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BEILAGE

Filme und Alben


Die besten Bücher,
CORONA
Jagd auf die
Millionenbetrüger

Das Leid der Windsors und der Hass im Netz


ALLTAG

verdrängt wird
Wie das Bargeld

DRAMA ROYAL
Nr. 14 | 28.3.2024
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HAUSMITTEILUNG

Titel  | Seiten 64, 70, 72

Jeannette Corbeau / DER SPIEGEL


Das englische Königshaus steht abermals im
Zentrum eines Dramas: Nach Diana und M ­ e­ghan
ist seine Hauptfigur diesmal Catherine, die
­derzeitige Princess of Wales. Kurz nachdem
­Catherine am vergangenen Freitag ihre Krebs-
DER SPIEGEL

erkrankung per Videoclip öffentlich gemacht


hatte, setzte sich London-Korrespondent Jörg
Schindler in den Zug nach Windsor. Er nahm an,
am Wohnort des britischen Thronfolgerpaars auf besorgte Royalisten, Schaulustige, vielleicht gar
Schadenfreudige zu treffen. Aber wenig deutete in dem Städtchen auf das Drama vom Vorabend
hin. »Einen größeren Kontrast zur wochenlangen ›KateGate‹-Dauerbeschallung in den sogenann-
ten sozialen Medien könnte es nicht geben«, sagt Schindler. Nicht nur deshalb sei der ganze Fall
»ein Lehrstück in Sachen Onlinehetze«. Zudem schildert Redakteurin Patricia Dreyer den Aufstieg
der Catherine Middleton von der Bürgertochter zur öffentlichen Figur.

Russland | Seite 74

Als SPIEGEL -Korrespondentin Christina Hebel (l.) am vergan­

Dmitr y Serebr yakov / DER SPIEGEL


genen Freitagabend an der Crocus City Hall bei Moskau ankam,

S-Magazin
stand die Konzerthalle in Flammen. Das Attentat mit mindestens
139 Toten erschüttert Russland tief. Warum die Terrororganisation
»Islamischer Staat« das Land attackierte und wie sie derart zuschla-
gen konnte, recherchierte ein Team um die Redakteure Christian
Esch, Ann-Dorit Boy, Alexander Chernyshev und Christoph Das Stilmagazin vom SPIEGEL
Reuter. ­Angeblich saßen zwei der Terroristen etwa bereits am 10.
März im Publikum der Crocus City Hall, sie sollen das Gebäude
mehrfach ausgekundschaftet haben. An jenem Abend besuchte auch Hebel dort ein Konzert. »Dass Themen der Ausgabe:
die ­Attentäter den Anschlag monatelang so vorbereiten konnten, ist ein massives Versagen des
­Sicherheitsapparats«, sagt sie.
Seid nett zueinander
Corona | Seite 26 Was Sie schon immer über
Sexpositivity wissen wollten
In der Pandemie gab der deutsche Staat mehr als
76 Milliarden Euro aus, um Unternehmen und Selbststän- Bitte lächeln
digen zu helfen. Jetzt zeigt sich: Eine Menge Geld landete Wie eine Londoner Firma den Smiley
auf Konten von Kriminellen. Die SPIEGEL-Redakteure Jörg zum Markenzeichen machte
Diehl, Tobias Großekemper, Gerald Traufetter und Lukas
DER SPIEGEL

­Eberle haben recherchiert, warum es so leicht war, die Hil­


fen zu ­ergaunern. Eberle besuchte Gerichtsverhandlungen
Besser wirtschaften
in Köln und Düsseldorf. Er sah Angeklagte, die ihren Warum sich eine freundliche
­Subventionsbetrug zwar zugaben, die Schuld aber nicht bei sich, sondern bei den Behörden Firmenkultur auszahlt
­suchten – schließlich hätten diese das Geld sorglos überwiesen. In einer Verhandlungspause
­unterhielt sich Eberle mit dem Verteidiger einer Frau, die sich fast 50.000 Euro an Coronahilfen
erschlichen hatte. Der Anwalt war verblüfft, dass sich der SPIEGEL für solche Fälle interessiert.
Er nannte den ­Prozess »eine Hexenjagd«. Eberle sagt: »Den Staat zu betrügen gilt vielen als
­Kavaliersdelikt. Dabei s­ trichen Gauner insgesamt wohl mehrere Milliarden Euro ein – es war das
s te
Geld der Steuerzahler.« Näch als
he
SPIEGEL BESTSELLER Woc ge im
Beila GEL
Als Chantal aus »Fack ju Göhte« wurde Jella Haase bekannt. Mittlerweile spielt SPIE
die preisgekrönte Schauspielerin Charakterrollen. Warum sie in ihrem neuen
Film noch einmal die Chantal ist, erzählt sie im Interview im neuen SPIEGEL
BESTSELLER , der einem Teil dieser Ausgabe beiliegt.

Mit der kommenden SPIEGEL-Ausgabe Nr. 15/2024 vom 6. April erhöht sich der Verkaufspreis im Einzelkauf
von 6,40 Euro auf 6,70 Euro. Im Abonnement kostet der SPIEGEL künftig 6,30 Euro pro Ausgabe.

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 3


INHALT TITEL

64 | Monarchien Das Königs­


haus wankt von Krise zu Krise
DER SPIEGEL 78. Jahrgang | Heft 14 | 28.3.2024
70 | Großbritannien Prinzessin
Kate bewegt die Öffentlichkeit

72 | Krebs Die Historikerin


Bettina Hitzer über die
­Wahrnehmung der Krankheit

DEUTSCHLAND

6 | Leitartikel Der Terror­


anschlag in Moskau und Putins
eigene Wirklichkeit

8 | Berlin schließt weitere


­Waffenlieferungen an Israel
nicht aus / EU erwägt neue
Iran-Sanktionen / Die da unten

12 | Koalition Wozu noch FDP?


Eine Reise zur Basis

James Whatling / NUNN / ddp


17 | Terrorismus Der
»Islamische Staat« hat auch
Deutschland im Visier

18 | Karrieren Warum Agrar­


minister Cem Özdemir auffällig
oft Baden-Württemberg besucht

Die Getriebene 21 | Sozialpolitik Scheitert die


Kindergrundsicherung?

TITEL Diana, Meghan, jetzt Kate. Die Hatz auf weibliche Royals hat Methode. 22 | Diplomatie Reise­offensive
Das Kesseltreiben gegen die künftige Queen geht nach der Bekanntgabe des bayerischen Minister­
präsidenten
ihrer Krebserkrankung weiter. Das Königshaus, gedacht als Firma für magische
Momente, steckt in der Krise. | 64, 70, 72 24 | Proteste Wenn Klima­
aktivisten und Gewerkschafter
gemeinsam streiken

26 | Kriminalität Bei den


Coronahilfen wurde der Staat
um Milliarden betrogen

31 | Ortstermin Ein Rund­


gang durch die frühere Berliner
­Villa des Rammo-Clans

32 | Bildung Manche Quer-


Eventpress / picture alliance / dpa

und Seiteneinsteiger geben


Gordon Welters / DER SPIEGEL

Peter Rigaud / DER SPIEGEL

den ­Lehrerjob schnell wieder auf

36 | Reisen Was man beim


Campen übers Leben lernt

REPORTER
Beth Ditto Cem Özdemir Paola Cortellesi
Die Sängerin über Körperideale, Der Landwirtschafts­minister Der Regisseurin gelang mit 38 | Familienalbum /
Karl Lagerfeld und darüber, wie sie läuft sich in Baden-Württem- einem feministischen Schwarz- Putzen queere Reinigungskräfte
mit ­Beleidigungen umgeht | 104 berg warm. | 18 Weiß-Film ein Kinohit. | 112 anders?

4 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange her vorgehoben.
39 | Eine Meldung und 88 | Sponsoren Der DFB
ihre Geschichte Ein Tübinger ­versucht den Neustart mit Nike
­Forscher entdeckte im
Amazonas­becken eine ausge­
storbene Riesenschildkröte WISSEN

Vyacheslav Prokofyev / ITAR-TASS / IMAGO


40 | Genuss Die Macht der 90 | Erdbeben in Nord­
Titelfotos [M]: Tim Rooke / Shutterstock / Avalon / IMAGO, Max Mumby / Indigo / Getty Images (2), Chris Jackson / Avalon / IMAGO, Henry Nicholls / WPA / Getty Images, Chris Jackson / WPA / Getty Images

Musik über unser Leben deutschland / Wie wir mit weni-


gen ­Verhaltensänderungen
47 | Kolumne Homestory die ­Umwelt schützen können

92 | Corona Was verraten die


WIRTSCHAF T RKI-Protokolle?

48 | Mehr Recycling für die 95 | Pandemie Die Vorsitzende


­Rohstoffversorgung / Fiskus ver- des Ethikrats, Alena Buyx,
liert Geld durch Umstieg auf im SPIEGEL -Gespräch über die Terror gegen Russland
E-Autos / In NRW drohen höhere Lehren aus der Coronazeit
Der »Islamische Staat« greift eine Konzerthalle bei Moskau an,
Grundsteuern für ­Wohnhäuser
und Wladimir Putins Sicherheitskräfte überspielen ihr Versagen mit
98 | Archäologie Autodidakt
einer Demonstration der Brutalität. | 74
50 | Zahlungsmittel Bargeld Harm Paulsen baut Steinzeit­
oder App und Karte? Der Kultur­ waffen nach und probiert sie aus
kampf um das Bezahlen

54 | Sprachkurse SPIEGEL - KULTUR


Gespräch mit Duolingo-Gründer
Luis von Ahn über die Erfolgs- 102 | Julie-Mehretu-Schau in
App und die fleißigen Deutschen ­Venedig / Philipp Felschs
»Der Philosoph« / Komödie

Claudio Divizia / iStockphoto / Getty Images


57 | Energie Die Misswirtschaft »Kleine schmutzige Briefe«
des französischen
Atomkonzerns EDF 104 | Ikonen Sängerin und
Body-Positivity-Vorreiterin Beth
60 | Essay Der Ökonom Moritz Ditto im SPIEGEL -Gespräch
Schularick erklärt, warum über Körper, Diversität und Punk
Deutschland jetzt aufrüsten sollte
107 | Zeitgeschichte Mit
Kurt Cobain starb 1994 auch
AUSLAND der Rock ’n’ Roll. In der
gleichen Nacht begann das Verschwindet das Bargeld?
62 | Wie Israel seine Unter­ ­Internetzeitalter
Immer mehr Verbraucher zahlen lieber per Karte, viele Laden­besitzer
stützer verprellt / Trumps
betrachten Scheine und Münzen als Last. Wie bezahlen
­juristische Verzögerungstaktik 108 | Literatur Der
wir in Zukunft? Und wie viel Kontrolle bekommt der Staat? | 50
Autor Leo Vardiashvili hat
74 | Russland Warum der IS ein berührendes Buch
Moskau angreift über ­Georgien geschrieben.
Ein Besuch in Tiflis
78 | Essay Der Sohn
einer ­jüdischen Mutter und eines 111 | Ortstermin Business-
­palästinensischen Vaters über Festivals für Frauen sollen
sein ­Leben als Kind des Konflikts sie empowern. Wozu eigentlich?
Ein Besuch in München
80 | Türkei Istanbuls Bürger­
meister Ekrem İmamoğlu 112 | Kino Der Film »Morgen
will wiedergewählt werden ist auch noch ein Tag« war in
Italien erfolgreicher als »Barbie«
Gene Glover / DER SPIEGEL

SPORT 115 | Literaturkritik Mit


»James« erzählt Percival Everett
83 | Deutsche Ballsportteams die Geschichte Huckleberry
bei Olympia / Hall of Fame: Finns neu
Caitlin Clark, College-Basket-
ballerin
Die Macht der Töne
84 | Fußball Wie erfolg­ SPIEGEL-TV-Programm | 94 Bestseller | 114 Musik ist die Ursprache des Menschen, sie prägt unser Denken
Impressum, Leserservice | 116
reich ist Saudi-Arabien mit seiner Nachrufe | 117 Personalien | 118
und Fühlen von Anfang an. Warum nutzen wir sie nicht besser?
­Milliardenliga? Briefe | 120 Letzte Seite | 122 Ein Plädoyer für mehr Musikalität im Leben. | 40

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 5


Putins Wahn
LEITARTIKEL Russland leugnet, dass der »Islamische Staat« hinter dem Terroranschlag in Moskau steckt.
Der Autokrat wird zum Opfer seines Weltbilds.

gezettelten Krieg, es gibt Raketeneinschläge auf eigenem


Territorium – und nun wieder islamistischen Terroris-
mus. Wie groß die Zustimmung zu Putin ist, weiß auch
nach seinem »Wahlsieg« mit nahezu nordkoreanischen
Prozentzahlen niemand zu beantworten.
Es ist bedrohlich, dass die größte Nuklearmacht der
Welt von einer Clique beherrscht wird, deren Bild der
Realität wahnhafte Züge trägt. Es hilft aber zu verste-
hen, wem der Westen gegenübersteht. Genauso wie die
Bilder, die Putins Apparat in den vergangenen Tagen
hat verbreiten lassen: Sie zeigen, wie der russische
Staat gefangene Terrorverdächtige foltert – der eine
wird gezwungen, sein abgeschnittenes Ohr in den
Mund zu nehmen, der andere erhält Stromschläge in
die Genitalien. Russland, ein stolzer Folterstaat.
Und ein Staat, dessen Führung sich und das ganze
Mikhail Metzel / AP

Land in einen Ausnahmezustand getrieben hat, in dem


nicht mehr zählt, was wahr ist, sondern nur noch, was
ins Weltbild passt. Vieles spricht dafür, dass Putin seine
eigenen Theorien tatsächlich glaubt. Er inszeniert Russ-
land als Opfer eines »kollektiven Westens«. Und er

E
Machthaber Putin s ist eine ungewohnte Situation für die Terroristen sieht Russland im Krieg mit diesem Westen. Wenn Bun-
bei TV-Ansprache des »Islamischen Staats«. Sie verüben einen bru- deskanzler Olaf Scholz betont, dass Deutschland nicht
am 23. März
talen Anschlag – und das Regime des angegriffe- Kriegspartei werden dürfe, dann muss man dazu wis-
nen Landes setzt seine ganze Propagandamacht dafür sen, dass die russische Regierung Deutschland und den
ein, ihnen die Täterschaft abzusprechen. Besser kann ganzen Westen längst als Kriegspartei sieht.
man den Zustand von Russland unter Wladimir Putin Sein Angriffskrieg auf die Ukraine ist für Putin nur
nicht illustrieren: Es darf nicht sein, dass man realen ein Teil dieses umfassenden zivilisatorischen Konflikts,
Terroristen zum Opfer gefallen ist – statt einem Feind, der militärisch, wirtschaftlich und propagandistisch
den man selbst erfunden hat. ­gefochten wird. Seinen hybriden Angriff auf den Westen
Mindestens 139 Menschen haben islamistische führt er seit mehr als einem Jahrzehnt – besonders in-
­Attentäter bei der Attacke auf die Crocus City Hall in tensiv in Deutschland.
Moskau getötet. Der IS hat die Verantwortung über- Auch deshalb ist es ein Irrtum zu glauben, man müs-
nommen. Die Experten halten seine Proklamationen se Putin nur ein paar territoriale Zugeständnisse ma-
für authentisch. Putin jedoch erklärt die Ukraine und chen, dann werde es schon Frieden geben. Wenn Putin
den Westen zu den wahren Urhebern des Anschlags. sich mit uns im Krieg sieht, haben wir nur die Möglich-
Das zeigt, wie wahnhaft sein Weltbild mittlerweile ist. keit, uns dagegen zu wappnen – uns militärisch zu rüs-
Die russischen Sicherheitskräfte konnten den ten, was wir nicht ausreichend tun, uns aber auch gegen
schwersten terroristischen Anschlag seit fast 20 Jahren die Propaganda zu rüsten, was wir noch weniger tun.
nicht verhindern. Dieses Versagen lässt sich besser er- Es geht dem Mann im Kreml nicht nur um die Kon­
klären, wenn man einen Täter erfindet, der viel größer trolle von Territorium. Er will die Realität kontrollie-
ist als der IS und ohnehin angeblich hinter allem steckt: ren. Er erklärt die Vorstellung, dass islamistische Terro-
die Ukraine und damit letzten Endes die USA. Statt risten aus eigenem Antrieb in Moskau zuschlagen, für
sich realen Bedrohungen im Innern zu widmen, hat das genauso verrückt wie die Vorstellung, dass die Ukrainer
Putin-Regime eine imaginäre Bedrohung durch den ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen könnten,
Ihm geht es Westen und angebliche ukrainische Nazis aufgebaut.
Wäre Russland ein freies Land, würden die Bürger
weil sie nicht länger im Einflussgebiet des russischen
Imperialismus leben wollen.
nicht nur jetzt viele Fragen an ihre Regierenden stellen. Aber es Putin will seine Version der Realität mit roher Gewalt
um Kontrolle ist eine Diktatur, in der das Regime den Staat, die Ge- durchsetzen. Deshalb zerstört er die Ukraine lieber,
sellschaft und die Medien so kontrolliert, dass Putin sei- als dort einen blühenden Staat entstehen zu lassen. Des-
von Territo- ner Bevölkerung keine Fragen mehr beantworten muss. halb beschießt er Städte mit Hyperschallraketen,
rium. Er will Der Pakt zwischen Putin und seinem Volk sah lange ­zerstört Kraftwerke, lässt ukrainische Kinder entführen,
so aus: Er hat alle Macht, dafür bekommt es Wohlstand Hunderttausende in Schützengräben sterben.
die Realität und Sicherheit. Das gilt nicht mehr. Der Wohlstand Mit anderen Worten: Er betätigt sich als Terrorist.
­kon­trollieren. sinkt, Männer sterben zu Abertausenden im selbst an- Mathieu von Rohr n

6 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


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DEUTSCHLAND

Marcus Brandt / dpa


Das vom Kanzler beschworene »Deutschlandtempo« existiert nun auch in einer regionalen Variante. Beim Baustart der Batteriefabrik der schwedischen
Firma Northvolt bei Heide an Schleswig-Holsteins Nordseeküste definierte Olaf Scholz die »Dithmarschen-Geschwindigkeit« so: »Nicht lange
schnacken, einfach machen.« Beim anschließenden Boßeln wirkte der Kanzler dann allerdings neben dem Wirtschaftsminister, dem Firmenchef,
der schwedischen Botschafterin und dem Ministerpräsidenten ein wenig hüftsteif.

Weiter Waffen für Israel


NAHOST Die Bundesregierung zweifelt an der Militäroperation, will sich Rüstungsexporte aber offenhalten.

O bwohl die Bundesregierung erhebliche Zweifel an der Ver-


hältnismäßigkeit von Israels Militäroffensive in Gaza hat,
will sie nicht ausschließen, weiter deutsche Rüstungsgüter
nach Israel zu liefern. Das geht aus der Antwort des Auswärtigen
sichtigung völkerrechtlicher Verpflichtungen«. Genehmigungen für
Rüstungsexporte nach Israel sind demnach weiterhin möglich. Zu-
gleich beteuert das Auswärtige Amt, dass Berlin Israel »sowohl in
direkten Gesprächen als auch öffentlich« auffordere, das humanitä-
Amts auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sevim re Völkerrecht einzuhalten und »mehr humanitäre Hilfe in Gaza
Dağdelen vom Bündnis Sahra Wagenknecht hervor. Auf die Frage, zuzulassen«. Außenministerin Annalena Baerbock hatte zuletzt
ob die Bundesregierung einen Exportstopp verhängen wolle, um von der »Hölle von Gaza« gesprochen. Die Abgeordnete Dağdelen
dem Schutz für Palästinenser nachzukommen, der vom Internatio- pocht auf einen Exportstopp: »Vor dem Hintergrund der Resolu-
nalen Gerichtshof angemahnt wird, verweist das Auswärtige Amt tion des Uno-Sicherheitsrats für eine sofortige Waffenruhe in Gaza
auf die Praxis von Einzelfallentscheidungen. Diese erfolgten »im ist die Bundesregierung gefordert, umgehend einen Waffenexport-
Lichte der jeweiligen Situation nach sorgfältiger Prüfung unter Ein- stopp zu verhängen, statt der israelischen Armee mit der Lieferung
beziehung außen- und sicherheitspolitischer Erwägungen nach den von Waffen weiter Beihilfe zu deren rücksichtsloser Kriegsführung
rechtlichen und politischen Vorgaben, einschließlich der Berück- zu leisten.« KOR, MGB

8 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


EU erwägt neue EU-Staats- und Regierungschefs
DIE DA UNTEN
»neue und umfangreiche res-
Iran-Sanktionen
Keine Sorge!
triktive Maßnahmen« an, soll-
EUROPA In der EU steigt der ten sich Berichte bewahrheiten,
Druck, neue Sanktionen gegen dass Iran Moskau mit ballisti-
Iran zu verhängen. Deutschland schen Raketen für den Angriffs-
und weitere EU-Staaten verlan- krieg gegen die Ukraine belie- Von Anna Clauß gen, dass Frauen viel freiere
gen nach Angaben von Diplo- fert. Iran Air soll demnach am Entscheidungen treffen als
maten nun auch Strafmaßnah-
men gegen die staatliche Flug­
linie Iran Air. Bereits Mitte
Februar hatten die grüne Bun-
Transport der Waffen beteiligt
sein. Im Fall einer Sanktionie-
rung dürfte die Fluglinie keine
Ziele in der EU mehr anflie-
D ie Geburtenrate in
Deutschland sinkt. In
den letzten zwei Jahren
ging es in Sachen Reproduk-
früher. Die historisch tiefe Ge-
burtenrate mag eine Hiobs-
botschaft für die Zukunft der
deutschen Sozialsysteme sein.
desaußenministerin Annalena gen – was nach Angaben von tion rapide bergab. Mit Für die Emanzipation ist sie
Baerbock und acht ihrer euro- Di­plomaten politisch von hoher 1,36 Kindern pro Frau ist das ein Erfolg.
päischen Amtskollegen vom Symbolkraft wäre. Borrell aber deutsche Fertilitätsniveau so Ja, Frauen bringen weniger
EU-Außenbeauftragten Josep ziert sich. In einer Antwort auf niedrig wie seit über zehn Kinder zur Welt als früher.
Borrell schriftlich verlangt, den Brief der neun Außenminis- Jahren nicht mehr. Forscher Aber sind die vielen Ein-
Iran wegen der Lieferung von ter warnte er vor unbeabsichtig- vom Bundesinstitut für Bevöl- Kind-Mütter oder Kein-Kind-
Raketen und Drohnen an Russ- ten Folgen neuer Sanktionen. kerungsforschung vermuten Mütter von heute deswegen
land und Islamisten im Nahen Sie könnten etwa Versuche ge- als Ursache für das zurückhal- unglücklicher oder verunsi-
Osten zu sanktionieren. Ver­ fährden, Irans Atomprogramm tende Paarungsverhalten der cherter als etwa die Mütter
gangene Woche kündigten die unter Kontrolle zu halten. MBE Deutschen »multiple Krisen«. der Babyboomer? Weniger
Die Menschen seien vermut- Kinder heißt auch weniger
lich so sehr verunsichert, dass Sorgen, weniger Sorgearbeit,
Einbürgerungstest müsse wissen, »was das bedeu- sie ihren Kinderwunsch nicht mehr Geld und mehr Aus-
tet, und sich zu dieser Verant- umsetzten. wahlmöglichkeiten. Nicht un-
mit zusätzlichen wortung Deutschlands beken- Zu viel Bazooka außerhalb
Fragen nen«. Dieses Bekenntnis müsse des Schlafzimmers zerstört Dass die Deutschen
»klar und glaubhaft« sein. Des- den Wumms darin? Klar, von
ANTISEMITISMUS Bundes­ halb werde nun nach dem Ge- der abstürzenden Geburtenra-
weniger Kinder
innenministerin Nancy Faeser setz zum Staatsangehörigkeits- te über den Aufstieg der AfD bekommen, könnte
(SPD) plant, Wissen zum Holo- recht auch der Einbürgerungs- bis zur Plage der ekelhaften auch damit zusam-
caust, zum Existenzrecht Israels
und zu jüdischem Leben in
test verändert. Eine Verordnung
dafür will Faeser in Kürze än-
Papierstrohhalme in Schnell-
restaurants lässt sich derzeit
menhängen, dass
Deutschland im staatlichen dern. So soll in Zukunft gefragt vermutlich jede auffällige Ab- Frauen viel freiere
Einbürgerungstest abfragen zu werden, wie ein jüdisches Ge- weichung von der Norm auf Entscheidungen
lassen. »Aus dem deutschen betshaus heißt, wann der Staat den Krieg in der Ukraine oder treffen als früher.
Menschheitsverbrechen des Ho- Israel gegründet wurde und wo- den fortschreitenden Klima-
locaust folgt unsere besondere raus sich die besondere Verant- wandel zurückführen. Die bedingt zwischen verschiede-
Verantwortung für den Schutz wortung Deutschlands für Is- CDU, die sich keine Vorlage nen Männern, aber zwischen
von Jüdinnen und Juden und rael begründet. Wie Holocaust- für Regierungsschelte entge- einem Kind und einem Job,
für den Schutz des Staates Isra­ leugnung bestraft wird und hen lässt, sieht einen weiteren der manche womöglich mehr
el«, sagte Faeser dem SPIEGEL . wer bei den etwa 40 jüdischen Grund: Die Ampel schaffe es ausfüllt als ein Baby in der
»Diese Verantwortung ist Teil Makkabi-Sportvereinen Mit- »mit ihrer undurchdachten 39. Schwangerschaftswoche.
unserer heutigen Identität.« glied werden darf, zählt auch und ideologisch geprägten Ge- Vor dem Absinken der Ge-
Wer Deutscher werden wolle, zum neuen Fragenkatalog. BUC sellschaftspolitik nicht, den burtenrate ist übrigens die
Familien Vertrauen zurückzu- weibliche Nutzung von Sex-
geben«, befand die familien- spielzeug angestiegen. Unab-
politische Sprecherin der hängigkeit, ob nun körper­
Nachgezählt Unionsfraktion, Silvia Breher. licher oder ökonomischer
Aber ist wirklich der Kanz- Natur, hilft nicht nur bei der
Dauer von Staus auf deutschen Autobahnen, ler schuld, weil dessen dauer- Auswahl, sondern auch bei
in Stunden pro Jahr
streitenden Koalitionäre zu Abwahl eines potenziellen
2023 wenig Betreuungsplätze Kindsvaters. Frauen machen
427.000 ­schaffen, zu wenig günstige laut einer Umfrage häufiger
Wohnungen für Familien Schluss als Männer. Auch das
2022 ­bauen oder schlicht zu wenig ist ein gutes Zeichen für den
333.000 verteilt auf rund Lust auf Zukunft machen? Ist Stand der Gleichberechtigung
504.000 Staus der Rückgang der Geburten- in Deutschland.
2021 mit einer rate überhaupt ein Krisen­ Multiple Krisen? Schlechte
346.000 Gesamtlänge von
877.000 symptom? Stimmung? Mag sein. Über
Kilometern Dass die Deutschen weni- die sinkende Geburtenrate
2020
ger Kinder bekommen, könn- aber kann man sich – jeden-
256.000
te auch damit zusammenhän- falls als Frau – auch freuen.
2019
521.000 An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
Alexander Neubacher im Wechsel.
S Quelle: ADAC

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 9


CHAPPATTES WELT Lesung mit Netanya-
hus Bruder abgesagt
KULTURPOLITIK Die Deutsch-
Israelische Gesellschaft (DIG)
hat eine Veranstaltung mit Iddo
Netanyahu, dem Bruder des is-
raelischen Ministerpräsidenten
Benjamin Netanyahu, abgesagt.
Der Schriftsteller und gelernte
Mediziner war von der DIG
Berlin und Brandenburg einge-
laden worden, aus seinem Buch
»Itamar K.« zu lesen, einer Sati-
re über die angeblich linke is-
raelische Kulturindustrie. Jo-
chen Feilcke, der örtliche DIG-
Vorsitzende, begründete die
Absage damit, »dass der israeli-
sche Autor in Deutschland von
politisch weit rechts stehenden
Gruppen vereinnahmt wird und
sich auch vereinnahmen lässt.
Seine Vortragsreise findet außer
bei uns ausschließlich in poli-
tisch weit rechts stehenden Or-
ganisationen und Institutionen
statt«. DIG-Präsident Volker
Beck hatte zuvor intern auf Ne-
tanyahus Verbindungen zu neu-
Strauß-Tochter De Masi, der für das Bündnis ist die Tochter des früheren bay- rechten Kreisen hingewiesen.
Sahra Wagenknecht als Spitzen- erischen Ministerpräsidenten Im vergangenen Jahr gab
­verliert Prozess kandidat bei den Europawahlen Franz Josef Strauß. Das Gericht Netan­yahu der neurechten
PANDEMIE Die CSU-Europa- antritt, schrieb Ende Januar stellte nun fest, Hohlmeier habe »Jungen Freiheit« ein Interview.
abgeordnete Monika Hohlmeier auf X, dass »die liebe Frau Tandler »unstreitig« Kontakte Sein Buch erschien im extrem
ist vor dem Landgericht Ham- Tandler mit freundlicher Unter- »zu Ansprechpartnern in Be- rechten Gerhard Hess Verlag,
burg damit gescheitert, dem stützung von Frau Hohlmeier hörden vermittelt«. Sie habe der vom früheren AfD-Bundes-
Politiker Fabio De Masi einen Masken-Millionen scheffelte »einen objektiven Beitrag zu tagsabgeordneten Volker Münz
kritischen Kommentar zu ver- und Steuer-Millionen hinter- den kritisierten Aktivitäten von betrieben wird. Der ehemalige
bieten. Hintergrund ist der Fall zog«. Hohlmeier sah ihr Persön- Frau Tandler« geleistet. Dass Grünenparlamentarier Beck,
Andrea Tandler. Die Tochter lichkeitsrecht verletzt. Der Ein- Hohlmeier »wissentlich krimi- ein Kritiker der Nahostpolitik
des Ex-CSU-Generalsekretärs trag unterstelle ihr, Tandler bei nelle Machenschaften« Tandlers des grün geführten Auswärtigen
hatte dem Staat zu Beginn der Straftaten unterstützt zu haben, gefördert habe, lasse sich aus Amts, wurde wegen der Le-
Pandemie überteuerte Masken dabei habe sie aber noch nicht dem Eintrag aber nicht lesen. sungsabsage von AfD-nahen
vermittelt und wurde wegen einmal gewusst, dass Provisio- Hohlmeier hat Beschwerde ein- Kreisen »Juden-Selektion« vor-
Steuerhinterziehung verurteilt. nen geflossen seien. Hohlmeier gelegt. SMS geworfen. CSC

BSW-Großspender rin Sahra Wagenknecht«. In Staatssekretär experte profiliert. Er war Spre-


der vergangenen Woche war cher der rheinland-pfälzischen
für Regierungs­ eine Spende des Investors aus Hitschler steigt aus Landesgruppe, gehörte jahrelang
beteiligungen Mecklenburg-Vorpommern in der Politik aus dem Verteidigungsausschuss im
Höhe von knapp 4,1 Millionen Bundestag an und war außerdem
PARTEIEN Thomas Stanger, Euro an die Partei bekannt K ARRIEREN Thomas Hitschler, zwischen 2018 und 2020 Beauf-
Millionenspender und Mitglied geworden. Bereits im Januar 41, Parlamentarischer Staats­ tragter der Bundespartei für die
im Bündnis Sahra Wagen- hatte Stanger dem BSW fast sekretär im Verteidigungsres- Bundeswehr. 2021 ernannte die
knecht, spricht sich für Regie- eine Million Euro zukommen sort, zieht sich aus der Bundes- damalige Verteidigungsministe-
rungsbeteiligungen seiner Par- lassen. Weitere Zahlungen politik zurück. Der Sozialdemo- rin Christine Lambrecht, SPD,
tei aus. Man dürfe sich zwar schließt er nicht aus: »Nichts krat aus Landau sitzt seit 2013 Hitschler zum Parlamentarischen
»nicht als Mehrheitsbeschaffer« ist unmöglich, aber unseren im Bundestag. Zur Überra- Staatssekretär im Wehrressort.
missbrauchen lassen, sagte Mitteln sind, im Gegensatz zu schung seiner Parteifreunde Neben ihm wurde seine Partei-
Stanger dem SPIEGEL , »aber einigen Spe­kulationen, leider kündigte er jetzt an, dass er bei freundin Siemtje Möller Staats­
da, wo ein echter Einfluss auf Grenzen gesetzt.« Die »positi- der nächsten Bundestagswahl sekretärin. Beide blieben nach
die Politik möglich ist, sollte das ve Energie«, die von der neuen im Herbst 2025 nicht mehr kan- der Amtsübernahme von Boris
BSW sich auch in Regierungen Partei aus­gehe, dürfe nicht am didieren werde. Er wolle sich Pistorius im Amt und vertreten
beteiligen«. Persönlich hätten Geld scheitern. Stanger sagte, beruflich neu orientieren. Hit- den Minister regelmäßig im Ka-
er und seine Frau »natürlich er strebe weder Amt noch Man- schler hatte sich von Anfang an binett oder bei Terminen, wenn
auch nichts gegen eine Kanzle- dat an. BUC im Bundestag als Verteidigungs- dieser verhindert ist. MGB

10 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


»Der Pogrom ist in berichtet hat. Sie hat gesagt:
»Oma, ich fühle mich in Israel
unser Leben sicherer als in Deutschland.«
zurückgekehrt« Am nächsten Tag ist sie zurück­
geflogen.
Charlotte Knobloch, ­ SPIEGEL: Teilen Sie den Ein­
91, Prä­sidentin der Israelitischen druck?
Kultusgemeinde München, Knobloch: Nach dem 7. Oktober
wünscht sich mehr Beistand hat es viele Botschaften des
der Deutschen für Israel. Mitgefühls gegeben, aber diese
bleiben nun aus. Ich hatte ge­
SPIEGEL: Frau Knobloch, Ter­ hofft, dass Deutschland und die

Silas Bahr / DER SPIEGEL


rorangriff auf Israel vor knapp Welt Israel nach dem Terroran­
einem halben Jahr, Krieg gegen griff dauerhaft unterstützen
die Hamas in Gaza: Wie sehr würden.
hat sich das Leben in den jüdi­ SPIEGEL: Hat der Krieg in Gaza
schen Gemeinden in Deutsch­ die Veränderung gebracht?
land seither verändert? Knobloch: So schwierig die Lage

»Viele Bräuche finden


Knobloch: Sehr viele unserer in Gaza wegen des Krieges auch
Gemeindemitglieder haben Ver­ ist: Antisemitismus ist ein Pro­

heimlich statt«
wandte oder Freunde in Israel, blem, das auch ohne den Krieg
insofern belastet uns der Terror­ schon existiert hat. Ich wünsche
angriff weiterhin sehr. Ich selbst mir, dass man sich auf vielen
empfinde es so, dass der Ebenen zur Existenz Israels und
DIE AUGENZEUGIN Andrea Paulik, 57, lebt die Kultur
­Pogrom in unser Leben zurück­ zu jüdischem Leben bekennt
gekehrt ist. Denn so ein Pogrom und entsprechend handelt. der Sorben mit ihren besonderen Ostertraditionen.
waren die Morde und Gräuel­ SPIEGEL: Wer ist hier gefragt?
taten der Hamas, und nichts an­ Knobloch: Es würde zum Bei­ »In der Osternacht möchte ich nach. Erst da merkte ich, dass
deres folgt aus der Parole »From spiel helfen, wenn die demokra­ mit dem Fotoapparat durch wir anders, für sie fremd wa­
the river to the sea«. tischen Parteien hier stärker ge­ die Lausitz wandern. Viele ren. Obwohl die Sorben wohl
SPIEGEL: Wie sicher fühlen sich meinsam Flagge zeigen würden. unserer sorbischen Bräuche schon im siebten Jahrhundert
Jüdinnen und Juden in Deutsch­ Aber ich will mich nicht über finden heimlich statt, wenn die Lausitz besiedelten.
land? die Bundesregierung, über die keine Touristen dabei sind: Wir haben die Chance, vie­
Knobloch: Im Herbst trauten bayerische Staatsregierung oder Ostersingen, Osterwasserho­ les zu sein. Wir sprechen
sich bei uns manche Familien die Stadt München beschweren. len, Osterschießen oder Os­ Deutsch und Sorbisch, pen­
nicht, ihre Kinder in die Schule Es geht eher um unsere Gesell­ terschabernack – junge Män­ deln zwischen den Welten. Es
zu schicken. Und die Furcht vor schaft. ner blockieren mit allerlei ist eigentlich erstaunlich, dass
Angriffen ist immer noch da. SPIEGEL: Inwiefern? Zeug die Tore und Türen von wir in Deutschland unsere
Vor einigen Wochen erst wurde Knobloch: Zehntausende haben Mädchen, die sie verehren. Sprache und Kultur erhalten
unser Rabbiner auf der Straße im Januar in München gegen Die bekanntesten sorbi­ haben. Aber unsere sorbische
beleidigt. Und meine eigene die AfD demonstriert, ich war schen Ostertraditionen sind Insel ist eine Eisscholle, sie
Enkelin hat sich dagegen ent­ dabei. Das hat mich gefreut, das Osterreiten und das auf­ schmilzt. 137 Dörfer in der
schieden, in Deutschland zu denn die AfD will unsere De­ wendige Verzieren von Oster­ Lausitz wichen Kohlegruben,
bleiben, weil sie sich hier nicht mokratie zerstören. Aber wo eiern in Wachs-, Ätz- und Landstriche wurden entvöl­
sicher fühlte. bleiben die Demonstrationen Kratztechnik. Beim Osterrei­ kert. Viele Sorben haben ihre
SPIEGEL: Warum genau? für Israel? Wenn es hier Bekun­ ten ziehen Männer auf ge­ Sprache verlernt, zu viele.
Knobloch: Eigentlich lebt sie mit dungen gibt, zum Beispiel neu­ schmückten Pferden durch die Gleichzeitig gibt es junge
ihren beiden achtjährigen Kin­ lich am Weltfrauentag für die Dörfer und verkünden sin­ Menschen, die selbstbewusst
dern im Großraum Tel Aviv. Da geschundenen israelischen Gei­ gend die Auferstehung Christi. unsere Kultur leben. In meiner
die Kinder verängstigt waren seln, dann werden wir nieder­ Aber es gibt noch viel mehr Jugend trug kaum jemand
durch die Sirenen, die Blitze der gebrüllt. Bräuche. Ich ›sammle‹ sie, Tracht zu den Bräuchen oder
Raketenabwehr und die Aufent­ SPIEGEL: Sie leben seit Jahren auch die längst vergessenen. zur Hochzeit. Heute zeigt man
halte im Bunker, habe ich ihnen mit Personenschutz, jüdische Ich arbeite im Sorbischen Mu­ damit Identität, mixt kreativ
im Herbst angeboten, nach Einrichtungen müssen bewacht seum und habe meinen Le­ Folklore mit Hip-Hop. Brauch
München zu kommen. Doch werden. Wird das irgendwann benssinn darin gefunden, die kommt von Brauchen. Tradi­
schon nach drei Wochen, im No­ wieder besser werden? sorbische Kultur zu erhalten. tionen brauchen auch Wandel.
vember, wollte meine Enkelin Knobloch: Früher hatte ich da­ Meine Kultur. Zu Ostern kommen meine
zurück nach Israel. Vorausge­ rauf gehofft, aber leider ist das Ich komme aus einem ka­ Kinder aus Leipzig und Dres­
gangen war ein Vorfall in der Gegenteil eingetreten. FRI tholischen Dorf. Der Schorn­ den nach Hause. Mein Sohn
Münchner U-Bahn, wo einige steinfeger, die Gemeinde­ ist Osterreiter. Wir nehmen
Dave Bedrosian / Future Image / IMAGO

Menschen die Kinder feindlich schwester und eine Adlige wa­ uns dann vermutlich am
angeschaut hatten, weil sie He­ ren die einzigen Menschen, Samstag Zeit, Ostereier zu
bräisch sprachen. Meine Enkelin die Deutsch sprachen. Und verzieren, um sie zu verschen­
ist mit ihnen dann an der nächs­ die Schlagersänger aus dem ken und auch selbst zu essen,
ten Haltestelle ausgestiegen. Radio. Meine Mutter trug denn das ist schließlich der
SPIEGEL: Es gab einen Übergriff? Tracht. Wenn wir in Bautzen Zweck eines Ostereies!«
Knobloch: Ich war nicht dabei, Knobloch waren, schauten die Leute uns Aufgezeichnet von Fabian Hillebrand
ich kann nur erzählen, was sie

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 11


DEUTSCHLAND

Markus Hintzen / DER SPIEGEL


Generalsekretär Djir-Sarai

In der Todeszone
KOALITION Die FDP benimmt sich mitunter wie eine Oppositionspartei, doch es nützt ihr nicht.
Mitglieder treten aus, die Umfragen sind schlecht. Wofür stehen die Liberalen,
wie können sie überleben? Eine Reise an die Basis. Von Christoph Schult und Severin Weiland

I
n Korschenbroich ist die liberale Welt an diesem Tag der Wiederwahl als Vorsitzen- liche Vorsitzende der Jungen Liberalen (Juli)
noch in Ordnung. Jedenfalls an diesem der. Sein Vorteil, um sich bei der Parteibasis nennt.
Vormittag. Rund 120 Mitglieder sind an beliebt zu machen: Er ist nicht Mitglied des »Wir werden überall von den Menschen als
einem Samstag Anfang März zum Parteitag Kabinetts und muss daher auf die Regierungs- Regierungspartei wahrgenommen«, sagt Djir-
des FDP-Bezirksverbands Düsseldorf in die koalition wenig Rücksicht nehmen. Diesen Sarai. »Eine Regierungspartei ist immer gut,
Aula der örtlichen Realschule gekommen. Auf Vorteil hat er in den vergangenen Monaten wenn sie die Probleme löst. Eine Regierungs-
ein kritisches Wort zur Parteiführung in Ber- reichlich ausgenutzt. partei ist dagegen total unattraktiv, wenn die
lin wartet man hier vergebens. Je schlechter die Umfragewerte der Partei Menschen draußen das Gefühl haben, die sind
Vielleicht liegt es an den gutmütigen wurden, desto härter übte der Generalsekre- mit sich selbst beschäftigt. Es gibt nichts, was
Rheinländern, vielleicht auch daran, dass die tär Kritik an der Ampel, vor allem an den ich mehr hasse, als Selbstbeschäftigung.«
liberale Spitzenkandidatin zur Europawahl, Grünen. Manche Äußerung nährte Spekula- Strack-Zimmermann, die es ebenfalls zu
Marie-Agnes Strack-Zimmermann, ihre Par- tionen auf ein vorzeitiges Ende der Koalition. einem politischen Geschäftsmodell erhoben
teifreunde gewarnt hat, der SPIEGEL sei ­heute Manchmal sei man mehr General, manch- hat, nicht Mitglied des Kabinetts zu sein,
zu Besuch. mal mehr Sekretär, witzelt Djir-Sarai vor schnappt sich das Mikro und tritt vor das Red-
Wahrscheinlich aber liegt es am Bezirks- den FDP-Mitgliedern in Korschenbroich. An nerpult. »Du machst einen super Job«, lobt
vorsitzenden. Er heißt Bijan Djir-Sarai, ist diesem Vormittag gibt er sich staatstragend, sie Djir-Sarai. »Diese große, stolze Partei bei
47 Jahre alt und im Hauptberuf General­ schließlich hat er hinlänglich bewiesen, Laune zu halten ist in der Situation, in der wir
sekretär der Bundes-FDP. Djir-Sarai stellt sich dass er auch »FDP pur« kann, wie es der ört- sind, politisch, nichts für Weicheier.«

12 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


Markus Hintzen / DER SPIEGEL
DEUTSCHLAND

Abgeordneter Mansmann

Eine große, stolze Partei? Müsste sie auf einen Befreiungsschlag und Wissing, ein Deutschlandticket für
die Frage angesichts der Lage der darauf, in der Ampel aufzufallen. Busse und Bahnen einzuführen.
­Liberalen nicht eher lauten: Wofür Die staatstragenden Worte des Ge­ Doch all das rechnen die Bürgerin­
braucht das Land die Freie Demo­ neralsekretärs in Korschenbroich sind nen und Bürger selten den Liberalen
kratische Partei überhaupt noch? das eine, das andere ist die politische an, zumindest werden sie in den Zu­
Die FDP, im vergangenen Dezem­ Realität in Berlin. Die FDP agiert oft stimmungswerten nicht honoriert.
ber 75 Jahre alt geworden, wirkt in wie eine Oppositionspartei in der Während die Grünen ihren Stimm­
diesen Tagen ratlos und verun­ ­Koalition. Sie fremdelt, ist laut, grenzt anteil in den Umfragen seit der Bun­
sichert. Der Eintritt in die Ampel­ sich ab. Auch die Grünen leiden an destagswahl etwa halten konnten,
koalition vor gut zwei Jahren hat ihr der Ampel, aber sie ordnen sich dann gerät die FDP in die politische Todes­
nicht gutgetan. Die Zahl der Mitglie­ öfter unter. Für sie schwierige Be­ zone. In bundesweiten Umfragen
der sank, zum Jahresende waren es schlüsse wie Waffenexporte in Kriegs­ schrammt sie an der Fünfprozent­
71.820, 4250 weniger als noch 2022. gebiete oder Asylzentren an den hürde entlang.
Bei sieben Landtagswahlen seit Be­ EU-Außengrenzen haben sie am Ende Umso erstaunlicher ist es, mit welch
ginn der Koalition verloren die Li­ ohne größere Verwerfungen mitge­ scheinbarer Ruhe die Liberalen ihren
beralen an Zustimmung, zum Teil in tragen. Bedeutungsverlust hinnehmen. Noch

71.820
verheerenden Niederlagen. In drei Die Liberalen wirken so, als hätten gibt es in der FDP keine offenen
Ländern flogen sie aus dem Par­ sie sich bis heute nicht wirklich arran­ Schlachten wie zu Zeiten von FDP-
lament. giert in diesem Dreierbündnis, ob­ Chef Guido Westerwelle. Der Partei­
In diesem Jahr dürfte es bei den wohl ihre Politik in der Koalition teil­ Mitglieder vorsitzende Christian Lindner ist trotz
drei Landtagswahlen im Osten der weise erfolgreich war. Das Heizungs­ der desaströsen Umfragen fest im
Republik für die FDP nicht besser
ausgehen. Auch bei der Europawahl
gesetz vom grünen Vizekanzler Ro­
bert Habeck konnten sie schleifen,
hatte die Amt. Allerdings wird das Rumoren in
der Partei lauter, eine FDP-Mitglieder­
im Juni, wo die Parteiführung große die Steuerlast für 2024 um 15 Milliar­ FDP zum befragung für einen Austritt aus der
Hoffnungen auf ihre prominente den Euro senken, die Schuldenbrem­ Jahres­ende Ampel fiel über den Jahreswechsel
­Spitzenkandidatin Strack-Zimmer­ se wieder einhalten, die Aktienrente extrem knapp aus: Nur 52 Prozent
mann setzt, ist die Lage bedrohlich. einführen. Für sie wichtige gesell­
2023. Das stimmten gegen einen Ausstieg aus der
Die Umfragen schwanken zwischen schaftliche Reformen, wie die Ände­ waren 4250 ungeliebten Koalition.
drei und sechs Prozent. Auf ihrem rung des Staatsangehörigkeits- und Mitglieder Dass es am Ende noch mal gut für
Bundesparteitag im April setzen die Einwanderungsrechts, wurden ange­ die Parteiführung ausging, war auch
Liberalen auf eine »Wirtschafts­ packt. Nicht zu vergessen die Idee weniger als der Verdienst von Generalsekretär
wende«. Mit dieser Forderung hoffen von FDP-Verkehrsminister Volker im Jahr zuvor. Djir-Sarai. Er zog die Mitgliederbefra­

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 13


DEUTSCHLAND

gung in wenigen Wochen durch, ohne Regio-


nalkonferenzen oder andere Streitformate.
Djir-Sarai hatte zu schwarz-gelben Zeiten
selbst erlebt, wie sich die Partei in der Debat-
te über sich selbst demontierte. Noch einmal
sollte das nicht geschehen.
Doch die Unzufriedenheit ist groß, wie
eine Reise an die Parteibasis zeigt.

Heppenheim, Hessen
Till Mansmann, 56, ist politisch gesehen ein
Spätberufener. Er arbeitete als Journalist,
gründete eine Softwarefirma und trat erst mit
37 Jahren in die FDP ein, 2017 wurde er in
den Bundestag gewählt. Aber er vertritt einen
Wahlkreis, der für die FDP historische Be-
deutung hat.

Hans-Christian Plambeck / laif


In der südhessischen Stadt waren 1847 füh-
rende Liberale zur »Heppenheimer Versamm-
lung« zusammengekommen, eine Wegmarke
der 1848er-Revolution. Ein Jahrhundert spä-
ter wurde im Kurmainzer Amtshof die FDP
gegründet. Von der Fensterfront seines Wahl-
kreisbüros in der malerischen Altstadt kann Parteichef Lindner vor Wahlplakat Strack-Zimmermanns: Steht die FDP eher rechts oder links?
Mansmann die Rückseite des Gebäudes se-
hen, in dem die Liberalen um den späteren relativ gleich groß sind und dass bei einer Leute, das tut weh«, sagt der Bensheimer.
Bundespräsidenten Theodor Heuss im De- Regierungsbeteiligung immer die Hälfte der Überraschenderweise seien aber auch Men-
zember 1948 zusammenkamen. Partei nicht zufrieden ist.« schen in die FDP eingetreten. Sie sorgten sich
Damals galt es, die zerstrittenen Strömun- Der Ärger der Mitglieder über die Ampel um die freiheitlich demokratische Grund­
gen zwischen linken und nationalen Liberalen sei groß, berichten alle drei. Fraktionschef ordnung und fänden die FDP dafür wichtig,
zusammenzubringen. Ein Gegensatz, der in Diehlmann hat noch keine Austritte zu be- sagt Hausmann. »Die haben die Tagespolitik
der Zeit des Wilhelminismus aufgebrochen klagen. Es sei aber harte Arbeit, Mitglieder zur Seite geschoben. Das hatte ich nicht
war und in der Weimarer Republik in unter- zum Bleiben zu bewegen. »Nach meiner ­erwartet.«
schiedlichen Parteien fortgelebt hatte. Es ging, ­Erfahrung ist es unheimlich wichtig, in so Die drei Liberalen sind sich einig, dass der
verkürzt, auch immer um die Frage, was Vor- ­kritischen Zeiten ganz eng bei den Leuten zu Start der Ampel für die FDP eigentlich gut
rang hatte – das Bekenntnis zu den Freiheits- sein«, sagt Diehlmann. »Wenn mir einer eine lief. Doch dann kam der Krieg Russlands
rechten oder zu Nation und Wirtschaft. Steht WhatsApp schickt und sagt, was das für ein gegen die Ukraine, dann das Heizungsgesetz.
die FDP eher rechts oder links? Eine existen- totaler Mist ist, was die FDP da in Berlin mit- »Das war der große Knackpunkt für viele
zielle Frage, damals wie heute. beschlossen hat, kann ich das mit Informatio- unserer Mitglieder«, sagt Diehlmann. »Die
In Heppenheim ging es turbulent zu, die nen relativieren.« Viele sagten danach, das hatten den Eindruck, dass es nicht nur hand-
Flügel lagen im Streit, schließlich gelang die hätten sie gar nicht gewusst. werklich schlecht gemacht war, sondern auch
Gründung. Die Partei wurde zu einer prägen- Hausmann dagegen berichtet von Austrit- in die falsche Richtung ging.«
den Kraft in der Bundesrepublik, im Bund, in ten. »Wir haben ein paar Dauernörgler ver- Warum aber die vielen von der FDP durch-
den Ländern. Wie viel davon ist noch übrig? loren, aber auch einige gute, grundliberale gesetzten Änderungen am Heizungsgesetz
Der FDP-Abgeordnete Mansmann hat drei bis heute nicht richtig bei vielen FDP-­
Generationen der Partei in sein Büro geladen: Mitgliedern ankamen, darüber rätseln sie in
Ole Wilkening, 22, Jascha Hausmann, 39, und Freier Fall Heppenheim.
Gernot Diehlmann, 58. Juli-Vertreter Wilkening beklagt, die Am-
Er sei ordoliberal, sagt Wilkening, stellver- »Welche Partei würden Sie wählen, wenn am pel habe »in gewissen Punkten die Deutungs-
kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre?«,
tretender Vorsitzender der Jungen Liberalen Antwort: FDP, Angaben in Prozent hoheit über den Diskurs verloren«. Er habe
in Hessen. im vergangenen Jahr im hessischen Landtags-
»Ich bin klar konservativ-liberal«, sagt 12 Bundestagswahlergebnis wahlkampf auf die Verdienste am Heizungs-
Hausmann, er ist Vorsitzender des FDP-Stadt- vom 26. September 2021: gesetz hingewiesen. »Aber damit bin ich
verbands Bensheim. 11,5 ­nirgendwo mehr durchgekommen. Es hieß
»Ich würde mich keiner dieser Richtungen immer: ›Ihr macht als FDP da mit.‹«
zuordnen«, sagt Diehlmann, Fraktions- und 8 Diehlmann findet, die Ampel streite öf-
Parteivorsitzender im benachbarten Lampert- fentlich zu viel. »Ich würde mir wünschen,
heim. »Ich mache Sozial- und Bildungspolitik.« dass die Koalitionäre sich streiten und dann
Wirtschaftspolitisch könne man sich eher 5-Prozent-Hürde 5* zu einer Einigung kommen im Bewusstsein,
einigen, sagen die drei, aber gesellschaftspoli- 4 dass das die einzig richtige Vorgehensweise
tisch gebe es schon Unterschiede, aktuell sor- ist. Keiner hat etwas davon, wenn hinterher
gen Gendersprache und das Demokratieför- der Sack wieder aufgemacht wird und die
dergesetz in der Partei für Diskussionen. ganze Diskussion von vorn anfängt. Das führt
Juli-Mann Wilkening glaubt, dass dies eine 0 zu Unzufriedenheit und Frustration.«
Erklärung für die Unzufriedenheit vieler 2021 2022 2023 2024 Hausmann sieht das anders. »Ich habe
FDP-Anhänger mit der Ampel ist. »Es ist ge- * Umfragefragezeitraum: 4. bis 6. März 2024 kein Problem damit, wenn diskutiert wird
nerell eines der größten Dilemmata, dass die- S Quelle: Infratest dimap-Umfragen für ARD-Deutschlandtrend, und man mit den unterschiedlichen Stand-
ƒ

jeweils zwischen 1025 und 1520 Befragte, die Schwankungs-


se verschiedenen Strömungen in der Partei breite beträgt für alle Umfragen zwei Prozentpunkte punkten auch in die Öffentlichkeit geht«, sagt

14 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


DEUTSCHLAND

Mehr als 200.000 Euro seien bereits zusam-


mengekommen.
So viel Distanz zur Bundespartei wie mög-
lich, das ist Kemmerichs Devise. Im Europa-
wahlkampf hat er sich auch Auftritte der Spit-
zenkandidatin Strack-Zimmermann verbeten,
sie zählt zu seinen schärfsten Kritikern.
Auf Strack-Zimmermann sind hier viele
nicht gut zu sprechen. Ihr proukrainischer
Kurs komme bei vielen Thüringern nicht an,
sagt Marko Enke, 47, Regionaldirektor einer
Krankenkasse und FDP-Mitglied. Mit Hans-
Dietrich Genscher, dem früheren FDP-Außen-
minister, »hätten wir längst Frieden«, glaubt
Enke.
»Viele Ältere haben Angst, dass der Krieg
irgendwann zu uns kommt, das muss man
Thomas Victor / DER SPIEGEL

auch ernst nehmen«, sagt Christian Stonek,


47, FDP-Stadtrat aus Arnstadt. Der Betriebs-
leiter und Handwerksmeister erzählt von der
großen Wut vieler im Osten auf »die da in
Berlin«. Die Leute, sagt Stonek, machten
einen Unterschied »zwischen der Bundes-
Landesvorsitzender Kemmerich in Erfurt: »Wir können nicht einfach abhauen« partei und der FDP von Thomas Kemme-
rich«.
er. »Unsere Mitglieder wollen spüren, dass Der Ortsteilbürgermeister Christian Polo­ Am nächsten Tag hat Kemmerich in einem
es wehgetan hat, einen Kompromiss zu czek-Becher, ein FDP-Mann, klopft ihm auf Weimarer Hotel einen Termin vor Unterneh-
schließen.« Würden die Ergebnisse geräusch- die Schulter. Kemmerich lächelt. Einst habe mern des CDU-nahen Wirtschaftsrats. Es
los verkündet, gäbe es mehr Austritte, glaubt ihm auch FDP-Chef Lindner zum Geburtstag dauert nicht lange, da fragt ihn der Landes-
der Lokalpolitiker. gratuliert, sagt er, aber das sei lange her. geschäftsführer des Wirtschaftsrats, Christian
Der Streit um den Haushalt ging allerdings Vor gut vier Jahren wurde Kemmerich für Queißer: »Warum zieht die FDP nicht die
auch Hausmann zu weit. Dass Finanzminister die Bundesspitze zum Outlaw. Am 5. Fe­bruar Notbremse, macht den Weg frei für Neu­
Christian Lindner zusammen mit dem grünen 2020 ließ er sich mit den Stimmen von CDU wahlen?«
Landwirtschaftsminister Cem Özdemir die und AfD zum Ministerpräsidenten wählen. Es ist ein Moment, in dem Kemmerich die
beschlossenen Kürzungen beim Agrardiesel Es gab Proteste in ganz Deutschland, die FDP Rolle wechseln muss: Der Verfemte muss für
bei aller berechtigten Kritik daran gleich wie- mit Lindner an der Spitze rückte von ihm ab, die Bundespartei sprechen. »Wir können
der infrage gestellt hat, habe er »da draußen« schließlich kündigte Kemmerich seinen Rück- nicht einfach abhauen, das wäre eine fast ver-
nur schwer erklären können, sagt Hausmann. tritt an. Mittlerweile weiß er seinen Ruf als antwortungslose Entscheidung«, sagt er. Es
Mansmann, der Gastgeber dieses Treffens, Außenseiter zu nutzen. sei daher besser, »dabeizubleiben und zu ge-
hat die meiste Zeit zugehört, jetzt meldet er An diesem Abend stellt sich Kemmerich stalten als es laufen zu lassen«. Kemmerich
sich zu Wort. Er sehe in den Botschaften einen vor seine Parteifreunde, 23 sind gekommen. bleibt am Ende doch ein Gefangener seiner
Widerspruch, sagt der Bundestagsabgeord- Auf eine Leinwand wird das FDP-Programm Partei.
nete: »Macht eine professionelle, geräusch- für die Kommunalwahl in Erfurt im Mai pro-
lose Regierungsarbeit, macht dabei aber sehr jiziert. Man wolle die fünf Prozent vom letz- Kassel, Hessen
deutlich, dass ihr die linke Politik insbeson- ten Mal verteidigen, sagt Kemmerich. »Wir Der Mann, der die Liberalen in Berlin das
dere der Grünen nicht mitmacht. Ich soll also haben gezeigt, dass wir in diesem Umfeld Fürchten lehrte, empfängt Mitte März in sei-
in Berlin den Grünen harmonisch eine rein- ­bestehen konnten.« nem riesigen Arbeitszimmer im Rathaus in
hauen. Das ist ein schwieriger Auftrag.« Kemmerich ist das Gegenmodell zur Am- Kassel. Matthias Nölke, 44, ist Kämmerer und
Mansmann, in der FDP-Fraktion für Ent- pel in Berlin, er setzt sich bewusst von ihr ab. Wirtschaftsdezernent der Stadt, er kommt
wicklungspolitik zuständig, sagt, dass er Pola- Für die Landtagswahl Anfang September aus einer fünfstündigen Sitzung.
risierung nicht hilfreich finde. »Ich mag dif- wirbt er für eine Deutschlandkoalition aus Nölke hat im vergangenen Herbst die Mit-
ferenzierte, sachliche Diskussionen. Dafür CDU, SPD und FDP. Derzeit liegt seine Par- gliederbefragung für einen Austritt aus der
braucht man Zeit.« Dann kochten die Emo- tei in Thüringen unter fünf Prozent. Ampel angeschoben, das Vorhaben scheiter-
tionen nicht so hoch, die Entscheidungen wür- Kemmerich, der Mann aus dem Rheinland, te knapp. Er kann es eigentlich noch immer
den besser, glaubt der Liberale, »und am Ende der nach der Wende in den Osten ging, will nicht fassen. »Das Land fährt wie die ›Titanic‹
auch leichter akzeptiert«. dennoch das Wunder von Erfurt versuchen. auf einen Eisberg zu, und die FDP steht mit
Für den Wahlkampf bekommt er diesmal auf der Kommandobrücke«, sagt er.
Erfurt, Thüringen kein Geld von der Bundespartei, er hat Nölke, seit 1998 in der Partei, ist für man-
Mitte Februar, im ersten Stock des Bürger- ein Konto für private Spenden eingerichtet. che FDP-Abgeordnete in Berlin seitdem ein
hauses in Vieselbach, einem Stadtteil am rotes Tuch. »Rumnölken« ist in der Partei
­Rande von Erfurt. Der Thüringer FDP-Lan- zum festen Begriff geworden. Der Namens-
deschef Thomas Kemmerich betritt einen geber nimmt es ironisch: »Vielleicht schaffe
schmucklosen Saal. Ein paar Tische und Stüh- ich es damit noch in den Duden.«
le, eine Leinwand, sein Kreisverband tagt. »Bei einer Regierungsbetei- Er nennt sich einen »bürgerlich-konserva-
Am Vortag ist Kemmerich 59 Jahre alt ge- ligung ist immer die Hälfte tiven Liberalen«, im Herbst 2021 hat er auf
worden. Einige der Anwesenden stehen auf, dem Bundesparteitag gegen die Beteiligung
sprechen ihm ihre Glückwünsche aus, eine der Partei nicht zufrieden.« an der Ampel gestimmt. Wenn er über die
Frau umarmt ihn. Ole Wilkening, Jungliberaler Zukunft seiner Partei spricht, gibt es kaum

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 15


DEUTSCHLAND

Djir-Sarai hatte im Interview mit der »Bild


am Sonntag« gesagt, er sei »fest davon über-
zeugt, dass eine bürgerliche Koalition aus
CDU, CSU und FDP in der Lage wäre, die
Probleme des Landes nicht nur gemeinsam
richtig zu analysieren, sondern tatsächlich
auch gemeinsam Lösungen zu finden«.
Es war ein Faustschlag gegen Grüne und
SPD, nicht der erste. Angeblich war die Aus-
sage nicht mit Parteichef Lindner abge­
sprochen.
Ihm sei es darum gegangen, den CDU-
Wählerinnen und Wählern zu signalisieren,
dass die FDP für sie bei der nächsten Bundes-
tagswahl eine Option sein könnte, sagt Djir-
Sarai. »30 Prozent der Wähler der Union
können sich vorstellen, die FDP zu wählen.«

Markus Hintzen / DER SPIEGEL


Manche von diesen seien nicht zufrieden mit
der Amtsführung von CDU-Chef Friedrich
Merz.
Die Reaktion von Merz auf sein Interview
war für den FDP-Generalsekretär aufschluss-
reich. Der CDU-Vorsitzende ging nicht auf
Ampelgegner Nölke: »Diesmal könnte es das Ende sein«
Djir-Sarais schwarz-gelbes Plädoyer ein. Statt-
dessen sagte Merz, er werde um FDP-­An­
Licht, aber viel Schatten. Viele in der FDP, das Theaterstück von Bertolt Brecht »Mutter hänger werben, sollten die Liberalen »vor
die Verantwortung in Berlin trügen, »sind Courage und ihre Kinder«, in dem gehe es einem erneuten Aus« stehen. Ausdrücklich
linker als unsere bürgerliche Wählerschaft«, doch um eine Frau, die Geschäfte mit dem schloss er eine Koalition mit den Grünen nach
sagt der Kasseler. »Sie glauben oder haben Krieg mache. »Wasser auf die Mühlen ihrer der nächsten Bundestagswahl nicht aus.
gehofft, die Beteiligung an der Ampel könnte Kritiker«, sagt Nölke. »Ist das niemandem Die größte Gefahr für die FDP aber droht
unsere Anhängerschaft verbreitern.« Das aufgefallen in der Führung?« wohl nicht von der CDU, sie lauert in der
Gegenteil sei der Fall, was man an den Um- Den Kasseler Kämmerer beschleicht ein eigenen Koalition.
fragen und Wahlergebnissen sehe. apokalyptisches Bild. Wenn es 2025 »ganz Ende Januar, in der Etatdebatte im Bundes-
Die Ironie der Geschichte ist, dass Nölke dicke« kommt, werde Parteichef Lindner der- tag, kommt es zu einer denkwürdigen Szene.
im Rathaus nur deshalb im Amt ist, weil seine jenige sein, der die FDP zwar zurück in den SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich bietet auf
FDP mit CDU und Grünen in einer Jamaika- Bundestag gebracht habe, aber sie dann zum offener Bühne Unionsfraktionschef Merz an,
koalition regiert. Also in einem Bündnis, dem zweiten Mal in die außerparlamentarische »über eine Reform der Schuldenbremse im
Lindner im Herbst 2017 im Bund eine ­Absage Opposition führen müsse. »Nur diesmal Grundgesetz zu reden«. Es ist ein Affront
erteilt hatte. könnte es das Ende sein«, sagt Nölke. »Für gegen die FDP, eine Attacke auf ihr Allerhei-
In Kassel, sagt Nölke, würden sich die Ver- ihn und für die FDP.« ligstes, die Haushaltsdisziplin mittels Schul-
treter der Parteien gut kennen, dort seien die denbremse. Für manche Liberalen wirken
Grünen »pragmatisch, konstruktiv«, auch Korschenbroich, Nordrhein-Westfalen Mützenichs Worte wie ein Angebot zum Koa­
gehe es nicht um die großen Themen wie Mi- Bijan Djir-Sarai, der Generalsekretär, sieht es litionsbruch.
gration oder Energiewende. »Im Bund nehme als seine Aufgabe an, solche Szenarien zu ver- In diesem Moment verlässt Parteichef
ich die Grünen als ideologische Bremsklötze hindern. Er zeigt gute Laune. Der Bezirks- Lindner die Regierungsbank, geht zur FDP-
wahr«, sagt er. Mit der Ampel im Bund sei es verband hat ihn in Korschenbroich gerade Fraktion hinüber, setzt sich neben seinen Ge-
wie mit einem Hemd: »Haben Sie es oben mit 98,3 Prozent als Vorsitzenden wieder- neralsekretär und redet auf ihn ein. Djir-Sarai
falsch zugeknöpft, stimmt es auch unten nicht gewählt. »Es ist nicht immer so einfach, wie soll offenbar kontern, er muss umplanen und
mehr. Genauso passen die Koalitionspartner es aussieht«, bedankt sich Djir-Sarai bei den improvisieren, seine Rede wird zur Abrech-
nicht zusammen.« Mitgliedern. »Deshalb tut es wahnsinnig gut, nung. »Bemerkenswert« sei das, was der »lie-
Wie aber wird es für die FDP weitergehen? hier zu Hause so ein gutes Ergebnis zu be Rolf« da gesagt habe, sagt Djir-Sarai.
Glaubt man der Parteiführung im Bund, ­bekommen.« Der Generalsekretär wirkt in diesem Mo-
kann es nur noch besser werden. Sein Ziel sei »Die Stimmung war um den Jahreswechsel ment geradezu befreit, als wäre er im Wahl-
es, die FDP so stark zu machen, dass sie bei nicht so gut, aber jetzt ist sie wieder gut«, sagt kampf, als gäbe es diese Ampel schon nicht
der nächsten Bundestagswahl wieder zwei- Djir-Sarai später bei einem Spaziergang durch mehr. »Wir haben ein anderes Staatsverständ-
stellig abschneide, erklärte Parteivize Wolf- Korschenbroich. Die Umfragewerte für die nis als ihr. Das ist der große Unterschied«,
gang Kubicki jüngst im Deutschlandfunk. FDP, die für die Parteizentrale Woche für Wo- ruft er ins Mikrofon. Für die Liberalen sei das
Ähnlich redet auch Parteichef Lindner. che von verschiedenen Instituten erhoben Geld des Steuerzahlers »nicht eine beliebige
Nölke kann darüber nur staunen. »Das ist werden, waren im Februar leicht gestiegen. Verteilungsmasse«.
das berühmte Pfeifen im Walde. Ich befürch- Lindner beobachtet den Auftritt aufmerk-
te, es wird eher düster ausgehen, wenn wir sam von der Regierungsbank. Das Gesicht
nicht aus der Ampel aussteigen«, sagt er. des FDP-Chefs verrät, dass er mit seinem Ge-
Für die Europawahl im Juni schwant ihm neralsekretär offenbar sehr zufrieden ist.
nichts Gutes. Gerade hat die FDP in Berlin »30 Prozent der Wähler der »Das war, glaube ich, eine Rede, die der
ein Plakat mit einem Motiv von Strack-Zim- Union können sich vor­ Seele der Partei gutgetan hat«, sagt Djir-Sarai
mermann vorgestellt, darauf steht in großen auf dem Spaziergang.
Lettern »Oma Courage«. Das sei, sagt Nölke, stellen, die FDP zu wählen.« Es war vor allem eine Rede, in der sich die
»geradezu abenteuerlich«. Er denke da an Bijan Djir-Sarai, FDP-Generalsekretär wahre FDP offenbarte.  n

16 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


DEUTSCHLAND

auf Staaten außerhalb der Region. Von jener Zeit an haben die Behörden
Nach dem Anschlag bei Moskau stellt auch die Thüringer Zelle überwacht,
sich die Frage, wie gefährlich der Ab- der Hinweis kam offenbar von einem
leger hierzulande werden kann. ausländischen Geheimdienst. In sei-

Ziel Moabit
Sicherheitsbehörden und Terroris- ner ­Terrorpostille »Voice of Khora-
musexperten halten den ISPK für die san« hetzte der ISPK gegen das Land.
derzeit größte islamistische Bedro- Die Gruppe zeigte Fotos von schwe-
hung in Deutschland. Die Zahl der dischen Märkten und Fußballfans mit
Verdachtsfälle, mit denen sich das blau-gelben Flaggen, dazu ein Aufruf
TERRORISMUS Der »Islamische Staat« in Gemeinsame Terrorismusabwehrzen- an Islamisten in Europa: »Führe einen
trum in Berlin beschäftigt, ist deutlich Schlag durch, der ihnen die Herzen
­Zentralasien soll hinter dem Anschlag bei Moskau gestiegen. In mehreren Fällen gelang herausreißt.« Schüsse, Bomben, Mes-
stecken. In Deutschland durchkreuzten es den Beamtinnen und Beamten, An- ser – die Mittel seien egal.
Ermittler schon mehrmals Terrorpläne der Gruppe. schlagspläne zu durchkreuzen. Auch zu Terror in Deutschland ruft
»Die Terrorgefahr ist noch nicht der ISPK in der Postille indirekt auf.
so groß wie zur Hochphase des IS in Auf einem Foto ist die Ibn-Rushd-

W
as die Terrorfahnder mitbe- ­Syrien und im Irak«, sagt Guido Stein- Goethe-Moschee in Berlin-Moabit zu
kamen, als sie im Frühsom- berg von der Berliner Stiftung Wissen- sehen, samt Regenbogenflagge an der
mer 2023 eine Gruppe von schaft und Politik. »Aber sie ist real.« Fassade. In dem liberalen Gotteshaus
Islamisten überwachten, klang be- Besonders während Großevents wie sind Homosexuelle willkommen. Für
sorgniserregend. Die Männer waren der Fußball-EM müssten die Behörden den ISPK ist es eine »Gebetsstätte des
Uli Deck / picture alliance

vor dem russischen Angriff gegen die wachsam sein, mahnt der Experte. Teufels«. Der Generalbundesanwalt
Ukraine nach Deutschland geflohen. Der ISPK versucht, radikalisierte geht davon aus, dass die 2023 in
Und hegten nun offenbar blutige Plä- Jugendliche in Deutschland anzusta- Deutschland festgenommene Zelle auf
ne gegen das Land, das ihnen Unter- cheln, wie im Fall zweier Schüler aus solche Hetze Taten folgen lassen woll-
schlupf gewährte. Iserlohn und Bremerhaven. Von Juni te. Die von der Anwältin Seyran Ateş
Ihm sei von einem Kontakt in der Generalbundes­ 2022 an instruierte ein tadschikischer mitgegründete Moschee sei ein mög-
Ukraine für 5000 Euro eine Stinger- anwalt Rommel: Kämpfer der Terrorgruppe, der früher liches Terrorziel gewesen, heißt es in
Flugabwehrrakete zum Kauf angebo- Anklage gegen in Deutschland gelebt hatte, von Af- einem Haftbeschluss.
ten worden, soll einer der Islamisten mutmaßliche ghanistan aus einen der Teenager Zeitgleich mit den sieben Verdäch-
IS-Terroristen
getönt haben. Auch eine Makarow-Pis- über das Internet. Der zweite Jugend- tigen nahmen Polizisten den mutmaß-
tole hätte er beschaffen können, so der liche bekam aus der Ferne Tipps zum lichen Kopf der Zelle fest, den
Turkmene Ata A. Ihm habe allerdings Bombenbau, später wollte er ein Mes- Tadschi­ken Abdusamad A. Er lebte
das Geld gefehlt. Außerdem sei er un- serattentat auf Polizisten begehen. als Flüchtling in Breda im Süden der
sicher gewesen, ob der Islam erlaube, Zuletzt nahmen Fahnder zwei Af- Niederlande. Über einen Informan-
von »Ungläubigen« Waffen zu kaufen. ghanen in Gera fest. Sie sollen einen ten in seinem Umfeld erfuhren die
Er und sechs weitere Verdächti- Anschlag auf das schwedische Parla- Ermittler, dass A. einen Treueeid auf
ge – alle aus Zentralasien – sitzen in- ment geplant haben – auf Geheiß des den IS geschworen habe. Man müsse
zwischen in Untersuchungshaft. Ge- ISPK. Im Herbst fuhren die Männer sich noch ein wenig gedulden, soll er
neralbundesanwalt Jens Rommel von Thüringen über Bayern nach erklärt ­haben, es sei etwas Großes
wird sie voraussichtlich in den kom- Tschechien und versuchten dort wohl, geplant. Seine Anwältin war für eine
menden Wochen anklagen. Laut Waffen zu kaufen, ohne größeren Er- Stellungnahme nicht zu erreichen.
Justiz­akten könnten sie Anschläge auf folg. Bei einer Grenzkontrolle auf dem Dass mit den Verhaftungen die Ge-
jüdische Einrichtungen in Deutsch- Rückweg fand die Polizei nur einen fahr wohl nicht gebannt war, zeigte
land oder auf eine bei Fundamenta- Schlagring. Auch weitere Beschaf- sich zu Weihnachten. Am Tag vor
listen verhasste liberale Moschee in fungsversuche scheiterten offenbar. Heilig­abend nahm die nordrhein-
Berlin geplant haben. Einer der Isla- Der Hass auf Schweden sitzt tief westfälische Polizei einen Kontakt-
misten soll getestet haben, ob ein bei den Anhängern der Terrorgruppe, mann der mutmaßlichen Terror­
­Koffer die richtige Größe habe, um seit dort im Jahr 2023 Provokateure zelle präventiv in Gewahrsam. Der
darin eine Bombe unterzubringen. Koranausgaben verbrannt haben. Tadschi­ ke Mukhammadrajab B.
Nach dem Anschlag auf die Crocus- könnte Anschläge auf den Kölner
Konzerthalle bei Moskau mit mehr als Dom und den Stephansdom in Wien
130 Toten bekommt das Verfahren geplant haben, so die Befürchtung.
neue Dringlichkeit. Die Attentäter in Polizisten sicherten die Gottesdienste,
Russland sollen im Auftrag des IS-Ab- Besucher wurden mit Metalldetek­
Waldemar Gess / EinsatzRepor t24 / picture alliance / dpa

legers »Islamischer Staat Provinz Kho- toren gescannt, tagelang herrschte


rasan« (ISPK) in Zentralasien agiert Aufregung.
haben. Zu derselben Terror­gruppe Für einen Haftbefehl in Deutsch-
sollen die in Deutschland festgenom- land reichten die Beweise gegen B.
menen sieben Männer Verbindungen jedoch nicht aus. Vor wenigen Wo-
gehabt haben. Die meisten von ihnen chen lieferte die Bundesrepublik ihn
stammen wie die mutmaßlichen Russ- nach Österreich aus. Dort könnte ihm
landattentäter aus Tadschikistan. nun der Prozess gemacht werden.
Lange konzentrierte sich das Ope- Jörg Diehl, Wolf Wiedmann-Schmidt,
rationsgebiet der Terrorgruppe auf Steffen Winter  n
Afghanistan und die Nachbarländer.
Seit der Machtübernahme der Taliban Lesen Sie auch ‣ Warum der IS ausgerech-
2021 richtet sich ihr Fokus zunehmend Polizisten, Verdächtige im Juli 2023: Etwas Großes geplant? net in Russland zugeschlagen hat | 74

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DEUTSCHLAND

Die Vermessung des Elefanten


KARRIEREN Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir tourt durch Baden-Württemberg.
Wo immer er hinkommt, ist eine Frage schon da: Will er Winfried Kretschmann als Landesvater beerben?
Ein Indizienbeweis. Von Deike Diening

I
m schneeweißen Stadthaus von Ulm, an Initiative »Ich kann kochen« auch dabei. »Wir er schon anderswo gesagt, könne sich von ihm
einem klaren Märzabend, glaubt das denken immer betriebswirtschaftlich, aber aus gern Speck in seinen Kaffee rühren!
Publi­kum im Saal verstanden zu haben, wir müssen volkswirtschaftlich denken. Dann Es ist ein erster sicherer Lacher.
was der schwäbelnde »Minischter« auf dem würde man die Kosten zum Bildungserfolg Es gebe Leute, die hielten ihn für Julia
Podium schon wieder nicht gesagt hat: Ja, er ins Verhältnis setzen«, sagt Özdemir. Das Ziel, Klöckner mit kurzen Haaren.
will es werden. sich gut zu ernähren, müsste man aus dem Lacher. Der Landwirtschaftsminister lan­
Cem Özdemir, grüner Landwirtschafts­ Parteienstreit herausbekommen. det Treffer wie ein Comedian.
minister im Jahr des Bauernzorns, soll den Oft, erzählt Özdemir, sei er in Berlin der
großen Winfried Kretschmann als Minister­ Kirchheim/Teck, 14 Uhr. Özdemir besucht die Einzige, der eine Krawatte trage. Weil sein
präsident von Baden-Württemberg beerben »alte Dame Deula«, wie sie die Ausbildungs­ Vater ihm beigebracht habe, dass er anständig
wollen. Aber das hat er eben nicht ausge­ stätte hier nennen. Eine Institution für alles, aussehen müsse.
sprochen. Jedenfalls nicht mit einem allseits was mit Gartenbau und Landwirtschaft zu Das Lachen geht auf Kosten aller schlecht
zitierfähigen Ja. tun hat. Sie bietet Gabelstaplerlehrgänge, sitzenden Sakkos in Berlin.
Es ist wie verhext. Es sind zwei Jahre, bis man kann Spielplatzkontrolle, Pflastern und Özdemir, der schon wieder stärker zu
der Stuttgarter Landtag gewählt wird. Sogar Baumschnitt lernen. Özdemir stapft durch schwäbeln scheint, ist »einer von hier« und
eine Bundestagswahl liegt noch dazwischen. Schlamm, um sich einen Motorsägenlehrgang zugleich das Ausnahmetalent, das es im fernen
Vermutlich wäre es unklug, sich bereits jetzt anzusehen. Er klettert auf einen elektrischen Berlin zum Minister gebracht hat. Aber jetzt
festzulegen. Doch die Frage, ob Özdemir sich Bagger. Sein Schwäbisch scheint Richtung braucht er etwas mehr Abstand zur Ampel.
als Kretschmanns Nachfolger warmläuft, ver­ Süden immer stärker zu werden. Es sitzen auch viele Landwirte im Publikum.
folgt ihn überallhin. Özdemir gibt zum Besten, wie er am Mor­
Schon vor vielen Wochen hatte Ulrich Be­ Ulm, kurz vor 19 Uhr. Der Chefredakteur der gen des 13. Dezember aufwachte und über
cker, Chefredakteur der »Südwest Presse«, »Südwest Presse« steht vor dem Stadthaus die Entscheidungen der Ampelspitzen selbst
diesen Abend mit Özdemir im Ulmer Stadt­ im Wind und wartet auf den Minister. Er habe so überrascht war wie ein Bauer. Die Sub­
haus geplant. Im Programm auch die Frage: sie alle gehabt für sein beliebtes Gesprächs­ vention für Agrardiesel sollte weg. Auch die
»Zieht es ihn zur Spitzenkandidatur der Grü­ format: Markus Söder war da, Volker Wissing, Steuerfreiheit für landwirtschaftliche Fahr­
nen bei der nächsten Landtagswahl?« aber so etwas habe er hier noch nicht gesehen. zeuge. Das habe auf einen Schlag das Ver­
Cem Özdemir: Gastarbeitersohn aus Bad Das offene Stadthaus auf dem Platz vor dem trauen zerstört, das er in zwei Jahren auf­
Urach. Vegetarier, seit er 17 ist. Bei den Grünen,
Ulmer Münster ist weiträumig abgesperrt. In gebaut habe.
seit er 15 ist. Fan des VfB Stuttgart, seit er denken
den Seitenstraßen parken Mannschaftswagen Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte
kann. Er war Mitglied des Europaparlaments der Polizei. man die Sparbeschlüsse nicht gemacht. Nicht
und Parteichef in Berlin. Es wäre trotz Diversi­Doch die Polizisten haben nichts zu tun. alles auf einmal jedenfalls. Und man hätte sie
ty eine Sensation, wenn dieser Mann Minister­Der Platz ist gähnend leer. Die Stadt hat eine auch schneller korrigiert.
präsident würde, er wäre der erste mit tür­ Allgemeinverfügung erlassen und Traktoren Özdemir hat sich damals jedenfalls in
kischen Eltern. Bestätigt hat er dieses Ziel nie.
in der Innenstadt verboten. Da war es den Lichtgeschwindigkeit von der Ampelentschei­
Dementis sind allerdings auch keine bekannt. Bauern wohl zu blöd, zu Fuß zu kommen. dung distanziert.
Wo Özdemir hinkommt dieser Tage, diese Özdemir hat einmal Außenminister wer­ Dann Auftritt: Elefant.
Frage ist schon da. Sie ist der Elefant im Raum.
den wollen. Er hätte dann seine Weltläufig­ Der Minister sei ja sehr häufig in der Ge­
Er selbst spricht nie darüber, doch im keit betont. Jetzt ist er Landwirtschafts­ gend, sagt der Chefredakteur. Ob er denn
­Februar spricht plötzlich sein Kalender. Er minister und muss seine Bodenständigkeit vorhabe, ganz wiederzukommen, als Minis­
hat Termine nicht nur in seinem Wahlkreis beweisen. terpräsident?
Stuttgart I, sondern im ganzen Ländle. An Er klopft sich im gleißenden Bühnenlicht Vielleicht als Präsident des VfB Stuttgart,
einem Wochenende eine Obstbaumesse am etwas Staub von den schmalen Hosenbeinen. scherzt Özdemir. Es ist eine seiner vielen Ar­
Bodensee. An einem anderen eine Weinbau­ »Ich war heute schon auf Bauernhöfen«, ten, nicht Ja zu sagen. Aber auch nicht Nein.
messe in Rheinstetten. Eröffnung eines Koch­ sagt er. »Man sieht’s«, sagt der Chefredak­ Außerdem sei Kretschmann hervorragend im
wettbewerbs in Stuttgart. Und dann, Anfang teur. Es ist natürlich Glaubwürdigkeitsgold­ Amt. Wer immer ihm nachfolge, »muss es
März: gleich ein paar Tage mit dicht gepack­ staub, den sich der Mann da aus den Hosen genauso machen wie er!«, ruft er laut in den
ten Terminen. Vielleicht muss man einfach klopft. Saal. Applaus für Kretschmann.
mal ein paar Tage mitreisen, zur Vermessung Özdemir ist ausgebildeter Erzieher, aber Die beiden Grünen sind ganz unterschied­
des Elefanten. auf keinen Fall will er jetzt in den Verdacht liche Typen. Aber ein bisschen was von
geraten zu erziehen. Er sagt, er wolle nieman­ Kretsch­mann hat Özdemir auch: Wirtschafts­
Stuttgart, 11.30 Uhr. Bei der Barmer Kranken­ den bevormunden, in keinen Kühlschrank nähe, Pragmatismus und Gönnenkönnen.
kasse geht es darum, was Kinder in Kitas zu hineinregieren, und was die Leute äßen, das Özdemir ist auf einer quasi überpartei­
essen bekommen. Sarah Wiener ist bei der gehe ihn gar nichts an. Uli Hoeneß, das hatte lichen Flughöhe angekommen. Eine Art Me­

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DEUTSCHLAND

heiß diskutierter Artikel aus der Ge­


meinsamen Marktorganisation Euro­
pas, der die Preisbildung regelt: Er
erlaubt es den Mitgliedstaaten, eigen­
ständig vertraglich Preise für Milch
und Milcherzeugnisse festzulegen,
damit Milchviehhalter diese kennen,
bevor sie ihre Milch abgeben müssen.
Bislang liefern viele ab und wissen
erst im Nachhinein, welcher Preis ih­
nen gezahlt wird. Nicht nur Özdemir
findet das ungerecht.
Seine Partei hat er nie so für sich
einnehmen können, wie ihm das hier
mit den Zuhörern im Saal im Hand­
umdrehen gelingt. Möglich, dass so­
wohl die Partei als auch die Wähler sehr
glücklich wären, säße er in Stuttgart.
Am Ende meldet sich noch eine
Frau: »Sie sind ein guter Grüner«,
sagt sie. Das wisse sie.

Tübingen, Gewerbegebiet, kurz nach


9 Uhr. In eine nach frischem Schnitt­
holz duftende Halle ist auch Tübin­
gens Oberbürgermeister Boris Palmer
gekommen. Aber dies ist Özdemirs
Auftritt, und Palmer hält sich still zu­
rück, als wäre er nur ein regionales
Maskottchen.
Der letzte Politiker in dieser Halle
war Kretschmann auf seiner Sommer­
tour im vergangenen Jahr. Özdemir
signiert wie Kretschmann einen Holz­
baustein. Doch er hat mehr als einen
Stift dabei: Er überbringt der Firma
Triqbriq noch einen Förderbescheid
über 800.000 Euro. Sie finanziert sich
aus Mitteln der Landwirtschaftlichen
Rentenbank und des Bundesminis­
teriums. Selten sei es gelungen, ein
Start-up so schnell von der Idee in die
Produktion zu bringen, sagt Özdemir.
Das Unternehmen baut Häuser
aus Holz, dafür wird aber kein gesun­
Peter Rigaud / DER SPIEGEL

der Baum gefällt. Es fügt aus klein­


teiligem Schadholz Holzbausteine
zusammen, die man ohne Leim und
Nägel, nur mit Holzdübeln, zu Wän­
den miteinander verbinden kann. Ein
Haus ist rasend schnell hochgezogen.
dium, durch das sich bei Bedarf die Politik, nicht gegen die Händler? Wa­ Politiker Özdemir: Und nach Gebrauch kann es sorten­
Stimmen der Bauern artikulieren rum stehen die Bauern nicht vor den Ist seine Kandidatur rein auseinandergenommen und wei­
bloß Mathe?
können. Am besten wäre es, sagt das Toren des Handels? terverwendet werden.
Medium, wenn sich nicht dauernd »Das fragt mich mein Sohn auch Der »Minischter« widmet sich jetzt
alle aus den verschiedenen Landwirt­ immer«, sagt die Bäuerin. den Butterbrezeln. In Berlin habe er
schaftsverbänden widersprächen. Da bricht der ganze Saal in Lachen immer Entzugserscheinungen, be­
Würden die Bauern ihm ihre Anliegen aus. Befreit, wie wenn man in einem hauptet er. Dann entdeckt er seinen
mal mit einer Stimme mitteilen, er langen Streit plötzlich erkennt, dass Tübinger Fahrradhändler unter den
könnte sich für sie einsetzen in Berlin. alles auf einem Missverständnis fußt. Gästen. Tja, hier in Tübingen würde
Da meldet sich eine Milchviehhal­ Özdemir hat sie jetzt, Zeit für »den er bei ihm immer tolle Technik kaufen,
terin. Für einen Liter Rohmilch bekom­ 148er«. schon drei Pedelecs, und in Berlin wür­
me sie 46 Cent. Doch erst ab einem In Berlin war »der 148er« früher den die Räder dann geklaut. Kichern.
Euro pro Liter könnten die Bauern eine Buslinie, die vom Alexander­ Diebe und schlechte Bäcker. Berlin
ohne Subventionen davon leben. Das platz nach Zehlendorf an den be­ sieht gerade nicht gut aus. Da kommt
Doppelte zahle aber niemand. kanntesten Sehenswürdigkeiten vor­ der Elefant.
Ja aber, fragt Özdemir, warum beiführte. Auf dem Land, bei den Ein Redakteur des »Schwäbischen
wende sich ihr Protest dann gegen die Bauern, ist »der 148er« ein aktuell Tagblatts« fasst sich ein Herz: Der

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DEUTSCHLAND

Minister sei ja gerade häufig in der Gegend. terium, da lädt er selbst zum feierlichen
Befinde er sich auf so etwas wie einer Würt- ­ astenbrechen. Er kommt einfach nicht da­
F
tembergtour? zu, seinen hartnäckigen Husten auszukurie-
Özdemir gibt die Unschuld. Seine Eltern ren. Dann findet er Zeit zum Gespräch im
hätten in Bad Urach gelebt. Sein Wahlkreis SPIEGEL -­Hauptstadtbüro.
liege in Stuttgart, außerdem habe er dort eine Der »Minischter« hat sein scharfes S wie-
Wohnung. Er ist VfB-Fan. Er zuckt die Schul- dergefunden. Er hat zwei Mitarbeiter seiner
tern. »Ich war immer schon da.« Presseabteilung mitgebracht. In einer Ecke
Soll wohl heißen: Wie kann es etwas Be- sitzt der Elefant.
sonderes sein, wenn einer, der immer schon Herr Özdemir, möchten Sie nach Brüssel?
da war, jetzt auch hier ist? Da kommt ein erfrischend eindeutiges
Und schon ist der Minister samt Tross wie- Nein. Im Europaparlament sei er schon ge-

Ute Grabowsky / photothek / picture alliance


der ins Auto gesprungen. Bis zu Gropper in wesen, von 2004 bis 2009, aber die junge
Bissingen sind es gut zwei Stunden Autofahrt. Familie habe sich zwischen Brüssel, Straßburg,
Berlin und Stuttgart quasi gevierteilt. Das
Firmenparkplatz, 14 Uhr. Vor der Großmolke- wolle er nicht noch einmal.
rei stehen demonstrierende Bauern mit ihren Was also sagt er dazu, dass er ständig als
Traktoren, 50 vielleicht. Statt die Zufahrt zu Kretschmanns Nachfolger gehandelt wird?
blockieren, sind sie ordentlich geparkt. Es ist »Das ist ja erst mal eine Anerkennung«,
so still, als hätten sie vergessen, dass ihre sagt er. Denn Kretschmann mache das groß-
Traktoren auch eine Hupe haben. So rauscht artig. Zuhören. Den anderen gelten lassen.
Özdemir erst einmal ungehindert zum Termin. Grüne Özdemir, Kretschmann in Stuttgart Gern auch mal Fehler zugeben. Bessere Argu-
Heinrich Gropper ist ein charismatischer mente akzeptieren. Und dann gute Kompro-
Unternehmer mit festem Händedruck, der samte Regierung ab. Der Mann, der mit misse machen. »Das kann er auf eine unver-
ausstrahlt, dass in der Regel passiert, was er »­never waste a crisis« dieser Tage gern auf gleichliche Art und Weise.«
sich wünscht. Seit über 30 Jahren führt er das Churchill verweist, sieht natürlich, dass jede Es sei der Stil, für den die Grünen in Ba-
Familienunternehmen in dritter Generation. Krise eine Chance ist. den-Württemberg insgesamt stünden, und
Es beliefert Discounter und Lebensmittel- Er predigt das den Landwirten, sie sollten damit unterschieden sie sich vom Rest der
händler in ganz Europa mit deren eigenen jetzt ihre Chance nutzen. Aber vor allem gilt Partei. »Das Verbindende zu suchen, darum
Handelsmarken. Ein Riese. das für ihn selbst. geht es doch«, sagt Özdemir.
Der Umsatz der Molkerei, verteilt über Denn das gnadenlose Rampenlicht, in dem Sein Direktmandat holte er 2021 mit
drei Standorte, hat 2023 zum ersten Mal die er jetzt steht, ist eben auch ein plötzliches 39,9 Prozent. Und: »Ich habe von Kretschmann
Milliarde geknackt. Doch trotz seiner Größe Licht der Aufmerksamkeit für ihn. Er kann viel gelernt und tue es heute noch.« Der mache
ist das Unternehmen geschmeidig geblieben sich profilieren. Moderierende Fähigkeiten Politik, die nicht zuerst ins Parteibuch schaue,
in der Produktentwicklung. Das überra- sind gefragt. Zufällig sind das auch Eigenschaf- sondern von den Problemen her denke.
schendste Wachstumsgeschäft zuletzt: kalter ten, die einem Ministerpräsidenten gut stehen. Kurz hat man ein Déjà-vu: Spricht er ge-
Kaffee. Also Milchmischgetränke für das Später geht er raus zu den Bauern und sagt rade von Kretschmann oder von sich selbst?
Kühlregal. ihnen, dass mit ihm zu verhandeln sei. »Teilen Es ist schließlich das, was er in den letzten
Weil Gropper viele Lieferanten hat, die wir uns die Prügel«, schlägt er vor, wenn er Tagen über sich selbst erzählt hat. Kretsch­
hohe Haltungsstandards einhalten, konnte er dann ihre Forderungen nach Berlin trägt. mann ist Özdemir ist Kretschmann.
im vorigen Jahr 4,1 Millionen Euro Prämie Als die Kameras weg sind, fährt Özdemir »Ich mache das ja als Bundesminister auch
an sie ausschütten. Darauf sind sie hier stolz. ins Stuttgarter Stadion. Seine beiden Städte nicht viel anders«, sagt er. Es gehe immer
Im Publikum sitzen 60 Milchviehhalter, treten gegeneinander an, VfL Stuttgart gegen ­darum, wer die besseren Argumente habe.
Tierschutzbund, Käsereibetriebe. Und: Grop- Union Berlin. Am Ende dieser Reise steht es »Ich kann nicht bestätigen, dass die Zuge­
pers größte Kunden. Alle beide. Vertreter von 2:0 für Stuttgart. hörigkeit zu einer Partei einen zu einem bes-
Aldi und Lidl sitzen da, es ist ein Coup. Sind Will Özdemir einfach nur den besten Zeit- seren Menschen macht – im demokratischen
sie etwa auch deshalb gekommen, um sich punkt abwarten, um die Kandidatur zu ver- Spektrum natürlich auch nicht zu einem
mal den zukünftigen Ministerpräsidenten künden? Oder gibt es noch eine andere Op- schlechteren.«
­anzusehen? tion, die er sich warmhält? In der Politik sind zwei Jahre eine lange
Özdemir legt los. Er erzählt von dem Fass Wer gelegentlich im Koalitionsvertrag der Zeit. Bis zu einer Landtagswahl kann viel pas-
ungelöster Probleme, das er von seinen Vor- Ampel schmökert, stößt auf der letzten Seite sieren. »Es ist noch eine Weile hin, bis die
gängern geerbt habe. Was für die Bauern al- auf diesen Satz: »Das Vorschlagsrecht für die Spitzenkandidatur in der Partei entschieden
les in Brüssel entschieden werde. Von seinem Europäische Kommissarin oder den Europäi- wird.« Aber vielleicht ist auch schon genug
begrenzten Einfluss und dass er erst zwei schen Kommissar liegt bei Bündnis 90/Die gesagt.
Jahre Landwirtschaftsminister sei. Grünen, sofern die Kommissionspräsidentin Wenn derjenige Kandidat wird, der Stil
Gropper hält das kaum aus. Winkt sich das nicht aus Deutschland stammt.« und Eigenschaften von Kretschmann hat, und
Mikro ran. Genau das müsse eben aufhören, Es ist ein Ticket nach Brüssel für eine Grüne, zugleich Stil und Eigenschaften von Kretsch­
sagt er. Dieses »Fingerpointen«, das gegen- einen Grünen in die Kommission. Für den mann Özdemirs Politik sind, dann ist Özde-
seitige Zuschieben der Verantwortung. Sie ­unwahrscheinlichen Fall, dass Ursula von der mir der nächste Kandidat.
brauchten praktikable Verfahren. Leyen mit ihrer aktuellen Bewerbung um das Wenn A gleich B und B gleich C, dann ist
Özdemir ist ganz seiner Meinung. Daran Amt der Kommissionspräsidentin noch scheitert. A gleich C.
müsse man arbeiten. »Bringen Sie mal zehn Ist es das? Hält Özdemir sich ein Türchen Ist Özdemirs Kandidatur bloß Mathe?
Leute unter einen Hut – und dann zehn For- nach Europa offen? Das muss man ihn bei Im Terminkalender des Ministers steht für
derungen.« Gelegenheit mal persönlich fragen. den folgenden Tag: Gespräch zum Thema
Özdemir hat vermutlich den härtesten Job Aber Özdemir hat noch Termine. Ein Par- »Zukunft Ländlicher Raum« mit Steffen Jäger
im Kabinett. Der Landwirtschaftsminister lamentarischer Abend beim Bauernverband. in Berlin.
steht überall im Feuer, er kriegt die Wut von Die Konferenz der Landwirtschaftsminister Jäger ist Präsident des Gemeindetags in
großen Teilen seiner Branche gegen die ge- der Länder in Erfurt. Einen Abend im Minis- Baden-Württemberg.  n

20 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024

b-11770681
DEUTSCHLAND

Kinderverunsicherung
SOZIALPOLITIK Die Kindergrundsicherung ist das wichtigste Sozialprojekt der Ampel im Kampf gegen Armut.
Doch das Gesetz kommt nicht voran, die Umsetzung rückt in weite Ferne.

D
ie grüne Bundesfamilienministerin digen Ministerien und die Bundesregierung und zu wenig Digitalisierung, an nicht funk­
Lisa Paus hatte nichts Geringeres ver­ gestellt werden können. tionierenden Schnittstellen zwischen ver­
sprochen als eine Revolution. Sie woll­ Zu prüfen gab es einiges. Die entschei­ schiedenen Ämtern.
te Kinder in Deutschland aus der Armut denden Fragen sind offenbar immer noch Die Koalitionspartner halten sich seit
­holen, die Kindergrundsicherung sollte das nicht geklärt: Wie soll das Gesetz praktisch ­Monaten mit der strittigen Frage auf, ob für
ermöglichen. Doch knapp zwei Jahre nach umgesetzt werden, wie also gelangt die Anträge zur Kindergrundsicherung eine
dem Amtsantritt der Ministerin droht die Unterstützung von den Behörden zu den neue Behörde geschaffen werden sollte. Die
Revolution zu scheitern. Die Ampelkoalition Kindern? Es hapert an zu viel Bürokratie Ministerin ist dafür. Sie will die Leistungen
hat sich im Kleingedruckten verhakt. für Kinder aus der Verantwortung der Job­
Der Zeitplan des einstigen grünen Pres­ center, also der Bundesagentur für Arbeit,
tigeprojekts ist längst gerissen: Ende Febru­ herausholen. Sie findet, ein Antrag bei der
ar sollte das Gesetz zur Kindergrundsiche­ Familienkasse wäre weniger stigmatisierend
rung durch den Bundesrat. Nur dann, so für die Kinder und deren Eltern. In der FDP
hatte es die Bundesagentur für Arbeit e­ rklärt, aber sträubt man sich gegen den Aufbau
wäre noch genügend Zeit, um das Vorhaben einer neuen Behörde. Es sei nicht machbar,
technisch bis 2025 umzusetzen. Doch Ende das notwendige Personal zu finden, und zu

Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL


März ist nicht einmal klar, wann das Gesetz ­teuer, heißt es.
weiter im Bundestag debattiert werden soll, Auch die Idee, für das Projekt ein »Kin­
vom Bundesrat ganz zu schweigen. derchancenportal« einzurichten, kommt nur
Zentrale Kritikpunkte von FDP und SPD schwer voran, obwohl die Vorteile inzwischen
seien noch nicht geklärt, heißt es aus Ab­ unumstritten sind. Ziel der Kindergrund­
geordnetenkreisen. Es seien maßgebliche Familienministerin Paus sicherung ist es, »die Daten laufen zu lassen,
­Veränderungen nötig, andernfalls müsse man nicht die Menschen«, wie es in der Antwort
ganz neu anfangen. Dann wäre das Projekt an die Parlamentarier aus dem Familien­
in dieser Legislaturperiode wohl passé. Bedürftige Kinder ministerium heißt. Ein digitales Portal, über
Offiziell arbeiten alle »konstruktiv« zu­ das Leistungen aus der Kindergrundsicherung
sammen. Immerhin geht es um eines der Anteil der Kinder unter 18 Jahren, die in so einfach und schnell gebucht werden kön­
Haushalten mit Bürgergeld-Bezug leben,
wichtigsten sozialpolitischen Vorhaben der nach Bundesländern, in Prozent nen wie eine Urlaubsreise, könnte dabei hel­
Koalition, um arme Kinder. Wer könnte fen. Allerdings hat das Familienministerium
­etwas dagegen haben? »Es ist nicht so, dass einige Hürden bei der Umsetzung ausge­
8 12 16 20
wir Stillstand haben«, beteuert Dagmar macht. So heißt es auch hier: erst mal weiter­
Schmidt, Vizefraktionsvorsitzende der SPD. Schleswig- prüfen.
Holstein
»Sozialreformen einer solchen Größe aber 13,9
Die Gefahr ist groß, dass die Ampelkoali­
gehen nicht so schnell.« tion ihr großes Sozialprojekt am Ende still­
Hamburg Mecklenburg-
Die Grünen beharren darauf, dass es noch Vorpommern schweigend begräbt. Für SPD und FDP ist
20,0
klappen wird: »Die Kindergrundsicherung 12,7 in diesem Fall die Schuldfrage geklärt: Die
Bremen
ist ein zentrales Vorhaben in diesem Jahr 29,5
grüne Familienministerin habe die Größe
Brandenburg
und ein gemeinsames Projekt der gesamten Nieder- 10,5 einer solchen Reform unterschätzt, heißt es.
Koalition. Wir werden es zügig auf den Weg sachsen Berlin »Der Gesetzentwurf war nach der Verbän­
13,6 24,5
bringen«, sagt Andreas Audretsch, stellver­ Sachsen- deanhörung in keinem Zustand, in dem man
tretender Fraktionsvorsitzender. In der Par­ Nordrhein- Anhalt in einem normalen parlamentarischen Ver­
tei verweist man auf den Koalitionsvertrag. Westfalen 15,5 fahren hätte weitermachen können«, kriti­
Allerdings wird es am Ende der Legislatur­ 17,6 Sachsen siert SPD-Politikerin Schmidt. Man müsse
periode mehrere Ziele geben, die im Koali­ Hessen Thüringen 11,2 jetzt »erst mal wissen, was man will, und
tionsvertrag stehen, aber nicht verwirklicht 13,7 11,3 dann einen realistischen Fahrplan machen«.
Rheinland-
werden konnten. Das wissen natürlich auch Pfalz Dann sei noch genug Zeit, das Gesetz zu
die Grünen. 11,1 ­beschließen.
Derzeit ist das Gesetz noch Stückwerk, Paus selbst gibt sich zuversichtlich. Ziel
doch immerhin wird seit vergangener Woche 18,5 ihres Ministeriums sei es weiterhin, »dass
Saar- Baden- Bayern
in Berlin wieder darüber verhandelt. Zum land Württem-
Familien noch in dieser Legislaturperiode
6,7
ersten Mal seit Monaten saßen die zuständi­ berg von der Kindergrundsicherung profitieren«,
gen Abgeordneten der Ampelfraktionen bei 8,8 sagt ein Sprecher. Der Zeitplan aber sei nicht
der Familienministerin, um sich die sogenann­ mehr Sache des Ministeriums. Dafür sei nun
ten Prüfbitten anzusehen – das sind Fragen, der Bundestag verantwortlich.
die im Gesetzgebungsprozess an die zustän­ S Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Stand: Juni 2023 Milena Hassenkamp  n


Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 21


DEUTSCHLAND

ersten Europareise im vergangenen Jahr drei


Stationen besucht. »Berlin, Paris und Mün-
chen«, so berichtet Söder stolz.
Seit der bayerischen Landtagswahl im Ok-
tober häufen sich solche Termine, es ist eine
neuerliche Häutung: Söder macht jetzt auch
in Außenpolitik. Mit seiner Chinareise kommt
er wohl einem neuerlichen Besuch von Bun-
deskanzler Olaf Scholz um einige Wochen
zuvor.
Das verstärkte Engagement in der Fremde
erschließt sich auch aus Söders eigener Situ-
ation: Er muss irgendwo hin mit seinem Gel-
tungs- und Gestaltungsdrang.
In einem Bayern-tümelnden Wahlkampf
hatten Söder und sein Koalitionspartner Hu-
bert Aiwanger von den Freien Wählern darum
gewetteifert, wer sich lauter gegen den Vege-
tarismus und für das Existenzrecht der baye-
rischen Leberkas-Semmel einsetzt. Das nutz-
te vor allem Aiwanger, Söders Wahlergebnis
blieb mittelprächtig. Und Aiwanger tourt
weiter die Bauern und die Jäger ab, in der
CSU sind sie genervt.
Zugleich sind im Bund für Söder einige

Peter Kneffel / dpa


Wege versperrt: In Berlin steckt die CSU in
der Opposition, das beschränkt seine Reich-
Landeschef Söder in Chengdu
weite. Bei der Kanzlerkandidatur läuft es auf
Söders Rivalen Friedrich Merz zu. Nach den
Landtagswahlen im Herbst wollen die Vor-
sitzenden von CDU und CSU formal ent-
scheiden.

Ein Mann von Welt


Was derzeit bleibt: ein schier unbegrenztes
Spielfeld, wenn es darum geht, Bayerns Bild
in die Welt zu tragen. Der Freistaat unterhält
nicht nur die prächtigste Repräsentanz aller
Bundesländer in Brüssel, sondern auch diver-
DIPLOMATIE Ministerpräsident Markus Söder entdeckt die Außenpolitik. In se Auslandsbüros, etwa in London, Tel Aviv
China, Schweden oder Serbien wirbt er für sich und bayerische Interessen. oder in Québec.
Und der Ministerpräsident eröffnet laufend
neue. Der bayerische Außenposten in Addis

V
or den Politikern kommen die Pandas, den Spruch aus dem Glückskeks, den er zum Abeba ist ein Ertrag von Söders Äthiopien-
da setzt Markus Söder Prioritäten: »Ein Auftakt in der VIP-Lounge des Flughafens reise 2019, in Belgrad kündigte Söder vorver-
Panda würde ja auch gut zu Bayern pas- geknackt hat: »Der Wille gestaltet den Men- gangene Woche bei seinem Besuch an, dort
sen, so friedfertig«, sagt Söder vor dem schen, zu Erfolg braucht er jedoch Mut und »eine kleine Repräsentanz, eine kleine Bay-
­Gehege. Im Hintergrund tollen die schwarz- Ausdauer.« ern-Botschaft auf den Weg zu bringen«.
weißen Bären herum und kauen an Bambus- Es ist ein Trip voller Botschaften in die Hei- In China kommt zu den beiden bestehen-
zweigen. »Sehr knuffige Tiere«, befindet der mat: Söder sinnierend auf einer Bank vor dem den Partnerprovinzen Guangdong und Shan-
bayerische Ministerpräsident. Teich einer Tempelanlage, Söder im Kontroll- dong noch eine dritte hinzu, die wirtschafts-
Der Morgentermin in der Forschungs- raum einer Magnetschwebebahn-Teststrecke starke Region Sichuan. Söder trifft sich mit
und Aufzuchtstation Chengdu ist der erste aus bayerisch-chinesischem Joint Venture, dem Parteisekretär und dem Gouverneur, ein
seiner viertägigen Chinareise, der Partei­ Söder bei Gruppenfotos mit Schülern aus Ba- Kooperationsabkommen zwischen den bei-
sekretär der Provinz Sichuan kommt am den-Württemberg, die ihn in der Pekinger den Regionen wird erneuert. Söder wäre nicht
Mittag dran. Aber Pandas sind ja auch Di­ Kaiserresidenz erkennen und ansprechen. er selbst, würde er solche Zahlen nicht in
plomatie, denn die Volksrepublik verleiht Sein Signal, vor allem in Richtung Berlin: Mit einen Wettbewerb umwandeln. »Kein Bun-
die Tiere aus Chengdu an Zoos in der gan- Söder ist zu rechnen, jetzt und in der Zukunft. desland hat so viele Partnerprovinzen wie
zen Welt. Diesen Anspruch transportiert Söder der- wir.« Und: »Wir werden da quasi fast behan-
Internationale Politik, das ist die Dimen- zeit mit Vorliebe über Fernexkursionen. Im delt wie ein eigenständiger Staat.«
sion, in der sich Söder derzeit gern bewegt. Dezember besuchte er einen von der Hamas Man verstehe sich als Premium-Bundes-
Für die Fahrten des bayerischen Trosses sper- überfallenen Kibbuz in Israel. Ende Februar land, heißt es gern aus der Staatsregierung;
ren die chinesischen Behörden jedes Mal die ging es nach Schweden mit einem Abstecher Bayern wäre die sechstgrößte Volkswirtschaft
Straßen von Chengdu ab. An den Auffahrten an den Polarkreis, samt Hundeschlittenfahrt. Europas, wenn man unabhängig wäre. Am
staut sich der Berufsverkehr, bei An- und Ab- Mitte März flog Söder zu einem Kurztrip nach ersten Tag der China-Delegationsreise be-
fahrt im Hotel reihen sich die Angestellten Serbien, gefolgt von der viertägigen Reise kommen Sichuans Parteichef und der Gou-
und winken synchron. nach China. verneur jeweils ein T-Shirt des FC Bayern
Der bayerische Ministerpräsident wirbt in In China ist ein Treffen mit Ministerpräsi- geschenkt, dazu einen Maßkrug von Hofbräu
China für sein Bundesland, aber vor allem für dent Li Qiang der protokollarische Höhe- und eine Einladung aufs Oktoberfest im
sich selbst. Gleich nach der Ankunft postet er punkt des Staatsbesuchs. Der hatte bei seiner Herbst.

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DEUTSCHLAND

Die anstrengenden Besuche machen Söder


sichtlich Spaß: Auf Langstreckenflügen gönnt
»Markus Söder fliegt Bashing auch in der Außenpolitik fortsetzt«.
Die Expertin glaubt, dass bei Söder persön-
er, der sonst keinen Alkohol trinkt, sich gern vor seiner Verantwortung liche Motive hineinspielen: »Das geht auch
einen Campari Orange. Und im Gastland
macht er so ziemlich alles mit, was ihm die
in Bayern davon.« gegen das von einer Frau geleitete Außen-
ministerium.«
Chinesen vorsetzen. Eines der vielen Panda- Florian Siekmann, Landtagsabgeordneter Solche Kritik kann Söder mit dem Verweis
der Grünen
Kuscheltiere, die er geschenkt bekommt, auf die bayerischen Interessen kontern.
herzt und busselt er in der Bärenstation aus- Schon seine Vorgänger legten Wert auf
giebig vor den Kameras. Repräsen­tation, im Land der Pandas und an-
Neben eigener Reichweite hat Söders derswo. »Man macht es sich zu leicht, wenn
Außenpolitik-Offensive noch eine andere Doch wie ernsthaft ist Söders Interesse man Söder für solche Reisen nur auslacht«,
Stoßrichtung: Sie erneuert den außenpoli­ für die Außenpolitik überhaupt? Einerseits sagt der Historiker Thomas Schlemmer vom
tischen Kanon seiner Partei. »Es geht bei beackert er regelmäßig den südosteuropäi- Institut für Zeitgeschichte in München.
uns mehr um Real- statt Moralpolitik«, sagt schen Raum. Er reiste nach Albanien und »Denn bayerische Außenpolitik hat eine lan-
er mehrfach vor und auf der Reise. Statt Rumänien, um dort um Fachkräfte für die ge Tradition, das ist eine sehr verflochtene
die Gastgeber zu brüskieren, wolle man ver- bayerische Wirtschaft zu werben. Kaum ins Geschichte.«
suchen, über Gespräche Veränderungen zu ernsthafte Fach fallen Auftritte wie im Abba- Zu klassischen Reisezielen wie Wien, Rom
erreichen. »Dialog ist die bessere Form als Museum von Stockholm, wo Söder eine und Paris seien unter Strauß neue Destinatio-
Belehrung«, so sieht es Söder – eine Strate- Tanzeinlage zum Besten gab. nen gekommen. Der CSU-Vordenker wollte
gie, die bei Russland nicht sehr gut funktio- Eher fotolastig waren auch seine Münchner an allen Fronten gegen den Kommunismus
nierte. China sieht Söder aber als anders ge- Termine mit den Mächtigen der Welt. US- kämpfen, steuerte zu Zeiten der Perestroika
lagerten Fall. Vizepräsidentin Kamala Harris begrüßte er dann aber im Dezember 1987 eigenhändig
Solche Sätze richten sich gegen Bundes- am Flughafen mit einem überdimensionierten sein Flugzeug nach Moskau – der bisherige
ministerin Annalena Baerbock und ihre fe- Lebkuchenherz, als sie zur Münchner Sicher- Höhepunkt der CSU-Außenpolitik.
ministische Außenpolitik. Die Grüne betreibt heitskonferenz anreiste. Aufschrift: »Wel­ Edmund Stoiber, 2002 nach Strauß der
nach CSU-Darstellung zu viel moralinsaure come to Bavaria«. Für den indischen Premier zweite Kanzlerkandidat der CSU in der
Symbolpolitik, damit vergrätze man Handels- Narendra Modi ließ Söder vor dem G7-Gipfel Geschichte der Bundesrepublik, habe Aus-
partner oder Energielieferanten. Man erken- 2022 Gebirgsschützen und Musikkapellen landsreisen genutzt, um sich als Herausfor-
ne »die Herausforderung, die China dar- aufmarschieren. derer von Bundeskanzler Gerhard Schröder
stellt«, sagt Söder. Doch wolle man »Türöffner Die Opposition vermisst die von Söder in aufzubauen. Auch SPD-Ministerpräsidenten
für unsere Wirtschaft sein«, die Aufgabe der China propagierte Realpolitik im eigenen hätten dann die Außenpolitik entdeckt, wenn
Politik sei dabei, der Wirtschaft »Geleitschutz Bundesland. »Markus Söder fliegt vor seiner sie höhere Ambitionen hegten, so Schlem-
zu geben«, gerade in ökonomisch schweren Verantwortung in Bayern davon«, kritisiert mer: Johannes Rau in Nordrhein-Westfalen
Zeiten. der Grüne Florian Siekmann, Vizechef beispielsweise oder Gerhard Schröder, als
Zum insgesamt dritten Mal trifft Söder den des Innenausschusses im Landtag. In der er noch Ministerpräsident von Niedersach-
chinesischen Handelsminister, anderthalb Außenwirtschaftspolitik gelte es eher, die sen war.
Stunden lang in Peking, gemeinsam mit deut- Abhängigkeit von China zu verringern, Über Jerusalem, Stockholm und Peking
schen Wirtschaftsvertretern. Zu Gesprächen viele große deutsche Firmen überprüften nach Berlin ins Kanzleramt, ist das Söders
mit Oppositionellen, wie sie Horst Seehofer aktuell ihr Engagement. Das Timing für Ziel? Der CSU-Chef vermeidet es konse-
bei seiner Chinareise 2017 abseits des offiziel- den Serbienbesuch sei nach Vorwürfen quent, das Thema Kanzlerkandidatur abzu-
len Programms führte, kommt es bei Söders von Wahlmanipulationen denkbar schlecht räumen – so etwa kürzlich in der Sendung
Besuch nicht. gewesen. »Caren Miosga«. Merz sei als CDU-Vor­
Der stellt sich lieber in die Tradition des Anja Opitz, Leiterin des Bereichs Inter- sitzender »natürlich der Favorit«. Aber bis
CSU-Übervaters Franz Josef Strauß und des- nationale Politik und Sicherheitspolitik an der zum Ende der Legislatur sei es eine »sehr,
sen Außenpolitik, die Söder als »wichtiges Akademie Tutzing, hält ein Engagement des sehr, sehr, sehr lange Zeit«. Und die CSU?
Kapital« bezeichnet. Strauß, das wird bei Ministerpräsidenten dort für sinnvoll, wo »In der CSU würde keiner wollen außer
diesem Besuch immer wieder erwähnt, reis- lokale Kooperationen gestärkt werden. Den einem, der theoretisch könnte.« Er selbst?
te schon 1975 nach China, wo er als erster Dialog mit anderen Staaten aufrechtzuerhal- »Möglicherweise, theoretisch«, antwortete
deutscher Politiker von Mao Zedong emp- ten sei jedoch Sache der Bundesregierung. er. Schöne Grüße ins Sauerland.
fangen wurde. Was die Bayern weniger gern Die Gefahr sei, »dass sich Söders Grünen- So untermauert Söder mit seinen Reisen
erzählen: Strauß zeigte überhaupt wenig seinen eigenen bundespolitischen Anspruch,
Scheu, sich mit Gewaltherrschern einzulas- ohne die Leitlinien bayerischer Nebenaußen-
sen, vom chilenischen Diktator Augusto Pi- politik zu verlassen. Er setzt sich ab von an-
nochet bis zu den Apartheid-Herrschern in deren Ministerpräsidenten, die nicht so viele
Südafrika. Außenbüros und Bierabende sponsern wie
Söder stellt andere historische Bezüge die finanzkräftigen Bayern. Und er signali-
her, zum Beispiel zu Henry Kissinger, seiner- siert, dass er die große Bühne draufhätte, falls
seits Vorbild für Strauß und Leitstern Merz scheitert.
Mar tin Athenstädt / picture-alliance / dpa

der Ultrapragmatiker in der Außenpolitik. Die nächste mögliche Anlaufstation: ein


Als der kürzlich gestorbene US-Politiker Gegenbesuch bei Trachtenfan Modi. Auch
2023 zu seinem 100. Geburtstag seine frän- in Indien hat Bayern eine Partnerprovinz,
kische Heimatstadt Fürth besuchte, bekam Karnataka mit der Hightech-Hauptstadt Ban-
er dort einen Orden für seine Lebensleistung galore.
überreicht – vom obersten Franken Markus Ein avisierter Besuch musste vorerst ver-
Söder. schoben werden. Anders als Söder hat Modi
im Moment keine Zeit – er macht gerade
* Mit dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Wahlkampf.
der Sowjetunion Michail ­Gorbatschow (r.). CSU-Politiker Strauß (l.) 1987 im Kreml* Jan Friedmann  n

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DEUTSCHLAND

»Also am Anfang habe ich die Klimakleber


unheimlich gehasst. Ich bin ja froh, dass sie
sich nicht mehr auf die Straße kleben. Die
wollen was Besseres erreichen und schaffen

Grün mit Gelbwesten


aber genau das Gegenteil«, sagt Roth. Und
Fridays for Future? »Ich wusste erst gar nicht,
was Fridays for Future macht, bis ich mit im
Boot war.« Roth ist eines der Gesichter von
»Wir Fahren Zusammen«.
PROTESTE Die einen studieren, die anderen schrauben: Dass FFF und die Letzte Generation zwei
voneinander unabhängige Organisationen
Wenn Klimaaktivisten und Gewerkschafter gemeinsam für besseren sind, war vielen Beschäftigten des öffent­
Nahverkehr streiken, prallen Welten aufeinander. lichen Personennahverkehrs (ÖPNV) nicht
klar. »Wenn wir Ablehnung erfahren haben,
dann war es in 80 Prozent der Fälle, weil wir

D
ie Männer und wenigen Frauen in den Klingt wie eine Kleinigkeit, erhöht aber mit mit der Letzten Generation in Verbindung
gelben Westen halten großen Abstand anderen Veränderungen stetig den Druck. gebracht wurden«, sagt der Klimaaktivist Elia
zur Bühne. So groß, dass der Mode­ Die beiden Frauen besprechen eine Rede, Mula, 23, Student der Politikwissenschaft und
rator das Publikum erst einmal auffordert die Momo beim Leipziger Klimastreik halten Philosophie in Göttingen. Als sie das erste
näherzukommen. Aber die gelben Westen soll: über die Arbeitsbedingungen und warum Mal auf den Betriebshof kamen, sei ihnen
bleiben da, wo sie sind. das Bündnis »Wir Fahren Zusammen« wich­ zugerufen worden: »Verpisst euch!« Die
So beginnt an einem Freitag im März am tig sei. Die Busfahrerin sagt, die besten Ideen Unterschiede schienen unüberbrückbar.
Berliner Invalidenpark der »Klimastreik«, zu kämen ihr, wenn sie gar nicht angestrengt Göttingen, drei Tage vor dem Klimastreik.
dem Fridays for Future (FFF) und die Dienst­ nachdenke. »Okay, lass uns trotzdem jetzt so Im Gemeinschaftsraum der Göttinger Ver­
leistungsgewerkschaft Ver.di gemeinsam auf­ viel wie möglich aufschreiben«, mahnt die kehrsbetriebe haben sich Beschäftigte und
gerufen haben. In 115 Städten versammeln Studentin. An diesem Tisch treffen Lebens­ Aktivisten um ein paar Tische gesetzt.
sich an diesem Tag die Demonstranten. Sie welten aufeinander. Es sind etwa 20 Leute im Raum, laut und
fordern bessere Arbeitsbedingungen im öf­ Heller investiert 30 bis 40 Stunden die schnell wird gesprochen, wenn einer was sagt,
fentlichen Nahverkehr. Pünktlich um zehn Woche in das neue Bündnis, neben Uni und unterhalten sich andere währenddessen über
Uhr morgens sind vor allem die Busfahrer Nebenjob, es ist ihr wichtig. Das Bündnis anderes. So liefen die Runden immer ab, sagt
und Tramfahrerinnen gekommen, sie tragen habe das Potenzial, in die Gesellschaft so stark Mula. Zunächst sei das ein Kulturschock ge­
die Streikwesten ihrer Gewerkschaft. Das jün­ einzuwirken wie Fridays for Future in seiner wesen. Bei den Aktivisten gehe es geordneter
gere, demoerprobte Publikum in den Vintage- Hochphase vor bald fünf Jahren, glaubt ein zu. Inzwischen hätten sie sich an das Chaos
Lederjacken kommt etwas später dazu und anderer Aktivist. gewöhnt.
füllt den Freiraum vor der Bühne. Am 20. September 2019 brachte FFF zum Einer der Beschäftigten, der nicht weniger
Das außergewöhnliche Projekt trägt den Klimastreik nach eigenen Angaben insgesamt laut und schnell spricht als die anderen, er­
Namen »Wir Fahren Zusammen«. Es ist der 1,4 Millionen Menschen in Deutschland auf mahnt die Runde alle paar Minuten, bei der
Versuch, Milieus zu verbinden, die zunächst die Straße. Kurz darauf versuchte die Bewe­ Sache zu bleiben. Fabian Kaden hat seine Jacke
nicht gut zusammenzupassen scheinen, die gung, sich stärker über Milieugrenzen hinweg der Meeresschutzorganisation Sea Shep­herd
sich im Alltag kaum begegnen, die eher Vor­ zu vernetzen. Gespräche mit Ver.di und der abgelegt. Er steht vor der Gruppe und geht die
urteile gegeneinander hegen. Die Aktivisten IG Metall fanden statt, zum großen Bündnis Streik-To-do-Liste durch. Wer bringt einen Pa­
hier und die Arbeiter dort – kann das funk­ führten sie nicht. villon mit, wer eine Bühne, wer hält eine Rede?
tionieren? Die Idee einer Zusammenarbeit wurde Da wird es ruhig, alle schauen zu ihm hin.
Fridays for Future jedenfalls setzt riesige aber nie begraben. Im März 2023 riefen FFF Kaden arbeitet in der Werkstatt, er ist
Hoffnung in das Bündnis, das über Jahre und Ver.di erstmals unter dem Slogan »Wir Praktiker. Streiks zu planen oder Reden zu
­vorbereitet wurde. Es soll helfen, die von vie­ Fahren Zusammen« zu einem Klimastreik schreiben ist er so wenig gewohnt wie Student
len totgesagte Klimabewegung wiederzube­ auf. Zum Jahresanfang wurde das Bündnis Mula das Schrauben. Die Kopfarbeit strenge
leben, möglicherweise sogar in einer neuen nochmals groß aufgezogen. Auch weil FFF ihn an, sagt Kaden, einige seiner Kollegen
Organisation. ein strategisches Problem hat. Die Massen­ erzählen Ähnliches. Trotzdem ist er jetzt der
Montagnachmittag, vier Tage vor dem Kli­ mobilisierung für den Klimaschutz klappt Planer. Dass überall Praktiker wie Kaden auf
mastreik. In der Leipziger Geschäftsstelle von nicht mehr, die Aktivisten sind dringend auf Bühnen steigen und sich dort oben zuneh­
Ver.di setzt sich Nina Heller an den Konfe­ neue Partner angewiesen. mend sicherer fühlen, ist womöglich auch das
renztisch. Die 23-jährige Aktivistin studiert Zurück nach Berlin. Eben noch hat Busfah­ Verdienst der Klimaaktivisten.
Psychologie in Leipzig. Auf ihrem Laptop rerin Petra Roth im Verlagsgebäude Neues Aktivist Mula hat »Wir Fahren Zusam­
klebt der Schriftzug »Keine Täter schützen«. Deutschland auf einer kleinen Bühne gesessen, men« mit aufgebaut. Nachdem es FFF nicht
Neben ihr sitzt Momo, 46, Busfahrerin in die für die Pressekonferenz zum gemeinsamen mehr gelungen war, Massen zu mobilisieren,
Leipzig, ihren Nachnamen möchte sie nicht Klimastreik aufgebaut worden ist. Sehr nervös sei er jahrelang auf der Suche nach einer alter­
veröffentlicht sehen. Sie trägt eine Mütze, auf sei sie gewesen, sagt sie. Jetzt sitzt sie auf einem nativen Strategie für die Klimabewegung ge­
die »St. Pauli Loves Me« gestickt ist. Sofa und spricht frei von der Leber weg. wesen, sagt er. Eine Frage stand im Fokus:
Es sei ein Knochenjob, sagt Momo. Die Wie erreicht man diejenigen für Klimaschutz,
Verkehrsdichte, der Zeitdruck, die gestressten die nicht an Uni oder Hochschule gelernt ha­
Fahrgäste, deren Beleidigungen. Der Egois­ ben? Die Antwort könne nur sein, sagt Mula,
mus in der Gesellschaft habe zugenommen, für deren Interessen zu kämpfen.
auch der Druck im Betrieb. Als sie vor sechs­ »Ich wusste gar nicht, was Ende 2022 ging er mit drei Mitstreitern auf
einhalb Jahren anfing, hätten sie und ihre Fridays for Future macht, den lokalen Ver.di-Sekretär zu und schlug ihm
Kollegen eine Viertelstunde Vorbereitungs­ vor, gemeinsam mit den Angestellten im ÖPNV
zeit gehabt, bevor sie losfuhren. Jetzt seien bis ich mit im Boot war.« für bessere Löhne zu streiken. Die Überzeu­
es im Durchschnitt nur noch zwölf Minuten. Petra Roth, Busfahrerin gungsarbeit war nicht leicht, die Vorbehalte

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Stefan Boness / Ipon


Demonstrierende bei »Klimastreik«-Aktion von Fridays for Future und Ver.di in Berlin am 1. März: Dringend auf neue Partner angewiesen

waren groß. Immer wieder besuchten die Ak- Busse und Bahnen waren übervoll und ver- öffnen sich die Kolleginnen und Kollegen
tivisten den Betrieb, »bis wir jeden mindestens späteten sich, die Mitarbeiter des ÖPNV wur- auch für den Klimaschutz.« Das zumindest
einmal angesprochen hatten«, sagt Mula. den oft beleidigt und angegangen. »Sie haben ist seine Hoffnung.
Im März 2023 streikten Klimaaktivisten das gesehen, was bei vielen von uns unter Nicht alle in der Bewegung sind von der
in Göttingen und rund 30 anderen Städten dem Radar geblieben ist«, sagt Darya Sotoo- Strategie überzeugt. Es gebe welche, so erzäh-
gemeinsam mit Beschäftigten des öffentlichen deh, eine der Sprecherinnen von FFF. »Des- len es Aktivisten, die die Streiks ablehnten,
Nahverkehrs. Im Frühjahr 2024 ist das Bünd- halb können wir nicht einfach einen nahezu weil sie die Leute nur gegen den öffentlichen
nis in mehr als 70 Orten aktiv. kostenlosen öffentlichen Nahverkehr für alle Nahverkehr aufbrächten. Die Klimabewegung
Der Zusammenschluss sei folgerichtig, sagt fordern. Es braucht auch einen entsprechen- solle sich darauf konzentrieren, Appelle an die
Simon Teune, Protestforscher an der FU Ber- den Ausbau und verbesserte Arbeitsbedin- Politik zu richten, so wie früher. Andere aber
lin. »Es war die große Enttäuschung von Fri- gungen, sonst werden die Beschäftigten wie- schwören auf das neue Bündnis.
days for Future, dass das bessere Argument der allein gelassen.« Mitte April wollen Aktivisten und Gewerk-
allein in der Politik nicht zählt.« Im Bündnis Deshalb haben die Aktivisten ihre Forde- schafter zu einer Konferenz in Köln zusam-
mit Ver.di würden die Aktivisten nun »eine rungen an die Politiker verändert, sie erinnern menkommen, mehr als 1000 Personen könn-
neue politische Macht« entwickeln. sie nun an deren eigenes Versprechen, fest- ten es werden. Es soll um die Zukunft des
Am ersten von drei Streiktagen stehen gehalten im Koalitionsvertrag: Bis 2030 soll neuen Bündnisses gehen. Was passiert nach
zwei Dutzend Männer in gelben Ver.di-Wes- es deutlich mehr Fahrgäste in Bussen und dem Ende der aktuellen Tarifrunde? Welche
ten vor dem Eingangstor der Göttinger Ver- Bahnen geben. Dafür seien Investitionen von Rolle spielen die Demos gegen Rechtsextre-
kehrsbetriebe um zwei Feuertonnen herum. Bund und Ländern von mindestens 16 Mil- mismus, an denen FFF ebenfalls maßgeblich
Eine Reihe junger Klimaaktivisten rollt mit liarden Euro jährlich nötig, sagen die Aktivis- beteiligt ist? Muss die Gerechtigkeitsfrage
Fahrrädern vor, sie werden freundlich emp- ten von FFF und Ver.di. noch stärker ins Zentrum der Proteste rücken?
fangen. Bis Mittag werden etwa 50 Leute vor Das gemeinsame Ziel der beiden Protest- Beim Streik in Göttingen sagte eine Akti-
Ort sein. Sie stehen zusammen in wechseln- gruppen, sagt Andreas Schackert, Bundes- vistin: »Wir müssen in die Autoindustrie, in
den Konstellationen, offensichtlich vertraut. fachgruppenleiter Busse & Bahnen bei die Fleischindustrie. Wir müssen weitere Bünd-
Die Zeit der Grüppchenbildung ist vorbei. Ver.di, könnten nur bessere Arbeitsbedingun- nisse schließen, auch da, wo sie sich nicht so
Der Preis für die Annäherung war biswei- gen sein. Alles andere wäre für die Mitglieder aufdrängen wie im öffentlichen Nahverkehr.«
len hoch. Die FFF-Aktivisten mussten sich zu abstrakt. Gerät dabei der Klimaschutz »Die Klimabewegung ist in einem Strate-
von manchem verabschieden, was ihnen nicht völlig in den Hintergrund? gieloch, man weiß nicht so recht, was man tun
wichtig war. Zum Beispiel von der Forderung, Man müsse das eine tun, um das andere soll«, sagt Johannes Bosse, Physikstudent und
das 9-Euro-Ticket dauerhaft einzuführen. Das zu bekommen, sagt der Göttinger FFF-Akti- Organisator der Konferenz. Das Bündnis
Ticket war für FFF bislang ein Musterbeispiel vist Mula. »Unser erster Schritt war, das An- »Wir Fahren Zusammen« sei nun »der große
für sozial gerechte Klimaschutzpolitik, für die gebot zu machen: Wir unterstützen euren Strategieaufschlag«. Die Hoffnung: ein Neu-
Beschäftigten im öffentlichen Nahverkehr Arbeitskampf. Wenn sie dann sehen, dass wir start der Klimabewegung.
aber war es Anlass für eine Menge Ärger. es ernst meinen, und das Vertrauen wächst, Johannes Müller n

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Illustration: Anna Haifisch / DER SPIEGEL

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Der Corona-Raubzug
KRIMINALITÄT Der Staat hat in der Pandemie mit Milliarden Euro Unternehmer unterstützt.
Aber er ist auch auf dreiste Betrüger hereingefallen. Lässt sich das Geld zurückholen?

So ein Jetset-Leben, das kostet. Heute Köln, Um Unternehmen und Selbstständigen zu Das Landeskriminalamt in Berlin hat Zah-
morgen Mallorca, übermorgen Dubai. Schicke helfen, hat der Staat in der Pandemie mehr len, die sich auf alle Programme ab 2020 be-
Hotels, gutes Essen. Dazu die Schweizer Arm- als 76 Milliarden Euro verteilt. Das ist unge- ziehen. Es kommt allein für die Hauptstadt
banduhren und das Koks. Firas G., 46, brauch- fähr so viel, wie die EU und ihre Mitglieder auf mehr als 16.000 Ermittlungsverfahren
te Geld. Er betrieb ein Restaurant in Köln, doch seit dem russischen Angriff 2022 an Hilfen für wegen Hilfen, die mutmaßlich zu Unrecht
das warf nicht genug ab. die Ukraine gezahlt haben. ausgezahlt wurden. Potenzieller Schaden:
Nur gut, dass im Frühjahr 2020 die Coro- Die Subventionsprogramme waren unter- 274 Millionen Euro. In dem Amt wurden eigens
napandemie über Deutschland hereinbrach. schiedlich groß, zielten auf verschiedene drei Abteilungen gegründet. Ungefähr 40 Be-
Und der Staat Unternehmern helfen wollte, Gruppen. Zu Beginn der Pandemie setzte die amte sind damit beschäftigt, Betrug aus der
die in Not gerieten. Politik die Soforthilfe auf, später kamen die Pandemiezeit aufzuklären. Und sie sind weit
Von März 2020 bis Dezember 2021 reichte Überbrückungshilfen I, II, III und IV, außer- entfernt davon, das ganze Ausmaß der illega-
Firas G. bei der Bezirksregierung Köln 18 An- dem die November- und die Dezemberhilfe len Bereicherung zu sehen.
träge auf Coronahilfen ein. Er wollte 3,2 Mil- sowie die Neustarthilfe. Die Politik hat Geschenke verteilt, als gäbe
lionen Euro haben, er bekam 1,3 Millionen. Während der Lockdowns mussten Ge- es kein Morgen. Inzwischen droht der deut-
So steht es im Urteil des Landgerichts Köln. schäfte schließen, Lieferketten rissen ab, An- schen Wirtschaft Stagnation. »Wir haben ein-
Für seine Anträge erfand Firas G. Firmen, gestellte gingen in Kurzarbeit. Das Geld der fach kein Geld mehr«, sagte SPD-Staatsmi-
die er angeblich besaß. Angestellte, die er Steuerzahler half Tausenden Unternehmen, nister Carsten Schneider kürzlich und begrün-
­angeblich beschäftigte. Er erfand Umsatzrück- bewahrte viele vor der Pleite. Der Staat wur- dete das auch mit den teuren Coronapaketen.
gänge, Fixkosten und Lizenzgebühren, er de zum Retter, die Wirtschaft kam einiger- Der Staat hat sich durch seine Generosität
fälschte Miet- und Kaufverträge und schrieb maßen glimpflich durch die Krise. Einerseits. in die Bredouille gebracht, und die Justiz
Scheinrechnungen. Einmal gab er an, frei­ Andererseits wurde der Staat zum Opfer. kommt mancherorts kaum hinterher. Ermitt-
beruflich zu arbeiten. Einmal, Geld für ein Hy­ In zahlreichen Fällen landeten die Subven- ler vermuten hinter fünf bis zehn Prozent der
gienekonzept in seinem Restaurant zu benö- tionen auf Konten von Kriminellen, die aus- Hilfsanträge kriminelle Machenschaften. Bei
tigen. Alles Lüge, wie das Gericht feststellte. nutzten, dass die Behörden bei der Prüfung Subventionen von 76 Milliarden Euro könn-
Mit dem Geld bezahlte er Urlaubstrips nach der Anträge nicht genau genug hinschauen te der Staat also viele Milliarden zu Unrecht
Ägypten, Rolex-Uhren, eine Louis-Vuitton- konnten. Oder wollten. Manche Täter han- ausgezahlt haben. Wobei nicht alle Antrag-
Tasche. Und eine Eigentumswohnung auf delten allein und ergaunerten mehrere Zehn- steller, die dem Staat noch Geld schulden,
Mallorca, nahe dem Hafen von Palma. tausend Euro. Andere schlossen sich zu Ban- betrogen haben. Einige aber schon, und die
Im Urteil heißt es, G. habe »ein Leben auf den zusammen und machten Millionen. einen von den anderen zu unterscheiden fällt
der Überholspur« geführt. In der Verhandlung Der Corona-Subventionsbetrug dürfte mitunter schwer.
legte er ein Geständnis ab, im vergangenen einer der größten Raubzüge in der deutschen Nun versuchen die Behörden, einen Teil
Herbst sprach die Kammer ihr Urteil. Firas G. Kriminalhistorie gewesen sein. »Es war leider des Geldes zurückzuholen. Das BMWK rech-
muss für fünf Jahre und drei Monate in Haft. die ultimative Gelegenheit zum Betrug«, sagt net allein bei den Soforthilfen mit Rückzah-
Rolf Blaga von der Antikorruptionsorganisa- lungen von 4,8 Milliarden Euro. Können Poli-

F
älle wie der von Firas G. beschäftigen tion Transparency International in Deutsch- tik und Justiz das Geld eintreiben? Oder muss
in diesen Wochen und Monaten viele land. »Noch nie in der Geschichte der Bundes­ man viele Betrüger davonkommen lassen,
Gerichte in Deutschland. Die Angeklag- republik war es so leicht, vom Staat alimen- weil die Verfolgung zu aufwendig wäre?
ten sind Gastronomen und Kfz-Mechaniker, tiert zu werden.«
Lehrerinnen und Rechtsanwaltsfachange­ Das Bundeswirtschaftsministerium, kurz Landgericht Köln, Saal 213. Leyla S. versucht
stellte, Hausmeister und YouTube-Stars. Man­ BMWK, war für die Subventionen zuständig an diesem Freitag im Januar zu erklären, wie
che sind vorbestraft und kennen das Gefäng- und hat bis heute mit den Folgen zu tun. sie in die Sache hineingeraten ist. Die Staats-
nis schon, andere haben noch nie etwas ver- Laut einem Sprecher wurden bis Ende anwaltschaft wirft ihr Subventionsbetrug in
brochen. 2023 deutschlandweit 7900 Verfahren wegen 24 Fällen vor.
Ihnen allen wird dasselbe vorgeworfen: möglichen Betrugs eingeleitet – nur zu den S., 39, betreibt einen Kurierdienst und fährt
Corona-Subventionsbetrug. Soforthilfen. Schulbücher aus. Früher mochte sie Glücks-
Die Pandemie ist vorbei, doch sie hat Spu- spiele, sie zockte tage-, manchmal nächtelang.
ren hinterlassen, die erst jetzt sichtbar wer- Entweder online, auf dem Handy und dem
den. Es gibt Menschen, die haben sich an der Laptop oder in einer Spielothek. Am einarmi-
Krise bereichert, sie haben den Staat abge- gen Banditen saß sie besonders gern. So er-
zockt, mit Maskendeals oder Corona-Test- »Das Geld lag auf der zählt sie es im Gerichtssaal.
zentren. Am einfachsten hatten es die Betrü- Im Frühjahr 2020 hatte sie Spielschulden.
gerinnen und Betrüger wohl bei den Wirt- ­Straße, die Täterinnen Als sie von den Coronahilfen erfuhr, reichte
schaftshilfen, die Bund und Länder ausschüt- und Täter mussten sich sie Anträge ein. Die Staatsanwältin wirft ihr
teten. Mitunter reichten ein Formular und ein vor, dabei getrickst zu haben. S. soll in den
paar Klicks im Internet, um Hunderttausende nur danach bücken.« Anträgen Firmen, Umsätze und Angestellte
Euro abzugreifen. Richterin am Landgericht Köln erfunden haben, sie soll Hilfen unter verschie-

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DEUTSCHLAND

einer zuständigen Landesbehörde in


NRW. »Betrügereien haben wir bis
zu einem gewissen Grad in Kauf ge­
nommen.« Am Ende flossen in kei­
nem Bundesland mehr Coronamittel
als in Nordrhein-Westfalen. Dort gab
es im Frühjahr 2020 schätzungsweise
800.000 Unternehmen, die Landes­
regierung ließ insgesamt gut 18 Mil­
liarden Euro regnen.
Bei den NRW-Behörden gingen
fast eine Million Anträge auf Coro­
nahilfen ein. Allein die Bezirksregie­
rung Düsseldorf stellte im Frühjahr
2020 rund 300 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter ab, die sich um die For­
mulare kümmern mussten. Sie schuf­
teten in Schichten, Tag und Nacht,
auch am Wochenende. Die Beamten
genehmigten 83 Prozent der Sofort­
hilfeanträge und knapp 90 Prozent
bei den anderen Hilfsprogrammen.
Die Antragsteller waren Friseure,
denen Namen beantragt haben. Für schichte der Bundesrepublik. »Es Gastronominnen und DJs. Sie konn­
eines der Unternehmen soll sie 15 An- wird nicht gekleckert, es wird ge­ ten das Formular zur Soforthilfe on­
träge nacheinander eingereicht ha- klotzt«, sagte Scholz. Die Botschaft line ausfüllen, sie mussten den Na­
ben. Wie beim Lotto, wenn man 15 war: No limits, es gibt es keine Gren­ men ihres Unternehmens angeben,
Scheine ausfüllt. Der Staat überwies ze nach oben. Steuernummer, Bankverbindung und
ihr rund 48.000 Euro. S. habe »eine Das meiste Geld kam vom Bund. die Zahl der Personen, die bei ihnen
nationale Notlage ausgenutzt«, sagt Die Länder beteiligten sich, manche beschäftigt sind. Per Mausklick muss­
die Staatsanwältin. legten eigene Subventionsprogramme ten sie versichern, dass ihre Firma unter
»Meine Mandantin räumt die Ta- auf, und sie kümmerten sich um die der Coronakrise litt. Absenden, fertig.
ten ein«, sagt der Anwalt von S., »sie Verwaltung und die Auszahlung. Die Eine Unterschrift war nicht nötig.
wollte sich von den Hilfen keinen Por- Stellen, die entscheiden sollten, er­ In NRW stellten Unternehmer und
sche kaufen, sie wollte ihre Schulden nannte jede Landesregierung selbst, Soloselbstständige – auch solche, die
aus den Onlinespielen begleichen.« S. es war mal wieder das große Durch­ ihr Gewerbe nur vortäuschten – mehr
sagt: »Es tut mir leid.« einander: in Berlin die Investitions­ als 400.000 Anträge auf Soforthilfe.
Dann spricht die Richterin ihr bank IBB, in Bayern die Industrie- Die Server der Landesregierung bra­
Urteil: eine Geldstrafe, 180 Tagessätze, und Handelskammer für München, chen mitunter zusammen.
10.800 Euro. Die Coronahilfen musste im Saarland das Wirtschaftsministe­ Keine Chance, die Anträge alle or­
S. bereits erstatten. Die Richterin wen- rium. In NRW bekamen die fünf Be­ dentlich zu kontrollieren. Nur jedes
det sich an sie: »Sie haben die Gunst zirksregierungen den Auftrag, die zehnte Formular konnten sich die
der Stunde genutzt. Es war aber auch Formulare anzunehmen, zu prüfen Beamten in den Bezirksregierungen
besonders leicht, das Geld lag auf der und darüber zu entscheiden. näher anschauen. Das ergaben Er­
Straße, die Täterinnen und Täter muss- Das erste Förderprogramm, die mittlungen in Betrugsfällen, die Be­
ten sich nur danach bücken.« Soforthilfe, wurde in NRW innerhalb zirksregierung Düsseldorf bestätigt
von nur einer Woche gestartet. Das die Quote.
Am 13. März 2020 saß Olaf Scholz in Geld sollte schnell fließen, unbüro­ Eine genauere Prüfung bedeutete
der Bundespressekonferenz in Berlin, kratisch. Eine Person, die das Hilfs­ etwa, dass die Beamten im Internet
er hob beide Arme und schnitt mit system mit aufgebaut hat, erinnert googelten, ob es eine Firma, die einen
seinen Handkanten senkrecht durch sich so: »Wir dachten, dass wir hier bald Antrag gestellt hatte, tatsächlich gab.
die Luft. »Das ist die Bazooka, mit Massenarbeitslosigkeit haben, des­ Manchmal fuhren sie mit dem Auto
der wir jetzt das Notwendige tun«, wegen wollten wir ein Signal setzen.« zur Firmenadresse, um zu sehen, ob
sagte er und grinste. Er war zu dieser Dazu kam, dass im Frühjahr 2020 das Unternehmen dort wirklich saß.
Zeit noch Bundesfinanzminister. Ne­ der Machtkampf um die Kanzlerkan­ So berichten es Beteiligte.
ben ihm saß Peter Altmaier (CDU), didatur zwischen den beiden Unions­ Ein Beamter sagt im Rückblick:
damals Bundeswirtschaftsminister, und politikern Armin Laschet und Markus »Der Gedanke war: Erst mal schnell
kicherte über den Bazooka-Spruch. Söder begann. Der nordrhein-west­ das Geld rausgeben, und dann schau­
In Deutschland waren in diesen fälische und der bayerische Minister­ en wir am Ende, was davon benötigt
Tagen die ersten Coronafälle bekannt
geworden. Die ersten Messen und
präsident lieferten sich ein Fernduell
um die bessere Coronapolitik, was
»Das war eine wurde.«
Das NRW-Wirtschaftsministerium
Veranstaltungen fielen aus, die Angst sich auf die Wirtschaftshilfen auswirk­ gigantische beantwortete damals auf seiner
vor der Krise ging um. Die beiden te. So berichten es Leute aus der Ver­ Spielwiese ­Website die wichtigsten Fragen rund
Männer auf dem Podium waren trotz­
dem in Protzlaune. Man habe einen
waltung, die den Druck von oben
spürten.
für Betrüger um die Coronahilfen. Eine lautete:
»Reicht das Geld für alle?« Die Ant­
Schutzschild für die Wirtschaft auf­ »Wir wähnten uns im ständigen aller Art.« wort des Ministeriums: »Ja.«
gestellt, es sei die umfassendste, die Wettbewerb mit Bayern, es sollte Lutz Niemann, War es klug, dass der Staat unbe­
wirksamste Hilfestellung in der Ge­ schnell gehen«, sagt ein Beamter aus Oberstaatsanwalt grenzt Steuergeld raushaute, obwohl

28 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


DEUTSCHLAND

er nicht kontrollieren konnte, wer es wirklich gang Ihrer Schlussabrechnung für die von mie schnell und unkompliziert ausgezahlt,
brauchte? Jedenfalls verstanden offenbar eine Ihnen beantragte Corona-Wirtschaftshilfe doch das hatte einen Preis: Die Bürokratie
Menge Menschen die Großzügigkeit als Ein­ festgestellt.« schlägt jetzt im Nachhinein zu.« Wenn die
ladung, in den Anträgen zu lügen oder zu­ Das Schreiben kam von Behörden, die in Schulden aus Coronahilfen 250 Euro je För­
mindest die Wahrheit zu frisieren. den Bundesländern die Coronasubventionen derprogramm nicht übersteigen, werden sie
Den Ministern und Abteilungsleitern in bewilligt hatten. Die Nachricht war ein Ap­ erlassen, aus Gründen der Effizienz.
den Behörden dämmerte das irgendwann. Sie pell, die Unternehmer mögen sich doch end­ In NRW schufen die Behörden ein Rück­
versuchten, eine Sicherung einzubauen. Bei lich beim Staat melden. Das Wort »Bitte« kam meldesystem für Soforthilfeempfänger, das zu­
den Folgeprogrammen, den Überbrückungs­ in dem Brief fünfmal vor. nächst scheiterte und dann so kleinteilig wurde,
hilfen etwa, mussten die Antragsteller einen Wer in der Pandemie Zuschüsse für sein dass es kaum umzusetzen ist. Ab Sommer 2020
Steuerberater, Wirtschaftsprüfer oder Rechts­ Unternehmen beantragte, musste in den For­ schrieben die Bezirksregierungen die Antrag­
anwalt damit beauftragen, das Formular zu mularen angeben, wie hoch der Umsatzrück­ steller an. Sie sollten Einnahmen und Ausgaben
prüfen und einzureichen. Man glaubte, die gang schätzungsweise sein würde. Und sich gegenüberstellen und belegen, dass sie von
Berufsehre dieser Helfer verbiete es ihnen, verpflichten, später offenzulegen, wie sich einem Liquiditätsengpass betroffen waren. Die
sich an Straftaten zu beteiligen. das Geschäft tatsächlich entwickelt hatte, ob Behörden entschieden dann automatisiert, ob
Inzwischen stehen auch einige Steuer­ die Einbußen also wirklich so hoch waren wie die Unternehmerinnen und Unternehmer Geld
berater und Rechtsanwälte vor Gericht, wegen befürchtet. zurückzahlen mussten oder nicht – und ver­
Beihilfe zum Subventionsbetrug. Das Ange­ Der Deal war, dass die Antragsteller eine schickten entsprechende Bescheide.
bot war wohl auch für sie zu verlockend. sogenannte Schlussabrechnung abgeben. Die Chefin eines Kosmetikstudios, der Be­
Doch offenbar haben nicht alle Zeit dazu. sitzer eines Schnellrestaurants und ein Steuer­
Landgericht Düsseldorf, Saal E.122. Der Mö- Und erst recht keine Lust, zu hohe Förder­ berater klagten dagegen, mit Erfolg. Vor ei­
belhändler Ahmet E., 56, zieht seine Lesebril- gelder zurückzuzahlen. nem Jahr urteilte das Oberverwaltungsgericht
le auf, er nimmt ein Blatt Papier in die Hand, Im Bundeswirtschaftsministerium, verliert Münster, diese Bescheide müssten aufgeho­
von dem er sein Geständnis abliest. »Ich möch- man langsam die Geduld. Die Antragsteller ben werden.
te mich beim Rechtsstaat für meine Taten und seien »mehrfach auf das Einreichen der Das Wirtschaftsministerium in Düsseldorf
den entstandenen Schaden entschuldigen.« Schlussabrechnungen hingewiesen« worden, hat nun ein neues Rückmeldesystem entwi­
Dann spricht E. an diesem Donnerstag im Fe- sagt ein Sprecher, sie hätten Erinnerungs- ckelt, für alle Soforthilfeempfänger, deren
bruar über seinen Möbelladen in Essen und Mails und Briefe bekommen wie jenen im Abrechnungen nach vier Jahren noch immer
den Lockdown, der eine Katastrophe für sein November. Die Frist sei mehrmals »großzügig nicht abgeschlossen sind. Das betrifft gut
Geschäft gewesen sei. verlängert« worden. 80.000 Soloselbstständige und Kleinunter­
E. ist der Hauptangeklagte in diesem Ver- Laut BMWK fehlen den Behörden in nehmer. Sie werden demnächst wieder Post
fahren. Seit Dezember 2022 sitzt er in Unter- 41.000 Fällen die Schlussabrechnungen, ohne erhalten, mit der Bitte, ihre Einnahmen und
suchungshaft. Die Staatsanwaltschaft wirft dass die Unternehmen eine Fristverlängerung Ausgaben von damals gegenüberzustellen,
ihm und drei anderen vor, eine Bande gegrün- beantragt haben. In rund 400.000 Fällen ha­ diesmal trennscharf, Monat für Monat.
det zu haben, um in großem Stil Coronahilfen ben Antragsteller um Aufschub gebeten. Sie Vermutlich werden sich auch diesmal vie­
abzugreifen. Die Männer sollen fast sechs Mil- haben noch bis zum 31. März Zeit, sich bei le nicht zurückmelden. Bei der Bezirksregie­
lionen Euro ergaunert haben. den Behörden zu melden. Danach soll Schluss rung in Düsseldorf befürchten sie, noch bis
Sie sollen für ihre Geschäfte ein Büro ge- sein. »Eine weitere Fristverlängerung ist von 2028 mit den Verfahren beschäftigt zu sein.
mietet haben, ihr Arbeitsalltag soll daraus be- Bund und Ländern nicht vorgesehen«, sagt Paul Haße ist dort für die Coronahilfen
standen haben, Subventionen und Kredite zu der Ministeriumssprecher. und die Nachwehen zuständig, er leitet die
beantragen. So steht es in der Anklage. Dem- Im BMWK geht man davon aus, dass rund Abteilung drei: regionale Entwicklung, Kom­
nach haben E. und seine Partner knapp zehn 20 Prozent der Unternehmen, die Überbrü­ munalaufsicht und Wirtschaft. Fragt man ihn,
Firmen angemeldet, die es nicht gab: einen ckungshilfen, November- oder Dezember­ welche Lektion er gelernt habe, sagt er: »Wir
Lebensmittelhandel für Eier und Milch oder hilfen erhalten haben, Geld zurückzahlen konnten am Anfang nicht mit Sicherheit fest­
ein Unternehmen für Güterbeförderung. Sie müssen. Im Schnitt 6400 Euro. stellen, ob ein Antragsteller auch derjenige
sollen Strohgeschäftsführer aus Italien und Erst warf der Staat mit Geld um sich, jetzt ist, der er behauptet zu sein. Es gab bei den
Südosteuropa engagiert haben, die in Deutsch- rennt er ihm hinterher und sieht dabei ziem­ Soforthilfen keine saubere Identifizierung,
land Konten eröffnet und Vollmachten unter- lich doof aus. Einer, der in NRW mit den wie man sie vom Elster-Verfahren bei der
schrieben haben sollen. Rückforderungen befasst ist, drückt es so aus: Steuererklärung kennt. Eine solche Prüfung
Ein Rechtsanwalt soll für die Bande die »Wir haben die Hilfen zu Beginn der Pande­ hätte uns mehr Klarheit verschafft und die
Anträge auf Coronasubventionen eingereicht Hürden für Betrug erhöht.«
haben, auch gegen ihn wird ermittelt. Das Aus dem Apparat gibt es Kritik. Und was
Geld sollen E. und die anderen in bar abge- sagen die Politiker? Wie schauen die Väter
hoben oder in die Türkei verschoben haben. des Corona-Schutzschildes auf die Subven­
»Ich weiß nicht, warum wir das Geld be- tionen und die Kollateralschäden?
kommen haben, es war viel zu einfach«, sagt Peter Altmaier nimmt sich fast zwei Stunden
Ahmet E. im Gerichtssaal. Als es gleich beim Zeit für ein Telefonat. Der frühere Bundeswirt­
ersten Mal geklappt habe und das Geld ge- schaftsminister sitzt zu Hause im Saarland, er
Illustration: Anna Haifisch / DER SPIEGEL (2)

flossen sei, hätten sie einfach immer weiter- ist inzwischen im Ruhestand. Der CDU-Politi­
gemacht. »Wenn sich jemand hingesetzt und ker hat viele Details zu den Hilfsprogrammen
das geprüft hätte, hätte er schnell festgestellt: im Kopf, auch zu den Schwächen des Systems,
Das geht nicht.« doch zitieren lassen möchte er sich lieber nicht.
Man lernt in dem Gespräch: Der Druck auf
Es gibt einen Brief, den im vergangenen No­ die Politik war zu Beginn der Pandemie riesig,
vember viele Unternehmen in Deutschland die Opposition, die Medien, die Einzelhändler
bekommen haben. Im Betreff des Schreibens erwarteten, dass von jetzt auf gleich das Geld
stand: »Erinnerung«. Der Brief begann mit fließt. Der Bund gab die Mittel, die Länder
diesem Satz: »Derzeit wurde noch kein Ein­ verteilten sie, es gab einen Wettbewerb um die

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DEUTSCHLAND

drängt die Zeit, wenn man alle Täter dingfest


machen wollte. Subventionsbetrug verjährt
nach fünf Jahren.
Dazu kommen Unternehmer, die das Rück­
meldeverfahren ignorieren. Der Staat kann sie
nicht davonkommen lassen, weswegen die Be­
willigungsstellen bald beginnen sollen, in die­
sen Fällen die Coronahilfen plus Zinsen kom­
plett zurückzuverlangen. So lautet der Plan
des Bundeswirtschaftsministeriums. Allerdings
wird das wohl viele der Hilfeempfänger kalt­
lassen. Die Behörden müssten die Verweigerer
Illustration: Anna Haifisch / DER SPIEGEL

dann vermutlich anzeigen, die Folge wären


Zehntausende, vielleicht Hunderttausende
Strafverfahren. Eine kaum zu bewältigende
Zahl. Leuten wie Niemann graut es davor. Er
sagt: »Ich kann nicht ausschließen, dass einige
am Ende Glück haben und davonkommen.«

Amtsgericht Köln, Saal 33. Galya K. sitzt


neben ihrer Anwältin und einer Dolmetsche­
rin. K., 46, ist Bulgarin, sie kommt aus einem
schnellste Auszahlung. Manche genehmigten ten zu Verfahren, in denen es um Subven­ Dorf nördlich von Sofia und ist für die Ver­
so ziemlich alles, was an Anträgen reinkam. tionsbetrug geht. Niemann leitet die Abtei­ handlung nach Köln gereist. K. lebt von ein
Betrüger? Gibt es immer und überall, so lung für Steuerstrafsachen bei der Staatsan­ paar Hundert Euro im Monat, sie arbeitet auf
etwas lässt sich nie verhindern. Im Großen waltschaft Köln. Im Allgemeinen hat er es mit Baustellen, sortiert dort Müll. So erzählt sie es
und Ganzen hat der Schutzschild die Wirt­ Wirtschaftskriminalität zu tun, im Speziellen an diesem Dezembertag dem Richter.
schaft gerettet. Altmaier wirkt wie ein Mann, mit Coronabetrügern. Lutz Niemann verliest die Anklage. Die
der mit sich im Reinen ist. Die meisten der kleineren Verfahren seien Staatsanwaltschaft wirft K. vor, im Frühjahr
abgeschlossen, sagt der Oberstaatsanwalt, 2020 Soforthilfe beantragt zu haben, für ein
Andrea D., 59, plagten Schulden in Höhe von viele der komplexeren aber noch nicht. »Es Unternehmen mit angeblich 14 Mitarbeitern,
70.000 Euro. Die Antiquitätenhändlerin be­ ist eine Mammutaufgabe, Straftaten mit Co­ das es nie gegeben haben soll. Die Bezirks­
antragte Coronahilfen, in ihrem Namen, ronabezug aufzuarbeiten. Es gab Phasen, da regierung bewilligte insgesamt 25.000 Euro,
außerdem im Namen ihrer Söhne, ihres Le­ brachte uns das ans Limit, meine Steuer­ das Geld ging auf ihr Konto.
benspartners, ihrer Mutter, ihres Vaters und abteilung wurde bisweilen zu einer Abteilung K. sagt, sie wisse von nichts. Ein Bekannter
im Namen der Mutter ihres Lebenspartners. für Subventionsbetrug. Solche Verfahren bin­ aus Bulgarien habe sie im März 2020 für ein
So steht es im Urteil des Landgerichts Köln. den enorme Kapazitäten, in den Staatsanwalt­ paar Tage nach Deutschland geschickt. Sie
Den ersten Antrag reichte D. im März 2020 schaften und Gerichten.« sollte sich anmelden, ein Konto eröffnen. For­
ein. Dass die Sache stank, merkte die Bezirks­ Die meisten Ermittlungen, mit denen er zu mulare, die ihr vorgelegt wurden, habe sie
regierung erst im Oktober 2021, also einein­ tun hat, gehen auf Hinweise von Banken zu­ unterschrieben, ohne sie zu verstehen. Ihr Be­
halb Jahre später. Manche von D.s Anträgen rück. Dort fielen bei manchen Kunden selt­ kannter, sagt K., sei der Täter.
wurden fortan abgelehnt, sie reichte dennoch same Kontobewegungen auf, manchmal auch, »Meine Mandantin wurde ausgenutzt, es
neue ein, irgendwann auch im Namen von dass die einzigen Eingänge Coronahilfen wa­ trifft die falsche Person«, sagt die Anwältin.
Freunden und Bekannten. In einigen Fällen ren. Die Kreditinstitute schrieben Geldwä­ Oberstaatsanwalt Niemann sagt: »Mein Mit­
bekam sie weiter Geld. scheverdachtsanzeigen, so landeten die Fälle leid hält sich in Grenzen.«
D. erfand in den Anträgen Umsätze, Fix­ bei Niemann. Es gab auch Menschen, die ihre Kurze Pause, dann verkündet der Richter
kosten und Steuernummern, für ihren Vater Nachbarn anzeigten, weil die sich von der einen Beschluss: Das Verfahren gegen Galya
dachte sie sich eine Tätigkeit als Einzelunter­ Soforthilfe ein neues Auto gekauft hatten. K. wird eingestellt, aber sie muss eine Schadens­
nehmer in der Gastronomie aus, ihre Mutter Manche Verfahren münden in monatelan­ wiedergutmachung bezahlen: 15.000 Euro.
machte sie in den Anträgen zu einer selbst­ ge Gerichtsprozesse, andere kann Niemann
ständigen Restauratorin. Alles gelogen. Das in wenigen Minuten per Strafbefehl erledigen. Später läuft Niemann über die Flure des
Geld landete auf dem Konto eines Sohns von Er erzählt von einer Schneiderei, die einen Amtsgerichts in Richtung Ausgang. Er sei
D., am Ende mehr als eine halbe Million Euro. sechsstelligen Betrag bekam, für die angeb­ nicht überrascht von der Geschichte der An­
D. konnte nicht nur ihre Schulden beglei­ liche Digitalisierung des Betriebs. Und von geklagten, sagt der Oberstaatsanwalt.
chen, es sprang auch noch eine Finca in Spa­ einem Schulhausmeister, der vor Corona im So etwas passierte während der Pandemie
nien heraus. Und weil die Sache so gut lief, Nebenjob ein paar Milchtüten an Schüler ver­ öfter: Menschen, etwa aus Osteuropa, kamen
beantragte sie nach der Hochwasserkatastro­ kaufte. Er hatte damit 200 Euro im Monat kurz nach Deutschland, um an Coronasub­
phe im Sommer 2021 für ihre erfundenen Fir­ verdient; während der Pandemie beantragte ventionen zu gelangen. Einreise, Soforthilfe­
men noch Fluthilfen. Auch das funktionierte, er 9000 Euro Soforthilfe. antrag, Ausreise. Niemann sagt: »Solche Fäl­
zum Teil zumindest. »Das war eine gigantische Spielwiese für le haben wir leider vielfach auf dem Tisch
Vor Gericht gestand Andrea D., im Januar Betrüger aller Art«, sagt Niemann. Bis Ende gehabt.«
2023 wurde sie zu einer Freiheitsstrafe von 2023 zählte die Kölner Staatsanwaltschaft in Er versucht nun, den Drahtzieher in Bul­
fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Von Sachen Corona-Subventionsbetrug mehr als garien zu finden.
dem ergaunerten Geld war zu diesem Zeit­ 1600 Verfahren mit mehr als 2100 Beschuldig­ Jörg Diehl, Lukas Eberle, Tobias Großekemper,
punkt nichts mehr übrig. ten. Und es kommen noch immer neue hinzu. Gerald Traufetter n
Die Justiz hat seit Jahren ein Personalpro­
Im Büro von Lutz Niemann sind Kartons auf­ blem, nicht nur in Köln. Für die Aufklärung Lesen Sie auch ‣ Die Auswertung der Corona-
einandergestapelt, in vielen Kisten liegen Ak­ aller Coronataten fehlt es an Leuten. Zugleich Protokolle | 92

30 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


DEUTSCHLAND

Hikel. »Meine Freude hielt sich in


Grenzen«, sagt er.
Die Rammos blieben in der Villa
wohnen. Laut Bezirksamt präsentier-
ten sie einen Mietvertrag, ausgestellt

Zum Abschied ein Feuerwerk


auf die Mutter von Issa Rammo. Dieser
galt auch weiter, nachdem das Land
Berlin Eigentümer geworden war. Doch
die deutsche Bürokratie schlug zurück:

Marke Bandit Der Mietvertrag, den die Familie prä-


sentierte, galt wohl nur für einen Teil
des Anwesens. Das Bezirksamt ließ
daher einen Zaun montieren, der Gar-
ORTSTERMIN Eine Besichtigung in der ehemaligen Clan-Villa der Rammos ten wurde im Sommer 2021 geteilt. Die
Rammos sollen noch einen zweiten
Mietvertrag geschickt haben, der zu-

H
ier riecht es aber komisch«, dem den zweiten Teil der Immobilie
sagt Martin Hikel, Bezirksbür- umfasste. Angeblich wurde dieser Ver-
germeister von Neukölln, als trag bereits 2016 geschlossen. Aller-
er in den Keller der Villa hinabsteigt. dings schickten sie den Vertrag auf
»Das ist das Eau de Rammo«, sagt einem Vordruck, den es 2016 wohl
sein Mitarbeiter. noch nicht gab, sondern erst später.
Die Rammos. Das Parfüm in der Einem »wachen« Mitarbeiter im
Luft hält sich so hartnäckig wie Bezirksamt sei das aufgefallen, er-
die Gerüchte. Fest steht: Die Familie zählt Hikel.
Rammo kam vor mehreren Jahrzehn- Das bot die Gelegenheit, die Ram-
ten nach Deutschland. Einige ihrer mos loszuwerden. Im August 2021

Sophie Kirchner / DER SPIEGEL


Mitglieder sind für die spektakulärs- sprach der Bezirk eine fristlose Kün-
ten Einbrüche der jüngeren Geschich- digung aus. Die Geschichte der Ram-
te mitverantwortlich. mo-Villa endete vorerst mit einem
Die Clan-Villa liegt am Rand der Feuerwerk. Einen Tag vor der Räu-
Stadt, ganz im Süden von Berlin, und mung sollen die Rammos es in die
hat schon einige Fantasien beflügelt. Luft geschossen haben. Die Reste
Als Luxusvilla ist sie beschrieben ­davon liegen im Hof herum: eine
worden oder als Bruchbude. Je nach- Buckow«. Der Schein ist aus dem Jahr Zurückgelassener ­Packung mit der Aufschrift »Bandit«.
dem, ob man an die Macht der Groß- 2012. Ein Sohn von Issa Rammo kauf- Boxsack In einer Kiste stapeln sich Bücher.
familie glaubt oder nicht. te im selben Jahr die Villa – und zwar »Omas Rezepte« steht auf einer Klad-
Vor einigen Tagen kam die Gerichts- von der landeseigenen Wohnungs- de. Daneben liegt ein gelbes Reclam-
vollzieherin, mit 130 Polizisten. Sie baugesellschaft Stadt und Land. Der Buch. »Das Fräulein von Scuderi«
räumten das Anwesen und beendeten Zettel wurde später bei Ali O. gefun- von E. T. A. Hoffmann gilt als eine der
damit eine zähe Auseinandersetzung den, als dieser tot auf dem Gehweg ersten deutschen Kriminalnovellen.
um das Haus. Jetzt sind die Rammos lag. Rammo und er sollen sich gestrit- Das meiste sei wohl wertlos, sagt
weg. Kann man in der geräumten Villa ten haben. 2019 verhandelte das Hikel.
etwas darüber erfahren, wie mächtig Landgericht Berlin gegen einen der Der Hof ist voll mit alten Möbeln
oder reich sie wirklich sind? Söhne von Issa Rammo. Aus Mangel und Schrott. Dafür fehlen andere Din-
»Das hier ist ganz hübsch gemacht«, an Beweisen wurde er freigesprochen. ge. Eine frei stehende Badewanne im
sagt Hikel und zeigt auf eine Wand, in Im Jahr 2018 beschlagnahmte die ersten Stock haben die Rammos mit-
die viele bunte Steine eingelassen sind. Berliner Justiz 77 Immobilien der Fa- genommen. Die Böden im großen
Herzen aus Schmucksteinen und bun- milie Rammo, darunter die Villa im Wohnzimmer haben sie herausgeris-
te Vögel ragen aus der Mauer. An Bezirk Neukölln. Anschließend zog sen. Ein Carport ist abmontiert. Das
einem regnerischen Montag inspiziert das Landgericht Berlin das Haus im alles ist jetzt wohl an einem neuen Ort.
er zum ersten Mal selbst das Innere der Frühjahr 2020 ein, wie es juristisch Trotz der Verwüstungen habe das
Villa. Er trägt zum Besichtigungster- heißt. Möglich geworden war das Bezirksamt am Tag der Räumung
min ein Sakko und seinen Stolz im Ge- durch eine Gesetzesänderung wenige mehrere Anrufe bekommen. »Seit
sicht: »Genau wegen der Geschichte Jahre zuvor. Die Familie Rammo Jahren suche ich so ein Haus für mei-
der Villa wollen wir hier jetzt was musste nun dokumentieren, mit wel- ne Familie«, habe ein Anrufer gesagt.
Soziales machen, vielleicht eine Kita chem Geld sie die Immobilie gekauft Ein anderer wollte das Haus direkt
oder einen Jugendtreff«, kündigt er an. hatte. Und das gelang nicht, trotz aller kaufen, zur Not auch »ungesehen«.
Das Haus hat 168 Quadratmeter Beteuerungen. Das Gericht war über- Am Ende seines Rundgangs schließt
Wohnfläche, acht Zimmer, und Martin zeugt, dass die finanziellen Mittel zum Hikel das Tor zur Villa und damit
Hikel kann nun dafür sorgen, dass hier Erwerb des Hauses zu einem überwie- Der Hof ist auch das Kapitel der Clan-Villa. Zu-
eine neue Geschichte beginnt. genden Teil aus Straftaten herrühren. voll mit mindest an diesem Ort. Neben dem
Die alte dreht sich auch um einen Der Jubel war groß, dass man die Tor liegt das eingezäunte Grundstück,
Schuldschein: »Hier mit Bestätige ich Rammos getroffen hatte. Aber nie- alten Möbeln dort wachsen mehrere Koniferen.
ISSA Rammo … Das ich Ali O. mand wollte für das Haus zuständig und Schrott. Eine von ihnen liegt ausgebuddelt
128.000 € zurück zahlen muss.« Da- sein. Schließlich wurde dem Bezirks- auf dem Boden. Was wohl unter den
runter steht in anderer Schrift: »Das amt Neukölln die Verwaltung der Dafür fehlen Wurzeln vergraben war?
Geld ist für das Kauf der Villa in Alt ­Immobilie übertragen, also letztlich andere Dinge. Fabian Hillebrand n

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 31


DEUTSCHLAND

unter dem Lehrkräftemangel, außerdem


droht Überalterung. In Sachsen-Anhalt wa-
ren im vergangenen Schuljahr 57 Prozent der

Rein – und gleich


Lehrerinnen und Lehrer mindestens 50 Jah-
re alt. Im Bundesdurchschnitt waren es
36 Prozent.

wieder raus
Wie sinnvoll es ist, die Lücken mit Quer-
und Seiteneinsteigern zu füllen, hängt auch
davon ab, wie lange sie bleiben. Viele Bundes-
länder erheben diese Zahlen gar nicht erst,
wie eine Umfrage unter allen Kultusministe-
BILDUNG Sie gelten als Allzweckwaffe gegen den Lehrkräftemangel. Doch rien der Länder ergab. Das Ministerium in
ein Teil der Quer- und Seiteneinsteiger wirft nach kurzer Zeit hin. Rheinland-Pfalz erklärt allerdings: »Nach
Angaben der einstellenden Behörde verlassen
diese Lehrkräfte den Schuldienst nicht signi-

E
ine Bewerbung, 30 Minuten Vorstel- sonalmangel im deutschen Schulsystem, ob- fikant häufiger als grundständig ausgebildete
lungsgespräch, dann war alles geritzt. wohl sie in der Regel keine klassisch ausgebil- Lehrerinnen und Lehrer.«
Sie würde tatsächlich Lehrerin werden, deten Pädagoginnen und Pädagogen sind. Stimmt das? Die wenigen Zahlen, die be-
Seiteneinsteigerin an einer Regelschule in Anders als Quereinsteiger, die immerhin ein kannt sind, sprechen dagegen. Im Schuljahr
einer thüringischen Kleinstadt. Sie, die ihre Refe­rendariat abgeschlossen haben, kommen 2022/23 stellte Sachsen 330 Seiteneinsteige-
eigene Schulzeit als »eher mittel« beschreibt, Seiten­einsteiger wie Kindermann meist ohne rinnen und Seiteneinsteiger ein. Im selben
einen Bachelorabschluss in Onlinejournalis- formale pädagogische Qualifizierung an den Zeitraum kündigten 121. Ein Jahr zuvor fiel
mus hat, ein paar Jahre beim Fernsehen arbei- Schulen an. der Saldo noch knapper aus: 157 traten ihren
tete und als Kind davon träumte, Schriftstel- Doch auch sie sind – das betont die Politik Dienst an, gleichzeitig verließen 106 Seiten-
lerin zu werden. immer wieder – gewollt, erwünscht, ge- einsteigerinnen und Seiteneinsteiger das Sys-
»Es war ein Empfang mit offenen Armen«, braucht. »Seiteneinsteigerinnen und Seiten- tem. Gründe seien vermutlich »private und
so beschreibt Magret Kindermann, damals einsteiger helfen den Schulen dabei, den familiäre«, »Probleme mit den Arbeitskolle-
32 Jahre alt, das Gespräch mit dem Vertreter ­hohen Lehrkräftebedarf zu decken und gen« oder »andere Vorstellungen von der
des Schulamts. Die Botschaft: Sie bringen Unterrichtsausfall zu vermeiden«, schreibt Tätigkeit«, teilt das sächsische Kultusminis-
­alles mit, was nötig ist – wann können Sie das Schulministerium von Nordrhein-­ terium mit.
anfangen? Westfalen. »Sie sind mit ihrer persönlichen Das Bildungsministerium in Sachsen-An-
Magret Kindermann trat im Oktober 2020 Berufsbiografie eine Bereicherung für das halt schreibt: »Etwa ein Drittel der Lehrkräf-
ihre Stelle an. Keine anderthalb Jahre später, Schulleben.« te im Seiteneinstieg verlässt den Schuldienst
zum Jahresende 2021, warf sie hin. Aus der In Sachsen-Anhalt war fast jede zweite wieder.« Mecklenburg-Vorpommern hat kei-
Freude waren Verunsicherung, Frust und Wut neu eingestellte Lehrkraft im Jahr 2022 nach ne Zahlen. Über die Gründe für den Ausstieg
geworden. »Es ging nicht mehr«, sagt sie. Sie Angaben der Kultusministerkonferenz für heißt es, sie seien »vielfältig«: ein »Rückgang
wollte weg, den schier unendlichen Arbeits- den Beruf nicht ausgebildet. In Brandenburg in die alte Erwerbstätigkeit«, eine »hohe
aufwand und die fortwährende Kritik ihrer ­waren es 38,8 Prozent und in Mecklenburg- ­Belastung durch die Qualifizierung« oder
Schulleitung hinter sich lassen. Vorpommern 37,5 Prozent. Bundesdeutscher »pädago­gische Eignung liegt nicht vor«.
Lehrkräfte im Quer- und Seiteneinstieg Durchschnitt: 9 Prozent. Der Osten, das Jeder Seiteneinsteiger, der nicht durchhält,
­gelten oft als Allzweckwaffe gegen den Per- zeigt die Statistik, leidet deutlich stärker und jede Quereinsteigerin, die hinwirft, reißt

Nora Klein / DER SPIEGEL


Iona Dutz / DER SPIEGEL

Gemeinschaftsschule in Aschersleben, Aussteigerin Kindermann: Am Ende der Nahrungskette

32 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


DEUTSCHLAND

an den Schulen eine Lücke. Katrin Jelitte hat Monaten nach dem Ausstieg habe sie »rich­ Von der Schulleitung und aus dem Kolle­
das erlebt. Seit 30 Jahren leitet die Pädagogin tig Nachwehen« verspürt. »Ich musste gium sei ihr signalisiert worden, sie müsse sich
die Gemeinschaftsschule Albert Schweitzer die Vorstellung von mir als Lehrerin gehen durchsetzen, Macht demonstrieren, sagt
in Aschersleben am nordöstlichen Rand des lassen.« Kindermann. Das habe sie verunsichert.
Harzes. 2016 begrüßte sie die erste Seiten­ Was war passiert? Im Vorstellungsge­ »Mich stört es nicht, wenn jemand aufsteht
einsteigerin in ihrem Kollegium. Aktuell sind spräch mit dem Schulamt hatte Kindermann oder Sitznachbarn sich unterhalten«, sagt
es acht, ein knappes Fünftel der Beleg­ erfahren, dass sie mit ihrem Studium Deutsch, Kindermann. »Gespräche zwischen Kindern
schaft. Jelitte ist froh über die Verstärkung, Englisch und Ethik unterrichten könne. An sind nur natürlich und können auch zum
die Kolleginnen und Kollegen leisteten »tolle der Schule sah sie sich mit einer anderen Unterrichtsgeschehen beitragen.« Eine »posi­
Arbeit«. Das zu betonen ist der Schulleiterin ­Realität konfrontiert. »Ich sollte plötzlich tive Lernatmosphäre« sei ihr wichtiger als
wichtig. auch Mathematik- und Geografiestunden ehrfürchtige Stille im Klassenraum.
Als einer ihrer Seiteneinsteiger nach nur übernehmen – obwohl ich von vornherein Nach einer Studie im Auftrag der Tele­
vier Wochen die Schule verließ, mussten Je­ gesagt habe, dass ich das nicht besonders gut kom-Stiftung kommt es auf die Schulleitung
litte und das restliche Team von heute auf kann«, erzählt Kindermann. Sie habe vor an, wenn es darum geht, Quer- und Seiten­
morgen seine 25 Wochenstunden auffangen. einer s­ iebten Klasse gesessen und mit den einsteiger ins Kollegium zu integrieren und
Ihr sei es auch deshalb ein Anliegen, dass sich Kindern überlegt, wie denn noch mal der ihre Kompetenzen aus dem früheren Beruf
Neulinge schnell wohlfühlten – egal mit wel­ Dreisatz geht. zu nutzen. Maßnahmen, die die Zusammen­
cher Ausbildung sie kämen. Quer- und Seiten­ In Geografie habe sie sich abends hinge­ arbeit im Schulalltag fördern, seien noch
einsteigern stellt Jelitte möglichst Mentoren setzt und den Stoff für die nächste Stunde wenig verbreitet. »Die Bedeutung dieser
an die Seite, sie können sich auch bei den selbst lernen müssen. »Ich war als Schülerin Lehrkräfte auf die Rolle eines Notnagels im
Unterrichtsmaterialien frei bedienen. »Wenn nicht gut in Geografie und hatte danach nie Kampf gegen den Lehrermangel zu reduzie­
nicht alle eigene Arbeitsblätter erstellen müs­ wieder damit zu tun. Für mich war vieles ren ist mehr als unvernünftig«, sagt Jacob
sen, ist das eine enorme Hilfe.« selbst neu.« Chammon, Geschäftsführer der Stiftung.
Gegenüber den Eltern erwähne sie nicht, Einen vorbereitenden Kurs habe sie nicht »Es ist ein Fehler zu glauben, Lehrkräfte
dass die neuen Kollegen keine vollständig besucht. »Einmal gab es einen einwöchigen im Seiteneinstieg könnten das Gleiche leisten
ausgebildeten Lehrkräfte seien. »Ich möchte, Onlinekurs – da hatte ich aber schon seit meh­ wie voll ausgebildete Lehrerinnen und Leh­
dass sie als gleichwertiger Teil der Lehrer­ reren Monaten unterrichtet.« Stattdessen rer«, sagt Anja Bensinger-Stolze, die im Vor­
schaft gesehen werden.« kaufte sie sich Bücher über Didaktik, die sie stand der Gewerkschaft GEW für den Bereich
Am Ende, sagt Schulleiterin Jelitte, helfe nach den langen Schultagen abends am Schule verantwortlich ist. Sie hätten nicht
selbst die beste Unterstützung nicht, wenn Küchen­tisch las. Von den Kindern habe sie gelernt, wie man eine Unterrichtsstunde auf­
manche Quer- und Seiteneinsteiger mit fal­ trotzdem positive Rückmeldungen bekom­ baut und vorbereitet oder wie man Klassen­
schen Vorstellungen an die Schulen kämen. men. »Die fanden das gut, dass eine Lehrkraft arbeiten stellt. »Das müssen sie sich meist
»Die Schülerschaft hat sich in den letzten zugibt, dass sie etwas nicht weiß.« alles selbst erarbeiten – das dauert.«
20 Jahren verändert«, sagt Jelitte. Gleichzei­ Im Kollegium habe sich das herumgespro­ Die Bildungsforscherin Nele McElvany
tig hätten sich die Aufgaben der Lehrkräfte chen. Die anfängliche Begeisterung bei der von der Technischen Universität Dortmund
erhöht. »Mit dem, was Erwachsene aus ihrer Schulleitung über die neue Kollegin, sagt rät, Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinstei­
eigenen Schulzeit erinnern, hat Schule heute Kindermann, sei schnell geschwunden. Immer gern nicht gleich das volle Programm aufzu­
nur noch wenig zu tun.« wieder sei die Schulleiterin unangekündigt in bürden, sondern mehr Zeit für die Vor- und
Was die Statistiken nicht zeigen: Hinter ihren Unterricht reingeplatzt und habe sich Nachbereitung des Unterrichts sowie Fort­
vielen dieser Abgänge steht ein Leidens­ beschwert, dass die Klasse so laut sei. »Ich bildungen einzuräumen. »Zumindest im ers­
weg. Magret Kindermann sagt, in den ersten fühlte mich bloßgestellt vor den Kindern.« ten Jahr«, sagt McElvany, »wäre das sinn­
Iona Dutz / DER SPIEGEL

Iona Dutz / DER SPIEGEL

Plakat des Kreiselternrats, Schulleiterin Jelitte: Jeder, der nicht durchhält, reißt ein Loch

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 33


DEUTSCHLAND

voll.« Einige Bundesländer praktizieren dies

Die deutsche
bereits. Es sei auch Aufgabe der Politik und
der Schulverwaltung, die Rahmenbedingun-
gen so zu gestalten, »dass das Modell Quer-
und Seiteneinstieg gelingen kann«.

Beteiligung am
Allerdings landen diese Lehrkräfte oft
ausgerechnet an den Schulen, bei denen der
Mangel besonders groß ist: weil ihre Schü­
lerinnen und Schüler überdurchschnittlich

Unrecht
häufig aus Familien mit geringem Bildungs-
stand kommen oder weil sie in ländlichen,
strukturschwachen Gegenden liegen. Oder
beides.
Wenn Magret Kindermann an die Jungen
und Mädchen an ihrer Ex-Schule zurück-
denkt, sagt sie: »Viele hatten massive Schwie-
rigkeiten.« Einige hätten einen offiziell fest-
gestellten Förderbedarf gehabt: Autismus,
ADHS, Lese-Rechtschreib-Schwäche. »An-
dere hatten Probleme mit Aggressionen und
Selbstbeherrschung.« Wieder andere hätten
kaum ein Wort Deutsch gesprochen. Sie er-
zählt von zwei Mädchen aus ihrer sechsten
Klasse: »Die Schwestern kamen aus Syrien
und hatten noch nie eine Schule besucht. Sie
konnten weder lesen noch schreiben, auch
nicht in ihrer Herkunftssprache.«
Der Versuch, jedem Kind gerecht zu wer-
den, habe ihr alles abverlangt. »Ich habe ver-
sucht, die Fortschritte zu betonen, auch die
kleinen«, sagt sie. Deshalb habe sie etwa die
Klassenarbeiten bewusst einfach gestaltet,
sagt Kindermann, »als Motivation«.
Kindermann glaubt, dass sie in einer be-
sonders schwierigen Klasse eingesetzt wurde,
in die keine andere Lehrkraft habe gehen wol-
len. In der Rückschau findet sie es »fahrlässig,
da eine Anfängerin reinzustecken«. Nach den
ersten 45 Minuten habe sie sich gefühlt »wie
von einem Zug überrollt«. Der Gedanke, sich
zu beschweren, sei ihr nicht gekommen. »Ich
hatte gar keine Zeit, über meine Handlungs-
möglichkeiten zu reflektieren.« Zugleich sei
ihr immer wieder signalisiert worden, dass
sie sich als Seiteneinsteigerin »am Ende der
Nahrungskette« befinde.
Auch andere Seiten- und Quereinsteiger
berichten von einer Zweiteilung im Lehrer-
zimmer, die mitunter zu Missgunst führe. Auf
der einen Seite die »Alteingesessenen«, die
ein Lehramtsstudium und ein Referendariat
absolviert haben – und jetzt erleben, dass
In diesem Buch gehen SPIEGEL-Autorinnen und andere ohne pädagogischen Qualifikation den
Wissenschaftler den Spuren deutscher Akteure in der gleichen Job machen sollen. Auf der anderen
Seite die Neulinge, die zumindest am Anfang
Sklaverei nach: von der mittelalterlichen Leibeigenschaft einen enormen Aufwand betreiben müssen,
über deutsche Kaufleute und Plantagenbesitzer der um im Schulalltag zu bestehen, aber mitunter
weniger Gehalt bekommen, häufig nicht mehr
Kolonialzeit bis zu den Gefangenen im Zweiten verbeamtet werden und deren Arbeitsverträ-
Weltkrieg. ge zum Teil befristet sind.
Gewerkschafterin Bensinger-Stolze spricht
von einer »Zweiklassengesellschaft«. Es sei
dringend notwendig, dass die Länder als
Arbeitgeber Konzepte für die Weiterqualifi-
kation von Seiteneinsteigerinnen und Seiten-
einsteigern anbieten. Dazu gehöre die Chan-
ce, Fächer nachzustudieren und ein Referen-
dariat zu absolvieren.

www.dva.de 34 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


MITMACH-WETTBEWERB
DEUTSCHLAND

»Ich bin nicht mehr Nachqualifizierung an der TU Dresden, an-


schließend zwölf Monate »schulpraktische HUNGRIG AUF
bereit, Dinge zu lernen,
TOLLE PREISE?
Ausbildung«.
die ich nicht brauche.« Es ist ein entbehrungsreicher Weg, den
Quer- und Seiteneinsteiger bei ihrer Nach-
Sven Fichte, Lehrer im Seiteneinstieg qualifizierung beschreiten, auch finanziell.
»Dein SPIEGEL« und die
Je nach Schulform und Bundesland liegt der
Verdienst im Referendariat nur bei rund Drogeriemarkt-Kette
1500 Euro im Monat – brutto. Das ist schon ROSSMANN suchen die besten
Doch in der Mitte des Berufslebens noch Berufsanfängern schwer zu vermitteln, ge- Plakat-Ideen zu der Frage:
einmal eine mehrjährige Ausbildung zu be- schweige denn Menschen, die ihr halbes Er-
ginnen, dazu ist nicht jeder bereit. werbsleben hinter sich haben. WAS WERDEN WIR
IN ZUKUNFT ESSEN?
Sven Fichte hat es gewagt. Er ist gelernter Für Fichte hat es sich offenbar gelohnt.
Bankkaufmann, hat Psychologie studiert, pro- Er beschreibt die Arbeitsbedingungen an sei-
moviert und an der Universität Lehrkräfte ner Schule als »traumhaft«. Er habe das Ge-
ausgebildet. Eigentlich habe er immer Lehrer fühl: »Hier bin ich richtig, hier will ich blei-
werden wollen, erzählt er. Doch nach der ben.« Fichte unterrichtet an einer Ober­schule DARUM GEHT’S
Wende wanderten die Menschen aus seiner in freier Trägerschaft. Sie liegt im ländlichen Heuschrecken, Astronauten-Nahrung oder
sächsischen Heimat reihenweise ab, die Klas- Sachsen, in dem Ort, in dem er selbst auf- Vitaminschleim – was glaubt ihr, könnte so
sen leerten sich, Schulen schlossen. »Ich hät- gewachsen ist und heute wieder wohnt. unsere Ernährung in 50 Jahren aussehen?
te mich geradewegs in die Arbeitslosigkeit Seine Schülerschaft beschreibt er als »homo- Überlegt euch, was wir Menschen zukünftig
studiert.« Fichte ist nicht sein richtiger Name. gen«, es gebe »eigentlich keine kulturellen essen werden, und macht Werbung dafür:
Er fürchte negative Folgen, wenn er öffentlich oder sprachlichen Herausforderungen«, mit einem besonderen Plakat.
das System kritisiere, sagt er. wie es eben so üblich sei auf dem Land.
Als er 2019 aufgrund einer Umstrukturie- Mit vielen Eltern ist er einst selbst zur WAS GENAU MÜSST IHR TUN?
rung seine Stelle an der Universität verlor, Schule gegangen. Die Wege sind kurz. Man Essen ist etwas Wunderbares. Aber so, wie
nutzte er die Chance, als Seiteneinsteiger kennt sich. wir uns ernähren, sorgen wir für Probleme. Es
doch noch zu seinem Wunschberuf zu kom- Zu Anfang habe er bei einer erfahrenen gibt zwar genug Essen auf der Welt, aber die
men. Da war er fast 50 Jahre alt. Fichte be- Quereinsteigerin im Unterricht hospitiert. Nahrung ist schlecht verteilt: An manchen
warb sich auf mehrere Stellen, schließlich »Da konnte ich mir vieles abschauen.« Die Orten gibt es zu viel, an anderen viel zu wenig.
klappte es ausgerechnet in Sachsen: eine anderen Mathelehrerinnen und -lehrer hätten Hinzu kommt, dass unsere Ernährung die
50-Prozent-Stelle als Mathelehrer an einer ihm komplette Unterrichtsplanungen kopiert. Erde krank macht. Besonders die Herstel-
Oberschule, parallel dazu die zweijährige »Außerdem konnte ich jederzeit alles fragen. lung von Fleisch ist schlecht für das Klima.
Das hat enorm geholfen.« Bei seiner Tätigkeit Gestaltet ein Plakat, das Lust darauf macht,
an der Universität habe er außerdem Kurse über Ernährung nachzudenken. Ihr habt eine
Lückenschließer in Hochschuldidaktik belegt. Idee und einen guten Spruch? Dann legt los:
Doch die Zusatzqualifikation brach er nach Ihr könnt basteln, zeichnen, eine Collage
Anteil der Seiteneinsteiger* an allen Einstel- wenigen Wochen ab. Im Seminar an der Uni-
lungen in den öffentlichen Schuldienst 2022, kleben, alles ist erlaubt.
in Prozent versität Dresden sei es um »Junktoren« und
»Quantoren« gegangen, Fachbegriffe aus der WER K ANN TEILNEHMEN?
weniger als 5 5 bis unter 10
höheren Mathematik, ungeeignet für den Beim Wettbewerb gibt es zwei Altersgrup-
10 bis unter 20 20 bis unter 30
Unterricht an einer Oberschule. Er sei Bank- pen: Kinder im Alter von 8 bis 11 Jahren und
über 30
kaufmann, habe ein abgeschlossenes Studium Jugendliche im Alter von 12 bis 16 Jahren. Ihr
und einen Doktortitel, sagt Fichte. »Ich bin könnt allein teilnehmen oder als Gruppe von
Schleswig- nicht mehr bereit, Dinge zu lernen, die ich maximal fünf Freunden.
Hamburg Holstein Mecklenburg-
4,1 nicht brauche.«
8,5 Vorpommern UND DAS KÖNNT IHR GEWINNEN:
Außerdem habe ihm die Energie gefehlt.
Bremen 37,5 1. PREIS: eine Reise nach Hamburg
»Ich musste Unterricht für vier Jahrgänge vor-
6,3 inklusive Kochkurs in der SPIEGEL-Kantine
Berlin bereiten, Klassenarbeiten stellen, korrigieren
Niedersachsen 18,1 – das hat ohnehin meine komplette Freizeit und Besuch im Miniatur Wunderland
2,0 2. PREIS: je ein großes ROSSMANN-
beansprucht.« Nach einem Schultag sei er oft
Sachsen- Brandenburg erschöpft, gerade in der Anfangszeit. »Ich will Überraschungspaket mit gesunden Snacks
Anhalt 38,8
Nordrhein- die Jugendlichen begeistern, mitreißen, en­ 3. PREIS: je ein Bücherpaket aus der
Westfalen 46,9
tertainen.« Er turne da rum »wie ein Ver- »Dein SPIEGEL«-Redaktion
8,1 Sachsen
Thüringen 3,8 rückter«. Bei den Schülerinnen und Schülern
Eine Jury ermittelt die Gewinnerinnen
Hessen 26,1 komme das gut an. Er zeigt ein Bild, das eine
Rheinland- 1,8 und Gewinner und informiert sie
Schülerin für ihn gemalt hat, pinke Filzstift-
Pfalz im Anschluss.
0,9 Blümchen auf Karopapier, darüber der
Schriftzug: »Hallihallo Lieblingslehrer«.
Saarland Aktuell ringt er mit sich, ob er nicht doch
2,2 Bayern WIE K ANN MAN MITMACHEN?
0,0 einen zweiten Anlauf für den Lehrgang neh- Alle Infos zum Wettbewerb, die Teil-
Baden- men soll. Er hat eine Bewerbung an das zu-
Württemberg nahmebedingungen und das Ich-will-
10,6 ständige Schulamt geschickt. Es gehe ihm mitmachen-Formular findet ihr unter:
auch um Sicherheit, sagt er. Sollte es irgend- www.deinspiegel.de/wettbewerb
wann wieder genug Lehrkräfte geben, be-
Teilnahmezeitraum:
fürchtet Fichte, könnten Seiteneinsteiger wie 12. Dezember 2023 bis 20. Mai 2024
* ohne formale pädagogische Qualifizierung,
2022 insgesamt: rund 3200 er überflüssig werden.
S Quelle: KMK Miriam Olbrisch  n


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DEUTSCHLAND

Sechs dicke Notizbücher habe ich im Laufe


der Jahre gefüllt, und das Logbuch hat sich
mit der Zeit verändert, so wie wir. Anfangs,
als ich das Campingleben noch fasziniert und
misstrauisch beäugte wie ein seltsames In-

Logbuch mit vier Sternen


sekt, sah ich es als privates Nachschlagewerk
und mich als Kopf einer Jury. Mit ernstem
Gesicht krakelte ich mit Kuli Sterne auf
Papier, oft gerieten mir die Zacken schief.
Minutenlang brütete ich über der Frage,
REISEN Die Campingsaison ist eröffnet, mit neuen Träumen und ob ein Campingplatz wirklich vier Sterne
verdient habe in der Gesamtschau von
alten Kratzern. Sandra Schulz erzählt, warum Urlaub im Sanitäranlagen und Panoramablick oder nur
Wohnmobil fröhlich macht, auch wenn es nicht immer lustig ist. drei.
Zugleich wurde es zum stummen Zeugen.
Hier notierte ich Beobachtungen und Stim-

P
assiert es Ihnen auch, dass Sie alte Weis- Es ist zum Beispiel dieser Spaß an Gegen- mungen, kleine und große Katastrophen.
heiten vergessen? Und hinter die eige- sätzen. Beim Campen, finde ich, kann man viel »Was fährst du hier rum? Warum bringst du
nen Erkenntnisse zurückfallen? »Mittel- übers Leben lernen. Man lernt auszuhalten, dich selbst in Schwierigkeiten?«, lautete der
gebirge können reichen zum Glücklichsein« dass zusammenkommt, was nicht zusammen- Satz eines niederländischen Platzwarts, als
war so ein Satz, den ich mir merken wollte. passt: die Sehnsucht nach Freiheit und die Nähe wir eines Nachts auf matschiger Wiese umher-
Eigentlich hatten wir große Pläne gehabt. zum Stellplatznachbarn, das Bedürfnis nach irrten. Er ist zur Überschrift unserer Touren
Ans Meer wollten wir fahren oder auf einen Privatsphäre und die Öffentlichkeit des Inti- geworden.
Café au Lait über die Grenze. Doch nun saßen men, der Wunsch nach Individualität und die Es ist die Lust auf Überraschungen, die uns
wir bei Kamillentee zu Hause, das Gesicht so Gesetze der Tourismusindustrie. Und vielleicht zum Rollen bringt. Schon auf unserer aller-
weiß wie das Wohnmobil. Der Restwinter mit der krasseste Widerspruch: das Verlangen nach ersten Tour, fast sechs Jahre ist das her, do-
seinen Restviren hatte uns den Rest gegeben, Erholung und der Urlaub mit der Familie. kumentierte ich einen Dialog, der aus heutiger
und so hatten wir das Steak, das wir zum Es sind Sehnsüchte, die jedes Mal aufs Neue Sicht vielleicht seltsam wirkt. Es war unser
­Season-Opening auf einem hübschen Stell- an der Realität scheitern, oft aber auf interes- erster Versuch, mit dem Wohnmobil an einem
platz grillen wollten, in der Pfanne gebraten. sante Weise. Und so entstehen beim Wohnmobil­ Gartenlokal zu halten, um kurz einzukehren.
So lustlos stocherte ich auf meinem Teller fahren gute Geschichten, während man selbst Ich lehnte mich also zum Fenster hinaus und
herum, dass mein Mann befand, ich hätte eine mit seinen Träumen auf der Strecke bleibt. fragte ein vorbeilaufendes Ehepaar: »Wissen
»miesepetrige Zunge«. Was hilft: so zu tun, als stünde man auf einem Sie, wo man hier parken kann? Wo haben Sie
Das also war die Ausgangslage, als wir Hügel und schaute sich selbst beim Strampeln denn Ihren Camper geparkt?«
­beschlossen, trotzdem aufzubrechen. Mikro- in der Ebene zu. Denn die Komik des Lebens Er: »Wir haben gar keinen Camper.« Ich:
abenteuer sagt man heute dazu. Sonntags­ sieht man ja oft erst aus der Entfernung. »Sie Arme!«
ausflug hieß es früher. Um mich selbst auf­ Ich brauche also Distanz, und eine Mög- Das war natürlich unsensibel. Vermutlich
zuheitern, wählte ich ein Ziel, bei dem die lichkeit, diese herzustellen, ist das Schreiben. war es der Überschwang der Gefühle, der
Heiterkeit schon im Wort steckte: eine Sommer­
rodelbahn, im Mittelgebirge um die Ecke.
Meine Träume waren auf das Format einer
faltbaren Sockenkiste geschrumpft, in die ich
alles packte, was wir für einen Tag im Grünen
brauchen würden: ein kleines Handtuch, noch
von der Atlantiktour, die gestreiften Sets aus
der Schweiz, die getöpferten Teller von der
Ostsee. So klein die Kiste auch war, sie reich-
te, um die Bilder hervorzuholen, die zu diesen
Gegenständen gehörten, diese verrückte fran-
zösische Straße auf dem Meeresgrund, nur
befahrbar bei Ebbe, unsere Himmelsfahrt
über die Alpen, das Licht im Norden.
Auch die Erinnerung an die vereiste
Schneewand, die wir beim Wintercamping
gerammt hatten, war sofort wieder da, als ich
den abgeplatzten Lack am Heck entdeckte.
»Armes Womo«, sagte unsere kleine Tochter.
Das Monster aber rollte, im Herzen unver-
sehrt, und als der Fahrtwind durch das ge-
öffnete Fenster wehte, die Sonne Arm und
Lenkrad wärmte, war das Kribbeln plötzlich
Sandra Schulz / DER SPIEGEL

da, herrlich und gewaltig: die Vorfreude auf


alle Monstertouren, die kommen würden.
Und vielleicht ist dies der richtige Moment,
um die Geschichte hinter den Monsterge-
schichten zu erzählen. Um zu erklären, was
es eigentlich ist, was mich beim Campen so
fröhlich macht. Wohnmobil der Familie Schulz: Das Monster rollt

36 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


DEUTSCHLAND

mich zu diesem Ausspruch verleitete. Immer­ wagen. Drei Monate dauerte es, bis wir unsere
hin hatte ich gerade Unsummen an Erspartem Tochter im Krankenhauspark spazieren fah­
ausgegeben, um meinem Leben neuen Sinn ren durften. An einem Tag im Frühsommer
zu geben. Auch wenn sich die Realität dann dokumentierte ich »die erste frische Luft«
recht banal liest: »Erste gelernte Regel: Ein­ ihres Lebens. Als sie drei Jahre alt war, ver­
malhandschuhe für Chemietoilette«. lagerten wir unser halbes Familienleben an
Bei der ersten großen Sommertour war ich die frische Luft und begannen zu campen.
auch noch akribisch in formalen Dingen. So Und natürlich wanderte Schneckchen zwei,
notierte ich stets das Datum meines Eintrags, eine Nummer größer als Schneckchen eins,

Sandra Schulz / DER SPIEGEL


als befände ich mich auf einer Expedition, damals ins Wohnmobil. Alles dort sollte so
deren Ausgang ungewiss ist, für die Nachwelt gemütlich sein wie im Gitterbett im Kinder­
aber in jedem Fall von Interesse. zimmer. »Womo-Hause« war das Wort, das
26. Juli: »Temperatur 35 Grad … 4 Stunden unsere Tochter für unser Fahrzeug erfand.
Schlaf … Laune: Tiefpunkt, dazu nervige Frei­ Mittlerweile ist die Minicamperin so groß,
landhühner am Platz. Frage: War alles ein dass Schneckchen Nummer drei, eine ausge­
Riesenfehler? Abfahrt schweißüberströmt.« Autorin Schulz in ihrem »Womo-Hause« wachsene Stoffschlange, nicht mehr mitkom­
Trotzdem lautete das Gesamturteil für die men muss in den Urlaub. Doch immer wieder
»große Beachhopping-Tour nach Dänemark« gibt es diese Momente, in denen mir unsere
am Ende: viereinhalb Sterne. Ein Topergeb­ Geschichte erneut vor Augen steht. Wie an
nis, das ausdrückte, wie sich meine Wandlung ­jenem Tag, als wir bei einer Wohnmobiltour in
von der Anticamperin zur Camperin langsam die Vogesen zufällig an einer Kirche auf einem
vollzog. Berggipfel landeten und unsere Tochter
Irgendwann ließ ich die Sternenmalerei plötzlich andächtig wurde, als sie die flackern­
und widmete mich nur noch dem Tagebuch­ den Kerzen sah und das Gewölbe und die bun­
schreiben in Teilzeit, und so entstanden für ten Fenster. Sie setzte sich auf eine der Holz­
mich die kostbarsten Abwesenheitsnotizen bänke und fing an zu singen, ihr Lieblingslied:

Sandra Schulz / DER SPIEGEL


der Welt. Noch heute blättere ich gern in »Stille Nacht, heilige Nacht«.
den alten Büchern mit dem bunt gemusterten Lauthals sang sie an diesem Sommertag
Einband. »Papa die Nase von innen mit Son­ im Dunkel der Kirche, und zum Glück sah sie
nencreme einschmieren«, notierte ich als nicht, wie ich mich abwandte, weil mir die
Lieblingsbeschäftigung unserer Tochter mit Tränen in die Augen stiegen. Denn auf einmal
Downsyndrom, die damals drei Jahre alt war. war sie wieder da, die Erinnerung an mein
Oder folgenden Dialog im Heckbett, als es Minicamperin beim Saubermachen
traurigstes Weihnachten.
unter uns ordentlich rumpelte. Als klar war, dass zum Downsyndrom noch
Sie: »Oh. Räusch. Papa!« als wir auf einer langen Fahrt »Ich packe mein der schwere Herzfehler dazukam und der
Ich: »Ja. Papa holt sich noch was zu trin­ Womo« spielten und ich überlegte, was wir ­»Hydrozephalus«. Dass niemand den Grad
ken. Bier – oder Wasser.« noch mitnehmen müssten neben der Decke, der Behinderung würde voraussagen können,
Sie: »Nee. Bier!« dem Kissen und den Schuhen, weshalb also weil die Ultraschallaufnahmen vom Kopf unse­
Oft gehören die Momente, in denen ich die kleine Hauptperson rief: »Arbeit!« rer Tochter Wasser zeigten, wo Gehirn sein
die Zeit finde, Erlebtes niederzuschreiben, zu Und damit bin ich beim letzten und wich­ sollte. Als klar war: Sollte unsere Tochter auf
den besonders friedvollen. Auch wenn ich tigsten Grund angekommen, warum Campen die Welt kommen, würde ihr Leben auf dieser
meinen Frieden auf dem gedrehten Vordersitz mich fröhlich macht: unsere Minicamperin. Welt in Operationssälen beginnen. Als ich den
finden muss, während unsere Tochter Kinder­ Ein Kind, das es nicht gegeben hätte, Satz eines Arztes hörte, der über unsere Toch­
videos schaut und ich versuche, »Benjamin hätten wir vor neun Jahren auf die Ärzte ter sprach wie über ein misslungenes Deutsch­
Blümchen« auszublenden. So lange, bis mich gehört. Nein, nicht auf »die Ärzte« – auf man­ diktat: »Das ganze Kind hat so viele Fehler.«
das Törööööö unseres Kindes, das lauter che von ihnen. Und zur Wahrheit gehört, dass Als der zweite Abbruchtermin unmittelbar
trompetet als der Elefant, hochfahren lässt. ich jeden dieser Ärzte angefleht hatte um seine bevorstand, vereinbart für den 27. Dezember.
Ich muss zugeben, manchmal fällt es mir Meinung, weil ich selbst nicht wusste, was ich Und ich weiß, dass man sich in dieser Situ­
schwer, in der Gegenwart zu leben. Was viel­ denken und was ich fühlen sollte in dieser ation, mit diesen Diagnosen, auch anders hätte
leicht auch daran liegt, dass die Gegenwart Schwangerschaft, die zur schlimmsten Zeit entscheiden können. Und ich weiß, es hätte
allzu oft an meinen Nerven zerrt. Törööööö! meines Lebens wurde. auch bei uns alles anders ausgehen können.
Doch auf jeder großen Tour habe ich dieses Der Weg, den unsere Tochter vom Embryo Aber das Mädchen, das ich geboren hatte,
Gefühl, innerlich zu jubeln, und das Gnädigste bis zur Minicamperin zurückgelegt hat, lässt dieses Mädchen, saß nun ein paar Jahre später
ist das menschliche Gedächtnis, das sich aus sich ablesen an den Schneckchen, die sie be­ auf der Kirchenbank und trug ein T-Shirt mit
einzelnen Versatzstücken eine Ode an die gleiten. Diesen Stoffschlangen mit Gesicht, dem Bild eines Wohnmobils und dem Auf­
Freude komponiert und die Ödnis der vielen die man heute gern den Babys ins Bett legt, druck: »Life rocks when your home rolls«.
Parkplätze einfach vergisst. Das Logbuch ist damit sie sich geborgen fühlen und geschützt. Aus dem ersten Shirt ist sie herausgewach­
mein Gehilfe, weil es die schönen Momente An einem Tag meiner Schwangerschaft, als sen, aber sie besitzt noch ein zweites, auch in
wie an einer Perlenschnur aufreiht – und weil die erste Diagnose nach einem Bluttest vorlag, Blau, mit demselben Schriftzug, und das darf
es mit den Jahren zur handschriftlichen Trisomie 21, als ich den ersten Abbruchtermin auf keiner Tour fehlen. An diesem Sonntag
Grundlage für die Monstergeschichten wurde, erst vereinbart und dann abgesagt hatte, ging neulich, dem Tag unserer ersten Frühlings­
die ich Ihnen so gern erzähle. ich in den Kinderladen in meiner Straße und fahrt, war es noch zu kalt für Kurzärmeliges.
Zuletzt, als sich unsere Monstertouren zum kaufte ihr ein Schneckchen. Bunt, die Fühler Doch als ich an jenem Nachmittag auf der
Buch auswuchsen, ging ich sogar mit Laptop rosa mit weißen Punkten. Sommerrodelbahn sah, wie unsere Tochter
campen*. Weshalb unsere Tochter neulich, Es war das erste von drei Schneckchen, die nach rasanter Fahrt aus dem Schlitten stieg,
unsere Tochter besitzt, und es wanderte da­ sonnenbeschienen und zerzaust, lachend und
* Sandra Schulz: »Monstertouren«. Penguin; 256 Seiten; mals, nach der Geburt mit 745 Gramm und berauscht, wusste ich wieder, warum Mittel­
16 Euro. der langen Brutkastenzeit, in ihren Stuben­ gebirge reichen zum Glücklichsein.  n

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MEISTER PROPER
REPORTER
»Putzen queere Reini­
gungskräfte anders,
Herr Baumgärtel?«
SPIEGEL: Ihr queerer Putz­-
dienst …
Baumgärtel: … läuft bombas-
tisch. Wir haben derzeit 30 Mit-
arbeitende und sind seit drei
Jahren konstant ausgebucht.
SPIEGEL: Meister Proper er­
innert vom Typus ja ein wenig
an die Figuren des Künstlers
Tom of Finland, der wegen
­seiner homoerotischen Illustra-
tionen bekannt wurde. Ist
­Meister Proper queer?
Baumgärtel: Meister Proper ist
zweifellos eine Ikone, sehr
­muskulös, mit dem weißen
T-Shirt und dem Ohrring. Aber
nicht alle unsere Leute müssen
so aussehen.
SPIEGEL: Putzen queere Reini-
gungskräfte denn anders?
Baumgärtel: Es geht nicht um
eine spezielle Putztechnik, um
ein besonderes Auge für De-
tails. Das sind Vorurteile. Es
geht wie überall um das Ver­
Privat

meiden von runden Ecken beim


Feudeln, richtiges Sprühen, den

Mikrokosmos, 1958
korrekten Lappeneinsatz, und
so weiter. Auch unsere Kunden
sind nicht alle gay.
SPIEGEL: Wozu dann den spe-
ziellen Dienst? Immerhin sind
FAMILIENALBUM Lutz Krusche, 86, Capbreton, Frankreich Sie mit 35 Euro die Stunde nicht
billig.

D er schmale Jüngling, auf dem Foto rechts


außen, das bin ich, ein 20-jähriger Redak-
tionsvolontär bei der sehr kleinen und sehr
alten, aber lokal tonangebenden »Wolfenbütteler
Mann, dem Herzog Ernst August, bereicherte sie
sich kräftig an der »Arisierung« jüdischer Firmen.
Die zumeist älteren Schlossgäste an jenem Tag
juckte dieser Teil ihrer Vita nicht, sie buckelten
Baumgärtel: Es geht darum,
Menschen aus der Community
sozialverträgliche Arbeitsplätze
und sichere Arbeitsorte zu
Zeitung«. Mein Chefredakteur hatte es als Total- untertänigst vor ihr und rühmten ihr soziales ­bieten. Safe Spaces. Sie müssen
demokrat abgelehnt, diesen Termin im hochbaro- ­Engagement. Wolfenbüttel war ein Mikrokosmos nicht fürchten, dass da plötzlich
cken Schlosssaal wahrzunehmen – »selbst für der neuen adenauerschen Republik. Ich erlebte ein Kunde mit Nazi-Tattoos in
einen Adelstitel nicht«. hautnah das Wirtschaftswunder mit Jägermeister der Tür steht. Das ist einem
Die aufgeputzte Dame mit dem Blumen- und »Kuba«-Tonmöbeln, aber auch die verlogene trans Mann schon passiert.
schmuck erinnert mit ihrer spitzen Nase an den Auf- und Abarbeitung der Nazidiktatur. Von der SPIEGEL: Unter Umständen sind
letzten Kaiser Wilhelm II., was nicht verwunder- Zerstörung der prächtigen, 1893 erbauten Syna- manche Wohnungen, manche
lich ist, denn es handelt sich um die ehemalige goge wusste ich nicht, ebenso wenig von der ört­ Spielzeuge auch etwas irritie-
Prinzessin Viktoria Luise, die 65-jährige Tochter lichen Strafanstalt, wo unter Hitler mehr als 700 rend für andere Reinigungskräf-
des ins Exil geflüchteten preußischen Imperators. Menschen hingerichtet worden waren. Niemand te, oder?
Warum mein Boss keinen Sekt schlürfen woll- hatte mir etwas erzählt. Gesammeltes Verschwei- Baumgärtel: Natürlich. Unsere
te, war mir wurscht. Als schlesisches Flüchtlings- gen. All die Hitlerianer waren abgetaucht oder Kunden können absolut sicher
kind schrieb ich, in der von heimwehkranken engagierte CDU- und SPD-Mitglieder geworden. sein, dass ihre Putzhilfe nicht
Vertriebenen überfüllten Region, einen anspie- Neulich, ein Menschenalter später, wollte die Poster und Fotos im Schlaf-
lungsreichen Text, Überschrift: »Vertriebene ich wissen, wie es dort heute so steht, und wurde zimmer verurteilt. Auf Wunsch
Fürstin kehrt heim ins Schloss«. fündig. Am 3. Februar 2024 lautete die Schlag­ wird auch der Playroom ge-
Erst viele Jahre später erfuhr ich, dass die zeile meiner »Wolfenbütteler«: »2400 Menschen putzt. CZYK
­gewesene Fürstin auch eine »fanatische Nazisse« bei Kundgebung gegen rechts«. Und das vor
gewesen sein soll, wie eine zur NS-Zeit in dem Schloss. Marius Baumgärtel,
Andrada Predescu

Deutschland tätige US-Journalistin, Sigrid Aufgezeichnet von Alexander Smoltczyk 32, ist Gründer des
Schultz, schrieb. Sie habe Hitler angehimmelt, sei Berliner Start-ups
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie
Gast in seiner Münchener Wohnung gewesen und uns Ihre Geschichte erzählen möchten? Schreiben Sie an: »Queere Haushalts-
im Jahr 1936 bei Olympia in Berlin. Mit ihrem familienalbum@spiegel.de hilfe«.

38 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


kiefer einer seit Urzeiten ausge­
storbenen Riesensüßwasserschild­

Das Geheimnis des Panzers


kröte aus der Gattung Peltocephalus.
Und es war eine bislang unbekannte
Art.
»Erstaunlich war vor allem diese
massive Größe. Wir kamen auf eine
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Wie ein Tübinger Forscher Panzerlänge von 1,80 Metern. Das
im ­Amazonasbecken eine ausgestorbene Riesenschildkröte entdeckte kannten wir bisher nur von Funden
aus dem Miozän, der Zeit von etwa
23 bis 5 Millionen Jahren.« Diese

P »Dieses Tier
orto Velho ist ein Binnenhafen bische Welt, auch in den Libanon, wo Schildkröte dagegen war deutlich jün­
am Rio Madeira, tief im Ama­ Carlos Ghosn seit 2019 lebt, seit sei­ ger. Die Analysen ergeben ein Alter
zonasgebiet. Die Stadt spielte ner Flucht aus Japan als Luftfracht. könnte ein aus der Zeit des späten Pleistozäns,
einmal eine gewisse Rolle im Kau­t­ Gier und Luxussucht, die Veruntreu­ Zeitgenosse etwa 40.000 bis 9.000 Jahre vor
schukboom, und ebenso nebensäch­
lich ist die Tatsache, dass der erfolg­
ung von Firmengeldern hatte Nissan
ihm vorgeworfen. Er selbst bestreitet
der frühen unserer Zeitrechnung. »Damit könn­
te«, sagt Ferreira, und ihm gefällt die­
reichste Sohn der Stadt einmal das. Es gibt einen Haftbefehl von Menschen ser Gedanke, »dieses Tier ein Zeit­
­verpackt in einen Musikinstrumen­ Interpol gegen Ghosn, den berühm­ gewesen genosse der frühen Menschen gewe­
tenkoffer das Weite suchen musste ten Sohn von Porto Velho. sen sein.«
und seither auf Genugtuung wartet: Ferreira erzählt, wie einer der
sein.« Ein Urtier also, das nicht wie Bron­
Porto Velho zumindest wird es Carlos ­Garimpeiros, ein illegaler Goldsucher, Gabriel Ferreira, to- und andere Saurier den Planeten
Ghosn nicht nachtragen, dem bis an beim Waschen des Schlamms dieses Paläontologe lange vor dem Menschen schon ver­
die Spitze der Renault-Nissan-Mitsu­ sonderbare 27 Zentimeter große Teil lassen hatte. Für Paläontologen ist das
bishi-Allianz aufgestiegenen und tief in den Händen hielt, weder Stein Jahr 9.000 vor Christi Geburt quasi
gefallenen Manager. noch Gold. Es ähnelte einem großen gestern Nachmittag. »Damals besie­
»Es ist wichtig zu wissen, wie wir Haifischzahn. »Der Knochen war fos­ delten Menschen das Ama­zonas­
geworden sind, was wir sind. Wo wir silisiert und mit einer Eisenschicht gebiet. Das wissen wir. Ebenso, dass
herkommen«, sagt Gabriel Ferreira überzogen, weil der Boden dort sehr große Landschildkröten auf dem
und dass er sich vielleicht genau des­ eisenreich ist. Der Goldsucher stellte Speiseplan von Hominiden standen.«
halb auf Paläontologie spezialisiert den Fund erst einmal bei sich zu Hau­ Ob die Tiere von unseren hungrigen
habe. Vorgeschichtsgeschichte. Fer­ se auf. Irgendwann fragte er dann Vorfahren ausgerottet wurden oder
reira ist 35 Jahre alt und stammt aus beim Heimatmuseum in Porto Velho Opfer der menschlichen Ausbreitung
der Region São Paulo, genauer: aus nach.« Das war Ende 2009. generell wurden, lasse sich, so ­Gabriel
Americana, einer Gründung geflüch­ Das Museum wandte sich, Jahre Ferreira, nicht sagen. Jedenfalls sind
teter Südstaatler nach dem für sie ver­ später, an die Universität von São ihnen das quecksilberverseuchte
lorenen US-Bürgerkrieg. Paulo, wo Gabriel Ferreira an seiner Flusswasser, die Dieselmotoren und
Gabriel Ferreira arbeitet heute am Doktorarbeit saß und zwischen der die Garimpeiros des heutigen Rio Ma­
»Senckenberg Centre for Human Metropole und Tübingen pendelte. deira erspart geblieben.
Evolution and Palaeoenvironment« »Wir schickten drei Proben an das Die Meldung über die Schildkröte
der Uni Tübingen, zusammen mit Center für angewandte Isotopen-Stu­ stand überall in den Zeitungen. »Viel­
einem internationalen Forscherteam. dien der Universität Georgia, um das leicht lag es an dem Bestimmungs­
Es geht um Schildkröten. Um ausge­ Alter zu bestimmen.« wort Riesen-, dass plötzlich alle Welt
storbene Riesenschildkröten aus dem Ferreira zog im September 2020 Visualisierung des von unserer Flussschildkröte berich­
späten Pleistozän. Das war die Zeit endgültig nach Tübingen, im Ge­- Urtiers, Forscher tete«, sagt Ferreira. Ihn selbst habe
Ferreira (r.) bei einer
vor unserer Zeit und endete vor etwa päck seinen digitalen »Holotyp«, die Probenentnahme,
der Wirbel überrascht.
12.000 Jahren. Erstbeschreibung. Bei dem Fund han­ Schlagzeile von Möglicherweise lag es auch an dem
»Es gibt bei Porto Velho«, erzählt delte es sich um den Rest vom Unter­ t-online.de zweiten Teil des Namens. In der For­
Ferreira, »diesen Taquaras-Stein­ schergruppe um Ferreira arbeitet
bruch, wo nach Gold gesucht wird. In ­Mirian Pacheco, die nicht nur alles
der Region wird eine recht problema­ über prähistorische Süßwasserschild­
tische Technik eingesetzt, mit Maschi­ kröten gelesen hat, sondern auch das
nen, viel Wasser und Quecksilber. Die Gesamtwerk von Stephen King. So
Senckenberg Gesellschaft für Natur forschung / dpa

Goldplättchen sind sehr klein und war sie es, die auf den Namen für die
müssen herausgewaschen werden.« neue Schildkrötenart kam: Maturin.
Es ist ein schmutziges, in jeder Die im Hintergrund wirkende Riesen­
Hinsicht schädliches Verfahren. Das schildkröte aus Kings Horrorromanen
Quecksilber lagert sich in den Fischen »Es« und »Der dunkle Turm«. Meist
ab, der Hauptnahrung der Indigenen schlief das Wesen in seinem Gehäuse,
am Rio Madeira. Das Verfahren ist, nur einmal machte ihm der Magen
Júlia d·Oliveira / dpa

sofern nicht angemeldet, ebenso ver­ Sorgen, und Maturin kotzte das Uni­
boten wie weitverbreitet in der Re­ versum aus – so die Genesis nach
gion. Für wirksame Verbote ist Gold ­Stephen King. Und so kam es im Uni­
zu wertvoll. Derzeit liegt der Welt­ versum der Biologie zu der neuen Art
marktpreis für eine Feinunze auf Peltocephalus maturin. Eine Schild­
einem Allzeithoch. Brasilien verkauft kröte, die aus dem Jenseits der Zeit
sein Gold vor allem an Kanada, In­ für Geschichten sorgt.
dien, an die Schweiz und in die ara­ Alexander Smoltczyk n

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REPORTER

Ein Gefühl von Ewigkeit

Pianist Lisiecki in Bamberg

40 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


REPORTER

GENUSS Wer Musik für eine hübsche Nebensache hält, verkennt ihre Macht über unser Leben.
Sie ist eine tief in den Genen verankerte Ursprache des Menschen und gibt unserem Denken und Fühlen
Struktur. Warum nutzen wir ihre Kraft nicht besser? Von Ullrich Fichtner und Gene Glover (Fotos)

D
ie Bamberger Symphoniker rühmen Das Klavierkonzert Nr. 22 ist seit zwei Ta- das ständig so, es tut sich eine Stimmung des
sich, Bayerns besten Konzertsaal zu gen in Arbeit, 185 Takes sind aufgezeichnet, melancholischen Zwielichts auf, die nur Musik
bespielen, er liegt am Ufer des lin- kurze, lange, an diesem Freitagmorgen kom- so ausdrücken kann in ihrer erstaunlichen,
ken Arms der Regnitz und verwan- men weitere hinzu. Viele Stunden Musik in widersprüchlichen Ganzheitlichkeit.
delt sich an einem grauen Freitagmorgen Schnipseln werden es am Ende sein, die in Und Musik kann noch viel mehr. For-
schlagartig in eine Insel des Glücks. Um kurz ständiger Kommunikation zwischen Künst- schungsarbeiten von Neurobiologinnen und
nach neun Uhr sind Klarinetten und Brat- lern und Technikern entstehen. Der Tonmeis- Hirnforschern lesen sich heute so, als mach-
schen zum Dienst angetreten, erste und zwei- ter ist Stephan Flock, seit Jahrzehnten im te sie den Menschen überhaupt erst zu dem,
te Geigen, Fagotte, Celli und Hörner haben Geschäft, er hat mit großen Dirigenten wie was er ist. Wissenschaftliche Teams finden
ihre Plätze eingenommen. Auf der Bühne Claudio Abbado und Pierre Boulez gearbeitet, dank technologischer Fortschritte, besserer
vorn sitzt Jan Lisiecki an einem gewaltigen mit der Sopranistin Elīna Garanča, der Pia- Messmethoden und Maschinen ständig stär-
Flügel, ein junger Kanadier mit der Statur nistin Hélène Grimaud, einmal durfte er sei- kere Indizien dafür, dass »im Anfang« nicht
eines Zehnkämpfers. Der große Saal vor ne Mikrofone sogar in der Sixtinischen Ka- das Wort war, wovon unsere Kultur jahrhun-
der Bühne ist menschenleer, für Momente pelle aufstellen. Sechs von ihm aufgenomme- dertelang selbstverständlich ausgegangen ist.
herrscht völlige Stille. Dann ereignet sich das ne Alben wurden mit einem Grammy aus- Stattdessen bilden akustische Reize, Töne,
Wunder der Töne. Es entfaltet sich: die Macht gezeichnet, aber das würde er von sich aus Rhythmen und das ganze System der sich
der Musik. niemals erzählen. bereits im Mutterleib entwickelnden Musi-
Mozart wird laut, das 22. Klavierkonzert Flock sitzt im Abstellraum in Bamberg und kalität die Basis der menschlichen Weltwahr-
in Es-Dur, erster Satz, ein prachtvolles Alle- sagt in ein Mikro: »Können die Geigen bitte nehmung.
gro, durchzogen von heiteren Bläserpartien, aufpassen bei Takt 237 am Ende …«, seine Musik ist die Ursprache, jedem Menschen
getrieben von kräftigen Streichern, und dann, Stimme wird hinüber in den Saal übertragen. mitgegeben, sie lässt das Gehirn Grundstruk-
in Takt 77, der Auftritt des Klaviers. Das win- Wie ein Lehrer, der Schularbeiten korrigiert, turen ausbilden, auf denen kommende ko­
terliche Bamberg, die graue Regnitz, der geht der Tonmeister seine annotierte Partitur gnitive Fähigkeiten beruhen, Erinnerung,
dunkle Freitag sind mit den ersten Tönen durch. Er markiert darin das besonders Ge- Wille, Fantasie, Planung, Aufmerksamkeit,
­vergessen, Kälte und Nässe wie weggewischt, lungene, die Fehler und, akribisch, Anfang Wartenkönnen. Die französischen Neuro­
die Hektik des Berufsverkehrs vergeben. und Ende aller Takes. »Ab Takt 99, das Tut- logen Emmanuel Bigand und Barbara Till-
Ein anderer, hellerer Raum geht auf, eine eige- ti, das klang nicht mehr ganz so fokussiert mann beschreiben Musik als »biologische
ne Zeitrechnung, hervorgebracht von einer wie vorhin«, sagt er, und: »Das Fagott, bitte, Notwendigkeit« des menschlichen Seins.
Musik, die vor 238 Jahren komponiert wurde auf die Intonation etwas achten.« Dirigent Sie löse im Körper »neuronale Symphonien«
und doch direkt zu uns heutigen Menschen Honeck erklärt dem Orchester seinerseits, aus, schreiben sie, vom Scheitel bis zur Soh-
spricht. wie er in diesem Takt das »Ta-ta-tam« haben le und bis in die Hirnwindungen und den Hor-
Manfred Honeck dirigiert, im T-Shirt, ein will und in jenem das »Ti-da-di« und vor al- monhaushalt hinein. Wer Musik sagt, sagt
gebürtiger Vorarlberger, gefeierter Musik­ lem dann das »Tam-tara-papam«. unendlich viel.
direktor in Pittsburgh, er tanzt, schnauft, wirft Es ist schwer, über Musik zu reden, weil sie Sie könnte, sie müsste in unserem Leben,
Blicke, rudert mit den Händen. Er leitet die- selbst eine Sprache ist, aber eine ohne Worte. in der Organisation der Gesellschaft, eine viel
ses musikalische Fest ohne Publikum, ordnet Tonmeister Flock sagt beispielsweise, man größere Rolle spielen. Stattdessen wird sie
mit seinen Gesten die flüchtigste aller Künste, könne hören, »ob ein Orchester gemeinsam weiter beharrlich unterschätzt als Garnitur
die im Augenblick ihres Entstehens immer atmet«, oder dass ein Saal »trocken« klinge. einer gepflegten Bürgerlichkeit, als ein Ver-
sofort vergeht. Aufblühen und Verwelken Was das heißen soll, mag ein Tonmeister wis- gnügen von Betuchten womöglich.
sind eins in der Musik. Gut möglich, dass sie sen und ein Musikliebhaber spüren, aber mit Vielen Menschen heute dürfte ein Ge-
uns Menschen auch deshalb so fasziniert, weil Sprache eindeutig zu benennen ist es nicht. spräch über sie sogar wie Zeitverschwendung
sie ständig endet, mit jedem Ton ständig ent- Unbeschreibliches gehe vor, sagt Flock, wenn vorkommen oder wie Zynismus angesichts
eilt, während man sich danach sehnt, dass sie eine Musik zwischen Moll und Dur changiere von Krieg und Elend und Klimawandel und
bliebe. Aber festhalten lässt sie sich nicht, nur oder wenn die Musik praktisch stufenlos von überhaupt. Diese Haltung fußt auf dem Miss-
wiederholen, das immerhin. einer in eine andere Tonart übergehe. Im zwei- verständnis, Musik als bloße Zutat zu einem
Vor Bambergs leerem Haus findet keine ten Satz von Mozarts 22. Klavierkonzert ist angenehmen Leben zu verstehen, als eine
Orchesterprobe statt. Es sind Tonmeister und hübsche Nebensache, aber das heißt zu ver-
Technikerinnen angereist, um mit Lisiecki kennen, wie tief sie den Menschen berührt
und Honeck ein Mozart-Album für die Deut- und bestimmt.
sche Grammophon aufzunehmen. Sie haben Tatsächlich wurde die Musikalität im Ver-
den Saal die Woche über »eingerichtet«,
sagen sie, 40 Mikrofone sind im Raum in­ Aufblühen und Verwel- lauf der Evolution fest in unser Innerstes ein-
geschrieben, ein Universum aus Reizen, buch-
stalliert, feinst aufeinander abgestimmt. ken sind eins in der stäblich, ein Feuerwerk aus unvorstellbar
Hunderte Meter Glasfaserkabel wurden ver-
legt, die in einem Abstellraum des Konzert­
Musik. Sie endet, mit winzigen und unzähligen elektrischen Im-
pulsen. Wer sich der Erkenntnis verweigert,
hauses zusammenlaufen. Dort stehen Lap- jedem Ton, während dass Musik und Musikalität zur Grundaus-
tops und Alukisten, beklebt in Grammophon-
gelb, »B-1«, »R-8«, darauf in Plastiktüten
man sich danach stattung des Menschen gehören, übersieht in
der Regel auch die unendlichen Möglichkei-
Vorräte an Energieriegeln. sehnt, dass sie bliebe. ten, durch Musik gesünder, glücklicher, intel-

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REPORTER

ligenter, friedlicher, in einem Wort: deren Ergebnisse sich 2012 bestätig­


besser zu leben. ten, hat gezeigt, dass Grundschul­
Eckart Altenmüller erforscht die­ kinder, die pro Woche zuverlässig
sen Kosmos seit Jahrzehnten, als zwei Stunden Musikunterricht haben,
Neurologe und als Musiker, er hat im Lesen, Schreiben und Rechnen
Medizin studiert und, als Meister­ schneller vorankommen und bessere
schüler, auch das Querflötenspiel. Als Ergebnisse erzielen als Kinder ohne
Arzt behandelt er Berufsmusiker, die Musikunterricht. Ein unter Wissen­
sich im Verlauf ihrer Karriere nerv­ schaftlern bekanntes Experiment aus
liche oder muskuläre Probleme zu­ Brasilien hat ergeben, dass zusätz­
ziehen, zuletzt hatte er es häufiger liche Musikstunden auf die mathema­
auch mit psychischen Leiden zu tun. tischen Leistungen von Kindern grö­
Nach einer Stunde Gespräch mit die­ ßere Effekte hatten als, Achtung, zu­
sem Professor aus Hannover kurz vor sätzlicher Mathematikunterricht.
dem Ruhestand ist man nicht nur Mit ähnlichen Versuchsergebnis­
überzeugt davon, dass das Leben sen lassen sich ganze Bücher füllen.
ohne Musik ein Irrtum ist, wie Fried­ Dass der einzigartige Großversuch
rich Nietzsches berühmter Kalender­ eines nationalen Musikförderpro­
spruch lautet, sondern dass es eigent­ gramms namens »El Sistema« in Ve­
lich gar nicht ist. nezuela seit 1975 Menschen aus der
Musik, sagt Altenmüller, sei keine Armut geholt und vielen das Leben
Wahl. Der Mensch sei zu ihr veranlagt, gerettet hat, ist schwer zu beweisen,
jeder Mensch, »unmusikalische« darf aber als sehr wahrscheinlich
gebe es nicht. Sie stelle einen »gene­ ­gelten. Dass Musik insbesondere Kin­
tischen Imprint« dar. Rhythmus, Ton­ dern und Jugendlichen weite Welten
höhen, alles sei in zugehörige Gene öffnet, auch Zugänge zu sich selbst
eingeschrieben, und wer Musik prak­ und ihren Gefühlen, bezweifelt kaum
tiziere, sorge nachweislich dafür, jemand. Dass gemeinsames Singen
»dass sein Gehirn langsamer altert«. und Musizieren guttut, muss nicht
Altenmüller hat gerade eine Studie weiter bewiesen werden. In- und aus­
mit 150 Senioren abgeschlossen, in ländische Umfragen zeigen, dass sich
der gezeigt werden konnte, dass Mu­ Es fühlt sich an, »als hinge fast alle Eltern eine musikalische
sikunterricht weitreichende Effekte
habe. Gedächtnis, Hörfähigkeiten,
die ganze Welt für einen Moment ­Förderung ihrer Kinder wünschen,
und zwar unabhängig von Bildungs­
selbst die Feinmotorik der Probanden an meinen Stimmbändern«. grad, Einkommen oder davon, ob sie
verbesserten sich messbar. Sabine Devieilhe, Sopranistin selbst aktiv musizieren.
Verhandelt wird hier das Wunder Die Wirklichkeit liegt quer zu sol­
der Neuroplastizität, die Anpassung chen Wünschen. In Deutschland feh­
des Gehirns und seiner Strukturen an len Tausende Musiklehrerinnen und
spezielle Herausforderungen. Musik daher die starken neuroplastischen Musiklehrer, zumal in den Grund­
stellt eine solche dar, sie braucht Re­ Effekte. Unser Gehirn muss eine un­ schulen. Das bayerische Kultusminis­
zeptoren, die Signale im Verlauf von glaublich schwierige Aufgabe meis­ terium doktert gerade an musikfeind­
Millisekunden verarbeiten können, tern, aber das strengt uns gar nicht an, lichen Lehrplänen herum. Wenn der
die winzige Abstufungen von Ton­ weil es einen unendlichen Spaß Staat sparen muss, trifft es in aller
frequenzen registrieren und immer macht.« Einfalt die sogenannten musischen
wieder an ein größeres Ganzes zu­ Solche Erkenntnisse, nähme man Fächer, weil manche Politiker, nicht
rückbinden. Musik und ihre Verarbei­ sie ernst, müssten weitreichende Fol­ nur in Deutschland, davon überzeugt
tung sind eine neuronale Höchstleis­ gen haben. Denn wenn es stimmt, zu sein scheinen, dass sie ohne Scha­
tung und so komplex, dass sie das dass die Musik und das Musizieren den wegfallen könnten. Das können
Gehirn verändern. unsere Hirnaktivität auf vielfältige sie aber nicht.
Altenmüller und andere Forscher und so positive Weise beeinflussen, Musik sorgt für ein Gleichgewicht
haben gezeigt, dass das regelmäßige dann müssten sie, um nur damit zu zwischen Intellekt und Emotion,
Üben eines Instruments schon nach beginnen, »in der Schule mit dem­ schreibt Barenboim, sie ist »die we­
wenigen Monaten zu sichtbaren Ver­ selben Nachdruck unterrichtet wer­ sentliche und unverzichtbare Kom­
änderungen der Hirnstrukturen führt. den wie Mathematik, Literatur, Ge­ ponente allgemeiner Erziehung«.
Nervenzellen wachsen, werden grö­ schichte oder Philosophie«. Das for­ Und was für die Schulen gilt, das gilt
ßer, weil sie mehr Stoffwechsel haben, dert Daniel Barenboim von jeher, der auch für das Gesundheitswesen, in
mehr genutzt und deshalb besser ver­ berühmte Dirigent, Pianist und ehe­ der Altenpflege, in Kindergärten,
sorgt. Nervenstränge werden dicker malige Chef der Berliner Staatsoper. Flüchtlingsunterkünften: Eine Musi­
und damit schneller, Synapsen zahl­ Forscher wie Altenmüller oder die kalisierung des Betriebs würde ihnen
reicher. »Warum ist das nicht auch bei erwähnten Bigand und Tillmann ge­ allen auf vielfältige Weise im Alltag
Leuten so, die in Rekordzeit Berichte hen noch weiter und fordern nicht nur guttun.
am Computer schreiben?«, fragt mehr Musikunterricht, sondern eine Im Musikalischen wurzelt das
­Altenmüller, und gibt die Antwort durchgehende »Musikalisierung« des menschliche Verständnis von Zeit,
selbst: »Das liegt an der emotionalen Bildungswesens. von Ab- und Verläufen, von Taktung,
Beteiligung, daran, dass Musik ex­ Die Forderung lässt sich mit For­ von Reihenfolge. Musikpraxis erfor­
trem selbstbelohnend und intrinsisch schungsergebnissen gut untermauern. dert soziale Koordination, ein stän­
motivierend, also befriedigend ist – Eine französische Studie von 1992, diges Aufeinanderhören, ein Mitein­

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REPORTER

anderspielen. Musikhören macht so viel Spaß, Corinne Schneider ist Musikologin und le ungeachtet des historischen Zusammen-
weil das Gehirn ununterbrochen die nächsten Radiomoderatorin in Paris, sie gestaltet seit hangs«. Selbst eingefleischte Atheisten oder
Noten zu erraten versucht und – laienhaft sechs Jahren im nationalen Sender France Menschen fern jeder christlichen Kultur zer-
ausgedrückt – jedes Mal belohnt wird, wenn Musique die Sendung »Le Bach du Di­manche«, flössen vor dieser Musik, sagt Schneider, die
sie dann wirklich laut werden. Aber auch »Der Bach zum Sonntag«. Man soll früh am ja nun in der Regel doch zu Ehren Gottes
­Regelverletzungen, unerwartete »falsche« Morgen mit schöner Musik aufwachen, aber komponiert worden sei. Es brauche aber Gott
Töne wecken Neugierde und werden als reiz- auch etwas lernen über ihren Schöpfer und nicht, um Bach zu lieben, seine Musik stehe
volle Überraschungen verarbeitet und neu seine Zeit, und Corinne Schneider verbindet für sich, sei anrührend »aus sich heraus«. Und
gelernt. beide Welten mit Humor und Herzlichkeit, in dabei sei sie in ihren Strukturen offenkundig
Wer sich auf das Feld bevorzugter Musik- mittlerweile mehr als 300 Sendungen. von allgemeiner Gültigkeit. Durch ständige
genres und -stile überhaupt begeben will, fin- Jeden Sonntag holt sie zwischen sieben melodische und rhythmische Überraschungen
det hier das einzig interessante Thema. Viele und neun Uhr 180.000 Hörer ab, das Pro- werde sie nie langweilig und bleibe in ihrem
Debatten über den Wert oder Unwert von gramm gehört zu den erfolgreichsten Ange- unaussprechlichen Gehalt groß und dennoch
Musik wirken recht steril, weil es in der Regel boten von France Musique. Es gibt Kantaten, einfach.
nicht um die Sache, sondern um die feinen Passionen, Messen, neue und historische Aus dem Strom von Schneiders Sendungen
Unterschiede geht, die kulturelle Distinktion, Instrumentalaufnahmen, es gibt Bach in Jazz- ragt eine weit heraus, die zum Ostersonntag
wie Soziologen sagen. Dann schaut die Grup- und Soulversionen. Bei einem Treffen in 2020. Wegen der Coronapandemie war über
pe der Jazzliebhaber auf die Popfans herab, einem Café nahe der neuen Pariser Philhar- ganz Frankreich ein strikter Lockdown ver-
und Rapper schmähen Klassikhörer als ge­strig monie spricht sie über den unglaublichen hängt, die Städte lagen leer und öde da. Co-
und elitär. Es bilden sich Stämme, häufig ent- Reichtum von Johann Sebastian Bachs rinne Schneider und ihre Leute fuhren die
lang der Generationslinien, deren Häuptlinge Werk und darüber, mit einem Lachen, was Bach-Sendung von ihren Wohnzimmern und
ständig meinen, Jagdgründe abstecken zu das für ih­re Sendung bedeutet: »Ich wieder- Küchentischen aus. Sie luden Prominente ein,
müssen, statt jeden leben und hören zu lassen, hole mich nie.« in diesen schweren Zeiten in kurzen Bot­
wie und was er beliebt. Bach, geboren vor 338 Jahren, gehört mit schaften mitzuteilen, was ihnen Bach bedeu-
Das heißt ja nicht, dass alles gleich bedeut- Beethoven und Mozart zu den meistgespiel- te, und es wurden zwei außergewöhnliche
sam wäre. Es ist natürlich ein Unterschied, ten, meistgestreamten klassischen Kompo- Radiostunden.
und kein kleiner, ob Florian Silbereisen ein nisten der Welt. Diese Rangfolge gilt in den In die ausklingenden Stücke hinein spra-
Abba-Medley zum Besten gibt oder in Bay- USA wie in Japan, in Deutschland wie in chen große Bach-Dirigenten wie Philipp Her-
reuth Richard Wagners »Götterdämmerung« Großbritannien, in allen großen Klassikmärk- reweghe, John Eliot Gardiner oder René
viereinhalb Stunden lang über die Bühne geht. ten, als gäbe es einen universalen Weltge- ­Jacobs über Bachs Elan, seine Gabe zur
Klassische Musik ist unendlich viel komplexer, schmack. Hinter den großen drei rangieren Schönheit, die formale Perfektion, den Trost,
überraschender, ausladender, sperriger als Chopin und Debussy, weiter hinten Schubert, den er spendet, die Kraft, die er gibt. Solis-
alle anderen Gattungen; sie hat dem Men- Händel, Brahms, irgendwann Liszt. tinnen und Sänger sagten, Bach habe das
schen, dem die Begegnung mit ihr ermöglicht Corinne Schneider sagt, Bachs Musik habe Wesent­liche des Lebens erfasst, habe eine
wird, objektiv mehr zu bieten. eine absolute Seite, denn »sie berührt die See- bessere Welt aus dem Geist der Musik er-
Indem sie mehr Aufmerksamkeit erfordert,
fördert sie den Menschen mehr: Sie zielt in
der Regel nicht aufs Mitschunkeln und -singen,
sondern aufs Zuhören, Verarbeiten, aufs stän-
dige Dazulernen. Es ist ein Elend, dass sie Musik müsste »in der Schule mit demselben
heute in Debatten über soziale Gerechtigkeit
hineingezerrt wird, wenn etwa das Klischee
Nachdruck unterrichtet werden wie Mathematik,
vom Klavierunterricht für die verwöhnten Literatur, Geschichte oder Philosophie«.
Kinder reicher Leute gepflegt wird. Und es Daniel Barenboim, Dirigent
hilft natürlich auch nicht, dass die klassischen
Werke zumeist von »toten weißen Männern«
komponiert wurden, wie Michael Spitzer in
seiner »Musikalischen Geschichte der
Menschheit« schreibt.
»Doch was würde geschehen«, fragt Spit-
zer, »wenn man jedem Kind in der Schule ein
Musikinstrument gäbe (und nicht nur den
Kindern, sondern auch den Lehrern und Men-
sa-Angestellten), und dann die Schule mit
liebevoller Unterstützung des örtlichen Sin-
fonieorchesters überschüttete? Und was wäre,
wenn diese Schule im sozial schwächsten Teil
der Stadt läge und man klassische Musik als
Instrument sozialer und gemeindlicher Re-
generation betrachtete?«
Tja, was wäre dann? Hat sich die deutsche
Kultusministerkonferenz solche Fragen je-
mals im Ernst gestellt? Hat sie wenigstens
davon gehört, dass zu Coronazeiten plötzlich
viel mehr Musik gehört wurde, offenkundig,
weil Menschen nicht zuerst nach Zuschüssen Konzertsaal der
suchten, sondern nach immateriellem Halt, Bamberger Symphoniker
nach Schönheit, nach Trost?

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REPORTER

Virtuose Lisiecki, Dirigent den in Zusammenhang steht. Musik wirkt in


Honeck, Tonmeister Flock solchen Situationen nachweislich als hoch-
wirksamer Stresskiller und Schmerzstiller.
Auf der Bühne steht dann vielleicht Sa­bine
Devieilhe, eine der großen Sopranistinnen
unserer Zeit, die mit ihrer feinen Stimme in
London, Paris, Salzburg und New York seit
einigen Jahren Jubel erntet. Sie gehört zu
jenen Künstlerinnen, die ganz allein einen
Saal voller Menschen in ihren Bann zu schla-
gen vermögen, aber nicht mit schierer Kraft
und Stimmendonner, sondern mit Eleganz
und anrührender Zartheit. Es gibt Videos von
ihr mit Händel-Arien oder im berühmten
Blumenduett aus der Oper »Lakmé«, die ihre
herausragende Kunstfertigkeit ausstellen,
ihre in vielen Jahren behutsamer Arbeit per-
fekt gebildete Stimme, die sie liebevoll »mein
Instrument« nennt.
Einer jener magischen Momente ereigne-
te sich vor etwa eineinhalb Jahren, als Sabine
Devieilhe einmal in der Pariser Philharmonie
mit einem Liederabend auf der Bühne stand,
klein und zierlich neben dem geöffneten Flü-
gel. Für lange Momente war da diese atem-
Hören und Fühlen erwachen gleichzeitig i­ m lose Bewunderung im Saal zu spüren, und
sehr wahrscheinlich wären hier die beschrie-
Leben, vielleicht hängen sie direkt zusammen. benen physiologischen Effekte von Puls bis
Womöglich bedingen sie einander sogar. Atemfrequenz messbar gewesen. Jedenfalls
hustete niemand mehr in den kleinen Pausen,
keiner raschelte an den leisen Stellen; es ging
etwas vor im Kollektiv des Publikums.
Sie kann das selbst auf der Bühne spüren,
schaffen. Sein Werk sei der größte musikali- nierte Jugendliche verhalten sich häufig sozial sagt Sabine Devieilhe, sie wird Teil dieser
sche Schatz der Menschheit, sagte der Cem- kompetenter und sind allgemein schöpferi- Kommunion. Bei einer Begegnung in einem
balist William Christie. scher. Offenkundig dringt Musik ins Innerste Probensaal der Opéra Comique in Paris be-
Und als wäre das alles nicht schon genug vor und zeitigt wünschenswerte Seiteneffek- schreibt sie es so: Es fühle sich an, »als hinge
gewesen, ließ Corinne Schneider, passend zu te, deren sich ihre Empfänger gar nicht be- für ein paar kostbare Momente die ganze Welt
Ostern, aber angesichts der schmerzlichen, wusst sind. an meinen Stimmbändern«. Ihr gesamtes Tun
unheimlichen Coronawelt vor der Tür be- Bei einem Projekt der Universitätsklinik als Künstlerin, sagt sie, sei darauf ausgerichtet,
sonders bewegend, die Kantate spielen: »Der Dijon wurden Opernsängerinnen eingeladen, solche Augenblicke höchster Konzentration,
Himmel lacht, die Erde jubilieret«. Der »Ster- frühgeborene Säuglinge mit einem murmeln- seltener Verdichtung möglich zu machen, »ein
nenraum« von Bachs Musik tat sich auf, wie den, leisen Gesang ins Leben zu begleiten – Gefühl von Ewigkeit« herzustellen. Das gehe
Hermann Hesse einst schrieb, und ein Gefühl, mit spektakulären Ergebnissen. Die Herz- nur mit Publikum, sagt sie, nur bei der »ge-
»als sei Gott schlafen gegangen und habe Bach frequenz der Babys sank während der Ver- lebten Musik«. Es brauche dafür Menschen,
seinen Stab und Mantel übergeben«. suche deutlich, ihre Atmung beruhigte sich, die die Ohren spitzen.
Die Frage, warum uns Musik zu Tränen bei einigen wurde der Saugreflex ausgelöst. Im Spiel ist dabei nicht nur die Biochemie.
rührt, warum sie uns fröhlich oder traurig Man geht heute davon aus, dass der stimm- Der Hannoveraner Neurologe Altenmüller
stimmt, motiviert, unsere Launen prägt, uns lich-musikalische Austausch mit der Mutter spricht auch von »ästhetischer Ehrfurcht«,
guttut, findet immer neue Antworten. Die den Hormonhaushalt des Kindes stark beein- Dirigent Barenboim beschreibt Musik als »be-
Wissenschaft war lange davon ausgegangen, flusst. Mütter, die ihren Kindern Lieder vor- deutsamen Ausdruck menschlicher Existenz«.
dass ein Fötus im Mutterleib etwa von der singen, stärken sie für den Start ins Leben. Die Musikologin Corinne Schneider spricht
24. Woche an zu hören beginnt. Aufgrund Es gibt heute keinen Zweifel mehr daran, der Musik zu, eine Quelle der »geistigen Er-
neuerer Messungen gilt nun als wahrschein- dass Musik-Erfahrungen – samt Gänsehaut, frischung« zu sein, während der Oboist und
lich, dass sich diese Fähigkeit bereits in der Herzklopfen und Bauchkribbeln – biochemi- Bestsellerautor Albrecht Mayer von seinen
16. Woche ausbildet. Das heißt: Das mensch- sche Modifikationen im Körper hervorrufen, ganz persönlichen Begegnungen mit dem
liche Gehör nimmt genau in dem Moment die die der Mensch teils gezielt steuern, teils nur »Göttlichen« erzählt. Am Ende fühlen und
Arbeit auf, in dem sich auch das limbische im Zusammenspiel mit anderen Menschen finden Hörerinnen und Hörer, was sie su-
System im Gehirn ausbildet, das Zentrum zur erleben kann. Wenn in Konzertsälen manch- chen – und in sich finden. Aber alle nutzen
Verarbeitung unserer Gefühle. Das heißt: Hö- mal der magische Moment entsteht, in dem die Musik ständig dazu, intuitiv um die Wir-
ren und Fühlen erwachen gleichzeitig im Le- das Publikum eins zu werden scheint, atemlos kungen wissend, ihre inneren Zustände und
ben, vielleicht hängen sie direkt zusammen, auf das Hören und das Geschehen im Raum Gefühlslagen zu regulieren.
womöglich bedingen sie einander sogar. Man- konzentriert, dann nähern sich – messbar – Je erfahrener ein Musikhörer dabei ist, des-
che Befunde legen das nahe. Pulsfrequenz und Atemrhythmus der Anwe- to größer ist das ihm verfügbare Repertoire
Kleine Kinder, die musikalisch gefördert senden im Saal an. Es wird auch vermehrt und damit die Möglichkeit, aktiv für das eige-
werden, erweisen sich in Konfliktsituationen und kollektiv das häufig als Bindungshormon ne Wohlbefinden zu sorgen. Die globale Juke-
nachweislich als hilfsbereiter und lösungs- bezeichnete Oxytocin und der Botenstoff Do- box war dafür nie besser gefüllt und leichter
orientierter, empathischer. Musikalisch trai- pamin ausgeschüttet, der mit Glücksempfin- zu bedienen als heute. Internet und Strea-

44 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


REPORTER

mingdienste haben die Welt der Mu- war nie leichter zugänglich als heute.
sikliebhaber zu einem Paradies auf Karajan, Bernstein, Böhm sind weiter
Erden gemacht. Mit dem Geld, das gefragt. Die Einspielung von Beetho-
eine einzige Langspielplatte einst ge- vens 5. Symphonie mit Carlos Kleiber
kostet hat, bekommt man heute mo- am Pult aus dem Jahr 1975 ist laut
natelang Zugriff auf das musikalische Trautmann mittlerweile 250 Millio-
Archiv der Menschheit. nen Mal gestreamt worden. Das mag
In diesem großen Teich ist selbst pro Abruf nicht mehr so viel Geld
die Deutsche Grammophon ein klei- einspielen wie früher die verkauften
ner Fisch. Gegründet vor 125 Jahren physischen Alben, aber was die schie-
in Hannover, ist die Firma heute eine re Verbreitung von Musik angeht,
Untermarke im Sortiment des globa- waren die Zeiten nie besser als heute.
len Giganten Universal Music Group, Nun versucht die Grammophon
ihr berühmtes gelbes Label hat sie wieder, einen Hit zu landen. In einem
zum Glück behalten dürfen. Der Abstellraum im Konzerthaus der
Grammophon-Chef heißt heute Cle- Bamberger Symphoniker sitzen Men-
mens Trautmann, ein einstiger Profi- schen, vor dem Fenster steht grau ein
klarinettist, Absolvent der New Yor- Freitagmorgen. Im Raum sind der
ker Juilliard School, der dann doch Dirigent Manfred Honeck, der Pianist
lieber Manager wurde. Trautmann Jan Lisiecki, der Tonmeister Stephan
sieht viele Anzeichen nicht nur dafür, Flock. Sie hören gemeinsam Tracks
dass die Macht der Musik ungebro- durch, Mozarts 22. Klavierkonzert,
chen ist; er glaubt auch, dass die bes- Es-Dur, das prachtvolle Allegro. Flock
ten Tage der klassischen Musik erst sagt an einer Stelle: »Das haben wir
noch kommen. »Dass Klassik heute besser.« Honeck sagt: »Yes.« Lisiecki
einen Nerv trifft, sehen Sie allein da- sagt nichts, aber er geht beim Hören
ran«, sagt Trautmann, »dass Holly- mit, als säße er am Klavier.
wood binnen eines Jahres mit ›Maes- »Das Hirn muss eine schwierige Der Kanadier hat sich, mit 29 Jah-
tro‹ und ›Tar‹ gleich zwei große Filme Aufgabe meistern, aber ren, bereits ein großes Repertoire er-
zu unserem Genre produziert und arbeitet, die fünf Beethoven-Konzer-
dass eine Firma wie Apple eigens das strengt uns gar nicht an.« te hat er schon vor Jahren in Berlin
einen Kanal für sie einrichtet.« Eckart Altenmüller, Neurologe und Musiker live eingespielt mit funkelnder, per-
Die Konkurrenz dort ist beinhart. fekt kontrollierter Kraft. Was er hier
Der gesamte Katalog der Grammo- in Bamberg mit Mozart macht, ist
phon, gefüllt in 125 Jahren, umfasst nicht weniger beeindruckend. Flock,
gut 6000 Posten. »Heute«, sagt Traut­ der auch die Beethoven-Aufnahmen
mann, »werden jedes Jahr 30.000 mit ihm in Berlin umgesetzt hat, sagt
Klassikalben veröffentlicht. Es wer- über Lisiecki, es sei eine Ehre, mit
den jeden Tag ungefähr 120.000 ihm zu arbeiten, ein Glück. Zum Pia-
Tracks hochgeladen, quer durch alle nisten neben ihm sagt er im Abstell-
Musikrichtungen. Das ist das Umfeld, raum: »Ich habe das Gefühl, es wäre
in dem es uns gelingt, gemeinsam mit gut, am Anfang möglichst wenig Pe-
unseren Künstlerinnen und Künstlern dal einzusetzen. Es wäre zu schade,
durchzudringen.« wenn es trocken klingt.« Lisiecki sagt
Die Rede ist nicht mehr nur von nichts.
Audioaufnahmen. Für Livestreams Es gibt keine Sprache, um über
von Konzerten, aber auch für Archiv- Musik zu reden, es geht am Ende
aufnahmen, hat die Grammophon nie sehr weit über Tata-ti, tata-tam
mit Stage+ eigens eine Plattform ge- hinaus. Unsagbar also ist ihre Macht
schaffen. »Yellow Lounge« heißt über uns, und es gibt keine Begriffe
eines ihrer Programme, das die Klas- dafür, dass sie Teil von uns Menschen
sik in Klubs bringt. ist, bis in die Hirnwindungen und
Es gelingen weiterhin Volltreffer. Hormondrüsen und einzelne Gene
Die Grammophon hat Bestseller im hi­nein. Sie hat Risiken und Neben-
Programm, die Komponisten Ludo- wirkungen, auch das, sie lässt sich
vico Einaudi oder Max Richter etwa – missbrauchen, zu allen Zeiten wurden
Richters Werk »Sleep« wurde nach Menschen absichtsvoll aufgepeitscht
Grammophon-Angaben bereits zwei durch sie, Stiefel knallten im Takt,
Milliarden Mal gestreamt, der chine- aber diese hässliche Seite an ihr ist
sische Pianist Lang Lang räumt ab, doch vergleichsweise klein. Das Gute
egal ob mit Bachs »Goldberg-Varia- überwiegt bei Weitem. Wer die Musik
tionen« oder Disneys »Dschungel- liebt, für den hat die Welt, wie Her-
buch«, sein »Piano Book« hat angeb- mann Hesse schrieb, »eine Provinz,
lich ebenfalls die Milliardenmarke »Klassik trifft einen Nerv, ja eine Dimension mehr«. Man kann
geknackt. Hollywood produziert gleich sie nicht erobern, nicht erzwingen,
Darüber mögen Traditionalisten nicht besetzt halten. Nur in sich ent-
murren, aber das sogenannte Kata- zwei große Filme zum Genre.« decken. Und immer wieder staunen
logrepertoire bleibt ja verfügbar und Clemens Trautmann, Deutsche-Grammophon-Chef über sie. n

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 45


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REPORTER

Trainerin im gleißenden Licht. Ich


dachte an Bockwurst.
An manchen Tagen, wenn Andy
und ich die Tankstelle in Potsdam zu
spät erreichen, ist die Bockwurst aus-

Im Fitness-Verlies
verkauft. Wir wollen rechtzeitig an
der Shell ankommen, das ist unser
Antrieb, das macht uns schnell. An-
fänglich aktivierte ich vor unseren
Ausfahrten noch eine App, die Ge-
HOMESTORY Wie ich mich in einer Cycling-Class von der Idee verabschiedete, schwindigkeit und Entfernung auf-
dass Fahrradfahren ein gemütliches Hobby für mittelalte Männer sei zeichnete. Das vergesse ich inzwi-
schen oft. Neulich brannten mir bei
der Rückfahrt die Oberschenkel. Ich

M
eine Frau schenkte mir eine lud mein Rennrad in einen Miettrans-
sogenannte Cycling-Class porter und fuhr über die Stadtauto-
zum Geburtstag. Sie weiß, bahn nach Hause.
dass ich mich vor dem Frühstück gern Meine Frau und ich schauen
bewege. Ich freute mich. Meine Freu- manchmal den »Bachelor« auf RTL.
de allerdings, das ist mir nun bewusst, Der aktuelle Bachelor, Sebastian, er-
beruhte auf einer nicht ganz präzisen zählte kürzlich, dass er nur Sport ma-
Vorstellung davon, was eine Cycling- che, um mehr essen zu können. Und
Class ist. Cycling, das klang für mich dass er sich neulich einen Airfryer
nach Fahrradfahren, und ich fahre ­gekauft habe, eine Heißluftfritteuse,
gern Fahrrad. mit der er gern frittiere. Seitdem hat
An schönen Tagen fahren wir mit ­Bachelor Sebastian bei uns Helden­
dem Rennrad auf den Berliner Teu- status. Er ist für uns, was einst Mao
felsberg, eine Erhebung von 120 Me- für Paul Breitner war: ein Vordenker,
tern. Danach rollen wir, mein Kumpel nach dessen Regeln wir leben wollen.
Andy und ich, nach Potsdam. An der Auch wir haben einen Airfryer, an
ersten Tankstelle essen wir ein Schoko­ den wir denken, wenn wir im Fitness-
croissant und an der zweiten eine studio in den Feierabend rennen.
Bockwurst mit Senf. Wir sind stolze Nach einer Dreiviertelstunde in
Mamils. Middle-aged men in lycra. diesem düsteren Fitness-Verlies in
Das, was wir unter Cycling ver- Berlin-Mitte fühlte ich mich wie eine
stehen, hat nicht viel mit dem zu tun, grotesk durchgenudelte Comicfigur.
was ich an jenem Samstagmorgen in Kreuze in den Augen, die Ohren
einem düsteren Raum in Berlin-Mitte grellem Licht, wie in einer ambitio- schlaff, die Schenkel glühend. Mel
erlebte, bei Rocycle (Eigenwerbung: nierten Inszenierung der Volksbühne. läutete nun eine neue Phase ein. Die
»Deine Makrodosis Glück«). Eine Sie machte vor, wir machten nach. Sie Musik wurde langsamer, unser Tritt
verbindliche Dame am Empfang er- stand auf ihrem Fahrrad, sie erinner- sanfter. Mel stieg vom Fahrrad und
klärte meiner Frau und mir die Re- te mich an Lance Armstrong am Mont verteilte LED-Windlichter im Raum.
geln: Zwei Minuten vor Kursbeginn Ventoux. Purer Wille. Sie schritt durch die Reihen, wäh-
schließt die Tür. Mel sprach Englisch, sie schleuderte rend wir strampelten, und stellte uns
Okay, okay, dachten wir. Wir stopf- Kommandos in den Raum, »sweep!«, mit weicher Stimme ein paar Fragen:
ten unsere Kleider in ein Schließfach aber einmal, als jemand in der Dun- Warum tut ihr das? Warum seid ihr
und gingen gerade rechtzeitig durch kelheit irgendetwas flüsterte, sagte sie hier? Fragt euch, was euch dazu ge-
eine Tür in einen verspiegelten Raum. auf Deutsch: »Halt die Fresse!« Sie bracht hat, heute eine Stunde zu bu-
Hier standen Fahrräder in Reih und meinte es liebevoll. chen. Fragt euch, warum ihr nicht
Glied, wie streng erzogene Büffel. An In Minute drei hatte ich erstmals 45 Minuten gebucht habt. Mel, dach-
der Wand leuchtete ein Slogan: »All den Gedanken, wie ich mich wohl aus te ich, das frage ich mich auch.
we have is now.« dieser Situation befreien könnte. Ich Am Nachmittag gingen wir ins
Als das Licht ausging, schaute ich sah mich um: Über den Türen leuch- ­Hotel de Rome zum Afternoon Tea,
ein letztes Mal zu meiner Frau. Sie tete das grüne Fluchtsignal. Aber der auch das hatte mir meine Frau zum
sah so unglaublich vorbereitet aus, fit reißende Strom der Gruppe zog mich Geburtstag geschenkt. Wir aßen uns
und gut gelaunt. Warum hatte sie mit, der Gruppendruck. Die Men- durch eine dreistöckige Etagere mit
­keine Angst? Wir saßen auf diesen schen im Raum bewegten sich syn- Häppchen und Küchlein, durch Pas-
Fahrrädern zwischen dürren Berlin- chron wie in einer autoritären Fitness- Die Menschen trami-Sandwiches, durch Scones mit
Mitte-Menschen. Auf ihren Outfits Dystopie. Woher kannten sie die Be- im Raum Streichrahm und Schokotorten. Wir
Illustration: Thilo Rothacker / DER SPIEGEL

erkannte ich kleine Haie und Kroko- wegungen? Es war, als hätten alle gingen die Extrameile. Abends saßen
dile. Um uns wurde es dunkel, stock- diese Aufführung wochenlang ge- bewegten sich wir im Theater, und ich streckte
dunkel. Es setzte ein fordernder probt, außer mir. Ich sah nur einen synchron selbstzufrieden meine Beine von mir
EDM-Beat ein. Vorn, auf einer er- zweiten Menschen, der manchmal ein und nahm die Hand meiner Frau.
leuchteten Bühne, saß eine energeti- bisschen mogelte: meine Frau. wie in einer Und wenn sie nicht in einer Cyc-
sche Kanadierin auf einem Fahrrad, Schweiß, trainierte Körper, Dun- autoritären ling-Class gestorben sind, leben sie
sie nannte sich Mel, unter ihrem La- kelheit, Wummern. Sitzen. Stehen. weiterhin glücklich nach den Regeln
coste-Dress schauten mandalahafte Sitzen. Arme über Kreuz. Arme in Fitness-­ von Bachelor Sebastian.
Tattoos hervor. Sie war bestrahlt von die Höhe. Vorn auf der Bühne: die Dystopie. Felix Dachsel n

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 47


WIRTSCHAFT

Henning Kaiser / dpa


Einfamilienhäuser in einer Siedlung in Köln-Widdersdorf

Minus 50 Prozent für die Fabrik,


plus 20 Prozent fürs Wohnhaus
IMMOBILIEN Billiger Grund fürs Gewerbe, teurer für Wohnhäuser: Das kann mit der
Grundsteuerreform in vielen Kommunen Nordrhein-Westfalens passieren.
Der Hauseigentümerverband kritisiert den Reformvorschlag des CDU-Finanzministers.

D er Immobilienbesitzerverband
Haus & Grund fordert eine völlige
Neuordnung der Grundsteuer in
Nordrhein-Westfalen (NRW) und kritisiert
auseinanderlaufen, die Reform aber unver-
änderte Gesamteinnahmen für die Kommu-
nen generieren soll, müssen viele private
­Immobilieneigentümer von 2025 an mit
desländern gilt, solle so geändert werden,
dass die Kommunen unterschiedliche Hebe-
sätze für Gewerbe- und Wohnimmobilien
festlegen dürfen, um solche Schieflagen ge-
NRW-Finanzminister Marcus Optendrenk einer deutlich höheren Steuerlast rechnen. radezurücken.
(CDU). »Es wäre besser, wenn Herr Opten- Laut Städte- und Gemeindebund gibt es »Das Problem, das NRW mit dem neuen
drenk seine Energie auf ein sinnvolleres Konstellationen, in denen Lager- oder Fa- Vorschlag angehen will, hat seine Wurzel in
Grundsteuermodell richten würde«, sagte brikhallen um 50 Prozent entlastet würden, den Bodenrichtwerten«, sagt aber Warnecke
Verbandspräsident Kai Warnecke dem während für Ein- oder Zweifamilienhäuser von Haus & Grund. Er kritisiert seit Lan-
SPIEGEL. Im größten Bundesland drohen 20 Prozent mehr gezahlt werden müssten. gem, dass das Bundesmodell auf die Boden-
Hausbesitzern in einzelnen Gemeinden mas- Vorige Woche nun warb Minister Marcus richtwerte setze. Die seien für die Bürger
sive Erhöhungen bei der Reform der Grund- Optendrenk im Landtag für seinen Lö- intransparent und würden von den rund
steuer. Weil dort die Steuersätze zwischen sungsvorschlag: Das Bundesmodell der 900 Gutachterausschüssen in ganz Deutsch­
Gewerbeimmobilien und Wohnhäusern weit Grundsteuer, das grundsätzlich in elf Bun- land höchst unterschiedlich ermittelt. MAMK

48 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


Unabhängiger durch Kein Grund zur dem Vorgang aus dem Parla-
ment aufkamen. »Die Voraus-
mehr Recycling Geheimhaltung setzung für die Einstufung –
ROHSTOFFE Deutschlands Ab- REGIERUNG Der Bundesrech- ein Schaden für die Interessen
hängigkeit von Rohstoffimpor- nungshof (BRH) übt Kritik an Deutschlands bei einer Kennt-
ten ließe sich durch mehr Recy- der Vergabepraxis des Bundes- nisnahme durch Unbefugte –

Benoit Tessier / REUTERS


cling signifikant senken. Zu die- ministeriums für Gesundheit fehlte.« Immer häufiger stufe
sem Ergebnis kommt eine Stu- (BMG) bei der Impfkampagne die Bundesregierung belanglose
die des Ifeu-Instituts im Auftrag »Ich schütze mich«. Dies geht Dokumente als geheim ein,
der Nichtregierungsorganisation Recycling aus einem BRH-Prüfbericht sagt Gesine Lötzsch, Haushalts­
Powershift, die dem SPIEGEL von Metall hervor. Nach Ansicht der Prüfer politikerin der Linken im
vorliegt. Im Zentrum der Unter- »verstieß das BMG gegen das Bundestag: »Dabei geht es
suchung stehen die Metalle nicht zu erreichen. Die Wieder- Vergaberecht«, als die Kampa­ nicht um die Sicherheit unseres
Kupfer, Aluminium, Eisen und verwendung von Rohstoffen gne im Gesamtwert von 44,8 ­Landes, sondern um die
Stahl sowie Nickel. 94 Prozent werde dadurch zunehmend Millionen Euro 2022 in Auftrag Be­hinderung der Arbeit der
des »gesamten metallischen wichtig. Deutschlands Potenzial gegeben wurde. Er sei ohne Ab­geordneten.« REI, MAD
Rohstoffkonsums« in Deutsch- ist laut der Studie enorm, kann ­öffentliche Ausschreibung ver-
land entfalle auf diese Basisme- jedoch nur genutzt werden, geben worden. In seiner Stel-
talle, so die Autoren. Bislang gilt wenn ein Ausbau des Recycling- lungnahme wies das BMG den
Rohstoffrecycling häufig als zu sektors erfolgt. Der Recycling- Vorwurf zurück und erklärte,
aufwendig und zu teuer. Durch anteil von Eisen etwa ließe sich der Auftrag sei an die Kampa­
Pandemien oder Naturkatastro- demnach bis 2050 mehr als ver- gnenagentur als Unterauftrag
phen infolge des Klimawandels doppeln. Wurde 2010 rund ein von der Agentur vergeben
sei aber künftig immer wieder Drittel des hierzulande verwen- ­worden, mit der das BMG eine
mit Lieferunterbrechungen aus deten Eisens aus sogenannten Rahmenvereinbarung für die
rohstoffreichen Ländern zu Sekundärrohstoffen gewonnen, Öffentlichkeitsarbeit hatte. Die

Daniel Kalker / picture alliance / dpa


rechnen. Zudem erfordere der könnten es in einigen Jahren Prüfer blieben dabei, dass die
Klimawandel, dass bis zum Jahr schon 75 Prozent sein. Bei Alu- Agentur »keinen Unterauftrag
2030 »Peak Mining« erreicht minium ließe sich die Quote für die Impfkampagne erteilt
werde, also der Höhepunkt des von 54 Prozent im Jahr 2010 hat«. Der BRH kritisierte auch
treibhausgasintensiven Abbaus auf 67 Prozent 2050 steigern, die nachträgliche Geheim-
primärer Rohstoffe. Anders sei- bei Kupfer immerhin noch von schutzeinstufung des Vorgangs
en die weltweiten Klimaziele 56 auf 59 Prozent. SBO durch das BMG als »VS-Ver-
traulich«, als Nachfragen zu

E-Autos kosten Steuermindereinnahmen bei


­Fiskus 50 Milliarden
der Mineralölsteuer nicht an­ »EU-Staaten die Ukraine heute einen Unter-
nähernd durch Mehreinnahmen schied zu machen. Europa sollte
MOBILITÄT Der Umstieg auf bei der Stromsteuer kompen- sollten Schulden sie deshalb als Hebel benutzen,
Elektroautos könnte den Bund siert werden können. Zusätzlich aufnehmen« um eine größere Summe zu
bis 2030 fast 50 Milliarden Euro fördert der Bund Dienstwagen ­mobilisieren: EU-Staaten sollten
an Steuergeldern kosten – trotz mit Elektromotor. Zwei Drittel Torbjörn Becker, 58, Schulden aufnehmen und damit
Streichung der Elektroauto­ der Elektroautos in Deutschland Direktor des Stock- einen Fonds befüllen. Die drei
prämie. Das hat die Unter­ werden auf Gewerbetreibende holm Institutes Milliarden aus den abgeschöpf-
nehmensberatung EY in einer zugelassen. Auch das führt zu of Transition Eco- ten Gewinnen begleichen darin
Studie berechnet, die dem Mindereinnahmen. Dem Bund nomics, über einen nur die jährlichen Zinskosten.
­SPIEGEL vorliegt. Der Großteil könnten durch die verringerten EU-Sonderfonds SPIEGEL: Über wie viel Geld
davon, rund 36 Milliarden Euro, Einkommensteuereinnahmen für die Ukraine ­reden wir?
könnten dem Fiskus verloren zwischen 2024 und 2030 rund Becker: Die drei Milliarden wür-
gehen, weil die erwarteten 11,8 Milliarden Euro entgehen, SPIEGEL: Herr Becker, Sie den ausreichen, um den Fonds
schätzt EY. Die Berater gehen in fordern einen EU-Sonderfonds mit bis zu 150 Milliarden Euro zu
ihrem Szenario davon aus, dass für die Ukraine. Wer soll den befüllen. Dieses Geld stünde der
bis 2030 rund 13,2 Millionen bezahlen? Ukraine dann sofort in verlässli-
rein batteriebetriebene Autos Becker: Die Ukraine braucht er- cher Art und Weise zur Verfügung.
und Plug-in-Hybride auf deut- hebliche Mittel. Deshalb sollten SPIEGEL: Was bringt das der
schen Straßen fahren werden. wir das Maximale aus den Res- ­Ukraine?
Derzeit sind es 2,3 Millionen. sourcen herausholen, die uns Becker: Sie würde endlich annä-
»Knapp zwei Prozent der jetzt schon zur Verfügung ste- hernd so viel Geld bekommen,
Julian Stratenschulte / picture alliance / dpa

Steuereinnahmen der Bundes- hen. Die EU will pro Jahr etwa wie sie aktuell dringend benö-
republik wurden bislang an der drei Milliarden Euro an Erträ- tigt. Sie könnte verlässlicher
Stiftelsen Östekonomiska Institutet

Tankstelle generiert«, sagt gen von blockierten russischen planen, weil die Gelder un­
Constantin Gall, Managing Zentralbankmilliarden abschöp- abhängig wären von innenpoli-
Partner bei EY. Zwar sei die fen. Sie sollte damit einen neu- tischem Kuhhandel. Aktuell
Förderung der Elektromobilität en, großen Fonds finanzieren. ­sehen wir ja in den USA und
aus Klimaschutzgründen SPIEGEL: Wie kann das funktio- teilweise auch in der EU, wie
­sinnvoll. »Die Folgen bei den nieren? die Ukrainehilfe jedes Mal miss-
Laden eines E-Autos Steuereinnahmen werden aller- Becker: Die drei Milliarden braucht wird als Verhandlungs-
dings schmerzhaft sein.« ADE Euro sind zu wenig, um für masse. BEB

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 49


WIRTSCHAFT

Schein
oder

Nichtschein
ZAHLUNGSMITTEL Viele Deutsche lieben Bargeld, werden beim Bezahlen an der Kasse
aber zunehmend schräg angeguckt. Die Jungen begleichen ihre
Rechnungen per App, die EZB plant den digitalen Euro. Für manche ein Horrorszenario.
LÊMRICH

Geschredderte Euronoten: Kulturkampf um Cash

50 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


WIRTSCHAFT

D
onnerstag auf Rügen, ein ganz Parteien haben das Thema viel zu die Barzahlung im Bus ebenfalls ab-
normaler Supermarkt. Auf dem lange der AfD überlassen«, beklagt Geben und geschafft.
Kassenband: Toastbrot, zwei ein Banker aus Frankfurt, der unge- nehmen Auch wer in Berlin, Köln oder
Croissants aus dem Backshop und ein nannt bleiben will. München durch die Gastroszene
Zitronenbäumchen. Wie bezahlen? Gerade erst hat die AfD gefordert, Umlaufendes Bargeld zieht, kommt mit Bargeld nicht mehr
in der Eurozone,
Natürlich in bar. per Gesetz festzuschreiben, dass Bar- in Milliarden Stück weit. Immer häufiger steht am Ein-
Draußen auf dem Parkplatz geld in jedem Geschäft akzeptiert Münzen
gang zum Lokal der Hinweis: »No
schiebt Sabine Schulz, 63, den Ein- werden muss – ausgerechnet jene gesamt: Cash« – Bargeld wird nicht mehr ak-
kaufswagen zum Auto. »Nur Bares Partei, die gegen den Euro gegründet 148,24 2€ zeptiert. So wie im Münchner Café
7,50
ist Wahres«, sagt sie. Bei Scheinen wurde. Österreich macht es vor. Dort Barista Sistar von Julia Strasser.
und Münzen wisse sie immer, was sie will die rechtspopulistische FPÖ das »Das war eine bewusste unterneh-
1€
ausgegeben hat. Mit Karte zahlen? Recht auf Bargeld in die Verfassung 8,30
merische Entscheidung«, sagt die In-
»Zu anstrengend«, sagt Frau Schulz, schreiben. haberin. Sie hat das Café vor zwei
dann muss sie weiter. Influencer wie der Sachbuchautor 50 Cent
Jahren übernommen und von »nur
Rügen gilt als Bargeldhochburg. Marc Friedrich raunen von einem 7,18 bar« auf »nur Karte oder PayPal« um-
Touristen sind oft erstaunt, wie sehr die »Krieg gegen das Bargeld«, an dessen gestellt. Anfangs habe es negative Be-
Inselbewohner an Münze und Scheinen Abschaffung »massiv an allen Fron- wertungen bei Google gegeben, er-
hängen. »Wenn du nach Rügen fährst, ten gearbeitet wird«. Auch der eins- zählt Strasser. Mancher potenzielle
nimm Bargeld und viele Brote mit!«, tige AfD-Bundespräsidentschaftskan- 20 Cent Gast verließ das Café frustriert. Doch
13,49
schrieb die »Berliner Zeitung«. didat Max Otte und der Ex-Degussa- für Strasser überwiegen die Vorteile:
Doch auch auf Rügen hält die Kar- Chef Markus Krall, der enge Kontak- Bargeldlose Zahlungen seien einfa-
te Einzug, wenngleich zögerlich. Im te zu dem mittlerweile als mutmaß- cher abzuwickeln, die Umsätze seien
Touristenort Binz sind Aufkleber an licher Rechtsterrorist angeklagten transparent, zudem müsse sie keine
Fenster und Türen vieler Geschäfte: »Reichsbürger« Heinrich XIII. Prinz Überfälle oder Diebstähle durch Mit-
»EC-Kartenzahlung möglich«. Auch Reuß pflegte, schüren regelmäßig 10 Cent arbeiter fürchten. Und schneller sei
in Restaurants wird mittler­weile Visa Angst vor der Bargeldabschaffung. 17,08 die Sache auch. »Rational konnte mir
akzeptiert. Aber das sei nur »wegen Liegen Euroscheine und Cent­ noch niemand erklären, warum er nur
der Touristen«, sagt ein Gastronom, münzen bald im Museum, neben Mu- mit Bargeld bezahlt.«
der nicht genannt werden will, so scheln und römischen Sesterzen? In einer aktuellen Umfrage hat das
als ginge es um etwas Verbotenes. Man Droht ihnen das Schicksal von Musik- EHI Retail Institute aus Köln ermit-
merkt: Die Sache ist kompliziert. kassette und CD, die allenfalls noch telt, dass 35 Prozent der Unterneh-
69 Prozent der Deutschen gaben in von sentimentalen Fans benutzt men im Handel das Bargeld zuguns-
einer Umfrage der Europäischen Zen- ­werden? ten »unbarer Zahlungsmittel« zu-
5 Cent
tralbank (EZB) an, dass ihnen Bargeld 24,22 rückdrängen wollen. 4 Prozent arbei-
wichtig oder sehr wichtig sei, vor allem Der Anfang vom Ende ten daran, Bargeld aus ihren Läden
Ältere und Menschen mit niedrigem Ein Wintertag in Bergedorf im Osten zu verbannen. 20 Prozent sehen in
Einkommen und Bildungsstand. Nur Hamburgs. Ein älterer Herr steigt in Scheinen und Münzen immerhin so
in Österreich scheint die Bargeldliebe einen Bus der Linie X30. Als der viel Zukunft, dass sie den Umgang
noch größer zu sein. Mann seine Münzen aus dem Geld- mit ihnen effizienter gestalten wollen.
Doch die Liebe wird gerade auf die beutel kramen möchte, schüttelt der Immer mehr Geschäfte setzen auf
Probe gestellt. Millionen Kunden Busfahrer den Kopf. »Nur noch mit Automaten, die das Geld zählen, ab-
zahlten in der Pandemie plötzlich Karte.« Es folgt ein Hin und Her mit legen und passendes Rückgeld aus-
bargeldlos – und blieben dabei. Viele absehbarem Ende: Der Bus fährt da- Scheine geben. Angestellte müssen das Bar-
junge Leute zahlen selbst Klecker- von, der Kunde bleibt im Hamburger gesamt: geld nicht mehr in die Hand nehmen.
beträge lieber per Girocard oder Schietwetter stehen. 29,83 2 Cent Das ist hygienischer und soll verhin-
­Handy. Die EU forciert eine Bargeld- Seit Januar setzen die Hamburger 30,94 dern, dass Geld an der Kasse vorbei
500 €
obergrenze, Kommunen geben Be- Verkehrsbetriebe (HVV) in den Bus- 0,27 im Portemonnaie der Mitarbeiter
zahlkarten an Asylbewerber aus, und sen voll auf digitales Bezahlen. Zwar landet. Obendrein sind die Geldflüs-
die EZB unter ihrer Chefin Christine können die Fahrgäste an den Ticket- 200 € se transparent, was den Fiskus freut.
Lagarde ar­beitet schon an einem »di- automaten weiterhin auch Münzen 0,84 Schon seit Jahren lobbyieren Straf-
gitalen Eu­ro«. Das Bargeld gerät von einwerfen, doch in den HVV-Bussen 100 € verfolger und Steuerfahnder für
vielen Seiten unter Druck. gibt’s die Fahrkarte nur noch mit 3,95 Höchstgrenzen beim Bargeld. Für sie
Viele nehmen es mit Achselzucken einer Prepaid-Karte, die mit einem sind große Cashbeträge vor allem ein
hin. Für andere ist es der Anfang vom Guthaben aufgeladen worden sein Indiz für verdächtige Geschäfte. »Wir
Ende der finanziellen Freiheit. Ver- muss. Ausnahmen: keine. stoßen nicht selten auf Schließfächer
schwörungstheoretiker sehen dunkle Der Start verlief holprig: Die Kar- voller Bargeld«, sagt Oliver Huth,
Mächte am Werk, die den Bürgern ten waren bald vergriffen, viele Ältere nordrhein-westfälischer Landesvor-
ins Portemonnaie schauen wollen. fühlten sich ausgegrenzt. Die meisten sitzender des Bundes Deutscher Kri-
50 € 1 Cent
Aber auch besonnene Bürger fragen Fahrgäste merkten von der Umstel- 14,63 39,52 minalbeamter. »Das Bargeld stammt
sich, ob sie wirklich wollen, dass Bank lung allerdings nichts, weil ohnehin aus allen Straftaten, die man sich vor-
oder Staat jede ihrer Ausgaben nach- nur noch eine kleine Minderheit Ein- stellen kann: Drogendelikte, Erpres-
vollziehen können. Ob etwas Heim- zeltickets mit Bargeld kaufte. Insge- sung oder Geldwäsche.« Zum Teil
lichkeit beim Geldausgeben nicht samt habe es wenig Kritik gegeben, 20 € müssten die Kriminellen ihr Geld in
4,86
auch ein Bürgerrecht ist. heißt es beim Verkehrsverbund, eher 10 € 500-Euro-Scheine wechseln, weil
Die AfD geht mit dem Thema auf Verständnisfragen. Hamburg ist nicht 3,08 sonst der Lagerplatz zu knapp werde.
Stimmenfang und kämpft am lautes- die einzige Stadt, die ihren Busfah- 5€ Wenn das Geld aus dem Schließ-
2,20
ten für die Beibehaltung von Geld- rern das Kleingeldzählen ersparen fach ins Ausland gebracht werden
S Quelle: Deutsche Bundes-
noten und -münzen. »Die anderen möchte. Chemnitz und Mainz haben müsse, stünden der Organisierten


bank, Stand: 31. Dezember 2023

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 51


WIRTSCHAFT

Kriminalität viele Wege offen, etwa indem arbeiten könnten, zur Kartennutzung ver-
die Täter teure Uhren oder Autos kaufen und Mit Karte oder bar? donnern. INSM-Geschäftsführer Thorsten
die Ware über die Grenze schaffen. Ermittler Alsleben fordert »staatliche Leistungen nur
haben damit kaum eine Chance, Geldströme »Wie wichtig ist Ihnen die Möglichkeit, mit noch auf Bezahlkarte, damit der Anreiz grö-
nachzuvollziehen. Huth hat lange für eine Bargeld bezahlen zu können?«, in Prozent ßer ist, eine Arbeit anzunehmen«. Auch der
Bargeldobergrenze von 10.000 Euro ge- sehr wichtig relativ wichtig Stuttgarter CDU-Bundestagsabgeordnete
kämpft, wie sie die neuen EU-Geldwäsche­ nicht so wichtig überhaupt nicht wichtig Maximilian Mörseburg sieht in der Bezahl-
regeln vorsehen. »Ich sehe keinen Grund, weiß ich nicht karte für Bürgergeldempfänger einen Weg,
warum man legale Geschäfte ab einer gewis- Sozialmissbrauch zu verhindern.
sen Höhe nicht mit Buchgeld abschließen soll.« Durchschnitt der 19 Staaten der Eurozone Aber weshalb bei Bürgergeldempfängern
Florian Köbler, Bundesvorsitzender der 27 33 28 12 aufhören? Man braucht nicht viel Fantasie,
Deutschen Steuer-Gewerkschaft, nennt die um sich eine Bezahlkarte für BAföG-Emp-
geplante Bargeldgrenze einen »Gamechan- fänger, Rentner oder Krankengeldempfänger
ger« für Ermittler. Künftig müssten Kriminel- Österreich vorzustellen. Und wird das Kindergeld wirk-
le etwa beim Kauf von Luxusgütern nach- 43 23 16 17 lich fürs Kind ausgegeben?
weisen, dass das Geld aus legalen Quellen Deutschland
stammt. Köbler plädiert für eine Obergrenze 39 30 24 7 Die Verteidiger des Bargelds
von nur noch 1000 Euro – die jüngere Gene- Niederlande Urs Dietrich geht das zu weit. »Bargeld ist
ration tendiere ohnehin zu elektronischen 17 29 40 13 Freiheit«, sagt der 30-jährige Cellist, der Mu-
Zahlungswegen. Das klingt drastisch. Ande- Slowakei
sik an der Essener Folkwang-Universität der
rerseits: In Italien gilt derzeit eine Obergren- 17 29 37 17
Künste studiert und seine Alltagsausgaben
ze von 5000 Euro für Barzahlungen. aus Prinzip am liebsten cash bezahlt. Ihn
Der Wirtschaftswissenschaftler Kenneth stört, was Kriminalisten und Politiker offen-
Rogoff warnte angesichts von Korruptions- Ausgewählte Zahlungsarten im Einzelhandel bar entzückt: die Möglichkeit zur Überwa-
gefahr und Steuerhinterziehung bereits 2016 in Deutschland, in Prozent am Gesamtumsatz chung. Welche Tankstelle er benutze, gehe
vor einem »Fluch des Geldes« – und schlug Bargeld niemanden etwas an.
am Beispiel der USA einen Vierpunkteplan EC-Cash* EC-Lastschrift Kreditkarten Dietrich treibt nicht nur die Sorge davor
zur Abschaffung vor. Zuerst verschwinden um, zum gläsernen Bürger zu werden – es
die großen Banknoten, später kleine Stücke- 2020 gab es erstmals geht ihm auch um ein Stück Kultur. »Wenn
lungen. Zugleich bietet der Staat allen Bür- mehr Kartenzahlungen als ich 200 Euro für einen Auftritt bekomme,
Zahlungen mit Bargeld.
gern ein digitales Pendant an, also etwa ein 60 weiß ich genau, was ich geleistet habe.« Die
Bankkonto oder eine Bezahlkarte. Neue Anzahlung für seine Eheringe habe er so
­Gesetze schützen einerseits die Privatsphäre, 50 Schein für Schein angespart. »Für mich war
sollen Verschleierung aber verhindern. Um 44,8 es etwas Besonderes, das Geld dann auch
Zahlungsausfälle zu vermeiden, sollen Ge- wirklich in der Hand zu halten.«
40
schäfte in Echtzeit abgewickelt werden. Klingt Andreas Spinkler führt in Deutschland die
nach Science Fiction? Für die Asylsuchenden 37,5 Geschäfte von Coinstar – einem Unterneh-
im thüringischen Greiz ist das schon Realität. 30 men, das Münztauschautomaten in Super-
Mit seiner Bezahlkarte für Asylbewerber märkten aufstellt. Kunden kippen ihr gesam-
sorgte der Landkreis deutschlandweit für 20 meltes Kleingeld hinein und bekommen nach
Schlagzeilen. Den Großteil des Geldes gibt Abzug einer Gebühr von knapp zehn Prozent
es dort seit vergangenem Dezember über eine Einkaufsbons, die sie gleich einlösen können.
10 8,2
personalisierte Prepaid-Karte mit dem Mas- Seit 2016 gibt es die Geräte in Deutschland,
tercard-Logo. Die Behörden bekommen nicht mittlerweile stehen hier schon mehr als
nur die Kontrolle darüber, wer das Geld er- 0 6,1 2500 Stück – deutlich mehr als in Italien oder
hält – sondern auch, wo es ausgegeben wird. 2005 2010 2015 2020 Spanien, wo Coinstar zeitgleich startete.
Die Karte ist an die Postleitzahl geknüpft. * beispielsweise Girocard, Maestro, V-Pay
»An manche Standorte in Deutschland
Für Asylbewerber bedeutet das, dass sie habe ich drei Automaten nebeneinanderge-
nur innerhalb des Landkreises mit der Karte Jährliche Girocard-Transaktionen von in stellt – etwa in sozial schwächeren Bezirken
einkaufen können. »Das ist ein massiver Ein- Deutschland ausgegebenen Karten, in Milliarden von Berlin oder Hamburg.« Dort bekämen
griff in den Lebensbereich der Geflüchteten«, die Menschen selbst ihren Lohn zum Teil in
sagt Ellen Könneker vom Thüringer Flücht- 2023 wurden insgesamt bar ausgezahlt. »Wenn man mit seinen Aus-
lingsrat. Freunde in einem anderen Landkreis 8
7,5 Milliarden Zahlungen gaben aufpassen muss, sind Barzahlungen
über Girocard registriert.
zu besuchen sei für die betroffenen Menschen leichter zu handhaben«, sagt Spinkler. In teu-
oft nicht mehr möglich. Der Landkreis sieht ren Vierteln mache Coinstar hingegen keinen
dagegen keine Diskriminierung, die Karte 6 Umsatz. »Nur ärmere Menschen müssen ihr
könne schließlich auf einem Gebiet von Münzglas auch mal leeren.«
843 Quadratkilometern verwendet werden. Auch Frank Schäffler ist bekennender Bar-
4
Andere Landkreise ziehen nach, eine bundes- geldfan. Wenn man ihn danach fragt, zückt
weite Regelung, die Ländern viel Spielraum er gleich sein Handy-Etui, in dem mehrere
lässt, ist auf dem Weg. Bayern möchte ein- 2 Scheine stecken. In einer Bundestagsrede
schränken, für welche Branchen das Karten- nannte er Bargeld etwas pathetisch den »in
guthaben ausgegeben werden darf, also etwa Münzen geschlagenen Teil unserer Freiheit«.
nicht für Onlineshopping, Glücksspiel oder 0 In seiner Partei hatte der FDP-Politiker
Überweisungen ins Ausland. 2014 2016 2018 2020 2022
zwar nie ein wichtiges Amt inne, gelangte
Die Initiative Neue Soziale Marktwirt- aber dennoch zu einiger Prominenz. Während
schaft (INSM), ein Lobbyverein der Arbeit- S Quellen: EZB et al. (2022), Antworten der Befragten für der Eurokrise wurde Schäffler zum lautesten
š

ausgewählte Länder; Handelsverband Deutschland; Deutsche


geber, will auch Bürgergeldempfänger, die Kreditwirtschaft, Stand: Februar 2024 Gegner von Finanzhilfen für Länder wie

52 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


WIRTSCHAFT

­ riechenland, Portugal oder Zypern – die


G
seine Fraktion aber letztlich mittrug. »Damals
ist mir klar geworden, wie leicht der Staat den
Zugriff auf Bankguthaben einschränken
kann.« Auf dem Höhepunkt der Krise wurden
zyprische Banken zeitweise geschlossen und
erlaubten nur geringe Abhebungen am Auto-
maten, dennoch musste die Bundesbank dem
Land per Geheimflug Euronoten im Milliar-
denwert schicken. »Am Geldautomaten gab
es nur noch 100 Euro pro Tag«, erinnert sich
Schäffler, der damals selbst auf Zypern war.
Heute zählt der FDP-Mann zu den weni-
gen Politikern in der Ampelkoalition, die sich
öffentlich zu Bargeldfragen äußern. Zwar hat
auch er das im Koalitionsvertrag vereinbarte
Verbot von Bargeldzahlungen für Immobi-
lienkäufe unterstützt. Für andere Bereiche
lehnt er Obergrenzen aber ab.
Auch FDP-Parteichef und Bundesfinanz-
minister Christian Lindner hält die Bargeld-
obergrenze für eine »unnötige Freiheitsein-
schränkung«, während Innenministerin Nancy
Faeser (SPD) angesichts der Geldwäschegefahr
für das Limit warb. Bei der Ratsab­stimmung
über das entsprechende Gesetzespaket enthielt
sich Deutschland – greifen wird die EU-Ver-
ordnung hierzulande trotzdem. Erwartet wird,
dass sie noch im Sommer veröffentlicht wird.
Bis zur vollständigen Umsetzung dürfte es aber
noch Jahre dauern, heißt es in Berlin.

Die Schlussrechnung
Vielleicht braucht es gar keine finsteren Mäch-
te, um das Bargeld abzuschaffen. Schätzungen
zufolge hat der Durchschnittsdeutsche zwar
noch rund 100 Euro in der Brieftasche, aber
der Anteil der Barzahlungen sinkt rasch. Einer

Mar tin Schoeller / DER SPIEGEL


aktuellen Umfrage der Postbank zufolge kann
sich jeder dritte Deutsche mit der Abschaffung
von Scheinen und Münzen arrangieren – in
der Altersgruppe der 18- bis 39-Jährigen liegt
die Quote bereits bei 57 Prozent.
Die Bundesbank kommt zu dem Schluss,
dass die Akzeptanz des Bargelds bereits im EZB-Chefin Lagarde: Millionen für den digitalen Euro
kommenden Jahrzehnt nicht mehr gewähr-
leistet sein könnte. Die Eurowächter ließen keine Selbstverständlichkeit ist.« Die Bundes- zer einfach und womöglich anonym bezahlen
Zukunftsforscher drei Szenarien entwerfen. bank habe den Auftrag, jederzeit für einen können – unter Privatleuten soll das kosten-
Im ersten ist Bargeld aus dem Alltag der Men- funktionierenden Bargeldkreislauf in Deutsch­ los funktionieren. Viele Details sind noch of-
schen praktisch verschwunden. Weil immer land zu sorgen, sagt Balz. »Deswegen wollen fen. Immerhin gilt als ausgemacht, dass die
mehr Verbraucher digital zahlen, gibt es kaum wir jetzt gegensteuern, bevor es möglicher- Bürger ein weiteres Konto erhalten sollen,
noch Bankfilialen und Geldautomaten. Auch weise zu spät ist.« Fast könnte man meinen, eigens für den digitalen Euro. Die Digital-
das Geldabheben an der Ladenkasse funktio- es gelte, eine bedrohte Tierart zu schützen. währung soll Europas Antwort auf amerika-
niert nicht mehr, weil kaum jemand bar be- Dabei arbeiten sie in Frankfurt schon am nische Zahlungsdienstleister wie Visa, Mas-
zahlt. Im zweiten Szenario gibt es zwar noch Bargeld der Zukunft: Mit Projektausschrei- tercard oder PayPal sein und könnte 2027 an
einige Bargeldnutzer, aber es sind so wenige, bungen in Höhe von mehreren Hundert Mil- den Start gehen. Aber braucht man das?
dass Geldautomaten und Bankfilialen nach lionen Euro lotet die EZB die Einsatzmög- Eigentlich gebe es schon keinen Grund
und nach verschwinden. Das Bargeld, so die lichkeiten eines digitalen Euro aus. Es geht mehr, an Barzahlungen festzuhalten, sagt der
Zukunfts­forscher, »schleicht sich aus«. um eine digitale Form von Geld, mit der Nut- Wirtschaftsforscher Peter Bofinger. Wer bar
Nur in einem Szenario kann sich Bargeld zahle, tue das aus persönlichen Vorlieben –
wirklich behaupten – weil die Politik gegen- oder weil er keine Spuren hinterlassen wolle.
steuert und die Bevölkerung die Vorteile des Digitales »Bargeld« sei deshalb wie »alko­
Bargelds neu entdeckt. Ob da Wunschdenken holfreier Wein«, sagt der Ökonom – es fehle
im Spiel ist? Die Szenarien seien keine Pro­ »Der Erhalt des die wichtigste Zutat, das Physische, das Ech-
gnosen, sondern nur mögliche Entwicklun- Bargelds ist keine Selbst­ te. »Und mal ehrlich: Wer trinkt schon gern
gen, sagt Burkhard Balz, Mitglied des Vor- alkohol­freien Wein?«
stands der Bundesbank. »Unsere Zukunfts- verständlichkeit.« David Böcking, Michael Brächer, Torsten Kleinz,
studie zeigt, dass der Erhalt des Bargelds Burkhard Balz, Bundesbank-Vorstand Marlon Krüger, Leonie Urbanczyk n

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 53


WIRTSCHAFT

»Was bei TikTok funktioniert,


funktioniert auch bei uns«
SPIEGEL-GESPRÄCH Luis von Ahn hat die erfolgreichste Sprachlern-App der Welt entwickelt,
ohne sich mit Sprachen auszukennen. Hier sagt er, wie weit man seine Nutzer
traktieren darf, wenn sie nicht genug üben – und wer noch fleißiger paukt als die Deutschen.

Ahn, 45, ist Unternehmer und Informatikpro- Duolingo-Chef Ahn


fessor. Im Jahr 2009 entwickelte er mit dem
Schweizer Severin Hacker die Sprachbildungs-
plattform Duolingo. Ahn lebt in Pittsburgh im
US-Bundesstaat Pennsylvania.

SPIEGEL: Herr Ahn, »nuqneH!«


Ahn: Wie bitte?
SPIEGEL: So begrüßen sich die Klingonen
aus der Weltraumserie »Star Trek«, wörtlich
heißt das: Was wollen Sie? Das haben wir mit
Ihrer App gelernt.
Ahn: Sorry, ich spreche kein Klingonisch. Aber
wir könnten Schwedisch versuchen. Das ler-
ne ich gerade, weil meine Frau aus Schweden
stammt. Obwohl Schwedisch unter uns gesagt
eine ziemlich nutzlose Sprache ist.
SPIEGEL: Warum das?
Ahn: Weil praktisch jeder in Schweden auch
Englisch spricht. Es ist kompliziert, eine neue
Sprache zu lernen, wenn die Leute aus Höf-
lichkeit immer auf Englisch antworten.
SPIEGEL: Haben Sie deshalb die Sprachlern-
App Duolingo erfunden – damit Sie besser
üben können?
Ahn: Nein, das kam so: Mein Co-Gründer
Severin Hacker und ich haben uns 2011 vor-
genommen, ein Computerprogramm für Bil-
dung zu entwickeln. Severin war auf der Su-
che nach einem Thema für seine Doktor-
arbeit, ich war sein Doktorvater. Er spricht
Deutsch, meine Muttersprache ist ­Spanisch.
Also dachten wir, dass es toll wäre, wenn ich
einen Sprachkurs für ihn ­entwickle, mit dem
er meine Sprache lernen kann, und umge-
kehrt. Das haben wir dann gemacht.
SPIEGEL: Hat es funktioniert?
Ahn: Nicht ganz. Jeden Morgen kam ich ins
Büro und fragte ihn, ob er schon seine Spanisch-
stunden gemacht hat. Und er sagte Nein, weil
es ihn gelangweilt hat. So sind wir auf die Idee
gekommen, daraus einen Wettbewerb zu ma-
chen. Wir haben die Lektionen verkürzt, eine
Rangliste für die Leute in unserem Büro ein-
Nancy Jesse / DER SPIEGEL

geführt und eine Fortschrittsanzeige eingebaut.


Dadurch wurde aus dem Lernen ein Spiel.
SPIEGEL: Weltweit wird Duolingo monatlich
von mehr als 88 Millionen Menschen genutzt

Das Gespräch führte der Redakteur Michael Brächer.

54 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


WIRTSCHAFT

und gilt damit als meistgenutzte SPIEGEL: Klingt nach einem Schwe- SPIEGEL: Sieht so unsere Zukunft aus,
Sprachlern-App der Welt. Wie kann denkrimi. in der Computer uns die Jobs weg-
es sein, dass ein Haufen von Informa- Ahn: Stimmt. Die schrägen Sätze ver- nehmen?
tiknerds so einen Er­folg mit Vokabeln leihen unserer App Charakter. Die Ahn: Da fragen Sie den Falschen.
und Grammatik hat? Menschen erzählen sich davon: Schau Manche glauben, dass KI mehr Jobs
Ahn: Es klingt komisch, aber Duolin- mal, was für eine verrückte Sache ich schaffen wird; andere, dass sie uns
go wurde nur deshalb so ein Erfolg, gelernt habe! Jobs wegnimmt. Ich weiß nicht, wer
weil sich damals keiner von uns für SPIEGEL: Kritiker sagen, dass die Er- am Ende recht behält. Aber ich weiß,
Sprachen interessiert hat. Ein Sprach- wartungen an Apps wie Duolingo dass es Aufgaben gibt, die KI-Model-
liebhaber hätte eine völlig andere völlig überzogen sind, weil man mit le bereits heute sehr gut lösen kön-
App entwickelt. Wir wollten Spra- Menschen sprechen muss, um eine nen.
chen zugänglich machen, damit die Sprache wirklich zu beherrschen. SPIEGEL: Vor der Gründung von Duo-
App auch für Menschen wie uns funk- Ahn: Es stimmt, dass wir in der Ver- lingo haben Sie Captcha mitentwi-
tioniert, die sonst eher mit Codes und gangenheit nicht sonderlich gut darin ckelt. Das ist ein Test, der feststellen
Zahlen arbeiten. waren, den Menschen das aktive soll, ob ein Nutzer wirklich ein
SPIEGEL: Ihre App traktiert die Nutzer Sprechen beizubringen. Aber wir Mensch ist oder ein Bot.
regelmäßig: Es gibt Erfahrungspunk- arbeiten gerade daran. Darf ich Ihnen Ahn: Sorry!
te, Ranglisten und penetrante Smart- etwas zeigen? SPIEGEL: Sie wissen, was jetzt kommt,
phone-Erinnerungen an die nächste Ahn zückt sein Smartphone und star- oder? Ihre Erfindung treibt viele
Lektion. Viele Nutzer fürchten, ihren tet eine App. Auf dem Bildschirm er- Menschen zur Verzweiflung, weil sie
Streak zu verlieren, also ihre Lern- scheint eine Comicfigur namens Lily. auf Fotozusammenstellungen Zebra-
serie abreißen zu lassen. Sind An- Sie trägt Gothic-Kleidung und sieht streifen erkennen oder Busse identi-
stupser Teil Ihres Geschäftsmodells? ziemlich schlecht gelaunt aus. fizieren müssen, um zu beweisen,
Ahn: Wir nutzen die gleichen Stra­te­ Lily: (auf Französisch) Salut, ich habe dass sie keine Roboter sind.
gien wie Handyspiele oder soziale Me­ eine Frage für dich: Wie suchst du dir Ahn: Ich weiß, dass das Captcha
dien, um die Leute bei der Stange zu ein Restaurant aus? furchtbar nervig ist. Auch ich schei-
halten. Was bei TikTok oder Instagram Ahn: (in gebrochenem Französisch) Ich tere manchmal daran.
funktioniert, funktioniert auch bei uns. wähle ein Restaurant, das hervorra- SPIEGEL: Das Captcha ist ein Turing-
SPIEGEL: Haben Sie dabei kein gendes Essen hat! test, also ein Weg, um Menschen und
schlechtes Gewissen? Lily: Ah, gutes Essen ist wichtig. Wel- Computer zu unterscheiden. Wie lan-
Ahn: Nein, ich fühle mich gut dabei. che Küche schmeckt dir am besten? ge wird es dauern, bis die künstliche
Wir bringen den Leuten etwas bei. Ahn: Ich mag mexikanische Küche. Intelligenz diese Hürde nimmt?
SPIEGEL: Ihr Maskottchen, eine Eule Lily: Hast du schon mal vegetarische Ahn: Nicht mehr lange. Aufgaben, die
namens Duo, ist zu einem Internet- Küche versucht? vor 20 Jahren noch unlösbar für Al-
Meme geworden, weil es die Men- Ahn: Nein, ich liebe Fleisch! gorithmen waren, sind heute kein
schen regelrecht dazu nötigt, ihre Ahn: (zum Reporter) Sehen Sie, das Problem. Eines Tages werden Com-
Lektionen zu machen. funktioniert ausgezeichnet! puter auch das beste Captcha lösen
Ahn: Das Meme haben wir uns nicht Lily: Also, ich mag Gemüse. können. KI wird uns in vielen Diszi-
ausgedacht, das waren die Nutzer. Ahn: Wir hören hier jetzt auf. Jeden- plinen nicht nur ebenbürtig, sondern
Aber es stimmt, dass Duo eine sehr falls sprechen die Leute gern mit Lily, überlegen sein.
fordernde Eule sein kann. weil sie nicht fürchten müssen, von SPIEGEL: Wann wird es so weit sein?
SPIEGEL: Wie zufrieden ist Duo mit ihr beurteilt zu werden. Ahn: Ich weiß nicht, ob es 5, 10 oder
den Deutschen? SPIEGEL: Das klang jetzt aber anders. 50 Jahre sein werden, aber der Tag
Ahn: Deutschland ist unser drittgröß- Ahn: (lacht) Stimmt, aber diese Lek- wird kommen.
ter Markt, hinter den USA und Bra- tionen werden sehr gut angenommen. SPIEGEL: Was machen wir Menschen
silien. Die Deutschen sind fleißige SPIEGEL: … und doch sind sie irgend- aus unserem Leben, wenn es super-
Lerner, die Japaner sind noch fleißi- wie unheimlich, weil man mit einer intelligente Algorithmen gibt?
ger. Sie haben die längsten Streaks. Maschine spricht. Ahn: Das weiß ich nicht. Vielleicht
SPIEGEL: Und wer ist am faulsten? Ahn: Wir haben festgestellt, dass die arbeiten wir mit den Computern zu-
Ahn: Lateinamerikaner. Ich weiß, wo- Menschen lieber mit einem fiktiven sammen, vielleicht behandeln wir sie
von ich spreche, ich stamme aus Gu- Charakter sprechen, als mit einem wie Sklaven – so wie die Griechen,

88,4
atemala. Wir lassen die Dinge manch- anderen Menschen zu üben, der die die sich auf Poesie und Philosophie
mal schleifen. Sprache besser beherrscht. Das macht konzentrierten, während andere die
SPIEGEL: Viele Nutzer wundern sich, sie nervös. Deshalb nutzen wir körperliche Arbeit übernahmen.
welche Sätze Ihre App ihnen bei- ChatGPT, damit unsere Nutzer das SPIEGEL: Was, wenn wir die Sklaven
bringt. Wozu muss man wissen, was Sprechen in einer geschützten Um-
Millionen der Maschinen werden?
»Der Bär hat eine Ente zur Welt ge- gebung üben können. Ahn: Ich glaube, dass wir die Compu-
bracht« auf Norwegisch heißt? SPIEGEL: Sie haben sich von Über- Nutzer waren ter beherrschen können. Aber sicher
Ahn: Moment! Wir bringen den Leu- setzern getrennt, weil jetzt künstliche zuletzt bei weiß ich das natürlich auch nicht.
ten auch normale Sätze bei wie: »Hal- Intelligenz deren Arbeit übernimmt. SPIEGEL: Sollten wir künstliche Intel-
lo, wie geht es dir?«. Aber es stimmt, Ahn: Das waren keine Mitarbeiter von Duolingo ligenz stärker regulieren, so wie es die
dass es ein paar schräge Sätze in unse- uns, sondern freie Auftragnehmer. mindestens Europäische Union gerade mit dem
ren Lektionen gibt, ich hatte gerade
selbst einen in unserem Schwedisch-
Früher waren sie in erster Linie dafür
zuständig, die Lektionen in unter-
einmal im weltweit ersten KI-Gesetz vorhat?
Ahn: Selbst wenn Europa oder die
kurs. schiedliche Sprachen zu übersetzen. Monat aktiv. USA die KI-Entwicklung einschrän-
SPIEGEL: Welcher Satz war das? Heute übernimmt das ein ­KI-Modell. Quelle: Duolingo-
ken würden, könnten andere Staaten
Ahn: »Hinter dem Bett liegt der Kör- Wir haben uns deshalb von etwa zehn Quartalsbericht moderne Systeme ungehindert um-
per ihres Ehegatten«, oder so ähnlich. Prozent dieser Kräfte getrennt. 4/2023 setzen. Ich glaube, dass solche ­Regeln

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 55


WIRTSCHAFT

Duolingo-Börsengang in Ahn: Ich denke nicht viel über Geld nach. Ich
New York im Sommer 2021 habe alles gekauft, was ich kaufen wollte.
­Meine Frau hätte gern ein Sommerhaus am
Strand, das ist die einzige Sache, die noch
fehlt. Aber ich schätze, dass ich mich nicht
mehr lange wehren kann.
SPIEGEL: Stimmt es, dass man mit plötzlichem
Reichtum viele falsche Freunde bekommt?
Ahn: Es stimmt. Mir gefällt das nicht. Ich ken-
ne beide Welten. Als ich mit 18 zum Studieren
nach Amerika kam, habe ich mir jeden Monat
Sorgen ums Geld gemacht und mich gefragt,
ob ich die nächste Miete zahlen kann. Das
kostet unglaublich viel Energie: Kann ich es
mir leisten, ins Restaurant zu gehen? Ich war
nicht arm, aber ich habe ständig über solche
Dinge nachgedacht.
SPIEGEL: Ihre Heimat Guatemala ist eines der
ärmsten Länder in Lateinamerika.
Ahn: Es gibt in Guatemala bis heute sehr viel
Armut und Kriminalität. Als ich klein war,
Duolingo

tobte ein Bürgerkrieg. Zum Glück habe ich


nicht viel davon gemerkt, weil ich in Guate­
nicht verhindern werden, dass irgendjemand Ahn: Das stimmt, wir haben etwa eine Mil- mala-Stadt aufgewachsen bin. Die schlimms-
eines Tages eine solche superintelligente KI liarde Euro auf der Bank. Jetzt müssen wir ten Kämpfe haben sich außerhalb abgespielt.
entwickeln wird. schauen, was wir damit anfangen. Aber ich habe selbst erlebt, welchen Unter-
SPIEGEL: KI bedroht auch Ihr Geschäftsmo- SPIEGEL: Im vergangenen Jahr haben Sie mit schied es macht, welche Bildung man ge-
dell. Schon jetzt können moderne Smart- Duolingo mehr als eine halbe Milliarde Dol- nießt.
phones gesprochene Worte nahezu in Echtzeit lar umgesetzt. Dabei sind Sie einst mit dem SPIEGEL: Sie haben eine Privatschule besucht.
in ande­re Sprachen übersetzen. Wozu Spra- Versprechen gestartet: Freunde lassen Freun- Ahn: Aber wir waren nicht reich. Meine Mut-
chen lernen, wenn der Computer dolmetscht? de nicht für Sprachausbildung bezahlen. Was ter war Ärztin, da verdient man in Guatema-
Ahn: Da mache ich mir keine großen Sorgen. wurde aus Ihren Vorsätzen? la nicht so gut wie etwa in den USA, sondern
Wir haben zwei große Nutzergruppen: Die Ahn: Irgendwann kamen wir an einen Punkt, gehört zur Mittelklasse. Weil ich ein Einzel-
eine lernt Sprachen als Hobby, da spielt es an dem wir ein tragfähiges Geschäftsmodell kind war, konnte meine Mutter ihr gesamtes
keine Rolle, was Computer können. Man entwickeln mussten. Man kann unsere App bis Geld in meine Bildung investieren. Ich habe
spielt ja auch Schach, obwohl Computer in- heute gratis nutzen, man muss sich dann nur eine sehr gute Ausbildung genossen. Ich­
zwischen exzellente Schachspieler sind. die Werbung ansehen. Wenn man das nicht hatte Glück, und ich bin mir dessen sehr be-
SPIEGEL: Und die andere Gruppe? möchte, kann man ein Abo abschließen. wusst.
Ahn: Das sind die Leute, die Englisch lernen, SPIEGEL: Geht diese Rechnung auf? SPIEGEL: Wie ist es für Sie, wenn Sie heute in
weil sie es für die Schule, die Universi­tät oder Ahn: Rund 80 Prozent unserer Erlöse stam- Ihre Heimat reisen – als vielleicht reichster
den Job benötigen. Und da sind Überset- men aus Abos, weniger als zehn Prozent aus Mensch des Landes?
zungs-Apps kein guter Ersatz. Selbst die bes- Werbung. Vor allem gut situierte Menschen Ahn: Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich
te Liveübersetzung braucht einen Moment, sind bereit, für unsere App zu bezahlen. Wir der reichste Mensch in Guatemala bin. Viele
bis sie weiß, wie ein Satz zu Ende geht. Das haben viele Nutzer in reicheren Staaten wie Menschen verdienen ihr Geld mit Drogen und
ist wie ein Zoom-Call, in dem die Antwort Deutschland, der Schweiz und den USA. Die tauchen nicht in den Reichenlisten auf. Wenn
fünf Sekunden zu spät kommt. Wir Menschen meisten Gratisnutzer gibt es in ärmeren Län- ich meine Heimat besuche, brauche ich viele
sind einfach schneller. dern wie Brasilien oder Vietnam. Unsere App Sicherheitsleute, die auf mich aufpassen. Aber
SPIEGEL: So ganz scheinen Sie der Sache nicht ist also eine Vermögensumverteilung. Die ich hoffe, dass sich die Dinge unter der neuen
zu trauen. Sie bieten mit Duolingo jetzt auch reichen Leute zahlen die Bildung für alle. Regierung zum Besseren wenden.
Mathematik- und Musikstunden an. SPIEGEL: Wollen Sie uns Ihr Geschäftsmodell SPIEGEL: Die Präsidentschaftswahlen hat der
Ahn: Sprachenlernen bleibt wichtig, aber wir als sozialistische Idee verkaufen? Sozialdemokrat Bernardo Arévalo gewonnen,
erweitern unser Angebot. Bei unserer Mathe- Ahn: In unserem Gründerteam gab es viele dessen Wahlkampf Sie finanziert haben.
matik-App geht es in erster Linie um einfache Leute mit linken Ideen. Außer meinem Co- Ahn: Ja, etwa die Hälfte des Wahlkampfbud-
Themen: Brüche, Prozentrechnung, solche Gründer Severin, der ist lupenreiner Kapita- gets kam von mir. Und ich bin froh, dass er
Sachen. Später sollen Algebra und Formeln list. Aber er kommt ja auch aus der Schweiz. es geschafft hat.
dazukommen. Wir wollen unseren Nutzern SPIEGEL: Ihr Unternehmen wird an der Börse SPIEGEL: Es gibt Firmengründer, die Men-
all das beibringen, was man an einer weiter- mit fast zehn Milliarden Dollar bewertet. Sie schen zum Mars bringen wollen, so wie Tesla-
führenden Schule lernen würde. sind 45 Jahre alt und Multimillionär. Welche Chef Elon Musk. Andere wollen dem Tod ein
SPIEGEL: Für Mathematik, Musik und andere Rolle spielt Geld in Ihrem Alltag? Schnippchen schlagen, so wie Amazon-Grün-
Fächer gibt es bereits erfolgreiche Lern-Apps. der Jeff Bezos. Was wollen Sie?
Wie wollen Sie sich behaupten? Ahn: Meine Ziele sind irdisch. In meiner Hei-
Ahn: Wir können mit unseren neuen Ange- mat können rund 16 Prozent der Menschen
boten eine große Nutzerbasis erreichen. In
den USA sind wir schon jetzt eine der meist-
»Unsere App ist eine nicht lesen. Dabei verfügen wir über die
­Mittel, um das zu ändern. Jeder auf der Welt
genutzten Musiklern-Apps. Vermögensumverteilung. sollte die Chance bekommen, grundlegende
SPIEGEL: Sie haben nicht nur viele Nutzer,
sondern dank eines Börsengangs auch jede
Die reichen Leute Dinge zu lernen. Das ist mein großer Wunsch.
SPIEGEL: Herr Ahn, wir danken Ihnen für
Menge Cash. zahlen die Bildung für alle.« ­dieses Gespräch.  n

56 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


WIRTSCHAFT

Staat im Staat
ENERGIE Pfusch am Reaktor, ausufernde Kosten – und jetzt kündigt sich beim Atomkonzern EDF
das nächste Milliardenfiasko an. Trotzdem bleibt das Unternehmen unantastbar.

N
ur ein Wunder kann Luc Rémont jetzt reaktor vom Typ EPR (European Pressurized reichs ganzer Stolz. Heute steht er im Mittel-
vor der Blamage bewahren. Vor weni- Water Reactor). Mit Baukosten von mindes- punkt der von Präsident Emmanuel Macron
gen Wochen noch hat er versichert, der tens 19,1 Milliarden Euro wird Flamanville 3 ausgerufenen Atom-Renaissance des Landes.
Reaktorneubau Flamanville 3 werde bis Ende auch fast sechsmal so teuer wie anfangs ver- Doch in den vergangenen Jahren machte EDF
März mit Brennstäben bestückt – »und im anschlagt. vor allem mit Pleiten, Pech und Pannen von
Sommer ans Netz gehen«. Doch Frankreichs Wenn der Reaktor eines Tages tatsächlich sich reden.
Atomaufsicht ASN düpiert den Chef des läuft, dürfte die Erleichterung bei Rémont Baumängel und Geldnot sind Normalität
Energiekonzerns EDF. groß sein. In der Pariser EDF-Zentrale ist bei EDF. In Flamanville kam zu den ausufern-
Die Behörde lässt sich viel Zeit bei der zu sehen, wie er sich die Zukunft vorstellt. den Kosten Pfusch an der Reaktorhülle und
Überprüfung eines Heizkessels in dem AKW- Ein Atomidyll ist dort an die Wand proji- Schlamperei an Schweißnähten hinzu. Der
Block auf der französischen Halbinsel Coten- ziert: friedlich in der Abendsonne vor sich Start des britischen EDF-Meilers Hinkley
tin am Ärmelkanal. Deswegen reißt Rémont hin dampfende Kühltürme in saftig-grüner Point C verzögert sich ebenfalls um Jahre.
aller Voraussicht nach die selbst gesetzte Frist. Landschaft. 12,9 Milliarden Euro muss der Konzern wegen
Ob Flamanville 3 nur ein paar Wochen Rémont, ein Mann mit kurzem Bürsten- des Projekts abschreiben.
später ans Netz geht oder ob es länger dauert, haar und weiten Anzügen, steht seit gut einem Die vermeintlichen nuklearen Vorzeige-
ist unklar. Fest steht: EDF, der größte Strom- Jahr an der EDF-Spitze. Seine Mission, wie projekte geraten zu Milliardenflops. Für das
hersteller der Welt, bleibt sich treu. Bereits er es nennt, ist die Wiederaufrichtung von Unternehmen, seit 2023 wieder zu 100 Pro-
zwölf Jahre Verspätung hat der Druckwasser- EDF. Der Staatskonzern war früher Frank- zent in Staatsbesitz, hat das kaum Konse-

EDF

EDF-Reaktor Hinkley Point C in Großbritannien: Der Start verzögert sich um Jahre

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 57


WIRTSCHAFT

quenzen. Frankreichs Glaube an die Atom- nalen Stromhandel die Preise in die Höhe risiken des britischen Atomabenteuers allein
energie scheint unerschütterlich, Debatten schnellten. Gleichzeitig musste EDF auslän- geradestehen. Der chinesische Partner CGN
über ihre Wirtschaftlichkeit werden kaum dischen Strom teuer zukaufen, da phasen- schießt kein frisches Geld nach.
geführt. Im Gegenteil: Macron will sechs EPR- weise die Hälfte der bestehenden AKW we- Der Vertrag zu Hinkley Point C war 2016
Meiler bei EDF bestellen, mit Option auf wei- gen Korrosionsschäden und Wartungsarbei- von dem Wunsch getragen, das Export­
tere acht. Umfragen offenbaren dafür Unter- ten ausfiel. geschäft der französischen Atomindustrie
stützung in der Bevölkerung. Die Reaktoren Ende 2023 vereinbarte die Regierung mit ­anzuschieben; es hatte seit dem Reaktorunfall
gelten in Frankreich als klimaschonende Ga- EDF ein neues Tarifsystem. Es soll dem Kon- von Fukushima 2011 gelitten. Das kommt die
ranten nationaler Souveränität. zern kostendeckende Preise um 70 Euro je Franzosen heute teuer zu stehen. Die britische
Geld spielt dabei offensichtlich keine Rol- Megawattstunde sichern. Kann das auf Dau- Regierung hat EDF zwar einen Garantiepreis
le. Das sonderbare Staatskombinat EDF kann er wirtschaftlich sein? Strom aus erneuer­ für den Atomstrom zugesagt. Dennoch muss
sich alles erlauben. Es wirkt wie ein verwöhn- baren Quellen ist heute schon günstiger als Rémont jetzt mit London nachverhandeln.
tes Lieblingskind, das ständig aus der Rolle Atomstrom. Sinken die Preise im europäi- Dass Hinkley Point ein Debakel werden
fällt, aber immer gerettet, immer entschuldigt schen Großhandel weiter, wie Experten er- könnte, hatte schon der frühere EDF-Finanz-
wird. Denn EDF, also Électricité de France, warten, sind EDF-Kernkraftwerke schlicht vorstand Thomas Piquemal befürchtet. Er trat
ist für Frankreich mehr als ein Unternehmen. nicht konkurrenzfähig. Im Geschäft mit Son- 2016 zurück, weil er nicht vertretbare wirt-
»Es ist Staatsräson, weil Atomkraft Staats- nen- und Windkraft aber hält sich der Atom- schaftliche Risiken sah: »Wer würde 70 Pro-
räson ist«, sagt einer, der den Konzern von konzern zumindest auf dem französischen zent seines Vermögens in eine Technologie
innen kennt, aber seinen Namen nicht ver- Heimatmarkt bisher zurück. investieren, von der wir nicht wissen, ob sie
öffentlicht sehen möchte. Wer EDF infrage Rémonts Vorgänger, der 2022 vorzeitig ab- funktioniert?«, sagte Piquemal damals. Aus
stellt, stellt den Staat infrage. »Ohne den gelöst wurde, hatte sich gegenüber der Regie- den Problemen bei Flamanville 3 und ähn­
Steuerzahler im Rücken wäre das Unterneh- rung gelegentlich renitent gezeigt. Der stoi- lichen Reaktoren in Finnland und China hät-
men längst pleite.« sche Luc Rémont gilt als fügsamer. Der Inge- te der Konzern die Lehre ziehen können, dass
EDF ist vom Staat abhängig – und Frank- nieur war zuletzt beim französischen Techno- der Druckwasserreaktor EPR, einst von den
reich von den 56 Reaktoren, die EDF betreibt. logiekonzern Schneider Electric, bringt aber Franzosen mit Siemens entwickelt, kein Er-
Sie decken zwei Drittel des Strombedarfs im die nötige Staatsnähe mit: Er arbeitete früher folgsmodell ist.
Land. Wegen seiner Bedeutung für die Ener- im Wirtschaftsministerium. Dort lernte er Auch sonst hätte es reichlich Gelegenheit
gieversorgung gilt für den Konzern »too big Alexis Kohler kennen, heute der mächtige gegeben, aus Fehlern zu lernen. Im Herbst
to fail«. Anders ausgedrückt: Der Versorger, Chef von Macrons Präsidialverwaltung. Als 2016 erzwang die französische Atomaufsicht
der 54,4 Milliarden Euro an Nettoverschul- EDF-Lenker werde Rémont einmal im Monat den Betriebsstopp von zwölf Reaktoren, weil
dung ausweist, wird um jeden Preis am Leben von Kohler zum Rapport in den Pariser Ély- sie mangelhaften Stahl in Druckbehältern ge-
gehalten. 137.000 Mitarbeiter zählt er allein sée-Palast zitiert, schreibt das Pariser Polit- funden hatte. 2022 führten unter anderem
in Frankreich. Bis 2033 will die von EDF do- magazin »L’Obs«. Korrosionsprobleme an einem großen Teil
minierte Atombranche in Frankreich jährlich Die Firmenzentrale liegt unweit des der Meiler zu einem Verlust von fast 18 Mil-
etwa 10.000 Mitarbeiter neu einstellen. Triumphbogens. In einem fensterlosen Kon- liarden Euro bei EDF. Für die nötigen Repa-
Und auch für seine Kernwaffen stützt sich ferenzraum preist Rémont an diesem Morgen raturen mussten etwa 100 Spezialschweißer
das Land auf EDF: Wie Mitte März verkündet die Vorzüge der Atomkraft. Mit Flamanville aus den USA und Kanada eingeflogen wer-
wurde, soll das westfranzösische AKW Ci- hält er sich nicht lange auf. Und die Probleme den. Im Frühjahr 2023 wurde im Reaktor
vaux Tritiumgas für den Einsatz in Atom- mit Hinkley Point C hält er für lösbar. »Das Penly 1 in der Normandie ein tiefer Riss in
sprengkörpern produzieren. Projekt bleibt für EDF profitabel«, behauptet einem Notkühlsystem entdeckt. Wie sich
Die Atomindustrie dürfe »kein Staat im der Firmenchef. ­herausstellte, war dies kein Einzelfall.
Staat« sein, schimpfte Macrons Wirtschafts- Im Januar musste der Konzern eine Ver- Dass der Konzern offenbar nur bedingt
minister Bruno Le Maire einmal. Doch die spätung beim Bau einräumen, zum dritten Mal dazulernt, liegt auch daran, dass der Staat
Lobbymacht des Staatsbetriebs EDF zeigt schon. Der britische Meiler, der ursprünglich immer wieder in die Tasche greift, um die
sich auch in Le Maires Politik und der seiner 2025 fertig sein sollte, wird frühestens 2029 Folgen der Misswirtschaft auszugleichen.
Regierungskollegen. abgeliefert, vielleicht erst 2031. Der Zeitverzug Zehn Milliarden Euro an frischem Geld steck-
Erst gelang es dem Konzern, die lange hat die Kosten in die Höhe getrieben, sie könn- te die Regierung allein in den Zehnerjahren
­beschlossene Abschaltung des umstrittenen ten sich umgerechnet auf rund 53 Milliarden in EDF und den Kraftwerksbauer Areva, der
AKW Fessenheim um Jahre hinauszuzögern. Euro summieren. EDF muss für die Finanz­ inzwischen großteils in EDF aufgegangen ist.
Erst 2020 ging es vom Netz. Das Aus für das Die vollständige Verstaatlichung von EDF
Kraftwerk am Oberrhein galt einst als Zu­ kostete im vergangenen Jahr noch einmal
geständnis an Frankreichs Grüne und an Verlustgeschäft rund zehn Milliarden Euro. Dieses Geld muss
Deutschland. Dann strich Macron das unter Frankreich, dessen Neuverschuldung sich auf
seinem Amtsvorgänger beschlossene Ziel, EDF-Aktienkurs, in Euro 5,5 Prozent des Staatshaushaltes beläuft, an
höchstens die Hälfte des französischen Stroms 80 anderer Stelle mühsam einsparen.
aus Kernenergie zu beziehen. Die Atomkraft Die Pariser Nationalversammlung richtete
soll nicht begrenzt sein. vor anderthalb Jahren einen Untersuchungs-
Wer hier wen beherrscht – der Staat den 60 ausschuss ein, um zu ergründen, wie es so
Konzern oder umgekehrt –, ist selbst Insidern weit kommen konnte. Die Abgeordneten be-
nicht immer klar. Im Juni 2023 erwarb die Letzte Börsennotierung nannten viele Ursachen des Fiaskos. Es man-
40 vor Verstaatlichung:
französische Regierung an der Börse zum Ra- gele an Atomfacharbeitern, die AKW-War-
8. Juni 2023
battpreis die ausstehenden 16 Prozent an EDF 12,00 tungszeiten seien zu lang, weshalb die Meiler
zurück, die sie 2005 im Zuge eines Börsen- 20 über Monate stillstünden. Die Europäische
gangs verkauft hatte. Private Investoren hat- Erstnotierung: Union schmähe die Atomkraft. Dass EDF wo-
ten sich schon lange abgewandt – auch weil 18. Nov. 2005 möglich zu wenig wirtschaftlich geführt wird,
0 28,37
der Staatseinfluss die Erträge hemmte. So war für die Parlamentarier dagegen kaum
vergatterte Le Maire EDF in der Energiekrise, 2005 2015 2023 Thema. »Technik und Politik spielen bei die-
die Tarife zu deckeln, während im internatio- S Quelle: Refinitiv Datastream, Monatsschlusskurse sem Unternehmen immer eine größere Rolle


58 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


WIRTSCHAFT

Strom liefern. Das ist der bisher konkreteste


Ausdruck der »nuklearen Renaissance«, die
Emmanuel Macron ausgerufen hat.
Auch die Wiederaufbereitungsanlage La
Hague soll länger laufen – bis ins Jahr 2100.
Dort sollen noch Brennelemente der nächsten
AKW-Generation aufbereitet werden. Also
jener EPRs, von denen sich Macron neben
Flamanville mindestens sechs weitere Exem-
plare wünscht. Das erste von ihnen soll 2035
in Penly am Ärmelkanal ans Netz gehen. In
diesem Sommer will EDF damit beginnen,
die Kreidefelsen abzutragen, um Platz zu
schaffen. Rémont warnt bereits, sein Konzern
könne die neuen Druckwasserreaktoren nicht

Christophe Petit Tesson / EPA


allein finanzieren.
Die altbekannte Spirale aus Verzögerun-
gen und Verteuerungen setzt sich erneut in
Gang. Es wirkt wie ein Déjà-vu: Die Pläne
für das Reaktordesign verspäten sich. Die
Kostenschätzung für die sechs neuen Meiler
EDF-Chef Rémont, Minister Le Maire*: Beherrscht der Staat den Konzern oder umgekehrt?
wurde EDF-intern gerade um 30 Prozent auf
67 Milliarden Euro hochgeschraubt, so die
Pariser Wirtschaftszeitung »Les Echos«. EDF
dementiert nicht. Kein Wunder angesichts der
Kosten für Flamanville 3 und Hinkley Point C.
»EDF muss lernen, die Kosten und den
Zeitplan einzuhalten«, schimpft Bruno Le
Maire. Wieder einmal. Wie zum Beweis, dass
er sich nicht alles gefallen lasse, lud sich der
Wirtschaftsminister jüngst sogar selbst in eine
EDF-Vorstandssitzung ein. Ernsthafte Folgen
jedoch muss der Konzern nicht fürchten. Auch
den Rückstand beim Ausbau von Wind- und
Solarenergie nimmt die Regierung einfach
hin. Dabei möchte Macron das Ziel klima-
neutraler Stromproduktion nicht nur mit­hilfe
der Kernkraft, sondern auch durch den Aus-
bau erneuerbarer Energien erreichen.
Das deutsche Modell, das Strom aus Wind
Ludovic Marin / AFP

und Sonne als Ersatz für die Atomkraft ver-


steht, findet in Frankreich kaum Anhänger.
Regelmäßig liefern sich Paris und Berlin auf
EU-Ebene erbitterte Kämpfe, etwa um die
Energiepolitiker Rémont, Macron: Geld spielt offensichtlich keine Rolle
sogenannte Taxonomie. Das EU-Regelwerk
definiert, welche Energien als nachhaltig gel-
als Risiken und Wirtschaftlichkeit«, sagt der Staatsräson und Monopoldenken hätten ten dürfen und damit als grünes Investment
Konzernkenner. Noch heute herrsche im über Jahre eine autoritäre Unternehmens- infrage kommen. Deutschland hätte die
Unternehmen »Monopoldenken«. kultur hervorgebracht, die Intransparenz und Atomkraft gern ausgeschlossen, konnte sich
Bis die EU-Kommission Ende der Neun- Misswirtschaft begünstige, glauben Kritiker aber gegen den Widerstand Frankreichs nicht
zigerjahre die Öffnung der Strommärkte an- wie der frühere grüne Umweltminister Fran- durchsetzen.
ordnete, war das Land mit seinem Monopolis- çois de Rugy. »Alle dort halten den Mund, Paris ging es nicht zuletzt darum, seinem
ten gut gefahren. Der subventionierte Atom- weil sie fürchten, für schlechte Nachrichten Atomkonzern den Zugang zum Anleihen-
strom stützte jahrzehntelang Frankreichs verantwortlich gemacht zu werden«, sagte de markt offenzuhalten. Der frühere EDF-Chef
Wirtschaft und Konsum. Rugy einmal. In einem solchen Umfeld wür- Henri Proglio verstieg sich gar zu dem Vor-
1946 war EDF als Staatskonzern gegründet den Probleme nicht oder zu spät erkannt. wurf, Deutschland habe es auf die Vernich-
und zunächst von Kommunisten geführt wor- Oder vertuscht. 2021 verklagte ein Manager tung des Unternehmens abgesehen: »Die
den. Der Betrieb setzte damals vor allem auf das Unternehmen, weil es angeblich melde- Deutschen sind seit 30 Jahren besessen da-
den Bau von Wasserkraftwerken. Nach dem pflichtige Vorfälle im südfranzösischen AKW von, EDF zu zerstören«, polterte Proglio.
Ölpreisschock von 1973 folgten die Atom- Tricastin verheimlicht und verharmlost hatte, Sein später Nachfolger Rémont muss nun
kraftwerke. Sie waren eine Ableitung der darunter eine Überschwemmung, bei der darauf hoffen, dass er Flamanville 3 in den
militä­rischen Kernspaltung, ein ziviles Neben- Radio­aktivität freigesetzt worden sei. nächsten Monaten ans Laufen bekommt.
produkt der Bombe. Pro Jahr gingen bis Die Klage hielt die Atomaufsicht ASN 2026 nämlich, das steht schon fest, muss er
zu fünf neue Reaktoren in Bau. Von so viel nicht davon ab, vor einigen Monaten eine den Meiler wieder vom Netz nehmen.
Effizienz können die Manager von heute Laufzeitverlängerung von Tricastin zu be- Dann muss der Deckel des Reaktordruck-
nur träumen. willigen. Technisch sind die existierenden behälters ausgetauscht werden. Wegen
EDF-Reaktoren auf 40 Jahre ausgelegt, nun Pfuschs am Bau.
* Beim AKW Penly in der Normandie im Dezember 2022. sollen möglichst viele 50 Jahre und länger Leo Klimm n

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WIRTSCHAFT

Aufrüsten für den Wohlstand


ESSAY Deutschland ist derzeit nicht verteidigungsfähig, und die Wirtschaft lahmt. Der Staat sollte aus dieser
Not eine Tugend machen und mit Ausgaben für Rüstung das Wachstum ankurbeln. Von Moritz Schularick

V
iele in der Berliner Politik Angriff auf die Ukraine beschlossen ausgaben bis zum Ende des Jahr­
­ahnen es schon, aber noch hat, ist bald aufgebraucht. Im zehnts auf 150 Milliarden Euro
wollen sie es nicht wahr­ ­Finanzrahmen für den regulären jährlich realistisch. Das entspricht
haben. Dabei führt kein Weg mehr Bundeshaushalt stehen für die in etwa einer Erhöhung um ein zu­
daran vorbei: Wir müssen in den nächsten Jahre nur gut 50 Milliar­ sätzliches Sondervermögen – aller­
kommenden Jahren deutlich mehr den oder 1,3 Prozent des BIP. Mit dings pro Jahr.
Andreas Pein / laif

in Sicherheit investieren. Deutsch­ dem Investitionsbedarf der Bundes­ Investitionen in unsere Sicher­
land und Europa müssen aufrüsten, wehr in der aktuellen Lage hat das heit in diesem Umfang würden uns,
auch wenn die Konsequenzen wenig zu tun. relativ zu unserer Wirtschaftsleis­
Schularick, Jahrgang
für die Staatsfinanzen dramatisch Wenn im November der sicher­ tung, gerade einmal auf das Niveau
1975, ist Professor sein ­werden. heitspolitisch irrlichternde Donald der USA bringen, die aktuell rund
für Volkswirtschafts- Meldungen über nicht einsatzbe­ Trump wieder ins Weiße Haus 3,5 Prozent ihres BIP für Verteidi­
lehre und Präsident reites Gerät, über Munitionsmangel ­einzieht, stehen Deutschland und gung ausgeben. Und dies, obwohl
des Kiel Instituts für
Weltwirtschaft.
und fehlende technologische Fähig­ Europa möglicherweise ohne eine die USA von Putins Regime unmit­
keiten der Bundeswehr gehören verlässliche Rückversicherung telbar kaum bedroht sind und sie
zum Alltag in einer Zeit, in der die durch den Verbündeten da und sind ihre Verteidigungsfähigkeit in den
Bedrohung Europas so real ist wie erpressbar. Trump weiß um diese vergangenen Jahrzehnten nicht
seit den heißen Tagen des Kalten Erpressbarkeit. Er wird die Unsi­ im gleichen Ausmaß vernachlässigt
Krieges nicht mehr. Und ähnlich cherheit über den Bestand der ­haben wie Deutschland.
wie bei der Deutschen Bahn lassen ­amerikanischen Sicherheitsgarantie

U
sich die Folgen jahrelanger Unter­ bewusst schüren und als Verkaufs­ nser östlicher Nachbar Polen
finanzierung nicht über Nacht argument für US-Rüstungs­ wird in Zukunft sogar vier
­beheben. konzerne nutzen. »Buy American« Prozent seines BIP für die
In Zeiten des Kalten Krieges (»Kauft in Amerika«) wird seine Landesverteidigung ausgeben.
­lagen die Ausgaben der Bundes­ Antwort sein, wenn die Europäer Frankreich steuert auf 2,5 Prozent
republik für Verteidigung in der die Hilfe der USA benötigen, etwa des BIP zu, hat aber seine Aus­
Spitze bei bis zu fünf Prozent der bei der Unterstützung der Ukraine. gaben in den letzten zwei Jahrzehn­
Wirtschaftsleistung, in anderen Die strauchelnde deutsche und ten nicht so stark reduziert wie wir.
­Jahren oft um drei Prozent. Die europäische Wirtschaft würde von Deutschlands Aufholbedarf ist
Zahlen ­haben Forscherinnen und den Einkäufen im amerikanischen enorm, weshalb wir in den kom­
Forscher des Kiel Instituts für Welt­ Waffensupermarkt jedoch nicht menden Jahren deutlich mehr aus­
wirtschaft um Christoph Trebesch ­profitieren. geben müssen, um ein vergleich­
kürzlich ermittelt. Nach dem Fall Aber wir haben die Chance, aus bares Niveau an Verteidigungs­
der Berliner Mauer hat das Land der Not jetzt eine Tugend zu fähigkeit zu erreichen.
eine stattliche Friedensdividende ­machen. Deutschland und Europa Angesichts der Summen, um die
einkassiert. Die Militärausgaben müssen in den kommenden Jahren es geht, würden von einer solchen
wurden auf rund ein Prozent des die notwendigen Kapazitäten in Erhöhung der Verteidigungsaus­
Bruttoinlandsprodukts (BIP) abge­ der europäischen Rüstungsindustrie gaben wichtige Impulse für das
senkt, während die Sozialausgaben aufbauen, um sich selbst zu ver­ ­lahmende Wachstum in Deutsch­
stiegen. Im Ergebnis ist Deutsch­ teidigen und um die Ukraine gegen land und Europa ausgehen.
land heute zwar ­sozial vollumfäng­ die russische Aggression unterstüt­ Die deutsche Wirtschaft ist seit
lich abgesichert, aber nur noch be­ zen zu können. Dafür braucht es – 2019 nicht mehr gewachsen, der
dingt verteidigungsfähig. wie bei der Impfstoffproduktion in Abstand zu den USA wird kontinu­
Im Jahr 2024 gibt Deutschland Coronazeiten – Planungssicherheit ierlich größer. Eine Vitaminspritze
knapp zwei Prozent seiner Wirt­ durch langfristige Abnahmever­ würde dem deutschen Patienten zu­
schaftsleitung, etwa 72 Milliarden träge zu attraktiven Preisen. Rüs­ mindest kurzfristig helfen, wieder
Euro, für Verteidigung aus. Wir er­ tungsunternehmen hätten damit auf die Beine zu kommen.
füllen damit zwar aktuell die Nato- einen Anreiz, in Europa zu inves­ Jüngere Studien aus den USA
Zielvorgabe von zwei Prozent, tieren und Kapazitäten vor Ort auf­ zeigen, dass der sogenannte Multi­
wenn auch nur mit Ach und Krach zubauen. plikatoreffekt von Verteidigungs­
und nur für kurze Zeit. Denn das Wie viel mehr Geld müssten wir ausgaben auf das BIP-Wachstum
Sondervermögen von 100 Milliar­ dafür ausgeben? Wenn wir uns an bei etwa eins liegt. Mit anderen
den Euro für die Bundeswehr, das anderen Ländern orientieren, Worten: Würden 100 Milliarden
der Bundestag nach dem russischen scheint eine Erhöhung der Militär­ Euro zusätzlich in die Verteidigung

60 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


WIRTSCHAFT

gehen, würde sich auch das BIP um


etwa 100 Milliarden Euro erhöhen,
insbesondere wenn die Produktion
im Inland aufgebaut würde. Je
nach Ausgestaltung und Finanzie­
rungsweg sind sowohl höhere als
auch niedrigere Multiplikatoreffekte
denk­bar. Aber die meisten Schät­
zungen lassen erwarten, dass ein
solches Programm merkliche Aus­
wirkungen auf die Konjunktur hätte.
Allein die Ankündigung könnte
­ähnlich wie beim »Inflation Reduc­
tion Act« in den USA eine neue
­Dynamik auslösen.

D
a mit dem Geld vor allem ka­
pitalintensive Industrien auf­
gebaut werden, wären negati­
ve Auswirkungen auf den unter
Fachkräftemangel leidenden
Arbeitsmarkt und die Inflation eher
gering. Denkbar ist sogar, dass da­
mit der Strukturwandel, etwa in
energieintensiven Industrien wie
der Stahlbranche oder bei Automo­
bilzulieferern, unterstützt würde,
kurzfristig auch die kriselnde Bau­
wirtschaft. Arbeitskräfte, die dort
nicht mehr benötigt werden, wür­
den in der Verteidigungsindustrie
gebraucht.
Ein zweiter positiver Effekt
käme hinzu: Wir können in der
­Ukraine beobachten, wie sehr die
Kriegsführung inzwischen mit
­technologischen Fähigkeiten und

Airbus
Innovationen verwoben ist. Würde
Deutschland mehr in solche Tech­
nologien investieren, hätte dies Eurofighter bei einer und wie sollte ein solches Paket in die Sicherheit unseres Landes
­mittelfristig positive Auswirkungen Airshow in Berlin ­daher finanziert werden? und Europas zu investieren.
(Fotomontage)
auf den Rest der Wirtschaft. Grundsätzlich gibt es drei Mög­ Ver­teidigungsinvestitionen lassen
Es wäre nicht das erste Mal, dass lichkeiten: Steuern erhöhen, andere sich im Budget gut von anderen
Militärausgaben zu technischen Ausgaben senken oder neue Kredite Ausgaben abgrenzen.
­Innovationen führen, die mehr aufnehmen. Die Antwort auf die In der Debatte, ob die Schulden­
Wachstum im zivilen Bereich aus­ Frage, welche der drei Optionen die bremse reformiert werden sollte, um
lösen. In der Wirtschaftsgeschichte beste wäre, ist ­relativ klar. Höhere mehr Investitionen zu ermög­lichen,
gibt es dafür prominente Beispiele. Steuern würden die Wirtschaft zu wird oft auf die Gefahr ­verwiesen,
So war Arpanet, ein militärisches einer Zeit schwächen, in der man dass plötzlich jede konsumptive
Computernetzwerk aus den Sechzi­ wirtschaftlich und politisch Stärke Ausgabe zur Investition deklariert
gerjahren, ein wichtiger Vorläufer zeigen will. Kürzungen würden vor wird. Bei Ausgaben für die Rüs­
des Internets. Auch Durchbrüche in allem den Sozialhaushalt betreffen, tungsindustrie wäre der Fall klar.
der Düsentechnologie für Flugzeu­ der nahezu 40 Prozent der Gesamt­ Insbesondere sollte Deutschland
ge stammen ursprünglich aus dem ausgaben ausmacht. die Initiative Frankreichs für ge­
militärischen Flugzeugbau. Gerade Mittelfristig meinsame europäische Verteidi­

Z
Deutschland mit seinen aktuell be­ war wird mittelfristig kein Weg gungsinvestitionen unterstützen.
grenzten Hightech-Fähigkeiten wird kein daran vorbeiführen, harte Bud­ Denn um Skaleneffekte in der Pro­
könnte profitieren. Weg daran getentscheidungen zwischen duktion zu erzielen und damit Kos­
Ein solches »Investitionspaket
Sicherheit« ist im aktuellen Finanz­
vorbeiführen, »Kanonen und Butter« zu treffen.
Kurzfristig aber sind rabiate Kürzun­
ten für den Steuerzahler zu sparen,
lässt sich Verteidigungsfähigkeit
rahmen allerdings nicht umzuset­ harte Budget- gen im Sozialbereich ebenfalls kon­ sinnvoll nur auf europäischer Ebene
zen. In den vergangenen Monaten entscheidun- traproduktiv, weil sie politisch polari­ organisieren.
hat schon die Notwendigkeit, rund sieren und das Land innen­politisch Der wichtigste ökonomische Ef­
17 Milliarden Euro im Bundeshaus­ gen zwischen destabilisieren. Auch das würde uns fekt einer solchen Politik könnte am
halt einzusparen, das Land in eine »Kanonen schwächer machen und den Rückhalt Ende darin liegen, den Frieden und
handfeste Krise gestürzt, und auch in der Bevölkerung untergraben. die Freiheit in Europa zu sichern –
für das nächste Jahr stehen die und Butter« Der richtige Weg wäre, in den die Voraussetzungen für unseren
­Zeichen auf Kürzung. Wie kann zu treffen. kommenden Jahren kreditfinanziert Wohlstand. n

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 61
AUSLAND
Natacha Pisarenko / AP

»Nie wieder Diktatur«, riefen Demonstranten vergangenen Sonntag in Buenos Aires, als Zehntausende Argentinier der Opfer des Militärputschs
1976 gedachten. Sie erinnerten damit an eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte des Landes. Rund 30.000 Personen sollen laut Menschen-
rechtsorganisationen während der Diktatur verschwunden sein, nachdem die Regierung von Isabel Perón aus dem Amt gedrängt worden war.
Der neue ultrarechte Präsident Javier Milei dagegen beschönigt die Zeit der Militärjunta: »Es waren keine 30.000«, sagte er in einer TV-Debatte.

Israel im Abseits
schen von jeder Versorgung abgeschnitten. Krankheiten breiten
sich aus. Die Menschen hungern. Vor allem weil Israel zu
wenig Hilfsgüter in den Gazastreifen lässt, ein Vorwurf, den
­Israels Regierung zurückweist.
ANALYSE Indem Jerusalem der UNRWA den Zugang
Nun meldet das Palästinenserhilfswerk der Vereinten Natio-
zu den Hungernden im Norden von Gaza nen (UNRWA), Israel wolle gar keine UNRWA-Hilfslieferungen
verwehrt, verspielt Israel die letzten Sympathien. mehr in den isolierten Norden zulassen, eine Entscheidung,
die angesichts der Not grotesk und gefühlskalt wirkt – und wo-
Als Israel am 7. Oktober von der Terrororganisation Hamas möglich auch internationales Recht verletzt. Israel hat als Besat-
­angegriffen wurde, hätten sich wohl die wenigsten Israelis zungsmacht die Pflicht, die Versorgung in Gaza sicherzustellen.
­vorstellen können, dass sie es sind, die knapp sechs Monate Das Überleben der Menschen in Gaza hängt seit Kriegsbe-
­später um das Ansehen ihres Landes in der Welt kämpfen. ginn insbesondere von UNRWA und seinen 13.000 Mitarbeitern
­Schließlich wurden sie angegriffen. Sie waren es, deren Kinder ab. Falls die Regierung gute Gründe für diese verheerende
ermordet, deren Frauen vergewaltigt und deren Alte in den ­Entscheidung haben sollte, sind diese bisher nicht kommuniziert.
­Gazastreifen verschleppt worden waren. Je länger der Krieg dauert, umso härter er geführt wird, desto
Israel ist das Opfer der Hamas. Doch inzwischen sehen große einsamer steht Israel in der internationalen Gemeinschaft
Teile der Welt den jüdischen Staat als Täter. Die anhaltende da. Viele Menschen in Israel fühlen sich heute so allein wie noch
­Härte gegenüber zahllosen unbeteiligten Palästinensern wirkt nie zuvor.
selbst auf die loyalsten Freunde grausam. Dass noch immer mehr als 130 Menschen im Gazastreifen
Die Lage in dem kleinen Landstrich ist dramatisch. 1,5 Millio- von der Hamas als Geiseln gefangen gehalten werden,
nen Menschen drängen sich im Süden Gazas, um dort Schutz scheint weitgehend vergessen. Es ist die Folge einer Politik, die
vor den Bomben zu finden. Im Norden sind rund 300.000 Men- im Rest der Welt kaum noch jemand versteht. Muriel Kalisch

62 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


»Ich würde wetten, dass
Trump verurteilt wird«
USA Der Stanford-Professor David Alan
Scott MacDonald

Sklansky, 65, über die Taktik der Anwälte


von Donald Trump, Strafverfahren
gegen den Ex-Präsidenten zu torpedieren

Brendan Mcdermid / AFP


SPIEGEL: Herr Sklansky, wird maliger Präsident habe absolute
Donald Trump noch vor der Immunität.
Präsidentschaftswahl im No­ Sklansky: Trump ist sicherlich
vember ins Gefängnis kommen? nicht immun gegen die straf­ Trump im Criminal Court in Manhattan
Sklansky: Es gibt eine gute rechtliche Verfolgung für Dinge,
Chance, dass er vor der Wahl die er getan hat, während er Sklansky: Ich würde darauf e­ infach ­einstellen lassen könnte.
verurteilt wird. Aber die Chan­ Präsident war. Wenn es dazu bis ­ etten, dass er verurteilt wird.
w In einem Fall geht es um
cen stehen schlecht, dass er noch Juli ein Urteil des Obersten Aber selbst wenn nicht, wäre seine Versuche, am 6. Januar
vor der Wahl inhaftiert wird. ­Gerichtshofs gibt, hätte die es ein politischer Albtraum für das Wahlergebnis zu unter­
SPIEGEL: Trump ist ein Meister Richterin in Washington, die das ihn, vor Gericht zu erscheinen, graben, im anderen um eine
darin, seine Verfahren zu ver­ feststellen soll, noch Zeit, wenn verhandelt wird, unter Aktenaffäre. Wäre das so
schleppen. Warum funktioniert den Prozess vor der Wahl im welchen Umständen er Schwei­ einfach?
das immer wieder? November zu beginnen. gegeld gezahlt hat, um eine Sklansky: Trump kündigte
Sklansky: Er ist bereit, dafür SPIEGEL: Im ersten Strafprozess ­Affäre mit einem Pornostar ge­ an, die gesamte Regierung, ein­
sein ganzes Geld einzusetzen. soll es bald um Schweigegeld­ heim zu halten. schließlich des Justizministe­
Und er verfügt über ein zahlungen an die ehemalige SPIEGEL: Oft wird angeführt, riums, säubern zu wollen. Er ist
weites Netzwerk von Unter­ Pornodarstellerin Stormy Da­ dass Trump nach einem nicht der erste Politiker, der
stützern im Land. niels gehen. Ist eine Gefäng­ ­möglichen Wahlsieg als Präsi­ die beste Verteidigung gegen
SPIEGEL: Trump und seine An­ nisstrafe für Trump in diesem dent ­zumindest die beiden Strafverfahren darin sieht, ein
wälte argumentieren, ein ehe­ Fall möglich? ­Bundesanklagen gegen ihn Amt innezuhaben. RON

Müder Papst ten. Der Heilige Stuhl äußerte Geständnis eines


sich bisher nicht zu dem Vorfall.
ITALIEN Dass Papst Franziskus Einer von Franziskus Ärzten, Auftragskillers
bei der Palmsonntagsmesse Sergio Alfieri, beschwichtigte BR ASILIEN Sechs Jahre ist es
­vergangenen Sonntag überra­ besorgte Gemüter in einem her, dass ein Auftragskiller
schend seine Predigt nicht hielt, Interview mit der italienischen den Dienstwagen von Marielle
sondern einfach minutenlang Tageszeitung »Corriere della Franco durchlöcherte und die
schwieg, führt nun zu Spekula­ Sera«. Die Gesundheit des damalige Stadträtin von Rio de
tionen über seinen Gesund­ Papstes sei stabil, er habe »den Janeiro mit 13 Schüssen ermor­

Ellis Rua / AP
heitszustand. Zudem entsprach Kopf eines 60-Jährigen«, nur dete. Am Wochenende nahmen
der Ablauf nicht der christ­ sein Leben sei viel stressiger als brasilianische Ermittler endlich
lichen Liturgie, was ebenfalls das seiner Altersgenossen. zwei bekannte Politiker fest, Franco 2018
Debatten auslöste. Bekannt ist, dass Franziskus die den Mord angeblich in Auf­
Das 87-jährige Oberhaupt der bereits seit 2021 unter Ein­ trag gegeben hatten. vor allem durch die Spekulation
katholischen Kirche fuhr nach schrän­­kungen leidet, die mit Franco bestritt damals ihr mit Immobilien.
dem Gottesdienst vor Ostern einer Darmoperation begannen, erstes Mandat für die kleine Den beiden Brüdern João
nur noch eine Begrüßungsrunde 2023 folgte ein zweiter Eingriff. Linkspartei PSOL. Die auf­ Francisco und Domingos
mit dem Papamobil über die rö­ Im März letzten Jahres ver­ strebende Politikerin gab jenen Brazão, langjährige Abgeordne­
mische Piazza San Pietro, wo brachte er wegen einer Lungen­ Minderheiten eine Stimme, ten, denen enge Kontakte zu
60.000 Menschen auf ihn warte­ entzündung einige Tage im denen sie sich als dunkelhäuti­ den Milizen nachgesagt werden,
Krankenhaus, im November ge, lesbische, aus einem Armen­ kam Franco wohl in die Quere,
sagte der Papst wegen einer viertel stammende Frau selbst als sie sich weigerte, eine auf
Bronchitis eine Reise nach Du­ zugehörig fühlte. Zum Verhäng­ ­öffentlichem Grund geplante
bai ab. Im Winter kämpfte er nis wurde ihr offenbar der Mut, Wohnanlage als deren Privat­
mit einer Grippe. sich mit den Mächtigen anzule­ grundstück zu legalisieren.
Ostern gilt für alternde Päps­ gen, mafiaähnlich organisierten Franco forderte stattdessen, die
te als harte Prüfung: Nach dem Milizen, die große Gebiete Rio Fläche für sozialen Wohnungs­
Kreuzweg am Freitag und der de Janeiros kontrollieren und bau zu nutzen. Dieser Interes­
Osterwache am Samstagabend auch viele staatliche Institutio­ senkonflikt sei das Motiv für
Alber to Pizzoli / AFP

folgt am Sonntagmorgen gleich nen der Millionenstadt. Neben ihre Hinrichtung gewesen, so
der nächste Gottesdienst. Es sei dem Erpressen von Schutz­ der geständige Auftragskiller
»normal, dass der Papst Mo­ geldern finanzieren sich diese Ronni Lessa, der sich nach lan­
mente der Müdigkeit erlebt«, so oft von Polizisten gegründeten gem Schweigen zu einer Kron­
Franziskus Mediziner Alfieri. DTT paramilitärischen Gruppen zeugenaussage entschloss. BLA

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 63


TITEL

auch nur menschen


MONARCHIEN Diana, Meghan, jetzt Kate. Die Hatz auf weibliche Royals
hat Methode. Das Kesseltreiben gegen die an Krebs erkrankte
­künftige Queen hat viele erschüttert. Das Königshaus, gedacht als
Firma für magische Momente, steckt in der Krise.
Von Jörg Schindler

N
och am Abend hüllte sich klar geworden sein, dass es die Deutungs­ Die königliche Familie ist immer da, immer
die Firma, die einst Twit- hoheit über sich selbst verloren hat. mit denselben archaischen Ritualen, ein »Per-
ter hieß, in Demut. Die Sogar die im medialen Dauersturm stehen- petuum royale«. Immun gegen das Rad der
Princess of Wales habe de britische Monarchie hat Wochen wie die Zeit, mit vermeintlich direktem Draht zu Gott
der Welt eine »tapfere zurückliegenden noch nicht erlebt. Seit Jah- und damit nah dran an der Unsterblichkeit.
Botschaft« überbracht, resbeginn häufen sich die Schicksalsschläge Was ja auch Elizabeth II., ihr Gatte Philip
schrieb X-Chefin Linda in einer Familie, die erst im Herbst 2022 mit und die Queen Mother Elizabeth eindrucks-
Yaccarino. Jetzt sei es an Elizabeth II. ihr Oberhaupt und ihren Stabi- voll demonstrierten, die es gemeinsam auf
der Zeit, Kates »Bitte um Privatsphäre« zu litätsanker verlor. Im Februar ließ ihr Sohn 296 Lebensjahre brachten. Und wenn sie mal
respektieren. und Nachfolger Charles III. wissen, er sei »an unpässlich waren, dann wurde das vom Palast
Das war am Freitag vergangener Woche, einer Form von Krebs« erkrankt und werde entweder verschwiegen oder verschämt um-
dreieinhalb Stunden nachdem die Frau des seine öffentlichen Auftritte daher einstweilen schrieben. So wie in den letzten Monaten der
britischen Thronfolgers William ihre Krebs- reduzieren. Queen, als ihre Absenz bis zuletzt mit »Mo-
erkrankung per Videoclip öffentlich gemacht Kurz zuvor war bei Sarah Ferguson, Duchess bilitätsproblemen« schöngeredet wurde.
hatte. Und weil Teile der Netzgemeinde da­ of York und geschiedene Ehefrau von Charles’ Noch zwei Tage vor ihrem Tod posierte die
raufhin tatsächlich vor Scham oder Schreck Bruder Andrew, Hautkrebs diagnostiziert Königin, die sich zum Sterben ins schottische
verstummt waren, schien es für einen Mo- worden. Und nun also auch Catherine »Kate« Balmoral zurückgezogen hatte, für ein offi-
ment, als hätte »KateGate«, die digitale Hatz Middleton, die künftige Queen: krebskrank zielles Foto.
auf die künftige Königin, ein – wenn auch und bis auf Weiteres abgeschirmt von der Unter Charles, der im vergangenen Jahr
dramatisches – Ende gefunden. ­Öffentlichkeit. als bereits alter Mann den Thron bestieg, ha-
Dann kam das Wochenende. Schon das ist für das Vereinigte Königreich ben sich die Zeiten geändert. Er selbst soll
Mit ihm formierten sich weitere Troll­ von Großbritannien und Nordirland ein Dra- darauf bestanden haben, seine nicht näher
armeen auf dem digitalen Schlachtfeld. Und ma. Im royalen Drehbuch sind Krankheit oder spezifizierte Krebsdiagnose öffentlich zu ma-
säten neue Zweifel. War das wirklich Kate in gar Tod nicht vorgesehen. Charles und seine chen, »um Gerüchte zu vermeiden«. Das ist
diesem Zwei-Minuten-Clip und nicht vielleicht Verwandtschaft, kurz »die Firma«, arbeiten ihm gelungen. Aber mit der Häufung der
ein Avatar? Sah sie nicht zu gut aus für eine in der Beglückungsbranche. Sie mögen in ­neuerdings nicht mehr verheimlichten Krank-
Krebspatientin? Und wieso saß sie eigentlich einer konstitutionellen Monarchie nur mehr heiten umweht seine Königsfamilie nun zu-
allein auf dieser Parkbank in Windsor? Wo repräsentativ sein – aber sie sind eben auch nehmend der Hauch des Irdischen.

Granger / INTERFOTO, Mar tin Divisek / EPA-EFE, Alex Bramall / ROTA / CAMERA PRESS / laif
war William? Schon am Montag hatten zahl- ein wohltuendes Sedativ für Millionen Briten, Die Magie, wichtigste verbliebene Zutat
lose Menschen die Verschwörungstheorien die seit Jahren angesichts eines dysfunktio- der Monarchie, droht zu verpuffen.
auf YouTube, TikTok oder X gesehen, gelikt, nalen politischen Betriebs nicht zur Ruhe Das Letzte, was das Königshaus in dieser
geteilt. Spätestens da dürfte dem Königshaus kommen und sich nach Stabilität sehnen. Lage gebrauchen konnte, war ein Kesseltrei-
ben in den sozialen Medien. Aber genauso
kam es. Und sei es aus Hilflosigkeit, Über-
forderung oder Überheblichkeit, der Palast
konnte die Hetzjagd auf seine schillerndste
Königsfamilie 1953, 2023: Angestellte der Beglückungsindustrie Bewohnerin nicht nur nicht verhindern. Er
verschlimmerte sie mit fast jedem Versuch,
die Gerüchte in den sozialen Treibnetzen ein-
zudämmen.
Und so lässt sich am – einstweiligen – Ende
dieser atemlosen Wochen nicht nur eine er-
schöpfte und bedenklich ausgedünnte briti-
sche Monarchie besichtigen, die schon ohne
Fake News einer unsicheren Zukunft ent-
gegenwankt. Der Fall Kate ist ein schauriges
Lehrstück darüber, was ein Internetzugang
gepaart mit immer raffinierterer künstlicher

64 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


Princess of Wales in Windsor Castle 2023
TITEL

Familie kann man gar nichts mehr glauben.


Ein weiteres Foto mit William und Kate im
Auto musste demnach gefälscht sein. Oder
aber die Frau auf dem Bild war eine Doppel-
gängerin der Princess of Wales. Hashtag
#Kate­BodyDouble.
Im offenbar völlig überforderten Kensing-
ton-Palast hatte man dem nichts entgegenzu-
setzen. Außer hilflose Pressemeldungen, die
die globale Gossip-Gemeinde nur weiter an-
stachelten. Als Thronfolger William Ende
Februar der Gedenkfeier für seinen 2023 ver-
storbenen Taufpaten, den vormaligen grie-
chischen König Konstantin II., überraschend
fernblieb, tat er das aus nicht näher benann-
ten »persönlichen Gründen«. Das öffnete den
nächsten besinnungslosen Spekulationen wei-
tere Türen und Tore.
Vorvergangene Woche dann kam dem Kö-
nigshaus, vermeintlich, die britische Öffent-
lichkeit zu Hilfe. Als William und seine lä-
chelnde Gattin schnellen Schrittes und mit
Einkaufstüten den Windsor Farm Shop in der

V & A Images / INTERFOTO, Hugo Burnand / The Royal Family / UPI / Newscom / picture alliance, Cecil Beaton / Camera Press / PICTURE PRESS, Alexi Lubomirski / Cour tesy of Kensington Palace / REUTERS
Königin Elizabeth II. 1953, König Charles III. 2023: Dieselben archaischen Rituale Nähe ihres Zuhauses westlich von London
verließen, liefen sie einem gedankenschnellen
Handybesitzer vor die Linse. Dessen Video
fand schnell seinen Weg zu einer dem Fox-
Konzern gehörenden Gerüchteküche namens
Intelligenz sowie Geltungssucht und/oder Ge- Keine Fotos von Weihnachten bis Ostern? TMZ. Und die kam nach Prüfung der Meta-
schäftssinn anzurichten vermag, wenn nicht In der Pixelwelt von Instagram, TikTok oder daten zum Ergebnis: Das Filmchen sei aktuell
beizeiten gegengesteuert wird. YouTube ist derart ausdauerndes Fasten nicht und authentisch. Zeit für Entwarnung. Oder?
Er ist zudem ein Omen für alle Nichtbriten vorgesehen. Also begannen sich die Nutzerin- »KateGate« aber hatte da schon ein Eigen-
und Nichtadligen im Rest der Welt, die sich nen und Nutzer selbst ein Bild ihrer Prinzessin leben entwickelt. Es spielte keine Rolle mehr,
in diesem Megawahljahr einer wachsenden zu machen – sei es aus Daffke, Eitelkeit oder wo Kate ist, wie es ihr geht, was sie tut. Die
Zahl von Populisten, Kriegstreibern und Un- Boshaftigkeit. Hashtags wie #WhereIsKate Internetgemeinde glaubte, nein: wusste es
ruhestiftern erwehren müssen und darauf ver- und #WhereIsKateMiddleton machten die längst besser. Und alles, was die eigene Wahr-
zweifelt dürftig vorbereitet sind. Runde, und jede(r) raunte was: Kate ist ab- heit erschüttern könnte, wurde konsequent
Die Verführung der Massen – sie ist längst gehauen, Kate ist schwanger, Kate ist schwan- ausgeblendet. Es war wie für Millionen An-
ein digitales Kinderspiel. ger von einem anderen Mann, Kate ist tot. hänger des angeblich unbesiegten Donald
Dass es ausgerechnet die Princess of Wales Als die Gerüchte drohten überhandzuneh- Trump: Was nicht sein kann, ist nicht passiert.
war, die diese weltweite Hatz ungewollt aus- men, veröffentlichte der Palast am 10. März, Die kognitive Psychologie kennt dafür den
löste, ist beinahe folgerichtig. Seit dem Tod zum britischen Muttertag, ein Foto, das die Begriff »Wahrheitseffekt« (illusory truth
von Queen Elizabeth II. und dem Zerwürfnis strahlende Kate mit ihren drei Kindern zeigt. ­effect): Je häufiger Menschen eine (unwahre)
von Prinz Harry und Meghan mit der Königs- Es sollte hyperventilierende Netznutzer be- Aussage hören oder lesen, desto eher sind sie
familie stand keine Frau in Großbritannien ruhigen – und erreichte das Gegenteil. Denn geneigt, sie für wahr zu halten. Deshalb wurde
so sehr im Rampenlicht wie die 42-jährige kurz darauf versahen fünf große Nachrichten- Trump die Wahl gestohlen. Und deshalb muss
Kate. Immer schon eine Prinzessin wie aus agenturen das Bild mit einer »kill notice« und Kate Middleton Furchtbares ­wi­derfahren sein.
dem Bilderbuch ließ sie sich nicht nur voll- stoppten die weitere Verbreitung, da es Und das Video? Gestellt. Der Mann, der es
kommen klaglos in den Pflichtenkerker na- schludrig digital nachbearbeitet worden war. gedreht hat? Ein vom Hof gedungener Lakai.
mens Monarchie sperren, sondern folgte da- Hastig veröffentlichte der Palast eine So suhlten sich Abermillionen weiter in
bei einem Motto von Elizabeth II.: »Ich muss schriftliche Entschuldigung Kates, sie experi- wohligem Grusel. Zumal nach den Regeln der
gesehen werden, damit man an mich glaubt.« mentiere »wie viele Hobbyfotografen« gern Aufmerksamkeitsökonomie nur derjenige ge-
Wie die frühere Königin ragte auch Kate mal mit Bildbearbeitung. Es half nichts. Nun hört wird, der wirklich Spektakuläres zu er-
stets in satte Farben gekleidet aus jedem Wim- war die Netzmeute erst recht entfesselt. zählen weiß. Im Fall Kate steht dafür beispiel-
melbild heraus. Was sie sagte, spielte selten Die Weltgemeinschaft der digitalen Hobby- haft der Erfolg zweier US-Amerikanerinnen
eine Rolle – entscheidend war ihre Sicht­ detektive begab sich fortan atemlos auf Indi- namens Lauren und Chan. Sie vermarkten
barkeit. ziensuche. Dass Kate auf dem Bild keinen Ehe- sich auf Instagram und anderen Kanälen als
Nach Weihnachten 2023 jedoch ver- ring trage: Beweis dafür, dass William eine Schwestern, »denen Celebrities genauso
schwand Kate plötzlich von der Bildfläche. Affäre habe. Ein Gerücht, dass der US-Mo- wichtig sind wie ihre eigene Familie«. Als der
Danach dauerte es fast drei Wochen, bis der derator Stephen Colbert in seiner »Late Show« Kate-Express Fahrt aufnahm, schwangen sich
Kensington-Palast am 17. Januar mitteilte, die genüsslich breittrat. Und dass die angebliche die beiden beherzt auf und veröffentlichten
Princess of Wales habe sich am Vortag einer Nebenbuhlerin den märchenhaften Titel »Mar- ein eng getaktetes Tratschtagebuch unter dem
»geplanten Unterleibsoperation« unterzogen chioness of Cholmondeley« trägt, machte die Titel »Where TF is Kate Middleton?«. Das TF
und werde voraussichtlich erst nach Ostern Sache für Millionen noch aufregender. steht für »the fuck«.
wieder öffentliche Aufgaben übernehmen. Zur Als die Bildagentur Getty erklärte, auch In einem endlosen Redefluss und mit ge-
Art ihrer Erkrankung: kein Wort. Es sei jedoch eines der letzten Fotos von Queen Eliza- spielter Betroffenheit gaben die meinungs-
nicht Krebs, hieß es später. Im Übrigen bitte beth II., das sie im Kreis ihrer Urenkel zeigt, starken, aber ahnungslosen Amerikanerinnen
man um Diskretion. Ein frommer Wunsch. sei digital manipuliert, schien klar: Dieser unter Berufung auf Freunde von gut vernetz-

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TITEL

Harry, habe nicht nur zum Tod seiner Mutter


beigetragen, sondern praktisch jedes einzelne
Mitglied der Königsfamilie schwer beschädigt.
Vermutlich ist es kein Zufall, dass nach dem
Abgang Meghans als Nächste Kate ins Visier
geriet. Offenbar suchen sich Häme und Hass
vorzugsweise ein weibliches Ventil. Diana,
Camilla, Meghan, Kate – früher oder später
kam jede von ihnen unter die Räder.
Am Ende waren es nicht mal mehr nur
Internetjäger, die der Princess of Wales nach-
stellten, auch in der wirklichen Welt setzte
sich der Irrsinn fort: Das Privatkrankenhaus,
in dem Kate Anfang des Jahres operiert wur-
de, ermittelt inzwischen offenbar gegen drei
Angestellte, die unbefugt versucht haben sol-
len, an die Krankenakte der künftigen Köni-
gin zu gelangen.
Solchermaßen in die Enge getrieben ent-
schieden sich die Princess of Wales und ihre
Medienberater zu einem klaren Bruch mit
einem vielfach erprobten Motto der früheren
Königin: »never complain, never explain« –
Royale Liebespaare*: Seltene Ausbrüche aus dem Pflichtenkerker nie beschweren, nie erklären. Und so sahen
sich am 22. März, um Punkt 18 Uhr, Millionen
Briten, die gerade die Nachrichten eingeschal-
tet hatten, der leibhaftigen Kate Middleton
gegenüber.
ten Freunden Unerhörtes aus dem Hause zeitlich eine Botschaft an »alle Social-Media- Noch dünner als sonst, aber anscheinend
Windsor preis. Noch wenige Tage vor Kates Trolle, idiotischen Verschwörungstheoretiker guter Dinge saß sie in einem zwei Tage zuvor
Videobotschaft waren sie sich ganz sicher: und aus dem Hintergrund schießende Medien- aufgezeichneten Videoclip auf einer Bank vor
»Catherine, Princess of Wales, hatte einen kritiker: Lasst Kate in Ruhe«. Narzissen und erklärte, weshalb sie seit drei
psychischen Zusammenbruch«, da William Ingrid Seward, Chefredakteurin des kö- Monaten aus der Öffentlichkeit verschwunden
mit einer anderen ein Kind gezeugt habe, nigstreuen Magazins »Majesty« barmte der- war. Nach der »größeren Operation« im Ja-
»und jeder weiß es«. weil in der Londoner »Times«, sie verspüre nuar habe sich wider Erwarten heraus­gestellt,
Von Folge zu Folge wuchs die Reichweite angesichts der eskalierenden Kate-Manie dass sie Krebs habe. Sie unterziehe sich daher
der beiden. eisige Schauer: »Diana wurde tragisch bei seit Kurzem einer präventiven Chemotherapie
Je länger die Hatz auf Kate anhielt, desto einem Autounfall getötet. Damals war die und habe Zeit gebraucht, um ihren Kindern
unheilvoller wurden die Parallelen zu einer ganze Sache außer Kontrolle geraten.« Ge- George, 10, Charlotte, 8, und Louis, 5, alles
früheren Princess of Wales – Diana, der ersten nauso fühle es sich jetzt wieder an. zu erklären. Sie habe ihnen gesagt, »es geht
Ehefrau von Charles, die 1997 von Paparazzi Im weit entfernten Kalifornien durfte sich mir gut, und ich werde jeden Tag kräftiger«.
im Wortsinn bis in den Tod verfolgt worden derweil der verlorene Königssohn Harry auf Selten zuvor hat ein Mitglied aus der ersten
war. Damals wollte der Palast nichts tun, um merkwürdige Weise bestätigt fühlen. Der war Reihe der Königsfamilie so unumwunden sein
die in Ungnade gefallene »Königin der Her- mit seiner Familie auch deshalb auf die ande- Innerstes offengelegt, wie es die künftige
zen« vor einer übergriffigen Allgemeinheit re Seite des Atlantiks geflohen, weil er nach Queen in diesen gut zwei Minuten tat. Nur
zu schützen. jahrelanger Nonstop-Verfolgung seiner An- Diana und Harry hatten sich in der Vergan-
27 Jahre später konnte er es nicht. getrauten Meghan fürchtete, dass sich »Ge- genheit in Interviews ähnlich verletzbar und
Eines immerhin erreichten die Medienbe- schichte wiederholt«. verletzt gezeigt – aber beide gehörten zu dem
auftragten der Monarchie bei dieser aberma- Seit Monaten führt die Nummer fünf der Zeitpunkt nicht mehr zum engsten Zirkel.
ligen Hetzjagd offenbar mit sanftem Druck: britischen Thronfolge von seinem Exil aus Ob allerdings Kates Appell, man möge ihr
Die traditionellen britischen Boulevardme- einen juristischen Feldzug gegen die Königs- »Raum und Privatsphäre« für die Genesung
dien – für die die Royals allzu lange praktisch hausbeschauer der britischen Boulevard­ zugestehen, bei der erregten Internetgemein-
Freiwild waren – hielten sich im Fall von Kate presse. Die mediale Dauerbelagerung, glaubt de auf offene Ohren stoßen wird? Immerhin:
mehr oder weniger zurück. Was nicht heißt, In den Tagen nach ihrer Erklärung häuften
dass sie nicht mitmischten. Nur kleideten sie sich in den einschlägigen Netzwerken die
* Links: Bürgerliche Wallis Simpson mit Prince Edward,
ihre Neugier diesmal in gespielte Empörung. Duke of Windsor, 1937; rechts: Bürgerliche Meghan Markle Selbstanklagen jener, die bei der Hatz an vor-
So veröffentlichte etwa die »Sun« zwischen- mit Prince Harry 2017. derster Front beteiligt waren. Die Instagram-
Schwestern Lauren und Chan stellten ihr
Trashtagebuch ein: Der »gute Geschmack«
und ihre grenzenlose »Bewunderung für Prin-
zessin Catherine« verböten eine Fortsetzung.
Sogar Prominente, die einem Scherz auf
keine fotos von weihnachten bis ostern? ­Kates Kosten nicht hatten widerstehen kön-
nen, warfen sich vor ihren Fans in den Staub.
i n d e r p i x e lw e lt v o n i n s t a g r a m , Aber nicht jeder hielt die Zeit für Selbst-
einkehr für gekommen. Nach einer kurzen
tiktok oder youtube ist der art ausdauerndes Schamfrist nahm das Geschäft mit der Ver-
fa s t e n n i c h t vo r g e s e h e n . schwörungstheorie wieder Fahrt auf. Und das

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 67


TITEL

Dabei war der schon 2019 aus der ersten


Reihe verbannt worden, weil seine Beziehung
zum pädokriminellen Geschäftsmann Jeffrey
Epstein bis heute ungeklärt ist. An den Fall
werden die Briten in Kürze wieder aufs
Schaurigste erinnert werden, wenn Netflix
Andrews legendäres BBC-Interview-Desaster
(»Ich schwitze nicht«) mit dem Filmdrama
»Scoop« ausschlachten wird.
Das werden Bilder sein, auf die der Königs­
palast lieber verzichten würde.
Charles’ Plan war es mal, die Monarchie
deutlich zu verschlanken, auch um damit der
stets wiederkehrenden Debatte über die Kos­
ten des Königshauses zu begegnen. Nun ist
die Firma schlanker, als es ihm lieb sein kann.
In diesen Tagen ist sie um jeden führenden
Angestellten froh, der gesund ist und keine
Leichen im Keller hat.
Manche träumen bereits von einer Rück­
kehr Harrys, der gegenüber Vertrauten sogar
angedeutet haben soll, dass er unter Umstän­
den wieder eine Rolle übernehmen könnte.
Queen Elizabeth 1937, Diana, Princess of Wales, 1995*: Die Magie verblasst Aber ist das wahrscheinlich, nachdem er und
Meghan zuletzt einen Großteil ihrer Zeit da­
rauf verwendet haben, ihrerseits das Königs­
haus mit wenig schmeichelhaften Bildern,
Interviews und Büchern zu fluten?
wohl deshalb, weil Desinformation im Netz Bereits mit dem Weggang von Harry und Als im Londoner Science Museum Anfang
nicht nur ein lukratives Business ist, sondern Meghan war das Durchschnittsalter der März die »Diana Legacy Awards« verliehen
auch ein Instrument der politischen Auseinan­ »Working Royals« – jener Familienmit­ wurden, ließen sich zwar William und Harry
dersetzung. Zu Wochenbeginn jedenfalls glieder, die in der ersten Reihe königliche auf der Veranstaltung blicken, aber nur Ers­
machten Berichte die Runde, wonach auch Pflichten erfüllen – schlagartig gestiegen. terer persönlich – Letzterer erst Stunden spä­
Manipulateure aus Russland, China oder Iran Ohne die Princess of Wales liegt es nun bei ter per Videoschalte. Wie es heißt, reden die
die Kate-Lawine verstärkt haben sollen. rund 75 Jahren. beiden nicht mehr miteinander.
In Großbritannien erweiterte sich der Fokus Im vergangenen Jahr war es Charles’ 73-jäh­ Angesichts des krebskranken Königs und
der Berichterstattung hin zu der Frage, was ihr rige Schwester Anne, die sich neben dem Kö­ der jüngsten Ereignisse um die britische Mo­
absehbar längerer Ausfall perspektivisch für nig am häufigsten auf Galas oder Einweihungs­ narchie erscheint die Bruderfehde nun in neu­
das Königshaus – und das Königreich – be­ feiern blicken ließ. Nach Angaben der »Times« em Licht. Schon wird in Teilen der britischen
deutet. Zumal wenige Monate vor der briti­ jedoch brachten es die Royals – ein Königshaus Medien darüber spekuliert, was passierte,
schen Parlamentswahl, die nach Ansicht vieler der Kümmerer, das Hunderte Wohltätigkeits­ sollte William in absehbarer Zeit den Thron
Politbeschauer so schmutzig und niederträch­ organisationen im ganzen Land unterstützt – besteigen, aber schließlich selbst krankheits­
tig werden könnten wie selten zuvor. 2023 auf nur noch 2270 öffentliche Auftritte. halber oder aus anderen Gründen ausfallen.
Benötigt würde in diesem durch Brexit und Das sei, ausgenommen die Pandemiejahre Wäre dessen Sohn George dann noch minder­
Populismus in Schieflage geratenen Land ein 2020/21, die niedrigste Zahl seit 1983. jährig, müsste eigentlich Harry einspringen,
Königshaus, das Kontinuität, Erhabenheit Für eine faktisch ohnmächtige Institution, der formal gar keine Rolle mehr spielt. Eine
und Ruhe ausstrahlt. Stattdessen befinden deren »Soft Power« sich aus der Zuneigung beispiellose Situation.
sich die symbolischen und die tatsächlichen ihrer Unterstützer speist, ist das misslich. Es Der ehemalige »Guardian«-Chefredakteur
Staatenlenker in der Krise. Fatal vor allem bleibt dabei: Die Königlichen müssen gesehen brachte es im Magazin »Prospect« auf den
für die regierenden Konservativen von Rishi werden, damit man an sie glaubt. Punkt: »Wenn zwei Schlüsselspieler der Fa­
Sunak, die in Umfragen hoffnungslos abge­ In seiner Not griff der Palast jüngst gar auf milie ausfallen (sogar vier, wenn man be­
schlagen sind und deren überwiegend königs­ eine Persona non grata zurück: Als William denkt, dass deren Partner ihr Engagement
treue Anhänger nichts so schätzen wie den Ende Februar kurzfristig der Gedenkfeier für reduzieren, um für sie da zu sein), dann gerät
Status quo. Konstantin II. auf Schloss Windsor fernblieb, die gesamte Organisation ins Taumeln«,
Aber wer aufseiten der Monarchie in den war es plötzlich Prinz Andrew, Charles’ Bru­ schreibt Alan Rusbridger. »Wer sitzt eigentlich
Heritage Images / IMAGO, Kim Knott / CAMERA PRESS / laif

kommenden Monaten für Beruhigung sorgen der, der die königliche Delegation anführte. gerade an einem Plan für den Fall, dass der
könnte, ist nach den krankheitsbedingten Monarchie die Puste ausgeht?«
Ausfällen von König Charles III. und seiner * Links: mit Töchtern Elizabeth und Margaret; rechts: Noch ist es nicht so weit. Und damit es
Schwiegertochter Kate unklar. mit Söhnen William und Harry. nicht so weit kommt, ließ der Königspalast
am Dienstag eilig wissen, König Charles,
Königin Camilla und andere Familienmit­
glieder würden am traditionellen Ostergot­
»wer sitzt eigentlich gerade an einem
tesdienst in der St. George’s Chapel von
Windsor teilnehmen. Es wäre der erste län­
p l a n f ü r d e n fa l l , da s s d e r gere Auftritt des Monarchen seit seiner
m o na r c h i e d i e p us t e aus g e h t ?«
Krebsdiagnose.
Sollte es so kommen, wird es selbstver­
Alan Rusbridger, ehemaliger »Guardian«-Chefredakteur ständlich Bilder davon geben. n

68 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


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TITEL

Die Mitglieder des Windsor-Clans sind für


gewöhnlich keine brillanten Vordenker, küh-

glorifiziert und
ne Entdeckerinnen, machtvolle politische
Strategen. Sie sind gewöhnliche Menschen,
die sich in außergewöhnlichen Lebensum-

niedergemacht
ständen wiederfinden. Manche versuchen,
sich in diesen vorgestanzten Rollen – Prinz-
gemahl, Königstochter, Reserve – ein gewisses
Maß an Autonomie zu erkämpfen. Wie stark
der Drang zu einem selbstbestimmten Leben
GROSSBRITANNIEN Die einstige Bürgerliche Kate Middleton bei den einzelnen Familienmitgliedern aus-
gilt als perfekte Prinzessin, weder aufmüpfig noch geprägt ist, definiert das Leidensmaß, das sie
­anspruchsvoll. Doch ihr Versuch, ihre Familie zu schützen, in der Royal Family erwartet. Wenn es
wurde ihr zum Verhängnis. schlecht läuft, wird gelitten bis zum Tod.
Bei Catherine zeigten sich allerdings nie
Anzeichen einer solchen Aufmüpfigkeit. Sie
gilt als anspruchslos und angepasst.

S
Ihre erste öffentliche Rede als Mitglied des
ie ist eine der meistfotografierten und war zum ersten Mal schwanger – abgelöst von Königshauses, beim Besuch eines Kinderhos-
seit ein paar Wochen auch meistdis- einer anderen, die ebenso »fadenscheinig« sei, pizes vor zwölf Jahren, war zwar noch banal,
kutierten Frauen der Welt. Doch was der als werdende Mutter, »und wenn sie die aber auch entwaffnend unprofessionell. Sie
man über Catherine, Princess of Übelkeit hinter sich hat, wird die Presse schrei- lernte schnell, wie man auf Menschen zugeht,
­Wales, weiß, über ihre Persönlichkeit, wie sie ben, wie strahlend schön sie sei«. die richtigen Fragen stellt, andere zum Reden
über die Welt denkt, ist spärlich. Seit Catherine sich im Januar – wie die bringt. Im Umgang mit Menschen wirkt sie
Anders als Diana ist Catherine keine Prin- Welt nun von ihr selbst weiß: wegen ihrer nicht steif und unsicher wie beispielsweise die
zessin mit faszinierenden Untiefen. Sie ist Erkrankung – aus der Öffentlichkeit zurück- verstorbene Queen, sondern locker, nahbar,
fotogen, stets perfekt gestylt. Sie gilt als ma- zog und in sozialen Medien Gegenstand von fröhlich.
kellos – bis zur Langweiligkeit. Spekulationen und Zielscheibe übelster Ver- Es ist der Job der Royals, auf positive Wei-
Geboren wurde sie 1982 als Catherine Eli- leumdungen wurde, zeigt sich: Jedes Wort, se präsent zu sein. Das ganze Jahr besuchen
zabeth Middleton. Die Bürgerliche, die durch das Mantel damals schrieb, ist aktuell. Es sie Kinderhospize, weihen Sportstätten ein,
ihre Heirat mit Prinz William zur Königlichen spielt keine Rolle, welche Persönlichkeit in tauchen auf Militärbasen und in Alters­
Hoheit wurde, galt bald als Antwort auf die einem royalen Körper steckt. Die Personen heimen auf. Seit Catherine dazugehört, also
Frage, wie moderne Royals das unzeitgemä- im Palast sind Projektionsflächen, die Be- seit ihrer Heirat 2011, gibt es ungezählte
ße Konstrukt Monarchie mit Bedeutung füllen trachter je nach Bedarf glorifizieren, verurtei- Fotos, Videos, Instagram-Reels, die ihren
können. Seit ihr Stern als Superprominente len, niedermachen dürfen. Fleiß belegen, ihre strahlende Präsenz an der
aufging, ist sie schlicht »Kate«. Ein Label, eine Seit Harry, der jüngere Sohn des britischen Untertanenbasis oder bei glamourösesten
global wiedererkennbare Marke. Königs, in seinen Memoiren Auskunft über Anlässen.
2013 schrieb die scharfsinnige britische Au- Erfrierungen an seinem Penis gab, sind Zwei- Catherine betritt die royale Manege offi-
torin Hilary Mantel in ihrem Essay »Königliche fel angebracht, ob moderne Royals noch für ziell im November 2010. Damals geben sie
Körper«, dass sie Kate als Schaufensterpuppe Verklärung und Geheimnisse taugen. Doch und William ihre Verlobung bekannt, nach
wahrnehme, »ohne Persönlichkeit, ausschließ- im Zeitalter sozialer Medien kann auch ein acht Jahren einer On-off-Beziehung. Sie ist
lich definiert von den Kleidern, die sie trägt«. perfektes Image wie jenes von Kate zum Pro- damals 28 Jahre alt und firmiert in Boulevard-
Diese Zuschreibung werde nun – Catherine blem werden. medien unter dem demütigenden Spitznamen
»Waity-Katie«, weil der Prinz sie so lange
zappeln ließ, sich zwischenzeitlich von ihr
getrennt hatte. Kurz, aber freimütig erwähnt
sie das im ersten gemeinsamen TV-Interview
Hochzeitspaare Diana und Charles 1981, Kate und William 2011 des Paares. »Ich war nicht sehr glücklich da-
rüber«, sagt sie in ihrer wohlmodulierten Hö-
here-Töchter-Stimme, »aber es hat mich stär-
ker gemacht. Die Erfahrung finde ich heute
sehr kostbar, auch wenn es mir damals nicht
so vorkam.«
Das gesamte damalige Verlobungsinter-
view ist zum Fremdschämen. Der Prinz wird
befragt als Akteur und Entscheider, er sucht
die Frau aus, macht den Antrag. Sie ist die
erleichterte Auserwählte: »Natürlich« habe
sie sofort »Ja« gesagt. Der Interviewer ist der
TV-Journalist Tom Bradby, damals ein Freund
von William. Als er Catherine fragt, ob tat-
sächlich ein Bild von William an ihrer Wand
hing, noch bevor sie ihn kennenlernte, ant-
wortet sie lächelnd, aber bestimmt: »Das hät-
te er wohl gern. Nein, an meiner Wand hing
der Mann aus der Levi’s-Werbung.«
Im klassenbewussten Großbritannien wird
Catherines Geschichte als die eines fulmi­

70 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


TITEL

Die Middletons seien nicht »posh« genug für


die höchsten Kreise.
Später kam Catherine tatsächlich auf der
obersten Etage der britischen Gesellschaft an.
Und immer wieder wurde darüber spekuliert,
ob die blendende Perfektion ihrer öffentlichen
Erscheinung eine Kompensation sein könnte
für die frühere Wahrnehmung, nicht standes-
gemäß zu sein.
Es heißt, als Schulmädchen habe Catherine
Erfahrungen mit Mobbing gemacht. In Downe
House, einem der teuren britischen Interna-
te, in dem sich der Nachwuchs der Ober-
schicht tummelt, sollen Mitschülerinnen die
Schüchternheit der hoch aufgeschossenen
Catherine als Angriffsfläche gesehen haben.
Sie sollen die Neue geschnitten und sogar
nackt aus der Dusche gezerrt haben. Der
psychische Stress soll bei der damals 13-Jäh-
rigen ein Ekzem verursacht haben. Ihre
­Eltern retteten sie nach einem Halbjahr
aus Downe House, diesem »Kessel kochen-
den Östrogens«, wie es die britische Journa-
listin Tina Brown nannte. 15 Jahre später,
anlässlich ihrer Hochzeit, bat Catherine die
Gäste um Spenden für eine Initiative gegen
Mobbing.
Die Erfahrungen des Schulmädchens Ca-
therine wiederholen sich gerade im digitalen
Titelseiten britischer Zeitungen über royales Familienfoto: Im Auge der Öffentlichkeit
Raum. Seit ihrem krankheitsbedingten Rück-
zug wird die royale Markenbotschafterin Kate
vom Mob der sozialen Medien erneut in einen
brodelnden Kessel geworfen. Die nette Cathe­
rine, die transparent und unmysteriös schien,
versuchte, ihre Privatheit zu schützen, ein
nanten Aufstiegs erzählt. Der Spross einer voll umsorgte Kindheit. Wohnsitz der Familie Geheimnis zu bewahren. Und das ist offenbar
Bergarbeiterfamilie heiratet einen Prinzen, ist bis heute ein Dorf namens Bucklebury in unverzeihlich.
eines Tages wird sie Königin sein, so weit die Berkshire, phonetisch und landschaftlich eine Hilary Mantel erinnerte in ihrem Essay
holzschnittartige Version des vermeintlichen idyllische Verheißung. über »Königliche Körper« an Diana, die ein
Märchens, in dem Catherines Mutter Carole Die Mutter legte angeblich höchsten Wert gieriger öffentlicher Blick bis in den Tod ver-
immer wieder eine zentrale Rolle zugeschrie- auf eine exzellente Bildung der beiden Töch- folgte. Wir alle hätten es in der Hand, die pre-
ben wird. Es gibt Biografinnen und Netflix- ter, als deren Entrée in die beste Gesellschaft. käre Situation der »Pandas«, also der Königs-
Drehbücher, die Catherines Weg an die Spit- »The Ivys« sollen die Middleton-Schwestern familie in ihrem Käfig, zu lindern. »Ich ver-
ze der Gesellschaftspyramide in lupenreiner Catherine und Philippa in ihrer Unizeit ge- lange keine Zensur«, schrieb Mantel damals,
misogyner Tradition als Meisterstück der nannt worden sein, die Efeuranken, zielstre- »ich bitte uns alle nur darum, uns zurückzu-
Mutter deuten, auch »The Crown« erzählt die big auf dem Weg nach oben. halten, keine Unmenschen zu sein«.
Ereignisse so. Von Kleine-Leute-Verhältnissen konnte Inmitten der digitalen Hetzjagd auf
Catherines Vater, Michael Middleton, frü- bei den Middletons zwar keine Rede sein, ­Catherine gehen fast die Zeichen des Wandels
her ein Flugplaner bei British Airways, kommt doch in der Klassendogmatik der britischen bei den Windsors unter. Eine Generation zu-
aus gut betuchtem Haus. Carole Goldsmith Gesellschaft ist der Status »neureich« wo- vor übergab Queen Elizabeth II. ihre kleinen
AP / picture alliance / dpa, Lefteris Pitarakis / picture alliance / AP, David Cliff / EPA

hingegen stammt aus kleinen Verhältnissen, möglich brutaler. Wer Geld hat und das töl- Kinder für Monate dem Dienstpersonal, wenn
ihre Vorfahren sind Bergarbeiter, für sie ist pelhaft zeigt, wem andere Attribute dagegen sie für lange Auslandsreisen um die Welt fuhr.
die Heirat der gesellschaftliche Aufstieg in die fehlen, etwa der richtige Akzent oder stil­ Die Frage, wie sich berufliche Verpflichtungen
Mittelschicht. sicheres Auftreten, der sticht unter den und Familienleben vereinbaren lassen, stand
Ihren Beruf als Flugbegleiterin gibt sie auf, Gough-Calthorpes, Knatchbulls und Chol- damals nicht zur Debatte. Catherine, die sich
bekommt drei Kinder und hat schließlich eine mondeleys sofort als Parvenü hervor. in ihrer Rolle als Mitglied der Königsfamilie
geniale Geschäftsidee. Sie stellt Party-Acces- Die Middletons waren 2006 zu Williams auf die frühkindliche Entwicklung speziali-
soires für Kindergeburtstage zusammen und Abschlussfeier an der Offiziersakademie siert hat, machte in ihrer jüngsten Videobot-
bietet die Pakete per Katalog zum Verkauf. ­Sandhurst eingeladen. Anwesend war auch schaft deutlich, weshalb sie ihre eigene Krebs-
Erster Firmensitz von »Party Pieces« ist ein Williams Großmutter und Oberbefehls­­ - diagnose nicht umgehend öffentlich machte:
umgebauter Gartenschuppen. Binnen weni- haberin der Streitkräfte, Queen Elizabeth II. Sie habe zuerst sichergehen wollen, dass ihre
ger Jahre wird sie zur Selfmade-Millionärin. Die Fernsehkameras fingen ein, wie Carole drei Kinder die Nachricht von der Erkran-
Ihr Mann gibt bald seinen Job auf und steigt Middleton damals während der feierlichen Ze- kung ihrer Mutter begreifen und verarbeiten
ebenfalls ins Familienbusiness ein. remonie neben ihrer Tochter saß: kaugummi­ können.
Während Königskind William auf den kauend. Eigentlich sollte kein besonderer Akt von
Schlachtfeldern des Rosenkrieges seiner Eltern Als William wenig später die Beziehung Menschlichkeit notwendig sein, um das zu
Charles und Diana aufwuchs, hatten Cathe­ auf Eis legte, wurde die unelegante Schwieger­ akzeptieren.
rine und ihre Geschwister offenbar eine liebe- mutter in spe dafür verantwortlich gemacht. Patricia Dreyer n

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 71


TITEL

schneidend diese Diagnose ist, und gewähren


Abstand im Gegenzug für ein wenig Offen-
heit. Im deutschen Kontext konnte man das
an Manuela Schwesig gut beobachten: Als
Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vor-
pommern ist sie sehr früh mit ihrer Erkran-
kung an die Medien gegangen, erklärte, dass
sie fast alle anderen Ämter niederlegt – und
bat um Respekt für ihre Privatsphäre. Das hat
verhältnismäßig gut funktioniert.
SPIEGEL: Sie haben über den Umgang mit
Krebs eine »Emotionsgeschichte des 20. Jahr-
hunderts« geschrieben. Sind die Gefühle –
Angst, Scham, Hoffnung – heute anders als
vor 100 Jahren?
Hitzer: Ja. Erstens ist die Krankheit Krebs heu-
te nicht mehr dieselbe, wir erkennen sie früher,
verstehen sie besser und therapieren sie erfolg-
reicher. Zweitens hat sich unser Wissen über
Gefühle und wie wir damit umgehen, verändert.
»Angst« und »Hoffnung« tragen noch dieselben
Namen – sind aber nicht mehr das Gleiche.
Erkrankte Catherine im Video: »Transparenz als Signal einer guten Herrschaft« SPIEGEL: Wie wurde ein Mensch im Jahr 1900
mit der Krankheit konfrontiert?

»narben
Hitzer: Oft überhaupt nicht. Ärzte haben ihren

u n d g l at z e n Patientinnen und Patienten die Diagnose


meist verschwiegen, weil man davon ausging,
dass die Heilungschancen gering waren und
zu zeigen war eine Krebserkrankung oft ein elendes Ende

e i n t a b u b r u c h «​
unter Schmerzen bedeutete. Man dachte, eine
solche Diagnose zerstöre jede Hoffnung und
beende ein Leben im Prinzip vorzeitig. Aus-
nahmen gab es bei Personen mit besonderer
Verantwortung, etwa bei Unternehmensvor-
KREBS Wie spricht eine Gesellschaft über die Krankheit, welche ständen, Familienvätern – oder Kaisern. Bei
Friedrich III., der 1888 Deutscher Kaiser wur-
Gefühle entwickelt sie? Die Historikerin Bettina Hitzer de, stellten die Ärzte Kehlkopfkrebs fest. An-
hat das erforscht und fand zwischen fangs stritten sie noch über die Diagnose,
Kampf- und Hoffnungsrhetorik auch viel Scham. ­später vollzogen die Ärzte eine Art Ballett
zwischen Lüge und Wahrheit.
SPIEGEL: Wie kann man sich das vorstellen?
Hitzer: Die Ärzte sagten Friedrich, dass sein
Hitzer, 52, Professorin für Medi- einer Erkrankung umzugehen. Queen Eliza- Tod bevorsteht, damit er seine Geschäfte in
zingeschichte an der Universität beths Vater starb wie sein Bruder Edward an Ordnung bringen konnte. Gleichzeitig gaben
Magdeburg, erhielt für ihr Werk Lungen- beziehungsweise Kehlkopfkrebs. sie ihm immer wieder einen Funken Hoff-
»Krebs fühlen« 2020 den Preis Elisabeths Mutter, Queen Mum, sowie ihre nung, indem sie ihre eigene Diagnose hinter-
der Leipziger Buchmesse in der Schwester Margaret überlebten ihre Erkran- fragten. Vielleicht ist es ja doch etwas ande-
Kategorie Sachbuch/Essayistik*. kungen. Die Bevölkerung erfuhr diese Details res? Lebensbedrohlich, aber nicht tödlich –
erst viel später. oder zumindest nicht mit unerträglichen
SPIEGEL: Frau Hitzer, wir erleben gerade eine SPIEGEL: Auch bei Catherine hat es gedauert, Schmerzen verbunden?

Jan Vetter / picture alliance, Agency People Image, IMAGO, Agency People Image
einmalige Situation: ein britischer König und bis sie sich an die Öffentlichkeit wandte. SPIEGEL: Weil man die Angst des Patienten
seine Schwiegertochter, die zur selben Zeit Hitzer: Dennoch hat sie ihre Diagnose schließ- fürchtete?
an Krebs leiden und darüber sprechen. Emp- lich selbst öffentlich gemacht. Wie König Hitzer: Ja. Die Ärzte dachten, dass mit der
finden Sie Mitleid oder Forschungsdrang? Charles. Dass insbesondere er so früh über Diagnose jeder Lebensmut gebrochen würde,
Hitzer: Beides natürlich. Jeder Mensch, der seine Erkrankung gesprochen hat, ist für das was sich negativ auf die verbliebene Zeit hät-
an Krebs erkrankt, ist unabhängig von seiner britische Königshaus ein Novum. te auswirken können. Sie fühlten sich auch
politischen oder sozialen Stellung mit einer SPIEGEL: Woher kam der Wandel? für die Psyche ihres Patienten verantwortlich.
Diagnose konfrontiert, die schockierend ist – Hitzer: Transparenz ist heutzutage das Signal SPIEGEL: Catherine formulierte am Ende ihres
allein das Wort Krebs versetzt einen erst einer guten Herrschaft. Wer ausspricht, an Videos eine Botschaft an andere Betroffene:
­einmal in Angst und Schrecken. König und Krebs erkrankt zu sein, zeigt, dass er sein Pu- »Bitte verliert nicht den Glauben oder die
Prinzessin sind aber auch Personen der Öf- blikum wertschätzt. Andererseits ist es ein Hoffnung.« Ein ähnlicher Gedanke?
fentlichkeit, das macht die Fälle interessant. Versuch, in der Mediengesellschaft Kontrolle Hitzer: Nicht ganz. In der heutigen Medizin
SPIEGEL: Inwiefern? über sein Privatleben zurückzugewinnen. gibt es Diskussionen darüber, ob eine posi­tive
Hitzer: Gerade für das britische Königshaus SPIEGEL: »Hier ist die Diagnose, und nun lasst emotionale Grundhaltung die Überlebens-
ist es nicht selbstverständlich, offen mit so mir meinen Frieden«: Ist das der Vertrag mit wahrscheinlichkeit vergrößern kann. Studien
dem Volk? weisen auf einen möglichen Effekt hin. Aber
* Bettina Hitzer: »Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte Hitzer: Ich würde es eher einen Appell nen- so ein Appell kann auch ins Gegenteil um-
des 20. Jahrhunderts«. Klett-Cotta; 540 Seiten; 28 Euro. nen. Die meisten Menschen wissen, wie ein- schlagen, in eine Art Schuldzuweisung: »Wer

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nicht überlebt, hat nicht genug geglaubt, ge- taphern sind noch immer weitverbreitet: Wer hundert über die Erkrankung als »Anarchie
hofft, gekämpft.« überlebt, hat »gekämpft«, wer stirbt, hat »ver- der Zellen« in einem geordneten Zellenstaat.
SPIEGEL: In Ihrem Buch finden sich viele his- loren«. Das klingt, als könne man die Krank- Die Krebszelle zersprengt diese naturgege-
torische Beispiele für solche Erklärungen: Die heit allein mit Willenskraft »besiegen«. bene Ordnung. Und weil sie den Körper »von
Rede war von »Krebspersönlichkeiten«, die SPIEGEL: Täuscht der Eindruck, oder waren innen heraus« zersetzt, ließ sich das leicht auf
negative Gefühle unterdrückten und dadurch es im 20. Jahrhundert oft Frauen, die Tabus politische Gegner ummünzen – auf Men-
angeblich die Krankheit verursachten. Oder gebrochen haben? Die Künstlerin Matuschka schen, die aussehen wie wir selbst, aber heim-
davon, dass Gebärmutterhalskrebs mit »nicht etwa mit einer Brust-OP-Narbe auf dem Co- lich darauf aus sind, uns zu zerstören. Hinzu
ausgelebter weiblicher Sexualität und ver- ver des »New York Times Magazine«? Ange- kam noch die Ekeldimension.
sagter Mütterlichkeit« zu erklären sei. lina Jolie, die öffentlich über ihre doppelte SPIEGEL: Ekel?
Hitzer: Krankheiten, für die es keine ausrei- Mastektomie sprach? Hitzer: Tumoren sah man im frühen 20. Jahr-
chende Erklärung gibt, heizen Spekulationen Hitzer: Das war ein Prozess, der in den Acht- hundert meist als offene Geschwüre. Wenn
an. Krebs ist nun mal eine Krankheit der zigerjahren begann. Damals entstanden auch Operation oder Bestrahlung gescheitert wa-
Grenzen und Grenzüberschreitungen. Der in Deutschland Selbsthilfegruppen für an ren, konnten sie kaum mehr behandelt wer-
Arzt und Schriftsteller Siddhartha Mukherjee Krebs erkrankte Frauen. Zuerst ging es da­ den. In diesem Zustand sonderten sie starke
nannte Krebs eine »entstellte Version unserer rum, mit Perücke und BH alle Folgen der Gerüche ab, weswegen man Patienten und
selbst«. Unsere eigenen Körperzellen verän- Krankheit zu verstecken. Irgendwann stellte Patientinnen teilweise nicht mal mehr in
dern sich in Zellen, die unseren Körper be- man sich dann die Frage: Muss man das im- Krankensälen haben wollte. Diese Assozia-
drohen – so etwas regt die Fantasie an. Und mer verstecken? Narben und Glatzen zu zei- tionen nutzte die NS-Propaganda, um gegen
es gibt historische Kontinuitäten. gen war ein Tabubruch. Auch den Wandel hin vermeintlich unsaubere Juden zu hetzen.
SPIEGEL: Zum Beispiel? zu schonenderen Operationen bei Brustkrebs SPIEGEL: Während der gesunde, kraftvolle
Hitzer: Wie viele andere Krankheiten hat man haben Betroffene hart erkämpft. Arier in der Nazi-Propaganda von vornherein
auch Krebs ab der Spätantike mit einem Un- SPIEGEL: Sie schreiben, dass Ärzte lange Zeit von Krebs verschont blieb?
gleichgewicht der Säfte erklärt, einem Über- einen radikalen Ansatz bevorzugten, teilwei- Hitzer: Der Gedanke, dass allein eine gesunde
schuss an »schwarzer Galle«, die mit Melan- se gegen den Willen von Patientinnen. Lebensführung – ohne Laster, ohne Alkohol
cholie assoziiert war. Im 19. Jahrhundert Schmerzen und Nebenwirkungen der Thera- und Fleisch – Krebs verhindert, war in der
­erklärte man die Krankheit mit einer Über- pie sah man als irrelevant an: Man habe ihnen NS-Propaganda verbreitet. Unter anderen
lastung der Nerven. Wenn Mutter und Tochter schließlich das Leben gerettet. Vorzeichen ist er es heute auch noch.
am selben Krebsleiden erkranken, würde man Hitzer: Ich würde Medizinern hier keine Bös- SPIEGEL: Wo wird heute noch falsch über
das heute auf eine Genmutation zurückführen. artigkeit unterstellen. Es ging um eine andere Krebs gesprochen?
Damals war klar: Die Tochter wurde nur des- Sicht auf das Leben und Überleben. William Hitzer: Nach wie vor empfinden viele Men-
halb krank, weil ihr Leben von dunklen Ge- Stewart Halsted, ein berühmter Chirurg des schen Scham. Weil sie sich verantwortlich
danken bestimmt war – Sorge um die kranke frühen 20. Jahrhunderts, operierte bei Brust- fühlen, Krebs bekommen zu haben, ob mit
Mutter, Trauer um die Verstorbene. Solche krebs nach dem Motto: »Je radikaler, desto psychosomatischen Vorstellungen im Hinter-
Vorstellungen halten sich teilweise bis heute. besser«. Dahinter steckte der Glaube, dass grund oder wegen ihres Lebensstils.
SPIEGEL: Die US-Schriftstellerin Susan Sontag eine so existenzbedrohende Krankheit nur SPIEGEL: Öffentliche Erklärungen wie die von
veröffentlichte 1977 den Essay »Krankheit als mit der radikalsten möglichen Therapie ge- Catherine werden oft »Krebs-Beichte« ge-
Metapher«, in dem sie sich gegen solche Deu- heilt werden kann. Man führte gegen die nannt. Das klingt schon, als müsste man sich
tungen wehrte: Krebs als Folge von unter- Krankheit Krieg. für die Krankheit schämen.
drückten Gefühlen oder fehlender Leiden- SPIEGEL: Im Nationalsozialismus wurde die Hitzer: Das ist eine seltsame Überlagerung
schaft. Ein Wendepunkt in der Debatte? Krebsmetapher und der Ausrottungsgedanke der Zeitebenen: Diagnosen an sich sind
Hitzer: Definitiv, für viele Menschen war auf Menschen angewandt, man verglich Juden eigentlich kein Tabu mehr. Trotzdem kommt
»Krankheit als Metapher« eine prägende Lek- mit Tumorzellen. Wie kam man darauf? kaum eine »Krebs-Beichte« ohne den Hinweis
türe, die das Reden und Denken über Krebs Hitzer: Der Krebs wurde schon früh als poli- aus, wie schwer es sei, darüber zu sprechen.
verändert hat. So ein Wandel dauert aller- tische Metapher entdeckt. Der Arzt und Pa- SPIEGEL: Werden wir über Krebs je so locker
dings Jahrzehnte, und gerade die Kampfme- thologe Rudolf Virchow schrieb im 19. Jahr- sprechen wie über die Grippe?
Hitzer: Das war die Hoffnung von Susan Son-
tag: dass sich unsere Einstellung zu Krebs in
dem Maße ändern wird, in dem sich die
Therapien verbessern. In den vergangenen
Matuschka-Cover 1993, König Charles mit Genesungswünschen: »Ein Novum« 15 Jahren haben wir enorme Fortschritte ge-
sehen. Erkrankungen wie der »schwarze
Hautkrebs« galten früher als fast unheilbar.
SPIEGEL: Und trotzdem senken wir betrübt
unsere Stimme, wenn es um Krebs geht.
Hitzer: Weil es auch die andere Seite gibt:
Krebserkrankungen, die nach wie vor eine
schlechte Prognose haben. Der Sammelbegriff
wird hier zum Problem. Er umfasst zu viele
unterschiedliche Diagnosen, Heilungschan-
cen, Therapien. Und das historisch-kulturel-
le Gepäck, das wir mit dem Wort Krebs ver-
binden, wiegt schwer. Das ist auch beim bri-
tischen Königshaus so schwierig: Niemand
weiß genau, an welcher Erkrankung Charles
oder Catherine leiden. Deshalb befürchten
wir das Schlimmste.
Interview: Anton Rainer n

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AUSLAND

Z
wei Tage nach dem Blutbad von Moskau

Terrorgruppe
lädt Putins Staat zu einem Schauspiel
ein. Es soll eine Demonstration der Stär-
ke sein, die Demütigung vergessen machen.

gegen Folterstaat
Der Ort des Schauspiels: das Basmanny-Be-
zirksgericht von Moskau. Das Publikum: die
Medien der Welt. Die Botschaft: Seht her, wie
wir die Täter gefoltert haben.
Vier Männer werden hereingeführt, die
den Mordanschlag auf ein Rockkonzert am
Freitag mit bislang 139 Todesopfern verübt
haben sollen. Saidakrami Ratschabalisoda,
30, dem russische Sicherheitskräfte nach der
Festnahme ein Ohr abgeschnitten haben, er
trägt einen Verband, wo es einmal war. Die
Wange von Schamsiddin Fariduni, 25, ist von
Schlägen grotesk angeschwollen. Nach der
Festnahme war er mit Stromschlägen gefoltert
worden, wie ein Foto zeigt. Dalerdschon Mir-
sojew, 32, trägt eine Plastiktüte um den Hals,
offenbar hatte man ihm damit die Atemluft
genommen. Muchammadsobir Fajsow, 19,
wird in einem Liegestuhl hereingefahren, sei-
ne Augenlider sind geschlossen. Er hat bei der
Festnahme ein Auge verloren.
Auge um Auge, Zahn um Zahn, darum geht
es. Erst hat sich die Organisation »Islamischer
Staat« mit Videos zum Anschlag bekannt;
nun bekennt sich Putins Staat mit geleakten
Videos und der Gerichtsszene zum Ohrab-
schneiden und Foltern. Gewalt gegen Gewalt,
Terrorgruppe gegen Folterstaat.
Der Wettlauf im Einschüchtern zeugt da-
von, wie sehr der Anschlag auf die Crocus City
Hall Russland erschüttert hat. Und wie unvor-
bereitet das Regime darauf war. Die großen
Fragen sind: Warum hat der »Islamische Staat«
ausgerechnet jetzt in Russland zugeschlagen?
Und was bedeutet das für ­Putins Staat?
Wladimir Putin hat darauf keine Antwort.
Russlands Präsident wirkt in diesen Tagen
wie jemand, der störrisch die Wirklichkeit
verleugnen muss. Er, der seinen Aufstieg zum
starken Mann Russlands einst dem Krieg in
Tschetschenien und dem Kampf gegen isla-
mistischen Terror verdankte, wirkt überrum- Brennende Konzerthalle
bei Moskau
pelt. Er führt längst einen neuen Kampf,
gegen die Ukraine und den Westen, nun ist
ihm ein alter Feind in die Quere gekommen, Dejw Primow, 36, Vollbart und Pferde- Panik rennen, stolpern, fallen. Er schreibt
mit dem er offenbar nicht gerechnet hat. schwanz, hat gesehen, wie die Attentäter in seiner Frau: Hier wird geschossen. Primow
Einen Tag dauert es, bis er sich überhaupt der Konzerthalle Besucher erschossen. Pri- versteckt sich zwischen Sitzen. Von oben
zu Wort meldet. Und drei Tage, bis er das mow ist Travel-Blogger und Reisefotograf. kann er vor der Bühne zwei Männer sehen,
Offensichtliche eingesteht: dass die Täter Is- Sein Instagram-Account zeigt Bilder von die mit Sturmgewehren in die Menge schie-
lamisten sind. Er redet lieber von angeblichen Sandstränden, Koalabären, exotischem Essen. ßen. »Dutzende Leute wurden vor meinen
»Nazis« in der Kiewer Führung. Mit allen Die düsteren Momente in der Crocus City Augen erschossen, wie Vieh«, sagt er. Er habe
Mitteln versucht Putin eine ukrainische Spur Hall sind ihm in den Tagen danach tiefer in die Männer sofort für Selbstmordattentäter
zu suggerieren. Erst spricht er von der angeb- die Seele gefahren, als er zunächst dachte. gehalten.
lich vorbereiteten Flucht der Attentäter Rich- Am Telefon erzählt er, was er erlebt hat. Oben auf dem Rang, erzählt Primow, lau-
tung Ukraine, am Montag behauptet er: Die Am Freitagabend gegen 19.53 Uhr hat Pri- fen Hunderte Menschen verzweifelt umher.
Islamisten seien ein Instrument der Neonazis, mow mit einem Kollegen im Rang des großen Wachleute und Polizisten sind nicht zu sehen.
so wie die Neonazis wiederum ein Instrument Saals Platz genommen. Gleich soll Piknik Primow bedeutet den Menschen um sich, sie
des Westens seien. Es ist eine wilde Theorie, spielen, eine der ältesten Rockgruppen Russ- sollen in Deckung bleiben. Hinunter können
er versucht erst gar nicht, Belege zu bringen. lands. Eine Lasershow soll die Musik beglei- sie nicht, dort krachen weitere Schüsse. Also
Er wirkt wie ein Besessener, der sein Weltbild ten. Der Saal ist bereits gut gefüllt, das Kon- kriechen sie weiter nach oben. Als er ein letz-
verteidigt. »Er hat mit sich selbst gespro- zert mit mehr als 6000 Plätzen ausverkauft. tes Mal in den Saal schaut, sieht er, dass es
chen«, spottet der ukrainische Präsident Plötzlich, so erzählt es Primow, hört er es unten bereits brennt. Primows Gruppe flieht
­Wolodymyr Selenskyj. »Für ihn sind alle Ter- unten vor der Bühne knallen. Er denkt zuerst: durch eine Nebentür, tastet sich durch dunk-
roristen, außer ihm selbst.« ein Feuerwerk. Dann sieht er Menschen in le Gänge, stößt auf verschlossene Türen. Pri-

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AUSLAND

»Die schossen außerdem sehr ruhig. Als


ob sie ausgebildet wurden oder bereits ge-
RUSSLAND Der Angriff des IS auf eine Konzerthalle erschüttert kämpft hatten.«
das Land – und enthüllt die Schwächen und die Die Planung für den Anschlag begann spä-
testens Anfang März. Am 7. März porträtiert
Brutalität des ­Regimes. Was folgt daraus für Putins Staat? ein Fotograf in der Crocus City Hall Besucher,
zufällig hält er auch das Gesicht von Scham-
siddin Fariduni fest. Fariduni trägt eine Leder-
jacke, seine Mundwinkel deuten ein Lächeln
an, im Hintergrund hängt ein Plakat der Rock-
gruppe Piknik. Er ist offenbar dabei, den An-
schlagsort auszukundschaften.
Fariduni ist Arbeiter in einer Parkettfabrik
in Podolsk, rund 45 Kilometer südlich von
Moskau. Erst kurz zuvor ist er aus Istanbul
zurückgekommen. Bei seiner Festnahme wird
er später sagen: »Vor einem Monat« sei er
über Telegram für das Attentat rekrutiert wor-
den, vom Assistenten eines Internetpredigers.
Eine halbe Million Rubel, 5000 Euro, habe
man ihm versprochen.
Hat Fariduni das Attentat in Istanbul vor-
bereitet? Wie der SPIEGEL von offizieller
türkischer Seite erfahren hat, war er bereits
21. Februar dorthin gereist, eingecheckt hatte
er in ein Hotel im Altstadtviertel Fatih, be-
kannt als Hochburg der Frommen. Am 23. Fe-
bruar postete er auf Instagram Fotos aus Is-
tanbul: eine Moschee, einen Frühstücksteller,
ein Selfie. Am 2. März reiste er zurück nach
Russland – und das nicht allein. Mit ihm ge-
bucht auf denselben Flug war Ratschabaliso-
da, ein weiterer Tatverdächtiger, auch er aus
Podolsk. Ratschabalisoda war schon am 5. Ja-
nuar in die Türkei eingereist, auch er hatte in
einem Hotel im Fatih-Viertel eingecheckt.
Am selben 7. März, an dem Fariduni durch
die Konzerthalle läuft und in die Kamera des
Crocus-Fotografen lächelt, warnt die US-Bot-
schaft öffentlich vor Anschlägen auf Massen-
Dmitr y Serebr yakov / DER SPIEGEL

versammlungen in Russland – sie erwähnt aus-


drücklich Konzerte. In den nächsten 48 Stunden
werde vom Besuch abgeraten. Stunden vor der
öffentlichen Warnung haben die US-Geheim-
dienstler vertraulich ihre Gegenüber in Russland
alarmiert. In ihrer Mitteilung, so sagt ein
­US-Regierungsvertreter dem SPIEGEL , ist aus-
drücklich vom »Islamischen Staat Provinz
mow hilft, eine Tür aufzubrechen, sie kom- Mindestens 139 Menschen sind an jenem ­Khorasan« (ISPK) die Rede.
men über ein Treppenhaus ins Freie. Gerade Freitag zu Tode gekommen – erschossen, er- Und noch etwas passiert an jenem 7. März:
rechtzeitig, sagt Primow: Als er zurückschau- stickt, verbrannt. Es ist der größte Terroran- Russlands Inlandsgeheimdienst FSB meldet,
te, habe der obere Teil des Gebäudes schon schlag auf russischem Boden seit Langem. dass er in der Region Kaluga Terroristen des
in Flammen gestanden. »Wir wären bei le- Viele Moskauer fühlten sich an den Anschlag ISPK gestellt und getötet habe. Diese hätten
bendigem Leib verbrannt.« auf das »Nord-Ost«-Musical 2002 erinnert. Anschläge auf Synagogen geplant. Das FSB-
Primow erzählt das ruhig, er versucht, sei- Damals hatten tschetschenische Terroristen Video der Hausdurchsuchung zeigt einen
ne Eindrücke zu ordnen. Und er hat viele Geiseln genommen, bei der Befreiung unter Stadtplan von Moskau, mit Davidsternen sind
Fragen. Wie konnte die Halle so schnell Feu- Einsatz von Betäubungsgas starben offiziell jüdische Einrichtungen markiert.
er fangen, das Dach einbrechen? Warum wa- 130 Geiseln, tatsächlich wohl mehr. Es wirkt im Rückblick, als hätten die Er-
ren Fluchtwege versperrt? Wie konnten die »Damals waren 40 Bewaffnete beteiligt. eignisse hier eine andere Wendung nehmen
Attentäter in den Konzertsaal eindringen, Diesmal waren es drei Männer mit Sturm- können. Die Sicherheitskräfte sind von aus-
dann heil entkommen und Hunderte Kilo- gewehren und einer mit einem Messer! ländischen Diensten gewarnt worden. Die
meter im Auto fliehen? Wo waren die Wach- Die haben das sehr gut geplant«, sagt die Warnung ist konkret: Es geht um Konzerte.
leute? Wo blieb die Polizei, die im benach- Journalistin und Geheimdienstexpertin Irina Es geht um den ISPK. Der FSB hat bewiesen,
barten Crocus-Expo-Gebäude eine Wache Borogan. Das Feuer, nicht die Schüsse, sei dass er den ISPK auf dem Schirm hat. Jetzt
unterhält? Warum kamen die Rettungskräfte die eigentliche Waffe gewesen, die Crocus müssen nur noch Sicherheitsmaßnahmen ver-
so spät? Primow, so sagt er, sieht die ersten City Hall – »eine Metallkonstruktion mit stärkt werden, und das Unheil ist abgewendet.
Blaulichter etwa 25 Minuten nach Beginn des Plastikverkleidung« – habe sich dafür an- Vieles spricht dafür, dass der Anschlag tat-
Angriffs, als er in Sicherheit ist. geboten. sächlich für die folgenden Tage geplant ist,

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AUSLAND

1 | Trauernde
vor der
Konzerthalle
2 | Präsident
Putin bei
Gedenken an
die Opfer

Dmitr y Serebr yakov / DER SPIEGEL

Mikhail Metzel / AP
1 2

aber wegen stärkerer Kontrollen verschoben folgt einem prominenten Prediger. Und sie nannt nach einer Art historischem Großaf­
wird. Fariduni und sein mutmaßlicher Mit­ unterstellt, man könne IS-Täter schon äußer­ ghanistan. »Der Verfolgungsdruck in Afgha­
täter Fajsow, Friseur aus dem Gebiet Iwanowo lich erkennen. nistan durch die Taliban ist immens«, sagt
und der Jüngste in der Gruppe, besuchen an­ Aber was ist der IS heute, ein gutes Jahr­ Antonio Giustozzi vom Royal United Services
geblich mindestens fünfmal die Konzerthalle, zehnt nach seiner größten Ausdehnung? Wie Institute in London, der seit zwei Jahrzehnten
sie sind auf den Konzerten von Grigorij Leps hat er sich verändert? die islamistischen Bewegungen in Afghanistan
und von Shaman, einem Sänger mit ultra­ Vom Schreckensruf des IS der Jahre ab beobachtet.
patriotischen Liedern und hart gescheiteltem 2014 ist vor allem der Ruf geblieben. Die Or­ Zwar verübten ISPK-Zellen nach der
blondem Haar. ganisation ist zerfallen in Gruppen, ihr »Ka­ Machtübernahme durch die Taliban im Au­
Am 10. März, einem Sonntag, sitzen die lifat« zerschlagen, ihre Macht, Waffenbestän­ gust 2021 zeitweise wöchentlich Anschläge,
beiden damit wohl in dem Shaman-Konzert, de, Finanzmittel sind zusammengeschrumpft. aber sie unterschätzten die Geheimdienst­
das auch die Moskauer SPIEGEL -Korrespon­ Jener »Islamische Staat«, der ab 2013 wei­ fähigkeiten der Taliban. Fortwährend wurden
dentin besucht. Es sind vor allem Frauen und te Gebiete in Nord- und Ostsyrien, 2014 blitz­ IS-Zellen ausgehoben, Mitglieder verhaftet,
Familien gekommen. Viele halten russische artig große Teile des Westiraks eroberte und erschossen, Moscheen und Koranschulen ge­
Fahnen und blinkende Herzen in der Hand. jahrelang halten konnte, war anders als al- schlossen. Überdies hätten die Taliban den
Einige wenige Polizisten stehen in der Nähe Qaida und die bekannten Dschihadistengrup­ ISPK in Afghanistan weitgehend von seinen
der Eingänge, wo Besucherinnen und Besu­ pen. Keine langsam gewachsene Organisation Finanzströmen abgeschnitten, so Giustozzi:
cher Metalldetektoren passieren müssen. beseelter Gläubiger, sondern das Projekt bril­ »Ende Mai 2023 berichtete eine Quelle, die
Wachleute lassen sich Taschen zeigen. Die lanter Planer und Militärstrategen, die fast in regelmäßigem Kontakt mit ISPK-Mitglie­
Kontrollen wirken flüchtig. Im Saal sind keine alle Offiziere in Saddam Husseins Geheim­ dern war, dass sie in den Dörfern um Essen
Wach­leute zu sehen, nur an der Bühne haben diensten und Eliteeinheiten gewesen waren. betteln müssten.«
Bodyguards des Schamanen Stellung bezogen. Die den Prediger Abu Bakr al-Baghdadi als Eine SPIEGEL -Recherche zur selben Zeit
Zwölf Tage später wird hier ein Blutbad Repräsentationsfigur an die Spitze stellten in den einstigen Hochburgen des ISPK in Ost­
stattfinden, wird ein Feuer die Menschen und und im Hintergrund ebenso flexibel wie bru­ afghanistan ergab das gleiche Bild: Jedes Tal,
den Saal verschlingen. tal ihre Diktatur organisierten. jedes Dorf war unter Kontrolle der Taliban.
Und nur neun Tage später passiert etwas, Mit US-Luftangriffen schon im Spätsom­ Annähernd zwei Drittel der ISPK-Mitglie­
das den Weg in die Katastrophe erklärt und mer 2014 begann der Niedergang des IS, wur­ der seien bis Frühjahr 2023 nach Pakistan
befördert. Wladimir Putin tritt vor Führungs­ den die führenden Köpfe getötet, starben die geflohen. Dessen Geheimdienst wird von den
personal des FSB auf und wischt mit großer meisten Kämpfer in monatelangen Gefechten. Taliban beschuldigt, den ISPK heimlich zu
Geste alle Warnungen des Auslands vor Ter­ Anfang 2019 war das Kalifat als beherrschtes unterstützen. »Der Anschlag in Moskau,
roranschlägen vom Tisch. »Provokationen« Gebiet von den Landkarten verschwunden. wenn sich denn alles so ereignet hat wie be­
nennt er sie, »das alles ähnelt offener Erpres­ Was blieb, waren die versprengten Reste – richtet, war ein perfekter Ausweg für den
sung und der Absicht, unsere Gesellschaft und der große Name. Im Namen des IS werden ISPK, schlagartig wieder ins Rampenlicht zu
einzuschüchtern und zu destabilisieren.« nach wie vor weltweit Anschläge begangen, kommen«, sagt Giustozzi.
Fatale Worte. »Wenn dein Präsident, Füh­ operieren Gruppen vor allem im Sahelgebiet, Wladimir Putin stellte es in seinem TV-
rer und Diktator so etwas sagt, was machst in Syrien, im Nordirak und in Afghanistan, Auftritt von Montag als ein Rätsel dar, warum
du dann als FSB-Offizier? Wie kannst du et­ kontrollieren aber jenseits von Afrika keine islamistische Terrororganisationen Russland
was untersuchen, was dein Präsident als Pro­ Gebiete mehr. Ihre Anschlagsziele, selbst angreifen sollten – wo sein Land doch »eine
vokation abgetan hat?«, fragt Geheimdienst­ die Hassobjekte ihrer Propaganda sind die gerechte Lösung« des Nahostkonflikts suche.
expertin Borogan. lokalen Feinde. Tatsächlich gab es in der Vergangenheit
Noch Tage nach dem Anschlag posaunt Im alten syrisch-irakischen Kerngebiet des immer wieder Anschläge des IS und genug
Margarita Simonjan, Chefin des Propaganda­ Kalifats haben die IS-Attacken seit 2021 stetig Motive – von der sowjetischen Invasion in
kanals RT, dass die westlichen Warnungen abgenommen. »Die entführen Geschäftsleu­ Afghanistan über den Konflikt im russischen
eine Irreführung gewesen seien, die Täter kei­ te, legen Bomben, greifen Polizeiposten an Nordkaukasus bis zur Intervention in Syrien,
nesfalls Islamisten. »Keiner von denen woll­ und verschwinden wieder«, formuliert es der wo Russlands Luftwaffe 2015 Diktator Assad
te sterben. Keiner war ein religiöser Fanatiker. irakische Journalist Moamel Muayad aus vor dem militärischen Untergang bewahrte.
Der IS war da nicht mal in der Nähe«, be­ Mossul. Doch ausgerechnet für den IS in Syrien spielt
hauptet sie auf Telegram. Während in Afrika die Zahl der Anschläge Russland als Feind kaum eine Rolle, weder in
Simonjan interessiert nicht, dass einige der konstant geblieben ist, ist sie bei jenem IS- der Propaganda noch bei Anschlägen. Dort
Täter in den sozialen Medien religiöse Inte­ Ableger seit 2022 dramatisch gesunken, der werden die USA und die Kurden verteufelt.
ressen zeigen – Fajsow hat als Kind säuberlich seit Freitag als gefährlichster Erbe gilt: »Isla­ Dafür ist ein neues Motiv hinzugekom­
die Flagge des IS abgemalt, Ratschabalisoda mischer Staat Provinz Khorasan«, ISPK, be­ men: Russlands Kooperation mit den Taliban

76 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


AUSLAND

in Afghanistan, die auf den Propagandaseiten heimdienst GRU unterhält einen Stützpunkt Angriffe. »Einige Schurken haben unser
des ISPK wie dem »al-Naba Newsletter« ge- im Land, die Zusammenarbeit der Sicher- ­ganzes Volk in Verruf gebracht«, sagt Ali re-
geißelt wird. heitskräfte ist eng. signiert. »Wir bleiben lieber keine Sekunde
Vor allem aber ist schlicht die Gelegenheit Aber rekrutiert werden Tadschiken vom länger hier.« In den sozialen Medien habe er
günstig – dank Russlands Angriffskrieg gegen ISPK meist in Russland: Von Tadschikistans gelesen, dass ein Landsmann in Moskau ver-
die Ukraine. In ihm hat der »Islamische Staat« knapp 10 Millionen Einwohnern leben und prügelt worden sei, sagt Ali. Viele fürchten
keine Position bezogen. Da kämpften »Kreuz- arbeiten 1,3 Millionen nach offiziellen An- sich, abends auf die Straße zu gehen.
ritter gegen Kreuzritter«, also: das christliche gaben in Russland, oft unter entsetzlichen Im Internet kursieren Screenshots von Ta-
Russland gegen die christlichen Vereinigten Bedingungen. Die meisten sind Männer. xi-Kunden, die ihre Bestellung stornieren,
Staaten, hieß es in den Propagandakanälen ­Geldüberweisungen machen ein Drittel des wenn der Fahrer Tadschike ist. In seiner Hei-
des ISPK. Sprich: Der Krieg sei nützlich, weil Bruttoinlandsprodukts aus. mat, sagt Ali, werde er nur um die 200 Euro
Erzfeinde einander schwächen. Für Islamisten seien die Arbeitsmigranten monatlich verdienen, außerdem drohe ihm
Der US-Terrorismusexperte Colin Clarke leichte Beute, sagt der britische Tadschikistan- der Militärdienst. »Aber nach Russland setze
vom Thinktank The Soufan Group hat die Experte Edward Lemon. Die Arbeit in der ich keinen Fuß mehr.«
Informationskampagne des ISPK gegen Russ- Fremde ist hart, die Arbeiter sind vereinsamt, Wie in anderen europäischen Gesellschaf-
land analysiert und schon vor einem Jahr neue Familien- und Freundschaftsbande reißen ab. ten, die von Terroranschlägen getroffen wur-
Anschläge vorhergesagt. Den ersten Angriff »Und dann kommt der IS mit einer einfachen den, werden in Russland schärfere Gesetze
gegen Moskau führte der ISPK in Kabul aus, Botschaft wie dieser: Warum wollt ihr unter gefordert, sogar eine Rückkehr zur Todes-
als er im September 2022 nahe der russischen Ungläubigen als Sklaven leben? Kommt, strafe soll im Parlament diskutiert werden.
Botschaft eine Bombe zündete. Zuvor hatte schließt euch euren Brüdern in Syrien und Der Unterschied zum Rest Europas ist:
der Kreml die Talibanführung hofiert und de- dem Irak an.« Schon jetzt haben die Sicherheitskräfte in
ren Vertreter sogar auf das Petersburger Wirt- Nun wird die Lage für die Tadschiken in Russland freie Hand, egal was das Gesetz ih-
schaftsforum eingeladen. Russland noch schwieriger. Am Montag war- nen vorschreibt. Nun zeigen sie es auch noch.
Derzeit sehe die Terrorgruppe Russland ten vor dem Moskauer Konsulat des Landes, »Gefoltert wurde auch bisher oft, aber die
als besonders verwundbar an, glaubt Clarke. einem hellen Steingebäude, Dutzende Män- Sicherheitskräfte und die Polizei haben das
Russlands Sicherheitsdienste seien wegen des ner und Frauen. Etwas abseits steht Ali, 19, stets abgestritten. Dass man dem Publikum
Krieges in der Ukraine überlastet und damit mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder. Die bei- gefolterte, entstellte Menschen eigens vor-
beschäftigt, Dissidenten zu überwachen. »Der den planen, noch nachts das Land zu verlas- führt, ist völlig neu«, sagt Geheimdienst­
IS hat diese Lücke wahrgenommen und be- sen. Ali arbeitet als Lackierer in einer Auto- expertin Borogan.
schlossen zuzuschlagen«, sagt Clarke. werkstatt, umgerechnet rund 750 bis Unklar dagegen ist, was der Terroran-
Überproportional viele Kämpfer stellt 900 Euro verdiene er monatlich, den Großteil schlag für den Krieg gegen die Ukraine be-
­Tadschikistan, das bitterarme muslimische davon schicke er nach Hause. In ihrer Heimat- deutet. In den Köpfen von Russlands Fern-
Hochgebirgsland zwischen Usbekistan, Kir- stadt Duschanbe warteten die Eltern voller sehpublikum hat die Kremlpropaganda be-
gisistan, China und Afghanistan. Teil des Pro- Sorge: »Sie haben uns nach der Tragödie so- reits fest verankert, dass die Attentäter mit
blems ist die Diktatur des langjährigen Macht- fort zurückbeordert.« der Ukraine zu tun hätten – weil sie dorthin
habers Emomali Rachmon. Mit Moskau ist Viele der Migranten fürchten neue Schi- hätten fliehen wollen. Aber wollten sie das
das Regime eng liiert: Russlands Militärge- kanen der Sicherheitsbehörden, Pöbeleien, wirklich? Ihr Auto wurde in der Region
Brjansk gestoppt, die auch an Belarus grenzt.
Dessen Diktator Alexander Lukaschenko
Land im Terror sagte am Dienstag: Die Flüchtenden hätten
zuerst vergebens versucht, in sein Land zu
Tote bei Gewalttaten mutmaßlicher oder bekennender Mitglieder des »Islamischen Staats« (IS) fliehen. »Sie sind deshalb umgekehrt und zur
in Russland, seit 2018
ukrainisch-russischen Grenze gefahren.« So
22. März 2024 widerlegt ausgerechnet sein engster Verbün-
Sankt Petersburg Terroristen töten mindestens 139 deter Putins Darstellung.
Menschen in einem Konzertsaal in Den Kreml schert das nicht. Putins Sicher-
einem Vorort von Moskau. heitsberater Nikolaj Patruschew, von einem
Journalisten mit der knappen Frage »IS oder
Moskau Jekaterinburg Ukraine?« konfrontiert, hat grinsend mit »Na-
RUSSLAND türlich Ukraine« geantwortet. Der Kreml hat
sich festgelegt, wo der Feind steht.
Aber da er die Ukraine ohnehin mit ver-
BELARUS heerenden Raketenangriffen überzieht, hat
KASACHSTAN der unbelegte Vorwurf keine Wirkung. Die
russische Rhetorik diene womöglich »nicht
dazu, Handlungen zu rechtfertigen, sondern
Untätigkeit«, vermutete die Sicherheits­
UKRAINE expertin Hanna Notte in der »Financial
Times«. Anstatt vor seinem Volk die schweren
139 Versäumnisse der eigenen Sicherheitskräfte
Tote und die blinden Flecken bei der Terrorabwehr
einzuräumen, sagt Putin seinen Bürgerinnen
und Bürgern: Da kann man nichts machen –
500 km das ist Teil jenes Krieges, den wir ohnehin
10 schon führen.
GEORGIEN 5
ASERBAIDSCHAN 1 Şebnem Arsu, Ann-Dorit Boy, Alexander
­Chernyshev, Christian Esch, Christina Hebel,
S Quelle: ACLED; Stand: 22. März 2024 ­Mohannad al-Najjar, Christoph Reuter n

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 77


AUSLAND

Eine Mauer teilt mein Herz


ESSAY Ich wuchs auf als Sohn einer jüdischen Mutter und eines palästinensischen Vaters. Das war
manchmal schön, zum Beispiel wenn wir Weihnukka feierten, die Mischung aus
Weihnachten und Chanukka. Dann zog der Konflikt in meine Familie ein. Von Amir Sommer

W
enn man wie ich halb als rant betreten konnte, sprengte sich Hälften geteilt war: auf der einen
­Israeli und halb als Palästi- ein Mann in der Pizzeria in die Luft. Seite der Kampf meines Vaters,
nenser aufwächst, ist das Dieser Selbstmordanschlag im Sbar- auf der anderen der Schmerz mei-
nicht so, als gäbe es zwei Hälften ro-Restaurant war einer der berüch- ner Mutter.
von einem. Man ist beides vollstän- tigtsten Terroranschläge der Hamas. Ich glaubte an die Lügen meiner
dig, sowohl Israeli wie Palästinen- Bis zum Massaker vom 7. Oktober Mutter, bis ich mit 19 Jahren mein
Christopher Brown

ser. Die Geschichten, der Schmerz zählte er zu den größten Anschlägen Elternhaus verließ und allein nach
und die Träume, die ich in mir tra- in der Geschichte Israels. Das Er- Tel Aviv zog, um meinen Traum als
ge, stammen nicht nur von einer gebnis waren 130 Verletzte, 16 Tote Schriftsteller zu verfolgen. Erst dort
Sommer, 31, ist
Seite, sondern von beiden, von mei- und eine wachsende Kluft zwischen fand ich heraus, vor allem durch
Dichter und Autor. Er nem muslimisch-palästinensischen Palästinensern und Israelis. meinen echten Vater, dass meine
wuchs in Haifa auf Vater und von meiner jüdisch-israe- Meine Mutter überlebte den An- Mutter mich angelogen hatte, um
und lebt seit vier lischen Mutter. schlag, aber ein Teil ihrer Seele blieb mich vor der unmöglichen Existenz
Jahren in Berlin. Sein
demnächst erschei-
Ich erinnere mich, dass ich die für immer in dieser blutigen Straße. zu schützen, die ich als Kind des
nendes Buch »Disco Feiertage manchmal gleichzeitig Unsere Beziehung war danach nie Konflikts führe.
for Peace« ist ­feierte. Da gab es Weihnukka, die mehr dieselbe. Alles, was für sie Im Nachhinein erinnere ich mich
inspiriert von seiner ­Mischung aus Weihnachten und zählte, war, dass ich kein Araber an viele Momente, in denen mir
halb israelischen,
halb palästinensi-
Chanukka, und es gibt manchmal sein würde. In ihrer Hysterie mani- trotz der Verdrehungen meiner
schen Familie. die seltsame Gleichzeitigkeit des pulierte sie mich emotional derart, Mutter hätte klar sein müssen, wer
Fastens im Ramadan mit Abendes- dass ich glaubte, mein richtiger mein leiblicher Vater ist. Tief in
sen zu Pessach und Ostern. Wir be- ­Vater sei nicht der palästinensische mir hatte ich schon vorher gespürt,
suchten palästinensische Familien Mann, der bei uns lebte, sondern dass ich anders war. Dass er mein
in Nazaret, wo wir das Wochenende ein jüdischer Mann, mit dem sie frü- Vater war, vielleicht weil ich ein-
verbrachten, und später israelische her verheiratet war. Sie verbannte fach einen Vater haben wollte. Und
Freunde aus einem Kibbuz. alle anderen Religionen aus unse- manchmal auch, weil ich seinen
Wo immer wir hinkamen, hatten rem Haus, schickte mich jeden Schmerz als palästinensischer
meine Eltern das Gefühl, sie müss- ­Freitag in die Synagoge, brach den Mann spüren konnte, wie ihn nur
ten ihre Identität anpassen, um da- ­Kontakt zu unseren palästinensi- der eigene Sohn spüren kann.
zuzugehören. Waren wir bei Paläs- schen Freunden ab und versuchte In anderen Momenten hatte ich
tinensern, war es nicht gut, zu viel sogar, mich auf eine jüdische Reli- dieses Gefühl gar nicht, und es war
Hebräisch zu sprechen oder Israel gionsschule zu schicken. mir peinlich, da ich wie alle anderen
zu loben, und sogar israelische Kin- Mein Vater ging in dieser Zeit einfach nur ein Jude sein wollte.
derbücher wurden gemieden. Bei wie ein Geist durch das Haus, es Zurzeit arbeite ich daran, ein Fo-
­israelischen Freunden war es da- gab keine Bilder von ihm an der rum für Menschen mit gemischter
gegen besser, kein Arabisch zu spre- Wand, keinen Familiennamen an Abstammung wie mich zu schaffen.
chen und Verbindungen zu ande- der Tür. Er kam nachts von der Da es kaum öffentlich verfügbare
ren Religionen als dem Judentum Arbeit zurück, um kurz zu schlafen, Studien dazu gibt, recherchiere ich
herunterzuspielen. verschwand mit dem Sonnenauf- auf eigene Faust und habe mehrere
Wir waren wie Wasser, wir pass- gang und stimmte an den Wochen- Personen durch Hinweise von
ten uns den anderen an, spiegelten enden allem zu, was meine Mutter Freunden und Bekannten entdeckt.
unser Gegenüber und verbargen, sagte, auch den Lügen. Wenn ich Leider sind es bisher nur ein paar
was darunter lag. versuchte, mit ihm zu sprechen, Dutzend. Auch weil es so wenige
Dann, eines Tages, ich war acht war seine einzige Antwort: »Sei sind, sind Israelis sowie Palästinen-
Jahre alt, stellte die Zweite Intifada, still, Amir.« ser von meiner Geschichte oft
der Aufstand der Palästinenser überrascht. Das israelische Rechts-

A
gegen die israelische Besatzung, ll das führte schließlich zur system kennt keine Zivilehe und
einen neuen Rekord auf. Meine unschönen Trennung meiner lässt daher keine interreligiösen
Mutter, die zu dieser Zeit in Jerusa- Eltern. Die Intifada fand Ehen zu, sodass meine Eltern als
lem alternative Medizin studierte, auch in meinem Haus statt. Ihre religiöse Tabubrecher und ich als
wollte mir eines Tages meine Lieb- Kämpfe waren brutal, genau wie die Bastard gelten.
lingspizza kaufen. Bevor sie die ihrer Nationen. Ich spürte, dass Ich hatte nie ein Vorbild dafür,
Straße überqueren und das Restau- mein Herz durch eine Mauer in zwei was es bedeutet, der zu sein, der ich

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AUSLAND

bin. Mit einer Ausnahme, das war Vor allem während nationaler Eine potenzielle mehr als vier Jahren mein neues, si-
Juliano Mer-Khamis, ein Schau­ Krisen werden palästinensische Is- cheres Zuhause ist. Hier sah ich zum
spieler und Nachbar meines Vaters. raelis zur Zielscheibe, müssen Spott Zielscheibe ersten Mal Menschen aus Tel Aviv
Er befand sich in einer extremen wegen ihres Akzents ertragen, ha- für beides: für und Gaza auf derselben Straße ge-
Identitätskrise, erst war er ein ultra- ben es schwer, einen Arbeitsplatz hen. Hier habe ich auch den Mut ge-
zionistischer Kampfsoldat, später oder eine Wohnung zu finden oder
Antisemitis- funden, mich offen zu bekennen:
verleugnete er seine israelische Seite ins Ausland zu reisen. mus und für »Ich bin halb Israeli, halb Palästi-
und zog ins Flüchtlingslager von Islamophobie nenser. Ob es euch nun gefällt oder

M
Dschenin. Dort wurde er schließlich it 14 Jahren wurde ich nicht.« In Deutschland habe ich lei-
von einem Palästinenser erschossen. Zeuge, wie ein Freund von der Organisationen und Verbände
Solch ein drastischer Identitätswech- mir angegriffen wurde. Äl- kennengelernt, die es zu einer Art
sel ist bei uns »Konfliktkindern« tere jüdische Jugendliche nahmen Geschäftsmodell gemacht haben,
häufig. Schaut man sich meine archi- ihn während eines Billardspiels we- sich für den Frieden einzusetzen,
vierten Beiträge in den sozialen gen seines muslimischen Namens weil es ihrem Image hilft oder viel
­Medien an, kann man meinen Über- aufs Korn. Ich versuchte, die Situa- Geld einbringt. Aber es gibt auch
gang von einem extremen Zionisten, tion zu beruhigen, doch die Schlä- viele andere: Veranstaltungen der
der an ein Groß­israel glaubt, zu ger hänselten mich wegen meiner Nichtregierungsorganisation Hillel
einem glühenden Propalästinenser langen Haare und fragten, ob noch förderten den jüdisch-muslimischen
verfolgen. Und glauben Sie mir, das jemand ein »stinkender Araber« Dialog, und »Kanaan«, ein
ist mir ­alles sehr unangenehm. sei. Linke jüdische Freunde sagten, Hummus-Restau­rant, das von einem
Ich habe meinen Eltern die Ver- ich solle mich zurückhalten. Bei der israelischen und einem palästinensi-
tuschung und die Lügen verziehen. gewalttätigen Auseinandersetzung schen Koch gemeinsam betrieben
Besonders nachdem ich aus erster versuchte mein palästinensischer wird, hat ebenfalls dazu beigetra-
Hand erfahren hatte, wie israelische Freund zu fliehen, wurde aber bru- gen, meine Hoffnung zu erneuern.
Juden ihre palästinensischen Mit- tal angegriffen. Sie schlugen seinen Und meine deutsche Freundin
bürger behandeln. Meistens wird Kopf auf die Treppenstufen, bis er hat etwas Wunderbares getan:
der Begriff »israelisch-arabisch« be- blutete. Ich kann das Bild nicht ver- Sie hat sowohl Hebräisch als auch
nutzt, um das Wort »Palästina« aus gessen, wie er dalag, ähnlich einer Arabisch gelernt.
ihrer Identität zu tilgen. Palästinen- verängstigten Straßenkatze, wäh-

D
ser mit blauen, israelischen Auswei- rend eine Gruppe viel größerer er 7. Oktober und der folgen-
sen, wie mein Vater, genießen mehr ­Jugendlicher auf ihn eintrat. Er hat de Krieg wurden während
Privilegien als diejenigen im Gaza- dieses Hassverbrechen nie bei der der Arbeit an meinem neuen
streifen oder im Westjordanland. israelischen Polizei angezeigt, weil Buch »Disco for Peace«, das von
Vor allem, weil sie innerhalb Israels er wusste, dass man ihm dort ohne- meiner Lebensgeschichte inspiriert
leben können – allerdings oft an Or- hin keinen Schutz bieten würde. Palästinenserinnen ist, mehr als nur ein störendes Hin-
am Checkpoint
ten mit viel Gewalt und Kriminali- Trotzdem träumte ich weiter von Kalandia
tergrundgeräusch. Das liegt auch
tät. Tragischerweise bleibt ihr Aus- einer Welt ohne Mauern. Ich kam beim Übergang daran, dass ich immer noch um
tausch mit jüdischen Israelis flüchtig. nach Berlin, das inzwischen seit nach Jerusalem fünf Freunde und Bekannte trauere,
die entweder von der Hamas oder
der israelischen Armee getötet wur-
den. Aber vor allem macht es mir
Angst, dass ich auf den Bewälti-
gungsmechanismus meiner Mutter
zurückgreife und meine Herkunft
verheimliche. In letzter Zeit lüge
ich wieder, weil ich Angst davor
habe, wie mein Gegenüber reagie-
ren könnte.
Ich habe Angst, dass mich je-
mand angreift, wenn ich in der Öf-
fentlichkeit hebräische Bücher lese,
dass die Finanzierung von Projek-
ten aufgrund meiner palästinensi-
schen Herkunft abgelehnt wird oder
dass mir gar der deutsche Pass ver-
weigert werden könnte. Ich bin eine
potenzielle Zielscheibe für beides:
für Antisemitismus und für Islamo-
phobie. Berlin ist nun der Ort
außerhalb des eigentlichen Kriegs-
gebiets, an dem der israelisch-paläs-
tinensische Konflikt am präsentes-
ten ist. Es macht mich traurig zu se-
hen, wie diese Stadt von dem Kon-
Jaafar Ashtiyeh / AFP

flikt beeinflusst wird. Besonders


weil ich hier zum ersten Mal einen
Friedensvertrag mit mir selbst ge-
schlossen habe. n

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 79


AUSLAND
Kerem Uzel / DER SPIEGEL

Schattenduell gegen Erdoğan


TÜRKEI Ekrem İmamoğlu, der Bürgermeister von Istanbul, stellt sich erneut zur Wahl. Doch weil er
eine Bedrohung für den Staatspräsidenten ist, geht es auch um die Zukunft der Türkei.

E
krem İmamoğlu eröffnet: mittags eine Hier nehmen politische Karrieren ihren vieler Beobachter eine andere Wahl vorweg:
neue Metrolinie, jetzt, nachmittags, eine Anfang. Auch die des heutigen Staatspräsi­ die Präsidentschaftswahl 2028.
Parkanlage am See in einem ruhigen denten Recep Tayyip Erdoğan. Ihm wird der In seiner säkularen Partei stach İmamoğlu
Stadtteil, etwa 45 Kilometer westlich des Zen­ Satz zugeschrieben: »Wer Istanbul gewinnt, schon früh dadurch hervor, dass er seinen
trums von Istanbul. gewinnt die Türkei.« Glauben offen zeigte. Seine Geschichte er­
Der Bürgermeister von Istanbul, der Ekrem İmamoğlu, 53, ist Kandidat der innert an die Anfänge eines anderen Istanbu­
­wieder Bürgermeister werden will, wird an ­säkularen, zum Teil nationalistischen und ler Bürgermeisters, der wie er seine Wurzeln
diesem sonnigen Montagnachmittag von ­sozialdemokratischen »Republikanischen an der Schwarzmeerküste hat, wie er den
­vielleicht 500 Anhängerinnen und Anhän­ Volkspartei« (CHP), die einst von Staatsgrün­ Fußball liebt und ein begnadeter Redner ist.
gern erwartet. Sie schwenken Landesflaggen der Mustafa Kemal Atatürk gegründet wurde. Der vor 30 Jahren mit einer Vision für eine
und Fahnen mit dem Slogan »Tam yol ileri«, 2019 wählten ihn die Istanbulerinnen und lebenswertere Stadt antrat und wie eine lang
volle Kraft voraus, die ihnen Ordner in die ­Istanbuler zum Oberbürgermeister. Bis dahin ersehnte Alternative wirkte. Der das Müll­
Hand drücken. kannte kaum jemand den aus einer konser­ problem löste und das Goldene Horn vom
Es ist Wahlkampf in der Türkei. Am vativen Familie bei Trabzon am Schwarzen Dreck säubern ließ. Der wegen seiner Fröm­
31. März wird über Bürgermeisterinnen, Bür­ Meer stammenden Neueinsteiger in der großen migkeit von den Massenmedien niederge­
germeister für Städte und Bezirke sowie Politik. macht, vom Ausland zunächst streng beäugt
Stadtparlamente abgestimmt. Die größte Auf­ Heute ist İmamoğlu ein politischer Super­ wurde und zu Hause unter Dauerangriff des
merksamkeit gilt Istanbul, dieser Mikrotürkei star, weil er schon zweimal gegen Erdoğan säkularen politischen Establishments stand:
in der Türkei. Hier werden alle Widersprüche gewonnen hat, so sehen es seine Anhänger, Recep Tayyip Erdoğan.
und politischen Konflikte des Landes auf klei­ so sehen es Gegner der Regierung von In der neuen Parkanlage am See betritt
nem Raum ausgetragen, hier wird das große Erdoğan. Der wollte İmamoğlus Wahlsieg İmamoğlu nun die Bühne: dunkelblauer
Geld verdient, die wichtigsten Firmen sind 2019 verhindern. Der Kampf um das Istan­ Trenchcoat, weißes Hemd, grauer Anzug,
hier, Binnenmigranten strömen hierhin. buler Bürgermeisteramt nimmt in den Augen magentafarbene Krawatte, randlose Brille,

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AUSLAND

Kerem Uzel / DER SPIEGEL


Kerem Uzel / DER SPIEGEL
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Kerem Uzel / DER SPIEGEL


Yasin Akgul / AFP

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glasige hellgrüne Augen, die immer ein wenig 47-jährige Kurum, der bislang nur mit einer hob die Arme und rief: »Unser Weg ist weit!
so aussehen, als würden gleich Tränen der Amtszeit als Minister für Städtebau und Wir dürsten nach Gerechtigkeit! Was wir ha-
Rührung hervorquellen, als könnte er es selbst ­Klima der »Partei für Gerechtigkeit und ben, ist unsere Jugend!« Ein Gruß an Erdoğan,
immer noch nicht fassen: Seid ihr wirklich ­Fortschritt« (AKP) in Erscheinung getreten heute 70 Jahre alt, der vielleicht eine Wahl
alle für mich hierhergekommen? Wahnsinn. ist, wäre nicht Kandidat, wenn es Erdoğan zurückdrehen konnte, aber nicht sein Alter.
Er spricht mit fester Stimme von der Natur nicht gewollt hätte. Bei Reden und Auftritten Ich bin die Zukunft, du die Vergangenheit,
und dass jener, der die Natur schütze, der wirkt Kurum immer wie einer, der versucht, hieß das übersetzt.
größte Patriot von allen sei. Dass sie am sein großes Idol nachzuahmen, während es Wenige Wochen später gewann er bei der
31. März eine Lektion in Demokratie bekä- ihm wie ein etwas nervöser, väterlich-strenger Wahlwiederholung mit über 800.000 Stim-
men. Dass man als Politiker dem Bürger zu- Co-Kandidat ständig über die Schulter guckt. men Vorsprung vor dem AKP-Kandidaten.
hören müsse. Aber sie, sagt er, könnten das Wie ein Schatten, der über dem Wahlkampf Für viele Menschen im Land war er zur Ikone
nicht, ihre Arroganz übersteige Berge. Alles hängt. geworden: der Mann, der nicht eingeknickt
Seitenhiebe gegen die Regierungspartei AKP. İmamoğlu hingegen hat 2019 bewiesen, war vor der Übermacht.
Seine Botschaft: Ich schütze die Natur, was in ihm steckt. Damals wurde die Wahl Erst 2008 war İmamoğlu zur CHP gekom-
während die Regierungspartei zerstörerische auf Antrag der AKP zunächst annulliert, men. Er studierte zunächst Betriebswirtschaft
Bauprojekte vorantreibt wie etwa den Istan- ­wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten. und eröffnete mit »23, 24 Jahren einen Köfte-
bul-Kanal, eine Art zweiten Bosporus. Und İmamoğlu hatte hauchdünn gegen den Kan- Imbiss«, wie er kürzlich in einer Sendung
wenn er, İmamoğlu, gewinne, dann »werden didaten der AKP gewonnen. erzählte. Dort habe er erstmals Erdoğan ge-
sie anfangen über die Wahl in vier Jahren Für die Anhänger der CHP, aber nicht nur, troffen. »Das war in dessen ersten Monaten
nachzudenken!«, gemeint sind die Präsiden- geschah da ein großes Unrecht, da wurde als Bürgermeister. Er hat bei mir gegessen,
ten- und Parlamentswahlen 2028. einem der Sieg genommen. Noch in der Nacht und ich habe kein Geld von ihm genommen!«
»Du wirst Staatspräsident!«, ruft eine Frau trat Ekrem İmamoğlu vor seine Anhänger. Eine humoristische Punktlandung – gute Lau-
im Park am See İmamoğlu aus der Menge zu. Zunächst sprach er ruhig, während die Men- ne verbreiten als Wahlkampfstrategie.
Und spricht damit aus, was viele gerade in ge vor ihm vor Wut bebte. Er versuchte, sie İmamoğlu wuchs in bescheidenen Verhält-
der Türkei denken: Es geht hier nicht allein zu besänftigen, kam nicht so recht gegen die nissen auf. Seine Familie betrieb einen Laden
um die Wahl eines Bürgermeisters. »Bürgermeister Ekrem!«- und »Gerechtig- für Handwerksbedarf, zog 1987 nach Istanbul,
Am See kokettiert İmamoğlu: »Schwester, keit!«-Rufe an. Dann trat er vor sein Pult, zog wo der Vater ein kleines Bauunternehmen
fang bitte gar nicht damit an, du weißt, das langsam Jackett und Krawatte aus. Krempel- aufbaute. Der Sohn hörte mit dem Köftebra-
endet nur in Stress.« Vor einigen Wochen sag- te die Arme hoch. Trat zurück ans Mikrofon, ten auf und stieg später zunächst bei seinem
te er allerdings bei einem Treffen mit Journa- Vater ein.
listinnen und Journalisten: »Wir wissen, 1 | Wahlkampfwerbung bei Veranstaltung von Dass İmamoğlu mit seiner Religiosität
İmamoğlu in Kasımpaşa 2 | Unterwegs im
gegen wen wir wirklich antreten.« Kampagnenbus 3 | Unterstützerinnen Doğan,
Erdoğan-Fans umstimme, sagt etwa der Is-
Sein offizieller Herausforderer Murat Ku- Toptan 4 | Armenspeisung in Istanbul tanbuler Kommunikationsstratege Ateş İlyas
rum ist es jedenfalls nicht allein. Denn der 5 | Besucher bei Neueröffnung einer Metrolinie Başsoy, sei unwahrscheinlich, aber »vielleicht

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AUSLAND

AKP-Wählerinnen und -Wähler, die nicht fest


der AKP anhängen.«
Die Wahl İmamoğlus kommt. Sondern auch um die Demokratie,
die der Regierung abhandengekommen sei;
Für Erdoğan ist die Kommunalwahl, vor 2019 war ein Systemfehler um die Distanz zur Bevölkerung: »Wenn sie
allem das Rennen um Istanbul, aus zwei
Gründen wichtig: Er sieht sich und sein isla-
aus Sicht Erdoğans. aus ihren Villen und Palästen mal rausgehen,
schwirrt ihnen der Kopf! Gehen sie auf den
misch-autoritäres Lager als die eigentlichen Markt? Ich schon!«, ruft İmamoğlu ins Mikro-
»Besitzer« der Stadt, wie er es kürzlich auf fon und erinnert die Menge daran, dass »sie
einer Wahlkampfveranstaltung sagte. Und: bemerken das Volk nur zu Wahlzeiten. Aber versprachen, die Jahreseinkommen würden
Es ist der erste Stimmungstest für ihn nach İmamoğlu ist anders. Mein Mann bekommt auf 25.000 Dollar steigen, jetzt sind es gera-
seiner Wiederwahl ins Präsidentenamt vor 7500 Lira Rente, ich helfe beim Ausjäten auf de einmal 8000 Dollar. Sie haben die Rentner
bald einem Jahr. Eines der großen Verspre- den Feldern, damit Geld ins Haus kommt. Und vergessen, sie denken nur an die Macht! Sie
chen lautete damals wie heute, den krassen dann fragt Erdoğan, warum wir mit unserer haben unser Geld pulverisiert!«
Verfall der Landeswährung von derzeit offi- Rente nicht klarkommen. Soll er doch mal da- Für Präsident Erdoğan hingegen dürfte die
ziell 67 Prozent in den Griff zu bekommen. mit klarkommen, wenn das geht. Ich bekomme Wahl İmamoğlus 2019 ein Fehler im System
Das Versprechen wurde nicht eingelöst. kein Fleisch, nicht mal Geflügel in mein Haus.« gewesen sein, der nun repariert werden muss.
Für die Opposition ist es eine Abstimmung Die Frauen erzählen, dass sie auch für ihre 25 Jahre lang stand die Stadt unter der Re-
darüber, ob Ekrem İmamoğlu eine politische Kinder hier seien. »Ich wurde mit 16 Jahren gentschaft seines politischen Lagers. Seit er
Alternative sein kann. Ob er das stark pola- verheiratet, damals konnte man nicht ›Nein‹ im Amt ist, klagt İmamoğlu darüber, dass die
risierte Land wieder versöhnen kann. Ob er zu seinem Vater s­ agen. Das sollen unsere Zentralregierung ihn immer wieder blockiere.
das Zeug dazu hat, Erdoğan einst abzulösen. Töchter nicht durchmachen«, sagt Toptan. Da fehle dann eine Unterschrift aus Ankara,
Es ist die Chance für eine Abkehr vom auto- Niedrige Renten, immense Inflation, die damit der Bau einer neuen Metrolinie aus-
ritären Kurs, den die Türkei unter Erdoğan Unterdrückung der Frauen – das sind keine geschrieben werden kann. Oder es würden
eingeschlagen hat. Probleme, die Ekrem İmamoğlu lösen könn- statt der beantragten 3500 Feuerwehrleute
Im Wahlkampf zeigt İmamoğlu seine Stär- te. Zumindest nicht als Bürgermeister. nur 750 genehmigt. In einer Stadt, in der ein
ke. Das Scherzen mit den Wählerinnen und Aber oft macht er den Eindruck, als ob großes Erdbeben statistisch überfällig ist. Prä-
Wählern fällt ihm leicht. Er schafft eine Nähe, er sie lösen wollte. 2021 wollte Präsident sident Erdoğan leugnet jegliche Behinderung.
die der allmächtige Staatspräsident längst ver- Erdoğan dem erzkonservativen Teil seiner Ba- Die größte Blockade droht İmamoğlu wo-
loren hat. So nah kommt er ran, dass er bei sis ein Geschenk machen: Per Dekret entschied möglich erst noch. Im Dezember 2022 ist er
öffentlichen Auftritten von der Bühne die er, dass sein Land aus der sogenannten Istanbul- zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und
selbst gemalten Plakate seiner Unterstützer Konvention zum Schutz von Frauen und Kin- sieben Monaten und Politikverbot verurteilt
lesen kann. Bei einem Auftritt in Kasımpaşa, dern vor sexualisierter und häuslicher Gewalt worden, wegen Beleidigung von Amtsträgern.
dem alten Hafenviertel, in dem Erdoğan auf- austreten solle, und verstörte damit auch Frau- Man könnte es als Justizposse abtun, wäre es
gewachsen ist, liest er sie vor, darunter auch en innerhalb seiner Partei. Der Bürgermeister nicht so bedrohlich: Der damalige AKP-In-
welche auf Kurdisch. Er habe ein paar Bro- meldete sich zu Wort: »Das ist eine Missachtung nenminister hatte İmamoğlu indirekt als Idio-
cken gelernt, sagt er – die Botschaft: Ihr ge- des jahrelangen Kampfes von Frauen aller poli- ten bezeichnet. Der konterte damit, dass jene,
hört zu dieser Republik. tischen Couleur.« Die Türkei war 2011 das ers- die die Bürgermeisterwahl 2019 in Istanbul
Diese besondere Ansprache der kurdi- te Land, das das Abkommen ratifiziert hatte. annulliert hätten, Idioten seien. Das Urteil
schen Minderheit dürfte nicht allen in seiner Immer wieder drängen sie hinein in den hängt in der Berufung, Ausgang ungewiss.
Partei gefallen. Dass sich viele der knapp Wahl­kampf, die existenziellen Themen dieses İmamoğlu kommt in den von der Regie-
15 Millionen Kurdinnen und Kurden immer 85-­Millionen-Einwohner-Landes. Werden die rung kontrollierten Medien kaum vor. Er hat
noch als Bürger zweiter Klasse fühlen, dass lokalen Themen und Bedürfnisse einer Stadt wie zudem bei dieser Wahl keine andere Unter-
es im Südosten immer noch zu tödlichen Aus- etwa das Verkehrsproblem zur nationalen Frage. stützerpartei: Die prokurdische Partei und
einandersetzungen zwischen der verbotenen Immer wieder schwenkt auch İmamoğlu die Partei der Ultranationalisten schicken
»Arbeiterpartei Kurdistans«, PKK, und tür- von den Metrolinien, Kindergärten, Park­ beide eigene Kandidatinnen und Kandida-
kischen Sicherheitskräften kommt, ist einer anlagen auf die großen Fragen. So geht es am ten – was nicht heißt, dass İmamoğlu gar kei-
der großen ungelösten Konflikte des Landes. See und bei vielen anderen Auftritten nicht ne Stimmen aus diesen Gruppen bekommt.
»Er ist voller Liebe! Er dient allen gerecht nur um die Sonderfahrkarten für Mütter, die Er ist interessanterweise für beide wählbar.
und gleichermaßen! İmamoğlu in Istanbul – Milchpackungen für Schulkinder, Stipendien 2019 lautete sein Slogan »Alles wird sehr
noch einmal, noch einmal!«, dröhnt es laut oder die sogenannten Stadtkantinen, wo man schön werden«. Er griff die Gegenseite kaum
aus den Boxen neben dem friedlichen See: ein Menü für 40 Lira (etwa 1,15 Euro) be- an, zeigte sich demonstrativ gelassen. Ver-
Ein Wahlkampfsong mit rockigen und volks- teilte Küsschen, sprach von Demokratie, Lie-
tümlichen Klängen preist İmamoğlu. So will be und Respekt, Gleichberechtigung für
er gesehen werden: Ich bin euer aller Bürger- ­Frauen und Minderheiten.
meister. Seid, wie ihr mögt, modern oder Das tut er heute zwar auch, aber er gibt
­konservativ. Sowohl Amtsinhaber als auch sich angriffslustiger, aggressiver. Er antwortet
Herausforderer haben mehrere, auf sie zu- auf Angriffe und Desinformation, schimpft
geschnittene Wahlkampfsongs. seinen Herausforderer Kurum einen »An­
»Die AKP ist eine Ein-Mann-Partei. Die fänger«, der nicht einmal die Stadtteile von
machen alles nur für ihre eigenen Leute. Dabei Istanbul kenne.
muss ein Staatspräsident doch alle umarmen«, Wer diese Wahl gewinne, der wird, so
sagt Hüsniye Doğan, deren silbergraue Haare der Demoskop Özer Sencar, das Schicksal
unter dem lockeren Kopftuch aufblitzen. Die der Türkei der kommenden 20 Jahre bestim-
Tolga Ildun / Shutterstock

70-Jährige ist mit ihrer Nachbarin Muzaffer men. »Wenn Erdoğan siegt, wird er bis zu
Toptan an den See gekommen, eine Stunde seinem Tod Staatspräsident bleiben.
zu Fuß, erzählen sie, weshalb sie erst einmal İmamoğlu ist in dieser Hinsicht die letzte
auf einer Bank verschnaufen. Es ist Ramadan, Chance für die Türkei.«
Fastenzeit, tagsüber kein Essen, kein Trinken. Şebnem Arsu, Anna-Sophie Schneider,
Die 56-jährige Toptan schaltet sich ein. »Sie Herausforderer Kurum (l.), Präsident Erdoğan Özlem Topçu n

82 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


Handball
Männer
SPORT

Volleyball
Männer

Handball
Männer
Hoffnungsträger Aus im
Handball
Frauen Basketball
Viertelfinale Frauen Die Qualifikation der
Erfolge deutscher Teams in Frauen im Handball
ausgewählten Ballsportarten und Volleyball ist
bei den Olympischen noch möglich.
Basketball
Sommerspielen Männer Basketball Basketball
Aus im Frauen Männer
für Olympia qualifiziert Viertelfinale
nicht qualifiziert
Hockey Handball
Volleyball Hockey Frauen
Frauen Frauen Frauen
Aus im
Viertelfinale

Hockey Hockey
Männer Volleyball Männer Volleyball
Aus im
Männer Frauen
Halbfinale

Fußball
Männer Fußball Fußball Fußball
Aus in der Frauen Frauen Männer
Gruppen-
phase

* Wegen der Coronapandemie fanden diese


Spiele erst im Jahr 2021 statt. Olympische Spiele 2020 * Olympische Spiele 2024
S Grafik


Im Endspurt um die Teilnahme an den Olympischen Spielen im Sommer machten es die deutschen Handballer bis zuletzt spannend. Jetzt ist der
Kader von Cheftrainer Alfred Gislason eines von bislang sieben deutschen Teams, die für Paris qualifiziert sind. Auch die Handballauswahl der
­Frauen könnte die Olympiateilnahme noch schaffen – und es den Basketballerinnen nachmachen: Das Team um Kapitänin Svenja Brunckhorst ist
erstmals bei einem olympischen Turnier dabei.

HALL OF FAME Clark, die auf dem Feld Milliarde Euro Umsatz kna-
viel gestikuliert und mit den cken wird. Größter Wachs-
Caitlin Clark, Referees diskutiert, ist das
neue, selbstbewusste Gesicht
tumstreiber: der nordamerika-
nische Markt.
College-Basketballerin des US-­Frauenbasketballs.
Und sie steht stellvertretend
In den USA investieren in-
zwischen Stars wie Christina
für einen globalen Boom. Aguilera oder Serena Williams
Tausende Fans strömen zu je- der Geschichte des Collegever- Finanz­experten schätzen, dass in den Frauenfußball. An der
dem ihrer Spiele in die Arenen bandes NCAA aufstieg. US- der Frauensport dieses Jahr Universität von Nebraska
des Landes. Sie fahren Hun- Präsident Joe ­Biden gratulierte erstmals die Marke von einer spielten die Volleyballerinnen
derte Meilen, bezahlen manch- auf X, die Basketballikone Le- 2023 vor einer Rekordkulisse
mal mehrere Tausend Dollar Bron James auch. Universitäts- Clark von mehr als 92.000 Zuschau-
für ein Ticket. Und wer keines sport ist in den USA mindes- ern. Die Frauen-Basketball-
bekommt, weil die Halle mal tens so populär wie Profisport. Profiliga WNBA nahm vergan-
wieder ausverkauft ist, der Die 1,83 Meter große Spiel- genes Jahr etwa 200 Millionen
schaut sich die derzeit beste macherin gilt als begabteste Dollar ein – doppelt so viel
College-Basketballerin der Spielerin ihrer Generation. In wie im Jahr 2019.
USA im Fernsehen an. der regulären Saison erzielte Caitlin Clark hat bereits
Caitlin Clark, 22, kämpft sie im Schnitt rund 32 Punkte ­angekündigt, nach dieser
aktuell mit der University of pro Partie. Sie lässt Gegnerin- ­Spielzeit in die WNBA zu
Iowa um die nationale Meister- nen verzweifeln, weil sie aus wechseln. Dort hofft man,
schaft. Keine andere Hoch- scheinbar unmöglichen Entfer- dass die Liga von dem Hype
Adam Bettcher / Getty Images

schulsportlerin begeistert die nungen trifft. Ähnlich wie ihr um das Riesentalent profi­
sportvernarrten Amerikaner Vorbild, der NBA-Profi Ste- tieren wird. Der Klub Indiana
wie sie. Mehr als drei Millionen phen Curry. Der nannte Clarks Fever, zu dem sie wohl
schalteten Anfang März ein, Spiel »must-see TV«, ein gehen wird, hat seine Ticket-
um zu ­erleben, wie Clark zur Muss im Fernsehen: »Sie elek­ preise schon jetzt mehr als
besten Punktesammlerin in trisiert die Zuschauer.« ­verdoppelt. MAF

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 83


SPORT

Siege für den Ölprinzen

Jorge Ferrari / AFP

Weltstar Ronaldo mit


Klubtrikot

84 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


SPORT

FUSSBALL Saudi-Arabien investiert hohe Summen in Stars wie Cristiano Ronaldo, um bald
unabhängiger vom Öl zu werden. Doch zuletzt beschwerten
sich unzufriedene Profis. Alles nur eine teure Luftnummer? Von Matthias Fiedler

N
achdem die Sonne über Riad unter- Bedingungen vor Ort tatsächlich so mies, die als Fußballprofi im Königreich etwas taugt.
gegangen ist und er Cristiano Ronaldo irrwitzigen Gehälter nur Schmerzensgeld? »Mit 30 willst du deine letzten Profijahre
in der Umkleidekabine wie einen gu- Oder kann das Land, das wegen der Verlet- smart nutzen.« Gereizt habe ihn die Aussicht,
ten Freund umarmt hat, greift Turki Al-Sheikh zung von Menschenrechten in der Kritik »noch einmal Teil von etwas Neuem zu sein«,
zum Mikrofon. Der saudi-arabische Minister, steht, doch zur Konkurrenz großer Fußball- sagt Hack. »Und dass ein großes Unterneh-
zuständig für Entertainment, steht in fuß­ nationen werden? men wie Aramco dahintersteht.«
langem schwarzem Gewand, mit Kopftuch »Klar bin ich auch aus finanziellen Grün- Die größte Ölfördergesellschaft der Welt
und Sonnenbrille auf dem Rasen der gut ge- den gekommen«, sagt Alexander Hack, 30. ist seit Mitte vergangenen Jahres Eigentümer
füllten Kingdom Arena, eines eckigen Fuß- Es ist ein Freitagmittag im Februar. Hack tritt seines Klubs und damit ganz auf Linie mit der
ballpalasts für 30.000 Zuschauer im Norden aus einem sandfarbenen Haus, Nummer 116, Vision des Kronprinzen. Mohammed bin Sal-
der Landeshauptstadt. auf der Fußmatte steht »Marhaba«, arabisch man will sein Land bis 2030 unabhängiger
In wenigen Minuten wird Ronaldos Klub Al- für »Willkommen«. Vor der Tür parkt ein vom Öl machen, denn der Rohstoff ist end-
Nassr FC in einem Testspiel gegen Lionel Mes- 5er-BMW. »Deutsche Autos leasen ist hier lich, wird irgendwann ersetzt werden durch
sis Inter Miami antreten. Zum »Last Dance«, irre teuer«, sagt Hack, aber der Klub zahle erneuerbare Energien. Bis es so weit ist, sollen
einem letzten Tanz der Fußball­giganten, hatte den Wagen, das Haus und ein Vielfaches von die Ölmilliarden in andere Wirtschaftszweige
man das Duell im Februar ausgerufen, samt dem, was er bei Mainz 05 in der Bundesliga fließen: Luftfahrt, Finanzbranche, Entertain-
Lasershow und Feuer speienden Kanonen. bekommen habe. ment, dabei vor allem Sport.
Vor dem Anpfiff hat der Minister noch eine Seit vergangenem Sommer ist der 1,93 Me- Das Königreich investiert Milliarden in die
»bahnbrechende Ankündigung« für die Fans: ter große Defensivspieler beim saudi-arabi- LIV-Golf-Tour, Formel-1-Rennen, Boxkämp-
Man werde mit Ronaldo und dessen Klub schen Zweitligisten Al-Qadsiah unter Vertrag. fe, Tennis- und E-Sport-Events. Bald könnte
­kooperieren, um das größte Kultur- und Un­ Mit seiner griechischen Freundin wohnt er eine Super League des Radsports folgen, dazu
terhaltungsprogramm des Landes, »Riyadh auf zwei Etagen in Chubar, einer Stadt an der will Saudi-Arabien in den kommenden Jahren
­Season«, auch zum »größten Entertainment- Ostküste des Landes, direkt am Meer. Ihr etwa ein Dutzend Weltmeisterschaften in di-
projekt der Welt« zu machen, ruft Al-Sheikh. Haus steht in einer Wohnsiedlung für Expats, versen Sportarten ausrichten. Unter Experten
Die Menge jubelt. umgeben von drei Meter hohen Mauern. Das gilt es als ausgemachte Sache, dass Saudi-­
Ronaldo, 39, einer der besten Fußballer der Stahltor zum Gelände bewachen Sicherheits- Arabien die Fußball-WM 2034 bekommt. Das
Welt, Jahresgehalt 200 Millionen Euro, spielt leute hinter einer Schranke. Hack sagt, er Motto des Kronprinzen: Think Big.
an diesem Tag wegen einer Verletzung nicht fühle sich auch außerhalb der Anlage sicher. Aramco spielt in Prinz Mohammeds Plä-
mit, aber das interessiert nur am Rande. Sein »Die Saudis sind angenehme Leute.« nen eine gewichtige Rolle. Einem Bericht der
Team gewinnt auch ohne ihn 6:0, die Fans ru- Warum kickt er ausgerechnet hier? In britischen »Times« zufolge könnte der Öl­
fen seinen Namen. Der Minister reckt in einer Mainz sei er zuletzt kaum noch zum Einsatz gigant bald Hauptsponsor des Weltfußball-
Loge triumphierend sechs Finger in die Luft. gekommen, die Klubführung habe nicht mehr verbands Fifa werden. Mit dem eigenen Klub
Das Königreich, vor allem Kronprinz auf ihn gebaut, sagt Hack. Die Saudi-Araber Al-Qadsiah will der Staatskonzern in dieser
­Mohammed bin Salman, hat Fußball zur hätten genau seinen Spielertyp gesucht. Saison in die SPL aufsteigen – auch dank eines
Staatssache gemacht und ehrgeizige Pläne. Groß, kantig, gute Technik, erfahren. »Die üppigen Etats. Der könne mit den reichsten
Langfristig soll die Saudi Pro League (SPL) wollten mich unbedingt.« Erstligisten konkurrieren, heißt es. Offizielle
zu den Topligen der Welt gehören und Hack hat Al-Qadsiah erst einmal googeln Zahlen gibt es keine. Die Klubbosse von Al-
unterhalt­samer sein als jedes Konkurrenz- müssen, sich schlau gemacht, ob das Leben Qadsiah lassen Taten sprechen.
produkt. Helfen sollen neben Ronaldos Innerhalb kürzester Zeit kauften sie im
Strahlkraft Stars wie der Brasilianer Neymar, Sommer ausländische Profis, stellten einen
der Franzose Karim Benzema oder Ex-Bayern­ englischen Trainer ein, dazu Betreuer, nur um
profi Sadio Mané, die alle für exorbitante das Trainerteam wenige Monate später wie-
Summen in den Wüstenstaat zogen. der auszutauschen. Zu Spielen fliege das Team
Aber dem Großprojekt des saudi-arabi- im Privatjet, berichtet Hack, »in Mainz un-
schen Staatsfonds PIF, dem mehrheitlich die denkbar«. Aber für die Annehmlichkeiten
vier größten Klubs des Landes gehören, wolle Aramco auch Ergebnisse sehen.
schlägt viel Argwohn entgegen. Liverpools Berthold Nickl hat Hack nach Saudi-Ara-
deutscher Trainer Jürgen Klopp nannte die bien gebracht. Nickl, 51, sitzt an einem Diens-
Transferoffensive der SPL, die für diese Saison tag Ende Februar in seinem Büro nahe Mün-
umgerechnet rund 980 Millionen Euro an chen. Er ist seit vielen Jahren Fußballberater,
­Ablösesummen für neue Spieler ausgab, eine seine Agentur vertritt Branchengrößen wie
»Bedrohung« für den europäischen Fußball. Manuel Neuer.
Als im Winter manch internationaler ­Profi »Das Tempo der Saudis ist atemberau-
Matthias Fiedler / DER SPIEGEL

Saudi-Arabien verließ, andere über die Hitze bend«, sagt Nickl. »Die debattieren nicht ­alles
oder den Verkehr in Riad lästerten, beschwo- endlos, die machen einfach.« Das Trainings-
ren einige Medien schon das »Scheitern des zentrum in Chubar sei mit Hunderten Arbei-
Prestigeprojekts«. Von »getrübter Goldgräber­ tern in zwei Monaten renoviert worden. Fit-
stimmung« und einer »Flucht aus der Wüste« nessstudio, Kältebecken, Sauna.
war die Rede. Bei den Gehaltsverhandlungen habe ihm
Ist das saudi-arabische Fußballprojekt die Klubseite dann aber oft das Gefühl ge-
wirklich nur eine teure Luftnummer? Sind die Defensivspieler Hack in Chubar geben, dass der Deal kurz vorm Platzen steht;

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 85


SPORT

Donnerstagabend pilgern Scharen von Saudis


zum Partymachen in den Nachbarstaat. Man-
cher hofft, das Alkoholverbot könnte unter
Kronprinz Mohammed kippen.
Früher galt in Saudi-Arabien ein unausge-
sprochener Pakt: Bildung und Arztbesuche sind
kostenlos, eine Einkommensteuer gibt es nicht.
Dafür kritisieren die Bürger den Staat nicht und
halten sich an strenge Regeln. Keine Konzerte,
keine Festivals. Heute seien Sport und Enter-
tainment Teil eines neuen »Gesellschaftsver-
trags«, sagt der britische Sportökonom Simon
Chadwick, der seit Jahren zu geopolitischen
Auswirkungen auf den Sport forscht.
Mehr als 60 Prozent der Saudi-Araber sei-
en unter 35, auf Instagram erlebten sie jeden
Tag die bunte Welt des Westens, sagt Chad-
wick. »Deshalb lautet der Deal zwischen
­Königshaus und Volk jetzt: Du kannst Ronal-
do Tore schießen sehen, dafür akzeptierst du
unsere Politik und radikalisierst dich nicht.«
Mit bloßer Imagepolitur habe das wenig zu
tun. »Das geht viel tiefer.« Er nennt es »staat-
lich kontrollierten Hedonismus«. Es erinnere

Fayez Nureldine / AFP


ihn an »Brot und Spiele« im alten Rom.
Aber es funktioniert: Unterhält man sich
mit Fußballfans, sagen viele, Prinz Moham-
med sei für sie ein Held. Früher mussten sie
Fans von Al-Nassr FC: Sie sind stolz auf ihr Land nach Europa reisen, um ihre Stars zu sehen.
Jetzt erleben sie Ronaldo und Benzema in
dass sie jemand Besseren und Günstigeren Kindergärtnerin, der Vater Einzelhandels- ihren eigenen Stadien. Sie sind stolz auf ihr
hätten als seinen Mann, erzählt Nickl. »Na- kaufmann. Seine Familie hielt das Geld Land. Kein Wort über die steigende Anzahl
türlich nur Taktik.« Am Ende zahlten die ­zusammen, »ich bin bayerischer Schwabe von Hinrichtungen. »Warum auch?«, sagt
Saudi-Araber »keine Quatschgehälter«, sagt durch und durch«, sagt Hack. Seit er Anfang Chadwick. »Die Jugend kann zu Starbucks
Nickl. »Die wissen genau, wen sie haben wol- zwanzig ist, legt er sein Erspartes an, kaufte und auf Raves gehen. Sie feiert das Leben,
len. Und was gute Europäer kosten.« später Immobilien, heute investiert er in das sie immer haben wollte.«
Die Expertise der Saudi-Araber habe ihn ­Aktien und Start-ups. Er mag die Einstellung International steht das Land unter anderem
überrascht, sagt der Berater. Viele Klubs der Saudi-Araber. »Die sehen die Chancen wegen der Ermordung des Regimegegners
arbeiteten stark datenbasiert, mit modernsten der Zukunft.« ­Jamal Khashoggi in der Kritik. Auch sollen
Analyseprogrammen. Die Kaderplanung aller­ Hack steuert seinen BMW durch die Wohn- saudi-arabische Grenzschützer Geflüchtete an
dings unterscheide sich sehr von dem, was er siedlung. Supermarkt, Tennisplatz, Pool – es der Grenze zum Jemen erschossen haben. Re-
aus deutschen und europäischen Klubs kenne, fehlt an nichts. Trotzdem wolle er bald ins gierungskritiker würden laut der Organisation
sagt Nickl. Der Fokus liege auf wenigen Stadtzentrum ziehen. »Wo das echte Leben Human Rights Watch inhaftiert.
Hauptakteuren, der Rest sei eher ein Schatten- spielt.« Anfangs seien er und seine Freundin Hack weiß um das Thema Menschen­rechte
team. »Das ist Reißbrettprinzip. Bisschen wie unsicher gewesen, ob sie Arm in Arm durch in Saudi-Arabien. Für ihn aber zähle, sich ein
beim Fußballmanager-Spiel.« die Straßen laufen könnten. Sie hätten nie- eigenes Bild zu machen, sagt er. Er erlebe höf-
Nachdem er Hack zu Al-Qadsiah trans- manden vor den Kopf stoßen wollen. Bis sie liche, gastfreundliche Menschen. »Versuch
feriert hatte, hätten sich plötzlich viele Profis gemerkt hätten: Das interessiert hier gar kei- mal, einen Saudi zum Essen einzuladen«, sagt
aus Deutschland bei ihm gemeldet, sagt Nickl. nen. »Da wird in Deutschland viel Unsinn Hack. Er frage sich, wie Nationalspieler Toni
Ob er sie nicht auch in Saudi-Arabien unter- erzählt.« Kroos über ein Land urteilen könne, ohne je
bringen könne. Nickl aber lehnte ab. Er glaubt Kronprinz Mohammed verkündete das dort gewesen zu sein. »Der Fußball wird hier
nicht, dass Saudi-Arabiens Topliga irgend- Ende des Verschleierungszwangs, erlaubte auch gelebt und geliebt. Nur anders als in
wann Weltklasse sein wird. Es fehle ihr an Frauen das Autofahren, eröffnete ihnen den Europa.«
medialer Reichweite. An Fans, die auch klei- Jobmarkt. Nicht ohne Grund. Das Land Als Hack ins Trainingsgelände einbiegt, ruft
nere Klubs unterstützen. Und die Hitze im braucht Arbeitskräfte, um den Wohlstand der aus Lautsprechern der Muezzin zum Gebet.
Sommer mache Spitzenfußball über eine größten Volkswirtschaft im Nahen Osten auf Er höre das schon gar nicht mehr, sagt Hack.
­gesamte Saison unmöglich. Dauer zu sichern. Mancher Teamkollege komme dann eben ein
In Chubar muss Hack am Nachmittag zum Hack zuckelt die Strandpromenade von paar Minuten später zur Massage. Nur die Hit-
Training. Es ist Freitag und in Saudi-Arabien Chubar entlang. Im Radio läuft »Energy 2«, ze im Sommer sei brutal, sagt Hack. Bei Sprints
Wochenende. Aber seit im Oktober der spa- »powered by Aramco«, die Rolling Stones sei ihm anfangs schnell die Luft ausgegangen.
nische Coach das Kommando übernommen singen »Angie«. Am späten Nachmittag sei Hack betritt den Umkleidetrakt, es riecht
hat, habe das Team nur einen Tag pro Woche der Strand voller junger Leute, die grillen und noch nach Farbe, in der Schwimmhalle neben-
frei, vorher seien es zwei gewesen. »Is halt so«, Wasserpfeife dampfen. an donnern Presslufthammer. Ein Teammana-
sagt Hack und zuckt mit den Schultern. Auf »Nur zum Trinken müssen sie da rüber«, ger bittet in ein Büro zum Tee. Im Fernsehen
der Küchenzeile im Haus steht ein Foto seiner sagt Hack und zeigt in die Ferne, auf den King läuft Fußball der Frauen, das eigene Team
Freunde. Es erinnert ihn an zu Hause. Fahd Causeway, eine 25 Kilometer lange Brü- spielt. »Alex has a good heart«, sagt der Mann,
Hack wuchs im Allgäu auf, in einem Dorf ckenkonstruktion. Sie verbindet die König- Hack habe ein gutes Herz. Er sei ein boden-
in der Nähe von Memmingen. Die Mutter war reiche Saudi-Arabien und Bahrain. Jeden ständiger Kerl.

86 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


SPORT

Während Hack über den Platz ­ erade die Abwehrpositionen seien


g wollen und Teams auch zu Auswärts-
sprintet, schwirrt eine Drohne über oft schwach besetzt. Die Besten wür- Milliarden- spielen folgen. »Alles ein Marathon,
das Feld und filmt das Training. Alles den in der Regel für den Angriff ge- spiel kein Sprint.«
für die Videoanalyse. »Ein ordnender holt. »So hast du ein Ungleichge- Der Weg zum Erfolg führe nur
Blick von oben würde auch den West- wicht«, sagt der Trainer. Auch würde Fußballligen mit den über die Privatisierung der Klubs und
europäern manchmal guttun«, sagt im Sommer, wenn es abends zum Teil höchsten Ausgaben ihre Öffnung für Investoren. Ein Plan,
auf dem Transfer-
ein Betreuer hinter vorgehaltener noch 40 Grad Celsius hat, ein lang- markt im Sommer der gerade deutschen Fußballroman-
Hand. Die zeichneten gern das Bild samerer Fußball gespielt als im Win- und Winter 2023/24, tikern Tränen in die Augen treiben
vom reichen Saudi-Araber, der den ter, wo es kühler ist. Europäisches in Milliarden Euro würde. Für Nohra aber selbstver-
Transfermarkt mit seinem Geld flutet Spitzenniveau könne man in Saudi- ständlich. Die Vereine sollen nicht
Premier League,
und die Preise verdirbt. Arabien noch nicht erwarten. In sei- England
ewig am Tropf des Staats hängen.
»Wechseln Spieler in Europa zu nem Klub fehle ein Sportdirektor, »Wir müssen in Zukunft mehr zum
2,93
Klubs, nur weil die Städte so schön anfangs hätten sie kaum Leute ge- Bruttoinlandsprodukt beitragen, als
sind?«, fragt er und zeigt auf zwei habt, die sich um die Spieler kümmer- Ligue 1, Frankreich wir das heute tun.«
Zeugwarte, die Trinkflaschen und Tri- ten. Um Autos, Wohnungen, Kinder- 1,11 Die vom Ausland skeptisch beäug-
kots einsammeln. »Sind aus Pakistan betreuung. Serie A, Italien ten Investitionen der Saudi-Araber
und Bangladesch«, sagt er. »Der Anders als die Menschen in Katar, 1,00 in mehr als 90 neue ausländische
Sport hat viele Gewinner.« das die WM 2022 ausgerichtet hat, Saudi Pro League Spieler kämen auch den europäischen
Aber wo steht der saudi-arabische seien die Saudi-Araber »total fußball- 0,98 Klubs zugute. »Konkurrenz belebt
Fußball nun im internationalen verrückt«. Zu Derbys pilgerten ins das Geschäft«, sagt Nohra. »Wir wol-
Bundesliga
­Vergleich? Der Trainer eines SPL- Stadion mehr als 50.000 Fans, die ihr len eine der besten Ligen der Welt
0,85
Klubs ist bereit zu sprechen, aber Team mit Pyrotechnik und Gesängen werden, also müssen wir wirtschaften
er will seinen Namen nicht veröffent- antrieben. Bei schlechteren Teams La Liga, Spanien wie die Besten.«
licht lesen. Seit die internationale kämen aber nur ein Drittel. Manchen 0,54 Spielerberater Roger Wittmann
Presse kritisch auf das Fußballpro- internationalen Star frustriere das. S Quelle: Transfermarkt glaubt, es werde nicht mehr allzu


jekt in Saudi-Arabien blickt, dürfe Den englischen Nationalspieler Jor- ­lange dauern, bis die SPL zu den Top-
vom Verein keiner mehr ohne Er- dan Henderson zog es im Winter nach ligen der Welt gehöre. Wittmann, 64,
laubnis Auskunft geben. Anordnung nur einem halben Jahr zurück nach kennt das Geschäft seit 30 Jahren,
von oben. Europa. Der spanische Nationalver- seine Firma Rogon gehört zu den
Der Coach sagt, es sei ein Trug- teidiger Aymeric Laporte beschwerte Marktführern. So viel Innovations-
schluss zu denken, die Klubs würden sich über fehlende Ernsthaftigkeit und wille wie im Königreich von Prinz
das Geld mit der Gießkanne vertei- schlechte Lebensqualität. »Es gibt Mohammed habe er noch nie gese-
len. Es gebe klare Vorgaben für das ­viele Spieler, die unzufrieden sind«, hen. »Die Saudis lesen das Buch von
verfügbare Budget. »Die Saudis ge- sagte Laporte. übermorgen.« Das seien alles schlaue
ben nur viel Geld aus, wenn sie über- Den Geschäftsführer der Saudi Pro Köpfe, die gerade erst begonnen hät-
zeugt sind, der Spieler bringt sie wei- League, Carlo Nohra, beunruhigten ten, sich der Welt zu öffnen.
ter.« Er schätzt das Niveau der Liga solche Aussagen nicht. Profis kämen Über seinen Spieler Roberto Fir-
etwas besser ein als zum Beispiel in und gingen in jeder Liga, sagt er im mino, der bei Al-Ahli unter Vertrag
Österreich, »taktisch und athletisch Videotelefonat mit dem SPIEGEL . steht und angeblich mit einem Ab-
ist noch Luft nach oben«. Aber die Die größere Herausforderung sei, Stürmer Benzema schied aus Saudi-Arabien liebäugelt,
Klubs lernten schnell. »Fehlende eine Fankultur im ganzen Land zu (M.), saudi-­ sagt Wittmann: »Er kauft sich dort
arabische Klub­
Fachkenntnis kaufen sie sich ein.« etablieren. Spieltage so attraktiv zu funktionäre im Juni
drüben gerade ein Haus.«
Die ausländischen Profis hätten die machen, dass Zuschauer das »Pro- 2023: »Der Sport Am Abend nach dem Training sitzt
Qualität des Spiels gehoben, aber dukt Fußball« immer wieder erleben hat viele Gewinner« Alexander Hack mit ein paar Physio-
therapeuten des Klubs beim Essen in
einem Restaurant. Einer von ihnen
zeigt Hack auf seinem Smartphone ein
Foto. »Guck, so soll das neue Aramco-
Stadion aussehen. Eröffnung für 2026
geplant«, sagt er. »Sind wir längst nicht
mehr da!«, sagt Hack und lacht.
Er rechne momentan damit, Saudi-
Arabien spätestens zu Vertragsende
im kommenden Jahr zu verlassen.
»Vielleicht schon eher.« Regelmäßig
kämen Abgesandte von Aramco vor-
bei, um sich über Fortschritte zu in-
formieren.
Aktuell ist Al-Qadsiah Tabellen-
führer, der Aufstieg in dieser Saison
sei fest eingeplant. Hack würde dann
theoretisch gegen Ronaldo auf dem
Platz stehen. Ob sein Klub dann noch
auf ihn setze? Hack zögert. Viele im
Jorge Ferrari / AFP

Team gehen davon aus, nächste Sai-


son gegen namhaftere Spieler aus-
getauscht zu werden. Hack sagt: »Ich
bin auf alles vorbereitet.«  n

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 87


SPORT

Warum war Adidas der deutsche Fußball nicht


mehr wert?
Es gab Zeiten, da machte Adidas den DFB
zum reichsten Sportverband der Welt. Heute

Abgestreift
fehlt der Konzernspitze um CEO Bjørn Gulden
offenbar die Fantasie, dass aus dem deutschen
Nationalteam alsbald wieder eine Marke mit
Strahlkraft werden könnte. Nach all den sport-
lichen Misserfolgen der vergangenen Jahre,
SPONSOREN Der Deutsche Fußball-Bund versucht vor der EM, dem Vorrundenaus bei den Weltmeisterschaf-
ten 2018 in Russland und 2022 in Katar.
sein angekratztes Image zu reparieren. Beim »Seit dem letzten Vertragsabschluss ist der
ausgebooteten Partner Adidas hält sich die Trauer in Grenzen. DFB nicht gerade teurer geworden«, heißt es
aus Adidas-Kreisen, »im Gegenteil, der sport-
liche Gegenwert ist eher gesunken.« Über die

A
m vergangenen Sonntagmorgen, um Seit Neuestem arbeitet der DFB mit der um- Höhe der Nike-Offerte habe man keine
kurz nach zehn, saß Bernd Neuendorf strittenen Plattform TikTok zusammen, um Kenntnis gehabt und auch nicht gleichziehen
am Flughafen von Lyon und schob sei- die Nationalelf bei der jüngeren Fan-Genera- können. Abgesehen von der Frage, wie sinn-
ne schwarze Brille auf die Nase. Der Präsident tion hip zu machen. voll so eine Investition aus Sicht von Adidas
des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) wirkte Jetzt also die Partnerschaft mit dem Sport- gewesen wäre. »Einen solchen Deal – egal ob
zufrieden, geradezu beseelt von der schönen ausrüster Nike. Sie soll beim Faceliftversuch über 50, 80 oder 100 Millionen – kann man
neuen Fußballwirklichkeit. des Verbands ein weiteres Puzzlestück bilden ja nicht mit Trikotverkäufen allein refinan-
Am Vorabend hatte er erlebt, wie die neu – auch wenn sich Politiker wie Bundeswirt- zieren«, sagt ein Adidas-Mitarbeiter. »Für das
formierte Nationalmannschaft in einem Test- schaftsminister Robert Habeck über die Ab- Unternehmen gilt es abzuwägen, wie viel
spiel gegen Frankreich mit einem listig kom- kehr vom Traditionsunternehmen aus Her- einem das Image wert ist.«
binierten Spielzug in Führung gegangen war. zogenaurach echauffierten, dem DFB man- Beim DFB sei man enttäuscht gewesen
Nach nur acht Sekunden, dem schnellsten Tor gelnden »Standortpatriotismus« vorwarfen. über das Angebot von Adidas. Wären die Ge-
in der DFB-Länderspielgeschichte. 2:0 ge- »Ein Stück weit fassungslos« hätten ihn bote nah beieinander gewesen, hätte sich der
wann Deutschland gegen den Vizeweltmeis- die Äußerungen aus der Politik gemacht, sag- Verband »selbstverständlich« eine Fortset-
ter. Nach all den Niederlagen der DFB-Elf in te Neuendorf dem ZDF. Der DFB werde sich zung der Partnerschaft vorstellen können,
letzter Zeit musste sich das für Neuendorf wie nicht dafür entschuldigen, die bessere Offer- sagt ein DFB-Funktionär. Da Nike aber rund
ein Raketenstart in Richtung Heim-Europa- te angenommen zu haben. »Es geht darum, doppelt so viel bot wie Adidas, wäre es
meisterschaft im Sommer angefühlt haben. dass wir den Verband nicht schädigen, und schlicht grob fahrlässig gewesen, die Offerte
Und der Präsident konnte sich gleich dop- das hätten wir mit Sicherheit getan, wenn wir der Amerikaner auszuschlagen.
pelt freuen. Kurz zuvor war bekannt gewor- auf dieses Angebot nicht eingegangen wären.« Vielleicht, so mutmaßt der DFB-Offizielle,
den, dass der Sportartikelhersteller Nike dem Mehr als 70 Jahre lang waren der DFB und hätten die Verantwortlichen in Herzogen­
DFB von 2027 bis 2034 rund 100 Millionen Adidas eng verbandelt, gemeinsam feierten sie aurach darauf vertraut, dass es »so laufen
Euro pro Jahr in die Kassen spülen wird. Der Triumphe. Franz Beckenbauer, Gerd Müller, werde wie früher«, als die Chefetagen von
US-Konzern löst damit Adidas ab, den lang- Lothar Matthäus, die Weltmeister von 2014 Verband und Unternehmen noch enger ver-
jährigen Ausrüster des Nationalteams. Ein um den früheren Bundestrainer Joachim Löw: drahtet waren und Vertragsdetails im Zweifel
Coup. Für das Image der Amerikaner und Sie alle spielten in den Schuhen oder Trikots »noch abends bei einem Bierchen nachver-
den finanziell angeschlagenen Deutschen Fuß- mit den berühmten drei Streifen. Nun folgten handelt werden konnten«. Möglicherweise
ball-Bund. der Bruch und die Suche nach den Gründen. wollte der DFB auch mit der Klüngelei der
Neuendorf, 62, ist seit zwei Jahren Chef Insider berichten, das Angebot der Fran- Vergangenheit abschließen.
des DFB. Lange sah es danach aus, als würde ken habe unter den 50 Millionen Euro des Die Beratungsfirma Esecon, die 2021 für
sich unter der Führung des SPD-Mannes Vertrags gelegen, der 2016 geschlossen wurde. den DFB klären sollte, ob der Zuschlag für
­wenig ändern beim krisengeplagten, verfilzten die WM 2006 im eigenen Land gekauft wor-
Fußballverband. Der ächzt noch immer unter den war, notierte in ihrem unter Verschluss
den Nachwehen der Sommermärchen-Affäre Global Player gehaltenen Ermittlungsbericht: Die Zusam-
und den bis heute nicht vollständig geklärten menarbeit des DFB mit Adidas sei »beidseitig
Umständen der WM-Vergabe an Deutschland Umsatz von Adidas und Nike weltweit, als eine ganz besondere« gesehen worden.
in Milliarden Euro
für 2006. Außerdem drohen dem Verband »Dies wurde etwa bei Ausschreibungen des
Steuernachzahlungen, und im Haushalt klafft Adidas Nike DFB berücksichtigt, wenn Wettbewerber wie
ein Loch in Millionenhöhe. Zudem verschlingt Nike trotz höherer Angebote in der Vergan-
die überteuerte DFB-Akademie in Frankfurt genheit nicht zum Zug kamen.«
am Main jährlich Unsummen. 40 Schon 2006 bot Oliver Bierhoff als dama-
Jetzt scheint es, als könnte dem DFB ein liger Manager der Nationalmannschaft dem
Neustart gelingen. Als könnte Neuendorf den Deutschen Fußball-Bund Nike als lukrativen
Verband Stück für Stück modernisieren. Auch Kunden an. Der US-Konzern zeigte sich be-
wenn einige seiner Entscheidungen manchem reit, dem DFB bis zu 500 Millionen Euro für
übel aufstießen. 20 acht Jahre zu überweisen. Aber dem Präsi-
Vergangenen September machte er An­ dium war die alte Seilschaft mit Adidas wich-
dreas Rettig, einen Kommerzkritiker und tiger. Der Konzern bekam die Vertragsver-
Gegner der WM in Katar, zum Geschäftsfüh- längerung, der DFB weniger Geld.
rer Sport. Er benannte Julian Nagelsmann als 18 Jahre später kommt der Deal mit Nike
Bundestrainer, obwohl Teile des hiesigen Fuß- 0 doch noch zustande. Genugtuung darüber
ball-Establishments lieber einen erfahreneren 2011 2013 2015 2017 2019 2021 2023 empfinde er nicht, sagt Bierhoff in einem
Kandidaten auf dem Posten gesehen hätten. S Quellen: Unternehmen ­Videotelefonat. Der ehemalige Stürmer der


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SPORT

Der DFB-Deal könnte da helfen.


Nike vertraue auf die »legendäre glo-
bale Kraft« des Deutschen Fußball-
Bunds, um das »zukünftige Poten-
zial« der Marke zu erschließen, wie
der Konzern mitteilte. Wachstums-
treiber soll für Nike auch das boo-
mende Geschäft mit dem Fußball der
Frauen in den USA sein. Der, so die
Hoffnung, könnte irgendwann gar
noch mehr einbringen als der klassi-
sche Kick der Männer.
Für Adidas zählt nun erst einmal
die Europameisterschaft und das, was
in den zweieinhalb Jahren bis zur Ab-
lösung durch Nike kommt. »Im Fuß-
ball haben wir alles, was wir brauchen.
Wir haben die richtigen Produkte,
Spieler*innen und Teams. Hier setzen
wir also unsere Strategie unverändert

Sascha Weiz / pepphoto / IMAGO


fort«, wird Adidas-Chef Bjørn Gulden
im aktuellen Geschäftsbericht zitiert,
eine Woche vor dem DFB-Aus.
An einem trüben Mittwoch Mitte
März steht der Vorstandschef von
Adidas auf dem Firmengelände in
Herzogenaurach in einem dunklen
Raum und klickt sich durch Präsen-
Nationalmannschaft ist nicht mehr England (39 Millionen Euro) und Bra- Nationalspieler tationsfolien. Der Konzern stellt an
beim DFB, sondern berät den US- silien (35 Millionen Euro) vom US- Maximilian Mittel- diesem Tag seine Bilanzzahlen für
städt im Spiel gegen
amerikanischen NFL-Klub New Eng- Konzern weit weniger Geld als der die Niederlande:
2023 vor. Sie sind rot, zum ersten Mal
land Patriots darin, den Football in DFB ab 2027. Warum war Adidas seit mehr als drei Jahrzehnten. Doch
Deutschland besser zu vermarkten, Aber was treibt den Weltkonzern der deutsche Fußball 2024 soll alles besser werden, im
Fuß zu fassen. So ähnlich, wie es Nike aus Beaverton, Oregon, dazu, für eine nicht mehr wert? Super-Sportjahr, mit den Olympi-
damals im Fußball in Deutschland bis vor Kurzem desolat agierende schen Sommerspielen, der Copa
versuchte. deutsche Elf so viel Geld auf den América, vor allem aber mit der EM
Der Umgang mit dem Nike-Gebot Tisch zu legen? Was sieht Nike, was im eigenen Land. »Das wird eine
ließ Bierhoff sogar über einen Rücktritt die Konkurrenz aus Herzogenaurach Megaparty werden«, sagt Gulden.
nachdenken, sagte er damals. Heute nicht sieht? Adidas ist offizieller Sponsor des
wäre eine solche Entscheidung im Ver- Die Rivalität zwischen beiden ist Turniers, die Franken stellen den
band undenkbar. Der DFB braucht legendär. Der US-Konzern hat den Spielball, rüsten mehrere Teams aus,
jeden Cent. Das frühe Ausscheiden bei deutschen Konkurrenten aber längst allen voran den Gastgeber. Stolz hat-
den vergangenen drei großen Turnie- überholt, erwirtschaftet jährlich um- ten Mitarbeiter vor Guldens Vortrag
ren, Welt- und Europameisterschaften, gerechnet 47 Milliarden Euro – mehr den anwesenden Journalistinnen und
hat ein Loch in die Verbandskasse ge- als doppelt so viel wie Adidas. Journalisten die neuen, pinken DFB-
rissen. Die großzügigen Siegerprämien Dass Nike dem DFB nun ein An- Trikots gezeigt, in einem Nebenraum,
kassierten andere. gebot präsentierte, das der klamme Smartphones durften nicht mitgenom-
Der DFB hat aus den Fehlern der Verband nicht ablehnen konnte, dafür men werden, der offizielle Launch
Vergangenheit gelernt. Als Nike 2016 haben Kenner des Deals nur eine Er- folgte einen Tag später. Es wirkte, als
abermals versuchte, Adidas beim klärung: »Nike will den Fußball ein- präsentierte Adidas seinen Heilsbrin-
DFB auszustechen, konnte der Ver- nehmen, die letzte Bastion von Adi- ger, die Hoffnung auf fette Jahre.
band die Offerte des US-Unterneh- das. Deshalb ist man mit dem Gebot Dem Ende der Partnerschaft mit
mens aufgrund eines Vorkaufsrechts auf Nummer sicher gegangen.« dem DFB sehe man gelassen ent-
für Adidas im Ausrüstervertrag nicht In den vergangenen Jahren hatte gegen, sagt ein Verantwortlicher aus
annehmen. Deshalb legte der DFB Nike im Fußballsponsoring mehrere dem Konzern. Nehme ein Ausrüster
offiziell fest: Eine solche Klausel wer- prominente Klubs verloren, aber die viel Geld in die Hand, um einen be-
de es für einen Ausrüster nicht mehr Amerikaner wollen Weltmarktführer stimmten Verband zu locken, eröffne
geben. Mit der Neuregelung stellte im Fußball werden und den heimi- das an anderer Stelle Möglichkeiten
der Verband die Weichen für das Bie- schen Markt zurückerobern. Ausge- für die Konkurrenz. »So läuft es nun
terverfahren in diesem Jahr – und den rechnet dort, wo 2026 die WM statt- mal im Sponsoringmarkt.«
Markus Hintzen / DER SPIEGEL

Einstieg von Nike. findet, investiert Adidas bis 2030 eine Demnächst laufen beim franzö­
Für den DFB bedeutet der Deal Rekordsumme in die Profiliga Major sischen und beim brasilianischen
einen unverhofften Geldregen. Die League Soccer, mit Superstar Messi ­Fußballverband die Ausrüsterverträ-
Partnerschaft ist die lukrativste für als Posterboy. »Wir wissen, dass Nike ge aus.
Nationalteams weltweit. Laut dem sein Potenzial nicht ausschöpft«, sag-
Peter Ahrens, Simon Book,
Branchendienst Spobis erhalten te Nikes Firmenchef John Donahoe Rafael Buschmann,
selbst Top-Teams wie Vizeweltmeis- zuletzt zerknirscht über die enttäu- DFB-Präsident Matthias Fiedler, Jörn Meyn,
ter Frankreich (50 Millionen Euro), schenden Quartalszahlen. Neuendorf Thilo Neumann, Gerhard Pfeil  n

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WISSEN

Peter Dejong / AP
Jahrzehntelang fahndete Theo van der Voort nach kranken Tulpen. Jetzt übernimmt eine Maschine seinen Job auf einer Tulpenfarm im
­niederländischen Noordwijkerhout. Mittels künstlicher Intelligenz erkennt der Roboter, welche der Blumen das sogenannte
Tulip-breaking-Virus in sich tragen – und sortiert die infizierten Exemplare auch gleich aus. Deren Blüten haben ein charakteristisches
­Streifenmuster, das von Kameras aufgenommen und mittels einer Software erkannt wird.

Kampf den Falschparkern


bearbeitet wurden, »die die Voraussetzungen dafür erfüllten«.
Das heißt, der Parkverstoß muss klar erkennbar sein, die
­meldende Person muss ihren Namen angeben. Ist das nicht der
Fall, werden Anzeigen offenbar schnell aussortiert.
ANALYSE Wer sein Auto auf dem Radweg abstellt,
Zur Frage, wie viele das sind, machen nur wenige Kommunen
kann den Behörden via Onlineportal gemeldet Angaben: In Frankfurt wurden 2023 demnach 13.387 von
werden. Nehmen die Ämter solche Anzeigen ernst? 54.507 Drittanzeigen geahndet, also etwa ein Viertel. In Düssel-
dorf ist die Zahl der Anzeigen mittlerweile wieder gesunken:
Vor allem in größeren Städten konkurrieren Autos mit Radfahrern Zwischen 2018 und 2021 hatte sie sich fast verdoppelt – auf mehr
und Fußgängern um den knappen öffentlichen Raum. Das gibt als 32.000. Im vergangenen Jahr waren es dann nur noch rund
oft Ärger, etwa wenn parkende Pkw Radwege blockieren. So wer- 26.000. Ordnungsamtschef Sebastian Veelken sieht darin auch ein
den inzwischen immer mehr Menschen selbst als Ordnungshüter gestiegenes Unrechtsbewusstsein: Autofahrende müssten ­
aktiv. Sie machen Beweisfotos und melden die Parksünder den damit rechnen, auf ihr Falschparken angesprochen zu werden –
­zuständigen Behörden. Dresden, Leipzig und Bonn bieten dafür und ließen es lieber bleiben.
­bereits spezielle Kontaktformulare auf ihren Websites. In Frank- Münchner Ordnungshüter wiederum belangen statt der Park-
furt am Main soll so ein Portal bald kommen, Duisburg arbeitet sünder schon mal diejenigen, die sich an ihnen stören. So
nach eigenen Angaben an einer App. Manche Bürger sehen die wurde zwei Radfahrern von den Behörden vorgeworfen, dass
Anzeigen als letztes Mittel gegen die Übermacht der Blechkisten. ihre Falschparker-Beweisfotos gegen den Datenschutz verstießen.
Doch nehmen die Behörden die Anzeigen ernst? Schließlich seien die Kennzeichen der falsch geparkten Autos
Der SPIEGEL hat die 20 größten Städte Deutschlands um ­personenbezogene Daten. Wie viele Drittanzeigen es ansonsten
Auskunft dazu gebeten, wie sie mit sogenannten Drittanzeigen in Bayerns Hauptstadt gibt, kann man nicht sagen, ergab die
umgehen. Die meisten Kommunen gaben an, dass alle Eingaben ­S PIEGEL -Anfrage: Sie würden statistisch nicht erfasst. Lukas Kissel

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Spannungen im Untergrund datiert vermutlich 10 oder 20 Jahre zurück: der Seismologe nicht. Solche Ereignisse
»Die Ursache liegt wahrscheinlich in der ­hätten »bisher immer moderate Schäden ver­
SEISMOLOGIE Südlich von Bremen Erdgasförderung in der Region«, erklärt der ursacht«, sagt er. Anwohner meldeten trotz
schwankte am vergangenen Montag die Wissenschaftler. Durch den hohen Druck, der vergleichsweise hohen Magnitude auch
Erde. Laut dem niedersächsischen Lan­ mit dem dabei Erdgas an die Oberfläche ge­ nur kleinere Blessuren an Gebäuden: Gegen­
desamt für Bergbau, Energie und Geologie presst wurde, können sich Brüche und stände fielen um, Fenster und Türen klap­
erreichte das Erdbeben nahe der Stadt ­Klüfte im Untergrund bilden. Die Folgen perten, im Innen- und Außenputz von Häu­
Syke eine Stärke von 3,6. Für die Region sei seien aber oft erst viel später zu spüren: sern bildeten sich Risse. SUG
das ein ungewöhnlich hoher Wert, sagt »Dadurch können vorhandene Störungen in
­Seismologe Joachim Saul vom Deutschen geologischen Formationen aktiviert wer­
Geoforschungszentrum in Potsdam. In der den«, sagt er. »Auch wenn dort jetzt kein
Gegend gab es bisher nur Erdbeben unter Erdgas mehr gefördert wird, sind das sozu­
einer Magnitude von 3,5. Der Rekord für sagen die Altlasten.« Beben wie das nahe
Niedersachsen liegt bei Stärke 4,4 im Land­ Syke können im Umkreis von einigen Kilo­
kreis Rotenburg/Wümme, rund 40 Kilo­ metern um die Förderstelle stattfinden. Wo
meter östlich von Bremen. Natürliche genau, sei schwer zu sagen, es komme unter
­Erdbeben kommen in Norddeutschland aus­ anderem auf die Größe des unterirdischen
gesprochen selten vor, da sich im Unter­ Erdgasfeldes an. Auch nahe der niederländi­
grund – anders als etwa in Südwestdeutsch­ schen Grenze verzeichneten Messgeräte

Getty Images
land – keine tektonischen Platten verschie­ Sonntagnacht eine Erschütterung, allerdings
ben. Der Grund für die Erschütterungen ist deutlich schwächer. Mit schweren Beben Seismograf
laut Saul vielmehr menschengemacht. Er aufgrund früherer Erdgasförderung rechnet

»Kaufen Sie weniger Klimawandels laut Umfragen 2023 nur knapp eines von fünf zu schützen. Leider verzichten
aber dem Untergang geweiht. der weltweit verkauften Autos wir nur ungern auf etwas, wenn
Dinge!« Woher diese Diskrepanz? elektrisch, aber nur darauf wir vom Erfolg persönlich
Datenwissen­ Ritchie: Vielleicht wissen die zu schauen, verzerrt das Bild. nichts haben. Aber die Lage hat
Angela Catlin / Piper Verlag

schaftlerin Hannah Befragten nicht, welche Fort­ Wer weiter zurückblickt, ent­ sich geändert. Solar- und Wind­
­Ritchie, 30, von schritte wir bereits gemacht ha­ deckt in der Statistik eine er­ energie sind mittlerweile billiger
der Universität ben. Oder sie erwarten, dass freuliche Entwicklung: 2020 als fossile Brennstoffe. Damit
­Oxford über die der Klimawandel die Erfolge waren es noch weniger als vier ist es wirtschaftlich sinnvoll, auf
Frage, wie wir mit zunichtemacht. Als Datenwis­ Prozent, 2019 knapp mehr als sie zu setzen. Der Wandel
wenigen Verhaltensänderungen senschaftlerin weiß ich: Wenn zwei Prozent. mag sich je nach Regierung ver­
die Umwelt schützen können wir aus den Einzelereignissen SPIEGEL: Sie plädieren für Maß­ zögern, aber er lässt sich nicht
herauszoomen, ergibt sich nahmen, die Umweltschützer stoppen. Während wir spre­
SPIEGEL: Frau Ritchie, in Ihrem ein schöneres Bild. Deshalb bin und Klimaforscher schon seit chen, werden Wälder aufgefors­
Buch »Hoffnung für Verzwei­ ich vorsichtig optimistisch. Jahrzehnten fordern: rasche Ab­ tet und Windparks installiert.
felte« beschreiben Sie weitver­ SPIEGEL: Welchen Wandel, der kehr von fossilen Brennstoffen, SPIEGEL: Einerseits sagen Sie:
breitete Irrtümer beim Um­ anderen bisher verborgen CO₂-Steuer, Elektroautos. Wa­ Jede und jeder von uns kann
weltschutz. Der größte: Wir ist, sehen Sie in Ihren Daten? rum sollte ausgerechnet Ihr Buch einen Beitrag leisten. Gleich­
­leben in der schlimmsten Phase Ritchie: Der Anstieg der Welt­ die Leute davon überzeugen? zeitig fordern Sie, dass wir uns
der Menschheitsgeschichte. bevölkerung etwa verlangsamt Ritchie: Die Maßnahmen sind weniger um Plastikstrohhalme
Stattdessen sagen Sie: Wir leben sich seit Jahrzehnten, daher bekannt, aber lange hieß es: oder Plastiktüten sorgen sollten.
in der besten aller Zeiten. Wie schwinden auch die Sorgen vor Weil die Auswirkungen des Kli­ Was denn nun?
kommen Sie darauf? einer Überbevölkerung. Der mawandels schlimm sein wer­ Ritchie: Mit einer Handvoll
Ritchie: Wir stehen zweifellos Verbrennungsmotor ist auf dem den, müssen Menschen jetzt Maßnahmen können Sie
vor großen Herausforderungen. Rückzug. Zwar war im Jahr Opfer bringen, um die Zukunft die Umwelt umfassend schüt­
Etwa jeder zehnte Mensch auf zen. Auf Strohhalme zu
der Welt hat zu wenig zu essen. ­verzichten gehört nicht dazu.
Aber vor 50 Jahren waren SPIEGEL: Sondern?
es weitaus mehr. Die Luftver­ Ritchie: Kleine Verhaltensände­
schmutzung kostet Millionen rungen schaden nicht, sollten
Menschen Jahre ihres Lebens. aber kein Ersatz für die großen
Aber selbst die Luft in Delhi sein. Dazu gehört, weniger
ist heute nicht so schlecht wie Fleisch und Milchprodukte zu
die in London vor 100 Jahren. konsumieren. Ich möchte nie­
Und, ja, noch immer leben mandem vorschreiben, was er
viele Menschen von weniger als essen oder trinken soll. Aber
2,15 Dollar pro Tag. Gleich­ wenn die Hälfte der Bevölke­
zeitig ist solch extreme Armut rung an zwei Tagen pro Woche
heute erheblich seltener als vor auf Fleisch verzichtete, würden
Guido Mieth / Getty Images

20 Jahren. Emissionen, Land- und Wasser­


SPIEGEL: Wir könnten die erste verbrauch spürbar sinken. Das
Generation sein, die die Erde zu Auto stehen lassen und mit Bus,
einem nachhaltigen Ort macht, Bahn oder Fahrrad fahren ist
sagen Sie. Vor allem junge Men­ Smartphone-Reparatur ebenfalls sehr effektiv. Und:
schen sehen die Welt wegen des Kaufen Sie weniger Dinge! ALW

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WISSEN

Illustration: Julian Rentzsch / DER SPIEGEL


reflektieren und aus diesen lernen«, sagte
Johannes Vogel, Erster Parlamentarischer Ge-
schäftsführer der FDP-Fraktion am Dienstag.

Protokolle einer Krise Auch Vizekanzler Robert Habeck von den


Grünen sprach sich für eine Aufarbeitung aus.
»Es wurden durch die Entscheidungen Leben
CORONA Die Website eines rechten Verschwörungsanhängers hat gerettet, aber gerade für Kinder und Jugend-
liche war es auch eine Zeit der großen Ein-
­ itzungsmitschriften des Corona-Krisenstabs beim
S samkeit«, sagte er der »Bild«. Kein »Blame
Robert Koch-Institut herausgeklagt. Was verraten die Dokumente? Game«, aber aus Erfahrung lernen sei »die
Devise«, so Habeck. Die Idee einer Kommis-
sion war offenbar bereits mehrmals Thema

W
ar es sinnvoll, in der Pandemie FFP- Bis heute wirkt die Pandemie gesellschaft- in der Ampelkoalition.
2-Masken zu tragen? Was taugte der lich und politisch nach. Rechtsextreme Grup- Dass sich die RKI-Dokumentation nicht
Coronaimpfstoff von AstraZeneca? pen und Verschwörungsanhänger haben da- über die gesamte Pandemie erstreckt, hat
Und wie kam es zum ersten »Lockdown« vor mals Auftrieb bekommen. Noch immer ver- rechtliche Gründe. Im Mai 2021 hatte der Be-
fast genau vier Jahren? suchen sie, die Geschehnisse rückblickend treiber der erwähnten Website einen Antrag
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, umzudeuten. Ein weitverbreitetes Narrativ: auf Herausgabe nach dem Informationsfrei-
hat »Multipolar«, die Website eines rechten Die Regierung habe absichtlich Informationen heitsgesetz beim RKI eingereicht und später
Verschwörungsanhängers, die He­rausgabe unterschlagen und das Volk für dumm ver- beim Verwaltungsgericht Berlin geklagt, nach-
der internen Sitzungsprotokolle des Corona- kauft. Die eingeklagten Protokolle können dem das Institut die Diskussionsprotokolle
Krisenstabs am Robert Koch-Institut (RKI) bei der Suche nach Antworten helfen. zunächst nicht bereitstellen wollte. Das RKI
erwirkt. Anfang 2020 richtete das RKI das In Medien und sozialen Netzwerken wird gab die Dokumente offenbar erst auf Druck
Fachgremium ein. Die Expertinnen und Ex- hitzig über die Dokumente diskutiert. Von des Gerichts im Frühjahr 2023 stark ge-
perten sollten den Verlauf der Pandemie wis- »den brisanten Corona-Protokollen des RKI« schwärzt an die Betreiber der Website heraus.
senschaftlich begleiten und Empfehlungen war bei ZDFheute zu lesen und von »politi- Nun wurden sie veröffentlicht. Eine Klage
erarbeiten. Die nun ­veröffentlichten Doku- schem Sprengstoff« bei bild.de. Die Spitze gegen das Schwärzen soll im Mai 2024 ent-
mente bilden in gut 450 PDF-Dateien mit der FDP im Bundestag forderte einmal mehr, schieden werden.
einem Gesamtumfang von mehr als 2000 eine Enquetekommission im Bundestag ein- Die Unterlagen, die nun öffentlich wur-
Seiten ab, über welche Themen und mit wel- zurichten, welche die Maßnahmen in der Pan- den, zeigen, dass Fehler passiert sind. Die
chen Argumenten der Krisenstab in seinen demie und Folgen aufarbeiten soll. »Wir soll- Expertinnen und Experten schätzten zu
Sitzungen in der Zeit von Mitte Januar 2020 ten die Fehler ebenso wie die richtigen Ent- einem bestimmten Zeitpunkt die Schutzkraft
bis Ende April 2021 diskutiert hat. scheidungen während der Coronapandemie von Masken falsch ein und sahen damals

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WISSEN

auch nicht voraus, wie sich das Virus


­ausbreiten würde. Vor allem aber legen die
»Wenn es mehr Infizierte »Es handelt sich bei dem geschwärzten
Namen um eine Person aus dem RKI«,
Protokolle offen, wie der Corona-Krisenstab gibt, laufen auch mehr schreibt die Behörde auf Anfrage. Die Risiko-
des RKI in einer Phase intensiv diskutiert
und abgewogen hat, in der noch vieles unklar
­Ausscheider rum, Thema stufe auf »hoch« zu setzen, habe die Instituts-
leitung des RKI auf Basis der »epidemiologi-
war und es keine wirksamen Impfstoffe wird relevanter.« schen Gesamtlage« entschieden.
gegen den Erreger gab. RKI-Protokoll vom 19. März 2020 Einblicke geben die Dokumente auch in die
Der Blick in die Dokumente erinnert da­ Maskendiskussion. Das RKI kommunizierte
ran, wie schnell und wie dramatisch sich die hier lange missverständlich. Die Kritik daran
Lage gerade am Anfang der Pandemie ent- ist bekannt. Die Protokolle unterstreichen, wie
wickelte. Noch Mitte Januar bewertete das der Corona-Krisenstab sich offenbar davon
RKI die Gefahr, dass das Virus nach Deutsch- beeinflussen ließ, dass Masken in Deutschland
land kommt, als »gering«. Das Risiko, dass bieten, reaktive Schulschließungen in Gebie- damals rar waren, und wie die Experten sicher-
sich das Virus hierzulande weiterverbreitet, ten, die nicht besonders betroffen sind, sind gehen wollten, dass Personal in Kliniken über
sogar als »sehr gering«. Dann kam das Virus nicht empfohlen.« genug Schutzmaterial verfügt.
nach Deutschland, der Kreis Heinsberg in Aus den Protokollen wird klar: Die Exper- Am 19. März, drei Tage vor dem ersten
Nordrhein-Westfalen wurde zu Karneval im ten nahmen die Lage sehr ernst. Sie drängten sogenannten Lockdown in Deutschland, be-
Februar zu einem der ersten Corona-Hot- aber nicht ungeduldig und blind auf immer fasste sich der Corona-Krisenstab länger mit
spots. Menschen erkrankten. Die Situation strengere Regeln. Sie dachten früh auch da­ dem Thema. Im Protokoll wird das Ringen
spitzte sich zu. rüber nach, wann Maßnahmen zurückgenom- des Gremiums in der Frage deutlich: »Wenn
Die Politik musste reagieren, und die Ex- men werden könnten. Manchmal irrten sie, es mehr Infizierte gibt, laufen auch mehr Aus-
perten sollten Empfehlungen abgeben. Am weil die Situation unübersichtlich und wenig scheider rum, Thema wird relevanter und
27. Februar wurde in den Dokumenten fest- über das Virus bekannt war. Am 23. März muss erneut bedacht werden«, heißt es darin.
gehalten, »zur Evidenz der Wirksamkeit von wurde eine Aerosolstudie diskutiert. Heute »Spätestens wenn Masken wieder besser ver-
Quarantänemaßnahmen (z. B. Abriegelun- weiß man: Das Virus schwebt in der Luft, fügbar sind, sollte das Tragen stärker propa-
gen) gibt es keine Informationen«. Wo sollten ­Aerosole sind der Hauptübertragungsweg. giert werden.« Stoffmasken werden als »mög-
sie auch herkommen? Erkenntnisse einer Stu- Damals schrieb das RKI: »Es handelt sich über liche Alternative« genannt.
die zu Ebola seien schwer übertragbar, heißt (sic! –Red.) einen Übertragungsweg, der nicht Fachleute außerhalb des Instituts äußerten
es in den Protokollen. Die Fachleute disku- die normale Situation darstellt, aber was ggf. sich im Frühjahr 2020 weniger zögerlich. Die
tierten Studien und wägten sie ab. Es gab we- für Zahnärzte, Ärzte, die Bronchoskopien ersten Länder in der EU, etwa Luxemburg
nig gesicherte Erkenntnisse. Trotzdem muss- durchführen, relevant sein kann.« und die Slowakei, führten im März eine Mas-
ten sie etwas formulieren. In einer aktuellen Stellungnahme erklärt kenpflicht an bestimmten öffentlichen Orten
Der Fachgruppe gehörten über die Zeit das RKI, die Aussagen in den Protokollen ein. Die Regierung in Deutschland setzte erst
verschiedene Expertinnen und Experten an. spiegelten »den offenen wissenschaftlichen am 29. April eine deutschlandweite Pflicht
Der damalige RKI-Präsident Lothar Wieler Diskurs« wider. Einzelne Äußerungen stellten zum Tragen von Schutzmasken im Nahver-
oder sein damaliger Stellvertreter und jetzi- »nicht zwangsläufig die abgestimmte Position kehr und beim Einkauf um.
ger Nachfolger Lars Schaade waren in der der Behörde« dar. FFP2-Masken beschäftigten die RKI-Fach-
Regel dabei, mitunter auch beide. Außerdem Am 16. März hielt der Krisenstab fest: »Am leute danach noch monatelang – ebenso wie
Vertreter verschiedener Abteilungen und WE wurde eine neue Risikobewertung vor- die Bevölkerung. In einem RKI-Protokoll vom
Fachgebiete des Instituts sowie teilweise bereitet. Es soll diese Woche hochskaliert 30. Oktober 2020 heißt es: »Es gibt keine Evi-
Fachleute von der Bundeszentrale für ge- werden. Die Risikobewertung wird veröffent- denz für die Nutzung von FFP2-Masken außer-
sundheitliche Aufklärung, aus der Bundes- licht, sobald«, hier folgt ein geschwärzter halb des Arbeitsschutzes, dies könnte auch für
wehr oder dem Gesundheitsministerium. Name, »ein Signal dafür gibt.« Sechs Tage die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.«
Ihre Namen sind in den Dokumenten meist später, am 22. März 2020, verkündete die Dieser Satz empört nun manche Kreise, er
unkenntlich gemacht. Bundesregierung nach Besprechung mit den wird als Beweis dafür interpretiert, dass das
Am 28. Februar ging es darum, wie Klini- Ministerpräsidenten, was öffentlich »Lock- Gremium Masken damals für wirkungslos
ken in der Pandemie arbeiten sollen. »Sepa- down« genannt wird. hielt. Allerdings wird fehlende Evidenz leicht
rierung von Corona-Patienten von anderen Allerdings führt der geschwärzte Name zu missverstanden.
ist oberstes Gebot«, heißt es. Und: »Corona- Spekulationen. Wer hat Einfluss auf die Risi- Sie ist nicht zwingend ein Beleg dafür, dass
virus anders als Influenza«. Am 2. März spra- kobewertung des RKI genommen und die das Gremium Masken damals für wirkungslos
chen die Fachleute zum wiederholten Mal fachliche Grundlage für die kurz darauf ein- hielt, sondern zeugt davon, dass ihm zu dem
über den Umgang mit Massenveranstaltun- geführten Einschränkungen des öffentlichen Zeitpunkt offenbar keine aussagekräftigen
gen. »Aufgrund der zunehmenden Ausbrei- Lebens geschaffen? Studien bekannt waren, die eine gute Wirk-
tung sollte überlegt werden, welche regel­ samkeit in der breiten Bevölkerung gezeigt
mäßigen Veranstaltungen, bei denen viele hatten. Die Frage lässt sich außerhalb von
Menschen zusammenkommen, stattfinden.« Laboren nur schwer abschließend untersu-
Frederic Kern / Geisler-Fotopress / picture alliance

Am 5. März hielt das Protokoll fest, wie chen, weil in der echten Welt neben dem Mas-
viele Infizierte und Opfer bis dahin zu be- ketragen auch Faktoren wie die Anzahl der
klagen waren: »Weltweit 95.413 (+2.234), Kontakte und der insgesamt infizierten Per-
davon 3.285 Todesfälle (+82), Fallsterberate sonen das Ansteckungsrisiko beeinflussen.
3,4%.« Aus dem Protokoll von Oktober geht auch
Von Sitzung zu Sitzung steckten sich mehr die Sorge hervor, dass die Masken falsch
Menschen an, die Todeszahlen stiegen. Die ­getragen werden und dadurch weniger gut
Jens Schicke / IMAGO

Dramatik lässt sich in den Protokollen und schützen könnten. Erneut warnten Teilneh-
den diskutierten Maßnahmen ablesen. »Be- mer, dass es einen Mangel in Kliniken geben
völkerungsbasierte Maßnahmen: Großveran- könnte, wenn FFP2-Masken breit empfohlen
staltungen grundsätzlich absagen, Schul- würden: »Hinweis, dass ein mögliches Knapp-
schließungen in besonders betroffenen Ge- RKI-Chefs Wieler 2022, Schaade 2023 werden der Masken für die eigentlich inten-

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WISSEN

dierten Benutzer (medizinischer Bereich) ab-


SPIEGEL TV Programm solut zu vermeiden ist«, steht im Protokoll.
Ende 2020 rückte das Thema Impfstoffe in
den Fokus des RKI-Gremiums: Am 21. De-
zember 2020 wurde in der Europäischen
Union (EU) die erste Coronavakzine zuge-
lassen. Es war das Produkt von Biontech/
Pfizer, das bis heute mit der jeweils empfoh-
lenen Variantenanpassung verimpft wird und
sicher und wirksam schwere Erkrankungen
verhindert. Das Gleiche galt für die Vakzine
von Moderna, die kurz darauf die Zulassung
erhielt. Diskutiert wurden nun die Protokol-
le über das Konkurrenzprodukt.
Mitglieder des Corona-Krisenstabs spra-
chen am 8. Januar 2021 über den Impfstoff
von AstraZeneca, der damals noch vor
der EU-Genehmigung stand. »AstraZeneca
nächster Kandidat in der Reihe«, heißt es im
Protokoll. »Kein Selbstläufer wie die anderen,
da Impfstoff weniger perfekt ist«, und: »Ein-

SPIEGEL TV
satz muss diskutiert werden. Möglicherweise
Beschränkungen da Daten für ältere Personen
Wehrmachtssoldat der Panzertruppe bei Durchquerung des Bug im August 1941 sehr begrenzt sind.«
Trotzdem beschloss die am Robert Koch-
Institut ansässige Ständige Impfkommission
SPIEGEL GESCHICHTE Folge 2: Krieg vor Moskau (Stiko) Anfang März 2021, nur zwei Monate
DONNERSTAG, 4. 4., 20.15 – 22.00 UHR, und Leningrad nach der Besprechung, den AstraZeneca-
TELEKOM DEUTSCHLAND Hitler prophezeit die Vernichtung Impfstoff für alle Altersgruppen zu empfeh-
­Moskaus. Tatsächlich erreichen seine len. Hatte sich die Behörde also zu dem Schritt
Unternehmen Barbarossa – Armeen die Stadtgrenze. Doch der entschieden, obwohl der eigene Corona-Kri-
Vernichtungskrieg ­Nachschub versinkt in Schlamm und senstab Bedenken anmeldete?
gegen die Sowjetunion Schnee. Auf den Winter sind die Der Eindruck könnte entstehen, aber es
Im Frühsommer 1941 überfällt die deut- ­deutschen Soldaten nicht ­vorbereitet. gab einen Zwischenschritt: Zunächst klam-
sche Wehrmacht die Sowjetunion. Ohne Leningrad, die Stadt der Russischen merte die Stiko ältere Menschen bei der Impf-
Kriegserklärung überschreiten mehr Revolution, wird ab September 1941 von kampagne mit dem AstraZeneca-Mittel aus,
als drei Mil­lionen Soldaten die Grenzen. der Wehrmacht belagert. In der Mil­ handelte also entsprechend den Einwänden
Unter dem Decknamen »Barbarossa« lionenstadt beginnt eine Hungersnot, der des Krisenstabs. Ende Januar 2021, kurz nach
wurde der Überfall sorgfältig geplant. Für bis 1944 Hunderttausende zum Opfer der Sitzung des Krisenstabs, erklärte die Sti-
Adolf Hitler ist der Feldzug auch ein fallen werden. ko: »Zur Beurteilung der Impfeffektivität ab
Kampf zweier Weltanschauungen. Schon 65 Jahren liegen bisher keine ausreichenden
Ende des Jahres stoppt der Vormarsch. Folge 3: Der Weg nach Daten vor.« Gut einen Monat später entschied
Auch eine neue Offensive 1942 bringt ­Stalingrad das Gremium, auch ältere Menschen mit dem
keine durchschlagenden Erfolge. Je länger der Krieg in der Sowjetunion Mittel zu impfen, weil in der Zwischenzeit
andauert, desto wichtiger wird die neue Informationen aus Studien bekannt ge-
Folge 1: Der Überfall ­Propaganda an der Heimatfront. Im worden waren. Die Skepsis aus dem Januar
Obwohl Hitler und Josef Stalin 1939 einen Sommer 1942 dreht der deutsche war damit überholt.
Nichtangriffspakt geschlossen haben, ­Kameramann Hans Bastanier für die Dass der AstraZeneca-Impfstoff »weniger
plant die Wehrmacht den Angriff auf die »Wochenschau« in Farbe. Der sowje­ perfekt« sein könnte als andere Mittel, wie
Sowjetunion. Am 22. Juni 1941 marschie- tische Regisseur Michail Sluzki schickt im Protokoll des Krisenstabs festgehalten,
ren die Deutschen in dem Riesenreich an einem Tag 160 Kameraleute war kein Geheimnis, auch wenn die Stiko
ein. Es beginnt ein Rasse- und Vernich- an ­verschiedene Frontabschnitte. Mit ­diesen Umstand nicht erwähnte. Anfang 2021
tungskrieg gegen den »Bolschewismus«. der Einnahme von Stalingrad will wurde öffentlich diskutiert, dass der Impfstoff
Stalin ist unter Druck, weil die Rote Armee Hitler den entscheidenden Schlag im Vergleich zu den Mitteln von Moderna
durch Säuberungen geschwächt ist. zum Sieg führen. und Biontech eine geringere Wirksamkeit ha-
ben könnte. Die Vorbehalte führten so weit,
dass sich die Vakzine in dieser Zeit ungenutzt
in Arztpraxen stapelte, obwohl sich eigentlich
noch viele Menschen impfen lassen wollten.
Beweise, dass das RKI in der Pandemie
wichtige Informationen unter Verschluss
­gehalten hat, finden sich in den Protokollen
bislang nicht. Sie spiegeln die Unsicherheiten
des ersten Pandemiejahres, die Fachdebatten
aus dieser Zeit und die Kritik, die es bereits
SPIEGEL TV

SPIEGEL TV

damals am RKI gab.


Irene Berres, Rasmus Buchsteiner, Julia Merlot,
Hungernde in Leningrad 1942 Deutsche Infanteristen 1941 Jonas Schaible n

94 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


WISSEN

Illustration: Julian Rentzsch / DER SPIEGEL


»Wir haben einen neration in Krisen mit allen Kräften geschützt
werden sollte, anstatt ihr die Hauptlast der
Bewältigung aufzubürden.

Schub von fünf bis zehn Buyx: Ja, nach unserer Tagung im September
2022, viel zu spät. Da hatten wir ein paar
Hundert Schülerinnen und Schüler zu uns

Jahren gemacht« eingeladen. Und die haben dann mal erzählt,


wie es ihnen in der Pandemie ergangen ist.
Das war sehr berührend, im Guten wie im
Schlechten.
SPIEGEL-GESPRÄCH Die Vorsitzende des Ethikrats, Alena Buyx, SPIEGEL: Und in der Politik, wo sehen Sie da
erklärt, warum es so wichtig ist, sich auch den größten Fehler?
an das Gute zu erinnern, das in der Pandemie geschah. Buyx: Dass das Impfen teilweise politisiert
wurde, auch von Parteien. Das hat mich scho-
ckiert. Und dann noch die ganze Propaganda,
Buyx, 46, ist Ärztin und hat auch Universitäts- was wir besser hätten machen müssen, das Fake News aus dem Internet – all das ergoss
abschlüsse in Philosophie und Soziologie. Im ist kein Geheimnis: Der Ethikrat hat sich viel sich in die seriöse Debatte und hat sie vergiftet.
Jahr 2018 wurde sie von der Technischen zu spät intensiver mit den Kindern und Ju- SPIEGEL: Und das ist sie bis heute, wenn man
­Universität München auf eine Professur für gendlichen befasst. Zwar habe ich in Talk- sieht, wie sich das Medium eines rechten Ver-
Medizinethik berufen. Seit 2020 ist sie Vor- shows und Interviews viel darüber geredet, schwörungsanhängers derzeit bemüht, in
sitzende des Deutschen Ethikrats. auch als Mutter, wie fantastisch solidarisch RKI-Protokolle Komplotte hineinzulesen.
Kinder und Jugendliche sich verhalten haben Sind das Versuche, im Nachhinein die Deu-
SPIEGEL: Frau Professor Buyx, was war Ihr und dass wir Älteren das zurückgeben müs- tungshoheit über die Pandemie zu erringen?
größter Fehler in der Pandemie? sen. Aber der Ethikrat hätte natürlich eine Buyx: Ich glaube, dass allgemein negativen
Buyx: Jetzt fangen Sie gleich mit Fehlern an. Empfehlung dazu schreiben sollen! Zu den Narrativen zur Pandemie unangemessen viel
Okay – aber können wir auch über Positives Hochaltrigen, die acht, neun Monate nicht Aufmerksamkeit geschenkt wurde – und im-
sprechen? aus ihrem Zimmer im Pflegeheim herausge- mer noch wird, wie man an dieser neuen De-
SPIEGEL: Ja, klar. Aber ganz ohne Selbstkritik kommen sind, haben wir etwas gemacht, ein batte erkennen kann. In den Protokollen des
geht es nicht. Mindestmaß an sozialen Kontakten eingefor- RKI zeigt sich die Sorgfalt in der Abwägung,
Buyx: Natürlich nicht, und das haben wir vom dert – zu den Kindern haben wir nichts ver- die Verarbeitung von Erkenntnissen in Echt-
Ethikrat auch gemacht. Ich sage Ihnen gern, öffentlicht! Das war falsch, und das bedaure zeit – und kein Skandal. Dennoch sieht man
ich zutiefst, bis heute. in der öffentlichen Kommentierung zunächst
Das Gespräch führte die Redakteurin Rafaela von SPIEGEL: Die Empfehlung zu den Jungen kam viele wilde, unseriöse und negative Fehl- und
Bredow. dann Ende 2022; darin stand, dass diese Ge- Überinterpretationen. Auch einige Zeitungs-

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WISSEN

redaktionen rennen da der vermeintlich


­knackigeren Story hinterher und bedienen
einen unwissenschaftlichen, populistisch ge-
prägten Spin.
SPIEGEL: Wie damals?
Buyx: Ja, da war es auch oft so, dass die posi-
tive Geschichte unterging: dass diese Impfung
eine großartige Menschheitsleistung ist! Dass
sie die Pandemie beherrschbar gemacht, uns
letztlich gerettet hat. In Dänemark, Neusee-
land, Großbritannien waren sie so stolz auf
ihre Impfkampagne, und entsprechend wur-
de darüber berichtet. Während in den Medien
bei uns teils hinten eingerissen wurde, was
vorn mühsam aufgebaut worden war. Darüber
habe ich mich manchmal geärgert.
SPIEGEL: Im November hat eine große Studie
eines Forscherteams um die Erfurter Psycho-
logieprofessorin Cornelia Betsch gezeigt, dass
die meisten Menschen sich systematisch falsch
erinnern, wenn sie zurückschauen auf die Co-
ronazeit. Sie biegen sich im Nachhinein ihre
Überzeugungen von damals zurecht. Wie sehr
erschwert diese verzerrte Erinnerung die Auf-
arbeitung der Pandemie?
Buyx: Wir wollen uns selbst erzählen können,
dass wir schon immer recht hatten. Diejeni-
gen, die damals von der Impfung und den
Maßnahmen überzeugt waren, sind es heute
noch mehr. Und die Zweifler, die Kritiker von
Impfung und Maßnahmen haben ihre Über-
zeugungen auch noch mal verschärft.
SPIEGEL: Pippi Langstrumpf auf beiden Sei-
ten: Ich mach mir die Welt, widdewidde-wie
sie mir gefällt?
Buyx: Das Problem ist, dass die Menschen mit
den positiven Überzeugungen in der öffent-
lichen Debatte wenig auftreten. Verzeihen Sie

Karolin Klüppel / DER SPIEGEL


die Deutlichkeit: Wir haben jetzt eine sehr
laute Gruppe von Leuten, die alles ganz
schlimm fanden und im Nachhinein immer
schlimmer finden. Und die stürzen sich, vor
allem in den sozialen Medien, auf jedes­
kleine Puzzleteilchen, jede windige Studie,
die gegen alle seriöse Evidenz sagt, dass Mas- Medizinerin Buyx in Berlin: »Es war eine Zeit der Höchstleistungen«
ken keine Wirkung hätten, oder ähnlichen
Humbug; auf jede Fehlinformation, die da noch Getöse. Niemand behauptet doch, es sei andere Akteure tragen diesen Blick zurück im
draußen über die Impfung unterwegs ist. alles super gelaufen in der Pandemie! Und ich Zorn in den politischen Raum. Noch mal: Das
SPIEGEL: Die meisten Menschen möchten bedaure es sehr, dass uns als Gesellschaft ein ist durchaus verständlich, aber wenn wir die-
wohl einfach die Pandemie ad acta legen. Nachdenken, ein Heilen, Lernen und gemein- se Zeit wirklich ernsthaft und vernünftig auf-
Buyx: Genau. Das ist vermutlich die größte sames Verarbeiten der Pandemie ein Stück arbeiten wollen, müssen wir auch auf die posi-
Gruppe. Wir wissen aus Befragungen, dass weit genommen wurde durch den Krieg in tiven Folgen schauen. Und dazu habe ich bis-
zwei Drittel bis zu drei Viertel der Bevölke- der Ukraine und all die anderen Krisen, die her noch fast nichts gesehen oder gelesen.
rung durch die Lockdowns, durch die härtes- die Menschen existenziell beschäftigen. SPIEGEL: Die Pandemie war wohl das trauma­
ten Zeiten hindurch, die Maßnahmen plus/ SPIEGEL: Sie saßen im Corona-Expertenrat tischste Er­eignis im Leben der Deutschen seit
minus angemessen fanden und auch fürs Imp- der Bundesregierung – warum gab es da kei- dem Zweiten Weltkrieg. Was daran war gut?
fen waren. Aber diese Mehrheit kümmert sich nen kritischen Rückblick? Buyx: Natürlich, diese Zeit war schrecklich,
jetzt darum, wie sie mit der Inflation zurecht- Buyx: Wir waren ein Ad-hoc-Beratungsgre- entbehrungsreich, alle hatten Angst, alle ha-
kommt, mit den fürchterlichen Kriegen und mium, am Ende hatten wir zwölf Stellung- ben etwas verloren. Und wir haben alle ge­
dem Terror auf der Welt. Und dann gibt es nahmen abgegeben. Und dann sollten wir litten – es war fürchterlich. So. Und gleich-
eben diese Gruppe … evaluieren, was wir selbst vorher beraten zeitig war das eine Zeit, in der ich ständig,
SPIEGEL: … der »sehr Lauten«? Was haben Sie hatten? Das passt doch nicht zusammen. überall, Leute habe zu Höchstleistungen auf-
gegen ein kritisches Publikum, das Aufarbei- SPIEGEL: Was macht es so schwer, heute ruhig laufen sehen. Ganz zu schweigen von der
tung fordert? und sachlich über die Coronazeit zu sprechen? ­unglaublichen Solidarität für die Älteren, die
Buyx: Nichts natürlich. Und Kritik ist super- Buyx: Nicht nur das Impfen, die ganze Pande- Vulnerableren. Und zwar ohne Lob, ohne
wichtig. Aber damit hat das teils nur noch mie wird politisch instrumentalisiert. Die AfD, Talkshow-Berühmtheit, ohne dass irgendwer
wenig zu tun, da ist viel tendenziöse Quellen- immer schon Maßnahmengegner, prügelt da ein Treppchen hingestellt hat. Überall passier-
auswertung und leider zum Teil einfach nur jetzt drauf und bedient ihre Klientel, aber auch te das; in Betrieben, Schulen, Kitas, Geschäf-

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WISSEN

ten, Behörden, im Gesundheitswesen. In mei­


nem eigenen Team, in den Medien. Überall.
»Das Vertrauen in die SPIEGEL: Im Internet kursieren Erzählungen
von der Pandemie als größtem globalem Unter­
Das war eine irrsinnige soziale Leistung! ­Wissenschaft ist höher als werfungsexperiment der Geschichte. Wegen
SPIEGEL: Zugleich wurde auch viel impro­
visiert, gestümpert, vieles war aktionistisch,
vor der Pandemie.« des Umgangs mit der Krise wünschen sich laut
der Studie des Teams um Cornelia Betsch sechs
chaotisch. Prozent der befragten Deutschen gar eine Zer­
Buyx: Mir geht es um Leute, die in die Verant­ schlagung des politischen Systems. Demokratie
wortung gegangen sind. Ein Beispiel: Zwei Jah­ und Seuche – passt da etwas nicht zusammen?
re nach Pandemiebeginn war ich bei einer Ver­ Buyx: Das kommt aus der Ecke derer, vermu­
anstaltung mit Chefs größerer Unternehmen; ­ arin, die negativen zu heilen. Und gerade in
d te ich, die schon erwähnt wurden und die auch
alle waren geimpft, aber es gab eine neue, ech­ Deutschland stellen wir die psychische Ge­ immer behaupten, dass die Parlamente nicht
te Herausforderung, nämlich: Wie machen wir sundheit gern hintan, bisschen als Gedöns, beteiligt wurden. Was einfach nicht stimmt,
Homeoffice gerecht möglich? Wie bekommen weiches Zeug. Obwohl die essenziell ist. Er­ das haben wir uns im Ethikrat im Rahmen
wir es hin, dass das fair läuft, dass die Arbeit­ freulicherweise geht es den jungen Menschen einer Stellungnahme angeschaut. Klar, es gab
nehmer diesen Schutz in Anspruch nehmen inzwischen wieder besser. die eine oder andere problematische Exekutiv­
können und die Bedarfe der Unternehmen SPIEGEL: Wie viel Leid haben wir unseren verordnung. Gegen Leute beim Spazierenge­
trotzdem erfüllt werden, Arbeitsprozesse nicht Kindern zugefügt – allein durch die langen hen, Jugendliche in Parks. Aber das war nicht
zusammenbrechen? Ich war tief beeindruckt, Schulschließungen? die Regel. Der Rechtsstaat und unsere verfas­
wie gut und wertschätzend da diskutiert wurde Buyx: Dass die Jungen schwer gelitten haben, sungsrechtlich verbrieften demokratischen
und Lösungen gefunden wurden – lange bevor steht außer Frage. Aber auch da sind falsche Prinzipien haben funktioniert, mit Beteiligung
Arbeitsminister Hubertus Heil irgendwas dazu Narrative unterwegs. Die längste Unterrichts­ der Parlamente. Geredet wird aber darüber,
erlassen hat. All das ist auch geschehen, im einschränkung, die es gab, dauerte 184 Tage, wenn die Polizei Kinder von der Wiese jagt.
Stillen, nur redet kaum ein Mensch darüber. nicht in allen Bundesländern, und das ist viel, Weil es die bes­sere Schlagzeile ist.
Das ist einfach unter den Tisch gefallen. keine Frage. Gleichzeitig muss man sagen: In SPIEGEL: Die Frage ist, bis heute, ob die Maß­
SPIEGEL: Die Menschen reisen weniger für der Zeit gab es Notbetreuung, die zum Teil nahmen angemessen waren: Maskenpflicht,
den Job, machen Videokonferenzen, leben mit 50 bis 60 Prozent besetzt war, je nach Shutdown, Schulschließungen?
digitaler. Zählen Sie mehr Nachhaltigkeit auch Region. Und in Schweden, wo es kaum Schul­ Buyx: Viele Leute denken, dass die Maßnah­
zu den positiven Errungenschaften? schließungen gab, sind die Jungen psychisch men nie auf ihre Verhältnismäßigkeit hin
Buyx: An der Pandemiedelle in Bezug auf genauso schwer betroffen. überprüft wurden. Dabei gab es schon im ers­
­Mobilität und CO2-Verbrauch konnte man SPIEGEL: Haben wir das Kindeswohl der Wirt­ ten Pandemiejahr Tausende Verfahren genau
ablesen, dass es einen drastischen Effekt hat, schaft geopfert, indem wir gesagt haben: dazu. Die Gerichte haben überprüft und über­
wenn wir unsere Aktivitäten einschränken. Schulen dicht, Firmen nicht? prüft – und was davon wurde weggeboxt?
Aber der Plastikverbrauch ist gestiegen, weil Buyx: Klar, man hätte auch eine Homeoffice- SPIEGEL: Das Alkoholverbot in München?
die Leute so viel Essen bestellt haben, Home­ Pflicht einführen können, um das Infektions­ Buyx: Genau, diese Urteile kann man an drei,
shopping ist explodiert und hoch geblieben. geschehen einzudämmen. Das hat die Schweiz vier Händen abzählen. Und gut, dass es sie gab.
Bei Konsum und Nachhaltigkeit gibt es keine so gemacht, und die Schulen blieben offen. Aber von Tausenden Verfahren! Da muss man
positive Bilanz. Es war immer eine Abwägung: an einer Stel­ echt aufpassen – wenn falsche Erzäh­lungen
SPIEGEL: Was ist mit dem Digitalisierungs­ le zumachen, an anderer auflassen. Und wir verbreitet werden, etwa dass Demokratie und
schub? sind in Deutschland eine auf ältere Menschen Rechtsstaat versagt hätten, dann erodiert das
Buyx: In der Pandemie haben wir kollektiv ausgerichtete Gesellschaft, die jüngere Gene­ Vertrauen in unser staatliches System.
sehr griffig verstanden, dass wir von einem ration steht nicht im Vordergrund. Das ist SPIEGEL: Es gibt eine größere Impfskepsis
Dickicht aus fein ziselierten bürokratischen immer noch so. Deswegen hat Deutschland als vor der Pandemie; laut der Betsch-Studie
Regulierungen bis in den kleinsten Lebens­ gesagt: Geht arbeiten, wir schließen dafür die wollen fast 30 Prozent der Befragten in
zusammenhang umgeben sind. Und nun Schulen. Und das haben wir ja gemeinsam Deutschland Politiker für ihr Verhalten in der
­durfte man da auf einmal etwas ruppiger gemacht. Oder können Sie sich an Demos für Pandemie bestrafen, fast 20 sogar die Wissen­
­werden, Dinge digital unterschreiben, und, Homeoffice-Pflicht erinnern? schaftler. Werden diese Leute jemals wieder
o Gott, o Gott, die Welt ist nicht unterge­ mitmachen, wenn neue Seuchen dräuen?
gangen, wenn man mal eine Videokonferenz Buyx: Wir haben eine Gruppe, die nichts mehr
gemacht hat! Da haben wir, so sagen das Ex­ Corona-Spätfolgen glaubt. Die sind an Verschwörungserzählun­
perten, einen Schub von fünf bis vielleicht gen verloren. Aber die meisten Menschen
sogar zehn Jahren gemacht. Und vieles ist Befragte in Deutschland, die den folgenden sind vernünftig, möchten sich und andere
Aussagen (eher) zustimmen, in Prozent
auch geblieben. Ich fürchte nur das »Unlear­ schützen, davon bin ich fest überzeugt. Die
ning«: Wir müssen aufpassen, dass sich jetzt »Politikerinnen und Politiker sollten dafür be- Leute überlegen sich, ob sie den Schreihälsen
nicht alles zurückdreht. straft werden, wie sie mit der Coronapandemie folgen, die Unsinn verzapfen.
umgegangen sind.«
SPIEGEL: Können uns die wenigen guten Fol­ SPIEGEL: Denen es aber gut gelingt, Miss­
gen der Pandemie – sei es die Digitalisierung, 29 trauen gegen die Wissenschaft zu schüren.
sei es geschicktes Krisenmanagement – mit Wie tief reicht der Riss in der Gesellschaft?
dem Kardinalfehler des Umgangs mit der Seu­ »Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Buyx: Es gibt Spaltungs- und Polarisierungs­
che versöhnen: dass so viele Kinder und Ju­ die die Regierung beraten haben, sollten phänomene, ja, aber die Gesellschaft ist viel
dafür bestraft werden, wie sie mit der Corona-
gendliche in seelische Not geraten sind? pandemie umgegangen sind.«
weniger gespalten, als es im Moment herbei­
Buyx: Kurz vorweg: Es gab viel mehr Positi­ geredet wird. Und das Vertrauen in die Wis­
ves! An der Charité wurde beispielsweise der 19 senschaft ist immer noch höher als vor der
erste Coronatest entwickelt, bei Biontech der Pandemie. Wir müssen als Gesellschaft ein­
mRNA-Impfstoff, das Robert Koch-Institut »Wenn eine ähnliche, aber neue Pandemie fach mal aufhören mit diesem ständigen Fo­
auftreten würde, dann würde ich die geltenden
ist ein weltweit angesehenes Institut. Unsere Maßnahmen einhalten.« kussieren auf das, was gerade nicht gut läuft,
Wissenschaft war Weltspitze. Aber wir sind das würde ich mir sehr wünschen.
leider nicht nur recht schlecht darin, die 64 SPIEGEL: Frau Professor Buyx, wir danken
­positiven Folgen zu sehen, sondern auch S Quelle: Sprengholz et al. (2023), 499 Befragte in Deutschland Ihnen für dieses Gespräch. n

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WISSEN

geschichte erhielt. Er erforscht das Leben in


der Steinzeit nicht, indem er das Werkzeug
jener Zeit ausgräbt und dokumentiert, son-
dern indem er es möglichst originalgetreu

Pazifist mit
nachbaut und dann ausprobiert.
Mit 79 Jahren ist Paulsen noch sehr aktiv,
trägt Vollbart und hat das altersweiße Haar

Waffenarsenal
im Nacken zum Zopf gebunden. Er war
­zweimal dänischer Meister im Langbogen-
schießen und macht regelmäßig Schießübun-
gen. »35 Pfund Zugkraft«, sagt er. »So ein
Ding zu spannen hält fit.«
ARCHÄOLOGIE Harm Paulsen kann auf 43 Arten Feuer machen. Mit Pfeil Das Interesse an Paulsens Arbeit war nicht
immer so groß. Lange musste er um Anerken-
und Bogen beschießt er Schweinehälften. Seine Mission: Steinzeitwaffen nung kämpfen. Kollegen aus der Archäologie
nachbauen – so testet er, was frühen Menschen schon möglich war. wollten anfangs nichts von seiner Werkelei
wissen. »Wir sind Akademiker, keine Hand-
werker«, hieß es. Als er Studenten beim La-

E
r ist ein friedfertiger Mann. Trotzdem sie mit Tiersehnen, die er zuvor zerklopft und gerfeuer erklärte, wie sich Feuerstein bearbei-
hortet Harm Paulsen Waffen. So viel angefeuchtet hatte. Nutzte der Mensch schon ten lässt, kam prompt das Verbot vom Pro-
tödliches Kriegsgerät hat sich in seiner früh einen solchen Verbundwerkstoff? Be- fessor: Es sei untersagt, Seminare am Strand
Zweieinhalbzimmerwohnung angesammelt, weisen kann Paulsen das nicht. Aber zeigen, abzuhalten, so erzählt er es.
dass er nicht mehr weiß, wohin damit. »Ich dass es so gewesen sein könnte. An den nöti- Die Zweifler sind verstummt. Paulsen gilt
bin der bestbewaffnete Pazifist Schleswigs«, gen Fähigkeiten jedenfalls habe es den Men- nunmehr als Nestor der deutschen Experi-
sagt er. Wikingerschwerter hängen über der schen in der Steinzeit nicht gefehlt: »Die wa- mentalarchäologie. Er kann auf 43 verschie-
Couch, Dolche verwahrt er in Kisten. Aus ren fit. Die kannten sich aus«, sagt er. dene Weisen Feuer machen, er ruderte mit
einer Kammer holt er eine dunkelgrün schim- All die Waffen, die Paulsen in seiner Woh- selbst gezimmerten Einbäumen über die Ost-
mernde Streitaxt aus Diabasgestein: »Damit nung hütet, sind keine steinzeitlichen Origi- see, und wann immer in Norddeutschland der
können Sie Schädel zertrümmern.« nale. Die Pfeile und Äxte, die Schwerter, Mes- Findling eines Hünengrabs aufgerichtet wer-
Aus dem Wohnzimmerschrank fördert er ser und Speere hat er selbst hergestellt. Denn den soll, fragt man ihn um Rat.
schubladenweise Pfeilspitzen aus Flint, Quar- Paulsen ist Experimentalarchäologe, ein Die Vorzeit begeisterte Paulsen schon als
zit oder Jaspis hervor. »Hier, der längste Pfeil Autodidakt, der 2011 den Archäologiepreis Kind. Mit seinen Geschwistern stromerte er
Europas«, sagt Paulsen und greift oben in die der Deutschen Gesellschaft für Ur- und Früh- nahe Lübeck durch die Felder rund um den
Garderobe. Der Schaft reicht ihm von den
Fußspitzen bis zum Nabel. Die Federn seien
verklebt mit Birkenteer: »Das war das Uhu
der Steinzeit.« Einen anderen Pfeil nimmt der
Waffennarr ehrfürchtig aus dem Regal:
»10.000 Jahre alt, der älteste der Mensch-
heit.« Als er ihn erstmals sah, fragte er sich
sogleich: Wie wohl mag der dazugehörige
Bogen ausgesehen haben?
Pfeil sucht Bogen: Das ist ein Rätsel nach
Paulsens Geschmack. Steinzeitliche Pfeilspit-
zen fänden Archäologen zuhauf, erklärt er,
Bögen dagegen seien rar. »Es ist heute genau,
wie es damals war. Es liegen Patronen im
Wald, aber keine Jagdgewehre.«
Der Pfeil stammt aus Ahrensburg in Schles-
wig-Holstein, nordöstlich von Hamburg. Am
Ende der Eiszeit erstreckte sich dort eine Tun-
dralandschaft bis zum Horizont. Paulsen re-
cherchierte, was damals dort wuchs. Jeden-
falls keine Ulmen und Eiben, die für Bögen
am besten geeigneten Hölzer. Trotzdem hat-
ten die Bögen wohl beträchtliche Durch-
schlagskraft. Das konnte Paulsen an noch er-
haltenen Knochen der Jagdbeute ablesen.
Eine Antwort darauf, wie sich die Stein-
zeitjäger beholfen haben könnten, fand Paul-
sen in Lappland: Die dort heimischen Sami
gingen bis vor wenigen Hundert Jahren mit
Niklas Grapatin / DER SPIEGEL

Bögen aus zweierlei Holz auf die Jagd, das


steigert die Spannkraft. Vielleicht hatten es
die Ahrensburger einst ähnlich gemacht?
Paulsen probierte es aus. Er schnitzte zwei Autodidakt Paulsen mit
halbe Holme, einen aus Wacholder-, den an- Steinzeitbogen, Speersammlung
deren aus Birkenholz. Dann verschnürte er

98 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


WISSEN

Gutshof mit der Gärtnerei seiner Eltern, er- gar einen ganzen Packen verschnürter Briefe. Die Toten wurden geplündert, die Pfeil-
zählt er. Die Kinder verbrachten den Tag mit »Du hast Großes für deine Stadt geleistet«, spitzen in ihren Körpern blieben zurück. Vie-
Bootfahren, Fischen, Waldhüttenbau. sagten die hinzugerufenen Museumsleute. le davon waren aus Feuerstein gefertigt, bei
Unerschrocken machte sich der kleine Vielleicht wäre Paulsen zu einem Alter- anderen hatten die Krieger den modernen
Harm daran, ein Pfahlhaus im Sumpf zu bau- tumsgelehrten wie all die anderen geworden, Werkstoff Bronze benutzt. Doch welche der
en, so wie er es auf einer Bildtafel in Meyers wenn er, wie er es eigentlich vorhatte, Archäo- vielen Verletzungen rührten von welchen Ge-
Konversationslexikon gesehen hatte. »Das logie studiert hätte. Doch seine Großmutter schossen her? »Wer wissen will, wie Pfeile
ging ziemlich schief«, erinnert er sich. Erfolg- warnte: Mit dem Buddeln nach Scherben las- wirken, der muss Pfeile schießen«, sagt Paul-
reicher seien seine Versuche gewesen, Pfeil- se sich kein Geld verdienen. Er fügte sich und sen. Er reiste nach Greifswald und machte
spitzen aus Flint herzustellen. Diesmal dien- ging zur Marine, um Radartechnik zu lernen. dort umfängliche Schussversuche.
te ihm die Abbildung in einem Buch über Als er auf See einen schweren Unfall erlitt Paulsen hängte Schweinehälften auf und
Indianer als Vorbild. und zeitweise arbeitsunfähig war, erinnerte beschoss sie vielhundertfach mit Pfeilen. Ent-
Eines Tages fand er auf dem Gelände sei- er sich an sein archäologisches Interesse. Am fernung und Zugkraft der Bögen wurden
ner Eltern Steine, die bereits behauen waren: Archäologischen Landesamt in Schleswig ­genau protokolliert. Viele Rippen haben die
Spuren einer bis zu 5500 Jahre alten Siedlung ­erkannten sie schnell sein Talent. Als Quer- Experimentalarchäologen so geritzt oder ge-
der Megalithkultur. Akribisch dokumentierte einsteiger ohne Hochschulabschluss wurde spalten. Am Ende stand fest: In ihrer Durch-
er all seine Funde. Die Kuratoren im Lübecker er anfangs vor allem für Notgrabungen ein- schlagskraft übertreffen die steinernen Pfeil-
Heimatmuseum seien begeistert gewesen. gesetzt. Sobald bei Bauarbeiten in Schleswig- spitzen sogar noch jene aus Bronze.
Bis heute hat Paulsen diese Aufzeichnun- Holstein alte Gemäuer oder Siedlungsspuren Auch als Wanderer in den Südtiroler Alpen
gen aufbewahrt. Mit Teenagerhandschrift sind zutage traten, brach er auf, um so viel wie die berühmte Leiche des Ötzi entdeckten, war
auch Funde aus dem Mittelalter vermerkt. möglich vor den Baumaschinen zu retten. Paulsens Expertise gefragt. Mehrmals ist er
»Lübeck war damals noch voller Bomben- Nebenher begann er, Pfeile, Äxte, Messer ins Römisch-Germanische Zentralmuseum
schäden«, erzählt Paulsen. Er sei dazugekom- oder Schmuck nach steinzeitlichem Vorbild nach Mainz gefahren, wo die Ausrüstung der
men, wie Bagger auf einem Trümmergrund- herzustellen. Es dauerte einige Jahre, doch Gletschermumie restauriert wurde. Sorgfältig
stück eine Baugrube aushoben. Alles lag irgendwann sahen die Kollegen ein, dass hat er jedes Fundstück studiert und viele
­voller Scherben, der Junge glaubte, sie retten neben meisterhaft gefertigten Artefakten da- nachgebaut: den noch unfertigen Langbogen
zu müssen. Er überredete die Arbeiter, den bei auch wichtige wissenschaftliche Erkennt- aus Eibenholz etwa, den ledernen Köcher
Abraum statt auf die örtliche Deponie zur nisse herauskamen. oder das mit Fell bespannte Holzgestell, das
väterlichen Gärtnerei zu transportieren. »Ist sie nicht wunderschön?« Paulsen strei- Ötzi wohl auf dem Rücken trug. »Ein voll-
36 Lkw-Ladungen schütteten sie dort ab. chelt über das spiegelglatt polierte Diabas- tauglicher Tourenrucksack«, sagt Paulsen.
Mit Freunden durchsiebte der damals gestein, aus dem er eine grünlich schimmern- Manchmal benutze er ihn beim Einkaufen.
15-Jährige den Schutt. Sie fanden Keramik, de Streitaxt hergestellt hat. 80 Stunden Zwei Pfeile haben die Archäologen im Kö-
Schmuck, Münzen und Armbrustbolzen, so- brauchte er, um aus einem formlosen Brocken cher der Gletschermumie gefunden. »Nur
die elegante Form der Doppelaxt herauszu- einen davon hat Ötzi selbst hergestellt«, so
pickeln: »Man muss dazu so lange auf den Paulsen. Denn die Sehne, mit der die Federn
Stein klopfen, bis erst ein weißer Fleck er- am Schaft des einen Pfeils befestigt sind, wur-
scheint, der sich dann in Pulver verwandelt.« de von einem Rechtshänder gewickelt. Die
Auch das Loch für den Griff werde gepickelt Wicklung des anderen Pfeils ist andersherum
und nicht gebohrt, wie man immer glaubte. – das »hat ein Linkshänder gemacht«. Der
Als Nächstes kramt Paulsen eine pracht- erste Pfeil ist für den Köcher maßgeschnei-
volle goldbraune Bernsteinkette hervor. Das dert, der zweite ragt rund vier Zentimeter zu
Original stammt von Sylt und findet sich heu- weit heraus. Paulsen geht davon aus, dass
te in Lübeck. Die walnussgroßen Perlen äh- dieser von einem Fremden stammt. Für ihn
neln in ihrer Form der Streitaxt. »Das ist kein steht damit fest: »Ötzi war Rechtshänder.«
Niklas Grapatin / DER SPIEGEL

Zufall«, erklärt der Experimentalarchäologe. Die Nachbarn im Schleswiger Wohnblock


»Es sind Waffen, genau wie die steinerne Axt. haben sich daran gewöhnt, dass es in Paulsens
Doch sind sie nicht gegen Menschen gerichtet. Wohnung nachts klopft und hämmert. Pfeil-
Sie sollen den Träger der Kette vor Geistern spitzen, Dolche und anderes kleineres Stein-
schützen.« zeitgerät stellt er in seiner Küche her. Gegen-
Paulsen ist ein versierter Handwerker. Sei- über der Spüle hat er ein paar Bretter als
ne Fertigkeiten bei der Bernsteinbearbeitung Werkbank installiert: »Das reicht mir.«
kommen denen der steinzeitlichen Juweliere Manchmal klingeln die Kinder aus dem
nahe. Trotzdem dauerte es 300 Stunden, bis Haus. Sie wollen, dass Paulsen mitkommt für
die Kette fertiggestellt war. »Diese Zeit zu Schießübungen am Lärmschutzwall hinter
ermitteln ist wichtig. Denn sie gibt uns eine der Siedlung. Neulich standen sie ganz auf-
Vorstellung von dem Wert, den ein solches geregt an der Tür: »Wir müssen mit Ihnen
Stück hatte«, sagt der Forscher. reden.« Sie hatten ihn zum Oberhäuptling
Inzwischen wird Paulsen gerufen, wann gekürt. Er feierte es mit Brause.
immer neue Funde aus der Vorzeit Rätsel auf- Johann Grolle  n
werfen. Am Flüsschen Tollense etwa, südlich
von Greifswald, wurden Knochen ausgegra- Mehr zum Thema lesen Sie
in der neuen Ausgabe
ben, die von der frühesten bezeugten Schlacht
Niklas Grapatin / DER SPIEGEL

von SPIEGEL GESCHICHTE:


Europas zeugen. Radiokarbondatierungen Menschen der Steinzeit –
zufolge fand sie vor rund 3250 Jahren statt. unsere erstaunlichen
Dutzende Schädel und kistenweise Rippen Vorfahren. Erhältlich im
Zeitschriftenhandel und
weisen zum Teil schwerste Hieb-, Stich- und unter amazon.de/spiegel.
Schussverletzungen auf. »Es war ein Massa-
ker«, sagt Paulsen.

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 99


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KULTUR
Christoph Schmidt / dpa

Feiernde auf Karfreitagsparty in Stuttgart 2023

Gott ist ein DJ


KLUBKULTUR In Hamburg und München wird über das Tanzverbot am Karfreitag gestritten, in Berlin adelt man
Techno als »lebendige Tradition«. Wer kann mehr Leitkultur: Jesus oder Dr. Motte?

E
s ist natürlich Zufall, dass zwei sehr chen offen halten – auf dass die Einschrän­ Tanzverbot ist also eine grundsätzliche, an
unterschiedliche Nachrichten in den kung irgendwann ganz gekippt wird. ihr hängt ein Stück unserer Identität. Sind
vergangenen Tagen zwei sehr ähnliche Warum existiert sie überhaupt? Weil am wir ein Volk von Ravern, dem Feiern wich­
Fragen aufwarfen. Da war zum einen die Karfreitag eigentlich der Kreuzigung Jesu tiger sind als Schweigeminuten? Oder ein
Unesco, die vor Kurzem die Berliner Techno­ gedacht werden soll, Katholiken konsumie­ Volk, das an Weihnachten und Ostern daran
kultur auf die bundesweite Liste des ren an diesem Tag weder Fleisch noch Ge­ erinnert werden muss, dass es christliche
­immateriellen Kulturerbes aufnahm. Und nussmittel. Dass man das dazusagen muss, Wurzeln hat? Vielleicht liegt beides gar nicht
da sind zum anderen die Städte Hamburg zeigt schon, wo das Problem liegt: Es ist so weit auseinander. In unserer säkulari­
und München, in denen mal wieder um keine Selbstverständlichkeit mehr. Das Wis­ sierten Gesellschaft sind die Klubs Orte
das sogenannte Tanzverbot gestritten sen um das christliche Erbe verblasst, und einer Verzückung, die durchaus religiöse
wird, das traditionellerweise am Karfreitag Tradi­tionen, die erklärt werden müssen, Züge haben kann, »Technotempel« mit
herrscht. Die Stadt Hamburg hat es um sind bald keine mehr. Die deutsche Leit­ dampfenden Weihrauchmaschinen. Auf der
­wenige Stunden gelockert, in München kün­ kultur wird ja gerade deshalb von konser­ Tanzfläche lässt sich genauso die Verbin­
digten 14 Orte des Nachtlebens an, sich zu vativer und rechter Seite mit besonderer dung nach ganz oben finden wie im Gottes­
einer »Revolution« gegen das Tanz­verbot ­Entschlossenheit verteidigt: weil gar nicht dienst ein paar Häuser weiter. Oft findet
zusammenzuschließen, darunter viele Tech­ klar ist, wie sie eigentlich aussieht. Eine beides auch zur gleichen Uhrzeit statt, näm­
noklubs. In der Nacht vom Gründonnerstag Kultur, die verordnet werden muss, hat Le­ lich am Sonntagmorgen. Gott ist ein DJ,
auf den Karfreitag wollen sie die Tanzflä­ gitimationsprobleme. Die Frage nach dem auch an Ostern. Tobias Rapp

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Vom Chaos der Welt lud, verbindet die Herkunft aus
einer anderen Kultur, ein
AUSSTELLUNGEN Es ist nicht ­anschließendes Leben in der
einfach, als Künstlerin in ­diesem Fremde und die mühsame

Photo: Marco Cappelletti / Palazzo Grassi / Pinault Collection


Haus mit einer Einzelausstel- ­Suche nach einer neuen Identi-
lung zu bestehen. Der Palazzo tät. Fast alle bezeichnen ihre
Grassi in Venedig hat mehrere Arbeit als politisch.
Etagen, sehr hohe Decken und Mehretu hat sich im Laufe
viele große Räume. In dieser der Jahre mit der Black-Lives-
Umgebung kann ein Werk Matter-Bewegung, dem Arabi-
untergehen – oder glänzen. Seit schen Frühling und dem Irak-
Mitte März ist in dem jahrhun- und Syrienkrieg auseinanderge-
dertealten Stadtpalast direkt am setzt – auch wenn man das ihren
Canal Grande die größte Retro- abstrakten Bildern nicht immer
spektive der Künstlerin Julie ansieht. Eine ihrer schönsten
Mehretu zu sehen, die es bisher Arbeiten in Venedig ist eine aus
in Europa gab. Der französische der Reihe der »Grey Paintings«,
Milliardär und Kunstsammler Mehretu-Werk »Epigraph, Damascus«, 2016
die sie im Jahr 2012 begann: ein
François Pinault, seit 2006 riesiges, sechsteiliges Fotogra-
Hausherr des Palazzo Grassi, Retrospektive eine Minigrup- amerikanischen Bild­hauerin vur-Panorama, für dessen Hin-
hatte die in Äthiopien geborene penausstellung zu machen. Huma Bhabha mitten zwischen tergrund sie Architekturzeich-
und in New York lebende Sie forderte Freunde und Weg- Mehretus Bildern im Raum. nungen aus der syrischen Stadt
53-Jährige dazu eingeladen. genossen auf, Werke beizu­ Und die Werke von David Ham­ Damaskus benutzte. Das Chaos
Über 50 Arbeiten aus zwei- steuern. Und sie wählte auch mons, dem Idol vieler schwar- der Welt bereitet Mehretu in
einhalb Jahrzehnten zeigt sie den Titel der Ausstellung aus: zer Künstler, hängen neben dem Werk streng grafisch auf.
hier. Und sie gehen erfreulicher- »Ensemble«, »Zusammen«. Mehretus großformatigen, oft Ganz so, als ob sie es auf diese
weise nicht unter, auch weil So stehen nun die archaischen zarten kalligrafischen Arbeiten. Weise erträglicher machen woll-
Mehretu so klug war, aus der Skulpturen der pakistanisch- Viele der Künstler, die sie ein- te. Was ihr gelingt. BSA

Herrschaftsfrei mühsam ­gefunden hat, wird in Buckley, Colman in


dieser Sekundärliteratur ent- »Kleine schmutzige Briefe«
in Sneakers schädigt. Über Ideengeschichte
SACHBÜCHER Der titelgebende unterhaltsam schreiben muss
Philosoph trägt Sneakers von man auch erst mal können, wenn
Reebok und lebt in einem moder- man kein Amerikaner ist.
nistischen Bungalow, den man Felsch führt uns gekonnt
eher in den Hamptons vermuten noch einmal vorbei an den Mei-
würde, erfährt man im ersten lensteinen des habermasschen
Absatz des Buches. Der Philo- Denkens und entwirft damit
soph, das ist natürlich Jürgen zwangsläufig auch einen ideen-
Habermas, der einzige von Welt- geschichtlichen Abriss der Bun-

STUDIOCANAL
starrang, über den Deutschland desrepublik, auf die er als ein
noch verfügt – noch, denn Ha- zu Beginn der Siebziger­jahre
bermas ist 94 Jahre alt. Man Geborener einen nostalgischen
kann seine Reebok-Schuhe und Blick pflegt: von Habermas’ Beste Feinde Großbritannien der Zwanziger-
den Bungalow als unbedeutende Positionierung gegen ein Come- jahre spielende Film der Re­
Zier, aber auch als Signalwör- back Heideggers in den Fünfzi- KINO Die als Queen-Darstel­ gisseurin Thea Sharrock ist so
ter dafür lesen, mit welcher Sorte gerjahren und den Debatten um lerin bekannte Olivia Colman etwas wie das Spiegelbild der
Text wir es hier zu tun haben. die Studentenunruhen über seine spielt in dem Film »Kleine in Irland angesiedelten Erfolgs-
Der Autor Phi­lipp Felsch, be- Begriffe vom »herrschaftsfreien schmutzige Briefe« eine fromme komödie »The Banshees of Ini­
kannt durch kluge kulturhistori- Diskurs« und der »idealen Kleinstadtbürgersfrau namens sherin« von Martin McDonagh.
sche und ideengeschichtliche Sprechsituation« sowie den His- Edith, die nicht mehr jung ist Was beide eint: In einer eigent-
Betrachtungen in Büchern über torikerstreit der Acht­zigerjahre und bei ihren Eltern lebt. Schau- lich friedlichen Umgebung sind
Nietzsche oder linke Theorie, bis zu Auseinander­setzungen spielerin Jessie Buckley verkör- sich plötzlich zwei vorher mit­
hat sich Habermas mit einer um die Wiedervereinigung oder pert ihre feierlustige, ordinäre, einander befreundete Menschen
Methodik ge­nähert, die sonst die gegenwärtige Russland­ bettelarme und mit einer klei- spinnefeind. Nur kriegen sich
eher im angloamerikanischen politik. Und nen Tochter zusammenlebende diesmal keine Männer, sondern
wissenschaft­lichen Schreiben zu das auf schlan- neue Nachbarin Rose. Aus der zwei Frauen in die Haare. Shar-
finden ist: mit klar verortetem ken 190 Seiten kurzen Freundschaft der beiden rock macht aus der Briefpöbler-
erzählendem Subjekt, das stell- plus Anhang, Frauen wird Hass, als plötzlich Story eine prächtige Skurrilitä-
vertretend für die Leserschaft auch dies muss anonyme Briefe mit obszönen tenshow. Natürlich lässt sich der
den sozialphilosophischen Posi- man erst mal Beschimpfungen bei vielen der mit Pomp inszenierte Klamauk
tionen und großen Debatten ­schaffen. OEH Bewohnerinnen und Bewohner als Gleichnis auf die Hassreden-
der Bundesrepublik noch einmal der idyllischen Küstengemeinde Unkultur der Gegenwart begrei-
nachspürt. Jeder, der in den Philipp Felsch: Littlehampton eintreffen. Natür- fen, in erster Linie ist der Film
»Der Philosoph«.
letzten Dekaden die Primärtexte Propyläen; 256 lich landet dafür erst mal Pro­ ein Fest herrlich aufgekratzter
von Habermas mitunter auch Seiten; 24 Euro. letenfrau Rose im Knast. Der im Komödiantinnen. HÖB

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 103


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Gordon Welters / DER SPIEGEL

Künstlerin Ditto

104 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


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SPIEGEL-GESPRÄCH Sie stand für Body Positivity, als der Begriff noch nicht angesagt war,
und modelte für Jean Paul Gaultier. Jetzt ist Beth Ditto mit ihrer Band Gossip zurück
und spricht darüber, wie sie sich fühlt, wenn ihr Körper mit einem Schlauchboot verglichen wird.

Die Tür des »Diamond Room« geht auf, einer SPIEGEL: Sie finden das cool? Das tut Ihnen leicht willst du Weltmeisterin im Seilspringen
Lounge im fünften Stock des Musikkonzerns nicht weh? werden – aber wann kommst du dazu, darü-
Sony Music in Berlin, der Kopf einer Frau mit Ditto: Klingt doch irgendwie korrekt. Ich mei- ber nachzudenken, wenn du dauernd nur dei-
orange gefärbten Haaren und kajalumrahm­ ne, mein Körper bewegt sich halt so. (Sie ne Schönheit im Kopf hast? Vergiss nicht, dass
ten Augen guckt raus – sie ruft: »Next, bitches!« schiebt ihr Kleid zur Seite und wackelt mit den du Talente hast und einen Wert, der nichts
So beginnt Beth Ditto das Gespräch mit Oberschenkeln.) Was ist schlimm daran, wenn mit deinem Aussehen zu tun hat.
dem SPIEGEL . Das fasst bereits zusammen, mein Körper sich bewegt wie ein Boot auf SPIEGEL: Früher posierten Sie auf den Titel-
wofür sie steht: Mode und Punk. dem Meer? Who gives a shit? Sehen Sie, das seiten von Zeitschriften, waren zu Gast bei
Ditto, die vor 43 Jahren als Mary Beth Pat­ ist das Coole an Punkrock. Die Einstellung Fashionshows, unter anderem bei Karl Lager-
terson im provinziellen US-Bundesstaat Ar­ ist: Na und? Mein Körper wackelt eben. feld …
kansas zur Welt kam, war zuletzt von der Bild­ SPIEGEL: Punk ist das eine, aber so ein Kom- Ditto: Lagerfeld hat mal ein Kleid für mich
fläche verschwunden. Das letzte Album von mentar kann einem doch abseits der Bühne designt.
Gossip, der Band, in der Ditto von den Neun­ sehr zusetzen. SPIEGEL: Wie standen Sie denn zueinander?
zigerjahren an sang und mit der sie in den Ditto: Meine Gefühle werden nicht so leicht Ditto: Wir waren beste Freunde, er hat mir
Nullerjahren berühmt wurde, kam vor zwölf verletzt. Ich bin in Armut aufgewachsen, mit seine Katzen vererbt. Nein, Spaß, nichts da-
Jahren heraus. Vor sechs Jahren löste sich die vielen Geschwistern. Man hat mir schon so von ist passiert. Wir hingen nicht viel mitei-
Gruppe auf. Jetzt feiern Gossip mit dem neuen viele Sachen an den Kopf geworfen. Ich gehe nander ab oder so. Ich habe ihn nur ein paar
Album »Real Power« ihr Comeback. einfach davon aus, dass es Menschen gibt, die Mal getroffen.
Produziert hat es Guru-Produzent Rick ich liebe und denen ich vertraue – und Leute, SPIEGEL: Zu der Zeit, als Sie für Jean Paul
Rubin, der schon für jenes Album verant­ die ich nicht kenne und die mich nicht kennen. Gaultier gemodelt haben, waren Models
wortlich war, das Gossip 2009 den Durch­ Nicht jeder wird dich mögen. meistens sehr dünn.
bruch in Deutschland brachte. Der Hit SPIEGEL: Als Sie in den Nullerjahren berühmt Ditto: Das war mir egal.
»Heavy Cross« hielt sich damals fast zwei wurden, war das Konzept Body Positivity SPIEGEL: Sie haben sich nicht missbraucht ge-
Jahre lang in den deutschen Single-Charts, eher unbekannt. Dennoch haben Sie es da- fühlt? Als moralisches Feigenblatt, um sich
und Ditto, die vorher mit der George-W.- mals schon gelebt. etwas diverser zu geben, aber trotzdem Dünn-
Bush-kritischen Hymne »Standing in the Way Ditto: Im Mainstream kannte man das nicht, sein zu zelebrieren?
of Control« zu Ruhm in der LGBTQ+-Com­ unter meinen Leuten aber schon. Ich finde es Ditto: Es war mir scheißegal. Mir gefiel es, das
munity gelangt war, wurde ein Star. übrigens immer ein bisschen ulkig, wenn ich zu machen. Nicht nur wegen der Aufmerk-
Sie posierte nackt auf dem Cover der bri­ danach gefragt werde. samkeit. Die mochte ich auch. Aber ich mag
tischen Musikzeitschrift »NME« und modelte SPIEGEL: Warum? eben Mode, ich liebe Gaultier, ich liebe Marc
für Jean Paul Gaultier. Sogar Karl Lagerfeld, Ditto: Weil so viele Menschen um mich herum Jacobs, ich liebe meine Designerfreunde.
eigentlich bekannt für seine abschätzige Sicht damals schon so aussahen wie ich. Sie haben Mode macht mir auf eine verkorkste Weise
auf »runde Frauen«, umgab sich gern mit ihr. sich so gekleidet, haben so gesprochen. Wir mehr Spaß als die Musikindustrie. Sie hat
Sie verkörperte Body Positivity, die Abkehr waren eine Szene. mehr Punk in sich.
von ungesunden Schönheitsidealen, im Main­ SPIEGEL: Sie meinen das Punkrockmilieu in SPIEGEL: Schaut man heute auf die Laufstege
stream der Modebranche, als kaum jemand Städten wie Olympia oder Portland? der Fashionshows und die Titelseiten von
wusste, was Body Positivity ist. Sie war ihrer Ditto: Überall, nicht nur in den USA, meine Zeitschriften, sind dort immer noch sehr dün-
Zeit voraus. Community eben. Diese Punkrockszene war ne Frauen zu sehen.
Das Interview beginnt an diesem Nach­ zu der Zeit schon feministisch und nicht fett- Ditto: Aber welche Macht haben Magazine
mittag mit einer halben Stunde Verspätung. feindlich. Die Einstellung zum eigenen Körper noch? Es tut mir leid, aber sie entscheiden
Und für Ditto mit einem Schluck Rotkäpp­ und zum Selbstwert war positiv. Unsere Idee nicht mehr darüber, wer ein Model und be-
chen-Sekt. davon, was Schönheit bedeutet, war damals rühmt wird. Das passiert in den sozialen Me-
bereits anders. dien. Und das ist wunderbar. Natürlich macht
SPIEGEL: Beth Ditto, sind Sie es eigentlich leid, SPIEGEL: Was bedeutet Schönheit denn? es ihnen Angst, irrelevant zu werden. Deshalb
über Ihren Körper zu sprechen? Ditto: Nicht für jeden das Gleiche. Auch für ignorieren sie einige Leute. Das heißt aber
Ditto: Nein, schließlich trage ich ihn den mich ändert sich das ständig. nicht, dass sich nicht viel tut.
­ganzen Tag mit mir herum. Er ist klumpig. Er SPIEGEL: Und jetzt? SPIEGEL: Sie haben also nicht das Gefühl, dass
ist blass. Ich werde nicht müde, über ihn zu Ditto: Ich sitze in einem Raum, der schön ist. Ihr Einsatz vergebens war?
sprechen. Ihre Weste ist schön. (Sie deutet auf die Wes­ Ditto: Ich konzentriere mich auf das Gute. Und
SPIEGEL: Sind Sie es denn leid, wie über Ihren te der SPIEGEL -Redakteurin.) In meinem Le- es hat sich etwas verändert. Ich glaube nur
Körper geurteilt wird und wurde? Als Sie mit ben bedeutet Schönheit vieles. nicht, dass das irgendetwas mit mir zu tun hat.
Gossip Ihren Durchbruch hatten, schrieb die SPIEGEL: Und wie definieren Sie Schönheit Schauen Sie sich doch nur Lizzo an (die dicke
»Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«, als gesellschaftspolitisches Konstrukt? US-amerikanische Sängerin –Red.) oder Sam
Ihr Körper wabere »wie ein schlecht aufge- Ditto: Sich über Schönheit den Kopf zu zer- Smith (den britischen nonbinären Popstar).
pumptes Schlauchboot …« brechen ist ein sexistisches Mittel, um uns ver- Es geht nicht nur um die Sichtbarkeit von fat
Ditto: Haha! gessen zu lassen, dass wir mehr sind als nur culture, sondern auch um queere Kultur, fe-
SPIEGEL: »… auf hoher See.« fucking Objekte. Weil wir immer so besessen ministische Kultur, ethnische Vielfalt, Diver-
Ditto: Das ist cool. sind von Schönheit, haben wir keine Zeit, uns sität im Allgemeinen.
auf Kreativität zu besinnen oder darauf, wo SPIEGEL: Aber gerade die Sichtbarkeit margi-
Das Gespräch führten die Redakeurin Elisa von Hof und wir intellektuell, akademisch oder mit unseren nalisierter Gruppen kommt doch im Großen
der Redakteur Jurek Skrobala. körperlichen Fertigkeiten hinsollten. Viel- und Ganzen eher schleppend voran.

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i rd dich möge
w


er
»Nicht jed

Henning Kaiser / ddp


Sängerin Ditto mit Band in Köln 2009

Ditto: Na ja, die Sache mit dem Wandel – Nina Ditto: Wenn du älter wirst, wirst du ungedul-
Simone hat das am besten gesagt. Welches dig. Weil du keine Zeit mehr hast für Bullshit.
los Lied war das noch mal? (Sie überlegt.) Oh! Du weißt, was du tun möchtest.
Kosten (Sie fängt an zu singen:) »That’s just the trou- SPIEGEL: Es wirkt, als hätten Sie sich in den
testen ble (Too slow) / Desegregation (Too slow)«. vergangenen Jahren etwas aus der Öffentlich-
Die Sache ist doch die: Es wird nie schnell keit zurückgezogen. Wollten Sie eine Pause
genug gehen. Aber allein wenn man schaut, vom Trubel?
was sich in den vergangenen 20 Jahren getan Ditto: Das hat sich für mich anders angefühlt.
hat, ist das ein Unterschied wie Tag und Ich habe total viel gemacht. Ich habe geschau-
Flexibles Weiterbilden mit staatlich Nacht. spielert (etwa 2018 in Gus Van Sants Spielfilm
anerkannten Zertifikatskursen SPIEGEL: Woran machen Sie das fest? »Don’t Worry, weglaufen geht nicht« oder 2019
Ditto: Auf der Straße sieht man heute Mäd- in der Serie »On Becoming a God in Central
chen in bauchfreien Tops, die Sie vor 20 Jah- Florida« an der Seite von Kirsten Dunst –Red.).

ChatGPT ren dort nie bauchfrei gesehen hätten. Ich


habe eine 17-jährige Nichte, auch ein dickes
Mädchen, und sie ist einfach der Hammer.
Es war schön, mal die Worte von jemand an-
ders vorzutragen und sie nicht selbst schrei-
ben zu müssen. Dass diese Arbeit bereits er-

professionell SPIEGEL: Wo sehen Sie den größten Nachhol-


bedarf in Sachen Diversity?
ledigt war: toll.
SPIEGEL: Aber Gossip waren eine Weile weg

nutzen
Ditto: Bei Behinderungen. Bei ethnischer Viel- vom Fenster.
falt. Okay, seien wir mal ehrlich: überall. Ich Ditto: Ich wollte eine Platte machen, hatte aber
fürchte, wir werden nie dort ankommen, wo den Eindruck, dass die anderen aus der Band
es für alle gut genug ist. das nicht wollen. Dann habe ich gedacht:
SPIEGEL: Das neue Album von Gossip heißt Mach ich’s halt allein. Aber sobald die Sänge-
Eine Auswahl der Inhalte: »Real Power«. Wer hat Ihrer Meinung nach rin einer Band ein Soloalbum machen will,
heutzutage die wahre Macht? heißt es: Du fühlst dich also als etwas Besse-
+ Was ist ChatGPT? Ditto: Wir leben in einer so fragmentierten res? Man muss sich rechtfertigen. Nathan
Einflussfaktoren und Grenzen Gesellschaft. Wir vergessen manchmal, dass (Howdeshell, Co-Gründungsmitglied von
+ Chain of Thoughts & wir, die Menschen, Macht haben. Natürlich ­Gossip –Red.) hat in Millionen Bands gespielt.
haben auch immer noch die verfluchten Leu- Aber er ist nie gefragt worden, ob er denkt,
fortgeschrittenes Prompting te Macht, die sie schon immer hatten. In mei- dass er etwas Besseres ist, weil er etwas ohne
+ ChatGPT: ADA – nen Dreißigern dachte ich noch, dass in den uns macht.
USA alles besser wird für uns. Aber das wur- SPIEGEL: Sie meinen, dahinter versteckt sich
Advanced Data Analysis de kaputt gemacht. Und dann wurde auch Sexismus.
+ Datenschutz & Ethik noch die Welt zerstört. Das habe ich nicht Ditto: Ja. Frauen werden sofort beäugt, wenn
kommen sehen. sie etwas allein machen.
SPIEGEL: Zerstört von wem oder was? Coro- SPIEGEL: Sie brauchten also gar keine Pause
na? Trump? vom Star-Dasein?
Ditto: Trump, diese Mülltonne, die in Flam- Ditto: Das Schöne ist, dass uns in den USA
men steht. Zerstört auch durch Kriege, Geld, kaum jemand kennt. Wenn ich abschalten
Invasionen, Hunger. Wo soll man anfangen? will, kann ich einfach immer nach Hause fah-
Wenn man in den Dreißigern ist, denkt man, ren. Auch in Europa ist der Druck für mich
man sei erwachsen und wisse alles. Aber man nicht so hoch. Ich bin ja nicht Madonna.
lernt noch viel dazu. SPIEGEL: Beth Ditto, wir danken Ihnen für
SPIEGEL: Zum Beispiel? dieses Gespräch. n
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akademie.spiegel.de 106 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024
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wickeln und kommerziell zu ver­ problemen geprägt gewesen sein. 1994


markten. Jim Clark erinnert sich in werden in den USA noch kaum Han­
seiner Autobiografie »Netscape dys benutzt und sehr wenige E-Mails
Time« an die entscheidenden Tage geschrieben, es gibt keine sozialen

In Utero
rund um Ostern 1994 folgenderma­ Medien, Cross berichtet in seinem
ßen: »In der letzten Märzwoche«, Buch wiederholt von verpassten An­
schreibt er, »forderte ich Marc auf, an rufen auf Festnetztelefonen. Am
alle seine alten Kollegen eine E-Mail Samstagmorgen versucht Cobain
zu schicken«, mit der Bitte um ein etwa, seine Frau Courtney Love im
ZEITGESCHICHTE Anfang April 1994 starb Treffen an ihrer Universität in Illinois; Peninsula Hotel in Beverly Hills an­
»drei Tage später saßen Marc und ich zurufen: »Der Portier sagte, Courtney
­Nirvana-Sänger Kurt Cobain und mit ihm der in einem Flugzeug von San Francisco würde keine Anrufe annehmen. ›Ich
Rock ’n’ Roll. Gleichzeitig wurde Netscape Richtung Osten«. In einer Studenten­ bin ihr Mann, stellen Sie mich durch!‹
­gegründet und das Internetzeitalter geboren. kneipe unterschreiben die Program­ Aber Kurt hatte das Codewort ver­
mierer gleichlautende Verträge. Einer gessen, das notwendig war, um seine
der neuen Angestellten, schreibt Frau telefonisch zu erreichen.«

H
istorische Zäsuren sind ent­ Clark, »erzählte mir später, sie hätten An dem Tag, als Clark und Andrees­
weder sofort als solche zu sich damals wie Rockstars gefühlt, sen ihre Firma anmelden, die für die
­erkennen oder entfalten ihre was sie in der Welt der Software si­ künftige Vernetzung von Kommuni­
­Bedeutung erst im Nachhinein. Vor cher waren«. Gleich nach der Rück­ kation so bedeutsam sein wird, befin­
genau 30 Jahren, in der Woche nach kehr wird die Firma von den beiden det sich Kurt Cobain vermutlich gera­
Ostern 1994, fielen beide Ereignis­ Gründern formell registriert. de auf der Suche nach einem vertrau­
typen zusammen. Wahrscheinlich am Der wirkliche Rockstar klettert am ten Dealer. Ab Samstag, dem 2. April,
5. April, so die gerichtsmedizinische Freitagabend, dem 1. April 1994, über gibt es keinen sicheren Hinweis mehr
Rekonstruktion, nahm sich Kurt Co­ die Mauer der Entzugsklinik Exodus über Cobains Wege durch Seattle, kein
bain auf seinem Anwesen in Seatt­le in Los Angeles und bucht ein Flug­ Foto, keine Datenspur – eine tagelan­
das Leben, gut ein halbes Jahr zuvor ticket nach Seattle. Am Samstagmor­ ge Absenz einer Berühmtheit, die in
war noch das letzte Nirvana-Album gen trifft er noch auf den früheren dieser Konsequenz schon kurz darauf
»In Utero« ­erschienen. Viele der heu­ Babysitter seiner Tochter Frances, der nicht mehr möglich sein wird.
te 45- bis 60-Jährigen erinnern sich weiterhin in Cobains Haus lebt; da­ Cobains Verzweiflung, das haben
vermutlich noch an den Moment, in nach beginnt, wenn man Charles auch diskretere Biografen wie Mi­
dem sie nach der Entdeckung der Lei­ Cross’ etwas sensationsheischender chael Azerrad betont, spitzte sich vor
che am 8. April von der Tragödie er­ Biografie »Heavier Than Heaven« allem durch den Selbstvorwurf zu,
fuhren. Musiker Cobain glauben darf, eine dreitägige orien­ mit dem Erfolg des Nirvana-Albums
1993: Im Zwiespalt
Genau in diesen Zeitraum fiel aber von etablierter tierungslose Odyssee durch Seattle. »Nevermind« 1991 die eigenen Wur­
auch ein stilles, unbemerktes Datum, und alternativer Die letzten Tage im Leben von Kurt zeln im Punk verraten zu haben. Die
das im Rückblick einen noch stärkeren Öffentlichkeit Cobain müssen von Kommunikations­ Grunge-Bewegung um Nirvana und
kulturellen Einschnitt markiert. Am das Label Sub Pop waren seit Ende
4. April 1994 meldeten Jim Clark und der Achtzigerjahre die letzte Gene­
Marc Andreessen im kalifornischen ration eines musikalischen Under­
Mountain View, gut 1000 Kilometer grounds, der mit selbst verwalteten
südlich von Seattle, eine Firma an, die Plattenfirmen, Radiostationen und
wenige Monate später den Netscape- Fanzines eine alternative Infrastruk­
Browser auf den Markt brachte – jene tur entwickelte und sich damit den
Software, die das Internet von einer Majorlabels und der Mainstream-­
kompliziert zu bedienenden Compu­ Öffentlichkeit entgegenstellte. Diese
tertechnologie in ein für alle zugäng­ Sphäre zugunsten von Prominenz
liches Medium verwandelte. und Reichtum zu verlassen, in einem
Zwei parallele Ereignisse, in einem Akt des »Sell-out«, war bis Mitte der
dichten Moment der jüngeren Ge­ Neunzigerjahre ein mächtiger Vor­
schichte, deren Engführung einen wurf, der Bands zermürben und Bio­
Epochenbruch sichtbar macht. Bevor grafien beschädigen konnte.
Jim Clark, ein 50-jähriger Unterneh­ Es ist die tragische Pointe des
mer aus dem Silicon Valley, und der 5. April 1994, dass das Leiden an die­
22-jährige Informatiker Marc An­ sem Konflikt genau zu dem Zeitpunkt
dreessen ihre Firma gründen, ist die ein Leben kostete, an dem sich der
Navigation durch das vier Jahre zuvor Zwiespalt von etablierter und alter­
entwickelte World Wide Web nur nativer Öffentlichkeit medientech­
über kryptische Befehlseingaben nisch auflöste. Mit dem Netscape-
möglich. Andreessen hat während Browser setzt das Internetzeitalter
seines Informatikstudiums in Illinois ein, in dem jeder Konsument zum
zusammen mit einigen Programmie­ Produzenten werden kann, in dem die
Stephen Sweet / Shutterstock

rern einen Browser entwickelt, der Opposition zwischen Mainstream und


die Steuerung und Darstellung der Underground bedeutungslos wird.
Webseiten stark vereinfacht. Die letzte Ikone des Rock starb einen
Nach seinem Umzug nach Kalifor­ Tag, nachdem die neue Verteilung der
nien beschließt er gemeinsam mit Aufmerksamkeiten begonnen hatte.
Clark, diesen Browser weiterzuent­ Andreas Bernard  n

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Im Schatten von Lenins Fingerspitze


LITERATUR Leo Vardiashvili erzählt am Beispiel Georgiens vom schwierigen Weg der früheren Sowjetrepubliken
nach Europa – und von den Menschen, die darunter leiden. Ein Besuch in Tiflis. Von Sebastian Hammelehle

Liste der Trinksprüche bei einem Beim Abendessen ergreift die Tante das lis Mutter gemein, genau wie der Vater, der
georgischen Abendessen* (Teil I): Wort, eine Dame in einem klassischen Kos- beim Abendessen nicht dabei ist. Leo Vardi-
1. Auf Gott, dem wir danken! tüm. Sie leitet eine Abstimmung ein. Per ashvilis Eltern sind seit Langem geschieden.
2. Auf unsere Gäste, die ein Geschenk Handzeichen wird ein Tamada gewählt, das Seine Mutter war Lehrerin. Sein Vater lebt in
Gottes sind! ist nach georgischer Tradition die Person, die Großbritannien. Er hat Georgien nach seiner
3. Auf Leo, möge er Glück haben für Trinksprüche verantwortlich ist. Trink- Flucht nie wieder betreten. Er hat lange selbst
mit seinem Buch! sprüche sind wichtig. In Georgien, an diesem geschrieben, aber nie etwas veröffentlicht.
Abend und in Vardiashvilis Roman, in dem Auch der Vater im Roman schreibt, ein

D
er Schriftsteller Leo Vardiashvili, seine auch ein Tamada auftritt. Manuskript von ihm spielt eine wichtige Rol-
Mutter, seine Tante, sein Onkel und Einstimmig fällt die Wahl auf den Cousin, le. Wie bei einer Schnitzeljagd hat er Seiten
sein Cousin haben im Wohnzimmer einen schmalen, glatzköpfigen Mann mit see- aus dem Text in Tiflis versteckt, sie sollen
der Mutter in der georgischen Hauptstadt Tif- lenvollem Blick. Er hat den Weißwein, der seinen Sohn, der nach ihm sucht, auf seine
lis am Esstisch Platz genommen. Das Zimmer, heute Abend ausgeschenkt wird, in seiner Spur bringen, ohne dass die Polizei die Bot-
mit alten Möbeln eingerichtet und in Cognac- Garage selbst gekeltert und in einer übergro- schaft dechiffrieren kann. Im Buch wird nach
tönen gehalten, hat eine ungewöhnlich hohe ßen Plastikflasche mitgebracht. Der Wein ist dem Vater wegen Mordverdachts gefahndet,
Decke. Die Wohnung wirkt amputiert, sie naturtrüb, leicht moussierend, kräftig. er hatte Rache genommen an einer Person,
muss einmal großbürgerlichen Zuschnitts ge- Der Cousin bringt den ersten Toast des die ihn zuvor verriet. Das ist der Teil der Ge-
wesen sein, bis sie aufgeteilt wurde, wahr- Abends aus. Viele weitere werden folgen. Et- schichte, den Leo Vardiashvili sich ausgedacht
scheinlich während der Sowjetzeit. liche berühren die Themen, um die es auch hat.
Direkt neben der Eingangstür, wo früher in Vardiashvilis Buch geht, die Heimat, die Die Fährte des Vaters lässt sich verfolgen
die Garderobe war, befindet sich eine winzi- Familie. Der Autor erhebt sein Weinglas, es wie die Brotkrumenspur in »Hänsel und Gre-
ge Küchennische. Hier hat die Mutter das ist eher eine Pilstulpe und sehr gut gefüllt. tel«. Und auch der Titel des Buchs, »Vor
Abendessen zubereitet, das nun in einer Viel- »Ihr habt mir am meisten eingeschenkt.« einem großen Walde«, ist von den Brüdern
zahl kleiner Portionen auf dem Tisch steht, Grimm entliehen. Als Leo Vardiashvili klein
gefüllte Paprika, würziger Spinat, Käse. Wie Liste der Trinksprüche bei einem war, haben ihm seine Mutter und seine Groß-
bei einem Festmahl im Nahen Osten. georgischen Abendessen (Teil II): mutter viele Märchen erzählt, sie haben ihm
Georgien liegt an der Schnittstelle zwi- 4. Auf unsere Familie am Tisch! vorgelesen aus Büchern, in denen die Fanta-
schen Asien und Europa. Zwischen Schwar- 5. Auf unsere Familie im Ausland! sie entscheidend war und nicht, wie in der
zem Meer und Kaukasus, Russland und der 6. Auf unsere Eltern! Sowjetunion erwünscht, die politische Bot-
Türkei. Darüber, wohin es politisch gehört, schaft.
haben oft Machthaber von außen entschieden. Vardiashvili ist nach Tiflis gekommen, um
Nun hat Leo Vardiashvili, 41, einen Roman seine Familie wiederzusehen. Es ist sein ers- Liste der Trinksprüche bei einem
über das Land geschrieben. Es ist ein groß- ter Besuch in der Stadt, nachdem sein Debüt- georgischen Abendessen (Teil III):
artiges, ergreifendes und mitreißendes Buch, roman erschienen ist, in dem diese Familie, 7. Auf Tiflis!
in dem die Lage des Landes so prekär ist wie leicht verfremdet, eine wichtige Rolle spielt. 8. Auf alle unsere Heimatländer!
die Familienverhältnisse des Icherzählers Auf der unteren Etage eines Beistellmöbels 9. Auf Europa!
Saba. Eines jungen Mannes, der wie Vardi- liegt, etwas versteckt, ein ganzer Stapel eng-
ashvili selbst aus Georgien nach Großbritan- lischsprachiger Ausgaben des Buchs, in Groß- Die Mutter, eine schöne Frau Ende sechzig,
nien geflüchtet war und nun in seine Heimat britannien ist es schon zu Jahresbeginn er- serviert gebratenen Fisch. Abermals bringt
zurückkehrt. schienen, die deutsche Übersetzung folgt der Cousin einen Toast aus. Nun geht es um
Es ist ein Roman über Krieg und Verrat, jetzt. Vardiashvili lebt in Großbritannien, er die Heimatländer der Gäste am Tisch. Aber
die Suche nach der verlorenen Kindheit und schreibt auf Englisch. Seine Eltern haben ihn was ist Vardiashvilis Heimat? Großbritannien
die Chance, sie vielleicht wiederzufinden. während der gewalttätigen Wirren der Neun- oder Georgien? Zurück möchte er nicht. Er
Nicht so ganz von dieser Welt in seinen Be- zigerjahre nach London geschickt: damit er habe sich an das Leben im Vereinigten König-
zügen zum Unsichtbaren. Und doch mitten- dort auf die Schule geht, aber wohl auch, um reich gewöhnt, sagt er nur.
drin in dieser Welt mit seiner Geschichte, die ihn in Sicherheit zu bringen. Tiflis hat etwa eine Million Einwohner, in
am Beispiel Georgiens von den Ländern Ost- »Vor einem großen Walde« heißt der Ro- der Peripherie erheben sich Hochhausketten.
europas erzählt, die bedroht sind von Wladi- man, die Rechte seien in 19 Länder verkauft. Das Innenstadtviertel, in dem Vardiashvili
mir Putin und der wiedererwachten Gier des Auch nach Georgien. »Eine irre Situation«, aufwuchs, ist geprägt vom Reiz verfallender
russischen Imperiums. meint Vardiashvili, »ein Georgier schreibt ein Schönheit. Eingeklemmt zwischen dem Fluss
Buch über Georgien auf Englisch. Für das in der Mitte und den Hügeln der Stadt. Steile
* Notiert im März 2024 in Tiflis in der Wohnung von georgische Publikum wird es ins Georgische Straßen, die Häuserwände schräg, der Ver-
Tina Kandelaki, der Mutter von Leo Vardiashvili. übersetzt.« putz bröckelig, verzierte, verwitterte Holz-
Leo Vardiashvili: »Vor einem großen Walde«. Aus dem
Englischen von Wibke Kuhn. Claassen; 464 Seiten; Zu Teilen ist das Buch autobiografisch. Die balkone und Veranden. Innenhöfe voller
25 Euro. Mutter im Buch hat manches mit Vardiashvi- ­Wäscheleinen. Gerümpel, gekrümmte Bäu-

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Fotos: Daro Sulakauri / DER SPIEGEL

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1 | Familienmitglieder beim Abendessen 2 | Porträts der Großmutter 3 | Häuser in der Altstadt von Tiflis 4 | Autor Vardiashvili 5 | Hinterhof in Tiflis
6 | Schriftsteller Vardiashvili mit seiner Mutter 7 | Passant Vardiashvili in Tiflis

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me. Und Straßenhunde, typisch für Tiflis, Was sie von Putin halte, möchte ich wissen.
träge, groß gewachsen, mit zotteligem Fell. »Ein Kriegsverbrecher, ein Kriegsverbre-
Am Morgen waren wir noch einmal zu dem cher …«, sagt sie leise und schüttelt den Kopf.
Haus in der Altstadt gegangen, in dem er und
seine Familie vor seiner Flucht nach England Liste der Trinksprüche bei einem
gelebt haben. georgischen Abendessen (Teil V):
Wie er sich fühlt?, frage ich ihn. »Nostal- 13. Auf diejenigen, die nicht mehr unter
gisch«, antwortet Vardiashvili. Das Treppen- uns sind. Auf die Toten!
haus sehe noch immer so aus wie vor fast 14. Auf Leo. Möge er eine gute Reise haben!
30 Jahren, als er weggegangen ist. Gesprun-
gene Fliesen im Schachbrettmuster, abgetre- Am Vormittag waren wir mit der Standseil-
tene Stufen. Neben der weißen Flügeltür bahn auf einen der Hügel der Stadt gefahren.
hängt ein kleiner Schlüsselkasten mit Zahlen- Von hier schweift der Blick zum Horizont, in
schloss. Die Wohnung wird heute über Airbnb nördlicher Richtung glitzert die Gebirgskette
vermietet. des Kaukasus, und dort liegt auch Südosse-

Daro Sulakauri / DER SPIEGEL


Tiflis ist längst zum Touristenziel geworden, tien, eine der Provinzen des Landes, die nach
eine Stadt, die Westeuropäer willkommen mehreren Konflikten russisch besetzt sind.
heißt und ihnen viel bietet. Sogar einen Tech- Das Finale des Romans führt dorthin, in eine
noklub, der als das Berghain des Ostens gilt. dünn besiedelte, verwüstete Region. Im
Leo Vardiashvili mag keinen Techno. Er trägt ­Süden abgeriegelt vom Militär, im Norden
ein T-Shirt der Rockband Deftones, Converse- begrenzt von den fast unüberwindlichen
Turnschuhe, den Indierockstil der Nullerjahre. Schriftsteller Vardiashvili ­Felsformationen des Kaukasus.
Seine englische Freundin hat ihm kürzlich »Ne- Fast das Ende der Welt.
vermind« von Nirvana auf Vinyl geschenkt. Putin«, »We are Europe«, das Nato-Zeichen, Saba, der Icherzähler des Romans, lässt sich
In seiner Kindheit lief abends, wenn seine die blau-gelbe Flagge der EU. auf seinem Weg von den Spuren leiten, die sein
Mutter und sein Onkel Wein tranken und »Ich bin etwas besorgt wegen Russland«, Vater gelegt hat. Aber auch von den Stimmen
Backgammon spielten, Rock aus dem Westen. sagt Vardiashvili. Er hat sich in den fast drei der Toten aus seiner Familie, die ihm durch
In lausiger Qualität, illegal kopiert auf Musik- Jahrzehnten in Großbritannien ein gewisses den Kopf gehen und die dem Buch eine zwei-
kassetten. Es scheint ihn nicht losgelassen zu Understatement angewöhnt. Wenn er auch te Dimension verleihen, eine Ebene, in der sich
haben. gern von sich und von seiner Familie erzählt, das Reale und das Irreale vermischen.
Vor dem Haus stehend zeigt Vardiashvili große Worte macht er dabei nie. Die Sonne ist nun stärker geworden. Var-
nach rechts, die Wohnstraße mündet an ihrem diashvili zieht seine Jacke aus. Über seinen
Ende in einen Platz. Zu Sowjetzeiten stand Liste der Trinksprüche bei einem rechten Arm läuft ein Text, in der schnecken-
hier das Lenindenkmal. Leo Vardiashvili hat georgischen Abendessen (Teil IV): hausförmigen, auf Nichtgeorgier rätselhaft
als Junge miterlebt, wie es gestürzt wurde. 10. Auf unsere Vorfahren! wirkenden Schrift des Landes. Das sei der
Im Roman beschreibt er den Moment, in dem 11. Auf die Heilige Mutter Maria! letzte Brief, den er von seiner Großmutter
die Statue umkippt und zerbricht. Seine Mut- 12. Auf die Frauen! bekommen habe. Er hat ihn sich nach ihrem
ter hat ein Stückchen davon als Andenken Tod auf den Arm tätowieren lassen. Auch eine
behalten, angeblich die Fingerspitze Lenins. Am Abend schenkt der Cousin Weißwein Art Stimme der Toten. Was genau seine Groß-
Auch eine Fingerspitze kann einen großen nach. »Nur wer einen Herzfehler hat oder alt mutter ihm zuletzt schrieb, lässt er offen.
Schatten werfen. ist, darf aussetzen«, sagt Leo Vardiashvili. Seine Großmutter habe sich um ihn ge-
Der Sturz des Denkmals war der entschei- Das Gespräch wird zum Großteil auf Englisch kümmert, als er ein Kind war, seine Mutter
dende Moment in der jüngeren Geschichte geführt, meinetwegen. Die Tante spricht habe gearbeitet. Seine Großmutter habe ihn
Georgiens. So wie das Lenindenkmal zer- ­Französisch. Sie sei in den Neunzigerjahren mitgenommen in den Botanischen Garten der
brach die Sowjetunion. Die alten Zwänge ver- Botschafterin des Landes in Paris gewesen, Stadt, der für ihn »der große Wald« war, sie
schwanden. Und doch konnte Osteuropa bis erzählt sie. Wenn sie über Georgien redet, habe ihm viele Geschichten erzählt und ihm
heute nie ganz aus dem Schatten seiner Ge- eröffnet sich ein kulturgeschichtlicher Raum, so eine Welt eröffnet, von der er nun, als
schichte treten. der bis ins Mittelalter reicht. »Nach wem sind Schriftsteller, zehrt. Aber sie habe auch darauf
Georgien war eine der ersten Sowjetrepu- unser Flughafen und der Boulevard in der geachtet, dass er seine Schulaufgaben erle-
bliken, die nach Unabhängigkeit strebten. Mit Stadtmitte benannt, wer ist auf unseren Bank- digte. Auf seinem Arm hatte Vardiashvili ihre
der Unabhängigkeit kamen Gewalt und Krieg, noten zu sehen?«, fragt die Tante rhetorisch Worte im Blick, als er an seinem Roman ge-
ethnische Konflikte, in Tiflis wurde geschos- und erwartet wohl, dass der Besucher aus arbeitet hat, mehr als ein Jahrzehnt lang,
sen. Vardiashvili war da neun Jahre alt. »Ich Deutschland die Antwort kennt. Mein Un- ­jeden Tag zwei Stunden nach Feierabend.
fand den Krieg nicht schlecht«, sagt er, »Pa­ wissen überspielt sie mit mildem Lächeln. Tagsüber arbeitet er als Steuerberater.
tronenhülsen lagen auf der Straße, es war wie Die Antwort wäre: Schota Rustaweli, ein Beim Abendessen bietet die Mutter Tee
ein Spiel für uns. Ich hatte keine Angst, aber Dichter aus dem 12. Jahrhundert. Für die an, Kaffee, sie stellt Törtchen auf den Tisch.
alle anderen.« ­georgische Identität sind die Literatur und Der Cousin bringt noch einmal einen Toast
Das Land erlebte ein Szenario, wie es sich die eigenständige Sprache wichtig. Weil sie aus, auf Leo, der am nächsten Tag nach Eng-
später in der Ukraine wiederholt hat: Russ- dafür stehen, dass die kulturelle Tradition land zurückfliegen wird.
land schickte Soldaten in georgische Provin- des Landes mehr umfasst als die zwei Jahr- Nur eine Frage ist offengeblieben. Was hält
zen, Zehntausend starben, Hunderttausende hunderte russischer und sowjetischer Okku- die Mutter eigentlich vom Roman ihres Soh-
wurden vertrieben. 20 Prozent des Staats- pation. nes?
gebiets sind bis heute besetzt. Der ganz gro- Dennoch seien die Gebildeten des Landes Sie schaut ein wenig verlegen und stochert
ße Krieg mit Russland ist allerdings ausge­ lange Zeit russophil gewesen, sagt die Tante, auf ihrem Teller herum.
blieben, bis jetzt. die Jugend des Landes aber habe sich mittler- »Ich habe jedes Mal, wenn ich ihn gelesen
Gebannt sind die Konflikte nicht, die Mau- weile abgewandt von der russischen Sprache. habe, geweint«, sagt sie schließlich. »Weil er
ern der Altstadt erzählen davon, mit Ein- Sie bedauere das. Wer lese jetzt noch Dosto- seine Gefühle aufgeschrieben hat, die ich
schusslöchern und mit vielen Graffiti: »Fuck jewski im Original? nicht kannte.«  n

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Bei der anschließenden Pitch-Session auf


der Hauptbühne wird man hingegen von der
Moderatorin zu Begeisterungsgekreisch ani­
miert: »Begeisterung unter Frauen, das macht

Pump mich auf


was mit einem.« Dann stellt eine Gründerin
ihre Dating-App vor, die das Dilemma lösen
möchte, dass erfolgreiche Frauen beim Dating
oft bestraft würden, weil viele Männer es
nicht aushielten, von ihrer Freundin über­
ORTSTERMIN Das »Female Business Festival« in München strahlt zu werden. Sie wolle darum »high ear­
ning women« mit »confident men« zusam­
will »ein Disneyland für Frauen mit Ambitionen« menführen, die sich zur Qualitäts- und Sou­
sein. Das Ziel: ­Empowerment! Was kann man hier lernen? veränitätssicherung nur bei ihrer App anmel­
den können, wenn eine Frau für sie bürgt. Das
könne eine Kollegin, die Schwester oder eine

G
leich zu Beginn erlebt man die erste Ent­ alberne Veranstaltungen, die sich primär an gute Freundin sein, ganz egal, mit einer Aus­
täuschung: Es gibt keine Winkmaskott­ Männer richten. Warum sollen nicht auch nahme: die eigene Mutter. Man wünscht ihr
chen. Dabei wollte dieses »Female Busi­ die Frauen ihre eigene klischeepralle Start- viel Erfolg.
ness Festival« doch »ein Disneyland für Frau­ up-Folklore feiern, mit Vortragsräumen, die Im Laufe dieses Konferenztages fragt man
en mit Ambitionen« sein. Aber im Münchner »Frida Kahlo« und »Oprah« heißen, einem sich, ob Frauen hier nicht doch veralbert wer­
Dampfdom, einem für derlei Konferenzen Entspannungsbereich, in dem Atemübungen den sollen. Oder hat man bloß sein eigenes
herrlich passend benannten Mehrzweckkom­ und »Soundhealing« angeboten werden, und Programm so ungünstig ausgewählt, dass vie­
plex, sieht man kein einziges lebensgroßes ­Plakaten, auf denen Businessweisheiten von les unfreiwillig komisch wird?
Grüßtier herumlaufen, wie man sie aus dem Pippi Langstrumpf stehen? Das Gespräch mit der Influencerin Cathy
echten Disneyland kennt: keinen Geldhamster, Es läuft so viel parallel, dass man »Fomo« Hummels zum Thema »Wie ich meine Perso­
keinen rosaroten Pitchpanther, was für eine kriegt, Fear of missing out, Verpassensangst, nal Brand aufgebaut habe und wie ich mit Kri­
vertane Chance. Es ist die erste von sehr vielen. aber man sitzt schon in der nächsten Master­ tik umgehe« lässt das Festival zur Farce wer­
Auf dem Festival sollte man sich »mit in­ class. Thema: »Entfalte die Power in dir – Akti­ den. Natürlich müsste man bei diesem Thema
spirierenden anderen Frauen« austauschen, viere mit Bachblüten deine innere Stärke«. die recht plausibel erhobenen Vorwürfe gegen
hieß es in der Ankündigung, »tief in relevante Vielleicht hätte man sich lieber handfesteren Hummels’ Schmucklabel ansprechen, dessen
Themen« eintauchen. »Unser Motto: Go Big«, Dingen widmen sollen wie den Vorträgen über angeblich selbst designte Glitzerohrringe und
informierte M.Stories, das Medienunterneh­ passives Einkommen oder Self-Leadership, Haarreifen zu einem Bruchteil des Preises in
men, das das Festival ausrichtet. Es ist eines die gleichzeitig stattfinden, aber hier bekommt augenscheinlich identischer Form auf asiati­
von vielen pink, gelb, rosa eingefärbten man ein Mundspray mit einer Blütenmischung schen Ramschplattformen angeboten werden.
Events, die neuerdings in Metropolen statt­ geschenkt, mit der man die Nerven beruhigen Stattdessen wird Hummels nach ihrem »USP«
finden und sich speziell an Frauen richten. Also soll, bevor man ein »Gespräch beim Chef« gefragt, ihrem unique selling point, Start-up-
nicht an alle Frauen, sondern an die »Business- hat, so erzählt es die Vortragende. Außerdem Sprache für Alleinstellungsmerkmal. Ihre Ant­
und Powerfrauen«. Das Ziel: Empowerment! erfährt man, dass die Bachblüte Vervain bei wort: »Ich liebe Rosa.«
Zeit, mal eine dieser Veranstaltungen zu übermäßigem Enthusiasmus eine heilsame Von der Interviewerin wird sie für ihre
besuchen. Und sich zu fragen: Was kann frau Dämpfung anregen kann, besonders nützlich »ehrliche, authentische Art« gelobt, darf dann
dazulernen? für, na klar, »Powerfrauen«. ihre wichtigste Businesslektion weitergeben:
Schon beim Anstehen zum ersten Pro­ »Ein Anwalt ist sein Geld wert.« Abschlie­
grammpunkt kann man halb erfreut, halb ßend will man noch wissen, wie Hummels im
resigniert feststellen, dass die Gleichberech­ Geschäftsleben zum Thema »Sisterhood«
tigung zumindest bei der klassischen Start- stehe. Sie sagt, sie liebe ihre Schwester sehr.
up-Quatschsprache längst Realität ist. »Ich Oft hört man an diesem Tag eine Frau auf
habe viel gesacrificed für das Endprodukt«, der Bühne von einer Welt »träumen«, in der
berichtet eine junge Frau einer anderen. An­ alle Menschen gleichberechtigt ihr Potenzial
derswo wird vom »path to greatness« schwa­ entfalten dürften, und erzählen, dass man
droniert. Awesome. mutig sein könne, indem man einfach keine
Leider geht es im Raum »Michelle Obama« Angst habe. Man ist sehr erleichtert, als in
direkt zu wie in einem von nicht sehr einfalls­ einem Panel endlich eine Frau davon berich­
reichen Comedyautoren erdachten Sketch über tet, dass sie wegen zu viel Druck schon heu­
eine weibliche Businesskonferenz: Zwei Frau­ lend zu Meetings gefahren sei und vom Stress
en stellen ihre »Love Brand« vor, die unter mit breitbeinig dasitzenden Vorstandsvor­
dem Motto »Glow Below« ein Intimpeeling sitzenden.
anbietet und ein Serum gegen Trockenheits­ Das ist der Einbruch der echten Welt ins
falten an den Brüsten, das »Pump me up« Disneyland, in der es eben nicht ausreicht,
heißt. »Wir wollen ein Lächeln aufs Gesicht wenn der ganze Saal bei einer merkwürdigen
zaubern«, steht auf einer ihrer Präsentations­ Blitz-Coaching-Session »Tschüss, Zweifel«
folien. »Auch das Thema Hämorrhoiden ist ja brüllt, um echte Ängste zu überwinden. Es ist
ein Tabuthema«, sagt eine der Frauen ernst. leider bloß ein kleiner Einbruch, das Disney­
Auf die zukünftige glitzernde Verniedlichung land ist hartnäckig.
dieser Malaise ist man dann doch gespannt. Vor dem Raum »Marie Curie« gibt es am
Gesa Niessen

Und direkt in einem moralischen Dilemma. Nachmittag noch eine Weinprobe. Natürlich
Man will Veranstaltungen wie diese ja gar mit bei Vollmond gelesenen und gekelterten
nicht verlachen, nur weil sie so viele Kli­ Trauben.
schees über Frauen erfüllen – es gibt ja genug Influencerin Hummels Anja Rützel  n

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Lachen über die Versager-Machos


KINO Erfolgreicher als »Barbie«: Mit ihrem feministischen Regiedebüt »Morgen ist auch noch ein Tag« gelang
Paola Cortellesi ein Überraschungshit in Italien. Ihr Film ist voller Witz. Bis einem das Lachen vergeht.

W
ährend sich die halbe Welt bleiben oder zur Republik werden Keine einfache Aufgabe beim Thema
nicht entscheiden konnte, sollte. Es war auch das erste Mal, dass häusliche Gewalt. Cortellesi meistert
wer das Kinoduell des ver- Frauen an einer Wahl teilnehmen sie, weil sie die Misogynie nicht ver-
gangenen Jahres gewinnen sollte, durften. harmlost. Man lacht nicht über das
»Barbie« oder »Oppenheimer«, hat Sonst änderte sich allerdings nicht Leben von Delia, sondern über all
das italienische Publikum eine ande- so viel für sie. Italien hatte sich zwar die Versager-Machos, die es ihr zur
re Siegerin bestimmt: Paola Cortelle- vom Faschismus befreit, aber nicht Hölle machen. Und manchmal lacht
si. Etwa fünf Millionen Zuschauerin- vom Patriarchat. man nicht.
nen und Zuschauer sahen in Italien Die Idee, den Film in jenem Jahr In Italien sei man inzwischen für
»Morgen ist auch noch ein Tag«, anzulegen, kam Cortellesi, als sie Sexismus sensibilisiert, sagt sie,
mehr als die Filme über die Frau in ihrer Tochter aus einem Buch über gleichzeitig wollten viele nichts mehr
Pink und den Mann mit der Bombe. Frauenrechte vorlas. »Aber natürlich davon hören. »Ich wollte niemanden
Schon jetzt gehört Cortellesis Film in lesen wir auch andere Sachen, nicht verschrecken«, sagt Cortellesi über
Italien zu den zehn erfolgreichsten nur das«, sagt sie sofort und lacht. Zu den Film. Was nicht heißt, dass sie es
überhaupt. streng, gar verbissen will sie nicht wir- dem Publikum einfach macht. In
Das ist bemerkenswert für ein ken. Das ist ihrem Film anzumerken. einer der ersten Szenen sieht man
Land, in dem sich das Kino nach der Vom deutschen Verleih wird »Morgen Delia und ihren Ehemann (Valerio
Pandemie schwertat, das Publikum ist auch noch ein Tag« als feministi- Mastandrea) im Bett liegen. Als Delia
wieder anzulocken. Zumal dieser Er- scher Film beworben, aber ohne er- aufwacht, sagt sie freundlich »Guten
Filmemacherin
folg wirklich nicht abzusehen war. Cortellesi:
hobenen Zeigefinger. Morgen«. Die Antwort ihres Ehe-
»Morgen ist auch noch ein Tag« ist Ohne erhobenen Der Film oszilliert zwischen dra- manns: eine Backpfeife.
in Schwarz-Weiß gedreht. Es geht um Zeigefinger matischen Momenten und leichten. »Diese Ohrfeige bringt das Publi-
häusliche Gewalt. Und es ist ein Re- kum vielleicht zum Lachen. Aber
giedebüt. Jetzt kommt der Film in die gleichzeitig schämen wir uns auch ein
deutschen Kinos, und es wird Zeit, wenig dafür«, sagt Cortellesi. Denn
Cortellesi zu fragen: Wie hat sie das direkt danach steht der Ehemann auf,
geschafft? als wäre nichts gewesen. Dem Publi-
Berlin, Anfang März. Cortellesi kum bleibt das Lachen im Hals stecken.
trägt gedeckte Farben, ihre kupfer- Cortellesi verzichtet anschließend
roten Haare schimmern dazu im Kon- darauf, die Gewalt, die Delia in der
trast. »Ich schreibe seit zehn Jahren Kellerwohnung ertragen muss, zu zei-
Drehbücher, und alle sind soziale Ko- gen. Sie wolle nicht voyeuristisch
mödien«, sagt sie. Aber noch nie hat sein, das Leid der Frauen nicht aus-
sie mit einer Arbeit einen solchen beuten. »Ich wollte nicht zeigen, wie
Nerv getroffen. stark seine Faust ist. Ich wollte von
In »Morgen ist auch noch ein Tag« einem Ritual erzählen, das immer
geht es um Delia, die von Cortellesi durchgeführt wird, das die Frau ak-
selbst gespielt wird. Delia repariert zeptiert«, sagt Cortellesi.
Strumpfhosen, verabreicht Spritzen, Deshalb inszeniert sie die Gewalt
montiert Regenschirme, sie kocht, so, wie man sie wohl selten sah: als
putzt, kümmert sich um die drei Kin- grausame Choreografie, deren Schrit-
der, den kranken Schwiegervater. te beide Tanzpartner viel zu gut ken-
Nebenbei erduldet sie fast schon nen. Sie tanzen schon das ganze Le-
stoisch die physische und psychische ben. »Die blauen Flecken kommen
Gewalt ihres Ehemanns. und gehen, aber dieser makabre
Es ist 1946, und in Rom arbeiten Tanz, der jedes Mal stattfindet,
sich Frauen wie Delia kaputt. »Sie bleibt«, sagt Cortellesi.
wurden erzogen zu dienen, zu gehor- Knapp drei Wochen nach dem Ki-
Eventpress / picture alliance / dpa

chen, Kinder zu erziehen, aber jede nostart wurde in Italien die 22-jährige
Frau tat noch so viel mehr als das«, Giulia Cecchettin mutmaßlich von
sagt Cortellesi. ihrem Ex-Freund ermordet. Es war
Man muss wissen: 1946 war viel- einer der mehr als 100 Femizide des
leicht das entscheidende Jahr für die vergangenen Jahres. Aber anders als
italienische Demokratie. Das Volk so oft wurde diese grausame Tat zu
bestimmte, ob Italien eine Monarchie einem großen Thema in den Medien.

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Tobis Film
Darstellerin Cortellesi in »Morgen ist auch noch ein Tag«: Frauen arbeiten sich kaputt

Die Schwester von Cecchettin beklagte immer Karriere am Theater. Mit Mitte zwanzig arbei- Frau der Straße« hingegen meine: »Hure«.
wieder die patriarchalen Strukturen hinter tete sie beim Fernsehen und spielte sich in die »Ein Mann von Welt«, das sei »ein bedeuten-
der Tat, die »Vergewaltigungskultur«, die Ge- Herzen des Publikums – erst mit Sketchen, der Mann«. Pause. »Eine Frau von Welt« sei
walt gegen Frauen ignoriert, toleriert und ver- dann als Moderatorin von Shows im Abend- »eine bedeutende Hure«. Ein »verfügbarer
harmlost. Die Debatte lenkte die Aufmerk- programm und später als Schauspielerin. Im- Mann« sei freundlich und zuvorkommend.
samkeit auch auf Cortellesis Film. Selbst der mer wieder äußerte sie sich zur Gleichstellung Eine »verfügbare Frau«? »Eine Hure.« »Ein
Palazzo Chigi, der Regierungssitz, schaltete von Frauen. Witzig, aber ohne erhobenen Mann mit einer Vergangenheit« sei »ein
sich ein. Zeigefinger. Mann, der eine Geschichte zu erzählen hat«.
In einem Interview äußerte die Filmema- So wie bei der Verleihung der italienischen Pause. »Eine Frau mit einer Vergangenheit?«
cherin die Idee, dass sich die beiden derzeit Filmpreise 2018. Die #MeToo-Bewegung ist Man ahnt die Antwort.
mächtigsten Frauen, die rechte Regierungs- weltweit in vollem Gange, überall wird über Minutenlang entlarvt Cortellesi die Sexis-
chefin Giorgia Meloni und die Oppositions- Misogynie und Machtmissbrauch geredet. men der italienischen Sprache. Wie nun in
führerin Elly Schlein, Vorsitzende der Sozial- Cortellesi kommt in einem schwarzen, tief ihrem Film verpackt sie Fürchterliches in Hu-
demokraten, doch treffen sollten, um über ausgeschnittenen Kleid auf die Bühne und mor. Sie verschreckt niemanden.
Gewalt gegen Frauen zu debattieren. Schlein setzt zu einem Monolog über sprachliche Un- Der ganze Saal amüsiert sich. Jedenfalls
stimmte ihr zu. Auch Meloni reagierte positiv. gerechtigkeiten an. Das hatte das Publikum eine Weile. »Zum Glück sind das alles nur
Sie lobte den Film als »mutig und anregend« nicht unbedingt erwartet. Worte«, sagt Cortellesi zum Ende. »Wie
und lud die Regisseurin zu sich ein. »Ein Mann der Straße«, erklärt sie, be- schlimm wäre es, wenn diese Worte die Über-
Aber mit einer Postfaschistin über Frauen- deute »ein Mann des Volkes«. Pause. »Eine setzung von Gedanken wären – das wäre ja
rechte debattieren? Das verstanden einige ein Albtraum.«
nicht. Cortellesi wurde in den Medien, auch Als in Italien Frauen aus der Kulturbranche
internationalen, kritisiert, sich nicht genug begannen, Machtmissbrauch anzuprangern,
abgegrenzt zu haben. ebbten die Debatten relativ schnell wieder
Die Einladung von Meloni habe sie dan- ab. Die »New York Times« nannte die Be-
kend abgelehnt, sagt Cortellesi heute. Sie
­erzähle nur Geschichten, sie mache keine
»Das Problem ist etwas wegung eher »so na ja«. Warum wurde #Me-
Too hier nicht größer? Trotz Frauen wie Cor-
Politik. Der Termin kam nicht zustande. Größeres – nämlich tellesi? Vermutlich hat das unter anderem mit
Cortellesi, geboren 1973 in Rom, gilt in
Italien schon länger als eine Art Sprecherin
die Art, wie Männer Frauen einer Kultur zu tun, in der selbst Politiker
öffentlich mit ihren angeblichen sexuellen
der feministischen Bewegung. Sie begann ihre sehen, als ihren Besitz.« Heldentaten und sexistischen Bemerkungen

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prahlen können, ohne ernsthaft mit Konse-


quenzen rechnen zu müssen. Der ehemalige
Ministerpräsident Silvio Berlusconi hatte das
geradezu perfektioniert. Aber auch für Re-
BELLETRISTIK SACHBUCH gisseure, die wegen Fehlverhaltens beschul-
digt wurden, gab es wenig Konsequenzen.
Ganz anders erging es den Frauen. Die, die
Neun Bücher lang durfte Dieser Philosoph hat Machtmissbrauch öffentlich machten oder
Spezialermittler Carl ein Buch über das
Mørck die Cold Cases der Sterben geschrieben, sich mit ihnen solidarisierten, wurden von
Kopenhagener Polizei das auch eines über den italienischen Medien zum Teil mit Hass
aufarbeiten. Oft geriet er die Liebe ist. Er verlor und Häme überhäuft.
dabei selbst in Gefahr. seine Frau, mit der
Jetzt erscheint der zehnte er fast 40 Jahre ver- Viele Frauen hätten zwar den Mut gefun-
und letzte Teil. | Platz 1 bracht hat. | Platz 17 den, über das zu sprechen, was sie erlebt hät-
ten, sagt Cortellesi. Das sei wichtig gewesen.
»Aber das Problem ist etwas Größeres – näm-
1 (–) Jussi Adler-Olsen 1 (1) Peter Hahne lich die Art, wie Männer Frauen sehen, als
Verraten dtv; 26 Euro Ist das euer Ernst?! Quadriga; 12 Euro
ihren Besitz«, sagt Cortellesi jetzt, ganz ohne
2 (–) Rebecca Ross 2 (2) Volker Busch Kunstpausen, ganz ohne versteckten Witz.
Divine Rivals LYX; 24 Euro Kopf hoch! Droemer; 20 Euro Schon vor rund 20 Jahren hat sie sich üb-
rigens in einem berühmten Sketch mit der
3 (–) Martin Suter 3 (4) Uwe Wittstock Situation von Frauen auseinandergesetzt.
Allmen und Herr Weynfeldt Diogenes; 26 Euro Marseille 1940 C. H. Beck; 26 Euro
Cortellesi spielt darin eine Werbesprecherin,
4 Florian Illies die von einer Stimme aus dem Off getriezt
4 (–) Louise Penny (3)
und beschimpft wird. Sie solle mehr lächeln,
Ein sicheres Zuhause Kampa; 23,90 Euro
Zauber der Stille S. Fischer; 25 Euro
keift die Stimme, sie solle überzeugender
5 (18) Rebecca Yarros 5 (5) Axel Hacke Über die Heiterkeit in schwierigen sprechen. Nichts mache sie richtig. In gewis-
Iron Flame – Flammengeküsst dtv; 32 Euro
Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der ser Weise ist Delias Mann Ivano in »Morgen
Ernst des Lebens sein sollte DuMont; 20 Euro
ist auch noch ein Tag« die Fortführung dieser
6 (4) Gabriel García Márquez Wir sehen uns 6 (6) Leonie Schöler Stimme aus dem Off, ja die Fortführung ihres
im August Kiepenheuer & Witsch; 23 Euro
Beklaute Frauen Penguin; 22 Euro Monologs.
Für »Morgen ist auch noch ein Tag« schrieb
7 (16) Stephan Schäfer 7 Brianna Wiest 101 Essays, die dein Leben
(8) sie das Drehbuch mit, spielte die Hauptrolle,
25 letzte Sommer park x ullstein; 22 Euro verändern werden Piper; 22 Euro führte Regie. Warum ist sie eigentlich das
8 Ingrid Noll Wagnis eingegangen, den Film in Schwarz-
(5) 8 (11) Manfred Lütz
Gruß aus der Küche Diogenes; 26 Euro Der Sinn des Lebens Kösel; 30 Euro
Weiß zu drehen? Das wollen viele von ihr
wissen. Manche verglichen die Optik des
9 (10) Jörg Hartmann 9 (15) Rüdiger Safranski Films mit dem Neorealismus des italienischen
Der Lärm des Lebens Rowohlt Berlin; 24 Euro Kafka Hanser; 26 Euro Kinos. Als Gegenbewegung zum faschisti-
schen Propagandafilm wollten Filmemacher
10 (3) Carissa Broadbent The Serpent 10 (9) Uschi Glas
and the Wings of Night wie Roberto Rossellini oder Luchino Viscon-
Carlsen; 18 Euro Ein Schätzchen war ich nie Mosaik; 24 Euro
ti das Leben nach dem Zweiten Weltkrieg
11 (8) Elizabeth Strout 11 (14) Giovanni di Lorenzo Vom Leben und möglichst wahrhaftig darstellen.
Am Meer Luchterhand; 24 Euro anderen Zumutungen Kiepenheuer & Witsch; 25 Euro In der Tat gibt es Parallelen: Auch Cortel-
lesi porträtiert das Leben der Arbeiterklasse
12 (11) Barbara Kingsolver 12 (20) Ronald Reng und die Routinen ihres Alltags. Dass sie in
Demon Copperhead dtv; 26 Euro 1974 – Eine deutsche Begegnung Piper; 24 Euro
Schwarz-Weiß filmte, habe aber einen ande-
13 (16) Leah Weigand ren Grund, sagt sie, einen viel emotionaleren.
13 (13) Bonnie Garmus
Eine Frage der Chemie Piper; 26 Euro Ein wenig mehr Wir Knaur; 18 Euro Wenn sie als Kind ihren Großeltern zugehört
habe, habe sie sich deren Leben in den späten
14 (6) Alex Capus Das kleine Haus 14 (–) Johannes Lemminger Vierzigerjahren in Schwarz-Weiß vorgestellt.
am Sonnenhang Hanser; 22 Euro
Steuern machen Spaß Forward; 24,90 Euro Damit bei ihrem Regiedebüt nichts schief-
15 (–) Papst Franziskus Leben – Meine Geschichte geht, hatte sie vor Drehbeginn zwei Wochen
15 (7) John Grisham wie am Theater geprobt – mit auf dem Boden
Die Entführung Heyne; 24 Euro
in der Geschichte HarperCollins; 24 Euro
gemalten Kreidezeichnungen des Filmsets.
16 (7) Didier Eribon »Ich konnte ja schlecht am Set auftauchen
16 (9) Sebastian Fitzek Eine Arbeiterin
Die Einladung Droemer; 24 Euro
Suhrkamp; 25 Euro und mich dann fragen, ob ich etwas falsch
entschieden habe. Es musste alles passen«,
17 (13) Wilhelm Schmid
17 (19) Ursula Poznanski Den Tod überleben Insel; 12 Euro
sagt sie. 45 Tage Zeit hatten sie für den Dreh.
Die Burg Knaur; 24 Euro Doppelt so lange bereitete Cortellesi sich vor.
18 (–) Annett Gröschner / Peggy Mädler / Wenke Sie habe kaum geschlafen.
18 (12) Iris Wolff Seemann Drei ostdeutsche Frauen betrinken Der italienische Film erlebt gerade eine
Lichtungen Klett-Cotta; 24 Euro sich und gründen den idealen Staat Hanser; 22 Euro Art Auferweckung. Zum einen durch die
19 (15) Haruki Murakami Die Stadt zauber­haften Filme Alice Rohrwachers, die
19 (10) Melanie Pignitter Wenn das Kind in dir
und ihre ungewisse Mauer DuMont; 34 Euro noch immer weint Graefe und Unzer; 19,99 Euro
das proletarische Italien poetisch wieder­
beleben. Und zum anderen durch Cortellesi,
20 (14) Bernhard Schlink 20 (–) Silke Müller die sie einläutet, die hoffentlich letzten Tage
Das späte Leben Diogenes; 26 Euro Wir verlieren unsere Kinder Droemer; 20 Euro des ­Patriarchats.
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »BuchMarkt« (Daten: media control). Informationen unter spiegel.de/bestseller Enrico Ippolito  n

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trifft James wie im Original auf Huck,


der ebenfalls weggelaufen ist. Auf der
Reise begegnen ihnen einige Figuren,
die auch bei Twain zu finden sind.
Everett geht jedoch weiter.

Endlich Hauptfigur
In einer Szene tauchen die Virginia
Minstrels auf, eine weiße Gesangs­
gruppe, die es wirklich gab. Sie malten
sich ihre Gesichter schwarz an und san-
gen Lieder über das angeblich schöne
LITERATURKRITIK Percival Everett schreibt mit dem grandiosen Roman Leben auf den Plantagen. Ihre Perfor-
mance strotzte vor rassistischen Prak-
»James« die Geschichte Huckleberry Finns um. tiken. In »James« sucht die Gruppe
Er erzählt sie aus einer neuen Perspektive, der des Sklaven James. nach einem neuen Tenor. Wegen seiner
wunderbaren Stimme wäre James der
ideale Kandidat. Aber ein schwarzer

S
chon oft wurden Bücher weiter- Mann auf einer Bühne? Zu dieser Zeit
gesponnen und umgedeutet, undenkbar. Er wird daher ­gezwungen,
manchmal auch geradegerückt. sein Gesicht zu überschminken.
Die Autorin Jeanette Winterson hol- Autor Everett (Jahrgang 1956), der
te den berühmten Forscher aus Mary als Professor für Englisch an der Uni-
Shelleys Erzählung in »Frankissstein« versity of Southern California in Los
ins Jetzt. Barbara Kingsolver er­zählte Angeles arbeitet, hat mehr als 30 Bü-
mit »Demon Copperhead« erst vor cher verfasst und wurde mit zahl­
Kur­ zem eine neue Version von reichen Preisen ausgezeichnet. Sein
Charles Dickens’ Entwicklungsroman. Werk könnte allerdings nicht unter-
Und nun schreibt Percival Everett mit schiedlicher sein. Mit »Die Bäume«
dem grandiosen Roman »James« die schrieb er einen Thriller über Lynch-
Geschichte Huckleberry Finns um – morde mit komödiantischen Elemen-
wobei umschreiben es nicht richtig ten. »Ausradiert« ist eine Parodie des
trifft. Everett erzählt sie neu. Literaturbetriebs, die gerade unter
Mark Twains Roman »Die Aben- dem Titel »American Fiction« fürs
teuer des Huckleberry Finn« gilt als Kino adaptiert wurde und einen Os-
ein Schlüsselwerk der US-amerika­ car erhielt. In »Dr. No« lässt Everett
nischen Literatur. Darin flieht der einen Mathematikprofessor auf einen
­linkische Erzähler Huck vor seinem Möchtegern-Bond-Bösewicht treffen.
betrunkenen und gewalttätigen Vater. Joyce Kim / NYT / Redux / laif
Alle Bücher eint, wie leichtfüßig
Auf seiner Reise am Ufer des Missis- Everett große philosophische Fragen
sippi entlang trifft er auf den Sklaven mit Humor beantwortet. »James« ist
Jim, der ebenfalls auf der Flucht ist. keine Ausnahme. Als er von einer
Seine Besitzerin wollte ihn nach New Schlange gebissen wird, lässt Everett
Orleans verkaufen, wo – das war ihm ihn in einem Fiebertraum auf die poli-
gleich klar – ein noch schlimmeres tischen Masterminds Voltaire, Rous-
Schicksal auf ihn warten würde. Ge- seau und John Locke treffen und über
meinsam erlebt das Outcast-Gespann chen Dialekt nur dann, wenn Weiße in Autor Everett Sklaverei diskutieren. Eine Frage
allerlei Abenteuer. Seit Jahrzehnten der Nähe sind. »Die Weißen erwarten, bleibt zwischen ihnen offen: Wohin
wird darüber diskutiert, ob Twains dass wir auf eine bestimmte Weise klin- soll ein Sklave seinen Zorn tragen?
Buch nun rassistisch (das N-Wort fällt gen, und es kann nur nützlich sein, sie In einem Essay für den »Atlantic«
um die 200-mal) oder aufklärerisch nicht zu enttäuschen«, sagt James, als schrieb der Umwelt- und Literatur-
zu deuten ist. er Kindern Sprachunterricht gibt. Er wissenschaftler Tyler Austin Harper
In seiner Erzählung wechselt erläutert es mit einem hypothetischen kürzlich über einen immer wieder
­Eve­rett, ohnehin einer der elegantes- Beispiel: Was sollen sie sagen, wenn vorkommenden Charakter in Roma-
ten Autoren seiner Generation, nun sie bemerken, dass die Küche der wei- nen und Filmen: die schwarze Neben-
die Perspektive. Er erzählt aus der ßen Mrs. Holiday brennt? »Herrm- figur ohne eigene Geschichte. Ihre
Sicht von Jim beziehungsweise himmel, Ma’am! Da!« Warum? »Weil einzige Funktion besteht darin, den
James, wie sein vollständiger Name wir darauf achten müssen, dass die weißen Protagonisten zu retten. Noch
lautet. Der Icherzähler hat sich selbst Weißen diejenigen sind, die das Prob- heute begegnet einem diese schwarze
lesen und schreiben beigebracht, in- lem benennen.« Warum? »Weil sie Erlöserfigur, oft in Form des besten
dem er sich heimlich in die Bibliothek alles vor uns wissen müssen. Weil sie Freundes oder der besten Freundin.
seiner Besitzerin schlich. allem einen Namen geben müssen.« »James« sei dessen Demontage, er-
Während Twain einige Stereotype Die Weißen wollen nicht nur alles Seine Figuren läuterte Harper. Und er hat recht.
bediente und seine schwarzen Figuren benennen und wissen, sie wollen auch sprechen Dieser Protagonist muss keinen
nur in Dialekt reden ließ, spielt Everett besitzen und entscheiden. Als James Weißen erlösen. Mit der Geschichte
mit der Sprache. Seine Figuren spre- erfährt, dass er verkauft werden soll, Dialekt nur gibt Everett dem Zorn von James end-
flieht er. Auf dem Mississippi, diesem dann, wenn lich einen Ort: Seine Wut darf sich
sagenumwobenen Fluss, der auch den auf den Seiten dieses Romans aus-
Percival Everett: »James«. Aus dem Engli-
Rhythmus vorgibt (die kurzen Kapitel Weiße in der breiten.
schen von Nikolaus Stingl. Hanser; 336 Sei-
ten; 26 Euro. fluktuieren kraftvoll wie Wellen), Nähe sind. Enrico Ippolito  n

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 115


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116 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Alesia Graf, 43 Maurizio Pollini, 82
NACHRUFE Sie galt als eine der besten Mit 18 Jahren trat der Pianist
­deutschen Profiboxerinnen. Ge- beim Chopin-Wettbewerb
boren wurde sie 1980 in der in Warschau an – und gewann.
UdSSR, in der damaligen weiß- ­Arthur Rubinstein, Juryvor­
russischen Sowjetrepublik, als sitzender und für seine Chopin-
Alessja Klimowitsch. 1999 kam Aufnahmen selbst weltberühmt,
sie nach Deutschland und lebte lobte ihn mit den Worten: »Der
in Stuttgart. Bei ihrer Hochzeit Junge spielt besser Klavier als
2002 nahm sie den Namen Graf jeder von uns.« Der Satz allein
an, im November 2008 wurde hätte genügt, um Maurizio Pol-
sie deutsche Staatsbürgerin. Zu lini bekannt zu machen. Doch
dem Zeitpunkt war sie schon erst der Umstand, dass er sich
Weltmeisterin im Superfliegen- danach für ein Jahr von der
gewicht und trainierte mit Regi- Bühne zurückzog und bald für
na Halmich, mit der sie auch Konzertabsagen fast ebenso be-
­befreundet war. Einige Fachleu- kannt war wie für die Auftritte,
te hielten Graf für eine bessere verschaffte ihm den Ruf des ge-
Boxerin als Halmich. Auch weil nialischen Einsiedlers, wie ihn
sie härter zuschlagen konnte die Musikwelt liebt. Als Pollini
als diese. Dennoch war Halmich 1972 die Etüden Chopins
in der Öffentlichkeit die be- ­einspielte, entstand eine Schall-
kanntere Figur. 29 Profikämpfe platte, die mittlerweile als

United Archives / kpa / action press


gewann Graf, die den Kampf­ »Jahrhundertaufnahme« (so die
namen »die Tigerin« trug, »FAZ«) gilt. Seitdem gehört
13 davon durch K. o. – eine be- Pollini vollends zu den Großen
eindruckende Quote für eine des Klavierspiels, Beethoven
Frau in ihrem Limit. Haupt- und Schumann widmete er sich
kämpferinnen im Fernsehen
waren trotzdem andere. Als das
Interesse der deutschen Fern-
sehsender am Boxen in den
Fritz Wepper, 82 Zehnerjahren nachließ, hätte
Als Kinodarsteller bekannt wurde er mit einem vom Horror ge- die Stuttgarterin wie viele ande-
zeichneten Knabengesicht. Der selbst kaum ältere Fritz Wepper re ihre Karriere beenden kön-
spielte einen 16-Jährigen in Bernhard Wickis Antikriegsfilm nen. Doch dafür liebte sie den
»Die Brücke« aus dem Jahr 1959, der junge Held wird mit ein paar Sport zu sehr. So wurde sie zur
Schulkameraden von Nazis als letztes Aufgebot in den Krieg ge- Weltenbummlerin und eine der
schickt – und es folgt ein Hinschlachten junger Menschen. Die wenigen deutschen Boxerin-
Kindheit des Soldatendarstellers Fritz Wepper war durch den Sol- nen, die sich auch international

Leemage / picture alliance


datentod des Vaters, der ab 1944 als vermisst galt, geprägt. Die einen Namen machten. 2011
Mutter zog Fritz und seinen jüngeren Bruder Elmar, der gleichfalls wurde sie in Australien Welt-
Schauspieler wurde, in München allein groß. Nach ersten Engage- meisterin in einer weiteren Ge-
ments in Kindersendungen des Bayerischen Rundfunks und dem wichtsklasse, 2016 gewann sie
frühen Erfolg in »Die Brücke« erspielte sich Fritz Wepper weiteren einen Kampf in China. Zudem
Kinoruhm in dem Edgar-Wallace-Film »Der Mann mit dem Glas­ trat Graf in Mexiko, Austra-
auge« (1969) und in Bob Fosses Musicalverfilmung »Cabaret« lien, Südafrika und Dänemark ebenso wie den Komponisten des
(1972) an der Seite von Liza Minnelli. Wirklich geliebt vom Publi- zu WM-Duellen an. Wie am 20. Jahrhunderts. Er arbeitete
kum wurde Wepper allerdings als Seriendarsteller. Seit den Sechzi- 25. März bekannt wurde, starb mit dem italienischen Avantgar-
gerjahren war er zuerst in der ZDF-Reihe »Der Kommissar« und Alesia Graf unter bisher unge- disten Luigi Nono zusammen,
dann in »Derrick« ein Polizist namens Harry Klein. Der sah unver- klärten Umständen. MMM dabei entstand eine Hommage
schämt gut aus und half jeweils grummeligen Hauptermittlern – der an einen chilenischen Revo­
erste gespielt von Erik Ode, der zweite von Horst Tappert – bei lutionär. Mit Nono und anderen
der Arbeit. Berühmt war die Harry-Klein-Figur auch für den Befehl italienischen Intellektuellen
»Harry, hol schon mal den Wagen«, der allerdings nie von Tappert der Nachkriegszeit verband Pol-
gesprochen wurde. In späteren Jahren trat Wepper in schmunzel- lini die Nähe zur Kommunisti-
humorigen Serien wie »Um Himmels Willen« auf, wo er fast zwei schen Partei. Er spielte vor
Jahrzehnte lang einen Provinzbürgermeister im Zwist mit den Arbeitern, engagierte sich gegen
Nonnen eines Klosters darstellte. In der gleichfalls sehr populären den Vietnamkrieg und kritisier-
Reihe »Zwei Brüder« war Wepper ein strenger Oberstaatsanwalt, te Silvio Berlusconi, über Jahre
sein Bruder Elmar ein lässiger, vom Alkohol gebeutelter Ermittler. die beherrschende Figur der ita-
Daniel Maurer / picture alliance

Den Boulevardmedien galt Fritz als der glamourösere der beiden lienischen Rechten. Stets be-
Brüder. Über seine Vorbilder hat er mal in einem Interview mit wahrte sich der Sohn eines Mai-
dem SPIEGEL berichtet, als Kind habe er die Cowboyfilme mit länder Architekten die stilsiche-
John Wayne geliebt, später Filme mit Walter Matthau und Tony re ­Eleganz, wie sie typisch ist
Curtis. Dann sagte er: »Ich verstehe mich vor allem als Komö- für das Bürgertum seiner Hei-
diant.« Und er zitierte den Lehrsatz: »Comedy is a dead serious matstadt. Maurizio Pollini starb
job.« Fritz Wepper starb am 25. März. HÖB am 23. März in Mailand. SHA

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 117


PERSONALIEN

Gegen
den Gossip
Das Model Giselle Bündchen,
43, fühlt sich nach ihrer Tren-
nung von Footballspieler Tom
Brady von der Öffentlichkeit
zu Unrecht verurteilt. Es gab
Gerüchte, Bündchen habe den
NFL-Star mit ihrem Jiu-Jitsu-
Lehrer betrogen. »Das ist eine
Lüge«, erklärte sie jetzt in der
»New York Times«. »Das pas-
siert vielen Frauen, dass ihnen
die Schuld gegeben wird, wenn
sie den Mut haben, eine un­
gesunde Beziehung zu verlassen
und dann als untreu abgestem-
pelt werden«, so Bündchen.
Das ehemalige Victoria’s-Secret-
Model und der NFL-Star Brady
waren 13 Jahre verheiratet und
haben zwei Kinder. 2022 gaben
sie überraschend ihre Scheidung
bekannt. Im Interview mit der
»New York Times« erzählt
Bündchen, dass es ausgerechnet
ihre elfjährige Tochter Vivian
sei, die sie tröste, wenn sie sich
mal wieder über die Berichte
der Klatschpresse ärgere.
»Mama, du hast mir immer

Evan Agostini / picture alliance / dpa


­gesagt, man solle nicht auf den
Gossip und die Lügen hören«,
sage sie. Bündchen finde das
lustig: »Die Sachen, die du dei-
nen Kindern beibringst, irgend-
wann dreht sich das, und dann
bringen dir deine Kinder etwas
bei.« LAB

Himmlische Rettung ein »Engel«, wie sie dem Maga- aus Angst, Hathaways schlech-
zin »Vanity Fair« erzählte: 2013 ter Ruf könne ihren Filmen
Der Regisseur Christopher gewann sie zwar für ihre Rolle schaden. Dem Regisseur Nolan
­Nolan ist unter Filmliebhabern im Musical »Les Misérables« sei das egal gewesen. Er besetz-
eine Art Heiliger. Einer, der sich einen Oscar, aber viele Leute te sie in dem Science-Fiction-
gegen die mächtigen Streaming- freuten sich nicht mit ihr, son- Drama »Interstellar«. »Ich weiß
dienste wehrt und aufs Kino dern machten sich über sie lus- gar nicht, ob er damals wusste,
Piroschka van de Wouw / REUTERS

setzt. Damit ist er ganz schön tig. Tatsächlich gibt es Artikel, dass er mich damit unterstützt,
erfolgreich: Sein letzter Film die der Frage nachgehen, wieso aber es hatte diesen Effekt«, so
»Oppenheimer« hat in der »alle Anne Hathaway hassen«, Hathaway. Ihre Rolle als Nasa-
Award-­Saison zahlreiche Preise ohne Antworten zu liefern. Ha­ Wissenschaftlerin sei eine der
gewonnen. Für die Schauspiele- thaway erzählt jetzt, dass viele schönsten in einem der besten
rin Anne Hathaway, 41, ist Nolan Leute in Hollywood ihr keine Filme, an denen sie je beteiligt
aus einem ganz anderen Grund Rollen mehr geben wollten – war. LAB

118 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


Heiliger Ernst Herz auf der Zunge wesen. Er sei laut seinem The­
rapeuten zwar kein Alkoholiker,
Der Schauspieler Jeremy Strong, Der Podcast »Hotel Matze« ist habe aber in den vergangenen
45, bekannt aus der Serie »Suc­ inzwischen die erste Adresse für Jahren durchaus zu viel Alkohol
cession«, will nicht als humorlos Seelenstriptease deutscher Pro­ getrunken. »Und da habe ich
gelten. Das sei ein Märchen, mis. Verständnisvolle Fragen Fehler gemacht, blöde Fehler«,
sagte er in einem Interview mit sind garantiert (»Wie hat sich sagte Schweiger. »Und jedes
dem »New York Times Maga­ das für dich angefühlt?«), und Mal sagst du dir: ›Das darf nicht
zine«. Mit seiner Rolle in die Interviews werden in voller mehr passieren.‹ Aber es ist
­»Succession« – und dem Erfolg Länge ausgestrahlt. Nun wurde ­immer wieder passiert.« Er
dieses shakespeareartigen eine Folge mit dem Schauspieler habe im Alkoholwahn einigen
­Dramas um Macht und Familie und Regisseur Til Schweiger, 60, Freunden wehgetan. Warum
im 21. Jahrhundert – gewann veröffentlicht. Schweiger war er manchmal verletzend sein
er viel Aufmerksamkeit, einen 2023 in die Kritik geraten, nach­ kann, dafür hat er eine über­
Bruce Glikas / FilmMagic

Emmy und einen Golden dem ihm im SPIEGEL Macht­ raschende Erklärung: »Das liegt
­Globe. Er spielte den emotional missbrauch am Set von »Manta zum Teil daran, dass ich Schüt­
gestörten und neurotischen Manta – Zwoter Teil« vorge­ ze bin. Und Schützen tragen
Sohn des Medienmoguls Logan worfen wurde. Im Podcast wies das Herz auf der Zunge.« Viel­
Roy so überzeugend, dass dem er die Vorwürfe gegen sich leicht führt er auch das auf sein
Schauspieler ein in der Branche ­zurück, es habe sich entweder Sternzeichen zurück: Er habe
bekannter Teufelskreis drohen fiel Strong in ein Loch. Im ganz anders zugetragen oder sich immerhin stets als Erster
könnte: Warst du in einer Rolle ­Interview erinnert er sich, dass ­alles sei ein Missverständnis ge­ entschuldigt. LAB
besonders gut, wollen alle dich er kurz gedacht habe: »War
wieder so sehen – bis sie glau­ es das? War dies das Ereignis
ben, du kannst nichts anderes. meines Lebens?« In dem
Jedenfalls steht Strong bei ­Moment sei ihm klar ­geworden,
­einigen Fans nun im Ruf, eitel, dass er sich so schnell wie
voller Selbstmitleid und über­ ­möglich von »Succession« lösen
trieben seriös zu sein. Letzteres müsse. Immerhin: Strong gibt
nicht ganz ohne Grund. Als der zu, dass es ihm nicht leichtfalle,
»New Yorker« vor einigen Jah­ einfach mal Spaß zu haben.
ren »Succession«-Produzent Trotzdem sei er offen dafür,

Christian Charisius / picture alliance / dpa


Adam McKay auf seinen Schau­ es mit dem komödiantischen
spieler ansprach, lobte dieser Fach einmal zu probieren.
Strongs heiligen Ernst: »Das ist ­Bisher hat das noch nicht ge­
genau der Grund, warum wir klappt. Er steht zurzeit am
Jeremy für diese Rolle besetzt Broadway auf der Bühne – in
haben. Weil er es nicht wie eine dem Drama »Ein Volksfeind«
Komödie spielt. Er spielt es, von Henrik Ibsen über einen
als wäre er Hamlet.« Als alle Idealisten, der an der Wirklich­
Staffeln abgedreht waren, keit scheitert. KS

Spoileralarm Ein anderes hat sie wohl nicht


einkalkuliert: dass es zu unan­
Tiphaine Auzière, 40, jüngste genehmen Zwischenfällen kom­
Tochter der Präsidentengattin men kann, wenn eine Mutter
Brigitte Macron, 70, musste ihre die Arbeit der Tochter bewirbt.
Mutter kürzlich für einen pein­ Bei der Aufzeichnung eines
lichen Ausrutscher vor laufen­ TV-Interviews für den privaten
der Fernsehkamera rügen. Die französischen Fernsehsender
Anwältin für Arbeitsrecht, die TF1 mit Auzière und ihrer Mut­
sich im Präsidentschaftswahl­ ter Brigitte Macron verriet diese
kampf 2017 für ihren Stiefvater vor lauter Stolz auf das schrift­
Emmanuel Macron, 46, einge­ stellerische Talent ihrer Tochter
setzt hatte, veröffentlichte aus Versehen das Ende des Ro­
­gerade ihren ersten Roman. In mans. »Das darf man nicht!«,
»Assises« (»Schwurgericht«) rief die Autorin erschrocken,
schreibt Auzière über Gewalt »man kann doch nicht das Ende
gegen Frauen. Sie habe von verraten.« Das dürfe so nicht
Mustafa Yalcin / picture alliance / dpa

­Anfang an gewusst, dass ihr ausgestrahlt werden. Der Sen­


­Roman entweder gelobt oder der gab ihr offenbar recht. Das
scharf kritisiert werden würde, Interview der beiden wurde
weil sie nun einmal die Stief­ ohne den Patzer veröffentlicht.
tochter des Präsidenten sei, er­ Jetzt sieht man nur, wie sich
zählte sie in einem Interview. Macron vor Schreck die Hand
Aber sie habe längst gelernt, vor den Mund hält – und dann
mit diesem Risiko umzugehen. die Reaktion ihrer Tochter. PE

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 119


BRIEFE teien auch nicht, dass wir selbst
Waffen für unsere Verteidigung
beziehungsweise zur Abschre-
ckung brauchen? Ist Frau Stark-
Watzinger die Einzige in der FDP,
die sieht, wie gefährlich die Poli-
tik ihrer Parteifreundin Strack-
Zimmermann ist, und die deswe-
Die Forderung des Artikels an brennen als Verbrenner, dass sie gen den Zivilschutz in den Schu-
VW, Mercedes und BMW nach die idealen Winterfahrzeuge sind, len üben will?
billigen elektrischen Kleinwagen weil sie sich per App enteisen und Jörg Aldag, Hamburg
führt ins Leere. Denn bei den ge- vorwärmen lassen; dass die gro-
nannten deutschen Vorzeige- ßen Modelle ideal zum entspann- Wir sollten aus unserer Vergan-
Autoherstellern sind die Arbeits- ten Fernreisen sind, weil sie ruhig genheit gelernt haben, dass eine
kosten besonders hoch, etwa gleiten und nach drei Stunden zur Appeasementpolitik gegenüber
durch VWs Sondertarifabspra- kurzen Ladepause bitten; dass sie Autokraten und Diktatoren der
chen. Insbesondere bei schlichte- wegen des hohen Drehmoments falsche Weg ist. Aber genau die-
ren elektrischen Kompaktfahr- ab der ersten Sekunde ideale Zug- sen Weg will der Bundeskanzler
zeugen hat China einen klaren fahrzeuge sind und auf der Land- zusammen mit Mützenich gehen.
Kostenvorteil. Hohe deutsche straße gut überholen können. Denn selbst Mitglieder der Frak-
Produktionskosten werden erst Dr. Joachim Habbe, Nürnberg tionen von Grünen und FDP ver-
im gehobeneren Marktsegment stehen den Kanzler nicht mehr.
relativ leichter verdaulich, wo die Glaubt Scholz denn, sein Nein
Kundschaft zahlungswilliger ist. Nichts ist gut zum Taurus beeindruckt Putin?
Insofern setzen die Hersteller mit Das Gegenteil wird der Fall sein.
den höchsten Kosten nur notge- Nr. 12/2024 Leitartikel: Olaf Scholz ist Dietmar Wielgoß, Stimpfach (Bad.-Württ.)
besser als sein Ruf
Wo bleibt der drungen auf das gehobene Seg-
ment. Der Tipp, dass die europäi- Bravo, Herr Hickmann; das muss- Mag sein, dass, wie Herr Hick-
Masterplan? schen Hersteller einfach nur bil- te mal genau so gesagt und ge- mann sagt, dieses Land »auch
Nr. 13/2024 Titel: Der Elektro-Schock lige Einsteigermodelle anbieten schrieben werden! »Jetzt ist dann schon schlechtere Regierungen«
müssen, könnte fern der wirt- auch mal gut« ist exakt jetzt. hatte. Aber unter keiner Regie-
Deutschland verzweifelt nicht am schaftlichen Realitäten liegen. Hans Kruft, Zirndorf (Bayern) rung ging es dem Mittelstand
E-Auto, sondern an der Lade­ Andreas Umbreit, Gotha (Thür.) schlechter, wurden Arme immer
infrastruktur. Ein E-Auto ohne Wegen Ihrer oft sehr einseitig ne- ärmer und die Reichen immer rei-
vernünftige Ladeinfrastruktur zu Als Besitzer eines VW ID.3 wird gativen und teilweise regelrecht cher. Dabei ist es der Mittelstand,
fahren ist wie Bahnfahren ohne mir das Desaster vollends klar: hämischen Berichterstattung über der das Land am Laufen hält und
Schienen. Für den Ausbau der VW kann sehr gute Autos bauen. den Bundeskanzler und die von sich einschränkt, aber kaum mehr
Ladeinfrastruktur fühlen sich Besser als viele andere. Nur leider ihm geführte Regierung in den etwas sparen kann. Der Mieten
aber weder Autoindustrie, Ener- hat VW nicht bemerkt, dass bei vergangenen Monaten war ich und Stromrechnungen nicht mehr
gieversorger noch öffentliche In- einem E-Fahrzeug nicht mehr kurz davor, dem SPIEGEL nach zahlen kann, teure Klimaschutz-
stitutionen hinreichend zustän- der Motor das wichtigste Bauteil mehr als 40 Jahren die Freund- vorgaben auf sich nimmt oder
dig. Dazu kommt noch das Tarif- ist, sondern der Bordcomputer. schaft zu kündigen. Mit diesem freiwillig friert, um die Klimazie-
chaos an den Ladesäulen. Wo Schwachbrüstiger und vernach- Leitartikel zeigen Sie jedoch, dass le zu erreichen und vieles mehr.
bleibt der Masterplan? lässigter geht es kaum. Da fällt Ihnen der Sinn für die Fakten Aber dies wird vonseiten dieser
Wolfgang Hanke, Regensburg auch der bessere Datenschutz doch noch nicht abhandengekom- Regierung gar nicht wahrgenom-
nicht mehr ins Gewicht. men ist. Gut so. Mit diesem ruhi- men und geschätzt. Nichts ist gut.
Als ich den Titel sah, dachte ich, Michael J. Dettmer, Wolnzach (Bayern) gen, besonnenen Sachwalter, der Gabi Hanner, Freyung (Bayern)
endlich wird zugegeben, dass es handelt, statt populistischen
sich beim E-Auto um einen Irr- Ich fahre jetzt seit drei Jahren den Humbug von sich zu geben, und
weg handelt. Weit gefehlt – die Volkswagen ID.3 mit Fotovoltaik. der nicht die Umfragewerte zum Endlich macht das
woke, linke Klimaredaktion des Ich würde nie wieder tauschen. Dreh- und Angelpunkt macht, ist
SPIEGEL geht vorsichtshalber Frenz Frauen, Weddingstedt (Schl.-Holst.) unserem Land besser gedient als mal jemand
nicht auf die berechtigten Beden- mit denen, die sich selbst für ge- Nr. 12/2024 Kolumne: Die Gegendarstel-
ken Millionen potenzieller Käu- Für den Hochlauf der E-Mobilität eigneter halten, aber außer Paro- lung – Mit Höcke reden
fer ein (Infrastruktur der E-Tank- braucht es zwei Dinge: eine Steck- len und destruktiver Kritik nichts
stellen, Ladezeiten, Restwert dosenpflicht für jeden Stellplatz zu bieten haben. Die Meinung von Herrn Neuba-
Gebrauchtwagen, fragwürdige sowie eine Intensivschulung für Achim Leeser, Dittelsheim (Rhld.-Pf.) cher teile ich uneingeschränkt.
Umweltbilanz, Akkuhaltbarkeit, Autohausmitarbeiter:innen. Viele Dass sich Thüringens CDU-Spit-
Länge des Autolebens und so wei- kaufen kein E-Auto, weil sie nicht Die Duma kündigt an, die Bun- zenkandidat Mario Voigt mit
ter). Das E-Auto wird das gleiche wissen, dass die Tageskilometer desrepublik zur Kriegspartei zu einem Gegenüber wie Björn Hö-
Schicksal erleiden wie die einst locker durch das Laden über erklären, sollten wir die Taurus- cke auseinandersetzt, finde ich
von der EU vorgeschriebene Nacht an der Steckdose (Wallbox Marschflugkörper an die Ukraine mutig und richtig. Endlich macht
Energiesparlampe: Die Produk- braucht es gar nicht) wieder drin liefern. Putin kündigt den Aus- das mal jemand. Wenn das gut
tion ist heute wegen Umwelt­ sind. Autohausangestellte stellen bruch des dritten Weltkriegs mit läuft – was ich mir wünsche –, ist
bedenklichkeit verboten – Rest- Verbrenner viel sauberer dar, als dem Eintritt der Nato in den das die Möglichkeit, die unsägli-
bestände dürfen noch verkauft sie sind. Zu den Vorteilen des E- Ukra­inekrieg an. Warum sehen chen Phrasen zu hinterfragen und
werden. Autos hört man auch nichts: dass Grüne, FDP und CDU/CSU die- ad absurdum zu führen.
Bodo Schmidt, München sie um den Faktor 83 seltener se Gefahr nicht? Sehen diese Par- Christine Frank, Mülheim an der Ruhr (NRW)

120 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


stände zu thematisieren, aber
Ein informativer und Dank an Christoph Selten habe ich ein so auch ihrer Geduld, den intellek-
gelungener Bericht Hickmann. Der Bun- glaubhaftes Interview tuell eher unauffälligen Fragen
über die deutsche deskanzler hat in gelesen. Frau Engel- der SPIEGEL -Redakteure stand-
zuhalten.
Autoindustrie, der seinem Amtseid horn reagierte auf alle Bernd Schönecker, Idstein (Hessen)
nachdenklich stimmt geschworen, Schaden noch so kritischen
und betroffen macht. vom deutschen Volk Fragen der SPIEGEL- Da haben Sie so eine junge und
Besonders weil die abzuwenden. Das tut Redakteure mit sou- spannende Person vor sich, und es
gelingt Ihnen nicht, eine interes-
AfD offensichtlich von er. Daher halte ich veränen und überzeu- sante Frage zu stellen. Was ist los?
der negativen Stim- auch die Taurus-Ent- genden Antworten. Ulrike Oßwald, Potsdam
mung in Deutschland scheidung für richtig. Ein Dankeschön an
Schon seit geraumer Zeit liest man
gegenüber der Ingeborg Kaiser-Bauer, Bonn Frau Engelhorn. in vielen Medien von Frau Engel-
E-Mobilität profitiert. Uwe Mehl, Hamburg horn. Was ist so schwierig daran,
Eduard Kleinhans, Aachen das Geld zu spenden? Offen­
sichtlich hat sie noch nicht genug
Nr. 12/2024 SPIEGEL-Gespräch
mit der Millionärin
Publicity bekommen. Schlimm.
Nr. 13/2024 Titel: Der Elektro- Nr. 12/2024 Leitartikel: Olaf Marlene Engelhorn, die ihr Erbe Heinz Urbanski, Langenfeld (NRW)
Schock Scholz ist besser als sein Ruf verschenken will
Der Einwand der SPIEGEL -Inter-
viewer zu den Ansichten von
Viele Kommentare Ihrer Leser Energie, Klimaschutz. Dann wür- er arbeiten kann und will. Wenn Frau Engelhorn zum neolibera-
zeigen auf, was Herr Neubacher de sich zeigen, wie wenig die AfD er dann Hilfe bekommt, ist er in len Kapitalismus, laut dem
übersieht: AfD-Wähler stimmt zu Problemlösungen beiträgt. vielen Fällen in eine Helfertätig- Grundrente, Mutterrente, Rente
man leider nicht mehr um in einer Herrmann Krafft, Villingen (Bad.-Württ.) keit vermittelbar. Oft gibt es auch mit 63 und so weiter einen Be-
Diskussionsrunde. Sie warten so- Aufstiegsmöglichkeiten. weis für die Unverträglichkeit des
zusagen auf die Äußerungen voll Gisela Blome, Bremen Sozialstaates mit dem Kapitalis-
Hass und Hetze und Niedertracht Dennoch ein Erfolg mus darstellen, ist naiv und wur-
eines Herrn Höcke in öffentlichen Natürlich gibt es körperlich oder de von der Interviewten gut ge-
Medien und freuen sich auch an Nr. 12/2024 Hunderttausende psychisch kranke Menschen, die kontert. Auch andere Einwände
Geflüchtete sind ohne Job – warum
unserer Empörung. So eine Dis- arbeiten sie nicht? nicht arbeiten können. Aber es des SPIEGEL zu den von Frau
kussion bringt vielleicht mehr gibt keine kulturellen Gründe, Engelhorn geäußerten Gedanken
Menschen gegen die AfD auf die Ich arbeite seit vielen Jahren in nicht zu arbeiten. Zumindest zum Reichtum empfinde ich als
Straße, aber sie wird der AfD kei- einem Projekt, das junge Erwach- nicht in unserer Kultur. Das Bei- erbärmlich.
ne Wähler entziehen. Das ist eine sene mit Migrationshintergrund spiel des Afghanen, der »als Dr. Efstratios Rigos, Herne (NRW)
große Herausforderung für unse- betreut. Ich berate bei der Job- Oberhaupt der Familie nicht be-
re Gesellschaft. Der AfD wieder suche und helfe bei den Bewer- reit sei zu arbeiten«, weil »dies Mein Eindruck: eine schlagferti-
Wähler abzugewinnen gelingt bungen. Ukrainische Geflüchtete von mangelndem Wohlstand zeu- ge, hochintelligente junge Frau,
nicht mit Diskussionsrunden und sind selten bei uns. Wer jemals ge«, und der hier mit mehreren die es satthat, dem Kreis der gie-
sicher nicht mit weiterer Regie- die Hoffnung hatte, mit Geflüch- Frauen und 18 Kindern lebt, ist rigen Parasiten anzugehören. Ich
rungsschelte. Da braucht es jetzt teten das Fachkräfteproblem zu haarsträubend. Wieso ist der wünsche ihr alles Gute.
kluge Strategien und die gebün- lösen, hat noch nie mit einem Ge- Staat bereit, diesen Mann zu ali- Günther Gumpert, Bergtheim (Bayern)
delte Kraft von klugen Menschen, flüchteten geredet geschweige mentieren?
die nicht nur die nächste Wahl im denn gearbeitet. Die Lösung liegt Isolde Volk, Karlsruhe Befragungen durch Sozialpsycho-
Auge haben. nicht allein in Fort- und Weiter- logen der Purdue University
Marianne Merz-Petrat, Bendorf (Rhld.-Pf.) bildungen. Die allermeisten Ge- kommen zu dem Ergebnis, dass
flüchteten sind nicht in der Lage, Hochachtung für alles, was über 81.000 Euro brut-
Ein öffentliches Gespräch mit diese Bildungsangebote zu nut- to Jahresgehalt (westeuropäische
Vertretern anderer Parteien kann zen. Sie sind schon mit dem die Geduld Singles 2018) hinausgeht, nichts
durchaus stattfinden, jedoch nur Deutschkurs auf B1-Niveau über- Nr. 12/2024 SPIEGEL-Gespräch mit Weiteres zum persönlichen Glück
mit einer Zeitbeschränkung, was fordert. Dieser ist aber erforder- der Millionärin Marlene Engelhorn, die ihr beiträgt. So gesehen würde die
das Thema Migration betrifft. lich, um eine Ausbildung zu ma- Erbe verschenken will von der Europakandidatin der
90 Prozent der Zeit sollten für chen. Es hätte schon lange klein- Linken Carola Rackete geforder-
Themen verwendet werden, in schrittiger vorgegangen werden Ein sehr beeindruckendes Inter- te Obergrenze von zwei Millio-
denen die AfD ihren Wählern oft müssen: viel mehr Deutschkurse, view, leider nicht wegen der Fra- nen Vermögen niemandes Glück
nur Unverständliches zu bieten Integrationskurse und wesentlich gen. Gut, dass Frau Engelhorn es ernsthaft beeinträchtigen. Offen-
hat, unter anderem: Rente, Finan- mehr Therapieplätze (ambulant nicht abgebrochen hat, sie war sichtlich geht es aber oft weniger
zen und Steuern – besonders Erb- wie stationär). Dass die Arbeits- wohl kurz davor. Kann ich gut um Glück als um Gier und Protz
schaftsteuer –, Landwirtschaft, marktintegration dennoch ein verstehen. Eine tolle Frau, auch und die Verselbstständigung des
Facharbeitermangel, Verkehr, Erfolg geworden ist, ist besonders ohne die Milliönchen – oder viel- Gewinnnstrebens auf Kosten des
ehrenamtlichen Bürgerinnen und mehr gerade deshalb. Sozialstaates und des Klimas.
Bürgern sowie Bildungsprojekten Volker Wegener, Erftstadt Paul Korf, Hamburg
Sagen Sie zu verdanken. Ein Geflüchteter
auch digital Ihre weiß zum Beispiel nicht, was eine Meine Hochachtung gilt Marlene Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
Meinung – auf Bewerbung ist und wie er sie Engelhorn. Zum einen für ihr En- gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
SPIEGEL Debatte schreiben soll, aber er weiß, dass gagement, gesellschaftliche Miss- unter SPIEGEL.de zu archivieren.

Nr. 14 / 28.3.2024 DER SPIEGEL 121


L E TZ T E S E I T E

Der heikle Mordfall Ingrid B. HOHLSPIEGEL

Schild an einem ehemaligen landwirtschaftlichen


ZEITREISE Eine junge Ostdeutsche hatte 1972 ihren Vater erschlagen, Betriebsgelände nahe Berlin:

saß aber in West-Berlin in Haft. Die deutsch-deutschen Turbulenzen


beschäftigten Justiz und Politik auch international.
Nr. 14/1974 »Ohne Willy Brandt
sind wir weg« Angeklagte B. auf dem
Weg zum Kammergericht
Jahrelang wurde Ingrid B.
von ihrem Vater gequält Aus dem »Boten vom Untermain«:
und missbraucht. 1972 er­ »Eltern leisten mehr Arbeit als Elternlose.«
schlug die 16-Jährige ihn
auf einer Brandenburger Die »Rieser Nachrichten« über den deutschen
Müllhalde. Kompliziert ­Männerfußball-Nationaltrainer:

Panorama / ARD
machte den Fall, dass die Schwesternschüle­ »Am Donnerstag gibt Nagelsmann seinen
rin in West-Berlin festgenommen wurde. Kader für die kommenden beiden
Die DDR forderte ihre Auslieferung. Das ­Länderspiele gegen Frankreich und die
zuständige Berliner Kammergericht sah das ­Niederlage bekannt.«
genauso und berief sich auf das »Gesetz worauf die Alliierten umgehend hinwiesen.
über die innerdeutsche Rechts- und Amts­ Das Kammergericht wollte die Angeklagte
weiter überstellen, der Anwalt zog vor die Aufschrift auf einem Abführmittel:
hilfe« von 1953.
»Innerdeutsch«? Der Begriff weckte Europäische Menschenrechtskommission,
Zweifel des Anwalts der Beschuldigten: der Bundestag änderte das Rechts- und
Durch den Grundlagenvertrag zwischen Amtshilfegesetz. Die DDR-Behörden indes
beiden Staaten sei sie deutsche Staats- weigerten sich, die Fallakten zu übersen­
Von wa.de, dem Nachrichtenportal des »Westfälischen
bürgerin und könne nicht »der Gerichts- den, was die Urteilsfindung empfindlich Anzeigers«:
barkeit eines fremden Staates unterworfen« störte. Letztlich wurde Ingrid B. zu zwei­
werden, argumentierte er. Schon war man einhalb Jahren Haft verurteilt, die sie durch »Der Gesamtkostenaufwand dürfte indes
mitten in der heiklen Frage, was die DDR die U-Haft bereits abgesessen hatte. erheblich höher liegen als wenige Tausend
aus Sicht der Bundesrepublik war: Inland, In der Titelgeschichte beschrieb der Euro, denn es waren ja auch ein Kran,
Ausland oder irgendetwas dazwischen. SPIEGEL die schwierige Lage der SPD und
ein neuer Sattelschlepper sowie Techniker
Der Anwalt forderte eine Klärung durch die Attacken von Finanzminister Helmut für das Fahrzeug und eine deaktivierte
das Bundesverfassungsgericht, das damals Schmidt auf Kanzler Willy Brandt. ­Ampel vor Ort.«
aber für West-Berlin nicht zuständig war – Rainer Lübbert
Hinweis an einer Arztpraxis in Kiel:

O’zündt is!
in Bayern. Der Freistaat hatte bis zuletzt
vergebens darauf gedrungen, das Inkrafttre­
ten der Cannabislegalisierung zu verzögern,
weil der 1. April unglücklich mit dem Ende
SO GESEHEN Die Cannabisfreigabe
der Starkbiersaison zusammenfällt. Es wird
erschüttert Bayern. befürchtet, viele Trinker könnten nun di­
rekt auf die Ersatzdroge Cannabis umstei­
Das Gesetz ist beschlossen, nun müssen gen. Die Neukonsumenten könnten nach
sich die Bundesländer wappnen: Voraus­ Berechnungen von Experten aus dem baye­
sichtlich ab 1. April wird der Besitz und rischen Gesundheits- und Wirtschaftsminis­
Konsum von Cannabis im öffentlichen terium bis zum Beginn des Oktoberfests Der »Weser-Kurier« über eine Gedächtniskünstlerin:
Raum mit bestimmten Einschränkungen dem Alkohol bereits so weitgehend ent­ »In die von ihr erdachte Gedächtnis-
­legal. wöhnt sein, dass den dortigen Festzelten Route hat die Polizistin auch viele
Die allgemeine Verunsicherung ist groß. empfindliche Umsatzeinbußen drohen. Um ­Prominente eingebaut: etwa Kai Pflaume,
Die Berliner Senatskanzlei und weitere die Konkurrenzfähigkeit bayerischer Biere den Mann von Ex-Kanzlerin Angela
Großstadtverwaltungen bereiten die Be­ zu erhalten, empfiehlt die Fachgruppe eine Merkel und Joachim Sauer.«
völkerung auf plötzlich auftretende sofortige allgemeine Erhöhung der Stamm­
THC-Schwaden in Szenebezirken und würze um mindestens drei Grad Plato.
Aus der »Badischen Zeitung«:
öffent­lichen Grünanlagen vor und raten Schwerste Probleme erwartet die Staats­
zur Vorsicht bei der zufälligen regierung auch bei der Umsetzung der
Begegnung mit Cannabis- ­Amnestie für Cannabisdelikte. Wegen der
konsu­menten. Es wird emp­ traditionell hohen Verfolgungsdichte im
fohlen, stets eine ausrei­ Freistaat sind hier besonders viele Altfälle
chende Menge Süßwaren zu überprüfen, was den Justizapparat auf
zur besänftigenden Ab­ Monate, wenn nicht gar Jahre für andere
gabe mit sich zu Aufgaben blockieren wird. Womöglich sind Von chip.de:
­führen. sogar höchste Staatsziele gefährdet: Die »Die ING hat für die Nacht von
Besonders große Kontrolle des Gender-Verbots könnte schei­ Freitag auf Samsung Störungen beim
Sorgen macht man sich tern. Es droht ein Desaster. Stefan Kuzmany ­Onlinebanking angekündigt.«

122 DER SPIEGEL Nr. 14 / 28.3.2024


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Frühjahr 2024
Das Kulturmagazin

Rebecca Yarros
schreibt über
Drachen und Liebe

Sheryl Crow
beeinflusst bis
heute junge Popstars

Rebecca F. Kuang
unterhält mit einer
politischen
Hochstaplergeschichte

»Ich habe einen


Punk in mir«
Schauspielerin Jella Haase über Erfolg, Verletzungen und zweifelnde Männer
Neue Podcastserie »NDA«
Jetzt
NDAs sind Non-Disclosure-Agreements, Verschwiegenheits-
vereinbarungen. Sie schützen Geheimnisse – sind aber
hören auch ein Machtinstrument. In diesem Podcast recherchieren
wir Geschichten, die nicht erzählt werden sollen.
Staffel eins rekonstruiert den Fall Kasia Lenhardt.

Überall, wo es Podcasts gibt, und auf spiegel.de/nda


Inhalt | Frühjahr 2024
Bestsellerliste Hardcover S. 16, 18 IMPRESSUM
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Autor der Ausgabe: GmbH & Co. KG, Ericusspitze 1,
Gabriel García Márquez S. 17 20457 Hamburg

Herausgeber
Damals auf der Bestsellerliste S. 19 Rudolf Augstein (1923 bis 2002)

Bestsellerliste Essen & Trinken S. 28 Chefredaktion Dirk Kurbjuweit (V. i. S. d. P.),


Dr. Melanie Amann, Thorsten Dörting
Kolumne: Die Kochprobe S. 29
Redaktion Xaver von Cranach
Kolumne: Und das soll ich lesen? S. 30
Gestaltung Leon Lothschütz
Filme & Serien
Bildredaktion Philine Gebhardt,
Doch die Aliens sieht man nicht S. 20 Jens Ressing
Die Macher von »Game of Thrones«
verfilmen jetzt chinesische Science- Titelbild Johannes Unselt
Autorin Yarros mit Fan Fiction für Netflix. Geht das gut?
Chefin vom Dienst Anke Jensen
Titel
Neue Filme S. 22
»Ich Capitano«, »One Life«, »Civil War« Schlussredaktion Lutz Diedrichs,
Klischeesprengerin S. 4 Dörte Karsten
Kann das gelingen – die Figur, mit der Charts Kino  S. 23
man berühmt wurde, noch einmal Organisation Kathrin Maas
ganz neu zu erzählen? Schauspielerin Musik
Jella Haase versucht es mit dem Film Produktion Sonja Friedmann,
»Chantal im Märchenland«. Ein Gespräch Vom Engel zur Göttin S. 25 Petra Thormann
über Risiken. Lange vor Taylor Swift gelang Sheryl Crow
die Synthese aus Country und Mainstream- Herstellung Silke Kassuba, Jan Reeger
Bücher Pop. Ihr neues Album zeigt, warum
sie heute mehr denn je verehrt wird. Objektleitung Manuel Wessinghage
Meisterin der Romantasy  S. 8
Rebecca Yarros ist eine der erfolgreichsten Neue Musik S. 27 Anzeigen Hannes Engler
Autorinnen der Gegenwart, mit ihren Vampire Weekend, Charles Lloyd, Anzeigenpreisliste 2024 vom 13.12.2023
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Sehnsucht nach früher S. 14


Der Historiker Valentin Groebner fragt
Die nächste Ausgabe
sich in einem persönlichen Essay,
warum uns die Vergangenheit oft süßer von SPIEGEL BESTSELLER
erscheint, als sie war. Musikerin Crow erscheint am 15. Juni

Titelfoto: Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL; Fotos: Nina Westervelt / The New York Times / Redux / laif, Dove Shore / Universal Music 3
Titel

»Klug, witzig und in die Fresse«


Kino Jella Haase kehrt mit einem neuen Film zu der Rolle zurück, mit der sie berühmt
wurde: der prolligen Chantal. »Weil es die meisten Menschen eher nicht
erwartet haben.« Ein Gespräch über Klischees, Selbstzweifel und den Punk in ihr.

D ie Pumps fürs Fotoshooting müs-


sen noch auf ihren Einsatz warten,
zur Begrüßung zieht sie sich nämlich erst
klar, wie prägend sie sein würden. Das
führt manchmal, sicherlich unbeabsich-
tigt, auch zu einer gewissen Distanzlo-
SPIEGEL: Trotzdem ist da doch Druck:
Sie tragen den Film allein und sind da-
mit auch für seinen Erfolg oder Miss-
mal die Schuhe aus. Gleich zwei Paar So- sigkeit. Viele glauben, mich zu kennen. erfolg mitverantwortlich.
cken kommen zum Vorschein. Jella Haa- Und ich kann’s auch verstehen: Wenn Haase: Ich spüre schon, dass man von
se, 31, hat trotzdem kalte Füße, sagt sie – man mehrere Filme mit jemandem ge- mir viel erwartet. Viele sagen: Das wird
und wenig Allüren bei Interviews. Mit sehen hat, glaubt man eben, die Person jetzt ein Megaerfolg. Dann antworte
ihrer Rolle als ordinäre, aber liebenswer- im eigenen Leben verorten zu können. ich: Hey, wir wissen es doch nicht. Seit
te Chantal in den »Fack ju Göhte«-Ko- SPIEGEL: Der letzte Teil der Reihe dem letzten Film hat sich das Kino ver-
mödien wurde sie sehr jung sehr be- kam 2017 in die Kinos. Statt die Rolle ändert. Es ist eine andere Zeit. Wir fra-
kannt. Und spielte sich schließlich davon der Chantal hinter sich zu lassen, spie- gen uns oft, warum die Leute das eine
frei, dachte man jedenfalls. Zu sehen war len Sie sie jetzt erneut in einem Spin- und nicht das andere gucken. Nicht je-
Haase etwa in dem mit Preisen ausge- off. Warum? den Erfolg kann man eben nachvollzie-
zeichneten DDR-Drama »Lieber Tho- Haase: Ich glaube, genau deshalb. hen. Ich habe mich aber vor einem Ki-
mas«, in der viel gelobten Literaturadap- SPIEGEL: Weshalb? nostart noch nie gefragt: Wie viele Zu-
tion »Berlin Alexanderplatz« und im Haase: Weil es die meisten Menschen schauer werden den Film wohl sehen?
Publikumserfolg »Kleo« auf Netflix. Nun eher nicht erwartet haben. Nach »Fack SPIEGEL: Noch nie?
kehrt sie in dem Spin-off »Chantal im ju Göhte« habe ich viele andere Rollen Haase: Ne. Wenn der Film abgedreht
Märchenland« in ihre berühmte Rolle gespielt. Und die Leute haben zu mir ist, habe ich meine Arbeit ja erst mal
zurück. Ein Wagnis, oder? Haase sitzt gesagt: »Jetzt hast du dich freigespielt.« gemacht. Aber klar, wenn dieser Film
auf der moosgrünen Couch im Berliner Das hat mich irritiert. floppt, wird es für viele eine Kata­
Zoo Palast und streckt die Füße. SPIEGEL: Das haben wir auch ge- strophe sein. Aber für mich? Ich bin
dacht. War es nicht so? jetzt schon happy, dass es diesen
SPIEGEL: Frau Haase, können Sie den Haase: Nein, das entspricht nicht mei- Film gibt.
Spruch »Heul leise, Chantal« eigentlich ner Wahrnehmung. Ich habe immer an- SPIEGEL: Die Macher der Kinoweb-
noch hören? dere Rollen gespielt und mich durch site Moviepilot, offenbar keine Fans der
Haase: Na ja, das ist halt ein Schenkel- Chantal nie eingeschränkt gefühlt. Des- Reihe, haben sich den Trailer angese-
klopfer. Die Leute lieben es, den zu halb fand ich es überraschender, jetzt mit hen und gesagt, dass der Film jetzt
­sagen. Wenn ich mich darüber aufrege, dieser Figur zurückzukommen. Das Tol- schon aussehe wie der schlechteste des
denke ich an meine Mutter, die sagt: le an dem neuen Film ist doch, dass hier Jahres. Verletzt Sie so etwas?
Sei gnädig, gönn den Leuten ihren eine klassische Nebenfigur zur Heldin Haase: Ich finde das natürlich nicht
Spaß. Dass sich der Spruch so fest­ avanciert. Chantal bekommt ihre eigene nett. Aber kann ich beeinflussen, wie
gesetzt hat, zeigt ja, wie populär »Fack Geschichte, an der sie wachsen darf. Das die Menschen urteilen? Nein. Die Filme
ju Göhte« ist. haben Chantal und ich quasi gemeinsam: haben immer schon starke Reaktionen
SPIEGEL: Seit 2013 haben in Deutsch- Es geht darum, einer von außen an uns hervorgerufen. Manche hassen sie, vie-
land mehr als 20 Millionen Zuschauer herangetragenen Erwartung zu wider- le andere lieben sie. So wird das wahr-
die »Fack ju Göthe«-Komödien ge­ sprechen. Das ist eine Rebellion! scheinlich auch hier sein.
sehen. Sie sind mit der prolligen Figur SPIEGEL: Im Spin-off spielen Sie die SPIEGEL: In dem Film stolpern Chan-
Chantal berühmt und erwachsen ge- Hauptrolle, ohne die prominente tal und ihre Freundin Zeynep in
worden. Als Sie die Rolle zum ersten Unterstützung von Elyas M’Barek, Grimms Märchenwelt, eine aus heuti-
Mal gespielt haben, waren Sie Anfang ohne den Klassenverbund, von dem die ger Sicht reaktionäre. Warten die bei-
zwanzig. Wie oft mussten Sie sagen: Ich Reihe gelebt hat. Und dann macht der den dort auf Prinzen?
bin Jella, nicht Chantal? Film auch noch einen Abstecher ins Haase: Ne, im Gegenteil. Die kommen
Haase: Och … schon oft. Und natürlich Fantasy-Genre. Das ist riskant. Haben gar nicht mit dieser Welt klar. Wir
möchte man mit dem eigenen Namen Sie keine Angst zu scheitern? krempeln die Geschichten um: In unse-
angesprochen werden und nicht mit Haase: Wenn man nur Sachen macht, rem Märchen bekommen die Prinzes-
dem Namen einer Figur. Aber die meis- mit denen man nicht scheitern kann, sinnen endlich eine eigene Identität, sie
ten Leute, die auf mich zukommen, braucht man doch gar nicht erst anzu- werden vom Objekt zum handelnden
sind positiv. Als wir diese Filme ge- fangen. Ich bin immer dafür, Dinge zu Subjekt. Der Film ist leicht und unter-
macht haben, war mir einfach nicht machen, die Mut bedürfen. haltsam, gleichzeitig klug, witzig und in
4 SP IEGEL B ESTSELLER | Frühj a hr 2 024
Darstellerin Haase: »Das ist eine Rebellion!«

Fotos: Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL 5


Titel

die Fresse. Chantal ist halt widerspens- aber die Agentin sagte zu uns: Kommt wird. In David Wnendts »Kriegerin«
tig, auch im Märchenland. trotzdem, frech kommt weiter. gaben Sie ein bürgerliches Mädchen,
SPIEGEL: Chantal trägt blauen Lid- SPIEGEL: Hatte sie recht? das in die Neonazi-Szene abdriftet.
schatten, bedruckte Glitzershirts und Haase: Na klar. Haase: Das waren die Figuren, die
sagt ständig Sachen wie »Ey«, »Ich SPIEGEL: Als Sie angefangen haben, mich damals interessiert haben und
schwöre« und »Sie Geisteskranker«. eine junge Frau in dieser intransparen- noch immer interessieren. Für mich
Für viele ist Chantal der Inbegriff einer ten Filmindustrie, wie war das? fühlt sich das so an, als kämen solche
dummen Tussi. Was sagen Sie denen? Haase: Ich hatte eine gesunde Blau­ Figuren zu mir und bäten darum, dass
Haase: Dass sie zu schnell urteilen. äugigkeit oder, nein, eher jugendliches ihre Geschichten erzählt werden.
Das ist genau die Problematik, die der Selbstbewusstsein. Denn ich war nicht SPIEGEL: Schützen Sie sich vor Ge-
Film behandelt: Von außen wird ein so naiv, dass ich in unangenehme Situ- walt, die Ihre Figuren erfahren?
Bild an uns herangetragen, dabei ken- ationen gestolpert bin. Ich wusste ein- Haase: Nach dem Dreh brauche ich
nen die Leute uns nicht. fach, dass ich eine Schauspielerin bin. unbedingt ein Ventil, um das alles ge-
SPIEGEL: Aber reproduzieren Sie mit Diesen Berufswunsch habe ich nie in- hen zu lassen. Ich laufe und schwimme
Chantal nicht auch so manches Klischee frage gestellt. Deshalb habe ich mich für viel. Trotzdem nehme ich schon viel
über blonde Frauen, die gern blauen viele andere Dinge gar nicht interes- mit. Wenn es in Filmen um Gewalt
Lidschatten tragen? siert, was sich als gesund entpuppt hat. geht, beschäftigt das mein Unterbe-
Haase: Nein, wir spielen mit den Kli- SPIEGEL: Was meinen Sie damit? wusstsein. Ich habe dann nachts Alb-
schees, das macht ja den Spaß aus. Und Haase: Wenn ich auf mich zurück- träume. Ich mache ja alle meine Poren
dann sprengen wir sie. schaue, dann sehe ich da eine große in- auf für das Leben einer Figur. Dann
SPIEGEL: Haben Sie etwas von Chan- nere Ruhe. Ich wusste, ich werde mei- muss ich nach der letzten Klappe auch
tal gelernt? wieder alle Poren verschließen und
Haase: Ich bewundere ihre Direktheit, einen Schutz um mich bauen, was mir
»Am Ende will man
ihren Mut. Sie lässt sich nichts sagen, ist nicht immer leichtfällt.
von sich überzeugt und schämt sich we- nicht anderen Leuten SPIEGEL: Wann ist es Ihnen mal nicht
nig. Das würde ich gern verinnerlichen. etwas beweisen, gelungen, einen Schutz um sich zu bau-
SPIEGEL: Sie sind in Berlin-Kreuz- sondern vor allem sich en? Chantal bietet ja nicht das Potenzial
berg aufgewachsen, Ihre Mutter ist für große seelische Einbrüche, oder?
selbst.«
Zahnärztin, mit dem Drehen haben Sie Haase: Als ich die Stasi-Killerin Kleo
schon als Jugendliche angefangen. in der gleichnamigen Serie gespielt
Stimmt es, dass Sie sich fürs Schauspie- nen Weg gehen. Und ich war überzeugt habe. Die erlebt halt sehr viel Scheiß.
len begeistert haben, weil Sie neidisch von meiner Zukunft als Schauspielerin, Damit muss ich dann umgehen. Wenn
auf Emma Watson waren, die in den ohne die Karriere zu sehr zu forcieren. ich nicht mit mir im Reinen bin, gehe
»Harry Potter«-Filmen Hermine spielt? Das war eine Balance: nicht zu ehrgei- ich Fastenwandern. Da kann ich allen
Haase: Ja. Als ich den ersten Film sah, zig zu werden, sich nicht zu verhärten, körperlichen und seelischen Ballast von
habe ich nicht verstanden, warum diese offen zu bleiben. Auf mich sind dann mir abwerfen. Danach setze ich wieder
junge Magierin eine deutsche Stimme die Dinge zugekommen. bei null an. Im April geht es wieder los.
hat, wer das überhaupt ist, warum aus- SPIEGEL: Das passiert nicht allen. SPIEGEL: Die Filmwelt ist patriarchal
gerechnet sie Hermine spielen kann. Ich Haase: Nein, ich bin da privilegiert, geprägt, es gibt strikte Hierarchien und
will das sein, habe ich gedacht, ich will das weiß ich schon. Ich weiß aber auch, Abhängigkeiten, in vielen Schlüssel-
doch Hermine sein! Warum haben die dass ich meinen Teil zu dem Erfolg bei- positionen sitzen noch immer Männer.
mich nicht gefragt? getragen habe. Ich habe viel gearbeitet Warum tut sich so wenig?
SPIEGEL: Und dann? und bewusst Rollen gespielt, die sich Haase: Aber unsere Branche verändert
Haase: Ich habe zwar schon als kleines sehr unterscheiden. Und trotzdem war sich ja gerade, ich selbst bin Teil dieser
Kind für meine Eltern kleine Stücke mir das alles nicht ganz so wichtig. Veränderung. Das sieht man doch an
aufgeführt. Aber dann habe ich richtig SPIEGEL: Sie haben sich nicht über- dem Film: Ist es nicht total gut, dass eine
angefangen, Theater zu spielen, neben identifiziert mit Ihrem Job, meinen Sie? wie Chantal jetzt ihren eigenen Block-
der Schule und in der Schule. Als ich Haase: Genau. Ich war nicht nur die buster bekommt? Das war lange Zeit
auf die Theater-AG gestoßen bin, dach- Schauspielerin Jella Haase, ich war überhaupt nicht selbstverständlich, ist es
te ich: Hier gehöre ich hin. Mit 15 Jah- ­immer auch die Freundin Jella, die immer noch nicht, aber heute ist es im-
ren habe ich mich dann bei einer Agen- Schwester Jella. Das hat mich auch da- merhin möglich. Im Arthouse-Kino und
tur beworben. Total unspektakulär. vor bewahrt, mich zu verlieren. auf Filmfestivals sind viele Frauen ver-
SPIEGEL: Na ja. Nicht alle 15-Jährigen SPIEGEL: Sie haben sehr früh harte treten, aber im Blockbuster? Noch im-
werden in eine Agentur aufgenommen Rollen gespielt: In »Der letzte Rest«, mer zu wenige. Auch in der Regie. Dabei
und drehen dann große Filme. Ihrem ersten Film, haben Sie ein Mäd- habe ich schon immer und sehr gern mit
Haase: Aber da muss ich ehrlich sein: Ich chen gespielt, das seine Mitschüler zum Frauen zusammengearbeitet. Frauen
habe mich beworben, weil eine Freundin Gruppensex animiert, um beliebter zu sind Teil meiner Filmfamilie geworden.
mich dazu motiviert hat. Und dann waren werden. In »Puppe« waren Sie eine SPIEGEL: Geht es an deren Filmsets
wir auch noch zu spät zum ersten Casting, Junkie-Teenagerin, die brutal ermordet anders zu?
6 SP IEGEL B ESTSELLER | Frühj a hr 2 024
Schauspielerin Haase: »99 Prozent der Frauen in meinem Umfeld haben ein Problem mit ihrem Essverhalten«

Haase: Das ist nicht genderabhängig. ich lügen, wenn ich behaupte, dass ich Haase: Ich kenne auch viele sensible,
SPIEGEL: Trotzdem wird hauptsäch- Selbstzweifel nicht kenne. zweifelnde Männer. Die reden seltener
lich über cholerische Ausbrüche und SPIEGEL: Wie gehen Sie damit um? darüber als wir und werden weniger
Machtmissbrauch von Männern berichtet. Haase: Der Punk rebelliert manchmal öffentlich für ihre Körper kritisiert.
Haase: Stimmt. Ich hatte Glück, dass auch gegen eigene Gedanken. Es hilft Aber die liegen nachts auch wach
ich solche Erfahrungen nicht gemacht natürlich, dass wir endlich darüber re- und grübeln. So wie ich. Mir ist klar,
habe, sondern so viele tolle. Oder neh- den. 99 Prozent der Frauen in meinem dass der Rummel groß sein wird, wenn
me ich die Außenwelt womöglich weni- Umfeld haben ein Problem mit ihrem »Chantal« in die Kinos kommt, und
ger wahr, wenn ich spiele und mit der Essverhalten. Unsere Körper werden damit auch die Meinungen zu mir.
Figur befasst bin? Ne. Mein Eindruck ständig begutachtet und beurteilt, das Ich versuche jetzt schon, mich zu
ist eher, dass ich selbst unbewusst Leu- hinterlässt Spuren. Durch diese Körper- wappnen.
te auswähle, die gut mit ihren Mitmen- ideale stehen wir unter enormem SPIEGEL: Wie?
schen umgehen. Und wenn das nicht Druck. Wie sollten wir uns da nicht Haase: Es mag banal klingen, aber
der Fall ist, fordere ich die Arbeit daran manchmal hässlich oder dick fühlen? ganz bei mir sein, auf mich aufpassen,
ein. Filmsets stehen heute unter einer Wir müssen unser Normal neu definie- nichts provozieren, was mich emotional
anderen Beobachtung als früher. ren und aufhören, uns so zu geißeln. aus der Bahn werfen könnte. Genügend
SPIEGEL: Die Schauspielerin Kate SPIEGEL: Wenn Ihr innerer Punk Ruhe und zwischendurch immer wieder
Winslet sagte neulich, es sei »wunder- nicht rebelliert, wie begegnen Sie die- meine Freunde und Familie treffen.
voll« zu sehen, wie sich junge Schau- sen Selbstzweifeln dann? SPIEGEL: Sie haben in den vergange-
spielerinnen heute gegen Fat-Shaming Haase: Das ist total schwierig. Als Sie nen Jahren mehrere Film- und Fernseh-
wehren, nachdem sie selbst zu Beginn vorhin gesagt haben, dass einige schon preise gewonnen. Sorgt das nicht auch
ihrer Karriere darunter zu leiden hatte. jetzt behaupten, »Chantal im Märchen- für Selbstvertrauen?
Winslet fühlte sich »gemobbt«. Können land« sei der schlechteste Film des Jah- Haase: Schon, ja vielleicht. Aber den
Sie das nachempfinden? res, da hat das natürlich was in mir aus- Erfolg trage ich nicht vor mir her. Ich
Haase: Ich bin auch mit einem gängi- gelöst. So ein Anwurf arbeitet in mir. glaube eh, dass man am Ende nicht bloß
gen Schönheitsideal konfrontiert wor- Aber ich lerne immer mehr, das von mir anderen Leuten etwas beweisen will,
den. Ich musste mich dagegen behaup- fernzuhalten. sondern vor allem sich selbst.
ten, das versuche ich bis heute. Ich habe SPIEGEL: Vielen jungen Frauen geht
einen Punk in mir. Gleichzeitig würde es so. Interview: Elisa von Hof

7
Bücher

Drachen und Sex,


das macht zwei Chilischoten
Literatur Rebecca Yarros ist eine der erfolgreichsten Autorinnen der
Gegenwart, auch dank TikTok. Dort sucht eine
junge Generation nach Eskapismus und pusht ein neues Kombi-Genre: Romantasy.
In diesem Text geht es um Gewalt, Bücher des gesamten Jahres, mittler­ erfolgreich. Im Mittelpunkt eines sol­
Krieg, Sex, derbe Sprache und ­fordernde weile blitzen die metallischen Cover chen Sturms an Aufmerksamkeit stand
Frauen. Leserinnen und Leser, die emp- der Drachenbücher einem aus den sie noch nie. »Wenn du Bücher
findlich sind, mögen dies bitte zur ­Regalen jeder Bahnhofsbuchhandlung schreibst, erzählen dir die Agenten und
Kenntnis nehmen und sich wappnen. entgegen. Und, der ultimative Super­ Verleger jedes Mal, dass dein nächstes
lativ eines gegenwärtigen Literatur­ Buch der Hit wird«, sagt sie. »Und

S o würde Rebecca Yarros wohl


einen Text über sich beginnen. In
ihren Büchern geht es äußerst brutal zu.
triumphs: Der Stoff wird bald als Ama­
zon-Serie verfilmt.
Yarros, 42, sitzt in einem übergro­
wenn es dann keiner wird, sagen sie,
das nächste wird aber bestimmt einer.
Und wenn das dann auch keiner wird,
Da werden Leute Klippen herunterge­ ßen asphaltgrauen Kapuzenpulli vor dann glaubst du ihnen nicht mehr.
stoßen und vergiftet und auf andere ihrer Laptopkamera, auf ihrem Kopf Dann schreibst du das beste Buch, das
barbarische Weise ermordet, Drachen du kannst, und bringst es raus. Dass mir
verbrennen Menschen, ohne mit dem so etwas wie jetzt passiert, habe ich also
ledrigen Auge zu zucken, beim Sex zer­
Seit »Fifty Shades of echt nicht mehr für möglich gehalten.«
legen die Studierenden ihre Zimmer, Grey« reicht es nicht Als sie erfuhr, dass »Fourth Wing«
sprengen versehentlich Fenster und set­ mehr, nach einem Kuss in den ersten Lagern ausverkauft war,
zen Vorhänge in Brand, ja, es geht non- der Protagonisten habe es sie umgehauen. Als sie hörte,
stop ums Überleben. Ihre Bücher kom­ dass das Buch binnen weniger Tage in
men nicht ohne Triggerwarnung aus.
höflich wegzublenden. den USA nicht mehr zu kriegen war,
Schon die zeigen, dass Romane wie habe sie einen Schock bekommen.
»Fourth Wing« und »Iron Flame« thront ein großer Donut aus pinkfarbe­ »Holy cow«, sagt Yarros jetzt noch und
eigentlich nichts für ein sensibles Pu­ nen Haaren. Sie wärmt ihre Hände an schüttelt ihren Kopf.
blikum sind. Merkwürdig, dass sie ge­ einer Tasse Kaffee, der einzigen, die ihr Dabei ist es gar nicht so überra­
rade in Zeiten wie diesen so populär Kardiologe ihr pro Tag erlaubt. So er­ schend, dass eine Pentalogie über eine
sind, oder? zählt sie das. Yarros ist chronisch krank. Drachenreiterakademie ein populärer
In sozialen Netzwerken zeigen sich Es ist früher Morgen bei ihr in Colo­ Erfolg wird. Schließlich stammen die
Frauen mit ziegelsteindicken goldenen rado Springs, dieser Stadt in der geografi­ kommerziell erfolgreichsten Buch­
Yarros-Büchern auf dem Schoß und er­ schen Mitte der USA, von ihrem Schreib­ reihen der vergangenen zwei Jahrzehnte
zählen haareraufend, dass sie nicht über tisch aus kann sie die schnee­bedeckten (»Harry Potter«, »Die Tribute von Pa­
diese Geschichte hinwegkommen. Vie­ Gipfel der Rocky Mountains bestaunen. nem«, »Das Lied von Eis und Feuer«)
le filmen sich, während sie die letzten Hätte sie dafür bloß Zeit. Aber die hat sie aus dem Fantasy-Genre. Überraschend
Seiten der beiden Bände lesen, die Au­ nicht. Yarros ist wieder in einer Schreib­ ist, dass bisher noch kaum jemand auf
gen werden immer größer, manche phase. Dabei seien schon die vergange­ die Idee kam, die Rebecca Yarros und
schnappen nach Luft, heulen, andere nen Monate wie ein »absoluter Wirbel­ ihre angesagten Kolleginnen, etwa Sa­
knallen sich die Bücher gegen den Kopf, wind« für ihr Leben gewesen. rah J. Maas und Marie Niehoff, nun hat­
so groß ist der Schock über den Cliff­ Yarros veröffentlicht seit etwa zehn ten – Fantasy mit einem der erfolg­
hanger am Ende. Jahren Romane, mal mehr, mal weniger reichsten Genres überhaupt zu paaren:
Mehr als eine Milliarde Klicks haben erfolgreich, manche auch kein bisschen Romance.
solche Videos bei TikTok. Das dürfte Wer auf TikTok nach Buchtipps
Yarros’ Erfolg gewaltig angekurbelt ha­ sucht, wird dort hauptsächlich auf Frau­
ben: Mit ihrer Drachenreiter-Saga ist en stoßen, die vor farblich sortierten
ihr der Buchhit des vergangenen Jahres Bücherregalen pastellfarbene Liebes­
geglückt. Mehr als zwei Millionen romane in die Kamera halten. Romance
­Exemplare wurden verkauft, »Fourth ist das Genre der Stunde oder wenigs­
Wing«, der Auftakt ihrer fünfteiligen Rebecca Yarros: tens das Genre von TikTok. Das kann
Reihe, stand viele Wochen auf der Best­ Fourth Wing. man eskapistisch finden, trivial und
sellerliste der »New York Times«, auch DTV; 768 Seiten; rückwärtsgewandt. Sicher reproduzie­
bei Amazon war es eines der begehrten 24 Euro. ren einige der derzeit populärsten Lie­
8 SP IEGEL B ESTSELLER | Frühj a hr 2 024
lerin Violet, Protagonistin und Dra-
chenreiterin in Ausbildung, hat so in-
tensiven Sex mit ihrem Antagonisten
Xaden Riorson, in den sie sich natürlich
verliebt, dass die beiden fast verbren-
nen. Also wortwörtlich, das ist keine
Metapher. »Blitze durchzucken mich,
ein so grelles Gleißen, dass ich die Au-
gen zukneifen muss. Hitze lodert über
mir auf, als gleich darauf ein Donner
kracht. Und ich rieche Rauch«, berich-
tet Violet.
»Sexszenen zu schreiben macht mir
nichts aus«, sagt Yarros. Die Gewaltsze-
nen machten ihr mehr zu schaffen. »Sex
ist eine natürliche Sache, Mord nicht.«
Auch das gehört dazu: Romantasy er-
zählt nicht nur Sex aus, sondern auch
Gewalt. Warum ist das nötig?
»Ich schreibe ja keine Pro-Kriegs-
Bücher, sondern Fantasyromane darü-
ber, wie Krieg dich fertigmacht«, sagt
Yarros. Fantasy sei ein ideales Genre für
gesellschaftskritische Kommentare.
Vielleicht wird deshalb auf Subtilität
verzichtet, warnen kann man bloß,
wenn man explizit wird. Und Krieg
kennt sowieso keine Subtilitäten. Yar-
ros erzählt in ihrer Drachenreitersaga,
wie ein totalitäres System die Macht
über sein Volk durch Propaganda, Ge-
schichtsklitterung, Lügen und die Ge-
hirnwäsche junger Menschen aufrecht-
erhalten kann.
Denn Navarre, so heißt Yarros’ fik-
tives Königreich, ist quasi dauerhaft im
Krieg. Im Basgiath War College lässt es
seine jungen Bürgerinnen und Bürger
in vier Disziplinen ausbilden und nach
einem brutalen Leistungsprinzip knech-
ten. Violet landet bei den Drachenrei-
Schriftstellerin Yarros: Frauen für Fantasy begeistern tern, die ihr Schicksal, wenn eines der
grausamen Tiere sie als ebenbürtig er-
besgeschichten (etwa die von Colleen Sie erzählen in expliziten Sexszenen wählt, an die Drachen binden. »Aber
Hoover) auch so manches Genderkli- von sexpositiven Frauenfiguren. Seit die erste Regel hier am Basgiath lautet:
schee, frei von Kitsch sind die Bücher »Fifty Shades of Grey« reicht es nicht Stelle nie einen Drachen infrage. Sie
sowieso nicht. Und dennoch: Die Sehn- mehr, nach einem Kuss der Protagonis- neigen dazu, diejenigen einzuäschern,
sucht nach romantischer Identifikation ten höflich wegzublenden. Heute, wo die sie für unverschämt halten«, erzählt
ist eine Marktmacht geworden, die über Sex ohnehin offener gesprochen Violet. Schon die ersten Stunden ihrer
Bestseller hervorbringt. Klug, sie auch wird, wird Geschlechtsverkehr als Ausbildung überleben nicht alle Kadet-
in der Fantasy-Literatur zu nutzen. ­essenzieller Bestandteil der Liebes­ ten – auch weil sie sich untereinander
Geht es in den Romanen nicht nur geschichte miterzählt. Wenn ein Roman meucheln.
um Magie, brutale Schlachten und spicy ist, so nennt man das auf TikTok Yarros kennt sich mit Krieg aus.
Krieg, sondern auch um Liebe, vergrö- und meint damit, wie viel auserzählter Eigentlich ist Krieg sogar der Grund,
ßert das die Zielgruppe ungemein. Das Sex darin vorkommt, wird das Buch mit warum sie mit dem Schreiben anfing.
soll nicht despektierlich klingen, aber: kleinen Chilischoten gerankt. Bekommt Ihre Eltern arbeiteten beide beim
Auch Frauen greifen dann zu. eines drei Schoten, dann geht es darin US-Militär. In ihrer Kindheit zog die
Yarros und ihre Kolleginnen schrei- richtig zur Sache. Bei Yarros könnte Familie mehrmals um, eine Zeit lang
ben allerdings nicht bloß über Liebe. man wohl zwei vergeben: Die Icherzäh- waren sie auch in Deutschland statio-
Foto: Joanna Kulesza / The New York Times / Redux / laif 9
Bücher

muss. Vielleicht weil eine Mutter sonst


gar nicht arbeiten kann.
Yarros hat einen effizienten Arbeits-
prozess, der ungefähr so aussieht: Jedes
Buch ist in mehrere Entstehungsphasen
eingeteilt. Szenen losfantasieren, asso-
ziieren, Musik-Playlisten zum Tagträu-
men erstellen. Dann schreibt sie die Sze-
nen auf Indexkarten, die sie auf ihrer
Tischplatte so oft hin und her schiebt,
bis sich eine Geschichte herausschält.
»Und dann arbeite ich mit Post-its«, er-
zählt sie und hält grüne, pinke, blaue,
orangefarbene Zettelchen in die Laptop-
kamera. Auf pinke Zettelchen werden
Liebesszenen notiert, auf grüne kom-
men Actionszenen, orange steht für
»Easter eggs«, kleine Hinweise auf sich
anbahnende Plottwists, die sie für kun-
dige Leserinnen platziert wie Ostereier.
Auf einer riesigen Wandtafel, die sie
Plotboard nennt, klebe sie schließlich
die ganze Struktur auf und trete dann
einen Schritt zurück. Mit Abstand kön-
Signierende Autorin Yarros: Sehnsucht als Marktmacht, die Bestseller hervorbringt ne sie die großen, bunten Handlungs-
bögen erkennen und sehen, ob die
niert. Aber es war die Zeit des Kalten mich war, mitansehen zu müssen, wie ­Farben überall gleichmäßig verteilt
Krieges, Gewalt schien eher ein sich jeder Kriegseinsatz auf unsere Fa- sind. Ist sie zufrieden, steht der Plot.
­abstraktes Risiko. Im College verliebte milie auswirkte, wie sehr die psychi- Und damit die Geschichte.
sich Yarros schließlich in einen Offizier sche Gesundheit meines Ehemanns Natürlich könnte man ketzerisch
der Luftwaffe. Als er nach 9/11 eingezo- darunter litt.« einwenden, dass so keine Kunst ent-
gen wurde, änderte sich für Yarros so Heute kümmert er sich um die­ steht. Hätte Thomas Mann sich an ein
ziemlich alles. jenigen der sechs Kinder, die noch bei Plotboard gestellt? Wahrscheinlich
Während sie zu Hause allein mit den ­ihnen zu Hause leben. Yarros und ihr nicht. Aber Thomas Mann hat auch
Kindern blieb, wurde ihr Mann im Ein- Mann haben die Rollen getauscht. So nicht Millionen junger Frauen unterhal-
satz verwundet. Er überlebte, wurde wie jetzt, während ihrer Schreibphase. ten. Und das gelingt Yarros mit ihren
dann wieder eingezogen. »Aber ich Yarros hat ADHS. Weil sie sich da- Drachenreitern eben schon.
konnte nicht mehr schlafen«, sagt sie. heim nicht gut konzentrieren kann, hat Übrigens auch weil sie sich eine
Jede Nacht lag sie aus Angst wach, den sie sich für den Abschluss ihres aktuel- ­Protagonistin ausgedacht hat, die es in
Laptop auf dem Kopfkissen neben sich, len Buches in ein Hotelzimmer einge- der Fantasy-Literatur selten gibt: eine
für den Fall, dass sich ihr Partner vom bucht, 15 Minuten von ihrem Zuhause chronisch kranke, kleine, zierliche
Einsatz meldete. Um sich abzulenken, entfernt. Hinter Yarros sind kahle wei- Kämpferin. Violet leidet unter der glei-
las sie. Und dann begann sie, selbst eine ße Wände und eine Küchenzeile mit chen Krankheit wie Yarros selbst, dem
Geschichte in den Laptop zu tippen. Fliesenspiegel zu erkennen. Hier Ehlers-Danlos-Syndrom, einer geneti-
Jede Nacht eine Seite. »Und als mein scheint es wirklich nicht viele Ablen- schen Bindegewebserkrankung. Yarros
Mann zurückkam, war mein erster Ro- kungen zu geben. Sie schreibe jeden kann nicht lange stehen, von langem
man fertig«, sagt sie. Er wurde ein Flop. Tag etwa 14, 15 Stunden lang, erzählt Reden bekommt sie Migräne. Violet
Aber Yarros machte weiter. sie. Ernsthaft? Sie nickt. So mache sie kann sich kaum im Drachensattel hal-
Inzwischen ist ihr Mann aus der Air das etwa zehn Tage lang, Hyperfokus ten. Keine gute Voraussetzung in einer
Force ausgeschieden, aber der Krieg ist nennt sie das. »Ich lebe in dieser Buch- Umgebung, in der nur die Stärksten
noch immer Teil ihrer Familie. Der Ex- welt. Und wenn ich den Roman fertig überleben. Yarros tappt aber nicht in
Soldat leidet unter einer posttraumati- geschrieben habe, verlasse ich sie wie- die Falle, Violet nur durch ihre Krank-
schen Belastungsstörung. Vielleicht ist der und gehe nach Hause.« heit zu charakterisieren. Sie ist bloß ein
auch das ein Grund für die Gewalt in Aber dann wartet schon das nächste Merkmal von vielen. »Ich hoffe, dass
den Büchern und die Triggerwarnun- Buchprojekt. Yarros ist eine Akkord- sich Frauen durch Violet repräsentiert
gen davor: Yarros weiß ganz genau, schreiberin. Früher verfasste sie in fühlen und dass ich sie so für Fantasy
was E ­ rzählungen über Gewalt auslö- einem Jahr drei, vier Bücher. Wie stellt begeistern kann«, sagt Yarros.
sen ­können. Und warum man sie trotz- sie das an? Yarros ist gut organisiert.
dem braucht. »Die härteste Sache für Vielleicht weil man das mit ADHS sein Elisa von Hof

10 SP IEGEL B ESTSELLER | Frühj a hr 2 024


Das seltsame Sachbuch

Auf eine (wirklich) letzte Zigarette knüpfungen, erklärt, dass Rauchen nicht
wirklich entspanne, nicht gesellig sei,
Allen Carr: Endlich Nichtraucher nicht gegen Langeweile helfe, und das ist
natürlich alles wenig spektakulär, freilich
aber durchaus plausibel.

I ch bin zu faul zum Rauchen, das ist


natürlich eine glückliche Fügung. Ich
habe es in jüngeren Jahren ein Weil­
hätte: »Rauchen ist ungesund, über­flüssig
und wirklich nicht schlau. Bitte aufhören.
Herzliche Grüße!«. So in etwa.
Zwischendurch versteigt sich der Autor
zu etwas wil­deren Theorien, etwa der
­Behauptung, man müsse gar nicht
chen halbherzig probiert, meist in Spe­ Aber vielleicht ging es bei den redun­ ­rauchen, um Stress abzubauen, weil das
lunkenzusammenhängen, und fand den danten Nikotinschmähungen, die mir ­Erwachsenenleben ja in Wirklichkeit viel
Aufwand für das bisschen räudigen Ge­ schon beim Durchblättern des Buches weniger stressig sei als Kindheit und
schmack im Mund übertrieben. Das ist auffielen, ja weniger um den eigent­ ­Pubertät. Das wüsste ich aber, denke
nun natürlich ein günstiger Ausgangs­ lichen Inhalt, sondern mehr um die Pe­ ich aufsässig unter meinen Kopfhörern
punkt für mich, denn ich bin mir nicht netranz seiner Vermittlung, und darum und vergleiche zur Sicherheit kurz
ganz sicher, ob ich diese unerquickliche ließ ich mir »Endlich Nichtraucher!« ­Besuche im Damwild-Streichelgehege
Angewohnheit nach der Lektüre von für die volle Brainwash-Erfahrung direkt und beim ersten Popkonzert (Münchner
Allen Carrs Dauerbestseller »Endlich als Hörbuch ins Gehirn einspeisen. Freiheit) mit de­mütigender Wohnungs­
Nichtraucher! Der einfache Weg, mit »Brainwash« ist hier übrigens nicht suche und blanker Existenzangst:
dem Rauchen Schluss zu machen« wirk­ ­despektierlich gemeint, der Autor selbst ­Erwachsensein gleich Hölle in Tüten,
lich ablegen könnte. nennt seine Überzeugungstaktik so: völlig klar.
1992 erschien die deutsche Ausgabe eine positive Gegenprogrammierung zur Ob die in der Hörbuchfassung fast
­dieses Entwöhnungswerks, verfasst von eingehämmerten PR, die Rauchen als sechsstündige Belämmerung am Ende
einem ehemaligen Wirtschaftsprüfer, lässig, lonesome-wolfig, souverän und wirklich zum leichtherzigen Zigaretten­
der zuvor selbst nach eigener Aussage 33 was sonst noch alles brandet. Man solle verzicht führt? Keine Ahnung. Bei mir
Jahre lang Kettenraucher war und an un­ auch ruhig weiterrauchen, solange man stelle ich eine Art Trotzreaktion fest,
glücklichen Tagen bis zu 100 Kippen ver­ mit der Lektüre noch nicht fertig sei, die mich in Versuchung führt, mit dem
quarzte. Ich selbst kenne zwei Menschen, empfiehlt der Autor, weil die 269 Seiten ­Rauchen anzufangen, um posthum über
die nach der Lektüre zumindest für ein erst weggeknuspert werden müssen, da­ Alan Carr (der mit 72 an Lungenkrebs
paar Jahre das Rauchen aufge­geben ha­ mit die kehrversartige Wiederholung, starb) zu triumphieren. Darum: Nicht­
ben, was mich überraschte, da mir Carrs Rauchen sei eine »schmutzige, ekelhafte raucher, Finger weg von diesem Buch!
Methodik nach flüchtigem Querlesen Gewohnheit«, ihre voll­umfängliche
reichlich simpel erschien und aus meiner ­Wirkung entfaltet. Anja Rützel ist süchtig nach den sensationell
Sicht als Nichtbetroffene auch in Präge­ Unterwegs zur Umprogrammierung zer­ gummiartigen Laugenbrezeln aus ihrem
druck auf ein wertiges Kärtchen gepasst legt Carr alle irrationalen positiven Ver­ ­Nachbarschaftssupermarkt.
Foto: Nina Westervelt / The New York Times / Redux / laif; Illustration: Rahel Suesskind / DER SPIEGEL 11
Neue Bücher ROMAN

Weibliche Apokalypse
Lucía Lijtmaer: Die Häutungen.
Aus dem Spanischen von Kirsten Brandt.
Suhrkamp; 219 Seiten; 25 Euro.

w Zwei gefährliche Frauen, zwischen


ihnen liegen 400 Jahre. Lucía Lijt­
maer hat mit »Die Häutungen« einen
Roman geschrieben, der unzufrieden
und stur Geschichten von weiblichem
Widerstand erzählt. Eine Frau im
Sommer 2014 in Spanien, die Sonne
brennt. Der Weltuntergang kommt,
sie ist sich sicher. »… ich kann neuer-
dings an nichts anderes mehr denken
als an ein Meer von Blut. An Geysire
aus dunkelroter Flüssigkeit, deren
Tropfen mich von Kopf bis Fuß be-
sprenkeln, gewaltige schwarze Lagu-
nen aus Blut, in die ich eintauche,
während um mich herum der Alltag
weitergeht.« In einem anderen Jahr-
Autorin Suffrin hundert liegt Deborah Moody unter
der Erde, offenbar tot, und denkt über
ihr Leben nach. In sich abwechseln-
FA M I L I E N G E S C H I C H T E Dana von Suffrin spielt nicht in den Kapiteln verlaufen ihre Leben
Großartiger Hilferuf Berlin, sondern in München, was schon ­parallel. Nach dem Ende einer Bezie-
mal ein riesiger Pluspunkt ist. Zweitens hung, in der ihre Bedürfnisse keine
Dana von Suffrin: Nochmal von vorne. geht es um eine jüdische Familienge- Rolle spielten, findet die spanische
Kiepenheuer & Witsch; 235 Seiten; 23 Euro. schichte, um einen Vater, der stirbt, und Frau zurück zu sich selbst und zur Ra-
eine Tochter, die nicht weiß, wer sie ist, che. Nach dem Tod ihres Mannes ver-
w Bei all den Büchern, die man als Lite- und dann noch um eine Schwester, die lässt Deborah England und wehrt sich
raturkritiker liest, schlechte, mittelgute, zwar weiß, wer sie ist, von der aber in einer nordamerikanischen Kolonie
ein sehr gutes, dann wieder schlechte, ­niemand anderer weiß, wer sie ist. Die gegen die Regeln der Männer. Mit
muss man aufpassen, nicht abzustump- Vertreibungs- und Vernichtungsge- kleinen Beobachtungen und treffen-
fen und voreilig ein Buch zur Seite zu schichte der Familie Jeruscher dräut im den Beschreibungen blickt Lijtmaer
legen, weil einem die Form so abge- Hintergrund, während vorn die Tochter durch ihre Figuren voller Ekel und
schmackt vorkommt. Weil man viel- versucht, ihren Vater zu beerdigen. Wut auf die Welt. Ihre Figuren sind so
leicht auch vergessen hat über die Jah- Suffrin schafft etwas Außergewöhn­ eigenwillig, fast schon garstig, dass
re, dass Form und Inhalt immer zusam- liches: dass nämlich diese Geschichte sich die nächste Seite nie vorausahnen
mengehen, ja, dass das eigentlich erst langsam, fast träge daherkommt und lässt. Die Geschichten der gefährli-
literarisches Schreiben ausmacht. Man zugleich von einer unheimlichen Dring- chen Frauen klingen wie ein Verspre-
muss sich das immer wieder sagen, lichkeit durchzogen ist. Träge, weil die chen – die Apokalypse kommt, und
FORM und INHALT, Form UND Inhalt, Familiengeschichte mit ihrem Gewicht sie ist weiblich. Lijtmaers Frauen sind
warum schreibt jemand so, wie er alles nach unten zu ziehen droht, aber Naturgewalten. Anna Dreussi
schreibt, und was hat das mit der Ge- dringlich, weil die Vergangenheit stän-
schichte zu tun? Wenn man das nicht dig dreist in die Gegenwart vorstößt,
macht, dann denkt man beim Lesen und die Tochter wehrt sich dagegen,
von »Nochmal von vorne« nämlich: immer wieder und wieder, mit einem
bitte nicht schon wieder, so ein prä- »und« und noch einem »und« und noch
potenter popliterarischer Berlin-Ro- einem. Die Tochter kommt kaum zum
man-Stil, parataktisch aneinandergeta- Atmen, und je länger man liest, desto
ckerte Satzglieder, zusammengehalten mehr versteht man, dass jedes »und«
von einem seelenlosen »und«. Und ein Hilferuf ist. Dana von Suffrin
dann und dann und dann. Aber erstens: haucht dem »und« eine Seele ein.
Dieser wirklich sehr gute Roman von Großartig. Xaver von Cranach Literatin Lijtmaer

12 SP IEGEL B ESTSELLER | Frühj a hr 2 024


S AC H B U C H
Der Philosophenretter
Uwe Wittstock: Marseille 1940 – die große
Flucht der Literatur.
C. H. Beck; 351 Seiten; 26 Euro.

Die Geschichte des Amerikaners


­Varian Fry, der 1940 nach Marseille
kommt, um verfolgte Künstlerinnen
und Künstler zu retten, ist so groß
Schriftstellerin Tägder wie ungerecht. Auch die Netflix-Serie
KRIMI »Transatlantik« hatte sie schon zum
Alles in Bewegung Thema. Fry war ein Held. Er reiste im
Auftrag des privaten Emergency Rescue
Susanne Tägder: Das Schweigen des Wassers. Commitee ins besetzte Frankreich in
Tropen; 336 Seiten; 17 Euro. der Hoffnung, so viele Künstler und
Intellektuelle wie möglich, die vor den
w Ein neuer Polizist ist in der Stadt. Nazis auf der Flucht waren, mit Visa
Und eine Leiche liegt am Ufer eines für die USA auszustatten. Das gelang
Sees im Wasser. »Das Schweigen des ihm, rund 2000 Menschen half er zu
Wassers«, der Debütroman von Su- entkommen; darunter Hannah Arendt,
sanne Tägder, beginnt wie ein klassi- Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger
scher Krimi. Das Besondere sind Zeit und Franz Werfel. Davon erzählt das
und Ort. Das Buch spielt Anfang der mitreißende »Marseille 1940« des Lite-
Neunziger in einer kleinen Stadt in raturkritikers und Autors Uwe Witt-
Mecklenburg-Vorpommern. Die Mau- stock. Tag für Tag, Woche für Woche
er ist zwar schon gefallen, in der ost- tastet sich Wittstock durch die Bio­
deutschen Provinz ist die DDR aber grafien all der Künstler auf der Flucht.
noch nicht so richtig weg und die BRD Manchmal ist das lustig, wie im Falle
noch nicht so richtig da. Eigentlich ist Werfels, der mit seiner Frau Alma und
Groth, der neue Polizist, als westlicher einem riesigen Haufen Koffer unter-
Aufbauhelfer in den Osten geschickt wegs ist – die tatsächlich verloren ge-
worden, und der Tote im Wasser, so hen und wieder auftauchen! Die bei-
viel wird rasch klar, hat etwas mit den sind ein Paar, das gar nicht richtig
einem Mord aus der DDR-Zeit zu tun, zu spüren scheint, dass die Zeit seines
der nie aufgeklärt wurde und auch im Großbürgerlebens vorbei ist. Manch-
neuen System weiter vertuscht wer- mal ist es traurig, wie bei Walter Benja-
den soll. Soll Grothe, der Mann aus min, der zwar scheinbar gerettet wer-
dem Westen, einfach dem Gefühl fol- den kann und es an die französisch-
gen, dass hier etwas nicht stimmt? spanische Grenze schafft, sich aber
Tägders Geschichte – die von einem umbringt, als es dort zu Problemen
echten Fall inspiriert ist – erzählt von kommt. Es ist aber auch eine Geschich-
den tiefen Verbindungen zwischen te voller Ungerechtigkeit – weil sie in
der neuen und der alten Zeit. Alle großen Teilen gut ausgeht. Warum
Personen sind auf ihre Art Versehrte, ­waren die Künstler und Intellektuellen
niemand hat die DDR ohne Beschädi- wertvoller als all die anderen? Nie-
gung hinter sich gelassen, und keinem mand wusste das besser als Fry selbst,
hilft die Bundesrepublik wirklich auf der den Rest seines Lebens darunter
die Beine. Mit einem genauen Blick leiden sollte, nicht noch mehr Men-
für die Figuren, einer wunderbar lako- schen gerettet zu haben. Flüchtlinge,
nischen Sprache, beschreibt Tägder daran hat sich seitdem nichts geändert,
auf der einen Seite eine Welt, in der brauchen Helferinnen und Helfer. Sie
noch nichts sicher und alles in Bewe- sind Menschen, angstbesetzte Gestal-
gung ist. Und in der sich auf der ande- ten und ein Verwaltungsproblem. Und
ren Seite nichts ändert: Die Verlierer sie bringen ihre Geschichten mit – die
sind die Verlierer, und die Gewinner Geschichten derer, denen die Flucht
bleiben weiter oben. Tobias Rapp nicht gelingt, gehen unter. Tobias Rapp

Fotos: Tara Wolff / Kiepenheuer & Witsch, Dani Blanco / ARGIA Fototeka / Suhrkamp, Maximilian Gödecke / Klett-Cotta
Bücher

Können Sie sich diesen Mann


mit Sturmhaube vorstellen?
Sachbuch Früher war alles besser, heißt es oft. Der Historiker
Valentin Groebner geht auf Zeitreise in die Achtzigerjahre,
in denen er als Autonomer für eine andere Bundesrepublik kämpfte.

V ielleicht muss man sich das histo-


rische Gedächtnis vorstellen wie
das Programm im Formatradio. Ge-
schen Brexit-Votum, am Erfolg der AfD
und Donald Trumps.
Der Historiker Valentin Groebner,
Heute hingegen, da sind die Aus-
sichten wirklich düster, oder?
Groebner widerspricht nicht direkt,
spielt wird das Beste der Siebziger-, 62, stellt in seinem neuen Buch nun aber er betont, dass er keiner Befürch-
Achtziger- und Neunzigerjahre. die provokante These in den Raum, tungsgemeinschaft angehören will.
Wer hat im Auto noch nie die Laut- dass es auch eine akademische Varian- Zum einen, weil er als Historiker weiß,
stärke hochgedreht und gedacht, dass te der Nostalgie gibt. Sie kursiert in dass »der unmittelbar bevorstehende
Musik früher einfach besser war? Mit Universitäten und auch in den Me- Untergang der Welt« nun auch schon
der sozialen und politischen Lage ist das dien. Denn die Verluste zu beklagen, seit gut zweieinhalb Jahrtausenden an-
nicht anders. Das Gedächtnis erzeugt neue Risiken zu beschwören: Das ist gekündigt wird. Zum anderen, weil es
heimelig-vertraute Vergangenheiten. eine Erzählung mit Bestsellergarantie, eine Zeit gab, in der er selbst mal eine
Heute sind die Finanzen, die Ener- Art Apokalyptiker war, die Achtziger-
gie, das Klima in der Krise, auch die jahre.
Demokratie, das westliche Staaten-
Er wühlt tief in seiner Heute lehrt Groebner als Professor
bündnis, vielleicht die westliche Mo- eigenen ­Vergangenheit, für Geschichte des Mittelalters und der
derne insgesamt. Apocalypse now. holt Erlebnisse Renaissance in Luzern. In essayis­
Und so erwarten viele Menschen hervor, die ihm in tischen Sachbüchern hat er den histo­
von der Zukunft kein besseres Leben rischen Motiven viel diskutierter
mehr, keine Gewinne, sondern Verlus-
der Rückschau Gegenwartsphänomene nachgespürt:
te. Diese Menschen träten den Rückzug ­»peinlich« erscheinen. Overtourism (»Ferienmüde«), Selfies
in die Vergangenheit an, hat der Sozio- (»Ich-Plakate«), der Sehnsucht nach
loge und Philosoph Zygmunt Bauman ein zeitdia­gnostischer Blockbuster, der dem Authentischen (»Retroland«). In
in seinem letzten zu Lebzeiten voll- laut Groeb­ner eine »Befürchtungs­ seinem neuen Buch »Gefühlskino«
endeten Buch geschrieben. Sie suchten gemeinschaft« erzeugt, ein »Geborgen­ unternimmt er eine Zeitreise in die
ihr Glück nicht in einem »Utopia«, son- sein in der großen Bedrohung zusam- gute alte Bundesrepublik, jene ach so
dern in einem »Retrotopia«: einem men mit anderen«. Innere Sicherheit beschauliche Vergangenheit also, in
verlässlichen, traditionsseligen Ort im durch äußere Unsicherheit. die sich viele Menschen zurückseh-
Gestern. Baumann sprach von einem Nostalgisch nennen die Zeitdiagnos- nen, weil sie sicherer und stabiler ge-
Zeitalter der Nostalgie. Es klang wie tiker ihre Zeitdiagnosen natürlich wesen sei, übersichtlicher in jedem
eine Krankheitsdiagnose. nicht. »Nostalgisch sind immer die an- Fall, zukunftsgewisser auch.
Und tatsächlich hat den Begriff deren«, stichelt Groebner und erinnert »Von wegen«, schreibt Groebner.
­Nostalgie mal ein Mediziner erfunden. genüsslich an die »neue Unübersicht- Die Achtzigerjahre, das war ja die
Er bezeichnete damit pathologisches lichkeit«, die Jürgen Habermas 1985 Dekade der Angst, der Hiobsbotschaf-
Heimweh, eine ernst zu nehmende ausrief. »Die Zukunft ist negativ be- ten, die erste schon 1979: der Nato-
Krankheit, die seiner Meinung nach setzt«, befand der Frankfurter Sozial- Doppelbeschluss, eine neue Etappe im
sogar zum Tod führen konnte. 1688 philosoph. Im Rückblick betrachtet, atomaren Wettrüsten. »Euroschima,
war das. Heute hingegen sehnt sich ein ging es in den folgenden Jahren dann mon futur« hieß ein Essay dazu im
Nostalgiker nicht mehr nach Hause, erst mal recht positiv weiter. SPIEGEL . In den Jahren danach folg-
sondern nach früher. Sein Schmerz ist ten die neue Krankheit Aids, das Wald­
eher ein sanfter, er schwelgt in Erinne- sterben, der Atomunfall in Tscher­
rungen, in Sentimentalitäten. nobyl.
In der Popkultur ist die Nostalgie Groebner schreibt über die Angst
immer wieder Trend, so paradox das Valentin Groebner: und auch über die Angstlust, die die
sein mag. Politisch aber steht sie in Gefühlskino. Die gute Protestbewegungen jener Jahre domi-
­keinem guten Ruf. Sie sei fortschritts- alte Zeit aus niert habe. Düstere Prophezeiungen
feindlich, heißt es, Ausdruck einer be- sicherer Entfernung. über Atomkrieg und Umweltkollaps,
quemen Geisteshaltung, keiner intel- S. Fischer; 192 Seiten; die zur Selbstermächtigung berechtig-
lektuellen. Sie trage Schuld am briti- 24 Euro. ten und auch zur Gewalt – kein Mitleid
14 SP IEGEL B ESTSELLER | Frühj a hr 2 024
und mittelalterlichen Piraten. »Sie fühl-
ten sich als Nachfolger und Wiedergän-
ger der besiegten Rebellen von früher.«
Sie fühlten sich progressiv – und waren
zugleich nostalgisch.
Groebner wühlt tief in seiner eige-
nen Vergangenheit, holt Erlebnisse her-
vor, die ihm in der Rückschau »pein-
lich« erscheinen und »ziemlich bescheu-
ert«. Aber eben daran erkenne man die
Vergangenheit, schreibt er: »Sie ist
fremd und etwas bizarr.« Zeitweise hör-
te er baskische Punkbands, von deren
Texten er zwar kein Wort verstand.
»Dafür waren die in puncto politischer
Glaubwürdigkeit unschlagbar.«
Selbstmitleid habe die Szene ge-
kennzeichnet, auch Selbstviktimisie-
rung, gleichzeitig ein Überlegenheits-
bewusstsein, ein Vergnügen an der
Schuld der anderen, wie es auch heute
politische Debatten prägt. »Wer sich als
Opfer fühlt, behält auf immer recht.«
Groebners Text ist ein Essay im bes-
ten Sinne, ein Versuch, eine tastende
Denkbewegung, die ihn mal hierhin
und mal dorthin führt, manchmal in die
Irre, manchmal mitten ins Schwarze.
Alltagsbeobachtungen treffen auf wis-
senschaftliche Expertise, private Er­
innerungen auf offizielle Geschichts-
schreibung. Herunterbrechen auf eine
einzige These, auf eine Moral von der
Geschichte, lässt sich das Buch kaum.
Aber wer es liest, wird belohnt mit hel-
len Gedanken und leuchtenden Sätzen.
Am Ende zeigt sich mal wieder, dass
die Vergangenheit und die Geschichte
nicht identisch sind, auch wenn die bei-
den Begriffe oft synonym verwendet
werden. Die Vergangenheit ist das, was
einmal war. Die Geschichte das, was
Geschichtswissenschaftler Groebner: »Nostalgisch sind immer die anderen« davon übrig geblieben ist in den Köp-
fen: der Reim, den sich die Gegenwart
für die Mehrheit. Damals gehörte sei als um Bindung. »Sie kämpften für aufs Gestern gemacht hat.
Groe­bner der militanten linken Sub- ihre dauernde Unterwerfung unter eine Geschichte als Erzählung der Ver-
kultur an, ein Autonomer in schwarzer unlösbare große Aufgabe.« gangenheit hat Anfang und Ende, eine
Lederjacke und Sturmhaube, ein »ra- »Anti-neugierig« nennt Groebner Dramaturgie. Denn erzählen heißt: al-
dikaler Kämpfer«, wie er schreibt, der diese Gefühlsgemeinschaft, eine Laien- les weglassen, was den Blick stört. Das
in Gorleben demonstrierte, in Wa- spielgruppe, die Endzeitfilme nachstell- Chaos beseitigen.
ckersdorf und auch an der geplanten te – und einen großen Appetit auf Ge- Wer nostalgisch ist, sehnt sich also
Startbahn West des Frankfurter Flug- schichte hatte. Letztlich hätten alle in aller Regel gar nicht zurück in die
hafens. »Wir fühlten uns wirklich be- Alternativbewegungen der Achtziger- Vergangenheit, sondern in die Ge-
droht.« Und dieses Gefühl war Argu- jahre die Zukunft als optimierte Ver- schichte. Sie kommt einem allein des-
ment genug. sion der Vergangenheit gedacht, erklärt halb so übersichtlich vor, so heimelig
Groebner beschreibt sich und die Groebner. Deshalb die Identifikation und vertraut, weil man weiß, wie sie
anderen Autonomen als Mitglieder mit Gruppen wie den Situationisten, ausgegangen ist.
einer Gefühlsgemeinschaft, denen es mit den anarchistischen Widerstands-
letztlich weniger um Freiheit gegangen kämpfern gegen Franco, mit Indianern Tobias Becker

Foto: Franca Pedrazzetti / S. Fischer 15


Bestseller Belletristik (Hardcover)
1 Sarah J. Maas: 11 Barbara Kingsolver: Demon Copperhead
Crescent City — Wenn die Schatten sich erheben DTV Verlagsgesellschaft; 26 Euro
DTV Verlagsgesellschaft; 26 Euro Für diese Neuinterpretation der David-Copperfield-­
Es geht also direkt los mit einer Fantasy-Fortsetzungs­ Geschichte gewann die Autorin den Pulitzerpreis.
reihe. In diesem Fall: Band 3 der Crescent-City-­
Geschichte. Eine Welt steht am Abgrund. Na dann! 12 Iris Wolff: Lichtungen
Klett-Cotta Verlag; 24 Euro
2 Anna Benning: Eine Freundschaft, die vor Herausforderungen steht; die
Dark Sigils — Wen das Schicksal betrügt Zeitgeschichte Südosteuropas, in einen Roman verpackt.
Fischer KJB; 20 Euro Iris Wolff erzählt diese Geschichte von hinten nach vorn.
Überraschung: Es handelt sich um Band 3 einer Fantasy-
Trilogie. Es droht der Untergang einer Welt. Aber 13 Bonnie Garmus: Eine Frage der Chemie
Achtung, der Farbschnitt der Erstausgabe ist limitiert. Piper Verlag; 26 Euro
Könnte man die chemische Formel hinter diesem
3 Carissa Broadbent: The Serpent and the Wings of ­Dauerbestseller entschlüsseln, man hätte für den Rest
Night (Crowns of Nyaxia 1) seines Lebens ausgesorgt.
Carlsen Verlag GmbH; 18 Euro
Zur Abwechslung eine Fantasy-Trilogie. Die adoptierte 14 Bernhard Schlink: Das späte Leben
Tochter eines Vampirkönigs muss sich in einer gefährlichen Diogenes Verlag; 26 Euro
Welt behaupten. Wir wünschen ihr viel Glück. Ein alter Mann wird krank und wird bald sterben.
­Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Aber es ist dann
4 Gabriel García Márquez: Wir sehen uns im August doch jedes Mal eine Tragödie.
Kiepenheuer & Witsch; 23 Euro
Wenig magischer Realismus, dafür viel Altherrenerotik: ein 15 Haruki Murakami:
Roman aus dem Nachlass des Nobelpreisträgers. Die Stadt und ihre ungewisse Mauer
DuMont Buchverlag; 34 Euro
5 Ingrid Noll: Gruß aus der Küche Neues vom Meister des modernen Märchens.
Diogenes Verlag; 26 Euro Es geht um eine junge Liebe. Und, wir sind bei Murakami,
Im vegetarischen Restaurant »Aubergine« geht es nicht um eine Parallelwelt.
nur nett zu. Und ist der Gemüsemann überhaupt taub?
Neues von Deutschlands bekanntester Krimiautorin. 16 Stephan Schäfer: 25 letzte Sommer
park x ullstein; 22 Euro
6 Alex Capus: Das kleine Haus am Sonnenhang Soll man sein Leben im Büro oder doch lieber auf
Carl Hanser Verlag; 22 Euro dem Kartoffelacker verbringen?
»Es sind die neunziger Jahre in Italien«, wenn so eine Dieses Buch stellt die richtigen Fragen.
Inhaltsangabe beginnt, was soll dann noch schiefgehen?
17 Rebecca F. Kuang: Yellowface
7 John Grisham: Die Entführung Eichborn Verlag; 24 Euro
Heyne Verlag; 24 Euro Eigentlich unmöglich: spannend über das zu schreiben,
Dieser Titel in gewohnter Zwei-Wort-Manier ist die was man gemeinhin Identitätspolitik nennt.
Fortsetzung des Klassikers »Die Firma«, das war jener Rebecca F. Kuang kann es doch. Finden auch unsere
Grisham-Roman, der mit Tom Cruise verfilmt wurde. Kolumnisten hinten im Heft.

8 Elizabeth Strout: Am Meer 18 Rebecca Yarros: Iron Flame – Flammengeküsst


Luchterhand Literaturverlag; 24 Euro DTV Verlagsgesellschaft; 32 Euro
Der vierte Band über Lucy Barton, die während des Endlich wieder Fantasy! Ach was, sogar Romantasy. Mit
Lockdowns nach Maine in ein Haus am Meer flüchtet. Drachen. Blättern Sie mal zurück.
Natürlich mit ihrem Ex-Mann. Kann nichts schiefgehen.
19 Ursula Poznanski: Die Burg
9 Sebastian Fitzek: Die Einladung Knaur HC; 24 Euro
Droemer HC; 24 Euro Was passiert, wenn man einen Escape-Room
Es gibt nur eines, was schlimmer ausgeht als ein von einer KI steuern lässt? Bestimmt nichts Schlimmes.
­normales Klassentreffen. Ein Klassentreffen bei Fitzek.
20 Karsten Dusse:
10 Jörg Hartmann: Der Lärm des Lebens Achtsam morden durch bewusste Ernährung
Rowohlt Berlin; 24 Euro Heyne Verlag; 24 Euro
Eine Liebeserklärung an den Ruhrpott – wenn man das Dieses Buch könnte die beste Ausrede liefern,
überhaupt lesen will, dann doch bitte vom doch nicht so sehr auf seine Ernährung zu achten,
»Tatort«-Kommissar Hartmann im speckigen Parka. wie alle immer sagen.

16 SP IEGEL B ESTSELLER | Frühj a hr 2 024


Auf Platz 4: Gabriel García Márquez starb 2014, er gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller seiner Generation, wurde
in seiner Heimat Kolumbien als Nationalheld gefeiert und erhielt den Nobelpreis. Jetzt also ein Buch aus dem Nachlass.
»Wir sehen uns im August«, ein kurzer, unvollendeter Roman, der einen kleinen Haken hat: Márquez, der zum Schluss schwer
dement war, wollte, dass er auf gar keinen Fall veröffentlicht wird. Ob das Werk dem Nachruhm des magischen Realisten (davon
gibt es hier wenig) und Erotikers (davon gibt es sehr viel) Márquez förderlich sein wird? Hier werden Männerkörper »mit Leib
und Seele bestiegen« und Frauen »ohne Eile zum Siedepunkt« geführt. Nun ja. Zumindest die Erben werden sich freuen.

Bestseller im Auftrag des SPIEGEL ermittelt vom Fachmagazin »BuchMarkt« (Daten: media control); Foto: P. W. Hamilton / AP 17
Bestseller Sachbuch (Hardcover)
1 Peter Hahne: Ist das euer Ernst?! 11 Manfred Lütz: Der Sinn des Lebens
Quadriga; 12 Euro Kösel-Verlag; 30 Euro
Ja. Ein kleines Thema, das sich der Psychiater da
­vorgenommen hat. Aber er fährt nach Rom, was immer
2 Volker Busch: Kopf hoch! eine gute Idee ist.
Droemer HC; 20 Euro
»Sei ein strenger Türsteher für dein Gehirn«, rät uns der 12 Andrea Petković: Zeit, sich aus dem Staub zu machen
Professor. Damit wir mental gesünder werden. Kiepenheuer & Witsch; 23 Euro
Heißt also: Wenn wir unser Gehirn zum Berghain machen, Sie war nie ganz, ganz oben mit dabei, aber schon
geht es uns besser. sehr weit oben. Wie es ist, dem Profisport die Rückhand
zu zeigen, davon erzählt die Tennisspielerin und David-
3 Florian Illies: Zauber der Stille Foster-Wallace-Liebhaberin.
S. Fischer; 25 Euro
Wer nicht in Hamburg wohnt, um sich die große 13 Wilhelm Schmid: Den Tod überleben
Caspar-David-Friedrich-Ausstellung anzusehen, kann Insel Verlag; 12 Euro
zumindest dieses Buch lesen. Der Philosoph denkt nach über das, was nach dem Leben
kommt. Mit Feingefühl und Tiefsinn.
4 Uwe Wittstock: Marseille 1940
C. H. Beck; 26 Euro 14 Giovanni di Lorenzo:
Hannah Arendt, Franz Werfel, Walter Benjamin – Vom Leben und anderen Zumutungen
­Schriftsteller und Philosophen flüchteten über Marseille Kiepenheuer & Witsch; 25 Euro
vor den Nazis. Der Historiker erzählt ihre Geschichten. Der Papst, Recep Erdoğan oder Daniel Cohn-Bendit: Der
»Zeit«-Journalist befragt Personen der Zeitgeschichte.
5 Axel Hacke: Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten
und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens 15 Rüdiger Safranski: Kafka
sein sollte Hanser Verlag; 26 Euro
DuMont Buchverlag; 20 Euro Jetzt also Kafka. Der Großmeister der deutschen
Das Problem an langen Titeln ist, dass sie schon ­Literaturgeschichtsschreibung fragt sich,
alles enthalten und launige Inhaltsangaben wie diese warum Kafka so besessen vom Schreiben war.
hier völlig überflüssig machen. Spoiler: Er weiß es auch nicht.

6 Leonie Schöler: Beklaute Frauen 16 Leah Weigand: Ein wenig mehr Wir
Penguin Verlag; 22 Euro Knaur HC; 18 Euro
Die Historikerin erzählt von Frauen, die übersehen wurden, Die Krankenpflegerin wurde mit einem Poetry-Slam
weil Männer im Vordergrund den Ruhm eingesackt haben. bekannt. Jetzt also ein Gedichtband. Gut, denn es kann
Könnte heute natürlich niemals passieren. nie genug Lyrik auf der Bestsellerliste geben.

7 Didier Eribon: Eine Arbeiterin 17 Latife Arab: Ein Leben zählt nichts – als Frau im
Suhrkamp Verlag; 25 Euro arabischen Clan
Der französische Soziologe, der den Deutschen den Heyne Verlag; 22 Euro
Rechtspopulismus erklärt hat, entdeckt seine Mutter und Die Angehörige einer kriminellen Großfamilie erzählt von
findet: Wir reden viel zu wenig über Klassenkampf. ihrem Ausstieg.

8 Brianna Wiest: 101 Essays, die dein Leben verändern 18 Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister
werden C. H. Beck; 23 Euro
Piper Verlag; 22 Euro Überraschungserfolg des letzten Jahres: Der Historiker
Man hätte gern das Selbstbewusstsein der Autorin. erzählt subtil von den großen und kleinen Umbrüchen des
letzten Jahrhunderts. Am Beispiel eines Bauernhofs.
9 Uschi Glas: Ein Schätzchen war ich nie
Mosaik Verlag; 24 Euro 19 Michel Friedman: Judenhass
In dem Film »Zur Sache, Schätzchen« spielte sie genau Berlin Verlag; 12 Euro
das, will es jetzt aber nie gewesen sein. Leider wieder aktuell: Der Autor fragt sich, warum
­Antisemitismus gesellschaftsfähig ist.
10 Melanie Pignitter:
Wenn das Kind in dir noch immer weint 20 Ronald Reng: 1974 – Eine deutsche Begegnung
Gräfe und Unzer; 19,99 Euro Piper Verlag; 24 Euro
Seit der Entdeckung unseres inneren Kindes ist einiges Die Geschichte des einzigen Fußballspiels
los, jetzt weint es. Die diplomierte Selbstliebetrainerin zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Spannend
empfiehlt: »heilsames Nachbeeltern«. Klingt vernünftig. auch für Nicht-Fußballfans. Soll es ja geben.

18 SP IEGEL B ESTSELLER | Frühj a hr 2 024


Damals auf der Bestsellerliste

Hype für Hindurchblicker Frühsommer 1994 muss der »Tipping


Point«, der Kipppunkt, für »Das magi-
N. E. Thing Enterprises: Das magische Auge sche Auge« in Deutschland erreicht
­worden sein. Zahlreiche andere Verlage
wollten Ars Edition Konkurrenz

K inderspielzeuge wie der Zauberwür-


fel (1981), das Tamagotchi (1997)
oder die Fidget Spinner (2017) wa-
entwickelt, um experimentell nachzuwei-
sen, dass die Wahrnehmung räumlicher
Tiefe erst im Gehirn stattfindet. Tom
­machen, vor Weihnachten 1994 waren
7 der ersten 15 Titel der Sachbuchliste
Stereogramm-Bände. Tom Baccei
ren Modeerscheinungen, die eine kurze Baccei, ein College-Abbrecher, der nach sah seine Bücher als Weg zum Weltfrie-
Phase prägten, bevor sie schlagartig zum Jobs in Pornofilmen und als Busfahrer für den: »Jeder sieht Dinge anders, also
Hit von gestern wurden. 1994 gelang es die Computerfirma Pentica arbeitete, er- ­redet miteinander und versucht euch
einem Buchverlag, halb Deutschland kannte das kommerzielle Potenzial. zu verständigen!«, sagte er der »Berli-
für ein halbes Jahr eine ganz neue Sicht Baccei gründete N. E. Thing Enterprises, ner Zeitung«.
auf die Dinge zu vermitteln – und die damals nannte er die Bilder »Stare-e-o«. Doch die Welle brach schnell – ganz
SPIEGEL-Bestsellerliste belegt es. In Japan erschienen die ersten Bücher. ohne staatliche Maßnahmen: Ende
Am 25. April 1994 war »Das magische Ein japanischer Professor verglich das März 1995 fiel das letzte »Magische
Auge« von der Firma N. E. Thing Enter- Trainieren des Blicks, um den Bildern ­Auge«-Buch aus der Liste. Augenärzte
prises erstmals in den Top Ten der Sach- die versteckten Motive zu entlocken, wurden seltener nach möglichen Seh­
buch-Bestsellerliste platziert. Am 20. Juni mit den asketischen Übungen eines fehlern gefragt, weil sich der freie Blick
kletterte das Buch auf Platz eins – und Mönches, der nach Erleuchtung sucht. partout nicht einstellen wollte. Die
für den Rest des Jahres standen aus- 1993 brachte N. E. Thing Enterprises die ­»Magic Eye«-Macher betreiben heute
schließlich »Das magische Auge« oder Bücher auch in den USA unter dem eine bescheidene Website. Sie sagen,
seine zwei Fortsetzungen an der Spitze. ­Titel »Magic Eye« auf den Markt. Der sie hätten mehr als 20 Millionen »Magic
Was war da los? In den Büchern waren deutsche Verleger Marcel Nauer, der Eye«-­Bücher in mehr als 25 Sprachen
computergenerierte Bilder abgedruckt, 1979 den ehemaligen Heiligenbildchen- verkauft. Entstünde heute eine ähnliche
auf den ersten Blick gleichförmige bunte verlag seiner verstorbenen Tante über- Manie auf dem Verlagsmarkt, hätte
Muster, wie bei Motivtapeten. Gelang es nommen hatte, sah die »Magic Eye«- sie übrigens keine Auswirkung auf die
aber, beim Betrachten eine bestimmte Art Bücher auf der Buchmesse. Er probierte ­ PIEGEL-Bestsellerliste mehr: In den
S
des Sehens »hinter« das Bild zu errei- das Seh-Experiment über Nacht aus und ­aktuell gültigen Kriterien für ihre Erhe-
chen, ergab sich ein 3D-Effekt, und ein erwarb am nächsten Tag die Lizenz für bung steht, dass Geschenkbücher und
zusätzliches Bild im Bild kam zum Vor- seine Ars Edition. Bildbände nicht berücksichtigt werden.
schein. »Es klappt! Es klappt!«: So war Der US-Publizist Malcolm Gladwell hat
ein SPIEGEL-Artikel zum Phänomen die Entwicklung von sozialen Massen- Felix Bayer versuchte, am Bildschirm »Magic
überschrieben. Die sogenannten Stereo- phänomenen mal mit dem Verlauf von Eye«-Bilder zu betrachten. »Es klappt!«, rief er
gramme hatte der Psychologe Béla Julesz Epidemien verglichen. Irgendwann im erst, als er sich einen Ausdruck vor die Nase hielt.

Illustration: Rahel Süsskind / DER SPIEGEL 19


Serien

Die Aliens kommen


in 400 Jahren
Streaming Die Macher von »Game of Thrones« verfilmen jetzt chinesische
Science-Fiction. Die Erwartungen: so riesig wie das Budget.

H öher hinaus als mit »Game of


Thrones« geht es auch für die an
Superlative gewöhnte amerikanische
beim Videointerview stellt. Der 53-Jäh-
rige mit den grauen Haaren sieht müde
aus, aber beim Reden über den Roman,
außerirdischen Zivilisation auf das
Schicksal der Menschheit hätte.
In »Die drei Sonnen« haben sich
Unterhaltungsbranche nicht. David Be- der der Serie zugrunde liegt, flammt Lei- Aliens auf den Weg zur Erde gemacht;
nioff und D. B. Weiss schufen mit dem denschaft auf. Ein Buch müsse viele sie nennen sich Trisolarier wegen der
Fantasy-Epos als Produzenten, Dreh- Komponenten haben, um ihn davon zu drei Sonnen, unter deren Einfluss ihr
buchautoren und Ideengeber ein Fern- überzeugen, fünf Jahre seines Lebens für Heimatplanet steht und der von diesen
sehereignis. Eine der teuersten, erfolg- eine Verfilmung zu geben: »Hier war es Sonnen wieder und wieder zerstört
reichsten, weltweit am heißesten gelieb- eine kosmologische Saga, die stark in der wird. Weil ihr Sonnensystem mehr als
ten und leidenschaftlichsten diskutierten menschlichen Realität verankert ist. vier Lichtjahre von der Erde entfernt
Serien einer an heiß geliebten Serien Aber mich haben auch die großen Bilder ist, werden sie rund 400 Jahre benöti-
nicht gerade armen Fernsehgegenwart. angezogen. Ich wollte auf dem Bild- gen, um dort anzukommen. Dann wol-
Allerdings haben die Schulfreunde len sie die Menschheit vernichten und
auch die Erfahrung gemacht, wie Spezialeffekte und die Erde selbst kolonisieren.
schnell sich das Blatt wenden kann: Die Actionszenen In China, wo Liu zusammen mit
achte und letzte Staffel von »Game of Wang Jinkan und Han Song zu den
Thrones« stieß weder bei Kritik noch
gibt es natürlich, Großen der Science-Fiction-Literatur
Zuschauern auf Gegenliebe, im Gegen- aber sie stehen zählt, wurden einige seiner Werke be-
teil. Durch Twitter und Reddit wälzte nicht im Zentrum. reits verfilmt, darunter die Kurzge-
sich anlässlich der Ausstrahlung 2019 schichte »Die wandernde Erde«, deren
eine Hasswelle, weil viele Fans sich ein schirm sehen, wie Hunderttausende Sol- Kinoversion ein Kassenschlager war.
ganz anderes Finale für ihre Helden daten der mongolischen Armee sich zu Eine Serienversion von »Die drei Son-
ausgemalt hatten. einem Supercomputer zusammenschlie- nen« stellte bereits Anfang des vergan-
Und dann gab es da noch ein ande- ßen. Ich wollte sehen, wie Nanofasern genen Jahres der chinesische Internet-
res Problem. Wohin bricht man auf, ein Schiff in Stücke zerlegen.« konzern Tencent ins Netz.
wenn der Gipfel schon erreicht ist? Lius Roman erschien in seiner Hei- Netflix, das in China nicht vertreten
Die Serie, die diese Frage beantwor- mat bereits 2007. In Deutschland dau- ist, kommt mit seiner Fassung also recht
tet, ist jetzt bei Netflix zu sehen. Sie erte es zehn Jahre bis zur Übersetzung spät, sieht aber offenbar großes Poten-
beginnt mit einer langen Sequenz, die unter dem Titel »Die drei Sonnen«. Das zial in »3 Body Problem«. Angeblich
1966 vor einem Universitätsgebäude in epische Werk fand auch im Westen be- ließ der Konzern sich die acht Episoden
Peking spielt. »Weg mit dem Ungezie- geisterte Anhänger. 2015 gewann es in 160 Millionen Dollar kosten, und das in
fer!«, skandieren Hunderte Studieren- den USA den Hugo-Award für den bes- einer Zeit, in der Hollywood nicht zu-
de, rote Mao-Bibeln schwenkend. Auf ten Science-Fiction-Roman, Barack letzt wegen explodierender Kosten
einer Bühne werden Wissenschaftler Obama und Mark Zuckerberg empfah- durch teure Serien und Filme vor allem
brutal misshandelt und dazu gezwun- len es. Dabei ist das Buch alles andere im Streamingbereich die Budgets zu-
gen, sich selbst als Konterrevolutionäre als leichte Kost. sammengekürzt hat.
zu denunzieren. Ein Physiker, der sich Liu, ausgebildeter Techniker und Benioff und Weiss haben sich also
weigert, wird totgeprügelt. Der Horror ­Ingenieur, der vor seiner literarischen offensichtlich dazu entschlossen, nicht
der chinesischen Kulturrevolution ist in Karriere in einem Wasserkraftwerk vom Gipfel hinabzusteigen und kleine-
vollem Gange. arbeitete, verwebt darin die Lebens- re Projekte zu verfolgen. »Wenn du ein-
Bisher hatten sich Benioff und Weiss läufte chinesischer Figuren von der Kul- mal die große Packung mit Buntstiften
eher mit den Drachen und dynastischen turrevolution bis in die jüngere Gegen- bekommen hast, mit denen du arbeiten
Verwerfungen in fantastischen Welten wart mit komplexen naturwissenschaft- darfst, dann gibst du sie nicht mehr
beschäftigt. Sollte »3 Body Problem«, lichen und kosmologischen Fragen. Es her«, sagt Weiss. »3 Body Problem« ist
die Verfilmung eines Romans des chine- geht um das aus der Himmelsmechanik nur die erste Serie im Rahmen eines
sischen Science-Fiction-Autors Liu Cixin, bekannte Dreikörperproblem, das dem 200-Millionen-Dollar-Deals, mit dem
etwa eine handfeste politische Serie ge- Buch seinen Titel gab; um multidimen- Netflix sich exklusiv die Rechte der bei-
worden sein? So weit will Benioff dann sionales Denken und um den Einfluss, den Superproduzenten sicherte. Der
doch nicht gehen, wenn man die Frage den der Kontakt mit einer überlegenen Romanvorlage ließ Liu zwei weitere
20 SP IEGEL B ESTSELLER | Frühj a hr 2 024

DIGAS_B2B-/tmp/0_dok_qs/Heftkontrolle/99-SPBEST_2024_03_28
Szene aus »3 Body Problem«: Die chinesische Buchvorlage hatte im Westen begeisterte Anhänger

Bücher folgen, die sie zur sogenannten Die Veränderungen sind allerdings Außerirdischen nicht sieht und es zu
Trisolaris-Trilogie komplettieren und massiv. Die Macher führen Figuren ein, keinem Kampf kommt. Aber die philo-
reichlich Stoff für weitere Staffeln bie- die zum Teil auf den Charakteren der sophischen Betrachtungen, die Liu in
ten. Aber dafür muss die erste zunächst Vorlage basieren, zum Teil völlig neu seinem Roman anstellte, werden in der
einmal ein Hit werden. erfunden sind. Einige sind chinesisch- Serie trotz des drohenden Endes der
Benioff, Weiss und Alexander Woo, stämmig, aber im Westen sozialisiert, Welt zu lockeren Sprüchen. Oder zu
der das Duo bei »3 Body Problem« andere europäischer und amerikani- kitschig ausgestalteten Liebesbeziehun-
verstärkt, spüren den Druck natürlich, scher Herkunft. Im Mittelpunkt stehen gen, die die Protagonisten manchmal
aber das sei Teil ihres Jobs, sagen sie. in der Serienversion fünf Freunde, die mehr umtreiben als der Kampf gegen
Dass sie den Erfolg beim großen, welt- zusammen studiert haben und zu den die Invasoren. Während einer kompli-
weiten Netflix-Publikum unbedingt führenden Forschern in ihren Fachge- zierten Aktion zur Vorbereitung auf die
wollen, merkt man der Serie deutlich bieten gehören. Nach und nach werden Verteidigung der Erde bleibt einem sich
an. Mit dem Roman verbindet sie sie in die Verteidigungsstrategien gegen fremd gewordenen Paar Zeit, sich tief
außer der Rahmengeschichte nicht die von den Trisolariern angekündigte in die Augen zu schauen, und er fragt
mehr viel. Nach der ersten Folge, die Vernichtung der Menschheit hineinge- sie: »Was ist nur mit uns passiert?«
noch zu großen Teilen in China spielt, zogen und nehmen dabei bald zentrale In solchen Momenten rutscht »3
verlagert sich das Geschehen mehr und Rollen ein. Oft sieht man sie aber lässig Body Problem« sogar in die unfreiwilli-
mehr in den Westen, vor allem nach beim Bier im Pub sitzen, als träfen sie ge Komik ab. Die Serie entzieht Lius
Oxford. Darauf angesprochen, zeigt sich nach der Vorlesung zum abend­ fest in einer bestimmten Kultur und Zeit
zumindest Alexander Woo dann doch lichen Besäufnis. verwurzelten Stoff die DNA, die ihn un-
Nerven. Seine Antwort ist trotzig, de- Diese Veränderung im Ton hat grö- verwechselbar macht. Übrig bleibt eine
fensiv: »Wir übersetzen den Roman ßere Auswirkungen als die Erweiterung generische Hollywoodsaga, die ihr Pu-
mit unserer Verfilmung gewissermaßen des Figurenpersonals. Die Produzenten blikum unbedingt vor beinahe jeder in-
neu, natürlich bleiben wir damit nicht tun nach der Eingangssequenz alles da- tellektuellen und emotionalen Heraus-
in der Volksrepublik China.« Und – na- für, die Düsterkeit des Romans aufzu- forderung bewahren will. Vielleicht ist
türlich! – habe ihnen das die Möglich- hellen. Spezialeffekte und Actionsze- es das, was passiert, wenn die Luft dünn
keit gegeben, das Material zu erweitern nen gibt es natürlich, aber sie stehen wird, dort oben auf dem Gipfel.
und zu verändern: »Dazu hat uns übri­ nicht im Zentrum. Schließlich muss die
gens der Autor selbst geraten!« Serie damit umgehen, dass man die Oliver Kaever

Foto: Netflix 21
Neue Filme H ISTORI EN FI LM

Bürokrat des Guten


One Life.
Regie: James Hawes. Mit: Anthony Hopkins,
John Flynn, Helena Bonham Carter.
110 Minuten. Kinostart: 28. März

w Ein alter Mann betrachtet seine


­unzähligen Ordner, von denen er sich
nicht trennen mag. Doch zwischen
den Deckeln der Ordner hat er nicht
irgendwelche Vorgänge abgeheftet.
Sie dokumentieren die Mühe, die es
den Mann ein halbes Jahrhundert zu­
vor gekostet hat, fast 700 Kinder vor
den Nazis zu retten. In James Hawes’
historischem Drama »One Life« spielt
Anthony Hopkins den britischen Bör­
senmakler Nicholas Winton, der Ende
der Achtzigerjahre auf jene Zeit zu­
rückblickt, als er kurz vor Beginn des
Zweiten Weltkriegs eine Rettungs­
aktion für jüdische Kinder organisier­
te, die sich in der damaligen Tsche­
choslowakei befanden. Es ist ein gro­
ßes Erlebnis, wie Hopkins den 2015
im Alter von 106 Jahren verstorbenen
Winton als verschrobenen und un­
Darsteller Sarr (r.) in »Ich Capitano« bedingt liebenswerten Bürokraten des
Guten spielt. Dafür braucht man
DRAMA machen. Die beiden Teenager träu­ einen Schauspieler, der Rührseligkeit
Mythische Heldenreise men von einer Karriere als Popstars in gar nicht im Repertoire hat und
Europa, mit Fans und Geld, das sie ­deshalb umso bewegender darstellen
Ich Capitano. nach Hause schicken können. Auf der kann, was es heißt, gerührt zu sein.
Regie: Matteo Garrone. Mit: Seydou Sarr, Reise von der westafrikanischen John Flynn, der Winton als jungen
Moustapha Fall, Issaka Sawadogo. Küste bis zum Hafen von Tripolis Mann spielt, hat gegen Hopkins einen
121 Minuten. Kinostart: 4. April ­werden sie ausgeplündert, verschleppt schweren Stand. Die Szenen aus den
und gefoltert. Dennoch bleibt der späten Dreißigerjahren wirken weni­
w Filme von weißen europäischen Re­ Tonfall, den Garrone anschlägt, irri­ ger inspiriert und bewegend als die
gisseuren über Flüchtlinge, die übers tierend optimistisch – statt wie ein aus den späten Achtzigern. Natürlich
Mittelmeer von Afrika nach Europa Horrortrip ­mutet die Tour zunehmend liegt dies daran, dass Hopkins das Pu­
zu kommen versuchen, wollen in der wie eine mythische Heldenreise an. blikum mit jedem Satz und jeder Ges­
Regel Europa den Spiegel vorhalten: Spätestens als es mit dem brüchigen te zu bannen vermag – und man nicht
wie unmenschlich das Sterben auf Schiff aufs Meer Richtung Italien geht, weiß, wie oft der heute 86-Jährige die
dem Meer ist, wie moralisch kompro­ entfaltet sich Garrones kraftvolle Leinwand noch mit seiner einzigarti­
mittiert der Kontinent durch seine ­Umdeutung mit aller Wucht. Die gen Präsenz füllen wird. Lars-Olav Beier
­Abschottung ist. Obwohl gut gemeint, Flucht übers Mittelmeer stellt bei ihm
kommt oft nicht mehr als Selbst­ nicht ein Sinnbild europäischen Ver­
bespiegelung dabei heraus. Der weiße sagens, sondern afrikanischen Trium­
Italiener Matteo Garrone kehrt mit phierens dar. Denn gibt es einen stär­
seinem oscarnominierten Film »Ich keren Ausdruck von Selbstermächti­
Capitano« den Blick dagegen radikal gung, als sich gegen das Schicksal zu
um. Er erzählt von den Cousins stemmen und für sich und seine
­Seydou (Seydou Sarr) und Moussa ­Familie ein besseres Leben zu suchen?
(Moustapha Fall), die sich eines Mit »Ich Capitano« fängt ein neues
Nachts aus ihrer Heimatstadt Dakar Erzählen über Flucht und Geflüchtete
im Senegal auf den Weg nach Italien an. Hannah Pilarczyk Szene aus »One Life«

22 SP IEGEL B ESTSELLER | Frühj a hr 2 024


Kinocharts

1 Dune: Part Two


Warner Bros, FSK: ab 12 Jahren

Das Einzige, was bei diesem Film nicht gut aussieht:


Menschen, die auf Riesenwürmern herumfahren. Aber
geschenkt. Alles andere ist schlicht umwerfend. Die
100 Schattierungen der Farbe Orange. Die androgyne
Sexyness von Timothée Chalamet und Zendaya. Der
nur wenige Sekunden dauernde Auftritt von Anya Taylor-
Joy. Die Messerkämpfe, die Libellen-Hubschrauber,
der ­behutsam-leichtfüßige Wüstentanz. Dieser Film
ist ­alles, was man von einem Science-Fiction-Epos
­er­warten kann, und noch viel mehr.
2 Zone Of Interest
Leonine, FSK: ab 12 Jahren

3 Wunderland – Vom Kindheitstraum zum


Welterfolg
Tobis, FSK: ab 0 Jahren

4 Eine Million Minuten


Warner Bros, FSK: ab 0 Jahren

Sie arbeitet, und er arbeitet, beide arbeiten eigentlich


zu viel, und dann haben sie noch Kinder, zwei, und
weil wir im Patriarchat leben, kümmert sie sich zusätzlich
zu ihrer Lohnarbeit noch mehr um die Kinder und
verrichtet damit sogenannte Care-Arbeit, und weil das
ungerecht ist, gibt es Streit, und dann fahren Mama
und Papa mit den Kindern um die Welt, um alles wieder
in Ordnung zu bringen. So könnte man den Film
­zusammenfassen. Nur: Ein Problem erkannt zu
haben (Lohnarbeit, Care-­Arbeit, Patriarchat) heißt
noch nicht, dass man es schafft, daraus einen guten
Film zu machen. Und so fragt man sich, was Tom
­Schilling und Karoline Herfurth eigentlich suchen,
­während ihrer Million Minuten in Thailand und Island,
sich selbst, ihre Liebe oder die Handlung dieser
Tourismuswerbung.
5 Wo die Lüge hinfällt
Sony, FSK: ab 0 Jahren

6 Maria Montessori
NeueVisionen, FSK: ab 0 Jahren

7 Ella und der schwarze Jaguar


StudioCanal, FSK: ab 6 Jahren

8 Bob Marley: One Love


Paramount, FSK: ab 12 Jahren

9 Raus aus dem Teich


Universal, FSK: ab 0 Jahren

10 The Beekeeper
Leonine, FSK: ab 18 Jahren

Es gibt wenige Schauspieler, bei denen man ganz


genau weiß, was man bekommen wird. Nicht mehr,
nicht ­weniger. Wenn Jason Statham in einem Film
die Hauptrolle hat, ist klar: Die Dialoge sind flach. Die
Anzüge etwas zu eng geschnitten. Die Action ist gut.
In diesem hier fallen die üblichen Sätze (»Ich zähl bis
drei, Kumpel«), es wird wie üblich viel rumgeballert
und wie üblich hart zugeschlagen. Wer nicht weiß, wer
Jason Statham ist, sollte es mit diesem Film besser
nicht herausfinden. Für alle anderen gilt: zwei Stunden
Comfort-Watching, ohne nachdenken zu müssen – auch
nicht das Schlechteste.

Quelle: media control; Fotos: X Verleih, Julie Vrabelova / SquareOne Entertainment


DYS T O P I E

Amerikanische Ängste
Civil War. Regie: Alex Garland. Mit: Kirsten
Dunst, Cailee Spaeny, Jesse Plemons.
109 Minuten. Kinostart: 18. April

w An Hollywoods Filmen ließ sich im-


mer auch ablesen, wie es gerade um
die USA steht. Wie unsicher sich die
Amerikaner aktuell sind, was ihre
Träume und Hoffnungen angeht, zeig-
te kürzlich der Netflix-Film »Leave
the World Behind«, in dem eine omi-
nöse Bedrohung eine Familie in den
Ferien auf Long Island in Angst und
Schrecken versetzte. Am Ende war zu
sehen, wie New York aus der Luft be- »Civil War«-Star Dunst
schossen wird. In »Civil War« hat sich
das Rad des Schreckens schon viel zeit, obwohl laut US-Verfassung nur gleich stilistisch übersteigerten und
weiter gedreht: Die Kriegsfotografin zwei möglich sind; ein blutiger Bür- schrecklich realistischen Bildern
Lee (Kirsten Dunst) wird in New York gerkrieg zerreißt das Land. Ein Szena- ­inszenierten Films. Der politische
Zeugin, wie bei einer Auseinander­ rio, das angesichts der prekären Lage Hintergrund bleibt einfach zu vage.
setzung zwischen Armee und Bevöl- der amerikanischen Demokratie sehr Wer den realen Sturm auf das Kapitol
kerung eine Granate Menschen in reale Ängste auffängt. Ebendas wird am 6. Januar 2021 am Fernseher mit-
­Stücke reißt. In dem Film regiert der zum Problem dieses von Regisseur erlebt hat, auf den wirkt diese Fiktion
US-Präsident in einer dritten Amts- Alex Garland (»Ex Machina«) in zu- viel zu zahm. Oliver Kaever

„Wie Josef Hader aus alldem eine Komödie macht –


gnadenlos und liebevoll zugleich – das ist schon sehr besonders.“
TTT TITEL THESEN TEMPERAMENTE

„Famos schrullige Figuren. Situationskomik vom Feinsten.


Pointenreiche Dialoge. Gut. Besser. Hader!“
PROGRAMMKINO.DE

Nach
WILDE
MderAneUueS
Josef Hader
FILM

24 SP IEGEL B ESTSELLER | Frühj a hr 2 024


Musik

Sie wollte doch nur Spaß haben


Pop Mit Hits wie »All I Wanna Do« wurde Sheryl Crow in den ­Neunzigerjahren
zum Star, blieb aber unterschätzt. Jetzt bringt sie ein Album heraus, dass
es gar nicht geben sollte – und wird von jungen Sängerinnen als Vorbild umarmt.

W enn man nur einen kleinen Ein-


druck davon bekommen will,
welchen Status Sheryl Crow unter Musi-
kerinnen genießt, muss man sich ihren
Auftritt in der Rock’n’Roll Hall of Fame
vom vergangenen November ansehen.
Zusammen mit Kollegen wie Willie Nel-
son, Kate Bush und George Michael wur-
de die inzwischen 62-Jährige bei einer
großen Showzeremonie in die Ruhmes-
halle der Rockmusik aufgenommen.
Einen ihrer bekanntesten Songs, »If
It Makes You Happy«, spielte sie zusam-
men mit einem der größten neuen Pop-
stars der Gegenwart: der dreifachen
Grammy-Gewinnerin Olivia Rodrigo.
Allein der ehrfürchtige Blick, den Rodri-
go, damals noch 20 Jahre alt, ihrer Kol-
legin auf der Bühne zuwarf, als die
­souverän mit Gitarre und viel Soul im
Gesang ihren alten Hit anstimmte, war
berührend anzusehen. Die junge Sän­
gerin, die sich in ihrer eigenen Rock­
musik-Variante eigentlich nicht minder
selbstbewusst und cool gibt als Crow, war
offenbar so eingeschüchtert von der Be-
gegnung, dass sie ihren eigenen Gesangs-
teil sympathisch verwackelte.
Echt jetzt? Wegen Sheryl Crow? Die
aus dem US-Bundesstaat Missouri
stammende Songwriterin, Sängerin und
Gitarristin ist nicht unbedingt die Erste,
die einem beim Stichwort »weibliche
Rock-Superheldin« einfallen würde. Sie
selbst sagte einmal, dass sie von Fleet-
wood-Mac-Chefin Stevie Nicks, Blues-
Sängerin Bonnie Raitt und Westcoast- Rocksängerin Crow: »Für mich ist Kunst mit der Seele verbunden«
Musikerin Linda Ronstadt beeinflusst
worden sei – schon eher das, was man »Leaving Las Vegas« oder halt »If It silienz – und letztlich auch dem Zu-
Ikonen nennen würde. Dennoch ist Makes You Happy«. spruch des Publikums – blieb sie dabei,
Crow inzwischen für viele junge Stars Zum anderen wird sie von vielen überdauerte die wechselnden Launen
ein Vorbild. Das liegt zum einen an Nachfolgerinnen dafür bewundert, dass des Zeitgeistes. Allein von ihren ersten
ihren erdigen, uramerikanischen Rock- sich Crow zu Beginn ihrer Karriere in neun Studioalben, das erste erschien
songs, die oft über einen bezwingenden einer von Männern dominierten Musik- 1993, wurden weltweit rund 35 Millio-
Refrain verfügen. Lange vor Taylor branche durchboxen musste. In den nen Exemplare verkauft. 2019 hatte sie
Swift gelang Crow die Synthese aus frühen Neunzigern, als die musikali- angekündigt, kein weiteres Album
Country und Mainstream-Pop. Wohl schen Trends gerade Richtung Grunge mehr machen zu wollen, doch nun er-
jeder kann mindestens ein Lied von oder Britpop wiesen, wirkte sie mit scheint mit »Evolution« doch noch eine
Sheryl Crow mitsummen oder -singen: ihrer Americana-Popmusik zunächst Sammlung neuer, ziemlich guter Songs
»All I Wanna Do«, »Soak Up The Sun«, wie ein Fremdkörper. Doch mit viel Re- von Sheryl Crow.
Fotos: DCM, Dove Shore / Universal Music 25
Musik

Da ist zum Beispiel »Do It Again«, auch »Frank DiLeo’s dong« aufgezählt bütalbum verneigte sich die aus drei
ein beschwingter Song, der sofort an wird – ein früher, versteckter #MeToo- Songwriterinnen bestehende Band mit
»All I Wanna Do« erinnert, Crows ers- Moment. Auf ihrem zweiten Album dem Song »Not Strong Enough« vor ihr,
ten und wahrscheinlich größten Hit. »Sheryl Crow« von 1996 fand sich dann in Text und Musik ein cleveres Zitat von
Auch hier gaukelt der gemütlich schun- »If It Makes You Happy«, ein wiederum Crows Hit »Strong Enough« von 1993.
kelnde Countryrhythmus Leichtigkeit bittersüßer Kommentar über die Pop- Damals wie heute geht es darum, dass
vor, obwohl es im Text gar nicht so branche, die viele reich, berühmt und Künstlerinnen mit all ihren Macken und
fröhlich zugeht. »Well, I’ve been down glücklich mache, einige aber auch in De- Eigenheiten nie auf die gleiche Weise ge-
the river / I washed away my sins / Well, pressionen stürzt: »If it makes you hap- würdigt und respektiert würden wie ihre
every day is a nice clean slate / For me py / Then why the hell are you so sad?« männlichen Pendants: »Always an an-
to fuck it up again«, singt Crow darin Als dieser Song erschien, war Crow gel, never a god«, bilanziert Boygenius.
mit viel Lakonie: Sie hat schon viel er- bereits ein weiteres Mal durch die Pop- Crows Weg war auch in den späteren
lebt, und sie weiß, dass nicht nur die starhölle gegangen. Weil ihr Debüt­ Jahren voller Rückschläge, die meisten
Verhältnisse gegen sie waren, sondern
sie sich manchmal auch selbst im Weg
stand und Dinge vermasselt hat.
Eindrucksvoll an Sheryl Crows Mu-
sik ist, dass sie diese altersweise Blues-
mentalität schon früh in ihre Songs ein-
fließen ließ. Auch »All I Wanna Do« ist
so ein doppelbödiger Song: Alles, was
sie will, ist doch nur ein bisschen Spaß
haben, bis die Sonne über dem Santa
Monica Boulevard in Los Angeles wie-
der aufgeht, heißt es schwungvoll im Re-
frain. Aber in Wahrheit ist das Lied, das
auf einem Gedicht des US-Poeten Wyn
Cooper basiert, eine Meditation über
Menschen, die nicht vom Alkohol lassen
können und ihr Leben verdämmern.
»All I Wanna Do« wurde ein Riesen-
hit im Radio und in den Charts. Sheryl
Crow schien eine frische, junge New- Musikerin Crow: Zurück aus dem selbst gewählten Ruhestand
comerin zu sein, dabei war sie damals
bereits Anfang dreißig und hatte schon album unter Beteiligung so vieler Män- allerdings privater Natur. Es gab medial
einiges hinter sich. Nachdem sie in den ner entstanden war, wurde in den Rock- ausgeschlachtete Beziehungen zum Kol-
Achtzigern in Werbeclips gesungen hatte, medien argwöhnisch gefragt, ob sie ihre legen Eric Clapton oder dem gedopten
ging sie 1987 als Backgroundsängerin mit Songs überhaupt selbst schreibe und Radrennprofi Lance Armstrong. 2006,
Michael Jackson auf Tournee, sang fast nicht eher das sei, was man heute eine kurz nach der Auflösung ihrer Verlo-
jeden Abend mit ihm zusammen dessen »industry plant« nennt, eine von der bung mit Armstrong, erkrankte sie an
Hit »I Just Can’t Stop Loving You«. Hin- Plattenfirma aufgebaute Retortenkünst- Brustkrebs. Heute lebt sie mit ihren bei-
ter den Kulissen, so enthüllte sie 2021, lerin. Zweiflern an ihrer Authentizität den Adoptivsöhnen in Nashville.
habe ihr jedoch Jacksons damaliger Ma- trotzte sie dann mit »Sheryl Crow«, auf Warum sie nun noch einmal aus dem
nager Frank DiLeo sexuelle Avancen ge- dem sie alles selbst schrieb und produ- selbst gewählten Ruhestand zurück-
macht und damit gedroht, ihre Karriere zierte und noch dazu zahlreiche Instru- kommt? Ihr Unmut über die Fähigkeit
zu sabotieren, wenn sie nicht gehorchte. mente eigenhändig spielte. von künstlicher Intelligenz, Kunst und
Gegenüber dem britischen »In­ Es€ war eine Empowerment-Geste, Künstler beliebig zu imitieren, habe sie
dependent« bezeichnete Crow diese die ihr zahlreiche Fans einbrachte, auch zum Schreiben neuer Lieder inspiriert.
­düstere Zeit als »Crashkurs Musikindus- unter berühmten Kollegen: Die Musike- »Für mich ist Kunst mit der Seele verbun-
trie«, durch den sie ihre Kleinstadtnaivi- rin Annie Clark, die als St. Vincent be- den«, sagte sie in der Talkshow von Jim-
tät verloren habe. Es habe sich unan- kannt ist, sagte 2022 in der »New York my Fallon: »Wenn man in etwas einsteigt,
genehm angefühlt, über diese Erfahrun- Times« über Crow: »Ich denke bei She- das so viel fortschrittlicher ist als unser
gen zu sprechen, sagte sie, aber es sei ryl an die großen amerikanischen Song- Gehirn, dann nimmt es die Seele aus der
auch ein Akt der Selbstermächtigung writer wie Tom Petty. Sie geht einfach Kunst heraus, und das ist beängstigend.«
gewesen, dann wieder die Musik zu ihren eigenen Weg.« Wie es scheint, ist Sheryl Crows langes
spielen, die einst davon inspiriert wor- Heute ist es unter anderem die erfolg- Ringen um Würde und Menschlichkeit in
den sei. Songs wie den »Na-Na-Song« reiche queere Rockband Boygenius, die der Rockmusik noch nicht vorbei.
von ihrem Debütalbum, in dessen lau- Crows Durchsetzungskampf huldigt.
nigem Stream-of-Consciousness-Text Auf ihrem von der Kritik bejubelten De- Andreas Borcholte

26 SP IEGEL B ESTSELLER | Frühj a hr 2 024


Aktuelle
Neue Alben Empfehlungen

Niklas Liepe
Portman: Tipping Points
Zwei neue Werke präsentiert Geiger
Niklas Liepe auf seinem neuen Album:
das berührende Violinkonzert „Tipping
Points“ von Oscar Preisträgerin Rachel
Portman (Chocolat) und eine tolle,
filmmusikartige Bearbeitung von
Vivaldis „4 Jahreszeiten“.

Band Vampire Weekend

POP hen oder in einem der hipsten Studios


Der Sound der Stadt der Welt oder in beiden zugleich, es
geht ja um New York, und man fragt
Vampire Weekend: Only God Was Above Us. sich: Ist das Brummen wirklich altmo- Igor Levit
Mendelssohn: Lieder ohne Worte
Columbia disch? Oder haben Vampire Weekend
Wirklich berührend spielt Igor Levit
es soeben aus dem Altmodischen ins seine ganz persönliche Auswahl von
Mendelssohns „Liedern ohne Worte“.
w Das schöne Rauschen ist ein Wesens- Modische geholt, einfach nur weil sie Das neue Album entstand als
zug von Metropolen wie New York City, entschieden haben, dass es cool ist, den persönliche und spontane
künstlerische Reaktion auf die
die Straßengeräusche, die Subway-Ge- Gitarrenverstärker brummen zu lassen? Anschläge gegen israelische Juden
spräche, ein unterschwelliger, nie ganz Die Band weiß, dass der Reiz am schö- und den weltweit zunehmenden
Antisemitismus. Levit stiftet seinen
abklingender Sound der Weltläufigkeit. nen Rauschen in seinem wilden Stil­ Erlös aus dem großartigen Album zwei
Berliner Organisationen, die gegen
Komponisten wie Steve Reich haben mix liegt, in den vielen verschiedenen Antisemitismus kämpfen.
probiert, den Klang der Stadt in Musik ­Einflüssen. »Only God Was Above Us«
zu übersetzen, nicht unerfolgreich. ist ein neuer Ausdruck dieser alten Er-
Doch das Ergebnis klang oft mehr nach kenntnis, die sich durch alle Alben von
Arbeit als nach Pop. Eine Band aus Vampire Weekend zieht. Irgendwie ein-
New York City hat es hingekriegt, allen leuchtend, dass Sänger Ezra Koenig sich
anderen New-York-City-Bands zuvor­ für dieses Album in Raga hat schulen
zukommen und aus dem schönen lassen, indischer klassischer Musik. Und
­Rauschen süffige Songs zu machen. Sie auch einleuchtend, dass kein Geringerer
nennt sich Vampire Weekend, nach als Steve Reichs Kollege, der Avant­
einem Film, den niemand kennt, weil gardekomponist Terry Riley, ihn darin
das besonders mondän klingt, also be- geschult hat. Auch klar, dass die beiden Jonas Kaufmann
sonders nach New York. das Ganze nicht irgendwo, sondern im Wagner: Parsifal
Auf ihrem neuen Studioalbum »Only ländlichen Japan durchgezogen haben. Der Live-Mitschnitt aus der Wiener
Staatsoper unter Philippe Jordan mit
God Was Above Us«, ihrem ersten seit Denn das alles ist Premium-Hipster- einer „Traumbesetzung“, wie die Kritik
fünf Jahren und ihrem fünften, das nicht stoff, aus dem Vampire Weekend und schrieb: Jonas Kaufmann als Parsifal,
Elīna Garanča als Kundry, Ludovic Tézier
nach Arbeit klingt, rauscht und kracht ihre Polohemden schon lange gemacht als Amfortas, Georg Zeppenfeld als
und knackst es von Anfang an. In den sind (die waren uncool – bis Vampire Gurnemanz und Wolfgang Koch
als Klingsor.
ersten Sekunden brummt ein Gitarren- Weekend sie trugen). Das alles ist aber
verstärker altmodisch, er könnte in auch ein bisschen prätentiös. Und damit
einem Proberaum in Williamsburg ste- wieder sehr New York. Jurek Skrobala
Jetzt bestellen unter

Fotos: Douglas Mason / Getty Images, Michael Schmelling / Sony Music / Columbia 27
POP Bestseller Essen und Trinken
Nouvelle nouvelle vague
1 Barbara Becker, Franca Mangiameli:
Sofia Portanet: Chasing Dreams. Optimize Your Sugar
Duchess Box Records ZS; 26,99 Euro

Was man nicht alles optimieren soll!


w Als Sofia Portanet vor vier Jahren Jetzt also »unseren« Zucker. Damit
ihr Debütalbum »Freier Geist« heraus­ sind nicht nur die ungefähr drei Millio-
brachte, jubelte nicht nur die deutsche nen Zuckerwürfel gemeint, die in einer
Musikpresse. Auch in Großbritannien, Flasche Cola drin sind (ungesund!).
dem Mutterland des Pop, lehnte sich Barbara Becker hat sich wochenlang mit
Saxofonist Lloyd ein Radiosender der BBC weit aus einem Blutzuckermessgerät überwacht
JA Z Z dem Fenster und bezeichnete die in und teilt uns die Ergebnisse mit. Es geht
Große Erleuchtung Berlin lebende Sängerin als »Ger­ viel um Glukosespitzen. Wenn Sie nicht
many’s next international pop star«. wissen, was das ist, wäre dieses Buch
Charles Lloyd: The Sky Will Still Be There Grund für die Begeisterung war vielleicht genau das richtige.
Tomorrow. Blue Note ­Portanets eklektischer Sound aus New 2 Matthias Riedl, Viola Andresen, Silja
Wave, Synthie- und Goth-Pop, den sie Schäfer, Jörn Klasen: Die Ernährungs-
w Der Tenorsaxofonist Charles Lloyd, mit exaltiertem Gesang und viel Sinn Docs – Unsere Anti-Jo-Jo-Methode
mittlerweile 86 Jahre alt, ist einer für schwermütige Lyrik auf Deutsch, ZS; 24,99 Euro

der großen Erleuchteten des Jazz. Er Englisch und Französisch vortrug. Da­ 3 Monica Meier-Ivancan:
kannte sogar Elvis Presley, als der mals hatte man keinen Namen für die­ Drink the Rainbow
sich noch in den schwarzen Klubs he­ sen Stil, heute heißt das Genre »Neue ZS; 22,99 Euro

rumtrieb, so hat er es zumindest mal Neue Deutsche Welle«, kurz NNDW, 4 Matthias Riedl, Anne Fleck, Silja
erzählt. Er war befreundet mit Free- und wurde während der Pandemie von Schäfer, Jörn Klasen:
Jazz-Pionier Ornette Coleman und jungen Künstlern und Künstlerinnen Die Ernährungs-Docs – Unser
hing in den Sechzigern in New York wie Edwin Rosen populär gemacht. Anti-Bauchfett-Programm
mit Miles Davis ab. Die Byrds waren Nun aber kehrt die Mutter der NNDW ZS; 24,99 Euro

seine Freunde, mit den Grateful Dead mit einem fulminanten neuen Album 5 Matthias Riedl:
ging er auf Tour. Er habe die Welt ver­ zurück, das Portanets Bandbreite Der Hafer-Masterplan
ändern wollen, schreibt er nun in den ­effektvoll erweitert: Das Duett »Lust« ZS; 17,99 Euro

Liner Notes seines großartigen neuen (mit Tobias Bamborschke) und die Das Dumme an Zutaten ist, dass selten
Albums »The Sky Will Be There ­Rave-Hymne »Ballon« klingen noch neue entdeckt werden. So kommt es,
­Tomorrow«, das habe nicht geklappt, sehr nach deutschem Indiepop. Doch dass auf einmal etwas als »heimisches
und seit er das verstanden habe, be­ in glitzernden Dancepop-Songs wie Superfood« angepriesen wird, das bis
schränke er sich darauf, Schönheit in »Real Face«, »Entre nos lèvres« oder eben noch unter dem Verdacht stand,
die Welt zu bringen. So spielt er »Unstoppable« erinnert die gebürtige bei Oma im Regal zu verstauben.
­seitdem: erleuchtet, wie es nur je­ Französin an Vorbilder wie Guesch Patti Neuestes Beispiel: Haferflocken. Die
mand kann, der alle gesehen hat, oder Mylène Farmer aus den trendigen enthalten nämlich viele »Slow Carbs«
überall war – und John Coltrane Achtzigerjahren. Mit dieser »nouvelle und Antioxidantien, weiß der Ernäh-
kannte. Sein neues Album ist eine Art nouvelle vague« findet Portanet nicht rungsmediziner zu berichten. Und
Vermächtnis. Lloyd sucht musikalisch nur zu ihren Ursprüngen zurück, stellt einen Zwei-Wochen-Masterplan
Booker Little auf, einen legendären ­sondern vielleicht auch bald den inter­ auf, an dessen Ende man, natürlich,
Saxofonisten, der 1962 mit 23 Jahren nationalen Erfolg. Andreas Borcholte ein neuer Mensch ist.
starb (»Booker’s Garden«), und 6 Steffen Henssler: Hundert Klassiker
nimmt noch einmal den Spiritual auf, Gräfe und Unzer; 29,90 Euro

den er in dem legendären Konzert 7 Ella Mills (Woodward): Deliciously


spielte, das eigentlich am 11. Septem­ Ella – Healthy Made Simple
ber 2001 stattfinden sollte, dann ver­ Berlin Verlag; 25 Euro

schoben wurde und dessen Aufnahme 8 Yotam Ottolenghi:


bis heute eine seiner schönsten Plat­ Simple. Das Kochbuch
ten ist: »Lift Every Voice and Sing!«. Dorling Kindersley; 34,95 Euro

»Meine Neigung, das Saxofon bei­ 9 Weight Watchers: Weight Watchers –


seitezulegen und zurück in die Wälder der neue 4 Wochen Powerplan
zu gehen, habe ich noch einmal für Gräfe und Unzer; 19,99Euro

eine Saison verschoben«, schreibt nun 10 Matthias Riedl: Meine 80 besten


Lloyd. ­Mögen es noch viele weitere Rezepte gegen Bauchfett
Jahre werden. Tobias Rapp Sängerin Portanet Gräfe und Unzer; 26 Euro

28 Bestseller im Auftrag des SPIEGEL ermittelt vom Fachmagazin »BuchMarkt« (Daten: media control); Fotos: Universal Music, Tomas Eyzagiurre / Duchess Box Records
Die Kochprobe

Soll man das Rezept nennen? von diesem Buch. Wer lieber an die
Hand genommen werden will und mit
Anette Dieng und genauen Angaben versehen, lasse besser
die Finger davon.
Ingela Persson: Junges Gemüse Der Sellerie und die Avocado aus der
Pfanne gefielen mir gut; dass Avocado
überhaupt gebraten werden kann, habe

D ieses Buch zog ich aus dem Regal


in der Buchhandlung, weil es so
­anders ist. Es ist nicht neu, sondern
bel, finde ich: Man guckt in den Kühl­
schrank und schaut nach, was da liegt
und was man damit anfangen kann. Ich
ich vor Kurzem erst gelernt. Doch, es
funktioniert. Man muss nur selbst ent­
scheiden, wann die Avocado in der
schon vor einer Weile erschienen, die hatte Lauch, Bleichsellerie und Avocado ­Pfanne das bekommen hat, was sie
Aufmachung sagt: Ich könnte von deiner vorrätig und dachte: mal sehen. braucht.
Mutter stammen oder von der Groß­ Dies sah ich: Ich bin dann noch abgeschweift und
mutter sogar, ich werde auch dich durchs Bleichsellerie in der Pfanne gebraten, mit habe ein, zwei weitere Sachen aus dem
Leben begleiten. Helles Leinen auf dem Zwiebeln, Honig, Essig und Kräutern. Buch probiert. Den Bleichsellerie roh,
Cover, schlichter Farbdruck. Der Titel: Sellerie und Zwiebeln in Scheiben mit Zitrone und Sojasoße: schlicht,
»Junges Gemüse«. Es ist mit vielem schneiden. In Butter in einer Pfanne passt, aber ich musste eine Weile am
sparsam, wo andere protzen. Die Auto­ kurz anbraten. Honig einrühren, etwas Verhältnis zwischen Sojasoße und Zitro­
rinnen erscheinen nur als Namen, Anette Essig zufügen, salzen und pfeffern. Mit ne herumprobieren. Dann habe ich noch
Dieng und Ingela Persson, man muss frischen Kräutern bestreuen. Schmeckt Tomate nach Rezept (soll man das
sich ergoogeln, dass sie aus Schweden zum Beispiel gut mit einem Stück Zie­ eigentlich Rezept nennen?) geschmort,
sind und eine von ihnen früher mal Kö­ genkäse. mit Zitrone und Ingwer; nicht so groß­
chin war. Kein Gedöns, kein Auftritt mit Und das: artig, aber das mag auch daran liegen,
Posaune, nicht das, was man von Fern­ Avocado in der Pfanne gebraten mit dass man zurzeit alles mit frischen
sehköchen kennt: Hier bin ich, der Meis­ Lauch und Essig ­Tomaten bleiben lassen sollte, weil es
ter, und jede Zwiebel sollte sich glücklich Eine nicht ganz reife Avocado in Schei­ gerade keine großartigen Tomaten gibt.
schätzen, dass sie von meinen Händen ben schneiden. In einer Pfanne zusam­ Und eines fiel mir auf bei der Tomate,
geschält und zerstückelt werden darf. men mit geschnittenem Lauch in Oliven­ liebe Anette Dieng, liebe Ingela Pers­
Gemüse also. 800 Rezepte darüber, auf öl erhitzen. Mit Essig beträufeln, salzen son: Da fehlte jeder Hinweis auf Pfeffer
engem Raum. Ich hatte Gemüse bisher und pfeffern. Passt zu Räucherlachs und Salz. Macht ihr das ohne? Wirklich?
meist in der Nebenrolle gesehen und oder Graved Lachs. Wirklich???
überlasse ihm jetzt häufiger die Bühne Man nehme: so viel, wie man meint.
als Hauptfigur; dieses Buch erlaubt bei­ Mengen stehen da nicht, Zeiten meis­ Barbara Supp, Autorin im Ressort Reporter
des. Jeweils einem Hauptgemüse ist ein tens auch nicht. Es ist ein Verfahren, das und Hobbyköchin mit immer höherem Gemüse-
Kapitel gewidmet, dem wird dann aller­ großes Vertrauen in die kochende Leser­ anteil, mag eigentlich alles, was da wächst.
hand beigeordnet. Durchaus praktika­ schaft setzt; wer es verdient, hat viel Außer Kürbis. Und Rosenkohl.
Illustration: Rahel Suesskind / DER SPIEGEL 29
Und das soll ich lesen?

Alarm, kulturelle Aneignung! und sich bei jeder von ihnen neidisch
fragt, ob ihr Aussehen oder ihre Biografie
Rebecca F. Kuang: Yellowface ihnen einen unfairen Vorteil verschaffen
könnte.
Hammelehle: Sie ist den Mechanismen
Keller: Diesmal wird es unweigerlich Hintergrund, konservative Fox-News- der Branche völlig ausgeliefert und dazu
wohl ziemlich meta-lastig. Denn in Re- Kommentatoren nehmen sie plötzlich in schwer abhängig von Social Media.
becca F. Kuangs Roman »Yellowface« Schutz und verteidigen die Kunstfreiheit. ­Kuang beschreibt das in der ersten Hälfte
geht es auch um die Frage: Was macht ein Einmal flüchtet sie von einer Lesung, weil des ­Romans so anschaulich, dass die Net-
Buch eigentlich zum Bestseller? Fangen sie das Gefühl nicht aushält, die Men- flix-Verfilmung nur eine Frage der Zeit
wir deshalb doch mit dem Naheliegenden schen betrogen zu haben. Aus dem lite- sein dürfte. Die zweite Hälfte des Ro-
an. Was, glaubst du, macht diesen Ro- rarischen Höhenflug wird ziemlich mans ist leider deutlich schwächer.
man, in dem es um einen geklauten Ro- schnell ein Albtraum aus Panikattacken Keller: Ich fand das Buch bis zum Ende
man geht, zum Bestseller? und Shitstorms – auch weil jederzeit he- spannend. Wie bei allen Hochstapler­
Hammelehle: Beim Lesen dachte ich: rauskommen könnte, dass sie das Manu- geschichten möchte man doch wissen, ob
dass niemand früher auf diese Idee ge- skript tatsächlich gestohlen hat. und wodurch sie zu Fall kommt.
kommen ist – eine Geschichte über die Hammelehle: Und das alles erzählt aus Hammelehle: Gerade weil Kuang sich
Identitätsdebatten unserer Zeit, aber der Perspektive der weißen Frau, die, in der ersten Hälfte des Romans derart
überhaupt nicht theoretisch, sondern weil sie der Underdog dieser Geschichte cool durch das Minenfeld der Identitäts-
leicht zu lesen. Ein bisschen Satire, ein ist, nicht unsympathisch wirkt. Hattest du politik bewegt, hätte ich mir gewünscht,
bisschen Krimi. Im Buch bemächtigt sich nicht auch etwas Verständnis für sie? dass sie auch in der zweiten Hälfte die
eine junge weiße Autorin des Manu- Keller: Ich glaube, der Roman ist auch Spannung aus den daraus entstehenden
skripts einer toten asiatischstämmigen deshalb so gut, weil man sogar sehr viel Konflikten zieht.
Freundin, nach dem diese an Pangan- Verständnis für June Hayward ent­ Keller: Ich hätte mir einzig ein weniger
Pfannkuchen erstickt ist, und hat damit wickelt. Sie tat mir eigentlich durchge- vorhersehbares Ende gewünscht. Aber
ungeheuren Erfolg. Doch weil es in die- hend leid. Sie war mal ein Mädchen, das das hat meine Freude an dem Buch wirk-
sem Bestseller um Chinesen geht, sieht sich einfach gern in Geschichten verloren lich nur ganz minimal geschmälert.
sie sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, hat. Es gibt eine Szene, in der sie sehn-
sie habe sich als Weiße eine asiatische süchtig eine Gruppe junger Schreib­ Maren Keller ist Redakteurin im Ressort Le­
Perspektive angemaßt. Alarm, kulturelle schüler und Schreibschülerinnen durch ben. Sie hätte nicht für möglich gehalten, dass
Aneignung! ein Fenster ­dabei beobachtet, wie sie sich sie ausgerechnet durch einen Unterhaltungs­
Keller: Im Internet wird ihr unterstellt, gegenseitig begeistert ihre Texte vor- roman etwas über das Schicksal chinesischer
einen Asienfetisch zu haben, ihr Verlag lesen. So war June auch einmal. Bevor Arbeiter während des Ersten Weltkriegs lernt.
lässt sie unter einem Pseudonym publi- der Buchmarkt sie in eine Einzel­ Sebastian Hammelehle ist Autor im Kultur­
zieren, das nahelegt, sie habe womöglich kämpferin verwandelt hat, die in anderen ressort. Er hätte nicht erwartet, dass Identitäts­
doch zumindest einen irgendwie diversen Autorinnen nur Konkurrentinnen sieht politik Spaß machen kann.
30 Illustration: Rahel Suesskind / DER SPIEGEL
REDEN WIR
ÜBER ISRAEL

Richard C. Schneider, SPIEGEL-Autor und langjähriger Israel-Korrespondent der ARD,


lebt seit fast 20 Jahren in Tel Aviv, kennt Alltag und Geschichte des Landes
und weiß um die gängigen Vorurteile in Deutschland.
Bei den Antworten auf fünf oft gestellte Fragen setzt er an,
um einige grundlegende Dinge über Israel zu erklären –
75 Jahre nach der Staatsgründung und in einem entscheidenden Moment
für die Demokratie des Landes.

www.dva.de
WER EIN LEBEN RETTET,
RETTET DIE GANZE WELT

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