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Patienten und Therapeuten 5

Könnte es sein, dass einem sogenannte „schwie- die männliche Form, die weibliche und männliche
rige Patienten“ einfach das Leben schwer Physiotherapeuten, Patienten, Ärzte, Angehörige
machen wollen? Oder kann man diese Situation umfasst. Ausnahmen sind kenntlich gemacht,
auch anders sehen? Wie könnte der Therapeut wenn wir Frauen oder Männer meinen.
seine eigenen Möglichkeiten nutzen, um zu einer
guten Lösung für alle Beteiligten beizutragen?
| Therapeutin: „Jetzt habe ich den Patienten nach 1.2 Patienten und Therapeuten
allen Regeln der Kunst behandelt. Er ist weitge-
hend schmerzfrei und könnte locker die Übun- Oft steht in der Physiotherapie, auch aufgrund der
gen für die Schulter machen, die wir schon regelmäßigen Termine, schlicht mehr Zeit für per-
mehrfach durchgegangen sind. Er aber sagt, dass sönliche Gespräche zur Verfügung – im Gegensatz
er einfach nicht dazu kommt, sie zu machen, zu einem Besuch beim Arzt. In den USA beispiels-
und er verstehe eigentlich gar nicht, wozu die weise „verbringt der Arzt fünf Minuten mit einem
noch gut wären, schließlich sei er froh, dass die Patienten – einschließlich ‘Guten Tag’ und etwas
Schmerzen weg sind!“ Kollegin: „Hast du ihm Smalltalk. Das sieht ganz anders in Ländern wie
denn nicht erklärt, wozu er die Übungen der Schweiz und Belgien aus, die einen ‘offenen
braucht?“ Therapeutin: „Klar hab ich das! Aber Markt’ haben, in dem Patienten sich an mehr als
ich kann mir doch nicht den Mund fusselig einen praktischen Arzt oder Facharzt wenden kön-
reden!“ Könnte es sein, dass Patienten einen nen. In dieser Wettbewerbssituation investiert der
nicht immer so verstehen, wie man es gern Arzt Zeit in seine Patienten, wenn er möchte, dass
möchte? Wie könnte man das ändern? Welchen sie wiederkommen. In diesen Ländern beträgt die
Einfluss hat man auf die Motivation von Patien- durchschnittliche Konsultationsdauer fünfzehn
ten? Wo liegen die Grenzen? Dies ist ein ty- Minuten“ (Gigerenzer 2007, S.176). Wie eingangs
pischer Fall, bei dem ein nachhaltiger Behand- erwähnt, nehmen Patienten – auch infolge der
lungserfolg nur durch unterschiedliche biopsy- verfügbaren Therapiezeit – dem Therapeuten ge-
chosoziale Faktoren zustande kommen kann genüber oft eine Haltung ein, die von Offenheit
(körperliche Heilung, Motivation des Patienten, und Vertrautheit geprägt ist, so dass Physiothera-
verständliche Kommunikation zwischen Thera- peuten unter Umständen großen Anteil an priva-
peutin und Patient). ten Erlebnissen und Gefühlen der Klienten haben.
Im Zuge der Behandlungen leiten Physiotherapeu-
Wenn Sie also als erfahrener Therapeut entspre- ten Patienten an, sie beraten Patienten und deren
chende Erfahrungen gemacht haben oder sich als Angehörige und hören sich die Gedanken und Er-
Schüler in der Ausbildung auf die kommunikati- fahrungen, auch die Sorgen und Ängste der Betrof-
onsbezogenen Anforderungen der Praxis eines fenen an. Wie viele Kollegen in sozialen Berufen
Physiotherapeuten einstellen und angemessen werden folglich auch Physiotherapeuten kommu-
vorbereiten wollen, werden Sie von diesem Buch nikativ gefordert. Die in 1.1 angeführten Beispiele
profitieren. stellen nur einen Ausschnitt möglicher Anforde-
rungen dar, die mit der Kommunikation zwischen
„Den anderen zu verstehen und sich selbst ver- Physiotherapeut und Patient zu tun haben.
ständlich zu machen, ein befriedigendes Gespräch Für viele Patienten ist der Physiotherapeut der
zu führen, das sind keine Fähigkeiten, die man hat Fachmann des Bewegungsapparates. Dessen
oder nicht, sie können erlernt werden“ (Langfeldt- Arbeit wird in den meisten Fällen sehr geschätzt
Nagel 2004, S.84). und die Patienten erweisen sich als dankbar –
vorausgesetzt, die Behandlung verläuft erfolgreich.
Wir möchten Sie mit diesem Buch in die span- Oft kommen Patienten immer wieder zum glei-
nende Welt der erfolgreichen Kommunikation mit chen Physiotherapeuten, sobald sie eine Therapie
Patienten mitnehmen und Sie mit dem Wissen benötigen. Andere Patienten sind zwar auf die
vertraut machen, das unserer Ansicht nach hilf- Arbeit des Therapeuten angewiesen, sehen aber
reich ist, um sich in den unterschiedlichsten Situa- die Notwendigkeit und den persönlichen Nutzen
tionen der Physiotherapie zu orientieren. Es ist uns nicht gleich ein. Das passiert häufig in einer Klinik
ein großes Anliegen, dass Sie den Überblick und oder im Krankenhaus, in einem Pflegeheim oder
die Führung im Gespräch mit den Patienten be- einer anderen stationären Einrichtung. Die Arbeit
halten, um auch auf diese Weise zu einer hohen des Physiotherapeuten wird von diesen Patienten
Qualität der Behandlung beizutragen. zwar in der Regel auch geschätzt, ist jedoch nur
Anmerkung: Im weiteren Verlauf wählen wir ein Teil des täglichen Ablaufs, den man als Patient
aus Gründen der leserfreundlichen Textgestaltung kaum beeinflussen kann. Wer in so einer Einrich-

Hoos-Leistner, Gesprächsführung für Physiotherapeuten (ISBN 9783131476913), © 2016 Georg Thieme Verlag KG
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6 1 Gelungene Kommunikation in der Physiotherapie

tung tätig ist, arbeitet recht flexibel und über- men durch diese Beispiele eine weitere Vorstel-
nimmt teilweise auch Aufgaben, die über die phy- lung davon, welche Gesprächssituationen in der
siotherapeutische Behandlung hinausgehen (z. B. physiotherapeutischen Praxis auftreten können,
die Behandlungszeit in den täglichen Ablauf der die ein kompetentes Handeln seitens des Physio-
Einrichtung passend für Patienten integrieren, therapeuten erfordern.
Tätigkeiten der Pflege einfließen lassen). Weiter-
hin gibt es Patienten, die in einem Physiothera- Gesprächsbeispiele aus der
peuten mehr sehen, als den Fachmann für Bewe- physiotherapeutischen Praxis
gungsabläufe und körperbezogene Therapie. Dann
wird der Therapeut mit persönlichen Geschichten Stellen Sie sich vor, Sie können einen Vormittag
oder negativen Erfahrungen des Patienten mit lang einen Einblick in eine Praxis für Physiothera-
Physiotherapie konfrontiert, mit Sorgen und Ängs- pie haben, ohne dass Sie selbst im Behandlungs-
ten oder sogar mit persönlicher Kritik belastet. raum anwesend sein müssen. Sie können sehen,
In diesem Kapitel werden vier Beispiele aus der hören und ein Gefühl dafür bekommen, wie die in
Praxis vorgestellt. Es handelt sich um imaginäre der Praxis beschäftigten Physiotherapeuten mit
Fälle, die Grundmuster der Kommunikation zwi- ihren Patienten umgehen und umgekehrt. Die
schen Patient und Therapeut veranschaulichen. Behandler und Patienten verhalten sich also abso-
Wir möchten, dass sich die Leser eine Vorstellung lut natürlich und realitätsbezogen. Dies ist ja bei
von diesen Situationen machen und sich in den einer Hospitation vor Ort nicht immer der Fall, wie
Therapeuten hineinversetzen, als ob sie selbst mit Sie vielleicht aus den Praxisbesuchen wissen, bei
diesem Fall konfrontiert wären. Wir möchten die denen Sie von einer Lehrkraft Ihrer Ausbildungs-
Leser ermutigen, die dann entstehenden inneren stätte besucht wurden. Darüber hinaus haben Sie
Reaktionen, d. h. Gedanken, Impulse, Körperemp- einige Hintergrundinformationen über die ver-
findungen, Gefühle mit Interesse zur Kenntnis zu schiedenen Therapeuten zur Verfügung, die Ihnen
nehmen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass eigene dabei helfen, deren Gesprächsverhalten genauer
Erfahrungen mit Patienten lebendig werden, so einzuschätzen. Am Ende der jeweiligen Behand-
dass Sie einen Bezug zur eigenen Tätigkeit herstel- lungssituation erhalten Sie sogar einen Einblick in
len und auf diese Weise ihren Lernprozess anregen die innere Welt – das subjektive Erleben – des
können. Die Leser mit wenig Berufserfahrung Therapeuten, zumindest soweit ihm dies selbst
(Schüler im Praktikum, Berufsanfänger) bekom- klar ist.

Fall 1:

Annika Könner ist eine junge Physiotherapeutin mit der Praxis, schätzt Annikas soziale und fachliche Kom-
zwei Jahren Berufserfahrung. Sie ist sehr gewissen- petenz. Daher bekommt Annika häufig Patienten mit
haft, überaus motiviert und möchte ihren Patienten besonders schwierigen Störungsbildern zugeteilt. Die
wirklich weiterhelfen. Daher besucht sie regelmäßig Seitenbemerkungen von Kollegen über manche ihrer
Fortbildungen, um ihre fachliche Kompetenz kontinu- Patienten, dass diese „psychisch überlagert“ seien,
ierlich weiterzuentwickeln (erfolgreich hat sie bereits ärgern Annika, ohne dass sie jedoch im Team offen
Lehrgänge für manuelle Therapie, Lymphdrainage, Stellung dazu bezieht. Trotz ihrer Fachkompetenz und
Dorn-Methode, Progressive Muskelentspannung und ihres hohen Engagements fühlt sich Annika nach einem
ein Feldenkrais-Seminar absolviert und setzt die langen Arbeitstag oft sehr ausgelaugt und kraftlos.
Erkenntnisse und Techniken eifrig bei ihren Patienten Ihre Patientin Frau Wort kennt Annika bis jetzt nur von
um). Annika legt Wert darauf, den Patienten und Kol- der Terminvereinbarung. Sie weiß, dass Frau Wort 53
legen gegenüber stets freundlich und hilfsbereit zu Jahre alt ist und nach einer Operation der rechten
sein und sie weiß, dass es sehr wichtig ist, den Patien- Schulter vor zwei Wochen nun ein Rezept für Physio-
ten gut zuzuhören – so wie sie es in der Ausbildung therapie bekommen hat.
und in ihrer ersten Praktikumsstelle gelernt hat. Leider kommt Frau Wort beim ersten Termin fünf
Schließlich können im Gespräch wichtige Informatio- Minuten zu spät, da sie die Praxis nicht gleich gefun-
nen auftauchen, die sie für eine befundgerechte Wei- den hat. Bei der Begrüßung wirkt Frau Wort gehetzt,
terbehandlung des Patienten benötigt. Zu ihrer dama- verkrampft – beispielsweise hält sie die rechte Schul-
ligen Ausbilderin hat sie immer noch freundschaftli- ter deutlich nach oben und vorn versetzt – und sie
chen Kontakt und wenn sie sich treffen, kommen sie scheint starke Schmerzen beim Bewegen zu haben.
jedes Mal richtig ins Fachsimpeln über aktuelle Fälle Ihre Augenbrauen sind auffällig zusammengezogen,
aus der Praxis. Ihr jetziger Vorgesetzter, der Besitzer so dass dazwischen sogar eine Hautfalte sichtbar ist.

Hoos-Leistner, Gesprächsführung für Physiotherapeuten (ISBN 9783131476913), © 2016 Georg Thieme Verlag KG
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