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Die schulische Leistungsfähigkeit wird in hohem Maße durch die sprachliche Entwicklung und die au-
ditive und visuelle Wahrnehmung bestimmt. In den Jahren 2004 und 2005 haben wir 1859 Mensch-
Zeichnungen von Vorschulkindern anhand von altersadäquaten Bewertungskriterien ausgewertet.
Dabei zeigte sich eine weitgehende Normalverteilung der Ergebnisse, so dass die von uns als
„Mensch-Zeichentest“ (MZT) bezeichnete Bewertungsskala als Screeningtest in dieser Altersstufe ge-
eignet erscheint.
Mit zunehmender Dauer des kindlichen Fernsehkonsums sanken die Leistungen im MZT signifikant
ab (10,4 Punkte bei <60 min/Tag vs. 6,4 Punkte bei täglich 180 min und mehr; p <0,001). Vergleichba-
re Leistungsunterschiede ließen sich auch in Abhängigkeit vom elterlichen Rauchen ermitteln (9,8
Punkte in Nichtraucher-Familien vs. 8,8 Punkte bei elterlichem Zigarettenkonsum; p <0,001). Kinder
mit pränataler Nikotinbelastung zeigten im Vergleich zu ausschließlich postnataler Nikotinbelastung
eindeutig schlechtere Ergebnisse (7,8 vs. 9,2 Punkte; p <0,001).
Die zeichnerische Abbildung der richtigen Fingerzahl setzt Mengenverständnis und visuelle Wahr-
nehmung voraus. Sowohl ein hoher Fernsehkonsum als auch elterliches Rauchen gehen einher mit
deutlich höherer Wahrscheinlichkeit für eine falsche Fingerzahl im MZT (relatives Risiko (RR) 2,8 bei
Fernsehdauer ab 90 min/Tag bzw. RR 1,9 bei passiver Nikotinbelastung; p <0,001).
Die Ergebnisse zeigen einen eindeutigen Zusammenhang zwischen hohem Fernsehkonsum oder el-
terlichem Rauchen einerseits und Defiziten in der visuellen Wahrnehmung oder im Mengenerfassen
andererseits. Dies sind weitere Hinweise, dass die schulische bzw. kognitive Leistungsfähigkeit von
Kindern durch Rauchen und Medienkonsum beeinträchtigt wird. Präventive Maßnahmen sind zu dis-
kutieren.
Einleitung für eine optimale Hirnreifung ge- In der zweiten Phase erlernt das
schaffen [22, 24]. Wenn die synapti- Kind spielerisch einen Bogen, einen
In den letzten Jahren wurde ver- schen Vernetzungen nicht benutzt Kreis und einen Punkt darzustellen.
schiedentlich auf die Gefahr von Le- werden, baut sie das ZNS wieder ab
se- und Rechtschreibstörungen im Danach beginnt die dritte Phase mit
[22]. Mangelnde Zuwendung und dem Darstellen einfach strukturier-
Zusammenhang mit übermäßigem Förderung führt zu „sozialer Depri-
Medienkonsum hingewiesen [6, 23]. ter Menschenformen. Weltweit
vation“ mit kindlichen Entwick- durchlaufen die meisten Kinder die-
Die medizinischen Folgen des Niko- lungsdefiziten.
tinkonsums sind zwischenzeitlich se einzelnen Phasen. Kolb bezeich-
gesellschaftliches Allgemeinwissen. nete dieses bildhafte Gestalten als
Diese Arbeit beschäftigt sich mit Bildhafte Wahrnehmung die zweite Muttersprache des Kindes
Aspekten der kognitiven Entwick- Die bildhafte Wahrnehmung ent- [16]. Die visuelle Wahrnehmung und
lung von Vorschulkindern und der wickelt sich auf der Basis vorhande- Verarbeitung berührt zentrale neu-
Frage, inwieweit Medienkonsum nen Wissens und neuer Signale, die rophysiologische Prozesse, sie kor-
und Passivrauchen auf diese Ent- von einem Objekt ausgehen. Somit reliert mit der allgemeinen kogniti-
wicklung Einfluss nehmen. ist die Wahrnehmung ein aktiver ven Entwicklung des Kindes [11, 25].
Prozess, der durch schon vorhande-
Passivrauchen und
Kognitive Entwicklung nes Wissen gesteuert wird. Die lang-
fristige Verinnerlichung von bildhaf- Medienkonsum
in der Kindheit ten Formen bezeichnet man als bild- Nikotinbelastung während der
Kinder brauchen in den ersten 6 Jah- hafte Wahrnehmung oder Bildspra- Schwangerschaft hat vielfältige ne-
ren Zeit, um ihre Umgebung mit all che [16]. Eine wichtige Stufe im Er- gative gesundheitliche Folgen für
ihren Sinnen zu be-greifen. Nur lernen der Bildsprache ist im 2. Le- Mutter und Kind [1,3,9,15,20,21].
durch ausgiebiges Spielen in allen bensjahr die sogenannte Kritzelpha- Inwiefern negative Auswirkungen
möglichen Varianten werden die se. Dieses Striche-machen ist Aus- für die kognitive Entwicklung oder
synaptischen Vernetzungen zwi- druck der Freude an Bewegung ge- für die visuelle Wahrnehmung und
schen den verschiedenen Hirnzen- paart mit der Erfahrung der Selbst- Verarbeitung bestehen, sollte die
tren verstärkt und Voraussetzungen wirksamkeit. vorliegende Untersuchung abklären.
1
Schempp CM, Pelz K, Wittmer A, Schöpf E, Simon JC (1999), Lancet 353:2129 BE/TH/01
FORUM
Ergebnisse
Fernsehkonsum
94 % der Kinder entwickelten regel-
mäßige Fernsehgewohnheiten um
den 3. Geburtstag. Die durchschnitt-
liche tägliche Fernsehdauer aller
Kinder im Befragungszeitraum er-
gab einen Mittelwert von 62,2 Minu-
ten.
36 % der Vorschulkinder saßen bis
maximal 30 Minuten täglich vor dem
Bildschirm, was den Empfehlungen
der Bundeszentrale für gesundheitli-
che Aufklärung entspricht. Weitere
38,2 % der Kinder verbrachten bis Abb. 2: Verteilung der Ergebnisse im MZT (n=1859): Die Normalvertei-
maximal 89 Minuten täglich vor dem lungskurve ist im oberen Bereich abgeschnitten, so dass eine Leistungs-
Bildschirm. Bei diesen 74,2 % der differenzierung bei sehr guten Kindern nicht möglich, in der Praxis aber
Kinder ließ sich eine durchschnittli- auch nicht erforderlich ist.
che Fernsehzeit von 41 Minuten pro
Tag ermitteln.
25,8 % der Vorschulkinder saßen abgeschnitten, so dass eine Leis- andere weibliche Personen (Mutter,
90 Minuten und länger vor dem Bild- tungsdifferenzierung bei sehr guten Schwester, Freundin) malten. Die
schirm (durchschnittlich 127 Minu- Kindern nicht möglich, in der Praxis Jungen stellten sich in 71,7 % selbst
ten). Im ländlichen Bereich bezie- aber auch nicht erforderlich ist. Im dar und malten in 11,5 % andere
hungsweise in Wohnorten bis Mittel erreichten die Kinder 9,5 männliche Personen (Vater, Bruder,
10.000 EW gehörten 20,2 % der Viel- Punkte (10. Perzentile 7 Punkte, 25. Freund). 9,9 % der Mädchen und
sehergruppe an, in größeren Wohn- Perzentile 8 Punkte, 75. Perzentile 6,9 % der Jungen zeichneten jeweils
orten ab 10.000 EW lag der Anteil 11 Punkte, 90. Perzentile 12 Punkte). eine Person des anderen Ge-
bei 30,8 % (p <0,001). Typische Zeichnungen von Kindern schlechts. Die restlichen befragten
Mehrsprachig aufwachsende Kinder ohne besondere Belastungsfaktoren Kinder konnten ihr Kunstwerk kei-
(27 %) benutzten den Bildschirm täg- sind in der Abbildung 1a zu sehen. ner Person zuordnen. Diese Ergeb-
lich durchschnittlich 100 Minuten Bei der Befragung des Teilkollektivs nisse bestätigen, dass die ge-
und lagen damit deutlich über dem 2005 ergab sich, dass sich die schlechtsneutrale Bezeichnung
Gesamtmittelwert von 62,2 Minuten. Mädchen in 61,7 % in den Zeichnun- „Mensch-Zeichentest“ gerechtfertigt
Kinder mit extrem langen Fernseh- gen selbst darstellten und in 20,7 % ist.
zeiten (bis 5 Std.) fielen in der Unter-
suchung häufig durch Verhaltens-,
Sprach- und motorische Störungen,
eine verarmte Mimik und Gestik so- Täglicher Medien- Mittelwert Anzahl der Punktwert
wie Aufmerksamkeitsstörungen auf. konsum in Minuten in Minuten Kinder im MZT
0 – 59 26 579 10,4
Nikotinabusus der Eltern
60 – 119 66 404 10,1
Während der Schwangerschaft hat-
120 – 179 147 112 8,1
ten 11 % der Mütter geraucht und
nach der Geburt stieg der Anteil der > 180 201 66 6,4
Raucherinnen auf 21,2 %. Keine der
Mütter, die in der Schwangerschaft Tab. 1: Mittelwerte im MZT in Abhängigkeit vom Medienkonsum bei Vor-
geraucht hatten, beendeten ihren Ni- schulkindern aus Nichtraucher-Familien (n = 1161)
kotinkonsum nach der Geburt des
Kindes. 26,2 % der Väter gaben ei-
nen Zigarettenkonsum an. Insge-
samt waren 37,5 % der Kinder von Täglicher Zigaretten- Mittelwert Anzahl der Punktwert
Passivrauchen betroffen, ohne Un- konsum der Eltern Zigarettenkonsum Kinder im MZT
terschied zwischen ländlichen und
0 0 1161 9,8
städtischen Wohngebieten (ab
10.000 Einwohner). 1– 9 5 111 9,8
10 – 19 14 388 9,0
Mensch-Zeichentest 20 – x 29 199 7,8
Die anscheinend normale Verteilung
der Punktwerte aus 1859 Zeichnun- Tab. 2: Mittelwerte im MZT in Abhängigkeit von der Passiv-Rauchbelas-
gen (Abb. 2) ist im oberen Bereich tung bei Vorschulkindern (n = 1859)
Mengenerfassung im MZT
Faktoren für die Ergebnisse im lungsuntersuchung lassen es nicht Die aktive Abbildung der richtigen
Mensch-Zeichentest zu, die genauen psychischen Belas- Fingerzahl setzt voraus, dass die
tungsfaktoren ausreichend abzu- Vorschulkinder ein gewisses Men-
Fragmentierte Körperdarstellun- klären. Diese Probanden erreichten
gen: 35 Zeichnungen (1,8 %) wurden genverständnis besitzen und dass sie
im MZT einen Mittelwert von 6,3 schon bewusst wahrgenommen ha-
von der allgemeinen Bewertung aus- Punkten und lagen damit deutlich
geschlossen, weil der Mensch frag- ben, dass jede Hand 5 Finger hat. Bei
unter dem Gesamtdurchschnitt von der Auswertung der Bilder hinsicht-
mentiert dargestellt wurde (Abb. 1d). 9,5 Punkten.
Entsprechend der Literatur kann lich der dargestellten Fingerzahl im
dies ein Hinweis auf eine einschnei- Fernsehen: Je länger die Kinder vor MZT ergab sich sowohl ein Zusam-
dende psychotraumatische Erfah- dem Bildschirm saßen, desto gerin- menhang mit der Dauer des Medien-
rung in der Vorgeschichte sein [25]. ger waren die durchschnittlichen konsums als auch mit dem Passiv-
Die Bedingungen bei der Einschu- Punktwerte im MZT (Tab. 1, Abb. 1b, rauchen der Vorschulkinder:
Diskussion
Die Wahrnehmung und Internalisie-
rung von Bildern gehört zur norma-
len Entwicklung von Kindern; die
Fähigkeit dazu ist ein wesentlicher
Baustein für die Schulfähigkeit.
Wir haben den klassischen Mann-
Zeichen-Test modifiziert und auf Be-
urteilungskriterien reduziert, die für
Vorschulkinder relevant sind. Die
Ergebnisse von knapp 2000 Zeich-
nungen im Vorschulalter bei Anwen-
dung dieses Maßstabes weitgehend
normal verteilt, so dass davon aus-
zugehen ist, dass die ausgewählten
Beurteilungskriterien das normale
Spektrum der Fähigkeiten in dieser
Altersgruppe abbilden. Die jetzigen
Ergebnisse und die Erfahrung in den Abb. 5: Zusammenhang zwischen der passiven Rauchbelastung und den
letzten zwei Jahren lassen uns den Ergebnissen im MZT dargestellt als Anteile in Prozent (n = 1859; davon
MZT als Screeningmethode geeignet 1161 Kinder aus Nichtraucherfamilien (NR), 494 Kinder mit postnataler
erscheinen, eine grobe Einschätzung und 204 Kinder mit prä- und postnataler Rauchbelastung).
der visuo-motorischen Entwicklung
von Kindern im Einschulungsalter
vorzunehmen. Als untere Norm in 7-fach höhere Nikotinmenge im Ver- und Tod durch Atemlähmung [9].
der Beurteilung sind ein Mindest- gleich zu Kindern in Nichtraucherfa- Der Raucher kann seinen Nikotin-
wert von 7 Punkten, was der 10. Per- milien zu messen [18]. Die Reizung spiegel aktiv beeinflussen und
zentile entspricht, zu empfehlen. Das von Nikotinrezeptoren in sympathi- durchaus positive Effekte wie Beru-
Ergebnis des MZT gibt ergänzende schen und parasympathischen higung, Konzentrationssteigerung
Hinweise für die kognitive Entwick- Ganglienzellen sowie im ZNS führt und Wohlbefinden erzielen. Das pas-
lung eines Kindes [11]. Außerdem beim Menschen zu ganz unter- siv rauchende Kind kann dies nicht
ergeben sich Anhaltspunkte auf das und ist den Rauchschwaden der Er-
schiedlichen Reaktionen im Sinne ei-
Selbstbild des Kindes und auf psy- wachsenen in der Wohnung und im
ner komplexen Pharmakodynamik,
chische Probleme, die weiter eruiert Auto ausgesetzt.
die abhängig von der Dosis zu völlig
werden können.
unterschiedlichen Zuständen führt.
In kleinen Dosen wirkt Nikotin anre- Rauchen ist schlimm
Medienkonsum begrenzen gend, auch beruhigend und konzen- Die vorliegenden Ergebnisse zeigen
Das Ergebnis der jetzigen Elternbe- trationssteigernd. Außerdem stei- einen eindeutigen Zusammenhang
fragung bestätigt erneut, dass Kin- gert Nikotin die Dopaminfreisetzung zwischen elterlichem Rauchen und
der – nicht nur im Vorschulalter – im mesolimbischen System. Größere den Leistungen des Kindes in der vi-
länger vor dem Bildschirm sitzen als Nikotindosen führen zu Konzentrati- suellen Wahrnehmung. In der Lite-
von namhaften Institutionen wie der onsschwäche, motorischer Unruhe, ratur ist beschrieben, dass Kinder,
Bundeszentrale für gesundheitliche Tachykardie bis hin zu Krämpfen deren Mütter in der Schwanger-
Aufklärung (BzgA) empfohlen wird.
Unseres Erachtens ist dies auch ein
Auftrag an uns Kinder- und Jugend-
ärzte, die Eltern regelmäßig auf die
Begrenzung des Medienkonsums
hinzuweisen. Von der BzgA werden
maximal 30 Minuten für Vorschul-
kinder und maximal 1 Stunde für
Schulkinder angegeben.
Es dürfte zwischenzeitlich zum ge-
sellschaftlichen Allgemeinwissen
gehören, dass Rauchen in der
Schwangerschaft und im Zusam-
mensein mit Kindern gesundheitli-
che Probleme vor allem auch bei Kin-
dern zur Folge hat [1,3,17]. Dennoch
rauchten 11 % der Mütter in der
Schwangerschaft, und es sind 37,5 %
der Vorschulkinder von einer passi-
ven Nikotinbelastung betroffen. Abb. 6: Zusammenhang zwischen der Darstellung der richtigen Finger-
Nikotin ist ein starkes Gift [14] und zahl im MZT und den Einflussfaktoren Fernsehdauer (Wenigseher =
entsprechend des Berichtes von Matt 0–<90 min täglich, Vielseher = mind. 90 min täglich) und Passivrauchen
ist bei diesen Kindern im Blut die (n = 1859)