ben. Liebe kennt weder Religion noch Nationalität.
d’Oran«. Jetzt würde ich mir eine Waffe zulegen. Aber unterstellt. Das hat vielmehr mit Vertrauen in den spiel Saudi-Arabien. Das ist ein Krieg, den wir ge-
will er aufgeben wenn ich ein syrischer Flüchtling wäre, anderen zu tun. rade verlieren. Das Gespräch führte Georg Blume
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Schafft mehr

Foto: Thorsten Schnorrbusch


Konzertsäle!
München kriegt jetzt einen, Paris und Bochum haben welche:
Diese Häuser sollte man sich leisten, auch an ungewöhnlichen
Orten. Gesellschaftlich können sie viel erreichen VON BJØRN WOLL

F
ast 15 Jahre lang wurde debattiert, deutliches Bekenntnis zu dem Kulturstandort.
schier endlos, mitunter reichlich Die Verwurzelung des Orchesters in der Stadt
peinlich – und am Ende ging es sorgt gleichzeitig für die nötige Abgrenzung
doch ganz schnell: Anfang Dezem- von den schon länger etablierten Häusern in
ber hatte das bayerische Kabinett Dortmund und Essen, die ebenfalls um das
beschlossen, dass der neue Münch- Bochumer Publikum buhlen. Langfristig ne-
ner Konzertsaal auf dem ehemali- ben den mit renommierten Gastspielen wu-
gen Gelände der Pfanni-Werke hinter dem Ost- chernden Nachbarstädten zu bestehen kann
bahnhof gebaut werden soll. Vergangene Woche nur mit einem Programm gelingen, das stärker
gab nun auch die CSU-Landtagsfraktion grünes die lokalen Bedürfnisse in Bochum mitdenkt.
Licht. Zuletzt hatte sich die Diskussion an der Wie Architektur und Dramaturgie sich klug
Standortfrage regelrecht festgefressen: noble Zen- die Hände reichen, zeigt in der Tat der Blick
trumslagen versus ranzige Randgebiete, Baum- zur Dortmunder Konkurrenz. Seit 2002 steht
schutz gegen Hochkultur, Gutachten gegen Gut- dort das Konzerthaus im Brückviertel in der
achten. Die Gemüter kochten hoch, der Schlag- Nordstadt. Straßenstrich und Drogenmilieu
abtausch hatte ideologische Qualitäten. Wann, regierten hier bis in die neunziger Jahre, dann
fragte man sich, war hier eigentlich zuletzt von sollte das Problemviertel aufgewertet werden:
Musik die Rede, von Inhalten? Haben die mit Ar- klassische Musik als Vademekum für den sozio-
chitektur und Standorten denn gar nichts zu tun? ökonomischen Wandel. Ganz bewusst sollte
Der ehemaligen Knödelfabrik machten schließ- der Bau daher keine solitäre Landmarke wer-
lich nur die Paketposthallen westlich des Hauptbahn- den wie Paris oder die Hamburger Elbphilhar-
hofs noch Konkurrenz. Eine »Musikstadt« hätte hier monie, sondern integraler Bestandteil der urba-
entstehen sollen, ein spektakuläres Konzept. Innova- nen Bebauung. Schwellenängste sollen hier gar
tiver sicher als die Pläne für das Werksviertel im nicht erst aufkommen. Vielmehr verbindet das
Osten – aber auch deutlich teurer. Am Ende ent- durch die transparente Glasfassade »offene«
schied sich die Politik, wie so oft, für den Kompro- Stadtfoyer beide Welten miteinander: das städ-
miss zwischen Vision und Machbarkeit. Immerhin tische Leben draußen zwischen Dönerbuden
gibt es auch für das Pfanni-Areal eine städteplaneri- und Handyshops und die geistige Sphäre der
sche Zielvorgabe: Es soll ein attraktives Viertel ent- Hochkultur drinnen. Doch noch einmal: Es
stehen mit Wohnungen, Hotels, Gastronomie und dürfte nicht ausgemacht sein, wer hier in Zu-
im Keim eben einem Konzertsaal, eingebettet in eine kunft mehr auf wen angewiesen ist.
Art Kunst- und Musikkomplex.
Statt also die Münchner Innenstadt kulturell 200 Plätze für 2000 Seelen – das ist das
weiter zu stärken, soll der neue Konzertsaal als Wunder von Blaibach
Brücke zu den urbanen Randbezirken im Osten
fungieren. Die Idee ist nicht neu, ähnliche Ziele Läuft man heute durch die Brückstraße, scheint
verfolgte man beispielsweise auch bei der 2015 er- die Vitalisierung gelungen: Zwar hat sich das eins-
öffneten Pariser Philharmonie. Diese steht im tige Problemviertel seinen Multikulti-Charme
19. Arrondissement, einem Problemviertel im bewahrt, aber die Ghettoisierung ist einer gesell-
weniger wohlhabenden Osten der französischen schaftlichen Durchmischung gewichen. Nicht nur
Hauptstadt. Der spektakuläre Bau von Jean Nouvel wegen der integrativen Architektur, sondern vor
soll ein Haus für alle sein, das gleichzeitig den allem auch durch eine überlegte Spielplangestal-
Stadtkern zur Metropolregion erweitert. Ob der tung: Mit Reihen wie den »Zeitinseln« oder den
Plan aufgeht, ist immer noch Zukunftsmusik, Be- »Jungen Wilden«, in denen Künstler oft über
sucherzahlen und Kriminalitätsraten lassen sich mehrere Jahre gebunden werden, gestaltet In-
nicht so ohne Weiteres gegenrechnen. In Mün- tendant Benedikt Stampa ein Programm, das dem Hier klingeln in den Pausen
chen wiederum wird viel davon abhängen, ob der Dortmunder Konzerthaus ein unverwechselbares bald die Sektgläser: Das Innere
Bau als Bau gelingt, akustisch wie architektonisch. Profil gibt. Ein Profil, in dem sich die Besucher der Bochumer Marienkirche
Denn die international bedeutende Musikmetro- zu Hause fühlen.
pole braucht dringend einen Saal, der ihren Elite- Die Chance von Konzerthäusern liegt, so
klangkörpern Rechnung trägt – allen voran dem banal das vielleicht klingt, in ihrer Vielfalt. Anders
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks als Opernhäuser sind sie flexibler, brauchen kei-
mit Mariss Jansons als Chefdirigenten (der just nen so riesenhaften Apparat. Diese Vielfalt muss
eine Woche vor dem CSU-Votum ein lustiges die Rhein-Ruhr-Region künftig nutzen: Wenn
Fotoshooting auf dem Pfanni-Gelände veranstal- im Herbst das Bochumer Musikzentrum und die
tete und auf Facebook postete). nach Problemen beim Brandschutz endgültig
In Bochum hat man die Standortfrage mit einem sanierte Mercatorhalle in Duisburg ihre Tore
klaren Bekenntnis für die Innenstadt beantwortet. öffnen, findet sich zwischen Bonn und Dortmund
Wenn das neue Musikzentrum im Herbst seine eine weltweit einmalige Konzerthausdichte. Und
Pforten öffnet, wird es zum Bindeglied zwischen dem das ausgerechnet in Nordrhein-Westfalen, dessen
Bermudadreieck, einer pulsierenden Partymeile, und Städte unter erdrückenden Schuldenlasten und
einem Viertel, das früher einmal die Innenstadt war, einer oft einfallslosen SPD-Kulturpolitik ächzen.
heute aber den Anschluss verloren hat. Im Zusam- Konzerthäuser aber verursachen nicht nur
menspiel von architektonischer Aufwertung, hoch- Bau-, sondern auch erhebliche Betriebskosten.
wertigen Restaurants und kulturellem Angebot soll Wem diese Kosten nützen? Erst im letzten Jahr
es hier zu einer Revitalisierung kommen. Der Ent- hat eine Studie des Münchner ifo Instituts ge-
wurf von Martin Bez und Thorsten Kock greift be- zeigt, dass Ausgaben für Kultur einen positiven
wusst ein Stück Bochumer Stadtgeschichte auf, in- Effekt auf den Wohlstand der jeweiligen Stadt
dem der profanisierte Raum der Marienkirche zum und Region haben. Zu einem ähnlichen Ergeb-
Foyer für den modernen Neubau mit hellem Klinker- nis kam die gute alte Umwegrentabilitätsstudie
mauerwerk wird, der seinerseits den Konzertsaal mit über die ökonomischen Auswirkungen des
rund 1000 Plätzen fasst. Der ehemals sakrale Raum Konzertbetriebs am Leipziger Gewandhaus.
mit seiner gelebten Historie wird so zur identifikato- Vieles spricht also dafür, dass man sich noch
rischen Projektionsfläche. mehr Konzerthäuser leisten sollte, gerade in
In erster Linie werden hier die Bochumer Sym- strukturschwachen Regionen und der soge-
phoniker eine neue Heimstatt finden. Doch das nannten Provinz. Als pumpte man frisches Blut
»Haus der Musik« will mehr sein als eine städti- in alte Kreisläufe – mit dem Ergebnis, dass sich
sche Philharmonie: Es versteht sich als Zentrum natürlich auch das Blut dabei verändert.
für kulturelle Bildung, als ein Ort des »alltäglichen Wie das geht, zeigt das 2000-Seelen-Dörfchen
Kulturerlebnisses«, so formuliert es Britta Freis, die Blaibach im Bayerischen Wald rund 20 Kilo-
meter von der tschechischen Grenze entfernt.
Dort verfügt man seit 2014 über einen eigenen
Konzertsaal. Der Minimalismus des gekippten
Kubus verspricht eine außergewöhnliche Be-
stimmung, weist mit seiner Granitfassade aber
gleichzeitig auf die Tradition des Ortes im Granit-
abbau hin. 200 Plätze fasst der Saal, dessen Glas-
Beton-Design wie ein utopischer Ort wirkt. Mit
dem Hochglanz-Kulturprogramm des knapp
200 Autokilometer entfernten München kann
und will man hier nicht konkurrieren, stattdessen
setzt man auf persönliche Betreuung, einen engen
Kontakt zu den Künstlern und die Verbindung
von kulturellem Angebot und landschaftlichen
Reizen. Davon wiederum könnten sich viele
Geschäftsführerin der Stiftung Bochumer Sym- Metropolen ein Scheibchen abschneiden.
phonie. Damit diese Vision nicht zum Lippen- Mittlerweile strahlt der Konzertsaal weit über
bekenntnis verkommt, ist allerdings mehr von- Blaibach hinaus. Das schafft nicht nur Identität,
nöten als der richtige Standort und eine gelungene weil sich die Menschen vor Ort emotional enga-
Architektur. Mindestens ebenso wichtig (siehe gieren, sondern sorgt auch für eine deutliche
oben) ist die Frage, wie dieser Raum künftig mit wirtschaftliche Belebung, da Gastronomie und
Inhalten gefüllt wird. Und überhaupt: Hält die Tourismus vom Konzertbetrieb profitieren.
Hochkultur hier der Städteplanung den Steig- »Unsere Wirtschaftsförderung ist das Kultur-
bügel – oder die Städteplanung der Hochkultur? programm«, sagt Thomas E. Bauer, der Initiator
22 000 Bochumer haben sich mit Spenden an und Intendant. Es ist ein starkes Argument, wa-
dem Projekt beteiligt. Selbst wenn 21 000 davon rum sich Investitionen in Kultur nicht nur für
weniger als zehn Euro gegeben haben, ist es ein die lohnen, die ins Konzert gehen.
48 FEUILLETON 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

Im Schießkino
Claus Peymann inszeniert
Peter Handkes neues Stück
»Die Unschuldigen, ich und die
Unbekannte am Rand der
Landstraße« in Wien
VON PETER KÜMMEL

P
eter Handke ist
ebenso sehr ein
Geher wie ein
Schriftsteller. Wenn er
nicht gehen kann, ist ihm
auch das Schreiben unmög-

Foto (Ausschnitt): Monika Rittershaus


lich. Die Straße und das leere
Stück Papier sind für ihn Schauplätze der Zukunft: der Christop
Dort wird alles noch einmal beginnen. Auf der Un- her Nell (
vorn) ist d
ersten Seite von Handkes neuem Stücks Die Un- schuldigen er »ICH«-E
rzä h l e r i n Pe
ter Handkes Stü
schuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der wird nie durch Taten mani- c k . H i n te r i h m : L a u te r »
U nschuldige «
Landstraße steht der programmatische Satz: »Und fest – es ist wohl am ehesten das zufriede-
da kommt sie, da erscheint sie, da fliegt sie mich ne Mitlaufen, gesichtslose Dabeisein, stimmlose ten zusam-
an, da erstreckt sie sich, die Landstraße, vorder- Mitschnattern von buchstäblich uns allen, das menschweißte, auch
hand leer.« Handke meint. wenn sie seitdem in konstantem Streit le-
Die Straße ist der Urgrund, auf welchem ICH macht kaum Anstalten, seine Unschuldi- ben, war, vor 50 Jahren, am Frankfurter Theater Nichts wirkt inspiriert,
Handkes Fantasie und Erinnerung plastisch wer- gen genauer kennenzulernen, er lebt, recht bese- am Turm, die Publikumsbeschimpfung – von heute von spielerischem Überschuss getrieben: Karl- Rand seiner Straße
den – wie auf einer Kinoleinwand, die sich unter hen, vom Vorurteil, von den sprichwörtlichen aus gesehen fast ein Rap-Abend, eine swingende Ernst Herrmann, der große Bühnenerfinder, der vor der Welt, die er angeblich verachtet, sehr wach-
seinen Füßen erstreckt. Die Straße ist aber auch sieben Sekunden, in denen ein Mensch sich ein Suada, die zuversichtliche, auf Eklat fröhlich an dieser Stelle vor 26 Jahren für Handkes und sam verbirgt: kein Heckenschütze, sondern eigent-
ein trockenen Fußes begehbarer Fluss, welcher die Urteil über sein Gegenüber bildet und es dann hingebürstete Beleidigung und Aufstachlung des Peymanns Spiel vom Fragen eine wunderbare, sich lich ein Hecken-Denker. An diesem Gegensatz der
ganze Weltgeschichte vorbeiwälzt – und auch des nicht mehr revidiert – ICH macht es sich ein Le- Publikums: ein Aufbruch. Der Schlussapplaus ist allmählich ins Hinterland schraubende Straße Sprechweisen, dieser Aufspaltung in den dramati-
Erzählers persönliche Geschichte. Als der »Verder- ben lang in diesen magischen sieben Sekunden auf YouTube zu sehen: Handke, 24, steht in Jubel gebaut hatte, wirft uns nun bloß eine kahle, leere schen Rappelkopf und den allerzartesten, lupenf-
ber« Hitler hier durchzog, so berichtet Handkes gemütlich. »Die Unschuldigen nehmen den Krieg und Buhs wie der fünfte Beatle, ein Popstar, der Kurve auf schiefer Ebene als Spielort hin. Der einsten Weltbetrachter, scheitert die Aufführung:
Protagonist im Stück, habe seine schwangere Mut- vorweg, sind sein Fleisch und Blut«, sagt der Pro- sein Publikum, die Unschuldigen von damals, Regisseur lässt darüber einen Trupp von Spitz- Ihm hält sie nicht stand, ihn verleugnet sie schlicht.
ter vor Schreck Wehen bekommen (Handke selbst tagonist – und es wirkt fast so, als wünschte er sich mit wilden Gesten zu Zugabengebrüll stimuliert. weg-Buben und Kabarettkomparsen biedermeier- Irgendwann im Stück verrät Handkes Protago-
wurde 1942 geboren). Und natürlich ist die Straße diesen Krieg, der seinen Generalverdacht endlich Auch das Stück Die Unschuldigen … geizt, 50 haft sich hinwegkräuseln – ein von Geburt an nist, warum er die Landstraße liebt: weil sie ihm
auch erotisch aufgeladen: Sie wird den Helden ir- bestätigt. Und bisweilen dringen die Verbrechen, Jahre später, nicht mit Beschimpfung, Fluch, zusammengestauchtes, mut- und sprachloses das Gefühl gibt, jetzt keinesfalls sterben zu müs-
gendwann zu der »Unbekannten« führen, der nie die jene Unschuldigen wohl in ihrem Leben noch Verwünschung, aber es hat das Vergeblich-Weh- Komfortgesindel. Und Peymanns Hauptdarsteller, sen. »Noch keinmal«, heißt es da, »habe ich im
gesehenen Frau seines Lebens. begehen werden, als unabgegoltene Schuld an die mütige eines Abschieds. Der Protagonist spürt Christopher Nell? Dass dies ein alter Schriftstel- Landstraßenwind den Totenschädel an mir ge-
Einer erschafft sich die Welt, indem er eine Oberfläche des Stücks: wenn die »Unbekannte« nun vor allem die Rückstöße seiner Wut. Zele- ler ist, der seine Lebens- und Schreibwege noch spürt, im Gegenteil.« Mark Twain hat das alles ein-
Straße erschafft. Das hat Handke schon öfter ge- daran erinnert, dass hier, auf der Landstraße, briert wird die Abdankung eines königlichen einmal geht, ist ihm nicht zu glauben. Nell ist mal, sachlich amerikanisch, so formuliert: »Es ist
tan, am schöpfungswütigsten in seinem Stück Die Menschen ins KZ geschickt wurden, dass dort, Wutnickels: ein letzter Fluch, bevor ich gehe. eher ein Morgenmensch, zutraulich der Schöp- leichter, draußen zu bleiben, als nach draußen zu
Stunde da wir nichts voneinander wussten. Damals am Rand der Landstraße, ein amerikanischer Der für Handkes Schreiben (und wohl auch für fung und uns gegenüber: Er tappt zur Rampe wie gehen.« Draußen zu bleiben – das ist Handkes
begegneten sich, aufleuchtend und für immer ver- Bomberpilot, abgestürzt nach dem Krieg, von den seine Person) entscheidende Konflikt zwischen ein Wesen, das gefüttert und gestreichelt werden Weg und der seines Helden. In dieser Inszenierung
schwindend, stumme Unbekannte dort, wo sich Bauern gelyncht wurde liebender Weltanschauuung und zorniger Welt- möchte, gut genährt mit Zuneigung und fun- hat man leider nie den Eindruck gehabt, je drau-
viele Straßen kreuzen, auf einem Platz: lauter Sze- abscheu ist der Motor des Stücks: Man hört sein kelnden Sinneseindrücken, fast verwöhnt. Ein ßen gewesen zu sein.

A
nen der Verheißung, mögliche Anfänge. m Wiener Burgtheater hat Claus Pey- Dröhnen und Brausen in den Worten seines Pro- hellstimmiger Gesell, getrieben von dem Jubilier- Auf dem Weg vom Burgtheater zum Hotel,
In den Unschuldigen herrscht ein anderer Geist. mann, der 78-jährige ehemalige Herr tagonisten. Leider wird dieser Motor von Pey- zwang eines Vagabunden aus einem alten deut- kein Witz, kam der Rezensent nachts in der Josef-
Der Protagonist und Erzähler des Stücks, ICH ge- des Hauses, Handkes Stück zur Urauf- manns Inszenierung so brutal gedrosselt, dass er schen Heimatfilm. stadt noch an einem Schießkino vorbei. Was ist
nannt, weiß von Beginn an alles über alle, die er führung gebracht. Wien empfing ihn nur noch wimmert. Aus der Darstellung innerer ein Schießkino? Es ist ein lang gezogener schall-

G
trifft, und es ist ein vergiftetes Wissen: Er weiß von mit allen paramilitärischen Ehren: Jubel, glück- Kämpfe wird fahle Illustration. Handkes Suaden, rößtes Problem der Inszenierung: Es ist dichter Raum, in dem man die Jagd auf beweg-
ihnen, dass sie es nicht wert sind, ihm auf seiner liche Präsentation alter Wunden, schön war’s die vom Verlust einer Welt handeln, sind nun, auf beim großzügigen Streichen von Text liche Ziele – »vom Fuchs bis zum Wasserbüffel«
Straße Gesellschaft zu leisten, geschweige denn: damals! Die Zipfel gleich mehrerer Mäntel der der Burg-Bühne, nichts anderes als Klagen darü- die Struktur des ganzen Stücks verloren – trainieren kann. Der Schütze steht am einen
ihn zu begleiten. Geschichte wehten über die Stadt – zuallererst ber, dass es nicht mehr so sei, wie es angeblich mal gegangen. Die Unschuldigen … besteht Ende des Raums und feuert auf Objekte, die auf
ICH fühlt sich von den »Unschuldigen« beläs- der politischen Geschichte, denn Peymann gegen war: Wo früher Geselligkeit war, stehen heute blinde einerseits aus laut zu sprechenden Passagen (vor einer Leinwand am anderen Ende vorbeiziehen.
tigt, welche die Welt beherrschen – schon einer Wien: das war eine permanente Schlacht um Handy-Idioten am Wegrand. Wo früher Bildung allem Monologen), andererseits aber aus nach in- Er darf sich als Überlebender und als letzter Ge-
von ihnen reicht, ihn vollständig zu umzingeln; sie Autorität, Stolz, historische Schuld und Wahr- den Menschen Freiheit verschaffte, da dient Bil- nen geflüstertem beziehungsweise gedachtem rechter fühlen, ohne irgendjemanden getroffen
alle sind für ihn die allerschlimmsten Täter. Sie zu heit. Dann aber auch der Theatergeschichte: dung dem Deppen von heute dazu, es in Quiz- Weltkommentar, Ich-Kommentar: So vehement zu haben. Genau so hatte man diesen Abend im
verfluchen (»Horizonträuber!«), verschafft ihm denn dieses Duo – Peymann/Handke – hat ins- Situationen möglichst weit zu bringen. Die all- der Protagonist nach außen flucht und schäumt, so Burgtheater erlebt: als wäre man ins größte
eine schier erotische Lust, und gern würde er sie gesamt zehn Stücke zur Uraufführung gebracht, gemeine Banalisierung, Verflachung, die die In- skrupulös notiert er in seinem Inneren, was ge- Schießkino Wiens geraten.
auf lange Zeit einfrieren lassen, dann wäre er fünf davon an der Burg. Das Urstück, welches szenierung beklagt, vollzieht sie selbst: an diesem schieht, geschah, geschehen könnte. Dieses innere
rechtzeitig tot, ehe sie wieder auftauen. Die Schuld die beiden, Handke und Peymann, für alle Zei- Stück, das sie so halb uraufführt. ICH ist wie ein Gebüsch, worin einer sich am www.zeit.de/audio
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 FEUILLETON 51
KUNSTMARKT

D
ie wenigen Aufnahmen, die Revolution wieder nach New York flüchtete, ließ TRAUMSTÜCK

Verschollen es aus den beiden Apart-


ments 15-B und 15-D in der
Primera Avenida 201 in Ha-
vanna gibt, zeigen noch den
großbürgerlichen Einrich-
Lengyel ihre Kunstsammlung, Schmuck und Ak-
tien zurück. Die neue kubanische Regierung be-
trachtete das im Lande verbliebene Vermögen der
US-Staatsbürgerin als Staatseigentum und ant-
wortete auf alle Anfragen dazu nicht. Als Olga
Rätsel der Tiefe
Über Elliott Erwitts Liebe zum

in Havanna
tungsstil der Vor-Castro- Lengyel im April 2001 starb, setzte sie die 1962 Hund VON ANNA VON MÜNCHHAUSEN
Zeit. Auf spiegelnden Bodenfliesen in Schwarz von ihr gegründete Stiftung Memorial Library in
und Weiß stehen Sitzgruppen mit samtenen ihrem Haus an der 79. Straße in Manhattan als
braunen Polstern. Die Tafel im Esszimmer deko- Alleinerbin auch ihrer Kunstsammlung ein. Was den legendären Fotografen Elliott Er-
rieren große Kerzenleuchter und Kristallschalen, witt so besonders macht, hat vor einigen
in der Ecke steht der schwarze Steinway-Flügel, Das Castro-Regime versteigerte regelmäßig Jahren die New York Times verraten: »Mr.
Olga Lengyel überlebte Auschwitz und floh später aus ihrer und es gibt die obligatorische Bar aus poliertem Kunstwerke ungeklärter Herkunft Erwitt versteht es, am Rande des Witzes
dunklem Holz. Auch die Kunstwerke an den entlangzubalancieren, wo seine unfassbar
neuen Heimat Kuba. Jetzt wird nach ihrer so spektakulären Wänden würden es jederzeit mit der Ausstattung Schon 2013 hatte die in Washington lehrende schnelle Verbindung zwischen Auge, Hirn
wie umstrittenen Sammlung gefahndet VON STEFAN KOLDEHOFF eines Penthouse an der Fifth Avenue in New Tanya Mastrapa, Professorin für Kuba- und und Hand immer wieder ein Stück der Welt
York aufnehmen: ein großformatiges Aquarell Lateinamerikastudien, in der Zeitschrift Kunst und dabei erwischt, wie es auf einer Bananen-
von Raoul Dufy, das anmutige Bildnis einer Recht die Frage gestellt: »Die Plünderung Kubas – schale ausrutscht.« Als dankbares Thema
Dame mit großzügig ausgeschnittenem Dekolle- wohin ist alles gegangen?« Auch sie bezog sich für diese Verbindung hat sich Erwitts Liebe
té, die über die Schulter blickt – und über einer unter anderem auf die Sammlung Lengyel und er- zu Hunden erwiesen. Begegnungen mit
Kamin-Attrappe das Bild, das Henri de Toulouse- innerte daran, dass das Castro-Regime selbst regel- Kläffern lieferten ihm abgründig-skurrile
Lautrec 1895 von der Clownesse Cha-U-Kao mäßig im staatlichen Auktionshaus Subasta Haba- Szenen en masse. Alles habe sich zufällig er-
gemalt hat. na Auktionen veranstalten ließ, bei denen Kunst- geben, erzählt er. Nicht im Geringsten in-
Dieses prominente Gemälde in Grün und werke ungeklärter Herkunft gegen Devisen ins
Gelb war nicht das einzige wertvolle Meisterwerk, Ausland verkauft wurden. Verschiedene Bilder –
das sich vor der Regierungsübernahme der Kom- auch aus dem Nationalmuseum verschwundene
munisten in der Wohnung im vornehmen Stadt- oder, wie im Falle eines Bouguereau, mutmaßlich
teil Vedado befunden haben soll und nach dem gegen eine Kopie ausgetauschte – tauchten an-
die Erbin der Auschwitz-Überlebenden Olga schließend in Museen und bei Auktionen in New
Lengyel nun sucht. Ein Inventar der Sammlung, York und London wieder auf. Mastrapa erinnert
das im Februar 1958 aufgestellt wurde, listet neben auch daran, dass der Aachener Schokoladenfabri-
198 kunsthandwerklichen Gegenständen auch kant Peter Ludwig 1994 die fünfte Havanna-Bien-
Altmeistergemälde von Terborch und van Dyck, nale mitfinanzierte und selbst eine umfangreiche
Goya und Frans Hals, Brueghel und Holbein so- Sammlung kubanischer Kunst zusammentrug.
wie Werke von Braque und Vlaminck, von Picasso Das Ludwig-Forum in Aachen erforscht diese ge-
und Daumier auf. Allein drei Gemälde von rade als Vorbereitung für eine Ausstellung auch im Elliott Erwitt: East Hampton (1998)
Vincent van Gogh sollen zur Sammlung Lengyel Hinblick auf ihre Provenienz.
gezählt haben, von Cézanne ein Stillleben, von Werke aus der Sammlung Lengyel allerdings teressieren den Amerikaner (Jahrgang 1928)
Manet das Bildnis eines Malers, von Monet eine sind nach 1959 nirgends aufgetaucht – weder auf dabei Zuchtmerkmale, Rasse oder Eleganz
Gartenlandschaft, von Degas mehrere Darstel- Auktionen noch in Galerien, auf Messen oder in der Tiere. Ihm geht es um den Charakter,
lungen von Tänzerinnen und von Renoir das Ausstellungen. Und mehr noch: Die drei angeb- um das Temperament. So auch in diesem
Bildnis eines jungen Paares. Damals wurde der lichen Werke von van Gogh, zu denen im Inven- Fall. Eine Szene vom Strand. Mögen auch
Gesamtwert der 38 Werke mit rund drei Millio- tar von 1958 nur Titel und Maße aufgeführt die Brandung und das hochdramatische
nen Dollar beziffert. Heute wäre die Sammlung sind, lassen sich in den seriösen Werkverzeich- Spiel der Wolken mit der Kamera delikat
Abb.: Musée D‘Orsay; Fotos: The Memorial Library New York (u.); Elliot Erwitt (r.)

Lengyel wohl mindestens das Hundertfache wert. nissen ebenso wenig finden wie die Landschaft inszeniert sein – diesen Details kehrt das
von Cézanne, die Drei Adeligen von Goya oder schwarze Tier den Hintern zu, völlig vertieft
Viele Millionen Dollar könnten die Bilder das Bildnis einer Marchesa von van Dyck. Und in sein Projekt, dem Mittelpunkt der Erde
wert sein – oder sind es nur Fälschungen? das Toulouse-Lautrec-Gemälde, das zwischen näher zu kommen, das Rätsel der Tiefe zu
1954 und 1959 an der Wand des Apartments in lösen. Erwitt ist in diesem Moment ganz bei
Dafür müsste es sich allerdings um Originale Havanna fotografiert wurde, kann nur eine Ko- ihm. Und wir auch.
handeln, und ob das der Fall ist, scheint nach pie sein: Das Original ist seit 1911 ununterbro- Misslich ist natürlich, dass der Magnum-
Recherchen der ZEIT zumindest fraglich. Olga chen im Besitz des französischen Staates. Fotograf seine Schwarz-Weiß-Abzüge nie-
Lengyels Vater, der siebenbürgische Industrielle Vor allem aber lässt der Name des Verkäufers mals nummeriert. Aber wetten, dass seine
Ferdinand Bernát, der sich später Bernard nann- Josef Schäfer aufhorchen: Der nämlich war erst Arbeiten eines Tages mehr wert sein werden?
te, hatte die Sammlung 1938 innerhalb kürzester nach Paris gegangen, als sich für sein Versteige- (East Hampton, ein Gelatin-Silver-Print, 55
Zeit in Paris zusammenkaufen lassen – offenbar rungslokal in Monte Carlo die dortige Justiz in- mal 37 Zentimeter groß, kostet derzeit in der
als sichere Investition angesichts der politischen teressiert hatte. Nach dem Krieg wurde Schäfer Hamburger Galerie Flo Peters 5500 Euro:
Verhältnisse in Europa. Er beauftragte den aus dann 1956 und 1957 als fast alleiniger Einlieferer www.flopetersgallery.com.)
Österreich stammenden Kunsthändler Josef bei zwei Auktionen in der Brüsseler Galerie
Schäfer mit dem Erwerb und ließ die Bilder an- Jacques Trussart enttarnt, bei der nicht nur bei-
schließend im fernen Paris einlagern. nahe alle Bilder von Cranach über Rembrandt
Im Frühjahr 1944 wurde Olga Lengyel ge- und Rubens bis Gainsborough gefälscht oder
meinsam mit ihrem jüdischen Ehemann Miklós falsch zugeschrieben waren, sondern auch noch ZAHL DER WOCHE

204
und ihren zwei Kindern nach Auschwitz depor- die zitierten prominenten Experten nichts von
tiert. Die damals 37-Jährige überlebte als einziges ihren angeblichen Gutachten wussten. Anschlie-
»La Clownesse«: Familienmitglied das Vernichtungslager und hielt ßend suchte ihn erneut die Polizei.
Das Original von ihre Erinnerungen an den Holocaust in ihrem Möglicherweise hatte sich Ferdinand Bernát/
Henri Toulouse- Buch Souvenirs de l’au-delà (»Erinnerungen aus Bernard kurz vor dem Krieg also von einem du-
Lautrec (o.) und die dem Jenseits«) fest. Über Odessa und Paris emi- biosen Händler fragwürdige Werke andrehen ... Galerien, ein Zehntel davon aus Deutsch-
Kopie aus der grierte sie 1947 in die USA, 1954 dann mit ihrem lassen. Selbst wenn es sich bei der Sammlung land, nehmen an der Armory Show teil, der
Sammlung Lengyel zweiten Ehemann nach Kuba. Die Kunstsamm- Lengyel aber nicht um jenen Millionenschatz wichtigsten New Yorker Messe zeitgenössi-
lung, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, ließ handelt, nach dem die Memorial Library nun scher Kunst. Sie läuft bis zum 6. März auf
sich Olga Lengyel nach Havanna schicken. Alle suchen lässt, müssten auch die Fälschungen und zwei Piers über dem Hudson River: eines
Gemälde seien »in gutem Zustand angekom- Fehlzuschreibungen irgendwo geblieben sein. In davon contemporary, das andere modern.
men«, bestätigte sie im Februar 1958 der Pariser einem Tresor in Kuba – oder bei Käufern in den Gleichzeitig finden in New York zehn wei-
Galerie Pictura, die die Sammlung nach Kuba USA und Europa, die inzwischen aber längst tere Kunstmessen mit jeweils bis zu hundert
geliefert hatte. Als sie von dort 1959 nach Castros wissen, dass sie keine Originale besitzen. Teilnehmern statt.
52 FEUILLETON 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

Das

Foto: Piffl Medien; Illu.: P. Stemmler/Quickhoney für DZ (u.)


Letzte
Pathos Was passiert mit Waschbären, denen man fort-
gesetzt lautes Hundegebell vorspielt? Die kana-
dischen Forscher, die sich für ihr Experiment
einen bevorzugten Jagdplatz der Bären am

im
Meer ausgesucht hatten, machten eine politisch
folgenreiche Entdeckung. Die eingeschüchter-
ten Waschbären verkürzten ihre Jagd, wovon
die Krebse, ihre Lieblingsspeise, profitierten,
während die kleinen Muscheln, von denen wie-
derum die Krebse leben, dramatisch schwan-

Louvre den. So ist das mit der Angst: Am oberen Ende


der Nahrungskette erzeugt, verändert sie ein
ganzes Ökosystem. Die Süddeutsche Zeitung,
der wir die Mitteilung der Forschungsergebnisse
verdanken, wird sie nicht ohne Seitenblick auf
Alexander Sokurovs Kinofilm Horst Seehofer verbreitet haben. Die Frage ist
nur, ob sich der bayerische Ministerpräsident
»Francofonia« fantasiert über das um die Stabilität des politischen Ökosystems
sorgt oder ob er im Gegenteil durch hartnäckige
Museum während der deutschen Verbreitung von Flüchtlingsangst dieses Öko-
Besatzung VON WALTER GR ASSK AMP system zugunsten irgendeines Kleingetiers zu
Louis-Do de Lencquesaing als Louvre-Direktor und Benjamin Utzerath als deutscher Besatzungssoldat mit Kamerad (v. r. n. l.) verändern trachtet. Wer würde profitieren?
Zunächst natürlich die Gastwirte, an deren

D
as Thema des neuen Filmes von grad wie mit Ruinenlandschaften des letzten dramatischer als der Weltkrieg seine frankofonen Die Verwirrung des Betrachters ist offensicht- Stammtischen der Bierkonsum proportional
Alexander Sokurov ist leider zeit- Kriegsjahres 1918. Unterhändler. lich beabsichtigt, bekommt dem Film aber auch zum besorgten Politisieren anstiege, was wiede-
los: die Gefährdung der Kunst in Zwischen dem gepixelten Schiffsdrama und Überdies hat Francofonia in seiner collagen- dort nicht, wo er historische Großfiguren ein- rum eine Zunahme alkoholbedingter Verkehrs-
Zeiten des Krieges. Nicht einmal solchen schwarz-weißen Dokumentarschnipseln haften Berg- und Talfahrt durch die Bilder und blendet: Der im Filmdokument echte Hitler hat unfälle nach sich zöge, insgesamt also auf ein
ein Museum kann dann Schutz eingestreut, ergänzen sich farbige Szenen zu dem Zeiten eine verwirrende Erzählstruktur, in der auf der Tonspur einen albernen Auftritt als Beschäftigungsprogramm für Kfz-Betriebe hi-
bieten, denn es ist keine Arche, in der die Werke frankophonen Film im Film. Darin wird, im be- filmisch dokumentierte Platzkonzerte der deut- Selbstimitator, und Napoleon und Marianne geis- nausliefe. Anders sähe die Bilanz wohl auf der
unversehrt durch die Fährnisse der Geschichte ge- setzten Paris, der Direktor des Louvre mit dem schen Besatzer mit einer nachgestellten Jagd- tern als Schauspieler, wie in Karnevalskostüme Kölner Domplatte aus. Nehmen wir einmal an,
steuert werden könnten. Genau das ist aber die Nazi-Beauftragten des »Kunstschutzes« konfron- szene vermischt werden, in der ein Wehrmachts- verpackt, durch den Louvre. So mischt der provo- man könnte die Forscher bereden, mit ihren
Metapher, die Sokurov, der Historiker unter den tiert, dem Grafen von Wolff-Metternich. Der soldat einer Passantin auf der Straße nachstellt, kativ unkonzentrierte Film Schauspiel und Do- Tonbandgeräten die Wirkung von Hunde-
Filmregisseuren, für das Museum favorisiert. Vor höflich auftretende Besatzer erweist sich für den während das Containerschiff in immer größere kumentation zur tragischen Groteske, und die gebell auf Taschendiebe zu testen. Was würden
fünfzehn Jahren hatte er sie sogar im Titel seines deprimierten Franzosen aber als Glücksfall, denn Gefahr gerät und die Unterhändler der Louvre- entstellte russische Nationalhymne macht am sie beobachten? Wahrscheinlich doch einen
Filmes über den Petersburger Winterpalast ver- der Graf verzichtet befehlswidrig darauf, die aus- Besatzung sich ungealtert zwischen streitenden Ende noch einmal überdeutlich, dass Dissonanz deutlichen Rückgang bei der Zahl entwendeter
wendet, Russian Ark, der in einer berühmt gewor- gelagerten Museumsstücke nach Paris zurückzu- Schulkindern von heute wiederfinden. sein Konstruktionsprinzip ist. Die reicht aller- Handtaschen, was wiederum die rheinische
denen neunzigminütigen Passage ohne Schnitt beordern, zumal die besten ohnehin in die Privat- Der angespannten Einigkeit zwischen den bei- dings nicht aus, um das immer wieder aufleuch- Lederwarenindustrie empfindlich träfe. Ein
durch das Museum führte, in dem sich historisches sammlungen führender Nazis gelangen würden. den gegnerischen Kulturfreunden hätte aber die tende Pathos zu relativieren, denn Francofonia Portemonnaie, das nicht gestohlen wird, wird
Personal tummelte. Stattdessen besucht der deutsch uniformierte, Konzentration gutgetan, die etwa Volker Schlön- hat auch einen nachvollziehbaren Hang zur Sen- auch nicht neu gekauft! Die beschäftigungs-
Auch in seinem neuen Film Francofonia aber europäisch gebildete Graf mit dem Louvre- dorffs Kammerfilm Diplomatie (2014) trägt, der timentalisierung der kulturellen Überlieferung. losen Täschner würden sich vermutlich durch
taucht die Metapher wieder auf, diesmal in ei- Chef die Schlösser, in denen die Bilder versteckt von der Weigerung des Generals von Choltitz So versucht in einer symbolschwangeren Szene Wilderei an den Waschbären in den Rheinauen
ner buchstäblich tragenden Rolle, nämlich als sind – darunter, vielleicht etwas zu beziehungs- handelt, Hitlers Befehl der Zerstörung von Paris eine menschliche Hand zögerlich, mit einer mar- schadlos halten, was mangels Krebsen und Mu-
Containerschiff, das in schwere Stürme gerät: reich, auch Théodore Géricaults großformatiges auszuführen: Wenn man schon eine historische mornen Hand über die Zeiten hinweg einen scheln nicht den oben geschilderten Effekt
Haushohe Wellen verwüsten die Kommando- Historienbild Das Floß der Medusa, eine andere Schicksalsstunde in der Konfrontation zweier He- Kontakt herzustellen. hätte, aber womöglich zu einer Vogelplage füh-
brücke, wo der Kapitän mit dem Regisseur per Tragödie auf dem Meer. roen verdichten will, dann sollten sie das auch Am Schluss erweist sich daher nicht nur das ren würde. Aus jedem von Waschbären nicht
Skype in Verbindung steht. Der Kapitän ist für Aber diese Ausflüge bleiben private Bildungs- ausspielen dürfen. Containerschiff, sondern auch der Film als über- geraubten Ei könnte eine Taube schlüpfen, die
wertvolles Museumsgut verantwortlich, was reisen, denn mit seinen Protagonisten will Soku- Das können Louis-Do de Lencquesaing und frachtet. Schon zu Beginn hatte der Regisseur dem bayerischen Ministerpräsidenten bei
ihm große Sorgen bereitet, völlig zu Recht, rov die Utopie einer Bildungselite beschwören, Benjamin Utzerath in Francofonia aber nicht in dem dem gegen den nassen Tod kämpfenden Kapitän einem Kölnbesuch auf den Kopf schisse. Die
denn schließlich versinken nicht nur die Con- die sich französisch parlierend über die Grob- knappen Drittel, das ihnen der Film einräumt. Zu- die vergleichsweise harmlose Befürchtung ge- volkswirtschaftlich relevante Frage lautet daher:
tainer im aufgewühlten Meer, sondern auch das heiten des Krieges hinwegzusetzen vermag, wes- dem soll ein künstliches Flackern den fehlfarbenen skypt, sein Film könnte scheitern. Das ist er auch, Wäre der steigende Shampooverbrauch erheb-
Schiff. Bis dahin hält der maritime Überliefe- wegen die Haltung des Grafen weder psycholo- Spielfilmszenen eine dokumentarische Nähe zum aber auf eine selten sehenswerte Weise, denn er lich? Oder bliebe der positive Effekt auf den
rungskampf die Zitate und heterogenen Episo- gisch noch historisch befragt wird. Diese Moti- Geschehen der frühen 1940er Jahre vorgaukeln. Das will offenbar auch ein Film über das Scheitern Umsatz deutlich unterhalb der Kosten, die für
den des Filmes zusammen, der sich mit doku- vationsunschärfe lässt den Film im Film zu einer vertieft nur die Irritation des Betrachters, der sich sein. Aber entweder hat er dafür zu viele Ingre- Flug und Logis der kanadischen Experten an-
mentarischen und nachgestellten Szenen zwi- Idylle gerinnen, in der kultivierte Einzelgänger schon bei den Film-Einsprengseln manchmal blitz- dienzen oder das falsche Rezept – oder er ist ein- fielen? Wir werden die Berichte der Süddeutschen
schen den beiden Weltkriegen ansiedelt, mit den Krieg für sich aussetzen können. Und so schnell zwischen echtem und nachgestelltem Doku- fach nicht für Kunstgenießer gedacht, die gern im Zeitung zur politischen Verhaltensforschung
Archivmaterial aus dem ausgehungerten Lenin- umtobt das Meer das Containerschiff ungleich mentarmaterial orientieren muss. Trockenen sitzen. weiter aufmerksam verfolgen. FINI S

AUF EIN FRÜHSTÜCKSEI MIT Im roten Frühstücksraum des Savoy Hotels, West- küste in den sechziger Jahren. Vom Politikchef nichts, was ich mir wünsche, aber auch kein Welt- dass die Bild-Zeitung jemals wirklich skrupellos war
berlin. Halb neun morgens. Nikolaus Blome, 52, der Bild-Zeitung will man den ganz großen Be- untergang. Dafür ist unsere Demokratie stark ge- und böse.« Blome vergleicht seine Zeitung mit dem
stellvertretender Chefredakteur und Politikchef fund hören: In Deutschland herrscht, trotz nied- nug, dass sie ab und zu selbst eine widerliche Fernsehen: »Wir haben Ernstes und Gehaltvolles,
der Bild-Zeitung (von 2013 bis 2015 hatte er ein riger Arbeitslosigkeit, eine fast panische, endzeitige Partei neu reinlässt und auch wieder ausscheidet.« aber auch Leichtes und Unterhaltsames im Pro-
Nikolaus Blome Intermezzo beim Spiegel): Er gilt als der Gute und
Kultivierte in der bösen, beinharten Welt des
Boulevards. Interessant ist doch, dass sich eine
1920er-Jahre-Stimmung. Spinnen wir alle, oder
sind das wirklich so krisenhafte Zeiten?
Man kann ihm vorher sagen, wie lange er ant-
Und gleich noch mal von der hohen Politik
ablenken, noch eine Style-Beobachtung: Er trägt
einen goldenen Bandring mit Smaragd und zwei
gramm.« Kann man für die Ausländerfeinde von
Clausnitz und Bautzen eine Zeitung machen? Gegen-
frage: »Können die lesen? Ich glaube nicht.«
Boulevardzeitung, die naturgemäß von Emotio- worten soll. Jetzt bitte eine 20-Sekunden-Ant- Brillanten. Die Manschetten seines Hemdes sind Er soll jetzt noch seinen klassischen Helden des
VON MORITZ VON USLAR
nen, Zuspitzung und Krawall lebt, so eine ab- wort, gerne. Das seien krisenhafte Zeiten, da die an den Rändern leicht aufgeribbelt – das ist der Boulevards nennen: Baby Schimmerlos? Michael
wägende, seriöse, vernunftbegabte Stimme leistet. Europäische Union nicht mehr funktioniere. Trick von Woody Allen, dem berühmteste Auf- Graeter? Erich Kästner? Er spricht lieber, geschenkt,
In der Talkshow Augstein und Blome gibt er den Europa lasse sich derzeit nicht von Deutschland geribbelte-Manschetten-Träger, eine Abgrenzung vom Bild-Kolumnisten Franz Josef Wagner. Es geht
konservativ-liberalen Counterpart, sein Journalis- führen. Aber: »Ich sehe nicht, dass die Mitte der des Bürgertums und alten Gelds gegen die Neu- dann noch um die Frage, ob Karl-Theodor zu Gut-
tenkollege Jakob Augstein ist der Linke (ein bissl Gesellschaft von Hysterie infiziert ist. Die Mitte reichen (wir wissen, was sich gehört, nehmen es tenberg in die Politik zurückkehre sollte. Um neun
peinlich an der wirklich toll lebendigen Fernseh- erweist sich als ähnlich stabil, wie sie 2008/2009 damit aber nicht so genau). Frage an den vorneh- Uhr wird es Zeit, die Tageszeitung zu machen.
show ist, dass beide, Augstein und Blome, so un- durch die Wirtschafts- und Finanzkrise gekom- men Frühstücker: Was sagt er zu dem ungeheuer-
fassbar clean und gut aussehen). men ist. An den Rändern der Gesellschaft, ja, da lichen Gerücht, dass er aus gutem Hause kommt? Hier lesen Sie im Wechsel die Kolumnen »Berliner
Spiegeleier mit Speck. Seine ausgesprochen wird es wild.« Sprung zum 13. März: Wird sich »Das stimmt. Ich hatte ein gutes Zuhause.« Canapés« von Ingeborg Harms, »Jessens Tierleben« von
eloquente und ausgeschlafene Erscheinung. Blome das Land verändern, wenn am Wahlabend in Empört es ihn, dass es mit der AfD eine Kraft Jens Jessen, »Männer!« von Susanne Mayer sowie
trägt preppy style (rosa Hemd, dunkelgrünes Ja- Baden-Württemberg der Balken der AfD über gibt, die böser, härter, skrupelloser, populistischer »Auf ein Frühstücksei mit ...« von Moritz von Uslar
ckett), den Stil der höheren Söhne in den Elite- den der SPD steigt? »Dann wird sich die SPD ver- ist, als es die Bild-Zeitung je war? Gelächter. Dann
Unis und Sportclubs an der amerikanischen Ost- ändern.« Nachsatz: »Zwölf Prozent AfD sind das adäquat ernste Gesicht: »Ich glaube nicht, www.zeit.de/audio

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Verse
Vampirzahn Frantz Wittkamp
dichtet, Axel Scheffler
zeichnet die Reime
Ein Mann ordnet seinen Besitz: Ein urkomisches Bilderbuch über den weiter: Ein Buch zum
Versuch, des Überflusses Herr zu werden VON ANJA ROBERT Spaß- und Gernhaben

ab 3

A
Jahren

K
ngeblich besitzt der moderne mund. Deren Foto hängt zumindest zwi- eine verwegene Geschichte.
Mensch ja im Schnitt 10 000 schen seinen Familienporträts. Auf jeden Nichts vom Grüffelo oder
Gegenstände. Alfred Sauer- Fall nennt Sauermann eine grüne Ameisen- Stockmann oder vom Riesen
mann besitzt wahrscheinlich farm sein Eigen, viele kleine kläffende Hunde und acht Rick, der sich schick gemacht
noch mehr; nur einer ist ihm hölzerne Lockenten, inklusive Ersatz-Augäpfeln. Mit hat. Stattdessen und exklusiv Gedichte.
verloren gegangen – sein Ge- der klassischen Zielgruppe von Bilderbüchern hat die- Ganz kurze Gedichte, alle gleich lang:
biss. Mit dieser traurigen Er- ser schräge Kerl wenig gemeinsam – außer der bedin- Das neue Buch, das Axel Scheffler illus-
kenntnis beginnt eines der gungslosen Wertschätzung für alles, was irgendwo rum- triert hat, überrascht mit Vierzeilern des
komischsten Bilderbücher liegt und ganz bestimmt zu schade zum Wegwerfen ist. Künstlerkollegen und Dichterbruders
der letzten Jahre: Herr Sauer- Ist Herr Sauermann also ein Messie? Auf keinen Frantz Wittkamp aus dem Münsterland,
mann sucht seine Zähne. Streifenpyjama und Häschen- Fall, denn er weiß sich zu helfen. Als er auf der Suche der schon viele kluge Aphorismen und
pantoffeln, Bäuchlein und leicht stierer Blick – ein merk- nach seinen Zähnen den Überblick verliert, holt er sich lustige Verse veröffentlicht hat. Manches
würdiger Typ, dieser Herr Sauermann, aber der Held Rat bei seiner Schwester Myrna: »Alfred, du musst dei- mehr für die Großen, anderes eher für die
einer faszinierenden Geschichte. Wobei »Geschichte« ne Sachen sortieren. Ordne sie zu Gruppen. Alles, was Kleinen. Obwohl …
fast ein bisschen zu hoch gegriffen ist, denn es passiert in keine Gruppe gehört, sind deine Zähne.« Gesagt, Obwohl, so ganz stimmt das nicht,
nicht viel: Alfred Sauermann sucht sein Gebiss, und getan. Dank Myrna (und dank der kreativen Ver- wie man sich hier überzeugen kann.
(Achtung, Spoiler): Er findet es. sponnenheit der Nichols-Brüder) Denn die Vierzeiler dieses Buches sind so
Der Weg ist wieder mal das Ziel, entwickelt Herr Sauermann auf liebevoll verrückt, verquer und über-
auch in diesem ersten Kinderbuch der LUCHS Nº 350 fünfzehn Doppelseiten immer neue zwerch, dass alle ihre Freude dran haben,
amerikanischen Brüder Jon und Ordnungssysteme. Eine Doppelseite alte Esel wie junge Füchse. »Auf der Erde
Tucker Nichols, durch das viele Lese- versammelt alle gelben Gegenstän- neben mir / sitzt das große schwarze
pfade führen. Es setzt an mit einem de, vom Gecko bis zur Kichererbse. Tier. / Manchmal leckt es meine Wange,
Gefühl, das jeder kennt, der schon Eine andere alle Sachen, die mit S / denn wir kennen uns schon lange.«
mal etwas verloren hat: leiser Panik, anfangen, vom Sneaker bis zur See- Oder: »Wenn er aus den Wolken schaut,
weil uns die Kontrolle entglitten ist hund-Briefmarke. Eine weitere alle / lacht der volle Mond mich an. /
und die vermeintlich geordnete Welt kaputten Dinge, deren Namen kon- Manchmal lacht der Mond so laut, / dass
aus den Fugen gerät. Alfred Sauer- sequenterweise genauso fragmen- ich gar nicht schlafen kann.«
mann bekämpft diesen Kontrollver- tiert sind, sodass sich auf einer Seite Ein bisschen meint man Lear und
lust mit Aktivismus: Er durchforstet Jeden Monat vergeben ein Ham findet und erst auf der Gorey zu hören, Ringelnatz und Gug-
seine gesamte Habe. die ZEIT und Radio nächsten ein mer. genmos. Aber es ist eine ganz eigene la-
Jon und Tucker Nichols sprengen Bremen den LUCHS-Preis Trotz seiner ausgeklügelten Stra- konische Wörterwelt, aus der Wittkamps
gleich am Anfang das ohnehin schon für Kinder- und tegien scheitern Herrn Sauermanns flinke und flunkernde Nonsensreime,
Illustrationen: aus Jon & Tucker Nichols »Herr Sauermann sucht seine Zähne«/© 2015 Diogenes Verlag AG, Zürich; Axel Scheffler (r.)

große Format ihres Buches. Auf ei- Jugendliteratur. Versuche, die Dinge und damit die seine Schnurrpfeifereien und Taschen-
ner ausklappbaren Doppelseite prä- Am 3. März stellt Welt in Ordnung zu bringen. Auf balladen gebastelt sind. Zu voller Blüte
sentieren sie erste Einblicke in ein Radio Bremen das Buch die richtige Spur zu seinen Zähnen indes gelangen diese »Findlinge«, wie er
offenbar unendliches Universum der um 15.20 Uhr bei führen ihn am Ende nicht seine Klas- sie nennt, durch die bunten Zeichnun-
Dinge. Mit einem bewundernswer- Funkhaus Europa vor. sifizierungen, sondern seine Schwes- gen von Axel Scheffler: wahrlich kK,
ten Gefühl für Rhythmus setzen sie Das Gespräch ist abrufbar ter Velma: »Mmh, Alfred, hast du kongeniale Kombi resp. Combo. Vor al-
Käsehobel neben Legostein neben unter www.radiobremen.de/ denn schon im Zahnschrank nach- lem wenn die wilden Tiere aus Absurdis-
Schlagzeugschlägel neben Billard- luchs geschaut?« Und tatsächlich, in die- tan gefragt sind – Monsterli (siehe oben),
kreide neben Blaubeermuffin neben sem interessanten Möbel schaukelt Drachen und Wolkentrinker –, kommt
Ohrstöpsel. Flächig und locker ge- zwischen einem sehr alten Vampir- das Buch in Fahrt. Dann erzählen Scheff-
kritzelt und alles umrandet mit ei- zahn und einem Zahnrad ein Gebiss lers Figuren Wittkamps Verse weiter und
nem schlaksig rohen Strich, der die im Wasserglas. Eine überraschende öffnen neue Kammern der Fantasie.
Gegenstände gleichzeitig eingrenzt Auflösung, die im Reichtum der Illus- Ein Buch für den Winter, keine Fra-
und wie durch geheime Energie vibrieren lässt. Dazu trationen und der in ihnen angedeuteten Erzählstränge ge. (Aber auch für den Frühling, wer
gesellen sich Untertitel, die ganz eigene Wege gehen; fast untergeht – und noch lange nicht das Ende der Ge- wollte das bezweifeln, für den Sommer
die sich reimen oder nicht, kommentieren, dementie- schichte bedeutet. gewiss, und ganz bestimmt für den
ren und Herrn Sauermanns Zahnseide frech als »sehr, Zu diesem Zeitpunkt hat sich der Schlafanzugträger Herbst.) Ein Buch zum Spaß- und
sehr dünnes Seil« bezeichnen. Die Texte hat Jon Alfred Sauermann längst eingereiht in die lange literari- Gernhaben, zum Laut- und Leiselesen.
Nichols geschrieben, von Haus aus Musiker. Sein sche Tradition sympathischer Sonderlinge und Exzen- Ein Buch voll abstruser Gedichte, in
Bruder Tucker, ein in den USA bekannter Maler und triker. Seinem heldenhaften Versuch, mit dem Überfluss denen manch verwegene Geschichte
Grafiker, hat den größten Teil der Sauermannschen der Konsumgesellschaft auch seiner eigenen Biografie steckt. B E N E D I K T E R E NZ
Besitztümer gezeichnet. Herr zu werden, verdanken wir ein von der
Während die in einem schier endlosen Drucktype bis zum Umschlag gelungenes Axel Scheffler (Ill.)/
Strom an uns vorüberziehen, erscheint ihr Ei- Bilderbuch, um dessen Platz im Regal sich Frantz Wittkamp:
gentümer nur gelegentlich im Bild. Allein über Eltern mit ihren Kindern streiten können. In die Wälder gegangen,
die Abfolge seiner Sachen entsteht mosaikartig einen Löwen gefangen.
die Charakterstudie eines älteren Herrn, der Jon und Tucker Nichols: Beltz & Gelberg 2016;
Fast Food und Golf mag und offenbar keine Herr Sauermann sucht seine Zähne. 47 S., 12,95 €. Auch als
Freunde hat außer vielleicht drei merkwürdige Deutsch von Kati Hertzsch; Hörbuch (hörcompany;
Gestalten namens Rülps, Schlürf und Sig- Diogenes 2015; 48 S., 20,– € 1 CD, 12,95 €).
Ab 4 Jahren

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3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1

GLAUBEN & ZWEIFELN 54

Das

Fotos (v. o.): Kerry Hayes; Screenshot aus dem Trailer Spotlight 2015/youtube; action press
Schweigen
Warum Missbrauch so schwer
aufzuklären ist VON KLAUS MERTES

A
lle Schweigekartelle werden durch
Angst zusammengehalten: Angst
vor Gewalt, Angst vor Ausgren-
zung, Angst vor Strafverfahren, Angst vor
Imageverlust. Selbst wenn die Interessen
der einzelnen Personen am Schweigen
unterschiedlich sind, so zieht sich das Kar-
tell aus Tätern und Mitwissern in einer
Abwehrhaltung zusammen, die mehr
schützen soll als diese selbst: eine ganze
Institution. Deren Schweigen verbindet
sich auf fatale Weise mit dem ganz anders
gearteten Schweigen der Opfer.
Wer sexuellen Missbrauch erlitten hat, der
schweigt aus Angst, Scham und manchmal
auch aus Wut. Angst, für das Aussprechen
der Wahrheit bestraft zu werden. Angst, als
Lügner zu gelten und keine Hilfe zu finden.
Angst, an dem Missbrauch »selber schuld«
zu sein – eine irrige, aber wirksame Angst.
Scham, die eigenen Verletzungen preiszuge-
ben. Und ohnmächtige Wut auf die über-
mächtigen Täter, von denen das Opfer an-
nimmt, das sie »sowieso nie« bestraft werden.
Leider war diese Annahme gerade im Fall
der katholischen Kirche oft berechtigt – und
ist es vielerorts noch. Denn hinter der Ab-
wehrhaltung jener Bischöfe, die Priester-
Täter durch Schweigen schützen, lauert eine
Aggression, die jeden treffen kann, der sich
der Angst nicht beugt. Daher ist die Angst
Das Rechercheteam im Film »Spotlight«. Zweiter von links: Liev Schreiber als Martin Baron, Chefredakteur des »Boston Globe« so mächtig. Wie überwinden wir sie? Die
Blackbox des Verschweigens kann nur von
innen geöffnet werden. Jede Öffnung be-

Der wahre Lohn unserer Arbeit


ginnt mit dem Sprechen der Opfer. Aber
dann kommt es darauf an, ob sie Solidarität
erfahren. Schon ihr Sprechen hat einen An-
spruch auf Schutz – gegen die Gewalt, die
auf das Opfer einstürzt, wenn es spricht.
Als Seelsorger und Schulleiter habe ich
Er war Chefredakteur des »Boston Globe« und drängte seine Reporter, sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche aufzudecken. gelernt: Die Angst des Opfers, über sein Leid
Der Film »Spotlight« feiert den Mut der Enthüller – und gewann dafür einen Oscar. Kleine Dankesrede VON MARTIN BARON zu sprechen, ist fast immer begründet. Wer
innerhalb der Kirche missbraucht wurde,
fürchtet zu Recht das kirchliche Schweige-

B
evor der Film einen Oscar bekam, Journalismus funktioniert und warum wir ihn wei- mir Kardinal Bernard Law seine Freundschaft an, Später bekam ich einen Brief von Pater Thomas kartell. Genau das macht das Aufbrechen des
wurde ich gefragt: Gibt es etwas, terhin brauchen. Aber es gibt noch einen anderen und ich ziehe es vor, unabhängig zu bleiben. Später P. Doyle, der in Amerika lange einen einsamen Kartells so schwer, so komplex selbst für die,
was Sie darin vermissen? Eine Lohn unserer Arbeit. wurde Law als der Verantwortliche für die Vertu- Kampf für die Missbrauchsopfer führte. Er schrieb: die aufklären wollen – denn Aufklärung darf
wahre Begebenheit, die nicht vor- Der wahre Lohn besteht in der möglichen Wir- schung der Missbrauchsverbrechen seines Amtes »Der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugend- nicht auf Kosten der Opfer gehen. Meine
kommt, aber sich in Ihr Gedächt- kung des Films: Künftige Zeitungsbesitzer, Heraus- enthoben. Noch so eine Frage wird mir deshalb jetzt lichen durch katholische Priester und die Vertu- Erfahrung besagt: Das Aufbrechen von
nis eingebrannt hat? Ich bekenne, geber und Chefredakteure könnten sich wieder der dauernd gestellt, und ich will sie beantworten: Ja, schung waren das Schlimmste, was in der katholi- Schweigekartellen ist eine Machtfrage. Ei-
es gibt eine Szene, die im Film investigativen Recherche verpflichtet fühlen. Eine Kardinal Law schenkte mir den Katechismus, ehe ich schen Kirche seit Jahrhunderten passiert ist. Männer gentlich haben Institutionen und vor allem
fehlt. Der Zorn, den ich damals empfand, wird misstrauische Öffentlichkeit könnte erkennen, dass seine Residenz verließ. Das Buch im Film ist dasselbe der Kirche verletzten jene, die sie beschützen sollten. Kirchen den Sinn, die Schwachen vor den
noch lange brauchen, um zu verlöschen. wir immer noch eine starke Presse brauchen. Wir alle Buch, das er mir damals überreichte. Ansonsten Kinder wurden betrogen. Ihre Familien wurden be- Starken zu schützen. Wenn aber Vertreter
Es geschah am 4. November 2002, bei einer Rede könnten mehr Bereitschaft zeigen, jenen Menschen wurde die Filmszene etwas ausgeschmückt. Haupt- trogen. Die Öffentlichkeit wurde betrogen. der Kirche sich selbst vor der Wahrheit
der Harvard-Professorin Mary Ann Glendon. Die zuzuhören, die keine Macht und keine Stimme haben sächlich redeten wir beide um den heißen Brei herum Dieser Albtraum wäre immer weitergegangen – schützen – aus Schwäche, aus Angst vor
Juristin sagte auf einer Konferenz vor Katholiken: – vor allem den Opfern von Missbrauch. und versuchten, das eigentliche Thema zu vermeiden: ohne Sie und Ihre Mannschaft. Als einer, der seit Imageverlust, aus falscher Loyalität –, dann
»Ein Pulitzerpreis für die Reporter vom Boston Globe Mir persönlich hat die Verfilmung von Spotlight die bereits laufenden Recherchen des Globe. Jahren um Gerechtigkeit für die schafft sich die Kirche als
wäre wie ein Friedensnobelpreis für Osama bin La- schon jetzt einen unerwarteten Sieg beschert. In E- Spotlight ist ein Spielfilm, keine Dokumentation. Opfer und Überlebenden kämpft, Interventionsmacht gegen
den.« Damit machte Glendon unsere monatelange Mails, Tweets und Facebook-Posts berichten mir Aber er gibt getreu, wenn auch in Kurzform wieder, will ich Ihnen mit jeder Faser die Gewalt selbst ab.
Recherche über sexuellen Missbrauch von Kindern Kollegen, sie fühlten sich in ihrer Arbeit bestärkt. wie sich unsere Recherche bei Opfern, Tätern, Täter- meines Seins danken. Ich versiche- Mehr noch: Sie wird zur
durch katholische Priester nieder. Ich war damals Einer schrieb: »Eure Enthüllungsgeschichte ist eine anwälten und Vertuschern entfaltete. Wir erhofften re Ihnen: Was Sie für die Opfer, Mittäterin. Im schlimms-
Chefredakteur des Boston Globe und hatte unser In- wunderbare Mahnung, warum wir einst Journalisten uns nicht viel, als wir der Verfilmung zustimmten, die Kirche und die Gesellschaft ten Fall entsteht eine Son-
vestigativteam massiv gedrängt, die Vertuschung werden wollten und warum wir trotz allem noch meine Kollegen Walter Robinson, Michael Rezendes, getan haben, ist kaum zu ermes- derwelt, wo jedes Rechts-
einer ganzen Serie von Missbrauchsfällen in der Erz- dabei sind.« Ein Reporter einer überregionalen Zei- Sasha Pfeiffer, Matt Carroll, Ben Bradley jr. und ich. sen. Die Folgen werden noch bewusstsein sich ins Ge-
diözese Boston aufzudecken. Das gelang den Kolle- tung erzählte mir, er habe seine ganze Familie in den Wir dachten nur, die Geschichte sei es wert, erzählt lange Widerhall finden.« genteil verkehrt: Gerade in
gen auch, und wir bekamen dafür einen Pulitzerpreis Film geschleppt: »Plötzlich finden meine Kinder zu werden. Was mein eigenes Porträt betrifft, so will Pater Doyles Brief lag auf mei- kirchlichen Schweigekar-
für den Dienst an der Öffentlichkeit. Der Angriff der ihren Vater cool.« In Kalifornien mietete ein Verleger ich mich nicht beschweren, schon weil der geniale nem Schreibtisch beim Boston tellen herrscht die Über-
Professorin ging also ins Leere, aber er sagte viel über ein Kino, um der Belegschaft seiner Zeitung den Film Liev Schreiber mich spielt. Trotzdem habe ich mich Globe, bis ich vor drei Jahren zur zeugung, die »draußen«
jene Unkultur der Verleugnung und Vertuschung, vorzuführen. Ein anderer Verleger versprach mir auf gefreut, als eine Freundin auf ein paar meiner neben- Washington Post wechselte. Er er- seien das Problem. Institu-
die die ganze katholische Kirche vergiftete – lange Facebook: »Ihr Spotlight-Team gibt mir neuen Auf- sächlichen Qualitäten hinwies, die im Film fehlen: innerte mich daran, warum ich tioneller Narzissmus ver-
bevor wir begannen zu recherchieren und auch noch trieb, nach Geschäftsmodellen zu suchen, mit denen »Martys Figur schafft es im ganzen Film kaum einmal Journalist wurde und bleibe. Da- bindet sich mit kollektivem
lange danach. wir auch künftig solche kritische Arbeit finanzieren.« zu lächeln. Im echten Leben gibt er aber stets ein mals gab es noch keinen Film, Ansicht von Boston im Film Selbstmitleid: Täter und
Unsere Recherche wurde vor 14 Jahren im Boston Natürlich befreit solches Lob uns nicht von dem dankbares Publikum für Witze ab.« keinen Oscar. Aber ich fühlte mich Verschweiger sehen sich als
Globe gedruckt. Später machten Thomas McCarthy Druck, der auf unserer Arbeit lastet. Im Gespräch Wie gesagt, mein Anfang beim Globe war einsam. durch diesen Brief belohnt. So ein Opfer – und bestreiten den
und Josh Singer darüber einen Film, der den Namen mit den Missbrauchsopfern spürten wir ihn beson- Ich wusste nicht, was sie im Newsroom über mich Lohn reicht für ein Leben. wahren Opfern ihr Opfersein. Hier wird die
unseres Investigativteams trägt: Spotlight. Er handelt ders schmerzlich. Die Wahrheit ist: Meine ersten sprachen. Und dass es interne Widerstände gegen die Macht der Institution total. Es sei denn, die
von einem Missbrauchsskandal, der letztlich welt- Monate als Chefredakteur beim Boston Globe waren Missbrauchsrecherche gab, obwohl sie mir so wichtig Martin »Marty« Baron, 61, ist seit 2012 Opfer sprechen dennoch und finden Gehör
weiten Ausmaßes hat. Bis heute ist die katholische schwer. Ich hatte in der ganzen Zeitung nur zwei war, erfuhr ich erst aus dem Film. Chefredakteur der »Washington Post«. Zuvor war außerhalb der Blackbox. Die draußen haben
Kirche in Erklärungsnot, warum sie schwere Untaten entfernte Bekannte. Außerdem wusste ich, dass vier Was bleibt? Die Arbeit des Globe hat sich allen er in gleicher Position beim »Boston Globe«, stärkte zwei verpflichtende Aufgaben: die Aufde-
im großen Maßstab vertuschte – und ob die seither erfahrene Kollegen den Job abgelehnt hatten, den ich Anfeindungen zum Trotz als fair und korrekt heraus- dort ab 2001 die investigative Recherche. Wir ckung der Gewalt und den Schutz der Opfer.
angestrengten Reformen ausreichend sind. nun bekam. Ich wollte ein Erneuerer sein, aber erst gestellt. Und als überfällig. Die Jury des Pulitzer- drucken Auszüge aus seinem aktuellen Artikel
Ja, dass Spotlight jetzt einen großen Preis gewon- mal war ich ein Außenseiter. preises bestätigte uns 2003 Mut, die systematische für die »Washington Post« Der deutsche Jesuit Klaus Mertes, 61, machte
nen hat, freut mich. Ich stehe in der Schuld all derer, Vielleicht hat mir das geholfen, den mächtigsten Geheimhaltung des Missbrauchs durchbrochen zu im Jahr 2010 den systematischen Missbrauch
die in diesem ergreifenden Film zeigen, wie guter Kirchenmann Bostons anzugreifen. Im Film bietet haben – und so die katholische Kirche verändert. Aus dem Englischen von Evelyn Finger von Schülern durch Priester öffentlich

fen für den interreligiösen Dialog – und den Dia-


»Er kam uns zu DIE ZEIT: Herr Althaus, Sie haben eben den deut-
schen Papst im Ruhestand besucht. Warum?
Dieter Althaus: Ich wollte ihm noch einmal dan-
log mit allen Menschen guten Willens.
ZEIT: Wie kam Ihr Treffen mit Benedikt zustande?
Fürsorge und Hilfe stehen. Er sagte, wir brauchen
auch dringend politisch nachhaltige Lösungen für
jene Länder, aus denen die Flüchtlinge kommen,
Althaus: Es ist ein Fakt, auch weil der Sozialismus
versuchte, den christlichen Glauben in die Bedeu-
tungslosigkeit zu versenken. Das ist gründlich miss-

Fuß entgegen« ken, dass er vor fünf Jahren, während seiner


Deutschlandreise, auch in meiner Heimat Thürin-
gen und speziell im Eichsfeld war. Danach ent-
Althaus: Ich habe einen guten Bekannten, der eng
mit Erzbischof Georg Gänswein zusammenarbei-
tet. Er organisierte eine Begegnung in den Vatika-
denn die meisten würden lieber in ihrer Heimat
bleiben. Wir waren uns einig, dass der Frieden
weltweit nicht durch kulturelle oder religiöse Ab-
lungen. Auch dank der Friedensgebete von 1989
gelang die friedliche Revolution. Das Christentum
hat sich bei uns in der Grundsubstanz und im Glau-
Dieter Althaus besuchte Benedikt XVI. stand dort am Wallfahrtsort Etzelsbach ein Infor- nischen Gärten, nahe bei dem Haus, wo Benedikt schottung gelingen kann. ben und Hoffen auf eine bessere Welt erhalten.
mations- und Pilgerzentrum, das jährlich Tausende wohnt. Er kam uns zu Fuß entgegen, wir saßen bei ZEIT: Hatte Benedikt auch eine Bitte an Sie? ZEIT: Was wünschen Sie sich für 2017? Soll der
in Rom und sprach mit ihm über Menschen anzieht. So hat der Papstbesuch etwas wunderbarem Wetter neben einer Nachbildung Althaus: Er hat uns gesegnet. Er machte uns Mut neue Papst ins Land der Reformation kommen?
Thüringen, Flüchtlinge und 2017 für die Zukunft bewirkt. der Kapelle von Lourdes. Schön war, dass er mich, und wünschte uns Kraft, durch positives Beispiel Althaus: Ich denke, die Einladung an Franziskus
ZEIT: Nächstes Jahr, zum Reformationsjubiläum, meine Frau und den Eichsfelder Landrat Dr. Hen- den Glauben lebendig zu halten. wurde schon von der Bundeskanzlerin und dem
wird sich zeigen, ob Katholiken und Protestanten ning sofort erkannte: Ach, rief er, die Eichsfelder! ZEIT: Wie politisch darf ein Christ sein? Bundespräsidenten ausgesprochen. Und ich hoffe,
zu einer Freundschaftsgeste fähig sind. Sie sind Ka- ZEIT: Worüber haben Sie gesprochen? Althaus: Wir Christen in Ostdeutschland waren dass er auch im Jahr 2017 so große Begegnungen
tholik. Finden Sie Päpste denn politisch wichtig? Althaus: Er wollte zuerst wissen, ob sein Deutsch- immer politisch. Das Leben in der Diktatur hat möglich macht wie die mit dem Patriarchen Kyrill.
Althaus: Aber ja. Ich habe Benedikt XVI. während landbesuch und auch die Marienvesper im Eichs- unser Denken bestimmt, und wir sind heute noch ZEIT: Sie waren schon im Apostolischen Palast.
meiner Laufbahn als Politiker zweimal persönlich feld Nachwirkungen hatte. Dann, wie es um die froh, dass mithilfe der Kirchen eine Revolution Bedauern Sie, dass Franziskus dort nicht wohnt?
bei einer Audienz getroffen. Immer war spürbar, Kirche in unserer Region steht. Und natürlich, wie gelingen konnte. Ich habe übrigens mit meiner Althaus: Ich verstehe, dass Franziskus Zeichen set-
dass er das Christliche als wesentliche Substanz wir mit den Flüchtlingen umgehen, ob wir sie in- Frau und Freunden in den neunziger Jahren Papst zen will, die anders sind als die Zeichen Benedikts.
unserer modernen Gesellschaft sieht. Im Augustiner- tegrieren können. Johannes Paul II. besuchen dürfen. Er war für den Wir leben auch aus Symbolen, nicht nur durch
kloster in Erfurt sprach er sehr respektvoll über Lu- ZEIT: Mitteldeutschland gilt als Pegida-Land. Was Zusammenbruch des Kommunismus und die Worte. Franziskus hat schon viel bewegt, auch
Dieter Althaus, 57, war von ther, und der jetzige Papst betonte kürzlich, dass haben Sie geantwortet? Wiedervereinigung ganz entscheidend. durch die Art, wie er sein Amt versteht.
2003 bis 2009 CDU- wir Christen das Gemeinsame noch mehr in den Althaus: Dass es natürlich Sorgen, Ängste und ZEIT: Stört es Sie, dass es in Ostdeutschland so
Ministerpräsident in Thüringen Mittelpunkt rücken müssen, um Kraft zu schöp- manchmal Hass gibt. Dass aber im Mittelpunkt wenige Kirchenmitglieder gibt? Die Fragen stellte Evelyn Finger
3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

ZEIT ZUM ENTDECKEN

Macht
nichts
So viel Unheil beginnt
damit, dass Menschen
etwas tun. Haltet die Füße
still, und trinkt ein Bier –
für eine bessere Welt
VON BJÖRN KERN
Illustration: Tobias Röttger/HORT

Seite 56

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»So waren die Täler wohl lieblich und schön«: Auf den Spuren von Gottfried Benn die Saale entlang Reisen Seite 60/61
56 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1
A N S AG E
Macht nichts

Macht
nichts
So viel Unheil beginnt
damit, dass Menschen
etwas tun. Haltet die Füße

»Warum arbeiten, um Freiheiten zu


still, und trinkt ein Bier –
für eine bessere Welt
VON BJÖRN KERN

Seite 56

gewinnen, wenn man ohne Arbeit


zu größerer Freiheit gelangt?«
VON BJÖRN KERN

W
stehen, sich vor dem Bildschirm den Nacken Auch ich war einmal effizient; ich nutzte Natürlich gibt es nützliche Arbeit. Man Es kümmert ihn so wenig, dass er im Dorf
zu reiben oder schon wieder eine Mail mit meine Zeit. Am weitesten ging das ausge- erkennt sie im Allgemeinen daran, dass sie als arbeitslos gilt, wie es ihn kümmert, was
»Lieber Herr Hartmann« zu beginnen, ob- rechnet, als ich Vater wurde. Es kam vor, dass schlecht bezahlt wird. Ich würde nicht einmal ich vom Taubenaufblasen halte.
wohl der liebe Herr Hartmann der letzte ich links ein Milchfläschchen schüttelte, ausschließen, dass es Menschen gibt, denen Das unterscheidet gelingendes Nichtstun
Idiot ist, wie jeder weiß. Eigentlich will man während ich rechts die Maus bediente, dabei ihr Job Spaß macht. Doch diese Arbeitneh- von »Landlust« und hippem Konsumver-
das alles nicht. Eigentlich will man frische aber das Telefon zwischen Schulter und mer gehören einer winzigen, privilegierten zicht. Es geht hier nicht um Lebensästhetik,
Luft, weite Sicht, ein bisschen platonische Wange geklemmt hielt und mit einem Auf- Minderheit an. Die meisten Busfahrer und sondern um eine möglichst dickfellige Hal-
und sehr viel körperliche Liebe. Grundlage traggeber sprach. Heute hilft mir das Nichts- Paketzusteller würden wohl nicht mehr zum tung gegenüber all dem, was gerade als selbst-
dafür: gelingendes Nichtstun. tun, einen Rest Würde zu bewahren, selbst Dienst erscheinen, wenn sie es nicht müssten. verständlich gilt. Glauben Sie an das, was Sie
Normalerweise ist es ja so: Erst haben wir wenn ich im Falsett Kinderlieder anstimme. Ist es so gesehen nicht zynisch, ein Recht auf nicht tun. Fragen Sie niemanden nach seiner
keine Zeit für uns selbst wegen der Schule, Nichtstun heißt nicht, dass ich nicht singe. Arbeit zu proklamieren? Sozialer wäre es, das Meinung. Versuchen Sie niemals zu sehen,
enn ich im Hochsommer auf meiner Bank dann keine Zeit für die Partnerschaft wegen Nichtstun heißt, dass ich zufrieden damit Recht auf Grundsicherung vom Stigma des wie andere Sie sehen. Hören Sie auf mit dem
im Oderbruch sitze, die Füße in eine der Ausbildung, dann keine Zeit für Kinder bin, außer dem Singen nichts anderes zu tun. Almosens zu befreien. So ließe sich unsere feinen Unsinn. Seien Sie einfach Sie selbst.
Wanne voll Eiswasser getaucht, ein kaltes wegen des Berufs, dann keine Zeit für den Klingt gut, finden Sie, ist im Moment Gesellschaft freundlicher gestalten. Manchmal versuche ich, ein paar Kar-
Bier neben mir, dann weiß ich, dass ich es Beruf wegen der Kinder. Wir lassen uns aus- aber nicht hilfreich? Ihr Auto muss in die Wer das bezahlen soll? Niemand. Die toffeln unter die Erde zu bringen. Manchmal
geschafft habe. Es ist Montagmorgen. Ein bilden, dann auspressen, und erst, wenn wir Werkstatt? Das Paket zur Retoure? Sie suchen größten volkswirtschaftlichen Kosten ent- sitze ich mit Besuch und einigen Flaschen
ganz normaler Arbeitstag. Und niemand uns aussortieren lassen, kommen wir stehen nicht durch Nichtstun, sondern Bier auf der Bank, und das Kind spielt im
will etwas von mir. Vor mir leuchtet das wieder zu uns. Mir scheint dieses Modell durch Arbeit. Produktionsstraßen müssen Gras. Manchmal gehen wir alle zusammen
Kornfeld so gelb, dass es beinahe schon etwas heikel. Was, wenn ich nicht mehr erstellt werden und Transportwege ge- in den Dorfkrug, wo das Kind der beliebten
blendet. Die Libellen aus dem Entwässe- auf der Welt bin, wenn mein Berufsleben baut, Werbeanzeigen geschaltet und Ge- Wirtin beim Zapfen hilft. Viel mehr brauche
rungsgraben schießen in die Luft und um- endet? Warum arbeiten, um Freiheiten schäftsreisen unternommen, es muss ge- ich nicht im Leben.
kreisen mich und verschwinden dann zu gewinnen, wenn man ohne Arbeit zu fahren und geflogen werden, es muss Gas Ich weiß schon: Nichtstun senkt das
wieder im Wiesengrund. größerer Freiheit gelangt? durch Pipelines geführt und nach Rohöl Bruttoinlandsprodukt, holt niemanden von
Nun gut, werden Sie sagen, da sitzt einer Folglich ließ ich nach dem Studium gebohrt werden, das alle paar Kilometer der Straße und ist nicht wettbewerbsfähig.
im Grünen und lässt es sich gut gehen. Hat die Karriere einfach aus. Dazu kaufte ich in destillierter Form an Zapfsäulen bereit- Das bedeutet aber nicht, dass Nichtstun sich
gearbeitet, denken Sie, hat gespart, hat ge- diesen verfallenen Resthof – zu einem zustehen hat. Wenn man bedenkt, dass um andere Menschen nicht schert. Im Ge-
baut. Schön für ihn. Doch der Schein trügt. Preis, für den man in München seine der Ertrag dieser Mühen bromhaltige genteil. Gelingendes Nichtstun geht nur
Denn tatsächlich fanden die Bank unterm Gästetoilette renoviert. Einige bezeich- Turnschuhe aus China sind, ist das etwas davon aus, dass man mehr Schlechtes als
Birnbaum und ich nicht nach harter Arbeit nen den Hof noch heute als Ruine. Denn aufwendig. Und kostspielig. Doch erst die Gutes bewirkt, solange man einem System
zueinander, sondern nach ausgeklügeltem nach anfänglichem Baumarktfuror ge- Folgeschäden, eine bis auf die Nanoebene angehört, das auf Wachstum, Verschwen-
Nichtstun. Ich habe nicht viel getan, um lang es mir unter großer Willensanstren- durchseuchte Welt, sind so unermesslich dung und Ausbeutung basiert. Auf meiner
endlich befreit unterm Birnbaum zu sitzen, gung, ihn nicht zu renovieren. Statt- teuer, dass wir schon heute nicht wissen, Bank verbessere ich die Welt nicht durch
sondern viel unterlassen. Und das Beste: Was dessen kaufte ich diese Bank für neun- wie wir sie je bezahlen sollen. Tun, sondern durch Unterlassen. Denn
ich kann, können Sie auch. Ohne Erbe oder zehn Euro neunzig. Auf ihr verbringe ich Ein bisschen Geld zum Leben brauche Nichtstun ist friedlich und umweltverträg-
Schufa-Auskunft. Nicht nur im Urlaub, meine Tage. natürlich auch ich. Kita. Versicherung. lich. Es hält sich keine Arbeitssklaven in Ban-
sondern an jedem Tag. Mein märkischer Nachbar würde sa- Hofkredit. Auch wenn ich befreit unterm gladesch und verursacht kein CO₂.
Nichtstun wird gerne mit Faulheit ver- gen: »Deine Sache. Jeder, wie er will.« So Birnbaum sitze, keinen neuen Rechner Probieren Sie es doch einmal mit Nichts-
wechselt, aber um Faulheit geht es hier nicht. weit bin ich noch nicht. Ich möchte, dass kaufe und nicht an die Costa Brava fliege, tun. Gleich nach diesem Absatz. Sie brau-
Sondern um eine Haltung, die uns davor Sie in mir einen annehmbaren Mitmen- bleibt doch ein kleiner Posten, der nicht chen keinen Hof dazu. Sie müssen Ihren Job
bewahrt, das Falsche zu tun. Hier im Oder- schen sehen. Aber muss ich dafür arbei- Das Faultier ist ein Werk des wegzurechnen ist. Und weil jemand, der nicht kündigen. Versuchen Sie nur, nicht
bruch habe ich einen Nachbarn, von dem ich ten? Es gibt so viel nutzlose Arbeit. Ar- Berliner Grafikers Tobias Röttger gerne nichts tut, leicht des Schnorrens aufzusteigen, das ist schon schwierig genug.
viel übers Nichtstun gelernt habe. Und das, beit, die darauf zielt, Dinge herzustellen, verdächtigt wird, folgt hier mein volles Nichtstun ist keine Ideologie, sondern eher
obwohl er sehr fleißig ist. Tagsüber mulcht die niemand braucht, und Arbeitsplätze zu noch immer das Java-Update für Ihr Elster- Geständnis: Ich arbeite. Manchmal. Ich will Versuch und Irrtum. Setzen Sie sich unter
und sät und erntet er, abends verkauft er schaffen, die keiner will. Und natürlich wird Programm? Die Spülmaschine ist auch schon nicht, aber ich muss. Also tippe ich hin und einen Birnbaum oder auch nur ins nächste
seine Kartoffeln und Eier. In der Statistik gilt mit Arbeit oft Unheil angerichtet. Wir ken- wieder defekt? wieder etwas in eine Tastatur oder spreche Wartezimmer, es ist nicht von geringster
mein Nachbar als arbeitslos, weil er, der Flug- nen das aus der Industriegeschichte: Wir Dann möchte ich Ihnen freundlich emp- etwas in ein Rundfunkmikrofon. Auch 600 Bedeutung. Seien Sie stolz auf alles, was Sie
zeugingenieur gelernt hat, nicht als Flugzeug- verknechten uns zu endlosen Tatenketten, fehlen, das Problem bei der Wurzel zu pa- Euro pro Monat wollen verdient sein. Ich unterlassen, und wenn es nur eine Nichtig-
ingenieur arbeitet. Um nicht als arbeitslos zu indem wir Asbest erst verbauen und dann cken. Reparieren Sie nichts. Es wird wieder darf nur nicht anfangen, mehr zu verdienen. keit ist. Verzweifeln Sie nicht, wenn Sie einen
gelten, müsste er morgens im Ingenieurbüro sanieren, indem wir Benzin erst destillieren kaputtgehen. Rufen Sie keine Hotline an. Dann würde ich mir mehr leisten können Rückfall erleiden und sich in schädliche Tä-
sitzen und abends im Supermarkt Gemüse und dann aus dem Auspuff filtern, indem Entledigen Sie sich stattdessen des dazuge- und dafür mehr arbeiten müssen, um hin tigkeit flüchten. Nichtstun verlangt einem
kaufen. Mein Nachbar ist aber nicht nur wir Atome erst spalten und dann nicht mehr hörigen Produkts. Kaufen Sie nicht bei Tchi- und wieder nichts zu tun. viel, manchmal alles ab. Das geht mir nicht
fleißig, er ist auch sehr klug. Das kann man loswerden. Oft scheint es mir, dass wir uns bo. Niemals. Gehen Sie nicht ins Internet. Auch mein märkischer Nachbar lebt anders. Denn Nichtstun ist eine Aufgabe fürs
Illustration [M]: Tobias Röttger/HORT

doch abkürzen, mag er sich gedacht haben. weniger beschäftigen als beschädigen. Wenn Sie ins Internet gehen und eigentlich keineswegs von Hartz IV. Er arbeitet viel, ganze Leben.
Seitdem lebt er, wie es ihm passt. Das Ganze nennt sich dann Wachstum; nach dem Wetter sehen wollen, sind Sie am aber nur, wenn er Lust dazu hat. Wenn er
Wer das seltsam findet, auf den hört mein und es wächst auch in uns. Wenn es nicht Ende leicht um zwei Stunden Nichtstun ge- keine Lust hat, bläst er lieber eine seiner Björn Kern, geboren 1978, ist Schriftsteller.
Nachbar nicht. Ein guter Ansatz. Wenn man wuchert. Tun Sie bitte rechtzeitig etwas da- bracht und haben einen neuen Staubsauger Tauben auf. Er führt den Taubenschnabel an Er lebt in Berlin und auf seinem Hof im
aufhört, auf die anderen zu hören, nimmt gegen. Unterdrücken Sie den Drang, Ihr bestellt. Vor allem aber: Verkaufen Sie Ihr seinen Mund, umschließt ihn mit den Lip- Oderbruch. Am 10. März erscheint sein
man auf einmal wahr, was man davor über- Leben immerzu auszuweiten. Verstehen Sie Auto. Schon müssen Sie nicht mehr im Stau pen und pustet hinein, bis dem Tier ein Buch »Das Beste, was wir tun können, ist
hört hatte: die leise, vom Unterbewusstsein eine bewältigte Tat nicht als Aufforderung stehen, keine Umleitungen fahren und kei- riesiger Kropf wächst. Dann lässt er das Tier nichts«
aufsteigende Stimme menschlicher Bedürf- zur nächsten. Versuchen Sie, nicht vier Din- nen Parkplatz suchen. Mehr Nichtstun lässt wieder fliegen, und es torkelt wie ein Luft-
nisse, die nur selten darum bittet, im Stau zu ge auf einmal zu tun. sich auf einen Schlag nicht gewinnen. ballon, dem man die Luft entlässt, zu Boden. www.zeit.de/audio

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3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 57
N U R GA NZ KU R Z

IM TA XI MIT D E M E H E MANN VO N A N N E- M A R I E S L AU G HTER

Daddy uncool ZEIT


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Mutter, Vater, Söhne: Die Familie Slaughter

D
ie Flugzeugtüren der Boeing 777 sind mik nicht aufzuhalten gewesen: Hat einer von
längst geschlossen, die Passagiere haben beiden erst einmal einen dicken Job, folgt bald
ihre Gurte angelegt, als auf Andrew der noch dickere. Und natürlich sei in einer Ehe
Moravcsiks Handy eine SMS seines Sohns auf- oft auch einer ehrgeiziger als der andere.
leuchtet: »Dad, was soll ich tun, falls der Sturm Moravcsik, der mit Heiko von der Leyen be-
draußen schlimmer wird?« Der 17-Jährige sitzt freundet ist, auch so ein lead parent, erzählt von
allein zu Hause, beide Eltern sind auf Dienst- Dinnerpartys, bei denen die Gäste betreten
reisen. »Nicht panisch werden! Und auf keinen schweigen, wenn er erwähnt, dass seine Ehefrau
Fall das Haus verlassen«, tippt Moravcsik hek- mehr verdient als er. Er spricht über Mütter-Netz-
tisch in sein Telefon, während eine Stewardess werke, zu denen er als berufstätiger Vater wenig
im Gang bereits die Gurte prüft. »Es kommt Zugang hat. »Wenn es gut läuft, tolerieren sie dich,
sehr selten vor, dass Menschen im Sturm sterben, wenn es schlecht läuft, dissen sie dich«, hat kürz-
weil ein Haus einstürzt.« Eine zweite SMS lich ein befreundeter Vater geklagt. »Einen 30-Jäh-
schickt er an seine Frau: »Flugzeug geht gleich. rigen mit Baby auf dem Arm findet jeder cool«,
Du musst übernehmen. Ruf zu Hause an.« sagt Moravcsik, »aber den Mann über 50, der sich
Moravcsik ist Professor für Politikwissenschaft um seine Teenager-Söhne kümmert und deswegen
an der Eliteuniversität Princeton und Vater von weniger schnell Karriere macht? Schwierig.« Und
zwei Söhnen. Außerdem ist er der Ehemann einer dann gab es vor Kurzem noch diese sicherheits-
Frau, die berühmt wurde, weil sie einen wichtigen politische Konferenz, bei der er von einer Frau
Job annahm, ihn dann wegen der Söhne aufgab aufgefordert wurde aufzustehen, um zu zeigen, ob
und einen klugen Essay darüber schrieb: Anne- er »ein Alpha-Männchen« sei.
Marie Slaughter war unter Hillary Clinton Pla- Seine Frau hat für ihr Buch viele Ideen zu-
nungsstabschefin im Weißen Haus. Anschließend sammengetragen, die das Leben berufstätiger
kehrte sie als Uni-Rektorin nach Princeton zurück Eltern erleichtern. Sie will Erziehungsarbeit durch
und ist heute Vorsitzende eines großen Washing- mehr Anerkennung und Geld aufwerten. Außer-
toner Thinktanks. dem wirbt sie dafür, mehr Karrieren in der zweiten
»Warum Frauen nicht alles haben können«, Lebenshälfte zu ermöglichen. Und sie ermahnt Was würden Sie anders machen, wenn Sie nochmals jung wären?
hieß ihr Text, den seit der Veröffentlichung vor andere Mütter, konsequenter zu akzeptieren, dass
vier Jahren sieben Millionen Leser anklickten. In- auch ein männlicher lead parent das Recht hat, die Ich würde kein Kind mehr in die Welt setzen mit einer Wir saßen in der Wohnung meiner damaligen Partnerin,
zwischen hat sie daraus ein Buch gemacht, das Regeln der Erziehung zu bestimmen. Frau, die mich nicht liebt. Die zu mir sagt: Ich freue und ich dachte: Was ist das für ein liebenswürdiger Kerl.
kommende Woche auf Deutsch erscheint: Was Wer Moravcsik zuhört, hat allerdings den Ein- mich, dass ich schwanger bin, aber leben will ich nicht Und so vernünftig. Als Erstes bat ich ihn: Lass uns immer
noch zu tun ist. Es geht um Gleichberechtigung druck, dass selbst das nur einen Teil der Probleme mit dir. Ich hätte meinen Sohn gerne aufwachsen sehen. ehrlich zueinander sein. Seither haben wir Kontakt. Er
und die schwierige Vereinbarkeit von Familie und löst. Richtig gut funktioniere das Nebeneinander Gut, ich bin kein Vorzeigepapa. Aber ich habe immer ist jetzt 33. Und ich glaube, er ist gerne mein Sohn.

PROTOKOLL: Cosima Schmitt


Beruf. Moravcsik ist, wie er selbst in einem Essay von Job und Familie vor allem beim Militär, sagt versucht, Jobs zu finden, habe Möbel geschleppt, bei der Als ich ihn das letzte Mal sah, sagte er zu mir: Du wirst
schrieb, »die andere Hälfte« dieser Geschichte. Er er. Weil dort für Soldaten und Soldatinnen, die Post im Lager gearbeitet, um Unterhalt zahlen zu zum zweiten Mal Opa.
ist der Hauptzuständige für die Kinder – lead gerade nicht im Ausland sind, oft extrem kinder- können. Als mein Sohn 14 war, hat er sich bei mir
parent nennen das die Slaughters. Nach ihm riefen freundliche Arbeitszeiten gelten. Vor allem hatten gemeldet. Ich erinnere mich genau an dieses Treffen: Michael Klinkerfuß, 57, Straßenmusiker aus Hamburg
die Jungen, wenn sie nachts wach wurden. Bis die Väter es leichter mit ihrer Rolle als anderswo.
heute kontrolliert er die Hausaufgaben, vereinbart »Wer in den Krieg zieht, um sein Land zu vertei-
Arzttermine und steht auf Notfalllisten. digen, hat die Frage, ob er männlich genug ist, für
Was also, Herr Moravcsik, können andere sich selbst und für alle Beobachter anscheinend Deutschland, was denkst du? Anatol Kotte porträtiert hier im Wechsel mit anderen Fotografen Menschen, die ihm im Alltag begegnen
von Ihnen lernen? Vielleicht, unter welchen eindeutig genug geklärt.«
Fotos: Anatol Kotte für DIE ZEIT; privat (o. l.)

Bedingungen Männer alles haben können? In Brüssel soll Moravcsik einen Vortrag über
Zehn Stunden nach dem Abflug in Washing- Europa halten, dann will ihn eine Frauengruppe
ton sitzt Moravcsik in einem belgischen Taxi, das zu Familienthemen befragen. In den vergangenen
durch Schneeregen fährt, und lacht. »Fifty-fifty Wochen hat er Interviews in Polen und Belgien
funktioniert oft nicht«, sagt er. Selbst wenn man gegeben, einen Auftritt vor zweihundert Italiene-
privilegiert sei, wie sie: mit einer fest angestellten rinnen hat er gerade schweren Herzens abgesagt.
Haushälterin, flexiblen Arbeitszeiten, zwei hohen Wenn man eines von ihm lernen kann, dann
Einkommen. Sie hatten es sich damals, vor der das: Auch Männer können nicht alles haben. Aber
Geburt ihres ersten Sohnes, in die Hand ver- eine Menge.
sprochen. Aber dann, er holt Luft, sei die Dyna- Elisabeth Niejahr

DER UNNÜTZE VERGLEICH

Wie viel kostet es


durchschnittlich, sich
in Deutschland Fett
absaugen zu lassen?
3190 Euro.
Das entspricht dem aktuellen
Marktpreis von zehn Tonnen Reis
ZEIT-Grafik/Quelle: statista (Schnitt 2015), indexmundi.com

N O C H E I N SAT Z . . .

... zur Schande


enn denn nun schon allenthalben von Schan-

W
de die Rede ist, wo es um rassistische Gewalt
in Sachsen geht und Schande doch aber ein
Begriff ist, der mit Ehre zu tun hat beziehungs-
weise mit dem Verlust derselben und mit Krat-
zern im Ansehen, dann ist das zwar an sich
schon sehr unrühmlich, weil brennende
Flüchtlingsheime und der Angriff auf einen
Bus mit Flüchtlingen zwar viele schlimme Aspekte haben, aber doch vor
allem den, dass da Menschen bedroht werden, und nicht den, dass »wir«
– wer immer das sein mag – jetzt vor irgendwem nicht mehr gut daste-
hen, und es wäre vielleicht eine Frage für später, irgendein vermeintli-
ches Image wiederherzustellen, aber zunächst müsste es doch darum
gehen, den kleinen Rest Würde zu wahren und weitere Angriffe mit al-
len Mitteln abzuwehren, statt sich darum zu kümmern, ob man sich
nun blamiert hat, denn sonst ist die Rede von Schande so sehr daneben
wie ein Trauerredner, der auf dem Friedhof lässige Selfies in der Früh-
lingssonne macht
Margarete Stokowski
59 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

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Szenen
commyeiner
nostrud
politischen
mag-
Achterbahnfahrt: Im Brüsseler
Stanhope Hotel betrachtet
Bernd Lucke sich auf YouTube
Foto: Thomas Vanden Driessche für DIE ZEIT (Brüssel, 24.02.16); kl. Foto: Henning Schacht/berlinpressphoto

Herr Lucke bereut


(ein bisschen)
B ernd Lucke geht schnell und zielstrebig, bis ihm auffällt,
dass er den Weg nicht kennt. Brüssel am Nachmittag, hei-
ter bis wolkig auf der Rue du Luxembourg, mitten auf dem
Gehsteig stoppt Lucke plötzlich. »Stanhope Hotel. Eigent-
lich war ich da schon ein paar Mal«, sagt er und furcht die
Stirn. Er schaut sich um, die Rechte in die Hüfte gestemmt,
in der Linken lässt er seinen Abgeordnetenausweis am
Bändsel rotieren wie ein Schulkind den Schlüssel, dann
stellt er sich dem nächsten Passanten in den Weg. »Monsieur,
où est le Stanhope Hotel?« Lucke verzichtet auf jede Begrü-
ßung, er hat es eilig. Der Passant umständlich, als Tourist
sei er leider ... »Merci«, unterbricht ihn Lucke und wendet
Bernd Lucke hat ein Monster namens AfD geschaffen. Wie fühlt sich das jetzt an?
Eine Begegnung VON ALARD VON KITTLITZ

Der erste Clip: heute, nach dem Gründungsparteitag. In der Lobby klingelt sein Handy, der Assistent ist dran.
Die Partei sprintet los. Im Filmchen zu sehen Lucke, wie er Luckes Rede im Parlament ist jetzt auf 19 Uhr terminiert.
redet, zu dem Thema, das die Partei überhaupt möglich Eigentlich war sie für 16.30 Uhr geplant, aber dann wurde
machte: »Wenn der Euro scheitert, dann scheitert doch der Abgeordnete Lucke immer weiter nach hinten gescho-
nicht Europa. Wenn der Euro scheitert, dann scheitern An- ben. Als er vorhin im Plenarsaal saß, im blauen Anzug noch,
gela Merkel, Wolfgang Schäuble!« Frenetischer Jubel der konnte er weit vorn im Raum die versammelte europäische
1500 Anwesenden. Gesetzte Bürger, Schlips und Kostüm, Politprominenz erkennen, Verheugen, Juncker, Schulz.
absolut in Ordnung schienen die größtenteils. Kennen Sie Lucke, der auch einmal fast ein Großer der Politik gewesen
den Film, Herr Lucke? »Nein«, sagt er. »Wie Sie vielleicht war, hockte ziemlich verloren in der Mitte des Saals, Kopf in
wissen, besitze ich keinen Fernseher.« Stolz in der Stimme, einem Meer von Köpfen. Als sein Name um 16.40 Uhr
für TV hat der Professor aus intellektueller Selbstachtung immer noch nicht aufgerufen wurde, klappte er seinen Lap-
wenig übrig. Aber er sieht das wohl gern, er lächelt leise. top zusammen und verließ den Saal. Freundliches Kopf-
Inhalte, sondern lässt sich treiben von den Stimmungen an
der Basis. Sie ist wirtschaftlich abhängig vom Erfolg der
Partei und muss deshalb ihre Machtposition um jeden Preis
erhalten.« Er schaut zu Boden wie jemand, der sich an etwas
Unangenehmes erinnern muss. »Vielleicht ist meine Men-
schenkenntnis schlecht. Man kann sich in Menschen täu-
schen. Ich habe mich in Menschen getäuscht.« Wenn Lucke
sich verteidigt, legt er die Stirn in Falten und lässt sich auf
keinen Fall unterbrechen. Wenn er an Enttäuschungen
denkt und Selbsttäuschungen gesteht, wird seine Stimme
hell, wird der Mann, ohnehin schmal, fast klein. Angenom-
men, Lucke findet die AfD der Gegenwart wirklich schlimm:
sich ab. Er ruft seinen neuen Assistenten Ravel Meeth an, »Mir ist das natürlich sehr präsent«, sagt er. Er bedauert nicken in alle Richtungen, keiner drehte sich nach ihm um. wie schrecklich, dafür Verantwortung zu übernehmen. Wo
Meeth geht nicht ans Telefon. Lucke entdeckt das Hotel nicht, diese bürgerliche Partei gegründet zu haben. Lucke sieht aus der Nähe angeschlagen aus. Lauter feine die Partei doch »Erneuerung hätte bringen können«.
Leopold, geht hinein und fragt ungeniert, wie er zur Kon- Wenn Zweifel mitschwingt, höchstens ein ganz leiser. Falten im jungenhaften Gesicht, Ringe unter den Augen. Lucke wirkt nun müde. In sein Gesicht ist etwas Wei-
kurrenz kommt. Lucke ist schon bewusst, dass an dem Tag ein Monster Das letzte Jahr dürfte hart gewesen sein. »Für seine Ent- ches gerutscht, und ausgerechnet jetzt kommen die beiden
Im Stanhope Hotel will Lucke mit uns YouTube- geboren wurde. Den »Schwefelgeruch« nehme er auch scheidungen im Leben muss man geradestehen. Jeder löffelt letzten, die härtesten Clips. Der erste: seine eigene Rede in
Videos gucken, das ist der Plan. Lucke, wie er die AfD wahr, sagt er. »Ich wünsche mir, dass die AfD scheitert.« die Suppe aus, die er sich selbst eingebrockt hat.« Phrasen, Essen, gefilmt aus dem Publikum. Lucke vor dem vollen
gründet, Lucke gegen Claus Kleber, Lucke, wie er von der Aber damals habe er das alles nicht aber Lucke spricht sie mit Ernst. Saal. Er redet darüber, dass man Menschen muslimischen
eigenen Partei ausgebuht wird. Bilder seiner Karriere. Das ahnen können. Erst Messias, dann Märtyrer. Glaubens nicht ausgrenzen dürfe. Er kämpft. Leidenschaft
war nicht seine Idee, sondern unsere. Wir wollen hören, Merkwürdiger Mann. Höflich, In der Lobby zündet ein Die- in seiner Stimme. Er will die AfD im letzten Moment vom
wie er sich fühlt, wenn er diese Bilder sieht. Jetzt, wo er freundlich, auf Anstand bedacht. ner in Livree vor dem Sofa Kerzen Abgrund wegreißen. Aber das Publikum murrt, zischt, wird
mit der AfD gebrochen hat und das große politische Spiel Man könnte Bernd Lucke jeder- Er war ein Politikstar. an, Lucke hebt kaum den Blick. immer lauter, bis Luckes Rede in Buhrufen untergeht.
von der Seitenlinie verfolgt. Für eine Weile glitt dieser zeit einen Wertgegenstand anver- Der dritte Clip, ein heute journal Man traut sich kaum, während dieses Clips zu ihm
Mann ja beinahe wöchentlich aus irgendeiner Talkshow trauen. Ein Republikaner: »Als Lucke Skywalker gegen nach den Landtagswahlen in rüberzuschauen. Aber Lucke sagt danach nur knapp: »Ja.
in unsere Wohnzimmer. Erschuf erst diese Partei und ließ Staatsbürger und Wissenschaftler Brandenburg, aus dem Nichts Das war ein Schlüsselmoment. Da war mir klar, dass ich
uns dann, als sein Geschöpf uns immer mehr beunruhigte, hielt ich es für meine Pflicht, etwas das EU-Imperium zwölf Prozent für die AfD. Ein die Partei endgültig verloren habe.«
mit ihm allein. gegen die Fehlentwicklungen zu alarmierter Claus Kleber sagt dem Was haben Sie da gefühlt, Herr Lucke?
2013 war er plötzlich aufgetaucht. Ein Hamburger Pro- unternehmen, die ich sah.« Je- zugeschalteten Lucke, dem »Mit- »Gefühle«, sagt Lucke. »Das ist nun nicht so meine
fessor für Volkswirtschaftslehre in Pullovern aus Opas mand, der deswegen eine Partei Bürger«, dass die AfD eine »wi- Stärke.«
Schrank. Gründete die Alternative für Deutschland, mit gründet, hat aber natürlich auch dersprüchliche Vereinigung« sei, Macht Sie das heute traurig?
der er das Land vor einem für ihn klar sichtbaren Abgrund etwas Messianisches. Man grün- überproportional viele Wähler »Traurig?«, fragt Lucke. Sein Blick legt sich auf die Tisch-
retten wollte. War kurz ein Politikstar, Lucke Skywalker det eine Partei, weil man meint, von rechts. Der Lucke im Clip kante vor ihm. Der Politiker ist weg. Auf dem roten Sofa im
gegen das EU-Imperium, bis seine Partei sich weigerte, ihn dass man Lösungen weiß. Die Er- reagiert genervt. Der Lucke auf Stanhope Hotel, Brüssel, sitzt Bernd Lucke, Bürger, wenige
zum Alleinherrscher zu machen. Die AfD danach: immer fahrung, dass er den meisten Men- dem Sofa sieht vorgebeugt zu, Monate nach einer absurden politischen Achterbahnfahrt.
dämonischer, Pegida, Schießbefehl, hoch in den Umfrage- schen geistig über ist, hat Lucke lehnt sich zurück, Hände in die »Ich fühle Schmerz, ja«, sagt er schließlich. »Ich spüre das
himmel, Lucke liegen geblieben am Wegesrand der Histo- überheblich gemacht. Einen Feh- Taschen, trotzig. Er ärgert sich vor allem dann, wenn ich einen Augenblick der Ruhe habe
rie, sozusagen vom eigenen Auto überfahren. Eine Art ler eingestehen? Schwierige Sache. immer noch über Kleber. und nachdenke, was da passiert ist.« Er schweigt kurz. »Ich
Frührentner der Zeitgeschichte. Zweiter Clip: Lucke in einem Dabei gibt er zu, dass ihm da- habe selten Zeit dafür. Aber dass ich in Gedanken dahin ab-
Interessiert ja die wenigsten, dass er weiter als Abgeord- Phoenix-Spezial zur AfD. Blauer mals, im Herbst 2014, selbst mul- schweife, das passiert relativ oft.« Vielleicht, denkt man, ist
neter in Brüssel lebt, in Ausschüssen sitzt, hartes Brot der Hintergrund, Wassergläser auf ei- mig wurde. Bei Auftritten im Os- das EU-Parlament ein gutes Versteck für einen wie ihn.
Tagespolitik. Und wie hieß noch mal diese komische neue nem glänzenden Tisch, irgendein ten begegneten ihm Leute, die Wir haben es fast hinter uns. Draußen wird es dunkel, in
Partei, die er gegründet hat? Alfa, ach ja, richtig. Sein Ver- Hauptstadt-Studio. Auf dem Bild- Im Bundestagswahlkampf 2013 anders redeten, anders dachten, der Lobby leuchten die Kerzen. Jetzt nur noch: der Horror
such, das doch noch alles irgendwie zu korrigieren. schirm wehrt er sich gegen den als er sich AfD-Mitglieder vorstell- der AfD-Gegenwart. Björn Höckes Rede von Deutschlands
Am liebsten hätten wir ihn zu Hause besucht, die Clips Vorwurf, die AfD sei rechtsextrem, erhebt die Stimme. An te. »Dumpf« nennt er solche Menschen, die behaupten, wir tausendjähriger Zukunft in Magdeburg, widerlich ist ein an-
mit dem Privatmann, dem Bürger Lucke in seinem Wohn- diesen Auftritt erinnert er sich noch gut. Dass er immer würden von dunklen Mächten geknechtet, das Volk könne gemessenes Wort dafür. Unter dem Grölen des Publikums
zimmer gesehen. Wollte er aber nicht. Wo geht Herr Lucke wieder nach ihrem Verhältnis zur NPD gefragt wurde, ver- seine Interessen nicht vertreten. »Das größte Problem der droht Höcke, man würde den Politikern schon Beine ma-
hin, wenn er mal einen Wein trinken will? Herr Lucke trin- stand er nicht. Versteht er immer noch nicht. Das sei dann AfD ist dieses dumpfe Gefühl der Leute, betrogen zu wer- chen, wenn sie die Grenzen nicht schließen. Lucke beugt
ke sehr selten Wein, hieß es, und gehe auch nicht aus, er sei am Ende eine sich selbst erfüllende Prophezeiung geworden. den«, sagt er. Dennoch habe er das 2014 für ein »Pubertie- sich vor, die Augen groß, erschrocken. Er hat von diesem
meist im Büro oder zu Hause. Also dann vielleicht wenigs- »Die ständigen Vorhaltungen haben dazu geführt, dass die ren« der Partei gehalten. Auftritt gelesen, aber ihn wohl noch nicht gesehen. »Fürch-
tens ein Club, so etwas muss es für die Abgeordneten doch Beitritte aus dem liberalen, bürgerlichen Milieu abgenom- Pubertieren?! terlich«, sagt er jetzt. »Das erinnert wirklich an national-
geben, oder ein Restaurant mit Separee? men haben und dass Menschen zu uns gekommen sind, Plötzlich ein ganz sanfter Blick. Vielleicht, gibt er zu, sei sozialisitsche Redner!« Er schüttelt den Kopf. Bernd Lucke,
Luckes Assistent wählte schließlich die Lobby des Stan- denen diese Rechts-Vorwürfe offenbar nichts ausmachten.« das tatsächlich naiv gewesen. »Ich ging immer davon aus, arglos. Fast wie ein Kind, im Guten wie im Bösen.
hope, so ziemlich das Gegenteil von einem Separee. Hell Verzeihung, Herr Lucke, aber in Ihrer Partei wurden dass Rechtsradikalismus in Deutschland keine Chance hat.« Um 18.50 Uhr steht Lucke auf und verschwindet unter
beleuchtet, weißer Marmor und ausladende Plüschsofas, schon sehr früh rechte Stimmen laut. Einige Ihrer Mitglie- Wie groß das Potenzial der Wähler im »dumpf-rechten Be- dem gelben Licht der Straßenlaternen. Als er das Plenum
Filmmusik unter dem Gerede wichtig aussehender Men- der stellten die NSU-Morde als Komplott dar. Wenn es reich diesseits des Rechtsradikalismus« sei, habe er unter- betritt, ist kaum noch einer da. Zwanzig, dreißig Abgeord-
schen. Lucke, für diesen Teil des Gesprächs gekleidet in ei- dieses Lager überhaupt gegeben habe, sei es doch eine »ver- schätzt. »Das findet inzwischen in der AfD sein Ventil.« nete, die sich unterhalten. Lucke wartet an seinem Pult,
nen Lucke-Pullover, schwarz mit halbherzigen Streifen, schwindend kleine Minderheit« gewesen, sagt er. Er habe Es ist ja auch wirklich nicht so, dass Lucke diese Men- Kopf im Nacken, ganz weit, er schaut zur Decke. Was
checkt die Lage mit Feldherrenblick, setzt sich dann ohne zu »solche Töne« erst im Laufe der Zeit wahrgenommen und schen erfunden hätte. Aber er war der Zauberlehrling, der macht dieser Mann hier? Wie ist er hierhergeraten? Was
zögern auf eins der Sofas. Das mit den Clips findet nicht sich dann immer deutlicher dagegen gewandt. sie zusammenrief. hatte er selbst gesagt? Einer löffelt seine Suppe aus.
seine Begeisterung, aber er hat sich darauf eingelassen, und Irgendwie auch verrückt: dass ausgerechnet ein Profes- Jetzt kommt Frauke Petry. Auf dem Laptop ihre Kampf- Um 19.10 Uhr darf Lucke reden, 90 Sekunden. Der
jetzt macht er das auch. Fokussiert, kein Blick fortan mehr sor die Partei gründete, in der sich diese Leute mit wahn- rede auf dem Parteitag 2015 in Essen, auf dem Lucke ent- Nachbar klatscht zweimal. Lucke setzt sich wieder.
für seine Umgebung. Der Reporter hat den Laptop auf dem haftem Weltbild versammeln. Oder vielleicht ist es gar machtet wurde. Sie spielt sich als wahre Gründerin der Par- In Umfragen zur bevorstehenden Landtagswahl in
Schoß, Lucke beugt sich zu ihm rüber. Immer wieder merk- nicht verrückt. Hinter der Euro-Rettung sah Lucke ja auch tei auf. Lucke sieht seelenruhig zu. »Eine Frau, die sich an- Baden-Württemberg liegt die AfD bei zehn Prozent. Luckes
würdig, dass Politiker auch Körperwärme haben. nur verdächtige Unvernunft, Machtstreben. passt«, sagt er schließlich. »Sie steht kaum für irgendwelche Partei Alfa kommt in diesen Umfragen nicht vor.
60 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1
REISEN

Jena

»Jena vor uns im lieblichen Tale«


schrieb meine Mutter von einer Tour
auf einer Karte vom Ufer der Saale,
sie war in Kösen im Sommer zur Kur;
nun längst vergessen, erloschen die Ahne,
selbst ihre Handschrift, Graphologie,
Jahre des Werdens, Jahre der Wahne,
nur diese Worte vergesse ich nie.

Es war kein berühmtes Bild, keine Klasse,


für lieblich sah man wenig blühn,
schlechtes Papier, keine holzfreie Masse,
auch waren die Berge nicht rebengrün,
doch kam man vom Lande, von kleinen Hütten,
so waren die Täler wohl lieblich und schön,
man brauchte nicht Farbdruck, man brauchte nicht Bütten,
man glaubte, auch andere würden es sehn.

Es war wohl ein Wort von hoher Warte,


ein Ausruf hatte die Hand geführt,
sie bat den Kellner um eine Karte,
so hatte die Landschaft sie berührt,
und doch – wie oben – erlosch die Ahne
und das gilt allen und auch für den,
die – Jahre des Werdens, Jahre der Wahne −
heute die Stadt im Tale sehn.
Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. Klett-Cotta, Stuttgart 1998
Foto [M]: Martin Krahn für DIE ZEIT

Die Saale: Jena verbirgt sich immer


hinter der nächsten Flussbiegung
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 61
REISEN

In naher Ferne
In einem Gedicht lässt Gottfried Benn seine Mutter zur Kur nach Bad Kösen reisen. War sie wirklich dort?
Sind die Täler lieblich und schön? Wir fahren die Worte und die Saale entlang VON ELISABETH VON THADDEN
i
J E NA

hindurch, an den Muschelkalkfelsen weiter, immer tiefer und einer offenen Wunde: Benns Mutter Caroline Jecquier, Mut-

E
gelassener in eine Landschaft hinein, die in jedem Augenblick ter von acht Kindern, eine aus der französischen Schweiz ein- Sachsen-
Halle
Anhalt
wirkt, als wisse sie, dass sie sich sehen lassen kann. Durchaus geheiratete Pfarrfrau, hätte Erholung dringend gebraucht.
Leipzig
im europäischen Maßstab: Auch vor französischen Augen, die Schonung. Im April 1912 starb sie mit 53 Jahren qualvoll an Bad Kösen
von den Schlössern der Loire verwöhnt sind, auch vor Schwei- Krebs, ihr streng pietistischer Mann verbot dem Sohn Gott- Sachsen
zer Augen, die an die Weinhänge bei Yverdon gewöhnt sind, fried, der Mutter Morphium zu verabreichen, der Schmerz sei Jena
kann diese Schönheit bestehen. Denn hier im Saaletal sind ja von Gott – und der Sohn mit dem rettenden Mittel gab
Erfurt
Kultur und Natur so eng ineinander verschlungen, dass die klein bei. »Sie starb den schwersten Tod, den ich gesehen Th ü r i n g e n
Schönheit einmal gar nichts Teutonisches hat, keine Brutalität, habe«, schrieb dann Gottfried Benn. Die Mutter ist wochen- le
Saa
für die man sich schämen müsste. lang erstickt. Bald wird es im Gedicht Mutter von 1913 hei-
Dort im Tal also liegt Kösen, genauer Bad Kösen. »Sie war ßen: »Ich trage Dich wie eine Wunde / auf meiner Stirn, die ZEIT-GRAFIK
in Kösen im Sommer zur Kur«. War sie dort? Es ist möglich, sich nicht schließt ...« 20 km
aber nicht wahrscheinlich, genauer kann es auch der beste Doch es muss nicht so bleiben. Während der abgekämpfte
Quellenkenner, Benns Biograf Holger Hof, nicht sagen. Ge- Arzt Benn 1926 in seinem Aufsatz Medizin in der Krise an seinem
wiss aber hat der Sohn im Gedicht die Mutter dort tatsächlich Beruf resigniert – ein Arzt könne nicht heilen, die meisten Krank-
in mieses Gedicht, dieses Gedicht, sagt er. Jena, es ist eins von hinfahren lassen. Lyrik schafft Wirklichkeit. Das Gedicht ver- heiten heilten von selbst oder nie, schreibt er –, hat er gleichzeitig NÄCHTIGEN
nur vieren, die er überhaupt im Jahr 1926 zustande gebracht setzt die Frau vom märkischen Sellin, wo das Bennsche väter- in seinem Gedicht Jena mit der Mutter anderes vor: freies Atmen Schlafen im Geschichtsbuch:
hat. Er kokettiert nicht, er meint es so. Es ist für ihn ein mise- liche Pfarrhaus stand, nach Kösen. Warum nicht in Goethes in der Kösener Salzluft! Die Mutter gesundet an der Schönheit
Das Hotel Schwarzer Bär ist mit
rables Jahr, alles in allem, kaum ein anderes im Leben des dich- mondänes Marienbad? Kösen: Verschlafener kann ein Ort der Saale – als eine Art lyrischer Wiedergutmachung, Heilung der
tenden Arztes Gottfried Benn ist mehr von Ennui und Ekel wohl kaum klingen, und unscheinbarer kann heute ein Bahn- Wunde. Und sie wirkt. 500 Jahren das älteste am Ort.
bestimmt. Am 4. September schreibt Benn an eine Freundin, hof kaum wirken als der abgeblätterte und zugenagelte Jugend- Eine Saaletour hat sie also gemacht, neu belebt, und sie hat Unter den Gästen waren Luther,
er sei »körperlich und seelisch äußerst apathisch und abge- stilbau mit dem Türmchen, an dem wenigstens die Regional- Jena vor sich gewusst. Hat sie es auch vor sich gesehen? Nicht Bismarck und Hitler. Luther-
kämpft, von geradezu krankhafter Menschen-, Unterhaltungs- bahnen halten. Blechschilder, versiegelte Fenster, ein Graffito vom Flussufer aus, denn wenn man von Kösen aus die Saale ent- platz 2, Tel. 03641/40 60,
u. Eindrucksflucht«. Erst im Juni des Jahres hat er in der Welt- sagt: »Da geht’s nach Jena«. lang auf die Stadt zuwandert oder -fährt, verbirgt sie sich immer schwarzer-baer-jena.de.
bühne das ökonomische Elend als Dichter mit der Rechnung Aber von Kösen aus geht es eben keineswegs nur nach Jena, hinter der nächsten Flussbiegung, bis vielleicht ganz zuletzt, wenn DZ ab 65 Euro
quittiert, alles, was er seit 1913 »durch Papier- und Verlags- das Städtchen liegt im Zentrum der deutschen Welt. »Bad Kö- es durch die heutigen Vorstädte Zwätzen oder Porstendorf geht.
industrie vereinnahmt« habe, belaufe sich auf 975 Mark. Auch sen ... Die Kurstadt mit Kultur«, sagt der Wegweiser auf der Jena im Tale ist nur von weiter oben gut zu erkennen, von den
als Arzt hat er kaum Einkünfte. Die Fremdheit zwischen die- Brücke, in Saaleblau, und er zeigt nach Kloster Pforta, also Naum- Uferbergen aus, ob vom Windknollen, von der Hohen Lehde SPAZIEREN
sem Menschen und der Welt könnte größer kaum sein, er burg, er zeigt zur mittelalterlichen Rudelsburg und zur Saalecks- oder vom Jenzig, unübersehbar ist dort oben der gläserne Jen-
kann sich Erholung nicht leisten: »Ich bin Mitte vierzig«, burg, zur Saalefähre, zum Romanischen Haus, alles auf einem tower in der Mitte der Universitätsstadt. Von den Höhenwegen Dieser Rundgang ist ein Muss:
schreibt Gottfried Benn um diese Zeit, »und habe nie in mei- türgroßen Schild, daneben steht gleich noch eins, mit noch mehr aus wirkt Jena, als wolle es in Wirklichkeit nur von hier angesehen Durch die studentenbevölkerte
nem Leben länger als vierzehn Tage Ferien machen können; Kultur in alle Richtungen, zum alten Gradierwerk mit seiner werden. Frühmorgens, wenn die letzten Studenten schlafen ge- Wagnergasse gehen, Rast im
ich möchte auch einmal vier Wochen verreisen und doch am hölzernen Strebenfachwerkkunst, zum Kurpark mit den Sole- gangen und die ersten schon in ihren Laufschuhen unterwegs Café Stilbruch (stilbruch-jena.
Ersten meine Miete zu bezahlen wissen.« bädern. Wenn man dann wirklich Richtung Jena losläuft, steht sind, kann man vom alten Johannisfriedhof in Jenas Stadt- de), dann weiter zum alten
Auch einmal verreisen! man bald vor den nächsten Schildern, die einen mit einer Fülle zentrum bergan auf den Windknollen hochsteigen, die Straße Johannis-Friedhof und das Grab
In dieser Verfassung also schreibt Gottfried Benn das Jena- an Zaubernamen begleiten, nach zwölf Kilometern etwa kreuzt heißt sogar Am Steiger, dann steil rechts in den Wald, quer hin-
Gedicht, das er mies findet. Er irrt sich, es ist eins seiner schönsten, der Fernwanderweg Feengrotten–Kyffhäuser, rechts führt er durch, über schmale Pfade hinauf, bis zum Waldrand, da steht von Friedrich Schillers Schwäge-
auch der Großzügigkeit wegen: Nicht er selbst verreist, der müde nach Dornburg, zu den Renaissance-Schlössern, links geht’s die Bank, der Blick ist frei ... Luft holen: Unten liegt Jena vor uns rin, der Schriftstellerin Caroline
Sohn, sondern in Versen lässt das Ich stattdessen seine Mutter zur zur Cyriaksruine. In und um Kösen schichtet sich Geschichte, im Tale. Ein paar joggende Studenten machen kurz Pause, deh- von Wolzogen, besuchen. Von
Erholung verreisen. Auf Kur! Ins Saaletal! In eine Landschaft von wie sich die Natur in den umgebenden Muschelkalkfesten nen sich, checken die Schrittzahl auf ihren Smartphones, schicken da die Straße Am Steiger hinauf,
einer Lieblichkeit, die in Deutschland selten ist. Der Sohn vergisst schichtet, und die Gebildeten aller Klassen haben es gut gewusst: ein Bild ab, irgendwohin, vielleicht sogar manchmal an Mütter: bis man durch den Wald
alles, allein diese Worte, die ihm die Mutter von einer Tour an der Der Maler Adolph Menzel war hier auf Kur, desgleichen Max Das ist Jena! Konkret, vital, unbestreitbar die Stadt der roman- Richtung Gasthaus Landgrafen
Saale auf eine Postkarte schreibt, sind ihm unvergesslich: »Jena Liebermann, auch Edvard Munch, Franz Liszt und Fontane. tischen Philosophie, der optischen Avantgarde, des studentischen (landgrafen.com) zur Bank mit
vor uns im lieblichen Tale«. Nein, Gottfried Benn hat seine Mutter wirklich nicht in ein Alltags, die Stadt von Schott und Zeiss und Jenoptik. Auch die
dem Jenablick kommt
Wer den sezierenden Ton der frühen Bennschen Verse aus verschlafenes Nest für arme Pfarrfrauen reisen lassen. Alles, was Keimzelle des NSU.
den Leichenschauhäusern voller Weltkriegstoter im Ohr hat, gut und schön ist, scheint von hier leicht erreichbar zu sein: Aber im Gedicht ist es anders. »Jena vor uns im Tale«, das
kann die Wärme des Jena-Gedichts kaum glauben: Es erklingt Hier kreuzen sich Wege aus dem ständischen Mittelalter mit ist in diesen Versen eine Richtung, in die es geht, gehen könn-
im Volkslied-Ton, in tragenden vierhebigen Versen, die über jenen einer klugen Moderne der Goethezeit, das Städtchen te. Eine Aussicht. Etwas Schönes, das kommt. Jena, das klingt
die Vers-Brüche hinweg weich fließen, als wollten sie es dem liegt an der Via Regia, der Straße, die Rechtsschutz genoss, es in Benns Gedicht wie das Demonstrativpronomen, das in die
kleinen Saalefluss gleichtun. Sie umfassen weit mehr als die liegt an der Weinstraße Saale-Unstrut und markiert den histo- Ferne zeigt, auf jenen Ort dort, im Tal, ganz nah.
nachgetragene Liebe eines Sohns, der seiner Mutter in Versen rischen Rand der Schlachtfelder von Jena und Auerstedt, wo Und für den dichtenden Arzt Gottfried Benn war es noch
Erholung gönnt. Sie handeln davon, wie Unvergesslichkeit 1806 Napoleons modernes Europa siegte, und genau hier ver- einmal anders. Für ihn, der seiner realen Mutter 1912 beim REISEN-
entsteht: Was ist flüchtig, was aber vergisst ein Mensch nicht? läuft nach dem Wiener Kongress 1816 die Grenze zu Preußen: Sterben nicht helfen konnte, ist das wirkliche Jena ein Ort, der Sonderheft
Fahren wir hin, die Worte und die Saale entlang. Im Zug Kösen wurde ein prosperierendes preußisches Kurstädtchen sein Leben bestimmte, nicht als Lautmalerei: Am 19. Novem- Ein Ort, ein
von Berlin nach Süden, durchs Saaletal. Wir passieren Weißen- und nahm 1867 seinen Bäderbetrieb auf. Die besten Wissen- ber 1922 starb hier in Jena bei einer Routineoperation, einer Gedicht: In der
fels, gleich kommt Naumburg, dann Kösen, die Schienen wol- schafts- und Universitätsstädte liegen einen Steinwurf ent- Gallenblasenentfernung, seine Frau Edith. Benn hatte kurz nächsten Ausgabe
len sich von der Saale nun nicht mehr trennen, noch liegt Jena fernt, nach Halle sind es 50 Kilometer, auch nach Leipzig, 30 zuvor den Lebensunterhalt für sie gekündigt, die Ehe war auf- fahren wir mit
mehr als eine halbe Stunde entfernt: Die Gleise laufen neben Kilometer nach Jena, die Residenzstädte Weimar und Erfurt: gezehrt. Am Tag nach ihrem Tod stieg Benn in den Zug Rich- Versen deutscher
dem Fluss, neben den Wegen, sie wechseln die Seiten, als tanz- um die Ecke, auch Wielands aufklärungshelles Gut Oßmann- tung Berlin, durchquerte also das Saaletal in die andere Rich- Dichter nach
ten sie miteinander. Hier spielen vormoderne, moderne und stedt nur zwei Bahnstatiönchen entfernt, wie Apolda, der Ort, tung, flussabwärts, von Jena sich entfernend. Im Zug traf er Athen, Hongkong,
spätmoderne Geschwindigkeiten zusammen, die sich sonst in dessen hungernden Webern und Strumpfwirkern Goethe die Frau, die alsbald für Jahre seine Geliebte wurde, die sein Kalabrien. Dieser
selten in solcher Nähe treffen: Züge, Autos, Fahrräder, alles erstmals der sozialen Frage begegnete. Kind mit zu sich nach Kopenhagen nahm und es an seiner poetische Ausflug
schlängelt sich am Fluss entlang. Dann sind da noch die Fuß- Mittendrin also Kösen. Stelle erzog: Ellen Overgaard, »die Dänin«, wie sie in den auf 54 Seiten startet
wege, auf denen es Schritt für Schritt nach Jena geht. Das In die Geschichte dieser Kulturlandschaft stellt das Gedicht Quellen nur heißt. Was für eine Erleichterung. Jena lag bald diese Woche mit
Wasser, das einen näher oder ferner begleitet, kommt einem eine Mutter und ihren Sohn, und die beiden Geschichten neh- weit hinter ihm. Gottfried Benn
entgegengeflossen. men Kontakt miteinander auf, fließen miteinander für ein paar Unvergessliches formt sich aus dem, was verfließt, vergeht, an die Saale
Die Saale verbindet alles, was hinter einem liegt und was Strophen dahin. stirbt und verwest. »Und das gilt allen und auch für den, / die
noch kommt, als sei nichts leichter als dies: Der Fluss schlän- Mutter und Sohn, das ist immer eine radikal individuelle – Jahre des Werdens, Jahre der Wahne – / heute die Stadt im
gelt sich vor und hinter Kösen zierlich zwischen den Weinbergen Verbundenheit, aber bei diesen beiden gleicht sie, wohl heillos, Tale sehn.«

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3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 11 63
SCHÖN & GUT

Das gehört nicht ins


Feuilleton
Jetzt mal ehrlich: Was wir wirklich lesen, hören, tun.
Diese Woche: Wolf Alexander Hanisch, Autor

bedruckter Baumwolle treu bleiben, mache 2 2


ich es wie sie. Obwohl ich zu keiner exorzis- STU ND EN
tischen Schlacht vor Tausenden Fans antre- I N O F FENBACH
ten muss, sondern mich nur in aller Stille
unter die Decke kuschle. Womöglich ist es Sisis Stiefel
der brummende Nachhall des Endzeitgetö- Im Deutschen
ses, der mich so schön in den Schlaf wiegt. Ledermuseum kann
man Seidenstiefel
von Kaiserin Sisi
Souvenir-Magnete bestaunen – und
für den Kühlschrank eine Aktentasche
von Napoleon.
G EST RAND ET I N . . .
Monster-Metal-Shirts Ich bin auf Reisen ganz gut herumgekom- ledermuseum.de
men und habe einiges aus der Welt mit nach
für die Nacht
Hause geschleppt. Das meiste davon steht Elektro-Club
Mein Kleiderschrank ist die Hölle. Oder
besser gesagt: Es stapeln sich Höllenwesen
in ihm. Jeden Abend vor dem Zubettgehen
allerdings nicht in Regalen, sondern drängt
sich an einem einzigen Fleck: an der Tür, die
zum kalten Bier führt. Sie ist übersät von
Wer über Nacht in
Offenbach bleiben
will, braucht kein
Offenbach
öffne ich seine Tür und mustere die Bestien, Kühlschrankmagneten aus allen Erdteilen.
um mir dann eine zur Brust zu nehmen. Wenn ich mir ein Pils hole, verharre ich Hotel. Im Robert Da wollten Sie nie hin? Jetzt sind Sie nun mal da. SANDRA DANICKE nimmt Sie zwei
Heute wieder Eddie, das zähnebleckende immer wieder an der Tür und lasse den Johnson, einem der Stunden lang an die Hand. Sie entdecken: Ricotta aus dem Hinterhof
Zombiemonster und Maskottchen der Band Blick über meine Schätze gleiten wie über weltweit besten
Iron Maiden? Oder lieber Vic Rattlehead, einen Globus. Manche Magnete zeigen Clubs für elektroni-
Dinge, die ich verpasst habe, etwa die vor-

Z
den skelettierten Talisman von Megadeth? sche Musik, legen ugegeben, der erste Eindruck Sie die Vitrine mit den Lamminnereien, Kaufen Sie mehrere, und nehmen Sie
Die menschenfressenden Ghule von Slayer beitreibenden Eisberge in Neufundland, Top-DJs wie Sven ist ernüchternd. Sie sind am und tun Sie so, als wären Sie im Urlaub, unbedingt auch den Ricotta mit.
waren lange weggesperrt. Ich konnte sie mei- für die ich ein paar Wochen zu spät auf die »Marktplatz« aus der S-Bahn irgendwo im Südosten. Das geht ganz Am Ende der Straße können Sie sich
Väth oder Ricardo
ner Tochter nicht zumuten. Doch mittler- Insel gekommen war. Andere bilden exakt gestiegen; das klingt nach leicht in Offenbach, wo mehr als die bei Suriashni noch mit Mangomarmelade
weile ist sie alt genug für meine Marotte: Ich ab, was ich vor Ort dachte: dass die Hall- Villalobos auf. Fachwerk und Kopfstein- Hälfte der Bürger einen Migrationshinter- eindecken, bevor es in die Karlstraße zur
schlafe in Metal-Shirts. gríms-Kirche in Reykjavík wie eine Mond- Geöffnet hat das pflaster. Stattdessen stehen Sie an grund hat. afghanischen Bäckerei Naane Watan geht.
Die bluttriefenden Bandlogos auf schwar- rakete samt Rampe in den Himmel ragt; Lokal ab 24 Uhr, einer Schnellstraße und starren auf Jetzt überqueren Sie die Berliner Stra- Nehmen Sie einfach von allem etwas. Die
zem Grund trage ich wie Ordensspangen dass Neuseeland rund um die murmelblau- also besser nicht vor Beton, Spielhallen und Kentucky Fried ße, biegen rechts in den Großen Bier- Leckereien aus Mais- oder Reismehl hal-
fürs Durchhalten im akustischen Schützen- en Seen und hysterisch weiß beschneiten 2 Uhr kommen. Chicken. Und wäre da nicht, auf einem grund ein und stehen zwei Minuten ten sich ein paar Tage. Das Fladenbrot hat
graben. Denn das diabolische Gekreisch von Berge bei Queenstown leuchtet wie die Pa- robert-johnson.de struppig bepflanzten Hügel, ein weißer später vor einem kroatischen Spezialitä- die Größe eines Badewannenvorlegers,
Kapellen wie Napalm Death, Pestilence radiesfantasien der Zeugen Jehovas; oder Offenbach-Schriftzug, der allen Ernstes tengeschäft, dessen Schaufenster so rüh- aber Sie können es einfrieren.
oder Pig Destroyer gefällt einem ja nicht auf dass es in Bangkok nichts Schöneres gibt, das Hollywood-Signet kopiert, kämen rend mit bunten Emaille-Kochtöpfen, Zum Abschluss müssen Sie noch auf
Anhieb. Man muss den baumaschinenarti- als in einem Tuktuk durch die heiße Nacht Sie sich vermutlich vor, als hätten Sie sich Hasenfutter und Pflaumenschnaps deko- die Frankfurter Straße. In einem der
Illustration: Pia Bublies für DIE ZEIT; Foto: action press

gen Lärm schon ausdauernd hören, um je- zu brausen. in eine Mustersiedlung für triste Wohn- riert ist, dass Sie dem älteren Pärchen Schnäppchenläden kaufen Sie einen Roll-
nen wunderbaren Aggressionsgenuss zu er- Manchmal kommt meine Frau von ei- bunker und Büroklötze verirrt. darin mindestens eine Salami abkaufen, koffer für Ihre Souvenirs. Vielleicht ist
reichen, der süchtig macht. Ich bin dran- nem Kurztrip zurück und pflanzt Prag oder Offenbach trägt seinen Charme nicht die, wie alles in Offenbach, unschlagbar noch Platz für einige der glitzernden Spül-
geblieben – und dadurch natürlich auch ein Maastricht mitten ins Karibikensemble. Ich gerade vor sich her. Ein großer Teil der günstig ist. schwämme und quietschbunten Handy-
bisschen stolz auf meinen furchtlosen Musik- bin jedes Mal fassungslos. Ebenso gut könnte Innenstadt wurde im Krieg zerstört. Den Eigentlich sind Sie auf dem Weg zur hüllen, die es hier außerdem gibt. Zu
geschmack. sie Shampooflaschen zwischen die Bücher Rest erledigte eine Stadterneuerung, die L’Abbate-Käsefabrik, die Sie drei Häuser Hause landet der Kram dann ungenutzt
Dass außer mir vor allem 17-jährige stellen. In der Sammlung waltet ein gehei- bis heute andauert. Egal, wir gehen jetzt weiter im Hinterhof finden. Es erfordert neben dem geschnitzten Salatbesteck aus
Wacken-Fahrer mit fettigen Haaren in die- mer, zunehmend neurotischer Plan. shoppen! Mut, den düsteren Gang neben der dem Afrika-Urlaub, aber der Stolz des
ser apokalyptischen Merchandisingklamotte Kühlschrankmagnete sind die Stocknägel Hinter dem Parkhaus biegen Sie in die Monte Carlo Shisha Lounge zu betreten. Entdeckens ist die paar Euro allemal wert.
herumlaufen und Männer, die ihre Midlife- unserer Zeit. Doch anders als die werden sie Sandgasse ein. Das ist die Straße, aus der Aber es lohnt sich – vor allem, wenn Sie Dann kehren Sie ein im Caffé Cuore.
Crisis zu kaschieren versuchen – ich kann’s nie aussterben. Es sei denn, warmes Bier die dunkelhaarigen Menschen mit den daran gedacht haben, dicht schließende Ein Tiramisu geht noch. Beobachten Sie
nicht ändern. Solange aber auch meine kommt in Mode. Aber dann wandere ich prall gefüllten Plastiktüten kommen. Hier Plastikdosen mitzunehmen. Wundern Sie den Chef, wie er unter Gitarren, die von
Bühnenhelden ihrer Rüstung aus dämonen- sowieso aus. stoßen Sie auf einen türkischen Super- sich nicht, dass in die Fabrik keine vier der Decke hängen, Präsentkörbe schnürt
markt. Schlendern Sie durch die dicht Leute passen. Genießen Sie einfach den und dabei italienische Klassiker singt,
Wolf Alexander Hanisch mag auch Mittelgewichtsboxen, Auf lösung von bestückten Regale voller Kekse, die »Hay- hausgemachten Mozzarella, den Ihnen und planen Sie Ihre nächste Fernreise –
Martin Walser und Bottega Veneta pour Homme Seite 64: Kaffee layf« oder »I love you« heißen, bestaunen die Besitzerin zum Probieren hinhält. nach Offenbach.

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64 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1
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»Ich glühe für WelcherRohstoff


Welcher Rohstoffististnach
nachErdöl
Erdölder
dermeist
meistgehandelte?
gehandelte? WAS MEIN
Sie ungebremst« L E BE N
Vea Kaiser an Ulrich von R E I C H E R
Wilamowitz-Moellendorff
M ACHT
Ich liebe das Wort »gemach«. Im etymologischen Wörterbuch steht es für passend, bequem. Ausgesprochen in hektischen, unübersichtlichen Situationen, verschafft es den Beteiligten meist

L
L IEB ES B R IEF

Mein Mann, der mir mitteilt, dass er


eine Liebeserklärung an mich für die-
ieber Uli, se Rubrik eingereicht hat – die wegen
Überlänge abgelehnt wurde!
Désirée Kieslich, Castrop-Rauxel
die Sekunden des Nachdenkens, die nötig sind, um zur Besinnung zu kommen und das Notwendige zu tun. Rita Herber, Bad Camberg, Hessen

Als meine Schwester und ich klein wa-


ren, lasen uns unsere Eltern alle von
Paul Maar geschriebenen Samsbücher
wahrscheinlich würden Sie mich nicht vor. Nun bin ich lange ausgezogen und
ausstehen können. Zwischen einem kon- werde von der Familie in Berlin besucht.
servativen Preußen und einer antiautori- Im Gepäck: das neue Samsbuch. So
tären Wienerin liegt genug Konflikt- liegen wir abends im Wohnzimmer,
potenzial für einen Weltkrieg, doch lesen uns abwechselnd vor – und ich bin
glücklicherweise wurden wir im Abstand plötzlich wieder Kind.
von einem Tag und 140 Jahren geboren! Felizitas Steng, Berlin
Dadurch kann ich ungebremst für Sie
glühen, Ulrich, und Sie können nicht Eine Grippe hat mich erwischt. Doch
einmal verhindern, dass ich Sie zärtlich dann geht es mir von Stunde zu Stun-
Uli nenne. de besser – als würde mir die Gene-
Ich liebe Sie, da ich das, was ich am sung wie ein Geschenk eingehaucht.
meisten liebe, ohne Ihr Zutun wohl nicht Wolf Warncke,
lieben würde: das Studium des Altgriechi- Tarmstedt, Niedersachsen
schen! Sie waren der Cultural Turn der
Altertumswissenschaften, Sie haben den Dass unsere Tochter Mathilda nach
MEIN WORTSCHATZ

Pop der Hellenen salonfähig gemacht! fast 15 Monaten Behördenritt nun


Dank Ihnen blickt die Forschung nicht auch offiziell zwei Elternteile hat:
nur auf die klassizistischen Langweiler wie Mama und Mami.
Platon und Sophokles, nein, Sie erschlos- Julia Siebrecht und
sen die perversesten Schönheiten der grie- Christine Tintelnot, Hamburg
chischen Dichtung davor wie danach und
verstanden als Erster, dass die Philologie Die Ungarische Melodie von Franz
über ihren Tellerrand hinausblicken muss, Schubert: ein kleines Klavierstück,
wenn sie dem, was sie liebt, wirklich nahe- dessen Melodie der Komponist an-
kommen will. geblich einer ungarischen Küchen-
Ständig waren Sie bemüht, das Alt- magd abgelauscht hat, als er im
griechische populär zu machen, nur leider Schloss der Esterházys weilte, um die
hat es nicht funktioniert. Lauter Banausen Töchter zu unterrichten.
laufen da draußen herum, die Jugend hält Klaus Neugebauer,
Homer für eine Zeichentrickfigur, aber Gerlingen, Baden-Württemberg
sehen wir es positiv, Ulrich: Ich bin eine
eifersüchtige Liebhaberin, es entzückt Es schneit. Auf dem Kirchengelände,
mich, Sie als Objekt der Anbetung ganz drei Meter über Straßenniveau, stehen
für mich allein zu haben. einige kleine Mädchen, halten Schnee-
Süß flüstere ich Wilamowitzianus, bälle parat und fragen (!), als ich unten
wenn ich bei metrischen Analysen auf das vorbeikomme: »Dürfen wir auf dich

Illustration: Tina Berning für DIE ZEIT; kl. Foto: Ingo Pertramer (u. l.)
nach Ihnen benannte Versmaß stoße, ob- werfen?«
wohl es natürlich eine Schande ist, dass Sie durften.
keine Straße Ihren Namen trägt! Günter Vogel, Kerpen
Immerhin erneuerten Sie die Text-
kritik, haben uns das Werkzeug gegeben, Mein Großvater ist gestorben. Als
um den Text von der Pfuscherei jahrhun- ich mein schwarzes Kleid für die
dertelanger Überlieferung zu entkleiden Beerdigung heraushole, fällt mir ein
und mit seiner wahren Schönheit Liebe Mensch ärgere Dich nicht-Mansch-
zu machen. Die Lösung finden Sie auf S. 63 gerl in die Hände. Ich muss an die
Außerdem hatten Sie sexy Held als vielen gemeinsamen Spiele denken
Einziger den Mut, gegen Nietzsche aufzu- (mit Schmeiß-Zwang), und trotz der
stehen, der aus dem Bauchnabel heraus ZEITSPRUNG Trauer huscht ein Lächeln über
unseren Euripides schmähte! Obwohl mein Gesicht.
dieser Streit ergebnislos blieb, ist es wohl Sophie Perchermeier, München
Ihnen zu verdanken, dass Nietzsche die 2013/2014: März
klassische Philologie fortan in Ruhe ließ.
Sie kämpften für Ihre Leidenschaft,
ohne je die Scheuklappen der Sturheit an- Wir leben am Markt, mitten in einer netten kleinen Stadt in der Nähe von Bonn.
zulegen. Sogar als Sie Ihr Schüler Schade- Dieser Tage kamen mir diese beiden Fotos unter die Finger, die wir von unserer
waldt widerlegte, sagten Sie: Umzulernen Wohnung aus in aufeinanderfolgenden Jahren jeweils im März aufgenommen
stets bereit. Und das ist es, schön geform- haben. Sie zeigen, dass dieser Monat von Schnee bis Sonnenschein wirklich alles
ter Ulrich, was einen großen Geist am zu bieten hat. Machen Sie mit!
Ende ausmacht. Angela Herkenrath, Siegburg Schreiben Sie uns, was Ihr Leben reicher
macht, teilen Sie Ihre »Wortschätze« und
»Zeitsprünge« mit uns.
Vea Kaiser, 27, Beiträge bitte an leser@zeit.de oder an
ist Schriftstellerin. Redaktion DIE ZEIT, »Z-Leserzeit«,
Sie lebt in Wien 20079 Hamburg
* Die Redaktion behält sich Auswahl, Kürzung und redaktionelle Bearbeitung Ihrer Beiträge vor. Mit der Einsendung geben Sie Ihr Einverständnis, Ihren Beitrag in der ZEIT, im Internet
(www.zeit.de/zeit-der-leser), in der ZEIT-App, in Sozialen Netzwerken oder in einem ZEIT-der-Leser-Sammelwerk zu veröffentlichen.

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3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 BBILDUNG
ILDUNG WWISSENSCHAFT
I S S E N S C H A F T B EBERUF
RU F

CHANCEN
Start-ups in Berlin
und Tel Aviv – der
Schwerpunkt »IT und
Telekommunikation«
Seite 68 und 70 65
DIE GROSSE STUDIE VON

UNIVERSUM
Alt und Jung sind
kaum noch zu
unterscheiden

Der
Instant-Lehrer
Eine neue Studie sagt:
Ein halbes Jahr reicht aus

Fotos: Carra Sykes, aus dem Fotoprojekt: » »Mother + Daughter«; kl. Foto: Benno Kraehahn für DIE ZEIT
Wie lange braucht es, ein guter Lehrer zu
werden? Ab wann kann der eigene Unterricht
vor einer Klasse bestehen? Die Auswertung des
Programms der Bildungsinitiative »Teach
First«, die der ZEIT vorab vorliegt, zeigt: nicht
länger als sechs Monate. Nach dieser Vorberei-
tungsphase jedenfalls scheint man die päda-
gogischen Methoden besser parat zu haben als
nach einem Lehramtsstudium.
Die sogenannten Fellows von Teach First
haben nicht Lehramt, sondern etwa Philoso-
phie, Jura oder Soziologie studiert. Zwei Jahre
lang unterstützen sie als zusätzliche Lehrkräf-
te die Kollegien an verschiedenen Brennpunkt-
schulen. Teach First wollte nun wissen, wie viel
die Fellows während des Programms lernen,
und gab bei der Uni Duisburg-Essen und der
LMU München eine Studie in Auftrag. Bei
Fragen wie »Wie baue ich eine Stunde auf?«
oder »Wie reagiere ich auf Störungen?«, die
allesamt aus einer Vergleichsstudie zur Wirk-
samkeit der Lehrerausbildung stammten,
schnitten die Teach-First-Fellows in drei von
DIE GROSSE VERMÄCHTNIS-STUDIE vier Antworten besser ab als Referendare der
Sekundarstufe. Hermann Josef Abs, Erzie-

# hungswissenschaftler an der Uni Duisburg-

Generation Gibtsnicht Essen, sieht den Grund für das Ergebnis »in
der Positivauswahl« der Fellows, die schließlich
alle ein Aufnahmeverfahren hinter sich haben.
Es folgt die Vorbereitung für die Arbeit im
Klassenzimmer in Workshops und Wochen-
endkursen. Das mache die Fellows offener für
Krieg der Generationen? Oder zu viel Harmonie? Die Vermächtnis-Studie untersucht das Verhältnis von Jung und Alt Veränderungen, sagt Abs. »Es geht darum,
in dieser Republik. Die Ergebnisse sind beunruhigend VON RUDI NOVOTNY Verantwortung für die Schüler zu überneh-
men.« Vermittelt wird demnach vor allem
Überzeugung. Und die zählt im Klassenzim-

P
lötzlich war die Jugend weg. Ver- schen wichtig sein, etwas Neues zu beginnen? Die machen, sie begeistern kann. Gespenster-Diskus- mächtnis-Studie so besonders macht. »Normaler- mer mehr als jede zärtlich konstruierte Lehr-
schwunden zwischen Fragen und Erwartung: Die Jungen haben nichts zu verlieren sionen. Die Jungen sind weg und lassen die Repu- weise beschäftigen sich Studien zum Thema Genera- formel. Erstaunlich schnell kann man laut
Zahlenkolonnen. Nicht mehr zu und sind williger, alles hinter sich zu lassen. blik mit zwei Fragen zurück: Was ist der Grund für tion Y nur mit Personen, die dieser Gruppe angehö- Studie fachfremden, aber motivierten Absol-
unterscheiden von Rentnern oder Das Ergebnis? Es ist egal, ob die Befragten die generationslose Gesellschaft? Und: Was macht es ren. Dabei wird nach ihren Einstellungen und Wer- venten alltagstaugliche Methoden für den
Babyboomern. Nicht beim Sex, über 66 Jahre alt sind oder unter 35 Jahre. 70 mit einem Land, wenn die Jungen alt sind? Die Ant- Unterricht beibringen. Wenn sich daraus
mit dem die Alten ebenso ent- Prozent der Alten finden, dass es kommenden worten darauf kennt, wer versteht, was die Ver- Fortsetzung auf S. 66 nichts lernen lässt! SOFIA FALTENBACHER
spannt umgehen. Nicht bei Dro- Generationen wichtig sein sollte, etwas Neues zu
gen und Alkohol, die von den Jungen ebenso beginnen. Und 64 Prozent der 18- bis 35-Jähri-
abgelehnt werden. gen. Signifikante Unterschiede? Fehlanzeige.
Kann das sein? Die Verfasser der Vermächtnis- Das gleiche alterslose Ergebnis bei der Frage,
Studie prüften die Daten noch einmal. Über ob man sich von anderen unterscheiden sollte.
3000 Deutsche, über hundert Fragen. Wenn die Ebenso bei der Frage, ob man sich der eigenen
Studie eine Aussage trifft, ist die repräsentativ, ein Sexualität schämt oder geschämt hat. Und bei
Abbild der Wirklichkeit in diesem Land. Für die- der Frage, ob man Entscheidungen im Sinne der
ses Ziel taten sich die ZEIT, das Wissenschafts- Eltern treffen solle.
zentrum Berlin (WZB) und das Umfrage-Institut Die Jungen sind verschwunden. Sie sind älter,
infas zusammen. Der Fragebogen, der in ihrer vorsichtiger, vernünftiger als erwartet. Während
Kooperation entstand, erforscht nicht nur, was ihre Eltern und Großeltern liberaler, lockerer
den Deutschen wichtig ist, sondern auch, welche und jugendlicher sind als gedacht. »Die Alten ti-
Werte sie künftigen Generationen weitergeben cken wie die Jungen, und die Jungen ticken wie
wollen und welche Zukunft sie erwarten. Die Er- die Alten«, fasst die WZB-Präsidentin Jutta All-
kenntnisse betreffen alle Bereiche des Lebens, von mendinger das Ergebnis zusammen. Sicher, die
Arbeit über Liebe bis eben zu Generationen. Jungen leben anders, gerade wenn es um techni-
Bei letzterem Thema war die Lesart bisher: sche Fragen geht. Sie benutzen Smartphones und
Die Jungen sind die Generation Y, angepasst Internet mit einer größeren Selbstverständlich-
und anspruchsvoll. keit. Diese Technik zu verstehen finden aber alle
Angepasst, weil eine Übermacht der Alten sie Altersgruppen gleich wichtig.
zur Seite drängt. Mütterrente und die Rente mit Doch was bedeutet das Ende der Rebellion für
63 gelten als Beweise dafür. Genauso wie die Tat- die Generation Y? Bestätigt es nicht sogar die
sache, dass bald die Hälfte der Wahlberechtigten Geschichten über die heimlichen Revolutionäre?
im Rentenalter ist. Um die Rechte der Jungen zu Um es kurz zu sagen: Nein. Denn auch deren Ei-
schützen, fordern Wissenschaftler Zukunftsräte. genschaften wurden bei allen Kohorten gefunden.
Zugleich, so die landläufige Meinung, macht Etwa der Wunsch nach flexiblen Arbeitszei-
ihre geringe Zahl die Ypsiloner anspruchsvoll. ten. In der Vermächtnis-Studie wird gefragt:
Arbeitsplätze gibt es viele, und so wird gefordert. Würden Sie allen Menschen in Zukunft emp-
Etwa flexible Arbeitszeiten oder die Vereinbarkeit fehlen, eine Arbeit mit festen Arbeitszeiten zu
von Arbeit und Familie, auch für Männer. In sei- haben? 62 Prozent der über 66-Jährigen bejahten
nem Buch Die heimlichen Revolutionäre schreibt das. Ebenso wie 58 Prozent der 18- bis 35-Jähri-
der Soziologe Klaus Hurrelmann, dass die Jungen gen. Keine Spur von Work-Life-Balance.
zwar angepasst wirkten, mit ihren Wünschen aber Für die Jungen gibt es nichts Wichtigeres als
die Arbeitswelt veränderten. ihre Arbeit. 88 Prozent empfehlen zukünftigen
Die Vermächtnis-Studie zertrümmert diese Generationen, diese wichtig zu nehmen. Zum
Ideen. Sie zeigt drei Ergebnisse, die unsere De- Vergleich: Eigene Kinder zu haben finden nur
batte über die Generationen verändern werden. 72 Prozent wichtig. Und die Hausarbeit teilen
Die Jugend ist verschwunden. Das ist das sich die Ypsiloner auch nicht häufiger auf als
erste Ergebnis. Früher waren Lebensphasen klar andere Generationen.
abgegrenzt. Die Jungen probierten sich aus, gin- Die Generation Y ist nur ein Mythos. Das ist
gen Wege, die mal zum Ziel, mal in die Irre führ- das zweite Ergebnis der Vermächtnis-Studie. Man
ten, die aber nie die Wege der Erwachsenen wa- muss sich die Debatten der letzten Jahre vor Au-
ren. Diese wiederum betrachteten das Treiben gen führen, um zu begreifen, was das bedeutet.
und den Ruf nach Veränderung skeptisch. Die Bücher, die Schlagzeilen, die Bemühungen
Vorstellungen, die in der Vermächtnis-Studie von Instituten, Unternehmen und Politik, he-
mit Fragen erfasst wurden wie: Sollte es den Men- rauszufinden, wie man den Jungen Angebote

#
Unsere Serie
Mehr als 3100 Deutsche wurden von nisse stellen wir in dieser Serie vor. Dies-
ZEIT, infas und dem Wissenschafts- mal geht es um das Verhältnis der Gene-
zentrum Berlin (Bild: Präsidentin Jutta rationen, am 10. März um die Liebe.
Allmendinger) für die Vermächtnis- Weitere Auswertungen finden Sie unter
Studie befragt. Die wichtigsten Ergeb- www.zeit.de/serie/das-vermaechtnis
66 CHANCEN 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1
DIE GROSSE VERMÄCHTNIS-STUDIE

Generation Gibtsnicht Fortsetzung von S. 65

ten gefragt, aber nicht, welche Werte sie in


die Zukunft mitnehmen möchten«, sagt Pa-
tricia Wratil, die für das WZB die Untersu-

Bei uns geht es im Bett


chung betreut. »Daher kann es leicht zu
Fehlinterpretationen kommen. Man meint,
die Einstellungen würden sich ein Leben
lang nicht ändern und das Gesicht einer
neuen Gesellschaft prägen.« Das aber igno-
riere die großen Unterschiede nach Bildung,
Einkommen und Freundeskreisen.

konservativer zu als 1968


Die Deutschen unterscheiden sich
nicht nach ihrem Alter. Sondern eben nach
Bildung, Einkommen und Freundeskreis.
Das ist das dritte Ergebnis der Studie.
Je höher die Bildung, desto unwichtiger
sind den Betroffenen feste Arbeitszeiten.
Nur 42 Prozent der Uni-Absolventen legen
darauf Wert. Bei Menschen, die nur einen
Wie wichtig sind gemeinsame Mahlzeiten? Wer kümmert sich um die Kinder? Was bedeutet Arbeit?
Haupt- oder Realschulabschluss oder gar Woher kommt der Hass im Internet? Wir haben fünf Gäste aus
keinen Abschluss haben, sind es 70 Prozent.
Genauso stark bestimmt das Einkommen verschiedenen Generationen zu Tisch gebeten und mit ihnen diskutiert
die Weltsicht. Etwa bei der Frage, ob es
wichtig ist, über Politik und Kultur infor-
miert zu sein. Arme Haushalte stimmen zu
55 Prozent zu. Wohlhabende Haushalte zu
76 Prozent. Zukünftigen Generationen wür-
den 71 Prozent der Armen und 83 Prozent
der Reichen nahelegen, sich zu informieren.
Und wessen Freundeskreis sich nach Al-
ter, Nationalität, Einkommen und sexueller
Orientierung unterscheidet, der ist offener
dafür, neue Dinge auszuprobieren.
Das Muster zieht sich durch die Fragen.
Die Gräben verlaufen nicht zwischen Jung
und Alt. Sie verlaufen zwischen sozialen
Klassen. Sie spalten die Jugend. Sie zerstö-
ren die Jugend. Empört euch!, riefen die
Alten den Jungen in den vergangenen Jah-
ren immer wieder zu. Die hören den Ruf
nicht. Weil sie sich kaum um Politik sche-
ren. Aber ein Land, dessen Jugend schwach
ist, verliert seine Zukunft. Denn Jugend ist
mehr als Rebellion, sie ist auch Erneuerung.
Ihre Spaltung beginnt in der Schule und
wird verstärkt durch Gentrifizierung und
eine zunehmend ungleiche Gesellschaft.
Doch wo Kontakt fehlt, da fehlt Verständ-
nis, bröckelt der Zusammenhalt. Die Risse
zeigen sich überall. Im Kulturbereich, wo
Millionen Menschen Schlager-CDs kaufen,
deren Interpreten nur als Kuriosum im
Feuilleton auftauchen. In der Politik, wo
Hartz-IV-Gesetze von Menschen entworfen
werden, die keine Armut fürchten müssen.
Im Bildungsbereich, wo die wohlhabenden
Hamburger Stadtviertel bei einer Volks-
abstimmung einst die Abschaffung des
Gymnasiums verhinderten.
In der Vermächtnis-Studie zeigen sich
diese Risse daran, dass die Menschen ähnliche
Werte teilen, ihren Alltag aber unterschiedlich
einschätzen. Ein Beispiel ist die Frage, ob man
über Politik und Kultur informiert sein sollte.
Hier nähern sich Arm und Reich bei der Emp-
fehlung für künftige Generationen einander
an. »Erstaunlich viele Menschen sagen ganz
offen, dass sie selbst nicht so leben, wie sie
das den kommenden Generationen emp-
fehlen«, sagt WZB-Mitarbeiterin Patricia

Foto (Ausschnitt): Oliver Mark für DIE ZEIT


Wratil. »Viele können sich ein ›gutes Leben‹,
etwa nachhaltige Lebensmittel, einfach nicht
leisten, weil die zu teuer sind.«
Was macht es mit Menschen, wenn sie Alexa Hennig von Edzard Reuter, 88, war Iris Berben, 65, ist Cheng Loew, 29, ist ein Lea-Sophie Cramer, 28,
immer hinter den eigenen Erwartungen zu- Lange, 42, ist Autorin. bis 1995 Chef von Schauspielerin. YouTube-Star. Seine gründete den Online-
rückbleiben? Was macht es mit einer Gesell- Sie lebt mit ihrer Familie Daimler-Benz. Er hat eine Schon mit 20 bekam Videos haben im Monat Sexshop Amorelie. Sie
schaft, wenn die Bevölkerung in verschiede- auf einem Bauernhof Frau und zwei Kinder sie ein Kind drei Millionen Aufrufe ist Mutter eines Kindes
nen Welten lebt? Was macht es mit einem
Land, wenn die Jungen wie die Alten sind?
Zwei Bereiche, die bei der Vermächtnis-
Studie große Zustimmung fanden, waren
Nähe und Wir-Gefühl. Ob reich oder arm,
gebildet oder ungebildet – alle sind dafür. DIE ZEIT: Frühstück ist fertig, greifen Sie zu! Berben: Mein Frühstück ist sehr weit weg von ZEIT: Wie reagiert Ihr Umfeld darauf? Reuter: Dafür siehst du aber frisch aus.
Und alle verstehen darunter etwas anderes. Alexa Hennig von Lange: Danke schön. Darf ich dem, was Alexa sagt. Ich werde morgens von mei- Cramer: Meine Großmutter fragt mich oft: Bist ZEIT: Herr Reuter, Sie sind aus der Nachkriegs-
»Wir schaffen das«, verkündet Angela jemandem was anbieten? nem Fahrer abgeholt und fahre zum Dreh. Davor du jetzt eine gute Hausfrau? Da sage ich: Nein, generation. Gefällt es Ihnen, wie junge Menschen
Merkel. »Das Wir gewinnt«, plakatiert die ZEIT: Wir starten heute mit einem Frühstück, weil trinke ich nur einen Espresso. Ich bin übrigens Omi, meinen Haushalt habe ich outgesourct. Ich wie Lea-Sophie Cramer ihre Familie planen?
Aktion Mensch. »Wir sind das Volk«, brül- unsere Vermächtnis-Studie ergeben hat, dass allen auch gern allein, wenn ich drehe. Ich bitte dann erkläre dann immer noch mal, was das heißt: Um Reuter: Ich finde das wunderbar. Ich habe aber
len die Pegida-Demonstranten. Generationen gemeinsame Mahlzeiten sehr wich- meinen Partner, in seine Wohnung zu gehen. meinen Haushalt kümmern sich andere. Kochen auch noch nie verstanden, warum es schädlich sein
Es wird Zeit für ein Wir-Gefühl für alle. tig sind. Frau von Lange, Sie haben fünf Kinder. Wenn wir gemeinsam frühstücken, decke ich aber konnte ich noch nie gut, aber trotzdem kann ich sollte, sein Kind in die Krippe zu geben.
Wie läuft der Morgen bei Ihnen ab? alles schön ein und lasse ihn nichts machen. Ich eine gute Mutter sein. Meine Kollegen finden es Berben: Heute fallen wieder Begriffe wie Raben-
www.zeit.de/audio Von Lange: Bei meinem ersten Kind habe ich noch bin eine Despotin in der Küche. So! lässig, dass ich mit dem Baby ins Büro komme mutter oder Karrierefrau. Ich hatte geglaubt, das
versucht, sämtliche Rituale weiterzugeben, die ich ZEIT: Sie waren als Schülerin auf drei strengen und nebenher die Meetings mache. Die wissen sei nach den Siebzigern vorbei. Bewegen wir uns
von zu Hause kannte. Je mehr Kinder dazukamen, Internaten und wurden von allen Schulen ge- aber auch nicht, wie viel Aufwand das ist. denn zurück?
desto kniffliger wurde das. Mittlerweile sagen die schmissen. Haben Sie Widerstand gegen Tisch- ZEIT: Warum arbeiten Sie gleich weiter? Cramer: Es gibt Wellenbewegungen. In der Se-
großen Kinder zu den kleineren: Setz dich ordentlich regeln entwickelt? Cramer: Ich würde eingehen und hätte schlechte xualität ist das genauso. Meine Eltern waren sehr
Professors Praxis hin. Oder: Iss auf, damit du groß und stark wirst.
Edzard Reuter: Das ist doch ein gutes Beispiel da-
Berben: Nein, die sind mir in Leib und Seele überge- Laune, wenn ich ein Jahr zu Hause bliebe. Für ein
gangen. Der echte Bruch kam mit den 68ern, ich Kind kann es nicht gut sein, wenn die Mutter sich
viel offener als wir heute. FKK war normal. Heute
geht es in den Schlafzimmern viel konservativer zu
für, dass man so was aus der Gruppe heraus lernt. habe meiner Mutter nichts er- völlig verändert und in ih- als bei den 68ern.
So geht das am besten! spart, Drogen, mit 20 schwan- rem Charakter zurücknimmt. ZEIT: Herr Reuter, haben Sie damals erwogen,
ZEIT: Und wer kocht bei Ihnen den Kaffee, wer ger. Aber das hatte nichts mit In der Fantasie finde ich Aber es ist schwer, den Leuten Vateraufgaben zu übernehmen?
deckt den Esstisch? Manieren zu tun. Die waren das zu vermitteln. Reuter: Nein, Männer haben sich nicht um ihre
Von Lange: In der Küche mache ich am liebsten mir immer wichtig. gemeinsame Berben: Es ist ein Privileg, so Kinder gekümmert. Ich habe abends höchstens
alles allein, ich habe meine ganz spezielle Ordnung. ZEIT: Lea-Sophie Cramer, Mahlzeiten schön arbeiten zu können wie Sie. mal was vorgelesen.
Iris Berben: Ja! Genauso will ich es auch. Sie haben vor vier Monaten Das haben nicht viele, die Berben: Man hat ja auch in den Siebzigern und
Alexa Hennig von Lange
Von Lange: Wenn mein Mann mit den Kindern ein Kind bekommen. Kom- meisten müssen ihr Leben Achtzigern kaum Männer mit Kinderwagen auf
Kuchen backt, verdünnisiere ich mich. Ich möchte men Sie noch zum Essen? verändern für die Familie. der Straße gesehen.
ja niemandem den Spaß nehmen, nur weil ich an- Lea-Sophie Cramer: Es ist Reuter: In dieser Runde fehlt Cramer: Mein Freund hat sich nach der Geburt
ders mit Eiern umgehe als mein Mann. eine große Umstellung. Früher haben mein Freund jemand, der aus nicht so privilegierten Umständen zwei Monate freigenommen. Er erzählt, dass ihn
Berben: Wie geht man denn mit Eiern um? und ich sehr egoistisch gelebt. Wir lieben unsere kommt wie wir. Das fängt schon mit dem Früh- alle Leute angestrahlt haben, wenn er mit dem
Um meine Lektüre zu Von Lange: Ich habe von meiner Oma übernom- Arbeit und haben immer bis nachts gearbeitet, stück an. Wenn du morgens zur Schicht gehst, die Kinderwagen unterwegs war.
ordnen, markiere ich Bücher, men, die Hände zu waschen, wenn ich Eier ange- auch am Wochenende. Abends waren wir was es- Frau muss auch los, da hast du keine Zeit für die ZEIT: Bedauern Sie, dass Sie nicht in der heutigen
die ich empfangen und fasst habe. Wegen der ganzen Bakterien. Mein sen, im Kühlschrank war nie mehr als Milch für Kinder. Ich habe natürlich das Privileg des Rent- Zeit Vater geworden sind?
Mann kommt hingegen vom Bauernhof, da wur- den Kaffee. Jetzt ist da ein kleines Wesen, das ein ners, meine Frau und ich frühstücken lange, lesen Reuter: Ja, weil ich gelernt habe, dass ein Lebens-
gelesen habe, mit dem Zwei- den die Eier mit dem Finger ausgestrichen, um paar Regelmäßigkeiten braucht. Zeitung und diskutieren über die Artikel. entwurf essenziell gewinnt, wenn man Verantwor-
blaue-Häkchen-Lesezeichen auch noch das letzte Fitzelchen rauszuholen. ZEIT: Welche denn? Cheng Loew: Bei uns zu Hause war Zeitunglesen tung für die nächste Generation übernimmt. Aber
ZEIT: Aber am Esstisch sitzen Sie alle gemeinsam? Cramer: Wir haben ein Au-pair-Mädchen, tags- am Esstisch ein Tabu. Meine Mutter wollte, dass warum soll ich da jetzt lang und breit drüber nach-
Von Lange: In der Fantasie finde ich das schön. über kommt sie mit dem Kleinen mit in mein wir uns unterhalten, und wenn mein Vater in die denken? Das ist die Vergangenheit, ich denke über
Stephan Porombka, 48, Aber meine 17-jährige Tochter ernährt sich gerade Büro. Um sieben mache ich Feierabend, so früh Zeitung guckte, ermahnte sie ihn etliche Male, das die Zukunft nach.
ist Professor für Texttheorie ayurvedisch, mein großer Sohn liebt Tiefkühlpizza, wie noch nie in meinem Leben. Dann essen wir zu nicht vor den Kindern zu tun. Momentan fällt ZEIT: Frau von Lange, was hätten Sie so einem
an der UdK Berlin. Mehr unter die Kleinen bekommen ihre Spaghetti. Und sobald Hause zusammen zu Abend, was für mich auch mein Frühstück weg, ich arbeite oft bis nachts. Ich Mann gesagt?
www.zeit.de/porombka mein Mann und ich uns mal unterhalten, fliegt neu ist. Wir, das sind das Au-pair, das Baby und mache Filmproduktionen, ich filme selbst, setze die Von Lange: Ich wollte niemals ein Kind mit einem
sowieso alles auseinander. Deshalb ist die gemein- ich. Mein Freund ist Unternehmensberater, er ist Lichter, ich schneide, bis ich es dann im Internet Papa haben, der morgens geht und abends wieder-
same Mahlzeit bei uns nicht überbewertet. unter der Woche häufig nicht da. hochlade. Heute auch wieder, bis um vier Uhr. kommt. Von zu Hause wusste ich bereits, dass
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 CHANCEN 67
DIE GROSSE VERMÄCHTNIS-STUDIE

Frauen genauso gerne arbeiten wie Männer, nur


musste meine Mutter mittags ihre Arbeit im ge-
Was Jung und Alt steht – wenn sie sinnvoll ist. Herr Loew, Sie filmen
sich beim Umzug. Ist das sinnvoll?
sind Pegida und AfD plötzlich da. Weil die sagen:
Da bricht unsere Welt zusammen! Da müssen wir
meinsamen Büro abbrechen, um sich um uns
Kinder zu kümmern. Im Übrigen war sie eine
wichtig ist Loew: Definitiv. In meinen Videos betreibe ich
Entertainment, versuche die Leute glücklich zu
grundsätzlich was machen! Das hat aber mit Poli-
tik nichts zu tun, das ist Stimmungsmache, die
große Anhängerin von Simone de Beauvoir. Mit machen. Das ist meine buddhistische Ader. hauen einfach nur drauf. Wie Ende der zwanziger
ihren feministischen Gedanken wurde ich also Wie ist es? Wie sollte es sein? Wie wird es sein? ZEIT: Frau Cramer, Sie verkaufen Sexspielzeug. und Anfang der dreißiger Jahre.
großgezogen. So erschien es mir auch als absolut Cramer: Ich habe das Gefühl, dass wir damit wirk- Cramer: Da ist schon ein bisschen was dran. Wir
logisch, meine erste Tochter alleine großzuziehen. lich etwas bewegen. Ein glückliches, ausgefülltes interessieren uns für Politik, aber es lief eben sehr
Was sich als keine gute Idee erwies. Den Vater GEMEINSAME MAHLZEITEN Liebesleben macht einen glücklichen, ausgewoge- gut. Die 68er haben da einiges gemacht. Meine
meines zweiten Kindes habe ich also geheiratet nen Menschen macht eine glückliche, ausgewoge- Mutter war ununterbrochen auf der Straße. Mit
100%
und versucht, relativ bürgerlich zu leben. Wobei ne Beziehung. So. Das ist der Sinn. mir. Ich habe Frauenrechte erkämpft, ohne dass
ich ununterbrochen gearbeitet habe und viel auf ZEIT: Es heißt immer, die Generation Y wünsche ich es wusste. Unsere Generation hat das Gefühl,
Lesereise war. Das war auch nicht optimal. Jetzt, 75% sich eine Balance zwischen Arbeit und Leben. dass es läuft. Man verspürt noch nicht die Dring-
in meiner zweiten Ehe, habe ich mich von »der 18- bis 35-Jährige 66 Jahre und älter Cramer: Bei mir gibt es keine Work-Life-Balance. lichkeit, sich persönlich positionieren zu müssen.
Karriere« verabschiedet. Mein Mann und ich ar- 50% Der Begriff unterstellt, dass Leben und Arbeit Loew: Die Gesellschaft hat das Thema Flüchtlinge
beiten beide zu Hause und kümmern uns gleicher- gegensätzlich sind. Das habe ich aber noch nie so doch auch satt. Weil es so extrem breitgetreten
maßen um unsere fünf Kinder. empfunden. Ist das karrieristisch? Ich weiß nicht. wurde. Abgesehen davon glaubt die junge Genera-
25%
Berben: Moment, du hast doch einen Beruf, dem Ich weiß nur, dass es mir von Anfang an un- tion, dass die Meinung des Einzelnen nicht viel
du nachgehst. glaublich wichtig war, mich in der Arbeitswelt zu Einfluss hat. Viele aus meinem Umfeld gehen
Cramer: Ja, du hast eine Karriere! Schreiben! 0% verwirklichen. auch nicht mehr wählen. Denen ist gar nicht be-
Von Lange: In Ordnung, ich korrigiere mich: Ich Reuter: Wir fünf an diesem Tisch sind ganz schön wusst, dass sie damit einer rechten Partei ihre
Sind Ihnen Sollten gemeinsame Werden gemeinsame
bin keine Vollzeit arbeitende Mutter. Früher hätte gemeinsame Mahlzeiten den Mahlzeiten den abgehoben. Was ist mit der Verkäuferin bei Edeka? Stimme geben.
ich gedacht, dass das nötig ist, um mich zu ver- Mahlzeiten wichtig? Menschen in Zukunft Menschen in Zukunft Empfindet die das als sinnlose oder sinnvolle Ar- ZEIT: Als social influencer, wie Sie sich selbst be-
wirklichen. Heute identifiziere ich mich nicht wichtig sein? wichtig sein? beit? Das hängt doch damit zusammen, ob es dem zeichnen, könnten Sie Ihre Follower ja aufklären.
mehr so stark mit meiner Arbeit. Meine intakte Unternehmen oder der Gemeinschaft gelingt, ihr Loew: Das ist richtig. Aber wie bei Religion gibt’s
Familie ist mir wichtiger. das Gefühl zu geben, dass sie zu einem gemeinen dann eben die Gefahr, dass ich meine Community
ZEIT: In der Vermächtnis-Studie kam heraus, dass Wohl beiträgt. Erst dann geht ein Mensch nach spalte und meine Karriere an die Wand fahre.
für die Deutschen aller Generationen Heirat als FESTE ARBEITSZEITEN Hause und hat das Gefühl, etwas Sinnvolles ge- Berben: Aushalten! Aushalten!
Ausdruck der Liebe nicht mehr wichtig ist. Frau 100%
macht zu haben. Sonst geht er nach Hause und ZEIT: Ist diese junge Generation zu feige?
Berben, Sie waren 30 Jahre mit einem Mann zu- besäuft sich. Oder prügelt sich mit seiner Frau. Reuter: Die politisch verantwortlichen Kreise ha-
sammen, haben aber auch nie geheiratet. Warum? Berben: Wenn ich in Wien bin oder in Italien, sehe ben nicht verstanden, dass Politik ein unverzicht-
Berben: Ein Relikt aus dieser 68er-Zeit. Ich dach- 75% ich immer, mit welcher Leidenschaft und mit wel- bares Element jeder Demokratie ist. Kontroversen
te: Bloß nicht abhängig machen von einem Mann. bildungsarm* chem Stolz die Kellner bedienen. In Deutschland werden nur noch für die nächsten Wahlen insze-
Und später hat es sich auch nicht mehr ergeben. 50% 18- bis 35-Jährige hat man das Gefühl, jemand macht hier etwas niert, und die wahren Probleme werden nicht an-
ZEIT: Und warum haben Sie, Frau von Lange, 66 Jahre und älter
unter seiner Würde. Aber wer hat dieses Gefühl gesprochen. Kein Wunder, dass die Jungen den-
gleich zweimal geheiratet? 25%
Uni-Abschluss vermittelt, dass das minderwertig ist, ein Kellner ken, dass ihnen niemand die Wahrheit sagt. Doch
Von Lange: Ganz grundsätzlich fand ich die Idee, zu sein, ein Schreiner, eine Verkäuferin? nun nähern wir uns einer Krise. Brauchen wir die,
*Kein Schulabschluss ohne berufliche Ausbildung, Hauptschulabschluss
mit jemandem mein Leben zu verbringen, schön. ohne berufliche Ausbildung und Realschulabschluss ohne berufliche Ausbildung
Von Lange: Ich denke dennoch, dass jeder seinen um aufzuwachen? Das wäre schrecklich.
Man verwechselt aber sehr schnell Form und In- 0% ureigenen Lebenssinn spüren muss. Wenn ich den Von Lange: Aus der eigenen Erfahrung heraus
halt. Die Form gibt einem die Sicherheit, dass Haben Sie eine Sollten die Werden die
Abwasch mache, macht das Sinn. Nicht weil dann weiß ich, dass es Zeiten im Leben gibt, in denen
man die Liebe jetzt gefunden hat. Und so habe ich Stelle mit festen Menschen in Menschen in die Küche sauber ist oder die Kinder sagen: Meine man eher über den Tellerrand schaut. Die Pubertät
mich beim ersten Mal durch die Form versucht, Arbeitszeiten? Zukunft feste Zukunft feste Mama kann toll abwaschen. Sondern weil ich in ist bestimmt nicht eine solche Zeit, da hat man
bis ich verstanden habe, dass die Form nicht auto- Arbeitszeiten haben? Arbeitszeiten haben? diesem Moment abwasche. Das ist mein Leben. damit zu tun, sich selbst zu verstehen, Beziehun-
matisch Verbundenheit bedeutet. Das zweite Mal Mal verkauft sich ein Buch nicht, mal schreibt gen zu verstehen, sich vom Elternhaus zu lösen. Es
habe ich geheiratet, als ich wusste, dass mein mein Kind eine Fünf in der Mathearbeit, mal sei denn, die Bewegung ist so groß wie in den
Mann und ich uns sehr verbunden sind und wir scheitert eine Ehe. Es hilft nichts zu sagen: Das 68ern. Das war sexy.
die Ehe als wunderschönes Symbol sehen, dass INFORMIERT SEIN ÜBER POLITIK/KULTUR darf in meinem Leben nicht passieren. Es passiert. Berben: Sexy! Ich bin wirklich gerne sexy, aber ich
wir uns gefunden haben. 100%
Berben: Für viele Menschen besteht doch leider mag den Begriff hier nicht. Der verleugnet die
ZEIT: Frau Cramer, warum sind Sie nicht ver- der Sinn ihrer Tätigkeit darin, die Miete zu bezah- Notwendigkeit, aus der die 68er entstanden sind.
heiratet? 66 Jahre und älter len. Das ist ja selten ein Wunschberuf. Wenn heute über diese Zeit geredet wird, geht es
Cramer: Ich habe einen sehr konkreten Lebens- 75% ZEIT: War das nicht auch bei Ihren ersten Rollen reflexartig um Terror oder den freiheitlichen Sex.
plan, schon immer gehabt. Dazu gehört, früh so, Frau Berben? Sie haben ja nicht als Star ange- Sie ist aber ganz anders entstanden.
Kinder zu bekommen und zu heiraten. Mein 50% fangen, der sich die Rollen aussuchen kann. ZEIT: Zum Beispiel in Kommunen. Genau so eine
Freund und ich sind aber beide sehr freiheitslie- 18- bis 35-Jährige Berben: Als junges Mädchen wollte ich Jura stu- würden wir als Gedankenexperiment gerne zum
bend, wir haben sehr lange in unterschiedlichen 25%
dieren. Ich habe mich als eine Art Robin Hood Ende des Gespräches mit Ihnen gründen. Eine
Wohnungen gewohnt, obwohl wir über sieben gesehen. Die Stimme der Stimmlosen, das Ohr Mehrgenerationen-WG. Doch bevor wir einzie-
Jahre zusammen sind, wir haben uns auch immer der Gehörlosen. Doch ich schaffte das Abitur hen, müssen wir ein paar Aufgaben klären: Wer
mal wieder getrennt und sind wieder zusammen- 0% nicht, jobbte ein bisschen rum, spielte ein paar putzt, wer kocht, wer kümmert sich um die Finan-
gekommen. Über Heirat haben wir gesprochen, Ist es Ihnen wichtig, Sollte es Menschen Wird es Menschen in Rollen und wurde plötzlich von Uwe Nettel- zen? Wem vertrauen Sie Ihre Sorgen an? Wer küm-
es ist aber kein großes Thema gewesen. Uns hat es über Politik und Kultur in Zukunft wichtig sein, Zukunft wichtig sein, beck, dem damaligen Kritikerpapst der ZEIT, mert sich ums Baby, und wer hilft den Älteren?
geholfen zu wissen: Man kann immer noch was informiert zu sein? sich über Politik und sich über Politik und entdeckt. Jahrelang habe ich mir gesagt: Ich drehe, Cramer: Müssen wir die Aufgaben selbst machen?
anderes machen. Auch wenn wir nun natürlich Kultur zu informieren? Kultur zu informieren? weil mein Kind da ist und ich Geld brauche, aber ZEIT: Outsourcen gibt es nicht.
einen viel engeren Bund haben mit dem Kind. dann möchte ich studieren, einen wirklichen Be- Reuter: Cheng macht die Finanzen.
Wir werden unser Leben lang die Eltern bleiben. ruf erlernen. Loew: Nee, definitiv nicht.
Ich will gar nicht ausbüxen, aber ich fühle mich EIGENE KINDER ZEIT: Schauspielern ist kein richtiger Beruf? Reuter: Okay, dann Lea, die Unternehmerin.
heute frei ohne Heirat. Berben: Das Filmen fiel mir so leicht, deshalb Cramer: Ich würde mich schon ganz gerne um
ZEIT: Herr Loew, wollen Sie heiraten? 100% dachte ich, das kann keine richtige Arbeit sein. mein Baby kümmern. Aber wenn ich schon dabei
Loew: Ich plane das nicht. Wenn sich zwei Men- Eine faule, faule Sau war ich. Ich habe lange nicht wäre, kann ich mich auch den Älteren widmen.
schen finden, können sie heiraten, das ist doch 75% für mich in Anspruch genommen, dass meine Ar- Berben: Ich würde unheimlich gerne für euch ko-
schön. Aber es muss nicht passieren. Ich achte vor 66 Jahre und älter beit sinnvoll ist. Menschen zu unterhalten, ihnen chen. Und ich habe jederzeit ein offenes Ohr und
allem auf mich selbst, ich bin immer positiv. Wenn 50%
Fragen zu stellen, ihnen Themen zu geben, über Herz, wenn mir jemand etwas erzählen möchte.
es kommt, dann kommt es. die man lachen, weinen, reden kann. Es hat ge- Cramer: Oh, und Alexa, du wärst sicher auch toll
18- bis 35-Jährige
ZEIT: Herr Loew ist aus der Generation YouTube, dauert, bis ich darin meine Aufgabe gesehen habe. mit dem Baby.
wenn man so will. Hat irgendjemand am Tisch 25% ZEIT: Sie sind 65, warum arbeiten Sie weiter? Von Lange: Kümmere ich mich gerne drum. Ich
verstanden, was er beruflich macht? Frau von Lange, Loew: Weil es kein Job ist. Sondern Arbeit. Ein kann aber auch gut mit Finanzen umgehen.
was ist Snapchat? 0% Teil des Lebens. ZEIT: Und wer putzt?
Von Lange: Hmmmm ... Berben: Genau. Ich habe gerade meinen Renten- Von Lange: Ich putze gerne.
ZEIT: Und Instagram? Ist es Ihnen Sollte es allen Wird es allen bescheid bekommen, wenig für 45 Jahre Arbeit. Loew: Ich auch.
wichtig, eigene Menschen in Zukunft Menschen in Zukunft
Berben: Ich möchte das lieber nicht erklären müs- Ich habe genug verdient, um aufhören zu kön- Reuter: Dann sind wir schon zu dritt.
Kinder zu haben? wichtig sein, eigene wichtig sein, eigene
sen. Dann feixt mein Sohn. Er sagt mir immer wie- Kinder zu haben? Kinder zu haben? nen. Aber die Schauspielerei gehört einfach zu Cramer: Sie würden auch putzen?
der, wie wichtig die sozialen Medien sind. meinem Leben, ich mache das so leidenschaft- Reuter: Natürlich!
Reuter: Ich habe das alles ausprobiert, etwa Face- lich, es ist ein gesunder Beruf. Du gehst in so Berben: Ich könnte auch putzen, aber ich kann
book. Aber ich finde es zu blöd, meine Zeit dafür viele unterschiedliche Menschen und Figuren nicht gut bügeln.
zu verschwenden. Wobei jetzt, nachdem ich einem das vormacht? So geht doch die Indivi- Loew: Aber wenn wir hier zusammensitzen, da sagt und versuchst Schnittstellen zu finden. Das hat Loew: Ich glaube ja, dass wir einfach alle alles gut
Cheng kennengelernt habe, werde ich mal You- dualität verloren! man vielleicht bestimmte Dinge nicht, aus Res- mir den Psychiater erspart, den ich ansonsten können. Deshalb müssen wir die Aufgaben nicht
Tube ausprobieren. Reuter: Iris, man kann sagen: »Wie schrecklich.« pekt. Damit meine ich nicht, dass ich nicht sage, ziemlich sicher nötig hätte. fest verteilen.
Von Lange: Mein großer Sohn kennt Cheng. Es Aber man kann auch sagen: »So ist es.« was ich denke. Aber anonym wäre es einfacher. ZEIT: Einer der wenigen Unterschiede der Gene- Reuter: Sehr gut, sehr gut.
gab sogar mal eine Phase, in der er wie ein You- ZEIT: Herr Reuter, Sie mussten als Vorstandschef ZEIT: Werden Sie selbst denn auch beschimpft? rationen besteht laut der Vermächtnis-Studie da- Cramer: Ja! Jede Woche alles umschmeißen!
Tuber geredet hat, und eine Phase, in der er Dinge von Daimler-Benz eine Krise bewältigen, die Loew: Nein, bei meinen Videos sind weniger als rin, dass die 68er viel mehr Interesse an Politik und Berben: Als Team arbeiten!
nachgemacht hat, die er auf YouTube gesehen 80 000 Menschen den Arbeitsplatz kostete. Der ein Prozent der Bewertungen und Kommentare Kultur hatten als alle anderen. ZEIT: Dann wird es jetzt so gemacht.
hatte, zum Beispiel: Zimt essen. Jetzt sammelt er Posten war sicher mehr als ein Job. Fehlt Ihnen die negativ. Das liegt auch daran, dass ich mich nicht Berben: Ja, wir waren die Generation, die immer
Sneaker und guckt sich auf YouTube an, wie man Verantwortung heute? mit den Themen beschäftige, die Angriffsflächen auf die Straße ging. Aber ich verstehe nicht, wa- Das Gespräch führten Rudi Novotny und
die Schuhe richtig pflegt oder selbst gestaltet. Reuter: Nein, ich konnte entspannt loslassen. Ich bieten, etwa Politik. Weil ich weiß, das würde mei- rum heute keiner von den Jungen aufschreit. Mei- Leonie Seifert
Reuter: Der sammelt Sneaker? hatte immer einen Ausgleich. Den brauchte ich ne Community spalten. ner Meinung nach bricht die Gesellschaft gerade
Von Lange: Zumindest so weit er mit seinem Ta- auch. Ich weiß, welche Konsequenzen eine Kündi- Cramer: Man muss nicht in die Politik gehen. Ich auseinander. Wenn man die Bilder von Flüchtlin-
schengeld kommt. gung für eine Familie haben kann. Die Frage da- biete die Angriffsfläche. Einfach nur weil ich jung, gen sieht und die Kommentare liest und das Pro-
Loew: Aber es ist doch interessant zu sehen, dass hinter ist aber, wie wir als Menschen mit Proble- blond und eine Frau bin und im Erotikbereich ar- gramm der AfD, das keines ist, und dann sagt de- HINTER DER GESCHICHTE
YouTube die Plattform ist, wo man am schnells- men umgehen. Wirst du damit fertig, dass du beite. Am Anfang war ich tief getroffen von den ren Vorsitzende, dass man auf Menschen schießen
ten Informationen erhalten kann. Man kann da selbst Fehler gemacht hast? Fühlst du dich einge- Kommentaren unter den Artikeln über mich. darf! Ich kann das fast nicht beschreiben, was wir Leitfrage: Wie unterscheiden sich die
vieles lernen, wofür man früher eine Ausbildung bunden in die Gemeinschaft? Dann kommt man Berben: Mein Büro hält die Hasskommentare von hier erleben. Generationen? Was halten die Jüngeren
brauchte. besser zurecht im Leben, auch ich. mir fern. Neulich hat sich jemand als Iris Berben Loew: Es gibt in der Gesellschaft einfach ein von den Älteren – und umgekehrt?
ZEIT: Was also ist Ihr Job, Herr Loew? ZEIT: Laut unserer Vermächtnis-Studie ist den ausgegeben. Das habe ich gemerkt, als mir Kolle- Grundgefühl von Unzufriedenheit. Sobald die Dauer: Vier Stunden inklusive Foto-
Berben: Da muss ich einmal fragen: Sagen Sie Job Deutschen das Wir-Gefühl besonders wichtig ... gen bei Dreharbeiten um den Hals gefallen sind, Unzufriedenen sich verstanden fühlen, lassen sie shooting. Die Organisation dauerte
oder Arbeit? Also, ich habe keinen Job, darunter Reuter: Das hätte ich nicht gedacht! Ich will nicht weil ich ihnen immer so unendlich nett und sich von Bewegungen mitziehen und fühlen sich länger: Finde fünf spannende Menschen
verstehe ich etwas Vorübergehendes. Ich arbeite! generalisieren. Aber wer ist denn heute noch so schnell antworten würde. Aber ich bin das nicht, in deren Gemeinschaft wohl. aus fünf Generationen, die alle am selben
Loew: Ich drehe Dokumentarfilme und mache höflich und hilft einer Frau in ihren Mantel? ich nutze keine sozialen Medien. Berben: Aber wenn Häuser brennen und Men- Tag Lust haben, in Berlin zu diskutieren.
auch gemeinnützige Dinge. Das ist meine Arbeit. Loew: Ich! Loew: Du solltest dem auf jeden Fall nachgehen schen verletzt werden, dann kann man doch nicht Einen Monat dauerte die Suche.
Gerade kümmere ich mich auf Madagaskar um Berben: Mein Sohn auch! und die betreffenden Seiten blockieren. Ich kann dastehen und sagen, dass man sich wohlfühlt? Herausforderung: Die fünf Gesprächs-
die Regenwälder. Dafür nutze ich meine Reich- Cramer: Tür aufhalten, Stuhl hinstellen – darüber verstehen, dass du da nicht präsent sein möchtest, Reuter: Es geht hier aber doch viel eher um das teilnehmer zum Streiten zu bringen.
weite auf Twitter, Facebook, YouTube, Insta- freue ich mich riesig. aber es wäre wichtig, diese Basis zu schaffen. Gerade politische Desinteresse der Generation Y, warum Dachten wir. Aber es ging gut los: Edzard
gram, Snapchat. Von Lange: Ich finde das fantastisch mit dem Wir- wenn du medial präsent sein musst. Wofür auch die nichts dagegen tut. Das ist einfach zu erklären. Reuter erklärte Cheng Loew schon vor
ZEIT: Wie groß ist Ihre Reichweite? Gefühl. Nur im Internet gibt es teilweise noch immer das letzten Endes gut ist. Lange Zeit sind viele Menschen in dem Gefühl dem Gespräch, dass dessen Tattoos im
Loew: Auf YouTube erreiche ich monatlich drei diese Kultur, sich verletzend zu äußern. Da fehlt ZEIT: Was gefällt Ihnen daran nicht, Frau Berben? groß geworden, dass es uns gut geht und sogar je- Alter kein Quell der Freude mehr sind.
Millionen Menschen. Es hängt natürlich auch offenbar noch das Wir-Gefühl, also dass da mit Als Schauspielerin arbeiten Sie doch auch damit, den Tag noch besser. Und nun kommt plötzlich
vom Thema ab. Pro Video habe ich etwa 120 000 einem echten Menschen kommuniziert wird. Nur Bilder zu erzeugen, damit Magazine bestimmte eine völlig unerwartete und noch nie vorher erleb-
bis 250 000 Views. weil die Anonymität einen schützt. Das ist für Geschichten schreiben. te Krise. Das trifft auf Leute, die sich nie engagiert,
ZEIT: Sie machen auch Vlogs, so nennt man Vi- mich ein Widerspruch. Berben: Da geht es um die Vermarktung meiner nie für Politik interessiert haben. Man kann über
deoblogs, und dokumentieren dafür Ihren Alltag Loew: Man muss das einordnen können. Das Arbeit, und das ist Teil des Berufes. Ich inszeniere die 68er sagen, was man will. Die haben häufig CHANCEN per Mail
mit einer Kamera. Was sieht man da? Schöne an dem neuen Medium ist aber ja, dass alle mich nicht als Privatmensch. Und wenn Sie die falsche Lösungen gefunden. Aber die haben sich
Loew: Man kann an meinem Leben teilnehmen, miteinander diskutieren und streiten können. Das Inszenierung auf dem roten Teppich meinen – das gestritten und engagiert und diskutiert. Was tut sich in der Hochschulpolitik? Was
ja. Ich bin zum Beispiel gerade umgezogen und ist hundertprozentig ehrlich, durch die Anonymi- ist part of the business. Berben: Wir waren manchmal einfach nur dagegen. bewegt die Scientific Community? Antworten
gebe immer neue Updates, wie so ein Umzug tät haben die Leute keine Hemmschwelle. ZEIT: Das klingt, als würden Sie für Ihre Arbeit Reuter: Aber trotzdem engagiert. Das ist verloren gibt es im Newsletter CHANCEN Brief,
funktioniert, welche Möbel ich mir anschaue. Berben: Schrecklich! Ich will doch meine Feinde Opfer bringen. So geht es vielen. Unsere Studie hat gegangen durch die Phase, in der alle nur interes- jeden Montag und Donnerstag. Zu abonnieren
Berben: Dafür braucht man jetzt jemanden, der kennen. ergeben, dass für die Deutschen Arbeit über allem sierte, wohin der nächste Urlaub geht. Deshalb unter www.zeit.de/chancen
68 CHANCEN 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1
IT & TELEKOMMUNIKATION

Fotos (v. l.): Lior Mizrahi/Getty Images; Jörg Brüggemann/Ostkreuz (Ausschnitt)


Wadi
vs. Allee #

Berlin und Tel Aviv kämpfen


um den Platz als führende
Start-up-Metropole außerhalb
der USA. Was heißt
das für Berufseinsteiger?
VON YARDEN SKOP

Start-ups aus Berlin gelten als perfektionistisch,


die aus Tel Aviv als originell. Viele Israelis bekommen
ihr Know-how bei Spezialeinheiten des Militärs

A
ls der israelische Theaterregisseur wickelten die App Splash, mit der Nutzer 360-Grad- beiden Städten unterwegs sind. Und sie signalisie- firmen sind in Israel nationale Berühmtheiten. sche Gründerszene mit dem Weltkonzern zusam-
Michael Ronen 2012 von Tel Videos aufnehmen können, um virtuelle Umgebungen ren, dass der Kampf darum, wer die führende Einhörner werden sie genannt, wie im Silicon menbringt. Die Räume sind großzügig: Das Erd-
Aviv wieder nach Berlin zog, tat zu erzeugen: Man setzt sich eine Datenbrille auf und Start-up-Metropole außerhalb der USA ist, voll ent- Valley. Sie platzierten Tel Aviv auf der Weltkarte geschoss, in dem auch Meetings und Versamm-
er das nicht nur, um hier, in einer fühlt sich wie auf dem Alexanderplatz. »Splash eignet brannt ist: Wadi versus Allee. Wenn sich junge der Digitaltechnik, als Berlin gerade erst die neuen lungen stattfinden, erinnert an ein typisches Berli-
der Theatermetropolen Europas, sich für immersiven Journalismus ebenso wie für Gründer wie Michael Ronen nun für Berlin statt Möglichkeiten entdeckte. ner Café, während sich im weitläufigen Ober-
Stücke zu inszenieren. Auch dass Kurzfilme auf Demonstrationen oder auf Rock- für Tel Aviv entscheiden – zeigt das dann bereits, Als Grund für den Erfolg der israelischen geschoss die Schreibtische der von Hub:Raum ge-
seine Schwester Yael Ronen Konzerten«, sagt Ronen. dass Silicon Allee mittlerweile das bessere Öko- Hightech-Industrie gilt die Ausbildung, die viele förderten Firmen aneinanderreihen. Sie hören auf
ebenfalls in Berlin lebt und Regie führt, hätte nicht Ronen hat bereits European Pioneers überzeugt, system für Start-ups ist als Silicon Wadi? ihrer Gründer in der israelischen Armee beka- so klangvolle Namen wie Vigour.io, Salonmeister,
ausgereicht, ihn zurückzulocken. Michael Ronen bei Splash zu investieren – European Pioneers ist der In den vergangenen Jahren rangierte Tel Aviv noch men. In geheimen Spezialeinheiten erhielten sie Contiamo oder Stylemarks.
kehrte vor allem nach Berlin zurück, weil er hier ein sogenannte Accelarator der EU-Kommission, mit dem auf Platz 2 der Technik-Hochburgen in aller Welt. Im das Wissen, das sie dann im zivilen Leben sofort Der Unterschied zu Tel Aviv fällt gleich auf. Die
Start-up gründen wollte. In Tel Aviv hatte er zuvor die Europäische Union Start-ups Flügel verleihen will. Compass-Ranking rutschte die Stadt 2015 auf Platz einsetzten – und sich in die Unternehmensgrün- Start-up-Unternehmer in Berlin erfinden kom-
einen Kurs für digitales Unternehmertum an der Tel Nun sucht Ronen auch im Silicon Valley nach Geld- 5 ab, auch wenn sie immer noch Spitzenreiter außer- dung stürzten. merzielle Produkte für den Durchschnittskonsu-
Aviv University belegt. »Mich beschäftigte immer gebern – und wirbt dabei stark mit dem Standort: »Wir halb der USA war. Berlin liegt dort auf Platz 9. Doch Diese Arbeitswut steht ganz im Gegensatz zum menten. Das Ziel der Gründer: schnell Geld ver-
mehr die Frage, wie das Internet auch ein Werkzeug argumentieren bei Investoren immer, dass Berlin bil- blickt man auf den Wachstumsfaktor, den Indikator, entspannten Eindruck, den Tel Aviv auf seine Be- dienen. In Tel Aviv ist das anders. »Das mindset der
dessen sein könnte, was ich im Theater mache – für liger ist und dass sie davon profitieren werden.« der Neugründungen und Investitionen bündelt, sucher macht: mit seinem kilometerlangen Stadt- Gründer ist international, das technische Niveau
Erzählformen und Geschichten«, sagt Ronen. Er Ronen entschied sich, Splash in Berlin aufzu- kommt Berlin auf 10 von 10 möglichen Punkten. Tel strand, dem guten Wetter, den vielen Clubs. Hin- viel höher als hier in Deutschland«, sagt Menne-
sitzt in typischer Start-up-Uniform – Jeans, bunte bauen, obwohl Tel Aviv eine lebendige Start-up- Aviv schafft nur noch 2,9. sichtlich ihrer Work-Life-Balance schneiden die king, der selbst mit Israelis zusammengearbeitet hat.
Sneakers – im Maxim Gorki Theater. Dort insze- Szene hat. Die israelische Metropole wird gerne als Tel Aviv war im Laufe der 1990er Jahre zum Bewohner der Stadt allerdings schlecht ab. Während »Das liegt teils an der Hochschulausbildung, teils
niert Ronen und hat im zweiten Stock eines der Ge- »Silicon Wadi« bezeichnet, in Anlehnung an das Hightech-Wunder geworden. Einige der erfolg- man in Berlin im Schnitt pro Jahr 1769 Stunden an den technischen Spezialeinheiten der israelischen
bäude das Hauptquartier seines Internet-Start-ups kalifornische Vorbild Silicon Valley. Doch auch für reichsten IT-Firmen weltweit sind dort entstanden: arbeitet, sind es in Tel Aviv 2038 – sechs Stunden Armee wie der Einheit 8200 oder Mamram.« Es
Splash errichtet. die deutsche Hauptstadt hat sich bereits ein Ehren- Check Point etwa, das Start-up für digitale Sicher- mehr pro Arbeitswoche. kommt nicht oft vor, dass ein leitender Manager
Ronen startete das Unternehmen mit zwei deut- titel etabliert: »Silicon Allee«. Die beiden Spitz- heit, das die Firewall erfand. Oder die Navigations- Berlin gilt daher im Ausland als sehr relaxed. Die eines deutschen Unternehmens die Namen zweier
schen Partnern, der eine studierter Philosoph, der namen sind natürlich Marketing, aber sie zeigen App Waze, für die Google 2013 mehr als eine Mil- niedrigen Lebenshaltungskosten drosseln das Tem- israelischer Geheimeinheiten kennt, über die man
andere Spezialist für künstliche Intelligenz. Sie ent- auch die Ambitionen, mit denen Gründer in den liarde Dollar hinlegte. Die Gründer dieser Erfolgs- po, mit dem Miete und Essen verdient werden selbst in Israel lange nicht einmal sprechen durfte.
müssen, die Konkurrenz zwischen den Start-ups Inzwischen sind sie eigene Marken und versorgen
ANZEIGE um Mitarbeiter und Investoren scheint Gründern die Hightech-Szene weltweit mit neuen Talenten.
wie Michael Ronen geringer zu sein als in Tel Aviv. Mit 18 Jahren lernen die Neuzugänge beider Ein-
Bislang sind die Deutschen in der IT-Welt vor heiten, komplexe Technologien zu bedienen; sie
allem bekannt dafür, im E-Commerce erfolg- entwickeln Geräte, die Israel im Kampf mit seinen
reich zu sein – sie verkaufen maßgeschneiderte Gegnern nützen sollen, Cybersecurity etwa oder
Müslis oder versenden Schuhe. »Alles wird digi- Drohnentechnologie, heißt es. »In der Armee wer-
talisiert, und man findet immer ein deutsches den sie darauf trainiert, Probleme trotz knapper
Start-up, das die passende App liefert«, sagt der Ressourcen zu lösen«, sagt Menneking.
Israeli Eran Davidson, der mehrere Investitions- Zwischen israelischen und deutschen Start-
fonds in Berlin gegründet hat. Auf dem kleinen up-Unternehmern bestehe eine Reihe von Kultur-
israelischen Markt würde niemand in solche Fir- unterschieden. Menneking erinnert sich daran,
men investieren. Aber bei einem Markt von 80 wie ein israelischer Gründer während einer Prä-
Millionen Menschen, sagt Davidson, winke ein sentation vor ranghohen deutschen Managern
großes Geschäft. seine Sonnenbrille auf dem Kopf trug. »Die
Davidson zog mit seiner Familie bereits 2005 dachten, der kommt gerade aus dem Urlaub.«
an die Spree. Er startete den Wagniskapital- Für Hub:Raum-Gründer Peter Borchers spielt
Fonds von SAP-Mitgründer Hasso Plattner und etwas anderes eine noch größere Rolle: »Dass es
legte 2014 schließlich seinen eigenen Fonds auf, in Israel eine respektable Entscheidung ist, eine
Davidson Technology Growth Debt. Es war der Firma zu gründen.« In Deutschland gingen
erste deutsche Fonds, der schon etwas entwickel- junge Ingenieure lieber zu den Konzernen. »In
teren europäischen Hightech-Firmen Geld lieh. Deutschland sind die Einstiegsgehälter bei
Für Davidson ergänzen sich die Märkte in Berlin BMW oder Siemens sehr hoch, doch es geht
und Tel Aviv: »Die israelischen Firmen sind in- nicht nur ums Gehalt – es ist der Unternehmer-
novativer und origineller und nehmen große Ri- geist, der in Israel so hoch angesehen ist.« Men-
siken auf sich. Sie suchen nach disruptiven neking nennt noch einen Nachteil des deutschen
Technologien, die den ganzen Markt verändern.« Marktes: Hier sei es schwieriger, in einer späte-
Für deutsche Start-ups sei hingehen die perfekte ren Phase eines Start-ups eine Folgefinanzierung
Umsetzung einer Sache ein bedeutender Wert. zu bekommen. Um das große Ding zu machen,
Ein Weg, den Innovationsgeist von Tel Aviv müssten sich Gründer immer noch in Richtung
nach Berlin zu bringen, sollen gemeinsame Projek- Silicon Valley bewegen.
te zwischen Unternehmen beider Städte sein. Die Finanzierungsmöglichkeiten seien aber nicht
Deutsche Telekom hat das bereits erkannt: Sie er- alles, sagt Splash-Gründer Michael Ronen. »Je-
öffnete ein Büro in Tel Aviv, um vielversprechende der, den ich in Tel Aviv kennengelernt habe,
Start-ups zu finden. »Für mich ist die Vermählung hatte ein Start-up oder zumindest eine technische
von Deutschland und Tel Aviv eine Hochzeit im Idee. Aber ich hatte das Gefühl, dass die Leute
Himmel«, sagt Axel Menneking, Investment-Ma- dort nicht zusammenarbeiten wollen. Berlin ist
nager des Telekom-Accelerators Hub:Raum. da angenehmer: Auch wenn man als Gründer
Deutschland sei als größte Wirtschaft in Europa überall auf der Welt 24/7 arbeiten muss, hilft es
ideal für Gründer auf der Suche nach neuen Märk- doch, eine unterstützende Umgebung zu haben
ten. Gleichzeitig könne Deutschland mit den Start- wie in Berlin.« Ein weiterer Vorteil: Berlin ist di-
up-Unternehmern aus aller Welt den nächsten verser. In seiner Firma arbeiten ein Israeli, ein
Schritt in der digitalen Revolution gehen. Wessi und ein Ossi, ein Ukrainer, der vor dem
Menneking sitzt mit Peter Borchers, dem Grün- Bürgerkrieg geflohen ist, ein Iraner aus Teheran.
der und Leiter des Hub:Raums, im gemeinsamen In Israel wäre so ein Team sogar für eine disrup-
Kreuzberger Büro. Obwohl sich in den vergangenen tive Industrie zu disruptiv gewesen.
drei Jahren etliche Business-Hubs in Berlin gebildet
haben, sticht Hub:Raum hervor, weil es die deut- Übersetzung aus dem Englischen: Niels Boeing

#
Die Welt von Telekommunikation »d!conomy«, erweitert um den Zusatz
und IT versammelt sich in Hannover: »join – create – succeed«. Forschungs-
Vom 14. bis zum 18. März findet die institute präsentieren ihren Blick auf
Auf der Cebit statt, die weltgrößte Messe für die digitale Zukunft; App-Entwickler,
Informationstechnik. Wie im Start-ups und Wagniskapitalgeber
Cebit vergangenen Jahr lautet das Motto beraten über gemeinsame Projekte.
70 CHANCEN 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1
IT & TELEKOMMUNIKATION

ZWISCHENFRAGE
#
Wo gibt es Jobs für die
vielen Postdoktoranden?
Ein Miau für die Informatik
Die FHs brauchen dringend neue Viele Unternehmen suchen dringend IT-Nachwuchs. Nun sollen schon Achtklässler lernen,
Professoren, sagt BERND REISSERT Apps zu programmieren. Ist das sinnvoll? VON DEBOR AH STEINBORN

D
E
ie Karriere ist für viele Nachwuchs- melins Katze miaut nicht. Mit- Die Stadtteilschule am Heidberg gehört zu den
wissenschaftler an den Universitäten ten im Klassenraum tippt Eme- Innovatoren unter den deutschen Schulen. »Me-
oft beendet, bevor sie begonnen hat: lin Ant mehrmals auf das Kat- dien« ist einer von sechs Schwerpunkten an der
Nur ein winziger Teil der Postdoktoranden hat zenbild auf ihrem Smartphone. Schule. Integriert in diesen Schwerpunkt ist seit
eine Chance auf eine Professur an einer Uni. Eigentlich sollte die Katze nun September das Angebot von »App Camps«. »Die
Die meisten übersehen dabei, dass von den einen Laut von sich geben. Doch Schüler kommen mit vielen Fragen zum Unter-
bestehenden Professuren nur 53 Prozent Uni- nichts passiert. Also bittet die richt, sie sind interessiert, das Thema spricht sie
Professuren sind. 41 Prozent der Professoren 13-Jährige ihren Lehrer kurz um Hilfe. Dann an«, sagt der Fachlehrer Michael Hopfensitz.
lehren und forschen an Fachhochschulen – schiebt sie die riesige Ray-Ban-Brille wieder etwas Wie können aber Jugendliche ohne technische
diese Stellen werden oft vergessen, weil sie den höher auf die Nase und versucht es noch einmal. Vorkenntnisse innerhalb von einigen Stunden
Nachwuchswissenschaftlern nicht unmittelbar Diesmal tönt ein Miau aus dem Smartphone. Apps entwickeln? Dem Massachusetts Institute of
offenstehen; neben einem Doktortitel müssen Emelins erste selbst entwickelte App ist ein Er- Technology sei Dank. Von dort kommt die frei
Bewerber drei Jahre Berufstätigkeit außerhalb folg. Damit hat sie die allererste Aufgabe des verfügbare Software mit Namen App-Inventor.
der Hochschule vorweisen. Das bedeutet aber heutigen Schulunterrichts gemeistert. Vorkenntnisse in Programmieren braucht man
auch: Fachhochschulen bieten Nachwuchs- Spiele-Apps in der Schule? Für manche mag das nicht, nur Englischkenntnisse. Das allerdings ist
wissenschaftlern Alternativen zu verstopften absurd klingen. Doch seit September entwickeln eine Hürde. »Manchmal muss ich einfach raten
universitären Karrierepfaden, wenn sie bereit 55 Schüler der Jahrgänge 8 bis 10 an der Stadt- und schauen, ob es richtig ist, denn ich kenne
sind, eine Zeit lang außerhalb der Wissen- teilschule am Heidberg in Hamburg-Langenhorn nicht alle Wörter«, sagt Issa Youssofzai, einer der
schaft zu arbeiten. ihre eigenen Apps als Teil des Unterrichts. In einem Neuntklässler in dem Wahlpflichtkurs am Heid-
Die Möglichkeit, nach einer Phase in der neuen, für Deutschland noch ungewöhnlichen berg. »Aber egal, es macht Spaß.« Dann läuft er
Praxis auf einer FH-Professur wieder in die Wahlpflichtkurs lernen die Schüler jeden Mittwoch zum offenen Fenster, damit sein reichlich ram-
Wissenschaft zurückzukehren, ist einem großen auf diese Weise die Grundlagen des Programmie- poniertes Smartphone ein WLAN-Netz finden
Teil der Nachwuchswissenschaftler nicht be- rens und entwickeln ein Verständnis für die Hin- kann. Er möchte die App zum Zeichnen, die er
wusst. Das ist umso erstaunlicher, da Fachhoch- tergründe jener Apps auf Smartphones und Tablets, heute entwickelt hat, sofort auf dem kleinen
schulen in vielen Gebieten dringend nach Per- die für ihre Altersgruppe zum Alltag gehören. Und Bildschirm sehen.
sonal suchen. Notwendig ist deshalb eine Infor- sie lernen, dass Softwareentwicklung auch ein Beruf

J
mationskampagne von Bund und Ländern, die für sie sein könnte. ede Unterrichtsstunde beginnt damit,
den Weg auf eine FH-Professur bekannter Ein gemeinnütziges Unternehmen, das Schüler dass ein kurzes Startvideo auf Deutsch
macht. Auch mehr gemeinsame Promotions- fürs Programmieren begeistern will, macht diese erklärt, um welche App es heute geht und
kollegs von Unis und FHs könnten dafür sorgen. Erfahrung möglich. Seit Anfang des Schuljahrs läuft wie man sie programmiert. Dann können
Auch brauchen wir ein Programm, das Nach- »App Camps« an über hundert Gymnasien und die Schüler im eigenen Tempo mithilfe
wuchswissenschaftlern die Rückkehr in die Wis- Berufsschulen, Fachhochschulen und Universitäten von Lernkarten arbeiten. Am Ende der Unter-
senschaft dadurch erleichtert, dass sie während in Deutschland und Österreich. Oft bezahlen pri- richtsstunde zeigen sie ihre Ergebnisse, und ein
ihrer Zeit im Unternehmen an einer Fachhoch- vate Firmen die Kurse. Noch läuft längst nicht alles kurzes Abschlussvideo erklärt, welche Prinzipien
schule lehren und forschen – ein bis zwei Tage pro nach Plan. Aber die Zahl der Schulen, die mit- des Programmierens heute gelernt wurden.
Woche. Idealerweise hängt die Teilzeit-Tätigkeit machen wollen, steigt und steigt. Die erste App, die alle entwickeln, um App-In-
an der Hochschule mit dem Hauptjob zusammen Wenn es um Medien und Informatik geht, ventor kennenzulernen, ist die Katzen-App. Danach
und ist deshalb im Interesse des Arbeitgebers. hinken deutsche Schulen im internationalen entwickeln die Schüler eine Wahrheitskugel, die
Ob solche Programme nun Teilzeit-Gast- zu denken Vergleich hinterher. Nur vereinzelt gibt es Infor- alle Arten von Fragen mit lustigen, selbst ausgedach-
dozenturen, Shared Professorships oder Nach- gi tal matik als Pflichtfach, Neue Medien sind im Un- ten Sätzen beantwortet. Am Heidberg sind das
di
wuchsprofessuren heißen: Die Förderung solcher terricht selten Thema, meist fehlen Computer Kommentare wie: »Weiß ich doch gar nicht!« –
n,
ne

Modelle sollte Teil des geplanten bundesweiten und WLAN-Verbindungen – und viele Lehrer »Frag mal deinen Lehrer.« Oder: »Wenn Schweine
s o l l te n l e r

Pakts für den wissenschaftlichen Nachwuchs wollen sie auch gar nicht. Manche haben Angst, fliegen können.« Immer komplexer werden die
werden. Sie würde zeigen, dass der Weg auf eine das Internet könnte sie überfordern, andere leh- Apps, am Ende werden gar ein eigenes Quiz und
Professur an einer Fachhochschule kein Neben- nen es ab, dass private Firmen sich mit Spenden ein Computerspiel programmiert.
üle r

weg ist, sondern ein qualitativ und quantitativ in der Schule einmischen. Schließlich wird die Die Kosten für das Projekt – 290 Euro für
bedeutsames Element einer Gesamtstrategie, die Einmischung der Wirtschaft eine Klassenlizenz oder
Sch

verstopfte Karrierewege öffnet und den Fach- bei Ökonomie- und Tech- 1000 Euro für eine Schul-
Illustration: Sébastien Thibault

hochschulen nützt – und damit dem gesamten nikunterricht derzeit kontro- Würde ein Pflichtfach lizenz – können nicht alle
Wissenschaftsstandort Deutschland. vers diskutiert. Informatik in den Schulen tragen, Sponsoren
Die Macher von »App helfen aus. Damit ist es
Bernd Reissert ist Präsident der Hochschule für Camps« kennen die Debat- Schulen den Standort aber nicht überall getan.
Wirtschaft und Recht Berlin und Vorsitzender der te. Dennoch möchten sie Deutschland retten? »Die Infrastruktur fehlt«,
Allianz »UAS7«, in der sich sieben große Fachhoch- die digitale Lücke im deut- sagt Lehrer Hopfensitz. Er
schulen zusammengeschlossen haben schen Schulsystem schlie- trägt ein sperriges WLAN-
ßen. Bloß – schließt sie sich, weil Schüler lernen, Gerät von Klassenzimmer zu Klassenzimmer,
Apps zu programmieren? um die Internetverbindung für »App Camps« zu
Für die Bundesrepublik wäre das schon mal ein ermöglichen. Das Gerät hat er selber gekauft, ge-
Fortschritt. Im Vergleich mit 20 anderen Ländern braucht für 40 Euro auf eBay.
kommen Computer im Unterricht nirgendwo Nicht nur in der Infrastruktur hängt das deut-
seltener zum Einsatz als in Deutschland. Das war sche Schulsystem weit hinter anderen Ländern her.
eines der Ergebnisse der vom Bundesbildungsminis- Dort hat man längst nationale Computer-Lehr-
terium geförderten internationalen ICILS-Studie, pläne entwickelt, die USA und Indien sind Vor-
die 2014 veröffentlicht wurde. Nur neun Prozent reiter. Südkorea, Israel und Neuseeland haben
der deutschen Lehrer nutzen täglich PCs, Laptops landesweite Schulcurricula für Information und
oder Tablets im Unterricht. Fast 30 Prozent der Technologie. Und estnische Erstklässler müssen
Achtklässler hierzulande haben allenfalls rudimen- programmieren, ob sie wollen oder nicht. In
täre Computerkenntnisse. Und deutsche Lehrer Deutschland dagegen baut sich jedes Bundesland
sind laut ICILS nicht nur schlechter ausgebildet im seinen Lehrplan zusammen, mal mit mehr Infor-
Umgang mit Computertechnologie, sondern auch matik, mal mit weniger. Braucht Deutschland also
deutlich medienskeptischer als ihre Kollegen in einfach überall ein Pflichtfach Informatik? Richard
anderen Industrieländern. Heinen, Mediendidaktiker an der Uni Duisburg,
Grundlegende Computerkenntnisse in der widerspricht. »Wir müssen in Deutschland viel
jungen Generation seien aber nötig, damit eine übergreifender über Kompetenzen nachdenken, die
Volkswirtschaft wettbewerbsfähig bleibe, beto- wir auch mit digitalen Medien fördern wollen.«
nen die ICILS-Experten. Und sie sorgen sich Deutschland soll also erst über Lernziele diskutieren
nicht nur um Deutschland. Ganz Europa drohe und dann die Inhalte festlegen.
ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften für In der Realität wird man beides parallel tun
die digitale Welt. Ein »digitaler Graben« könne müssen, denn Initiativen versuchen vielerorts schon,
entstehen, wenn bildungsferne Schichten den die Lücke zu schließen. So hat die Stadt Duisburg
Umgang mit Computern und elektronischer In- Anfang des Jahres die Initiative »Lernen 25« ins
formation nicht beherrschten. Leben gerufen, damit die digitalen Medien auch in
die Schulen kommen. Fünf Schulen nehmen an

A
pp Camps soll nun Schülern die dem dreijährigen Pilotprojekt teil. Binnen zehn
Chance geben, »zumindest darüber Jahren sollen alle Duisburger Schulen mit neuer
nachdenken zu können, dass Pro- Technik neue Unterrichtsformen entwickeln.
grammieren ein Beruf sein könnte«, Andere gemeinnützige Initiativen sorgen da-
sagt Diana Knodel, promovierte für, dass Schüler sich auch der Gefahren im Um-
Informatikerin und Gründerin von »App Camps«. gang mit dem Internet bewusst werden – Cyber-
Vor zwei Jahren kam ihr die Idee: »Für das mobbing etwa. So bringt in Hessen die Gruppe
Coding braucht man nicht unbedingt einen Uni- »Die Digitalen Helden« Studenten als Mentoren
Abschluss oder eine Gymnasialausbildung.« mit Schülern zusammen, damit diese lernen,
Das Lernkonzept von »App Camps« ist ein- richtig mit Facebook und Co. umzugehen.
fach. In fünf Schritten entwickeln die Schüler Die Macher von »App Camps« haben eine
zuerst einfache, danach schwierigere Smart- Hoffnung: Wenn die Schüler erst mal das Pro-
phone-Apps. Dabei lernen sie spielerisch die grammieren von Apps erlernt hätten, wenn auf
Grundlagen der Informatik und erleben mög- vielen Smartphones eine Katze miaut habe, än-
liche Berufsfelder, die im normalen Schulunter- dere sich das gesellschaftliche Klima und das In-
richt in Deutschland nicht vorkommen. Am teresse an Informatik. Und die Infrastruktur? Die
Ende des Kurses werden auch Entwickler oder gibt es schon: Egal woher sie kommen und wie
Produktmanager aus der IT-Branche zum Un- reich sie sind – fast alle Schüler haben in ihren
terricht eingeladen, um über Jobmöglichkeiten Hosentaschen und Rucksäcken ein Handy ste-
und die eigene Laufbahn zu reden. cken. Und das ist fast immer ein Smartphone.

#
Gefragt sind Analysten, die große an selbstlernenden Maschinen. Rund
Ich mach Datensätze in verständliche Informa-
tionen übersetzen, oder Entwickler
eine Million Menschen sind in
Deutschland derzeit in der IT-Branche
was mit von Cloud-Dienstleistungen. Weitere beschäftigt, der Branchenverband
Bereiche sind IT-Sicherheit und Bitkom erwartet für das Jahr 2016
Daten Cognitive Computing, also die Arbeit rund 20 000 weitere Jobs.
3. MÄRZ 2016 D I E Z E I T No 1 1 Mehr für Kinder:
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>
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C H T Ä GA I G
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>
7
In der Maske: Der 14 11 4 6
1 15
zwölfjährige Felix 16 8 2 9

bekommt seine Lösung aus der Nr. 10: 12

Fernsehschminke.
Bei der Probe
(unten): Mark
Forster übt mit
UND WER BIST DU?
einem Kandidaten

Schminken, Jede Woche stellt sich hier ein


Kind vor. Willst Du auch
mitmachen? Dann guck mal
unter www.zeit.de/fragebogen

singen, zittern
Mein Vorname und Alter:

Ich wohne in:

Bei Castingshows dreht sich alles darum, wer weiterkommt


und wer ausscheidet. Doch wie ist die Stimmung hinter den Wenn ich aus meinem Fenster gucke, sehe ich:
Kulissen? Ein Tag bei »The Voice Kids« VON ANDREA HALTER

Glücklich macht mich:

Ich ärgere mich über:

Hinter der Bühne:


Ein Studiomitarbeiter Dieses Ereignis in der Welt hat mich beschäftigt:
erklärt Teilnehmern
den Ablauf

Das würde ich meinen Eltern gerne beibringen:

L
ena reißt die Augen auf Als vor drei Jahren zum ersten Mal Fernsehschminke, damit er auf dem er. »Natürlich wollte ich weiterkommen.«
und quietscht laut auf. die Castingshow mit Kindern ausge- Bildschirm nachher im grellen Schein- Im Türrahmen steht Patrick und nickt.
Sie wiegt sich hin und strahlt wurde, machten sich Kinder- werferlicht nicht ganz bleich oder ver- Er ist 14, in Mark Forsters Team, und er
her und bewegt die Lip- schützer Sorgen um das Wohlergehen schwitzt wirkt. weiß, wovon Felix redet. Vor drei Jahren
pen. Die Jurorin dreht der Teilnehmer. Sie erklärten, dass es Dann macht er sich auf den Weg ins ist er gleich am Anfang ausgeschieden: BLEEKER
gerade ein wenig durch, bei einer Castingshow immer viele Ver- erste Stockwerk des riesigen Studio- »Das war richtig bitter. Bei mir hat sich
Der elektronische Hund
weil sie so begeistert von lierer gibt. Und dass es einen großen gebäudes, um nach seinen Kandidaten keiner der drei Coaches umgedreht.
Emma ist. Genauer gesagt: von Emmas Unterschied macht, ob man bei einem zu sehen, die gleich zum Proben auf die Und dann habe ich auch noch auf der
Gesang. Die Zehnjährige macht bei der Schülerwettbewerb oder vor einem Bühne müssen. Er geht durch lange Bühne angefangen zu weinen. Ein
Castingshow The Voice Kids mit und ist Millionenpublikum eine Enttäuschung Flure, hinter vielen Türen hört man schrecklicher Augenblick. Einige Tage
im Team der Sängerin Lena. Jetzt gerade wegstecken muss. Stimmen. Offensichtlich üben die meis- war ich ganz schön fertig!«
steht Emma auf der Bühne und singt ihr Insgesamt 45 Kinder sind bei den so- ten Kinder ihre Lieder. Auch auf den Ein Studiomitarbeiter tippt Patrick
Lied. Allerdings nur zur Probe: Es ist genannten Blind Auditions weitergekom- Gängen wird gesungen. Die Wände auf die Schulter: »In zehn Minuten geht
noch kein Publikum da. men und haben damit eine große Hürde sind weiß gestrichen und recht kahl. deine Probe los.« Alles ist genau durch-
Wir dürfen heute einen Tag hinter genommen. Bei den Blind Auditions sitzt Mark Forster klatscht sich mit einigen geplant. Die Stimmung ist zwar locker,
die Kulissen der Fernsehshow schauen die Jury mit dem Rücken zur Bühne Kindern zur Begrüßung ab. »Am An- trotzdem ist das hier keine Kinderparty,
und beobachten, wie die Kinder mit den und kann nicht sehen, wer gerade singt. fang war ich teilweise nervöser als sie«, sondern eine Show, mit der die Erwach-
Jurymitgliedern für ihren großen Auf- Die Jury, das sind die Sänger Lena, sagt er und lacht. Durch eine Glastür senen Geld verdienen wollen. Sie wollen
Fotos: André Kowalski und Richard Huebner/SAT.1 (The Voice Kids); Illustration: Jon Frickey für DIE ZEIT (Wappen, Leo)

tritt proben – vor den echten Zuschau- Mark Forster und Sasha. Wenn sie eine nickt er einer Mutter zu. Sie sitzt in hohe Einschaltquoten erreichen, damit
ern in Berlin, wo The Voice Kids aufge- Stimme richtig gut finden, dann drü- einem Extrabereich mit gemütlichen sie die Werbeplätze verkaufen können.
zeichnet wird, und vor den Zuschauern cken sie auf einen dicken roten Knopf, Sofas für wartende Eltern. Die sind Um nicht in den Verdacht zu gera-
zu Hause vor dem Fernseher. ihr Sessel fährt herum, und sie bitten nämlich immer dabei. Allerdings hal- ten, dass die Kinder dabei ausgenutzt
Obwohl es nur eine Probe ist, haben das Kind, ihrem Team beizutreten. ten sie ein bisschen Abstand, denn hier werden, gibt es strenge Regeln. Bis eben
13 Kameramänner die Mädchen auf Manchmal drehen sich alle um, dann geht es ja nicht um sie, sondern um gerade hatte Felix Pause. In seinem Al-
der Bühne im Blick. Das Studio ist groß kann sich das Kind aussuchen, mit ihre Kinder. Manche sind auch bereits ter dürfen Kinder nur drei Stunden am
wie eine Turnhalle, es ist sehr hell darin, wem es weiterproben möchte, manch- zum zweiten Mal da – wie die Mutter Tag arbeiten – egal, wie viel Spaß die
und die Scheinwerfer brennen heiß. mal dreht sich aber auch keiner um. von Felix. Arbeit macht.
Der Regisseur gibt exakte Anweisungen: »Das ist immer eine schwierige Situa- »Ich habe mich letztes Jahr schon mal Mindestens zwei Mal probt jedes
»Und Playback bitte!«, ruft er. Die Mu- tion«, sagt Mark Forster, »aber ich tröste beworben und bin ausgeschieden«, er- Kind heute sein Lied. Danach werden
sik beginnt noch einmal von vorn, und die Kinder dann, gebe ihnen Ratschläge zählt der Zwölfjährige. Er sitzt gerade in noch eine Menge Kameraeinstellungen
Emma und die anderen singen ihr Lied. und rate ihnen, es in einem Jahr noch der Maske und wird geschminkt. Mo- geübt, und alle 45 Kinder werden mit
»Du hast das richtig gut gemacht, mal zu versuchen und dann vielleicht natelang hat er Singen geübt und sich Lena, Sasha und Mark Forster fotogra-
Emma«, ruft Lena danach. »Wenn wir alle umzuhauen!« zu Weihnachten Gesangsstunden ge- fiert. Morgen wird es dann ernst. Dann
das gleich noch mal proben, guck ruhig Mark Forster steht am Rand der lee- wünscht, um es hierhin zu schaffen. ist die Publikumstribüne nicht mehr
noch etwas mehr in die Kamera!« ren Zuschauertribüne. Wie immer »Diesmal hat es geklappt, und ich bin leer, sondern voller Zuschauer. 15 Kin-
Lena gibt nicht nur Ratschläge und trägt er eine Kappe mit hochge- im Team Sasha«, sagt er. der werden es in die nächste Runde
verrät Tricks gegen Lampenfieber, son- bogenem Schirm. Doch sein Er erinnert sich aber auch schaffen, 30 werden ausscheiden. »Na-
dern sie lacht auch viel. So will sie den Gesicht sieht anders aus als noch genau an den türlich bin ich traurig, falls ich nicht
Kindern in ihrem Team die Nervosität sonst, ganz pudrig, so als Misserfolg beim letz- weiterkomme«, sagt Felix. »Aber ich
nehmen und für eine gute, lockere wäre er in hellbraunes ten Mal. »Das war freue mich auch für denjenigen, der
Stimmung sorgen. Mehl gefallen – das ist schon schlimm«, sagt schließlich gewinnt!«

Die drei Jurymitglieder Sasha, Lena und Mark Forster am Drücker


3. MÄRZ 2016 D I E Z E I T No 1 1 IN DER ZEIT 82
TITELGESCHICHTE
Eine Volkspartei fürchtet das Volk – die CDU im Wahlkampf

ZEITNAH
POLITIK

INHALT
USA Trumps Erfolg ist die Rache für viele Französische Debatte Ein Gespräch
politische Ungerechtigkeiten mit dem algerischen Autor Kamel Daoud
Landtagswahlen Wie Winfried Kretsch- über die Reaktion auf seine Islamkritik 46
VON HE IKE BUCHTE R U ND
mann die Grünen in Baden-Württemberg
ROMAN PLETTE R 21 Musik Schafft mehr Konzertsäle!
zur Volkspartei gemacht hat
VON MARIAM LAU 2 Arm und Reich Ein Gespräch mit dem VON B J ØRN WOLL 47
Verhaltensökonomen Armin Falk 22 Theater Claus Peymann inszeniert Peter
Wie stimme ich über Merkels
Flüchtlingspolitik ab? Ein Diagramm Kohle Wie der Wille zum Ausstieg Handkes neues Stück in Wien
VON DANIE L E RK 3 unterwandert wird VON PETE R KÜ MME L 48
VON CLAU S HECKING U ND Kunstmarkt Wo ist die Sammlung
Die wichtigsten Fragen und Antworten zu
PETR A PINZLE R 24 Lengyel? VON STE FAN KOLDE HOFF 51
den Wahlen VON P. DAU S E ND, M . GE I S
U ND T. HILDE BR ANDT 3 Tourismus Wohin die Deutschen jetzt Kino Alexander Sokurovs »Francofonia«
reisen VON CLA AS TATJ E 25 VON WALTE R GR AS S K AMP 52
Türkei Angela Merkel braucht den
schwierigen Partner Erdoğan Brasilien Bauern werden vertrieben,
VON ÖZLE M TOPÇU 4 dann als Arbeiter ausgebeutet – und mit KINDER- & JUGENDBUCH
dem Tode bedroht
Flüchtlinge Kann Merkel Europa retten? LUCHS des Monats für das
Foto: Oliver Mark für DIE ZEIT

VON THOMAS FI SCHE RMANN 26


VON M . TH U MANN , M . KRU PA Wimmelbuch »Herr Sauermann sucht
U ND M . SCHIE RITZ 5 Auto-Seite Elektronische Überwachung seine Zähne« VON ANJA ROBE RT 53
am Lenkrad VON ADRIAN LOBE 28
Der arabische Mann Marokkanische
Frauen kämpfen gegen Unterdrückung Start-ups Europa holt auf GLAUBEN & ZWEIFELN
VON E LI SABETH R AETHE R 6 VON J E N S TÖN N E S MANN 29
Missbrauch Der oscarprämierte Film
Rückführung Sind Algerien, Marokko Wintertourismus Der Schnee bleibt »Spotlight« erzählt von der Aufdeckung
und Tunesien sichere Herkunftsstaaten? nicht aus – aber der Gast eines Skandals durch den »Boston Globe«.
Das Morgenmahl VON MARIAM LAU 7 VON G Ü NTHE R AIGNE R 29 Der Journalist, der sie in Gang brachte,
bedankt sich VON MARTIN BARON 54
Parteien Die Russland-Connection der Was bewegt ... den deutschen Rapper
Zum Frühstück in Berlin luden unsere Redakteure Leonie Seifert (links) und Rudi Novotny Megaloh, der im Lager arbeitet, weil die Wie funktionieren die Schweigekartelle der
AfD VON JOCHEN BITTNER 8
(Zweiter von rechts) fünf sehr verschiedene Gäste ein: Alexa Hennig von Lange, Edzard Reuter, Musik allein nicht genug Geld bringt? Kirche? Eine Innenansicht
NPD-Verbotsverfahren: Szenen aus
Iris Berben, Cheng Loew und Lea-Sophie Cramer diskutierten über ihren Alltag. Anlass war Karlsruhe VON HEINRICH WE FING 8
VON JANA G IOIA BAU RMANN 30 VON KLAU S ME RTES 54
das Thema »Generationen« in unserer Serie zur Vermächtnis-Studie, für welche die ZEIT,
Indien Krise? Das ist Normalität!
das Institut infas und das Wissenschaftszentrum Berlin mehr als 3000 Deutsche zu ihrem VON JAN ROS S 9
WISSEN Z – ZEIT ZUM ENTDECKEN
Leben und ihren Wünschen für die Zukunft befragt haben CHANCEN SE ITE 66 Cyberkriminalität Was geschieht in Untätigkeit Es gibt etwas, das wir tun
Zeitgeist VON JOS E F JOFFE 10
einer Klinik, wenn Patientendaten entführt können gegen zu viel Stress: Nichts!
Flüchtlingspolitik Warum Angela werden, um Lösegeld zu erpressen? VON B JÖRN KE RN 56
Merkel ins arabische Fernsehen sollte VON K ARE N GR AS S 31 Vereinbarkeit Unterwegs mit dem
VON YAS S I N M U S HARBAS H 10 Ehemann der Politikerin Anne-Marie
Natur Der erste Biodiversitätsbericht
Vermeintliche Gewissheit Wer nicht beklagt den Niedergang der Bestäuber Slaughter
hinterfragt, bleibt dumm VON FRITZ HABE KU S S 32 VON E LI SABETH NIEJAHR 57
VON ADAM FLETCHE R 10 Noch ein Satz ... zur Schande
Essay Der moderne Mensch und sein
Ernährung Schwein gehabt! angespanntes Verhältnis zur Technik VON MARGARETE STOKOWS KI 57
VON DAGMAR ROS E NFE LD 11 VON GE RO VON R ANDOW 33 Bereuen Wie fühlt es sich an, ein Monster
Foto: Thomas vanden Driessche für DIE ZEIT

erschaffen zu haben?
Doping Die Aufklärer von Freiburg
Unterwegs mit Bernd Lucke in Brüssel
RECHT & UNRECHT haben genug, die Kommission tritt zurück
VON ALARD VON KITTLITZ 59
VON ANDREAS STRE PE NICK U ND
Foto: Gene Glover für DIE ZEIT

V-Mann-Affäre In Bayern hat ein U RS WILLMANN 36 Ein Ort, ein Gedicht Auf den Spuren
Schwerkrimineller seine Taten vermutlich von Gottfried Benn die Saale entlang
mit Wissen des Staates begangen. Forschung Physiker und Verkehrsplaner
VON E LI SABETH VON THADDE N 60
Ein Prozess wird zum Politikskandal streiten sich in Heidelberg um die Tram
VON DANIE L M Ü LLE R 12 VON HALU K A MAIE R- BORST 37 Liebesbrief an Ulrich von
Wilamowitz-Moellendorff
Grafik Die Folgen von Fukushima 38 VON VEA K AI S E R 64
DOSSIER
Der Vater der AfD Ein Rapper auf dem Weg zur Arbeit CDU Die Volkspartei gerät aus dem
Gleichgewicht. Angela Merkels Gefolg-
FEUILLETON CHANCEN
Flüchtlingsdebatte Eine Antwort auf Alte Junge Die beunruhigenden
schaft wendet sich von ihr ab.
Zu Besuch in Brüssel bei Uchenna van Capelleveen alias Megaloh zählt im Hip-Hop zu meine Kritiker Erkenntnisse der Vermächtnis-Studie
Eine Reise durch eine Partei in Aufruhr
Bernd Lucke, dem Mann, den Besten in Deutschland. Inspirationen für seine Songs VON N . AHR , A . COE N , M . GE I S ,
VON PETE R S LOTE RDIJ K 39 VON RU DI NOVOTNY 65
der ein politisches Monster gewinnt er bei der Frühschicht als Lagerist in Berlin – von fünf T. H I LDE B R AN DT, H . S U S S E BAC H U N D Oscar-Verleihung Wie politisch war die Tafelrunde Fünf Menschen aus ver-
erschuf ENTDECKEN SEITE 59 bis neun, für 14 Euro die Stunde WIRTSCHAFT SE ITE 30 S . WILLE KE 13 Zeremonie wirklich? schiedenen Generationen im Gespräch
VON K ATJA NICODE M U S 39 über Arbeit, Kinder und die Zukunft 66

GESCHICHTE Literatur Ein Gespräch mit Maxim Biller Digitale Boheme Kreative aus aller Welt
über sein kommendes Buch, seine Welt- pilgern in die Start-up-Szenen von Tel Aviv
Serie Das Erbe der Kolonialzeit (1): sicht und das »Literarische Quartett« 41 und Berlin. Welche Stadt hat mehr
IN DEN REGIONALAUSGABEN ZUM HÖREN
Welche Verantwortung tragen die Potenzial? VON YARDE N S KOP 68
ZEIT:Hamburg ZEIT Schweiz Die so gekennzeichneten ehemaligen Kolonialmächte für die Krisen Parteipolitik In Sachsen-Anhalt macht
Warum der Senat und viele Kriti- Was Unternehmer und Manager Artikel finden Sie die AfD Wahlkampf mit Nostalgie App jetzt Programmierer Hamburger
in Afrika und im Mittleren Osten?
ker der geplanten Flüchtlingsheime tun müssen, damit die Schweiz als Audiodatei VON THOMAS E . SCHMIDT 42 Schüler sollen spielend an die Informatik
VON WOLFGANG RE INHARD 17
gar nicht so weit auseinanderliegen ihre Standortvorteile nicht im »Premiumbereich« herangeführt werden
unter www.zeit.de/audio Architektur Eine Kölner Ausstellung VON DE BOR AH STE INBORN 70
VO N O L AF S C H O LZ 3 verliert VO N K ATJA G E NTI N ET TA
zeigt Grafiken der Schätze von Palmyra
Die Zukunft der Energiepolitik:
U N D H E I KE S C H O LTE N 10
ANZEIGEN IN
FUSSBALL
VON HANNO R AUTERBERG 42
kleinteilig, kompliziert und teuer Als Nächstes will die SVP das DIESER AUSGABE KINDERZEIT
Sporthistorie Die Zuhandenheit im
VON FRANK DRIESCHNER 4 neue Asylrecht kippen. Wieder Linktipps (Seite 29), Roman Siegfried Lenz »Der Überläufer«
Fußball. Ein Essay Castingshows Zu Besuch bei »The Voice
Foto: Janosch

steht der Rechtsstaat zur Spielpläne (Seite 49), VON HE LM UT BÖTTIGE R 43


ZEIT im Osten Disposition VO N SAR AH JÄG G I 11 VON HAN S U LRICH G U MBRECHT 18 Kids« VON ANDREA HALTE R 81
Museen und Galerien
Sachsen steckt tief in der Krise. (Seite 49), Bildungsange- Nachruf Zum Tod von Karl Dedecius
ZEIT Österreich Champions League Das Geheimnis
Kann die Kirche dem Freistaat bote und Stellenmarkt VON ADAM KRZE M IŃ S KI 43
Der Streit um die Heta spitzt von Wolfsburgs belgischem Gegner Gent
Oh, wie schön! Janosch helfen, den richtigen Weg zu fin- (ab Seite 71) RUBRIKEN
sich zu VO N AR N E STO R N 10 VON MATTHIAS KRU PA 18 Sachbuch Saskia Sassen »Ausgrenzungen,
wird 85 und nimmt uns mit den? Nun ja: Sie fabriziert selbst Brutalität und Komplexität in der globalen Worte der Woche 2
befremdliche Schlagzeilen Warum ist die Stimmung FRÜHER
nach Panama Wirtschaft« VON MARIA E XNE R 44 Leserbriefe 16
10 zwischen Wien und Athen so INFORMIERT!
VO N AN N E HÄH N I G WIRTSCHAFT Quengelzone 19
schlecht? Versuch einer Erklärung Die aktuellen Themen Lyrik Marion Poschmann
Malu Dreyer über ihren Thüringens Premier Bodo der ZEITschon am Macher und Märkte 20
VO N ALFR E D J . N O LL 12 Frankreich Auf dem Land herrscht »Mondbetrachtung in mondloser Nacht«
Wahlkampf mit Julia Ramelow hat den Papst besucht. Mittwoch im ZEIT- Stimmt’s? 37
permanente Krise – mit bösen Folgen für und »Geliehene Landschaften«
Klöckner um das höchste War das eine politische oder eine Der Politikwissenschaftler Vedran Brief, dem kostenlosen Europa VON GEORG BLU ME 19 VON H U BE RT WINKE LS 45 Impressum 43
Amt in Rheinland-Pfalz christliche Mission? Dzihic über die Motive der öster- Newsletter
VON M. MACHOWECZ & P. SCHWARZ 12 reichischen Flüchtlingspolitik 12 www.zeit.de/brief Weltwirtschaft Ob für Geld, Menschen Gesellschaft Laura Eason, Drehbuch- KrimiZEIT 44
oder Waren: Ökonomen fordern neue autorin von »House of Cards«, über das Traumstück 51
Die ZEIT inklusive aller Regional- und Wechselseiten finden Sie in der ZEIT-App und im E-Paper. Grenzen VON MARK SCHIE RITZ 20 Phänomen Donald Trump 46 Auf ein Frühstücksei/Das Letzte 52
PREIS ÖSTERREICH 4,80 €
DIE
WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR
ZEIT 3. MÄRZ 2016 No 11

In dieser Ausgabe:
Das neue Magazin
ZEIT Doctor
Antibiotika:
Wann sie wirklich
nötig sind – und
wann nicht
Rückenschmerzen:
Operieren oder
trainieren? Was
Ärzte wirklich
denken

Eine Volkspartei fürchtet das Volk


Titelillustration: Smetek für DIE ZEIT

Bei den Landtagswahlen können die Bürger zum ersten Mal über die Flüchtlingspolitik abstimmen.
Angela Merkel gibt sich gelassen. Doch gerade das macht die Basis der CDU so nervös.
Was die Wahlkämpfer zurzeit erleben, ist für viele von ihnen ein Schock DOSSIER

ZEIT : Österreich
VORWAHLEN IN DEN USA WAHLKAMPF MIT FLÜCHTLINGEN
Hohe
Arbeitslosigkeit:

Brutal erfolgreich Die Angst regiert Sollen wir weniger


arbeiten, um mehr
Jobs zu schaffen?
Donald Trump versetzt die Republikaner in Schockstarre. Dabei Gabriel entdeckt die Bedürftigen. Keine neuen Schulden, verspricht Seite 11
treibt er deren Politik nur auf die Spitze VON KERSTIN KOHLENBERG die Union. Beides verfehlt den Kern des Problems VON MARC BROST
PROMINENT IGNORIERT

J K
etzt wollen die Republikaner es nicht Man nennt das trickle down economics. Es ist ann man das Richtige sagen und dieses Satzes die pure Übertreibung. Denn auch
gewesen sein. Dabei ist Donald Trump nicht gerade ein stolzes Bild, das die Partei da doch alles falsch machen? Sigmar für die Flüchtlinge ist nicht genug Geld da.
nichts anderes als ein Kind seiner Partei. von dem ehemaligen Rückgrat Amerikas malt, Gabriel kann es, und er beweist es Wir karren diese Menschen irgendwohin, in
Doch die weigert sich stur, Verantwortung der weißen Arbeiterschaft. Eher das von gebeug- auch jetzt wieder, da er ein Sozial- Gegenden, aus denen die Deutschen weggehen.
für ihn zu übernehmen. Monatelang hat ten Menschen, die am Boden die Krumen auf- paket für bedürftige Deutsche Wir stecken sie in Massenunterkünfte, Turn-
sie ihrem Intensivtäter wie gelähmt zu- sammeln. Die Unterschichten-Wähler haben fordert. Es stimmt schon: In diesem hallen, Lagerhallen. Wir geben ihnen keine
geschaut. Er war ihr peinlich, aber sie hoffte, er sich daran lange nicht gestört. Die Republikaner Land gibt es eine enorme Ungleichheit der Ein- Arbeit. Und dann hoffen wir, dass sie sich ruhig
würde bald von der Bildfläche verschwinden. Mitt- hatten es geschafft, liberale Anliegen wie das kommen, Vermögen und Chancen. Manche verhalten. Noch immer stauen sich beim Bundes-
lerweile jedoch steht der Partei der Angstschweiß Recht auf Abtreibung, die Freigabe der Homo- Menschen glauben, sie hätten von »der Politik« amt für Migration und Flüchtlinge mehr als
auf der Stirn, denn Trump gewann eine Vorwahl
nach der anderen und zwang der Grand Old
Ehe oder bessere Waffenkontrolle als bedrohli-
cher für die Arbeiter darzustellen als die Macht
nichts zu erwarten. Und einige dieser Menschen
werden deswegen die AfD wählen. Sie mögen frus-
600 000 unerledigte Fälle, und es wird sehr lange
dauern, über sie zu entscheiden. Gleichzeitig wird
Schlafgeschichte
Party seinen brutalen Stil auf (die Wahlergebnisse der Reichen. Geräuschlos wurden die Steuern triert sein. Bloß: Sie sind auch nicht dumm. jede noch so kleine Öffnung des Arbeitsmarktes, Die deutsche Möbelindustrie hat
des Super Tuesday lagen bei Redaktionsschluss der Reichen gesenkt, die staatlichen Leistungen Wenn der SPD-Chef wenige Tage vor wichti- jede Erleichterung und Unterstützung für Flücht- ihren Umsatz gesteigert, um 4,3
noch nicht vor). Dass er nur auf die Spitze treibt, für die Armen zurückgefahren, die Löhne ge- gen Wahlen die Bedürftigen entdeckt, dann dürf- linge von den Innen- und Sicherheitspolitikern Prozent im Inland, um 10,5 im
was die Partei ihm vorgemacht hat, wollen die kürzt und viele Jobs ins Ausland verlegt. Eben te das weniger inhaltlich als taktisch motiviert der Regierungskoalition blockiert – das könnte ja Ausland. Die inländische Zunah-
Republikaner nicht wahrhaben. mit diesem Modell hat die Partei den Boden für sein. Dann geht es ihm wohl nicht um die unge- noch mehr Menschen nach Deutschland locken. me des Matratzenverkaufs um 24
Trumps brutale Gefühlsoffensive bereitet. rechte Gesellschaft, sondern um die von den Aber genau darin steckt ein großer Irrtum: Prozent gibt zu denken. Schlafen
Dem Aufstand der Wähler will die Partei Wenn er jetzt sagt: Ich liebe die schlecht Aus- Sozialdemokraten empfundene Ungerechtigkeit, Denn auf diese Weise stoßen wir nicht jene ab, die Deutschen so fest und schwer,
einen Putsch entgegensetzen gebildeten, ich werde eure Sozialversicherung in der Wählergunst so miserabel dazustehen. Und die kommen wollen – sondern alle, die bereits da dass ihre Matratzen darunter lei-
schützen – dann findet Trump bei vielen Arbei- außerdem: Wenn das Erstarken der AfD dazu sind. Und wer so denkt, der muss auch die Symp- den? »Unsere ganze Geschichte ist
Sie waren es, die das wichtigste Werkzeug der tern Gehör. Dass er die Folter wieder einführen führt, dass die SPD das Soziale stärker betont – tome einer gescheiterten Integration benennen: bloß Geschichte des wachenden
demokratischen Politik – den Kompromiss – will und auch die Familien von Terroristen um- warum sollten die Bürger dann SPD wählen und Ghettoisierung, Kriminalisierung, Hass. Menschen«, sagte Lichtenberg, »an
zerstört haben. Im Kampf gegen Präsident bringen will, stört sie nicht. Es beweist ihnen nicht gleich die AfD? Eine Million Menschen aufzunehmen ist eine die Geschichte des schlafenden hat
Barack Obama wollten sie den totalen Sieg. Und eher, dass dieser Mann vor nichts zurückscheut. gesellschaftliche Ausnahmesituation, die mit nor- noch niemand gedacht.« GRN.
so stellten sie sich mit verschränkten Armen in Die Partei ist in Panik. Allein, es fehlen ihr die Wir stoßen nicht jene ab, die kommen maler Politik nicht zu bewältigen ist. Genau das Kleine Bilder (v. o.): Alessandro Gottardo für DIE
die Ecke und erklärten jeglichen Ausgleich zum Mittel, das Monster, das sie geschaffen hat, zu wollen, sondern alle, die bereits da sind aber suggeriert die Union. In der Logik von CDU ZEIT; Harald Braun/Plainpicture; CI2/Plainpicture
Verrat. Immer wieder drohten sie damit, die stoppen. Die Republikaner können sich nicht ein- und CSU gelten die Flüchtlinge als Haushalts-
Regierung zum Stillstand zu bringen, sollte diese mal untereinander auf ein Vorgehen einigen, wie Gabriel wird von der Angst getrieben, wie so viele risiko, gefährden zusätzliche Ausgaben das Ziel
ihren Vorstellungen nicht folgen. Und als jüngst das Schlimmste zu verhindern wäre: eine Kandi- Regierungsmitglieder in diesen Tagen, man erlebt der schwarzen Null. Man werde den Deutschen Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
20079 Hamburg
der republikanische Pragmatiker John Boehner, datur dieses Mannes oder gar seine Präsident- das als Journalist bei fast allen Gesprächen. Es gibt nichts zumuten, nicht einmal höhere Schulden. Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:
Sprecher des Repräsentantenhauses, das Hand- schaft. Sie müssten dazu die Fehler der eigenen die Angst vor zu vielen Flüchtlingen, die ins Land So lautet Angela Merkels und Wolfgang Schäub- DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
tuch warf, jubelte die Partei wie befreit. Warum Politik erkennen, die das Phänomen Trump mög- strömen könnten; die Angst vor einer Niederlage les wichtigste Botschaft. Das ist nicht weniger ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
also soll Donald Trump nun respektvoll und ge- lich gemacht haben. Stattdessen sehen sie schock- bei den Landtagswahlen; die Angst vor der AfD; populistisch als alles, was Gabriel sagt. ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
mäßigt auftreten, wenn seine Partei sich schon starr zu, wie er sie auf den Abgrund zutreibt. die Angst vor einem Auseinanderbrechen Europas; Im Augenblick dreht sich die Debatte allein
seit Jahren in Respektlosigkeit und Blockade ge- Aus dem Undenkbaren ist das Wahrschein- und, ja, auch die Angst vor einem Terroranschlag darum, ob Merkel ihre Flüchtlingspolitik ändern Abonnement Österreich,
fällt? Trump hat die Politik des Brutalismus nicht liche geworden: dass die republikanischen Wäh- im Land. Und weil so viel Angst herrscht, konzen- muss und ob aus ihrem Satz »Wir schaffen das« Schweiz, restliches Ausland
erfunden, er hat sie nur perfektioniert. ler Donald Trump in den Zweikampf ums Weiße triert sich die Regierung auf die Steuerung und das Eingeständnis wird, es doch nicht zu schaf- DIE ZEIT Leserservice,
20080 Hamburg, Deutschland
Er wendet sie bevorzugt gegen Mexikaner, Haus schicken. Nun macht eine verzweifelte Idee Begrenzung des Menschenstroms, auf die Siche- fen. Tatsächlich müsste Merkel sich korrigieren Telefon +49-40 / 42 23 70 70
Muslime und Frauen an. Doch auch vor seiner die Runde: ob man nicht im Zweifelsfall die rung der europäischen Außengrenzen. Es ist das – indem sie endlich klarmacht, was es zu schaffen Fax +49-40 / 42 23 70 90
eigenen Partei macht er nicht halt. Er pfeift auf Stimmen der Wähler einfach ignorieren solle, um Signal an die Verunsicherten im Innern. gilt: mehr Wohnungen, mehr Lehrer, mehr Poli- E-Mail: abo@zeit.de
deren ideologische Vorgaben. Er ist gegen den dann unter Zuhilfenahme komplizierter Nomi- Aber zugleich wächst ein Problem heran, das zisten, Sprachkurse für Flüchtlinge, Ausbildungs-
Freihandel, gegen eine Kürzung der Sozialver- nierungsregeln Trump noch auf dem Parteitag täglich größer wird. Denn selbst wenn von heute plätze für Flüchtlinge, Studienplätze für Flücht-
sicherungsleistungen, und er kann Planned im Sommer zu verhindern. Dem Aufstand der auf morgen keine Flüchtlinge mehr nach linge. Und warum wagen wir in ungewöhnlichen
o
Parenthood, einem medizinischen Dienst, der
auch Abtreibungen vornimmt, viel Gutes abge-
winnen. Trump mischt Brutalismus mit Empa-
thie. Dass er damit so erfolgreich ist, treibt die
Wähler will die Partei einen Putsch entgegen-
setzen. Trump hat die Partei nicht zerstört, er hat
ihre Selbstdemontage nur vollendet. Irgendwann
muss sie neu gegründet werden. Am besten bald.
Deutschland kämen: Es sind ja immer noch etwa
eine Million Flüchtlinge im Land. Und so strei-
ten wir über Grenzkontrollen und die Begren-
zung der Zuwanderung – und entziehen uns der
Zeiten nicht ungewöhnliche Maßnahmen, etwa
ein Förderprogramm für alle Einheimischen, die
Flüchtlinge bei sich zu Hause aufnehmen? Damit
wir nicht eine Million neue Hilfsarbeiter bekom-
N 11
7 1. J A H RG A N G C 7451 C

Partei zum Wahnsinn. Denn Mitgefühl ist eine Aufgabe, die Menschen zu integrieren, die bereits men, sondern gut ausgebildete Menschen, die
Regung, die sie sich schon lange ausgetrieben hat. Siehe auch Wirtschaft, Seite 21: hier sind. Die Regierung müsse unbedingt den hier eingebunden sind, unsere Sprache können –

Seit Jahrzehnten wiederholen die Republika- Wie die Ungleichheit Trumps Aufstieg befördert Eindruck vermeiden, dass für die Flüchtlinge und unsere Werte kennen.
ner gebetsmühlenartig, dass die Arbeiterklasse Geld da sei, für die Deutschen aber nicht, hat
davon profitiere, wenn es den Reichen gut gehe. www.zeit.de/audio Gabriel gesagt. Dabei steckt schon im ersten Teil www.zeit.de/audio A   
10 ÖSTERREICH 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

DONNERSTALK

Foto: Michael Grube/picture alliance/dpa


Sprachersatz
Leider ist es so, dass in einer Verpackung ebenso

c ken
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wie in Flaschen und sogar in Menschen nicht im-
mer das drinsteckt, was außen draufssteht. Eine
alte Weisheit, die stets neue Urständ feiert. Das
beginnt bei banalen Beispielen etwa im Bereich der

roße aus K
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Lebensmittelindustrie. In den USA wurde Parme-
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san verkauft, der mit Holzzellstoffen gepimpt war.
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Ein Material, das in Europa vornehmlich als d a STO
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auch nur zu einem geringen Teil aus Inhalt. Die diese Hotel die Türm , der gen von Ö Kärnten sein nten sch luten«, r zu zahle Verschu , sondern
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chen Kräften geformt. Die dieser Wortformation n v u t. G l E ll s a c T eb e
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nis dahertrabt. Eher keimt der Verdacht auf, dass Neh bot Kärn orderung hlag, das der Rep zwar um den sind ei Gläub ies »zu e rte in sp Land
n g e e r F o r sc e ih e rd e ti en i n e m e d n n e ile s s
die Erfinder dieses Wordings selbst besondere Be- das A ozent ihr ellings V eine Anl iese we ine jähr- ran che bei e ule, führ Haus eri ches, stab lich, das
dürfnisse haben – nämlich, eigene Behinderungen 5 P r S c h in n . D k e k - W o S c h r e s r e i t ü b s ja
7 ist nd ne nd ran n de ein ich un
zu kaschieren. Diesbezüglich bedarf es einer ge- Neu umgehe ieren kön haben u ing der F er zu Kärnte . Ein an ss es um – es sei n efinden
eld est hren hell e ab nd« , da ehe ir b
sunden Portion Disziplin, um nicht einem beson- das Grreich inv on 18 Ja rklärt Sc ihe werd rig, dass bra fall daran uropas g llen: »W e meis
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s te i t v n , e n le ie d e r t o n m E s fa h d i rei
deren Bedürfnis nachzugeben und laut aufzujau- Ö ze e A n T u au en sic t. Die d
len. Wie aber sieht es mit dem Bedarf jener Men- in e Lauf sen bring nde. Die eben, so er Nennw inn im Zentr lungen h ab m
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n Zin abge ren d Gew t Za go.« nhei estim e Finanz-
schen aus, deren Bedürfnisse nicht besonders sind? liche r Finanzg ter 100 h 18 Jah d, einen unterm dor t im Kon eschlosse letzt abg
n c e etlich n,
Da kommt wieder die Lebensmittelbranche ins furte Kurs u wenn na zahlt wir rt, dass si haben, nich wecks G äubiger zu a, denen Seite stehe
n em g e r, k g e u l ie eh e n Z G l e tw z u r e iel
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Spiel. Wer keinen Käse im Käse erwartet, wird ei läubi – zurüc e so kalk einst geli n n
tsche der Banke PR-Kräfte ee. Es wurd
ie G 0 d d e u t d
dann auch nicht enttäuscht sein, wenn offenbar d o 10 r wer nten ng ppen risten und r ein Komi ch Wien un
wird, dass tatsächlich keiner in der Käsepackung – als en. Diese as sie Kär ng Be
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r, Ju h üb e efe n a
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steckt. Wer sich hingegen Sprache mit Bedeutung mach alles, w olen. g t S chelli n sich Ös- berate inierten sic chickte Bri s b e reitscha
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Stric r heraush rschlag bri Lange hatt stritte
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erwartet, wird zunehmend zu einem Menschen e o . e le fon a l , sagt
mit ganz besonderen Bedürfnissen. Kärnten aus dem Schneider, Insolvenz abgewendet: Geht Österreichs Plan auf? w ie d
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Zeit, ngigen und 100 Prozen inbarungen zwar
mehr viel n t fü r die vorra as sei n. So las sen sich die Haltevere
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gen Gläubiger
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ie n ac h ra n gi wo hl nur unter Überwindun
Prozent für d utsche Banken, Hürden auflösen, doch manchmal klingt es so, als
: D ie G lä ub iger, vor allem de
Prob le m f die volle könnten mit viel Kreativität auch weniger als 100
rsi ch er un ge n un d Fonds, pochen au
Ve
gen von insgesamt elf Prozent akzeptiert werden, solange alle Unterzeichner
Rückzahlung ihrer Forderun
Angebot ab, zustimmen. Vereinzelt werden Jahre dauernde Pro-
Milliarden Euro. Lehnen sie Kärntens zesse und hohe Rechtskosten – wie Schelling sie
drohen schon bald ein härterer Schuldenschnitt bei gerne beschreibt – tatsächlich als Problem gesehen.
der Heta, ein Einklagen der Haftung Kärntens durch Selbst wenn es um eine Grundsatzfrage gehe, am
die Gläubiger und eine Pleite des Landes. Es sei denn, Ende spielten natürlich auch betriebswirtschaftliche
Wien hilft aus – was laut Schelling nicht sicher ist. Erwägungen eine Rolle, heißt es einmal. Das hänge
Begonnen hat der Streit vor einem Jahr, als immer auch von der Höhe des Angebots ab, ist an
Österreich angesichts eines neuen Milliardenlochs anderer Stelle zu hören.
bei der Heta alle Zahlungen bis Ende Mai 2016 ein- Einer, der die deutsche Jammerei schon bisher
fror und Europas Banken den Wert ihrer Forderun- nicht teilen mochte, ist Patrick Rioual, Analyst für
gen auf Geheiß der Europäischen Zentralbank um österreichische Banken bei der Rating-Agentur Fitch.
50 Prozent nach unten korrigieren mussten. Der »Einige Investoren haben die Papiere wohl in der An-
Düsseldorfer Hypothekenbank brach dies das Ge- nahme gekauft, dass zur Not der Bund einspringt.
nick, der deutsche Einlagensicherungsfonds musste Sie sind dabei ein gewisses Risiko eingegangen«, sagt
einspringen. Viele Häuser haben Klage eingereicht. er. Für institutionelle Anleger sollte es jedoch keine
Wie die deutschen Gläubiger auf Wiens neuen Überraschung sein, dass eine automatische Unter-
Vorschlag reagieren, war am Dienstag bei Redaktions- stützung der Bundesländer durch den Bund in Ös-
schluss noch ungewiss. In den Tagen zuvor sprachen terreich keineswegs gewährleistet sei. »Das sind
Gläubiger, wenn überhaupt, nur im Schutz der Spezialisten, die Unterschiede zwischen der Rechts-
Anonymität. Viele gaben sich hart entschlossen. lage in Deutschland und Österreich kennen sollten.«
Doch es gab auch Andeutungen von Kompromiss- Neue Bewegung nach dem 11. März schließt Ös-
bereitschaft. Aus deutscher Sicht glich der Streit terreichs Finanzminister Schelling in Frankfurt ka-
bisher einem Duell, das Österreich nur verlieren tegorisch aus: »Kärntens Angebot ist nicht verhandel-
kann. Entweder es gibt nach – dann wird es teurer. bar und wird nicht verlängert«, sagt er. »Es wird kein
Oder es bleibt hart – dann scheitert das Angebot, weiteres Angebot geben.« Er sieht den Ball jetzt beim
gefolgt von einer großen Ungewissheit. Nun scheint Gegner: »Jetzt liegt es an den Gläubigern, zu sagen,
es, als habe Österreich sich für Ersteres entschieden. wir nehmen dieses Angebot an oder nicht.«
Es ist ein Geduldsspiel. Ein Pokern. Ein Zocken.
Die Mehrheit der Geldgeber hat sich »Da hangelt sich die Verhandlungsmaschinerie jetzt
verbündet – es drohte ein Scheitern nach oben«, sagte ein erfahrener Banker vor ein paar
Tagen in Frankfurt.
Die starke Position der deutschen Gläubiger ergibt Einen Grund, warum Österreich sich bewegen
sich aus der Höhe ihrer Forderungen. Commerzbank: muss, sehen viele Deutsche in den Folgen für die
400 Millionen Euro. Deutsche Pfandbriefbank: 395 Refinanzierung. Sollten die Garantien nicht erfüllt
Millionen Euro, genau wie die Dexia Kommunal- werden, wäre das Vertrauen in österreichische Pa-
bank. Die NordLB: 380 Millionen Euro. Düssel- piere »nachhaltig geschädigt«, schrieb die NordLB
dorfer Hypothekenbank: 372 Millionen Euro. Und kürzlich. Auch war zu hören, Österreichs Reputation
so weiter. Auch nach dem Vergleich, den die habe bereits gelitten. Investoren verlangten höhere
BayernLB zum Verdruss der anderen im Herbst ge- Zinsen, wenn Bundesländer oder staatliche Hypo-
schlossen hat, liegt die Gesamtsumme immer noch thekenbanken sich refinanzieren wollten. Für
locker bei fünf Milliarden Euro. Viele Gläubiger Experten der weltweit mächtigsten Rating-Agentur
haben sich schriftlich geschworen, keiner Lösung zu- Standard & Poor’s war Kärnten mit dem bisherigen
zustimmen, die weniger als 100 Prozent Rückzahlung Angebot »säumig, weil die Gläubiger dadurch
vorsieht. Haltevereinbarungen erlauben es Einzelnen schlechtergestellt wären als ursprünglich vereinbart«.
nicht, aus dieser Phalanx auszuscheren. Es handele sich um einen »selektiven Zahlungsaus-
So gibt es drei Gruppen, die insgesamt rund 40 fall«. Einige österreichische Anleihen würden von
Gläubiger umfassen, unter ihnen deutsche Banken internationalen Anlegern bereits gemieden.
und Investmenthäuser, aber auch Hedgefonds aus Das Finanzministerium in Wien gab sich in der
London, New York oder Los Angeles. Ihre Halte- Frage noch am Montag gelassen. »Die Reputation
vereinbarung gilt für mehr als 5,1 Milliarden Euro. sehen wir nicht gefährdet«, hieß es. Auch ein Schei-
Und da ist eine Gruppe von elf deutschen Versiche- tern des Angebots werde keine Folgen für den Bund
rern, die auf Forderungen von 820 Millionen kom- haben: »Der Bund refinanziert sich weiterhin zu
men. Auch sie lehnen jeden Deal unter Par strikt ab. besten Konditionen.« Und die Länder? »Die Bundes-
Macht zusammen gut 5,9 Milliarden Euro – mehr länder können sich über den Bund zu sehr günstigen
als die Hälfte aller Schulden. Deshalb schien es bisher Konditionen finanzieren.«
so gut wie sicher, dass Wien am 11. März eine Nie- Das Zocken geht weiter.
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 ÖSTERREICH 11

DRAUSSEN

Fotos: Gerhard Deutsch/KURIER/picturedesk.com; privat (r.)


Smart durchs
Leben
Ein Österreicher in Deutschland:
Gernot Feischl, 33, ClimaDesigner

Die Welt ist im Wandel und bietet zahlreiche Ge-


staltungsmöglichkeiten. Die zunehmende Vernetzung
von Menschen, Prozessen und Dingen wird viele
Vorteile bringen.
Als ClimaDesigner bin ich da gut aufgestellt. Ur-
sprünglich war ich bei Bosch in Linz tätig. Eines

Macht
Tages wurde ich nach München bestellt, weil wir uns

weniger! Gernot Feischl aus


Taufkirchen an der
Trattnach lebt in München

hier mit den in Stuttgart und Heidelberg tätigen In-


genieuren besser abstimmen können. Derzeit ent-
Weil die Arbeitslosigkeit steigt, wickeln wir ein Energie-Monitoring-Tool, das den
kommt eine alte Forderung wieder auf: Energieverbrauch in Gebäuden und bei Produktions-
prozessen darstellt. Es geht um die Interaktion von
Kürzer arbeiten, um mehr Jobs zu schaffen. Sensoren und Aktoren in Gebäuden.
Kann das funktionieren? Ich wohne in einer Wohngemeinschaft mit Ar-
beitskollegen und Studenten in einem alten Einfami-
VON JUDITH E . INNERHOFER lienhaus mit Garten. Wir nennen das SmartLiving,
weil alles ökonomisch, ökologisch und soziokulturell
Fast eine halbe Million Menschen sind in Österreich laut Daten des Arbeitsmarktservice ohne Job Sinn macht. Was in unserer Generation oft ungeklärt
bleibt, ist die Frage der Verbindlichkeiten: Wie lassen
sich der Job und die dafür nötige Flexibilität mit einer

V
ielleicht liegt das Rezept gegen »Man kann Jobs und Arbeitszeit nicht verteilen Dazu gehört auch das Sunshine-Team. Die zwischen Geschäftsführern und Lehrlingen. Den- partnerschaftlichen Beziehung vereinen? Klar, man
die steigende Arbeitslosigkeit wie einen Kuchen«, kontert Wirtschaftskammer- Grazer Eisteemacher passen zum Zeitgeist der so- noch stellt er klar: »Alle hier könnten woanders macht viele Erfahrungen. Ob die auf Dauer aber
hinter einer quietschgelben Referent Rolf Gleißner. Er verweist auf Frankreich, genannten Generation Y. »Man könnte immer ein bisschen mehr verdienen.« Agnes Fogt zuckt alles aufwiegen? Gerade in den Wintermonaten ist
Gründerzeitfassade. Die Villa wo im Jahr 2000 die 35-Stunden-Woche eingeführt mehr machen«, sagt Michael Wihan. Damit meint mit den Schultern. »Ja, sicher«, sagt die Angestell- die Einsamkeit trotz des Freundeskreises manchmal
Kunterbunt in der Grazer Vor- wurde. »Die Arbeitskosten haben sich für die Un- der Unternehmer nicht nur die Produktion der te. Lieber ist ihr aber, jetzt gleich in den freien bedrückend. Für die Zukunft wünsche ich mir eine
stadt erinnert auch im Hoch- ternehmen dadurch massiv erhöht. Frankreich hat Flaschen, die mit der Losung fair, bio und nach- Nachmittag aufzubrechen. Auf der Türschwelle feste Partnerin, die mir Halt gibt, um auch die ele-
parterre mehr an eine Studen- stark an Wettbewerbsfähigkeit verloren, damit hat haltig gerade im urbanen Feld gut ankommen. Weil setzt sie dann noch hinterher: »Es ist ja voll moti- mentaren Dinge im Leben genießen zu können.
ten-WG denn an ein Büro. Agnes Fogt fährt den sich auch die Beschäftigungslage negativ entwi- das nicht nur am Etikett stehen soll, ist die Firmen- vierend. In sechs Stunden bin ich produktiver als
Rechner herunter. Es ist 14 Uhr, das Arbeits- ckelt.« Eine 30-, 32- oder 35-Stunden-Woche wäre hierarchie ebenso flach wie die Gehaltsunterschiede andere in acht.« Aufgezeichnet von Ernst Schmiederer
pensum der Marketingmanagerin ist erledigt. Gift für die österreichische Wirtschaft, ist Gleißner
»Sechs Stunden reichen völlig aus«, findet die überzeugt.
junge Frau mit den bunten Steinchen, die vom Der Arbeitsforscher Jörg Flecker fordert hin-
Ohrreifen baumeln. Ihr Chef steht daneben und gegen ein neues Zeitmaß »in Richtung einer
nickt. Michael Wihan, 35, Geschäftsführer des 30-Stunden-Woche als neue Vollzeit. Im Alleingang
Mate-Eistee-Produzenten Makava, hält es selbst geht es zwar nicht«, räumt er ein. »Es muss schon
genauso: im Schnitt sechs Stunden am Tag, er- auf europäischer Ebene etwas geschehen, damit ein
geben 30 pro Woche. »Ist schon cool«, grinst er einzelnes Land keinen Wettbewerbsnachteil hat.«
und zieht das Käppi zur Seite. »Voll chillig«, sagt Spielraum habe Österreich dennoch, sagt Flecker:
Agnes Fogt und nimmt den letzten Schluck vom etwa durch mehr Optionen bei Zeitmodellen und
gelbgrünen Getränk mit der lachenden Sonne vor allem in Sachen Überstunden.
am Etikett. 2002 haben Wihan und sein Studien- Denn der Grund für die überlange Arbeitszeit
kollege Jan Karlsson mit der Entwicklung des der Österreicher liegt nicht bei der Normal-
hippen Drinks begonnen, heute verkaufen sie gut arbeitszeit. Verantwortlich sind die fast 300 Mil-
drei Millionen Flaschen im Jahr und beschäftigen lionen Überstunden, die Vollzeitbeschäftigte pro
elf Mitarbeiter. Keiner arbeitet mehr als 30 Stun- Jahr leisten – jede vierte davon unbezahlt.
den pro Woche. »Fauler Sack«, feixt der Unter- Lassen sich Überstunden vermeiden? Für die
nehmer: Solche Kommentare höre er oft. Grazer Eisteemacher war das auch eine Kosten-
Denn Österreich ist ein Land des Fleißes: 43 frage. »Wenn unsere Leute im Vertrieb unterwegs
Stunden pro Woche verbringen Vollzeitbeschäftig- sind, macht es wenig Sinn, nach sechs Stunden
te hier laut Eurostat im Job, nur in Griechenland Schluss zu machen und im Hotelzimmer den Rest
sind es noch mehr. Deutschland liegt mit 41,5 des Tages abzusitzen«, sagt Michael Wihan. Über-
Stunden im EU-Mittelfeld, während Dänen schon stunden sind aber teuer. Weil alternative Modelle
nach 37,8 Stunden ins Wochenende gehen. nicht vorgesehen sind, hat es lange gedauert, für
Im europäischen Spitzenfeld lag Österreich den »chilligen« Stundenplan eine buchhalterische
lange Zeit auch mit seiner niedrigen Arbeits- Form zu finden. Seit Kurzem sieht das so aus: Im
losenquote. Das hat sich geändert. Am Dienstag Vertrag sind die Mitarbeiter für 38,5 Wochen-
hat das Arbeitsmarktservice AMS die neuen stunden engagiert, aber nur zu 30 Stunden ver-
Zahlen veröffentlicht. 475 931 Arbeitslose im pflichtet und bezahlt. Damit gibt es achteinhalb
Februar: Damit ist schon mehr als jeder zehnte Stunden Spielraum für Überstunden, die nicht
Erwerbsfähige im Land ohne Job. Und die zusätzlich honoriert werden. Verrechnet werden sie
Prognosen bleiben düster. als Zeitausgleich. Das heißt dann zum Beispiel: zwei
Das führt zum Comeback einer alten Idee: Ar- ganze Urlaubswochen mehr pro Jahr.
beitszeit kürzen, um Arbeitsplätze zu schaffen. Die
größte Teilgewerkschaft GPA-djp forderte schon Die lange Arbeitszeit betrifft die
vergangenen Sommer eine 35-Stunden-Woche bei Niedriglohnbranchen nur am Rande
vollem Lohnausgleich. Kurz nach seiner Angelo-
bung erklärte SP-Sozialminister Alois Stöger: »Es Die Zufriedenheit der Österreicher mit ihrem Job
wäre wichtig, die Arbeit vernünftiger zu verteilen. sinkt. Im jüngsten Arbeitsbarometer der Allianz
Wir leisten uns den Luxus, dass manche überhaupt Versicherung gehen Wunsch und Wirklichkeit
nicht arbeiten, während sich andere vor Arbeit gar gerade in Sachen Zeitpensum weit auseinander:
nicht erwehren können.« Vollzeitbeschäftigte würden gerne nur 33,6 Stunden
Das seien »gefährliche Retro-Ideen«, warnt hin- machen, die meist weiblichen Teilzeitangestellten
gegen die Wirtschaftskammer. Für »unverantwort- hingegen möchten ihr Pensum erhöhen.
lich« und »geradezu absurd« befindet auch die In- »Die Wochenarbeitszeit ist auch deshalb so
dustriellenvereinigung jede Diskussion über eine hoch, weil wir konservative Geschlechterrollen
Verkürzung, die angesichts der angespannten Kon- haben«, sagt Wirtschaftsforscher Markus Marter-
junktur vielmehr Arbeitsplätze vernichten würde. bauer. »Der Mann macht Vollzeit mit vielen Über-
Beide Positionen erinnern an die Debatte, wie stunden, die Frau schafft neben Haushalt und
sie im langen Weg vom 16-Stunden-Tag des Kindern höchstens Teilzeit.« Das erklärt auch, wa-
19. Jahrhunderts bis zur Einführung der 40 Wochen- rum die Lohnschere in Österreich größer ist als etwa
stunden vor 40 Jahren geführt wurde. Und beide in Deutschland.
verkennen: In der neuen Arbeitszeitdebatte geht es So ablehnend Wirtschaftsvertreter auf die
um mehr als nur um die Frage, wie viele Jobs es gibt. Idee einer Umverteilung reagieren: Markus Mar-
terbauer sieht gerade in der Industrie Anzeichen
Schuld an der überlangen Arbeitszeit sind für einen Wertewandel. Auslöser sei die Kon-
300 Millionen Überstunden pro Jahr kurrenz um junge Fachkräfte, denen Work-Life-
Balance mindestens so wichtig ist wie Gehalt
In der Grazer Vorstadt boomt das Geschäft mit und Aufstieg. Vorreiter ist die Elektro- und
dem Mate-Getränk. Die Verkaufszahlen haben Elektronikindustrie, die per Kollektivverträgen
sich in den vergangenen Jahren jeweils verdop- markante Verkürzungen durch die sogenannte
pelt. Um die Nachfrage zu bedienen, ist auch das Freizeitoption möglich gemacht hat. Der Deal
»Sunshine-Team«, wie sich die junge Firma »mehr Urlaub statt mehr Gehalt« ist auf großen
nennt, gewachsen. Je zwei neue Mitarbeiter wur- Zuspruch gestoßen – nicht nur unter den älteren
den in den letzten drei Jahren eingestellt. »Wenn Beschäftigten, für die er gedacht war, sondern
alle länger arbeiten würden, bräuchten wir statt gerade unter den 30- bis 40-Jährigen.
elf nur sechs oder sieben Angestellte«, rechnet Das ist der Fehler, den offizielle Arbeitnehmer-
Geschäftsführer Wihan vor. vertreter machen: Sie fordern in der Tradition des
Schon eine Verkürzung der Wochenarbeits- 20. Jahrhunderts weniger Arbeit bei vollem Lohn-
zeit auf 35 Stunden würde zu einem Beschäfti- ausgleich – verständlich, dass die Gegenseite dicht-
gungwachstum von drei bis sieben Prozent füh- macht. Freilich wäre eine Stunden- und Gehalts-
ren, sagt eine Wifo-Studie. Das hieße: bis zu reduktion in Niedriglohnbranchen mehr als pro-
100 000 neue Jobs. »Damit könnte die Be- blematisch. Aber die hohe Arbeitszeit betrifft sie
schäftigung zumindest stabilisiert werden«, sagt nur am Rande: Die meisten Stunden leisten mittel
Studienautor Markus Marterbauer. bis höher bezahlte und qualifizierte Berufsgruppen.
12 ÖSTERREICH 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

Flüchtlinge hinter dem Nach dem Tränengaseinsatz


Stacheldrahtzaun zwischen der mazedonischen Polizei
Griechenland und Mazedonien am vergangenen Montag

Blick in den Kosmos »Das wird sich rächen«


In der Flüchtlingskrise vertieft sich die Verstimmung zwischen Griechenland und Österreich. Wie konnte es Machtmenschen und Überzeugungstäter: Der Politikwissenschaftler
so weit kommen? Ein Erklärungsversuch anhand der »Theogonie« des Hesiod VON ALFRED J. NOLL Vedran Dzihic über die Motive der österreichischen Flüchtlingspolitik

J
üngst träumte mir, ermattet von der Nachrich- Art hätten sie nicht sollen sein! Er streckt die Arme Und es wird vor meinen Augen, was zunächst DIE ZEIT: An der mazedonischen Grenze halten und nach Schweden pro Kopf die

Fotos: Louisa Gouliamaki/AFP/Getty Images (2); privat (s/w); Philipp Horak für DZ (u.)
ten Fülle, die von Hellas unwirtlichen Gestaden hoch. Dreht er sich am Ort, von dem er zu entfernen mir keine Übersicht bot, zu einem wahren Tollhaus wurde diese Woche Tränengas gegen Flücht- meisten Asylwerber aufgenommen. Das steht
zu uns fließt, ich sei von den Musen mit einem sich nicht vermag? Was tut er da? Verstecken will er des Schlachtens. Das Toben kennt nun keine Gren- linge eingesetzt. Hatte die österreichische Re- außer Zweifel. Die entscheidende Frage aber
Gespross frischgrünen Lorbeers beschenkt worden. die Kinder. Ungeschehen machen will er, was er doch zen mehr. Wer bisher stand an der Seite des Ge- gierung diese Bilder im Kopf, als sie nach der ist, ob das eine Basis für einen nicht durch-
Warum dies?, wollte ich fragen, da hauchten sie mich selbst gezeugt. Bewegt er sich? Er strengt sich an – da schehens, gebärdet sich durch Beleidigung und Wiener Westbalkankonferenz verkündete: dachten Alleingang sein soll, dessen Konse-
an und blickten mir erwartungsvoll in die Augen – scheint er es zu schaffen, die ungeliebten Kinder weg- Höhnung als nunmehr ebenso dem Streit verfan- Die Flüchtlingszahlen müssen runter? quenzen nicht bis zum Ende abgesehen wer-
und das Werden des Kosmos und das Treiben der zusperren und hernach gleich so zu tun, als ob er mit gen. Wem bisher jene Seite, auf der er stand, Si- Vedran Dzihic: Die Konferenz war eine Ho- den können.
Götter wurde mir gewahr: ihnen niemals zu tun gehabt. cherheit und Zuversicht verhieß, gerät jählings ins ruck-Aktion, da wurde nicht zwei Schritte ZEIT: Welche Alternativen hätte es denn ge-
Vieles muss sich, seit Äonen schon, getan haben. Mutter Gaia Mikl-Leitner kann es nicht ertra- Wanken. Die Giganten um Strache lächeln zart bei vorausgedacht und sie hatte wohl hauptsäch- geben?
Noch in Unordnung ist die Welt. Nichts scheint gen. Derart als Mutter verleugnet und als Göttin ihrem rücksichtslosen Kampf gegen die Götter – sie lich innenpolitische Motive. Was zurzeit an Dzihic: Man hätte eine Allianz mit Angela
auf Dauer gestellt. Unruhe ist spürbar. Auswürfe missachtet, so mag sie nicht sein. Kein Sinn steht wissen darum, dass sie durch Götterhand nicht ster- der mazedonischen Grenze passiert, ist nur der Merkel schmieden können, um gemeinsam
längst vergangener Eruptionen prägen das Bild. ihr danach, sich zu bescheiden. Sind’s nicht ihre ben können. Ratlos irrt Zeus Merkel noch umher, Beginn. Die Flüchtlinge werden weiter versu- starken Druck auf die Türkei auszuüben.
Lenkt Chaos, gleichwohl längst entschwunden, die Kinder? Sie müssen wieder heraus aus der Höhle! sich eines Beistands zu versichern. Gaia Mikl-Leit- chen, Zäune zu durchbrechen. Und wenn die Man könnte aber auch einfach mal die Bei-
Geschicke immer noch? Kaum ist mein Blick auf Sie lächelt nicht, fürwahr. Sie sinnt. Schon seh ners Zauberkraut Organisations-Ohnmacht hilft Polizei versucht, sie aufzuhalten, wird es noch träge etwa für das Welternährungsprogramm
Eines gerichtet, drängt allenthalben Anderes sich ich sie beim Verfertigen der unzerbrechlichen Ada- den Giganten um Strache, da sie dadurch auch von blutige Bilder geben. Politik ist aber ein ratio- der Vereinten Nationen erhöhen. Dort ist
schon in den Vordergrund. Schemenhaft ist alles, mants Obergrenze, sie formt daraus eine gezähnte den Sterblichen nicht getötet werden könne. Zeus nales Geschäft, das auf Kalkül und auf Ab- man völlig ratlos, wie die Millionen Flücht-
flüchtig nur wird’s mir erkennbar. Sichel. Aber wie die Sichel nutzen? Es müssen die Merkel tut, was sie kann: Sie verbietet Eos Renzi, wägung basiert. Wäre das strategische Kalkül linge im Libanon noch versorgt werden kön-
Da seh ich Gaia Mikl-Leitner. Sie müht sich Kinder sein, ihr Beistand zu leisten. Indes sie zieren Selene Cameron und Helios Hollande zu scheinen, der österreichischen Regierung, solche Bilder nen. Die österreichischen Beiträge zur Ent-
sehr. Mit der bewegten Linken sucht sie, ihren Bru- sich, sie wollen nicht. Einzig Titan Kurz vermag bis das Zauberkraut sie selbst gefunden. zu produzieren, dann wäre sie bösartig. Das wicklungshilfe sind eine Schande. Diese Fra-
der Eros Landau sich vom Leibe zu halten. Mit der sich zu ermutigen. Was nun? Die Schlacht ist voll in Gange, da erwache ich. wäre eine bewusste Aufgabe von vernunft- gen kommen aber in der derzeitigen Debatte
gekrümmten Rechten klammert sie sich, Halt su- Da sehe ich Uranos Faymann sich Gaia Mikl- Wodurch war mir, so fragte ich mich, die Sicht auf orientierten Prinzipien – und europäischen nicht vor, weil sie von diesem Alleingang be-
chend, an ihren Bruder Erbos Pröll. Es tut sich was, Leitner wieder voll des Verlangens nähern – seh ich dieses Schauspiel denn vergönnt? Du hast, flüster- Politikern im 21. Jahrhundert unwürdig. herrscht wird.
überdeutlich seh ich’s. Ist’s möglich? Gerade gebiert recht? –, da schneidet Titan Kurz ihm mit der Si- ten mir die Musen ins Ohr, im Traum vor die Au- ZEIT: Die Regierung von Bundeskanzler ZEIT: Warum Alleingang? Man hat ja immer-
sie von Uranos Faymann die Titanen des Grenz- chel Obergrenze das Geschlechtsteil ab und wirft es gen bekommen, was als Wacher wir dir zu schauen Werner Faymann hat ihre Linie radikal ge- hin mit den Westbalkanstaaten, die auf der
zauns, den einäugigen Zyklopen Mitterlehner fort. Und was aus der Wunde fließt und tropft, das niemals ermöglicht hätten. Dein Schlaf war uns wandelt: von einer offenen Willkommenskul- Flüchtlingsroute liegen, gesprochen.
bringt sie zur Welt und die hundertarmigen Heka- befruchtet Gaia Mikl-Leitner, sodass sie die Gigan- Gewähr und Beruhigung. Deiner als bloßer Zu- tur zu Richtwerten und dichten Grenzen. Dzihic: Und ihnen damit einen Bärendienst
toncheiren national beschränkter Gesinnung. ten um Strache, die rasenden Erinnyen der Aus- schauer gewiss zu sein ermöglichte allein den unge- Dzihic: Seit den 1980ern, seit dem Aufstieg erwiesen. Die EU-Erweiterungsperspektive,
Verzerrt ist des Uranos Faymann Gesicht, er hasst weisungsbefürworter und die wohltätigen meli- störten Ablauf der Geschicke, wie er durch die der FPÖ und dem zeitgleichen Niedergang die für diese Länder so wichtig ist, ist jetzt
die Kinder, die doch auch die seinigen sind. Solcher schen Nymphen der Zivilgesellschaft gebiert. Götter bestimmt ist. der zwei Großparteien, erkennt man einen zweitrangig geworden. Die lokalen Machtha-
strukturellen Trend in der Innen- und Außen- ber erkaufen sich nun die loyale Mitarbeit in
ANZEIGE politik: SPÖ und ÖVP schaffen es nicht, sich diesem Bund, mit Österreich an der Spitze,
auf die neuen Zeiten einzustellen. Sie vertre- und agieren intern immer autoritärer. Das
ten eine Klientel, die langsam verschwindet. Kosovo steht kurz vor der Explosion, Serbien
Dazu kommt etwas sehr spezifisch Österrei- wird immer autoritärer regiert, Bosnien ist in
chisches: eine nicht konsistente, lavierende einer akuten Krise, Montenegro hat einen an-
Politik in allen Bereichen, von Bildung bis tidemokratischen Herrscher, der seit 25 Jah-
Föderalismus und auch Flüchtlingspolitik. ren das Land führt und die Opposition nie-
Die Politik wird von Ad-hoc-Kräften getrie- derschmettert, wenn sie auf die Straße geht.
ben – und von der FPÖ. Man ist dafür auch Mit diesen Ländern schmiedet Österreich
bereit, Prinzipien wie die Willkommenskul- Allianzen und kompromittiert dort die De-
tur, die Werner Faymann stark verteidigt hat, mokratie.
hinter sich zu lassen. ZEIT: Wie denn das?
Dzihic: Die Perspektive einer EU-Mitglied-
schaft ist die Motivation für Demokratisie-
rungsprozesse. Irgendwann aber müssen die
Vedran Dzihic ist 28 EU-Staaten darüber abstimmen, ob Ser-
Politikwissenschaftler bien die Verhandlungen abschließen kann
am Österreichischen oder ob Mazedonien den nächsten Schritt in
Institut für der Integration macht. Na ja, raten Sie mal,
internationale Politik was Griechenland dazu sagen wird? Da kann
Österreich noch so stark die Erweiterungs-
ZEIT: Die Umkehr wird begründet: Öster- politik pushen, die Watschen wird man zu-
reich habe seine Belastungsgrenze erreicht. rückbekommen.
Dzihic: Aber stellen Sie sich mal vor, ein SPÖ- ZEIT: Glaubt man in Österreich überhaupt
Wähler hat sich am Westbahnhof oder an ei- noch an eine europäische Lösung?
ner Grenze für Flüchtlinge engagiert. Ein paar Dzihic: Gerade in der Europäischen Union
Monate später soll er nun glücklich darüber braucht man Handschlagqualität. Egal was in
sein, dass ein Zaun aufgestellt sowie die Ver- den nächsten Wochen und Monaten ge-
teidigungsgrenze für Österreich in den Balkan schieht: Österreich wird nicht zehn Jahre lang
geschoben wird und man der griechischen in dieser isolierten Situation verbleiben kön-
Syriza eins auswischen will? Ein Sozialdemo- nen. Man hat strategische Fehler gemacht.
krat kann nur verwirrt sein. Wenn aber das Das wird sich rächen, und zwar in vielen Be-
Ergebnis einer Politik Menschen verwirrt zu- reichen. Ich bin sehr neugierig darauf, wie
rücklässt, dann ist das keine gute Politik. Österreich das reparieren möchte.
ZEIT: Erkennen Sie Motive bei den einzelnen
Akteuren? Die Fragen stellte Florian Gasser
Dzihic: Bei Sebastian Kurz ist es der Wille zur
Macht, das ist per se nichts Schlechtes. Es ist
ja nur noch eine Frage der Zeit, wann Kurz
die Spitze der Volkspartei übernimmt. Was
wir aber nicht wissen: Reicht seine politische
Erfahrung aus, um eine substanzielle, funda-
mentale Strategie nicht nur zu entwickeln,
Mehr Österreich
sondern auch durchzuziehen? Ob in seinem
Kopf bereits andere Koalitionsformen he-
rumschwirren und in welcher Position er sich
dort sieht, das kann keiner sagen.
ZEIT: Und die Innenministerin?
Dzihic: Johanna Mikl-Leitner hat keine lang-
fristige Perspektive in der Bundes-ÖVP, sie
handelt aus Überzeugung. Sie glaubt wirklich
daran, dass es eine Schande ist, dass Berlin so ROBIN LUMSDEN
über Wien herzieht. Denn Österreich habe ja Man beschimpfte ihn als »Neger«,
in der Flüchtlingskrise so viel getan. dann wurde er Patriot und Elitesoldat.
ZEIT: Damit hat sie recht. Jetzt nutzt der Anwalt seine Hautfarbe
Dzihic: Ja, und das ist das Schwierige daran. als Markenzeichen Wirtschaft S. 30
Natürlich hat sich Österreich solidarisch ver-
3 . M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 11

Das ÖSTERREICH Porträt 30

Jus und
Jamaika
Als Kind wurde Robin Lumsden von
Skinheads verprügelt. Aus Trotz wurde er
zum Patrioten. Seine Hautfarbe hat der
Anwalt zum Markenzeichen gemacht
Integrationsbotschafter und Anwalt:
VON ANJA REITER Robin Lumsden im Wiener Caritas-
Hotel Magdas

Foto: Philipp Horak für DIE ZEIT


Z
wei Eier zum Frühstück. Robin Sebastian Kurz, Vizepräsident des Österreichischen In Wien-Margareten schluckt die Tiefgarage den der Uni Wien zog er hurtig durch, das Post- Für Außenminister Sebastian Kurz ist Lumsden
Lumsden schlängelt sich durch die Tennisverbands und Wirtschaftsanwalt. dunklen BMW. Lumsden schnappt seine Aktentasche Graduate-Studium an der Berkeley Law School das Idealbild eines Migranten: gebildet, gut ausse-
Reihen des Cafés Landtmann am Der BMW wartet vor dem Kaffeehaus. Lumsden und gleitet mit dem Aufzug in den fünften Stock. »Out finanzierte er über einen Kredit. »Ein Studium aus hend, leistungsbereit. Doch reicht die Hautfarbe
Wiener Ring. Er trägt die Uniform faltet seine langen Beine in den tiefen Wagen. »Ich of many people one people« steht auf dem Türschild am rein inhaltlichem Interesse zu wählen ist Luxus«, allein, um als Integrationsbotschafter ein Vorbild
des Anwalts: korrekter Anzug, ma- nehme fast immer das Auto«, sagt er. So oft sei er als Eingang zu seiner Kanzlei: aus vielen Völkern ein Volk. sagt er. Seinen drei Kindern und seiner Frau – einer zu sein? Lumsden wurde in Österreich geboren und
rineblaue Krawatte mit Webmuster, Kind von der Heimatstadt Baden nach Wien gebim- Es ist das offizielle Staatsmotto Jamaikas, das Lumsden Soziologin, die er noch in der Schulzeit kennen- ist privilegiert im Vergleich zu jenen, die erst Spra-
das weiße Hemd mit seinen Initia- melt, dass er keine Lust mehr auf öffentliche Verkehrs- als ehrenamtlicher Konsul vertritt. Wie ein »wasch- lernte – will er vor allem ein sicheres Leben bieten. che und kulturelle Gepflogenheiten erlernen müs-
len bestickt. Dort und da hebt er die Hand zum Gruß mittel habe. Einmal sei er sogar aus der Badner Bahn echter Österreicher« fühle er sich nicht, sagt Lumsden. Nach Stationen bei Anwaltskanzleien in Wien sen. Kann einer wie Lumsden Mut machen und
– Mandanten, Tennisfreunde, Bekannte. Das Bad in rausgeschmissen worden: weil der Schaffner meinte, Seine jamaikanischen Wurzeln sind ihm wichtig – machte sich Lumsden 2013 selbstständig. Stolz Antworten bieten für die Integrationsfragen von
der gehobenen Wiener Gesellschaft gefällt ihm. er gehöre ins Flüchtlingslager in Traiskirchen gesteckt. selbst wenn er dort bisher nur im Urlaub war. präsentiert er Gästen sein Büro: einen kahlen Raum, Tausenden Flüchtlingen? Lumsden weicht der
Früher war Lumsden der Alien unter den Gleich- Robin Lumsden wuchs bei der Mutter auf, die ein Das Tennisspielen an den Nagel zu hängen sei die roter Stuhl, rote Säule, auffallend aufgeräumter Frage aus. Zur Flüchtlingsthematik wolle er sich gar
altrigen. Wegen seiner dunklen Hautfarbe wurde er kleines Tourismusunternehmen leitete. Sein Vater beste Entscheidung seines Lebens gewesen, sagt Lums- Schreibtisch. Als Kind habe er sich oft schlecht kon- nicht äußern. »Es ist mir wichtig, dass die Themen
als »Neger« beschimpft und von Skinheads verprügelt. Lance Lumsden, ein Lebemann mit Dreadlocks aus den, intellektuell fühlte er sich davon nicht befriedigt. zentrieren können, sagt Lumsden, heute wisse er Integration und die aktuelle Flüchtlingsdiskussion
Eine Lehrerin habe ihm im Turnunterricht die dunk- Jamaika, lebte getrennt von der Familie. Ähnlich um- Auf der Suche nach neuen Aufgaben ging er nach der besser mit der Konzentrationsschwäche umzuge- getrennt werden«, sagt er ganz im Kurz-Jargon. Dass
le Farbe von der Haut waschen wollen, erzählt Lums- triebig wie sein Sohn, verdiente Lance Lumsden sein Matura zum Jagdkommando, der Eliteeinheit des hen: durch Struktur und Aufgeräumtheit. er als Integrationserfolg gelte, darüber könne man
den. »So richtig dazugehört habe ich damals nicht.« Geld als Daviscup-Spieler, Journalist und Musiker. Er Bundesheers. »Ich bin Patriot. Jeder soll einen Beitrag Seine Mandanten sind vielfältig: Am Vormittag sich aber trefflich streiten, sagt selbst Lumsden.
Als Sohn einer Österreicherin und eines Jamaika- wollte Robin auf den Tenniscourts gewinnen sehen leisten für sein Land«, sagt er. Wegen seines »anderen ruft ein Migrant mit Fragen zum Aufenthaltsrecht Die blank geputzten Schuhe mit den Spitzen
ners glaubte Lumsden, mehr leisten zu müssen als die und drängte ihn zum Training – mit Erfolg: Der Sohn Phänotyps«, wie er seine Hautfarbe gerne nennt, stieß an, nachmittags berät er den Manager eines öster- nach vorne gekehrt, sitzt Robin Lumsden später
anderen. »Es reicht nicht, gut zu sein. Ich wollte immer schaffte es als Teenager bis nach Wimbledon. Mitt- er beim Heer erneut auf Ressentiments. »Viele Mei- reichischen Start-ups beim Markteintritt in die entspannt im Besprechungszimmer und streicht
noch besser sein«, sagt Lumsden. »Integration durch lerweile ist Lance Lumsden verstorben. Seine lang- nungen dort sind schon vorgefertigt«, sagt Lumsden. USA. Auch Stiefmama Chris Lohner zählt zu den sich über die raspelkurzen Haare. Jour fixe mit
Leistung« ist sein Credo, von dem er gerne erzählt. Mit jährige Partnerin, die Moderatorin Chris Lohner, sah Als guter Kamerad musste er erst überzeugen. Klienten: Als sie die Nutzungsrechte an ihrer Stim- seinem Kanzleiteam. Ein wenig wirkt Lumsden wie
39 Jahren hat er den Lebenslauf eines Tausendsassas: den Druck. »Ich habe oft dagegen gewettert, denn ich Zum Jus-Studium brachte ihn der Pragmatismus. me an die ÖBB verkaufte, gab ihr Lumsden recht- dem Stockphoto-Archiv für Businessmodels ent-
Er war Tennisprofi und Bundesheeroffizier, ist Hono- fand, Robin sollte sich selbst finden und nicht die Lumsden erhoffte sich ein großzügiges Einkommen lichen Beistand. Seine Kanzlei vertritt auch den sprungen: sympathisch, aber glatt. Sein Ton ist
rarkonsul von Jamaika, Integrationsbotschafter von Wünsche des Vaters um jeden Preis erfüllen«, sagt sie. und gute Zukunftsperspektiven. Die Prüfungen an Flughafen Wien bei einer millionenschweren Klage freundschaftlich, aber bestimmt. Die Leistungs-
des früheren Flughafenshop-Betreibers Rasha Sar- abrechnung funktioniere nicht, bemängelt Lums-
dana, die in den USA ausgefochten wird. den und knetet seine Finger. Das müsse sich ändern.
Als Anwalt scheint Lumsden seinen Platz in der »Fehler können jedem passieren, nur nicht
Wirtschaftswelt gefunden zu haben. An der Wand zweimal«, sagt er nach der Konferenz. Er ist streng
im Flur der Kanzlei hängt ein adaptiertes Filmplakat mit anderen, aber auch mit sich selbst. Er liebt
von Quentin Tarantino: »Lawyers unchained« steht Prozessoptimierung. Den Kellner in seinem Stamm-
darauf, mit einem selbstbewussten Lumsden im beisel lässt er die zehn Prozent Trinkgeld selbst-
Vordergrund, der für die Hauptrolle posiert. ständig aufrechnen. Das schont Ressourcen.
Seine Hautfarbe sieht Lumsden jetzt nicht mehr Der nächste Termin drängt. Volker Hafner eilt
als Hindernis, im Gegenteil. »Ich nutzte meinen in die Kanzlei, Lumsdens Teilzeitchauffeur. Die
multikulturellen Background als Asset für den beiden kennen sich seit der Kindheit in Baden.
Anwaltsberuf«, sagt Lumsden und lächelt gewin- Hafner, studierter Philosoph, ist mittlerweile Taxi-
nend. Seine Sätze im niederösterreichischen Dia- unternehmer. Für Lumsden ist er aber mehr als das:
lekt, mit lang gezogenen Vokalen, würzt er mit »Er ist mein Freund und Thinktank. Der intellek-
Anglizismen. In Österreich will er sich mit seiner tuelle Austausch mit ihm gibt mir enorm viel.«
Internationalität vermarkten. Das Motto »Vielfalt Hafner recherchiert auch für Reden des Anwalts
als Qualifikation« hat er beim Studium in Berkeley und berät ihn bei wichtigen Entscheidungen. Es ist
aufgeschnappt. Und beim Sport, wo ohnehin nur eine von Lumsdens Taktiken und Talenten: Er
die Leistung und nicht die Hautfarbe zählt. schart Menschen um sich, die ihn mit ihren Er-
Außenminister Sebastian Kurz hat Lumsden fahrungen inspirieren.
kürzlich zum Integrationsbotschafter ernannt. Das Bei der Fahrt löchert Lumsden seinen Fahrer mit
werden jene Österreicher mit Migrationshinter- Fragen. Geht es nach ihm, soll die Kanzlei nicht die
grund, die sich nach Meinung des Ministers be- letzte Station des Musterkarrieristen bleiben. Lange
sonders gut integriert haben und als Vorbild her- schon drängt er seinen Freund und Vorgesetzten zu
halten sollen. Unlängst wurde Lumsden von seinem einem Quereinstieg in die Politik. Die junge Gene-
ehemaligen Gymnasium zur Podiumsdiskussion ration der Volkspartei decke sich am ehesten mit
nach Baden eingeladen. Mucksmäuschenstill sei es dessen politischen Einstellungen, meint Hafner.
gewesen, als er im schicken Anzug die Tribüne der Lumsden selbst findet den Gedanken an die Politik
Schulaula betrat. Mit seiner Erfolgsgeschichte habe reizvoll. »Man kann dieses Österreich viel besser
er viele Schüler gestärkt, die selbst Migrationshin- machen«, sagt er. Ein kleines Rad im System zu sein
tergrund oder eine Behinderung hätten, sagt eine – das wäre für einen wie Robin Lumsden aber unbe-
Lehrerin hinterher. Andere Schüler hätten mit dem friedigend. Wenn schon, möchte er lieber einen
Strahlemann und vermeintlichen Alleskönner hin- großen Beitrag leisten, sagt Lumsden – getreu seiner
gegen nicht so viel anfangen können. Maxime: »Eine Stopptaste gibt es nicht.«

Zwischenbilanz
Erfolge Misserfolge
1993
Wimbledon
Als Teenager qualifiziert sich Robin
Lumsden für die Junior Championships
in Wimbledon

2013
2015
Mentor
Millionenklage
Ein von Lumsden fertig ausgebildeter
Der Flughafen Wien engagiert Lumsden junger Rechtsanwalt entschließt sich,
als Verteidiger in einem den Anwaltsberuf nicht mehr auszuüben.
millionenschweren Prozess: Der frühere Für Lumsden, der sich als sein Mentor
Shopbetreiber Sardana verklagt die sah, eine große persönliche Niederlage
Flughafengesellschaft in den USA
wegen Diskriminierung
PREIS SCHWEIZ 7.30 CHF
DIE
WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR
ZEIT 3. MÄRZ 2016 No 11

In dieser Ausgabe:
Das neue Magazin
ZEIT Doctor
Antibiotika:
Wann sie wirklich
nötig sind – und
wann nicht
Rückenschmerzen:
Operieren oder
trainieren? Was
Ärzte wirklich
denken

Eine Volkspartei fürchtet das Volk


Titelillustration: Smetek für DIE ZEIT

Bei den Landtagswahlen können die Bürger zum ersten Mal über die Flüchtlingspolitik abstimmen.
Angela Merkel gibt sich gelassen. Doch gerade das macht die Basis der CDU so nervös.
Was die Wahlkämpfer zurzeit erleben, ist für viele von ihnen ein Schock DOSSIER

ZEIT : Schweiz
VORWAHLEN IN DEN USA DURCHSETZUNGSINITIATIVE
Unternehmer,
mischt euch ein!

Brutal erfolgreich Einmal ist keinmal Was die Wirtschaft


tun muss, um wieder
gehört zu werden
Donald Trump versetzt die Republikaner in Schockstarre. Dabei Die SVP kassiert eine herbe Niederlage. Damit es nicht die letzte Seite 10
treibt er deren Politik nur auf die Spitze VON KERSTIN KOHLENBERG bleibt, braucht es aber mehr. Eine Anleitung VON MATTHIAS DAUM
PROMINENT IGNORIERT

J D
etzt wollen die Republikaner es nicht Man nennt das trickle down economics. Es ist er 28. Februar 2016 war ein lernt. Über die Jahre war sie nach und nach zum
gewesen sein. Dabei ist Donald Trump nicht gerade ein stolzes Bild, das die Partei da großer Tag für die Schweiz. Es Juniorpartner der Nationalkonservativen gewor-
nichts anderes als ein Kind seiner Partei. von dem ehemaligen Rückgrat Amerikas malt, war der Tag, an dem die Welt den. Ihr Präsident träumte vom bürgerlichen
Doch die weigert sich stur, Verantwortung der weißen Arbeiterschaft. Eher das von gebeug- auf das Land schaute und fest- Schulterschluss, bis es ihm diesmal im Abstim-
für ihn zu übernehmen. Monatelang hat ten Menschen, die am Boden die Krumen auf- stellte: Da verteidigte ein Volk mungskampf um die SVP-Zwängerei den De-
sie ihrem Intensivtäter wie gelähmt zu- sammeln. Die Unterschichten-Wähler haben seine Grundrechte gegen einen ckel lupfte: »Die Initianten verstehen ihre eigene
geschaut. Er war ihr peinlich, aber sie hoffte, er sich daran lange nicht gestört. Die Republikaner Angriff von rechts. Da versenkte eine klare Mehr- Initiative nicht!« Und siehe da: Seine Wähler
würde bald von der Bildfläche verschwinden. Mitt- hatten es geschafft, liberale Anliegen wie das heit eine Initiative der SVP. Und stellte sich damit folgten ihm, drei Viertel lehnten die Vorlage ab.
lerweile jedoch steht der Partei der Angstschweiß Recht auf Abtreibung, die Freigabe der Homo- gegen den Zeitgeist. Viertens: Kneifen gilt nicht. SVP-Politiker
auf der Stirn, denn Trump gewann eine Vorwahl
nach der anderen und zwang der Grand Old
Ehe oder bessere Waffenkontrolle als bedrohli-
cher für die Arbeiter darzustellen als die Macht
Aber bei aller Freude: Es ist nicht alles anders wiederholen das immer gleiche Argument.
in der Schweiz nach diesem denkwürdigen Sonn- Egal, wie falsch es ist. Die Initiativengegner
Schlafgeschichte
Party seinen brutalen Stil auf (die Wahlergebnisse der Reichen. Geräuschlos wurden die Steuern tag. Seit bald einem Vierteljahrhundert nehmen ließen sich davon nicht beeindrucken. Ob auf Die deutsche Möbelindustrie hat
des Super Tuesday lagen bei Redaktionsschluss der Reichen gesenkt, die staatlichen Leistungen die Nationalkonservativen das Land in den geisti- Twitter, auf Facebook, in Leserbriefen, in Mei- ihren Umsatz gesteigert, um 4,3
noch nicht vor). Dass er nur auf die Spitze treibt, für die Armen zurückgefahren, die Löhne ge- gen Schwitzkasten. Geht es um Ausländer oder nungsartikeln oder, wo es ihn noch gibt, am Prozent im Inland, um 10,5 im
was die Partei ihm vorgemacht hat, wollen die kürzt und viele Jobs ins Ausland verlegt. Eben die Europäische Union, diktieren sie die Agenda Stammtisch: Überall hielten sie dagegen. Das Ausland. Die inländische Zunah-
Republikaner nicht wahrhaben. mit diesem Modell hat die Partei den Boden für und treiben die anderen Parteien vor sich her. Die war nicht immer auf einem hohen Debatten- me des Matratzenverkaufs um 24
Trumps brutale Gefühlsoffensive bereitet. SVP und ihr Denken, ihre Ideologie sind längst niveau, aber es nützte. Prozent gibt zu denken. Schlafen
Dem Aufstand der Wähler will die Partei Wenn er jetzt sagt: Ich liebe die schlecht Aus- in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Fünftens: Nachgeben gibt’s nicht. Die SVP die Deutschen so fest und schwer,
einen Putsch entgegensetzen gebildeten, ich werde eure Sozialversicherung Was also braucht es, damit die hat ein gutes Näschen. Sie dass ihre Matratzen darunter lei-
schützen – dann findet Trump bei vielen Arbei- Niederlage vom Sonntag nicht spürt, was die Menschen um- den? »Unsere ganze Geschichte ist
Sie waren es, die das wichtigste Werkzeug der tern Gehör. Dass er die Folter wieder einführen die letzte bleibt? Sechs Lehren treibt. Zum Beispiel: kriminelle bloß Geschichte des wachenden
demokratischen Politik – den Kompromiss – will und auch die Familien von Terroristen um- aus dem Abstimmungskampf. Ausländer. Diese Angst nahmen Menschen«, sagte Lichtenberg, »an
zerstört haben. Im Kampf gegen Präsident bringen will, stört sie nicht. Es beweist ihnen Erstens: Hoffen bringt nichts. auch die Gegner ernst, sie ga- die Geschichte des schlafenden hat
Barack Obama wollten sie den totalen Sieg. Und eher, dass dieser Mann vor nichts zurückscheut. Die Niederlage hat der SVP zu- ben ihr aber nicht blindlings noch niemand gedacht.« GRN.
so stellten sie sich mit verschränkten Armen in Die Partei ist in Panik. Allein, es fehlen ihr die gesetzt. Und wie immer, wenn es nach. Stattdessen machten sie Kleine Bilder (v. o.): Alessandro Gottardo für DIE
die Ecke und erklärten jeglichen Ausgleich zum Mittel, das Monster, das sie geschaffen hat, zu in der Partei kriselt, spekulieren den Schweizern klar: Niemand ZEIT; Harald Braun/Plainpicture; CI2/Plainpicture;
Verrat. Immer wieder drohten sie damit, die stoppen. Die Republikaner können sich nicht ein- ihre Gegner auf den großen will Räuber und Vergewaltiger Lea Hepp für DIE ZEIT (l.)

Regierung zum Stillstand zu bringen, sollte diese mal untereinander auf ein Vorgehen einigen, wie Hauskrach. Doch der wird nicht Matthias Daum verhätscheln. Aber soll man
ihren Vorstellungen nicht folgen. Und als jüngst das Schlimmste zu verhindern wäre: eine Kandi- kommen. Die SVP ist straff or- leitet die Schweiz-Seiten deswegen den Rechtsstaat zer- Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
20079 Hamburg
der republikanische Pragmatiker John Boehner, datur dieses Mannes oder gar seine Präsident- ganisiert, kennt strenge Hierar- der ZEIT deppern? Nein, die bestehen- Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:
Sprecher des Repräsentantenhauses, das Hand- schaft. Sie müssten dazu die Fehler der eigenen chien. Ganz nach dem Blocher- den Gesetze sind pfefferscharf DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
tuch warf, jubelte die Partei wie befreit. Warum Politik erkennen, die das Phänomen Trump mög- Prinzip: Wer zahlt, befiehlt. genug. ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
also soll Donald Trump nun respektvoll und ge- lich gemacht haben. Stattdessen sehen sie schock- Zweitens: Wegducken funktioniert nicht. Sechstens: Nie zufrieden sein. Der SVP geht ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
mäßigt auftreten, wenn seine Partei sich schon starr zu, wie er sie auf den Abgrund zutreibt. Wer die SVP bodigen will, muss sich ihr entge- es immer ums Ganze. Hinter ihrer Politik steckt
seit Jahren in Respektlosigkeit und Blockade ge- Aus dem Undenkbaren ist das Wahrschein- genstellen. Entschlossen und breit abgestützt. zwar kein verschwörerischer Masterplan, aber ein Abonnement Österreich,
fällt? Trump hat die Politik des Brutalismus nicht liche geworden: dass die republikanischen Wäh- Rückblickend war es für die Initiativengegner System: Mach kaputt, was deine Macht kaputt Schweiz, restliches Ausland
erfunden, er hat sie nur perfektioniert. ler Donald Trump in den Zweikampf ums Weiße ein Glück, dass sich die reichen Wirtschaftsver- macht. Also die Institutionen, die Grundwerte, DIE ZEIT Leserservice,
20080 Hamburg, Deutschland
Er wendet sie bevorzugt gegen Mexikaner, Haus schicken. Nun macht eine verzweifelte Idee bände lange davor drückten, gegen die Vorlage die ausgefeilte Balance zwischen direkter Demo- Telefon +49-40 / 42 23 70 70
Muslime und Frauen an. Doch auch vor seiner die Runde: ob man nicht im Zweifelsfall die anzutreten. Nur so konnte sich eine spontane kratie und Verfassungsprinzipien. Das haben ihre Fax +49-40 / 42 23 70 90
eigenen Partei macht er nicht halt. Er pfeift auf Stimmen der Wähler einfach ignorieren solle, um politische Massenbewegung bilden aus empör- Gegner in diesem Abstimmungskampf verstan- E-Mail: abo@zeit.de
deren ideologische Vorgaben. Er ist gegen den dann unter Zuhilfenahme komplizierter Nomi- ten Jungen, engagierten Rentnern und Jura- den. Sie gingen aufs Ganze.
Freihandel, gegen eine Kürzung der Sozialver- nierungsregeln Trump noch auf dem Parteitag Professoren. Ihr war die überrumpelte SVP nicht Ob all das reicht, um bei den nächsten Ab-
sicherungsleistungen, und er kann Planned im Sommer zu verhindern. Dem Aufstand der gewachsen. Aber so schnell die Zivilgesellschaft stimmungen wieder gegen die SVP zu bestehen?
o
Parenthood, einem medizinischen Dienst, der
auch Abtreibungen vornimmt, viel Gutes abge-
winnen. Trump mischt Brutalismus mit Empa-
thie. Dass er damit so erfolgreich ist, treibt die
Wähler will die Partei einen Putsch entgegen-
setzen. Trump hat die Partei nicht zerstört, er hat
ihre Selbstdemontage nur vollendet. Irgendwann
muss sie neu gegründet werden. Am besten bald.
aufsteht, so rasch sitzt sie wieder ab. Um auch Das wird sich bald zeigen. Im Juni kommt das
kommende wichtige Abstimmungen zu gewin- revidierte Asylgesetz vor das Volk, und für ihre
nen, müssen Verbände und Parteien selbst ran – Initiative »Landesrecht vor Völkerrecht«, mit der
und ihre Millionen lockermachen. sie die Europäische Menschenrechtskonvention
N 11
7 1. J A H RG A N G C 7451 C

Partei zum Wahnsinn. Denn Mitgefühl ist eine Drittens: Wischiwaschi gibt’s nicht. Die aufkündigen will, hat die Partei bereits über
Regung, die sie sich schon lange ausgetrieben hat. Siehe auch Wirtschaft, Seite 21: Macht der SVP kann sich erst entfalten, wenn 100 000 Unterschriften gesammelt.

Seit Jahrzehnten wiederholen die Republika- Wie die Ungleichheit Trumps Aufstieg befördert sich die anderen Parteien ihr anbiedern. Das ist Der 28. Februar 2016 war keine Zeitenwen-
ner gebetsmühlenartig, dass die Arbeiterklasse diesmal nicht passiert. Die FDP zum Beispiel hat de. Aber er war ein Anfang. Die SVP-Gegner
davon profitiere, wenn es den Reichen gut gehe. www.zeit.de/audio aus ihren schlechten Erfahrungen offenbar ge- wissen nun, wie Siegen geht. CH   
10 SCHWEIZ NACH DER SVP-INITIATIVE
3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

Mischt euch ein!


Was Unternehmer und Manager tun müssen, damit die Schweiz ihre Standortvorteile nicht verliert VON K ATJA GENTINETTA UND HEIKE SCHOLTEN

Nach der

N
och ist die Welt in Ordnung.« Wirtschaft stagnierte. Umgemünzt auf heute müsste Initiative beide vom Souverän abgelehnt, lanciert Aber den Mut dazu haben nur wenige Verwal-
Das sagte uns ein Manager auf er lauten: Das Engagement beginnt im Kopf. wurden sie von Jungsozialisten und Gewerkschaften. tungsratspräsidenten und CEOs. Gerade wenn es
SVP-Initiative die Frage, wie er die wirtschaft-
liche Lage in der Schweiz ein-
Die Wirtschaftselite in der Schweiz, die auf den Und so resümiert einer der Unternehmer nüchtern:
globalen Markt ausgerichtet arbeitet, muss wieder »Die wirkliche Gefahr kommt von rechts.«
darum geht, auch innerhalb des Unternehmens über
Politik zu sprechen. Sie spielt in den meisten Unter-
Die Niederlage war schätze. Er meint: Bei den Fak- stärker Teil des politischen Lebens werden. Sie muss Denn die Schweiz sieht sich heute – sosehr sie ih- nehmen nur eine kleine Rolle. Natürlich wären mit
toren, die er als Firmenchef kal- sich bewusst sein: Standortqualitäten sind weder ge- ren Sonderfall auch bemüht – vor denselben Heraus- einem offensiveren Vorgehen auch Risiken verbun-
überraschend deutlich: kulieren könne, schneide das geben, noch können sie ohne eigene Anstrengungen forderungen wie ihre europäischen Nachbarländer den. Darauf angesprochen, sagte ein Unternehmer:
58,9 Prozent der Schweizer Land noch gut ab. Aber gehe es um die politische erhalten bleiben. Und das gelingt nur, wenn sich die und alle anderen westlichen Staaten. Sie steckt in ei- Er fürchte sich vor dem Vorwurf, seine Mitarbeiter zu
lehnten am Sonntag die Stabilität, da hege er deutliche Zweifel. Unternehmer und Manager auch in die öffentliche nem »Globalisierungstrilemma«, wie es der amerika- manipulieren. »Abstimmungsparolen hinaushängen
Der Mann ist mit dieser Meinung nicht allein. Diskussion persönlich einbringen. In der Res publica nische Politologe Dani Rodrik nennt. Also im Span- ist unschweizerisch.« Deshalb halte er sich zurück.
Durchsetzungsinitiative der Das zeigte sich, als wir für die Studie Haben Unter- können sie ihre berechtigten Anliegen platzieren, die nungsdreieck von Demokratie, Souveränität und Doch liegt diese Informationsaufgabe in seiner
SVP ab. nehmen eine Heimat? mit 25 CEOs, deren Firmen auch der Volkswirtschaft und der Gesellschaft zugute- Globalisierung. Und damit vor der wahrscheinlich Verantwortung. Mitarbeitende sollten wissen, welche
ihren Hauptsitz in der Schweiz haben, über den kommen. Nur so werden Öffent- größten gesellschaftlichen Heraus- Konsequenzen politische Entscheide für das Unter-
Was aber braucht es, damit Standort sprachen. In den Gesprächen wurde klar: lichkeit und Politik wieder Vertrau- forderung seit der Überwindung des nehmen und ihre Arbeitsplätze haben. Es ist an den
der 28. Februar 2016 nicht Die Schweiz ist für viele zwar noch immer ein Ideal. en in die Wirtschaft fassen. Oder Feudalsystems. Managern und Unternehmern, sich vor die Beleg-
eine Randnotiz der Aber »die Wertepfeiler beginnen zu rosten«. Die Un-
ternehmer sorgen sich um das ungeklärte und damit
wie ein Unternehmer es treffend
sagte: »Wir müssen den Leuten er-
Die Studie Eigentlich hätte die Schweiz gute
Voraussetzungen, dass ihr dies ge-
schaft zu stellen. So können ihre Angestellten wirt-
schaftspolitisch relevante Fragen aus verschiedenen
jüngeren Geschichte wird? unsichere Verhältnis der Schweiz zur Europäischen klären, was wir brauchen und wel- lingt. Seit sie ihre Wirtschaft Ende Perspektiven einordnen. Und schließlich haben Un-
Dranbleiben, fordert ZEIT- Union. Sie fürchten den Mangel an Fachkräften und chen Nutzen das für alle hat.« Haben Unternehmen des 19. Jahrhunderts in den Welt- ternehmen, die ausländische Arbeitskräfte beschäfti-
Büroleiter Matthias Daum Talenten – und sie haben mit dem Franken-Euro- Jeder politische Entscheid in der eine Heimat? Das fragten markt integrierte, wurden handels- gen, auch einen Integrationsauftrag, der über den
Wechselkurs zu kämpfen. Schweiz basiert auf einem möglichst Katja Gentinetta und politische Offenheit und staatliche Arbeitsalltag hinausgeht: die Förderung des kulturel-
in seinem Leitartikel Es stellt sich also die Frage: Was können Unter- weitgehenden Konsens der Betroffe- Regulierung immer gegeneinander len Verständnisses für die Schweiz – wozu auch die
Heike Scholten zwei
(Seite 1). Wer gegen die nehmen und Manager in der Schweiz tun, damit sich nen. Um die Standortqualität des Dutzend Firmenchefs, abgewogen. Durch die Einbindung direkte Demokratie gehört.
Nationalkonservativen ihre wirtschaftlichen Rahmenbedingungen an ihrem Landes zu erhalten, ist es deshalb deren Unternehmen in der Wirtschaft und weiterer Interes- Echtes politisches Engagement der Wirtschaft be-
Standort nicht verschlechtern? Welchen Beitrag kön- existenziell, dass auch die Meinung der Schweiz ihren senvertreter war es möglich, außen- deutete, sich auch mit nicht genuin wirtschaftspoliti-
bestehen will, muss ihnen nen sie zur Stabilität einer Demokratie leisten? der Wirtschaft gehört wird. Es ist und binnenwirtschaftliche Anliegen schen Themen auseinanderzusetzen – und die eigene
Hauptsitz haben. Die
ständig Paroli bieten. Die Antwort lautet: Mischt euch ein! Seid Citoyens! diese wechselseitige Durchlässigkeit Gespräche dokumentier- zu berücksichtigen. Die Politik konn- Haltung in die Diskussionen einzubringen. Nur wer
Auf eine zivilgesellschaftliche Bewegung, wie sie sich von Wirtschaft und Politik, welche ten sie in anonymen te zwischen Demokratie und Globa- auch die Anliegen und Sichtweisen anderer Kräfte
Die Politikberaterinnen bei der Durchsetzungsinitiative entwickelt hat, kann die Schweiz stark machte. lisierung vermitteln. nachvollziehen kann, nur wer Einblicke in unter-
Porträts und ergänzten
Katja Gentinetta und Heike sich die Wirtschaftselite nicht einfach verlassen. Deshalb der Rat an die Unter- sie durch eigene Essays. Das war kein fauler Kompro- schiedliche Lebens- und Erfahrungswelten erhält, ist
Scholten appellieren an die Von der politischen Kultur in der Schweiz sind be- nehmer und Manager: Werdet wie- Ein spannender Einblick miss, sondern folgte durchaus einer schließlich bereit für einen Kompromiss. Der eigene
sonders die ausländischen Manager angetan: Sie be- der Bürger! Eine neue Citoyenneté in die Denkwelt der innen- und wirtschaftspolitischen Blick auf die Welt und der eigene Standpunkt relati-
Schweizer Wirtschaftselite: zeichnen das politische System ihrer Wahlheimat als der Wirtschaft bietet die Chance, Logik und Vernunft. Zahlreiche in- vieren sich – mit dem Effekt, dass die eigene Positio-
hiesigen Wirtschaftselite.
Engagiert euch! Sonst ver- einen »großen, positiven Faktor« für das Land. »Diese die lange Miliztradition der Schweiz dustrialisierte Länder haben eine of- nierung meist weniger eindeutig und damit kompro-
liert das Land seine Urdemokratie: Jeder fühlt sich irgendwo verantwort- auf neue Art und Weise fortzu- Katja Gentinetta/Heike fene Wirtschaft, ausgebaute soziale missbereiter ausfällt.
Standortvorteile (Seite 10). lich«, sagte einer. Das wirke bis in die Unternehmen schreiben – und jene Gräben zu Scholten: Haben Unter- Sicherungssysteme und andere In- Die größte Furcht haben die Unternehmer davor,
hinein. Kritischer urteilen die Firmenchefs mit einem schließen, die sich in den vergange- nehmen eine Heimat? Hrsg.: stitutionen, die eine ausgleichende ihre Meinung zu veröffentlichen. So wissen alle unsere
Dazu gehört auch ein Schweizer Pass. Heute sei es schwieriger abzuschät- nen Jahren aufgetan haben. Gebert Rüf Stiftung; NZZ Funktion zwischen wirtschaftlicher Gesprächspartner um die Bedeutung der bilateralen Ver-
zen, wie der Staat die Wirtschaft reguliere. Damit Wie tief die Verwerfungen sind, libro 2016; 270 S., 40.– Fr. Globalisierung und nationalstaatli- träge mit der EU. Und darum, was auf dem Spiel steht,
funktionierendes schwinde die Planungssicherheit, die für die Unter- zeigte sich auch an Abstimmungs- cher Absicherung haben. wenn man mit ihnen pokert. Im vertraulichen Gespräch
Flüchtlingswesen. Bereits nehmen so wichtig sei. Die Entscheide auf allen po- sonntagen. Lange war es in der Auch der Politologe Rodrik weist fordern sie denn auch: »Wir müssen zu diesem Europa
im Juni entscheiden die litischen Ebenen seien – die Rechtsprechung einge- Schweiz ein Ding der Unmöglich- darauf hin, dass der Anteil des öf- stehen.« Trotzdem ist kaum einer bereit, klar dazu in der
Schweizer über ein neues schlossen – unvorhersehbarer geworden. keit, politische Anliegen gegen eine Koalition von fentlichen Sektors in Volkswirtschaften umso größer Öffentlichkeit Stellung zu beziehen. Schnell werde ei-
Kopfzerbrechen bereitet den Wirtschaftsführern Wirtschaft und bürgerlichen Parteien durchzusetzen. ist, je stärker entwickelt und je offener sie sind. Er nem dabei unterstellt: »Der will in die EU.« Dieses Ver-
Asylgesetz – die SVP ist zudem die zunehmende Zahl an Volksinitiativen, die Zu bröckeln begann die Koalition im Jahr 2004, als erkennt dies an einer erstaunlich positiven Korrelati- halten der Schweizer Wirtschaftselite erinnert an die
dagegen (Seite 11). auf die Standortqualitäten der Schweiz zielen. Aber das Steuerpaket vor dem Volk scheiterte. Es folgten on zwischen Staatsquote und Pro-Kopf-Einkommen. Schweigespirale: Wer sich auf der Seite der Mehrheits-
auch vermeintlich wirtschaftsfreundliche Volksbe- die Annahme der Abzocker-Initiative im März 2013 Daraus schließt er nach eingehender Prüfung, dass meinung wähnt, äußert diese frank und frei. Wer eine
gehren sorgen für Unsicherheit. Zum Beispiel die Ini- – eingereicht vom Unternehmer Thomas Minder – gut ausgebaute Wohlfahrtsstaaten sowie kluge andere Haltung vertritt, zieht sich zurück und schweigt
tiative »Ja zum Schutz der Privatsphäre«: Sie lasse die und die Masseneinwanderungsinitiative der SVP im Binnen- und Außenhandelsgesetzgebungen das Be- – aus Angst vor Isolation. In der Wahrnehmung der
Illustration: Jan Kruse für DIE ZEIT/www.humanempire.de; Fotos: Benjamin Hofer

Unternehmen im Ungewissen, ob das Bankgeheimnis Februar 2014. Sie markierte einen wirtschaftspoliti- dürfnis offener Volkswirtschaften belegen, sich auch Öffentlichkeit, wozu besonders auch das in den Massen-
im Inland weiterhin Bestand haben werde – oder schen Wendepunkt. gegen Risiken abzusichern, die der Welthandel ins medien vermittelte Meinungsbild gehört, scheint damit
nicht. Wer für den Erfolg einer Firma verantwortlich Die Geschlossenheit des wirtschaftsliberalen La- Land bringt. die Mehrheit größer, als sie ist, die Minderheit hingegen
ist, müsse sich bei solchen Initiativen ständig fragen: gers war aufgebrochen – und zwar aus zwei Gründen. Ein guter Wirtschaftsstandort »fällt nicht vom schwächer. Am Ende macht die vermeintliche Mehr-
»Was bedeutet sie für unser Unternehmen? Was be- Zum einen haben die großen Wirtschaftsverbände Himmel«. Abgesehen von natürlichen Gegebenhei- heitsmeinung die anderen mundtot. Aufgebrochen
deutet sie für die Schweiz?« immer mehr Schwierigkeiten, alle ihre Mitglieder zu ten und geografischer Lage ist er das Ergebnis von werden kann eine Schweigespirale nur durch mutige
So sind die Wirtschaftskreise zusehend verunsi- vertreten. Die Interessen driften zu stark auseinander, politischen Prozessen und Entscheiden. Und weil Abweichler – oder Citoyens.
chert, wie mit den weitreichenden Volksrechten um- und die größeren Unternehmen sind in der Lage und dem so ist, müssen die Unternehmen letztlich einen
gegangen werden soll. Nur ein Schweizer Manager gewillt, ihre Anliegen selbst in die Politik zu tragen. Beitrag für die Stabilität einer Demokratie leisten,
sprach von »stabilen, verlässlichen Rahmenbedingun- Dabei lobbyieren sie nicht nur in Bern, sondern auch wenn sie von ihrem Heimatstandort aus global agie- Heike Scholten, 44, ist selbstständige
gen«, um sogleich warnend anzufügen: »Wenn wir an in Brüssel. ren wollen. Dabei geht es nicht nur darum, die In- Politik- und Kommunikationsberaterin.
dieser Schraube drehen, dann machen wir einen gro- Zum anderen hadert die Wirtschaft mit den Na- frastruktur mitzufinanzieren. Wozu sowohl das Bil- Davor war sie stv. Kommunikations-
ßen Fehler.« Er brachte es auf den Punkt, was sich die tionalkonservativen. Sie bewirtschaften die Wachs- dungssystem als auch die Sozialwerke gehören. In ei- chefin bei Economiesuisse
Wirtschaft von der Politik wünscht: »Das Wichtigste tumsskepsis und die Globalisierungsängste, sie feiern ner Demokratie muss die Wirtschaft auch an ihr mit-
ist, dass die in Bern Entscheide fällen und dabei blei- den Schweizer Sonderfall und das helvetische Hei- wirken. Dazu braucht es Unternehmer und Manager
ben. Auf alles andere stellen wir uns dann ein.« matidyll. Die Abzocker- und die Masseneinwande- als Citoyens: Mit ihrer persönlichen Haltung in den Katja Gentinetta, 48, ist selbstständige
Also, was tun? rungsinitiative, die den Wirtschaftsstandort Schweiz Institutionen und mit ihrer Stimme in der Öffent- Politikphilosophin und -beraterin.
»Der Aufschwung beginnt im Kopf.« So lautete unmittelbar betreffen, kamen beide aus dieser Ecke. lichkeit. Denn: »Wer etwas ändern will, muss partizi- Davor war sie stv. Direktorin des
ein Slogan in den 1990er Jahren, als die Schweizer Hingegen wurden die »1 : 12«- und die Mindestlohn- pieren«, wie ein Manager sagt. Thinktanks Avenir Suisse
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1
NACH DER SVP-INITIATIVE
SCHWEIZ 11

A Weiter
m letzten Tag der Herbstsession ließ zu beziehen. Aber nicht die übliche, sondern et- Nase zu verdienen«, sagte Adrian Amstutz. Die Mit der Asylgesetzrevision würde sich daran
Adrian Amstutz die Bombe platzen. was mehr als Nothilfe. Sie dürften zwar bereits in Asylsuchenden würden damit »besser gestellt nichts ändern. Trotzdem sieht Stefan Frey »er-
Der Fraktionspräsident der SVP dieser Zeit arbeiten, faktisch haben sie aber keine als jeder Schweizer Bürger«, behauptet die SVP hebliche Fortschritte für das ganze System«. Er
schritt ans Rednerpult und verkün- Chance auf eine Stelle. in ihrem Argumentarium. geht davon aus, dass »unter dem Strich« sogar
dete, dass seine Partei das Referen- Der Nationalrat nahm das neue Gesetz mit Das ist falsch. Will man die Verfahren Geld gespart werden kann. Wenn 30 000 Asyl-
dum gegen das revidierte Asylgesetz ergreifen 99 zu 53 Stimmen bei zwölf Enthaltungen an. schneller, aber dennoch rechtsstaatlich korrekt suchende ein Jahr früher als bisher eine Arbeit
werde. »Mit dieser Revision wird den Leuten Der Ständerat behandelte das Geschäft bereits durchführen, braucht es die Rechtsvertreter. finden würden, könnte man – Handgelenk mal

geht die
Sand in die Augen gestreut«, sagte er. Und pol- im Juni und stimmte ihm mit 35 zu 3 Stimmen Und der unentgeltliche Rechtsschutz ist kein Pi – 750 Millionen Franken pro Jahr bei der
terte gegen die »Gratisanwälte«, die den Asylsu- bei fünf Enthaltungen zu. Privileg für Schweizer Bürger, sondern in der Sozialhilfe einsparen.
chenden im neuen Verfahren zur Seite gestellt Die Konsequenzen der Vorlage sind geprüft Bundesverfassung (Art. 29 Abs. 3) für jeden Weiter sollen mit dem neuen Asylgesetz die
werden sollen. und erprobt. Der Bund betreibt seit gut zwei Menschen garantiert, ebenso in der Europäi- komplizierten und langwierigen Bewilligungs-
Nach zehn Stunden Debatte, in der das Par- Jahren ein Testzentrum in Zürich-West, in dem schen Menschenrechtskonvention (Art. 6 und verfahren für Asylzentren vereinfacht werden.
lament gekämpft, gestritten und an einem Kom- die Asylverfahren bereits im Schnellmodus 13). Wenn sie bedürftig ist und ihr Prozess Die betroffenen Kantone und Gemeinden
promiss gefeilt hatte, stellte sich die SVP quer. durchgeführt werden. nicht völlig aussichtslos, hat jede Person An- würden zwar auch in Zukunft angehört und
Wieder einmal war ihr können gegen Bewilligungen
zu wenig, was der politi- rekurrieren. Doch als Ultima
sche Prozess hervorge- Ratio hat der Bund die Mög-
bracht hatte. Wieder lichkeit, Grundstücke zu
einmal reichte es ihr enteignen. »So wie dies üb-

Zwängerei
nicht, dass sich Bund, lich ist bei wichtigen öffent-
Kantone, Städte und lichen Aufgaben, die der
Gemeinden über den Staat für die Allgemeinheit
einzuschlagenden Weg erbringt«, heißt es beim
einig waren. Wie schon Staatssekretariat für Migrati-
bei der Durchsetzungs- on. Auch dagegen will die
initiative geht die SVP SVP kämpfen. »Nein zu
nun aufs Ganze. Sie will Gratisanwälten und Enteig-
ihre eigene Politik nungen!«, wird es von Plaka-
durchdrücken – oder ten schreien. Die Eigentums-
gar keine. rechte von Schweizer Bürger
Nun also müssen am würden so »mit Füßen ge-
5. Juni die Schweizer treten«, ja, das sei »totalitär«,
Stimmbürger über eine schimpfte Amstutz.
Vorlage befinden, die Die Gesetzesrevision wird
im Kern ein Ur-Anlie- von Links-Grün bis zur FDP
gen der SVP erfüllt: dass unterstützt; sogar die Flücht-
die Asylverfahren in der Schweiz schneller über Nach zehn Monaten stellten externe Gutachter spruch auf einen solchen »Gratisanwalt«. Das lingsorganisationen stellen sich dahinter, wenn
die Bühne gehen. dem Betrieb ein gutes Zeugnis aus: Es funktio- gilt für den armen Schlucker aus Luzern, den auch nicht vorbehaltlos. Aber die SVP geht aufs
Künftig soll es noch höchstens 140 Tage dau- niert! Die Verfahren können tatsächlich rascher Als Nächstes will die SVP das neue man des Mordes verdächtigt, ebenso wie für Ganze.
ern, bis ein Schutzsuchender weiß, ob er als »vor- abgewickelt und abgeschlossen werden. Die Qua- den Asylsuchenden aus Eritrea. Ihr schwebt ein Land vor, das »Vollkosten-
läufig Aufgenommener« im Status F oder als »an- lität der Entscheide ist gut, die Asylsuchenden Asylrecht kippen. Und wieder geht Kurzum: Mit der Diskussion über die rechnungen« führt, um dem Steuerzahler zu
erkannter Flüchtling« im Status B in der Schweiz akzeptieren sie. Will heißen: Sie reichen seltener »Gratisanwälte« stellt die SVP den Rechtsstaat zeigen, was ein »Asylant« kostet. Ein Land, in
bleiben darf – oder ob er zurück in sein Heimat- Rekurs ein als noch im heute geltenden System.
es ums Ganze: Um unseren neuerlich zur Disposition. dem Asylbewerber keine Sozialhilfe, sondern
land muss. Solange das Verfahren dauert, bleibt Und dies, obwohl ihnen vom ersten Tag des Ver- Rechtsstaat VON SAR AH JÄGGI »Das Referendum der SVP ist ein Frontal- nur noch Nothilfe erhalten. Ein Land, das seine
die Person in einem der sechs Bundeszentren und fahrens an ein kostenloser Rechtsvertreter zur Sei- angriff auf das Schweizer Asylrecht, das bereits Grenzkontrollen verschärft und nötigenfalls
ist für die Behörden rasch und gut erreichbar. te gestellt wird. Das Schweizer Schnellzug-Modell heute zu den härtesten in ganz Europa gehört«, das Militär an den Rhein stellt.
Dort befinden sich auch alle, die ins Verfahren machte Asylbehörden in Deutschland und Öster- sagt Stefan Frey, Mediensprecher der Schwei- Aber am liebsten würde die SVP das Asyl-
involviert sind: Mitarbeiter des Staatssekretariats reich hellhörig. Sie schickten hochrangige Delega- zer Flüchtlingshilfe. Er meint damit beispiels- recht gleich ganz abschaffen. Diese Idee
für Migration, Dolmetscher und Rechtsvertreter. tionen nach Zürich – und die waren beeindruckt. weise den Status der »vorläufig Aufgenomme- schlummert, verpackt in eine Volksinitiative,
Renitente Asylsuchende, welche die öffentliche Im bald beginnenden Abstimmungskampf nen«, den es in keinem anderen europäischen seit einiger Zeit in einer Schublade im Partei-
Sicherheit und Ordnung erheblich gefährden, dürfte das ausländische Lob kaum ins Gewicht Land gibt. Und nennt den Fall einer schwan- sekretariat. Ein Asylgesuch dürfte dann nur
müssen künftig zwingend in einem besonderen fallen. Alles wird sich um die »Gratisanwälte« geren Frau aus Syrien, die es während der noch stellen, wer nicht über ein Drittland in
Zentrum untergebracht werden. drehen, wie die SVP die Rechtsvertreter schimpft. Flucht in die Schweiz verschlagen hat. Ihr die Schweiz eingereist ist. Kein Afghane, der
Vorbei sollen die Zeiten sein, da ein Verfahren Sie machten das »Asyl-Land Schweiz« noch at- Partner aber ist in Holland gelandet. Nun darf aus Italien kam, kein Syrer aus Österreich.
bis zu drei Jahre dauern konnte, die Menschen traktiver und verleite Juristen dazu, in jedem sie ihn nicht besuchen. Als vorläufig Aufge- Sondern nur, wer sich einen Direktflug aus
eine gefühlte Ewigkeit in der Schwebe gehalten noch so aussichtslosen Fall »bis zum Gehtnicht- nommene sei sie, sagt Frey, »faktisch in der seiner kriegsgeplagten Heimat in die Schweiz
wurden – und dazu verdammt waren, Sozialhilfe mehr zu rekurrieren«, um sich »eine goldene Schweiz interniert«. leisten kann.

NORD-SÜD-ACHSE

Eine verpasste Chance


TITO TETTAMANTI über den »Weltwoche«-Roman von Bruno Ziauddin

Schlüsselromane wollen als wahre Geschichte sche Korrektheit in den Schweizer Medien nicht
gelesen werden. Manchmal dienen sie dazu, mit mehr länger dulden. Der Wissenschaftler Nor-
jemandem oder etwas abzurechnen, ohne dass bert Bolz erklärt in seinen Büchern, wie die
der Autor die Verantwortung für seine Aussagen Herrschaft der Political Correctness in den Me-
übernehmen muss. Bad News von Bruno Ziauddin dien, aber auch in den Universitäten und in der
ist so ein Roman. Er ist eine Abrechnung mit der Politik oder der Verwaltung die Meinungsfrei-
Weltwoche. Einer Zeitung, die nicht mehr jene heit derjenigen erstickt, die sich in diesem
ist, die ihr Ex-Mitarbeiter Ziauddin einst mit Mainstream mit ihren Haltungen zunehmend
verantwortete. einsam fühlten und manchmal sogar an ihren
Der Autor ist entsetzt über den Ruck nach eigenen Ideen zu zweifeln begannen. Es war also
rechts, den das Blatt machte; über die Entlassung höchste Zeit, dass auch jene eine Plattform er-
der sieben Journalisten, die seiner Meinung nach hielten, die der Schuldenwirtschaft, dem Staats-
gehen mussten, weil sie am weitesten links stan- interventionismus, dem Sozialstaat, der Klima-
den; über die These, dass »rechts das neue links« politik, den Euro-Utopien oder dem Multi-Kulti
sei; oder über Aussagen wie: Die steigende Staats- mit Skepsis begegnen.
quote sei der »Hautkrebs der Privatwirtschaft«. Anfang der nuller Jahre hatte sich ein sanftes,
Aber am meisten hadert er mit der aber nicht weniger effektives Macht-
Tatsache, dass es eine lesenswerte kartell aus Politikern, Bürokraten,
Kultur der Rechten gibt. Richtern, Verbänden, Intellektuel-
Foto: Marc Wetli/13photo

Ziauddin gehört zu der Gilde der- len, Medien und einigen Wirt-
jenigen, die mit Arroganz die »Dis- schaftsführern etabliert. Das führte
kurshoheit der Linken« beanspru- zur ständigen Bevormundung der
chen. Solche Ansprüche sind mir als Bürger mit Tausenden von Regeln
Liberaler fremd. Mir genügt, wenn und Gesetzen. Die Schweiz brauch-
alle sich Gehör verschaffen können. te ein Oppositionsmagazin.
Alle eine Stimme haben. Und dazu Tito Tettamanti Und dank Roger Köppel, seiner
gehört nun mal ein eigenes Medium. ist Financier. Redaktion und seinen Autoren ha-
Deshalb habe ich damals mit einigen Er lebt im Tessin ben wir unser Ziel erreicht. Wir
Freunden die Weltwoche-Besitzerin können unsere Ansichten und Welt-
Jean Frey AG übernommen – und anschauung verbreiten. Das Blatt
mich dafür eingesetzt, dass Roger Köppel das hat das Schweizer Meinungskartell gesprengt
Blatt übernimmt. und insofern eine Pionierarbeit geleistet für eine
Darauf geht Ziauddin in seinem Roman frei- größere Meinungsvielfalt – und damit für mehr
lich nicht ein. Er verpasst die Gelegenheit, das, Demokratie.
was seinerzeit zur Übernahme der Weltwoche Köppel und seinem Team gelang es sogar, die
führte und die Schweizer Medienwelt nachhaltig einst schwer defizitäre Weltwoche in die schwar-
prägte, zu analysieren – und aus seiner Sicht zu zen Zahlen zu führen. Und bis heute starren alle
kritisieren. Journalisten, Ziauddins Roman bestätigt dies,
Als wir das Blatt kauften, taxierte uns Peter wie gebannt auf die Weltwoche. Sie ist verstörend
Bodenmann, ehemaliger Parteipräsident der SP und inspirierend anders. Wie ihr das gelang, das
und heutiger Weltwoche-Kolumnist, als eine Bande wäre eigentlich ein gutes Thema für ein kritisches,
von alten sturen Liberalen, die ihr Geld ver- spannendes und nützliches Buch gewesen.
schwenden wollten. Da hat sich der Walliser
Genosse verrechnet. Wir vertraten zu jener Zeit Nächste Woche in unsere Kolumne »Nord-Süd-
die Ansicht: Wir können die grassierende politi- Achse«: Die Basler SP-Ständerätin Anita Fetz
12 SCHWEIZ 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

Großeltern
betreuen ihre
Enkel während
200 Millionen
Stunden im Jahr.
Hier auf einer Alp im
Glarnerland

Fotos: Nicola Pitaro; privat (u.)


Ganz schön intensiv
Noch nie hatten Schweizer Enkel und ihre Großeltern so viel Zeit gemeinsam. Was bedeutet das für unser Zusammenleben? VON GEORG GINDELY

A
ls vor zwei Jahren meine Oma nimmt, hat bereits vor zehn Jahren der Zürcher fuhren alle paar Monate einmal nach Zürich in die mutter habe ich als gebrechliche Frau in Erinne- Kindern haben, bringt neuen Kitt zwischen die
starb, war sie 97 Jahre alt. Ich Generationenforscher François Höpflinger in einer Confiserie Honold. Dort aßen wir Zitronentört- rung, die bald auf die Unterstützung ihrer Kinder Generationen. Das fördert das gegenseitige Ver-
war 40. Mein Opa war drei großen Studie gezeigt. chen und Caraques und fuhren dann wieder heim. angewiesen war. ständnis.
Jahre zuvor gestorben, auch er Von den 700 Teenagern und 500 Großeltern, Es war schön, aber nicht besonders aufregend. Heute ist es umgekehrt: Wir Kinder sind auf Zum Beispiel, wenn die Großeltern miterleben,
uralt, mit 98. Statistisch gese- die befragt wurden, gaben neun von zehn an, wie Heute wird die gemeinsame Zeit viel intensiver Unterstützung unserer Eltern angewiesen. Viele wie stark ihre Enkel in der Schule gefordert sind.
hen bin ich zwar eine Ausnah- wichtig diese Beziehung für sie sei. Das Geheim- genutzt. Meine Kinder werden ins Theater, Kon- sind bis ins hohe Alter kerngesund, unterneh- Oder wenn die Enkelkinder miterleben, wie aus
me, aber keine Seltenheit mehr. nis: Großeltern engagieren sich, ohne sich einzu- zert, ins Kino und in den Europapark eingeladen. mungslustig und bereit anzupacken. Sie arbeiten den fitten und aktiven Großeltern nach und nach
Ein Viertel aller 35- bis 44-Jährigen in der mischen. Sie nehmen ihre Enkel ernst, kümmern Meine Mutter bringt unserer acht Jahre alten noch, wenn der erste Enkel zur Welt kommt, sie gebrechliche und verletzliche Menschen werden.
Schweiz hat noch eine Großmutter, neun Prozent sich aber nicht um Alltagssorgen in der Schule und Tochter das Schlittschuhlaufen in den gemeinsamen halten Vereine am Leben und übernehmen politi- Eine wichtige Erfahrung in der heutigen Leis-
einen Großvater. Bei den 25- bis 34-Jährigen ha- bleiben cool, wenn während der Pubertät die Fet- Familienferien bei. Mein Vater wandert mit unse- sche Ämter. Sie trainieren im Fitnessstudio, ma- tungsgesellschaft, findet Monika Stocker, Mitbe-
ben 59 Prozent eine Großmutter und 30 Prozent zen fliegen. Über Sex und Intimität wird nicht rem Sohn den verschneiten Gemmipass hinauf. chen Tanzkurse und steigen auf Berge. Und sie gründerin der Plattform »Großmütter-Revolu-
einen Großvater. oder nur höchst selten gesprochen. Und die Groß- Und neulich reisten wir im Drei-Generationen- müssen sich die Frage stellen: Wie will ich die fast tion«, die sich um die Anliegen von Großmüttern
Nie hatten Schweizer Enkel und ihre Groß- eltern haben etwas, was den Eltern abgeht: Zeit Tross nach Istanbul, um dort den runden Geburts- drei Jahrzehnte verbringen, die mir nach der Pen- kümmert. »Enkel können anhand ihrer Großeltern
eltern so viel gemeinsame Zeit. Was aber bedeutet und Gelassenheit. tag meines Vaters zu feiern. sion statistisch gesehen noch bleiben? lernen, dass man müde, erschöpft und dennoch
das für unser Zusammenleben? Das Wichtigste aber: Dank unserer Eltern krie- liebenswert sein kann.«
Meine Oma und mein Opa wohnten nicht um Probleme mit dem Handy? Mein Elfjähriger gen wir heute Beruf und Familie unter einen Hut. Was, wenn die Großeltern keine Lust Ich selber habe das als Kind erfahren, zuerst bei
die Ecke, sondern in Bad Tölz, in Bayern. Ich be- hilft seiner Großmutter auf die Sprünge Großeltern sind private Kinderhorte. Sie be- aufs Kinderhüten haben? meiner Großmutter in Baden und später bei Oma
suchte sie regelmäßig und brachte ihnen meine treuen während 100 Millionen Stunden im Jahr und Opa in Deutschland. Was ich dank ihnen ge-
Welt in die Stube. Erzählte, was mich und meine Die Studie zeigte auch, wie die Großeltern vom unentgeltlich ihre Enkelkinder. Zum Wohle der Die neuen Möglichkeiten führen aber auch zu neu- lernt und erfahren habe, war mit ein Grund, wa-
Freunde bewegt, von der Schule, dem Studium, Austausch mit ihren Enkeln profitieren. Mit den Familien – der Volkswirtschaft. Ihre Arbeit ent- en Konflikten. Was, wenn sich Omas und Opas rum ich heute als Chefredaktor des Großeltern-
meinen ersten Schritten im Journalismus und ei- Jahren verändern sich die Rollen: Die Großeltern spricht einer Wirtschaftskraft von rund zwei Mil- nicht in die Rolle der Kinderbetreuung bugsieren Magazins arbeite. Ein anderer sind die Beispiele
nes Tages von meiner künftigen Frau. Später lernen immer mehr von den Enkeln. Sie sind dank liarden Franken. lassen wollen? Vielen Großeltern fällt es schwer, meiner eigenen Eltern und meiner Schwiegermut-
brachten wir die Kinder mit. Oma und Opa waren ihnen am Puls der Zeit. Im Moment beobachte Auch unsere Kinder profitieren davon. Unser Nein zu sagen – auch wenn sie eigentlich andere ter. Ich sehe, wie viel sie leisten und wie viele Ge-
unheimlich stolz auf ihre Urenkel. ich das bei meinen eigenen Kindern und ihren Sohn verbrachte jahrelang zwei Tage in der Woche Pläne haben oder sich überfordert fühlen. Sie ha- fühle die Enkelkinder bei ihnen auslösen – und die
Umgekehrt rückte für mich die Weltgeschichte Großeltern. bei meiner Schwiegermutter, unsere Tochter zwei ben Angst, dass ihre Kinder ihnen die Enkelkinder Großeltern bei den Kindern.
in greifbare Nähe, wenn ich bei ihnen war. Das Probleme mit dem Handy? Mein Elfjähriger Tage bei meinen Eltern. Und die Großeltern sprin- dann ganz vorenthalten. Oder dass sie die Kritik Es sind Gefühle, die ich selber gut kenne. Und
Dorf, in dem mein Opa aufwuchs, liegt heute in zeigt meiner Schwiegermutter, wie es funktioniert. gen immer wieder als Hütedienst ein, wenn wir in von anderen Power-Großeltern auf sich ziehen. die in mir wach werden, wenn ich an den Geruch
Tschechien. Bei seiner Geburt 1912 gehörte es zu WhatsApp und Minecraft? Er hilft meiner Mutter Not sind. So wie letzte Woche, als beide Kinder Immer häufiger geraten Großeltern in ein Ge- in der Wohnung von Opa und Oma denke, in der
Österreich-Ungarn. Als Kind erlebte er den Ersten, auf die Sprünge und erklärt, was ihn an dieser mit Magen-Darm-Grippe im Bett lagen, meine nerationensandwich. Sie betreuen neben den En- sie über 60 Jahre lebten. Dort fühlte ich mich ge-
als Soldat den Zweiten Weltkrieg. Die Macht- Chat-App und dem Game so fasziniert. Schließ- Frau und ich aber arbeiten mussten. kelkindern auch noch die eigenen, hochbetagten borgen und daheim. Mit 40 genauso wie als klei-
ergreifung der Nazis, der Anschluss des Sudenten- lich demonstriert er meinem Vater seine Schuss- Vielen Großeltern ist nicht bewusst, wie wich- Eltern. »Wir leben bereits in einer Viergeneratio- nes Kind.
landes, die Vertreibung nach dem Krieg: Immer technik mit der Nerf-Pistole, die er sich mit seinem tig ihre Arbeit ist. Nicht nur für die eigene Familie, nengesellschaft«, sagt der St. Galler Soziologe und
wieder erzählten Opa und Oma davon und weck- Taschengeld gekauft hat. sondern für die ganze Gesellschaft. Zu oft werden Altersforscher Peter Gross. Das sei eine große He-
ten meinen Wissensdurst. So sehr, dass ich sie ein- Ganz anders meine eigenen Erinnerungen. Bei Menschen ab der Pensionierung nur als Kosten- rausforderung, aber auch eine Chance für eine Georg Gindely, 42, ist
mal eine ganze Woche lang interviewte, zusammen meinen Besuchen in Bad Tölz war es das höchste verursacher wahrgenommen. Was sie an unent- friedlichere Gesellschaft. Die verschiedenen Sicht- Chefredaktor des
mit meinem Cousin. Unsere Familiengeschichte der Gefühle, mit den Großeltern durch die Markt- geltlicher Arbeit leisten, wird in der Diskussion bis weisen und Erfahrungen von Enkelkindern, El- »Großeltern-Magazins« und
bekam ein neues Gesicht. Das Interesse an meinen straße zu bummeln, wo ich mir in einem Geschäft heute ausgeklammert. So auch bei der anstehen- tern, Großeltern und Urgroßeltern würden sich Vater von zwei Kindern.
Großeltern nahm zu, je älter ich wurde. ein Geschenk auslesen durfte. Wenn ich bei mei- den Rentenreform. Ihr Engagement ist möglich, vermengen – und aus der Vielfalt wachse Qualität. Für den 6. März hat sein
Dass die Bande zwischen Großeltern und ihren ner Schweizer Großmutter in Baden zu Besuch weil die heutigen Großeltern fit wie keine andere Der intensive Kontakt, den heute viele Groß- Magazin den ersten
Enkelkindern im Laufe der gemeinsamen Zeit zu- war, spielten wir stundenlang Leiterlispiel und Generation vor ihnen ist. Meine Badener Groß- eltern mit ihren Enkelkindern und den eigenen Großelterntag ausgerufen

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ZEIT Doctor
Antibiotika:
Wann sie wirklich
nötig sind – und
wann nicht
Rückenschmerzen:
Operieren oder
trainieren? Was
Ärzte wirklich
denken

Eine Volkspartei fürchtet das Volk


Titelillustration: Smetek für DIE ZEIT

Bei den Landtagswahlen können die Bürger zum ersten Mal über die Flüchtlingspolitik abstimmen.
Angela Merkel gibt sich gelassen. Doch gerade das macht die Basis der CDU so nervös.
Was die Wahlkämpfer zurzeit erleben, ist für viele von ihnen ein Schock DOSSIER

ZEIT im Osten
VORWAHLEN IN DEN USA WAHLKAMPF MIT FLÜCHTLINGEN
Das Kreuz mit den
strengen Christen

Brutal erfolgreich Die Angst regiert Ist die Landeskirche


Teil von Sachsens
großem Problem?
Donald Trump versetzt die Republikaner in Schockstarre. Dabei Gabriel entdeckt die Bedürftigen. Keine neuen Schulden, verspricht Seite 10
treibt er deren Politik nur auf die Spitze VON KERSTIN KOHLENBERG die Union. Beides verfehlt den Kern des Problems VON MARC BROST
PROMINENT IGNORIERT

J K
etzt wollen die Republikaner es nicht Man nennt das trickle down economics. Es ist ann man das Richtige sagen und dieses Satzes die pure Übertreibung. Denn auch
gewesen sein. Dabei ist Donald Trump nicht gerade ein stolzes Bild, das die Partei da doch alles falsch machen? Sigmar für die Flüchtlinge ist nicht genug Geld da.
nichts anderes als ein Kind seiner Partei. von dem ehemaligen Rückgrat Amerikas malt, Gabriel kann es, und er beweist es Wir karren diese Menschen irgendwohin, in
Doch die weigert sich stur, Verantwortung der weißen Arbeiterschaft. Eher das von gebeug- auch jetzt wieder, da er ein Sozial- Gegenden, aus denen die Deutschen weggehen.
für ihn zu übernehmen. Monatelang hat ten Menschen, die am Boden die Krumen auf- paket für bedürftige Deutsche Wir stecken sie in Massenunterkünfte, Turn-
sie ihrem Intensivtäter wie gelähmt zu- sammeln. Die Unterschichten-Wähler haben fordert. Es stimmt schon: In diesem hallen, Lagerhallen. Wir geben ihnen keine
geschaut. Er war ihr peinlich, aber sie hoffte, er sich daran lange nicht gestört. Die Republikaner Land gibt es eine enorme Ungleichheit der Ein- Arbeit. Und dann hoffen wir, dass sie sich ruhig
würde bald von der Bildfläche verschwinden. Mitt- hatten es geschafft, liberale Anliegen wie das kommen, Vermögen und Chancen. Manche verhalten. Noch immer stauen sich beim Bundes-
lerweile jedoch steht der Partei der Angstschweiß Recht auf Abtreibung, die Freigabe der Homo- Menschen glauben, sie hätten von »der Politik« amt für Migration und Flüchtlinge mehr als
auf der Stirn, denn Trump gewann eine Vorwahl
nach der anderen und zwang der Grand Old
Ehe oder bessere Waffenkontrolle als bedrohli-
cher für die Arbeiter darzustellen als die Macht
nichts zu erwarten. Und einige dieser Menschen
werden deswegen die AfD wählen. Sie mögen frus-
600 000 unerledigte Fälle, und es wird sehr lange
dauern, über sie zu entscheiden. Gleichzeitig wird
Schlafgeschichte
Party seinen brutalen Stil auf (die Wahlergebnisse der Reichen. Geräuschlos wurden die Steuern triert sein. Bloß: Sie sind auch nicht dumm. jede noch so kleine Öffnung des Arbeitsmarktes, Die deutsche Möbelindustrie hat
des Super Tuesday lagen bei Redaktionsschluss der Reichen gesenkt, die staatlichen Leistungen Wenn der SPD-Chef wenige Tage vor wichti- jede Erleichterung und Unterstützung für Flücht- ihren Umsatz gesteigert, um 4,3
noch nicht vor). Dass er nur auf die Spitze treibt, für die Armen zurückgefahren, die Löhne ge- gen Wahlen die Bedürftigen entdeckt, dann dürf- linge von den Innen- und Sicherheitspolitikern Prozent im Inland, um 10,5 im
was die Partei ihm vorgemacht hat, wollen die kürzt und viele Jobs ins Ausland verlegt. Eben te das weniger inhaltlich als taktisch motiviert der Regierungskoalition blockiert – das könnte ja Ausland. Die inländische Zunah-
Republikaner nicht wahrhaben. mit diesem Modell hat die Partei den Boden für sein. Dann geht es ihm wohl nicht um die unge- noch mehr Menschen nach Deutschland locken. me des Matratzenverkaufs um 24
Trumps brutale Gefühlsoffensive bereitet. rechte Gesellschaft, sondern um die von den Aber genau darin steckt ein großer Irrtum: Prozent gibt zu denken. Schlafen
Dem Aufstand der Wähler will die Partei Wenn er jetzt sagt: Ich liebe die schlecht Aus- Sozialdemokraten empfundene Ungerechtigkeit, Denn auf diese Weise stoßen wir nicht jene ab, die Deutschen so fest und schwer,
einen Putsch entgegensetzen gebildeten, ich werde eure Sozialversicherung in der Wählergunst so miserabel dazustehen. Und die kommen wollen – sondern alle, die bereits da dass ihre Matratzen darunter lei-
schützen – dann findet Trump bei vielen Arbei- außerdem: Wenn das Erstarken der AfD dazu sind. Und wer so denkt, der muss auch die Symp- den? »Unsere ganze Geschichte ist
Sie waren es, die das wichtigste Werkzeug der tern Gehör. Dass er die Folter wieder einführen führt, dass die SPD das Soziale stärker betont – tome einer gescheiterten Integration benennen: bloß Geschichte des wachenden
demokratischen Politik – den Kompromiss – will und auch die Familien von Terroristen um- warum sollten die Bürger dann SPD wählen und Ghettoisierung, Kriminalisierung, Hass. Menschen«, sagte Lichtenberg, »an
zerstört haben. Im Kampf gegen Präsident bringen will, stört sie nicht. Es beweist ihnen nicht gleich die AfD? Eine Million Menschen aufzunehmen ist eine die Geschichte des schlafenden hat
Barack Obama wollten sie den totalen Sieg. Und eher, dass dieser Mann vor nichts zurückscheut. gesellschaftliche Ausnahmesituation, die mit nor- noch niemand gedacht.« GRN.
so stellten sie sich mit verschränkten Armen in Die Partei ist in Panik. Allein, es fehlen ihr die Wir stoßen nicht jene ab, die kommen maler Politik nicht zu bewältigen ist. Genau das Kleine Bilder (v. o.): Alessandro Gottardo für DIE
die Ecke und erklärten jeglichen Ausgleich zum Mittel, das Monster, das sie geschaffen hat, zu wollen, sondern alle, die bereits da sind aber suggeriert die Union. In der Logik von CDU ZEIT; Harald Braun/Plainpicture; CI2/Plainpicture
Verrat. Immer wieder drohten sie damit, die stoppen. Die Republikaner können sich nicht ein- und CSU gelten die Flüchtlinge als Haushalts-
Regierung zum Stillstand zu bringen, sollte diese mal untereinander auf ein Vorgehen einigen, wie Gabriel wird von der Angst getrieben, wie so viele risiko, gefährden zusätzliche Ausgaben das Ziel Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
ihren Vorstellungen nicht folgen. Und als jüngst das Schlimmste zu verhindern wäre: eine Kandi- Regierungsmitglieder in diesen Tagen, man erlebt der schwarzen Null. Man werde den Deutschen 20079 Hamburg
Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:
der republikanische Pragmatiker John Boehner, datur dieses Mannes oder gar seine Präsident- das als Journalist bei fast allen Gesprächen. Es gibt nichts zumuten, nicht einmal höhere Schulden. DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
Sprecher des Repräsentantenhauses, das Hand- schaft. Sie müssten dazu die Fehler der eigenen die Angst vor zu vielen Flüchtlingen, die ins Land So lautet Angela Merkels und Wolfgang Schäub-
ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
tuch warf, jubelte die Partei wie befreit. Warum Politik erkennen, die das Phänomen Trump mög- strömen könnten; die Angst vor einer Niederlage les wichtigste Botschaft. Das ist nicht weniger ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
also soll Donald Trump nun respektvoll und ge- lich gemacht haben. Stattdessen sehen sie schock- bei den Landtagswahlen; die Angst vor der AfD; populistisch als alles, was Gabriel sagt.
mäßigt auftreten, wenn seine Partei sich schon starr zu, wie er sie auf den Abgrund zutreibt. die Angst vor einem Auseinanderbrechen Europas; Im Augenblick dreht sich die Debatte allein ABONNENTENSERVICE:
seit Jahren in Respektlosigkeit und Blockade ge- Aus dem Undenkbaren ist das Wahrschein- und, ja, auch die Angst vor einem Terroranschlag darum, ob Merkel ihre Flüchtlingspolitik ändern Tel. 040 / 42 23 70 70,
fällt? Trump hat die Politik des Brutalismus nicht liche geworden: dass die republikanischen Wäh- im Land. Und weil so viel Angst herrscht, konzen- muss und ob aus ihrem Satz »Wir schaffen das« Fax 040 / 42 23 70 90,
erfunden, er hat sie nur perfektioniert. ler Donald Trump in den Zweikampf ums Weiße das Eingeständnis wird, es doch nicht zu schaf- E-Mail: abo@zeit.de
triert sich die Regierung auf die Steuerung und
Er wendet sie bevorzugt gegen Mexikaner, Haus schicken. Nun macht eine verzweifelte Idee Begrenzung des Menschenstroms, auf die Siche- fen. Tatsächlich müsste Merkel sich korrigieren
PREISE IM AUSLAND:
Muslime und Frauen an. Doch auch vor seiner die Runde: ob man nicht im Zweifelsfall die rung der europäischen Außengrenzen. Es ist das – indem sie endlich klarmacht, was es zu schaffen DKR 47,00/FIN 7,30/NOR 61,00/E 5,90/
eigenen Partei macht er nicht halt. Er pfeift auf Stimmen der Wähler einfach ignorieren solle, um Signal an die Verunsicherten im Innern. gilt: mehr Wohnungen, mehr Lehrer, mehr Poli- Kanaren 6,10/F 5,90/NL 5,10/
A 4,80/CHF 7.30/I 5,90/GR 6,50/
deren ideologische Vorgaben. Er ist gegen den dann unter Zuhilfenahme komplizierter Nomi- Aber zugleich wächst ein Problem heran, das zisten, Sprachkurse für Flüchtlinge, Ausbildungs- B 5,10/P 5,90/L 5,10/HUF 1990,00
Freihandel, gegen eine Kürzung der Sozialver- nierungsregeln Trump noch auf dem Parteitag täglich größer wird. Denn selbst wenn von heute plätze für Flüchtlinge, Studienplätze für Flücht-
sicherungsleistungen, und er kann Planned im Sommer zu verhindern. Dem Aufstand der auf morgen keine Flüchtlinge mehr nach linge. Und warum wagen wir in ungewöhnlichen
o
Parenthood, einem medizinischen Dienst, der
auch Abtreibungen vornimmt, viel Gutes abge-
winnen. Trump mischt Brutalismus mit Empa-
thie. Dass er damit so erfolgreich ist, treibt die
Wähler will die Partei einen Putsch entgegen-
setzen. Trump hat die Partei nicht zerstört, er hat
ihre Selbstdemontage nur vollendet. Irgendwann
muss sie neu gegründet werden. Am besten bald.
Deutschland kämen: Es sind ja immer noch etwa
eine Million Flüchtlinge im Land. Und so strei-
ten wir über Grenzkontrollen und die Begren-
zung der Zuwanderung – und entziehen uns der
Zeiten nicht ungewöhnliche Maßnahmen, etwa
ein Förderprogramm für alle Einheimischen, die
Flüchtlinge bei sich zu Hause aufnehmen? Damit
wir nicht eine Million neue Hilfsarbeiter bekom-
N 11
7 1. J A H RG A N G C 7451 C

Partei zum Wahnsinn. Denn Mitgefühl ist eine Aufgabe, die Menschen zu integrieren, die bereits men, sondern gut ausgebildete Menschen, die
Regung, die sie sich schon lange ausgetrieben hat. Siehe auch Wirtschaft, Seite 21: hier sind. Die Regierung müsse unbedingt den hier eingebunden sind, unsere Sprache können – 

Seit Jahrzehnten wiederholen die Republika- Wie die Ungleichheit Trumps Aufstieg befördert Eindruck vermeiden, dass für die Flüchtlinge und unsere Werte kennen.
ner gebetsmühlenartig, dass die Arbeiterklasse Geld da sei, für die Deutschen aber nicht, hat
 
 

davon profitiere, wenn es den Reichen gut gehe. www.zeit.de/audio Gabriel gesagt. Dabei steckt schon im ersten Teil www.zeit.de/audio
10 ZEIT IM OSTEN WAS IST IN SACHSEN LOS? 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

Oh Gott,

Fotos (Ausschnitt): Philip Schülermann; Robert Michael für DIE ZEIT (r.)
Sachsen!
Der Freistaat steckt tief in der Krise. Kann die Landeskirche seinen
Bewohnern helfen, den richtigen Weg zu finden? Nun ja:
Sie sorgt selber für befremdliche Schlagzeilen VON ANNE HÄHNIG

H
Sie verlassen omosexuelle Prediger Bevor Carsten Rentzing im August 2015 suggeriert, gerade weil viele Flüchtlinge gelten die Sachsen als besonders unerbitt- kirche jedenfalls bemühte sich, zu erklären, Er warnt vor
das Land: verlassen das Land. neuer Landesbischof wurde, hatte er sich mit das Land erreichten, stehe eine Christen- lich: Michael Diener, Evangelikalen-Spitzen- dass eine sexuelle Neigung kein Hinde- dem Islam und
Die Pfarrer Ein Geistlicher for- Aussagen zum Thema Homosexualität verfolgung bevor. Ist das Lehmanns Ernst? mann, macht auch bei ihnen eine Tendenz rungsgrund für eine Anstellung sei. Aber einer Christen-
Ciprian Mátéfy dert seine Glaubens- profiliert, sie wurden zu seinem Alleinstel- Lehmann, 81, trägt zwei goldene Rin- zur Abschottung aus. »Sie leben wie hinter das änderte für die Chemnitzer Gemeinde verfolgung:
und Stephan brüder auf, sich auf lungsmerkmal: »Die Bibel sagt, dass die ge, eine Kette und seine grauen Haare einer unsichtbaren Mauer«, sagte er der Welt. nichts. Einen neuen Organisten hat sie bis Theo Lehmann
Rost die nächste Verfol- homosexuelle Lebensweise nicht dem Willen lang bis unter die Ohren. Äußerlich: eine Tatsächlich wirken einige sächsische Evan- heute nicht.
gungswelle gefasst zu Gottes entspricht«, erklärte er. Rentzing irgendwie sympathische Exzentrik. Im gelikalen, als seien sie zu jedem Widerstand
machen. Und ein schwuler Musiker darf wurde die Strenge als Stärke ausgelegt: Da Wohnzimmer hängen große Gemälde auch gegenüber der Landeskirche bereit: Sie Und was sagt
nach seinem Outing nicht mehr am Gottes- traute sich einer, zu sagen, was in Sachsen von Lehmanns Eltern, die einst als Mis- riefen zur Kirchenspaltung auf, als es Homo- die Landeskirche?
dienst mitwirken. Klingt nach Schlagzeilen – im Gegensatz zum Rest der Republik – sionare in Indien lebten. »Der offene Brief sexuellen in Ausnahmen gestattet wurde, im
aus einer fremden Welt. Es sind aber Mel- nicht erwünscht ist. »Mit der Wahl Rent- ist eine Fälschung«, sagt Lehmann gleich Pfarrhaus zu leben. »Den Landesbischof, die Da ist also Theo Lehmann, der eine Chris-
dungen aus Sachsen, aus den vergangenen zings war klar: Jetzt verlieren wir Ciprian zu Beginn. Zwar habe er einen Großteil Kirchenleitung und die Landessynode er- tenverfolgung kommen sieht. Da sind homo-
Monaten. Meldungen, die man kaum und seinen Partner«, sagt Ralf Reinsperger, des Textes exakt so geschrieben – aller- kennen wir nicht mehr als geistliche Leitung sexuelle Gläubige, die sich zurückziehen.
glauben mag. der Kirchenvorstand. Tatsächlich entschie- dings vor zwölf Jahren, von Flüchtlingen unserer Ev. Luth. Landeskirche Sachsens an«, Und Bischof Rentzing? Wird neuerdings
In Sachsen, dem Land, das immerzu den Mátéfy und Rost: Wir passen hier nicht war damals keine Rede. Irgendjemand hieß es in einem offenen Brief. Einer der immer leiser, umso lauter die anderen nach
Schlagzeilen macht mit Pegida und An- mehr hin. Im April werden sie gemeinsam anderes – wer es war, lässt sich nicht mehr Unterzeichner war Theo Lehmann, vier ihm rufen. So kommt es, dass die Kirche sich
griffen auf Flüchtlingsheime – dort sollte das Pfarramt von Sandesneben in Schleswig- rekonstruieren – muss Lehmanns Text andere waren Mitarbeiter der Landeskirche. permanent missverstanden fühlt: Das schwu-
doch wenigstens die Kirche ein Hort der Holstein beziehen – jeder von ihnen be- übernommen, ein paar einleitende Worte Innerhalb der Evangelikalen Sachsens le Pfarrerpaar sei nicht hinausgedrängt wor-
Vernunft sein, ein Ort der Mäßigung, ein kommt eine volle Stelle. zur Flüchtlingskrise hinzugefügt und alles gebe es eine Reihe von fundamentalistischen den, sondern eher aus privaten Gründen
Raum der Ruhe. »Die sächsische Landeskirche ist wie ein verbreitet haben. Womit die Geschichte Kräften, schrieb die Journalistin Jennifer gegangen, heißt es aus Sachsens Landes-
Doch nein, die Evangelische Landes- Raumschiff«, sagt Reinsperger, »sehr, sehr auserzählt sein könnte. Ist sie aber nicht. Stange vor zwei Jahren in einem Bericht für kirche. Pfarrer Lehmann sei in dem Brief
kirche macht selbst solche Schlagzeilen, sie weit weg von der Realität. Sie braucht sich Denn kurz nachdem der Brief als Fäl- die Heinrich-Böll-Stiftung. Stange warf der falsch zitiert worden. Und dass der schwule
hat selbst Schwierigkeiten mit einem Teil nicht darüber zu wundern, dass ihre Rolle in schung entlarvt war, sagte Lehmann ei- Landeskirche vor, sie habe über Jahre hinweg Organist quasi ausgeladen worden sei – der
ihrer Mitglieder, die sich islamfeindlich und der Gesellschaft immer kleiner wird. Sie nem Journalisten, er würde heute »ver- eine Auseinandersetzung mit diesen fun- Wille der Landeskirche sei das nicht gewesen.
homophob äußern, die zu Pegida gehen. schafft sich selbst ab.« mutlich noch schärfer formulieren«. Also damentalistischen Kräften gescheut und Ist diese Kirche so zerrissen wie das
Und sie fabriziert Meldungen, die von Mal Wie schwer es diese Kirche Minderheiten noch provokanter? habe es meist versäumt, »sich klar von Inhal- Land selbst? »Ich sehe keine zerrissene Kir-
zu Mal besorgniserregender klingen, die es macht, wie sie sich in ihrer Strenge gefällt – Lehmann glaubt, eine Christenverfol- ten und wahnhaften Zügen des Glaubens in che«, sagt Matthias Oelke, Sprecher der
in überregionale Medien schaffen und die das zeigt die Geschichte von Mátéfy und gung stehe früher oder später bevor. Fragt den eigenen Reihen zu distanzieren«. Evangelischen Landeskirche. Man müsse
die Frage aufwerfen: Kann es sein, dass nicht Rost. Diese Kirche ist zerrissen zwischen man ihn, wie er darauf kommt, antwortet er: auch verstehen: Alle zerrten an der Kirche,
einmal die Kirche helfen kann, Sachsens Liberalen und Konservativen. In Leipzig »Aber hören Sie mal, es ist eine weltweite Schlagzeile 3: Ein Kirchenmusiker alle wollten sie auf ihrer Seite. Die einen
Probleme zu lindern? Sondern dass diese überwiegen die Liberalen. Und im Erzgebir- Christenverfolgung im Gange. Da ist es naiv, darf nicht mehr an die Orgel sagten zum Beispiel: Warum äußert ihr
Kirche selbst Teil des Problems ist? Manches ge, im sogenannten Bibelgürtel – in Orten, in einer globalisierten Welt anzunehmen, euch überhaupt zu Pegida? Die anderen
sogar noch schlimmer macht? Vielleicht die Markersbach oder Crottendorf heißen dass diese Ideologie um unser Land einen »Schwuler Organist unerwünscht«, schrieben sagten: Warum distanziert ihr euch nicht
zeigt ein Blick auf die Geschichten hinter –, überwiegen die Evangelikalen und Pietis- Bogen macht.« Um zu untermauern, was er im September vorigen Jahres die Zeitungen. stärker von Pegida? »Unser Anspruch ist
den drei Schlagzeilen der vergangenen Mo- ten, die die Bibel wortwörtlich auslegen. meint, kramt Lehmann eine Zeitung hervor: Deutschlandweit wurde der Fall publik, und es«, sagt Oelke, »Bewegungsfreiraum für
nate, wieso auch diese Kirche in Sachsen in Die Junge Freiheit, Wochenzeitung der Ultra- er hörte sich an wie einer, der wieder einmal den Dialog zu erhalten, sodass wir nicht
Schwierigkeiten steckt. Schlagzeile 2: Ein ehemaliger Pfarrer konservativen. »Wir werden dich töten, weil die latent homophobe Einstellung einiger ständig in eine Ecke geschoben werden.«
fordert »KZ-fähige Christen« du Christ bist«, habe ein Flüchtling zum sächsischer Gemeinden offenbarte. Nichts Während sich Heinrich Bedford-Strohm,
Schlagzeile 1: Zwei schwule Pfarrer anderen gesagt, in einem deutschen Auf- Neues? Nun ja, hinter der nicht endenden Vorsitzender des Rats der Evangelischen
verlassen das Land Gern wird den Sachsen vorgeworfen, dass nahmeheim. »Und haben Sie nicht mitbe- Debatte um Homosexuelle verbirgt sich Kirche in Deutschland (EKD), deutlich von
sie sich für etwas Besonderes hielten. Mi- kommen«, fragt Lehmann, »was Silvester in längst ein anderes, viel grundsätzlicheres Pegida distanziert, fällt es Carsten Rentzing
Ciprian Mátéfy und Stephan Rost sind zwei nisterpräsident Stanislaw Tillich (CDU) sagt Köln passiert ist? Da braut sich offenbar et- Problem: der heftige Disput der Konservati- schwer, eine klare Haltung zu formulieren.
Pfarrer, die in ihren Gemeinden äußerst ge- vorzugsweise, in Abgrenzung zum Rest was zusammen.« ven innerhalb der Kirche mit den Liberalen. Auf die Frage, ob Christen bei Pegida mit-
schätzt sind, wie die Evangelische Landes- Deutschlands: »Wir gehen einen eigenen Was Lehmann bis heute antreibt, das Der Vorwurf lautet: Die Liberalen würden laufen dürften, antwortete er kürzlich: »Ich
kirche Sachsen mitteilt. Die nun aber den- sächsischen Weg.« Seine Partei nennt sich sind die Kämpfe einer untergegangenen die Bibel nicht ernst nehmen, würden Sün- bin unsicher. Ich zweifle.« Die heftigste
noch gehen, aus Trotz und Enttäuschung. die »Sächsische Union«. Einen sächsischen Zeit: als er, weil er Christ war, tatsächlich den nicht mehr Sünden nennen. Und dieser Kritik an Rentzing kommt nun aus den ei-
Der eine, Stephan Rost, 38, ist Pfarrer in Weg geht auch die Kirche um Bischof Rent- verfolgt wurde. Und heute, glaubt er, muss Disput macht sich auch in Kleinigkeiten genen Reihen: Die Landeskirche solle sich
Börln bei Leipzig. Der andere ist sein Part- zing. Der sei »einmalig in ganz Deutsch- er wieder abwägen, was er sagen darf. Eine bemerkbar: etwa bei der Frage, wer an der deutlicher »zu den rechtsradikalen Über-
ner: Ciprian Mátéfy, 33, Pastor der Dresdner land«, sagt zum Beispiel Theo Lehmann Argumentation, die auch im Rest des Lan- Orgel sitzt. griffen auf Flüchtlingsunterkünfte und zu
Johanneskirchgemeinde. »Ciprian ist der anerkennend. des, unter Atheisten, beliebt ist: Wir haben Tatsächlich hatte es in der Kirchge- dem Treiben von Pegida« positionieren,
Pfarrer, auf den wir lange gewartet haben«, Lehmann ist ein Evangelikaler und unter die DDR erlebt, wir spüren, wenn etwas meinde Chemnitz-Klaffenbach einen Aus- forderten im Herbst eine Reihe Leipziger
sagt Ralf Reinsperger, Kirchenvorstand der Sachsens Christen eine Legende. Er war in schiefläuft! Lehmann jedenfalls schließt sich hilfsmusiker gegeben, der sich eines Tages Pfarrer in einem öffentlichen Aufruf. Dieser
Dresdner Gemeinde. »Die älteren Damen der DDR einer der bekanntesten Pfarrer, er Woche für Woche den Pegida-Demonstra- bei dem Gartenfest eines Gemeindemit- Aufruf sei gewiss ein »ungewöhnliches Zei-
lieben ihn, die Jüngeren kommen seinet- galt als modern, weil er Jazz- und Blues- tionen in Chemnitz an. Er ist dort von der glieds outete. Er brachte einfach seinen chen«, sagt Bernhard Stief, Pfarrer der Leip-
wegen häufiger in den Gottesdienst. Er trifft musik in seine Jugendgottesdienste brachte. Bühne aus namentlich begrüßt worden. Freund mit. Die Gemeinde hatte ihm kurz ziger Nikolaikirche und einer der Initiato-
den Nerv der Leute, manchmal gibt es nach Er wurde von der Stasi verfolgt – und heute Pegida sei die einzige Gruppierung, sagt zuvor gesagt, er solle sich doch um eine ren. Aber: Er habe ein Signal der Landes-
seinen Predigten spontanen Beifall.« sieht er sich wieder als »Oppositioneller«. Lehmann, die erkannt habe, dass im Islam Teilzeitstelle als Organist bewerben. Kir- kirche vermisst. »Da kam nicht viel zum
Zwei schwule Pfarrer – in den meisten Lehmann marschiert Woche für Woche bei eine Gefahr lauere. chenvorstandsmitglied Wolfram Schippers Thema Flüchtlinge, zum Thema Pegida.«
Landeskirchen wäre das kein Problem. In Pegida mit. Im Islam sieht er eine »anti- Dass im Islam eine Gefahr lauere? »Der sagt dazu heute: »Wir waren froh, dass wir Obwohl es in solchen Debatten entschei-
Sachsen aber gilt die strikteste Regel für christliche Religion«. Islam«, sagt Lehmann, »ist eine antichrist- den jungen Mann hatten, er war sehr kom- dend sei, frühzeitig Position zu beziehen –
homosexuelle Pfarrer oder Pfarrerinnen Vor einigen Wochen tauchte ein Text liche Religion.« In der Bibel stehe: Wer petent und menschlich in Ordnung.« auch, um die ehrenamtlichen Flüchtlings-
deutschlandweit: Wer schwul oder lesbisch auf, der in der Boulevardpresse landete: leugnet, dass Christus der Sohn Gottes ist, Ein anderer aus dem Vorstand, Wolf- helfer zu unterstützen, die in Sachsen oft-
ist und mit seinem Partner im Pfarrhaus le- »Sächsischer Pfarrer Dr. Theo Lehmann der ist der Antichrist. Der Koran erwähne gang Lesch, sagt: »Als wir von seiner Ho- mals aus den Reihen der Kirchen kämen.
ben will, der muss sich das Okay des ört- schockt mit irren Thesen: ›Was wir brau- Jesus zwar, leugne aber eben, dass er der mosexualität erfuhren, haben wir uns im Tatsächlich waren etwa in Clausnitz, wo vor
lichen Kirchenvorstandes einholen. Mátéfy chen, sind KZ-fähige Christen‹«. Sohn Gottes sei. »Dass Muslime in Deutsch- Kirchenvorstand aber entschieden, dem Tagen ein Bus voller Flüchtlinge von Protes-
und Rost fügten sich dieser Regel zunächst Tatsächlich ist ein offener Brief Leh- land sagen, sie lehnten Gewalt ab, das höre Mann die Stelle nicht mehr anzubieten.« tierenden bedrängt wurde, Mitglieder der
und blieben in Sachsen, weil sie hofften, die manns in einem Gemeindeblättchen in ich zwar gern«, so Lehmann. »Aber so rich- Denn: »Entweder wir lesen die Bibel, oder Kirchgemeinde die Ersten, die sich um die
Kirche werde mit der Zeit toleranter – es Rheinland-Pfalz abgedruckt worden. Da- tig glaube ich es denen nicht.« wir lesen sie nicht.« Das sind die Argumen- Geflüchteten kümmerten.
dauere nur etwas länger als anderswo. Nun rin heißt es: »Noch nie haben so viele Eine Einzelmeinung? Die Evangelikalen tationsmuster dieser Zeit. Die einen sagen: Dieser Riss in Sachsen, sagt Nikolai-
aber wollen sie sich nicht mehr fügen – und Christen für ihren Glauben mit ihrem Le- jedenfalls, denen Lehmann angehört, sind in Wir brauchen uns nur an das zu halten, kirchen-Pfarrer Bernhard Stief, gehe auch
das hat etwas mit dem neuen Bischof zu tun. ben bezahlt. (...) Was wir brauchen, sind Sachsen außergewöhnlich stark – und einige was geschrieben steht. Die anderen sagen: durch die Landeskirche. Ist sie nun Teil des
Öffentlich reden sie nicht mehr darüber, aber bibelfeste und notfalls auch feuerfeste, von ihnen außergewöhnlich rigoros. Selbst Wir müssen das Geschriebene auf die sächsischen Problems – oder doch der Lö-
im kleinen Kreis haben sie davon berichtet. KZ-fähige Christen.« Es ist ein Brief, der innerhalb der Bewegung in Deutschland Höhe unserer Zeit bringen. Die Landes- sung? Wahrscheinlich ist sie beides.
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 WAS IST IN SACHSEN LOS? ZEIT IM OSTEN 11
Bautzen im Februar: Eine OSTKURVE
geplante Asylbewerber-
unterkunft brennt
Poesie
Ich möchte nur noch in Zungen sprechen. In poeti-
schen Beschwörungen, in Zauberformeln, in Karl-
May-Fantasien. Ich möchte die Märchen hinzuzie-
hen, die grausamen, die schönen. Ich erinnere mich,
wie ich einmal in Minsk einer alten gebeugten Frau,
die poetischen Beschwörungen lauschen wollte, vi-
suelles Lauschen in den Spiegelländern einer Realität,
die Zeilen aus Froschkönig in ein Buch schrieb:
»Heinerich, der Wagen bricht!« – »Nein, Herr, der
Wagen nicht. Es ist ein Band von meinem Herzen,
das da lag in großen Schmerzen.« Eisig war es damals
in Minsk, kalt blies der Wind durch die großen Ma-

Clemens Meyer,
geboren 1977,
Schriftsteller, lebt
im Osten Leipzigs

gistralen der nach ’45 komplett neu erbauten Stadt,


einst von der deutschen Wehrmacht komplett zer-
stört. Den Menschen ging’s dort, so schien’s mir bei

»Dies ist ein


meinem Besuch, so gut und so schlecht wie überall
auf der Welt ... Von Vorurteilen werden wir getrieben,
dort der grausame Gevatter und dort das Märchen
vom goldenen Topf.
Ich möchte nur noch in Zungen sprechen, in Karl-
May-Fantasien, in Märchen, den grausamen und den
Fotos: imago; klein: Gaby Gerster (r.); Goetz Schleser/laif (u.)

Wendepunkt«
schönen ... In Mainz neulich sollte ich Auskunft geben
über meine Heimat. Kein Kommentar, sagte ich,
außer vielleicht diesem, inspiriert von einer Straße aus
Schließfächern auf dem Bahnhof Mainz: in einem
Schließfach wohnen und nur ab und an von innen
klopfen, ach wäre man doch nur ein Zwerg. Nun gibt
es aber große Schließfächer und kleine Schließfächer
Oder doch nicht? Vize-Regierungschef – unterschiedlich die BEMÜNZUNG der Schließ-
Martin Dulig sagt, was sich in Sachsen fachschlitze. In einem großen teuren Schließfach
können zwei Zwerge wohnen oder auch nur ein di-
jetzt ändern muss – und wer cker ... Die zwei würden sich, weil irgendwann ent-
kräftet durch diese endlose KLOPFEREI, die, warum
auch immer, nicht mehr erhört wird!, gegenseitig
auffressen und wären dann ein dicker Zwerg, oder so
ähnlich. Ist das der Kapitalismus, vor dem mich mei-
ne Lehrer als Kind einst warnten ...?
DIE ZEIT: Herr Dulig, kann man in diesen Zei- treter unseres Staates. Als Dienstherr dürfen wir Mitte 2015 im Dresdner Zeltcamp, in dem Merkel oder Horst Seehofer? Oder gar noch rech- Und dann doch die Spiegelländer der Realität:
ten noch stolz auf Sachsen sein? erwarten, dass sie die Grundelemente politischer Flüchtlinge anfangs unter schwierigen Bedin- teren Kräften? Aber ich vertraue Stanislaw Tillich. Sachsen liegt doch in Deutschland, oder irre ich
Martin Dulig: Dies ist eher die Zeit der Demut. Bildung verinnerlicht haben. gungen untergebracht waren. ZEIT: Wann ist für Sie der Punkt erreicht, an mich? Wollen wir jetzt wieder mit der Kleinstaaterei
Den Sachsen wurde jahrelang eingeredet, sie sei- ZEIT: Also liegt das Problem bei der Masse der ZEIT: Würden Sie Herrn Tillich empfehlen, ein- dem Sie eine Koalition mit der CDU nicht mehr anfangen? Oder wollen wir von Fritz Bauer reden?
en etwas Besseres, sie müssten sich nicht politisch Polizisten, weniger bei deren Führungsfiguren? mal gegen Pegida auf die Straße zu gehen? verantworten können? Heinerich, der Wagen bricht!
engagieren, die CDU regele alles für sie. Diese Dulig: Dort auch. Wie kann es etwa sein, dass in Dulig: Ich bin nicht sein Politikberater. Mich Dulig: Diese Frage stellt sich nicht. Wir haben
Art von Sachsen-Chauvinismus hat dazu bei- Leipzig mal linke Chaoten Gewaltexzesse voll- jedenfalls sieht man häufiger bei Anti-Pegida- einen Koalitionsvertrag für fünf Jahre geschlossen
getragen, dass wir jetzt solche Probleme haben. führen, mal rechte Täter einen ganzen Straßen- Veranstaltungen, und sollte Stanislaw Tillich und tragen Verantwortung für dieses Land. Zu-
ZEIT: Der Fraktionschef Ihres CDU-Koalitions- zug verwüsten? Warum gelingt es in anderen mich begleiten wollen, nehme ich ihn gern mit. mal: Was würde durch Neuwahlen besser werden? DRESDNER REDE
partners, Frank Kupfer, sagte am Montag im Bundesländern besser als bei uns, solche Täter in Aber ich bin schon froh, dass er die Probleme ZEIT: Seit Jahren läuft eine 32 Millionen Euro
Landtag, er sei stolz auf Sachsen und lasse sich Schach zu halten? Ich frage mich ernsthaft, ob Sachsens nun deutlich benennt. Ob Tillich die teure Imagekampagne mit dem Slogan »So geht Viele Leser haben sich gemeldet, nachdem ZEIT-
das von niemandem schlechtreden. die Lageeinschätzungen von Polizeiführungen sächsische CDU hinter sich hat, daran habe ich sächsisch«. Was ist damit? Chefredakteur Giovanni di Lorenzo am vergangenen
Dulig: Jeder kann stolz sein auf was auch immer und Verfassungsschutz in unserem Land immer aber manchmal Zweifel. Dulig: Die Kampagne ist, höflich gesagt, zur Sonntag im Schauspielhaus Dresden eine Rede zur
– am besten auf seine eigenen Leistungen. Ich angemessen sind. In Sachsen macht die Polizei ZEIT: Wie berechenbar ist diese Union noch? Karikatur geraten, sie ist tot. Vertrauenskrise der Medien gehalten hat – mitten im
persönlich kann mit Kollektivstolz nicht viel an- angeblich nie Fehler. Es ist ja ehrenhaft, sich Dulig: Das frage ich mich auch. Bei manchen Pegida-Kernland. Nun können Sie die Rede online
fangen, zumal wir in unserem Land bisweilen ei- schützend vor seine Beamten zu stellen. Das darf Mitgliedern weiß ich nicht: Folgen sie Angela Gespräch: Anne Hähnig und Stefan Schirmer nachlesen: www.zeit.de/dresdnerrede DZ
nen übertriebenen Sachsenstolz erleben. aber nicht dazu führen, dass Kritik tabuisiert
ZEIT: Und das selbst jetzt, da Sachsen bundesweit wird und nach Fehlern nie Konsequenzen ge-
in der Kritik steht. Was muss sich nun ändern? zogen werden.
Dulig: Wer nicht verstanden hat, dass wir die ZEIT: An welche Fehler denken Sie?
Politik in Sachsen jetzt fundamental umkrem- Dulig: Schauen Sie sich etwa im Fall Clausnitz
peln müssen, dem ist wirklich nicht zu helfen. die Pressekonferenz des Chemnitzer Polizeipräsi-
Dies ist ein Wendepunkt. Rassismus ist unser denten an, der die Flüchtlinge kurzerhand zu Tä-
größtes Problem – und die größte Zukunfts- tern gemacht hat. Warum hat das keine Konse-
barriere, das sagen Unternehmer, das sagen die quenzen? Von Bürgern höre ich oft die Frage:
Hochschulen, das spürt man täglich. Was habt ihr eigentlich aus Heidenau gelernt?
ZEIT: Sachsen gilt dieser Tage als das schrecklichs- Diese Frage stelle ich auch: Was hat Sachsens
te Bundesland der Republik. Und viele sagen: zu Polizei seit Heidenau gelernt?
Recht. Sehen Sie das auch so? ZEIT: Klingt, als hätten Sie kaum
Dulig: Einige Sachsen haben die- noch Vertrauen in Innenminister
ses Image leider erschaffen. Ich Markus Ulbig (CDU)?
werde nicht woanders die Schuld Dulig: Ich stelle lediglich Fragen,
suchen, kämpfe aber sehr um die zu denen ich noch keine befriedi-
Differenzierung. Man kann zur- genden Antworten gehört habe.
zeit auch alles falsch machen. Es Wer in Sachsen Innenminister ist,
ist weder hilfreich, das Rassismus- bestimmt in der Koalition die
problem zu leugnen, noch Sach- CDU.
sen zum komplett braunen Land Martin Dulig, 42, ist ZEIT: Funktioniert der Rechts-
zu erklären. Beides wird der Si- Sachsens stellvertretender staat in Sachsen?
tuation nicht gerecht. Ministerpräsident, Dulig: Schon dass dies immer häu-
ZEIT: Was macht Sie sicher, dass Wirtschaftsminister sowie figer infrage steht, ist ein Offenba-
wir einen Wendepunkt erleben? Landesvorsitzender der SPD rungseid. Wir brauchen dringend
Dulig: Zumindest in der Politik mehr Richter und Staatsanwälte.
der Landesregierung gibt es eine Wende. Wir ZEIT: Ihre Partei hat um 2004, als sie mitregierte,
wollen mehr Sozialarbeiter einstellen, mehr Poli- den Personalkürzungen allerdings zugestimmt.
zisten, wir schnüren ein Integrationspaket. Das Dulig: Aus heutiger Sicht war das ein Fehler.
wird nicht sofort helfen, und ich kann nicht völ- Aber genau deshalb schweige ich nicht darüber.
lig ausschließen, dass es morgen, übermorgen Wir müssen den Staatsabbau jetzt umkehren, die
oder am Wochenende weitere Übergriffe geben Zeiten haben sich auch geändert.
wird. Aber umso dringender ist es, jetzt ordent- ZEIT: Herr Tillich sagt, die Zivilgesellschaft sei ge-
lich zu investieren, keinen falschen Sparkurs fordert. Das ärgert jene, die sich schon lange enga-
mehr zu verfolgen. Sonst wird aus dem entstan- gieren und sich bislang nicht gewürdigt fühlten.
denen Schaden ein irreparabler. Dulig: Ich wurde von der Staatsregierung als
ZEIT: Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) »Nestbeschmutzer« verunglimpft, weil ich seit den
will mehr Geld für Polizei und politische Bil- neunziger Jahren das Netzwerk für Demokratie
dung. Reicht das? und Courage mit aufgebaut, mich gegen Rassis-
Dulig: Wir haben nicht nur ein quantitatives Pro- mus stark gemacht habe. Wenn ich die CDU in
blem bei der Polizei, sondern auch ein qualitatives. diesem Punkt kritisiere, dann aus eigenem Erle-
Natürlich: Unsere Polizisten kommen an die ben. Aber Stanislaw Tillich hat in den vergange-
Grenze ihrer Leistungsfähigkeit, sie arbeiten viel, nen Tagen einen Kurswechsel angekündigt, den
wir müssen ihnen den Respekt entgegenbringen, glaube ich ihm. Jetzt muss seine Partei zeigen, dass
den sie verdienen – etwa durch die auch vom Ver- sie bürgerliches Engagement wirklich wertschät-
fassungsgericht geforderte Wiedereinführung der zen will. Das ist übrigens der Kern politischer
von CDU und FDP gestrichenen Jahresprämie. Bildung: Jugendlichen beizubringen, dass sie ihre
Aber manchmal habe ich den Eindruck: Es gibt in Meinung vertreten, Streit zivilisiert austragen.
der Polizei großen Nachholbedarf bei der interkul- Genau das muss auch die Sächsische Union ler-
turellen Kompetenz – und bei der Führungskul- nen: dass Kritik etwas Gutes ist und nicht Majes-
tur. Wenn von Bühnen herab Volksverhetzendes tätsbeleidigung.
gerufen wird, warum stellt die Polizei dort nicht ZEIT: Herr Tillich ist da weiter als seine CDU?
Personalien fest? Ich frage mich außerdem, ob die Dulig: Ja. Das weiß ich zu schätzen. Ich stelle bei
Sympathien für Pegida und die AfD innerhalb der ihm ein Umdenken fest. Dass er persönlich mit
sächsischen Polizei größer sind als im Bevölke- Hetztiraden in Heidenau konfrontiert wurde, das
rungsdurchschnitt. Unsere Polizisten sind die Ver- hat bei ihm etwas verändert. Ebenso der Besuch
12 ZEIT IM OSTEN 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

Na, wie war er?


ZEITGEIST

Trump überall
Die Verführer siegen, weil im Westen
die Etablierten nicht mehr hinhören
VON JOSEF JOFFE

Nach einem Durchmarsch am Super Tuesday wird


Donald Trump wohl nicht mehr zu stoppen sein.
Hierzulande darf die AfD am 13. März mit zwei-
stelligen Gewinnen rechnen. Was ist los im Westen,
wo die Ränder seit 1945 nur gelärmt, nicht gesiegt
haben? Und: Sind Trump und die Euro-Populisten
womöglich das gruselig verzerrte Spiegelbild von
Obama und Merkel? Eine absurde Vorstellung:
unsere liberalen Regenten auf derselben Bühne mit
Blut-und-Boden-Böslingen wie der ungarischen
Jobbik und der belgischen Vlaams Belang?
Der Populismus ist ein schwammig Ding. Im
Spektrum tummeln sich Hartlinke wie die spani-
sche Podemos und die griechische Syriza. Sodann
die britische Ukip (antieuropäisch) und die italie-
nische Lega Nord (anti-Rom), aber beide demo-
kratisch. Was wäre der gemeinsame Nenner? Was
hätte der mit den freundlichen Politikern zu tun,
die in Amerika und Kerneuropa regieren?
Der anschwellende Populismus, der von links
bis rechts reicht, gruppiert sich um einen Kern:
Abschottung und defensiver Nationalismus vs.

Foto (Ausschnitt): dpa


Öffnung und Globalisierung. Auch wenn ein
Ozean zwischen Trump und seinen EU-Kumpa-
Männer der Mächte:
nen liegt, speisen sie sich aus den gleichen Wur-
Franziskus und Ramelow
zeln: dem Ressentiment gegen »die da oben«, ge-
gen Freihandel, Fremde, Flüchtlinge und Billig-
produzenten. Was dem einen sein Mexikaner, ist
dem anderen sein Muslim. Sie wollen Mauern
hochziehen, die den »kleinen Mann« vor Job- und Bodo Ramelow hat den Papst besucht – und sogar aus Bodo Ramelow hat den Papst besucht. Und es geschafft,
Statusverlust schützen. Die Verheißung ist zu-
gleich nationalistisch und »links«. Die AfD will Rom ein Klein-Thüringen gemacht VON MARTIN MACHOWECZ sogar Rom noch römischer zu machen VON PATRIK SCHWARZ
Einkommenshilfen für Geringverdiener, Trump
will eine Reichensteuer.

A G
Einst hatte der »kleine Mann« seine Partei: die ls sich zwei Thüringer Ministerpräsiden- quert das Würzmittel die Grenze aufs Gebiet des laube ist Geschäft, Religion ist Politik – der eigene Glaube geht nur jeden persönlich an,
SPD hier, die Demokraten in den USA. Sie haben ten, ein gewesener und ein amtierender, Vatikans. Stunden nach dem Senf, am Morgen, nirgendwo mehr als in Rom. Und so ist darüber zu richten steht keinem Papst zu, keinem
aufgepasst, dass er nicht auf einer Römer Hotelterrasse gegenüber macht sich auch Ramelow nebst kleiner Delegation der Geschäftsreisende Bodo Ramelow in Pfarrer, erst recht keinem Reporter. Und doch sind
vom Wagen fiel; sie haben dem Petersdom begegnen – weil sie zufällig beide vom Hotel aus auf den Weg. Aber kaum ist er weg, seinem Element, vom ersten Tag an im Herzen es von den 16 Ministerpräsidenten die beiden mit
seine Stimme verstärkt, sei- an diesem Tag einen Termin bei einem Papst im Vatikan eingetroffen, meldet die Katholische einer Weltreligion. Mag auch seine Linkspartei den verwickelten Glaubenswegen, die sich mit-
ne Interessen legitimiert. haben, der eine beim gewesenen und der andere Nachrichten-Agentur: »Franziskus hat seine Au- fremdeln mit allem Opium fürs Volk. Mag er als unter in die Seele blicken ließen: der grüne Ka-
Foto: Larry Fiebert

Die heutige SPD aber kann beim amtierenden –, da reibt man sich dann die dienzen am Donnerstag wegen einer Fieber-Er- Protestant vom anderen konfessionellen Ufer tholik Kretschmann, der seine Zeit bei den Mao-
sich zwischen Kernklientel Augen und denkt: Dieses Drama-Bundesland! In krankung abgesagt.« Läuft plötzlich alles schief? stammen – bei seinen drei Tagen zwischen Kapi- isten eine Glaubensverirrung nennt, und Ramelow,
und Postmoderne (Gender- Erfurt geht es politisch schon länger zu wie in Welcher Krimischreiber denkt sich so was aus? tol und Vatikan breitet er die Arme so weit aus, der links blieb und wieder evangelisch wurde.
politik, Diversität, offene einer Regionalversion von House of Cards. Jetzt Zumal es noch dicker kommt. Ramelow ist dass kaum ein Entkommen ist. Anderthalb Jahre ist Ramelow im Amt, an
Josef Joffe
Grenzen) nicht entscheiden; exportieren die ihre Krimis also tatsächlich bis an noch nicht zurück von seiner ausgefallenen Au- »Oh«, sagt die Vizepräsidentin des italienischen der Spitze einer Dreier-Premiere aus Rot-Rot-
ist Herausgeber
ergo Gabriels Schlingerkurs die Grenzen des Vatikans, vor prallste Petersdom- dienz, da betritt ein Ministerpräsident Ramelows Abgeordnetenhauses halb erschrocken, halb ent- Grün. Er befindet sich in der Umarmungsphase
der ZEIT
im 25-Prozent-Ghetto. Die Kulissen. Mit Bodo Ramelow, dem König des Hotel – eben Premier a. D. Dieter Althaus, Ra- schuldigend, als Ramelow ihr sein Gastgeschenk seiner Ministerpräsidenten-Werdung: Gut ist
Kanzlerin, die die SPD im- politischen Krimis, an der Spitze der Bewegung. melows Vorvorgänger. Er habe, sagt Althaus der überreicht, »so spirituell ist mein Geschenk aber alles, was vergessen macht, dass er nicht schon
mer kleiner gemacht hat, Aber von vorn: Ramelow, Thüringens linker staunenden Presse, einen Termin hier. Dass Ra- nicht.« Eine Porzellanfigur der heiligen Elisabeth hundert Jahre im Amt ist. Und dafür ist Rom
bietet erst recht keinen Halt. Sie hat »keinen Plan Ministerpräsident, ist ein Herzenschrist – und melow in Rom sei, davon wisse er nichts! hat er ihr in die Hand gedrückt und routiniert die ideale Bühne: Der heilige Bodo? Zumindest
B« für die Flüchtlinge; misslinge ihr die Europäi- gleichzeitig einer, der seinen Glauben geschickt zu Als Ramelow zurückkommt, noch ganz betrübt erläutert, in dieser »verbinden sich Nationen und der eilige Bodo.
sierung, »muss ich weitermachen«. Politik macht. Eine Romreise, eine Audienz beim vom Papst-Ungemach, nimmt ihn der Regierungs- Konfessionen«. Die Vizepräsidentin überreicht, Der Mann will Volkspartei sein und Volks-
Die US-Demokraten haben einst Nord und Papst, das ist für ihn die perfekte Verbindung. Am sprecher zur Seite. Sagt: »Dieter Althaus steht oben eher profan, eine Taschenuhr. Wer kann schon kirche dazu. Und weil dem Protestantismus bes-
Süd, Arbeiter und Intelligenz, Einheimische und vergangenen Mittwoch also – Landung in Rom. auf der Dachterrasse.« Ramelow entgleitet kurz ahnen, dass Deutschlands erster Linkspremier es tenfalls der halbe Himmel gehört, greift Ramelow
Einwanderer, Nationalisten und Weltbürger im Und man denkt noch: Vor der heiligen ewigen die Mimik. Keinen Papst gesehen, dafür den gern grenzenlos geistlich mag? großherzig auch nach der anderen Hälfte: So wie
selben Zelt versammelt. In dem hausen jetzt eth- Stadt, vorm Tor des Vatikans, da sieht ein Thürin- Schwarzen aus dem Eichsfeld? Aber Ramelow, Als roter Rebell im westdeutschen Hessen ist er die Porzellan-Elisabeth zur evangelisch-katho-
nische und sexuelle Minderheiten, die Hochgebil- ger Regierungschef sicher ziemlich klein aus. Polit-Profi, fängt sich. Grinst. »Der Dieter!«, ruft Bodo Ramelow in Jugendjahren aus der evangeli- lischen Doppelheiligen verklärt, verschenkt er in
deten und Neureichen der Finanz- und Start-up- Doch dann flackert am Flughafen das Blaulicht. er, eilt ins Hotel, nimmt den Fahrstuhl, geht auf schen Kirche ausgetreten, später als Gewerkschaf- Rom das Faksimile der Lutherbibel nicht ohne
Welt. Derweil sind die Republikaner, die einst Steht da schon die Wagenkolonne, warten Motor- die Dachterrasse – begrüßt Althaus, als hätte er sich ter und Linker im ostdeutschen Thüringen wieder Hinweis, dass Luther bei ihrer Abfassung ja noch
»My Street« und Wall Street vereinten, ins Evan- rad-Polizisten: Bodos großer Auftritt! Und los geht seit Wochen schon auf diese Begegnung gefreut. eingetreten. Es war seine persönliche Wende – und katholischer Mönch gewesen sei. Hätte der eilige
gelikale und Marktliberale gerutscht. es mit schwingender Kelle und röhrendem Motor, Es stellt sich heraus, dass Althaus am Nach- sie hat ihm in der eigenen Partei nicht bloß Sym- Bodo nicht bloß drei Tage, sondern drei Wochen
Kleiner Mann, was nun?, fragte Hans Fallada auf dem Weg in die City braust Ramelows Reise- mittag noch selbst mit dem Papst verabredet ist, pathien eingetragen. Doch längst vermag Bodo in Rom, er würde am Ende womöglich noch per-
1932, kurz vor dem Sieg der Nationalsozialisten. trupp mit Affenzahn durch Rom. Ständig auf der dem Papst-Emeritus Benedikt. Dass auch der Ramelow seinen Glauben mit politischem Gewinn sönlich die weltweite Ökumene herbeiführen.
Heute fährt der auf Trump, den Mussolini aus Gegenspur, doppelt überm Tempolimit – Stoß- Eichsfelder Landrat, der Teil von Ramelows Fran- zu bewirtschaften. Als Handlungsreisender der Doch dann wird der linke Lautsprecher Gottes
Manhattan, ab, der alles verspricht und nichts gebete allüberall in des Regierungschefs Entourage. ziskus-Delegation ist, noch am Benedikt-Besuch Reformation tritt er in Rom auf, schließlich vertritt doch noch still. Keine zwei Stunden ehe er vor dem
halten kann. Oder auf die AfD. Das ist das Dum- Römer, aufgepasst! Erfurt ist da! Diese Stadt wird teilhaben werde. Oh, du wildes Thüringen, und er das Bundesland, in dem einst Luther die Bibel Papst erscheinen soll, sitzt er am Frühstückstisch.
me an der Demokratie: Die Leute, die ihre Heimat erobert, in kürzester Zeit! zwei Päpste mittendrin. Schlagzeile der Thüringer übersetzte (Wartburg!), ja wo der spätere Re- Und Ramelow ist bei den letzten Fragen des Le-
in den Volksparteien verloren haben, fühlen sich Sollte es nicht um den Papst gehen? Ja. Aber Allgemeinen am nächsten Tag: Ramelow trifft Alt- formator überhaupt erst Mönch gewesen ist (Au- bens, erzählt, wie Erfahrungen von Tod und Not
verraten und tragen ihre Stimmen zu jenen »Start- erst am nächsten Morgen. Am Abend noch be- haus statt Papst. Am letzten Reisetag klappt es mit gustinerkloster Erfurt!). Der Tourismus profi- in seinem engsten Umkreis ihn der Kirche wieder
ups«, die in die Marktlücke vorgestoßen sind. reitet Ramelow einen Schmuggel besonderer Art Ramelows Audienz bei Franziskus übrigens doch. tiert bis heute und am stärksten im bevorstehen- näherbrachten. Da ist alles Verkäufertum gewi-
Sollten die Etablierten mit den populistischen vor. Der Altenburger Senffabrik hat er versprochen, Er habe das Gefühl gehabt, dass sich zwei Herzen den 500-jährigen Reformationsjubiläum 2017. chen: Das Ringen macht den Glauben aus, nicht
Wölfen heulen? Nein. Merkel-Union und Obama- den Papst mit Thüringer Schärfe zu beschenken. berühren, sagt er danach, ergriffen. Für die Presse- Nichts verschafft einem Ministerpräsidenten von die Gewissheit. Und was, Herr Ramelow, wenn
Demokraten müssten nur zurück in die Mitte, wo Ist nur verboten, Lebensmittel darf man dem Papst konferenz hat er einen Tisch so vor der Hotel- 0,028 Prozent der Weltbevölkerung mehr Welt- alles Glauben, Wünschen, Hoffen nicht reicht?
sie die Deserteure wieder einfangen, indem sie de- nicht überbringen. Also hat Ramelow einen be- Dachterrasse aufbauen lassen, dass direkt hinter geltung als eben dieses Weltereignis – und sichert Wenn man am Ende mit Gott genauso hilflos vor
ren legitime Bedürfnisse aufnehmen, statt sie freundeten Priester, den er lange kennt und der im ihm der Petersdom thront. Für die Fernseh- ihm jetzt sogar ein Rendezvous mit dem Papst. Das Trauer, Tod und Trennung steht wie ohne ihn? Was
volkspädagogisch wegzutherapieren. Umso einfa- Vatikan Dienst tut, zum Senftransport engagiert. zuschauer in Thüringen muss es aussehen, als re- hat nicht mal Luther geschafft. Aber glaubt er denn trägt, wenn nichts mehr trägt? »Vertrauen.« Sagt’s,
cher wird es sein, die Extremisten zu isolieren. Tatsache: Der Schmuggel gelingt. Nachts über- giere ihr Premier jetzt auch im Vatikan. nun selbst, was er so gewandt anpreist? Natürlich, steht auf und besteigt die Limousine zum Papst.

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3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1

HAMBURG 1
H

Klobürste Golden Pudel Club Olaf Scholz Olympia Elbvertiefung AfD Schietwetter
Protest, Putzfimmel, Subkultur; was Cooles Chef sein, Utopie, Scheitern, Kleine unwichtige Tiere Wutbürger, Shitstorm;
»Mach mal das Klo machen, auch wenn man »Keine Widerrede!«, »dumm gelaufen« auch als solche Impulskontrollstörung Frühling, Sommer, Herbst,
sauber« schon ein alter Sack ist Kahlschlag wahrnehmen und sich von (»Er war krass AfD drauf Winter
ihnen nicht den Fortgang an dem Abend«)
der Wirtschaftsgeschichte
diktieren lassen

Hipster Unterwerfung Perlenohrring Handelskammer Busbeschleunigung Labskaus Klaus-Michael Kühne


Longboard, Schauspielhaus, aufs Reitstiefel zum Shoppen Karriere, Vorankommen, sich mit Magen-Darm-Grippe, alles Mäzen, Zähne zeigen,
Craft Beer; Nazifrisur Abendland pfeifen, Burka tragen, Golden Retriever Karriere, Nebensächlichkeiten ineinander rühren jemanden anpumpen
tragen, ohne Nazi zu sein für coolsten Modetrend Gassi führen, die »Gala« Karriere aufhalten, schnell mal (»Diese Debatte ist doch (»Er lebt auf Kühne«)
seit Erfindung der mit den »Buddenbrooks« Verkehr haben das reinste Labskaus!«)
Jesuslatschen halten verwechseln

Und was ist


Rote Cordhose
Blankenese,
HSH Nordbank
Pleite sein,
Ihr Motiv?
Seit einer Woche gibt es Hamburg-Emojis: Franzbrötchen, Rollmops,
Doppellampe
Eppendorf,
Container
Handel,
Establishment; Burn-out haben, Zwangsstörung, Flüchtlingsunterkunft,
in achter Generation die andern auf der Tasche Astra-Knolle. Und damit soll man sich über die Stadt verständigen? »Schöner Wohnen«-Abo was auf dem Kasten
Kinder Henry, Johann oder liegen haben
Amalie nennen Da fehlen aber noch ein paar Symbole. Hier sind sie

Pfeffersack Der Spiegel Schwarzer Block Schlagermove Harley Days Dom Otto Waalkes
Wohlstand, Geiz, Presse, alles besser Revolte, Nervige Meute, Lärmbelästigung, Achterbahnfahrt (auch Rumnerven,
total gerne Sachen wissen, im Glashaus neue Seiten aufziehen, Kulturverfall, Midlife-Crisis, emotional), Schleuder- eine Witzfigur sein,
mit Pfeffer würzen sitzen kurz um den Block gehen Tommy-Jaud-Leser Zahnärzte auf Reisen trauma, das Paradies aus »Holladahiti!«
Sicht eines 5-Jährigen

G 20 Til Schweiger Cabrio Hafenschlick Udo Lindenberg Beige Sylt


Europa, Gipfeltreffen, HH-»Tatort«, die Klappe Mittelohrentzündung, Irgendwie feststecken, Nicht abdanken können, Ambivalenz, Ferien, Gosch;
Chefsache (»Lassen Sie aufreißen, Politik mit Kunst Werber, wetterfest (»Die auf Grund laufen, schlimm nuscheln, FDP, Aufkleber, die man nie
mal, das ist G 20«) verwechseln Schuhe sind hässlich, aber Schmiere stehen Eierlikör mit Zigarre Valium wieder abbekommt
wenigstens Cabrio«)
Illustrationen: Matthias Schütte und Pia Bublies für DIE ZEIT

J
etzt gibt es also eigene Emojis für die schleunigen und konturieren das Gesagte. – Die bürgerliche Presse ist bald am Ende:
Stadt. Die Haspa war so freundlich, Deshalb haben wir 32 weitere Motive entwor-
unsere Kommunikation per App um fen, mit denen sich auch diffizile Lagen zum
Möwen, Elbphi und Segelboot zu be- Ausdruck bringen lassen – die politischen wie – Mein Zahnarzt ist im Urlaub:
reichern. Nun kann man Nachrichten jene des Gemüts.
mit insgesamt 32 Symbolen lokalpatriotisch il- Wenn Sie also ideologisch oder sonst wie – Mein Zahnarzt hat eine Midlife-Crisis:
lustrieren, eine semantische und ästhetische den Überblick verlieren ( ), wenn Ihnen das
Vertiefung per Michel und Buddelschiff. Establishment ( ) auf die Nerven geht und
Selten war der Austausch im Zeichen des Sie Zähne zeigen wollen ( ), nutzen Sie unser – Mein Zahnarzt hat die krasseste Midlife-
Eigenen und Gewohnten so heiter, harmlos neues grafisches Wörterbuch. Komplexe Sach- Crisis, von der ich je gehört habe:
und verspielt. Wer schon immer das Gefühl verhalte lassen sich schnell und prägnant be-
hatte, dass die eigene Identität zu kurz bildern. – Mein Mann wird beim Trinken immer so
kommt im postmodernen, multikulturellen aggressiv:
Durcheinander, kriegt jetzt Unterstützung Zum Beispiel:
von der Folklore. So, jetzt sind Sie dran: Welche Emojis fehlen
Aber irgendwie ist es dann doch ein biss- – Klein Borstel wehrt sich gegen Flüchtlings- noch in unserer Liste? Was ist Ihr Lieblingssatz
chen komplizierter geworden in den letzten unterkunft: in Hamburg-ZEIT-Emoji? Schreiben Sie uns
Monaten, gerade in Hamburg. Flüchtlinge, an hamburg@zeit.de. Aber bitte keinen , wir
Olympia-Pleite, Erstarken der AfD – das sind – Olympia war eine Blamage: sind ja nicht die .
aktuelle Themen, bei denen die Meinungen
weit auseinandergehen. Themen, die die Frage – Hamburg ist das Baden-Baden des Nordens:
nach unserer urbanen und sozialen Identität in Zusammengestellt von PIA BUBLIES und
neuer, provokanter Weise aufwerfen. MATTHIAS SCHÜTTE (GR AFIK ) und
Selbstverständlich sind Emojis auch in – Die Opposition ist auch nicht mehr, was sie DANIE L HA AS , CHARLOTTE PARNACK und
diesen Debatten gefragt. Sie verschärfen, be- mal war: KILIAN TROTIE R ( TE X T )
2 HAMBURG
H 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

Hamburg in einem Satz


WARUM FUNKTIONIERT DAS NICHT?

Wann dürfen Taxis auf die


Busspur?
Warum lang, wenn es auch kurz geht?
... fragt Kersten Wagner-Cardenal Was die Stadt in dieser Woche bewegt hat
aus Hoheluft

Lange Liste: Innerhalb von drei Tagen hat die Initiative gegen Großunterkünfte
M
al ehrlich: Wann fühlt sich der Taxi- geht, sondern um den Fahrgast, also darum, diesen
kunde noch als König? Wann lohnt es abzuholen. Aber: Taxifahrer dürfen nicht auf jede
sich wirklich, fremden Fahrstil und Busspur, nur auf solche mit dem Zusatzschild eigenen Schätzungen zufolge schon 5000 der nötigen 10 000 Unterschriften
Musikgeschmack zu ertragen und dafür noch zu »Taxi frei«. Und sie müssen sich dort verdammt
bezahlen? Ganz klar: dann, wenn der Zug am genau an die Regeln halten: dürfen die Spur nicht gesammelt Alte Kiste: Das Museumsschiff »Cap San Diego« fehlt derzeit im
Bahnhof Dammtor gleich fährt, man viel zu verlassen, solange die Linie durchgezogen ist.
spät und panisch auf dem Rücksitz kauert, Müssen warten, wenn vor ihnen ein Bus trödelt. Hafenpanorama, weil es in der Werft überholt wird Dringend verdächtig: Die
einem beim Anblick des Staus auf der Edmund- Und sich natürlich an die Busampeln halten. Vor
Siemers-Allee das Herz in die Hose rutscht – Polizei hat Haftbefehl gegen einen Afghanen beantragt, der nach den Über-
und der Fahrer auf die Busspur schwenkt und
beschleunigt: fast lane at its best!
Die Busspur ist mit zum wichtigsten Vorteil
griffen an Silvester eine 19-Jährige missbraucht haben soll Bitte bedächtig:
des Taxifahrens in der City geworden. Manche
lassen deshalb sogar das eigene Auto stehen. Umso Mit dem Taxi über die
In Süddeutschland gibt es mehr freie Tage, deswegen fordert der Deutsche Ge-
größer die Enttäuschung, wenn der Fahrer die Busspur: Ist das erlaubt?
Schnellspur nicht nimmt, denn das gehe nur sonn- Und hilft es überhaupt? werkschaftsbund, den Reformationstag in Hamburg dauerhaft zum Feiertag zu
tags oder wenn der Fahrgast es nachweislich eilig
habe, etwa bei Flügen ab der Kategorie Business. dem Bahnhof Dammtor gibt es am Ende der fast machen Unterschätzter Geiz: Nach 30 Jahren wird es auf dem Rathausmarkt
Gern diskutiert wird auch die Frage, ob Taxis ohne lane sogar eine eigene für Taxis. Und steht die auf
Fahrgast die Busspur nehmen dürfen, nur damit »Stopp«, kann es passieren, dass der ganze Verkehr, kein Stuttgarter Weindorf mehr geben, weil die Winzer die höhere Pacht nicht
die Fahrer schnell an ihre Mittagswurst kommen. den man eben noch triumphierend überholte,
Um damit anzufangen: Ja! Auch ohne Fahrgast
darf ein Taxi Busspur fahren, weil der Gesetzgeber
wieder an einem vorbeirauscht. MARK SPÖRRLE zahlen wollen Überschätzter Reiz: Die Hamburger Designerin Jette Joop hat
annimmt, dass es meistens nicht um die Wurst Haben auch Sie eine Frage? wfdn@zeit.de
für den Discounter Aldi Süd Blusen, Kleider und Halstücher entworfen Und
der Polizeibericht: In Harburg hat ein 49-jähriger Mann aus Eifersucht seine du-
schende Frau mit heißem Öl überschüttet; in Wandsbek haben Unbekannte auf

Foto: Frank Stange/Auto Bild


die ehemalige Milieu-Kneipe Corner 57 geschossen; und in Poppenbüttel hat
es beim Spiel zwischen dem HSV III und Teutonia 05 Ottensen eine Schlägerei
gegeben, bei der Teutonia-Spieler auf einen Fan eingetreten haben sollen
Aktuelle Meldungen unter www.zeit.de/hamburg

KOMMENTARE

Kurort-Mentalität
Eine Kita muss schließen, weil die Kinder zu laut sind? Das klingt vorgestrig, aber die Zeiten
sind noch nicht vorbei. Das Gericht hatte keine andere Wahl

S
ich über dieses Urteil aufzuregen ist kin- Allein: Die Brennerstraße ist keine Seiten- lärm« gegenüber sonstigem Lärm privilegiert.
derleicht – jedenfalls auf den ersten gasse in Bad Wildungen – sondern mitten in Vereinfacht gesagt: Singen, Lachen, Weinen,
Blick: Das Amtsgericht St. Georg ver- St. Georg. In eines der belebtesten Viertel Rufen, Schreien und Kreischen, aber auch
bietet eine von Tagesmüttern betriebene pri- Hamburgs zu ziehen und dann zu jammern, Geräusche durch Spielen, Laufen, Springen
vate Kita in der Brennerstraße. Nachbarn dass das Leben dort Geräusche macht, zeugt und Tanzen sowie Rufe von Betreuern gelten
hatten geklagt, weil die Kinder zu laut waren. von einer Kurort-Mentalität, die im Zentrum qua Gesetz nicht als schädliche Umweltein-
Im Ernst? Im Jahr 2016? In Hamburg? Und einer wachsenden Großstadt auch auf lange wirkungen und können nicht ohne Weiteres
damit kommen die auch noch durch? Ja. Es ist Sicht problematisch werden dürfte. Denn verboten werden. Das erscheint selbstver-
aber zu billig, nun das Amtsgericht als kinder- selbst wenn die Tagesmütter wirklich aus- ständlich, musste in Deutschland aber im
feindlich zu beschimpfen und gleich wieder ziehen müssen, wird das Viertel rund um den Zuge des Kita-Ausbaus eigens in ein Gesetz
die Parole von der intoleranten Stadt auszu- Hauptbahnhof nicht aufhören, Lärm zu gegossen werden.
rufen. Kinderfeindlich und intolerant ist in machen. Das Problem ist nur: Grundlage der Ent-
diesem Fall nicht der Richter – sein Spielraum Der konkrete Fall ist auch deshalb irritie- scheidung in St. Georg war nicht die Frage,
war begrenzt. rend, weil es eben nicht um irgendeinen Lärm wie laut Kinder sein dürfen und wie er-
Man muss nicht drum herumreden: Kin- geht. Nicht um Busse, Gastronomie, Harley wünscht sie sind. Sondern die Frage war dem
der können nerven. Selbst für liebende Eltern Days. Sondern um Kinder. In deren Natur Gericht zufolge, ob der wohlmeinende Besit-
gibt es angenehmere U-Bahn-Fahrten als sol- liegt es eben, dass sie nicht flüsternd durchs zer die Fläche in der Brennerstraße an die
che mit einer aufgekratzten Schulklasse im Leben schleichen. Wenn es gut läuft, ist das Tagesmütter überhaupt vermieten durfte. Laut
Abteil. Auch dieser Restaurantbesuch letztens, Gegenteil der Fall. In der öffentlichen Debatte Nutzungsregelung im Grundbuch durfte er
als eine Familie ihren Nachwuchs über Tische hat sich für dieses Gegenteil das Wort »Kinder- das nicht, stellte das Amtsgericht klar. Dem-
und Bänke rasen ließ, war nicht der schönste. lärm« durchgesetzt. Schon die Vokabel ist nach dürfen die Räume nur als Laden vermie-
Das sind Momentaufnahmen. Wer aber in ei- nicht wertfrei, aber immerhin weniger sperrig tet werden.
nem Haus eine Wohnung kauft, in das nach als »Geräuscheinwirkungen, die von Kinder- Die Kläger können nur hoffen, dass dann
ihm eine Kita zieht, für den wird die Moment- tageseinrichtungen, Kinderspielplätzen und wirklich ein Laden für orthopädisches Schuh-
aufnahme zur Dauerbeschallung. Der mag ähnlichen Einrichtungen wie beispielsweise werk in ihr Haus einzieht. Das ist in St. Georg
sich schon mal wünschen, die Fläche unten im Ballspielplätzen durch Kinder hervorgerufen aber unwahrscheinlich. Da gibt es viele Ge-
Haus hätte lieber ein Verkäufer für orthopä- werden«. So steht es seit dem Jahr 2011 im schäfte, die mehr Lärm machen. Wirklichen
disches Schuhwerk bezogen. Bundesimmissionsschutzgesetz, das »Kinder- Lärm. CHARLOTTE PARNACK

Hält nicht, was er verspricht


Der Eishockeyverein Hamburg Freezers spielt eine Katastrophensaison.
Das ist zu erklären – aber nicht zu entschuldigen

E
s hätte wirklich was werden können mit Zum Saisonstart galten sie als Meisterschafts- Im letzten Jahr war der Kanadier Sébastien
den Hamburg Freezers in dieser Saison! anwärter. Jetzt, drei Spiele vor Saisonende, ste- Caron der fünftbeste Torwart der Liga, er hielt
Ließ sich doch alles so gut an. Nachdem hen sie auf Platz 11 von 14 Mannschaften. Die konstant gut und gab der Mannschaft Sicher-
sie im vergangenen Jahr erst im entscheidenden ersten zehn machen unter sich in den nächsten heit. Anfang dieser Saison verletzte sich Caron
siebten Spiel das Viertelfinale gegen Düsseldorf Wochen den Meister aus. Noch ist nichts ver- schwer. Die Freezers holten einen Ersatz, aber
verloren, verpflichteten sie im Sommer einige loren. Noch können es die Freezers schaffen. dieser Ersatz steht auf Platz 16 der besten Tor-
Topspieler der Liga und holten sogar David Zwei Punkte beträgt der Rückstand auf Strau- warte der Liga. Trainer Serge Aubin verlor sei-
Wolf aus Nordamerika zurück, einen der besten bing. Aber auch das knappe Erreichen der Aus- nen Topmann und wechselte auf dem wichtigs-
deutschen Spieler und Liebling der Hamburger scheidungsrunde würde nichts daran ändern, ten Posten ständig durch. Es fehlte die Konti-
Anhänger. Im Winter verschwand dann, ganz dass dieses Team hart abgestürzt ist und sich alle nuität. Das verunsicherte alle.
ohne Zutun der Freezers, auch noch der große Verantwortlichen fragen müssen: Wie kann es Wird das mit dem Torwart besser, wird auch
Rivale um all jene heimischen Sportfans, die sich sein, dass eine Mannschaft, die kaum bessere die Saison besser: Das ist die Hoffnung, die die
auch für etwas anderes interessieren als für elf Bedingungen haben könnte, um eine dominie- Freezers fürs nächste Jahr haben können. Noch
Männer, die hinter einem Ball herlaufen. Die rende Rolle in der Deutschen Eishockeyliga zu dazu dürfen sie sich damit trösten, dass eine Ka-
HSV-Handballer gingen pleite. Die Fußballer spielen, so schwach ist? tastrophenspielzeit, in der viele der Topspieler
des HSV gurken sich mehr schlecht als recht Es liegt vor allem an der Fehlbesetzung auf – unter anderem David Wolf – wochenlang
durch die Saison. Wäre das nicht die Chance für einer Position: der des Torwarts. Eishockey ist, verletzungsbedingt fehlten, jeder Mannschaft
die Eishockeyspieler der Freezers? ähnlich wie Handball, ein Sport, bei dem nie- passieren kann.
Denkste! mand so wichtig ist wie der Torwart. Ein Goalie Was ihr aber nicht passieren darf: eine zweite
Denn was die Freezers selbst bei zuletzt kann Meisterschaften mit einer relativ schwachen Saison, in der eine Mannschaft wie Hamburg
ziemlich voller Halle bieten, ist vor allem eins: Mannschaft gewinnen. Eine starke Mannschaft schlechter dasteht als Vereine aus Iserlohn,
extrem enttäuschend. kann einen schwachen Goalie nicht ausgleichen. Wolfsburg oder Straubing. KILIAN TROTIE R
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 HAMBURG H 3

Möglichst kleine Unterkünfte?


Das wollen wir auch!
Warum der Senat und viele Kritiker der geplanten Flüchtlingsheime vielleicht gar nicht so weit auseinander liegen. Eine Positionsbestimmung VON OLAF SCHOLZ

Wo sollen sie
wohnen?
Er wolle endlich einmal
im Zusammenhang
erklären, worum es in
der Flüchtlingspolitik
eigentlich gehe,
hat Hamburgs Erster
Bürgermeister Olaf
Scholz kürzlich gesagt.
Die Gelegenheit gibt
die ZEIT ihm gern.

In der nächsten Ausgabe


antwortet Klaus Willkommen in Deutschland –
Schomacker, Sprecher ein Auto hat er schon.
der Bürgerinitiativen Sein Zuhause aber ist eine
Lagerhalle. Das Land schafft
gegen große es nicht, so viele Heime zu
Flüchtlingsunterkünfte bauen, wie gebraucht werden

L
ange Zeit haben wir das Leid der Solidarität, sondern der europäischen Identität. Kopf zu verschaffen. Um ein Gefühl für die Dimen- anderen Stadtteilen genau dies heftig ablehnen, weil Der freie Wohnungsmarkt ist bekanntlich

Fotos: Daniel Bockwoldt/dpa Picture-Alliance; Kathrin Spirk für DIE ZEIT (u.)
Flüchtlinge aus dem Irak und Sy- Wenn das Gros der EU-Länder sich weigert, Flücht- sion zu bekommen, erinnere ich an das Jahr 2011. ein solches Verfahren unter Umständen zu mehr nahezu erschöpft. Der Bedarf ist schon ohne
rien nur aus der Ferne verfolgt, in linge aufzunehmen, wird sich dies zwangsläufig auf Als ich ins Amt kam, reichten für die Erstaufnahme Unterkünften vor ihrer Haustür führen würde. Flüchtlinge enorm. Deshalb hat sich der Senat
der Tagesschau. Mittlerweile aber die Europäische Union als Ganzes auswirken. Ein knapp 400 Plätze. Heute, fünf Jahre später, betreiben Außerdem lässt sich eine »arithmetisch gerechte Ver- 2011 ja vorgenommen, pro Jahr mindestens 6000
wirkt sich das Wüten der Welt Ende der Freizügigkeit und neue Binnengrenzen wir fast 40 Erstaufnahme-Unterkünfte mit circa teilung« über die Stadt in einem Rechtsstaat nicht so neue Wohnungen zu bauen. In den letzten drei
direkt bei uns in Hamburg aus. innerhalb der EU hätte fatale Folgen. 20 000 Plätzen. Zusätzlich noch einmal fast genau- leicht durchsetzen. Jahren wurden jeweils um die 10 000 Wohnungen
Millionen von Männern, Frauen Um ein solches Scheitern zu verhindern, muss so viele Plätze stellen wir, über die Stadt verstreut, in Denn leider gibt es nicht überall in Hamburg genehmigt. Neben den Unterkünften für Flücht-
und Kindern sind auf der Flucht vor Krieg, vor Europa handeln. Dazu gehört, die gemeinsamen 100 größeren und kleineren Folgeunterkünften zur geeignete Grundstücke, weder im Besitz der Stadt linge bauen wir weiterhin mit Hochdruck neue
Vertreibung, vor Gewalt. Hunderttausende kom- Außengrenzen zu sichern. Die EU-Außengrenze Verfügung. Denn nach spätestens sechs Monaten noch privat, um Unterkünfte zu errichten. Und es Wohnungen. Denn die Nachfrage ist immens in
men nach Deutschland. Und mehrere Zehn- ist eine richtige Grenze, die bewacht werden sollen die Flüchtlinge bis zum Abschluss ihrer Ver- bedarf in vielen Fällen langwieriger Verfahren, um unserer Stadt – sowohl von Einheimischen als
tausend Flüchtlinge sind nach Hamburg gekom- muss, wo gelegentlich auch Grenzzäune stehen. fahren in Folgeunterkünfte umziehen. auf geeigneten Grundstücken bauen zu können. auch von denen, die zu uns kommen, um hier zu
men. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf Und wo es Grenzübergänge gibt, an denen klare Zum Jahresende 2015 verfügte Hamburg somit Das deutsche Planungs- und Baurecht ist in den studieren, hier zu arbeiten und hier zu leben.
unsere Stadt.Wir müssen uns verständigen, wie es Regeln gelten – egal, ob man als Tourist, als Ge- über 39 000 Betten in öffentlichen Unterbringun- letzten Jahrzehnten mit viel Liebe zum Detail weiter- Vereinzelt gelingt es uns, Flüchtlinge in der Erst-
am besten gelingt, sie hier unterzubringen und in schäftsfrau, als Student oder eben als Flüchtling gen, die tatsächlich alle – mit Ausnahme eines klei- entwickelt worden, was seinen Sinn haben mag, aber aufnahme für eine gewisse Zeit in benachbarten
unsere Gesellschaft zu integrieren. passieren möchte. nen Kontingents für 3600 Wohnungslose – komplett eine Großstadt wie Hamburg Bundesländern unterzubrin-
Die Hamburgerinnen und Hamburger haben Es ist richtig, für Flüchtlinge an den europäi- für Flüchtlinge gebraucht wurden. Ein Fünftel dieser gerade sehr fordert. Für einen gen. Niedersachsen, Schleswig-
die Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen. schen Außengrenzen Grenzdurchgangs-Stationen Plätze befand sich in Notunterkünften, für die wir Bebauungsplan brauchen wir Holstein und Mecklenburg-
Ich bin beeindruckt von dem Engagement so vie- einzurichten, also Hotspots. Dort wird festgestellt, auch noch Ersatz schaffen müssen, weil sie nicht zwei Jahre, für eine Baugeneh- Vorpommern werden uns zu-
ler, die Kleider sammeln, Sprachkurse geben, beim woher ein Flüchtling kommt, seine Identität wird dauerhaft als Unterkünfte geeignet sind. migung drei bis vier Monate. sammen 2000 bis 3000 Plätze
Verteilen von Essen helfen oder einfach als gedul- geklärt und die Frage, ob er berechtigte Gründe vor- Setzt sich der bisherige Trend fort, wovon wir Die Bauherren bauen dann zur Verfügung stellen. Es
dige Gesprächspartner bereitstehen. Und ich freue weisen kann, bei uns Schutz zu suchen. Die Hot- angesichts der beschriebenen Lage ausgehen müssen, meist zwei bis drei Jahre. Un- wäre sinnvoll, die Verteilung
mich über den großen Einsatz unserer Verwaltung. spots können aber nur funktionieren, wenn die wird Hamburg im laufenden Jahr 40 000 zusätzliche sere aktuelle Aufgabe lautet der Flüchtlinge innerhalb
Das ist gut für Hamburg. Staaten der EU bereit sind, jene dann auch aufzu- Plätze schaffen müssen. Sonst laufen wir Gefahr, aber: 40 000 Plätze bis Jahres- Deutschlands mit einem an-
Uns allen ist klar: Viele Flüchtlinge werden auf nehmen, die triftige Gründe vorweisen können. Wer dass im Dezember mehr als zehntausend Flücht- ende zu schaffen. deren, für Hamburg günsti-
absehbare Zeit bei uns bleiben. Denn sie können keinen gerechtfertigten Fluchtgrund vorweisen linge in unserer Stadt obdachlos sind. Das dürfen Hamburg solle darauf geren Schlüssel neu zu regeln.
berechtigte Gründe vorweisen, um hier Schutz kann, muss in seine Heimat zurückkehren – auch wir nicht riskieren. Es wäre verantwortungslos, mit setzen, möglichst kleine Un- Die Hoffnung, dass das schnell
und Asyl zu finden. Es ist unsere humanitäre und das gehört zur Wahrheit. Das sind wir jenen schul- niedrigeren Zugangszahlen zu kalkulieren in der terkünfte zu errichten, um »Eine Initiative schlägt gelingt, ist aber gering. Einem
grundgesetzliche Pflicht, Flüchtlingen zu helfen. dig, die vor Krieg und Gewalt fliehen. Hoffnung, dass sich die Weltlage entspannt. die Integration zu erleichtern solchen neuen Schlüssel müss-
Diese Hilfe stellt Hamburg vor nicht geringe He- Parallel dazu müssen wir den Friedensprozess in Wir müssen realistisch planen. Das heißt: Ham- und keine neuen Ghettos zu einen Schlüssel vor, um ten andere Bundesländer zu-
rausforderungen, vor allem weil wir in kurzer Zeit Syrien voranbringen. Der aktuelle Waffenstillstand burg muss in diesem Jahr so viele Plätze schaffen wie schaffen, ist zu hören. Zu Unterkünfte gleichmäßig stimmen, die ihrerseits dann
eine große Zahl von Unterbringungsplätzen mag ein erstes Zeichen der Hoffnung sein – mehr in den drei vorangegangenen Jahren zusammen. Das Recht! Deshalb planen wir mehr Flüchtlinge unterbringen
schaffen müssen, mitten in einer dicht besiedelten aber ist er nicht. Die EU muss die Nachbarstaaten, ist eine enorme logistische Aufgabe. Deshalb suchen für die Flüchtlinge feste zu verteilen. Die Idee müssten.
Stadt. Diese Situation sorgt bei manchem für ein die so vielen Flüchtlingen Schutz gewähren, massiv wir gerade in ganz Hamburg nach geeigneten Bau- Wohngebäude nicht, wie sei- finde ich gut« Am Bau neuer Unterkünf-
banges Gefühl, eben weil sie unterstützen. flächen. Für knapp die Hälfte dieser 40 000 Plätze nerzeit in den sechziger Jah- te für Flüchtlinge an neuen
sich auf seine Nachbarschaft Wir haben all das nicht haben wir bislang Baugrundstücke identifiziert, um ren, mit bis zu 9000 Woh- Standorten in Hamburg führt
auswirken wird. »Hamburg muss dieses allein in der Hand. Es wird nicht wenige von ihnen gibt es Streit. nungen pro Siedlung, sondern mit 45 bis höchs- daher kein Weg vorbei.
Natürlich trägt Deutsch- Jahr so viele Plätze für Zeit und Anstrengungen brau- Der Senat bemüht sich darum, dass der Alltag tens 800 Wohneinheiten. Ganz anders als beim Die HafenCity Universität Hamburg hat ein
land nicht allein die Verant- Flüchtlinge schaffen wie chen, um die Gründe für die der Hamburgerinnen und Hamburger von der normalen Wohnungsbau: In der »Mitte Altona«, interaktives Stadtmodell entwickelt, das wir dazu
wortung für die Flüchtlinge Flüchtlingsströme dauerhaft Flüchtlingslage möglichst wenig beeinträchtigt wo ich vergangene Woche den Grundstein gelegt nutzen können, geeignete Flächen für Flüchtlings-
aus Syrien und dem Irak. Alle in den drei vergangenen zu beseitigen. Eine Abkür- wird. Deshalb verzichten wir, anders als die meisten habe, sollen am Ende etwa 3500 Wohnungen unterkünfte zu identifizieren und verschiedene
Staaten müssen sich an der Jahren zusammen« zung, die uns diesen müh- anderen Großstädte, komplett darauf, Flüchtlinge entstehen. Modellrechnungen durchzuführen. Es wird mode-
Lösung beteiligen: die unmit- samen Weg erspart, gibt es in Turnhallen unterzubringen, die von Schulen Jetzt gibt es die Idee, Flüchtlinge doch alterna- rierte Veranstaltungen geben, zu denen interessierte
telbaren Anrainer Jordanien, aber nicht. Wer anderes ver- oder Vereinen genutzt werden. Uns hilft es, dass die tiv in Hotels unterzubringen. Klingt gut, doch Bürgerinnen und Bürger sowie Vertreter von Ini-
Libanon und die Türkei, überdies Saudi-Arabien und spricht, der täuscht die Bürgerinnen und Bürger. Konjunktur günstig ist und wir den Haushalt der dafür gibt es in unserer Touristenmetropole keine tiativen eingeladen werden.
der Iran. Selbstverständlich auch ganz Europa. Und, Für uns in Hamburg bedeutet das: Das Flücht- Stadt in Ordnung gebracht haben. So konnten wir Zimmer. Eine Abfrage der Sozialbehörde 2015 hat Der Senat ist überzeugt, dass wir die Zukunfts-
nicht zu vergessen, die USA, die durch ihre fatale lingsthema wird nicht über Nacht verschwinden. im vorigen Jahr strukturell 600 Millionen Euro für ein Kontingent von 700 Betten ermittelt, verstreut chancen Hamburgs nicht aufs Spiel setzen dürfen.
Entscheidung, im Jahr 2003 den Irak-Krieg zu be- Wir werden damit eine ganze Weile zu tun haben. Flüchtlinge aufwenden, ohne an anderer Stelle spa- in der Stadt. Hotelzimmer helfen also nicht viel. Deshalb lassen wir die Gebiete unangetastet, die für
ginnen, die Flüchtlingsströme aus dieser Region mit Wir müssen die Flüchtlinge bei uns aufnehmen, sie ren zu müssen. Ähnliches gilt für die vorgeschlagene Unterbrin- den regulären Wohnungsbau und die Ansiedlung
ausgelöst haben. Nicht alle Staaten werden ihrer Ver- ordentlich unterbringen und sie möglichst rasch, Doch bei der Schaffung neuer Unterkünfte stoßen gung in Kleingartenlauben. Davon abgesehen, von Arbeitsplätzen reserviert sind. Denn die positive
antwortung bislang gerecht. Die Hauptlast tragen möglichst erfolgreich integrieren. Bildung und Aus- wir an Grenzen. In einigen Gebieten der Stadt sind dass dies rechtlich nicht zulässig wäre, sind diese Entwicklung der Stadt geht ungeachtet der Aufgabe,
nach wie vor Jordanien, Libanon und die Türkei, die bildung ist für die Integration zentral: Deshalb hat Initiativen von Anwohnern entstanden, die sich gegen Lauben überhaupt nicht dafür ausgestattet, dauer- Flüchtlinge unterzubringen, weiter.
Millionen Flüchtlinge bei sich beherbergen. der Senat sehr frühzeitig Krippen, Kindergärten und konkrete Baupläne des Senats und der Bezirke wen- haft Menschen zu beherbergen. Kluge Politik muss tun, was richtig ist. Deshalb
Für die Europäische Union mit ihren 28 Mit- Schulen mit zusätzlichem Personal ausgestattet, um den. Mit diesen Initiativen sprechen wir. Ich habe Für Unterkünfte auf dem Wasser in Schiffen, plant Hamburg mit realistischen Flüchtlingszahlen
gliedsstaaten und mehr als 500 Millionen Bürgerin- den Flüchtlingskindern einen guten Start zu er- Verständnis für die Sorgen, die Nachbarn vorbringen. wie wir sie in den neunziger Jahren mal hatten, und treibt den Bau von Unterkünften zügig voran.
nen und Bürgern wäre es keine große Sache, mehr möglichen, ohne den normalen Schulbetrieb zu stark Diese Sorgen nehmen wir ernst. Dankbar bin ich, haben wir lediglich einen geeigneten Liegeplatz Ich bin zuversichtlich: Wenn wir mit Augenmaß,
als eine Million Flüchtlinge im Jahr aufzunehmen. zu beeinträchtigen. Mit dem Programm Work & wenn sie nicht dem Sankt-Florians-Prinzip folgen: gefunden. Wir haben leer stehende Bürogebäude Dialogbereitschaft und konstruktivem Engagement
Wenn die Flüchtlinge aber nur in wenigen Staaten Integration for Refugees (W.I.R.) haben wir zudem Flüchtlingsunterkünfte ja, aber nicht bei uns. untersucht und nutzen nun die geeigneten als an die Sache herangehen, können wir es schaffen.
– wie zuletzt in Österreich, Schweden und Deutsch- ein Projekt geschaffen, mit dem wir Flüchtlinge Die Initiative aus Neugraben-Fischbek beispiels- Flüchtlingsunterkünfte. Aber viele wären – aus Wir sind es uns schuldig – und den Flüchtlingen.
land – Aufnahme finden, wird es schwierig. Deshalb zügig in unseren Arbeitsmarkt integrieren. weise schlägt einen Schlüssel vor, um die Unterkünfte Brandschutzgründen oder wegen fehlender Sani-
brauchen wir endlich eine gemeinsame Lösung aller Die größte Herausforderung ist es im Moment gleichmäßig über die Stadt zu verteilen. Die Idee täranlagen – auch nach aufwendigem Umbau Zustimmung, Einwände, Hinweise? Schreiben Sie uns
28 EU-Staaten. Das ist keine Frage der europäischen aber, allen Flüchtlingen ein festes Dach über dem finde ich gut. Ich weiß aber auch, dass Initiativen in ungeeignet. an: hamburg@zeit.de
4 HAMBURG
H 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

Mit frischer Fest


Kraft ans Werk gefahren
Große Lösungen sind in der Hamburger Energiepolitik nicht mehr gefragt. Nun darf es klein, Schon wieder ist ein Schiff in Hamburg havariert.
kompliziert und teuer werden VON FR ANK DRIESCHNER Kein Grund zur Panik VON HANNA GR ABBE

I
rgendwie kommt einem die Szene, die sich
vergangenes Wochenende vor Blankenese
abgespielt hat, bekannt vor: Sonnenschein,
Elbufer, Schaulustige in Windjacken, Stul-
len, Ferngläser, Kameras. Die Kulisse: gro-
ßes Schiff im Ufersand. Ein rot-blauer Koloss aus
Stahl, schwer und unbeweglich wie ein gestrande-
ter Wal. Es sind Bilder einer ganz besonderen
Touristenattraktion – eine, für die Hamburg wohl
lieber nicht bekannt wäre. Schon gar nicht jetzt.
Anfang dieser Woche gab die Stadt das Pro-
gramm für den diesjährigen Hamburger Hafen-
geburtstag bekannt: Die Feierlichkeiten dauern
2016 einen Tag länger, ein Kreuzfahrtschiff wird
getauft, eine Million Besucher könnten kommen.
Umso ärgerlicher ist es, dass nun schon zum
zweiten Mal innerhalb eines Monats ein Schiff
vor Hamburg in der Elbe feststeckt. Touristen-
magnet hin oder her, havarierte Schiffe im Elb-
schlick sind keine gute Werbung für die Stadt
und ihren Hafen.
Erst vor drei Wochen steckte der Container-
frachter Indian Ocean sechs Tage lang bei Wedel
in der Elbe fest. Tausende Menschen strömten an
die Ufer, um das 400 Meter lange Megaschiff zu
bestaunen. Der Deich glich einem Volksfestplatz.
Dieses Mal heißt das Unglücksschiff Sandnes,
ein Schüttgutfrachter, der Kohle, Streusalz oder
Kies laden kann. 166 Meter lang, 24 Meter breit.
Zwei Wochen lang haben die Arbeiter der Sietas-
werft in Neuenfelde ihn gewartet. Doch kurz
nachdem der Frachter wieder ausgelaufen war,
um sich auf den Weg nach Norwegen zu machen,
lief er auf Grund. Fünf Schlepper bugsierten das
Schiff noch am Abend des gleichen Tages wieder
in tieferes Fahrwasser, die Flut half.
Am Ende lief alles glimpflich ab. Auch die
spektakulärere Bergung der Indian Ocean ging
gut aus. Und doch bleiben Fragen: Warum schon

E
s gibt ja immer noch Leute, die fenbar ist Scholz bereit, sich überzeugen zu Wirklich überrascht war niemand. wieder? Was ist da nur los?
glauben, es gehe um den Bau lassen. Darum die Gutachten. Dummerweise kostet die Zeit, die mit Er- Die Antwort scheint unbefriedigend: Nichts
eines Kraftwerks. Wenn Politik die Kunst ist, Komplexität findung und Infragestellung des »Innovations- Besonderes ist los. Auch wenn Aktivisten aller
Dienstagabend der vergan- auf ein handhabbares Maß zu reduzieren, dann kraftwerks« verstrichen ist, selbst einen hohen Lager nun versuchen, die Ereignisse in Richtung
genen Woche, ein voll besetzter ist die Hamburger Energiepolitik in der Ver- Preis, ökonomisch wie ökologisch. Vattenfall ihrer politischen Ziele zu interpretieren. Elb-
Vorlesungsraum in der Univer- gangenheit weit übers Ziel hinausgeschossen. will 84 Millionen Euro in das alte Kraftwerk in vertiefungsgegner (und die Lobbyisten des Jade-
sitätsbibliothek. Ungefähr 150 Hauptsache, groß, teuer und anders, als die Wedel investieren, um es länger als ursprüng- WeserPorts) sind sicher, dass der Hamburger
interessierte Bürger, darunter überwiegend Ökos es wollen – so dachte eine CDU-Regie- lich geplant in Betrieb lassen zu können. Am Hafen schlicht nicht für Großschiffe geeignet ist
Männer in der zweiten Lebenshälfte, erörtern rung vor zehn Jahren offenbar und ließ den Ende werden die Hamburger diesen Preis be- und diese lieber Wilhelmshaven ansteuern soll-
mit Hamburgs grünem Umweltsenator Jens Bau des riesigen, unwirtschaftlichen und als zahlen müssen, weil das Land infolge des ten. Die Befürworter hingegen sehen die Hava-
Kerstan, Branchenvertretern und anderen Ersatz für Wedel ungeeigneten Kohlekraft- Volksentscheids zum Netzrückkauf zusammen rien als Zeichen, dass es höchste Zeit wird, den
Experten die Zukunft der Hamburger Wärme- werks in Moorburg zu. mit den Wärmeleitungen auch das alte Kraft- Fluss endlich auszubaggern. Wieder andere schie-
versorgung. Zuletzt hatten es die Sozialdemokraten mit werk erwerben muss. ben dem Schlick und damit der Hamburger Port
Wie wird das alte Heizkraftwerk in Wedel einem ähnlichen Ansatz versucht: Sie entschie- Außerdem wird sich die umweltschädliche Authority, die für dessen Beseitigung sorgen
ersetzt? Es geht um die den sich für eine Technik, Strom- und Wärmeproduktion in Wedel nun sollte, die Schuld zu.
größte Baustelle der Ham- das sogenannte Gas- und um Jahre verlängern. Der Energiekonzern Nur: Die Diskussionen sind müßig. Die bei-
burger Energie- und Um- Dampfturbinenkraftwerk, Vattenfall beabsichtigt offenbar weiterhin, das den Fälle sind weder vergleichbar noch spezifisch
weltpolitik – das kann
man, wie sich zeigt, wört-
lich nehmen.
Das Wärmenetz, das
450 000 koppelten es mit einem Kraftwerk möglichst ununterbrochen laufen zu
Wärmespeicher und er- lassen. Ob das unvermeidlich ist, wie das Un-
klärten diese Kombina- ternehmen behauptet, lässt Umweltsenator
tion zum »Innovations- Kerstan gerade prüfen.
für Hamburg – und einen neuen Trend bilden die
jüngsten Havarien noch lange nicht.
Im vergangenen Februar gab es sogar drei sol-
cher Zwischenfälle auf der Elbe, wenngleich mit
noch Vattenfall, ab 2019
aber Hamburg gehört, ist
Haushalte kraftwerk«, das die Ham- In Fragen der Energiepolitik sind die Grü-
burger Energieprobleme nen in Hamburg insofern die modernste der
kleineren Schiffen. Eine Häufung in den letzten
Jahren oder Monaten sei nicht feststellbar, sagt
die Zentralheizung der sind an das Hamburger schon lösen werde. Parteien, als sie keine technologischen Stecken- Jürgen Behm, Sachbereichsleiter für Verkehrs-
Stadt. 450 000 Wohnun- Fernwärmenetz Wahrscheinlich hätte pferde reiten. Die Sozialdemokraten hängen, wesen und Liegenschaften beim zuständigen
gen hängen daran. Udo angeschlossen auch das »Innovations- vermutlich aus Gründen der Tradition, an Hamburger Wasser- und Schifffahrtsamt. Behm
Bottländer vom Energie- kraftwerk« mehr Proble- Großkraftwerken, neuerdings setzen sie dabei hat den Überblick: Insgesamt habe es im vergan-
unternehmen HanseWerk me verursacht als gelöst. auf den Brennstoff Gas. In der CDU versu- genen Jahr zwischen Hamburg und der Nordsee
trägt vor, wie dieses Labyrinth aus Rohren und Die Frage ist nur, ob die Probleme überhaupt chen sie immer noch, die Entscheidung für zehn Havarien auf der Elbe gegeben, verteilt auf
Heizwerken verändert werden müsse, um den lösbar sind, vor denen Hamburg steht. Kraft- Moorburg zu rechtfertigen. Die Linken wollen 63 000 Schiffspassagen. Standard, sagt Behm.
Herausforderungen der Energiewende gerecht werke kosten Hunderte von Millionen Euro, um jeden Preis Strom und Wärme aus Holz Auch taugen Schlick oder die bislang ausblei-
zu werden. Es geht um Temperaturen, Druck manchmal Milliarden, und sie sollen jahrzehn- gewinnen. Dass nicht mehr eine einzige Tech- bende Elbvertiefung nicht als Gründe: Im Falle
und Strömungsrichtungen, die Details würde telang ihren Dienst versehen und dabei Ge- nik alle Fragen beantwortet, dass es darauf an- der Indian Ocean legte ein elektrisches Bauteil das
selbst hier kaum jemand verstehen. Aber Bott- winne erwirtschaften. Wie soll man in Zeiten kommt, für mehr als eine denkbare Zukunft zu Schiff lahm. Die Sache hätte in jedem Hafen der
länder nennt eine Zahl. einer sich rasant wandelnden Energieland- planen, sich möglichst wenig festzulegen, flexi- Welt passieren können. Bei der Sandnes lag es ver-
Wie viele Elemente des Netzes müssten aus schaft solche Anlagen planen, wenn selbst Ex- bel zu bleiben, das scheinen die Grünen am mutlich an der heiklen Ausfahrt der Werft in
seiner Sicht umgebaut werden? – »1500.« perten nur wenige Monate weit in die Zukunft ehesten zu verstehen. Richtung Elbmündung. Das Fahrwasser dort ist
Seit gut zehn Jahren überlegen die Ham- schauen können? Zugleich, so scheint es, haben ausgerechnet flach und kurvenreich. Besonders schwierig wird
burger, wie ihr Heizsystem am besten zu mo- Sollen die Hamburger beispielsweise davon die Ökos nun kostbare Zeit verschwendet. Er das Manövrieren, wenn das Schiff wie in diesem
dernisieren sei, nun, da in Wedel eines seiner ausgehen, dass ihre Nachbarn in Schleswig- habe zur Kenntnis nehmen müssen, sagte Jens Fall komplett unbeladen ist und damit anfällig
zentralen Bestandteile zusehends marode wird. Holstein in einigen Jahren mit ihren Wind- Kerstan am Dienstag vergangener Woche in für Seitenwind. Die Sandnes strandete außerhalb
Im Dezember hatte die Landesregierung ent- rädern dreimal so viel Strom erzeugen werden, der Universitätsbibliothek, dass es unter den der vorgesehenen Fahrrinne. Wäre man der Rinne
schieden, einstweilen kein neues Gaskraftwerk wie sie selbst benötigen? Experten mehr als eine gefolgt, wäre die Sache vielleicht gar nicht pas-
zu errichten – nun stellen sich Fachleute und In Schleswig-Holstein glau- Ansicht in der Frage gebe, siert. Ob der Kapitän abkürzen wollte, das Steuer

800
die interessierte Öffentlichkeit die Frage, was ben sie das. Wenn es ob Kraft-Wärme-Kopp- nicht im Griff hatte oder etwas anderes den Aus-
diese Entscheidung bedeutet. stimmte, wäre es dumm, in lung überhaupt noch eine schlag gab, ist noch unklar. Die Wasserschutz-
Es klingt ja gut: kein großes neues Kraft- Hamburg viel Geld in ein gute Idee sei. polizei untersucht den Fall.
werk, das auf lange Sicht ohnehin nur Verluste neues Kraft-Wärme-Kopp- Das ist erstaunlich. Technisches und möglicherweise menschliches
Illustration: Beck für DIE ZEIT; Foto (Ausschnitt): Daniel Reinhardt/ dpa Picture-Alliance

produzieren wird (ZEIT Nr. 36/15) – stattdes- lungs-Werk zu stecken, also Die Energie-Experten vom Versagen? Das kann vorkommen. Sogar zwei Mal
sen viele kleine Lösungen für ein Wärmenetz ein Kraftwerk, das zu- Hamburg Institut warnen in einem Monat.
der Zukunft. Ein solches Netz könnte hier Ab- gleich Wärme und Strom seit gut einem Jahr vor
wärme aus der Metallindustrie in Wohnungen produziert. den überschätzten Mög-
transportieren und dort die Energie aus Müll- Nichts zu entscheiden Kilometer lichkeiten dieser Technik.
verbrennungsanlagen aufnehmen. Es würde kann aber auch teuer sein. Und sie haben dazu aus-
Rohrleitungen verbinden ihre
vielleicht Gasmotoren und Holzkraftwerke Mitte 2014, gerade noch gerechnet im Auftrag der
Wohnungen mit Heizwerken, Kraft-
einbinden, eventuell könnten irgendwann rechtzeitig, hatte die dama- grünen Bundestagsfraktion
werken und Müllverbrennungsanlagen
auch Erd- oder Sonnenwärme eingespeist wer- lige sozialdemokratische eine Untersuchung veröf-
den. Und es würde Wärme nicht nur transpor- Landesregierung beschlos- fentlicht. In der Leitung
tieren, sondern für kühle Tage auch speichern. sen, über ihr »Innovationskraftwerk« noch ein- des Hamburg Instituts arbeitet ein namhafter
Man müsste dafür bloß ein Leitungssystem, mal nachzudenken. Damals warnten die ersten Grüner, der ehemalige Umweltstaatsrat Chris-
das fast eine halbe Million Wohnungen heizt, Untersuchungen vor Investitionen in die Kraft- tian Maaß.
an 1500 Stellen umbauen. Ganz schnell. Im Wärme-Kopplung. In der Energiepolitik be- »Vorschläge der Experten, auch aus dem
laufenden Betrieb. deutet Nachdenken: ein Gutachten in Auftrag Hamburg Institut, nehmen wir aufmerksam
Er habe erst mal drei Gutachten in Auftrag geben. Seit Herbst vergangenen Jahres liegt das zur Kenntnis«, teilt die Umweltbehörde auf
gegeben, sagt der Umweltsenator. große Gutachten zur Hamburger Wärmever- Anfrage mit. In diesem Fall hat der grüne Um- Vor Blankenese auf Grund gelaufen:
Gibt Hamburg die Idee vom neuen großen sorgung vor. Das Orakel besagt im Wesentlichen, weltsenator dafür viel Zeit gebraucht. Nun Die »Sandnes« auf der Elbe
Kraftwerk auf? Noch, so erläutert es Kerstan, dass es mehrere Möglichkeiten gibt und keine lässt er die Überlegungen seines Parteifreunds
sei der Bürgermeister nicht überzeugt. Aber of- davon unproblematisch ist. prüfen – besser spät als nie.
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 HAMBURG H 5

Als Klajd Karameta in den nuller Jahren von


Hamburg nach Tirana zurückkehrte, staunte er:
Plötzlich gab es Autos, geteerte Straßen und
Wasserleitungen in den Wohnungen

Bleibt
mal
ruhig

Foto: Interfoto (gr.); J. Sieckmeyer (u.)


Ein Albaner lässt sich in den
Neunzigern in Hamburg zum
Juristen ausbilden. Wie er heute
versucht, seine Landsleute von
der Auswanderung
abzubringen VON FELIX LILL

E
inerseits, sagt Klajd Karameta, zuständig. »Albanien hat großes Potenzial«, Deutschkurs wechselte Karameta das Fach und stu- ten, nicht studieren, keine Krankenversicherung ab- Im vergangenen Sommer war er wieder in Ham-
würde er jedem zu einem Leben glaubt er. Die Bevölkerung sei jung, der Mindest- dierte Jura, Spezialisierung: Strafrecht. schließen könnten. Und er erzählt ihnen, wie vielen burg, um sein Land anzupreisen. »Ich sage meinen
im Ausland raten. Gerade in lohn betrage nur 165 Euro, die Gewinnsteuer sei Als Albaner in Hamburg war das naheliegend. Albanern er in Hamburg begegnet sei, die in die Mandanten immer, dass eine unserer Stärken die
Hamburg, einer der beliebtesten niedrig, die meisten jungen Menschen sprächen In den Neunzigern erstarkte die Albanermafia in der Kriminalität abgedriftet seien. Oder gleich auf der Bevölkerung ist: Wir Albaner sind jung und fleißig.
Städte unter seinen Landsleuten. Englisch. Wer investieren soll? »Viele deutsche Stadt, die die albanische Community in ein zweifel- Straße leben müssten. Aber wir müssen aufpassen, dass noch genügend
»Das Wetter ist nicht so gut, aber Betriebe wollen expandieren und haben auch das haftes Licht rückte. Das störte Klajd Karameta. An Karametas Aufklärung hat auch etwas von Ab- von uns hierbleiben.«
die Leute sind aufrichtig, Behör- Geld dafür«, sagt der Anwalt. »Außerdem will der Universität gründete er einen Albanienverband, schreckung, das nimmt er in Kauf. Denn Albaniens Derzeit arbeitet Karameta mit Hamburger Un-
den und Geschäftsmänner zuverlässig. Und das eigentlich jeder Albaner für ein deutsches Unter- um sein Land auch jenseits der Mafia bekannt zu Wirtschaft leidet massiv unter der Abwanderung. ternehmen an einem Konzept für eine Messe, die
Stromnetz bricht nicht zusammen.« In Hamburg nehmen arbeiten.« machen. Seine Abschlussarbeit schrieb er über Mit seiner Kanzlei wirbt er deshalb bei ausländischen Albanien als Produktionsstandort und Handels-
habe er erstmals erlebt, wie reibungslos der Alltag Klajd Karameta zog vor 16 Jahren nach Nord- Niederlassungsrecht. Das sollte noch einmal wich- Investoren für sein Land. partner anpreisen soll. Ob sie zustande kommt, ist
einer Stadt ablaufen könne. »Solche Erfahrungen deutschland, vor sieben Jahren kam er zurück. tig werden. In Deutschland interessieren sich immer mehr noch nicht sicher. »Es wäre so wichtig. Im Ausland
will ich ja niemandem absprechen.« Seitdem hält er die Verbindung zu Hamburg. Als sein Studentenvisum auslief, ging Klajd Unternehmen für Albanien. Der Flughafen von denkt man ja noch, dass hier Straßenbanden re-
Und doch tut er, was er kann, damit es ihm Die Stadt nennt er »meine zweite Heimat«. Er Karameta zurück nach Albanien. Der Heimkehrer Tirana wurde vom Konzern Hochtief gebaut. Das gieren und ohne Korruption nichts geht.« In
nicht allzu viele Albaner nachmachen. hofft, dass sein Draht dorthin noch möglichst staunte wie ein Besucher. In den nuller Jahren ver- bayerische Textilunternehmen Naber unterhält eine Hamburg, wo der Kiez lange von den Osmani-
Der Rechtsanwalt versucht, über seine Kon- allen Albanern nützen wird. Nur eben nicht so, banden Tirana und die umliegenden Gebiete endlich Produktionsstätte mit 400 Arbeitsplätzen. Hans- Brüdern kontrolliert wurde, ist der Ruf besonders
takte nach Hamburg Wirtschaftskraft nach Alba- wie es sich viele wünschen. geteerte Straßen, mehr Wohnungen waren an Wasser- Jürgen Müller, der den in Hamburg ansässigen schlecht. So muss es diese Stadt sein, von der aus
nien zu holen – um so die Massenabwanderung Fluchtpläne sind Stadtgespräch in Tirana. leitungen angeschlossen, auf den Straßen fuhren Albanisch-Deutschen Wirtschaftsverband leitet, das Image für ganz Deutschland poliert werden
zu bremsen. Oft wird der Heimkehrer in Tirana Egal wo man sich aufhält, überall kann man sie viele Autos. Gleichzeitig lebten Menschen am Rande findet Albanien zwar noch immer zu unbekannt, könnte, finden Karameta und Hans-Jürgen Müller
nach Tipps gefragt: wie man so eine Flucht an- aufschnappen und unfreiwillig mithören – ob der Innenstadt in Slums. doch die Anfragen nähmen zu, sagt er. »Albanien ist vom Albanisch-Deutschen Wirtschaftsverband.
stelle. Wie man in Deutschland Arbeit finden auf der Terrasse des Cafés oder im Park dahinter, An der Armut hat sich bis heute wenig geändert: eben ein kleines und gut spezialisiertes Land.« Was aber, wenn die Abwanderung von Men-
könne. Klajd Karameta antwortet dann jedes ob man alten Männern beim Backgammon zu- Obwohl sich mittlerweile in Albanien eine Mittel- Seine durch die Abwanderung weiter schrump- schen weitergeht und die Ansiedlung von Unter-
Mal: »Lasst es bleiben. Helft sieht, Jüngeren beim Abhängen schicht herausgebildet hat, profitieren die Ärmsten fende Größe wird bereits spürbar zum Investitions- nehmen nicht schnell genug gelingt?
eurem Land lieber hier!« oder Kindern beim Betteln. kaum vom Aufschwung. »Ich sage all den potenziel- hemmnis. Beim süddeutschen Betrieb PSZ, der mit Klajd Karameta hat seine Limonade auf dem
Ein später Freitagnachmit- Ständig geht es darum, die Hei- len Flüchtlingen: ›Geht nicht!‹ Viele informieren sich 100 Arbeitskräften außerhalb von Tirana Kabelsätze Blechtisch stehen lassen, stapft über den kaum
tag in Tiranas Innenstadt. Klajd mat hinter sich zu lassen. »Min- gar nicht darüber, dass sie als Albaner kaum Chancen für Maschinen herstellt und seine Belegschaft ei- gemähten Rasen des Parks. Zwei junge Männer ki-
Karameta trägt einen marine- destens die Hälfte der Leute um auf Asyl haben«, sagt Klajd Karameta. Anders als in gentlich auf 250 aufstocken will, klagt man schon cken auf der Wiese einen Ball hin und her, einer im
blauen Anzug, den obersten die 20 Jahre will nach Deutsch- den Neunzigern herrscht inzwischen Frieden, die über Engpässe: »Die letzten Monate hatten wir die Trikot von Bayern München, der andere in einem
Hemdknopf geöffnet, er fläzt land«, sagt Klajd Karameta. deutsche Regierung betrachtet Albanien als sicheres Situation, dass uns fast täglich Mitarbeiter Richtung alten Dress des HSV. Im besten Slang flüstert der
sich auf einen Stuhl in einem »Und ich kann sie ja verstehen.« Herkunftsland. Deutschland verließen, von heute auf morgen«, be- Jurist: »Wenn diejenigen, die es nach Hamburch
Szenecafé. Wochenende, end- Als in Albanien 1991 die Karameta erzählt seinen Landsleuten deshalb richtet der Geschäftsführer Werner Steinbacher. schaffen, wenigstens bald wiederkommen, wäre das
lich. Er wirft einen Blick auf Diktatur zusammenbrach, öff- immer wieder, wie schwierig das Leben in Deutsch- Klajd Karameta berät PSZ auch nach der Investi- für mich langfristig auch kein Ding. Dann aber
den großen Springbrunnen vor nete sich das bis dahin ab- land ohne Aufenthaltsrecht sei. Dass sie nicht arbei- tion in Rechtsfragen. bitte zackich.«
ihm, den bekanntesten der geschottete Dreimillionenland.
Stadt, im leicht verwilderten
Park zwischen Nationalgalerie
Klajd Bald suchten 800 000 Men-
schen Glück und Wohlstand im
und alter Königsresidenz. »Die
Muster erinnern mich an die
Karameta Ausland. Die meisten gingen
nach Griechenland und Italien,
Binnenalster«, sagt er und deu- viele nach Deutschland. Vor
tet aufs Wasser. Davor toben allem die gut Qualifizierten
und kreischen Kinder. Sie sind Der Albaner zog vor liefen davon.
es, die Klajd Karameta die größ- 16 Jahren als Student Mitte der neunziger Jahre
te Sorge bereiten: Wie viele von nach Hamburg. Seine schien gerade Ruhe eingekehrt
ihnen wird das Land halten BWL-Prüfungen wurden zu sein – doch dann brach die
können? in Deutschland nicht Ordnung völlig zusammen. Ein
In der Flüchtlingskrise stand anerkannt, also wechselte finanzielles Schneeballsystem,
Albanien im vergangenen Jahr er gleich ganz das Fach in das Tausende Albaner auf
auf den Listen der Herkunfts- und wurde Jurist. Vor das Versprechen hoher Zinsen
länder an zweiter Stelle: 55 000 sieben Jahren kehrte er hin Großteile ihres Besitzes in-
Albaner ersuchten in Deutsch- zurück nach Tirana. vestiert hatten, fiel in sich zu-
land Asyl. Nach Hamburg Dort leitet er die erste sammen. Die scheinbar gene-
kamen in diesem Zeitraum laut Kanzlei Albaniens, die rösen Geldleihfirmen gingen
Einwohnerzentralamt 1812 Al- ausländische Investoren pleite, die Massen forderten ihr
baner. Die Anerkennungsquoten und Unternehmen bei Geld zurück. Von 1997 an
sind gering, doch die Zahl der der Ansiedlung berät. herrschten bürgerkriegsähnliche
Fluchtgründe bleibt hoch: 15 Zustände. »Die Leute gingen
Prozent der Albaner leben in MONTE nur noch bewaffnet vor die
Armut, etwa genauso viele sind NEGRO KOSOVO Tür, jeden Tag hörten wir drau-
arbeitslos. Albanien gehört MAZE ßen Schießereien«, erinnert sich
selbst auf dem durch Krieg und Tirana DONIEN Karameta, der damals 18 war.
Konflikte gebeutelten Balkan IT
ALBANIEN 2000 Menschen starben, viel
zu den ärmsten Ländern der AL mehr wurden verletzt. Ein-
IE
N
Region. GRIECHEN schusslöcher sieht man bis
Und ausgerechnet ein Glücks- ZEIT- GRAFIK LAND heute in den Fassaden Tiranas.
kerl wie Klajd Karameta, der 200 km Von 1998 an wütete zu allem
im Ausland kostbare Erfahrun- Überfluss auch noch im an-
gen machen konnte, will die grenzenden Kosovo Krieg.
Auswanderungswilligen nun von der Reise ab- Es war diese Zeit, als Klajd Karameta das
bringen? Land verließ. Sein BWL-Studium in Tirana
»Wir müssen unsere Probleme daheim lösen«, brach er ab und machte sich auf nach Hamburg.
sagt er. Der Jurist leitet die erste Kanzlei seines Von seinen Prüfungen wurde keine einzige aner-
Landes, die ausländische Investoren berät. Der kannt, im Gegenteil: Obwohl er schon im drit-
Gedanke: Wenn das Ausland hier Arbeitsplätze ten Semester war, musste in Hamburg das Abitur
schafft, müssen nicht so viele Menschen ihre nachmachen, gegenüber dem Gefängnis bei den
Heimat verlassen. Auch Karametas Kontakten Messehallen.
nach Hamburg ist es zu verdanken, dass in den Darüber kann er sich immer noch aufregen:
vergangenen Jahren rund 1000 Albaner feste »Scheiße war das.« Hamburg mochte er trotz-
Jobs gefunden haben. dem. Er fand ein Zimmer in der Nähe des Stadt-
Zwei seiner Kollegen in der Kanzlei führen parks, wurde HSV-Fan und lernte den Hamburger
die Geschäfte auf Italienisch und Englisch, Hip-Hop um Dynamite Deluxe und Absolute
Karameta ist für Mandanten aus Deutschland Beginner lieben. Nach dem Abitur und einem
6 HAMBURG
H 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

THEATER REZENSION

Estragon hat ’ne Scheibe Auf den


Schreck hin
Noch eine neue Biografie von Horst
»Warten auf Godot« mit DJs oder wie das Thalia Theater an Beckett scheitert VON JENS JESSEN Janssen. Sehr gut!

E
r war sofort verschwunden. Kaum hatte es auf einen Hund, den die Lebensgefährtin Gesche
man ihn begraben auf dem Friedhof sei- Tietjens als Kinderersatz anschafft und der vom
ner Heimatstadt Oldenburg, sprach in Meister mit einem Fußtritt wieder entsorgt wird.
Hamburg kein Mensch mehr von Horst Albrecht zitiert Tietjens: »Er hatte eben durchaus für
Janssen. Merkwürdig genug. War er doch so unent- mich die Anmutung eines Putto mit Schmolllippen,
behrlich gewesen in all den Jahren, als er in der Stadt langen Wimpern – er konnte auch wunderbar tränen-
lebte. Als Bürgerschreck und Genie, als Frauenheld reich durch diese Wimpern gucken (...) Im Nach-
und Saufkumpan. Als zuverlässiger Beleidiger und hinein gesehen war sein Äußeres identisch mit seinem
amüsanter Charmeur. Als Bohemien und natürlich Charakter.« Aushalten ließ es sich nur in Demut.
als gefeierter Zeichner, Grafiker und Radierer. Kurz: Amüsanter für den Leser ist es, diese Lebens-

Fotos: Armin Smailovic; Ingeborg Sello/Forum für Künstlernachlässe (re.); Illustration: Sven Kalkschmidt für DIE ZEIT
als in Hamburg weltbekannter Künstler. Eine Rolle, beschreibung als eine wunderbare Tour d’Horizon
wie für ihn geschaffen. Niemand hat nach ihm, der durch fünf Jahrzehnte Hamburger Vergangenheit
1995 mit 65 Jahren starb, diesen Posten je wieder zu verstehen, mit abwechslungsreichen Schau-
so hauptamtlich interpretiert und ausgefüllt. plätzen. Da ist die Burchardstraße 20, das erste
Jetzt wird man wieder von ihm sprechen. Und »Friedensnest« mit der »Tantchen« genannten
wohl auch streiten. Henning Albrecht hat eine Bio- Adoptivmutter. Die Hochschule am Lerchenfeld,
grafie geschrieben. Janssen ist also zurück, und man wo Janssen zeichnend die Trümmerlandschaft der
darf sagen, der Biograf hat leichtes Spiel gehabt. So
viel Drama, so viele Quellen und künstlerische Zeug-
nisse sind ja da. So viel Fülle verführt zur Erbsenzäh-
lerei. Der ist Albrecht nicht erlegen. Die Ambivalenz
der Figur war ein Gerüst, das ordentlich trägt.
Horst Janssen litt sein Leben lang, und er ließ Horst Janssen, Mitte der
leiden: Mutter alleinerziehend, Vater unbekannt, fünfziger Jahre in seinem
Großvater früh verstorben. Er zählt zu jenen armen Atelier
Kerlen, die früh Zuwendung vermisst haben und
dann ein Leben lang von jedem auf den Schoß ge- Stadt erobert. 1947 veröffentlichte er seine erste
nommen werden wollen. Fünf Jahre lang wird er Zeichnung – in der ZEIT. Da ist das Hinterhaus in
gezwiebelt auf einer Nationalsozialistischen Erzie- der Warburgstraße 33, wo er später nacheinander
hungsanstalt (»NaPoLa«) im Emsland. Einer der mit Judith (die er im Eifersuchtsrausch beinahe
Lehrer erkennt das Talent des schüchternen Jun- umgebracht hätte), Marie und Verena lebt. Das
gen. Die Künstlerlaufbahn beginnt am Lerchen- Treppenhaus dort wird seine erste Galerie – der
feld, der gerade mal 16-Jährige wird gefördert von Verkauf der Holzschnitte sichert erstmals halbwegs
Alfred Mahlau. Einer der Kommilitonen ist Vicco den Lebensunterhalt. Als die halbe Warburgstraße
von Bülow. Die beiden mögen sich nicht, über- dem Bagger geopfert wird, geht es in die legendäre
haupt nicht. Janssen verlässt das Lerchenfeld ohne »Burg« am Mühlenberger Weg in Blankenese.
Abschluss, fällt erst einmal in ein Loch. Viel hat die Kritik über Janssen gestritten. Bewun-
Zwischen Rave und Ramsch: Jörg Pohl in der Rolle des Estragon
»Janssen hat verschiedene Gesichter«, schreibt dert werden seine altmeisterliche Beherrschung des
Albrecht. »Der konzentriert arbeitende, absolut Zeichnerischen, die technisch perfekten Radierungen;
asoziale Menschenentbehrer; der in Gesellschaft Un- verachtet wird sein hartnäckiges Festhalten am Gegen-

Z
wei Männer, reichlich abgerisse- Begründung bedarf, lag seinerzeit die politische Linke in einen zynischen Egoismus verwandelt mögliche, der Menschen nicht erträgt und alkoholi- ständlichen. Ihm habe, schreibt Albrecht, »der Geruch
ne Gestalten, Penner oder sonst Brisanz des Absurden Theaters. Es formulierte hat. Wer kennt solche Typen nicht, die sich siert gern Streit provoziert; der um Zuwendung des Dekorativen« angehaftet. Damals ein Todesurteil.
wie schlimm gestrandete Typen, die aggressive Gegenposition zu dem sozial und vom Revoluzzer zum betrügerischen Menschen- Bettelnde; der anhängliche, besorgte Freund; der Ihm war’s wurscht, »kla?«, wie er seine Sentenzen gern
philosophieren zwei Stunden sozialistisch engagierten Theater Brechts (und schinder der Kreativszene gemausert haben? unschlagbare Maître de Plaisir (...) Sie alle bewegen beschloss. ANNA VON M Ü NCHHAU S E N
lang über ihr Schicksal: Ihr Ka- anderer), das sich die Erlösung des Menschen Das ist sehr lustig und bringt einen Hauch sich in ihm, und alle von gleichem Gewicht.«
puttsein und ihre weitgehend eher simpel vorstellte: durch den Sieg des Prole- von Mad Max und kalifornischer Flower-Power- Rettung verspricht immer wieder die Liebe. Kon- Henning Albrecht: Horst Janssen. Ein Leben;
unbegründete Hoffnung auf ei- tariats im Klassenkampf. Verwahrlosung ins Bild. Für Augenblicke verliert fliktscheu und eifersüchtig ist er im Alltag – und sei Rowohlt, 2016; 717 S., 29,95 €
nen Dritten, der sie vielleicht erlösen könnte – Menschheitsfragen waren Machtfragen, und Becketts Drama seine Überzeitlichkeit und wird
das ist Warten auf Godot, das vielleicht berühm- die fatalistische Schwermut Becketts erschien in zwanglos zu einem Stück Science-Fiction, das
teste Drama nicht nur Samuel Becketts, sondern dieser Perspektive nur wie die eingebildete von einer schon recht nahen apokalyptischen
der klassischen Moderne. Krankheit einer Bourgeoisie, die ihren Unter- Zukunft handelt, in der es nur noch Verlierer
Auf der Bühne des Thalia Theaters, in der gang fürchtet. Das war einer der großen ideolo- und einige wenige, durch Unmenschlichkeit STILKUNDE
Regie von Stefan Pucher, entfaltet es ein über- gischen Grabenkämpfe in der zweiten Hälfte des überlegene Gewinner gibt. Die haben freilich in
raschendes Maß an Komik, auch an slapstick- 20. Jahrhunderts: Kann der Mensch durch Poli- den Ruinen ihrer Gewinnsucht auch nicht mehr
haften Momenten, die das Grauen der Leere tik gerettet werden – oder gar nicht? Die Philo- viel zu lachen. Unsere
und der tief empfundenen Sinnlosigkeit nicht sophen des Absurden glaubten fest an die Un- Und doch trägt Puchers Anstrengung, dem
mindern, aber für den Zuschauer ins Erträgliche rettbarkeit. Absurden Theater realistische Plausibilität zu Beliebtheit
mildern. Jens Harzer als Wladimir und Jörg geben, nicht weit. Der Grund: Becketts Text ist
Pohl als Estragon strampeln sich in ihren grell- Ein bisschen »Mad Max«, ein bisschen dagegen, er ist zu eigensinnig und zu stark, auch
Das Stuttgarter Weinfest ist passé –
farbigen Sportklamotten – Trainingskleidung Flower-Power-Verwahrlosung zu poetisch und zu dicht. Er beharrt auf einer weil es zu viele Neider gab
der traurigsten und billigsten Sorte – eher tapfer Ewigkeitsdiagnose, die sich jeder aktuellen An-

M
und lebhaft als depressiv an einer Situation ab, Und heute? Offenbar ist das begründungslose bindung widersetzt, erst recht dem Versuch im an könnte meinen, Hamburg beuge vor. gen aus allen Ecken des Landes an und drohen den
die man früher, lange ist es her, »transzendentale Leiden an der Existenz noch immer eine Provo- zweiten Teil, Wladimir und Estragon eine Raver- Bloß nicht werden wie Berlin, wo die armen Mitarbeitern mit unflätigem Werbesprech.
Obdachlosigkeit« genannt hat. kation – jedenfalls für Stefan Pucher. Mit einer Identität als DJs am Plattenspieler zu geben, als Einheimischen derart unter den Schwa- Aus Leipzig: »Das ist doch eine Schweinerei! Was
Aber wer erinnert sich überhaupt noch an das, Videofolge schwarz-weißer Ruinen- oder Kriegs- seien sie Überlebende einer Techno-Partywelt ben ächzen, dass sie schon Kinderwagen in Haus- ist mit unserem Allerlei? Länderfinanzausgleich, Auf-
was mit dem Absurden Theater der sechziger landschaften, auf den Bühnenhintergrund proji- der neunziger Jahre. Das erklärt zwar die grellen fluren anzünden, um die Eindringlinge aus dem bau Ost, alles schon vergessen? Auch wir wollen uns
Jahre, zu dem neben Beckett auch Ionesco und ziert, versucht er so etwas wie einen realistisch Trainingsklamotten, aber sonst nichts weiter. Süden wieder zu vertreiben. Also tut Hamburg, bei euch durchfressen!«
Pinter seinerzeit gehört haben, einmal gemeint glaubhaften Hintergrund auch für die Bühnen- Sollten sie wirklich nur zu viele bunte Pillen was es tun muss, und lässt das Stuttgarter Weinfest Aus München: »Himmelherrgottsakrament, was
war? Was ist mit diesem Lebensgefühl der abso- gestalten anzubieten; Gestrandete einer Verhee- eingeworfen haben und in einen schlimmen platzen – nach dreißig Jahren. Koi Mauldasche ond habt ihr denn da verpennt? Nehmt mal keine Sach-
luten Schwärze, das Zweck und Ziel jeder mensch- rung, die jedes zivile Leben zerstört hat. Das Darkroom geraten sein? Das glaubt in Wahr- Käseschbädzle mehr ufm Rathausmargd. Sense! sen, wir haben doch die besten Haxen. Wenn wir die
lichen Existenz leugnete? Sind wir trostlos und funktioniert recht gut und motiviert vor allem heit niemand. Wie die Hamburger das geschafft haben? nicht bei euch verkaufen, werden wir uns heftig mit
untröstbar genug für Samuel Beckett? Das ist das den Auftritt der satanischen Figur, die statt des Im Ringen zwischen dem Realisten Pucher Indem sie die Mieten bis ins Unermessliche euch raufen!«
Problem, mit dem sich jede Wiederaufführung ersehnten Godot ins Leben von Wladimir und und dem Metaphysiker Beckett bleibt der Philo- steigern, ärgern sich die Schwaben. 170 Prozent Und neulich rief einer aus Mainz an, der gab dem
eines Stücks des Absurden Theaters herumschla- Estragon einbricht: des gewalttätigen Pozzo, der soph des Absurden der Sieger. Für den Zuschauer teurer! Wo bleibt da die Rendite? Fest den Rest: »Wir haben den besten Saumagen der
gen muss und an dem auch Stefan Pucher erkenn- mit seinem Sklaven Lucky ein Zwischenspiel als heißt das: Wer fürs Trostlose empfänglich ist, Das Geld ist das eine. Die Skepsis vor den Welt, der ist bei uns der größte Held. Und wenn ihr
bar laboriert. Kann es wirklich so böse um den archaischer Herrenmensch bietet. wird das Theater bestärkt und bestätigt ver- Schwaben das andere. Es gibt aber noch einen ihn nicht wollt, dann wissen wir, was bald rollt, näm-
Menschen stehen – und wenn, verflucht noch Oliver Mallison, der unzweifelhafte Star des lassen. Alle anderen brauchen einen Schnaps. dritten, wahren Grund, der das Weinfest auf dem lich eure Köpfe!«
mal: warum? Abends, gibt diesen Pozzo als enthemmten Rathausmarkt verhinderte. Der ist am Telefon- Damit war klar, dass nur eine Lösung blieb: Es
In der Verweigerung der Antwort, in der frag- Späthippie, mit Langhaarmähne in schwarzer Die nächsten Vorstellungen: empfang von Hamburg Marketing zu finden. Je- weichen alle Schwaben, um niemandem sonst zu
losen Voraussetzung, dass Trostlosigkeit keiner Lederjacke, der alles ehemals Emanzipatorisch- 5. 3., 18. 3., 20 Uhr; 6. 3., 17 Uhr des Jahr rufen dort die Neider und die Eifersüchti- schaden. KILIAN TROTIE R
3. M Ä R Z 2 0 1 6 D I E Z E I T No 1 1 KALENDER HAMBURG H 7

Eine Woche Hamburg


3. BIS 9. MÄRZ Täglich neue Veranstaltungstipps: www.zeit.de/hamburg

ERNSTNEHMEN AUSSPANNEN RAUSKOMMEN


VORMERKEN
DO Theater
Pendeln zwischen Theorie und Praxis: 9 Performer
Pop
Gott, ist der gut! Fans von Eric Church beten
Vernissage
Er will nicht nur spielen: Robert Sturmhoevels vermeintlich
03. 03. interpretieren in »Protest/Foucault« die Abhandlung »Ordnung ihn für seine innovative Countrymusik an. Zu kindliche Kunst bewegt sich an der Grenze zwischen Kitsch
des Diskurses«. Recht: Seine letzte Tournee wurde ausgezeichnet. und Abgrund.
Ernst Deutsch Theater, Friedrich-Schütter-Platz 1, 19 Uhr Gruenspan, Große Freiheit 58, 20 Uhr Evelyn Drewes Galerie, Burchardstraße 14, 18 Uhr

FR Ausstellung
Wer nicht sucht, der findet: Herman de Vries
Eishockey
»Ein bisschen frieren, kein bisschen Freude!«
Folk
Herb, aber herzlich: Liedermacher Em Huisken
Lesung
Eiskalt und ungemütlich:
04. 03. arrangiert in seinen Installationen zufällig Entdecktes wünschen die Hamburger Freezers den präsentiert in seinem Programm »Jak Frison« Der neue Thriller von
wie Äste und Steine – »Sculptures trouvées«. Iserlohn Roosters. friesisch-bretonische Grooves und Geschichten. Don Winslow spielt in
Ernst Barlach Haus, Baron-Voght-Straße 50a, 11–18 Uhr Barclaycard Arena, Sylvesterallee 10, 19.30 Uhr Kulturschloss Wandsbek, Königsreihe 4, 20 Uhr »Germany« – und heißt
auch so.
Literaturhaus, Schwanenwik

SA Konferenz
Ein wichtiger Veranstaltungs-TTIP: Die »Bürgerkonferenz
Kinder
Schneidert bei Kindern ab 4 gut ab: Das Stück
Performance
So viel sei verraten: Schauspieler Ben Becker kämpft
38, 15. März, 19.30 Uhr

05. 03. zum Thema Freihandel« diskutiert das Abkommen zwischen »Das tapfere Schneiderlein« begeistert mit liebevollem im Monolog »Ich, Judas« für eine differenzierte
Pop
Europa und den USA. Bühnenbild und viel Musik. Wahrnehmung des Jüngers.
Von Radiohead bis Britney:
Handwerkskammer, Holstenwall 12, 10–17.30 Uhr Hoftheater Ottensen, Abbestraße 33, 15 Uhr Hauptkirche St. Michaelis, Englische Planke 1, 19.30 Uhr Jochen Distelmeyer
covert und macht aus Hits
gute Musik. »Songs from
the Bottom«.
SO Klassik
Wer hier gut zuhört, hört beim Konzert am
Fotografie
Schusssicher: Der Fotograf Christian Brinkmann fängt Motive
Performance
Hamburg wird zum harten Pflaster: Street-Style- Knust, Neuer Kamp 30,
06. 03. Palmsonntag mehr: Einführung zu J. S. Bachs im Big Apple analog ein und bearbeitet die Bilder – nicht. Teams aus ganz Deutschland kämpfen im »Krass 9. April, 20 Uhr
HIER AUSREISSEN!

Orgelmesse »Dritter Theil der Clavier-Übung«. »New York – analog«. Urban Dance Battle« mit vollem Körpereinsatz.

Illustrationen: Sven Kalkschmidt für DIE ZEIT


St. Katharinen, Chorsaal, Katharinenkirchhof 1, 12.30 Uhr Nissis Kunstkantine, Am Dalmannkai 6, 14–18 Uhr Kampnagel, Jarrestraße 20, 10.30 Uhr Museen
Vom Altonaer bis zum
Zoologischen: Bei der
»Langen Nacht der
Kino Pop
MO Von Bienen und Blumen und Sorgen und Nöten: »Hoch die Tatzen!«: Die Jungs von »Boy & Bear«
Gesundheit
Atemlos durch die Nacht? Keineswegs. Bei den
Museen« machen alle
mit. Jetzt ihr!
07. 03. Volker Koepps Film »Landstück« über Menschen, die bringen ihren eingängigen Folk-Rock den langen »Meditationsabenden in Sasel« lernen Teilnehmer
lieber auf dem Land als in der Stadt leben. Weg von Australien nach Hamburg. entspannt, wie sie Ruhe in den Alltag bringen. 9. April, diverse Orte,
www.langenachtdermuseen-
Metropolis, Kleine Theaterstraße 10, 21.15 Uhr Uebel & Gefährlich, Feldstraße 66, 21 Uhr Sasel Haus, Saseler Parkweg 3, 20.15 Uhr
hamburg.de

Lesung Oper Pop


DI Vom zeitlosen Wunsch nach Unsterblichkeit handelt Ende mit Gift statt Mitgift: Verdis »Luisa Miller« Vom WWW in die echte Welt: Die ehemaligen You-
08. 03. Thea Dorns Roman »Die Unglückseligen«: Eine erzählt die tragische Geschichte zweier Liebender. Tuber »Boyce Avenue« füllen mit ihrem Alternative
Molekularmedizinerin forscht nach der Ewigkeit. Literarische Vorlage war Schillers »Kabale und Liebe«. Rock auch die größten Stadien.
Literaturhaus, Schwanenwik 38, 19.30 Uhr Staatsoper, Große Theaterstraße 25, 19.30 Uhr Docks, Spielbudenplatz 19, 20 Uhr

Kinder
MI Diskussion
Wer hält die Krise in Grenzen? Die Frage »Scheitert »Dumbo, Knut, Balu! Essen ist fertig!«:
Rundgang
Sorry, Aale-Dieter: Der Fischmarkt ist in weiblicher Hand.
09. 03. Europa in der Flüchtlingspolitik?« diskutieren Stefan In der Ferienaktion »Kleiner Tierpfleger« lernen Das zeigt der Spaziergang »Frauen in Fischindustrie und
Kornelius (»SZ«) und Ralf Fücks (Heinrich-Böll-Stiftung). Kids alles über den Beruf. Von 6 bis 12 Jahren. am Fischmarkt«.
KörberForum, Kehrwieder 12, 19 Uhr Tierpark Hagenbeck, Lokstedter Grenzstraße 2, 12 Uhr Treffpunkt am Wandgemälde, Große Elbstraße 268, 16 Uhr

Zusammengestellt von REGINA PICHLER UND KILIAN TROTIER

WAS HAMBURG LIEST ANZEIGE

KW
Belletristik Sachbuch 08

Dora Heldt: Michael Nast:


01 Böse Leute
dtv;
Generation Beziehungsunfähig
Edel;
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Dörte Hansen: Peter Wohlleben:
02 Altes Land
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Jan Weiler: Giulia Enders:
03 Im Reich der Pubertiere
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Darm mit Charme
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Michael Robotham: Anne Fleck; Claus Jenewein;
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Die Gesundküche: neuester
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Michel Houellebecq: Michael Lüders:
05 Unterwerfung
Dumont;
Wer den Wind sät
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Joachim Meyerhoff: Dalai Lama:
06 Ach, diese Lücke, diese
entsetzliche Lücke
Der Appell des Dalai Lama
an die Welt
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Kiepenheuer & Witsch; 21,99 € Benevento Publishing; 4,99 €
Rita Falk: Ildikó von Kürthy:
07 Leberkäsjunkie
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Jojo Moyes: Wilhelm Schmid:
08 Ein ganz neues Leben
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Elke Heidenreich; Bernd
09 Schroeder:
Alles kein Zufall
Das Vorsorge-Set
Stiftung Warentest;
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Eric Berg: Jan Becker:
10 Die Schattenbucht
Limes;
Du kannst schaffen, was
du willst
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NEU T 09
14,99 € Piper; 14,99 €
Daten der Rangliste: Copyright by media control GmbH, Baden-Baden; erhoben in Kalenderwoche 08 ... = Wiedereinstieg in die Top Ten
8 HAMBURG H 3. M Ä R Z 2016 D I E Z E I T No 1 1

HAAS GEHT AUS

Dank an
den Punk
Wooosh! Comics und Revolte
in der Sammlung Falckenberg
VON DANIEL HA AS

E
r ist tatsächlich schon 82. Man hatte
das später nachgeschaut, weil man es
an diesem Abend nicht glauben konn-
te. Erst war er die Treppen hinuntergestakst
wie ein Automat, der zum ersten Mal in Be-
trieb genommen wird. Die Pranken – er ist
sehr groß, mindestens 1,90 Meter – an den
Julia von Jenisch Handlauf geklammert. Aber dann, vor den
feixt, Raymond Bildern, verwandelt er sich in einen Kreisel,
Pettibon blickt reißt die Arme hoch, ruft: »So eine Kraft!
zurück, die Jedes Blatt eine neue Erfindung!«
Plattencover des Das ist Rudolf Zwirner, einer der mäch-
Punk sind tigsten Galeristen der Welt. Er ist angereist,
WER DA WAR museumsreif, und weil eine Werkschau von Raymond Pettibon
F. C. Gundlach in der Sammlung Falckenberg Pflicht ist.
Clivia und schaut hin (im Pettibon: der Amerikaner, der Comics und
Christian Breuel Uhrzeigersinn) Punk salonfähig gemacht hat für die Kunst-
szene, mit seiner grob hingestrichelten Pole-
F. C. Gundlach mik gegen den American Way of Life.
Julia von Jenisch Vor einer Wand mit Surfer-Motiven (der
Surfer gehört zu Pettibons Stammpersonal,
Klaus Staeck
weil zu demontierende Ikone der amerika-
Joachim Unseld nischen Sonnyboy-Kultur): der Fotograf, Ku-
rator, Galerist und Sammler F. C. Gundlach,
Rudolf Zwirner
89. Schwarzer Zweireiher, Künstlermähne,
Kastenbrille – ein Museumsdirektor, ent-
Fotos (Ausschnitte): Daniel Feistenauer für DIE ZEIT; Maxe Probst für DIE ZEIT (kl.); Illustration: Sven Kalkschmidt für DIE ZEIT

worfen von Tom Ford. Auch bei ihm dieser


Effekt der Begeisterung, Aufladung: »Das
explodiert ja geradezu! So ist Pettibon: im-
mer spontan, immer kräftig!«
Pettibon lehnt unterdessen an der Wand.
Strähnige, leicht asymmetrische Frisur, um
die Augen Kajal oder, je nach Auffassung, die
Spuren einer ziemlich schlechten Ernährung.
Neben ihm eine Dame mit Louis-Vuitton-
Beutel, sie hat den Ausstellungskatalog im
Arm. (Er wird keinesfalls in die Tasche pas-
sen. Ob ihr das klar war, als sie den ziegel-
steinschweren Brocken erworben hat?)
Sie spricht leise. Pettibon schaut mür-
risch, als sei er ein Teenager, der von den El-
tern mal wieder gegen seinen Willen
ins Museum geschleppt wurde.
Vielleicht denkt er aber auch darü-
ber nach, wie ihm das passieren
konnte, dass er in Hausschuhen
hierhergekommen ist. Er
trägt Wildlederpuschen
mit Teddybärfell.
So steht er da, reg-
los, still. Im Hinter-
grund eilt Herr
Zwirner zum
nächsten Bild.

D
as waren noch Zeiten, als Restaurants ein- Mundpropaganda braucht Zeit. Der Chef plaudert gut wie nichts. Aber es sind eben erstklassige, exakt Zwar nicht als Avantgarde-Mitglied, aber doch als
fach so eröffnet wurden, ohne Party und angeregt mit Bekannten, für die übrigen Gäste hat gegrillte Garnelen, wie auch das kaum gewürzte Improvisationstalent zeigt sich Henkel, als die Tester-
PR-Kampagne. Axel Henkel tat das vor er nicht mal einen Gruß. Ja, auch das waren die Kalbstatar mit Kaviar und einer Limetten-Crème- tochter nach Spaghetti verlangt, die nicht auf der
MAHLZEIT einem Vierteljahrhundert, und jetzt tut er es wie- alten Zeiten, als Charme bei Köchen noch eine frâiche von den gut ausgesuchten Produkten lebt. Karte stehen. Sie kommen so perfekt abgeschmeckt,
der. Damals machte der Koch gemeinsam mit unverlangte Zusatzqualifikation war. Kompletter wirkt der Knuspersalat vom Maishuhn dass dem Kind von der Portion wenig bleibt.
Werner Henssler sein Zeik zum angesagtesten Henkels Kochkunst stand hoch im Ansehen, mit einem fein abgestimmtem Sesamdressing. Für Vielleicht wirkt von den früheren Pächtern her
Bistro der Stadt. Heute versucht er, den großen als das erste Zeik abrupt schloss und er für mehr als den Knuspereffekt sorgt die Hühnerhaut, die offen- noch ein italienischer Genius Loci: Er würde auch
Namen neu zu beleben. zehn Jahre aus der Stadt verschwand. Er ist seinem bar in feinen Streifen frittiert worden ist. Vor zwanzig das prächtige Tiramisù erklären und die Gyoza, die
Knusper, knusper, Zeik steht für Kiez – ein Wortspiel, das wenig
erklärt. Denn vom wilden Hamburg ist der neue
Stil treu geblieben, der im Grunde ein Stilmix ist:
ein bisschen bürgerlich, ein bisschen französisch
Jahren hätte das sicher Eindruck gemacht.
Axel Henkel stand nie im Ruf, ein avantgardis-
wie Ravioli schmecken. Das Zeik gäbe eine gute
Trattoria ab. Nur für den leutseligen Padrone müsste
Schmäuschen Standort noch weiter entfernt als der alte in den
Grindelhochhäusern. Man findet das kleine Lokal
und einige Tupfer Fusion. Die Karte lässt ver-
muten, dass er allein kocht: viele kalte Gerichte,
tischer Koch zu sein. Gut für ihn, dass andere diese
Stelle ausfüllten: Die Hamburger, die so etwas
Henkel noch üben. MICHAE L ALLMAIE R

in einem Winterhuder Eckhaus, wo bislang italie- viel aromatisierte Butter anstelle der Saucen. früher suchten, fanden bequem Platz im Le Canard, Zeik, Sierichstraße 112, Winterhude. Tel. 46 65 35 31,
Kann alles, nur nicht charmant: nisch gekocht wurde. Zwei Kellnerinnen stellen Wer sich gern aufwändig bekochen lässt, wird das man schätzte für seine Präzision und Vielseitig- www.zeik-hh.de.
Das neu eröffnete Zeik sich feierlich mit Handschlag und Vornamen vor. staunen über einen Hauptgang wie die Wildwasser- keit, mit der es seinen teils prominenten Gästen Geöffnet dienstags bis samstags von 17–22 Uhr,
Viel los ist nicht, selbst am Freitagabend; die garnelen mit Chili, Knoblauch, Ingwer und sonst so ihre Sonderwünsche erfüllte. sonntags von 12–21 Uhr. Hauptgerichte um 33 Euro

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Malu Dreyer im Gespräch S.  Nr. , . März 

Wo geht’s denn
hier nach Panama?
Janosch wird 85 –
und begibt sich noch einmal
auf seine berühmte Reise
inhalt nr.  zeitmagazin

titel — Janosch deutschlandkarte: was ist populärer, »tatort«


oder »polizeiruf«?
unser kolumnist entführt wondrak auf von friederike milbradt . . . . . . . . . . . . . 
eine reise nach panama . . . . . . . . . . . . . . 
gesellschaftskritik: die bush-dynastie
weitere themen von özlem topçu . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

ein gespräch mit malu dreyer über den die schriftstellerin ronja von rönne träumt
wahlkampf in rheinland-pfalz von übel gelaunten literaturkritikern . . . 
und ihr leben mit multipler sklerose
von hans werner kilz . . . . . . . . . . . . . . .  stil: der pyjama
von tillmann prüfer . . . . . . . . . . . . . . . . 
die schönsten stücke der frühjahrsmode
sehen auch an kakteen unter strom: ein roboter für zu hause
in arizona verblüffend gut aus . . . . . . . .  von mirko borsche . . . . . . . . . . . . . . . . . 

kolumnen wundertüte: wir bauen ein tischfussballspiel


von lucia schaub . . . . . . . . . . . . . . . . . . 
über nazi-schäferhunde
von harald martenstein . . . . . . . . . . . . . .  die grossen fragen der liebe:
darf sie beim frühstück ihre e-mails lesen?
heiter stimmen uns diese woche bunte von wolfgang schmidbauer . . . . . . . . . . . 
t-shirts und ein kräuterbitter mit ginseng
von inga krieger . . . . . . . . . . . . . . . . . .  das war meine rettung: wie das theater
der schauspielerin claudia michelsen half,
im wochenmarkt gibt es arabische pizza ihre jugend in der ddr zu überstehen
von yassin musharbash . . . . . . . . . . . . . .  von anna kemper . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

Herr Janosch, was schenkt Wondrak Ihnen zum Geburtstag?

»Eine wunderschöne Wachsblume. Sie hält sich jetzt schon seit


fünf Geburtstagen und ist immer noch frisch.«
Titelbilder Janosch

Aus Anlass seines 85. Geburtstags schenkt uns Janosch eine große Geschichte mit Wondrak, ab Seite 18

diese woche in der tablet- und smartphone-app »die zeit«:


eine geschichte von den janosch-figuren gliwi und globerik
harald martenstein Über Nazi-Schäferhunde und
andere Lügengeschichten

Als die DDR unterging, wurden auch 4000 Wachhunde arbeitslos. Rüden »Siegfried« und »Iwanko« verwiesen. Sie seien eine Gruppe
Meistens waren es Schäferhunde, die an der Grenze Streife gelaufen von kritischen Wissenschaftlern und hätten beweisen wollen, dass
waren. Viele DDR-Bürger lehnten diese Hunde ab, vielleicht aus in Deutschland akademischer Konformismus herrscht. Anders aus-
emotionalen Gründen. Im Westen dagegen war die Nachfrage groß. gedrückt: Jeder Quatsch hat eine Chance, zur Wissenschaft erklärt
Der Tierschutzbund vermittelte die meisten DDR-Grenzhunde an zu werden, sofern er ins Weltbild der Auftraggeber passt. In einem
neue Besitzer in Westdeutschland. Interview mit der Zeitung Neues Deutschland, in deren Weltbild die
Ich erzähle das, weil die Doktorandin Christiane Schulte am Center DDR-Nazihunde eher nicht passen, sagte die falsche »Christiane
for Metropolitan Studies in Berlin einen wissenschaftlichen Vor- Schulte«: »Wir haben erzählt, was die hören wollten. Es reichte völ-
trag gehalten hat, mit dem Titel Der deutsch-deutsche Schäferhund. lig, die Textsorte zu treffen und den Unsinn ohne Lachen vorzutra-
Darin enthüllte die junge Historikerin, dass zahlreiche Grenzhunde gen.« Das hat ja auch schon beim Hauptmann von Köpenick genügt.
der DDR von den KZ-Wachhunden der Nazis abstammten. Nach Ich lese oft von irgendwelchen Lügengeschichten, die, weil sie be-
1990 seien einige dieser Hunde und ihre Nachfahren dann an der stimmten Leuten in den Kram passen, im Internet kursieren. Das
EU-Außengrenze eingesetzt worden und seien dort durch beson- gibt es also auch in der Wissenschaft. Die Wahrheit über die Grenz-
ders aggressives Auftreten gegen Flüchtlinge aufgefallen. Klarer Fall, hunde könnte in einer Spiegel-Story stecken, die 1990 unter dem Ti-
Osthunde sind Killer, Westhunde sind eher lieb. Schulte sieht die tel Verschmuste Bestien erschienen ist. Danach waren die Grenzhunde
Osthunde allerdings als manipulierte Opfer der von Gewalt gepräg- gar nicht scharf. Sie waren wie Attrappen, die abschrecken sollten.
ten deutschen Geschichte. An der Mauer seien auch 34 Schäferhun- Die DDR ist demnach so marode gewesen, dass sie nicht mal scharfe
de gestorben, der erste Mauertote überhaupt sei ein Hund namens Schäferhunde produzieren konnte. Die Tiere seien, im Gegenteil,
Rex gewesen. Deshalb fordert sie, in das geplante Einheitsdenkmal ungewöhnlich zärtlichkeitsbedürftig und »absolut integrationsfähig«
eine symbolische stählerne Hundeleine zu integrieren. gewesen, sie hätten lediglich auf das gehaltvolle Westfutter manch-
Der Beitrag wurde mit Applaus aufgenommen und, nur leicht ver- mal mit Durchfall reagiert. So kann Integration gelingen.
ändert, vor einigen Wochen in der Zeitschrift Totalitarismus und De- Das, was in der Zeitung oder im Fernsehen kommt, muss nicht
mokratie des renommierten Hannah-Arendt-Instituts nachgedruckt. stimmen, das weiß man. Das, was in wissenschaftlichen Zeitschrif-
Wenig später meldeten sich in der Online-Zeitschrift Telepolis die ten als wissenschaftliche Wahrheit verkündet wird, muss aber auch
Autoren der Rede, die frei erfunden war, einschließlich der Fuß- nicht stimmen. Und das, was man selber für wahr und richtig hält,
noten, die auf das »Rasse- und Zuchtarchiv Umpferstedt« und die stimmt vielleicht am allerwenigsten.

Harald Martenstein Zu hören unter www.zeit.de/audio


ist Redakteur des »Tagesspiegels« Illustration Fengel 8
heiter bis glücklich Unsere Entdeckungen der Woche

Warum die Message Ein Regal, das Schuhe präsentiert wie Skulpturen, ent-
nicht mal um den Hals worfen von dem Architekten Sigurd Larsen für Zign
tragen statt auf
dem Shirt? Goldkette
von Winden Jewelry

Die englische
Firma Brooks ist bekannt
für ihre Fahrradsättel,
macht aber auch
Leder-
Für accessoires
die
»Vogue«
fotografierte
Horst P. In seinem Roman
Horst, ein »Ich bin hier, »Die sieben guten
Meister Mama«, sage ich Jahre« beschreibt der
der Eleganz. mit erstickter israelische Autor
Das Buch Stimme. »Zu Hause Etgar Keret sein Leben
»Horst« in Warschau.« als Vater und
versammelt Sohn (S. Fischer)

Verlag, PR, John Boultbee by Brooks, Dr. Jaglas, Hendrik Schneider


Fotos Winden / Zoe Juarez, Condé Nast / Horst Estate / Knesebeck
seine Fotos
(Knesebeck)

Das Label Perlon


produziert
nicht nur gute
Platten, sondern
auch gute T-
Shirts (double-
standards.net)

Die Apothekerin
Christina Jagla
verfeinert ihren
Kräuterbitter
mit Heilwurzeln
wie Ginseng
(dr-jaglas.de)
Von Inga Krieger 10
wochenmarkt Den Kater nach Hause schicken

Manakish (arabische Pizza)


Zutaten für 6–8 Personen: 1 kg Mehl, 1 Päckchen frische Hefe, 1 TL Salz, 400 ml Wasser, Zatar (auch Sa’tar geschrieben),
Olivenöl, etwas grobes Salz zum Bestreuen

Manakish sind die arabischen Verwandten – oder für einen selbst und die Übernach- halbe Stunde ruhen lassen. Dann in kinder-
von Pizza und Focaccia. In der Levante tungsgäste nach der Party (Manakish sind faustgroße Stücke teilen. Diese auf einer
gibt es sie häufig in Bäckereien zu kaufen, großartig, wenn man einen Kater hat). mit Mehl bestreuten Arbeitsfläche ein we-
und in vielen Familien im Nahen Osten Die arabischste und ursprünglichste Va- nig ausrollen und mit den Fingern zu etwas
beginnt das späte Frühstück am Wochen- riante ist die mit Thymian. In arabischen unebenen Fladen formen, die die Größe
ende mit einem Tablett voller Manakish, Lebensmittelgeschäften können Sie Zatar eines kleinen Tellers haben. Die Zatar-
je nach Vorliebe mit Thymian, Käse oder kaufen (oder Sie bestellen es im Internet). Mischung mit so viel Olivenöl vermischen,
Hackfleisch als Belag. Der Singular von Diese tiefgrüne und sehr aromatische Ge- dass sie feucht ist, aber nicht flüssig. Die
Manakish ist Mankusheh, was so viel be- würzmischung besteht aus getrocknetem Masse mit einem Löffel auf den Teig-
deutet wie »geformtes Teilchen«, aber den nahöstlichem Thymian (oder lokalen Ma- stücken verteilen, diese dann im Ofen auf
Singular braucht man nicht, weil wir hier joran-Sorten), Sumak (einem säuerlichen Backpapier bei 180 Grad je nach Größe
über größere Mengen reden: Ein Hefeteig, Gewürz) und Sesamkörnern. Stellen Sie ca. 7 Minuten backen. Anschließend etwas
den man aus 1 kg Mehl herstellt, reicht lo- aus Mehl, Hefe, Salz und Wasser einen grobes Salz darübermahlen. Dazu ein Glas
cker für drei bis vier Bleche Manakish und Teig her: kneten, eine Stunde aufgehen Tee mit Minze: Der Tag kann kommen,
damit für eine Familie ansehnlicher Größe lassen, noch mal kurz kneten, noch eine der Kater gehen.

Von Yassin Musharbash Foto Silvio Knezevic 12


deutschlandkarte »Tatort« gegen »Polizeiruf 110«

29,1
25,8
23,0
22,0
Hamburg
Schleswig-
Holstein
20,2 22,6
Mecklenburg-Vorpommern

28,6 22,3
28,7 25,6 30,1 26,1
Bremen
Niedersachsen Berlin

17,1
22,0 20,7
15,6
Sachsen- Brandenburg
Anhalt
31,1 26,2

Nordrhein-
Westfalen
20,7
19,1
30,1 18,8
19,5 Sachsen
23,5 Thüringen
Hessen

Marktanteile von »Tatort« und


26,9 22,0
»Polizeiruf 110« 2015
Rheinland-Pfalz (Erstausstrahlungen in Prozent,
Zuschauer ab 3 Jahren)
Saarland
29,3 Deutschland insgesamt:
25,2 17,0
Tatort 27,0
23,1
Polizeiruf 110 22,7
30,1 24,8 Bayern

Baden-
Württemberg

Als Kommissar Thiel und Professor Boerne im November vorigen Sieht man von Ausnahmen wie Berlin ab, sind sowohl der ursprüng-
Jahres einen Mordfall in der psychiatrischen Einrichtung Schwanen- lich westdeutsche Tatort als auch sein Ost-Pendant Polizeiruf 110
see aufklärten, schauten 13,7 Millionen Menschen zu. Die Tatort- in den alten Bundesländern erfolgreicher als in den neuen. Und
Quelle AGF/GfK

Folge aus Münster war damit die meistgesehene Fernsehsendung das, obwohl der seit 1971 ausgestrahlte Polizeiruf 110 in der DDR
2015. Mit einem Marktanteil von 35,5 Prozent lag sie weit über ein regelrechter Straßenfeger war – mit einer Einschaltquote von
dem Durchschnitt eines gewöhnlichen Tatorts (27 Prozent) oder 40 bis 70 Prozent. Solche Werte kann man sich heute aufgrund
Polizeirufs 110 (22,7 Prozent). Erstaunlich ist, wie unterschiedlich der großen Anzahl an Programmen, die miteinander konkurrie-
gut die beiden Krimireihen in den einzelnen Regionen ankommen. ren, kaum noch vorstellen. Nicht mal für den Tatort aus Münster.

Illustration Laura Edelbacher Von Friederike Milbradt 14


Über die Bush-Dynastie
eine gesellschaftskritik

Nach George Bush senior und Sohn George senior: Vielleicht hat es die Men-
George W. Bush sollte nun eigentlich schen einfach verstört, dass da plötzlich ein
dessen jüngerer Bruder Jeb der dritte US- Bush aufkreuzt, der nicht George heißt.
Präsident der Familie werden. Doch nach- Jeb: Trumps Sohn heißt auch Donald.
dem er bei der Vorwahl in South Carolina Das kann ja heiter werden.
schlecht abschnitt, hat er seine Kandida- George W.: Jeb, sei froh. Den Job kann
tur zurückgezogen. Für seine Mutter Bar- einfach nicht jeder machen. Da muss
bara dürfte das keine große Überraschung man hart sein. Durchgreifen. Und gleich-
gewesen sein: »We’ve had enough Bushes«, zeitig locker und unterhaltsam sein. Vor
sagte sie letzten Sommer in einem Fern- allem wegen der ganzen Spaßbremsen
sehinterview – es waren schon genug von den UN und der EU.

Jeb Bush (2.v.l.) mit Bruder George W. (links),


Vater George und Mutter Barbara 1999

Bushs an der Macht. Bush senior hingegen Barbara: Lass Jeb in Ruhe, George. Er
dürfte den Rückzug bedauern, in seiner hätte das bestimmt genauso gut gekonnt
Biografie nennt er Jeb »unseren Realisten«. wie du.
Die Eltern, so heißt es, hätten George W. George W.: Genauso gut? So was Nettes
immer für den weniger geeigneten Prä- hab ich ja schon lange nicht mehr von
sidenten gehalten. So etwas würde wohl in euch gehört. Als ob ihr je an mich ge-
jeder Familie zu Konflikten führen. glaubt hättet ...
Jeb: Ich verstehe die Amerikaner nicht. Jeb: Brezel.
Foto John Mottern / AFP / Getty Images

Sie vertrauen ihr Land lieber jemandem George W.: Was?


an, der einmal fast an einer verschluckten Barbara: Lass George in Ruhe, Jeb.
Brezel gestorben wäre. Jeb: Du hast mir die Tour vermasselt.
George W.: Zum hundertsten Mal: Die Nachdem du meiner Kampagne »gehol-
Brezel hat den Vagusnerv stimuliert! Da fen« hast, ging es bergab.
würde ein Elefant in Ohnmacht fallen. George W.: Mein Vermächtnis hat dir
Jeb: Und jetzt Donald. Eine schlimmere überhaupt erst den Weg eröffnet, Kleiner!
Version von dir, nur blonder. Und du Ich hatte Ideen. Hey, ich habe den Men-
hast schon ziemlich viel verbockt. schen Demokratie gebracht.
Barbara: Kinder, streitet euch nicht! Die Jeb: Googel mal »Irakkrieg«.
Amerikaner hatten einfach genug von George W.: Mission accomplished.
uns. Wir sind zu viele. Jeb: Brezel.

Von Özlem Topçu 15


cattelan & ferrari Schlangenlinien

Maurizio Cattelan ist einer der einflussreichsten italienischen Künstler. Seit 2009 arbeitet er mit dem
Fotografen Pierpaolo Ferrari zusammen. In diesem Jahr produzieren sie jede Woche ein Bild für das ZEITmagazin. 16
Unser Kolumnist Janosch feiert am 11. März seinen 85. Geburtstag.
Und er beschenkt sich selbst, weil das am schönsten ist – mit einer tollen Reise.
1978 erschien sein Kinderbuch »Oh, wie schön ist Panama«, das ihn
berühmt machte. Die Geschichte von Tiger und Bär, die sich auf den Weg nach
Panama machen. Sie finden das Land nie – haben aber trotzdem eine
tolle Zeit. Heute, 38 Jahre später, schickt Janosch für uns seinen Helden Wondrak
nach Panama – und der kommt tatsächlich an. Auch Janosch selbst war
schon dort. Er wurde vom Staatspräsidenten empfangen und mit einem Orden
ausgezeichnet. Für besondere Verdienste um Panama
19
OH, WIE SCHÖN
Janosch hat
Geburtstag, und
Wondrak
fliegt nach Panama
herr janosch, wie kommt man eigentlich nach panama?
»Wondrak macht den Computer an und tippt ›panamareisengünstig‹ ein. Und klick –
das war ja einfacher als gedacht ...«

wie vertreibt sich wondrak während des langen fluges die zeit?
»Gleich nach dem Start begibt er sich ins Cockpit und weist dem Piloten den Weg nach Panama:
›Nach links bitte. Und fliegen Sie gerne ein wenig schneller, mein Lieber!‹ «
wer empfängt wondrak in panama?
»Der Präsident natürlich, der hat nämlich Zeit: ›Herr Wondrak, bleiben Sie länger?‹ Und Wondrak sagt:
›Vielleicht für immer, ich hab gar kein Rückflugticket, fällt mir ein!‹ «

und bringt wondrak auch ein gastgeschenk mit?


»Natürlich! Einen Karton mit nichts drin. Der Präsident ist hocherfreut: ›So ein Zufall,
gerade heute Morgen fiel mir ein, dass ich nichts brauche!‹ «
was ist denn in panama so unerwartet anders?
»Überraschend ist für Wondrak, dass Tigerhosen hier unbekannt sind. Der Präsident trägt eine Leopardenhose.
Darin tanzt er sehr schön unter den Palmen neben dem Meer herum. Und braucht dafür nicht mal Musik.«
kann wondrak auch bei einem problem helfen?
»In Panama sind die Bananen zu krumm für die Weltwirtschaft. Wondrak konstruiert eine Bananenbegradigungsmaschine.
Die macht jede Banane gerade wie einen Leutnant. Dafür bekommt er den Panama-Orden verliehen.«

und wenn er alles erledigt hat?


»Dann erhebt sich Wondrak und macht sich langsam
auf den Rückflug.«
was erzählt wondrak zu hause dem tiger und dem bären? ist panama das land unserer träume?
»Wondrak sagt: ›Das ist es zweifellos. Aber Panama reicht gerade einmal von meiner linken Hand bis zu meiner rechten Hand.
So klein ist es, da habt ihr auf eurem Sofa mehr Platz!‹ Also bleiben sie gerne auf dem Sofa.«

zeitmagazin n o 
»DAS AMT 28
MACHT SCHON
EIN BISSCHEN
HÄRTER«
Malu Dreyer,
Ministerpräsidentin
von Rheinland-
Pfalz, spricht über
ihr Leben mit
multipler Sklerose,
die Schwäche
der SPD und den
Wahlkampf
zwischen ihr und
Julia Klöckner
»Frauen als Kandidatinnen sind attraktiv für unsere Gesellschaft«
Von Hans Werner Kilz  Fotos Ramon Haindl

Frau Ministerpräsidentin, in Rheinland- Naturell, stilisiert sich ein bisschen zur CDU-Vize, sie hofft auf Rücken-
Pfalz erlebt Deutschland eine Premiere blonden Hoffnung für die Nachfolge wind von der Bundespartei. Ich kon-
auf politischer Bühne: Erstmals kämp- Angela Merkels. Sie hingegen wirken zentriere mich darauf, hier in Rhein-
fen zwei Frauen um die Macht. Eigent- mehr wie eine Landesmutter. land-Pfalz gute Arbeit zu machen.
lich ein wunderbarer Stoff für das Pu- Ja, das ist super. Am Anfang fand ich Als Ministerpräsidentin kann ich
blikum, den wir sonst nur aus Märchen, das ein bisschen komisch, so bin ich nicht jeden Tag Dinge in die Welt
italienischen Opern oder griechischen eigentlich gar nicht. Und jetzt höre rauserzählen, die am Ende gar nicht
Tragödien kennen ... ich das ganz oft: Guck mal da vorne, aufgehen und funktionieren.
... und jetzt ist es wie ein guter rhein- unsere Landesmutter! Das ist einfach Sie meinen die Vorschläge von Julia
land-pfälzischer Krimi, bei dem kei- total schön. Klöckner zur Flüchtlingspolitik, zuletzt
ner weiß, wie er ausgeht. Aber Sie sind in der Bundespolitik we- den Plan A 2, der vorsieht, an den Gren-
Laufen Wahlkämpfe von Frauen tat- niger präsent. zen »Registrierzentren« für Flüchtlinge
sächlich anders ab? Ich regiere ja hier in Rheinland- zu errichten, um jene gleich auszusor-
Ich kann das wirklich nicht sagen, Pfalz. Ich habe viel mehr Möglich- tieren, die kein Bleiberecht haben.
ich kandidiere ja jetzt zum ersten keiten, mich im Land zu zeigen. Ja, das sind im Grunde die alten
Mal. Ich weiß nicht, wie es wäre, Julia Klöckner profiliert sich als Transitzonen, die von Bund und
wenn mein Konkurrent ein Mann
wäre. Aber wahrscheinlich würde
dann das Geschlecht in den Hinter-
grund treten.
Gerhard Schröder war 2002 froh, dass
er nicht gegen Angela Merkel antreten
musste. Edmund Stoiber von der CSU
war ihm lieber, da konnte er zulangen.
Wäre ich an seiner Stelle auch ge-
wesen. Ich glaube, Frauen als Kandi-
datinnen sind attraktiv für unsere Ge-
sellschaft. Die Grünen haben hier ja
auch eine Frau als Spitzenkandidatin.
Woran liegt das? Setzen Frauen andere
Akzente? Gehen sie schonender mit-
einander um?
Das ist eine Typfrage. Ich bin noch
nie der Typ gewesen, der von mor-
gens bis abends austeilt. Das heißt
aber nicht, dass ich nicht scharf for-
mulieren kann.
»Focus«-Herausgeber Helmut Markwort
fühlt sich an den »königlichen Zicken-
krieg« vor dem Dom zu Worms erinnert,
als Kriemhild und Brunhild sich zankten
und hassten. So unversöhnlich und
rachsüchtig gehen Sie und Julia Klöck-
ner erkennbar nicht miteinander um.
Nein. Malu Dreyer, Ländern schon einmal abgelehnt
Hat es Absprachen zwischen Ihnen bei- wurden. Stattdessen wurden ja die
den gegeben? 55, ist seit 2013 besonderen Aufnahmeeinrichtungen
Nee. Ministerpräsidentin von auf einen vernünftigen Weg ge-
Wurden bestimmte Tabuthemen aus- Rheinland-Pfalz. bracht. Und trotzdem wird dieser
geklammert? Zuvor war die SPD- alte Brei wieder neu aufgewärmt.
Überhaupt nicht. Politikerin Ministerin im Sie sagen, Sie hätten zu Frau Klöckner
Von außen betrachtet, könnte der Kabinett von Kurt Beck. ein »sachliches Verhältnis«, was weni-
Wahlkampfstil nicht unterschiedlicher Seit 1994 leidet Dreyer an ger diplomatisch ausgedrückt heißt:
sein. Julia Klöckner hat eine starke multipler Sklerose. gar keins.
überregionale Medienpräsenz. Sie Sie ist verheiratet und Ach, sachlich finde ich schon sehr
zeigt ein fröhliches, unverwüstliches lebt in Trier treffend.

malu dreyer
»Die Leute machen sich manchmal lustig über mich, weil ich so viel lache«
malu dreyer

Können Sie denn vertrauensvoll mitein- verzichtet. Das besorgen die SPD- ter Mensch, mache immer meine
ander reden? Männer umso deftiger. Die haben Julia Physiotherapie, meine Situation
Ich fürchte, nach den letzten Wochen Klöckner Hybris und Selbstüberschät- hat sich stetig verbessert. Ich habe
können dies nicht einmal ihre Partei- zung vorgeworfen, sie als »Shitstorm Glück, und das Amt tut mir offen-
freunde. auf Pumps« verunglimpft. Was sagt die sichtlich gut.
Sie wollten auch in einer Fernseh-Diskus- überzeugte Feministin Malu Dreyer, Obwohl die Ärzte MS-Kranken raten,
sionsrunde nicht mit der AfD sprechen wenn solche Sätze fallen? jede Form von Stress zu meiden, sagen
und haben Ihre Teilnahme abgesagt. Hat- Ich habe deutlich gemacht, dass das Sie: »Man könnte fast glauben, die
ten Sie erwartet, dass sich Frau Klöckner nicht meine Wortwahl ist. Krankheit hat gewartet auf dieses
solidarisch zeigt und ebenfalls aussteigt? Die Körperlichkeit Ihrer Herausforderin Amt.« Was meinen Sie damit?
Ich habe meine Entscheidung un- ist bei allen Auftritten spürbar und fällt Schon als ich 2002 Ministerin wur-
abhängig von dieser Frage getroffen. vielleicht auch deshalb so auf, weil Sie de, haben meine Ärzte gesagt: Oh
Im Herbst 2014 war Frau Klöckner selber zwar ebenfalls »mitten im Le- Gott, ob das gut geht?! Und dann
noch der Meinung, dass man extremen ben« stehen, wie Sie sagen, »aber nicht auch noch Ministerpräsidentin. Klar,
Positionen keine prominente Bühne ganz sicher auf den Beinen«. Seit 22 es ist sicher nicht typisch, mit einer
in Fernsehtalkrunden geben sollte. Sie Jahren leben Sie mit der Nervenkrank- solchen Diagnose diese Belastungen
hat dann irgendwann ihre Haltung heit multiple Sklerose. Was mussten auf sich zu nehmen. Aber es klappt
geändert. Sie im Wahlkampf unterlassen, obwohl prima.
Aber Sie setzen sich dem Verdacht aus, Sie es gern gemacht hätten? Ist das Ehrgeiz? Trotz? Wollen Sie allen
dem SWR vorschreiben zu wollen, wen Nichts. Ich laufe ja ziemlich gut, gehe beweisen, dass Sie es schaffen?
der Sender einlädt und wen nicht. Politik- auch durch die Menge. Auf dem Ich habe einfach eine große Erfül-
ferne beim öffentlich-rechtlichen Fern- Rheinland-Pfalz-Tag habe ich mein lung in der Politik, es gibt mir die
sehen sieht anders aus. Mobil, dann düse ich da in der Ge- Möglichkeit, zu gestalten und die
Selbstverständlich ist es Sache des gend rum, weil das sehr, sehr weite Welt ein kleines bisschen besser zu
SWR, wen er einlädt. Aber ich möch- Wege sind. Früher war ich super- machen.
te für meine Person auch entscheiden sportlich, vielleicht hätte ich dann Einige Wissenschaftler behaupten, dass
können, an welcher Sendung ich teil- auch ein Plakat gemacht, auf dem ich eine solche Krankheit auch ein Segen
nehme. Ich bin davon überzeugt, dass gerade den Joggingschuh zubinde. für die betroffenen Menschen sein
man der AfD in der Elefantenrunde Vor einiger Zeit brauchten Sie im Land- kann. Sie verlören ihre Oberflächlich-
nicht ohne Not eine Plattform bieten tag noch ein eigens gezimmertes Ge- keit, entwickelten ganz andere Qualitä-
sollte. Frau Klöckner will ihren Auf- länder, um sicherer ans Rednerpult zu ten. Hat die Krankheit Sie verändert?
tritt, und sie versucht zu nutzen, dass kommen. Jetzt laufen Sie ohne Geh- Mein Lebensmotto heißt Carpe
ich diese Haltung habe. hilfe durch den Plenarsaal. diem, ich will wirklich den Tag le-
Sie sind ansonsten im Wahlkampf sehr Ich habe eine primär chronisch-pro- ben. Wenn sich durch einen Schick-
vorsichtig mit Ihrer Konkurrentin umge- grediente, also schleichende multi- salsschlag, durch Krankheit von heu-
gangen, haben auf persönliche Attacken ple Sklerose. Ich bin ein disziplinier- te auf morgen die Welt verändert,
34

dann kriegt man noch mal ein ande- Das war für mich schwer, weil die aus, an, aus. Und immer wieder an.« Ge-
res Bewusstsein. Reaktion der Menschen absolut un- schieht das bewusst oder unbewusst?
Sind Sie härter und unduldsamer ge- berechenbar ist. Man fragt sich ja: Jedenfalls wird hier in der Staatskanzlei
worden, was Politiker und Journalisten Trauen sie dir noch etwas zu, oder immer gelacht bei uns, egal wie schwie-
an Wolfgang Schäuble zu beobachten werden sie dich als weniger einsatz- rig der Tag ist. Ich lache so viel, weil ich
glauben? fähig ansehen? so bin. Ich komme aus der Pfalz.
Nein, nicht durch die Krankheit. In Ihrem Buch »Die Zukunft ist meine Weggefährten berichten, Sie könnten
Das Amt macht schon ein bisschen Freundin«, das letztes Jahr erschienen auch knallhart sein.
härter. Es gibt so wenig Atempau- ist, behaupten Sie von sich, Sie könn- Ja gut, das habe ich denen von An-
sen, alles muss klappen und funk- ten sich gehen lassen, aber auch diszi- fang an gesagt. Sie haben mir nur nicht
tionieren. Aber wenn ich mal zu pliniert sein. Warum kennen wir alle geglaubt.
kaltschnäuzig war, zum Beispiel zu nur die Ministerpräsidentin, die sich Wie wichtig ist Härte beim Regieren?
meiner Regierungssprecherin, dann scheinbar immer unter Kontrolle hat? Das ist sehr wichtig. Man darf Härte
bin ich immer fähig, zu sagen: Och, Ich bin sicherlich ein sehr diszipli- aber nicht nur der Härte wegen einset-
das war jetzt echt nichts, tut mir leid. nierter Mensch, ich bin aber auch zen. In einer mächtigen Position muss
Haben Sie auch schon mal die Krücken sehr fröhlich. Die Leute machen sich ich aber im Zweifel meine Macht ein-
hinter ihr hergeschmissen? manchmal lustig über mich, weil ich setzen, um bestimmte Entscheidungen
Die dabeisitzende Regierungsspreche- so viel lache, und sie glauben, das sei durchzusetzen.
rin lacht und sagt: »Die Blumenvase!« gestellt, aber das ist nicht so. Rudolf Scharping hat vor einem Viertel-
Aber gleich danach den Blumen- Es fällt schon auf, dass Sie viel lachen – jahrhundert das einst CDU-dominierte
strauß! auch in Situationen, in denen einem das Rheinland-Pfalz für die SPD erobert. Kurt
Sie haben fast zehn Jahre verschwie- offensive Lachen wie eine Überreaktion Beck hat 18 Jahre lang regiert, und Sie
gen, dass Sie MS haben. Ist es für eine vorkommt. In der »Frankfurter Allgemei- laufen nun Gefahr, nach nur drei Jahren
Politikerin schwer, offen mit einer Er- nen« hieß es mal, Ihr Lachen wirke »wie Amtszeit die Macht einzubüßen. Warum
krankung umzugehen? von einem Lichtschalter gesteuert: an, hat der Erosionsprozess die SPD jetzt
auch in Rheinland-Pfalz erfasst?
Die SPD liegt in Rheinland-Pfalz weit
über dem Bundesdurchschnitt. Die
Landesregierung und ich als Minister-
präsidentin haben sehr hohe Zustim-
mungswerte. Und das alles, obwohl
Rheinland-Pfalz ein eher strukturkon-
servatives Bundesland ist.
Sie haben drei Wahlziele ausgegeben:
»35 + x Prozentpunkte«, »stärkste Frak-
tion« und »Fortsetzung der rot-grünen
Koalition«. Wie es aussieht, verfehlen Sie
alle drei Ziele. Die SPD wie überall im
Dilemma: Sie könnten allenfalls noch in
einer großen Koalition mitregieren.
Sie haben die Wahl selber mit Mär-
chen, einer italienischen Oper
oder griechischen Tragödie ver-
glichen. Ich spreche von einem
rheinland-pfälzischen Krimi. Wir dür-
fen also gespannt sein, wie es ausgeht.
Würden Sie in einem Kabinett Klöckner
ein Ministeramt übernehmen?
Nein, das ist ausgeschlossen. Ich trete
an als Ministerpräsidentin, und das will
ich bleiben.
Am 13. März wird in Rheinland-Pfalz,
Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt
gewählt, und es gibt ein beherrschendes
Thema: die Flüchtlinge. Die Kanzlerin hat
die »humanitäre Verpflichtung Deutsch-
malu dreyer

lands« zum Maßstab ihrer Politik gemacht


und wird im Stich gelassen – von ihrer
Partei und von den europäischen Nach-
barn. Und die SPD weiß nicht, wie sie sich
positionieren soll.
Für mich und meine SPD hier im Land
ist die Position sehr, sehr klar: Wir wol-
len, dass der Zustrom begrenzt wird.
Wir müssen jetzt erst mal national un-
sere Hausaufgaben machen. Wir sorgen
hier im Land für Sicherheit und Ord-
nung. Wir sind das einzige Land, das alle
Flüchtlinge registriert, auch die Finger-
abdrücke nimmt. Und wir kümmern uns
um die Integration.
Aber muss, um alle Flüchtlinge zu integrie-
ren, nicht mehr geschehen?
Ja, natürlich. Es kann nicht sein, dass die
Bundeskanzlerin die vielen Flüchtlin-
ge reinlässt, aber die CDU nicht bereit
ist, genügend Geld für Integration und
Angebote bereitzustellen. Ich habe schon
im Dezember mit vier SPD-Bundes-
politikerinnen ein umfassendes Integra-
tionskonzept vorgelegt.
Die Eingliederung ist ein großes Anliegen
Ihrer Partei.
Im Moment blickt die Öffentlichkeit
mehr auf die Menschen, die ankommen,
und weniger auf die Integrationsarbeit,
die vor Ort durchaus erfolgreich ge-
leistet wird. Unsere Aufgabe ist es, alle
Menschen im Blick zu haben, Flücht-
linge und Einheimische. Das müssen wir
auch mehr vermitteln.
Im Moment driftet die Gesellschaft aus-
einander.
Und wir müssen die Gesellschaft zusam-
menhalten. Arbeitslose und Jugendliche
ohne Schulabschluss brauchen genauso
wie Flüchtlinge Chancen auf Arbeit und
Bildung. Das ist harte Kärrnerarbeit. Die
steht bekanntlich nie im Blickpunkt, ist
aber dringend notwendig und wird sich
langfristig auszahlen.
Nicht für die SPD. Das Ansehen der Kanz-
lerin ist trotz allem nicht zu erschüttern.
Ich bin mir ganz sicher: Die sozialde-
mokratische Vision einer offenen Ge-
sellschaft, in der alle Menschen Chan-
cen haben und sicher leben können,
wird sich auf Dauer durchsetzen. Auch
Angela Merkel ist natürlich besiegbar.

zeitmagazin
n o 

35
die welt neu sortiert ()

24/7

Es ist 21.36 Uhr, und du bist noch im Büro, weil die


eBay-Versteigerung für die Poulsen-Lampe leider
erst jetzt endete. Und dennoch kann es überhaupt nicht
schaden, deiner Chefin jetzt, um 21.37 Uhr, jenes
Paper zu schicken, das du bereits um 16.15 Uhr fertig
hattest. Soll sie ruhig wissen, wie viel du für die
Firma tust! Send!
Problem: Durchschaubar. Deine Chefin wird sich die vogelscheuche
fragen, wieso du glaubst, ihr etwas beweisen
zu müssen, denn dass ausgerechnet du bis halb neun Es ist 16.30 Uhr, und du lässt den Mantel über
arbeitest, ist äußerst unwahrscheinlich. Außerdem der Stuhllehne hängen und das Licht an und
ist es inzwischen 21.45 Uhr, und der lange Gang durch verschwindest, in der Hoffnung, dass deine Kollegen
die leeren Büroräume steht dir noch bevor. glauben, du seist nur in der Pause und kämst
Ganz zu schweigen von der Fahrt mit dem Aufzug in heute noch mal. Problem: Deine Kollegen glauben
die Tiefgarage. Hast du kürzlich nicht von einer das nicht, wenn sie um 18.30 Uhr an deiner Tür
Bande säbelschwingender Ex-IS-Mitglieder gelesen, vorbeilaufen und deine Installation sehen. Sie glauben,
die nach Feierabend in Büros eindringen und dass du den Mantel über den Stuhl gehängt hast
kurzen Prozess mit Mitarbeitern machen, die ihren in der Hoffnung, dass sie glauben, du kämst noch mal.
Weg kreuzen? Du? Du doch nicht!

punktuell genau
Wenn dein Klassenlehrer wüsste, dass ausgerechnet du,
Udo »Sanssouci« Müller, Chef der Qualitätssicherung
geworden bist, würde er sofort alle Aktien deines
Arbeitgebers abstoßen. Denn Genauigkeit war deine
Stärke nie. Im Gegenteil: In Momenten, in denen jeder
normale Mensch noch mal nachschaut, tust du ...
nichts. Getrieben von einer merkwürdigen Angstlust,
teuflisch toller titel von der du selber nicht weißt, woher sie kommt.
Aber weil du weißt, dass Sorgfalt so ziemlich das Einzige
Jeder, der länger als zwei Jahre in der Firma arbeitet, ist, worauf es in deiner Position ankommt, bist du:
erkennt, dass das neue Projekt nicht zu Ende gedacht punktuell genau. Das heißt, du machst Stichproben,
ist. Leider sind die Probleme so vielschichtig, dass bist dabei aber so überkorrekt, dass deine Mitarbeiter
es keinem der Anwesenden gelingt, sie intellektuell zu denken, dass du alles so akribisch überwachst, und
durchdringen. Zum Glück hast du dir für die Miss- sie deshalb ihrerseits so sorgfältig arbeiten, dass es bis
geburt einen Teuflisch Tollen Titel ausgedacht, in den zum Super-GAU noch ein paar Jährchen hin ist.
sich alle sofort verlieben, denn er suggeriert Klarheit Denn das ist deine tiefe Überzeugung: What can go
und Originalität, wo in Wahrheit Durcheinander und wrong will go wrong. Vielleicht daher die Angstlust.
Ratlosigkeit herrschen. Konferenz beendet! Problem: Durchschaubar. Aber erst nach dem Super-
Problem: Die Missgeburt ist jetzt dein Projekt! GAU. Aber dann sind sowieso alle tot.


Heike Faller über
unwirksame Bürotricks

feinjustierungen
Geeignet für: Neue Chefs.
Antrittsrede: »Die Abteilung ist klasse, die Mitarbeiter
sind die Besten ihrer Branche, und ich bin wahn-
sinnig stolz, mit euch arbeiten zu dürfen. Es wäre ein
Wahnsinn, hier etwas zu ändern, außer vielleicht
ein paar Feinjustierungen.«
Heißt: Kein Stein bleibt mehr auf dem anderen.
Abteilung wird umstrukturiert, Produkt völlig über- der tod steht dir gut
arbeitet. An »Vogelscheuche« wird ein Exempel statuiert,
ihm wird der Vorruhestand angeboten, wenn »anbieten« Als du gestern aufgewacht bist, mit diesem Kopfweh,
hier das richtige Wort ist. Außerdem schwirren von dem du glaubtest, dass es der Beginn einer Grippe
wochenlang irgendwelche 29-jährigen Unternehmens- sei, weshalb du, um die anderen nicht anzustecken,
berater durchs Büro, die alle mit ihren querdenkerischen nicht ins Büro gegangen bist, denn im Moment sind
Ideen belästigen, von denen auch ein Fachhochschul- alle wirklich am Anschlag: let’s face it – das war
absolvent wie du sofort kapiert, dass sie so nachhaltig keine Grippe. Das war ein Kater. Und jeder kapiert
sein werden wie ein Staudamm in der Wüste Gobi. das, wenn du heute wieder »gesund« bist. Häng
Problem: Funktioniert nur einmal. Mitarbeiter werden noch mal zwei Tage dran, und arbeite vom Sofa aus.
künftig auf das Wort Feinjustierungen reagieren Problem: Du arbeitest, während du gleichzeitig
wie eine Kuh auf den Anblick eines Bolzenschussgeräts. Krankentage anhäufst.

fass ohne boden


Die meisten Praktikanten kapieren es erst, wenn sie
selber Chef sind: Menschen kriegen von Lob nie
genug. Auch sehr erfolgreiche Menschen nicht. Also:
Sag deinem Chef, wenn dir etwas gefällt, erliege
nicht dem Denkfehler, dass dein Chef dich dann für
eine rückgratlose Schleimerin halten wird. Das
Leben als Vorgesetzter bringt im Zweifelsfall mehr
ausser atem (à bout de souffle) Frustrationen mit sich als dein kleines Werk-
studentinnenleben, da ist es nur stimmungsaufhellend,
Ja. Du bist wirklich überlastet. Du kannst nicht mehr. ab und zu etwas Nettes zu hören.
Die unbeantworteten Mails. Die Dead line. Problem: Chef verliebt sich in dich und besteht darauf,
Lass es einfach raus. Geh mit Tunnelblick den Gang dich nach dem nächsten Betriebsausflug nach Hause
runter, schau in Konferenzen ungeduldig auf zu fahren, wo er seine schwere, Dominique-Strauss-
die Uhr, husch mit einem gequälten Lächeln am Kahn-artige Hand auf dein Knie sinken lässt und dann
Empfang vorbei. Denn. Du. Bist. Wirklich. einen Satz sagt, in dem das Wort »Strohwitwer«
Total. Am. Anschlag. Und möchtest keine weiteren vorkommt. Weshalb dir dieser Begriff noch Angst-
Aufgaben mehr zugeteilt bekommen. schauer über den Rücken jagen wird, wenn du,
Problem: Man lässt dich zwar in Ruhe. Aber Führungs- Jahrzehnte später, schließlich selbst Chefin geworden
kräfte sehen anders aus. bist (und gerne mal wieder was Nettes hören würdest).

Illustrationen Rebecca Clarke


ich habe einen traum Ronja von Rönne
»Meine Träume sagen mir, dass es schwierig und anstrengend wird«

Der Literaturkritiker einer großen Zeitung liest aus meinem sen und ratlos vor dem Kühlregal stehen und mich etwas ver- confusing and exhausting. Meine Träume sagen mir, dass es
Roman vor: »Also, ich bin nach Hause gegangen, und dann späten. Ich muss arbeiten und den Handywecker stellen, ich schwierig, verwirrend und anstrengend wird. Ich bin mir
habe ich mir einen Tee gemacht, und dann habe ich ihn aber muss an der Liebe zweifeln, ich muss Fahrkartenautomaten sicher, dass man besser schläft, wenn man schon am Tag in
zu lange ziehen lassen, dann war der voll bitter. Bäh, aber beschimpfen. Tagsüber habe ich keine Zeit für das Gejam- sich hineinhorcht, meinetwegen auch, wenn man das Medi-
ich hab ihn dann doch nicht weggekippt, und dann ist noch mer der Zukunftsangst. tieren nennt. Aber am Tag fällt es mir zu leicht, Unangeneh-
was passiert, und dann bin ich ins Bett gegangen, es war also Deswegen besuchen die Sorgen mich nachts, veranstalten mes zu ignorieren, und so sehe ich eben jede Nacht meinem
insgesamt ein sehr schöner Tag, jetzt noch eine Überweisung miese Partys in meinem Hinterkopf und nennen das dann Gehirn beim Aufräumen zu, wie es die Angst vor schlech-
an Maja, Rhabarbertorte, trallala.« Er ist fertig mit Vorlesen, höhnisch »Traum«, tagesaktuell und in HD. Weil der Er- ten Kritiken in eine Schublade mit der Sorge um mein un-
legt mein Buch aus den Händen und sieht mich ungläubig scheinungstermin meines ersten Romans immer näher rückt, gekündigtes Probeabo packt, ein paar schon überwundene
an. »Trallala«, wiederholt er langsam, »in Ihrem Buch steht haben sich in letzter Zeit einige übel gelaunte Literatur- Befürchtungen klirren leise, dann klingelt der Wecker, eilig
›trallala‹.« Ich kann mich nicht daran erinnern, einen der- kritiker dazugesellt. rumst das Bewusstsein die Schublade zu, Tag, wach.
maßen schwachsinnigen Text geschrieben zu haben, wieso Es ist sehr unoriginell, sich in seinen Träumen mit Ängsten
sind da so dämliche Passagen in meinem Roman, ich versuche zu beschäftigen, aber Originalität, haben mir die Sorgen Ronja von Rönne,
mich zu verteidigen. »Das ist nicht von mir«, sage ich, »wieso mal in einem vertrauten Moment verraten, sei ihnen offen
steht das da drin?« Der Literaturkritiker lächelt milde, macht gestanden scheißegal, und ich sei auch selbst schuld, wenn 24, ist in Berlin geboren und in Oberbayern
sich einige Notizen und dreht sich dann weg, um mit meinem ich sie am Tag immer für Netflix versetze. Also träume ich aufgewachsen. In ihrem Blog »Sudelheft«
ehemaligen Fahrlehrer eine Runde Tischtennis zu spielen. Als unoriginell, von ungestellten Rechnungen, von Dingen, die schreibt sie öffentlich Tagebuch. Bekannt
Ball benutzen sie ein Küken. »Das ist viel flauschiger!«, argu- ich dringend befürchten sollte. Meine Träume sind Abfall- wurde sie mit einem viel diskutierten Essay,
mentiert der Kritiker, und weil er Kritiker ist, glaube ich ihm. produkte des Bewusstseins, Mahngebühren des Verdrän- in dem sie sich kritisch mit dem Feminismus
Tagsüber habe ich bessere Dinge zu tun, als mich um meine gens, noch nie hat mich ein Traum inspiriert oder vor etwas auseinandersetzte. Ihr erster Roman »Wir
Sorgen zu kümmern. Tagsüber muss ich Geburtstage verges- gewarnt. I have a dream today, that things will be difficult, kommen« erscheint jetzt im Aufbau Verlag

Foto Carolin Saage Zu hören unter www.zeit.de/audio 39


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Dieser Feigenkaktus trägt einen Schuh von Dries Van Noten


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thema

42
Im Uhrzeigersinn von links oben: Eine Brille43
von Dries Van Noten auf einem Feigenkaktus.
Eine Kette von Dior und eine Tasche von Prada, jeweils an einem Säulenkaktus. Eine Sonnenbrille von Bottega
Veneta auf einem Feigenkaktus. Ein Halstuch von Dior an einem Säulenkaktus

thema
thema

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Ein Hut von Études auf einem Säulenkaktus und eine Tasche von Akris an einer Agave americana
45

thema
thema
Im Uhrzeigersinn von links: Ohrringe von Rachel Comey an einem Feigenkaktus.
Ein Gürtel von J. Press an einem Säulenkaktus. Ein Schuh von Louis Vuitton auf einem Feigenkaktus.
Eine Kette von Calvin Klein auf einem Cereus aethiops. Ein Schuh von Boss auf einem Feigenkaktus

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thema
thema

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Links: Ein Gürtel von Tod’s an einem Säulenkaktus.


thema
Oben: Ein Hut von Études und ein Tuch von Dior an einem Feigenkaktus
thema

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Im Uhrzeigersinn von links oben: Eine Sonnenbrille von Burberry, eine Tasche von Slow and Steady
Wins the Race, ein roter Gürtel von Rachel Comey und ein beiger Gürtel von Tod’s sowie eine Sonnenbrille von Illesteva –
alle an Feigenkakteen. Und eine Korbtaschethema
von Rachel Comey an einem Säulenkaktus
thema

Bilder inspiriert von Kay Bell Reynal

52Wins the Race auf einer Agave americana


Eine Perlenkette von Slow and Steady
Tag und Nacht: Pyjama von Dolce & Gabbana
stil unter strom

Das Leben Mirko Borsche testet


ist eine Pyjama-Party einen Roboter,
der Kunststücke macht

In England hat sich neulich eine Schulleiterin mit einem Brief Ich gehörte als Kind zwar zu den BMX-Fahrern und nicht zu
an die Eltern gewandt. Häufig erschienen die Eltern im Schlaf- den Skateboardern, aber natürlich weiß ich, was ein Ollie ist: der
anzug, wenn sie ihre Kinder an der Schule absetzten. »Dürfte einfachste Skateboard-Sprung, sozusagen der Basis-Trick. Nach
ich Sie darum bitten, sich die Zeit zu nehmen, sich angemessen diesem Sprung hat die Firma Orbotix ein Spielzeug benannt,
zu kleiden?«, heißt es mahnend in dem Schreiben. den Sphero Ollie: ein ferngesteuerter Roboter, der aussieht wie
Früher war es eine Angstvorstellung, sich im Schlafanzug auf eine Getränkedose mit Gummirädern. Ich habe ja neulich hier
der Straße wiederzufinden. Dem ist offenbar nicht mehr so. Der eine Drohne getestet und dabei gemerkt, dass ich mit solchen
Pyjama ist sozusagen auf der Straße angekommen. Und nicht Spielzeugen eigentlich nichts anfangen kann. Die Drohne hat
nur dort: Die Mode ist zurzeit eine Pyjama-Party. Wenn man mich schnell gelangweilt, und natürlich bin ich auch aus dem
sich die aktuellen Sommerkollektionen anschaut, bekommt Alter für den Ollie seit, äh, einigen Jahren raus – aber als er
man den Eindruck, man müsse dieses Jahr zwischen Tag und durch mein Büro flitzte und von einer selbst gebauten Sprung-
Nacht nie mehr die Kleider wechseln. Bei Dolce & Gabbana schanze abhob, konnte ich mich wirklich wieder hineinverset-
gibt es den klassischen Pyjama-Look in floralen Mustern, Tod’s zen in den Jugendlichen, der ich mal war.
zeigt sommerliche Pyjama-Zweiteiler mit Ledergürtel, und Etro Gesteuert wird der Ollie recht unkompliziert über eine App, und
kleidet Frauen im Sommer in weiten Palazzo-Hosen, kombiniert mit ein bisschen Übung kann man ihn 360-Grad-Spins machen
mit geblümten Bustiers. In jedem Fall sieht man aus, als wären oder auf einem Reifen fahren lassen. Das ist schon alles. Es ist
die Kissen nicht weit. eben ein Spielzeug. Als ich es mit ins Büro gebracht habe, woll-
Dabei ist der Pyjama ursprünglich tatsächlich ein Kleidungs- ten es alle unbedingt mal ausprobieren. Der Ollie ist ziemlich
stück für den Tag. Das Wort Pyjama stammt aus dem Persischen robust, kommt auch draußen einigermaßen klar und schafft es
Foto 2016 Brandfolder, Inc.

und bezeichnet eine leichte Hose, die am Bund von einer Schnur über kleine Hindernisse oder Unebenheiten. Sogar meine Woh-
zusammengehalten wird. Besonders beliebt und oft getragen ist nungstreppe ist er anstandslos runtergefahren. Mein älterer Sohn
diese Hose in Indien. Dort lernten die britischen Kolonialherren hat den Ollie durch die Wohnung gejagt, er wollte gar nicht
diese Art der Beinbekleidung kennen. Mitte des 17. Jahrhun- mehr aufhören. Musste er dann aber, denn blöderweise standen
derts gelangte das Wort mit dem Kleidungsstück nach Europa, da gerade zwei Bilder im Raum auf dem Boden, die ich noch
und kurze Zeit war der Pyjama als Freizeitanzug beliebt, geriet nicht aufgehängt hatte. Da musste ich dann doch sehr deutlich
aber bald wieder in Vergessenheit. sagen: Jetzt ist Schluss! Und der Jugendliche in mir war genauso
Ende des 19. Jahrhunderts kam der Pyjama durch den verstärk- schnell wieder weg, wie er gekommen war.
ten Handel zwischen England und Indien erneut nach Europa.
Nun erst verbreitete er sich hier als Nachtgewand, und bald
hatte der Pyjama das bis dahin übliche Nachthemd des Mannes
verdrängt. Zu den leichten Hosen trug man ein hemdartiges
Oberteil. In den 1930er Jahren kam dann vor allem bei den
Frauen die Mode auf, am Meer leichte, weite Hosen zu tragen –
sogenannte Strand-Pyjamas.
Die neue Pyjama-Mode ermöglicht es, zugleich modisch und
völlig unkompliziert gekleidet zu sein. Als nähme man das ganze
Leben wie einen Gang vom Bett zum Kühlschrank – und unter
Umständen auch den zur Schule. Vielleicht war der britischen Technische Daten
Schulleiterin nur nicht bewusst, wie aktuell diese Mode ist, als Sphero Ollie von Orbotix; Geschwindigkeit:
sie den Eltern zürnte. Die wollten einfach nur einen besonders bis zu 6 m/Sek.; aufladbar mit USB-Kabel (mitgeliefert),
zeitgenössischen Eindruck machen. für Android und iOS; Preis: ca. 100 Euro

Von Tillmann Prüfer Mirko Borsche, Creative Director des ZEITmagazins,


Foto Peter Langer schreibt jede Woche die Kolumne »Unter Strom« 55
die wundertüte nr.  Ein Tischfußballspiel

Man braucht: Einen Schuhkarton, Tonpapier, 10 Wäscheklammern aus Holz, 4 Rundhölzer, 4 Weinkorken, einen Tischtennisball,
Acrylfarben, Heißkleber und schwarzes Klebeband, gegebenenfalls einige Schaschlikspieße und 10 Holzperlen

Eine WM im eigenen Land erlebt man gewöhnlich nicht oft im Le- sichtig mit einer Schere oder einem anderen spitzen Gegenstand in
ben. Aber eine WM in den eigenen vier Wänden kann man durch- gleichmäßigem Abstand vier Löcher pro Seite gestochen.
aus alle drei Wochen austragen. Und zwar mit einem Wutzler, Aus Wäscheklammern stellt man die Spieler her, fünf pro Mann-
wie Sonja Egger aus Wien ihren Mini-Tischfußball-Schuhkarton schaft. Wer mag, kann jede Klammer mit einer Holzperle (nicht
nennt. Auf ihrem Blog ars pro toto stellt die Kinderbuchautorin die größer als 18 mm Durchmesser) auf einem Stückchen Schaschlik-
Bauanleitung vor. spieß (25 mm lang) versehen und diese so bemalen, dass sie wie ein
Mitarbeit Corinna Liebreich

Zunächst wird auf den Boden eines großen Schuhkartons ein »Ra- Kopf anmutet. Die Perlen werden mit Heißkleber an den Wäsche-
sen« mit entsprechenden Markierungen geklebt. Man kann dafür klammern fixiert – an dem Ende, das sich öffnet, wenn man die
grünes Tonpapier und weiße Acrylfarbe benutzen, oder man ent- Klammer zusammendrückt. Als Spielstangen dienen vier Rundhölzer,
wirft einen Rasen am PC und druckt ihn mit passenden Seiten- doppelt so lang, wie die Schachtel breit ist, mit einem Durchmesser
verhältnissen farbig aus. Dann in die kurzen Seiten des Kartons je- von etwa 3 mm. Die Stangen durch die Löcher im Karton schieben,
weils unten – am besten vorsichtig mit einem Teppichmesser – ein Klammern von unten daranklemmen, mit Heißkleber fixieren. Die
Tor-Loch schneiden, durch das ein Tischtennisball gut passen sollte Torstangen bekommen jeweils zwei Spieler, die Mittelfeldstangen je
(wenn man es mit schwarzem Klebeband einfasst, sieht es besser drei Spieler. Griffiger wird es, wenn man an den Stangenenden Wein-
aus). Etwa 3 cm unter der Oberkante des Kartons werden nun vor- korken befestigt. Dabei helfen ein Holzbohrer und etwas Kleber.

Von Lucia Schaub


Illustration Alex Walker 56
Um die Ecke gedacht Nr. 2318 spiele

1 2 3 4 5

6 7 8 9 10 11 12 13

14 15 16 17 18 19

20 21 22

23 24 25

26 27 28 29 30 31

32 33 34 35 36

37 38 39 40 41

42 43

44 45

Waagerecht: 6 Wie mag man’s finden, wenn man Schal, Winter- Imbiss 3 Fragte sich Goethe: Soll ich geringer von mir denken, weil
mütze, Wärmesocke fabriziert bekommt? 11 Ein weiser Mann hat ich ... habe? 4 Ein paar mehr waren’s, die Smokie’s Rich Girl immer
lange ... und eine kurze Zunge (Sprichwort) 14 Die Lust des Peni- im Sinn hatte 5 Heiß ersehnt, wenn’s ans Suppieren gehen soll
belchens, die anderen am Verbesserwissen teilhaben zu lassen 6 Traditionslokal? Akzeptable Marke auf der Nutzwertskala 7 Ta-
17 Von Haus aus eine gute Tat der Ökologie wie -nomie 20 Eine gen, um die gemeindsamen Vorhaben zu erörtern 8 Der hat – schon
Stadt-Heilige zwischen Monica und Diego 21 Lernte gewisser viele Kommentare voller 40 senkrecht gehört 9 Solch Apfel fällt in
Lemuel auf seiner zweiten verbuchten Reise kennen 22 Blitzartig immergrünem Ambiente 10 Trockenes Plätzchen für Reeders
zum Café geliefert vom Patissier 23 Detektivarbeit: Wenn feste Schätzchen 12 Heranwachs-Ende 13 Benehmen sich bisweilen noch
getafelt wird, wo gibt’s oft Flecken? 24 Position leitender Fakultä- recht eingewöhnungsbedürftig 15 Verbleibt nach ausdrücklicher
tigkeit 25 Wo eine Kungelhand die andere wäscht, entsteht nicht Befassung mit Gelesenem 16 Was von mir ein ... spricht, das acht
Sauberkeit, sondern? 26 Waren wohl Abend-Thema, wenn jemand ich nicht (J. W. L. Gleim) 18 Möchte vermutlich seinen Fischzug
mit Memory-Erinnerung nach Hause geht 27 Gescheite Sang- gegen kein Honigschlecken tauschen 19 Gehört zum Rankin wie
gesellen? Konnten alte Recken durchaus schrecken! 32 Gehört zum der John zum Inspektor Rebus 28 Schweige-Weise, à la Februar?
Abfuhrwerk wie das Geben zum Korb 35 Runden hervorragend 29 Den Getreuen anvertraut vordem, von den Obersten im 8 senk-
manche Domerscheinungsbilder ab 37 Haut hin: Je länger der recht 30 Geschickt mit Scherz begonnen? Dann wird man’s zwei-
Winter, desto ärger die 39 Etwas länger als Stierzier: Weiterleiter mal rufen 31 Nicht zimperlich beim Thema Fremdbesitzverlage-
zwischen dem 11 waagerecht 42 Zeichen, Küchenhelferin und rung 33 Sprichwörtlich: ... ohne denken ist dürsten ohne schenken
Spross – zusammengenommen: Auftragsarbeitsaufträgeerlediger 34 Wie die genommen, so Eindruck gewonnen 36 In tangerine
43 Rohstoff für hausgemachten Schnee 44 Princeipiell erste Wahl ganz real auf Bühne und Album 38 Zugabe am Imbisstresen oder in
für den Hochschulbesuch 45 Lässt es zwischen Stirn und Nacken der Klatschexpertenrunde 40 Wer nicht den ... ertragen kann, muss
krachen; senkrecht: 1 Hinterlassen Risse im Bild der Perfektion auch den Ruhm nicht wollen (E. Raupach) 41 Die Wege rund um
2 Sprichwörtlich: Was in ... gekocht, davon hat man keinen guten Rom, das 33 senkrecht rund um Paris

Lösung von Nr. 2317: Waagerecht 7 ARKADIEN und S chäferidylle 9 SAENFTE 14 QUARTAL mit 90, in S chaltjahren 91 Tagen 16 PFANDLEIHER
18 GEZ = gezeichnet 19 UMLAND 20 OTTER, Marder und Schlange 21 DEGEN 22 MANDELBAUM 24 UEBERZEUGUNGEN
28 SETS 29 NONSENS 31 CHRONIST 34 KETON 35 »von echtem SCHROT und Korn« 36 ESCHE in Beut-esche-ma 37 Weg + Erich = WEGERICH
38 LEBENSLAUF 39 ENTTHRONEN 40 TEINT in Lich-teint-rübung; senkrecht 1 FRAGEBOEGEN 2 PATZER 3 FILM 4 ANFANG
5 Auto-, Fahrrad-PEDAL 6 ( Schnee-)WEHE 7 AUSDENKEN und aus Denken 8 DAUN, Vulkaneifel 9 SANDUHREN 10 ANDEN in Br-anden-burg
11 FETA 12 TITUS bei M ozart 13 ZERSTREUT 15 REGENTEN 16 PLAUSCH 17 LOBEN 22 MENSCH 23 METHAN 25 ZENIT
26 O st-, W est- GOTEN 27 NISSE 30 SORTE 31 CHLOR im S peisesalz 32 T anz- ROBEN 33 SCL = summa cum laude 36 ENTE in F orell-ente-ich

Kreuzworträtsel Eckstein Scrabble Sebastian Herzog


Lebensgeschichte Wolfgang Müller Sudoku Zweistein Schach Helmut Pfleger 57
spiele Scrabble Lebensgeschichte

Er wuchs in Armut auf, sein Vater unterrichtete ihn nach Kräften.


Mit zehn Jahren gab der intelligente Junge Nachhilfe im Rechnen,
doch drei Jahre später musste er aus Geldmangel das Gymnasium
verlassen. Handwerkslehren scheiterten an seiner Sehschwäche. So
landete er als Kontorist und Vertreter bei einem Laternenfabrikan-
ten. Dann wurde er Theaterdiener, schließlich Sekretär und Kassie-
rer an einer renommierten Bühne. Mit Gedichten, Freiheitshymnen
und einem Libretto blieb der Autodidakt jedoch erfolglos. Ein sie-
benbändiges Theaterlexikon brachte ihm dagegen Anerkennung. Die
demokratische Aufbruchsstimmung der Zeit zog ihn in die Politik.
Aus dem »behaglichen Bierpolitiker«, der auf patriotischen Festen
feurige Reden hielt, wurde ein organisatorisch begabter, geschickt
argumentierender und populärer Vertreter liberaler Ideen. Im Par-
lament profilierte er sich als Führer der gemäßigten Demokraten.
Pragmatisch forderte er, die Republik auf gesetzlichem Wege ein-
zuführen, und propagierte ein freies Europa gleichberechtigter Staa-
ten. Enttäuscht von der politischen Entwicklung, fuhr er mit einer
Solidaritätsadresse seiner Fraktion zu Aufständischen, kämpfte in
einem ihrer Elitekorps und wurde nach der Niederlage verhaftet. Ein
Kriegsgericht verurteilte ihn als Vertreter des revolutionären Prinzips
zum Tode. Nach seiner Hinrichtung brach allgemeine Empörung
doppelter wortwert dreifacher wortwert
aus, er wurde zum Märtyrer der Freiheit und zum Symbol des Schei-
doppelter buchstabenwert dreifacher buchstabenwert terns demokratischer Hoffnungen. Wer war’s?

Lösung aus Nr. 10: Der ehemalige Profiboxer Vitali Klitschko (geb. 1971)
holte 1999 den Weltmeistertitel im Schwergewicht. Seit knapp zwei Jahren
als Bürgermeister von Kiew im Amt, übernahm er im August 2015 den
Vorsitz der Partei Block Petro Poroschenko. Er lebt in Hamburg und Kiew

es gelten nur wörter, die im duden, die deutsche rechtschreibung,


. auflage, verzeichnet sind, sowie deren beugungsformen.
die regeln finden sie im internet unter www.scrabble-deutschland.de

Warum stellen so oft Bingos die Toplösung in den Scrabble-


Rätseln dar? Diese Frage schrieb mir neulich ein Leser per
Sudoku
E-Mail. Im Wesentlichen geht es ja darum, das wertreichste Wort zu
finden. Das gilt zuallererst für mich. Wenn ich einen Favoriten 7 1 4 5 8 3 2 9 6

ausgemacht habe, muss ich das gesamte Brett noch einmal auf 8 4 6 2 5 3
5
8
6
9
2
2
1
7
9
6
4
1
7
5
3
4
8

3
6 4 8 3 1 5 9 2 7
Züge untersuchen, die eventuell noch höher dotiert sind. Dank 9 7 1 4 2 8 3 6 5
der Bonusprämie von 50 Punkten für einen Bingo fallen dann 2 5 3 7 6 9 4 8 1

üblicherweise schon viele Stellen weg. Bei Wörtern, bei denen 2 9 3 7 4


8
9
2
5
7
6
9
3
5
7
1
8
6
1
4
2
3
1 3 6 8 4 2 5 7 9
maximal sechs Buchstaben abgelegt werden, ist das Risiko
7 8 6 2
ungleich höher. So lassen sich beispielsweise Ergebnisse unter Lösung aus Nr. 9
60 Zählern allein durch ein gut platziertes Y übertreffen. Die 2 6 in jeder zeile,
hier abgebildete Situation bot sich neulich einem Scrabble- jeder spalte und
Spieler. Er berichtete begeistert von den fast 100 Punkten, die er 6 4 3 1 jedem mit stärkeren
linien gekenn-
zeichneten  × -
erzielen konnte. Wie? 4 1 8 9 kasten müssen
alle zah len
von  bis  stehen
Lösung aus Nr. 10: 4 nächste woche
NIRGENDS auf I8–I15 an dieser stelle:
9 8 7 4 3 die logelei und die
brachte insgesamt 75 Punkte auflösung aus nr. 

Impressum chefredakteur Christoph Amend Milbradt, Ilka Piepgras, Jürgen von Rutenberg, Matthias Stolz, Paolo Pellegrin, Lina Scheynius, Wolfram Siebeck, Jana Simon,
stellvertretender chefredakteur Matthias Kalle Annabel Wahba; Mitarbeit: Claire Beermann, Johannes Dudziak, Juergen Teller, Moritz von Uslar, Günter Wallraff
creative director Mirko Borsche art director Inga Krieger (Design), Klaus Stockhausen (Contributing produktionsassistenz Margit Stoffels korrektorat
Jasmin Müller-Stoy style director Tillmann Prüfer Fashion Director), Elisabeth von Thurn und Taxis (New York) Thomas Worthmann (verantw.) dokumentation
(Mitglied der Chefredaktion) berater Andreas Wellnitz fotoredaktion Michael Biedowicz gestaltung Mirjam Zimmer (verantw.) herstellung Torsten Bastian
(Bild) textchefin Christine Meffert essay & Nina Bengtson, Gianna Pfeifer, Mirko Merkel (Mitarbeit) (verantw.), Oliver Nagel, Frank Siemienski druck Prinovis
reportage Heike Faller bildchefin Milena Carstens autoren Jean-Philippe Delhomme, Daniel Josefsohn, Herlinde Ahrensburg GmbH repro Twentyfour Seven Creative Media
redaktion Jörg Burger, Anna Kemper, Friederike Koelbl, Brigitte Lacombe, Louis Lewitan, Harald Martenstein, Services GmbH anzeigen DIE ZEIT, Matthias Weidling
Schach

a b c d e f g h

Selten geht ein Schachspieler mit einem besonderen Ehrentitel


in die Schachgeschichte ein. Doch Kurt Richter bleibt wegen
seiner funkelnden Mattkombinationen für immer »der Scharf-
richter«, der ehemalige Weltmeister Michail Tal wegen seiner
oft völlig undurchsichtigen Opferkaskaden »der Hexenmeister
von Riga« (»Es gibt zwei Arten von Opfern, korrekte ... und die
meinen«). Der ehemalige Weltmeister Tigran Petrosjan bleibt
dank seiner legendären Verteidigungskunst dagegen »der Eiser-
ne Torwart« und der noch quicklebendige Viswanathan Anand
»der Tiger von Madras« – mag auch diese Stadt heute Chennai
heißen und der allerorten beliebte »Vishy« eher sanft als tiger-
haft sein. In der fernen Mongolei entstand 1956 ein anderer
Mythos: »der Löwe von Ulan Bator«. So nannte dieses einst un-
ter Dschingis Khan und Tamerlan gehärtete Steppenvolk Heinz
Liebert von der Schachgemeinschaft Löberitz in der DDR, als
der damals 20-Jährige, der im Mai 80 wird, vor vielen Meistern
der damaligen Sowjetunion das Turnier gewann. Auch bei ihm
ist ein größerer Gegensatz kaum denkbar: seine Bescheidenheit
und der Titel eines Königs der Tiere. Später wurde sogar eine
Briefmarke mit einem Löwen auf einem Schachbrett im Wert
von 80 Mongos herausgegeben.
Heinz Lieberts größter Erfolg war sein Sieg gegen den sowjeti-
schen Weltklassespieler Lew Polugajewsky. Wie konnte er dank
der prekären Lage des weißen Königs als Schwarzer am Zug
schnell gewinnen?

Lösung aus Nr. 10: Welcher


kombinatorische Schlag gewann für
Weiß? Nach dem Läuferopfer
1.Lxh7+! Kxh7 (auch 1...Kf8 2.Dh5
war hoffnungslos) 2.Dh5+ Kg8
3.Sg6 drohte matt auf h8. Schwarz
blieb nur 3...Tf7-f8, aber nach
4.Tae1! verlor er noch die Dame

(Gesamtanzeigenleitung), Nathalie Senden empfehlungsanzeigen iq media


marketing, Michael Zehentmeier (Gesamtanzeigenleitung) anzeigenpreise
ZEITmagazin-Preisliste Nr. 10 vom 1. 1. 2016 anschrift verlag Zeitverlag
Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1,
20095 Hamburg; Tel.: 040/32 80-0, Fax: 040/32 71 11; E-Mail: DieZeit@zeit.de
anschrift redaktion ZEITmagazin, Dorotheenstraße 33, 10117 Berlin;
Tel.: 030/59 00 48-0, Fax: 030/59 00 00 39; www.zeitmagazin.de,
www.facebook.com/ZEITmagazin, E-Mail: zeitmagazin@zeit.de
die grossen fragen der liebe Nr. 391

Darf sie beim Frühstück ihre E-Mails lesen?

Meike und Johann haben sich im Urlaub verliebt und zwei Jahre aber Johann ist etwas angespannt. An einem Sonntag gehen sie zu-
lang darüber diskutiert, ob sie zusammenziehen sollen. Johann hat sammen joggen, dann duschen und frühstücken sie. Meike legt die
schon einmal erlebt, dass zu viel Nähe einer Beziehung schadet: Beine hoch, schlürft ihren Kaffee und checkt selbstversunken ihre
Vor einigen Jahren hat er sich von seiner ersten Liebe getrennt, E-Mails. Als sie fertig ist und aufblickt, seufzt Johann: »Als wir noch
die unbedingt mit ihm in einer Wohnung leben und eine Familie nicht zusammenwohnten, hättest du das nicht gemacht, mich beim
gründen wollte. Jetzt wagt er den Versuch. Meike fühlt sich wohl, Frühstück zu ignorieren, als wären wir ein altes Ehepaar.«

Wolfgang Schmidbauer:

Die Welt der Paarberatung ist voller Ratschläge, denen kein ver- emotionale Abwesenheit als ihr gutes Recht verteidigen, sondern
nünftiger Mensch widersprechen darf – wie dem, dass es gut ist, Johanns Sorgen aufnehmen. Wann jeder für sich sein darf und
den Partner loszulassen. Aber ebenso gerne wird geraten, Kummer wann sich beide einander zuwenden, das sollte ein Paar nicht einan-
und Frust rechtzeitig zu äußern, ehe jede Hälfte des Paars in ihrem der diktieren, sondern durch Verhandlungen klären. Ihr Ergebnis
Schneckenhaus sitzt und dieses so zudeckelt, dass erotischer Winter kann die entspannte Lektüre beider beim Frühstück sein – oder die
herrscht. Um das Paradox zu bewältigen, sollte Meike nicht ihre Selbstverständlichkeit des Redens über den Tag beim Morgenkaffee.

Wolfgang Schmidbauer ist einer der bekanntesten deutschen Paartherapeuten.


Zuletzt erschien sein Buch »Coaching in der Liebe. Neue Spielregeln für das Leben zu zweit« (Kreuz-Verlag) 61
das war meine rettung Claudia Michelsen entdeckte früh das Theater.
Es half ihr, die DDR zu überstehen

Frau Michelsen, blicken Sie nach wich- Mich hat die Energie, mit der alles
tigen Entscheidungen nach vorn? Oder gemacht wurde, fasziniert. Nichts
gehören Sie eher zu denen, die zweifeln war beliebig oder leer. Alles hatte
und denken: Was wäre gewesen, wenn? eine Kraft, eine Haltung. Und damals
Ich bereue nichts. Natürlich gibt es waren wunderbare Schauspieler wie
Dinge, die ich heute vielleicht doch Dagmar Manzel und Sylvester Groth
anders entscheiden würde, weil ich in Dresden engagiert ...
mir vielleicht ein oder zwei – ich nen- ... Sylvester Groth ermittelte mit Ihnen
ne es mal Talfahrten – hätte ersparen bis vor Kurzem gemeinsam im »Polizei-
können. Andererseits gehören die ja ruf« aus Magdeburg als Kommissar ...
auch zu meinem Leben dazu. Das Le- ... und auf ihn warteten früher ge-
ben ist ein Auf und Ab, wie wir alle fühlt alle Dresdener Mädels nach der
wissen. Ich finde es wichtig, auch die- Vorstellung am Bühneneingang! Für
se schwierigen Phasen zu umarmen mich war das Theater jedenfalls da-
und trotz allem immer wieder mit mals die einzige Möglichkeit, etwas
aller Kraft nach vorn zu gehen. Claudia Michelsen, aktiv zu tun, um in diesem Land wei-
Zum Beispiel, als Sie Mitte der neunzi- terleben zu können.
ger Jahre Ihre damals schon beacht- 47, wurde in Dresden Hat das Theater Sie gerettet?
liche Theaterkarriere an den Nagel geboren. Sie war Ensemble- Damals hätte ich das vielleicht so ge-
hängten und Ihrem damaligen Mann mitglied der Berliner nannt. Ja, vielleicht war das Theater
nach Kalifornien folgten? Volksbühne und gehört heute meine Rettung, vielleicht ist das Ge-
Ja, ich habe von heute auf morgen zu den erfolgreichsten schichtenerzählen heute immer noch
alles hingeschmissen. Im Nachhinein deutschen Schauspielerinnen. meine Rettung. Aber das Wort Ret-
finde ich das ungeheuer mutig. Ich Am 9. März ist sie in dem tung bekommt doch dieser Tage eine
habe damals ja damit gerechnet, die ARD-Film »Aus der Haut« zu völlig neue Bedeutung. Jahrzehnte-
Schauspielerei ganz aufgeben zu müs- sehen, Ende März in dem lang haben wir um die Probleme in
sen, als ich das Land verlassen habe. ZDF-Dreiteiler »Ku’damm 46« der Welt gewusst und uns nicht dazu
Sie reisten in dieser Zeit immer wieder verhalten. Und auf einmal klopfen
zum Drehen nach Deutschland, und die Menschen an unsere Tür, und
2001 kehrten Sie nach der Scheidung Ich habe die Magie des Theaters ge- Unwissenheit und Angst verwandeln
ganz zurück. Wie haben die sechs Jahre spürt, seit ich zwölf war, und ich wuss- sich in Aggression. Das ist schreck-
in Kalifornien Sie geprägt? te, da wollte ich mitmachen dürfen. lich und macht mich ratlos.
Meine Welt bestand bis dahin aus Der Vater meiner besten Freundin Gerade in Ihrer Heimat Dresden wird ge-
Theater, der DDR, Dresden und war Schauspieler, und wir Mädchen gen Flüchtlinge protestiert ...
Berlin. In Amerika kannte damals verbrachten so viel Zeit wie möglich Vielleicht ist in den letzten 25 Jah-
niemand die Volksbühne am Rosa- im Theater. Später begriff ich, was ren einiges an Aufklärung versäumt
Luxemburg-Platz oder das Dresdner die Bühne für eine Kraft haben kann. worden. Ich weiß jedenfalls nicht,
Staatsschauspiel. Meine Welt hat sich Das war eine besondere Zeit damals woher diese Angst kommt, die sich

Foto Lottermann und Fuentes


vergrößert. Und ich habe etwas von in Dresden am Staatsschauspiel, und in Dummheit verwandelt und da-
der kalifornischen Leichtigkeit behal- nicht nur dort. Das Theater war in der durch gefährlich wird. Heilsam wäre
ten, bis heute. Amerika ist ein Land DDR politisches Sprachrohr, es stand es, glaube ich, diese Leute mal auf
der Emigranten, und das hat diesem im ständigen Dialog mit seinem Pu- Booten kostenfrei eine Rundreise in
Land sehr gutgetan, irgendwie hatte blikum. Die Häuser waren voll mit die andere Richtung machen zu las-
ich immer das Gefühl, die ganze Welt jungen Leuten, das Theater war Kon- sen. Mit welchem Recht beansprucht
lebt da. Großartig. kurrenz für Rockkonzerte. Ich habe man dieses Stück Erde für sich, nur
In zwei Filmen, die bald zu sehen sind, es für mich als Notwendigkeit emp- weil man das Glück hatte, zufällig
spielen Sie Mütter, deren Kinder ihren funden, ein Teil davon zu werden. hier reingeboren worden zu sein?
eigenen Weg finden müssen, mit allen Und ich hatte das Glück, dass meine
Schwierigkeiten. Sie selbst sind mit 16 Mutter mich immer in allem, was ich Das Gespräch führte Anna Kemper.
von Dresden nach Berlin gezogen, um wollte, unterstützt hat und mir voll- Sie gehört neben der Fotografin Herlinde
dort die Schauspielschule zu besuchen. kommenes Vertrauen schenkte. Koelbl, dem Psychologen Louis Lewitan,
Woher wussten Sie schon so früh, was Es war die politische Seite des Thea- Evelyn Finger und Ijoma Mangold zu den
Sie wollten? ters, die Sie anzog? Interviewern unserer Gesprächsreihe

IM NÄCHSTEN HEFT
Die Deutschlandkarte zeigt, wo noch zu Hause geschlachtet wird.
Außerdem: Ein Besuch in der russischen Stadt Beresniki, die langsam im Boden versinkt 62
Mehr Hamburg? DIE ZEIT – jede Woche mit Lokalteil Nr. , Frühjahr 

Helmut Schmidt City, Digga


Der neue Stil der Hamburger Jugend
inhalt nr.  zeitmagazin hamburg
H&M und eine Vintage-Bomberjacke. Naemi trägt Jeans und Streifenshirt von Closed und einen Rollkragenpullover von Zara. Charlie trägt eine Jeansjacke von Calvin Klein Jeans, einen Hoodie von American Apparel,
Titelfotos Frederike Helwig Cover 1 (von links): Paulina trägt ein T-Shirt von Adidas Originals, Shorts von Levis und eine Vintage-Jacke. Naemi trägt einen Pulli von Iris von Arnim, ein Kleid von Kenzo und Schuhe
von Converse. Jule trägt eine Lederjacke von BLK DNM, eine Poloshirt von Fred Perry, Jeans von Zara und Loafer von Hugo. Cover 2 (von links): Paulina trägt ein Tenniskleid von Kenzo, einen Rollkragen von

ein Sweatshirt von Polo Ralph Lauren, Jeans von Closed und Sneaker von Adidas Originals. Enzo trägt eine Lederjacke von BLK DNM, einen Rolli von Uniqlo eine Hose von Joop! und Schuhe von Hogan

Ein Heft für Hamburg unsere themen


ein T-Shirt von Topman und eine Jogginghose von Nike Lab. Jule trägt ein Sweatshirt von Kenzo, eine Bluse von Woolrich, Jeans von Closed und Loafer von Hugo. Felipe trägt eine Vintage-Lederjacke,

Hamburg ist unsere Heimat. Hier wurde das ZEITmagazin helmut schmidts lieblingsorte: willkomm-höft
1970 geboren, hier ist es groß geworden, und hier kommt vonmatthias nass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 
nun unsere erste Lokalausgabe auf die Welt: das ZEIT-
magazin HAMBURG. Schon seit zwei Jahren erscheinen über hamburg-klischees
unter der Leitung von Charlotte Parnack jede Woche Ham- von harald martenstein . . . . . . . . . . . . . . . . 
burg-Seiten in der ZEIT, seit vergangenem Jahr verschickt
ZEIT-Redakteur Mark Spörrle seinen Newsletter Elbver- heiter bis glücklich: made in hamburg
tiefung – an mittlerweile 50 000 Abonnenten. Und künftig von inga krieger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 
widmet sich das ZEITmagazin zweimal im Jahr exklusiv für
die Leser der Hamburg-Ausgabe mit einem zusätzlichen Heft hamburgkarte: konsulate
dem Stil der Stadt. Das hat bei uns Tradition. 1980 haben von friederike milbradt . . . . . . . . . . . . . . . . 
wir auf Hamburger Schulhöfen ein Jugendphänomen ent-
deckt: die Popper. Ihr Haar war gescheitelt, sie trugen Kasch- die modischen freiheiten junger hamburger
mirpullover – und beerdigten die siebziger Jahre. Für die ei- vonclaire beermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . 
nen waren sie die Avantgarde der Angepassten, für andere
der Beginn eines neuen Stilbewusstseins. Für unser erstes ich habe einen traum: tim mälzer
ZEITmagazin HAMBURG haben wir uns deshalb gefragt: aufgezeichnet von christoph dallach . . . . . . . . . 
Welchen Stil haben Hamburger Jugendliche heute – und was
hat das mit dem Lebensgefühl in der Stadt zu tun? Fotogra- matthias arfmann: ein pop-produzent
fin Frederike Helwig und Bildchefin Milena Carstens, beide wendet sich der klassik zu
gebürtige Hamburgerinnen, haben die Titelgeschichte pro- von christoph dallach . . . . . . . . . . . . . . . . 
duziert. ZEITmagazin-Autorin Claire Beermann, 21, gebo-
ren in Hamburg-Rahlstedt, aufgewachsen in Rissen, erklärt hamburg, heimat grosser modeschöpfer
in ihrem Text, wie Hamburg ihren Stil geprägt hat: »Wer von tillmann prüfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 
hier aufwächst, kann zwischen allen Welten mit der S-Bahn
pendeln, immer mit der Frage im Kopf, wer man sein will. rettung: modedesigner bent angelo jensen
Bei mir begann die Antwort darauf mit einer Hose.« von kilian trotier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

Impressum chefredakteur Christoph Amend fotoredaktion Michael Biedowicz gestaltung Services GmbH anzeigen DIE ZEIT, Matthias
stellvertretender chefredakteur Matthias Nina Bengtson, Gianna Pfeifer, Mirko Merkel Weidling (Gesamtanzeigenleitung), Nathalie Senden
Kalle creative director Mirko Borsche (Mitarbeit) autoren Jean-Philippe Delhomme, empfehlungs-anzeigen iq media marketing,
art director Jasmin Müller-Stoy style director Daniel Josefsohn, Anna Kemper, Herlinde Koelbl, Michael Zehentmeier (Gesamtanzeigenleitung)
Tillmann Prüfer (Mitglied der Chefredaktion) Brigitte Lacombe, Louis Lewitan, Harald Martenstein, anzeigenpreise ZEITmagazin, Preisliste Nr. 10 vom
berater Andreas Wellnitz (Bild) textchefin Paolo Pellegrin, Lina Scheynius, Wolfram Siebeck, 1. 1. 2016 anschrift verlag Zeitverlag Gerd
Christine Meffert essay & reportage Heike Faller Jana Simon, Juergen Teller, Moritz von Uslar, Günter Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Eingang
bildchefin Milena Carstens redaktion Wallraff produktionsassistenz Margit Stoffels Speersort 1, 20095 Hamburg; Tel.: 040/32 80-0,
Jörg Burger, Friederike Milbradt, Ilka Piepgras, Jürgen korrektorat Thomas Worthmann (verantw.) Fax: 040/32 71 11; E-Mail: DieZeit@zeit.de
von Rutenberg, Matthias Stolz, Annabel Wahba; dokumentation Mirjam Zimmer (verantw.) anschrift redaktion ZEITmagazin, Dorotheen-
Mitarbeit: Johannes Dudziak, Inga Krieger (Design), herstellung Torsten Bastian (verantw.), Oliver straße 33, 10117 Berlin; Tel.: 030/59 00 48-0, Fax:
Klaus Stockhausen (Contributing Fashion Director), Nagel, Frank Siemienski druck Prinovis Ahrensburg 030/59 00 00 39; www.zeitmagazin.de, www.facebook.
Elisabeth von Thurn und Taxis (New York) GmbH repro Twentyfour Seven Creative Media com/ZEITmagazin, E-Mail: zeitmagazin@zeit.de
helmut schmidts hamburg (folge ) Willkomm-Höft

In jeder ZEITmagazin-Hamburg-Ausgabe stellt unser Kolumnist


Matthias Naß einen Lieblingsort von Helmut Schmidt vor

Tief im Westen, wo die Grenze zu Schleswig-Holstein bereits zeitig Bescheid, wenn bei Stade ein Schiff Richtung Hamburger
überschritten ist, liegt die Schiffsbegrüßungsanlage Willkomm- Hafen passiert oder wenn auf dem Weg zur Nordsee ein Pott an
Höft – für den Hamburger das wahre Tor zur Welt. Man sitzt am Finkenwerder vorbeifährt. Dann zieht Hartmut Hoffmann aus
Sonntagnachmittag im Schulauer Fährhaus, gönnt sich ein Stück seinen 17 000 Schiffs-Karteikarten die richtige raus und meldet
Eierlikörtorte – da lässt Begrüßungskapitän Hartmut Hoffmann den Gästen im Schulauer Fährhaus Namen und Nationalität des
über dem Strom die zypriotische Nationalhymne ertönen. Vor Schiffes, Länge, Breite und Tiefgang, das Baujahr, die Werft, die
dem regennassen Fenster zieht auf der grauen Elbe die Kristin Reederei und die Zahl der geladenen Container. Herrlich!
Schepers vorbei, sie kommt aus St. Petersburg und läuft jetzt in Manchmal erlaubt sich der Begrüßungskapitän auch einen kleinen
den Hamburger Hafen ein. Scherz und meldet die Vorbeifahrt eines getauchten U-Bootes.
Seit 1952 wird jedes Schiff über 1000 Bruttoregistertonnen am Dann lachen die Hamburger über ihrer Eierlikörtorte, wissen sie
Willkomm-Höft so begrüßt, und wenn es Hamburg wieder ver- doch, dass in der immer noch nicht vertieften Elbe jedes U-Boot
lässt, wird es auch so verabschiedet. Von zehn Uhr morgens bis schnell auf dem Bauch liegen bliebe.
zum Sonnenuntergang. Kleinere Schiffe gelten am Fährhaus als Ach, es ist schön hier draußen. Helmut Schmidt war schon weit
»nicht salutfähig«. Immerhin, ab 500 Bruttoregistertonnen wird über neunzig, da fuhr er noch mit Tochter, Schwiegersohn und
die Hamburger Flagge gedippt. In den fünfziger Jahren wurde die Lebensgefährtin zum Kaffeetrinken nach Schulau. Ob ihm zu
Hymne noch live gesungen, vom Männergesangverein Wedel oder Ehren die deutsche Hymne gespielt oder ob wenigstens die Ham-
von einem Shantychor. Jetzt spielt der Begrüßungskapitän die burger Flagge gedippt wurde, daran können sich Begrüßungs-
Musik von der Festplatte. Der Schiffsmeldedienst gibt ihm recht- kapitän und Kellnerin nicht erinnern.

Illustration Christina Gransow Von Matthias Naß 6


harald martenstein Über Hamburg-Klischees

Ich bin öfter mal in Hamburg und mag die Stadt auch, aber ich Stadt der Welt halten. Wer einem Hamburger diese Haltung un-
bin wirklich kein Hamburg-Experte. Dann hieß es aus der Re- terstellt, hat verspielt. Denn damit werde dem Hamburger indirekt
daktion, ich solle etwas über Hamburg schreiben. Es dürften al- vorgeworfen, er sei ein Angeber. Wenn man selber, als Auswärtiger,
lerdings keine Klischees in dem Text vorkommen. Auf Hamburg- sage, man halte Hamburg für die schönste Stadt der Welt, dann sei
Klischees würden die Bewohner Hamburgs ablehnend reagieren. dies okay. Aber wer sagt so etwas? Hielte ich Hamburg tatsächlich
Da hatte ich wieder etwas über den Unterschied zwischen Ham- für die schönste Stadt der Welt, dann wäre ein Hamburger sicher
burg und Berlin gelernt, wo ich wohne. Wenn man Berliner mit der Letzte, dem ich dies auf die Nase binden würde. Das provoziert
Berlin-Klischees konfrontiert – etwa: Berlin ist das neue New nur Größenwahn, Eitelkeit und Hochmut. Der Satz »Wuppertal
York, in Berlin klappt nichts, Berlin ist völlig unfähig zu allem –, ist die schönste Stadt der Welt« käme mir dagegen leicht von den
dann reagieren die Bewohner nicht ablehnend. Stattdessen hört Lippen. Dieser Satz wäre jedenfalls kein Klischee. Dass die Wup-
man den Satz: »Oho, Sie kennen sich wirklich gut aus.« pertaler hochmütig werden, ist außerdem nicht zu befürchten, da
Meiner Ansicht nach kann eine Stadt sich glücklich schätzen, müssten noch ganz andere Sachen passieren.
wenn über sie Klischees im Umlauf sind, nur wenige Städte schaf- Zwei weitere Klischee-Formulierungen, die in Hamburg nicht
fen es in die Klischee-Liga. Wuppertal-Klischees und Osnabrück- gern gehört werden, lauten »Hamburg, Venedig des Nordens«
Klischees sind mir zum Beispiel unbekannt. Die Wuppertaler und »Reeperbahn, sündigste Meile der Welt«. Die Anspielung auf
wären vielleicht stolz, wenn es überall, wo sie auftauchen, sofort Venedig bezieht sich auf die Tatsache, dass es in Hamburg viel
heißen würde: »Ja, klar, Wuppertalerinnen tragen gern lange ka- Wasser gibt und viele Brücken, etliche italienische Restaurants,
rierte Röcke und toupierte Haare. In Wuppertal begrüßt man sich arrogante Kellner, hohe Preise sowie hin und wieder auch eine
gern mit ›Schwuppdiwupp‹. Wuppertal, das Pforzheim des Nor- Überschwemmung. Der Vergleich bietet sich also geradezu an.
dens.« Oder man stelle sich das glückliche Gesicht eines Osnabrü- Um aber nicht in die Klischeefalle zu tappen, würde ich raten,
ckers vor, der in Kenia eine Safari macht, und der Wildhüter weiß Hamburg als »das Bangladesch des Nordens« zu bezeichnen. Brü-
sofort: »Ihr Osnabrücker heißt auch Opiaten, ein reicher Osna- cken, Überschwemmungen, das passt. In Bangladesch regnet es
brücker ist ein Quasselsack. Osnabrück – Rutschbahn zur Welt!« zudem ähnlich oft wie in Hamburg. Präziser wird es, wenn man
Es ist doch vollkommen gleichgültig, ob es stimmt. Hauptsache, sagt: »Hamburg ist das Bangladesch des Nordens, nur teurer.«
Wuppertal und Osnabrück bleiben global im Gespräch. Die sündigste Meile der Welt aber ist nicht die Reeperbahn. Die
Ich fragte, welche Hamburg-Klischees die Hamburger besonders sündigste Meile der Welt entsteht bei Olympischen Spielen, wenn
stark ablehnen würden. Angeblich ist dies unter anderem die Be- die gedopten Sportler die 400-Meter-Laufbahn des jeweiligen
hauptung, sie, die Hamburger, würden Hamburg für die schönste Olympiastadions vier Mal gerannt sind.

Harald Martenstein Zu hören unter www.zeit.de/audio


ist Redakteur des »Tagesspiegels« Illustration Fengel 8
heiter bis glücklich Unsere Entdeckungen für Hamburg

Die Abend- Wie hübsch Kunst-


sonne fun- stoffseile aus der
kelt nirgends Seefahrt als Wand-
schöner dekoration aussehen
als auf dem können, zeigt
goldenen Designerin Sandra
Insel-Café Schollmeyer mit
Enten- den Wall hangings
werder1, Circular
das auf der
Norderelbe
schwimmt
Fotos Felix Amsel, Sandra Schollmeyer, Herbivore Botanicals / Peppermynta PR, Annika Karrenbauer, Ralph Baiker, Yelda Yilmaz

»Die Uhrmacherei In seinem Roman


ist die Vermählung »Zeichen der Zeit«
von Gefühl erzählt der Hamburger Blau
und Berechnung. Christoph Scheuring wie das
Von Leidenschaft von drei Jungen Meer,
und klarem im 19. Jahrhundert, aber
Gedanken.« die ihr Glück suchen garantiert
ohne
Marine-
streifen:
Die
schönste
Selbstgemachtes Mode
mitbringen Hamburgs
und gemeinsam macht Black
probieren: Zwei Velvet
Hamburgerinnen Circus
importieren mit
food-swap.de einen
Trend
aus den
USA nach
Deutsch-
land
Über
Natur-
kosmetik,
faire Mode
und nach-
haltigen Lebens-
Originol stil berichtet
macht aus das Hamburger
alten Möbeln Onlinemagazin
und Accessoires »Peppermynta« – weit
zeit gemäße über die Stadt hinaus
Einzelstücke.
Wie diese Vase Von Inga Krieger
hamburgkarte Konsulate
LANGENHORN
ROTHERBAUM Belgien
Ägypten
Estland FUHLSBÜTTEL
Frankreich Schweiz
Standorte der Montenegro
Auslandsvertretungen Palau
WINTERHUDE
nach Stadtteilen Spanien
Indonesien
Türkei
Iran
Ungarn
Peru
USA
Venezuela
EPPENDORF
Zypern
OSDORF Madagaskar STEILSHOOP
Costa Rica Polen BRAMFELD
HOHELUFT-OST Moldau
BLANKENESE
Kenia
Marokko

HARVESTEHUDE
UHLENHORST
Ecuador TONNDORF Russland
Italien Uganda
Samoa HOHENFELDE
Serbien Ghana
Tansania Indien
Uruguay Tunesien
Ukraine
STELLINGEN
Litauen EILBEK
Chile ROTHENBURGSORT
HAMMERBROOK Bangladesch
OTHMARSCHEN Kolumbien
China Senegal
Paraguay OTTENSEN
Malta ST. GEORG
ALTONA-ALTSTADT Mongolei HAFENCITY Luxemburg
Mosambik Weißrussland HAMBURG-ALTSTADT Bolivien Mali
St. Kitts und Nevis Argentinien Brasilien Mazedonien
Südafrika Bulgarien Finnland Namibia
ST. PAULI El Salvador Kasachstan Tadschikistan
Irland Island Kirgisistan Thailand
Monaco NEUSTADT Jamaika Niederlande
Botsuana Japan Sri Lanka
Dominikanische Republik Kap Verde Syrien
Griechenland Kiribati
Großbritannien Kroatien
Guatemala Malaysia
Jemen Mexiko
Lettland Neuseeland
Norwegen Niger
Panama Österreich
Portugal Papua-Neuguinea
Sambia Ruanda
Schweden Rumänien
Südkorea Singapur
Tschechien Trinidad und Tobago
Recherche Anton Dorow

Das US-Generalkonsulat will umziehen – was die Hamburger ist natürlich Hamburgs große Bedeutung für den Außenhandel.
Autofahrer freut. Denn nach den Anschlägen des 11. Septem- In Berlin, wo die Botschaften sitzen, geht es auch um den Han-
ber 2001 wurde die Straße vor dem Gebäude an der Außenalster del, vor allem aber um die politischen Beziehungen zu Deutsch-
für sie gesperrt. Gäbe es für alle Konsulate in Hamburg solche land. Rund die Hälfte aller Staaten der Welt hat ein Konsulat
Sicherheitsvorkehrungen, der Verkehr käme im Zentrum zum in Hamburg. Das erste eröffnete Österreich im Jahr 1570. Die
Erliegen. Dort befinden sich nämlich die meisten der insgesamt Amerikaner kamen 1790 in die Stadt. Ihr Konsulat soll nun in
96 Hamburger Konsulate. So viele gibt es in keiner anderen deut- die HafenCity ziehen. Die Kisten, so hört man, wurden aller-
schen Stadt (München kommt nur auf 85). Der Grund dafür dings noch nicht gepackt.

Illustration Laura Edelbacher Von Friederike Milbradt 10


12
Von links: Enzo trägt eine Hose von Woolrich und ein Vintage-Sweatshirt.
Hotpants von BLK DNM und ein Pulloverkleid von By Malene Birger.

Felipe trägt eine Hose von H&M und ein Hemd von Paige. Jule trägt eine Jacke und
Paulina trägt einen Rolli von Zara, ein Kleid von Diesel, Socken von Falke und Schuhe von Hugo
Von Claire Beermann Fotos Frederike Helwig Styling Ourania Marmara

MEINE GROSSE
FREIHEIT

jung zu sein
Wie es ist, in Hamburg
Ich stand mit zwei Freundinnen am Was Erwachsenwerden wirklich
Tresen der Hans-Albers-Klause und heißt, ahnte ich erst, als ich St. Pauli
kippte ein Gläschen Saurer Apfel entdeckte. Tagsüber rannte ich wei-
von Berentzen. »Schmeckt über- ter über den Sportplatz. Aber die
haupt nicht nach Alkohol«, rief Abende verbrachten meine Freun-
ich, viel zu laut. Meinen Freundin- de und ich in feuchten Souterrain-
nen war das sehr unangenehm. Die Kneipen oder in der 99-Cent-Bar
ganze Oberstufe traf sich damals am Hamburger Berg, wo wir mit
in der »Klause«. Es gab also Grund grell geschminkten Transvestiten
genug, sich nicht zu benehmen wie Wodka tranken. Ich lernte, dass
eine 16-Jährige, die das erste Mal in das gesetzte und das wilde Ham-
einer Kneipe auf der Reeperbahn burg sehr nah beieinanderliegen.
ist. Leider war aber genau das bei Wer hier aufwächst, kann zwischen
mir der Fall. beiden Welten mit der S-Bahn pen-
Die Reeperbahn kannte ich bis deln, immer mit der Frage im Kopf,
dahin vor allem durch die Auto- wer man sein will. Bei mir begann
fensterscheibe. Ich war in Rissen die Antwort darauf mit einer Hose.
aufgewachsen, einem Dorf hinter An meiner Schule trugen die meis-
Blankenese. Von Rissen ist wenig ten Mädchen Lammfellstiefel und
bekannt, außer dass Sky du Mont Parkas mit Pelzkragen. Meine El-
dort wohnt. Wenn ich als Kind mit tern weigerten sich, mich so aus-
meinen Eltern in der Stadt war, fuh- zustatten. Ich sah mich nach Alter-
ren wir manchmal über die Reeper- nativen um – und kaufte mir eine
bahn nach Hause. Die Leuchtschil- pinkfarbene Jeans mit Palmenprint.
der der Stundenhotels, die Kneipe Sie war so eng, dass ich mich hin-
»Ritze« mit der Tür zwischen den legen musste, um sie anzuziehen.
aufgemalten gespreizten Frauenbei- Ich trug sie auf der Reeperbahn zu
nen – all das fand ich faszinierend, Plateausandalen und im Unterricht
weil es so fremd war. Ich war da- zu weißen Leinenturnschuhen. An
mals im Hockeyverein. Viele mei- meiner Schule war ich deswegen
ner Freunde kamen aus Traditions- keine Außenseiterin. Es galt eben
familien, Väter wie Söhne trugen Hamburger Toleranz. Manchmal
Segelschuhe und Daunenjacke. Das denke ich heute an diese Hose
höchste Ereignis der Jugend war der zurück: das Stück, in dem ich in
»Abtanzball« im Hotel Atlantic. Ich Hamburg erwachsen wurde. Leider
erinnere mich, mir in meinem Taft- passt sie nicht mehr.
kleid und mit Hochsteckfrisur und
dem etwas ungelenken Tanzpartner Claire Beermann, 21, ZEITmagazin-
am Arm wahnsinnig erwachsen vor- Autorin, hält sich in Hamburg
gekommen zu sein. am liebsten an der Elbe auf
hamburger jugend

von Chinti & Parker und eine Regenjacke von Barbour

Jule trägt Hotpants von BLK DNM, einen Pullover


15

»Ich brauche beides: »Hamburg ist auf eine


Grossstadt und Natur« angenehme Art spiessig«

Ursprünglich komme ich aus Freiburg. Manchmal ver- Wenn man im Sommer auf der Reeperbahn von Club zu
misse ich in Hamburg die Berge. Aber gute Ausblicke hat Club läuft und danach um acht Uhr morgens ins Freibad
man auch hier: zum Beispiel auf der Dachterrasse des springt – dann ist das cool, keine Frage. Aber eigentlich
Clubs Uebel & Gefährlich. Am wohlsten fühle ich mich finde ich Hamburg auf angenehme Art und Weise eher
auf St. Pauli und in der Schanze – auf dem Schanzenfloh- spießig. Die Leute eifern hier nicht ständig dem Aller-
markt habe ich mir gerade einen Schreibtisch gekauft. Ich neuesten hinterher; sie kleiden sich auch eher klassisch.
kaufe auch gern Vintage-Sachen bei Pick & Weight am Ich sehe in Hamburg viele Leute in Trenchcoats und
Grünen Jäger. In dieser Gegend sehen die Leute nicht so Gummistiefeln. Nie mit Regenschirm – der Regen kommt
einheitlich aus, es ist ein sehr junges und buntes Viertel. hier ja sowieso von vorne. Mir gefallen auch die alten
Ich lebe gern in der Großstadt, aber der Zugang zur Na- Hamburger U-Bahnen, die finde ich charmant. Wenn ich
tur ist mir wichtig. An der Außenalster zu stehen und den an der Station Baumwall in die U3 steige und dabei auf
Blick in die Ferne schweifen zu lassen tut mir gut. den Hafen blicke, denke ich immer: Hier gehöre ich hin.

Jule Schindler, 20 Jahre alt Christopher Paskowski, 20 Jahre alt


Felipe trägt eine Jogginghose von Topman, Schuhe von Marc O’Polo und ein Vintage-Sweatshirt

Naemi trägt Jeans und Streifenshirt von Closed und einen Rollkragenpullover von Zara.

hamburger jugend
»Modisch betrachtet ist
Hamburg eher entspannt«

Ich habe früher oft Absolute Giganten mit


meinem Vater geschaut – sein Lieblingsfilm.
Mir gefällt der Film auch, denn er zeigt die
industrielle Seite von Hamburg. Wenn ich
in der Strandperle am Wasser sitze und die
Containerschiffe vorbeifahren sehe, fühle
ich mich mit der großen Welt verbunden.
Auf St. Pauli gibt es unten an der Hafen-
straße den Park Fiction, dort bin ich auch
gern. Auf einem Hügel stehen Kunstpalmen,
drum herum kann man skaten. Hamburg
gibt mir immer wieder ein Gefühl von
Freiheit, weil ich hier so viel unternehmen
kann. Wenn man will, ist Hamburg aber
auch der richtige Ort für einen Kurzurlaub.

Naemi, 17 Jahre alt

»Mein Lieblingsort?
Mein Kanu auf der Alster«

Als Kind bin ich mit meinen Freunden oft


zum Bootshaus Barmeier gegangen. Das war
unser zweites Wohnzimmer. Bis heute liebe
ich es, mich im Boot auf der Alster treiben
zu lassen. Auf dem Wasser ist man mitten
in der Stadt und doch ganz für sich allein.
An meiner Schule war es wichtig, die »rich-
tigen« Marken zu tragen. Ich habe da nicht
mitgemacht, lieber ziehe ich an, was mir
selbst gefällt. Mit 14 fing ich an zu skaten,
unter anderem in der HafenCity. Einmal
habe ich hier sogar mit Freunden in der Elbe
gebadet. Es war ein heißer Tag im Sommer
– an den Magellan-Terrassen sprangen wir
spontan ins Wasser.

Felipe Villagran, 18 Jahre alt

17
hamburger jugend
einen Rolli von Uniqlo, eine Hose von Joop! und Schuhe von Hogan
Enzo trägt eine Lederjacke von BLK DNM,
19

»Ich lasse mich in »Wer im Matsch feiert,


Hamburg gern treiben« muss improvisieren«

Ich möchte Schauspieler werden, deshalb gehe ich in Ich bin in Blankenese aufgewachsen, aber schon immer
Hamburg gern ins Theater. Ich verkleide mich auch gern. gern nach Altona gefahren. Die Leute wirken hier ent-
Neulich bin ich in einem türkisfarbenen Trainingsanzug spannter, nicht so konservativ und gesetzt. Im Sommer
aus Ballonseide ins Alstertal-Einkaufszentrum gegangen. gehe ich gern auf das Dockville-Festival in Wilhelmsburg.
Die Leute haben mich ziemlich schief angesehen. Aber Man feiert dort drei Tage lang im Matsch, muss also im-
gerade das finde ich lustig. In Hamburg bin ich nie in den provisieren. Gerade deshalb sind die Leute hier für mich
gleichen Gegenden. Zwei meiner besten Freunde wohnen aber auch am besten angezogen. Sie tragen Band-T-Shirts,
im Portugiesenviertel, die Ecke finde ich toll. Mir gefällt Gummistiefel, manche sogar gelbe Regenparkas. Die sieht
es auch, mich in der Stadt treiben zu lassen. Ich würde man in Hamburg sonst nicht so oft, obwohl die Regen-
gern mal ziellos mit der S-Bahn herumfahren, blind an jacke eigentlich ein typisch hamburgisches Kleidungsstück
einer Station aussteigen und schauen, was ich dort ent- ist. Ich finde überhaupt, die Hamburger könnten dem
decke. Vielleicht erlebe ich ja ein Abenteuer. grauen Wetter häufiger mit bunter Kleidung begegnen.

Enzo Brumm, 19 Jahre alt Paulina Knebel, 19 Jahre alt


von Kenzo, eine Bluse von Woolrich, Jeans von Closed und Loafer von Hugo. Naemi trägt Jeans und
ein Sweatshirt und Sneaker von Hugo und Jeans von Page. Charlie trägt eine Jeansjacke von
ein Sweatshirt von Polo Ralph Lauren, Jeans von Closed und Sneaker von Adidas Originals
Von links: Paulina trägt ein Tenniskleid von Kenzo, einen Rollkragenpullover von H&M und eine Vintage-Bomberjacke. Jule trägt ein Sweatshirt
hamburger jugend

Streifenshirt von Closed und einen Rollkragenpullover von Zara. Christopher trägt eine Jacke von Edwin, ein Hemd von Mastercraft Union,
Calvin Klein Jeans, ein Hoodie von American Apparel und ein T-Shirt von Topman. Felipe trägt eine Vintage-Lederjacke,
21

»Auf dem Kiez kommen


alle Milieus zusammen«

In Hamburg bin ich erst seit vier Wochen,


vorher habe ich in London gelebt. Mir fällt
auf, dass die Leute hier sehr gesund und
fit wirken. Viele auffällige Leute sieht man
in der Stadt allerdings nicht. Gerade am
Abend tragen fast alle Schwarz. Gut fin-
de ich, dass die verschiedenen Milieus in
Hamburg nicht so stark getrennt vonein-
ander leben. Im Docks an der Reeperbahn
wird elektronische Musik gespielt. Ein
paar Häuser daneben sind die Tanzenden
Türme mit dem Mojo Club im Keller und
der Clouds Bar auf dem Dach. Studenten,
Haar und Make-up: Peggy Kurka; Digital-Operator: Ester Keate; Styling-Assistenz: Julius Salvenmoser;

Touristen, Upper Class – in dieser Gegend


kommen alle zusammen.

Charles Buirski, 24 Jahre alt


Produktionsassistenz: Carolin Wessel; Casting: Sina Linke / Gillian Wiechert Casting

Hier haben wir fotografiert:


Als Schauplätze unserer Modestrecke haben
wir zwei sehr unterschiedliche Bauten gewählt,
mit denen viele Hamburger Erinnerungen ver-
binden – das Kongresszentrum CCH und den
Flakturm am Heiligengeistfeld. Das CCH am
Bahnhof Dammtor wurde 1973 eröffnet und
bietet in 23 Sälen Platz für alles. Wohl fast je-
der Hamburger war irgendwann hier, ob zum
Debütantenball oder zum Popkonzert. Hier
traten schon David Bowie, Phil Collins und
Luciano Pavarotti auf. Die Holzvertäfelungen
und Teppichböden bieten das schönste Siebzi-
ger-Flair der Stadt. Weil das manche allerdings
verstaubt finden, soll das CCH ab 2017 kom-
plett saniert werden. Es ist zu befürchten, dass
damit auch die schönen Erinnerungen weg-
saniert werden. Der Flakturm wird hoffentlich
noch in hundert Jahren so trotzig am Heiligen-
geistfeld stehen. Im Zweiten Weltkrieg bot er
als Bunker Schutz vor Luftangriffen. Heute
flieht man vor dem Alltag hierhin in den Club
Uebel & Gefährlich.
ich habe einen traum Tim Mälzer
»Ich wollte mich in Amerika zum Millionär hocharbeiten«

Der erste Traum meines Lebens war es, Schlagzeuger müht, die aber abgelehnt wurde. Also ging ich statt- Augenzwinkern. Ich werde eben immer so als Kumpel-
bei der Band Kiss zu werden. Da war ich zehn Jahre dessen nach England. In London habe ich in einem typ wahrgenommen, deswegen fällt bei anderen
alt. Damals ging es dem Kiss-Schlagzeuger Peter Criss italienischen Restaurant eng mit einem Koch namens manchmal mir gegenüber die Hemmschwelle. Das
gesundheitlich nicht gut, und in der Bravo stand, dass Jamie Oliver zusammengearbeitet, der damals noch geht übrigens einigen so, die aus dem Fernsehen be-
ein Nachfolger gesucht wird. Also träumte ich eine genauso unbekannt war wie ich. kannt sind. Man kommt sozusagen ins Wohnzimmer,
Weile davon, seinen Platz einzunehmen. Zur Vorberei- Bekannt zu sein ist allerdings nicht immer ein Traum. und die Leute empfinden keine Distanz mehr. Wenn
tung beklebte ich mir die Moonboots mit Alufolie, zog Manchmal kann es auch zu einer Belastung werden, dann plötzlich einer zu mir sagt, ey, Digger, wie geht’s
die Leggings meiner Schwester an und schnitt mir ein wenn man weder mir noch meiner Begleitung eine denn?, antworte ich mit einem Schmunzeln: Kennen
schwarzes T-Shirt zurecht. Dazu malte ich mir das Ge- Privatsphäre gewährt. Man stelle sich vor, man sitzt wir uns? Haben wir mal Fußball gespielt? Zusammen
sicht an und schluckte rote Tinte, um Kunstblut spu- in einem Restaurant, und da werden dann, ohne zu Abi gemacht? Manchmal merken die Frager, dass wir
cken zu können – wie sie es bei Kiss halt so machten. fragen, quasi aus dem Hinterhalt, Fotos gemacht. Und uns ja tatsächlich gar nicht kennen. Ich bin halt der
Aber dann engagierte diese Band einfach einen ande- wenn ich darum bitte, uns in Ruhe zu lassen, werden saloppe Koch aus Pinneberg. Wobei für mich der Koch
ren Schlagzeuger. Damit hatte sich dieser Traum nach solche Hobbyfotografen manchmal lauter, und schon wichtiger ist als das Saloppe.
sechs Wochen erledigt. fällt das auf mich zurück. Da kannst du nur verlieren.
Mein zweiter Lebenstraum war, mich in Amerika vom Und wenn du Pech hast, steht es am nächsten Tag ir-
Tellerwäscher zum Millionär hochzuarbeiten. Ich bin gendwie falsch in der Zeitung. Tim Mälzer,
vor den Toren Hamburgs aufgewachsen, in einer Fami- Als »Pinneberger Jung« hatte ich in meiner Jugend
lie, die weder reich noch arm war. Mein Taschengeld einen Ruf als Vorort-Prolet, aber natürlich galt das 45, wurde als Sohn eines Architekten
musste ich mir selber verdienen. Mit vierzehn habe ich damals in Hamburg für alle Pinneberger Jungs. Und in Pinneberg geboren. Er betreibt
hin und wieder in einem kleinen Hotel in Pinneberg wenn ich heute manchmal diesem Ruf noch gerecht mehrere Restaurants, darunter die
gejobbt, die Böden geschrubbt und in der Küche ge- werde durch den einen oder anderen Kraftausdruck, Bullerei im Schanzenviertel. Seine
holfen. Nach meiner Ausbildung zum Koch habe ich dann bin ich für die einen authentisch, für die anderen Kochshow »Kitchen Impossible« ist
mich dann um eine Arbeitserlaubnis für die USA be- aber ein Prolet. Ich nehme das mit einem gewissen derzeit auf Vox zu sehen

Aufgezeichnet von Christoph Dallach Zu hören unter


Foto Tim Bruening www.zeit.de/audio 23
DAS RECHT AUF REMIX
24
Matthias Arfmann: Sieht entspannt aus, kämpfte aber jahrelang darum, Klassiker neu bearbeiten zu dürfen
Der Produzent Matthias Arfmann
machte den Hamburger Hip-Hop
populär. Jetzt erneuert er die Klassik
Von Christoph Dallach Fotos Tim Bruening

Es ist gar nicht lange her, da be- Nach Hamburg hatte es Arfmann in gelegt hat, begleitet Arfmann die
schränkten sich Matthias Arfmanns den Achtzigern wegen der Musik- Solokarriere von Jan Eißfeldt alias
Erfahrungen mit klassischer Musik szene dort verschlagen. »Da waren Jan Delay, dessen Album Wir Kin-
auf Einsätze im Schulchor: Als Jun- coole Punkrock-Plattenfirmen wie der vom Bahnhof Soul die Spitze
ge stand er an Weihnachten im wei- ZickZack, aufregende Konzertsäle der deutschen Charts erreichte.
ßen Pullover auf einem Stuhl und wie die Markthalle und lässige Bars Wobei dem Produzenten Arfmann
trug Orffs Carmina Burana vor. wie das Subito«, erinnert er sich. und seinen Klienten das Kunst-
Dann kamen der Stimmbruch und Der 52-Jährige spricht leise und stück gelang, nicht nur mit gewitz-
der Punkrock. Die Kastrierten Phi- ist überhaupt sehr viel dezenter, als ten Texten kommerziell erfolgreich
losophen hieß die Band, mit der es man sich einen erfolgreichen Pop- zu sein, sondern so nebenbei auch
der gebürtige Bremer in den neun- Produzenten vielleicht vorstellt. In den Hamburger Slang in die Charts
ziger Jahren zu einer gewissen Be- den neunziger Jahren entwickelte und Radios zu tragen.
kanntheit brachte. Als Solokünstler sich dann in Hamburg eine über- Die Klassik holte Arfmann dann
entdeckte er Reggae und Beats für raschend erfolgreiche Hip-Hop- vor zehn Jahren wieder ein. Da-
sich und veröffentlichte als Turtle Szene um Musiker wie Ferris MC, mals erhielt er von der Plattenfirma
Bay Country Club einige ambitio- Das Bo, Fünf Sterne Deluxe, Fettes Deutsche Grammophon den Auf-
nierte Alben. Turtle Bay Country Brot und die Absoluten Beginner. trag, alte Herbert-von-Karajan-Auf-
Club heißt auch das Studio, das sich Die Karriere der Letztgenannten nahmen mit Beats aufzufrischen.
Arfmann in einem umgebauten Ap- betreute Matthias Arfmann, in sei- Das Traditionsunternehmen hoffte,
felspeicher vor 20 Jahren im Alten nem Apfelspeicher entstanden Hits ein junges Publikum zu locken, und
Land auf der Hamburg gegenüber- wie Liebes Lied und Hammerhart. Arfmann bot sich die Chance, etwas
liegenden Seite der Elbe einrichtete. Seitdem die Band eine Auszeit ein- Neues zu probieren. Die Verhand-
lungen mit den Rechteinhabern
waren zäh, trotzdem machte ihm
das Projekt Lust auf eine Fortset-
zung. Und als ihm vor sieben Jah-
ren der Einfall zum Ballet Jeunesse
kam, legte er los mit dem Team, das
ihn bereits bei den Karajan-Sessions
unterstützt hatte.
Seine Idee: ein Album mit 13 Klas-
sikern der europäischen Musik –
Dauerbrenner von Maurice Ravel,
Georges Bizet, Gustav Holst, Peter
Tschaikowsky, Claude Debussy und
Sergej Prokofjew –, aufbereitet für
das 21. Jahrhundert.
Als Inspiration für die Auswahl der
Musik und die erhoffte Wirkung
des Ballet Jeunesse dienten Arf-
mann die Ballets Russes. Ein En-
semble von Exilrussen, das zu Be-
ginn des vergangenen Jahrhunderts
von Paris aus die verschlafene euro-
päische Ballettszene mit herausfor-
dernden Inszenierungen aufmisch-
te. Mit seinen erotisch aufgeladenen
Choreografien, Bühnenbildern von
Picasso, Braque und Matisse und
kühnen Tänzern modernisierten
28

es die Ballettbranche, so wie einst mit der Aufforderung, »von weite-


der Punk den Rock ’n’ Roll. Der ren Anfragen in dieser Sache bitte
größte Star der Ballets Russes war abzusehen«. Eigentlich wäre die An-
der Tänzer Vaslav Nijinsky; wie gelegenheit damit erledigt gewesen,
der damals über die europäischen aber da der zweimal für einen Echo
Bühnen wirbelte, ist in diesem nominierte Arfmann in der Musik-
Jahrtausend noch auf YouTube zu szene gut vernetzt ist, verschaffte er
bewundern. Auch Arfmann und sich einen direkten Kontakt zu den
seine Mitstreiter im Hamburger Erben. Der eine residiert in Süd-
Apfelspeicher sind von seinen Auf- frankreich, der andere in St. Peters-
tritten begeistert. Die Radikalität, burg. Beiden mailte Arfmann die
mit der damals Genregrenzen ge- Neubearbeitungen.
sprengt worden waren, packten den Sergej Prokofjews Urenkel Gabriel
Hip-Hop-Spezialisten. Die unruhi- schickte ihm daraufhin eine Mail,
ge Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in deren Betreffzeile zwölfmal »njet«
in der die Ballets Russes unterwegs stand. Soll heißen: Er war von Arf-
waren, erinnert Arfmann an die an- manns Neubearbeitung von Klassi-
gespannte Stimmung dieser Tage. kern wie Peter und der Wolf nicht
»Das freiheitliche und aufgeklärte sonderlich angetan. Dummerweise
Europa scheint in diesen Zeiten verweigerte der andere Prokofjew-
der Pegida-Aufmärsche, geschlosse- Urenkel, Sergej jr., ebenfalls seine
ner Grenzen und der zunehmenden Zustimmung.
Angst vor dem Fremden wieder in- »Wir standen immer wieder vor ei-
frage gestellt zu sein«, sagt er. ner Wand von Anwälten, Agenten,
Aber auch die Freiheit, berühmte Bewahrern, Plattenfirmen, Dirigen-
Kompositionen zu überarbeiten, ist ten, Musikern, Verlagen und Kom-
sehr begrenzt. Denn wer zum Bei- ponisten-Erben«, erzählt Matthias
spiel die Werke des Russen Sergej Arfmann in einem Hamburger Café
Prokofjew zerlegen und umbauen und sieht bei der bloßen Erinne-
will, benötigt dafür den Segen sei- rung an das Ringen um die Rechte
ner Erben. Der Schöpfer von Klas- gestresst aus.
sikern wie Peter und der Wolf und Aber wenn nichts mehr geht, hilft
dem Ballett Romeo und Julia starb manchmal Glück. Nach einigen Wo-
1953. Das Urheberrecht endet in chen Stillstand kam aus dem Nichts
den meisten Ländern allerdings erst eine Mail von einer Anwaltskanzlei
70 Jahre nach dem Ableben der Ur- in Paris. Die Urenkel hatten es sich,
heber. Wer also Peter und der Wolf warum auch immer, anders überlegt
bearbeiten will und die Struktur und ließen überraschend ein »Go for
von Prokofjews Ballettmelodien mit it« ausrichten. Die französischen Ju-
Reggae-Beats und der Stimme von risten rieten Arfmann dann noch,
Jan Delay durcheinanderwirbeln sich die Mail auszudrucken und ge-
möchte und obendrein noch plant, rahmt an die Wand zu hängen, denn
das Resultat zu veröffentlichen, der er sei der Erste, dem weltweit jemals
kommt bis 2023 nicht an den Ur- eine solche Prokofjew-Bearbeitung
enkeln Sergej jr. und Gabriel Pro- genehmigt worden sei. »Danach war
kofjew vorbei. ich mir sicher, dass der Rest auch
Zuerst ging Arfmann den offiziellen noch klappt. Es war trotzdem noch
Weg über den für Prokofjew zustän- ein weiter Weg«, sagt Arfmann.
digen Musikverlag – und kassierte Die Aufnahmen zum Ballet Jeunesse
eine formelle Absage, verbunden sei er dann wie eine »ganz normale

klassik remixed
klassik remixed

Hip-Hop-Produktion« angegangen: Festival soll mit dem Ballet Jeunesse


»Man sampelt etwas und hat keiner- eröffnen – falls genug Geld für die
lei Hemmungen, kein ›Du darfst das aufwendige Produktion zusammen-
nicht‹«, sagt er. Gesucht wurde, wie kommt. Und wenn alles gut läuft,
beim Hip-Hop, der beste Sound. In sollen weitere Festivalauftritte und
diesem Fall also das am besten klin- eine Konzertreise folgen.
gende Orchester. Daraufhin folgte Nur eine große Frage schwebt
die Auseinandersetzung mit den In- noch über dem Projekt: Darf man
halten, die Entstehungsgeschichten das überhaupt? Dürfen sich ein
der Werke wurden recherchiert. paar Hamburger Freigeister über
Spannend war das Zerlegen der die Kronjuwelen der europäischen
Strukturen von Tschaikowskys Hochkultur hermachen? Alle am
Schwanensee oder Strawinskys Feuer- Ballet Jeunesse Beteiligten sind sich
vogel: »Walter Benjamin spricht von sicher, dass viele beim bloßen Ge-
der ›Aura eines Kunstwerkes‹ – die danken daran das Grauen packt.
haben wir zerstört, um dann eine Arfmann erinnert sich an einen
neue Aura zu schaffen«, erklärt Arf- Produktmanager bei der Deutschen
mann. Natürlich habe man großen Grammophon, der nach einer Prä-
Respekt vor den Originalen gehabt, sentation der Idee vor Kollegen von
aber es sollte ja etwas Neues ge- imaginären »Blutspritzern an der
schaffen werden, fügt er hinzu. So Wand« gesprochen habe.
wurden die Melodien mit Beats und »Aber die Hochkultur wird sich
Bässen verwoben, und ein Outro diese Arroganz nicht mehr lange
wurde schon mal zum Intro. leisten können«, sagt Arfmann
Auf eine weitere, neue Ebene ho- leise. In vielen Klassikabteilungen
ben sie die Vorlagen, indem sie die sucht man schon länger nach Stra-
Ballettmelodien mit Texten kom- tegien, um ein junges Publikum zu
binierten. Die in Kenia geborene locken. Bislang allerdings vergeb-
und in Hamburg ansässige Sängerin lich, am Ende gehen Klassikprojek-
und Musikerin Onejiru stattete te jenseits des Stammpublikums nie
zum Beispiel Tschaikowskys Nuss- über André Rieu und David Garrett
knacker mit einem Text aus, der aus hinaus. Und Arfmann betont, dass
jiddischen, arabischen, englischen er keine Mission habe: »Wir wollen
sowie kisuahelischen Passagen be- nicht das Klassikpublikum verjün-
steht. »Wir thematisieren so in die- gen. Wenn sich allerdings danach
ser alten europäischen Komposition einige Jüngere für die Originale
auch Migration und die Erfahrun- interessieren, wäre das schon eine
gen mit der Fremde«, sagt Arfmann. große Ehre.«
Jan Delay übernahm die Rolle des Einen ersten Triumph hatte er
Märchenonkels in Peter und der schon; John Neumeier, Ballettinten-
Wolf, er trägt den Originaltext vor, dant an der Staatsoper in Hamburg,
den einst Karlheinz Böhm gespro- lauschte bereits den Ballet Jeunesse-
chen hatte. Selbstgedichtetes steuer- Aufnahmen und war beeindruckt.
te der Hamburger Autor Schorsch Seine erste Frage an Arfmann war:
Kamerun zum Säbeltanz von Aram »Wie haben Sie bloß die ganzen Ge-
Chatschaturjan bei. nehmigungen dazu erhalten?«
Erscheinen soll das Ballet Jeunesse
nun endlich im September. Arte Christoph Dallach, 51, lebt in
dreht einen Dokumentarfilm über Hamburg und schreibt seit 2010
das Projekt, und das Reeperbahn- fürs ZEITmagazin

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Die bekanntesten deutschen
Designer kommen aus
Hamburg. Warum eigentlich?
EINE STADT,
DIE ALLE ANZOG

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Jil Sander begann mit einer kleinen Boutique in Pöseldorf
Von Tillmann Prüfer

Im Hamburger Stadtteil Pöseldorf in Hamburg geboren. Was hat diese


eröffnete 1967 eine 24-Jährige eine Stadt, dass sie solche Modeschöpfer
Boutique. Die junge Frau war stu- hervorbringt?
dierte Textilingenieurin, hatte in Zunächst einmal: Geld. Wolfgang
Los Angeles gearbeitet, zuletzt war Joop zog einst in die Hansestadt,
sie Redakteurin bei einer Hambur- um als Moderedakteur zu arbei-
ger Frauenzeitschrift. Der Laden ten. Für die Zeitschrift Neue Mode
war gut sortiert. Es gab Teile von fertigte er in den siebziger Jahren
Sonia Rykiel, Thierry Mugler – Schnittmuster. Eines Tages bekam
und die eigene Kollektion, benannt er eine Anfrage von einem Pelz-
nach der Besitzerin: Jil Sander. hersteller, eine zeitgemäße Kollekti-
Die Teile kamen vielen Kundin- on zu schneidern. Joop entwarf ge-
nen zu schlicht vor. Doch Sanders färbte Pelze und Armee-Parkas mit
Stunde sollte bald kommen, 1975 Futter aus rasiertem Nerz. Sie wur-
zeigte sie zum ersten Mal ihre Mode den bis nach New York verkauft.
in Paris. Mit intelligenter Kleidung Und schon bald war sein Name,
für Frauen, die sich nicht nur als versehen mit einem Ausrufezeichen,
Ziergegenstand ihres Mannes se- eine Lifestyle-Marke. In Hamburg
hen, wurde Jil Sander weltberühmt. konnte man mit nichts weiter als
Wenn man heute von deutschen einem kühnen Entwurf eine Marke
Modestädten spricht, wird Ham- mit Weltgeltung gründen. Es war
burg selten erwähnt. Dabei hat die einzige Stadt in Deutschland,
die deutsche Mode keiner anderen wo Kreativität, internationaler Geist
Stadt so viel zu verdanken, fast alle und eine solvente Kundschaft zu-

Fotos dpa Picture-Alliance, Frank Bründel / Action Press, Catherine McGann / Getty Images
deutschen Designer, die es zu gro- sammenkamen. Denn der Designer
ßer Bekanntheit gebracht haben, ist nichts ohne seine Kundschaft.
kommen von dort. Menschen, die sich mit den Klei-
Nicht nur Jil Sander, auch Wolf- dern zeigen wollen, bevor andere
gang Joop und Iris von Arnim be- sie haben – und die sie sich leisten
gannen in Hamburg. Karl Lagerfeld können. Diese Kunden gab und gibt
kam zwar in Paris zu Erfolg, ist aber es in Hamburg – für einen jungen

Iris von Arnim zog nach Hamburg und machte Strick zu Mode
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Designer sind sie die Geschäfts- anderen Umstand: Hamburg ist


grundlage, bevor junge Kreative die einzige deutsche Stadt, die ein
hoffentlich auf seine Marke auf- Äquivalent zu den New Yorker
merksam werden. Hamptons hat – die Insel Sylt.
»In Hamburg fühlte man sich Dort hat die Oberschicht ihre Wo-
connected«, sagt Wolfgang Joop. chenendhäuser. Von Arnim wurde
Vielleicht meint man damit, dass Store-Managerin in einem Laden
man von dort schnell überall hin- in Kampen – und durfte dort ihre
kommt, nach New York, Paris, eigenen Pullover verkaufen. Von
London. Wolfgang Joop sagt auf da an vervielfältigte sich ihr Ab-
Anfrage: »Man konnte spüren, dass satz. Die Hamburger haben näm-
Hamburg ein Ort ist, von dem man lich nicht nur den Goldknopfstil
abheben kann.« Es gab in der Stadt erfunden, sondern auch den ge-
viele Zirkel, wo man unter sich war. hobenen Freizeitstil. Während man
In solchen Kreisen leistete man sich sich im Rest Deutschlands nur für
gerne einen Spleen – etwas von bestimmte Anlässe modisch kleide-
Wolfgang Joop. te, war in Hamburg auch die Frei-
Natürlich braucht ein erfolgreicher zeit ein modischer Anlass. So wurde
Modemacher die Medien. Und in der Pullover von Iris von Arnim zur
Hamburg residieren mächtige Ver- Sylter Uniform. Hamburg war eben
lage. Davon profitierte eine junge schon immer weiter als der Rest
Frau, die mit 29 aus München in der Republik. Hier gab es früh ein
die Hansestadt kam. Iris von Ar- starkes modisches Selbstverständ-
nim hatte aus Merinowolle bunte nis – und das braucht man, um die
Pullover gestrickt und einen klei- Codes, die andere gerade erst ver-
nen Laden am Großneumarkt auf- stehen, schon wieder zu brechen.
gemacht. Ihr Erfolg begann mit Nichts anderes ist Mode.
der Abbildung eines ihrer Strick-
pullover auf dem Cover der Zeit- Tillmann Prüfer, Style Director
schrift Für Sie. Ihren Durchbruch des ZEITmagazins, 42,
verdankte Iris von Arnim einem lebte einst am Hamburger Hafen

Wolfgang Joop startete in Hamburg mit einer Pelzkollektion


das war meine rettung Durch die schwierige Zeit der Insolvenz half dem
Modedesigner Bent Angelo Jensen ein Anwalt
Herr Jensen, Sie mögen keine Rat- schrecklichen Namen Restrukturie-
schläge, oder? rung. Ganz am Anfang, ich hatte
Ich war lange ziemlich beratungs- von nichts ’ne Ahnung, erzählte er
resistent. mir, dass ich bei der Bank ein Konto
Mit Ihrer Firma, dem Modegeschäft aufmachen kann, ein sogenanntes
Herr von Eden, mussten Sie 2013 Insol- P-Konto, P für pfändungsfrei. Das
venz anmelden. Ihre Bank, Ihre Steuer- kann man auch bekommen, wenn
berater und das Finanzamt hatten Sie man ein Loser ist. Ich wäre sonst
lange gewarnt – aber Sie wollten offen- vier Tage durch Hamburg geirrt und
bar nicht hören. hätte das nicht hingekriegt mit dem
Die haben mir öfter gesagt, dass da Konto. Auch wenn ich immer an
was im Argen ist. Aber die haben mich geglaubt habe, ohne Christian
immer Lösungen von mir erwartet, Abel wäre mein Laden dicht.
und ich habe mir ja auch was über- War es schwierig für Sie, in allen Ent-
legt: Ich habe eine Damenkollektion scheidungen abhängig zu sein von
entworfen, mir Schuhe ausgedacht, einem Insolvenzverwalter?
ein Parfum entwickelt. Jedes Mal Bent Angelo Jensen, Ja, das war für mich ein Problem.
dachte ich: Mensch, Bent, dass du da Sich führen zu lassen ist eine irre
vorher nicht drauf gekommen bist, 38, ist in Sønderborg, Dänemark, intime Angelegenheit. Die Restruk-
das wollen die Leute doch! Aber so geboren. 1998 gründete er turierung ist ja wie die Renovierung
einfach war es nicht. Ich habe mich das Modelabel Herr von Eden, eines Hauses: Du ziehst dir einen
krass verkalkuliert. stattete Prominente wie Overall an, Gummihandschuhe drü-
Am Ende hatten Sie bei Banken und den Sänger Jan Delay aus. ber, dann gehst du in den Keller. Es
Lieferanten 600 000 Euro Schulden. Von ehemals sechs Läden stinkt, alles ist chaotisch. Du hast
Ich hab das Ding vor die Wand ge- in deutschen Großstädten sind keinen Bock, aber du musst loslegen.
fahren und es mir nicht eingestan- heute noch drei übrig Erst wenn du, wie ich jetzt, oben auf
den. Am Ende kamen drei meiner dem Dach stehst und weißt, dass du
wichtigsten Leute zu mir, darunter den Overall bald ausziehen kannst,
mein bester Kumpel Florian, der einiges über sie herein: Hilde, was beginnt der heilsame Prozess.
jetzt mein kaufmännischer Ge- haben wir da denn gelesen?, sagten Ihre Firma ist kleiner geworden – ist es
schäftsführer ist. Sie sagten mir ins die Nachbarn. Aber sie stand total jetzt einfacher?
Gesicht: Du musst insolvent gehen. hinter mir und sagte: Bent, wenn Ja, und ein Gedanke hat mir dabei
Haben Sie das geglaubt? du meinst, dass du dein Geschäft so sehr geholfen: Am Pferdemarkt gibt
Ich hatte doch keinen blassen retten kannst, dann mach das. es einen Laden, Slim Jim’s heißt
Schimmer, was eine Insolvenz ist! Sie sind in Hamburg ziemlich bekannt. der, da gibt es die beste Pizza der
Dass ein Insolvenzverwalter kommt Fiel es Ihnen schwer, sich nach der Stadt. Und die machen nur Pizza.
und meine Firma übernimmt, dass Insolvenz öffentlich zu zeigen? Sonst nichts. Mach es wie Slim Jim,
ich die Schlüssel abgebe und nur Ein halbes Jahr lang bin ich gar nicht dachte ich mir. Du machst nur noch

Foto Bettina von Kameke


1100 Euro im Monat bekomme. mehr ausgegangen. Es gab Leute, blaue Anzüge. Aber du machst die
Ich bin Autodidakt, habe keine Aus- die drehten sich auf der Straße um. besten blauen Anzüge der Stadt. So
bildung. Für mich klang Insolvenz Andere sagten, da hat er wohl zu viel ist das bis heute.
nach Scheitern, Versagen, Men- Champagner gesoffen. Läuft die Firma nun besser?
schen in den Abgrund reißen. Mir Wer hat Sie in der Zeit getragen? Ja. Aber ich muss mich anstrengen,
das Versagen einzugestehen war aber Meine Familie, meine Freunde und um nicht mehr Träumen nach-
der erste Schritt. meine Mitarbeiter. Gerettet hat zuhängen, die mich ins Verderben
Sie gingen mit einem dicken Ordner mich aber mein Anwalt Christian stürzen würden.
zum Amtsgericht und zeigten sich qua- Abel. Der ist völlig anders drauf als
si selbst an. Und dann? ich, eher so ein FDP-Wähler. Seit Das Gespräch führte Kilian Trotier.
Habe ich meine Mutter angeru- zweieinhalb Jahren ist er an meiner Seit dem Start von ZEIT:Hamburg
fen. In den nächsten Tagen brach Seite bei diesem Prozess mit dem vor zwei Jahren ist er dort Redakteur

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