Supplemente J ean- Fran�ois Lyotard

herausgegeben von
Hans-Horst Henschen
Der Widerstreit

Übersetzt
von
Joseph Vogl
Mit einer Bibliographie
zum Gesamtwerk Lyotards
von
Reinhold Clausjürgens

Band 6 Wilhelm Fink Verlag

 Titel der französischen Originalausgabe:
Jean -Fran�ois Lyotard, Le Differend
© Les Editions de Minuit, Paris, 1983

INHALTSVERZEICHNIS

MERKZETIEL ZUR LEKTÜRE

Titel . . . . 9
Gegenstand . 9
These . . 10
Frage . . 10
Problem 11
Einsatz . 11
Kontext . 12
Prätext . 12
Modus . 13
Diskursart 13
Stil . . 14
Leser . . 14
Autor . . 14
Adressat 15

DER WIDERSTREIT
Nr. 1-8 . . . . . 17
Exkurs Protagaras 21
1. . 21
2. . 22
3. . 23
4. . 24
ISBN 3-7705-2599-X
5. . 24
2., korrigierte Auflage 1989
©der deutschen Ausgabe: Wilhelm Fink Verlag, München, 1987 Nr. 9-27 25
Gesamtherstellurig: Graph. Großbetrieb F. Pustet, Regensburg Exkurs Gorgias . 3 6
Umschlagentwurf: Heinz Dieter Mayer Nr. 28-34 38
 INHALTSVERZEICHNIS

DAs GESCHICHTSZEICHEN
Nr. 21 8-220 . . . . 251
Exkurs Cashinahua 253
1. . 253
2. . 253
3. . 254 aAMma
4. . 254
5. . 255
6. . 256
7. . 256
8. . 256
Nr. 221-235 257
Exkurs Kant IV. 267
1 . Die historische Wissenschaft 267
2. Der Leitfaden . . . 270
3. Die Begebenheit . . . . . . . 271
4. Der Enthusiasmus . . . . . 273
5. Die unbestimmte Norm und die menschliche
Gemeinschaft . 276
6. Die Kultur 279
Nr. 236-264 . . . 282

Literaturverzeichnis 300
Gesamtbibliographie . 309
Personenregister 324
Sachregister . . . 327

Die Marginalien verweisen auf das französische Original. Das Seiten­

ende der Originalausgabe wird durch Schrägstrich (/)"im Text gekenn­
zeichnet.

/ . , U U&-L ( Pik tU
 I
Merkzettel zur Lektüre

TITE L
Im Unterschied zu einem Rechtsstreit [litige] wäre ein Wider­
streit [differend] ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei
Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da
-eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt.
Die Legitimität der einen Argumentation schlösse nicht auch
ein, daß die andere nicht legitim ist. Wendet man dennoch
dieselbe Urteilsregel auf beide zugleich an, um ihren Widerstreit
gleichsam als Rechtsstreit zu schlichten, so fügt man einer von
ihnen Unrecht zu (einer von ihnen zumindest, und allen beiden,
wenn keine diese Regel gelten läßt). At1s, der Regelverletzung
einer Diskursart resultiert ein Schaden, der unter Beachtung
eben dieser Regeln behebbar ist. Ein Unrecht resultiert daraus,
daß die Regeln der Diskursart, nach denen man urteilt, von
denen der beurteilten Diskursart(en) abweichen. Die Urheber­
rechte eines literarischen oder künstlerischen Werks können
beeinträchtigt werden (man verletzt die moralischen Rechte des
'Autors); aber das Prinzip selbst, aufgrund dessen man das Werk

I
als einen Gegenstand von Urheberrechten zu behandeln hat,
kann ein Unrecht darstellen (man verkennt, daß der »Autor<<
seine Geisel ist). Der Titel des Buches legt (mit dem gattungsspe­

I
zifischen Charakter des bestimmten. Artikels).nahe, daß eine.
Üniversale Urteilsregel in bezug auf u�gleichartige Diskursarten

l
i im allgemeinen fehlt.

GEGENSTAND
:\ · Das einzige, was unzweifelhaft ist: der Satz, weil er unmit­
telbar vorausgesetzt wird (daran zweifeln, daß man Sätze

' I 9
I
I
i
'
I
 MERKZETTEL ZUR LEKTÜRE
>Setzt<\ ist-injedemFalle >setzen<, ebenso das Schweigen). Oder
besser: die Sätze, weil der Sing"uLir den Plural aufruft (wie der
Plural den Singular) und Singular und Plural zusammen bereits
[9] Plural sind. I
THESE
Ein Satz, selbst der gewöhnlichste, wird nach einer Gruppe
von Regeln gebildet (seinem Regelsystem [regime ]). Es gibt
mehrere Regelsysteme von Sätzen. Argumentieren, Erkennen,
Beschreiben, Erzählen, Fragen, Zeigen, Befehlen usw. Zwei
Sätze ungleichartiger, heterogener Regelsysteme lassen sich
nicht ineinander übersetzen. Sie können in Hinblick auf einen
durch eine Diskursart festgelegten Zweck miteinander verket­
tet werden. Beispielsweise verkettet der Dialog eine Frage mit
einer Ostension (Zeigen) oder einer Definition (Beschreiben),
wobei der Einsatz darin besteht, daß die beiden Parteien
Übereinstimmung hinsichtlich der Bedeutung eines Referenten
erzielen. Diese Diskursarten liefern Regeln zur Verkettung
ungleichartiger Sätze, Regeln, mit denen Ziele erreicht werden
',....___ --·-
können: Wissen, Lehren, Rechthaben, Verführen, Rechtferti­
gen, Bewerten, Erschüttern, Kontrollieren . . . Es gibt keine
>>Sprache<< [Iangage] im allgemeinen, es sei denn als Gegen­
stand einer Idee.
F RAGE
Ein Satz >>geschieht<<. Wie läßt er sich weiter verketten? Mit ihrer
Regel liefert eine Diskursart einen Komplex möglicher Sätze,
und jeder von ihnen gehört einem Satz�Regelsystem an. Eine
andere Diskursart aber liefert einen Komplex anderer möglicher
Sätze. �fgrund ihrer Ungleichartigkeit besteht ein Widerstreit
::· LYOTARD verwendet hier und im folgenden die stammgleichen Voka­
beln ph rase (Satz) und phraser (Sätze bilden), deren Entsprechung im
Deutschen ungebräuchlich ist, in Analogie zur drucktechnischen
Te�inologie aber etymologi�ch einleuchtet: phrase Satz; phraser
=
=
_
(Satze) >Setzen< (Anm. d. Ubers.).
10
EINSATZ
'zwischen diesen Komplexen (oder zwischen den Diskurs arten,
ivon denen sie ins Spiel gebracht werden). Nun muß die Verket­
tung >>jetzt<< geschehen, ein weiterer Satz kann nicht ausbleiben,
das entspricht der Notwendigkeit, das heißt der Zeit, es gibt
keinen Nicht-Satz, Schweigen ist ein Satz, es gibt keinen letz­
ten Satz. Mangels eines Satz-Regelsystems oder einer Diskurs­
art, die universale schlichtende Autorität besäßen - fügt nicht
die Verkettung, gleich welcher Art, den Regelsystemen oder
Diskursarten, deren mögliche Sätze nicht aktualisiert werden,
notwendigerweise ein Unrecht zu?
PROBLEM
In Anbetracht 1 .) der Unmöglichkeit der Vermeidung von Kon­
flikten (der Unmöglichkeit von Indifferenz) und 2.) des Fehlens
einer universalen Diskursart zu deren Schlichtung oder, wenn
man das vorzieht, der zwangsläufigen Parteilichkeit des Rich­
ters : wenn schon nicht den Ort einer denkbaren Legitimation
des Urteils (die >>gute<< Verkettung), so doch wenigstens eine
�ögli�hkeit aufsuchen, die Integrität des Denkens zu retten. I [10]
. •h• .
EINSATZ
Den Leser (den ersten, den A., inbegriffen) überzeugen, daß
das Denken, die Erkenntnis, die Ethik, die Politik, die Ge­
schichte, das Sein von Fall zu Fall an den Nahtstellen zwischen
den Sätzen auf dem Spiel stehen. Das Vorurteil widerlegen, das
sich in ihm über Jahrhunderte von Humanismus und >>Human­
wissenschaften<< hinweg festgesetzt hatte : daß es nämlich den
>>Menschen<< gibt, die >>Sprache<< , daß jener sich dieser >>Spra­
che<< zu seinen eigenen Zwecken bedient, daß das Verfehlen
dieser Zwecke auf dem Mangel einer ausreichenden Kontrolle
über die Sprache beruht, einer Kontrolle über die Sprache
>>mittels<< einer >>besseren<< Sprache. Die Philosophie verteidigen
und veranschaulichen, was ihren Widerstreit mit ihren beiden
Gegnern betrifft: mit ihrem äußeren, dem ökonomischen Dis­
kurs (dem Tausch, dem Kapital), und il;merhalb ihrer selbst mit
-dem akademischen Diskurs (der Meisterdenkerschaft). Indem
man zeigt, daß die Verkettung von Sätzen problematisch und
11
 MERKZETIEL ZUR LEKTÜRE
eb en dieses Problem die Politik ist: die philosophische Politik
'abseits derer der >>Intellektuellen« und Politiker aufbauen. Den
Widerstreit bezeugen.
KONTEXT
Die >>Sprachwende« der abendländischen Philosophie (die letz­
ten Werke Heideggers, das Eindringen anglo-amerikanischer
Strömungen ins europäische Denken, die Entwicklung von
Sprach-Technologien); im Verein damit der Niedergang der
Universalistischen Diskurse (der metaphysischen Doktrinen der
Moderne: der Erzählungen [recits] vom Fortschritt, vom Sozia­
lismus, vom Überfluß, vom Wissen). Die >>Theorie«-Müdigkeit
und die elende Erschlaffung, die sie begleitet (Neo-dies, Neo­
das, Post-dieses, Post-jenes). Die Stunde des Philosophierens.
PRÄTEXT
· schlichten (im Gegensatz etwa zum spekulativen oder analyti­
_Die _h�id !;!g_ Denkrichtl1gg('!n, _yoi1_ denen der A. einen Wink
- ; -
erhält: der IG.nt der ;d�itten« Kritik 'und der historisch-politi-
-·schen Texte (>>vierte<< Kritik), der Wirtgenstein der Philosophi­
schen Untersuchungen und der Nachlaßschriften. Im Kontext,
den der A. sich ausmalt, sind sie Epiloge der Moderne und
Prologe einer achtenswerten Postmoderne. Sie konstatieren den
Niedergang der universalistischen Doktrinen (leibniz'scher oder
[ 1 1] russellscher Metaphysik). Sie befragen die Begriffe, in denen I
diese Doktrinen den Widerstreit glaubten schlichten zu können
(Wirklichkeit, Subjekt, Gemeinschaft, Zweckmäßigkeit). Sie
befragen sie strenger, als es die busserlsehe >>Strenge Wissen­
schaft<< tut, deren Vorgehen auf eidetischer Variation und trans­
zendentaler Evidenz beruht, den allerletzten Hilfsquellen der
cartesianischen Moderne. -Demgegenüber sagt Kant, daß es kei-
_!le verstandesmäßige Anschauung gibt, und Wittgenstein, daß
die Bedeutung eines Ausdrucks in seinem Gebrauch liegt. Die
ungezwungene Prüfung von Sätzen mündet in die Dissoziation
(Kritik) ihrer Regelsysteme (Trennung der Vermögen und ihr
Konflikt bei Kant; Entflechtung der Sprachspiele bei Wittgen­
stein). Sie bereiten das Denken der Dispersion vor (Diaspora,
schreibt Kant), das dem A. zufolge unseren Kontext bildet.
12
DISKURSART
Heute muß ihr Erbe von der Schuldenlast des Anthropomor­
phismus befreit werden (der Begriff des »Gebrauchs<< bei beiden,
der transzendentale Anthropologismus bei Kant, der empirische
bei Wittgenstein).
Monus
Der Modus des Buches ist philosophisch, reflexiv. Als einzige
Regel ist dem A. die Prüfung von Fällen des Widerstreits aufge­
geben, ebenso die Suche nach den Regeln ungleichartiger Dis­
kursarten, die diese Fälle verursachen. Im Unterschied zum
Theoretiker gibt er die Regeln seines Diskurses nicht vor, son­
dern setzt nur voraus, daß auch dieser Regeln gehorchen muß.
Der Modus des Buches ist philosophisch und nicht theoretisch
(oder sonstwie beschaffen), insofern sein Einsatz in der Entdek�
kung seiner Regeln besteht und es deren Kenntnis nicht zum
Prinzip erhebt. Das Buch versagt es sich daher, die fraglichen
Fälle von Widerstreit nach Maßgabe seiner eigenen Regeln zu
schen Diskurs). Der Modus ist metasprachlich im Sinne des
Linguisten (sein Gegenstand sind Sätze), nicht aber im Sinne des
Logikers (es stellt keine Grammatik einer Objektsprache auf).
DISKURSART
Im poetologischen Sinne entspricht der Text der Gattung (Dis­
kursarr:-) von Betrachtungen, Anmerkungen, Gedanken, Auf­
zeichnungen zu einem Gegenstand, das heißt einer gebrochenen
Form von Essay. Ein Skizzenheft also ? Die Überlegungen sind
fortlaufend numeriert und in einzelne Abschnitte gegliedert.
Gelegentlich wird I die Reihung von »Exkursen« unterbrochen, [12]
die sich als Lektürenotizen zu philosophischen Texten verste-
hen. Das Ganze ist aber im Zusammenhang zu lesen.
':- Frz. genre bzw. genre de discours (im folgenden mit >>Diskursart«
übersetzt) besitzt eindeutig poetologische oder rhetorische Konno­
tationen, etwa im Sinne von dt. >>Gattung« oder >>Genre« (A. d. Ü.).
13
 MERKZETIEL ZUR LEKTÜRE
STIL
Das nai_ve Ideal des A. liegt darin, einen stilistischen Nullpunkt
zu erre1chen und dem Leser den Gedanken quasi mit Händen
faßbar zu präsentieren. Daraus ergibt sich bisweilen ein gelehr­
ter, schulmeisterlicher Ton, den man besser überhört. Das
Tempo des Buches ist nicht das »unserer Zeit«. Ein wenig
altmodisch? Der A. läßt sich am Schluß über die Zeit >>unserer
Zeit« aus.
LESER
Philosophisch, das heißt jeder, der nicht mit der »Sprache«
zuendekommen und »Zeit gewinnen« will. Nichtsdestoweniger
wird es der vorliegende Merkzettel zur Lektüre dem Leser
erlauben, nach Lust und Laune »über das Buch zu reden« ohne
es gelesen zu haben. (Was die_»Exkurse« betrifft, müß�e der
..
Leser ein wenig professioneller sein.)
AUTOR
Hat die vorliegenden Überlegungen angekündigt in der "Bitte
um Auslassung«'' der Rudiments paiens (1977)'''' und in der
Einleitung zu La condition postmoderne (1979 ; dt. Das postmo­
derne Wissen, Bremen 1982). Wenn er nicht zu befürchten hätte,
für transusig gehalten zu werden, würde er zugeben, diese
Arbeit gleich n�ch der Veröffentlichung der Economie libidinale
( 1974; dt. Die Okonomie des Wunsches, Bremen 1984) begonnen
zu haben. Und sogar . . . Diese Überlegungen konnten schließ­
lich nur dank eines Abkommens zwischen der Universität Paris
::- Frz. priere de desinserer: unübersetzbares Wortspiel mit priere
d'inserer Cv.:?rtlich: »Bitte um Einfügung<<, »Waschzettel« eines
Buches ; d. Ubers.).
,:_,_ Einzelne A:ufsätze daraus deutsch in Apathie in der Theorie, Berlin
1�79, und m Es:ays zu �in er affirmativen Ästhetik, Berlin 1982; cf.
_
�1e Gesamtb1bhograph1e S. 309 ff . des vorliegenden Bandes (A. d.
Ubers.).
14
,I
ADRESSAT
VIII (Vincennes in Saint-Denis) und dem C. N. R. S. (Centre
national de la Recherche scientifique; Nationales Forschungs­
zentrum) und dank des Entgegenkommens von Maurice Ca­
veing und Sirnone Debout-Oleszkiewicz, Wissenschaftlern am
C.N.R.S., das Tageslicht erblicken. Dafür sei ihnen vom A.,
wenn nicht vom Leser, gedankt.
ADRESSAT
Es wird also im nächsten Jahrhundert keine Bücher mehr geben.
Lesen ist zu langwierig, wenn Erfolg sich am Zeitgewinn mißt.
»Buch<< wird man einen bedruckten Gegenstand nennen, dessen
»Botschaft<< (Informationsgehalt) mit Namen und Titel zuerst
von den Medien, durch einen Film, ein Pressegespräch, eine
Fernsehsendung, eine Kassette verbreitet worden sein wird I [13]
mit dessen Verkauf der Verleger (der auch den Film, das Ge­
spräch, die Sendung usw. produziert) zusätzlichen Profit macht,
denn die Meinung wird dahingehend lauten: das Buch muß man
»haben<< (also kaufen), auf die Gefahr hin, sonst für einen
Dummkopf gehalten zu werden, bei Gefahr eines Risses im
sozia�en Netz, Himmel nochmal ! Das Buch wird als Dreingabe
verte1lt werden, dem Verleger wird es einen zusätzlichen finan­
zie11en Gewinn, dem Leser einen symbolischen Nutzen ver­
schaffen. Dieses Buch hier gehört mit anderen zu einer Auslauf-
serie. Trotz al1 seiner Bemühungen um Mitteilbarkeit des Den-
.
�
kens weiß er A., �aß er gesc�eitert i� t; zu umfangreich, zu lang,
. .
zu schw1eng 1st d1es a1les. D1e gutw1lhgen Förderer haben sich
verdrü� kt. Offen gest�nden hat ihn seine Schüchternheit gehin-
dert, s1e zu »kontaktieren«. Recht glücklich darüber, daß ein
V:erleger - auch er (und genauso) verdammt - zugesagt hat,
d1esen Haufen von Sätzen zu veröffentlichen.
Die Philosophen hatten niemals feste Adressaten das ist
nichts Neues. Der Bestimmungsort der Reflexion ist selbst
Gegenstand der Reflexion. Schon seit langem hält das Auslaufen
der Serie, hält die Vereinsamung an. Dennoch hat sich etwas
geändert. Und zwar das Verhältnis zur Zeit, man ist versucht zu
schreiben: der »Zeitgebrauch<<, der heute im »Raum der Ö ffent­
lichkeit<< herrscht. Nicht weil sie gefährlich oder störend wäre
weist man die Reflexion zurück, sondern einfach deshalb, weii
15
 MERKZETIEL ZUR LEKTÜRE

sie Zeit verschlingt, >>ZU nichts taugt«, jedenfalls nicht zum

Zeitgewinn. Erfolg aber besteht darin, Zeit zu gewinnen. Ein
Buch etwa hat Erfolg, wenn die erste Auflage rasch vergriffen
ist. Diese Zweckbestimmung entspricht der ökonomischen
Diskursart. Die Philosophie konnte ihre Reflexionen im Ge­
wande vieler Diskursarten (künstlerischer, politischer, theolo­
gischer, wissenschaftlicher, anthropologischer) veröffentlichen, Der Widerstreit
sicher um den Preis von Mißverständnissen und gravierenden
Fehlurteilen, aber immerhin . . . - während ihr der wirtschaftli­
che Kalkül verhängnisvoll erscheinen muß. Der Widerstreit
betrifft nicht den Inhalt der Reflexion. Er rührt an ihre äußerste Man gibt Ihnen zu verstehen, daß sprachbegabte menschliche
Voraussetzung. Die Reflexion verlangt Aufmerksamkeit gegen­ Wesen in eine Situation verstrickt wurden, die so beschaffen
über dem Vorkommnis [occurence]>:-, verlangt, daß man nicht war, daß Ihnen jetzt niemand mehr davon berichten kann. Die
bereits weiß, was geschieht. Sie läßt die Frage offen : Geschieht meisten kamen damals ums Leben, die Ü berlebenden sprechen
es ? Sie versucht, das Jetzt zu bewahren (welch mißliches selten darüber. Wenn sie sprechen, so bezieht sich ihr Augen­
Wort!)':-::-. Im ökonomischen Diskurs gilt die Regel, daß, was zeugenbericht nur auf einen winzigen Bruchteil dieser Situation.
geschieht, nur dann geschehen kann, wenn es bereits beglichen, - Wie läßt sich also in Erfahrung bringen, daß diese Umstände
also geschehen ist. Der Tausch setzt voraus, daß die Abtretung wirklich geherrscht haben? Sind sie nicht eine Ausgeburt der
im voraus durch eine Gegen-Abtretung wettgemacht wird, die Phantasie Ihres Gewährsmannes ? Entweder hat die Situation als
Auflage des Buches durch ihren Verkauf. Je schneller, desto solche gar nicht existiert. Oder es gab sie wirklich, dann aber ist
[14] besser. I . das Zeugnis Ihres Gewährsmannes falsch, denn er müßte entwe­
m
Bei Schreiben dieses Buches hatte der A. das Gefühl, nur der ums Leben gekommen sein oder schweigen, oder er kann ­
,_ dieses Geschieht es? zum Adressaten zu haben: Daran appellie­ wenn er spricht - nur seine eigene, besondere Erfahrung bezeu­
- gen, und es bleibt zu ermitteln, ob diese eine Komponente der
ren-die Sätze;· die geschehen. Und er.wird-- wohlgemerkt -
niemals wissen, ob die Sätze an ihr Ziel gelangt sind''':-::-. Und er fraglichen Situation war.
darf es nicht wissen, hypothetischerweise. -Er--weiß nur, daß
diese Unwissenheit den letzten Widerstand darstellt, den das 2
Ereignis dem rechnerischen Gebrauch der Zeit entgegenzuset-
[15] zen vermag. I »Ich habe Tausende von Dokumenten untersucht. Ich habe
Fachleute und Historiker unermüdlich mit meinen Fragen ver­
folgt. Ich habe - allerdings vergeblich - einen einzigen ehemali­
::- L:oT":RDS Verwendung des Ausdrucks occurrence (Vor-, Zufall) gen Deportierten gesucht, der mir beweisen konnte, tatsächlich
halt dte Schwebe zwischen dem franz. evenement (Ereignis) und und mit eigenen Augen eine Gaskammer gesehen zu haben«
d �m eng!. �a:urrence (Vorkommen, Auftreten) und meint sowohl (Faurisson, in: Vidal-Naquet, 1 98 1 : 227). »Tatsächlich und mit
dte Ak��allSlerung (eines Satzes) wie dessen Ereignis-Charakter eigenen Augen eine Gaskammer gesehen« zu haben wäre die
(A. d. U.).
Bedingung für die Autorität, ihre Existenz zu behaupten und
"-·"-· Wortspiel �it maintenant (jetzt) und maintenir (bewahren, erhal­

ten; A. d. U.). den Ungläubigen zu belehren.

::-::-".- LYOTARD spielt hier mit der Doppeldeutigkeit von frz. arriver: Zudem muß man beweisen, daß sie in dem Augenblick tod­
»geschehen«; aber auch: >>ankommen, eintreffen<< (A. d. Ü). bringend war, als man sie sah. Der einzig annehmbare Beweis für

16 17
·,
1
:I
I
,_.
I
I

��
I
 DER WIDERSTREIT
ihre tödliche Wirkung besteht darin, daß man tot ist. Als Toter
aber kann man nicht bezeugen, daß man in einer Gaskammer
umgekommen ist. - Der Kläger führt darüber Klage, daß man
ihn hinsichtlich der Existenz von Gaskammern getäuscht hat,
da� heißt hinsichtlich der Situation, die da heißt: Endlösung.
Sem Argument lautet: Um einen Raum als Gaskammer identi-
[16] fizieren zu können, akzeptiere ich I nur ein Opfer dieser Gas­
kammer als Zeugen; nun kann es dort - meinem Kontrahenten
zufolge - nur tote Opfer geben, sonst wäre diese Gaskammer
nicht das, was er behauptet; es gibt also keine Gaskammer.
3 Zeugenschaft nicht mehr Glaubwürdigkeit einzuräumen als
Können Sie mir, sagt der Verleger, der seinen B eruf verteidigt,
den Titel eines bedeutenderen Werkes nennen, das von allen
Verlegern abgelehnt und also unbekannt geblieben wäre? Aller
Wahrscheinlichkeit nach kennen Sie kein Meisterwerk dieser
Art, da es ja, wenn es existiert, unbekannt geblieben ist. Und
wenn Sie eines zu kennen vermeinen, können Sie nicht - da es
,, nicht an die Ö ffentlichkeit gelangt ist - behaupten, daß es, außer
I in Ihren eigenen Augen, größere Bedeutung besäße. Sie kennen
also kein einziges, und der Verleger hat recht. - Das Argument
entspricht formal dem der vorangehenden Ziffern. Die Wirk­
lichkei�i_s�_nicht diesem-oder_jenem�Subjekt<u>gegeb�n<<, sie ist
ein Zustand des Referenten(das, worüber man spricht), der aus
-
dem _Vollzug von Ermitthingsvei'faliren� die nach einem einmü­
tig gebilligten Protokoll definiert werden, hervorgeht und dar­
aus erwächst, daß jedermann diesen Vollzug beliebig oft wieder­
.·
holen kann. Das Verlagswesen wäre eines dieser Protokolle, die
Geschichtswissenschaft ein anderes.
.·
4 stand kann nicht beobachtet werden (Kant-Exkurs IV, § 1). Es
Der ibanskische�- Augenzeuge ist entweder kein Kommunist
oder er ist es doch. Wenn er es ist, braucht er nicht zu bezeugen,
* ivanien; die deutschen Übersetzer von SINOWJEWS Gähnenden
Frz.
Höhen (s. u.) notieren zu »ibanskisch«: »Enthält Anspielung auf den
18
\
y-
ERMITTLUNGSVERFAHREN
daß die ibanskische Gesellschaft kommunistisch ist, da er ja
zugibt, daß einzig die kommunistischen Behörden maßgeblich
die Ermittlungsverfahren bezüglich der Realität des kommuni­
stischen Gepräges dieser Gesellschaft durchführen können. Er
verläßt sich also auf sie, wie sich der Laie auf den Biologen oder
Astronomen verläßt, wenn es um den Nachweis eines Virus oder
eines Sternensystems geht. Wenn er diesen Behörden seine
Zustimmung entzieht, ist er kein Kommunist mehr. Man wird
dann auf den ersten Fall verwiesen : er ist kein Kommunist. Das
bedeutet, daß er die Ermittlungsverfahren bezüglich des kom­
munistischen Gepräges der ibanskischen Gesellschaft nicht an­
erkennt oder nicht anerkennen will. In diesem Fall wäre seiner
einem menschlichen Wesen, das erklärt, es habe sich mit Mars­
bewohnern verständigt. Deshalb ist es >>keineswegs verwunder-
lich, daß der Staat die Tätigkeit der Opposition generell als ein
kriminelles Vergehen betrachtet, I ganz genauso wie Diebstahl, [17]
Banditentum, Spekulation und dergleichen. [ . . . ] Es ist eine
apolitische Gesellschaft« (Sinowjew, Gähnende Höhen, 1981
[1976] : 783-784). Genauer gesagt ist dies der Wissenschaftsstaat
(Chatelet, 1 982); die Realität erkennt er nur als methodisch
ermittelte, und er verfügt über das Monopol der Ermittlungsver­
fahren bezüglich der Realität.
5
Der Unterschied zwischen dem Kommunismus einerseits und
dem Virus oder dem Sternensystem andererseits liegt jedoch
darin, daß man über Mittel verfügt, diese zu beobachten; sie sind
Gegenstände der Erkenntnis, während jener Gegenstand einer
Idee der historisch-politischen Vernunft ist, und dieser Gegen­
·gibt keine beliebig wiederholbaren und nach einem einmütig
gebilligten Protokoll definierten Verfahren, um die Wirklichkeit
russischen >Iwan< sowie a�f das russische Verb jebatj, das dem engL
to Juck entspricht« (A. d. Ü).
19
 DER WIDERSTREIT
eines ideellen Gegenstands im allgemeinen zu ermitteln. So
existiert etwa nicht einmal in der Astrophysik ein derartiges
Protokoll zur Ermittlung der Wirklichkeit des Universums, weil
das Universum ein ideeller Gegenstand ist. In der Regel ist ein in
der Kategorie des Ganzen (oder des Absoluten) gedachter Ge­
genstand kein Erkenntnisobjekt (dessen Realität man dem pro­
tokollarischen Verfahren unterwerfen kann usw. ) . »Totalitaris­
mus« wäre das Prinzip zu nennen, das das Gegenteil behauptet.
Die Forderung, daß die Realität des Satz-Referenten nach der
protokollarischen Anleitung der Erkenntnis zu ermitteln sei,
diese Forderung ist - wenn sie sich auf jeden beliebigen Satz und
besonders auf solche erstreckt, die sich auf ein Ganzes beziehen
- ihrem Prinzip nach totalitär. D arum ist es wichtig, verschiede­
ne Regelsysteme von Sätzen auseinanderzuhalten: was darauf
hinausläuft, die Zuständigkeit dieses oder jenes Tribunals auf
diese oder jene Satzart zu beschränken.
6 Das Argument lautet: entweder p oder non-p; wenn non-p, dann
Die Schlußfolgerung des Klägers (Nr. 2) müßte lauten: Da es
den Zeugen nur als Opfer gibt, das Opfer nur als Toten, so kann
keine Räumlichkeit als Gaskammer identifiziert werden. Der
Kläger dürfte nicht behaupten, daß sie nicht existiert, sondern
idaß die Gegenpartei den Beweis ihrer Existenz nicht erbringen
·kann; und dies dürfte das Gericht in hinreichende Verlegenheit
stürzen. Und für die Gegenpartei (das Opfer) dürfte es hinrei­
chen, den Beweis ihres erlittenen Unrechts beizubringen.
�-·oder nicht weiß; und: wenn es weiß ist, ist es nicht weiß.
7
Ein Unrecht wäre folgendes: ein Schaden, der als solcher nicht
nachgewiesen werden kann, da die Mittel dazu verloren gegan­
gen sind. Dies ist der Fall, wenn das Opfer seines Lebens beraubt
.
[ 1 8) w1rd - oder aller Freiheiten oder der Denk- I und Meinungsfrei­
heit oder einfach des Rechtes, diesen Schaden zu bezeugen, oder
noch einfacher: wenn der Satz der Zeugenaussage selbst seines
Geltungsanspruches beraubt wird (Nr. 24-27). In all diesen
I Fällen kommt zum Verlust, den der Schaden darstellt, die
Unmöglichkeit hinzu, andere davon in Kenntnis zu setzen' und
20
PROTAGORAS
insbesondere die Unmöglichkeit eines Gerichtsverfahrens.
Wenn sich das Opfer über diese Unmöglichkeit hinwegsetzen
und dennoch das erlittene Unrecht bezeugen will, stößt es auf
folgende Argumentation: Entweder passierte der Schaden, den
Sie einklagen, nicht und Ihre Zeugenaussage ist falsch; oder er
passierte doch, und was Sie erlitten haben, ist, da Sie es bezeugen
können, kein Unrecht, sondern nur ein Schaden, und Ihre
Zeugenaussage ist immer noch falsch.
8
Entweder sind Sie das Opfer eines Unrechts oder Sie sind es
\�cht. Wenn Sie es nicht sind, täuschen Sie sich (oder lügen),
wenn Sie das Gegenteil bezeugen. Sind Sie es, da Sie ja dieses
Unrecht bezeugen können, so ist es kein Unrecht, und Sie
· täuschen sich (oder lügen), wenn Sie aussagen, daß Sie Opfer
eines Unrechts seien. Es gelte: p: Sie sind Opfer eines Unrechts ;
non-p: Sie sind es nicht; Wp: der Satz p ist wahr; Fp: er ist falsch.
Fp; wenn p, dann non-p, dann Fp. Die Alten nannten dieses
Argument ein Dilemma. Es enthält die Fessel des double-bind,
wie er von der Schule von Palo Alto untersucht wurde, es ist eine
treibende Kraft der hegelschen Dialektik (Hegel-Exkurs, § 2).
Diese Fessel besteht in der Anwendung zweier logischer Opera­
toren - der Exklusion: entweder . . . oder und der Implikation:
.
wenn . . . dann - auf zwei widersprüchliche Propositionen: p und
non-p. Es gelte zugleich: [(entweder p oder non-p) und (wenn p
dann non-p )). Als ob Sie zugleich sagten: entweder ist dies weiß .
.
-------- --�·
PROTAGORAS
1. >>Man sagt, daß Protagaras eines Tages sein Honorar [f.ILO'fr6c; (mis­
thos)] von einem Schüler, Euathlos, einforderte und, als dieser beteuer­
te, niemals auch nur den kleinsten Sieg errungen zu haben [oubf:n:w
VLXT]V VEVLXT]XU], erwiderte: >Sollte ich gewinnen [Eyw f.!EV äv
VL x�ow ], werde ich- als Gewinner [ön f-yw f_vi XT]OU]- bezahlt werden
müssen; und wenn Du gewinnen solltest, so deswegen, weil Du der
Gewinner sein wirst<« (Diels und Kranz: 80 A 1, A4; Capizzi: 158)./ [19]
21
DER WIDERSTREIT
Die Fabel hat didaktischen Wert, wie ihr häufiges Vor kommen in
verschiedenen Ein kleidungen belegt (Capizzi: Apuleius, Aulus Gellius,
Ammonios, Diogenes Laertios, Lu kian). Sie enthält mehrere Paradoxa
(Mackie, Burnyeat).
Lehrer und Schüler haben einen Vertrag geschlossen: jener wird nur
bezahl� werden, wenn dieser dan k der erhaltenen Ausbildung minde­
stens emen der Prozesse, die er während dieser Ausbildungszeit vor den
Gerichten vertritt, ge wonnen haben wird. Die Alternative ist einfach
und das Urteil le icht: Euathlos hat wenigstens einmal gewonnen, er
zahlt; wenn nicht, so ist er quitt. Und da er nicht ge wonnen hat, braucht
er nichts zu zahlen. Mit ihrer brachylogischen Bündig keit münzt
Protagoras' Entgegnung die Alternative in ein Dilemma um. Wenn
Euathlos wenigstens einmal ge wonnen hat, muß er zahlen. Wenn er
niemals ge wonnen hat, so h at er dennoch wenigstens einmal ge wonnen
und muß zahlen.
. Wie läßt sich behaupten, Euathlos hätte ge wonnen, während er doch
1mmer verlor? Es genügt, den gegen wärtigen Rechtsstreit z wischen ihm
und Protagoras in die Reihe derer aufzunehmen, die zu berücksichtigen
. bleibt. Natürlich gibt es Logi ken der Zeit, mit denen zumindest dieser
smd, wenn man darüber entscheidet, ob er immer verloren hat. In allen
früheren gerichtlichen Stre itfällen hat er verloren. Er trägt also über
Protagoras, der behauptet, Euathlos hätte einmal ge wonnen, den Sieg
davon, indem er feststellt, daß er niemals gewonnen hat. Wenn er aber
in einem Rechtsstreit gegen Protagoras auf diese Weise triumphiert, so
hat er also doch wenigstens einmal ge wonnen.
2. Das Paradoxon beruht auf der Fähig keit eines Satzes, sich auf sich
s elbst als R �ferenten zu beziehen. Ich habe nicht ge wonnen, sage ich,
.
und mdem 1ch es sage, gewinne ich. Protago ras verwechselt den Modus
(den er klärenden Vordersatz: Euathlos sagt, daß) mit dem Gesagten,
- dem negativen All-Satz, der auf eine Wirklichkeit verweist (Euathlos
hat kei � einziges Mal ge wonnen). Um diese Art von Verwechslung zu
unterbm�en, führt _Russell die Typentheorie ein: eine Proposition (hier
d er Urte 1�sspruch �m Rechtsstreit z wischen Lehrer und Schüler), die
s .1ch auf eme Totahtät vo n Propositionen bezieht (hier die Gesamtheit
früherer Urteilssprüche), kann nicht Teil dieser Totalität sein. Andern­
fal�s bleibt sie nicht länger stichhaltig hinsichtlich der Negation (das
. .
he 1ßt des P nnZlps der Widerspruchsfreiheit), ihr Wahrheits wert ist
unentscheidbar.
Der Satz, dessen Referent alle Sätze ist, darf nicht Teil seines
Ref� renten sein . So �st ist er »schlecht gebildet<< und wird vom Logi ker
_
zuru � kge w1esen. (� 1es betrifft das Paradoxon des Lügners in der Form:
Ich luge.) De : Log :ker begegnet dem Sophisten, der das Prinzip miß­
_ niert werden. Die Dis kursart, die ihn gelten lassen muß, ist nicht die
achtet, nur m 1t Ge nngschätzung; aber der Sophist ignoriert es nicht, er
22
PROTAGORAS
stößt einen sogar darauf (und z war lachend, während die ibans kische
Staatsge walt weinen macht; cf. Nr. 4).
D as russellsche Typen-Axiom ist eine Regel zur Bildung I logischer [20]
Sätze (Propositionen). Es umschreibt eine Dis kursart, die Logi k, mit-
tels deren Z wec kbestimmung: nämlich die Wahrheit eines Satzes zu
entscheiden. Das Argument von Protagoras ist in der Logi k nicht
a kzeptabel, da es einem diese Entscheidung versagt. Ist es in einer
anderen Dis kursart a kzeptabel?
3. Die Totalität, auf die es sich bezieht, ist serieller Natur: es gibt n
Streitfälle, der >>aktuelle<< Rechtsstreit z wischen Lehrer und Schüler
kommt zu den vorhergehenden hinzu: n + 1. Wenn ihn Protagoras
miteinbezieht, rechnet er: n n + 1. Freilich erfordert diese Synthese
=
einen weiteren »Schritt «: (n + 1) + 1. Dieser »Schritt<< entspricht dem
Urteil des Protagoras. Darum äußert dieser seine Entscheidung im
Aorist (enikesa), in der unbestimmten Zeitform: Wenn Du gewinnst,
dann bin ich der Gewinner. Eine serielle Totalität führt die Berüc ksich­
tigung der Zeit ein, die in der logischen Dis kursart ausgeschlossen
Aspe kt des Rechtsstreits klargestellt werden kann.
Unter diesem Aspe kt lautet die Behauptung nicht : Keines meiner
Plädoyers ist erfolgreich (negativer All -Satz; bezeichnen wir ihn mit
non-p); sondern: Keines meiner Plädoyers war erfolgreich. In einer Zeit­
Logi k (Gardies) ausgedrückt, schriebe sich dieser let zte Satz folgender ­
maßen: Fürden gesamten vorhergehenden Zeitraum bis jetzt trifft es zu,
daß non-p. Die Ermittlung des W ahren hängt am »jetzt<< . Protagoras
kann also durchaus sagen: Es gibt wenigstens einen Zeitpunkt, und
dieser Zeitpunkt ist jetzt oder später, an dem es zutrifft, daß p.
fetzt ist sehr wohl der gleiche logische Zeit-Operator, obgleich er
sich in Protagoras' Satz nicht an demselben Ort der Reihe befindet wie
das Jetzt des Euathlos. Wenn man beide auf einen willkürlichen Null­
punkt t0 bezieht, so heißt das letztere t1 und das Jetzt von Protagoras t2•
Aber der will kürliche Nullpun kt t0 ist genau das, was genannt wird:
jetzt.
In dieser Hinsicht machte Protagoras also nur von der Möglich keit
Gebrauch, die ihm die dei ktische Zeitbestimmung »jetzt<< an die Hand
gibt, nämlich so wohl den Nullpun kt zeitlicher Serien (vorher und
nachher) als auch ein Element dieser Serien (Schneider, 1980) darzustel­
len. In der Analyse der Dyade vorher I nachher mit ihrem Bezug zum
Jetzt entdec kt und dis kutiert Aristoteles das gleiche Problem (Aristote­
les-Exkurs). Der paradoxale Satz kann hier nicht als Mißbildung elimi ­
Logi k, sondern die »Physi k«, deren Referent nicht der Satz, sondern
23
 DER WIDERSTREIT
jedes sich bewegende Objekt (die Sätze eingeschlossen) ist. Die allge­
meine Relativitätstheorie wird ihn in die Physik des Alls einbürgern.
4. Die Sätze bilden ein physikalisches Universum, wenn sie als sich
bewegende Objekte verstanden werden, die eine unendliche Reihe
[21] darstellen. I Entsprechend ist der auf dieses Universum verweisende
Satz hypothetischerweise also Bestandteil dieses Universums : er wird
im nächsten Augenblick dessen Bestandteil sein. Wenn man die so,
nämlich physikalisch betrachtete Satzreihe Geschichte nennt, so wird
der Satz des Historikers dem Universum, auf das er verweist, >>angehö­
ren<<. Die vom Historismus und vom Dogmatismus aufgeworfenen
Schwierigkeiten rühren aus dieser Situation her. Der eine erklärt, daß
sein Satz Bestandteil seines Referenten sei; -der andere, daß der seinige es
nicht sei.
. In der Auflösung der Antinomien der reinen Vernunft (KRV)
schreibt Kant, daß die Frage der Reihe alle Konflikte in sich versam­
melt, die von den kosmologischen Ideen hervorgerufen werden. Der
>>letzte<< Satz erstellt die Synthese der vorangehenden. Ist er ein Be­
standteil ihrer Gesamtheit oder nicht? Der Dogmatismus antwortet
.
nem, der Empirismus ja. Der Kritizismus bemerkt' daß die Reihe
niemals gegeben, sondern nur aufgegeben ist, weil ihre Synthese immer
verschoben wird. Der Satz, der die Serie in einer Synthese zusammen­
�aßt �das ak�uelle Urteil über die Gesamtheit von Euathlos' Plädoyers),
tst mcht Tetl der Serie, wenn er >>Stattfindet« (als Vorkommnis), aber
unvermeidlich ist er als ein Teil der Serie bestimmt die durch den
nachfolgenden Satz in einer Synthese zusammengefaß; wird. Die Serie,
die von der Welt, insbesondere von der Welt der menschlichen Ge­
schichte, gebildet wird, ist weder endlich noch unendlich (man kann
_
unterschiedslos für beides Argumente vorbringen), aber die Synthese
der Reihe selbst ist »unbestimmt<< (KRV: 471-476).
5. Protagoras' Argument ist ein avnotQEcpwv (antistrephon). Es ist
umkehrbar. In der Version von Aulus Gellius findet das Streitgespräch
_
ZWischen Lehrer und Schüler vor einem Gericht statt. Man könnte es
folgende�aßen wiedergeben. Protagoras: Wenn du (gegen mich) ge­
_
w�nnst, Wirst du gewonnen haben; wenn du (gegen mich) verlierst,
Wirst du, da du doch behauptest, immer (gegen die anderen) zu
v�rlieren, folglich ebenfalls gewonnen haben. Ratlosigkeit bei den
Richtern. Euathlos : Wenn ich (gegen dich) verliere, werde ich verloren
hab_en; wenn ich (?egen dich) gewinne, werde ich, da ich doch behaup­
te, Immer zu verheren, folglich ebenfalls verloren haben. Die Richter
be�chließen, die Entscheidung zu vertagen. Die Weltgeschichte kann .
_
kem endgüluges Urteil fällen. Sie besteht aus beurteilten Urteilen.
24
. i
l.l
II
'{
KLÄGER UND OPFER
9
.
.. Opfersein bedeutet, nicht nachweisen zu.können, daß man ein
J.!nre<;ht erlitten hat. Ein Kläger ist jemand, der geschädigt
wurde und über Mittel verfügt, es zu beweisen. Er wird zum
Opfer, wenn er diese Mittel einbüßt. Er büßt sie ein, wenn sich
etwa der Urheber des Schadens unmittelbar I oder mittelbar als [22]
·-dessen Richter erweist. Dieser Richter besitzt die Machtbefug­
nis, seine Zeugenaussage als falsch zurückzuweisen, oder. die.
Möglichkeiten, ihre öffentliche Kundgabe zu verhindern. Aber
dies Ist nur ein Sonderfall. Im allgemeinen wird der Kläger zum
Opfer, wenn jedwede Darstellung des Unrechts, das er erlitten
zu haben behauptet, unmöglich wird. Umgekehrt bestünde das
>>perfekte Verbrechen<< nicht in der Beseitigung des Opfers oder
der Zeugen (das hieße weitere Verbrechen hinzufügen und die
Schwierigkeit erhöhen, alle Spuren zu tilgen), sondern darin, die
Zeugen zum Schweigen zu bringen, die Richter taub zu machen
und die Zeugenaussag e für unhaltbar (unsinnig) erklären zu
. lassen. Neutralisieren Sie den Sender, den Adressaten, die Be-
deutung [sens] der Zeugenaussage; alles sieht dann so aus, als ob
es keinen Referenten (keinen Schaden) gäbe. Wenn sich niemand
findet, der den Beweis dafür erbringen kann, niemand, der ihn
anerkennt, und/oder wenn die ihn stützende Argumentation für
abwegig erachtet wird, so wird der Kläger abgewiesen; das
Unrecht, über das er sich beklagt, kann nicht nachgewiesen
werden. Er wird zum Opfer. Wenn er auf diesem Unrecht weiter
beharrt, so als ob es existierte, werden ihn die anderen (der
Sender, der Empfänger, der Sachverständige, der die Zeugenaus­
sage kommentiert) leichthin für verrückt halten. Verwechselt die
Paranoia nicht das : Als ob dies der Fall wäre mit dem : Es ist der
Fall?
10
Aber tun die anderen ihrerseits nicht so, als ob dies nicht der Fall
wäre, während es vielleicht doch der Fall ist? Warum sollte es
weniger paranoid sein, die Existenz der Gaskammern zu negie- ,
ren, als sie zu beteuern? Weil, wie Leibniz schreibt, >>das Nichts \
doch einfacher und leichter ist als das irgendetwas« (Leibniz, I;
!
25
 DER WIDERSTREIT
Principes de la Nature . . . : § 7 [dt. S. 13)). Kläger ist, wer
behauptet, daß etwas vorliegt; er muß - mittels wohlgeformter
Sätze und mit Verfahren zur Ermittlung der Existenz ihrer
_ .
Referenten - den Beweis dafür antreten. Die Wirklichkeit geht
immer zu Lasten des Klägers. Der Verteidiger braucht nur die
Argumentation zu widerlegen und den Beweis mittels eines
Gegenbeweises zu verwerfen. Dies ist der Vorteil der Verteidi­
gung, den Aristoteles (Rhetorik, 1 402 b 24-25) und die atheni­
schen Strategen anerkannten. Ebenso läßt sich nicht sagen, daß
eine Hypothese verifiziert ist, sondern nur, daß sie bis auf
weiteres nicht falsifiziert ist. Die Verteidigung ist nihilistisch, die
Anklage vertritt das Seiende. Deshalb fällt es den Opfern der
Vernichtungslager zu, deren Beweis zu erbringen. Unsere Art
zu denken begreift die Wirklichkeit nicht als Gegebenes, son-
[23) dern als Anlaß I zur Stellung des Antrages, daß die sie betreffen­
den Ermittlungsverfahren durchgeführt werden,.
11
Die Todesstrafe schafft man aus Nihilismus ab, aufgrund einer
kognitiven Prüfung des Referenten, aufgrund eines Vorurteils
zugunsten der Verteidigung. Die Chancen dafür, daß es nicht
der Fall ist, stehen günstiger als dafür, daß es der Fall ist. Diese
statistische Bewertung gehört zur Familie der kognitiven Sätze.
Die unterstellte Unschuld des Beschuldigten, die die Anklage
./.
verpflichtet, den Beweis für das Verbrechen zu erbringen, ist die
./i
>>humanistische« Version derselben Spielregel der Erkenntnis. ­
Wenn die Spielregeln ins Gegenteil verkehrt werden, wenn jeder
Angeschuldigte für schuldig gehalten wird, besteht die Aufgabe
der Verteidigung darin, die Unschuld zu erweisen, während die
Anklage nur die Argumentation widerlegen und die von der
Verteidigung vorgebrachten Beweise verwerfen muß. Nun ist es
vielleicht unmöglich zu ermitteln, daß der Referent eines Satzes
keine derartige Eigenschaft hat, wenn man nicht wiederum das
Recht zur Widerlegung desjenigen Satzes besitzt, demzufolge er
diese Eigenschaft innehat. Wie könnte ich beweisen, daß ich kein
Drogenhändler bin, ohne vom Ankläger zu verlangen, den
Beweis dafür zu erbringen, und ohne diesen zu entkräften? Wie
wäre nachzuweisen, daß die Arbeitskraft keine Ware ist, ohne
26
RECHTSSTREIT UND WIDERSTREIT
_di�_!j:ypothese, daß sie es sei, zu verwerfen? :yv'ie könr:t�man,
was nicht ist, nachweisen, ohne zu kritisieren�- ·was 1s�? pas
Die Negation muß not­
--Unbestimmte läßt sich nicht beweisen.
wendig_Aie Negation einer Bestimmung sein. - Diese Umkeh­
�ung-der beiderseits erwarteten Aufgaben kann hinreichen, den
Beschuldigten in ein Opfer zu verwandeln, wenn er nicht das
Recht zur Kritik der Anklage hat, wie man es bei politischen
Prozessen beobachten kann. Kafka gemahnt uns daran. Unmög­
lich ist es, die eigene Unschuld - an sich - zu erweisen. Sie ist ein
Nichts.
12
Der Kläger trägt seine Klage bei Gericht vor, die Argumentation
des Beschuldigten will die Nichtigkeit der Anklage aufzeigen.
Ein Rechtsstreit [litige] liegt vor. Widerstreit [differend] möchtej
ich den Fall nennen, in dem der Kläger seiner Beweismittel
berauoi:ist und dadurch zum Opfer wird. Wenn der Sender, de:
Empfänger und die Bedeutung der Zeugenaussage neutralisiert
sind, hat es gleichsam keinen Schaden gegeben (Nr. 9). Z.\Vi­
schen zwei Parteien entspinnt sich ein Widerstreit, wenn sich die·
>>Beilegung<< des Konflikts, der sie miteinander konfrontiert, im
, , Idiom /der einen vollzieht, während das Unrecht, das die andere [24)
\.erleidet, in diesem Idiom nicht figuriert. So verhindern die
. Verträge und Abkommen zwischen Wirtschaftspartnern nicht
etwa, sondern setzen im Gegenteil voraus, daß der Arbeiter oder
dessen Vertreter von seiner Arbeit gleichsam als einer zeitweili­
gen Abtretung einer Ware, deren Eigentümer er ist, sprechen
mußte oder wird sprechen müssen. Diese »Abstraktion<< , wie
Marx sie nennt (aber der Ausdruck ist schlecht; welches Konkre­
tum führt er ins Feld?), wird von dem Idiom gefordert, in dem
der Rechtsstreit beigelegt wird (dem >>bürgerlichen<< Wirt­
schafts- und Sozialrecht). Wenn er sich dessen nicht bedient,
kann er innerhalb des Geltungsbereichs dieses Idioms nicht
bestehen und ist ein Sklave. Indem er es gebraucht, wird er zum
Kläger. Hört er deshalb auch auf, Opfer zu sein?
27
 I SPRECHEN UND SCHWEIGEN
I
DER WIDERSTREIT
13
�
Während er zum Kläger wird, bleibt er zugleich Opfer. Besitzt
er die Mittel nachzuweisen, daß er Opfer ist? Nein. Woher
. wissen Sie also, daß er eines ist? Welches Gericht kann darüber
\ urteilen?-.Denn der Widerstreit ist keine Streitsache, das Wirt­
"
Schafts- u�ä-Sozialrecht kann zwar den Rechtsstreit zwischen
den Wirtschaftspartnern schlichten, nicht aber den Widerstreit
zwischen Arbeitskraft und Kapital. Mit welchem wohlgeform­
ten Satz und mittels welchen Beweisverfahrens kann der Arbei­
ter dem Arbeitsgericht gegenüber geltend machen, daß es keine
Ware ist, was er gegen Lohn soundsoviel Stunden in der Woche
seinem Chef überläßt? Er ist der mutmaßliche Eigentümer einer
Sache. Er befindet sich in der Lage eines Beschuldigten mit der
Beweislast hinsichtlich eines Nicht-Seienden oder wenigstens
eines Nicht�Attribu�s) Die Widerlegung fällt leicht. Es sieht so
/aus, als ob-aas;·was er ist, nur in einem �diom zum Ausdr�ck
\ gelangen könnte, das sich von dem des Wtrtschafts- und Soztal­
'tec. hts unterscheidet. In letzterem kann er nur ausdrücken, was
er b�itzt; und falls er nichts besitzt, läßt sich, was er nicht
besitzt, entweder nicht ausdrücken oder auf nachweisbare Art
nur so ausdrücken, als ob er es besäße. Wenn der Arbeiter seine
.._._,__._ .
Substanz (die Arbeitskraft) beschwört, kann er vor diesem
Gericht, das nicht zuständig ist, nicht gehört werden. In dieser
Beweis-Unmöglichkeit zeigt sich der Widerstreit an. Der Kläger
/ ·wird angehört, das Opfer aber- und vielleicht sind sie identisch
[25] -_ wird zum Schweigen gebracht. I
14
, solange er nicht gesprochen hat - insofern ich immer nur der
' >>Die Überlebenden sprechen selten« (Nr. 1). Nichtsdestoweni­
ger gibt es eine regelrechte Literatur von Augenzeugenberich­
ten . . .? -Aber das ist es nicht. Nicht zu sprechen ist Teil der
Fähigkeit zu sprechen, da die Fähigkeit eine Möglichkeit dar­
stellt und diese eine Sache wie deren Gegenteil impliziert. Mög­
I 1'
lich, daß p und möglich,-daß non-p sind gleichermaßen wahr. Es
entspricht der Definition des Möglichen selbst, zugleich Gegen-_
I'
teiliges zu implizieren. Daß das Gegenteil von Sprechen möglich
ist, zieht nicht notwendigerweise das Schweigen nach sich. Die
''
I '
28
.
�
Fähigkeit, nicht zu sprechen, ist nic�t id�ntis�h mit der Unfä ig­
keit zu sprechen. Diese ist eine Pnvauon, Jene eme N�gatwn
(Aristoteles, Lehre vom Satz, 21 b 1 2-:-1�; Metaphyszk, IV,
.
1022b 22ff.). Liegt der Grund, warum dte Uberlebenden mcht
sprechen, in ihrer Unfähigkeit o�er dar�� ' da� sie von der
.
Möglichkeit, nicht zu sprechen, dte der Fahtgkett zu sprechen
entspringt, Gebrauch machen? Schweigen sie notgedrungen
oder freiwillig, wie man sagt? Oder ist die Frage falsch gestellt?
15
Es wäre unsinnig anzunehmen, daß die »Sprachbegabten« Men­
schen im strengen Sinne nicht sprechen könnten; wie etwa
Steine. »Notgedrungen<< würde hier bedeuten: sie sprechen
nicht, weil sie für den Fall, daß sie sprechen sollten, mit dem
Schlimmsten bedroht werden, wenn ihre Fähigkeit zu sprechen
ganz allgemein, direkt oder indirekt, beeinträchtigt wird. Neh­
men wir an, daß sie unter Drohung schweigen. Damit die
Drohung wirksam werden kann, muß eine Fähigkeit zum Ge­
genteil vorausgesetzt werden, da sich die Drohung ja auf den
hypothetisch angenommenen Fall des Gegenteils bezieht: daß
nämlich die Überlebenden sprechen würden. Wie aber kann eine
Drohung wirksam werden, wenn sie sich doch gegen etwas
richtet (hier gegen den möglichen Fall, daß die Überlebenden
sprechen), das gegenwärtig nicht existiert? Wogegen richtet sich
die Drohung? Man sagt: gegen das Leben oder das Glück usw.
dessen, der sprechen würde. Derjenige aber, der sprechen würde
(Irrealis, Konditionalis), besitzt kein Leben, kein Glück, das
bedroht werden könnte, da er ja selbst irreal oder konditional ist,
Sender eines aktuellen Satzes bin.
16
Gegenstand der Drohung ist nicht ein identifizierbares Individu­
um, sondern die Fähigkeit zu sprechen und zu schweigen. Man
droht mit der Vernichtung dieser Fähigkeit. Zwei Mittel können
dazu dienen: das Sprechen unmöglich machen, das Schweigen
unmöglich machen. I Diese beiden Mittel sind kompatibel: Man [26]
29
 I' �
DER WIDERSTREIT
nimmt x die Möglichkeit, über eine Sache zu sprechen (durch
Einkerkerung etwa), man entzieht ihm die Möglichkeit, über
eine andere Sache zu schweigen (etwa durch die Folter). Die
Fähigkeit als solche wird zerstört: x kann über diese sprechen
und über jene schweigen, aber er kann nicht mehr über diese wie
über jene entweder sprechen oder nicht sprechen. Die Drohung:
. »Wenn du dies erzählen (kundtun) würdest, wäre es dein letzter
Satz<< , oder: »Wenn du das verschweigen würdest, wäre es dein
letztes Schweigen<< -diese Drohung gilt nur deshalb, weil die
Fähigkeit zu sprechen und nicht zu sprechen mit der Existenz
von x identifziert wird.
17
Das Paradoxon des letzten Satzes (oder des letzten Schweigens),
das auch dem der Reihe entspricht, sollte beix nicht das Schwin­
delgefühl gegenüber dem nicht mehr >Setzbaren< [ce qui ne peut
pas etre phrase] hervorrufen (man nennt es auch Todesangst),
sondern die unwiderlegbare Überzeugung, daß kein Satz der
letzte ist. Ein letzter Satz muß durch einen weiteren dazu erklärt
/ werden und ist deshalb nicht der letzte. Oder zumindest müßte
dieses Paradoxon x dieses Schwindelgefühl und diese Überzeu­
gung verschaffen.-Trotzdem ist der letzte Satz der letzte, denx
spricht! -Nein, er ist der letzte, der x als unmittelbaren und
>>aktuellen<< Sender hat.
18
Man müßte sagen: Sender und Empfänger sind markierte oder
nicht-markierte Instanzen, die durch einen Satz dargestellt wer­
den. Dieser Satz ist keine Botschaft, die von einem Sender zu
einem Empfänger-beide von ihm unabhängig-gelangt (Law­
ler, 1 977). Sender und Empfänger werden im Universum, das
der Satz darstellt, situiert, genauso wie dessen Referent und
dessen Sinn. »Der Satz von x, mein Satz, dein Schweigen<< : Sagen.
wir, identifizierbare Individuen,x, y, Sätze oder produzieren wir
Schweigen - in dem Sinne nämlich, daß wir dessen Urheber
wären? Oder finden Sätze oder Schweigen statt (geschehen,
passieren) und stellen damit die Universen dar, in denen Indivi-
30
,I
I
�
, •. \u
SPRACHENTZUG
duen, x, y, du, ich als Sender dieser Sätze und dieses Schweigens
situiert sind? Und ist dies der Fall: Um den Preis welchen
Mißverständnisses kann eine gegen x gerichtete Drohung >>sei­
nen<< Satz bedrohen?
19
Die Behauptung, x könne hinsichtlich seines Redens oder
Schweigens bedroht werden, I setzt voraus, daß er Herr über [27]
Gebrauch oder Nicht-Gebrauch der Sprache ist und daß man
ihm also diesen freien Gebrauch per Drohung entziehen kann.
Das ist nicht falsch, es ist eine Art und Weise, über die Sprache,
den Menschen und ihr Verhältnis zueinander zu reden, die den
Regeln der Familie mancher kognitiver Sätze (Humanwissen­
schaften) entspricht. Der Satz: »Unter Drohung, unter der
Folter, unter den Bedingungen der Einkerkerung, unter den
Bedingungen der >Sensoriellen Deprivation< usw. kann das
Sprachverhalten eines menschlichen Individuums diktiert wer­
den<<-dieser Satz ist wohlgeformt, und es können leider Beispie-
le präsentiert werden, von denen der Wissenschaftler sagen
kann: Hier haben wir die entsprechenden Fälle. Aber die Hu­
manwissenschaften, die sich mit der Sprache beschäftigen, ver­
fahren wie die Geschworenen der Arbeitsgerichte.
20
Ebenso wie diese Geschworenen bei den Kontrahenten, über die
sie zu urteilen haben, den Besitz irgendeiner Tauschsache vor­
aussetzen, setzen die Humanwissenschaften voraus, daß die
menschlichen Individuen, deren Erkenntnis ihnen obliegt, ir­
_ gendwelche kommunizierbaren Gegenstände besitzen. Und die
(ideologischen, politischen, religiösen, polizeilichen usw.)
Machtinstanzen setzen voraus, daß die Menschen, deren Füh­
rung oder zumindest Kontrolle ihnen obliegt, etwas besitzen,
das sie kommunizieren. Kommunikation ist der Tausch von
Botschaften, Tausch die Kommunikation von Gütern. Die In­
stanzen der Kommunikation sind wie die des Tausches nur über
den Besitz definierbar: den Besitz von Informationen analog
dem von Nutzungen. Und wie man den Strom von Nutzungen
31
I' , I
DER WIDERSTREIT
kontrollieren kann, so kann man auch den Strom der Informa­
. tio!ien kontrollieren. Wie man eine perverse Nutzung unter-
-driickt, so verbietet man eine gefährliche Information. Wie man
ein Bedürfnis umlenkt und eine Motivation schafft, so läßt man
einen Sender anderes sagen, als er sagen wollte. Wird das Pro­
blem der Sprache auf diese Weise, in Begriffen der Kommunika­
tion, gestellt, so führt es auf das Problem der Bedürfnisse und
Anschauungen der Gesprächspartner. Der Linguist wird zum
Fachgutachter vor dem Arbeitsgericht der Kommunikation. Das
Kernproblem, das er zu lösen hat, liegt im meaning als einer
unabhängigen Tauscheinheit der Bedürfnisse und Anschauun­
gen der Gesprächspartner. Ebenso besteht für den Ökonomen
das Problem im Wert von Gütern und Dienstleistungen als einer
unabhängigen Einheit von Angebot und Nachfrage der Wirt-
[28] schaftspartner. I
- �el'i�·als einen negativen Satz, aber er appelliert auch an prinzi-
21
Würden Sie sagen, daß die Gesprächspartner in gleicher Weise
Opfer von Wissenschaft und Politik der als Kommunikation
betrachteten Sprache sind, wie der Arbeiter durch die Gleichset­
zung seiner Arbeitskraft mit einer Ware in ein Opfer verwandelt
wird? Muß man sich vorstellen, daß es analog zur Arbeitskraft
eine >>Satzbildungskraft« gibt, die im Idiom dieser Wissenschaft
und dieser Politik nicht zum Ausdruck gebracht werden kann? ­
Was immer es nun mit dieser Parallele auf sich haben mag, sie
I
I
I
muß sogleich außer Kraft gesetzt werden. Es ist unschwer
faßbar, daß die Arbeit nicht mit dem Warentausch identisch ist,
und man benötigt ein anderes Idiom als das der Arbeitsrichter,
um ihm Ausdruck zu verleihen. Unschwer faßbar ist auch, daß
Sprache etwas anderes ist als die Kommunikation einer Informa­
tion, und man benötigt ein anderes Idiom als das der Sprachtheo­
rie der Humanwissenschaften, um ihr Ausdruck zu verleihen.
' ! Hier hört die Parallele auf: Im Falle der Sprache beruft man sich
, I 'I auf eine andere Satzfamilie, im Falle der Arbeit aber beruft man
sich nicht auf eine andere Familie von Arbeiten, sondern eben­
falls auf eine andere Familie von Sätzen. Ähnlich verhielte es sich
auch bei allen in den Rechtsstreitigkeiten verpuppten Fällen von
Widerstreit, was immer auch ihr Gegenstand sein mag. Dem
32
NEUE IDIOME
Widerstreit gerecht zu werden bedeutet: neue Empfänger, neue
Sender, neue Bedeutungen [significations], neue Referenten ein­
setzen, damit das Unrecht Ausdruck finden kann und der Klä­
ger kein Opfer mehr ist. Dies erfordert neue Formations- und
Verkettungsregeln für die Sätze. Niemand zweifelt, daß die
Sprache diese neuen Satzfamilien und Diskursarten aufzuneh­
men vermag. Jedes Unrecht muß in Sätze gebracht werden.
fune_neue . Kompetenz (oder >> Klugheit«) _ muß .. gefun��n
werden.
22
- , y:_
Der Widerstreit ist der instabile Zustand und der Moment der \
Sprache, _in dem etwas, das in Sätze gebracht werden können
muß, noch darauf wartet. Dieser Zustand enthält das Schwei-
·
piell mÖgliche Sätze. Was diesen Zustand anzeigt, nennt man
normalerweise Gefühl. >>Man findet keine Worte« usw. Es
bedarf einer angestrengten Suche, um die neuen Formations-
und Verkettungsregeln für die Sätze aufzuspüren, die dem Wi­
derstreit, der sich im Gefühl zu erkennen gibt, Ausdruck ver-
leihen können, wenn man vermeiden will, daß dieser Wider-
streit sogleich von einem Rechtsstreit erstickt wird und der
Alarmruf des Gefühls nutzlos war. I Für eine Literatur, eine [29]
Philosophie und vielleicht sogar eine Politik geht es darum, den
Widerstreit auszudrücken, indem man ihm entsprechende Idio-
me verschafft.
23
Im Widerstreit >>verlangt<< etwas nach >Setzung< und leidet unter l�
dem Unrecht, nicht sofort >gesetzt< werden zu können. Die
Individuen nun, die glaubten, sich der Sprache als eines Werk­
zeugs zur Kommunikation bedienen zu können, lernen durch
diesen Schmerz, der das Schweigen begleitet (und durch die
Lust, die die Erfindung eines neuen Idioms begleitet), daß sie
von der Sprache in die Pflicht genommen werden: und zwar
nicht zwecks eigennütziger Steigerung der in den bestehenden
Idiomen kommunizierbaren Informationsmenge, sondern um
33
 � WIDERSTREIT
anz��rkennen, daß, was zur >Setzung< ansteht1 ihr gegenwärti�
(
·.
ges Außerungsvermögen übersteigt und daß sie die Einrichtung
noch nicht existierender Idiome zulassen müssen.
24
Es wäre also denkbar, daß die Überlebenden nicht sprechen,
ohne indessen in ihrer Sprachfähigkeit für den Fall bedroht zu
werden, daß sie später sprechen. Der Soziolinguist, der Psycho­
linguist, der Biolinguist suchen nach den Gründen, den Leiden­
schaften, den Interessen, nach dem Kontext dieses Schweigens.
Wir wollen zuerst nach seiner Logik suchen. Wir halten es für
ein Substitut von Sätzen. Im Gespräch, im Verhör, in der
Diskussion, in der talking eure, in der Beichte, im kritischen
Bericht, im metaphysischen Entwurf tritt das Schweigen an die
· ,Ste!l� �()n Sätzen. Der Satz, der das Schweigen vertritt, wäre
negativ. Er negierte wenigstens eine der vier Instanzen, die ein
, S�tz-Universum entwerfen: den Empfänger, den Referenten,
�1e Bedeutung und den Sender. Der vom Schweigen implizierte
'I negative Satz würde jeweils lauten: Dieser Fall geht Sie nichts an.
Diesen Fall gibt es nicht. Er ist nicht bedeutbar [signifiable ]. Er
geht mich nichts an. Ein einziges Schweigen könnte durch
mehrere dieser Sätze formuliert werden. - Allerdings verweisen
selbst diese negativen Formulierungen noch auf das Idiom, in
dem der Referent, der Sender, der Empfänger und die Bedeu­
tung - anders als im gegenwärtigen Idiom-dargestellt werden
könnten.
25
[30] Auf vereinfachende Weise müßte man sagen, daß ein Satz I
darstellt, worum es geht, den Fall, Ta :rtQUYf!aTU (ta pragmata) :
seinen Referenten; ebenso das, was der Fall meint: den Sinn
[im Original deutsch] "-· ; wohin oder an wessen Adresse diese
.i
�- LYOTARD bezieht sich hier und an einigen anderen Stellen auf die von
FREGE und WirrGENSTEIN eingeführte, im Deutschen allerdings
irreführende Unterscheidung von Sinn (eng!. meaning) und Be-
34
NEGATION DER INSTANZEN
Sinnschicht des Falles gerichtet ist: den Empfänger; schließlich
wo- > durch<< oder in wessen Namen der Sinn (bzw. die Bedeu­
tung) des Falles vermittelt wird: den Sender. Der Zustand des
Satz-Universums ergibt sich aus der Situation, in der diese
Instanzen zueinander stehen. Ein Satz kann mehrere Referen­
ten, mehrere Bedeutungen, mehrere Empfänger und mehrere
Sender umfassen. Jede dieser vier Instanzen kann-muß aber
nicht -im Satz ausgewiesen sein (Fabbri/Sbisa, 1980).
26
\
Das Schweigen zeigt nicht an, welche Instanz negiert ist, -�s zeigt
an, daß eine oder mehrere Instanzen negiert sind. Die Uberle­
benden schweigen, und man kann daraus entnehmen, 1.) daß die
fragliche Situation (der Fall) den Empfänger nicht betrifft (er ist
nicht zuständig oder ist es nicht wert, daß man sich an ihn
j
wendet usw.) ; oder 2.) daß diese Situation nicht existiert hat (so
Faurisson) ; oder 3 .) daß es darüber nichts zu sagen gibt (sie ist
unsinnig, unausdrückbar) ; oder 4.) daß es nicht die Sache der
Überlebenden ist, darüber zu reden (sie sind dessen nicht würdig
usw.). Oder mehrere dieser Negationen zusammen.
27
.....,
Das Schweigen der Überlebenden sagt nicht notwendigerweise \
zugunsten der Nichtexistenz der Gaskammern aus, wie Fauris­
son glaubt oder zu glauben vorgibt. Es kann auch gegen die
Autorität des Empfängers aussagen (wir sind Faurisson keine
Rechenschaft schuldig), gegen die Autorität des Zeugen selbst
(wir, die Davongekommenen, sind nicht befugt, darüber zu
sprechen), schließlich gegen die Fähigkeit der Sprache, die Gas­
kammern (eine unausdrückbare Absurdität) zu bezeichnen. Um
die Existenz der Gaskammern nachzuweisen, muß man die vier
deutung (eng!. reference). Im folgenden wird daher - wenn nicht
anders vermer kt - in Übereinstimmung mit der heute gebräuchlichen
Terminologie frz. sens mit >>Bedeutung« und referent stri kt mit
>>Referent« übersetzt (A. d. Ü .).
35
 DER WIDERSTREIT
verschwiegenen Negationen aufheben: Es gab keine Gaskam­
mer? Doch.-Aber wenn es Gaskammern gegeben hat, so kann
dies nicht formuliert werden? Doch.-Aber wenn dies formu­
liert werden kann, so besitzt zumindest niemand die Autorität
dies zu formulieren und wahrzunehmen (es ist nicht mitteilbar) ?
Doch.
GoRGrAs
�i� �r.gumentation zum Nach weis der Wirklich keit folgt formal der
mhiiistlschen B e weisführung des Gorgias in Vom Nichtseienden: »[E]r­
[3 1] stens : I es gibt nichts; z weitens: wenn es auch et was gäbe, wäre es doch
für den Menschen unerkennbar; drittens : wenn es auch erkennbar
wäre, wäre es doch unserem Mitmenschen nicht mitteilbar und nicht
':'�rständlich zu machen<< (Anonym, 979 a 12; hier zitiert nach der dt.
Ubersetzung von W. Capelle, S. 345; d. Ü.).
Das Gerüst seiner Argumentation (seine ta�Lr; [taxis]) beruht auf
dem Zugeständnis an den Kontrahenten. Er sei x genannt. x sagt: Es
gibt et was. - Gorgias : Es gibt rein gar nichts. x wiederum: Es gibt
e: was, und dieses et was ist faßbar. - Gorgias : Gäbe es et was, so wäre es
mcht faßbar (axat<'tA.l]mov avl'tQ<.Ü:rtcp, schreibt Sextus Empiricus, 65).
x fährt fort: Dieses et was - seiend und faßbar - ist anderen mitteilbar. ­
Gorgias: Es ist anderen nicht mitteilbar ( übertragbar: ave�OLOtOV
= entsteht, nennt Gorgias >> weder Sein noch Nichtsein<<. Er »Unter­
EtEQcp, schreibt Sextus Empiricus, 83 ; olat6r;, Verbaladjektiv von
,
<pEQW, »tragen<< ; in der anonymen Aussage [980 a 20; nach Capelle,
S. 351] heißt es: »Wenn die Dinge aber auch erkennbar wären, wie
könnte sie einer dem anderen mitteilen ?<<).
. Es han�elt sich �m einen logischen Rüc kzug (ein Zugeständnis) wie
Im »S �phisma<< ( wie Freud es nennt) vom kupfernen Kessel. Der Kläger
.
x er klart, er habe dem Beschuldigten (Gorgias) einen unbeschädigten
kupfernen Kessel geliehen und ihn durchlöchert zurüc kerhalten. Die
diale ktische Argumentation lautet: x: Geliehen. - Gorgias : Nicht gelie­
hen. x: l!.n? eschädigt geliehen. - Gorgias: Durchlöchert geliehen. x:
Unbeschadigt geliehen .
und durchlöchert zurüc kerhalten. - Gorgias:
Unbeschädigt zurüc kerhalten (Freud: Der Witz und seine Beziehung
zum . f!n kewußt�n [1905 c], G. W. VI: 65, 234). Selbst wenn es eine '
Realita� gibt (geliehen), so ist darüber nichts aussagbar (unbeschädigt/
.
durchlochert) ; und sollte dem doch so sein, so ist der dem Attribut
e� tsprechende Fall nic�lt vorzeigbar (durchlöchert/unbeschädigt zu­
ruc kerhalte�). Der logische Rüc kzug - absurd, wenn man ihn vom
Arg� �entatlons �a? g der An klage isoliert - legt die Regeln bloß, die der
Familie der kognmven Sätze entsprechen : Bestimmung des Referenten
36
FF.T9,hl&J% JJJL . � $.4 �
GORGlAS
(geliehener Kessel oder nicht), Zu weisung eines Prädi kats für das
Aussagesubje kt [sujet de l'enonce] (durchlöchert geliehen oder nicht),
Ostension eines Falles als Beweis (durchlöchert oder unbeschädigt
zurüc kerhalten). Wohlgemer kt vertritt Gorgias in diesem Prozeß die
Verteidigung.
Barbara Cassin zeigt, daß er die These des Parmenides »verteidigt<<.
Anstatt sich an die Offenbarung der Göttin zu halten, versucht er die
These zu be weisen und macht sie damit zunichte. »Weder [oux Ea·tiv]
Sein noch Nichtsein ist möglich. « Hier seine Schlußfolgerung. Sie
ent wic kelt sich folgendermaßen: »Denn wenn Nichtsein Nichtsein ist
[ wie Parmenides schreibt], so wäre, nicht weniger als das Seiende, das
Nichtseiende: Tatsächlich ist das Nichtseiende nichtseiend wie das
Seiende seiend, genauso wie die wir klichen Dinge ['ta :rq�ay�ata],
nicht mehr als sie nicht sind, sind« (979 a 25ff.). Er fügt hinzu: »Wenn
aber doch das Nichtsein ist, so ist das Sein, sagt er, sein Gegensatz,
nicht. Wenn nämlich das Nichtsein ist, so dürfte das Sein nicht sein.<<
Dann existierte nichts, ob nun Sein und Nichtsein identisch wären
oder nicht. Wenn sie identisch sind: da I Sein Nichtsein ist; und wenn [3 2]
nicht: da Sein nicht Nichtsein ist und sich nur durch doppelte Nega­
tion behauptet.
Auf diese Weise nimmt Gorgias Hegels Argumentation im ersten
Kapitel der Wissenschaft der Logik vorweg. Was nach Hege! als das
dieser Argumentation innewohnende »Resultat<< [im Original deutsch]
schlägt<< die Resultatsregel (Hegel-Ex kurs), die Triebfeder der spekula­
tiven Diale kti k. Diese Regel setzt die Z wec kbestimmtheit eines Selbst
(einer Art aristotelischen Gottes) voraus, das der Widerlegung durch
Gorgias nicht widerstünde .
Die Bildung des A6yor; (Iogos), des Arguments, macht den göttlichen
Satz zunichte, die Offenbarung, auf die die Dichtung des Parmenides
hinausläuft. Er widerlegt sie nicht, sondern macht aus ihr eine Familie
von Sätzen. Die Ontologie, die Poiesis, ist erlaubt, ist eine Dis kursart.
Diese Dis kursart folgt nicht den gleichen Regeln wie die diale ktische
(im griechischen Sinne). Insbesondere ist die Göttin kein Gesprächs­
partner, der den Regeln der Widerlegung unter worfen ist. Es genügt,
daß Parmenides dem Den ken z wei offene Wege weist, die Wege des ist
und des ist nicht, wohingegen Gorgias aus beiden These und Antithese
macht, die von den Partnern in einer dialektischen Argumentation bei
Ab wesenheit der Göttin aufgestellt werden, und sie der gegenseitigen
Widerlegung anheimgibt. Die Ontologie erträgt die Dualität der Wege
nicht, die die Gegensätzlich keit impliziert und eine negative Diale kti k
in Kraft setzt.
Die Diale kti k gehorcht Regeln. (Besonders in der Topik und in den
37
 DER WIDERSTREIT
Sophistischen Widerlegungen nimmt sich Aristoteles die Aufstellung
dieser Regeln vor.) Allein wie sie auch beschaffen sein mögen und
welche Sch wierigkeit auch mit ihrer Aufstellung verbunden sein mag ­
diese Regeln setzen selbst eine Art Metaprinzip voraus. Barbara Cassin
(sie nennt es Ur-Ursprung [archiorigine]) leitet es aus der anonym
überlieferten Abhandlung ab, indem sie einen umstrittenen Satz neu
interpretiert. >>Wenn also nichts ist, so sagen die Beweise ausnahmslos
alles [EL !tEV oüv oUöev' ta� an:oöd!;EL� AEYELV än:avta]« (980 a 9).
Unter diesem zugleich nihilistischen und logologischen Aspekt stellt
sich uns und untersuchen wir die Frage nach der Wirklichkeit. Auf diese
.. werden wir nicht von einer Göttin mit dem Zeigefinger hin gestoßen, sie
ist vielmehr zu >>be weisen<<, das heißt als Fall vorzubringen und darzu­
stellen, und sie ist, einmal er wiesen, ein Zustand des Referenten kogni­
ti�et:.Siig,e. Dieser Zustand verhindert nicht, daß ganz einfach »nichts
seJ<<.
Wie Wittgenstein dient Gorgias die Farbe als Paradigma für die Frage
nach der Wirklichkeit. Siitze wie »Für den Anfang sagt er keine Farbe,
sondern ein Sagen<< (980 b 5) oder »Wie es keine Farbe zu erfassen
[ö t avoEi:m'lm] oder zu sehen gibt, gibt es keinen Lärm: hier gibt es nur
Hören<< (980 b 6) sind neben Sätze zu stellen wie: »Denn über die
[33] Begriffe der Farben wird man I durch Schauen nicht belehrt<< ; oder:
»Denken wir uns ein Volk von Farbenblinden, und das könnte es leicht
geben. Sie würden nicht die gleichen Farbbegriffe haben wie wir. Denn
auch angenommen sie redeten z. B. Deutsch, hätten also alle deutschen
Farb wörter, so würden sie sie doch anders gebrauchen als wir, und
anders zu gebrauchen lernen. Oder haben sie eine fremde Sprache, so
würde es uns sch wer, ihre Farb wörter in die unseren zu übersetzen<<;
oder: »Wir wollen keine Theorie der Farben finden ( weder eine physio­
logische noch eine psychologische), sondern die Logik der Farbbegrif­
fe. Und diese leistet, was man sich oft mit Unrecht von einer Theorie
er wartet hat<< (Wittgenstein, Remarks on Colour, 1950-51 [1977]: I, 72;
1: 13).
28
Um die Realität des Referenten zu ermitteln, muß das von
-Gorgias behat�ptete . vierfache Schweigen widerlegt werden, al­
�
lerdings in umgekehrter Reihenfolge: Es gibt jemanden, der den
Referenten meint, und jemanden, der den entsprechenden Satz
verst�ht; � er �efer�nt !st be� eutbar [signifiable ]; er existiert. Der
Bewe1s fur . d1e W1rkhchkeJt der Gaskammern kann nicht er-
38
DER KOGNITVE SATZ
bracht werden, wenn nicht die Regeln der Beweisaufnahme
beachtet werden. Sie determinieren das Universum der kogniti­
ven Sätze, das heißt sie schreiben den Instanzen des Referenten,
des Senders, des Empfängers und der Bedeutung bestimmte
Funktionen zu. Etwa: vom Sender erwartet man, daß er mit dem
Empfänger Übereinstimmung bezüglich des Sinns [sens] des
Referenten zu erzielen sucht: der Zeuge muß dem Empfänger die
Bedeutung [significationJ des Ausdrucks Gaskammer erklären.
Vom Empfänger erwartet man, daß er dem Sender zustimmt,
wenn er gegen den erklärenden Satz nichts einzuwenden hat: er
akzeptiert die Bedeutung, das heißt die vom Sender gegebene
Erklärung, oder akzeptiert sie nicht. Wenn nicht, so erwartet
man von ihm, daß er eine andere Erklärung des Ausdrucks
vorschlägt. Wenn Übereinstimmung erzielt wird, verfügt man
über einen wohlgeformten Ausdruck. Beide können nun sagen:
wir sind uns darüber einig, daß eine Gaskammer dies oder das
ist. Dann braucht nur die Existenz einer Wirklichkeit, die als
Referent dieses Ausdrucks gelten könnte, mittels eines Satzes
»gezeigt« zu werden, der die Form hat: Dies oder das ist eine
Gaskammer. Dieser Satz erfüllt eine ostensive Funktion, die
gleichfalls von den Regeln der kognitiven Diskursart verlangt
wird. I [34]
29
Aber verhält es sich in den Wissenschaften wirklich so? Das läßt
sich bezweifeln (Feyerabend: Wider den Methodenzwang). -
Überhaupt braucht man diese Frage nicht zu beantworten, wenn
es sich nicht so verhält; das Spiel um den fraglichen Satz ist dann
nämlich nicht wissenschaftlicher Natur. Das behauptet Latour
(1981): Das Spiel ist rhetorisch, sagt er. Welchem Sprachspiel
aber gehört dieser letzte Satz seinerseits an? Eher müßte man
antworten: An Ihnen ist es, zu beweisen, daß es sich nicht so,
sondern anders verhält. Und dies würde sich nach den Minimal­
regeln der Beweisaufnahme (Nr. 65) vollziehen oder überhaupt
nicht. Zu behaupten, daß es sich in den Wissenschaften tatsäch­
lich nicht so verhalte, hieße sich für die Ermittlung dessen stark
machen, was sich nun tatsächlich abspielt, und dies läßt sich nur
nach den Regeln der kognitiven wissenschaftlichen Sätze be-
39
 DER WIDERSTREIT
werkstelligen, die die Realität eines Referenten zu ermitteln
erlauben. Wenn der Satz mit der Behauptung, die Wissenschaft
sei in Wirklichkeit eine rhetorische Veranstaltung, wissenschaft­
lich ist- eins von beiden denn: entweder ist er selbst rhetorisch,
weil wissenschaftlich, und kann weder die Realität seines Refe­
renten noch den Wahrheitsgehalt seines Sinns nachweisen. Oder
man erklärt ihn für wissenschaftlich, weil nicht rhetorisch; dann
stellt er eine Ausnahme von dem dar, was er für allgemeingültig
erklärt, und man darf nicht behaupten, daß die Wissenschaft,
sondern nur, daß eine bestimmte Wissenschaft rhetorischer
Natur ist.
30
Warum spricht man von einem akzeptablen, einem »wohlge­
formten Ausdruck<< anstatt von einem »bedeutungshaltigen
SatZ<< [phrase significative] ? Jener unterliegt den Formationsre­
geln kognitiver Sätze, in denen das Wahre und das Falsche auf
dem Spiel stehen. Diese Regeln werden ihrerseits in den Unter­
suchungen der formalen Logik und, insofern sich die Sätze auf
das Gebiet der Referenz beziehen, in axiomatischen Untersu­
chungen behandelt. Für ihre Wohlgeformtheit ist es nicht rele­
vant, ob die diesen Regeln unterliegenden Sätze im Sinnver­
ständnis der Umgangssprache bedeutungshaltig sind oder nicht.
In die Umgangssprache übersetzt können sie sinnwidrig erschei­
nen. Umgekehrt können die Sätze der Umgangssprache »bedeu­
tungshaltig<< in dieser und nicht wohlgeformt oder zumindest
mehrdeutig hinsichtlich der Regeln der Kognitive sein. x ruft
seinen Freund y an, den er lange nicht gesehen hat, und sagt zu
ihm: Ich kann bei Dir vorbeikommen (Nr. 137, 139, 1 40). In
einer kritischen Situation befiehlt ein weisungsbefugter Beamter
[35] seinen Untergebenen: Verweigern Sie den Befehl. I Der erste
Satz ist mehrdeutig, der zweite falsch gebildet, aber alle beide
werden von den Empfängern als bedeutungshaltige akzeptiert.
Ebenso zieht der Satz: Der Mülleimer ist voll für den Logiker
oder den Wissenschaftler nicht die nun allerdings gängige Ant­
wort nach sich: Gut, ich geh ' schon (Fabbri, münd!. Mitteilung,
1 980). Die »Restriktionen<<, die den in den Wissenschaften
akzeptierbaren Sätzen auferlegt werden, sind notwendig, um
40
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VALIDIERUNG
diese Sätze wirkungsvoll zu verifizieren oder zu falsifizieren: sie
bestimmen die nötigen Verfahren, deren wiederholbare Ausfüh­
rung den Konsensus zwischen Sender und Empfänger autori­
siert.
31
Diese >>Restriktionen<< sind keine. Im Gegenteil: je genauer man
die Regeln zur Validierung [validationy:- von Sätzen präzisiert,
umso deutlicher kann man verschiedene davon unterscheiden
und andere Idiome erfassen. Es ist nicht dasselbe Ballspiel, je
nachdem ob die Regel vorschreibt, daß der Ball niemals den
Boden berühren darf, daß er den Boden höchstens einmal pro
Ballwechsel für alle Spieler berühren darf, ein einziges Mal pro
Aufschlag in jedem Feld oder einmal pro Ballwechsel in jedem
Feld usw. Als ob sich die Bedingungen der Bedeutung veränder­
ten. Vidal-Naquet zitiert Lucien Febvre, der wiederum Cyrano
de Bergerac zitiert: »Einem Menschen darf man nicht alles
glauben, da ein Mensch alles sagen kann. Man darf einem
Menschen nur das Menschliche glauben<< (1981 : 268). Der Hi­
storiker muß sich fragen: »Das Menschliche? Das Unmögli­
che?''':· Die ganze Frage besteht darin, ob diese beiden Worte
noch Sinn haben.<< Hat man sich nicht an das Unmenschliche zu
halten, von dem die Augenzeugen von Ausschwitz berichten? ­
Unmenschlich bedeutet: unvereinbar mit einer Idee von Huma­
nität. Relevant ist diese Bedeutung für die Familie der ethischen,
juristischen, politischen, historischen Sätze, in deren Sprach­
spiel diese Idee notwendig abgehandelt wird. In den kognitiven
Sätzen prädiziert menschlich einen Sachverhalt, der die mensch­
liche Art betrifft und an einzelnen Fällen demonstriert werden
::- Et wa: Nach weis der Gültigkeit; entsprechend frz. valider: validie­
ren, das heißt die Gültigkeit (eines Satzes us w.) nach weisen (A. d.
Ü).
::-::- Bezieht sich auf L. FEBVRES Kommentar zum BERGERAc-Zitat:
>>Schöner Text, ein wenig verspätet: er ist von 1654. Aber er gibt uns
Gelegenheit, in Frankreich - endlich - die Geburt eines neuen Sinns
zu begrüßen . . . des Sinns des Unmöglichen<< (in: VIDAL-NAQUET,
1981 : 268-269; A. d. Ü .).
41
 DER WIDERSTREIT
kann. Die Opfer, die Henker und die Zeugen von Ausschwitz
werden in die Klasse der menschlichen Wesen integriert; die
Botschaften, die wir von ihnen erhalten, sind bedeutungshaltig
und liefern verifizierendes Beweismaterial, selbst wenn sie mit
einer Idee der Menschlichkeit nicht vereinbar sind. Die Bot­
schaften von Voyager II über den Saturn können nahezu un­
menschlich im zweiten Sinne genannt werden, weil sie von der
Mehrzahl der Menschen nicht gehört und nicht bestätigt werden
[36] können, aber sie sind menschlich wenigstens im ersten I Sinne,
insofern sie nicht gesendet würden, wenn sie nicht von der Idee
einer am Erkenntnisfortschritt orientierten Menschheit gefor­
dert worden wären.
32
Selbst wenn die Verifikationsverfahren entsprechend präzisiert
werden - wie weiß der Sender, daß der Empfänger das Gemeinte
wirklich versteht und, wie er selbst, wünscht, daß die Wahrheit
dessen, worüber sie sprechen, ausgemacht sei? - Er setzt es
voraus. Er nimmt an, daß dem so sei. Er nimmt ebenfalls an, daß
der Empfänger dies von ihm annimmt. Usw. - Und schon sind
Sie dabei, »Humanwissenschaften« zu betreiben, das Meinen
(meaning), die Wünsche, die Glaubensvorstellungen zu sondie­
ren, die Sie als besonderes Merkmal jener Entitäten, der mensch­
lichen Wesen, voraussetzen. Ebenfalls setzen Sie voraus, daß
diese sich der Sprache zu bestimmten Zwecken bedienen. Ps�­
chologie, Soziologie, Pragmatik und eine bestimmte Sprachphi­
losophie haben gemein, daß sie diesen instrumentellen Bezug
zwischen Denken und Sprache voraussetzen. Dieser Bezug ge­
horcht einem' technologischen Modell: Das Denken ist zweck­
bestimmt, die Sprache liefert dem Denken die Mittel - wie kann
der Empfänger unter den in der Botschaft verwendeten sprachli­
chen Mitteln die Zwecke des Senders erkennen? Für die Fragen
der Sprache scheint die Stichhaltigkeit der Ideen vom homo, vom
homo faber, vom Willen, vom guten Willen, die anderen Berei­
chen zugehören, nicht in Zweifel zu stehen!
42
.,--... ..
BöswiLLIGKEIT
33
Nur wird Vidal-Naquet Faurisson nicht von der Wahrheit des
Satzes: Es gab Gaskammern überzeugen können, wenn dieser
>>böswillig<< ist. Bitter konstatiert der Historiker, daß es analog
dazu »noch Antidreyfusianer gibt« (1981 : 269). Selbst in einem
Fall, dessen Realität nach Maßgabe der entsprechenden Ermitt­
lungsverfahren erwiesen wurde (die Fälschung durch Colonel
Henry), kann der Konsensus ausbleiben. Auf diese Weise kön­
nen der böse Wille oder die Unaufrichtigkeit oder ein blinder
Glaube (die Ideologie der Französischen Vaterlandsliga [Ligue
pour la Patrie franr;aise]) vereiteln, daß die Wahrheit zutage tritt
und Gerechtigkeit geübt wird. - Nein. Was Sie Böswilligkeit
usw. nennen, ist nur Ihr Etikett dafür, daß es dem Gegner nicht
um die Ermittlung der Wirklichkeit geht, daß er die Formations­
und Validierungsregeln I der kognitiven Sätze nicht akzeptiert, [37]
daß er nicht überzeugen will. Der Historiker kann Faurisson
nicht überzeugen wollen, wenn dieser eine andere Diskursart
»spielt<<, in der es nicht um die Überzeugung, das heißt um die
Erlangung eines Konsensus über eine bestimmte Wirklichkeit
geht. Wenn der Historiker diesen Weg fortsetzt, wird er sich als
Opfer wiederfinden.
34
Wie aber kann man in Erfahrung bringen, daß der Gegner bösen
Willens ist, solange man nicht versucht hat, ihn zu überzeugen,
und solange er nicht durch sein Verhalten seine Geringschätzung
gegenüber den wissenschaftlich-kognitiven Regeln offenbart
hat? - Man »spielt das Spiel« gemäß diesen Regeln ; die Replik
des Empfängers zeigt, daß er sie nicht beachtet. - Wenn sich aber
der Gegner bemüht, seine Mißachtung der Erkenntnisregeln zu
verbergen und so zu tun, als ob er sie beachtete? Ich müßte seine
Intentionen erkennen . . . - Eines von beiden : Die Sätze, deren
Sender er ist, genügen diesen Regeln oder genügen ihnen nicht.
Sie können diesbezüglich nicht vieldeutig sein, da die Vieldeutig­
keit von diesen Regeln ausgeschlossen wird. - Aber man kann
doch vorgeben, daß sie den Regeln genügen und daß sie eindeu­
tig sind; man kann Beweisstücke erfinden. Der Generalstab hat
43
 DER WIDERSTREIT
nicht gezögert, es zu tun. - Klar, aber es ist Sache der Verteidi­
gung, das Argument zu widerlegen, den Zeugen zurückzuwei­
sen, den Beweis zu verwerfen, soweit dies nötig ist und bis zur
Zurücknahme der Anklage. Dann wird man schon bemerken,
daß diese eine anderes Spiel spielte. - Zweifellos, aber wäre es
nicht möglich, den Widerstreit zu vermeiden, indem man ihn
vorwegnimmt? - Unmöglich, so scheint es. Was würde eine
derartige Vorwegnahme von einem positiven oder negativen
Vorurteil gegenüber der Person Ihres Gegners, gegenüber seiner
Art, Sätze zu >Setzen<, unterscheiden? Und das Vorurteil ist
aufgrund der Regeln kognitiver wissenschaftlicher Sätze ausge­
schlossen. - Aber erliegen diejenigen, die diese Regeln aufstel­
len, nicht dem Vorurteil, sie seien dafür kompetent? Wie könn­
ten sie nun tatsächlich das Vorurteil vermeiden, solange diese
Regeln noch nicht aufgestellt sind und solange ihnen also die
Kriterien zur Bezeichnung der Kompetenz abgehen?
PLATON
1 . Stark und schwach
Meletos, sagt Sokrates, hat mich vor Gericht beschuldigt. Aber seit
[3 8] langem schon ist dem ein Gerücht vorausgegangen, I das ich noch viel
mehr fürchte: ich stellte verdächtige Forschungen über unterirdische
und himmlische Dinge an; ich wüßte aus dem schwächsten Argument
das stärkste zu machen; ich lehrte, nicht an die Götter zu glauben
(Apologie, 1 8 b, 19 b - c, 23 d). Tatsächlich sind dies die wesentlichen
Anklagepunkte, die Aristophanes fünfundzwanzig Jahre früher in den
Wolken gegen Sokrates vorbrachte. Darüber hinaus bezichtigte der
Komödiendichter die Sokratiker der sexuellen Inversion.
Der Prozeß zielt auf eine Inversion, auf eine Verkehrung der Art zu
reden, auf eine gottlose Diskursart. Protagaras und Korax wird von
Aristoteles die Kunst angelastet, aus dem schwächsten Argument das
stärkste zu machen (Rhetorik, II, 24; 1402 a 23) ; und Eusebios, Sextus
Empiricus, Diagenes Laertios, Philostratos, Hesychios, Platon und
Cicero schreiben Protagaras die Aussage zu (DK 80 B 4, A 12, A 1, A 2,
A 3, A 23), man könne aus Zeitmangel und mangels vorzeigbarer
Beweise nicht wissen, ob es die Götter gäbe noch wie sie beschaffen
seien. Diogenes, Philostratos und Eusebios berichten weiters, daß
Athen die Bücher von Protagaras beschlagnahmen und verbrennen
ließ, und Sextus Empiricus erzählt, daß er die Flucht ergriff, um der
Strafverfolgu ng wegen Gottlosigkeit zu entgehen (DK 80 A 1, A 2, A 4,
44
PLATON
A 12). Bis auf die Flucht sind die Namen von Sokrates und Protaga­
ras austauschbar, was die Anklage auf einen logischen Umsturz be­
trifft.
Die Lösung der Frage der Gottlosigkeit ist einer der Punkte, um die
das Werk Platons kreist. Es handelt sich darum, den Niedergang des
6vto/..6yor; (ontologos) zu beglaubigen und die Regeln eines neuen
/..oyo/..6yor; (logologos) zu definieren. Der Satz, den wir von Parmenides
hören, ist der Satz, den Parmenides aus göttlichem Munde vernommen
hat. Als Diskursart setzt die Ontologie diese unergründliche Erleuch­
tung voraus: wovon sie redet (phrase), vom Sein, das redet auch durch
ihren Mund; der Referent ist zugleich der Sender. >>Sein und Denken
sind das gleiche.<< Der ontologische Satz ist zunächst ein aufgeschnapp­
ter Satz und der Denker des Seins ein Empfänger, ein Zeuge. Unter
diesem Aspekt zitieren der Rhetor, der Sophist den Zeugen vor die
Schranke und verlangen die Darlegung seiner Beweise. Er hat keine;
entweder gibt es gar keinen Referenten oder er ist nicht faßbar oder
schließlich nicht mitteilbar. Was Gorgias vom Sein und vom Nichtsein
sagt, sagt Protagaras von den Göttern. Diese wie jene sind Referenten
geworden, Instanzen, die zu ermitteln bleiben. Darum wird der neue
Diskurs für gottlos erklärt; er beruft sich nicht auf die Offenbarung,
sondern verlangt die Widerlegung (>>Falsifikation«) hinsichtlich der
Ermittlung der Wirklichkeit des Referenten. Die Gottlosigkeit liegt
darin, daß die Instanzen von Sender und Empfänger die Beweislast
tragen. Das Wort Iogos verändert seinen Sinn. �E.]_5_!._nic;ht mehr sagen-
. empfangen, sondern sagen-argumentieren.
Für Platon geht es um die Aufstellung von Argumentationsregeln,
die verhindern, daß das schwächste Argument mittels seiner Überre­
dungskraft (seiner Zauberkraft, yol]tELa [goeteia ]; I Menexenos, 234 c- [3 9]
235 a) das stärkste besiegt. Diese ist im Menexenos am Beispiel der
Gattung [genre] der Totenrede im Gewand eines pastiche beschrieben
(Loraux, 1974: 172-2 1 1 ; 1981 : 267-332). Sokrates verzeichnet die
Instanzenverschiebung, die die Totenrede vollführt. Der /..6yor; Emta-
qnor; (logos epitaphios), eine Art epideiktischer Diskurs, instauriert als
Sender einen vom Rat vorgeschlagenen Redner, als Empfänger die
Versammlung der Bürger, als Referenten die im Kampf für das Vater-
land gefallenen Bürger. Seine Bedeutung besteht in der Eloge auf diese
letzteren. Auf den Empfänger wirkt er durch »Verzauberung« (der
Hörer glaubt sich auf die Insel der Seligen verschlagen).
Diesem Gefühl entspricht eine Folge von Namensverschiebungen
bezüglich der Instanzen: Der Tod im Kampf ist ein »herrlicher Tod«;
ein herrlicher Tod impliziert ein »gutes« Leben; das athenische Leben
ist gut; der Athener, der dieses Leben lebt, ist gut; ihr seid gut. Im
manifesten Universum, das der epitaphios darstellt, sind die Instanzen-
45
 DER WIDERSTREIT
namen folgendermaßen situiert: Ich, der Redner, sage euch (der Ver­
sammlung), daß die auf dem Felde der Ehre Gefallenen gut sind. Im
zugleich mitdargestellten {latenten) Universum herrschen folgende Si­
tuationen: Ich sage euch, daß ihr gut seid. Und wenn man der Prosepo­
pöe am Schluß (wo die toten Helden das Wort ergreifen) Rechnung
trägt, heißt es gar: durch seine (des Redners) Vermittlung sagen wir(die
toten Helden) uns (den lebenden Bürgern), daß wir (die Lebenden und
die Toten) gut sind. Der Empfänger im ersten Universum nimmt im
z weiten auch die Situation des Referenten ein. Der Referent im ersten
Universum wird im zweiten zugleich Sender (Nr. 156, 160).
Von der Versammlung erwartet man nicht, daß sie das Wort ergreift,
daß sie argumentiert, nicht einmal, daß sie urteilt. Die Epideiktik ist
nicht die Dialektik, auch nicht die juristische oder deliberative Rheto­
rik, sie tendiert eher zur Dichtung. Es geht nicht darum, beim Empfän­
ger Sätze auszulösen, sondern jene quasi-Sätze: die stummen Gefühle.
Wenn sich Sätze ereigneten, würden sie die Mehrdeutigkeit des Pathos
mehr oder weniger beseitigen und den Zauber zerstreuen. (Hier läßt
sich beobachten, daß in manchen Fällen von Sätzen, den poetischen,
der Spieleinsatz im Schweigen des Empfängers als einem Gefühlssign al .
besteht.) Das Sch weigen des Pathos, der Taumel, den Sokrates be­
schreibt, beruht darauf, daß die Namen auf den Instanzen allgegenwär­
tig situiert sind: der Empfänger hört das von ihm Gesagte, als ob er
nicht hier wäre, als ob er also zugleich lebendig als Empfänger und tot
als Referent, als ob er unsterblich wäre. (Man kann diese Allgegenwart
auch Wunscherfüllung nennen, aber die Benennung ist metaphyischer
Natur.)
Diese Gruppe von paralogischen Verfahren nennt sich in platoni­
schem Vokabular 1-!ETaß oA.l] (metabole), 1-!L!-Il'JOL� (mimesis), JtELI'tw
(peitho). Beim Empfänger setzt sie eine ge wisse Empfänglichkeit vor­
aus, mi{}na (patheia), eine Fähigkeit zur Rührung, zur Metamorpho­
[4 0] se (die durch die Wolke symbolisiert wird); und I beim Sender die
Kunst der Verschleierung, der dunklen und geheimnisvollen Anspie­
lung (nicht ich, sondern die Götter, die Helden sprechen aus meinem
Mund: Prosepopöe der Toten, Prosepopöe der Göttin des Parme­
nides).
2. Gottlosigkeit
Welcher Bezug herrscht zwischen dieser Gruppe von Verfahren und
der Gottlosigkeit? Zunächst werden die Götter als Empfänger aufge­
faßt. »Wer den Gesetzen gemäß glaubt, daß die Götter sind, beging nie
weder eine gottlose Handlung frei willig noch ließ er eine gesetzwidrige
Rede vernehmen, sondern nur wenn von den dreien eines ihm begegne­
te [n:aaxwv], daß er entweder das, was ich jetzt sagte, nicht glaubt, oder
46
PLATON
zweitens, daß die Götter sind, aber sich nicht um die Menschen
kümmern, oder drittens, sie seien leicht, durch Opfer und Gebete
gewonnen, zu beschwichtigen<< (Gesetze, X; 885 b). Drei Fälle von
Gottlosigkeit. Entweder sind die Götter nicht Empfänger unserer
Sätze oder, wenn ja, sie antworten nicht und sind keine Gespräch­
spartner oder sie erliegen, wenn sie antworten, der Bestechung und
der Leidenschaft und sind nicht gerecht. Also: es gibt sie nicht; wenn
es sie gibt, sind sie stumm; wenn sie sprechen, sagen sie, was man
von ihnen verlangt. In die zweite Person übertragen, die die Instanz
des Empfängers signalisiert, das heißt an die Götter gerichtet, lauten
die gottlosen Sätze folgendermaßen: ihr existiert nicht; ihr sprecht
nicht; ihr sagt, was ich verlange. In all diesen Fällen seid ihr schwä­
cher als ich, der existiert, spricht und sagt, was er will. Die Gottlo­
sigkeit besteht in dieser Verkehrung des Kräfteverhältnisses. Tradi­
tionsgemäß werden die Götter >>die Stärksten«, XQELttOVE� (kreitto­
nes) genannt, insbesondere von Aristophanes und Platon (Des Places,
I: 299-300).
Gottlos kann man auch sein, wenn man von den Göttern - und nicht
mehr zu ihnen- spricht. Sie nehmen dann die Position des Referenten in
Sätzen ein, die die Menschen untereinander wechseln. Dies ist in vielen
traditionellen Erzählungen, den 1-!U{}OL (mythoi), der Fall: die Götter
verursachten Gutes wie Schlechtes, sie verwandelten sich {lögen also) ­
zwei Symptome von Schwäche, die durch die 1-!U{}ono(m (mythopoioi)
und auch durch die A.oyono(OL (logopoioi) beglaubigt werden, also von
den Dichtern und von den Rhetoren und Sophisten (Staat, II; 376 cff.).
Der kanonische Satz dieser Diskursarten lautet: Ich sage dir, sie sind
ebenso schwach wie du und ich. Darum vertreibt man die Urheber
dieser Sätze aus der idealen Polis (Staat) und verurteilt sie zum
Schlimmsten in der realen Polis (Gesetze).
Die Gottlosigkeit kann schließlich darin bestehen, die Wahrheitslie­
be der Götter zu mißbrauchen. Man situiert sie dann als Sender von
Sätzen. Die Gottlosigkeit macht sie sagen: Wir lügen, wir täuschen
euch, wir sagen dies, während jenes der Fall ist. Die platonische Kritik
(Staat, III; 392 c- 398 b) greift hier hauptsächlich das Verfahren an, I [4 1]
die Götter sprechen zu lassen, und nicht so sehr, was man sie sprechen
läßt; die lexis eher als den Iogos. Dieses Verfahren ist mimetisch: indem
es den Gott als Sender-Instanz situiert, verhehlt es den »eigentlichen«
Sender, den grundsätzlich der Erzähler darstellt. In Reinform findet
man diesen Fall der mimetischen Poetik im Theater: der Autor erscheint
nicht auf der Bühne, er bleibt verborgen, geheim. Umgekehrt ist der
Dithyrambus eine direkte Schreibweise, die die Spuren des »authenti­
schen<< Senders bewahrt. Das homerische Epos vermengt Mimesis und
Diegesis (ibid. ).
47
 DER WIDERSTREIT
Die Mimesis muß grundsätzlich verworfen werden. Sie erzeugt eine
zweite Natur, sie begünstigt den falschen Wortgebrauch, indem sie die
Verkleidungen und die [tEtaßo/.a( (metabolai) vervielfältigt (Staat,
III; 395 d, 397 b). Es mag noch angehen, daß sich der Schreiner zum
Bett so verhält, wie der Gott zur Idee des Bettes; das ist die duale,
erbärmliche, aber ontologische Organisation von Scheinendem und
Seiendem. Daß aber der Maler dem noch das Bild des Bettes hinzu­
fügt, das ist schon ein jämmerliches Kunststück, das nur das ontologi­
sche Leidwesen verdoppelt, indem es das hinfälligste Seiende, das
Sinnliche, halbiert.
Sokrates bedient sich desselben Kunststücks im Staat (Buch VII).
Mit der Erklärung, daß sich die Sonne zu den Dingen verhalte wie das
Gute zu den Ideen, verdoppelt er die Analogie durch ein Analogon, das
mimetisch wie kein anderes ist: es verhalte sich, sagt er, wie das Feuer
am Eingang der Höhle zu den Geräten, deren Schatten es an die Wand
wirft. Folgender Umstand kommt ihm zu Hilfe: Man muß die Mimesis
untersagen, was allerdings unmöglich ist. Denn man erfaßt nicht die
Dinge selbst, sondern ihre Abbilder. Wenn man die Dinge erfaßte,
bräuchte man nicht zu reden [phraser]. Oder wenn man nicht redete,
bräuchte man nicht nachzuahmen. Das Reden vollzieht sich in Erman­
gelung dessen, wovon die Rede ist. Die Sprache ist Zeichen dafür, daß
man das Sein des Seienden nicht erkennt. Wenn man es erkennt, ist man
das Seiende, im Schweigen (Brief VII , 342 a - d). Mit der Mimesis läßt
sich also nur ein Kompromiß schließen.
Das Trugbild [simulacre] täuscht wie das Idol, döw/.ov (eidolon); als
dx6�:;, eikos (Wahrscheinliches) verstanden, ist es aber auch ein Indiz
auf dem Wege des Wahren, des »Eigentlichen<< (Phaidros, 261 ff.). Der
Schein bedarf einer Regel. Man braucht gute tUJtO L (typoi), gute Präge­
stöcke, die geeignete Trugbilder (eotx6ta) wiedergeben (Staat, li;
377 e- 379 a). Als Zeichen der unumgänglichen Nachahmung haben
wir die Sprache in den Geschichten erlebt, die uns als kleinen Kindern
von den Ammen und Frauen erzählt wurden (ibid.: 377 b). Wie läßt sie
sich vermeiden? Man kann nur den Prägestock verbessern. Der kanoni­
sche Satz der platonischen Poetik lautete summa summarum: Ich
täusche Dich so wenig wie möglich.
3. Der Dialog
[4 2] In dieser Problematik des Realitätsverlustes oder -schwundes I des
Referenten formieren sich die Regeln, die zwischen den Partnern einen
Konsensus bezüglich eines Satzes herzustellen vermögen, der seinen
Referenten comme il faut identifiziert. Im Herzen des dialektischen
Diskurses ist eine neue Diskursart erforderlich. Die Suche nach dem
Konsensus ist nicht das regulative Ideal der Eristik, die mit aller Gewalt
48
PLATON
zu siegen versucht, noch der Sophistik als käuflicher Eristik, noch selbst
der Peirastik, der experimentellen Dialektik, die die Meinungen auf die
Probe stellen will (Aristoteles, Sophistische Widerlegungen: 2, 8, 1 1).
Die Formations- und Verkettungsregeln von Sätzen und die Beweisauf­
nahme stehen noch lange nicht fest und werden selbst von denjenigen
noch lange nicht übereinstimmend gebilligt, die das Wahre mittels der
Diskussion suchen. Oft stockt die Diskussion an einem: Darum geht es
nicht. Die Topik, die Sophistischen Widerlegungen und die Rhetorik
widmen sich gleichermaßen der Aufstellung dieser Regeln.
Dem Polos hält Sokrates entgegen (Gorgias, 471 e- 472 b, 474 a ff.,
475 d-476 a), daß ihre Auseinandersetzung nicht von der Art der
juridischen oder politischen Rhetorik, sondern des ötaf.Eywftm (dia­
legesthat) sei. Wir sind nicht im Gerichtssaal, »ich bin kein Staats­
mann<<. Der Anwalt, der Tribun glauben das Blatt zu ihren Gunsten
wenden zu können, indem sie haufenweise Zeugen herbeizitieren.
»Ein solcher Beweis«, erklärt Sokrates, »ist gar nichts wert, wo es auf
die Wahrheit ankommt.« Das einzige Zeugnis, auf das er Wert legt, ist
das des Polos, seines Gegners. Daß Polos und er selbst Einigkeit,
Ö[tol.oy(a (homologia), über einen Satz herstellen : hierin liegt das
Zeichen für das Wahre. Der Anspruch gilt wechselseitig: Sokrates'
Zustimmung ist alles, was Polos wollen muß. Auf diese Weise wird
der dritte Zeuge zurückgewiesen: Bezüglich des Referenten verfügt
man nur über die Zeugenaussagen derjenigen, die während seiner
Verhandlung im Gespräch alle Aussagen über ihn durch das Sieb der
Widerlegung passieren.
Im Staat (I; 348 a - b) schlägt Sokrates vor, jenen anderen Dritten
auszuschließen, der im Gerichtssaal oder in der Versammlung interve­
niert: den Richter. Thrasymachos gegenüber beschreibt er den antilogi­
schen Diskurs : Man stellt Argument gegen Argument, jeder antwortet
seinerseits, dann muß man die Argumente zählen und einschätzen und
braucht folglich einen Richter, der entscheidet, Ö taXQLvwv ( diakrinon ).
»Wenn wir aber wie bisher in der Untersuchung einander zum Einge­
ständnis [avortol.oyoU[tEVOL, was auch bedeutet: sich Widersprechen­
de] zu bringen suchen, so würden wir selbst zugleich Richter und
Redner [Q�toQEi:;] sein.«
Diese doppelte Zurückweisung (oder auch: doppelte Verdichtung)
emanzipiert den Dialog von den rhetorischen und dialektischen Verfah­
rensweisen, die nicht an der Identifikation des Referenten orientiert
sind. Abseits der öffentlichen Stätten nimmt eine Institution Gestalt an.
In ihrem Bereich geht es nicht um Sieg, sondern um Einigkeit. Der
aywv (agon) zwischen den Sätzen bestimmt die Regel der deliberativen
Politik (Nr. 210-215) und des politischen Lebens. Innerhalb der Aka­
demie aber entspricht die Regel, soweit man darüber urteilen kann, eher
49
 DER WIDERSTREIT
[43] derjenigen, die die !!U{h]!..taTLxo ( (mathematikoi), I die Eingeweihten
der orphisch-pythagoräischen Zirkel - die göttliche Offenbarung aus­
genommen -, befolgten (Detienne, 1963). Die nol-mxo( (politiko1)
lehrt man die Mathemata, ohne sie mit ihnen zu erarbeiten.
Der Unterschied zwischen dem esoterischen Seminar und dem ex­
oterischen Referat überschneidet sich, was deren Verhältnis zum
Wissen angeht, mit dem Unterschied zwischen mündlichem Dialog
und Buch. Die Schrift [ecrit] bedeutet den Tod des Dialogs: sie ist
nicht ihr eigener Sender und kann sich nicht selbst verteidigen (Phai­
dros, 275 d); sie kann ihre Leser nicht auswählen wie der Gesprächs­
teilnehmer seine Partner (275 e); mit den Schriftzeichen appelliert sie
an die formale und mechanische Mnemotechnik und nicht, wie die
Stimme, an die aktive Anamnese der Inhalte (275 a) ; mittels der
Schrift spielt sich der Lernprozeß in simulierter (kurzer) Zeit ab,
ähnlich wie das Pflanzenwachstum in den künstlichen, den sogenann­
ten Adonis-Gärten; dagegen erfordert die Befruchtung durch das le­
bendige Wort die lange und gemächliche - vielleicht endlose - Zeit
des Dialogs (276 b - 277 a).
Der Trauerflor der Schrift regiert die Politik: Muß man Gesetze
aufschreiben, so entspricht dies gleichsam der Niederschrift medizini­
scher Rezepte, damit es in Abwesenheit des Wissenden, des Arztes, des
» Königs« als des lebendigen Gesetzgebers (Staat, 293 a-295 c) nicht an
Anleitung fehlt. Der enttäuschte Pythagoräer trägt ontologische und
politische Trauer; man muß schreiben, mittels der Schrift regieren,
mittels der Schrift lehren, der Nachahmung Raum gewähren (>>Denn
dies Schlimme hat doch die Schrift, [. . . ] und ist darin ganz eigentlich
der Malerei ähnlich<<; Phaidros, 275 d) und jenen gesprächsunwürdigen
Empfänger, der sich JtOAL nx6� (politikos), Leser nennt, institutionali­
sieren. Als Kontrapunkt der mündlichen Sätze des Gesprächs werden
die geschriebenen Sätze der Pädagogik nötig sein.
4. Auswahl
Nicht jedermann kann man am lebendigen Gespräch teilnehmen lassen.
»SokrateS<< stößt sich an jenem Hindernis des Partners: wenn er nun
einfältig oder böswillig ist? Niemals zweifelt man an der möglichen
�olle? dung der O!!OAoy ( a (homologia), sie ist Gegenstand einer Idee,
em Z1el braucht nicht verwirklicht zu werden, um ein Ziel zu bleiben,
eher kann man darauf verzichten, und darum vielleicht ist die Zeit des
J lebendige? Dialogs unbegrenzt. Die.J_rurituri.on..des.ia .D logs erfQr.M!:!._
aber . z�m� �dest e�n Einvernehmenj�r_j>a!'_!n�t_i.!be.I:_��l! Spieleinsatz,
_
das he1ß_t_uber d1e Suche nach dem Einvernehmen. Alexander von
1\p�-rOc!is �asn-ennt-de!; -K��ensusoezügllch·oer-MeillodexülvoXoyia
(komolog�a) : Wenn die Thesen am Ende identisch sein sollen, so
so
-
PLATON
müssen zumindest die Idiome der beiden Parteien und der Gebrauch,
den sie davon machen, von Anfang an übereinstimmen. Stellen Sie sich
einen Gesprächsanwärter vor, der ein Rüpel oder ein Trottel oder ein
Betrüger wäre- er müßte wohl ausgeschlossen werden. Den Fremden
von Elea fragt Sokrates, nach welchem Verfahren er zu argumentieren
verstehe, ob in fortlaufender Rede oder mit Fragen und Antworten. Der
Fremde: I »Mit einem, o Sokrates, der ohne Verdruß und lenksam mit- [44]
zusprechen weiß, leichter so, gesprächsweise [ EllT]VLcll �, von fjv(a, der
Zügel]; wenn aber das nicht, dann allein<< (Sophistes, 217 c - d). Mit den
Freunden der Ideen beispielsweise kann man ein Gespräch führen, sie
sind »Zahmer<< (f!!!EQWtEQOL ; ibid.: 246 c) als die Materialisten, die alles
auf den Körper zurückführen. Letztere müßten, bevor sie zum Gespräch
zugelassen werden, »gebessert<< (VO!!L!!WtEQOL) werden. Tatsächlich
(EQY<p) aber ist das nicht möglich. Man wird also so tun, als ob (l-6y<p) sie
besser wären: man ergreift das Wort für sie, man legt selbst ihre Thesen
aus (acpEQ!!lJVEUE; 246 e) und macht sie für den Dialog annehmbar.
Tatsächlich geht es nicht nur darum, die Dummen, die vorgeben, ein
Gespräch führen zu können, auszuschließen, sondern auch darum, jene
Starrköpfe, die das Gespräch ablehnen, anzulocken und zu bessern, Der-�­
sim_�ierte. Dialog dient als Lockm�ttel für sie. Qer. Materialist Qe�ritt.
�cht die Bühne des Dialogs, ist aber.aürlllr repräsentiert. Geglückte
M{me�is ist es, die xmvo!-oy(a nachzuahmen, selbst�e��tä;;dlich My<p,
während sie EQY<r nicht existiert. Dieses Verfahren wird vom Athener in
den Gesetzen (X, 892 dff.) ausführlich beschrieben. Zu Kleinias und
Megillos sagt er: Bevor wir uns darüber auseinandersetzen, ob die Seele
älter ist als der Körper, haben wir gleichsam einen reißenden Strom zu
durchqueren. Ich bin der Kräftigste von euch und bereits mit vielen
Strömen vertraut. Laßt erst mich den Übergang versuchen und begut­
achten, ob ihr ihn meistern könnt. Wenn nicht, werde ich es allein
riskieren. Wäre das nicht vernünftig ? »Ebenso ist auch die uns jetzt
bevorstehende Untersuchung zu gewaltig und für eure Kräfte vielleicht
unüberschreitbar«, ihr seid im Antworten ungeübt und werdet den
Boden unter den Füßen verlieren. Deshalb halte ich es für geboten, jetzt
so zu verfahren, daß ich zuerst an mich selbst die Fragen richte, während
ihr auf sicherem Boden zuhört, und dann auch selbst die Antworten
darauf gebe und die ganze Argumentation soweit durchführe . . . Ge-
sagt, getan: »Und indem man mich in dergleichen durch solcherlei
Fragen zu widerlegen sucht, scheint es mir das sicherste, in folgender
Weise sie zu beantworten. Wenn etwa einer sagt: >Steht denn, o
Gastfreund, alles fest [. . .]?< Einiges, werde ich dann erwidern, bewegt
sich wohl . . .<< Es folgt ein gestellter Dialog (893 b - 894 b ), der folgen­
dermaßen schließt : >>Haben wir nun, ihr Freunde, alle Bewegungen [. . .]
angeführt [. . . ]?<<
51
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DER WIDERSTREIT
.. W �r sin � die ge�ann �en Freunde? Die vom Athener in seinem Dialag
fur eme Stimme simuherten Gesprächspartner oder seine realen Ge­
sprächspartner Megillos von Sparta und Kleinias, der Kreter? Immer
knüpft dieser letztere an das fiktive oder »reale<< »meine Freunde<< mit
e�ner Frage an. Er hat also den Strom durchquert. Der Poetologe nennt
diese Wendung eme _ Metalepse (Genette, 1972: 243), einen Ebenen­
wechsel im Zugriff auf den Referenten. Aristoteles prüft den Gebrauch
[4 5 ] der trans�atio disputationis, einer Metalepse (Topik, II; 1 1 1 b 31), I aber
der Zu �nff, dess�n Wechsel er b�schreibt, bezieht sich auf das Argu­
ment, mcht auf die Partner. Die Uberlegungen und Beispiele Genettes
geben der Metalepse eine andere Bedeutung: sie ist die Überschreitung
einer »beweglichen, aber unverletzbaren Grenze zwischen zwei Wel­
t�� : der, in welcher man erzählt, und der, die man erzählt<< (245). Er
Zitiert harmlose Fälle bei Balzac oder Proust, gewagte bei Sterne,
Diderot, Pirandello, Genet.
Den Archetypus der Metalepse sieht er im Vorgespräch zum The­
aitet�s: Eukleides berichtet Terpsion ein Streitgespräch zwischen
Theaitetos, Theodoros und Sokrates, das letzterer wiederum ihm
selbst, Eukleides, berichtet hat. Um aber die lästige Wiederholung
von Erzählhinweisen wie sagte er, antwortete er, sagte ich, räumte er
ein zu vermeiden, hat Eukleides, der die Unterhaltung aus dem Ge­
dächtnis niederschrieb, diese Formeln im Buch weggelassen. Terp­
_
swn und wir, die Leser des Eukleides, lesen also den Dialog zwi­
schen Sokrates und Theaitetos bzw. Theodoros, als ob er, Terpsion,
u?d wir selbst sie ohne Zwischenträger zu hören bekämen. Dies ist
em �all von perfekter Mimesis: man erkennt sie an der Tilgung des
Schnftstellers, an der Verborgenheit des Eukleides. Der Athener aus
den G�setzen ließ in seinem monologischen Dialog wenigstens die
_
Hmweise der Simulation unangetastet. Nun tilgt sich Platon aber
auch als Schriftsteller aus den Dialogen, die wir lesen (und ihm zu­
_
schreiben). Er vergewaltigt also allem Anschein nach die von Sokra­
tes im Staat erlassene poetische Gesetzgebung und setzt sich - aus
formalen Gründen, wenn nicht sogar durch seine These - der Ankla­
ge der Gottlosigkeit aus.
Die Vorgespräche zu den Dialogen jedoch enthalten zumeist die
B ühnenan �eisungen: x sagt y, er habe z getroffen, der ihm erzählt habe,
daß · · · Die an dieser Stelle wichtigsten Verschiebungen der Ebenen
(Genette, 1978: 238ff.) variieren : eine Ebenenverschiebung in den
Gesetze� : (Platon) � der Athener und seine Gesprächspartner; zwei
Eb �nen Im Staat: (Platon) � (Sokrates) � Sokrates und seine Ge­
sprac _ � spartner; vi r Ebenen im Theaitetos: (Platon) � Eukleides,
�
Terp � !O? � Eukle1des, Sokrates � Sokrates, Theodoros, Theaitetos
(schnfthch). Man müßte darüber hinaus die Personen- und Distanzver-
52
___
PLATON
änderungen (Genette, 1972: 251 , 183) in den prooimia prüfen. Die
Vervielfältigung der Ebenen vergrößert die Distanz vom Empfänger
(vom Leser) zum Referenten. Auf diese Weise werden in unserer
Passage aus den Gesetzen Kleinias und Megillos von der Bühne ins
Parkett verwiesen, von wo aus sie dem fiktiven Dialog des Atheners mit
sich selbst zuhören. Als Leser der von »Platon« geschriebenen Dialoge
widerfährt uns das gleiche Schicksal: durch die Regieanweisungen auf
Distanz gehalten, erscheint unsere Identifikation mit den Gesprächs­
partnern verspätet.
Die Anweisungen zur narrativen Distanznahme spielen in der plato­
nischen Poetik eine ähnliche Rolle wie die Ausschlußverfahren, die im
»sokratischen<< Dialog den Dritten betreffen : Wir Leser können I zum [4 6]
geschriebenen Dialog nicht mehr und nicht weniger zugelassen werden
wie der Kreter und der Spartaner zum simulierten. Wie sie sind wir zu
schwach oder, wie die Materialisten, zu rüpelhaft und starrköpfig. Wir
können zu keinem Einvernehmen über die Regeln des Dialogs gelan­
gen, deren wichtigste meint, daß das Einvernehmen bezüglich des
Referenten aus und durch uns selbst gewonnen werden muß. Was die
Wirklichkeit betrifft, so glauben wir an die Entscheidung des Dritten.
Wir glauben, der Erfolg vor dem Dritten sei das Zeichen des Wahren.
Wir glauben an die Agonistik. Wir lassen es zu, daß das schwächste
Argument mittels einiger Tricks siegt.
( t .
'
5. Metalepse .
Was 9ie Mittel zum Nachweis der Wirklichkeit angeht, so besteht also
,ein Widerstreit zwischen den Verfechi:erri der ..Agcmistik und den
Verfechtern des Dialogs. Wie kann dieser Widerstreit beigelegt wer.�
den ? Diese sagen: i� Dialog; jene: im Agon. Wenn man daran festhält,
__setznkh der Widerstreit nur.weitedort und wird zu einer Art Meta­
Widerstreit: ein Widerstreit bezüglich einer bestimmten Beilegung des
Widerstreits bezüglich einer bestimmten Ermittlung der Wirklichkeit.
Und darum ist das agonale Prinzip noch längst nicht ausgeschlossen,
sondern setzt sich weiter durch. Um die Gefahr dieser Rekurrenz zu
-entschärfen,. inszeniert.»Platon<< die Metalepse des Partner�,d_ie ':iel- ·
leicht den Kern der Pädagogi k darstellt. , . ·
...,,. -- ' ' " " ·
--· Das Paradoxon dieser Inszenierung ist folgendes. Prinzipiell elimi­
.
niert der Dialog die Berufung auf Dritte, um die Realität des Referenten
des Streitgesprächs zu ermitteln. Er fordert den Konsensus der Partner
bezüglich des Kriteriums dieser Realität, wobei das Kriterium im
Konsensus bezüglich ein und desselben Satzes über diese Realität
besteht. Der Ausschluß von Dritten findet auf einer Bühne statt, die
bereits vom Dialog in Anspruch genommen wird. Diese Bühne aber
wendet sich an Dritte, an die Leute im Saal, an die Zuschauer. Diese
53
 DER WIDERSTREIT
Leute sind genau die, die von der Bühne des Dialogs ausgeschlossen
wurden. Sie sind der Agonistik verpflichtet, das heißt dem Spiel zu
dritt, den rhetorischen, dialektischen und den traditionell poetischen
(insbesondere theatralischen) Verfahren. In der Position von Dritten
gegenüber der Dialog-Bühne sind sie aufgerufen zu bezeugen oder
darüber zu richten, ob diese oder jene Replik, Episode oder Sequenz
dialogisch ist oder nicht. In diesem Fall aber bleibt der Dialog ein Spiel
zu dritt und unter��eht weiter dem Prinzip der poetischen und rhetori­
schen Agonistik. Uber den Kopf von Thrasymachos hinweg wendet
sich »Sokrates<< somit an ein Publikum, das der Unterhaltung bei­
wohnt, an ein Leserforum, das entscheiden wird, wer der Stärkste ist.
Gerade in dem Augenblick also, in dem sie als Dritte dazwischenzu­
treten meinen, dürfen sie nicht länger Dritte, Zuschauer, Zeugen und
Richter der Dialoge sein und müssen die Stellung von Gesprächsteil­
nehmern beziehen. Die Metalepse vollzieht diesen Wechsel im Zugriff
auf die Debatte. Indem sie ihn durchführen, sind sie nicht mehr die
[4 7] Empfänger des inszenierten Dialogs, I neben Thrasymachos oder
Kleinias werden sie zu Empfängern des »Sokrates<< oder des Atheners,
wie wir - zunächst Leser - zu Empfängern im Dialog mit >>Platon<<
werden.
Muß man eine Dynamik des Dialogs gelten lassen, die den Wider­
streit durch Metalepsen absorbiert und ihn - wenn nicht zu einem
Konsensus über die Referenten - wenigstens zu einer gemeinsamen
Sprache führt? Man müßte dann anerkennen, daß die Eins stärker ist
als die Vielzahl und der Konsensus durch die Uneinigkeit hindurch
angestrebt und erreicht wird. Für Sätze, die derartige Prinzipien ver­
treten, können keine Beweise erbracht werden. Es ist also niemals
ge wiß und nicht einmal wahrscheinlich, daß sich die Teilnehmer eines
St�eitgesprächs - selbst als Zeugen eines Dialogs verstanden - zu
Dialogpartnern bekehren würden. Sicher ist nur, daß der Dialog eine
von den traditionellen dialektischen Verfahren ab weichende Diskurs­
art ist.
...._:
.__ :r ,[��-r�_c:i!l und versuc:h!_��g_l�ic,_h_�jnzuführen : die Regeln dessen
_
namT1ch, was wir-diewisse nschaftliche Erk�nninisnennen�
--- - ---------
35
Derjenige aber, der sich als Zeuge gebärdet, der Sender des
. gibt es, der Ankläger schließlich, unterliegt nicht der
Satz �s: Dzes
zu � m?est den Kriterien der Kompetenz, der Sittlichkeit (Wo�
bei � nstot�les), der Aufrichtigkeit oder Wahrhaftigkeit, die ein
.
Urteil daruber erlauben, ob seine Zeugenaussage zulässig ist
54
VERGESSEN UND VERGELTUNG
oder nicht?-Vidal-Naquet fragt sich, ob er befugt sei, zugun-
sten der Realität der Gaskammern auszusagen. Zögernd
schwankt er zwischen zwei Motiven : das Gedächtnis gegen das
Vergessen zu schützen, Vergeltung zu üben. Da� erste � otiv
.
unterwirft den Zeugen einzig den Regeln der kogmttven wissen­
schaftlichen Sätze: die Tatsachen der menschlichen Vergangen-
heit ermitteln. Ganz anders dagegen das zweite. Dessen Urbild
findet er in einem Satz Chateaubriands: >>Wenn man im Schwei-
gen der tiefsten Erniedrigung nur noch den Widerhall der Skla­
venkette und die Stimme des Spitzels vernimmt, wenn alle vor
dem Tyrannen zittern und seine Gunst so gefährlich ist wie sei�e
Ungnade, dann meldet sich der Historiker zu Wort, bet:aut mit
der Vergeltung, der Rache der Völker<< ( 1 9 8 1: 270) . Dies wa:,
sagt er, über lange Zeit hinweg seine Vorstellung von der Arbeit
des Historikers. Heute aber: >>Der Krieg ist vorbei<<, die Tragö-
die ist profanisiert; »die Völker<<, das jüdische Volk jedenfalls,
sind nicht mehr der Mittel beraubt, sich vernehmlich zu machen
und Wiedergutmachung zu erlangen, sie sind keine Opfer mehr.
.
Hier hätten wir den vierten Fall vorliegen (Nr. 26 und 27), m
dem Schweigen geboten ist, da der Zeuge nicht zur Aussage
befugt ist, oder den Fall Nr. 2 I, in dem es den Referenten -:- hie: : [4 8 ]
das Opfer- nicht gibt, den man bezeugen könnte. Dem Histon-
ker bliebe also nur die Autorität der Erkenntnis, seine Aufgabe
wäre desublimiert (White, 1 9 8 2: 1 2) .
36
>>Es gibt keine Opfer mehr<< (Nr. 3 5). Zunäcpst sind �_as aber
',zwei ganz verschiedene Dinge: daß die Juden keine Opfer mehr
,sind und daß es keine Opfer mehr gibt. Vom Besonderen kann
man nicht aufs Allgemeine schließen. Sodann ist der Satz: Es gibt _
keine Opfer mehr (tautologisch mit dem Satz : Es gibt keinen .
Widerstreit mehr) kein kognitiver Satz und _kann mit de� J3ewe�s� __
_
_
una Validierungsmitteln kognitiver Sätze weder verifiziert noch _ -
widerlegt werden. Der Referent Arbeitskraft zum Beispiel ist
Geg�nstand eines Begriffs, aber, um mit Kant zu sprechen, er
befördert keine Anschauung und folglich auch keine Auseinan­
dersetzung und keinen Urteilsspruch vor dem Tribunal der Er­
kenntnis. Sein Begriff ist eine Idee (Kant-Exkurs 111, § 2 und 3).
55
 DER WIDERSTREIT
Ein anderes Beispiel: ein Bewohner der Insel Martinique ist ein
französischer Bürger; er kann gegen die Verletzung seiner Rech­
te als französischer Staatsbürger Klage führen. Das Unrecht, das
er aufgrund seiner französischen Staatsbürgerschaft zu erleiden
glaubt, ist kein Streitgegenstand im französischen Recht. Im
internationalen öffentlichen oder Privatrecht könnte dies mög­
lich sein, dann aber dürfte der Martiniquais kein französischer
Staatsbürger mehr sein. Nun ist er es aber. Folglich kann die
Behauptung, er erleide ein Unrecht aufgrund seiner Staatsbür­
gerschaft, mit expliziten und zuverlässigen Verfahren nicht veri­
fiziert werden. Diese Beispiele sind Situationen, die im Univer­
sum ideeller Sätze (Ideen im kantischen Sinne) dargestellt wer-
den, der Idee der Nation, der Idee der Wertsetzung. Diese
Situationen sind keine Referenten von Erkenntnissätzen. Es gibt ,\
keine entsprechenden Verfahren, um ihre Realität im kognitiven \
Sinne zu beweisen oder zu widerlegen. Darum führen sie zum 1
Widerstreit. In Hinblick auf die Regeln der Familie kognitiver )
Sätze wenigstens gerät deren Formulierung zur Paradoxie,�
37
Angenommen, Ihre Hypothese stimmt: Das Unrecht rührt
daher, daß sich der Schaden nicht in einer gemeinsamen Sprache
des Gerichts und der anderen Partei ausdrücken läßt und daß
daraus ein Widerstreit entspringt. Wie aber können Sie beurtei­
len, ob hier ein Widerstreit vorliegt, wo doch in dieser Hypothe-
[49] se der I Referent des Satzes des Opfers keinen Gegenstand einer
Erkenntnis im strengen Sinne darstellt? Wie können Sie gar
(Nr. 1 ) behaupten, daß eine derartige Situation existiert? Weil
Sie Zeugen dafür haben ? Warum aber schenken Sie deren Aussa­
ge Glauben, während sie selbst doch - der Annahme nach - die
Realität dessen, was Sie behaupten, nicht beweisen können ?
Entweder bezieht sich der Widerstreit auf eine bereits nachge­
wiesene Wirklichkeit und ist kein Widerstreit, sondern ein
Rechtsstreit, oder er hat, wenn der Gegenstand nicht in der
Wirklichkeit nachgewiesen werden kann, keinen Gegenstand,
und es gibt überhaupt keinen Widerstreit. - Der Positivismus
spricht so. Er verwechselt Wirklichkeit und Referent. Nun ist in
vielen Satzfamilien der Referent keineswegs als real dargestellt:
56
BEWEISREGELN
Über allen Gipfeln I ist Ruh, 2 X 2 4, Steigen Sie aus, Zu jener
=
Zeit ging er nach . . . , Das ist sehr schön. Das hindert durchaus•:·
nicht, daß diese Sätze stattfinden. (Aber ist stattfinden identisch
mit wirklich sein ? ; - cf Nr. 1 3 1 ).
38
Es empfindet jemand größeren Schmerz, wenn ein Tier - und
nicht ein Mensch - verletzt wird. Denn dem Tier geht jede
Möglichkeit ab, seinen Schaden den menschlichen Beweisregeln
entsprechend zu bezeugen, und folglich ist jeder Schaden gleich­
sam ein Unrecht und macht es zum Opfer ipso facto. - Wenn aber
"· das Tier aufgrund fehlender Mittel nicht aussagen kann, besteht
nicht einmal ein Schaden, zumindest können Sie ihn nicht
belegen. - Was Sie sagen, definiert genau meine Vorstellung vom
Unrecht: Sie stellen den Verteidiger des Tieres vor das Dilemma
(Nr. 8). Darum ist das Tier ein Paradigma des Opfers.
39
Wenn sich aber die Sätze, die unterschiedlichen Regelsystemen
(/tmd Diskursarten - etwa der Erkenntnis oder den Ideen -
\l angehören, darin treffen, daß sie einen Widerstreit verursachen,
1 dann müssen sie insgesamt bestimmte Eigenschaften gemeinsam
\ haben, und das >>Treffen« kann nur in einem gemeinsamen
'-Universum stattfinden, andernfalls wäre kein Treffen möglich ! -
�
!Das Hniversum, das Sie meinen, ginge den Sätzen, die sich darin
ffen, voraus; es wird aber von Ihrem Satz dargestellt. Er stellt
es dar, als bestünde es bereits vor jedem Satz. HierinJiegt_da_s __
Paradoxon, das im allgemeinen die Wirklichkeit anzeigt: was
��Jidi�existiert, selbst wenn es keine einzige Aussage darüber --·­
� di_(! mit kognitiven Verfahren validiert werden könnte I
-
[50]
(Nr. 37, 47). - Nein, ich behaupte nicht, daß dieses.Univefsum
die Realität sei, ich behaupte nur, daß es die Bedingung für das
Treffen der Sätze und folglich die Bedingung des Widerstreits
darstellt. - Die Bedingung für dieses Treffen ist nicht dieses
•:- Ergänzung in der zweiten Auflage des französischen Originals.
57
 DER WIDERSTREIT
Universum, sondern Ihr Satz, der es darstellt. Dies ist eine
transzendentale, keine empirische Bedingung. Von der besonde­
ren Beschaffenheit dieses Universums läßt sich sagen, daß sie das
Ergebnis des Treffens ebenso ist wie seine Bedingung (beide
Ausdrücke sind äquivalent). Ebenso ist der Satz des Linguisten
die transzendentale Bedingung der Sprache, auf die er sich
bezieht. Das hindert nicht, daß die Sprache den Satz des Lingui­
sten empirisch bedingt. Transzendental und empirisch sind Aus­
drücke, die lediglich zwei verschiedene Satzfamilien anzeigen:
den philosophisch-kritischen (kritizistischen) und den kogniti­
ven Satz. Und schließlich: die Sätze ungleichartiger Regelsyste­
me und Diskursarten »treffen<< sich in den Eigennamen, »tref­
fen<< sich in den Welten, die durch die Namensgeflechte festge­
legt werden (Nr. 80, 8 1 , 60).
40
Warum treffen sich die Sätze ungleichartiger Regelsysteme? Sie
sagen, aus diesen Begegnungen erwachse der Widerstreit. Kann
man diese Kontakte nicht vermeiden? - Unmöglich, der Kontakt
ist notwendig. Erstens muß ein Satz, der geschieht, weiter
verkettet werden (und sei es mit einem Schweigen, das ein Satz
ist), man hat keine Möglichkeit, die Verkettung auszulassen.
Zweitens: die Verkettung ist notwendig, die Art und Weise
kontingent. Ich kann bei dir vorbeikommen kann auf mehrere
Arten weiter verkettet werden (Nr. 1 3 7, 139, 140). - Darunter
gibt es aber relevante und andere, haltlose. Schließen Sie letztere
aus, und Sie werden dem Widerstreit entrinnen. - Zugegeben.
Doch wie wollen Sie die relevanten in Erfahrung bringen? Indem
Sie viele verschiedene Verkettungsarten ausprobieren, die halt­
losen eingeschlossen. - Es gibt aber Diskursarten (Nr. 1 47, 179,
1 80), die Verkettungsregeln festlegen, und man braucht sie nur
zu beachten, um den Widerstreit zu vermeiden. - Die Diskursar­
ten bestimmen Spieleinsätze, sie unterwerfen die Sätze unter­
schiedlicher Regelsysteme einer einzigen Zweckbestimmung: In
der juridischen Rhetorik sind die Frage, das Beispiel, die Beweis­
führung, der Erzählakt, der Ausruf heterogene Mittel, um je­
ma?den zu überzeugen. Daraus folgt nicht, daß der Widerstreit
(5 1 ] ZWischen den Sätzen I ausgeschlossen bleibt. Jeder von ihnen
58
DER VERKETTUNGSMODUS
kann Ausgangspunkt einer anderen Diskursart sein, die ihn einer
anderen Zweckbestimmung verschreiben kann. Die Diskursar­
ten drängen den Widerstreit nur von der Ebene der Regelsyste­
me auf die der Zwecke zurück. - Aber die Möglichkeit mehrerer
Verkettungen hat nicht zur Folge, daß zwischen ihnen ein
Widerstreit entsteht? - Doch, da immer nur eine einzige zugleich
geschehen (>>aktualisiert« werden) kann (Nr. 1 84, 1 86).
41
Man muß verketten, aber der Verkettungsmodus ist niemals
notwendig, sondern passend oder unpassend. Kann ich bei dir
vorbeikommen ? - Wie steht der Dollar? Oder: Dies ist eine Krise
der Überkapitalisierung. - Du hast dir die Zähne geputzt? Oder:
Zu Hilfe! - Wem ? Oder: p oder q: wenn p, dann non-q. - Du
wußtest von ihrer Ankunft? Oder: Mach die Tür zu! - Du sagst,
die Tür soll zugemacht werden. Diese Ungebührlichkeiten sind
lauter Schäden, die dem ersten Satz vom zweiten zugefügt
wurden. Würden Sie sagen, daß diese Schäden deswegen On­
rechtsfälle werden, weil der erste nicht in Hinblick auf seine
Validierung weiter verkettet wird? - Das ist es nicht einmal. Die
Validierung ist eine Diskursart, kein Satz-Regelsystem. Kein
Satz läßt sich innerhalb seines eigenen Regelsystems validieren :
ein deskriptiver Satz wird kognitiv nur durch den Rekurs auf
einen ostensiven Satz (Hier, das ist der entsprechende Fall)
validiert. Ein präskriptiver Satz validiert sich juristisch oder
politisch durch einen normativen (Es gilt die Norm, daß . . . ),
ethisch durch ein Gefühl (verbunden mit: Du sollst) usw.
42
>>Einzig die Vergeltung des Opfers autorisiert die Zeugenaussa­
ge« (Nr. 35). - Das Wort Autorität ist mehrdeutig. Das Opfer
hat nicht die Rechtsmittel, um sein erlittenes Unrecht zu bezeu­
gen. Wenn es sich selbst oder sein Verteidiger ihm >>Gerechtig­
keit verschafft<<, so kann dies nur im Widerspruch zum Recht
geschehen. Dieses Recht behält sich die Autorität vor, das
Verbrechen zu ermitteln, den Urteilsspruch zu fällen und die
Strafe festzusetzen, und zwar vor Gericht, das beide Parteien
59
 DER WIDERSTREIT
angehört hat, die sich in derselben Sprache, der des Rechts,
ausdrücken. Die Gerechtigkeit, an die das Opfer gegen die
rechtsprechende Justiz appelliert, kann sich nicht im juristischen
und gerichtlichen Diskurs artikulieren. Nun artikuliert sich das
Recht aber in eben dieser Diskursart. Die Autorität, die die
Vergeltung erteilen kann, darf also nicht als ein Recht bezeichnet
[52] werden. Die Klage ist eine Schadenersatzforderung /, die vom
Kläger (Sender) bei einem Dritten (dem Richter) niedergelegt
wird. Der Rächer ist ein Rechtschaffener, die Forderung (der
Schrei) ist an ihn (den Empfänger) als an einen Richter adressiert,
sie ist nicht auf einen Dritten übertragbar, selbst nicht zur
Vollstreckung (Idiolekt), ihre Legitimität steht nicht zur Dis­
kussion, sie bemißt sich nicht an der austeilenden Gerechtigkeit,
weil ihr Referent, das Unrecht, nicht erkennbar ist.
43
Immerhin wird die Vergeltung dadurch autonstert, daß die
Klage folgenlos bleibt. Man schreit nach Rache, wenn man
keinen Schadenersatz erhalten kann. - Das bleibt Sache der
Psychologie oder Sozialpsychologie. Jedenfalls nimmt man da­
mit ungeprüft an, daß ein teleologisches Prinzip den Ü bergang
von einer Diskursart (der kognitiven) zur anderen (Satz der Idee)
bestimmt. Über welche Beweise verfügen wir nun dafür, daß es
ein Kompensationsprinzip zwischen den Diskursarten gibt?
Kann man sagen: Da ich dies nicht zu beweisen vermag, muß ich
es erzählen können ? Zunächst ist der Referent nicht derselbe,
wenn der Satz, der ihn anführt, nicht der gleichen Satzfamilie
angehört. Der Schaden ist kein Unrecht, die beweisbare Eigen­
schaft ist nicht identisch mit dem erzählbaren Ereignis, ich
meine: selbst wenn sie den gleichen Namen tragen. Und dann:
warum ist es unbedingt notwendig, daß dieser Referent Gegen­
stand eines >>Zweiten« Satzes ist? Einzig die Verkettung ist
n ? twendig, nichts weiter. Innerhalb einer Diskursart gehorchen
dte V� rk�!tungen Regeln, die Einsätze und Zwecke festlegen .
Aber 1m Ubergang von einer Diskursart zur anderen kennt man
weder derartige Regeln noch einen allgemeinen Zweck. Ein
kl �ssis �h �s B eispiel dafür ist die Verkettung zwischen einem
_
prasknptiven _
und emem kognitiven Satz: Daß ein Referent als
60
MENSCHENRECHT UND WELTGERICHT
real erwiesen ist, kann nicht zu der Folgerung führen, daß man
hinsichtlich dieses Referenten etwas sagen oder tun soll (cf den
Abschnitt: »Die Verpflichtung<<). Umgekehrt können auf einen
präskriptiven Satz mehrere Arten möglicher Sätze folgen. >>Wir
sagen : >Der Befehl befiehlt dies< - und tun es, aber auch: >Der
Befehl befiehlt dies : ich soll . . . < Wir übertragen ihn einmal in
einen Satz, einmal in eine Demonstration, und einmal in die Tat«
(Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen: § 459). Oder in
eine Bewertung: Der Offizier schreit Avanti! und stürzt aus dem
Schützengraben, die Soldaten schreien ergriffen Bravo!, ohne
sich zu rühren. I [53]
44
Die Vergeltung besitzt keine legitime Autorität, sie rüttelt an der
Autorität der Gerichte, sie beruft sich auf Idiome, auf Satzfami­
lien, auf Diskursarten, ganz gleichgültig, deren Stimme jeden­
falls nicht zählt. Sie fordert die Revision der Zuständigkeiten
oder die Einrichtung neuer Gerichte. Sie ficht die Autorität eines
jeden Gerichts über Sätze an, das sich zu deren einzigem und
höchstem Gericht aufwirft . Man tut unrecht, wenn man das,
woran die Vergeltung gegen das Recht appelliert, >>Menschen­
rechte<< nennt. Mensch ist sicherlich nicht der richtige Name für
diese Berufungsinstanz, und der Name Recht taugt ebensowenig
für die Autorität, die sie geltend macht (Nr. 42). Recht des
anderen würde kaum besser passen. Vielleicht: Autorität des
Unendlichen oder des Ungleichartigen, wenn dies nicht so viel­
sagend wäre.
45
Man verläßt sich auf das >>Gericht der Geschichte<<, Hegel
beruft sich auf das »Weltgericht<<. Wie das Jüngste Gericht
können dies nur Symbole sein. In welcher Diskursart, in wel­
cher Satzfamilie könnte das Höchste Gericht sein Urteil über
die Geltungsansprüche aller Sätze fällen, wenn feststeht, daß
diese Ansprüche je nach der zugehörigen Satzfamilie und Dis­
kursart verschieden sind? Eine bequeme Antwort liegt im Ge­
brauch des Zitats (Metasprache), das alle Sätze unter die allei-
61
 >>AKTUALITÄT<<
DER WIDERSTREIT
darüber hinaus ihre Sender und Empfänger nicht mehrvorrangig
��ge Herrschaft der kognitiven zwingt. Anstelle des Befehls: in einen Bezug zur Frage nach der Bedeutung dieses Referenten
Offnen Sie die Türe hat das Gericht den deskriptiven Satz: Es
'!fJUrde befohlen, die Türe zu öffnen zur Kenntnis zu nehmen; situieren. I [ 5 5]
anstelle der Frage: Ist dies Rot? den deskriptiven Satz: Man
fragte, ob dies Rot sei; anstatt des deskriptiven Satzes: Die
Mauer ist weiß den deskriptiven Satz: Es wurde erklärt, daß
diese Mauer weiß sei. Danach stellte sich das Gericht folgende
Frage : Wurde tatsächlich gefragt, ob dies Rot sei, tatsächlich
erklärt, daß die Mauer weiß sei? Tatsächlich bedeutet: weist
der zitierte Satz (Befehl, Frage, Beschreibung) genau die Züge
auf, die wir meinen (war das ein richtiger Befehl) ? Fand er
wirklich statt (war das wirklich der Fall)? Wenn es sich nun
um die Validierung eines kognitiven Satzes (wie : Diese Mauer
ist weiß) handelt, sind diese beiden Fragen stichhaltig. Aber
[ 5 4] können wir einen Befehl wie: Hör auf zu singen oder eine I
Wertung wie : Ist diese Arie doch schön! mittels dieser Fragen
validieren? Die Validierung des Befehls scheint eher darin zu
bestehen, daß der Empfänger zu singen aufhört, die der Wer­
tung, daß der Empfänger die Gefühlsregung des Senders teilt
(Nr. 1 49).

46
Das Zitat unterwirft den Satz einer autonymischen Transforma­
tion. Der Satz lautete: Öffnen Sie die Türe, durch die Zitation
heißt er nun: Das !öffnen Sie die Tür/. Man sagt, daß er seine
Eigenschaft als aktueller Satz verliert. Aber was bedeutet >>aktu­
ell<< ? Richtiger müßte man sagen : Wenn man nach einem Befehl
die Ausführung dessen, was er vorschreibt, erwartet (und weni­
ger einen Kommentar oder eine Wertung), kann man sagen, er
sei >>aktuell<<. Und weiter: Die autonymische Transformation
des Befehls besteht zuerst darin, daß man seine Ausführung
nicht erwartet. Die Soldaten autonymisieren das Avanti! des
Leutnants, das sie zum Angriff antreibt, wenn sie mit dem
Ausruf Bravo! anknüpfen. So daß die Aktualität eines Satzes von
der Art der Verkettung mit dem nächsten abhängen würde. Die
Sitzung ist geschlossen stellt nur dann einen aktuellen performati­
ven Satz dar, wenn sich die folgenden Sätze nicht mehr nur auf
die Tagesordnung der Sitzung als Referenten beziehen, sondern

62 63

Der Referent, der Name
47
Wie läßt sich die Wirklichkeit des Referenten dem Vollzug der
Verifikationsverfahren oder wenigstens den Anweisungen un­
terordnen, die deren beliebigen Vollzug ermöglichen? Intuitiv
haben wir eine umgekehrte Vorstellung von der Wirklichkeit:
Ein Ding ist wirklich, meinen wir, wenn es existiert, selbst wenn
niemand seine Existenz verifizieren kann; so nennen wir etwa
einen Tisch wirklich, wenn er immer da ist, auch wenn sich keine
r
Zeugen am entsprechenden Ort aufhalten. - Oder stellen Sie sich
einen Staffellauf vor. Q_ie irklichkeit wäre der Gegenstand "
namens >>Staffelstab« ,, ' den Ie. Guterelnanaer übergebetl.l)er--
. Gegenstand wird nicht dur�h die . Staffel -der taufer wirklich
gemacht. Ebensowenig machen die Sprecher den Gegensi:änd, \
über den sie reden, durch ihre Beweisführung wirklich. -Die
Existenz läßt sich nicht erschließen. Das ontologische Argument
ist falsch. Jede Aussage über die Wlrklicnkeit seiit diese bereits
voraus.
48
Die Widerlegung der gängigen Vorstellung von der Wirklichkeit
(Nr. 47) entspricht formal dem unter Nr. 8 dargelegten Dilem­
ma. Die Vernichtung der Realität der Gaskammern ist identisch
mit der Vernichtung der Realität des Referenten in den Verifika­
tionsverfahren. Der Historiker nennt Faurisson einen »Eich­
mann mit Papier und Feder<< : dieser versuchte eine >>Ausrottung
,. Frz. temoin, >>Zeuge«, bedeutet u. a. auch »Staffelstab« und ist in
dieser Mehrdeutigkeit nicht übersetzbar (A. d. Ü.).
64
/
AuTOPSIE
auf dem Papier, die die tatsächliche Ausrottung ablöst« (Vidal­
Naquet, 1981 : 226) . Weil es nur die >>schwarz auf weiß« belegte
Realität gibt. Rosset würde sagen : dank einer Doublette dieser
Realität (Rosset, 1 976). Vidal-Naquet bemerkt, daß die >>Revi­
sionisten« (der Endlösung) in ihrer Untersuchung der Frage der
Gaskammern von einem >>nichtontologischen Beweis« Ge­
brauch machen. Zumindest darin aber I verfahren sie ganz [56]
einfach wie Sie und ich, wenn wir eine These über die Realität zu
widerlegen haben. Was das Abendland seit Parmenides und
Gorgias macht.
49
>>Ich war dort, ich kann darüber reden. « Dasselbe · Prinzip
beherrscht das Argument Faurissons : >>tatsächlich und mit eige­
nen Augen gesehen haben« (Nr. 2). Die ganze Autorität des
Zeugen ergäbe sich also aus der Autopsie, wie der Historiker sie
nennt (Hartog, 1980: 271-3 1 6) . M<lJl hiih_t_<!l,lr.i�son.entgeg�L­
__
daß.niemand seinen eigenen Tod sehen kann. Jeglichem ��alis.­
mus hält man entgegen, daß niemand . »die Wirklichkeit« im
. eigentlichen Sinne sehen kann. Das legt nahe, daß sie einen
-__ Eigennamen besitzt, und man sieht den Eigennamen nicht
(Kripke, 1 980: 24 [ dt. 1981 : 33). N�gnen_ist nichtj�ig���-H�s ­
sagt zu Jakob :. Ich versichere Dir, daß Ludwig da u:a!_._]akob
fragt wo. Hans antwortet: Nun, im Konzert, von dem ich. .air
. erzähle! Man nimmt an, daß Jakob den Namen des Konzertsaals
kennt. A ber wo im Konzertsaal und an welchem Tag? Hans muß
das da und wann, von dem er spricht, in einem Bezugssystem
orten, das von dem in seinem ersten Satz dargestellten Raum­
- Zeit-Verhältnis unabhängig ist, will er die Wirklichkeit von
Ludwigs Anwesenheit geltend machen. Er sagt: Hinten rechts
mzt Blick auf die Bühne, und : Am Samstag vor Weihnachten. Im
Rekurs auf chronologische, topographische, toponymische, an­
throponymische Systeme liefert Hans die Mittel zur Verifikation
der Wirklichkeit dieses Satz-Referenten, die nicht implizieren,
daß er, Hans, >>dort gewesen ist«.
65
 DER REFERENT, DER NAME
50
Die deiktischen Indikatoren beziehen die Instanzen des durch
den Satz dargestellten Universums, in dem sie sich befinden auf
e�nen 7 ak�uellen<< raum-zeitlichen Koordinatenursprung, �uch
»rch-hrer-Jetzt<< genannt. Diese deiktischen Ausdrücke sind De­
sign�toren der Wirklichkeit...Sik_Q.�zeichnen ihren Gegenstand
..�h . ewt! . außersprachliche- Permanen�r$_ e'it1e >> �geb��1ieit�:-'
Doch dreser >>Ursprung<< wird - weit davon entfernt, selbSt·� -­
unwandelbar zu sein - im Universum des Satzes, in dem sie
markiert sind, dargestellt oder mit dargestellt. Er erscheint und
verschwindet mit diesem Universum, also mit diesem Satz (He-
gel, P�änomenologie des Geistes, 2 : 83-86; Gardies, 1975: 88).
l�h btn an der Reihe derjenige ist an der Reihe (etwas, hier
=
mcht näher Bestimmtes zu tun), der sich in der Situation des
Senders (ich) befindet, wenn der Satz >>stattfindet<<, Was hattest
[57] du dir vorgestellt? derjenige, der sich I in der Situation des
=
Empfängers (du) befindet, wenn der Satz >>stattfindet<<, wird
gefragt, welche irreale Bedeutung er (hier einem nicht näher
bestimmten Referenten) zu einem Zeitpunkt verlieh, an dem der
Satz noch nicht >>stattgefunden<< hat. Das >>Subjekt des Aussage­
akts<< [su;et de l'enonciation] ist die Sender-Instanz in dem durch
den aktuellen Satz dargestellten Universum. Diese Instanz wird
(durch einen Eigennamen oder ein Pronomen) markiert (Ich
schwöre es dir, Was weiß ich) oder nicht markiert (Die Lösung ist
falsch, Halt!). Sie unterliegt dem gleichen Schicksal wie die ·
anderen Instanzen, die durch die anderen deiktischen Ausdrük­
ke markiert werden.
51
J:? em Leser dieser Zeilen erkläre ich, daß sich hier, jetzt, ich auf
emen >>Ursprung<< beziehen, der in dem vom >>aktuellen<< Satz
da:gestell�en �niversum liegt. Mein Leser begreift, daß die
_
Worter hzer, ;etzt, ich nicht in ihrem >>aktuellen<< deiktischen
\X:ert ve�standen werden dürfen (wie etwa in : ich erkläre, oder:
dzese Zezlen, eben die vorangehenden), sondern in ihrer Bedeu­
tung (das heißt ihrem Gebrauch) als deiktische Indikatoren im
all �emein �n, in jedem beliebigen Satz. Der Leser differenzi ert
ZWischen Jetzt und jetzt (oder dem] etzt). Wenn ich sage : »]etzt«
66
HIER, jETZT, IcH
ist selbstreferentiell, so wird »jetzt« unter seinem autonymischen
Aspekt als Bild seiner selbst verstanden. Anders bei der Frage :
Wann fahren Sie ab ?, wenn ich antworte:Jetzt. Im Satz: »]etzt«
ist selbstreferentiell, ist jetzt nicht selbstreferentiell, da es sich in
der Situation der Referenz-Instanz des durch diesen Satz darge­
stellten Universums befindet, es ist das >>Subjekt der Aussage
[sujet de l'enonce]<<. In Ieh fahre jetzt ab markiert jetzt die
Situation des Referenten (meine Abfahrt) im Verhältnis zum
Zeitpunkt, an dem der Satz >>Stattfindet<<. Es ist hier nicht, wie im
vorangehenden Satz, selbst der Referent.
52
Wenn ich vom >>Subjekt des Aussageakts<< eines Satzes spreche
(N r. 5 1 ), so nimmt die Sender-Instanz dieses Satzes die Situation
der Referenz-Instanz im aktuellen (von mir geäußerten) Satz ein.
Beide tragen den gleichen Eigennamen (sie sind benannt). Den­
noch sind die beiden Satz-Universen nicht deckungsgleich. Ich
berichte beispielsweise, daß Kant von der französischen Revolu­
tion schreibt, sie habe den Enthusiasmus der Zuschauer erregt.
» _Kant<< ist das >� Subjekt des Aussageakts<< des Satzes : Diefranzö­
szsche Revolutwn hat den Enthusiasmus der Zuschauer erregt
aber er ist Referent (oder I >>Subjekt der Aussage<<) des Satze� [58]
(von dem >>ich<< das >>Subjekt des Aussageaktes<< bin) : Kant
erklärt, daß die französische Revolution (usw.). Wenn Kant
ni�ht Subjekt der Aussage >>meines<< Satzes (des zweiten) wäre,
wre könnte ich dann behaupten, daß er Subjekt des Aussageakts
des ersten sei? Der Name, den es trägt, wird empfangen (nicht
notwendigerweise vom >>ich<<), und vielleicht muß jeder Eigen-
name empfangen werden.
53
Der Übertritt eines Eigennamens aus der Position des >>Subjekts
des Aussageakts<< in die Position des >>Subjekts der Aussage<<
entspricht einer Verschiebung von der Situation des Senders im
Universum eines aktuellen Satzes p in die Situation des Referen­
ten ii? Universum eines aktu� llen Satzes q. Im Universum p
sehrerbt >>Kant<< etwas über dre französische Revolution, ein
67
 DER REFERENT, DER NAME
a�derer .(>>ich<< ) schreibt etwas über >>Kant« im Universum q.
Dreser Ubertritt erfordert mindestens zwei Sätze, und diese
Sätze scheinen aufeinanderfolgen zu müssen. Dieser andere
kann den gleichen Namen besitzen. Der Autor des Streits mit der
juristischen Fakultät unterzeichnet beispielsweise den Satz über
die französische Revolution mit dem Namen >>Kant«. Satz (1)
lautet: Die französische Revolution hat den Enthusiasmus der
Völker erregt; der Satz mit der Unterschrift (2) lautet: Kant
erklärt, daß die französische Revolution (usw.). Es fällt auf, daß
der Sender des Satzes (2) unbenannt bleibt: Wer spricht hier?
Vielleicht >>Kant« oder ein anderer ; zu seiner Benennung aber
wäre ein Satz (3) nötig (etwa von der Art: Kant [oder x] erklärt,
daß Kant erklärt, daß die französische Revolution usw.). Wie
dem auch sei, das Wesentliche scheint darin zu liegen, daß
mindestens zwei Sätze so verkettet werden, daß der zweite dem
ersten einen dort unbenannt gebliebenen Sender zuschreibt, der
im zweiten die Situation des Referenten einnimmt.
• zugeteilt würde. Er ist nur ein Index, der etwa im Falle des
54
Die Verschiebung des >>Subjekts des Aussageakts« - wenn es
nämlich als benanntes zum Subjekt der Aussage wird - vollzieht
sich keineswegs im Dunkeln, hier geschieht eine Transformation
eines aktuellen Satzes in einen zitierten, ein Fall, den Frege am
Beispiel des >>Sinns« untersucht hat, der hier aber auf den Sender
angewendet wird (Frege, 1 892 : 4 1-42; Descombes, 1977:
1 75-1 78). Ebenso wie der >>Sinn« [im Original deutschr von p
zum Referenten von q wird, wird der Sender von p durch seine
[59] Benennu g zum I Referenten von q. - Russell behauptet, daß
�
_ Begnffe«
dre » [concepts] (Freges Sinne) unwandelbar seien wie
�ie platoni: che_n Ideen und damit unabhängig von ihrer Stellung
rm Satz. Dre mrt dem Zitat verbundene Transformation beunru­
higt ihn: in�e� sie nämlich den >>Begriff« des Satzes p auf die
»!erm<<-Posrtwn (Referenz) im Satz q rückt, macht sie aus ihm
ern bestimmtes >>Objekt« und beschneidet seinen universalen
Charakter. Er sieht darin eine Bedrohung der hegelschen Dia-
"· Cf A. d. Ü., S. 34f.
68
ANTISTHENES
lektik ( 1 903 : § 49). Der >>Sinn« eines Satzes aber ist für Frege
unabhängig vom Kontext des Sprechers. Die Transformation
von Satz ( 1 ) in Satz (2) verändert nicht den >>Sinn« von ( 1 ), sie
schließt ihn in den >>Sinn« von (2) ein und modifiziert seinen
referentiellen Wert''·. Die Verfahren zur Validierung des Satzes,
die eine durch einen ostensiven Satz darstellbare Realität ermit­
teln wollen (von der Art: Es liegt hier ein Fall vor), können nicht
mehr auf den >>Sinn« des Satzes (1), sondern nur auf den des
Satzes (2) angewendet werden. Nicht daß die französische Revo­
lution die Begeisterung der Völker erregt hat, muß validiert
werden, sondern daß Kant diesen Fall annahm. Der >>Sinn« von
( 1 ) aber bleibt sich als solcher gleich, ob Kant ihn nun annahm
oder nicht. - Der Name des Senders bleibt über die Zitate
(Einschachtelungen) und die sie begleitenden Transformationen
des Referenten hinweg gleichfalls identisch, allerdings aus einem
anderen Grund. Die Validierung der Wahrheit eines Namens
steht nicht zur Diskussion, er ist keine Eigenschaft, die einem
Referenten mittels einer Deskription (einem kognitiven Satz)
Anthroponyms ein menschliches Wesen - und nur eines -
bezeichnet. Man kann die einem menschlichen Wesen, das mit
diesem Namen bezeichnet wird, zugeschriebenen Eigenschaften
validieren, nicht seinen Namen. Dieser fügt ihm keine Eigen­
schaft hinzu. Selbst wenn viele Namen ursprünglich eine Bedeu­
tung besitzen, so verlieren sie sie und müssen sie verlieren. Der
Nenn-Satz - wie: Diesen nenne ich x (Taufe), Dies heißt y
(Lehre) - ist kein kognitiver und auch kein ostensiver Satz
(Nr. 62, 63).
ANTISTHENES
Antisthenes, Schüler von Gorgias, Bewunderer und Freund des Sokra­
tes, dessen Doxographie zusammen mit Diogenes dem Hund (Caizzi)
einen Grundstein des Kynismus darstellt, verficht zwei Paradoxa, I die [60]
von Aristoteles übermittelt werden. Das erste handelt vom Irrtum und
vom Widerspruch. Aristoteles versucht Regeln für die Dialektik aufzu-
,,. Das heißt seine »Bedeutung<< im fregeschen Wortgebrauch; cf. A. d.
ü., s. 34f.
69
 DER REFERENT, DER NAME
stellen. Dialektische These nennt er eine Behauptung, die der Lehrmei­
nung eines bedeutenden philosophischen Kopfes widerspricht (:rtaQa­
öo�o�, paradoxos). Er führt dafür die These des Antisthenes an, ,,daß es
keinen Widerspruch geben kann<< (Topik, 104 b 21). Im Buch IV der
Metaphysik stellt er einen Katalog von Begriffen auf und untersucht
dabei den Begriff des Falschen: >>Eine Aussage [ein Satz (f.6yo�)]"' ist
falsch, wenn sie, insofern sie falsch ist, auf Nichtseiendes geht. Darum
ist jede Aussage falsch, wenn sie auf etwas anderes bezogen wird als das,
wovon sie wahr ist, z. B. der Begriff des Kreises ausgesagt vom Dreieck.
Von jedem Gegenstande [Referent] gibt es in dem einen Sinne nur eine
Aussage, nämlich die des Soseins, in anderem Sinne gibt es viele
Aussagen, weil dieses Ding an sich und dieses Ding samt seinen
Affektationen gewissermaßen dasselbe [derselbe Referent] ist, z. B.
Sokrates und der gebildete Sokrates. Die falsche Aussage ist von nichts
geradezu Aussage. Darum ist die Ansicht des Antisthenes einfältig,
welcher behauptet, es werde immer nur Eins von Einem ausgesagt,
nämlich nichts anderes als der ihm zugehörige Begriff [OLXEL<p f.6ycp],
woraus sich dann die Folgerung ergab, daß es unmöglich sei zu wider­
sprechen, ja auch so gut wie unmöglich, falsch zu reden« (Metaphysik,
1 024 b).
Platon legt dem Euthydemos ein ähnliches Argument in den Mund,
so daß man aus dem Gesprächspartner des Ktesippos übereinstimmend
ein Double des Antisthenes macht. Wir werden sehen, daß das Mißver­
ständnis (oder die Mißachtung), die das Argument in der Doxographie
bis in unsere Tage hervorruft, auf der Doppeldeutigkeit des griechi­
schen Verbs AEYELV (legein) beruht: etwas sagen, von etwas sprechen,
etwas nennen?
»Wie doch, Ktesippos, sprach Euthydemos, glaubst du, es sei mög­
lich zu lügen? - Beim Zeus, ja, antwortete er, wenn ich nicht toll bin. ­
Indem man von dem Ding [:n:gay�a] spricht, auf das sich die Rede
[f.6yo�] bezieht, oder indem man nicht von ihm spricht? - Indem man
von ihm spricht, sagte er. - Indem er von ihm spricht, spricht er doch
nicht von etwas anderem als eben von jenem, von dem er spricht? - Wie
anders, sprach Ktesippos. - Und jenes, von dem er spricht, gehört doch
auch zu dem, was ist, und es ist eins davon, abgesondert von dem
übrigen? - Allerdings. - Wer also von jenem spricht, spricht von dem,
was ist, und wer von dem spricht, was ist, der spricht auch Wahres, so
daß Dionysodoros, wenn er von dem spricht, was ist, auch wahr spricht
und dir nichts anlügt« (E�tthydemos, 283 e- 284 a).
Ich wollte hier � e!l referentiellen Akzent von n f.Eynv (ti legein)
". LYOTARD übersetzt hier griech. f.6yo; mit franz. phrase (A. d. Ü.).
70
ANTISTHENES
hervorheben, »von etwas sprechen, sich auf etwas beziehen<<, und stelle
dabei seinen semantischen Akzent, »etwas sagen, sagen wollen«, zu­
rück. Beide sind möglich. Die gewählte Fassung jedoch scheint sich
aufgrund der Tatsache aufzudrängen, daß die erste Frage des Euthydc-
mos I eindeutig lautet: >>[ . . .] das Ding [ . . . ], auf das sich die Rede [61 )
bezieht [to :n:gay�a :rtEQt o 'Ö dv 6 Myo� fi, auf das sich der Satz''
erwartungsgemäß bezieht}<.
Zur Unmöglichkeit des Widerspruchs nun das folgende Argument,
mit dem Dionysodoros, der Euthydemos abgelöst hat, seinen Ge­
sprächspartner zum Schweigen zwingt: >>Aber wenn keiner von uns den
Iogos eines Dings sagt, wie könnten wir dann einander widersprechen?
Oder würde ja so des Dings gar nicht erwähnt von keinem von uns ? ­
Auch das gab Ktesippos zu. - Also etwa, fuhr er fort, wenn ich den
Iogos von diesem Ding sage, du aber von einem anderen, widersprechen
wir dann wohl einander? Oder spreche ich dann zwar etwa von dem
Ding [� i';yw f.Eyw �Ev to :n:gawa, e ego lego men to pragma], du aber
sprichst ganz und gar nicht davon? Und wie kann nun wohl, wer gar
nicht von etwas spricht [6 Öe �� f.loywv, ho de me legon], dem wider­
sprechen, der davon spricht?<< (E11thydemos, 286a-b).
Um das Paradoxon aufzulösen, braucht man ti legein (von etwas
sprechen) hier nur in der Bedeutung >>etwas benennen<< zu lesen, was
durchaus erlaubt ist. Für jedes Ding, über das man spricht, gibt es eine
eigene Benennung, eine einzige. Und umgekehrt entspricht jeder Be- .::·
nennung ein einziger Referent. Wenn Sie also im Glauben, mit jeman­
dem über die gleiche Sache zu sprechen, keine Übereinstimmung
erzielen können, so liegt das daran, daß Sie und er von verschiedenen
Dingen sprechen. Denn wäre es ein und dasselbe, so würden Sie ihm
den gleichen Namen geben und würden demnach das gleiche sagen. Das
EV ecp' E\'6� (hen eph' henos), das Antisthenes von Aristoteles zuge­
schrieben wurde, muß verstanden werden als: ein Name pro Bezeichne­
tes und umgekehrt. Und weil es kein Nichtsein gibt, gibt es keinen
Irrtum: Der Referent eines falschen Satzes, einer falschen Aussage ist
kein Nichts, er ist ein anderer Gegenstand als derjenige, auf den sich der
Satz bezieht.
Die beiden Sophisten des E11thydemos brechen durch die Bresche
zwischen dem Sein und dem Sagen in der Dichtung des Parmenides,
jene tiefe Bresche, die bereits die Dialektik des Gorgias auf das »weder
Sein noch Nichtsein<< dessen hin, wovon man spricht, geschlagen hat
(Gorgias-Exkurs). Was kann man vom Referenten sagen? »Bevor<< man
weiß, ob das, was man über ihn sagt oder sagen wird, wahr oder falsch
'' Cf A. d. Ü. S. 70.
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DER REFERENT, DER NAME
ist, muß man wissen, wovon man spricht. Wie aber kann man wissen,
von welchem Referenten man spricht, ohne ihm Eigenschaften zuzu­
schreiben, das heißt ohne bereits etwas über ihn zu sagen? Antisthenes
stellt, wie manche Megariker und später die Stoiker, die Frage, ob die
Bedeutung der Bezeichnung vorausgehe oder: umgekehrt. Mit der
These der Nennung verläßt er den Zirkel. Man muß den Referenten
fixieren, der Name ist ein starrer Designator (Bezeichnungsausdruck),
wie Kripke sagt (Naming andNecessity, 1980: 48 [dt. 1981: 59]), der den
Referenten fixiert.
Die Bezeichnung ist keineswegs - und kann es nicht sein - die
Angleichung des Myo�::; an das Sein des Seienden. Antisthenes hat
keinerlei Grund, die These der Ableitung oder Motivation des Na­
mens vom Benannten zu verfechten, die Platon dem Kratylos zu­
schreibt, obwohl der Autor des Kratylos die Karten gleichsam mit
Vorbedacht durcheinander mischt (Kratylos, 429 c-430a). In Wahr-
[62] heit kann diese Motivation nicht beschrieben werden, I wenn man
nicht wenigstens schon das Wesen des Benannten unabhängig von
seinem Namen kennt, was unsinnig ist. Diese Nachahmungskunst, die
bei Genette »Namenseponymie« heißt (1976: 1 1-37), steht dem No­
minalismus des Antisthenes diametral gegenüber. Die Nennung ist
eine aktive Bezeichnung, ein notEiv (Euthydemos, 284 c), das die
Besonderheiten im unbestimmten >>weder Sein noch Nichtsein<< iso­
liert (Gorgias-Exkurs).
Das zweite von Aristoteles zitierte Paradoxon, das die Bestimmung
betrifft, beruht auf der gleichen Vorstellung vom Iogos als Bezeich­
nungsausdruck. Aristoteles zeigt, daß man unter dem Namen Haus
nicht bloß die Ziegelsteine, seinen Stoff, verstehen kann, ohne darun­
ter nicht zugleich auch die endgültige Form ihrer Anordnung, aus der
eine Behausung entsteht, zu verstehen. Bleibt man bei der Betrachtung
der Bestandteile, gelangt man nicht zum Wesen (ova(a) des Hauses.
Wie aber läßt sich dann das Element selbst bestimmen? Aristoteles
meint: »So hat denn der Zweifel eine gewisse Berechtigung, welchen
die Anhänger des Antisthenes und die in dieser Weise Ungebildeten
vorbrachten, es sei nämlich nicht möglich zu definieren, was etwas ist
('to t( Eattv 6g(aaaitm), da die Definition durch eine Reihe von
Worten ÜtaXQO!::; Myo;) geschehe, sondern man könne nur bestimmen
und lehren, wie etwas beschaffen ist; vom Silber zum Beispiel lasse
sich nicht angeben, was es ist, sondern nur, daß es wie Zinn ist.
Danach ist dann von einigen Wesen (ousias) Definition und Begriff
(ögov xai 'A.6yov, horon kai logon) möglich, beispielsweise von den
zusammengesetzten (Dingen), mögen diese sinnlich wahrnehmbar
?der denkbar sein; nicht möglich dagegen von denen, aus welchen als
1hren ersten Bestandteilen diese bestehen, sofern ja der definierende
72
la.'S
•·'-Jh
�................................................ __________�1
ANTISTHENES
Begriff (6 Myo�::; 6 6gwttx6�::;) etwas von etwas aussagt und das eine die
Stelle des Stoffes, das andere die der Form einnehmen muß<< (Metaphy­
sik, VII; 1 043 b).
Trotz der zur Schau getragenen Geringschätzung ist das Zugeständ­
nis an die These der Benennung beträchtlich: man definiert die einfa­
chen Dinge [simples] nicht, man benennt sie. Es erhellt, wie man
OLXELOI::; Myo�::; zu lesen hat. Dieser ist keine Definition, die eine »Reihe
von Worten<< darstellt, da sie aus mindestens zwei Konstituenten
besteht, aus Subjekt und Prädikat, aus Stoff und Form nach Aristoteles.
Demgegenüber ist jener keine »Reihe von Worten<<, sondern ein Satz
mit einer einzigen Position, ein Wort also. Wenn es dem Gegenstand
>>eignet<<, so liegt das nicht daran, daß es dem Wesen seines Referenten
entspricht (sozusagen ein späteres logisches Problem), sondern weil es
ausschließlich einen Referenten »abgesondert von dem übrigen<<, wie
»Euthydemos<< sagte, bezeichnet. Dieses Wort, ganz gleich welchen
grammatikalischen Wesens, hat also den Stellenwert eines Namens. Das
von Antisthenes aufgeworfene Problem lautete, in aristotelische Termi­
ni übersetzt, folgendermaßen: Vielleicht kann man das »Sosein<< eines
Referenten aussagen, zunächst aber mußte man diesen >>VOr« jeder auf
ihn bezogenen Prädikation benennen. Das Einfache, I das Elementare [63]
ist keine Komponente des Gegenstands, es ist vielmehr sein Name, der
im Universum des definitorischen Satzes die Situation des Referenten
einnehmen wird. Dies ist ein logisches Grundelement [simple], also
vorlogisch und in Hinblick auf die Wahrheitsregeln selbst nicht relevant
(Wittgenstein, PhU: § 49).
55
Forderung und Illusion der Metaphysik: daß die Namen Eigen­
namen sein müssen, daß ein Gegenstand der Welt unfehlbar auf
sein Zeichen (seine Bezeichnung) in der Sprache antwortet. Wie
wäre sonst, sagt der Dogmatismus, wahrhafte Erkenntnis mög­
lich? Wirtgenstein nennt >>Gegenstände« einfach (Tractatus :
2.02), deren Verbindungen die Sachverhalte ergeben (2.01).
Diese sind >>Konfigurationen der Gegenstände<< (2.0272) und als
solche unbeständig, die >>Gegenstände« dagegen >>fest« und >>be­
stehend<< (2.0271). Diesen Gegenständen entsprechen im >>Bil­
de«, hier, in der kognitiven Sprache, die >>Elemente des Bildes«
(2. 13). Diese Elemente sind die einfachen Zeichen (3.201), die in
ihrer Anwendung im Satz >>Namen<< heißen (3.202). Der >>Ge­
genstand« ist die >>Bedeutung<< [im Original deutsch] im frege-
73
ts
DER REFERENT, DER NAME
sehen Sinne\ der Referent des Namens (3.203). Symmetrisch
dazu vertritt der Name >>im Satz den Gegenstand<< (3.22). Man
kann also die Gegenstände nur nennen (3.221), ohne sie zu
erkennen. Zwischen den einfachen Dingen und den Elementen
gibt es >>Fühler« (2. 15 15). Ihre Unbeweglichkeit ermöglicht die
Erkenntnis des Unbeständigen, der Sachverhalte. - Dennoch
erfordert die Erkenntnis mehr als die lexikalische Entsprechung
zwischen der Sprache der Elemente und der Dingwelt. Die
Elemente der Sprache und die einfachen Dinge der Welt müssen
zusätzlich noch die Regel ihrer Anordnung >>gemein« haben
(2. 1 7, 2 . 1 8). Die Form des Bildes, die propositionale Form,
wenn das Bild logischer Natur ist, stellt eine Art >>Maßstab« dar,
der an die Wirklichkeit >>angelegt« wird (2. 1512). Dazu ist sie
nur tauglich, wenn die Wirklichkeit wie das Bild geformt ist.
Wie aber läßt sich diese Gleichförmigkeit oder Gemeinsamkeit
beweisen? Die >>Form der Darstellung« oder >>Abbildung«
(2. 1 73) läßt sich nicht darstellen oder abbilden, ohne daß sie
vorausgesetzt wird (petitio principii). Nun beherrscht diese Vor­
aussetzung aber auch die lexikalische Theorie: es müßte hier eine
[64) umkehrbar eindeutige Abbildung (durch I »Fühler«) zwischen
den Namen und den einfachen Gegenständen geben. Da aber das
einfache Ding kein Gegenstand der Erkenntnis ist, kann man
nicht wissen, ob die Benennung eines einfachen Gegenstandes
wahr oder falsch ist.
56
Die Wirklichkeit ist mit dem Universum des ersten Satzes von
Hans (Nr. 49) >>gegeben«. Zumindest zeigt dies die Gegenwart
der deiktischen Indikatoren da, damals an. Aber die Markierun­
gen dafür, daß der Referent dem Sender des aktuellen Satzes
>>gegeben« ist, genügen nicht zur Entfaltung einer Wirklichkeit.
Gegenargumente durch den Traum, die Halluzination, die Sin­
nestäuschung, den Idiolekt im allgemeinen. Die Wirklichkeit
muß belegt werden, und sie wird umso besser belegt, je mehr
unabhängige Zeugnisse man anführen kann. Diese Zeugnisse
,_ Cf A. d. Ü. S. 34 f.
74
1
DA, DAMALS
sind Sätze mit gleichem Referenten, die aber nicht unmittelbar
miteinander verkettet sind. Woher weiß man, daß der Referent
derselbe ist? Derselbe bedeutet zumindest, daß er innerhalb
gemeinsamer und zugänglicher Bezugssysteme am gleichen Ort
ausfindig zu machen ist. Dazu dienen die Namen der Chronolo­
gie, der Topographie, der Anthroponymie usw. Ist der Referent
einmal in diesen Systemen verortet, so verliert er die Markierun­
gen des aktuell >>Gegebenen« : da, in diesem A ugenblick. Ort und
Zeitpunkt, an denen er gegeben war, können zum Gegenstand
beliebig vieler Validierungen werden. Da und damals können
nicht mit dem gleichen Referenten wiederholt werden, in der
letzten Reihe rechts der Salle Pleyel und am 23. Dezember 1957
dagegen schon, wie es scheint.
57
»Das Wesentliche ist die Verkettung von mindestens zwei Sät-
zen« (Nr. 53). Kripke legt seine Vorstellung der »Kette« dar:
>>Sagen wir, es wird jemand geboren, ein B aby; seine Eltern
rufen es mit einem bestimmten Namen. Sie reden mit ihren
Freunden über es. Andere Leute kommen mit ihm zusammen.
[ . . . ] Eine bestimmte Kommunikationskette, die letztlich bis zu
dem Mann [dem Kind] selbst zurückreicht, erreicht den Spre-
cher [der sich am entfernten Ende dieser Kette befindet]« (Nam-
ing and Necessity, 1 980 : 91 [dt. 1981 : 1 07]). Wesentlich ist:
>>Seine Eltern rufen es mit einem bestimmten Namen. Sie reden
mit ihren Freunden über es.« Der Sender, der sich >>Kant«
schreibt, war zuvor der Empfänger eines : >>Ich taufe dich auf den
Namen Kant« und der Referent eines : >>Kant hat diese Woche
schön zugenommen«. Wie ein deiktischer Ausdruck ist der
Eigenname ein Designator, er besitzt nicht mehr Bedeutung
(�ignification] als jener, er ist nicht mehr als jener das kürzelhafte
Aquivalent einer bestimmten Beschreibung oder eines I Bündels [65]
von Beschreibungen (ibid. ). Er ist eine bloße Markierung der
designativen Funktion. Im Unterschied aber zu den deiktischen
Indikatoren ist diese Markierung vom >>aktuellen« Satz unab­
hängig. Bei Personennamen rührt die Unabhängigkeit dieser
Markierung vom aktuellen Satz daher, daß sie über die Sätze
hinweg invariabel bleibt, während sich das von ihr Markierte
75
 7 2
H i-t$
DER REFERENT, DER NAME
bald in der Situation des Senders, bald in der des Empfängers,
bald des Referenten (und manchmal gar des grammatischen
Prädikats : »Das ist ein Kant«) befindet. Die Starrheit des Na­
mens liegt in dieser Unveränderlichkeit. Er bezeichnet dasselbe,
weil er derselbe bleibt. Die anderen >>möglichen Universen<<
(Nr. 1 8, 25), die der Eigenname unverändert durchquert, sind
nicht nur die der verschiedenen Beschreibungen, die an ihn
geknüpft sein können: Kant, der Autor der »Kritik der reinen
Vernunft«; Kant, der Autor der »Kritik der Urteilskraft«; Kant,
dessen letzte Tage Thomas de Quincey erzählt . . Es sind dies
.
zunächst die Satz-Universen, in denen er verschiedene Situatio­
nen in bezug auf die Instanzen einnimmt: Ich nenne dich Kant;
Lieber Bruder, ich umarme Dich, gez. Kant; Man könnte sagen:
kantisch; Kant schrieb damals die »Beobachtungen über das
Gefühl des Schönen und Erhabenen«.
58
Die Namen transformieren jetzt in ein Datum, hier in eine
Ortsangabe, ich, du, er in Hans, Peter, Ludwig. Und selbst das
Schweigen kann Göttern zugeschrieben werden (L. Kahn,
1 978). Die auf den Kalendern, Landkarten, Stammbäumen, in
den Standesämtern versammelten Namen sind Indikatoren einer
möglichen Wirklichkeit. Ihre Referenten - Zeit- und Ortsanga­
ben, menschliche Individuen - stellen sie als Gegebenheiten dar.
Ein Satz, sonst ohne deiktische Markierung, stellt Rom statt dort
unten dar. Der Name von Rom hat deiktische Funktion: Der
Referent, der Sender und der Empfänger sind situiert durch den
Bezug zu einem >>als ob hier«. Dieser quasi-deiktische Indikator
bleibt, weil ein Name, über die Folge von Sätzen hinweg unver­
ändert, was nicht für den deiktischen Ausdruck zutrifft (in
einem Briefwechsel kann das Hier des Satzes p das Dort des
Satzes q sein). Rom ist ein >>Bild« vieler Hier, die in vielen Sätzen
aktualisiert werden (das Hier, von dem Titus Livius spricht, das
Hier, an dem unsere Freunde B. wohnen). Dieses fixe Bild
wurde unabhängig, und zwar durch die Nennung des Univer­
sums, das von dem Satz dargestellt wird, in dem es »aktualiter«
[66] seinen Platz hat. I
76
$
STARRE DESIGNATOREN
59
Die Starrheit der N ominaldesignatoren [designateurs nominaux]
erstreckt sich auf ihre Bezüge. Der Abstand zwischen dem >>als
ob hier«, identisch mit Rom, und dem >>als ob dort«, identisch
mit Bologna, legt ein anderer Satz in zeitlicher und räumlicher
Hinsicht fest. Der Abstand kann mittels der >>Reise« festgestellt
werden, das heißt mit der Namensparade der verschiedenen
Durchgangsorte an Stelle von hier und mit der Namensfolge der
verschiedenen dazwischenliegenden Zeitpunkte an Stelle von
jetzt. Die Größe des Abstands kann nicht festgestellt werden, sie
setzt gleichfalls einen invariablen Designator voraus, eine Maß­
einheit: Fuß, Meile, Meter, Zeiteinheiten. Dieser Designator
durchquert die Universen der Sätze ohne jede Veränderung, da
er ein Name ist (Wittgenstein, Ph U: § 50; Kripke, 1980: 54-55
[dt. 198 1 : 66-67]). Man sagt: Dies ist ein Meter entsprechend
wie : Dies ist Rom, und erst >>danach« fragt man sich, was das sei,
und versucht das Benannte zu definieren. - Möglich, daß die
Logik der Farben unter dem Aspekt der referentiellen Funktion
der Farbennamen zu untersuchen wäre (Gorgias-Exkurs). Auch
diese Namen werden empfangen. Auch sie vermitteln keinerlei
Erkenntnis darüber, was sie benennen. Ist der Satz: Dies ist rot
rätselhafter als : Dies ist Rom?
60
Netze von quasi-deiktischen Indikatoren, die aus Namen von
>>Gegenständen« und Namen von Bezügen gebildet sind, be­
zeichnen die >>Gegebenheiten« und die zwischen ihnen gegebe­
nen Bezüge, das heißt eine Welt. Ich nenne es Welt, weil sich
diese Namen als >>starre« jeweils auf etwas beziehen, auch wenn
dieses etwas gar nicht da ist; und weil dieses etwas für alle Sätze,
die sich mit seinem Namen auf es beziehen, als ein gleiches gilt;
und auch deshalb, weil jeder dieser Namen unabhängig ist von
den Satz-Universen, die sich darauf beziehen, insbesondere von
den Sendern und Empfängern, die in diesen Universen darge­
stellt sind (Nr. 56). - Das soll nicht heißen, daß das Etwas, das in
mehreren Sätzen den gleichen Namen besitzt, auch dieselbe
Bedeutung hat. Es kann unterschiedlich beschrieben werden,
77
 DER REFERENT, DER NAME
und die Frage nach seiner Erkenntnis wird mit seinem Namen
nicht abgetan, sondern erst aufgeworfen. Die Erkenntnis kann
dazu führen, den Namen zu verwerfen, jhn durch andere zu
ersetzen, neue Namen gelten zu lassen oder zu erfinden. Die
Namen unterliegen dem Prinzip, das dem Antisthenes zuge­
schrieben wird: ein Name pro Referent, ein Referent pro Name.
[67] Wenn sich die Beschreibungen I von >>Morgenstern« und
>>Abendstern<< entsprechen, so erhält deren Referent einen einzi­
gen Namen. (Und umgekehrt im Falle der Homonyme.) - Wie
aber kann man sicher gehen, daß es nur einen Referenten gibt,
wenn er sich an unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen
Zeiten zeigt? - Weil sich die Wirklichkeit nicht aus der Ostension
allein ergibt. Die deskriptiv ermittelten Eigenschaften können
erklären, daß sich die Ostensionen unterscheiden (Hypothese der
Erdbewegungen); die Ostensionen bestätigen diese Eigenschaf­
ten (es ist der Fall); und wenn man schließlich in Erfahrung
bringen kann, daß die Ostensionen selbst verschiedenartig sind,
so deshalb, weil die deiktischen Indikatoren durch Kalenderna­
men, durch Entfernungsangaben bezüglich bereits benannter
Sterne usw. ersetzt werden; diese beziehen das Gezeigte nicht
mehr aUf den >>aktuellen<< ostensiven Satz, sondern auf eine Welt
von Namen, die von den Ostensionen unabhängig ist.
61
Ein kognitiver Satz wird dank eines anderen, eines ostensiven
oder monstrativen validiert. Dieser lautet: Da ist ein Fall dafür. In
diesem Satz verweist dafür auf den kognitiven Satz. Eine Realität
soll gezeigt werden, und zwar als ein Beispiel, für das der
kognitive Satz wahr ist. Die Ostension muß von deiktischen
Indikatoren befreit werden und den Referenten in Systemen
unabhängig vom »ich-hier-jetzt<< darstellen, so daß der Empfän­
ger mit Hilfe der Orientierungsmarken dieser Systeme die Osten­
sionen wiederholen könnte. Der Satz: Da ist eine rote Blume
wird in zwei Sätze verwandelt: »Das Rot entspricht Strahlungen
mit Wellenlängen im 650 bis 750 Nanometer-Band, die von
einem Gegenstand ausgesendet werden<< - ein kognitiver Satz
(eine Definition); und : >>Die Farbe der Blume, für die hier ein
Fall vorliegt<< - ein ostensiver Satz. Es muß noch der deiktische
78
DIE »ROTE BLUME<<
Ausdruck >>hier<< des letzten Satzes entfernt und durch Koordi­
naten von Systemen ersetzt werden, die vom aktuellen Satz
unabhängig sind (>>die Blume, die im botanischen Labor des
Instituts x am 1 7. April 1 96 1 von y beobachtet wurde<<).
62
Sind diese Markierungen des selbstreferentiellen Universums
(die deiktischen Indikatoren) einmal ausgeschlossen, so kann
jede beliebige >>rote Blume<<, die nicht vom ursprünglichen Satz
als Referent I dargestellt wurde, die Referenz-Instanz des asten- [68]
siven Satzes besetzen, wenn sie den kognitiven Satz, der das Rot
definiert, validieren kann. Demnach können alle Blumen, die
eine Strahlung mit einer Wellenlänge im 650 bis 750 Nanometer-
Band aussenden, als Beispiele zur Validierung des kognitiven
Satzes dienen. Selbstverständlich wird diese Möglichkeit niemals
ausgeschöpft, da sie eine Totalität, nämlich die der roten Blu-
men, betrifft. Die Realität unterliegt dieser Umkehrung : sie war
die vom Satz beschriebene Gegebenheit und ist nun zum Archiv
geworden, aus dem man die Belege und Beispiele schöpft, die die
Beschreibung validieren. - Aber der Beleg enthält dennoch eine
quasi-deiktisch angelegte Orientierungsmarke : das Rot in einem
chromonymischen Katalog. Und auch der deskriptive Satz ist
nicht davon ausgenommen, da der Ausdruck Nanometer, der ins
metronymische Lexikon gehört, ebenfalls rein referentiellen
Charakter besitzt. Die Beschreibung kann sich der Benennung
nicht entledigen, die Referenz kann nicht auf die Bedeutung
reduziert werden (Tarski, 1 944, II: 295). Die ausschließlich refe­
rentielle Funktion der Benennung weist der Beschreibung (der
Erkenntnis) den Weg einer endlosen Verfeinerung':· . Aber der
Wirklichkeit?
63
Aber man kann doch einen Namen, dessen Referent real ist, und
einen Namen, dessen Referent es nicht ist, auseinanderhalten?
�- Wortspiel im Franz. : raffinement sans fin (A. d. Ü.).
79
 DER REFERENT, DER NAME
Wir stellen doch Bonaparte und Jean Valjean, die Insel Utopia
und die Terra Americana nicht auf dieselbe Stufe. Niemand
außer den Figuren aus den Elenden (in einem System von
Namen, die die >>Welt« dieses Buches ausmachen) ist je Jean
Valjean begegnet, niemand hat je den Fuß auf Utopia gesetzt
(Raphael Hythlodeus hat vergessen, die Meridiane der Insel
anzugeben). Der Name bezeichnet quer durch die Satz-Univer­
sen, und zwar auf >>Starre« Weise, er schreibt sich in Namensge­
flechte ein, die die Ortung von Wirklichkeiten ermöglichen,
aber er versieht seinen Referenten nicht mit einer Wirklichkeit.
Wenn Phlogiston und Wasserstoff Namen sind, so hat nur der
zweite einen realen Referenten, nicht der erste. - Aber Valjean
>>begegnen« und >>den Fuß auf Utopia setzen« sind keine Proben
auf die Wirklichkeit. Noch einmal: Das ist Caesar ist kein
ostensiver, sondern ein Nennsatz. Aber er findet ebenso vor
einem Bild Caesars wie vor Caesar >>statt<< (Marin, 1 98 1 : 279-
284) : weil die Nennung des Referenten nicht bedeutet, daß seine
[69] >>Anwesenheit<< gezeigt wird. I Bedeuten ist eine Sache, benen­
nen eine andere und zeigen noch eine andere.
64
Wenn man zeigt, daß x ein Fall des kognitiven Satzes x ist P ist, so
wird x als real dargestellt. Weil der ostensive Satz seinen Refe­
renten als gegeben darstellt, kann er eine Beschreibung mit
kognitivem Anspruch validieren. Daß etwas gegeben ist, bedeu­
tet zugleich, daß der Referent dieser Beschreibung da ist und daß
er da ist, selbst wenn er nicht gezeigt wird. Er würde selbst ohne
Satz, >>außersprachlich<< existieren (Nr. 47, 48). Dem Gegner
- gängige Antwort besteht in einem ostensiven Satz: Um diese
fällt es nun leicht, denjenigen, der die Realität eines Referenten
behauptet, zu widerlegen, indem er ihn auf das folgende Dilem­
ma festnagelt: entweder ist der gezeigte Referent nur das Gezeig­
te und damit nicht notwendigerweise real (er kann eine Erschei­
nung usw. sein) ; oder er ist mehr als das Gezeigte und ebenfalls
nicht notwendigerweise real (woher will man wissen, daß real
sein soll, was nicht da ist?). Dieses Dilemma trifft die Philoso­
phien der Monstration (des Zeigens; Descombes, 1 9 8 1 a ). Im all­
gemeinen entziehen sie sich ihm dadurch, daß sie auf die Zeugen­
aussage eines unfehlbaren Dritten rekurrieren, von dem man
80
BEDEUTEN, BENENNEN, ZEIGEN
annimmt, daß ihm gänzlich (beständig) gezeigt wird, was dem
>>aktuellen<< Empfänger des ostensiven Satzes verborgen ist. In
dieser Hinsicht besteht wenig Unterschied zwischen dem Gott
der Cartesianer und dem anteprädikativen cogito der Phänome­
nologen. Beide nehmen eine Entität an, die sich im Status eines
>>kosmischen Exils<< befindet (McDowell, in Bouveresse, 1980:
896).
65
Der Referent, wirklich oder nicht, wird im Universum eines
Satzes dargestellt, also mit Bezug auf eine Bedeutung situiert. In
Die Tür ist offen etwa untersteht die Bedeutung, auf die der
Referent bezogen wird, dem Regelsystem deskriptiver Sätze.
(Dabei ist es wichtig zu beachten, daß die Bedeutung nicht
immer im Rahmen dieses Regelsystems dargestellt wird und
folglich der Referent nicht immer die Stelle des Aussagesubjekts
[sujet de l'enonce] einnimmt. Ein präskriptiver Satz wie Öffnen
Sie die Tür stellt eine Bedeutung dar, ohne daß der Referent
[etwa: die im nächsten Augenblick von Ihnen geöffnete Tür]
Gegenstand einer Beschreibung wäre. Ein Exklamativ: Welch
eine Tür! Immer offen!, ein Interrogativ: Hat er die Tür geöff-
net?, ein narrativer Satz: Die Tür geht auf sind jeweils sinnvoll,
während ihr I Referent nicht nach den Regeln der Deskription [70]
bedeutet wird.) Welches Regelsystem den vorangehenden Satz
auch bestimmen mag, die Wirklichkeit des Referenten darf nur
als Antwort auf eine Frage, die sich auf diesen Satz bezieht,
bestätigt werden, etwa: Um welche Tür handelt es sich ? Die
hier. Dieser Satz reicht nicht hin, um den vorangehenden zu
validieren. Die Lokalisierung der Tür muß unabhängig vom
aktuellen Satz ermöglicht werden. Also greift man auf das
Namenssystem zurück: Die Tür von Alberts Haus, die nach
Westen geht 1 Mit den Namen werden stabile und allgemeingültl=J
. <
ge Raum-Zeit-Gefüge eingeführt. Deskriptiv: Das politische
Zentrum des Reiches ist eine Hauptstadt. Nominativ: Diese
Hauptstadt heißt Rom. Ostensiv: Da ist Rom (Diese Stadt hier
ist der entsprechende Fall). Ein anderes Beispiel: Hic Rhodus, hic
salta. Salta stellt die Bedeutung im Regelsystem der Präskription
81
 DER REFERENT, DER NAME
dar, Rhodus den Namen, hic markiert die Ostension. Wirklich
ist der Referent, der sich in diesen drei Situationen als der gleiche
. nung von x gebunden. Nicht die Bedeutung also kann die
erweist: bedeutet, benannt, gezeigt. Also jeweils: In einem
Internierungslager wurde mittels einer Zyklon-E-Gaskammer
Massenvernichtung praktiziert; es heißt Auschwitz; da ist es.
Ein vierter Satz erklärt, daß der bedeutete, der benannte und der
gezeigte Referent identisch sind.
66
Die Referenz-Identität der drei Sätze ist nicht ein für alle Male
erwiesen. Sie muß »jedesmal<< bestätigt werden. Denn sie wird
von den deiktischen Indikatoren des ostensiven Satzes be­
stimmt, und diese bezeichnen das Bezeichnete nur in dem
Augenblick, in dem der Satz »Stattfindet<< . Dies ist der Fall zeigt
zum Zeitpunkt t + 1 nicht unbedingt denselben Referenten vor
wie Dies ist der Fall zum Zeitpunkt t. Um sicher zu gehen,
wendet man sich an den Namen : Rom ist der Fall. Indessen
bezieht sich dieser starre Designator, der Name, zweifellos auf
einen beständigen Referenten, der Referent der Benennung aber
ist selbst unabhängig vom Vorzeigen (das Portrait Caesars ist
Caesar; das Meter ist das Meter, unabhängig von diesem Metalli­
neal; Kripke, 1980: 54-56 [dt. 198 1 : 66-68]). Man stürzt sich
dann wieder auf die Identität von Beschreibungen, die zum
B enannten passen. Man sagt, Rom ist der Fall zum Zeitpunkt t
und Rom ist der Fall zum Zeitpunkt t + 1, wenn Rom in den
beiden Fällen dieselben Eigenschaften gelten läßt. Was aber die
Bedeutung betrifft: der Referent zur Zeit t und der Referent zur
[71] Zeit t + 1 können nur mittels einer I tautologischen Proposition
identifiziert werden : xt ist P xt + 1 ist P. Wie kann man wissen,
=
ob es sich um das gleiche x handelt, wenn ihm verschiedene
Eigenschaften zugeschrieben werden, wie etwa in folgenden
Sätzen : x ist die Hauptstadt des Reichs, und : x ist die Stadt, in der
der Senat tagt (oder, um nicht immer Deskriptive anzuführen: x
muß belagert werden) ? Das ist nur möglich, wenn man ein
�ese.n von x im. aristotelischen Sinne oder einen Begriff von x im
le1bmz , sehen Smne voraussetzt, deren Definition die beiden
Prädikate enthält. Dieses Wesen oder dieser Begriff von x wird
folgendermaßen formuliert: x ist (P, Q). Dies setzt seinerseits
82
REALITÄT UND REFERENT
voraus, daß x den gleichen Referenten bezeichnet und daß man
ihm P oder Q zuschreibt. Diese Voraussetzung ist an die Nen­
Identität der beiden Referenten erbringen, sondern die leere
>>Starrheit« des Namens. Wenn letzterer als Bindeglied zwischen
einem ostensiven Satz mit seinen deiktischen Indikatoren und
irgendeinem anderen Satz mit seiner oder seinen Bedeutung(en)
fungieren kann, so deshalb, weil er von der aktuellen Monstra­
tion unabhängig und bedeutungsleer ist und dabei zugleich die
doppelte Fähigkeit besitzt: zu bezeichnen und bedeutet zu
werden. Daß er aber tatsächlich als ein Bindeglied fungiert und
seinen Referenten mit einer Wirklichkeit versieht - dies zumin­
dest ist zufällig. Darum steht die Wirklichkeit niemals fest (ihre
Wahrscheinlichkeit ist nie gleich 1 ).
67
Die Realität des dies (dessen, was ein ostensiver Satz zeigt) ist
beispielsweise notwendig, um einen kognitiven Satz, dessen
Referent denselben Namen wie dies trägt, zu validieren. Sie ist
keine Eigenschaft, die dem Referenten, der diesem Namen
entspricht, zugeschrieben werden kann. Das ontologische Ar­
gument ist falsch, und dies scheint zu genügen, um sich den
spekulativen Weg, der die Äquivalenz von Bedeutung und Reali-
tät fordert, zu versagen (Abschnitt: »Das Resultat«). Aber die
Realität des dies ist auch keine >>Setzung<< des Referenten, eine
Setzung, die bei Kant der >>Darstellung<< eines der Rezeptivität
(der Sinnlichkeit) in Anschauungsformen >>Gegebenen<< ent­
spricht. Diese >>Darstellung<< ist keine reine >>Wahrnehmung<<
eines Gegebenen durch ein >>Subjekt« (Kant-Exkurs I). Sie ist
der Familienname ostensiver Sätze : Dieses dort, jenes von neu-
lich (entsprechend ist die Präskription der Familienname von
Befehlssätzen, Bitten usw.). Sie greift auf deiktische Operatoren
zurück. Die Realität kann nicht allein von der Bedeutung abge-
leitet werden, aber auch nicht von der Ostension allein. Es
genügt nicht zu I folgern, daß sie beide zusammen erfordert. [72]
Man muß zeigen, wie sich das Ostensiv: Es ist dies und das
Deskriptiv: Es ist die Stadt, die die Hauptstadt des Reichs ist zu :
Dies ist die Stadt, die die Hauptstadt des Reichs ist verknüpfen.
83
 DER REFERENT, DER NAME
Der Name fungiert als Bindeglied. Rom ersetzt den deikti­
schen Indikator (Es ist Rom) und nimmt im Deskriptiv die
Stellung des Referenten ein (Rom ist die Stadt, die die Hauptstadt
des Reichs ist). In Sätzen verschiedener Regelsysteme kann es
andere Instanzen besetzen: Rom, du einziger Gegenstand meines
Grolls!, Ich (Rom) erkläre Sie zum Ketzer usw., Sätze, die das
Deskriptiv unseres Beispiels ersetzen können. Der Name erfüllt
diese Funktion als Bindeglied, weil er ein leerer und konstanter
Designator ist. Seine deiktische Reichweite ist unabhängig vom
Satz, in dem er aktualiter erscheint, und er kann eine Vielzahl
von semantischen Valeurs annehmen, weil er nur diejenigen
ausschließt, die mit seiner Stellung im Namensgefüge unverein­
bar sind (Rom ist kein Datum, Rom befindet sich in Italien oder
in den Staaten Georgia, New Y ork, Oregon oder Tennessee,
nicht aber in Kalifornien usw.).
68
Entspricht diese eben beschriebene Funktion des Namens nicht
derjenigen, die Kant dem Schematismus zuweist (Kritik der
reinen Vernunft, Analytik der Urteilskraft) ? Auch dieser dient
der Verknüpfung des Sinnlichen mit dem Begriff. - Aber erstens
wirkt der Schematismus ausschließlich im Rahmen der Validie­
rung eines kognitiven Satzes, nicht so der Name. Und zweitens
muß er in der kritischen Reflexion als ein notwendiges Apriori
der Erkenntnis (im kantischen Sinne) abgeleitet werden. Zwei­
fellos leite ich hier die Funktion der Namen aus der Behauptung
der Wirklichkeit ab, kann aber nicht ihre jeweilige Besonderheit
ableiten : Rom, Ausschwitz, Hitler . . . Ich kann sie nur erlernen.
Die Namen lernen bedeutet, sie mit Hilfe von Sätzen auf andere
Nam �n zu beziehen. Auschwitz ist eine südpolnische Stadt, bei
der d1e NS- Lagerverwaltung 1940 ein Vernichtungslager errich­
tete. Das ist kein Schematismus wie die Zahl. Ein Namenssystem
stellt eine Welt dar, die Universen, die von den mit Namen
ausstaffierten Sätzen dargestellt werden, sind bedeutete Bruch­
stücke dieser Welt. Das Erlernen eines Namens vollzieht sich auf
dem Wege über andere Namen, die bereits Bedeutungen tragen
[73] und von deren Referenten man weiß wie sie I durch ostensive
Sätze gezeigt werden können. Beispi elsweise erlerne ich weiß
84
BEDEUTUNGEN UND NAMEN
(wenn es stimmt, daß die Namen von Farben den Eigennamen
entsprechen; cf Nr. 6 1 ; Gorgias-Exkurs) über Schnee, Bettla­
ken, Papier und die damit verbundenen Bedeutungen (darauf
rutschen, sich hineinlegen, darauf schreiben) und möglichen
Ostensionen (Das hier, das ist Schnee usw.), deren Validierung
wiederum auf Namen verweist (Du weißt, wie in Chamonix).
Desgleichen bei Aristoteles.
69
Wie ist die Bedeutung mit den Namen verbunden, wenn doch
der Name nicht durch die Bedeutung und die Bedeutung nicht
durch den Namen determiniert wird? Kann man die Verkettung
von Namen und Bedeutung verstehen, ohne auf die Idee einer
Erfahrung zu rekurrieren? Eine Erfahrung kann nur mittels
einer phänomenologischen Dialektik beschrieben werden. Bei­
spielsweise die perzeptive Wahrnehmung: Aus diesem Blick­
winkel betrachtet, ist dieses Ding weiß, aus jenem anderen
betrachtet grau. Gerade war es noch weiß, nun ist es grau - das
ist das Ereignis. Sicher ist es nicht zur gleichen Zeit und unter
dem gleichen Gesichtspunkt weiß und grau, aber wenigstens in
der Sukzession. Weiß und Grau müssen zusammen auf den
gleichen Referenten bezogen werden, das eine als seine aktuelle,
das andere als seine aktuell mögliche Farbe. Der Konstitution
der räumlichen Existenz des Referenten (dreidimensional) ent­
spricht seitens der wahrnehmenden Instanz die zeitliche Synthe­
se aufeinanderfolgender Abschattungen. Auf diese Weise bilden
sich >>Objekt<< und »Subjekt<< gemeinsam an den beiden Polen
des Blickfeldes. - Bei dieser Beschreibung muß einzig im Auge
behalten werden, daß sie in die Konstitution der Wirklichkeit
das Mögliche einschließt. Das betrachtete Ding besitzt eine
Rückseite, die nicht mehr oder noch nicht sichtbar ist und es
doch sein könnte. Der Phänomenologe sagt: Ebenso vollzieht
sich das Sehen nicht auf einer Linie, die den Sehenden und das
Gesehene verbindet, sondern innerhalb eines Sichtfeldes voller
flüchtig wahrgenommener Lateralitäten. Beim Sehen oszilliert
der Blick fortwährend zwischen dem Aktuellen und dem Mögli­
chen. Die Wirklichkeit läßt sich also nicht durch einen Satz
ausdrücken wie : x ist derart, sondern durch einen Satz wie : x is t
85
(
 DER REFERENT, DER NAME
so und nicht so (Nr. 8 1 , 83). Der Behauptung der Wirklichkeit
entspricht eine Beschreibung, die hinsichtlich der Negation
inkonsistent ist. Diese Inkonsistenz kennzeichnet die Modalität
[74] des Möglichen. I
70
Der ostensive Satz, das heißt das Vorzeigen des Falles, spielt
zugleich auf das an, was nicht der Fall ist. Ein Zeuge, das heißt
der Sender eines ostensiven Satzes zur Validierung einer Be­
schreibung, bestätigt mit diesem Satz die Wirklichkeit dieses
oder jenes Aspekts einer Sache (oder glaubt sie zu bestätigen) .
Dabei muß er aber ebenso die Möglichkeit anderer Aspekte, die
er nicht zeigen kann, einräumen. Er hat nicht alles gesehen.
Wenn er behauptet, alles gesehen zu haben, ist er nicht glaub­
würdig. Glaubwürdig ist er nur darin, daß er nicht alles, sondern
nur diesen oder jenen Aspekt gesehen hat. Er ist also nicht
vollständig glaubwürdig. Darum erliegt er dem Dilemma
(Nr. 8): Entweder Sie waren nicht dort und können nicht aussa­
gen; oder Sie waren dort, konnten demnach nicht alles sehen und
können nicht alles bezeugen. Die dialektische Logik, die die Idee
der Erfahrung beherrscht, stützt sich ebenfalls auf diese Inkonsi­
stenz hinsichtlich der Negation.
71
Die Idee von Erfahrung setzt die eines Ichs [jeJ voraus, das sich
>>bildet<<, indem es die Eigenschaften der ihm begegnenden
Dinge (Ereignisse) aufnimmt und mit der Erstellung ihrer zeitli­
chen Synthese die Wirklichkeit konstituiert. Bezüglich dieses
Ichs sind die Ereignisse Phänomene. Daraus bezieht die Phäno­
menologie ihren Namen. Aber die Idee des Ichs und der mit ihm
v�rbundenen Erfahrung ist zur Beschreibung der Wirklichkeit
m �ht notwendig. Sie entspringt der Unterordnung der Wahr­
heitsfrage unter die Lehre der Evidenz. Diese Lehre wurde von
Augustin us und Descartes auf der Basis des ontologischen Rück­
.
zugs (Hetdegger) oder, wie ich lieber sagen würde' auf der Basis
d�s logische � »Ruhestandes<<, der den Nihilismus eines Gorgias
nahn (Gorgtas-Exkurs), aufgebaut. Aber die Neutralisierung
86
CoGrTo
der Wirklichkeit (das »weder Sein noch Nichtsein«) führt Gor-
gias zu dem Prinzip, daß >>die Beweise alles sagen«, was den
Philosophien der Beweisführung und den Satzanalysen den Weg
ebnet. Im Gegenteil erlaubt es das monotheistische und mono­
politische Prinzip, daß man die Neutralisierung der Wirklichkeit
- oder zumindest die Begrenzung der Ostension durch die Regel
des Möglichen - der Endlichkeit zuschreiben kann, di � auf e!nen
Zeugen trifft, dem der Genuß des Ganzen versagt 1st. Dtes : r
bleibt einem absoluten Zeugen vorbehalten (Gott, Caesar). Dte
Idee der Erfahrung verbindet das Relative und das Absolute. Die
dialektische Logik hält die Erfahrung und das Subjekt I der [75]
Erfahrung im Relativen fest, die spekulative Logik stattet sie mit
der Eigenschaft der Akkumulation (Resultat, Erinnerung [im
Original deutsch]) aus und setzt sie in eine stetige Beziehung
zum letzten Absoluten (Hegel-Exkurs).
72
Das moderne cogito (Augustinus, Descartes) ist ein Satz, der
seinen aktuellen Sender mittels der Markierung der ersten Per­
son darstellt und auf die Existenz dieses Senders schließt. Die
pronominale Markierung verfährt wie ein deiktischer Indikator.
Ieh [jep legt die gleichen Eigenschaften wie dies an den Tag,
nicht mehr und nicht weniger. - Nun garantiert ein deiktischer
Ausdruck nicht allein die Gültigkeit [validite] dessen, was er
bezeichnet. Der - reale - Referent ist da, selbst wenn >>er nicht da
ist<< (Nr. 47, 48). Er muß das Universum des aktuellen Satzes
transzendieren. Der deiktische Indikator hat außerhalb des Satz­
Universums, das er aktualiter bezeichnet, keine Verweiskraft.
Somit drängen das ich aus Ich denke und das ich aus Ich bin zur
Synthese. Tatsächlich schreibt Descartes, >>daß dieser Satz >Ich
bin, ich existiere<, sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken
fasse, notwendig wahr ist<< (Meditationen, Il, § 3). Aber von
einem zum anderen Mal ist nicht gewährleistet, daß ich derselbe
bin. Die Synthese der aktuellen Evidenzen (Ostensionen) erfor­
dert gemäß dem Prinzip dieser Philosophie ihrerseits eine aktu-
>:- Also der Nominativ der 1. Person Singularis (A. d. Ü.).
87
........................................._� =�
'··
'-'"� e•· ·
r• ·•
·• -.w
·umw r
·•�����
�� �d
·Y BI�
��P' 'S •
IL.J ..
-....... ............................... ----------------

DER REFERENT, DER NAME DIE ERSETZBARKElT VON NAMEN

elle Evidenz, die mit den anderen zur Synthese vereint werden
muß (Hume, A Treatise of Human Nature [ 1 739], 1 895-1906,
II : 288-302). Ein Subjekt ist also nicht die Einheit >>seiner« Er­
fahrung. Die Realitätsbehauptung kann sich den Gebrauch zu­
mindest eines Namens nicht ersparen. Durch ihn, durch dieses
leere Bindeglied können sich ich zum Zeitpunkt t und ich �um
Zeitpunkt t + 1 miteinander und mit Hier bin ich (Ostenswn)
verknüpfen. Die Möglichkeit der Wirklichkeit ist - zusammen
mit der des Subjekts - in Namensgeflechten festgelegt, noch
»bevor« sich die Wirklichkeit in einer Erfahrung zeigt und dort
Bedeutung annimmt.
73
Hieraus ergibt sich, daß die Wirklichkeit nicht aus einer Erfah­
rung resultiert. Das hindert keineswegs, si� u?ter dem Ges!chts­
punkt einer Erfahrung zu beschreiben. Be1 d1eser Beschreibung
müssen die Regeln der spekulativen Logik (Hegel-Exkurs) be­
folgt werden, ebenso die Regeln einer Roma�poetik (die etwa
die Erzählperson und den Erzählmodus besummen ; Gen:tte,
1 972 : 1 83-1 84; 251-252). Diese Beschreibung hat allerdmgs
keinen philosophischen Wert, da sie ihre Voraussetzungen (d�s
. .
Ich oder das Selbst, die Regeln der spekulativen Log1k) mcht m
[ 76] Frage stellt. Nun sind diese I zur Behauptung de� Wirkli�h�eit
. Berufung eines Malers und sein Verhältnis zu den Farben mit
eines Referenten nicht notwendig. Notwend1g 1st dabe1 viel­
mehr, daß der Referent sozusagen von der Dauerhaftigkeit des
.
auf ihn bezogenen Namens profitiert (die Starrheit des Deslgna­
tors des Namens wirft als Schatten die Starrheit des Benann­
ten) : Gleichfalls ab er verlangt diese Behauptung notwendiger­
weise eine Eigenschaft, die der letztgenannten zu widersprechen
scheint: Ein benannter Referent ist wirklich, wenn er auch der
mögliche Fall (der Gegenstand eines ostensiven Satzes) einer
unbekannten (von einem noch nicht aktuellen Satz dargestellten)
Bedeutung ist . In der Wirklichkeitsbehauptung haben sich die
Beharrlichkeit des Referenten (Das ist wirklich x, man erkennt es
wieder) und das Ereignis einer Bedeutung (Sieh, x ist noch das,
man entdeckt es) miteinander verquickt.
88
74
Apriori läßt sich nicht bestimmen, welche Bedeutungen einem
realen Referenten anhaften. Er ist der >>Fall« von Bedeutungen,
die von noch nicht eingetroffenen Sätzen dargestellt werden.
Mittels Beschreibungen (die Namen enthalten) werden Aristote·
les Bedeutungen zugeschrieben : der in Stageira geborene Philo­
soph, der Schüler von Platon, der Erzieher Alexanders. In �enn·
sätzen können sie Aristoteles jederzeit ersetzen: Das zst der
Erzieher Alexanders kann ohne Beeinträchtigung des referen·
tiellen Werts (Starrheit der NamensgeHechte) Das ist Aristoteles
ersetzen. Allerdings weiß man im voraus nicht, wieviele und
welche derartigen Beschreibungen angemessen sind. Immer
wenn ein Satz (eines Historikers, eines Philosophen, eines Philo­
logen) stattfindet, in dem A ristoteles oder eines seiner möglichen
Ä quivalente bedeutet wird, kann darum ein neuer Ausdruck
unter denselben logischen Bedingungen Aristoteles oder seine
Ä quivalente ersetzen. Zum Beispiel: >>Der Denker, dessen Meta·
physik, wie Pierre Aubenque erklärt, nicht den Status einer
Wissenschaft einnimmt. . . << Diese Beschreibung (mit dem darin
enthaltenen Namen) war nun nicht vorhersehbar. Und umge­
kehrt kommt es vor, daß ein Name - als Beweismittel - mit
Sätzen, die von ihm unabhängig waren, verbunden wird, um
deren Bedeutungen zu erläutern. (So kommt es vor, daß man die
dem Namen Ödipus erläutert; Kaufmann, 1 967).
75
Kann die Zahl der Bedeutungen, die mit einem benannten
Referenten verbunden sind und von Sätzen, die seinen Namen
ersetzen können, dargestellt werden, unbegrenzt anwachsen?
Versuchen Sie I unter Beachtung des Prinzips der Ersetzbarkeit [77]
die Sätze zu zählen, durch die Namen wie Moses, Homer,
Perikles, Caesar . . . ersetzt werden können. Man kann den
Beweis für die Vollständigkeit des Bedeutungsspektrums eines
Namens (daß >>Von x alles gesagt ist«) nicht führen, nicht nurweil
sich eine Ganzheit grundsätzlich nicht dem Beweis stellt, son­
dern auch - insofern der Name nicht selbst ein Mittel zur
89
 DER REFERENT, DER NAME
Bezeichnung der Wirklichkeit ist (dazu müssen ihm eine Bedeu­
tung und ein vorzeigbarer Referent zur Seite gestellt werden) ­
deshalb, weil die Inflation seines möglichen Sinns, seiner mögli­
chen Bedeutungen nicht von den >>realen« Eigenschaften seines
Referenten eingedämmt wird.
76
Sicher wird die Inflation der Bedeutungen [sens] eines Namens
durch die Anwendung der von Frege (1 892 : 46) analysierten
logischen Regeln gedämpft. Beispielsweise kann der Satz Der
leberkranke Kaiser ließ seine Garde angreifen zumindest salvo
sensu nicht den Satz Napoleon ließ seine Garde angreifen erset­
zen, da er eine vom zweiten Satz nicht berücksichtigte (kausale,
konzessive usw.) Beziehung zwischen Gesundheitszustand und
militärischer Strategie konnotiert. (Das heißt nicht, daß der erste
unsinnig wäre.) Die Bedeutungsinflation kann schließlich noch
durch die Anwendung von Validierungsregeln für kognitive
Sätze gebremst werden. Im Hinblick auf die Namen besteht
darin die wesentliche Funktion der Diskursart, die sich Ge­
schichtswissenschaft nennt . Wenn man Napoleon ohne Verlet­
zung der Regeln des - narrativen und kognitiven - historischen
Diskurses durch der leberkranke Kaiser ersetzen will, so muß
man sich versichern, daß Napoleon leberkrank war, das heißt
den Beweis erbringen können, daß der Referent unter den
Bedingungen des geschichtswissenschaftliehen Beweisverfah­
rens wirklich ist. Die Anziehungskraft der Namen auf Bedeu­
tungen (die Mytheme usw. erzeugt) findet sich somit den Regel­
systemen kognitiver Sätze unterworfen, zumindest derjenigen
kognitiven Sätze, die sich auf nicht-aktuelle Referenten bezie­
hen. Dies heißt man historisch-kritisches Verfahren. - Nichts­
destoweniger ist diese Beschränkung von geringer Tragweite,
und zwar aus zwei Gründen : Zunächst sind die Namen nicht
identisch mit den Wirklichkeiten, auf die sie sich beziehen,
sondern leere Designatoren, die ihre aktuelle ostensive Funktion
nur dann erfüllen können, wenn sie eine Bedeutung erhalten,
de:en � eferent vom ostensiven Satz als gegebener »Fall« ange­
zeigt Wird. Man weist nicht eine Sache nach, man weist vielmehr
nach, daß eine Sache die bedeutete Eigenschaft darbietet. Die
90
BEDEUTUNGSINFLATION
Bedeutung geht dem Beweis notwen�ig voran . Auf �iese Weise
.
provoziert die historische Erkenntms selbst eme V1elzahl von
Bedeutungen I (Hypothesen, Deutungen), um sie durch das [78]
Sieb der Beweisführung zu passieren.
77
Der zweite Grund, warum die Bedeutungsinflation bei �en
Namen nicht vollständig gestoppt werden kann (Nr. 76), hegt
darin daß die Sätze kognitiver Regelsysteme, die von den
Wah;heitsbedingungen ausgesiebt werden, kein Bedeutu� gs­
monopol besitzen. Sie sind >>wohlge�ormt<<. A� er falsch gebilde­
te Sätze sind nicht sinnwidrig. Für d1e Generatton Stendhals war
der Name Bonapartes mit einem präskriptiven Aspekt beset� t :
_
Sei ein Volksheld der virtu wie Bonaparte. D1eser Aspekt 1st
unter die Bedeutungen zu zählen, obwohl der entsprechende
Satz keinem kognitiven und nicht einmal d� sk�iptiven Char�kter
besitzt. Ein Satz, der einen Namen m1t emem Lebens1deal
verknüpft und ihn zum Losungswort erhe� t, enthält � in P �ten­
tial von Anweisungen, eine Ethik und eme Strategie. D1eser
Name ist ein Ideal der praktischen oder politischen Vernunft im
kantischen Sinne. Dieser Satz stellt dar, was getan werden muß,
und er stellt zugleich den Empfänger dar, der es ausführen � oll.
Er unterliegt nicht dem Kriteri�m von wahr/falsch: da � r mcht
_
deskriptiv ist, sondern dem Kntenum von berechugt/mcht� e­
rechtigt, da er präskriptiven Charakter hat. Man kann s1ch
fragen, ob er berechtigt ist oder nicht. Aber sollte er ungerech� ­
fertigt sein, so ist er dennoch bedeutungst�agend, genau ':Je
sogar ein falscher Satz eine Bedeutung besitzt (W�_ ttg� nstem,
Tractatus: 2.2 1 , 2 . 22, 2 . 222). Die jeweils für das Kntenum der
Gerechtigkeit und das Wahrheitskriterium relevanten Be�eu­
.
tungen jedoch sind heterogen. Die Anwendung v� n Y_ ahd� e­
rungsregeln für kognitive Sätze auf Bedeu�ungen, d1e mcht ��
Sinne des Wahrheitskriteriums relevant smd, kann daher d1e
Anziehungskraft der Namen auf diese Bedeut� ngen nicht min­
dern. Für den jungen Bonapartisten geht es beim Na�en Bona­
parte nicht um kognitive, sondern um ästhetische, ethische und
politische Werte.
91
 DER REFERENT, DER NAME
78
Sätze unterschiedlicher Regelsysteme können nicht ineinander
übersetzt werden. Betrachten wir nur einmal die durch die Form
(Syntax) bedingte Bedeutung eines Satzes, indem wir die lexika­
lische beiseite lassen. Eine Übersetzung von Sprache zu Sprache
setzt voraus, daß die Bedeutung, die von einem Satz der Aus­
gangssprache dargestellt wird, von einem Satz der Bestim­
mungssprache wiedergegeben werden kann. Nun hängt die von
der syntaktischen Form bestimmte Bedeutung vom entspre­
[79] chenden Regelsystem des Satzes und I von der Diskursart ab in
die er eingegangen ist. Dieses Regelsystem und diese Diskur;art
bes�i � men einen Komplex von Formations-, Verkettungs- und
Vahdrerungsregeln für die entsprechenden Sätze. Eine Übertra­
gung setzt also voraus, daß Regelsystem und Diskursart einer
Sprache sich analog in der anderen wiederfinden oder daß zu­
mindes� der Unterschied zwischen zwei Regelsystemen und/
od �r Drskursen der einen Sprache sein Analogon in der anderen
besrtzt. Wenn man überhaupt den Anspruch erhebt, aus dem
Französischen ins Chinesische zu übersetzen so muß man etwa
die K ?n�otation, die im Französischen mit d�m Gegensatz von
desknpttven und narrativen Sätzen verbunden ist (Il ouvre la
partel �� o_rfvrit la porte)\ im Chinesischen wiedergeben kön­
nen. Dre Ubersetzung verlangt somit >>transversale<< Überein­
��imm�ng� n zwischen den Sprachen. Die Beständigkeit dieser
Uberemstrmmungen wird nun direkt oder indirekt von den
Unterschieden zwischen den Satz-Regelsystemen und Diskur­
sen gewährleistet. Wie könnten also Sätze verschiedener Regel­
systeme und/?der Disku:sarten (� ei es innerhalb derselben Spra­
�he oder zwrschen zwer versehredenen Sprachen) ineinander
ubersetzt werden (Nr. 79) ?
<- Er öffrz_et die Tür/E r öffnete die Tür; ouvrit (»öffnete«) akzentuiert in
�;
der Z�Itform des passe simple (historisches Perfekt) die Abgeschlos­
s nh It_der Handlung und besitzt kein genaues deutsches Äquiva
lent
( . . U.).
92
»EIN SCHÖNES BILD<<
79
Sicherlich können sie im eigentlichen Wortsinn nicht übersetzt
werden. Aber können sie nicht wenigstens ineinander transkri­
biert werden? Sie sollen gehen ist eine gültige Transkription von
Gehen Sie. Dies ist ein schönes Bild eine gültige Transkription
von Welch ein schönes Bild! Wird nicht die verpflichtende oder
wertende Bedeutung des Ausgangssatzes in beiden Fällen vom
Bestimmungssatz bewahrt? - Der philosophische Logiker mag
das glauben, weil er sich mit den Bedeutungsidentitäten (Defini­
tionen) begnügt (Wittgenstein, Tractatus: 3. 343) und vernach-.
lässigen zu können glaubt, daß die Verpflichtung hier als Wink
oder gar als Information, dort als zwingender Befehl dargestellt
wird oder daß die Wertung einmal in einem konstativen, einmal
in einem exklamativen Satz formuliert wird. Aber ein Kind, ein
Diplomat, ein Untergebener oder ein Vorgesetzter, der Maler
des Bildes werden auf den Ursprungssatz und auf seine >>Tran­
skription<< hin nicht jeweils in der gleichen Weise fortfahren. Für
sie liegt die Analogie der >>Bedeutungen« zwischen den beiden
Sätzen nicht nur in der Analogie abstrakter Begriffe, auf die sie
reduziert werden können, sie muß sich vielmehr auch auf die von
beiden Sätzen dargestellten Universen erstrecken, in denen sie
sich situiert finden. Diese Universen werden durch die Situatio­
nen der I Instanzen (nicht nur der Bedeutung, sondern auch des [80]
Referenten, des Senders, des Empfängers) und ihre Beziehungen
untereinander gebildet. Nun ist der Sender eines Exklamativs
bezüglich der Bedeutung anders situiert als der Sender eines
Deskriptivs, ist der Empfänger eines Befehls bezüglich des
Senders und des Referenten anders situiert als der Empfänger
eines Winks oder einer Information (Nr. 80-83).
80
Sätze ungleichartiger Familien können auf den Referenten ein
und desselben Eigennamens einwirken, sie können ihn in den
Universen, die sie darstellen, auf unterschiedlichen Instanzen
situieren. Ein Paar will sich trennen. Ein Dritter (Richter,
Zeuge) beschreibt den Umstand folgendermaßen: x und y wer­
den sich trennen. Der Satz von x ist eine wertende Erklärung : Ieh
93
 DER REFERENT, DER NAME
halte es für besser, daß wir uns trennen. Der Satz von y stellt eine
. eher stabilen Komplex von Benennungen). Wenn der histori­
pathetische Frage: Was haben wir denn zehn Jahre lang zusam­
men gemacht? Nehmen wir an, daß nur die drei zitierten Sätze
unter den gegebenen Umständen mit dem Namen von x ver­
knüpft sind. Weieher der drei Sätze eignet sich am besten zur
Definition von x in dieser Lage? »Ist« x eher der Sender einer
Erklärung, der Empfänger einer Frage oder der Referent einer
Beschreibung? Es läßt sich nur sagen : sein Name besetzt Zug um
Zug jede der drei Instanzen in drei unabhängigen Sätzen. Und
gerade das beschreibt ihn in dieser Lage angemessen. Mit dieser
Bemerkung greift man auf einen vierten Satz zurück, der sich auf
die drei ersten bezieht und einem anderen Regelsystem (Meta­
sprache) angehört. In diesem letzten Satz besetzt x andere
Situationen (die drei vorangehenden, allerdings >>eingeschach­
telt«) und trägt einen anderen Bedeutungsakzent (er liefert das
Beispiel eines Referenten, dessen Bedeutungen heterogen sind) .
81
Der Referent eines Eigennamens, Bonaparte, Auschwitz, ist
stark determiniert, was seinen Ort im Geflecht der Namen und
ihrer Beziehungen untereinander (die Welten) angeht (Nr. 60),
und zugleich schwach determiniert, was seine Bedeutung be­
trifft: man denke an die Vielzahl und die Heterogenität der Satz­
Universen, in denen er einen Platz als Instanz einnehmen kann.
Das darf jedoch nicht dazu führen, daß man den historischen
[8 1 ] Gegenstand - den Referenten eines Eigennamens - mit I dem
Wahrnehmungsobjekt verwechselt (Nr. 69). Dieses wird von
ostensiven Sätzen mit deiktischen Indikatoren (ich und du, hier
und dort, jetzt und gleich) dargestellt. Bei der Analyse der
Universen dieser Sätze entwickelt der Phänomenologe der
Wahrnehmung die Ideen des Feldes und der Erfahrung. Der
Referen� eines Eigennamens (historischer Gegenstand) wird
durch emen Namen mit quasi-deiktischer Verweiskraft, nicht
durch einen deiktischen Indikator bezeichnet. Der Name lokali­
siert diesen Gegenstand in Namensgeflechten, ohne daß er ihn in
Bezug auf ein ich oder auf irgendeinen deiktischen Indikator
situier�n müßte. Das Wahrnehmungsobjekt gehört zu einem
Feld (emem unbeständigen Komplex von Ostensiven mit deikti-
94
-
FELD UND ERFAHRUNG
sehen Indikatoren), das Geschichtsobjekt zu einer Welt (einem
sche Gegenstand darüber hinaus einem Verfahren zur Validi� ­
rung eines kognitiven Satzes unterzogen wird (wenn er em
Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist), so wird er zu­
gleich zum Referenten ostensiver Sätze und findet sich dann
mittels deiktischer Indikatoren in einem Feld situiert (Schaut
her, das ist der Beweis, den ich suchte!).
82
Die Wirklichkeit: ein Schwarm von Bedeutungen läßt sich auf
einem Feld nieder, das von einer Welt abgesteckt wird. Sie
kann zugleich bedeutet, gezeigt, benannt werden. Der Akzent
liegt einmal hier, einmal dort. Auf dem Zeigen : Sieh mal, hier
ist es, das Messer, das Elisa dir gegeben hatte. Etwa in der
Reihenfolge : gezeigt, bedeutet, benannt. Auf der Benennung:
Der hier, das ist Hector, der Gatte der Präsidentin. Gezeigt,
benannt, bedeutet. Auf der Bedeutung: Ein Ding, mit dem
man Stimmen aufnehmen kann ? Das ist ein Mikro, wie dieses
hier, das ich in Brüssel gekauft habe. Bedeutet, gezeigt, be­
nannt.
83
Der Referent eines ostensiven Satzes (Wahrnehmungsobjekt)
und der eines Nenn-Satzes (historischer Gegenstand) sind
voneinander ganz und gar verschieden (Nr. 8 1 ) . Dennoch ha-
ben sie ein gemeinsames Merkmal: Sätze, die nicht aktualisiert
und im Augenblick unbekannt sind, beziehen sich auf sie,
indem sie ihnen Bedeutungen zuschreiben, die von der aktuel-
len Bedeutung abweichen (Nr. 69). So etwa: Diese Seite ist
weiß (von hier aus gesehen) und nicht weiß (von dort gese-
hen: sie ist dann grau); und ebenso : Napoleon ist ein Stratege
(in einem Namensgeflecht) und er ist kein Stratege (in einem
anderen: dort ist er Kaiser). Das (Wahrnehmungs-)Feld und
die (geschichtliche) Welt sind beide von der Negation >>ausge­
höhlt<<, die durch das I Gezeigte und durch das Benannte je- [82]
weils (und in unterschiedlicher Weise) mitgeführt wird. >>Ein
95
 DER REFERENT, DER NAME
Schwarm<< möglicher Bedeutungen, quantitativ und qualitativ
unbestimmt, besetzt diesen >>Hohlraum<<.
84
Was heißt es, daß diese Bedeutungen möglich sind? Gehört es
nicht zum Wesen der Bedeutung, daß sie möglich ist? Wenn man
sich auf die Bedeutung im logischen Sinne beschränkt, so wird
sie durch wohlgeformte Ausdrücke dargestellt, durch die Pro­
positionen. Diese besetzen Stellen in einem »logischen Raum<<
(Wittgenstein, Tractatus: 3.4). Die Stelle einer Proposition defi­
niert sich durch die Möglichkeit ihrer Wahrheit. Diese Wahrheit
läßt sich mit Hilfe von Wahrheitstafeln errechnen, die alle
möglichen Beziehungen zwischen zwei Elementarsätzen defi­
nieren. Wirtgenstein skizziert diesen »logischen Raum<<, indem
er die Wahrheitsfunktionen entwirft (Tractatus: 5.101). Er wird
einerseits von der Tautologie, andererseits vom Widerspruch
begrenzt. Die Wahrheit der einen wie die Falschheit des anderen
sind notwendig. Wenn p, dann p, und wenn q, dann q einerseits,
p und non-p, und q und non-q andererseits sind >>die Grenzfälle
der Zeichenverbindung, nämlich ihre Auflösung<< (Tractatus:
4.466). Beide Ausdrücke sind sinnlos, beide sagen nichts aus,
und zwar gerade deshalb, weil sie notwendig sind. Der Aus­
druck: Es regnet oder es regnet nicht teilt nichts über das Wetter
mit (Tractatus: 4.461). Aber sie sind Propositionen, sie sind
nicht »unsinnig<< und gehören darum noch dem »logischen
Raum<< an (Tractatus: 4.461 1 ; TB: 12. 1 1 . 1914).
85
Die logische Diskursart ist nicht die kognitive. Die Frage, ob ein
realer Referent der Bedeutung einer Proposition genüge, gehört
nicht zu jener. Die kognitive Frage interessiert sich dafür, ob der
Zeichenzusammenhang, mit dem man es zu tun hat (der Aus­
druck, der einen Anwendungsfall der Wahrheitsbedingungen
darstellt), einen Bezug zu realen Referenten ermöglicht oder
nicht. >>Die Wahrheitsbedingungen bestimmen den Spielraum,
der den Tatsachen durch den Satz gelassen wird<< (Tractatus:
4.463). Letztere aber können die Proposition als logischen Satz
96
DER »LOGISCHE RAUM<<
weder bestätigen noch widerlegen (Tractatus: 6 . 1 222), denn
dieser erhält seinen Wahrheitswert nur durch seinen Ort im
>>logischen Raum<<. Somit ist das Mögliche I die logische Art und [83]
Weise des Bedeutens. Eine notwendige Proposition besitzt keine
Bedeutung. Ob sie bezüglich einer Wirklichkeit wahr oder
falsch ist - dies ist keine logische Frage. >>Sinn<< und Referent
müssen immer auseinandergehalten werden''. Schwierig ist diese
Unterscheidung deswegen, weil die logische Möglichkeit (die
Bedeutung, der Sinn) für die Ermittlung der Realität des entspre­
chenden Referenten vorausgesetzt wird. Daraus folgt nur, daß
das kognitive Regelsystem das logische voraussetzt, nicht aber,
daß sie eins sind.
86
Aus der Perspektive der Logik also fügt das Mögliche der
Bedeutung nichts hinzu (Nr. 83). Wenn es sich aber um die
möglichen Bedeutungen eines benannten und vorgezeigten Re­
ferenten handelt, gehört diese Möglichkeit nicht mehr allein dem
»logischen Raum<< an, sie schließt vielmehr den Bezug dieses
Raumes zum Referenten eines Satzes oder eher noch zweier
verschiedener Sätze (des benennenden und des ostensiven) ein,
die keine logischen Sätze darstellen. Weder der Zeige-Satz noch
der Nenn-Satz entsprechen der »logischen Form<<. Sie sind keine
wohlgeformten Ausdrücke. In ihrer wechselseitigen Zuordnung
bringen sie einen Referenten sozusagen vor das >>Objektiv<< des
logischen Satzes, der Proposition. Die Möglichkeit der Bedeu­
tung meint dann die Möglichkeit, die logisch ermittelte Bedeu­
tung durch einzelne Fälle, das heißt durch einen benannten und
vorgezeigten Referenten, zu validieren. Diese Möglichkeit be­
schäftigt Wittgenstein (auch wenn er sie nicht immer deutlich
von der logischen Möglichkeit unterscheidet), wenn er nach dem
>>Spielraum, der den Tatsachen durch den Satz gelassen wird<< ,
fragt. Befangen von der Vorstellung (und zwar zur Zeit des
>:· LYOTARD Zitiert hier WrTTGENSTEINS Unterscheidung zwischen
»Sinn« (sens) und >>Bedeutung« (rejerent) in den Tagebüchern (TB:
236); cf. A. d. Ü. S. 34f. des vorliegenden Bandes.
97
 DER REFERENT, DER NAME
Tractatus), daß das >>Bild« ein allgemeines Modell des logischen
Satzes sei, metaphorisiert er das Zusammentreffen der mögli­
chen Bedeutung mit der Wirklichkeit als die Ausübung eines (im
wesentlichen optischen) Abbildungszwangs auf die Sachverhal­
te, die aus einer Welt außersprachlicher Tatsachen erfaßt werden
können. Die Tautologie und der Widerspruch sind gleichsam die
Grenzen des Abbildungsapparats [dispositif representati!J, sie
>>sind nicht Bilder der Wirklichkeit. Sie stellen keine mögliche
Sachlage dar. Denn jene läßt jede mögliche Sachlage zu, diese
keine« ( Tractatus: 4.462). Die Grenzen, an denen sich der
Zeichenzusammenhang (die Bedeutung) auflöst, begrenzen
auch die Darstellung der Wirklichkeit: bei der Tautologie ist die
>>Blende« zu groß gewählt, zu eng beim Widerspruch. Der
überbelichtete logische Raum verzeichnet nur Weiß, der unter-
[84] belichtete nur I Schwarz. Wenn man (wie Wittgenstein später
selbst) die Metapher eines optischen Apparats, der Bilder von
Sachverhalten in Form von logischen Sätzen liefert, beiseite läßt,
so bleibt folgendes : Im kognitiven Regelsystem verlangt die
Validierung eines logischen Satzes durch die >>Realität«, daß man
dies zeigt - den Fall eines Referenten, der dem durch den Satz
dargestellten >>Sinn«'' entspricht - und dies benennt (und somit
in ein Dies transformiert).
87
Damit diese doppelte Operation möglich wird, muß man nicht
auf die Hypothese von den >>einfachen Dingen« zurückgreifen,
die durch die Namen wie durch sich an sie herantastende >>Füh­
ler« bezeichnet werden (Nr. 55; Tractatus: 2. 1515). Diese Hy­
pothese ist keine, da sie nicht falsifizierbar ist. Denn sie beruht
auf dem Prinzip eines Isomorphismus von Namen und Gegen­
ständen, auf dem Prinzip einer >>gemeinsamen Form«, in der sich
die Gegenstände in der Welt und die Namen in der Sprache
organisieren (Tractatus: 2. 1 7, 2. 1 8, 3.21). Nun läßt sich dieses
Prinzip nicht validieren, da es ja gerade dieses Prinzip ist, das die
* Cf A. d. Ü. S. 34 f. des vorliegenden Bandes.
98
ZEIGEN UND SAGEN
Validierung autorisiert: >>Der Satz kann die gesamte Wirklich-
keit darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was er mit der
Wirklichkeit gemein haben muß, um sie darstellen zu können -
die logische Form« (Tractattts: 4. 12). »Der Satz kann die logi-
sche Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm. Was sich in
der Sprache spiegelt, kann sie nicht darstellen. [ . . . ] Der Satz
zeigt die logische Form der Wirklichkeit. [ . . . ] Was gezeigt
werden kann, kann nicht gesagt werden« (Tractatus: 4 . 1 2 1 ,
4.1212). - Wenn der Fall s o liegt, darf man folglich nicht von
einer der Sprache und der Realität gemeinsamen logischen Form
sprechen. Und dies ändert nichts an dem, was für die kognitive
Validierung eines sinnvollen Ausdrucks notwendig ist, nämlich
ein ostensiver und ein Nenn-Satz. Es handelt sich nicht darum,
eine Theorie aufzustellen, sondern zu beschreiben (PhU: § 1 09),
was unerläßlich ist, damit ein logisch bedeutungsvoller Satz
seine kognitive Validierung erfährt und somit in kognitivem
Sinne wahr wird. Es genügt, daß etwas gezeigt und benannt wird
(also beliebig oft gezeigt werden kann, weil in Namensgeflechte
- unabhängig von deiktischen Indikatoren - eingespannt) und
daß dieses Etwas bis auf Widerruf als Beweis akzeptiert wird -
bis auf Widerruf, das heißt bis zur Widerlegung des kognitiven
Satzes, I den es mit einer neuen Beweisführung erläutert, oder [85 ]
bis zur Angabe eines Gegenbeispiels. Also: »Was heute als
erfahrungsmäßige Begleiterscheinung des Phänomens A gilt,
wird morgen zur Definition von >A< benützt« : dies sei »das
Schwanken der wissenschaftlichen Definitionen« (Ph U: § 79).
Und auf diese Weise wird, was heute als Definiens gilt, morgen
als Beiwerk beiseite geschoben. Verstörend ist dies nur für ein
Denken, das nicht nur keine >>verschwommenen« Begriffe
(Ph U: § 70 ff.) zulassen, sondern auch die Wirklichkeiten als
Begriffe artikulieren will. Ein metaphysischer Anspruch.
88
Die Wirklichkeit ist keine Frage des absoluten Zeugen, sondern
eine Frage der Zukunft. Der Logiker, für den >>nichts zufällig
ist«, verlangt, daß die möglichen Bedeutungen im Objekt >>prä­
judiziert<< seien, sonst könnte dieses Objekt, das ist, was es ist
(Theorie der einfachen Dinge; Nr. 55), »nachträglich<< und
99
 DER REFERENT, DER NAME
gleichsam zufällig eine neue Bedeutung annehmen. Diese Forde­
rung entstammt dem >>logischen Raum<< und wird auf die Welt
der benannten Wirklichkeiten angewendet, und sie impliziert,
daß etwa das Prädikat überschreitet den Rubikon von vornherein
dem Begriff von Caesar einbeschrieben wäre (Leibniz, 1686:
§ XIII). Ein derartiger Begriff ist ein Satz, dessen Sender ein
absoluter Zeuge, Gott, wäre. Dieses Prinzip gilt selbst in der
Logik nur dann, wenn man einfache Objekte annimmt und das
Wahrheitsideal in der Tautologie besteht (TB: 20. 1 1 . 1914).
Aber die »einfachen Dinge<< sind leere Referenten, die Namen
entsprechen. >>Erfüllt<< (von Wirklichkeit) werden sie nur durch
deskriptive Sätze (wenigstens im kognitiven Regelsystem) und
durch ostensive Sätze, deren Zusammenhang mit Nenn-Sätzen
immer problematisch ist. Unter diesen Bedingungen ist es kein
Rätsel, daß neue Bedeutungen benannten Referenten >>Zuge­
schrieben<< werden könnten. Der Referent namens Caesar ist
keine vollständig beschreibbare Substanz, selbst der tote Caesar
nicht (Nr. 74). Der Substantialismus begreift den Referenten des
Namens als den Referenten einer Definition. Der Referent einer
Definition ist als solcher nur möglich (Tractatus: 2.01 1, 2.012,
2 . 0121 ). Damit er wirklich wird, muß man Referenten benennen
und zeigen können, die die geltende Definition nicht falsifizie­
ren. Der >>Gegenstand<< wird somit dem Wirklichkeitsbeweis
[86] unterworfen, der nur I negativ ist und aus einer Reihe wider­
sprüchlicher Versuche besteht (Nr. 90), um Fälle zu bezeichnen,
die den Beweisführenden mit Hilfe der Verwendung von Namen
zugänglich sind. Im Verlauf dieses Beweises gibt es kein >>einfa­
ches Ding<< mit Bestand. Man wird die einfachen Dinge, wenn
nötig, verändern.
89
Was dagegen unbedingt erforderlich ist, ist die Kontingenz der
Zukunft. Und darunter hat man nicht nur die der >>Ereignisse«
zu verstehen, sondern auch die der Bedeutungen. 1 932 war es
möglich, daß Karol Wojtila eines Tages zum Papst gewählt
werden und Neil Armstrong eines Tages den Mond betreten
würde. Beide >>Ereignisse« waren logisch möglich, da keines von
beiden sinnwidrig war wie etwa der der Satz: Die Winkelsumme
100
WIRKLICHES UND MöGLICHES
eines Dreiecks ist Wojtila. Was das kognitive Regelsystem, das
heißt die Wirklichkeit, angeht, waren jedoch die jeweiligen
Bedeutungen dieser >>Ereignisse<< 1 932 nicht gleichermaßen
möglich. Man hatte damals die Mittel, jeden Satz bezüglich des
Prädikats Papst sein (durch Nenn-Satz und Ostensiv) zu bewei­
sen, nicht aber die Mittel, irgendeinen Satz bezüglich des Prädi­
kats den Mond betreten zu beweisen. Dieser gehörte zur Gat­
tung der narrativen Fiktionen, die das Validierbare und das nicht
Validierbare vermengen. Im Jahre 1 982 kann er nach den Regeln
kognitiver Sätze validiert oder nicht validiert werden. Unter der
>>möglichen Bedeutung<< eines benannten und vorgezeigten Re­
ferenten versteht man also zumindest folgendes (wobei der Satz,
der diese Bedeutung ausdrückt, p genannt wird) : Es ist möglich,
daß p, dann und nur dann, wenn es jetzt wahr ist oder eines Tages
wahr sein wird, daß p (Rescher, 1 967: 33 ff.). Man kann die
Definition des Möglichen von ihrer Ausrichtung am deiktischen
Ausdruck jetzt befreien und präzisieren, was man unter Wahr­
heit versteht: Es gibt einen Zeitpunkt t, der mit dem als Ursprung
gewählten Zeitpunkt o zusammenfällt oder später auf ihn folgt,
und zu diesem Zeitpunkt t ist die von p dargestellte Bedeutung
validiert. Durch die Validierung der Bedeutung und die Datie­
rung (Benennung) des als Ursprung gewählten Zeitpunkts führt
man dann das Mögliche in die Ordnung des kognitiven Diskur­
ses ein. Entgegen der Warnung des Logikers betrachtet man
dann nicht mehr das >>Ereignis<< (ein Wort, das selbst voraus­
setzt, worum es sich handelt: etwas Neues geschieht), sondern
den ostensiven Satz, der den benannten Fall vorzeigt (Gardies :
85). I [87]
90
Die Negation befindet sich im Zentrum der Zeugenaussage. Man
zeigt nicht die Bedeutung, man zeigt etwas, dieses Etwas ist
benannt, und man sagt: dies zumindest verbietet nicht, die
fragliche Bedeutung anzunehmen. Die »Validierung<< besteht
darin, Fälle von vorläufiger Nicht-Falsifikation vorzuzeigen.
Die Wirklichkeit ist der Referent eines ostensiven Satzes (und
eines Nenn-Satzes), und dieser Referent wird angeführt (bei­
spielsweise in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gel-
101
 DER REFERENT, DER NAME
tend gemacht) : 1 .) als das, was die Bedeutung, die der fraglichen
Bedeutung widerspricht, widerlegt; 2.) als das, was nicht verbie­
tet, diese letztere bis auf Widerruf zu verfechten. Der Beispiel­
fall, der vor dem Tribunal der Erkenntnis präsentiert wird, hat
genau genommen keine Beweiskraft, er ist permissiv: manchmal
(dieses eine Mal zumindest, das ich Ihnen anzeige) ist es nicht
untersagt zu denken, daß . . . Es gibt keine Evidenz, sondern
einen der Skepsis zugestandenen Aufschub. Nicht: Es ist sicher,
daß . . . , sondern : Es ist nicht ausgeschlossen, daß . . Indem man
. eindringen (Tsimbidaros). Sie wird nun unkoutrolliert und unter
benennt und indem man vorzeigt, schließt man aus. Der Beweis
ist negativ, im Sinne der Widerlegung. Er wird in einer -
�gonalen, dialogischen - Auseinandersetzung erbracht, wenn
Ubereinstimmung über das entsprechende Beweisverfahren
herrscht. Wenn aber der ostensive und der Nenn-Satz hinrei­
chen, um auszuschließen, daß beispielsweise Karl der Große ein
Philosoph war, so folgt daraus nur, daß er ein Nicht-Philosoph
war. Und dies sagt nichts darüber aus, was er war. Die Widerle­
gung des Satzes p erlaubt die Behauptung, daß non-p, aber non-p
bleibt unbestimmt. Nicht-Philosoph ist nicht Kaiser. Dieses
letzte Prädikat wird nur als mögliches bewahrt. Durch die
Ostension und die Benennung wird die Realität geltend gemacht
als das Verbot, eine Bedeutung zu negieren. Die Wirklichkeit
läßt zu, daß man alle gegenteiligen Bedeutungen als mögliche
einsetzt. Der größte Wahrscheinlichkeitsgrad einer von ihnen
wird durch die Widerlegung der anderen mittels neuer Ostensio­
nen und Benennungen nachgewiesen werden. So ist der >>Hohl­
raum<< (der Schatten, von dem Wittgenstein spricht; cf. TB:
9. 1 1 . 1 9 1 4, 15. 1 1 . 1914), den der benannte und gezeigte Refe­
rent mitführt, auch identisch mit der Möglichkeit von Bedeutun­
gen, die die Wirklichkeit mitführt. Und da diese Möglichkeit
eine auf die Zukunft gerichtete Modalität ist, so ist dieser
>>Hohlraum<< auch die Zeit, die als Bedingung der Modalisierun­
gen gilt.
91
Indem er sich den logischen Satz als einen >>Körper<< vorstellt,
d � r einen >>Ürt<< im >>logischen Raum<< besetzt, und die Negation
[88) dieses Satzes als den >>Schatten<< I dieses >>Körpers<< in diesem
1 02
LOGIK UND ERFAHRUNG
>>Raum<< (TB: 9., 15. und 23. 1 1 . 1 91 4, 9. 6. 1 9 1 5), trägt Witt­
genstein den >>Hohlraum<< in den logischen Ordnungszusam­
menhang hinein, einen >>Hohlraum<<, der im Feld (des sinnlich
Wahrnehmbaren) die Referenten ostensiver Sätze umhüllt. Er
nimmt damit eine Analogie zwischen der logischen und der
>>perzeptiven<< Negation an. Und da er diese nach dem Modell
der sinnlichen Erfahrung durch ein Subjekt (ein Auge) begreift
(Tractatus: 5.6 ff.), läßt er die Phänomenologie in die Logik
dem Vorwand der >>Beschreibung der Erfahrung<< die späteren
Untersuchungen leiten. Ein Ich [je] wird sich vermeintlich der
Sprache >>bedienen<<, mir ihr >>spielen<<, mit einem oder mehreren
>>anderen<<. Dies ist ein Erfolg des Anthropomorphismus und
eine Niederlage des Denkens (Nr. 1 88). Im Gegensatz dazu muß
an die Umgangssprache das von Wittgenstein selbst für die
logische Sprache eindeutig formulierte Prinzip herangetragen
werden: um letztere zu verstehen, ist nicht die Erfahrung erfor­
derlich, daß sich etwas so und so verhält, sondern die Vorausset­
zung, daß etwas ist. >>[A]ber das ist eben keine Erfahrung. << Die
Logik der Umgangssprache ist >>vor jeder Erfahrung<<, wie die
Logik. Sie ist >>Vor dem Wie, nicht vor dem Was« (Tractatus:
5.552). Man muß ein Blickfeld, eine historische Welt ohne
Rückgriff auf die Erfahrung beschreiben. Man muß die Unge­
wißheit der Zukunft als >>Logiker<< begreifen (und das heißt nicht
eine >>Logik der Zeit<< entwerfen) . Die Negation, die durch die
Modalität des in der Wirklichkeit enthaltenen Möglichen impli­
ziert wird, muß begriffen werden, ohne daß man sie in der
Erfahrung eines Subjekts metaphorisiert, sie muß vielmehr be­
griffen werden als eine Verkettung von Sätzen. Man muß den
Sender als eine Instanz begreifen, die in einem Satz-Universum
situiert ist, ebenso den Referenten, den Empfänger und die
Bedeutung. >>Wir<< gebrauchen die Sprache nicht (Ph U: § 569).
Und weiter, was die Wirklichkeit betrifft, so muß man begrei­
fen, daß sie nicht nur in den mit Nenn- und Zeige-Sätzen
verketteten kognitiven Sätzen auf dem Spiel steht; die Wirklich­
keit wird in den drei eben genannten Familien ausgespielt, aber
auch in allen anderen Satzfamilien (die jedoch nicht in die
ersteren und ineinander übersetzbar sind). I [89]
103
 DER REFERENT, DER NAME
92
Die Wirklichkeit führt den Widerstreit mit sich. Das ist Stalin,
da ist er. Darüber wird man einig. Aber was Stalin meint? An
diesen Namen haben sich Sätze geheftet, die nicht nur verschie­
dene Bedeutungen von ihm beschreiben (das kann noch in einem
Gespräch ausgehandelt werden), die den Namen nicht nur auf
verschiedene Instanzen setzen, sondern heterogenen Regelsy­
stemen und/oder Diskursarten unterstehen. Mangels eines ge­
meinsamen Idioms vereitelt diese Heterogenität einen Konsen­
sus. Eine auf Stalin gewendete Definition tut notwendigerweise
den nicht-definitorischen Sätzen bezüglich Stalin unrecht, die
von dieser Definition zumindest einmal übersehen oder verraten
werden. Um die Namen streicht die Vergeltung. Für immer?
93
»Nicht umsonst ist Auschwitz das Vernichtungslager genannt
worden« (Kremer, in Vidal-Naquet, 1 98 1 : 258). Millionen
menschlicher Wesen wurden dort vernichtet. Vernichtet wurde
überdies eine Vielzahl von Mitteln, um das Verbrechen oder sein
Ausmaß zu beweisen. Und vernichtet wurde sogar die Autorität
des Gerichts, das beides ermitteln sollte; denn die Einrichtung
des Nürnberger Tribunals verlangte, daß die Alliierten siegreich
aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgingen, und da dies eine Art
Bürgerkrieg war (Descombes, 198 1 b : 741 ; Exkurs zur Men­
schenrechtserklärung von 1 789, § 5), der aus dem fehlenden
Konsensus in bezug auf die Rechtmäßigkeit in den internationa­
len Beziehungen entstand, konnte der Verbrecher in seinem
Richter nur einen Verbrecher mit größerem Waffenglück sehen.
Der Widerstreit, der sich an die NS-Namen, an Hitler, Ausch­
witz, Eichmann heftete, konnte nicht in einen Rechtsstreit ver­
wandelt und durch einen Urteilsspruch beigelegt werden. Die
Schatten all derer, denen durch die Endlösung nicht nur das
Leben, sondern auch der Ausdruck des ihnen zugefügten Un­
rechts verweigert worden war, irren weiter umher, als unbe­
sti�?lte Schemen. Mit der Staatsgründung Israels verwandelten
die Oberlebenden das Unrecht in einen Schaden und den Wider­
streit in einen Rechtsstreit, sie machten dem Schweigen, zu dem
104
DIE WIRKLICHKEIT DES UNRECHTS
.
sie verdammt waren, ein Ende, indem sie im gebräuchlichen
Idiom des internationalen Staatsrechts und der maßgeblichen
Politik das Wort ergriffen. Aber die Wirklichkeit des Unrechts,
das vor dieser Staatsgründung in Auschwitz erlitten wurde, blieb
und bleibt zu ermitteln, und sie kann nicht ermittelt werden,
weil das Unrecht eben nicht durch einen Konsensus erwiesen
werden kann (Nr. 7, 9). Von der Geschichtswissenschaft könnte
nur das Ausmaß des Verbrechens ermittelt werden. Aber die zur
Validierung nötigen Dokumente wurden selbst I weitgehend [90]
vernichtet. Das zumindest kann ermittelt werden. Daraus folgt,
daß man den zahlenmäßigen Beweis für das Massaker nicht
erbringen kann und daß ein Historiker, der für das Revisionsver­
fahren eintritt, noch lange den Vorwurf wird erheben können,
daß das Verbrechen in seinem ganzen Ausmaß nicht ermittelt ist.
- Aber das der Erkenntnis auferlegte Schweigen verlangt nicht
das Schweigen des Vergessens, sondern ein Gefühl (Nr. 22).
Angenommen, ein Erdbeben zerstört nicht nur Leben, Bauwer-
ke, Gegenstände, sondern auch die Instrumente, mit denen man
direkt und indirekt die Erdbeben messen kann. Die Unmöglich-
keit der Quantifizierung versagt den Bewohnern nicht die Vor­
stellung einer äußerst großen tellmischen Kraft, sondern ruft sie
geradezu hervor. Der Wissenschaftler sagt, er wisse nichts da-
von, die große Masse der Menschen empfindet ein komplexes
Gefühl, das von der negativen Darstellung des Unbestimmten
hervorgerufen wird. Mutatis mutandis ist das Schweigen, das das
Verbrechen von Auschwitz dem Historiker abverlangt, für die
Mehrzahl der Menschen ein Zeichen. Die Zeichen (Kant-Ex-
kurse III und IV) sind keine Referenten, an die sich B edeutungen
heften, die sich im kognitiven Regelsystem validieren ließen; sie
zeigen vielmehr an, daß etwas, das in Sätze gebracht werden
muß, in den geltenden Idiomen nicht artikuliert werden kann
(Nr. 23). Wenn der Referent in einem Satz-Universum als ein
Zeichen situiert wird, so korreliert das damit, daß der Empfän-
ger im gleichen Universum als ein Betroffener und die Bedeu-
tung als ein ungelöstes Problem, als ein Rätsel vielleicht, ein
Geheimnis, ein Paradoxon situiert ist. - Dieses Gefühl beruht
nicht auf der nachweislichen Erfahrung eines Subjekts. Es kann
übrigens gar nicht nachgewiesen werden. Wie läßt sich jedenfalls
ermitteln, daß es existiert oder nicht existiert? Man stößt dabei
1 05
 5

DER REFERENT, DER NAME DIE WIRKLICHSTE WIRKLICHKEIT

auf Schwierigkeiten, die von den Idiolekten hervorgerufen wer­ Zerstörung der Realität? Nicht die Zeugenaussage, sondern den
den (Nr. 1 44, 1 45). Das Schweigen, das den Satz Auschwitz war nach ihrer Zerstörung (durch das Dilemma) verbleibend en Rest:
ein Vernichtungslager umgibt, ist kein Gemütszustand, sondern das Gefühl? Nicht den Rechtsstreit, sondern den Widerstreit?
ein Zeichen dafür, daß etwas Ungeäußertes, Unbestimmtes zu Offenkundig ja, wenn es wahr ist, daß es ohne Widerstreit keine
äußern bleibt. Dieses Zeichen bewirkt eine Verkettung von Geschichte gäbe, daß der Widerstreit aus einem Unrecht ent­
Sätzen. Die Unbestimmtheit der unabgegoltenen Bedeutungen, steht und sich durch ein Schweigen anzeigt, daß das Schweigen
die Vernichtung dessen, wodurch sie bestimmt werden könnten, darauf hinweist, daß Sätze schmerzvoll und unabgegolten auf ihr
der Schatten der Negation, der die Wirklichkeit bis hin zu ihrer Ereignis warten und dieser Schmerz das Gefühl ist. Aber der
Verflüchtigung aushöhlt, mit einem Wort: das den Opfern Historiker muß dann auch mit dem Monopol, das dem kogniti­
zugefügte Unrecht, das sie zum Schweigen verurteilt - all das, ven Regelsystem von Sätzen über die Geschichte eingeräumt
und nicht eine Gemütsverfassung, ruft nach unbekannten Sät­ wird, brechen und das Wagnis auf sich nehmen, auch dem Gehör
zen, um den Namen von Auschwitz weiter zu verketten. - Die zu schenken, was im Rahmen der Regeln der Erkenntnis nicht
»revisionistischen<< Historiker sind der Meinung, daß an diesen darstellbar ist. Jede Wirklichkeit enthält diese Forderung, inso­
[91] Namen nur die kognitiven Regeln zur I Ermittlung der histori­ fern sie unbekannte mögliche Bedeutungen enthält. In dieser
schen Wirklichkeit und zur Validierung seiner Bedeutung ange­ Hinsicht ist Auschwitz die wirklichste Wirklichkeit. Sein Name­
legt werden können. Wenn die Gerechtigkeit nur in der Beach­ markiert die äußerste Grenze, an der sich die Kompetenz der
tung dieser Regeln bestünde und die Geschichte nur Anlaß zur Gesch!chtswissenschaft zurückgewiesen sieht. Daraus folgt
Geschichtswissenschaft gäbe, könnte man sie keiner Rechtsver­ nicht, daß man in den Bereich des Un-Sinns eintritt. Die Alter­
weigerung anklagen. Denn sie verfolgen eine konformistische native lautet nicht: entweder die von der Wissenschaft aufge­
Rechtsprechung, sie machen ein positiv gegebenes Recht gel­ stellte Bedeutung oder die Absurdität, Mystik eingeschlossen
tend. Da sie sich darüber hinaus als Kläger verstehen, die nichts (White, 1982; Fackenheim, 1 968). I [92]
zu beweisen haben (Nr. 1 0, 1 1), vertreten sie das Negative,
widerlegen sie die Beweise, und das ist ihr gutes Recht als
Verteidiger. Wenn sie aber nicht von der Tiefe des Schweigens
,
selbst, auf das sie sich in ihrem Plädoyer berufen, beunruhigt
werden, so muß man darin ein Unrecht erkennen, das dem
Zeichen, das heißt diesem Schweigen und den von ihm aufgeru­
fenen Sätzen, zugefügt wird. Sie werden entgegnen, daß man mit
Gefühlen keine Geschichte betreibt, sondern sich an die Fakten
zu halten habe. Aber mit Auschwitz ist etwas Neues in der
Geschichte passiert, das nur ein Zeichen und keine Tatsache sein
kann, nämlich daß die Tatsachen und Zeugenaussagen, die die
Spur des Hier und des fetzt trugen, die Dokumente, die auf die
Bedeutung(en) der Tatsachen schließen ließen, daß die Namen
und letztendlich die Möglichkeit verschiedenartiger Sätze, deren
Zusammenschluß die Wirklichkeit ausmacht, daß das alles so
weit wie möglich vernichtet wurde. Hat ein Historiker nicht
allein den Schaden, sondern auch das Unrecht zu berücksichti­
gen ? Nicht die Realität, sondern die Meta-Realität
- .- - , nämlich die

106 107
 ". r 5
Die Darstellung
94
Nicht das denkende oder reflexive Ich [je] hält der Prüfung des
alles umfassenden Zweifels stand (Apel, 1981 ), sondern der Satz
und die Zeit. Aus dem Satz: Ich zweifle folgt nicht, daß ich bin,
es folgt vielmehr, daß es einen Satz gab. Ein anderer Satz (der
eben gelesene: Es gab einen Satz) hat den ersten fortgesetzt,
indem er sich als der darauf folgende darstellte. Und ein dritter,
der eben gelesene I Es gab einen Satz I folgt auf I Ich zweifle I
hat die beiden ersten weiter verkettet, indem er deren Verket­
tung im Sinne der Form der geordneten zeitlichen Reihe darstell­
te (Es gab . . . , folgt auf . . . ).
85
Ieh zweifle ist kein erster Satz, ebensowenig wie je pense oder es
denkt oder cogitatur oder <pgal;ETaL Aus zwei Gründen. Er­
stens : Ieh zweifle setzt ich und zweifle voraus, oder je und pense
usw. Und jeder dieser >>Terme« setzt selbst andere Sätze voraus:
Definitionen, »Anwendungs«-Beispiele. Er setzt den Sprachzu­
sammenhang [Iangage] voraus, das heißt die Totalität von mögli­
chen Sätzen in einer Sprache [Iangue ]. Wie alle Totalitäten ist die
Sprache [Iangage] der Referent eines deskriptiven Satzes, ein
Referent, dessen Wirklichkeit mangels eines ostensiven Satzes
nicht bewiesen werden kann (der deskriptive Satz des Ganzen ist
ein Satz, der sich auf eine Idee im kantischen Sinne bezieht).
Denn man kann beschreiben : Die Sprache ist dies und das, nicht
aber zeigen: Und das hier ist die Sprache. Die Totalität ist nicht
vorzeigbar. Und der zweite Grund: Um zu verifizieren, daß Ich
zweifle oder jeder andere vermeintlich erste Satz wirklich der
108
1 .
s
ICH ZWEIFLE
erste ist, muß man zumindest die Ordnungsreihe von Ereignis-
sen voraussetzen, die die Bedeutung des Prädikats erster be-
dingt. Nun resultiert diese Reihe selbst, wie Wittgenstein hin­
sichtlich der logischen Sätze darlegt, aus einer allgemeinsten
>>Form des Überganges I von einem Satz zum anderen« (Trac- [93]
tatus: 6.01). Diese Form ist eine Operation, mittels deren sich
die Reihe der ganzen Zahlen entwickelt (Tractatus: 6.02). Diese
Operation muß immer auf ihr Resultat anwendbar sein. Nun ist
damit die Abfolge selbst bereits vorausgesetzt, insofern das
Immer das Prinzip der Rekursivität der Anwendung der Opera-
tion auf ihr Resultat konnotiert. Entsprechend der Operator der
Reihe : und so weiter (Tractatus: 5.2523). Auf diese Weise setzt
die Behauptung eines ersten Satzes die zeitliche Reihe von Sätzen
voraus, als deren erster sich jener Satz darstellt.
96
Man müßte hinzufügen : Der Satz Ich zweifle setzt nicht nur die
Sprache [Iangage] und den seriellen Operator (die Abfolge)
voraus, sondern auch einen früheren Satz, an den er anknüpft,
indem er das Regelsystem transformiert, in dem der frühere Satz
sein Universum darstellte. Das >>gleiche« Universum, das be­
hauptet wurde, ist nun problematisch. Neben diesem früheren
und vorausgesetzten Satz klingt eine Frage mit an (Ducrot, 1 977:
33-43), die auf ihn bezogen ist: Was ist nicht bezweifelbar?
97
Aber der Satz, der die allgemeine Operationsform des Ü ber­
gangs von einem Satz zum anderen formuliert, kann als ein
Apriori der Reihenbildung vorausgesetzt werden, und dennoch
findet er nach dem Satz satt, der den Übergang selbst formuliert.
In Nr. 94 zumindest ist dies der Fall, wo der Satz, der die
Übergangsform zwischen dem ersten und dem zweiten Satz, im
vorliegenden Fall die Reihe, formuliert, erst an dritter Stelle
erscheint. Wie kann das Vorausgesetzte später erscheinen? Muß
man nicht eine logische oder transzendentale Vorgängigkeit und
eine chronologische Vorgängigkeit unterscheiden? - Das ist
immer möglich und zweifellos notwendig, wenn der Einsatz
1 09
 DIE DARSTELLUNG
darin besteht, daß sich der Übergang von einem Satz zum
anderen innerhalb des logischen oder kognitiven Regelsystems
(insbesondere der Implikation) vollzieht. Eine Regel dieses Re­
gelsystems schreibt dann vor, die Tatsache zu vernachlässigen,
daß die apriorischen logischen Sätze oder die Definitionen und
Axiome selbst von Sätzen der Umgangssprache dargestellt wer­
den, die ihnen zeitlich vorausgehen. Eine Regel lautet, daß man
sogar den Chronismus - und wäre es ein Metachronismus -
vernachlässigen kann, der in der Idee der logischen Vorgängig-
[94] keit unbefragt bleibt (etwa in der Operation I wenn, dann). Im
Unterschied zum Logiker oder zum theoretischen Linguisten
gilt für den Philosophen die Regel, daß er sich von folgender
Tatsache nicht abwenden darf: daß nämlich der Satz, der die
allgemeine Operationsform des Übergangs von einem Satz zum
anderen formuliert, selbst dieser Operationsform des Übergangs
unterliegt. Kantisch gesprochen : daß die Sythese der Reihe
selbst ein Bestandteil der Reihe ist (Kritik der reinen Vernunft:
>>Kritische Entscheidung des kosmologischen Streits der Ver�
nunft mit sich selbst« ; KR V: 464). Protagoräisch gesprochen:
daß die Debatte über die Reihe von Debatten selbst zu dieser
Reihe gehört (Protagoras-Exkurs). Und mit Wittgenstein ge­
sprochen : >>Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen«; >>Das
Bild ist eine Tatsache<< und: >>Das logische Bild kann die Welt
abbilden« (Tractatus: 1 . 1 , 2 . 1 4 1 , 2 . 1 9). (Allerdings darf man den
Satz nicht >>Bild<< nennen. Später hat Wittgenstein dies aufgege­
ben; cf Nr. 133.)
98
Die Regel des philosophischen Diskurses schreibt die Entdek­
kung seiner Regel vor: sein Einsatz ist sein Apriori. Es geht um
die Formulierung dieser Regel, sie kann nur am Ende formuliert
werden, wenn es ein Ende gibt. Die Zeit kann also aus diesem
Diskurs - will er philosophisch bleiben - nicht ausgeschlossen
werden. Umgekehrt ist die Zeit aus dem logischen Diskurs
prinzipiell ausgeschlossen. Kant fordert, die Klausel zugleich
aus dem Wortlaut des Widerspruchsprinzips auszuschließen:
Die Validität des Widerspruchsprinzips ist keiner Bedingung der
Möglichkeit von Erfahrung untergeordnet, da sich das Prinzip
110
KANT I
auf jedes gegebene oder nicht gegebene mögliche (intelligible)
Objekt bezieht (KRV, >>Von dem obersten Grundsatze aller
analytischen Urteile« : 1 97). Dagegen beobachtet Heidegger,
daß die Klausel erhalten werden muß, da es sich, wie er meint,
nicht um eine Identität des Objekts (des Seienden) in der Zeit
(innerzeitlich) handelt, sondern gerade um die Möglichkeit der
Identifizierung eines Objekts. Was dieses letztere auch sein mag,
seine Identifizierung als Objekt verlangt eine Synthese der rei­
nen Rekognition (Heidegger, Kant und das Problem der Meta­
physik: § 33 c, 34), die garantiert, daß es sich um das gleiche
Objekt gehandelt hat und handeln wird. Heidegger ordnet somit
das Widerspruchsprinzip einer transzendentalen - und nicht
formalen - Logik zu. Das Problem der ersteren liegt in der
Konstitution eines Objekts, das über verschiedene Ansichten
(>>Anblicke<<, schreibt er) zu verschiedenen Jetzt-Zeitpunkten
hinweg mit sich selbst identisch ist. Darum identifiziert Heideg-
ger die konstituierende Zeit mit I dem Vermögen zu Gegenstän- [95]
den überhaupt, mit der transzendentalen (produktiven) Einbil­
dungskraft oder dem Vermögen der >>Darstellung<< . Kann man
aber Vermögen annehmen, wenn deren Idee ein Subjekt voraus-
setzt, dessen Organe sie sind?
KANT I
Die metaphysische Illusion bestünde darin, eine Darstellung zu behan­
deln, als sei sie eine Situation (Nr. 1 15, 1 1 7). Die Philosophie des
Subjekts trägt ihren Teil dazu bei.
Die Idee eines (unmittelbar) Gegebenen ist eine Art und Weise, die
Idee einer Darstellung aufzunehmen und zu beurteilen. Eine Darstel­
lung stellt für niemanden ein Universum dar, sie ist das Ereignis seiner
(unfaßbaren) Gegenwart. Ein Gegebenes ist für ein Subjekt gegeben,
das es entgegenimmt und mit ihm umgeht. Mit ihm umgehen bedeutet
es situieren, es in ein Satz-Universum plazieren. Man begegnet dieser
Operation zu Beginn der transzendentalen Ästhethik (Kritik der reinen
Vernunft, B § 1).
Die Anschauung ist der unmittelbare Bezug der Erkenntnis zu den
Gegenständen. Dieser Bezug stellt sich nur dann her, wenn >>UnS<< die
Gegenstände gegeben sind. Diese unmittelbare Gabe vollzieht sich
ihrerseits nur, wenn das Objekt »das Gemüt auf gewisse Weise affi­
zier[t]« . Diese Weise ist die Empfindung. Nur vermittels der Empfin-
111
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DIE DARSTELLUNG
dung sind die Gegenstände dem Gemüt gegeben. In der Logik der
Philosophie des Subjekts muß also beim Subjekt eine >>Fähigkeit,
Vorstellungen (. . . ] zu bekommen« (oder Empfänglichkeit) vorausge­
setzt werden, eine Fähigkeit, vermittels der Sinnlichkeit von Gegen­
ständen affiziert zu werden.
Auf diese Weise installiert sich im Universum, das durch den qua­
si-Satz des sinnlich Gegebenen dargestellt wird, eine Empfänger-In­
stanz. Installiert: im Herzen des Subjekts der Erkenntnis, die ande­
rerseits als Verstand, Urteilskraft und Vernunft durch den kantischen
Satz als kategorische, schematische und ideelle Tätigkeit dargestellt
wird. Als tätiges situiert sich das Subjekt auf der Sender-Instanz der
Bedeutung.
Nun entfaltet sich die Tätigkeit bereits auf ästhetischer Ebene inner­
halb der Anschauungsformen. Die Empfindung liefert nur die Materie
der Erscheinung. Diese bietet nur Mannigfaltiges, Besonderes, da sie
nichts anderes als Empfindungseindruck, "Wirkung« des Gegenstands
auf das Vorstellungsvermögen ist. Keine Chance auf Allgemeingültig­
keit, was die bloße Empfindung betrifft. Gerüche und Farben, keine
Frage. Und wenn man hierbei verharrt, wird man nicht einmal Gegebe­
nes im eigentlichen Sinne erhalten, sondern flüchtige Sinneseindrücke,
Affekte, ohne Bezug zu Gegenständen. Bloße Zustände des »Ge­
müths«, Idiolekte. Bedrohlicher Empirismus, wie immer bei der Emp-
[96] fänglichkeit (bei der Weiblichkeit?). I
Tatsächlich - wenn man den Text Kants genauer ansieht - bedarf die
Konstitution des Gegebenen durch die Sinnlichkeit nicht eines Satzes
(oder quasi-Satzes), sondern deren zwei. Auch in der Sinnlichkeit gibt
es ein tätiges »Subjekt<<, diesmal in Sender-Position, seine Tätigkeit
drückt den Empfindungen Formen, Raum und Zeit, auf, die selbst
nicht gegeben sind. Indem die Materie dem raum-zeitlichen Filter
unterliegt, erhält sie ihrerseits eine Bedeutung, die sie selbst nicht
erzeugen konnte und die sie zur Erscheinung macht. Von einer senden­
den Instanz, dem tätigen Subjekt der Sinnlichkeit, erhält sie die Formen
von Raum und Zeit.
Die beiden ersten Seiten der transzendentalen Ästhetik fallen also in
zwei Momente auseinander. Jedes von ihnen ist als ein Satz-Universum
strukturiert. Das erste Moment: ein unbekannter Sender spricht Mate­
rie (im Sinne von: spricht Englisch) mit einem Empfänger, der für
diesees Idiom empfänglich ist, der es also vernimmt, insofern wenig­
stens, als er davon affiziert wird. Wovon spricht der Materie-Satz, was
ist sein Referent? Er hat noch keinen, er ist ein gefühlsmäßiger Satz,
seine referentielle Funktion ist nebensächlich, wesentlich ist seine
konative Funktion, wie Jakobsen gesagt hätte. Der Materie-Satz be­
zieht sich nur auf den Empfänger, das rezeptive Subjekt.
1 12
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KANT I
Zweites Moment: dieses Subjekt tritt nun in die Situation der sen­
denden Instanz ein; an den unbekannten Sender des ersten Satzes,
der folglich Empfänger geworden ist, richtet es den Raum-Zeit-Satz,
den Form-Satz, und dieser ist im Unterschied zum Materie-Satz mit
einer referentiellen Funktion ausgestattet. Sein Referent nennt sich
Erscheinung. Der Sinneseindruck ist, wie Kant schreibt, auf einen
»Gegenstand bezogen«, genannt Erscheinung. Die referentielle
Funktion, die sich dann zeigt, beruht auf der Fähigkeit des Sub­
jekts, auf der tätigen Fähigkeit, Zeitpunkt und Ort dessen anzuge­
ben, was durch seine Materie die Wirkung oder den Sinneseindruck
auf den Empfänger des ersten Satzes ausübt. Wir nennen dies die
ostensive Fähigkeit: Dort ist es, Eben geschah es. Dieser zweite Satz,
der die deiktischen Markierungen auf den über die Empfindung er­
haltenen Sinneseindruck wendet, heißt im Wortgebrauch Kants An­
schauung.
Die »Unmittelbarkeit« des Gegebenen ist, wie man sieht, nicht
unmittelbar. Die Konstituion des Gegebenen erfordert im Gegenteil
einen Rollentausch der Sender- und Empfänger-Instanzen, also zwei
Sätze oder quasi-Sätze, in denen jeweils der Sinneseindruck und die
(raum-zeitliche) Formgebung stattfinden. Diese Permutation betrifft
zwei Partner, abwechselnd Sender und Empfänger, und mittels dieser
dialogischen oder dialektischen Verknüpfung wird ein Referent, die
Erscheinung, gebildet.
Der »erste<< Sender aber, derjenige, der I das Subjekt über die Emp- [97]
findung affiziert, bleibt dem letzteren unbekannt. Das bedeutet, daß
das Materie-Idiom, sofern vernommen, vom Subjekt nicht verstanden
wird, und zwar in dem Sinne, daß dieses nicht weiß und nach Kant
niemals wissen wird, worauf sich der Sinneseindruck bezog, den es im
Satz des ersten (noumenalen) Senders empfindet. Um den Materie-Satz
mit einem »objektiven« referentiellen Wert zu versehen, muß man ihn
mittels eines zweiten quasi-Satzes ergänzen, des Form-Satzes, der ihn
aufgreift und an den ersten Sender zurückgibt. Dieser Satz spricht das
Raum-Zeit-Idiom. Vernimmt der erste Sender, nun Empfänger, seiner-
seits die Sprache der Anschauungsformen, in der das Subjekt zu ihm
spricht? Sind Raum und Zeit an sich gültig? Das Subjekt wird darüber
niemals Bescheid wissen, und deshalb ist der Gegenstand, den sein
quasi-Satz in die Referenz-Instanz versetzt, letzten Endes eine Erschei-
nung, deren Wirklichkeitswert, wenn nicht immer zweifelhaft, so doch
stets von den Validierungsverfahren abhängig sein wird (Analytik des
Begriffs und der Urteilskraft). Wenn es »intellektuelle Anschauung«
gäbe, wie Kant schreibt, so wäre das ganze Gebäude der Kritik völlig
überflüssig. Das Subjekt würde die Sprache des ersten Senders erkennen
und unmittelbar (wenigstens durch die Vermittlung eines einzigen
113
n rr t ur
t?'W
DIE DARSTELLUNG
Satzes, der in einer beiden Gesprächsteilnehmern bekannten Sprache
hervorgebracht wird) den referentiellen Wert des ersten Satzes ver­
stehen.
Daraus ergeben sich einige Implikationen. Zunächst haben wir ei­
nen Widerstreit zwischen dem ersten Sender und dem Subjekt. Das
Subjekt kennt sein Idiom - Raum-Zeit - und kann referentiellen Wert
nur dem Satz zubilligen, der in diesem Idiom hervorgebracht wird.
Aber es weiß, als sinnlich affizierter Empfänger, als Empfänglichkeit,
daß sich etwas, eine Bedeutung, von der anderen Seite her in Sätze zu
>Setzen< sucht und das im Raum-Zeit-Idiom nicht zustande bringt.
Deshalb ist die Empfindung ein Modus des Gefühls, das heißt ein
Satz, der auf seinen Ausdruck wartet, ein bewegtes Schweigen. Dieses
Warten wird niemals erfüllt, der Ausdruck, der stattfindet, wird in der
Raum-Zeit-Sprache hervorgebracht, die das Subjekt »spricht« und von
der es nicht weiß, ob es die des anderen ist. Dieser Widerstreit bemißt
sich am Verlust des Begriffs der Natur. Im zweiten Teil der Kritik der
Urtheilskraft wird dieser Begriff zur Geltung kommen, allerdings nur
als Idee, ohne daß irgendein Beispiel, irgendein offenkundiger · Fall
vorgezeigt werden könnte, um einen erfahrungsmäßigen Beweis dafür
zu liefern, daß der andere (das Ansieh) die dem Subjekt gegebenen
Zeichen in dessen (teleologischem) Idiom »Setzt« (»phrase«). Dies zu
vermuten, ist nicht verboten. Aber es ist nicht erlaubt, davon Kenntnis
zu besitzen, will man nicht der transzendentalen Illusion anheim­
fallen.
Nichtsdestoweniger entwickelt sich der Widerstreit mit dem Ansich
[9 8] - das zeigt die Analyse der Sätze aus der transzendentalen Ästhetik - I
nicht bis zu dem Punkt, an dem dessen Un-Sinn verbucht wird.
Verbucht wird dessen Schweigen, dessen Schweigen aber als sinnlich
wirkender, affizierender Satz und daher schon als Zeichen. Es kommt
zu keinem Bruch mit dem Empirismus, insofern der Empirismus dem
Prinzip zugehört, demgemäß das Subjekt zunächst Empfänger ist. Der
Bruch geschieht in der Zweiteilung des gegenstandsbildenden Satzes,
wobei die raum-zeitliche Formsetzung bezüglich der Materie, die die
Erscheinung ergibt, bei Kant (im Unterschied zu Hume) dem ersten
Sender in keiner Weise verpflichtet ist. Die Verknüpfung von Sinnes­
eindrücken durch die Gewohnheit oder die Kontiguität setzt Steue­
rungsregeln voraus, die nicht gegeben sind und also nicht dem Idiom
des ersten Senders angehören. Indem der Form-Satz, der Satz des
tätigen, sendenden Subjekts, dem Materie-Satz, in dessen Universum
das Subjekt Empfänger ist, übergestülpt wird, verdeckt der transzen­
dentale Idealismus den empirischen Realismus. Er unterdrückt ihn
nicht. Es gibt einen ersten Satz, und der rührt nicht vom Subjekt her.
Darum bleibt diese Verdeckung unbeständig.
114
. 7
KANT I
Prüft man den Aufbau der transzendentalen Ästhetik, so gelangt
man drittens zumindest dahin, den Begriff der »Darstellung<< bei Kant
noch einmal zu überdenken. Im theoretischen Bereich wird die Dar­
stellung eines Gegenstandes (der auf der Ebene der Äst?etik bere.its
konstituiert ist) gefordert, um ein bestimmendes Urtetl, das h�1ßt
einen Erkenntnis-Satz zu validieren. Diese Darstellung unterscheidet
das Kognitive vom Theoretischen im allgemeinen, das die Idee einbe­
greift, bei der die Darstellung unmöglich ist. Ob die Anschauung nun
a priori mit dem Begriff verbunden ist (der dann für konstruiert erklärt
wird) oder mittels der Erfahrung als bloßes Beispiel für den Begriff ­
»die Handlung der Hinzufügung der Anschauung zum Begriffe heißt
in beiden Fällen Darstellung (exhibitio) des Objekts, ohne welche (sie
mag nun mittelbar oder unmittelbar geschehen) es gar kein Erkenntniß
geben kann<< (Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, 1 .
Beilage, 2 . Abschnitt, S . 667). Die Darstellung ist also keine einfache
Ostension, sondern der Brückenschlag von einer Anschauung zu ei­
nem Begriff.
Die kantische Darstellung ist trotz ihres Namens keineswegs die
Darstellung eines Satz-Universums. Sie ist der Zusammenschluß zweier
Sätze unterschiedlicher Regelsysteme. Beispielsweise der Zusam­
menschluß eines ostensiven Satzes mit einem kognitiven, ein Zusam­
menschluß, der durch das Regelsystem der Erkenntnis erforderlich
wird: Man bedeutet etwas von einem Referenten und führt ein Beispiel
vor, das diese Bedeutung »Verifiziert<<. Das »Geschäft der Urteilskraft<<
besteht in der exhibitio, das heißt darin, »dem Begriffe eine korrespon­
dierende Anschauung zur Seite zu stellen<< (Kritik der Urtheilskraft,
»Einleitung<<, VIII). Allgemeiner noch setzt die Darstellung die Fähig­
keit voraus, das Beispiel oder den I Fall aufzufinden, der einer Regel [99]
entspricht, und ihn ohne Regel aufzufinden (Anthropologie in pragma­
tischer Hinsicht abgefaßt, § 44).
Diese Fähigkeit, auf nicht-bestimmende Weise zu urteilen, entfaltet
sich außerhalb des Gebiets der Erkenntnis, in der Sittlichkeit, wo das
gerechte Handeln allein durch die Anweisung des Sittengesetzes, das
jenes unbestimmt lassen soll, bestimmt werden muß; oder im ästheti­
schen Gefühl, das einen Gegenstand für schön oder erhaben erklärt,
und zwar im Vertrauen auf Lust oder Unlust, die dem einvernehmli­
chen oder unmöglichen Bezug zwischen dem Vermögen der Begriffe
und dem Vermögen zu Gegenständen entspringen. (Hier wäre noch
eine Unschlüssigkeit im kantischen Wortgebrauch zu verbuchen: das
Vermögen zu Gegenständen, die Einbildungskraft, wird auch »Vermö­
gen der Darstellung<< genannt [KUK: § 17 und 23].)
Die »Darstellung« ist im allgemeinen eine Hinzufügung, eine Zusam­
menfügung, eine Beiordnung, ein Vergleich zwischen einer aufgestell-
115

DIE DARSTELLUNG
ten oder unbekannten Regel und einer Anschauung (oder was an ihrer
Stelle s:eht; K:mt-Exkurs III). Das Subjekt stellt einer Regel -bestimmt
oder mcht - emen Gegenstand gegenüber, und zwar in Hinblick auf die
mögliche Validierung oder Entdeckung dieser Regel oder die Ermitt­
lung des Gegenstands. Die Darstellung vollzieht sich übrigens nur am
Subjekt, sie ist die Konfrontation von Werken des Subjekts mit anderen
Werken des Subjekts, abgesehen davon, daß deren Verbindung zwi­
schen heterogenen Vermögen stattfindet, das heißt zwischen Sätzen
unterschiedlicher Regelsysteme oder Diskursarten.
Nun fiJ?-?et dieses Dispositiv des Übergangs bereits in der transzen­
dentalen Asthetik statt: Es wird eine >>Brücke« geschlagen zwischen
�em yermögen, Sinneseindrücke aufzunehmen, und dem Vermögen,
ste mmels der Formen von Raum und Zeit zu koordinieren und zu
objektivieren. Diesbezüglich vermeldet die Verdoppelung oder Zwei­
teilung, von der bereits die Sinnlichkeit betroffen ist, daß das Subjekt
über keine Darstellungen, sondern nur über Vorstellungen verfügen
kann, und zwar nicht im theatralischen Sinne, wo diese einen abwesen­
den Gegenstand vertreten, sondern eher in dem juridischen Sinne, daß
die »Vermögen« unaufhörlich und wechselseitig vorstellig werden, sich
gegenseitig Vorhaltungen machen, sich beschweren, das heißt sich
wechselseitig kritisieren, indem sie ihre jeweiligen Gegenstände einan­
der entgegenhalten. Sie stehen einander also abwechselnd als Sender
und Empfänger gegenüber. Die Empfindung wäre nichts als ein nicht
ve.rmittelbarer Idiolekt, wäre sie nicht der Zurechtweisung durch die
reme Anschauung ausgesetzt. Diese bliebe ein vereinzelter ostensiver
Satz, würde sie nicht an den Ansprüchen der Einbildungskraft und des
Begriffs gemessen, und diese Vermögen besäßen ihrerseits keine schöp­
ferische oder kognitive Bedeutung, wenn sie sich nicht wiederum durch
die Sinnlichkeit zurechtweisen ließen usw.
Das Subjekt ist also nicht aktiv oder passiv, es ist beides zugleich, aber
es ist das eine oder andere nur insofern, als es - in einem Regelsystem
[100] von Sätzen befangen I sich selbst mit einem Satz eines anderen
-
Regelsystems konfrontiert und, wenn nicht nach den Regeln ihrer
Versöhnung, so doch wenigstens nach den Regeln ihres Konflikts
sucht, das heißt nach seiner immer bedrohten Einheit. Die einzige
Ausnahme ist offenbar die Empfindung, in der durch die Materie etwas
das >>Subjekt<< zu affizieren scheint, das nicht selbst aus diesem hervor­
?eht. Wi� haben jedoch gesehen, daß dieses Etwas sogleich als Instanz
m der Dtalektik der Satz-Universen situiert und als ein erster Sender
und als ein zweiter Empfänger behandelt wird, so daß sein »Geben•
zu� Moment eines Tausches abgewandelt wird.
Eme »Darstellung« ist mit Kant keine Präsentation sondern eine
Situierung (Nr. 1 14, 1 1 5, 1 16). Die Verdrängung der Da�stellung unter
116
1 I
1 • t 1
WoHLGEFORMTE SÄTZE
die Vorstellung (die Situation) wird durch die Lehre der Vermögen und
schließlich durch die Metaphysik des »Subjekts<< ermöglicht und for­
ciert. Die Fälle sind keine Ereignisse, sondern Vorladungsbescheide.
Die Frage des Es gibt, die für einen Augenblick mit dem sinnlich
Gegebenen aufgeworfen wird, wird schnell zugunsten der Frage ver­
gessen, was es gibt.
99
Dem Zweifel entgeht, daß es zumindest einen Satz, ganz gleich
welchen, gibt. Man kann ihn nicht negieren, ohne ihn nicht ideo
facto zu verifizieren. Es gibt keinen Satz ist ein Satz, Ieh lüge ist
ein Satz, wenn auch kein wohlgeformter Ausdruck (Koyre,
1947; Wittgenstein, Zettel: § 691 und 692). Was weiß ich ? ist ein
Satz. Der im A ugenblick artikulierte Satz existiert nicht ist ein
Satz (Burnyeat, 1976; Salanskis, 1 977). Als Vorkommnis be­
trachtet, entgeht der Satz den logischen Paradoxa, die sich aus
den selbstreferentiellen Propositionen ergeben. Diese Paradoxa
treten zutage, wenn man sie am Regelsystem wohlgeformter
Ausdrücke mißt, insbesondere an der Regel der Konsistenz
bezüglich der Negation (oder des Prinzips der Widerspruchs­
freiheit). Dieses Regelsystem verbietet, daß die propositionale
Funktion selbst zugleich ihr eigenes Argument sein kann (Trac­
tatus: 3.332, 3.333). Aber die Sätze sind keine Propositionen.
Die Propositionen sind die Sätze logischer und kognitiver Regel­
systeme. Ihre Bildung und ihre Verkettung unterliegt einem
Einsatz : die Wahrheit zu sagen. Die logisch wahre Proposition
ist >>sinnlos<< (Tractatus: 4.461, 6. 1 , 6. 1 1 , 6. 1 1 3), die kognitiv
wahre Proposition ist sinnvoll (durch ein Das ist der Fall unter­
liegt sie der Regel der Ostension). Nun läßt es die Selbstreferen­
tialität eines negativen Satzes nicht zu, dessen Wahrheit oder
Falschheit zu entscheiden (Russell, 1959: 84-98); I und die eines [101]
positiven Satzes gestattet den Beweis jeder beliebigen Aussage
(Curry; in : Schneider, 1 980). Aber die Sätze können anderen als
logischen und kognitiven Regelsystemen gehorchen. Ihr Einsatz
kann ein anderer als das Wahre sein. Bleibt es einem Satz versagt,
Proposition zu sein, so kann er darum durchaus ein Satz sein.
Daß es Propositionen gibt, setzt voraus, daß es Sätze gibt. Wenn
man sich darüber wundert, daß es eher etwas als nichts gibt, so
117
 DIE DARSTELLUNG
wundert man sich darüber, daß es eher einen oder mehrere Sätze
g�bt als: gar keinen. Und mit Recht. Die Logik ist »vor dem Wie,
mcht vor dem Was« (Tractatus: 5 . 5 5 2). Ein Satz ist ein Was.
100
Der Satz, der den Operator des Übergangs ausdrückt, verwen­
det die Konjunktion und (und so weiter, und so fort). Dieser
� usdruck signalisiert eine einfache Adjunktion, die Beifügung
emes Ausdrucks zu einem anderen, nichts weiter. Auerbach
(Mimesis, Kap. 2 und 3) sieht darin ein Merkmal »modernen<<
Stils, die Parataxis im Gegensatz zur klassischen Syntaxis. In der
Verknüpfung mit und folgen die Sätze oder Ereignisse aufeinan­
der, aber ihre Abfolge unterliegt keiner kategorialen Ordnung
(weil; wenn, dann; um zu; obwohl . . ). Ein Satz, der dem
.
vorangehenden durch und beigefügt wird, verkettet sich mit ihm
und tritt aus dem Ni�hts h�rvorr Die Parata�is konnotiert also
.
den Abgrund des Nichtsems, der sich zwischen den Sätzen
auftut, sie beharrt auf dem Erstaunen darüber, daß etwas be­
ginnt, wenn das, was gesagt wird, gesagt wird. Das und ist die
Konjunktion, die die Diskontinuität (oder das Vergessen), wie
sie der Zeit wesentlich ist, am bedrohlichsten erscheinen läßt,
gerade indem sie ihr mit der Kontinuität (oder der Retention)
entgegenwirkt, die gleichfalls wesentlich ist. Dies wird auch von
jenem Ein Satz zumindest (Nr. 99) signalisiert. Aber an die Stelle
des und kann man - bei gleichbleibender parataktischer Funk­
tion - ein Komma setzen oder gar nichts.
101
>> Der Satz entgeht der Prüfung des universalen Zweifels.« Aber
was vom Satz? Seine Wirklichkeit, seine Bedeutung? Und der
Satz: ist er dieser, der »aktuelle«, oder der Satz ganz allgemein?
Ich bemerke, daß Wirklichkeit, Bedeutung, aktuell, allgemein
Instanzen oder Quantitäten sind, die als Referenten in den von
diesen Fragen gebildeten Satz-Universen erscheinen. Ein Satz
�ppelliert an einen weiteren, ganz gleich welchen. Das ist es, der
Ubergang, der Satz und die Zeit (die Zeit im Satz der Satz in der
[ 102] Zeit), was sich der Prüfung des Zweifels entzieht. I Unbezwei-
118
»SOLLEN« UND >>MÜSSEN«
felba r ist weder die Bedeutung eines Satze s noch seine �
�
ir lich­
keit. Seine Bedeutung, da sie von der �erke�tung . .
mit eme�
l ch�eit,
anderen Satz abhängt, der sie erklären wrrd. Seme Wirk �
Wirk lich­
weil ihre Behauptung den Regeln zur Ermittlung der
lt vgl. den
keit unterliegt, die die Prüfung des Zweifels enthä �
es keme n Satz
Abschnitt: »Der Referent«). Unmöglich aber, daß
gibt.
102
Daß es keinen Satz gibt, ist unmöglich; notwendig gibt es: Und
ein Satz. Man muß verketten. Das ist keine Verpflichtung, kein
»Sollen« [im Original deutsch] , sondern eine Notwendigkeit,
ein »Müssen« [im Original deutsch]. Verketten ist notwendig,
wie verketten nicht (Nr. 13 5).
103
Die Notwendigkeit, daß es Und ein Satz gibt, ist nicht logisch� r
(Frage: Wie ?), sondern ontologischer (Frage: Was?) Natur. Sie
gründet dennoch auf keinerlei Evidenz (Apel). Diese würde
verlangen, daß ein Subjekt als ein von der Satzverkettung unab­
hängiger Zeuge bestätigen könnte, daß die Verkettung fortwäh­
rend stattfände. Eine dreifache Aporie: 1.) die Evidenz eines
Gegenstandes für einen Zeugen (das heißt der ostensive Satz,
.
dessen Sender er ist: Es ist der Fall) genügt nicht als Beweis für
die Realität dieses Gegenstands (Nr. 6 1-6 4); 2.) die Idee eines
»absoluten Zeugen einer Wirklichkeit« ist inkonsistent.
(Nr. 70); 3.) Und ein Satz ist kein Gegenstand, den man bezeu­
gen könnte, vielmehr eine Voraussetzung für die »Gegenstän­
de«, ihre »Zeugen« und den Rest.
104
\
Unter Ein Satz verstehe ich den Satz, der »der Fall« [im Original
deutsch] ist, den token-Satz, den Ereignis-Satz. Ein type-Satz ist
der Referent eines Ereignis-Satzes. Daß sich der Satz der Prü­
fung des universalen Zweifels entzieht, rührt weder von seiner
Wirklichkeit noch von seiner Wahrheit her, sondern beruht
119
..rssssssssssssss•n
• rssssss..ssssssssssrssss
rsss....sssssssssssssssssssssssssssssssss�er
sss•
rt•e-.sss�
DIE DARSTELLUNG
darauf, daß er nur das ist, was geschieht, what is occurring, >> das
Fallende<< [im Original deutsch]. Man kann nicht bezweifeln,
daß etwas geschieht, wenn man zweifelt: es geschieht, daß man
zweifelt. Und wenn: Es geschieht, daß man zweifelt ein anderer
Satz ist als : Man zweifelt, dann geschieht ein anderer Satz. Und
wenn man meint, daß er nicht geschieht, sondern geschehen ist,
dann geschieht, daß man das meint. Und um am Was zu zwei­
feln, ist es immer schon zu spät. Die Frage hat bereits ihre
[ 1 03] Antwort erhalten, eine weitere Frage. I
GERTRUDE STEIN
>>Ein Satz ist nicht emotional ein Absatz schon« (G. Stein: >>Sentences
and Paragraphes« [193 1 a], in How to write, 1931/1973). (Weil das
Gefühl die Verkettung ist, der Übergang. Das kann fallen, oder was?
Oder nichts, aber nichts wäre zuviel. Ein Satz, und und.) »Wenn zwei
Sätze ein Absatz sind so paßt ein kleines Stück ganz gut da sie besser
getrennt sind.« »Ein Absatz ist schon etwas Blödsinniges.« »Wenn es da
ist ist es da draußen. Das ist ein Gefühl kein Satz. II Aber das ist nicht
zu denken sondern zu verbinden.« >>Wegen der Sätze ist mir sehr elend.
Ich kann um Sätze weinen aber nicht um Zettel.« »Es ist recht schwierig
einen Satz zu retten.« >>Dies ist so leicht es ist eine Emotion also ein
Absatz. Ja also ein Absatz.« >>Die Sätze lassen Sie seufzen«. »Wenn ich
könnte würde ich einen Satz gebrauchen.« >>Ein Satz ist gerettet nicht
irgendein Satz nein nicht irgendein Satz noch nicht.« (Wenn Ein Satz
gerettet sein wird, wird Und ein Satz gerettet sein, und es wäre möglich,
daß dies dann gewonnen wäre.) >>Frag nie jemanden was ein Satz ist oder
gewesen ist.« >>Wir fühlen daß wenn wir wir sagen wir gehen werden. II
Dies ist eine einfache Bedeutung. Ein Satz der einfach ist gekreuzt mit
einer Bedeutung. II Ein Satz sagt du weißt was ich meine.« >>Du kannst
sehen daß ein Satz nie ein Geheimnis hat. Das Geheimnis wäre eine
Empfängnis. Sie empfangen nichts.« >>Wer weiß wie viele vorsichtig
gewesen sind. Sätze werden wunderbarerweise einer auf einmal ge­
macht. Wer macht sie. Niemand kann sie machen weil niemand kann
was irgend sie sehen.« >>All das macht die Sätze so klar daß ich weiß wie
ich sie gern habe. II Was ist ein Satz hauptsächlich was ist ein Satz. Für
sie ist ein Satz über uns mit uns alles was uns angeht wir werden alles
mögen was ein Satz ist. Ein Satz ist daß sie nicht vorsichtig sein können
es bleibt ein Zweifel dabei.« >>Die große Frage ist kann man einen Satz
denken. Was ist ein Satz. Er dachte einen Satz. Wer fordert ihn auf zu
kommen was er tat.«
120
�...
�
P.. 1 7
GERTRUDE STEIN
Kein Kommentar. Bereits die Auswahl zum Zwecke des Zitats ist
ruchlos. Noch ein oder zwei Anmerkungen.
Eins. Der Absatz (Paragraph) ist im Deutschen eine Einteilung (und/
oder ihr Zeichen) in der Schrift. Er trennt, was er vereint. Das entspre­
chende griechische Wort bedeutet, was daneben geschrieben ist. IIaQa­
YQU!llla (paragramma) ist eine zusätzliche Gesetze� - oder Ver�r�gs­
klausel. IIaQayQacpf] (paragraphe) eine Ausnahme, dte der Vertetdtger
der Zulässigkeit einer Klage entgegenhält. IIaQayQacpnv (paragra­
phein): eine Klausel hinzufügen, insbesondere in betrügerischer Ab­
sicht (Liddell-Scott).
Zwei. Einen Absatz machen [paragrapher] heißt Und, Und übrigens,
Und doch . . . schreiben. I Der Widerstreit wird ins Zentrum dessen [ 1 04]
eingeführt, wodurch der Rechtsstreit beigelegt werden soll, zwischen
dem Gesetz und dem beanstandeten Fall.
Drei. »Es ist draußen. Das ist ein Gefühl. Aber das ist nicht zu
denken sondern zu verbinden.« Die Verkettung ist zweifelhaft, dumm,
denkt sich nicht, ohne Regel.
Vier. Ein Satz ist nicht geheimnisvoll, er ist klar. Er sagt, was er sagen
will. Genauso wird er von keinem >>Subjekt<< gemacht (um etwas zu
sagen). Er ruft seine Sender und Empfänger auf, und sie nehmen in
seinem Universum Platz.
Fünf. >>Einer auf einmal wunderbarerweise.« Das Wunder [la mer­
veille] ist das Mal, das Vorkommnis. Lateinisch vice, englisch weak,
deutsch weichen, Wechsel (?). Ein Satz ist das Ereignis, eher etwas als
nichts, das den Platz überläßt: die Schwäche. In »Saving the sentence«
(1931 b): >>Ein Satz hat Wünsche wie ein Ereignis«. Seine Wünsche:
seinen Platz einem anderen überlassen, invice.
Sechs. Den Satz retten: ihn aus den Diskursen herausziehen, in die er
durch Verkettungsregeln gebannt bleibt und einbehalten wird, von
ihrer Verpackung umhüllt, von ihrem Zweck verführt. Ihn sein lassen.
Wie Cage es für die Töne schreibt. In >>Sentences and Paragraphes«
( 1 931 a): >>Nichts ist laut.« Wie in Stille.
Sieben. Die Ruchlosigkeit des Auswählens von Sätzen aus dem Text
von Gertrude Stein: »Ich« benütze sie, mache sie einer Argumentation
gefügig, einem Diskurs, der die Sätze unterjocht, der die Abgründe in
>>meinem« Text auffüllt, sie trennt und von weit her vereint. In Steins
Text ist ein Satz ein Mal, ein Ereignis, er geschieht: Die Angst, daß das 1
nicht wieder beginnt, daß das Sein stockt, zerrt die Absätze ausein­
ander.
Acht. Die >>weibliche Schreibweise« : einschreiben, daß das nicht
aufgefüllt werden kann, von Satz zu Satz? Wäre das eine Diskursart, ein
Genre?
Neun. Dies sind gewöhnliche Sätze genauso wie metasprachliche:
121
 '! a 7 :? 'ZS' ...,. , 7
5 7 7

DIE DARSTELLUNG DEFINITION DES SATZES

>>Das ist sehr gut sie machen es mit Butter. Ich mag es lieber ohne 1 07
.
� utter.«. U?d Ihr Ab-Setzen: »Was ist ein Satz mit Tränen. Verwendet
Geben Sie eine Definition dessen, was Sie unter Satz verstehen. ­
s1e Rot m Ihrer Stickerei Rot in ihrer Stickerei.«
Eine Definition ist ein Satz, der logischen und kognitiven Regeln
folgt. Aber Ihr Geben Sie eine Definition . . . beispielsweise ist
1 05 ein präskriptiver Satz, der diesen Regeln nicht folgt. - Mag sein.
Das verschlägt keineswegs, daß Sie eine Definition dieses Prä­
Daß Und ein Satz notwendig ist, bedeutet, daß die Abwesenheit
skriptivs geben können. Es besteht keine Notwendigkeit, daß
von Sätzen (das Schweigen usw.) oder die Abwesenheit von
das Definierte und die Definition dem gleichen Satz-Regelsy­
V �rkettungen (der Anfang, das Ende, die Unordnung, das
stem angehören müssen. - In der Tat. Aber es besteht eine
Nichts usw.) ebenfalls Sätze sind. Was unterscheidet diese Sätze
Notwendigkeit, daß der Stellenwert eines Satzes, der Gegen­
hier von anderen? Mehrdeutigkeit, Gefühl, >>Wünsche<< (Aus­
[ 105] ruf) usw. (Nr. 22, 23 ; und der Exkurs zu Gertrude Stein). I stand einer Definition ist (der als Referent eines definitiorischen
Satzes begriffen wird), dadurch abgewandelt wird, daß man ihn
als Referent eines anderen Satzes, des definitorischen, begreift,
1 06 der metasprachlicher Natur ist (Nr. 43, 45, 46). Um die Anwei­
sung Geben Sie eine Definition des Satzes zu validieren, muß
Geben Sie eine Definition dessen, was Sie unter Satz verstehen. ­
man eine Definition des Satzes geben. Wenn man als Antwort
Mit einer derartigen Vorschrift setzen Sie einen Gegenstand
darauf hinweist, daß diese Anweisung ein Satz ist, der nicht dem
namens Satz voraus, den Typus-Satz. Sie setzen ebenfalls vor­ Regelsystem logischer und kognitiver Sätze unterliegt, so situ­
aus, daß eine vollständige Beschreibung von ihm geliefert wer­
iert man diese Anweisung als Referent des »aktuellen<< Satzes,
�.en muß, damit wir die Beweisführung antreten und zu einer man macht aus ihm ein Gegenbeispiel eines I logischen und [106]
Ubereinstimmung bezüglich der Natur dieses Gegenstands ge­
k � gnitiven Satzes. Diese Anweisung ist nicht validiert, mit ihrer
lan� en können, nicht wahr? Erlauben Sie mir, Sie darauf hinzu­
Etgen� chaft als Referent eines ostensiven Satzes (Hier liegt der
weisen: 1 .) daß die Ersetzung eines Ereignis-Satzes durch einen .
Typus � Satz (oder den Gegenstand Satz) von einem Regelsystem F_all emes mcht-kognitiven Satzes vor) dient sie zur Validierung
. e �nes anderen, deskriptiven Satzes (Manche Sätze entsprechen
von S ��zen verlangt wird, dem definitorischen Regelsystem .
. . emem mcht-kognitiven Regelsystem; Kaut-Exkurs II, § 1 ) . Nun
(man fuhrt m den D1skurs nur solche Ausdrücke ein die als
vollziehen Sie die gleiche metasprachliche Operation mit Ein
Objekte einer Metasprache verstanden werden, von de�en man
Satz. Sie nehmen den Ausdruck Ein Satz als einen Satz. Sie
ge?au bestimmte Beschreibungen ermittelt hat), und durch eine
berauben ihn seiner >>Aktualität<< (ich sage nicht: seines Kontex-
J:?Iskursart erforderlich wird, die dialogische. Ihre Vorschrift ist tes; cf. Nr. 1 4 1 ), seiner referentiellen und >>pragmatischen<<
eme der Regeln dieses Regelsystems und dieser Diskursart.
Verfü�t si� über herausragende Autorität (Platon-Exkurs)? 2.)
�ragweite als Ereignis, das viele Arten möglicher Sätze aufruft.
Ste verfügen, daß ich den Satz mit einem definitorischen meta­
Daß dte Diskursart (wenn es eine gibt), nach der sich die Sätze
. sprachlichen Satz fortsetzen soll. Sie haben das Recht daz� . Aber
d.es vorhegenden Buches richten, anscheinend nicht das definito­
behalten Sie im Auge, daß dies eine Anweisung, ein Befehl ist.
n sche �e ��lsyste� p rivilegiert. Die Frage lautet: Wie läßt sich
.
d1e Deftmtwn deftmeren? Ein endloses Zurückschreiten inner­
halb der logischen Rangfolge, wenn man nicht auf eine Entschei­
1 08
dung ode� eine Konvention zurückgreift. Ein endloses Voran­
.
sc�reaen m der Abfolge der Ereignis-Sätze, und dabei gibt es Mangels einer Definition von Satz wird man nie wissen, wovon
keme Ausnahme, es gibt die Zeit (Descombes, 1981 b). man spricht und ob man von der gleichen Sache spricht. Und Sie

122 123
 'P t 5
r 17
DIE DARSTELLUNG
selbst, Sie gebrauchen ebenfalls eine Metasprache, wenn Sie von
Sätzen sprechen ? - Es ist nicht leicht zu erfahren, worüber man
Sätze bildet (Antisthenes-Exkurs), aber es ist unbezweifelbar,
daß >>man Sätze bildet<<, und wäre es nur, um es zu erfahren. Und
was die Metasprache angeht, um die es in >>meinen<< Sätzen hier
geht, so nimmt sie keinen logischen Status ein, sie hat nicht die
Funktion, die Bedeutung eines Ausdrucks festzulegen. Sie be­
ruft sich auf die Fähigkeit der normalen Sprache, sich auf sich
selbst zu beziehen: Ich habe die Nase voll von deinen I viel­
leicht I; /Maria I ist ein Eigenname; Sein /Ich liebe Sie I war
bloße Komödie (Rey-Debove, 1978).
1 09
Dies alles sind Sätze (wir verzichten hier für diesmal auf den
Kursivdruck, der ihren autonymischen Charakter kennzeichnen
sollte) : Es ist Tag; Reich mir das Feuerzeug; War sie hier?; Sie
kämpften bis zur letzten Patrone; Könnte er doch dem Unwetter
entkommen! ; Ist der Satz I Es gibt einen Satz I denotativ?; ax' +
bx + c 0 ; Au!; Aber ich wollte eben . . . ; Du glaubtest vielleicht,
= Liebe, des Todes. Die »Weiblichkeit<< oder >>Tierhaftigkeit<< als
daß ich . . . ? ; Es gibt einen Satz; Dies ist kein Satz; Dies alles sind
Sätze.
110
Die jungen Skythen haben den Auftrag, den Amazonen, den
guten Kriegerinnen, Kinder zu machen. Einer von ihnen über­
rascht eine Kämpferin gerade in dem Augenblick, in dem sie sich
entfernt, um ihre Notdurft zu verrichten. »Sie stieß ihn nicht
[1 07] von sich, sondern erwies sich ihm willig.<< I Und bittet ihn, am
nächsten Tag wiederzukommen : xat qJWvfloat f1EV ovx dXE (ov
Y?-Q ouv(wav a/,1,�/,wv), Tft öf: XELQt EqJQUSE (Herodot, Histo­
nen, IV, 1 13): >>Reden konnte sie zwar nicht' denn sie verstanden
einander nicht; aber mit der Hand >setzte< s ie einen Satz.«':- Das
deutsche au, das italienische eh, das amerikanische whoops sind
,,_ Zur Erlä� terung des griech. <pQUSELV (frz. : phraser) weicht LYo­
TARDS Wiedergabe von akademischen Übersetzungen ab (A. d. Ü.).
124
Ost
SATZ UND ScHWEIGEN
Sätze. Ein Augenzwinkern, ein Achselzucken, ein Fußwippen,
ein flüchtiges Erröten, ein Anfall von Herzklopfen �önnen Sätze
.
sein. - Und das Schwanzwedeln eines Hundes, die gespitzten
Ohren einer Katze? - Und ein Regenschauer, der von Westen
über das Meer aufzieht? - Ein Schweigen (Nr. 24, 26)? - >>EL ö'
asuv�f1WV oiioa !!YJ öExn Myov - lau ö' avd qJWVfl� qJQUSE
xagßavcp XEQL « (Aischylos, Agamemnon, 1 055-1 061). D �r aus
Troja zurückgekehrte Agamemnon hat gerade den Atnden­
Palast betreten und Kassandra, seine Gefangene, regungslos auf
dem Wagen zurückgelassen. Klytämnestra bittet sie ihrerseits
einzutreten. Kassandra, gänzlich der Vision des bevorstehenden
Verbrechens hingegeben, hört und antwortet nicht: >>Sie ist wie
ein Stück Wild, frisch nach dem Fang<< (1 063). Die Königin wird
ungeduldig : >>Doch wenn du, unbegreifend, nicht aufnimmst
mein Wort, I [>setze<] statt des Lautes einen [Satz] mit der
Barbarenhandk - Das Schweigen als Satz. Die Erwartung des
Geschieht es? als Schweigen. Das Gefühl als Satz desjenigen, der
augenblicklich keinen Satz äußern [phraser] kann. Die unmittel­
bare Unmitteilbarkeit des Verlangens, des Mords. Der Satz der
Leerstelle der Rede (Myo�, qJOV�). Das Aussetzen der Verket­
tung. Komisch: die Amazone auf dem Abort, und zugleich
tragisch: die Königin, die sich zum Mord anschickt.
111
Ein Satz stellt zumindest ein Universum dar (Nr. 1 8, 25). Er
führt ein Es gibt mit, welchen Regelsystemen er auch immer
unterstehen mag. Es gibt das, was bedeutet wird, wovon, für
wen und durch wen dies bedeutet wird: ein Universum. Zumin­
dest ein Universum, denn die Bedeutung, der Referent, der
Sender, der Empfänger können mehrdeutig sein (Nr. 1 3 7-140).
1 12
Der Ausdruck: Es gibt wäre eine Markierung der Darstellung in
einem Satz. Gibt es noch andere Markierungen einer Darstel-
lung? I [108]
1 25
2 r
DIE DARSTELLUNG
113
K �nnte man die i n einem Satz mitgeführte Darstellung das
Sem nennen? Aber er ist eine Darstellung, oder: was in einem
Fall-Satz der Fall ist. Das Sein wäre ein Fall, ein Vorkommnis,
die »Tatsache«, daß dies >>fällt«, daß dies >>sich begibt<< (frz.
cas, engl. occurence). Nicht das Sein, sondern ein Sein, ein
Mal.
114
Eine Darstellung kann in einem Satz-Universum als Instanz
dargestellt werden. Das Sein kann also als ein Seiendes darge­
stellt werden. Aber der Satz, der es darstellt, führt selbst eine
Darstellung mit, die er nicht darstellt. Kann man vielleicht
sogar sagen, daß sich diese entzieht oder aufgeschoben wird?
Das hieße voraussetzen, daß sie in mehreren Sätzen dieselbe
ist. Die vereinheitlichende Wirkung des bestimmten Artikels:
die Darstellung.
1 15
Eine Darstellung bedeutet, daß es zumindest ein Universum
gibt. Eine Situation bedeutet, daß sich im Zentrum des von
einem Satz dargestellten Universums Relationen ergeben, die
durch die Form von daran anknüpfenden Sätzen (durch das
Regelsystem des Satzes, das bestimmte Verkettungen verlangt)
angezeigt werden; Relationen, die die Instanzen untereinander
in Beziehung setzen. Ich habe ihn gesehen ist ein Satz, der drei
der Instanzen situiert (die Empfänger-Instanz wird durch den
Satz nicht angezeigt), und diese Situation besteht insbesondere
in der Bestimmung eines Zeitpunktes. Dort habe ich ihn gese­
hen bestimmt insbesondere ein Raum-Zeit-Gefüge, in dem
ebendiese drei Instanzen situiert sind. Ieh sage dir, daß ich ihn
dort gesehen habe situiert insbesondere die Sender-Position,
und zwar dank des >>Konstativs<< : Ich sage dir, daß . (Haber­
. .
mas, 1 971 : 1 1 1 f. ). Die Form von Sätzen zeigt an, wie die
Instanzen im Verhältnis zueinander situiert sind. Die Gesamt­
heit dieser Situationen bildet das dargestellte Universum.
126
t I I
SITUATIONSFAMILIEN
1 16
Die in einem Fall-Satz mitgeführte Darstellung wird nicht in
dem Universum dargestellt, das dieser Satz wiederum dar­
stellt (sie kann aber im Satz markiert sein, beispielsweise
durch Es gibt). Sie ist nicht situiert. Ein anderer Fall-Satz
aber kann sie in einem anderen Universum darstellen und al­
so situieren.
117
Die Kategorien von Aristoteles, Kant und anderen sind Situa­
tionsfamilien oder -arten, das heißt Familien oder Arten von
Relationen zwischen den Instanzen, die in einem Satz-U niver-
sum dargestellt werden. Man hat sie I Gattungen [genres] oder (1 09]
Modi der Darstellung (oder des Seins) genannt, wenn auch
mißbräuchlich (Aubenque: 1 76-1 80). Die Darstellung eines Sat-
zes erfährt eine Bestimmung durch Gattungen [genresy· nur
dann, wenn sie im Universum eines anderen Satzes situiert wird,
das heißt als dargestellte Darstellung. Deshalb sind die Darstel­
lungsgattungen, wenn es welche gibt, nur als Situationsgattun-
gen darstellbar.
118
Nehmen wir der Einfachheit halber zwei Sätze : (1) und (2), die
folgendermaßen miteinander verkettet sind : Satz ( 1 ) stellt ein
Universum dar, er führt eine Darstellung mit; Satz (2) bedeutet
etwas bezüglich der Darstellung von Satz ( 1 ) ; er stellt ein Uni­
versum dar, in dem die Darstellung von Satz (1) als - sagen wir
- Referent situiert ist. Die Darstellung (1 ), die dargestellt wird,
ist in (2) nicht mitgeführt; die in (2) mitgeführte Darstellung
wird dort nicht dargestellt. Eine dargestellte Darstellung und
eine mitgeführte Darstellung machen also nicht zwei Darstel­
lungen aus. Ein Komplex von zwei Darstellungen wird von
zwei Darstellungen gebildet, die durch ein und denselben Satz
':- Das heißt auch: Diskursarten (A. d. Ü.); cf. S. 13.
127
 . 1 rr r 5 •
DIE DARSTELLUNG
dargestellt werden, nämlich durch einen Satz (3). Die in diesem
mitgeführte Darstellung gehört nicht zum Komplex der Darstel­
lungen (1) und (2), die er darstellt, oder: die Sythese der Reihe
der von einem Fall-Satz dargestellten Darstellungen führt eine
Darstellung mit, die sich nicht in die von diesem Fall-Satz
dargestellte Reihe fügt. Sie ist aber in einem anderen Fall-Satz
darstellbar. Und so fort.
119
Das Universum, das ein Satz darstellt, wird nicht gegenüber
etwas oder jemandem als einem >>Subjekt« dargestellt. Das
Universum ist da, insofern der Satz der Fall ist. Ein >>Subjekt<<
ist in einem von einem Satz dargestellten Universum situiert.
Selbst wenn das Subjekt als Empfänger oder Sender der Dar­
stellung für außerweltlich, jenseitig erklärt wird - denkendes
Ich bei Descartes, transzendentales Ego bei Busserl, Ursprung
des Sittengesetzes bei Kant, Subjekt bei Wittgenstein ( Tra c­
tatus: 5.632 ; TB: 7.8. 1 9 1 6 ff.) -, so ist dieses Subjekt nichtsde­
stoweniger innerhalb des Universums situiert, das der philoso­
phische Satz, der es für außerweltlich erklärt, darstellt. Dies
ist der Unterschied zwischen Universum und >>Welt«. Das
Außer->>Weltliche«, das Subjekt, wird in einem Satz-Univer-
[1 1 0] sum dargestellt, in dem es mit Bezug auf die I Transzendenz
situiert wird. Aber die Transzendenz ist eine immanente Situa­
tion des Universums, das vom Satz, der sie erklärt, dargestellt
wird.
ARISTOTELES
1. Vorher und nachher
Der Sophist oder der Eristiker können den Gegner widerlegen, in­
dem sie mit der Lexis an der Oberfläche der Sprache spielen, mit
Amphibolien, Homonymien, Trennungen usw., aber auch indem sie
mit den Kategorien des Logos selbst spielen, was dann die Paralogis­
men ergibt (Sophistische Widerlegungen; 166 b 20). Die Paraehrenis­
men >:- (das Wort stammt nicht von Aristoteles) wären die Paralogismen,
'f Irrtümliche Datierungen (A. d. Ü.).
128
ARISTOTELES
die sich auf die Kategorie der Zeit beziehen (Protagoras-Exkurs). Die
Kategorien sind Regulatoren, die es in der Dialektik ermöglichen, die
Art und Weise des Bedeutens des Referenten zu umschreiben. Bei­
spielsweise kann weiß als Attribut, als Substanz, als Qualität verstanden
werden: Die Rose ist weiß, Kann das Weiß durchsichtig sein?, Man
bringt es zur Weißglut.
Die Postprädikamente (Kapitel 1 0 bis 1 5 der Kategorien) führen
zwei Operatoren an, die die Zeit in der Argumentation regeln: 'tO
:rtQO'tEQOV (to proteron) und to ät-ta (to hama), das Früher und das
Zugleich. Das hama ist Bestandteil des Prinzips der Widerspruchsfrei­
heit. Das gleiche >>Objekt«, die gleiche Substanz im aristotelischen
Sinne kann gegensätzliche Attribute gelten lassen, ein Satz kann einem
als Referenten verstandenen Objekt diese oder jene Eigenschaft zu­
schreiben, ein anderer die entgegengesetzte Eigenschaft, und doch
können beide wahr sein. Aber sie können es nicht zur gleichen Zeit
sein. Zum Beispiel: Sokrates sitzt, und: Sokrates steht. Man muß
angeben, wann (Kategorien, 4 a 1 0ff.). Andernfalls ist der Paralogis-
mus bezüglich der Zeit möglich: »[. . . ] derselbe sitzt und steht [ . . . ] ;
denn eben der, der aufstand, steht [. . .]. E s stand aber der Sitzende auf
[6 xa{}��-tEvo;}< (Sophistische Widerlegungen, 165 b 38). Das Sophisma
vom Sitzenden legt eine gleichsinnige Fassung mit dem Paar krank/
gesund nahe. Aristoteles widerlegt es mit Berufung auf den Operator
JtQOtEQOV (proteron): Der Satz nämlich, »daß der Kranke etwas tut
oder leidet, bedeutet nicht nur eines, sondern gilt das einemal von
dem, der jetzt [vüv] krank ist oder sitzt, das andere Mal von dem, der
früher [:rtQOtEQOV] krank war« (ibid.: 166 a 4). Ebenso ist der Genese­
ne im Augenblick nicht krank, wohl ist er der Kranke, aber der
Kranke von einst.
Diese Widerlegung setzt die Fähigkeit voraus, die Positionen eines
sich bewegenden Körpers auf einer Riebtachse gemäß der Opposition
(der Dyade) früher/später aufzuzählen. So lautet die in der Physikvorle­
sung erstellte Definition der Zeit: >>Denn eben dies ist ja die Zeit, die
Anzahl für die Bewegung hinsichtlich ihrer Phasenfolge« (Physik, 209 b
1-2). Der Referent des fraglichen Satzes ist ein sich bewegender Körper.
Der Einsatz des Satzes I ist das Wahre, sein Regelsystem logisch oder [1 1 1]
kognitiv. Die Wahrheit einer Prädikatszuschreibung kann man für
einen sich bewegenden Körper nicht entscheiden, wenn man nicht die
Position präzisiert, die er einnimmt, während der attributive Satz
stattfindet.
Diese Position muß >>abgezählt« weden (&Qt{}!-LOU!-LEVov). Zu diesem
Zwecke genügt eine vergleichende Anordnung von zwei Positionen
mittels der Dyade, um den Paraehrenismus zu vermeiden. Die Zahl der
Bewegung braucht keine Ziffer zu sein, wie etwa in einer Chronolo-
129
'1 7 ., r '5 r r ? 5 1 5
>n '5
DIE DARSTELLUNG
gie oder Chronometrie. Zur Verteilung der gegensätzlichen Attribu­
te auf verschiedene Positionen genügt es, den Operator auf zwei
Orte vorher/nachher im Kontinuum der Bewegung anzuwenden.
Mit diesem Operator wird das Kontinuum in die Gesamtheit der
Positionen des sich bewegenden Körpers eingeteilt. Eine der Posi­
tionen dieses letzteren, ganz gleich welche (und bei dieser Gelegen­
heit das umstrittene Attribut), befindet sich stets vor oder nach ei­
ner beliebigen anderen Position. >>Sobald [ . . .] die Seele zwei Zeit­
punkte als voneinander unterschieden erlebt, den einen als den frü­
heren, den anderen als den späteren, so sprechen wir von Zeit [. . .]«
(Physik, 219 a 28-29).
Wenn man sich fragt: früher oder später in bezug auf was?, wenn
man nach einem Ursprung für die Ortung sucht, so lautet die Ant­
wort beim gegenwärtigen Stand der Untersuchung, daß sich der
Vergleich immanent ergibt: früher in bezug auf das Spätere und um­
gekehrt. Der Operator, der die Zustandsreihe des Referenten er­
stellt, wirkt innerhalb dieser Reihe. Daraus folgt, daß der Referent
(der sich bewegende Körper) nicht nur das ist, was er in seinem
punktuellen und für gegenwärtig gehaltenen Zustand ist, sondern
daß er das Verhältnis impliziert, das zwischen diesem Zustand und
anderen, früheren oder späteren, hergestellt wird. Und mehr noch,
schon der Begriff eines punktuellen Zustands des Referenten, des
Zustands, der als sein augenblicklicher angenommen wird, impli­
ziert bereits die Möglichkeit anderer Zustände, die er einnahm oder
einnehmen wird. Nicht nur das Vorher und das Nachher werden
immanent impliziert, sondern auch das Vorher/Nachher und das
jetzt, die niemals das durch den Satz dargestellte Universum verlas­
sen, der sich auf den sich bewegenden Körper als Referenten be­
zieht.
Bei alledem handelt es sich um die Situation (Nr. 115). Der Refe­
rent sei ein sich bewegender Körper; wenn ihn der Satz, dessen Re­
ferent er ist, gemäß seiner Beweglichkeit darstellt, das heißt dar­
stellt, daß er zunächst a, dann b ist, so zählt er seine Positionen
oder Attribute auf (wir haben es gerade bezeugt, indem wir dabei
zunächst und dann unterschieden), und diese Aufzählung (oder An­
zahl) erfordert zumindest die Dyade vorher/nachher. Diese ist nun
die Zahl der Bewegung, die gezählte Bewegung des Referenten in
dem durch diesen Satz dargestellten Universum. Wie die Quantität
ist die Zahl nicht im vermeintlich wirklichen Referenten (außerhalb
des Satz-Universums), sondern im Satz, in Gestalt der Zeitadver­
bien, die paarweise die Positionen oder gegensätzlichen Attribute
des sich bewegenden Körpers strukturieren. Und innerhalb dieser
Reihung scheint das Jetzt mit keinerlei Vorrang ausgestattet zu sein.
130
7
1
- ill: il::: !;%' ,..
ARISTOTELES
Das Vorher ist ein Noch-nicht-Jetzt, das Nachher ein I Nicht-I_J;l ehr- [ 1 12]
Jetzt, das Jetzt ein Zwischen-den-heiden-Jetzt, das heißt ein Uber-
gang von einem zum anderen. Wiederum handelt es sich um Ortun-
gen innerhalb des durch den Satz dargestellten Universums, also um
Situation, nicht um Darstellung.
2. Jetzt
Die Schwierigkeit entspringt dieser Immanenz, die Aristoteles bezüg­
lich des Status zögern läßt, den er dem jetzt verleihen könnte. Ist dieses
nicht auch der Ursprung der diachronen Ortung? [. . . ] denn eben
>>
dieses scheint die Zeit zu sein: das (beidseitig) von einem Jetztpunkt
Begrenzte<< (Physik, 219 a 29). Diese Formel scheint dem gegenwärti­
gen Augenblick die verzeitlichende Funktion zuzubilligen. Doch das
>>scheint<<, gefolgt von einem äußerst zurückhaltenden u:rtO'XEto-frw
(hypokeistho, »nehmen wir an<<), markiert eine Schwierigkeit, demJetzt
diese Funktion zuzubilligen.
Eine weitere Formulierung verschärft die Unsicherheit: >>[. . .] der
Jetztpunkt trennt die Zeit lediglich im Sinne eines Nacheinander der
Phasen<< (ibid.: 219 b 1 1-12). Man kann verstehen, daß das Jetzt der
permanente Ursprungsort der zeitlichen Ekstasis ist. Dies wird die
>>moderne<< Fassung der Verzeitlichung sein, die bei Augustinus und
Husserl vorherrscht: eine konstituierende Zeit, >>lebendige Gegen­
wart«, zu Lasten eines transzendentalen Subjekts, und eine konstitu­
ierte, diachronische Zeit, diachronisch auf seiten des Objekts, der
diegetische Referent. In welcher Zeit aber wird die Synthese von
transzendentaler und empirischer Zeit stattfinden? Sie muß jedoch
stattfinden, wenn es denn richtig ist, daß das Jetzt der Diachronie
nicht entkommt.
Aristoteles, der von der Philosophie des Subjekts insgesamt nichts
weiß, bewegt sich keineswegs in diese phänomenologische Richtung.
Er kennzeichnet die Schwierigkeit folgendermaßen: »Es erscheint als
eine schwierige Frage, ob der Jetztpunkt, der das Vergangene und
das Zukünftige zu trennen scheint, immer als ein und derselbe be­
harrt oder ob immer neue Jetztpunkte auftreten<< (21 8 a 8). Kehren
wir zur Hypothese der Immanenz zurück. Die Grenzscheide zwi­
schen vorher und nachher oder die Berührungszone von Früherem
und Späterem ist selbst vom Vorher/Nachher betroffen: Das Jetzt ist
nicht jetzt, sondern noch nicht oder schon nicht mehr, man kann
nicht jetzt jetzt sagen, dafür ist es zu früh (vorher) oder zu spät
(nachher). Was zukünftig war, ist jetzt vergangen, das heißt die Zeit
eines Satzes. Die Grenze ist nicht punkt- oder linienförmig, das
Spätere greift unaufhörlich auf das Frühere über. Das Jetzt ist genau
131
 1
7
DIE DARSTELLUNG
d as, was n��ht fortbe�teht''. Es is� nicht ersichtlich, daß es als Ursprung
_
emer Posmonsverteilung des s1ch bewegenden Körpers in vorher/
nachher dienen könnte. Diese alles in allem »gewöhnlichen« Beobach­
tungen reichen hin, eine Konstitution der Zeit aus dem Gegenwärtigen
zu entwerten: denn entweder taucht dieses in der Diachronie unter oder
transzendiert sie. In beiden Fällen kann es ihr nicht als Zahl dienen.
[1 1 3] Aristoteles erschließt einen anderen Weg. Er stellte die Frage: I
Bleibt das Jetzt ein und dasselbe oder wird es immer ein anderes? Er
antwortet: Man muß es einerseits als »immer dasselbe«, andererseits als
nicht dasselbe begreifen (210 b 12). Als immer das »Nämliche« betrach­
tet (Ö f.!EV JtO'tE Öv: 219 b 1 7, 219 b 26; Ö !lEV 3tO'tE Öv: 219a 20; Ö 3tü't'�v:
2 1 9 b 1 1, 223 a 27) oder als das, >>Was jedesmal ist« (Aubenque: 436), ist
es das, was es ist. Aber 'tcp Myq> betrachtet (219 b 20, 220 a 8), >>im
SatZ<<, oder, wenn man lieber will (die beiden Ausdrücke können im
Text des Aristoteles einander ersetzen), to Elvm, >>als eine Wesenheit«,
als eine durch diesen Satz dargestellte Instanz (219 a 21, 219 b 11, 219 b
27), ist es ein anderes als es selbst. Als immer das >>Nämliche« wird das
Jetzt als ein Vorkommnis, als das Ereignis begriffen. Ich würde sagen:
das Satz-Ereignis. Dies wird durch folgendes bestätigt: >>Als Grenze
betrachtet ist der Jetztpunkt nicht Zeit, sondern geschieht [O'U!lßEßTJ­
X.EV}< (220a 22). Es gibt Es gibt, einen Satz als Vorkommnis verstanden,
als Was, das eigentlich nicht das Jetzt, sondern jetzt ist. Sobald aber das
Vorkommnis im Universum eines anderen Satzes ('tcp Myq>), der sich
auf es als auf eine Wesenheit (n'> dvm) bezieht, aufgegriffen wird, so
wird jetzt zum Jetzt und kann nicht - wie das eine Mal, als es geschah ­
als Was begriffen werden, unterliegt es der unvermeidlichen Verfäl­
schung durch die Diachronie, hängt es vom Regelsystem der Sätze ab.
Aristoteles unterscheidet somit zwischen der Zeit, die in den von den
Sätzen dargestellten Universen die Instanzen situiert und damit diese
Universen im Verhältnis untereinander konstituiert (das Vorher/Nach­
her, das Jetzt), und dem Darstellungs-Ereignis (oder dem Vorkomm­
nis), das als solches absolut (jetzt) ist. Sobald man letzteres artikuliert,
stellt man es in die Relationen der Satz-Universen untereinander. Die
Darstellung wird dann dargestellt. Um die in einem Satz mitgeführte
Darstellung zu fassen, bedarf es eines anderen Satzes, in dem diese
Darstellung dargestellt wird. Die >> anwesende« Darstellung [»presente�
presentationJ ist nicht jetzt als Satz >Setzbar<, sondern nur als Situation
* Unübersetzbares Wortspiel mit maintenant (»jetzt«) und se mainte­
nir (»sich erhalten«, »fortbestehen«); cf. auch S. 1 6 des vorliegenden
Bandes (A. d. Ü.).
132
ARISTOTELES
(vorher/nachher) in einem Universum, das von einem anderen Satz
dargestellt wird: Sie ist die Darstellung von einst. Aristoteles entkopp � lt
die diachronen Operatoren, die in den Satz-Universen auf dem Spiel
stehen, und das Vorkommnis des Satzes (oder das Satz-Vorkommnis).
Die >>aktuelle<< Darstellung ist nicht darstellbar, das Ereignis als solches
vergißt sich, sofern es sich aufbewahrt (das Nachher), sich vorweg­
nimmt (das Vorher) oder sich >>erhält« (das Jetzt)':· .
3. Einige Beobachtungen
3.1. - Eine noch metaphysische »Lesart<<, noch der Vorherrschaft der
Anwesenheit unterstellt, würde Derrida sagen (1972 [1968 b ]: 73; dt.
1976 : 8 1). - In der Tat, wenn es zutrifft, daß die Zeit als Fragestellung
bereits der Metaphysik angehört. Dennoch möchte ich den Blick gerne
auf folgendes lenken. Das Vorkommnis, der sich ereignende Satz als
Was, hängt I keineswegs von der Frage der Zeit ab, sondern von der [1 1 4]
Frage des Seins/Nicht-Seins. Diese Frage wird durch ein Gefühl aufge­
worfen: Es kann nichts geschehen. Das Schweigen nicht als aufgescho-
bener Satz, sondern als Nicht-Satz, als Nicht- Was. Dieses Gefühl ist die
Angst oder die Verwunderung: Es gibt eher etwas als nichts. Kaum ist
dies als Satz >gesetzt<, ist das Vorkommnis bereits verkettet, aufgezeich-
net und im Vorkommnis des Satzes vergessen, der mit der Erklärung
des Es gibt das Vorkommnis bindet, indem er es seiner Anwesenheit
gegenüberstellt. Die Zeit geschieht mit dem in den Satz-Universen
implizierten Vorher/Nachher, als eine serielle Anordnung der Instan-
zen. Diese ist ihnen immanent. Die Zeit ist durchaus eine Kategorie des
Seienden. Das Sein ist nicht Zeit. Die Darstellung ist kein Akt des
Gebens (der von einem Es [i. 0. dt.] herrührte und für uns, Menschen,
bestimmt wäre; das gerade nicht). Unter Darstellung (um dies zu
bezeichnen, ist jeder Ausdruck täuschend und trügerisch, ich habe
gesagt, warum) verstehe ich auch nicht den Akt einer ÖtlV<l[!tc; (dyna-
mis), einer Kraft, oder eines Willens dieser Kraft, ein Verlangen der
Sprache nach ihrem Vollzug. Sondern nur, daß etwas stattfindet. Dieses
Etwas ist ein Satz, unbezweifelbar (Nr. 99). Da ein Satz ein Universum
darstellt, nenne ich, daß der Satz stattfindet: Darstellung.
3.2. - Ihre >>Lesart<< scheint durchaus mit Überlegungen verwandt zu
sein, die sich, in »Zeit und Sein« und anderen Werken dieser Epoche,
dem Ereignis [i. 0. dt.] annähern (Heidegger: »Zeit und Sein<<, in: Zur
Sache des Denkens, 1 969 [1962] : 1-25). - Abgesehen davon, daß
letzteres beharrlich den »Menschen<< zum Empfänger des Gebens
•:- Wortspiel mit se maintenir und maintenant; cf. S. 1 32 (A. d. Ü.).
133
 - r - $
m-
DIE DARSTELLUNG
mac�t - das gibt und sich gibt, indem es sich im Ereignis aufspart ­
und msbesondere aus demjenigen, der dieses Geben empfängt, den
Menschen macht, der seine menschliche Bestimmung erfüllt, indem
er die Authentizität der Zeit vernimmt. Sendung, Empfänger, Sen­
der, Mensch sind hier Instanzen oder Relationen in den von den
Sätzen dargestellten Universen, sind situationsartig, 't<j> A6yqJ (to lo­
go). Das Es gibt findet statt, ist ein Vorkommnis (ein »Ereignis« [i.
0. dt.]), aber es stellt nichts für niemanden dar, stellt sich nicht dar
und ist weder das Anwesende noch die Anwesenheit''. Sofern eine
Darstellung >Setzbar< (denkbar) ist, wird sie als Vorkommnis verfehlt.
3.3. - Die Frage nach der Zeit wird hier im Rahmen der Problema­
tik des Satzes gestellt. Das >>Geben<< ([i. 0. dt.]?) gibt (?) nicht Seien­
des, es gibt (?) Sätze, die als Verteiler von Seiendem (Instanzen in den
Universen) fungieren. Die Sätze selbst werden für andere Sätze Seien­
des. Aber sie »sind geschehen«, wie es Aristoteles vom jetzt behaup­
tet. Die Darstellung besteht darin, daß ein Satz geschieht. »Als sol­
cher<< aber, als Was, ist er nicht in der Zeit. Die »gewöhnliche« Zeit
ist im Universum, das vom Satz dargestellt wird. Aber es gibt keine
gewöhnliche Zeit, Derrida hat recht (ibid.: 59 [dt. 65]), oder es gibt
nur sie, da der Satz ebenfalls >>gewöhnlich<< ist.
[ 1 1 5] 3.4. - Was erlaubt Ihnen, etwas I als eine Darstellung zu >Setzen<,
da doch niemand ihr Empfänger ist und niemand sich referentiell auf
sie beziehen kann, ohne sie zu verfehlen? Stellen Sie Ihrerseits die
Hypothese einer Spur auf (ibid.: 75 ff. [dt. 84 ff.])? Eines Schweigens
oder eines weißen Flecks, der das Ereignis auslöscht? Ist das »Ereig­
nis<< [i. 0. dt.] tatsächlich der Blitz (Heidegger, »AUs einem Ge­
spräch von der Sprache<<, 1985 [1953/54]: 135), der etwas (ein Satz­
Universum) erscheinen läßt, der aber blendet und blind wird in dem,
was er aufblitzen läßt? Ist dieser Rückzug selbst ein Satz (Nr. 22,
1 1 0) ? Welcher Art unter den vier Arten von Schweigen (Nr. 24, 26)?
Oder handelt es sich um ein anderes Schweigen? - Um ein anderes
Schweigen. Das sich nicht auf eine Instanz in einem Satz-Universum
erstreckt, sondern auf das Vorkommnis eines Satzes. Es gäbe keine
Darstellung mehr. - Aber Sie schreiben: »Daß es keinen Satz gibt, ist
unmöglich« (Nr. 102)! - Genau das: Das Gefühl, daß das Unmögli­
che möglich ist. Daß die Notwendigkeit kontingent ist. Daß man
verketten muß, daß es aber nichts zu verketten gibt. Das »und« ohne
Anschluß. Also nicht nur die Kontingenz des Wie der Verkettung,
sondern auch das Schwindelgefühl des letzten Satzes. Unsinnig, klar.
':· Cf die Stammgleichheit im Frz. : presenter (»darstellen«), present
(»anwesend«), pr�isence (>>Anwesenheit<< ; A. d. Ü.).
134
7
e ra:: �··
UNIVERSEN UND SÄTZE
Aber der Blitz ereignet sich - er blitzt auf, bricht in das Nichts der
Nacht, der Wolke, des blauen Himmels.
120
Raum und Zeit gäbe es nicht unabhängig von einem Satz.
121
Auf die Frage: Woher nehmen Sie, daß e s Raum und Zeit als
Situationsarten gibt? kann man antworten: aus Sätzen wie: Die
Marquise verließ das Haus um fünf Uhr, Er war angekom­
men, Hau ab, Schlaf! Schon ? usw. Zunächst aber aus dem Satz :
Woher nehmen Sie . . . ?, der Raum und Zeit voraussetzt. Und
man kann hinzufügen : Ich nehme es nicht, die Sätze können
selbst so zusammenhängen, das heißt ihre Instanzen und sich
selbst im Verhältnis untereinander situieren. Raum und Zeit sind
Titel, die situative Wirkungen zusammenfassen, die in den Satz­
Universen hervorgebracht wurden, von Ausdrücken wie : zu­
rück, um einiges später, gerade darunter, wurde geboren, zu
Beginn usw. (und : usw.). Es gibt Sätze, deren Regelsystem diese
Markierungen verlangt (die narrativen zum Beispiel), und ande­
re, die sie hypothetischerweise ausschließen (die mathemati­
schen, die logischen Sätze, selbst wenn es eine Logik der Zeit
gibt).
122
Es gibt ebenso viele Universen wie Sätze. Und ebenso viele
Situationen von Instanzen wie Universen. - Sie sagen aber, daß
es Familien von Situationen von Instanzen wie etwa Raum/ und [1 1 6]
Zeit gibt (Nr. 1 2 1 ) ? Es gibt also zumindest analoge Satz-Univer­
sen ? - Ein metasprachlicher Satz bezieht sich referer:.tiell auf
mehrere dieser verschiedenen Sätze und erklärt deren Ahnlich­
keit. Diese Ähnlichkeit reduziert keineswegs deren Ungleichar­
tigkeit (Bambrough, 1 96 1 : 198-199). Raum oder Zeit oder
Raum-Zeit sind Familiennamen für diese Situationen. Kein ein­
ziges Element ist allen gemeinsam. - Sie sind Nominalist ? -
Nein, man kann die Ähnlichkeit anhand des Verfahrens zur
135
 Dm DARSTELLUNG
Ermittlung der Wirklichkeit eines Referenten (Nr. 63 ff.) und
nicht durch den >>Gebrauch« ermitteln, wie Wittgenstein als
Opfer des anthropologischen Empirismus glaubt. - Unter all
den Satzarten aber, die von diesem Verfahren gefordert werden,
gibt es das Ostensiv, das von den raum-zeitlichen deiktischen
Indikatoren dort, damals usw. Gebrauch macht! - Dies zeigt
nur, daß die Metasprache an der Umgangssprache teilhat (Des­
des und Guentcheva-Descles, 1977: 7).
123
Ist Ihr Zuschnitt der Satz-Universen (Nr. 18, 25) nicht anthro­
pozentrisch, pragmatisch? Woher nehmen Sie, daß sie vier
Instanzen enthalten? - Aus den Verkettungsweisen. Etwa der
Satz : Au! Man verkettet ihn mit: Hast du dir weh getan?
hinsichtlich des Senders; mit: Ich kann nichts dafür hinsichtlich
des Empfängers; Tut es weh ? hinsichtlich der Bedeutung; mit:
Das Zahnfleisch ist immer sehr empfindlich hinsichtlich des
Referenten. Die Instanzen sind Valenzen der Verkettung. - In
der menschlichen Sprache; aber der Schwanz der Katze? - Den
aufgestellten Schwanz der Katze verkettet man jeweils mit: Was
willst du ?; Du nervst mich; Noch Hunger?; Katzen haben einen
äußerst ausdrucksvollen Schwanz. Absichtlich wähle ich Sätze,
in denen weder die Instanzen noch ihre Situation markiert sind.
Der Zuschnitt ist nicht pragmatischer Natur, wenn die Voraus­
setzung oder das Vorurteil der Pragmatik darin besteht, daß eine
Botschaft von einem Sender zu einem Empfänger gelangt, die
ohne sie >>existierten« . Und nicht humanistisch: Führen Sie
nicht-menschliche Entitäten an, die nicht die eine oder andere
dieser Instanzen besetzen könnten ! Vielleicht kommt es selten
vor, daß alle Instanzen markiert sind. (Viele moderne literari­
sche Techniken sind mit der De-Markierung von Instanzen
verbunden : der Sender in Auf der Suche nach der verlorenen
Zeit, der Empfänger in La modification", alle beide in La carte
"· Roman von Michel BuroR, Paris 1 957; dt. Paris - Rom oder die
Modifikation, München 1958.
136
JETZTPUNKTE
postale':· , der Referent von Les Georgiques'c':·, die Bedeutung von
L 'apocryphe'c':·>c, um nur neuere französische Beispiele anzufüh-
ren. Und der vermeintliche Autor I (Puech, 1982). Diese De- [1 1 7]
Markierung bewirkt, daß die Sätze sponte sua stattfinden : als
Kritik des Vorurteils, daß es der >>Mensch« sei, der da spricht.
>>Liebe zu den Sätzen, nicht zu den Leuten.« >>Daß er immer eine
Vorliebe für schöne Sätze hatte, spricht in meinen Augen nicht
zu seinen Gunsten, aber ich halte mein Urteil nicht für unfehl-
bar<< (Pinget, Apokryph, 1 980: 1 49, 57).
124
Die in einem Satz mitgeführte Darstellung wird von ihm verges­
sen, in Lethe getaucht (Detienne, 1 967: 126-1 35). Ein anderer
Satz holt sie zurück, stellt sie dar, indem er die in ihm selbst
mitgeführte Darstellung vergißt. Die Erinnerung wird vom
Vergessen begleitet. Die Metaphysik kämpft gegen das Verges­
sen, wie nennt sich, was für es kämpft?
1 25
Der Gott des Augustinus oder die lebendige Gegenwart Bus­
serls wird als der Name der Instanz dargestellt, die die Jetzt­
punkte zusammenfaßt. Dies aber geschieht durch Sätze, in
denen er dargestellt wird, und das Jetzt eines jeden dieser Sätze
bleibt mit den anderen durch einen weiteren Satz zusammenzu­
fassen. Gott kommt später, >>in einem Augenblick« ; die lebendi­
ge Gegenwart steht bevor. Sie kommen nur, indem sie nicht
geschehen. Das will Beckett sagen. Die Zeit fehlt dem Bewußt­
sein nicht, sie bewirkt, daß es sich verfehlt.
* Essay von Jacques DERRIDA, Paris 1980; dt. Die Postkarte, Berlin
1 982.
>:·"-· Roman von Claude SIMON, Paris 1 978.
>f>:· >:· Roman von Robert PINGET, Paris 1 980; dt. Apokryph, Frankfurt/
M. 1 982.
137
 DIE DARSTELLUNG
126
Sie bewerten die in einem Satz mitgeführte Darstellung als
absolut. Mit dieser Bewertung stellen Sie sie dar. Ihr absoluter
Wert ist in dem durch Ihren Satz dargestellten Universum
situiert und ihm gegenüber relativ. Darum ist das Absolute nicht
darstellbar. Mit dem Erhabenen wird Kant (wenn die Darstel­
lung wie hier verstanden wird) immer einem Hege! gegenüber
recht haben. Das Erhabene [i. 0. dt.] behauptet sich nicht jen­
seits, sondern im Zentrum des Aufgehobenen [i. 0. dt.J.
127
Was nicht dargestellt ist, ist nicht. Die in einem Satz mitgeführte
Darstellung ist nicht dargestellt, sie ist nicht. Oder: das Sein ist
nicht. Man kann sagen: Eine mitgeführte Darstellung ist, wenn
sie dargestellt wird, eine nicht-mitgeführte, aber situierte Dar­
stellung. Oder: das als Seiendes begriffene Sein ist das Nicht­
Sein. Auf diese Weise muß man das erste Kapitel der Wissen­
schaft der Logik verstehen. Was Hege! die Bestimmung nennt
[ 1 1 8] und I was die Triebkraft des Übergangs vom Sein zum Nicht­
Sein ausmacht, ist die Situation des Seins (oder der Darstellung)
in einem Satz-Universum, das heißt der Übergang von der im
ersten Satz mitgeführten Darstellung zur dargestellten Darstel­
lung (des ersten Satzes) im zweiten Satz. Diese >>Auflösung<< aber
(der Ü bergang vom Sein zum Seienden oder Nicht-Sein) gilt nur,
wenn es im zweiten Satz um die Darstellung der Darstellung
geht; das heißt wenn der Einsatz dieses zweiten Satzes dem der
ontologischen Diskursart entspricht. Das ist eine der konstituti­
ven Regeln dieser Diskursart, die eine derartige Verkettung und
den daraus resultierenden Ü bergang oder die daraus resultieren­
de Auflösung vorschreibt: die Resultats-Regel (Hegel-Exkurs).
Es gibt aber viele Diskursarten, in denen der regelhaft vorge­
schriebene Einsatz nicht in der Darstellung der Darstellung
besteht, in denen folglich die >>Auflösung<< nicht notwendig ist.
138
BEDEUTUNG UND NEGATION
128
Darum bedarf es der Negation : um die mitgeführte Darst� llung
darzustellen. Sie ist nur als Seiendes darstellbar, das hetßt als
Nicht-Sein. Dies meint das Wort Lethe.
129
Das Argument: Man erkennt etwas vom Unerk� nnb�ren, >>m �n
erkennt ja, daß das Unerkennbare unerkennbar tst<< (EJtLO'tY]'tOV
'tO ayvwowv' EO'ttV YUQ EJtlO'tY]'tOV 'tO ayvwo'tOV ön ayvw­
O'tOV), das Aristoteles (Rhetorik, 1 402 a) unter dte .
. s hembaren
�
Enthymeme einordnet, ist - wie er sagt - ein Paralogtsmus : das
Absolute und das Relative werden hier verwechselt (und zwar
aufgrund eines Irrtums oder eines Tricks, den er Antisthenes
zuschreibt). Das Argument bedient sich nämlich der Nach­
drücklichkeit der Darstellung (»man erkennt<< das Absolute)
sogar in der Behauptung des Nicht-Dargestellten (des Nicht­
Bedeuteten, »Unerkennbaren<<), das durch den Satz >Man er­
kennt . . . < dargestellt wird, also relativ zu ihm. Die B ezeichnung
dieser Verkettung als Paralogismus aber ist eine konstitutive
Entscheidung der logischen Diskursart: sie schert sich nicht um
das quod (Nr. 91).
130
Das Vermögen, hinsichtlich des gleichen Referenten dessen
Bedeutung und das Gegenteil (eine Negation) seiner Bedeutung
darzustellen (hinsichtlich des Unerkennbaren : die Bedeutung
des Unerkennbaren und die Bedeutung des Erkennbaren ; hin­
sichtlich des Seins : die Bedeutung des Seins und die Bedeutung
des Nicht-Seins), kann man nicht, wie Hege! es tut (Phänomeno­
logie des Geistes: Vorrede), die »ungeheure Macht des Negati-
ven<< nennen. I Wenn es Macht gibt, worin liegt sie? Darin, daß [1 1 9)
ein Satz eine Eigenschaft als die einem Referenten fehlende
darstellen kann? Das ist (nur . . . ) »das Geheimnis der Negation<<
(Wittgenstein, TB: 9., 15. 1 1 . 1 9 1 4 ; cf Nr. 90). - Darin, daß ein
Satz eine Eigenschaft einmal als anwesend, einmal als abwesend
darstellen kann? Das ist aber nicht der Fall: Ein Satz stellt sie als
1 39
 $ t trn 7$t 7 -
DIE DARSTELLUNG
anwesend, ein anderer als abwesend dar. Das geschieht nicht
»Zugleich«. - Darin, daß sich zwei Sätze auf den gleichen
Referenten beziehen und über ihn etwas und dessen Gegenteil
aussagen? Daß es sich aber um den gleichen Referenten handelt,
muß ermittelt werden (Nr. 68, 80). In diesem letzten Fall ent­
springt das Ungeheure nicht dem Negativen, sondern dem
>>Ereignis<< [i. 0. dt.]. Denn es wäre möglich, daß es keinen
>>Zweiten« Satz gäbe. Das Unmögliche, das Nichts wäre mög­
lich. Das Ungeheure besteht darin, daß dem nicht so ist.
131
>>Jeder Satz ist.« Ist alles Satz, was ist? Ist ist nicht was ist. Ist ist
auch nicht ist wirklich. Man kann nicht sagen: jeder Satz ist
wirklich. Noch weniger: Alles Vernünftige ist wirklich. Die
Wirklichkeit ist eine Eigenschaft eines zu ermittelnden Referen­
ten (Abschnitt: >>Der Referent«), sie ist nicht. Die Wirklichkeit
eines Satzes eingeschlossen. Daß alles Wirkliche vernünftig ist ­
ja, wenn vernünftig bedeutet: dem Verfahren zur Ermittlung der
Wirklichkeit eines Referenten entsprechend. - ln:]eder Satz ist
bedeutet jeder Satz: alles, was geschieht; bedeutet ist: es gibt, es
geschieht. Aber Es geschieht ist nicht, was geschieht, wie sinnge­
mäß quod nicht quid ist (und die Darstellung nicht die Situa­
tion). Folglich bedeutet ist nicht: ist da, noch weniger: ist
wirklich. Ist bedeutet nichts und würde das Vorkommnis >>VOr«
der Bedeutung (dem Inhalt) des Vorkommnisses bezeichnen.
Würde es bezeichnen und bezeichnet es nicht, da es das Vor­
kommnis situiert (>>VOr« der Bedeutung), indem es dieses be­
zeichnet, und folglich nyn im hysteron proteron verbirgt (Aristo­
teles-Exkurs). Ist wäre viel eher: Geschieht es? (wobei das
deutsche es eine Leerstelle anzeigt, die von einem Referenten zu
besetzen wäre).
132
Alles in allem gibt es Ereignisse: Etwas geschieht, das nicht
tautologisch mit dem ist, was geschehen ist. Nennen Sie das, was
geschehen ist, den Fall? - Der >>Fall<< wäre eher, daß etwas
geschieht, quod, als das, was geschieht, quid. - Würden Sie mit
140
DAS >>BILD DER WELT<<
Wittgenstein sagen, die Welt sei I >>alles, was der Fall ist« ? - Das (120]
ist möglich, wenn man der Fall und was der Fall ist auseinander-
hält. Wittgenstein nennt, was der Fall ist, auch >>Tatsache«
(Tractatus: 2). Er kann also schreiben, daß >>die Welt ( . . . ] die
Gesamtheit der Tatsachen« ( 1 . 1 ) oder daß >>die gesamte Wirk­
lichkeit (. . . ] die Welt ist« (2.063). Gesamtheit, alles sind nicht
selbst Fälle. Sie sind Referenten von Ideen im kantischen Sinne.
Oder aber logische Quantoren. Man kann keinen Realitätsbe-
weis bezüglich des Ganzen durchführen. - Aber der Fall ist
nicht, was der Fall ist. Der Fall ist: Es gibt, Es geschieht. Das
heißt (Nr. 1 3 1 ) : Geschieht es?
133
Es gibt kein >>Bild der Welt«, das >>wir« uns >>machen« (Trac­
tatus: 2.1). Aber als Gesamtheit der Wirklichkeit kann die Welt
als eine Instanz in einem Universum situiert werden, das von
einem (kosmologischen) Satz dargestellt wird. Sie führt zu den
von Kant beschriebenen Antinomien. Diese offenbaren, daß der
Referent Welt kein Erkenntnisobjekt ist und sich dem Realitäts­
beweis entzieht. Im Begriff des >>Bildes«, des Elxwv (eikon) von
Tatsachen konzentriert sich die metaphysische Illusion, die
Verkehrung, das Vorurteil, daß die Tatsachen den Sätzen voran­
gehen. Es gibt keine Vorstellung in diesem Sinne. - Unter Welt
(Nr. 60) verstehe ich ein Netz von Eigennamen. Kein Satz kann
es ausschöpfen. Keiner kann einen dieser Namen durch eine
vollständige Beschreibung ersetzen : >>Es scheint nämlich - zum
mindesten so weit ich jetzt sehen kann - mit dem Wegschaffen
von Namen durch Definitionen nicht getan zu sein« ( TB: 13. 5.
1 9 1 5).
134
>>Man kann nicht alles sagen« (Descombes, 1977). - Enttäu­
schung? Sie wünschten es? Oder etwas wenigstens, >>die Spra­
che« nämlich, wollte es? Wollte ihre ganze Kraft entfalten? Ein
Wille ? Ein >>Leben« ? Ein Verlangen, ein Mangel? Teleologien
der Erfüllung, Melancholien des Unerfüllten. - Aber Sie nehmen
doch an (Nr. 23), >>daß etwas nach seiner >Setzung< im Satz
141
 z 7 7 7 ) ' 1
· r
DIE DARSTELLUNG
verlangt« ?. - Das impliziert nicht, daß alles gesagt werden muß
oder will. Es impliziert die Erwartung eines Vorkommnisses,
des >>Ungeheuren«, daß eben nicht alles gesagt worden ist
(Nr. 1 30). Das Wachen. Diese Erwartung liegt im Satz-Univer-
[121] sum. Es ist die besondere >>Spannung<<, I die jedes Satz-Regelsy­
stem auf die Instanzen überträgt.
135
>>Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schwei­
gen<< (Tractatus: 7). - Wendet sich das muß man an den Men­
schen, an den Geist? Es steht nicht in deren Macht, darüber zu
schweigen, wovon sie nicht sprechen können. Dies ist bereits
>gesetzt<, als >Unsetzbares< in bekannten Idiomen, als Gefühl.
Dessen Geständnis ist gemacht. Das Wachen angesichts eines
Vorkommnisses, die Freude und die Angst vor einem unbekann­
ten Idiom hat eingesetzt. Verketten ist keine Aufgabe, deren
>>wir<< uns entledigen oder auf die >>wir<< uns berufen könnten.
>>Wir<< können nicht anders. Nicht Notwendigkeit mit Ver­
pflichtung verwechseln. Wenn es ein muß man gibt, so ist dies
kein Sie müssen (Nr. 1 02).
136
Verketten ist notwendig, eine Verkettung nicht. Sie kann aber
für triftig erklärt werden, der Satz, der dies tut, ist eine Verket­
tungsregel. Er ist konstitutiver Teil einer Diskursart: Auf eine
solche Art von Sätzen dürfen nur diese hier folgen. So umschrei­
ben die Erste und die Zweite Analytik die Art von Verkettungen
in der klassischen Logik, die Wissenschaft der Logik die der
modernen Dialektik, die Vorlesungen über Geometrie die mo­
derne Axiomatik (Pasch, in Blanche, 22-26). Es gibt viele Dis­
kursarten, deren Verkettungsregeln nicht angezeigt werden.
1 37
Ein Satz kann so geformt sein, daß er mehrere Universen mit­
darstellt. Er kann mehrdeutig sein, nicht nur hinsichtlich der
Bedeutung, sondern auch des Referenten, des Senders, des
142
..", .
MIT-DARSTELLUNG
Empfängers. Zum Beispiel: Ich ka�n bei dir v? rbei� om: me� .
. I­
Mehrdeutigkeiten können ich, vorbezkommen, d� r be: u� trach�
gen . Was den Modalausdruck kann angeht, hier emige mit­
dargestellte Universen :
1 . 1 Ich habe die Fähigkeit dazu.
1 .2 Ich habe die Zeit dazu.
1 .3 Du hast ein Zuhause, und die A dresse ist mir bekannt.
2 Möglicherweise tue ich es.
3 . 1 Ich möchte es gerne tun.
3.2 Ich hätte gerne, daß du mir sagst, ich solle es tun.
4 Ich habe die Erlaubnis dazu.
Fähigkeit (1), Eventualität (2), Wunsch (3), Recht (4). B eschrei-
bung I (1, 2, 4) ; Repräsentation (3 . 1 ), im Sinne der >>Repräsen- [122]
.
tativa<< bei Habermas ( 1 971 : 1 12): ich will, ich befürchte, zch
wünsche, daß . . . ; Regulierung (3.2) wie in: ich befehle Ihnen,
ich bitte Sie, ich verspreche Ihnen zu . . . Nicht nur, daß die
Bedeutung von ich kann mehrdeutig ist, vielmehr überträgt sich
die Mehrdeutigkeit auch auf die anderen Instanzen : dir bleibt
sich nicht gleich, wenn es Teil des beschriebenen Referenten
oder wenn es der Empfänger einer Vorschrift ist; das gleiche gilt
für ich.
138
Eine Verkettung kann eine Mehrdeutigkeit des vorangehenden
Satzes aufdecken. Die Tür ist geschlossen kann folgende Sätze
veranlassen: Offensichtlich; wozu, glaubst du, dienen die Tü­
ren ?, oder: Ich weiß, man versucht, mich einzusperren, oder:
Um so besser, ich habe mit dir zu reden usw. In diesen Verket­
tungen ist die geschlossene Türe kein Sachverhalt mehr, der zu
diskutieren und zu verifizieren wäre. Sie verifiziert die funktio­
nalistische Definition, die ein Zwangsneurotiker von Türen hat,
sie bestätigt den Roman, den sich ein Paranoiker über sie erzählt
usw. Handelt es sich um die gleiche Tür, um den gleichen
Empfänger usw.? Nehmen Sie zwei Gesprächspartner an; sie
reden über die geschlossene Tür, der eine sagt: Offensichtlich,
usw., der andere: Ich weiß, usw. : das ist ein Widerstreit. Der
Logiker, der Ordnung in ihre verworrene Streiterei bringen
1 43
• I
I rr ·
tt t
DIE DARSTELLUNG
wollte, indem er sagt: Es handelt sich um eine bloße Beschrei­
bung, dieser Logiker würde nur weiter zum Widerstreit beitra­
gen . Eine Skizze dieses Durcheinanders ist in den Fabeln von La
Fontaine mit ihren juristisch-politischen Einschlägen zu finden.
Welches ist die triftige Verkettung?
139
Man nimmt an, daß der Sender des späteren Satzes »derselbe«
wie der Empfänger des früheren Satzes ist. Könnte man nicht
sagen, daß die Verkettung zumindest dann triftig ist, wenn das
Universum des zweiten Satzes eines der vom ersten mit-darge­
stellten Universen von neuem darstellt oder mit-darstellt, also
wieder darstellt? Wenn man zum Beispiel Ich kann bei dir
vorbeikommen (Nr. 137) in der Version ( 1 . 1 ) verknüpft mit: Du
kannst gehen ?, Dein Auto ist repariert?, Glaubst du? (= Du hast
wirklich die Bewegungsfähigkeit dazu?). In der Version (1 .2)
mit: Nein, du wirst keine Zeit haben;ja, das ist ganz nahe bei dir;
Glaubst du ? (= Verfügst du wirklich über genügend Zeit?). In
der Version (1 .3) mit: Aber man hat mich vor die Tür gesetzt. In
der Version (2) mit: Das würde mich wundern, Glaubst du ?
[123] (= Ist das nur möglich?). In der I Version (3. 1 ) mit: Das sagst du
(= Ich glaube nicht an dein Verlangen, es zu tun), Glaubst du ?
(= Hast du das Verlangen danach?). In der Version (3.2) mit:
Das ist nicht nötig ( = Das ist nicht mein Wunsch), Wie du willst
( = Zu diesem Thema habe ich keinen besonderen Wunsch),
Glaubst du ? ( = Willst du wirklich wissen, was ich gerne möch­
te ?). In der Version (4) mit: Ah, gut!, Glaubst du ? (= Wurde dir
diese Erlaubnis wirklich erteilt?). Das macht eine Menge triftiger
Fälle.
140
Der Empfänger des ersten Satzes kann Ich kann bei dir vorbei­
kommen mit: Wie geht es Chantal? weiter verknüpfen. Werden
wir sagen, daß diese Verkettung nicht triftig ist? Ducrot (1 977)
würde sagen: Sie ist es nicht, wenn man sich an die gerade
untersuchten Präsuppositionen [presupposes] hält, sie kann es
sein, wenn man darüber hinaus eine (konversationelle) Implika-
144
7 5 ' '1
KoNTEXT UND SATZ
tur [sous-entendu] annimmt: Ieh kann bei dir vorbeikommen,
Chantal ist nicht da. Die Triftigkeit unterstellt eme _ »gute«
Verkettungsregel. Zur weiteren Verkettu�g eines mehr��uti� en
Satzes gibt es mehrere gute Regeln. An d1esem Punkt laßt s1ch
der Pragmatiker (Engel, 1 9 8 1 ) au� di� Frage nach der: Sprecher­
intentionen ein ' um die Kommumkauon versuchsweise vor dem
Schiffbruch zu retten. Aber die Bewußtseinsmetaphysik schei­
tert an der Aporie der anderen: die fünfte Cartesianische Medita­
tion. Der Sender des Verkettungssatzes wird - was immer er sagt
- in dem von >>seinem« Satz dargestellten Universum derart
situiert, daß sein Bezug zum Satz »des anderen« nicht beliebig
ist. Selbst Glaubst du ? ist eine Verkettungsweise, die die Mehr­
deutigkeit nicht aufhebt: eine Frage, di� a�f a�le Les�rte� d� s
ersten Satzes paßt. Diese Verkettungswe1se 1st mcht beheb1g, s1e
bedient sich zumindest des Interrogativs.
141
Zumindest der Kontext aber muß die Möglichkeit bieten, dar­
über zu befinden, was der Sender des ersten Satzes meinte und
der Empfänger - der Sender des zweiten - mit Recht verstehen
darf. - Man wird den Kontext durch Sätze darstellen müssen.
Was ich mit der Darstellung der mit-dargestellten Universen
skizziert habe. Oder: mit Berufung auf den Kontext situiert Sie
Ihr Satz als Empfänger in einem kognitiven Universum, in dem
der Kontext der Sender wäre und Ihnen mitteilte, was es mit ihm
selbst auf sich hat. Warum halten Sie diesen Sender für glaub-
würdiger als den des ersten Satzes? I [124]
142
Beispielsweise ist der Satz : Die Sitzung ist eröffnet nich� deswe­
gen performativ, weil sein Sender der V�rs1tzende 1st. Der
Sender ist der Vorsitzende, insofern der fraghche Satz performa­
tiv ist. Die Gleichung Vorsitz-Performanz ist kontextunabhän­
gig. Ist der Satz performativ, während der Se�der nicht Vors�t­
zender ist, so wird er es; und ist der Satz mcht performatlv,
während der Sender Vorsitzender ist, so ist er es nicht mehr. ­
Aber ist nicht wenigstens diese Alternative kontextabhängig ? -
145
 DIE DARSTELLUNG
Der Kontext selbst besteht aus Sätzen, die mit dem fraglichen
Satz verknüpft sind. Mit dem Satz: Die Sitzung ist eröffnet
können Sätze verknüpft werden wie: Einverstanden, Sie über­
nehmen den Vorsitz im ersten Fall, oder: Keineswegs oder: Mit
welchem Recht im zweiten. - Aber hängt nicht das Vorkommnis
dieser Sätze seinerseits vom Kontext ab? - Was Sie Kontext
nennen, ist selbst nur der Referent kognitiver Sätze, etwa des
Soziologen. Der Kontext ist kein Sender. In der Verwechslung
von Kontext als Referent und Kontext als Sender ist der Positi­
vismus angesiedelt, insbesondere der der Humanwissenschaften
im allgemeinen. Mit dem Kontext gibt man das Wort an das
Objekt des »Wissenschaftlers« von nebenan ab, so als ob dieser
Referent ein Sender wäre.
143
Nachträglich aber wird man doch wissen, welches Universum
nun wirklich vom Anfangssatz dargestellt wurde? Die spätere
Satzreihe wird das Regelsystem des ersten entscheiden? - Die
spätere Reihe entscheidet nichts (nicht mehr als >>die Geschichte
wird sagen, ob . . . << ) . Wenn eine Entscheidung fällt, so rührt sie
von der Diskursart her, in der die Reihe >>gesteuert« wird. Stellen
Sie sich zwei äußerste Pole vor, zwischen denen sich alle Dis­
kursarten verteilen. Der Einsatz des einen, des Diskurses der
Erkenntnis, wäre es dann, die Reihe in Richtung auf die Beseiti­
gung der anfänglichen Mehrdeutigkeit zu steuern. Der des ande­
ren, des Diskurses des Unbewußten, wäre es, diese soweit wie
möglich aufrecht zu erhalten. Man kann nicht behaupten, daß
der eine dem >>Wesen« der Sprache mehr oder weniger entsprä­
che als der andere, noch daß der eine >>ursprünglich«, der andere
sekundär wäre. Sie wären in der Ordnung der Diskurse das, was
die Tautologie und der Widerspruch in der Ordnung der Propo-
[125] sitionen sind: Der rationale Satz stellt das Universum dar, I das
er darstellt, der passionale Satz [phrase passioneile] stellt inkom­
possible (unvereinbare) Universen mit dar.
146
IDIOLEKTE
144
Sie nennen sie inkompossibel (Nr. 1 43), weil Sie sie in Bezug auf
den Diskurs der Erkenntnis meinen. Nehmen Sie Freuds Analy­
se des weiblichen Phantasmas, das er mit einem Satz über­
schreibt: >>Ein Kind wird geschlagen.« Die Frau, das heißt ihr
Name, ist ein Empfänger in dem von diesem Satz dargest�llten
Universum (ein gestörter Empfänger : Wenn der Satz statt�mdet,
.
gibt es Masturbation). Sie ist aber auch sem Referent: 1st das
.
geschlagene Kind. Doch ist die Referenz-Instanz zugle1ch �on
>>einem anderen Kind« besetzt, das vom Vater geschlagen w1rd.
Was den Vater betrifft, so ist er als Referenz-Instanz gesetzt,
erscheint aber zugleich überhaupt nicht als Instanz (ist ausge­
löscht). Und welches ist der Sender, der in den miteinander
vermengten Universen dargestellt wird? Er ist in dem � at� oder
den Sätzen niemals markiert. Der große Andere, w1e m der
lacanschen Metaphysik? Die Inkompossibeln bestehen - wie Sie
sehen - ganz ungezwungen nebeneinander. - Ja, aber � ie s �nd
symptomatisch. - Sie machen einen Idiolekt aus, um m1t Wltt­
genstein zu sprechen. - Und die Masturbat�on? - �in Mod�s
simultanen Vorkommnisses von Inkomposs1beln, w1e etwa em
Traum, ein Erröten, ein Krampf, eine Unterlassung, eine
Krankheit, ein Schweigen, ein Gefühl, der Alkohol, die Droge.
Das heißt die Agitation, das im selben Augenblick von einer
Lesart zur anderen Springen. Prostitution bei Guyotat ( 1975).
145
Aber der Körper ist wirklich? - Der >>eigene« Körper ist ein
Name aus der Familie der Idiolekte. Darüber hinaus ist er der
Referent von Sätzen, die unterschiedlichen Regelsystemen ge­
horchen. Ich habe Zahnweh: das ist ein Deskriptiv, begleitet von
einer mit-dargestellten Bitte: Befreit mich davon. Aus Ihren
Schmerzen macht der Zahnarzt einen Fall, der einen kognitiven
Satz verifiziert (ein Verfahren mit drei Sätzen : Da ist es, das
nennt sich Zahnhals, es ist gut möglich, daß es sich dabei um
Karies des Zahnhalses handelt). In diesem Fall und als Antwort
auf Ihre Bitte verordnet er Handlungen zur Wiederherstellung
der Gesundheit (wobei diese selbst Gegenstand einer Idee ist).
147
 1M
1 t $!1 t m. r r t •• :;;: L ;I• !r:r:tf •

DIE DARSTELLUNG TRIFTIGKElT DER VERKETTUNG

Mu :atis mutandis gilt das gleiche für die anderen Fachleute des 147
>>K?. rpers<< : für den Sport-Trainer, für den Sex-Ratgeber, für den Von einem Satz-Regelsystem (deskriptiv, kognitiv, präskriptiv,
kulma��_ ��?� n Künstler, für d�n Tanz- oder Gesangslehrer, für evaluativ, interrogativ . . . ) zum anderen braucht eine Verket­
_
den mihtansche?- Ausb�lder Ist der Körper ein Komplex von tung nicht unbedingt triftig zu sein. Es ist nicht triftig, Öffnen
[126] Symptomen, I die von emer Idee des guten Körpers aus gelesen Sie die Tür mit Sie haben eine Anweisung formuliert oder mit
u� d be�an?elt werden. - Aber das Zahnweh ist ein Schmerz, er Welch schöne Tür! weiter zu verketten. Diese mangelnde Triftig­
w�rd �Irkhch erle?t usw. ! - Wie läßt sich verifizieren, daß dies keit aber kann in einer Diskursart durchaus angebracht sein.
Wirkheb erleb � wird? Sie �ind der einzige Empfänger dieses Eine Diskursart legt einen Einsatz für die Satzverkettungen fest
Sc?m �rzes. Er ISt wie _ Summe Gottes : >>Gott kannst du nicht
_ die
(Nr. 1 78 ff.). Beispielsweise überreden, überzeugen, besiegen,
mit emem Anderen reden hören, sondern nur wenn du der zum Lachen, zum Weinen bringen usw. Angebracht kann es
�ng�redete bist<< (Zettel: § 717). Wittgenstein fiigt hinzu : >>Das sein, auf nicht-triftige Weise zu verketten, um eine dieser Wir­
rst eme grammatische Bemerkung.<< kungen hervorzurufen. Die Teleologie beginnt bei den Diskurs­
Sie umschreibt, was ein Idiolekt ist: >>Ich<< allein kann ihn arten, nicht bei den Sätzen. Als verkettete aber sind die Sätze
vernehmen. Der Idiolekt fällt leicht dem Dilemma anheim immer in (mindestens) eine Diskursart einbegriffen. I [ 1 27]
(Nr. 8) : Wenn Ihr Erlebnis nicht mitteilbar ist, können Sie nicht
b �zeugen, daß es existiert; wenn es mitteilbar ist, können Sie
m �h� sagen, daß Sie der einzige seien, der bezeugen kann, daß es 148
existiert. Der mit einer Diskursart verbundene Einsatz vermöchte die
Verkettungen zwischen Sätzen zu bestimmen. Er bestimmt sie
146 aber nur so, wie ein Zweck Mittel bestimmen kann: durch den
Ausschluß derer, die nicht angebracht sind. Man wird Zu den
Gebe� Sie zumindest folgendes zu : Die Sätze der Normalspra­
� �
c e sm m �hrdeutig, es ist aber eine edle Aufgabe, nach der
Waffen! nicht mit Sie haben gerade eine Vorschrift formuliert
�
Em euttgkei: z� forschen und die Mehrdeutigkeit nicht noch zu
_
weiter verketten, wenn es um dringlich gebotenes Handeln geht.
Man wird es tun, wenn man Lachen hervorrufen will. Aber es
schuren. - Dies ISt zummdest platonisch. Sie ziehen dem Wider­
� �
streit den Dia ?g vor: Und S e set�e� vo�aus, daß die Eindeutig­
.
_ erstens moghch
gibt viele andere Mittel, um den Zweck zu erreichen. Man müßte
die Idee der Verführung erweitern. Eine Diskursart wirkt ver­
�eit Ist; zweitens m Ihr dre Gesundheit der Sätze
�
he?t. Un we?n der Spieleinsatz des Denkens (?) eher im
führerisch auf ein Satz-Universum. Sie orientiert die Instanzen,
die dieser Satz darstellt, in Richtung auf bestimmte Verkettun­
Widerstreit als Im Konsensus bestünde? Und dies sowohl in der
gen oder rückt sie zumindest anderen Verkettungen fern, die in
edlen Diskursart wie in der gemeinen? Und bei bester >>Gesund­
bezug auf das von dieser Diskursart verfolgte Ziel nicht ange­
heit<<, bei vollem Bewußtsein? Das soll nicht heißen daß man die
� �
ehrdeutigkeit schürt. Aber am Ende der Eindeuti keit kündigt
bracht sind. Nicht der Empfänger wird vom Sender verführt.

�� � �
Dieser, der Referent, die Bedeutung unterliegen nicht weniger
S I �h etw ( urc da� Gefühl) an, das diese eindeutige, >>einzige
. als der Empfänger der verführerischen Wirkung dessen, was in
Summe<< mcht m Satze
· fassen kann.
der Diskursart auf dem Spiel steht.

"-· Wortspiel �it d �m lat. Wortstamm vox (»Stimme«) : frz. eq�tivocite

(»Meh:.deungkeit«), univocite (»Eindeutigkeit«), voix (»Stimme« '·
A. d. U.).
148 1 49
 DER »LETZTE<< SATZ
DIE DARSTELLUNG
151
149
n, ihm ein U ?rech t
Der Verstoß ist keine mangelnde Triftigkeit, wie das Unrecht Wie kann ein Satz gegen einen Satz vers toße
antu n? Besit zen die Sätze Ehre , Stolz ? �nt�
uopomorphls:nu� ,
kein Schaden ist (Nr. 41 ). Er ist die Vorherrschaft eines Satz­ was das Ere1 gms
Regelsystems über ein anderes, die usurpierte Autorität. Öffnen von Ihre r Seite ? - Ganz einfach: man we1ß me,
hem Rege lsyst em?
Sie die Tür. - Sie haben gesagt, ich solle die Tür öffnen, haben also [i. 0. dt.] ist. Satz in welc hem Idio m? in welc
egzunehm en, das
eine Vorschrift formuliert. Man diskutiert, um zu erfahren, ob Das Unrecht besteht imm er darin, es vorw [129]
dies der Fall ist (Definition der Vorschrift, Übereinstimmung heißt es zu verbieten.
des Befehls mit dieser Definition usw.). Nehmen wir an, dies ist
der Fall. Sie haben eine Vorschrift formuliert ist dann ein vali­
dierter Satz. Er schreibt dem Öffnen Sie die Tür eine Eigenschaft
zu, nämlich die einer Vorschrift. Die mangelnde Triftigkeit
besteht darin, den Befehl mit einem Kommentar des Befehls und
nicht mit seiner Ausführung weiter zu verketten. Ein Verstoß
wäre es, wenn der Kommentator des Befehls - zugleich der
Empfänger des Befehls - sagte : >>Ich habe verstanden, welcher
Satz-Familie Öffnen Sie die Tür angehört, und bin deswegen mit
diesem Befehl fertig.« Dies ist der spekulative, im allgemeinen
metasprachliche Verstoß (Nr, 45).

150
Das im letzten Urteil implizierte Unrecht: Nach dem, was ich
gerade gesagt habe, gibt es nichts mehr zu sagen. - Aber Sie sagen
es ! Was fügen Sie zu dem vorher Gesagten hinzu, wenn Sie
erklären, daß es nichts mehr hinzuzufügen gibt? Sie fügen hinzu:
entweder, daß der vorangehende Satz der letzte war, oder daß
[128) die auf Ihren >>letzten<< Satz folgenden Sätze I Tautologien der
vorangehenden Sätze sein werden. Die erste Erklärung ist Un­
Sinn (das Nach-Letzte), die zweite verlangt den Beweis, daß
kein neuer Satz kommen wird. Eines von beiden also, was diesen
Beweis betrifft: entweder besteht er aus Tautologien der voran­
gehenden Sätze oder nicht. Im ersten Fall widerlegt er de facto,
was er de jure begründet; im zweiten ist der Beweis bereits
geführt, bevor er vollzogen ist. - Und woher wissen Sie, daß er
nicht schon vollzogen ist? - Ich weiß nur: Was nicht schon
vollzogen war, ist der Beweis, daß er nicht schon vollzogen war.
Und dieser Beweis wird de facto widerlegen, was er de jure
begründen wird.

150 151

,, 2 mm 1 .
7 tt $ .
Das Resultat
152. Modell
Man widerspricht nicht, befindet er, man glaubt zu widerspre­
chen. Die Kontroverse gehört zu einer Diskursart, der ÖtaAEX­
nx� (dialektike), Thesen, Argumente, Einwürfe, Widerlegun­
gen, die die Topik und die Sophistischen Widerlegungen analysie­
ren und zu normieren versuchen. Die >>große<<, die spekulative
Dialektik weist diese Diskursart als leichtfertig zurück: >>Die
Einwürfe, wenn sie wirklich mit der Sache, gegen die sie gerichtet
sind, zusammenhängen, sind einseitige Bestimmungen [ . . . ).
Diese einseitigen Bestimmungen, als mit der Sache zusammen­
hängend, sind Momente ihres Begriffs, die also bei seiner Exposi­
tion in ihrer momentanen Stellung vorkommen, und deren
Negation in der immanenten Dialektik des Begriffs aufgezeigt
sein muß [ . . . ).<< Folglich könnte die Wissenschaft in bezug auf die
Arbeit der Aufsammlung dieser Einwürfe, wie Göschel (als
Autor der Aphorismen, die Hegel kommentiert) sie leistete, >>die
Forderung machen, daß solches Geschäft überflüssig wäre, denn
es wird nur durch den Mangel an Bildung des Denkens und durch
die Ungeduld der Eitelkeitmangelhaft gebildeten Denkens veran­
laßt<< (Hegel, >>Göschels Aphorismen<<, hier zitiert nach Lebrun,
1 972 : 221-222 ; = Sämtliche Werke, Bd. 20, S. 304-305). Die
Wissenschaft im hegelschen Sinne läßt die dialektike nicht neben
sich bestehen, wie es die aristotelische Dialektik tat. Sie schließt
sie in ihre Diskursart, das Spekulative, ein. In dieser Diskursart
wird die Zwei der Dialektik, die die Paralogismen und Aporien
verursacht, in den Dienst des dialektischen Zwecks, der Eins,
gestellt. Es gibt keine wahrhaften Widerreden.
Hier liegt nun aber ein Satz vor (die spekulative Regel), der
kein widersprüchliches Sein übrigläßt. Daß er es könnte, ist
152
z a S' • P'
b'' 6r 11
METAPHYSIK UND MIKROLOGIE
gänzlich >>unsere<< Angelegenheit, eine Angel� genheit der Satz­
Verkettung. Ist das Einzige das Ziel und folgheb das Gesetz der
Satz-Verkettungen? I Der Mensch, das >>wir<< »unserer<< Angele- [1 30]
genheit - verdankt er nicht seinen einzigartigen Namen der
Tatsache, daß er die Ereignisse auf die Eins hin verkettet?
Eine Satzkette knüpft an diese Regel an. Hier einige Glieder
davon :
>>Es liegt in der Bestimmung negativer Dialektik, daß sie sich
nicht bei sich beruhigt, als wäre sie total; das ist ihre Gestalt von
Hoffnung.<<
>>Dazu muß Dialektik, in eins Abdruck des universalen Ver­
blendungszusammenhangs und dessen Kritik, in einer letzten
Bewegung sich noch gegen sich selbst kehren.«
>>Metaphysik ist, dem eigenen Begriff nach, möglich nicht als
ein deduktiver Zusammenhang von Urteilen über Seiendes.
Genausowenig kann sie nach dem Muster eines absolut Ver­
schiedenen gedacht werden, das furchtbar des Denkens spot­
tete.<<
>>Danach wäre sie möglich allein als lesbare Konstellation von
Seiendem.<<
>>Von diesem [ . . . ] brächte sie die Elemente zu einer Konfigu­
ration, in der die Elemente zur Schrift zusammentreten. <<
>>Die kleinsten innerweltlichen Züge hätten Relevanz fürs
Absolute.<<
>>[ . . . ] daß Metaphysik in die Mikrologie einwandert. Diese ist
der Ort der Metaphysik als Zuflucht vor der Totale.<<
Diese Sätze sind dem Schluß der Negativen Dialektik ent­
nommen (Adorno, 1 966 : 395-398). Dort wird gesagt, daß >>der
mikrologische Blick [ . . . ] die Schalen des nach dem Maß des
subsumierenden Oberbegriffs [Hegel ist hier angesprochen und
der Kant der ersten Analytik] hilflos Vereinzelten (zertrümmert)
und seine Identität (sprengt), den Trug, es wäre bloß Exemplar«.
Diese Frage nach dem Exemplar ist entscheidend. Es ist dies
die Frage nach dem Namen. Welche begriffliche Bedeutung
enthält der sogenannte Eigenname? Durch welchen intellegi­
blen, dialektischen Satz kann man den faktischen Namen erset­
zen? Was meint ein Eigenname ? So lautet die spekulative Frage­
stellung, Adorno zufolge. Sie setzt die Verkehrung des Einzel­
nen in ein Beispiel des Oberbegriffs [generique] voraus. Deshalb
1 53
• . 5 "' na " 1
I &TZ ' mt t
·
Yt · ;z:t
J
.I
DAS RESULTAT
[ 1 3 1 ] schreibt er in der Vorrede zur Negativen Dialektik: I >>Der dritte
Teil dann führt Modelle negativer Dialektik aus. Sie sind keine
Beispiele; erläutern nicht einfach allgemeine Erwägungen. [. . .]
[der] Gebrauch von Beispielen als ei[n] an sich Gleichgültige[s]
[ist es], den Platon einführte und den die Philosophie seitdem
wiederholte« (S. 8).
Nun beginnt in diesem dritten, »Modelle« überschriebenen
Teil der Abschnitt »Meditationen zur Metaphysik« mit einigen­
sagen wir - Mikrologien unter dem Titel »Nach Auschwitz«,
Dort und im Umkreis davon findet man folgende Sätze:
»Kein vom Hohen getöntes Wort, auch kein theologisches,
hat unverwandelt nach Auschwitz ein Recht<< (S. 358).
»Wäre der Tod jenes Absolute, das die Philosophie positiv
vergebens beschwor, so ist alles überhaupt nichts, auch jeder
Gedanke ins Leere gedacht [ . . .}< (S. 362).
»Neues Grauen hat der Tod in den Lagern: seit Auschwitz
heißt den Tod fürchten, Schlimmeres fürchten als den Tod<<
(S. 362).
Geschieht es aus Ungeduld, Leichtfertigkeit und Unbildung,
wenn man dem Widerspruchslosen, dem Spekulativen wider­
spricht? »Auschwitz<< und »nach Auschwitz<<, das heißt das
abendländische Denken und Leben jetzt - liegt hierin etwas, das
dem spekulativen Diskurs widerspricht? Wenn ja: ist dies leicht­
fertig ? Wenn nein: was geschieht durch oder mit dem Spekulati­
ven, das nicht selbst spekulativ wäre? Welches ist der Diskurs
namens »Auschwitz<<, der ihm dann widerspricht? Oder wer
will ihm widersprechen, ohne daß es ihm gelänge?
Nach impliziert eine Periodisierung. Adorno rechnet die Zeit
(aber welche Zeit?) von »AuschwitZ<< an. Ist dieser Name ein
chronologischer Koordinatenursprung? Welche Ära beginnt mit
diesem Ereignis? Die Frage erscheint pausbäckig, wenn man sich
daran erinnert, auf welche Weise die Dialektik im ersten Kapitel
der Wissenschaft der Logik und schon in der zweiten kantischen
Antinomie die Idee des Anfangs auflöst. Hat Adorno das ver­
gessen ?
»Auschwitz<< ist für ihn ein Modell, kein Beispiel. In der
Philosophie von Platon bis zur hegelschen Dialektik hat das
[ 132] Beispiel die Aufgabe, eine Idee zu illustrieren; I es steht in
keinem notwendigen Bezug zu dem, was es illustriert, sondern
154
•-
ERFAHRUNG
bleibt ihm »gleichgültig<< . Das Modell dagegen treibt die ne� ati­
ve Dialektik »ins reale Bereich<< hinein (S. 8). Als Modell illu­
striert »Auschwitz<< nicht die Dialektik, auch nicht die negative.
Diese rüttelt die Gestalten des Begriffs, die aus der Resultats­
Regel hervorgehen, durcheinander und befreit die Namen, ?ie
als Illustrationen der einzelnen Bewegungsphasen des B egnffs
gelten. Die Idee des Modells entsprich: der Verkehr� mg der
Bestimmung der Dialektik: Das Modell 1st �er �ame e�ner Art
Meta-Erfahrung, in der die Dialektik auf em mcht negterbares
Negatives träfe und in der Unmöglichkeit verharrte, e� in ei� em
»Resultat<< zu verdoppeln. In der die Wunde des Getstes mcht
vernarbte. In der, wie Derrida schreibt, »die Investition in den
Tod sich nicht gänzlich amortisierte<< (1972 [1968 a] : 1 25).
Das Modell »AuschwitZ<< vermöchte eine »Erfahrung« von
Sprache zu bezeichnen, die dem spekulativ�n Di� kurs � alt
gebietet. Dieser könnte sich »nach AuschwttZ<< mcht wet�er
fortsetzen. Hier liegt ein Name vor, »in<< dem das spekulative
Denken nicht stattfände. Es wäre also kein Name im Sinne
Hegels, eine Gestalt des Gedächtnisses, die die I? auerhaftigkeit
des Referenten und seiner Bedeutungen garantiert, wenn der
Geist deren Zeichen zerstört hat. Dies wäre ein Name ohne
spekulativen »Namen<<, nicht in einem Begriff aufhebbar.
1 53. Erfahrung
Das Wort Erfahrung ist das Wort der Phänomenologie des
Geistes, der »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins<<. Die
Erfahrung ist »die dialektische Bewegung, welche das Bewußt­
sein an ihm selbst [ . . . ] ausübt<< (Phänomenologie des Geistes, 2 :
80, 78). In der ihr eigenen Sphäre bedingt die Erfahrung das
Element des Spekulativen, das »Leben des Geistes<<, und zwar
als Leben, »das ihn [den Tod] erträgt und in ihm sich erhält<< (2 :
34 ). Dieses Verweilen setzt die »Zauberkraft<< des Geistes frei,
die Kraft, das Negative in Sein zu verkehren, die »göttliche
Natur<< des Sprechens (2 : 92). Kann man hinsichtlich des Mo­
dells »AuschwitZ<< noch von Erfahrung sprechen? Hieße das
nicht, die ungebrochene »Zauberkraft<< voraussetzen? Ist auch
der Tod mit Namen (oder ohne Namen) »Auschwitz<< ein »Ver­
weilen<<, in dem die Verkehrung, das alte Paradoxon der Affir-
155
, er
11 5 n
DAS RESULTAT
mation des Nichtseins, sich vollziehen kann? >>Seit Auschwitz
[133] heißt den Tod fürchten, Schlimmeres fürchten als den I Tod.«
Daß der Tod noch nicht das Schlimmste ist, mag daran liegen,
daß er nicht das Ende schlechthin ist, sondern das Ende des
Endlichen und die Offenbarung des Unendlichen. Schlimmer als
dieser zaubrische Tod wäre der Tod ohne Umkehrung, ganz
. denheit Raum gibt? Formuliert wird diese Alternative im Rah-
emfach das Ende, das Ende des Unendlichen eingeschlossen.
Das könnte folglich nicht Erfahrung geheißen werden, da· es ja
ohne Resultat wäre. Daß es jedoch keinen spekulativen Namen
besitzt, verschlägt nicht, daß man darüber sprechen muß' Die
mit >>Auschwitz<< gestellte Frage ist die der Diskursart ie :--:a
>>AuschwitZ<< weiter verkettet. Wenn diese Diskursart nicht
spekulativ ist, welche andere kann sie sein? Wie rechtfertigt sie
sich, wenn nicht dank des >>AufhebenS<< ? Das heißt dank einer
Bewegung, die, indem sie das >>Selbst<< von der Referenz-Posi­
tion im Universum eines unmittelbar{\!1 Satzes auf die Sender­
und Empfänger-Position im Universum eines zweiten Satzes,
der den vorangehenden >>weiter verkettet<<, übergehen läßt, den
zweiten tatsächlich autorisierte : denn in letzterem erschiene der
Referent des ersten Satzes selbst, der als Sender sich selbst
formulierte und diese Formulierung an sich selbst als Empfänger
richtete. Wie könnte >>AuschwitZ<< - ein von außen gedachtes
Ding, nur >>an sich<< und >>für unS<< gesetzter Referent - jenseits
dieser Bewegung verinnerlicht, als unmittelbare Position aufge­
hoben werden und sich selbst zeigen, sich in der (und sei es
ephemeren) Identität des Für-Sich erkennen? Fehlt diese Permu­
tation, so gibt es nach Hegel nur leeres, subjektives, willkürli­
ches Geschwätz, bestenfalls einen Rückschritt ins >>räsonieren­
de<< Denken, in den Diskurs des Verstandes, in die >>Bescheiden­
heit<< der Endlichkeit. Doch als ins Absolute gesteigerte subjek­
tive Eitelkeit ist diese Bescheidenheit, wie er schreibt, »das
Böse<< (System der Philosophie, § 386; 1 0 : 42-43).
Die Mahnung indessen, man müsse dem Resultat von
>>Auschwitz<< Ausdruck verleihen, auf das Namenlose spekulie­
ren, wobei erklärt wird, man habe darüber zu sprechen, könne
es aber nicht wirklich auf die Weise, daß der namenlose Referent
des Satzes zum Empfänger und zum Sender wird und sich dem­
nach >>nennt<< - diese Intimidation (oder Intimation) urteilt im
voraus über das Wesen des Gegenstands. Wenn der Name, den
156
sn
sp er-. ...-*
SKEPTIZISMUS
>>Auschwitz<< birgt, der Tod des »schönen<<, zaubrischen Todes
ist, wie könnte sich dann der schöne Tod, der die spekulative
Bewegung trägt, wieder I vom Lager-Tod abheben? Und wenn [134]
man andererseits voraussetzt,_ daß der spekulative Diskurs >>nach
Auschwitz<< zu Tode gekommen ist, folgt dann daraus, daß er
nur dem subjektiven Geschwätz und der Bosheit der Beschei­
men der spekulativen Logik. Nimmt man sie hin, so betreibt
man die Fortsetzung dieser Logik.
Wäre es möglich, daß >>nach<< dem namenlosen >>Auschwitz<<
irgendeine Art von Satz im Sinne einer anderen Logik stattfände,
die nicht dessen spekulatives Resultat wäre? Folgendes müßte
man sich vorstellen: daß die mit >>AuschwitZ<< in das abendländi­
sche Denken eingeführte Spaltung nicht den spekulativen Dis­
kurs überschreitet, das heißt - da letzterer kein Außen besitzt ­
innerhalb dieses Diskurses nicht dessen unvollständiges, ver­
stümmeltes, unausgedrücktes Ende bewirkt, wie eine Art neuro­
tischer Stasis auf einem Gesicht (dem Gesicht des >>Auschwitz<<­
Todes), die genau genommen nur einen Augenblick dauern
dürfte ; daß aber diese Spaltung der spekulativen Logik selbst ­
und nicht nur ihren Wirkungen - einen Sprung versetzt, die
Funktionsweise mancher, wenn auch nicht aller ihrer Operato­
ren hemmt und sie zur Regellosigkeit eines Unendlichen ver­
dammt, das weder das gute noch das böse Unendliche oder
beides zugleich wäre.
1 54. Skeptizismus
Indem Adorno aus dem Namen >>AuschwitZ« ein Modell für die
negative Dialektik - und in ihr - macht, legt er nahe, daß hier nur
eine affirmative Dialektik ihrem Ende begegnet. Auf welche
Weise aber ist die Dialektik affirmativ? In der Philosophischen
Propädeutik unterschied Hegel zwei Seiten innerhalb der Logik:
>>die dialektische oder negativ vernünftige; die spekulative oder
positiv vernünftige<< (3 : 1 70). Diese Unterscheidung wird in der
Encyklopädie wieder aufgegriffen: >>Das dialektische Moment ist
das eigene Sich-Aufheben solcher endlichen Bestimmungen und
ihr Übergehen in ihre entgegengesetzte [. . . ]. Das Spekulative
oder Positivvernünftige faßt die Einheit der Bestimmungen in
157
 2 I 3
DAS RESULTAT
ihrer Entgegensetzung auf, das Affirmative, das in ihrer Auflö­
sung und ihrem Ü bergehen enthalten ist<< (System der Philoso­
phie, Bd. 8, § 81 und 82).
Diese Unterscheidung wird nicht an allen Stellen des Werks
eingehalten. Wie könnte sie auch wirklich von einem Diskurs
eingehalten werden, der gerade davon zehrt, daß das Negative
[135] eine I zaubrische positive Kraft ist? Eher muß man sich darüber
wundern, daß die Gegenüberstellung getroffen und jenseits ihrer
eigenen Dialektisierung aufrechterhalten wurde, wie ein Zuge­
ständnis, das zwar hinter vorgehaltener Hand, aber in einem
wesentlichen Punkt dem Verstandesdenken gemacht wurde.
Hierin liegt eine Spur, die Narbe einer Wunde im spekulativen
Diskurs, deren Wiedergutmachung dieser Diskurs selbst ist. Es
ist die Wunde des Nihilismus. Diese Wunde ist nicht akziden­
tell, sie ist absolut philosophisch. Der Skeptizismus (der antike,
versteht sich) ist nicht eine Philosophie unter anderen, er ist >>in
jedem ächten philosophischen Systeme implizite zu finden, denn
er ist die freie Seite einer jeden Philosophie«. So schreibt Hege!
1 802, und er fährt fort: >>[W]enn in irgend einem Satze, der eine
Vernunfterkenntnis ausdrückt, das Reflektierte desselben, die
Begriffe, die in ihm enthalten sind, isoliert, und die Art, wie sie
verbunden sind betrachtet wird; so muß es sich zeigen, daß diese
Begriffe zugleich aufgehoben, oder auf eine solche Art verewigt
sind, daß sie sich widersprechen, sonst wäre es kein vernünfti­
ger, sondern ein verständiger Satz« (>>Verhältnis des Skeptizis­
mus zur Philosophie«, 1 : 23 1). In Paragraph 39 der Enzyklopä­
die von 1 830 verweist Hege! auf den Aufsatz von 1 802, so als ob
er ihn bruchlos billigte.
In Paragraph 78 jedoch wird der philosophischen Freiheit zur
Auflösung der Bestimmungen ein strenges Korrektiv auferlegt:
>>Der Skeptizismus, als eine durch alle Formen des Erkennens
durchgeführte, negative Wissenschaft, würde sich als eine Ein­
leitung darbieten, worin die Nichtigkeit solcher Voraussetzun­
gen dargethan würde. Aber er würde nicht nur ein unerfreuli­
cher, sondern auch darum ein überflüssiger Weg sein, weil das
Dialektische selbst ein wesentliches Moment der affirmativen
Wissenschaft ist (Hervorhebung von J.-F. L.]« (8 : 1 84). Dieses
Ko :rektiv ist bereits in der Vorrede zur Phcinomenologie des
Gezstes gegeben : Der Skeptizismus sieht >>in dem Resultate
158
HEGEL
immer nur das reine Nichts« und abstrahiert davon, >>daß dies
Nichts bestimmt das Nichts dessen ist, woraus es resultiert« (2 :
73).
In der Phänomenologie des Geistes werden die Tiere als Bei-
spiel für Weisheit in Hinblick auf die sinnliche Gewißheit ange-
führt: sie verzweifeln an dieser Realität und zehren sie auf (2 : 90-
91 ). Der Skeptizismus ist unerfreulich, weil er die Tierhaftigkeit
des Geistes, dessen Bauch darstellt, der die Bestimmungen
aufzehrt. Derart ist die Wunden schlagende Anziehungskraft I [1 36]
des Nihilismus, eine Aus- oder Aufzehrung, die nichts übrig
liesse. Derart sind Balsam und Exorzismus beschaffen: diese
entmutigende Negativität zur Erzeugung einer Affirmation ar-
beiten lassen. Ist das namenlose >>Auschwitz« ein Modell negati-
ver Dialektik - dann wird es die Hoffnungslosigkeit des Nihilis-
mus aufgeweckt haben, und das Denken >>nach Auschwitz« wird
seine Bestimmungen wie eine Kuh ihr Futter oder ein Tiger seine
Beute aufzehren müssen, ohne Resultat. Man wird in der Suhle
oder in der Raubtierhöhle, zu der das Abendland geworden sein
wird, nur die Folge dieses Verzehrs finden: den Abfall, die
Scheiße. Derart muß das Ende des Unendlichen verstanden
werden, als endlose Wiederholung des >>Nichtigen«, als
»schlechtes Unendliches«. Man wollte den Fortschritt des Gei-
stes, man hat seine Scheiße bekommen.
Worin würde ein Resultat von >>Auschwitz« bestehen? Was ist
Resultat? Im selben Paragraphen 82 der Enzyklopädie (von
1 830) schreibt Hegel : >>Die Dialektik hat ein positives Resultat,
weil sie einen bestimmten Inhalt hat, oder weil ihr Resultat
wahrhaft nicht das leere, abstrakte Nichts, sondern die Negation
von gewissen Bestimmungen ist, welche im Resultate eben des­
wegen enthalten sind, weil dies nicht ein unmittelbares Nichts,
sondern ein Resultat ist« (8 : 1 95). Resultat gibt es, weil es
Bestimmung gibt.
Diese aber bestimmt sich ihrerseits nur durch die Regeln
dieser Diskursart: der spekulativen.
HEGEL
1. In der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes beschreibt Hege! die
Prädikation: Auf der einen Seite bildet das >>Selbst« (das, worum es sich
1 59
....
.......-.
n.r n·n·-........"."_...,...".".7•
._............rz . ."."...
,."."•._•
._.••
DAS RESULTAT
handelt, das Subjekt der Proposition) die »Basis«, einen regungslosen
Träger; auf der anderen Seite folgen die darauf bezogenen Inhalte einer
Hin- und Herbewegung, sie gehören nicht zum Selbst, sie können sich
auf andere »Basen« wenden und andere Aussagen [enonces] veranlas­
sen. Diese haben die Form attributiver Urteile, und die Inhalte sind die
Prädikate. Derart ist der >>räsonierende« Satz, das »Räsonieren« be­
schaffen. Die Philosophie des Verstandes im aristotelischen oder kanti­
schen Sinne stockt, wie Hege! sagt, an der Frage: Wie läßt sich
vermeiden, daß der Bezug (die Synthese) zwischen dem Prädikat und
dem Subjekt eines Urteils willkürlich ist? Das >>begreifende Denken•
nimmt nicht das Subjekt des Satzes zum Subjekt, das >>ruhende Sub­
jekt«, >>das unbewegt die Akzidenzen [Hege! spricht nicht einmal mehr
[137] von Prädikaten] trägt« ; I sein Subjekt ist >>das eigene Selbst des Gegen­
stands [ . . . ], das sich als sein Werden darstellt«, das heißt »der sich
bewegende und seine Bestimmungen in sich aufnehmende Begriff• (2:
55-56).
Drei Gesichtspunkte sind in dieser Veränderung des »Subjekts<< von
Kant zu Hege! hervorzuheben. Zunächst unterscheidet der Diskurs
des Verstandes im Satz zwischen dem Referenten (dem Gegenstand,
dem >>Selbst« oder der Substanz im Sinne von Aristoteles) und seiner
Bedeutung (dem Begriff). Seine >>Schwierigkeiten« entspringen dieser
Unterscheidung. Die hegelsche >>Lösung« besteht in ihrer Beseitigung:
Der Referent ist nichts anderes als der Begriff, als seine Bedeutung.
Wovon die Rede ist, ist auch, was die Rede ist (das Wirkliche ist
vernünftig). Diese Identität ist bereits in den natürlichen Sprachen der
Fall, sie bleibt aber an sich und ist an ihnen nur »für uns« sichtbar, die
wir die äußeren Empfänger des >>aktuellen« Satzes und bereits im
spekulativen Diskurs situiert sind. In diesem wird jene Äußerlichkeit
verinnerlicht, das ,,für uns« wird zum ,,für sich«, das »Selbst« besetzt
die Empfänger-Instanz des spekulativen Satzes, und zwar an Stelle des
>>Uns«, das verworfen oder in den spekulativen Diskurs einbezogen
wird. Das Selbst besetzt also drei Instanzen: Referent, Bedeutung und
Empfänger. Daraus ergeben sich zwei Fragen: 1.) nach dem spekulati­
ven Sender; 2.) die einfache Identität von Instanzen ist unmöglich (das
>>Üm der Tibetaner«); widersprüchlich ist es, wenn das Gleiche ver­
schiedene Instanzen besetzt. Die geheime Triebkraft dessen, was He­
gel Bestimmung nennt und als möglichen Ausweg aus der leeren
Identität ins Spiel bringt, besteht in der Verteilung von Satz-Universen
auf mehrere Instanzen.
Zweiter Gesichtspunkt: Die Veränderung des >>Subjekts«, das sich im
Übergang vom >>an sich« zum ,,für sich« in das spekulative Idiom
übersetzt, entspricht dem, was der Logiker oder Linguist (mit jeweils
anderem Sinn) die Bildung einer Metasprache über eine Objektsprache
160
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HEGEL
nennen. Nicht die Tür muß geöffnet, sondern der Satz Öffnen Sie die
Tür bewahrheitet werden (Nr. 45, 149).
Dritter Gesichtspunkt: Das spekulative Dispositiv bedarf der
>>Doppelsinnigkeit« und der >>Zweifelhaftigkeit« von Ausdrücken, die
die Sätze bilden (oder der Sätze selbst: für Hege! sind die Ausdrücke
unentwickelte Sätze). Die Doppelsinnigkeit und die Zweifelhaftigkeit
sind die Zeichen dafür, daß die Identität des >>Selbst« widersprüchlich
ist. Es handelt sich dabei nicht nur um vorübergehende Eigenschaf­
ten, die der Ietztlichen Eindeutigkeit vorangehen. So wird etwa in
den Vorlesungen über Ästhetik das Symbol durch seine >>Wesentlich
zweideutige« Natur gekennzeichnet: Der auf einer Münze eingravier­
te Löwe ist >>sinnliche Gestalt und Existenz« (12: 4 1 1-412). Ist er ein
Symbol? Vielleicht. Und wenn, was symbolisiert er? Das bleibt zu
entscheiden. Zwei Ebenen von Unsicherheit also: sinnlich oder Sym­
bol? Im zweiten Fall: welche Bedeutung? Sind die Antworten einmal
gefallen, so verflüchtigt sich die Mehrdeutigkeit, I das Symbol wird [138]
auseinandergerissen, einem Referenten eine Bedeutung zugeschrie­
ben.
Aber die Mehrdeutigkeit und die Zweifelhaftigkeit können sich
wieder im sprachlichen Satz einfinden, der den sinnlichen Satz fortsetzt
und verknüpft. Die >>Freude des Denkens« (Wissenschaft der Logik, 4 :
22; Enzyklopädie von 1 830, § 96) besteht darin, vielfältige Bedeutungen
für die Wörter einer natürlichen Sprache zu finden. Sie erreicht ihren
Gipfel, wenn die Bedeutungen >>entgegengesetzte« sind. Je häufiger dies
in einer Sprache vorkommt, desto eher wird sie vom >>spekulativen
Geist« bewohnt. >>[D]aß eine Sprache dazu gekommen ist, ein und
dasselbe Wort für zwei entgegengesetzte Bestimmungen zu gebrau­
chen«, ist >>für das spekulative Denken erfreulich« . Diese Freude
erreicht mit dem deutschen >>aufheben« ihren Höhepunkt: es vereint
nicht nur das positive emporheben und das negative wegnehmen,
beseitigen wie das lateinische tollere, sondern die Affirmation schließt
bereits die Negation ein: emporheben heißt erhalten, aufbewahren, und
man kann nicht etwas aufbewahren, ohne daß es >>seiner Unmittelbar­
keit und damit einem den äußerlichen Einwirkungen offenen Dasein
entnommen wird« (Wissenschaft der Logik, 5 : 120).
Die Freude des Denkens kulminiert deswegen in »aufheben«, weil
dieser Ausdruck der normalen Sprache auch der Name des spekulativen
Verfahrens par excellence ist. Das Selbst oder das Subjekt des normalen
oder verständigen Satzes wird durch den spekulativen Diskurs über die
verschiedenen, durch diesen Satz dargestellten Instanzen hinweg in
Umlauf gebracht. In diesem Werden wird es zugleich bewahrt und
beseitigt.
Auf diese Weise vollzieht der spekulative Diskurs nichts anderes als
161
 p 11
DAs RESULTAT
der normale, der es »naiv<< tut. Er ist nicht die Metasprache einer
Objektsprache, sondern die Objektsprache selbst, die sich erhält und
beseitigt. Die (dialektische) Logik ist >>von ihrem Gegenstande und
Inhalte nichts Unterschiedenes [. . .]; - denn es ist der Inhalt in sich, die
Dialektik, die er an ihm selbst hat, welche ihn fortbewegt« (Wissen­
schaft der Logik, 4 : 52) ; das Selbst beseitigt sich von einer Instanz zur
anderen, von der Bedeutung an sich (Referent) zur Bedeutung für sich
(Empfänger), aber es bewahrt und erhält sich, da es sich im Spiegel des
Satz-Universums reflektiert. Dieser spekulative Diskurs erhebt den
Anspruch, nur die unendliche Wechselbewegung des Selbst freizuset­
zen, das potentiell im Universum des kleinsten Satzes angelegt ist, und
zwar aufgrund von dessen Anordnung in mehreren Instanzen. Er läßt
das Selbst die situativen Relationen durchlaufen, die die Instanzen im
Satz-Universum zur Einheit fassen.
2. Die dabei beschriebene Bahn ist der spekulative Diskurs. Die Wahr­
heit läßt sich nicht in einem Satz ausdrücken, sie ist die Entfaltung seiner
Mehrdeutigkeit, sie verlangt mehrere miteinander verkettete Sätze. Die
spekulative Verkettung ist nicht irgend eine. Der Verlauf der Bahn
unterliegt Regeln. Drei unabdingbare Regeln, um bei der Dialektik des
Seins zu bleiben (Wissenschaft der Logik, 4 : 95).
[139] Erstens, wenn man sein sagt, sagt man nichts Bestimmtes, I man sagt
nichts ( >>Nichts«): Und wenn man also nichts sagt, sagt man ebensogut
sein, da sein nichts ist. Folglich verschwindet Sein in Nichts und Nichts
in Sein. Aus dem wechselseitigen Verschwinden eines Ausdrucks in
einem anderen entspringt ihre Identität: es ist das gleiche, ob man nun
sein oder nichts sagt. Diese Identität ist leer. Sein oder nichts sagen
bedeutet, nichts zu sagen; oder: Sein und Nichts sind dasselbe. Das
»räsonierende« Denken bleibt hier, im Leeren, stehen.
Eine zweite Regel entriegelt die Situation: Hier ist »ein Satz gesetzt,
der näher betrachtet die Bewegung hat, durch sich selbst zu verschwin­
den. Damit aber geschieht an ihm selbst das, was seinen eigentlichen
Inhalt ausmachen soll, nämlich das Werden« (Wissenschaft der Logik, 4:
99). Wenn man sagt: Sein und Nichts, ist Eins und dasselbe, so verriegelt
dieser Satz aufgrund seiner Form als attributive Proposition den Dis­
kurs in der leeren Identität. Er birgt jedoch etwas anderes, zwar keine
Bedeutung für sich, aber eine überschreitende »Verwirklichung« [effec­
tuation] : die Bewegung des Verschwindens des Seins im Nichts, die das
Räsonieren gerade verwirklicht hat (Regel 1 ). Diese Bewegung ist der
»eigentliche Inhalt« des Satzes über das Sein und das Nichts. Sie ist
bereits das Werden, dieses aber erscheint noch nicht an ihm selbst (es
erscheint für »UnS«).
Dritte Regel: Insofern er nicht in der Form des Satzes ausgedrückt
162
7V 11
HEGEL
wird, »geschieht an ihm« dieser »Inhalt« (die Bewegung des :v echselse!­
tigen Verschwindens von Sein und Nichts). Der Satz tst nur dte
. .
Wirkung davon. Er drückt ihn nicht an sich selbst au� . Eme mc?t
ausgedrückte Wirkung ist kein spekulatives Resulta�. Eu� Te�m (em
anderer Satz) muß den Inhalt des Satzes: Sein und Ntchts tst Ems und
dasselbe ausdrücken. Wie aber gelangt man zu diesem Ausdr_uck ! W�s
machen wir, wenn wir beispielsweise sagen, daß der Satz dte Emhett
von Sein und Nichts bedeutet? »Wir meinen«, wir äußern unsere
Meinung. "Aber das Meinen«, schreibt Hege!, »ist eine Form des
Subjektiven, das nicht in diese Reihe der Darstellun� gehört.« M.an muß
jeden äußerlich, subjektiv eingeführten Satz ausschließen, der mch� der
Dar-Stellung (hier im Sinne von exposition, Ausstellung) unterhegt,
jeden dritten, heterogenen Term. »Das Dritte aber, worin Sey n und
Nichts ihr Bestehen haben, muß auch hier vorkommen; und es ISt auch
hier vorgekommen, es ist das Werden« (4 : 1 01). Das gesuchte D ritte
»muß« in der gleichen »aktuellen« Darstellung wie das Gegensa.tzpaar
vorkommen und in eine Reihe mit ihm treten. Nun haben wtr es -
allerdings unausgedrückt- schon in der Bewegung gefunden, durch �ie
sich das wechselseitige Verschwinden der Gegensätze darstellte. Es 1st
bereits in dieser Darstellung vorgekommen, allerdings nur als Wirkun?.
Seine Verwirklichung ist seinem Ausdruck zuvorgekommen. »Was dte
Wahrheit ist, ist weder das Seyn, I noch das Nichts, sondern daß das [140]
Seyn in Nichts, und das Nichts in Seyn, - nicht übergeht, sondern
übergegangen ist« (4 : 88-89). Das Perfek� m�rkiert die �erspätung des
.
Ausdrucks für sich gegenüber der Verwtrkhchung an steh, aber. �tese
Verspätung bestätigt, daß sich der dritte Ausdruck (Werden, U � er­
gang) in der Reihe nur durch die Folge der beiden anderen, als thre
dialektische Summe darstellen läßt. Die Wirkung wäre wie: 1 + 2, das
Resultat wie: 3 X 1 .
Ich will versuchen, das Argument anders z u formulieren. Der Be­
griff der Reihe impliziert den des Übergangs (Nr. 94-97). Aber der
Übergang von einem Term zum anderen kann sich nur in der Reihe
abzeichnen, nur als ein Term, nur nachträglich (diese drei Einschrän­
kungen sind identisch). Der Übergang drückt sich nur durch seine
Terme hindurch aus. - Einwand: Hieße das, daß alles Vergangene
Übergang gewesen wäre? Das bedeutet, daß man dem Kontinuum,
dem Vorher/Nachher gegenüber dem »Ereignis« [i. 0. dt.] den Vor­
zug gibt (Aristoteles-Exkurs). Dieses Privileg scheint im Denken He­
gels nicht zweifelhaft (auch nicht mehrdeutig) zu sein. Es trägt den
Namen des Selbst.
Wir haben also drei Regeln der Satzbildung und -verkettung heraus­
gestellt, die notwendig zum spekulativen Diskurs gehören. Die Mehr­
deutigkeitsregel läßt in diesem Diskurs nur einen Term oder einen Satz
163
 HEGEL
DAS RESULTAT
es Spekul�tiven hat so�it ­
zu, der mehrere Universen mit-darstellen kann. Sie wird dadurch art, es gibt noch andere). Die Sichtung d.
an sich - dre wesendrehen Operationen
gewährleistet, daß ein einfacher Satz, der nur ein Universum darstellt' ohne davon zu wissen, also nur
verwirklicht, sond ern auch
in sich dennoch mehrere Instanzen mit-darstellt. verwirklicht die das Spekulative nicht nur
ursarten müs sen dann
Die Regel der immanenten Ableitung oder Widerspruchsregel, die für sich ausclrückt. Satz-Regelsysteme und Disk
. in der Ent icklu ng de� >>Selbst« betrach­
. Verkettung bezieht, schreibt vor, daß: Wenn p, dann non-p,
srch auf dre als vorübergehende Resultate �
reflexrve Moment. Man
und : Wenn non-p, dann p. Wenn du gewinnst, dann verlierst du; wenn tet werden. Die >>Metasprache« ist daber das .

du. verli�rst, dann gewinnst du (Protagoras-Exkurs). Wenn Sein, dann verläßt das Spekulative nicht. . .
t der Negativrta. t.' Das
Nicht das Wir, sondern das Selbst widersteh
Nzchtsem; Wenn Nichtsein, dann Sein (Gorgias-Exkurs). Sie ist die der Phän omen ologze 4es
f:ntf�ltung der �ehrdeutigkeit in Gestalt wechselseitiger Implikation. Wir nimmt eine herausragende Stellung in
Erfah rung des Bewußtsems
Sre fuhrt zum Wrderspruch: p und non-p (im Sinne Wittgensteins). Sie Geistes ein, weil sich diese im Feld der ses und das ganze
l�ßt das Dilemma (im Sinne von Protagoras) zu, und zwar um den Preis entwickelt wo das Ieh >>eine Seite des Verh ältnis
; 1 0 : Z? S)._D ieser �orrang
emer zusätzlichen »Runde<< von Implikation (seitens des non-p), die ein Verhältnis ;, ist (Enzyklopädie von 1 83 0 : § 4 1 3
um den objektiven Gerst geht,
>>Resultat« q im üblichen Sinne ergibt: Wenn p, dann q; und: Wenn non­ schwindet, wenn es um die Logik oder
lative Disk urs auf Gege nstände erst:eck�,
p, dann p, dann q (Nr. 8). das heißt, wenn sich der speku
man, daß das Wrr dre
Die dritte Regel, die Regel des Ausdrucks oder des Resultats (im die nicht das Bewußtsein sind. Dort bemerkt
des abstr akten Mom ents, des
spekulatiY.en Sinn), schreibt vor, daß der Übergang von p zu non-p notwendige, aber untergeordnete Stellung
einnim mt, die Stellu ng des Anderen des
und der Ubergang von non-p zu p gemeinsam in einem dritten Term Moments der Äußerlichkeit
n. Aber das Wir v �r­
(oder Satz) q ausgedrückt werden : Wenn p, dann non-p, dann q; und : Spekulativen (des Verstandes) im Spekulative . sophre,
in der Idee der Phrlo
Wenn non-p, dann p, dann q. Im Unterschied zum üblichen >>Resul­ schwindet im höchsten Moment, nämlich
von der gesagt wird, sie sei >>an und für sich« (ibid.
: § 577). Dami: die�e
tat« ist das und in die Regel einbegriffen, und die beiden »Runden« ist dann kem Wrr
werden von beiden Seiten verlangt. Diese Anordnung schließt das Idee, nämlich Gott, ihr Verhältnis zu sich ausdrückt,
notwendig.
uns .1m allgemei-
.
Dilemma aus.
In der Enzyklopädie verbindet sich der Ausdruck für
en zusammen das
3. Hiermit glaubt man den spekulativen Diskurs als eine Diskursart nen mit dem Ausdruck an sich. Sie kennzeichn
des Begrif fs, in dem der äußerliche
isoliert zu h�ben: als einen Komplex möglicher Sätze, die einer Gruppe abstrakte Moment der Entwicklung
Objek t des Denk ens, dem Selbst , das an sich ist,
Bezug zwischen dem
von Formations- und Verkettungsregeln unterliegen. Aber der Begriff
aufrec hterha�ten
[ 1 4 1 ] der Regel I hängt mit einem »räsonierenden«, verstandesmäßigen Den­ und dem Subjekt, dem Wir, das dieses Selbst setzt,
k�n zusa�men. Er führt die (formalistische) Unterscheidung zwischen bleibt. Das spekulative Moment liegt demg egenü ? er dort, wo dre�e
Satze�, hrer denen des spekulativen Diskurses, und Operatoren der Äußerlichkeit aufgel öst wird, wo das Selbst >>an dre Stelle« � es I Wrr [142]
ens das srch selbst
Satzbrldung und -Verkettung, den Regeln ein. Die geleistete Sichtung tritt (das dort nicht mehr ist), wo das Objekt des Denk t das
sich selbst denke nde Objek
von Regeln steht in einem metasprachlichen Verhältnis zur untersuch­ objektivierende Denken und das
ten Sprache (dem spekulativen Diskurs). Letzterer erhält den Status Fürsich wird.
he und Zwec k:
einer Objektsprache. Der spekulative und der formalistische Diskurs Solcherart ist etwa der Unterschied zwischen Ursac
Ursac he in der Wirku ng erst Ursache
sind also einander entgegengesetzt. >>Nur an sich oder für uns ist die
Der Zwec k dageg en ist gesetz t als in ihm
Nun ist der Gegensatz aber sogar die Triebfeder des spekulativen und in sich zurüc kgehe nd.
. noch als Ande rsseyn er­
Drskurses. Er entwickelt sich auch zwischen diesem und dem Diskurs selbst die Bestimmtheit oder das, was dort k erford ert eine
der sich ihm gegenüber fremd glaubt. Was bewerkstelligte die vorgebli� scheint die Wirkung zu enthal ten [ . . . ]. Der Zwec
ehe Me�asprache? Sie hat die Voraussetzungen des spekulativen Diskur­ �
spekul tive Auffa ssung [. . . ]« (ibid.: § 204 ; 1 0 : 4 1 4). Ebens o sin � in �er
se� (als rhr �ef�rent vers �anden) entfaltet. Sie hat eine Bedeutung dieses Wechselwirkung die Bestimmungen dieser Wrrku
.
ngs �orm >>mcht r?«
>>unser er Reflex ion«; aber dre Wech selwir­
Drsku:ses rsohert (er wrrd von unabgeleiteten Regeln gesteuert), die zunächst nur >>an sich«, in
. gen entgegensteht, die sich der spekulative selbst gibt (ich bin die
d.eqem kung erlangt ihre Einhe it nur, wenn die Einhe it ? er Bestim mung en
. Jede der gesetzten
ergenthch � Erzeugung des Wahren in den Satzverkettungen). Sie hat das >>auch für sich« ist, wenn die Wechselwirkung
aufhe bt und in die entge genge setzte verkehrt
Resultat dreses Gegensatzes benannt (das Spekulative ist eine Diskurs- Bestimmungen selbst

164 1 65
 '
l, 7 r
I 1 '@ .., .

HEGEL
DAS RESULTAT
htes ist es nicht
(Ursach� un� Wirkung, actio und reactio, § 155 und 156; 8 : 345) . Das Ziel wird unaufhörlich erreicht, also niemals. Als erreic
eniger erreicht. Die
Spekulauve Ist nur um den Preis der Aufhebung des Wir als einer erreicht. Als nicht erreichtes ist es nichtsdestow
und der negati ven Dialek tik wird hier
Identität, die von außen denkt oder Sätze >>Setzt<<. Regel der immanenten Ableitung
at selbst angew endet. Aber das
Die Erste Realphilosophie von Jena lehrt, daß »das Zeichen als ein auf das Ziel das heißt auf das Result
dialektisch v�rstandene Ziel ist nicht wenig er das Ziel. Die Teleo logie ist
Wirkliches ebenso unmittelbar verschwinden [muß]« ; und: »Der Na­
nur vertrackter [sophistiquee] gewor Man verläß t das Speku lative
me aber ist an sich, bleibend, ohne das Ding und das Subjekt. Im den.
Namen ist die fürsich seiende Realität des Zeichens vernichtet« (1 804; nicht.
Jenenser Realphilosophie, ed. Hoffmeister, Leipzig 1932, Bd. I, unter einer
S. 2 1 0-2 1 1). Das Ich, das Er, das Du, das Wir sind Zeichen, wie alle 4. Zumindest muß man hineingelangt sein. Man kommt
hinein , und zwar durch die anfä � gliche Versch iebun? des
Pronomina; nur an ihnen kann die Identität stattfinden. Sie findet an Bedingung
Voraus setzun g fmdet
den Namen statt, und zwar um den Preis der Entwertung der Zeichen Subjekts in ein polymorphes »Selbst «. Eben diCse
als Zeichen, der Zerstörung der Pronomina. So kommt die »Sache ins man am »Ausgang« (der ebenso ein Eingan g ist) unter der R c:gel des
. Es gibt ein X, ein einzige s. Unter den versch iedenen
Laufen« . »Resultats«
bleibt es ich g lei h und
Und sind die Namen wenigstens notwendig, damit die Sache nicht Ausprägungen, über alle Verfahren hinweg � _ �m neue
läuft? Die Sache übt noch größere Allesfresserei, sie verschlingt auch die totalisiert sich darum in einem einzige n Resulta t, das semers eitS
en
Namen. Denn noch sind die Namen nur, was das Gedächtnis aus ihnen Verfahren aufgelö st wird. Auch unter der Annahme dieses Gleich
und in ihrem
macht (ibid.: 2 1 1). Aber das Gedächtnis ist selbst »das einseitige werden die Verkettungen von Satz zu Satz in ihrem Modus
ung
Moment der Existenz des Denkens«, seine »mechanische« Seite, das Vorkommnis für notwendig erachtet und die Dialektik eine Aufheb
ist nicht falsifizi erbar
Denken "für uns oder an sich«, wie die Enzyklopädie in Erinnerung ruft genann t. Aber diese Voraus setzung des Gleiche n
(sie
(§ 464) . Im Gegenteil, wenn es nichts als die Namen gäbe, liefe die Sache (Nr. 66). Sie ist eine Regel, die den metaphysischen Diskurs regiert
ist seine Einfried ung). Die philoso phische Sichtun g enthüllt niemals ein
nicht, und zwar gerade weil die Namens-Maschine, der »Nominalis­
es Substan z-Subje kt. Sie enthüllt Sätze, Satz-Un iversen und
mus<<, an ihrer Stelle liefe. Derrida »riskiert« den »Satz« : »Was Hege! derartig
Er-
niemals denken konnte, ist eine Maschine, die funktionierte« (1972 Vorkommnisse, beziehungsweise Darstellungen, Dargestelltes und
[1968 a] : 126 ). Die Maschinen funktionieren mit Verlust. Das Spekula­ eignisse.
tive ist eine gewinnbringende Maschine, also gestört. Die »Sache« läuft Natürlich kann man der Voraussetzung des »Selbst« nicht vorwer-
nur, indem die Abfälle in Gewinn verwandelt werden, Namen und fen, »daß es in Wirklichkeit nicht so ist«. Man kann gegen sie einwen­
Pronomina eingeschlossen. den, daß sie eine Regel einer Diskursart ist, der metaphysischen Dis­
Diese Störung ist die dialektische Notwendigkeit, die selbst wieder­ kursart, die ihre eigenen Regeln zu erzeugen versucht, daß aber genau
um die Zweckmäßigkeit ist. Die » Vernunft«, heißt es in der Vorrede zur diese Regel nicht vom Diskurs ausgehend erzeugt werden kann.
[143) Phänomenologie, ist »das zweckmäßige Thun« (2 : 25). I Das Modell Die Regel des philosophischen Diskurses besteht darin, daß der
dies:r Zweckmäßigkeit stammt von Aristoteles. Ungeheuerlich er­ Einsatz des Diskurses die Erzeugung der Regel ist (oder: daß man
schemt das spekulative Spiel nur in Hinblick auf den Verstand, dieser Sätze >Setzt<, um zu wissen, wie man das, was man >setzt<, >Setzen<
aber verkennt seine Voraussetzungen, er hält sie für evident, für kann). I Sätze zu >Setzen< »beginnt« man immer, ohne daß man weiß, [
1 44]
Axiome oder Bedingungen der Möglichkeit. Er nimmt ursprüngliche, ob das, was man >Setzt<, gerechtfertigt ist. Denn sobald die Regel zum
erste Sätze an. Die gibt es nicht. Das Erste ist auch das Letzte. Somit Einsatz des Diskurses wird, ist sie nicht seine Regel, und der Diskurs
beginnt man mit dem Bedürfnis der Philosophie, mit einer Gestalt, in stellt nach eigenem Gutdünken Verkettungen her, er versucht sich.
der der Geist nur >>an sich« ist, es erfordert aber alle Sätze, um den Und wenn sie als die Regel der Diskursart, an der man sich versuchte,
Gegenstand des Bedürfnisses auszudrücken und dieses Bedürfnis auf­ »identifiziert« ist, bleibt deren Einsatz nicht mehr diese Regel, die
zuheben, damit der Geist »an und für sich« wird, »was er an sich ist« Diskursart ist nicht länger Versuch oder Kritik. Somit bleibt die
(Enzykloptidie von 1 830: § 387; 1 0 : 46-47). Sich für sich auszudrückenist »Spekulative« Regel, die dritte, die Resultatsregel notwendig vorausge­
d �r Zweck, der das Zurückprallen des Selbst im spekulativen Satz leitet. setzt. Dies ist bei den ersten beiden Regeln nicht der Fall: den Regeln
D1eser Zweck ist »die Versöhnung der selbstbewußten Vernunft mit der der Mehrdeutigkeit und der immanenten Ableitung. Eine Vorschrift
seyenden Vernunft, mit der Wirklichkeit« (ibid.: § 6 ; 8 : 47-48). Dieses wie Formulieren Sie jeden Satz mehrdeutig (oder: dialektisch), den

166 167
 1 . 1
DAs RESULTAT
gegenwärtigen eingeschlossen meint, daß die Operatoren der Mehrdeu­
tigkeit und der Dialektik auf die Vorschrift angewendet werden müs­
sen . Anders gesagt muß im philosophischen Diskurs jeder Satz, der sich
als Regel dieses Diskurses darstellt, der mehrdeutigen und dialektischen
Entfaltung unterzogen und wieder ins Spiel gebracht werden. Diese
Y_orschrift, die sich über sich selbst belustigt, entspricht dem Skepti­
Zismus.
Die spekulative oder Resultatsregel aber würde lauten: Erzeugen Sie
jeden Satz als die ausgedrückte Identität der vorhergehenden, den
gegenwärtigen Satz eingeschlossen. Aus der Perspektive des Verstandes
als Regel betrachtet aber ist dieser Satz in logischer Hinsicht der erste
und hat keine Vorgänger. Er könnte also nicht die ausgedrückte Identi­
tät der vorangehenden sein. Man wird einwenden, daß dieser »Anfang•
- spekulativ betrachtet - erzeugt werden muß und nur am Schluß
zustande kommen kann, und zwar als das Resultat von Sätzen, die ihm
von Anfang an »nachfolgen<<. Der Anfang kann aber nur deswegen als
dieses Endresultat erscheinen, weil die Resultatsregel von Anfang an
vorausgesetzt war. Der erste Satz wurde nach dieser Regel mit dem
folgenden und den weiteren verknüpft. Diese Regel aber ist dann nur
vorausgesetzt, wird nicht erzeugt. Wenn man sie nicht von Anfang an
anwendet, findet man sie nicht notwendig am Schluß, und wenn sie
nicht am Schluß steht, wird sie nicht erzeugt worden sein und war
folglich nicht die gesuchte Regel.
Der Einsatz des philosophischen Diskurses ist eine Regel (oder
mehrere Regeln), die ausfindig gemacht werden muß, ohne daß man
diesen Diskurs dieser Regel vor ihrer Auffindung anpassen könnte. Satz
für Satz wird die Verkettung nicht von einer Regel, sondern von der
Suche nach einer Regel gesteuert.
155. Wir
Wenn >>nach Auschwitz« das »Resultat« fehlt, so mangels Be­
1
;stimmung. >>Auschwitz« hätte keinen spekulativen Namen, weil
[145] 'es der Eigenname einer Meta-Erfahrung I oder gar einer Zerstö­
, rung von Erfahrung wäre. Welche Bestimmung fehlte »Ausch­
witz«, damit daraus eine Erfahrung mit einem >>Resultat« er­
wüchse? Wäre es die der Unmöglichkeit eines Wir? In den
Lagern hätte es kein Subjekt in der ersten Person Plural gegeben.
In Ermangelung eines derartigen Subjekts würde >>nach Ausch­
witz« kein Subjekt, kein >>Selbst« übrigbleiben, das sich auf
einen Namen berufen könnte, indem es sich >>Auschwitz« nennt.
168
_..l: 1to bt l " SI
WIR
Kein nach dieser Person flektierter Satz wäre möglich: Wir
machten dies, wir empfanden das, sie taten uns diese Demüti­
.
gung an, wir wußten uns au� dies� Weise . zu helfen, wtr hofften
auf, wir dachten nicht an; mcht emmal : Jeder von uns war zur
Einsamkeit und zum Schweigen verdammt. Es gäbe kemen _
kollektiven Zeugen. Bei vielen früheren Deportierten : Sc?wei­
gen. Bei vielen: Scham vor der Aussage früherer Deportierter.
Scham und Zorn gegenüber den Erklärungen, den Deutungen ­
wie raffiniert auch immer - von Denkern, die sagen, sie hätten
einen Sinn für die Scheiße gefunden. (Und vor allem gegenüber
�
dem Argument: Gerade wegen Gottes � �hlbarkei� muß i m
vertraut werden.) Eine Art von Entautonsterung (eme der vter
Bedeutungen des Schweigens zumindest, vielleicht mehr; cf.
Nr. 26, 27). Handelte es sich um jene Dispersion, die schlimmer
als die Diaspora ist: die nämlich die Sätze betrifft?
In der Republik ist das Pronomen der ersten P��son Plural
tatsächlich das Bindeglied des Diskurses der Autonsterung und
durch einen Eigennamen ersetzbar: Wir, das franz?sische
Volk . . . ; man hält dieses Pronomen für fähig, >>nach Beheben«
Vorschriften (Gesetzesparagraphen, Rechtssprüche, c;; e s�tze,
Erlasse, Urteile, Rundschreiben, Verordnungen) mtt threr
Rechtfertigung zu verketten. Nehmen wir eine verpflichtende
Vorschrift: Hiermit ist x verpflichtet, die Handlung a auszufüh­
ren. Die Rechtfertigung dieser Verpflichtung kann folgenderma­
ßen lauten: Es besteht eine Norm für y, die besagt, daß »X
verpflichtet ist, die Handlung a auszuführen � (���inowski,
.
1971). Das republikanische System hat als Legltlmttatsgrund­
satz, daß der Sender der Norm (y) und der Empfän�er der
Verpflichtung (x ) identisch sind. Der Gesetzgeber darf steh der
Verpflichtung, die er nonnativ festlegt, nicht ent�iehen. U?d der
Verpflichtete kann das Gesetz verkünden, das thn verpfhchtet.
Indem der erste das Gesetz ausspricht, verfügt er, daß er es zu
befolgen hat. Indem der zweite es befolgt, verfügt er das � esetz
von neuem. Im Prinzip sind deren Namen x und y wemgstens
auf den beiden Instanzen - Sender I des normativen Satzes und [146]
Empfänger des präskriptiven - vollkor_nmen a� stausch� ar. Sie
finden sich dann in eben demselben Wtr veremtgt,_ _
das steh mtt
dem Kollektivnamen bezeichnet: »die französischen Bürger«.
Die Autorisierung lautet also : Wir verfügen als Norm, daß wir
1 69
 !
7
1 7 l , ,
X
hi b ' (? 12

»SCHÖNER TOD«
DAs REsuLTAT
>>grar:nmati sche
verpflichtet sind, die Handlung a auszuführen. Dies ist der Freiheit des Verpflichteten enthalte. Dies ist eine
Verk ettun gswe tse, zu der
Grundsatz der Autonomie. Bem erku ng«, sie bezie ht sich auf die
Diese Konstruktion eines homogenen Wir aber verdeckt eine der ethische Satz aufruft.
, für das der
doppelte Heterogenität. Zunächst die, die mit den Pronomina Somit: seitens der Norm ein Satz-Universum
das unmi ttelba r ist, was es ist,
verbunden ist. Der normative Satz lautet: Wir, das französische Sender verantwortlich ist und
ohne Appe ll (nach dem Mod ell der E rhabe nheit wie : Fiat Lux et
Volk, verfügen als Norm, daß usw. ; der präskriptive Satz: Wir, . ?
d�s französische Volk, müssen die Handlung a ausführen. Aber Lux fuit). Seitens der Verpflicht ung em Satz- y mver sum, das auf
rt ist und von dtesem erwar tet, daß
dte beiden Wir nehmen nicht die gleiche Stellung auf den Instan­ einen Empfänger konzentrie
zen der jeweiligen Sätze ein. Im normativen ist es der Sender der er für die ordnungsgemäße Forts etzun g und Ver � ettun � veran t­
emzelnen
Norm; im präskriptiven der Empfänger der Verpflichtung. Ei­ wortlich ist. Ein und derselbe Eigenname - für emen
oder ein Kollektiv - bezei chnet eine Ganz heit, die sich auf diese
nerseits : Ich erkläre; andererseits : Du sollst. Der Eigenname
n haben
maskiert diese Umstellung, ebenso das Wir, weil es ich und du beiden heterogenen Situationen bezie ht. Die Eigenname
nehm en
vereinigen kann. Bleibt also, daß ich in der Verpflichtung die die Eigenschaft, derartige Heterogenitäten i� sich .aufzu
ehr s ogar
vorschreibende Instanz ist und nicht die, an die sich die Präs­ (Nr. 80, 81). Aber es ist nicht gerechtferttgt, vtelm .
n),
kription wendet. Man kann das Gesetz machen und ihm unter­ trügerisch (im kantischen Sinne einer transz :nde�tal�n Illust?
s em >>Subj ekt
liegen, aber nicht >>an gleicher Stelle«, das heißt nicht im gleichen ein Substanz-Subjekt vorauszusetzen, das Jewetl
der
Satz. Denn man braucht einen anderen (normativen) Satz, um des Aussageakts« wäre, während es im Präskriptiv nicht
Selbst anzun ehmen ,
den präskriptiven zu rechtfertigen. Allein diese Dualität erzeugt Sende r ist, und die Beständigkeit eines
en von einer Instan z­
bereits einen Verdacht gegenüber der Identität dessen, der Recht währe nd dieses von einem Satz zum ander
spricht mit demjenigen, auf den es sich bezieht (Kant-Exkurs II). Situation zur andere n springt. Sein Eigenn ame ermög licht es, es
Eine Skepsis. in einer Welt von Namen auszumachen, nicht aber in einer V er­
Die Heterogenität von Sätzen verschärft diesen drohenden kettung von Sätzen heterogener Regelsysteme, deren Universen
Zerfall. \_Der normative Satz ähnelt einem performativen und sie bestimmenden Spannungsfelder inkommensurabel sind.
(Nr. 204-209). Die Norm muß nur ausgesprochen werden, Das Wir wäre das Vehikel dieser transzendentalen Illusio n, das
damit sie als solche gilt und damit die von ihr normativ festgeleg­ sich genau in der Mitte zwischen dem starren �konstanten)
te Verpflichtung gerechtfertigt ist. Ihr Se_!lder ist sogleich der Designator, dem Namen, und dem >>aktuellen« Destgnator, dem
Gesetzgeber, der Empfänger der Verpflichtung sogleich ange­ Pronomen im Singular, befindet. Es nimm t nicht wund er, daß
halten; die Vorschrift zu befolgen. Der performative Satz be­ das Wir, das Gesetz geber und Verpflichteten vermeintlich ver­
werkstelligt die Legitimation der Verpflichtung, indem er sie eint, in der >>Aktualität« der Verpflichtung von Spaltung bedro ht
formuliert. Nicht nötig die Norm weiter zu verketten, um ihre ist.
Legitimität zu bewahrheiten.
Beim Präskriptiv liegt der Fall anders. Es enthält die Forde­ 156. >>Schöner Tod«
rung nach einem weiteren Satz, in dem sich bewahrheiten wird,
ob die Vorschrift befolgt wurde oder nicht: ob das neue Satz­ Diese Bedrohung erreicht ihren Höhepunkt offenbar dann,
Universum, das darzustellen sie ihrem Empfänger befiehlt, statt­ wenn der Empfänger dazu verpflichtet wird, zu sterben. Stellen
f�nd o? er nicht. Denn in der Verpflichtung muß der Empfänger wir uns für einen Augenblick vor, daß die kanonische Formel für
dte wettere Verkettung leisten (Kant-Exkurs 11, § 6 ), und er kann »Auschwitz<< folgendermaßen lautete : Es besteht die dur�h y
dies auf vielfältige Weise ausführen (Nr. 136-140). Deswegen verfügte Norm, daß x verpflichtet ist, zu sterben. Man schheßt
[147) pflegt man davon zu sprechen, I daß die Verpflichtung die daraus, daß es der Inhalt des Befehls, der Tod des Empfängers,

170 171
 ra s 7

AusNAHME
DAS RESULTAT
das U I_lendli­
is :, du;ch den die Bildung des Wir versagt bleibt. Es wäre »schöne Tod<<, der Austausch des Endlichen gegen
che, des Eoxm:ov (eschaton) gegen das ,;fA.o� (telo
. s), das Sttrb, um
widersu�mg, daß das Wir der Norm seinen eigenen Tod verfüg­
. nicht zu sterben.
te. Das Ist es aber mcht. Die öffentliche (familiäre, staatliche
militärische, parteiliche, konfessionelle) Machtinstanz kan�
den Empfängern - ihren Anhängern - den Tod befehlen. Oder 1 57. Ausnahme
wenigstens den Tod anraten. Das Stirb muß modalisiert wer­ t der Inhal t
den: Stirb, ehe du fliehst (Sokrates im Gefängnis), Stirb, ehe du >>Auschwitz<< ist das Verbot des schönen Todes. Nich
nomm enen) Empf änger s, kann
[148] geknecht�t wirst I (die Kommunarden), Stirb, ehe du besiegt des Befeh ls, der Tod seines (ange
gen. Es verhi elte sich da eher
wmt . (bei den Thermopylen, bei Stalingrad). Der Tod wird als hinreichen, das Wir zu spren
ihm der Tod als Alter native zur
Al:ernat�v: �u einer anderen Verpflichtung (Bürgersinn, Frei­ umge kehrt , zumi ndest wenn
De­
. Idee vorge schrie ben wäre. Aber dem
heit, militanscher Ruhm) vorgeschrieben, wenn sich diese als Verwirklichung einer
Alter-
unerfüllbar entpuppt. Bei >>AuschwitZ<< liegt der Fall anders. portierten steht keine Alternative zu. Und wenn er keine .
weil er nicht der Empf änger emer [ 1 49]
Dort heißt es nicht: Stirb, ehe . . . , sondern ganz einfach: Stirb, native hat, I so deswe gen,
chwit z«
ein Befehl, den die SS-Macht an den Deportierten richtet' ohne Verpflichtung ist. Die kanonische Forfl_lel von >>Au�
die Mehr ­
Alternative. kann nicht lauten : Stirb, ich verfüge es, em Satz, der
ich ersetz t
Die >>Sterbeberechtigung<< [raison de mourir] stellt stets das deutigkeit in der Schw ebe läßt, daß das du durch das
auf die SS als
Band eines Wir her. Im Befehl zum Tode besteht das Parado­ werde n könnte. Sie lautete vielmehr, wenn man sie
den
x?n darin, daß der Name seines Empfängers, wenn er gehorcht, >>Gesetzgeber<< zuspitzte : Daß er stirbt, verfüge ich, oder auf
sterbe , verfüg t er.
memals als Sender-Instanz späterer direkter Sätze erscheinen Deportierten als >>Verpflichteten<< : Daß ich
Verpf lichtun g ausgen om-
kann, insbesondere von normativen Sätzen wie: Ich verfüge als Der den Tod befiehlt, wird von der
ng
Norm, daß . . Er ist zur Referenz-Instanz direkter Sätze ver­
. men, und der den Tod erleidet, wird von der Rechtfertigu
der SS entspr ingt einem Wir, aus
dammt: man wird von ihm sprechen; und wenn man ihn auf der ausgeschlossen. Die Autorität
der
Sender-Ins:anz findet, so wird dies in indirekten Sätzen ge­ dem der Deportierte ein für alle Mal ausgeschlossen bleibt ,
Rasse, die nicht nur das Recht zu befehl en erteilt , sonde rn auch
schehen, die selbst als Referenten von direkten verstanden wer­
-
den : Zitate, Prosopopöen, Beziehungen aller Art. das Recht zu leben, das heißt sich auf die verschiedenen Instan
nivers en zu begebe n. Dieser Autor ität zufolg e
Indem er sich mit dem Gesetzgeber, der ihm den Tod be­ zen der Satz-U
fiehlt, identifiziert, entgeht er dagegen diesem elenden Los, kann der Deportierte nicht der Empfänger eines B efehls zum
nämlich der Referent aller folgenden, seinen Namen enthalten­ Tode sein, da er in der Lage sein müßte , sein Leben herzug eben,
den Sä�ze zu sein : das Elend der Toten im griechischen Den­ um ihn auszuführen. Aber er kann kein Leben hergeb en, da er
ke� . D �es kann . er nur erreichen, indem er den Befehl befolgt, keines besitze n darf. Das Opfer steht ihm nicht zu, also auch
weil er Ihn damit von neuem als Norm verfügt. Auf diese Weise nicht der Zugang zu einem unsterblichen Kollektivnam en. Sein
läßt er seinen Namen in den Kollektivnamen der gesetzgeben­ Tod ist rechtmäßig, weil sein Leben unrechtmäßig ist. Der
den Autorität eintreten, der ein konstanter Sender, weil starrer individuelle Name muß ausgelöscht werde n (daher der Ge­
Designator, i� t. pem Tod entgeht er mit Hilfe des einzigen brauch von Kennummern), und auch der Kollektivname Qude)
bekan�ten Mmels : des Fortbesteheus des Eigennamens. Dieser muß ausgelöscht werde n, und zwar so, daß kein Träger-Wir
muß m �ht nur dem Betroffenen angehören, sondern auch dem dieses Namens übrig bleibt, das den Tod des Deportierten in sich
�?.lleku� (über den Familiennamen, das Eponym, die Nationa­ aufnehmen und verewigen könnte . Es muß also dieser Tod
htat), weil eben der Kollektivname den Fortbestand der indivi­ getötet werden , und eben das ist schlimmer als der To�, _Wenn
duellen Eigennamen an sich garantiert. Dies ist der athenische nämlich der Tod vernichtet werden kann, so deshalb, weil es

172 1 73
-----------11O _____________Iilll
' III e llilt&-----� --
DAS RESULTAT
nichts gibt, das man zu Tode bringen könnte. Nicht einmal den
Namen des Juden.
Die SS braucht dem Deportierten gegenüber das für ihn
bestimmte Todesurteil nicht zu rechtfertigen. Der Deportierte
braucht sich diesem Urteil gegenüber nicht verpflichtet zu füh­
len. Die Universen beider Sätze: Daß er stirbt, verfüge ich und:
Daß ich sterbe, verfügt er besitzen keinerlei gemeinsame An­
wendungsmöglichkeit. Das wird gekennzeichnet durch die
Zersplitterung des präskriptiven Satzes und seiner Rechtferti­
gung in zwei Sätze, die aus dieser Spaltung hervorgehen. Der
Empfänger der SS-Norm ist die SS. Der Sender der Vorschrift
für den Deportierten ist diesem unbekannt, er ist vom Empfän­
ger aus nicht »erkennbar<<, der sich innerhalb einer legitimie­
renden Satzverkettung nicht auf diese Instanz begeben kann.
Die Dispersion erreicht ihren Höhepunkt. Mein Gesetz bringt
ihn, der ihm nicht unterliegt, zu Tode. Mein Tod beruht auf
seinem Gesetz, dem ich durch nichts verpflichtet bin. Die
Delegitimation ist vollkommen, sie bestätigt den Verdacht, der
auf dem Wir lastet, das die Verkettung zwischen der Vorschrift
[ 1 50] und ihrer Norm leisten soll: es sei eine Fiktion. Wenn I sich
dieses Wir den Namen Menschheit gäbe (das wäre allerdings
kein kollektiver Eigenname), so wäre >>Auschwitz<< sicher der-­
Name der Auslöschung dieses Namens.
Deshalb ist die Frage : >>AuschwitZ<< ? auch die Frage: >>nach
AuschwitZ<< ? Die Ent-Kettung der äußersten Verpflichtung, des
Todes, von seiner Rechtfertigung besteht >>nach<< dem Verbre­
chen fort; der Skeptizismus und gar der Nihilismus haben
völlig recht, endlos davon zu zehren. Denn nicht einmal das ist
wahr, daß nach all dem - wie Hegel glaubt - uns in unserer
Höhle das >>Nichtige<< der legitimierenden Verkettung noch
abzunagen und wiederzukäuen bleibt, die Vernichtung eines
bestimmten Wir. Die zersplitternde, ausschließlich negative,
nahezu analytische Dialektik, die sich unter dem Namen
>>Auschwitz<< vollzieht und ihres >>positiv-vernünftigen<< Ope­
rators, des >>Resultats«, beraubt ist, kann nichts hervorbringen,
nicht einmal das skeptische Wir, das weiter auf der Scheiße des
Geistes herumkaute. Der Name würde leer bleiben und zusam­
men mit anderen Na�en im Geflecht einer Welt festgehalten,
in ein elektronisches oder Lochkarten-Gedächtnis eingespei-
1 74
------
• !" l
m r ,, 1 11
DRITTER?
chert werden. Aber Gedenken an niemanden, von nichts und für
niemanden.
1 58. Dritter?
Die spekulative Dialektik, diese _Disk_ursart, kann d��se Art Ende
.
nicht gelten lassen. Sie dünkt sich mcht vom Nihilismus ange­
schlagen. Nehmen wir noch einmal die b �iden Sätze: Daß t;r
stirbt, ist mein Gesetz, Daß ich sterbe, tst sezn , Gesetz Die
:.
vorangehende Untersuchung unterstreicht, daß mit dem Uber­
gang eines jeden der >>Partner<< zur drit7en P �rso� im Sa�z �es
.
anderen, das heißt in die Referenz-Situation, em Wir unmoghch
geworden ist.
.
Dies aber nur, weil man vorausgesetzt hat, daß das Wir aus
dem Zusammenschluß eines Ich mit einem Du gebildet werden
müßte. Man hat wir mit dem Subjekt der Autonomie verwech­
selt, das die Verkettung legitimiert.
Aber ich und er können ebenso ein Wir bilden. Beispielsweise
bei einem Repräsentanten, einem Wortführer, einem Mandats­
träger: Meine Genossen und ich erklären Ihnen hiermit . . . Die­
ses Wir findet nur dann statt, wenn es in einem Satz-Universum
zusammen mit einem Du situiert ist. Es ist an jemanden gerich­
tet. Aber >>AuschwitZ<< ist der Name eines Satzes oder I eher [ 1 5 1 ]
zweier Sätze, die in dem von ihnen dargestellten Universum
keinen markierten Empfänger besitzen. Das tun die Nazis kund,
wenn sie erklären, daß sie das Gesetz machen, ohne dabei auf
irgend jemand anderen als sich selbst Bezug nehmen zu müssen;
und das tun die Juden kund, wenn sie argwöhnen, Gott habe
nicht gewollt haben können, daß ihr Leben auf diese Weise
geopfert würde. Die Abwesenheit des Empfängers entspricht
auch der des Zeugen. Der Aufhebung von >>Auschwitz<< fehlt
eine Instanz, die - für sich - in einen neuen Satz übertragen
könnte, was sich hier und dort, seitens des Nazis und seitens des
Deportierten, nur als Ansich darstellt.
>>AuschwitZ<< wäre die Koexistenz zweier Geheimnisse, des
Geheimnisses des Nazis und des Deportierten . Jeder weiß >>an
sich<< etwas vom anderen, der eine: Daß er stirbt, und der andere:
Es ist sein Gesetz, kann dies aber niemandem mitteilen. Am
>>ehesten<< wäre noch die Kommunikation durch einen Doppel-
1 75
-- � -------- --------------............................

DAs RESULTAT
agenten möglich. Den Doppelcharakter aber hat ein Agent nur
für einen Dritten, der bezeugen kann, daß dieser Agent von
jedem weiß, was jeder von sich und vom anderen weiß. Mangels
dieses Dritten ist ein Doppelagent kein doppelter Agent, son­
dern zwei einfache Agenten unter zwei Pseudonymen. Den
Doppelcharakter hat er nur, wenn er enttarnt wird, wenn das
Geheimnis gelüftet und ihm ein einziger Name von einem
Dritten (Vierten) zugeschrieben wird.
Dennoch ist der Dritte da, wendet der spekulative Diskurs
ein. Die zeugenlose Dispersion, die »wir« gerade als Auslö­
schung des Dritten beschrieben haben, mußte durch einen Drit­
ten ausgedrückt werden. Daß wir in Auschwitz abgetötet wur­
de, haben zumindest »wir<< gesagt. Es gibt keinen Übergang vom
Universum des Satzes des Deportierten zu dem des Satzes der
SS. Zu dieser Behauptung aber war es notwendig, daß wir beide
Universen behaupteten, als ob »wir<< jeweils die SS und der
Deportierte gewesen wären. Damit haben »Wir« ausgespielt, was
»Wir<< suchten, nämlich ein Wir. Auf der Suche nach ihm suchte
dieses Wir sich selbst. Am Ende der Bewegung drückt es sich
also aus, wie es von Anbeginn im Spiel war. Denn ohne die
Voraussetzung dieser Beständigkeit eines denkenden » Wir« hät­
te es überhaupt keine nachforschende Bewegung gegeben. Sicher
ist es nicht die Totalisierung der jeweils unter dem Namen von
' »Auschwitz<< ausgespielten Ich, Du, Er, denn tatsächlich be­
,zeichnet dieser Name die Unmöglichkeit einer derartigen Totali­
' sierung. Es ist aber die reflektierte Bewegung dieser Unmöglich­
' 'keit, das heißt die Dispersion, die sich erkennt und sich in der
[ 152] Affirmation des Nichts von der Vernichtung erholt. I Das Wir,
das zumindest aus dem schreibenden ich und dem lesenden du
besteht.
1 59. Ohne Resultat
Der kontingente Name dieser nur verwirklichten Bewegung ist
>>Auschwitz<<. Aber sein spekulativer, sein- begrifflich:er-Name
muß gerade den Zusammenschluß zweier unvereinbarer Sätze,
einer Norm ohne Empfänger und eines Todesurteils ohne Legi­
timität, bezeichnen. Man denkt an die terreur. Aber die jakobi­
nische terreur duldet keine Ausnahme: Selbst ich, Robespierre,
1 76
1 t $ 1'2 7
OHNE REsuLTAT
falle unter die verallgemeinernde Logik. Der Gesetzgeber ist der
Durchsichtigkeit des reinen Willens genauso verpflichtet :'�e die
.
anderen, er ist also wie diese verdächtig. Dieser Terror venf1z1ert
nur das Autonomieprinzip. In Auschwitz dagegen herrscht die
Ausnahme. Sein spekulativer Name ist nicht der rationale Ter­
ror, der sich, weil der gute Wille von jedem Du erwartet werden
kann, ins Unendliche ausdehnt. Der Nazismus erwartet vom
Nicht-»Arier<< nichts, außer daß seine Existenz nicht mehr
erscheine. Umgekehrt verlangt er von jedem >>Arier<< - seinem
einzigen Empfänger -, daß er seiner Verpflichtung zur Reiner­
haltung des rassischen Ursprungs nachkomme, insbesondere
indem er alles Nicht->>Arische<< beseitigt.
Wenn es im Nazismus Terror gibt, so wird er unter den
»Reinrassigen<< ausgeübt, die immer dem Verdacht der ungenü­
genden Reinheit ausgesetzt sind. Von der Verdächtigung wa­
schen sie sich rein, indem sie sich jegliche Unreinheit fernhalten :
durch Schwur, Denunziation, Progrom, Endlösung. Dieser
Terror trägt sein Prinzip der endlosen Ausdehnung nicht an sich
selbst, da er sich nicht auf den anwenden läßt, der nicht >>reinras­
sig<< sein kann. Die Juden (und die anderen) sind nicht verdäch­
tig, sie sind bereits verurteilt. Der rationale Terror ist inklusiv
und >>progressiv<< in dem Sinne, daß er ein Unendliches an
Verdachtsmomenten vor sich hat, die hinsichtlich alles Darstell­
baren auszuräumen sind: Das Gericht wird unaufhörlich tagen,
der Wille niemals gut genug sein. Der rassistische oder Ausnah­
me->> Terror<< ist exklusiv und regressiv, der Verdacht beschränkt
sich auf die >>gute<< Rasse, was sich nicht als dieser Rasse zugehö­
rig präsentieren wird, ist schon vor seiner Präsentation schlecht,
schlechten Ursprungs. Es war schon schlecht. Und folglich
nichtig, da der Wille dabei nicht zählt: Er »zählte<< zu Beginn, ein
für alle Male. Es ist ein >>Terror<< ohne Gerichtsverfahren und
ohne Strafverhängung. Der Tod I genügt, da er bestätigt, daß, [ 1 53]
was nicht leben darf, auch nicht leben kann. Die Lösung ist
endgültig.
Die Ausnahme, die ihren Höhepunkt in >>Auschwitz<< er­
reicht, beruht auf dem Prinzip einer Auswahl: Aus der Welt der
geschichtlichen Namen hat der Lebenstrieb unter allen anderen
den Namen des »Ariers<< auserwählt, um sich zu beweisen. Im
Unterschied aber zu einer anderen Auswahl, die etwa dem
177
·
·--------------- . ----IIII
-• illlmlliioil-
'II --IIIS
Wirll lii ---......,
DAs REsuLTAT
jüdischen Volk vorschreibt, die Transzendenz ihres Prinzips
anzuerkennen und belastend gegen alle Anmaßungen dem Ge­
setz gegenüber auszusagen (die dieses Volkes eingeschlossen),
schreibt die Auswahl seitens des Lebenstriebs nur den Aus­
schluß dessen vor, was nicht auserwählt ist und aufgrund eines
unerklärlichen >>Patzers« dennoch weiterlebt. Der gute Wille ist
erblich und beweist sich am Stammbaum. Die Aristokratie (Blut
und Boden, Soldat und »Arbeiter«) erkennt für den legitimieren­
den Satz keinen anderen Empfänger als sich selbst an. Sie tötet
die anderen nicht einmal, sie verschreibt dem Problem des
Lebenstriebs seine Endlösung, indem sie ihnen zum To Cl ver­
hilft.
Dies ist kein wirklicher Terror, sondern eine simple lebens­
überwachende Maßnahme, ein politischer oder polizeilicher
Darwinismus. Die Verschmelzung von Genealogie und Gutem
wird durch den Mythos, durch die Erzählung [recit] der nordi­
schen Völker bereitgestellt. Unter diesem Namen und kraft
dieses Erzählakts [narration] vergißt eine Entität ihre Kontin­
genz und kann ihren Aberglauben bis zum Rausch ihrer Not­
wendigkeit und ihrer Tugendhaftigkeit steigern. Die Rechtferti­
gung ist heteronom, die Vorschrift wird einem - von außen
unteilbaren - >>Volk<< einbeschrieben, in dem es nur Tote gibt.
Dies nun müßte der spekulative Diskurs begrifflich benennen,
und dies ist es, was dem empirischen Namen von »Auschwitz«
an sich innewohnte. Hat er es benannt? Hat er es im vorangehen­
den Text durch meine Feder benannt? Bezüglich der entspre­
chenden Namensgebung kann er nur zögern. Lange wird er
zögern: Wie läßt sich ausmachen, was der Geist in »Auschwitz<<
gewonnen hat? Der Geist befindet sich dort nicht im Wider­
spruch mit sich selbst, er sieht von seiner eigenen universalen
Zweckmäßigkeit, von seiner künftigen Verwirklichung und sei­
nem künftigen Ausdruck ab. Er macht dort eine Ausnahme:
Zwei Sätze fallen da, an dem vom Historiker bezeichneten Ort
und Zeitpunkt, »zusammen<<, die dialektisch nicht beisammen
sind. In d�m einen beruft sich die Rechtfertigung des Mordes
. Ich, ein Arier, berichte dir, einem Arier, die Erzählung [recit]
mcht auf em allgemeines, sondern auf ein besonderes und nomi­
[1 54] nales Gesetz; im anderen appelliert der Tod nicht an eine I
Rechtfertigung und kann nicht im Opfer aufgehoben werden.
Was »UnS«, »danach<< betrifft, so erhalten wir diese beiden Sätze
1 78
� =- :aa b
L 1$'$ $ 1,
WIEDERKEHR
als zwei Fälle von Schweigen. »Wir<< sind recht weit davon
entfernt, dieses Schweigen im Satz eines Resultats zu bedeuten,
und halten es für gefährlicher, es zum Sprechen zu bringen, als es
zu respektieren. Nicht ein Begriff resultiert aus »AuschwitZ<<,
sondern ein Gefühl (Nr. 93), ein unmöglicher Satz, der nämlich
den Satz der SS mit dem Satz des Deportierten verketten würde,
oder umgekehrt.
1 60. Wiederkehr
Im Menexenos verspottete Platon die Lobrede auf den »schönen
Tod<< (Platon-Exkurs, § 1). Wie alle Welt will Sokrates »gut
sterben<<. Aber er will nicht zulassen, daß die Lobrede auf die
»gut gestorbenen<< Bürger vor den Lebenden diese von ihrer
eigenen Tugendhaftigkeit überzeugt. Gerecht ist es, daß Athen
der Name der normativen Autorität ist und daß die in diesem
Namen Gestorbenen das Recht erworben haben, Athener ge­
nannt zu werden. Unrecht ist, daß es der epideiktische Diskurs
den zuhörenden Lebenden erlaubt, sich den toten Helden
gleichzustellen. Die Zuhörer, sagt Sokrates, haben noch nicht
bewiesen, daß sie den Namen von Athenern verdienen, indem
sie mehr als alles andere das Gesetz der Polis für erstrebenswert
halten. Sie sind hypothetischerweise noch nicht für Athen ge­
storben, viele werden nicht dafür sterben und viele werden ohne
Bürgertugend gelebt haben. Dennoch verfährt das Verwirrspiel
mittels des Wir, das den Paralogismus verdeckt. Sie, die Toten,
sind Helden; sie sind Athener; wir, die Lebenden, sind Athener;
wir, die Athener (lebende und tote), sind Helden. Das Wir
erstreckt sich zunächst auf die Lebenden : ich, der Redner, Üna
ihr, die Versammlung; dann auf die Toten: sie, ihr und ich.
Durch diesen gleitenden Übergang zum Pronomen, das den
Namen ersetzt, wird die höchste Tugend des >>guten Todes<< zu
einem Ausnahmerecht, nämlich gut geboren zu sein. Die Aus­
nahme läßt den Augenblick der Tugendhaftigkeit umschlagen :
e r fand statt.
von den Taten unserer arischen Vorfahren. Derselbe NameArier
besetzt die drei Instanzen der Universen des narrativen Satzes.
Seine Bedeutung ist immer, direkt oder indirekt, de� »schöne
1 79

DAS RESULTAT
Tod«. Wir erzählen uns gegenseitig, daß wir gut gestorben sind.
Das ist ein Ausnahme-Epos. Unter ein und demselben Namen
[155] sind die er, die du und die ich austauschbar, und zwar dank I des
wir. Die abgeschlossene narrative Zelle verfährt präskriptiv. Der
_ Volk orientierte NS-Politik ist also eine epideiktisch ausgerich-
Imperativ is� hypothetischer Natur: Bist du Arier, so erzähle,
vernimm, vollende den »schönen« arischen Tod. Aber nicht die
Bedeutung (der schöne Tod) enthält die stiftende Macht, son­
dern die Ver�ettungsart. Wenn du vernimmst, so erzähle oder
tu. Wenn du erzählst, so vernimm oder tu. Wenn du tust, so
erzähle oder vernimm. Die Implikation ist reziprok. Man tritt
also nicht in den narrativen Zyklus ein, man ist immer schon ­
oder niemals - drinnen. Dies ist die Diskursart der mythischen
Erzählung. Sie ist nicht mit ihrem Thema, sondern in ihrer
(�enn man will : pragmatischen) Übertragung zyklisch. Die
Uberlieferung unterliegt deshalb einem rituellen Protokoll: Ich,
ein Arier, erzähle euch diese Geschichte von einem Arier, die ein
Arier mir erzählte, erzählt sie weiter, verwirklicht sie, Arier. Die
Vorschrift, die aus den Übertragungsregeln der Erzählung her­
vorgeht, ist unabhängig vom Zeitpunkt, an dem der Satz stattfin­
det. Erzählt = hat erzählt = wird erzählen; tut = hat getan =
wird tun. Darüber hinaus ist die Zeit der Erzählakte nicht von
der Zeit des Erzählten unterschieden: erzählen oder vernehmen
heißt bereits >>gut sterben«, und »gut sterben<< heißt auch verneh­
men oder erzählen. Das Volk artikuliert sich im Handeln (Ster­
ben) und stirbt gut, indem es sich artikuliert. Was nicht zu
diesem Volk gehört, kann nicht vernehmen, nicht erzählen und
kann nicht gut sterben. Nur dieses Volk besteht aus >>Wahrhaften
Männern<<, diesen Namen gibt sich die Ethnie (D' Ans, 1978). Er
kennzeichnet die stiftende Ausnahme.
Darum führen die Wilden Krieg. Endlos erfüllen sie - und
vernehmen und erzählen demnach endlos - die Erzählung ihres
Wir. Sie verdienen sich ihren Namen (Clastres, 1 977). Wer ihre
Gegner sind, hat keinerlei Bedeutung. Es sind keine Gegner.
Durch sie wird nichts geschehen, was nicht bereits geschehen ist.
Der Nazismus restauriert diese Diskursart, den die Moderne
zerstört hat. Er kann es nur auf parodistische Weise tun, so als ob
die großen modernen Diskursarten - die wissenschaftliche Er­
kenntnis, die deliberative Politik, die interrogative Philosophie,
die eschatologische Offenbarung - nicht bereits völlig andere
1 80
------ � --------�-
• 5 •
'S
"
WIED E RKEHR
Einsätze und Verkettungsarten vorlegten und jenem Schlimme­
res als Gegner entgegenhielten: kosmopolitische Helden. Die
Parodie besteht in der Entfaltung der Mittel, mit denen das Volk
von seinem Ausnahmecharakter überzeugt werden soll. Die am
tete Ästhetik, I die die Ä sthetik der Totenrede auf alle äußeren [1 56]
Angelegenheiten des Volkslebens ausdehnt. Das dem Volk
Fremde provoziert eine Polizei der Vernichtung (Auschwitz)
oder einen »schönen« Opfertod (Stalingrad).
Die Verkettung des 55-Satzes mit dem des Deportierten ist
nirgends zu finden, weil sie nicht von ein und derselben Diskurs­
art abhängen können. Sie haben keinen gemeinsamen Spielein­
satz. Mit der Vernichtung der Juden eliminiert der Nazismus ein
Satz-Regelsystem, in dem der Empfänger besonders markiert ist
(Häre, Israel) und die Identifikation des Senders (der Herr) und
die Identifikation der Bedeutung (was Gott meint) eine schänd­
liche und gefährliche Anmaßung darstellt. Die Diskursart na­
mens Kabbala (Überlieferung) ist als Frage und Deutung der
wilden Erzähltradition diametral entgegengesetzt. Diese befin­
det sich unter dem Regelsystem des Bereits-da, das jüdische
Idiom unter dem des Geschieht es? Der Nazismus ereifert sich
gegen das Vorkommnis, das »Ereignis<< (Aristoteles-Exkurs,
§ 3 ; Nr. 131). So kämpft er gegen die Zeit der gesamten Moderne
an.
Zwischen der SS und dem Juden gibt es noch nicht einmal
Widerstreit, denn es gibt nicht einmal ein gemeinsames Idiom
(das eines Gerichtsverfahrens), in dem ein Schaden zumindest
formuliert werden könnte, und sei es an Stelle eines Unrechts
(Nr. 7, 9). Es bedarf also keines - nicht einmal eines parodisti­
schen - Prozesses. (Hinsichtlich der Kommunisten liegt der Fall
anders.) Der jüdische Satz fand nicht statt. Es gibt kein Ge­
schieht es? Es ist geschehen.
Die spekulative Dialektik gerät an der Diskursart der mythi­
schen Erzählung ins Stocken. Diese ergibt kein Resultat, son­
dern eine identische Wiederholung. Was - wie das jüdische
Idiom - da keinen Zugang findet, wird nicht aufgehoben, son­
dern ignoriert, ins Vergessen gestoßen. Der Mythos ist spekula­
tiv nicht auflösbar. Er muß vernichtet werden, auf nicht-speku­
lative Weise, und das ist mit ihm geschehen. Aber die Vernich-
181
 "
T 71 S'

DAs RESULTAT

�
t�n des Nazismus läßt ebenfalls
ein Schweigen hinter sich zu­
ruc = ..�an wagt den Nazismus nich
t zu denken, weil er wie ein
tollwutiger Hund erschlagen wurde,
_ durch Polizeimaßnahmen
;
und mcht nach den Regeln, die von
den Diskursarten seiner
egne� anerkannt werden (die Beweisführun
g des Liberalismus
er Wid �rspruch de Marxismus). Er wur '
� de nicht widerlegt.
� chw�Igen stat� emes >>Resultats<<. Dieses Schweigen unte
b nch� die Kette, d e von I_�men, den Deportie r-
� rten, von ihnen, der Die Verpflichtung
SS, bis zu uns r Icht, die wir über sie sprec
� hen. Es ist nicht
vorstellbar, daß diese Substanzen, die sie für
_ urs »uns « als »Subjek­
[157] te« des Disk es, I der sich auf sie bezieht, sind, »auch
(»ebe n so se�r« [I._ 0. dt.J) diese Subjekte sein « 161
_ könnten. Dieses
Schweigen signalisiert das Aussetzen des »Selb Diese eine Zweckbestimmung zumindest hätte die Spaltung des
st«, seine Spal­
tung. Selbst: nämlich dessen Anmaßung zu zerstören. Daran zu erin­
nern, daß das Gesetz jegliche Einsicht transzendiert. Und dies
unter dem Deckmantel einer gräßlichen Hanswursterei, wie
Rousset sagt ( 1948 [1979]). Zwar kann derjenige, der das Gesetz
beschließt - und nicht dessen Empfänger ist -, kein Richter sein,
notwendigerweise ist er ein Verbrecher. Und wer dem so be­
schlossenen Gesetz unterliegt, kann nur Opfer sein. Der Richter
- ist nicht gerichtet. Der Verurteilte oder Freigesprochene - ist
nicht erlöst. Dennoch könnte der spekulative Un-Sinn von
>>Auschwitz« ein Paradoxon des Glaubens bergen (Kierkegaard,
Furcht und Zittern).

1 62
Ist der Befehl, demgemäß Abraham seinen Sohn opfern sollte,
intelligibler als ein Erlaß, der die Razzia, den Abtransport, die
Konzentration, den langsamen oder schnellen Tod anordnet? Ist
dies nicht eine Sache des Idiolekts (Nr. 1 44, 145)? Abraham
vernimmt: Der Tod Isaaks ist mein Gesetz, und er gehorcht. In
diesem Augenblick spricht der Herr nur zu Abraham, und
Abraham ist nur dem Herrn verantwortlich. Da weder die
Wirklichkeit des Herrn noch des ihm zugeschriebenen Satzes
ermittelt werden kann - wie läßt sich in Erfahrung bringen, daß
Abraham nicht ein Paranoiker mit (kinds-)mörderischen Anfäl­
len ist? Oder ein Simulant?

1 82
183
 DIE VERPFLICHTUNG
1 63
Die Frage betrifft nicht den Gehorsam, sondern die Verpflich­
tung. Die Frage lautet: Wenn man etwas vernimmt, das einem
Aufruf ähneln mag, ist man dann aufgefordert, sich daran zu
halten? Man wird sich ihm widersetzen oder antworten können,
zunächst aber wird man es eher als Aufruf denn etwa als Einbil-
[159] dung hinnehmen müssen. I Sich in der Empfänger-Position
einer Präskription befinden (wobei die Forderung eine Spielart
der Präskription ist).
164
- Aber die Forderung, die den Gerichtspräsidenten Sehreber
bedrängt, die Abraham niederdrückt, die die SS in Bann schlägt­
diese Forderungen sind voneinander völlig verschieden! - Was
wollen Sie damit sagen? Daß die eine von einer phantasmatischen
Gestalt herrührt, die andere von Gott, die dritte von einem
politischen Führer? Wie Sie wissen, unterliegt die Identität des
Senders dem Widerstreit: Das Phantom, das Flechsig zufolge
Sehreber bedrängt, nennt sich im sehreberseben Idiom Gott
usw. - Zumindest aber schreiben diese verschiedenen Autoritä­
ten nicht dieselben Handlungen vor! Sie lassen sich an ihren
Handlungsanweisungen erkennen ! - Ich behaupte nicht, daß der
Inhalt des Gesetzes belanglos ist, aber er erlaubt es nicht, die
gute Autorität vom Schwindel zu unterscheiden. Und vor allem
muß dem die Frage vorangehen, inwiefern die Forderung, die
von dieser Wesenheit herrührt, gerade so verstanden wird, als ob
sie Gesetz wäre. Das einzige Zeichen dafür, an dem ein Dritter
sich orientieren kann, besteht in der Verpflichtung des Empfän­
gers. Der Annahme nach (Idiolekt) hat der Dritte weder zum
Sender noch zum Satz Zugang. Wie Charcot vor dem Hysteri­
ker, wie der Freund, dem Sie Ihren Traum erzählen.
1 65
Ein Satz ist verpflichtend, wenn sein Empfänger verpflichtet ist.
Warum er verpflichtet ist - er mag glauben, daß er es erklären
kann. Die Erklärung jedenfalls erfordert andere Sätze, in denen
1 84
GorrEs BEFEHLE
er nicht mehr als Empfänger, sondern als Sender situiert ist,
Sätze in denen es nicht mehr ums Gehorchen geht, sondern
daru � einen Dritten von den Gründen seines Gehorsams zu
_
überz :ugen. Kommentierende Sätze. Bei �iesen Sätzen kann dte
Verblendung des Ichs die Oberhand gewmnen.
1 66
- Warum Verblendung (Nr. 1 65)? - Weil eine Vorschrift (Prä­
skription) unmöglich aus einer B�s�hreibung �b geleitet werden
kann. Daß in einem Land zwei_ Mtlhonen Arbeitslose festgest� llt
werden, erklärt nicht, daß bei der Unterbeschäftigung A� htlfe
geschaffen werden muß. Dafür muß e�n Unters�tz ( !:"ltr:or)
�
impliziert oder präsupponiert werden, . dte Vorschn t namhch,
daß alle, die arbeiten können, auch arbeiten sollen. Dte Verblen-
dung oder transzendentale Illusion I beruht auf dem Anspruch, [160]
das Gute oder Gerechte auf das Wahre oder das Sollen auf das
Sein zu gründen. Mit »gründen« me� ne ich _ganz einfach die
.
Suche und Formulierung von Imphkauonen, dte den Schl�ß von
kognitiven Sätzen auf einen präskriptiven Satz � rmöghchen.
Gleiches gilt für Abraham. Gott befiehlt, daß Isaak thm geopfert
�
werde. Abraham gehorcht, >>weil« eben Gott den Befe l dazu
gibt. Die Implikatur oder die Präsupposition'; besteht dann, d�ß
Gottes Befehle gerecht sind. Diese Anordnun� (Gottes)_ 1st
gerecht, weil alle Anordnungen Gottes gerecht s�nd und mcht
ungerecht sein können. Von einer Tota�ität aber (dte me _ ege� en
�
ist) - und sei es die Totalität der götthchen Befehle - laßt. steh
nichts feststellen und auf kognitive Weise also auch mchts
behaupten. Was das Ethos Gottes >>selbst« betrifft, so ist es nur
__
auf dem Wege über die Totalität seiner Anordnungen zugang-
lieh. Diese Totalität aber, wie eben gesagt wurde usw. (Und
schließlich: Angenommen, Gott und seine Befehle seien gerecht
- können wir sicher sein, daß Gott es ist, der befiehlt?) (Nr. 1 62).
>:· Cf S. 144 f. (A. d. Ü.).
185
 DIE VERPFLICHTUNG
167
Sogar die Engel sind Opfer dieser Verblendung. Levinas er­
zählt: »Aus dem Hause Abrahams vertrieben, irren Agar und
Ismael durch die Wüste. Der Wasservorrat ist erschöpft, Gott
öffnet Agar die Augen, der einen Brunnen bemerkt und sei­
nem sterbenden Sohn zu trinken gibt« (Levinas, Difficile Li­
berte, 1976 b : 260). Nichts Außergewöhnliches bisher; von ei­
nem Gott, der das Gute ist, erwartet man nichts weniger als
das. Diese Freigebigkeit jedoch erregt das Mißfallen der göttli­
chen Ratgeber (oder der schlechten Äonen ?), der Engel; sie
sehen über ihre eigene Nasenspitze hinaus und kennen die
Tricks der Geschichte : >>Die Engel protestieren: Willst du
demjenigen Wasser spenden, der später Israel leiden machen
wird?<< Gott umgeht die hegelsche Falle : >>Was schert mich das
Ende der Geschichte, sagt der Ewige. Ich beurteile jeden nach
dem, was er ist, und nicht nach dem, was er werden wird.<<
Gott selbst kennt die Totalität der Ereignisse nicht (oder darf
sie nicht kennen). Er wäre ungerecht, wenn er für das augen­
blickliche Urteil in Betracht zöge, was morgen geschehen
wird. Er hätte also Hitler zu trinken geben können, als Hitler
Durst hatte.
168
Wenn man vom Holocaust spricht, so meint man, daß Gott die
[161] Hand des Nazi-Henkers führt und das jüdische Volk I die
Stelle Isaaks einnimmt. Aber es wird eingeräumt, daß der Herr
Abrahams dessen Gottestreue prüfen will, wenn er vom Vater
die Opferung seines Sohnes verlangt. Gott will die Gottestreue
der SS prüfen ? Hatten sie einen Bund geschlossen? Und die SS
liebte den Juden wie der Vater den Sohn? Wenn nicht, wie
könnte das Verbrechen in den Augen des Opfers als Opferung
erscheinen? Und in den Augen des Henkers? Und des Nutznie­
ßers? Oder bot Gott selbst das Leben eines Teils seines Volkes
zum Opfer? Welchem Gott aber konnte er es anbieten? Ebenso
behauptet man, daß Israel für seine Fehler bestraft werden
mußte, für seine Schuld, den Stolz. Kein einziger dieser Sätze,
die die göttliche Absicht (prüfen, strafen) beschreiben, um das
1 86
__
BEFEHL UND BEDEUTUNG
nitt: »Der
Opfer zu erklären, ist falsifizierbar (cf den __Absch
Referent«). Keiner kann als Erklär�ng des Totu_n gs�_efehls
, als
e man
seine Rechtfertigung gelten. Nur m1ttels Rheto nk konnt
1 56,
aus dem Tod von >>Auschwitz<< einen >>schön en Tod<< (Nr.
160) machen.
1 69
Die Verblendung besteht darin, sich an die Stelle des anderen zu
setzen, an seiner Statt ich zu sagen, seine Transzendenz zu
neutralisieren. Wenn man die Absichten des Herrn herausstellt,
kennt man folglich seinen Idiolekt, weiß man, wie er �ich
_ und d1e -
spricht, die Sätze, deren Sender und Empfänge� er 1st
wie man annimmt - den Befehl erzeugen, 1hre Bedeutung.
>>AuschwitZ<< leitet man beispielsweise aus dem Zorn des Herrn
gegen sein Volk ab. Für sich genommen aber ist diese lmp �ika­
tion ein Vergehen gegen die Ethik: Das Volk wäre durch emen
Befehl verpflichtet, weil es dessen Bedeutung verstehen könnte !
1 70
Eher müßte man den Befehl als Skandalon für den Verpflichteten
beschreiben. Der ,,freien« Verfügung über sich selbst beraubt,
von seinem narzißtischen Bildnis verlassen, in diesem oder
jenem Punkte behindert oder gehemmt, in der Angst, nicht ohne
weiteres er selbst sein zu können. - Dies aber sind phänomeno­
logische oder psychoanalytische Beschreibungen eines gemin­
derten oder gespaltenen Bewußtseins. Viel zu menschlich, zu
humanistisch. Sie erhalten das Selbst bis in die Feststellung seiner
Dispersion hinein aufrecht. Könnte man - ohne Heimw�h na�h
dem Selbst - bei der Dispersion ansetzen? Und folghch d1e
Spaltung des Selbst jenseits jeglicher Zweckmäßigkeit den�en,
wenn es stimmt, daß noch die Zweckmäßigkeit der Akt emes
Selbst ist der sich im voraus und von weitem an einem Objekt
:
versucht und sei es, um es I für einen Augenblick zu spalten? [162)
Zweifellos müßte man dann auch die Idee einer Spaltung aufge-
ben, da sie ja eine schöne Totalität, das Resultat, voraussetzt.
187
... _
 DIE VERPFLICHTUNG
LEVINAS
1. Bedingung des Skandalons der Verpflichtung: »Die Innerlichkeit, die
die Absonderung gewährleistet, muß ein absolut in sich geschlossenes
Wesen erzeugen, das seine Abgegrenztheit nicht dialektisch aus seinem
Gegensatz zu anderen bezieht. Diese Abgeschlossenheit darf den Aus­
gang aus der Innerlichkeit nicht unterbinden, damit die Äußerlichkeit
zu ihr sprechen, sich ihr in einer unvorhersehbaren Bewegung offenba­
ren kann« (1961 : 122). Als Skandalon setzt der ethische Bezug für das
Ich [moi] zwei Kernsätze voraus: Das Ich entspringt nicht dem anderen;
Der andere geschieht dem Ich. Wenn das Ich nur das geschlossene
(abstrakte) Moment einer dialektischen Wechselbewegung des Selbst
wäre, könntest du mir nichts offenbaren, das ich nicht schon in mir
selbst hätte.
Levinas geht vom Scheitern der fünften Cartesianischen Meditation
aus : Das gleiche Transzendentale kann die anderen nicht als anderes
konstituieren. Das (transzendentale) Ich [je] bleibt in seinem Konsti­
tutionsbereich eingeschlossen wie das (empirische) Ich [mot] in seinem
Erfahrungsbereich, das heißt im Genuß seines Seins und Habens . Der
andere ist sein anderer. Aber diese empirische und transzendentale
Endlichkeit ist notwendig, damit der andere der andere, das heißt »das
Wunder«, ist (ibid.: 269). Ein Ä quivalenzbezug in der exklusiven
Disjunktion : Wenn das Ich [mm1 dem anderen entspränge, wäre der
andere nicht das Wunder; wenn der andere nicht das Wunder wäre,
entspränge das Selbst dem anderen. Also : entweder ich [moi] oder der
andere. Der andere kann dem Ich also nur geschehen: als Offenba­
rung, als Einbruch. Wenn die Bedeutung zur Dialektik des Selbst
gehört, so ergibt das Ereignis des anderen Un-sinn. Wie kann der
andere überhaupt geschehen? Das Ich [moi] ist vom Ungenügen, dies
zu verstehen, gezeichnet. Es ist versucht, es als eine Formation seines
Konstitutions- und Erfahrungsbereiches zu erklären. Es ist versucht,
es zu wissen und wird vom Wissen versucht. Im anderen aber meldet
sich die Unzulänglichkeit des Wissens, eine Äußerlichkeit, die nicht
im Ich gegründet ist. Im anderen meldet sich keinerlei Bedeutung, er
ist die Meldung, der Un-Sinn. »Der Bote ist die Botschaft« (1968 a:
104-105).
Wir wollen es trans�_ribieren, wenn möglich. Ein Sender taucht auf,
dessen Empfänger ich bin und von dem ich nichts weiß, außer daß er
mich auf die Empfänger-Instanz situiert.' Die Gewalt der Offenbarung
liegt in der Vertreibung des Ichs aus der Sender-Instanz, von der aus es
sein Geschäft der Nutznießung, Machtausübung und Erkenntnis be­
treibt. Sie ist das Skandalon eines auf die Du-Instanz verschobenen
(163] Ichs. I Durch das Begreifen dessen, wodurch es ergriffen wird, ver-
1 88
- -
L EVINAS
sucht das zum Du gewordene Ich wieder Herr �eine: selbst zu we�d en.
.
Es bildet sich ein weiterer Satz, in dem es m d1e Sender-Posmon
zurückkehrt, um das Skandalon des Satzes des anderen und seiner
eigenen Enteignung zu rechtfertigen oder zurückzuweisen, ganz
gleich. Als unvermeidliche Versuchung ist dieser neue Satz immer
möglich. Aber er kann das Ereignis nicht ungeschehen machen, son­
dern nur zähmen und meistern und damit die Transzendenz des ande­
ren vergessen.
Aus dem Ich [je] macht der andere sein Du, wirft sich damit zum
Herrn auf und nimmt es als Geisel. Herr ist er aber nicht, weil er es
beherrscht, sondern weil er es auffordert. Das Ich [je], das in der
Ordnung des Selbst und seiner Welt eingeschlossen ist, weiß nichts vom
anderen und kann nichts von ihm wissen. Das Erscheinen des anderen
ist kein Ereignis der Erkenntnis. Es ist aber ein Ereignis des Gefühls. In
der Du-Position ist das Ich jemand, an den eine Vorschrift gerichtet
wird, und zwar die ganz einfache Vorschrift, daß es Vorschrift gibt (und
nicht nur Beschreibung, Erkenntnis). In dieser Situation wird dem Ich
nichts mitgeteilt, weil es nichts mitzuteilen gibt (der B efehl ist keine
Information), es weiß nicht einmal, ob der andere ebenfalls ein Ich ist,
ebensowenig, was der andere von ihm will, noch ob er überhaupt etwas
will, aber es ist unmittelbar dessen Verpflichteter. Dies wird durch seine
Verschiebung auf die Du-Instanz gekennzeichnet. Du sollst. Levinas
kommentiert die Mittellosigkeit des anderen: er taucht in meinem
Gesichtskreis in absoluter Armut auf, eigenschaftslos, ortlos, zeitlos,
substanzlos, er ist nur seine Forderung und meine Verpflichtung.
So verhält es sich mit dem Universum des ethischen Satzes: ein Ich
[je], das seiner Illusion, Sender von Sätzen zu sein, beraubt ist und - auf
unerklärliche Weise - in der Empfänger-Instanz erfaßt wird. Die
Verpflichtung ist unmittelbar und geht jeglicher Einsichtsfähigkeit
voraus, sie wohnt im »Empfang des Fremden«, im Ruf an mich, der
mehr tut, als eine vorgegebene Beziehung umzustürzen: der ein neues
Universum errichtet. Diese Erschütterung geht jedem Kommentar über
das Wesen des anderen, über seine Forderung und meine Freiheit
voraus. In einem Kommentar des Chabat (88 a - b) und insbesondere
des Verses : >>Sie handelten, bevor sie vernahmen<<, schreibt Levinas :
»Das unvergleichliche Wesen eines Ereignisses wie des Gebens der Tora
liegt darin, daß man sie annimmt, bevor man sie kennt [ . . . ]. Das
fragliche Tun ist nicht bloß die der Theorie entgegengesetzte Praxis,
sondern eine Weise zu aktualisieren, ohne beim Möglichen zu beginnen
[. . . ]. Sie vollführen, bevor sie vernehmen! [ . . .] Eine Stimme verneh­
men, die zu Ihnen spricht, bedeutet ipso facto die Annahme der
Verpflichtung demjenigen gegenüber, der spricht« (1968 a: 91, 95, 98,
104-105). Diese Unmittelbarkeit ist vergleichbar mit der des performa-
1 89
 DIE VERPFLICHTUNG
[ 164] tiven Satzes. Ich sage: Die Sitzung ist eröffnet, Der I Krieg ist er­
klärt, und sie sind es. Ich vernehme: Ave, und bin der Verpflichtete
des Engels, das Du des anderen.
Der Akzent liegt auf der Asymmetrie der Beziehung Ich/Du
(1961 : 1 90). Diese ist nicht umkehrbar, sie erzwingt und bewahrt
. die Destabilisierung
eines Wissens, in dem das Ich ich (das Selbst
selbst, die Identität) war. Sie kann nicht wieder von einem Satz in
Besitz genommen werden, in dem das Ich [je] ich ist. In diesem Satz
besitzt das Ich keinerlei ethische Einsicht mehr, es kann nur glau­
ben, daß es begreift. Der Übergang vom ethischen Satz zum Satz
des Wissens vollzieht sich nur um den Preis des Vergessens des er­
steren. In der Spannung, die der kognitive Satz auf die Instanzen
von Sender und Empfänger überträgt, ist das Du, an das sich das
Ich der Assertion richtet, nur ein potentielles Ich. Es wird die Ver­
kettung fortsetzen, indem es ich sagt, indem es bezüglich eines Re­
ferenten, eines Es [il], das gemeinsam festzulegen ist, zustimmt oder
widerspricht. Ich und du arbeiten an der Ausbildung eines Kon­
sensus.
Levinas hält Buhers >>Umfassung<< [i. 0. dt.] das Vergessen des
>>Höhenunterschieds<< entgegen (1976 a : 40), der den anderen und
das Ich in der Forderung trennt. Buhers Beschreibung des »dialogi­
schen Lebens<< [i. 0. dt.] wird von der Wiederkunft des Regelsy­
stems kognitiver Sätze in der Beschreibung der ethischen Beziehung
ereilt. Das Ethische verbietet den Dialog, da der Dialog die Na­
mensvertauschung in den Instanzen verlangt. Buher mag wohl den
Akzent auf die Achse der Bestimmungsrichtung [destination] legen,
indem er sie von der referentiellen Beziehung befreit, indem er gar
erklärt, daß der Referent, das Es, die Gestalt des verfehlten, uner­
reichbaren Du ist, zu dem ich nicht spreche, sondern nur von ihm
sprechen kann (Buher, Ich und Du, 1923: 27, 36, 133), - so i�t das
doch genau diese Entfremdung und diese Wiederkehr der referen­
tiellen Beschreibung, die Buhers Satz ergreift und ihn seinerseits die
ichldu-Relation in der Gestalt des Dialogs objektivieren läßt (Levi­
nas, 1976 a: 46-47).
Eine Implikation dieses Einwands : für Levinas gibt es keine wirk­
liche Transzendenz des Referenten. Das Objekt gehört der Dialek­
tik des Wissens an. Was »an sich<< ist, hat den spekulativen Regeln
zufolge >>für sich<< zu sein, zu resultieren. Die spekulative Diskurs­
art besetzt das gesamte Gebiet dessen, was sich Wirklichkeit nennt.
Die ethische Transzendenz findet nicht auf diesem Terrain statt. Sie
findet überhaupt nicht >>Statt<<, da der andere nicht lokalisierbar ist.
Wenn er es wäre, wäre ich dein Herr und würde dich vermutlich
kennen. Das ethische Gebiet ist kein Gebiet, sondern ein Modus
190
-
LEVINAS
der ich!du-Situation, die unvorhersehbar, gleichsam als Störung des
Satz-Universums, in dem ich ich ist, geschieht.
2. Die Verpflichtung, um die es sich in Levinas' Denken handelt,
resultiert nicht aus einer schon vorher durch mich oder uns legiti­
mierten Autorität. Wenn ich durch den anderen verpflichtet werde,
so nicht deswegen, weil er über ein Recht dazu verfügt, das ich ihm
direkt oder I mittelbar zugestanden hätte. Meine Freiheit ist nicht die [ 1 65]
Quelle seiner Autorität: Nicht weil man frei ist, weil dein Gesetz
mein Gesetz ist, ist man verpflichtet, sondern weil deine Forderung
nicht mein Gesetz ist, weil man den anderen erleidet. Die Verpflich-
tung aus Freiheit, aus Übereinkunft ist sekundärer Natur. Sie setzt
eine Erleidbarkeit (passibilite), eine Bresche in der Festung des Ichs
voraus : >>Daß diese Abgeschlossenheit nicht den Ausgang aus der
Innerlichkeit unterbindet.<< Eine Bereitschaft zur Transzendenz?
Transskribiert: die Fähigkeit des auf die Empfänger-Instanz verscho-
benen Senders, sich zu erinnern, daß er sich nicht dort befinden
dürfte. Das Skandalon - vielmehr die Bereitschaft zum Skandalon -,
das mit der Beweglichkeit einer Entität auf den Instanzen der Satz­
Universen zusammenhängt, mit deren Widerstand gegen diese Be­
weglichkeit und mit der Erinnerung, die sie nach der Begegnung vom
Vorher besitzt (die Konversion). Diese Bedingungen erfordern die
Beharrlichkeit des Eigennamens. Dagegen hat der andere in seiner
Mittellosigkeit nicht einmal einen Namen. Man ruft ihn nicht, man
wird von ihm gerufen.
Diese Erleidbarkeit ist gleichwohl keine Bedingung der Möglichkeit
von Ethik, keine UQX� (arche) der Verpflichtung. Diese Begriffe von
Bedingung der Möglichkeit, von arche, tauchen in Totalite et infini
(Totalität und Unendliches) auf und werden darauf am Schluß von
Difficile liberte (Schwierige Freiheit) und in >>Humanisme et Anarchie«
(Humanismus und Anarchie, 1968 b) verworfen. Sie ist bereits die
gesamte Ethik, in ihr sind deren beiden Seiten, die Freiheit und die
Verfolgung, vereint. Letztere unterscheidet sich von jener nicht, wie
sich die Heteronomie von der Autonomie unterscheiden würde. Beide
erfordern die Gebundenheit des Ichs [je] durch den anderen, seine
Abhängigkeit, seine Geiselnahme. Zur Verfolgung kommt es dadurch,
daß das Ich >>passiv<<, gegen seinen Willen, in der Rekurrenz seines
Narzißmus gebunden ist, der sich gegen die Erleidbarkeit erhebt und
die Äußerlichkeit nicht hinnimmt. Die Rückkehr des Ichs in die
Situation des Du, in die der andere es versetzt hat, macht den letzteren
zum Verfolger. Ich stehe unter Anklage, weil ich dich verrate, weil ich
das Du [toi] ausschließe oder ausnehme. Die >>gottlosen Kreaturen<<
klagen sich [s'accusent] ohne Unterlaß unter dem Regelsystem des
191

DIE VERPFLICHTUNG
>>unbegrenzten Akkusativs« [accusatif illimitel an (1974: 132-133, 141-
142, 150-151). Das Ja zur Gabe der unentzifferbaren Botschaft, zur
Auserwählung, die die Forderung ist, der (unmögliche) Bund mit dem
anderen, der nichts ist, bedeutet die Hinnahme des Sprungs im Ich.
Unmöglich, >>sich dem gebieterischen Ruf der Kreatur zu entziehen«
aber: >>die Hinnahme [der Passivität] überschreitet nirgends die Passivi�
tät« (1968 a : 1 08).
Wie kann das in sich Geschlossene, das Ich [moi], zugleich offen sein,
gewärtig, die Transzendenz einer Äußerlichkeit zu erleiden? Würde es
sich dabei im Großen und Ganzen nicht um die Dialektik des Saumes,
der G �enze handel�� eine durch und durch hegelsche Bewegung: keine
Innerlichkeit ohne Außerlichkeit und umgekehrt? Kein Ich [mot] ohne
anderen, kein anderer ohne Ich. Levinas versucht, diese umkehrbare
Totalität aufzubrechen, die spekulative Logik zu zerschlagen, indem er
[166] die Dissymmetrie der ethischen Instanzen verstärkt. I Man kann ein­
räumen, daß es kein Ich ohne anderen gibt, wenn der andere sein
anderer ist. Das Ich [moi] bildet sich, indem es sich verliert und sich von
seinen Entfremdungen erholt, in der narzißtischen Bewegung, die es
zum Fürsich-Sein treibt. Der andere aber, der ohne mich nicht wäre, ist
gleichwohl nicht mein anderer, er ist keine vorübergehende Entfrem­
dung im Verlauf meiner Odyssee, sondern deren Abbruch. - Woher
wissen Sie das? - Von diesem Abbruch, von dieser Enteignung, der
Leidenschaft, die seine Forderung hervorruft. Weit davon entfernt,
mich zu bereichern und mir Gelegenheit zu verschaffen, meine Erfah­
rung zu mehren und zu klären, löscht mich der Eintritt des anderen als
Subjekt einer Erfahrung aus.
- Wie aber können Sie das behaupten, es sei denn, nachdem Sie
wieder >>Zu sich« gekommen sind, Ihre Situation als Ich, das Sätze >SetZt<
(oder zu >setzen< glaubt), zurückerobert haben, nachdem Sie den
ethischen Satz durch seine Bewahrung gemeistert und ihn auf diese
Weise als ein Moment im Fürsich-Werden Ihrer Existenz eingeschlos­
sen haben? Webt nicht das Schreiben, und gar Ihr Schreiben der
Erleidbarkeit, an einer Herrschaft, einer Erfahrung, einem Text aus
?em, was ohne Text, ohne Erfahrung, herrschaftslos ist? Wie läßt sich
m der zweiten Person schreiben? In der dritten Person kann man die
zweite nur beschreiben. Man schreibt: das Du. Wirkt der Rückfall, den
Levinas Buber vorwirft, nicht auch im Text Levinas' ? Ist dieser Text
nicht der Kommentar dessen, was doch von jedem Kommentar verfehlt
werden muß? Kann dieser Text nicht-phänomenologisch sein (Nr. 71 ) ?
3. Aber vielleicht muß Schreiben anders begriffen oder besser: darge­
stellt werden. Vielleicht ist das Schreiben Uvinas' nicht die Beschrei­
bung einer Erfahrung, geleitet von einem Ich, das das Wissen über sich
192
-
LEVINAS
sucht, sondern die Bezeugung der Spaltung, die Öffnung zu jenem
anderen, der in seinem Leser eine Forderung an Levinas richtet, die
Verantwortung gegenüber dem Boten, dem Leser nämlich. Es würde
sich nicht darum handeln, »in der zweiten Person« zu schreiben, im
Regelsystem des Du, sondern auf den anderen hin zu schreiben, unter
dessen Gesetz. Levinas' Text wäre das heimliche Geständnis einer
Geisel. In ihr erfüllte sich die Erleidbarkeit. Sie würde uns sagen: Ja,
ihr seid meine Herren. Natürlich nicht ihr, ihr genannten und nennba­
ren Leser, sondern ihr, auf die ich hinschreibe, jenseits der sichtbaren,
über mein Geschriebenes gebeugten Gesichter. Denn der Lesende hat
Forderungen gestellt, er ruft. Der Schreibende ist durch diese Forde­
rung gefesselt, aufgestört, außer sich, unsicher, ob er sich im Schrei­
ben bindet oder befreit. Er begibt sich in unsere, der Leser, Hände.
Gehören diese Hände guten oder schlechten Engeln? Welche Boten
sind wir, welche Botschaften? Der Schriftsteller weiß es nicht,
ebensowenig die Engel, sie mißverstehen sich. Nur eines ist sicher,
dieses ethische Schreiben entkommt der Verfolgung I nur, wenn es [167]
sich nicht an die >>gottlose Kreatur« bindet, wenn das Ich des Schrift­
stellers, während die Schrift sich vollzieht, keine Rechte über oder
besser: gegen sie beansprucht. Schreiben hieße nicht: >>eine Botschaft
übermitteln«. Das gehört vielmehr zum Dünkel des Ichs (je]. Es
stöhnt, es opfert sich dem Werk. Es täuscht sich. Das Schreiben ist
kein Opfer, sondern heilig (1977: 7-1 0)� Es ist der Zeuge des Spalts im
! Ich, seiner Bereitschaft, auf einen Ruf zu hören. Der andere im Leser
'fordert nicht den Tod des Ichs des Schriftstellers, sondern daß er seine
Erleidbarkeit hinnimmt.
Wird jedoch der Leser, der spätere Kommentator, nicht unvermeid­
lich zum Verfolger des Werks, sobald er von dem spricht, was er liest,
sobald er das Gelesene mit dem Geforderten oder vermeintlich Gefor­
derten vergleicht. Daß er zu wissen glaubt, was er forderte, daß er die
im Werk gegebene Verantwortlichkeit für mit dem Wesen seiner Forde­
rung vergleichbar hält - folgt nicht einzig schon aus diesem Grund, daß
er sich damit, mit seinem Kommentar, wieder unter das Regelsystem
deskriptiver Sätze, in die Versuchung des Wissens begibt? Wie sollte der
Kommentar keine Verfolgung des Kommentierten sein, kein beige­
brachter Beleg (allein deswegen, weil der Leser das Wort ergreift) dafür,
daß er mit der Formulierung seiner Forderung deren Kenntnis -
zumindest deren mögliche Kenntnis - unterstellt, und daß diese Forde­
rung dann kein Wunder mehr ist, dem die Schrift sich zugänglich
machte, sondern nur noch eine Vorschrift mit Inhalt und Bedeutung, an
die das Werk wie die Geisel an das Einhalten eines Versprechens
gefesselt ist?
Die Heiligkeit würde verschwinden und der Opfergedanke mit seiner
193
 DIE VERPFLICHTUNG
opferbereiten »Aufhebung<< [i. 0. dt.] wiederkehren. Das Selbst also
erhö.be Anspruch auf das Schreiben des Schriftstellers, drängte dessen
Erle!dbarkeit in die Erkenntnis des Selbst ab ! Die Unvergleichbarkeit
der Forderung, die es an das Schreiben stellte, mit dem, was dieses
zum Tausch dafür bietet, wäre im Großen und Ganzen nur das nega­
. >>wer nicht glaubt, glaubt doch in einem einzelnen Punkt« (Aristoteles,
uve Moment, das Moment des Widerspruchs, das Moment, das der
Regel der immanenten Ableitung entspricht (Hegel-Exkurs), deren
Resultat trotz allem noch und stets das Fürsich ist. Das Für-den­
anderen wäre nur das Moment der Zerrissenheit - unvorsichtig und
ungerechtfertigt isoliert - in der Bewegung des Selbst zu sich gewe­
sen. Der Schriftsteller und der Leser wären die beiden Gestalten des
Gleichen gewesen, nur für einen Augenblick unvergleichlich. Vergrö­
ßerte man ihren Abstand, so würde die spekulative Maschine nur
umso besser in Gang gebracht. Auf ebendiese Weise wurde von den
Anfängen des hegelschen Denkens an die Gestalt des Judentums be­
griffen : als ein abstraktes, böswillig in seiner Absonderung stillge­
stelltes Moment (die >>vorgebliche<< Transzendenz der Forderung),
ein Moment in der Bewegung der schönen Totalisierung (Bourgeois,
1 970: 1 1 8).
Und verlangt nicht bereits der eben gelesene Kommentar, was Levi­
[168] nas Buher vorwirft und an I Hege! verabscheut, daß nämlich Schreiben
und Lektüre, Ich und Du im Universum des kommentierenden Satzes
referentiell verstanden werden und daß dieser Satz beide zusammen als
ein Ganzes meint, das gut und gern asymmetrisch sein und dennoch ein
Ganzes bleiben kann? Trifft dies zu, so war das Spekulative in diesem
Kommentar bereits im Gerruß seiner Rechte, das heißt der Rechte der
Meta-Beschreibung. Und muß nicht Levinas selbst diese Rechte aner­
kennen und beachten, er, der sich darum bemüht, für seinen Leser, an
dessen Stelle und durch die Vermittlung eines Wir, das die Asymmetrie
zwischen Ich und Du auslöscht, zu kommentieren, was es mit dieser
Asymmetrie auf sich hat?
Daß du niemals ich bist, daß ich niemals du bin - läßt sich dies
reflektieren, reflexiv schreiben? Geschrieben leuchtet dies ein: daß das
Du niemals das Ich und das Ich niemals das Du ist. Der ethische Satz
verflüchtigt sich mit seiner schriftlichen Fassung: Die Asymmetrie der
Pronomina, sein Geheimnis, wird durch seine autonymische Beschlag­
nahme, in der dritten Person preisgegeben und neutralisiert. Die Ge­
duld des Begriffs durchforscht die Ungeduld der Forderung. Er kehrt
die Ungeduld gegen sich selbst. >>Handeln, bevor man vernimmt<<
(1968a: Kap. 4); gerade das aber macht der Kommentar mit dem
ethischen Satz! Er kommentiert ihn als ein Mißverstandenes und auf
diese Weise bewahrt er in sich selbst den Anspruch des Unv�rstande­
nen, den er selbst erhebt. Unschwer gerät die Ironie des Kommentators
194
- -
DAs »WUNDER«
zur Verfolgung: Je weniger ich dich vernehmen werde, so sagt er zum
Text Levinas' oder zum göttlichen Text, umso mehr werde ich dir darin
folgen: denn wenn ich dich als Forderung (deinerseits) vernehmen will,
darf ich dich nicht als Bedeutung verstehen. Satan wäre der beste Diener
Gottes, zumindest wenn es stimmt, daß er sich ihm widersetzt. Denn
Sophistische Widerlegungen, 180 b 1), er wurde verpflichtet, der B efehl
(oder die Forderung) wurde als solcher gehört, nur sein Inhalt nicht
begriffen. Satan ist ein ethischer Name.
Aber Hege! ist nicht Satan, sondern ein spekulativer Name, das Selbst
gehorcht nicht, nicht einmal um sich zu widersetzen, es ist im Werden
begriffen, Gott fordert und erwartet nichts von den Geschöpfen, das
Selbst kommt zu sich selbst durch Gott und die Geschöpfe.
Welches Gericht kann den Widerstreit zwischen dem ethischen Satz
(dem Unendlichen) und dem spekulativen Satz (der Totalität) erkennen
und schlichten?
171
Das »Wunder« bei Levinas wäre neben das >>Fremde« der Gno­
stiker, insbesondere bei Markion Gonas, 1958 [ 1 934]: 72), zu
stellen. In einer Fußnote ruft der [französische] Übersetzer
(ibid. : 465) die semantische Verwandtschaft von »Fremde«
[ estrangement] und >>Entfremdung« [alienation] ins Gedächtnis.
Die Verpflichtung entfremdet das Ich [moz] : Es wird zum Du
eines absolut unerkennbaren anderen. Jonas verwendet auch
>>Unheimlichkeit<<, ein Ausdruck, der die I widersprüchliche [ 1 69]
Beziehung zwischen dem Ich und dem anderen in sich auf­
nimmt: Indem ich die Forderung annehme, trete ich, als Geisel,
weit aus mir heraus, ohne jemals bei dir zu wohnen noch jemals
bei dir einzukehren, da du keine Bleibe hast, ebenso aber erfülle
ich meine Berufung, nämlich nicht mehr bei mir zu bleiben. Im
Gegensatz zu Freud, der Du durch Es ersetzt und dem Ich die
Berufung zuschreibt, das Es auszusiedeln: es würde der Versu-
chung des eitlen Wissens erliegen. Aber die Analyse ist in jedem
Falle unendlich, unabschließbar, vorausgesetzt, sie besteht in
dieser Ersetzung. Das Wahre als Aneignung des anderen - und
sei es durch einen >>Graphen« - wird falsch sein.
1 95
 DIE VERPFLICHTUNG
1 72
- Trägt aber der andere, der Fremdling, nicht alle Züge des Ge­
schieht es? (Nr. 1 3 1 , 1 32)? Muß Geschieht es? als Geschiehst du?
verstanden werden? Wenn der Herrgott nicht beschreibbar ist,
wie können Sie dann behaupten, daß er jemand, will sagen: ein
Sender ist ? Ein unbekannter Sender ist wenigstens als Sender
bekannt. - Aber, werden Sie antworten, da der Ruf oder die
Forderung meinen Namen zum Namen eines Empfängers, eines
Du wandelt, muß ein Sender, zumindest die Leerstelle der
Instanz eines verborgenen Ichs, zugleich im selben Satz-Univer­
sum dargestellt werden ! - Einwand: Daß dieses Universum, in
dem Sie Empfänger sind, eine unbesetzte, vielleicht - selbst
durch ein Schweigen - >>absolut<< unmarkierte Sender-Instanz
enthält, ist bereits die ethische Situation, die Ordnung des durch
den Verpflichtungs-Satz dargestellten Universums. Dies kann
sich aber nicht in Ihre Erfahrung einschreiben. Denn Sie sind in
diesem Universum auf der Du-Instanz dargestellt, Sie werden
gerufen, doch die Erfahrung und die Erkenntnis geschehen in
der ersten Person oder zumindest als Selbst. Was Sie für den Ruf
des Herrn halten, entspricht der Situation des Du, in der das Ich
der Erfahrung beraubt, »entfremdet<< [estrange1, entmachtet ist.
Sie haben also weder die Erfahrung des Herrn noch selbst des
Fremden. Hätten Sie sie, so wäre es nicht der Herr, nicht der
ethische Satz. Sie können also nicht bezeugen, daß das, was Sie
ruft, jemand ist. Genau darin besteht das ethische Universum.
1 73
Das Geschieht es? (Nr. 1 3 1 , 132, 1 72) ist also nicht eine Art von
Ruf, der von einem >>unabgegoltenen<< Satz ausgeht? Es erfordert
nicht eine Ö ffnung, eine Bereitschaft zum Vorkommnis in seiner
[170] Fremdheit? Haben Sie dagegen nicht I das Gefühl als das Nahen
dessen bezeichnet, was noch nicht gesagt wurde (Nr. 22, 23)?
Das Ereignis des Satzes, der nicht in bekannte Idiome übersetz­
bar ist, wird sicher nicht vom Ich aufgerufen. Aber wird das
Sein, das Vorkommnis nicht von ferne durch den Satz aufgeru­
fen? Indem Sie nun sagen, der Satz rufe auf, situieren Sie ihn
nicht auf der Instanz eines unbekannten Senders im Universum
196
_ _ ______
DrE MöGLICHKEIT zu SOLLEN
eines Fragesatzes? Sagt Heidegg er nicht dassel? e wi� Levinas,
was immer der letztere auch sagen mag? Legt mcht hrer das Ich
ebenso seine Macht als Sender der Bedeutung nieder, um dann
nichts weiter als Ohr fürs Undarstellbare zu sein, von dem es
gerufen wird? - Nein, denn diese Verwechslung. wäre nur m � g­
lich wenn man annähme, daß der fremde Satz srch durch deme
Für�prache >Setzen< wollte, daß er etwas �on dir wollt� , weil er
sich selbst wollte. Daß das Sein (oder dre Sprache, dre »Sage<<
[Heidegger: »Aus einem Gespräch von der Spr�che�< , 1985
( 1953/54) : 1 37]) des Menschen bedürfte. D u aber brst mchts als
seine Ankunft, Empfänger oder Sender oder Referent oder gar
Bedeutung oder mehrere dieser Instanzen zusammen,. darge­
stellt im Universum des Satzes, der kommt, der geschreht. Er
wartete nicht auf dich. Du kommst, wenn er geschieht. Das
Vorkommnis ist nicht der Herr. Die Heiden wissen darum und
lachen über diese erbauliche Verwechslung.
1 74
Man darf die Verpflichtung nicht mit der »Redlichkeit<<
[i. 0. dt.], der Rechtschaffenheit bezüglich der >>�ede<<
.
[i. 0. dt.] verwechseln (Nancy, 1 983 : 63-86). Drese verpflichtet
nicht: Man muß verketten heißt nicht Du sollst verketten. Es
reicht nicht einmal hin zu sagen, man habe keine Wahl (Nr. 1 02,
1 03): Man ist vom Vorkommnis nicht wie durch eine Verpflich­
tung gebunden. Sätze aber verlangen notwendig, das Vorkom�­
nis in Sätze zu fassen [phraser]. Die Verpflichtung fände nur mit
den Diskursarten statt, die Einsätze vorschreiben : so sollst du
verketten, um dorthin zu gelangen. Wenn beispielsweise dein
Diskurs philosophischer Natur sein soll, mußt du die Verket­
tung an der Suche nach seiner Regel orientieren (und dann �as
Geschieht es? beachten). Die Verpflichtung fände nur durch rhr
Wie statt, das von den Diskursarten den Einsätzen entsprechend
festgelegt würde. Die Verpflichtung hätte hypothetischen Cha­
rakter : Wenn du . . . begehrst oder wünscht, dann mußt du . . .
Immer unter der Bedingung eines anzustrebenden Zwecks, der
vom Einsatz der Diskursart vorgeschrieben wird. - Aber die
Möglichkeit (die Fähigkeit) zu sollen ist nicht hypothetischer
Natur, sie wird von den Diskursarten, von den wenn . . . ,
1 97
______ __ _______________.....................
 DIE VERPFLICHTUNG
dann . . vorausgesetzt. Sie geben zur Verpflichtung Anlaß, aber
.
[ 171 ] nur Anlaß. Auf diese Weise I fragt Kant nach der Fähigkeit zu
sollen selbst, bedingungslos.
1 75
Die Regeln, die die Satz-Regelsysteme bilden, sind nicht prä­
skriptiv und schaffen aus sich selbst keine Verpflichtung. Die
Diskursarten bringen Verpflichtungen mit sich. Weil beispiels­
weise der Einsatz des logischen Diskurses - nämlich zur Tauto­
logie für die Gesamtheit der Sätze und zum überzeugenden
Beweis, der durch das Identitätsprinzip beigebracht wird, zu
gelangen - bereits auf der Prüfung dieser Sätze lastet, werden die
Regeln zu ihrer richtigen Bildung aufgestellt werden. Diese
Regeln werden beachtet werden müssen, wenn man >>logisch«
sprechen will. Man muß sich die Frage stellen, ob nicht Satzbil­
dung und -verkettung in allen Diskursarten hypothetischen
Vorschriften und erfolgsorientierten Strategien unterworfen
sind. Wenn dem so ist und es stimmt, daß die ethische Vorschrift
keiner Hypothese untergeordnet ist, dann wäre das Ethische
also keine Diskursart? Oder besteht der ethische Diskurs darin,
nur die Regel der bedingungslosen Verpflichtung zuzulassen?
Auf diese Weise mit dem philosophischen Diskurs verwandt.
(Wie läßt sich erkennen, daß eine Vorschrift bedingungslos ist?)
1 76
Das Gerichtsverfahren, das sich dieser Diskursart, der Erkennt­
nis, als Idiom bedient und als annehmbare Sätze also nur die
deskriptiven mit kognitivem Wert zuläßt, fragt denjenigen, der
sich auf eine Verpflichtung beruft: Welche Autorität verpflichtet
Sie (oder wird Sie verpflichten) ? Der Verpflichtete gerät in ein
Dilemma: Entweder er nennt den Sender des Gesetzes, setzt
dessen Autorität und Bedeutung auseinander und ist damit
einzig und allein aus dem Grund nicht länger verpflichtet, weil
das Gesetz, nun der Erkenntnis zugänglich, zum Diskussionsge­
genstand wird und seinen verpflichtenden Charakter verliert;
oder er erkennt an, daß dieser Charakter nicht auseinanderge­
setzt werden kann, daß er nicht anstelle des Gesetzes Sätze
198
-
DER SENDER DES GESETZES
äußern [phraser] kann, und dieses Gericht kann daher nicht
zugestehen, daß das Gesetz verpflichtet, da es ja grundlos, also
willkürlich ist. Im Idiom der Erkenntnis ist das Gesetz entweder
vernünftig und verpflichtet nicht, sondern überzeugt; oder es ist
nicht vernünftig und verpflichtet nicht, sondern zwingt. Dieses
Gericht verlangt, daß nur das verpflichtend sei, was der Ver­
pflichtete argumentativ begründen kann. Es nimmt also an, daß
ich I den Platz des Senders der Vorschriften besetzen kann, daß [1 72]
ich diese >>hinnehmen<< kann. Sie sind verpflichtend, weil ich ihre
Bedeutung verstehen und sie dem Gericht erklären kann. Der
Wert der Erklärung ist der W ahrheitswert, er ist universal.
Durch dieses Dilemma annektiert die Familie kognitiver Sätze
die der präskriptiven, löscht das Ich das Du aus.
1 77
Aristoteles trennt die präskriptiven Sätze von den denotativen :
>>Es meint aber jede Rede [Myo�, Iogos] etwas [Ol]!J-UVtLXO�,
semantikos], jedoch nicht in der Weise eines natürlichen Organs
[ÖQyavov], sondern, wie oben erklärt wurde, konventionell, auf
Grund einer Ü bereinkunft [xata ouv{hlXTJV, kata syntheken].
Dagegen sagt nicht jede etwas aus [(mocpavtlx6� (apophantikos:
denotativ)], sondern nur die, in der es Wahrheit oder Irrtum
gibt. Das ist aber nicht überall der Fall. So ist die Bitte [ EUX� ,
euche F zwar eine Rede, aber weder wahr noch falsch. Doch
wollen wir von den anderen Arten der Rede absehen, da ihre
Erörterung nur in die Rhetorik oder Poetik gehört. Hier handelt
es sich um die Rede im Sinne der Aussage<< (Lehre vom Satz, 1 7 a
97-98). Eine Logik denotativer (apophantischer) Sätze zielt auf
die Bestimmung von Bildungsregeln für einfache Sätze (Prädika­
tenlogik) oder ihre Verkettung (Aussagenlogik), mit denen ihr
Wahrheitswert ermittelt werden kann. Es muß ein Lexikon und
eine Grammatik ausgearbeitet werden, mit deren Hilfe diese
Regeln formuliert werden. Sie bilden die Metasprache des Logi­
kers. Folgt aus der Ausklammerung der deontischen Sätze durch
Aristoteles, daß sie von dieser Metasprache abgezogen werden?
'-· Als Spielart der Forderung (A. d. Ü.).
199
 DIE VERPFLICHTUNG
Dies sei nicht nötig, sagen die einen; das sei offensichtlich, sagen
die anderen. Jene stellen sich vor, daß die Aussagekerne der
deontischen Logik die gleiche Form wie die der Aussagenlogik
besäßen (von Wright, 1 967). Diese folgen den Angaben Witt­
gensteins (Philosophische Untersuchungen: §§ 433, 458, 461,
505, 506, 5 1 9) und stellen sie nach folgendem Paradigma dar: x
ist verpflichtet, die Handlung a auszuführen (Hottois, 1981).
Alle aber stimmen darin überein, daß man bei der Behandlung
präskriptiver Sätze spezifische Operatoren oder Funktoren ver­
anschlagen muß und daß sie entweder zu denen der Aussagenlo­
gik hinzutreten oder nicht: so erscheinen beispielsweise die
Funktoren der Verpflichtung und der Erlaubnis unabdingbar. ­
Dennoch verbirgt sich unter dieser scheinbaren Einmütigkeit
[ 1 73] eine neue I Zwietracht. Denn man kann das Verbindliche, das
Erlaubte und die abgeleiteten Operatoren, das Nicht-Verbindli­
che (das Tolerierte) oder das Nicht-Erlaubte (das Verbotene)
gänzlich analog zu den Operatoren der Aussagenlogik verste­
hen : jeweils das Notwendige und das Mögliche und ihre jeweili­
gen Gegensätze, das Kontingente und das Unmögliche. Das
nach Aristoteles benannte Quadrat, das metasprachliche Gerüst
für die Beschreibungen, bleibt dann die Berechnungsgrundlage
für den Wert präskriptiver Sätze. Eine wesentliche Folge davon
ist, daß unter diesen Bedingungen der Kommentar präskriptiver
Sätze dem Wesen des Kommentars denotativer Sätze entspre­
chen wird. Wenn man annimmt, daß die Ausarbeitung, Diskus­
sion und Festlegung von Vorschriften für die Entwicklung der
entsprechenden Normen unabdingbar ist, so deswegen, weil
man voraussetzt, daß der Schluß von der Sprache des Kommen­
tars von Befehlen auf die Sprache der Befehle richtig ist.
KANT II
1. Das Gesetz läßt sich nicht ableiten
Die Rechtfertigung des Gesetzes hieße seine Deduktion. Kant versteht
die Deduktion im Sinne der >>Rechtslehrer<<. Es gibt einen Rechtsstreit
(und vielleicht einen Widerstreit) bezüglich eines Falles von »Befugnis­
sen und Anmaßungen«. Bevor man über die Sache entscheidet, muß
über die Legitimität des Anspruchs jeder der beiden Parteien entschie­
den werden : Hat sie beispielsweise das Recht, den Ertrag einer Erb-
200
KANT Il
schaft zu beanspruchen (oder der anderen Partei v? rzuenthalten) ? �ie
muß den Beweis erbringen, daß sie dieses Recht besitzt, ansonste� wird
die Klage nicht bei Gericht zugelassen. Di� Ded� ktion be�t�ht m � er
Beweisführung, daß sie dieses Recht besitzt: die Autonsierung Im
emphatischen Sinne (KRV, B § 1 3 : 125).
. .
Kam überträgt diese Frage auf die Verpflichtung. Auf v: elc?e W �Ise
.
besitzt eine Vorschrift im allgemeinen (die von einer Partei bei Gencht
geführte Klage ist ein Sonderfall) die Autorität, ihren Emp�änger zu
verpflichten? Die Antwort auf diese Frag� �äre die Abl�Itung der
Vorschrift. Doch wie kann man den präsknpuven Satz ableiten, ohne
dessen Besonderheit zu unterschlagen? Dieses Problem entfaltet die
Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft in der
zweiten Kritik (KPV, Deduktion : 155-165). Wenn es sich um Sätze der
theoretischen Vernunft handelt, die deskriptiver, kognitiver Natur
sind ' so kann die Deduktion der Grundsätze, die deren Bildung steu­
ern, zwar nicht spekulativ von den »Erkenntnisquellen a p;iori<< (wie
der Dogmatismus vermeint) ausgehen, sich aber doch wemgstens �uf
dieses »Surrogat<<, auf diesen Notbehelf, die Erfahrung, berufen (tbtd.:
.
161). I Im Großen und Ganzen verfährt sie - und ebenso übrigens alle [ 1 74]
gleichartigen Dinge - wie der Logiker der Wissenschaften, der aus den
denotativen Aussagen [enonces denotatifs ], die im Korpus seines Refe­
renzbereiches gegeben sind, die Axiome (im heutigen Sinn) herausfil-
tert, die durch diese Aussagen vorausgesetzt werden. Man weiß, daß für
Kant, den Hume-Leser, die Kausalität das wichtigste unter diesen
Axiomen darstellt.
Die Relation zwischen den Grundsätzen in der kritischen Meta­
sprache der Deduktion und der Objektsprache, dem wissenschaftli­
chen Diskurs, ist isomorph zu der Relation, die die Sprache der
Wissenschaft mit dem empirisch »Gegebenen<< verbindet. Diese Iso­
morphie der beiden Relationen widerspricht: keine�w� gs der Tats �­
.
che, daß die erste in der transzendentalen, die zweite m der empm­
schen Ebene angesiedelt ist. Die eine wie die andere stellt einen Be­
zug zwischen deskriptiven Sätzen her. Gerade diese Isomorphie er­
möglicht Kant die Behauptung, daß sich die Deduktion der Grund­
sätze, die nicht unmittelbar »Von den Quellen<< ausgehen kann, der
Erfahrung als eines »Surrogats<< bediene. Die Metasprache, der kriti­
sche Diskurs nämlich, der die Deduktion der Prinzipien der Wissen­
schaft - insbesondere der Kausalität - durchführt, bleibt innerhalb
ihrer Ebene isomorph mit ihrem Referenten, der Objektsprache der
Wissenschaft. Diese Isomorphie ermöglicht die Deduktion. Sollte sie
fehlen so erscheint es - ohne die oben erwähnten »Quellen<< - un­
mögli�h, die Grundsätze der theoretischen Vernunft und insbesonde­
re die Kausalität abzuleiten.
201
 DIE VERPFLICHTUNG
Dieses isomorphe Verhältnis zwischen der kritischen Metasprache
der l_)ed �ktion und der Objektsprache (den kognitiven Sätzen), aus
der ste dte Grundsätze ausfiltern muß, fehlt, wenn es sich bei letzterer
um die Sprache präskriptiver Sätze handelt. Das kantische Argument
lautet, daß die präskriptiven Sätze, die bei weitem nicht von Grundsät­
zen wie der Kausalität bestimmt werden, genauso wie die deskriptiven
Sätze selbst die Ursache von Handlungen sind, die sie erzeugen. Diese
reine Kausalität oder Spontaneität der Präskription ist keine Erfah­
rungstatsache, weil alles empirisch »Gegebene« von den endlosen
Abfolgen von Ursachen und Wirkungen bestimmt wird: die Ursache
von diesem wird zugleich als Wirkung von jenem gedacht. Hier liegt
also eine Allomorphie oder Heterogenität zwischen der deskriptiven
Metasprache der Deduktion und ihrer angenommenen Objektsprache,
dem präskriptiven Satz vor. Was also die Deduktion betrifft, die die
präskriptiven Sätze über den praktischen Grundsatz zu rechtfertigen
hat, so »darf man nicht so gut fortzukommen hoffen, als es mit den
Grundsätzen des reinen theoretischen Verstandes anging<< (ibid.: 160).
Kant legt dieses Scheitern der praktischen Deduktion mit einer Art
Genugtuung dar: »Also kann die objektive Realität des moralischen
Gesetzes durch keine Deduktion, durch keine Anstrengung der theo­
retischen, spekulativen oder empirisch unterstützten Vernunft bewie­
sen und also, wenn man auf die apodiktische Gewißheit Verzicht tun
[175] wollte, durch keine Erfahrung bestätigt und so a posteriori I bewiesen
werden, und steht dennoch<<, so fügt er sogleich hinzu, »für sich
selbst<< (S. 161 ).
Muß also jeder Versuch zur Rechtfertigung des präskriptiven Sat­
zes aufgegeben werden? Das hieße die Autorität der Willkür überlas­
sen. An dieser Stelle nimmt die kantische Untersuchung eine eigen­
tümliche Wendung: Das Funktionieren der Deduktion kann erhalten
bleiben, unter der Bedingung allerdings, daß sich ihre Richtung än­
d �rt: »Etwas anderes aber und ganz Widersinniges tritt an die Stelle
dteser vergeblich gesuchten Deduktion des moralischen Prinzips«
(S. 161-162). Man entdeckt eine Deduktion, die in Gegenrichtung zu
der gesuchten verläuft. Die kritische Metasprache mußte versuchen,
aus einer Objektsprache das Prinzip herauszufiltern, das die in ihr
befindlichen präskriptiven Sätze autorisieren kann. Dies hätte sie nur
um den Preis der Beseitigung des Problems erreicht: Die präskripti­
ven Sätze, die auf der Referenz-Instanz im Universum dt!s kritischen
S�tzes (der Deduktion) situiert sind, wären eben dadurch autonymi­
stert worden (Nr. 45, 46) und nicht länger präskriptiv, das heißt
spontane Ursachen, sie wären in der Tat vielmehr »Objekte« gewor­
den, das heißt Wirkungen des Prinzips, auf das die Deduktion ge­
schlossen haben wird.
202
- -
KANT II
Dieses Scheitern unterdrückt jedoch nicht die Möglichkeit der Meta­
sprache, es verkehrt deren Richtung, allerdings zum Preis einer Mo?i�­
_
kation des Objekts. In Ermangelung des Gesetzes kann dte Fre� hett
deduziert werden. Diese neue Deduktion beginnt beim Gesetz. Dteses
aber erscheint in der legitimierenden Beweisführung nicht als Konkl� ­
sion - wie der Satz, der die Vorschriften autorisiert, ein Satz, den dte
Metasprache aus der Objektsprache gefiltert hätte -, s?ndern als Prä­
misse, als ein Satz dieser Objektsprache, aus dem dte Metasprache
geschlossen hat, daß er, um sich zu autorisieren, einen Satz voraussetzt,
der die Freiheit behauptet. Somit vollzöge sich die Umkehrung der
Deduktion : dieses moralische Prinzip (das Gesetz) führt >>umgekehrt
selbst zum Prinzip der Deduktion eines unerforschlichen Vermögens
[. . . ] : nämlich der Freiheit<< (S. 162). __
Die Freiheit drückt sich nicht in der Objektsprache aus, sie kann nur
im kritischen Kommentar artikuliert werden. Aber nun muß das Gesetz
seinerseits ein Ausdruck in einer Objektsprache sein . . . Und Kant
schlägt in der Tat vor, >>das B ewußtsein dieses Grundgesetzes ein
Faktum der Vernunft zu nennen<< (S. 141). In diesem Faktum >>beweist<<
>>sich die reine Vernunft bei uns tatsächlich praktisch<<. Nur ist dieses
»schlechterdings [. . . ] unerklärliche<< Faktum (S. 1 56) eher eine bloße
Art von Faktum, ein Quasi-Faktum : Die Realität des reinen Willens,
erklärt Kant, >>ist im moralischen Gesetz a priori gleichsam durch ein
Faktum gegeben<< (S. 171). Gleichsam durch ein Faktum, und nicht
durch ein Faktum. Dieses Faktum ist nur deswegen ein Quasi-Faktum,
weil die unmittelbare Bestimmung des Willens, das Gesetz, nie, wie wir
gesehen haben, als ein einfaches und wirkliches Faktum ermittelt
w�rden kann, mittels eines - hier kritischen - Verfahrens, dessen
Exklusivmodell I die Deduktion der Grundsätze empirischer Erkennt- [1 76]
nis (theoretische Vernunft) bleibt. _,
Dieses >>Faktum<< der Vorschrift oder Verpflichtung ist so wenig ein
Faktum im empirischen oder kognitiven Sinne, kann so wenig unter
einen Begriff subsumiert werden, der daraus >>deduziert<< worden wäre
und im Gegenzug erlauben würde, dessen Ort in einer erkennbaren
Erfahrung zu legitimieren, daß Kant es letzterer gegenüberstellt,
indem er es (wir werden sehen, wie) auf eine Idee bezieht: >>Denn in
der Tat versetzt uns das moralische Gesetz der Idee nach in eine
Natur, in welcher reine Vernunft, wenn sie mit dem ihr angemessenen
physischen Vermögen begleitet wäre, das höchste Gut hervorbringen
würde<< (S. 157). Das Gebiet, das die Quasi-Erfahrung des Du sollst
umschreibt und in das diese sich einschreibt, ist weder die Welt, noch
selbst die Natur, sondern eine >>Übersinnliche Natur<< (S. 158), deren
>>Idee wirklich unseren Willensbestimmungen gleichsam als Vorzeich­
nung zum Muster<< dient (S. 157). Die moralische ,,Erfahrung« ist
203
 DIE VERPFLICHTUNG
keine Erfahrung, das Du sollst kann nicht als solches in der Wirklich­
keit ermittelt werden. Dennoch wird die Verpflichtung entgegenge­
nommen und kann darum eine Art Faktum genannt werden. Aber sie
wird über das B egehrungsvermögen und in einer ideellen Natur entge­
gengenommen und nicht mittels der Sinnlichkeit in der wirklichen
Welt.
2. Ich kann
Der reine präskriptive Satz ist nicht legitimiert und nicht legitimierbar,
sonst verflüchtigt er sich als Verpflichtung, das heißt verliert seine
Besonderheit. Umgekehrt aber kann der präskriptive Satz, als Quasi­
Faktum verstanden, als Ausgangspunkt einer Deduktion, der Deduk­
tion der Freiheit dienen. Wenn du sollst, so deshalb, weil du kannst.
Indem Kant den kanonischen Satz der Freiheit in der zweiten Person
formuliert, leistet er einem häufigen Irrtum Vorschub : Du bist zur
Ausführung einer Handlung nur deswegen verpflichtet (mit dem Un­
terton : anstatt dazu gezwungen zu werden), weil du die Möglichkeit
hast (im Sinne der Kontingenz), sie nicht auszuführen. Empirische
Wahlfreiheit bezüglich des Inhalts des Befehls, kontingente Verket­
tungsweise bezüglich dieses Befehls.
Es ist unerfindlich, wie diese Freiheit zur Verweigerung der Geset­
zestreue bereits die Legitimation - und sei sie indirekt - dieses Gesetzes
ergeben sollte. Die aus dem Gesetz abgeleitete Freiheit ist nicht die
Kontingenz der Verkettungen. Im Gegenteil : >>[. . . ] wo das sittliche
Gesetz spricht, da gibt es keine freie Wahl in Ansehung dessen, was zu
tun sei« (KUK: § 5, S. 287). Selbst wenn du das Gesetz brichst, erkennst
du es an. Der Gehorsam ist eines, das Gefühl der Verpflichtung, die
Achtung ein anderes. Dies wird vom Du im Du sollst angezeigt. Der
Empfänger kann sehr wohl folgendermaßen anknüpfen: Ich werde es
nicht tun, obwohl er zuvor ein von der Verpflichtung ergriffenes Du
gewesen war. Diese Verpflichtung ist einem Zwang darin analog, daß
sie die Verschiebung eines Ichs auf die Empfänger-Instanz, seine Gei­
[1 77] selnahme ist. I
Im Freiheits-Satz wird ein Vermögen nicht im Sinne einer Eventuali­
tät geltend gemacht, sondern im Sinne einer Handlungsfähigkeit, das
heißt im Sinne einer ersten Ursache aus kosmologischer Perspektive.
Man könnte kein Faktum vorlegen, das als Beispiel für diese erste
Kausalität oder Spontaneität dienen kann. Wenn man dennoch die
Spontaneität aus der Situation der Verpflichtung ableiten kann, so
deswegen, weil diese jene notwendig impliziert. Wie ist das möglich?
. Indem der Empfänger Du sollst >>vernimmt<<, »vernähme<< er zugleich
emen S�tz, den er nicht beglaubigen kann, der aber gleichsam auf seine
Formuherung unter seiner Verantwortung wartet und Du kannst lauten
204
KANT I I
würde. Wie immer (Nr. 22, 2 3 ) zeigt oder kündigt sich dieser anste­
hende nicht mit einer Beschreibung formulierbare Satz als ein halbes
Schw:igen, als Gefühl, als Achtung an. Die i� der kritischen � eta­
sprache gestellte Frage zielt darauf, ob das Du m Du sollst und m Du
_
kannst identisch sind, ob die gleiche Entität verpflichtet und erste
Ursache ist.
Wenn sie identisch wären, käme man zur Interpretation durch die
Willensfreiheit zurück, die wir gerade verworfen haben. Du sollst
impliziert einen Sender, der zweifellos ein Gehei� nis, >>unb� greiflich�<,
>>unerforschlich« ist (KPV: 1 12, 1 62), den Kant m der zweiten Knuk _
Freiheit nennt, im Opus postumum aber auch Gott. Wie dieser Sen�er
möglich ist, läßt sich nicht erklären, es gi�t dafür keinen Erkenntms­
_
Satz im eigentlichen Sinne. Aber das Quast-Faktum der Verpflichtung
ist gleichsam ein Zeichen, das der sendenden Entität in Form des
Gefühls aufgedrückt wird.
Den Verpflichteten ergreift eine gefühlsmäßige Präsumption �iner
Autorität, die ihn verpflichtet, indem sie sich an ihn wendet. Dteses
Zeichen zeigt an, daß in einem Regelsystem von Sätzen, das �erade
nicht den deskriptiven entspricht, eine Kausalität auf den Verpflichte­
ten einwirkt, die von einem empirischen Erklärungsprinzip abweicht.
Die Entität, die diese spontane Kausalität innehat, kann nicht der
Empfänger sein. Dieser erhält die Ankündigung der Spontaneität in der
Form der >>Abhängigkeit«, der >>Nötigung«, der >>Pflicht« (S. 1 43).
Nicht er, sofern er Empfänger ist, kann. Vielmehr kann der Sender, der
mit dem Vermögen identisch ist. Und im Universum des Verpflich­
tungssatzes würde der Sender Ieh sagen, wenn er von sich selbst
spräche, wie er bei der Verpflichtung des Empfängers Du sagen würde
(Du sollst).
Dem Du sollst entspricht als Idee nur ein Ich kann und nicht ein Du
kannst. Dieses Ich kann ist kein Satz, der an das Du sollst über eine
gleichbleibende Entität, Ich hier und Du dort (wie in der Willensfrei­
heit), anknüpfen würde; vielmehr muß der Satz: Ich kann mit dem
Satz: Du sollst identisch sein. Du sollst stellt zusammen mit dem
Universum der Verpflichtung auf der Empfänger-Instanz ein I Uni­ [1 78]
versum von Freiheit auf der Sender-Instanz dar. Unmöglich zu wis­
sen, wer >>Ich« sagt, selbst wenn dieses Ich sich ausspricht. Kant
vervielfältigt die bloß negativen Beschreibungen unter der allgemeinen
Rubrik der Unabhängigkeit, wenn er sie auf die >>mechanische« Kausa­
lität bezieht. Ich kann ist folgendermaßen zu verstehen: Ich unterliege
nicht dem Zwang der Verkettungen, die die Erkenntnisobjekte be­
stimmen, insbesondere nicht den empirischen- Motiven und Interes­
sen, ich transzendiere sie. Auf diese Weise stellt sich im Verpflich­
tungssatz die Gesetzesabhängigkeit als Gefühl und zugleich die Unab-
205
 DIE VERPFLICHTUNG
hängigkeit gegenüber dem Regelsystem der Erkenntnis als geheimnis­
volle Voraussetzung dar.
Das Gesetz bleibt unabgeleitet. Die Freiheit wird im Innern des
Verpflichtungssatzes selbst als unmittelbare Implikation eines Senders
abgeleitet, wird abgeleitet von jener Wirkung: die vom Empfänger
empfundene Enteignung. Man weiß nicht, wessen Freiheit die Frei­
heit ist. Man weiß bloß, daß sie sich über das Gefühl der Verpflich­
tung dem Empfänger des Gesetzes ankündigt, nichts weiter. Die De­
duktion der Freiheit ist nicht der Deduktion der Erkenntnisprinzi­
pien in der ersten Kritik vergleichbar. Diese schließt auf Begriffe, die
die Erkenntnis empirischer Fakten ermöglichen, welche der Deduk­
tion als Prämissen gedient haben. Man kann strictu sensu nicht be­
haupten, die Freiheit ermögliche die Erfahrung von Moralität, die
Verpflichtung. Diese ist kein Faktum, das man belegen könnte, son­
dern nur ein Gefühl, ein Faktum der Vernunft, ein Zeichen. Die
Freiheit wird negativ abgeleitet: Damit die Verpflichtung geschieht,
ist wohl eine Wirkmacht notwendig, die nicht der Kausalität als em­
pirischem Erklärungsprinzip entspricht, denn die Erfahrung ver­
pflichtet nicht. Die praktische Deduktion der Freiheit ist negativ,
weil sie nicht von den Fakten, sondern gerade vom Gegenteil, vom
>>Widersinnigen<<, ausgehen muß : von der Ohnmacht der Fakten und
der kognitiven Sätze angesichts des Quasi-Faktums der Verpflichtung.
Die Fakten sind Referenten kognitiver Sätze . Bei dem Du der Ver­
pflichtung und dem mutmaßlichen Ich der Freiheit handelt es sich
nicht um Referenten, außer daß sie selbst »hervorgebracht« werden
(S. 1 84).
Aber, fügt Kant hinzu, an sich und nicht mehr im Vergleich mit dem
kognitiven Satz betrachtet, erbringt der ethische Satz einen »genugtu­
enden« B eweis der >>objektiven Realität« der freien Kausalität. Er
verwandelt den >>transzendenten Gebrauch [der Vernunft] in einen
immanenten (im Felde der Erfahrung durch Ideen selbst wirkende
Ursache zu sein)« (S. 1 62). Das Vermögen des Ich kann ist nicht nurdas
Vermögen, nicht von den Reihen, die die Erfahrungswelt bilden,
bestimmt zu werden, sondern positiv das Vermögen zu verpflichten, es
[1 79] ist unmittelbar das Vermögen des Gesetzes. Auf diese Weise /wird die
»Immanenz« der praktischen Vernunft (der reine Willen) als die Situ­
ierung des Senders im Verpflichtungssatz verständlich. Das Ich ist ideell,
wird aber (als abwesendes) im Universum dieses Satzes als dasjenige
dargestellt, das ihn unmittelbar wirken läßt: Genau zu der Zeit (der Zeit
der Verpflichtung), in der das Du soll, kann das Ich . Und die Verpflich­
tung a!s spezifisches Satz-Regelsystem (ohne Gegenstück unter den
_
kognitiven Sätzen) erbringt selbst den Beweis einer Kausalität die nicht
seriell, sondern performativ ist. - Die Schwierigkeit des zitier�en Satzes
206
--- -....
KANT li
hängt damit zusammen, daß sich die Wirkkraft dieses Vermögens - wie
erklärt wird - >>im Feld der Erfahrung« niederschlagen soll. Eines von
beiden: entweder ist dieses der Referent aller wenn . . ./dann-Verket­
tungen und läßt der Performanz deshalb keinen Raum; oder aber der
performative Charakter der Freiheit findet darin seinen Platz, dann
entspricht sie formal dem Typus wenn . . .!dann, und der Imperativ ist
somit nicht kategorisch.
3. Die Kluft
Mit dieser Begrenzung der praktischen Deduktion (in Form einer
Umkehrung ihrer Richtung) ist die Heterogenität zwischen dem ethi­
schen und dem kognitiven Satz gekennzeichnet. Diese Begrenzung
verdankt sich nicht einer Endlichkeit des menschlichen Wesens. Sie
resultiert aus dem Fehlen eines homogenen Sprachzusammenhangs.
Eine »Kluft« (KUK, Einleitung) trennt jeden deskriptiven Satz (die
kritische Metasprache der Deduktion eingeschlossen) vom präskripti­
ven Satz. Dieser muß jenem entgleiten, wenn er als dessen Referent
verstanden wird.
Der Einwand folgt auf dem Fuße. Wenn die Kluft zwischen der
durch die Erkenntnis bestimmten Welt und der Verpflichtung unüber­
schreitbar ist, so bleibt die kantische Moral eine Abstraktion. Du
verstehst wohl : Mach die Tür zu, aber die Tür wird immer offen
bleiben. (Oder ist die Welt der Erkenntnis umgekehrt eine Abstrak­
tion im Vergleich zur Welt der Moralität?) - Wahrhaft abstrakt ist es,
die Frage nach der Kluft als Alternativfrage zu stellen, in dem Sinne,
ob sie zuzuschütten oder auszuheben wäre. Nun gibt es eine Kluft ­
oder ganz allgemein eine Grenze - nur, weil sich jede Partei (um bei
der Gerichts- oder Kriegs-Metaphorik zu bleiben) ein Kontrollrecht
über die Argumentation der anderen zuspricht und ihre Ansprüche
über ihre Grenzen hinaus ausdehnt. Um diesen Preis findet sie diese
Grenzen.
Im hier verwendeten Idiom bedeutet dies, daß eine Satzfamilie nicht
nur in den Hoheitsbereich einer anderen vordringt, sondern darüber
hinaus nicht auf den Rückgriff auf eine andere verzichten kann, um sich
selbst zu rechtfertigen (Nr. 40, 41). Da erklärt sich auch, warum beide
vor dem Richter oder kritischen Wächter als Kontrahenten erscheinen.
Wie könnte dieser den Unterschied zwischen Ethik und I Erkenntnis [1 80]
ermitteln, wenn er nicht versuchen würde, die Legitimität der einen
über das Modell der anderen zu gewinnen ; etwa mit dem Versuch, das
»moralische Gesetz« gleichsam als Erkenntnisprinzip abzuleiten und
also die freie Kausalität als ein Reihungsprinzip von Ursachen und
Wirkungen zu begreifen (KRV: 502-503)? Indem er diesen Übergang
versucht, entdeckt er dessen Unmöglichkeit, stellt er fest, daß sich das
207
 DIE VERPFLICHTUNG
moralische Gesetz nicht deduktiv einholen läßt und schließt daraus
daß die Freiheit eine ursprüngliche Kausalität, j enes kognitive Mon�
s �er darstellt Er veranschlagt sodann einen Übergangsmodus, der
:
mch: mehr m der bloßen Ausweitung einer Legitimation auf das
Geb Iet der anderen besteht, sondern in der Entwicklung eines Diffe­
. mithin auch dem Begriff des Unbedingt-Guten kann keine Anschau ­
rentials wechselseitiger Legitimationen. Das >>als ob« ist der Gattungs­
name dieses Differentials. Es hebt diese Kluft nicht aus noch schüttet
es sie zu, sonder� überbrückt oder überquert sie und zieht sie also in
.
B etracht - ein >>Ubergang« als Modell für alle >>Übergänge« (Kam­
Exkurs III).
Die Analogie, die den Verkettungen mit >>als ob<< entspringt, ist eine
Täuschung, wenn man die Unterschiede [differences] vergißt und den
.
WIderstreit [differend] erstickt. Sie nimmt umgekehrt kritischen Cha­
rakter an, wenn die Modi der Bildung und Validierung von Sätzen
unterschieden werden und wenn der vollständig entfaltete Widerstreit
sodann, wie Kant hofft, in einen Rechtsstreit verwandelt werden kann.
Das Als-ob unterliegt der transzendentalen Einbildungskraft, wenn der
Vergleich ausfindig gemacht werden soll, seine Regelung aber unterliegt
der Urteilskraft.
4. Der Typus
�us der Unübersetzbarkeit des ethischen Satzes in den kognitiven folgt
mcht, daß das moralische Gesetz nicht in der Welt wirkt, sondern es
folgt daraus ganz im Gegenteil, daß es, um Wirkung zu zeitigen - und
das muß es, andernfalls könnte es nicht >>Ereignisursache<< genannt
werden-, seine Form dem Mechanismus der theoretischen Vernunft
entlehnen muß, eine Form, die präzise der >>Gesetzmäßigkeit<< ent­
spricht. In der moralischen Handlung muß die Maxime des Willens >>an
der Form eines Naturgesetzes überhaupt die Probe<< halten, ansonsten
ist sie »sittlich unmöglich<< (KRV: 189). Warum ? »So urteilt selbst der
ge_meinste Verstand<<, schreibt Kant; >>denn das Naturgesetz liegt allen
semen gewöhnlichsten, selbst den Erfahrungsurteilen immer zum
Grunde<<. Wenn eine begangene oder geplante Tat eingeschätzt werden
soll, so macht der Verstand, der, wie Kant fortfährt das Gesetz
>>jederzeit bei der Hand hat<< , >>jenes Naturgesetz einfach zum Typus
emes Gesetzes der Freiheit<< (S. 189). Er trägt nicht die Anschauungen
und die mit ihnen verbundene Möglichkeit zur Darstellung von Sche­
men oder Beispielen in den ethischen Bereich, sondern bloß »die Form
[ 1 8 1 ] � er Gesetzmäßigkeit<< im allgemeinen. Dieser »Übergang<< I ist also
.
ubhc�, warum aber wird er gefordert? Weil der Verstand, wie Kant
schreibt, >> dem Gesetze der reinen praktischen Vernunft nicht den
.
Gebrauch m d �r Anwendung verschaffen könnte<< (S. 189). Wenn das
Gesetz theoretischer Natur ist, so ist das Schema mit der Anwendung
208
-- - �
MNT II
auf das in der Anschauung Gegebene betraut und leitet das Urteil
darüber, was »der wirkliche Fall ist<<. Im praktischen Bereich aller­
dings muß sich das Urteil nach der Idee des Guten richten, und für
diese Idee - wie für alle anderen - gibt es kein Schema. >>Aber dem
Gesetze der Freiheit (als einer gar nicht sinnlich bedingten Kausalität),
ung, mithin kein Schema seiner Anwendung in concreto unterlegt
werden<< (S. 188).
Der Übergang wird also nicht von der Anschauungsform oder dem
Schema vollzogen sondern von der Form des Gesetzes oder vielmehr
von der >>Gesetzmäßigkeit«. Das ethische Urteil übernimmt diese aus
dem Theoretischen stammende Form, um sich danach auszurichten,
wenn der Fall zur Ermittlung ansteht: >>Frage dich selbst, ob die
Handlung , die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von
dem du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, du sie wohl als durch
deinen Willen möglich ansehen könntest? << (S. 1 88). Formal leitet der
Typus der Gesetzmäßigkeit die Maxime des Willens bei der Formulie­
rung des kategorischen Imperativs und ebenso bei der Bewertung des
richtigen Handelns. Das so, daß des Handle so, daß muß im Imperativ
also eher als ein >>als ob<< denn als ein »dergestalt daß<< verstanden
werden: denn die Allgemeingültigkeit kann nicht wirklich aus der
Maxime geschlossen, sondern nur indirekt für die daraus abgeleitete
Bewertung dargestellt werden.
Dieser Typus führt die Idee einer übersinnlichen Natur in die ge­
samte Willensproblematik ein. Wenn zur Übertragung der Gesetz­
mäßigkeit vom Erkenntnisbereich auf den der Verpflichtung nicht
das >>als ob es mechanische Natur wäre<< bereitstünde, besäße nicht
nur die Idee einer >>Gesamtheit praktisch-vernünftiger Wesen<< im
ethischen Bereich keinerlei Stichhaltigkeit, sondern ebensowenig im
historisch-politischen Bereich (Abschnitt: >>Das Geschichtszeichen<<)
die Idee einer kosmopolitischen Gesellschaft und des Fortschritts.
Der Typus ist ein vielschichtiger Brückenschlag zwischen den beiden
Regelsystemen: zwischen dem Regelsystem der Erkenntnis (wie ich
weiß) und des Willens (wie du sollst). Die Form der Gesetzmäßigkeit
wird von der. einen in die andere nicht ohne Veränderung überführt,
da die Kausalität nicht in gleicher Weise wirksam wird: Im Bereich
der sinnlichen Welt ist sie ein Begriff, der a priori den Zusammen­
hang zwischen den Phänomenen bestimmt und die empirische Er­
kenntnis konstituiert; im ethischen Bereich ist sie eine Idee der un­
mittelbaren Wirksamkeit der reinen praktischen Vernunft oder Frei­
heit auf die Handlungsmaxime, die sich im Gefühl der Achtung an-
zeigt I und die Situation der Sittlichkeit, die Verpflichtung entwirft. [ 1 82]
Im ersten Fall werden die Phänomene untereinander als Ursachen
209

DIE VERPFLICHTUNG
und Wirkungen verbunden und bilden eine Reihe das heißt eine
Welt im kantischen Sinne (und keine Natur, obwohi Kant im vorlie­
gen�en Fall dieses Wort häufig verwendet) ; im zweiten Fall wird ein
Ge.�uhl von Verpflichtung, die Achtung, die nicht der Reihe von
Phanomenen angehört (deren Ursache sich nicht innerhalb der Reihe
befindet), reflexiv, als Wirkung, auf eine unerkennbare Ursache be­
zogen: auf die reine praktische Vernunft' den reinen Willen oder die
Freiheit.
5. Die Kommutabilität
Hier aber muß man sich gegen die rekurrente Drohung eines transzen­
dentalen Anscheins schützen, der mit dem Typus die Analogie der
G �setzmäßigkeit einführt. Wenn es möglich sein soll, daß die Maxime
demes Willens zum »allgemeinen NaturgesetZ<< erhoben wird und eine
»allgei_Ileine Gesetzgebung« konstituiert (Grundlegung zur Metaphysik
de� Sztten� S. 51, 30), so muß offenbar die mangelnde Symmetrie
zwtschen zch und du zugunsten eines Allgemeinen, der »Menschheit<<,
des Wir � er austauschbaren Ich und Du, vergessen werden : »Handle so,
daß du dte Menschheit, sowohl in dieser Person als in der Person eines
jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck [ . . . ] gebrauchst<< ; »Handle
nach den Maximen eines allgemein gesetzgebenden Glieds zu einem
bloß möglichen Reiche der Zwecke<< (S . 61, 73). Austauschbar sind sie
also �icht nur auf der Instanz des Verpflichteten, des du des Du sollst,
um eme Gemeinschaft von Geiseln zu bilden, sondern auch auf der
Instanz des Gesetzgebers, des ich des Ich kann' um die Gemeinschaft
einer gesetzgebenden Versammlung zu bilden.
Wurde hier, mit dieser vollkommenen Symmetrie, nicht eine Kluft
zugesc�üttet? Und wurde nicht das Regelsystem der Verpflichtung
g�rade �n der Form seiner Sätze dem Regelsystem der Erkenntnis
. einzigen Wesenheit. Die Gemeinschaft der praktisch-vernünftigen
emverletbt? Nur m den Augen eines Dritten, der ich und du als das
nach dem Muster einer Natur gebildete Ganze begreift, können sie
wechselseitig ersetzbar erscheinen. Sind sie nicht Referenten für diesen
Dritten geworden? Dieser Dritte kann sehr wohl den Namen von
e�ne � v�n ihnen oder allen beiden tragen und damit der Übernatur,
dte ste btlden, immanent bleiben, sobald er aber diese Übernatur des
verpflichteten Gesetzgebers erfaßt, befindet er sich jedenfalls nicht
mehr .sel� st �n der ethische� Situation des Verpflichteten. Und gesteht
. . . mit der verpflichtenden sein? Und warum wäre die »Menschheit<<
Kam tm ubngen dtes mcht tmplizit ein, wenn er - im Gegensatz zu all
dem : was �m Gefühl der Verpflichtung untersucht wurde - fordert,
d�ß Je.der steh selbst als Gesetzgeber behandeln, das heißt auf die Ich­
S �tuatto ? ? es Satz-Universums von Ich kann begeben könne? Liegt
mcht �tenn der praktisch-transzendentale Anschein par excellence?
Hat mcht einmal mehr der - hier kritische, aber nichtsdestoweniger
210
KANT Il
stets deskriptive - Kommentar des ethischen Satzes das un�ermeidbare
Ergebnis erbracht (wie hier von der transzendentalen Illuston behaup-
tet wird), I daß die ethische Legitimation auf die kognitive reduziert [ 1 83]
wird; und zwar insbesondere dadurch, daß der ersteren die Regel des
Konsensus und der Austauschbarkeit von Partnern, die Regel des
Dialogs (Platon-Exkurs) auferlegt wird, eine Regel, die der kognitiven
Legitimation zugehört? Und ist nicht die Forderung von Uvinas der
einzige Schutz gegen jene Täuschung : daß man nämlich das Ethische
nur auf ethische Weise artikulieren kann, das heißt nur als Verpflichte-
ter und nicht als Wissenschaftler, mag er auch kritisch sein (Levinas­
Exkurs) ?
Die Frage nach der übersinnlichen Natur wird zumindest zu folgen­
der Frage: Wie ist eine Gemeinschaft ethischer Sätze möglich? Als
Antwort auf diese Frage führt Kant den Ausdruck Menschheit ein. Die
Menschheit ist ein Begriff, der nicht der kritischen (vor allem nicht
>>deduktiven<<) Diskursart angehört, sondern der der Anthropologie
(im kantischen Wortsinne). Die Gemeinschaft praktisch-vernünftiger
Wesen (Verpflichtete und Gesetzgeber, wie die Hypothese lautet)
schließt ebenso Wesenheiten ein, die keine Menschen wären. Sie ist
empirisch nicht nachweisbar.
Zugestanden: man kann tatsächlich nicht sagen, ob und wie ihr
Gegenstand, der von der Idee dieser Gemeinschaft angeführte Refe­
rent, möglich ist, zumindest aber kann man diese Gemeinschaft
wahrnehmen, sie ist kein »Gedankending<<, kein leerer Begriff, son­
dern eine Gemeinschaft von Personen. - Aber man fragt sich, ob
nicht der Ausdruck der Person selbst schon haltlos ist. Denn er
meint, daß ein und dieselbe Wesenheit die gesetzgebende Instanz -
die Instanz des Ich in Ich kann - und die Instanz des Verpflichteten
- des Du in Du sollst einnimmt. Er meint die Autonomie einer
-
Wesen dehnt nur dieses Autonomieprinzip auf alle möglichen We­
senheiten aus, und zwar unter der Bedingung, daß sie der Defin­
ition eines praktisch-vernünftigen Wesens, das heißt einer Person
genügen. Verwischt man nicht den Widerstreit zwischen den beiden
Instanzen, die doch von Kant als gänzlich unsymmetrisch erkannt
wurden, wenn man sie zu ein und derselben »Person<< verschmilzt
und verdichtet? Warum muß die verpflichtete Wesenheit identisch
dieses Selbst?
21 1
 DIE VERPFLICHTUNG
6. Zeit der Ethik
J?ie �räskriptiven Sätze setzen der Bildung einer - wenn auch über­
smnhc hen - Nat r ei en unbesiegbaren zeitlichen
� � Widerstand entge­
gen. Ihm gegenu. ber Ist der Typus der Gesetzmäßigk
J?Ie Ordnungsform der präskriptiven Sätze verbietet jeglich
_ eit machtlos.
e rekur­
Sive Verkettu?g nach dem Muster wenn . . ./dann
(Nr. 95), das von
Kan� mechamsche Kausalität genannt wird und die Reihen
der Er­
schemungen konstituiert (KR V, Die Antinomien der
reinen Ver­
'!unf:, Absch?itte 7, 8 und 9, I und l i : 464-48 8). Die Verpflichtung
Ist mcht bedmgt, sondern kategorisch; ebensowenig ist
sie bedin­
[1 84] gend. Selbst wenn man sie als »Wirkung<< eines I reinen Willen
_ be­
?reift, ka�n sie ihrerseits nicht »Ursache« einer Wirkung, etwa einer
Ihr �nt�pnnge� den Handlung sein. Die durch Freiheit gesetzte Kau­
_ .
sahtat ISt unmittelbar, das heißt ohne Vermittlung, aber auch ohne
Re�urrenz. Sie gilt mit sofortiger Wirksamkeit, der reine Wille ver­
.
pflichtet das Ist alles. Sie ist nichts als »Anfang «. Zeitgleich mit
�
dem eth1sch�n Satz regelt sie auf keinerlei Weise die Verkettung die­
s es Satzes mit den späteren Sätzen : komme, was wolle. (Der Befehl
mag befolgt oder nicht befolgt werden, aber - befolgt oder nicht
befolgt - er ist ein Befehl; cf. Nr. 45-46· 147-149· Kam-Exkurs li
' ' '
§ 2).
Es gibt keine moralische Diachronie. Die reine ethische Zeit ist
das Jetzt d �s Satzes, der mit einem Schlag die Verpflichtung und
den Verpflichteten (und vielleicht den Verpflichtenden, das Ich
k�n � ) d�rstellt, jeden seinem Modus gemäß. Der ethische Satz ist
emziga�tJg erstes und letztes Zeichen einer Idee und zu jeder Welt­
. . .'
Zei� moghch (KRV, Abschnitt 9, III: 494, 499-505) . Wie das Ge­
schzeht es?, aber auf unterschiedliche Weise ist das Du sollst ein
Satz, in dem das Vorkommnis vor seiner Abblendung durch eine
Verkett�ngsregel bewahrt wird. (Zum Unterschied zum Geschieht
es? cf die. Untersuchungen in Nr. 172-174).
Man Wird sagen, daß Du sollst - Gehorsam hin oder her - eine
Folge erwartet und somit ein mögliches Kommendes entwirft ein
,
Futurum. So aber verhält es sich mit vielen Sätzen unterschiedlicher
Regelsysteme, vielleicht mit allen, insofern keiner der letzte sein kann
(Nr. � 7). Dies ist etwa bei den kognitiven Sätzen der Fall,
die dem
Beweisverfahren bezüglich der Wirklichkeit unterworfen
sind. Dieses
Verfahren appelliert an die Möglichkeit anderer Bedeu
tungen und
a�derer Oster:sionen (Nr. 86-90) . Der Verket
tungsmodus braucht
mcht notwendig zu s m, _ er ist
� aber notwendig möglich.
. Nach_ Kant muß d1e Handlung, die der Präskription folgt, »mög­
h_ch« seir: (S. 499). Aber diese Möglichkeit
versteht sich als eine Ver­
embarkeit [compossibilite]: Die Präskriptio
n ist nicht nur vollstreck-
212
MNT l i
bar, sie muß ausführbar, mit den »Naturbedingungen« vereinbar sein.
Dieses Verständnis des Möglichen appelliert an die Synthese des Het� ­
rogenen, von Natur und Freiheit: Das Universum des Satzes, der an d1e
Präskription angeknüpft hat, muß kognitive wie ethische Verkettung
ermöglichen können. .
. .
Was aber ist eine ethische Verkettung ? Kant führt als B eiSpielsatz eme
»boshafte Lüge« (ibid.: S. 503-505) an. Man knüpft an sie an, indem
man sie erklärt (Soziologie, Psychologie etc.). Aber man »tadelt [. . . ]
nichtsdestoweniger den Täter, [. . . ] als ob der Täter damit eine Reihe
von Folgen ganz von selbst anhebe« (S. 503). Nun setzt dieses »zurech­
nende Urteil« (S. 504) nur voraus, daß der Lügner der Empfänger
einer I unbedingten Verpflichtung ist, der Verpflichtung nämlich, nicht [1 85]
zu lügen, die er nicht beachtet hat. Es impliziert keineswegs, daß er der
Urheber einer eigenen Reihe von Folgen ist. Denn dies ist nicht
tadelnswert; und: wenn es eine Reihe gibt, so gehört sie der Welt an.
Folgen können definitionsgemäß nicht ethischer Natur sein, die Ver­
pflichtung ist nicht transitiv. Umgekehrt kann eine Erscheinung, hier
die Lüge, einen ethischen Satz, das zurechnende Urteil veranlassen: und
dieses letztere macht diskontinuierlich - nicht notwendig - aus der Lüge
keine Ursache, sondern ein (negatives) Zeichen des Sittengesetzes. Und
dieselbe Doppeldeutigkeit von Kognitivem und Ethischem kann ihrer­
seits dieses Urteil beeinträchtigen. Es kann als Folge oder Zeichen
(Zeichen des Absoluten) verstanden werden. Aber Zeichen sind keine
Folgen.
Die Kausalität durch Freiheit ergibt Zeichen, niemals feststellbare
Wirkungen oder Wirkungsketten. Keinerlei >>Natur«, selbst keine
übersinnliche oder als Idee begriffene Natur kann der Verpflichtung
entspringen. Der Imperativ befiehlt nicht, so zu handeln, daß eine
Gemeinschaft von praktisch-vernünftigen Lebewesen entsteht, son­
dern als ob die Handlungsmaxime ein Gesetz dieser Gemeinschaft sein
müßte. Als Zeichen ist der ethische Satz ohne Folge, also ein letzter. Da
es aber keinen letzten Satz gibt, muß er mit einem weiteren verkettet
werden. Und da diese Verkettung nicht einer ethischen Implikation
entsprechen kann, die unmöglich ist, ist diese, wenn die Verkettung
dennoch eine Implikation (eine Reihe von Folgen) darstellt, nicht
ethischer, sondern kognitiver Natur. Die von Kant geforderte »Mög­
lichkeit« , daß die reine Verpflichtung eine Erscheinung veranlaßt, die in
der Wirklichkeit feststellbar und nach den Regeln der Erkenntnis
erklärbar sei, also einen Referenten veranlaßt, bedeutet, daß das Du der
Verpflichtung immer als Referent eines nachfolgenden kognitiven Sat­
zes begriffen werden können muß. Es ist nicht erfindlich, wodurch eine
Verkettung dieser Art verboten werden sollte. Aber man sieht, daß
diese Verkettung es untersagt, mit den ethischen Sätzen eine Welt (im
213
 DIE VERPFLICHTUNG

kantischen Sinne) zu tw
:
�
rfen. E�tweder Implikation oder
�
tung. Es gibt keine et Isc e Verpflich-
. . Gememschaft. »>Aber es kommt
g�
cht zu I'hr [die ser Gem eins chaft]<, rief der Rab doch a
[1 86] agog, 1 978 [194 9]: 122 bi« (Buher' Gog un
). 1

Die Diskursart, die Norm

1 78
Es ist nicht einsehbar, warum man der Kluft zwischen kognitiven
und präskriptiven Sätzen eine >>mystische« Tiefe zumessen sollte.
(Kant ließ sich bisweilen dazu hinreißen, ebenso Wittgenstein.
Und weil Pascal der Sophistik näher steht, ist er insgesamt >>Ver­
nünftiger«, Freudentränen inbegriffen.) Die Inkommensurabili­
tät im Sinne der Ungleichartigkeit der Satz-Regelsysteme und der
Unmöglichkeit, sie ein und demselben Gesetz zu unterwerfen
(außer um den Preis ihrer Neutralisierung), kennzeichnet ebenso
den Bezug der kognitiven oder präskriptiven Sätze zu den inter­
rogativen, den performativen, den exklamativen . . . Jedem dieser
Regelsysteme entspricht ein Darstellungsmodus eines Univer­
sums, und ein Modus ist nicht in einen anderen übersetzbar.

1 79
- Sie sind nicht eindeutig. Beeinträchtigt die Inkommensurabili­
tät den Bezug zwischen den Satz-Regelsystemen oder den Bezug
zwischen den Diskursarten? - Jedem Satz-Regelsystem ent­
spricht ein Darstellungsmodus eines Satz-Universums. Eine
Diskursart veranlaßt einen Verkettungsmodus zwischen Sätzen,
die unterschiedlichen Regelsystemen unterstehen können. Die
von einem Kognitiv und einem Exklamativ dargestellten Univer­
sen sind heterogen. Der in der tragischen Diskursart implizierte
Spieleinsatz, der anvisierte Erfolg (etwa die Gefühle von Schrek­
ken und Mitleid auf Seiten der Empfänger) und der im techni­
schen Diskurs implizierte Spieleinsatz, sein eigentlicher Erfolg
(etwa die Verfügbarkeit des Referenten für den Sender) sind
jeweils inkommensurabel und induzieren heterogene Verket-
21 4
215
 DIE DISKURSART, DIE NoRM
tu� g �n, se!bst wenn sie vom gleichen Satz ausgehen. An den
mrtlerdsherschenden tragischen Satz: >>Weich eitler Schmuck
[1 87] si�d diese Schleier, die mich bedrücken!« I knüpft ein Techniker
mrt der Suche nach leichten Textilien und einer nüchternen
Kleidungsmode an (und lacht dabei über seine Kundin oder mit
ihr).
180
- Sie sagen, eine Diskursart drücke einer Vielfalt von heteroge­
nen Sätzen eine einzige Zweckbestimmung auf, und zwar mittels
Verkettungen, die es auf den dieser Diskursart eigentümlichen
Erfolg abgesehen haben. Sollte dies der Fall sein, so folgt daraus,
?aß die Hetero �enität der Satz-Regelsysteme nicht dazu angetan
rst, deren gememsame Unterordnung unter ein und denselben
Zweck zu verbieten. Die Kluft zwischen ihnen wäre damit zwar
nicht zugeschüttet, zumindest aber von der Teleologie der Dis­
kursarten überdeckt oder übersprungen. Wir wollen noch wei­
ter gehen. Nur wenn die Sätze sich jenseits jeder diskursgebun­
denen Zweckmäßigkeit anordnen und ohne Diskursart stattfin­
den würden, würde ihre Heterogenität sie gänzlich voneinander
trennen und ihre Verkettung unvorhersehbar und unerklärbar
halten, wie Sie es gerne beschreiben. Doch das ist nicht möglich.
Ihrer Meinung nach werden die Sätze, die geschehen, >>erwar­
tet«, und zwar nicht von bewußten oder unbewußten >>Subjek­
ten«, die sie vorwegnehmen würden, sondern weil die Sätze ihre
>>Gebrauchsanweisung<< bei sich tragen, um mit den Linguisten
zu sprechen (Paolo Fabbri in einem Gespräch), das heißt eine
A?weisung bezüglich des Zwecks, der anhand ihrer verfolgt
wrrd. Und wenn man, wie Sie, auf der Unbestimmtheit der!
Verkettungen beharrt, so geschieht auch dies noch unter Be-:
rücksichtigung eines Spieleinsatzes, nämlich Ihren Leser von der
Heterogenität der Regelsysteme und der Einzigartigkeit des
V? rkommni� ses zu überzeugen - also gemäß einer Zweckbe­
sttmmung? dre vo� einer Diskursart oder wenigstens einem Stil
. Die Kritik der politischen Vernunft wurde nicht geschrieben. Mit
vorgeschneben wrrd (wre Cage mit der musikalischen Phrase
und Gertrude Stein mit dem literarischen Satz verfährt). - In der
T.at lesen Sie hier ein philosophisches Buch, die Sätze ordnen sich
hrer zu dem Zweck an, zu demonstrieren, daß sich diese Anord-
216
ERFOLG UND INTERESSELOSIGKEIT
nung nicht von selbst versteht und es gilt, die Regel ihrer
Anordnung aufzuspüren (Hegel-Exkurs, § 4 ; Nr. 1 74).
181
- Eine andere Implikation der gleichen Beobachtung (Nr. 1 80).
Die Diskursarten schreiben, wie Sie sagen, den Sätzen die
Zweckbestimmung einer erfolgversprechenden Anordnung vor,
die jeder Diskursart eigentümlich ist. Sie würden also zugeben,
daß die Diskursarten, wie heterogen sie auch immer untereinan­
der sein mögen, allesamt ein und demselben universalen Prinzip
unterstellt sind, etwa: I zu >>gewinnen<<. Sicherlich können der [188]
pädagogische Diskurs, der Dialog, die Tragödie, das Lied, die
Technik, die Verpflichtung nicht den selben Gewinn erhoffen.
Wenn Jaakob Jizchak aus Lublin Jeschaja darin zustimmt, daß
>>wir gerade dann wirken, wenn wir nichts bewirken wollen<<
(Buher, Gag und Magog, 1 978 [1949] : 1 3 1), so umschreibt er den
Einsatz des ethischen Diskurses : Sein Erfolg (die �erechtigkeit)
bestünde in der vollständigen Interesselosigkeit des Ichs, in der
Preisgabe seines Willens. Und mit Sicherheit zielt das Kinder­
spiel, wenn in einer Wohnungsecke Papa/Mama, Soldat und
Krankenschwester gespielt wird - auch wenn es dabei nicht, wie
beim Basketball oder Bridge, darum geht, den Gegner zu besie­
gen -, auf einen Gewinn, dessen Erlangung alle seine Sequen­
zen, seine >>Sätze<< bestimmt: ein Vergnügen für die Zuschauer,
die selbst die Darsteller sind. - Mag sein, aber Sie sind damit
wieder bei den >>Sprachspielen<< der Philosophischen Untersu­
chungen, bei ihrer Anthropologie. Und sollten Sie dies vermei­
den wollen, werden Sie irgendeinen metaphysischen Willen
oder, wie die Philosophen des meaning, eine Phänomenologie
der Intentionen beglaubigen müssen.
KANT III
1. Der Archipel
gutem Recht und innerhalb gewisser, näher zu bestimmender Grenzen
kann man in der Dispersion der historisch-politischen Schriften Kants
das Zeichen einer Heterogenität sehen, die dem politischen » Gegen­
stand<< eignet. Diese Heterogenität betrifft bereits die dritte Kritik. Das
217
 DIE DISKURSART, DIE NORM
Urteilsvermögen sieht sich dort nicht nur mit einem adäquaten Gegen­
stand befaßt, sondern zumindest mit zweien, der Kunst und der Natur.
I �h sage zumindest, denn es bleibt die Frage, ob dieses Urteilsvermögen
em Vermögen ist. Zuvor hat Kant dem Wort eine präzise Bedeutung
gegeben: ein Potential von Sätzen, die einer Gruppe von Bildungs- und
Darstellungsregeln (>>Darstellung<< im kantischen Sinne) unterliegen,
und zwar für den theoretischen Bereich, wenn es sich um die Sinnlich­
keit, den Verstand und die Vernunft, und für den praktischen Bereich,
wenn es sich um die Vernunft handelte. Tatsächlich aber ist die Urteils­
kraft hierbei bereits notwendig beteiligt, und zwar immer, wenn es um
die Behauptung eines »Falles<< zur Validierung eines Satzes, also um die
D arstellung eines Gegenstandes zu dieser Validierung geht, was sich bei
den kognitiven Sätzen im Regelsystem des Schemas, bei den argumenta­
tiv-dialektischen Sätzen im Regelsystem des Symbols, bei den präskrip­
tiven Sätzen - wenn es um die Bewertung der Verantwortung und
Sittlichkeit geht - im Regelsystem des Typus vollzieht (Kant-Exkurs Il,
[1 89] § 4). I
In der Einleitung zur dritten Kritik wird die Dispersion der Dis­
kursarten nicht nur anerkannt, sondern bis zu dem Punkt getrieben,
an dem sich das Problem stellt, » Ü bergänge<< zwischen diesen hetero­
genen Diskursarten zu finden. Und gerade weil das Urteils-»Vermö­
gen<< allgegenwärtig ist, das heißt weil man sich stets darauf beruft,
wenn ein Satz mittels einer Darstellung validiert werden soll, erscheint
jenes dabei als eine Fähigkeit zu >> Übergängen<< zwischen den Vermö­
gen, so daß ihm eine entscheidende Vorrangstellung hinsichtlich seiner
einigenden Kraft zugestanden werden wird, zugleich aber auch ein
entscheidender Mangel, was seine Erkenntnisfähigkeit bezüglich eines
entsprechenden Gegenstands betrifft: weil es nämlich keinen bestimm­
ten Gegenstand besitzt. Deswegen kann man sich fragen, ob es wirk­
lich ein Erkenntnisvermögen im kantischen Sinne ist. Hartnäckig be­
nennt Kant in allen Diskursarten folgendes als Urteilsvermögen (viel­
leicht ist es aber auch seine Subjekt-Problematik, die sich an seiner
statt entsprechend hartnäckig gibt) : die Bestimmung des Darstellungs­
modus eines Gegenstands, der allen diesen Diskursarten jeweils zu­
kommt.
Welcher Gegenstand könnte der Idee der Transmission der Vermö­
gen entsprechen, der Vermögen, die als Erkenntnisfähigkeiten im
weitesten Sinne zu verstehen sind, das heißt als Fähigkeiten zu Objek­
ten (die bald als Gebiete, bald als territoria, bald als Felder erscheinen ;
cf KUK: 245-246)? Dieser Gegenstand könnte nur ein Symbol sein.
Sagen wir: ein Archipel. Jede der Diskursarten wäre gleichsam eine
Insel; das Urteilsvermögen wäre, zumindest teilweise, gleichsam ein
Reeder oder Admiral, der von einer Insel zur anderen Expeditionen
21 8
K.ANT III
ausschickte mit dem Ziel, auf der einen darzust7 llen, was auf � er
anderen gefunden (erfunden, im ursprünglichen Smne von mvemre) .
wurde und der ersteren als >>Als-ob-Anschauung<< zu ihrer Validier�ng
dienen könnte. Diese Interventionsmacht, Krieg oder Handel, besttzt
keinen Gegenstand, keine eigene Insel, sondern erfordert ei? �ediun:,
das Meer, den Archipelagos, das Ur- oder Hauptmeer, wte emst dte
Ägäis genannt wurde. .
. . .
Dieses Medium trägt in der Einleitung zur dntten Knttk emen
anderen Namen, den des »Feldes<< : >>Begriffe, die auf Gegenstände
bezogen werden, unangesehen, ob ein Erkenntnis derselben �ö �lich
sei oder nicht, haben ihr Feld, welches bloß nach dem Verhaltmsse,
das ihr Objekt zu unserem Erkenntnisvermögen überhaupt hat, be­
stimmt wird<< (KUK: 245). Dieses Erkenntnisvermögen begretft _ allge­
mein den Verstand, die Urteilskraft und die Vernunft ein. Der >>Stu­
fenleiter<< von Vorstellungen entsprechend, die Kant am Schluß des
Abschnittes >>Von den Ideen überhaupt<< der Dialektik in der ersten
Kritik entwirft (KRV: 326), müßte man die Sinnlichkeit hinzufügen.
Alle diese Vermögen finden ihren Gegenstand im Feld, I die einen [190]
begrenzen ein territorium, die anderen ein Gebiet, das Urteilsvern:ö-
gen jedoch findet weder das eine noch das andere, sonder� garanuert
die Übergänge zwischen denen der anderen Vermögen. Es 1st eher das
Vermögen des Mediums, von dem alle Legitimationsbezirk� eingefaßt
werden. Mehr noch: das Urteilsvermögen ist es auch, das dte Begren-
zung der territoria und Gebiete ermöglicht und die Ho�eitsre�hte
_
jeder Diskursart auf deren jeweiliger Insel instaunert hat. Dtes erretch-
te es nur dank des Handels oder Kriegs, den es zwischen den Diskurs-
arten betreibt.
2. Die Übergänge
Einige der Übergänge, die den Archipel bilden, lassen sich präzisi7ren.
Die transzendentale Illusion ist ein solcher, wenn auch unglückhcher
Fall. Wie können wir wissen, daß die dialektischen Sätze, die formal
den koo-nitiven entsprechen, nicht zu diesen gehören? Und daß somit
das territorium der Gültigkeit (Validität) der Argumentation nicht mit
dem Gebiet der Gesetzgebung des Verstandes zusammenfällt? Weil wir
für die argumentativen Sätze kein Anschauungso� jekt darstell�n kö�­
nen, das heißt, kein Objekt, das in Raum und Zett gegeben ware. Dte
Vernunft wird von einem >>Bedürfnis« zur Begriffsmaximierung getrie­
ben, sie unterliegt einer >>bloß logischen Vorschrift<<, sich dem Unbe­
dingten zu nähern (KR V: 3 19). Was für den Satz der Vernu�ft als
adäquater Gegenstand darstellbar ist, kann keine bloße E:schemu�g
sein. Ist die Bildungsregel des Satzes (argumentieren : das hetßt vern:t.t­
_
tels des Allgemeinen schließen) einmal identifziert, so besteht dte Krmk
219
 Dm DISKURSART, DIE NoRM
�ier darin, die Regel der Darstellung auszuspielen; der dialektische Satz
1st sodann vom Verstandessatz »isoliert<< (als Insel abgetrennt). Die
transzendentale Illusion ist deswegen nicht ausgeräumt, aber immerhin
georte�. Das » Als-ob<< als Quelle dieser Illusion wird wieder eingesetzt:
.
Der dtalekttsche Satz verfährt so, als ob er sich auf Erscheinungen
bezöge, die Kritik verlangt, daß er sich auf »Als-ob-Erscheinungen«
bezieht. Das heißt: auf Symbole.
__Ein anderer herausragender und legitimer Fall des Verfahrens des
»Ubergangs<< wird in § 59 der dritten Kritik angegeben, wo es dar­
um geht zu zeigen, daß »das Schöne [. . .] das Symbol des Sittlich­
guten<< ist (KUK: 461). Das symbolisierende Verfahren überhaupt
ist zwieschlächtig und heißt Analogie. Sie besteht darin, erstens
>>den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung, und
dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung
auf einen ganz anderen Gegenstand, von dem der erstere nur Sym­
bol ist, anzuwenden<< (KUK: 460). Kant führt zwei Beispiele dafür
an: Eine bloße Maschine, die Handmühle, kann einen monarchi­
schen Staat symbolisieren, »wenn er durch einen einzigen absoluten
Willen beherrscht wird<< ; ein beseelter Körper kann einen monarchi­
schen Staat symbolisieren, wenn er »nach den inneren Volksgeset­
zen<< regiert wird. In beiden Fällen besteht keine Ähnlichkeit zwi-
[ 1 9 1 ] sehen I dem symbolisierten und dem symbolisierenden Gegenstand,
der ein »ganz andere[r]<< ist. Es besteht aber eine Identität der Refle­
xionsregeln, die sich jeweils auf den ersten und den zweiten Gegen­
stand beziehen.
Ebenso verhält es sich mit dem Schönen und dem Guten. Die
Reflexion bezieht sich auf die Gefühle (die Lust, die Achtung), die von
den jeweiligen Gegenständen dieser beiden Gebiete hervorgerufen
werden. Sie entdeckt darin die gleichen formalen Merkmale: Unmit­
telbarkeit, Interesselosigkeit, Freiheit, Allgemeinheit, die folglich (der
transzendentalen Diskursart zufolge) die apriorischen Bedingungen
der Möglichkeit dieser Gegenstände sind. Jedes dieser Merkmale aber
erscheint hier und dort in jeweils unterschiedlichen Bezügen. Im Falle
des Schönen wird die Unmittelbarkeit des Gefühls von der sinnlichen
Anschauung beansprucht, im Falle des Guten vom Begriff. Im Ge­
schmacksurteil besteht die Freiheit in der Freiheit der Einbildungs­
kraft, die mit dem Begriff übereinstimmt, im moralischen Urteil be­
steht sie in der Freiheit des Willens, der mit sich selbst zusammen­
stimmt usw.
J:?ie . Analo.gie, die hier am Werk ist, entspricht allerdings nicht
der! emgen, d1e die Handmühle oder den beseelten Körper als Symbole
. mittelbare Darstellung zurückgegriffen würde. Die Expeditionen des
politischer Systeme darstellt. Denn es ist unmöglich, den Gegenstand
des Geschmacks als eine Erscheinung wie die Handmühle oder den
220
.KANT III
beseelten Körper zu betrachten. Diese �ön�en �urch »':"er�innl�­
chung<< gegeben sein, ein Verfahren der Smnh� hkelt, d �s emztg m1t
.
den Verstandesgesetzen übereinstimmt; aber »Smnhchke!t<< und Ver­
stand genügen nicht, um das Objekt des Geschmack� zu fassen (zu
konstituieren). Bei der Frage des Schönen ? ande� t es s1ch ums » � ntel­
ligible<<, >>worauf [. . .] der Geschmack hmaussteht. [. . . ] In �1esem
. . .
Vermögen sieht sich die Urteilskraft nicht, w1e sonst m empmscher
Beurteilung, einer Heteronomie der Erfahrungsgesetze unterwo�en
[. . .]<<; sie sieht sich »auf etwas [. . . ], was nicht Natur, . au�h mcht
Freiheit doch aber mit dem Grunde der letzteren, namhch . dem
Übersi;nlichen verknüpft ist, bezogen<< (KUK: 461). Gibt es in der
Erfahrung des Schönen »Empfindung<<, so nim�t die� e eine ganz
andere Bedeutung an als in der transzendentalen Asthettk der ersten
Kritik: »Wenn eine Bestimmung des Gefühls der Lust oder Unlust
Empfindung genannt wird, so bedeutet dieser Ausdruck et�as ganz
anderes als wenn ich die Vorstellung einer Sache (durch Smne, als
eine zu:U Erkenntnisvermögen gehörigen Rezeptivität) Empfindung
nenne<< (S. 282).
Das Schöne symbolisiert das Sittlichgute also nicht deswegen, weil
der ästhetische Gegenstand eine Erscheinung unmittelbarer Anschau-
ung ist, die durch Analogie den ethischen Gegenstand (die moralische
Handlung), dessen Anschauung gänzlich unmöglich ist, vertreten
könnte. Der ästhetische Gegenstand ist nicht so sehr ein Gegenstand
der Erfahrung, ebensowenig der Anschauung - zumindest insofern er
ästhetischer Natur ist. Seine Form ist wahrnehmbar, nicht aber die
Schönheit seiner Form. Seine ästhetischen Eigenschaften befinden
sich nicht - wie Gegebenheiten - an ihm selbst, sondern im Ge­
schmacksempfinden, das den oben aufgezählten vier Apriori ge­
horcht. Diese sind quasi I die konstitutiven Regeln des (Gefühls-) [192]
Satzes, der die Schönheit bewertet. Die gleichen Regeln findet man
auch im Du sollst, im ethischen Satz, im AchtungsgefühL Sie bezie-
hen sich aber nicht auf dieselben Instanzen wie in der ästhetischen
Wertung. Hier wird nicht der Gegenstand unmittelbar empfunden,
sondern das Gesetz (der Begriff der praktischen Vernunft): Der
Empfänger wird nicht vom Referenten, sondern von der Bedeutung
affiziert. Der Sender des ethischen Satzes ist nicht die Einbildungs-
kraft, sondern der Wille usw.
Die Symbolisierung vollzieht sich hier also nicht durch eine Erset­
zung von Gegenständen, sondern durch Vertauschungen auf den In­
stanzen der jeweiligen Satz-Universen, ohne daß dabei auf eine un­
Urteilsvermögens auf die einander benachbarten Inseln bezieht nicht
nur empirische Gegebenheiten aufeinander, sondern sogar Bildungs-
221
 Dm DrsKURSART, DIE No RM
u �d Ver�et:ungsregeln (Satzfamilien und Diskursarten) wie etwa die
VIer Apn?n. - �ah �r k �nn der kritische Richter sagen : Das ist der Fall,
das Beweisstuck, ISt mcht notwendigerweise ein Faktum.
Ich_ komme nicht auf den Fall der Analogie zurück, die der Typus der
prakuschen Vernunft darstellt (Kant-Exkurs II, § 4).
Es gibt_ noc weiter
�
_
.:, weniger bekannte, aber nicht weniger eigenar­
. Summa summarum ist dies nur die Exposition der Bedingungen der
tige. So etwa Jenen >>Ubergang<<, den Kant in der ersten Kritik als ein
>>Ideal der Sinnlic�keit<< �arzustellen wagt und >>Monogramm« nennt
(KRV: 5 14). Es sei, schreibt er, >>eine im Mittel verschiedener Erfah­
rungen gl �ichsam schwebende Zeichnung<<, >>ein nicht mitzuteilendes
Sc�attenbil ? << in den Urteilen von Malern (und Physiognomen), ein
»mcht �rre1chbare( s] Muster möglicher empirischer Anschauungen<<,
das >> �eme der Erfahrung und Prüfung fähige Regel<< abgibt (ibid.).
A�s ?Iesern verschwommenen Etwas macht Kant eine Schöpfung der
Embildungskraft. Dieses Imaginäre aber ist keine Idee der Einbil­
dungs�raft, sond �rn ei? Ideal, und zwar der Sinnlichkeit, da es gleich­
sam em Schema Ist, em >>Als-ob-Schema<< ein Schema der Idee der
Einbild�n �skraft i� Gebiet (oder im Feld?) der sinnlichen Erfahrung.
Auch �!er Ist es keme Regel, sondern eine >>Als-ob-Regel<<, eine regel­
hafte Ubertragung der Einbildungskraft auf die Sinnlichkeit. Und
weiter �ibt es dan� noc�, einfacher, die Idee der Einbildungskraft
_ aus emem Ubergang durch Umkehrung der Vernunft in
se_lbs�, d1e Sich
Embildungskraft bildet: Die begriffslose Anschauung tritt an die Stelle
d �s ans�hauungslosen Begriffs (KUK: 190, 220). Es ist wohl nicht
n ?ti. �, d1e bedeutende Rolle zu unterstreichen, die dieser >>Übergang<<
h1:r m der Verkoppelung von subjektiver und objektiver Teleologie
sp1elt.
3 . Der Vergleich
Es wäre er�üden �, die lnventarisierung der >> Übergänge<< weiterzuver­
f�lgen; weitere Wird man auf dem historisch-politischen Feld finden.
[193] Eme -�etzte Beobachtung zum Archipel. In der >>Schlußanmerkung I zur
Auflosung der mathematisch-transzendentalen, und Vorerinnerung
zur Auflösung der dynamisch-transzendentalen Ideen<< (KRV: 485-
48 �) weist Kant darauf hin, daß der Richter bei der Entscheidung
ZWischen den ersten verpflichtet ist, keiner der beiden Parteien Recht zu
g�ben, weil sie als Gegenstand, der die Rechtfertigung ihrer jeweiligen
Satze � These und Antithe se - ermöglicht, nur »Bedingungen in der
Ersc�eznung<< darzustellen vermögen; wir hatten, so schreibt er, »in den
zwe1 mathematischtranszendentalen (Antinomien] keinen anderen
genstand als den in der Erscheinung<< . Doch keine der beiden Parteie Ge­
n autorisiert. Natur ist der Name des Gegenstands der Idee objektiver
vermag einen derartigen Gegenstand darzustellen da
ihr Satz ein Satz
der Idee und nicht des Verstandesbegriffes ist. M
it den dynamischen
222
-
KANT III
Ideen (der Freiheit und des Höchsten Wesens) aber eröffnet sich >>eine
ganz neue Aussicht<<. Hier kann der >>Streithandel<<, >>darin die Vernunft
verflochten ist<< und der >>vorher abgewiesen<< worden ist, jetzt, >>da der
Richter den Mangel der Rechtsgründe, die man beiderseits verkannt
hatte, ergänzt, zu beider Teile Genugtuung verglichen werden<< (KRV:
485-488).
Synthese des Heterogenen. Sie ist aber so beschaffen, daß deutlich
wird: Diese Synthese ist nicht das Recht, und der Richter schließt hier
einen Vergleich, ohne daß ihn eine Regel dazu autorisierte - den
Grundsatz ausgenommen, daß die Heterogenität positiv anerkannt
werden muß. Dies wird bei der Auflösung der Antinomie des Ge­
schmacks und insbesondere bei der Auflösung der Antinomie der
Urteilskraft in § 69-71 der dritten Kritik der Fall sein. Insbesondere,
denn in Verlängerung des >>Mangels der Rechtsgründe<< aus der An­
merkung der ersten Kritik wird gesagt, »daß die Urteilskraft sich selbst
als Prinzip dienen muß<< (KUK: 500); und in Verlängerung des >>Ver­
gleiches<< zwischen den beiden Parteien aus derselben Anmerkung
wird behauptet, daß ein ähnlicher Vergleich möglich sei zwischen der
finalistischen These und der mechanistischen Antithese, zwischen der
These der Natur und der der Welt, da die erstere, die These des
Urteilsvermögens als des eigentlich reflektierenden, >>autonomen<<
Vermögens, den >>heteronomen« Gebrauch des bestimmenden Vermö­
gens, das die Gegenpartei vertritt, nirgends behindert. Dieser Kom­
promiß heißt >>Leitfaden<< (KUK: 500). Der Leitfaden ist die Art und
Weise, wie das reflektierende Urteil- mit aufmerksamem Blick auf die
vom kog�itiven Satz vernachlässigten Besonderheiten, die von ihm auf
der Suche nach einer Ordnung >>ausgespäht<< werden- diese Ordnung
ungezwungen voraussetzt, das heißt urteilt, als ob es eine gäbe. Wenn
dieser Faden leitet, I so bedeutet dies, daß er ein Ende, einen Zweck [194]
hat. Dieser Zweck aber ist nicht unmittelbar als Gegenstand darstell-
bar: Der >>Begriff jener Kausalität<< nach Zwecken ist >>eine bloße Idee
[. . .], der man keineswegs Realität zuzugestehen unternimmt<< (KUK:
500).
Der Richter bietet Ersatz für einen fehlenden allgemeinen Gerichts­
hof oder ein ausbleibendes Jüngstes Gericht, vor dem die Regelsysteme
der Erkenntnis und der Freiheit zwar nicht versöhnt- das werden sie
niemals sein -, aber wenigstens gemäß ihrem Unterschied gesichtet,
geordnet und nach Zwecken bestimmt werden könnten. Diese Stellver­
tretung jedoch wird von der Idee einer Natur im kantischen Sinne
Zweckmäßigkeit; und diese selbst wird vom reflektierenden Urteil
gefordert, da es die besonderen Existenzen vernunftmäßig zu erfassen
223
 DIE DrsKURSART, DIE NoRM
versucht, die von der Gesetzmäßigkeit der >>mechanisch<< bestimmten
�e�t ni cht erk!ärt werden (KR V: 408). Wenn aber umgekehrt die
-
Tattgk�tt_ der Differenzierung, die >>Genauigkeit«, die Aufmerksamkeit
bezüglich der Fälle von Widerstreit, die in der Kritik am Werk ist, diese
'!ertretung mit Berufung auf die objektive Zweckmäßigkeit einer Natur
u?ern:hmen kann, so deswegen, weil sie selbst (die kritische Tätigkeit)
em Mtttel darstellt, das von der Natur zur Vorbereitung ihres End­
zwecks eingesetzt wird (KUK: § 84).
In der Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum
ewigen Frieden in der Philosophie (1796) schreibt Kant, die Philoso­
phie sei »ein immer (gegen die, welche verkehrterweise Erscheinungen
mit Sachen an sich selbst verwechseln) bewaffneter Zustand<<, der »die
Vernunftthätigkeit unaufhörlich<< begleitet. Und wenn sich tatsächlich
im Umkreis der Idee der Freiheit >>die Aussicht zu einem ewigen
Frieden unter den Philosophen<< eröffnet, so nicht deshalb, weil diese
zu einem Konsensus bezüglich dieser Idee gelangen können, sondern
aus dem Grund, weil diese Idee weder bewiesen noch widerlegt wer­
den kann, obwohl äußerst schwerwiegende praktische Gründe für die
Annahme des Freiheitprinzips sprechen. Dieser >>Frieden<< hat deshalb
>>überdem noch den Vorzug [. . . ], die Kräfte des durch Angriffe der
Gegner der Philosophie in scheinbare Gefahr gesetzten Subjekts im- .
mer rege zu halten<<. Nun ist dieser bewegte Frieden eine Art und
Weise, >>die Absicht der Natur zu continuierlicher Belebung desselben
Subjekts und Abwehrung des Todesschlafes durch Philosophie zu
befördern<<. Die streitbare, kritische, alarmierte Philosophie ist in der
Absicht der Natur ein »Belebungsmittel zum Endzweck der Mensch­
heit« (S. 409). Wenn etwa ein Schlosser als Opfer der positivistischen
Illusion gefordert hat, die Philosophie solle ihre Auseinandersetzun­
gen beenden, so versetzt er sie in Alarmbereitschaft, Wachsamkeit und
verhilft ihr zur Erfüllung ihres Naturzwecks. Gegen seinen Willen (er
[195] will nämlich I das Gegenteil) trägt er zur Stärkung der »Streitbaren
Verfassung<< bei, die »noch kein Krieg ist<<, diesen vielmehr »zurück­
hält<<, die aber »friedliche<< Expeditionen über den Archipel hinweg
ausschickt.
Bleibt folgendes: wenn der kritische Wächter die fehlende gesetzliche
Verfügung zur Fällung eines Richtspruchs im Widerstreit über die
Freiheit ersetzen zu können glaubt, so deswegen, weil er sich dazu
autorisiert sieht kraft der Idee, daß die Natur ihre Zwecke mittels dieser
Ersetzung verfolge. Und wodurch nun wird er zum Rückgriff auf diese
Ide� des �aturzwecks autorisiert, einer Idee, die ihm zufolge das Recht
erteilen konnte, ohne Rechtsprechung zu urteilen ? Da es sich um eine
Idee \der Natur und also des Zwecks) handelt, kann er kein vorzeigba­
res Dtes darstellen, um diese Autorisierung [autorisation J zu validieren.
224
KANT III
Er kann ein »Als-ob-Dies<< darstellen, ein Analogon, ein Zeichen.
Dieses Zeichen ist sein Gefühl, das Gefühl, daß man selbst bei fehlender
Rechtsprechung urteilen muß und kann. Dieses Gefühl aber ist sei� er­
_
seits nur dann ein »Beweis<< für die Existenz emes Rechts oder emer
Pflicht ' außerhalb des Rechts zu urteilen, wenn eine Natur ihre Zwecke
mittels dieses Gefühls verfolgt. Man bleibt immerhalb des Zirkels.
Der Wert der Zeichen für den kritischen Wächter setzt - unter der
Annahme, daß dieser Wert der Urteilskraft freies Spiel bezüglich der
Zeichen gewährt (den Fall für die Regel und die Regel für � en � all z_u
finden) - nichtsdestoweniger eine Art Absicht (Zweckmäßtgkett) sei­
tens dessen voraus, was Zeichen gibt. Ein Als-ob-Subjekt würde dem
Philosophen durch dessen Gefühl anzeigen, daß mit diesem Zeichen ein
Quasi-Satz stattfindet, dessen Bedeutung zwar nicht über die auf die
Erkenntnis anwendbaren Verfahren validiert werden kann, aber den­
noch in Betracht gezogen werden muß. Kann man über Zeichen
urteilen, ohne - wenigstens als Problemstellung - eine derartige Absicht
vorauszusetzen? Das heißt: ohne im voraus zu entscheiden, daß sie von
einem unbekannten Sender uns nicht nur überbracht, sondern auch an
uns gerichtet werden, damit wir sie entschlüsseln ?
Wenn aber umgekehrt die Expeditionen der Urteilskraft von keinem
Leitfaden geführt werden, wie kann sich dann diese Urteilskraft im
Labyrinth der Übergänge zurechtfinden? Die Analoga wären bloße
Fiktionen, für welche Bedürfnisse geschmiedet? Dies gerade ist unmög­
lich: Die Gebiete der Legitimität werden von den Übergät;_gen umris­
sen, nicht umgekehrt: daß die Gebiete bereits vor den Ubergängen
existierten und diese duldeten. Was machen wir hier anderes, als
zwischen den Inseln zu navigieren, um paradoxerweise erklären zu
können, daß ihre Regelsysteme oder Diskursarten inkommensurabel
sind?
Welche Bedeutung man der Idee einer Natur auch immer geben mag
- nur auf dem Wege über Zeichen hat man ein Recht dazu, aber das
Recht auf Zeichen wird von der Natur erteilt. Selbst eine denaturierte
Natur und Zeichen von Nichts, selbst eine postmoderne A-Teleologie
würden diesem Zirkel nicht entgehen (Nr. 1 82). I [196]
1 82
Sind wir in diesem Sinne nicht-modern? Die Inkommensurabili­
tät, die Heterogenität, der Widerstreit, die Beharrlichkeit von
Eigennamen, das Fehlen eines Höchsten Gerichts ? Oder nimmt
im Gegenteil die Romantik ihren Fortgang, die Sehnsucht, die
den Rückzug von . . . begleitet usw. ? Der Nihilismus? Ein gutes
225
 DIE DISKURSART, DIE NORM DAS EINZIGE MAL

Stück Trau�r�rbeit des Seins? Und die Hoffnung, die damit 1 84

entste ?t ? Die Immer noch �ie Hoffnung auf eine Erlösung ist?
. Also noch einmal (Nr. 1 80, 1 8 1 ) : Es geschieht ein Satz. Wie
Wobei sich all das noch m den Gedanken einer erlösenden
�
Zu unft einschreibt? Ist es möglich, daß >>wir<< uns nichts mehr
wird sein Schicksal sein, welchem Zweck wird er untergeord­
net werden, in welcher Diskursart wird er Platz finden ? Kein
e �zahle�? Erzählen >>wir<< uns nicht mehr - und sei es, mit
Satz ist der erste. Das bedeutet nicht nur, daß andere ihm
Bitterkeit oder Jubel - die große Erzählung vom Ende der
vorausgehen, sondern auch, daß sich Verkettungsmodi, die in
großen .Erzählungen? Reicht es nicht aus, daß das Denken dem
den vorhergehenden Sätzen impliziert und folglich möglich
Ende �me: Geschichte gemäß denkt, damit es modern bleibt?
sind, anschicken, diesen Satz zu vereinnahmen und ihn in die
Oder ISt die Postmoderne jenes Geschäft eines Greises der den
Verfolgung eines Spieleinsatzes einzuschreiben, sich mittels
Mülleimer der Zweckmäßigkeit nach Resten durchstöb ert, der
. seiner zu aktualisieren. In diesem Sinne wird ein Satz, der
mit dem Unbewußten fuchtelt, mit den Lapsus den Abbruch­
geschieht, innerhalb eines Konflikts zwischen Diskursarten ins
r�ndern, den Grenzen, den Gulags, den Parat�xen, dem Un­
Spiel gebracht. Dieser Konflikt ist ein Widerstreit, da der die­
Smn, den Paradoxa und daraus seinen Glorienschein des Neuen
ser Diskursart eigentümliche Erfolg (oder die entsprechende
s �in Versprechen auf Veränderung gewinnt? Aber auch das is�
Validierung) nicht für andere gelten kann. Ich kann bei dir
em Zweck für eine Menschheit. Eine Diskursart. (Schlechtes
vorbeikommen (Nr. 137ff.) läßt viele verschiedene Verkettun­
Pastiche Nietzsches. Warum?)
gen zu, von denen zumindest einige, wenn nicht alle, unter­
schiedlichen Diskursarten angehören. Die Vielfalt von Spiel­
1 83 einsätzen, die mit der Vielfalt der Diskursarten einhergeht,
bewirkt, daß jede Verkettung zu einer Art >>Sieg<< der einen
Erwachsen die Zwecke wirklich aus den Diskursarten (Nr. 174,
über die anderen wird. Letzere bleiben ungenutzte, vergesse­
1 79) ? - In der Tat, und sie nehmen von den Sätzen und von den
ne, verdrängte Möglichkeiten. Es ist nicht nötig, sich zur Be­
durch sie dargestellten Instanzen Besitz, insbesondere von
schreibung dieses Sachverhalts auf einen Willen, auf eine In­
>>uns<<. >>Wir<< streben sie nicht an . Unsere »Absichten<< sind die
tention zu berufen. Es genügt, die Aufmerksamkeit auf fol­
Spannun �en bei gewissen Verkettungsweisen, die die Diskursar­
ten auf die Empfänger und Sender von Sätzen, auf deren Refe­ gendes zu lenken : Es gibt nur einen Satz >>auf einmal<<
(Nr. 1 1 3 ).> Eine Menge möglicher Verkettungen (oder Dis­
:.enten und Bedeutungen übertragen. Wir glauben, daß wir kursarteny;- nur ein einziges aktuelles >>Mak
uberreden, verführen, überzeugen, gerecht sein, glauben ma­
chen, Fragen veranlassen wollen - doch zwingt nur eine dialekti­
sc?e, erotische, didaktische, ethische, rhetorische, >>ironische<<
Diskursart >>uns �rem« Satz und >>uns<< selbst ihren Verkettungs­ 1 85
.
modus auf. Es gibt kemen Grund, diese Spannungen Absichten Man muß, wie üblich, die Bildungs- und Verkettungsregeln,
.
und Willen zu nennen, außer der Eitelkeit, auf unser Konto zu die das Regelsystem eines Satzes bestimmen, und die Verket­
verbuchen, was dem Vorkommnis und dem Widerstreit zu­ tungsmodi, die von den Diskursarten abhängen, auseinander­
kommt, den es zwischen den verschiedenen Weisen daran halten. Zweierlei Dinge sind es, wie Wittgenstein feststellt:
a�zuknüpfen, hervorruft . - Wie aber kann diese Verk�hrung, einerseits die Gesamtheit der konstitutiven Regeln des Tennis­
die dem Ant�ropozentrismus freie Bahn gibt, dieser transzen­ oder Schachspiels, andererseits die Gesamtheit von Empfeh­
dentale Schem, der das Wir affiziert, nämlich die Illusion des lungen, die eine erfolgversprechende Strategie bilden. Bei
Aussageakts [enonciation], erklärt oder wenigstens beschrieben Mißachtung der ersteren wird das Satz-Regelsystem verändert,
[1 97] werden? I man spielt nicht mehr Tennis oder Schach. Bei Mißachtung
226 227
 ..
.. ............................................ . �'•·�t•tf
�·�MM
d •·L_ __ _
..
DIE DISKURSART, DIE NORM
der letzteren wird. man für einen »schlechten« Spieler gehalten.
Doch steh: es frei, �>schlecht« zu spielen. >>>Ich weiß, daß ich
s �?lecht sp �ele, aber Ich will nicht besser spielen.< In diesem Fall
k ?nnte mem Gesp rächspartner nur sagen: >Na gut, dann ist in
diesem Fall alles m Ordnung«< (Wittgenstein, 1929 [1965] : 5).
�
Abgesehen avo? , d �ß »schlecht« spielen eine gute, eine ganz
neue Strate gie sem kon�te, von der man hinterher sagen wird:
. . Diskursarten sind Strategien. Von nie­
>>Gut gespielt!« Die
[198] mandem. I
186
So viele Diskursarten, so viele verschiedene Gewinnmöglichkei­
ten. Oft legt man den Spieleinsatz einer Diskursart durch einen
Satz von kanonischer Tragweite fest. Dieser Satz kann im inter­
rogativen Regelsystem formuliert sein. Wie steht es damit? Was
soll ich tun? Hast du verstanden? Werden wir dies für schön
b efinden? Wenn dem so ist, was können wir tun? Bist du
. ganz anderen Entitäten geführt, die selbst eher aus den Sätzen
emverstanden? Willst du? Ist es gerechtfertigt, daß . . . ? Was ist
geschehen? Was wird geschehen? Was folgt daraus ? Wieviel
kostet das ? Der Erfolg besteht darin, den Schlüsselsatz zu
>>beantworten«. Die >>Antwort« ist ein Satz, der die im Schlüssel­
satz enthaltene Frage aufhebt. Sodann fragt man sich, ob diese
Aufhebung gerechtfertigt ist, und die Antwort auf diese letzte
Frage wird zum Gegenstand neuer Fälle von Widerstreit wobei
die �arteien die ge�annte Antwort befragen, ausgehend ;on den
. der Spieleinsatz eines Widerstreits zwischen Diskursarten. Die-
Schlusselfragen, die den Einsatz der jeweiligen Diskursarten
festlegen.
187
Die Satz-Regelsy steme fallen weder mit den >>Vermögen der
.
Seele« noc.h �mt den >>Erkenntnisvermögen« zusammen.
.
Ebensowemg die Diskursarten. Manchmal sind Überschneidun­
ge� möglich: Manche Deskriptive könnten dem Erkenntnisver­
mogen angehören, manche Präskriptive dem Begehrungsvermö­
gen. Es besteh : eine Affinität der kognitiven Diskursart zum
.
Verstand, der dialektischen zur spekulativen Vernunft. Doch die
228
15�=
L.
� ·· •
·.�·· '•··� s...-........................
' .........
' mM.aara
z�·�·a ________________
WIDERSTREIT UND EREIGNIS
narrative Diskursart mit allen ihren Unterarten? Gibt es ein Satz­
Regelsystem, das das Gebiet der >>Urteilskraft« abdeckt? Und die
Fragesätze? Und die Exklamativsätze? Sind diese auf besondere
Weise an das Gefühl, an das >>Vermögen von Lust und Unlust«
gebunden? Man kann keine Tabelle von Entsprechungen herstel­
len. Ebensowenig den Versuch unternehmen, die dreiteilige
metaphysische Psychologie platonischen Ursprungs (die aus der
Ferne auch noch die kritische Trilogie Kants beherrscht) der
aristotelischen Nomenklatur der Diskursarten des Logos aufzu­
pfropfen.
1 88
Man spielt nicht mit der Sprache (Nr. 9 1 , 1 81). Und es gibt in
diesem Sinne kein SprachspieL Es gibt Spieleinsätze, die an
Diskursarten gebunden sind. Wenn sie erreicht werden, spricht
man von Erfolg. Daher also gibt es Auseinandersetzungen. Aber
die Auseinandersetzung wird nicht zwischen Menschen oder
resultieren. Im Grunde setzt man allgemein eine Sprache voraus,
eine Sprache, die von Natur aus mit I sich selbst im Frieden liegt, [199]
eine >>kommunikative« Sprache, die etwa nur durch die menschli-
chen Willensbestrebungen, Leidenschaften, Absichten in Erre-
gung versetzt würde. Anthropozentrismus. Bei der Sprache steht
die relativistische und quantenmechanische Revolution noch aus.
] eder Satz - ganz gleich welchen Regelsystems - ist grundsätzlich
ser Widerstreit entspringt der einen Satz begleitenden Frage : Wie
läßt er sich weiter verketten? Und diese Frage entspringt dem
Nichts, das diesen Satz vom >>Folgenden« >>trennt«. Fälle von
Widerstreit gibt es, weil oder wenn es das >>Ereignis« gibt. Dies
aber wird so weit wie möglich vergessen : Die Diskursarten sind
Modi des Vergessens des Nichts oder des Vorkommnisses, sie
füllen die Leere zwischen den Sätzen. Dennoch eröffnet gerade
dieses >>Nichts« die Möglichkeit von Zweckmäßigkeiten, die den
Diskursarten entsprechen. Wenn die Verkettungsweise notwen-
dig (erfüllt) wäre, gäbe es nicht mehrere mögliche Modi, keine
Leer:stelle gewährte jener Kausalität Raum, die von weitem
wirksam wird, der >>Zweckmäßigen Kausalität«.
229
 DIE DISKURSART, DIE N
ORM
DAs KAPITAL ALS DISKURSART

sondern das nächste Worthaben will. (A�f dieseWeise setzt M �rx

�f �
189
Die Vorstellung, daß eine höc �
der Phänomenologie des Geistes das Kapt al entg�gen. Im P �l
�
um aßt, eine ?öchste Antwort
hste Diskursart, die alle Einsätze
auf die Schlüsselfragen der ver­ gibt es eine Zukunft, nicht so im Spekulativen.) Dre Kontro e? re
sehredenen Drskursarten liefern die Zweckmäßigkeit des Kapitals auf die vorkommend�n Satze .
könnte, scheitert an der russell­
schen Aporie. Entweder ist dies
e Diskursart Teil aller Diskurs­ ausübt, ist sicher nicht gleich Null, sonder ? ents� nc ? t der
arten, ihr Spieleinsatz ein Einsatz Rentabilität, also deren Unterord ung u ter ne? Sprelemsa tz
unter den anderen und ihre � ? :� . �
Antwort also nicht die höchste der der Einsatz aller Einsätze zu sem schemt, namhch zu > gewu
. Oder sie gehört nicht zur : �
Gesamtheit der Diskursarten und nen« (Nr. 1 8 1 ) , Obwohl er nur ein Einsatz unter anderen Ist: Zert
umfaßt folglich nicht alle .
Spieleinsätze, da sie ihren eigenen gewmnen (Nr. 249' 250) ' und zwar gemessen am Vortel'1 ' der rm ·
ausnimmt. Der spekulative
Diskurs erhob diesen Anspruch
(Abschnitt »Das Resultat« ; Geldwert berechnet wird. Innerhalb dieser Dtsk ursart �b er,
·

Hegel-Exkurs). Das Prinzip eines abso

kursart über die anderen ist sinnleer
luten Sieges einer Dis­
.
unter der Bedingung dieses Zwecks, wird noch das auße:gewoh ­
lichste Vorkommnis aufgenommen und �ogar »e.�mutt t« (-a s f �
ob das Kapital das Geschieht es ? »ermutigen« konnte.).

190
1 92
Wenn die Politik eine Diskursart wäre
diesen höchsten Status erhöbe, wäre
und den Anspruch auf
ihre Nichtigkeit schnell
�
Wenn Cezanne seinen Pinsel ergrei t, steht der. Einsatz der
aufgezeigt. Aber die Politik ist die Droh
ung des Widerstreits. Sie Malerei in Frage, wenn Schönberg steh ans . Klavter �etzt, der
ist keine Diskursart, sondern deren Vielf Einsatz der Musik, wenn Joyce zur Feder gretft, der Em� atz der
alt, die Mannigfaltigkeit
der Zwecke und insbesondere die Frage
nach der Verkettung. ,Sie Literatur. Es werden nicht nur neue »Gewin�«-Strategten aus­
taucht ein in das Vakuum, in dem »es probiert, sondern das Wesen des »Erfolgs<< wtrd befragt. Han­
wenn man so will, der Zustand der Spra
geschieht, daß . . . «. Sie ist,
che, aber es gibt nicht
delt es sich noch darum, mit dem Schönen »Lust� o er mtt em�.
�
eine Sprache. Und die Politik besteht
darin, daß die Sprache Erhabenen »Lust/Unlust« zu erregen? Ist der Sptelemsatz mcht
· nicht eine Sprache ist, sondern Sätze eher analog zu dem, der die philosophische »Dtsku:sart« lenkt?
Sein, sondern Fälle von Es gibt. Sie ist
, oder das Sein nicht das
das bloße Sein, das nicht
.
Die Malerei wird gut sein (wird ihren Zweck verwtrkhc t oder �
[20 0] ist, einer seiner Namen. sich ihm angenähert haben), wenn sie den E ?:pfänger steh �u
I
�. .
fragen zwingt, worin sie besteht. A les rst. Pohtik, ';en� �ohtik
.
in der Möglichkeit des Wtderst :e.tts. ber . der genngfugtgsten
191 Verkettung besteht. Aber die Pohtik tst mcht alles, wen� m �n
. .
Wenn man zeigen würde, daß das damit meint, sie sei die Diskursart, dte alle anderen enthalt. Ste
Kapital eine Diskursart ist, ist nicht eine Diskursart.
�enn man seinen Spieleinsatz und seine Strategien zum Sieg über
dte anderen ermittelte, so könnte
man eben damit nachweisen,
da� seine Vorhrrr:_�chaft nicht nur
, ungerecht, sondern nichtig ist. 193
;�tt dem Anspruch auf den
'Ub�rlegenheit gegenüber dem
totalen Erfolg jedoch liegt seine
spekulativen Diskurs zumindest
Das von einem Satz dargestellte Universum ist unm ttelbar �
dann, daß das Kapital nicht »sozial« wenn man unter »sozial« versteht, daß daber. em Sen­
das letzte Wort zu haben, nicht
nachträglich alle Sätze, die der, ein E mpfänger, ein Referent und eine Bedeutt�ng zusamn;en
in allen Diskursarten (also gleich
welcher Zweckmäßigkeit) situiert werden. 1 Unter »Unmittelbar« verstehe rch, daß ke.me [201 ]
stattfinden, zu totalisieren versucht,
dieser Instanzen aus einer anderen als ihrem Ursprung abgelettet
230
23 1
 DAs WESEN DES SoziALEN
DIE DISKURSART, DIE NORM

B ezug auf einen

w �rden kann. »Es gibt« ein Satz-Universum, und >>es gibt<< ­ modus, das heißt mit ihrem zweckgerichteten
semem Regelsystem zufolge - Situationen zwischen den darge­ Spieleinsatz.
stellten Instanzen, die dieses Universum bilden. Eine >>Deduk­
tion« des Sozialen setzt das Soziale voraus. Der Diskurs des 195
»Vertrags<< etwa ist eine einem Mythos vergleichbare Erzäh­
len, etwa
lung, sie erzählt die Geburt des Sozialen, aber insofern sie Ebenso leicht ist zu verstehen, daß das Wese n des Sozia
defin itoris chen Satze s, unmit-
erzählt, ist das Soziale bereits vorhanden, und zwar als Erzäh­ seine Identifikation anhand eines
es näml ich I mit dem Univ er- [202]
ler [narrateur], Zuhörer [narrataire ], Erzählgegenstand [nar­ telbar phasenverschoben ist. Da
_ Frage und Antwort auf die Frage. Das Soziale da die Zwec kmäß igkeit (die Bede u-
re], wird immer sum eines Satze s gegeben ist,
man so will) dieses Univ ersum s om
vorausgesetzt, da es im kleinsten Satz dargestellt oder mit­ tung der Bedeutung, wenn
knup.: f ,
dargestellt wird. Selbst Die Winkelsumme eines Dreiecks be­ Satz abhängt, mit dem man an den vorangehenden a� :
ttung Gegen stand eines Wide rstrei ts ZWI-
trägt 180 Grad impliziert Sender, Empfänger und ihre Bezie­ und da diese Verke
stets zu
hung zueinander, die nicht gleichgültig ist (didaktisch). schen Diskursarten ist, bleibt das Wesen des Sozialen
rsum
entscheiden. Damit ist das Soziale der Referent (das Unive
nden)
eines früheren Satzes als Referent eines späteren versta
ht
1 94 eines immer neu zu fällenden Urteils. Es ist eine vor Geric
Unschwer ist auch zu verstehen, daß das Soziale unmittelbar widersprüchlich verhandelte >>Angelegenhe�t«. Und i
.
n d � eser
d eser
komplexer Natur ist. Im Universum, das von einem Satz dar­ >>Angelegenheit<< macht das Wesen des Genc hts, d�s m !
stand emes Wider -
gestellt oder mit-dargestellt wird, sind mehrere Instanzen situ­ Sache Stellung bezieh en soll, selbst den Gegen
iert, eine ich- oder wir-Instanz, eine du- oder ihr-Instanz, eine streits aus.
er/sie- oder sie (Pl.) Ins tanz . Keine von ihnen entspricht dem
-

Sozialen insgesamt. Selbst wenn das Soziale im Satz des Sozio­
logen explizit als Referent in Erscheinung tritt, wird es auch in
der Situation aller durch diesen Satz dargestellten Instanzen
vorausgesetzt. Das Soziale ist das Universum, das sie durch
ihre Situation bilden, insofern diese Situation sich auf mensch­
liche Namen bezieht, ist das Universum, das vom Satz bedeu­
tet wird. Die so dargestellte Bedeutung gehorcht dem Regelsy­
ste� , dem der Satz gehorcht. Dieses Regelsystem kann jenes
Un�versum nach mehreren Modi der Instanzen-Ordnung mo­
dulieren : etwa wir und ihr ihnen gegenüber, wir und sie euch
gegenüber, ihr und sie uns gegenüber usw. ; ebenso nach meh­
reren Darstellungsweisen der Bedeutung: zu erkennen, vorzu­
. t
schreiben, zu befragen, zu bewundern usw. Die Diskursarten
richten darüber hinaus diese Situationen des Universums nach
Spiel ��nsätzen auf zwecke hin aus : überreden, überzeugen,
. Oberhand über die anderen gewinnen und tut diesen notwendi­
�rschutt:rn usw: Dte Spannung, ja sogar der soziale Unfrieden
Ist auf d �ese ��1se unmittelbar mit ihrem Satz-Universum ge­
geben, dte poltusche Frage zusammen mit ihrem Verkettungs-
232
196
Ich sage : eines Widerstreits und nicht eines Rechtstreits. Nicht
weil die Menschen bösartig wären, sind ihre Interessen und
Leiden schaften antagonistisch. Ebenso wie das Nicht-Mens chli­
che - die Tiere, die Pflanzen, die Götter, Gott und die Engel, die
Außerirdischen, die Jahreszeiten, die Gezeiten, Regen und
Schönwetter, die Pest und das Feuer - werden die Menschen in
Regelsystemen von heterogenen Sätzen situiert und von Spiel­
einsätzen aus het_erogenen Diskursarten in Anspruch ger:om­
men, und so kann das Urteil, das sich auf das Wesen Ihres
sozialen Seins bezieht, nur einem dieser Regels ysteme oder
wenigstens einer dieser Diskursarten entspr�chen ;. und so lä�
das Gericht dieses Regelsystem und/o der dtese Disku rsart die
die
gerweise Unrecht, indem es die Heterogenität de: Sät:e, �m
in dessen Komm entar geht, m sem eigene s
es im Sozialen und
Idiom transkribiert.
233
 DIE DISKURSART, DIE NORM
197
11_�n kan? nicht einmal sagen, daß der Krieg (notgedrungen:
Burgerkn�g), der Klassenkampf, die revolutionäre Gewalt ge­
�
r �chter se1en als as Gericht, weil sie den Widerstreit zutage
forderten, anstatt 1hn als Rechtsstreit zu maskieren. Die Rache
ist kein� Autorisierung (Nr. 44). Sie demonstriert, daß ein ande­
res Gencht, andere Urteilskriterien (wenn vorhanden) möglich
.
und anschemend vorzuziehen sind. Angenommen aber, die
Veränderung findet statt, so ist es unmöglich, daß die Urteile des
neuen Gerichts nicht neues Unrecht schaffen, weil sie die Fälle
von Widerstreit als Rechtsfälle beilegen oder beizulegen glauben
werden. Darum kann für die Politiker der Spieleinsatz nicht im
Guten, sondern nur im kleinsten Übel bestehen. Oder, wenn
m �n das vorzi �ht: das kleinste Übel müßte das politisch Gute
.
[203] sem. I Unter Ubel verstehe ich (und man kann nichts anderes
darunter verstehen) : das Verbot jederzeit möglicher Sätze, einen
A �gwohn gegen das Vorkommnis, die Geringschätzung des
Sems.
198
Man könnte sagen, daß das Soziale unmittelbar mit einem Satz­
Universum (und sei es durch den Schwanz der Katze dargestellt)
gegeben ist, und es ist prinzipiell als unmittelbar vom Regelsy­
stem dieses Satzes bestimmt gegeben, obschon seine Bestim­
mung sogleich Gegenstand eines anderen Satzes wird, dessen
Verkettung nur Anlaß zu einem Widerstreit zwischen Diskurs­
arten gegen kann. Man könnte ebenso gut sagen, daß die Politik
unmittelbar mit einem Satz gegeben ist, und zwar als Widerstreit
bezüglich der Frage nach der weiteren Verkettung dieses Satzes.
Nach dem >>Ursprung« des Politischen wie des Sozialen zu
fragen, ist gleich nichtig. Das Soziale ist im Universum eines
Satz�s, d�� Poli�i� che in seinem Verkettungsmodus impliziert.
Es g1bt eme Pohuk der Cashinahua ebenso wie eine athenische
oder jako�inische, selbst wenn der Vorrang der Erzählung in der
erster�n d1e Drohung entschärft, die das Vorkommnis enthält
(Cas�mahua-Exkurs). Hier wie dort geht es stets um den Bür­
gerkneg der >>Sprache« mit sich selbst. Unterschiede gibt es
234
DIE PoLITIK ALS DisKURSART
einzig und allein in der Art und Weise, wie Rechtsfälle zur
Beilegung des Widerstreits eingesetzt werden.
1 99
Die Politik gibt immer zum Irrtum Anlaß, weil sie als Diskursart
stattfindet. Die Diskursart variiert gemäß dem Wesen der Auto­
risierung, die dem normativen Präfix einbeschrieb�n ist. D�e
angerufenen Namen (die y, cf Nr. 1 55, 206) bestimmen d1e
Diskursart, ob Mythos, deliberativer Konsensus oder göttliches
Recht . . . : Seit jeher haben unsere Ahnen . . . ; Mit Beschluß vom
. . . haben wir, die Versammlung der Volksvertreter . . . ; Ich,
Kaiser von Gottes Gnaden, befehle . . . Das kann nicht anders
sein, da es ja tatsächlich unerläßlich ist, daß das Gericht, das die
möglichen Prozeßfälle bestimmt und Gerechtigkeit fordert und
deshalb den Widerstreit vergißt, unterdrückt und wiedererschei­
nen läßt, seine Urteilssprüche fällt und zunächst seine Autorität
nach den Regeln einer Diskursart begründet. Zugleich aber ist
die Politik alles andere als eine Diskursart, sie zeugt vom Nichts,
das sich bei jedem vorkommenden Satz öffnet und den Wider-
streit zwischen den Diskursarten entstehen läßt. I [204]
200
Indem sich die griechischepolis um das leere Zentrum organisiert,
in dem die Beratschlagung [deliberation ], das heißt der Konflikt
der Sätze und ihr Urteil stattfindet, erfindet sie nicht die Politik;
sie überträgt der oder den dialektischen und rhetorischen Dis­
kursart(en) die Regentschaft über die Sätze und läßt damit deren
Widerstreit in Form eines Rechtsstreits in die (leere) Mitte der
politischen Institution münden. Die Cashinahua setzen an diese
Stelle den Erzählakt [narration], die erste französische Republik
die Idee, das heißt die Dialektik im kantischen Sinne, insbeson­
dere die Dialektik, die die freie (ethische) Kausalität zum Spiel­
einsatz hat. Und die industrielle Revolution überträgt das Vor­
recht des Urteilens der technischen Diskursart, deren Einsatz in
der Maximierung der Leistung besteht, das heißt darin, das beste
inputloutput-Verhältnis im Gestell, wie Heidegger sagt, zu ge­
winnen, und zwar zwischen jedem möglichen Referenten, das
235

DIE DISKURSART, DIE NORM
Soziale eingeschlossen, und dem Willen (dem Genuß) des Selbst.
. Übermenschen. Mit der Verhätschelung des Ereignisses veran­
So bestehen H ��emo�uen von Diskursarten, gleichsam als Ge­
stalten d �r P ?lmk. Sre � treite� sich um die Verkettungsmodi.
. .
.. dre pohtrsche
Das Kaprtal ubertragt Hegemonie der ökonomi­
schen Diskursart (Nr. 240 ff.).
201
Die Ausdrücke Demokratie, Autokratie, Oligarchie, Monar­
.
chre, Anarchie, die Regierungsweisen, und die Ausdrücke Re­
�
publi ? der Despotismus, die Weisen der Beherrschung oder
. 203
Autonsr�rung ? ezerchnen, gehören zu strikt anthropologischen
oder pohtologrschen Beschreibungen. Was in der Politik in
Frage steht und die Politiken unterscheidet, ist die Diskursart,
. [autorite] über dich, weil du mich dazu autorisierst), zur petitio
der Spreleinsatz, demzufolge die Fälle von Widerstreit als Rechts­
fäll: und deren »Schlichtung« formuliert werden. Einzig und
allem deswegen, weil eine Diskursart - ganz gleich welche - die
anderen ausschließt, sei es durch Entmündigung (Sklaven und
Frauen), durch autonymische Neutralisierung, durch narrative
Erl�sung usw., läßt sie in einem Idiom einen >>Rest<< unge­
schhchteter und nicht schlichtbarer Widerstreitfälle zurück, ei­
n �n Rest, an dem sich der Bürgerkrieg der »Sprache<< immer
wreder von neuem entzünden kann und tatsächlich auch ent­
zündet.
202
Unnötig pathetisch ist es, diesen Rest >>verfemten Teil<< zu
nennen. Was eine Politik angeht, die um die Emotionalität des
Opfers kreist (Cashinahua-Exkurs, § 7), und zwar unter dem
Vorwand, sie würde mit dem Leiden und dem Freudentaumel
ein unfehlbares Indiz für den Bestand des Widerstreits der
�
[20 5 ] du c� keinen Rechtsstreit I neutralisiert werden kann, ab eben
: (Nr. 1 55). Sie greift den präskriptiven Satz als Zitat auf. Man
- sre Ist menschlich, allzumenschlich: als ob der Mensch eine in
der Hütung des Vorkommnisses auserkorene Verantwortung
besäße! Bataille ermangelt es an chassidischem oder heidnischem
� �
(sie :in nicht as selbe, ich weiß) Humor im Empfang des
»Erergmsses<<. Dre Regentschaft des Gefühls, das mit dem Opfer
_
oder dem >>Drenst<< (Heidegger, 1933 : 1 5) verbunden ist und
236
AuTORITÄT
vom Widerstreit verlangt würde, propagiert eine Politik falscher
staltet man ein großes Kasperltheater. Vielmehr besteht die
Verantwortung hinsichtlich des Denkens darin, die Fälle von
Widerstreit aufzudecken und das (unmögliche) Idiom zu ihrer
>Setzung< in Sätze zu finden. Was ein Philosoph tut. Ein Intellek­
tueller trägt zu dessen Vergessen bei, indem er eine dieser
Diskursarten, ganz gleich welche (die Ekstase des Opfers inbe-
·
griffen), für die politische Vorherrschaft empfiehlt.
Die Autorität läßt sich nicht ableiten. Die Versuche zur Legiti­
mation der Autorität führen in den Teufelskreis (ich habe Macht
principii (die Autorisierung autorisiert die Autorität), zur Re­
gression ins Unendliche (x wird von y autorisiert, das von z
autorisiert wird), zum Paradoxon des Idiolekts (GOTT, das
LEBEN usw. bestimmt mich zur Ausübung der Autorität, ich
allein bin der Zeuge dieser Offenbarung). Die Aporie einer
Deduktion der Autorität oder die Aporie der Souveränität ist das
Zeichen dafür, daß der Satz der Autorisierung nicht einem Satz
mit abweichendem Regelsystem entspringen kann. Sie ist das
Zeichen einer Inkommensurabilität des normativen Satzes mit
den anderen.
204
'< Die Frage nach der Autorität steht im normativen Satz auf dem
Spiel. Die Norm macht aus einer Vorschrift ein Gesetz. Du sollst
diese Handlung ausführen formuliert die Vorschrift. Das Nor­
mativ fügt hinzu: Dies ist eine von x oder y verfügte Norm
fragt sich, woher x oder y ihre Autorität nehmen. Sie erhalten sie
von diesem Satz, der sie auf der Sender-Instanz im Universum,
das die Vorschrift autorisiert, situiert. Dieses Universum bezieht
sich auf den präskriptiven Satz als Referenten, der damit autori­
siert wird.
237
 DIE D ISKURSART, DIE NORM DAs NoRMATIVE

ses« ist. Dies e

205 anderen und em Modus des drohenden >>Ere ignis
·

da he1"ß t d �s
Man ist versucht, den normativen Satz als einen performativen Drohung, diese s Wunder und diese r Schre cken - �
t �ormah­
[206] zu beschreiben (Nr. 142). Die Sitzung ist eröffnet. Der Krieg ist I Nichts einer ausstehenden Verkettun g - werden dam1
chtun_g,
erklärt, und dem ist so ; und der vom Universum dieser Sätze siert. Für die anderen x, die Dus der genormten Verpfh
d r Ethtk
situierte Sender wird unmittelbar zum Vorsitzenden oder zu sind sie die nämlichen. Der normative Satz, der _aus �
ausgeschlossen bleibt , führt auf die Po_liti_k. Er_ btldet em �. Ge­
einer der kriegsführenden Mächte, der Empfänger unmittelbar dte als Empf ar:ger
zu einem Mitglied der tagenden Versammlung oder zum Geg­ meinschaft von Empfängern des Präsknptivs,
wenn auch m�ht
des normativen Satzes gewahr wurd en, daß sie,
ner, gegen den man Krieg führt. Ebenso der normative Satz Wir
notwendig vor dem Geset z gleich, ihm zumin ? est alle �� terhe-
>verfügen< daß diese Handlung ausgeführt werden muß- auch er was [207]
gen. Das Normativ macht die Verpflichtung I mcht tran� ltlv,
würde das Wir unmittelbar auf die Position der Souveränität sonder n allgem em.
unmöglich ist (Kant-Exkurs II, § 6),
setzen. - Aber diese »Wirkungen<< , wie man sie unscharf be­
zeichnet, lassen sich bei allen Sätzen, gleich welchen Regelsy­
stems, beobachten, da sie bloß die Entfaltung der Instanzen der 207
von ihnen dargestellten Universen und ihrer jeweiligen Situation
sind. Der Ausdruck der Performanz wird damit so verstanden,
�
Der normative Satz enthält formal das Zitat eines pr skriptiv�n
(Nr. 45, 46 ). Dieser wird autonymisiert. Der normative Satz 1st
daß er seine Verweiskraft auf ein spezifisches Satz-Regelsystem . .
�
ein Satz über einen Satz, Metasprache, allerdmgs mc t desknp­ _
verliert. - Bleibt zu bemerken, daß keine Entität die Autorität �
tiv. Sein Spieleinsatz ist nicht die Wahrheit, sondern d� e Gerec ­
zur Verpflichtung besitzen kann, wenn sie nicht der Sender des
normativen Satzes ist, der diese Verpflichtung zur Norm macht:
tigkeit. Seine metasprachliche Ausbildung ke�nzetc net dte
_
�
Funktion der Autorität: eine Brücke schlagen uber dte Kluft
eine Tautologie. Und es ist nicht ersichtlich, wie etwas anderes �
zwischen heterogenen Sätzen. Indem sie diesen atz für erla� t, ?
als dieser Sender, von nicht-normativen Sätzen ausgehend, dazu
werden könnte. Ein Regelsystem von Sätzen wird nicht aus
? �
jenen für verboten, diesen wie erum ür verpflt�hte� d erklart,
_
unterstellt die Autorität sie emem emztgen Sptelemsatz, der
einem anderen geboren. Gerechtigkeit, wie immer ihre Heterogenität �� eh beschaffen
�
sein mag. Zweifellos gehört er Gesan ? zum S�honen, k�nn aber
unrecht sein wenn ein bestimmtes Lted zu emem bestimmten
206 �
Augenblick n einem bestimmten Ort gesungen :rird. Die Le re �
Die Verpflichtung im strengen ethischen Sinne bedarf an sich gehört zum Wahren, aber auch hier, unt: r besum� ten Bedtr:­
gungen usw. Mit dem Normativen - was 1mme� seme vorgebh­
?
keiner Autorisierung durch eine Norm, um stattzufinden, son­
che Rechtfertigung sei und welche Form es estt� en n: ag (My­
�
dern umgekehrt (Nr. 155, 1 76 ; Kant-Exkurs II, § 1 ) : Mit der
Legitimation der Vorschrift hebt man die Asymmetrie der Ver­ thos, Offenbarung, Beratung) - bemächtigt steh eme 1sk� rsart
pflichtung auf, die das Regelsystem des präskriptiven Satzes heterogener Sätze und ordnet sie ein und demselben Sptelemsatz
auszeichnet. Doch genau dies ist eine Funktion oder zumindest unter.
eine Wirkung des normativen Satzes, nämlich die Situation des
Verpflichteten zu symmetrisieren. Das Normativ stellt dem 208
Präskriptiv folgendes voran : Es besteht eine von y verfügte
Norm, daß x diese Handlung ausführen muß - und entreißt x so Darum befindet sich der Empfänger des Normativen -: � enn �r
dem Schrecken des Idiolekts (Abraham oder Schreber; cf auch der Empfänger der von ihm ge� wrmten Y_ orschnft 1st - m
N r. 1 62, 164), der zugleich die wundersame Begegnung mit dem der Situation des Meta-Empfängers 1m Vergletch zu letzterem,
238 239

- -
 DIE DISKURSART, DIE NORM
selbst wenn ? eides den gleichen Namen tragen. Bekan
ntlich ist
der Bu. . rger eme »Abstraktion« in Vergleich zum >>Indiv
. iduum«,
das heißt zur Entität mit gleichem Namen, die in hetero
genen
>>akt� ellen�< Satz-Universen situiert ist. Was aber für den
Bürger
z �tnfft, tnfft auch für den Cashinahua zu : Das Normative, das
die Namensverteilung für die Geschlechter die Generationen
und die Stammeshälften legitimiert, wird be�chtet weil es Ge­
setz ist; zugleich fällt diese Achtung nicht mit den ' Sätzen der ­
w �nn man so will - Objektsprachen zusammen, die den »Tätig­
keiten<< der » Individuen<< entsprechen (Cashinahua-Exkurs,
§ 3). Das Gesetz muß immer mit Humor befolgt werden, da es
.
mcht vollständig befolgt werden kann, will man nicht die Vor­
stellung beglaubi gen, es sei selbst der Verkettungsmodus der
H �terogenitäten und besitze die Notwendigkeit totalen Seins.
Dieser Humor zielt auf die Heterogenität, die trotz und unter
der Le �itimation fortbesteht. »Das Volk<<, die unmögliche
Ganzheit von Wesenheiten, die in den inkommensurablen Satz­
[20 8] Universen erfaßt werden, kann nicht glauben, daß das Gesetz I
?ese:z ist, weil es gerecht ist, es weiß vielmehr, daß es gerecht ist
(Im Smne der Schaffung einer unmöglichen Gemeinschaft von
Verpflichtungen), weil es Gesetz ist (Pascal, Pensees, Fra gmente
32 �, 326). Das »Volk« ist nicht der Souverän, es verteidigt den
Widerstreit gegen den Souverän. Lachend. Politik ist Tragödie
für die Autorität, �omödie fürs Volk. Der Achtung vor dem
. .
Ereigms (dem komischen Lachen) muß seine ontologische Wür­
de z urückerstattet werden, und die Tränen des Tragischen müs­
.
sen Ihren
angestammten Platz wiederfind en: nur den allerhöch­
sten (wie im Zweiten Buch der Poetik' das denn auch verloren
ging).
209
Empfänger des normativen Satzes sind auch Entitäten, die nicht
Empfänger der durch ihn legitimierten Vorschrift sind. Mit der
Legiti �ation d �r Verpflichtung für x, eine bestimmte Handlung
auszufuhren, gibt y auch einem Dritten z zu verstehen daß er
es bei der Verkettung der genannten Ha� dlung mit der A� torität
von Y z ';l tun �aben wird. Der normative Satz ist zugleich ein
deklarativer. Die Spanne zwischen dem normativen Präfix und
240
- -
DIE MENSCHENRECHTSERKLÄRUNG VON 1 789
der Vorschrift erzeugt die Spanne zwischen der Gemeinschaft
von Verpflichteten und demjenigen, der außerhalb ihrer steh:,
der jedoch vom Gesetz in Kenntnis gesetz� werden m� �· �Ie
aber kann die Vorschrift, da sie ja durch die Norm legitimiert
wird, zulassen, daß andere ihr nicht unterliegen? In der Antwort
auf diese Frage liegt der Beweggrund des Imperalismus : daß
nämlich alle Empfänger des normativen auch die des präskrip ti­
.
ven Satzes seien. Das Edikt Caracallas von 212 und das Resknpt
Konstantins von 3 1 2 sprechen dieses Motiv explizit aus : Jedes
Wesen des orbis romanus ist römischer Bürger, jedes Lebewesen
gehört, als Anwärter des himmlischen Reichs, auch zum irdi­
schen Imperium. Die Bürgerschaft, das heißt die Verschmelzung
der Empfänger des präskriptiven und normativen Satzes, findet
keine prinzipielle (ideelle) Grenze, sondern nur eine faktische.
Die Nationen, ihre Sprachen, ihre Gebräuche und ihre Namen
werden als Gegenstände, auf die sich der ideelle Diskurs nur
negativ beziehen kann, ins »Empirische<< zurückgedrängt: sie
genügen der ideellen Legitimation nicht.
DIE MENSCHENRECHTSERKLÄRUNG VON 1 789
1 . Sie ist eine Deklaration von Rechten, das heißt eine normative
Legitimation, die nicht auszuführende Vorschriften betrifft, sondern
Grenzen, I die bei diesen Präskriptionen respektiert werden müssen. [209]
Also eine Legitimation von im wesentlichen negativen (begrenzenden)
Vorschriften, zu deren Wahrung die präskriptive Autorität selbst ange­
halten wird. Also nicht: eine von y verfügte Norm, daß x verpflichtet
ist, usw. ; sondern: eine von z verfügte Norm, daß eine von y verfügte
Norm, welche x verpflichtet usw., nur innerhalb folgender Grenzen als
Norm gilt. Die Declaration rechtfertigt die Legitimation des präskripti­
ven Satzes. Mit Berufung auf ein höheres Niveau von Legitimität im
Vergleich zur politischen Legitimität (meta-normativ) entwir�t sie eine
Regression innerhalb der Autorisierungen (Nr. 203). Dieser Ubergang
wird vom imperialistischen Prinzip der Legitimation, das auf deren
Verallgemeinerung drängt, betrieben, während sie in derselben Bewe­
gung die Ausweitung der Legitimitätsbezirke beschränkt. Diese Span­
nung löst sich in der Legitimation der Legitimitätsgrenzen selbst. Eine
politische Verfassung wird durch die Begrenzung der Macht bestimmt
(Artikel 1 6). Die Festlegung der genannten Grenzen (die Declaration
selbst) wird durch die Idee des Menschen autorisiert.
241
 DIE DISKURSART, DIE NORM
2 . Als höchste Machtinstanz [autorite]; als Sender und Bedeutung des
_
meta-normativen Satzes müßte der Mensch die Präambel der Men­
schenrechtserklärung unterzeichnet haben. Das ist nicht der Fall: > Die
in der Nationalversammlung vereinten Vertreter des französischen
Volkes haben in Erwägung von [ . . .] beschlossen, in einer feierlichen
Erklärung die natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte des
�ensch�n zu verkünden [ . . .]. Infolgedessen anerkennt und erklärt
dte NatiOnalversammlung [ . . .] die nachstehenden Menschen- und
Bürgerrechte.<< Der Unterzeichner, das z, das die Norm für die Nor­
men erklärt, ist eine repräsentative Gemeinschaft einer Gemeinschaft
eine yersammlung, die ein Volk mit dem Eigennamen: die Franzose�
vertntt.
3. Mit der Bezeichnung des Autors der Declaration kehrt die Welt der
Namen (Nr. 60) und mit ihr die Geschichte wieder. »Kehrt wieder<<,
weil sie in dem Maße ausgeschlossen wurde, in dem das Prinzip der
Autorisierung seinen Anspruch ausdehnt und von einem metasprachli­
chen Niveau zu einem höheren (meta-metasprachlichen, das heißt
meta-normativen) gelangt. Durch diese Wiederkehr wird eine Hetero­
genität angezeigt. Der Sender der Declaration besitzt in der politischen
Geschichte keinen Eigennamen, das französische Volk schon. Die
Declaration besteht aus einem Komplex von Sätzen, die dem spekulati­
ven Regelsystem im kantischen Sinne unterliegen (die Referenten sind
Gegenstände von Ideen und mit einem Verfahren zur Ermittlung der
Wirklichkeit nicht falsifizierbar). Wird sie nicht einem in der historisch­
politischen Welt nennbaren Sender zugeschrieben, so bleibt sie, was sie
ist: ein :•dialektischer<< (kantisch gesprochen) philosophischer Diskurs.
Wtrd dte Erklärung von einer Nation unterzeichnet, von einer Entität,
[21 0] die mit I ihrem Eigennamen (und sei es auf fragwürdige Weise) insbe­
s?ndere der historisch-politischen Welt angehört, dann ist die Declara­
tto� �elbst ein Diskurs, ein Zusammenhang von Sätzen mit historisch­
polm�chem Geltungsbereich. Unter "Geltungsbereich<< verstehe ich,
d aß dte . Verkettung, die sie seitens des Empfängers verlangt, nicht in
_
emer Dtskussion über Wahrheit oder Falschheit ihrer Bedeutung (Dia­
_ besteht, sondern darin, daß sie von den nationalen Gemeinschaf­
lekuk)
ten, die in der historisch-politischen Welt Namen besitzen, als Norm
der Normen akzeptiert oder zurückgewiesen wird. Denn der Empfän­
ger, der auf diese Weise mit der bloßen Unterschrift des Senders situiert
wird, ist selbst eine Entität, die den nationalen politischen Gesetzen
untersteht. Diese sind Vorschriften, allerdings nicht nach der Norm der
�ormen (den Menschen- und Bürgerrechten) genormt. Der Empfänger
tst darum a�fgeruf�n, die Normen zur Autorisierung jener nationalen
.
Gesetze zu uberprufen, denen er untertan ist und deren Autorität ihm
242
-
DIE MENSCHENRECHTSERKLÄRUNG VON 1 789
schlecht autorisiert erscheinen muß. Nach 1 789 sind die internationalen
Kriege auch Bürgerkriege.
4. Die Macht [autorite], die sich die Vertreter der französischen Nation
anmaßen, wenn sie anstelle des Menschen das Wort ergreifen, wird
genau genommen vom Artikel 3 der Menschenrechtserklärung autori-
siert: »Das Prinzip jeglicher Herrschaftsgewalt [souverainete] liegt
seinem Wesen nach bei der Nation.« Wird die Autorität in der Präambel
dazu autorisiert, die einzelnen Artikel, insbesondere Artikel 3, vorzu­
schreiben, so deswegen, weil die Nation in diesem Artikel erklärterma-
ßen dazu autorisiert wird, ganz allgemein Vorschriften zu erteilen. Der
Artikel benennt den Herrscher [souverain], der Herrscher erklärt das
Prinzip, das ihn benennt. Der Herrscher aber mußte seine Erklärung
noch vor seiner Autorisierung durch den Artikel, den er erklären wird,
beginnen, also noch bevor er autorisierter Herrscher war. Dies ist ein
triviales Paradoxon in der Legitimation der Autorität (Nr. 203), und
man kann keinen Anstoß daran nehmen. (Dasselbe Dispositiv der
Selbst-Ermächtigung würde man im Kommunistischen Manifest oder in
den Grußadressen der Internationalen Arbeiterassoziation von 1 870/
1 871 wiederfinden. Man würde auch bemerken, daß der Hauptunter-
schied zum Dispositiv von 1 789 darin besteht, daß die Instanz, auf die
sich diese Grußadressen berufen und an die sie sich wenden, nicht
historisch-politischer Natur ist wie die Nation, die immer nennbar und
also in der realen Welt bezeichenbar bleibt; vielmehr wird sie selbst
fragwürdig, wie etwa der Gegenstand einer Idee: Der Arbeiter ist (wie
der Mensch) ein Universal. Wie kann eine übernationale Entität wie die
internationale Arbeiterorganisation historisch-politische Wirklichkeit
besitzen, während sie doch die nationalen Eigennamen nicht beachtet?
Die Schwierigkeiten, denen die Arbeiterbewegung seitdem begegnete,
und schließlich ihr Scheitern mit dem Einschwenken auf die nationalen
Gemeinschaften (zumindest seit dem Votum der Sozialisten für die
Kriegsetats von I 1914) würden folgendes anzeigen: Die Legitimation [21 1 J
der Gemeinschaften durch ihre Namen und ihre traditionellen Erzäh-
lungen [recits] widersteht der Legitimation durch eine Idee. Sie beruhen
auf zwei heterogenen Diskursarten. Gehört die historisch-politische
Welt unwiderruflich zur ersteren?)
5. Daß der Sender der Meta-Norm der Mensch sein muß - ein Zeichen
dafür sehe ich in jener Art Ergänzung und Einschränkung der nationa­
len Autorität in der Präambel: »Die Nationalversammlung anerkennt
und erklärt angesichts und unter den Auspizien des Höchsten Wesens
[ . . .].<< Dieses Vernunftwesen hat keinerlei Veranlassung, eine Nation
besonders zu autorisieren. Indem sich die Nationalversammlung auf
243
 ··
TSER KLARUNG VON 1 789
DIE MENSCH ENRECH
D IE D rsKURSART, DIE NoRM -
gemacht . Die L inken
un�u fhörlich eltend
t ms F ld ?l e Geschicht
Die s wir d von den Re cht en e der ges amten
� :;
seine Gegenwart beruft und seine Empfehlung erfleht, autorisiert sie
sich nicht als französische, sondern als menschheitliche. Hier funktio­ führen eine G�gen-E.�zählun :n i ation, eine Erzählung, die
I rer E
Menschheit, die Erzahlung h. Immer aber
niert das Dispositiv im Gegensinn zum vorher beschriebenen. Wenn
eit gilt , ohn e vol kha fte W urze1n, kos mopo litisc
zu richten,
weltw . d as Vaterland zugrunde
d
der Sender einen historisch-politischen Namen trägt, so besitzt seine
�
..
Erklärung nur denjenigen Geltungsbereich, der der Extension dieses steh en s1e unter d er Ankla. ge ' . V at e land zu Zeit en von B urger -
daz u ver urt eilt , d ses gen
immer sind sie _ teten chaft liche n Krie
��
Namens entspricht. Wenn er diese überschreiten und wenn sich die c wirts
Declaration auf alle Namen erstrecken soll, darf der Sender keinen kriegen, von nac� a�ßen ger� . ung r Macht, wie sie du rch die
Au tor sier
hochzuhalten, . weil d1e � derjenigen
'
1mmanent ("mnere He im at)
� ;;� :
eigenen Namen besitzen. D arum ruft er das - anonyme - Höchste
Mythen gesch1eht, und zwar rm (M en-
stärrdhält, die sich auf die ideel�e, � s es e en, das sie ver söh nen
No
�
Wesen an, dessen Geschöpf, Teil oder Modus er selbst ist (unter den n n d t le Me ta-
Mitgliedern der Constituante kursieren mehrere Philosophien über oc
dieses Wesen und sein Verhältnis zum Menschen), sagen wir: ein schenrechte) beruft. Es gibt kem
Seiendes, ebenso anonym. Die Aufspaltung des Senders der Declara­ würde.
tion in zwei Entitäten - französische Nation und menschliches Wesen ­
entspricht der Mehrdeutigkeit des deklarativen Satzes: er stellt ein 210
,
philosophisches Universum dar, daneben aber auch ein historisch­ Po liti k der
politisches. Eine politische Revolution wie die französische hat ihren In der deliberativen, ber atsc hla gend en po rItl" k'. in der .
. · h der WId ers tre it, o b wo hl
�
· rt sie
Ursprung in diesem unmöglichen Ü bergang von einem Universum zum modernen Demokrauen expome . . . �
alle img en Zw eck m ·"ß"Igkeit
anderen. Von nun an wird man nicht mehr wissen, ob das auf diese der tran sze nde nta le An sch ein ein er
twährend ver ges sen un ert
.
�:
g
die ihn meistern würde, ihn for .
Weise verkündete Gesetz französischer oder menschlicher Natur ist, ob
z-R ge Y -
der im Namen der Menschenrechte geführte Krieg auf Eroberung oder
1.ICh macht . Die. An ord nun g von Dis kur sar ten und Sat � .
Emanzipation abzielt, ob die im Namen der Freiheit ausgeübte Gewalt . pan ier. en '. wä hre nd sic h Im
stemen läßt sieh zummd est d ek om ver sch"Ied ene r
�
repressiver oder pädagogischer (fortschrittlicher) Natur ist, ob die
a vor gan g d"Je Ko mb ma uon
anderen Nationen französisch werden sollen oder menschheitlich, traditionellen Erz"'hl . . ..
ube rze u en. ' zum
bei br�nge n,
wenn sie sich- und sei es gegen die Franzosen - Verfassungen geben, die Spieleinsätze wie glau ben ma che n, etz t (so se r ISt das
se wid er� .
der Declaration entsprechen. Die von den Mitgliedern der Constituante Entschluß drängen usw . der Analy ISt das � o rko mmms
Sat z ein bes chr ieb en, so seh r
zugelassene Verwirrung, die sich über die historisch-politische Welt Erzählen jed em . . Nr 2 1 9) De r ho h. ere zwec k
·

mit der narrativen For m mask"Iert ,

· .
verbreiten sollte, wird aus jedem nationalen oder internationalen Kon­
mit dem kan o.msch en S �tz
flikt einen unlösbaren Widerstreit bezüglich der Legitimität der Autori­ wird wie in der ethischen Dis kur sart
t, und zw a: als I_nte r ogatl � ��
tät machen. (oder dem Spieleinsatz) formulier
se n ? Die ser ISt a . er �
6. Die Mitglieder der Constituante wären Opfer eines »transzendenta­
präskriptiver Satz : Was sollen wir �
möglichen Bedeutungen bes etzt : glüc
kltc h, � elehrte,fre glet h ,
_
� �
er
len Anscheins« und vielleicht gar einer dementia gewesen (Kant-Exkurs nstler? Die Phi loso p en .
Franzosen' reich, mächtig, Kü . zu d Iese r
IV, § 4). Sie halluzinieren die Menschheit in der Nation. Robespierre ihre Antwo.rten
auf dem Konvent vom 8. Mai 1 793 : >>Wenn Ihr duldet, daß die Patrioten menschlichen Ges c h"ICh te bnng en
Frage bei. Selten werden sie innerh
alb des Ber e�ch
_
s d r p
f ���
r Itl. -
bez üglich die unk a:e r ·
[2 12} einzeln niedergemetzelt werden, wird alles Tugendhafte /dieser Welt
vernichtet werden. An Euch liegt es zu bezeigen, ob Ihr die menschliche sehen Institution erörter t, in der dies
her rsch t. -. �ll gemem �l
Stellung von einem Einverständnis
� ��
Art retten wollt<< (Kessel, 1969: 203). Insofern die Nation eine Gemein­
um �as W Ir m Fra ge ste en
schaft ist, verdankt sie ihren Bestand und ihre Autorität in der Hauptsa­ man, daß eine Diskussion nur wieder _
dig dialekusc? en C ara
r
che Traditionen von Namen und Erzählungen (Cashinahua-Exkurs). kann . eine Diskussion, die notwen
Diese Traditionen sind ausschließlicher Natur. Sie implizieren Grenzen
im Si�ne Kants besitzt, das heißt
mangels Beweise� o ne
Ideen han del t, bei den en de �
schluß bleibt da es sich hier ja um
und Grenzkonflikte. Ihre L_�ität hat der Idee der Menschheit
) nichts zu verdanken, alles aber dem Fortbestand der Erzählungen vom kei nen Ausschlag geben kan
n.
Ursprung, die in wiederholten Erzählakten weitergegeben werden . Rückgriff auf die Wirklichkeit
245
244
 ScENARI OS
DIE DISKURSART, DIE NoRM
lich d ie
. m d en I n teresse unterge.o rdnet, näm
Dieses Wir ':ird �it dieser präskriptiven Frage in seiner abstrak­ aber einem Ihm fre . . w zu sem) durchf"u h rbar zu
oberste Vorsehn'ft (re iCh ' frel �s ·
r ch den
[21 3] �en Allgememheit befragt, »wir Menschen<< , I aber es steht nicht
nitive Satz Wlr d auf d'lese W els e d u
·

m Frage, es wird als be�eits gelöst angenommen: im Schweigen machen. Der kog
et.
und durch das Schweigen, als nennbare Besonderheit, »wir präskriptiven zweckgericht
F ��nzosen<< . Wenn man das Sollen nur tief genug befragte,
wurde man Gefahr laufen, sich schon gleich zu Beginn darüber
;
212
n e
zu w�ndern, daß man Franzose sein solle. Denn man ist nicht
gebe nhei ten ein m al ermittelt, so wird eine
Sind die Ge laut et: as
ve�pfl�chtet; Franzose zu sein, das kann möglicherweise als ren kanonischer Satz
Wir��Ich�eit erwiesen werden, bestenfalls. (Oder man muß eine Diskursart erforderlich, de dur chau s an � lo g zu
verhält sich
LegitimatiOn vom Typ der Cashinahua einräumen; Cashinahua­ könn.ten. wir tun ? Dies er Satz dun gsk raft I (begnffslose [21 4]
� der Ein bil
demJ emgen, den Kant Idee
. ·

Ex urs). -: Also sollen >>wir<< von allem ein wenig sein, reich, . A ss oziationen
nge n, K UK . 1 90 ' 220) oder Freud freie · 1 · oner: . D'Ies
Ansc h auu ·
gleich, frei usw., und ganz und gar Franzosen : >>Wir<< sind es sdmarios oder S1mu au
bereits. nen nt· heu te nen nen wi
im
r sie
Irr eal is, den Kr ieg ssp ielen :.erg
�
leiC ba� :
sin d E rzä hlv org äng e
. ken Fl"uge1 angn'ffen? Dann w urde .
·
n wir sie
nn .
sie uns ere n 1m ..
We entwIckel-
l unseren rechten Flugel . .
21 1 umfassen, indem wir schnel chen,
n möglichen, wahrschemh
An das Was sollen wir sein? knüpft sich ein Was sollen wir tun ten. Es wird eine Vielfalt vo
ten ohne Rücksicht auf . �
� er n
u n: dies zu sein? (näml �c? Franzosen, reich, frei, gleich usw.): unwahrscheinlichen Geschich
vorwe �genomi?en, was
� unf ug
. Glaubwürdigkeit erzählt und m der
DI�se V�rkettung mod1f�z1ert den kanonischen Satz der prä­ der Sp1eltheone b � ste ht
sknptiv
.
, mt rrogatiVen D1skursart. Mit der Einführung von tun der Fall sein mag. Ein Teil Suche
Funktions �bla�fs, m der
� �
und um m d1e Frage des Sollens läßt sie dieses auf den Modus der Prüfung des entsprechenden
nomen ste w1rd der Ak zen �
t au
Hypothese einschwenken : Wenn du dies sein willst, mache das. nach seinen Regeln. Mit dem Pro gel egt . B�I
mehreren Gegnern
Und tun, das man mit dem Namen der Praxis tauft' besteht in den Konflikt mit einem oder vor a � die
s,
e und >>Praktiken<�
einer vorausplanenden Berechnung von Sätzen und ihren Wir­ diesen setzt man abstrakte Zweck von 1hnen
< liegen, selbst wenn sie
.
k�ngen, Ihrer �erkettung, die zum angestrebten Zweck führen symmetrisch zu den »unseren< men << (Nr . 1 81 ) .
um zu >>gewi�
konnte. Aber diese >>praktische<< Berechnung bliebe aus Mangel abweichen. Immer geht es dar enn am en m
.
der
sind durch E1g
ar: Na�en abstrakt, wenn sich hier in das deliberative Dispositiv Diese Sätze der Einbildungskraft er
.
g1b t, so
�
t : Wenn. es Ge� �
.
mcht eme �ndere D1skur� art unter dem Regelsystem eines ande­ möglichen Wirklichkeit veranke� � t rea lisie re � o ?� ­
it noch mc.
ren kanomschen Satzes emfügen würde : Wie ist es um die Mittel deswegen, weil sich die Menschhe !ta­
men gegrund�ten Legitim
bestellt? Der Zweck dieser Diskursart besteht in der Erkenntnis te und die auf Erzählungen und Na Ca shm ahu a-E xku rs,
r. 1 6 0 ;
der in Ern:ägung gezogenen Gegebenheiten aus dem Blickwin­ ten weiter gegenwärtig bleiben (N
.
kel ihrer Eignung als Mittel für den höchsten Zweck. Situations­ § 6).
a�alys �? · Verzeichnung der verfügbaren Kräfte, entsprechende
� ms ��atzung der Gegner und Verbündeten, Definitionen der 213
Je:Veihgen ! nteressen werden mittels Meinungsumfragen, Stati­ e fin­
ihrem eigentlicher: Sin�
.
stik�n, Indt:�Ie� und Informationen jeder Art abgewickelt. Man Die politische Beratschlagung in d1a lek t � . en
sch
gehorcht den.
.
er�uttelt Wirklichkeiten, der Einsatz dieser Diskursart gilt dem det in diesen seenarios statt. Sie em ,
scen arto . .Du
Ma n w1'der1egt
Wissen. Das technisch-szientifische Wissen von Fachleuten, und rhetorischen Diskursarten. des we gen Dle se · · ·
t, und zwar
Experten, Ratgebern und Beratern wird herangezogen, bleibt hast unrecht, oder: Er hat unrech
24 7
246

DIE DISKURSART, DIE NoRM
Debatten werden mit Argumentationen geführt, die den Ge­
sprächspartner zum Schweigen bringen sollen. Noch ein anderer
Zweck mischt sich darunter, nämlich ihn zu überreden, und ist
mit einer anderen Diskursart verbunden; Aristoteles nannte sie >>he­
ratschlagende« Rhetorik (Rhetorik, I, 3), die etwa im Abtausch
zweier Parteien im Parlament erscheint. Dort findet man die in
der Rhetorik (II, 24), der Topik und in den Sophistischen Wider­
legungen (passim) beschriebenen Argumente (Mym) und die in
der Rhetorik (II, 23) aufgezählten -r6rroL . Topoi, >>Plätze<< : Wäre
es nicht verbrecherisch, zu . . . ? , Ich klage x der . . . an. Schein­
bare Enthymeme : Da die Regierung von Kabul oder Salvador
Moskau oder Washington um Hilfe gebeten hat, ist die Präsenz
sowjetischer oder amerikanischer Truppen auf dem von Kabul
oder Salvador regierten Territorium ein Beweis für die Unab­
hängigkeit dieser Regierungen. In den modernen Demokratien
wird diese Diskursart wesentlich durch den Typus der >>Ge­
richts«-Rhetorik ergänzt, in der es gilt, nicht den Gegner,
sondern den Dritten, den Richter zu überzeugen. Dazu gehört
[21 5] die öffentliche Polemik, die Meinungskampagne, I die Propa­
ganda: Der andere hat unrecht, also habe ich recht; er ist eures
Vertrauens nicht würdig (man hat es auf das Ethos des gegneri­
schen Redners abgesehen), er bringt euch von euren eigentlichen
Zielen ab (man hat es auf das Pathos des Zuhörers abgesehen),
bei mir ist das (folglich) ganz anders.
214
Danach kommt die >>Entscheidung«, die >> Wahl« des scenario mit
seinem implizierten Zweck: die Resolution, das Programm, das
Abstimmungsergebnis, das Urteil des Richters. Dieses scenario
erbrin g� die am wenigsten schlechte Antwort (Prinzip des klei­
neren Ubels ; Nr. 197) auf die Frage nach Mitteln und Zwecken.
Dies ist das Urteil, der rätselhafteste Satz, der keinen Regeln
folgt, obwohl er scheinbar mit den Zwecken, den Gegebenhei­
ten, den Mitteln und den »Folgen« verkettet ist (Kant-Exkurs III,
§ 3). Er nimmt die Form von Resolutionen, Programmen, Ab­
stimmungen an.
248
-
DIE KLÜFTE ZWISCHEN DISKURSARTEN
215
Der Urteilssatz muß noch legitimiert werden, dies ist die Aufga­
be des normativen Diskurses, des Rechts im allgemeinen, des
Rechts des Rechts (des Verfassungsrechts) ; sodan? m �� er
rechtskräftig werden (durch Verordnungen, Urtetlsspru�he,
Gesetze, Erlasse), die Gesetzesmißachtungen müs � en schheß­
lich rechtmäßig verurteilt werden können (gesetzhche Festle­
gung von Vergehen und Strafen).
216
Dieses Dispositiv (Nr. 2 1 0-21 5) erscheint gänzlich paradox,
wenn man die Verkettung zweier Sätze prüft, die beide unter­
schiedlichen Regelsystemen gehorchen oder zumindest von u� ­
terschiedlichen Diskursarten zweckgerichtet werden. Etwa dte
Verkettung von Wir sollen und Wir können (Nr. 21 1 , 2 1 2 ; Kaut­
Exkurs II, § 2), die den Paralogismus des Wir schlecht verbirgt.
Oder die Verkettung Infolge von . . . (oder: In Erwägung
von . . . ) beschließen wir . . . , die die Tatsache verbirgt, daß der
Urteilssatz nicht restlos von Sätzen mit abweichenden Regelsy­
stemen, insbesondere kognitiven Sätzen, abgeleitet werden kann
(Kant-Exkurs III). Oder die Verkettung des normativen Satzes
mit der Präskription, die er legitimiert (Nr. 204-209).
217
Das Deliberative ist »Zerbrechlicher« als das Narrative (Nr. 2 1 9,
220, 230); es läßt die Klüfte gewahr werden, die die Diskursarten
und selbst die Satz-Regelsysteme I voneinander trennen und [21 6]
»das soziale Netz« bedrohen. Mit dem Deliberativen wird ein
tiefgreifender Zerfall der erzählten Welten vorausgesetzt und
verzeichnet. Die wissenschaftliche Diskursart etwa, deren kano­
nischer Satz kognitiver Natur ist, die Ermittlung von Wirklich-
keiten verlangt und damit deren potentielle Verflüchtigung im­
pliziert (Abschnitt: »Der. Referent«), nimmt darin eine Stellung
ein, die sie im Narrativen nicht besitzt. Vor allem aber wird die
Einheit der Diskursarten, aus denen das Deliberativ besteht, nur
unter der Bedingung garantiert (wenn man so sagen kann), daß
249
 DIE DrsKURSART, DIE NoRM
der kanonische Satz des Präskriptiven beantwortet wird: Was
sol!en wir sein ? Diese Frage wird im Narrativen nicht formuliert
(wrr sollen sei� , was wir sind, nämlich Cashinahua). Seine
�eantw?rtun � u�nerh �lb de� Deliberativen bleibt ungewiß und
emer Dralektrk (rm anstotelrschen oder kantischen Sinne) zwi­
schen Thesen und Antithesen unterworfen. Diese Dialektik
nimmt kein Ende, weil es sich um Ideen handelt, wenn nicht um
>>kosmologische<<, so doch wenigstens um >>anthropologische<< ;
oder, urr: n �ch einmal mit Kant zu sprechen, um »weltbürgerli­
che<<. Mrt emem Wort: Das Narrative ist eine Diskursart das
D �liberative eine lose Anordnung von Diskursarten, und ' dies
rercht aus, um das Vorkommnis und den Widerstreit darin
[2 1 7] sprießen zu lassen. I
250
-
Das Geschichtszeichen
218
Ein Satz, der Verkettungen herstellt und selbst weiter verket­
tet werden soll, ist immer ein pagus, Grenzland, in dem die
Diskursarten um den Verkettungsmodus kämpfen. Krieg und
Handel. Auf dem pagus wird die pax, der Pakt geschlossen,
dort werden sie wieder gebrochen. Der vicus, das home, das
>>Heim<< [i. 0 . dt.] stellt eine Zone dar, in der der Widerstreit
zwischen Diskursarten aufgehoben ist. >>Innerer<< Frieden
zum Preis von immerwährendem Widerstreit an den Rän­
dern. (In der gleichen Verfassung befindet sich das Ego, die
Selbst-Identifikation.) Dieser innere Frieden wird durch die
Erzählungen [recits] geschlossen, die die Gemeinschaft von
Eigennamen und damit sich selbst beglaubigen. Das »Volk<<
[i. 0. dt.] schließt sich wieder über dem >>Heim<< [i. 0 . dt.]
zusammen, es erkennt sich wieder in Erzählungen, die mit
Namen verknüpft sind und das Vorkommnis und den daraus
entstehenden Widerstreit vereiteln. Joyce, Schönberg, Cezan­
ne: pagani, die den Krieg zwischen den Diskursarten aus­
fechten.
219
Vielleicht ist die Erzählung diejenige Diskursart, i n der sich die
Heterogenität der Regelsysteme und selbst der Diskursarten am
wirkungsvollsten verg�ssen machen kann. Einerseits erzählt die
Erzählung einen oder mehrere Fälle von Widerstreit und gibt
ihm oder ihnen einen Zweck vor, eine Vollendung, die ihr
eigenes Ende bedeutet. Ihre Zweckmäßigkeit besteht darin, daß
sie ein Ende findet (eine seltsame Ausdrucksweise im Französi-
251
 DAS GESCHICHTSZEICHEN
sehen)':- . (Wie eine >>Partie« in einem Turnier.) Wann immer
auch �i_e Di<:gese _abbricht, wird ihr Ende bedeutungsvoll und
_
orgamstert ruckwtrkend die erzählten Ereignisse. Die narrative
Funktion wirkt durch sich selbst erlösend. Sie vermittelt den
Anschein, als ob sich das Vorkommnis - mit seiner widerstrei­
tenden Gewalt - vollenden könnte, als ob es ein letztes Wort
gäbe. Glückl�ch oder unglücklich in seiner Bedeutung - das
letz�e Wort 1st kraft seiner Stellung immer ein gutes Wort.
Ultzma verba, glücklich die Friedliebenden. Andererseits wird
[21 8] die Entfesselung des Jetzt I durch die Rekurrenz des Vorher/
Nachher gezähmt. Der Operator der Diachronie oder Sukzessi­
vität wird nicht wieder infrage gestellt, selbst wenn er moduliert
ist. Er »verschlingt« das Ereignis und den Widerstreit, den jenes
nach sich zieht. Die Erzählungen stoßen das Ereignis an die
Grenzen zurück.
220
- Der Mythos wäre »das mimetische Werkzeug par excellence<<,
er besäße »identifikatorische Kraft<< für eine vom Zerfall bedroh­
te Gesellschaft (Lacoue-Labarthe, 1980: 1 0 1-1 1 6). Der Natio­
n �lsozialismus hätte auf diese Weise die Mythologie der nor­
dtschen Völker aufgegriffen, umgearbeitet, hervorgebracht und
repräsentiert, um eine an ihrer »historischen Verspätung<<, an
der Niederlage und der Krise krankende deutsche Identität zu
retten (Nr. 1 57, 158). - 1 .) Die identifikatorische Kraft des
Mythos ist nicht diskutierbar. Sie läßt sich nicht als spiegelbildli­
che Repräsentation erklären: ein Kranker wird nicht wieder
gesund, wenn er sich im Spiegel betrachtet. Sie entwickelt sich
einzig aus den formalen Eigenschaften der narrativen Tradition,
die in einer invariablen Welt von Namen verankert ist in der
nicht nur die Helden, sondern auch die Erzähler u�d ihre
Zuhörer fixiert und austauschbar und folglich als solche jeweils
und wechselseitig identifizierbar sind (Nr. 1 60; Cashinahua­
Exkurs). - 2.) Als Werkzeug kann der Mythos nur von einer
Instanz ergriffen werden, die nicht narrativ-mythischer Natur
,,_ Frz. fin bedeutet sowohl »Ende<< als auch »Zweck<< (A. d. Ü .).
252
CASHINAHUA
ist. Was man den nationalsozialistischen Zynismus nennt. Der
Mythos ist dann jenes Monster: eine ar�� aische moderne �oli�ik,
eine Politik der Gemeinschaft als Pohuk der Menschhett, eme
Politik des realen Ursprungs als Politik der idealen Zukunft. -
3.) Wenn »mimetisch<< im Sinne von nachahmend, repräsentativ
verstanden wird, hat gerade der Mythos nichts damit zu tun.
Wenn !ll!ll]OLt; (mimesis) bedeutet (Lacoue-Labarthe, 1 975 :
242-243, 245, 246), daß sich die Darstellung niemals darstellen
kann (Nr. 1 1 9, 124-127, 1 3 1 ), so verdeckt der Mythos, der eher
eine Diskursart ist, deren Einsatz in der Neutralisierung des
»Ereignisses<< beim Erzählen, in der Aneignung des gänzlich
Fremden, in der Repräsentation der Darstellung besteht - so
verdeckt also der Mythos die Mimesis, insofern er sie bestätigt.
CASHINAHUA
1 . »Bei den Cashinahua wird jede Wiedergabe eines miyoi (Mythos,
Märchen, Sage oder überlieferte Erzählung) mit einer I feststehenden [21 9]
Formel eröffnet: »Dies ist die Geschichte von . . ., wie ich sie stets
vernommen habe. Ich werde sie euch nun meinerseits erzählen, hört
also!<< Und dieser Vortrag schließt unabänderlich mit einer anderen
Formel, die lautet: »Hier endet die Geschichte von . . . Der sie euch
erzählt hat, heißt . . . [Cashinahua-Name], bei den Weißen . . . genannt
[spanischer oder portugiesischer Name}< (Andn!-Marcel d'Ans, 1978:
7). Der Ethnologe erzählt uns Weißen, wie der Märchenerzähler der
Cashinahua seinen Cashinahua-Zuhörern die Geschichte eines Cashi­
nahua-Helden erzählt. Der Ethnologe ist dazu imstande, weil er selbst
ein (männlicher) Cashinahua-Zuhörer ist. Er ist dieser Zuhörer, weil er
einen Cashinahua-Namen trägt. Ein Ritual legt mit strikten Benennun-
gen den Geltungsbereich der Erzählungen und ihre Rekurrenz fest. Alle
darin enthaltenen Sätze sind auf den in der Namen-Welt der Cashina-
hua benannten und nennbaren Instanzen sozusagen festgenagelt. Jedes
von jedem dieser Namen dargestellte Universum, ganz gleich welchen
Regelsystems, bezieht sich auf diese Namen-Welt. Der oder die Helden
und die dargestellten Orte, der Empfänger und schließlich der Sender
werden peinlich genau benannt.
2. Die Personennamen werden in einem geschlossenen System mit drei
Variablen verteilt: den Geschlechtern, den Generationen und den
»exogamen Hälften<<. Zwei männliche >>Hälften<<, zwei weibliche
»Hälften<< und in jeder zwei Altersklassen (gleich alt mit dem Ego oder
253

DAS GESCHICHTSZEICHEN
älter und jünger) ergeben zusammen acht »Verwandtschafts<<-Grup­
pen. A.-M. d'Ans schreibt: >>So betrachtet haben die exogamen Ehe­
schließungen die explizite Funktion, die Namen weiterzugeben, von
denen jede Hälfte - die weibliche wie die männliche - zwei begrenzte
und unveränderliche Bestände besitzt, die zwei sich abwechselnden
Generationen entsprechen<< (ibid.: 35). Die >>Verwandtschaften<< sind
also einzig aus dem Namenssystem ableitbar, ohne Berücksichtigung
der Blutsverwandtschaft und der Heirat; Ihr Personenname (und sei es
ein Adoptivname) ordnet Sie also einer der acht Gruppen zu und setzt
Sie so in definite Bezüge zu allen anderen Cashinahua ein, und zwar der
Namensgruppe eines jeden entsprechend: verbindliche Sätze, erlaubte
Sätze, geduldete Sätze, verbotene Sätze. Die fraglichen Vorschriften
beziehen sich nicht nur auf die Sprache, auf das Großziehen von
Kindern und die Sexualität, sondern auch auf alles, was Sie singen,
jagen, kochen, anbauen usw. können.
3. Diese Reglementierung ist bloß prinzipieller Natur. In Wirklichkeit
wird sie nicht buchstabengetreu befolgt. Die Verpflichtung betrifft die
Verteilung des Namensbestandes und die regelmäßige Rekurrenz dieser
Namen über die Generationen hinweg. Dank ihrer begrenzten Anzahl,
-ihrer Beharrlichkeit (Starrheit) und ihrer Verteilung konstituieren sie
allein die Identität der Gemeinschaft. So gibt es beispielsweise kein I
[220] sexuelles Tabu im eigentlichen Sinne . Die irregulären Heiraten,
die Konkubinate sind zahlreich. Die dabei geborenen Kinder werden
genauso wieder verteilt, indem man die Namensregeln der regulären
Gruppen anwendet. Und sollte es geschehen, daß das Kind aus einer
regulären Eheschließung grundsätzlich und unterschiedslos den Na­
men der väterlichen oder mütterlichen Gruppe erhalten könnte, so wird
die endgültige Zuteilung ausgehandelt. Die Kinder dieses Paares wer­
den etwa abwechselnd der einen und der anderen Gruppe zugeschrie­
ben werden. >>Wenn diese Verhandlung kein Ende nehmen sollte, kann
es dabei zur Abtreibung oder gar zum Kindsmord kommen: wenn
dieses Kind keinen Namen besitzt, ist es nichts und kann nicht leben<<
(ibid.: 38). Die Menschen sind benannt oder sind nicht.
4. Um die Erzählungen zu vernehmen, muß man benannt worden sein.
(Alle männlichen Individuen und die Mädchen vor der Geschlechtsreife
können zuhören.) Um sie zu erzählen, ebenfalls (nur die Männer sind
dazu berechtigt). Und ebenfalls, um erzählt (Referent) werden zu
können (ausnahmslos jeder Cashinahua ist dazu in der Lage). Aber das
Namenssystem erzeugt nicht die Erzählungen, kann sie nicht erzeugen,
es ist zeit-los (die Generationen werden dort nur als Altersklassen
berücksichtigt) und in sich selbst insignifikant, insofern die Benennun-
254
CASHINAHUA
gen keine Beschreibungen sind (Nr. 5 7, 66, 69, 74-77, 81). Indem der
Erzählakt die Namen in Geschichten einbettet, schützt er die starren
Designatoren der gemeinschaftlichen Identität vor den Ereignissen des
>>Jetzt<< und vor der Gefahr seiner Verkettung. Benannt zu werden
bedeutet, erzählt zu werden. Unter zwei Gesichtspunkten: Jede Erzäh­
lung sogar scheinbar anekdotischer Natur reaktualisiert Namen und
nominale Bezüge. Mit der Wiederholung der jeweiligen Erzählung
versichert sich die Gemeinschaft der Beharrlichkeit und der Legitimität
ihrer Namenswelt, und zwar auf dem Wege der Rekurrenz dieser Welt
in ihren Geschichten. Und andererseits geben manche Erzählungen
ausdrücklich Geschichten der Namensgebung wieder. So ist etwa der
Ursprung der »exogamen Hälften<< selbst Gegenstand der achten Er­
zählung in der Sammlung von A.-M. d'Ans; die Herkunft der Roa
Bake-Gruppe, einer der männlichen Hälften, wird in der neunten
Erzählung berichtet. Diese Erzählungen haben besonderen Wert, weil
sie keine Geschichte, in die ein oder mehrere Namen eingebettet sind,
erzählen, sondern die Entstehungsgeschichte der Namen selbst.
5. Die Erfindung der Nacht (Erzählung 1 7) : »Zu jener Zeit hatten
unsere Leute keine Nacht, um sich auszuruhn. Sie hatten wohl [ . . .].
Aber wie ihr wißt [. . . ]. Unsere Ahnen waren recht verärgert darüber,
daß sie nicht schlafen konnten [ . . . ]<< (ibid.: 1 85). Der >>aktuelle<<
Erzähler wendet sich an seine Zuhörer und erzählt ihnen von den
Altvorderen. Diese Erzählung wird (in der französischen Fassung . . . )
in erlebter Rede [style indirecte libre] erzählt: Die Rede der Alten wird
>>transponiert<<, um I die Taxinomie Genettes anzuwenden (1972 : 1 92 ; [22 1]
Beispiel: »j'allai trouver ma mere: il me fallait absolument epouser
Albertine«). Diese Spielart der narrativen >>Distanz<< bewirkt, daß die
Rede nicht eindeutig diesem oder jenem Sender zugeschrieben werden
kann: unsere Ahnen waren recht verärgert, sage ich euch; oder: unsere
Ahnen waren recht verärgert, sagten sie (sich)? Die Erklärung, die die
Erzählung präludiert (>>Dies ist die Geschichte [. . . ]. Ich werde sie euch
erzählen [. . .}<) markiert (ebenso wie die abschließende) in der gesam-
ten nachfolgenden (oder vorangehenden) Erzählung ganz deutlich die
>>aktuelle<< Erzähler-Instanz. Die Empfänger aber, >>von der Geschichte
ergriffen<< (wie man hier wohl sagen kann), haben es wahrscheinlich
vergessen (oder werden es tun). Vor allem hat der Erzähler erklärt, diese
Geschichte selbst >>Stets vernommen<< zu haben. Wenn dies jeder Erzäh-
ler immer erklärt hat, wäre die Geschichte also seit der Zeit der Alten
ohne Unterbrechung weiter erzählt worden, und jene Alten waren, zur
selben Zeit wie die Helden, die ersten Erzähler. Es gäbe also im Prinzip
nur einen chronologischen Abstand zwischen dem aktuellen Erzähler
und den Alten. Die erlebte Rede gibt diesen Zusammenschluß der
255
 DAs GESCHICHTSZEICHEN
extradiegetischen Instanz (des aktuellen Erzählers) mit der intradiegeti­
sche� �den �lten) präzise wieder, eine Verdichtung, die diese Art von
Tr�dit!Onsbild�ng charakterisiert. Das in illo tempore der mythischen
Zelt unterscheidet sich nicht von der Zeit, in der der Erzählakt stattfin­
det. Sonst würde dieser jegliche Autorität einbüßen. Eine >>Metalepse«
(Platon-Exkurs, § 5), die durch die Stetigkeit der Eigennamen autori­
siert wird, ermöglicht den Übergang von der Zeit des Tages zu der
Nacht der Zeiten.
6. Wenn man positiv nach dem Ursprung der Tradition oder der
Autorität bei den Cashinahua fragt, so sieht man sich mit dem Parado­
xon konfrontiert, das diesen Fragen üblicherweise innewohnt
(Nr. 203). Ein Satz wird nur dann autorisiert, so denkt man, wenn sein
Sender Autorität besitzt. Was geschieht, wenn die Autorität des Sen­
ders der Bedeutung des Satzes entspringt? Indem der Satz den Sender
legitimiert, den sein Universum darstellt, legitimiert er sich selbst beim
Empfänger. Der Cashinahua-Erzähler schöpft die Autorität zum Er­
zählen seiner Geschichten aus seinem Namen. Sein Name aber wird
durch seine Geschichten autorisiert, insbesondere jene, die die Na­
mensgenese erzählen. Dieser circulus vitiosus ist verbreitet (Nr. 203).
(Marin entdeckt ihn auch in der Historiographie Ludwigs XIV. : sie
dient dazu, dessen Macht zu legitimieren, während diese letztere
wiederum die Geschichte autorisiert, die vom Historiographen des
Königs erzählt wird; cf. Marin, 198 1 : 49-1 07).
7. Man möchte sagen: ein Mahl von Geschichtchen. A.-M. d'Ans
spricht bei den Cashinahua, die er eher als »Laien« darstellt, nicht von
Opfern. Könnte man aber sagen : was gewöhnlich nicht in Form von
[222] Geschichtchen genießbar ist und keinen Platz in I den Universen
narrativer Sätze findet, alles in allem die Reste des Mahls - eben dies
wird geopfert? Ich will damit sagen: das Vorkommnis, das Ereignis, das
nicht in die Sagen aufgenommen wird, würde im eigentlichen Sinne
sublimiert, ins Element der Luft verwandelt: Rauchschwaden der
Opferfeuer, Flüchtigkeit der Schamanengeister. Auf diese Weise würde
die Grenze der integrierenden Kraft des Erzählakts und der Benennung
anerkannt. Was sich somit verflüchtigt, ist die Unbestimmtheit. War­
um sollte dieser Teil verfemt sein? Das Opfer erkennt den Widerstreit
an, der vom Erzählakt nicht verdaut wird und sich seiner entledigt.
8. Wie läßt sich der Grenzkrieg verstehen (Clastres, 1 977), wenn man
v?n ?iesem Dispositiv integrierter Sätze ausgeht? Als Opfer, das auch
hier J 7nem entscheidenden Rest von Unbestimmtheit zugebilligt wird,
der die Welt der Erzählungen - konstitutiv für die Welt der Ethnie -
256
CASHINAHUA
umgibt? Hier aber auf andere Art. K? nnte m�n sa� en, daß d as Opfer
_
_ em
das Vorkommnis verdrängt, es akzeptiert und mtegnert, wie Traum
mit einer »Wunschregung<< verfahren kann? (In Ermangelung von
Opfern geben sich die Männer der Cashinahua dem gemeinschaftlichen
Genuß von Ayahuasca, einer starken Droge, hin.) Daß aber der Krieg
das Vorkommnis an den Rändern des narrativen Korpus, das den
sozialen » Körper<< bildet, ausschließt, wie die Paranoia die »Wunschre­
gung<< von außen, als Wirklichkeit wiederkehren läßt?
221
Modern wäre es, die politische Frage, die Frage nach den
Verkettungen, nach Maßgabe des Menschen zu stellen, ohne
(grundsätzlich) auf die Legitimation durch Namen und Erzäh­
lungen zurückzugreifen? - Durch Erzählungen im Sinne von
Mythen, Märchen und Gerüchten zumindest. Aber die narrative
Form besteht weiter fort, sie unterliegt der gleichen Sublimie­
rung wie der Held der Geschichte : da er nicht mehr ein Cashina­
hua, sondern der Mensch ist, erzählt sie entsprechend nicht
mehr >>kleine Geschichten«, sondern die Geschichte. Die klei­
nen Geschichten sammelten und vergaben Namen. Die große
Geschichte bezweckt die Auslöschung der Namen (Partikularis­
men). Am Ende der großen Geschichte wird es bloß noch die
Menschheit geben. Ihre einzelnen Namen werden überflüssig
geworden sein, sie werden höchstens die Stationen eines Kreuz­
wegs bezeichnet haben (Hegel-Exkurs, § 3). Dieser Universalis­
mus und diese reine Teleologie sind nicht klassisch im Sinne der
Antike, sondern modern im Sinne des Christentums. Die >>Ge­
schichtsphilosophien<< werden im B anne einer erlösenden Zu-
kunft erfunden. (Der Kapitalismus selbst, der keine I Ge- (223]
schichtsphilosophie besitzt, verhüllt seinen >>Realismus« unter
der Idee einer Emanzipation von der Armut.)
222
Eine nicht-kosmopolitische (>>wilde<<) Erzählung entwickelt sich
anband von Sätzen wie Zu diesem Zeitpunkt, an diesem Ort
geschah es, daß x usw. Die Frage der kosmopolitischen Erzäh­
lung lautete : Wenn dieses x, dieser Zeitpunkt und dieser Ort
257

DAS GESCHICHTSZEICHEN
Eigennamen sind und sie hypothetischerweise zu Namenswel­
ten und spezifischen >>wilden« Erzählungen gehören - wie kön­
. ist immer möglich (jeder mögliche »Gegenstand« kann - wenn er
ner: diese letzteren in eine einzige Namensweh und in eine
u �uversale Erzähl�ng �herführt werden? - Die Frage mag unsin­
. Erkenntnissatz-Universums situiert werden), ergrbt aber kei­
mg erschemen : Smd diese Gemeinschaften nicht menschlich? ­
Nein, sie sind >>Cashinahua« und nennen sich Gemeinschaft der
»wahren Menschen<<, wenn nicht mit Ausnahme der anderen, so
doch wenigstens im Unterschied zu ihnen (D 'Ans, 1978 : 1 1-13).
Das Band, das von diesen Erzählungen um die »Cashinahua<<­
Namen gewebt wird, ergibt schließlich eine »Cashinahua«­
Identität. Wenn diese bereits menschlich im Sinne von kosmo­
politisch wäre, enthielte sie nicht den Ausschluß der anderen
Gemeinschaften oder wenigstens den Unterschied zu ihnen, und
die Universalgeschichte der Menschheit bestünde in der bloßen
Ausdehnung der spezifischen Erzählungen auf alle menschli­
chen Gemeinschaften.
223
Man wird sagen, daß die Erzählungen, denen eine »wilde<<
Gemeinschaft entspringt, »bereits<< und »trotz allem<< kosmopo­
litische »Tragweite<< besitzen. Man muß ihnen nur eine imma­
manente Mehrdeutigkeit zugestehen : sie stellen dar, was sie
darstellen (die Welt der »Cashinahua<<), sie stellen aber auch dar,
was sie nicht darstellen (die Welt des »Menschen<<). - Dagegen
gibt es keinen Einwand. Die Frage bezieht sich auf die Verket­
tung: Welche Diskursart beherrscht die Verkettung der »Cashi­
nahua«-Erzählung mit einem Satz, der eine Welt des »Men­
schen« identifiziert, die einer Universalgeschichte angehören
würde ? Unbezweifelbar hat diese Diskursart selbst »bereits<< die
menschliche Universalgeschichte als Referenten, um an die »wil­
den<< Erzählungen - indem sie sie in diese Geschichte einbettet­
anknüpfen z� können. Diese Verkettung kann man als »Projek­
.
tiOn« kennzeichnen. Ich möchte sie lieber petitio principii nen­
nen. We:m die Geschichte der Cashinahua zugleich die Univer­
salgeschichte der Menschheit mit-darstellt so deshalb weil sie
�
in einer Diskursart dargestellt wird, die ein� Universal eschich­
[224] te I der Menschheit voraussetzt. Diese Diskursart läßt Varianten
zu. Die eindeutigste und Ȋrmste<< besteht darin, die Geschichte
258
ABENDLAND UND » WILDE«
der Cashinahua auf die Referenz-Instanz von Sätzen der histori­
schen (oder anthropologischen) Erkenntnis zu plazieren. - D as
.
dem kognitiven Diskurs genügt - auf der Referenz-! nstanz em� s
nerlei Beweis dafür, daß diese historische (oder anthropologi­
sche) Erkenntnis der Erzählung der Gemeinschaft - über den
ununterbrochenen Fortgang einer Universalgeschichte der
Menschheit hinweg - ursprünglich in dieser Erzählung erzeugt
wurde. Nun wird aber diese »Erzeugung<< vom Begriff der
Universalgeschichte verlangt.
224
In der »armen« Variante ist die Beziehung des anthropologi­
schen Historikers zu den Cashinahua (des Abendlandes zu den
>>Wilden<<) nur »epistemologischer« Natur. Die »archaische<<
Erzählung wird zum Gegenstand einer Diskursart, der Diskurs­
art der Erkenntnis, die ihren eigenen Regeln folgt und die zu
verhandelnde >>wilde<< narrative Diskursart nur zitiert, wenn
diese Regeln nach Beweisen (nach Fällen, das heißt Beispielen)
für eine Behauptung über den »Wilden« verlangen. Die Hetero­
genität zwischen der kognitiven Diskursart und ihrem Referen­
ten, der >>wilden« narrativen Diskursart, steht nicht außer Zwei­
fel (und vereitelt keineswegs die Erkenntnis). Zwischen ihnen
besteht eine Kluft. Dem Wilden widerfährt also ein Unrecht mit
der Tatsache, daß er und seine Normen auf diese Weise »er­
kannt«, das heißt nach Kriterien und in einem Idiom beurteilt
wird, denen und deren »Resultat« er nicht unterliegt (Hegel­
Exkurs). Der Spieleinsatz der wilden Erzählungen ist nicht mit
dem Einsatz der Beschreibungen dieser Erzählungen identisch.
225
Der Historiker der Menschheit wendet ein, daß die epistemolo­
gische Verkettung nicht der universalgeschichtlichen Diskursart
entspricht. Er beruft sich auf eine »reichere<< Verkettungsvarian­
te (Nr. 2 1 4). Die angenommene Mehrdeutigkeit der Welt, die
die »Cashinahua<<-Erzählung darstellt, ist, wie er sagt, dieser
259

DAS GESCHICHTSZEICHEN
Erzählung wesentlich. Erkennbar wird sie nur, wenn sie erst
einmal entfaltet ist. Dann ermöglicht der vollständig freigelegte
B egriff, den sie enthielt, sie rückwirkend zu erkennen. Dieser
B egriff aber, fügt der Historiker hinzu, war darin impliziert,
[225] >>wie die Form der Eiche in der Eichel angelegt ist<<. Das I
Symbol ist nicht der Begriff, >>gibt<< aber >>Zu denken auk -Man
erkennt die spekulative Diskursart oder eine ihrer Spielarten
(insbesondere die Hermeneutik) wieder. Sie verlangt die Annah­
me eines Selbst, das weder dem Cashinahua noch dem Histori­
ker entspricht, sondern der Bewegung einer Entität, deren Ge­
staltungen sie sind. Diese dürfen nicht isoliert werden. Der
Mensch ist diejenige Entität, die nur im Verweis dieser Momente
auf seinen Zweck identifiziert werden kann (wie die Bedeutung
einer Kameraeinstellung im Film von ihrer Einbettung in eine
Sequenz und die Bedeutung der Sequenz von der Anordnung der
Einstellungen abhängt). - Die Regeln dieser >>reichen<< Verket­
tung sind die der spekulativen Diskursart (Hegel-Exkurs), ange­
wandt auf die historisch-politischen Realitäten.
226
Die Universalgeschichte der Menschheit müßte in der narrativen
Diskursart erzählt werden. Wie jede Erzählung schritte sie
anband von Sätzen fort wie Zu diesem Zeitpunkt, an diesem Ort,
geschah es, daß x, usw. Im Unterschied aber zur wilden Erzäh­
lung müßte die Onomastik von Personen, Orten und Zeitpunk­
ten ebenso wie die Bedeutung des berichteten Ereignisses von
allen Empfängern der universalen Erzählung akzeptiert werden
(und sie müßten ihrerseits sogar zu den Sendern gemacht werden
können, insofern ein derartiger Spieleinsatz von der narrativen
Diskursart verfolgt wird: die Rekurrenz der Erzählung), und
zwar ohne Ansehung der Gemeinschaft, zu der diese Empfänger
gehören. Die Empfänger müßten also selbst >>universal<< sein.
Wenn man der vorangehenden petitio principii (Nr. 223) entge­
hen will, die in dieser Form wiederkehrt, ginge es also - damit
die Geschichte der Menschheit erzählt werden könnte - darum,
ausgehend von den >>wilden<< (>>nationalen<<), besonderen und
vielfältigen Erzählern und Zuhörern einen universalen >>mensch­
heitlichen<< Erzähler und Zuhörer zu erzeugen.
260
STARKE UND SCHWACHE D ISKURSARTEN
227
kan� si�h nich t
Die Verallgemeinerung der n ��rati':en Insta nze� .
smd f':rema nder
konfliktlos vollziehen. Die Uberheferungen .
1 undurchsichtig. Die Bege gnun g zwis ch� �
n wei Gern emsehaften
Namen und
stellt unmittelbar einen Konflikt dar, weil sich deren
ahme , des
Erzählungen jeweils ausschließen (Prinzip der Ausn
). Der Ko� -
Stolzes und der Eifersucht der Nam en ; Nr. 93, 1 5 1
flikt entspringt nicht einem Sprachprob�em,
jede Sprac h� 1st
übersetzbar (was nicht verhindert, daß �1e Spr� chunt ersch �ede
gelegentlich zur Verschärfung des Konfhkt.s � e1tr � gen � . Er � st I [226]
p JeWeil s d1e gle1ch e
ebenso kein Widerstreit, da die Disku rsart
bleibt : der Erzäh lakt. Folgli ch ist er ein Recht sstreit bez ?. gl � ch
der Name n von Zeitpunkten, Orten , Person en und bezug heb
der Bedeu tungen und Referenten, d �e si�h a� diese. Name
n
heften (dieser Ort, diese Frau, dieses Kmd smd mcht dem). Aber
der Rechtsstreit findet kein Gericht, vor dem er dargestellt,
verhandelt und entschieden werden könnte. Denn dieses Ge-
richt müßte bereits >>universal<<, menschheitlich sein, über ein
(internationales) Recht verfügen usw. (Und nic? ts "':äre zu
diesem Zeitpunkt mit der Bemerkung getan, daß �1e Umversal­
geschichte dieses Gericht sei, außer daß das. . Ur.teil vom »Lauf«
der Wirklichkeit gefällt würde; wenn man na�hch da� End.e der
Zeiten abwartet, wird keine Zeit mehr für em Urteil ble1ben )
(Protagoras-Exkurs; Nr. 1 7, 1 50). Man sagt, daß ?tärke e�lt­
scheidet. Worin aber besteht diese Stärke, wenn es s1ch um eme
Entscheidung zwische n Sätzen handelt ? Gibt es starke Sätze
oder Diskursarten und andere, schwache (Nr. 23 1 ) ?
228
Sie behaupten (Nr. 227), daß es zwischen � wei besondere�
Erzählungen keinen Widerstreit, sondern emen Rechtsstreit
gibt, weil sie beide der gleichen Diskursart angehören und ;om
gleichen Spieleinsatz bestimmt werden. Um � o zu urte1len,
.
haben Sie folglich die in diesen Erzählungen erzahlt� n beson� e­
ren Geschichten (Diegesen) unterschlagen und d1e narra� 1ve
Form isoliert die Sie hier und dort für identisch erklären. Diese
Unterscheid �ng ist das Werk einer Diskursart, der >>kritischen<<
261
 DAS GESCHICHTSZEICHEN
Prüfung, die nicht narrativer Natur ist. Indem Sie die Existenz
eines Rechtsstreits erklären, haben Sie bereits von einem >>uni­
versalen<: Standpunkt aus geurteilt, vom Standpunkt der Analy­
� e der .Diskursarten. Das Interesse, das von diesem Standpunkt
ms Spiel gebracht wird, entspricht nicht dem der Erzählakte.
Auch Sie tun ihnen unrecht. Deren Spieleinsatz liegt nicht, wie
bei Ihnen, in der Selbsterkenntnis der >>Sprache<<, sondern in der
Verkettung des Vorkommnisses (Nr. 2 1 9). - In der Tat ist die
Prüfung von Diskursarten nur eine Diskursart, sie kann nicht die
Politik vertreten. Daß der Philosoph die Herrschaft über Sätze
innehätte, wäre ebenso Unrecht wie in den entsprechenden
Fällen des Juristen, Priesters, Redners, Märchenerzählers (epi­
schen Dichters) oder Technikers. Es existiert keine Diskursart,
deren Hegemonie über die anderen gerecht wäre. Der - schein­
bar metasprachliche - philosophische Diskurs ist selbst (ein
Diskurs zur Erforschung seiner Regeln) nur dadurch, daß er
weiß, daß es keine Metasprache gibt. Dadurch bleibt er volks-
[227] tümlich, humoristisch (Nr. 208). I
229
Gerecht ist sicherlich, daß das >>Volk<< die Herrschaft über die
Sätze übernimmmt, wenn es stimmt, daß das >>Volk<< die Ge­
samtheit von Sendern, Empfängern und Referenten der Prosa
ist, die weder eine Diskursart noch selbst eine Art von Sprache,
sondern die Masse von Sätzen aller Regelsysteme und Verket­
tungen aller Diskursarten (Dichtung inbegriffen) ist. - Diese
Regierungsform jedoch nennt man Demagogie, man kann beob­
achten, daß das Volk sich widerspricht, bekriegt und vernichtet,
daß es leichtfertig ist und der Meinungsmache erliegt. - Nicht
das Volk ist wankelmütig, sondern >>die Sprache<<. Bei jedem
Vorkommnis wird die Kontinuität des Satzes, der geschieht, mit
den vorangehenden bedroht und der Krieg der Diskursarten um
die Nachfolge eröffnet. Vielleicht ist Prosa unmöglich. Einer­
seits wird sie vom Despotismus, andererseits von der Anarchie
in Versuchung geführt. Der Verlockung des ersteren erliegt sie,
) indem sie sich zur Diskursart aller Diskursarten aufwirft (die
· Prosa der Volksherrschaft), und der Verlockung der letzteren,
indem sie nur ein regelloses Konglomerat aller Sätze zu sein
262
DAS PRIVILEG DES NARRATIVEN
sucht (die Prosa des Vagabunden, Gertrude St�in?). A � er die
_ _
Einheit der Diskursarten oder ihr Nullpunkt smd unmoghch.
Die Prosa kann nur in deren Vielfalt und in der Vielfalt von deren
Widerstreit bestehen.
230
In den Erzählungen wird die Vielfalt der Satz-Re� elsystem� � nd
Diskursarten abgerundet und der Widerstreit neutralisiert
(Nr. 220). Ein Privileg des Narrativen besteht in der Verzah­
nung des Mannigfaltigen. Eine Diskursart, die scheinbar alle
anderen gelten lassen kann (es gebe, sagt Marx, eine Geschichte
von allem). Es besteht eine Affinität zwischen Volk und Erzäh­
lung. Der volkstümliche Umgang mit der Sprache ergibt die
kleine, entritualisierte Geschichte. Klein, weil sie ganz den Satz­
Regelsystemen und dem Widerstreit entspricht, den die volks­
tümlichen Erzählungen nicht zu beseitigen, sondern nur zu
neutralisieren versuchen. Sie widersprechen sich. Sie kompri­
mieren sich in widersprüchlichen Maximen, Sprichwörtern,
Moralen. Die Weisheit der Nationen liegt nicht nur in ihrem
Skeptizismus, sondern auch im >>freien Leben<< der Sätze und
Diskursarten. Daran stößt sich_ der (klerikale, politische, wirt­
schaftliche, informationstechnische) Unterdrücker auf die Dau-
er. Die Prosa ist das Volk der Geschichtchen. I [228]
231
Weieher Satz ist >>Stärker<< (Nr. 227), ein narrativer oder ein
kritischer? Der arische Mythos oder die Philosophie Kants ? Eine
direkte Antwort setzt folgendes voraus : >>Die Sprache<< wäre eine
Einheit, es gäbe nur ein einziges Interesse, die Stärke einer
Diskursart würde sich daran bemessen, ob ihr Spieleinsatz dem
Interesse der Sprache mehr oder weniger nahekommt. Doch die
Diskursarten sind inkommensurabel, jede besitzt ihr eigenes
>>Interesse<<, die >>Stärke<< eines Satzes bemißt sich nach Diskurs­
regeln, derselbe Satz ist stark oder schwach je nach Spieleinsatz.
Darum ist es legitim, daß das schwächste Argument das stärkste
sein kann : Die Regeln der entsprechenden Diskursart haben sich
geändert, es handelt sich nicht mehr um den gleichen Einsatz.
263
 DAS GESCHICHTSZEICHEN
Aristophanes sieht nicht, daß der Einsatz der Sophisten und des
Sokrates nicht dem seiner volkstümlichen Überlieferung ent­
spricht. Der >>ironische« Satz ist schwach innerhalb der Tradi­
tion und umgekehrt (Platon-Exkurs § 1). Die Sprache besitzt
nicht eine einzige Zweckmäßigkeit, oder - sollte sie eine besitzen
- so ist sie nicht bekannt. Ganz so, als ob es >>die Sprache« nicht
gäbe.
232
Von zwei Erzählungen zumindest, die derselben Diskursart
angehören, kann die eine zu recht für stärker als die andere
befunden werden, wenn sie dem Ziel der Erzählungen näher
kommt: nämlich an das Vorkommnis als solches anzuknüpfen,
indem sie es bedeutet und sich referentiell auf es bezieht. Die
christliche Erzählung hat in Rom die anderen Erzählungen
besiegt, weil sie den Spieleinsatz der Diskursart selbst bezeich­
nete, indem sie die Liebe zum Vorkommnis in die Erzählungen
und die entsprechenden Erzählakte einführte. Wie ein Geschenk
lieben, was geschieht, selbst das Geschieht es? als das Verspre­
chen einer frohen Botschaft lieben - dies ermöglicht die An­
knüpfung an alles, was geschieht, die anderen Erzählungen
eingeschlossen (und später selbst die anderen Diskursarten). Als
Hauptoperator der exemplarischen Erzählakte und Diegesen ist
die Liebe das Gegenmittel zum Prinzip der Ausnahme, das die
traditionellen Erzählungen begrenzt. Die Autorisierung zu er­
zählen, zuzuhören, erzählt zu werden entspringt nicht einer
Teilhabe an einer Welt von Namen, die selbst aus Ur-Erzählun­
gen hervorgegangen wären, sondern einem Auftrag zu universa­
ler Zuneigung : Liebet einander, ein Auftrag, der für alle Helden,
Erzähler und Zuhörer gilt. Dieser Auftrag wird durch die (selbst
liebevolle) Offenbarung einer Ur-Geschichte autorisiert, in der
[229] man erfährt, daß der Gott der Liebe von seinen I Kindern nicht
genügend geliebt wurde, mit all dem Unglück, das darauf folgte.
Die Autorisierung bleibt ihrer Form nach - wie in den Erzählun­
gen - zirkelhaft, erstreckt sich aber auf alle Erzählungen. Die
Verpflichtung zur Liebe wird vom göttlichen Absolutum ver­
fügt, wendet sich an alle Kreaturen (die nichts anderes als ihre
Empfänger sind) und wird transitiv (in einem eigennützigen,
264
FROHE B oTSCHAFT
weil konditionalen Sinne): wenn du geliebt wirst, schuldest du
Liebe: und nur wenn du liebst, wirst du geliebt werden.
233
Kraft des Liebesgebots können alle Ereignisse, die bereits in den
Erzählungen der Ungläubigen und Andersgläubigen erzählt
wurden, als ebensoviele Vorzeichen des neuen Auftrags wieder­
erzählt werden (synoptische Tafeln der beiden Testamente).
Und es werden nicht nur die narrativen Instanzen verallgemei­
nert, sondern es wird auch das Vorkommnis problematisiert.
Der christliche Erzählakt erzählt nicht nur das bereits Geschehe­
ne und legt somit eine Traditionslinie fest, sondern schreibt
zugleich die caritas für das künftige Geschehen - gleich welcher
Art - vor. Dieser Auftrag gibt den Erzählern und Zuhörern auf,
dem Ereignis entgegenzugehen und daraus die Erzählung zu
gestalten und zu realisieren, als ob sie die Geschichte einer
Liebesgabe erzählte. Jeder Referent wird als das Zeichen der
frohen Botschaft bedeutet werden können, die verkündet, daß
>>wir«, die Kreaturen, geliebt werden.
234
Soweit es sich um eine Ethik handelt, bedarf die Verpflichtung
jedoch nicht der Autorität eines Senders, sondern gerade des
Gegenteils. Ihr Spieleinsatz lautet: Soll ich dies? Man antwortet
dem Verpflichteten, daß Gott dies wolle. Er fragt: Ist das
wirklich sein Wille ? Man antwortet, er habe es zu Beginn erklärt.
Der Verpflichtete: Dies aber empfinde ich nicht jetzt, ich ver­
nehme nicht, was die befugten Exegeten der Heiligen Schriften
vorschreiben, ich empfinde die Verpflichtung zu einer anderen
Handlung (der Prozeß der Jeanne d 'Arc). Der Verdacht gegen
die Idiolekte motiviert nicht nur die Hexenprozesse, sondern
bereits die Aufnahme der Prophetenbücher und später den
Widerstand gegen die Reformation. Seinerseits aber verdächtigt
der Verdächtige die Autorität der Tradition. Dem Glauben der
Liebesgeschichten setzt er den Glauben der Verpflichtungszei­
chen entgegen. Diese Verpflichtung aktualisiert sich nur als
Gefühl des Verpflichteten (Stimme des Gewissens, Achtung für
265
 D AS GESCHICHTSZEICHEN
[230] d �s Moralgesetz). I Die Autorität des Auftrags zur Liebe wird
mcht notwendigerweise infrage gestellt, wohl aber der Erzähl­
modus, der dessen Legitimation wiederholt. Das Urteil, man
n:üsse dies tun, weil jenes bereits vorgeschrieben war, bedeutet
eme Herausforderung an das Vorkommnis und an die Verant­
wortlichkeit des Empfängers ihm gegenüber. Die Zeit, auf die
sich die freie Gewissenserforschung beruft, betrifft nicht das
Vorher/Nachher, sondern das Jetzt. Die narrative Politik wird
erschüttert, ihre Art, das Ereignis aufzunehmen und zu neutrali­
sieren, die Austauschbarkeit von Sendern, Empfängern und
Helden (Referenten), die konstitutiv für die Gemeinschaft wirkt
usw. Das deliberative Dispositiv, das den Wettstreit der mannig­
faltigen Diskursarten in sich aufnimmt, um das Ereignis zu
bedeuten, und dem Urteil über die Tradition Vortritt gewährt,
hat größere Affinität zur Verpflichtung als zur Erzählung (die
den Status eines fiktiven scenario einnimmt; cf Nr. 2 1 0, 217).
235
Die Verpflichtung kann keine Universalgeschichte erzeugen,
noch selbst eine besondere Gemeinschaft. Die Liebe kann -
gestützt durch die Erzählung, die sie autorisiert - eine Universal­
geschichte als Fortschritt in Richtung auf die Erlösung der
Kreaturen erzeugen. Ohne den Gedanken der Erlösung (die
Erzählung der anfänglichen Autorisierung, die das Ende, den
Zweck festlegt) besteht die Liebe in der profanen Universalge­
schichte fort, und zwar in Form der republikanischen Brüder­
lichkeit und der kommunistischen Gemeinschaft. Die Mensch­
heit besteht nicht aus Kreaturen auf dem Weg zur Erlösung,
sondern aus Einzelwillen auf dem Weg ihrer Emanzipation. Die
Autorisierung wohnt nicht einem Ursprungsmythos inne, son­
dern einer Idee, die ihre Zweckmäßigkeit auf die Sätze überträgt
und die Möglichkeit bieten muß, den Widerstreit zwischen den
Diskursarten zu schlichten. Das Hindernis aber, auf das diese
von der Idee der Freiheit geleistete Zweckorientierung stößt,
besteht in der Form »nationaler<< Namen und Traditionen fort,
die in die volkstümliche Prosa eingewebt sind. Die Völker bilden
kein Volk, weder ein Volk Gottes noch ein souveränes Volk von
Weltbürgern. Niemals gibt es eine einzige Welt, sondern nur
266
KANT IV
Welten (von unterschiedlichen Namen und Erzählungen). Der
Internationalismus kann die nationalen Welten nicht meistern,
weil er die kleinen volkstümlichen Erzählungen nicht episch
fassen kann, er bleibt »abstrakt« : er muß die Eigennamen auslö-
schen (wie etwa Marx versuchte, den Namen Elsaß-Lothringens
im Streit zwischen französischen und deutschen Sozialisten von
1 870 auszusondern). Selbst das kommunistische Epos der Ar­
beiteremanzipation spaltet sich I in national-kommunistische [23 1 ]
Epen auf. Unter den nationalen Erzählungen gibt e s keinen
Widerstreit (außer wenn eine davon die Vorherrschaft einer
anderen Diskursart verbirgt: die erste französische Republik
gegenüber dem Österreichischen Kaiserreich) ; zwischen der Idee
der Freiheit aber und den legitimierenden Erzählungen ist der
Widerstreit unvermeidlich.
KANT IV
1 . Die historische Wissenschaft
Auf historisch-politischem Feld wie anderswo besteht die Wirklichkeit
im Gegenstand, zu dessen Begriff man Anschauungen, die Erscheinung
darstellen kann. Bedingt und als Bedingung bilden sie darüber hinaus
eine diachrone Reihe, die die Geschichte der Menschheit konstituiert.
Diese Reihe ist nicht in der Anschauung gegeben, sie ist Gegenstand
einer Idee und fällt unter die Bestimmungen der gleichen Antithetik wie
die kosmologische Reihe schlechthin. Gewiß ist die Verstandeserkennt­
nis, das heißt der deskriptive Satz im Zusammenhang des wissenschaft­
lichen Diskurses, für die einzelnen Sequenzen der Reihe immer mög­
lich, für die dort Darstellungen in der Anschauung angegeben werden
können. Definitionsgemäß aber müssen diese Sequenzen bedingender
und bedingter Elemente regelmäßig sein, sich folglich wiederholen, und
daraus ließe sich kein Werden gewinnen, sei es Fortgang, Rückgang
oder ewige Wiederkehr durch Stillstand (Streit mit der juristischen
Fakultät, § 3 ) Der Satz, der die Wiederholung innerhalb der Reihe
.
bedeutet- ob diese nun Gegenstand einer aufsteigenden oder absteigen­
den Synthese ist - ist also unter der Bedingung gerechtfertigt, daß die
ihm entsprechenden Gegenstände in der Erscheinung dargestellt wer­
den. »[D]er Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter anderen seiner
Gattung lebt, einen Herrn nötig hat. [. . .] Aber dieser ist eben so wohl
ein Tier, das einen Herrn nötig hat<< (Idee zu einer allgemeinen Ge­
schichte in weltbürgerlicher Absicht: >>Sechster SatZ<<). »Der Mensch
verabscheut die Sklaverei, es bedarf aber neuer Sklaverei, um die erste
267
 D AS GESCHICHTSZEICHEN
aufzuheben<< (zitiert nach Vlachos, 1962 : 92). Oder auch, um die
Hoffnung auf einen Fortschritt durch Erziehung zu widerlegen: >>Da es
aber doch a�ch die Menschen sind, welche diese Erziehung bewirken
. der ganzen Reihe aller künftigen W eltveränderungen, so 1st diCses em
sollen, m1thm solche, die dazu selbst haben erzogen werden müs­
sen . . . << (Streit, § 10). Die Regelmäßigkeiten sind nicht ausschließlich
e�pirische G �setze; sie können statistisch ermittelt werden (Idee zu
emer allgememen Geschichte: >>Einleitung<<), wodurch der apriorische
Charakter der Kategorien evident gemacht wird, die - nämlich Kausali­
tät und Wechselwirkung - zur Synthese der Gegebenheiten in Reihen
dienen.
Bei Kant steht der kognitive Satz - mit seinem Doppelkriterium
der Stichhaltigkeit bezüglich der Negation (Prinzip des Wider­
spruchs) und bezüglich der Darstellung in der Anschauung - allge­
mein den leeren Hoffnungen, den falschen Versprechen, den Pro­
[232] phezeiungen gegenüber. I Angewendet wird dieser Satz, um das
Recht auf Aufstand zu widerlegen und die gewaltsame Ablösung der
alten Macht durch eine neue zu verurteilen. Das Argument lautet
wie folgt: Die Existenz des >>gemeinen Wesens<< ist der Referent eines
kognitiven (verstandesmäßigen), oder besser: objektiv-teleologischen
Satzes (Zweckmäßigkeit bei den Lebewesen). Die Nähe dieses Ge­
meinwesens zum Guten wird durch einen subjektiv-teleologischen
Satz entschieden (moralische Zweckmäßigkeit bei den Vernunftwesen).
Die Revolution bricht ein existierendes Gemeinwesen auf; es muß
zwangsläufig durch ein anderes ersetzt werden (Naturgesetz). Die He­
terogenität der beiden Satz-Familien wird nicht modifiziert. Die re­
volutionäre Politik beruht auf einer transzendentalen Illusion inner­
halb des politischen Gebiets: sie verwechselt den Darstellungsgegen­
stand eines kognitiven Satzes mit dem Darstellungsgegenstand eines
spekulativen und/oder ethischen Satzes; das heißt Schemata oder
Beispiele mit Analoga (Kant-Exkurs III). Das Fortschreiten eines Ge­
meinwesens in Richtung auf Verbesserung läßt sich nicht nach em­
pirischen Anschauungen, sondern nach Zeichen beurteilen (Theorie
und Praxis; Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf
usw.).
Im Falle der absteigenden Reihe kommt zur Schwierigkeit, der
man bei der Synthese der aufsteigenden Reihe begegnete (ihre Totali­
tät und ihr Anfang sind keine Anschauungsgegenstände), eine weitere
hinzu: nämlich die Verkettung der Wirkungen, die noch nicht einge­
treten sind und für die man - wie für die Ursachen - keine Doku­
mente präsentieren kann. Und noch schlimmer: man kann anneh­
men, daß die Synthese der absteigenden Reihen (das heißt der künfti­
gen Erscheinungen) nicht einmal eine spekulativ-transzendentale Idee
verlangt. Die Antinomie des Unbestimmten stellt das Problem des
268
KANT IV
Anfangs der kosmologischen Reihen, nicht ihres Endes. In der ers:��
Kritik schreibt Kant: >>[W]enn wir uns von der absoluten Totahtat
einer solchen Synthesis (des progressus) eine Idee mach�n, z: B. v� n
Gedankending (ens rationis), welches nur willkürlich gedacht, und
nicht durch die Vernunft notwendig vorausgesetzt wird<< (KR V: 338).
Wiewohl es wichtig wäre, verhandeln wir hier nicht das Verhältnis
zwischen einer Idee (Begriff ohne Anschauung) und einem Gedan­
kending, einem leeren Begriff ohne Gegenstand, wie es auf der letz­
ten Seite der Analytik der ersten Kritik untersucht wird (KRV: 307).
Spekulativ betrachtet finden wir zumindest in der kosmologischen
Zeit vor uns nichts vor, weder als Gegenstand noch selbst als faßba­
ren Begriff.
Zu diesen Einschränkungen der Darstellung des theoretischen Sat­
zes über die menschliche kosmologische Reihe kommt eine l�tzte
hinzu, die Kant mit einiger Feierlichkeit in seinem Aufsatz >>Uber
den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie« (1788 b)
hervorhebt, und zwar im Zusammenhang mit der Natur. Man muß,
sagt er, unterscheiden I zwischen der Beschreibung der Natur und [233]
ihrer Geschichte, der Physiographie und der Physiogonie. Diese bei-
den Bereiche sind »ganz heterogen<<, wobei die Naturbeschreibung
»in der ganzen Pracht eines großen Systems<< erscheint, während die
Naturgeschichte >>nur Bruchstücke, oder wankende Hypothesen<<
aufzeigen kann, mehr ein >>Schattenriß<< als »im Werk ausführbare
Wissenschaft (in welcher für die meisten Fragen ein Vacat angezeich-
net gefunden werden möchte)<< (1788 b : 143). (Folgt eine lange Apo-
logie Kants durch Kant [gegen Forster] über das Thema: ich habe
peinlichste Sorgfalt darauf verwendet zu verhindern, >>die Grenzen
der Wissenschaften ineinander laufen zu lassen<< ; 1 788 b: 1 43-1 50).
Es handelt sich hier gleichwohl um die in Richtung der Anfänge der
Geschichte der Welt absteigende Synthese. Wenn dort Vacat-Stellen
leerbleiben müssen, so versteht man warum: man müßte dem kogni-
tiven Satz Anschauungen für alle in die Reihe einbegriffenen Einzel­
existenzen präsentieren können. Hier genügt nicht einmal das Bei-
spiel und noch weniger das Schema. Das Erfordernis der Darstellung
setzt der Empfindung sehr hart zu (es bedarf der Belege für alles),
und doch ist die Reihe lediglich eine Idee! Dasselbe gilt für eine
Anthropogonie.
Kurz, was den kognitiven Satz betrifft: er hat nicht viel über die
Geschichte auszusagen, die durch den kritischen Richter validiert
werden kann. In Wirklichkeit ignoriert er das historisch-politische
Feld, weil er der Regel der intuitiven Darstellung verhaftet bleibt.
Bleiben viele andere mögliche Satzfamilien. Ihre Darstellungsregeln
269
 DAS GESCHICHTSZEICHEN
sind untersch!edlich. M �� darf erwarten, daß hier die Analogie oder,
noch allgememer, der »Ubergang<< am Werk ist.
2. Der Leitfaden
Die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht
(1 7 84) umreißt die Natur des Diskurses über das historisch-politische
Feld folgendermaßen: Wenn man sich an die unmittelbare Anschau­
ungsgegebenheit hält, ist die politische Geschichte ein Chaos. Sie
erregt >>Unwillen<<, da sie nahelegt, daß dies beklagenswerte Spekta­
kel einer >>Zwecklos spielenden<< Natur entspringt, so daß >>das trost­
lose Ungefähr<< an die Stelle des >>Leitfadens der Vernunft<< tritt (Er­
ster Satz). Nun ist es im Sinne der Kritik nicht richtig, beim ver­
drießlichen Gedanken an das trostlose Ungefähr, das heißt bei der
Feststellung des Unsinns stehenzubleiben. Warum? Die Enttäuschung,
die die Feststellung begleitet, ist selbst ein Zeichen. Die Vernunft ist
das Vermögen der Ideen, insbesondere der Idee der Freiheit. An ihr
liegt es, sich zu realisieren (ansonsten bleibt das moralische Gesetz
wirkungslos). Andererseits ist die Annahme erlaubt, daß die Natur die
menschliche Art mit Anlagen ausgestattet habe, die mit dem Gebrauch
der Vernunft verwandt sind. Wenn die Geschichte der Menschheit
nichts als Lärm und Raserei wäre, müßte man folglich zugeben, I daß
[234] ebendiese Natur, die dem Menschen die >>Keime<< zur Entwicklung der
Vernunft eingesenkt hat, ihm durch ihre Unordnung versagt, sie wir­
kungsvoll in der Wirklichkeit umzusetzen. Was sich widerspricht.
Anders gesagt gäbe es keinerlei möglichen Übergang zwischen dem
kognitiven Satz über die Geschichte, der deren Chaos konstatiert, und
dem spekulativen Satz, der deren Fortschreiten zur Freiheit hin ver­
langt.
Der kritische Wächter ist empfänglich für diesen gefühlsmäßigen
Einspruch. Er zitiert die beiden Parteien herbei, die eine, die sagt, die
menschliche Geschichte sei bloße Unordnung, und die andere, die ihr
einen geordneten Plan zuspricht, gefügt von einer voraussehenden
Natur. Der ersten schärft er ein: Wenn Sie sich an kognitive Sätze halten
und für jeden Satz dieser Familie Beispiele und Gegenbeispiele anfüh­
ren können, dann können Sie zu recht von Unordnung sprechen,
allerdings nur innerhalb genau bezeichneter Grenzen, die der Familie
kognitiver Sätze zum Thema Geschichte entsprechen. Und Sie können
daraus nur eine pragmatische Politik gewinnen, eine Politik der Um­
sicht, die sich, wie es im Entwurf >>Zum ewigen Frieden<< heißt, darauf
stützt, daß man >>von allen Regierungsarten [ . . . ] Beispiele des Gegen­
teils in der Geschichte<< hat. Sie werden nur ein >>politischer Moralist«
und kein moralischer Politiker sein (Zum ewigen Frieden: 233, 239-
240). Zur anderen Partei sagt er: Sie setzen die Idee einer natürlichen
270
- :�
KANT IV
Zweckmäßigkeit voraus, die ganz besonders in der Men�chheitsg�­
.
schichte wirksam ist und zu einem letzten, nur durch dre Frerhert
erfüllbaren Zweck führt (KUK: § 84). Sie artikulieren also nicht der
Regel der unmittelbaren Darstellung zufolg� , die den kognitiven S �tzen
entspricht, sondern gemäß der freic;n analogrschen Darst� llu�g, mrt �er
.
die dialektischen Sätze im allgememen verhaftet smd. Sre konnen srch
also auf gewisse anschaulich gegebene Erscheinungen berufen, die
jedoch in Ihrer Argumentation nicht den Rang von Beispiele� od�r
Schemata einnehmen können. Mit deren Verflechtung erhalten Sre kem
Gesetz mechanischer oder organischer Entwicklung, sondern nur einen
Leitfaden. Der - reflexive - Leitfaden schuldet, wie die Kritik der
Urtheilskraft erklärt, der Unterordnung der Anschauungen unter die
Begriffe nichts und hat von ihr, das heißt von der Regel des kognitiven
Satzes, nichts zu erwarten. Das sind zwei heterogene und kompatible
Satzfamilien. Derselbe Referent, irgendeine Erscheinung aus dem Feld
der menschlichen Geschichte, wird als Beispiel dienen können, um den
Gegenstand des Diskurses der Hoffnungslosigkeit darzustellen, aber
auch um als Bruchstück des Leitfadens den Gegenstand des emanzipa­
torischen Diskurses auf analogische Weise darzustellen. Und anhand
dieses Leitfadens wird man eine entsprechend republikanische Politik
gestalten und ein moralischer Politiker sein können (Streit: § 8 ; KUK:
§ 79, 8; Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Ab-
sicht: »Einleitung<<, Erster und Neunter Satz). I [235]
3. Die Begebenheit
Der Ausdruck Geschichtszeichen, der in § 5 des Streits mit der juristi­
schen Fakultät (1 795) verwendet wird, führt eine weitere Stufe in die
Vielschichtigkeit der >> Ü bergänge« ein, die beschritten werden müs­
sen, um das historisch-politische Feld in Sätze zu >setzen<. Die (also
gegen die juristische Fakultät gerichtete) Frage besteht darin, ob man
bestätigen kann, daß das Menschengeschlecht unaufhörlich zum Bes­
seren fortschreite und, wenn ja, wie das möglich sei. Die Schwierigkei­
ten mehren sich: Das Bessere, der Fortschritt, das Menschenge­
schlecht sind Gegenstände von Ideen, ohne mögliche direkte Darstel­
lung. Überdies handelt es sich um einen Satz, der sich referentiell auf
einen Teil der zukünftigen Menschheitsgeschichte bezieht, also um
einen Satz der »Vorhersagung<<, einen prognostischen. Kant unter­
scheidet ihn vom Satz des >>Weissagers«, indem er daran erinnert, daß
es (nach den Regeln kognitiver Sätze) keine direkte Darstellung des
Gegenstands dieses Satzes geben kann, da er sich auf die Zukunft
bezieht.
Für den erforderlichen Beweis wird man die Satzfamilie wechseln
müssen. Im anthropologischen Gebiet wird man nicht nach emem
271
 DAs GESCHICHTSZEICHEN
anschaulich >>Gegebenen<< suchen müssen, das immer nur den Satz,
der es beschreibt, validieren kann - vielmehr wird man nach dem
suche� müssen, was Kant eine »Begebenheit<< nennt, ein »Sich-Erge­
ben<< Im doppelten Wortsinn, ein Ausgeben (wie beim Kartenspiel),
wenn man so will (das Krakauer Manuskript, das die Idee zu einer
allgemeinen Geschichte vorbereitet, nennt es »Ereignis<< ; Krakauer
Fragment: 1 69, 1 72, 1 73); eine Begebenheit, die nur darauf >>hinwei­
sen<< und nicht »beweisen<< würde, daß die Menschheit fähig ist, so­
wohl »Ursache<< wie »Urheber<< ihres Fortschrittes zu sein. Genauer
gesagt muß, wie Kant erklärt, diese »Begebenheit<<, die sich in der
menschlichen Geschichte ergibt, auf eine derart beschaffene Ursache
hinweisen, daß das Vorkommnis ihrer Wirkung in Ansehung der Zeit
»unbestimmt<< bleibt: Die Kausalität durch Freiheit kann nicht den
diachronen Reihen der mechanischen Welt untergeordnet werden
(Kant-Exkurs II, § 4). Und ebendeshalb kann sie zu jeder Zeit (»ir­
gendwann<<, wiederholt das Krakauer Manuskript; Krakauer Frag­
ment: 1 69, 1 72, 1 73) in der Abfolge der Begebenheiten eintreten
(Streit: § 5).
Und das ist nicht alles: Diese »Begebenheit<< darf selbst nicht die
Ursache des Fortschritts, sondern nur sein (»hindeutendes<<) Indiz sein,
ein »Geschichtszeichen<<, Kant glossiert dieses Geschichtszeichen fol­
gendermaßen: »signum rememorativum, demonstrativum, prognosti­
con«, ein Zeichen, das erinnert, zeigt, vorhersagt. Die gesuchte »Bege­
benheit<< wird die Kausalität durch Freiheit auf die drei zeitlichen
Richtungen hin, die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft, »dar­
zustellen<< haben. Welches ist jenes rätselhafte, wenn nicht wider­
sprüchliche »Sich-Ergeben<< ?
[23 6] Man könnte damit rechnen, daß irgendeine große Tat I das gesuch­
te »Ausgeben<< wäre und die Macht der freien Kausalität bestätigen
würde. Doch ist die große Tat auch nur eine Gegebenheit, die sicher­
lich mehrere Lesarten zuläßt (den deskriptiven Satz, den dialekti­
schen Satz), damit aber nur ein mehrdeutiger Gegenstand ist, der
unterschiedslos an beiden Sätzen aufgegriffen werden kann. An die­
ser Stelle richtet sich die Forderung des kritischen Richters auf mehr
als den bloßen schlichtenden Vergleich, bis sie schließlich paradox
erscheint. Es genügt ihm nicht, die Partei des Determinismus und die
der Freiheit oder der Zweckmäßigkeit dank einer Übereinkunft, die
alle beide zufriedenstellen würde, Rücken an Rücken fortzuschicken,
er zwingt sie, gemeinsam und positiv ein Kondominium an der ge­
suchten Begebenheit auszuüben. Wenn nicht für die Erfahrung, so
doch zumindest in der Erfahrung gegeben, »ergeben<<, muß die »Be­
gebenheit<< ein Indiz zum Beweis für die Idee der freien Kausalität
sein. Mit ihr schließen sich nahezu die Ränder des Abgrunds, den
272
-
KANT IV
man zwischen dem Mechanismus und der Freiheit oder Zweckmäßig­
keit, zwischen dem Gebiet der sinnlichen Welt und dem übersinnli­
chen Feld zu überbrücken hat, ohne ihn jedoch zu beseitigen; und
dieser winzige Zwischenraum genügt, den vielleicht unbeständigen,
unbestimmten, aber spruchfähigen und selbst »beweiskräftigen<< Sta­
tus des historisch-politischen Bereichs zu fixieren. Man wird dan?
beweisen können, daß die natürliche Veranlagung der Menschheit
zum Gebrauch der spekulativen Vernunft sich tatsächlich realisieren
und man - ohne einen Irrtum befürchten zu müssen - in seiner
Geschichte einen ständigen Prozeß zum Besseren hin voraussagen
kann.
Wir haben, schreibt Kant, eine Begebenheit, die der Problemstellung
genügt. Es ist keineswegs eine große Tat, es sind nicht die Revolutio­
nen; »[e]s ist bloß die Denkungsart der Zuschauer, welche sich bei
diesem Spiele großer Umwandlungen [wie den Revolutionen] öffentlich
verrät, und eine so allgemeine und doch uneigennützige Teilnehmung
der Spielenden auf einer Seite, gegen die auf der anderen, selbst mit
Gefahr, diese Parteilichkeit könne ihnen sehr nachteilig werden, den­
noch laut werden läßt, so aber (der Allgemeinheit wegen) einen Charak­
ter des Menschengeschlechts im ganzen, und zugleich (der Uneigennüt­
zigkeit wegen) einen moralischen Charakter desselben, wenigstens in
der Anlage, beweiset, der das Fortschreiten zum Besseren nicht allein
hoffen läßt, sondern selbst schon ein solcher ist, so weit das Vermögen
desselben für jetzt zureicht.<< Die Revolution eines »geistreichen<< Volks
mag gelingen oder mißlingen, mag Elend und Greueltaten anhäufen -
sie findet dennoch, schreibt Kant, »in den Gemütern aller Zuschauer
(die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Teilneh.r:IUng
dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Auße-
rung I selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere, als eine [237]
moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann<<
(Streit: § 6).
4. Der Enthusiasmus
Der Enthusiasmus ist eine Modalität des erhabenen Gefühls. Die
Einbildungskraft versucht, eine unmittelbare, sinnliche Darstellung für
eine Idee der Vernunft (denn das Ganze ist ein Gegenstand der Idee,
etwa die Gesamtheit praktisch-vernünftiger Wesen) zu liefern, scheitert
jedoch daran und empfindet damit ihre Kraftlosigk�it, entdeckt aber
zugleich ihre Bestimmung, die darin besteht, ihre Ubereinstimmung
mit den Ideen der Vernunft durch eine passende Darstellung zu realisie­
ren. Aus diesem gestörten Bezug folgt, daß man - anstatt eines Gefühls
für den Gegenstand - ein Gefühl »für die Idee der Menschheit in
unserem Subjekte<< empfindet (KUK: § 25 ; § 27). In diesem Text ist das
273
 KANT IV
D AS GESCHICHTSZEICHEN
kann den Enthu­
von Kant ko �n:entierte Gefühl das der Achtung. Aber die Untersu­ noch unter der Erden ist usw. Diese s Gebo t allein
he Volk in seiner gesitt eten Periode für
chu �? gilt fur jedes erha?ene G �fühl, sofern es eine »Subreption«
. . siasm erklären, den das jüdisc
Völke rn verglich, oder
.
e ?thalt, da.s he1ßt sofe�n eme I ust1erung zwischen einem Objekt und seine Religion fühlte, wenn es sich mit anderen
mmed anism einflö ßt.« Und er fährt
emei? S �bjekt du:ch eme J ustlerung zwischen verschiedenen Vermö­ denjenigen Stolz, den der Moha
fort: »Ebendasselbe gilt auch von der Vorst ellung des moralischen
gen m emem Subjekt ersetzt wird.
Gesetz es und der Anlag e der Moral ität in uns« (ibid.) . Hinsic htlich
I � Falle des Erhabene� ist diese >>interne« Justierung eine Nicht­ Jensei ts des Darste llbaren dar­
Justierung. !m _lJnterschted zum Geschmack ist die Justierung des dieser abstrakten Darstellung, die das
. Einbild ungskr aft verlan gt, daß sie »unbeg renzt«
Erhabenen nchug, wenn s1e falsch ist. Das Erhabene enthält die Zweck­ stellt, wird von der
mäßigkeit einer Un7wec�mäßigkeit und die Lust einer Unlust: >>[D]ie se1.
ein
U:nlu.st Wlrd
. .
doch m Hmbhck auf die notwendige Erweiterung der Der Enthusiasmus, diese äußerste schmerzvolle Lust, ist
Gefühl saufwa llung, und als solche blind, und
E1�blldungskraft zur Angemessenheit mit dem, was in unserem Ver­ >>Affekt<<, eine starke
magen der Vernunft unbegrenzt ist, nämlich der Idee des absoluten er kann also, schreibt Kant, kein >>Wohl gefallen der Vernunft ver­
Ganzen, mithin die Unzweckmäßigkeit des Vermögens der Einbil­ dienen<< (ibid.). Er ist gar eine dementia, ein »Wahn sinn«, in dem
d�?�skraft für Vernunftideen und deren Erweckung doch als zweck­ die Einbildungskraft »zügellos<< ist. Wie er nun beschaffen ist, bleibt
maßtg vorgestellt. [. . .] der Gegenstand wird als erhaben und mit einer er sicher der »Schwärmerei<< vorzuziehen. Letztere ist ein »Wahn­
Lust aufgenommen, die nur vermittelst einer Unlust möglich ist« witz<<, eine insanitas, eine »Regellosigkeit<< der Einbildungskraft, ei­
(KUK: § 27). ne »Krankheit<<, »eingewurzelte brütende Leidenschaft<<, während
Der Einbildungskraft, und sei sie noch so erweitert, gelingt es nicht, der Enthusiasmus nur ein »vorübergehender Zufall<< ist, »der den
. gesundesten Verstand bisweilen wohl betrifft<< . Die »Schwärmerei<<
wird von einer Täuschung begleitet : »Über alle Grenzen der Sinn­
emen Gegenstand darzustellen, der die Idee validieren »realisieren•
könnt�. Daher die �nlust: die Unfähigkeit zur Darstellu� g. Welches ist
n�n d1e �ust, d1e d1ese Unlust dennoch überlagert? Eine Affinität in
. lichkeit hinaus etwas sehen«, das heißt eine Darstellung vermein Ü
en,
wenn keine geschieht; sie entspringt einem unkritis chen bergang ,
d1eser D 1skrepanz zu ent? ecken: selbst das, was sich in der Natur (die bar (über alle Grenzen der
.
menschhche �atur un� d1e natürliche Geschichte des Menschen einge­ der transzendentalen Illusion vergleich
schlossen, d�rm et:Va eme große Revolution) als sehr groß darstellt, ist Erkenntnis hinaus etwas erkennen). Der Enthusia smus seinerseits
noch, und w1rd es 1mmer sein, >>verschwindend<< klein >>gegen die Ideen sieht nichts oder besser: sieht, daß das, was man sehen kann, nichts
der Vernunft« (§ 26). Hier enthüllt sich nicht nur die unendliche ist, und bezieht es auf das Nicht-Darstellbare. Obwohl ethisch als
jeglicher Darstellung inkommensurable Reichweite der Ideen sonder� pathologisch verwerflich, ist der Enthusiasmus »[ä]sthetisch gleich­
auch die Best!mmung des Subjekts, »unsere<< Bestimmung, die darin wohl [ . . . ] erhaben, weil er eine Anspannung der Kräfte durch Ide-
besteht, daß eme Darstellung für das Nicht-Darstellbare geliefert wer­ en ist, welche dem Gemüte einen Schwung geben, der I weit mäch- [239]
[238] den muß und daß I folglich - wenn es sich um Ideen handelt - alles tiger und dauerhafter wirkt als der Antrieb durch Sinnesvorstellun-
Darstellbare überschritten wird. gen<< (ibid. ).
Der historisch-politische Enthusiasmus bewegt sich also am Rande
Der Enthusiasmus ist eine extreme Form des Erhabenen: Der Ver­
der Demenz, ist ein pathologischer Anfall und besitzt als solcher in sich
such zur Darstellung scheitert nicht nur und ruft die genannte Span­
keine ethische Gültigkeit, da die Ethik die Befreiung von jeglichem
nun� hervor, sondern er schlägt sozusagen um oder verkehrt sich, um
. 1m hö hsten Maße paradoxe Darstellung zu liefern, die Kant »eine motivierenden Pathos verlangt; sie läßt nur jenes apathische Pathos zu,
eme � das die Verpflichtung begleitet, die Achtung. Dennoch bewahrt das
bloß negative Darstellung« nennt, eine Art >>Abstraktion<< und kühn
enthusiastische Pathos in seiner vorübergehenden Entfesselung ethi­
als eine >>Darstellung des Unendlichen« kennzeichnet (KUK, Allgemei­
ne Anmerkung zur Exposition der ästhetischen reflektierenden Urtei­ sche Gültigkeit, es ist ein energetisches Zeichen, ein Tensor des »Wun­
sches<<. Das Unendliche der Idee zieht alle anderen Kräfte, alle anderen
le). Hier haben ..wir den unbeständigsten >> Übergang<< überhaupt, die
Sackgasse �ls ".Uber�ang«. Kant wagt es sogar, Beispiele dafür anzu­ Vermögen in sich hinein und erzeugt einen »Affekt« »der wackeren
Art<<, der das Erhabene kennzeichnet. Der » Ü bergang« findet, wie man
geben: » Vtelletcht gtbt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche
�er Juden als das Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen noch sieht, nicht statt, es ist ein in sich selbst übergehender » Übergang<<, und
Irgendein Gleichnis, weder dessen, was im Himmel noch auf der Erden sein Gang, seine Bewegung ist eine Art Bewegtheit, die auf der Stelle

274 275

DAS GESCHICHTSZEICHEN
t�itt, in der �ackgasse d �r lnkommensurabilität, über dem Abgrund,
. at des emztg en
eme >>Erschutterung«, Wie Kant schreibt, das heißt ein >>schnellwech­
selnde[s] Ab �toß �n und Anziehen ebendesselben Objekts« (KUK:
§ 27). Derart Ist dte >>Gemüts<<-Verfssung der Zuschauer der französi­
schen Revolution.
5. Die unbestimmte Norm und die menschliche Gemeinschaft
J?.ie ?roße.n Umwälzungen, die französische Revolution, sind grund­
� atzhch mc�t durch sich selbst erhaben. Als Gegenstand ähneln sie
Jenen (phystschen) Naturschauspielen, bei denen der Betrachter das
Erhabene empfindet, insofern diese Natur »vielmehr in ihrem Chaos
oder i� ihrer wildesten, regellosesten Unordnung und Verwüstung,
wenn steh nur Größe und Macht blicken läßt, die Ideen des Erhabenen
am meisten erregt<< (KUK: § 23). Am meisten wird das Erhabene
durch das Unbestimmte, die »Formlosigkeit<< bestimmt (§ 24): >>[D)as
Erhabene der Natur [ . . . ) kann ganz als formlos oder ungesta!t [ . . .)
betrachtet werden<< (§ 30); »keine besondere Form [wird] in dieser [der
Natur] vorgestellt [ . . .}< (§ 23). Ebenso muß es sich mit der Revolu­
tion und allen großen politischen Umwälzungen verhalten: Sie sind
formlos und ungesta!t in der historischen Natur des Menschen.
�thisch betrachtet können sie keinerlei Gültigkeit erhalten, sie fallen
Im G�genteil dem Verdikt des kritischen Urteils anheim, sie entsprin­
gen emer Verwechslung - der eigentlichen politischen Illusion - zwi­
schen der unmittelbaren Darstellung der Erscheinung des »Gemein­
wesens<< und der analogischen Darstellung der Idee des republikani­
schen Vertrags.
Die »Begebenheit<<, die Geschichtszeichen geben soll, darf nur vom
Zuschauerraum aus aufgefunden werden können, von dem aus das
Schauspiel der Umwälzungen betrachtet wird. Auf der Bühne, bei den
Schauspielern selbst sind die Interessen, die gewöhnlichen Leidenschaf­
[240] ten, das gesamte Pathos der I empirischen (psychischen, soziologi­
schen) Kausalität auf immer und unentwirrbar mit dem Interesse der
reinen moralischen Vernunft und dem Ruf der Idee des republikani­
schen Rechts verquickt. Umgekehrt können die Zuschauer, die auf
anderen nationalen Bühnen stehen - die wiederum den Zuschauerraum
?ilden und auf denen normalerweise der Absolutismus regiert -, nicht
m den Verdacht geraten, ein empirisches Interesse daran zu haben, ihre
Sy�pathie »öffentlich<< kundzutun, sie laufen sogar Gefahr, von ihren
�egte�ungen verfolgt zu werden. Das gerade garantiert den - zumindest
astheuscheu - Wert ihres Gefühls. Zu ihrem Enthusiasmus muß man
anmerken, daß er ein ästhetisches Analogon eines ungetrübten republi­
kanischen Eifers ist.
Ein zweites Argument zugunsten des Zuschauersaals kommt hinzu.
MNT IV
äre n!cht nur .au� die
Es ist möglich, daß die Hand lung der Revolution . .
politische Verfassung Frankreichs unter der !'-utont
lt, sonde rn � ogar auf
rechtens legitimen Herrschers, des Volks , abzte
dann dte gesam ­
den Staatenbund innerhalb eines Fried ensen twurf s, der
auf die franz ö­
te Menschheit betrifft. Denn och bleibt deren Hand lung hten
dische n Zusch auer betrac
sische Bühne beschränkt, und die auslän
sie >>ohne die mindeste Absic ht der Mitwi rkung << (Streit : § 6).
. Aber s ie ist
Die gewünschte >>Teilnehmung<< ist keine tatsächliche .
alle nationa­
mehr wert. Denn das erhabene Gefühl ist seiner seits über
e tiali­
len Bühnen hinweg verbreitet, es ist universal, zumin dest pot. �
univer sal wie etwa ein wohlg eform ter und vahdte rter
ter. Es ist nicht
gehen seine Besti mungs ­
kognitiver Satz; dem Urteil der Erkenntnis �
das erhabe ne Gefüh l regello s urteilt . Aber
regeln >>voraus<<, während
wie das Gefühl des Schönen besitzt es dennoc h ein a priori, zwar nicht
eine bereits allgemein anerkannte Regel, aber eine Regel, deren Allge­
meinheit erwartet wird. An diese schwebende oder unabgegoltene
Allgemeinheit appelliert das kritische Urteil . Kant nennt sie sensus
communis, das heißt, wie er schreibt, die >>Idee eines Gemeinsinns<<
(KUK: § 20-22, 40). Er präzisiert: >>Unter dem sensus communis aber
muß man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d. i. eines Beurtei­
lungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vor­
stellungsart jedes anderen in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt<<
(§ 40). Dieser gemeinschaftliche oder Gemeinsinn garantiert nicht,
>>daß jedermann mit unserem Urteil übereinstimmen werde, sondern
damit zusammenstimmen solle<<. Es ist eine >>bloße idealische Norm<<,
eine >>unbestimmte Norm<< (§ 22). Wenn der Enthusiasmus der Zu­
schauer eine beweiskräftige >>Begebenheit<< für den Satz darstellt, dem­
zufolge die Menschheit zum Besseren fortschreite, so liegt das darin
begründet, daß er als ästhetisch reines Gefühl einen Gemeinsinn ver-
langt, an einen Konsensus appelliert, I der bloß unbestimmter sensus, [241]
jedoch durchaus billig ist; eine gefühlsmäßige Vorwegnahme der Repu-
blik.
Die Unbestimmtheit dieser a priori im ästhetischen Urteil erwarteten
Allgemeinheit ist derjenige Wesenszug, dank dessen die Antinomie des
Geschmacks in der Dialektik der Urteilskraft aufgelöst wird (KUK:
§ 56 ff.) . Diese Urteilskraft darf sich nicht auf Begriffe gründen, andern­
falls ließe sich darüber disputieren - gibt die These zu bedenken. Sie
muß sich auf Begriffe gründen, andernfalls ließe sich nicht einmal
diskutieren, ob sie Anspruch auf Allgemeinheit erheben könnte - gibt
die Antithese zurück. Diese Antinomie wird gelöst durch die Einfüh­
rung des Konzepts eines »an sich unbestimmt[en] und zugleich unbe­
stimmbar[en}< Begriffs (§ 57). Der Erkenntnissatz verlangt die Darstel­
lung einer entsprechenden Anschauung: Der Begriff wird dann mittels

276 277
 D AS GESCHI CHTSZEICHEN K.ANT IV

desse n Bede utun g aber

d er ihm adäquate� Dars�ellung, des Schemas bestimmt. Umgekehrt läßt
. sprächspartner auf heterogene Weise .anknüpft,
.
steh der S �tz der astheusche u Urteilskraft >>gar nicht durch Anschau­ von beiden vollständig auszu formu lieren versu cht werden muß. Auf
Pflicht« gefordert,
ung« bestimmen, durch ihn läßt sich >>nichts erkennen mithin auch diese Weise wird die Mitteilbarkeit »gleichsam als
kein �eweis. für das Geschmacksurteil führen<< (ibid. ). und der Geschmack ist das Vermögen, das a prior i darüber urteilt
'
.
Im astheuscheu Satz gibt es - wie im spekulativen - einen transzen­ (ibid.). .. . .
be Stellung
dentalen Schein und eine entsprechende Illusion, die unvermeidlich,
. Der sensus communis nimmt somit in der Astheuk dtesel
igen Wesen in der Ethik.
aber mcht unauflösbar ist. Im theoretischen Gebrauch besteht die ein wie die Gesamtheit der praktisch-vernünft
priori sich bilden de Ge einsch aft, d �e sich
Illusion darin, die Gültigkeit des Kognitiven durch eine Darstellung Er ist ein Appell an die a �
der
der Anschauung über die Bestimmung des Satzes hinaus auszudehnen. ohne eine Regel unmitt elbare r Darste llung beurte tlt; k � rzum, .m
Im ästhetischen Gebrauch erklärt der kritische Wächter: Der ästheti­ moralischen Verpflichtung wird die Gemeinschaf t über dte Vermt ttlu �g
it eingefo rdert, währe nd dte
sche Sat� ist der Satz des Darstellungsvermögenspar excellence, besitzt eines Vernunftbegriffs, der Idee der Freihe
aber kemen Begriff, dessen sinnliche oder imaginative Anschauung Gemeinschaft von Sendern und Empfängern des Satzes über das Schöne
und
dargestellt werden könnte, er kann also kein Gebiet sondern nur ein unmittelbar, ohne die Vermittlung irgendeines Begriffes, einzig
�eld b�stimmen. Überdies bestimmt sich dieses Feid sozusagen nur allein vom Gefüh l aufgerufen wird, insofer n es a priori teilbar ist. Als
Geschmack ist es bereits vorhan den, noch nicht aber als vernün ftiger
m zweiter Instanz, reflexiv: nicht über die Kommensurabilität einer
Darstellung und eines Begriffs, sondern über die unbestimmte Kom­ Konsensus.
mensurabilität des Darstellungsvermögens und des Begriffsvermö­ Als »Begebenheit unserer Zeit<< gehorcht der Enthusiasmus also der
.
g�ns. Dtese Kommensurabilität ist selbst eine Idee, ihr Gegenstand Regel der ästhetischen Antinomie. Und das ist die widersprüchlichst.e
. aller Ä sthetiken, die des äußersten Erhabenen. Zunächst deshalb, weil
mcht unmittelbar darstellbar. Daraus folgt, daß die vom Schönen und
vom Erhabenen aufgerufene Universalität nur eine Idee der Gemein­ das Erhabene nicht nur interesseloses Wohlgefallen und ein Universal
schaft ist, für die niemals ein Beweis, das heißt eine unmittelbare ohne Begriff ist wie der Geschmack; darüber hinaus jedoch, weil es eine
Darstellung auffindbar sein wird, sondern nur mittelbare Darstel­ Zweckmäßigkeit der Gegenzweckmäßigkeit und eine Lust der Unlust
lungen. enthält - im Gegensatz zum Gefühl des Schönen, dessen Zweckmäßig­
In der Auflösung der dynamischen Antinomien, der Widerstreitfälle keit bloß zwecklos ist und dessen Lust sich dem freien Zusammenstim­
par excellence, geht es nicht nur um die Gültigkeit der miteinander men der Vermögen untereinander verdankt. Mit dem Erhabenen wagt
streitenden Sätze, sondern auch um die Situation der durch diese Sätze sich Kant sehr weit in die Heterogenität hinein, so daß die Auflösu ng
dargestellten Sender und Empfänger. In Anbetracht des ästhetischen der ästhetischen Antinomie für das Erhaben e schwieriger als für das
Gefühls fordert der Parteigänger der Universalität des Schönen einen Schöne erscheint.
Konsensus, wie er hinsichtlich des Wahren eingeholt werden kann;
[242) und sein Gegner I scheint mit dem Hinweis auf dessen Unmöglichkeit 6. Die Kultur
(da es keinen der ästhetischen Darstellung entsprechenden Begriff Um so mehr, wenn es sich um den Enthusiasmus handelt, der an den
gibt) auf jegliche Allgemeinheit zu verzichten. Die kantische Auflö­ äußersten Rändern des Erhabenen angesiedelt ist. Kant gesteht zu, daß
sung ?eruft sich auf das Gefühl selbst, das alle beide notwendigerweise die »Stimmung des Gemüts zum Gefühl des Erhabenen [ . . .] eine
empfmden, andernfalls könnten sie sich nicht über ihre Uneinigkeit Empfänglichkeit desselben für Ideen<< erfordere, daß das Gemüt emp­
verständigen. Dieses Gefühl belegt, daß ein Band von >>Mitteilbarkeit« fänglich für I oder reizbar durch Ideen sei (KUK: § 29). Und weiter [243)
zwischen ihnen existiert (KUK: § 40). Das Band des Gefühls kann unten: »Darum aber, weil das Urteil über das Erhabene der Natur [auch
nicht, wie es der eine wünscht, zum Gegenstand eines Begriffs gera­ der menschlichen Natur] der Kultur bedarf [ . . .], ist es doch dadurch
ten, ebensowenig aber ist das Gefühl die Abwesenheit eines solchen nicht eben von der Kultur zuerst erzeugt [ . . .] ; sondern es hat seine
�andes, wie sein Kontrahent behauptet. Dieses Band muß den Status Grundlage in der menschlichen Natur<< (ibid.). Diese Anspielung auf
e�nes Gefühls bewahren, während es zugleich danach strebt, sich in die Kultur wird im Paragraphen der Kritik der teleologischen Urteils­
emen ausdrücklichen Konsensus über seinen Motivationsgrund, die kraft, der sich auf den letzten Zweck der Natur bezieht, erhellt. Kant
Idee des Schönen, zu verwandeln. Der Satz des Geschmacks ist ein widerlegt hier - wie in vielen kleinen politischen Schriften - die These,
unentschiedener oder spannungsvoller Satz (Nr. 22), an den jeder Ge- daß dieser Zweck das Glück des Menschengeschlechts sein könnte und

278 279

------�-� � ---------�--.a����
 DAS GESCHICHTSZEICHEN
legt dar, ?aß �r nur in dessen Kultur liegt. »Die Hervorbringung
�er Taughchkelt. emes .
vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken
u� erhaupt (f?lghch in seiner Freiheit) ist die Kultur<< (KUK: § 83).
Dte Kultur 1st der letzte Zweck, den die Natur im Menschenge­
schlecht verfolgt, weil sie den Menschen für die Ideen >>empfängli­
cher<< macht, sie ist die Bedingung, die dem Denken Unbedingthei­
ten erschließt.
Im gleichen Paragraphen unterscheidet Kant zwischen der Kultur der
Geschicklichkeit und der Kultur des Willens und, innerhalb der erste­
ren, zwischen der materiellen und formalen Kultur der Geschicklich­
keit. Diese formale Entwicklung der Kultur der Geschicklichkeit nun
verlangt die Neutralisierung der Auseinandersetzungen unter den Frei­
heiten, und zwar auf der Ebene der Individuen und dank einer >>gesetz­
mäßige[n] Gewalt in einem Ganzen, welches bürgerliche Gesellschaft
heißt<< ; und wenn es den Menschen gelingt, dem Plan der natürlichen
Vorsehung zuvorzukommen, verlangt die Entwicklung der Kultur der
Geschicklichkeit dieselbe Neutralisierung, dieses Mal aber auf der
Ebene der Staaten und dank eines >>weltbürgerliche[n) Ganze[n]«, eines
Staatenbundes (§ 83). Auf diese Art und Weise läßt der Enthusiasmus,
der sich anläßlich der französischen Revolution öffentlich verrät, zu­
nächst weil er ein äußerstes erhabenes Gefühl darstellt, sodann weil
dieses bereits eine formale Kultur der Geschicklichkeit erfordert, und
schließlich weil sich an deren Horizont wiederum der bürgerliche und
vielleicht weltbürgerliche Frieden abzeichnet - deshalb läßt also dieser
Enthusiasmus selbst >>das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hof­
fen [ . . . ), sondern [ist] selbst schon ein solcher [ . . .], so weit das
Vermögen desselben für jetzt zureicht<< (Streit, § 6).
Nicht irgendein ästhetischer Satz also, sondern der des äußersten
Erhabenen kann »beweisen<<, daß sich die Menschheit in einem bestän­
digen Fortschritt zum Besseren hin befindet. Das Schöne reicht dazu
nicht aus, es ist nur ein Symbol des Guten. Weil es aber das affektive
Paradoxon ist, das Paradoxon nämlich, öffentlich und gemeinsam zu
erfahren, daß ein >>Formloses<< auf ein Jenseits der Erfahrung anspielt,
bildet das erhabene Gefühl eine >>Als-ob-Darstellung<< der Idee der
bürgerlichen oder gar weltbürgerlichen Gesellschaft, also der Idee der
Sittlichkeit, und zwar dort, wo sie doch nicht dargestellt werden kann:
[244] in der Erfahrung. I Auf diese Weise ist das Erhabene ein Zeichen.
Dieses Zeichen ist nur ein Indikator der freien Kausalität, besitzt aber
dennoch Beweiskraft für den Satz, der den Fortschritt behauptet, da die
zuschauende Menschheit bereits kulturell fortgeschritten sein muß, um
mit ihrer >>Denkungsart« der Revolution dieses Zeichen geben zu
können. Dieses Zeichen ist der Fortschritt in seiner gegenwärtigen
Verfassung, sofern Handeln möglich ist, wenn die bürgerlichen Gesell-
280
MNT IV
schaften der republikanischen Regierungsform noch fern sind, ebenso
wie die Staaten ihrem W eltbund.
Die Urteilskraft, wie sie in der kritischen Philosophie (bei Kant, der
den Streit der Fakultäten schreibt) am Werk ist, sieht im Enthusiasmus
der mit der Revolution sympathisierenden Völker ein Geschichtsze� ­
chen, weil er den Fortschritt der Urteilskraft der gesamten Menschheit
- als natürliche Art verstanden - belegt. Dieses Zeichen ist hinweisend,
wenn man es an der Elle der Darstellungsregel von Sätzen in der
historischen Erkenntnis mißt, ein bloßes Ereignis unter den histori­
schen Anschauungsgegebenheiten. Aber in der Familie der seltsamen
Urteilssätze ist es ein Beweis für den kantischen Satz, der den Fort­
schritt für gegeben hält, da er selbst jener (volkstümliche) Satz ist:
sicherlich >>ungesagt<<, aber öffentlich als prinzipiell teilbares Prinzip
und hinsichtlich einer >>abstrakten<< Gegebenheit ausgedrückt. Kants Es
gibt Fortschritt reflektiert nur das Es gibt Fortschritt der Völker, das von
ihrem Enthusiasmus notwendig impliziert wird.
Auf diese Weise kann Kant mit einiger Feierlichkeit fortfahren: »Nun
behaupte ich, dem Menschengeschlechte, nach den Aspekten und
Vorzeichen unserer Tage, die Erreichung dieses Zwecks und hiermit
zugleich das von da an nicht mehr gänzlich rückgängig werdende
Fortschreiten desselben zum Besseren, auch ohne Sehergeist, vorhersa-
gen zu können. Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte
vergißt sich nicht mehr<< (Streit: § 7). Kein Politiker (der Politiker der
Politik, den Kant den >>politischen Moralisten<< nennt) hätte >>derglei-
chen [. . . ] aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt<<, jenes
Vermögen zum Besseren in der menschlichen Natur, die der Enthusias-
mus aufgedeckt hat. Und dies konnte, fügt er hinzu, >>allein Natur und
Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlechte verei-
nigt, aber, was die Zeit betrifft, nur als unbestimmt und Begebenheit
aus Zufall verheißen<< (ibid. ). Die Zeitlosigkeit und das Unerwartete
erinnern an den auf notwendige und bestimmte Weise unbestimmten
Charakter des >> Ü bergangs<< zwischen Natur (der Revolution und des
pathologischen Aspekts des von ihr hervorgerufenen Gefühls) und
Freiheit (der Spannung I hin zur moralischen Idee des Unbedingtguten, [245]
die der andere, allgemeine und interesselose Aspekt des gleichen Ge-
fühls ist).
>>Es gibt Fortschritt<< - der kritische Wächter kann diesen Satz immer
dann legitimieren, wenn er ein Zeichen präsentieren kann, das als
Referent der Assertion dient. Aber er kann nicht sagen, wann sich
derartige >>Gegenstände<< darstellen werden, da die historischen Se­
quenzen, die eine Reihe bilden, dem Historiker nur (bestenfalls stati­
stisch regelmäßige) Gegebenheiten bieten, niemals aber Zeichen. Das
Historisch-Politische stellt sich der Assertion nur über Fälle dar, und
281
 DAS GESCHICHTSZEICHEN
diese wirken nicht als Beispiele und noch weniger als Schemata sondern
a�s k?mplexe H ypotyposen\ je komplexer, desto sicherer. Der volks­
.
t �mh�he Entl��srasmus angesichts der Revolution ist ein Fall, der den
hrston� ch-pohuschen Satz kraftvoll beglaubigt und folglich eine äu­
ßerst srchere Hyp.oty� ose ermöglicht. Und zwar aus einem einfachen
Grund: Er selbst I�t e�ne äußerst unwahrscheinliche Hypotypase (die
. Soziologen, des Ö konom en) ist, glaubt er die Forde rung des
Idee der Republik m emer »for?Ilosen« empirischen Gegebenheit wie­
. Proletariats zu verneh men, als den Gegen stand einer Idee, als ein
de:�rkennen). Was dre Geschichtsphilosophie angeht, die in einem
. Ideal der Vernunft, die emanzipierte arbeite nde Mensc hheit.
krmschen De�ken mcht zur Frage steht, so ist sie eine Illusion, geboren
. .
aus dem Schem, daß dre Zerehen Beispiele oder Schemata seien.
236
De: M arxism�s ist nicht zuende gekom� en, wi aber macht er
�
wer�er.� Marx Im Jahre 1 843 : >>In der Bildung emer Klasse mit
radtkalen !<-etten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft,
welche keme Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist eines
Standes, :-relcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre,
.
welche emen umversellen Charakter durch ihre universellen
Le�den besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt,
. Resultatslogik (Hegel-Ex kurs), die ein Selbst voraussetzt, ver­
:'eil kem besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an
�
1hr ver� bt �ir [ . . .}< (»Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphi­
�
losop Ie. Emleitung« : S. 1 81-1 82). Das Unrecht drückt sich im
Schweigen des G :fühls, im Leid aus. Es entspringt der Tatsache,
daß alle �a�z-�mversen und alle ihre Verkettungen einzig der
Zweckmaßigkei� des Kapitals (aber ist dies eine Diskursart?)
untergeordnet smd oder sein können und von ihr aus beurteilt
':'er�en. Diese Zweckmäßigkeit beansprucht Universalität, weil
Sie Sich aller Sätze bei? ächtigt oder bemächtigen kann. Das
Unrech�, das das Kapital den Sätzen zufügt, wäre also ein
�llge�emes l!,nre�ht. ? elbst wenn das Unrecht nicht allgemein
Ist (wi� aber laßt Sich dies beweisen, da es eine Idee ist?), muß das
schwei �same Gefühl, das einen Widerstreit anzeigt, gehört wer­
den. l_) Ie Ver�nt:vortung dem Denken gegenüber verlangt es.
Auf �Iese Wei� e Ist der Marxismus nicht zuende gekommen, als
.
[246] Gefuhl des Widerstreits. I
-.. Das heißt anschauliche Darstellungen (d. Ü. ).
282
-
DAS IDIOM DES KLASSENKAMPFES
237
Kapit al
Marx versucht das Idiom aufzu spüre n, das das vom
f, der
verursachte Leid einklagt. Im Leid und im Kla�se nkamp
ein Referent kognitiver Sätze (der Sätze des Histo rikers , des
Das Proletariat fordert den Komm unismu s, die freie Verket tung
von Sätzen, die Zerstör ung der Diskur sarten: das »gemei ne
Wesen« [i. 0. dt.]. Diese Zweckb estimm ung wird durch Ge­
schichtszeichen, durch den Enthusi asmus angezei gt, den die
Arbeiterkämpfe erregen können : » Keine Klasse der bürgerli­
chen Gesellsc haft kann diese Rolle [der Emanzipation] spielen,
ohne ein Moment des Enthusi asmus in sich und in der Masse
hervorzurufen, ein Moment , worin sie mit der Gesellschaft im
allgemeinen fraternisirt und zusammenfließt, mit ihr verwech­
selt und als deren allgemeiner Repräsen tant empfunden und
anerkannt wird [. . . ]« (ibid.: 1 79-1 80). - Als Gefangener der
steht Marx das Gefühl des Enthusias mus als Forderung, die von
einem (idealen, emanzipierten) Selbst herrührt. D er Referent der
Idee des Kommunismus wird in ein (Sender-)S ubjekt umge­
schrieben, das den Kommunismus vorschreib t. Das Gemeinwe­
sen will sich selbst. Und dies läßt sich nur innerhalb der spekula- ,
tiven Diskursart formulieren.
238
Diesem Subjekt muß in der historisch-politischen Wirklichkeit
»das Wort erteilt<< werden. - Sind seine Sätze nicht die Zeichen,
um die es hier geht (Nr. 236), Leiden, Zorn und Klassenhaß,
Enthusiasmus und Solidarität? Und nur diese Zeichen? - Diese
Zeichen aber halten es, sofern sie allgemeinen Wert besitzen, mit
dem Zuschauerraum (Kant-Exkurs IV, § 5), sie haben ästheti­
schen und nicht >>praktischen<< Wert. Man erwartet sie, sie treten
irgendwann auf, sind Wertungen und keine Handlungen, sie
bedrohen nur zufällig die Beharrlichkeit der Verkettung durchs
Kapital, die sich nach dem Gewittersturm erneuert. Dem Prole-
283
 ZENTRALISMUS UND AuTORITÄT
DAS GESCHICHTSZEICHEN

tariat >>das �ort �rteilen<< wird heißen, es mit historisch-politi­ pols). Aber selbst der Widerstreit zwi� chen � entralismus und
. Spontaneismus wird dort als Rechtsstreit maskiert (d� der Spo� ­
scher Wirklichkeit zu versehen. Marx entwirft die Internationale
Arbeiterassoziation. Er deutet das Zeichen, den durch die Pari­ taneismus nicht weniger realistisch als der Zen�rah� m�s sem
ser Kommune hervorgerufenen Enthusiasmus als ob es das will sondern realistischer) . Und dieser Rechtsstreit wird Immer
zu Gunsten des Zentralismus, das heißt des Monopols geschlich­
�oliti �che Projekt der realen Klasse anzeigte und die Organisa­ tet da er es ist von dem das Gericht (das Politbüro), das den
tiOn em.�r realen Partei skizzierte. Dies ist ein zweiter, illusori­
�
sc er >>Ubergang« : der erste (Nr. 237) schlägt eine Brücke vom Pr �zeß entsch ;idet, seine Autorität bezieht. Diese Schlichtung
aber erzeugt an den Grenzen der Organisation (außerhalb und
[247] Zeichen, I dem solidarischen Enthusiasmus, zum Ideal eines
revolutionären Subjekts, dem Proletariat· der zweite wiederum innerhalb) den Widerstreit nur von neuem .
von diesem Ideal zur realen politischen Organisation der realen
Arbeiterklasse. 240
Satz 1 : x (Sender) tritt y (Empfänger) den Referenten a , dieses
239 (vorzeigbar), ab. Satz 2 : y (Sender) ..tritt x \Empfä�ger) den
Die Partei muß den Beweis dafür liefern daß das Proletariat real Referenten b, jenes (vorzeigbar), ab. Okonomische Diskursart:
ist, und sie kann dies nur insoweit, als :nan den Beweis für ein Die Abtretung des einen muß die Abtretung des anderen annul­
Ideal der Vernunft liefern kann. Sie kann sich nur selbst als lieren. I Die Sätze 1 und 2 werden hinsichtlich (Spieleinsatz, [248]
Beweis liefern und Realpolitik betreiben (eine Politik im Sinne Zweckbestimmung der Diskursart) der >>Befreiung« der beiden
.
Mach!avellis, die an die Eigennamen und an die Erzählungen der Parteien, hinsichtlich ihrer Ent-Koppelung verkettet. Was Je-
. weils dieses und jenes ist, ihre Bedeutung, ist nur für einen Satz
Wirkhchen Gemeinschaften gebunden bleibt) . Der Referent ih­
. wichtig, der dieses und jenes korrekt zu beschreiben versucht
res DI � kurses bleibt der unmittelbaren Darstellung unzugäng­
. (der Satz des Anthropologen, des Wirtschaftswissenschaftlers,
hc�, mcht vorzeigbar [ostensible]. Er manifestiert sich nur in
ZeiC?en. Di: Partei ist gezwungen, den Referenten der (im des Psychoanalytikers) . Im ökonomischen Satz (der nicht dem
. des Ökonomen entspricht) besteht die Bedeutung nicht in der
kanuseben Smne) dialektischen Diskursart, das ideale Objekt
(und vielleicht Subjekt) der Idee der emanzipierten arbeitenden der ausgetauschten Objekte, die Bedeutung ist vielmehr der
Menschheit, mit den realen Arbeiterklassen, den vielfältigen Tausch selbst. Durch Satz 1 gerät x unmittelbar in die Situation
Referenten von >>positiven« kognitiven Sätzen zu verschmelzen. des Gläubigers und y in die des Schuldners. Satz 2 annulliert
Um den Widerstreit zwischen den Diskursarten zu verschleiern, diese Situationen, und er ist es, der von Satz 1 in die ökonomi-
d�e sich um �ie Bedeutung des Referenten streiten (wobei der sche Diskursart gerufen wird. Die Anknüpfung von Satz 2 an
Emsatz der Wissenschaftlichen Diskursart in dessen beweisbarer Satz 1 bildet den Tauseh selbst. Fehlt Satz 2, so findet Satz 1
Definition besteht, der Einsatz der >>dialektischen« in der voll­ nicht statt. Somit ist die Zeit t + 1 (Vorkommnis von Satz 2) die
ständigen Entfaltung seines Begriffs ohne Rücksicht auf sinnlich Bedingung für die Zeit t (Vorkommnis von Satz 1 ) . Ein didakti-
wahrnehmbare Beweise), maßt sich die Partei das Monopol der scher Satz >>erwartet« die Zustimmung, das heißt einen anderen
V �rfahre� zur Ermittlung der historisch-politischen Wirklich­ Satz, dieser ist aber nicht die Bedingung des ersten . Ein präskrip-
keit. an: Sie wendet die drohende Gefahr des Dilemmas gegen tiver Satz erwartet die Erfüllung, aber sie ist nicht dessen Bedin-
de�Jemgen,. der dieses Monopol bestreitet (Nr. 4). Der ver­ gung . Usw. Der ökonomische Satz der Abtretung erwartet den
d �angte Widerstreit kehrt im Innern der Arbeiterbewegung Satz der Abgeltung (Gegen-Abtretung) nicht, er setzt ihn
. voraus.
Wieder, msbesondere in Form von wiederholten Auseinander­
setzungen über die Frage der Organisation (das heißt des Mono-

284 285

wa ; m a ..-
 DAS GESCHICHTSZEICHEN
241
. nung unter ein späteres, ihn annullieren� es S� tz-Vo�komm� is
In der ökonomischen Diskursart herrschen die Regeln der Pari­
tät der Referenten und der Austauschbarkeit von Sendern und
Empfängern. Nach einer Runde (Sätze 1 + 2) ist die Summe der
Tauschakte gleich Null. Wenn sie nicht Null ist, wird der Aktiv­
oder Passivsaldo für die nächste Runde auf dem Konto von x
oder y verbucht, bis er schließlich ausgeglichen ist. Dann kann
eine neue Partie beginnen, ist aber nicht notwendig. Notwendig
wäre sie, wenn die ökonomische Diskursart nicht als Verkettung
von Sätzen, sondern von >>Partien<< notwendig wäre. Wie aber
läßt sich ausloten, ob eine Diskursart notwendig ist? Man appel­
liert an das soziale Band usw.; man begibt sich auf Robinsona­
den. All das ist fruchtlos anthropomorph.
242
Woher weiß man, daß die Schuld von y gegen x damit abgegolten
ist, wenn er ihm b gegen das erhaltene a abtritt? Wenn a und b
den gleichen Wert besitzen? Erste Hypothese : wenn x b genauso
hoch einschätzt wie y a. Gebrauchswert, Bedarf, Grenznutzen,
symbolischer Wert usw. Aber diese anthropologische Hypothe­
se setzt eine Debatte über die Paritäten und einen Konsensus
[249] über einen Wertmaßstab voraus, I in denen die Frage unverän­
dert wiederkehrt: Wie kann y wissen, daß x b so bewertet wie er
selbst a ? Die damit gestellte Frage bezieht sich auf die Inkom-
':nensurabilität der Idiome (Bedürfnisse, Wünsche, Nutzungen
usw.; Nr. 56). Der Rekurs auf den Preis (auf die Bemessung in
Geldwert) löst diese Frage nicht. Die Preise verhalten sich zum
Wert wie die Temperaturgrade zur Wärme. Die Antwort von
Marx lautet, daß das gemeinsame Maß in der in a und b enthalte­
nen durchschnittlichen gesellschaftlichen Arbeitszeit besteht.
Da.nn muß vorausgesetzt werden, daß a und b >> Produkte« sind.
Gefahr einer Metaphysik der Produktion, EVEQyELa (energeia),
die die der Arbeitskraft (öUva1-tt�, dynamis) vervollständigt, die
Marx nach eigenem Eingeständnis (in den Grundrissen) der
Metaphysik des Aristoteles entlehnt und auf das Konto eines
menschlichen Subjekts geschlagen hat. Umgekehrt ist einzig die
Betrachtung der Zeit triftig, da die Zeit in der Bildung des
286
DIE ÖKONOMISCHE DISKURSART
ökonomischen Satzes beschlossen liegt, die dessen Unterord-
verlangt (Nr. 240). (Es handelt sich um eme anthmetische Zeit,
.
die Kant als Schema in der Bildung der natürlichen - oder besser:
algebraischen - Zahlenreihe impliziert sieht, das Und so weiter
Wittgensteins; Nr. 95. Zählbare Zeit.)
243
An sich gehört die Arbeit nicht zum Tausch? zur ökonomisc�en
Diskursart. Sie ist eine Gruppierung von Diskursarten. Es wird
ein Sender (gleich welcher Natur: menschlich, göttlich, tierhaft)
angenommen, der irgendeinen Gegenstand fordert : Idee der
Einbildungskraft, die einen der notwendigen Sätze des Produk­
tions-Diskurses darstellt. Der andere ist die Suche nach Gegen­
ständen und deren Umf�rmung nach dem geforderten Muster.
Die Gegenstände werden als Materialien verstanden, das he�ßt in
ihrer gegebenen Zweckmäßigkeit geleugnet und nach emem
anderen Zweck, nach dem des Musters ausgerichtet. Dieser Satz
ist »metaphorischer« Natur, er transportiert den Referenten von
einer Zielbestimmung zu einer anderen. Doch die Metapher
unterliegt der Bedingung, daß das Resultat vorzeigbar bleibt:
Dies ist der vom anfänglichen Sender geforderte Gegenstand.
Die Techniken verbessern die Umformungssätze hinsichtlich
ihres Spieleinsatzes; die Kulturen ( ?), das Genie (?) verbessern
die Sätze der Einbildungskraft hinsichtlich des ihren. Das Resul­
tat dieser letzteren kann den Referenten eines Tausches (Patent)
ausmachen, wenn es vorzeigbar ist. I [250]
244
Die Produktionszeit einer Ware entspricht nicht der ökonomi­
schen Zeit, wenn es stimmt, daß die ökonomische Diskursart
den Regeln des Tausches gehorcht. Die Produktion nimmt Zeit
in Anspruch, und diese Zeit wird dem Tausch entzogen. Wäh­
rend der Produktion wird Zeit angehäuft und in den Produkten
gespeichert, bis diese zum Tausch angeboten werden. Um die
Qualifikation eines Verkäufers von Dienstleistungen zu be­
werten, mißt man die Lehrzeit. Ebenso bei der Festlegung
287
 DAS GESCHICHTSZEICHEN GELD UND TAUSCH

eines Warenpreises. Die bloße Tatsache, daß sie vorrätig bleibt,
erhöht die Kosten der Ware. Ebenso in der Volkswirtschaft: ihre
Entwicklung vollzieht sich proportional zur Zeit, die in den
Grundausstattungen und den Produktionsmitteln (investiertes
Festkapital) angehäuft ist. Die Arbeit besteht nicht im Energie-,
sondern im Zeitaufwand. Sie geht in bezug auf die Nutznießung
nicht >>nach« (im ökonomischen Diskurs ist die Nutznießung
un-wesentlich, sie besteht in der Zerstörung von Objekten
zwischen zwei >>Partien<<, die gänzlich dem Tausch unterliegt).
Der Tausch verzögert die Nutznießung. Aber die Produktion
geht dem Tausch gegenüber nach. Großer Zeitaufwand bei der
Produktion, große Verspätung einzuholen, gespeicherte (verlo­
rene) Zeit wettzumachen, hoher Wert einzulösen.
245
Zwischen den Sätzen der Einbildungskraft einerseits, den Sätzen
der technischen Verwirklichung andererseits und schließlich den
Sätzen, die den Regeln des ökonomischen Diskurses gehorchen,
besteht Heterogenität. Das Kapital unterwirft die beiden ersten
dem Regelsystem des dritten. Hinsichtlich der Gruppierung von
Satz 1/2 werden Erfindung und Ausführung mit ihren entspre­
chenden Spieleinsätzen wie verlorene Zeit behandelt. Dieser
Zeitverlust wird im Tausch der Produkte wettgemacht werden
müssen. Die Beschleunigung des Zeittakts und ganz allgemein
die Ü bersättigung des Zeitplans der Gemeinschaften entsprin­
gen der Ausdehnung des ökonomischen Diskurses auf Sätze, die
nicht der Tauschregel unterliegen : Unterordnung des aktuellen
Satzes 1 unter einen Satz 2, der die Abtretung annullieren und
die Tauschenden >>befreien<< wird. Alle Schulden (an Liebe, an
Arbeit, selbst an Leben) werden für tilgbar erachtet. Ein Ster­
bender etwa, x, wird Tausch-Zyklen unvollendet hinterlassen,
bevor die Annullierung der Abtretungen, in die er verwickelt ist,
stattgefunden hat. Eine Versicherungsgesellschaft löst, indem sie
dessen Leben versichert, seine Fähigkeit zur Abgeltung ab . Sein
[25 1] Leben schuldet er weder den Göttern noch I seinen Angehöri­
gen, sondern der Versicherungsgesellschaft, das heißt dem
Tausch.
246
Das Geld ist nicht das allgemeine Äquiv�lent �er � efer� nten
des Tausches (a, b, die Waren). Es kann mcht wie diese Wied� r
aus dem Umlauf abgezogen (konsumiert) werd� n. Und sem
�
aufgedruckter Wert ist von der in seine� »P� odu tron<< enthalte­
_ eme Em-Dollar- und
nen Zeit unabhängig (er ist derselbe fur
eine Zwanzig-Dollar-Note). Aber es muß das (mehr oder wem­ _
ger getreue) Äquivalent der � eit sein, die i? den Waren �nt?al­
ten ist und bei deren Produktion verlorengmg, solange sie mcht
�
getauscht werden. In der Gegen-Abt�etu� g o er bei� Kau�
(Satz 2) kann es jedes b ersetzen. Es gilt d! e Zeit ab, die x bei
der Produktion von a verlor. Es macht die Tatsache evident, _
daß die Nutznießung an Gegenstände? oder ihr . Besi�z unwe­
sentlich ist daß aber der Tausch em_ Zeit-Handel Ist. Em mone­
täres Zeichen, gleich welcher Natur, ist >>abstrakte<< �ngehäufte
Zeit. Es ist von den >>aktuellen<< Tauschakten mit_ (hzc et n u n c)
vorzeigbaren Waren losgelöst und kann das Zeit-Paket, d: ssen
_
Zeichen es ist, auf irgendein Moment dieser _
Tauschakte uber­
tragen.
247
Man ist in dem Maße reich, wie man über mehr vergangene Zeit
als die anderen Tauschpartner verfügt. Man besitzt Kapita�,
.
insofern man diese Zeit im Tausch wieder in Umlauf bnngt. Zeit
in die Zeit des Tausches einbringen, die Satz 1 zum Zeitpunkt t
von Satz 2 zum Zeitpunkt t + 1 trennt - das bedeutet nicht nur,
daß man Waren die selbst mehr Zeit enthalten, kaufen kann,
sondern auch d �ß man das Intervall zwischen den beiden Zeit­
punkten verllngern kann . - Es gibt die, die nur >>ihre<< Zeit (hic et
n u n c) zu verkaufen haben, und diejenigen, die über genügen d
angehäufte Zeit verfügen und sie abtr� ten k�nne� . ynd zwi­ _
schen den beiden diejenigen, die nur em wemg Zeit Im voraus
besitzen, aber genügend, um . . .

288 289

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'I DAS GESCHICHTSZEICHEN

TAUSCHPARTNER

I i 248
Geld kan� e�nen Vorschuß an Zeit verschaffen, weil es gespei­
I also nach dem kleinsten Abstand zwischen Satz 1 und Satz 2,
. jlJ: cherte Zett rst. Der Konsumkredit erlaubt (dem Käufer) die
' I Vorwegnahme der Zeit für die Nutznießung, der Kredit für den
Umlauf erlaubt (dem Händler) die Vorwegnahme der Zeit für
die Bezahlung (der Lieferanten), der Investitionskredit erlaubt
[252] (dem Unternehmer) I die Vorwegnahme der Produktionszeit,
der Kredit für den Kredit erlaubt (dem Bankier) die Vorwegnah­
1- me der Zeit zur Schuldentilgung des Schuldners. Der Darlehens­
geber verleiht Zeit, er hebt für den Schuldner die Stundung von
Zeit auf, die zur Realisierung von dessen Vorhaben nötig ist.
j: Geld, das heißt Zeit, wird damit selbst als eine >>Als-ob-Ware«
I
, !' begriffen. Unter der Regel der Tauschakte setzt die Abtretung
von Geld wie immer eine Gegen-Abtretung voraus. Hier tritt
die für den Verkauf der Ware erhofften Gewinne auf den Abga­
bepreis. Sie können, noch bevor dieser Kreislauf beendet ist,
wieder in den nachfolgenden eingespeist werden. Man strebt
läßt aber a bezahlen, als ob der Abstand groß wäre, als ob tote
Zeit für die Bezahlung von a hätte vorgeschossen werden müssen
und y nicht nur die in a enthaltene Zeit, sondern auch die in
diesem Kredit verlorene Zeit begleichen müßte. I [253]
250
Die Arbeit unterliegt der Tauschregel in doppelter Hinsicht. Die
Arbeitsbedingungen im kapitalistischen System entspringen ins­
gesamt der Vorherrschaft der ökonomischen Diskursart, in der
es um Zeitgewinn geht. Die Arbeit selbst kennt diesen Spielein­

.11
II
I
der Gläubiger einen Vorschuß an Zeit ab, die Gegen-Abtretung, satz nicht (Nr. 243, 244). Es besteht ein un.:lösbarer Widerstreit
II die Rückzahlung des Vorschusses wird je nach dem über mehre­ zwischen Arbeit und Zeitgewinn. Die Gefühle (von Traurigkeit,
re Tauschzyklen hinweg verzögert (kurz-, mittel-, langfristig). Zorn, Haß, Entfremdung, Frustration, Demütigung), die die

II.I
1 -
Andernfalls gäbe es keinen Vorschuß. Die Zeit der Tauschakte
jedoch, in deren Verlauf das Geld auf diese Weise in Form des
genannten Arbeitsbedingungen begleiten, werden von diesem
Widerstreit erzeugt und zeigen ihn an. - Die Unterordnung der
Kredits blockiert wird, ist für die Effektiv-Tauschvorgänge (hic Arbeit unter den Tausch wird auch Lohnarbeit genannt. Die
'I! et nunc) verloren, so als ob es in der Produktion blockiert wäre. ökonomische Diskursart stellt diese als einen Vertrag zwischen
il
Diese verlorene Zeit muß ihrerseits bis zum Ende des Kredits Verkäufer und Käufer von >>Dienstleistung« dar. Es besteht aber
Ii eingeholt und wettgemacht werden. Der Zins wiegt diese Verzö­ ein Widerstreit, der die >>reale« Zeit betrifft (Abschnitt: >>Der

I
gerung, die für den Darlehensgeber verlorene Zeit, auf. Referent«). Ein Zeitpunkt heißt real, wenn er jetzt geschieht und
innerhalb der Chrononymie (Tag, Stunde, Minute) nennbar ist.
II 249
Beim Tausch Ware/Geld ist einzig der Zeitpunkt des Tauschakts
real: Die Gegenstände - abstrakte Zeit - werden jetzt getauscht,
!I
II
Wenn die Arbeit als für den Tausch verlorene Zeit betrachtet
an dem und dem Tag, zu der und der Uhrzeit. Im >>Arbeitsver­
trag« wird die >>Dienstleistung«, die prinzipiell das Tauschobjekt
I wird, muß sie so weit wie möglich eingeschränkt werden. Die
ist, nicht nur über abstrakte Zeit (die Zeit der zurückliegenden
Ausbeutung im Sinne von Marx (die Auspressung von relativem
Ausbildung des Lohnempfängers, die Zeit seines künftigen Un­
Mehrwert, der allein für den ökonomischen Diskurs relevant ist)
terhalts), sondern auch über reale Zeit definiert. Der Lohnemp­
ist eines der Mittel, um diese Einschränkung durchzusetzen. Es
fänger wird hier (an seinem Arbeitsplatz) und jetzt (zu j edem
gibt noch andere. Aber das Ideal dieser Diskursart ist offenkun­
Zeitpunkt innerhalb einer bestimmten Stundenzahl, so und so
:I
dig: etwa die verlorene Zeit sofort zurückzugewinnen, die im
viele Tage in der Woche, so und so viele Wochen pro Jahr) sein.
Kredit verlorene Zeit vorwegzunehmen. Die Zinsen des Darle­
Die Tauschpartner können mit dem Verkauf oder Kauf von Zeit
hens sofort zahlen lassen, so als ob die Zyklen während seiner
jeweils einen Zeitgewinn erhoffen, weil sie abstrakte Zeit tau­
Laufzeit bereits durchschritten wären. Dies wird etwa in der
schen, die innerhalb der Chronologie verschoben und im richti-
Selbstfinanzierung des Unternehmens verwirklicht: Man schlägt

290 291

DAS GESCHICHTSZEICHEN
gen Augenblick getauscht werden kann. Indem' aber der Lohn­
empfänger reale Zeit abtritt, bleibt er von den deiktischen Indi­
katoren des Arbeitgeber-Satzes (ja, er ist da) und des Kalenders
(ja, er ist um acht Uhr gekommen) festgenagelt. Die reale Zeit ist
nicht verschiebbar. Selbst wenn man annimmt, daß der Lohn­
empfäng�r mehr abstrakte Zeit (in Geldform) verdient, als er an
realer Zeit ausgibt, um jene zu verdienen (ist das möglich?),
mutet es unwahrscheinlich an, daß er genug (reale) Zeit besitzt,
um die angehäufte Zeit auszugeben. Das Problem erscheint
analog zu dem des Erzählvorgangs in Tristram Shandy oder
L'Emploi du Temps:':· Er braucht mehr Zeit, um das-'Leben des
Erzählers (als des Helden der Geschichte) zu erzählen, als dieses
wirklich gedauert hat. Man kann nur hoffen, daß die im Werk
[254] gespeicherte Zeit nicht für jedermann verloren bleibt. I
251
Beim Kapital gibt es keine Zeit für den Tausch. Tausch heißt
Tausch von Zeit, und zwar Tausch von möglichst viel Zeit
(>>abstrakter<< oder verlorener Zeit) innerhalb möglichst kurzer
Zeit (>>realer<< Zeit). Alles Mögliche kann getauscht werden,
wenn die Zeit, die der Referent enthält, und die Zeit, die er im
Tausch beansprucht, berechenbar sind. Die Kommunikations­
theorie bestimmt für die Sätze im allgemeinen eine in boolescher
Algebra berechenbare Einheit, das bit an Information. Unter
dieser Bedingung können die Sätze zu Waren werden. Die
Heterogenität ihrer Regelsysteme wie der Diskursarten (der
Spieleinsätze) findet ein universales Idiom, den ökonomischen
Diskurs, findet ein universales Kriterium, den Erfolg, Zeit
gewonnen zu haben, findet einen universalen Richter, die stärk­
ste Währung, das heißt die kreditwürdigste, die am ehesten Zeit
abgeben, das heißt aufnehmen kann. Die Spekulation mit den
Wechselkursen, die die Produktion kurzschließt, stellt sich als
schnellste Akkumulationstechnik von Zeit durch den Tausch
heraus : Man kauft die schwache Währung am Freitag, man
�- Roman von �ichel BuToR, Paris 1956 (dt. Der Zeitplan, München
1960; A. d. U.).
292
ZEIT UND KAPITAL
verkauft sie am Dienstag, wenn sie gestützt wurde oder bloß der
Abwertung entgangen ist.
252
Der Widerstreit zwischen Satz-Regelsystemen oder Diskursar­
ten wird vom Gerichtshof des Kapitalismus für unerheblich
erachtet. Der ökonomische Diskurs beseitigt mit seinem not­
wendigen Verkettungsmodus von eine� � atz zum ander�n
(Nr. 240, 241) das Vorkommnis, das Ere1gms, das Wunder, d1e
Erwartung einer Gemeinschaft von Gefühlen. Man könnte
»endlos so weiter machen<<, die Inkommensurabilität der Spiel­
einsätze und die Leere, die sie zwischen den Sätzen aufreißt, in
Erwägung zu ziehen. Die Zeit ist mit dem Kapital in vollem
Gang. Aber der Urteilsspruch, der immer zugunsten der gewon­
nenen Zeit gefällt wird, kann, wenn er einen Schlußstrich unter
die Rechtsstreitfälle zieht, gerade damit den Widerstreit aufs
Äußerste verschärfen.
253
Die Vorherrschaft der ökonomischen Diskursart über die ande-
ren kann sich sehr wohl in das Gewand einer emanzipatorischen
Geschichtsphilosophie kleiden. Mehr Reichtum, mehr Sicher-
heit, mehr Abenteuer usw.; hier unsere Antwort auf den kanoni-
schen Satz der politischen Ethik: Was sollen wir sein ? (Nr. 210;
Kant-Exkurs IV, § 2). Aber diese ethische Frage wird i m ökono­
mischen Diskurs nicht gestellt. In ihm gewinnt man nicht (oder
bemächtigt sich nicht des Spieleinsatzes), weil man I die Ver- [255]
pflichtung gehört und übernommen hat, sondern weil man Zeit
gewonnen hat und noch mehr gewinnen kann. Auf diese Weise
verlangt der ökonomische Diskurs des Kapitals keineswegs das
politisch-deliberative Dispositiv, das die Heterogenität der Dis­
kursarten zuläßt. Eher das Gegenteil: er verlangt deren Unter­
drückung. Er duldet sie nur in dem Maße, wie das soziale Band
(noch) nicht einzig und allein mit dem ökonomischen Satz
(Abtretung und Gegen-Abtretung) verschmolzen ist. Sollte dies
eines Tages der Fall sein, wird die politische Institution überflüs-
sig sein, wie bereits die Erzählungen und ihre nationalen Tradi-
293

DAs GESCHICHTSZEICHEN
ti �men. Doch wie könnte sich die Idee einer Menschheit die
mcht Herr�n ü?er � ihr�« Z�ecke (metaphysische Illusion), �on­
.
dem e �pfanghch Ist fur dte heterogenen Zwecke, die von den
�
v �rschtedenen � e �nnt� n u ?d unbekannten Diskursarten impli­
.
Zt �rt ��rden, �1e fahtg tst, � te so weit wie möglich zu verfolgen­
w �e kon� te steh dann dtese Idee mangels des deliberativen
. .
Dtspostttvs, tn dem sich die Vielfalt der Diskursarten und ihrer
jeweiligen Zwecke prinzipiell ausdrücken kann, aufrechterhal­
ten ? Und wie wäre ohne diese Idee eine Universalgeschichte der
Menschheit möglich?
254
Im !ausch muß man die Schuld umgehend begleichen. In der
Erzahlung muß man sie anerkennen, honorieren und anstehen
lassen. In der Beratschlagung [deliberationJ muß man sie befra­
ge? , also e � enfalls anstehen lassen. (Und damit gelangt der
.
Wtde:st�ett m der Beratschlagung und selbst in der Erzählung
oder m threm Umkreis ans Tageslicht.) Die in die Erzählakte
verwobenen Gemeinschaften müssen vom Kapital zerstört wer­
den: >>rückständiges Bewußtsein<< . Und die Fragen, die sich die
anderen (>>entwickelten<<) Gemeinschaften mittels ihrer be­
ratschlagenden Institutionen stellen, müssen kurzgefaßt
(»Gesch":ätZ<<, >>Si�zfleischergebnisse<<, Anti-Parlamentarismus)
und auf dte kanomsche Frage des Tausches zurückgeführt wer­
den: Welches a soll x (>>wir«, Frankreich, Europa, die Metro­
schaffner usw.) an y (>>sie<<, Deutschland, die Vereinigten Staaten,
das zuständige Ministerium usw.) abtreten, um von ihm b zu
erhalten? Mit dem Hintergedanken: ohne »uns<< unrettbar zu
verschul�e�, o hne danke sagen zu müssen, um mit guter Aus­
. .
ga?gsposttwn tn dte nächste Runde gehen zu können usw. Der
Wtde:streit, das Und? (Nr. 100), das Nichts, das die Verkettung
von emem Satz zum anderen unterbricht und bedroht - kann es
auf diese Weise, durch den Handel, aufgefüllt werden? Kann das
Komm zurück, das mit der Regel der Paritätvon Abtretungen und
Gegen-Abtretungen impliziert wird, das Geschieht es? (Nr. 131 ,
1 32) derart neutralisieren, daß nur mehr das Marktfähige
[256] geschieht? I
294
STÜRMISCHE GEMÜTSBEWEGUNGEN
255
Der Kapitalismus bildet keine Universalgeschichte, er versucht,
einen Weltmarkt zu schaffen (indem er ihn zugleich hinauszö­
gert, da er auch der Spielräume zwischen den nationalen Ge­
meinschaften bedarf). Sollte es etwas wie eine Universalge­
schichte geben, so würde sie sich durch Geschichtszeichen
ankündigen. Diese wären grundsätzlich allgemein teilbare, in­
teresselose und >>stürmische<< Gefühle, die sich bei Ereignissen
öffentlich manifestierten (Kant-Exkurs IV). Kant führt als Ge­
schichtszeichen den durch die Französische Revolution erregten
Enthusiasmus an. Heute gehören andere Namen zu unserer
Geschichte. Eine Frage lautete: Heften sich identische Gefühle ­
wenn nicht in ihrem Inhalt, so zumindest in ihren formalen
Zügen identisch, die wir gerade in Erinnerung gerufen haben ­
an diese Namen oder manche von ihnen ? (Die vorgängige Frage
aber lautete: Können >>wir<< den Begriff des Geschichtszeichens
heute noch beglaubigen?)
256
Kant nimmt mit Burke neben dem Enthusiasmus noch andere
erhabene Gefühle an. Neben der Achtung natürlich und der
Bewunderung gehört auch >>der Kummer<< zu den >>StÜrmischen
Gemütsbewegungen<<, wenn er seinen Grund in den morali­
schen Ideen hat (KUK: 364, 368). Dann siegt die Verzweiflung
darüber, mit einer Darstellung in der Wirklichkeit niemals an die
Idee heranreichen zu können, über die Freude darüber, dennoch
dazu aufgerufen zu sein. Die Niedergeschlagenheit angesichts
des Abgrunds, der die heterogenen Diskursarten voneinander
trennt, wiegt schwerer, als die Erregung, die das Anzeichen
eines möglichen Übergangs hervorruft. Somit genügte eine tief
melancholische Menschheit, um zu beweisen, daß sie >>zum
Besseren fortschreitet<< ?
257
Die >>Geschichtsphilosophien<<, die das 1 9. und 20. Jahrhundert
begeistert haben, geben vor, Übergänge über die Kluft der
295
 DAS GESCHICHTSZEICHEN
H eterogenität oder des Ereignisses garantieren zu können. Die
N �men unserer Geschichte halten ihrem Anspruch Gegenbei­
spiele entgegen. - Alles Wirkliche ist vernünftig, alles Vernünfti­
ge ist wirklich : »AuschwitZ<< widerlegt die spekulative Doktrin.
Dieses - reale - Verbrechen zumindest (cf die Abschnitte: >>Der
Widerstreit« und >>Der Referent«) ist nicht vernünftig. - Alles
Proletarische ist kommunistisch, alles Kommunistische ist pro­
letarisch : >>Berlin 1953, Budapest 1 956, Tschechoslowakei 1968,
[257] Polen 1 980« (ich lasse einiges aus) I widerlegen die historisch­
materialistische Doktrin : Die Arbeiter erheben sich gegen die
Partei. - Alles Demokratische geschieht durch und für das Volk
und umgekehrt: >>Mai 1 968« widerlegt die Doktrin des parla­
mentarischen Liberalismus . Der soziale Alltag läßt die repräsen­
tative Institution scheitern. - Alles, was dem freien Spiel von
Angebot und Nachfrage entspricht, begünstigt die allgemeine
Bereicherung und umgekehrt: die >>Krisen von 191 1 , 1929«
widerlegen die Doktrin des wirtschaftlichen Liberalismus. Und
die >>Krise von 1974-79« widerlegt die post-keynesianische Um­
gestaltung dieser Doktrin. Die Übergänge, die von den großarti­
gen Synthesen dieser Doktrinen verheißen werden, münden in
blutige Sackgassen. Daher der Kummer der Zuschauer am Ende
dieses 20. Jahrhunderts.
258
Schlimmer als der Kummer, dieses negative Gefühl, das ans
Erhabene heranreichen und die Heterogenität von Ideen und
Wirklichkeiten bestätigen kann, ist das Gefühl der Enttäuschung
(das Ressentiment?). Der Reformismus akzeptiert den Spielein­
satz des ökonomischen Diskurses (den Kapitalismus), indem er
sich mit der ausgewogeneren Verteilung des Tauschresultats
brüstet. Er will gewonnene Zeit, aber für alle. Er will, daß
diejenigen, die viel davon besitzen, ohne Gegenleistung denjeni­
gen Zeit abtreten, die wenig besitzen. Nun ist das Vorhaben
erstens nicht stichhaltig hinsichtlich der Diskursart: Entweder
ist sie die Diskursart des Tausches (Nr. 241), und jede Abtretung
setzt deren Entschädigung voraus, oder die Diskursart ent­
spricht nicht dem Tausch-Diskurs (wenn keine Gegen-Abtre­
tung geleistet wird), und man revolutioniert die Vorherrschaft
296
FoRTSCHRITT zuM BESSEREN
des ökonomischen Diskurses über die anderen. Ohne jegliche
Erpressung und in Übereinstimmung mit dem Spieleinsatz sei-
ner Diskursart widerlegt der Bankier den zaghaften Reformver-
such: wenn ich die Zeit vorschieße (Kredit), mußt du sie mir (mit
Zinsen) zurückgeben; wenn du sie mir ni� ht zurückgi� st, we� de
ich sie dir nicht vorschießen, ich werde sie ausgeben (mdem Ich
>>meine« gewonnene Zeit konsumiere, und der Verfall der ök� ­
.
nomischen Diskursart wird nicht auf siCh warten lassen). Zwei-
tens ist das Reformvorhaben ethisch anfechtbar: Die soziale
Gemeinschaft darf grundsätzlich nicht mit der Gesamtheit von
Partnern verwechselt werden, die im ökonomischen Satz situiert
sind; ihr das Glück als Zweck vorzuschreiben, das heißt die
gleichmäßige Verfügung über die gewonnene Zeit, hieße die
beiden verwechseln, das Du der Verpflichtung in die Ich-Situa-
tion der Nutznießung versetzen (Abschnitt: >>Die Verpflich­
tung«) . - Prinzipiell kann der Reformismus /niemanden zufrie- [258]
denstellen. Aber ebenso wie die Hoffnung, die mit seinem
Entstehen aufkommt, nicht stürmisch ist, ist die mit seinem
Verfall verbundene Enttäuschung kein erhabenes Gefühl. Ver-
zagt kehrt man zum Tausch zurück.
259
Die Menschheit würde nicht deshalb zum Besseren fortschrei­
ten, weil >>es besser geht« und man die Wirklichkeit dieses
Besseren durch Verfahren zur Ermittlung der Wirklichkeit be­
stätigen könnte, sondern weil die Menschen so >>kultiviert«, so
hellhörig für die doch undarsteilbare Idee geworden wären, daß
sie bereits bei Geschehnissen, die scheinbar am allerwenigsten
mit dieser Idee zu tun haben, die entsprechende Spannung
verspüren und einzig mit ihrer Sensibilität schon den Beweis für
einen Fortschritt liefern würden. Folglich wäre dies mit dem
allgemeinen Gefühl, daß es »schlechter steht«, kompatibel. Die
Verschärfung der Diskrepanz zwischen der beobachtbaren hi­
storisch-politischen Realität und den Ideen würde nicht nur
gegen jene, sondern auch für diese zeugen.
297
 DAS GESCHICHTSZEICHEN
i'
I, ,
260
�
Weiche Sic e�heit aber steht dafür ein, daß die Menschen gebil­
d �ter, »kuluvr�rt�r« werden, als sie sind ? Wenn die Kultur, die
Brldung (des Gersres zumindest) Arbeit erfordert, also Zeit
braucht und wenn der ökonomische Diskurs seinen Spieleinsatz
nämlich Zeit zu gewinnen, der Mehrzahl der Satz-Regelsystem�
und Diskursarten aufzwingt, dann müßte die zeitaufwendige
Kultur ausgesondert werden. Darum werden die Menschen
angesichts der Inkommensurabilität zwischen Wirklichkeiten
�nd Ideen nicht einmal mehr Kummer empfinden, da sie ihr
' rdeelles Vermögen einbüßen werden. Sie werden die Tauschstra­
! tegien - aber nur diese - immer kompetenter handhaben. Schon
i kommnisse . Das Hindernis besteht nicht im >>Willen« der Men­
�eint Kultur eher den Umschlag von Informationen als Arbeit,
dre zur Darstellung dessen, was im vorliegenden Fall nicht
darstellbar ist, zu leisten wäre.
1 ,1 261
, !I
i. i 1�. . Und wie kann man noch annehmen (Nr. 255), daß in der
. ' i
Menschheitsgeschichte, wenn überhaupt sie durch den ökono­
KuLTUR UND ZEITGEWINN
gibt zu der Befürchtung Anlaß, daß man mit der traditionsge­
bundenen oder gar mythischen Legitimation vorliebnimmt,
selbst wenn sie auch dem Widerstand der Völker gegen ihre
Vernichtung Gewicht verleiht. Die voller Stolz geführten Unab­
hängigkeitskämpfe münden in junge reaktionäre Staaten.
263
Das einzige unüberwindliche Hindernis, auf das die Hegemonie
des ökonomischen Diskurses stößt, liegt in der Heterogenität
der Satz-Regelsysteme und Diskursarten, liegt darin, daß es
nicht >>die Sprache« und nicht >>das Sein« gibt, sondern Vor­
schen im einen oder anderen Sinne, sondern im Widerstreit.
Dieser wird gerade aus der Beilegung der vorgeblichen Rechts­
streitfälle neu geboren. Er mahnt die Menschen, sich in unbe­
kannten Satz-Universen zu situieren, selbst wenn sie nicht das
Gefühl verspüren sollten, daß etwas in Sätze >gesetzt< werden
muß. (Denn dies ist notwendig, nicht verpflichtend.) Das Ge­
schieht es ? kann von keinem Willen zum Zeitgewinn besiegt

IT;
werden.
mischen Diskurs noch nicht zerstört wurde, unter dem Namen
i ' ' I I der Natur eine Vorsehung weiterhin einen Wink gibt, Zeichen
'f '
setzt und weiterhin Leitfäden zieht? Vorsehung heißt: Zweck­
.' I1·· '' I'
264
I : l!j , mäßigkeit, und Zweckmäßigkeit: gestundete Erfüllung, War­
i : ;: ten, Aufschub. Welche Zweckmäßigkeit könnte aufrechterhal­ Aber das Vorkommnis macht keine Geschichte? - Es ist in der
: [260] ten werden, wenn die Vorherrschaft beim Tausch verbliebe, I Tat kein Zeichen. Aber es ist beurteilbar, selbst in seiner Unver­
bei dem die Zeit der Tilgung verkürzt werden muß? Und bei dem gleichbarkeit. Man wird mit ihm kein politisches Programm
es sich von selbst versteht, daß man nichts zu erwarten hat, kein gestalten. Aber man kann Zeugnis für es ablegen. - Und wenn
Zeichen von einem anderen als man selbst. niemand dieses Zeugnis vernimmt usw. (Nr. 1 ff.) ? - Sie greifen
dem Geschieht es ? vor.

262
I Man zählt auf den Widerstand der dicht um ihre Namen und ihre
I Erzählungen gescharten Gemeinschaften, um sich der Vorherr­
i schaft des Kapitals zu widersetzen. Das ist ein Irrtum. Zunächst
I
i I I
wird dessen Vorherrschaft durch diesen Widerstand bewahrt
(Nr. 255), sofern er sich ihr entgegenstellt. Sodann rückt dieser
Widerstand die Idee einer weltbürgerlichen Geschichte fern und

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298
299
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»Sprache, Zeit, Arbeit. Gespräch mit Giairo Daghini<<, in: ders.,
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»Kunst heute? Gespräch mit Bernard Blistene<<, in: ders., Immate­
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318
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I
I I! 322 323

I
I

------ --- -- -------

 PERSONENREGISTER

Febvre, L. 41 1 98, 200-214, 215, 229, 235, 238,

Feyerabend, P. 39 239, 242, 244, 245, 247-250, 263,
Flechsig, P. E. 1 84 267-282, 283, 284, 286, 293, 295
Forster, G. 269 Kar! der Große 102
Frege, G. 34, 68, 69, 73, 74, 90 Kaufmann, P. 89
Freud, S. 36, 147, 195, 247 Kessel, P. 244
Keynes, J. M. 296
Gardies, J.-L. 23, 66, 1 0 1 Kierkegaard, S. 1 83
Genet, J. 52 Konstantin der Große 241
PERSONENREGISTER Genette, G. 52, 53, 72, 88, 255 Korax 44
Gorgias 36-38, 45, 65, 69, 71, 72, 77, Koyre, A. 1 1 7
85-87, 164 Kranz, W. 21, 44
Adorno, Th. W. 153, 1 54, 157 Capelle, W. 36 Göschel, K. F. 152 Kremer, J. P. 104
Aischylos 125 Capizzi, A. 2 1 , 22 Gyotat, P. 147 Kripke, S. 65, 72, 75, 77, 82
Alexander von Aphrodisias 50 Caracalla, Marcus Aurelius 242
Ammonios 22 Cassin, B. 37, 38 Habermas, J. 126, 143 Lacan, J. 147
d'Ans, A.-M. 1 80, 253, 254-256, 258 Caveing, M. 1 5 Hartog, F. 65 Lacoue-Labarthe, Ph. 252, 253
Antisthenes 69-73, 78, 124, 139 Cezanne, P. 2 3 1 , 251 Hege!, G. F. W. 21, 37, 61 , 66, 68, 87, La Fontaine, J . de 144
Apel, K.-0. 108, 1 1 8 Charcot, J. M. 1 84 88, 1 38, 139, 142, 152-158, 159- Latour, B. 39
Apuleius 22 Chateaubriand, F.-R. de 55 168, 1 74, 192, 194, 195, 2 1 7, 230, Lawler, J. 30
Aristophanes 44, 47, 264 Chatelet, F. 19 231, 256, 259, 260, 283 Lebrun, G . 152
Aristoteles 23, 26, 29, 37, 38, 49, 54, Cicero, Marcus Tullius 44 Heidegger, M. 12, 86, 1 1 1 , 133, 134, Leibniz, G. W. 12, 25, 26, 82, 100
69, 71-73, 82, 89, 128-135, 139, Clastres, P. 1 80, 256 197, 235, 236 Levinas, E. 1 86, 1 88-195, 1 97, 2 1 1
140, 142, 1 52, 160, 163, 166, 1 8 1 , Curry, F. 1 1 7 Henry, H. J. (Colonel) 43 Liddell, H . G . , Scott, R . , und Jones,
1 94, 199, 200, 229, 240, 248, 250, Cyrano de Bergerac 41 Herodot 124 H. S. 1 2 1
286 Hesychios von Milet 44 Loraux, N. 45
Armstrong, N. 100 Debout-Oleszkiewicz, S. 15 Hitler, A. 84, 104, 1 86 Ludwig XIV. 256
Aubenque, P. 89, 127 Derrida, J . 133, 134, 1 37, 155, 166 Hoffmeister, J. 166 Lukianos 22
Auerbach, E. 1 1 8 Descartes, R. 12, 86, 87, 128 Homer 47
Augustinus 86, 87, 1 3 1 , 137 Descles, J.-P . 136 Hottois, G. 200 Machiavelli, N. 284
Aulus Gellius 22, 24 Descles-Guentcheva, Z. 136 Hugo, Victor 82 Mackie, J. L. 22
Descombes, V. 68, 80, 1 04, 122, 141 Hume, D . 88, 1 14, 201 Marin, L. 80, 256
Balzac, H. de 52 Des Places, E. 47 Husserl, E. 12, 128, 131, 137 Markion 195
Bambrough, R. 1 35 Detienne, M. 50, 137 Marx, K. 27, 23 1 , 263, 265, 282-284,
Bataille, G. 236 Diderot, D. 52 Jakobson, R. 1 12 286, 290
Beckett, S. 137 Diels, H. 2 1 , 44 Jeanne d'Arc 265 McDowell, P. 81
Blanche, R. 142 Diegenes Laertios 22, 44 Jeschaja von Lublin 2 1 7
Boole, G. 292 Diegenes der Kyniker (der Hund) 69 Jizchak, Jaakob 217 Nancy, J.-L. 197
Bourgeois, B. 194 Dreyfus, A. 43 Jonas, H. 195 Napoleon Bonaparte 90, 91
Bouveresse, J. 81 Ducrot, 0. 109, 144 Joyce, J. 231, 251 Nietzsche, F. 226
Buber, M. 190, 194, 214, 217
Burke, E. 295 Eichmann, A. 64, 104 Kafka, F. 27 Parmenides 37, 45, 46, 65, 71
Burnyeat, M. F. 22, 1 1 7 Engel, P. 145 Kahn, L. 76 Pascal, B. 215, 240
Butor, M . 136, 292 Eusebios 44 Kalinowski, G. 169 Pasch, M. 142
Kant, I. 12, 13, 19, 24, 55, 56, 67, 69, Philostrates 44
Caesar, J ulius 82, 100 Fabbri, P. 35, 40, 216 82, 84, 91, 105, 1 1 0, 1 1 1-1 1 � 123, Pinget, R. 137
Cage, J. 121, 2 1 6 Fackenheim, E. 107 128, 1 3 8, 141, 153, 160, 170, 1 7 1 , Pirandello, L. 52
Caizzi, F . D. 69 Faurisson, R. 1 7, 43, 64

324 325
 PERSONENREGISTER

Platon 44---54, 68, 70, 122, 1 54, 1 79, Sinowjew, A. 1 8, 19

2 1 1 , 229, 256, 264 Sokrates 44, 45, 69, 264
Protageras 2 1-24, 44, 45, 1 1 8, 1 64, Stalin, J. D. 106
261 Stein, G. 120-122, 2 16, 263
Proust, M. 52 Stendhal (i. e. Beyle, H.) 91
Puech, J. B. 137 Sterne, L. 52, 292

Rescher, N. 101 Tarski, A. 79

SACHREGISTER
Rey-Debove, J. 124 Titus Livius 76
Robespierre, M. M. I. de 1 76, 244 Tsimbidaros, E. 1 03
Rosset, C. 65
Vidal-Naquet, P. 1 7, 41, 43, 55, 65,
Rousset, D. 1 83
1 04
Russell, B. 12, 22, 23, 68, 69, 1 1 7, 230 Abgrund 1 1 8, 272, 276, 295 Ausnahme 1 77, 261, 264
Vlachos, G. 268
Achtung 205, 210, 220, 285 Aussage 67, 68
Salanskis, J.-M. 1 1 7 White, H. 55, 107 Adressat passim; insbes. 15, 1 6, 25; cf. Aussageakt 66, 67, 68, 226
Sbisa, M . 35 Wittgenstein, L. 12, 13, 34, 38, 61, 73, Empfänger Aussagenlogik 1 99, 200
Schlosser, J. G. 224 74, 77, 91, 93, 96-102, 109, 1 1 0, Agitation 1 47 Auswahl 50, 1 77
Schneider, J. 23, 1 1 7 1 1 7, 1 1 8, 128, 136, 139, 141, 142, Agonistik (agonal) 49, 53, 54, 102 Autopsie 65
Schönberg, A . 231, 251 1 47, 148, 164, 200, 215, 2 1 7, 226, Allgemeinheit 220 Autor 9, 1 4
Schreber, D. P. 1 84, 238 227, 228, 286 Allomorphie 202 Autorisierung 1 69, 201, 224, 234, 235,
Sextus Empiricus 36, 44 Wojtila, K. 100 Als-ob 208, 209, 219, 220, 222, 225, 245, 264
Simon, C. 137 Wright, G. H. von 200 280, 290 Autorität 1 7, 36, 59, 60, 122, 1 73, 191,
Analogie(-ogon) 48, 92, 208, 220, 201, 237, 240, 243, 256
222, 225, 268
Analytisch(-er Diskurs, -er Satz) 1 3 Bedeutung [sens] passim; insbes. 25,
Andere (der) 192, 196 33-35, 39, 75, 8 1 , 83, 85, 89, 90, 91,
Anschauung 12, 83, 1 1 1 , 1 12, 1 13, 95, 96, 97, 1 39, 1 6 1 , 1 80, 1 8 7, 1 88,
1 14--- 1 1 7, 220, 247, 267 233, 261
Antithese 37, 222, 250 Befehl 62, 93, 123, 171, 1 73, 1 87, 1 89
Anthropogenie 269 Begebenheit 271-273, 276, 279
Anthropologie 2 1 1 , 2 1 7, 236, 259, 271 Begehrungsvermögen 204, 229
Anthropologismus 13 Beispiel 3 1 , 108, 154, 269, 282
Anthropomorphismus 13, 1 5 1 , 286 Benennung 73, 95, 102; cf. Nenn-Satz
Anthropozentrismus 226, 229 Beratschlagung (politische, rhetori-
Arbeit(-skraft) 26, 27, 28, 32, 287, sche) 235, 239, 247, 248, 294; cf.
288, 290, 291 ; cf. Ökonomisch( -e Deliberativ(-er Konsensus)
Diskursart) Beschreibung 62, 68, 76, 78, 89
Archipel 2 1 7-219 Böswilligkeit 50
Assoziation (freie) 247 Bühne/Saal [Zuschauer/Zuschauer­
Ästhetisch( -er Satz, -es Urteil, -er raum] ; siehe Saal/Bühne
Wert) 91, 1 12, 1 15, 221, 277, 278, Bürger(-lieh, -schaft) 26, 240, 241
280
Aufhebung 1 6 1 , 1 94 Cogito 81, 87

Begriffe wie Satz(-Universum, -Regelsystem), Bedeutung, Diskursart, Empfän­

ger, Instanz, Referent, Sender, Sinn, Subjekt usw., die passim vorkommen, sind
nur für die signifikantesten Fundstellen ausgewiesen.

:1 1I 326 327

'I
l .I ,'

I
i
, ,
I
II
SACHREGISTER
Darstellung 83, 108-15 1 , 1 63, 1 67,
201, 218, 274; cf. Satz-Univerum,
Situation
Deduktion 200, 201, 202-203, 204-
207, 232, 237
Deiktisch(-e Markierung, -e Zeitbe­
stimmung) 23, 76, 79, 87, 94, 1 0 1 ,
1 13
Definition(-orisches Regelsystem) 10,
73, 100, 1 03, 104, 1 08, 1 10, 122,
123, 1 4 1 , 233, 246
Deklarativ( -e Diskursart) 240, 241-
245
Deliberativ(-e Politik, Rhetorik) 46,
49, 1 80, 245, 249
Denominativ; siehe Eigenname
Denotativ(-er Satz) 199, 200, 201
Deontisch(-e Logik, -er Satz) 199, 200
Designator (aktueller, leerer, starrer)
72, 75, 84, 88, 90, 1 7 1 , 1 72
Deskriptiv(-e Diskursart) 62, 79, 8 1 ,
8 3 , 84, 108, 149, 198, 228, 267; cf.
Beschreibung
Dialektik 2 1 ; 37, 46, 69, 129, 152-154,
1 67, 1 75 1 88, 190, 192, 235, 242,
250
Dialektisch(-e Diskursart) 48, 92,
1 58, 1 62, 218, 220, 284
Dialog( -ische Diskursart, -es Leben)
48-50, 53, 54, 102, 122, 148, 190,
217
Diegesis 47, 133, 252, 261, 264
Dilemma 21, 22, 80, 86, 107, 148, 164,
1 98, 1 99, 284
Diskursart(-en) passim; inbes. 9, 1 1 ,
1 3 , 1 4 , 43, 127, 1 75, 21 5-250, 249,
282, 287, 299; cf. Zweck(-bestim­
mung)
Dispersion 12, 169, 174, 1 76, 1 87, 2 1 7
Double-bind 21
Dritter 49, 53, 54, 60, 93, 1 76, 1 84,
2 1 0 ; cf. Zeuge
Du 1 75, 176, 1 88-195, 199, 205, 206
Eigenname 58, 67, 73, 75, 85, 94, 141,
1 53, 1 68, 169, 171, 1 72, 191, 225,
267; cf. Welt (von Namen)
328
Einbildungskraft 220, 222, 287, 288
Einfach(-es, Ding, Theorie des- -) 73,
74, 98, 99, 100
Einsatz (Spieleinsatz) passim; insbes.
1 0, 1 1 , 50, 109, 149, 1 8 1 , 215, 227,
228-231, 232, 235, 236, 245, 246,
259, 261, 263; cf. Zweck(-bestim­
mung)
Empfänger passim; insbes. 30, 34, 35,
53, 171, 1 84, 201, 253
Enthusiasmus 67, 273-276, 279, 283,
295
Enthymem 248
Epideiktisch( -e Diskursart) 46, 1 79,
181
Ereignis 1 00, 1 0 1 , 107, 134, 140, 163,
1 67, 236, 252, 256, 265, 293, 296
Ereignis-Satz 1 1 9
Erfahrung 85, 87, 8 8 , 94, 103, 1 55,
156
Erfolg( -sorientiert) 228, 229
Erhaben(-es) 115, 138, 273, 274
Erinnerung 87
Eristik 48, 49
Erleidbarkeit 191, 192, 194
Erzählung (Erzählakt, Erzählmodus,
Erzählperson) 12, 88, 1 78, 1 80,
226, 232, 234, 243, 244, 245, 251,
254, 256, 260, 261, 263, 264, 292-
294, 298
Es 1 95
Ethik 1 1 , 2 1 1 , 212-214, 265, 275
Ethisch(-e Diskursart, -er Name, -er
Wert) 9 1 , 1 88, 190, 1 94, 196, 1 98,
206-209, 2 1 1 , 212, 2 13, 217, 221,
235, 238, 245, 268, 275, 276, 293,
297
Evaluativ(-e Diskursart) 149
Evidenz 86, 87, 1 1 9
Exklamativ 8 1 , 93, 215, 229; cf.Ge­
fühl, Schweigen
Exklusion 21
Fall 86, 89, 1 19, 126, 140, 141 ; cf.
Vorkommnis
Familie ; siehe Satzfamilie
Familienname 135
SACHREGISTER
Farbe (Farbennamen, Farbwörter) 38, Humanwissenschaften 1 1 , 3 1 , 42, 146
77, 85, 1 12 Humor 240
Feld 94, 95, 218, 219, 278 ; cf. Erfah-
rung Ich 1 75, 1 76, 1 8 8-195, 199, 204-207,
Forderung 196 211
Formalistisch(-er Diskurs) 164 Idee 1 9, 55, 56, 147, 267
Form-Satz 1 13 Idiolekt 60, 1 06, 1 16, 1 47, 148, 1 83,
Fortschritt 280 1 84, 1 87, 238; cf. Gefühl
Frage 1 0, 62, 120, 229, 232; cf. Inter- Idiom 28, 32, 5 1 , 1 03, 1 5 1 , 1 8 1 , 233,
rogativ(-e Diskursart) 237, 283, 286
Freiheit 205, 206, 220, 221 Idol 48
Fühler 74, 98 Illusion (metaphysische) 1 11 , 141,
Funktor 200 1 71 , 219, 275, 294
Implikation (Implikatur) 2 1 , 145, 146,
Gebrauch 286 1 80, 1 85, 213, 2 1 7
Gedankending 21 1 Indikator (deiktischer, starrer) 66, 74,
Gefühl 33, 105, 106, 122, 1 79, 196, 76, 77, 78, 79, 82, 84, 87, 94, 95, 99,
220, 225, 273, 278 1 36, 292
Gegenstand 9, 32, 100, 1 1 1, 2 1 7 Information 93, 94, 95, 246
Gehorsam 1 84, 2 1 2 Inkommensurabilität 2 1 5, 225, 240
Geisel 193 Inkompossibel(-n) 146, 147
Geld(-wert) 231, 286, 289, 290, 292 Instanz passim; insbes. 35, 45, 85,
Gemeinschaft 1 2, 210, 2 1 1 , 213, 214, 1 1 8, 136, 142; cf. Satz-Universum
242, 258, 266, 298 Intellektuell(-er) 237
Gemeinwesen 268 Interesselosigkeit 220
Geschichte 1 1 , 242, 254, 255, 257, Interrogativ(-e Diskursart) 145, 149,
258, 263, 272, 295; cf. Narrativ(-e 215, 228, 246; cf. Frage
Diskursart) Isomorphie 201
Geschichtszeichen 251-299
Geschieht es? 16, 140, 1 4 1 , 1 8 1 , 196, Jetzt(-Punkte) 1 1, 16, 23, 66, 67, 1 06,
212, 231, 294, 299 1 1 1 , 1 3 1-133, 212, 252, 255, 266,
Geschmack 221 , 223 291
Gesetz 1 83, 200-204 Juden(-tum, jüdisches Volk) 55, 1 74,
Gestell 235 1 77, 1 8 1 , 1 86, 194
Gott 100, 137, 148, 169, 1 84-186,
195, 205, 233, 265, 266 Kapital 1 1 , 28, 230, 231 , 236, 282,
Gottlosigkeit 45, 46-48 283, 288, 289, 292, 294, 298
Gut(-es) 220, 234, 280 Kapitalismus 257, 295, 296
Kategorie 127
Handlungsmaxime 2 1 3 Kläger 25, 26, 27, 28, 60
Hegemonie 298 Klasse( -nkampf) 234, 283, 284
Hermeneutik 260 Kluft 207, 208, 210, 215, 216, 239,
Heterogen(-ität) 94, 103, 1 70, 202, 249, 295
212, 2 1 7, 225, 240, 242, 243, 251, Kognitiv(-e Diskursart, -er Satz) 26,
259, 268, 269, 288, 292, 295, 296; 3 1 , 36, 38, 39, 4 1 , 43, 56, 58, 60, 69,
cf. Abgrund 78, 79, 83, 91, 86, 97, 101, 103, 106,
Humanismus 1 1, 1 87 1 07, 1 10, 1 15, 1 1 7, 123, 1 46, 147,
329
 SACHREGISTER
1 49, 1 85, 1 90, 198, 1 99, 206, 2 12,
2 1 3, 2 1 5, 2 1 7, 223, 247, 249, 258,
259, 268, 269,-271, 276, 278, 284
Kommensurabilität 278
Kommentar (Kommentator) 1 92,
1 93, 194
Kommunikation 31, 32, 1 75, 229
i Kommunist(-isch, Kommunismus)
Metaphysik 1 53, 1 54
Metaphysisch( -e Doktrin, -er Dis­
kurs, -er Satz) 12, 99, 167
Metasprache 13, 24, 6 1 , 94, 136, 150,
1 60, 162, 165, 201-203, 242, 262;
cf. Kommentar
Mimesis 46, 47, 48, 253
Modell 1 52-155, 159
SACHREGISTER
Objekt passim; insbes. 24, 85, 1 1 1- Pronomen 1 70, 1 71, 1 79
1 17, 165, 187 Proposition 22, 23, 82, 96, 97, 1 1 7,
Objektsprache 1 3, 160, 162, 201-203 1 46
Offenbarung 45, 1 80, 1 88, 239 Prosa 262, 263, 266
Ökonomisch(-e Diskursart, -er Satz)
1 1, 1 6, 236, 285-290, 292, 293, Raum 1 12-1 1 7, 1 35
296-299 Raum (logischer) 96, 97, 1 00, 102, 1 35
Realität (real) passim; insbes. 20, 43,

��
Ontologisch( -e Diskursart, -er Satz)
19, 1 8 1 , 206, 283, 296 Moderne 12, 1 80, 1 81, 225

II
45, 48, 64, 93, 1 19, 138 54, 65, 79, 83 ; cf. Referent
Kommutabilität 2 1 0-21 1 Modus 13, 147; cf. Verkettung(-smo­
Opfer 20, 21, 25, 27, 32, 42, 55, 57, Rechtsstreit 9, 27, 38, 56, 104, 1 07,
Kompetenz 33, 1 76 dus)
59, 106, 1 83, 1 86, 1 87, 193, 236, 233, 261 ' 285
Kompossibilität 210, 2 1 1 , 212 Möglich(-keit) 85, 86, 87, 88, 97, 101,

iI!l,
237; cf. Unrecht Redlichkeit 1 97
Konsensus 43, 48, 50, 53, 1 04, 190 213
Operator 21, 109, 1 18, 130, 164, 168, Referent passim; insbes. 1 0, 1 8, 20,
Kontext 12, 69, 145 Monstrativ(-er Satz) 78
1 74, 200, 252 30, 33, 34, 36, 39, 46, 48, 63, 64-
Kontingenz (kontingent) 134 Mythos 1 78, 181, 232, 235, 239, 245,
Ostension 10, 37, 78, 83, 87, 88 1 07, 140, 254, 261 , 265
Körper 147, 148 252, 253-257 Reformismus 296, 297

ill
Ostensiv(-er Satz) 59, 69, 78, 80, 82,
Kosmopolitisch(-e Erzählung) 209,
83, 86, 91, 99, 1 03, 108, 1 13, 1 1 5, Regel 16, 4 1 , 43, 48, 49, 1 10, 164,
245, 257, 258
I
1,1l
Nachher/Vorher; siehe Vorher! 277
1 23, 136; cf. Indikator

j'
Kritisch(-e Diskursart) 261, 263
Kritizistisch(-er Satz) 58
Kultur 279-282, 298
Kummer 295, 298
Legitimation (Legitimität) 9, 60, 227,
ll
iI 240, 241, 243, 244, 257, 266, 299
111 ! I ,
I
Leitfaden 223-225, 270-271 ; cf. Zei-
I chen
! Leser 14, 193
Liberalismus 1 82, 296
Liebe 264, 265, 266
Linguist(-ik) 13, 32, 34, 58, 1 1 0, 2 1 6
Logik 103, 1 10, 1 1 1 , 135, 157, 1 77
Logisch( -e Diskursart, -er Satz) 96,
97, 99, 102, 1 10, 1 1 7, 1 19, 123, 129,
1 35, 139, 198
Lohnarbeit 291
Marxismus 1 82, 282
Materie-Satz 1 12, 1 1 3
Mehrdeutig(-keit) 122, 143, 145, 148,
1 6 1 , 164, 165, 168, 244, 259
Menschengeschlecht (Menschheit) 42,
2 10, 241, 244, 245, 257, 259, 260
Menschlich, Menschheitlich 4 1 , 2 1 1 ,
232, 244, 260
Metalepse 52, 53, 54, 256
Nachher Regelsystem; siehe Satz-Regelsystem
Name 64-107, 1 53, 1 55, 166, 171,
Pagus 251 Reihe 24, 30, 1 09, 1 10, 1 63, 209-2 1 1 ,
1 80, 242, 243, 252, 253, 254-257,
Paradoxon (paradoxer Satz) 22, 23, 267, 272
261, 295, 298
30, 53, 57, 71, 72, 105, 1 17, 155 Resultat 37, 87, 109, 1 56, 159, 1 68,
Namenseponymie 72 1 74, 1 76-179, 1 87
Parataxis 1 1 8
Narrativ( -e Diskursart, -es Regelsy­ Resultatslogik 283
Peirastik 49
stem, -e Fiktion) 53, 101, 135, 179,
Performativ(-er Satz) 62, 145, 1 70, Resultatsregel 37, 138, 1 55, 167, 168
1 80, 245, 249, 250, 252, 255, 257,
1 89, 206, 207, 215, 238 Revolution 235, 244, 268, 273, 274,
259-263, 266
Petitio principii 74, 237, 258, 260 276
Nation 241, 242; cf Welt (von Rückzug (logischer) 36, 86
Phänomenologie (Phänomenolo-
Namen)
gisch) 8 1 , 85, 1 03, 1 87 Ruhestand (logischer) 86
Nationalsozialismus 177, 1 80, 252,
Philosophisch(-er Diskurs) 13, 14,
253 Saal/Bühne [Zuschauer/Zuschauer­
1 10, 167, 1 68, 1 98, 231
Natur 2 1 0-213, 2 1 8, 221 , 223, 224,
Politik (politisch) 1 1 , 33, 50, 91, 230, raumJ 53, 276, 283
280 Satz passim; insbes. 9, 29, 34, 35, 48,
234, 240, 262, 266, 270, 281
Negation 22, 27, 86, 87, 95, 101, 102,
Positivismus 56, 224 54, 1 08, 1 10, 122, 123-125, 135,
1 06, 139
Postmoderne 12, 225, 226 1 5 1 , 1 84, 231
Negativ(-e Dialektik) 37, 154, 157,
Prädikat 37, 72, 76, 100, 1 02, 108, 160 Satz-Familie (Satzfamilie) passim; ins­
1 59
Prädikatenlogik 1 99 bes. 32, 58, 1 03, 207, 268, 269
Nennsatz 80, 89, 1 02
Präskriptiv( -e Diskursart, -er Satz) Satz-Regelsystem passim; insbes. 10,
Nihilismus 26, 38, 86, 158, 1 59, 225
59-61 , 81, 149, 1 70, 1 74, 1 84, 1 85, 20, 92, 93, 1 10, 124, 142, 149, 1 5 1 ,
Nominaldesignator 77
l98, 199, 200, 201, 203, 204, 2 1 1 , 215, 227, 249, 299
Nominativ(-er Satz) 81
213, 215, 2 1 7, 228, 237, 239, 241, Satz-Universum passim; insbes. 39,
Norm 1 69, 171, 1 74, 215-250, 259
246, 249, 250, 285 ; cf. Normativ, 46, 57, 77, 80, 87, 94, 1 03, 1 1 1 , 1 1 8,
Normativ(-er Satz) 170, 237, 238,
Verpflichtung 1 25, 1 34, 141, 1 62, 191, 196, 282 ;
239, 240, 241, 249; cf. Präskrip­
Präsupposition 145, 1 85 cf. Darstellung, Instanz, Satz, Si­
tiv( -e Diskursart)
Prätext 1 2, 1 3 tuation
Notwendig(-keit) 58, 1 1 8-1 19, 122,
Problem 1 1 Scenario 247, 248, 266
142-145, 197; cf. Verkettung
Produktion( -s-Diskurs) 286, 287-289 Schaden 20, 21, 56, 104

330
331

2 2
 SACHREGISTER
Schema 268, 269, 282
Schön(-es) 1 15, 220, 221, 239, 278,
279, 280
Schrift 50
Schwach/Stark siehe Stark/Schwach
Schweigen 10, 28-30, 34, 35, 38, 55,
i
104, 105, 1 14, 125, 134, 1 79, 205,
246; cf. Gefühl
I�
:I
Sein passim; insbes. 1 1 , 48, 126, 1 33-
1 35, 1 3 8, 1 39, 196, 197, 230, 299;
cf. Geschieht es?, Vorkommnis
II I
Selbst 160, 161, 162, 165, 167, 1 82,
1 88, 194, 195, 236, 260
Selbstreferenz(-ialität) 67, 1 1 7
Sender passim; insbes. 25, 29, 30, 34,
1; 1;,
35, 39, 54, 253
Sensus communis 277, 279
I; Sinn [sens] passim; insbes. 30, 34, 35,
39, 69, 97, 98
I
Sinnlichkeit 1 12, 2 1 8, 2 1 9, 222
Sitt!ichgut(-es) 220, 221
Situation(-sfamilie) 1 7, 35, 56, 76,
1 17, 127, 130, 131, 135, 1 89
Skeptizismus 1 5 7-159, 263
Sophistik 49, 2 1 5
Sozial(-es, -er Alltag) 231, 232, 233,
234, 236, 296
Sozialismus 12
Spekulativ( -e Diskursart, -er Satz) 13,
87, 150, 152, 154-156, 1 59, 161,
163, 164, 165, 1 75, 197, 230, 260,
268, 270, 283; cf. Dialektisch(-e
Diskursart)
Spieleinsatz; siehe Einsatz
Spontaneismus 285
Sprache passim; insbes. 10, 33, 42,
108, 109, 229, 234, 236, 299
Sprachspiel 12, 39, 2 1 7, 229
Sprachwende 1 2
Sprechen 2 8 , 29, 30
Stark!Schwach(-e Sätze) 44-46, 261,
263, 264
Stil 14
Strategie 228, 230, 231
Subjekt passim; insbes. 12, 18, 67, 72,
85, 1 1 1-1 1 7, 128, 129, 160, 165,
1 67, 168, 175, 1 82, 216, 287
332
�..............................................�..--.r ..__ j____________________________________________________________
Symbol 2 1 8, 220, 260
Syntax(-is) 1 1 8
Tausch(-resu!tat, -strategie) 1 1 , 16,
3 1 , 287, 288-29 1 ; cf. Ökono­
misch(-e Diskursart)
Tautologie 96, 98, 146, 150, 198
Teleologie 149, 2 1 6, 222, 257
Terror 1 76, 1 77
These 10, 3 7, 50, 222
Tiefe 106, 2 1 5
Tod 1 5 5 , 156, 1 71-173, 1 79, 1 8 7
Token-Satz 1 1 9
Totalität 2 3 , 108, 1 85, 1 87, 195
Totalitarismus 20
Transzendental(-e Diskursart) 220
Tribunal 20, 55, 102, 104
Type-Satz 1 19, 122
Typus 208-210, 2 1 8
Übel 234
Übergang 60, 109, 1 10, 1 16, 1 1 8, 163,
208, 2 1 8, 219-222, 225, 244, 270,
274, 284, 295; cf. Abgrund, Archi­
pel, Heterogen, Verpflichtung
Übersetzbarkeit (Unübersetzbarkeit)
92, 93, 103, 108
Universalgeschichte 258, 259, 260,
261, 266, 294, 295
Universalistisch(-er Diskurs, -e Er-
zählung, -er Satz) 12, 257, 282
Universum; siehe Satz-Universum
Unmittelbarkeit 1 89, 220
Unrecht 9, 20, 2 1 , 25, 56, 60, 104,
150, 282; cf. Widerstreit, Opfer
Ursprung 66, 231, 244
Urteil(-skraft, -svermögen) 24, 1 12,
115, 2 1 8, 223, 239, 249, 281
Validierung [validation] 40, 59, 62,
6� 84, 91, 9� 101, 1 10, 227
Verblendung 1 85, 1 86, 1 8 7
Vergeltung 54, 5 5 , 59-61, 104
Vergessen 55, 137, 190, 229
Vergleich 222-225
Verketten (Verkettung, -smodus) 10,
1 1 , 58, 75, 103, 1 1 8, 125, 136, 142,
143, 144, 145, 149, 1 70, 1 80, 222,
227, 246, 251, 257, 258, 294
Vermögen 115, 1 16, 1 17, 219
Verpflichtung 61, 1 18, 142, 169, 170,
173, 1 83-214, 238, 265, 293; cf.
Ethik, Ethisch
Vertrag 232
Volk 178, 180, 1 8 1 , 1 87, 251, 262,
263, 266
Vorher/Nachher 128-131, 163, 191,
252, 266
Vorkommnis 16, 24, 1 17, 142, 146,
167, 196, 197, 234, 245, 250, 256,
262, 264, 265, 272, 287, 293, 299;
cf. Fall, Geschieht es?
Wahr(-es) 129, 239
Ware 32, 287, 288, 292
Welt (von Namen) 77, 78, 141, 1 74,
242, 246, 267; cfEigenname
Widerlegung 28, 37, 45, 64
Widerspruch 96, 98, 1 10, 146
Widerstreit 9, 13, 27, 33, 56, 104, 107,
143, 148, 208, 211, 225, 233, 250,
256, 261, 267, 282, 285, 294
Wild(-er, -e) 180, 254-257, 258, 259;
cf. Pagus
Wille 42, 177, 203, 2 1 7, 227, 236
Wir 165, 168-1 71, 172, 175, 176, 179,
1 80
SACHREGISTER
Wirklichkeit 12, 1 8 , 19, 56, 64, 83, 85,
90, 91, 95, 99, 104, 107, 1 19, 141,
1 83
Wohlgeformt(-heit, von Sätzen) 26,
3 1 , 39, 40, 9 1
Wunder 121, 195, 239, 293
Zeichen 73, 105, 106, 1 14, 166, 224,
268, 282, 284, 299; cf. Fall, Ge­
schieht es ?, Geschichte, Vor­
kommnis
Zeigen (Zeige-Satz) 80, 95, 103; cf.
Monstrativ
Zeit(-Operator, -Punkt) 1 1 , 14, 23,
108, 1 10, 129, 1 31-133, 135,
1 37, 231, 287, 288, 289, 292, 293,
296
Zentralismus 285
Zeuge 20, 42, 54, 99, 1 1 9 ; cf. Dritter
Zuschauerraum/Zuschauer; siehe
Saal/Bühne
Zweck(-bestimmung) 10, 16, 58, 1 83,
2 1 6, 2 1 7, 224, 226, 248, 285, 294;
cf. Diskursart
Zweckmäßigkeit 12, 166, 1 78, 1 87,
2 1 6, 229, 230, 231, 251, 264, 268,
271, 279, 282, 287, 298
Zweifel 108, 1 1 8, 1 19; cf. Geschieht
es?
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