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Die Zahl der Seilriss-Meldungen bei der Si-

cherheitsforschung steigt. Christoph Hum-


mel und Florian Hellberg informieren über
den aktuellen Wissensstand zum Thema,
geben Unfallbeispiele und zeigen mögliche
Gegenmaßnahmen.
Illustration: Goerg Sojer

machen (Abb. 2): Säure, Schmelzverbren­


nung, Steinschlag und Kanten verschiede­
ner Arten. An die Brisanz von Säure, be­
sonders von Schwefelsäure aus Batterien,
wollen wir zum wiederholten Mal erin­
nern. Sechs von elf gemeldeten Säure-Un­
fällen ereigneten sich in den letzten zehn
Jahren! Säure reduziert die Festigkeit von
Seilrisse

WeiSSt du,
Seilen drastisch, die Schädigung ist aber
äußerlich nicht erkennbar. Deshalb Seile
nie in der Nähe von potenziellen Säure­
quellen wie etwa Autobatterien lagern!

wo die Kante
Die Gefahr von Schmelzverbrennun-
gen dagegen scheint in der Klettergemein­
schaft weitestgehend bekannt zu sein. Nur

lauert?
zwei Komplettseilrisse (1994 und 2003) im
gesamten Meldezeitraum sind auf diese
Ursache zurückzuführen.
Steinschlag kann Seile nicht nur beschä­
digen, sondern sogar vollständig durch­
trennen – er muss das Seil nur „richtig“
treffen. Auch parallel geführte Halbseile

S
können so gleichzeitig gekappt werden!
eit Pit Schubert weiß die Kletter­ DAV-Sicherheitsforschung fort – mittler­ Bei 34 der 53 ausführlicher dokumentier­
szene, dass Seile eigentlich nicht weile umfasst sie 92 Meldungen mit 64 ten Unfälle spielen Kanten (Fels- oder Me­
reißen. Kritisch sind nur – und das Komplettseilrissen; und die Meldungen tallkanten) die entscheidende Rolle. Einge­
ist auch bekannt – Belastungen häufen sich in den letzten Jahren (Abb. 1). schliffene, scharfkantige Karabiner sollte
über Kanten. Schubert hatte seit den 1960er Müssen wir uns Sorgen machen? man aussortieren! Insbesondere bei Fixexen
Jahren Unfälle mit Seilrissen gesammelt in Sportkletterrouten lohnt sich deshalb ein
und innerhalb von zwanzig Jahren nur ei­ Wie kann ein Seil reißen? prüfender Blick vor dem Einhängen (s. Pano­
nen durch Kanteneinfluss festgestellt. Das Aus den vorliegenden Meldungen lassen rama 5/2013). Seile können im Karabiner zu­
war beruhigend. Seine Sammlung führt die sich vier unterschiedliche Ursachen aus­ dem reißen, wenn das Seil nicht vollständig

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Seilrisse Sicherheitsforschung

Quelle: DAV-Sicherheitsforschung
Abb. 1: Komplette Seilrisse, die der DAV-Sicherheitsforschung bekannt wurden (n = 64)
5

0
1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015

eingehängt ist und über die „Karabinernase“ ein Einfachseil nur zwei Normstürze hal­ cker, desto kantenfester ist ein Seil (s. Pa­
belastet wird. Bei den drei Metallkanten-Un­ ten, heute werden mindestens fünf ver­ norama 5/2012). Unter ungünstigen Um­
fällen in Abbildung 2 handelt es sich einmal langt. Trotz steigender Anforderungen ständen kann aber jedes Seil bei Kantenein­
um einen Ablassunfall, einmal um einen Un­ konnten die Hersteller das Metergewicht fluss reißen! Was sagt die Statistik dazu? Elf
fall beim Brückenspringen und einmal um seitdem fast halbieren! Das momentan Unfallmeldungen entsprechen folgenden
einen Seilriss an einer nicht eingeklappten leichteste zertifizierte Einfachseil auf dem Kriterien: Einfachseil, Komplettriss durch
Kurbel einer Eisschraube (bergundsteigen Markt hat ein Metergewicht von 48 Gramm Kanteneinfluss, Durchmesser bekannt. Sie
4/10). Die 23 Seilrisse durch Felskantenein­ bei einem Durchmesser von nur 8,5 Milli­ können den Verdacht, leichtere und dünne­
fluss sind besonders besorgniserregend, metern. Und das, obwohl das Material im­ re Seile wären die Ursache für häufigere
denn anders als die oben genannten Ursa­ mer noch dasselbe ist wie vor fünfzig Jah­ Seilrisse, nicht bestätigen: Nur zwei waren
chen kann man sie nicht durch relativ sim­ ren. Nur Polyamid bietet gleichzeitig die dünner als neuneinhalb Millimeter, neun
ple Maßnahmen ausschließen. Festigkeit und die Dehnbarkeit, die ein waren dicker (Abb. 3). Allerdings muss man
Kletterseil braucht. bedenken, dass dünne Seile erst im Kom­
Dünne Seile als Problem? In den letzten Jahren wurde häufig spe­ men sind. Beim Hersteller Mammut stieg
Seit den 1960ern haben sich die Normen kuliert, dass die Zunahme der Seilrisse von der Anteil der verkauften Seile unter 9,5 mm
wie auch die Seile weiterentwickelt. Bei der den immer leichter und dünner werdenden von 2012 bis 2015 von vier auf rund acht Pro­
ersten verbindlichen Normprüfung musste Seilen kommen könnte. Natürlich gilt: Je di­ zent, bei Edelrid zwischen 2013 und 2016

Quelle: DAV-Sicherheitsforschung
Abb. 2: Komplett-Seilrisse mit bekannter Ursache (n = 53) Abb. 3: Seilrisse seit 1995 unter
Kanteneinfluss, Seildurchmesser bekannt (n = 11)
6 9
11 8
7
6
2 5
4
eingeschliffener Karabiner
3
Metallkante
23 9 2
Felskante
Steinschlag 1
Säure 0
3
Schmelzverbrennung Seildurchmesser < 9,5 mm Seildurchmesser ≥ 9,5 mm

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Illustrationen: Georg Sojer, Foto: DAV-Sicherheitsforschung
Abb. 4: Läuft das Seil durch einen ein­ge­schliffenen Abb. 5: Die Schnittbelastung durch eine Abb. 7: Durch lange Exen kann man die
Karabiner, kann es durch die Scher­belastung an Pendelbewegung beim Sturz, Ablassen oder Ge­fahr verringern, dass das Seil über eine
der Kante durchtrennt werden. Abseilen kann ein Seil regelrecht durchsägen. Kante belastet wird.

von 5,5 Prozent auf 16,5 Prozent – seit 2010 Schnittbelastung auf das Seil, es wird dann sein Friend im Stich gelassen hat. Glückli­
ist die Tendenz zum dünnen Seil also deut­ quasi durchgesägt (Abb. 5). Die Schnittbe­ cherweise steht er ohne ernsthafte Verlet­
lich steigend. lastung ist meist von größerer Bedeutung zungen wieder auf, wundert sich dann aber
Wie aber lässt sich dann die Zunahme als die Scherbelastung und kann auch an ei­ sehr: Der Friend hängt oben im Riss, das Seil
an Seilrissunfällen erklären, die die DAV-­ ner runden Kante fatale Folgen haben (sie­ ist etwa fünfzig Zentimeter hinter dem An­
Sicherheitsforschung registriert? Wir ge­ he Seilrissbeispiele #1 und #2). seilknoten gerissen! Was war geschehen?
hen von zwei Ursachen aus: Zum einen Ausschlaggebend für die Gefahr sind Das Zehn-Millimeter-Einfachseil war an
nehmen wir seit der Ära Schubert alle Un­ letztlich viele Faktoren: Oberflächenbe­ diesem Tag erst zum zweiten Mal im Ein­
fälle in unsere Sammlung auf, nicht mehr schaffenheit und Form der Kante, die Last, satz und noch in sehr gutem Zustand. Die
nur die von Deutschen oder Österreichern. unter der das Seil steht, der Seildurchmes­ Untersuchung der Bruchstelle durch den
Zum anderen vermuten wir, dass durch ser, die Schnittgeschwindigkeit, der Seilein­
die modernen Kommunikationsmöglich­ laufwinkel und wie kleinflächig das Seil der
keiten mehr Informationen bis zu uns vor­ Schnittbelastung ausgesetzt ist. Welcher
dringen. dieser Parameter wie schwer zu gewichten
ist, ist noch nicht vollständig erforscht. Fol­
Was macht die Kante gende Unfallbeispiele veranschaulichen ihr
mit dem Seil? komplexes Zusammenwirken.
Bei Kanteneinfluss tritt eine Scherbe-
lastung auf. Diese kommt beispielsweise Seilriss #1
am Grat eines vom vielen Gebrauch einge­ Ein Kletterer steigt in die „Direkte Herbst­
schliffenen Karabiners (Abb. 4) zustande. route“ am Backelstein in der Pfalz ein. Vor
Eine große Scherbelastung entsteht auch den ersten steilen Zügen legt er einen Friend
beim Verklemmen des Seiles bei Sturz in hinter einer Piazrippe (Abb. 6). Der Friend
einem scharfkantigen Riss oder zwischen liegt ziemlich weit hinten im breiten Riss – Abb. 6: Die Unfallstelle am Backelstein, deutlich
zu erkennen sind die hellen Seilreste an der
Fels und Umlenkkarabiner. keine optimale Seilführung, aber wegen der runden Kante und der Kiesel oben.
Die verbreitete Vorstellung, dass nur Bodennähe entscheidet der Kletterer, die
„scharfe“ Kanten gefährlich sind, ist jedoch Zwischensicherung nicht zu verlängern. Als Hersteller ergab: 90 Prozent des Seiles wa­
irreführend! Kommt es im Sturzverlauf zu er kurz darauf in Piazposition mit den Fü­ ren durchtrennt worden, nur 10 Prozent
einem seitlichen Versatz des Seiles auf der ßen ungefähr auf Höhe des Friends steht, unter Last gerissen. Dabei ist die Kante, an
Kante, wie zum Beispiel beim Pendeln wäh­ rutscht ihm ein Fuß weg und er stürzt. Be­ der das Seil durchtrennt wurde, keines­
rend des Abseilens oder Ablassens, wirkt vor er auf dem Boden einschlägt, spürt er wegs besonders scharf. Aber: Sandstein ist
zusätzlich zur Scherbelastung auch eine noch einen Ruck und denkt, dass ihn wohl rau. Auf Höhe des Friends fand sich auch

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Seilrisse Sicherheitsforschung

Metergewicht ein größeres Kantenar­ hinderte den Totalabsturz. Die Beteiligten


beitsvermögen. Aber irgendwann ist die kannten die Problematik der Kantenbelas­
Grenze eines jeden Seiles erreicht. tung – bei dieser Kantenform und dem fla­
> Auch vertikal verlaufende und runde Kan­ chen Seileinlaufwinkel hätte keiner von ih­
ten können gefährlich sein. nen mit einem Seilriss gerechnet.
> Oberste Priorität zur Vermeidung von
Seilrissen hat der Seilverlauf: Durch Ver­ Was lernen wir aus diesem Unfall?
längerung der Zwischensicherung kann > Beim Abseilen und Ablassen befindet sich
oft schon im Ansatz eine Kantenbelas­ das Seil immer unter Last, so dass eine
tung vermieden werden (Abb. 7). Seitwärtsbewegung relativ schnell zu ei­
> Auch wenn es in diesem speziellen Fall ner Schnittbelastung führen kann!
Abb. 8: Mit der Halbseiltechnik kann die Gefahr
gesenkt werden, dass Steinschlag beide Stränge nicht sinnvoll gewesen wäre (Bodennähe!): > Deshalb Seitwärtsbewegungen über Kan­
gleichzeitig durchtrennt. Weiches Sichern flacht Kraftspitzen im ten beim Abseilen und Ablassen mög­
Sturzverlauf ab und kann verhindern, dass lichst vermeiden!
noch ein kleiner Kiesel, der an der Kante die gleiche Seilstelle über größere Strecken > Im „Kantengelände“ (= Felsgelände) ein­
wenige Millimeter vorsteht. Oberhalb und über eine Kante belastet wird. Gerade im zeln ablassen!
unterhalb des Kiesels sind gelbe Man­ alpinen (Kanten-)Gelände sollte dies be­
tel-Überreste zurückgeblieben, weiter un­ dacht werden! Seilriss #3
ten die weißen Schleifspuren des Seilkerns. Ein erfahrener Bergführer und Bergret­
Da sich der Sturz nur wenige Meter über Seilriss #2 ter stürzt in der Regular-Route am Half
dem Boden ereignete, hatte die Sicherin re­ Bei der Schweizer Bergführerausbildung Dome im Yosemite mit einem ausbrechen­
lativ „hart“ gesichert, so dass eine bestimmte kam es bei einer Ausbildungstour am Nest­ den Felsblock aus der Wand. Im Sturz­
Stelle des Seiles an der Kante entlangscheu­ horn zu einem Seilriss, bei dem beinahe ein verlauf wird das Seil von dem Felsblock we­
erte. Die Kombination von ungünstiger Seil­ Ausbilder und ein Aspirant ihr Leben verlo­ nige Zentimeter vor dem Einbindeknoten
getroffen und durchtrennt, der Kletterer
stürzt 150 Meter in den Tod.
Risiko durch Kanten senken!
Was lernen wir aus diesem Unfall?
Bergsport ist lebensgefährlich – Unfälle mit Seilversagen beweisen dies.
Aber sie sind immer noch sehr selten, Panik ist also nicht angebracht. Die > Auch selbst ausgelöste Steine können
Dicke des Seiles ist nur einer von vielen Parametern, die das Risiko beeinflus- schon bei wenigen Metern Fallhöhe ein
sen. Mindestens so wichtig ist Mitdenken und gefahrenbewusstes Verhalten. Seil durchtrennen. Wenn Pech im Spiel
››Auf günstigen Seilverlauf achten (z.B. Zwischensicherungen verlängern) ist, können sogar beide Halbseilstränge
››So weich wie sinnvoll, nur so hart wie nötig sichern betroffen sein – zwei derartige Unfälle
››In brüchigem Gestein Halbseiltechnik mit getrennter Seilführung anwenden sind uns bekannt!
››Beim Ablassen und Abseilen Pendelbewegungen vermeiden > In brüchigem Gestein schafft die Halb­


››Im Felskantengelände einzeln ablassen seiltechnik mit getrennter Seilführung
zusätzliche Sicherheit (Abb. 8)!

führung, hervorstehendem Kiesel, rauer ren hätten. Beim gleichzeitigen Ablassen


Kante und hartem Sichern muss zu diesem der beiden über eine kurze, überhängende
Seilriss geführt haben. Felsstufe riss das verwendete 8,7-mm-Ein­
fachseil auf einer relativ runden, aber rauen
Was lernen wir aus diesem Unfall? Granitkante, als das mit rund 150 Kilo­ Christoph Hummel ist Lehrer für Geografie
> Unter ungünstigen Umständen kann gramm belastete Seil nur ein kurzes Stück und Englisch und staatl. gepr. Berg- und
Skiführer.
auch ein neues, relativ dickes Kletterseil seitlich verrutschte (vgl. Abb. 5). Ein Absatz, Florian Hellberg ist Dipl.-Ing. (FH), staatl.
reißen! Zwar haben Seile mit höherem auf dem die beiden zum Liegen kamen, ver­ gepr. Berg- und Skiführer und Skilehrer.

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