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Ph. Sp

449

Bum Problem der Materie.

Eine

philosophische Untersuchung

von

Ernst Frey.

Greifswald.

Berlag von Ludwig Bamberg.

1873.
9th.Sp.
Krey

449 €

I
Bum Problem der Materie.

Eine

philosophische Untersuchung

von

Ernst Brey.

Greifswald.

Verlag von Ludwig Bamberg.

1873.

A
BIBLIOTHECA

REGIA
MONACENSIS
Vorwort .

Die
Die folgende Abhandlung ist bereits vor Jahren geschrieben
worden, um den Reſultaten eines mit dem Verfaſſer ſelber heran
gewachsenen Denkens einen vorläufigen, wenn auch nur fragmen
tarischen Ausdruck zu geben. Der Verfaſſer ſah ſich außer Stande
für eine vollständige Darstellung und Begründung seiner Erkennt
niſſe über den fraglichen Gegenſtand die nöthige Muße zu gewinnen
und hatte das Bedürfniß, die weſentlichen Reſultate, zu welchen
sein Drang nach Wahrheit ihn geführt hatte, an die Oeffentlich
keit zu bringen, theils um an dem etwa erfolgenden Widerspruch
die Kraft seiner Ansicht zu messen, theils um, wenn nicht zu
überzeugen, so doch wenigstens anzuregen. Als aber die Skizze
vollendet war , überwog die Besorgniß , vor Kürze vielleicht oft
nicht verständlich geworden zu sein , so sehr , daß ihm bald der
Muth entfiel, in solcher Weise hervorzutreten. So unterblieb die
Veröffentlichung . Inzwiſchen iſt die Löſung des hier erforschten
Problems der Wiſſenſchaft, wie es dem Verfaſſer ſcheint, nöthiger
geworden , als jemals. Wer einen Beitrag zu dieſer Lösung
liefern kann, oder auch nur liefern zu können glaubt, darf nicht
IV.

zögern. So mag denn jezt doch das lange Verschlossene auf


jede Gefahr hin ans Licht treten, zumal da der Verfasser nicht auf

Muße hoffen darf, um so bald , statt der Streifpatrouille von


Gründen eine Armee zu sammeln und hinauszusenden.
Der Verfasser ist besonders der Naturforschung gegenüber
interesfirt. Es war in der That hohe Zeit, daß die Naturwiſſen
ſchaft, wie es auf der 45. Verſammlung Deutſcher Naturforscher
und Aerzte geschehen iſt, anfing, ſich auf sich selber zu beſinnen,
ihre Grenzen abzuſtecken und sich bewußt zu werden, daß es jen
seits berselben auch noch Land und Leute giebt. Es handelte sich
für sie in der That darum , an dem großen Wendepunkt unſercr
nationalen Entwickelung, durch gründliche Ausscheidung aller ſchwin
delhaften Extravaganzen , ihre wissenschaftliche Ehre , und damit
ihren weiteren Einfluß auf unſer Geiſtesleben zu retten. Sie war
zum Theil auf gutem Wege, dem biedern Eskimo gleich zu werden,
welcher in seiner Beschränktheit seine Scholle für das Universum
nehmen, und es nicht anders wiſſen mag, als daß die Welt aus
Eis und Leberthran bestehen müsse. Wer wird es je den Na
turforschern vergessen , daß sie es gewesen sind , die zumeist die
Schlingen eines aus dunkelen Zeiten zurückgebliebenen Wahn
glaubens zerrissen haben ? Wer aber wird es nicht um der Würde
ihrer Wiſſenſchaft und um der vielen Unverſtändigen willen , die

solches Treibens Opfer geworden sind , zugleich auf das tiefste


beklagen, daß sie es zumeist geweſen ſind, die, während sie den
Blick in eine unermeßliche Welt staunenswerther Ordnung und

Klarheit eröffneten , aus dieser Welt in frevelnder Beſchränktheit


V.

zugleich alles das hinwegzuſchaffen bemüht waren , worauf im


legten Grunde die Realität dieſer Ordnung , und worauf alles
Lebens Werth, Reiz und Werdedrang beruht?! Und was ſollen
am Ende, wenn es lange so sort geht, die Verſtändigen zu einer
Wiſſenſchaft sagen, deren Meiſter es mindeſtens geschehen laſſen,
daß Leute, denen die Errungenschaften des Jahrhunderts etwas
ſtark zu Kopfe geſtiegen ſind, im Namen dieſer Wiſſenſchaft ſo
frevele Possen treiben, wie wir es bis auf den heutigen Tag er
leben? Es kann uicht jeder in jedem Reiche Forscher sein. Da
rum iſt es ein hohcs Ding, daß unter den verschiedenen Wiſſen
schaften Treu und Glauben herrsche , und daß die Meister der
einen den Aussprüchen vertrauen dürfen, die sie von den Meiſtern
der andern vernehmen . Wenn aber eine Wiſſenſchaft so lange
Zeit hindurch und in so erschreckendem Maße , wie die Natur

wiſſenſchaft es gethan hat, das Paraſitenthum der Charlatanerie


ins Kraut schießen läßt, wenn endlich alle Grenze zwischen sicherer
Erkenntniß und armselig - üppigem Truge überwuchert wird :
wie soll da das Vertrauen bestehen ? Wird man nicht vielmehr
mit Recht bedenklich werden, ob eine solche Wiſſenſchaft von einer
klaren und festen Methode beherrscht sei, welche den von ihr ver
kündigten Reſultaten den Anſpruch auf allgemeine und zweifellose
Anerkennung zu sichern im Stande sei ? Darum handelte es sich
in der That darum, die wiſſenſchaftliche Ehre der Naturforschung
zu retten, als Du Bois - Reymond vor den versammelten
deutschen Naturforschern zu Leipzig seinen Vortrag über die
Grenzen des Naturerkennens" hielt.
VI.

Man kann es begreiflich finden, daß in dem Pendelgange


des geschichtlichen Processes der Zeit philosophischer Ueberschweng
lichkeit eine Zeit naturwiſſenſchaftlichen Rachetaumels folgte ; aber
wie es die Philosophie für lange Zeit um ihren Credit gebracht
hat, daß sie sich unterfing Thatsachen und Verhältnisse der Kör
perwelt a priori richtiger construiren zu wollen , als empiriſche
Beobachtung sie erkennen könne : so wird es schließlich nicht dazu
gedient haben , das Ansehen der Naturwiſſenſchaft zu steigern,
wenn diese in beschränkter Ueberspannung sich vermißt, mit Meſſer
und Wage Probleme zu lösen und Principien zu finden, welche
nach der Natur der Dinge außer ihrem Bereiche liegen. Beide

Male war eine Wissenschaft toll geworden, in traurig - komiſchem


Größenwahn befangen, geboren aus eigensinnig-beschränkter, feind
seliger Abschließung gegen die übrigen Wissenschaften. In solchem
Zustande giebt es kein anderes Heilmittel als das , den Einfluß
der übrigen, bis dahin hochmüthig verachteten Erkenntnißgebiete
wieder aufzusuchen, seine Bedürftigkeit mit eigener ſchonungsloser
Hand aufzudecken und die Gesammtheit aller um wechſelwirkende
Heilung und Bereicherung anzugehen.
Auf diesem Wege hat die Naturforschung in dem genannten
Vortrage den ersten Schritt gethan, und da sie sich schwerlich
wird weigern können , bald auch den zweiten und dritten und
letzten Schritt darin zu thun, so dürfen wir nunmehr , nachdem
die moderne Philosophie und die moderne Naturwissenschaft sich

die Hörner gegen einander abgelaufen haben, einem Zeitalter ent


gegensehen, in welchem sie gemeinsam neben einander in friedlichem
VII.

Bunde den schweren , tief wühlenden Pflug auf dem Felde der
Geistesarbeit ziehen und einen Boden bereiten werden , auf wel
chem des Volkes edelste Keime zu reicher Ernte gedeihen können.
Daß freilich die in dem schätzenswerthen Vortrage des be
rühmten Forschers niedergelegten „ männlichen“ Unwiſſenheitsbe
kenntniſſe immer nur ein erster Schritt auf dem richtigen Wege
ſind, aber ein solcher, welcher mit innerer Consequenz andere im
Gefolge hat, das wird zur Genüge erst aus dem denselben gewid
meten, mit Rücksicht auf dieſe bedeutungsvollen Kundgebungen
nachträglich eingeschobenen Theile der Abhandlung erhellen. Hier
genüge vorläufig die folgende Bemerkung. Wenn Du Bois

Reymond als ein vollwichtiger Zeuge folgendes Bekenntniß ab


legen muß : „ Unſer Naturerkennen iſt eingeſchloſſen zwiſchen den
beiden Grenzen, welche einerseits die Unfähigkeit , Materie und
Kraft, andererseits das Unvermögen, geiſtige Vorgänge aus mate
riellen Bedingungen zu begreifen, ihm ewig vorschreiben • • .;
über diese Grenzen hinaus kann er (sc . der Naturforscher) nicht,
und wird er niemals können“, so heißt das nichts anders als

dies. Die Naturwiſſenſchaft vermag es, oder wird es einmal


vermögen , eine unendliche Anzahl unbekannter Größen auf eine
geringe Anzahl von Unbekannten zurückzuführen ; aber es wird
ihr niemals gelingen, dieſe letzten x, y, z (Materie, Kraft, Be
wußtſein) durch bekannte Größen auszudrücken. Hier ist nun
zu sagen : „ Wenn die Naturforschung erkannt hat , daß sie mit
dieſem x, y, z an die Grenze ihres Wizes" gekommen ist,
so sollte sie sich doch billig die Frage aufwerfen , ob solche Pro
VIII .

bleme, vor welchen sie mit ihren Mitteln der Natur der Dinge

nach stehen bleiben muß, nicht eben durch ihre Existenz schon
darauf hinweisen , daß die Naturwiſſenſchaft nicht den Anspruch
erheben dürfe , eine Allwiſſenſchaft zu sein, daß sie vielmehr
eine andere Wiſſenſchaft mit anderem Object und anderer Me
thode über sich anerkennen müsse, deren Wit genau da anfängt,
wo der Wiß der Naturforscher aufhört. Dieſen weiteren Schritt
auf dem rühmlich betretenen Wege hat Du Bois - Reymond
noch nicht gethan. Er wird ihn thun müssen , oder mit halbem
Denken sich begnügen . Freuen wir uns einstweilen des bedeut
-
ſamen Anfanges !
Daß die naturwissenschaftlichen Schwarmgeiſter gerade in
dem Augenblick, in welchem die Meister der Wiſſenſchaft im
nüchternſten, würdigsten Schritt ihre Grenzen umſchreiten und vor
der jenseitigen terra incognita mit bewußter Scheu den Fuß
bewahren ; daß sie gerade in diesem für die Harmonie der Wiſ
senschaft wie des Lebens hochbedeutsamen Augenblicke am wildeſten
über dieſe Grenzen hinübertummeln, dort wie hier ihre Zickzack
Spuren zurücklaſſend : wen kann das wundern ? Sie mögen

noch einmal lärmen ; denn ihre Zeit ist vorüber !

Greifswald , den 18. Februar 1873.

Ernst Krey.
A b h and lung.
Der theilweisen Lösung des hier erörterten Problems habe
ich mich nach der ersten intuitiven Findung auf inductivem und
auf deductivem Wege versichert. Auf ersterem ergiebt sich eine
Auflösung aller etwa specifischen Merkmale der Materie , aus
welchen sich ein Begriff derselben formiren ließe, mit Ausnahme
eines einzigen. Alle auf die Sinnesfunctionen bezüglichen
physikalisch - physiologischen Merkmale der Sehbarkeit
(Farbe, Form), der Hörbarkeit, der Riechbarkeit, der Schmeck
barkeit, mit einem Worte der Senſibilität theilen die materiellen
Außendinge mit den denselben entsprechenden sinnlichen Vorstellun
gen unserer Einbildungskraft ; nicht minder die allgemeinen
Eigenschaften der Räumlichkeit und Zeitlichkeit. Die rein- phy
sikalischen Eigenschaften der Dichtigkeit, Schwere, Beweglichkeit
2c. müſſen wir bei einer metaphysischen Erforschung des Specifi
schen der Materie vollends aus dem Spiele lassen ; denn einmal
kommen diese Eigenschaften ebenfalls auch den nur vorgestellten
Dingen in unserer Phantasie zu, da die Vorstellungen den Außen
dingen entsprechen ; sodann aber, wenn dies selbst nicht behauptet
werden könnte, wären doch diese Merkmale ihrem Inhalte nach
völlig ungeeignet, eine Definition zu bilden, welche in das Wesen
der Materie irgend welche Einsicht gewährte, da dieselben nur
innere Verhältnisse der Materie betreffen, den Begriff derselben
also in sich schließen und mithin als Definitionsprädikate für die
Materie einen Zirkel produciren würden. "1Materie ist alles,
was dicht, was schwer, was beweglich ist“, heißt offenbar nichts
Anderes, als : Materie ist alles, was mit Materie zuſammenhängt,
4 ―

was von Materie angezogen wird, was von Materie sich entfernt,
oder an dieselbe sich heranbewegt. Das ist so einleuchtend und
selbstverständlich, daß schwerlich jemand es bestreiten mag . Auf
desto größeren Widerspruch muß sich vielleicht das vorher Bemerkte
gefaßt machen. Daß die nur vorgestellten Dinge freilich auch,
wie die außer der individuell-subjectiven Vorstellung existirenden,
sich in Zeit und Raum bewegen, wird man zwar nicht leugnen ;
allein man wird sagen : „ Der große Unterschied ist aber der,
daß bei jenen Zeit und Raum eben auch nur vorgestellt sind,
bei dieſen aber wirklich!" Ferner, daß blau blau ist, und
viereckig viereckig, ich mag auf ein blaues und viereckiges Außen
ding mit meinen leiblichen Augen hinschauen, oder ich mag mir
ein solches nur vorstellen, wird ebenfalls jedermann einräumen ;
allein man wird sagen : „ Der große Unterschied ist aber der,
daß in dem einen Falle blau und viereckig nur vorgestellt
find, in dem anderen aber wirklich!" Daß stechend stechend ist,
und brennend brennend, ich mag mir vorstellen, daß ich mich mit
einer Nadel steche, oder ich mag es wirklich thun ; ich mag mir
vorstellen, daß ich einen Tropfen glühenden Siegellacks auf meine
Hand fallen lasse, oder es mag wirklich geschehen, auch das wird
nicht bezweifelt werden ; allein man wird sagen: „ Der große
Unterschied ist aber der, daß in dem einen Falle stechend und
brennend nur vorgestellt sind, in dem anderen aber wirklich ,
und daß in dem letteren Falle mein Leib blutet und verbrannt
wird, in dem ersteren aber nicht, oder doch wenigstens nur in
der Einbildung!" Ein Aehnliches würde sich für die Affectio
nen der übrigen Sinne wiederholen, und ebenso für die Geſammt
heit sinnlicher Merkmale, in welcher Weise dieselben sich auch bei
materiellen Objecten zusammenfinden mögen. Ein materielles
Ding, z . B. ein brüllender und zerfleischender Löwe, ist und
bleibt also hinsichtlich der angegebenen Merkmale, was es ist, ich
mag mir ein solches nur vorstellen, oder es als Außending"
vor mir haben: so müssen wir behaupten. Allein man wird .
uns spottend bemerklich machen : „ Der wirkliche Löwe würde.
es Dir bald beweisen, daß er kein bloß eingebildeter ist!
Der große Unterschied ist eben der, daß die Substanz und die
- 5

Totalität der Merkmale in dem einen Falle nur vorgestellte


sind, in dem anderen aber wirkliche, und daß die Zerfleischung
in dem einen Falle eine wirkliche , in dem andern aber eine
nur eingebildete ist."
Gegen dieſen Einwurf muß ich zunächst erinnern, daß in
demselben ein falscher Gegensatz zwischen den Begriffen „ Vor
stellung" und " Wirklichkeit" geltend gemacht wird. Auch
das ,,nur Vorgestellte" ist ein Wirkliches, insofern es seine reale
Existenz in der Vorstellung hat. Allerdings waltet zwischen
beiderlei Wirklichkeiten ein großer Unterschied ob, aber eben nur
ein einziger, wie groß derselbe auch ist ; und dieser einzige Unter
schied ist nun jenes eine specifische Merkmal, welches nicht in die
allgemeine kritische Zersetzung der Merkmale der Materie cinbe
griffen ist. Diesen einen Unterſchied der Existenzweiſen ergrün
den, heißt das Wesen der Materie ergründen. Die allgemeine
Phrase von Einbildung und Wirklichkeit reicht dazu nicht aus.
Führen wir dieselbe auf ihren wahren Inhalt zurück!
Der Nachweis, daß den materiellen Außendingen als ſpeci
fisches Merkmal nur ein einziges, welches wir vorläufig als das
der objectiven ,,Wirklichkeit“ bezeichnen, und welches sich überdies
sogleich als ein negatives herausstellen wird, verbleibt, während
dieselben sämmtliche poſitiven Merkmale mit den sinnlichen Vor
stellungen unserer Einbildungskraft gemeinsam haben ; dieser
Nachweis wird es rechtfertigen, die materiellen Außendinge als
eine besondere Art unter den Gattungsbegriff der sinnlichen.
Vorstellung zu ſubſumiren, und alſo den Saß, daß das „ nur
Vorgestellte" ebenfalls ein „ Wirkliches" sei, auch dahin umzukeh
ren, daß alle sogenannten " wirklichen" Dinge, alle materiellen
Außendinge nur vorgestellte sind, sinnliche Vorstellungen
anderer Art , welche sich von den im engeren Sinne so
genannten eben nur durch jenes einzige specifische Merkmal
unterscheiden.
Welches ist nun aber dieses specifiſche Unterscheidungsmerk
mal ? Offenbar kein anderes, als daß die bloß individuell-ſubjec
tiv vorgestellten materiellen Dinge solche Vorstellungen sind ,
deren sich das Individuum als aus seiner eigenen Causalität
entsprungener, freier Schöpfungen bewußt ist, während die soge
nannten ,,materiellen Außendinge" solche Vorstellungen sind, deren
sich das Individuum als nicht aus seiner eigenen , sondern als
aus ciner anderen, unbekannten Causalität entsprungener, und
daher als ihm aufgezwungener, unfreier, unabänderlicher bewußt
ist. Die unmittelbare Empfindung hiervon ist jener eigenthüm
liche, räthselhafte, und wenn man darauf reflectirt, gewissermaßen
unheimliche Eindruck, den die Materie als ein scheinbar absolut
Anderes und darum Unbegreifliches auf uns hervorbringt.
Wer weiß noch einen anderen Unterschied zwischen den sinnlichen
Vorstellungen unſerer Einbildungskraft und den materiellen Außen
dingen anzugeben ?
Wohlan, prüfen wir die von uns aufgestellte Definition der
Materie an den vorhin von uns angeführten Beispielen, welche
ſo recht dazu ausgewählt waren, das Specifische der Materie zu
illustriren ! Wenn ich meines eigenen Körpers, den ich jezt als
materiellen empfinde, in der Weise als eines aus meiner eigenen
individuellen Causalität entsprungenen mir bewußt werden könnte,
daß ich mit jedem Atomchen desselben frei verändernd, verſchwin
den laſſend und wieder hervorbringend, wie es mit den freien
Vorstellungen meiner Einbildungskraft geschieht, schalten und wal
ten könnte, würde ich denselben dann noch als materiellen em
pfinden ? würde hier die Materie nicht vielmehr völlig in freie Vor
stellung umgesetzt sein? Umgekehrt : wenn der von mir bloß
vorgestellte Löwe plötzlich und in absoluter Weise aus meiner
individuellen Cauſalität heraus in dieselbe Cauſalität , welcher
mein materieller Körper unterworfen ist, eintreten und sich so,
unabhängig von meinem Willen gegen mich in Bewegung setzen
könnte, übrigens mit keinen anderen Eigenſchaften ausgerüſtet,
als mit denen, welche er in meiner Vorstellung hat, würde er
dann noch eine bloße individuelle Vorstellung sein ? wäre er nicht
auf einmal ein objectiv-,,wirklicher", wäre die Vorstellung nicht
auf einmal Materie geworden ? Dadurch aber würde dieser
Löwe mit meinem materiellen Körper in ganz denselben Can
salnexus treten, in welchen ich denselben vorher, da er noch
bloße subjective Vorstellung war, mit der bloßen ſubjectiven Vor
7

stellung von meinem Körper versetzte, und daher würde nun nicht
nur eingebildetes, sondern sehr materielles Blut fließen. *)
Zwischen den eben bezeichneten beiden Stufen der Erzeugnisse
des Vorstellungsvermögens, zwischen den ganz individuell - ſubjec
tiven und den ganz von individuell-subjectiver Causalität ausge
schlossenen in der Mitte liegt aber eine dritte Stufe derselben,
welche eben deshalb eine Einſicht in das Verhältniß jener beiden
zu einander gewähren wird, und auf welche wir daher nunmehr
unser Augenmerk richten müſſen.
Tiefbedeutsame und wunderbare Erscheinungen unseres vegeta
tiven **) Seelenlebens sind uns als magische Schlüssel gegeben,
um zu diesen verborgensten und innersten Gemächern in dem
Zauberschlosse des Daseins , in welche wir mit unserer Unterſu
chung einzudringen wagen, den Eingang zu gewinnen. Wir
meinen den Traum und die Vision. Die Gebilde, welche
unsere Phantasie in diesen Zuständen erzeugt, nehmen wir, so
lange wir in denselben verharren, für außenweltliche, materielle ;
erst wenn wir erwachen, werden wir daran, daß sie an der
außenweltlichen „ Wirklichkeit“ wie Seifenblasen zerplaten, gewahr,
daß diese Traumgebilde lediglich unsere eigenen Vorstellungen
waren. Ja, auch im wachen Zustande wiſſen wir häufig nicht
einmal anzugeben, ob wir dieses oder jenes geträumt, oder
,,wirklich" erlebt haben, und hinsichtlich der visionären Gebilde ist
es sogar das Gewöhnliche, daß die aus solchen Zuständen Erwa
chenden ihre eigenen Schöpfungen auch dann noch für objective
„ Wirklichkeit“ halten. Als Beiſpiel unter vielen Beiſpielen diene
Swedenborg. Denken wir uns nun diese Zustände ins Unend
liche fortgesponnen , würde sich dann nicht das Verhältniß von

*) Ich muß hier, um einem Mißverständniß vorzubeugen, gleich von


vorné herein erklären, daß ich, indem ich von Wirkungssphären und Cau
salnerus der Vorstellungen rede, nicht daran denke, den Vorstellungen selbst
eine vis efficiens beizulegen, sondern diese ausschließlich dem vorstellenden
Subject vindicire.
**) Wir denken bei dieser Bezeichnung durchaus nicht an physiologische
Causalitäten, da die physiologischen Erscheinungen vielmehr auf psychologische
zurückzuführen find, nicht umgekehrt.
Traum und Wirklichkeit" dahin umkehren, daß jener sich zur
,,Wirklichkeit“ steigern, diese aber zum Traumgebilde herabsinken
und als solches vor unserer im Traum waltenden Erinnerung
daſtehen würde? So vollkommen ununterscheidbar ist an und
für sich das Traumgebilde von dem außenweltlichen materiellen
Dasein. Und ist es nicht durchaus korrect, deshalb zu behaup
ten: ,,So lange wir träumen oder uns in visionärem Zustande
befinden, scheint nicht nur , ſondern ist in Wahrheit das
Traumgebilde und das visionäre Gebilde Materie, ſowie wir
aber aus diesen Zuständen erwachen, sinken dieſe bis dahin außen
weltlich materiellen Gebilde zu freier Vorstellung herab ? In
dieſen Zuständen macht eben der Geist Materie , und wenn
er aus ihnen erwacht, läßt er dieselbe wieder verschwinden. Hier
sehen wir nun im Bereiche unleugbarer Thatsachen einen solchen
Uebergang von Materie in freie Vorstellung, und also vorher von
freier Vorstellung in Materie, wie wir ihn oben an den Bei
spielen vom Leibe und vom Löwen nur als einen rein gedachten
demonstrirt haben.
Hier ist eine wunderbare Werkstätte, in welcher wir in die
Geheimnisse der Schöpfung hineinblicken, und aus welcher zurück
kehrend, wir den Schluß ziehen können, daß die materielle Außen
welt uns deshalb cine materielle ist, weil wir zu derselben im
Traumverhältniß stehen, oder genauer, weil dieselbe zu dem im
wachen Zustande sich befindenden Individuum sich in analoger
Weise verhält, wie das Traumgebilde zu dem träumenden, mit
dem einzigen, wichtigen Unterschiede freilich, daß die causa effi
ciens des Vorstellungsgebildes in dem letzteren Falle ſchließlich
als eine rein individuell-subjective erkannt wird, in dem
ersteren Falle aber jederzeit als eine nicht individuelle.
Nach dem bisher Erörterten müssen wir eine zwiefache Art
materieller Existenz und alſo , da wir das Materielle überhaupt
auf Vorstellung zurückgeführt haben , drei Kategorieen ſiunlicher
Vorstellung unterscheiden , von denen , wie son oben bemerkt
worden, die zuletzt erwähnte zwischen den beiden anderen in der
Mitte liegt. Diese Kategorieen sind : 1 ) die der individuell
subjectiven , in absoluter Weise vom Vorstellungsvermögen des
9

Individuums abhängigen , immateriellen Vorstellungen


materieller Dinge , bei denen das Individuum sich selber als
causa efficiens weiß ; 2) die Kategorie der außer -individuell=
objectiven, vom Vorstellungsvermögen des Individuums in
ihrer Existenz absolut unabhängigen materiellen Vorstellun
gen, für welche das Individuum als solches nicht causa efficiens
ist, sich auch dieses Verhältnisses bewußt ist, und deshalb mit Recht
eine andere causa postulirt; 3) zwischen diesen beiden in der
Mitte liegend, die Kategorie der individuell - objectivirten, vom
Vorstellungsvermögen des Individuums zugleich abhängigen und
unabhängigen sinnlichen Vorstellungen, für welche das Individuum,
so lange es dieselben hegt, obgleich es in der That ſelbſt causa
efficiens ist, sich nicht als solche weiß, ſondern eine andere causa
substituirt. Diese dritte Kategorie, welche alle Traumgebilde und
visionären Gebilde umfaßt, wollen wir als die der materiali
sirten Vorstellungen bezeichnen. Unter diesen drei Katego
rien findet das Verhältniß statt, daß nur die Vorstellungen einer
und derselben Kategorie durch die vis efficiens des vorstellenden
Subjectes in eine und dieselbe Wirkungssphäre und in directen
Causalnexus gestellt werden. Daher mag man sich von vorne
herein des Einwurfes enthalten, warum denn der Löwe, der uns
im Traum anfällt, wenn er doch Materie ist, unseren materiellen
Leib nicht in Wahrheit verschlinge, und warum wir vielmehr nach
solcher Verschlingung, ja nach einem geträumten Weltuntergange
am Morgen wohlbehalten erwachen und uns in der alten gewohn
ten Welt wiederfinden. Nur der materialiſirte Traumleib, in wel
chem wir uns im Traum erblicken, und mit welchem wir es im
Traum ausschließlich zu thun haben, wird von dem materialiſir
ten Traumstein erschlagen und von dem materialiſirten Traumlö
wen zerfleischt und verschlungen, der materielle Leib aber bleibt
unversehrt und erwacht so wohlbehalten, wie er eingeschlafen ist.
Wie ist nun aber das Geheimniß der Materialiſirung im
Traum zu erklären, und worin besteht das analoge Verhältniß
der materiellen Welt zu dem Wachenden? Der thatsächliche Ue
bergang der freien Vorstellung in Materie vollzieht sich in dem
Augenblick, in welchem wir, in Schlaf sinkend, das Bewußtsein
2
10

über unser Cauſalitätsverhältniß zu unseren Vorstellungsgebilden


verlieren. Der thatsächliche Uebergang der Materie in freie Vor
stellung vollzieht sich in dem Augenblick, in welchem wir, erwachend,
eben dies Bewußtsein wiedergewinnen. Im Traum empfinden wirdie
Schöpfungen unserer Einbildungskraft alſo deshalb als materielle, weil
in demselben die Einheit des Selbstbewußtseins zwischen dem vegeta
tiv producirenden und dem sich auf diese Productionen wie auf ein
von außen Gegebenes beziehenden receptiven Ich völlig aufgeho
ben ist und erst beim Erwachen wieder hergestellt wird, wodurch
dann eben die Materialiſirung sogleich aufgehoben wird. Dieſe
Aufhebung der Einheit des Selbstbewußtseins im Traum hat ihre
Ursache in dem Wesen des Ich, welches zu seiner Bethätigung
eines Nicht- Ich bedarf. Da ihm ein solches im Traum durch
die Inactivität der leiblichen Vermittelung geraubt ist, so schafft
es sich selbst ein Nicht - Ich aus eigener Potenz, indem es, sobald
der Schlaf nicht ein vollständiger ist, sondern noch eine partielle
Thätigkeit des Ich gewähren läßt,' ohne ſich deſſen bewußt zu ſein,
ein ausschließlich producirendes secundäres Ich von sich ablöst und
sich mit der Receptivität des primären Ich auf die Productionen
desselben wie auf eine gegebene Außenwelt bezieht. Man könnte
schon hieraus einen sehr weittragenden Schluß auf das analoge
Verhältniß ziehen, welches eben hierin zwischen dem wachen Ju
dividuum und der materialen Außenwelt stattfindet. Wir wollen
aber vorläufig die Analogie nur in dem einen Umstande bemer
ken, daß auch hier die Materialität der Außenwelt ebenfalls darin
ihre Ursache haben wird, daß zwischen ihr und dem Individuum
in letzterem keine Einheit des Selbstbewußtseins besteht.
Bom sensualistischen Standpunct aus wird man nun freilich
gegen die Beweiskraft der vom vegetativen Seelenleben hergenom
menen Argumente einen erheblichen Einwand machen. Man wird
sagen: " Wenn gesteigerte Vorstellungsthätigkeit, wenn namentlich
der Traum und die Vision uns materielle Dinge vorzuspiegeln
vermögen, als wären sie wirklich vorhanden, so hat das seine
Ursache in dem Erinnerungsvermögen . Hätten wir nicht im
wachen Zustande so wiederholt die Eindrücke von materiellen Dingen
empfangen, so würden wir nicht im Stande sein, in der gestei
11

gerten Vorstellung, im Traum und in der Viſion ſolche zu pro


duciren. Eine solche Production iſt eben nichts als Reproduction,
wie sich das schon in dem zwiefachen Umstande documentirt, daß
die Vorstellung einmal von geringerer Afficirungskraft, sodann
aber auch ärmer an Merkmalen ist, als das wirkliche materielle
Ding, dem sie nachgebildet worden." Beginnen wir unſere Wi
derlegung bei dem zuletzt Angeführten, ſo müſſen wir zunächſt
die geringere Intensivität derjenigen Affecte, welche von materia
lisirten Vorstellungen auf uns ausgehen , gegen diejenigen, welche
objectiv-materielle Dinge hervorzurufen vermögen, ganz entschie
den in Abrede stellen. Wir nehmen vielmehr eine ungleich grö
Bere Intensivität der Einwirkung für jene in Anspruch und
machen als ganz natürliche Ursache davon geltend , daß wir uns
der Einwirkung solcher visionären Gebilde mit der größten
Concentration der Seele auf diesen einen Gegenstand hingeben,
während im wachen Zuſtande nicht nur tauſend und aber tauſend
andere Gegenstände, die zugleich auf uns einwirken, uns von der
ausschließlichen Hingabe an die Einwirkung eines einzigen abzie
hen ; sondern auch die Reaction unserer im wachen Zustande un
gefesselten Spontaneität einen ſo hohen Grad paſſiven Affectes, wie
er im Traum und in der Viſion waltet, nicht aufkommen läßt.
Daß die subjective Vorstellung von cinem Dinge, daß selbst die
dem materiellen Dinge entsprechende materialiſirte Traumvorſtel
lung ärmer an Merkmalen sei, als das objective Ding selbst, das
müssen wir freilich zugeben ; allein diese anderen Merkmale, die
das Ding vor der von ihm gefaßten Vorstellung voraus hat,
müssen doch in jedem Falle derart sein, daß sie ebenfalls in die
Vorstellung aufgenommen werden können, vermögen also durchaus
nicht irgend einen anderen Wesensunterschied zwiſchen Ding und
Vorstellung zu begründen, als den schon zugestandenen quantitati
ven, sondern beweisen nur, daß die dem objectiven Dinge zu
Grunde liegende causa efficiens, welche uns nöthigt, Vorstellun
gen zu faſſen, die nicht in unserer individuellen Subjectivität ihren
Ursprung haben, und diese Vorstellungen gleichsam wie an einem
außer uns existirenden Dinge fort und fort zu bereichern, einen
größeren Umfang productiver Kraft hat, als das ſubjective Vor
2*
12

stellungsvermögen des Individuums . Was endlich das Wesent


liche des ganzen Einwurfs betrifft, so leugnen wir keineswegs,
daß allerdings das Erinnerungsvermögen und die Reproduction
in diesen Materialisirungen eine große Rolle spielen ; allein daß
dieselben ganz und ausschließlich darauf zurückzuführen sind, und
daß in ihnen gar nichts producirt wird und producirt werden kann, was
man nicht auf Reproduction des in wachem Zustande Erlebten zu
rückzuführen vermöge, das müſſen wir aus eigener Erfahrung auf das
Allerentschiedenste für irrthümlich erklären. Allein selbst dann,
wenn wir die Richtigkeit jener Behauptung zugeben wollten, würde
dieselbe doch von gar keinem Belang sein. Mag das materiali
firte Traumgebilde vermöge reproducirender Erinnerung zu Stande
kommen, oder durch freie Production, das Eine wie das Andere
ist ein rein geistiger Proceß, und es bleibt also die Thatsache
stehen, daß die Materialiſirung der Vorstellung auf rein geistigem
Wege vor sich geht, ohne beihelfende Einwirkung eines entsprechen
den materiellen Objectes.
Es bleibt hier nur noch die eine Ausflucht möglich, daß
diese beihelfende Einwirkung objectiver Materie allerdings in dem
Augenblick, in welchem die vegetative Materialiſirung unserer
Vorstellung stattfinde, als solche nicht vorhanden sei, daß sie aber
insofern mitspiele, als auf sie sich die erste Wahrnehmung und
Erfahrung materieller Dinge gründe, durch welche erst die mate
rialisirende Reproduction möglich werde; daß also die materielle Ein
wirkung objectiver Dinge auf uns, wenn auchnicht unmittelbar, so doch
mittelbar die Ursache unserer Vorstellungen und der Materiali
sirungen derselben sei, nicht aber umgekehrt. Wir werden somit
auf das prius einer vor aller Traum-Materialiſirung liegenden, ledig
lich durch Einwirkung materieller Objecte auf uns bewirkten ſinn
lichen Erfahrung zurückgewiesen. Da aber die Einwirkung mate
rieller Objecte auf uns, im Sinne der Gegner gesprochen, nur
durch Vermittelung unserer Leiblichkeit ermöglicht wird, so kommt
der erhobene Einwand darauf hinaus, die Materie aus der
Function unserer Leiblichkeit zu deduciren. Dies Verfahren
fann zu keiner anderen Definition der Materie führen ,
als zu der, daß Materie alles dasjenige sei, was wir mit
- 13

unſeren Leibesſinnen wahrzunehmen vermögen. Ist aber nun etwa


unser Leib nicht Materie? Wenn ich also doch nur wüßte,
wie wir hier dem nichtssagenden Zirkel entrinnen könnten : „ Ma
terie ist alles das, was wir durch Materie wahrnehmen ?" Sollte
man aber unter Leiblichkeit“ einen von der Materie derselben zu
unterscheidenden, geistigen Factor verstehen, so wäre damit nur die
Perception der materialisirten Gebilde auf die Wahrnehmung der
materiellen, dieſe aber auf das unmittelbare Verhältniß der übrigen
materiellen Dinge zu der Materie unseres Leibes und der letzteren
zu dem geistigen Factor unserer Leiblichkeit zurückgeführt. Dabei
bleibt aber, selbst wenn man noch mehr Mittelglieder zwischen
Subject und Object, zwischen Geist und Materie einſchieben wollte
und könnte, das auf diesem Wege ſelbſt räthſelhaft bleibende un
mittelbare Verhältniß zwischen Geist und Materie der lette
Erklärungsgrund. Unlogisch muß es deshalb erscheinen, unver
mittelte Wahrnehmung materieller Dinge, welche nicht zu der
objectiven Außenwelt gehören, wie solche im Traum und in der
Vision stattfindet da ja doch der Traumleib, der uns die Traum
Außenwelt vermittelt, in jedem Falle eine unmittelbare Materiali

sirung ist auf die Wahrnehmung der materiellen Außendinge,
die ja selbst wieder das unmittelbare Verhältniß zwischen Geist
und Materie zur Voraussetzung haben, zurückzuführen, das Ein
fachere auf das Complicirtere, das Unbedingte auf das dadurch
Bedingte! Auch von dieser Gedankenreihe aus werden wir genöthigt
zu erkennen, daß vielmehr umgekehrt die Wahrnehmung dieſer beſtimm
ten materiellen Außenwelt auf der Vermittelung durch jenes unmit
telbare Verhältniß zwiſchen Geist und Materie, wie es sich im
Traumleben offenbart, beruht. Wir müssen daher bei der Defi
nition der Materie, wenn sie nicht in einen Zirkel verfallen soll,
auch unsere Leiblichkeit aus dem Spiel lassen, und es bleibt bei
unserer Erklärung : " Die materiellen Dinge sind sinnliche (d . h.
zeiträumliche) Vorstellungen, deren sich das Individuum als`nicht
aus ihm selber, sondern als aus einer anderen, vorläufig unbe
fannten causa efficiens entsprungener, und daher als aufgezwun
gener, unfreier, von ihm unabhängiger und durch es selbst unab
änderlicher bewußt ist". Unser Leib seblſt, als materielles Ding,
14


ist demnach eine solche - freilich sehr complicirte unfreie
Vorstellung.
Also die materiellen Dinge der Welt sind Vorstellungen,
die wir wahrnehmen vermittelst einer eben dieser Vorstellungen,
welche wir unsern Leib nennen ? Allerdings. Wie die ſubjectiven Vor
stellungen unter einander nach bestimmten Gesetzen der Association in
Verbindung stehen und in Verbindung treten, so ist es auch mit den
objectiven materiellen Vorstellungen, welche wir als materielle Außen
dingeanzusehen gewohnt sind, der Fall. Faſſe ich aus einer Aſſociations
reihe eine einzige Vorstellung, so knüpfen sichdaran in meinem Vorstel
lungsvermögen die anderen dazugehörigen Vorstellungen an. Das
Aſſociationsgesetz, nach welchem die objectiven materiellen Vorstellun
gen (die materiellen Dinge) unter einander, nach welchem also auch
mein materieller Leib mit den übrigen materiellen Dingen in Zu=
ſammenhang steht, ist nicht durch das Individuum, ſondern eben
falls durch jene noch unbekannte causa efficiens bedingt, in welcher
die mit einander verbundenen ,,Außendinge" selbst ihren Grund
haben. Es leuchtet ein, wenn aus dieser objectiven Associations
reihe ein solches Glied in meinem Vorstellungsvermögen aufginge,
welches nach jenem objectiven Gesetz in centraler Weise mit allen
übrigen in Berührung ſtände, oder in Berührung gebracht werden
könnte, daß dann mit diesem einen Gliede die Gesammtheit aller
anderen, das heißt die gesammte materielle Außenwelt in meiner
Vorstellung implicite enthalten sein und explicite ſich entfalten
müßte, eben nach dem durch jenes objective Gesetz geordneten Nexus.
So verhält es sich nun aber in der That. Ein solches centra
les Glied giebt es für jedes Individuum in dem Universum der
materiellen Außenwelt, und dasselbe ist in dem Vorstellungsver
mögen des Individuums aufgegangen ― wohlverstanden, nicht
als Vorstellung, sondern als Ding ―――― und zwar nicht nur ein
malig ; sondern dasselbe ist unauflöslich an das individuelle Vor
ſtellungsvermögen geknüpft, und dieſes an jenes , wodurch daſſelbe
für das Individuum zu einem perpetuirlichen Centralorgan der
Erkenntniß des materiellen Universums wird. Dieſe objective Cen
tralvorstellung, mit welcher das individuelle Vorstellungsvermö
gen für das Erdenleben wechselseitig auf's Unauflöslichſte ver
15

knüpft ist, und durch welche dasselbe ſich des Universums der
ganzen materiellen Welt bemächtigt, das ist der Leib des Indivi
duums.
Welcher Art ist nun aber diese Verknüpfung des individuellen
Subjects mit seiner Veiblichkeit und die Vermittelungsfähigkeit der
letteren ? Dieselbe beſteht darin, daß während die ſubjectiven
materialisirten Vorstellungen ausschließlich in dem Individuum und
die objectiven materiellen Vorstellungen (Außendinge) ausschließlich
in der noch unbekannten objectiven causa ihren Grund haben, unser
Leib, solange derselbe lebt und also unser Leib iſt, beiden zugleich
entspringt und also ein gemeinsames Product beider ist. So
lange das Individuum lebt, iſt ſein Leibesleben eine beſtändige Wechsel
wirkung zwischen subjectiver Spontaneität und objectiver Gegen
wirkung. *) Durch lettere entsteht in mir die Vorstellung von
einem materiellen Leibe und von einer mit derselben in Wechsel
wirkung stehenden materiellen Außenwelt; durch erstere vermag
ich beides bis auf eine gewiſſe Schranke hin zu bewegen und in
seinem Zustande zu verändern, den Leib unmittelbar, und die
Außenwelt mittelbar, eben durch den Leib. Ist nun aber diese
willkürliche Bewegbarkeit des Leibes durch den Willen des Indi
viduums, also durch einen rein immateriellen Factor, nicht eine
relative Aufhebung der Materialität desselben? ist sie nicht eine
relative Immaterialität ? Der Leib ist also zugleich etwas Ma
terielles und etwas Immaterielles. In dem Grade, in welchem
die spontane Kraft über die objective Gegenwirkung das Ueberge
wicht gewinnt, wird der Leib subjectivirt und dematerialiſirt ; in
dem Grade, in welchem die erstere vor der letteren zurückweicht,
wird der Leib objectivirt und materialisirt. Jener Proceß der
Dematerialiſirung des Leibes hat eine mehr oder minder feſte
reale Naturgrenze, über welche man denselben aber als einen
gedachten hinaustreiben kann, bis zur gänzlichen Aufhebung des
Materiellen, wie es oben geschehen ist. Der andere Proceß der

*) Die verschiedenen Grade der Energie dieser Reactionen geben die


Stufenleiter der finnlichen Empfindungen vom körperlichen Wohlbehagen bis
zum körperlichen Schmerz.
16

Objectivirung und Materialisirung erreicht seinen realen Abschlußz


im Tod. Also auch hier sehen wir das Fließende der Grenze
zwischen dem Materiellen und dem Immateriellen und den Ueber
gang des Einen in das Andere. Und wenn nun auch gar die ganz
starre Materie der Außenwelt sich der, wenn auch nur mittelbar
wirkenden , relativ dematerialiſirenden Veränderung durch den
rein immateriellen Factor des individuellen Willens nicht entzie
hen kann, liegt dann nicht darin ein deutlicher Fingerzeig, daß
auch sie nur der schwerere und unbeweglichere Niederschlag aus
dem Fluß der Vorstellungen ist ? Wie kann denn das materielle
Ding auf unser Vorstellungsvermögen, wie kann umgekehrt unsere
Spontaneität auf die materiellen Dinge einwirken, wenn beides
seinem Wesen nach einander entgegengesett ist ? Dieses Wechsel
verhältniß ist doch nur dann begreiflich, wenn die Materie ſelbſt
ein Product des Ich, wenn sie selbst etwas Geistiges, wenn der
Gegensatz zwischen ihr und dem frei Geistigen nur ein relativer
und ein fließender ist.
Nun ist es aber denn doch wahrlich an der Zeit, daß wir,
wenn nicht schließlich doch alles ein Räthsel bleiben soll , von
jener geheimnißvollen, bis jetzt unbekannt gelassenen causa der
objectiven materiellen Vorstellungen den Schleier hinwegziehen.
Daß wir als solche nicht irgend ein ,,Ding an sich" postuliren
dürfen , ist wohl selbstverständlich. Wenn wir Substanz und
Merkmale der materiellen Dinge auf Vorstellung reducirt haben,
was kann dann noch für ein Ding an sich übrig bleiben?
Ein Ding ohne Substanz und accidentielle Eigenschaften iſt ſei
nem reinen Werthe nach = Nichts. Ueberhaupt ist dieses ganze
„ Ding an sich, von dem wir gar nichts wissen und aussagen
können“, ein Widerspruch in sich selbst ; denn woher wissen wir
überhaupt, daß es ein Ding , und gar daß es ein Ding an sich
ist ? Es ist damit mehr von dieſem x ausgeſagt, als nach der
eigenen Theorie der Vertheidiger deſſelben davon ausgesagt wer
den dürfte. Wir können von demselben nichts aussagen, und
doch thun wir es ? Dazu kommt der alte Einwurf, daß man
einem Dinge keine Cauſalität beilegen dürfe. Abgesehen von dem
=
Widerspruch, der darin liegt, wenn man Kategorien des Ver
17

standes auf Dinge überträgt, ist schon an und für sich die
Causalität eines Dinges etwas unbegreifliches , weil man
nicht Dingen, sondern nur Subjecten Action beilegen darf. Zwie
fach unbegreiflich aber ist es, daß ein Ding causa einer
Vorstellung sein solle, und zwar nicht etwa derjenigen Vor
stellung , welche das Individuum sich von dem Dinge bildet,
sondern jener objectiven Vorstellung, welche das Ding selbst ist.
Wir würden damit auf vorstellende Dinge geführt werden.
Vorstellende Dinge sind aber keine Dinge mehr, sondern
Subjecte. Und in der That, da wir nun einmal die mate
rielle Welt als Vorstellung zu begreifen genöthigt worden sind,
so werden wir weiter genöthigt, zu dieſer Vorstellung ein vor
stellendes Subject als causa zu postuliren. Das liegt
im Begriff der Vorstellung selbst. Das subjective Vorstel
lungsvermögen des Individuums ist nicht diese causa. Das
ist selbstverständlich und bereits sattſam dargethan worden ; also
müssen wir hier ein objectives Vorstellungsvermögen eines
von dem Individuum zu unterscheidenden , nicht in
demselben Sinne individuellen Subjectes postuliren. Und welches
wäre das ? Man könnte sehr schnell darauf zu antworten geneigt
sein: "I Das ist Gott !" Allein ein solcher deus ex machina
ist philosophisch unzulässig.
Prüfen wir, welche Postulate sich für das die materielle
Außenwelt vorstellende Subject aus dem Verhältniß derselben zu
den Individuen ergeben ! Hier fällt vor allem der Umstand
in's Gewicht, daß alle Menschen die gleiche objective Welt wahr
nehmen. Wenn wir uns nicht zu der tollen Annahme getrieben
sehen wollen, daß die Welt nicht einmal, sondern daß sie in
ganz identischer Weise gerade so oft vorhanden sei, als es wahr
nehmende Individuen gebe, für jedes der Individuen seine beson
dere Welt, und daß alle diese identischen Welten auch für alle
Individuen ganz identischen Veränderungen unterworfen seien
und bleiben, und zu allen Individuen in ganz identischem Ver
hältniß stehen und bleiben, wobei dann die Natur dieses Ver
hältnisses selbst und die Ursache einer solchen Vielheit der Welten
und der Individuen immer noch unerklärt bleiben würde, so bleibt
18

nur die Möglichkeit übrig, daß die Identität der Außenwelt für
alle wahrnehmenden Individuen ihre Ursache in einem identiſchen
Zusammenhange aller Individuen mit dem die eine materielle
Außenwelt bewirkenden Vorstellungsvermögen habe, und in einer
identischen Vermittelung dieser complicirten Außenweltsvorstellung
von Seiten des sie vorstellenden Subjects an alle einzelnen Indi
viduen. Die Außenwelt kann allen Individuen nur deshalb eine
gemeinsame sein, weil das dieselbe producirende Vorstellungsver
mögen ihnen allen ein gemeinsames ist.
Wie soll aber diese identische Uebermittelung der Außen
weltsvorstellung an die Individuen denkbar sein ? Eine Mitthei
lung eines Außendinges an das Individuum von außenher ist
nicht denkbar, einmal wegen der bereits oben erörterten Unfähig
keit des Dinges zur Cauſalität, ſodann aber weil dadurch das
Individuum selbst dem Außendinge gegenüber zu einem Außen
ding werden würde, in welches, wie in ein leeres Faß aus einem
außerhalb liegenden vollen Faß hineingeschöpft werden könnte.
Eine so sinnliche Vorstellung vom Proceß der Wahrnehmung
widerstreitet von Grund aus dem Ich- Wesen des Individuums .
Wenn nun aber dennoch die unleugbare Realität der materiellen
Welt und der Wahrnehmung derselben die Thatsächlichkeit einer
Mittheilung derselben an das Vorstellungsvermögen des Indivi
duums beweist, so folgt daraus, daß die Vorstellung von Außen
dingen nur insoweit richtig ist, als wir das Außenſein derselben
auf unseren Leib, und nicht auf unser Ich beziehen. In Wahr
heit ist nicht nur die Außenwelt, sondern auch unser eigener Leib
- räumlich, und daher bildlich geredet — --- in unserem Ich, und
die Erkennbarkeit derselben wird nur dadurch begreiflich, daß wir
dieselben in uns wahrnehmen . Nun haben wir aber dargethan,
daß die ""außenweltlichen" Dinge nicht Producte des individu
ellen , sondern eines von demselben zu unterſcheidenden, allen
Individuen gemeinsamen, daher alſo generellen Vorſtellungs
vermögens sind ; wenn also auch die von der falschen Voraus
sehung von Außendingen herkommende Schwierigkeit beseitigt
zu sein scheint, so bleibt immer noch die andere Schwierigkeit,
wie es begreiflich sein soll, daß in unserem Ich sich Dinge vor
19

finden, welche nicht Producte unseres eigenen, sondern eines ande


ren, von unserem individuellen Ich zu unterscheidenden Ich ſind.
Wenn dieser Unterschied zwischen dem individuellen und dem
generellen Ich ein solcher ist, daß dadurch die Einheit beider aus
geschlossen wird, so würde daraus nicht nur folgen, daß das
generelle und das individuelle Ich sich selbst zu einander
wie Außendinge verhalten , sondern dann könnten auch die
Producte des generellen Ich nur von außen her in das
individuelle Vorstellungsvermögen hineingelangen. Wir würden
damit die eben beseitigte Schwierigkeit nur in potencirter Weise
wiederherstellen. Eben dasselbe, was hier von dem Verhältniß
des individuellen zu dem generellen Ich gesagt ist, gilt natürlich
von dem Verhältniß der individuellen Subjecte unter einander.
Da nun aber das Vorhandensein der Producte des generellen Ich
in dem individuellen Vorstellungsvermögen nach dem bisher Er
örterten ebenso unleugbar ist, wie die Wechselwirkung der Indi
viduen unter einander, so folgt daraus, daß wir die Verschieden
heit des generellen Subjectes von dem individuellen sowohl als
auch die Verschiedenheit der individuellen Subjecte unter einander
nicht als eine Geschiedenheit, nicht als ein Außereinanderſein
faſſen dürfen, daß also die Vorstellung von Außens ubjecten
ebenſo illuſoriſch ist, wie die Vorstellung von Außendingen.
Unsere Leiber sind wohl außer einander und verhalten sich zu
einander wie Außendinge ; was aber unser 3ch betrifft, so gilt
―― ――
davon, daß räumlich, und daher bildlich gesprochen das
Ich eines in allen und aller in einem ist, und nur dadurch ist
die gegenseitige Erkennung der Individuen und ihre Einwirkung
auf einander möglich. Jedes Individuum verhält sich zu sich
selber und zu allen anderen ihm coordinirten zugleich als Geschöpf
und Schöpfer eines jeden, oder anders ausgedrückt, die Gesammt
heit der Individuen ist ein einheitlicher Organismus, ein einzi
ges Wesen, ein einziges Ich, welches sich in eine große Vielheit
von ihm inhärirenden Individuen gliedert, so daß in jedem In
dividuum außer ihm selbst zugleich die ganze Gattung und die
Fülle der übrigen Individuen in metaphysischer, aber in realer
Weise enthalten ist. Wir wollen dieses generelle, dieses Gattungs-Ich
20

zur Unterscheidung von dem individuellen Ich als personales Ich,


als Person bezeichnen ; dürfen aber dabei nicht vergessen, daß
Person und Individuum nicht auseinander liegen , sondern daß
in jedem Individuum ebenso die Person, und mit ihr die Fülle
der übrigen Individuen enthalten ist, wie umgekehrt jedes Indi
viduum in der einen Perſon. Der Individuen sind viele, aber
die Perſon derselben ist nur eine, der gemeinsame Mutterschooß
der Individuen, soweit ein sinnliches Bild es bezeichnen kann.
Das Verhältniß ist dieses, daß die Individuen, da sie zugleich
Individuum und Perſon ſind, als Individuen sich von einander
unterscheiden, als Person aber sich mit einander identificiren kön
nen, so daß einer den andern mit Recht und in Wahrheit darauf
ansehen kann, daß er es selbst ist, in anderer Gestalt, in anderer
Individuirung ; sich selbst aber darauf, daß er jeder der anderen
iſt, in anderer Geſtalt, in anderer Individuirung. Daher kann
und muß jedes Individuum das Gesammtleben aller Individuen
als sein eigenes Leben ansehen, und die Weltgeſchichte, ja, wie
wir weiterhin sehen werden, die Geschichte des universalen Kos
mos muß von dem Individuum in dem Bewußtsein betrachtet
werden, daß es sich in ihr darum handelt, die eigene Lebens
geschichte kennen zu lernen, um dieselbe aus der eigenen ,
menschheitlichen und kosmischen Vergangenheit heraus weiter
zuleben.
Den Proceß, durch welchen die Individuen aus der Person
hervorgehen, nennen wir den Individuirungsproceß ; das Vermö
gen der Person, durch welches das geschieht, das Individuirungs
vermögen. Dieser wunderbare und scheinbar in sich widerspruchs
volle, ironisch-paradore Proceß, welcher das thatsächliche, ewige
Urwunder der Geneſis aller Dinge in ſich ſchließt, und in wel
chem die innerste Wesensorganiſation der Person sich offenbart,
scheint ein unausweichliches Ergebniß unseres bisherigen Gedan
kenganges zu sein. Derselbe wird aber auch durch Analogien
erhärtet, durch Analogien aus dem Naturleben ; mehr aber noch
durch die Analogie, welche das Wesen und der Lebensproceß des
Individuums selber bietet.
Wenn sich in dem Individuum und in seinem Lebenspro
21

ceß die Individuirungsorganisation als das Wesenhafte und der


maßen Wirksame zeigt, daß die Individuirungskraft des Indivi
duums im Stande ist, die eigene individuelle Einheit in actuelle
Mehrheiten zu besondern, so ist der Rückschluß erlaubt, daß ſeine
eigene individuelle Einheit nicht nur, sondern auch die individuelle
Vielheit der Gesammtheit der Individuen einem solchen Indivi
duirungsproceß aus einer gemeinsamen metaphysischen Einheit
ihren Ursprung verdankt. Eine solche Wesensorganiſation zeigt
sich nun aber beim Individuum. Alle seine verschiedenen Lebens
phaſen, ja alle ſeine einzelnen Vorstellungen sind nichts, als eine
Reihe auf einander folgender Individuirungen, welche mit einan
der in stetigem Zusammenhange stehen. Stellen wir die beiden
polar einander entgegengesetzten Lebensphasen eines Individuums
einander gegenüber, stellen wir uns dasselbe vor als Kind in der
Wiege und als Greis auf der Bahre ! Das ist ein und das
selbe Individuum, und doch ist Greis und Kind von einander
so gänzlich verschieden ! Hier haben wir die nämliche Paradorie
und den nämlichen scheinbaren Widerspruch, wie vorhin, und
dennoch ist das Verhältniß thatsächlich so. Ferner das Vermögen
des Individuums, sich in seiner Phantasie aus ihr selbst erzeugte
dramatische Gestalten vorzustellen : was ist es anders, als Indi
viduirungsvermögen ? Solange ich mir diese Geſtalten gegenüber
stelle, haben sie durch mich ein ſelbſtſtändiges individuelles Leben,
welches mit mir in persönlicher Einheit steht ; sie sind Individuis
rungen des eigenen Selbst, wie es sich unter anderen Individui
rungsbedingungen gestaltet haben würde, und eben darum packen
die dramatischen Schöpfungen der Dichter uns dermaßen, daß
wir das Handeln und die Schicksale der vorgestellten Charaktere
mit demselben Interesse, mit derselben Furcht, mit demselben
Leid, mit derselben Freude betrachten, als wären wir es selbst.
Vermöchten wir es, dieſen vorgeſtellten Geſtalten unſerer Phantasie
materielle Körperlichkeit zu geben ; vermöchten wir es, die Nabel
schnur zwischen ihnen und uns zu zerschneiden und die indivi
duelle Existenz derselben zugleich mit unserer eigenen perpetuirlich
weiterzuführen, so hätte unser Individuum sich in mehrere andere
individuirt. Allein auf diese Weise gelingt es dem Individuum
22

nicht. Das Höchste, was auf diesem Wege die individuelle In


dividuirungskraft vermag, stellt sich uns in der schöpferiſchen
Macht des Dramatikers vor Augen, welcher sich der Schauspie
ler bedient, um durch sie seine dramatischen Individuirungen von
seiner eigenen Individualität abzulösen und wenigstens momentan
zu materiell-ſelbſtſtändigem Leben gelangen zu lassen. Wohl aber
vermag der Individuirungstrieb des Individuums auf einem an
deren Wege zu solcher Energie zu gelangen, daß derselbe zwischen
dem individuirenden und dem zu individuirenden Subject, freilich
nicht die persönliche, wohl aber die individuelle Einheit sprengt.
Dieser Weg ist die Zeugung ; denn wenn es sich darum han
delt, dem zu individuirenden Individuum eine eigene materielle
Leiblichkeit zu geben, woher anders kann das individuirende In
dividuum den Stoff dazu nehmen, als aus dem eigenen materiel
len Leibe ? Es ist mit den Individuirungen des Individuums
ähnlich, wie mit den Blüthen des Baumes , welche ebenfalls als
Individuirungen desselben zu betrachten sind : nicht alle Blüthen
kommen zu selbstständiger individueller Existenz, sondern die mei
ſten werden unbefruchtet vernichtet. So bleiben auch die meiſten
Individuirungen des Individuums in der individuellen Einheit
mit demselben stehen, blühen in derselben auf und welken ab,
während nur wenige zu individueller Selbstständigkeit gelangen.
Es leuchtet ein, daß das, was wir über das Verhältniß
der menschlichen Individuen zu einander geſagt haben, auf das
Verhältniß sämmtlicher Subjecte zu einander auszudehnen ist,
wie und wo man sich solche auch im Universum denken mag ;
denn die Gründe, welche hinsichtlich des Wechselverhältnisses der
menschlichen Individuen zu einander auf die oben entwickelte An
schauung hinleiteten, bleiben für alle Subjecte, welche auf einan
der einwirken, dieselben, diese Subjecte mögen einer Sphäre an
gehören, welcher sie wollen. Daher sind wir genöthigt, die im
Vorigen gewonnenen Ergebnisse auch auf das Verhältniß des die
materielle Außenwelt vorstellenden Subjectes zu dem Individuum
anzuwenden. Dann ergiebt sich, daß das Individuum und das
individuelle Vorstellungsvermögen mit dem die materielle Kör
perwelt producirenden objectiven Vorstellungsvermögen ein einheit
23

licher Organismus, ein einziges Wesen, ein einziges Ich ist, so


daß das letztere in dem ersteren, und das erſtere in dem letaren,
ja daß jedes von beiden das andere ſelbſt iſt, nur in anderer
Individuirung und Actualisirung. Wenn es sich so verhält, so
schwindet nun die Schwierigkeit, wie das Individuum mit dem
objectiven Ich und dessen Vorstellungen in Wechselwirkung treten
könne, da diese gegenseitige Einwirkung auf eine Einwirkung der
Person auf sich selber in verschiedenen Individuirungen zurückge
führt ist. Daraus, daß beide, mein individuelles Ich und das die
materielle Außenwelt vorstellende Subject, als Person zu identi
ficiren sind, wird die Möglichkeit einer Wechselwirkung ihrer
Vorstellungen begreiflich; daraus aber, daß beide als verschiedene
Individuirungen von einander zu unterscheiden sind, wird es
begreiftlich, daß die Vorstellungen des die objective Welt produ
cirenden Subjects mir als materielle erscheinen müssen, da ich
diese Vorstellungen als solche faſſe, deren causa efficiens nicht
in mir als Individuum liegt, sondern in jener anderen Indivi
duirung von mir, welche das vorstellende Subject der materiel
len Außenwelt ist. Das Verhältniß, welches hier zwischen der
die Außenwelt producirenden und der dieselbe recipirenden Indi
viduirung besteht, sowie die dadurch bedingten Erscheinungen ſind
ganz analog den Verhältnissen, welche wir zur Erklärung des
Traumlebens erörtert haben. Wir wiederholen es daher : Die
materielle Außenwelt verhält sich zu dem wachen Individuum
ebenso, wie die Traumwelt zu dem träumenden, mit dem einzigen
Unterschiede, daß wir, aus dem Traume erwachend, erkennen,
daß das Subject, welches uns die Traumwelt producirte, ein von
unserem eigenen Individuum individuirtes Nichtich- Subject war,
während wir der materiellen Außenwelt gegenüber zu solchem
Erwachen niemals kommen können, da das dieselbe producirende
Subject nicht eine Individuirung unseres Individuums, sondern
eine demselben superordinirte Individuirung unserer Person iſt.
Insofern freilich das Individuum nicht nur Individuum, son
dern auch Perſon iſt, kann es ſagen : „ Das die Außenwelt vor
stellende Subject bin ich selbst, und die Welt mit Allem
was darin ist, mich selbst , nach meiner individuellen Seite
24

hin, eingeſchloſſen, ist meine Vorstellung“, und so kann es, als


Person, die Welt dematerialiſiren ; aber da das Individuum eben
zugleich und zunächſt immer Individuum iſt, und da in demfel
ben die individuelle Betrachtung naturgemäß stets die persönliche
überwiegt, so wird dies dematerialiſirende Bewußtsein doch immer
begleitet und überwogen bleiben von der unmittelbaren Empfin
dung der Materialität der Welt.
Betrachten wir nun den Individuirungsprozeß, soweit der
selbe unſere Erdenwelt betrifft, von seiner hiſtoriſchen Seite, so
werden wir über den Zeitpunct, seit welchem es menschliche In
dividuen giebt, zu der animalischen , über dieses zu dem vegeta
bilischen, über dieses endlich zu dem mineralischen Zeitalter der Er
denwelt zurückgeführt. Nach dem bisher Erörterten kann es uns
nicht zweifelhaft sein, daß dieser ganze Proceß der Entwickelung der
Erdenwelt von seinem ersten Anfange an das Vorstellungsproduct
der allen menschlichen Individuen - vom ersten bis zum letzten -
gemeinsamen Menschheits-Perſon iſt. Daraus folgt das interes
jante Ergebniß, daß die Erdenwelt ein Product der menschlichen
Vorstellung ist, obgleich sie, wie die Geschichte des Kosmos lehrt,
schon vor allem Menschendaſein existirte. Dieſer Widerspruch
löst sich in dem aus ihm folgenden und mit dem bisherigen
Gange unserer Untersuchung übereinstimmenden Postulat, daß die
Menschheit schon vor der Menschheit da war, oder . - —— ohne Pa
radorie gesprochen - daß die Menschheit als Menschheitsperson
schon da war, ehe sie sich in einzelne menschliche Individuen mit
individuellem Bewußtsein individuirte. An diese seine eigene vor
individuelle Existenz erinnert sich auch das menschliche Individuum,
das ja die Gattungsperson in ſich enthält, zurück, wenn es Dinge zu
erkennen vermag, die weit vor seiner eigenen individuellen Exiſtenzliegen.
Was ist denn die Geſchichtswiſſenſchaft anders, als eine Rückerinne
rung, wie wir es getrieben haben, ehe wir in dieſe beſtimmte In
dividuirung eintraten , in welcher unser gegenwärtiges Dasein sich
abspielt? Was ist die Gcologie anders, als eine Rückerinnerung
daran, wie wir diese Erdenwelt gebildet haben, ehe wir als dieſe
beſtimmten Individuen exiſtirten, die wir jetzt ſind ? Und wenn
wir in jeder Weiſe Begriffe zu faſſen vermögen, die über unſere
25

individuelle Begrenzung ins Unendliche hinausgehen, ſo ſollte


darin kein Beweis dafür liegen, daß wir eben nicht nur Indivi
duen, sondern individuirte Person sind ? Und diese thatsächliche
Erkenntniß des Vorindividuellen und des Ueberindividuellen sollte
weniger wunderbar und paradox ſein, als die von uns behauptete
Production der materiellen Erdenwelt durch die Menschheits
person vor und zugleich mit der individuellen Existenz ? Vielmehr
schließt die Thatsächlichkeit der ersteren die Thatsächlichkeit der
letzteren als Voraussetzung in sich; denn Erkenntniß ist nichts
als Reproduction, d . h. Wiederholung der Production in der
Erinnerung. Solche Erinnerung ist aber nur bei der, wenig
ſtens transscendentalen, Identität des producirenden und des repro
ducirenden Subjectes möglich.
Gehen wir aber auch über den mineralischen Zeitraum unſeres
Erdkörpers zurück auf den Anfangspunct seines Sonderlebens
überhaupt, auf den Zeitpunct seiner Geburt aus dem Mutter
förper, so werden wir getrieben , in ihm eine Individuirung eben
dieses Mutterkörpers zu erblicken ; in der die Erdenwelt produci
renden Menschheitsperson also eine Individuirung des den Mut
terkörper derselben producirenden Subjectes , zu welchem alle
übrigen unmittelbar aus derselben Urindividuirung hervorgegan
genen und von ihr gleicherweise abhängigen Weltkörper und
weltkörperbildenden Subjecte , in welchem Stadium ihrer Ent
wickelung dieselben sich auch befinden mögen, sich als coordinirte
Individuirungen verhalten. Sezen wir das eingeschlagene Ver
fahren auch über den gemeinsamen Centralkörper dieſes Syſtems
hinaus fort, so gliedert sich uns die materielle Außenwelt in
ein System von Weltkörperſyſtemen, in welchem jeder einzelne
Weltkörper das continuirliche Vorstellungsproduct eines entſprechen
den Individuirungssubjectes ist. In diesem Syſtem von indivi
duirten Weltkörpersubjecten ist ein jegliches von dem Triebe
weiterer Individuirung beseelt, auf welchem die Entwickelung des
von ihm vorgestellten Weltkörpers, die Bevölkerung deſſelben mit
bewußten Individuen und die Vollendung der Gemeinschaft der
selben in dem Bewußtsein der Perſon beruht. Die ſyſtematiſche
Wechselwirkung aber, in welcher diese Weltkörper unter einander
3
26

stehen, ist durchaus als Wechselwirkung der dieselben producirenden


Subjecte zu fassen, und diese ist nur aus der transscendentalen
Identität der letzteren begreiflich.
Wenn nun so jedes Weltkörperſyſtem über sich selber hinaus
weist auf ein noch umfassenderes, zu dem es sich wieder als
einzelnes Glied verhält , welches in jenem seinen Mittelpunct
findet, so ergiebt sich die Frage, ob wir diese Reihe als in sich
abgeschlossen und endlich, oder ob wir sie als unendlich anzusehen
haben. Offenbar müssen wir die Endlichkeit dieser Reihe postu
liren, denn die Unendlichkeit derselben würde keinen bestimmten
Ausgangspunct der die Systeme zuſammenhaltenden Kraft ergeben.
Wenn sich so ein endliches Syſtem von Weltkörpern als Poſtulat
ergiebt , so folgt aus diesem wieder ein endliches System von
Weltkörper bildenden Individuirungen der Person, über welches
hinaus es keine transscendentalen Individuirungen mehr giebt,
sondern nur die transscendentale Einheit derselben, oder die ab
ſolut individuirende, nicht ſelbſt individuirte Perſon,*) welche wir
zur Unterscheidung von jedem individuellen Ich als das abſolute
Ich bezeichnen können.
Das Universum ist demnach nichts Anderes, als ein imma
nenter Individuirungsproceß der Person oder des absoluten Ich
und seines absoluten Vorstellungsvermögens, in welchem mein
eigenes individuelles Ich ein einzelnes Glied ist. Insofern aber
in jeder Individuirung, auch in der allerinhaltslosesten , die ab
ſolute Person gegeben ist , und insofern ich also nur endlicher
Weise Individuum, ewiger Weise dagegen Person bin , kann ich

*) Wenn ich vorhin schon das Gattungs- Individuum der Menschheit


als „Person“ bezeichnet habe, so konnte das dort wol geschehen, weil wir an
der betreffenden Stelle noch nicht über die Menschheit hinaus zu einer
umfassenderen Sphäre gelangt waren, und weil das Gattungs- Subject
allerdings den aus ihm individuirten Einzel- Individuen gegenüber sich als
„Person" verhält. Nachdem wir jetzt aber zu dem absoluten Centrum des
gesammten Individuirungsproceſſes vorgedrung sind, können wir nur das
absolute Subject als "Person" bezeichnen; alle anderen Subjecte find
,,Individuen“. Es giebt nur eine „ Person ", aber unzählbar viele
Individuen", welche sich in ein Weltsystem von Gattungs-, Art- und
Einzel-Judividuen gliedern.
27

auch sagen: „ Das Universum ist mein immanenter Individui


rungsproceß. Orion nnd Plejaden, und was die fernſten und
bläſſeſten Nebelflecken bergen, ja, was jenseits derselben liegt, und
was keinen Schimmer mehr in der Menschen Augen zu senden
vermag, das alles ist in mir, wenn auch außer meinem Leibe,
d. h. es ist das eigene Werk meiner Vorstellung, von Anfang bis
zu Ende, und bewegt sich in jedem Atomchen auf meinen Willen!"
So darf jedes bewußte Individuum in der Welt der Individuen
reden ; denn das alles ist das Werk des ihnen allen gemeinsamen
absoluten Ich, welches mit dem geringsten Gliede in dem System
der Individuen in transscendenter Einheit steht. Das materielle
Univerſum erkennen, heißt daher nichts Anderes , als sich daran
zurückerinnern, daß dasselbe das eigene Werk ist, und wie wir es
bereitet haben und weiter bereiten. Wollte es aber jemandem
befremdlich erscheinen, wie wir bei diesem Werke schaffend bethei
ligt sein können, da wir doch davon kein unmittelbares Bewußt
sein haben, so muß ich darauf hinweisen, einen wie geringen
Bruchtheil unseres Wesens, Gehaltes und Werkes wir überhaupt
in unſerem unmittelbaren Bewußtsein festzuhalten vermögen, und
daß allezeit unsere bewußte Reflexion aus der Totalität unseres
Wesens aufsteigt , wie ein winziges Bläschen aus des endlosen
Meeres unergründlicher Tiefe. Und ist nicht unseres unbewußten
Handelns gar weit mehr, als des 1 bewußten, zum deutlichen Be
weise dafür, daß unser Wille sehr wohl thätig sein kann, ohne daß
unser Bewußtsein sich davon Rechenschaft giebt ? Es ist unleug
bar, daß wir uns fortgehend in ein bewußtes und ein unbewußtes
Doppelweſen individuiren, und daß die Herſtellung der Einheit des
Selbstbewußtseins immer nur eine intermittirende ist, und wegen.
der Unendlichkeit unseres Inhaltes niemals eine erschöpfende sein
fann.
Wir sind mit unserer Untersuchung zu dem Resultate ge=
langt, daß alles Seiende sich auf Persönliches reducirt . Die
Person und die Individuen, die Vorstellungen derselben und ihre
Verknüpfungen in zusammenhängender, durch die immanenten Ge
jeze der absoluten Person bedingter Entwickelung - dieſe per
sönliche Existenz und Lebensentfaltung, das ist die wahre Totalität
des gesammten Seins und Denkens. 3*
28

Wenn Religion und Theologie von Gott und von geschaffe


nen Geistern (Menschen, Engeln, Geiſterwelt) reden, ſo ſind dieſe
Vorstellungen die Analoga der unmittelbaren Anschauung für das
absolute Ich und für die Individuirungen desselben, zu denen das
philosophische Denken gelangt , und für eine andere Art der
Gottes- und Geister-Vorstellung ist in dem letzteren kein Raum
vorhanden. Es ist in der Theologie von jeher viel anthropo
morphiſirt und anthropopathisirt worden ; warum aber hat die
analogische Betrachtung Gottes niemals durchgreifend zu dem
unabweisbaren Postulat geführt, dem Schöpfer eine Vorstellungs
kraft, eine Phantasie beizulegen, als den ewigen Urquell des
menschlichen Vorstellungsvermögens , denselben hieraus eben als
Schöpfer der materiellen Welt zu begreifen, und somit die gött
liche Schöpfung des Kosmos als das ewige Urbild der indivi
duellen menschlichen Kunſtſchöpfung ? Beweisendes hätte darin
freilich noch nicht gelegen. Das Beweisen ist aber auch nicht
Sache der Theologie. Umſomehr dagegen ist es Sache der Phi
losophie.
Was könnte nun beweisender für die Richtigkeit einer Lehre
sein, als wenn beide Methoden des philosophischen Beweises , die
inductive und die deductive, von welchen schon jede für sich,
richtig gehandhabt, unausweichlich ist, zu ganz identiſchen Reſul
taten führten, und ſo einander zur Probe ihrer Richtigkeit dienten ?
Diese Probe der Richtigkeit für unsere Lösung des Problems der
Materie vermögen wir freilich noch nicht vollständig anzustellen ;
indeſſen glauben wir darin einen sicheren Anfang gemacht zu
haben, welcher erkennen läßt, daß und wie man auf diesem Wege
einmal zum Ziel gelangen könne.
X Bevor wir hierüber die nöthigen Andeutungen geben, wollen
wir aber in Kürze das Verhältniß ins Licht stellen , in welchem
die im Vorangehenden entwickelten Resultate unserer Induction
zu den lezten Resultaten naturwissenschaftlicher Forschung stehen,
wie sie nach ihren Zielen und Grenzen neuerlichst in dem schon
in den Vorbemerkungen erwähnten bedeutsamen Vortrage von
Du Bois - Reymond 77 über die Grenzen des Ratürerkennens“
hingestellt sind.
29

Zunächſt iſt zu constatiren, daß es ein Mißverſtändniß ſein


würde, wenn man den Vortrag dahin verstehen wollte, daß in
demselben ein Bruch mit der rein mechanischen, materialiſtiſchen
Weltanschauung vorliege. Das auf S. 29 bis 33, und vollends
das in der 24sten Anmerkung Erörterte läßt nicht den geringsten
Zweifel darüber, daß des Verfaſſers eigentliche Absicht vielmehr
dahin geht , die morsch gewordenen Stüßen dieser Anschauungs
weise, welche derselben zu offenbarer Unehre gereichen, hinwegzu
thun, um sodann zu behaupten, daß ohne sie der alte Bau viel
fester und schmucker erscheine. Wenn der Verfaſſer ſagt (S. 32) :
„ Ob wir die geistigen Vorgänge aus materiellen Bedingungen je
begreifen werden, ist eine Frage ganz verschieden von der, ob diese
Vorgänge das Erzeugniß materieller Bedingungen sind. Jene
Frage kann verneint werden, ohne daß über diese etwas ausge
macht , geschweige auch sie verneint würde", so ist dies an sich
freilich ganz richtig ; aber nur dann, wenn die Ursache dieser
Nichterkennbarkeit in einer unübersteiglichen Mangelhaftigkeit unſe
res Erkenntnißvermögens, und nicht etwa in der Natur der Dinge
selbst ihren Grund hat. Wenn aber der Verfaſſer ſelbſt auf den
vorangehenden 12 bis 13 Seiten , „ in sehr zwingender Weiſe“,
darthut, daß auch ein absolut vollkommenes Erkenntnißvermögen
nie im Stande sein wird, die geistigen Vorgänge aus ihren mate
riellen Bedingungen zu begreifen, weil das eine grundsätzliche
und unbedingte, in der Natur der Dinge selbst liegende , durch
Hindernisse transscendenter Art verursachte Unmöglichkeit sei, so
ist es ein kaum faßbares pſychologisches Problem, wie ihn das
ermuthigen kann, zu sagen, die Thatsächlichkeit des materiellen
Ursprunges der geistigen Vorgänge müsse der Naturforscher um
so fester behaupten, je bereitwilliger er sei, anzuerkennen, daß es
ſchlechterdings unmöglich sei, diesen Ursprung nachzuweisen. Ent
weder die geistigen Vorgänge ſind thatsächlich das Erzeugniß
materieller . Bedingungen. Dann ist es eine bloße, in der Luft
schwebende Behauptung, zu sagen, jene ſeien aus dieſen ſchlechter
dings ewig unbegreifbar. Oder diese Unbegreifbarkeit ist eine
thatsächliche. Dann ist es eine ganz ebenso grundloſe Behaup
tung, zu sagen: Die Thatsächlichkeit dieſes Urſprunges der geiſti
― 30 ―――

gen Vorgänge ſteht um so fester, je unbegreiflicher sie ist. Dop


pelt unfaßbar wird das psychologische Problem solcher luftigen
Behauptungen bei einem wiſſenſchaftlichen Meiſter , wenn sich
ergeben sollte, daß jener zwingende Nachweis von der Unmöglich
feit, geistige Vorgänge aus materiellen Bedingungen zu begreifen,
in Wahrheit vielmehr auf einen Nachweis dafür hinausläuft, daß
es widersinnig ist, eine Entstehung geistiger Vorgänge aus ma
teriellen Bedingungen anzunehmen. Oder wäre es etwa nicht
widersinnig, nachzuweisen, die mechanische Ursache gehe rein auf
in der mechanischen Wirkung (S. 25), und dann doch noch, behufs
der Annahme einer Entstehung geistiger Vorgänge aus materiellen
Bedingungen, von der in mechanischen Wirkungen rein aufgehen
den Ursache genug Urſächlichkeit für noch neben den mechaniſchen
Wirkungen hergehende nicht mechaniſche, geistige Vorgänge im
Vorrath zu haben?
Die auf S. 29-31 entwickelten, von der unleugbaren
Abhängigkeit der psychischen von der somatischen Entwickelung
hergenommenen Inductions - Argumente vermögen dieſe Wider
ſinnigkeit nicht zu verdecken. Will der Materialiſt aus der offen
baren Einwirkung somatischer Vorgänge auf die geistigen den
Schluß ziehen, daß die lezteren aus den ersteren entstanden sind,
so kann der Spiritualist aus der ebenso unleugbaren Einwirkung
der geistigen Vorgänge auf die materiellen das Umgekehrte fol
gern. Es fragt sich nur, von welchem der beiden Factoren in
dieser Wechselwirkung die Initiative ausgegangen ist. Der Ma
terialiſt wird ſagen: " Unleugbar von den materiellen Vorgängen ;
denn sie sind nachweisbar der Entstehung des Bewußtseins der
Zeit nach vorangegangen." Was will er aber dem Spiritualiſten
antworten, wenn dieser ihm bemerkt : „ Das ist nur eine Aus
ſage deines Bewußtseins, ohne welches weder Stoff und Kraft
vorhanden sein würden, noch auch eine Zeit , in welcher es auf
Erden noch keine bewußten Wesen gab ? " Wir unſererſeits halten
diese Erwiderung für stark genug, um zu erweisen, daß auch jene
vorbewußten Vorgänge und Existenzen selbst schon Erzeugniſſe des
Bewußtseins ſind, und daß daher da, wo wir geistige Vorgänge
in Abhängigkeit von materiellen sehen, das in Wahrheit Einwir
31

kende vielmehr das diesen materiellen Vorgängen zu Grunde lie


gende Bewußtsein ist. Die Anerkennung, daß die Annahme einer
Entstehung geistiger Vorgänge aus materiellen Bedingungen wis
dersinnig ist, und daß die auf S. 29-31 entwickelten Argu
mente nichts dawider vermögen, halten wir für eine unausweich
liche Consequenz der auf den ersten 29 Seiten des Vortrages
gegebenen Ausführungen, und zweifeln nicht, daß dieselbe bald
auch vom Standpunkte der in der Selbsterkenntniß begriffenen
Naturforschung aus wird zugegeben werden.
Wenden wir uns nun zur Erörterung der von Du Bois
Reymond der Naturforschung gezogenen Grenzen (S. 1—29),
so müssen wir sagen , daß er dieſelben immer noch, aller Entsa
gung ungeachtet, zu weit zieht, wenn er sie bis zu dem Gebiet
der durch die Begriffe „ Stoff, Kraft, Bewußtſein“ bezeichneten
Probleme ausdehnt. Die reale Grenze der Naturforschung reicht
nicht über das Gebiet der wirklich vorkommenden oder wirklich
darſtellbaren materiellen Erscheinungen hinaus, welche sie aus sich
selber heraus nach ihrer Wechselwirkung und hiſtoriſchen Ent
wickelung zu erforschen hat. Wenn das Ergebniß der wissenschaft
lichen Analyse im großen und ganzen dieses ist, daß die unfaß
bare Vielheit der Stoffe und Erscheinungen sich in eine immer
mehr sich vermindernde Anzahl elementarer Factoren auflöſt, ſo
muß das freilich zur Aufsuchung einer idealen Grenze der Natur
forschung auffordern ; eine solche kann aber immer nur hypotheti
tischer und relativer Natur sein, wenn nicht der Methode experi
mentirender Beobachtung vorgegriffen werden und Ergebniſſe
vorweg als gewiß angenommen werden sollen, welche lediglich
durch Speculation, nicht aber durch naturwiſſenſchaftliche Methode
gefunden sind. Darnach ergiebt sich als ideale Grenze der Na
turforschung das noch unbekannte, durch reine experimentirende
Beobachtung aufzusuchende reale Minimum aller der Körperwelt
zu Grunde liegenden sinnlichen Elementarfactoren. Ob es nur
einen solcher Elementarfactoren giebt , oder mehrere, kann der
Naturforscher nicht eher wissen, bis die thatsächliche Analyse dies
Resultat ergeben hat. Bei dieser Analyse ist das „ Bewußtsein“
gänzlich aus dem Spiel zu lassen. Das Bewußtsein, sofern es
32

Object der Forschung sein soll, geht den Naturforscher als solchen
gar nichts an, sofern es aber Organ seiner , wie jeder anderen
Forschung ist, hat er die Theorie desselben von einer anderen
Wissenschaft zu empfangen, deren specifische Aufgabe eben dic
Erforschung dieser dem Naturforscher und seiner Empirie der
Sinne unerreichbaren Realität ist. ,, Stoff" und "Kraft" aber
sind ebenfalls Dinge, welche noch kein Naturforscher als solcher
herausanalysirt hat, und von denen auch kein Naturforscher wissen
kann, ob er sie auf seinem Wege, auf welchem er bisher immer
nur ganz bestimmte, qualitativ verschiedene „ Stoffe “ und „ Kräfte“
gefunden hat, jemals antreffen wird. Die Begriffe „ Stoff“ und
,,Kraft" sind ideelle philosophisch - einheitliche, aus einer realen
Vielheit abgezogene Abstractionen, und wenn ein Naturforscher
diese Probleme auf der einen und das Problem einer ganz und
gar außernatürlichen Realität auf der anderen Seite als Mark.
steine seiner Wissenschaft aufrichtet, so bestimmt er die Grenzen
derselben nicht vom Standpuncte eines Naturforschers, sondern
vom Standpuncte eines Philosophen aus . Der gesammte Inhalt
der geistvollen Rede, um die es sich hier handelt, ist nicht ein
naturwissenschaftlicher, sondern ein philosophischer, und die innere
Consequenz wird den scharfsinnigen Denker dahin treiben, einer
Wiſſenſchaft, in deren Gebiet er wider Wiſſen und Willen mitten
hineingetrieben ist, und auf deren Boden er selbst sich, sei es mit
Glück oder mit Unglück , bethätigt, nicht nur ihr volles Recht,
sondern in den der Naturwissenschaft transscendenten Fragen ihre
alleinige Zuständigkeit zuzugestehen und sich vorweg kein Urtheil
darüber zu erlauben, ob ihr die Lösung gewisser Fragen unmög
lich sein wird, da dieselbe ja der Naturwissenschaft unmöglich
=
ist. Was würde Herr Du Bois - Reymond zu einem Hiſto
riker sagen, der sich beikommen ließe zu behaupten: ,,Der
Wechsel der Jahreszeiten wird ewig unbegreiflich bleiben, weil
die historische Wissenschaft nie über die Grenzen des Mensch
lichen hinausschreiten kann ?" Er würde ihm antworten : "Freund,
das von Dir für ewig unbegreifbar Erklärte, ist längst von uns
begriffen, weil wir mit Factoren rechnen, von welchen Du als
Historiker nichts weißt und als solcher auch nichts wiſſen kannſt.“
33

Die von Du Bois - Reymond gegebene philosophische.


Bestimmung der letzten Unbekannten in der zur Discussion zu
stellenden Weltformel halten wir auch vom philosophischen Stand
punct aus für ungenügend ; aber wir wollen uns einstweilen der
Kritik derselben entſchlagen, um zu zeigen, wie die Conſequenz
ihn von seinem eigenen Standpunct aus nach einer ganz anderen
Richtung hin hätte weiter treiben sollen, als nach der von ihm
eingeschlagenen. Das Resultat seiner Induction ist die Zurückfüh
rung des gesammten Weltprocesses auf die 3 Unbekannten „ Stoff“,
,,Kraft",,,Bewußtsein". Hier bricht er plötzlich die Induction ab
mit der gänzlich unbegründeten Behauptung, daß eine Fortsetzung
derselben unmöglich sei . Meint er damit eine Fortsetzung auf
dem Wege experimentaler Sinnenwahrnehmung, so hätte er schon
viel früher Halt machen müſſen. Hat er das aber nicht gethan,
sondern über die naturwissenschaftliche Induction hinaus den Weg
philosophischer Induction betreten, so ist gar nicht abzusehen, wa
rum dieser Weg an dieser Stelle nun auf einmal mit Brettern
vernagelt sein soll. Wenn er die Unmöglichkeit erkannt hat, von
„ Stoff“ und „ Kraft" aus zum „ Bewußtsein“ hinüberzugelangen,
warum versucht er es denn nicht, entweder vom „ Bewußtsein“
aus zu "1Stoff und Kraft" den Weg zu finden, oder endlich von
einem in allen 3 Unbekannten versteckt liegenden und aus ihnen
inducirbaren Bekannten, alſo von einem Vierten aus, die Welt
formel aufzulösen ? An dunkelen Empfindungen davon, daß es
mit dieser gewaltsamen Durchschneidung der Inductionsfäden kurz
vor ihrem Convergenzpuncte nicht seine Richtigkeit hat, fehlt es
ihm nicht. Wenn er auf S. 33 sagt: " Schließlich entsteht die
Frage, ob die beiden Grenzen unseres Naturerkennens nicht viel
leicht die nämliche seien , d. h . ob , wenn wir das Wesen von
Materie und Kraft begriffen, wir nicht auch verſtänden, wie die
ihnen zu Grunde liegende Substanz unter bestimmten Bedingun
gen empfinden, begehren und denken könne", so bricht darin das
über die im Vorangehenden ihm widerfahrene Gewaltthat unzu
friedene Causalitätsbedürfniß zum Schluß der ganzen Erörterung
mit ungeschwächtem Anspruch hervor, und der reſignirende Macht
spruch : "1 Aber es liegt in der Natur der Dinge, daß wir auch
34

in dieſem Puncte nicht zur Klarheit kommen, und alles weitere


Reden darüber bleibt müßig", wird es schwerlich vermögen, der
weiteren Forschung die Augen und den Mund zu schließen.
Freilich ist diese Vorstellung (sc. von der Identität beider
Grenzen) die einfachste, und nach bekannten Forschungsgrundsäßen
bis zu ihrer Widerlegung der vorzuziehen, wonach, wie vorhin
gesagt wurde (S. 18), die Welt doppelt unbegreiflich erscheint.“
Allein wenn Du Bois - Reymond die Identität der beiden von
ihm aufgestellten Grenzen in dem Sinne anzunehmen geneigt ist,
daß er meint, eine wahrhafte Ergründung des Wesens von Ma
terie und Kraft würde auch eine wiſſenſchaftliche Erklärung des
Bewußtseins in sich schließen, so heißt das, alles im Vorangehen
den von ihm Aufgestellte wieder auf den Kopf stellen. Die richtige
Consequenz wäre vielmehr die gewesen, zu vermuthen, daß das
Wesen von Materie und Kraft sich uns enthüllen würde, wenn
wir das Wesen und die Thatsachen des Bewußtseins vollkomme
ner begriffen. Wenn er in den künstlichen und der Wirklichkeit
zuwiderlaufenden Conſequenzen (z. B. der Lehre von der präſtabi
lirten Harmonie), zu welchen die älteren Meister der modernen
Philosophie von ihren Prämiſſen aus sich gedrängt gesehen haben,
,,gleichsam einen apagogischen Beweis gegen die Richtigkeit der
dazu führenden Voraussetzung über das Wesen der Seele sieht,
so läßt sich mit viel größerem Recht aus eben diesem Grunde
die Richtigkeit der Vorstellung in Zweifel ziehen, welche sie von
dem Wesen des Leibes und der Materie als einer beſonderen,
der Substanz der Seele gegenüber zu stellenden und schlechthin
verschiedenartigen Substanz hegten ; und wenn er mit Fechner
hinsichtlich des von Leibniz zur Illustration des Verhältnisses
von Leib und Seele gebrauchten Gleichniſſes von den beiden gleich
laufenden Uhren, welche in diesem Gleichgange entweder durch
einen gemeinsamen Regulator, oder durch perpetuirliches Stellen
der einen Uhr, oder durch ursprünglich genau auf einander berech
nete Einrichtung (präſtabilirte Harmonie) erhalten würden, die
Bemerkung macht, Leibniz habe die vierte und einfachste Möglich
keit vergessen, nämlich die, daß vielleicht beide Uhren, deren Zu
sammengehen erklärt werden soll, im Grunde nur eine sind : so
35

ist zu sagen, daß diese Bemerkung sehr wenig ,,treffend“ iſt,


ebensowenig, wie überhaupt das ganze Bild. Insofern freilich
das damit gesagt sein soll, daß beiden willkürlich von einander
geschiedenen Substanzen nur eine Subſtanz zu Grunde liege ,
stimmen wir durchaus bei ; jedoch in dem Sinne, daß unter die
ser einen Substanz nicht das gedacht werde, was wir unter „ Stoff"
und „ Kraft“ zu verstehen pflegen , sondern vielmehr das den
Stoff und die Kraft (das Unbewußte) ebenso wie das Bewußt
ſein producirende Ich.
Es ist ergöglich, zu sehen, wie die richtige Consequenz des
Denkens wider Wiſſen und Willen des Verfaſſers ſich in seine
Worte einschleicht und mit ihm Versteck spielt. Wenn er beklagt,
daß Materie und Kraft nicht gegebene und nicht bekannte Größen
seien (S. 13) ; wenn er von der Unfähigkeit, Materie und Kraft
zu begreifen, redet ( S. 29) und, was Materie und Kraft seien,
als ein Räthsel bezeichnet : was thut er dann anderes, als daß er
wider Wiſſen und Willen das Poſtulat aufſtellt, daß es, um unser
„ Cauſalitätsbedürfniß“ zu befriedigen, nothwendig sei , Materie
und Kraft aus unserem Bewußtsein zu begreifen ? „Materie und
Kraft sind leider unbegreiflich." Was heißt das? " Das heißt
offenbar : „ Materie und Kraft laſſen ſich nicht auf ein einfacheres
Princip zurückführen, welches uns bekannter wäre, als ſie ſelbſt.“
Das müßte doch offenbar ein Princip sein , welches nicht selbst
wieder Materie und Kraft ist, also ein immaterielles Princip ;
denn der Verfasser wird doch nicht denken, daß das Wesen von
Materie und Kraft durch eine Cirkel-Definition begreiflicher wer
den könnte. Also ? Der Verfaſſer beklagt, daß Materie und Kraft
sich nicht aus einem immateriellen Princip erklären lassen. Wenn
nun aber dieses immaterielle Erklärungsprincip nicht selbst wieder
für ein nicht gegebenes " und nicht " bekanntes“ erklärt werden,
wenn es nicht selbst wieder „ ein Räthſel“ ſein und die „ Unfähig
feit", es zu begreifen", beklagt werden soll, so kann an nichts
Anderes gedacht werden, als an "" das Bewußtsein " und das
Subject desselben. Nichts Anderes ist uns "Ibekannt“ und „ gege
ben , als unser Bewußtsein, welches wir selbst sind, und welches
wir unmittelbar und direct durch uns selber besigen. Alles An
36

dere ist erst mittelbar für uns vorhanden, insofern es uns durch
unser Bewußtsein gegeben ist. „ Bekannt und gegeben“ ist uns
nur das, was uns in und mit unserem Bewußtsein gegeben iſt.
Nicht "bekannt" und nicht ,,gegeben ist uns alles, was wir nicht
ſchlechterdings aus unserem Ich und seinem Bewußtsein abzulei
ten vermögen. Begreiflich" sind uns Materie und Kraft erst
dann, wenn wir sie als Erzeugniſſe unſeres Ich's und ſeines Be
wußtseins, also als unser Eigenes begriffen haben. Daß wir
das noch nicht vermocht haben, das ist wider sein eigenes Wissen
und Wollen, der eigentliche Gegenstand des verzweifelten ,, Igno
rabimus", welches der Verfaſſer gänzlich grundlos ausruft. Daß
wir dies eigentlich vermögen sollten, das zwingt ſein Inſtinct ihm
als das Normale auf, während sein durch naturwissenschaft
liche ,,Dogmen" und "1 Schulbegriffe" ,,befangener" Verſtand vor
der Größe dieser Aufgabe als vor einem Ungeheuerlichen und
Abenteuerlichen zurückschrickt. Und was ist denn nun eigent
lich Ungeheuerliches daran ? „ Stoff“ und „ Kraft“, ſie ſind nichts
ohne das Ich, welches sie denkt und hat ; das Ich aber ist das
Ich, auch ohne sie, und braucht , wo es sich selber denkt, jene
nicht mit denken. Ist nicht schon darum das Ich der Urgrund
aller Dinge und die eine Subſtanz, das alleinige per se sub
sistens ?
Wir haben bisher vom Standpunct der von Du Bois=
Reymond gegebenen philosophischen Bestimmung der letzten Un
bekannten der naturwissenschaftlichen Analyse aus argumentirt.
Diese Bestimmung ist aber, wie schon gesagt, ungenügend . Auf
der einen Seite hätte die Zahl dieser Unbekannten noch beträcht
lich vermehrt werden müssen, z. B. durch die ebenfalls unbekann=
ten Factoren " Zeit", „ Raum",,,Bewegung" 2c. Auf der andern
Seite beruhen die wenigen von diesem Gelehrten aufgestellten
letten Principien selbst zum Theil auf unwissenschaftlicher Ueber
bestimmung. Die Naturwissenschaft ist zur Zeit noch nicht über
eine Vielheit qualitativ verschiedener Materien hinausgekommen.
(cf. S. 7). Ob es ihr je gelingen wird, diese qualitative Ver
schiedenheit auf rein mechanischem Wege zu erklären, und damit
die qualitativ verschiedenen Stoffe auf einen einzigen gemeinsamen
37

Urstoff zurückzuführen, ist einfach abzuwarten. Das ist jedenfalls


eine naturwissenschaftliche , und nicht eine philosophische Frage.
Unwissenschaftlich ist es nach beiden Seiten hin , durch philoſo
phische Speculation oder Intuition dieſe unausgefüllte Lücke des
Wissens zu überfliegen und von „ Materie" schlechthin in der
Einzahl zu reden, als ob die materiell - ſubſtantielle Einheit der
körperlichen Dinge schon erwiesen und selbstverständlich sei. Die
philosophische Induction kann wiſſenſchaftlicher Weiſe nur an
den gegenwärtigen Stand der naturwiſſenſchaftlichen Induction
und an die gesicherten Resultate derselben anknüpfen. Darnach
haben wir nicht von einer Materie, sondern von vielen Ma
terien zu reden. Das ihnen allen Gemeinſame, wodurch sie eben
einer und derselben Kategorie der materiellen Dinge angehören, iſt ·
vorläufig gar nicht eine Substanz (,,Materie"), sondern die Be
sonderheit einer verschiedenen Existenzweiſe (,,Materialität“) ; wäh
rend das Subſtantielle in ihnen , wie wir in unserer inductiven
Erläuterung des Problems gezeigt zu haben glauben , durchaus
mit dem Substantiellen in unseren Sinnesvorstellungen identisch isſt.
Es genügt nicht, in der Allgemeinheit , wie es bisher ge
schehen ist, den immateriellen Erklärungsgrund auch für die Kör
perwelt dem heutigen Stande der naturwissenschaftlichen Induction
gegenüber zu verfechten. Es muß auch an den einzelnen Er
scheinungen der Körperwelt nachgewiesen werden, wie man nur
von hier aus zu einem unſer Cauſalitätsbedürfniß abſolut befrie
digenden wissenschaftlichen Verständniß derselben gelangen könne.
In dieser Hinsicht kann es nicht genug betont werden, daß die
Gestaltung, welche die modernen Undulationstheorien der phyſi
kalischen Wissenschaft gegeben haben, dem philoſophiſchen Imma
terialismus, allem Widerspruch zum Troß , außerordentlich hülf
reich entgegenkommen, und daß es dem Immaterialismus nur
ganz recht sein kann, wenn es der Naturwissenschaft gelingen
sollte, das Objective der Körperwelt auf eine nachweisbare Zahl
gleichzeitiger und auf einander folgender Bewegungen zurückzu
führen.
Gehen wir zum Beweise dieſer Behauptung auf das Wesen
der optischen und akustischen Erscheinungen ein ! -Das Objective
38

derselben ist nach gegenwärtig allgemein herrschender Erklärung


dieſes, daß ein materielles Medium (Aether ?, Luft) eine aus
einer bestimmten , nachweisbaren Zahl von Einzelschwingungen
bestehende Vibration erleide, welche sich durch die Sinnesnerven
bis in die zugehörigen Hirnprovinzen (,,Sinnſubſtanzen“) fort
pflanzen, um hier Wirkungen zu erzeugen, welche wir als Farben
und Töne bezeichnen. Das Subjective dieser Wirkungen ver
kennt kein denkender Naturforscher. Helmholz (,,über die Natur
der menschlichen Sinnesempfindungen , 1852, S. 20 ff.) zollt
den Sinnen Dank, daß sie aus den die Sinnesempfindungen
veranlassenden Schwingungsverhältnissen die Farben, die Töne 20.
,,hervorzaubern“ und uns ihre Nachrichten von der Außenwelt
durch die Empfindungen als durch " Symbole“ überbringen.
Den Sinnen ist nun freilich dieser Dank nicht zu zollen ; denn
wie die „ Sinnſubſtanzen“ es ſein sollen, "welche die in allen
Nerven gleichartige Erregung überhaupt erst in Sinnesempfin
dung übersetzen, und dabei , je nach ihrer Natur, als Träger der
,,specifischen Energien" ( Johannes Müller ), die Qualität
erzeugen" (Du Bois - Reymond a. a. D. S. 6), das ist eben
deswegen nicht einzusehen, weil die Sinnsubstanzen materieller
Natur sind, und wir damit also nicht über das Princip der
Bewegung hinauskommen, von welchem keine Brücke in das Reich
der dem Bewußtsein“ zugehörigen „ Empfindungen“ hinüber
führt. Das die Farben, Töne 2c. aus den Schwingungsverhält
nissen Hervorzaubernde kann vielmehr nur das der Production
von Empfindungen allein fähige „ Bewußtsein“, oder genauer das
Subject desselben, das Ich, sein. Nach dem von uns über das
Verhältniß des Leibes zu dem Ich desselben Erörterten (S. 18),
muß nothwendig jeder Vorgang in den Sinnsubstanzen dem indi
viduellen Ich derselben zum „ Bewußtsein“ kommen. Eine Ein
zelschwingung wird eine Einzelwirkung auf das Ich ausüben ;
der Inhalt derselben kann aber kein anderer sein , als eine ein
malige Erregung des Bewußtseins, d . h. ein einmaliger Selbst
bewußtseinsact. Eine 2malige Schwingung der Sinnſubſtanz
wird 2 , eine n malige n auf einander folgende Selbstbewußtseins
acte bewirken. Wenn nun ein bestimmter Ton oder eine bestimmte
39

Farbe nur durch eine Vibration von ganz bestimmter Schwingungs


zahl erzeugt werden kann, und wenn mit der Schwingungszahl
die Qualität des Tones und der Farbe sich ändert, so kann der
wesentliche Inhalt dessen, was wir als einen bestimmten Ton
oder als eine bestimmte Farbe bezeichnen, nur in der der beſtimm
ten Schwingungszahl entſprechenden Zahl von Selbstbewußtseins
acten liegen, welche in einer gegebenen Zeiteinheit auf einander
erfolgen. Dem Rhythmus der Bewegung entspricht genau der
durch denselben veranlaßte Rhythmus des Selbstbewußtseins . In
dem die einzelnen Acte desselben so schnell auf einander folgen,
daß das Bewußtsein dieſelben nicht mehr auseinander zu halten
vermag, fühlt sich das Ich in einen continuirlichen Empfindungs
zuſtand verſeßt, den es mit jenen Ausdrücken der Sinnesempfin
dung bezeichnet, welche in den Namen der Farben und Töne sich
darbieten. Das Wesentliche und im eigentlichen Sinne Objective
der Sache liegt in dem im Bewußtsein Vorgehenden , während
die diese Vorgänge im Bewußtsein veranlaſſenden räumlichen Be
wegungen nur ein vermittelnder Mechanismus in der Hand des
generellen Bewußtseins sind, um durch sollicitirende Einwirkung
das individuelle Ich zu einer den jedesmaligen Sinnesvorstellun
gen des generellen Bewußtseins entsprechenden Production von
Sinnesvorstellungen zu veranlaſſen. Daß dieser mechanische
Schwingungsapparat an sich für das Zustandekommen der Sin
neserscheinungen gar nicht wesentlich ist, sondern nur zur Ver
mittelung zwischen der sinnlichen Production des generellen und
des individuellen Ich dient, zeigt sich schon darin, daß die indivi
duelle Phantasie es vermag , sich willkürlich und aus eigener
Initiative in eine bestimmte Sinnesempfindung zu versetzen, d. h.
in einer gegebenen Zeiteinheit eine solche Zahl von Selbstbewußt
ſeinsacten zu vollziehen, welche z . B. der bestimmten Zahl von
Schwingungen gleich ist, in welche die Luft versezt werden müßte,
um auch in der Gehörsſinnſubſtanz eines Anderen den gleichen
Ton zu erzeugen. Hiernach müssen wir es für durchaus unzu
treffend erklären, wenn man die "1Empfindungen" für Symbole
des in der Außenwelt Vorgehenden ansieht. Eher ist das Um
gekehrte der Fall. Wir unsererseits möchten den Raum mit allem,
C 40

was sich in demselben bewegt, lieber für einen großen Telegraphen


apparat erfären, dessen centralen Endpunct das Gehirn des indi
viduellen Ich bildet, an welchem dasselbe die Depeschen ablieft ,
welche das generelle Ich an den unzählbaren peripherischen An
fangspuncten der nach dem Individuum hin convergirenden Drähte
für dasselbe aufgiebt. So allein ist der Skepticismus überwun
den und die Ueberzeugung von einer stattfindenden Congruenz
zwischen Sein und Wiſſen gesichert.
Wollte man nun in dem Objectiven der durch bewegte
Materie bewerkstelligten Vermittelung zwischen dem generellen und
dem individuellen Bewußtsein einen aus dem Ich und seinem
Bewußtsein nicht begreifbaren Rest in Anspruch nehmen , so
würde eine einfache Analyſe deſſelben auf das generelle und in
dividuelle Ich zurückführen. Wo Bewegung stattfindet, da
concurriren eine Anzahl von Factoren , auf welche eingegangen
werden muß. Raum, Zeit, bewegende Ursache , bewegtes Object
2C. Das bewegte Object (xivóvμevov) , welche Qualitäten es
auch haben mag, unterscheidet sich von dem im Vorstellungsver
mögen des individuellen Ich producirten zivovμevov nur durch
die "Materialität“, deren Wesen wir bereits aus dem Verhältniß
des generellen zum individuellen Vorstellungsvermögen erläutert
haben, so daß hinsichtlich des zivovμevov kein unbegriffener Rest
mehr zurückbleibt. Die bewegende Ursache (лоoτov xivovv) *),
welche der philoſophirende Naturforscher mit dem Ausdruck „ Kraft“
zu bezeichnen pflegt, führt ebenfalls auf das generelle Subject zurück.
Die Verursachung einer Bewegung ist eine actio, und eine actio
kann selbstverständlich nur von einem Subject ausgehen. Wer die
bewegende Ursache als „ Kraft“ bezeichnet, der thut es nach Analogie
der von ,,bewußten" Wesen ausgehenden Bewegungen. Der Mensch
weiß, daß er durch die Kraft seines Willens Bewegung erzeu
gen kann. Darum schreibt er auch den Thieren, da er von ihnen
ebenfalls Bewegungen ausgehen sieht, „ Kraft“ zu und poſtulirt
in richtiger Analogie auch da ,,Kraft" , wo er Bewegung nur

*) Wir gebrauchen den terminus des Aristoteles in strengerem Sinne,


als er.
41

unter ſeelenloſen Körpern vor sich gehen ſieht. Allein die Analogie
bleibt nur eine halbe, wenn unter dieser „ Kraft“ irgend etwas
Anderes verstanden wird, als ein Analogon des menschlichen Willens .
Wir kennen nur eine bewegende Kraft, das ist der Wille ; dieſe
kennen wir an uns selber, von einer anderen „ Kraft“ wiſſen wir nicht.
Also ? Das лоwτov zivovv, welches den telegraphischen Vermit
telungsapparat zwischen dem generellen und individuellen Ich in
Bewegung setzt, ist der Wille ; und dieser Wille kann nach allem
bisher Erörterten nur der Wille des generellen Ich sein. Auch
hier ist jeder Rest von Unbegreifbarkeit aufgehoben . Ebenso leicht
würde es sein , den objectiven Raum und die objective Zeit
aus dem generellen Ich und aus dem Verhältniß seines
Bewußtseins zu dem individuellen Bewußtsein auf inductivem
Wege zu erklären. Da aber gleich im Folgenden eine apriorische
Deduction von Zeit und Raum versucht werden soll, so glauben
wir uns diesen Inductionsbeweis ersparen zu können.
Das Resultat der auf den letzten Seiten gegebenen Aus
führungen ist dieses : „ Je mehr es dem Naturforscher gelingen
wird, das Objective aller phyſikaliſchen Erscheinungen auf Mecha
nik einer qualitätslosen Materie zurückzuführen ; desto begreiflicher
wird es, daß die Welt der materiellen Dinge ihrem wahren
Wesen nach nichts Anderes ist, als das durch einen selbstgeschaf
fenen Bewegungsapparat dem individuellen Bewußtsein übermittelte
Vorstellungsproduct eines generellen Ich.
Nachdem wir so das Verhältniß dargelegt haben, in welchem
die Resultate unseres Denkens zur naturwissenschaftlichen An
schauung der Dinge stehen, wollen wir schließlich einige Andeu
tungen darüber geben, wie, soweit wir sehen, ein rein deductives
Verfahren zuletzt zu ganz denselben Erkenntnissen führen wird,
welche wir bisher auf inductivem Wege gewonnen haben.
Es handelt sich zunächst darum, einen reinen, von aller
aposteriorischen Beimischung freien, durch sich selbst gewiſſen,
nothwendigen und allgemeingiltigen Anfang und Ausgangspunct
für unsere Deduction zu gewinnen. Es giebt kein anderes Ver
fahren, hierzu zu gelangen, als absolute Negation. Was das Ich
negiren kann, wovon es, als von einem zwar Thatsächlichen, aber
4
42

nicht Unveräußerlichen, abstrahiren kann : das kann es nicht als


das a priori Gegebene und legthin Thatsächliche anerkennen.
Diese Negation und Abstraction ist dem Ich nun hinsichtlich aller
Dinge möglich, welche nicht das Ich selbst sind. Nachdem das
Ich sich so alles empirischen Reichthums entledigt hat und auf
dem Wege der Negation zu völliger Selbstisolirung gelangt ist,
erfordert es die Consequenz des Verfahrens, daß das Ich durch
Selbstnegirung nunmehr mit sich selber die Probe mache , ob es
ſelbſt ein nur empirisch Gegebenes , oder eine a priori gewiſſe
Existenz sei, von welcher es sich auf keine Weise losmachen könne.
Die Probe ergiebt, daß das Ich ſich zwar negiren kann, daß es aber,
indem es sich als Object negirt, eben dadurch sich zugleich als
Subject neu setzt, und zwar in der beſtimmten Qualität des ſich
selber negirenden Ich. Auch diesem neuen Ich- Subject gegenüber,
welches dadurch zum 2ten Ich-Object wird , muß dasselbe Ver
fahren, wenn es conſequent ſein will , zur Anwendung gebracht
werden. Der Erfolg ist ein 3tes 3ch- Subject mit der bestimm
ten Qualität, daß es das zweite Ich- Object ( das als Subject
das 1ste Ich- Object negirende) negirt. Es ist unwidersprechlich,
daß dies Verfahren sich in infinitum fortseßen läßt, oder viel
mehr, daß es ein Verfahren ist, welches die eigene immanente
Consequenz zu einer Fortsetzung in infinitum nöthigt, und wel
ches wir demgemäß durch folgende Formel ausdrücken können :
Das das 1ste Ich - Object negirende 2te 3ch - Subject
+ das das 2te Ich-Object (= dem das 1ste Ich - Object
negirenden 2ten 3ch Subject) negirende 3te 3ch- Subject
+ das das 3te Ich-Object negirende 4te Ich - Subject ze.
in infinitum . *)

*) Es entgeht uns keineswegs, daß wir das 1ste Glied dieſer Formel
weggelassen haben, daß dasselbe (sowahr die Qualität des 1sten Ich- Subjectes
diese ist, daß es das das Nichtich negirende Ich ist) das conkrete Nichtich.
also auch die Vielheit der individuirten Subjecte als ein a priori Negirtes,
dainit aber zugleich auch Gegebenes (als negative Größe) in sich schließt,
und daß letzteres daher auch in allen folgenden Gliedern der Formel ent
halten und aus derselben auf keine Weise zu entfernen ist. Da die Ursache
hiervon aber offenbar nicht in dem Wesen des Nichtich an ſich, sondern in
dem Wesen des Ich liegt, aus welchem die Unbegrenztheit der Reihe resul
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Der Inhalt jedes Gliedes dieser Reihe läßt sich aus der
selben genau bestimmen. Das nte Glied würde heißen : Das
das nte Ich-Object negirende n + 1ste Ich- Subject. In dieſer
Formel würde das nte Ich-Object dem das n- 1ste Ich-Ob
ject negirenden nten Ich- Subject sein, ein Ausdruck, deſſen Inhalt
von der ganzen Reihe der vorangehenden Glieder abhängt.
Jedermann ſieht nun , daß in unserer Urformel das Prin
cip der Zahl gegeben ist. Die Reihe besteht aus einer in infi
nitum wachsenden Zahl von Gliedern , und jedes Glied bildet
eine Zusammenfassung einer ganz bestimmten Zahl_von_Ich
Objecten. Die Zahl ist hier überall eine benannte. Die Benen
nung ist die jedesmalige Ich- Substanz, oder genauer die Summe
der jedesmaligen Ich - Substanzen. Eine absolut unbenannte Zahl
ist ein Unding. Da aber die hier hinzukommende Benennung
nicht aposteriorischen Ursprungs ist, so können wir die in unserer
Formel enthaltene Zahl als reine Zahl bezeichnen. Die sogenannte
unbenannte Zahl hat stets noch das Ich deſſen , der sie vorſtellt,
zur Benennung, ohne daß dies zum Bewußtsein kommt. Das
Princip der mit dem Ich benannten Zahl entfaltet sich nun in
unſerer Formel in zwiefacher Weise. Ueberall ist die Zahl Ob
ject des Bewußtseins. Aber das eine Mal, wenn wir auf die
Zahl der auf einander folgenden Glieder der aufgestellten Reihe
sehen, percipirt das Ich die Einheiten dieser Zahl in einer Auf
einanderfolge von Bewußtseinsacten , deren Zahl genau der Zahl
der Einheiten entspricht ; das andere Mal, wenn wir auf den
Inhalt eines einzelnen , mitten aus der Reihe herausgenommenen
Gliedes blicken, percipirt das in demselben negirende Ich die ge
sammte Zahl der vorangegangenen Ich-Objecte in einem einzigen
Bewußtseinsacte . In jenem Falle erzeugt das Princip der Zahl

tirt, so ignoriren wir dieses negative Nichtich, indem wir fordern, daß sich
dasselbe ohnehin, und zwar als ein positives aus dem in unserer Formel
fich individuirenden Ich ergeben müsse. Wir sind uns übrigens der Trag
weite dieser Formel, welche, beiläufig bemerkt, die Unendlichkeit des Ich
und seine ganze Subject-Object-Organisation als apriorische Thatsache erweist,
vollkommen bewußt, obgleich wir dieselbe hier nicht weiter ausschöpfen, als
für unser bestimmtes Problem erforderlich scheint.
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das Princip der Zeit , in diesem das des Raumes. Eine


Combination der Principien der Zahl und des Raumes ergiebt
für das Bewußtsein des Ich die räumliche Grenze oder die
geometrische (planimetriſche und stereometrische) Figur. Eine
Combination der Principien des Raumes, der Zeit und der Zahl
ergiebt für das Bewußtsein des Ich den Ton und die Farbe;
denn wenn wir uns das Bewußtsein des Ich in derjenigen Zeit
einheit, welche der akustischen und optischen Schwingungenmeſſung
zu Grunde gelegt wird, eine solche Zahl von Gliedern unserer
Reihe durchmessen denken, welche genau der Zahl von Schwin
gungen irgend einer akustischen oder optischen Vibration entſpräche,
so würde das Ich davon genau dieselbe optische oder akustische
Wirkung verspüren, als wenn es eine solche mechanische Vibration
auf sich wirken ließe. In dieser Weise lassen sich aus unserer
Urformel sämmtliche Principien des der physikalischen Welt ana
logen Vorstellungskreises ableiten und mithin alle derselben ange
hörigen Erscheinungen erklären. Freilich würden wir dadurch
mit dieser ganzen a priori construirten Sinnenwelt aus dem Um
kreise frei schaffender Vorstellung noch nicht herauskommen. Zur
apriorischen Materialisirung derselben bedürfen wir einer Deduc
tion des individuellen Ich aus dem generellen. Hier ist hinsichtlich
des deductiven Beweises eine Lücke, die wir nicht übertünchen
wollen. Nichtsdestoweniger dürfen wir die Ueberzeugung hegen,
daß alles bisher über das Wesen der Materie Bemerkte die Mög
lichkeit einer Entstehung des Ich aus materiellen Factoren aus
schließt, und daß daher die Deduction einer Vielheit von Indivi
duen aus dem reinen Bewußtsein eine in der Natur der Dinge
begründete, wenn auch vielleicht ungelöste Aufgabe bleibt.
Wir fassen schließlich das Resultat, welches sich übereinstim
mend aus der inductiven und der deductiven Betrachtung, wenn
auch aus der letzteren allein nicht in völlig stringenter Weise,
ergeben hat, zu der folgenden Definition zusammen:
Die materiellen Dinge sind Vorstellun
gen der generellen oder personalen Indivi
duirungen des absoluten Ich in der Perception
des Einzel - Individuums.“ 6
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Schlußbemerkung.
Es ist dem Verfasser sehr wohl bewußt , daß er es höchst
wahrscheinlich im Allgemeinen weder den Naturforschern noch den
Philosophen der Gegenwart recht gemacht haben wird. Hinsicht
lich der letzteren sieht er sich noch zu einer Bemerkung veranlaßt.
Man wähne nicht, daß der materialistische Streit abgethan sei,
oder daß er überhaupt jemals abgethan werden könne, so lange
in demſelben nur die Waffen eines halbmaterialiſtiſchen Dualis
mus dem consequenteren Gegner sich zeigen. Wenn es nicht ge
lingt, eine reale Genesis der Materie aus dem Geist befriedigend
nachzuweisen, so wird der Materialismus immer von neuem das
unbezwungene Haupt erheben. Dem Dualismus gegenüber darf
er im Interesse der Philosophie selber nicht schweigen, wie roh
und unwiſſenſchaftlich auch das Positive seiner eigenen Lehre iſt.
Man mag freilich einwenden, der Materialismus sei selbst im
Dualismus befangen, nämlich in dem Dualismus von „ Kraft
und Stoff" ; allein, so vollkommen richtig das auch ist, so bleibt
doch dieser Dualismus immerhin ein Monismus des reinen, ſub
jectslosen Objectes, bei welchem das Subject aus dem Object be
griffen und als eine besondere Metamorphose desselben nachgewie
sen werden soll, so daß das Subject selbst nicht als Subject, sondern
als Object gefaßt wird . So handgreiflich plump auch ein solches
System alle Dinge auf den Kopf stellt, so kann es doch nur
dadurch gründlich beseitigt werden, daß der diametral entgegenge
sette Monismus des Subjects sich wissenschaftlich rechtfertigt und
jeden Rest von Dualismus und Halbmaterialismus von sich aus
scheidet. Dies zu thun, haben wir unsererseits versucht. Die
materielle Welt wird von uns verstanden als eine freie Schöpfung
des Subjects, nicht als eine dunkele, völlig entgegengesetzte und
das Ich von außen her beſchränkende Macht ; und indem die Kluft
zwischen Geist und Materie überbrückt wird , ja, indem die bei
den starren Gegensätze in lebendigen Fluß gegen einander gebracht
werden, wird die Einheit des Seins in der Einheit des Denkens
aufrecht erhalten und begriffen. Wir wissen es im Voraus, daß
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man uns einer Leugnung der Realität der Materie bezichtigen.


wird ; allein, wer die Materie aus dem Wesen des Ich erklärt und
ableitet, der führt sie auf die Urrealität zurück und erhebt sie zu
unantastbarerer Wesenhaftigkeit, als derjenige, der sie in ihrem
spukhaften Dunkel beläßt. Der Chemiker führt durch seine Ana
lyse jegliches Gebilde auf gewiſſe Quantitäten einer bestimmten
Anzahl von Grundstoffen zurück ; leugnet er darum die Realität
dieser Gebilde ? - Sagt man uns: Wer die Materie in eine
bloße Vorstellung des Geistes auflöst , hebt nicht nur mit dem
Gegensatze von Geiſt und Materie auch das geistige Weſen ſelbſt
auf, sondern verwandelt die materielle Erscheinung in bloßen
Schein (Illusion, und leugnet damit implicite alle Objectivität
und Realität" ; so erwidern wir : „ Wer solche Einwendungen
macht, der zeigt dadurch, daß ihm wider eigenes Wiſſen und Wollen
der in sich selber begreifliche und widerspruchsloſe Geiſt nicht
Realität genug hat, und wer da meint, ihm diese Realität erst durch
dualistische Copulirung mit einem in sich selber so widerspruchs
vollen d. h. realitätslosen Wesen, wie die dem Geiste gegenübergestellte
Materie ist, beilegen zu sollen, der verfällt, indem er den abso
luten Widerspruch zum letzten Grunde aller Dinge macht, dem
sonderbaren Mißgeſchick, selbst erst aus lauter Furcht das herbei
zuführen, wovor er sich fürchtet, die Aufhebung aller (vernünftigen)
Realität." Es ist keine Wahl : man erkenne den geistigen Ur
sprung der Materie an, oder man mache einen Strich durch alle
Wiſſenſchaft, als welche auf Ueberwindung des Widerspruches ab
zweckt, und setze an ihre Stelle ein System absoluter Wider
sprüche, abgeleitet aus dem uranfänglichen Widerspruch, der allem
Sein zu Grunde liegen soll ein System,,,gleich geheimnißvoll
für Kluge wie für Thoren.“
¡

Druck von Fr. Hache in Greifswald.

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