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HANS-GEORG

GADAMER

Wahrheit
und
Methode
Ergänzungen
Register
Hans-Georg Gadamer

Gesammelte Werke

Band 2
Hans-Georg Gadamer

Hermeneutik 11
Wahrheit und Methode

Ergänzungen
Register

J. c. B. Mohr (Paul Sieb eck) Tübingen 1993


Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufoahme

Gadamer, Hans-Georg:
Gesammelte Werke / Hans-Georg Gadamer. - Tübingen :
Mohr.
NE: Gadamer, Hans-Georg: [Sammlung]

Bd. 2. Hermeneutik: Wahrheit und Methode. - 2.


Ergänzungen, Register. - 2. Aufl. (durchges.) -1993
ISBN 3-16-146043-X kart.
ISBN 3-16-146044-8 Gewebe

1. Auflage 1986
2. Auflage 1993 (durchgesehen)

© 1986/1993 J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jeder Verwertung
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unzulässig. Das gilt insbesondere ftir Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Bembo-Antiqua gesetzt, die Broschur-
ausgabe auf säurefreies Werkdruckpapier der Papierfabrik Niefern, die Leinenausgabe auf
alterungsbeständiges Werkdruckpapier der Papierfabrik Buhl in Ettlingen gedruckt und von
der Groß buchbinderei Heinr. Koch in Tübingen gebunden.
Inhalt

I. Zur Einfiihrung

1. Zwischen Phänomenologie und Dialektik -


Versuch einer Selbstkritik 3

II. Vorstufen

2. Das Problem der Geschichte in der


neueren deutschen Philosophie (1943) 27

3. Wahrheit in den Geisteswissenschaften (1953) 37

4. Was ist Wahrheit? (1957) 44

5. Vom Zirkel des Verstehens (1959) 57

6. Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge (1960) 66

7. Begriffsgeschichte als Philosophie (1970) 77

8. Klassische und philosophische Hermeneutik (1968) 92

III. Ergänzungen

9. Zur Problematik des Selbstverständnisses. Ein hermeneutischer


Beitrag zur Frage der Entmythologisierung (1961) 121

10. Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick


der Existenz (1965) 133
VI Inhalt

11. Mensch und Sprache (1966) 146

12. Über die Planung der Zukunft (1965) 155

13. Semantik und Hermeneutik (1968) 174

14. Sprache und Verstehen (1970) 184

15. Wie weit schreibt Sprache das Denken vor? (1970) 199

16. Die Unfahigkeit zum Gespräch (1972) 207

IV Weiterentwicklungen

17. Die Universalität des hermeneutischen Problems (1966) 219

18. Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik.


Metakritische Erörterungen zu Wahrheit und Methode (1967) 232

19. Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik (1971) 251

20. Rhetorik und Hermeneutik (1976) 276

21. Logik oder Rhetorik?


Nochmals zur Frühgeschichte der Hermeneutik (1976) 292

22. Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe (1978) 301

23. Probleme der praktischen Vernunft (1980) 319

24. Text und Interpretation (1983) 330

25. Destruktion und Dekonstruktion (1985) 361


Inhalt VII

V. Anhänge

26. Exkurse I-VI (1960) 375

27. Hermeneutik und Historismus (1965) 387

28. Hermeneutik (1969) 425

29. Vorwort zur 2. Auflage (1965) 437

30. Nachwort zur 3. Auflage (1972) 449

31. Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer (1973) 479

Bibliographische N achweise 509

Register
Sachen 513
Namen 524
Stellen 532
I. Zur Einführung
1. Zwischen Phänomenologie und Dialektik
Versuch einer Selbstkritik
1985

Nach einem Vierteljahrhundert scheint es an der Zeit, einen theoretischen


Entwurf, der von verschiedenen Seiten aus angesetzte Untersuchungen zur
Einheit eines philosophischen Ganzen zusammenfaßte, auf seine einheitliche
Konsistenz hin zu prüfen und insbesondere daraufhin, ob Risse und Sprünge
in der Schlüssigkeit des Ganzen wahrzunehmen sind. Lassen sie auf ernstli-
che Konstruktionsmängel schließen oder betreffen sie mehr die Form der
Präsentation, die notwendigerweise hier und da veraltet sein muß?
Veraltet ist ganz gewiß, daß innerhalb der sogenannten Geisteswissen-
schaften der Akzent derart auf den philologisch-historischen Wissenschaften
liegt. Im Zeitalter der Sozialwissenschaften, des Strukturalismus und der
Linguistik scheint diese Anknüpfung an das romantische Erbe der histori-
schen Schule nicht mehr zu genügen. Es ist in der Tat die Begrenztheit der
eigenen Ausgangserfahrungen, die sich hier auswirkt. Die Absicht des Gan-
zen zielte jedoch von vornherein auf die Universalität der hermeneutischen
Erfahrung, die von jedem Ausgangspunkt aus erreichbar sein muß, wenn sie
eine universale Erfahrung sein soll. 1
Noch weniger kann ohne Zweifel das Gegenbild fortgelten, das diese
Untersuchung sich von den Naturwissenschaften macht. Es ist mir klar, daß
hier ein ganzes weites Feld hermeneutischer Probleme ausgespart geblieben
ist, das meine eigene Reichweite im wissenschaftlichen Forschungsprozeß
überschreitet. Nur in den historisch-philologischen Wisssenschaften bin ich
so weit gekommen, daß ich an der Forschungsarbeit derselben hier und da
mit einiger Kompetenz teilnehmen kann. Wo ich Originalarbeiten nicht
studieren kann, ftihle ich mich nicht legitimiert, dem Forscher bewußtma-
chen zu wollen, was er da tut und was da mit ihm geschieht. Das Wesen
hermeneutischer Besinnung besteht eben darin, daß sie aus der hermeneuti-
schen Praxis aufsteigen muß.
Daß in den Naturwissenschaften eine hermeneutische Problematik einge-
schlossen ist, wurde mir bereits 1934 an Moritz Schlicks siegreicher Kritik
1 Näheres darüber in diesem Bande vor allem in dem Aufsatz ,)Rhetorik, Hermeneu-
tik und Ideologiekritik«, unten S. 219ff.
4 Zur Einführung

des Dogmas von den Protokollsätzen klar.'Aber als sich die Ideen dieses
Buches in den dreißiger Jahren entwickelten, in welchen die Zeitumstände
steigende Isolierung mit sich brachten, war der Physikalismus und die unity
01 science das Gegenbild, das sich fcirmlich aufdrängte. Der linguistic turn der
angelsächsischen Forschung war damals noch nicht über den Horizont ge-
treten. Das Spätwerk Wittgensteins konnte ich erst nach Durchmessung
meiner eigenen Denkwege studieren, und daß in Poppers Kritik arn Positi-
vismus verwandte Motive mit meiner eigenen Orientierung steckten, habe
ich auch erst später realisiert. 3
So bin ich mir über die Zeitverhaftung der Ausgangspunkte meiner
Gedankenbildung nur allzu klar. Es ist die Aufgabe Jüngerer, den veränder-
ten Bedingungen hermeneutischer Praxis Rechnung zu tragen, und von
mancher Seite ist das geschehen. Selber noch lernen zu wollen, schien mir
für einen in den achtziger Jahren Stehenden vermessen. Daher habe ich den
Text von) Wahrheit und Methode~ wie alle späteren Beiträge unverändert
gelassen und mich daraufbeschränkt, nur gelegentlich kleinere Verbesserun-
gen anzubringen.
Anders ist es dagegen mit der Frage der inneren Konsistenz des in seinen
Grenzen Getanen. Hier möchte dieser zweite Band meiner Gesammelten
Werke ergänzend eintreten. Sein Inhalt gliedert sich in drei Abteilungen:
Vorstuftn des Buches, die in ihrer eigenen Vorgreiflichkeit manchmal nütz-
lich sein können, Ergänzun,~en, die sich im Laufe der Jahre einstellten. (Diese
beiden Teile sind in meinen >Kleinen Schriften< im wesentlichen schon
publiziert gewesen.) Der wichtigste Teil dieses 2. Bandes enthält Weiterfoh-
run~en; ich war zu diesen teils schon unterwegs, teils wurde ich durch die
kritische Diskussion meiner Ideen dazu eingeladen. Die Theorie der Litera-
tur war es insbesondere, die mir von Anfang an als eine Weiterfuhrung
meiner Gedanken vorschwebte und die in naher Fühlung mit hermeneuti-
scher Praxis in den Bänden 8 und 9 dieser Ausgabe ausfUhrlich zu Worte
kommt. Die grundsätzlichen Fragen hermeneutischer Art haben jedoch
sowohl durch die Diskussion mit Habermas wie durch die wiederholte
Begegnung mit Derrida gewisse neue Beleuchtungen gefunden, deren Dis-
kussion hier im Zusammenhang dieses Bandes an ihrem Platze ist. Schließ-
lich werden im Anhang die Exkurse und die den späteren Auflagen von
,Wahrheit und Methode< beigefUgten Ergänzungen, Vorworte und N ach-
worte mitgeteilt. Den Abschluß des vorliegenden Bandes macht meine 1973
geschriebene Selbstdarstellung. Ein gemeinsames Register von Band 1 und 2
unterstreicht die Zusammengehörigkeit der beiden Bände. Ich hoffe, durch
2 M. Schlick. >über das Fundament der Erkenntnis<. Erkenntnis 4 (1934). Auch in

ders., Gesammelte Aufsätze 1926-36, Wien 1938, bes. S. 290-295 und 300-309.
3 Vgl. von heute her gesehen die instruktive Einleitung von]. C. Weinsheimer, Gada-

mer's Hermencutics - A Reading ofTruth and Method, Yale 1985.


Zwischen Phänomenologie und Dialektik 5
die Anlage dieses zweiten Bandes die Mängel meines Buches zu verbessern
und der Weiterarbeitjüngerer Kräfte zu dienen.
Bei einem solchen Unternehmen ist es geboten, die Resonanz zu beach-
ten, die der eigene Entwurfbei der Kritik gefunden hat. Daß die Wirkungs_
geschichte zur Sache selbst gehört, ist eine hermeneutische Wahrheit, die
man auch in diesem Falle nicht vernachlässigen darf. In diesem Sinne ist auf
mein Vorwort zur 2. Auflage und mein Nachwort zur 3. und 4. Auflage zu
verweisen, die im Anhang dieses Bandes neu abgedruckt sind. Heute scheint
mir, wenn ich zurückblicke, daß die angestrebte Konsistenz theoretischer
Art in einem Punkte nicht ganz erreicht war. Es wird nicht klar genug, wie
die beiden Grundentwürfe zusammenstimmen, die den Spielbegriff dem
subjektivistischen Denkansatz der Moderne entgegensetzen. Da ist einmal
die Orientierung an dem Spiel der Kunst, und dann die Grundlegung der
Sprache im Gespräch, die von dem Spiel der Sprache handelt. Damit ist die
weitere, entscheidende Frage gestellt, wie weit es mir gelungen ist, die
hermeneutische Dimension als einjenseits des Selbstbewußtseins sichtbar zu
machen, und das heißt, im Verstehen die Andersheit des Anderen nicht
aufzuheben, sondern zu bewahren. So hatte ich in meine auf das Universale
der Sprachlichkeit ausgeweitete ontologische Perspektive den Spielbegriff
wieder zurückzuholen. Es galt, das Spiel der Sprache mit dem Spiel der
Kunst, in dem ich den hermeneutischen Paradefall erblickt hatte, enger
zusammenzuschließen. Nun liegt es gewiß nahe, die universale Sprachlich-
keit unserer Welterfahrung unter dem Modell des Spieles zu denken. Schon
im Vorwort zur 2. Auflage meines Buches, sowie in den abschließenden
Seiten meines Beitrages >Die phänomenologische Bewegung<4 wies ich auf
die Konvergenz meiner in den dreißiger Jahren konzipierten Ideen zum
Sp.ielbegriffmit dem späten Wittgenstein hin.
Es ist doch nur eine fafon de parier, wenn man das Sprechenlernen einen
Lernvorgang nennt. In Wahrheit ist es ein Spiel, ein Spiel der Nachahmung
und des Austauschs. Lautbildung und Vergnügen an der Lautbildung sind
im Nachahmungsdrang des aufnehmenden Kindes mit dem Aufleuchten
von Sinn gepaart. Niemand kann die Frage nach dem ersten Verstehen von
Sinn auf eine vernünftige Weise beantworten. Immer sind schon vorsprach-
liehe Sinnerfahrungen vorausgegangen, und der Austausch von Blicken und
Gebärden erst recht, so daß alle Übergänge fließend sind. Ebenso ungreifbar
ist auch die Perfektion des Endes. Niemand kann konstruieren, was das
eigentlich ist, was die heutige Linguistik >Sprachkompetenz( nennt. Was das
heißt, läßt sich offenbar nicht als der Bestand des sprachlich Richtigen
objektiv abbilden. Vielmehr will der Ausdruck ,Kompetenz< sagen, daß das
sprachliche Vermögen, das sich in dem Sprechenden ausbildet, nicht als die

4 Kleine Schriften III, S. 150-189, dort S. 185[[; Ges. Werke Bd. 3.


6 Zur Einftihrung

Anwendung von Regeln und damit nicht als bloße regelgerechte Handha-
bung der Sprache beschrieben werden kann. Man muß es als die Frucht eines
in Grenzen freien Vorgangs sprachlicher Ausübung ansehen, daß einer am
Ende wie aus eigener Kompetenz )weiß<, was richtig ist. Es ist ein Kernstück
meines eigenen Versuches, die Universalität der Sprachlichkeit hermeneu-
tisch zur Geltung zu bringen, daß ich Sprechenlernen und den Erwerb von
Weltorientierung als das unauflösbare Gewebe der Bildungsgeschichte des
Menschen ansehe. Es mag das ein niemals endender Prozeß sein - er begrün-
det gleichwohl so etwas wie Kompetenz. 5 Man vergleiche das Lernen von
Fremdsprachen. Da können wir im allgemeinen nur von einer Annäherung
an die sogenannte Sprachkompetenz sprechen, es sei denn, daß jemand
dauerhaft und ganz und gar in eine fremdsprachliche Umwelt eingezogen
ist. Im allgemeinen ist es so, daß Kompetenz nur in der eigenen Mutterspra-
che erreichbar ist, bzw. der Sprache, die man dort spricht, wo man aufge-
wachsen ist und wo man lebt. Darin drückt sich aus, daß man mit denAugen
der Muttersprache in die Welt zu blicken gelernt hat und daß umgekehrt die
erste Entfaltung des eigenen Sprachvermögens sich im Blick auf die Welt,
die einen umgibt, zu artikulieren beginnt.
Die Frage ist nun, wie das Sprachspiel, das eines jeden Weltspiel ist, mit
dem Spiel der Kunst zusammenhängt. Wie verhalten sich beide zueinander?
Es ist klar, daß sich in beiden Fällen die Sprachlichkeit in die hermeneutische
Dimension eingliedert. Daß das Verstehen von Gesprochenem von der
Dialogsituation aus, und das heißt letzten Endes, von der Dialektik von
Frage und Antwort her gedacht werden muß, in der man sich verständigt
und durch die man die gemeinsame Welt artikuliert, glaube ich überzeugend
gemacht zu haben. 6 Ich bin über die Logik von Frage und Antwort, wie sie
Collingwood bereits entworfen hat, insofern hinausgegangen, als sich Welt-
orientierung nicht nur darin niederschlägt, daß sich zwischen den Spre-
chenden Frage und Antwort entwickeln, sondern ebenso geschieht das von
den Dingen her, von denen die Rede ist. Die Sache )gibt Fragen auf<. Frage
und Antwort spielen daher auch zwischen dem Text und seinem Interpreten.
Schriftlichkeit als solche ändert an der Problemsituation gar nichts. Es geht
um die Sache, von der die Rede ist, um ihr So-oder-anders-Sein. Mitteilun-
gen, wie im Brief, sind die Fortsetzung eines Gespräches mit anderen
Mitteln. So ist auch jedes Buch, das auf die Antwort des Lesers wartet, die
Eröffnung eines solchen Gespräches. Etwas kommt darin zur Sprache.
Wie ist es aber beim Kunstwerk, und insbesondere beim sprachlichen
Kunstwerk? Wieso läßt sich da von einer Dialogstruktur des Verstehens und
5 Inzwischen habe ich auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Herrenalb über

die >Sprachlichkeit und ihre Grenzen( einen Diskussionsbeitrag geleistet, der in Evolution
und Sprache, Herrenalber Texte 66 (1985), S. 89-99 zu finden ist.
6 Vgl. Ges. Werke Bd. 1, S. 375ff.
Zwischen Phänomenologie und Dialektik 7

der Verständigung reden? Da ist kein Autor als antwortender Partner und
keine Sache, die so oder anders sein kann, steht zur Diskussion. Das Tcxt-
werk steht in sich selbst. Hier scheint die Dialektik von Frage und Antwort,
sofern sie überhaupt statt hat, nur in der einen Richtung vorzuliegen, das
heißt, von demjenigen aus, der ein Kunstwerk zu verstehen sucht, der es
befragt und sich fragt, und der auf die Antwort des Werkes zu hören sucht.
Als dieser eine, der er ist, mag er, wie jeder Denkende, Fragender und
Antwortender zugleich sein, so wie es im wirklichen Gespräch zwischen
zweien auch geschieht. Aber dieser Dialog des verstehenden Lesers mit sich
selbst scheint doch nicht ein Dialog mit dem Text, der fixiert und insofern
fertig gegeben ist. Oder doch? Gibt es überhaupt einen fertig gegebenen
Text?
Die Dialektik von Frage und Antwort kommt hier nicht zum Stehen.
Vielmehr zeichnet es das Kunst\verk geradezu aus, daß man es niemals ganz
versteht. Das will sagen, daß man, wenn man an es fragend herantritt, nie
eine in der Weise endgültige Ant"vort erhält, daß man nun lweiße Man
entnimmt ihm nicht eine zutreffende Information - und damit genug. Man
kann ein Kunstwerk nicht auf die Informationen, die in ihm stecken, so
abernten, daß es gleichsam leergepflückt ist, "vie es bei Mitteilungen ist, die
wir zur Kenntnis nahmen. Das Aufnehmen eines dichterischen Werkes, ob
das nun durch das wirkliche Ohr vor sich geht oder nur durch jenes innere
Ohr, das im Lesen lauscht, stellt sich als eine zirkuläre Bewegung dar, in der
Antworten wieder in Fragen zurückschlagen und neue Antworten provozie-
ren. Das motiviert das Verweilen bei dem Werk der Kunst - ,;velcher Art
immer es sei. Verweilen ist offenkundig die eigentliche Auszeichnung in der
Erfahrung von Kunst. Ein Kunstwerk wird nie ausgeschöpft. Es ist nie leer.
Wir definieren umgekehrt jede Unkunst, die Imitation oder Effekthascherei
oder dergleichen ist, geradezu dadurch, daß wir sie Illeer« finden. Kein Werk
der Kunst spricht uns immer in der gleichen Weise an. Die Folge ist, daß wir
auch immer wieder anders antworten müssen. Andere Empfänglichkeiten,
andere Aufmerksamkeiten, andere Offenheiten lassen die eine, eigene, ein-
heitliche und selbige Gestalt, die Einheit der künstlerischen Aussage, in einer
Antwortmannigfaltigkeit herauskommen, die sich nie erschöpft. Es ist ein
Irrtum, meine'ich, diese unabschließbare Mannigfaltigkeit gegen die unver-
rückbare Identität des Werkes auszuspielen. Das scheint mir gegen die
Rezeptionsästhetik von] auss wie gegen den Dekonstruktivismus von Derri-
da (die sich darin beide nahe kommen) zu sagen zu sein: das Festhalten an der
Sinnidentität eines Textes ist weder ein Rückfall in den überwundenen
Platonismus einer klassizistischen Ästhetik noch ist es Befangenheit in der
Metaphysik.
Man wird gleichwohl fragen, ob mein eigener Versuch, die Differenz des
Verstehens mit der Einheit des Textes oder des Werkes zusammenzuschlie-
8 Zur Einfuhrung

ßen, und ob im besonderen mein Festhalten am Werkbegriffim Bereiche der


Kunst nicht doch einen Identitätsbegriff im Sinne der Metaphysik voraus-
setzt: Wenn die Reflexion des hermeneutischen Bewußtseins auch aner-
kennt, daß Verstehen Immer-anders-Verstehen ist, wird man damit dem
Widerstand und der Unausdeutbarkeit, die das Werk der Kunst auszeichnet,
wirklich gerecht? Und kann das Beispiel der Kunst wirklich den Rahmen
bilden, in dem sich eine allgemeine Hermeneutik zu entfalten vermag?
Ich antworte: Es war rur mich geradezu der Ausgangspunkt meiner
hermeneutischen Theorie, daß das Kunstwerk eine Herausforderung für
unser Verstehen ist, weil es sich allen Ausdeutungen immer wieder entzieht
und der Umsetzung in die Identität des Begriffes einen niemals überwindba-
fen Widerstand entgegensetzt. Das kann man, v.lie ich meine, schon aus
Kants ,Kritik der Urteilskraft< lernen. Gerade dadurch iibt das Beispiel der
Kunst die Leitfunktion aus, die der erste Teil von) Wahrheit und Methode,
ftir das Ganze meines Entwurfs einer philosophischen Hermeneutik besitzt.
Vollends wird das deutlich, wenn man }die Kunst, in der unendlichen
Vielheit und Vielfalt ihrer ,Aussagen, als 'wahr' gelten lassen soll.
Von je her habe ich mich als Anwalt jener >schlechten< Unendlichkeit
bekannt, die mich in einer spannungsvollen Nähe zu Hegel hält. Jedenfalls
versucht das Kapitel in ,Wahrheit und Methode<, das die Grenzen der Rcfle-
xionsphilosophie behandelt und in die Analyse des Erfahrungsbegriffs über-
geht, dies deutlich zu machen. Hier gehe ich so weit, gegen Hegel selbst den
von Hegel polemisch gebrauchten Begriff der ,Reflexionsphilosophie< aus-
zuspielen und in seiner dialektischen Methode einen unguten Kompromiß
mit dem Wissenschaftsgedanken der Moderne zu sehen. Wenn sie die äußere
Reflexion der fortgehenden Erfahrung derart in die Selbstreflexion des
Gedankens aufnimmt, bleibt sie lediglich eine Versöhnung in Gedanken.
Auf der anderen Seite kann man sich der inneren Geschlossenheit des
Bewußtseinsidealismus und dem Sog der Reflexionsbewegung, die alles in
die Immanenz einsaugt, kaum entziehen. Hatte Heidegger nicht insofern
recht, wenn er selbst noch die transzendentale Analytik des Daseins und den
Ansatz bei der Hermeneutik der Faktizität hinter sich ließ' Wie habe ich hier
meinen Weg gesucht?
Der Sache nach bin ich von Dilthey und der Frage nach der Begriindung
der Geisteswissenschaften ausgegangen und habe mich kritisch dagegen
abgesetzt. Die Universalität des hermeneutischen Problems, um die es mir
von Anfang an ging, habe ich allerdings auf diesem Weg nur miihsam
erreicht.
An einigen Punkten meiner Argumentation empfindet man besonders,
daß mein Ausgangspunkt von den >historischen< Geistes\vissenschaften ein-
seitig ist. Insbesondere hat die Einftihrung der hermeneutischen Bedeutung
des Zeitenabstandes, so überzeugend sie in sich ist, die grundsätzliche Be-
Zwischen Phänomenologie und Dialektik 9

deutung der Andersheit des andern und damit die fundamentale Rolle, die
der Sprache als Gespräch zukommt, schlecht vorbereitet. Es wäre der Sache
angemessener gewesen, zunächst in einer allgemeineren Form von der her-
meneutischen Funktion des Abstandes zu sprechen. Es muß sich nicht
immer um einen geschichtlichen Abstand handeln, und es ist auch durchaus
nicht immer der Zeitenabstand als solcher, der imstande ist, falsche Überre-
sonanzen und verzerrende Applikationen zu überwinden. Der Abstand
erweist sich sehr wohl auch in Gleichzeitigkeit als ein hermeneutisches
Moment, z. B. in der Begegnung zwischen Personen, die im Gespräch erst
den gemeinsamen Grund suchen, und vollends in der Begegnung mit Perso-
nen, die dabei fremde Sprachen sprechen oder in fremden Kulturen leben.
Jede solche Begegnung läßt etwas als eigene Vormeinung bewußt werden,
das einem so selbstverständlich schien, daß man die naive Angleichung an
Eigenes und damit das Mißverstehen, das so zustande kommt, überhaupt
nicht bemerken konnte. Hier hat die Einsicht in die primäre Bedeutung des
Gespräches auch für die ethnologische Forschung und die Fragwürdigkeit
ihrer Technik der Fragebogen Bedeutung erlangt.' Doch bleibt es richtig,
daß, wo der Zeitenabstand hineinspielt, dieser eine besondere kritische Hilfe
gewährt, weil Veränderungen oft erst dann auffallen und Unterschiede erst
dann der Beobachtung zugänglich werden. Man denke an die Schwierigkeit,
zeitgenössische Kunst einzuschätzen, an die ich in meiner Darlegung im
besonderen dachte.
Solche Erwägungen weiten ohne Frage die Bedeutung der A bstandserfah-
rung aus. Jedoch bleiben sie immer noch im Argumentationszusammen-
hang einer Theorie der Geisteswissenschaften. Der wahre Antrieb meiner
hermeneutischen Philosophie war dagegen ein anderer. Ich war in die Krise
des subjektiven Idealismus hineingeboren, die in meiner Jugend mit der
Wiederaufnahme der Kierkegaardschen Hegelkritik zum Ausbruch kam. Sie
wies dem Sinn von Verstehen eine ganz andere Richtung. Da ist es der
Andere, der meine Ichzentriertheit bricht, indem er mir etwas zu verstehen
gibt. Dieses Motiv leitete mich von Anbeginn. Es trat vollends in der Arbeit
von 1943 heraus, die ich in diesem Bande erneut vorlege. 8 Als Heidegger
damals diese kleine Arbeit kennenlernte, nickte er beifallig, fragte aber
sofort dagegen: »Und was ist es mit der Geworfenheit?« Daß in dem
Sammelbegriff der Geworfenheit die Gegeninstanz gegen das Ideal eines
vollen Selbstbesitzes und Selbstbewußtseins gelegen ist, war offenbar der
Sinn von Heideggers Gegenfrage. Ich hatte jedoch das besondere Phänomen
des Anderen im Auge und suchte folgerichtig die Begründung der Sprach-
7 Darüber lernt man aus dem neuen Buch von L. C. Watson und M.-B. Watson-Franke,

Interpreting Life Histories, 1985 (Rucgers University Press).


8 Vgl. IDas Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie~, unten

S.27ff
10 Zur Einftihrung

lichkeit unserer Weltorielltienmg im Gespräch. Damit öffnete sich mir ein


Fragenkreis, der mich schon von meinen Anfangen her, von Kierkegaard,
Gogarten, Theodor Haecker, Friedrich Ebner, Franz Rosenzweig, Martin
Buber, Viktor von Weizsäcker her, angezogen hatte.
Das tritt ins Licht, \.velln ich mein eigenes Verhältnis zu Heidegger und
meine Anknüpfung an sein Denken heute erneut zu bedenken suche. Die
Kritik hat dieses Verhältnis in sehr verschiedener Weise angesehen. Im
allgemeinen hat man sich durch die Tatsache bestimmen lassen, daß ich den
Begriff }wirkungsgeschichtliches Bewußtscin( gebrauche. Daß ich über-
haupt den Begriff des Be\vußtseins wiederverwende, dessen ontologische
Voreingenommenheit Heidegger in )Sein und Zeit< so klar aufgezeigt hatte,
bedeutet von mir aus nur eine Anpassung an einen mir natürlich scheinenden
Sprachgebrauch. Das erweckte freilich den Anschein, der Fragestellung des
frühen Heidegger ganz verhaftet geblieben zu sein, die vom Dasein ausgeht,
dem es um sein Sein geht und das durch Seinsverständnis ausgezeichnet ist.
Der spätere Heidegger trachtete die transzendentalphilosophische Selbstauf-
fassung von )Sein und Zeit( ausdrücklich zu überwinden. Mein eigenes
Motiv, den Begriff des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins einzuftihren,
lag aber gerade darin, zum späten Heidegger den Weg zu bahnen. Als
Heideggers Denken über die Begriffssprache der Metaphysik hinausdräng-
te, hat er sich in eine Sprachnot verstrickt, die ihn zur Anlehnung an die
Sprache Hölderlins und zu einer halbpoetischen Diktion führte. In meiner
Sammlung einiger kleinerer Arbeiten zum späteren Heidegger9 habe ich
versucht, deutlich zu machen, daß das Sprachgebaren des späten Heidegger
keinen Abfall in Poesie bedeutet, sondern in der Linie seines Denkens
gelegen war, das mich in meine eigenen Fragen eingeführt hat.
Meine Lehrzeit bei Heidegger war mit Heideggers Rückkehr von Mar-
burg nach Freiburg und mit dem Beginn meiner eigenen Marburger Lehrtä-
tigkeit abgeschlossen. Da kamen die drei Frankfurter Vorträge, die heute als
der Kunstwerkaufsatz bekannt sind. Ich hörte sie 1936. Dort war es der
Begriff der ,Erde<, mit dem Heidegger das Vokabular der modernen Philo-
sophie, das er seit langem aus dem Sprachgeist der deutschen Sprache
erneuert und in seinen Vorlesungen mit Leben erfüllt hatte, nochmals auf
eine dramatische Weise überschritt. Das kam meinen eigenen Fragen und
meiner eigenen Erfahrung der Nachbarschaft von Kunst und Philosophie so
sehr entgegen, daß es in mir einen sofortigen Widerhall \veckte. Meine
philosophische Hermeneutik versucht geradezu, die Fragerichtung des spä-
ten Heidegger einzuhalten und in neuer Weise zugänglich zu machen. Ich
nahm in Kauf, daß ich zu diesem Zweck an dem Bewußtseinsbegriff fest-
hielt, gegen dessen letztbegründenclc Funktion Heiclcggers ontologische

9 >Hcideggers Wege. Studien zum Spätwerk\, Tübingen 1983; Ges. Werke Bd. 3.
Zwischen Phänomenologie und Dialektik 11

Kritik sich gekehrt hatte. Doch versuchte ich, diesen Begriffin sich selbst zu
begrenzen. Heidegger hat darin zweifellos einen Rückfall in die von ihm
überschrittene Denkdimension gesehen - auch wenn er wohl nicht übersah,
daß meine Intention in die Richtung seines eigenen Denkens zielte. Es steht
mir nicht zu, zu entscheiden, ob der Weg, den ich gegangen bin, beanspru-
chen kann, Heideggers Denkwagnisse einigermaßen einzuholen. Aber eines
wird wohl heute gesagt werden dürfen, daß es ein Stück Weges ist, von dem
aus einige der Denkversuche des späten Heidegger ausweis bar werden und
dem etwas sagen, der mit Heideggers eigener GedankenfUhrung mitzuge-
hen nicht vermag. Freilich muß man mein Kapitel über das wirkungs ge-
schichtliehe Bewußtsein in )Wahrheit und Methode< richtig lesen. Man darf
darin nicht eine Modifikation des Selbstbewußtseins sehen, etwa ein Be-
wußtsein der Wirkungsgeschichte oder gar eine hermeneutische Methode,
die sich darauf gründet. Man muß darin vielmehr die Begrenzung des
Bewußtseins durch die Wirkungsgeschichte erkennen, in der wir alle stehen.
Sie ist etwas, was wir nie ganz durchdringen können. Das wirkungsge-
schichtliche Bewußtsein ist, wie ich damals sagte, ))mehr Sein als Bewußt-
sein«.lO
Es leuchtet mir daher nicht ein, mit einigen der Besten unter denjüngeren
kritischen Teilhabern an der Hermeneutik, mit Heiner Anz, Manfred Frank
oder Thomas Seebohm,11 die Weiterverwendung traditioneller Begriffe der
Philosophie als eine Inkonsistenz meines Denkentwurfes anzusehen. Dies
Argument ist ähnlich von Derrida gegen Heidegger gekehrt worden."
Heidegger sei die Überwindung der Metaphysik mißlungen, die Nietzsehe
in Wahrheit vollzogen habe. Die neuere französische Nietzsche-Rezeption
mündet in der Folge solcher Argumentation konsequenterweise in der Zer-
setzung der Seins- und Sinnfrage überhaupt.
Nun muß ich selbst gegen Heidegger geltend machen, daß es gar keine
Sprache der Metaphysik gibt. Das habe ich bereits in der Festschrift fUr
Löwith ausgefUhrt. "Es gibt nur Begriffe der Metaphysik, deren Inhalt sich
aus der Verwendung der Worte bestimmt, so wie das mit allen Worten ist.
Die Begriffe, in denen sich Denken bewegt, sind sowenig wie die Worte
unseres alltäglichen Sprachgebrauchs durch eine starre Regel von fester
Vorgegebenheit beherrscht. Die Sprache der Philosophie, auch wenn sie
10 Vgl. Ges. Werke Bd. 1, S. 367, 460 und unten S. 247.
11 Heinrich Anz, Die Bedeutung poetischer Rede. Studien zur hermeneutischen Be-
gründung und Kritik von Poetologie, München 1979. Manfred Frank, Das Sagbare und
das Unsagbare. Studien zur neueren französischen Hermeneutik und Texttheorie, Frank-
furt 1980 und ,Was ist Neostrukturalismus?(, Frankfurt 1984. Thomas Seebohm, Zur
Kritik der hermeneutischen Vernunft, Bonn 1972.
12 1Marges de la Philosophie(, Paris 1972, S. 77.
13 IAnmerkungen zu dem Thema Hegel und Heideggen, FS rur K. Löwith, Stuttgart

1967, S. 123-131. Auch in IHeideggers Wege(, S. 61-69; vgl. Ges. Werke Bd. 3.
Zur EinfUhrung

noch so schwere Traditionslasten trägt, wie eben die der ins Lateinische
Umgesetzten aristotelischen Metaphysik, versucht vielmehr immer wieder
eine Verflüssigung aller sprachlichen Angebote. Sie kann sogar im Lateini-
schen alte Bedeutungsrichtungen in neue umbilden, wie ich das etwa seit
langem an dem Genie des Nicolaus Cusanus bewundere. Solche Umbildung
muß nicht notwendig durch eine Methode im Stile Hegelscher Dialektik
oder Heideggerscher Sprachgewalt und -gewaltsamkeit geschehen. Die Be-
griffe, die ich in meinem Zusammenhang verwende, sind durch ihren
Gebrauch neu definiert. Es sind auch gar nicht so sehr die Begriffe der
klassischen aristotelischen Metaphysik. wie sie Heideggers Ontotheologie
Uns neu aufgeschlossen hat. Weit mehr gehören sie der platonischen Tradi-
tion an. Ausdrücke wie .Alimesis, A1ethexis, Partizipation, Anamnesis, Emafla-
tion, von denen ich manchmal in leichter Abwandlung Gebrauch mache,
z. B. im Falle von Repräsentation l 4, sind platonische Begriffsprägungen. Sie
spielen bei Aristoteles meist nur in kritischer Wendung eine Rolle und gehö-
ren nicht zur Begrifflichkeit der Metaphysik. soweit deren durch Aristoteles
begründete Schulgestalt in Frage kommt. Ich verweise erneut auf meine
Akademieabhandlung über die Idee des Guten". wo ich umgekehrt plausi-
bel zu machen suche, daß Aristoteles selber weit mehr ein Platoniker war, als
man annimmt, und daß der aristotelische Entwurf der Ontotheologie nur
einer der Ausblicke ist, die Aristotelcs von seiner Physik aus unternommen
hat und die in den Büchern der Metaphysik gesammelt vorliegen.
Damit berühre ich den Punkt einer echten Abweichung von Heideggers
Denken, dem ein großer Teil meiner Arbeit und insbesondere meiner Plato-
studien gilt. 16 (ich hatte die Genugtuung. daß gerade diese Arbeiten dem
Heidegger der letzten Jahre seines Lebens etwas bedeutet haben. Sie sind in
Band 6 und teilweise Band 7 dieser Ausgabe zu finden.) Mir will scheinen.
daß man Plato nicht als den Vorbereiter der Ontotheologie lesen darf. Selbst
die Metaphysik des Aristoteles besitzt noch andere Dimensionen als die
seinerzeit von Heidegger aufgeschlossenen. Daftir glaube ich mich aufHei-
degger selber in gewissen Grenzen berufen zu können. Ich denke vor allem
an Heideggers frühe Vorliebe für ,die berühmte Analogie(. So pflegte er in
der Marburger Zeit zu reden. Diese aristotelische Lehre von der analogia entis
war ihm von früh an als Eideshelfer gegen das Ideal der Letztbegründung
willkommen, wie es Husserl etwa im Stile Fichtes leitete. In vorsichtiger
Distanzierung von Husserls transzendentaler Selbstdeutung findet sich bei
Hcidegger häufig der Ausdruck ,Gleichursprünglichkeit( - wohl ein Nach-

" Vgl. Ges. Werke Bd. 1, S. 74f.. 146f.. 210f.


15 )Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles( (Sitzungs bericht der Heid.

Akad. d. Wiss., Philos.-histor. Klasse, Abh. 2) Heidelberg 1978, S. 16. [Ges. Werke Bd.
71-
16 Vgl. dazu Ges. Werke Bd. 5 und 6 und den kommenden Bd. 7.
Zwischen Phänomenologie und Dialektik 13

klang der >Analogie< und eine au fond phänomenologisch-hermeneutische


Wendung. Es war also nicht allein die aristotelische Kritik an der Idee des
Guten, die von dem Begriff der Phronesis aus Heidegger auf seine eigenen
Wege gefUhrt hat. Es war auch das Zentrum der aristotelischen Metaphysik
selber, VOn dem er seine Anstöße empfing, und erst recht von der Physik,
wie Heideggers perspektivenreicher Aufsatz über Physis zeigt. 17 Es wird von
da einleuchten, warum ich der Dialogstruktur der Sprache eine so zentrale
Rolle zugewiesen habe. Das hatte ich von dem großen Dialogiker Plato zu
lernen, oder vielmehr von dem sokratischen Dialog, den Plato gedichtet hat,
daß die Monologstruktur des wissenschaftlichen Bewußtseins dem philo-
sophischen Gedanken nie voll erlaubt, seine Intention zu erreichen. Meine
Interpretation des Exkurses des 7. Briefes scheint mir über alle kritische
Anzweiflung der Authentizität dieses Stückes erhaben. Man versteht von da
aus erst ganz, warum sich die Sprache der Philosophie seither beständig im
Gespräch mit ihrer eigenen Geschichte fortbildet - ehedem kommentierend,
korrigierend und variierend, mit dem Aufgang des historischen Bewußt-
seins in einer neuen, spannungs vollen Duplizität von historischer Rekon-
struktion und spekulativer Umsetzung. Die Sprache der Metaphysik ist und
bleibt der Dialog, auch wenn dieser Dialog über die Distanz vonJahrhun-
derten und Jahrtausenden gefUhrt wird. Die Texte der Philosophie sind aus
diesem Grund nicht eigentlich Texte oder Werke, sondern Beiträge zu einem
durch die Zeiten gehenden Gespräch.
Es ist hier vielleicht der Ort, zu einigen WeiterfUhrungen und selbständi-
gen Gegendarstellungen des hermeneutischen Problems, wie sie z. B. Hans-
Robert Jauss und Manfred Frank einerseits und Jacques Derrida auf der
anderen Seite vorgelegt haben, einige Anmerkungen zu machen. Daß die
Rezeptionsästhetik, die Jauss entwickelt hat, eine ganze Dimension der
Literaturforschung in neuem Lichte zeigt, bleibt dabei unbestritten. Ob sie
sich aber richtig gegen das profiliert, was ich in meiner philosophischen
Hermeneutik im Auge habe? Die Illustration der Geschichtlichkeit des Ver-
stehens, die ich am Beispiel des Begriffs des Klassischen vorfUhrte, scheint
mir mißverstanden zu sein, wenn man hier dem Klassizismus und dem
Vulgärbegriff von Platonismus das Wort geredet findet. Das Gegenteil ist
der Fall. Das Beispiel des Klassischen in ,Wahrheit und Methode< soll illu-
strieren, wie sehr in die Zeitlosigkeit dessen, was man klassisch nennt (und
was allerdings eine normative Komponente enthält, aber keine Stilbezeich-
nung ist), geschichtliche Bewegtheit eingegangen ist, so daß Verstehen sich
ständig wandelt und erneuert. Das Beispiel des Klassischen hat also nicht nur
mit dem klassischen Stilideal nichts zu tun, sondern auch nichts mit dem
Vulgärbegriff von Platonismus, den ich ohnehin fur eine Umformung der
17 >Vom Wesen und Begriff der PhysiS<. Aristote1es, Physik B 1. Gesamtausgabe I, 9,
S. 239ff.
14 Zur Einfrihrung

eigentlichen Intentionen Platos halte. ll! Hier hat Oskar Becker im Verhältnis
zu]auss richtiger gesehen, wenn er mir in seiner Kritik seinerzeit geradezu
Ertrinken in der Geschichte vorwarf und den Pythagorcismus von Zah1 und
Ton und Traum gegen mich ausspielte." Ich mhlte mich dabei in Wahrheit
nicht getroffen. Aber darum geht es hier nicht. Die Rezeptionsästhetik von
Jauss würde sich nach meiner Überzeugung selber verstümmeln, wenn sie
das Werk, das jeder Rezeptionsgestalt zugrundeliegt, in lauter Facetten
auflösen wollte.
Auch leuchtet mir nicht ein, daß die )ästhetische Erfahrung<, die Jauss
geltend zu machen sucht, der Erfahrung der Kunst genugtut. Das war
geradezu die Pointe meines Unbegriffs )ästhetische Nichtunterscheidung~,
daß sich die ästhetische Erfahrung nicht so isolieren läßt, daß Kunst bloßer
Gegenstand des Genusses wird. Ähnlich scheint es mir mit Jauss' ,Ableh-
nung< der Horizontverschmelzung. Daß Horizontabhebung im hermeneu-
tischen Forschungsprozeß ein integrales Moment darstellt, habe ich in mei-
ner Analyse selbet betont. Die hermeneutische Reflexion lehrt jedoch, daß
die Erftillung dieser Aufgabe aus Wesens gründen nie voll gelingt und daß
sich darin nicht die Schwäche unserer Erfahrungen zeigt. Rezeptionsfor-
schung kann sich VOn den hermeneutischen Implikationen nicht lösen wol-
len, die in aller Interpretation liegen.
Auch Manfred Frank hat durch seine Arbeiten, die auf intimer Kenntnis
des deutschen Idealismus und der Romantik beruhen, die philosophische
Hermeneutik wesentlich gefördert. Aber auch hier leuchtet mir nicht alles
ein. In mehreren Veröffentlichungcn20 hat er meine kritische Auseinander-
setzung mit der psychologischen Interpretation bei Schleiermacher seiner-
seits kritisiert. Dabei hat er sich auf Einsichten des Strukturalismus und
Neostrukturalismus gestützt und der grammatischen Interpretation bei
Schleiermacher im Ausgang von der modernen Zeichentheorie eine sehr
gründliche Aufmerksamkeit geschenkt. Er sucht sie gegen die psychologi-
sche Interpretation aufzuwerten. Es geht jedoch nicht an, meine ich, die
psychologische Interpretation, die das eigentlich Neue war, was Schleier-
macher beitrug, derart herunterzuspielen. Eben so wenig kann man den
Begriff der Divination dadurch reduzieren wollen, daß sie nur mit dem )Stil<
zu tun habe. Als ob Stil nicht die Konkretion der Rede selbst wäre. Oben-

lB In meiner oben S. 12 erwähnten Arbeit über die Idee des Guten habe ich überzeugend
zu machen versucht, daß diese Umformung bereits mit Aristoteles einsetzt: Aristoteles
deutet die platonische Meta-Mathematik in Meta-Phvsik um.
19 Philosophische Rundschau 10 (1962), S. 225-23'7.

20 Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleier-


macher, Frankfurt 1977, so\vie die Einleitung zu Schleiermacher, Hermeneutik und
Kriük, 1977, (5. 7-66).
Z\vischen Phänomenologie und Dialektik 15

drein wird der Begriff der Divination von Schleiermacher bis zum Schluß
festgehalten, wie die maßgebliche Akademierede von 1829 beweist."
Von einem rein sprachlichen Sinn der grammatischen Interpretation zu
redcn, als ob es sie ohne die psychologische Interpretation gäbe, geht nicht
an. Das hermeneutische Problerll zeigt sich gerade in der Durchdringung der
grammatischen durch die individualisierende psychologische Interpreta-
tion, in die die komplexen Bcdingtheiten des Interpreten hineinspielen. Ich
erkenne gern an, daß ich daftir die Schleiermachersehe Dialektik und Ästhe-
tik, die Frank mit Recht heranzieht, stärker hätte beachten soUen. Ich wäre
dann dem Reichtum des individualisierenden Verstehens bei Schleiermacher
besser gerecht geworden. Doch habe ich unmittc1bar nach Erscheinen von
)Wahrheit und Methode~ etwas davon nachgeholt. 22 Mir ging es eben nicht
darUlll, Schleiermacher in allen seinen Dimensionen zu würdigen, sondern
ihn als den Urheber einer Wirkungsgeschichte zu charakterisieren, die be-
reits mit Stein thaI einsetzt und in der Zuspitzung \vissenschaftstheoretischer
Art, die Dilthey vorgenommen hat, unstreitig beherrschend wurde. Das hat
nach meiner Meinung das hermeneutische Problem verengt, und diese
Wirkungsgeschichte ist keine Fiktion. 23
Inzwischen haben Manfrcd Franks neuere Arbeiten den deutschen Leser
die Grundzüge des Neostrukturalismus vermittelt. 24 Das hat mir manches
geklärt. Insbesondere ist mir an der Darstellung Franks klargeworden, wie
stark die Verwerfung der Metaphysik der pr,settee bei Dcrrida an Heideggers
Husserl-Kritik und an seiner Kritik der griechischen Ontologie unter dem
Stichwort der )Vorhandenhcit< orientiert ist. Doch wird man da weder

21 Dort spielt der Begriff der Divination durchaus die von mir beschriebene Rolle.

Gewiß handelt es sich bei dem divinatorischen Verfahren, um ein analogisehes Verfahren.
Die Frage ist aber, wem dieses Verfahren der Analogie dienen soll. »Alle Mitteilung ist das
Wiedererkennen des Geftihls~( zitiert Frank selber in seiner verdienstlichen Neuausgabe
der Schleiermacherschen Hermeneutik, S. 52. Nicht als grammatische Interpretation, die
im Gegenteil durchaus vollkommenes Verstehen ermöglicht (Lücke 205), sondern als
psychologische Interpretation ist Interpretation unvollendbar. Nicht in der grammati-
schen, sondern in der psychologischen Interpretation steckt also die Individualisierung
und damit das hermeneutische Problem. Daraufkommt es an, und daraufkam es mir au.
Frank besteht dagegen mit Recht gegen Kimmerle darauf, daß die psychologische Inter-
pretation von Anfang an bei Schleiermacher auftritt und sich dank ihm innerhalb der
Hermeneutik durchgesetzt hat.
22 Vgl. meinen Aufsatz Das Problem der Sprache in Schleiermachers Hermeneutik, in

Kleine Schriften III, S. 129ff.; vgl. Ces. Werke Bd. 4.


2J Soeben hat W. Anz in der Zeitschrift für Theologie und Kirche, Jg. 1985, S. 1-21 in

einem bedeutenden Aufsatz >Schleiermacher und Kierkegaard< die flir eille philosophische
Hermeneutik produktiven Momente in Schleiermachers >Dialektik< herausgearbeitet.
24 Vgl. M. Frank, )Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur neucsten französischen

Hermeneutik und Ideologiekritik.~ (Frankfurt 1980), sowie> Was ist NeostrukturaIismus?~


(Frankfurt 1983).
16 Zur Einftihrung

Husserl noch Heidegger ganz gerecht. Husserl ist bei der ideal-einen-Bedeu-
tung, von der die erste logische Untersuchung spricht, nicht stehengeblie-
ben, sondern hat die dort supponierte Identität durch seine Zeitanalyse
ausweisbar zu machen unternommen.
Die Phänomenologie des Zeitbewußtseins stellt die temporale Grundle-
gung objektiver Geltung überhaupt dar. Das ist Husserls unzweifelhafte
Intention und hat seine Überzeugungskraft. Identität wird meines Erachtens
nicht dadurch erschüttert, daß man Husserls Idee der transzendentalen
Letztbegründung und damit auch die Anerkennung des transzendentalen
Ego und seine temporale Selbstkonstitution als letzte Begründungsinstanz
der }Logischen Untersuchungen< verwirft.
Die Identität des Ich wie die Identität des Sinnes, der sich zwischen
Dialogpartnern aufbaut, bleibt davon unberührt. Es ist zwar selbstverständ-
lich richtig, daß kein Verstehen des einen durch den anderenje eine vollstän-
dige Deckung des Verstandenen erreichen kann. Hier muß die hermeneuti-
sche Analyse offenbar ein falsches Vorbild von Verstehen und Verständigung
ausräumen. Dazu kommt es in der Verständigung nie, daß die Differenz in
der Identität untergeht. Wenn man sagt, man verständigt sich über etwas, so
heißt das durchaus nicht, daß der eine mit dem anderen überzeugungsiden-
tisch wird. ~Man kommt überein{, wie unsere Sprache das schön ausdrückt.
Es ist eine höhere Form von Syntheke) um das Genie der griechischen
Sprache aufzubieten. Es bedeutet in meinen Augen eine Verkehrung der
Blickrichtung, wenn man die Elemente der Rede, des discours) isoliert und
zum Zielpunkt der Kritik macht. So gibt es dieselben in der Tat nicht, und
man versteht, warum man, den Blick auLZeichen< gerichtet, von differance
oder diffirence sprechen muß. Kein Zeichen ist im absoluten Sinne von
Bedeutung mit sich identisch. Gegen den Platonismus, den Derrida in den
}Logischen Untersuchungen< Husserls und in dem Intentionalitätsbegriff
von )Ideen I< zu fmden meint, hat seine Kritik Recht. Aber das ist von
Husserl selbst längst geklärt. Vom Begriff der passiven Synthesis und von
der Lehre von den anonymen Intentionalitäten aus scheint mir in Wahrheit
eine deutliche Linie zu der hermeneutischen Erfahrung herüberzureichen,
die wohl überall, wo sie den Methodenzwang der transzendentalen Denk-
weise abgeworfen hat, mit meinem Diktum übereinstimmen dürfte: >} M;fu
versteht anders, wenn man überhaupt versteht«.2s Die Stellung, die der
Begriff der Literatur im Fragenkreis der Hermeneutik einnimmt, ist nach
Vollendung von' Wahrheit und Methode< jahrzehntelang ein Vorzugsthema
meiner Studien gewesen. Man vergleiche in diesem Band >Text und Inter-
pretation< und )Destruktion und Dekonstruktion< sowie die Arbeiten in
Band 8 und 9. In >Wahrheit und Methode{ schien mir, wie ich eingangs sagte,

25 Ges. Werke Bd. 1, S. 302.


Zwischen Phänomenologie und Dialektik 17

die nötige Unterscheidung zwischen dem Spiel der Sprache und dem Spiel
der Kunst noch nicht mit der rechten Präzision getroffen, und in der Tat ist
der Zusammenhang zwischen Sprache und Kunst nirgendwo so greifbar,
wie im Falle der Literatur, die sich geradezu durch die Kunst der Sprache-
und des Schreibens! - definiert,
Seit alters erscheint die Poetik neben der Rhetorik, und mit der Ausbrei-
tung der Lesekultur - schon im Zeitalter des Hellenismus und vollends im
Zeitalter der Reformation - wird das Geschriebene, die litterae zu dem I

gemeinsamen Begriff, in dem Texte zusammengefaßt sind. Das bedeutet,


daß das Lesen ins Zentrum der Hermeneutik und Interpretation rückt. Beide
dienen dem Lesen, das zugleich Verstehen ist. Wo es sich um literarische
Hermeneutik handelt, geht es also in erster Linie um das Wesen des Lesens.
Man mag noch so sehr von dem Primat des lebendigen Wortes überzeugt
sein, von der Ursprünglichkeit der Sprache, die im Gespräch lebendig ist,
Gleichwohl weist das Lesen auf einen noch weiteren Umfang. Dadurch
rechtfertigt sich der weite Begriff von Literatur, auf den ich auch in) Wahr-
heit und Methode< am Schluß des ersten Teiles, auf Späteres vorausgreifend,
hingewiesen habe.
Hier scheint es nötig, auf den Unterschied zwischen Lesen und Reprodu-
zieren einzugehen. Ich kann zwar nicht so weit gehen, wie Emilio Betti in
seiner Auslegungslehre, der Verstehen und Reproduzieren ganz voneinan-
der absondert. Ich muß daraufbestehen, daß Lesen, und nicht Reproduzie-
ren, die eigentliche Erfahrungsweise des Kunstwerkes selbst ist, die es als
solches definiert. Dort geht es um )Lesen< im >eminenten< Sinne des Wortes
vor, so wie der dichterische Text ein Text im >eminenten< Sinne des Wortes
ist. In Wahrheit ist Lesen die Vollzugs form aller Begegnung mit Kunst. Es
liegt nicht nur bei Texten vor, sondern ebenso auch bei Bildern und bei
Bauten. 26
Reproduktion ist etwas anders, da handelt es sich um eine neue Realisie-
rung im sinnlichen Stoff der Klänge und Töne - damit um so etwas wie eine
Art neuer Schäpfung. Gewiß will eine Reproduktion das eigentliche Werk
zur Erscheinung bringen, so das Drama auf der Bühne oder die Musik im
Erklingen, und diese lebendige Reproduktion fuhrt mit Recht, meine ich,
den Namen der Interpretation. Daher muß die Gemeinsamkeit der Interpre-
tation, hier im Falle der Reproduktion wie im Falle der Lesekultur, festgehal-
ten werden. Auch Reproduzieren ist Verstehen, wenn auch mehr als das. Es
handelt sichja nicht um eine vällig freie Schäpfung, sondern um rUchts als,
wie das Wort so schön andeutet )AufTtihrung<, durch die das Verständnis
eines fest fixierten Werkes zu einer neuen Realität heraufgeftihrt wird. Beim

26 Vgl. meinen Beitrag )Das Lesen von Bildern und Bauten< in der Festschrift fLir M.
Imdahl, hrsg. von G. Boehm, Würzburg 1986.
18 Zur Einfuhrung

Lesen ist es etwas anderes, da vollendet sich die Sinn wirklichkeit des schrift-
lich Fixierten im Sinnvollzug selbst, und nichts sonst geschieht. So heißt
Vollendung des Verstehens hier nicht - wie bei der Reproduktion" - Reali-
sierung in neuer sinnlicher Erscheinung.
Daß Lesen ein eigener, in sich vollendeter Sinnvollzug ist und damit von
der Aufftihrung im Theater oder Musiksaal wesenhaft verschieden, zeigt
sich selbst am Vorlesen. Erst recht gilt es vom stillen Lesen, auch wenn dieses
sich lautlich artikuliert, \vie das in der klassischen Antike selbstverständlich
war. Es ist eben voller Sinnvollzug, obwohl es nur in einer schematisieren-
den Weise mit Anschauung etftiBt ist. Es bleibt ftir verschiedene inllginative
Ausftillung olTen. Das habe ich seinerzeit durch Anschluß an die Arbeit von
Roman Ingardcn illustriert. So gilt auch fur den Vorleser: der gute Vorleser
darf keinen Augenblick vergessen, daß er nicht der \virkliche Sprecher ist,
sondern einem Lesevorgang dient. Obwohl sein Vorlesen Reproduktion
und Darstellung für einen anderen ist, also eine neue Realisierung in der
sinnlichen Welt einschließt, bleibt es doch in der Intimität des Lesevorgangs
beschlossen.
An diesen Unterscheidungen muß die Frage Klärung finden, die ich in
anderem Zusammenhang immer wieder durchdacht habe, welche Rolle [ur
das hermeneutische Geschehen die Intention des Autors spielt. Im alltägli-
chen Redegebrauch, wo es sich nicht um den Durchgang durch die Erstar-
rung der 5chriftlichkeit handelt, ist es klar. Man muß den anderen verstehen;
man muß den anderen verstehen, wie er es gemeint hat. Er hat sich sozusa-
gen nicht von sich selbst getrennt und hat sich nicht in schriftlich oder wie
immer fixierter Rede einem Unbekannten übergeben und ausgeliefert, der
das, was er zu verstehen hat, vielleicht durch Mißverstehen, gewollt oder
ungewollt, entstellt. Mehr noch: er hat sich überhaupt nicht von dem
anderen getrennt, zu dem er spricht und der ihm zuhört.
Wieweit dieser andere versteht, was ich sagen will, zeigt sich daran, wie er
darauf eingeht. Das Verstandene wird damit aus der Unbestimmtheit seiner
Sinnrichtung in eine neue Bestimmheit gehoben, die erlaubt, sich verstan-
den oder mißverstanden zu finden. Das ist das eigentliche Geschehen im
Gespräch: das Gemeinte artikuliert sich, indem es ein Gemeinsames wird.
Die einzelne Äußerung ist also stets in ein kommunikatives Geschehen
27 Es ist eine besondere Frage, wie es im Falle der Musik mit dem Verhältnis von Lesen
und Reproduzieren steht. Man wird wohl darüber einig sein, daß Musik im Lesen der
Noten nicht \virklich erfahren wird, und das macht ihren Unterschied von Literatur aus.
Gewiß gilt es auch ruf das Drama, daß es ursprünglich nicht furs Lesen bestimmt war.
Selbst das Epos war in einem äußerlichen Sinne ehedem auf den Vorsänger angewiesen.
Trotzdem bleiben hier wesenhafte Unterschiede. Musik muß Inan machen, und der
Zuhörer muß sozusagen mitmachen. In dieser Frage habe ich von Georgiades viel gelernt,
auf dessen neuestes, aus dem Nachlaß soeben herausgekommenes Werk ,Nennen und
Erklingen( ich hier verweise. (Göttingen 1985)
ZVv'ischen Phänomenologie und Dialektik 19
eingebettet und darf gar nicht als einzelne verstanden \verden, Die Rede von
der mens auctoris spielt daher, wie das Wort >Autor< ebenso, nur dort eine
hermeneutische Rolle, wo es sich nicht um lebendiges Gespräch, sondern
um fixierte Äußerungen hande1t. Da nun ist es die Frage: versteht man nur,
indem man auf den Urheber zurückgeht? Versteht man genug, wenn man
auf das zurückgeht, was der Urheber im Sinne hatte? Und wie ist es, wo das
gar nicht möglich ist, weil man nichts von ihm weiß?
Hier scheint mir die traditionelle Hermeneutik die Folgen des Psycholo-
gismus noch immer nicht ganz überwunden zu haben, Bei allem Lesen und
Verstehen von Schrift handelt es sich um einen Vorgang, durch den sich das
im Text Fixierte zu neuer Aussage erhebt und neu konkretisieren muß. Nun
liegt es im Wesen des wirklichen Sprechens, daß das Meinen das Gesagte
stets übertrifft. Deshalb scheint es mir ein undurchschautes ontologisches
Mißverständnis, die Meinung des Sprechers als Maßstab des Verstehens zu
hypostasieren. Als ob man dieselbe in eine Art reproduktiven Verhaltens erst
einmal herstellen könnte und dann erst als Maßstab an die Worte anzulegen
hätte, Lesen ist ja doch, wie wir sahen, kein Reproduzieren, das den Ver-
gleich mit dem Original erlaubt. Es ist wie bei der durch die phänomenolo-
gische Forschung überwundenen erkenntnistheoretischen Lehre, daß wir
ein Bild der gemeinten Wirklichkeit im Bewußtsein haben, die sogenannte
Vorstellung. Alles Lesen geht über die erstarrte Wortspur hinaus auf den
Sinn des Gesagten selbst, geht also weder auf einen ursprünglichen Produk-
tionsvorgang zurück, den man als einen seelischen Vollzug oder als Aus-
drucksgeschehen verstehen sollte, noch weiß es von dem Gemeinten über-
haupt anders als von der Wortspur aus. Das schließt ein: wenn einer versteht,
was ein anderer sagt, ist das nicht nur ein Gemeintes, sondern ein Geteiltes,
ein Gemeinsames. Wer einen Text im Lesen zum Sprechen bringt, und sei es
auch ohne jede eigene lautliche Artikulation beim Lesen, baut dessen Sinn in
der Sinnrichtung, die der Text hat, in das Universum von Sinn ein, auf das
hin er selbst geöffnet ist. Darin liegt am Ende die Rechtfertigung rur die
romantische Einsicht, der ich gefolgt bin, daß alles Verstehen schon Ausle-
gen ist. Schleiermacher28 hat es einmal ausdrücklich gesagt: »Das Auslegen
unterscheidet sich von dem Verstehen durchaus nur wie das laute Reden von
dem inneren Reden «.29
Das gleiche gilt vom Lesen. Lesen nennen wir verstehendes Lesen. Das
Lesen selbst ist damit schon Auslegen des Gemeinten, So ist Lesen die
gemeinsame Grundstruktur allen Vollzuges von Sinn.
Auch wenn Lesen kein Reproduzieren ist, wird dochjeder Text, den man
liest, erst im Verstehen verwirklicht. Auch für den zu lesenden Text gilt
daher, daß er einen Seins zuwachs erfahrt, der dem Werk erst seine volle
28 Sämtl. Werke Bd, 3, S. 384.
29 VgL Wahrheit und Methode, Ges. Werke Bd. 1,5.188.
20 Zur EinfUhrung

Gegenwärtigkeit gibt. Auch wenn es sich nicht um Reproduktion auf der


Bühne oder dem Podium handelt, scheint mir dies der Fall.
Die verschiedenen Formen von Text, mit denen es die Hermeneutik zu
tun hat, habe ich ausftihrlich in der Arbeit ,Text und Interpretation< analy-
siert. Doch macht der besondere Fall der Historik eine besondere Erörterung
nötig. Selbst wenn man von der Voraussetzung ausgeht, daß auch histori-
sche Forschung im letzten Sinne Interpretation, also Vollzug von Sinn ist,
muß man sich die Frage stellen, ob das Verhältnis des Historikers zu seinem
zu erforschenden Text, der Geschichte selber, nicht doch ein anderes ist als
das Verhältnis des Philologen zu seinem Text. Der Widerstand, den der
Historiker gegen meine Aufweisungen in ,Wahrheit und Methode< (S. 330 ff)
empfindet, gibt mir zu verstehen, daß ich der Gefahr nicht entgangen bin,
hier die Sonderart des historischen Verstehens der des Philologen zu sehr
anzugleichen. Es ist, wie ichjetzt sehe, nicht nur eine Frage des Maßstabes,
wie ich das in >Wahrheit und Methode( erwäge. Historie ist nicht nur
Philologie im Großen (Wahrheit und Methode S. 345). Es ist vielmehr ein
anderer Sinn von Text und damit auch von Verstehen des Textes in bei den
Fällen im Spiele.
Das Ganze der Überlieferung, die den historischen Gegenstand darstellen
mag, ist nicht in demselben Sinne Text, in dem das einzelne Textgebilde dem
Philologen ein solcher ist. Ist ftir den Historiker das Ganze je so gegeben wie
der Text, den der Philologe vor sich hat? Für den Philologen ist der Text, und
insbesondere auch der dichterische Text, wie ein festes Maß gegeben, das
aller Neudeutung vorausliegt. Der Historiker dagegen hat seinen Grund-
text, die Geschichte selbst, erst zu rekonstruieren. Gewiß kann man da nicht
absolute Trennlinien ziehen. Der Historiker muß natürlich auch die literari-
schen oder sonstigen Texte, die er vorfindet, zunächst einmal verstehen, wie
es der Philologe tut. Ebenso muß der Philologe seine Texte oft erst rekon-
struieren und rezensieren, damit man sie überhaupt versteht, und er wird in
sein Verstehen derselben geschichtliches Wissen genau so einschießen lassen
wie alle möglichen anderen Erkenntnisse seiner Wissenschaft. Gleichwohl
ist der Hinblick des Verstehens, der Blick auf Sinn, in beiden Fällen nicht der
gleiche. Der Sinn eines Textes betrifft das, was er sagen will. Der Sinn eines
Geschehens dagegen ist das, was man aufgrund von Texten und anderen
Zeugnissen, vielleicht in Umwertung ihrer eigenen Aussageabsicht, heraus-
lesen kann.
Ich möchte hier zur Klärung einen Sinn von Philologie einfUhren, der die
wörtliche Übersetzung des griechischen Wortes sein könnte: Philologie ist
Freude am Sinn, der sich aussagt. Ob derselbe sich in sprachlicher oder in
anderer Form aussagt, gilt dafür gleich viel. So ist natürlich auch die Kunst
ein solcher Sinnträger und ebenso die Wissenschaft und die Philosophie.
Aber selbst dieser weiteste Sinn von Philologie, die Sinn versteht, ist von der
ZVlischen Phänomenologie und Dialektik 21

Historie, so sehr auch diese Sinn zu verstehen sucht, verschieden. Als


Wissenschaften gebrauchen sie beide die Methoden ihrer Wissenschaft. Aber
sofern es sich um Text handelt, wenn auch verschiedener Statur, sind diese
Texte nicht nur auf dem Wege der methodischen Forschung zu verstehen.
Jeder Text findet schon immer seinen Leser, bevor die Wissenschaft ihm zu
Hilfe kommt. Der Unterschied von Freude an Sinn, der sich aussagt, und
Forschung nach Sinn, der verhüllt ist, artikuliert bereits den Sinnraum, in
dem sich beide Weisen des Verstehens bewegen. Auf der einen Seite steht die
Sinnanmutung des Lesers - und der Begriff des Lesers läßt sich unschwer auf
alle Arten von Kunst ausdehnen. Auf der anderen Seite steht das unbe-
stimmte Wissen des Lesers von seiner eigenen Heimat und Herkunft, steht
die Geschichtstiefe der eigenen Gegenwart. Die Interpretation gegebener
Texte, deren Sinn sich aussagt, bleibt daher immer schon auf vorgängiges
Verstehen zurückbezogen und vollendet sich in dessen Bereicherung.
Ebenso ist der Sinntext der Geschichte immer schon, teils durch die eigene
Lebensgeschichte, teils durch das jedem schon durch geschichtliches Wissen
Gebildeten Bekannte vorbestimmt. Man wird in ein solches Geschichtsbild,
das den Inhalt des eigenen Herkommens umfaßt, eingeformt, noch bevor
die Geschichtsforschung ihr methodisches Werk beginnt. Wie es unser aller
Geschichtlichkeit entspricht, löst sich das Lebensband nie ganz, das Tradi-
tion und Herkommen mit der kritischen historischen Forschung verbindet.
Selbst wer als vermeintlicher Zuschauer der Weltgeschichte seine eigene
Individualität auszulöschen sucht, wie Ranke, bleibt Kind seiner Zeit und
Sohn seiner Heimat. Weder der Philologe noch der Historiker kann diese
Bedingungen seines eigenen Verstchens, die ihm derart vorausliegen und
damit auch Bedingungen sind, die seiner methodischen Selbstkontrolle
vorausliegen, kennen. Das gilt CUr beide, und doch ist es im Falle des
Philologen nicht das gleiche, wie im Falle des Historikers. Für den Philolo-
gen stellt sich die Gleichzeitigkeit von Sinn, der sich im Texte aussagt, durch
seine Interpretation her (wenn sie gelingt). Auf der anderen Seite haben wir
beim Historiker Aufbau und Abbau von Sinnzusammenhängen und das
kommt einer beständigen Berichtigung gleich, einer Zerstörung von Legen-
den, einer Aufdeckung von Fälschungen, einem beständigen Aufbrechen
von Sinnkonstruktionen - um des dahinterliegenden gesuchten Sinnes wil-
len, der vielleicht nie bis zur Gleichzeitigkeit von Sinnevidenz auffindbar ist.
Eine etwas andere Richtung, die zur Fortentwicklung meiner Studien
geftihrt hat, bezieht die Probleme der Sozialwissenschaften und der prakti-
schen Philosophie ein. DaCUr hat das kritische Interesse, das in den sechziger
JahrenJürgen Habermas an meinen Arbeiten bekundet hat, kritische Bedeu-
tung gewonnen. Seine Kritik und meine Gegenkritik haben mir die Dimen-
sion erst recht bewußt gemacht, in die ich der Sache nach eingetreten war, als
ich den Bereich von Text und Interpretation in die Richtung auf die Sprach-
22 Zur Einftihrung

lichkeit allen Verstehens überschritt. Das gab mir Anlaß, mich immer wie-
der in den Anteil der Rhetorik zu vertiefen, den diese an der Geschichte der
Hermeneutik zeigt, den sie aber weit mehr noch für die Existenzform von
Gesellschaft überhaupt besitzt. Davon legen auch in diesem Bande einige
Studien Zeugnis ab.
Schließlich nötigte mich die gleiche Problemrichtung dazu, die wissen-
schaftstheoretische Eigenart einer philosophischen Hermeneutik schärfer
herauszuarbeiten, in der Verstehen und Interpretieren und das Verfahren der
hermeneutischen Wissenschaften seinerseits seine Legitimation finden soll.
Ich nahm damit ein Problem auf, mit dem ich von meinen allerersten Anfän-
gen an intensiv beschäftigt war: Was ist praktische Philosophie? Wie kann
sich Theorie und Reflexion auf den Bereich der Praxis richten, wo doch
Praxis keinen Abstand duldet, sondern Engagement fordert? Diese Frage hat
mich von früh an durch Kierkegaards Existenzpathos angerührt. Darüber
hinaus habe ich mich am Vorbild der aristotelischen praktischen Philosophie
orientiert. Ich suchte dem abwegigen Modell von Theorie und ihrer Anwen-
dung zu entgehen, das vom modernen Wissenschaftsbegriff aus auch den
Begriff der Praxis einseitig bestimmt hat. Hier hat Kant die Selbstkritik der
Moderne eingeleitet. In Kants >Grundlegung zur Metaphysik der Sitten<
glaubte ich und glaube ich eine zwar partiale, nämlich auf das Imperativische
verkürzte, aber in ihren Gtenzen unerschütterliche Wahrheit zu finden: die
Impulse der Aufklärung dürfen sich nicht in einem Sozialutilitarismus ver-
fangen, wenn sie der Kritik Rousseaus standhalten sollen, die ftir Kant nach
seinem eigenen Geständnis bestimmend war.
Dahinter liegt das alte metaphysische Problem der Konkretion des Allge-
meinen. Das hatte ich schon in meinen frühen Studien zu Plato und Aristote-
les im Auge. Die erste Dokumentation meiner Gedankenbildung wurde
soeben erstmals veröffentlicht, in Band 5 dieser Ausgabe, unter dem Titel
,Praktisches Wissen< (geschrieben im Jahre 1930). Dort habe ich das Wesen
der Phronesis in engem Anschluß an das 6. Buch der Nikomachischen Ethik
herausgearbeitet, indem ich Anstöße Heideggers aufnahm. In >Wahrheit und
Methode< rückt dieses Problem ins Zentrum. Nun ist die aristotelische
Tradition der praktischen Philosophie inzwischen von vielen Seiten wieder-
aufgenommen worden. Es scheint mir unbestreitbar, daß sie eine echte
Aktualität besitzt. In meinen Augen hat das nichts mit den politischen
Vorzeichen zu tun, die vielfach heute mit solchem Neo-Aristotelismus
verbunden sind. Was praktische Philosophie ist, bleibt rur den Wissen-
schaftsbegriff des neuzeitlichen Denkens insgesamt eine wirkliche Heraus-
forderung, die man nicht ignorieren sollte. Aus Aristoteles ist zu lernen, daß
der griechische Begriff von Wissenschaft, Episteme) Vernunfterkenntnis
meint. Das heißt, daß cr in der Mathematik sein Vorbild hat und nicht
eigentlich die Empirie umfaßt. Der modernen Wissenschaft entspricht daher
Zwischen Phänomenologie und Dialektik 23
weniger der griechische Begriff von Wissenschaft, Episteme, als der Begriff
der TecJme. Jedenfalls ist das praktische und politische Wissen von grund-
sätzlich anderer Struktur, als alle diese Formen von lehrbarem Wissen und
seiner Anwendung. Das praktische Wissen ist in Wahrheit das, das allem auf
Wissenschaft gegründeten Können von sich aus seinen Platz anweist. Das
war bereits der Sinn der sokratischen Frage nach dem Guten, den Plato und
Aristoteles fest gehalten haben. Wer glaubt. daß Wissenschaft dank ihrer
unbestreitbaren Kompetenz praktische Vernunft und politische Vernünftig-
keit ersetzen kann, verkennt die ftihrenden Kräfte der menschlichen Lebens-
gestaltung, die umgekehrt allein imstande sind, Wissenschaft, wie alles
menschliche Können, mit Sinn und Verstand zu nutzen und die Nutzung
derselben zu verant\vorten.
Nun ist gewiß praktische Philosophie nicht selber solche Vernünftigkeit.
Sie ist Philosophie, das heißt, sie ist eine Reflexion, und zwar über das, was
menschliche Lebensgestaltung zu sein hat. Im selben Sinne ist die philo-
sophische Hermeneutik nicht selbst die Kunst des Verstehens, sondern die
Theorie derselben. Aber die eine wie die andere Form von Be\vußtmachung
steigt aus der Praxis auf und bleibt ohne sie ein bloßer Leerlauf. Das ist der
besondere Sinn von Wissen und Wissenschaft, den es von der Problematik
der Hermeneutik aus neu zu legitimieren galt. Das war das Ziel, dem ich
auch nach Vollendung von) Wahrheit und Methode< meine Arbeit gewidmet
habe.

Korrekturzusatz: Inzwischen v,rird die Diskussion zwischen Hermeneutik und Dekon-


struktivismus lebhaft fortgeftihrt. Vgl. J. Habermas' vorzügliche Derrida-Kritik in >Der
philosophische Diskurs der Modeme<, Frankfurt 1985, S. 191 ff. sowie - die Diskussion
von ,Text und Interpretation, - in englischer Sprache durch Dallmayr (vorbereitet in
Iowa) sowie meine Anmerkungen zu F. Dallmayr, Polis and Praxis (Cambridge 1984), die
>Destruktion und Dekonstruktioll< (vgl. unten S. 361 ff.) ergänzen (ebenda).
11. Vorstufen
2. Das Problem der Geschichte
in der neueren deutschen Philosophie
1943

Wenn man die Eigenart der deutschen Philosophie der letzten Jahrzehnte
kennzeichnen will, so begegnet einem als ihr wichtigster Grundzug ihre
historische Einstellung. Angelsächsische Beobachter haben sie gelegentlich
geradezu eine erdrückend historische Einstellung genannt und sich verwun-
dert, warum die deutsche Philosophie sich so überwiegend mit der Ge-
schichte der Philosophie beschäftigt. In der Tat ist dieses Interesse der
Philosophie an ihrer eigenen Geschichte keine Selbstverständlichkeit und
enthält eine eigene Fragwürdigkeit. Kommt es in der Philosophie, wie in
aller Erkenntnis, auf die Wahrheit an, was bedarf es dann der Wahrnehmung
der Wege und Umwege, die zu ihr führen? Überdies klingt uns Heutigen die
Kritik in den Ohren, die Friedrich Nietzsehe in der berühmten zweiten
}Unzeitgemäßcn Betrachtung< an der Historie geübt hat. Ist der historische
Sinn wirklich jene großartige Erweiterung unserer Welt, die das 19. Jahr-
hundert in ihm sah, ist cr nicht vielmehr ein Zeichen daftir, daß der moderne
Mensch überhaupt nicht mehr eine eigene Welt hat, seit cr mit hundert
Augen zugleich auf die Welt zu blicken gelernt hat' Löst sich nicht der Sinn
von Wahrheit auf, wo die wechselnden Perspektiven, in denen sie erscheint,
ins Bewußtsein treten?
In der Tat, es gilt zu begreifen, wie uns der geschichtliche Charakter des
menschlichen Daseins und seiner Erkenntnis zum Problem geworden ist.
Man nennt dieses Problem in Deutschland das Problem der Geschichtlich-
keit. Es ist nicht die alte Frage nach dem Wesen und Sinn der Geschichte, die
damit gefragt wird. Daß die menschlichen Dinge sich unaufhaltsam wan-
deln, daß Völker und Kulturen aufsteigen und sinken. war vonjeher Gegen-
stand des philosophischen Nachdenkcns. Die Griechen, die ersten Gestalter
des abendländischen Weltbegreifens, dachten diesen Aufstieg und Verfall
nicht als das Wesen des menschlichen Seins, sondern von etwas anderem her,
das sich in allem Wechsel bewahrt, weil es die rechte Ordnung ist. Das
Vorbild, nach dem so das menschliche Sein gedacht wird, ist die Natur, die
kosmische Ordnung, die sich selbst erhält und in ewiger Wiederkehr erneu-
ert. Auch menschliche Ordnung möchte so bleibend sein, und ihr Wandel
28 Vorstufen

gilt als ihr Verfall. Geschichte ist Verfallsgeschichte. ' Erst mit dem Christen-
tum wird das Unwiederholbare des menschlichen Seins als sein eigener
Wesenszug erkannt. Das Ganze der menschlichen Dinge, }dieser Kosmos(,
ist ja das Unwesen gegenüber dem alleinigen Wesen des jenseitigen Gottes,
und die Erlösungstat gibt der menschlichen Geschichte einen neuen Sinn. Sie
ist die ständige Entscheidung rur oder wider Gott. Der Mensch steht in der
durch die einmalige Erlösungstat bestimmten Geschichte des Heils. Jeder
seiner Augenblicke gewinnt ein absolutes Gewicht, das Ganze der menschli-
chen Geschicke aber bleibt geborgen in der Vorsehung Gottes und der
Erwartung des Endes der Dinge. So ist das menschliche Dasein endlich und
doch auf das Unendliche bezogen. Geschichte hat einen eigenen, positiven
Sinn. Von dieser Voraussetzung aus ist die Metaphysik der Geschichte im
christlichen Abendland durch ein Jahrtausend gedacht worden. In säkulari-
sierter Gestalt ist noch der Fortschrittsglaube des Zeitalters der Aufklärung
ein Glied in diesem Zusammenhang. Ja, selbst der letzte großartige Versuch
einer Geschichtsphilosophie, Hegels Aufweis der Vernunft in der Geschich-
te, bleibt in diesem Sinne Metaphysik. Erst mit dem Zusammenbruch dieses
metaphysischen Hintergrundes wird das Problem der Geschichte rur das
menschliche Daseinsbewußtsein bestimmend. Es wird zum Problem der
Gcschichtlichkeit.
Im Jahre 1841 wurde der alte Schelling auf den Berliner Lehrstuhl für
Philosophie gerufen, um der politisch und wissenschaftlich gefahrlichen
Nachwirkung Hegels entgegenzutreten. Seine Kritik an Hege! stellt, gegen
sein eigenes Wissen und Wollen, das Ende der führenden Stellung der
Philosophie in der abendländischen Kultur überhaupt dar. Nicht seine eige-
ne Philosophie, sondern das methodische Übergewicht der Naturwissen-
schaften setzte sich durch. Auch das Problem der Geschichte wurde nach
diesem methodischen Vorbild gestaltet.
Als die Philosophie sich von der Tiefe des epigonalen Hegelianismus und
akademischen Materialismus der Jahrhundertmitte erhob, stand sie im Zei-
chen Kants und seiner erkenntnistheoretischen Frage nach der Begründung
der Wissenschaft. Kant hatte in der IKritik der reinen Vernunft< die Frage
beantwortet, wie reine Naturwissenschaft möglich sei. Jetzt fragte man
darüber hinaus, wie Geschichtswissenschaft möglich sei. Man suchte der
IKritik der reinen Vernunft< eine )Kritik der historischen Vernunft< zur Seite
zu stellen (um ein Wort Wilhelm Diltheys zu gebrauchen). Das Problem der
Geschichte stellte sich als das Problem der Geschichtswissenschaft. Wie
gewinnt diese ihr erkenntnistheoretisches Recht? So fragen hieß aber, die

1 rVgl. meine Rezension zu G. Rohr IPlatons Stellung zur Geschichte<, Ges. Werke

Bd. 5, S. 327-331.]
Das Problem der Geschichte 29
Geschichtswissenschaft am Vorbild der Naturwissenschaften messen. Das
klassische Buch der neukantianischen Geschichtslogik hat den bezeichnen-
den Titel: ,Die Grenzen der Naturwissenschaftlichen Begriffsbildung<.
Heinrich Rickert sucht darin zu zeigen, wodurch der Gegenstand der Ge-
schichte sich charakterisiert, warum in ihr nicht allgemeine Gesetzlichkeiten
gesucht werden, wie in der Naturwissenschaft, sondern das Einzelne, das
Individuelle erkannt wird. Was macht ein bloßes Faktum zu einer histori-
schen Tatsache? Die Antwort lautet: seine Bedeutung, d. h. sein Bezug auf
das System menschlicher Kulturwerte. Bei solcher Fragestellung bleibt in
aller Abgrenzung das Modell der naturwissenschaftlichen Erkenntis leitend.
Das Problem der Geschichte ist ganz und gar nur das erkenntnistheoretische
Problem, wie Geschichtswissenschaft möglich ist.
In Wahrheit aber bewegt die Frage der Geschichte die Menschheit nicht als
ein Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern des eigenen Le-
bensbewußtseins. Auch ist es nicht allein dies, daß wir Menschen eine
Geschichte haben, d. h. in Aufstieg, Blüte und Verfall unser Schicksal leben.
Das Entscheidende ist vielmehr, daß wir gerade in dieser·Schicksalsbewe-
gung den Sinn unseres Seins suchen. Die Macht der Zeit, die uns dahinreißt,
weckt in uns das Bewußtsein einer eigenen Macht über die Zeit, durch die
wir unser Schicksal gestalten. In der Endlichkeit selber erfragen wir einen
Sinn. Das ist das Problem der Geschichtlichkeit, wie es die Philosophie
bewegt. Die Dimensionen dieses Problems sind in Deutschland, dem klassi-
schen Land der Romantik, ausgemessen worden, weil dort das romantische
Erbe inmitten des Aufschwungs der modernen Wissenschaft, den das
19. Jahrhundert brachte, festgehalten wurde.
Es war Wilhelm Dilthey, im wilhelminischen Deutschland viele Jahr-
zehnte Professor der Philosophie in Berlin, der anerkannte und berühmte
Geschichtsschreiber des deutschen Geistes, der in der Zeit der Herrschaft der
Erkenntnistheorie dieses Problem der Geschichtlichkeit in heller Wachheit
empfunden und durchdacht hat. Seine Zeitgenossen, ja auch viele seiner
Schüler und Freunde, sahen in ihm nur den genialen Historiker, den würdi-
gen Erben der großen Tradition deutscher Geschichtsschreibung, der auf
dem Gebiete der Philosophie geschichte und Geistesgeschichte eine neue und
glanzvolle Leistung hinzubrachte. Seine Schriften waren vielf:iltig verstreut,
oft nur in Aufatzen und Akademieabhandlungen veröffentlicht. Aber nach
dem ersten Weltkrieg erschienen seine gesammelten Werke in vielen Bän-
den, die um wichtige Nachlaßarbeiten vermehrt waren. Seitdem ist Dilthey
als Philosoph, als der Denker des Problems der Geschichtlichkeit, sichtbar
geworden. Ortega y Gasset ist sogar so weit gegangen, ihn den größten
Denker zu nennen, den die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorge-
bracht habe.
Man muß freilich lernen, Dilthey gegen seine eigene methodische Selbst-
30 Vorstufen

auffassung zu lesen. Denn Diltheys Arbeiten teilten scheinbar mit der er-
kenntnistheoretischen Fragestellung des Neukantianismus den Ausgangs-
punkt. Auch er suchte den Geisteswissenschaften zu einer selbständigen,
philosophischen Grundlegung zu verhelfen, indem er die ihnen eigenen
Prinzipien aufwies. Er sah in einer beschreibenden und zergliedernden Psy-
chologie die Grundlage aller Geisteswissenschaften. In einer klassischen
Abhandlung vomjahre 1892 mit dem Titel ,Ideen zu einer beschreibenden
und zergliedernden Psychologie< überwindet er die naturwissenschaftliche
Methodik auf dem Gebiete der Psychologie und gibt damit den Geisteswis-
senschaften ihr methodisches Selbstbewußtsein. So scheint auch er von der
erkenntistheoretischen Fragestellung beherrscht, die nach der Möglichkeit
der Wissenschaft fragt und nicht nach dem, was Geschichte ist, In Wahrheit
aber beschränkt er sich nicht darauf, über unser Wissen von der Geschichte
zu reflektieren, wie es in der Geschichtswissenschaft vorliegt, sondern er
denkt über unser menschliches Sein nach, das durch sein Wissen um seine
Geschichte bestimmt ist. Den Grundcharakter des menschlichen Daseins
bezeichnet er als das )Leben<. Dies ist ihm die )kernhafte< Urtatsache, auf die
auch alle geschichtliche Erkenntis letztlich zurückgeht, Auf die gedankenbil-
dende Arbeit des Lebens, nicht auf ein erkenntnistheoretisches Subjekt gehe
alles Objektive im menschlichen Leben zurück, Kunst, Staat, Gesellschaft,
Religion, alle unbedingten Werte, Güter und Normen, die in diesen Sphären
Bestand haben, entstammen zuletzt der gedankenbildenden Arbeit des Le-
bens, Wenn sie unbedingte Geltung beanspruchen, erklärt sich das nur durch
)Einschränkung des Horizonts der Zeit<, das will sagen, durch einen Mangel
an historischem Horizont. Der historisch Aufgeklärte zum Beispiel weiß,
daß Totschlag nicht unbedingt das größere Verbrechen ist gegenüber dem
DiebstahL Er weiß, daß das alte germanische Recht den Diebstahl strenger
ahndete als den Totschlag, weil er feige und unmännlich ist, Nur wer das
nicht weiß, kann hier an die Unbedingtheit einer Rangordnung der Dinge
glauben, Historische Aufklärung fUhrt so zur Einsicht in die Bedingtheit des
Unbedingten, fUhrt zur Einsicht in die historische Relativität, Dilthey wird
darüber aber nicht zum Vertreter eines historischen Relativismus, denn nicht
die Relativität, sondern die ,kernhafte< Tatsache des Lebens, die aller Relati-
vität zugrunde liegt, beschäftigt sein Denken,
Wie vollzieht sich diese gedankenbildende Arbeit des Lebens? Dilthey
gründet seine Philosophie auf die innere Erfahrung des Verstehens, das uns
Realität aufschließt, die sich dem Begriff versagt, Alle geschichtliche Er-
kenntnis ist solches Verstehen. Verstehen aber ist nicht das Verfahren der
historischen Wissenschaft allein, sondern ist eine Grundbestimmung des
menschlichen Seins. Es beruht darauf, daß wir Erlebnisse haben, deren wir
inne sind. In der )Erinnerung< gestalten sich diese Erlebnisse aus zum Verste-
hen von Bedeutung. Dilthey hat hier an romantische Gedanken angeknüpft,
Das Problem der Geschichte 31

wenn er erkennt, daß solches Verstehen von Bedeutung ganz anders struktu-
riert ist als das Verfahren der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Hier wird
nicht von einem zum anderen und wieder zum nächsten fortgegangen, um
daraus das Allgemeine zu abstrahieren, sondern das einzelne Erlebnis ist
immer schon eine Ganzheit von Bedeutung, ein Zusammenhang. Und
wiederum ist das einzelne Erlebnis zwar ein Teil des Ganzen des Lebensver-
laufs. Dennoch aber ist seine Bedeutung auf dieses Ganze in einer eigenarti-
gen Weise bezogen. Offenbar ist es nicht so, daß jeweils das Le(zte, was
jemand erlebt, die Bedeutung des Lebenszusammenhanges erst vollendet
und bestimmt. Der Sinn eines Lebensschicksals ist vielmehr eine eigene
Ganzheit, die nicht vom Ende, sondern von einer sinnbildenden Mitte aus
gestaltet ist. Nicht um das letzte, sondern um das entscheidende Erlebnis
bildet sich die Bedeutung des Zusammenhanges. Ein Augenblick kann ftir
ein ganzes Leben entscheidend werden.
In Anlehnung an romantische Theorien verdeutlicht Dilthey dieses Ver-
hältnis gern am Verstehen von Musik. Eine Melodie ist zwar eine Abfolge
von einzelnen Tönen, und dennoch baut sich die Gestalt der Melodie nicht in
der Weise auf, daß sie mit dem Erklingen des letzten Tones erst da wäre.
Vielmehr gibt es auch hier bedeutungsvolle Motive, von deren Mitte her
sich der Aufbau des Ganzen vollzieht und zur Einheit zusammenschließt.
Auch das Verstehen der Geschichte ist solches Verstehen aus einer Mitte. Es
mag sein, daß sich der volle Sinn der Geschichte erst in der Universalge-
schichte erfüllt. So hat Ernst Troeltsch Diltheys Anliegen einmal formuliert
lvon der Relativität zur Totalität(. Aber entscheidend ist auch hier: Totalität
ist nicht das vollendete Ganze der bis zur Gegenwart abgelaufenen Geschich-
te, sondern baut sich von einer Mitte, von einer zentrierenden Bedeutung
her auf.
Dieser Bedeutungszusammenhang, der sich so bildet, ist in Wahrheit aber
zugleich ein Wirkungszusammenhang, das heißt, er ist nicht im Verstehen
erst gestaltet, sondern zugleich als Zusammenhang von Kräften wirksam.
Geschichte ist immer beides zugleich. Bedeutung und Kraft. Dilthey zeigt
etwa, daß eine Epoche einen einheitlichen Bedeutungszusammenhang dar-
stellt. Er nennt diesen Zusammenhang die >Struktun der Zeit. Nun ist es
gewiß sinnvoll zu sagen, man müsse alle Erscheinungen dieser Zeit aus ihrer
Struktur verstehen. Es kann das Verständnis nicht befriedigen, hier bloße
Einflüsse oder Einwirkungen fremder Zeiten oder Umstände zu erkennen.
Nur der erfahrt einen Einfluß, der für ihn schon bereit und empfanglieh ist.
Diese seine Empfanglichkeit eben ist die Struktur. Umgekehrt aber ist es
offenbar eine falsche Einseitigkeit, wenn man die Frage nach solchen histori-
schen Wirkungs linien gänzlich abschneiden will. Am Ende hängt das Erfah-
ren von Einflüssen auch davon ab, daß das nahe und wirksam ist, was diesen
Einfluß ausübt, Geschichte ist nicht nur Bedeutungszusammenhang, son-
32 Vorstufen

dern ein Realzusammenhang von Kräften. Machen wir es uns wiederum arn
Beispiel des menschlichen Lebensschicksals klar. Gewiß vollzieht sich ein
menschliches Lebensschicksal nach dem Gesetz, nach dem es angetreten ist.
Gewiß aber gestalten die Umstände dieses Schicksal mit; Daimon und
Kairos, Vor bestimmung und Gelegenheit treten zusammen. Geschichte ist
immer Sinn und Wirklichkeit zugleich, Bedeutung und Kraft.
Dilthey arbeitet nicht zufallig mit dem Vergleich des ästhetischen Verste-
hens. Denn eine Voraussetzung trägt seine gesamte Lehre vom geschichtli-
chen Sein und seinem Gewirktsein aus Kraft und Bedeutung: daß der Ab-
stand des Verstehens gegeben und die Souveränität der geschichtlichen
Vernunft möglich ist. So wie das ästhetische Verstehen sich in verstehendem
Abstand vollzieht, ist auch das Verstehen der Geschichte auf solchen Ab-
stand gegründet. Eben das begreift nun Dilthey als die Bewegung des
Lebens selber, daß die Besinnung aus ihm selbst aufsteigt. Negativ bedeutet
das: das Lehen muß frei werden vom Erkennen durch Begriffe, um seine
eigenen Objektivationen zu bilden. Gibt es aber solche Freiheit des Verste-
hens? Seine entscheidende Begründung hat dieser Glaube an das Freiwerden
durch historische Aufklärung in einem Strukturmoment des historischen
Sclbstbewußtseins: daß das Selbstbewußtsein in einem unendlichen und
unumkehrbaren Prozeß begriffen ist. Schon Kant und der Idealismus waren
davon ausgegangen: jedes erreichte Wissen von sich selbst vermag wieder
Gegenstand eines neuen Wissens zu werden. Wenn ich weiß, so kann ich
stets auch wissen, daß ich weiß. Diese Bewegung der Reflexion ist unend-
lich. Für das historische Selbstbewußtsein bedeutet diese Struktur, daß der
Geist, der sein Selbstbewußtsein sucht, eben damit sein eigenes Sein ständig
verwandelt. Indem er sich begreift, ist er immer schon ein anderer geworden
als der, der er war. Machen wir es an einem Beispiel klar: wird sichjemand
des Zornes bewußt, der ihn erfüllt, so ist dieses erreichte Selbst bewußtsein
immer schon eine Verwandlung, wenn nicht gar eine Verwindung des
eigenen Zornes. Hegel hat in seiner ~Phänomenologie des Geistes( diese
Bewegung des Selbstbewußtseins zu sich selbst beschrieben. Während aber
Hege! im philosophischen Selbstbewußtsein das absolute Ende dieser Bewe-
gung sah, verwirft Dilthey diesen metaphysischen Anspruch als dogma-
tisch. Damit öffnet sich ihm die Schrankenlosigkeit der historischen Ver-
nunft. Historisches Verstehen bedeutet ständige Zunahme an Selbstbewußt-
sein, ständige Erweiterung des Lebenshorizontes. Da gibt es kein Halt und
kein Zurück. Diltheys Universalität als Historiker des Geistes berUht eben
auf dieser unendlichen Erweiterung des Lebens im Verstehen. Dilthey ist der
Denker der historischen Aufklärung. Das geschichtliche Bewußtsein ist das
Ende der Metaphysik.
Hier liegt der Punkt, an dem die philosophische Forschung heute auf neue
Wege gewiesen ist.
Das Problem der Geschichte 33

Gibt es diese Freiheit des Verstehens, offenbart sich in ihr der unendliche
Zusammenhang des Geschehens als das Wesen der Geschichte? Fragen wir
nicht gerade dann nach dem Wesen der Geschichte, wenn wir nach den
Grenzen des geschichtlichen Selbst bewußtseins fragen? Auf dem Wege die-
ser Frage ist Nietzsche vorausgegangen. In der zweiten >Unzeitgemäßen
Betrachtung< fragt er nach dem Nutzen und Nachteil der Historie rur das
Leben: Er entwirft dort ein erschreckendes Bild von der historischen Krank-
heit, die seine Zeit befallen habe. Er zeigt, wie alle lebenfordemden Instinkte
durch sie zutiefst verderbt sind, wie alle verbindlichen Maßstäbe und Werte
dadurch verlorengehen, daß man lernt, mit beliebigen fremden Maßstäben
und an immer wieder anderen Werttafe1n zu messen. Nietzsches Kritik ist
aber zugleich positiv. Denn er proklamiert den Maßstab des Lebens, der
bemißt, wievicl Geschichte eine Kultur ohne Schaden ertragen kann. Histo-
risches Sclbstbewußtsein könne sehr verschiedener Art sein, bewahrend
oder Vorbild gestaltend oder Niedergang fUhlcnd. Im rechten Gleichge-
wicht dieser verschiedenen Arten, Historie zu treiben, müsse sich die plasti-
sche Kraft erhalten, durch die eine Kultur allein lebensfahig ist. Sie bedarf
eines mit Mythen umstellten Horizontes, sie bedarf also gerade einer Grenz-
setzung gegenüber der historischen Aufklärung. Aber gibt es ein Zurück?
Oder ist vielleicht gar kein Zurück nötig? Ist der Glaube an die Unendlich-
keit des Verstehens der historischen Vernunft vielleicht ein Wahn, eine
falsche Selbstinterpretation unseres geschichtlichen Seins und Bewußtseins?
Das ist die entscheidende Frage.
Es gibt viele Probleme, an denen uns der Glaube an die Schrankenlosigkeit
der historischen Vernunft fragwürdig werden kann. Ich erinnere an die
Frage nach den Naturkonstanten des geschichtlichen Geistes, seinen biologi-
schen Voraussetzungen. Ich erinnere an die Frage nach dem Anfang der
Geschichte. Ist wirklich Geschichte erst dort, wo die Menschheit ein Be-
wußtsein von sich selbst zu überliefern beginnt? Sind nicht geschichtema-
chende Entscheidungen dem schon weit vorausgegangen? Gibt es etwa eine
Tat von größerer Bedeutung, als die Erfindung des Pfluges es war, die aller
geschichtlichen Zeit voraus liegt? Und was ist der Mythos, in dem sich
geschichtliche Völker noch vor der Schwelle ihres geschichtlichen Schicksals
spiegeln? Aber selbst Diltheys Problem vom geschichtlichen Verstehen
erscheint uns heute in einem neuen Licht, seitdem die philosophische For-
schung einige entscheidende Schritte über ihn hinaus getan hat. Martin
Heidegger hat in .Sein und Zeit< die Geschichtlichkeit des menschlichen
Daseins in grundsätzliche Fragezusammenhänge gerückt. Er hat das Pro-
blem der Geschichte von den ontologischen Voraussetzungen freigemacht,
unter denen noch Dilthey die Frage sah. Sein bedeutet, wie er gezeigt hat,
nicht notwendig und immer Gegenständlichkeit, vielmehr kommt es gerade
darauf an, ),die generische Differenz zwischen Ontischem und Historischem
34 Vorstufen

herauszuarbciten«(. Das Sein des menschlichen Daseins ist ein geschichtli-


ches. Das bedeutet aber, daß es nicht vorhanden ist wie das Dasein der
Gegenstände der Naturwissenschaft, nur hinfälliger und wandelbarer als sie.
Vielmehr bedeutet Geschichtlichkeit, d. h. Zeitlichkeit, in ursprünglicherem
Sinne Sein als das Vorhandene ist, das die Naturwissenschaft zu erkennen
strebt. Historische Vernunft gibt es nur, weil das menschliche Dasein zeitli-
ches und geschichtliches ist. Weltgeschichte gibt es nur, weil dieses zeitliche
Dasein des Menschen )Welt hat~. Chronologie gibt es nur, weil das ge-
schichtliche Dasein des Menschen selber Zeit ist.
Von dieser Einsicht aus gewinnt Diltheys Lehre einen neuen Aspekt.
Zunächst kann gefragt werden, wie es mit dieser Freiheit des Verstehens
eigentlich steht. Ist sie nich. ein bloßer Schein' Dilthey glaubt an ein Frei-
werden des Verstehens vom Erkennen durch Begriffe, aber meinte er damit
nicht bloß die Begriffe einer unglaubhaft gewordenen Metaphysik? Bleibt
nicht all unser Verstehen geleitet durch Begriffe? Historisches Verstehen
rühmt sich seiner Vorurteilslosigkeit. Aber ist solche Vorurteilslosigkeit
nicht immer nur eine bedingte? Hat dieser Anspruch nicht immer nur den
polemischen Sinn, von diesem oderjenem Vorurteil frei zu sein? Ja, verdeckt
nicht der Anspruch auf Vorurteilslosigkeit (wie es uns auch die menschliche
Lebenserfahrung lehrt) in Wahrheit immer die zähe Hartnäckigkeit von
Vorurteilen, die uns undurchschaut bestimmen? Wir kennen es aus der
Arbeitsweise der Historiker zur Genüge. Sie beanspruchen, kritisch zu sein,
d. h. die Quellen und Zeugnisse über eine historische Frage mit derüberlcge-
nen Gerechtigkeit eines Richters zu verhören, um hinter die Sache zu kom-
men. Aber liegt nicht solcher vermeintlichen Kritik immer schon die stille
Wirksamkeit leitender Vorurteile zugrunde? Am Ende aller Quellen- und
Zeugenkritik steht immer ein letzter Maßstab der Glaubwürdigkeit, der von
nichts anderem abhängt als davon, was man für möglich hält und zu glauben
bereit ist. Ja, am Ende ist noch mehr zu sagen. Wie das wirkliche Leben, so
spricht uns auch die Geschichte nur dann an, wenn sie in unser vorgängiges
Urteil über Dinge und Menschen und Zeiten hineinspricht. Alles Verstehen
von Bedeutsamem setzt voraus, daß wir einen Zusammenhang solcher
Vorurteile mitbringen. Heidegger hat diesen Tatbestand als denhermeneuti-
schen Zirkel bezeichnet: wir verstehen nur das, was wir schon wissen, hören
nur das heraus, was wir hineinlesen. Am Maßstab der Naturerkenntnis
gemessen scheint dies unerträglich. In Wahrheit wird nur dadurch histori-
sches Verstehen möglich. Nicht daraufkomme es an, einen solchen Zirkel zu
vermeiden, sondern in der rechten Weise in ihn hineinzukommen.
Daraus folgt ein zweites: Bedeutung erschließt sich nicht, wie Dilthey
meint, im Abstand des Verstehens, sondern dadurch, daß wir selber in dem
Wirkungszusammenhang der Geschichte stehen. Geschichtliches Verstehen
ist selber immer Erfahrung von Wirkung und Weiterwirken. Seine Befan-
Das Problem der Geschichte 35
genheit bedeutet geradezu seine geschichtliche Wirkungskraft. Das ge-
schichtlich Bedeutende ist daher im handelnden Vollzug selber ursprüngli_
cher als im Verstehen zugänglich. Geschichtliches Dasein hat stets eine
Situation, eine Perspektive und einen Horizont. Es ist wie in der Malerei:
Perspektive, d. h. die Ordnung der Dinge nach mäher< und ,ferner<, schließt
einen Augenpunkt ein, den man einnehmen muß. So aber tritt man in ein
Seins verhältnis zu den Dingen und gehört ihrer Ordnung an, indem man sie
sich zuordnet. Dann erst wird die Einmaligkeit eines Geschehens, die Er-
fülltheit des Augenblicks darstellbar. Vor-perspektivische Malerei dagegen
zeigt alle Dinge in ausgebreiteter Ewigkeit und im Durchblick auf eine
jenseitige Bedeutung. Geschichtliche Wahrheit ist entsprechend nicht das
Durchscheinen einer Idee, sondern das Verbindliche einer unwiederholbaren
Entscheidung.
Nun aber kommt ein drittes hinzu, eine Einsicht, die sich mir selbst
immer mehr aufgedrängt hat: Die grenzenlose Freiheit des Verstehens ist
nicht nur eine Illusion, die durch philosophische Besinnung aufgedeckt
wird; wir erfahren diese Grenze der Freiheit des Verstehens vielmehr selber,
indem wir zu verstehen suchen. Dadurch daß sich die Freiheit des Verstehens
begrenzen muß, gelangt das Verstehen erst eigentlich zum Wirklichen, dort
nämlich, wo es auf sich Verzicht tut, d. h. vor dem Unverständlichen. Ich
meine damit nicht irgendeine fromme Bescheidung vor dem U nerforschli-
ehen, sondern ein Element unserer sittlichen Lebenserfahrung, das wir alle
kennen: das Verstehen im Verhältnis von Ich und Du. Da lehrt die Erfah-
rung: nichts steht einer echten Verständigung von Ich und Du mehr im
Wege, als wenn jemand den Anspruch erhebt, den anderen in seinem Sein
und seiner Meinung zu verstehen. }Verstehend( aller Gegenrede des anderen
voraus zu sein, dient in Wahrheit zu nichts anderem, als sich den Anspruch
des anderen vom Leibe zu halten. Es ist eine Weise, sich nichts sagen Zu
lassen. Wo aber einer imstande ist, sich etwas sagen zu lassen, wo er den
Anspruch des anderen gelten läßt, ohne ihn im vorhinein zu verstehen und
damit zu begrenzen, gewinnt er an echter Selbsterkenntnis. Dann gerade
geht ihm etwas auf. Nicht im souveränen Verstehen also liegt eine echte
Erweiterung unseres in die Enge des Erlebens gebannten Ichs, wie Dilthey
meint, sondern im Begegnen des Unverständlichen. Vielleicht erkennen wir
nie so viel von unserem eignen geschichtlichen Sein, als wenn uns der Hauch
ganz fremder Geschichtswelten anweht. Der Grundcharakter des Ge-
schichtlichseienden ist offenbar, bedeutend zu sein, aber dies in dem aktiven
Sinne des Wortes; und das Sein zur Geschichte ist, sich etwas bedeuten zu
lassen. Zwischen Ich und Du erwächst daraus allein echte Bindung, zwi-
schen uns und der Geschichte bildet sich so allein das Verbindliche des
geschichtlichen Schicksals.
Von dieser Einsicht her rückt ein Problem in die Mitte der geschichtlichen
36 Vorstufen

Hermeneutik, das bisher eine fragwürdige Grenzstellung hatte: das Problem


des Mythos. Es ist ja das dunkelste aller Probleme der geschichtlichen
Methodik. Wie deutet man Mythen, wenn man wissenschaftlich deuten
will? Was ist das selbstverständliche und fruchtbare Vorurteil, das man dabei
wahrhaben muß? Der Sinn der Mythen, der Sinn der Märchen ist der tiefste.
Woran mißt sich ihre Deutung? Wird es hier nicht wahrhaft ftihlbar, daß es
keine Methode zum Deuten von Mythen und Märchen gibt? Und heißt das
nicht am Ende und in Wahrheit dies, daß wir es gar nicht sind, die die
Mythen zu deuten vermögen, weil vielmehr die Mythen uns deuten? In der
Tat, sie sind, wo immer sie sprechen, das eigentlich Überlegene, das was
alles weiß, das in aller Dunkelheit schlicht und belehrend zu uns spricht.
Mythen und Märchen scheinen wie vom Anfang aller Dinge her mit Wissen
erfullt, und dennoch sind sie von einer eigenen geschichtlichen Tiefe. Der in
ihr Geheimnis eingeweihte Geist ist nicht der unserer historischen Vernunft.
Deshalb stehen wir als historische Menschen so hilflos vor dem, was die
Kinder ihr eigen nennen. Dennoch untersteht auch unsere aufgeklärte Ver-
nunft noch der Kraft des Mythos. Die geistige Geschichte der Menschheit ist
nicht ein Vorgang der Entgötterung der Welt, ist nicht eine Auflösung des
Mythos durch den Logos, durch die Vernunft. Dieses Schema beruht auf
dem Vorurteil der historischen Aufklärung, auf der naiven Voraussetzung
nämlich, daß die Vernunft des Vernünftigen der zureichende Grund daftir
ist, daß es siegt und herrscht. In Wahrheit ermöglicht sich die Vernunft nicht
selber. Sie ist selbst nur eine geschichtliche Möglichkeit - und Chance. Sie
versteht sich selbst nicht und ebensowenig die mythische Wirklichkeit, von
der sie vielmehr umfaßt und getragen bleibt.
Die Allmacht historischer Aufklärung ist bloßer Schein. Gerade in dem,
was dieser Aufklärung widersteht, was eine eigene Dauer steter Gegenwart
beweist, liegt das eigentliche Wesen der Geschichte. Mythen sind nicht
Masken geschichtlicher Wirklichkeit, die die Vernunft den Dingen abziehen
könnte, um sich als historische Vernunft zu vollenden. Sie offenbaren viel-
mehr die eigentliche Kraft der Geschichte. Der Horizont unseres eigenen
Geschichtsbewußtseins ist nicht die mythenleere, unendliche Wüste des
aufgeklärten Bewußtseins. Diese Aufgeklärtheit ist vielmehr geschichtlich
bedingt und begrenzt, eine Phase im Vollzug unseres Schicksals. Sie mißver-
steht sich selbst, wenn sie sich als die schicksallose Freiheit des historischen
Bewußtseins denkt. Das aber heißt: Geschichte ist, was wir je waren und
sind. Sie ist das Verbindliche unseres Schicksals.
3. Wahrheit in den Geisteswissenschaften
1953

Die Geisteswissenschaften haben es nicht leicht, fur die Art ihrer Arbeit bei
der größeren Öffentlichkeit das rechte Verständnis zu finden. Was in ihnen
Wahrheit ist, was bei ihnen herauskommt, ist schwer sichtbar zu machen.
Immerhin wäre es leichter auf solchen Gebieten der Geisteswissenschaften,
deren Gegenstände von sinnfalliger Art sind. Wenn ein Nationalökonom
heute von der Bedeutung seiner Arbeit rur die öffentliche Wohlfahrt zu
sprechen hätte, so wäre ihm ein allgemeines Verständnis gewiß. Ebenso wäre
es, wenn ein Kunstwissenschaftler etwas Schönes vor uns hinstellte, selbst
wenn es nur die Ausgrabung von etwas sehr Altem wäre. Denn auch das sehr
Alte erweckt eine merkwürdige Art von allgemeinem Interesse. Dem Philo-
sophen steht es dagegen an, statt sichtbarer oder allgemein überzeugender
Resultate das Bedenkliche und Nachdenkliche zur Sprache zu bringen. das
sich in der Arbeit der Geisteswissenschaften dem Denkenden darbietet.

Der moderne Wissenschaftsbegriffist von der Entwicklung der Naturwis-


senschaft des 17. Jahrhunderts geprägt worden. Ihr verdanken wir eine
steigende Beherrschung der Natur, und so erwartet man auch von der
Wissenschaft vom Menschen und der Gesellschaft, daß sie eine ähnliche
Beherrschung der menschlich-geschichtlichen Welt leistet. Ja, man erwartet
von den Geisteswissenschaften noch mehr, seit die steigende Beherrschung
der Natur, die wir der Wissenschaft verdanken, das Unbehagen an der Kultur
eher mehrt als mindert. Die naturwissenschaftlichen Methoden erfassen nicht
alles Wissenswerte, nicht einmal das am meisten Wissenswerte, nämlich die
letzten Zwecke, denen alle Beherrschung der Mittel der Natur und des
Menschen zu dienen haben. Es sind Erkenntnisse von anderer Art und
anderem Rang, die man von den Geisteswissenschaften und der Philosophie,
die in ihnen liegt, erwartet. Und so liegt es nahe, statt von dem Gemeinsamen,
das der Gebrauch wissenschaftlicher Methoden rur alle Wissenschaft dar-
stellt, einmal von dem Einzigartigen zu sprechen, das uns die Geisteswissen-
schaften so bedeutsam und so bedenklich macht.
38 Vorstufen

1. Was ist denn eigentlich das Wissenschaftliche an den Geisteswissen-


schaften? Kann man überhaupt den Begriff der Forschung ohne weiteres auf
sie anwenden? Denn was darin gedacht ist, das Aufspüren von Neuern, noch
nie Erkanntem, die Bahnung eines sicheren, von aBen nachkontrollierbaren
Weges zu diesen neuen Wahrheiten, a11 das scheint hier erst in zweiter Linie
zu kommen. Die Fruchtbarkeit einer geisteswissenschaftlichen Erkenntnis
scheint der Intuition des Künstfcrs näher verwandt als dem methodischen
Geist der Forschung. Sicherlich wird man aller genialen Leistung, aufjedem
Gebiet der Forschung, das gleiche nachsagen dürfen. Aber in der methodi-
schen Arbeit der Naturforschung wächst doch immer wieder neue Einsicht
zu, und insofern steckt in der Handhabung der Methoden die Wissenschaft
selbst.
Handhabung von Methoden gehört nun gewiß auch zur Arbeit der Gei-
steswissenschaften. Sie zeichnet sich vor der popularwissenschaftlichen Bel-
letristik ebenfalls durch eine gewisse Nachprüfbarkeit aus, - aber all das
betrifft mehr die Materialien als die aus ihnen gezogenen Folgerungen. Es ist
hier nicht so, daß die Wissenschaft durch ihre Methodik Wahrheit zu sichern
vermöchte. Hier kann sogar einmal im unwissenschaftlichen Werk des
Dilettanten mehr Wahrheit sein als in noch so methodischer Stoffauswer-
tung. In der Tat ließe sich zeigen, daß die Entwicklung der Geisteswissen-
schaften in den letzten hundert Jahren sich zwar das Vorbild der Naturwis-
senschaften ständig vor Augen hielt, daß aber ihre stärksten und wesentlich-
sten Impulse nicht aus dem großartigen Pathos dieser Erfahrungswissen-
schaften stammten, sondern aus dem Geist der Romantik und des deutschen
Idealismus. Es ist in ihnen ein Wissen um die Grenzen der Aufklärung und
der Methode in der Wissenschaft lebendig.
2. Aber wird das, wodurch sie uns so bedeutsam sind, wird das Wahrheits-
bedürfnis des menschlichen Herzens durch sie wirklich befriedigt' Indem sie
die weiten Räume der Geschichte forschend und verstehend durchdringen,
erweitern sie zwar den geistigen Horizont der Menschheit um das Ganze
ihrer Vergangenheit, aber das Wahrheitsstreben der Gegenwart wird so nicht
nur nicht befriedigt, es wird sich selber gleichsam bedenklich. Der histori-
sche Sinn, den die Geisteswissenschaften in sich ausbilden, bringt ejne
Gewöhnung an wechselnde Maßstäbe mit sich, die im Gebrauch der eigenen
Maße zur Unsicherheit fuhrt. Schon Nietzsche hat in seiner zweiten >Unzeit-
gemäßen Betrachtung( nicht nur vom Nutzen, sondern auch vom Nachteil
der Historie für das Leben gewußt. Der Historismus, der überall geschichtli-
che Bedingtheit sieht, hat den pragmatischen Sinn der geschichtlichen Stu-
dien zerstört. Scine verfeinerte Kunst des Verstehens schwächt die Kraft zu
unbedingter Wertung, in der die sittliche Realität des Lebens besteht. Seine
erkenntnistheoretische Zuspitzung ist dcr Relativismus, seine Konsequenz
der Nihilismus.
Wahrheit in den Geisteswissenschaften 39
Die Einsicht in die Bedingtheit aller Erkenntnis durch die geschichtlichen
und gesellschaftlichen Mächte, die die Gegenwart bewegen, ist aber nicht
nur eine theoretische Schwächung unseres Erkenntisglaubens, sondern be-
deutet auch eine tatsächliche Wehrlosigkeit unserer Erkenntnis gegenüber
den Willensmächten des Zeitalters. Die Geistes\vissenschaften werden Von
diesen Tendenzen in ihren Dienst gestellt, werden abgeschätzt auf den
Machtwert hin, den ihre Erkenntnisse gesellschaftlich, politisch, religiös
oder wie immer bedeuten. So verstärken sie den Druck, den die Macht auf
den Geist ausübt. Sie sind gegen jede Art von Terror unvergleichlich viel
anfalliger als die Naturwissenschaften, weil es bei ihnen keine Maßstäbe
gibt, die mit so beneidenswerter Sicherheit wie dort das Echte und Rechte
vom zweckhaft Verborgenen und Vorgeblichen unterscheiden. So gerät die
letzte sittliche Gemeinsamkeit, die sie mit dem Ethos aller Forschung ver-
bindet, in Gefahr.
Wer diese Bedenken, die der Wahrheit in den Geisteswissenschaften anhaf-
ten, in ihrer ganzen Bedenklichkeit ermißt, wird sich vor allem in einem
Kreise von Naturforschern und durch die N atunvissenschaft in ihrer Vor-
stellungs welt bestimmten Laien gerne auf einen unverdächtigen Zeugen
berufen: Der große Physiker Hermann Helmholtz hat vor etwa hundert
Jahren eimnal über den Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissen-
schaften gesprochen. Die Gerechtigkeit und die weitblickende Überlegen-
heit, mit der er der besonderen Art der Geisteswissenschaften dabei Rech-
nung trug, verdienen noch heute Beachtung. Zwar hat auch er die Arbeits-
weise der Geisteswissenschaften an den Methoden der Naturwissenschaften
gemessen und von ihnen her beschrieben, und es ist daher verständlich, daß
der ahnungsvolJc Kurzschluß, mit dem sie zu ihren Ergebnissen kommen,
sein logisches Bedürfnis nicht befriedigen konnte. Aber er sah, daß dies die
Weise ist, in der die Geisteswissenschaften tatsächlich zur Wahrheit gelan-
gen, und daß es also noch andersartiger menschlicher Bedingungen bedarf,
damit solche Kurzschlüsse schließen. Was alles an Gedächtnis, Phantasie,
Takt, musischer Sensibilität und Welterfahrung dazugehört, das ist freilich
anderer Art als die Apparatur, deren der Naturforscher bedarf, aber es ist
nicht minder eine Art Instrumentarium, nur daß es nicht beschafft werden
kann, sondern dadurch zuwächst, daß einer sich in die große Überlieferung
der menschlichen Geschichte hineinstellt. Hier gilt daher nicht nur die alte
Parole der Aufklärung: Habe den Mut, Dich Deines Verstandes zu bedienen
- hier gilt gerade auch das Gegenteil: Autorität.
Man muß nur richtig denken, was damit gemeint ist. Autorität ist nicht
die Überlegenheit einer Macht, die blinden Gehorsam fordert und das
Denken verbietet. Das wahre Wesen der Autorität beruht vielmehr darauf,
daß es nicht unvernünftig, ja, daß es ein Gebot der Vernunft selbst sein kann,
im anderen überlegene, das eigene Urteil übersteigende Einsicht vorauszu-
4D Vorstufen

setzen. Der Autorität gehorchen heißt einsehen, daß der andere - und so
auch die andere aus Überlieferung und Vergangenheit tönende Stimme -
etwas besser sehen kann als man selbst. Jeder der den Weg in die Geisteswis-
senschaften als junger Anfan!';er gesucht hat, kennt das aus Erfahrung. Ich
selbst erinnere mich, wie ich mit einem erfahrenen Gelehrten als Anfanger in
einer wissenschaftlichen Frage disputierte, in der ich gut Bescheid zu wissen
meinte. Da wurde ich plötzlich von ihm über eine Sache belehrt, die ich nicht
wußte und fragte ihn ganz erbittert: woher wissen Sie das? Seine Antwort
war: wenn Sie so alt sein werden wie ich, werden Sie es auch wissen.
Das war eine richtige Antwort. Aber wer würde wohl als Lehrer der
Naturwissenschaft oder als Lernender das fUr eine Antwort halten? Wir
wissen zumeist nicht zu sagen, warum diese oder jene philologische oder
historische Vermutung eines AnHingers )unmöglich{ ist. Es ist eine Frage des
Taktes, der durch unermüdlichen Umgang mit den Dingen erworben, aber
nicht gelehrt und nicht andemonstriert werden kann. Dennoch ist es in
solcher pädagogischer Situation fast ausnahmslos gewiß, daß der erfahrene
Lehrer Recht und der Anfanger Unrecht hat. Freilich hängt mit diesen
besonderen Wahrheits bedingungen zusammen, daß wir auch der Forschung
gegenüber keine absolut sicheren Maßstäbe haben, durch die sich echte
Leistung und leere Prätention scheiden lassen, ja, daß wir oft an uns selber
zweifeln, ob, was wir sagen, die Wahrheit, die wir meinen, wirklich noch
enthält.

II

Auf Überlieferung hören und in Überlieferung stehen, das ist offenbar der
Weg der Wahrheit, den es in den Geisteswissenschaften zu finden gilt. Auch
alle Kritik an der Überlieferung, zu der wir als Historiker gelangen, dient am
Ende dem Ziele, sich an die echte Überlieferung, in der wir stehen, anzu-
schließen. Bedingtheit ist also nicht eine Beeinträchtigung geschichtlicher
Erkenntnis, sondern ein Moment der Wahrheit selbst. Sie muß selbst mit
gedacht sein, wenn man ihr nicht beliebig anheimfallen will. Es muß gerade-
zu hier als )wissenschaftlich< gelten, das Phantom einer vom Standort des
Erkennenden abgelösten Wahrheit zu zerstören. Das gerade ist das Zeichen
unserer Endlichkeit, deren eingedenk zu bleiben allein vor Wahn zu bewah-
ren vermag. So war der naive Glaube an die Objektivität der historischen
Methode ein solcher Wahn. Aber was an seine Stelle tritt, ist nicht ein matter
Relativismus. Es ist ja nicht beliebig und nicht willkürlich, was wir selber
sind, und was wir aus der Vergangenheit zu hören vermögen.
Was wir geschichtlich erkennen, das sind wir im letzten Grunde selbst.
Geisteswissenschaftliche Erkenntnis hat immer etwas von Selbsterkenntnis
an sich. Nirgends ist Täuschung so leicht und so naheliegend wie in der
Wahrheit in den Geistes\',. isscnschaften 41

Selbsterkenntnis, nirgends aber bedeutet es auch, wo sie gelingt, so viel fUr


das Sein des Menschen. So gilt es in den Geisteswissenschaften, nicht nur uns
selbst, wie wir uns schon kennen, aus der geschichtlichen Überlieferung
herauszuhören, sondern gerade auch etwas anderes: Es gilt, einen Anstoß
von ihr zu erfahren, der uns über uns selbst hinausfUhrt. Deshalb verdient
hier nicht das Unanstößige einer unsere Erwartung einfach befriedigenden
Forschung unsere eigentliche Förderung, sondern es gilt zu erkennen -
gegen uns selbst -, wo neue Anstöße gegeben werden.
Das Nachdenken über diese beiden Bedenken enthält aber auch unmittel-
bare praktische Konsequenzen für unsere Arbeit. Wer die Geisteswissen-
schaften fOrdern will, wird nur in seltenen Fällen Sachbeihilfen leisten kön-
nen. Hier kann nur Menschen geholfen werden, mir all der Unsicherheit, die
das dort einschließt, wo der Maßstab ihrer Leistung so wenig kontrollierbar
ist. Und daß nicht die unanstößige Forschung unsere eigentliche Förderung
verdient, stellt uns vor die kaum lösbare Aufgabe, der keine noch so freiheit-
liche Form der Verwaltung genügen kann, das Neue und Fruchtbare zu
erkennen, das wir selbst nicht sehen, weil wir unsere eigenen Wege vor
Augen haben,

III

Es folgt aber aus unseren Überlegungen, warum die Lage der Geisteswissen-
schaften im Massenzeitalter so besonders prekär ist. In einer durchorgani-
sierten Gesellschaft spielt sich jede Interessengruppe nach dem Maße ihrer
ökonomischen und sozialen Macht aus. Sie wertet auch die wissenschaftli-
che Forschung danach, wieweit deren Ergebnisse ihrer eigenen Macht nüt-
zen oder schaden. Insofern hat jede Forschung Hir ihre Freiheit zu furchten,
und gerade der Naturforscher weiß, daß seine Erkenntnisse es schwer haben
können, sich durchzusetzen, wenn sie herrschenden Interessen abträglich
sind. Der Interessendruck der Wirtschaft und der Gesellschaft lastet auf der
Wissenschaft.
In den Geisteswissenschaften aber greift dieser Druck sozusagen von
innen an. Sie sind selber in der Gefahr, das flir wahr zu halten, was den
Interessen dieser Mächte entspricht. Weil ihrer Arbeit ein Moment der
Ungewißheit anhaftet, ist ihnen die Zustimmung anderer von besonderem
Gewicht. Das werden, wie überall, die Fachleute, wenn sie }Autoritäten(
sind, sein. Aber weil ihre Arbeit der besonderen Anteilnahme aller sicher ist,
ist die Zusalumenstimmung mit dem Urteil der Öffentlichkeit, ist die
Resonanz, die die eigene Forschung dort fmdet, oft schon in der unbewuß-
ten Intention des Forschers mitgemeint. So ist zum Beispiel das vaterländi-
sche Interesse in der politischen Geschichtsschreibung besonders gegenwär-
tig. Wie weit sich das gleiche geschichtliche Ereignis auch unter ernsten
42 Vorstufen

Forschern verschiedener Nationalität differenziert, ist allbekannt. Das ge-


schieht nicht aus der Berechnung der Wirkun~ sondern aus innerer Zuge-
hörigkeit, die den Standpunkt vorgibt. Wie leicht abcr kehrt sich derartiges
um, so daß einer sich auf den Standpunkt zu stellen sucht, der der öffentli-
chen Wirkung günstig ist.
Nun muß man aber erkennen, daß das nicht eine beiläufige Entartung ist,
wie sie immer einmal angesichts der menschlichen Schwäche vorkOIDInt,
sondern daß es geradezu die Signatur unserer Zeit ist, aus dieser allgemeinen
Schwäche ein System der Macht- und Herrschaftsübung entwickelt zu
haben. Wer dic technischen Mittel des Nachrichtendienstes in der Hand hat,
der entscheidet nicht nur, was publik werden darf - mit der Steuerung der
Publizität hat cr zugleich die Möglichkeit einer Manipulation der öffentli-
chen Meinung zu seinen Z\vecken. Gerade weil wir viel abhängiger sind in
unserer Urteilsbildung als es unserer durch die Aufklärung begründeten
Selbsteinschätzung entspricht, ist dieses Machtmittel von so dämonischer
Stärke. Denn wer sich seine Abhängigkeit nicht eingesteht und sich frei
glaubt, wo er es nicht ist, der wacht über seinen eigenen Fesseln. Selbst der
Terror beruht darauf, daß die Terrorisierten sich selbst terrorisieren. Es ist
die verhängnisvollste Erfahrung, die die Menschheit in diesemjahrhundert
gemacht hat, daß die Vernunft selbst bestechlich ist.
Die Geistes\vissenschaften, die das im besonderen an sich erfahren, besit-
zen aber dadurch auch die besondere Möglichkeit, sich der Verftihrungen
der Macht und der Bestechung ihrer Vernunft zu envehren. Denn ihre
Selbsterkenntnis verlegt ihnen den Weg, von noch mehr Wissenschaft das zu
erwarten, was sie bisher noch nicht zu leisten vermögen. Das Ideal einer
vollendeten Aufklärung hat sich selbst widerlegt, und gerade damit gewin-
nen die Geisteswissenschaften ihren besonderen Auftrag: in der wissen-
schaftlichen Arbeit der eigenen Endlichkeit und geschichtlichen Bedingtheit
beständig eingedenk zu bleiben und der Selbstapotheose der Aufklärung zu
widerstehen. Sie können sich nicht von der Verantwortung entlasten, die
daraus entsteht, daß Wirkung von ihnen ausgeht. Entgegen aller Manipula-
tion der Meinung durch die gesteuerte Publizität der modernen Welt üben sie
über Familie und Schule einen unmittelbaren Einfluß auf die heranwachsen-
de Menschheit aus. Wo in ihnen Wahrheit ist, zeichnen sie die unverlöschli-
ehe S pur der Freiheit.
Es sei abschließend an eine Einsicht erinnert, die schon Platon vermittelt
hat: Er nennt die Wissenschaften, die in logoi, in Reden bestehen, Nahrung
der Seele, so wie die Speisen und Getränke Nahrung des Leibes sind. ))Man
sollte daher bei ihrem Kauf nicht minder mißtrauisch sein, daß man nicht
schlechte Ware aufgeschwatzt bekommt. Ja, es ist doch sogar eine weit
größere Gefahr beim Kauf von Wissen als beim Kauf von Speisen. Denn die
Speisen und Getränke, die einer vom Kaufmann gekauft hat, kann er in
Wahrheit in den Geistcs\visscnschaftcn 43

besonderen Gef;;ißen nach Hause schaffen, und bevor er sie sich trinkend und
essend einverleibt, kann er sie zuhaus abstellen und sich beraten, unter
Herbeiziehung des Kundigen, was man essen oder trinken solle und was
nicht und wie viel und wann. Daher ist in dem Kauf die Gefahr nicht groß.
Wissen aber kann man nicht in einem besonderen Gefaß \vegschaffen,
sondern es ist unvermeidlich, daß man das Wissen, wenn man den Preis
erlegt hat, unmittelbar in die Seele selbst aufnimmt und so belehrt davon-
geht - sei es zum Schaden, sei es zum Guten. «2
Der platonische Sokrates \varnt mit diesen Worten einen jungen Mann,
sich ohne Bedenken dem Unterricht eines der bewunderten Weisheitslehrer
seiner Zeit anzuvertrauen. Er sieht die zweideutige Stellung, die dem in
logoi, in Reden bestehenden Wissen anhaftet, zwischen Sophistik und wah-
rer Philosophie, Aber er erkennt auch die besondere Bedeutung, die dem
rechten Entscheid hier zukommt.
Diese Erkenntnis sei auf die Frage nach der Wahrheit in den Geisteswissen-
schaften angewendet. Sie sind im Ganzen der Wissenschaften dadurch ein
Besonderes, daß auch ihre angeblichen oder wirklichen Erkenntnisse unmit-
telbar al1e menschlichen Dinge bestimmen, sofern sie von selbst in menschli-
che Bildung und Erziehung übergehen, Es gibt kein Mittel, das Wahre und
das Falsche in ihnen zu unterscheiden, als wiederum das, dessen sie sich
selbst bedienen: logoi, Reden, Und doch kann in diesem Mittel das höchste
an Wahrheit, das Menschen erreichbar ist, seinen Ort nehmen. Was ihre
Bedenklichkeit ausmacht, ist in Wahrheit ihre eigentliche Auszeichnung: sie
sind lOROi, Reden, mur< Reden.

, [Prot. 314 abi


4. Was ist Wahrheit?
1957

Unmittelbar aus dem Sinn der geschichtlichen Situation verstanden, schließt


die Pilatusfrage ,Was ist Wahrheit'. Ooh. 18.38) das Problem der Neutralität
in sich. So wie das Wort in der staatsrechtlichen Situation des damaligen
Palästina von dem Prokurator Pontius Pilatus gesprochen wird, will es
sagen, daß das, was von einem Mann wie Jesus als Wahrheit behauptet wird,
den Staat überhaupt nichts angehe. Die liberale und tolerante Stellung, die
damit die Staatsgewalt der Situation gegenüber einnimmt, hat etwas sehr
Merkwürdiges. Wir würden uns vergeblich nach Ähnlichem in der antiken
oder auch der modernen Staaten welt bis hin zu den Tagen des Liberalismus
umsehen. Es ist die besondere staatsrechtliche Situation einer zwischen
einem jüdischen )König< und einem römischen Prokurator schwebenden
Staatsgewalt, die eine solche Haltung der Toleranz überhaupt möglich
machte. Vielleicht ist der politische Aspekt der Toleranz immer ein ähnli-
cher; dann besteht clie politische Aufgabe, die das Ideal der Toleranz stellt,
eben darin, ähnliche Glcichgewichtslagen der Staats macht herbeizuführen.
Es wär eine Illusion, wenn man glaubte, dieses Problem gebe es im
modernen Staat nicht mehr, weil dieser Staat die Freiheit der Wissenschaft
prinzipiell anerkenne. Denn die Berufung auf sic bleibt stets eine gefahrliehe
Abstraktion. Sie entbindet den Forscher nicht von seiner politischen Verant-
wortung, sobald er aus der Stille der Studierstube und dem vor dcm Eintritt
Unbefugter geschützten Laboratorium heraustritt und seine Erkenntnisse
der Öffentlichkeit mitteilt. So unbedingt und eindeutig die Idee der Wahr-
heit das Leben des Forschers beherrscht, so beschränkt und vieldeutig ist
doch die Unverhohlenheit, mit der er spricht. Er muß wissen und verant-
worten, was sein Wort bewirkt. Die dämonische Kehrseite dieses Zusam-
menhanges aber ist, daß er im Blick auf diese Wirkung in Versuchung gerät,
zu sagcn, ja als Wahrheit sich selbst einzureden, was ihm in Wirklichkeit die
öffentliche Meinung oder die Machtinteressen des Staates diktieren. Es gibt
hier einen inneren Zusammenhang zwischen der Schranke der Meinungsäu-
ßerung und der Unfreiheit im Denken selbst. Wir wollen uns nicht verber-
gen, daß die Frage ~Was ist Wahrheit?< in dem Sinne, in dem Pilatus sie stellte,
noch heute unser Leben bestimmt.
Was ist Wahrheit? 45

Es gibt aber noch einen anderen Ton, in dem wir dieses Pilatuswort zu
hören gewöhnt sind, den Ton, in dem etwa Nietzsche dieses Wort gehört
hat, wenn er sagt, daß es überhaupt das einzige Wort des Neuen Testaments
sei, das Wert habe. Danach spricht aus dem Wort des Pilatus eine skeptische
Abwendung von dem >Eiferer<. Nicht zufallig hat es Nietzsche zitiert. Denn
auch seine eigene Kritik, die er am Christentum seiner Zeit übt, ist die Kritik
eines Psychologen an dem Eiferer.
Nietzsche hat diese Skepsis zu einer Skepsis gegen die Wissenschaft zuge-
spitzt. In der Tat hat die Wissenschaft dies mit dem Eiferer gemein, daß sie,
weil sie stets Beweise verlangt und Beweise gibt, ebenso intolerant ist \vieer.
Niemand ist so unduldsam wie der, der beweisen will, daß das, was cr sagt,
das Wahre sein müsse, Nach Nietzsche ist die Wissenschaft intolerant, \~leil
sie überhaupt ein Symptom der Schwäche sei, ein Spätprodukt des Lebens,
ein Alcxandrinertum, Erbe jener Dekadenz, die Sokrates, der Erfinder der
Dialektik, in eine Welt brachte, in der es noch keine )Unanständigkeit des
Beweisens( gab, sondern in der eine vornehme Selbstgewißheit beweislos
anweist und sagt.
Diese psychologische Skepsis gegen die Behauptung von Wahrheit trifft
freilich nicht die Wissenschaft selbst. Darin wird niemand Nietzsche folgen.
Aber es gibt in der Tat auch einen Zweifel an der Wissenschaft als solcher, der
als eine dritte Schicht rur uns hinter dem Worte )Was ist Wahrheit?~ sich
auftut. Ist die Wissenschaft wirklich, wie sie von sich beansprucht, die letzte
Instanz und der alleinige Träger der Wahrheit?
Wir verdanken der Wissenschaft Befreiung von vielen Vorurteilen und
Desillusionierung gegenüber vielen I11usionen. Immer wieder ist der Wahr-
heitsanspruch der Wissenschaft der, ungeprüfte Vorurteile fraglich zu ma-
chen und auf diese Weise besser zu erkennen, was ist, als das bisher erkannt
wurde. Zugleich aber ist fUr uns, je weiter sich das Verfahren der Wissen-
schaft über alles, was ist, ausbreitet, desto zweifelhafter geworden, ob von
den Voraussetzungen der Wissenschaft aus die Frage nach der Wahrheit in
ihrer vollen Weite überhaupt zugelassen wird, Wir fragen uns besorgt: wie
weit liegt es gerade am Verfahren der Wissenschaft, daß es so viele Fragen
gibt, auf die wir Antwort wissen müssen und die sie uns doch verbietet? Sie
verbietet sie aber, indem sie sie diskreditiert, d. h. rur sinnlos erklärt. Denn
Sinn hat rur sie nur, was ihrer eigenen Methode der Wahrheitsermittlung
und der Wahrheitsprüfung genügt. Dieses Unbehagen gegenüber dem
Wahrheitsanspruch der Wissenschaft regt sich vor allem in Religion, Philo-
sophie und Weltanschauung. Sie sind die Instanzen, auf die sich die Skeptiker
gegen die Wissenschaft berufen, um die Grenze der wissenschaftlichen
Spezialisierung und die Grenze der methodischen Forschung angesichts der
entscheidenden Lebensfragen zu markieren.
Wenn wir so die Pilatusfrage in ihren drei Schichten einleitend durchwan-
46 Vorstufen

dert haben, so wird einleuchten, daß die letzte Schicht, in der die innere
Beziehung von Wahrheit und Wissenschaft zum Problem wird, die ftir uns
wichtigste darstellt. So gilt es zunächst, das Faktum zu würdigen, daß die
Wahrheit mit der Wissenschaft überhaupt eine so bevorzugte Bindung ein-
gegangen ist.
Daß es die Wissenschaft ist, die die abendländische Zivilsation in ihrer
Eigenart und bald auch in ihrer beherrschenden Einigkeit ausmacht, sieht
jeder. Aber \\'enn man diesen Zusammenhang begreifen will, muß man auf
die Ursprünge dieser abendländischen Wissenschaft, das heißt auf ihre grie-
chische Herkunft zurückgehen. Griechische Wissenschaft,das ist etwas
Neucs gegenüber allem, was vordem die Menschen wuRten und als Wissen
pflegten. Als die Griechen diese Wissenschaft ausbildL\l'll, haben sie das
Abendland vom Orient geschieden und auf seinen eigenen Weg gebracht. Es
war ein einzigartiger Drang nach Kenntnis, Erkenntnis, Erforschung des
Unbekannten, Seltsamen, Wunderbaren, und eine ebenso einzigartige Skep-
sis gegen das, was man sich erzählt und als wahr ausgibt, was sie dazu
bestimmt hat, die Wissenschaft zu erschaffen. Als lehrreiches Beispiel mag
eine Homerszene gelten: Tclemach wird gefragt, wer er sei, und antwortet
darauf: )meine Mutter heißt Penelope, wer aber mein Vater ist, das kann man
ja nie genau wissen. Die Leute sagen, es sei Odysseus<. Solche Skepsis, die
bis ins Äußerste geht, offenbart die besondere Begabung des griechischen
Menschen, die Unmittelbarkeit seines Erkenntnisdurstes und seines Verlan-
gens nach Wahrheit zur Wissenschaft fortzubilden.
Es vermittelte daher eine schlagende Erkenntnis, als Heidegger in unserer
Generation auf den Sinn des griechischen Wortes für Wahrheit zurückgriff.
Das war keine erstmalige Erkenntnis Heideggers, daß Aletheia eigentlich
Unverborgenheit heißt. Aber Heidegger hat uns gelehrt, was es rur das
Denken des Seins bedeutete, daß es die Verborgenheit und die Verhohlenheit
der Dinge ist, der die Wahrheit wie ein Raub abgewonnen werden muß.
Verborgenheit und Verhohlcnheit - beides gehört zusammen. Die Dinge
halten sich von sich selbst aus in der Verborgenheit; »die Natur liebt es, sich
zu verbergen«, soll Heraklit gesagt haben. Ebenso aber gehärt zum mensch-
lichen Tun und Reden die Verhohlenheit. Denn die menschliche Rede gibt
nicht alles Wahre weiter, sie kennt auch Schein, Trug und Vorgebliches. Es
besteht also ein ursprünglicher Zusammenhang zwischen wahrem Sein und
wahrer Rede. Die Unverborgenheit des Seienden kommt in der Unverhoh-
lenheit der Aussage zur Sprache.
Die Weise der Rede, die diesen Zusammenhang am reinsten vollzieht, ist
die Lehre. Wir haben uns dabei klarzumachen, daß es ftir uns gewiß nicht die
einzige und primäre Erfahrung der Rede ist, daß sie lehrt, wohl aber ist es
diejenige Erfahrung von Rede, die von den griechischen Philosophen zuerst
gedacht worden ist, und die die Wissenschaft mit allen ihren Möglichkeiten
Was ist Wahrheit? 47
heraufgerufen hat. Rede, logos, wird oft auch mit Vernunft übersetzt, zu
Recht, sofern es für die Griechen schnell einsichtig war, daß das, was in der
Rede primär gewahrt und geborgen ist, die Dinge selbst in ihrer Verständ-
lichkeit sind. Es ist die Vernunft der Dinge selber, die sich in einer spezifi-
schen Weise des Redens darstellen und mitteilen läßt. Diese Weise des Redens
nennt man Aussage oder Urteil. Der griechische Ausdruck dafür ist apophan-
sis. Die spätere Logik hat dafur den Begriff des Urteils gebildet. Das Urteil
ist dadurch bestimmt, im Unterschied zu allen anderen Weisen des Redens
nur wahr sein zu wollen, sich ausschließlich daran zu messen, daß es ein
Seiendes offenbar macht, wie es ist. Es gibt Befehl, es gibt Bitte, Fluch, es
gibt das ganz rätselhafte Phänomen der Frage, über das noch etwas zu sagen
sein wird, kurz, es gibt unzählige Formen von Rede, in denen allen auch so
etwas wie Wahrsein liegt. Aber sie alle haben nicht ausschließlich ihre
Bestimmung darin, Seiendes zu zeigen, \\-'ie es ist.
Was ist das für eine Erfahrung, welche Wahrheit ganz auf das Zeigen in der
Rede stellt' Wahrheit ist Unverborgenheit. Vorliegcnlassen des Unverbor-
genen, Offenbarmachen ist der Sinn der Rede. Man legt vor und auf diese
Weise liegt vor, dem anderen eben so mitgeteilt, wie es einem selber vor-
liegt. So sagt Aristoteles: ein Urteil ist wahr, wenn es zusammen vorliegen
läßt, was in der Sache auch zusammen vorliegt; ein Urteil ist falsch, wenn es
in der Rede zusammen vorliegen läßt, was in der Sache nicht zusammen
vorliegt. Wahrheit der Rede bestimmt sich also als Angemessenheit der Rede
an die Sache, das heißt als Angemessenheit des Vorliegenlassens durch die
Rede an die vorliegende Sache. Daher stammt die aus der Logik wohl ver-
traute Definition der Wahrheit, sie sei adaequatio intellectus ad rem. Dabei ist als
fraglos selbstverständlich vorausgesetzt, daß die Rede, das heißt der intellec-
tus der sich in der Rede ausspricht, die Möglichkeit hat, sich so anzumessen,
J

daß nur das, was vorliegt, in dem, was einer sagt, zur Sprache kommt, daß
sie also wirklich die Dinge so zeigt, wie sie sind. Wir nennen das in der
Philosophie im Blick darauf, daß es auch andere Möglichkeiten von Wahr-
heit der Rede gibt, die Satzwahrheit. Der Ort der Wahrheit ist das
Urteil.
Das mag eine einseitige Behauptung sein, für die AristoteIes kein eindeuti-
ger Zeuge ist. Aber sie hat sich aus der griechischen Lehre vom Logos
entwickelt und liegt deren Entfaltung zum neuzeitlichen Begriff der Wissen-
schaft zugrunde. Die durch die Griechen geschaffene Wissenschaft stellt sich
zunächst ganz anders dar, als es unserem Begriff von Wissenschaft ent-
spricht. Nicht Naturwissenschaft, geschweige denn Geschichte, sondern
Mathematik ist die eigentliche Wissenschaft. Denn ihr Gegenstand ist ein
rein rationales Sein, und insofern ist sie ein Vorbild aller Wissenschaft, weil
sie in einem geschlossenen deduktiven Zusammenhange darstellbar ist. Für
die moderne Wissenschaft dagegen ist kennzeichnend, daß fur sie die Mathe-
48 Vorstufen

matik nicht durch das Sein ihrer Gegenstände vorbildlich ist, sondern als
vollkommenste Erkenntnisweise. Die neuzeitliche Gestalt der Wissenschaft
vollzieht einen entscheidenden Bruch mit den Wissensgestalten des griechi-
schen und christlichen Abendlandes. Es ist der Gedanke der Methode, der
jetzt beherrschend wird. Methode im neuzeitlichen Sinne ist aber bei aller
Vielf;iltigkeit, die sie in den verschiedenen Wissenschaften haben kann, eine
einheitliche. Das Erkenntnisideal, das durch den Begriff der Methode be-
stimmt ist, besteht darin, daß wir einen Weg des Erkennens so bewußt
ausschreiten, daß es immer möglich ist, ihn nachzuschreiten. Methodos
heißt ~Weg des Nachgehens<. Immer wieder Nachgehen-können, wie man
gegangen ist, das ist methodisch und zeichnet das Verfahren der Wissen-
schaft aus. Eben damit aber wird mit Notwendigkeit eine Einschränkung
dessen vorgenommen, was überhaupt mit dem Anspruch auf Wahrheit
auftreten kann. Wenn Nachprüfbarkeit - in welcher Form auch immer -
Wahrheit (veritas) erst ausmacht, dat1n ist der Maßstab, mit dem Erkenntnis
gemessen wird, nicht mehr ihre Wahrheit, sondern ihre Gewißheit. Daher
gilt seit der klassischen Formulierung der Gewißheitsregel des Descartes als
das eigentliche Ethos der modernen Wissenschaft, daß sie nur das als den
Bedingungen der Wahrheit genügend zuläßt, was dem Ideal der Gewißheit
genügt.
Dieses Wesen moderner Wissenschaft ist fur unser ganzes Leben bestim-
mend. Denn das Ideal der Verifikation, die Begrenzung des Wissens auf das
Nachprütbare, findet seine Erfullung im Nachmachen. So ist es die moderne
Wissenschaft, aus deren Schrittgesetz die ganze Welt der Planung und der
Technik erwächst. Das Problem unserer Zivilisation und der Nöte, die ihre
Technisierung uns bereitet, ist nicht etwa darin gelegen, daß es an der
rechten Zwischeninstanz zwischen der Erkenntnis und der praktischen An-
wendung fehle. Gerade die Erkenntnisweise der Wissenschaft selber ist so,
daß sie eine solche Instanz unmöglich macht. Sie ist selber Technik.
Nun ist das eigentlich Nachdenkliche an dem Wandel, den der Begriff der
Wissenschaft mit dem Beginn der Neuzeit erfahren hat, daß sich in diesem
Wandel gleichwohl der grundlegende Ansatz des griechischen Seinsdenkens
erhält. Die moderne Physik setzt die antike Metaphysik voraus. Daß Hei-
degger diese von weither kommende Prägung des abendländischen Den-
kens erkannt hat, macht seine eigentliche Bedeutung ftir das geschichtliche
Selbstbewußtsein der Gegenwart aus. Denn diese Erkenntnis verlegt allen
romantischen Restaurationsversuchen älterer Ideale, sei es der mittelalterli-
chen, sei es der hellenistisch-humanistischen den Weg, indem sie die Unaus-
weichlichkeit der Geschichte der abendländischen Zivilisation feststellt.
Auch das durch Hege! geschaffene Schema einer Philosophie der Geschichte
und einer Geschichte der Philosophie kann nun nicht mehr genügen, weil
nach Hegel die griechische Philosophie nur eine spekulative Vorübung
Was ist Wahrheit? 49

dessen ist, was im Selbstbewußtsein des Geistes seine neuzeitliche Vollen-


dung fand. Der spekulative Idealismus und seine Forderung einer spekulati-
ven Wissenschaft ist am Ende selbst eine ohnmächtige Restauration geblie-
ben. Die Wissenschaft ist - wie man sie auch schelte - das A und das 0
unserer Zivilisation.
Es ist nun nicht so, als ob die Philosophie crst heute damit anfinge, darin
ein Problem zu sehen. Vielmehr liegt hier eine so offene Crux unseres ganzen
Zivilisationsbewußtseins, daß die moderne Wissenschaft von der Kritik an
der ,Schule, wie von ihrem Schatten verfolgt wird. Philosophisch stellt sich
die Frage so: kann man und in we1chem Sinn und aufwe1che Weise hinter das
in den Wissenschaften thematisierte Wissen zurückgreifen? Daß die prakti-
sche Lebenserfahrung eines jeden von uns diesen Rückgriff ständig voll-
zieht, bedarf keiner Betonung. Man kann immer darauf hoffen, daß ein
anderer das einsieht, was man Hir wahr hält, auch wenn man es nicht
beweisen kann. Ja, man wird sogar nicht immer den Weg des Bcweisens als
den rechten Weg ansehen dürfen, wie man einen anderen zur Einsichtbringt.
Die Grenze der Objektivierbarkeit, an die die Aussage ihrer logischen Form
nach gebunden ist, wird von uns allen je und je überschritten. Wir leben
ständig in Mitteilungsformen rur so1ches, was nicht objektivierbar ist, die
uns die Sprache, auch die der Dichter. bereitstellt.
Gleichwohl ist es der Anspruch der Wissenschaft. die Zufalligkeit der
subjektiven Erfahrung durch objektive Erkenntnis, die Sprache vieldeutiger
Symbolik durch die Eindeutigkeit des Begriffs zu überwinden. Die Frage
aber ist: gibt es innerhalb der Wissenschaft als solcher eine Grenze der
Objektivierbarkeit, die in dem Wesen des Urteils und der Aussagewahrheit
selbst liegt'
Die Antwort auf diese Frage ist keineswegs sc1bstverständlich. Es gibt
eine sehr große, in ihrer Bedeutung gewiß nicht gering zu achtende Bewe-
gung in der heutigen Philosophie, rur welche diese Antwort feststeht. Sie
glaubt, daß das ganze Geheimnis und die alleinige Aufgabe aller Philosophie
darin bestehe, die Aussage so exakt zu gestalten, daß sie wirklich in der Lage
ist, das Gemeinte eindeutig auszusagen. Die Philosophie habe ein Zeichen-
system auszubilden, das nicht von der metaphorischen Vieldeutigkeit der
natürlichen Sprachen abhänge, auch nicht von der Vielsprachigkeit der
modernen Kulturvölker überhaupt und den daraus fließenden ständigen
Mißverständlichkeiten und Mißverständnissen, sondern das die Eindeutig-
keit und Präzision der Mathematik erreiche. Die mathematische Logik gilt
hier als der Lösungsweg rur alle Probleme, welche die Wissenschaft bisher
der Philosophie überließ. Diese Strömung, welche vom Heimatland des
Nominalismus aus auf die ganze Welt übergreift, stellt eine Wiederbelebung
der Ideen des achtzehnten Jahrhunderts dar. Als Philosophie leidet sie freilich
an einer immanenten logischen Schwierigkeit. Das beginnt sie allmählich
50 Vorstufen

selbst einzusehen. Es läßt sich erweisen, daß die EinfUhrung von konventio-
nellen Zeichensystcmen sich niemals durch das in diesen Konventionen
beschlossene System selber vollziehen kann, daß also jede Einführung einer
künstlichen Sprache schon eine andere Sprache voraussetzt, in der man
spricht, Es ist das logische Problem der Metasprache, das hier seinen Ort
hat. Aber dahinter steht noch etwas anderes. Die Sprache, die wir sprechen
und in der wir leben, hat eine ausgezeichnete Stellung. Sie ist zugleich die
inhaltliche Vor gegebenheit [ur alle nachkommende logische Analyse, Und
sie ist das nicht als eine bloße Summe von Aussagen. Denn die Aussage,
welche Wahrheit sagen will, muß noch ganz anderen Bedingungen genügen
als denen der logischen Analyse. Ihr Anspruch aufUnverborgenheit besteht
nicht nur im Vorliegenlassen des Vorliegenden. Es genügt nicht, daß das,
was vorliegt, in der Aussage auch vorgelegt wird. Denn das Problem ist
gerade, ob alles so vorliegt, daß es in der Rede vorgelegt werden kann, und
ob sich nicht dadurch, daß man vorlegt, was man vorlegen kann, die
Anerkennung dessen verlegt, v.ras gleichwohl ist und erfahren wird.
Ich glaube, daß die Geisteswissenschaften von diesem Problem ein sehr
beredtes Zeugnis ablegen. Auch dort gibt es manches, was dem Methoden-
begriff der modernen Wissens~haft untergeordnet werden kann. Jeder von
uns muß die Verifizierbarkeit aller Erkenntnisse in den Grenzen des Mögli-
chen als ein Ideal gelten lassen. Aber wir müssen uns eingestehen, daß dieses
Ideal sehr selten erreicht \vird und daß diejenigen Forscher, die dieses Ideal
am präzisesten zu erreichen streben, uns meistens nicht die wahrhaft vvichti-
gen Dinge zu sagen haben. So kommt es, daß es in den Geisteswissenschaf-
ten etwas gibt, was in den Naturwissenschaften in gleicher Weise nicht
denkbar ist, daß nämlich der Forscher mitunter aus dem Buche eines Dilet-
tanten mehr lernen kann als aus den Büchern anderer Forscher. Das be-
schränkt sich natürlich auf Ausnahmefalle. Aber daß es dergleichen gibt,
zeigt an, daß sich hier ein Verhältnis von Wahrheits erkenntnis und Sag bar-
keit auftut, das nicht an der Verifizierbarkeit von Aussagen zu messen ist.
Wir kennen das aus den Geisteswissenschaften so sehr, daß wir gegen einen
bestimmten Typus wissenschaftlicher Arbeiten begründetes Mißtrauen he-
gen, die die Methode, mit der sie gearbeitet sind, vorn und hinten und vor
allem unten, das heißt in den Anmerkungen, allzu deutlich zeigen. Ist da
wirklich etwas Neues gefragt? Ist da wirklich etwas erkannt? Oder wird da
nur die Methode, mit der man erkennt, so gut nachgemacht und in ihren
äußeren Formen getroffen, daß sich auf diese Weise der Eindruck einer
wissenschaftlichen Arbeit ergibt? Wir müssen uns eingestehen, daß umge-
kehrt die größten und fruchtbarsten Leistungen in den Geisteswissenschaf-
ten dem Ideal der Verifizierbarkeit weit vorauseilen. Das aber wird philo-
sophisch bedeutsam. Denn die Meinung ist ja nicht die, daß sich derunorigi-
neHe Forscher aus einer Art von Täuschungsabsicht wie ein Gelehrter gibt,
Was ist Wahrheit? 51

und umgekehrt der fruchtbare Forscher in revolutionärem Protest alles


beiseiteschieben müsse, was bisher in der Wissenschaft gegolten hat. Viel-
mehr zeigt sich hier ein sachliches Verhältnis an, wonach das, was Wissen-
schaft möglich macht, zugleich auch die Fruchtbarkeit wissenschaftlicher
Erkenntnis hindern kann. Es geht hier um ein prinzipielles Verhältnis von
Wahrheit und Unwahrheit.
Dieses Verhältnis zeigt sich daran, daß das bloße Vorliegenlassen von
solchem, das vorliegt, zwar wahr ist, das heißt offenlegt, wie es ist, aber
immer zugleich vorzeichnet, was weiterhin überhaupt als sinnvoll gefragt
und in fortschreitender Erkenntnis offengelegt werden kann. Es ist nicht
möglich, immer nur in der Erkenntnis fortzuschreiten, ohne damit auch
mögliche Wahrheit aus der Hand zu geben. Dabei handelt es sich keineswegs
um ein quantitatives Verhältnis, so als ob immer nur ein endlicher Umfang
unseres Wissens von uns festgehalten werden kann. Es ist vielmehr nicht nur
so, daß wir immer zugleich Wahrheit verdecken und vergessen, indern wir
Wahrheit erkennen, sondern es ist so, daß wir notwendig in den Schranken
unserer hermeneutischen Situation befangen sind, wenn wir nach Wahrheit
fragen. Das bedeutet aber, daß wir manches, was wahr ist, gar nicht zu
erkennen vermögen, weil uns, ohne daß wir es wissen, Vorurteile beschrän-
ken. Auch in der Praxis der wissenschaftlichen Arbeit gibt es so etwas wie
)Modee
Wir wissen, \velche ungeheure Macht und Z\vangsgewalt die Mode dar-
stellt. Nun klingt das Wort >Mode< in der Wissenschaft furchtbar schlecht.
Selbstverständlich ist es unser Anspruch, dem, was nur die Mode fordert,
überlegen zu sein. Aber die Frage ist gerade, ob es nicht im Wesen der Sache
liegt, daß es auch in der Wissenschaft Mode gibt. Ob die Weise, in der wir
Wahrheit erkennen, notwendig mit sich bringt, daß jeder Schritt vorwärts
von den Voraussetzungen \\'citer entfernt, von denen wir ausgegangen sind,
sie in das Dunkel det Selbstverständlichkeit zurücksinken läßt und eben
damit es unendlich schwer macht, über diese Voraussetzungen hinauszu-
kommen, neue Voraussetzungen zu erproben und damit wirklich neue
Erkenntnisse zu gewinnen. Es gibt so etwas wie eine Bürokratisicrung nicht
nur des Lebens, sondern auch der Wissenschaften. Wir fragen: liegt das im
Wesen der Wissenschaft oder ist das nur eine Art Kulturkrankheit der
Wissenschaft, wie wir auf anderen Gebieten ähnliche Krankheitserscheinun-
gen kennen, wenn wir z. B. die Riesenkästen unserer Verwaltungsgebäude
und Versicherungsanstalten bewundern? Vielleicht liegt es wirklich im We-
sen der Wahrheit selbst, so wie sie die Griechen zuerst gedacht haben, und
damit auch im Wesen unserer Erkenntnismöglichkeiten, wie sie die griechi-
sche Wissenschaft zuerst geschaffen hat. Die moderne Wissenschaft hat ja
nur, wie wir oben sahen, die Voraussetzungen der griechischen Wissenschaft
radikalisiert, die in den Begriffen des IOROS, der Aussage, des Urteils leitend
52 Vorstufen

sind. Die phänomenologische Forschung, die in unserer Generation in


Deutschland durch Husserl und Heidegger bestimmt worden ist, hat ver-
sucht, darüber Rechenschaft zu geben. indem sie fragte, was die über das
Logische hinausgehenden Wahrheits bedingungen der Aussage sind. Ich
glaube, man kann prinzipiell sagen: es kann keine Aussage geben, die
schlechthin wahr ist.
Diese These ist wohlbekannt als der Ausgangspunkt der HegeIschen
Selbstkonstruktion der Vernunft durch die Dialektik. »Die Form des Satzes
ist nicht geschickt, spekulative Wahrheiten auszusagen. «( Denn die Wahrheit
ist das Ganze. Indessen ist diese Kritik der Aussage und des Satzes, die Hegel
übt, selber noch auf ein Ideal der totalen Ausgesagtheit bezogen, nämlich auf
die Totalität des dialektischen Prozesses, die im absoluten Wissen gewußt ist.
Ein Ideal, das den griechischen Ansatz nochmals zu radikaler Ausftihrung
bringt. Nicht bei HegeI, sondern erst im Blick auf die Wissenschaften der
geschichtlichen Erfahrung, die sich gegen Hegel durchsetzen, läßt sich die
Grenze, die der Logik der Aussage aus ihr selbst gesetzt ist, wirklich bestim-
men. So haben denn auch die Arbeiten Diltheys, die der Erfahrung der
geschichtlichen Welt gewidmet sind, in dem neuen Einsatz Heideggcrs eine
wichtige Rolle gespielt.
Es gibt keine Aussage, die man allein auf den Inhalt hin, den sie vorlegt,
auffassen kann, wenn man sie in ihrer Wahrheit erfassen wilL Jede Aussage
ist motiviert. Jede Aussage hat Voraussetzungen, die sie nicht aussagt. Nur
wer diese Voraussetzungen mitdenkt, kann die Wahrheit einer Aussage
wirklich ermessen. Nun behaupte ich: die letzte logische Form solcher
Motivation jeder Aussage ist die Frage. Nicht das Urteil, sondern die Frage
hat in der Logik den Primat, wie auch der platonische Dialog und der
dialektische Ursprung der griechischen Logik geschichtlich bezeugen. Der
Primat der Frage gegenüber der Aussage bedeutet aber, daß die Aussage
wesenhaft Antwort ist. Es gibt keine Aussage, die nicht eine Art Antwort
darstellt. Daher gibt es kein Verstehen irgendeiner Aussage, das nicht aus
dem Verständnis der Frage, auf die sie antwortet, ihren alleinigen Maßstab
gewinnt. Wenn man das ausspricht, klingt es wie eine Selbstverständlichkeit
und ist jedem aus seiner Lebenserfahrung bekannt. Wenn jemand eine Be-
hauptung aufstellt, die man nicht versteht, dann sucht man sich klarzuma-
ehen, wie er dazu kommt. Welche Frage hat er sich gestellt, auf die seine
Aussage eine Antwort ist? Und wenn es eine Aussage ist, die wahr sein soll,
so muß man es selber mit der Frage versuchen, auf die sie eine Antwort sein
will. Es ist sicherlich nicht immer leicht, die Frage zu finden, auf die eine
Aussage wirklich Antwort ist. Es ist vor allem deshalb nicht leicht, weil auch
eine Frage wiederum kein einfaches Erstes ist, in das wir uns nach Belieben
versetzen können. Dennjede Frage ist selber Antwort. Das ist die Dialektik,
in die wir uns hier verstricken. Jede Frage ist motiviert. Auch ihr Sinn ist
Was ist Wahrheit? 53

niemals vollständig in ihr anzutreffen. 3 Wenn ich oben auf die Probleme des
Alexandrinismus hinwies, die unsere wissenschaftliche Kultur bedrohen,
sofern die Ursprünglichkeit des Fragens in ihr erschwert wird, so liegt hier
die Wurzel dessen. Das Entscheidende, das, was in der Wissenschaft erst
den Forscher ausmacht, ist: Fragen zu sehen. Fragen sehen heißt aber,
Aufbrechen-können, was wie eine verschlossene und undurchlässige
Schicht geebneter Vormeinungen unser ganzes Denken und Erkennen be-
herrscht. So Aufbrechenkönnen, daß auf diese Weise neue Fragen gesehen
und neue Antworten möglich werden, macht den Forscher aus. Jede Aus-
sage hat ihren Sinnhorizont darin, daß sie einer Fragesituation entstammt.
Wenn ich in diesem Zusammenhang den Begriff >Situation< gebrauche,
so deutet das darauf, daß die wissenschaftliche Frage und die wissenschaft-
liche Aussage nur der Spezialfall eines viel allgemeineren Verhältnisses
sind, das im Begriff der Situation anvisiert wird. Der Zusammenhang von
Situation und Wahrheit ist schon im amerikanischen Pragmatismus ge-
flochten worden. Dort versteht man als das eigentliche Kennzeichen der
Wahrheit das Fertigwerden mit einer Situation. Die Fruchtbarkeit einer
Erkenntnis bewährt sich darin, daß sie eine problematische Situation be-
hebt. - Ich glaube nicht, daß die pragmatistische Wendung, die die Sache
hier nimmt, ausreicht. Das zeigt sich schon daran, daß der Pragmatismus
alle sogenannten philosophischen, metaphysischen Fragen einfach beiseite-
schiebt, weil es nur darauf ankomme, jeweils mit der Situation fertigzu-
werden. Es ge1te, um vorwärts zu kommen, den ganzen dogmatischen
Ballast der Tradition abzuwerfen. - Das halte ich rur einen Kurzschluß.
Der Primat der Frage, von dem ich sprach, ist kein pragmatischer. Und
ebensowenig ist die Antwort, die wahr ist, an den Maßstab der Handlungs-
folgen gebunden. Aber wohl hat der Pragmatismus darin recht, daß man
über dcn formellen Bezug noch hinausgehen muß, in dem die Frage zum
Sinn der Aussage steht. Wir treffen das mitmenschliche Phänomen der
Frage in seiner vollen Konkretion, wenn wir uns von der theoretischen
Relation von Frage und Antwort, die die Wissenschaft ausmacht, abwen-
den und auf die namentlichen Situationen besinnen, in denen Menschen
genannt und gefragt werden und sich selber fragen. Da wird deutlich, daß
das Wesen der Aussage in sich eine Erweiterung erfährt. Nicht nur, daß die
Aussage stets Antwort ist und auf eine Frage verweist, sondern Frage wie
Antwort selber haben in ihrem gemeinsamen Aussagecharakter eine her-
meneutische Funktion. Sie sind beide Anrede. Das soll nieht bloß heißen,
daß sich stets auch etwas aus der sozialen Mitwelt in den Gehalt unserer
Aussagen hineinspielt. Das ist zwar richtig. Aber nicht darum geht es,
sondern darum, daß Wahrheit in der Aussage überhaupt nur da ist, sofern

, [Vgl. Ge,. We,ke Bd. 1, S. 304ff., 368ff, 374ff.].


54 Vorstufen

ste Anrede ist. Ocr Situationshorizom, der die Wahrheit einer Aussage
ausmacht, enthält den mit, dem mit der Aussage etwas gesagt wird.
Die moderne Existenzphilosphie hat diese Folgerung mit vollem Bewußt-
sein gezogen. Ich erinnere an die Philosophie der Kommunikation bei
Jaspers, die darin ihre Pointe hat, daß das Zwingende der Wissenschaft dort
ein Ende findet, wo die eigentlichen Fragen des menschlichen Daseins,
Endlichkeit, Geschichtlichkeit, Schuld, Tod - kurz, die sogenannten .Grcnz-
situationen( - erreicht sind. Hier ist Kommunikation nicht mehr Übermitt-
lung von Erkenntnis durch zwingende Beweise, sondern eine Art Commer-
cium von Existenz mit Existenz. Wer redet, ist selbst angeredet und ant\.VOI-
tet als ein Ich dem Du, weil er [Ur sein Du selbst ein Du ist. Es scheint mir
freilich nicht genug, im Gegensatz zu dem Begriff der wissenschaftlichen
Wahrheit, die anonym, allgemein und zwingend ist, einen Gegenbegriff der
Existenzwahrheit zu prägen. Vielmehr steckt hinter dieser Bindung der
Wahrheit an mögliche Existenz, die Jaspers einschärft, ein allgemeineres
philosphisches Problem,
Hier hat Heideggers Frage nach dem Wesen der Wahrheit den Problem be-
reich der Subjektivität erst wirklich überschritten. Sein Denken hat vom
~Zeug( über das) Werk( zufn >Ding( seinen Weg durchmessen, einen Weg, der
die Frage der Wissenschaft, auch die der geschichtlichen Wissenschaften,
weit hinter sich läßt. Es ist Zeit, darüber nicht zu vergessen, daß die Ge-
schichtlichkeit des Seins auch dort herrscht. wo Dasein sich weiß und wo es
als Wissenschaft sich historisch verhält. Die Hermeneutik der geschichtli-
chen Wissenschaften, die einst in der Romantik und der historischen Schule,
von Schleiermacher bis Dilthey, entwickelt worden war, \vird zu einer ganz
neucn Aufgabe, wenn man sie, darin Heidegger folgend, aus der Pro-
blematik der Subjektivität herausbewegt. Der einzige, der hier vorgearbeitet
hat, ist Hans Lipps, dessen hermeneutische Logik 4 zwar keine wirkliche
Hermeneutik bietet, aber die Verbindlichkeit der Sprache gegen ihre logi-
sche Nivellierung siegreich hervorkehrt.
Daß, wie oben gesagt, jede Aussage ihren Situationshorizont und ihre
Anredefunktion hat, ist daher nur die Grundlage für die weitergehende
Folgerung, daß die Geschichtlichkeit aller Aussagen auf die grundsätzliche
Endlichkeit unseres Seins zurückgeht. Daß eine Aussage mehr ist als nur das
Vergegenwärtigen eines vorliegenden Sachverhalts, heißt vor al1em, daß sie
dem Ganzen einer geschichtlichen Existenz zugehört und mit allem, was in
ihr gegenwärtig sein kann, gleichzeitig ist. Wenn wir Sätze, die uns überlie-
fert sind, verstehen wollen, so stellen wir historische Überlegungen an, aus
denen hervorgehen soll, wo und wie diese Sätze gesagt sind, was ihr eigentli-

4 [Vgl. H. Lipps, Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik, Werke Bd. 2,

F<ankfurt 1976 (1. Aufl1938)].


Was ist Wahrheit: 55
eher Motivationshintergrund und damit ihr eigentlicher Sinn ist. Wir müs-
sen also, wenn wir einen Satz als solchen uns vergegenwärtigen wollen,
selnen historischen Horizont mitvergegenwärtigen. Aber offenbar genügt
das nicht, um zu beschreiben, was wir wirklich tun. Denn unser Verhalten
zur Überlieferung begnügt sich nicht damit, daß ,"vir sie verstehen wollen,
indem wir durch historische Rekonstruktion ihren Sinn ermitteln. Das mag
der Philologe tun. Aber selbst der Philologe könnte sich eingestehen, daß
das, was er in Wahrheit tut, mehr ist als dies. Wäre das Altertum nicht
klassisch gewesen, das heißt vorbildlich rur alles Sagen, Denken und Dich-
ten, dann gäbe es keine klassische Philologie. Das gilt aber auch rur alle
andere Philologie, daß in ihr die Faszination des anderen, Fremden oder
Fernen wirksam ist, das sich uns auf'ichließt. Die eigentliche Philologie ist
nicht Historie allein, und z\var deshalb, weil auch die Historie selber in
Wahrheit eine ratio philosophandi ist, ein Weg, Wahrheit zu erkennen. Wer
geschichtliche Studien treibt, ist immer mit davon bestimmt, daß er selber
Geschichte erfährt. Geschichte wird deshalb immer wieder neu geschrieben,
weil das Gegenwärtige uns bestimmt. Es handelt sich in ihr nicht nur um
Rekonstruktion, um Gleichzeitigm.achung von Vergangenem. Das eigentli-
che Rätsel und Problem des Verstehens ist, daß das so gleichzeitig Gemachte
immer schon mit uns gleichzeitig "var, als etwas, das wahr sein will. Was
bloße Rekonstruktion vergangenen Sinnes schien, verschmilzt mit dem,
was uns unmittelbar als wahr anspricht. Ich halte es für eine der \vichtigsten
Berichtigungen, die wir an der Selbstauffassung des historischen Bewußt-
seins vornehmen müssen, daß sich damit die Gleichzeitigkeit als ein höchst
dialektisches Problem erweist. Geschichtliche Erkenntnis ist nie bloße Ver-
gegenwärtigung. Aber auch Verstehen ist nicht bloße Nachkonstruktion
eines Sinngebildes, bewußte Auslegung einer unbewußten Produktion. Ein-
ander verstehen heißt vielmehr, sich in etwas verstehen. Vergangenheit
verstehen heißt entsprechend: sie in dem, was sie uns als gültig sagen will,
hören. Der Primat der Frage vor der Aussage bedeutet fur die Hermeneutik,
daß man jede Frage, die man versteht, selber fragt. Verschmelzung des
Gegenwartshorizontes mit dem Vergangenheitshorizont ist das Geschäft der
geschichtlichen Geisteswissenschaften. Sie betreiben aber damit nur, was
wir immer schon tun, indem wir sind.
Wenn ich den Begriff der Gleichzeitigkeit gebrauchte, so tat ich es, um
eine Anwendungsweise dieses Begriffes zu ermöglichen, die durch Kierke-
gaard nahegelegt ist. Er war es, der die Wahrheit der christlichen Verkündi-
gung durch >Gleichzeitigkeit< kennzeichnete. Für ihn stellte sich die eigentli-
che Aufgabe des Christseins so, daß der Abstand der Vergangenheit in
Gleichzeitigkeit aufgehoben wird. Was bei Kierkegaard aus theologischen
Gründen in der Form des Paradoxes formuliert wurde, ist aber der Sache
nach etwas, was rur all unser Verhältnis zur Überlieferung und zur Vergan-
56 Vorstufen

genheit gültig ist. Ich glaube. daß die Sprache die ständige Synthesis zwi-
schen Vergangenheitshorizont und Gegenwartshorizont leistet. Wir verste-
hen einander, indem wir miteinander reden, indem wir oft aneinander
vorbeireden und doch am Ende im Gebrauch der Worte die mit den Worten
gesagten Dinge miteinander vor uns bringen. Es ist so, daß die Sprache ihre
eigene Geschichtlichkeit hat. Jeder von uns hat seine eigene Sprache. Es gibt
überhaupt nicht das Problem einer fur alle gemeinsamen Sprache, sondern es
gibt nur das Wunder dessen, daß wir, obwohl wir alle eine verschiedene
Sprache haben, uns dennoch über die Grenzen der Individuen, der Völker
und der Zeiten hinweg verstehen können. Dieses Wunder ist offenbar nicht
ablösbar davon, daß sich auch die Dinge, über die wir sprechen, als ein
Gemeinsames vor uns darstellen, indem wir von ihnen sprechen. Wie eine
Sache ist, stellt sich gleichsam crst heraus, wenn wir darüber reden. Was wir
mit Wahrheit meinen, Offenbarkeit, Unverborgenheit der Dinge, hat also
seine eigene Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit. Was wir in allem Bemühen
um Wahrheit mit Erstaunen gewahren, ist, daß wir nicht die Wahrheit sagen
können ohne 4nrede, ohne Antwort und damit ohne die Gemeinsamkeit des
gewonnenen Einverständnisses. Das Erstaunlichste am Wesen der Sprache
und des Gespräches aber ist, daß auch ich selber nicht an das, was ich meine,
gebunden bin, wenn ich mit anderen über etwas spreche, daß keiner von uns
die ganze Wahrheit in seinem Meinen umfaßt, daß aber gleichwohl die ganze
Wahrheit uns beide in unserem einzelnen Meinen umfassen kann. Eine
unserer geschichtlichen Existenz angemessene Hermeneutik würde die Auf-
gabe haben, diese Sinnbezüge von Sprache und Gespräch zu entfalten, die
über uns hinwegspielen.
5. Vom Zirkel der Verstehens
1959

Die hermeneutische Regel. daß man das Ganze aus dem Einzelnen und das
Einzelne aus dem Ganzen verstehen müsse, stammt aus der antiken Rhetorik
und ist durch die neuzeitliche Hermeneutik von der Redekunst auf die Kunst
des Verstehens übertragen worden. Es ist ein zirkelhaftes Verhältnis, das hier
wie dort vorliegt. Die Antizipation von Sinn, in der das Ganze gemeint ist,
kommt dadurch zu explizitem Verständnis, daß die Teile, die sich vom
Ganzen her bestimmen, ihrerseits auch dieses Ganze bestimmen.
Wir kennen das aus der Erlernung von fremden Sprachen. Wir 1ernen da,
daß wir einen Satz erst }konstruiereu< müssen, bevor wir die einzelnen Teile
des Satzes in ihrer sprachlichen Bedeutung zu verstehen suchen. Dieser
Vorgang des Konstruierens ist aber selber schon dirigiert von einer Sinner-
wartung, die aus dem Zusammenhang des Vorangegangenen stammt. Frei-
lich muß sich diese Erwartung berichtigen lassen, wenn der Text es fordert.
Das bedeutet dann, daß die Erwartung umgestimmt wird und daß sich der
Text unter einer anderen Sinnerwartung zur Einheit einer Meinung zusam-
menschließt. So läuft die Bewegung des Verstehens stcts vom Ganzen zum
Teil und zurück zum Ganzen. Die Aufgabe ist, in konzentrischen Kreisen die
Einheit des verstandenen Sinnes zu erweitern. Einstimmung aller Einzelhei-
ten zum Ganzen ist das jeweilige Kriterium rur die Richtigkeit des Verste-
hens. Das Ausbleiben solcher Einstimmung bedeutet Scheitern des Verste-
hens.
Nun hat Schleiermacher diesen hermeneutischen Zirkel von Teil und
Ganzem sowohl nach seiner objektiven wie nach seiner subjektiven Seite hin
differenziert. Wie das einzelne Wort in den Zusammenhang des Satzes, so
gehört der einzelne Text in den Zusammenhang des Werkes eines Schriftstel-
lers und dieses in das Ganze der betreffenden literarischen Gattung bzw. der
Literatur. Auf der anderen Seite gehört aber der gleiche Text als Manifesta-
tion eines schöpferischen Augenblicks in das Ganze des Seelenlebens seines
Autors. Jeweils erst in solchem Ganzen objektiver und subjektiver Art kann
sich Verstehen vollenden. - Im Anschluß an diese Theorie spricht dann
Dilthey von )Struktur< und von der )Zentrierung in einem Mittelpunkt<, aus
dcr sich das Verständnis des Ganzen ergibt. Er überträgt damit auf die
58 Vorstufen

geschichtliche Welt, was vonjeher ein Grundsatz aller Interpretation ist: daß
man einen Text aus sich selbst verstehen muß.
Es fragt sich aber, ob die Zirkelbewegung des Verstehens so angemessen
verstanden ist. Was Schleiermacher als subjektive Interpretation entwickelt
hat, darf wohl ganz beiseite gesetzt werden. Wenn wir einen Text zu verste-
hen suchen, versetzen wir uns nicht in die seelische Verfassung des Autors,
sondern wenn man schon von Sichversetzen sprechen will, so versetzen wir
uns in seine Meinung. Das heißt aber nichts anderes, als daß wir das sachliche
Recht dessen, was der andere sagt, gelten zu lassen suchen. Wir werden
sogar, wenn wir verstehen wollen, seine Argumente noch zu verstärken
trachten. So geschieht es schon im Gespräch, wieviel mehr noch beim
Verstehen von Schriftlichem, daß ",vir uns in einer Dimension von Sinnhaf-
tem bewegen, das in sich verständlich ist und als solches keinen Rückgang
auf die Subjektivität des anderen motiviert. Es ist die Aufgabe der Herme-
neutik, dies Wunder des Verstehens aufzuklären, das nicht eine geheimnis-
volle Kommunion der Seelen, sondern eine Teilhabe am gemeinsamen Sinn
ist.
Aber auch die objektive Seite dieses Zirkels, wie sie Schleiermacher
beschreibt, trifft nicht den Kern der Sache. Das Ziel aller Verständigung und
aUes Verstehens ist das Einverständnis in der Sache. So hat die Hermeneutik
von jeher die Aufgabe, ausbleibendes oder gestörtes Einverständnis herzu-
stellen. Die Geschichte der Hermeneutik kann das bestätigen, wenn man
z. B. an Augustin denkt, wo das Alte Testament mit der christlichen Bot-
schaft vermittelt werden soll, oder an den frühen Protestantismus, dem das
gleiche Problem gestellt war, oder endlich an das Zeitalter der Aufklärung,
wo es freilich einem Verzicht auf Einverständnis nahekommt, wenn der
))vollkommene Verstand(( eines Textes nur auf dem Wege historischer Inter-
pretation erreicht werden soll. - Es ist nun etwas qualitativ Neues, wenn die
Romantik und Schleiermacher , indem sie ein geschichtliches Bnvußtsein
von universalem Umfang begründen, die verbindliche Gestalt der Tradi-
tion, aus der sie kommen und in der sie stehen, nicht mehr als feste Grundla-
ge rur alle hermeneutische Bemühung gelten lassen. Noch einer der unmit-
telbaren Vorläufer Schleiermachers, der Philologe Friedrich Ast, hatte ein
ganz entschieden inhaltliches Verständnis der Aufgabe der Hermeneutik,
wenn cr forderte, sie solle das Einverständnis Z\vischen Antike und Chri-
stentum, zwischen einer neugesehenen wahren Antike und der christlichen
Tradition herstellen. Das ist gegenüber der Aufklärung insofern schon etwas
Neues, als es sich jetzt nicht mehr um die Vermittlung zwischen der Autori-
tät der Überlieferung einerseits und der natürlichen Vernunft andererseits
handelt, sondern um die Vermittlung zweier Traditionsclcmente, die, beide
durch die Aufklärung bewußt geworden, die Aufgabe ihrer Versöhnung
stellen.
Vom Zirkel des Verstehens 59
Mir scheint, daß eme solche Lehre von der Einheit von Antike und
Christentum ein Wahrheitsmoment am hermeneutischen Phänomen festhält,
das Schleiermacher und seine Nachfolger zu Unrecht preisgegeben haben.
Ast hat sich hier durch seine spekulative Energie davor bewahrt, in der
Geschichte bloße Vergangenheit und nicht vielmehr die Wahrheit der Ge-
genwart zu suchen. Die von Schleiermacher herkommende Hermeneutik
kommt einem vor diesem Hintergrunde als eine Verflachung ins Methodi-
sche vor.
Das gilt noch mehr, wenn man sie im Lichte der durch Heidegger entwik-
kelten Fragestellung sieht. Von Heideggers Existenzialanalyse aus gewinnt
nämlich die Zirkelstruktur des Verstehens ihre inhaltliche Bedeutung zu-
rück. Heidegger schreibt: ff Der Zirkel darf nicht zu einem vitiosum und sei
es auch zu einem geduldeten herabgezogen werden. In ihm verbirgt sich eine
positive Möglichkeit ursprünglichsten Erkennens, die freilich in echter Wei-
se nur dann ergriffen ist, wenn die Auslegung verstanden hat, daß ihre erste,
ständige und letzte Aufgabe bleibt, sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und
Vorgriff nicht durch Einfalle und Volks begriffe vorgeben zu lassen, sondern
in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche The-
ma zu sichern. fiS
Was Heidegger hier sagt, ist zunächst nicht eine Forderung an die Praxis
des Verstehens, sondern beschreibt die Vollzugsform des verstehenden Aus-
legens selbst. Heideggers hermeneutische Reflexion hat ihre Spitze nicht so
sehr darin, nachzuweisen, daß hier ein Zirkel vorliegt, als vielmehr darin,
daß dieser Zirkel einen ontologisch positiven Sinn hat. Die Beschreibung als
solche wird jedem Ausleger einleuchten, der weiß, was er tut. 6 Alle rechte
Auslegung muß sich gegen die Willkür von Einfallen und die Beschränktheit
unmerklicher Denkgewohnheiten abschirmen und den Blick >auf die Sachen
selber< richten (die beim Philologen sinnvolle Texte sind, die ihrerseits
wieder Von Sachen handeln).
Sich dergestalt von der Sache bestimmen lassen, ist für den Interpreten
offenkundig nicht ein einmaliger }braver< Entschluß, sondern wirklich fdie
erste, ständige und letzte Aufgabe<. Denn es gilt, den Blick auf die Sache
durch die ganze Beirrung hindurch festzuhalten, die den Ausleger unter-
wegs ständig von ihm selbst her anfallt. Wer einen Text verstehen will,
vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus,
sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum
nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen be-
stimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der

5 Sein und Zeit, S. 154.


6 Vgl. etwa E. Staigers übereinstimmende Schilderung in »Die Kunst der Interpreta-
tion«, S. 11 ff.
60 Vorstufen

freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Ein-
dringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht.
Diese Beschreibung ist natürlich eine grobe Abbreviatur: daß jede Revi-
sion des Vorentwurfs in der Möglichkeit steht, einen neuen Entwurf von
Sinn vorauszuwerfen; daß sich rivalisierende Entwürfe zur Ausarbeitung
nebeneinander herbringen können, bis sich die Einheit des Sinnes eindeuti-
ger festlegt; daß die Auslegung mit Vorbegriffen einsetzt, die durch ange-
messenere Begriffe ersetzt werden: eben dieses ständige Neu-Entwerfen,
das die Sinnbe"\vegung des Verstehens und Auslegens ausmacht, ist der
Vorgang, den Heidegger beschreibt. Wer zu verstehen sucht, ist der Beir-
rung durch Vor-Meinungen ausgesetzt, die sich nicht an den Sachen selbst
bewähren. So ist die ständige Aufgabe des Verstehens, die rechten, sachan-
gemessenen Entwürfe auszuarbeiten, das heißt Vorwegnahmen, die sich }ln
den Sachen( erst bestätigen sollen, zu wagen. Es gibt hier keine andere
,Objektivität< als die der Ausarbeitung der sich bewährenden Vormeinung.
Es hat seinen guten Sinn, daß der Ausleger nicht geradezu, aus der in ihm
bereiten Vormeinung lebend, auf den }Text< zugeht, vielmehr die in ihm
lebende Vormeinung ausdrücklich auf ihre Legitimation, und das ist: auf
Herkunft und Geltung prüft.
Man' muß sich diese grundsätzliche Forderung als die Radikalisierung
eines Verfahrens denken, das wir in Wahrheit immer anwenden. Weit ent-
fernt davon, daß, wer jemanden anhört oder an eine Lektüre geht, gar keine
Vormeinung über den Inhalt mitbringen darf und alle seine eigenen Meinun-
gen vergessen soll, wird vielmehr Offenheit ftir die Meinung des anderen
oder des Textes schon immer einschließen, daß man sie zu dem Ganzen der
eigenen Meinungen in ein Verhältnis setzt oder sich zu ihr. Anders gespro-
chen, Meinungen sind zwar eine bewegliche Vielfalt von Möglichkeiten,
aber innerhalb dieser Vielfalt des Meinbaren, d. h. dessen, was ein Leser
sinnvoll finden und insofern erwarten kann, ist doch nicht alles möglich,
und wer an dem vorbeihört, was der andere wirklich sagt, wird es am Ende
auch der eigenen vieWiltigen Sinn erwartung nicht einordnen können. So
gibt es auch hier einen Maßstab. Die hermeneutische Aufgabe geht von
selbst in eine sachliche Fragestellung über und ist von dieser immer schon
mitbestimmt. Damit gewinnt das hermeneutische Unternehmen festen Bo-
den unter den Füßen. Wer verstehen will, wird sich der Zufalligkeit der
eigenen Vormeinung von vornherein nicht überlassen, um an der Meinung
des Textes so konsequent und hartnäckig wie möglich vorbeizuhören - his
etwa diese unüherhörhar wird und das vermeintliche Verständnis umstößt.
Wer einen Text verstehen will, ist vielmehr bereit, sich von ihm etwas sagen
zu lassen. Daher muß ein hermeneutisch geschultes Bewußtsein fur die
Andersheit des Textes von vornherein empfanglich sein. Solche Empfang-
lichkeit setzt aber weder sachliche }Neutralität( noch gar Selbstauslöschung
Vom Zirkel des Verstehens 61

voraus, sondern schließt die abhebbare Aneignung der eigenen Vormeinun-


gen und Vorurteile ein. Es gilt, der eigenen Voreingenommenheit inne zu
sein, damit sich der Text selbst in seiner Andersheit darstellt und derart in die
Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung
auszuspielen.
Heidegger hat eine völlig richtige phänomenologische Beschreibung ge-
geben, wenn er in dem vermeintlichen )Lcsen< dessen, was )dasteht<, die
Vorstruktur des Verstehens aufdeckt. Er hat auch ein Beispiel dafUr gegeben,
daß daraus eine Aufgabe folgt. Er hat in ,Sein und Zeit< die allgemeine
Aussage, die er zum hermeneutischen Problem macht, an der Seins frage
konkretisiert (5. u. Z. 312ff.). Um die hermeneutische Situation der Seins-
frage nach Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff zu explizieren, hat er seine an die
Metaphysik gerichtete Frage an wesentlichen Wendepunkten der Geschichte
der Metaphysik kritisch erprobt. Er hat damit getan, was das historisch-
hermeneutische Bewußtsein injedem Falle verlangt. Ein mit methodischem
Bewußtsein geftihrtes Verstehen wird bestrebt sein müssen, seine Antizipa-
tionen nicht einfach zu vollziehen, sondern sie selber bewußt zu machen, um
sie zu kontrollieren und dadurch von den Sachen her das rechte Verständnis
zu gewinnen. Das ist es, was Heidegger meint, wenn er fordert, in der
Ausarbeitung von Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff aus den Sachen selbst her
das wissenschaftliche Thema zu )sichern(.
In Heideggers Analyse gewinnt damit der hermeneutische Zirkel eine
ganz neue Bedeutung. Die Zirkelstrukrur des Verstehens hielt sich in der
bisherigen Theorie stets im Rahmen einer formalen Relation von Einzelnem
und Ganzem, bzw. von dessen subjektivem Reflex: der ahnenden Vorweg-
nahme des Ganzen und seiner nachfolgenden Explikation im einzelnen.
Nach dieser Theorie lief also die Zirkelbewegung an dem Text hin und her
und war in dem vollendeten Verständnis desselben aufgehoben. Die Theorie
des Verstehens gipfelte in einem divinatorischen Akt, der sich ganz in den
Verfasser versetzt und von da aus alles Fremde und Befremdende des Textes
zur Auflösung bringt. Heidegger dagegen erkennt, daß das Verständnis des
Textes von der vorgreifenden Bewegung des Vorverständnisses dauerhaft
bestimmt bleibt. Was Heidegger so beschreibt, ist nichts anderes als die
Aufgabe der Konkretisierung des historischen Bewußtseins. Mit ihr ist
verlangt, der eigenen Vormeinungen und Vorurteile inne zu sein und den
Vollzug des Verstehens jeweils so mit historischer Bewußtheit zu durchdrin-
gen, daß die Erfassung des historisch Anderen und die dabei geübte Anwen-
dung historischer Methoden nicht das bloß herausrechnet, was man hinein-
gesteckr hat.
Der inhaltliche Sinn des Zirkels von Ganzem und Teil, der allem Verste-
hen zugrunde liegt, muß aber, wie mir scheint, durch eine weitere Bestim-
mung ergänzt werden, die ich den) Vorgriff der Vollkommenheit{ nennen
62 Vorstufen

mächte. Damit ist eine Voraussetzung formuliert, die alles Verstehen leitet.
Sie besagt, daß nur das verständlich ist, was wirklich eine vollkommene
Einheit von Sinn darstellt. So machen wir diese Voraussetzung der Vollkom-
menheit, wenn wir einen Text lesen. Erst wenn diese Voraussetzung sich als
uneinlösbar erweist, d. h. der Text nicht verständlich wird, stellen wir sie in
Frage, zweifeln etwa an der Überlieferung und suchen sie zu heilen. Die
Regeln, die wir bei solchen textkritischen Überlegungen befolgen, können
hier beiseite bleiben, denn worauf es ankommt, ist auch hier, daß die
Legitimation zu ihrer Anwendung nicht von dem inhaltlichen Verständnis
des Textes ablös bar ist.
Der Vorgriff der Vollkommenheit, der all unser Verstehen leitet, erweist
sich so selber als ein jeweils inhaltlich bestimmter. Es wird nicht nur eine
immanente Sinn einheit vorausgesetzt, die dem Lesenden die Führung gibt,
sondern das Verständnis des Lesers wird auch ständig von transzendenten
Sinnerwartungen geleitet, die aus dem Verhältnis zur Wahrheit des Gemein-
ten entspringen. So wie der Empfinger eines Briefes die Nachrichten ver-
steht, die er enthält, und zunächst die Dinge mit den Augen des Briefschrei-
bers sieht, d. h. ftlr wahr hält, was dieser schreibt - und nicht etwa die
Meinung des Briefschreibers als solche zu verstehen sucht, so verstehen wir
auch überlieferte Texte auf Grund von Sinnerwartungen, die aus unserem
eigenen Sachverhältnis geschöpft sind. Und wie wir Nachrichten eines
Korrespondenten glauben, weil er dabei war oder es sonst besser weiß, so
sind wir auch einem überlieferten Text gegenüber grundsätzlich der Mög-
lichkeit offen, daß er es besser weiß, als die eigene Vormeinung gelten lassen
will. Erst das Scheitern des Versuchs, das Gesagte als wahr gelten zu lassen,
fUhrt zu dem Bestreben, den Text als die Meinung eines anderen -psycholo-
gisch oder historisch - zu )verstehen(7. Das Vorurteil der Vollkommenheit
enthält also nicht nur dies, daß ein Text seine Meinung vollkommen ausspre-
chen soll, sondern auch, daß das, was er sagt, die vollkommene Wahrheit ist.
Verstehen heißt primär: sich in der Sache verstehen, und erst sekundär: die
Meinung des anderen als solche abheben und verstehen. Die erste aller
hermeneutischen Bedingungen bleibt somit das Sachverständnis, das Zu-
tun-haben mit der gleichen Sache. Von ihm bestimmt sich, was als einheitli-
cher Sinn vollziehbar wird und damit die Anwendung des Vorgriffs der
Vollkommenheit. So erftlllt sich der Sinn der Zugehörigkeit, d. h. das Mo-
ment der Tradition im historisch-hermeneutischen Verhalten, durch die
Gemeinsamkeit grundlegender und tragender Vorurteile. Die Hermeneutik
muß davon ausgehen, daß wer verstehen will, mit der Sache, die mit der
7 Ich habe in einem Kongreßvortrag in Venedig 1958 über das ästhetische Urteil zu

zeigen gesucht, daß auch dieses - wie das historische - sekundären Charakter besitzt und
den »Vorgriff der Vollkommenheit« bestätigt Getzt in D. Henrich, H. R. Jauss (Hrsg.),
Theorien der Kunst, Frankfurt 1982, S. 59-69.]
Vom Zirkel des Verstehens 63
Überlieferung zur Sprache kommt, verbunden ist und an die Tradition
Anschluß hat oder Anschluß gewinnt, aus der die Überlieferung spricht.
Auf der anderen Scite wciß das hermeneutische Bewußtsein, daß es mit
dieser Sache nicht in der Weise einer fraglos selbstverständlichen Einigkeit
verbunden sein kann wie sie fur das ungebrochene Fortleben einer Tradition
gilt. Es besteht wirklich eine Polarität von Vertrautheit und Fremdheit, auf
die sich die Aufgabe der Hermeneutik gründet, nur daß diese nicht mit
Schleichermacher psychologisch als die Spannweite, die das Geheimnis der
Individualität birgt, zu verstehen ist, sondern wahrhaft hermeneutisch, d. h.
im Hinblick auf ein Gesagtes: die Sprache, mit der die Überlieferung uns
anredet, die Sage, die sie uns sagt. Die Stellung zwischen Fremdheit und
Vertrautheit, die die Überlieferung ftir uns hat, ist also das Zwischen zwi-
schen der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der
Zugehörigkeit zu einer Tradition. In diesem Zwischen ist der wahre Ort der
Hermeneutik.
Aus dieser Zwischenstellung, in der sie ihren Stand nimmt, folgt, daß ihr
Zentrum bildet, was in der bisherigen Hermeneutik ganz am Rande blieb:
der Zeitenabstand und seine Bedeutung fur das Verstehen. Die Zeit ist nicht
primär ein Abgrund, der überbrückt werden muß, weil er trennt und
femhält, sondern sie ist in Wahrheit der tragende Grund des Geschehens, in
dem das gegenwärtige Verstehen wurzelt. Der Zeitenabstand ist daher nicht
etwas, was überwunden werden muß. Das war vielmehr die naive Voraus-
setzung des Historismus, daß man sich in den Geist der Zeit versetzt, daß
man in deren Begriffen und Vorstellungen denkt und nicht in seinen eigenen
und auf diese Weise zur historischen Objektivität vordringt.
In Wahrheit kommt es darauf an, den Abstand der Zeit als eine positive
und produktive Möglichkeit des Verstehens zu erkennen. Er ist ausgeftillt
durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Lichte
uns alle Überlieferung sich zeigt. Hier ist es nicht zu wenig, von einer echten
Produktivität des Geschehens zu sprechen. Jedermann kennt die eigentümli-
che Ohnmacht unseres Urteils dort, wo uns nicht der Abstand der Zeiten
sichere Maßstäbe anvertraut hat. So ist das Urteil über gegenwärtige Kunst
rur das wissenschaftliche Bewußtsein von verzweifelter Unsicherheit. Of-
fenbar sind es unkontrollierbare Vorurteile, unter denen wir an solche
Schöpfungen herangehen und die ihnen eine Überresonanz zu verleihen
vermögen, die mit ihrem wahren Gehalt und ihrer wahren Bedeutung nicht
konform ist. Erst das Absterben all solcher aktuellen Bezüge läßt ihre eigene
Gestalt sichtbar werden und ermöglicht damit ein Verständnis dessen, was in
ihnen gesagt ist, das verbindlich Allgemeinheit beanspruchen kann. Die
Herausfilterung des wahren Sinnes, der in einem Text oder in einer künstle-
rischen Schöpfung gelegen ist, ist übrigens selber ein unendlicher Prozcß.
Der Zeitenabstand. der diese Filterung leistet, ist in einer ständigen Bewe-
64 Vorstufen

gung und Ausweitung begriffen, und das ist die produktive Seite, die er [ur
das Verstehen besitzt, Er läßt die Vorurteile absterben, die partikularer Natur
sind, und diejenigen hervorkommen, die ein wahrhaftes Verstehen ermögli-
chen.
Oft vermag der Zeitenabstand' die eigentlich kritische Aufgabe der Her-
meneutik zu lösen, die wahren Vorurteile von den falschen zu scheiden. Das
hermeneutisch geschulte Bewußtsein wird daher ein historisches Bewußt-
sein enthalten. Es wird die das Verstehen leitenden Vorurteile bewußt ma-
chen müssen, damit die Überlieferung, als Andersmeinung, sich ihrerseits
abhebt und ZUr Geltung bringt. Ein Vorurteil als solches zur Abhebung zu
bringen, verlangt offenbar, es in seiner Geltung zu suspendieren; denn
solange uns ein Vorurteil bestimmt, wissen und bedenken wir es nicht als
Urteil. Ein Vorurteil so gleichsam vor mich zu bringen, kann nicht gelingen,
solange dies Voruteil beständig und unbemerkt im Spiele ist, sondern nur
dann, wenn es sozusagen gereizt wird. Was so zu reizen vermag, ist die
Begegnung mit der Überlieferung. Denn was zum Verstehen verlockt, muß
sich selber schon zuvor in seinem Anderssein zur Geltung gebracht haben.
Das erste, womit das Verstehen beginnt, ist, daß etwas uns anspricht. Das ist
die oberste aller hermeneutischen Bedingungen. Wir sehenjetzt, was damit
gefordert ist: eine grundsätzliche Suspension der eigenen Vorurteile. Alle
Suspension von Urteilen aber, mithin und erst recht die von Vorurteilen,
hat, logisch gesehen, die Struktur der Frage.
Das Wesen der Frage ist das Offenlegen und Offenhalten von Möglichkei-
ten. Wird ein Vorurteil fraglich - angesichts dessen, was uns ein anderer oder
ein Text sagt-, so heißt dies mithin nicht, daß es einfach beiseitegesetzt wird
und der andere oder das Andere sich an seiner Stelle unmittelbar zur Geltung
bringt. Das ist vielmehr die Naivität des historischen Objektivismus, ein
solches Absehen von sich selbst anzunehmen. In Wahrheit wird das eigene
Vorurteil dadurch recht eigentlich ins Spiel gebracht, daß es selber auf dem
Spiele steht. Nur indem es sich ausspielt, spielt es sich mit dem anderen so
weit ein, daß auch dieses sich ausspielen kann.
Die Naivität des sogenannten Historismus besteht darin, daß er sich einer
solchen Reflexion entzieht und im Vertrauen auf die Methodik seines Ver-
fahrens seine eigene Geschichtlichkeit vergiBt. Hier muß von einem schlecht
verstandenen historischen Denken an ein besser zu verstehendes appelliert
werden. Ein wirklich historisches Denken muß die eigene Geschichtlichkeit
mitdenken. Nur dann wird es nicht dem Phantom eines historischen Objek-
tes nachjagen, das Gegenstand fortschreitender Forschung ist, sondern wird
in dem Objekt das Andere des Eigenen und damit das Eine wie das Andere
erkennen lernen. Der wahre historische Gegenstand ist kein Gegenstand,

8 [Zu dieser Änderung des ursprünglichen Textes vgl. Ges. Werke Bd. 1, S. 304].
Vom Zirkel des Verstehens 65
sondern die Einheit dieses Einen und Anderen, ein Verhältnis, in dem die
Wirklichkeit der Geschichte ebenso wie die Wirklichkeit des geschichtlichen
Verstehens besteht. Eine sachangemessene Hermeneutik hätte diese eigentli-
che Wirklichkeit der Geschichte im Verstehen selbst aufzuweisen. Ich nenne
das damit Geforderte >Wirkungs geschichte<. Verstehen ist ein wirkungsge-
schichtlicher Vorgang, und es ließe sich nachweisen, daß es die allem Verste-
hen zukommende Sprachlichkeit ist, in der das hermeneutische Geschehen
seine Bahn zieht.
6. Die Natur der Sache
und die Sprache der Dinge
1960

Wenn im folgenden zwei Redensarten zum Gegenstand einer Analyse ge-


macht werden, die allem Anschein nach dasselbe meinen, so ist dabei die
Absicht leitend, eine sachliche Konvergenz, die allcr Verschiedenheit der
Ausgangspunkte und der methodischen Idcale zum Trotz das heutige Philo-
sophieren beherrscht, sichtbar zu machen. Indem in dem scheinbar Selbigen
die Spannung eines Problems aufgewiesen wird, tritt zugleich in dem in
seiner Differenz Erkannten die Wirksamkeit des gleichen Impulses heraus.
Der Sprachgebrauch läßt davon zunächst wenig ahnen. Denn er scheint eine
völlige Austauschbarkeit beider Wendungen zu bezeugen. Wir sagen etwa:
»Es liegt in der Natur der Sache«, wir sagen aber auch ))Die Dinge sprechen
rur sich selber« oder »sie fuhren eine unmißverständliche Sprache«. In
beiden Fällen haben wir es mit einer Art Beteuerungsformcl zu tun, die nicht
eigentlich die Gründe angibt, warum wir etwas rur wahr halten, sondern im
Gegenteil das Bedürfnis nach weiterer Begründung abweisen will. Auch die
beiden in diesen Wendungen auftretenden Begriffe )Sache( und )Ding( schei-
nen dasselbe zu besagen. Sie sind beide Ausdrückte rur etwas unbestimmt
Gemeintes. Dem entspricht, daß wenn von der )Natur< der Sache oder der
)Sprache( der Dinge geredet wird, auch diesen Wendungen et\vas gemein-
sam ist, nämlich daß sie auf eine polemische Weise die gewalttätige Willkür
im Umgang mit den Dingen negieren und insbesondere das bloße Meinen,
die Beliebigkeit von Vermutungen oder Behauptungen über die Sache, die
Willkür von Ableugnungen oder die Versteifung auf Privat meinungen.
Doch wenn wir näher zusehen und in die geheimen Unterschiede des
Sprachgebrauches eindringen, so wird sich der Schein völliger Austausch-
barkeit zerstreuen. Der Begriff der Sache ist vor allem durch den Gegenbe-
griff der Person geprägt. Der Sinn dieses Gegensatzes von Sache und Person
liegt ursprünglich in dem klaren Vorrang der Person vor der Sache. Die
Person erscheint als etwas, das in seinem eigenen Sein zu ehren ist, die Sache
dagegen als das zu Nutzende, als etwas, was ganz zu unserer Verfügung ist.
Wenn nun die Wendung )die Natur der Sache< begegnet, so liegt die Pointe
offenbar darin, daß auch das zu unserer Nutzung Stehende und unserer
Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge 67

Verftigung Anheimgegebene in Wahrheit ein Sein in sich selbst hat, kraft


dessen es gegen das unsachgemäße Verftigenwollen aus seiner Natur heraus
Widerstand zu leisten vermag bzw. positiv: daß es ein bestimmtes sachge-
rechtes Verhalten vorschreibt. Damit aber kehrt sich der Vorzug der Person
vor der Sache geradezu in sein Gegenteil um. Im Gegensatz zu der bewegli-
chen Biegsamkeit, mit der Personen sich aneinander anpassen, ist die Natur
der Sache die unabänderliche Gegebenheit, der man Rechnung tragen muß.
So vermag der Begriff der Sache eine eigenen Emphase zu erhalten, indem
die Sache selbstvergessene Hingabe verlangt und dabei sogar jede Rücksicht
auf Personen zurückzustellen zwingt.
Es ist die Parole der Sachlichkeit, die hier entspringt und die wir auch als
die Gesinnung der Philosophie kennen, wie sie aus dem berühmten Worte
Bacons spricht, das Kant als Motto zu seiner >Kritik der reinen Vernunft(
gewählt hat: De nobis ipsis silemus, de re autem quae agitur .
Einer der größten Anwälte solcher Sachlichkeit unter den Klassikern des
philosophischen Gedankens ist Hegel, der geradezu von dem Tun der Sache
redet und die wahrhaft philosophische Spekulation dadurch kennzeichnet,
daß in ihr die Sache selber sich betätige und nicht die freie Beliebigkeit
unserer Einfalle, d. h. unseres reflektierenden Verfahrens mit der Sache am
Werke sei. Auch die bekannte phänomenologische Parole ,Zu den Sachen
selbst<, die am Anfang unseres Jahrhunderts eine neue philosophische For-
schungsgesinnung zum Ausdruck brachte, meint etwas Ähnliches. Es sind
die unsachgemäßen, vorurteilsvollen und willkürlichen Konstruktionen
und Theorien, deren unkontrollierte Voraussetzung die phänomenologische
Analyse aufdecken wollte und die sie in der Tat durch die unvoreingenom-
mene Analyse der Phänomene in ihrer Illegitimität erwies.
Der Begriff der Sache gibt aber nicht nur den römisch-rechtlichen Begriff
der res wieder, sondern in das deutsche Wort >Sache< und seine Bedeutung ist
vor allem eingeströmt, was im lateinischen Sprachgebrauch causa heißt. Im
deutschen Sprachgebrauch meint >Sache< zunächst die causa, d. h. die Streit-
sache, die verhandelt wird. Sie ist ursprünglich die Sache, die in die Mitte
niedergelegt wird zwischen die streitenden Parteien, weil über sie noch zu
entscheiden ist und noch nicht entschieden ist. Die Sache soll gegen die
Eigenmächtigkeit des Zugriffs der einen oder der anderen Partei sicherge-
stellt werden. In diesem Zusammenhang bedeutet Sachlichkeit geradezu den
Gegensatz zur Parteilichkeit, d. h. zu dem Mißbrauch des Rechtes ftir parti-
kulare Zwecke. Der juristische Begriff ,Die Natur der Sache< meint freilich
nicht eine zwischen den Parteien umstrittene Sache, sondern die Grenzen,
die dem Belieben bei der gesetzlichen Festsetzung durch den Gesetzgeber
oder bei der juristischen Auslegung derselben gesetzt sind. Die Berufung auf
die Natur der Sache verweist auf eine dem menschlichen Belieben entzogene
Ordnung und will den lebendigen Geist der Gerechtigkeit auch gegen den
68 Vorstufen

Buchstaben des Gesetzes zum Siege bringen. Auch hier ist also die Natur der
Sache etwas, was sich geltend macht, etwas das man zu respektieren hat.
Verfolgen wir auf der anderen Seite, was sich in der Wendung von der
>Sprache der Dinge< ausdrückt, so werden wir anscheinend in eine ganz
ähnliche Richtung gewiesen. Auch die Sprache der Dinge ist etwas, auf das
man nicht genug hört und auf das man besser hören sollte. Auch diese
Wendung hat eine Art polemischen Akzentes. Sie bringt zum Ausdruck, daß
wir die Dinge im allgemeinen gar nicht in ihrem eigenen Sein zu hören bereit
sind, daß sie vielmehr dem Kalkül des Menschen und seiner Beherrschung
der Natur durch die Rationalität der Wissenschaft unterworfen werden. In
einer immer technischer werdenden Welt wird die Rede von einer Würde der
Dinge immer unverständlicher. Sie sind die schwindenden, denen nur noch
der Dichter eine letzte Treue bewahrt. Daß man aber von einer Sprache der
Dinge überhaupt noch reden kann, erinnert daran, was die Dinge in Wahr-
heit sind, nämlich nicht ein Material, das gebraucht und verbraucht wird,
nicht ein Werkzeug, das benutzt und beiseite gelegt wird, sondern etwas,
was in sich Bestand hat und >zu nichts gedrängt< ist (Heidegger). Sein eigenes
Insichsein ist es, was von der Eigenmächtigkeit menschlichen Verfugenwol-
lens her mißachtet wird und wie eine Sprache ist, die es zu hören gilt. 9 Die
Wendung von der Sprache der Dinge ist also nicht eine mythologisch-
poetische Wahrheit, wie sie der Zauberer Merlin oder der in den Geist der
Märchen Eingeweihte allein zu verifizieren vermöchte, sondern was durch
diese Wendung geweckt wird, ist die in uns allen schlummernde Erinnerung
an das eigene Sein der Dinge, die noch immer zu sein vermögen, was sie
sind.
Von den bei den Redensarten her wird also in gewissem Sinne wirklich das
gleiche - und ein Wahres - gesagt. Redensarten sind eben nicht nur das
Unlebcndige einer uneigentlich gewordenen Sprachübung. Sie sind zu-
gleich die Hinterlassenschaft eines gemeinsamen Geistes und vermögen,
wenn man sie nur richtig versteht und in ihre geheime Bedeutungsful1e
eindringt, Gemeinsames neu sichtbar zu machen. So lehrt uns der Blick auf
die hier analysierten Redensarten, daß sie im gewissen Sinne dasselbe sagen,
nämlich etwas, woran gegenüber der Eigenmächtigkeit des Beliebens erin-
nert werden muß. Aber das ist noch nicht alles. So sehr die beiden Begriffe
,Die Natur der Sache( und ,Die Sprache der Dinge< mitunter in fast aus-
tauschbarer Weise verwendet werden und durch ihren gemeinsamen Gegen-
satz geprägt sind, verbirgt sich dennoch in dieser Gemeinsamkeit eine
Differenz, die nicht von ungefahr ist. Es erscheint vielmehr als eine philo-
9 In meinen Erläuterungen zu Heideggers Kunstwerk-Aufsatz, die als Redamheft 1960

erschienen sind, habe ich diesen Punkt als den systematischen Ausgangspunkt fLir Heideg-
gers späte Arbeiten unterstrichen. Uetzt in )Heideggers Wege1, Tübingen 1983, S. 81-93;
in Ges. WerkeBd. 3]
Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge 69
sophische Aufgabe, die Spannung sichtbar zu machen, die in den geheimen
Untertönen der beiden Redensarten zu spüren ist, und ich möchte zeigen,
daß der Austrag dieser Spannung es ist, der in der Philosophie unserer Tage
geschieht und der die Problemlage absteckt, die uns allen gemeinsam ist.
In dem Begriff ,Die Natur der Sache< sammelt sich fUr das philosophische
Bewußtsein ein von vielen Seiten her empfundener Widerstand gegen den
philosophischen Idealismus und insbesondere gegen die neukantianische
Form, in welcher derselbe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erneu-
ert wurde. Diese Fortbildung Kants, die sich auf ihn berief, um ihn zum
Sprecher des Fortschrittsglaubens und des Wissenschaftsstolzes der eigenen
Zeit zu machen, konnte mit dem Ding-an-sich im Grunde nichts mehr
anfangen. Bei aller ausdrücklichen Abkehr von dem metaphysischen Idealis-
mus der Nachfolger Kants kam eine Rückkehr zu dem kantischen Dualis-
mus von Ding-an-sich und Erscheinung nicht mehr in Betracht. Nur durch
eine Umdeutung des kantischen Gedankens ließ sich der Wortlaut Kants den
eigenen, selbstverständlich gewordenen Überzeugungen anpassen, denen
zufolge der Idealismus die totale Bestimmung des Gegenstandes durch die
Erkenntnis bedeutet. So wurde das Ding-an-sich als das bloße Richtungsziel
einer unendlichen Aufgabe des Fortbestimmens verstanden, und selbst Hus-
serl, der im Unterschied zum Neukantianismus weniger vom Faktum der
Wissenschaft ausging als vielmehr von der alltäglichen Erfahrung, suchte
der Lehre vom Ding-an-sich eine phänomenologische Ausweisung zu ge-
ben, indem er davon ausging, daß die verschiedenen Abschattungen des
Wahrnehmungs dinges das Kontinuum der einen Erfahrung bilden. Nichts
anderes könne mit der Lehre vom Ding-an-sich gemeint sein als eben diese
kontinuierliche ÜberfUhrbarkeit eines Aspektes des Dinges in den anderen,
durch die der einheitliche Zusammenhang unserer Erfahrung ermöglicht
wird. Auch Husserl verstand also die Idee des Dings-an-sich von der Idee des
Fortschritts unserer Erkenntnis aus, die in der wissenschaftlichen Forschung
ihre letzte Ausweisung hat.
Auf dem Gebiete der Moralphilosophie gibt es freilich nichts Vergleichba-
res. Denn seit Rousseau und Kant war es nicht mehr möglich, eine morali-
sche Perfektibilität des Menschengeschlechtes anzunehmen. Doch fand auch
hier die phänomenologische Kritik am Neukantianismus ihren Ansatz-
punkt, und zwar an dem Formalismus der kantischen Moralphilosophie.
Kants Ausgangspunkt beim Phänomen der Pflicht und seine Aufweisung
der Unbedingtheit des kategorischen Imperativs schienen jede inhaltliche
ErfUllung dessen, was das Sitten gesetz gebietet, aus der Moralphilosophie
zu verweisen. Max Schclers Kritik am Formalismus der kantischen Ethik, so
schwach sie im Negativen der Kritik war, erwies durch den Entwurf einer
materialen Wertethik ihre eigene Fruchtbarkeit. Auch stellte Schelers phäno-
menologische Kritik am neukantianischen Erzeugungsbegriff einen wichti-
70 Vorstufen

gen Anstoß dar, der insbesondere Nicolai Hartmann zur Abwendung vom
Neukantianismus und zur Konzeption seiner ~Metaphysik der Erkenntnis<
flihrtc. 1O Daß die Erkenntnis keinerlei Veränderung des Erkannten bewirkt-
geschweige denn seine Erzeugung meint -, daß alles, was ist, vielmehr
gleichgültig dagegen ist, ob es erkannt wird oder nicht, schien ihm gegen
jede Form des transzendentalen Idealismus, auch gegen die Husserlsche
Konstitutionsforschung, zu sprechen. Positiv glaubte Nicolai Hartmann in
der Anerkennung des Ansichseins des Seienden und seiner Unabhängigkeit
von aller menschlichen Subjektivität den Weg zu einer neuen Ontologie zu
bahnen. So geriet er in die Nähe des neucn }Realismus<, der gleichzeitig auch
in England - und dort in voller Breite - zum Siege kam.
Solche Abkehr von der transzendentalphilosophischen Reflexion ist aber,
wie ich glaube, ein massives Mißverständnis ihres Sinnes, die Folgc jenes
Niedergangs der philosophischen Erkenntnis, der mit Hegels Tod einsetzte.
Es hat seine Gründe, wenn sich solche Abkehr immer wieder, auch im
Philosophieren unserer Tagc, wiederholt. Wenn man etwa die überlegene
Seinswirklichkeit der göttlich gcstifteten Ordnung, an der unser eigenmäch-
tiges Wollen zuschanden wird (Gerhard Krüger) oder gegen den Menschen
und seine Geschichte die Gleichgültigkeit der natürlichen Welt (Karl Löwith)
ausspielte, so läßt sich solche polemische Abkehr als eine Berufung auf die
Natur der Sache verstehen. Indessen scheint mir eine solche Berufung auf die
Natur der Sache an der gemeinsamen Voraussetzung, die unbefragt alle diese
Versuche zur Wiederherstellung des Ansichseins der Dinge beherrscht, ihre
Begrenzung Zu finden. Es ist die Voraussetzung, daß die menschliche Sub-
jektivität Willc ist, die auch dort in fraglos er Geltung ist, wo man der
Willensbestimmtheit des menschlichen Seins das Ansichsein als ihre Grenze
entgegenstellt, Der Sache nach bedeutet das nämlich, daß diese Kritiker des
modemen Subjektivismus von dem, was sie kritisieren, gar nicht wahrhaft
frei sind, sondern den Gegensatz nur nach der anderen Seite hin artikulieren.
Sie stellen der Einseitigkeit des Neukantianismus, der den Fortschritt der
wissenschaftlichen Kultur zum Leitfaden nimmt, die Einseitigkeit einer
Metaphysik des Ansichseins entgegen, die in Wahrheit mit ihrem Gegner die
Vorherrschaft der Willens bestimmtheit teilt,
Man muß sich angesichts dieser Sachlage fragen, ob die Parole von der
Natur der Sache nicht ein fragwürdiger Kampfruf ist, und ob nicht allen
diesen Versuchen gegenüber die klassische Metaphysik eine wahre Überle-
genheit beweist und eine fortbestehende Aufgabe stellt, Die Überlegenheit
der klassischen Metaphysik scheint mir darin zu bestehen, daß sie über den
10 Das früheste Dokument hierfUr ist die Scheler-Rezension, die N. Hartmann bereits

im Frühjahr 1914 in der Zeitschrift )Die Geisteswissenschaften< veröffentlicht hat. (Kleine


Schriften III, 365ff.) Vgl. meine eigene Arbeit )Metaphysik der Erkenntnis< im Logos,
1924 [in Ges. Werke Bd. 4]
Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge 71

Dualismus von Subjektivität und Wille auf der einen Seite, Objekt und
Ansichsein auf der anderen Seite von vornherein hinaus ist, indem sie die
vorgängige Entsprechung des einen und des anderen denkt. Freilich ist es
eine theologische Entsprechung, auf der der Wahrheitsbegriff der klassi-
schen Metaphysik, die Angemessenheit der Erkenntnis an die Sache, beruht.
Denn es ist ihrer beider Kreatürlichkeit, worin Seele und Sache geeint sind.
Wie die Seele geschaffen ist, mit dem Seienden zusammenzukommen, so ist
die Sache geschaffen, wahr, und das heißt erkennbar zu sein. Es ist der
unendliche Geist des Schöpfers, in dem sich so auflöst, was ftir den endlichen
Geist ein unauflösbares Rätsel scheint. Das Wesen und die Wirklichkeit der
Schöpfung selbst besteht darin, solche Zusammenstimmung von Seele und
Sache zu sein.
Nun kann sich die Philosophie einer solchen theologischen Begründung
gewiß nicht mehr bedienen und wird auch die säkularisierten Gestalten
derselben, ,,,ie sie der spekulative Idealismus mit seiner dialektischen Ver-
mittlung von Endlichkeit und Unendlichkeit darstellt, nicht wiederholen
wollen. Aber der Wahrheit dieser Entsprechung wird sie auch ihrerseits sich
nicht verschließen dürfen. In diesem Sinne besteht die Aufgabe der Meta-
physik fort, freilich als eine Aufgabe, die nicht selber wieder als Metaphysik,
d. h. im Rückgang auf einen unendlichen Intellekt, gelöst werden kann. So
stellt sich die Frage: gibt es endliche Möglichkeiten, dieser Entsprechung
gerecht zu werden? Gibt es eine Begründung dieser Entsprechung, die sich
nicht zu der Unendlichkeit eines göttlichen Geistes versteigt und doch der
unendlichen Entsprechung von Seele und Sein gerecht zu werden vermag?
Ich meine, es gibt sie. Es gibt einen Weg, auf den das Philosophieren immer
deutlicher gewiesen wird, der diese Entsprechung bezeugt. Es ist der Weg
der Sprache.
Es scheint mir kcin Zufall, daß das Phänomen der Sprache in den letzten
Jahrzehnten ins Zentrum der philosophischen Fragestellung gerückt ist.
Vielleicht kann man sogar sagen, daß sich unter diesem Zeichen selbst die
größte Kluft philosophischer Art, die heute zwischen den Völkern besteht,
zu überbrücken beginnt, nämlich der Gegensatz zwischen dem Extrem des
angelsächsischen Nominalismus auf der einen Seite und der metaphysischen
Tradition des Kontinents auf der anderen Seite. Jedenfalls nähert sich die
Sprachanalyse, die sich aus der Durchreflexion der Problematik logischer
Kunstsprachen in England und Amerika entwickelt hat, in auffallender
Weise der Forschungsgesinnung der phänomenologischen Schule E. Hus-
serls. Wie in ihrer Fortentwicklung durch M. Heidegger die Anerkennung
der Endlichkeit und Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins die Aufga-
be der Metaphysik in ihrem Wesen verwandelt hat, so ist mit der Anerken-
nung der selbständigen Bedeutung der gesprochenen Sprache der antimeta-
physische Affekt des logischen Positivismus der Auflösung verfallen (Witt-
72 Vorstufen

genstein). Von der Information bis zum Mythos und der Sagc, die zugleich
einc >Zcige' ist (Martin Heidegger), macht die Sprache das gemeinsame
Thema aller aus. Man muß sich nun, wie ich meine, die Frage stellen, ob
Sprache, wenn man sie wahrhaft denken will, nicht am Ende )Sprache der
Dinge' heißen muß und ob cs nicht dic Sprache der Dinge ist, in der sich die
ursprüngliche Entsprechung von Seele und Sein so ausweist, daß auch
endliches Bewußtsein von ihr wissen kann.
Daß die Sprache die Mitte ist, durch die sich das Bewußtsein mit dem
Seienden zusammenschließt, ist an sich keine neue Behauptung. Schon
Hegel hat dic Sprache die Mitte des Bewußtseins genannt", durch die sich
der subjektive Geist mit dem Sein der Objekte vermittelt, und in unserer
Zeit hat Ernst Cassirer den schmalen Ausgangspunkt des Neukantianismus,
das Faktum der Wissenschaft, zu einer Philosophie der symbolischen For-
men ausgeweitet, die nicht nur Naturwissenschaften und Geisteswissen-
schaften in eins umfaßte, sondern dem gesamten menschlichen Kulturver-
halten eine transzendentale Begründung geben sollte.
Cassirer ging davon aus, daß Sprache, Kunst und Religion Formen der
Repräsentation, d. h. der Darstellung von etwas Geistigem in etwas Sinnli-
chem sind. In der transzendentalen Reflexion auf diese Formen aller geisti-
gen Gestaltung müsse sich der transzendentale Idealismus zu einer neuen
und wahren Universalität erheben lassen. Die symbolischen Formen näm-
lich seien Gestaltwcrdungen des Geistes in der flüchtigen Zcitlichkeit sinnli-
cher Erscheinung und stellten insofern die verbindende Mitte dar, als sie
ebensosehr objektive Erscheinung wie Spur des Geistes seien. - Man muß
sich frcilich fragen, ob eine solche Analytik der geistigen Grundkräfte, wic
sie Cassirer vorschwebte, der Einzigartigkeit des Phänomens der Sprache
wirklich Rechnung trägt. Denn Sprache steht nicht neben Kunst und Recht
und Religion, sondern stellt das tragende Medium rur allc diese Erscheinun-
gen dar. Dem Begriff der Sprache wird dadurch innerhalb der symboli-
schen, d. h. Geist aussprechenden Formen nicht bloß eine besondere Aus-
zeichnung verliehen. Vielmehr ist die Sprache, solange sie als symbolische
Form gedacht ist, überhaupt noch nicht in ihren wahren Dimensionen
erkannt. Schon an die idealistische Sprachphilosophie, die von Herder und
Humboldt ausgeht, läßt sich vielmehr die kritische Frage richten, die die
Philosophie der symbolischen Formen mittrifft, ob sie nicht die Sprache von
dem in ihr Gesprochenen und durch sie Vermittelten isoliert, indem sie auf
ihre >Form, gerichtet ist. Liegt nicht die eigcntliche Wirklichkeit der Spra-
chc, durch die sie die Entsprechung, die wir suchen, darstellt, gerade darin,
daß sie keine formale Kraft und Fähigkeit ist, sondern ein vor gängiges
Umfaßtsein alles Seienden durch sein mögliches Zursprachekommen? Ist

11 [Phänomenologie des Geistes (Hoffmeister), S. 459J


Die Natur der Sache un~ die Sprache der Dinge 73
nicht die Sprache weniger die Sprache des Menschen als die Sprache der
Dinge?
Unter dem Gesichtspunkt dieser Frage gewinnt die innere Zusammenge-
hörigkeit von Wort und Ding, wie sie am Anfang des Denkens über Sprache
zum Problem erhoben wurde, an Interesse. Gewiß ist die Frage nach der
Richtigkeit der Namen, die die Griechen stellen, nur mehr ein letzter Nach-
klang jener Wortmagie, die das Wort als die Sache selbst, bzw. als ihr
stellvertretendes Sein versteht. Und gewiß setzt das Philosophieren der
Griechen mit der Auflösung solchen Namenszaubers ein und tut seine ersten
Schritte als Sprachkritik. Gleichwohl bewahrt es in sich selbst so viel von der
naiven Selbstvergessenheit ursprünglicher Welterfahrung, daß ihm das im
Logos erscheinende Wesen der Dinge als das Sichdarstellen des Seienden
selber gilt. Wenn Plato im )Phaidon< die Flucht in die Logoi als eine }Z\veitbe-
ste Fahrt, bezeichnet, weil hier das Seiende nur im Spiegelbild des Logos statt
in seiner leibhaften Wirklichkeit betrachtet werde, so liegt über einer solchen
Äußerung unverhohlene Ironie. Am Ende wird das wahre Sein der Dinge
gerade in ihrer sprachlichen Erscheinung, nämlich in der Idealität ihres
Gemeintseins, zugänglich, das sich dem gedankenlosen Blicke der Erfah-
rung verschließt, freilich so, daß das Gemeintsein selber, mithin die Spraeh-
lichkeit des Erscheinens der Dinge, nicht als solches erfahren wird. Indem
nämlich die Metaphysik das wahre Sein der Dinge als die Wesenheiten
versteht, die dem )Geiste< zugänglich sind, wird die Sprachlichkeit dieser
Seins erfahrung verdeckt.
So denkt auch der christliche Erbe der griechischen Metaphysik, das
scholastische Mittelalter, das Wort ganz von der species her, als ihre Perfek-
tion, ohne das Rätsel ihrer Inkarnation zu erfassen. Die Sprachlichkeit der
Welterfahrung, an der sich das metaphysische Denken ursprünglich orien-
tierte, wird am Ende zu etwas Sekundärem und Kontingentem, das den
denkenden Blick auf die Dinge durch sprachliche Konventionen schemati-
siert und von ursprünglicher Seins erfahrung abschließt. In Wahrheit ist es
freilich doch die Sprachlichkeit der Wclterfahrung, die sich hinter dem
Schein der Vorgängigkeit der Dinge vor ihrer sprachlichen Erscheinung
verbirgt. Insbesondere ist es der Schein der universalen Objektivierungs-
möglichkeit von allem und jedem, der durch die Universalität der Sprache
gestützt wird und durch den sie sich selber gänzlich verdunkelt. Indem die
Sprache - wenigstens in der indogermanischen Sprachenfamilie - über die
Möglichkeit verfügt, die allgemeine Nennungsfunktion aufjedcn beliebigen
Satzteil auszudehnen und alles zum Subjekt möglicher weiterer Aussagen zu
machen, errichtet sie den universalen Schein der Verdinglichung, der sie
selber zum bloßen Mittel der Verständigung herabsetzt. Auch die moderne
Sprachanalytik, so sehr sie die verbalistischen Verfuhrungen der Sprache
durch Ausarbeitung künstlicher Zeichen systeme aufzudecken sucht, stel1t
74 Vorstufen

die Grundvoraussetzung einer solchen Objektivierbarkeit nicht in Frage. Sie


lehrt vielmehr nur durch ihre eigene Selbstbegrenzung, daß es aus dem
Bannkreis der Sprache keine wirkliche Befreiung durch EinfUhrung künstli-
cher Zeichensysteme gibt, sofern alle solche Systeme die natürliche Sprache
schon voraussetzen. Wie die klassische Sprachphilosophie die Frage nach
dem Ursprung der Sprache als eine unhaltbare Fragestellung aufdeckte,
fUhrt auch die Durchreflexion der Idee einer Kunstsprache zur Selbstaufhe-
bung dieser Idee und damit zur Legitimierung der natürlichen Sprachen.
Was aber damit impliziert ist, bleibt in der Regel ganz ungedacht. Gewiß
weiß man, daß Sprachen ihre Wirklichkeit überall dort haben, wo sie ge-
sprochen werden, d. h. wo sich Menschen miteinander zu verständigen
v.rissen. Aber was ist das für ein Sein, das der Sprache zukommt? Das eines
Verständigungsmittels? Schon Aristoteles hat, wie mir scheint, auf den
wahren Seins charakter der Sprache hingedeutet, indem er den Begriff der
Syntheke von seinem naiven Sinn von >Konvention< ablöste. 12
Indem er alle Stiftung und Entstehung aus dem Begriff Syntheke aus-
schloß, wies er in die Riehtungjener Entsprechung von Seele und Welt, die
am Phänomen der Sprache als solcher aufleuchtet, auch unabhängig von der
gewaltigen Extrapolation eines unendlichen Geistes, durch welche die Me-
taphysik dieser Entsprechung eine theologische Begründung gab. Das Ver-
ständigtsein über die Dinge, das sich in der Sprache vollzieht, besagt als
solches weder einen Vorrang der Dinge noch einen Vorrang des menschli-
chen Geistes, der sich des sprachlichen Verständigungsmittels bedient. Viel-
mehr ist die Entsprechung, die in der sprachlichen Welterfahrung ihre Kon-
kretion findet, als solche das schlechthin Vorgängige.
Das läßt sich besonders schön an einem Phänomen verdeutlichen, das
selbst ein strukturelles Moment alles Sprachlichen ausmacht, nämlich am
Rhythmus. Wie schon Richard Hönigswald in seiner denkpsychologischen
Analyse betont hat n , liegt das Wesen des Rhythmus in einern eigentümli-
chen Zwischenbereich von Sein und Seele. Die Folge, die durch den Rhyth-
mus rhythmisiert wird, stellt nicht notwendig den Eigenrhythmus der
Phänomene dar. Vielmehr kann auch in einer gleichmäßigen Folge die Rhyth-
misierung erst hineingehört werden, so daß sie als eine rhythmisch geglie-
derte erscheint - oder besser: es kann nicht nur, sondern es muß eine solche
Rhythmisierung am Ende immer erfolgen, wo eine gleichmäßige Folge
vom Gemüt aufgefaßt werden soll. Was heißt hier: es muß' Gegen die Natur
der Dinge? Doch offenbar nicht. Was heißt dann aber noch >Eigenrhythmus
der Phänomene(? Sind sie nicht gerade, was sie sind, crst, indem sie so
rhythmisch oder rhythmisiert vernommen ,"verden? Ursprünglicher alsjene

12 [Peri hermem:ias 4, 16 b 31 tY.]


13 rR. Höoigswald, Vom Problem des Rhythmus. Leipzig 1926J
Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge 75

akustische Folge auf der einen Seite und jene rhythmisierende Auffassung
auf der anderen Seite ist also die Entsprechung, die zwischen beiden waltet.
Davon wissen insbesondere die Dichter, die sich über die Verfahrensweise
des poetischen Geistes, der in ihnen waltet, Rechenschaft zu geben versu-
chen, wie etwa Hölderlin. Es ist eine rhythmische Erfahrung, die sie be-
schreiben, wenn sie von der poecischen Urerfahrung sowohl die Vorgege-
benheit der Sprache als auch die Vorgegebenheit der Welt, d. h. der Ord-
nung der Dinge, fernhalten und die dichterische Konzeption als das Sichein-
schwingen von Welt und Seele im dichterischen Sprachewerden beschrei-
ben. Das Gebilde des Gedichts, zu dem Sprache wird, verbürgt als ein
Endliches das einander Zugesprochensein von Seele und Welt. Es ist hier,
daß das Sein der Sprache seine zentrale Stellung erweist. Der Ausgang von
der Subjektivität, wie er dem neueren Denken natürlich geworden ist, fUhrt
dabei ganz in die Irre. Sprache ist nicht als ein vorgängiger Weltentwurf der
Subjektivität zu denken, weder als der eines einzelnen Bewußtseins noch als
der eines Volksgeistes. Das sind alles Mythologien, genau wie der Begriff
des Genies, der in der ästhetischen Theorie deswegen eine so beherrschende
Rolle spielt, weil er das Zustandekommen des Gebildes als eine unbewußte
Produktion verstehen und damit aus der Analogie zu dem bewußten Produ-
zieren deuten lehrt. Das Kunstwerk ist aber so wenig von der planmäßigen
AusfUhrung eines Entwurfs - sei es auch eines nachtwandlerisch unbewuß-
ten - her zu verstehen, wie der Gang der Weltgeschichte rur unser endliches
Bewußtsein als die AusfUhrung eines Planes gedacht werden darf. Glück
und Gelingen verfuhren vielmehr hier wie dort zu oracula ex eventu! die das
Ereignis, von dem sie ausgesagt werden, das Wort oder die Tat, in Wahrheit
verdecken.
Es scheint mir eine Folge des modernen Subjektivismus, daß die Selbstin-
terpretation in a1len solchen Bereichen einen sachlich ungerechtfertigten
Vorrang erhalten hat. In Wahrheit wird man einem Dichter fUr die Erklärung
seiner Verse kein Privileg zugestehen dürfen, so wenig wie einem Staats-
mann fur die historische Erklärung der Ereignisse, an denen er selber han-
delnd beteiligt war. Der echte Begriff von Selbstverständnis", der in allen
solchen Fällen allein anwendbar ist, ist nicht von dem Modell des vollende-
ten Selbst bewußtseins aus zu denken, sondern von der religiösen Erfahrung
aus. Sie schließt immer schon ein, daß die Irrwege des menschlichen Selbst-
verständnisses nur durch göttliche Gnade zu ihrem wahren Ende finden,
d. h. zu der Einsicht, auf allen Wegen zum eigenen Heile geftihrt worden zu
sein. Alles menschliche Selbstverständnis ist in sich durch sein Ungenügen
bestimmt. Das gilt gerade auch von Werk und Tat. Kunst und Geschichte
entziehen sich daher ihrem eigenen Sein nach der Deutung von der Subjekti-

14 [Vgl. unten meine Arbeit IZur Problematik des Selbstverständnisses(, S. 121 ff.}
76 Vorstufen

vität des Bewußtseins her. Sie gehören jenem hermeneutischen Universum


an, das durch die Vollzugs weise und Wirkliclikeit der Sprache, die alles
einzelne Bewußtsein übersteigt, charakterisiert ist l5 . In der Sprache, in der
Sprachlichkeit unserer Welterfahrung, liegt die Vermittlung von Endlichem
und Unendlichem, die uns als endlichen Wesen angemessen ist. Was in ihr
ausgelegt ist, ist eine stets endliche Erfahrung, die gleichwohl nirgends an
jene Schranke stößt, an der ein unendlich Gemeintes nur noch geahnt und
nicht mehr gesagt werden kann. Ihr eigener Fortgang ist niemals begrenzt
und ist doch keine fortschreitende Annäherung an einen gemeinten Sinn,
sondern ist injedcm seiner Schritte beständige Repräsentation dieses Sinnes.
Es ist das Gelungensein des Werkes, nicht das von ihm nur Gemeinte, das
seinen Sinn ausmacht. Es ist das treffende Wort, und nicht das in die
Subjektivität des Meinens verborgene, das den Sinn zur Aussage bringt. Es
ist die Überlieferung, die unseren geschichtlichen Horizont öffnet und ein-
grenzt - und nicht ein opakes Geschehen der lan sichi geschehenden Ge-
schichte.
So gewinnt die Abweisung des Meinens, die wir als den gemeinsamen
Zug in der Rede von der Natur der Sache und der Spraclie der Dinge
vernehmen, einen positiven Sinn und konkrete ErfUllung. Damit aber tritt
die Spannung, die zwischen diesen bei den Redensarten besteht, erst in ihr
wahres Licht. Was als dasselbe erschien, ist nicht dasselbe. Es ist etwas
anderes, ob von der Subjektivität des Meinens und der Eigenmächtigkeit des
Wo lIens aus eine Grenze erfahren wird oder ob von der vorgängigen Einge-
spieltheit des Seienden in spracherschlossene Welt her gedacht wird. Nicht
an der Natur der ,Sache, die sich dem Andersmeinen entgegenstellt und
Achtung erzwingt, sondern an der Sprache der Dinge, die so gehört werden
will, wie die Dinge sich zur Sprache bringen, scheint mir die unserer
Endlichkeit angemessene Erfahrung jener Entsprechung möglich, welche
einst die Metaphysik als die ursprüngliche Angemessenheit alles Geschaffe-
nen aneinander und insbesondere als die Anmessung der geschaffenen Seele
an die geschaffenen Dinge lehrte.

15 Vgl. außer )Wahrhcit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1) den unten S. 219ff. abge-

druckten Aufsatz: >Die Universalität des hermeneutischen Problems( rund inzwischen die
späteren Arbeiten zur Sache. die unten S. 232 folgenl.
7. Begriffsgeschichte als Philosophie
1970

Das Thema >Begriffs geschichte als Philosophie( erweckt den Anschein. als
ob hier eine sekundäre Fragestellung und eine Hilfsdisziplin des philo-
sophischen Denkcns zur Unangemessenheit eines universalen Anspruchs
aufgehöht würde. Denn das Thema enthält die Behauptung, Begriffsge-
schichte sei Philosophie oder vielleicht sogar, Philosophie solle Begriffsge-
schichte sein. Beides sind ohne Zweifel Thesen, deren Rechtfertigung und
Begründung nicht auf der Hand liegt und denen wir uns deswegen prüfend
zuzuwenden haben.
In jedem Falle liegt in der Formulierung des Themas eine implizite Aussa-
ge über das, was Philosophie ist, nämlich daß ihre Begriffiichkeit ihr Wesen
ausmacht - im Unterschiede zu der Funktion der Begriffe in den Aussagen
der >positiven( Wissenschaften. Während diese die Gültigkeit ihrer Begriffe
jeweils an dem Erkenntnisgewinn messen, der durch Erfahrung kontrollier-
bar ist, hat offenbar die Philosophie in diesem Sinne keinen Gegenstand.
Damit fangt die Fragwürdigkeit der Philosophie an. Kann man überhaupt
ihren Gegenstand auge ben, ohne daß man schon in die Frage nach der
Angemessenheit der Begriffe, die man dabei gebraucht, verwickelt ist? Was
heißt )angemessen~ dort, wo man nicht einmal weiß, woran man messen
soll?
Die philosophische Tradition des Abendlandes allein kann auf diese Frage
eine geschichtliche Antwort enthalten. Nur sie können wir befragen. Denn
die rätselhaften Aussageformen von Tiefsinn und Weisheit, die in anderen
Kulturen, insbesondere des Fernen Ostens, entwickelt worden sind, stehen
mit dem, was abendländische Philosophie heißt, in einem letzten Endes
nicht überprüfbaren Verhältnis, insbesondere deshalb, weil die Wissen-
schaft, in deren Namen wir fragen, selber eine abendländische Entdeckung
ist. Wenn es nun so ist, daß die Philosophie keinen eigenen Gegenstand hat,
an dem sie sich mißt und dem sie sich mit ihren Mitteln des Begriffs und der
Sprache anmißt, heißt das dann nicht, daß der Gegenstand der Philosophie
der Begriff selbst ist? Der Begriff, das ist das wahre Sein, so wie wir ja das
Wort >Begriff( zu gebrauchen pflegen. Man sagt etwa: das ist der Begriff
eines Freundes, wenn man jemanden in seiner Fähigkeit zur Freundschaft
78 Vorstufen

besonders rühmen will. Heißt also dies der Gegenstand der Philosophie, daß
es der Begriffist, sozusagen die Selbstentfaltung des Denkens; so, wie es zu
dem, was ist, sich aufklärend und erkennend verhä1t? Es ist wahr, das ist die
Antwort der Tradition von Aristoteles bis Hege!. Aristoteles hat im Buch
Gamma der Metaphysik die Auszeichnung der Philosophie, insbesondere
der Metaphysik, der ersten Philosophie - ,Philosophie< hieß ja überhaupt
>Erkenntnis< - so bestimmt, daß er gesagt hat: alle anderen Wissenschaften
haben einen positiven Bereich, einen Bereich, den sie zum speziellen Gegen-
stand haben. Die Philosophie als die Wissenschaft, die wir hier suchen, hat
keinen so umgrenzten Gegenstand. Sie meint das Sein als solches, und es
verknüpft sich mit dieser Frage nach dem Sein als solchem der l3lick auf sieh
voneinander unterscheidende Weisen zu sein: das unveränderlich Evvige und
Göttliche, das sieh ständig Bewegende, die Natur, das sich bindende Ethos,
der Mensch. So etwa steht die Tradition der Metaphysik mit ihren Haupt-
themen vor uns, bis hin zu der kantischen Gestalt der Metaphysik der Natur
und der Metaphysik der Sitten, in der das Wissen von Gott in eine spezifische
Verbindung zu der Moralphilosophie getreten ist.
Was kann aber dieser Gegenstandsbereich der Metaphysik im Zeitalter der
Wissenschaft noch bedeuten? Nicht nur, daß Kaot selber es gewesen ist, der
durch seine Kritik der reinen Vernunft, d. h. durch die Kritik am Vermögen
des Menschen, aus bloßen Begriffen Erkenntnis zu gewinnen, die bisherige
Traditionsgestalt der Metaphysik, die sich in rationale Kosmologie, Psycho-
logie, Theologie gliederte, zerstört hat. Wir sehen vor allem in unseren
Tagen, wie sich der Anspruch der Wissenschaft, die einzig legitime Erkennt-
nisweise des Menschen zu sein - ein Anspruch, der freilich weniger von der
Wissenschaft selbst als von der Öffentlichkeit, die ihre Erfolge bewundert,
gestützt wird -, dazu gefUhrt hat, daß sich innerhalb dessen, was man
landläufig Philosophie nennt, die Wissenschaftstheorie und Logik sowie die
Analyse der Sprache in den Vordergrund gerückt haben. Die Begleiterschei-
nung dieser zunehmenden Tendenz ist, daß alles andere, was man Philo-
sophie nennt, als Weltanschauungen oder als Ideologien aus der Philosophie
verwiesen und damit letzten Endes einer von außen geführten Kritik unter-
worfen wird, die nicht mehr erlaubt, daß sie als Erkenntnis gelten. So ist die
Frage: Was bleibt der Philosophie, was sich wirklich neben dem Anspruch
der Wissenschaft behaupten kann?
Der Laie wird antworten: Die wissenschaftliche Philosophie v·:ird gegen-
über den luftigen und weithin leuchtenden Gebilden von Weltanschauung
und Ideologie fur sich in Anspruch nehmen, eindeutige Begriffe zu gebrau-
chen. Es ist das alte Verlangen des Laien, von dem Philosophen zu erwarten,
daß er alle seine Begriffe wohl definiert. Ob solches Definitionsverlangen
legitim ist, ob dem Anspruch und der Aufgabe der Philosophie aueh nur
angemessen ist, was im Bereiche der Wissenschaften seine unbestrittene
Begriffsgeschichte als Philosophie 79

Legitimation hat, wird noch zu fragen sein. Denn in der Voraussetzung, daß
es auf die Eindeutigkeit der Begriffe ankommt, liegt die andere Vorausset-
zung, daß die Begriffe unsere Werkzeuge sind, die wir uns anfertigen, Um an
die Gegenstände heranzugehen und sie unserer Erkenntnis zu unterwerfen.
Wir sehen ja, daß die bestdefinierten Begriffe, die wir überhaupt kennen,
und die exakteste Begriffsbildung dort zu Hause sind, \VO eine ganze Gegen-
standswelt durch das Denken selbst erzeugt wird: in der Mathematik. Dort
gibt es nicht einmal den Beitrag der Erfahrung, weil die Vernunft mit sich
selbst beschäftigt ist, wenn sie die großartigen Rätsel der Zahlen oder der
geometrischen Figuren oder was immer aufzuklären unternimmt.
Ist nun die Sprache und das Denken der Philosophie so, daß es wie aus
einem bereitliegenden Werkzeugkasten die Begriffe der Philosophie zur
Hand nimmt und weglegt und auf diese Weise Erkenntnis zutage fördert,
und zurückweist, was dem Erkenntnisziele nicht dient? Man wird sagen
dürfen: In einem gewissen Sinne ist es so, sofern Begriffsanalyse immer auch
Sprachkritik einschließt, und sich durch die genaue logische Analyse der
Begriffe Scheinfragen und Scheinvorurteile enthüllen. Aber das Ideal einer
eindeutigen Begriffssprache, das insbesondere am Anfang unseres Jahrhun-
derts von der philosophischen Logik mit solchem Enthusiasmus verfolgt
worden ist, hat sich aus der immanenten Entfaltung dieser Anstrengung
heraus selber begrenzt. Die Idee einer reinen Kunstsprache des philo-
sophischen Gedankens ist auf dem Wege der logischen Selbstanalyse in ihrer
Undurchftihrbarkeit klargelegt worden, sofern es immer der Sprache, die
wir sprechen, bedarf, wenn wir Kunstsprachen einführen \"lOllen. Die Spra-
che, die wir sprechen, ist nun aber so beschaffen, daß von ihr zugegebener-
maßen eine ständige Beirrung unserer Erkenntnis auszugehen vermag. Schon
Bacon hat die idola fori, die Vorurteile des Sprachgebrauches, als Behinderung
einer vorurteilslosen Forschung und Erkenntnis denunziert.
Aber ist das alles? Wenn Sprache mitunter Vorurteile fixiert, bedeutet das,
daß in ihr stets nur Unwahrheit erscheint? Sprache ist nicht nur dies. Sie ist
die allumfassende Vorausgelegtheit der Welt und daher durch nichts zu
ersetzen, Vor allem philosophisch einsetzenden kritischen Denken ist schon
immer die Welt für uns eine in Sprache ausgelegte. Im Lernen einer Sprache,
im Hineinwachsen in unsere Muttersprache artikuliert sich uns die Welt. Das
ist weniger Beirrung als erste Erschließung. Es freilich schließt ein, daß der
Prozeß der Begriffsbildung, der inmitten dieser sprachlichen Ausgelegtheit
anhebt, niemals ein erster Anfang ist. Er gleicht nicht dem Schmieden eines
neuen Werkzeuges aus irgendeinem geeigneten Stoff. Denn er ist immer ein
Weiterdenken in der Sprache, die wir sprechen, und in der in ihr angelegten
Auslegung der Welt. Da ist nirgends ein Anfang mit Null. Gewiß ist auch die
Sprache, durch die sich die Ausgelegtheit der Welt darstellt, ohne Zweifel ein
Produkt und das Ergebnis von Erfahrung. >Erfahrung. hat hier aber selber
80 Vorstufen

nicht jenen dogmatischen Sinn des unmittelbar Gegebenen, dessen ontolo-


gisch-metaphysische Vorurteilshaftigkeit die philosophische Bewegung un-
seres Jahrhunderts genügend aufgedeckt hat, und zwar in beiden Lagern,
sowohl innerhalb der phänomenologisch-hermeneutischen wie innerhalb
der nominalistischen Tradition. Erfahrung ist nicht primär sensation. Es ist
nicht der Ausgangspunkt bei den Sinnen und ihren Daten, der als solcher
Erfahrung heißen kann. Wir haben einsehen gelernt, wie sich auch die
Gegebenheiten unserer Sinne jeweils in Auslegungszusammenhängen arti-
kulieren, wie die Wahrnehmung, die etwas als das Wahre nimmt, aller
Unmittelbarkeit der Sinnesdaten voraus die Sinneszeugnisse schon immer
ausgelegt hat. Wir dürfen daher sagen: Begriffsbildung ist - hermeneutisch
gesehen - durch schon gesprochene Sprache ständig mitbedingt. Wenn das
aber so ist, dann ist es der einzige philosophisch redliche Weg, sich das
Verhältnis von Wort und Begriff als ein unser Denken bestimmendes Ver-
hältnis bewußt zu machen.
Ich nenne es das Verhältnis von Wort und Begriff-nicht: von Wörtern und
Begriffen. Ich ziele damit auf die implizite Einheit, die sowohl dem Wort wie
auch dem Begriffzukommt: Für dieses Verhältnis gibt es keine Wörter, ja, es
gibt vielleicht auch nicht so selbstverständlich, wie das die heutige sprach-
theoretische Forschung annimmt, Sprachen. Jede Sprache, die gesprochen
wird, ist immer nur da als das Wort, das jemandem gesagt wird, als die
Einheit von Rede, die zwischen Menschen Kommunikation stiftet, Solidari-
tät aufbaut. Die Einheit des Wortes liegt aller Vielfalt der Wörter oder
der Sprachen voraus. Sie enthält eine implizite Unendlichkeit dessen, was es
überhaupt in Worte zu fassen lohnt. Der theologische Begriff des Verbum
bleibt in dieser Hinsicht sehr aufschlußreich, sofern )das Wort< das Ganze der
Heilsbotschaft ist, und doch in der Aktualität des pro me.
Aber so ist es auch mit dem Begriff. Ein System von Begriffen, eine
Vielheit von Ideen, die man jede rur sich defmieren und abgrenzen und
bestimmen müßte - das trifft nicht die radikale Frage an die Begriffiichkeit
der Philosophie und an die Philosophie als Begriffiichkeit. Denn in der
Philosophie geht es um die Einheit )deS< Begriffs. Wie Plato, wenn von
seiner Ideenlehre geredet wird und er diese >viclbeschwätztc{ Lehre von den
Ideen philosophisch zu durchdringen unternimmt, von dem Einen spricht
und von der Frage, wie dies Einejeweils ein Vieles ist. Wie Hegel, wenn erin
seiner )Logik< die Gedanken Gottes nachdenken will, die vor Beginn der
Schöpfung als die Totalität der Möglichkeiten des Seins in seinem Geiste
sind, mit )dem Begriff< als der vollendeten Selbstentfaltung dieser Möglich-
keiten endet. Die Einheit des Gegenstandes der Philosophie ist gerade da-
durch gegeben, daß, so wie die Einheit des Wortes die des Sagwürdigen, so
die Einheit des philosophischen Gedankens die des Denkwürdigen ist. Nicht
die einzelnen Definitionen von Begriffen besitzen je eine selbständige philo-
Begriffsgeschichte als Philosophie 81
sophische Legitimation - es ist immer ein einheitlicher Ansatz des Denkens,
in dem sich die Funktion des einzelnen Begriffs überhaupt erst zu ihrer
legitimen Bedeutung bestimmt. Das gilt es festzuhalten, wenn wir jetzt die
Frage stellen: was die Aufgabe einer Begriffsgeschichte ist, die nicht eine
Ergänzungsarbeit philosophiegeschichtlicher Forschung leisten, sondern in
den Vollzug der Philosophie hineingehören, als ,Philosophie< sich vollziehen
soll.
Das läßt sich an einer Gegenposition und deren Grenzen zeigen, an der
sogenannten Problemgeschichte. Im Lichte unserer Überlegungen läßt sich
zeigen, warum diese traditionelle, im Neukantianismus, also in den letzten
50-100 Jahren herrschend gewesene Betrachtungsweise der Geschichte der
Philosophie in Wahrheit unzureichend ist. Dabei sind die großen Leistungen
der Problemgeschichte unbestritten. - Sie macht eine an sich sehr vernünfti-
ge Voraussetzung. Wenn sich schon nicht die Lehrsysteme der Philosophen
zu einem fortschreitenden Gange der Erkenntnis nach dem Muster der
Logik oder der Mathematik ordnen, wenn sich das Hin und Her der Stand-
punkte der Philosophie - trotz Kant - nicht in den ruhigen Fortgang einer
Wissenschaft umwandeln läßt, so sind doch die Probleme, auf die diese
Lehren Antworten suchen, immer dieselben gewesen und lassen sich stets
wiedererkennen. Das war der Weg, auf dem die Problemgeschichte die
Gefahren einer historistischen Relativierung alles philosophischen Denkens
zu bannen gewußt hat. Sie hat zwar nicht strikte behaupten wollen und
behaupten können, daß es immer ein geradliniger Fortschritt in der Analyse
und Behandlung solcher identischer Probleme ist, was sich in der Geschichte
der Philosophie abspielt. Nicolai Hartmann, dem wir hier alle viel verdan-
ken, hat es vorsichtiger formuliert: der eigentliche Sinn der Problemge-
schichte sei die Schärfung (und beständige Verfeinerung) des Problembe-
wußtseins. Darin liege der Fortschritt der Philosophie. Von den Überlegun-
gen aus, die ich anstellte, zeigt sich nun aber an dieser Methode der Pro-
blemgeschichte ein dogmatisches Moment. Sie enthält Voraussetzungen,
die so nicht überzeugen können. Ein Beispiel mag das verdeutli-
chen.
Das Freiheitsproblem scheint gewiß eines der Probleme zu sein, die die
Bedingung, ein identisches Problem zu sein, am besten erflillen. Die Bedin-
gung, ein philosophisches Problem zu sein, besteht nämlich in Wahrheit
darin, unlösbar zu sein. Das heißt, es muß von so weitreichender und
grundlegender Art sein, daß es sich immer wieder neu stellt, weil keine
mögliche ,Lösung< desselben damit ganz fertig zu werden vermag. So hat
schon Aristoteles das Wesen des dialektischen Problems dadurch beschrie-
ben, daß es die großen und nicht entscheidbaren Fragen seien, die man dem
Gegner im Streitgespräch in den Weg stellen solle. Aber die Frage ist: Gibt es
,das< Freiheitsproblem? Ist die Frage nach der Freiheit wirklich eine in anen
82 Vorstufen

Zeiten gleiche? Geht jener tiefsinnige Mythos der platonischen Staatsschrift,


,"vonach die Seele in einem vorgeburtlichen Zustand sich ihr Lebenslos selber
wählt, und wenn sie sich über die Folgen ihrer Wahl beklagt, die Antwort
bekommt: >aitia he1omenou, Du bist schuld an Deiner Wahl<", auf dasselbe
wie der Freiheitsbegriff, der etwa die stoische Moralphilosophie beherrscht
hat, die mit bestimmter Entschlossenheit sagte: der einzige Weg, unabhän-
gig und damit frei zu sein, sei, sein Herz an nichts zu hängen, das nicht bei
einem selber steht? Ist das dasselbe Problem wie der platonische Mythos? Ist
es dasselbe Problem, wenn die christliche Theologie zwischen der Freiheit
des Menschen und der göttlichen Vorsehung ihre großen theologischen
Rätsel spinnt und zu lösen versucht? Und ist es dasselbe Problem, wenn wir
im Zeitalter der Naturwissenschaften die Frage stellen: wie soll angesichts
der lückenlosen Determination des Naturgeschehens, angesichts der Tatsa-
che, daß alle Naturwissenschaft von der Voraussetzung ausgehen muß, daß
in der Natur keine Wunder geschehen, die Möglichkeit der Freiheit begriffen
werden? Ist das Problem von Determinismus und Indeterminismus des
Willens, das von da aus formuliert wird, noch dasselbe Problem?
Man braucht nur ein paar Schritte ,"veit ein solches angeblich identisches
Problem durchzuanalysieren, und man sicht, was für eine Dogmatisierung
in der angeblichen Problemselbigkeit steckt. Ein solches Problem ist wie
eine nie wirklich gefragte Frage. Jede wirklich gefragte Frage ist motiviert.
Man weiß, warum man et\~laS fragt, und man muß wissen, warum man
etwas gefragt wird, ,"venn man die Frage wirklich verstehen - und gegebe-
nenfalls beantworten - soll. So scheint mir an dem Beispiel des Freiheitspro-
blems überzeugend, daß die jeweilige Fragestellung nicht durch die Voraus-
setzung verständlich wird, daß es sich um das identische Problem der
Freiheit handelt. Es kommt vielmehr darauf an, die wirklichen Fragen, wie
sie sich stellen - und nicht solche abstrakt formalisierten Fragemöglichkeiten
-, als das, was es zu verstehen gilt, anzusehen. Jede Frage ist motiviert. Jede
Frage bekommt ihren Sinn von der Art ihrer Motivation. Wir kennen es alle
an der sogenannten pädagogischen Frage, wie es ist, wenn man etwas
gefragt wird, ohne daß der andere wiklich deshalb fragt, weil er wissen will.
Da weiß man ganz genau, daß der Prüfende das weiß, wonach er da fragt.
Was ist das schon fur eine Frage, die ich frage, wenn ich es schon \veiß! Die
pädagogische Frage, die so gestellt wird, muß man aus hermeneutischen
Gründen unpädagogisch nennen. Sie kann sich nur daraus rechtfertigen, daß
der Fortgang des Prüfungs gesprächs die Unnatur solcher Fragen üben~lin­
det, indem es schließlich vor )offene< Fragen fUhrt. Nur an ihnen kann
herauskommen, was einer kann. - Daß eine Frage eigentlich nur beantwort-
bar ist, wenn ich weiß, warum sie gefragt wird, bedeutet aber, daß auch in

16 [Staat X, 617 e4J


Begriffsgeschichte als Philosophie 83

den großen Fragen, mit denen die Philosophie nicht fertig wird, der Sinn der
Frage sich erst durch die Motivation der Frage bestimmt. Es ist also eine
dogmatische Schematisierung, wenn man von dem Freiheitsproblem
spricht, und man verdeckt dadurch gerade den sinngebenden Fragegesichts-
punkt, der die Dringlichkeit der Frage, ihr Gestelltwerden, in Wahrheit
ausmacht. Gerade wenn wir einsehen, daß die Philosophie aufs Ganze hin
fragt, müssen wir die Weise, wie sich ihr ihre Fragen stellen, und das heißt: in
welcher Begriffiichkeit sie sich bewegt, befragen. Denn sie ist es, die die
Stellung der Fragen schon prägt. Darauf also kommt es an, wie sich eine
Frage stellt, und es gilt, das festzuhalten, damit man die Fragestellung
ausarbeiten lernt. Wenn ich frage: Was bedeutet Freiheit in einer Weltauffas-
sung, die von der kausalen Naturwissenschaft beherrscht wird, dann ist die
Stellung der Frage und damit alles, was darin etwa unter dem Begriff
Kausalität impliziert ist, schon in den Sinn der Frage eingegangen. So ist zu
fragen: Was ist Kausalität, und macht sie das ganze Ausmaß des in der Frage
der Freiheit Fragwürdigen aus? Mängel in dieser Hinsicht waren schuld
daran, daß in den zwanziger und dreißig er Jahren das seltsame Gerede
von der Widerlegung der Kausalität durch die moderne Physik auf-
kam.
Diese Feststellungen lassen sich positiv wenden: Wenn in den Fragestel-
lungen und damit in der Begriffiichkeit, die die Stellung einer Frage ermög-
licht, die eigentliche Prägung des Fragesinnes liegt, dann ist das Verhältnis
des Begriffs zur Sprache nicht nur das der Sprachkritik, sondern ebenso auch
ein Problem der Sprachfindung. Und dies scheint mir nun wirklich das
große atemberaubende Drama der Philosophie, daß sie die ständige Bemü-
hung um Sprachfindung, um es pathetischer zu sagen: ein beständiges
Erleiden von Sprachnot ist. Das ist nicht erst eine Neuerung von Heidegger.
Die Rolle, die die Sprachfindung in der Philosophie spielt, ist offenbar
eine ausgezeichnete. Das zeigt sich schon in der Rolle, die die Terminologie
hier spielt: An sich zeigt sich der Begriff in sprachlicher Gestalt als Terminus
an, d. h. als ein wohlumrissenes, in seiner Bedeutung eindeutig abgegrenztes
Wort. Aber jedermann weiß, daß ein terminologisches Sprechen, das etwa
von der Art der Exaktheit des Rechnens mit mathematischen Symbolen
wäre, nicht möglich ist. Sprechen erlaubt zwar den Gebrauch von Termini,
aber das heißt, daß diese ständig in den Verständigungsvorgang des Spre-
chens hineinragen und mitten in diesem Verständigungsvorgang ihre
Sprachfunktion ausüben. Im Unterschied zu der Möglichkeit, feste Termini
zu schaffen, welche genau festgelegte Funktionen der Erkenntnis ausüben,
wie das in den Wissenschaften und vorbildlich in der Mathematik geschieht,
hat der philosophische Sprachgebrauch, wie wir sahen, keine andere Aus-
weisbarkeit als die, die wieder in der Sprache geschieht. Es ist offenbar eine
Ausweisbarkeit besonderer Art, die hier verlangt ist, und das ist die erste
84 Vorstufen

Aufgabe, die sich ftir den Zusammenhang von Wort und Begriff, von
gesprochener Sprache und sich im Begriffswort artikulierenden Gedanken
stellt, daß es die Verdecktheit der begrifflichen Herkunft der philo-
sophischen Begriffsworte aufzuklären gilt, wenn wir die Legitimität unserer
Fragestellungen zur Ausweisung bringen wollen. Ein klassisches Beispiel,
das wir in unseremjahrhundert erlebt haben, ist die Aufdeckung des in dem
Begriff .Subjekt< gelegenen verdeckten begriffs geschichtlichen Hinter-
grunds und seiner ontologischen Implikationen, ,Subjekt. ist griechisch
hypokeimenon, das Zugrundeliegende, und dieses Wort wird von Aristoteles
eingeftihrt, um gegenüber dem Wechsel verschiedener Erscheinungsformen
des Seienden dasjenige. was sich nicht ändert, sondern diesen wechselnden
Qualitäten zugrunde liegt, zu bezeichnen. Aber hört man dieses hypokeime.
non, subicctum, das allem anderen zugrunde liegt, noch, \venn man das Wort
Subjekt gebraucht? Wenn man, wie wiI alle, in der cartesianischen Tradition
steht und im Begriff des Subjektes die Selbstreflexion, das Sichselbstwissen,
denkt? Wer hört das noch, daß >Subjekt< ursprünglich ,das Zugrundeliegen-
de( ist? Aber ich frage auch, wer hört es nicht doch darin? Wer unterstellt
nicht, daß das, was dergestalt durch Selbstreflexion bestimmt ist, so da ist
wie ein Seiendes, das sich in dem Wechsel seiner Qualitäten als das Zugrun-
deliegende und Tragende erhält? Es ist eben die Unaufgedecktheit dieser
begriffs geschichtlichen Ahnenschaft, die dazu geftihrt hat, daß man das
Subjekt als etwas denkt, das, durch sein Selbstbewußtsein charakterisiert,
mit sich selbst allein ist, und daß man sich vor die qualvolle Frage gestellt
sieht, wie es aus seiner }splcndid isolation( herauskommt. So entstand die
Frage nach der Realität der Außenwelt. Es war die Kritik unseres Jahrhun-
derts, daß man die Frage: Wie kommt unser Denken, unser Bewußtsein zur
Außenwelt?, von vornherein als falsch gestellt erkannte, weil Bewußtsein
überhaupt nichts anderes ist als Bewußtsein von etwas. Der Vorrang des
Selbstbewußtseins gegenüber dem Weltbewußtsein ist ein ontologisches
Vorurteil, das letzten Endes auf der unkontrollierten Fortwirkung des Be-
griffs subiectum im Sinne des hypokeimenon bzw. des ihm entsprechenden
lateinischen Begriffes der Substanz beruht. Selbstbewußtsein bestimmt die
selbstbewußte Substanz gegenüber allem anderen Seienden. Wie kommt
aber extensiv ausgedehnte Natur und selbstbewußte Substanz zusammen?
Wie können diese beiden so grundverschiedenen Substanzen aufeinander
wirken - das war das bekannte Problem der beginnenden neuzeitlichen
Philosophie, das noch dem angeblichen Methodendualismus von Natur-
und Geisteswissenschaften zugrunde liegt.
Das Beispiel will zunächst nur als Beispiel gelten und die allgemeine Frage
motivieren: Ist Aufklärung durch Begriffsgeschichte immer sinnvoll und
immer nötig?
Ich möchte auf diese Frage eine einschränkende Antwort geben: Sofern
Begriffsgeschichte als Philosophie 85

Begriffe noch im Leben der Sprache mitleben, ist die begriffsgeschichtliche


Aufklärung sinnvoll - und doch heißt das zugleich, daß das Ideal einer
totalen Bewußtheit unsinnig ist. Denn Sprache ist selbstvergessen, und nUr
eine )widernatürJiche< kritische Anstrengung, die den fluß des Sprechens
bricht und etwas aus diesem Fluß plötzlich stillstellt, kann Bewußtheit und
die thematische Aufklärung eines Wortes und seiner begrifflichen Bedeu-
tung leisten. Ich habe einmal an meiner kleinen Tochter folgende Beobach-
tung gemacht: als sie schreiben lernte, fragte sie eines Tages bei den Schular-
beiten: »Wie schreibt man Erdbeeren?« Es wurde ihr gesagt, und sie meinte
nachdenklich: Komisch, wenn ich das so höre, verstehe ich das Wort
f)

überhaupt nicht mehr. Erst wenn ich es wieder vergessen habe, bin ich in
dem Worte drin. « Drinsein im Worte, das ist in der Tat die Weise, wie wir
reden. Und wenn ich in diesem Moment den Fluß meines Mitteilungsbe-
dürfnisses wirklich blockieren könnte und die Worte, die ich eben ausspre-
che, zur Reflexion brächte und in der Reflexion festhielte, wäre der Fortgang
des Sprechens total gehemmt. So sehr gehört Selbstvergessenheit zum We-
sen von Sprache. Eben aus diesem Grunde kann begriffliche Aufklärung-
und Begriffsgeschichte ist begriffliche Aufklärung - immer nur partial sein.
Sie kann nur dort nützlich und wichtig sein, wo durch sie entweder Verdek-
kung, die durch entfremdete, erstarrte Sprache geschieht, aufgedeckt wird,
oder wo Sprachnot geteilt werden soll, damit man in die volle Gespanntheit
des Nachdenkens gelangt. Denn Sprachnot muß dem Nachdenkenden voll
ins Bewußtsein gelangen. Nur der denkt philosophisch, der angesichts der
verftigbaren sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten ein Ungenügen empfin-
det, und nur dann denkt man mit, wenn man die Not dessen wirklich teilt,
der begriffliche Aussagen wagt, die sich allein durch sich selbst bewähren
sollen.
Man wird die Entstehung der philosophischen Begriffssprache bei den
Griechen ins Auge fassen müssen, aber auch etwa die Sprache der deutschen
Mystik und ihr Eindringen in die Begriffsspraehe danebenstellen - bis hin zu
Hegels und Heideggers begriffs bildender Kühnheit. Es sind das Beispiele
besonderer sprachlicher Not und damit eines besonderen Anspruchs an das
Denken und Mitdenken.
Da steht am großen Anfang des abendländischen Denkens die Lehre vom
Sein, die Parmenides in seinem Lehrgedicht vorgetragen hat. Sie stellt den
Späteren die nicht zu Ende kommende Frage, die schon Plato nicht recht
ermessen zu können gesteht, was bei Parmenides mit diesem Sein gemeint
sei. Die moderne Forschung bleibt kontrovers. Hermann Cohen etwa mein-
te, es handele sich da um das Gesetz der Identität als die oberste Denkforde-
rung überhaupt. Die historische Forschung sperrt sich gegen solche syste-
matisierenden Anachronismen. So hält man mit Recht entgegen, das Sein,
das hier gemeint sei, sei die Welt, das Ganze des Seienden, nach dem die
86 Vorstufen

Ionier unter dem Titel ta panta gefragt hätten 17 . Indessen ist die Frage, ob das
Sein des Parmenides der Vorklang eines obersten philosophischen Begriffes
sei oder ein Kollektivname für alles Seiende, nicht in dem Sinne einer
Alternative zu entscheiden. Man muß vielmehr die Sprachnot mitleiden, die
hier in einem gewaltigen denkerischen Aufschwung den Ausdruck to on, das
Seiende, diesen abstrakten Singular, erfunden hat - vorher redete man von
den onta, von den vielen Seienden -. Man wird das neue Wagnis solchen
Redcns ermessen müssen, wenn man dem Denken folgen will, das hier
geschieht.
Andererseits zeigt sich, daß mit diesem Neutrum Singularis der gemeinte
Begriff doch noch nicht zu vollem Bewußtsein gelangt ist. Denn was alles
wird nicht von diesem Seienden gesagt! Zum Beispiel, daß es wohlgerundet
sei wie ein gut gestopfter Ball. Wir haben ein Beispiel der oben geschilderten
Sprachnot vor uns, sofern das Denken hier versucht, etwas zu denken,
woftir es keine Sprache gibt, und deshalb seine eigene denkende Intention
nicht sicher festzuhalten vermag.
Ahnlieh könnte man zeigen, wie etwa Plato zu der Einsicht gelangte, daß
zujeder Bestimmung des Denkens, zujedem Satz, zu jedem Urteil, zujeder
Aussage, sowohl Identität als auch Verschiedenheit zu denken nötig sei.
Wenn man etwas als das, was es ist, denken will, muß man es notwendig als
von allem anderen verschieden denken. Identität und Verschiedenheit sind
immer und unlöslich zusammen. In der späteren Philosophie nennen wir
solche Begriffe Reflexionsbegriffe, weil sie ein dialektisches Verhältnis des
Sichineinander-Tausehens auszeichnet. Wenn nun Plato diese großartige
Entdeckung vorfUhrt, stellt er die genannten ReflcxionsbegrifTe in merk-
würdiger Gesellschaft vor, indem er den beiden Begriffen, die überall dabei
sind, wo gedacht wird, auch noch Ruhe und Bewegung zur Seite stellt. Man
fragt sich, was das miteinander zu tun haben soll. Das eine sind Begriffe,
welche Wclthaftes beschreiben: da gibt es Ruhe, da gibt es Bewegung - das
andere sind Begriffe, welche allein im Denken vorkommen, als Identität und
Verschiedenheit. Beide mögen in dem Sinne dialektisch sein, daß auch Ruhe
nicht ohne Bewegung gedacht werden kann. Aber sie sind doch ganz
verschiedener Art. Für Plato scheint dies Verschiedenartige in eine Reihe zu
gehören. In seinem) Timaios< kann er geradezu erzählen, daß der Wcltenbau
dem menschlichen Geist Identität und Verschiedenheit buchstäblich vor
Augen hält, so daß der Mensch, indem er die Regelmäßigkeit der Gestirn-
bahnen und ihre Abweichungen, die mit der Ekliptik zusammenhängenden
Phänomene, ins Auge faßt, gleichsam im Mitmachen dieser Bewegungen
das Denken lernt.

17 [Vgl. H. Boeder, Grund und Gegenwart als Frageziel der frühgriechischen Philo-

sophie, Den Haag 1962, S. 23 f1


Begriffsgeschichte als Philosophie 87
Ein einfaches anderes Beispiel ist der aristotelische Begriff der hyle, der
Materie. 18 Wenn "vir Materie sagen, sind wir freilich schon durch eine Welt
von dem Verständnis dessen entfernt, was Aristoteles mit seinem Begriff
eigentlich sagen will. Denn hyle, ursprünglich das Bauholz, das man ver-
wendet, um etwas daraus zu machen, meint Aristotcles als ein ontologisches
Prinzip. Es drückt den technischen Geist der Griechen aus, daß sie ein
so1ches Wort in zentraler Weise in die Philosophie einbringen. Was Form ist,
erscheint als das Resultat einer technischen Anstrengung und Leistung, die
ein Ungeformtes umgestaltet. Aber es hieße Aristoteles unterschätzen,
wenn man meinte, ein solcher massiver Begriff eines rur sich seienden
Materials, das dann der geistige Handwerker in die Hand nimmt und ihm die
)Form( aufdrückt, wäre der aristotelische Gedanke der hyle. Vielmehr hat
Aristoteles mit diesem massiven Begriff aus der Handwerkswelt ein ontolo-
gisches Verhältnis beschreiben wollen, ein Strukturmoment des Seins, das in
allem Denken und Erkennen von Seiendem, nicht nur an dem, was uns als
Natur umgibt, sondern etwa auch im Bereich der Mathematik ("oae hyle)
seine Funktion hat. Er hat zeigen wollen, daß wir, wenn wir etwas als etwas
erkennen und bestimmen, es immer als ein noch Unbestimmtes meinen, das
wir erst durch eine zusätzliche Determination von allem anderen abgrenzen.
Deshalb sagte er, die hyle habe die Funktion der Gattung. Dem entspricht die
klassische Definitionslehre des Aristoteles, derzufolge die Definition die
nächste Gattung und die spezifische Differenz enthalte. hyle hat also im
aristotelischen Denken eine ontologische Funktion übernommen.
Wenn es die philosophische Begrifflichkeit auszeichnet, daß das Denken
immer in Not ist, einen wirklich angemessenen Ausdruck rur das zu finden,
was es eigentlich sagen will, dann ist mit aller Philosophie die Gefahr
verknüpft, daß das Denken hinter sich selbst zurücksinkt und an die Unan-
gemessenheit seiner begrifflichen Sprachmittel verfallt. Das ist an den oben
gegebenen Beispielen leicht sichtbar zu machen. Schon Zeno, der nächste
Anhänger des Parmenides, stellt die Frage: Wo ist eigentlich das Sein? Was ist
der Platz, an dem es ist? Wenn es in etwas ist, dann muß doch dieses, worin es
ist, selber wieder in etwas sein. Offenbar hat Zeno, der so scharfsinnig fragt,
den philosophischen Sinn der Lehre vom Sein nicht mehr festhalten können
und )Sein< ganz nur als )Alles( verstanden. Aber es ist nicht einmal richtig,
erst dem Nachfolger den Verfall der Denkleistung aufzubürden. Die Sprach-
not des philosophischen Gedankens ist die Not des Denkenden selber. Wo
die Sprache versagt, vermag er die Sinnrichtung seines Denkens nicht sicher
festzuhalten. Nicht erst Zeno, sondern Parmenides selber spricht ja, wie
oben erwähnt, von dem Sein so, daß er es mit einer wohl gerundeten Kugel

18 [Vgl. dazu meine Arbeit ,Gibt es die Materie? Eine Studie zur Begriffsbildung in

Philosophie und Wissenschaft. (Ges. Werke Bd. 6, S. 201-2171


88 Vorstufen

vergleicht. - So mag auch bei Aristoteles - und nicht erst für die >Schulc( -
die ontologische Funktion, die der Begriff der Materie hat, so wenig adäquat
gedacht und begrifflich expliziert sein, daß die aristotelische Schule die
originale Denkintention nicht mehr einzuhalten vermochte. Auch ftir den
modernen Interpreten wird daher nur begriffsgeschichtliche Bewußtheit,
die sich gleichsam in den actus des seine Sprache suchenden Denkcns ver-
setzt, dessen wahrer Intention zu folgen vermögen.
Endlich möge ein Beispiel aus der neueren Philosophie zeigen, wie durch
Tradition verfestigte Begriffe ins Leben der Sprache eingehen und zu ncucn
begrifflichen Leistungen fahig werden. Der Begriff der ,Substanz< scheint
ganz und gar dem scholastischen Aristotelismus verschrieben und von dort
her bestimmt. So gebrauchen auch wir das Wort im aristotelischen Sinne,
wenn wir etwa von chemischen Substanzen sprechen, deren Eigenschaften
oder Reaktionen man erforscht. Hier ist die Substanz das Vorliegende, an
dem man die Untersuchungen vornimmt. Nun ist das aber nicht alles. Wir
gebrauchen das Wort auch in einem anderen, betont werthaften Sinne und
leiten die Wertprädikate >substanzlos< und )substantiell< davon ab, etwa
wenn wir einen Plan nicht substantiell genug finden, dann meinen wir, daß
er allzu sehr im Vagen und Ungewissen verfliegt. Wenn wir von einem
Menschen sagen, er habe Substanz, so heißt das, daß mehr dahinter ist, als
sich in der Funktion darstellt, in der er uns begegnet. Man wird hier von
einer Übertragung des scholastisch-aristotelischen Substanz begriffs in eine
ganz neue Dimension reden dürfen. In diesem neuen Verwendungsbereich
des Ausdrucks gewinnen nun aber die alten (und flir die moderne Wissen-
schaft ganz unbrauchbar gewordenen) Begriffsmomente von Substanz und
Funktion, bleibendem Wesen und wechselnden Bestimmungen desselben,
ein neues Leben und werden zu schwer ersetzbaren Wörtern - und das heißt
ja, daß sie wieder leben. Die begriffsgeschichtliche Reflexion erkennt an
dieser Geschichte des Wortes >Substanz< im Negativen den mit der Galilei-
sehen Mechanik einsetzenden Verzicht auf die Erkenntnis der Substanzen-
und im Positiven Hegels produktive Umbildung des Substanzbegriffs, die
in seiner Lehre vom objektiven Geist gelegen ist. Im allgemeinen werden
künstliche Begriffe nicht zu Worten der Sprache. Die Sprache pflegt sich
gegen Kunstprägungen oder aus fremden Sprachen entlehnte Worte zu
wehren und sie nicht in den allgemeinen Sprachgebrauch aufzunehmen.
Aber dies Wort hat sie im neuen Sinne aufgenommen, und Hegel bietet dafür
die philosophische Legitimation, sofern er uns gelehrt hat, das, was wir sind,
nicht allein durch das Selbstbewußtsein des einzelnen denkenden Ich be-
stimmt zu denken, sondern durch die in Gesellschaft und Staat ausgebreitete
Wirklichkeit des Geistes.
Die erörterten Beispiele zeigen, wie eng die Beziehungen zwischen
Sprachgebrauch und Begriffsbildung sind. Begriffsgeschichte hat einer Bc-
Begriffsgeschichte als Philosophie 89
wegung des Gcdankens zu folgen, die immer über gewohnten Sprachge-
brauch hinausdrängt und die Bedeutungsrichtung von Wörtern aus ihrem
ursprünglichen Verwendungs bereich löst, erweiternd oder begrenzend,
vergleichend und unterscheidend, wie das Aristoteles in dem Begriffskata-
log von Metaphysik Delta systematisch vorfUhrt. Auch kann die Bildung
von Begriffen wieder auf das Sprachlcben zurückwirken, wie die von Hege!
gerechtfertigte breite Verwendung von Substanz fUr Geistiges. In der Rege!
aber wird es umgckehrt sein und sich die Breite des lebendigen Sprachge-
brauchs gcgcn die terminologische Festlegung dcr Philosophen wehren. Je-
denfalls ist es ein höchst schillerndes Verhältnis, das zwischen Begriffsprä-
gung und Sprachgebrauch bestcht. In seinem tatsächlichen Sprachgebrauch
hält sich nicht einmal der an seine terminologischen Vorschläge, der sie
selber gemacht hat. So folgt etwa Aristoteles, ,"vas ich ehedem einmal zu
unterstreichen Anlaß hatteI'!, in seinem eigenen Sprachgebrauch nicht der
von ihm in der Nikomachischen Ethik getroffenen Unterscheidung von
phronesis und sophia, und selbst die berühnlte kantische Unterscheidung von
transzendent und transzendental hat im Sprachleben selbst kein Heimatrecht
erworben. Es war die Hybris eines Beckmesser, wenn jemand, in meiner
Jugend, im Zeitalter des Neukantianismus, eine Wendung wie )die traszen-
dentale Musik Becthovens< mit der spöttischen Bemerkung kritisierte: .,Der
Schreiber kennt noch nicht einmal den Unterschied zwischen transzendent
und transzendental. « Gewiß muß, wer die kantische Philosophie verstehen
will, mit dieser Unterscheidung vertraut sein. Aber der Sprachgebrauch ist
souverän und läßt sich nicht solche künstlichen Vorschriften machen. Diese
Souveränität des Sprachgebrauchs schließt nicht aus, daß man etwa zwi-
schen gutem und schlechtem Deutsch unterscheiden kann, ja auch, daß man
von mißbräuchlichem Sprachgebrauch reden kann. Aber die Souveränität
des Sprachgebrauchs zeigt sich in solchen Fällen gerade darin, daß in unseren
Augen die tadelnde Kritik, \vie sie etwa in der Schule oft an regelwidrigem
Sprachgebrauch im deutschen Aufsatz geübt wird, etwas Mißliches behält
und daß Spracherziehung, mehr noch als andere Erziehung, nicht durch
besserwissende Korrektur, sondern nur durch das Vorbild gelingt. 20
Es darf daher nicht als ein Mangel philosophischer llegriffsbildung angc-
sehen werden, daß das philosophische Begriffswort den Zusammenhang
mit dem Leben der Sprache wahrt und den lebendigen Sprachgebrauch auch
in der Verwendung ausgeprägter Termini dennoch mit anklingen läßt. An
diesem fortwirkenden Sprachleben, das die llegriffsbildung trägt, el1t-

l~ In: Der aristotelische Protrcptikos ... Hermes 63,1927, S. 138-164. [Jetzt in Ges.
Wecke Bd. 5, S. 164--1861
20 [Vgl. dazu meine Dankesrede )Gutes Deutsch< von 1979 anläßlich der Verleihung des

Sigmund-Freud-Preises vor der Deutschen Akademie ftir Sprache und Dichtung Ub.
1980, S. 76-82) wiederabgedruckt in )Lob der Theorie<, Frankfurt 1983. S. 164-173.]
90 Vorstufen

springt die Aufgabe der Begriffsgeschichte. Es geht nicht darum allein,


einzelne Begriffe geschichtlich aufzuklären, sondern die gedankliche Span-
nung zu erneuern, die sich an den Bruchstellen des philosophischen Sprach-
gebrauchs zeigt, an denen sich die Anstrengung des Begriffs )verworfew
hat. Solche) Verwerfungen" in denen das Verhältnis von Wort und Begriff
gleichsam aufklafft und alltägliche Worte zu neuen begrifflichen Aussagen
künstlich geprägt werden, sind die eigentliche Legitimation der Begriffsge-
schichte als Philosophie. Denn was da zutage tritt, ist die unbewußte Philo-
sophie, die in den Wortbildungen und Begriffsbildungen der Umgangsspra-
che wie der Sprache der Wissenschaft liegt. Sie- über alle bewußte Begriffs-
prägung hinaus - ins Spiel zu bringen, ist der Weg einer Ausweisung
philosophischer Begriffe, fUr den der Begriff der )Angemessenheit< einen
neuen, philosophischen Sinn gewinnt - nicht eine Anmessung an ein Vorge-
gebenes der Erfahrung, wie in den Erfahrungswissenschaften, sondern an
das Erfahrungsganze, das unsere sprachliche Weltorientierung darstellt. Was
begriffsgeschichtliche Ausweisung zu leisten vermag, ist, den Ausdruck des
Philosophierens aus scholastischer Erstarrung zu lösen und für die Virtuali-
tät der lebendigen Rede zurückzugewinnen. Das aber heißt, den Weg vom
Begriffswort zum Wort der Sprache zurückgehen und den Weg vom Wort
der Sprache zum Begriffswort hingehen. Philosophie ist darin wie Musik.
Was man in einem Siemenslaboratorium hören kann, wenn die Obertöne
durch technische Apparaturen weggefiltert sind, ist keine Musik. Musik ist
erst jenes Gebilde, in dem Obertöne mit allem, was sie an neuen Klangwir-
kungen und Aussagefähigkeit der Töne zu erzeugen vermögen, mitspielen.
So ist es auch im philosophischen Denken. Die Obertöne der Wörter, die wir
gebrauchen, lassen uns die Unendlichkeit der Denkaufgabe, die Philosophie
für uns ist, präsent halten, und das allein erlaubt, sie - in aller Begrenzung-
zu erftillen. Philosophisches Denken und Mitdenken wird daher die Starr-
heit der sozusagen chemisch-reinen Begriffe brechen müssen.
Das unverlierbare Vorbild dieser Kunst, starr gewordcne Begriffe zu
brechen, ist der platonische Dialog und die Gesprächsflihrung des platoni-
schen Sokrates. Hier werden die im Selbstverständlichen hin- und herge-
reichten Norm-Begriffe, hinter denen sich eine sich zu nichts mehr ver-
pflichtende Wirklichkeit auf den eigenen Vorteil der Macht hin bewegt,
gebrochen, und indem ein ncues Aktualisieren unseres Selbstverständnisses,
ein neues Gewahrwerden des in den normativen Begriffen unserer mora-
lisch-politischen Selbstauslegung eigentlich Gemeinten aufbricht, sind wir
gefUhrt, den Weg des philosophischen Gedankens zu gehen. So kommt cs
auch für uns nicht auf die begriffs geschichtliche Forschung als solche an,
sondern darauf: die aus der begriffsgeschichtlichen Forschung erlernbare
Disziplin im Gebrauch unserer Begriffe so zu pflegen, daß sie eine echte
Verbindlichkeit in unser Denken zu bringen vermag. Daraus folgt aber, daß
Begriffsgeschichte als Philosophie 91

das Ideal der philosophischen Sprache nicht die denkbar größte Ablösung
einer terminologisch eindeutig gemachten Nomenklatur vom Leben der
Sprache ist, sondern die Rückbindung des begrifflichen Denkens an die
Sprache und das Ganze der Wahrheit, das in ihr präsent ist. Im wirklichen
Sprechen oder im Gespräch, sonst nirgends, hat Philosophie ihren wahren,
ihren nur ihr eigenen Prüfstein.
8. Klassische und philosophische Hermeneutik
1968

Der Titel ,Hermeneutik( deckt, wie das oft mit solchen aus dem Griechi-
schen stammenden Worten, die in unsere Wissenschafts sprache Eingang
gefunden haben, geschehen ist, sehr verschiedene Niveaus der Reflexion.
Hermeneutik meint in erster Linie eine kunstvolle Praxis. Das deutet die
Wortbildung an, zu der) Technc, zu ergänzen ist. Die Kunst, um die es sich
dabei handelt, ist die der Verkündung, des Dolmetschens, Erklärens und
Auslegens und schließt natürlich die ihr zugrunde liegende Kunst des Verste-
hens ein, die überall dort erfordert ist, wo der Sinn von etwas nicht offen und
unzweideutig zutage liegt. So liegt schon im ältesten Gebrauch des Wortes 21
eine gewisse Zweideutigkeit. HeImes hieß der Götterbote, der die Botschaf-
ten der Götter den Menschen überbrachte - in der homerischen Schilderung
oft so, daß er wörtlich ausrichtet, was ihm aufgetragen ist. Oft aber, und
insbesondere im profanen Gebrauch, besteht das Geschäft des henneneus
gerade darin, daß er ein in fremder oder unverständlicher Weise Geäußertes
in die verständliche Sprache aller übersetzt. Das Geschäft des Übersetzens
hat daher imIner eine gewisse }Freiheitc Es setzt das volle Verständnis der
fremden Sprache, aber mehr noch, auch das Verständnis der eigentlichen
Sinn-Meinung des Geäußerten voraus. Wer als Dolmetscher verständlich
sein will, muß das Gemeinte neu zur Sprache bringen. Immer ist die Lei-
stung der >Hermeneutik( eine solche Übertragung von einer Welt in eine
andere, der Welt der Götter in die der Menschen, der Welt der einen, fremden
Sprache in die Welt der anderen, eigenen Sprache. (Menschliche Übersetzer
können immer nur in die eigene Sprache übersetzen.) Da aber die eigene
Aufgabe des Übersetzens eben darin besteht, etwas }auszurichten1,
schwankt der Sinn von hermeneuein zwischen Übersetzung und praktischer
Anweisung, zwischen bloßem Mitteilen und Gehorsam-Fordern. Zwar
pflegt hermeneia in ganz neutralem Sinne )Aussage von Gedanken< zu bedeu-
ten, aber es ist bezeichnend, daß Plato" nicht jeglichen Ausdruck von
21 [Daß die Etymologie des Wortes wirklich etwas müdem Gott}Hermes< zu tun hat, wie

der Wortgebrauch und die antike Etymologie nahclegen. ist in der neueren Forschung
(Benveniste) bezweifelt worden. J
22 Plato, Politikos 260 d.
Klassische und philosophische Hermeneutik 93
Gedanken, sondern allein das Wissen des Königs, des Herolds usw., das den
Charakter der Anweisung hat, unter dem Ausdruck versteht. Nicht anders
dürfte die Nachbarschaft der Hermeneutik zur Mantik B zu verstehen sein:
die Kunst, den Gotteswillen zu übermitteln, steht neben der Kunst, ihn oder
die Zukunft aus Zeichen zu erraten. - Immerhin ist fUr die andere, rein
kognitive Bedeutungskomponente bezeichnend, daß Aristotelcs in der
Schrift Peri hermeneias nur noch den logischen Sinn der Aussage meint, wenn
er den logos apophantikos behandelt. Entsprechend entwickelt sich dann im
späteren Griechentum der rein kognitive Sinn von hermeneia und hermeneus
und kann >gelehrte Erklärung, bzw. ,Erklärer, und ,Übersetzen bedeuten.
Freilich haftet der ,Hermeneutik, als Kunst immer noch die alte Herkunft aus
der Sakralsphäre24 ein wenig an: es ist die eine Kunst, deren Spruch man sich
als maßgeblich zu unterwerfen hat, bzw. die man bev,mndernd anerkennt,
weil sie Verschlossenes - fremde Rede oder gar die unausgesprochene Über-
zeugung eines andern - zu verstehen und darzulegen vermag. Es ist also eine
ars, auf deutsch: eine Kunstlehre, wie die Redekunst oder die Sehreibkunst
oder die Rechenkunst - mehr eine praktische Fertigkeit als eine >Wissen-
schaft<.
Das gilt selbst noch in so späten Nachklängen des alten Wortsinnes, wie sie
die neuere theologische und juristische Hermeneutik darstellen: sie sind eine
Art von >Kunst( oder sind mindestens solcher lKunst< als Mittel dienstbar
und schließen immer eine normative Kompetenz ein: nicht nur, daß die
Ausleger ihre Kunst verstehen, sondern daß sie Normatives - das göttliche
oder menschliche Gesetz - zum Ausdruck bringen.
Wenn wir heute von ,Hermeneutik( reden, stehen wir dagegen in der
Wissenschafts tradition der Neuzeit. Der ihr entsprechende Wortgebrauch
von )Hermeneutik< setzt genau damals ein, das heißt, mit der Entstehung des
modernen Methoden- und Wissenschaftsbegriffs. Jetzt ist immer eine Art
methodischer Bewußtheit impliziert. Man besitzt nicht nur die Kunst der
Auslegung, sondern weiß dieselbe theoretisch zu rechtfertigen. Die erste
Bezeugung des Buchtitels ,Hermeneutik< stammt aus dem Jahre 1654: bei
Dannhauer2S • Wir unterscheiden seither eine theologisch-philologische und
eine juristische Hermeneutik.
Theologisch bedeutet >Hermeneutik( die Kunst der rechten Auslegung
der Heiligen Schrift, die, an sich uralt, schon in patristischer Zeit zu metho-
discher Bewußtheit gefuhrt wurde, vor allem durch Augustin in ,De doctri-
na christiana<. Die Aufgabe einer christlichen Dogmatik \var durch die
Spannung zwischen der besonderen Geschichte desjüdischen Volkes, wie sie
23 Epinomis 975 c.
24 Photios, Bibl. 7; Plato, Ion 534 e; Legg. 907 d.
25 J. Dannhauer: Hcrmeneutica sacra sive mechodus exponendarum sacrarum littera-

rum (1654).
94 Vorstufen

das Alte Testament heilsgesehichtlich auslegt, und der universalistischen


Verkündigung Jesu im Neuen Testament bestimmt. Hier mußte methodi-
sche Reflexion helfen und Lösungen schaffen. Augustin lehrt in ,Oe doctrina
christiana< mit Hilfe neuplatonischer Vorstellungen den Aufstieg des Geistes
über den wörtlichen und den moralischen zum geistlichen Sinn. Damit löst
er das dogmatische Problem, indem er unter einem einheitlichen Gesichts-
punkt das antike hermeneutische Erbe zusammenfaßt.
Der Kern der antiken Hermeneutik ist das Problem der allegorischen
Interpretation. Diese ist an sich schon älter. Hyponoia, der Hintersinn, war
das ursprüngliche Wort rur allegorischen Sinn. Solche Auslegung wurde
schon im Zeitalter der Sophistik gepflegt, wie seinerzeit schon A. Tate
behauptet hatte und wie durch neuere Papyrostexte bestätigt wird. Der
geschichtliche Zusammenhang, der zugrunde liegt, ist deutlich: Von dem
Augenblick an, da die Wertewelt des homerischen Epos, das rur eine Adels-
gesellschaft gedacht war, ihre Verbindlichkeit einbüßte, wird eine neue
Deutungskunst rur die Überlieferung erforderlich. Das geschah mit der
Demokratisierung der Städte, deren Patriziat die Adelsethik übernommen
hatte. Der Ausdruck derselben war die Bildungsidee der Sophistik: Odys-
seus lief Achilles den Rang ab und nahm auch auf der Bühne nicht selten
sophistische Züge an. Die Allegorese wurde dann besonders in der helleni-
stischen Homer-Interpretation der Stoa zu einer universellen Methode aus-
gebildet. Die patristische Hermeneutik, die Origenes und Augustin zusam-
menfaßten, knüpfte daran an. Sie wurde im Mittelalter durch Cassian syste-
matisiert und zur Methode des vierfachen Schriftsinns entwickelt.
Einen neuen Impuls erhielt die Hermeneutik durch den reformatorischen
Rückgang zum Buchstaben der Heiligen Schrift, als die Reformatoren sich
polemisch gegen die Tradition der Kirchenlehre und deren Behandlung des
Textes mit den Methoden des mehrfachen Schriftsinnes richteten". Insbe-
sondere wurde nun die allegorische Methode verworfen, bzw. das allegori-
sche Verstehen auf die Fälle beschränkt, wo der Gleichnissinn - etwa in den
Reden Jesu - es eigens rechtfertigte. Ineins damit erwachte ein neues Metho-
denbewußtsein, das objektiv, objektgebunden, von aller subjektiven Will-
kür frei sein wollte. Doch bleibt das zentrale Motiv ein normatives: Es geht
in der theologischen wie auch in der humanistischen Hermeneutik der
Neuzeit um rechte Auslegung von solchen Texten, die das eigentlich Maß-
gebliche enthalten, das es zurückzugewinnen gilt. Insofern gehört zu der
Motivierung der hermeneutischen Anstrengung nicht so sehr, wie später bei

26 Vgl. K. Halls Untersuchungen zu Luthers Hermeneutik: Luthers Bedeutung ftir den


Fortschritt der Auslegungskunst (1920), und ihre Fortsetzung durch G. Ebeling: Ev.
Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik (1942); Die Anfange
von Luthers Hermeneutik, Z. Theol. Kirche 48 (1951); Hermeneutische Theologie? In:
Wort und Glaube Bd. 11, Tübingen 1969, S. 99-120.
Klassische und philosophische Hermeneutik 95
Schleiermacher, daß eine Überlieferung schwer verständlich ist und zu
Mißverständnissen Anlaß gibt, als vielmehr, daß sie zu neuem Verständnis
gebracht wird, indem eine bestehende Tradition durch Aufdeckung ihrer
verschütteten Ursprünge aufgebrochen oder verwandelt wird. Ihr verdeck-
ter oder entstellter Ur-Sinn soll wieder aufgesucht und erneuert werden.
Hermeneutik sucht überall im Rückgang zu den originalen Quellen ein
neues Verständnis fUr etwas zu gewinnen, das durch Verzerrung, Entstel-
lung oder Mißbrauch verdorben war - die Bibel durch die Lehrtradition der
Kirche, die Klassiker durch das barbarische Latein der Scholastik, das römi-
sche Recht durch regionale Rechtsübung usw. Dem sollte die neue Anstren-
gung gelten, nicht bloß richtiger zu verstehen, sondern Vorbildliches neu
geltend zu machen, im selben Sinne, wie wenn es sich um die Verkündung
einer Götterbotschaft, die Auslegung eines Orakelspruches oder eines zwin-
gend vorschreibenden Gesetzes handelt.
Neben dieser sachgerichteten Motivation der Hermeneutik wurde aber
im Beginn der Neuzeit auch eine formale wirksam, sofern das Methodenbe-
wußtsein der neuen Wissenschaft, die sich insbesondere der Sprache der
Mathematik bediente, auf eine allgemeine Auslegungslehre von Zeichen-
sprachen hindrängte. Um ihrer Allgemeinheit willen wurde sie als ein Teil
der Logik abgehandelt". Für das 18. Jahrhundert hat gewiß die Aufnahme
eines hermeneutischen Kapitels in die Logik Chr. Wolffs" die entscheidende
Rolle gespielt. Hier war ein logisch-philosophisches Interesse wirksam, das
der Grundlegung der Hermeneutik in einer allgemeinen Semantik zustrebte.
Der Grundriß einer solchen liegt uns zuerst bei Maier vor, der in Chlade-
nius 29 einen geistvollen Vorläufer hat. - Im allgemeinen blieb dagegen im
17. Jahrhundert die in Theologie und Philologie aufkommende Disziplin der
Hermeneutik fragmentarisch und diente mehr didaktischen als philo-
sophischen Zwecken. In pragmatischer Abzweckung hat sie zwar einige
methodische Grundregeln entwickelt, die sie größtenteils der antiken Gram-
matik und Rhetorik entnahm (Quintilian"'), blieb aber im ganzen nur eine
Sammlung von Stellenerklärungen, die das Verständnis der Schrift (oder, im
humanistischen Bereich, der Klassiker) aufschließen sollten. )Clavis(,
-Schlüssel<, ist der häufige Titel, z. B. bei Flacius".
Das begriffliche Vokabular der altprotestantischen Hermeneutik ent-

27 Vgl. die Darstellung von L. Geldsetzer in der Einleitung zum Neudruck von Georg

Friedrich Maier: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst (1965) bes. X ff.


28 ehr. Wolff: Philosophia rationalis sive logica (21732) 3. Teil, 3. Abschn. Kap. 6,7.

29 J. A. Chladenius: EinL zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften

(1742 - Neudruck 1970).


30 Quintilian, Institutio oratoria.
31 M. Flacius: Clavis scripturae sacrae (1567); vgl. auch De ratione cognoscendi sacras

litteras (Teil der Clavis), Neudruck 1968 dt.-lat.


96 Vorstufen

stammt durchweg der antiken Rhetorik. Melanchthons Umwendung der


rhetorischen Grundbegriffe auf das rechte Studium der Bücher (bonis auctori-
bus legendis), die ja auch in der spätantiken Rhetorik und ihrer Schriftlichkeit
ihr Vorbild hatte (Dionys von Halikarnass), war dafUr epochemachend. So
geht die Forderung, alles Einzelne aus dem Ganzen zu verstehen, auf das
Verhältnis von caput und membra zurück, das sich die antike Rhetorik zum
Vorbild nahm. Bei Flacius fUhrt dieses hermeneutische Prinzip freilich zu
höchst spannungs voller Anwendung, da die dogmatische Einheit des Ka-
non, die er gegen die Einzelauslegung der neutestamentlichen Schriften
ausspielte, den lutherischen Grundsatz des Schriftprinzips stark einschränkt.
Die paar allgemeinen hermeneutischen Regeln, die in Anlehnung an die
antike Rhetorik in diesen >Hcrmcneutiken< vorausgeschickt werden, recht-
fertigen gewiß nicht ein philosophisches Interesse an diesen Schriften.
Gleichwohl spiegelt sich in der Frühgeschichte der protestantischen Herme-
neutik bereits die tiefere philosophische Problematik, die erst in unserem
Jahrhundert voll aufbrechen sollte. Der lutherische Grundsatz >saaa scriptura
sui ipsius interpresl enthält zwar eine klare Absage an die dogmatische Tradi-
tion der römischen Kirche, aber da dieser Satz keineswegs einer naiven
Inspirationstheorie das Wort reden wollte und da insbesondere die Witten-
berger Theologie, der Bibelübersetzung des großen Gelehrten Luther fol-
gend, ein reiches philologisches und exegetisches Rüstzeug zum Einsatz
brachte, um die eigene Arbeit zu rechtfertigen, mußte die Problematikjeder
Interpretation auch die Berufung auf das sui ipsius interpres mitergreifen. Das
Paradox dieses Grundsatzes war allzu offenkundig, und es konnte nicht
ausbleiben, daß die Verteidiger der katholischen Lehrüberlieferung, das
tridentinische Konzil und das gegenreformatorische Schrifttum, die theore-
tische Schwäche desselben aufdeckten. Es war nicht zu leugnen: Die prote-
stantische Bibelexegese arbeitete auch nicht ohne dogmatische Leitlinien,
die teils in den >Glaubensartikeln< systematisch zusammengefaßt, teils in der
Auswahl der lori praecipui suggeriert wurden. Richard Simons Kritik an
Flacius 32 ist fur uns heute ein bezeichnendes Dokument fur die hermeneuti-
sche Problematik des >Vorverständnisses(, und es wird sich zeigen, daß darin
ontologische Implikationen stecken, die erst die Philosophie unseres Jahr-
hunderts sichtbar machte. Im Zusammenhang der Ablehnung der Lehre von
der Verbalinspiration sucht schließlich auch die theologische Hermeneutik
der frühen Aufklärung allgemeine Regeln des Verstehens zu gewinnen.
Insbesondere die historische Bibelkritik findet damals ihre erste Legitima-
tion. Spinozas theologisch-politischer Traktat \var das Hauptereignis. Seine
Kritik, beispielsweise am Wunder begriff, war durch den Anspruch der

32 R. Simon: Histoire critiquedu texte du nouveau testament (1689); Dc l'inspirationdes


livres sacres (1687).
Klassische und philosophische Hermeneutik 97

Vernunft legitimiert, nur Vernünftiges, d. h. Mögliches anzuerkennen. Sie


war nicht nur Kritik. Sie enthielt zugleich eine positive Wendung, sofern das
in der Schrift, woran die Vernunft Anstoß nimmt, eine natürliche Erklärung
erheischt. Das fuhrt zu der Wendung ins Historische, d. h. zur Wendung von
den angeblichen (und unverständlichen) Wundergeschichten zu dem (ver-
ständlichen) Wunderglauben. B
Ihrer negativ-aufklärerischen Wirkung tritt die pietistische Hermeneutik
entgegen, die seit A. H. francke die erbauliche Anwendung mit der Ausle-
gung der Texte aufs engste verknüpfte. Hier strömt die Tradition der antiken
Rhetorik und ihrer Lehre von der Rolle der Affekte ein, insbesondere rur die
Lehre von der Predigt (sermo), die im protestantischen Kult eine neue, große
Rolle bekommen hatte. Die einflußreiche Hermeneutik von].]. Rambach"
stelIre ausdrücklich neben die 5ubtilitas intelligendi und explicandi die subtilitas
appliCatldi, was gewiß dem Sinn der Predigt entsprach. Der wohl aus der
humanistischen Wettbewerbsgesinnung stammende Ausdruck subtilitas
(Feinheit) deutet auf elegante Weise an, daß die .Methodik. der Auslegung-
wie alle Anwendung von Regeln überhaupt- Urteilskraft verlangt, die nicht
selber wieder durch Regeln gesichert werden kann". Das sollte fur die
Anwendung der Theorie auf die hermeneutische Praxis eine dauernde Ein-
schränkung bedeuten. Obendrein sucht die Hermeneutik als theologische
Hilfsdisziplin auch im späteren 18. Jahrhundert noch beständig den Aus-
gleich mit dem dogmatischen Interesse (z. B. bei Ernesti, Semlcr).
Erst Schleiermacher löst (angeregt durch F. Schlegel) die Hermeneutik als
eine universale Lehre des Verstehens und Auslegens von allen dogmatischen
und okkasionellen Momenten ab, die bei ihm nur anhangsweise in einer
speziellen biblischen Wendung zu ihrem Rechr kommen. Er verteidigre mit
seiner hermeneutischen Theorie die Wissenschaftlichkeit der Theologie,
und das insbesondere gegen die Inspirationstheologie, die die methodische
Verifizierbarkeit des Verstehens der Heiligen Schrift mit Mitteln der Text-
exegese, der historischen Theologie, der Philologie usw. grundsätzlich in
Frage stellte. Aber im Hintergrunde der Schleiermachersehen Konzeption
einer allgemeinen Hermeneutik stand nicht nur ein solches theologisch-
wissenschaftspolitisches Interesse, sondern ein philosophisches Motiv. Ei-
ner der tiefsten Antriebe des romantischen Zeitalters war der Glaube an das
Gespräch als eine eigene, undogmatische und durch keine Dogmatik ersetz-
bare Wahrheitsquelle. Hatten Kant und Fichte in der Spontaneität des .Ich
denke< das oberste Prinzip aller Philosophie ausgezeichnet, so setzte sich in
der durch glühende Freundschaftspflege ausgezeichneten romantischen Ge-
3J [Vgl. meine kritische Erörterung von Strauss' Spinoza-Interpretation in )Hermeneu-

tik und Historismus<, hier S. 414ff.]


34 J. J. Rambach: fnstitutioncs hermencuticac sacrae (1723).

" Vgl. KaHt. KdU ('1799) VlI.


98 Vorstufen

neration der Schlegel und Schleiermacher dieses Prinzip in eine Art Meta-
physik der Individualität um. Die Unaussagbarkeit des Individuellen lag
ja auch der Wendung zur geschichtlichen Welt zugrunde, die mit dem
Traditionsbruch des Revolutionszeitalters ins Bewußtsein trat. Fähigkeit
zur Freundschaft, Fähigkeit zum Gespräch, zum Brief, zur Kommunika-
tion überhaupt - all diese Züge des romantischen Lebensgeftihls kamen
dem Interesse arn Verstehen und Mißverstehen entgegen, und so bildete
diese menschliche Urerfahrung in Schleiermachers Hermeneutik den me-
thodischen Ausgangspunkt. Von ihm aus stellte sich Verstehen von Tex-
ten, von fremden, fernen, umdunkelten und zu Schrift erstarrten Geistes-
spuren, d. h. die lebendige Auslegung von Literatur und insbesondere der
Heiligen Schrift, als spezielle Anwendungen dar.
Freilich, Schleiermachers Hermeneutik ist durchaus nicht ganz frci von
der etwas schulstaubigen Luft der älteren hermeneutischen Literatur - wie
ja auch sein eigentlich philosophisches Werk etwas im Schatten der ande-
ren großen idealistischen Denker steht. Er hat weder die zwingende Kraft
Fichtescher Deduktion, noch Schellings spekulative Eleganz, noch auch
die körnige Eigensinnigkeit von Hegels Begriffskunst - er war ein Red-
ner, auch wo er philosophierte. Seine Bücher sind mehr die Merkzettel
eines Redners. Insbesondere seine Beiträge zur Hermeneutik sind stark
beschnitten, und was hermeneutisch am meisten interessiert, seine Be-
merkungen über Denken und Sprechen, stehen überhaupt nicht in der
)Hermeneutik<, sondern in seiner Dialektik-Vorlesung. Auf eine brauch-
bare kritische Ausgabe der Dialektik warten wir aber noch immer Uffi-
sonst36 , Der normative Grundsinn der Texte, der der hermeneutischen
Bemühung ursprünglich ihren Sinn gab, tritt bei Schleiermacher in den
Hintergrund. Verstehen ist reproduktive Wiederholung der ursprüngli-
chen gedanklichen Produktion aufgrund der Kongenialität der Geister. So
lehrte Schleiermacher auf dem Hintergrund seiner metaphysischen Kon-
zeption von der Individualisierung des All-Lebens. Die Rolle der Sprache
tritt damit hervor, und das in einer Form, die die gelehrtenhafte Ein-
schränkung auf das Schriftliche grundsätzlich überwand. - Schleierma-
chers Begründung des Verstehens auf das Gespräch und die zwischen-
menschliche Verständigung bedeutete insgesamt eine Tieferlegung der
Fundamente der Hermeneutik, aber so, daß sie die Errichtung eines auf
hermeneutischer Basis errichteten Wissenschaftssystems gestattete. Die
Hermeneutik wurde zur Grundlage fur alle historischen Geisteswissen-
schaften, nicht nur fur die Theologie. Die dogmatische Voraussetzung des
>maßgeblichen< Textes, unter der das hermeneutische Geschäft, sowohl
das des Theologen wie das des humanistischen Philologen (von dem des

36 [G. Vattimo, Schleiermacher filosofo deli' interpretazione. Milano 1968]


Klassische und philosophische Hermeneutik 99
Juristen gar nicht zu reden), seine ursprüngliche Funktion der Vermittlung
hatte, ist nun verschwunden. Damit hat der Historismus freie Bahn.
Insbesondere die psychologische Interpretation wurde in der Nachfolge
Schleiermachers, gestützt durch die romantische Lehre vom unbewußten
Schaffen des Genies, die immer entschiedenere theoretische Basis der Gei-
steswissenschaften insgesamt. Das zeigt sich höchst lehrreich bereits bei
Steinthal 37 und fUhrt bei Dilthey zu einer systematischen Neubegründung
der Idee der Geisteswissenschaften auf eine) beschreibende und zergliedern-
de Psychologie<. Schleiermacher liegt freilich noch nicht die eigentliche
philosophische Begründung der historischen Wissenschaften am Herzen. Er
gehört vielmehr selber in den Denkzusammenhang des von Kant und Fichte
begründeten transzendentalen Idealismus. Insbesondere Fichtes >Grundlage
der gesamten Wissenschaftslehre< kam an epochaler Bedeutung fast der
>Kritik der reinen Vernunft< gleich. Wie schon der Titel andeutet, handelt es
sich hier um die Ableitung allen Wissens aus einem einheitlichen >obersten
Grundsatz< oder Prinzip, der Spontaneität der Vernunft (.Tathandlung< sagte
Fichte anstelle von >Tatsache<), und diese Wendung vom kantischcn )kriti-
sehen< zum >absoluten< Idealismus liegt allen Späteren zugrunde, Schiller
und Schleiermacher, Schelling, Friedrich Schlegel und Wilhe1m von Hum-
boldt - bis hin zu Boeckh, Ranke, Droysen und Dilthey. Daß die .historische
Schule< trotz ihrer Ablehnung der aprioristischen Konstruktion der Weltge-
schichte im Stile Fichtes und Hegels gleichwohl die theoretischen Grundla-
gen der idealistischen Philosophie teilt, ist insbesondere von Erich Rothak-
ker 38 nachgewiesen worden. Sehr einflußreich wurden die Vorlesungen des
berühmten Philologen August Boeckh über .Enzyklopädie der philologi-
schen Wissenschaften<. Boeckh bestimmte dort die Aufgabe der Philologie
geradezu als das )Erkennen des Erkannten<. Damit war eine gute Formel fur
den Sekundärcharakter der Philologie gefunden. Der normative Sinn der
klassischen Literatur, der im Humanismus neu entdeckt worden war und
primär imitatio motivierte, war zu historischer Indifferenz verblaßt. Von der
Grundaufgabe solchen) Verstehens< her differenzierte Boeckh die verschie-
denen Interpretationsweisen in die grammatische, die literarisch-gattung-
hafte, historisch-reale und die psychologisch-individualc. Dilthey knüpfte
hier mit seiner verstehenden Psychologie an.
Freilich hatte sich insbesondere durch den Einfluß der >induktiven Logik<
von J. St. Mill die >erkenntnistheoretische< Orientierung inzwischen verän-
dert, und wenn Dilthey auch gegen die aufHerbarts und Fechners Basis sich
ausbreitende experimentelle Psychologie die Idee einer >verstehenden< Psy-
chologie verteidigte, teilte er doch den generellen Standpunkt der .Erfah-

37 H. SteinthaI: Einl. in die Psychol. und Sprachwiss. (1881).


3Il [Einleitung in die Geisteswissenschaften. Tübingen 1920]
100 Vorstufen

rung(, freilich in der auf den ,Satz des Bewußtseins< und den Erlebnisbegriff
gegründeten Form. Auch bedeutete ftir ihn der geschichtsphilosophische, ja
geschichtstheologische Hintergrund, auf dem sich die geistvolle Historik
des Historikers J. G. Droysen erhob, sowie die strenge Kritik, die sein
Freund, der spekulative Lutheraner Yorck von Wartenburg, an dem naiven
Historismus des Zeitalters übte, eine beständige Mahnung. Beides hat dazu
beigetragen, daß sich in der späteren Entwicklung Diltheys etwas Neues
Bahn brach. Der Erlebnisbegriff, der bei ihm die psychologische Grundlage
der Hermeneutik gebildet hatte, wurde durch die Unterscheidung von
Ausdruck und Bedeutung ergänzt, teils unter dem Eindruck der Psycholo-
gismuskritik Husserls (in den >Prolegomena( zu seinen >Logischen Untersu-
chungen<) und durch seine platonisicrende Bedeutungstheorie, teils im Wie-
deranschluß an Hegels Theorie des objektiven Geistes, die sich Dilthey vor
allem durch seine Studien zur Jugendgeschichte Hegels aufgeschlossen hat-
te". - Das trug im 20. Jahrhundert seine Früchte. Diltheys Arbeiten wurden
fortgesetzt von G. Misch, B. Groethuyscn, E. Spranger, Th. Litt, J. Wach,
H. Freyer, E. Rothacker, O. Bollnow u. a. Die Summe der idealistischen
Tradition der Hermeneutik von Schleiermacher bis zu Dilthey und über ihn
hinaus wurde von dem Rechtshistoriker E. Bctti 40 gezogen.
Dilthey selbst ist freilich mit der Aufgabe nicht wirklich zu Rande gekom-
men, die ihn quälte, das )historische Bewußtsein< mit dem Wahrheits an-
spruch der Wissenschaft theoretisch zu vermitteln. E. Troeltschs Formel
~Von der Relativität zur Totalität<, die die theoretische Lösung des Relativis-
musproblems im Sinne Diltheys darstellen sollte, blieb, wie Troeltsehs
eigenes Werk, im Historismus stecken, den es zu überwinden galt. Bezeich-
nend, daß Troeltsch auch in seinem dreibändigen Historismuswerk inlmer
wieder in (glanzvolle) historische Exkurse abschweift. Dilthey umgekehrt
suchte hinter alle Relativität auf ein Konstantes zurückzugehen und entwarf
eine höchst einflußreiche Typenlehre der Weltanschauungen, der der Mehr-
seitigkeit des Lebens entsprechen sollte. Das war nur in sehr bedingtem
Sinne eine Überwindung des Historismus. Denn die bestimmende Grundla-
ge dieser wie jeder solchen Typenlehre war der Begriff der ,Weltanschau-
ung<, d. h. aber einer nicht weiter hintergehbaren )Bewußtseinsstcllung<, die
man nur beschreiben und mit anderen Weltanschauungen vergleichen konn-
te, aber als eine )Ausdruckserscheinung des Lebens( geltcn lassen mußtc.
Daß ein ,Erkennenwollen durch Begriffe<, also der Wahrheitsanspruch der
Philosophie, zugunstcn des )historischen Be\vußtseins< aufzugeben sei, war
die selber unreflektierte dogmatische Voraussetzung Diltheys und ist durch

39 W. Dilthey: Ges. Schriften Bd. 4,8. Inzwischen auch Bd. 18,19.


40 E. Betti: Zur Grundlegung einer allg. Auslegungslchre (1954); Allg. Auslegungsleh-
re als Methodik der Geisteswiss. (1967).
Klassische und philosophische Hermeneutik 101

eine Welt geschieden von Fichtes viel mißbrauchtem Wort )Was für eine
Philosophie man wählt, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist~~41, ein
Wort, das ein eindeutiges Bekenntnis zum Idealismus darstellt.
Das sollte sich an Diltheys Nachfolgern zeigen: Die pädagogisch-anthro-
pologischen, psychologischen, soziologischen, kunsttheoretischen, histori-
schen Typenlehren, die sich damals ausbreiteten, demonstrierten ad oculos,
daß ihre Fruchtbarkeit jeweils von der geheimen Dogmatik abhing, die
ihnen zugrunde lag. An allen diesen Typologien von Max Weber, Spranger,
Litt, Pinder, Kretschmer, Jaensch, Lersch usw. zeigte sich, daß sie einen
begrenzten Wahrheits wert hatten, aber denselben einbüßten, sowie sie die
Totalität aller Erscheinungen erfassen, d. h. vollständig sein wollten. Solcher
)Ausbaw einer Typologie ins Allumfassende bedeutet aus Wesensgründen
ihre Selbstauflösung, d. h. den Verlust ihres dogmatischen Wahrheitskerns.
Selbst Jaspers' >Psychologie der Weltanschauungen, war von dieser Pro-
blematik aller Typologie in der Nachfolge von Max Weber und Dilthey
durchaus noch nicht so frei, wie es seine lPhilosophie< später verlangte (und
erreichte). Das Denkmittel der Typologie ist in Wahrheit nur von einem
extrem nominalistischen Standpunkt aus legitimierbar. Sogar Max Webers
nominalistische Radikalität der Selbstaskese kannte ihre Grenzen und er-
gänzte sich durch das völlig irrationale, dezisionistische Zugeständnis, daß
einjeder )seinen Gott~ wählen müsse, dem er folgen wolle. 42
Die theologische Hermeneutik der mit Schleiermachers al1gemeiner
Grundlegung beginnenden Epoche ist auf ähnliche Weise in ihren dogmati-
schen Aporien steckengebliebcn. Schon der Herausgeber der Schleierma-
chersehen Hermeneutik-Vorlesungen, Lücke, hatte das theologische Mo-
ment in ihnen stärker akzentuiert. Die theologische Dogmatik des 19. Jahr-
hunderts kehrte im ganzen zu der altprotestantischen Problematik der Her-
meneutik zurück, die mit der regula fidei gegeben war. Ihr stand die an aller
Dogmatik Kritik übende historische Forderung der liberalen Theologie
entgegen und fUhrte zu zunehmender Indifferenz gegenüber der theologi-
schen Sonderaufgabe. Daher gab es im Zeitalter der liberalen Theologie im
Grunde keine spezifisch theologische hermeneutische Problematik.
Insofern war es ein epochales Ereignis, als im Durchgang durch den
radikalen Historismus und unter dem Anstoß der dialektischen Theologie
(Barth, Thurneysen) die hermeneutische BesinnungR. Bultmanns, dieinder
Parole der Entmythologisierung münden sollte, eine echte Vermittlung
zwischen historischer und dogmatischer Exegese begründete. Das Dilemma
zwischen historisch-individualisierender Analyse und Weitertragung des Ke-
rygma bleibt freilich theoretisch unlösbar, Bultmanns Begriff des >Mythos<

41 J. G. Fichte: Werke, hg. I. H. Fichte (1845/48) 1, 434.


42 Vgl. D. Henrich: Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers (1952).
102 Vorstufen

erwies sich rasch als eine höchst voraussetzungsvolle Konstruktion auf dem
Boden der modernen Aufklärung. Er verneinte den Wahrheitsanspruch, der
in der Sprache des Mythos inkorporiert sei - eine hermeneutisch höchst
einseitige Position. Die Debatte über die Entmythologisierung, wie sie G.
Bornkamm mit großer Sachkunde dargestellt hat", bleibt jedoch von ho-
hem allgemeinem hermeneutischem Interesse, sofern in ihr die alte Span-
nung von Dogmatik und Hermeneutik in zeitgenössischer Modifikation
wieder aufgelegt ist. Bultmann hatte seine theologische Selbstbesinnung
vom Idealismus weg und in die Nähe des Denkens von Heidegger gerulirt.
Darin wirkte sich der Anspruch aus, den Kar! Barth und die dialektische
Theologie erhoben, indem sie die ebenso menschliche wie theologische
Problematik des }Redens über Gott< bewußt machten. Bu1tmann suchte eine
)positive<, d. h. methodisch zu rechtfertigende, nichts Von den Errungen-
schaften der historischen Theologie preisgebende Lösung. Heideggers Exi-
stenzialphilosophie von )Sein und Zeit( schien ihm in dieser Lage eine
neutrale, anthropologische Position anzubieten, von der aus das Selbstver-
ständnis des Glaubens eine ontologische Begründung erfuhr"'. Die Zukünf-
tigkeit des Daseins im Modus der Eigentlichkeit und auf der Gegenseite das
Verfallen an die Welt ließen sich theologisch durch die Begriffe von Glauben
und Sünde ausdeuten. Das war zwar nicht im Sinne der Hcideggerschen
Exposition der Seinsfrage, sondern eine anthropologische Umdeutung.
Aber die universelle Relevanz der Gottesfrage flir die menschliche Existenz,
die Bultmann auf die )Eigentlichkeit< des Seinkönnens begründete, braclite
einen wirklichen hermeneutisclien Gewinn. Er lag vor allem in dem Begriff
des Vorverständnisses - von dem reichen exegetischen Ertrag solcher her-
meneutischen Bewußtheit ganz zu schweigen.
Heideggers philosophischer Neuansatz zeitigte aber nicht nur in der
Theologie positive Wirkungen, sondern vermochte vor allem die relativisti-
sche und typologische Erstarrung zu brechen, die in der Schule Diltheys
herrschte. G. Misch kommt das Vl·rdienst zu, durch Konfrontation von
Husser! und Heidegger mit Dilthey die philosophischen Impulse Diltheys
neu freigesetzt zu haben 45 • Auch wenn seine Konstruktion des lebensphilo-
sophischen Ansatzes Diltheys einen letzten Gegensatz zu Heidegger fixiert-
rur Heideggers Ausarbeitung seiner Philosophie war Diltlieys Rückgang
hinter das )transzendentale Bewußtsein( auf den Standpunkt des )Lebens(
eine wichtige Stütze. Die von G. Misch u. a. veranstaltete Ausgabe der

4J G. Bornkamm: Die Theologie Rudolf Bultmanns in der neueren Diskussion, in:

Theol. Rdsch. NF 29 (1963) H.1/2, S. 33-141.


44 Über die Fragwürdigkeit einer solchen >neutralen< Inanspruchnahme der Existenzial-
philosophie: K. Löwith, Grundzüge der Entwicklung der Phänomenal. zur Philos. und
ihr Verhältnis zur protestantischen Theologie, Theol. Rdsch. (1930) 26ff. und 333ff.
45 G. Misch: Phänomenologie und Lebensphilosophie (1929).
Klassische und philosophische Hermeneutik 103
vielen verstreuten Abhandlungen Diltheys in den Bänden V-VIII, SOWle
Mischs kundige Einleitungen machten Diltheys philosophische Arbeit, die
von seinen historischen Leistungen überschattet gewesen v..'ar, in den zwan-
ziger Jahren erstmals sichtbar. Indem die Ideen Diltheys (und Kierkegaards)
in die Grundlegung der Existenzialphilosophie eingingen, erfuhr das herme-
neutische Problem seine philosophische Radikalisierung. Damals bildete
Heidegger den Begriff einer lHermencutik der Faktizität1 und formulierte
damit gegen die phänomenologische Wesens ontologie Husserls die parado-
xe Aufgabe, das >Unvordenkliche' (Schelling) der >Existenz, dennoch auszu-
legen, ja Existenz selber als }Verstehen< und lAuslegung<, nämlich als Sich-
Entwerfen auf die Möglichkeiten seiner selbst, zu interpretieren. Hier war
ein Punkt erreicht, an dem sich der instrumentalistische Methodensinn des
hermeneutischen Phänomens ins Ontologische kehren mußte. >Verstehen<
meint nicht mehr ein Verhalten des mensch1ichen Denkens unter anderen,
das sich methodisch disziplinieren und zu einem wissenschaftlichen Verfah-
ren ausbilden läßt, sondern macht die Grundbewegtheit des menschlichen
Daseins aus. Die Charakterisierung und Akzentuierung, die Heidegger dem
Verstehen verliehen hat, indem er es als die Grundbewegung der Existenz
verstand, mündet so in den Begriff von Interpretation, der in seiner theoreti-
schen Bedeutung vor allem von Nietzsche entwickelt worden ist. Diese
Entwicklung beruht auf dem Zweifel gegenüber den Aussagen des Selbstbe-
wußtseins, wie Nietzsche ausdrücklich sagt, es müsse besser gezweifelt
werden als Descartes. 46 Das Resultat dieses Zweifels ist in Nietzsche eine
Veränderung des Sinnes von Wahrheit überhaupt, so daß der Prozeß der
Interpretation eine Form des Willens zur Macht wird und damit ontologi-
sche Bedeutung gewinnt.
Nun scheint mir, daß ein ähnlicher ontologischer Sinn im20. Jahrhundert
dem Begriff der Geschichtlichkeit zugeteilt worden ist, sowohl bcimjungen
Heidegger wie bei Jaspers. Die Geschichtlichkeit ist nicht länger eine Grenz-
bestimmung der Vernunft und ihres Anspruchs, die Wahrheit zu erfassen,
sondern stellt vielmehr eine positive Bedingung rur die Erkenntnis der
Wahrheit dar. Dadurch verliert die Argumentation des historischen Relati-
vismus jedes wirkliche Fundament. Ein Kriterium rur absolute Wahrheit
verlangen enthüllt sich als ein abstrakt-metaphysisches Idol und verliert jede
methodologische Bedeutung. Die Geschichtlichkeit hört auf, das Gespenst
des historischen Relativismus heraufzurufen, vor dem noch Husserls Pro-
gramm-Aufsatz von )Philosophie als strenge Wissenschaft( so leidenschaft-
lich gewarnt hatte.
In diese neue Orientierung fUgt sich vor allem und höchst wirksam der
erneuerte Einfluß des Denkens von Kierkegaard ein, der nach dem Vorgang

" KGW VIII3, 40 [25]; Vgl. auch 40 [10], [20].


104 Vorstufen

VOll Unamuno und anderen eine neue Kritik am Idealismus inspirierte und
den Gesichtspunkt des Du, des anderen Ich, entwickelte. So bei Theodor
Haecker, Friedrich Gogarten, Eduard Griesebach, Ferdinand Ebner, Martin
Buber, KarlJaspers, Viktor von Weizsäcker und auch in dem Buch von Kar!
Löwith ,Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen< (München 1928).
Auch die geistvolle Dialektik, durch die E. Betti das Erbe der romanti-
schen Hermeneutik im Zusammenspiel von Subjektivem und Objektivem
zu rechtfertigen suchte, mußte unzureichend erscheinen, nachdem ~Sein und
Zeit< die ontologische Vorgreiflichkeit des Subjekt begriffs gezeigt und voll-
ends, als der spätere Heidegger im Denken der )Kehrc( den Rahmen der
transzendentalphilosophischen Reflexion gesprengt hatte. Das >Ereignis<
der Wahrheit, die den Spielraum von Entbergung und Ver bergung bildet,
gab allem Entbergcn - auch dem der verstehenden Wissenschaften - eine
neue ontologische Valenz. Damit wurde eine Reihe neuer Fragen an die
traditionelle Hermeneutik möglich.
Die psychologische Grundlage der idealistischen Hermeneutik erwies sich
als problematisch: Erschöpft sich der Sinn eines Textes wirklich in dem
>gemeinten< Sinn (mens auctoris)? Ist Verstehen nichts als die Reproduktion
einer ursprünglichen Produktion? Daß das ftir die juristische Hermeneutik,
die eine offenkundige rechtsschöpferische Funktion ausübt, nicht gelten
kann, ist klar. Aber das pflegte man auf die Seite ihrer normativen Aufga-
benstellung zu schieben und als eine praktische Anwendung anzusehen, die
nichts mit ,Wissenschaft< zu tun habe. Der Begriff der Objektivität der
Wissenschaft verlange das Festhalten an dem Kanon, der durch die mens
aucton's gebildet wird. Aber kann er wirklich genügen? Wie ist es z. B. bei der
Auslegung von Kunstwerken (die beim Regisseur, beim Dirigenten und beim
Übersetzer selber noch die Gestalt einer praktischen Produktion hat)? Kann
man denn leugnen, daß der reproduzierende Künstler die originale Schöp-
fung }interpretiert< - und nicht einfach eine Neuschöpfung daraus macht?
Wir unterscheiden sehr genau zwischen angemessenen und mnerlaubtenl
oder )stilwidrigen< reproduktiven Interpretationen von musikalischen oder
dramatischen Werken. Mit welchem Rechte will man diesen reproduktiven
Sinn von Interpretation von dem der Wissenschaft abscheiden? Geschieht
eine solche Reproduktion nachtwandlerisch und ohne Wissen? Der Sinnge-
halt der Reproduktion ist nicht auf das zu beschränken, was einer bewußten
Sinnverleihung durch den Verfasser entstammt. Die Selbstinterpretation der
Künstler ist bekanntlich von fragwürdiger Geltung. Der Sinn ihrer Schöp-
fung stellt gleichwohl der praktischen Interpretation eine eindeutige Appro-
ximationsaufgabe. Die Reproduktion ist durchaus nicht beliebiger Willkür
überlassen, so wenig wie die von der Wissenschaft unternomnlene Ausle-
gung.
Und wie ist es mit dem Sinn und der Deutung geschichtlicher Ereignisse?
Klassische und philosophische Hermeneutik 105

Das Bewußtsein der Zeitgenossen ist dadurch gezeichnet, daß sie, die die
Geschichte >erlcben1, nicht wissen, wie ihnen geschieht. Dagegen hielt Oil-
they an der systematischen Konsequenz seines Begriffes des Erlebnisses bis
zum Schluß fest, wie das Modell der Biographie und Autobiographie flir
Diltheys Theorie des geschichtlichen Wirkungs zusammenhangs lehrt".
Auch die geistvolle Kritik des positivistischen Methodenbewußtseins durch
R. G. Collingwood", die sich im übrigen des dialektischen Instrumenta-
riums des Croceschen Hegclianismus bedient, bleibt mit ihrer Lehre vom
reenactment in subjektivistischer Problcmverengung befangen, wenn sie als
Modellfall flir geschichtliches Verstehen den Nachvollzug ausgeruhrtcr Plä-
ne zugrunde legt. Da war Hegel konsequenter. Sein Anspruch, die Vernunft
in der Geschichte zu erkennen, hatte seine Begründung in einem BegritT des
)Geistes<, zu dessen Wesen es gehört, daß er )in die Zeit fillt< und aus seiner
Geschichte allein seine inhaltliche Bestimmtheit gewinnt. Wohl gab es auch
fur Hegel die >weltgeschichtlichen Individuen" die er als >Geschäftsträger
des Weltgeistes< auszeichnete und deren persönliche Entschlüsse und Leiden-
schaften mit dem übereinstimmten, "\vas )an der Zeit war<. Aber diese
Ausnahmefalle definierten flir ihn nicht den Sinn des geschichtlichen Vers tc-
hens, sondern wurden ihrerseits von dem Begreifen des geschichtlich Not-
wendigen her, das der Philosoph vollbringt, als Ausnahmen definiert. Der
Ausweg, dem Historiker Kongenialität mit seinem Gegenstande zuzumu-
ten, den schon Schlciermacher beschritten hatte, fuhrt offenkundig nicht
wirklich weiter. Darin wäre die Weltgeschichte in ein ästhetisches Schauspiel
verwandelt. Das hieße den Historiker einerseits überfordern und dann auch
wieder seine Aufgabe unterschätzen, die den eigenen Horzont mit dem der
Vergangenheit zu konfrontieren hat.
Und wie steht es mit dem kerygmatischen Sinn der Heiligen Schrift? Hier
fuhrt sich der Begriff der Kongenialität vollends ad absurdum, indem er das
Schreckbild der Inspirationstheorie heraufbeschwört. Aber auch die histori-
sche Exegese der Bibel stößt hier an Grenzen, insbesondere am Leitbegriff
des >Selbstverständnisses< der Schriftsteller der Heiligen Schrift. Ist der
Heilssinn der Schrift nicht notwendig etwas anderes als das, was sich durch
die bloße Summierung der theologischen Anschauungen der Schriftsteller
des Neuen Testamentes ergibt? So verdient die pietistische Hermeneutik (A.
H. Franckc, Rambach) in dem Punkte noch immer Beachtung, daß sie in
ihrer Auslegungslehre zu dem Verstehen und Explizieren die Applikation
hinzuftigte und damit den Gegenwartsbezug der )Schrift< auszeichnete. Hier
liegt das Zentralmotiv einer Hermeneutik verborgen, die die Geschichtlich-
keit des Menschen wirklich ernst nimmt. Dem trägt ge"\viß auch die idealisti-

47 Vgl. Dilthey. a.a.O. Bd. 8.


48 R. G. Colling\'iOod: Denken Eine Autobiographie (1955).
106 Vorstufen

sehe Hermeneutik Rechnung, insbesondere E. Bctti durch den ,Kanon der


Sinnentsprechung<. Doch scheint erst die entschlossene Anerkennung des
Begriffs des Vorverständnisses und des Prinzips der Wirkungsgeschichte,
bzw. die Entfaltung des wirkungsgeschichtlichen Bc\vußtseins, eine zurei-
chende methodische Basis zu bieten. Der Kanonbegriff der neutestamentli-
chen Theologie findet darin als ein Spezialfall seine Legitimation. Auch die
theologische Bedeutung des Alten Testaments läßt sich schwerlich rechtfet-
tigen, wenn man an der mens auctoris als Kanon festhält, wie vor allem die
große positive Leistung G. v. Rads beweist, die die Enge dieser Perspektive
hinter sich läßt. Es entspricht dieser Sachlage. daß die neueste Diskussion der
Hermeneutik auch auf die katholische Theologie übergegriffen hat (Stachel.
Biser, Coreth)".
In der Theorie der Literatur wird Ähnliches, z. T. unter dem Titel ,Rczep-
tionsästhetik( Oauss, Iser, Gerigk) vertreten. Doch ist gerade auf diesem
Gebiet auch der Widerstand der auf Methodologie fixierten Philologie laut
geworden (D. Hirsch, Th. Secbohm)''', die für die Objektivität der For-
schung fürchtet.
Im Lichte dieser Frage gewinnt die ehrwürdige Tradition der juristischen
Hermeneutik ein neues Leben. Innerhalb der modernen Rechtsdogmatik
konnte sie nur eine kümmerliche Rolle spielen, gleichsam als der nie ganz
vermeidbare Schandfleck an einer sich selbst vollendenden Dogmatik. Im-
merhin ließ sich nicht verkennen: Sie ist eine normative Disziplin und
versieht die dogmatische Funktion der Rechtsergänzung. Als solche erfüllt
sie eine unentbehrliche Aufgabe. weil sie den unaufhebbaren Hiat zwischen
der Allgemeinheit des gesetzten Rechts und der Konkretion des Einzelfalls
zu überbrücken hat. Insofern hat schon Aristoteles in der Nikomachischen
Ethik bei Erörterung des Problems des Naturrechts und des Begriffs der
epieikeia den hermeneutischen Raum innethalb der Rechtslehre abgesteckt.
Auch die Rückbesinnung auf ihre Geschieht<:'! zeigt, daß das Problem det
verstehenden Auslegung auf unlösliche Weise mit dem der Anwendung
verknüpft ist. Solche Doppelaufgabe war der Rechtswissenschaft insbeson-
dere seit der Rezeption des römischen Rechts gestellt. Damals galt es nicht
nur, die römischen Juristen zu verstehen, sondern zugleich die Dogmatik
des römischen Rechtes auf die neuzeitliche Kulturwclt anzuv·.rendcn52 . Da-
49 G. Stachel: Die neue Hermeneutik (1967): E. Biser: Theologische Sprachtheorie und

Hermeneutik (1970); E. eorerh: Grundfragen der Hermeneutik (1969).


50 H. R. Jauss: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwiss. (1970) und Ästhe-

tische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt 1977; W. her, Die


Appellstruktur der Texte (1970) und Der implizite Leser, München 1972; E. D. Hirsch:
Validity in Interpretation (1967); Th. Seebohm: Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft
(1972).
51 Vgl. C. Fr. Walch: Vorwort zur >Hcrmeneutica1urisj von C. H. Eckard (1779).

~2 Vgl. u. a. P. Koschaker: Europa und das römische Recht (31958).


Klassische und philosophische Hermeneutik 107

raus erwuchs der Rechtswissenschaft eine nicht minder enge Bindung der
hermeneutischen an die dogmatische Aufgabe, als sie der Theologie aufer-
legt ist. Eine Auslegungslehre des römischen Rechts konnte sich aufhistori-
sche Verfremdung mindestens so lange nicht einlassen, als das römische
Recht seine gesetzliche Rechtsgeltung behielt. Die Auslegung des römischen
Rechts von Thibaut 1806·;; sieht es daher als eine Selbstverständlichkeit an,
daß die Auslegungslehre sich nicht allein auf die Absicht des Gesetzgebers
stützen kann, sondern den }Grund des Gesetzes< zum eigentlichen herme-
neutischen Kanon erheben muß.
Mit der Schaffung moderner Gesetzeskodifikationen mußte dann die
klassische Hauptaufgabe, die Auslegung des römischen Rechts, ihr dogma-
tisches Interesse im praktischen Sinne verlieren und zugleich zum Glied einer
rechtsgeschichtlichen Fragestellung werden. So konnte sie sich als Rechtsge-
schichte dem Methodengedanken der historischen Wissenschaften vorbe-
haltlos einordnen. Umgekehrt wurde die juristische Hermeneutik als eine
subsidiäre Disziplin der Rechtsdogmatik neuen Stils an den Rand der Juris-
prudenz gewiesen. Aber das grundsätzliche Problem der }Konkretisierung
im Recht<" bleibt bestehen, und das Verhältnis von Rechtsgeschichte und
normativer Wissenschaft ist weit komplizierter, als daß die Rechtsgeschichte
die Hermeneutik ersetzen könnte. Die geschichtliche Aufklärung über die
historischen Umstände und die tatsächlichen Erwägungen des Gesetzgebers
vor oder bei Erlaß eines Gesetzestextes mögen hermeneutisch noch so
aufschlußreich sein - die ratio legis geht darin nicht auf und bleibt eine
unentbehrliche hermeneutische Instanz ftir alle Jurisdiktion. So bleibt das
hermeneutische Problem in aller Rechtswissenschaft ebenso beheimatet,
wie das fur die Theologie und ihre beständige Aufgabe der ,Applikation<
gilt.
Man muß sich daher fragen, ob nicht Theologie und Rechtslehre einen
wesentlichen Beitrag für eine allgcmcinc Hermeneutik bereithalten. Diese
Frage zu entfalten, kann freilich die immanente Methodenproblematik der
Theologie, der Rechtswissenschaft und der historisch-philologischen Wis-
senschaften nicht ausreichen. Es kommt gerade darauf an, die Grenzen der
Selbstauffassung des historischen Erkennens aufzuweisen und der dogmati-
schen Interpretation eine begrenzte Legitimität zurückzugeben55 • Dem steht
freilich der Begriff der Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft entgegen".

53 A. F. J. Thibaut: Theorie der log. Auslegung des römischen Rechts (1799, 21806,

Neudmck 1967).
S4 K. Engisch: Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswiss. unserer Zeit.

Abh. Heide1b. Akad. Wiss. (1953).


35 Vgl. E. Rothacker: Die dogmatische Denkform in den Geisteswiss. und das Problem
des Historismus (Mainz 1954).
56 Vgl. E. Spranger: Über die Voraussetzungslosigkeit der Wiss., Abh. Berl. Akad.
108 Vorstufen

Aus diesen Gründen gmg die Untersuchung, die ich in ,Wahrheit und
Methode< unternommen habe, von einem Erfahrungsbereich aus, der in
gewissem Sinne dogmatisch genannt werden muß, sofern sein Gcltungsan-
spruch absolute Anerkennung verlangt und sich nicht in suspcnso halten
läßt: das ist die Erfahrung der Kunst. Hier heißt Verstehen in aller Regel
Anerkennen und Geltenlassen: )!Begreifen, was uns ergreift« (E. Staiger).
Die Objektivität der Kunstwissenschaft oder Literaturwissenschaft, die als
wissenschaftliche Bemühung ihren vollen Ernst behält, bleibt in jedem Falle
der Erfahrung der Kunst oder Dichtung selber erst nachgeordnet. Nun ist in
der authentischen Erfahrung der Kunst app!icatio von intellectio und explicatio
gar nicht zu trennen. Das kann für die Wissenschaft von der Kunst nicht
ohne Folgen sein. Die hier liegende Problematik ist zuerst von H. Sedlmayr
in seiner Unterscheidung einer ersten und einer zweiten Kunstwissenschaft
erörtert worden 57 • Die vielfaltigen Methoden kunst- und literaturwissen-
schaftlicher Forschung, die entwickelt worden sind, haben am Ende ihre
Fruchtbarkeit immer wieder daran zu bewähren, wie weit sie der Erfahrung
des Kunstwerkes zu gesteigerter Klarheit und Angemessenheit verhelfen:
Sie bedürfen von sich aus der hermeneutischen Integration. So mußte die
Applikationsstruktur, die in derjuristischen Hermeneutik ihr angestammtes
Heimatrecht hat, Modellwert gewinnen. Gewiß kann die Wiederannähe-
rung des rechtshistorischen und rechtsdogmatischen Verstehens, die sich
von da aus aufdrängt, deren Unterschiede nicht aufheben, wie insbesondere
von Betti und Wicacker betont worden ist. Aber der Sinn von >Applikation(,
der ein konstitutives Element allen Verstehens darstellt, ist nicht der einer
nachträglichen und äußerlichen )Anwendung( von etwas, das ursprünglich
fUr sich ist. Anwendung von Mitteln zu vorbestimmten Zwecken oder
Anwendung von Regeln in unserem Verhalten meint im allgemeinen auch
nicht, daß wir eine in sich selbständige Gegebenheit, etwa eine >rein theore-
tisch( bekannte Sache, einem praktischen Zweck unterordnen. Vielmehr
sind im allgemeinen Mittel vom Zwecke her und Regeln vom Verhalten her
bestimmt oder gar abstrahiert. Schon Hegel hat in seiner >Phänomenologie
des Geistes< die Dialektik von Gesetz und Fall analysiert, in die sich die
konkrete Bestimmtheit auseinanderwirft. 58
So bedeutet die Applikationsstruktur des Verstehens, die sich der philo-
sophischen Analyse enthüllt, durchaus keine Einschränkung der >vorausset-
zungslosen< Bereitschaft, zu verstehen, was ein Text selber sagt, und gestat-
tet durchaus nicht, daß man den Text seiner >eigenen< Sinnmeinung entfrem-

Wiss. (1929), der die Herkunft dieses Schlagwortes aus der Kulturkampf-Stimmung der
Zeit nach 1870 nachgewiesen hat, freilich ohne gegen seine uneingeschränkte Geltung auch
nur den leisesten Verdacht zu schöpfen.
57 H. Sedlmayr: Kunst und Wahrheit (1959).

5R [Phänomenologie des Geistes (Hoffmeister) S. 189ff.]


Klassische und philosophische Hermeneutik 109

det und vorgefaßten Absichten dienstbar macht. Die Reflexion deckt nur die
Bedingungen auf, unter denen Verstehenjeweils steht und die immer schon
- als unser) Vorverständnis ( - in Anwendung sind, wenn wir uns um die
Aussage eines Textes bemühen. Das hat keineswegs den Sinn, daß man die
>Geisteswissenschaften( als die Jungenauen( Wissenschaften in all ihrer be-
dauerlichen Mangelhaftigkeit weitervegetieren lassen muß, solange sie sich
nicht zur seienee erheben und der unity ofseience eingegliedert werden können.
Vielmehr wird eine philosophische Hermeneutik zu dem Ergebnis kom-
men, daß Verstehen nur so möglich ist, daß der Verstehende seine eigenen
Voraussetzungen ins Spiel bringt. Der produktive Beitrag des Interpreten
gehört auf eine unaufhebbare Weise zum Sinn des Verstehens selber. Das
legitimiert nicht das Private und Arbiträre subjektiver Voreingcnommen-
heiten, da die Sache, um die es jeweils geht, - der Text, den man verstehen
möchte - der alleinige Maßstab ist, den man gelten läßt. Wohl aber ist der
unaufhebbare, notwendige Abstand der Zeiten, der Kulturen, der Klassen,
der Rassen - oder selbst der Personen - ein übersubjektives Moment, das
jedem Verstehen Spannung und Leben leiht. Man kann diesen Sachverhalt
auch so beschreiben, daß Interpret und Text je ihren eigenen )Horizont<
besitzen und daß jegliches Verstehen eine Verschmelzung dieser Horizonte
darstellt. So hat sich sowohl in der neutestamentlichen Wissenschaft (vor
allem bei E. Fuchs und G. Ebeling) als auch beispiel weise in dem literary
criticisf1l aber auch in der philosophischen Fortentwicklung des Heidegger-
J

sehen Einsatzes, die Problematik der Hermeneutik grundsätzlich von der


subjektiv-psychologischen Basis weg und in die Richtung des objektiven,
wirkungsgeschichtlich vermittelten Sinns hin verschoben.
Die grundlegende Gegebenheit fUr die Vermittlung solcher Abstände ist
die Sprache, in der der Interpret (oder Übersetzer!) das Verstandene neu zur
Sprache bringt. Theologen wie Poetologen reden geradezu von dem
Sprachereignis. In gewissem Sinne nähert sich die Hermeneutik damit auf
ihrem eigenen Wege der von der neopositivistischen Metaphysikkritik aus-
gehenden analytischen Philosophie. Seit diese nicht mehr daran festhält,
durch Analyse der Redeweisen und Eindeutigmachen aller Aussagen mit
Hilfe künstlicher Symbolsprachen die, Verhexung durch die Sprache< ein für
allemal aufzulösen, kann auch sie über das Funktionieren der Sprache im
Sprachspiel am Ende nicht zurück, wie gerade Wittgensteins ,Philo-
sophische Untersuchungen< gezeigt haben. K. o. Apel hat mit Recht betont,
daß die Kontinuität der Überlieferung durch den Begriff des ,Sprach-
spiels< freilich nur diskontinuierlich beschreib bar wird 59 • Sofern die

5Y KO. Apel: Wittgenstein und das Problem des Verstehens. Z. Thcol. Kirche 63 (1966)
Uetzt in: Transformation der Philosophie. Frankfurt 1973, Bd. I, S. 335-377].
110 Vorstufen

Hermeneutik die positivistische Naivität, die im Begriff des Gegebenen


liegt, durch die Reflexion auf die Verstehensbedingungen überwindet (Vor-
verständnis, Vorgängigkeit der Frage, Motivationsgeschichte jeder Aussa-
ge), stellt sie zugleich eine Kritik der positivistischen Methodengesinnung
dar. Wieweit sie dabei dem Schema transzendentaler Theorie (K. O. Apel)
oder eher dem der historischen Dialektik (J. Habermas) folgt, ist um-
stritten60 .
Hermeneutik hat jedenfalls eine eigenständige Thematik. Ihrer formalen
Allgemeinheit zum Trotz läßt sie sich nicht legitim in die Logik eingliedern.
In gewissem Sirme teilt sie mit der Logik die Universalität, in gewissem
Sinne übertrifft sie dieselbe sogar an Universalität. Zwar kann jeder Aussa-
gezusamrnenhang auf seine logische Struktur hin betrachtet werden: Die
Regeln der Grammatik, Syntax und schließlich die Gesetze der Konsequenz-
logik lassen sich stets auf Rede- und Gedankenzusammenhänge anwenden.
Aber selten genügt ein wirklich gelebter Redezusammenhang den strikten
Forderungen der Aussagclogik. Rede und Gespräch sind nicht im Sinne des
logischen Urteils ,Aussagen<, deren Eindeutigkeit und Bedeutung für jeder-
mann nachprüfbar und vollziehbar ist, sondern haben ihre okkasionelle
Seite. Sie begegnen in einem kommunikativen Prozeß, zu dem der Monolog
wissenschaftlicher Rede oder Beweisftihrung nur einen Spezialfall bildet.
Die Vollzugsweise der Sprache ist der Dialog, und sei es auch der Dialog der
Seele mit sich selbst, als den Plato das Denken bezeichnet hat. Insofern ist die
Hermeneutik als die Theorie des Verstehens und der Verständigung von
höchster Allgemeinheit. Sie versteht jede Aussage nicht bloß in ihrer logi-
schen Valenz, sondern als Antwort auf eine Frage, d. h. aber: wer versteht,
muß die Frage verstehen, und da das Verstehen ihren Sinn dergestalt aus
ihrer Motivationsgeschichte gewinnen muß, hat es notwendig über den
logisch faßbaren Aussagegehalt hinauszugehen. Das liegt im Grund schon in
Hegels Dialektik des Geistes und ist von B. Croce, Collingwood und
anderen erneuert worden. The logic oJ question and answer ist ein höchst
lesenswertes Kapitel in Collingwoods ,Autobiographyc Aber auch eine rein
phänomenologische Analyse kann sich dem nicht entziehen, daß es weder
isolierte Wahrnehmungen noch isolierte Urteile gibt. Das ist durch H. Lipps
)Hermeneutische Logik< auf der Grundlage von Husserls Lehre von den
anonymen Intentionalitäten phänomenologisch begründet und unter dem
Eindruck von Heideggers existenzialem Weltbegriff ausgefUhrt worden. In
England hat Austin die Wendung des späten Wittgenstein in ähnlicher Rich-
tung weitergefuhrt.
In der Konsequenz dieses Rückgangs von der Sprache der Wissenschaft

60 Vgl. die Beiträge in )Hermeneutik und Dialektik( und mein Nachwort zu >Wahrheit
und Methode< (31972), in diesem Band S. 449 ff.
Klassische und philosophische Hermeneutik 111
auf die Sprache des täglichen Lebens, von den Erfahrungswissenschaften auf
die Erfahrung der >Lebenswelt< (Husserl), lag, daß die Hermeneutik, statt
sich der )Logik< unterzuordnen, auf die ältere Tradition der Rhetorik zurück-
orientieren mußte, mit der sie ehedem, wie oben gezeigt6 \ eng verknüpft
war. Sie nimmt damit einen Faden wieder auf, der im 18. Jahrhundert
abgebrochen war. Damals hatte vor allem G. B. Vico die alte rhetorische
Tradition, die er als Professor der Rhetorik in Neapel vertrat, gegenüber
dem Monopolanspruch der )modernen< Wissenschaft verteidigt, die er critica
nannte. Insbesondere wurde die Bedeutung der Rhetorik ftir die Erziehung
und die Ausbildung des sensus communis von ihm hervorgehoben, und in der
Tat teilt die Hermeneutik mit der Rhetorik die RoUe, die das eikos, das
persuasive Argument spielt. Die Tradition der Rhetorik, die in Deutschland-
trotz Herder - im 18. Jahrhundert besonders gründlich abbrach, ist jedoch
auf unerkannte Weise im Bereich der Ästhetik wie der Hermeneutik wirk-
sam geblieben, wie Kl. Dockhorn vor allem gezeigt har". Gegenüber den
Monopolansprüchen der modernen mathematischen Logik und ihrer Fort-
entwicklung melden sich daher auch in unserer Zeit von der Rhetorik und
der forensischen Rationalität aus die Widerstände, so durch eh. Perelman
und seine Schule63 •
Doch schließt sich daran noch eine weit umfassendere Dimension des
hermeneutischen Problems, die mit der Zentralstellung zusammenhängt,
die die Sprache im hermeneutischen Bereich einnimmt. Sprache ist nicht nur
ein Medium unter anderen - innerhalb der Welt der )symbolischen Formen<
(Cassirer) -, sondern steht in besonderer Beziehung zur potentiellen Ge-
meinsamkeit der Vernunft. Es ist Vernunft, was sich in Sprache kommuni-
kativ aktualisiert, wie schon R. Hönigswald betont hat: Die Sprache ist nicht
nur )Faktum<, sondern )Prinzip<. Daraufberuht die Universalität der herme-
neutischen Dimension. Solche Universalität begegnet bereits in der Bedeu-
tungslehre von Augustinus und Thomas, sofern sie die Bedeutung der
Zeichen (der Worte) durch die Bedeutung der Sachen überboten sahen und
damit das Hinausgehen über den sensus litteralis rechtfertigten. Die Herme-
neutik wird dem heute gewiß nicht einfach folgen können, d. h. sie wird
keine neue Allegorese inthronisieren. Dafür wäre eine Sprache der Schöp-
fung vorausgesetzt, durch die Gott zu uns spricht. Wohl aber ist der Erwä-
gung nicht auszuweichen, daß nicht nur in Rede und Schrift, sondern in alle
menschliche Schöpfungen }Sinn< eingegangen ist, den herauszulesen eine
hermeneutische Aufgabe ist. Dem hat Hege! mit seiner Lehre vom >objekti-

61 Vgl. oben S. 95f.


62 Kl. Dockhorn: Rezension von H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, GGA. 218
(1966).
63 Vgl. auch: Philosophy, Rhetoric and Argumentation, hg. M. Natanson und H. W.
Johnstone jr. (1965).
112 Vorstufen

Yen Geist{ Ausdruck gegeben, und dieser Teil seiner Geistesphilosophie ist
auch unabhängig von seinem dialektischen Systemganzen lebendig geblie-
ben (v gl. etwa Nicolai Hartmanns Lehre vom objektiven Geist und den
Idealismus Croces und Gentiles). Nicht nur die Sprache der Kunst stellt
legitime Verständnis ansprüche, sondern jegliche Form menschlicher Kul-
turschöpfung überhaupt. Ja, die Frage weitet sich aus. Was gehört nicht alles
zu unserer sprachlich verfaßten Weltorientierung? Alle Welterkenntnis des
Menschen ist sprachlich vcrnlittelt. Eine erste Weltorientierung vollendet
sich in1 Sprechenlernen. Aber nicht nur das. Die Sprachlichkeit unseres In-
der-Weit-Seins artikuliert am Ende den ganzen Bereich der Erfahrung. Die
Logik der Induktion, die Aristoteles beschreibt und die F. Bacon zur Grund-
legung der neuen Erfahrungswissenschaften ausgebaut hatM , mag als logi-
sche Theorie der wissenschaftlichen Erfahrung unbefriedigend sein und der
Korrektur bedürfen'" - die Sachnähe zur sprachlichen Weltartikulation tritt
an ihr glänzend heraus. Schon Themistius hat in seinem Aristoteleskom-
mentar das einschlägige Kapitel des Aristoteles (An. Post B 19) durch das
Sprechenlernen illustriert und in dieses Gebiet hat die moderne Linguistik
(Chomsky) und Psychologie (Piaget) neue Schritte getan. Doch gilt es in
noch viel weiterem Sinne: Alle Erfahrung vollzieht sich in beständiger
kommunikativer Fortbildung unserer Welterkenntnis. Sie ist selber stets
Erkenntnis von Erkanntem in einem viel tieferen und allgemeineren Sinne,
als die VOn A. Boeckh rur das Geschäft des Philologen geprägte Formel es
meinte. Denn die Überlieferung, in der wir leben, ist nicht eine sogenannte
kulturelle Überlieferung, die aus Texten und Denkmälern allein bestünde
und einen sprachlich verfaßten oder geschichtlich dokumentierten Sinn
vermittelte, während die realen Determinanten unseres Lebens, Produk-
tionsbedingungen usw., >draußen< blieben: Vielmehr wird uns die konlmu-
nikativ erfahrene Welt selbst als eine offene Totalität beständig übergeben,
traditur. Das ist nichts als Erfahrung. Sie ist überall da, wo Welt erfahren,
Unvertrautheit aufgehoben wird, wo Einleuchten, Einsehen, Aneignung
erfolgt, und am Ende liegt die vornehmste Aufgabe der Hermeneutik als
philosophischer Theorie darin, zu zeigen, daß erst die Integration aller
Erkenntnis der Wissenschaft in das persönliche Wissen des Einzelnen >Erfah-
rung< heißen kann, wie Polanyi gezeigt hat. 66
So betrifft die hermeneutische Dimension im besonderen die Arbeit des
philosophischen Begriffs, die durch die Jahrtausende geht. Als Überliefe-
rung denkender Erfahrung muß sie als ein einziges großes Gespräch verstan-
den werden, an demjede Gegenvnrt teilnimmt und das sie nicht aufüberle-

64 Aristoteles, Anal. post. II, 19.


60 K. R. Popper: Logik der Forschung e1966).
1>6 M. Polanyi, Personal Knowledge. Chicago 1958.
Klassische und philosophische Hermeneutik 113
gene Weise meistern und kritisch beherrschen kann. Das war die Schv,räche
der Problcmgeschichte gewesen, die Geschichte der Philosophie nur als
Bestätigung der eigenen Problemeinsicht lesen zu können und nicht als einen
kritischen Partner, der unsere eigenen Einsichten in ihrer Begrenztheit ent-
hüllt, Dazu gilt es freilich, sich der hermeneutischen Reflexion zu stellen, Sie
lehrt uns, daß die Sprache der Philosophie immer etwas Unangemessenes
hat und in ihrer Intention mehr verfolgt, als in ihrer Aussage gefunden und
beim Wort genommen werden darf. Die Begriffsworte, die in ihr geprägt
und in ihr überliefert werden, sind nicht feste Marken und Signale, durch die
etwas Eindeutiges bezeichnet wird, \vie in den Symbolsystemen der Mathe-
matiker und Logiker und in ihren Anwendungen. Sie entspringen der kom-
munikativen Bewegung menschlicher Weltauslegung, die in der Sprache
geschieht, werden von ihr fortbewegt und gewandelt und reichern sich an,
rücken in neue Zusammenhänge, welche die alten verdecken, sinken ab Zur
halben Gedankenlosigkeit und werden in neuem fragendem Denken wieder
lebendig,
So liegt aller philosophischen Arbeit des Begriffs eine hermeneutische
Dimension zugrunde, die man heutzutage mit dem etwas ungenauen Wort
>Begriffsgeschichte( bezeichnet. Sie ist nicht eine sekundäre Bemühung und
meint nicht, daß man statt von den Sachen zu reden, von den Verständi-
gungsmittdn spräche, die wir dabei gebrauchen, sondern sie bildet das
kritische Element im Gebrauch unserer Begriffe selbst. Der Furor des Laien,
der nach eindeutigen Definitionen verlangt, aber ebenso der Eindeutigkeits-
wahn einer einseitigen, semantischen Erkenntnistheorie verkennen, was
Sprache ist und daß auch die Sprache des Begriffs nicht erfunden, nicht
willkürlich verändert, gebraucht und weggelegt werden kann, sondern dem
Element entstammt, in dem wir uns denkend bewegen. Nur die erstarrten
Krusten dieses lebendigen Stroms von Denken und Sprechen begegnen in
der Kunstform der Terminologie. Auch sie ist noch eingeftihrt und getragen
von dem kommunikativen Geschehen, das wir sprechend vollziehen und in
dem sich Verständnis und Einverständnis aufbaurt'7. Das scheint mir der
Konvergenzpunkt zwischen der Entwicklung der analytischen Philosophie
in England und der Hermeneutik Aber die Entsprechung bleibt begrenzt,
Wie im 19, Jahrhundert Dilthey den englischen Empirismus des Mangels an
geschichtlicher Bildung zieh, besteht der kritische Anspruch der geschicht-
lich reflektierten Hermeneutik darin, nicht so sehr Weisen des Sprechcns in
ihrer logischen Struktur beherrsch bar zu machen, wie das etwa das Ideal der
>analytischen< Philosophie ist, als die sprachlich vermittelten Inhalte mit

67 Vgl. >Die Begriffsgeschichte und die Sprache der Philosophie. (Arbeitsgemeinschaft


fti.t Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Heft 170 (1971) (= Ges. Werke Bd. 4).
114 Vorstufen

ihrem ganzen Niederschlag an geschichtlicher Erfahrung zur Aneignung zu


bringen.
Eine neue Virulenz erhielt das hermeneutische Problem im Felde der
Logik der Sozialwissenschaften. Gewiß muß man anerkennen, daß aller
Welterfahrung die hermeneutische Dimension zugrunde liegt und daher
auch in der Arbeit der Naturwissenschaften eine Rolle spielt, wie insbeson-
dere durch Thomas Kuhn 68 aufgev,riesen worden ist. Doch gilt das noch viel
mehr in den Sozialwissenschaften. Denn sofern Gesellschaft immer ein
sprachlich verständigtes Dasein hat69 , ist das eigene Gegenstandsfeld der
Sozialwissenschaften selber (und nicht nur ihre Theoricnbildung) durch die
hermeneutische Dimension beherrscht. Die hermeneutische Kritik an dem
naiven Objektivismus in den Geisteswissenschaften hat in gewissem Sinne
ihr Gegenstück in der marxistisch inspirierten Ideologiekritik (Habermas -
vgl. auch die dagegen gerichtete vehemente Polemik von Hans Albert)".
Ebenso ist das Heilen durch Gespräch ein eminentes hermeneutisches Phä-
nomen, ftir das vor allem]. Lacan und P. Ricoeur 71 die theoretischen Grund-
lagen neu diskutiert haben. Die Reichweite der Analogie zwischen Krank-
heiten des Geistes und Krankheiten der Gesellschaft scheint mir freilich
zweifelhaft". Die Lage des Sozialwissenschaftlers gegenüber der Gesell-
schaft ist nicht vergleichbar mit der des Psychoanalytikers gegenüber seinem
Patienten. Eine Ideologiekritik, die sich selbst aus aller ideologischen Präok-
kupation herauszuhalten meint, ist nicht minder dogmatisch als eine )positi-
vistische( Soziahvissenschaft, die sich als Sozialtechnik versteht. Angesichts
solcher Vermittlungsversuche scheint mir die Opposition der Theorie der
Dekonstruktion gegen die Hermeneutik, die Derrida 73 vertritt, verständ-
lich. Die hermeneutische Erfahrung verteidigt jedoch gegen eine solche
Theorie der )Sinn<-Dekonstruktion ihr eigenes Recht. In ecYiture )Sinn< zu
suchen hat - trotz Nietzsehe - nichts mit Metaphysik zu tun.
Wenn man der Hermeneutik folgt, zielt vielmehr jede Anstregung des
Begreifens im Prinzip auf den möglichen Konsensus, das mögliche Einver-

68 Th. Kuhn: The Structure ofScientific Revolutions, Chicago 1962.


69 Charles Taylor: Interpretation and the Sciences of Man. Rev. of Met. 25 (1971),
S. 3-51, jetzt in C. Taylor, Erklärung und Interpretation in den Wissenschaften vom
Menschen. Frankfurt 1975, S. 154-219.
70 J. Habermas: Zur Logik der Sozial'vviss. Beiheft der Phil. Rdsch. (1967); Hermeneutik

und Ideologiekritik (1971); Hans Albert: Konstruktion und Kritik (1972). [Auch Haber-
mas' spätere Arbeiten diskutieren die Hermeneutik. Vgl. ,Theorie des kommunikativen
Handelns( 2 Bde. Frankfurt 1981, I, S. 143 und 192 ff.].
71 P. Ricoeur: De l'interpretation. Essai sur Freud (1965, dt. 1969); Le conflit des

interpretations (1969); Hermeneutique ee critique des ideologies (in: Demythisation et


ideologie, ed. Castelli) (1973); La metaphore vive. Paris 1975; J. Lacan: Ecrits (1966).
72 Vgl. J. Habermas (Hrsg.): Hermeneutik und Ideologiekritik (1971).

73 L'ecriture et la diffhence, Paris 1967.


Klassische und philosophische Hermeneutik 115

ständnis, ja sie muß selbst schon auf einem verbindenden Einverständnis


beruhen, wenn je herauskommen soll, daß man sich versteht. Das ist durch-
aus keine dogmatische Annahme, sondern eine einfach phänomenologische
Beschreibung. Wo nichts verbindet, kann auch kein Gespräch gelingen. So
muß die Ideologiekritik als letzte Instanz selber den rationalen Diskurs
einfUhren, der es möglich machen soll, sich auf zwangsfreie Weise zu ver-
ständigen. Das gleiche bestätigt sich im Vorgehen der Psychoanalyse. Der
Erfolg der Dialogtherapie der Psychoanalyse gründet sich nicht nur auf die
freiwillige Reflexionsarbeit des Patienten. Daß es ihm schließlich gelingen
soll, mit Hilfe des Arztes durch Sprechtherapie seine Blockaden aufzulösen,
ist nicht alles. Das schließliehe Endziel ist vielmehr das, seine natürliche
Fähigkeit wiederzugewinnen, mit anderen zu kommunizieren, und das heißt,
zu jenem Grundeinverständnis zurückzukehren, das es überhaupt erst sinn-
voll macht, daß einer mit dem anderen redet.
Hier tut sich ein Unterschied auf, den man nicht ignorieren kann. Die
Ideologiekritik beansprucht, emanzipatorische Reflexion zu sein, und ent-
sprechend beansprucht der therapeutische Dialog, die Maskierungen des
Unbewußten bewußt zu machen und dadurch aufzulösen. Alle beide setzen
dabei ihr Wissen voraus und halten sich fur wissenschaftlich fundiert. Im
Unterschiede dazu enthält die hermeneutische Reflexion keinerlei inhaltli-
chen, vorgängigen Anspruch solcher Art. Sie behauptet nicht, zu wissen,
daß die faktischen gesellschaftlichen Bedingungen nur verzerrte Kommuni-
kation möglich machen. Das schlösse in ihren Augen bereits ein, man wisse,
was bei der unverzerrten richtigen Kommunikation herauskommen müsse.
Auch meint sie nicht wie ein Therapeut zu operieren, der den Reflexionspro-
zeß des Patienten zu dem guten Ende fUhrt, indem er ihn zu einer höheren
Einsicht in seine Lebensgeschichte und sein wahres Wesen fuhrt. In bei den
Fällen, in der Ideologiekritik wie in der Psychoanalyse, meint die Interpreta-
tion von einem vorgängigen Wissen geleitet zu sein, von dem aus sich die
vorgefaßten Fixierungen und Vorurteile auflösen lassen. In diesem Sinne
verstehen sich beide als )Aufklärung(. Im Gegensatz dazu betrachtet die
hermeneutische Erfahrungjeden Anspruch vorgängigen Wissens mit Skep-
sis. Der Begriff des Vorverständnisses, der von Bultmann eingefUhrt wor-
den ist, meint kein solches Wissen: unsere Vorurteile sollen im Vorgang des
Verstehens aufs Spiel gesetzt werden ... Begriffe wie der der >Aufklärung<,
der )Emanzipation(, des lzwangsfreien Dialogs( enthüllen sich in der Kon-
kretion der hermeneutischen Erfahrung als arme Abstraktionen. Die herme-
neu tische Erfahrung realisiert nämlich, wie tief Vorurteile eingewurzelt sein
können und wie wenig ein bloßes Sich-Bewußtwerden derselben imstande
ist, ihre Gewalt aufzulösen. Das wußte einer der Väter der modernen Auf-
klärung, Descartes, sehr wohl, als er weniger durch Argumentation als
Meditation, durch immer wiederholtes Nachdenken seinen neuen Metho-
116 Vorstufen

den begriff zu legitimieren suchte. Man schelte das nicht als bloße rhetorische
Aufmachung. Ohne eine solche gibt es keine Kommunikation, auch nicht in
philosophischen und wissenschaftlichen Beiträgen, die sich alle mit rhetori-
schen Mitteln zur Geltung bringen müssen. Die ganze Geschichte des Den-
kens bestätigt die antike Nachbarschaft zwischen Rhetorik und Hermeneu-
tik. Doch enthält Hermeneutik stets ein Element, das über die bloße Rheto-
rik hinausgeht: Sie schließt stets eine Begegnung mit den Meinungen des
anderen ein, die ihrerseits zu Worte kommen. Das gilt auch rur zu verstehen-
de Texte, wie rur alle anderen kulturellen Schöpfungen dieser Art. Sie
müssen ihre eigene Überzeugungskraft entfalten, um verstanden zu werden.
Die Hermeneutik ist deshalb Philosophie, weil sie sich nicht darauf be-
schränken läßt, eine Kunstlchre zu sein, die die Meinungen eines anderen
mU[1 versteht. Die hermeneutische Reflexion schließt vielmehr ein, daß in
allem Verstehen von etwas Anderem oder eines Anderen Selbstkritik vor
sich geht. Wer versteht, nimmt keine überlegene Position in Anspruch,
sondern gesteht zu, daß die eigene vermeintliche Wahrheit auf die Probe
gestellt wird. Das ist in allem Verstehen mit eingeschlossen, und deshalb
trägt jedes Verstehen dazu bei, das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein
fortzubilden.
Das Grundmodell aller Verständigung ist der Dialog, das Gespräch. Ein
Gespräch ist bekanntlich nicht möglich, wenn einer der Partner sich unbe-
dingt in einer überlegenen Position glaubt, im Vergleich mit dem anderen,
etwa so, daß er ein vorgängiges Wissen über die Vorurteile zu besitzen
behauptet, in denen der andere befangen ist. Er schließt sich damit in seine
eigenen Vorurteile ein. Dialogische Verständigung ist im Prinzip unmög-
lich, wenn einer der Partner des Dialoges sich nicht v.;irklich rur das Ge-
spräch freiläßt. So ein Fall liegt z. B. vor, wenn einer im gesellschaftlichen
Umgang den Psychologen oder Psychoanalytiker spielt und die Aussagen
eines anderen nicht in ihrem Sinne erns t nimmt, sondern auf psychoanalyti-
sche Weise zu durchschauen beansprucht. Die Partnerschaft, auf der gesell-
schaftliches Leben beruht, ist in solchem Falle zerstört. Die Problematik ist
vor allem von seiten Paul Ricoeurs einer systematischen Diskussion unter-
zogen worden, wo er von dem >Konflikt der Interpretationen< spricht. Dort
stellt Ricoeur Marx, Nietzsche und Freud auf die eine Seite, die phänomeno-
logische Intentionalität des Verstehens von >Symbolen< auf die andere Seite
und sucht nach einer dialektischen Vermittlung. Auf der einen Seite steht die
genetische Herleitung, als Archäologie, auf der anderen Seite die Orientie-
rung auf einen gemeinten Sinn hin, als Teleologie. In seinen eigenen Augen
ist das nur eine vorbereitende Unterscheidung, die einer allgemeinen Her-
meneutik vorarbeitet. Diese müsse dann die konstitutive Funktion des Ver-
stehens von Symbolen und des Sich-Verstehens mit Hilfe von Symbolen
aufklären. - Eine solche allgemeine hermeneutische Theorie scheint mir
Klassische und philosophische Hermeneutik 117

inkonsistent. Die Weisen des Verstehens von Symbolen, die hier nebenein-
ander gestellt \\rerden, hatten jeweils einen anderen, und nicht den gleichen
Sinn von Symbol im Auge, und konstituieren damit nicht nUr jeweils einen
verschiedenen >Sinn< derselben. Die eine Weise des Verstehens schließt viel-
mehr die andere aus, weil sie etwas anderes meint. Die eine versteht, was das
Symbol sagen will, die andere, was es verbergen und maskieren will. Das ist
ein total verschiedener Sinn von }Verstehen<.
Die Universalität der Hermeneutik hängt letztlich davon ab, wie weit der
theoretische, transzendentale Charakter der Hermeneutik auf ihre Geltung
innerhalb der Wissenschaft beschränkt bleibt oder ob sie auch die Prinzipien
des >Set1SUS cof11fnunis< ausweist und damit die Weise, wie aller Wissenschafts-
gebrauch in das praktische Bewußtsein integriert wird. Die Hermeneutik
rückt - so universal verstanden - in die Nachbarschaft zur >praktischen
Philosophie<, deren Wiederbelebung inmitten der deutschen transzendental-
philosophischen Tradition durch die Arbeiten J. Ritters und seiner Schule
betrieben wird. Die philosophische Hermeneutik ist sich dieser Konsequenz
bewußf4 • Eine Theorie der Praxis des Verstehens ist offensichtlich Theorie
und nicht Praxis, aber eine Theorie der Praxis ist deshalb nicht eine> Technik<
oder eine angebliche Ver'h';ssenschaftlichung der gesellschaftlichen Praxis:
Sie ist eine philosophische Besinnung auf die Grenzen, die aller wissen-
schaftlich-technischen Beherrschung von Natur und Gesellschaft gesetzt
sind. Das sind Wahrheiten, die gegenüber dem neuzeitlichen Wissenschafts-
begriff zu verteidigen eine der wichtigsten Aufgaben einer philosophischen
Hermeneutik ist1 s.

74 Vgl. J. Ritter: Metaphysik und Politik (1969) und M. Riedel: Zur Rehabiliticrung der

praktischen Philosophie (1972).


75 Gadamer: Theorie. Technik, Praxis. In: Neue Anthropologie Bd. 1. Einftihrung

(1972) [Ges. Werke Bd. 41.


III. Ergänzungen
9. Zur Problematik des Selbstverständnisses
Ein hermeneutischer Beitrag zur Frage der >Entmythologisierung<

1961

Wer das ungeheure Aufsehen miterlebt hat. das das Erscheinen von Rudolf
Bultmanns programmatischem Aufsatz über die Entmythologisierung des
Ncucn Testaments seinerzeit hervorgerufen hat und die bis heute gehende
Fortwirkung desselben bedenkt, kann sich nicht darüber täuschen, daß es
theologische und speziell dogmatische Probleme sind, die hier ins Spiel
kommen. Für den Kenner der theologischen Arbeit Bultmanns war dieser
Aufsatz alles andere als sensationell. Er formulierte nur, was in der exegeti-
schen Arbeit des Theologen seit langem geschah. Eben das aber ist der
Punkt, an dem eine philosophische Besinnung zur theologischen Diskussion
beizutragen vermag. Ohne Frage hat das Problem der Entmythologisierung
auch einen allgemeinen hermeneutischen Aspekt. Die theologischen Pro-
bleme betreffen nicht das hermeneutische Phänomen der Entmythologisie-
rung als solches, sondern das dogmatische Resultat derselben: nämlich, ob
die Grenzen dessen, was einer Entmythologisierung verfallt, vom dogmati-
schen Standpunkte der protestantischen Theologie aus bei Bultmann richtig
gezogen sind oder nicht. - Die folgenden Erörterungen wollen den herme-
neutischen Aspekt des Problems unter einem Gesichtspunkt beleuchten, der
mir bisher noch nicht genug zur Geltung gekommen scheint: Sie stellen die
Frage, ob das Verständnis des Neuen Testaments vom Leitbegriff des Selbst-
verständnisses des Glaubens her zureichend verstanden werden kann, oder
ob ein ganz anderes Moment, das das Selbstverständnis des einzelnen, ja sein
Selbstsein überspielt, dabei wirksam ist. In dieser Absicht soll hier das
Verhältnis von Verstehen und Spielen herangezogen werden. Dazu bedarf es
einiger vorbereitender Überlegungen, die dem hermeneutischen Aspekt
seinen Ort anweisen.
Die erste Feststellung, die man dabei machen muß, ist, daß Verstehen als
hermeneutische Aufgabe stets schon eine Dimension der Reflexion ein-
schließt. Verstehen ist keine bloße Reproduktion einer Erkenntnis, d. h.
nicht ein bloßer wiederholter Vollzug derselben, sondern ist sich der Wie-
derholtheit ihres Vollzuges selber bewußt. Es ist, wie schon August Boeckh
122 Ergänzungen

formuliert hat, ein Erkennen des Erkannten. Diese paradoxe Formulierung


faßt die Einsichten der romantischen Hermeneutik zusammen, der die refle-
xive Struktur des hernleneutischen Phänomens klar geworden Volar. Der
Vollzug des Verstehens erfordert, das im Vollzug einer Erkenntnis Unbc-
wußte zum Bewußtsein zu bringen. Die romantische Hermeneutik gründet
sich damit auf einen Fundamentalbegriff der kantischen Ästhetik, den Be-
griff des Genies, der das musterhafte Werk .bewußtlosl - wie die Natur
selber-, d. h. ohne bewußte Anwendung von Regeln und nicht durch bloße
Nachahmung von Vorbildern schafft.
Damit ist die besondere Lage schon charakterisiert, in der sich das herme-
neutische Problem stellt. Offenbar stellt es sich nicht, solange es sich um
bloße Aufnahme und originäre Weiterbildung einer bestimmten geistigen
Tradition handelt, wie es z. B. bei der humanistischen Wiederentdeckung
des klassischen Altertums der Fall war, die viel eher Nachahmung und
unmittelbare Nachfolge, ja unmittelbaren Wettbewerb mit den antiken Au-
toren zum Ziele hatte, als ein bloßes )Verstehen( derselben. Das hermeneuti-
sche Problem stellt sich offenbar nur dort, wo keine solche machtvolle
Tradition das eigene Verhalten zu ihr in sich einsaugt, sondern wo das
Bewußtsein aufbricht, daß einer der Überlieferung, die auf ihn kommt, wie
etwas Fremdem gegenübertritt, sei es, daß er ihr überhaupt nicht zugehört,
sei es, daß die Tradition, die ihn mit ihr verbindet, ihn nicht mehr fraglos
einnimmt.
Der letztere Fall ist der hier in Frage stehende Aspekt des hermeneutischen
Problems. Das Verstehen der christlichen Überlieferung so gut wie das des
klassischen Altertums schließt fur uns historisches Bewußtsein ein. Was uns
mit der großen griechisch-christlichen Tradition verbindet, mag noch so
lebendig sein, das Bewußtsein der Andersheit, des nicht mehr fraglosen
Zugehörens zu dieser Tradition, bestimmt uns alle. Das wird besonders
deutlich in den Anfangen der historischen Kritik an der Überlieferung,
insbesondere in den Anfangen der Bibelkritik, wie sie von Spinoza und
seinem theologisch-politischen Traktat eröffnet worden ist. Dort zeigt sich
ganz klar, daß der Weg des historischen Verstehens eine Art unvermeidli-
chen Umwegs ist, den der Verstehende dann einschlagen muß, wenn ihm
die unmittelbare Einsicht in das in der Überlieferung Gesagte nicht mehr
möglich ist. Die genetische Fragestellung, deren Ziel darin besteht, eine
überlieferte Meinung aus der geschichtlichen Situation zu erklären, wird erst
dann aufkommen, wenn die unmittelbare Einsicht in die Wahrheit des
Gesagten unerreichbar ist, weil die Vernunft sich widersetzt.
Gewiß hat es solchen Umweg historischer Erklärung nicht erst im Zei-
chen der modernen Aufklärung gegeben. Angesichts des Alten Testaments
etwa stand die christliche Theologie sehr bald vor der Aufgabe, die mit der
christlichen Dogmatik und Morallehre unvereinbaren Inhalte des Alten
Zur Problematik des Selbstverständnisses 123

Testaments exegetisch zu eliminieren, und dazu diente außer der allegori-


schen und typologischen Deutung, wie z. B. Augustinus in )Dc Doctrina
christiana< gezeigt hat, auch historische Reflexion. Aber in solchem Falle
blieb die dogmatische Tradition der christlichen Kirche die unerschütterli-
che Basis. Geschichtliche Überlegungen waren seltene und sekundäre Hilfen
zum Verständnis der Heiligen Schrift. - Das wird mit dem Aufkommen der
neuen Naturwissenschaft und ihrer Kritik wesentlich anders. Was sich an der
Heiligen Schrift im Einklang mit der modernen Wissenschaft aus reiner
Vernunft einsehen läßt, ist ein enger Bereich, und damit wächst gewaltig der
Bereich dessen an, was man nur im Rückgang auf geschichtliche Bedingun-
gen verstehen kann. Für Spinoza gibt es zwar noch eine unmittelbare Evi-
denz der moralischen Wahrheiten, die die Vernunft in der Bibel erkennt. Ihre
Evidenz ist im gewissen Sinne die gleiche wie etwa die Evidenz des Euklid,
der so unmittelbar der Vernunft einleuchtende Wahrheiten enthält, daß die
Frage nach dem geschichtlichen Ursprung dieser Einsichten sich zunächst
gar nicht stellt. Indessen sind die moralischen Wahrheiten, die in der bibli-
schen Überlieferung auf diese Weise evident sind, rur Spinoza nur ein kleiner
Teil des Ganzen der biblischen Überlieferung. Die Heilige Schrift im ganzen
bleibt der Vernunft fremd. Wenn man sie verstehen will, dann muß man sich
auf historische Reflexion einlassen, wie z. B. im Falle der Wunderkritik.
Nun ist es die in der ausgehenden Romantik durchdringende Überzeu-
gung der totalen Fremdheit gegenüber der Überlieferung - als Kehrseite
einer totalen Andershcit der Gegenwart -, die zur methodischen Grundvor-
aussetzung des hermeneutischen Verfahrens erhoben wird. Gerade dadurch
wird die Hermeneutik zu einer universalen methodischen Haltung, daß sie
die Fremdheit des zu verstehenden Inhaltes voraussetzt und damit deren
Überwindung durch die Aneignung des Verstehens zur Aufgabe macht. So
ist es charakteristisch, daß Schleiermacher es durchaus keine absurde Vor-
stellung findet, selbst die Prinzipien eines Euklid historisch, d. h. im Rück-
gang auf die fruchtbaren Lebensaugenblicke im Leben des Euklid zu verste-
hen, in denen diese Einsichten zustande kamen. An die Stelle der unmittelba-
ren Sacheinsicht tritt als die eigentlich methodisch-wissenschaftliche Hal-
tung das psychologisch-historische Verstehen. Damit erst wird die Bibel-
wissenschaft, die Tlieologie in ihrem exegetischen Aspekt, auf den Rang
einer echten historisch-kritischen Wissenschaft gehoben. Die Hermeneutik
wird das allgemeine Organ der historischen Methode. Bekanntlich hat die
Durchftihrung dieser historisch-kritischen Gesinnung im Gebiete der bibli-
schen Exegese zu schweren Spannungen zwischen Dogmatik und Exegese
geführt, die bis in die heutige Zeit hinein die theologische Arbeit am Neuen
Testament durchziehen.
Die historische Schule, insbesondere in der entschiedenen Form, die ihr
schärfster Methodologc, Droysen, der Aufgabe des Historikers vindiziert
124 Ergänzungen

hat, hat jedoch totale objektivistische Verfremdung des Gegenstandes der


Geschichte durchaus nicht akzeptiert. Droysen hat viclmehrjene >cunuchen-
hafte Objektivität< mit beißendem Spott verfolgt und umgekehrt die Zuge-
hörigkeit zu den großen sittlichen Mächten, die die Geschichte regieren, als
die Vorbedingung alles historischen Verstehens ausgezeichnet. Seine be-
rühmte Formel, Aufgabe des Historikers sei es, forschend zu verstehen, hat
sogar selber einen theologischen Aspekt. Die Pläne der Vorsehung sind dem
Menschen verhüllt, aber in dem rastlos forschenden Eindringen in die
Zusammenhänge der Weltgeschichte wird dem historischen Geiste eine
Ahnung des uns verhüllten Sinnes des Ganzen zuteil. Verstehen ist hier mehr
als eine universale Methode. die okkasionell unterstützt wird durch die
Affinität oder Kongenialität des Historikers mit seinen historischen Gegen-
ständen. Es ist keine Frage der eigenen zufälligen Sympathie allein, sondern
in der Wahl der Gegenstände wie in der der Gesichtspunkte, unter denen sich
der Gegenstand als ein historisches Problem stellt, ist etwas von der eigenen
Geschichtlichkeit des Verstehens wirksam.
Freilich ist es fur das methodische Selbstbewußtsein der historischen
Forschung schwierig, diese Seite der Sache festzuhalten. Denn auch die
historischen Geisteswissenschaften sind von der Wissenschaftsidee der Mo-
derne geprägt. Die romantische Kritik am Rationalismus der Aufklärung
hat zwar die Herrschaft des Naturrechts gebrochen, aber die Wege der
historischen Forschung verstehen sich selber als Schritte zu einer totalen
geschichtlichen Aufklärung des Menschen über sich selbst, in deren Konse-
quenz noch die letzten dogmatischen Reste der griechisch-christlichen Tra-
dition zur Auflösung kommen mußten. Der historische Objektivismus, der
diesem Ideal entspricht, zieht seine Kraft aus einer Idee von Wissenschaft,
deren eigentlicher Hintergrund der philosophische Subjektivismus der Neu-
zeit ist. Sich seiner zu erwehren, war zwar das Bemühen Droysens. Aber die
grundsätzliche Kritik am philosophischen Subjektivismus, die mit Heideg-
gers )Sein und Zeit{ einsetzte, vermochte erst die geschichtstheologische
Position Droysens philosophisch zu begründen und Dilthey gegenüber, der
dem modernen Wissenschafts begriff viel stärker erlegen \var, als einen
echten Gegenspieler aus bodenbeständigem Luthertum den Grafen Yorck
von Wartenburg zu erweisen. Indem Heidegger die Geschichtlichkeit des
Daseins nicht mehr als eine Beschränkung seiner Erkenntnismöglichkeiten
und eine Bedrohung des Ideals wissenschaftlicher Objektivität ansah, son-
dern dieselbe in die ontologische Problematik im positiven Sinne einholte,
verwandelte sich der Begriff des Verstehens, den die historische Schule zu
methodischen Ehren gebracht hatte, in einen universalen philosophischen
Begriff. Nach }Sein und Zcit{ ist das Verstehen die Vollzugs weise der Ge-
schichtlichkeit des Dascins selbst. Seine Zukünftigkeit, der grundsätzliche
Charakter des Entwurfs, wie er der Zeitlichkeit des Daseins zukommt,
Zur Problematik des Selbstverständnisses 125

begrenzt sich durch die andere Bestimmung der Geworfenheit, durch die
nicht nur die Schranken eines souveränen Selbstbesitzes bezeichnet sind.
sondern auch die positiven Möglichkeiten geöffnet und bestimmt werden,
die unser sind. Der Begriff des Selbstverständnisses, in gewisser Weise ein
Erbstück des transzendentalen Idealismus und als solcher in unserer Zeit
schon durch Husserl verbreitet, gewinnt bei Heidegger erst seine wahre
Geschichtlichkeit und wird damit auch rur das theologische Anliegen tragfa-
hig, das Selbstverständnis des Glaubens zu formulieren. Denn nicht ein
souveränes Mit-sich-selbst-Vermitteltsein des Selbstbewußtseins, sondern
die Erfahrung seiner selbst, die einem geschieht und die im besonderen,
theologisch gesehen, im Anruf der Verkündigung geschieht, kann dem
Selbstverständnis des Glaubens den falschen Anspruch einer gnostischen
Selbstgewißheit nehmen.
Gerhard Krüger hat schon früh in einem Aufsatz über Kar! Barths ,Rö-
merbrief< den Ansatz der dialektischen Theologie in dieser Richtung Zu
radikalisieren versuchtl, und die Marburgcr Jahre Heideggers gewannen viel
von ihrer unvergeßlichen Spannung durch den theologischen Gewinn, den
Rudolf Bultmann aus Hcideggers Kritik am objektivistischen Subjektivis-
mus der Neuzeit zog.
Indessen ist Heidegger bei dem transzendentalen Schema, das auch den
Begriff des Selbstverständnisses in ,Sein und Zeit< noch bestimmte, nicht
stehengeblieben. Schon in .Sein und Zeit< war die eigentliche Frage nicht, auf
welchc Weise >Sein< verstanden werden kann, sondern in welcher Weise
Verstehen >Sein< ist. Seinsverständnis stellt die existentiale Auszeichnung des
menschlichen Daseins dar. Schon hier also ist Scin nicht als das Resultat der
objektivierenden Leistung des Bewußtseins verstanden, wie das noch in
Husserls Phänomenologie der Fall war. Vielmehr dringt die Frage nach dem
Sein in eine ganz andere Dimension ein, wenn sie das Sein des sich verstehen-
den Daseins selbst anvisiert. Das transzendentale Schema muß da am Ende
scheitern. Das unendliche Gegenüber des transzendentalen Ego wird in die
ontologische Fragestellung hineingenommen. In diesem Sinn beginnt schon
>Sein und Zeit( jene Seins vergessenheit aufzuheben, die Heidegger später als
das Wesen der Metaphysik bezeichnet hat. Was er >die Kehre( nennt, ist nur
die Anerkennung der Unmöglichkeit, die transzendentale Seinsvergessen-
heit in transzendentaler Reflexion zu überwinden. Insofern stecken all die
späteren Begriffe von >Seinsgeschehen< , vom >Da< als der )Lichtung< des
Seins usw. bereits als Konsequenz im ersten Ansatz von >Sein und Zeit<.
Die Rolle, die das Geheimnis der Sprache im späteren Denken Heideggers
spielt, lehrt zur Genüge, daß die Vertiefung in die Geschichtlichkeit des
Selbstverständnisses nicht nur den Begriff des Bewußtseins, sondern auch
1 [VgL meine Arbeit >Zwischen den Zeiten!, Universitas 27 (1972), S. 1221-1227,

wiederabgedruckt in >Philosophische Lehrjahre!, Tübingen 1977, S. 222-230.]


126 Ergänzungen

den Begriff der Selbstheit aus seiner zentralen Position vertrieben hat. Denn
was ist be\\'ußtloser und selbstloser als jener geheimnisvolle Bezirk der
Sprache, in dem wir stehen und der, was ist, zu Worte kommen läßt, so daß
Sein )sich zeitigt<? Was aber so von dem Geheimnis der Sprache gilt, das gilt
auch von dem Begriff des Verstehens. Auch dies ist nicht als eine einfache
Tätigkeit des verstehenden Bewußtseins zu fassen, sondern als eine Weise
des Seinsgeschehens selber. Ganz formell gesprochen weist der Primat, den
Sprache und Verstehen in Heideggers Denken besitzen, auf die Vorgängig-
keit des >Verhältnisses< gegenüber seinen Beziehungsgliedern, dem Ich, das
versteht, und dem, was verstanden wird. Gleichwohl scheint es mir mög-
lich, und ich habe diesen Versuch in >Wahrheit und Methode' durchgeftihrt,
Heideggers Aussagen über >das Sein, und die aus der Erfahrung der >Kehre'
entwickelte Fragerichtung im hermeneutischen Bewußtsein selber zur Aus-
weisung zu bringen. Das Verhältnis von Verstehen und Verstandenem hat
vor dem Verstehen und dem Verstandenen den Primat, genau wie das
Verhältnis von Sprechendem und Gesprochenem auf einen Bewegungsvoll-
zug weist, der weder im einen noch im anderen Gliede der Relation seine
feste Basis hat. Verstehen ist nicht mit jener selbstverständlichen Sicherheit
Selbstverständnis, mit der es der Idealismus behauptete, aber auch nicht mit
jener revolutionären Kritik am Idealismus erschöpft, die den Begriff des
Selbstverständnisses als etwas denkt, das dem Selbst geschieht, und durch
das es zum eigentlichen Selbst wird, Ich glaube vielmehr, daß im Verstehen
ein Moment der Selbst-losigkeit ist, das auch ftir eine theologische Herme-
neutik Beachtung verdient und das am Leitfaden der Struktur des Spieles
untersucht werden sollte.
Hier nun sieht man sich unmittelbar auf die Antike zurückverwiesen und
auf das eigentümliche Verhältnis von Mythos und Logos, das am Anfang des
griechischen Denkens steht. Das geläufige Aufklärungsschema, demzufolge
der Vorgang der Entzauberung der Welt mit Notwendigkeit vom Mythos
zum Logos fuhrt, scheint mir ein modernes Vorurteil. Legt man dieses
Schema zugrunde, wird es z. B. unbegreiflich, wie die attische Philosophie
sich den Tendenzen der griechischen Aufklärung entgegenstellen und zwi-
schen religiöser Tradition und philosophischem Gedanken eine säkulare
Versöhnung begründen konnte. Wir verdanken Gerhard Krüger die mei-
sterhafte AufheBung der religiösen Voraussetzungen des griechischen und
insbesondere des platonischen Philosophierens, 2 Die Geschichte von My-
thos und Logos im ursprünglichen Griechenland hat eine ganz anders kom-
plizierte Struktur, als das Scliema der Aufklärung nahelegt. Man kann

2 [G. Krüger, )Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens.<

Frankfurt 1939, 51983 und meine Arbeit )Philosophie und Religion< (bisher ungcdruckt) in
Ges. Werke Bd. 7]
Zur Problematik des Selbstverständnisses 127

angesichts dieser Tatsache sogar das große Mißtrauen begreifen, das die
altertums wissenschaftliche Forschung dem religiösen Quellenwert des My-
thos gegenüber nährt, und den Vorzug, den sie den stabilen Formen der
kultischen Tradition zugesteht. Denn die Wandlungsfahigkeit des Mythos,
seine Offenheit fur immer neue Interpretationen durch die Dichter, zwingt
schließlich zu der Einsicht, daß es eine falsch gestellte Frage ist, in welchem
Sinne ein solcher antiker Mythos )geglaubt< worden ist, und ob er etwa dort
schon nicht mehr geglaubt wird, wo er ins dichterische Spiel eingeht. In
Wahrheit ist der Mythos dem denkenden Bewußtsein so innerlich verwandt,
daß selbst die philosophische Explikation des Mythos in der Sprache des
Begriffes nichts wesenhaft Neues hinzu bringt zu jenem beständigen Hin
und Her zwischen Endeckung und Verhüllung, zwischen ehrfurchtsvoller
Scheu und geistiger Freiheit, der die gesamte Geschichte des griechischen
Mythos begleitet. Es ist nützlich, sich daran zu erinnern, wenn man jenen
Begriff von Mythos richtig verstehen \-vill, der in Bultmanns Programm der
Entmythologisierung impliziert ist. Was Bultmann dort das mythische
Weltbild nennt und mit dem Weltbild der Wissenschaft kontrastiert, das als
Weltbild uns allen wahr erscheinen kann, hat schwerlich den Ton von
Endgültigkeit, den man ihm in dem Streit um dieses Programm verliehen
hat. Im Grunde ist das Verhältnis eines christlichen Theologen zur biblischen
Tradition nicht so grundverschieden von dem des Griechen zu seinen My-
then. Die zufallige und in gewissem Sinne gelegentliche Formulierung des
Begriffs der Entmythologisierung, die Bultmann vornahm, in Wahrheit die
Summe seiner gesamten exegetischen Theologie, hatte alles andere als einen
aufklärerischen Sinn. Der Schüler der liberalen historischen BibehJ.,issen-
schaft suchte vielmehr in der biblischen Überlieferung das, was sich gegen
alle historische Aufklärung behauptet, das, was der eigentliche Träger der
Verkündigung, des Kerygmas, ist und den eigentlichen Anruf des Glaubens
darstellt.
Es ist dieses positive dogmatische Interesse, das den Bultmannschen
Begriff prägt, und nicht das Interesse einer fortschreitenden Aufklärung.
Sein Begriff des Mythos ist also ein ganz deskriptiver Begriff. Ihm haftet
etwas Geschichtlich-Zufalliges an, und jedenfalls handelt es sich, so funda-
mental das theologische Problem sein mag, das in dem Begriff einer Entmy-
thologisierung des Neuen Testaments liegt, dabei um eine Frage der prakti-
schen Exegese, die das hermeneutische Prinzip aller Exegese in keinem Falle
berührt. Sein hermeneutischer Sinn ist vielmehr gerade darin beschlossen,
daß man keinen bestimmten Begriff von Mythos dogmatisch fixieren darf,
von dem aus man ein ftif allemal festzulegen hat, was und was nicht inner-
halb der Heiligen Schrift rur den modernen Menschen durch die wissen-
schaftliche Aufklärung als bloßer Mythos entlarvt worden ist. Nicht von der
modernen Wissenschaft aus, sondern positiv, von der Aufnahme des Keryg-
128 Ergänzungen

mas her, vom inneren Anspruch des Glaubens aus, muß sich bestimmen,
was bloßer Mythos ist. Ein anderes Beispiel solcher .Entmythologisierung,
ist eben die große Freiheit, die der griechische Dichter angesichts der m ythi-
sehen lradition seines Volkes besaß und betätigte. Auch sie ist nicht ,Aufklä-
rung<, Es ist ein religiöser Grund, auf dem der Dichter seine geistige Kraft
und sein kritisches Recht ausübt. Man denke nur an Pindar oder an Aischv-
los. So ergibt sich die Notwendigkeit, über die Beziehung, die zwisch~n
Glauben und Verstehen statthat, einmal im Blick auf die Freiheit des Spieles
nachzudenken.
Den tödlichen Ernst des Glaubens und die Beliebigkeit des Spiels zusam-
menzubringen. mag zunächst überraschend scheinen. In der Tat würde sich
der Sinn dieser Gegenüberstellung völlig aufheben, wenn man in der übli-
chen Weise unter Spiel und Spielen ein subjektives Verhalten verstünde und
nicht Vielmehr ein dynamisches Ganzes sui generis, das seinerseits auch die
Subjektivität dessen, der spielt, in sich einbezieht. Nun scheint mir gerade
ein solcher Begriff des Spiels, wie ich in meinem Buche gezeigt zu haben
hoffe', der eigentlich legitime und ursprüngliche zu sein. und deshalb ist der
Beziehung zv.Tischen Glauben und Verstehen unter dem Gesichtspunkt des
Spieles wirkliche Aufmerksamkeit zu schenken.
Das Hin und Her einer Bewegung, die innerhalb eines gegebenen Spiel-
raums abläuft, ist so wenig von dem menschlichen Spiel und von dem
spielenden Verhalten der Subjektivität abgeleitet, daß ganz im Gegenteil
auch fUr die menschliche Subjektivität die eigentliche Erfahrung des Spieles
darin besteht, daß hier etwas zur Herrschaft kommt, was ganz seiner eigenen
Gesetzlichkeit gehorcht. Der Bewegung in einer bestimmten Richtung ent-
spricht eine Bewegung in entgegengesetzter Richtung. Es bestimmt das
Bewußtsein des Spielenden, daß das Hin und Her der Spielbewegung von
einer Sonderbaren Freiheit und Leichtigkeit ist. Es geht wie von selber - ein
Zustand schwerelosen Gleichgewichts IIWÜ sich das reine Zuwenig unbe-
greiflich verwandelt -, umspringt in jenes leere Zuvie1«(Rilke). Noch die
Steigerung seiner Leistung, welche dem einzelnen aus der Wettkampfsitua-
tion Zllströmt, hat etwas wie Ergriffensein von der Leichtigkeit des Spieles,
in dem er seine Rolle hat. Was immer ins Spiel gebracht wird oder im Spiele
ist, hängt nicht mehr von sich selbst ab, sondern wird eben von dem
Verhältnis beherrscht, das wir Spiel nennen. Für den einzelnen, der als
spielende Subjektivität sich auf das Spiel einläßt. mag sich das zunächst wie
eine Anpassung ausnehmen. Man fUgt sich in das Spiel ein oder unterwirft
sich ihm, d. h. man verzichtet auf die Autonomie der eigenen Willensmacht.
Zwei Männer z. B., die miteinander eine Baumsäge fUhren, lassen das freie
Spiel der Säge dadurch möglich werden, daß sie, 'Nie es scheint, sich wech-

, [Go,. We<ke Bd. 1. 5.107ff.• 491ff.]


Zur Problematik des Selbstverständnisses 129

se1seitig aneinander anpassen, so daß der Bewegungsimpuls des einen genau


dann einsetzt, wenn der des anderen bis zu Ende ausgespielt war. Es sieht
also so aus, als wäre das eine Art Verständigung zwischen beiden, ein
willentliches Verhalten des einen so gut wie des anderen. Aber das ist noch
nicht das Spiel. Was das Spiel ausmacht, ist nicht so sehr das subjektive
Verhalten der beiden, die einander gegenüberstehen, als vielmehr die For-
mation der Bewegung selbst, die wie in einer unbewußten Teleologie das
Verhalten der einzelnen sich unterordnet. Es ist das Verdienst des Neurolo-
gen Viktor von Weizsäcker, die Phänomene dieser Art experimenten er-
forscht und in seinem Werk )Der Gestaltkreis~ theoretisch analysiert zu
haben. Ihm verdanke ich etwa auch den Hinweis, daß das spannungsvolle
Verhalten, durch das ein Ichneumon und eine Schlange einander Auge in
Auge in Schach halten, sich nicht als das jeweilige Reagieren des einen
Partners auf den Angriffsversuch des anderen beschreiben läßt, sondern ein
wechselseitiges Verhalten von absoluter Gleichzeitigkeit darstellt. Das ei-
gentlich Bestimmende ist auch hier weder der eine noch der andere, sondern
es ist die einheitliche Gestalt der Bewegung im ganzen, die das Bewegungs-
verhalten der einzelnen in sich einformt. In theoretischer Verallgemeinerung
bedeutet dies, daß das Selbst der einzelnen, ihr Verhalten wie ihr Verständnis
ihrer selbst, gleichsam in einer höheren Determination aufgeht, die das
eigentlich Bestimmende ist.
Das ist der Gesichtspunkt, unter dem ich die Beziehung von Glauben und
Verstehen sehen möchte. Das Selbstverständnis des Glaubens ist ja ganz
gewiß dadurch bestimmt, daß der Glaube, theologisch gesehen, nicht eine
Möglichkeit des Menschen ist, sondern eine Gnadentat Gottes, die dem
Glaubenden geschieht. Aber es ist schwer, diese theologische Einsicht und
religiöse Erfahrung im inneren Selbstverständnis des Menschen wirklich
festzuhalten, sofern es durch die moderne Wissenschaft und ihre Methodik
beherrscht wird. Der auf diese gegründete Begriff des Wissens duldet keine
Einschränkung seines Anspruchs auf Universalität. Aufgrund dieses An-
spruches stellt sich alles Selbstverständnis als eine Art Selbstbesitz dar, der
nichts so sehr ausschließt, als daß ihm etwas widerfahren kann, das ihn von
sich selbst trennt. Hier kann der Begriff des Spieles wichtig werden. Denn
das Aufgehen im Spiel, diese ekstatische Selbstvergessenheit, wird nicht so
sehr als cin Verlust des Selbstbesitzes erfahren, sondern positiv als die freie
Leichtigkeit einer Erhebung über sich selbst. Das läßt sich unter dem subjek-
tiven Aspekt des Selbstverständnisses überhaupt nicht einheitlich fassen.
Wie es der holländische Historiker Huizinga einmal formulierte, befindet
sich das Bewußtsein dessen, der spielt, in einem ununterscheidbaren Gleich-
gewicht von Glauben und Unglauben. »Der Wilde selbst kennt keinen
begrifflichen Unterschied zwischen Sein und Spielen. «
Aber es ist nicht nur der Wilde, der diese begrifflichen Unterschiede nicht
130 Ergänzungen

kennt. Der Anspruch des Selbstverständnisses, wo immer er erhoben wird-


und wo wird er nicht erhoben, wenn Menschen Menschen sind? -, bleibt in
wohl bestimmte Grenzen eingeschlossen. Das hermeneutische BC\vußtscin
wetteifert nicht mit jener Durchsichtigkeit seiner selbst, die nach Hcgcl das
absolute Wissen ist und die höchste Weise des Seins ausmacht. Von Selbst-
verständnis ist nicht nur im Bereich des Glaubens die Rede. Alles Verstehen
ist am Ende Sichverstehen, aber nicht in der Weise eines vorgängigen oder
schließlich erreichten Selbstbesitzes. Denn es verwirklicht sich dieses Sich-
verstehen immer nur im Verstehen einer Sache und hat nicht den Charakter
einer freien Selbstverwirklichung. Das Selbst, das \vir sind, besitzt sich nicht
selbst. Eher könnte man sagen, daß es sich geschieht. Und das sagt nun
wirklich der Theologe, daß der Glaube ein solches Ereignis ist, in dem ein
neuer Mensch gegründet wird. Und er sagt weiter, daß es das Wort ist, das
geglaubt und verstanden werden soll und durch das wir die abgründige
Unwissenheit über uns selbst, in der wir leben, überwinden. Der Begriff des
Selbstverständnisses hat eine ursprünglich theologische Prägung, wie sich
bei]. G. Hamann deutlich zeigt 4 • Er ist bezogen auf die Tatsache, daß wir uns
selbst nicht verstehen, es sei denn vor Gott.
Gott aber ist das Wort. Von früh an hat in der theologischen Besinnung das
menschliche Wort zur Veranschaulichung dessen gedient, ,vas das Wort
Gottes und das Mysterium der Trinität ist. Insbesondere Augustinus hat in
zahlreichen Variationen das übermenschliche Geheimnis der Trinität von
dem Wort und Gespräch her beschrieben, wie es zwischen Menschen ge-
schieht. Nun hat Wort und Gespräch unzweifelhaft ein Moment des Spieles
an sich. Die Weise, wie man ein Wort wagt oder >im Busen bewahrt<, wie
man von dem anderen ein Wort hervorreizt und von ihm Antwort erhält,
wie man selbst Antwort gibt, wie jedes Wort in dem bestimmten Zusam-
menhang, in dem es gesagt und verstanden wird, >Spiel hat<, all das weist auf
eine gemeinsame Struktur von Verstehen und Spielen. Es sind sprachliche
Spiele, in denen das Kind die Welt kennenlernt. Ja, alles, was wir lernen,
vollzieht sich in sprachlichen Spielen. Damit soll natürlich nicht gesagt sein,
daß wir, wenn wir sprechen, nur spielen und es nicht ernsthaft meinen.
Vielmehr ist es so, daß die Worte, die wir finden, unser eigenes Meinen
gleichsam einfangen und in Bezüge einftigen, die über die Augenblicklich-
keit unseres Meinens hinausweisen. Wann versteht das Kind, das der Spra-
che der Erwachsenen lauscht und sie nachspricht, die Worte, die es ge-
braucht? Wann verwandelt sich das Spielen in Ernst, wann hat der Ernst so
begonnen, daß er aufgehört hat, Spiel zu sein' Alle Festlegung der Bedeu-
4 Vgl. die in der Reihe der >Heidelberger Forschungen< erschienene Heidelberger Dis-

sertation von Renate Knall: )J.G. Hamann und Fr. H.Jacobi( Heidelb. Forschg. 7, 1963.
[Zum Ausdruck )Selbstverständnis< vgl. )Heideggers Wege<, S. 35ff. und Anm. 1O,jetzt
in Ges. Werke, Bd. 3.]
Zur Problematik des Selbstverständnisses 131

tungen von Worten wächst gleichsam spielend aus dem Situationswert der
Worte hervor. Genau wie die Schrift eine Festlegung des Lautbestandes der
Sprache darstellt und eben damit auf die Lautgestalt der Sprache selber
artikulierend zurückwirkt, ist auch das ein Hin und Her, worin das lebendi-
ge Sprechen und das Leben der Sprache sein Spiel hat. Niemand legt die
Bedeutung eines Wortes fest, und Sprechenkönnen heißt ganz gewiß nicht
allein, die festen Bedeutungen der Worte richtig erlernt haben und gebrau-
chen. Das Leben der Sprache besteht vielmehr in dem beständigen Weiter-
spielen des Spieles, das wir begannen, als wir sprechen lernten. Neuer
Wortgebrauch spielt sich ein und ebenso ungeachtet und ungewollt ge-
schieht das Absterben alter Worte. Es ist dieses fortspielende Spiel, in dem
sich das Miteinandersein der Menschen abspielt. Die Verständigung, die im
Miteinandersprechen geschieht, ist selber wieder ein Spiel. Wenn zwei mit-
einander sprechen, so sprechen sie dieselbe Sprache. Daß sie diese Sprache
weiterspie1en, indem sie sie sprechen, wissen sie selbst in keiner Weise. Sie
sprechen aber auch jeder ihre eigene Sprache. Die Verständigung geschieht
dadurch, daß Rede gegen Rede steht, aber nicht stehen bleibt. Im Miteinan-
dersprechen treten wir vielmehr ständig in die Vorstellungswelt des anderen
über, lassen uns gleichsam auf ihn ein und er sich auf uns. So spielen wir uns
aufeinander ein, bis das Spiel des Gebens und Nehmens, das eigentliche
Ges präeh, beginnt. Niemand kann leugnen, daß in solchem wirklichen
Gespräch etwas von dem Zufall, der Gunst der Überraschung, am Ende
auch der Leichtigkeit, ja der Erhebung ist, die zum Wesen des Spieles
gehören. Und wahrlich wird die Erhebung des Gespräches nicht als Verlust
des Se1bstbesitzes erfahren, sondern, auch ohne daß wir unserer selbst dabei
gewahr werden, als eine Bereicherung unserer selbst.
Nun scheint mir Ähnliches ftir den Umgang mit Texten zu gelten und
damit auch ftir das Verständnis der Verkündigung, die in der Heiligen Schrift
aufbewahrt ist. Das Leben der Überlieferung und erst recht das der Verkün-
digung besteht in solchem Spiel des Verstehens. Solange ein Text stumm ist,
hat sein Verständnis noch gar nicht begonnen. Aber ein Text kann zu reden
beginnen. (Wir sprechen hier nicht davon, welche Voraussetzungen daftir
gegeben sein müssen.) Dann aber sagt er nicht nur sein Wort, immer
dasselbe, in lebloser Starrheit, sondern gibt immer neue Antworten dem,
der ihn fragt, und stellt immer neue Fragen dem, der ihm antwortet.
Verstehen von Texten ist ein Sich verständigen in einer Art Gespräch. Das
bestätigt sich darin, daß sich im konkreten Umgang mit einem Texte das
Verständnis erst dann ganz ergibt, wenn das in ihm Gesagte sich in der
eigenen Sprache des Interpreten zur Aussage zu bringen vermag. Die Ausle-
gung gehört zur wesenhaften Einheit des Verstehens. Das, was einem gesagt
wird, muß man so in sich aufnehmen, daß es in den eigenen Worten der
eigenen Sprache spricht und Antwort findet. VoIlends gilt das rur den Text
132 Ergänzungen

der Verkündigung, der nicht wirklich verstanden werden kann, \veun er


nicht einem selber gesagt erscheint. Hier ist es die Predigt, in der Verständnis
und Auslegung des Textes erst ihre volle Wirklichkeit erhalten. Die Predigt
und nicht der erklärende Kommentar oder die exegetische Arbeit des Theo-
logen steht im unmittelbaren Dienste der Verkündigung, indem sie das
Verständnis dessen, was die Heilige Schrift sagt, nicht nur der Gemeinde
vermittelt, sondern zugleich selbst bezeugt. Die eigene Vollendung des
Verstehens liegt eben nicht in der Predigt als solcher, sondern in der Weise,
wie sie als Anruf vernommen wird, der an jeden ergeht.
Wenn das ein Selbstverständnis ist, das sich da ergibt, so ist es gewiß ein
sehr paradoxes, um nicht zu sagen negatives Verständnis seiner selbst, in
dem man sich zur Umkehr gerufen hört. Einen Maßstab für die theologische
Auslegung des Ncuen Testamentes bildet solches Selbstverständnis gewiß
nicht. Überdies sind die Texte des Neuen Testamentes selber schon Ausle-
gungen der Heiligen Botschaft und wollen selber nicht in sich, sondern als
Vermittler der Botschaft verstanden werden. Ob ihnen das nicht eine Frei-
heit des Sagens verliehen hat, die sie gleichsam selbst-lose Zeugen sein läßt'
So viel wir der neueren theologischen Forschung an Einsicht in das verdan-
ken, was die Schriftsteller des Neucn Testamentes selber theologisch meinten
- die Verkündigung des Evangeliums spricht durch alle diese Vermittlungen
hindurch, vergleichbar der Weise, wie eine Sage weitergesagt wird oder wie
eine mythische Überlieferung durch die große Dichtung ständig gewandelt
und erneuert wird. Die eigentliche Wirklichkeit des hermeneutischen Voll-
zuges scheint mir das Selbstverständnis des Interpretierenden so gut wie das
des Interpretierten zu übergreifen, }Entmythologisierung( geschieht daher
nicht nur im Tun des Theologen. Sie geschieht in der Bibel selbst. Aber
weder hier noch dort ist )Entmythologisierung( ein sicherer Garant richtigen
Verstehens. Das eigentliche Ereignis des Verstehens geht weit über das
hinaus, was durch methodische Bemühung und kritische Selbstkontrolle
zum Verständnis der Worte des anderen aufgebracht werden kann. Ja, es geht
weit über das hinaus, dessen wir selbst dabei innewerden. Es gilt von jedem
Gespräch, daß durch es etwas anders geworden ist. Vollends das Wort
Gottes, das zur Umkehr ruft und uns ein besseres Verständnis unserer selbst
verheißt, kann nicht verstanden werden wie das Gegenüber eines Wortes,
das man stehen lassen muß. Wir sind es überhaupt nicht selber, die da
verstehen. Es ist immer schon eine Vergangenheit, die uns sagen läßt: Ich
habe verstanden.
10. Die Kontinuität der Geschichte
und der Augenblick der Existenz
1965

Einen Beitrag zu einem Gespräch zu leisten, dessen erstes Wort man so


wenig kennt wie man das letzte Wort darüber hören wird, bedeutet ein
Risiko, das wir trotzdem immer wieder in Kauf nehmen müssen. So auch
hier, wo von dem Problem der Geschichte unter dem Aspekt zu sprechen ist,
den die Philosophie in den letzten Jahrzehnten zu entfalten gelernt hat.
Schon die Formulierung des Themas zeigt an, daß es sich hier um eine
gerade mit unserem Jahrhundert und seiner Philosophie verknüpfte Frage-
stellung handelt. Wenn wir uns daran erinnern, mit welcher Tiefenresonanz
und welcher Plötzlichkeit sich die Kritik an der historisch-liberalen Wissen-
schaft. insbesondere an der historischen Theologie des 19. Jahrhunderts. in
den beginnenden zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts vernehmen ließ,
dann versteht man, daß das Thema >Die Kontinuität der Geschichte und der
Augenblick der Existenz< eine Frage an die Legitimität der geschichtlichen
Fragestellung selber darstellt und damit eine Frage an ein ganzes Jahrhun-
dert.
Wenn wir uns kurz vor Augen fUhren, was vordem die philosophische
Reflexion auf die Geschichte zu ihrem wesentlichen Inhalte hatte und was
ihre wesentlichen Probleme waren, so möchte ich einmal an die Geschichts-
philosophie der südwestdeutschen Schule. d. h. den Heidelberger Neukan-
tianismus erinnern (wenn man die Erkenntnistheorie der geschichtlichen
Wissenschaften eine Geschichtsphilosophie nennen darf) und auf der ande-
ren Seite an die Geschichtsphilosophie Wilhelm Diltheys (wenn man die
Auflösung der Metaphysik in Geschichte eine Geschichtsphilosophie nen-
nen darf). Die erkenntnistheoretische Besinnung, welche der Heidelberger
Neukantianismus über Kant hinausgehend auf dic Geschichts"\vissenschaft
ausdehnte, stand unter der Fragestellung: Was unterscheidet den Gegenstand
der historischen Forschung von der Gegebenhcitsweise dessen, was der
Forschungsgegenstand der Naturwissenschaft ist? Was macht eine Tatsache
zur historischen Tatsache?
Um auf diese geschichtsmethodologische Fragestellung eine Antwort zu
geben, wurde die Lehre von dem Wertbezug des Gegebenen entwickelt: zu
134 Ergänzungen

einer historischen Tatsache wird etwas, was geschehen ist, durch den Bezug,
den es zu einem Wertsystem hat. Einer solchen Legitimierung der geschicht-
lichen Erkenntnis lag der Begriff der Kultureinheit und ihrer systematischen
Selbstauffassung in einer Philosophie der Werte zugrunde. Hier kann man
die kritische Frage stellen, inwieweit die wirkliche Geschichte in ihrer Gc-
schichtlichkeit so überhaupt gesichtet ""vird und nicht vielleicht nur das an
der Geschichte, was sich in einen Bereich unwandelbarer Geltung erheben
läßt.
Wenn wir auf der anderen Seite den entschiedenen Gegner dieser erkennt-
nistheoretischen Geschichtsphilosophie des Neukantianismus, Wilhelm
Dilthey, an den Konsequenzen seines eigenen Ansatzes bei einer geisteswis-
senschaftlichen Psychologie prüfen, so sehen wir, daß er zwar wirklich nach
der Wesensstruktur des Geschichtsverlaufs fragt und die in die Zeit gestreute
Kontinuität des Geschichtszusammenhangs mit angemessenen Begriffen zu
formulieren versucht. Aber der Ausgangspunkt fur dieses Unternehmen
bleibt bei Dilthey immer noch die Psychologie, die innere Selbstvergewisse-
rung des Menschen, die in seinen eigenen Erlebnissen liegt. Sie sollte auch
die Kontinuität des geschichdichen Geschehens legitimieren. Nun hat solche
Sc1bstvergewisserung der Kontinuität eines Geschehens ihre vorzüglichste
Ausprägung und ihre sogar literarisch fest gewordene AusfUhrung in der
Autobiographie. Dort begegnet wirklich der Versuch, aus der Fülle der
Erlebnisse, ihrer Abfolge und den Konstellationen, unter denen das eigene
Leben gestanden hat, im Rückblick so etwas wie einen Sinnzusammenhang,
die Einheit eines lebensgeschichtlichen Ganzen zu gewinnen. Aber es ist
doch unleugbar, daß Autobiographie das, was wir Geschichte nennen, nur
in partikularem Aspekt spiegelt. Was in der Autobiographie verstanden
\vird, steht ja immer im intimen Licht der Selbstdeutung des Betrachters. Es
ist erlebte Vergangenheit und selbsterlcbte Geschichte, die sich im Rückblick
zur verständlichen Einheit zusammenschließt. Auch wenn man das ganze
schwierige Problem der Selbsterkenntnis beiseiteläßt, bleibt dabei ganz
unklar, wie sich von dieser psychologischen Erlebniskontinuität aus jene in
ganz anderem, großem Maßstab gehaltene der geschichtlichen Zusammen-
hänge eigentlich ergeben soll.
Die Kritik, die an dem geschichtsphilosophischen Denken des 19. Jahr-
hunderts und insbesondere an den beiden gekennzeichneten Positionen Uil-
seresJahrhunderts geübt wurde, ist mit dem Stichwort: ,der Augenblick der
Existenv mindestens angezeigt. Das eigentliche Urfaktum, um das es hier
geht, ist offenbar nicht die Frage: wie ist ein Zusammenhang der Geschichte
rur unser erinnerndes und vergegenwärtigendes Bewußtsein legitim er-
kennbar und aussagbar? Das eigentliche Problem, das sich hier stellt und als
das der Geschichte erkannt wird, findet in dem Begriff der Geschicht{ichkeit
seinen Ausdruck.
Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz 135

Dieses Wort, das ja in einem schlichten Sinn längst üblich "var, ist insbe-
sondere durch den Grafen Yorck von Wartenburg, den philosophischen
Freund Wilhelm Diltheys, zum Begriff geprägt worden und durch Dilthey
in Umlauf gekommen, um schließlich in der Pliilosophie unseres Jarhun-
derts durch Heidegger und Jas pers seine besondere Zuspitzung zu erfahren.
Das Neue ist, daß dieser Begriff der Geschichtlichkcit eine ontologische
Aussage enthält. Schon Yorck sprach von dem )generischen Unterschied
von Ontischem und Historischemc Der Begriff der Geschichtlichkeit will
nicht etwas über einen Geschehenszusammenhang aussagen, daß es wirklich
so war, sondern über die Seins weise des Menschen, der in der Geschichte
steht und in seinem Sein selber von Grund auf nur durch den Begriff der
Geschichtlichkeit verstanden werden kann.
Auch der Begriff des Augenblicks gehört in diesen Zusammenhang. Er
meint nicht einen überhaupt geschichtlich bedeutenden, entscheidenden
Zeitpunkt, sondern den Augenblick, in dem die Geschichtlichkeit des
menschlichen Daseins erfahren wird.
In der Theologie hat der Begriff der Gcschichtlichkeit vor allem dank
Rudolf Bultmann Eingang gefunden. In seiner ungeheuer gelehrten und
konsequent durchgefuhrten exegetischen Arbeit stellten die Einsicht in die
Geschichtlichkcit des menschlichen Daseins und der Augenblick der Ent-
scheidung geradezu die Leitbegriffe dar. So wurde etwa amJohannesevan-
gelium die Frage der erwarteten Endzeit, wie sie in der mythischen Verklä-
rung der Abschiedsreden leuchtet, exegetisch auf den eschatologischen Au-
genblick reduziert, der jeden Augenblick sein kann und der als der Augen-
blick der Glaubensentscheidung Annahme oder Ablehnung der christlichen
Botschaft meint. Es ist also ein wirklich aktuelles Thema, das mit diesem
Begriff Zur Diskussion steht und das seinen veränderten Akzent darin hat,
daß uns, im Rückschlag zu jener radikalen Zuspitzung der Geschichtlichkeit
auf den )Augenblick<, die Kontinuität der Geschichte erneut zum Problem
geworden ist.
Die Kontinuität der Geschichte weist zurück auf das Rätsel der verfließen-
den Zeit. Daß die Zeit kein Stehen kennt, ist ja das alte Problem der
aristotelischen und der augustinischen Zeitanalyse. Insbesondere die letztere
fuhrt uns die ontologische Verlegenheit vor, die das griechische, das antike
Denken überfällt, wenn es aussagen soll, was die Zeit ist. Was ist das, was in
keinem Augenblick wahrhaft als das, was da ist, mit sich selber identifiziert
werden kann? Denn selbst das Jetzt ist in dem Augenblick, in dem ich es als
Jetzt identifiziere, schon nicht mehr jetzt. Das Abrollen der Jetzte in eine
unendliche Vergangenheit, das Heranrollen aus einer unendlichen Zukunft,
läßt die Frage nach dem, was jetzt ist und was dieser fluß der vergehenden,
der kommenden und vergehenden Zeit eigentlich ist, ratlos.
Die ontologische Problematik der Zeit besteht also darin, daß ihr eigenes
136 Ergänzungen

Sein mit den Mitteln der Seinsphilosophie, die das Altertum entwickelt
hatte, nicht sag bar und nicht bcgreifbar war. Mir scheint, daß es noch immer
das gleiche Problem ist, das sich in dem Begriff der Kontinuität der Ge-
schichte spiegelt_ Damit soll nicht gesagt sein, daß die Rede von der Konti-
nuität der Geschichte unmittelbar aus jener beständigen Erfahrung der im-
mer wieder abrollenden Jetzte ihre Problematik empfangt. Vielleicht liegt
der Erfahrung von Kontinuität noch etwas ganz anderes zugrunde als die
Erfahrung des unaufhörlichen Verfließens der Zeit_ Die im Fragen nach dem
Sein der Geschichte gefragte Kontinuität der Geschichte gipfelt letzten En-
des darin, daß es aller Vergänglichkeit zum Trotz überhaupt kein Vergehen
gibt, das nicht immer zugleich ein Werden ist_ Darin scheint die Wahrheit des
historischen Bewußtseins zu ihrer Perfektion gekommen, daß es im Verge-
hen immer auch Werden, im Werden immer auch Vergehen gewahrt und
immer wieder aus dem endlosen Vorüberfluten von Veränderungen die
Kontinuität eines geschichtlichen Zusammenhangs aufbaut.
Die Folge einer solchen Grundanschauung ist nun, daß alles, was in
diesem fluß der Geschichte als Vergehen oder was als Werden erfahren wird,
von den Setzungen abhängt, durch die man dieses sozusagen abfließende
Band von Ereignissen artikuliert und differenziert. Es ist ein extremer
Nominalismus der Grundhaltung, der alle Grenzsetzungen innerhalb des
Geschehens, alle bedeutungsmäßigen Auszeichnungen des Geschehens, als
Untergang oder als Aufgang, als Werden oder als Vergehen, in Wahrheit
relativiert. Einteilungen der Geschichte sind Einteilungen unseres Bedeu-
tungsentscheidungen fallenden Bewußtseins_ Weil sie letzten Endes willkür-
lich sind, haben sie keine echte geschichtliche Wirklichkeit_ Von dieser in den
Voraussetzungen der griechischen Ontologie gründenden Anschauung von
der Geschichte gilt es kritisch zurückzutreten und ein Grundphänomen vor
Augen zu stellen, das den falschen nominalistischen Ansatz dieser Betrach-
tungsweise offenlegt.
Es gibt so etwas wie Diskontinuität im Geschehen. Wir kennen Diskonti-
nuität im Geschehen in der Weise der Epochenerfahrung. 5 Daß es so etwas
wirklich gibt, d_ h_ daß das nicht nur unserem nachträglich ordnenden,
klassifizierenden und auf Beherrschung gerichteten Erkenntnisinteresse ent-
springt, sondern eine echte Wirklichkeit der Geschichte selber meint, läßt
sich mit phänomenologischen Mitteln erweisen. Es gibt so etwas wie ur-
sprüngliche Erfalirung eines Epocheneinschnittes_ Die Epochen der Ge-
schichte, die der Historiker unterscheidet, wurzeln in echten Epochenerfah-
rungen und müssen sich am Ende in solchen ausweisen. Zwar ist Epoche
ursprünglich nichts \\'eiter als ein astronomischer Begriff und meint eine

5 {Vgl. dazu meinespätereArbeitl Über leereunderfiillteZeit(, KI. Sehr. III, S. 221- 236,

jetzt in Gcs. WerkeBd. 4, S.137-153.]


Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz 137

Sternkonstellation, von der aus man rechnete. Im geschichtlichen Sinne


heißt Epoche entsprechend ein Einschnitt, von dem aus man eine neUe
Epoche rechnet. Aber heißt das, daß das immer nur Konvention und Willkür
ist? Die geschichtliche Konstellation, die einen Epocheneinschnitt bezeich-
net, ist doch nicht ein äußeres Maß, an dem man Zeit abliest, sondern
bestimmt den Zeitinhalt selbst, d. h. das, \\'as wir Geschichte nennen. Mirist
immer besonders anschaulich gewesen - vielleicht auch wegen seiner alter-
tümlichen Ausdrucksweise -, was Kant einmal von der französischen Revo-
lution gesagt hat: ))Ein solches Ereignis vergißt sich nicht.« Daß ein Ereignis
sich nicht vergißt - natürlich will dieser Ausdruck nur sagen: daß keiner es
vergessen kann -, liegt offenbar an der Bedeutung dieses Ereignisses. Es ist
so gewesen, daß es keiner vergessen kann, und deswegen kann die Sprache
das Ereignis \vie ein handelndes Wesen betrachten und sagen: das Ereignis
vergißt sich nicht. Hier weist die Sprache auf etwas hin. Da ist etwas, das
sich hält und behält im Bewußtsein der Menschen, in dem soviel vergessen
wird. Darin liegt die Erfahrung eines Unterschieds und einer Diskontinui-
tät, eines Anhaltens inmitten der Unaufhörlichkeit der Veränderungen.
Wenn einer heute sagt: wir sind in die Epoche der Atomenergie, atomicagc,
eingetreten, so ist die Meinung - und schließlich haben wir Grund, sie alle
ernst zu nehmen -, daß damit etwas derartig Neues geschehen ist, daß es
nicht so schnell durch wieder etwas N eues entwertet \verden wird und daß
wir im Angesicht dieses Neuen umgekehrt das Alte auf eine qua1itativ
geschiedene und eindeutige Weise alt nennen müssen. So hat sich rur uns der
Krieg als etwas qualitativ und fundamental anderes bestimmt, als er vor
diesem epochemachenden Ereignis der Entdeckung der Atomkraft "var. Es
ist etwas geschehen, auf Grund dessen das Alte alt ist. Zeit selbst ist gleich-
sam alt geworden, wenn etwas Derartiges geschieht, und zwar nicht nur in
dem Sinn, daß die Vergangenheit nun wie ein Abgesunkenes und nicht mehr
Aktuelles und Gegenwärtiges da wäre, sozusagen ein gleichmäßig über-
schaubarer Zeitraum des Alten, sondern gerade auch die eigene Zukunft
steht unter der epochemachenden Bedeutung eines epochemachenden Er-
eignisses. Daß es das wirkliche Geschehen selbst ist, das sich so darstellt,
dafUr, meine ich, gibt es eine reiche phänOlllcnal aufweisbare Erfahrung.
Selbstverständlich können wir niemals mit Sicherheit wissen, ob wir
einem Ereignis mit Recht eine wirklich epochemachende Bedeutung zuspre-
chen. Es genügt, daß aller Unsicherheit zum Trotz, die in jeder Zukunfts-
aussage liegt, mit diesem Ereignis selber und seinem unmittelbaren Sichaus-
wirken die Überzeugung gegeben ist: es war epochemachend. Analoge
Erfahrungen machen wir auch außerhalb der großen Schieksalserfahrungen
der Geschichte, und ich möchte drei Formen solcher Epochenerfahrungen
entfalten.
Das eine ist die Alterserfahrung. Es ist eine Erfahrung, die, wie ich meine,
138 Ergänzungen

als Diskontinuität unmittelbar einem jeden begegnet. Zwar haben wir alle
unser Geburtsdatum und leben nach derselben Zeitrechnung, nach der wir
genau auf Tag und Stunde angeben können, wie alt wir sind, und doch ist das
Reifen, ct",.ra das Erwachsenwerden eines Kindes, kein Vorgang, den man
mit dem Mittel des Messens der verfließenden Zeit irgendwie verfolgen
könnte. Denn plötzlich ist das Kind kein Kind mehr, plötzlich ist all das
unwiederholbar vorbei und nicht mehr da, was ehedem das Ganze dieses
vertrauten Wesens ausmachte. Oder ein anderes Beispiel, das uns Älteren
nahe liegt: daß man, \venn man jemanden wiedersieht, das Gefühl hat: ach,
der ist aber alt geworden. Diese Erfahrung meint auch nicht, daß er im
Kontinuum der verfließenden Zeit nun einen bestimmten Punkt erreicht
hat, sondern fur sich selbst und für die, die mit ihm in Berührung waren, ist
er anders geworden. Das Frühere, die Jugend, die Spannkraft früherer Jahre
ist vorbei, mag auch vie11cicht etwas sehr Schönes, vielleicht etwas sehr
Reiches daraus geworden sein, was im Drang der drangvolleren Jahre so
nicht in Erscheinung getreten war.
Oder nehmen wir ein anderes Beispiel, das uns durch die älteren Zeitrech-
nungen besonders vertraut ist. Der Übergang von einer Generation zur
anderen, etwa der Tod eines Herrschers und der Herrschaftsantritt seines
Nachfolgers, sei es in gebundenen Dynastien oder auch in revolutionären
Formen, bedeutet einen Epocheneinschnitt. Daß von einem solchen Ereig-
nis aus datiert wird, geschieht nicht deshalb, weil es besonders bequem und
ftir alle sichtbar ist wie ein Sternenstand, sondern weil es für das Leben der
Menschen eines Volkes in der Tat et\vas derart gemeinsam Bedeutendes ist,
daß alles von nun an anders ist, und das, was vorher war, nicht mehr ist. Die
Epochenerfahrung erfahrt also eine innere Diskontinuität des Geschehens
selber, die nicht erst nachträglich durch historiographische Klassifizierung
registriert wird und legitimationsbedürftig wäre. Ja mehr noch, ich würde
sagen, gerade so erfahrt man die Wirklichkeit der Geschichte. Denn was da
erfahren \vird,ist nicht mehr nur ein in völlige Vergegenwärtigung zu he-
bendes und anzueignendes Gewesenes, sondern etwas, was dadurch, daß es
geschehen ist, da ist und nie ungeschehen gemacht \verden kann.
Das dritte Beispiel, das ich im Auge habe, ist die >absolute Epoche< der
Zeitenwende, jene Epochenerfahrung, die durch Christi Geburt in das anti-
ke Gcschichtsbewußtscin getreten ist. Wenn ich von dieser Erfahrung etwas
sage, so deswegen, weil sie nicht nur aus Gründen religiöser Wahrheit,
sondern aus begriffs geschichtlichen Gründen eine absolute Epochenerfah-
rung heißen muß. Denn mit dieser Erfahrung des neuen Bundes und mit der
christlichen Heilsbotschaft ist die Geschichte als Geschichte in einem neuen
Sinn entdeckt \vorden. Daß Geschichte eine menschliche Schicksalserfah-
rung ist, als das Auf und Ab von Glück und Unglück, als das Sich-Fügen und
Sich-Sperren der Umstände für ein glückliches und gedeihliches Tun oder
Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz 139

für ein schmerzvolles Scheitern - das alles ist selbstverständlich eine ur-
sprüngliche Erfahrung des Menschen. Nur darum kann es gehen, welche
Bedcutungsaspckte für die Deutung dieser Erfahrungen möglich sind und
welchen ncuen Deutungsaspekt die absolute Epochenerfahrung des Chri-
stentums da gebracht haben könnte.
Es liegt nahe, dies Neue mit der griechischen Geschichtserfahrung zu
vergleichen. Wenn wir uns die Erfahrung der Geschichte in der Art, wie sie
die Griechen gedeutet haben, vor Augen stellen und dabei das hervorheben,
was uns die Abhebung des christlichen Geschichtsdenkens ermöglicht, dann
ist bei den Griechen Geschichte letzten Endes als Abweichung von der
Ordnung gedacht.
Das was eigentlich ist, ist die perihodos, die ,Periode<, der sich gleichblei-
bende Umschwung des Himmels. Das was eigentlich ist, sind die bleiben-
den Wahrheiten menschlichen Zusammenlebens, die Sittenordnungen, die
Staatsordnungen, die Völkerordnungen und dergleichen mehr. Kein Den-
kender kann das Sein des menschlichen Daseins anders sehen als im Blick auf
die Konstanten des menschlichen Seins. Ob es die Tafel der Tugendbegriffe
der antiken Ethik ist oder ob es die Ideale eines geordneten Staates, einer
geordneten Polis sind, einer Ordnung, wie sie am Ende der Philosoph in
ihrer höchsten Perfektion vor Augen stellen und dem menschlichen Handeln
zum Vorbild aufrichten soll - Geschichte ist Abweichung von solchen
bleibenden Ordnungen. Sie ist das unaufhebbare Element menschlicher
Unordnung in einem geordneten Ganzen. 6
Demgegenüber ist von dem neuen Geschichtsbewußtsein zu sagen -
wobei ich dahingestellt sein lasse, wie weit es ein jüdisches Geschichtsbe-
wußtsein gab, das dem vorausgeht und das in gewisser Weise durch die
christliche Geschichtserfahrung nur modifiziert und ins Universelle gewen-
det wird -, daß zwar auch nach christlicher Überzeugung eine Ordnung in
der Geschichte nicht erkennbar ist, aber es gibt sie, als eine providentielle
Ordnung, als einen Heilsplan. In dem ständigen Hin und Her und Auf und
Ab des Geschehens mag der Sinn des Ganzen für unsere endliche und
begrenzte Erkenntnismöglichkeit noch so unkenntlich sein, weil wir die
Absichten und das Ziel des Ganzen nicht sehen. Gleichwohl ist mit dem
Heilsglauben der christlichen Verkündigung unaufhebbar gesetzt, daß das
ungeordnet Scheinende in einem höheren Aspekt eine Ordnung besitzt und
daß insofern die Geschichte eine vielleicht nur zu ahnende, jedenfalls aber
eine in der Providenz Gottes unbestreitbar wirkliche Heilsordnung ist.
Es ist sehr eindrucksvoll gezeigt worden, etwa durch Kar! Löwiths Buch
>Weltgeschichte und Heilsgeschehen<, wie dieser christliche Aspekt der Ge-
schichte eine Form der Geschichtsphilosophie heraufgeführt hat, die den

6 [Vgl. meine Rezension zu G. Rohr in Ges. WerkeBd. 5, S. 327-331]


140 Ergänzungen

Heilsplan zu wissen beansprucht, und daß in letzter Zuspitzung daraus der


Anspruch erwuchs, das Geschehen der Geschichte so zu wissen, seine Ord-
nung so zu erkennen, wie das die Naturwissenschaft dem Geschehen der
Natur gegenüber tut, und da von solchem Wissen aus das Planen und das
Machen möglich wird, ist es die Gestalt der pohtischen und historischen
Utopie, die als das letzte verweltlichte Ende der christlichen Geschichtsphi-
losophie erscheint.
Diese Form der utopischen Geschiehtserwartung, die am Ende als das
verweltlichte Resultat der christlichen Geschichtsphilosophie hervorgetre-
ten ist, steht nicht nur mit der christlichen Grunderfahrung von der Uncin-
sehbarkeit des göttlichen Ratschlusses in einem hoffnungslosen Konflikt, sie
hat - wie ich meine - ihren immanenten Widerspruch an der Endlichkeit des
menschlichen Daseins überhaupt, dessen planende Vorausschau dem An-
spruch, aus der begriffenen Geschichte die notwendig sich ergebende Zu-
kunft abzuleiten, nicht gewachsen ist.
Findet solche Geschichtsphilosophie überhaupt den Zugang zur Wirklich-
keit der Geschichte? Hier scheint mir die Epochenerfahrung als solche das
Gegenteil zu bezeugen, nämlich daß die Wirklichkeit der Geschichte nicht in
der wissenden Vergegenwärtigung des Geschehenen und der wissenden
Beherrschung des Geschehens, sondern in der Erfahrung des Geschickes fUr
uns gegeben ist. Die Erfahrung, die wir machen, daß etwas anders gewor-
den ist, daß alles Alte alt und etwas Neues da ist, ist die Erfahrung eines
Überganges, der nicht etwa Kontinuität garantiert, sondern im Gegenteil
Diskontinuität aufweist und die Begegnung mit der Wirklichkeit der Ge-
schichte darstellt,
Immer wieder habe ich mich in einen kleinen Text des Dichters Hölderlin
vertieft, der mit den Worten beginnt: )Das untergehende Vaterlande Es ist
eine theoretische Studie zu dem Schauspiel über den Tod des Empedokles, in
dem Hölderlin in all den wechselnden Fassungen und Motivierungen am
Ende doch stets den Untergang des Helden als ein Opfer, das er der Zeit
bringt, und damit als die Gründungstat einer Zukunft versteht. In diesem
Traktat, der so verzwickt geschrieben ist, wie man nur in Schwaben schrei-
ben darf, wird entwickelt, daß in der Tat ein jeder Augenblick ein Augen-
blick des Übergangs, und das heißt ein Übergehen und sich Absetzen von
zwei Wirklichkeiten gegeneinander ist, einer untergehenden, sich auflösen-
den Wirklichkeit und einer kommenden und werdenden Wirklichkeit. Höl-
derlin bezeichnet diese von mir an der Differenz des Neuen und Alten
ausgevviesene Epochenerfahrung ausdrücklich durch den Gegensatz der
>idealischen< Auflösung und des )realen< Werdens des Neuen. Dabei leitet ihn
die Anschauung von dem Ganzen als der Einheit des Lebendigen. Das macht
ja das Leben aus, daß sich die Einheit des Organismus im beständigen
Wechsel der Stoffe erhält und daß injeder Auflösung zugleich auch wieder
Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz 141

Ncues entsteht. Im Wechsellauf der menschlichen Geschichte nimmt das die


Form an, daß mit der Erfahrung des Ncuen das sich Auflösende überhaupt
erst in seiner eigenen Einheit erfahren wird. Was Hölderlin uns allen hier zu
sagen hat, ist dies, daß das Alte, d. h. eine Weise des Sich-Verhaltens zum
Alten, zur eigenen Wirklichkeit des werdenden Neuen gehört. Daß das rur
Hölderlin vor allem in der großen Form der Tragödie geschieht, in jener
tragischen Affirmation, die zu dem Untergang ja sagt und eben durch die
tragische Versöhnung Leben neu werden läßt, darf als nicht unmittelbar in
den Gedanken gehörend, den ich hier zu entwickeln suche, an den Rand
rücken. Auch woBen wir ganz absehen von dem tragischen Wort und damit
von der Form, in der dichterisch ein solches idealisches Werden des Alten
sich gegenüber dem realen Neuen absetzt. Es genügt, daß wir auf unsere
eigene geschichtliche Erfahrung als solche sehen. Auch in ihr ist enthalten,
daß Wissen und Sich-Bewußt-Machen nicht ein Vergegenwärtigen von
etwas Abgeschlossenem als solchem ist, sondern als Vergegenwärtigen nur
vom N euen her und auf das Heute hin seine Möglichkeit und seinen Vollzug
gewinnt. Das aber heißt: alle solche Vergegenwärtigung und alles solche
Wissen ist selbst ein Geschehen, ist selber Geschichte. Nicht erst durch das
Hinzukommen eines sich wiegenden Dichtergeistes über einer vergehenden
und sich auflösenden geschichtlichen Welt baut sich die Idealität geschichtli-
cher Bedeutung auf, sondern diese Welt ist so, daß sie selber sich nicht
vergiBt, daß sie ihre eigene Idealität eben damit hat und gewinnt, daß sich
neue Gestalten des Lebens heraufarbeiten aus der schöpferischen Unendlich-
keit des Möglichen. Die tragische Affirmation, das Idealisch-Sehen der
Vergangenheit, ist zugleich Erkennen einer seienden und bleibenden Wahr-
heit.
Damit rühre ich an einen Aspekt des Ganzen, der mir aus meinen eigenen
Arbeiten besonders wesentlich geworden ist. Was erhebt den tragischen
Helden zu einer solchen Schicksalsfigur, daß in seinem Untergang das Leben
sich erneuert? Was ist die Katharsis, diese neue Furchtlosigkeit, mit der der
Zuschauer die tragische Katastrophe aufnimmt? Was ist es eigentlich, das in
dieser Erfahrung Wahrheit ausmacht?
Was wir dabei Wahrheit nennen, ist, daß es erinnerte Wirklichkeit ist.
Nicht alles, was geschieht, halten wir ja erinnernd als wahr, als bedeutsam
fest. Nicht nur der tragische Dichter, auch die unermüdliche Idealisierungs-
kraft unseres eigenen Gemüts vollzieht ständig Erhebung ins Idealische,
Erhebung des Gewesenen und Vergehenden in ein Bleibendes und Wahres.
Als die tiefste Erfahrung dessen, was ich hier beschreibe, ist mir immer
erschienen, wenn wir von dem Tode eines uns bekannten Menschen erfah-
ren: wie sich da plötzlich die Seins weise dieses Menschen verändert, wie er
bleibend geworden ist, reiner, nicht notwendig besser in einem moralischen
oder liebevollen Sinne, aber in seinen bleibenden Umriß geschlossen und
142 Ergänzungen

sichtbar geworden - offenbar allein dadurch, daß wir nichts mehr von ihm
erwarten können, nichts mehr von ihnl zu erfahren haben und nichts Liebes
mehr ihm tun dürfen. Die Erfahrung, die ich an diesem extremen Beispiel
beschreibe, scheint mir eine Art Erkenntnis Zu sein. Was da herauskommt,
ist Wahrheit. Es ist nicht die übliche oder sogenannte Beschönigung, von der
hier die Rede ist, sondern es ist dieses Sich-Erheben über das beständig
Variierende und alle festen Grenzsetzungen, alle festen Konturen Verfließen-
de des geschichtlichen Zeitenstromes. Daß hier plötzlich etwas steht und
stehen bleibt, das scheint einer Wahrheit zu Worte zu verhelfen.
Von dieser Seite her ist nun nicht nur die eigentliche Erfahrung der
Diskontinuität, sondern ebenso die der Kontinuität der Geschichte zu ma-
chen. Was ich eben beschrieb, läßt sich in dem Kierkegaardschen Begriff des
,Augenblickes< wiederfinden, in jenem erflillten Blick des Auges, der nieht
mehr eine bloße Marke im gleichmäßigen Verfließen der Veränderung
meint, sondern der zur Wahl nötigt und einmalig ist dadurch, daß er jetzt ist
und nie \J.riederkommt. Von diesem Punkte her wird die Kontinuität der
Geschichte nicht mehr als jenes vergegenwärtigte Kontinuum des ablaufen-
den Zeitgeschehens gedacht, sondern es wird die Frage an die Erfahrung der
Diskontinuität gestellt, wie sie Kontinuität und in welchem Sinne sie Konti-
nuität enthält.
Ich habe in meinen eigenen Versuchen etwa so formuliert: Wenn uns etwas
in der Überlieferung begegnet, so daß wir es verstehen, ist das selber immer
Geschehen. Auch dann geschieht einem etwas, wenn man aus der Überliefe-
rung ein Wort sozusagen annimmt, ein Wort sich sagen läßt. Das ist gewiß
nicht ein Verstehen der Geschichte als eines Verlaufs, sondern ein Verstehen
dessen, was uns in der Geschichte als uns ansprechend und angehend be-
gegnet.
!eh habe daflir den vielleicht etwas zu vieldeutigen Ausdruck gewählt, daß
all unser geschichtliches Verstehen durch ein wirkungsgeschichtliches Be-
wußtsein bestimmt ist.
Was ich damit sagen will, ist zunächst, daß wir uns nicht aus dem Gesche-
hen selber herausheben und sozusagen ihm gegenübertreten mit der Folge,
daß etwa die Vergangenheit uns so zum Objekt würde. Wenn ,"vir so denken,
kommen wir viel zu spät, um die eigentliche Erfahrung der Geschichte
überhaupt noch in den Blick zu bekommen. Wir sind immer schon mitten in
der Geschichte darin. Wir sind selber nicht nur ein Glied dieser fortrollenden
Ke[te, um mit Herder zu sprechen, sondern wir sind injedem Augenblick in
der Möglichkeit, uns mit diesem aus der Vergangenheit zu uns Kommenden
und Überlieferten zu verstehen. Ich nenne das )wirkungsgeschichtliches
Bewußtsein<, weil ich damit einerseits sagen will, daß unser Bewußtsein
wirkungsgeschichtlich bestimmt ist, d. h. durch ein wirkliches Geschehen
bestimmt ist, das unser Bewußtsein nicht frei sein läßt im Sinne eines
Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz 143

Gegenübertretens gegenüber der Vergangenheit. Und ich meine anderer-


seits auch, daß es gilt, ein Bewußtsein dieses Bewirktseins immer wieder in
uns zu erzeugen - so \~lie ja alle Vergangenheit, die uns zur Erfahrung
kommt, uns nötigt, mit ihr fertig zu werden, in gewisser Weise ihre Wahr-
heit auf uns zu übernehmen.
Ich habe mich dafur vor allem auf die Sprachlichkeit alles Verstehens
berufen. Ich meine damit ganz schlichte Dinge und gar nichts Geheimnis-
volles. Es geht einfach darum, daß unser historisches Bewußtsein, das mit
dem Wissen um das Anderssein, die Fremdheit fremder historischer Welten,
getränkt ist, das seine eigenen Begriffe und die Begriffe jener fremden Zeiten
und Welten mühsam, mit einer ungeheuren Anstrengung des denkenden
historischen Erkennens, auseinanderzuhalten strebt, doch am Ende beide
Begrifflichkeiten immer miteinander vermittelt. Ein Beispiel: Die fremdeste
Rechtsform noch, die uns aus ältesten Kulturen überliefert ist, wird als eine
Rechtsform erfaßt, die im Gesamtraum des rechtlich Möglichen Verständnis
findet. Es ist nicht nur eine llekundung unseres historischen Bewußtseins,
wenn man explizieren kann, wie man etwa merkwürdige babylonische
Urkunden (oder worum es sich handeln mag) als Rechtsurkunden versteht
und so, daß man sich darüber verständigen kann. Nicht nur dieser histori-
sche Abstand wird durch die Spraehlichkcit überbrückt, sondern vor aller
spezifisch historischen Bewußtheit ist solche Vermittlung am Werk. Das
macht gerade die zentrale Stellung des Phänomens der Sprachlichkeit aus,
daß es nicht nur das Verfahren der historischen Interpretation beherrscht,
sondern ebenso die Form ist, in der von jeher Vergangenheit, Vergangenes,
tradiert wurde. Wir sind gewohnt, es mit einem gewissen historischen
Hochmut anzusehen, wie die Schriftsteller des Altertums oder des Mittelal-
ters in ganz naiver typologischer oder moralistischer Weise in den Zeugnis-
sen der Vergangenheit unmittelbare Bestätigungen dessen, was sie selber ftir
wahr halten, in Anspruch nahmen. Es fehlt da, wie wir sagen, an histori-
schem Sinn. Aber die Weise, 'Wie sich ein solches unmittelbar moralisieren-
des oder sonstwie artikuherendes Verstehen oder Aneignen vergangener
Überlieferung vollzieht, ist ebenso ein Sprachgeschehen, wie jeglicher hi-
storische Deutungsvorgang in der modernen Wissenschaft. Nur, daß wir es
da am deutlichsten sehen, sofern Worte, die unverändert übernommen
werden, einen plötzlich ganz veränderten Sinn haben. Jeder naiv aneignende
Umgang mit dem Überlieferten vollzieht eine Applikation an den Augen-
blick, die wir in höchstem Maße unwissenschaftlich und damit falsch fmden
mögen und die doch mitunter zu jenen produktiven Mißverständnissen
gehört, aus denen der Überlieferungszusammenhang der Kulturen lebt.
Etwas von solchem Zusammenschluß mit uns selbst bleibt noch in aller
historischen Erkenntnis lebendig.
Daß ich Sprache als die Weise der Vermittlung ansehe, in der Kontinuität
144 Ergänzungen

der Geschichte über aBc Abstände und Diskontinuitäten zustandekommt,


scheint mir durch die angedeuteten Phänomene wohlbegründet. Darin liegt
aber als die eigentliche Wahrheit: Sprache ist immer nur im Gespräch.
Sprache vollzieht sich selbst und hat ihre eigentliche Erflillung nur in dem
Hin und Her des Sprechcns, in dem ein Wort das andere gibt und in dem sich
die Sprache, die wir miteinander fUhren, die Sprache, die wir zueinander
finden, auslebt. Jedcr Begriff von Sprache, der sie ablöst von der unmittelba-
ren Situation derer, die sich im Reden und Ant\vorten verstehen, verkürzt
sie um eine wesentliche Dimension. Die Unmittelbarkeit des Sprachvoll-
zugs enthält eine Ant\vort auf die Frage, wie sich die Kontinuität der Ge-
schichte all den Scheidungen und Entscheidungen zum Trotz, die flir jeden
von uns in jedem Augenblick fallen, dennoch bewegt und ermöglicht. Denn
auch das ist Gespräch: die Weise, wie vergangene Texte, die Weise, wie
vergangene Kunde, die Weise, wie Formungen des bildnerischen Könnens
der Menschheit uns erreichen. Darin ist nichts von un beteiligtem Gegen-
über, das ftir den Forscher die Fülle seiner Objekte ist. Solche Erfahrung
steht vielmehr in einem Kommunikationsgeschehen, das die Grundstruktur
des Gespräches hat. Dazu gehört, daß nicht einer immer dasselbe sagt und
der andere auch immer das seine, sondern daß einer auf den anderen hört
und, weil er auf ihn gehört hat, anders antwortet, als wenn der andere nicht
gefragt oder gesprochen hätte. Genau diese Struktur, daß einer anders
Antwort gibt, weil er anders gefragt wird, und daß er fragt, weil er auf eine
Antwort eine Frage hat, scheint mir auch ftir die Kommunikation mit der
geschichtlichen Überlieferung zu gelten. Nicht nur das Kunstwerk - jede
menschliche Kunde, die wir vernehmen, redet zu uns.
Aus dem Gedankengang, den ich entwickelt habe, ergibt sich, daß die
Antithese von Kontinuität der Geschichte und Augenblick der Existenz, wie
sie im Thema zunächst anklingt, eine falsche Zuspitzung ist. Ich zeigte, daß
gerade in der Auszeichnung des Augenblicks, Diskontinuität im Fortgang
des Geschehens zu sein, die Möglichkeit bcgründet liegt, geschichtliche
Kontinuität zu wahren und zu erfahren. Kontinuität ist nicht die beruhigte
Gewißheit, die dem Extrem des perfekten Historismus einwohnt, daß über-
all, wo etwas untergeht, das Geschehen ebenso als ein Neuanfang artikuliert
werden kann, weil Werden und Vergehen die eigentliche Wirklichkeit jedes
Augenblicks sind und als Übergang die Kontinuitat des Geschehens verbür-
gen. Das ist durchaus nicht eine fraglose Gewißheit, sondern im Gegenteil
eine jedem menschlichen Erfahrungsbewußtsein gestellte Aufgabe. Sie er-
fliHt sich in Überlieferung und Tradition. Aber darin ist nichts von der
beruhigenden Sicherheit, die all das hat, was sich von selbst vollzieht.
Überlieferung und Tradition haben nicht die Unschuld des organischen
Lebens. Sie können auch mit revolutionärer Leidenschaft bekämpft werden,
wo sie als unlebendig und starr empfunden werden. Ihren wahren Sinn
Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz 145

bnvähren Tradition und Überlieferung nicht im beharrlichen Festhalten am


Hergebrachten, sondern darin, daß sie einen erfahrenen und beständigen
Partner in dem Gespräch darstellen, das wir sind. lndenl sie uns antworten
und soweit sie damit neue Fragen aufgeben, bC\veisen sie ihre eigene Wirk-
lichkeit und ihre fortwirkende Lebendigkeit.
Was ein vergegenwärtigendes Bewußtsein als das Althergebrachte und
Bewährte weiß und dem Neuerungswillen entgegensetzt, ist gar nicht le-
bendige Tradition. Ihre eigentliche Wahrheit liegt tiefer, in einem Bereich,
der gerade dort wirksam wird, wo wir unserer Zukunft entgegengehen und
das Neue erproben. Ich rechne es zu den gößten Einsichten, die mir durch
andere geworden sind, daß Heidegger einmal, vor Jahrzehnten, uns klar-
machte, die Vergangenheit sei nicht primär im Erinnern da, sondern im
Vergessen. In der Tat, das ist die Weise, in der die Vergangenheit dem
menschlichen Dasein selber angehört. Nur weil sie dies Dasein der Verges-
senheit hat, kann überhaupt etwas behalten und erinnert werden. Alles
Vergehende sinkt ab in ein Vergessen, und dieses Vergessen ist es, das das in
die Vergessenheit Verhallende und in Vergessenheit Geratene festzuhalten
und zu bewahren ermöglicht. Hier liegt die Aufgabe, die Kontinuität der
Geschichte zu leisten. Für den Menschen in der Geschichte ist die Erinne-
rung, die bewahrt, wo alles ständig entsinkt, kein vergegenständlichendes
Verhalten eines wissenden Gegenüber, sondern der Lebensvollzug der
Überlieferung selber. Ihm geht es nicht darum, den Vergangcnheitshorizont
ins Beliebige endlos auszuweiten, sondern die Fragen zu stellen und die
Antworten zu finden, die uns von dem her, was wir ge\vorden sind, als
Möglichkeiten unserer Zukunft gnvährt sind.
11. Mensch und Sprache
1966

Es gibt eine klassische Definition des Wesens des Menschen, die Aristotcles
aufgestellt hat, wonach er das Lebnvescn ist, das Logos hat. In der Tradition
des Abendlandes wurde diese Definition in der Form kanonisch, daß der
Mensch das animal rationale, das vernünftige Lebewesen, d. h. durch die
Fähigkeit des Dcnkens von den übrigen Tieren unterschieden sei. Man hat
also das griechische Wort Logos im Sinne von Vernunft bzw. Denken wie-
dergegeben. In Wahrheit heißt das Wort auch und vorwiegend: Sprache.
Aristoteles entwickelt cinmaF den Unterschied von Mensch und Tier fol-
gendermaßen: Die Tiere haben die Möglichkeit, sich miteinander zu ver-
ständigen, indem sie einander anzeigen, was ihre Lust erregt, so daß sie es
suchen, und ""vas ihnen weh [Ut, so daß sie es fliehen. Nur so weit sei die
Natur bei ihnen gegangen. Allein denl Menschen sei darüber hinaus der
Logos gegeben, einander offenbar zu machen, was nützlich und was schäd-
lich ist, und damit auch, \1"l as recht und unrecht ist. Ein tiefsinniger Satz. Was
nützlich ist und \vas schädlich ist, ist solches, das nicht in sich selbst wün-
schenswert ist, sondern UIll et\\'as anderen willen, das noch gar nicht gege-
ben ist, sondern zu dessen Beschaffung es einem dient. I-lier ist also eine
Überlegenheit über das je Gegenwärtige, ein Sinn rur das Zukünftige, als
Auszeichnung des Menschen markiert. Und im selben Atem fügt Aristote-
les hinzu, daß damit auch der Sinn [ur Recht und Unrecht gegeben sei - all
das aber, weil der Mensch als einziger den Logos hat. Er kann denken, und er
kann sprechen. Er kann sprechen, d. h. er kann Nicht-Gegenwärtiges durch
sein Sprechen offenbar machen, so daß es auch ein anderer vor sich sieht.
Alles was er meint, kann er so mitteilen, ja mehr noch: dadurch, daß er so
sich mitteilen kann, gibt es überhaupt nur unter den Menschen ein Meinen
des Gemeinsamen, d. h. gemeinsame Begriffe und vor allem diejenigen
gemeinsamen Begriffe, durch die das Zusammenleben der Menschen ohne
Mord und Totschlag, in der Form des gesellschaftlichen Lebens, in der Form
einer politischen Verfassung, in der Form eines arbeitsteilig gegliederten
Wirtschaftslebens möglich ist. Das alles liegt in der schlichten Aussage: der
Mensch ist das Lebewesen, das Sprache hat.
, [Politik A 2, 1253a 911.]
Mensch und Sprache 147
Man möchte meinen, daß diese so sinnfallige und überzeugende Feststel-
lung dem Phänomen der Sprache im Denken über das Wesen des Menschen
von jeher einen bevorzugten Ort gesichert hat. Was ist überzeugender, als
daß die Sprache der Tiere, wenn man ihre Weise, sich zu verständigen, so
benennen will, etwas ganz anderes ist als die menschliche Sprache, in der
eine gegenständliche Welt vorgestellt und mitgeteilt wird' Und zwar durch
Zeichen, die nicht wie die Ausdruckszeichen der Tiere festliegen, sondern
variabel bleiben, und das nicht nur in dem Sinne, daß es verschiedene
Sprachen gibt, sondern auch, daß in der selben Sprache die gleichen Aus-
drücke Verschiedenes und verschiedene Ausdrücke das Gleiche bezeichnen
können.
In Wahrheit hat man jedoch im philosophischen Denken des Abendlandes
das Wesen der Sprache keines\vegs in den Mittelpunkt gestellt. Zwar war es
immer ein auffallender Wink, daß nach der Schöpfungsgeschichte des Alten
Testamentes Gott dem ersten Menschen die Herrschaft über die Welt über-
trug, indem er ihn alles Seiende nach seinem Gutdünken benennen heß.
Auch die Geschichte von dem babylonischen Turm bezeugt ja die funda-
mentale Bedeutung der Sprache für das Leben des Menschen. Gleichwohl
hat gerade die religiöse Überlieferung des christlichen Abendlandes das
Denken über die Sprache in gewisser Weise gelähmt, so daß erst im Zeitalter
der Aufklärung die Frage nach dem Ursprung der Sprache neu gestellt
wurde. Es bedeutete einen gewaltigen Schritt vorwärts, daß die Frage nach
dem Ursprung der Sprache nicht mehr durch den Schöpfungsbericht beant-
wortet, sondern in der Natur des Menschen gesucht wurde. Denn nun war
ein weiterer Schritt nicht zu umgehen, nämlich der, daß die Natürlichkeit
der Sprache es ausschließt, die Frage nach einem sprachlosen Vorzustand des
Menschen und damit die nach dem Ursprung der Sprache überhaupt zu
stellen. Herder und Wilhe1m von Humboldt haben die ursprüngliche
Menschlichkeit der Sprache als die ursprüngliche Sprachlichkeit des Men-
schen erkannt und die grundlegende Bedeutung dieses Phänomens für die
menschliche Wcltansicht herausgearbeitet. Die Verschiedenartigkeit des
menschlichen Sprachbaus war das Forschungsfeld des aus dem öffentlichen
Leben- zurückgezogenen ehemaligen Kultusministers Wilhclm von Hum-
boldt, des Weisen von Tegel, der durch sein Alterswerk der Begründer der
modemen Sprachwissenschaft wurde.
Indessen bedeutete die Begründung der Sprachphilosophie und Sprach-
wissenschaft durch Wilhelm von Humboldt noch keineswegs eine echte
Wiederherstellung der aristotelischen Einsicht. Wie hier die Sprachen der
Völker zum Gegenstand der Forschung gemacht wurden, wurde gewiß ein
Weg des Erkennens beschritten, der auf neue und aussichtsreiche Weise die
Verschiedenheit der Völker und der Zeiten und das ihnen zugrunde liegende
gemeinsame Wesen des Menschen aufklären konnte. Aber es war die bloße
148 Ergänzungen

Ausstattung des Menschen mit einem Vermögen und die Aufhellung der
Strukturgesctzlichkeiten dieses Vermögens - wir nennen sie Grammatik,
Syntax, Vokabular der Sprache -, was hier den Horizont der Frage nach
Mensch und Sprache begrenzte. Man mochte im Spiegel der Sprache die
Weltansichten der Völker, ja sogar bis ins Einzelne hinein den Aufbau ihrer
Kultur er kennen lernen - ich denke etwa an den Einblick in den Kulturzu-
stand der indogermanischen Völkerfamilie. den wir den großartigen Unter-
suchungen Viktor Hchns über Kulturpflanzen und Haustiere verdanken.
Die Sprachwissenschaft ist, wie eine andere Prähistorie, die Prähistorie des
menschlichen Geistes. Gleichwohl hat auf diesem Wege das Phänomen der
Sprache nur die Bedeutung eines ausgezeichneten Ausdrucksfeldes, an dem
sich das Wesen des Menschen und seine Entfaltung in der Geschichte studie-
ren läßt. Bis in die zentralen Positionen des philosophischen Denkens "var
auf diesem Wege jedoch nicht einzudringen. Denn noch stand immer im
Hintergrunde des gesamten neuzeitlichen Denkens die cartesianische Aus-
zeichnung des Bewußtseins als des Selbstbewußtseins. Dieses unerschütter-
liche Fundament aller Gewißheit, das gewisseste aller Fakten, als das ich
mich selber weiß, wurde im Denken der Neuzeit der Maßstab für alles, was
überhaupt dem Anspruch wissenschaftlicher Erkenntnis zu genügen ver-
mochte. Die wissenschaftliche Erforschung der Sprache beruhte am Ende
auf dem gleichen Fundament. Es war die Spontaneität des Subjektes. die in
der sprachbildenden Energie eine ihrer Bestätigungsformen besitzt. So
fruchtbar auch von diesem Grundsatz aus die in den Sprachen gelegene
Weltansicht gedeutet werden konnte - das Rätsel, das die Sprache dem
menschlichen Denken aufgibt, kam so überhaupt nicht in den Blick. Denn
zum Wesen der Sprache gehört eine geradezu abgründige Unbewußtheit
derselben. Insofern ist die Prägung des Begriffes die Sprache nicht zufallig ein
spätes Resultat. Das Wort Logos bedeutet nicht nur Denken und Sprache,
sondern auch Begriff und Gesetz. Die Prägung des Begriffs Sprache setzt
Sprachbewußtheit voraus. Das aber ist erst das Resultat einer Reflexionsbe-
wegung, in der sich der Denkende aus dem unbewußten Vollzug des Spre-
chens herausreflektiert und in eine Distanz zu sich selber getreten ist. Das
eigentliche Rätsel der Sprache ist aber dies, daß wir das in Wahrheit nie ganz
können. Alles Denken über Sprache ist vielmehr von der Sprache schon
immer wieder eingeholt worden. Nur in einer Sprache können wir denken.
und eben dieses Einwohnen unseres Denkens in einer Sprache ist das tiefe
Rätsel, das die Sprache dem Denken stellt.
Die Sprache ist nicht eines der Mittel, durch die sich das Bewußtsein mit
der Welt vermittelt. Sie stellt nicht neben dem Zeichen und dem Werkzeug-
die beide gewiß auch zur Wesens auszeichnung des Menschen gehören - ein
drittes Instrument dar. Die Sprache ist überhaupt kein Instrument, kein
Werkzeug. Denn zum Wesen des Werkzeuges gehört, daß wir seinen Ge-
Mensch und Sprache 149

brauch beherrschen, und das heißt, es zur Hand nehmen und aus der Hand
legen, wenn es seinen Dienst getan hat. Das ist nicht dasselbe, wie wenn wir
die bereitliegenden Worte einer Sprache in den Mund nehmen und nüt ihrem
Gebrauchtsein zurücksinken lassen in den allgemeinen Wortvorrat, über den
wir verfügen. Eine solche Analogie ist deshalb falsch, weil wir uns niemals
als Bewußtsein der Welt gegenüber fmden und in einem gleichsam sprachlo-
sen Zustand nach dem Werkzeug der Verständigung greifen. Wir sind viel-
mehr in allem Wissen von uns selbst und allem Wissen von der Welt immer
schon von der Sprache umgriffen, die unsere eigene ist. Wir \vachsen auf,
wir lernen die Welt kennen, wir lernen die Menschen kennen und am Ende
uns selbst, indem wir sprechen lernen. Sprechen lernen heißt nicht: zur
Bezeichnung der uns vertrauten und bekannten Welt in den Gebrauch eines
schon vorhandenen Werkzeuges eingefUhrt werden, sondern es heißt, die
Vertrautheit und Erkenntnis der Welt selbst, und wie sie uns begegnet,
erwerben.
Ein rätselhafter, tief verhüllter Vorgang! Was für ein Wahn ist es, zu
meinen, daß ein Kind ein Wort, ein erstes Wort spricht. Was rur ein Wahsinn
war es, die Ursprache der Menschheit dadurch entdecken zu wollen, daß
man Kinder von allen menschlichen Lauten hermetisch abgeschlossen auf-
wachsen ließ und dann aus ihrem ersten Lallen artikulierter Art einer vor-
handenen mcnschliclien Sprache das Privileg zuerkennen wollte, die Ur-
sprache der Schöpfung zu sein. Das Wahnhafte solcher Ideen beruht darauf,
daß sie das wahrhafte Umschlossensein unserer selbst durch die sprachliche
Welt, in der wir leben, aufirgendeine künstliche Weise suspendieren wollen.
In Wahrheit sind wir immer schon in der Sprache ebenso zu Hause wie in der
Welt. Wieder finde ich bei Aristoteles die weiseste Beschreibung des Vor-
gangs, wie man sprechen lernt. H Die aristotelische Beschreibung meint
allerdings gar nicht das Sprechenlernen, sondern das Denken, d. h. den
Erwerb allgemeiner Begriffe. Wie kommt in der Flucht der Erscheinungen,
in dem beständigen Vorbeifluten wechselnder Eindrücke, überhaupt so
etwas wie ein Bleiben zustande? Sicher ist es zunächst die Fähigkeit des
Behaltens, also das Gedächtnis, die uns etwas als dasselbe wiedererkennen
läßt, und das ist eine erste große Abstraktionsleistung. Es wird aus der
Flucht wechselnder Erscheinungen hier und da ein Gemeinsames heraus ge-
sehen, und so kommt langsam aus sich häufenden Wiedererkennungen, die
wir Erfahrungen nennen, die Einheit der Erfahrung zustande. In ihr aber
entspringt das ausdrückliche VerfUgen über das so Erfahrene in der Weise des
Wissens des Allgemeinen. Aristoteles fragt nun: Wie kann eigentlich dieses
Wissen des Allgemeinen zustande kommen? Doch sicher nicht so, daß eins
nach dem anderen vorbeizieht und plötzlich an einem bestimmten Einzel-

" [An. Post. B 19, 99b35ff.]


150 Ergänzungen

nen, das da wieder erscheint und als dasselbe wiedererkannt wird, das
Wissen des Allgemeinen erworben wird. Es ist doch nicht dieses eine Einzel-
ne als solches, das sich gegenüber anen anderen Einzelnen durch die geheim-
nisvolle Kraft auszeichnet, das Allgemeine zur Darstellung zu bringen. Es ist
vielmehr wie alle anderen Einzelnen auch. Und doch ist es ja wahr, daß
irgend wann das Wissen des Allgemeinen zustandegekommen ist. Wo hat es
angefangen? Aristoteles gibt dafUr ein ideales Bild: Wie kommt ein auf der
Flucht befindliches Heer zum Stehen? Wo fangt es an, daß das Heer wieder
steht? Doch sicher nicht dadurch, daß der erste stehen bleibt oder der zweite
oder der dritte. Man kann doch gewiß nicht sagen, daß das Heer steht, wenn
eine bestimmte Anzahl der fliehenden Soldaten aufgehört hat zu fliehen, und
gewiß auch nicht, wenn der letzte zu fliehen aufgehört hat. Denn mit ihm
fangt das Heer nicht an zu stehen, sondern es hat längst angefangen, zum
Stehen zu kommen. Wie das da anfangt, wie es sich fortpflanzt und wie am
Ende irgendwann das Heer wieder steht, das heißt: wieder der Einheit des
Kommandos gehorcht, das wird von niemandem wissend verfUgt, planend
beherrscht, feststellend erkannt. Und doch ist es unzweifelhaft geschehen.
Genauso ist es mit dem Wissen des Allgemeinen, und genauso ist es, weil es
nämlich dasselbe ist, mit dem Eintreten in die Sprache.
Wir sind in allem unserem Denken und Erkennen immer schon voreinge-
nommen durch die sprachliche Weltauslegung, in die hineinwachsen in der
Welt a"fwachsen heißt. Insofern ist die Sprache die eigentliche Spur unserer
Endlichkeit. Sie ist immer schon über uns hinweg. Das Bev./ußtsein des
einzelnen ist nicht der Maßstab, an dem ihr Sein gemessen werden kann. Ja,
es gibt überhaupt kein einzelnes Bewußtsein, in dem die Sprache, die es
spricht, wirklich da ist. Wie also ist die Sprache da' Doch gewiß nicht ohne
das einzelne Bewußtsein. Aber doch auch nicht in einer bloßen Zusammen-
fassung vieler, die jeder fur sich ein Einzc1bewußtsein sind.
Hat doch keiner, der ein einzelner ist, wenn er spricht, ein eigentliches
Bewußtsein seines Sprechens. Ausnahmesituationen sind es, in denen einem
die Sprache, in der man spricht, bewußt wird. Zum Beispiel, wenn einem in
der Absicht, et\vas zu sagen, ein Wort auf die Zunge kommt, bei dem man
stutzt, das einem fremd oder komisch vorkommt, so daß man sich fragt:
))Kann man so eigentlich sagen?« Da wird die Sprache, die wir sprechen,
einen Augenblick bewußt, weil sie das Ihre nicht tut, Was also ist das Ihre'
Ich denke, man kann hier dreierlei unterscheiden.
Das erste ist die wesenhafte Selbstvergessenheit, die dem Sprechen zu-
kommt. Ihre eigene Struktur, Grammatik, Syntax usw., also a11 das, was die
Sprachwissenschaft thematisiert, ist dem lebendigen Sprechen durchaus
nicht bewußt. Daher gehört es zu den eigentümlichen Perversionen des
Natürlichen, daß die moderne Schule genötigt ist, Grammatik und Syntax,
statt an einer toten Sprache wie dem Latein, an der eigenen Muttersprache
Mensch und Sprache 151

beizubringen. Eine \vahrhaft riesige Abstraktionslcistung, die von jedem


verlangt \vird, der die Grammatik der Sprache, die er als seine Mutterspra-
che beherrscht, zu ausdrücklichem Bewußtsein bringen soll. Der wirkliche
Vollzug der Sprache bringt sie selbst ganz hinter dem zum Verschwinden,
was jeweils in ihr gesagt wird. Es gibt eine ganz hübsche Erfahrung bei
Erlemung fremder Sprachen, an der wir das alle erlebt haben. Es sind die in
den Lehrbüchern oder Sprachkursen gebrauchten Beispielsätze. Ihre Aufga-
be ist, eine bestimmte sprachliche Erscheinung abstraktiv bewußt zu ma-
chen. Ehedem, als man sich noch zu der Abstraktionsaufgabe bekannte, die
das Lernen der Grammatik und Syntax einer Sprache darstellt, waren es
Sätze von erhabener Sinnlosigkeit, die von Caesar oder Onkel Kad irgend
etwas aussagten. Die neuere Tendenz, auf dem Wege über solche Beispielsät-
ze recht viel interessante Auslandskunde mit einströmen zu lassen, hat die
unerwünschte Nebenwirkung, daß sich die Beispielsfunktion des Satzes in
eben dem Grade verdunkelt, in dem der Inhalt des Gesagten Interesse auf
sich zieht. Je mehr die Sprache lebendiger Vollzug ist, desto weniger ist man
sich ihrer bewußt. So folgt aus der Selbstvergessenheit der Sprache, daß ihr
eigentliches Sein in dem in ihr Gesagten besteht, das die gemeinsame Welt
ausmacht, in der wir leben und zu der auch die ganze große Kette der
Überlieferung gehört, die aus der Literatur der fremden Sprachen, toter wie
lebender, uns erreicht. Das eigentliche Sein der Sprache ist das, worin wir
aufgehen, wenn wir sie hören, das Gesagte.
Ein zweiter Wesenszug des Seins der Sprache scheint mir ihre Ichlosigkeit.
Wer eine Sprache spricht, die kein anderer versteht, spricht nicht. Sprechen
heißt, zu jemandem sprechen. Das Wort will das treffende Wort sein, das
aber heißt nicht nur, daß es die gemeinte Sache mir selbst vorstellt, sondern
daß es sie dem anderen, zu dem ich spreche, vor Augen stellt.
Insofern gehärt Sprechen nicht in die Sphäre des Ich, sondern in die
Sphäre des Wir. So hat Ferdinand Ebner ehedem seiner bedeutenden Schrift:
Das Wort und die Reist(\?ftl Realitäten mit Recht den Untertitel gegeben: Pneu-
matologische FraRmente. Denn die geistige Realität der Sprache ist die des
Pneuma, des Geistes, der Ich und Du eint. Die Wirklichkeit des Sprechens
besteht, wie man seit langem beachtet hat, im Gespräch. Injedem Gespräch
aber waltet ein Geist, ein böser oder ein guter, ein Geist der Verstockung und
des Stockens oder ein Geist der Mitteilung und des strömenden Austausches
zwischen Ich und Du.
Die Vollzugsformjedes Gespräches läßt sich, wie ich anderwärts 9 gezeigt
habe, vom Begriff des Spieles her beschreiben. Freilich ist dazu erforderlich,
sich von einer Denkgewohnheit freizumachen, die das Wesen des Spiels vom
Bewußtsein des Spielenden her sieht. Diese vor allem durch Schiller populär

9 Wahrheit und Methode, Ges. Werke Bd. 1, III. Teil, S. 491 ff.
152 Ergänzungen

gewordene Bestimmung des Menschen, der spielt, faßt die wahre Struktur
des Spiels nur von seiner subjektiven Erscheinung her. Spiel ist in Wahrheit
aber ein Bewegungsvorgang, der die Spielenden oder das Spielende um-
greift. So ist es keineswegs nur eine Metapher, \venn wir von dem Spiel der
Wellen oder den spielenden Miicken oder dem freien Spiel der Glieder sprechen.
Vielmehr beruht selbst die Faszination des Spieles für das spielende Bewußt-
sein eben in einer so1chen Entrückung seiner selbst in einen Bewegungszu-
sammenhang, der seine eigene Dynamik entfaltet. Ein Spiel ist inl Gange,
wenn der einzelne Spieler in vollem Spielernst dabei ist, d. h. sich nicht mehr
zurückbehält als ein nur Spielender, dem es nicht ernst ist. Solche Leute, die
das nicht können, nennen wir Menschen, die nicht spielen können. Nun
meine ich: die Grundverfassung des Spiels, mit seinem Geist - dem der
Leichtigkeit, der Freiheit, des Glücks des Gelingens - erfüllt zu sein und den
Spielenden zu erfüllen, ist strukturverwandt mit der Verfassung des Ge-
sprächs, in dem Sprache wirklich ist. Wie man rniteinander ins Gespräch
kommt und nun von dem Gespräch gleichsam weitergetragen wird, darin
ist nicht mehr der sich zurückbehaltende oder sich öffnende Wille des
Einzelnen bestimmend, sondern das Gesetz der Sache, um die es im Ge-
spräch geht, welches Rede und Gegenrede hervorloekt und am Ende aufein-
ander einspielt. So ist man dort, wo ein Gespräch gelungen ist, nachher von
ihm, wie wir sagen, erfüllt. Das Spiel von Rede und Gegenrede spielt sich
weiter fort im inneren Gespräch der Seele mit sich selber, \vie Plato so schön
das Denken genannt hat.
Damit hängt ein Drittes zusammen, das ich die Universalität der Sprache
nennen möchte. Sie ist kein abgeschlossener Bereich des Sag baren, neben
dem andere Bereiche des Unsagbaren stünden, sondern sie ist allumfassend.
Es gibt nichts, das grundsätzlich dem Gesagtwerden entzogen wäre, sofern
nur das Meinen etwas meint. Es ist die Universalität der Vernunft, mit der
das Sagenkönnen unermüdlich Schritt hält. So hat auch jedes Gespräch eine
innere Unendlichkeit und kein Ende. Man bricht es ab, sei es, daß genug
gesagt zu sein scheint, sei es, daß nichts mehr zu sagen ist. Aber jeder solche
Abbruch hat einen inneren Bezug auf die Wiederaufnahme des Gesprächs.
Wir machen diese Erfahrung, oft in schmerzhafter Weise, dort, "va von
uns eine Aussage verlangt wird. Die Frage, auf die es da zu antworten gilt-
denken wir etwa an das extreme Beispiel des Verhörs oder der Aussage vor
Gericht -, ist wie eine Schranke, die gegen den Geist des Sprechens, der sich
aussprechen und Gespräch will, aufgerichtet ist (,)Hier rede ich« oder ,)Ant-
worten Sie auf meine Frage!«). Alles Gesagte hat seine Wahrheit nicht
einfach in sich selbst, sondern verweist nach rückwärts und nach vorwärts
auf Ungesagtes. Jede Aussage ist motiviert, das heißt, man kann an alles,
was gesagt wird, mit Sinn die Frage richten: ,) Warum sagst du das ?« Und
erst, wenn dies Nichtgesagte mit dem Gesagten mitverstanden ist, ist eine
Mensch und Sprache 153

Aussage verständ1ich. Wir kennen das im besonderen bei der Frage. Eine
Frage, die \vir nicht als motiviert verstehen, kann auch keine Antwort
finden. Denn die Motivationsgeschichte der Frage öffnet allererst den Be-
reich, aus dem her Antvvort geholt und gegeben werden kann. So ist es in
Wahrheit im Fragen wie im Antworten ein unendliches Gespräch, in dessen
Raume Wort und Antwort stehen. Alles Gesagte steht in solchem Raume.
Wir können uns das an einer Erfahrung verdeutlichen, die jeder von uns
macht. Ich meine das Übersetzen und das Lesen von Übersetzungen aus
fremden Sprachen. Was der Übersetzer vorfindet, ist sprachlicher Text, d. h.
ein mündlich oder schriftlich Gesagtes, das er in die eigene Sprache überset-
zen soll. Er ist gebunden an das, was da steht, und er kann doch nicht einfach
das Gesagte aus dem fremden Sprachstoff in den eigenen Sprachstoff umfor-
men, ohne daß er selber wieder zum Sagenden wird. Das aber heißt, er muß
in sich den unendlichen Raum des Sagens gewinnen, der dem in der fremden
Sprache Gesagten entspricht. Jedermann weiß, wie schv.rer das ist. Jeder-
mann weiß, wie die Übersetzung das in der fremden Sprache Gesagte
gleichsam flach fallen läßt. Es bildet sich in einer Fläche ab, so daß Wortsinn
und Satzform der Übersetzung das Original nachzeichnen, aber die Über-
setzung hat gleichsam keinen Raum. Ihr fehlt jene dritte Dimension, aus der
sich das ursprünglich, d. h. im Original Gesagte, in seinem Sinnbereich
aufbaute. Das ist eine unvermeidliche Schranke aller Übersetzungen. Keine
kann das Original ersetzen. Aber wenn man meinen sol1te, jene ins Flache
projizierte Aussage des Originals müßte nun in der Übersetzung gleichsam
leichter verständlich geworden sein, da vieles im Original anklingende
Hintergründige, Z wischenzeilige nicht mit hinübergetragen werden konnte
- wenn man nun meinte, diese Reduktion auf einen einfältigen Sinn müsse
das Verständnis erleichtern, so täuscht man sich. Keine Übersetzung ist so
verständlich wie ihr Original. Es ist eben gerade der vieles einbeziehende
Sinn des Gesagten - und Sinn ist immer Richtungssinn -, der nur in der
Ursprünglichkeit des Sagens zur Sprache kommt und in allem Nachsagen
und Nachsprechen entgleitet. Die Aufgabe des Übersetzers muß daher
immer die sein, nicht das Gesagte abzubilden, sondern sich in Richtung des
Gesagten, d. h. in seinen Sinn, einzustellen, um in die Richtung seines
eigenen Sagcns das zu Sagende zu übertragen.
Am deutlichsten wird das bei solchen Übersetzungen, die ein mündliches
Gespräch durch die Zwischenschaltung der Dolmetscher zwischen Men-
schen fremder Muttersprache ermöglichen sollen. Ein Do1metscher, der nur
wiedergibt, was die von dem einen gesprochenen Worte und Sätze in der
anderen Sprache sind, verfremdet das Gespräch ins Unverständliche. Was er
wiedergeben muß, ist nicht das Gesagte in seinem authentischen Wortlaut,
sondern das, was der andere sagen wollte und sagte, indem er vieles unge-
sagt ließ. Auch die Begrenztheit seiner Wiedergabe muß den Raum -gewin-
154 Ergänzungen

nen, in dem allein Gespräch, d. h. die innere Unendlichkeit, die aller Ver-
ständigung zukommt, möglich wird.
So ist die Sprache die wahrhafte Mitte des menschlichen Seins, wenn man
sie nur in dem Bereich sieht, den sie allein ausfüllt, dem Bereich menschli-
chen .Miteinanderseins, dem Bereich der Verständigung, des immer neu
anwachsenden Einverständnisses, das dem menschlichen Leben so unent-
behrlich ist wie die Luft, die wir atmen. Der Mensch ist wirklich, wie
Aristotcles es gesagt hat, das Wesen, das Sprache hat. Alles, was menschlich
ist, sollen wir uns gesagt sein lassen.
12. Über die Planung der Zukunft
1965

Es ist wohl keine Übertreibung, wenn man sagt, daß es nicht so sehr der
Fortschritt der Naturwissenschaften als solcher ist, als vielmehr die Rationa-
lisierung ihrer technisch-wirtschaftlichen Anwendung, was die neue Phase
der industriellen Revolution heraufgeftihrt hat, in der wir stehen. Nicht der
ungeahnte Zuwachs an Beherrschung der Natur, sondern die Entfaltung
wissenschaftlicher Steuerungsmethoden ftir das Leben der Gesellschaft
scheint mir das Gesicht unserer Epoche zu prägen. Erst damit wird der
Sieges zug der modernen Wissenschaft, wie er mit dem 19. Jahrhundert
begann, ein alles beherrschender sozialer Faktor. Jetzt erst hat der unserer
Zivilisation zugrundeliegende Wissenschaftsgedanke alle Bereiche der ge-
sellschaftlichen Praxis ergriffen. Wissenschaftliche Marktforschung, wis-
senschaftliche Kriegftihrung, wissenschaftliche Außenpolitik, wissenschaft-
liche Nachwuchslenkung, wissenschaftliche Menschenftihrung usw. geben
dem Expertenturn in Wirtschaft und Gesellschaft eine zentrale Stellung.
So stellt sich erstmalig das Problem der Weltordnung. Damit ist nicht
mehr Erkenntnis einer bestehenden Ordnung gemeint, sondern Planung
und Schaffung einer nicht bestehenden Ordnung. Es wird zu fragen sein, ob
das überhaupt eine richtige Problemstellung ist: daß etwas, das es noch nicht
gibt, geplant und hergestellt werden soll. Gewiß leuchtet ein, daß zwischen
den Völkern eine Weltordnung, wie man sie sich wünschte, nicht besteht.
Das geht schon daraus hervor, daß heute die Vorstellungen von der richtigen
Ordnung so differieren, daß die Resignationsparole der Koexistenz herr-
schend ist. Aber zugleich enthält diese Parole, die aus dem Gleichgewicht
der Nuklearwaffen erwachsen ist, eine Aussage, die den Sinn der Pro-
blemstellung selber gefahrdet. Hat die Rede von einer zu schaffenden Welt-
ordnung überhaupt noch Sinn, wenn die Unvereinbarkeit der Vorstellungen
von der richtigen Ordnung am Anfang steht? Kann man Planungen am
Maßstab der Weltordnung messen, wenn man nicht weiß, zu welchem Ende
alle mittleren, vielleicht gar alle überhaupt möglichen Schritte fuhren sollen?
Hängt nicht eine jede Planung im Weltrnaßstab davon ab, daß eine bestimm-
te gemeinsame Zielvorstellung besteht? Es gibt gewiß ermutigende Teilbe-
reiche, z. B. auf dem Gebiete der Weltgesundheit, des Weltverkehrs, viel-
156 Ergänzungen

leicht auch der Welternährung. Aber läßt sich auf diesem Wege derart
fortschreiten und der Bereich des rational und einheitlich zu Regelnden
schrittweise derart erweitern, daß das Ende eine durchgängig geregelte und
vernünftig geordnete Welt ist? Dagegen spricht, daß der Begriff der Welt-
ordnung notwendig eine inhaltliche Differenzierung annimmt, je nach dem
Ordnungsgesichtspunkt, der dabei leitend ist. Methodisch wird das klar,
wenn man zu einem solchen Begriff seinen möglichen Gegensatz hinzu-
denkt. Es liegt in der Natur der Sache, daß unsere Vorstellungen vom
Rechten, vom Guten usw. weit weniger genau und bestimmt sind wie die
vom Unrechten, vom Schlechten usw. Das Negative bzw. Privativc hat
offenbar den Vorzug, daß es als das zu Verneinende und zu Beseitigende
unserem Veränderungswillen von sich aus sich aufdrängt und sich dadurch
Profil gibt. So ist der Begriff der Unordnung, um deren Behebung es gehen
5011, jeweils leichter zu bestimmten und ergibt einen differenzierteren Sinn
von Ordnung per contrarium. Aber ist die Übertragung von Teilbereichen,
in denen Unordnung herrscht und Ordnung entstehen soll, auf das Ganze
der Weltordnung noch legitim? Nehmen wir das Beispiel der ökonomischen
Unordnung. Im Bereich der Ökonomie scheint eine rationale Ord-
nungsvorstellung am leichtesten zu gev.'inncn. Unordnung könnte jeder
Zustand heißen, der die ökonomische Rationalität hindert. Nun gibt es
gewiß auch unter dem Begriff der allgemeinen Wohlfahrt differente Auffas-
sungen von wcltwirtschaftlicher Ordnung, die nicht in die Vorstellung der
Rationalität einer einzigen großen Weltfabrik auflösbar sind. So etwa in der
Frage, ob übermäßiger Unternehmergewinn um der allgemeinen Wohl-
fahrtssteigerung willen in Kauf zu nehmen ist, oder ob man aus sozialpoliti-
schen Gründen eine verstaatlichte und entsprechend bürokratisierte Wirt-
schaft vorziehen soll, auch wenn sie einen geringeren Wirkungsgrad hat.
Aber ist das noch eine rein ökonomische Frage? Offenbar nicht. Eben
deshalb, weil hier andere, politische Gesichtspunkte hineinspielen, bleibt der
ökonomische Aspekt im Grunde ganz unangetastet. Die steigende Rationa-
lität der weltwirtschaftlichen Kooperation scheint ein echter Maßstab, durch
den sich der Sinn von Weltordnung definiert.
Trotzdem ist darin eine fragwürdige Voraussetzung enthalten. Das ist die
Ablösbarkeit des ökonomischen Gesichtspunktes von dem politischen.
Kann man ebenso, wie man von einem Zustand ökonomischer Unordnung
und rationaler Weltwirtschaftsordnung sprechen kann, auch den Zustand
politischer Unordnung bestimmen, dessen Behebung den Begriff der politi-
schen Ordnung rational faßbar werden ließe? Nun könnte man sagen: Für
die Weltpolitik ist in der Vermeidung der globalen Selbstzerstörung ein
ebenso eindeutiger Maßstab gegeben, wie es rur die Weltwirtschaft die
allgemeine Wohlfahrt ist. Aber ist das eine wirkliche Parallele? Folgen daraus
wirklich politische Ordnungsvorstellungen, über die man vernünftige
Über die Planung der Zukunft 157

Übereinstimmung erzielen kann? Wenn man z. B. sagt, Erhaltung des Frie-


dens sei das Ziel aller Politik, so kann das, solange es sich um konventionelle
Kriege handelt, nur sehr begrenzt einleuchten. Denn wörtlich verstanden
hieße das: Der Status quo sei die zu erhaltende Weltordnung - eine Folge-
rung, die zur Zeit unter dem Druck des nuklearen Gleichgewichts tatsäch-
lich weitgehend gilt und den Spielraum möglicher weltpolitischer Verände-
rungen immer mehr einengt. Aber ist das ein Maßstab rur Politik und ein
erstrebenswertes Ideal' Setzt doch Politik die Veränderbarkeit der Zustände
voraus. Daß es politische Umgestaltungen gibt, die >richtig< sind und der
>richtigen< weltpolitischen Ordnung dienen können, wird doch niemand
bestreiten wollen. Aber damit erneuert sich die Frage: Woran mißt sich
solche Richtigkeit? An einem politischen Ordnungsbild? Selbst wenn es sich
um so vernünftige weltpolitische Ordnungsvortellungen handelt, wie etwa
die einer Einigung Europas, wird der Maßstab ganz ungewiß. Wäre ein
solches Europa )richtig<, d. h. ein Fortschritt in der Ordnung der Welt, wenn
dadurch bestehende weltwirtschaftliche und weltpolitische Verflechtungen
gestört und z. B. der Zusammenhalt des Commonwealth gesprengt würde?
Entstünde dann mehr Ordnung oder mehr Unordnung?
Man kann die Frage grundsätzlicher formulieren. Läßt sich eine bestimm-
te politische Ordnungsvorstellung ausdenken, die nicht notwendig Gegen-
vorstellungen hervortreibt? Lassen sich politische Ordnungsvorstellungen
ausdenken, die nicht der einen oder der anderen der bestehenden politischen
Mächte Chancen verheißen und zwar der einen nur dann verheißen, wenn
sie der anderen abträglich sind? Soll man sagen, daß das Bestehen solcher
Gegensätze der Machtinteressen Unordnung ist? Macht es nicht vielmehr
das Wesen der politischen Ordnung aus?
Eher könnte es schon etwas Einleuchtendes haben, das Vorhandensein
unterentwickelter Länder als Unordnung anzusehen. Die Bestrebung, diese
Unordnung zu beseitigen, nennen wir bekanntlich Entwicklungspolitik.
Dazu gibt es sofort vernünftige Sachfragen, z. B. bevälkerungspolitischer
und emährungspolitischer Art. Es wird einleuchten, daß jeder Überdruck
der Bevölkerungsvermehrung als Unordnung anzusehen ist oder auf der
anderen Seite die Vergeudung von Nahrungsmitteln, die Nichtausnutzung
von Bodenschätzen, die Zerstörung von Nahrungsquellen usw. Aber alle
solche partikularen Ordnungsvorstellungen sind in die Weltpolitik verwo-
ben, und in ihr sind so mannigfaltige Gesichtspunkte bestimmend, daß es
hoffnungslos scheint, eine politische Ordnungsvorstellung allgemein ein-
leuchtend zu machen.
Auch besteht kein vernünftiger Grund zu meinen, daß die Erweiterung
der Bereiche, in denen rationale Planung und Ordnung gelingt, uns auch der
vernünftigen politischen Weltordnung näherbringen muß. Man wird mit
ebenso viel Recht den umgekehrten Schluß ziehen können und die steigende
158 Ergänzungen

GeHihrlichkcit zugeben müssen, die die Ausnutzung rationaler Zusammen-


hänge zu unvernünftigen Zwecken darstellen würde, etwa nach dem Mu-
ster: )}Lieber Kanonen als Butter«. Und noch grundsätzlicher wird man sich
fragen müssen, ob nicht gerade die Verwissenschaftlichung unserer Wirt-
schaft und unseres Soziallebens - man denke etwa an die Meinungsfor-
schung und die Strategie der Meinungsbildung - die Unsicherheit über die
letzten Zwecke, d. h. über den Inhalt der Weltordnung, die sein soll, wenn
nicht gesteigert, so doch bewußt gemacht hat. Indem sie erstmals die Gestal-
tung unserer Welt im ganzen zum Objekt wissenschaftlich informierten und
gelenkten Planens macht, bewirkt sie in Wahrheit, daß die Unsicherheit des
Ordnungsmaßstabs verdeckt bleibt. Ist am Ende die Aufgabe falsch gestellt'
Soviel auch wissenschaftlich rationalisiertes Handeln auf unzähligen Teilge-
bieten ausrichtet - kann man sich die Ordnung der Welt im ganzen über-
haupt als Gegenstand einer solchen rationalen Planung und AusfUhrung
denken?
Die Frage mag dem Wissenschaftsglauben unseres Zeitalters noch so sehr
ins Gesicht schlagen - man muß sie auf dem Hintergrund einer weit allge-
meineren Frage sehen, die durch die Entstehung der modernen Wissenschaft
seit dem 17. Jahrhundert gestellt wurden - und ungelöst geblieben ist. Alles
Nachdenken über die Ordnungsmöglichkeiten unserer Welt muß von der
tiefen Spannung ausgehen, die zwischen der Autorität der Wissenschaft
einerseits und den durch Religion, überlieferte Sitte und Brauch geprägten
Lebensformen der Völker auf der anderen Seite besteht. Wir kennen diese
Spannung etwa in Gestalt jener, die bei der Berührung alter Kulturen Asiens
oder der Lebensformen sogenannter unterentwickelter Länder mit der euro-
päischen Zivilisation entstehen. Sie stellen aber nur einen Spezialfall des
allgemeineren Problems dar. Nicht die Frage scheint mir die dringendste,
wie man die abendländische Zivilisation mit fremdartigen Traditionen in
fernen Ländern vermitteln und zu einem fruchtbaren Ausgleich bringen
kann, sondern wie man auf unserem eigenen Kulturboden die Bedeutung
dieses, durch die Wissenschaft ermöglichten, Zivilisationsprozesses einzu-
schätzen und mit den religiösen und moralischen Traditionen unserer Ge-
sellschaft zu vermitteln hat. Denn das ist in Wahrheit das Problem der
Weltordnung, das uns heute beschäftigt. Durch den zivilisatorischen Erfolg
der europäischen Wissenschaft ist es überall in der gleichen Grundsätzlich-
keit gestellt worden.
Ein Blick auf die Geschichte der letzten Jahrhunderte zeigt aufs deutlich-
ste, daß der neue Wissenschaftsgedanke, der im 17. Jahrhundert seine Ver-
wirklichung begann, die universalen Möglichkeiten, die in ihm liegen,
zunächst nur sehr zögernd und schrittweise zu entfalten vermochte. So kann
man wohl sagen, daß mit alleiniger Ausnahme der Kernphysik die unsere
heutige industrielle Revolution kennzeichnenden Entwicklungen samt und
Über die Planung der Zukunft 159

sonders auf den wissenschaftlichen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts be-


ruhen, das heißt: wissenschaftlich schon damals möglich gewesen wären.
Aber selbst das liberale 19. Jahrhundert war in ihrer Ausnutzung zögernd,
soweit die hergebrachten christlichen und mora1ischen Normgesichtspunk-
te entgegenstanden. Ich erinnere an die Widerstände, die der Darwinismus
zu überwinden hatte. Heute scheint diese Art von Hemmungen im Abbau
begriffen, und damit sind die technischen Möglichkeiten unserer wissen-
schaftlichen Entdeckungen freigesetzt worden. Der Experte bietet die Mög-
lichkeiten an, die in seiner Wissenschaft liegen; und das öffentliche Bewußt-
sein ruft, wenn es über die Tunlichkeit des Möglichen entscheiden soll, nach
nichts anderem als wiederum nach der Wissenschaft. Auch hier bestätigt die
Ausnahme die Regel. Man denke etwa an die in der Erbgenetik aufgetauch-
ten Möglichkeiten der Menschenzüchtung, denen gegenüber ein elementa-
res Zurückschrecken vor den Konsequenzen unüberwunden ist.
Nun hat es gewiß genug warnende Stimmen gegeben, die sich seit einem
Jahrhundert in Gestalt der pessimistischen Kulturkritik vernehmen Jassen.
Sie besitzen jedoch trotz der Resonanz, die sie vor allem in den von Deposse-
dierung bedrohten oder betroffenen Schichten - etwa im Adel, im Großbür-
gertum und im Bildungsbürgertum - finden, wenig innere Glaubwürdig-
keit, weil sie aufs Ganze gesehen ihrerseits auf dem Boden der modemen
wissenschaftlichen Zivilisation stehen. Ich erinnere an die denkwürdige
Weise, in der einmal Max Weber der romantischen Esoterik Stefan Georges
auf den Leib gerückt ist. Das heißt nicht, daß solche Stimmen nicht ihrerseits
einen dokumentarischen Wert haben. Was sie bezeugen, ist jedoch nicht, was
sie verkünden. Während sie den Verfall der Kultur verkünden, bezeugen sie
in Wahrheit eine gewisse Unproportioniertheit zwischen den Werttafeln
sinkender Lebenstraditionen und dem sich selbst ständig bestätigenden Wis-
senschaftsglauben. Die Frage muß weit radikaler gestellt werden. Es scheint
mir verhängnisvoll, wenn der moderne Wissenschaftsgedanke seinerseits
sich immer nur in seinem eigenen Kreise dreht, d. h. immer nur die Metho-
den und Möglichkeiten der wissenschaftlichen Beherrschung der Dinge im
Auge hat - als ob es jene Unproportioniertheit zwischen dem so erwerb ba-
ren Reich der Mittel und Möglichkeiten und den Normen und Zwecken des
Lebens gar nicht gäbe. Eben das erscheint als die immanente Tendenz des
Wissenschaftsgedankens selber, die Frage nach den Zwecken dureh die
steigende Fortschrittstendenz in der Besorgung und >Beherrschung< der
Mittel gleichsam überflüssig zu machen und dadurch in die tiefste Unwis-
senheit zu stürzen.
So wird die Frage nach den Ordnungsformen unserer heutigen und der
zukünftigen Welt zumeist als eine rein szientifische Frage gestellt: Was kön-
nen wir alles? Wie können wir die Dinge einrichten? Wie sehen die Grundla-
gen aus, auf denen wir planen können? Was muß man verändern und
160 Ergänzungen

beachten, damit die Verwaltung unserer Welt eine immer bessere und rei-
bungslosere wird? Die Idee einer perfekt verwalteten Welt scheint das Ideal,
dem gerade die fortschrittlichsten Länder ihrer Lebensstimmung wie ihrer
politischen Überzeugung nach ganz verschrieben sind. Es ist bezeichnend,
daß sich dieses Ideal als ein Ideal der perfekten Verwaltung darstellt, nicht also
als ein inhaltlich bestimmtes Ideal der Zukunft, etwa als ein Staat der
Gerechtigkeit, wie er der platonischen Staatsutopie zugrunde lag, oder als
der Welt-Staat, der durch die Herrschaft eines bestimmten politischen Sy-
stems, eines Volkes oder einer Rasse über andere Systeme. Völker und
Rassen, gebildet wäre. Im Ideal der Verwaltung liegt vielmehr eine Ord-
nungsvorstellung, der kein spezifischer Inhalt einwohnt. Nicht, welche
Ordnung herrschen soll, sondern daß alles seine Ordnung haben soll, ist das
erklärte Ziel aller Verwaltung. Der Idee der Verwaltung gehört daher we-
sens mäßig das Ideal der Neutralität zu. Was erstrebt wird, ist das gute
Funktionieren als ein Selbstwert. Wahrscheinlich ist es nicht einmal eine
utopische Hoffnung, daß sich die großen Weltreiche unserer Gegenwart auf
dem neutralen Boden eines solchen Verwaltungsideals zu begegnen und
auszugleichen vermöchten. Es liegt nahe, von hier aus die Idee der Weltver-
waltung als die Ordnungsform der Zukunft anzusehen. In ihr würde dann
die Versachlichung der Politik ihre eigentliche Vollendung finden. Ist also
das formale Ideal der Weltverwaltung die Erflillung der Idee der Weltord-
nung?
Es ist alles schon einmal dagewesen. Der Kenner der platonischen Dialoge
weiß, daß im Zeitalter der sophistischen Aufklärung die Idee des Sachwis-
sens eine ähnliche, universale Funktion erhielt. Sie hieß bei den Griechen
Techne, das Wissen um das Herstellbare, das einer eigenen Perfektion fahig
ist. Art und Aussehen des zu verfertigenden Gegenstandes bilden den Ge-
sichtspunkt, unter dem der ganze Vorgang steht. Die Wahl der rechten
Mittel, die Wahl des richtigen Materials, der kunstgerechte Ablauf der
einzelnen Arbeitsphasen, all das läßt sich zu einer idealen Perfektion stei-
gern, die das von Aristoteles zitierte Wort wahr macht: »Die Techne liebt die
Tyche und die Tyche liebt die Techne." '" Wer seine Kunst beherrscht,
braucht kein Glück.
Trotzdem liegt es im Wesen aller Techne, daß sie nicht um ihrer selbst
willen da ist und auch nicht um eines zu verfertigenden Gegenstandes willen,
der seinerseits um seiner selbst willen da wäre. Was Art und Aussehen des zu
verfertigenden Gegenstandes betrifft, so hängt das vielmehr von dem Ge-
brauch ab, rur den er bestimmt ist. Über diesen Gebrauch ist das Wissen und
Können dessen, der den Gebrauchsgegenstand herstellt, selber nicht Herr,
weder in dem Sinne, daß das Ding, das cr hergestellt hat, so gebraucht wird,

'" [N.E.Z4, 1140a19]


Über die Planung der Zukunft 161

wie es sachgerecht ist, noch auch in dem viel entscheidenderen Sinne, daß es
zu etwas gebraucht wird, das recht ist. Also müßte es ein neues Sachwissen
geben, das fUr den rechten Gebrauch der Dinge sorgt, d. h. ftir die Anwen-
dung der Mittel zu den rechten Zwecken. Und da offenbar unsere Ge-
brauchs welt ein ganzes hierarchisches GefUge solcher Mittel- und Zweckzu-
sammenhänge ist, entsteht wie von selbst die Idee einer obersten Techne,
eines Sachwissens, das über den rechten Einsatz allen Sachwissens seinerseits
Bescheid weiß, eine Art königliches Sachwissen: die pohtische Techne. Ist
eine solche Idee sinnvoll? Der Staatsmann als der Sachkenner aller Sachken-
ner, die Staatskunst als die oberste Sachkenntnis schlechthin? Gewiß ist das,
was da Staat heißt, die griechische Polis und nicht die Welt, aber da das
griechische Denken über die Polis immer nur die innere Ordnung der Polis
meint und nicht eigentlich das, was wir die große Politik der zwischenstaat-
lichen Beziehungen nennen, ist das bloß eine Frage des Maßstabes. Die
perfekt verwaltete Welt entspricht genau der idealen Polis.
Indessen - die Frage ist, ob die Sachkenntnis aller Sachkenntnisse, die von
Plato als die politische Kunst gekennzeichnet wird, mehr ist als ein kritisches
Gegenbild zu der kenntnislosen Betriebsamkeit derer, die nach Plato das
Verderben seiner Vaterstadt zu verantworten haben. Erfullt das Ideal der
Techne, des lehr- und lernbaren Sachwissens, überhaupt die Forderung, die
an die politische Existenz des Menschen gestellt ist? Es ist hier nicht der Ort,
über die Reichweite und die Grenzen des Gedankens der Techne in der
platonischen Philosophie zu sprechen, ganz zu schweigen von der anderen
Frage, wieweit etwa Platos eigene Philosophie bestimmten politischen Idea-
len folgt, die nicht die unsrigen sein können. Aber zur Verdeutlichung des
aktuellen Problems kann die Erinnerung an ihn dennoch dienen. Er lehrt uns
den Zweifel daran, daß die Steigerung menschlicher Wissenschaft jemals das
Ganze seiner eigenen gesellschaftlichen und staatlichen Existenz erfassen
und regulieren kann. Man darf hier an den cartesianischen Gegensatz von res
cogitans und res extensa erinnern, der bei aller möglichen Modifikation die
Grundproblematikjeglicher Anwendung von ,Wissenschaft( auf,Selbstbe-
wußtsein< richtig vermessen hat. Erst mit der Anwendung der neuen Wis-
senschaft auf die Gesellschaft, die der Descartes der )provisorischen Moral~
nur erst als ein fernes Ziel vor Augen sah, hat freilich diese Problematik ihren
vollen Ernst erhalten. Kants Rede von dem Menschen als dem }Bürger
zweier Welten< gibt dem angemessenen Ausdruck. Daß der Mensch im
ganzen seiner Existenz derart Objekt zu werden vermöchte, daß einer ihn
herzustellen wüßte, in allen seinen gesellschaftlichen Lebensbezügen, daß es
also einen Sachverständigen geben könnte, der nicht }er< selbst ist, der }ihn<
aber ebenso wie auch alle anderen >verwaltet<, und daß dieser Sachverständi-
ge seinerseits wieder mit seinem eigenen Verwalten mitverwaltet würde, das
fUhrt in offenkundige Verwicklungen, die die Idee jenes platonischen Sach-
162 Ergänzungen

wissens als ein ironisches Zerrbild erscheinen lassen, auch wenn dasselbe mit
allen Farben einer Erleuchtung, einer Erkenntnis des transzendenten Göttli-
chen oder Guten illuminiert ist.
Selbst wenn man ganz von der Frage der Stellung des Planers einer
plan voll-vernünftigen Organisation der Welt und der des vernünftigen Ver-
walters innerhalb dieser Welt absieht, erweist sich die Verwicklung als
unlösbar, die mit der Idee der Herrschaft der .Wissenschaft, über die konkre-
te Lebenssituation der Menschen und die in ihr betätigte Vernünftigkeit
verbunden ist. Auch hier scheint mir das griechische Denken von höchster
Aktualität. Es ist die aristotelische Unterscheidung von Techne und Phronc-
sis, die diese Verwicklung durchreflektiert. Das praktische Wissen, das das
Tunliehe in der konkreten Lebenssituation erkennt, hat seine Perfektion
nicht in derselben Weise wie das Sachwissen die seinige in der Techne hat.
Während Techne lehr bar und erlernbar ist und ihre Leistung offenkundig
davon unabhängig ist, was einer, moralisch oder politisch gesehen, ftir ein
Mann ist, gilt fur das Wissen und die Vernunft, die die praktische Lebenssi-
tuation des Menschen erhellen und leiten, genau das Gegenteil. Sicher gibt es
auch hier in gewissen Grenzen so etwas wie Anwendung eines allgemeinen
Wissens auf einen konkreten Fall. Was wir unter Menschenkenntnis, unter
politischer Erfahrung, unter geschäftlicher Klugheit verstehen, enthält - in
freilich einigermaßen ungenauen Analogieschlüssen - ein Element des All-
gemeinwissens und seiner Anwendung. Wäre das nicht so, dann gäbe es
dafür überhaupt kein Lehren und Lernen. Dann wäre auch das philo-
sophische Wissen nicht möglich, das Aristoteles im Entwurf seiner Ethik
und seiner Politik entwickelt hat. Gleichwohl handelt es sich hier nirgends
um das logische Verhältnis von Gesetz und Fall und damit auch nicht um ein
der modernen Wissenschaftsidee entsprechendes Berechnen und Vorauswis-
sen von Abläufen. Selbst wenn man den utopischen Gedanken einer Physik
der Gesellschaft zugrunde legte, würde man aus der Verwicklung nicht
herauskommen, die Plato dadurch aufgezeigt hat, daß er den Staatsmann,
und das heißt den politisch Handelnden überhaupt, zu einem obersten
Fachmann heraufstilisierte. Ein solches Wissen des, wenn ich ihn so nennen
darf, Physikers der Gesellschaft mag einen Techniker der Gesellschaft mög-
lich machen, der alles Erdenkliche herzustellen wüßte, aber er bliebe einer,
der seinerseits nicht wüßte, was man von dem, was er kann, wirklich
herstellen soll. Aristoteles hat diese Verwicklung genau durchdacht und
nennt deshalb das praktische Wissen, um das es in den konkreten Situationen
geht, »)eine andere Art von Wissen«.!} Es ist kein dumpfer Irrationalismus,
dem er damit das Wort redet; sondern es handelt sich um die Helligkeit von

" [N.E.Z9,1!41b33undl142a30]
Über die Planung der Zukunft 163

Vernunft, die in einem praktisch-politischen Sinne das jeweils Tunliche zu


finden weiß. So besteht jede praktische I.ebensentscheidung in einer Abwä-
gung von Möglichkeiten. die zu den gewählten Zielen fUhren. Es ist ver-
ständlich, daß die Sozialwissenschaften seit Max Weber auf die Rationalität
der Mittelwahl ihre wissenschaftliche Legitimation gegründet haben und
heute im Begriff stehen. immer mehr Bereiche. die ehedem >politischer<
Entscheidung unterstanden, zu versachlichen. Aber wenn schon Max Weber
das Pathos seiner wertfreien Soziologie mit einem nicht minder pathetischen
Bekenntnis zu dem >Gott<, den ein jeder wählen müsse, verband - ist die
Abstraktion eigentlich zulässig, nach der es unsje erlaubt wäre, von festste-
henden Zwecken auszugehen? Wenn ja, dann käme es nur noch aufFachwis-
sen an und wir gingen herrlichen Zeiten entgegen. Denn die Aussicht auf
Verständigung zwischen Fachleuten ist sehr viel größer als zwischen Staats-
männern. Man ist sogar versucht, fur das Scheitern der Verständigung bei
internationalen Verhandlungen in den sogenannten Expertengremien die
politischen Direktiven der Regierungen verantwortlich zu machen. Es fragt
sich, ob das zutrifft. Zwar gibt es partikulare Bereiche, in denen es eine Frage
der reinen Zweckrationalität ist, wie zu prozedieren ist. Hier scheint die
Einigung zwischen Sachverständigen leicht. Aber welches Maß von Selbst-
kontrolle gehört nicht schon dazu, um auch nur im Falle des Gerichtsgutach-
tens die Aussage des Gutachters auf das zu beschränken, was er wissen-
schaftlich wirklich verantworten kann. Und vermutlich ist der in diesem
Sinne ideale Gutachter im forensischen Zusammenhang an der Grenze der
Unbrauchbarkeit. Denn die Notwendigkeit zu entscheiden, die fUr das
Gericht besteht. zwingt immer wieder, mit Feststellungen zu arbeiten, deren
Unumstößlichkeit keineswegs gesichert ist. Nicht nur Indizienbeweise sind
ungewiß. Je stärker nun der Inbegriff herrschender gesellschaftlicher oder
politischer Vorurteile ins Spiel kommt, desto fiktiver erscheint der reine
Experte und damit der Begriff der wissenschaftlich gesicherten Zweckratio-
nalität. Es dürfte ftir den ganzen Bereich der modernen Sozialwissenschaften
zutreffen, daß sie Mittel-Zweck-Zusammenhänge nicht beherrsch bar zu
machen vermögen, ohne zugleich die Bevorzugung bestimmter Zwecke zu
implizieren. Würde man den inneren Bedingungen dieser Implikationen auf
den Grund kommen, so würde sich am Ende der Widerspruch zwischen der
zeitlosen Wahrheit, die die Wissenschaft sucht, und der zeitlichen Verfassung
derer, die von der Wissenschaft Gebrauch machen, ergeben.
Was tunlieh ist, ist eben nicht einfach das, was möglich ist oder inner-
halb dessen, was möglich ist, ein schlechthin Vorteilhaftestes. Vielmehr
bemißt sich jeder mögliche Vorteil und Vorzug, der dem einen vor dem
anderen gegeben wird, an einem bestimmten Maß, das man sich setzt bzw.
das einem gesetzt ist. Es ist der Inbegriff des in der Gesellschaft Gültigen, der
Normen, die, in sittlichen und politischen Überzeugungen ausgeprägt, alle
164 Ergänzungen

Erziehung und Selbsterziehung, auch die zur wissenschaftlichen Objektivi-


tät, leiten.
Das soll natürlich nicht sagen, es gebe kein anderes sittliches oder politi-
sches Ideal als das der Anpassung an die jeweils bestehende Gesellschaftsord-
nung und ihre Maßstäbe. Das hieße vielmehr abermals einer verkehrten
Abstraktion verfallen. Die gültigen Maße sind nicht nur die von den anderen
- oder gar vOn den Vätern - gesetzten, die man anzuwenden hätte wie das
Gesetz auf einen Fall. Vielmehr ist jede konkrete Entscheidung des einzelnen
ihrerseits mitbestimmend für das im ganzen Gültige.
Es verhält sich damit ähnlich wie mit der sogenannten sprachlichen Rich-
tigkeit. Auch da gibt es eine unbestrittene Allgemeinheit des Gültigen, die
sogar eine gewisse Kodifizierung verträgt. Beispielsweise der Sprachunter-
richt auf den Schulen ist mit einer inneren Notwendigkeit von der Schulmei-
sterei beherrscht, die solche kodifizierten Regeln aufnötigt. Gleichwohl lebt
die Sprache, und sie lebt nicht durch die starre Anwendung von Regeln,
sondern durch die beständige Weiterbildung des Sprachgebrauchs, also zu-
letzt durch das Tun eines jeden einzelnen.
In der Philosophie unseres Jahrhunderts sind einige dieser Wahrheiten
durch die heute so gern geschmähte Existenzphilosophie vertreten worden.
Insbesondere hat der Begriff der Situation bei der Abkehr vom wissenschaft-
lichen Methodologismus der neukantianischen Schule eine große Rolle ge-
spielt. In der Tat liegt in diesem Begriff, wie ihn vor allem Karl Jaspers
analysiert hat, ein logisches Motiv, dessen Komplexion die einfache Rela-
tion von Allgemeinem und Besonderem bzw. Gesetz und Fall übertrifft.
Sich in einer Situation befinden, enthält immer ein fur die vergegenständli-
chende Erkenntnis unerreichbares Moment. Nicht umsonst gebraucht man
in solchem Zusammenhang metaphorische Wendungen wie die, daß man
sich in die Situation versetzen muß, sc. um über die allgemeine Auskenntnis
hinaus das wirklich Tunliehe und Mögliche zu erkennen. Situation hat eben
nicht den Charakter des bloßen Gegenüber, so daß die Kenntnis der objekti-
ven Gegebenheiten genügte, um Bescheid zu wissen. Auch eine zureichende
Kenntnis aller objektiven Gegebenheiten, wie sie die Wissenschaft bereit-
stellt, vermag nicht die Perspektivität zu antizipieren, die sich vom Standort
des Situations gebundenen her ergibt.
Das Ergebnis dieser Überlegungen scheint zu sein, daß die altherge brach-
te Vorstellung des Machens und des Herstellens ein falsches Erkcnntismodell
darstellt. Die Spannung zwischen dem Wissen rur jedermann, wie es mit
dem Begriff der lehrbaren Wissenschaft (bzw. Techne) verknüpft ist, und
dem Wissen um das praktisch Beste rur einen selbst ist an sich alt, aber es ist
kein Zufall, daß sie vor der Entstehung der modernen Wissenschaft nicht zu
einer wirklichen Antinomie zugespitzt worden ist. Bei Aristotelcs etwa
scheint das Verhältnis zwischen politischer Kunst und politischem Sinn
Über die Planung der Zukunft 165

(Techne bzw. Phronesis) ohne eigentliche Problematik. Wo es lernbares


Wissen gibt, hat man es zu lernen. Aber das sind immer nur Teilbereiche des
Wissens und Könnens, die die Sphäre des sittlichen und politischen Handelns
niemals auszufullen vermögen. Das Gesamtwissen, in das sich alle Formen
menschlichen Wissens einfUgen, gibt auch aller Techne ihr Maß. Sie bleibt in
einem grundsätzlichen Sinne die Ausfrillung von Lücken, die die Natur frir
menschliche Arbeit freigelassen hat, und bleibt damit stets nur eine Ergän-
zung unseres Wissens. Heute dagegen läßt die großartige Abstraktion, mit
der das Methodenideal der modernen Wissenschaft seinen Gegenstand iso-
liert und umgrenzt, zwischen dem sich beständig überholenden Wissen der
Wissenschaft und der unwiderruflichen Endgültigkeit aller wirklichen Ent-
scheidungen, mithin zwischen dem Fachmann und dem Politiker eine quali-
tative Differenz aufbrechen. Jedenfalls scheint es an einem vernünftigen
Moden dessen zu fehlen, was das Wissen des Staatsmannes ausmacht.
Max Webers donquichottehafte Zuspitzung des Unterschiedes zwischen
wertfreier Wissenschaft und weltanschaulicher Entscheidung macht dieses
Fehlen offenkundig. Das Ideal des Herstellens, das dem Konstruktionsge-
danken der modernen Wissenschaft zugrunde liegt, fuhrt hier in eine Apo-
rie. Vielleicht könnte es diese Lücke schließen, wenn man an die Stelle des
Modells des Machens das alte Modell des Steuerns setzt. Denn Steuern ist
nicht Machen - eher ein Sich-Anpassen an Gegebenheiten. Es sind darin
offenbar zwei Momente in inniger Einheit verknüpft, die das Wesen des
Steuerns ausmachen: die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts, das in
einem genau umgrenzten Spielraum schwankt, und die Lenkung, d. h. die
Bestimmung einer Richtung der Fortbewegung, die unter Wahrung dieses
schwankenden Gleichgewichts möglich ist. Es leuchtet ein, daß sich all
unser Planen und Tun innerhalb einer labilen Gleichgewichtslage vollzieht,
die unsere Lebensbedingungen darstellen. Diese Vorstellung des Gleichge-
wichts ist nicht nur eine der ältesten politischen Ordnungsvorstellungen,
von der aus sich der Freiheitsgrad des Handelnden begrenzt und bestimmt.
Gleichgewicht ist eine Grundbestimmung des Lebens überhaupt, an die alle
unbestimmten, noch nicht festgelegten Möglichkeiten des Lebendigen zu-
rückgebunden bleiben. Der Mensch der technischen und wissenschaftlichen
Zivilisation kann sich so wenig daraus befreien wie nur je ein Lebendiges. Ja,
man darf darin sogar die eigentliche Bedingung seiner Freiheit sehen. Nur
dort, wo sich Kräfte das Gleichgewicht halten, kann der Faktor menschli-
chen Wollens und Wirkens überhaupt ins Gewicht fallen. Wir kennen das
von jeher aus der Politik. Handlungsfreiheit gewinnen, setzt Schaffung einer
Gleichgewichtslage voraus. Aber auch in der modernen Naturwissenschaft
kennen wir Ähnliches. Immer mehr ist man den Reglersystemen auf der
Spur und bleibt dabei weit von dem naiven Glauben entfernt, solche Syste-
me der Selbstkorrektur des Lebendigen mit unseren groben Mitteln darstel-
166 Ergänzungen

len zu können. Und doch macht all unsere Forschung, soweit sie Erkennt-
nisse vermittelt, gerade das möglich, auf immer sachgerechtere Weise in den
natürlichen Ablauf mit künstlichen Mitteln einzugreifen. So gewinnt das
Erkenntnismodell des Steuerns gegenüber dem Planen und Machen zuneh-
mend größeres Gewicht. Indessen, auch dieses Modell darf nicht verdecken,
welche Voraussetzungen - welches Wissen um Ziel und um Richtung -
allem Steuern vorgegeben sind. Plato hat gerade am Können des Steuer-
manns die Grenze alles Könnens markiert. Er bringt seine Passagiere gut an
Land- aber ob es fUr sie gut ist anzukommen, darüber kann er nichts wissen.
Den Steuermann des Agamemnon mägen nach dem Mord an seinem Herrn
Zweifel überkommen haben.
Vielleicht gibt es kein Beispiel, das die hier liegenden Probleme besser
illustriert, als die ärztliche Situation. Hier wird der Konflikt zwischen der
Wissenschaft und der Konkretion des ärztlichen Helfens in der Einheit eines
beruflichen Tuns erfahren. Daß sich analoge Verwicklungen überall zeigen,
wo ein auf wissenschaftlicher Ausbildung beruhender Beruf die Vermittlung
zwischen Lebenspraxis und Wissenschaft zu leisten hat, so beim Juristen,
beim Seelsorger, beim Lehrer, versteht sich von selber. Aber der Fall der
Medizin hat doch einen besonderen Modellcharakter. Hier sind es die mo-
demen Naturwissenschaften in der ganzen Fülle und Großartigkeit ihrer
Möglichkeiten, die unmittelbar mit der ärztlichen Grundsituation des Hel-
fens und Heilens, wie sie von jeher dem Medizinmann zufiel, in Konflikt
geraten. Dieser Konflikt übertrifft auf eine radikale Weise die Fragwürdig-
keit, die seit alters der ärztlichen Wissenschaft anhaftet. An sich ist es ein
uraltes Problem der Medizin, wie weit sie sich als )Wissenschaft(, natürlich
als eine praktische Wissenschaft, eine Techne, d. h. ein Herstellenkönnen,
verstehen läßt. Denn während jedes andere praktische Wissen, das etwas
herzustellen weiß, an seinem Werk den Beweis seines Wissens findet, ist das
Werk der Medizin von einer unaufhebbaren Zweideutigkeit. Wie weit die
Maßnahmen des Arztes ftir die Wiederherstellung der Gesundheit hilfreich
waren, oder ob die Natur sich selber geholfen hat, kann im Einzelfalle
unentscheidbar sein, und damit ist die ganze Heilkunst - sehr im Unterschie-
dezu anderen Technai -von altershereiner besonderen Apologie bedürftig. 12
Es gehört wohl zur Struktur dessen, was man Gesundheit nennt, daß es
sich dabei nicht um ein wohlumgrenztes Ding handelt, sondern um einen
Zustand, der von jeher durch den Begriff des Gleichgewichtes charakteri-
siert worden ist. Zum Begriff des Gleichgewichtes gehört aber, daß es in

12 [Über dieses Problem vgl. vom Verfasser: >Apologie der HeilkullSt(, Kl. Sehr. I,
S. 211-219,jetztin Gcs. WerkeBd. 4, sowie)Theorie, Technik, Praxis<, Vorwortzu>Neue
Anthropologie<, hrsg. von H.-G. Gadamer und P. Vogler, Stuttgart 1972ff., Bd. I,
S. IX- XXXVI, jetzt in Ges. Werke Bd. 4]
Über die Planung der Zukunft 167

gewissem Umfange Schwankungen ausgesetzt ist, die sich selbst ausglei-


chen, und daß erst bei Überschreitung der zulässigen Schwankungs breite
das Gleichgewicht ganz verloren geht und durch eine neue Anstrengung
mühsam wieder errichtet werden muß - falls das noch möglich ist. Daher
bedeutet die gelingende Wiederherstellung nichts anderes als die Wiederher-
beifUhrung eines schwankenden Gleichgewichts. Das setzt dem >Eingriff<
ein besonderes Maß. Er greift ja von außen in ein System ein, das in sich
balanciert und sich selbst reguliert. Jeder Eingriff. der eine Störung in diesem
Gleichgewicht beseitigen soll, ist daher in Gefahr, andere Gleichgewichtsbe-
dingungen ungewollt zu verändern. Und diese Gefahr wächst, je gräßer die
Möglichkeiten der Wissenschaft werden. Um es allgemeiner auszudrücken:
Hier besteht eine wesenhafte Spannung zwischen den isolierbaren Zusam-
menhängen von Wissen und Machen, die durch die naturwissenschaftliche
Kausalanalyse erarbeitet werden, und der individuellen Organisation, die,
wie Kant gezeigt hat, unter teleologischen Gesichtspunkten allein verstan-
den werden kann. Insofern ragt die moderne Medizin in die allgemeine
Problematik hinein, die in der wissenschaftlichen Biologie von heute ausge-
tragen wird. Die Fortschritte, die gerade auf diesem Gebiete, insbesondere
durch die sogenannte Informationstheorie und die Kybernetik, erzielt wor-
den sind, haben das Kant ganz unerreichbar erscheinende Ideal eines New-
ton des Grashalms viel von der Eindeutigkeit einer utopischen Idee verlieren
lassen. Gleichwohl ist damit in keiner Weise etwas über die Frage der
morphologischen Methoden entschieden. Vielmehr ist es nicht einmal ein-
zusehen, warum morphologische Methoden sich nicht aufs beste mit kau-
salanalytischen vertragen sollen. Auch die sogenannte Verhaltensforschung
macht doch bereits methodische Voraussetzungen eigener Art, wenn sie das
Verhalten beobachtet, das offenbar nicht als ein mechanischer Ursache-
Wirkungs-Zusammenhang angesehen werden kann - ohne daß deswegen
eine solche Erklärung desselben bereits irgendeinen Widerspruch implizier-
te. Selbst wenn es einmal gelungen sein sollte, lebendige Organismen in der
Retorte herzustellen, wird es nicht sinnlos bleiben, das Verhalten der so
hergestellten Organismen zu studieren. Der Gedanke der Wissenschaft läßt
beide Methoden zu und ordnet sie dem gleichen Ziele unter, einen Erfah-
rungsbereich wissenschaftlich zu erkennen und entsprechend verfugbar zu
machen. VerfUgbarmachen beschränkt sich eben keineswegs auf das bloße
Herstellenkönnen. Es gehört dazu ebenso das Voraussehenkönnen von Ab-
läufen, die man nicht in der Hand hat, wie z. B. das Verhalten von Lebewe-
sen in bestimmten Lagen.
Unser Problem ist also keineswegs das dieses Methodendualismus, son-
dern betrifft die spezifische Problematik der Medizin, die, wie ich glaube,
geradezu ein Modellfall fUr das Thema der Ordnung der modernen Welt
durch die Wissenschaft ist. Die ungeheuren Fortschritte, die für die Meiste-
168 Ergänzungen

rung der eigentlich kritischen Situationen menschlicher Krankheit von der


modernen Medizin erreicht worden sind, lassen problematische Verwick-
lungen entstehen, von denen sich die Verschworenen des hippokratischen
Eides am Ende einmal werden Rechenschaft geben müssen. Es geht doch
offenkundig nicht nur darum, daß die praktische Notwendigkeit des Helfens
und Heilens das Modell der technischen Anwendung von Wissenschaft als zu
partikular erweist. Gewiß ist es so, daß es auch der Stand unseres Wissens ist,
d. h. seine Begrenztheit, was am Ende den Arzt nötigt, dem Fingerspitzenge-
ftihl oder der Intuition zu vertrauen und, wo dieselben nicht ausreichen, dem
bloßen Herumprobieren. Indessen, es schiene mir kein Widerspruch, sich
eine perfekte Biologie zu denken, die auch der Medizin zu einer wissenschaft-
lichen Perfektion verhülfe, wie wir sie uns heute noch gar nicht vorstellen
können. Aber gerade dann würden, meine ich, die Verwicklungen deutlich,
die wir in Ansätzen schon heute gewahren. Ich denke z. B. an die Sterbensver-
längerung, die durch die heutige medizinische Technik praktiziert wird.
Die Einheit der Person, die als der Kranke zu dem helfenden Arzt ein
echtes Gegenüber bildet, hat dabei gleichsam keinen Ort mehr. Ähnliches
wurde schon oben ftir die erbbiologischen Züchtungs möglichkeiten ange-
deutet. Es scheint, daß die Begrenztheit und Endlichkeit des Lebens
den Konflikt unausweichlich macht, der zwischen der Naturwissenschaft in
ihren höchsten Möglichkeiten und dem menschlichen Selbstverständnis
besteht.
Hier mag nun, jenseits von Machen - d. h. Herstellen auf Grund eines
Entwurfs - und Steuern - d. h. Wiederherstellen von Gleichgewicht und
Festhalten einer Richtung unter beständig neuen Bedingungen - eine Verhal-
tensweise wichtig werden, die der Grenze allen Verftigungswillens Rechnung
trägt und die Aristoteles folgerichtig nicht zur Techne rechnet: das Mit-sich-
zu-Rate-Gehen, das der einzelne (oder auch die Gruppe) angesichts der
Entscheidung fordernden Situation anstellt. Da geht es nicht mehr um das
Wissen des Fachmannes, der als der Wissende den anderen gegenübertritt,
sondern um ein Wissen, das man braucht und das einem keine Wissenschaft
liefert. Man findet sich verschiedenen Möglichkeiten, die sich anbieten,
gegenüber und erwägt hin und her, welches die richtige ist. Ein Wissen, das
allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann, steht nicht zur Verftigung. So
bedarfes der Beratung, die eine ganz andere Gemeinsamkeit einschließt als die
des Allgemeingültigen. Sie läßt den anderen zu Worte kommen und sich
gegenüber dem andern. Sie kann daher nicht im Stile der Wissenschaft bis zu
Ende versachlicht werden. Denn es handelt sich nicht nur um das Finden des
richtigen Mittels zu einem feststehenden Zweck, sondern vor allem um die
Vorstellung von dem, was sein soll und was nicht - was recht und was nicht
recht ist. Das ist es, "\vas sich im Sich-Beraten über das Tunliehe auf unaus-
drückliehe Weise als ein wahrhaft Gemeinsames herausbildet. Am Ende
Über die Planung der Zukunft 169
solcher Beratung steht nicht die Ausftihrung eines Werks oder die Herbei-
führung eines erstrebten Zustandes allein, sondern eine Solidarität, die alle
eint.
Wenden wir diese Überlegungen auf die Situation der modernen Welt und
die Aufgaben, die wir sehen, an. Es war von etwas anderem die Rede als VOn
der wissenschaftlichen Bewältigung der planetarischen politischen Ord-
nungsaufgaben, vor denen wir stehen. Daß die Wissenschaft auch dafür
noch eine gewaltige Zukunft hat, sei ausdrücklich hervorgehoben; auch
wenn es durchaus nicht ausgemacht ist, daß die abendländische Zivilisation
sich widerstandslos ausbreitet und alle anderen menschlichen Ordnungsfor-
men schließlich verdrängt oder erstickt. Aber gerade das ist das Problem.
Die Produktion eines einheitlichen technischen Zivilisationsmenschen, der
sich einer entsprechend einheitlichen Zivilisationssprache bedienen lernt-
und das Englische ist ja auf gutem Wege, diese Rolle zu übernehmen -,
könnte gewiß das Ideal einer wissenschaftlichen Weltverwaltung erleich-
tern. Aber die eigentliche Frage ist, ob ein solches Ideal wirklich gewollt
werden kann. Wir können es vielleicht an sprachlichen Vorgängen schon
ablesen, wie sich der zivilisatorische Ausglcichsprozeß auf unserem Planeten
auswirken muß. Das Zeichensystem, das die Bedienung eines technischen
Apparates verlangt und ermöglicht, entwickelt eine eigentümliche Dialek-
tik. Es hört auf, ein bloßes Mittel zur Erreichung der technischen Zwecke zu
sein. Es schließt nämlich die Zwecke aus, die sich mit seinen Mitteln nicht
anzeigen und mitteilen lassen. Das perfekte Funktionieren der internationa-
len Verkehrssprache z. B. beruht auf der Begrenztheit des darin Mitteilbaren
überhaupt. Die logisch-erkenntnistheoretische Perfektionierung einer allge-
meinen Wissenschaftssprache, wie sie etwa den Bemühungen um unity of
sdence obliegt, würde genau das gleiche Gesicht tragen. Ihrer Perfektion
könnte es gelingen, alle Ungenauigkeiten und Vieldeutigkeiten, die die
zwischenmenschliche Verständigung bedrängen, zu eliminieren. Man
brauchte deswegen nicht einmal zu einer Zukunfts weltsprache zu streben.
Es würde genügen, daß die lebendigen Volkssprachen gleichsam in ein
System von Transformationsgleichungen eingegliedert würden, so daß eine
ideale Übersetzungsmaschine die Eindeutigkeit der Verständigung garan-
tierte. Das wäre alles möglich und liegt vielleicht nicht einmal so fern. Aber
auch hier wäre es unvermeidlich, daß sich dieses universale Mittel in den
universalen Zweck verkehrte. Es wäre damit nicht eigentlich ein Mittel
gewonnen, alles Erdenkliche sagen und einander mitteilen zu können, son-
dern es wäre ein Mittel gewonnen, das garantierte, daß nur das in die
Programmierung Aufgenommene und Mitgeteilte überhaupt noch gedacht
wird. Am Ende stehen wir in dieser Entwicklung schon mitten darin. Das
unheimliche Phänomen der Sprachregclung, das durch die Verbreitung der
modernen Massenmedien eine neue Gangart angenommen hat, zeigt bereits
170 Ergänzungen

deutlich die Dialektik von Mittel und Zweck, die hier besteht. Vorläufig tritt
das erst noch in der Profilierung von Fronten zutage. Was in dem einen Teil
der Welt Demokratie oder Freiheit heißt, erscheint als eine Sprachregelung,
die vom anderen Teil der Welt als eine bloße Manipulation der Meinungsbil-
dung und der Massendomestikation denunziert \\rird. Aber das ist nur ein
Ausdruck der Unvollkommenheit dieses Systems. Die Sprachregelung, die
alle erfaßt hat, hat sich selbst zum Zweck erhoben und sich damit ins
Unmerkliche geborgen.
Man muß sich solche extremen Vorstellungen vor Augen halten, um
einzusehen, \\'as es bedeutet, daß in aller ursprünglichen menschlichen Wclt-
erfahrung unaufhebbare Bedingungen liegen, die uns alle schon vorgängig
bestimmen. Daß die Sprache, in die wir hineinwachsen, wenn wir aufwach-
sen, mehr ist als ein Zeichensystem, das der Beherrschung eines Zivilisa-
tionsapparates dient, meint nicht irgendeine romantische Vergötzung der
Muttersprache. Vielmehr liegt in jeder Sprache eine Tendenz zur Schemati-
sierung. Die Wc1tauslegurig durch die Sprache nimmt beim Erlernen der
Sprache immer zugleich den Charakter der Sprach regelung an. Mit dem
Wort wird die Sache zurechtgelegt. Das geniale Sprachalter des Zwei- oder
Dreijährigen wird durch den kommunikativen Zwang der Umwelt been-
det. DeIllloch scheint es mir ein Unterschied zu jedem künstlich gestifteten
Zeichensystem, daß sich das Leben der Sprache nicht abgelöst von den
lebendigen Überlieferungen vollzieht und weitervollzieht, in denen eine
historische Menschheit steht. Das sichert allem Sprachlcben eine innere
Unendlichkeit, die sich nicht zuletzt darin bewährt, daß der Mensch beim
Erlernen fremder Sprachen in fremde Weltauslegungen einzutreten vermag
und Reichtum und Armut des Eigenen am Fremden erfahrt. Auch dies ist ein
Ausdruck der unaufhebbaren Endlichkeit des Menschen. Jeder einzelne muß
sprechen lernen und wird darin seine Geschichte haben und sie selbst in der
extremsten Vollendung des Maschinenzeitalters nicht loswerden. Das Zeit-
alter der post-histoire, in das wir hineingehen, wird daran seine Begrenzung
finden.
Worauf wir hier verv.,riesen werden, scheint freilich den Maßstäben der
modernen Welt nicht recht zu entsprechen. Es mag richtig sein, daß in der
Bewußtmachung der Grenzen, die der Anwendung der Wissenschaft gesetzt
sind, zugleich ins Bewußtsein tritt, was vor aller Wissenschaft und unabhän-
gig von ihr die Völker trennt und verbindet, wie die Formen von Recht und
Sitte, die Inhalte der eigenen Überlieferung, Gesang und Sage und Geschich-
te, das Zusammenleben prägen. Aber bleibt nicht solche Bewußtmachung
stcts auf kleine intellektuelle Gruppen beschränkt, während der technologi-
sche Traum unserer Gegenwart das Bewußtsein der Menschheit mehr und
mehr einlullt?
Indessen - was die Überzeugungen der Menschen prägt und was auf den
Über die Plammg der Zukunft 171

tausend Wegen der direkten und indirekten Erziehung auf sie einwirkt, mag
noch so sehr von dem wissenschaftlichen Expertentum geplant, geordnet
und geregelt werden - am Ende sind es doch in ihre Traditionen gebundene
Menschen, deren Bewußtsein sich umsetzt und fortwirkt. Sie aber werden
sich in unserer immer näher zusammenrückenden Welt in steigendem Maße
dessen bewußt werden, daß nicht nur ökonomisch-technische Entwick-
lungsunterschiede die Völker trennen, und nicht nur deren Aufhebung sie
verbindet, sondern daß gerade die unaufhebbaren Unterschiede zwischen
ihnen, ihre natürlichen und geschichtlich gewordenen, es sind, die uns als
Menschen verbinden.
Abschließend wird man sich daher die Frage stellen dürfen, was eine
Erinnerung dieser Art gegenüber dem übermächtigen Trend der wissen-
schaftlichen Zivilisation unserer Epoche überhaupt rur eine Bedeutung ha-
ben soll. Daß dic beliebte Kritik an der Technik mit allen anderen Arten VOn
Kulturkritik die gleiche innere Unaufrichtigkeit teilt, wurde oben schon
berührt. Auch wird man von der Bewußtmachung all dessen, was dem
technologischen Traum der Gegenwart eine Grenze setzt, nicht eigentlich
erwarten, daß es das Schrittgesetz des zivilisatorischen Fortschritts beein-
flussen könnte oder sollte. Um so mehr stellt sich die Frage, was solche
Bewußtmachung überhaupt leistet, und das ist eine allgemeine Frage, die
keine summarische Antwort gestattet.
So werden die Möglichkeiten der Beherrschung der Natur dort andere
Bedeutung haben und dort eine höhere Einschätzung finden, wo man VOn
der Beherrschung der Naturkräfte besonders weit entfernt ist und beständig
mit physischer Not, Armut und Krankheit zu kämpfen hat. Die Eliten in
dieser Weise zurückstehender Länder werden der wissenschaftlich fundier-
ten Planung ihre volle Kraft schenken - sie werden auch besonders empfind-
lich sein gegen die retardierenden Wirkungen, die von der religiösen bzw.
gesellschaftlichen Tradition dieser Länder ausgehen. Wenn Sachlichkeit des
Planens unter allen Umständen ein hohes moralisches Niveau der Selbst-
kontrolle verlangt, so wird sie unter solchen Umständen mit po1itischer
Glaubensfahigkeit und bewußter Ideologiekritik verbunden sein. Umge-
kehrt wird man in hochentwickelten Ländern zwar niemals der Phantasie
des Planers, der die menschliche Wohlfahrt zu steigern verspricht, eine
wunschlose Sattheit entgegensetzen. Man wird auch dort Hemmungen des
Fortschritts, die in den Besitzverhältnissen oder in den Profitmäglichkeiten
liegen, zu bekämpfen haben. Aber je mehr Freiheit von äußerer Not und
übermäßiger Arbeit, je mehr Mäßigung des Tempos im Leben der moder-
nen Industriegesellschaft erreichbar scheinen, um so weniger wird man von
der wissenschaftlichen Planung der Zukunft allein das Heil erwarten. Es
handelt sich dabei nicht nur um Unterschiede in der ökonomischen Ent-
wicklung der Länder. Es sind auch die Unterschiede zwischen den alten
172 Ergänzungen

Kulturtraditionen, die in einer zusammenrückenden Welt in aller Bewußt-


sein treten werden. So wird Bewußtmachung der zwischen den Menschen
und Völkern bestehenden Unterschiede gerade dann zu einer vordringlichen
Forderung, wenn Planung und Fortschritt Beliebiges erreichbar erscheinen
lassen. Solche Bewußtmachung ist kaum noch eine Leistung der Wissen-
schaft, eher schon eine der Wissenschafts kritik. Sie ist vor allem eine Erziehung
zur Toleranz. 13 Bewährte Ordnungsvorstellungen staatlichen Zusammenle-
bens, wie z. B. das Ideal der Demokratie (im westlichen oder im östlichen
Sinne), werden in solcher Bewußtmachung ihrer eigenen Voraussetzungen
inne. Ökonomischer Fortschritt mag in allen Teilen der Welt gleich wünsch-
bar sein und wird dennoch nicht das gleiche bedeuten.
Zum Schluß mag es erlaubt sein, nach der Rolle der Philosophie in der
bezeichneten Situation zu fragen. Hat sie in einer Zur Perfektion gelangenden
wissenschaftlichen Kultur überhaupt noch eine Funktion? Hier sind gewisse
weitverbreitete Tendenzen in der Auffassung und Sclbstauffassung der Phi-
losophie zurückzuweisen. Vom Philosophen eine Art Superwissenschaft zu
verlangen, die der Spezialisierung der Einzclwissenschaften den zusammen-
fassenden Rahmen gäbe - eine AufgabensteIlung, die sich von den klassi-
schen Zeiten der Philosophie herleitet, als sie selber noch die Gesamtwissen-
schaft war -, ist wissenschaftlicher Dilettantismus. Von ihr das allgemeine
Organon einer Logik und Methodenlehre zu erwarten, scheint mir aber
nicht minder dilettantisch: Als ob die einzelnen Wissenschaften davon Ge-
winn hätten und nicht schon längst auf ihre Weise ringsumher von anderen
Wissenschaften Methoden und Zeichensysteme übernähmen, wenn sie ih-
nen von Nutzen scheinen. Eine philosophische Methodenlehre der Wissen-
schaften ist dazu keil)eswegs nötig. Sie ist gewiß eine legitime Aufgabe der
Philosophie. Aber die Frage, was rur eine Funktion die Philosophie als
universale Bewußtmachung heute hat, wird von ihr auch nicht beantwortet.
Sie setzt vielmehr eine Antwort auf diese Frage bereits voraus. Bewußtma-
chen dessen, was ist, dazu gehärt gewiß auch Bewußtmachen dessen, was
die Wissenschaft ist. Aber ebenso gehört dazu, sich dafur offen zu halten und
dessen eingedenk zu sein, daß nicht alles, was ist, Gegenstand der Wissen-
schaft ist oder sein kann.
In der heutigen philosophischen Diskussion gibt es im Grunde zwei
Antworten auf die Frage, was Bewußtmachung leisten kann. Die eine
Antwort geht davon aus, daß es das Verständnis dessen, was heute wirklich
ist, zuzuspitzen und zu radikalisieren gelte. Zu dieser Aufgabe gehört die
Zerstörung al1er romantischen Illusionen über die gute alte Zeit und das
Eingeständnis, daß sichere Geborgenheit in einer christlich verstandenen
Welt nicht mehr existiert. Man kann daraus folgern, es gelte sich einzugestc-

u rVgl. meine Arbeit >Die Idee der Toleranz, in Ges. Werke Bd. 41
Über die Planung der Zukunft 173
hen, daß Gott sich vor uns verborgen hat und wir in der Gottesfinsternis
leben (Martin Buber), oder auch, daß die Frage nach dem >Sein< in totaler
Seinsvergessenheit versinkt, je mehr unsere metaphysische Tradition in der
Herrschaft der Wissenschaft sich vollendet (Martin Heidegger). In solcher
Weise würde sich das philosophische Denken als eine Art weltlicher Escha-
tologie verstehen, d. h. eine Art Erwartung der Umkehr begründen, die
zwar nicht sagen kann, was sie erwartet, aber indem sie die radikalen
Konsequenzen der Gegenwart vorwegnimmt, sich mit der Notwendigkeit
der Umkehr durchdringt. Solcher Radikalität, die sich das äußerste Bewußt-
sein dessen, was ist, zumutet, wird man nachrühmen dürfen, daß sie nicht in
jene Kulturkritik verfallt, deren Unaufrichtigkeit darin besteht, das zu ge-
nießen, was sie verneint, und die eben damit das Bewußtsein dessen verhin-
dert, was wirklich ist. Aber sieht solcher Radikalismus das, was wirklich ist,
selber richtig, wenn er in allem das Nichts sieht?
Es gibt noch eine andere mögliche Antwort auf die Frage, was Bewußt-
machung leisten kann, und diese scheint mir in vollem Einklang mit unse-
rem Bedürfnis, zu wissen, und alles, was wir wissen können, praktisch
werden zu lassen. Könnte es nicht sein, daß der technologische Traum, den
unsere Gegenwart hegt, wirklich ein Traum ist? Denn die immer schnellere
Abfolge von Veränderungen und Umgestaltungen, die unsere Welt erfUllt,
hat tatsächlich, gemessen an den bestandhaften Wirklichkeiten unseres Le-
bens, etwas Phantomhaftes und Unwirkliches. Bewußtmachung dessen,
was ist, könnte gerade dies zum Bewußtsein bringen, wie wenig sich die
Dinge ändern, gerade wo alles sich so radikal zu verändern scheint. Daraus
folgt keineswegs ein Plädoyer fUr die Aufrechterhaltung der bestehenden
Ordnung (und Unordnung). Es handelt sich vielmehr um eine Berichtigung
unseres Bewußtseins, das wieder lernen könnte, hinter dem, was sich ändert
und was man verändern kann und soll, das Unabänderliche und Wirkliche
zu gewahren. Der Konservative und der Revolutionär scheinen mir in der
gleichen Weise solcher Berichtigung ihres Bewußtseins bedürftig. Die un-
veränderlichen und bestandhaften Wirklichkeiten - Geburt und Tod, Jugend
und Alter, Heimat und Fremde, Bindung und Freiheit - verlangen von
jedem Anerkennung. Sie bemessen den Spielraum, innerhalb dessen Men-
schen planen können, und stecken die Grenzen ftir das, was ihnen gelingen
kann. Weltteile und Weltreiche, Revolutionen der Macht und des Denkens,
alle Planung und Einrichtung unseres Lebens auf diesem Planeten - und
außerhalb seiner -, was immer die Wissenschaft vermag, es wird ein Maß
nicht überschreiten können, das vielleicht keiner kennt und das dennoch
allem gesetzt ist.
13. Semantik und Hermeneutik
1968

Es scheint mir kein Zufall, daß unter den Forschungsrichtungen des heuti-
gen Philosophierens die Semantik und die Hermeneutik eine besondere
Aktualität gewonnen haben. Beidc gehen von der sprachlichen Ausdrucks-
gestalt unseres Dcnkens aus. Sie überspringen nicht mehr die primäre Gege-
benheitsform aller geistigen Erfahrung. Sofern sie es beide mit dem Sprach-
lichen zu tun haben, besitzen sie offenkundig heide einen Gesichtspunkt von
echter Universalität. Denn was ist an der sprachlichen Gegebenheit nicht
Zeichen und was ist an ihr nicht ein Moment des Prozesses der Verständi-
gung?
Die Semantik scheint das sprachliche Gegebenheitsfeld gleichsam von
außen beobachtend zu beschreiben, so daß es sogar möglich gewesen ist,
eine Klassifikation der Verhaltensweisen im Umgang mit diesen Zeichen zu
entwickeln. Wir verdanken sie dem amerikanischen Forscher Charles Mor-
ris. Auf der anderen Seite hat die Hermeneutik den Innenaspekt im Ge-
brauch dieser Zeichenwelt im Auge, oder besser den inneren Vorgang des
Sprechens, der sich von außen gesehen als die In-Gebrauchnahme einer
Zeichen welt darsteUt. Beide thematisieren auf ihrem Wege die Totalität des
Weltzuganges, den Sprache darstellt. Und beide tun es. indem sie hinter den
gegebenen Sprach pluralismus zurückfragen.
Es scheint mir das Verdienst der semantischen Analyse, die Totalitäts-
struktur von Sprache bewußt gemacht und damit die falschen Ideale der
Eindeutigkeit von Zeichen bzw. Symbolen und der logischen Formalisier-
barkcit des sprachlichen Ausdrucks zurückgebundcn zu haben. Der hohe
Wert semantischer Strukturanalyse beruht nicht zuletzt darauf, daß sie den
Schein der Selbigkeit auflöst, den das isolierte Wortzeichen erzeugt, und
zwar tut sie das auf verschiedene Weise: sei es in der Form, daß seine
Synonyme bewußt gemacht werden, sei es in der noch weit bedeutungs-
volleren Gestalt, daß sich der einzelne Wort-Ausdruck überhaupt als un-
übertragbar und unaustauschbar erweist. Ich nenne diese zweite Leistung
deshalb bedeutungsvoller, weil sie auf etwas zurückgeht, was hinter aUer
Synonymität steht. Die Mehrheit von Ausdrücken fur dieselben Gedanken,
von Wörtern ftir dieselbe Sache mag, unter dem Gesichtspunkt der bloßen
Semantik und Hermeneutik 175

Bezeichnung und Benennung einer Sache, der Unterscheidung, Gliederung


und Differenzierung zugänglich sein, aber je weniger das einzelne Wortzei-
chen dabei isoliert ist, desto stärker individualisiert sich die Bedeutung des
Ausdrucks. Der Begriff der Synonymität löst sich mehr und mehr auf. Am
Ende steht offenbar ein semantisches Ideal, das in einem bestimmten Kon-
text nur einen Ausdruck und keinen anderen als den richtigen, als das
treffende Wort anerkennt. Der dichterische Wortgebrauch dürfte hier an der
Spitze stehen, und innerhalb desselben scheint sich eine Steigerung dieser
Individualisierung aufzutun, die von dem epischen Wortgebrauch über den
dramatischen zum lyrischen, zum dichterischen Gebilde des Gedichtes,
fUhrt. Das stellt sich in der Tatsache, daß das lyrische Gedicht weitgehend
unübersetzbar ist, dar.
Das Beispiel eines Gedichtes mag verdeutlichen, was der semantische
Aspekt leistet. Es gibt einen Vers von Immermann, wo es heißt: "Die Zähre
rinnt«, und jedernlann, der zuerst diesen gewählten Wortgebrauch VOn
Zähre statt Träne hört, wird vielleicht stutzen, daß ein so altertümelndes
Wort an die Stelle des gewohnten tritt. Und doch ,"vird man im Wägen eines
Kontextes dichterischer Art dort, \vo es sich - wie in diesem Falle - um ein
wirkliches Gedicht handelt, die Wahl des Dichters schließlich anerkennen.
Man wird sehen, daß es ein anderer, ein leise veränderter Sinn ist, der durch
das Wort Zähre dem Alltag des Weinens gegenüber herausgehoben wird.
Man mag zweifeln. Ist das wirklich eine Sinndifferenz? Ist das nicht bloß
ästhetisch bedeutsam, d. h. ist der Unterschied nicht bloß einer der emotio-
nalen oder euphonischen Wertigkeit' Gewiß, es mag sein, daß bei Zähre
anderes anklingt als bei Träne. Aber ist nicht doch für den Sinn das eine rur
das andere substituierbar?
Man muß den Einwand in seiner ganzen Strenge durchdenken. Denn in
der Tat ist es schwierig, eine bessere Definition fur das, was der Sinn oder die
Bedeutung oder the meaning eines Ausdruckes ist, zu finden, als seine Substi-
tuierbarkeit. Wenn ein Ausdruck an die Stelle des anderen tritt, ohne daß sich
der Sinn des Ganzen ändert, dann hat auch der Ausdruck selber den gleichen
Sinn wie der, den er ersetzt. Nun läßt sich aber bezweifeln, wieweit eine
solche Substitutions theorie ftir den Sinn der Rede, der eigentlichen Einheit
des sprachlichen Phänomens, wirklich gelten kann. Daß es um die Redeein-
heit und nicht um den substituierbaren Einzelausdruck als solchen geht, ist ja
unstrittig. Gerade die Überwindung einer wortisolierenden Bedeutungs-
theorie liegt in den Möglichkeiten der semantischen Analyse. Unter diesem
weiteren Aspekt \vird man die Substitutionstheorie, die die Wortbedeutung
definieren so11, in ihrer Geltung einzuschränken haben. Die Struktur eines
sprachlichen Gebildes ist nicht ohne weiteres von der Korrespondenz und
Ersetzbarkeit einzelner Ausdrucke her zu beschreiben. Gewiß gibt es äqui-
valente Wendungen, aber solche Äquivalenzverhältnisse sind keine unwan-
176 Ergänzungen

delbarcn Zuordnungen, sondern kommen auf und sterben ab, so wie sich
der Geist einer Zeit von Jahrzehnt zu Jahrzehnt auch in semantischem
Wandel spiegelt. Man beobaehte etwa das Hineinwachsen englischer Aus-
drücke in das gesellschaftliche Leben unserer Tage. So kann die semantische
Analyse die Unterschiede der Zeiten und den Gang der Geschichte gleich-
sam ablesen und ist insbesondere in der Lage, das Hineinragen einer struktu-
rellen Totalität in eine neue Totalstruktur greifbar zu machen. Ihre deskripti-
ve Präzision erweist die Inkohärenz, die sich bei der Übernahme eines
Wortbereichs in neuen Zusammenhängen ergibt - und solche Unstimmig-
keit weist oft darauf, daß hier wirklich Neues erkannt wurde.
Das gilt auch und insbesondere feir die Logik der Metapher. Die Metapher
hält ja so lange den Schein einer Übertragung fest, d. h. die Metapher wirkt
wie zurückweisend auf den ursprünglichen Sinnbereich, aus dem sie ge-
schöpft ist und aus dem sie in einen neuen Anwendungsbereich übertragen
wurde, als eben dieser Zusammenhang als solcher noch bewußt ist. Erst
wenn das Wort in seinem metaphorischen Gebrauch gleichsam eingewurzelt
ist und den Rezeptions- und Übertragungscharakter verloren hat, beginnt es
seine Bedeutung in neuem Zusammenhang als >eigentliche~ zu entwickeln.
So ist es sicherlich eine bloße schulgrammatische Konvention, wenn man
gewisse Ausdrücke, die wir in der Sprache gebrauchen, wie etwa das Wort
>Blüte(, in ihrer eigentlichen Funktion in der Pflanzenwelt zu Hause erkennt
und die Verwendung dieses Wortes etwa ftir ein lebendiges Wesen oder gar
feir höhere Lebenseinheiten wie die Gesellschaft oder die Kultur als uneigent-
lichen und übertragenen Gebrauch ansieht. Der Aufbau eines Vokabulars
und seiner Verwendungsregeln bringt eben nur den Grundriß dessen zustan-
de, "vas auf diese Weise durch das ständige Hineinwachsen von Ausdrücken
in neue Verwendungsbereiche die Struktur einer Sprache bildet.
Damit ist der Semantik eine gewisse Grenze gesetzt. Gewiß kann man von
der Idee einer totalen Analyse der semantischen Grundstruktur von Sprache
aus alle gegebenen Sprachen als Erscheinungsformen von Sprache über-
haupt ansehen. Aber man \vird dabei die beständige Individualisierungsten-
denz im Sprechen mit der Konventionalitätstendenz, die ebenfalls zu allem
Sprechen gehört, in Spannung antreffen. Denn das macht ja offenbar das
Leben der Sprache aus, daß man sich zwar niemals allzu weit von der Sprach-
konvention entfernen kann. Wer eine Privatsprache spricht, die kein anderer
versteht, spricht überhaupt nicht. Aber auf der anderen Seite: Wer nur eine
Sprache spricht, deren Konventionalität in der Wort\vahl, in der Syntax, im
Stil total geworden ist, verliert die Macht der Anrede und der Evokation, die
durch die Individualisierung des sprachlichen Wortschatzes und der sprachli-
chen Mittel allein erreichbar ist.
Ein gutes Beispiel für diesen Vorgang ist die Spannung, die seit jeher
zwischen Terminologie und lebendiger Sprache besteht. Das ist ein nicht nur
Semantik und Hermeneutik 177

dem Forscher, sondern vor allem gerade auch dem bildungs beflissenen
Laien wohlbekanntes Phänomen, daß sich die Fachausdrücke wie sperrig
erweisen. Es ist so, daß sie eine Art von Sonderumriß besitzen, der sich in
das eigentliche Leben der Sprache nicht einfUgen will. Und dennoch ist
offenbar gerade dies wesentlich rur solche eindeutig definierten Fachaus-
drücke, die in lebendiger Kommunikation in das Leben der Sprache einge-
bettet sind, daß sie ihre durch Eindeutigkeit beengte Aufschlußkraft mit der
kommunikativen Kraft des vieldeutig vagen Sprechens anreichern. Die
Wissenschaft kann sich gegen solche Verunklärung ihrer eigenen Begriffe
gewiß wehren, aber methodische >Reinheit< ist immer nur in partikularem
Bereiche ereichbar. Der Zusammenhang von Weltorientierung, der im
sprachlichen Weltbezug als solchem liegt, geht ihr voraus. Man denke etwa
an den Kraftbegriff der Physik und die Bedeutungstäne, die in dem lebendi-
gen Wort ,Kraft< mitklingen und dem Laien die Erkenntnisse der Wissen-
schaft bedeutsam machen. Ich habe gelegentlich zeigen können, wie New-
tons Leistung auf diese Weise durch Getinger und durch Herder ins allge-
meine Bewußtsein integriert wurde. Der Begriff der Kraft wurde von der
leb~ndigen Erfahrung von Kraft aus verstanden. Eben damit aber wächst das
Begriffswort in die deutsche Sprache ein und wird bis zur Unübersetzbarkeit
individualisiert. Oder wer will Goethes: »Im Anfang war die Kraft« in einer
anderen Sprache wiedergeben, ohne mit Goethe zu zögern: »Schon warnt
mich was, daß ich dabei nicht bleibe«?
Sieht man auf die Individualisierungstendenz, die in der lebendigen Spra-
che als solcher zu Hause ist, dann wird man in der Tat im dichterischen
Gebilde die Perfektion dieser Individualisierungstendenz erkennen. Wenn
das aber richtig ist, dann wird es fraglich, ob die Substitutionstheorie dem
Begriff des Sinnes des sprachlichen Ausdrucks wirklich Genüge tut. Die
Unübersetzbarkeit, die im Extremfall das lyrische Gedicht auszeichnet, so
daß es überhaupt nicht mehr von einer Sprache in eine andere übertragen
werden kann, ohne seine gesamte dichterische Sagkraft einzubüßen, läßt die
Idee der Substitution, des Eintretens eines Ausdrucks rur einen anderen,
offenkundig scheitern. Das scheint aber auch unabhängig von dem besonde-
ren Phänomen einer hochindividualisierten Dichtungssprache von allgemei-
ner Bedeutung. Substituierbarkeit widerstreitet, wenn ich recht sehe, dem
individualisierenden Moment im Sprach vollzug als solchem. Auch dort, wo
wir im Sprechen etwa einen Ausdruck durch einen anderen ersetzen oder
neben einen anderen setzen, in der Abundanz der Rhetorik oder in der
Selbstkorrektur des Redners, der den besseren Ausdruck nicht sogleich
fand, baut sich die Sinnmeinung der Rede im Fortgang der einander ablösen-
den Ausdrücke auf und nicht im Heraustreten aus dieser fließenden Einma-
ligkeit. Ein Heraustreten aber ist es, wenn man an die Stelle eines gebrauch-
ten Wortes ein mit ihm sinnidentisches anderes zu setzen unternimmt. Man
178 Ergänzungen

gelangt hier an den Punkt, an dem Semantik sich selbst autbebt und in etwas
anderes übergeht. Semantik ist eine Lehre vom Zeichen, insbesondere von
den sprachlichen Zeichen. Zeichen aber sind Mittel. Sie \verden nach Belie-
ben in Gebrauch genommen und weggelegt wie alle anderen Mittel mensch-
licher Tätigkeit auch. )Man beherrscht seine Mittel<, heißt: )man setzt sie
zweckentsprechend ein<. So sagen wir gewiß auch, daß man eine Sprache
beherrschen muß, \venn man sich in dieser Sprache mitzuteilen unternimmt.
Aber das wirkliche Sprechen ist mehr als die Wahl von Mitteln zur Errei-
chung bestimmter Kommunikationszielc. Die Sprache, die man beherrscht,
ist so, daß man in ihr lebt, d. h. das, was man mitteilen möchte, gar nicht
anders als in sprachlicher Form ,kennk Daß man seine Worte >wählt<, ist ein
kommunikativ erzeugter Anschein oder Effekt, in dem das Sprechen ge-
hemmt ist. >Freies< Sprechen fließt dahin in der selbstvergessenen Hingabe
an die Sache, die im Medium der Sprache evoziert wird. Das gilt sogar vom
Verstehen schriftlich fixierter Rede, von Texten. Denn auch Texte werden,
wenn man sie versteht, in die Sinnbewegung der Rede wieder einge-
schmolzen.
So taucht hinter dem Untersuchungsfcld, das die sprachliche Verfassung
eines Textes als ein Ganzes analysiert und seine semantische Struktur heraus-
hebt, noch eine andere Frage- und Forschungsrichtung auf, eben die herme-
neutische. Sie hat ihren Grund darin, daß Sprache immer auch hinter sich
selber und hinter die Ausdrücklichkeit, die sie darstellt, zurückweist. Sie
geht gleichsam nicht aufin dem, was in ihr ausgesagt ist, \vas in ihr zu Worte
kommt. Die hermeneutische Dimension, die sich hier auftut, bedeutet
offenbar eine Begrenzung der Objektivierbarkeit dessen, was man denkt
und mitteilt, überhaupt. Der sprachliche Ausdruck ist nicht einfach ungenau
und verbesserungs bedürftig, sondern bleibt immer und notwendig, gerade
wenn er das ist, was er sein kann, hinter dem zurück, was er evoziert und
mitteilt. Denn im Sprechen \vird ständig ein in ihn gelegener Sinn impliziert,
der nur als hintergründiger Sinn seine Sinnfunktion ausübt, ja der seine
Sinnfunktion geradezu verliert, wenn er in die Ausdrücklichkeit gehoben
wird. Ich möchte, um das zu verdeutlichen, zwei Formen unterscheiden, in
denen sich das Sprechen in dieser Weise hinter sich selbst zurückbewegt: das
im Sprechen Ungesagte und doch durch das Sprechen Präsent gemachte,
und ferner das durch das Sprechen geradezu Verdeckte.
Wenden wir uns zunächst dem trotz seiner Ungesagtheit Gesagten zu. Was
sich hier auftut, ist der große Bereich der Okkasionalität alles Redens, die
den Sinn der Rede mit ausmacht. Okkasionalität. das heißt Abhängigkeit
von der Gelegenheit, in der ein Ausdruck gebraucht wird. Die hermeneuti-
sche Analyse vermag zu zeigen, daß solche Abhängigkeit von der Gelegen-
heit nicht selber eine gelegentliche ist, wie etwa die sogenannten okkasionel-
len Ausdrücke von dem Typus >Hier< oder )Dies<, die ja offenkundig in ihrer
Semantik und Hermeneutik 179

semantischen Eigentümlichkeit keinen festen, angebbaren Gehalt besitzen,


sondern wie Leerformen einsetzbar sind bzw. in die, wie in Leerformen,
wechselnde Inhalte eingesetzt werden können. Die hermeneutische Analyse
aber vermag zu zeigen, daß solche Gelegcntlichkeit das Wesen des Sprechens
selbst ausmacht. Dennjede Aussage hat nicht einfach einen eindeutigen Sinn
in ihrem sprachlichen und logischen Aufbau als solchem, sondern jede
Aussage ist motiviert. Eine hinter ihr stehende Frage gibt jeder Aussage erst
ihren Sinn. Die hermeneutische Funktion der Frage wiederum schlägt Zu-
rück auf den Aussagesinn von Aussage überhaupt, Antwort zu sein. Ich will
hier nicht über die noch ganz im argen liegende Hermeneutik der Frage
sprechen. Es gibt sehr viele Arten von Fragen und jedermann weiß, daß die
Frage nicht einmal eine syntaktische Auszeichnung zu besitzen braucht, um
dennoch ihren Fragesinn voll auszustrahlen. Ich meine den Frageton, durch
den ein syntaktisch als Aussagesatz formiertes Redeganzes Fragechrakter Zu
erhalten vermag. Ein sehr schönes Beispiel ist aber auch die Umkehrung
dessen, nämlich daß etwas, was Fragecharakter hat, Aussagecharakter ge-
winnt. Das nennen \vir eine rhetorische Frage. Die sogenannte rhetorische
Frage ist ja nur der Form nach eine Frage, der Sache nach eine Behauptung.
Und wenn wir analysieren, wie hier der Fragecharakter affirmativ und
behauptend wird, dann zeigt sich, daß offenbar die rhetorische Frage da-
durch affirmativ wird, daß sie die Antwort unterstellt. Sie nimmt gleichsam
durch ihre Frage die gemeinsame Antwort vorweg.
Die formalste Gestalt, in der sich das Ungesagte im Gesagten selber
anzeigt, ist also die Zurück beziehung auf die Frage. Man wird sich zu fragen
haben, ob diese Form der Implikation allumfassend ist oder ob sie noch
andere Formen solcher Implikation neben sich hat. Gilt sie zum Beispiel
auch fur den ganzen großen Bereich von Aussagen, die überhaupt nicht
mehr im strengen Sinne Aussagen sind, weil sie nicht Information, Mittei-
lung eines gemeinten Sachverhaltes als ihre eigentliche und einzige Intention
haben, sondern vielmehr einen ganz andersartigen Funktionssinn besitzen?
Ich meine etwa Phänomene des Sprechens wie den Fluch oder den Segen, die
Heilsverkündigung einer religiösen Überlieferung, aber auch den Befehl
oder die Klage. Das sind alles Weisen des Sprechens, die ihren eigenen Sinn
dadurch bekunden, daß sie keine Wiederholbarkeit besitzen, daß ihre soge-
nannte Signierung, d. h. ihre Umformung in eine informierende Aussage.
etwa der Art: ))Ich sage, daß ich Dich verfluche«, den Sinn der Aussage, den
Fluehcharakter im Beispiel, ganz verändert, um nicht zu sagen zerstört. Die
Frage ist: Ist auch hier das Wort Antwort auf eine es motivierende Frage? Ist
es dadurch und nur dadurch verständlich? Sicherlich ist der Sinn aller solcher
Formen der Aussage, vom Fluch bis zum Segen, nicht erfullbar, ohne seine
Sinndetermination aus einem Handlungszusammenhang zu empfangen.
Man wird nicht bestreiten können, daß auch diese Formen der Aussage den
180 Ergänzungen

Charakter von Okkasionalität besitzen, sofern die Gelegenheit ihres Gesagt-


seins im Verstehen zur Ausftillung gelangt.
Wieder eine neue Problemebene tut sich dort auf, wo wir einen >Text( im
eminenten Sinne von >Literatur< vor uns haben. Denn der >Sinn( eines
solchen Textes ist nicht okkasionen motiviert, sondern beansprucht im
Gegenteil, >immer( sprechend zu sein, d. h. >immer( Antwort zu sein, und
das heißt, die Frage unausweichlich mitzuerregen, auf die der Text Antwort
ist. Gerade diese Texte sind die Vorzugs gegenstände der traditionellen Her-
meneutik, als theologische, als juristische wie als Literaturkritik, denn an
solchen >Texten( stellt sich die Aufgabe. den zum Buchstaben erstarrten Sinn
aus dem Buchstaben selbst zu erwecken.
In die hermeneutischen Bedingungen unseres sprachlichen Verhaltens
dringt aber eine andere Fonn hermeneutischer Reflexion noch tiefer ein, die
nicht das Ungesagte allein meint, sondern das durch das Sprechen Verdeck-
te. Daß Sprechen durch seinen eigenen Vollzug zu verdecken vermag, ist
allbekannt in dem besonderen Fall der Lüge. Das komplizierte Geflecht
mitmenschlicher Beziehungen, in dem die Lüge begegnet, von der orientali-
schen Höflichkeitsformel bis zu dem klaren Vertrauensbruch zwischen
Menschen, hat als solche keinen primär semantischen Charakter. Wer wie
gedruckt lügt, rut das ohne Stottern und ohne Verlegenheit zu zeigen, d. h. er
verdeckt auch noch das Verdecken, das sein Sprechen ist. Aber sprachliche
Realität erhält offenbar dieser Charakter der Lüge im besonderen nur dort,
wo wir es als eine Aufgabe ansehen, durch Sprache allein Wirklichkeit zu
evozieren, d. h. im sprachlichen Kunstwerk. Innerhalb der sprachlichen
Totalität einer dichterischen Aussageganzheit besitzt die Weise des Verdek-
kens, die man Lüge nennt, ihre eigenen semantischen Strukturen. Der
moderne Linguist redet dann etwa bei Texten von Lügensignalen, durch die
in einem Text die Aussage als eine auf Verdeckung angelegte kenntlich
gemacht wird. Lüge ist ja nicht einfach die Behauptung von etwas Fal-
schem. Es handelt sich hier um ein verdeckendes Sprechen, das weiß.
Und deshalb ist die Durchschauung der Lüge oder besser das Verständnis
des Lügencharakters der Lüge wie sie der ""vahren Absicht des lügenden
Sprechers entspricht, die sprachliche Darstellungsaufgabe im dichteri-
schen Kontext,
Dagegen ist die Verdeckung im Sinne des Irrtums von ganz anderer Art.
Hier unterscheidet sich das Sprachverhalten im Falle der richtigen Behaup-
tung in nichts von dem Sprachverhalten im Falle der irrigen Behauptung.
Irrtum ist kein semantisches Phänomen, aber auch kein hermeneutisches,
wenn auch beides mit im Spiele ist. Irrtümliche Aussagen sind >richtigen
Ausdruck irriger Meinungen, aber als Ausdrucks- und Sprach phänomen
nicht spezifisch gegenüber dem Ausdruck richtiger Meinungen. Wohl aber
ist die Lüge ein ausgezeichnetes Sprachphänomen, aber freilich im allgemei-
Semantik und Hermeneutik 181

nen ein harmloser Fall des Verdeckcns. Nicht nur weil Lügen kurze Beine
haben, sondern weil sie in ein sprachliches Weltverhalten eingebettet sind,
das sich in ihnen insofern bestätigt, als der kommunikative Wahrheitswert
des Sprechens in ihnen vorausgesetzt ist und sich im Durchschauen oder
Aufdecken der Lüge wiederherstellt. Der einer Lüge Überfuhrte erkennt
denselben an. Erst dort, wo die Lüge nicht mehr ihrer selbst als solcher
Verdeckung bewußt ist, gewinnt sie einen neuen, den gesamten Welt bezug
bestimmenden Charakter. Wir kennen dieses Phänomen als die Verlogen-
heit, in der sich der Sinn rur das Wahre und die Wahrheit überhaupt verloren
hat. Solche Verlogenheit bekennt sich nicht ein, sie sichert sich gegen ihre
Entlarvung durch Reden selbst. Sie hält sich selbst fest, indem sie den
Schleier der Rede über sich breitet. Hier begegnet die Macht der Rede, wenn
auch immer noch in der Hloßstellung eines gesellschaftlichen Verdiktes, in
ihrer totalen und allumfassenden Entfaltung. Verlogenheit wird dadurch
exemplarisch fur die Selbstentfremdung, die dem sprachlichen Bewußtsein
zu widerfahren vermag und die nach Auflösung durch die Anstrengung der
hermeneutischen Reflexion verlangt. Hermeneutisch gesehen bedeutet fur
den Partner die Erkenntnis von Verlogenheit, daß der andere aus der Kom-
munikation ausgeschlossen wird, weil er zu sich selbst nicht steht.
Denn Hermeneutik greift sonst dort ein, wo sich Verständigung und
Selbstversrändigung nicht ergeben will. Die beiden machtvollen Formen
von Verdeckung durch Sprechen, denen sich die hermeneutische Reflexion
vor allem zuzuwenden hat und die ich im folgenden erörtern möchte.
betreffen eben diese Verdeckung durch Sprechen, die das gesamte Weltver-
halten bestimmt. Die eine ist die stillschweigende Inanspruchnahme von
Vorurteilen. Es ist eine Fundamentalstruktur unseres Sprechens überhaupt,
daß wir von Vorbegriffen und einem Vorverständnis in unserem Reden
derart dirigiert werden, daß dieselben sich ständig verdeckt halten und daß
es einer eigenen Brechung des in der Intentionsrichtung des Redens Liegen-
den bedarf, um die Vorurteile als solche bewußt zu machen. Im allgemeinen
leistet das eine neue Erfahrung. Durch sie wird eine Vormeinung unhaltbar.
Aber die tragenden Vorurteile sind machtvoller und sichern sich dadurch ab,
daß sie selbstverständliche Gewißheit fur sich in Anspruch nehmen oder gar
sich als vermeintliche Vorurteilslosigkeit darstellen und dadurch ihre Gel-
tung befestigen. Wir kennen diese sprachliche Gestalt des Befestigens von
Vorurteilen als die hartnäckige Wiederholung, die aller Dogmatik eigen ist.
Wir kennen sie aber auch aus der Wissenschaft, wenn etwa um des voraus set-
zungslosen Erkennens willen und um der Objektivität der Wissenschaft
willen die Methode einer bewährten Wissenschaft wie der Physik ohne
methodische Modifikation auf andere Gebiete, etwa auf die Erkenntnis der
Gesellschaft, übertragen wird. Und mehr noch, wenn, wie das in unserer
Zeit mehr und mehr geschieht, die Wissenschaft als die oberste Instanz
182 Ergänzungen

gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse selber angerufen \vird. Hier wird,


wie es gerade die hermeneutische Reflexion allein zeigen kann, das Interesse
verkannt, das sich mit der Erkenntnis verbündet. Wir kennen diese herme-
neutische Reflexion als die Ideologiekritik, welche den Ideologieverdacht
erhebt, d. h. die vermeintliche Objektivität als einen Ausdruck der Stabilität
realer gesellschaftlicher Maehtverhältnisse erklärt. Ideologiekritik will mit
Hilfe der geschichtlichen und gesellschaftlichen Reflexion gesellschaftlich
herrschende Vorurteile bewußt machen und auflösen, d. h. sie will die
Verdeckung aufheben, die in der unkontrollierten Auswirkung solcher Vor-
urtei1c wirksam ist. Das ist eine Aufgabe von extremer Schwierigkeit. Denn
die Bczweiflung des Selbstverständlichen weckt immer den Widerstand aller
praktischen Evidenzen. Gcnau hier aber liegt die Funktion der hermeneuti-
schen Theorie: Sie stiftet eine generelle Bereitschaft, wo die spezielle von
machtvollen Gewohnheiten und Vorurteilen blockiert sein mag. Die Ideolo-
giekritik stellt nur eine besondere Form hermeneutischer Reflexion dar, die
eine bestimmte Art von Vorurteilen kritisch aufzulösen trachtet.
Hermeneutische Reflexion ist aber von universaler Reichweite. Gegen-
über der Wissenschaft hat sie auch dort um ihre Anerkennung zu kämpfen,
wo es nicht um das besondere gesellschaftskritische Problem des Ideologie-
verdachts geht, sondern um Selbstaufklärung der wissenschaftlichen Me-
thodik. Wissenschaft beruht auf der Partikularität dessen, was sie mit ihren
objektivierenden Methoden überhaupt zum Gegenstand erhebt. Sie ist als
moderne methodische Wissenschaft durch einen Anfangsverzicht be-
stimmt, nämlich all das auszuschalten, das sich der Methodik des eigenen
Vorgehens entzieht. Eben damit erweist sie sich in ihrer eigenen Zuständig-
keit als unbegrenzt und kann um ihre Selbstrechtfertigung niemals verlegen
sein. So erweckt sie den Totalitätsschein von Erkenntnis, hinter dem sich
gesellschaftliche Vorurteile oder Interessen verteidigen. Man denke nur an
die Rolle des Experten in der Gesellschaft der Gegenwart, an die Weise, wie
Wirtschaft und Politik, Krieg und Rechtspflege durch die Stimme des Ex-
perten stärker bestimmt werden als durch die politischen Gremien, in denen
sich der Wille der Gesellschaft repräsentiert.
Ihre eigentliche Produktivität gev,.rinnt aber die hermeneutische Kritik erst
dann, wenn sie die Selbstreflexion aufbringt, ihr eigenes kritisches Bemü-
hen, d. h. die eigene Bedingtheit und Abhängigkeit, in der es steht, mit zu
reflektieren. Hermeneutische Reflexion, die das tut, scheint mir dem wirkli-
chen Erkenntnisideal näherzukommen, weil sie auch noch die Illusion der
Reflexion zum Bewußtsein bringt. Ein kritisches Bewußtsein, das überall
Vorurteilshaftigkcit und Abhängigkeit nachweist, aber sich selbst ftir abso-
lut, d. h. ftir vorurteilslos und unabhängig hält, bleibt notwendig in Illusi-
onen befangen. Denn es ist selbst erst motiviert durch das, dessen Kritik es
ist. Eine unauflösbare Abhängigkeit besteht rur es gegenüber dem, das es
Semantik und Hermeneutik 183

auflöst. Der Anspruch auf völlige Vorurteilslosigkeit ist eine Naivität, ob


sich dieselbe als der Wahn einer absoluten Aufklärung darstellt oder als der
Wahn einer von allen Vormeinungen der metaphysischen Tradition freien
Empirie oder als der Wahn einer Überwindung der Wissenschaft durch
Ideologiekritik. In jedem Falle scheint mir das hermeneutisch aufgeklärte
Bewußtsein eine überlegene Wahrheit Zur Geltung Zu bringen, indem es sich
selbst in die Reflexion ein bringt. Seine Wahrheit nämlich ist die Wahrheit der
Übersetzung. Deren Überlegenheit ist, daß sie ein Fremdes zum Eigenen
werden läßt, indem sie es nicht einfach kritisch auflöst oder unkritisch
reproduziert, sondern indem sie es mit ihren eigenen Begriffen in ihrem
eigenen Horizont auslegt, neu zur Geltung bringt. Das Übersetzen läßt
Fremdes und Eigenes in eine neue Gestalt zusammengehen, indem es den
Wahrheitspunkt des anderen gegenüber sieh selbst festhält. In solcher Form
hermeneutischer Reflexionspraxis ,"vird das gegebene sprachlich Formulier-
te in gewissem Sinne aufgehoben, nämlich aus seiner eigenen sprachlichen
Wcltstruktur herausgehoben. Aber es wird selbst - und nicht unsere eigene
Meinung darüber - in eine neue sprachliche Weltauslegung hineingezogen.
In diesem Prozeß des sich stets endlich Weiterbewegens des Denkens, im
Geltenlassen des anderen gegenüber sich selber, beweist sich die Macht der
Vernunft. Sie weiß, daß menschliches Erkennen begrenzt ist und begrenzt
bleibt, auch wenn es seiner eigenen Grenze inne ist. Hermeneutische Refle-
xion übt so eine Selbstkritik des denkenden Bewußtseins, die alle seine
Abstraktionen, auch die Erkenntnisse der Wissenschaften, in das Ganze
menschlicher Welterfahrung zurückübersetzt. Philosophie vollends, die im-
mer, ausdrücklich oder nicht, Kritik der überlieferten Denkversuche sein
muß, ist ein solcher hermeneutischer Vollzug, der die Strukturtotalitäten,
die die semantische Analyse herausarbeitet, in das Kontinuum des Über set-
zens und Begreifens einschmilzt, in dem wir bestehen und vergehen.
14. Sprache und Verstehen
1970

Das Problem des Verstehens hat in den letztenjahren zunehmend an Aktua-


lität gewonnen - gewiß nicht außer Zusammenhang mit der weltpolitischen
und gesellschaftspolitischen Zuspitzung der Lage und der Verschärfung der
unsere Gegenwart durchziehenden Spannungen. Es begegnet allerorten,
daß Versuche der Verständigung zwischen den Zonen, den Nationen, den
Blöcken, den Generationen daran scheitern, daß eine gemeinsame Sprache
zu fehlen scheint und daß die gebrauchten Leitbegriffe wie Reizworte wir-
ken, die die Gegensätze verfestigen und die Spannungen verschärfen, zu
deren Behebung man zusammenkommt. Man denke nur an Worte wie
)Dernokratie( oder >Freiheit<,
So bedarf es eigentlich keines Beweises ftir die These, daß alle Verständi-
gung ein Sprachproblem ist und im Medium der Sprachlichkeit gelingt oder
mißlingt. Alle Phänomene der Verständigung, des Verstehens und Mißver-
stehens, die den Gegenstand der sogenannten Hermeneutik bilden, stellen
eine Sprach erscheinung dar. Indessen ist die These, die ich im folgenden
diskutieren Inöchte, noch einen Schritt radikaler. Sie besagt nämlich, daß
nicht nur der zwischenmenschliche Vorgang der Verständigung, sondern
der Prozeß des Verstehens selbst auch dann ein Sprachgeschehen darstellt,
wenn er sich auf Außersprachliches richtet oder auf die erloschene Stimme
des geschriebenen Buchstabens horcht, ein Sprachgeschehen von der Art
jenes inneren Gesprächs der Seele mit sich selber, als das Plato das Wesen des
Denkens charakterisiert hat.
Daß alles Verstehen sprachlich ist, ist eine herausfordernde Behauptung.
Wir brauchen nur um uns und auf unsere eigenen Erfahrungen zu blicken,
um sofort eine Fülle scheinbarer Gegenbeispicle zu haben, in denen sich
gerade das sch\veigencle, das stille Verstehen als die höchste und innigste
Weise des Verstehens darstellt. Wer sich bemüht, die Sprache abzuhören,
wird sofort auf solche Phänomene gestoßen werden, wie etwa das )schwei-
gende Einverständnis< oder )das stille Erraten<. Es fragt sich freilich, ob das
nicht in gewissem Sinne Modi der Sprachlichkeit sind. Warum es einen Sinn
hat, das zu sagen. hoffe ich noch deutlicher zu machen.
Aber wie ist es mit noch anderen Phänomenen, zu denen uns die Sprache
Sprache und Verstehen 185

selber leitet, ich denke etwa an ,das sprachlose Staunen{ oder ,das stumme
Bewundem{? Was uns so begegnet, sind Phänomene, von denen wir gerade-
zu sagen können: Das verschlägt uns die Sprache. Und es verschlägt uns die
Sprache offenbar gerade dadurch, daß es so sehr einleuchtet, daß es allzu
groß dasteht vor unserem immer mehr erfassenden Blick, als daß Worte
hinreichen könnten, es zu fassen. Ist das nicht eine allzu kühne Behauptung,
zu sagen, das sei auch noch eine Form der Sprachlichkeit, daß es einem die
Sprache verschlägt' Sollte das nicht jener absurde Dogmatismus der Philo-
sophen sein, die immer wieder und immer noch einmal die Dinge auf den
Kopf zu stellen versuchen, die ganz gut auf ihren Beinen stehen? Indessen,
wenn es einem die Sprache verschlägt, so heißt das, daß man so viel sagen
möchte, daß man nicht weiß, wo beginnen. Das Versagen der Sprache
bezeugt ihr Vermägen, rur al/es Ausdruck zu suchen - und so ist es ja selbst
geradezu eine Redensart, daß es einem die Sprache verschlägt - und eine
solche, mit der man seine Rede nicht beendet, sondern beginnt.
Das möchte ich vor allem an dem ersten von mir angeftihrten sprachlichen
Gegenbeispiel zeigen, nämlich daß wir von )stillem Einverständnis< reden.
Welches ist der hermeneutische Stellenwert dieser sprachlichen Wendung?
Die Problematik des Verstehens, die wir heute so vielfaltig diskutiert finden,
ins besondere in all den Wissenschaften, in denen sich keine exakten Metho-
den der Verifikation anbieten, besteht darin, daß es dort eine bloße innere
Evidenz des Verstehens ist, die plötzlich aufleuchtet, zum Beispiel, wenn ich
einen Satzzusammenhang, eine Aussage von irgend jemandem in einer
bestimmten Situation plötzlich verstehe. Das heißt, wenn es mir plötzlich
ganz klar und greifbar ist, mit welchem Recht der andere das sagt, was er
sagt, oder auch mit welchem Unrecht. Solche Erfahrungen des Verstehens
setzen offenkundig immer Schwierigkeiten im Verstehen voraus, die Ge-
störtheit des Einverständnisses. So beginnt alle Anstrengung des Verstehen-
wollens damit, daß einem etwas, was einem begegnet, befremdlich, heraus-
fordernd, desorientierend entgegentritt.
Die Griechen hatten ein sehr schönes Wort ftir das, wobei unser Verstehen
zum Stocken kommt, sie nannten das das atopon. Das heißt eigentlich: Das
Ortlose, das, was nicht unterzubringen ist in den Schematismen unserer
Verstehenserwartung und das uns deswegen stutzen läßt. Die berühmte
platonische Lehre, daß das Philosophieren mit dem Staunen beginnt, meint
dieses Stutzen, dieses Nichtweiterkommen mit den vorschematisierten Er-
wartungen unserer Weltorientierung, das zum Denken aufruft. Aristoteles
beschreibt es einmal sehr hübsch, daß das, was wir erwarten, davon ab-
hängt, wieviel Einsicht wir in einen Zusammenhang haben, und er nennt als
Beispiel: Wenn einer sich darüber wundert, daß die Wurzel aus zwei irratio-
nal ist, daß also das Verhältnis von Diagonale und Seitenlänge eines Qua-
drats nicht rational ausdrückbar ist, so sieht man daran, daß er kein Mathe-
186 Ergänzungen

matiker ist; ein Mathematiker würde sich wundern, wenn jemand dieses
Verhältnis für rational hielte. So relativ ist dies Stutzen, so schr bezogen auf
Wissen und tieferes Eindringen in die Sachen. All dies Stutzen und Staunen
und im Verstehen Nichtweiterkommen ist offenkundig immer auf Weiter-
kommen, auf eindringlichere Erkenntnis angclegt~
Ich behaupte daher: wir müssen das Phänomen des Verstehens aus der
Bevorzugung der Verstehensstärung bewußt herausdrehen, "venn wir sei-
nen Ort im ganzen unseres Menschseins, auch unseres sozialen Mensch-
seins, wirklich in den Blick bekommen wollen. Einverständnis ist vorausge-
setzt, wo es Gestörtheit von Einverständnis gibt. Es sind die rdativ seltenen
Hindernisse in der Verständigung und im Einverständnis, an denen sich
allererst die Aufgabe gezielten Verstehen-Wollens stellt, das zur Behebung
eines gestörten Verstehens fUhren soll. Mit anderen Worten, das Beispiel des
>stillen Einverständnisses< ist so wenig ein Einwand gegen die Sprachlichkcit
des Verstehens, daß es der Sprachlichkeit des Verstehens vielmehr ihre Weite
und Universalität sichert. Das scheint mir eine Grundwahrheit, die es wie-
der zu Ehren zu bringen gilt, nachdem wir durch einige Jahrhunderte den
Methodenbegriff der modernen Wissenschaft fur unser Selbstverständnis
absolutgesetzt haben,
Die moderne Wissenschaft ist die im 17. Jahrhundert entstehende Wissen-
schaft, die auf den Gedanken der Methode und des methodischen Sicherns
des Erkenntnisfortschritts gegründet ist. Sie hat unseren Planeten in einer
einzigartigen Weise verändert, indem sie eine Form des Zugangs zur Welt
privilegiert hat, der weder der einzige noch der umfassendste Zugang ist,
den wir besitzen. Es ist der Zugang, der durch methodische Isolierung und
bewußte Befragung - im Experiment - die partikularen Bereiche, die durch
solche Isolierung thematisiert werden, einem neuen Zugriff unseres Tuns
aufbereitet. Das war die große Leistung der mathematischen Naturwissen-
schaften, im besonderen der Galileischen Mechanik im 17, Jahrhundert,
Bekanntlich ist die geistige Leistung der Entdeckung der Gesetze des freien
Falls, der schiefen Ebene, nicht durch bloße Beobachtung erbracht worden.
Es gab kein Vakuum. Der freie Fall war eine Abstraktion. Jeder erinnert sich
wohl noch an das eigene Staunen über das Experiment, das er in der
Schulstube erlebte, wie da im relativen Vakuum das Bleiblättchen und die
Bettfeder gleich schnell fallen. Für Galilei war es eine Isolierung von Bedin-
gungen, die in der Natur so gar nicht vorkommen, wenn er vom Widerstand
des Mediums abstrahierte. Nur solche Abstraktion aber ermöglicht die
mathematisch exakte Beschreibung der Faktoren, die ein Resultat im Natur-
geschehen bilden, und damit den kontrollierten Eingriff des Menschen.
Die Mechanik, die Galilei so aufbaute, ist in der Tat die Mutter unserer
technischen Zivilisation. Hier ist eine ganz bestimmte methodische Er-
kenntnisweise aufgekommen, die die Spannung zwischen unserem unme-
Sprache und Verstehen 187

thodischen, die ganze Breite unserer Lebenserfahrung umfassenden Welter-


f kennen und der Erkenntnisleistung der Wissenschaft heraufbeschworen
hat. Es war die große philosophische Leistung Kants, daß er fUr diese
neuzeitliche Problemspannung eine überzeugende begriffliche Lösung
fand. Denn die Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts hatte sich in der
unlösbaren Aufgabe verzehrt, das große Allwissen der metaphysischen
Tradition mit der neuen Wissenschaft zu vereinigen - ein Versuch, der
einen wirklichen Ausgleich zwischen Vernunftwissenschaft aus Begriffen
und Erfahrungs-Wissenschaft nicht erreichen konnte. Kant dagegen fand
die Lösung. Seine die englische Metaphysikkritik aufgreifende kritische
Einschränkung der Vernunft und ihrer begrifflichen Erkenntnis auf das in
der Erfahrung Gegebene bedeutete zwar die Zerstörung der Metaphysik als
dogmatischer Vernunftwissenschaft. Aber der }AIleszermalmer<, als den
die Zeitgenossen den zarten Professor Kant zu Königsberg empfanden, war
zugleich der große Begründer der Moralphilosophie auf dem strengen
Prinzip der Autonomie der praktischen Vernunft. Indem er die Freiheit als
ein einzigartiges Faktum der Vernunft erkannte, d. h. zeigte, daß ohne die
Annahme der Freiheit die praktische Vernunft des Menschen und damit das
sittliche und gesellschaftliche Dasein des Menschen nicht gedacht werden
können, eröffnete er gegenüber allen deterministischen Tendenzen, die von
der modernen Naturwissenschaft ausgingen, dem Denken unter Freiheits-
begriffen eine neue Legitimation. In der Tat steht sein moralphilosophi-
scher Impuls, vor allem in der Vermittlung Fichtes, hinter den großen
Bahnbrechern der ,historischen Weltanschauung<: Wilhelm von Humboldt,
Ranke, Droysen vor allem. Aber gewiß auch Hegel und alle von ihm
positiv oder negativ Bestimmten sind von dem Begriff der Freiheit bis ins
letzte erfUllt und behalten daher gegenüber jedem bloßen Methodologis-
mus der historischen Wissenschaft einen Zug ins Große und Ganze der
Philosophie.
Indessen, eben dieser Zusammenhang zwischen der neuen Wissenschaft
und dem Methodenideal, das sie trägt, war es auch, der das Phänomen des
Verstehens sozusagen verfremdet hat. So wie die Natur Hir den Naturfor-
scher zunächst das undurchdringliche Fremde ist, das er durch Berechnung
und gezielten Zwang, durch Folterung mit Hilfe des Experimentes, zu
Aussagen nötigt, so haben die Wissenschaften, die das Verstehen gebrau-
chen, sich mehr und mehr von dem Methodenbegriff dieser Art her ver-
standen und deswegen Verstehen vorwiegend und in erster Linie als Weg-
räumen von Mißverständnissen, als Überbrücken der Fremdheit zwischen
Ich und Du in den Blick genommen. Aber ist das Duje so fremd wie es per
definitionem der Gegenstand der experimentellen Naturforschung ist? Es
gilt anzuerkennen: Einverständnis ist ursprünglicher als Mißverständnis, so
daß das Verstehen immer wieder zurückmündet in das wiederhergestellte
188 Ergänzungen

Einverständnis. Das, scheint mir, gibt der Universalität des Verstehens ihre
volle Legitimation.
Aber warum ist die Erscheinung des Verstehens eine sprachliche? Warum
bedeutet das >stille Einverständnis<, das sich immer wieder herstellt als die
Gemeinsamkeit der Weltorientierung, Sprachlichkeit? So fragen impliziert
die Antwort. Es ist die Sprache, die diese Gemeinsamkeit der Wcltoricntie-
rung ständig aufbaut und trägt. Miteinandersprechen ist nicht primär Sich-
miteinander-Auseinandersetzen. Es scheint mir bezeichnend ftir Spannun-
gen innerhalb der Moderne, daß sie diese Wendung unserer Sprache so liebt.
Miteinanderreden ist auch nicht primär Aneinandervorbeireclen. Im Mitein-
anderreden baut sich vielmehr ein gemeinsamer Aspekt des Beredeten auf.
Das macht die eigentliche Wirklichkeit menschlicher Kommunikation aus,
daß das Gespräch nicht die Meinung des einen gegen die Meinung des
anderen durchsetzt oder die Meinung des einen zu der Meinung des anderen
wie in einer Addition hinzufUgt. Das Gespräch verwandelt beide. Ein ge-
lungenes Gespräch ist von der Art, daß man nicht wieder zurückfallen kann
in den Dissensus, aus dem es sich entzündete. Gemeinsamkeit, die so sehr
gemeinsam ist, daß sie nicht mehr mein Meinen und dein Meinen ist,
sondern gemeinsame Ausgelegtheit der Welt, macht erst sittliche und soziale
Solidarität möglich. Was recht ist und als Recht gilt, verlangt seinem Wesen
nach die Gemeinsamkeit, die sich im Sich-Verstehen der Menschen errich-
tet. Gemeinsames Meinen baut sich in der Tat ständig im Miteinanderspre-
chen auf und sinkt dann zurück in die Stille des Einverständnisses und des
Selbstverständlichen. Aus diesem Grunde scheint mir die Behauptung ge-
rechtfertigt, daß alle außerverbalen Formen des Verstehens zurückzielen auf
das Verstehen, das sich im Sprechen und Miteinandersprechen ausbreitet.
Wenn ich von dieser Einsicht ausgehe, so heißt das nicht mehr, als daß in
allem Verstehen eine potentielle Sprachbezogenheit liegt, so daß es immer
möglich ist - das ist der Stolz unserer Vernunft -, dort, wo ein Dissensus
auftaucht, durch Miteinanderreden Einverständnis anzubahnen. Es wird
uns nicht immer gelingen, aber unser Sozialleben beruht auf der Vorausset-
zung, daß das im Miteinander-Reden im weitesten Umfange gelingt, was
im Sichversteifen auf seine eigenen Meinungen sich versperrt. Es ist daher
auch ein schwerer Irrtum, wenn jemand meint, daß die Universalität des
Verstehens, von der ich hier ausgehe und die ich glaubhaft zu machen suche,
etwa eine besondere harmonisierende oder konservative Grundhaltung zu
unserer gesellschaftlichen Welt einschließe. Die Fügungen und Ordnungen
unserer Welt )verstehen<, uns miteinander in dieser Welt verstehen, setzt
ganz gewiß ebenso viel Kritik und Bekämpfung von Erstarrtem oder einem
Fremdgewordenen voraus wie Anerkennung oder Verteidigung bestehen-
der Ordnungen.
Das zeigt sich wiederum in der Art, wie wir miteinander sprechen und
Sprache und Verstehen 189

Einverstandnis aufbauen. Man kann es von Generation zu Generation beob-


achten. Vollends wenn die Weltgeschichte einmal Siebenmeilenstiefel an-
legt, wie das vielleicht besonders im letzten Jahrzehnt geschehen ist, wird
man gleichsam zum Zeugen dessen, wie da neue Sprache entsteht. Neue
Sprache meint hier gewiß nicht eine total neue Sprache, aber doch offenkun-
dig mehr als eine bloße Ausdrucksveränderung rur das gleiche. Mit neuen
Aspekten, mit neuen Zielen wird auch ein neu es Sprechen ausgearbeitet und
geboren. Neue Sprache bringt Störung in die Verständigung, aber im kom-
munikativen Geschehen zugleich auch Überwindung der Störung. Minde-
stens ist das das ideelle Ziel aller Kommunikation. Es mag sich unter
besonderen Bedingungen als unerreichbar erweisen. Zu solchen besonderen
Bedingungen zählt insbesondere der pathologische Abbruch des zwischen-
menschlichen Einverständnisses, welcher durch den Tatbestand der Neuro-
se gekennzeichnet ist, und es fragt sich, ob auch im gesellschaftlichen Leben
im ganzen der kommunikative Vorgang nicht auch der Verbreitung und
Aufrechterhaltung eines tfalschen< Bewußtseins zu dienen vermag. Das
wenigstens ist die These der Ideologiekritik, daß der Gegensatz in den
gesellschaftlichen Interessenlagen das kommunikative Geschehen praktisch
ebenso unmöglich macht wie im Falle der seelischen Erkrankung. Aber wie
im letzteren Falle die Therapie gerade darin besteht, den Erkrankten an die
Verständigungsgemeinschaft der Gesellschaft wieder anzuschließen, ist es
doch auch gerade der Sinn der Ideologiekritik selbst, das falsche Bewußtsein
zu berichtigen und damit ein richtiges Einverständnis neu zu begründen.
Sonderfälle eines tiefgestörten Einverständnisses mögen dabei eigene For-
men der Wiederherstellung nötig machen, die auf einem expliziten Wissen
um die Störung beruhen. Sie bestätigen aber eben damit die konstitutive
Funktion der Verständigung als solcher.
Überdies ist es selbstverständlich, daß Sprache immer in dem Antagonis-
mus zwischen Konventionalität und revolutionärem Aufbruch ihr span-
nungsvolles Leben fUhrt. Wir alle haben die erste sprachliche Dressur erfah-
ren, als wir in die Schule kamen. Was da alles nicht mehr erlaubt war, das
doch unserer gesunden Sprachphantasie richtig schienl Nicht anders ist es
etwa beim Zeichenunterricht, der ja sehr oft dazu f!.ihrt, daß das Kind auf der
Schule die Lust am Zeichnen und das Zeichnen verlernt. In Wirklichkeit ist
eben die Schule eine Institution des gesellschaftlichen Konformismus im
großen. Natürlich nur eine unter anderen. Ich möchte nicht so mißverstan-
den werden, als ob damit ein bestimmter Angeklagter bezeichnet werden
sollte. Vielmehr meine ich: das ist Gesellschaft, so wirkt Gesellschaft, immer
normierend und konformistisch. Das heißt keineswegs, daß alle gesell-
schaftliche Erziehung nur ein Repressionsvorgang sei und Spracherziehung
ein bloßes Instrument solcher Repression. Denn allem Konformismus zum
Trotze lebt die Sprache. Es entstehen neue sprachliche Fügungen und Aussa-
190 Ergänzungen

geweisen aus den Veränderungen unseres Lebens und unserer Erfahrung.


Der Antagonismus, der Sprache zu etwas Gemeinsamem macht und den-
noch immer neue Impulse zur Verwandlung dieses Gemeinsamen aufkom-
men läßt, besteht immer fort.
Nun wird man sich die Frage stellen, ob sich nicht dieses Verhältnis
zwischen dem natürlichen Konformismus der Gesellschaft und den sie
sprengenden Kräften, die aus kritischer Einsicht entbunden werden, in einer
hochindustrialisierten technischen Zivilisation qualitativ verändert hat. Un-
merkliche Veränderungen im Gebrauch und Leben der Sprache, Aufkom-
men und Absterben von Modeworten und Schlag worten hat es immer
gegeben, und besonders kritische Zeiten konnten in ihrem Verfallsgesche-
hen geradezu durch die Beobachtung des Sprachwandels abgebildet werden,
wie etwa Thukydides in der berühmten Schilderung der Folgen der Pest im
belagerten Athen gezeigt hat. Aber bei unseren gegenwärtigen Umständen
handelt es sich vielleicht doch um etwas qualitativ Neues und Andersartiges,
was so noch nicht da war. Ich meine die zielbewußte Sprachregelung. Das
scheint ein von der technischen Zivilisation erst erfundener Sachverhalt.
Dann was wir so Sprachregelung nennen, ist nicht mehr die absichtslose des
Schulmeisters oder der Organe der öffentlichen Meinung, sondern ein be-
wußt gehandhabtes Instrument der Politik. Sie vermag mit dem Mittel eines
zentral gelenkten Kommunikationssystems Sachverhalte dadurch suggestiv
zu machen, daß sie Sprachregelungen auf technischem Wege sozusagen
verordnet. Ein aktuelles Beispiel, das wir gerade jetzt wieder in einer sich
verwandelnden Sprachbewegung begriffen finden, ist die Bezeichnung der
anderen Hälfte Deutschlands als DDR. Diese Ausdrucksweise war bekannt-
lich jahrzehntelang durch amtliche Sprachregelung verpönt, und niemand
wird übersehen können, daß das darur empfohlene ,Mitteldeutschland( ei-
nen scharfen politischen Akzent setzte. Hier sei ganz von allen inhaltlichen
Fragen abgesehen und nur der Vorgang als solcher beachtet. Die technische
Form der Meinungsbildung von heute gibt der zentralgesteuerten Sprachre-
gelung einen Einfluß, der den natürlichen Konformismus der Gesellschaft
eigentümlich verzerrt. Es gehört Zu den Problemen unserer Gegenwart, wie
man die Politik zentralgesteuerter Meinungsbildung mit den Forderungen in
Einklang halten soll, die die Vernunft erhebt, aus freier Einsicht und kriti-
schem Urteil das Leben der Gesellschaft mitzubestimmen.
Man mag als Lösung dieses Problems im Auge haben, daß es doch gerade
die Auszeichnung der Wissenschaft sei, Unabhängigkeit von der öffentli-
chen Meinungsbildung und von der Politik zu ermöglichen und die Urteils-
bildung aus freier Einsicht zu schulen. In ihrem eigensten Bereiche darf dies
in der Tat die Auszeichnung der Wissenschaft heißen. Aber bedeutet das, daß
sie auch aus eigener Kraft zur öffentlichen Wirkung kommt? Wissenschaft
mag sich allen Manipulationen ihrer eigenen Intention nach noch so sehr
Sprache und Verstehen 191

entziehen wollen - die ungeheure öffentliche Schätzung der Wissenschaft


steht dem ganz und gar entgegen. Sie begrenzt beständig die kritische
Freiheit, die sie am Forscher bewundert, indem sie Berufung auf die Autori-
tät der Wissenschaft auch dort vornimmt, wo es in Wahrheit um politische
Machtkämpfe geht.
Gibt es überhaupt eine eigene Sprache der Wissenschaft, auf die man
hören sollte' Der Ausdruck ist offenkundig zweideutig: Einerseits entwik-
kelt sie eigene sprachliche Mittel zur Fixierung und kommunikativen Ver-
ständigung im Prozeß der Forschung selbst. Andererseits, und das ist eine
andere Bedeutung, fUhrt sic eine Sprache, die das öffentliche Bewußtsein
erreichen und die legendäre Unverständlichkeit der Wissenschaft überwin-
den möchte. Ob aber die kommunikativen Systeme, die innerhalb der
wissenschaftlichen Forschung entwickelt werden, überhaupt den Charakter
einer eigenen Sprache haben? Wenn man in diesem Sinne von der Sprache
der Wissenschaft redet, meint man offenbar solche Kommunikationssyste-
me, die nicht aus der alltäglichen Sprache erwachsen. Bestes Beispiel ist die
Mathematik und ihre Rolle in den Naturwissenschaften. Was die Mathema-
tik rur sich ist, das ist ihr Privatgeheimnis. Das wissen nicht einmal die
Physiker. Was sie erkennt, was ihr Gegenstand ist, was ihre Fragen sind, ist
etwas Einzigartiges. Es ist offenbar eins der großen Wunder der menschli-
chen Vernunft, daß sie sich da in sich selbst entfaltet, als Vernunft sich
anschaut und bei sich selbst forschend verweilt. Aber als Sprache, in der über
die Welt gesprochen wird, ist die Mathematik ein Symbolsystem unter
anderen Symbolsystemen im Ganzen unserer Sprachhaltung und nicht eine
eigene Sprache. Der Physiker, der bekanntlich immer in der peinlichsten
Lage ist, wenn er außerhalb seiner Gleichungen anderen oder auch nur sich
selbst verständlich machen will, was er da ausgerechnet hat, befindet sich
ständig in der Spannung dieser Integrationsaufgabe. Gerade die großen
Physiker werden da auf eine oft sehr geistreiche Weise poetisch. Was diese
Atömchen da alles machen, wie sie sich Elektronen einfangen und andere
brave und listige Prozeduren vornehmen, das ist eine ganze Märchenspra-
che, in der ein Pliysiker das, was er exakt in Gleichungen abbildet, sich selber
und in gewissem Umfange dann auch uns allen verständlich zu machen
sucht.
Doch darin liegt: Die Mathematik, mit der der Physiker seine Erkenntnis-
se gewinnt und formuliert, ist nicht eine eigene Sprache, sondern gehört in
das vieWiltig-sprachliche Instrumentarium, mit dem er das, was er sagen
will, zur Sprache bringt. Mit anderen Worten heißt das: wissenschaftliches
Sprechen ist immer Vermitteln einer Fachsprache oder von Fachausdrücken
- wir nennen es: eine gelehrte Terminologie - mit der in sich lebenden,
wachsenden und sich wandelnden Sprache. Diese Integrations- und Ver-
mittlungsaufgabe hat beim Physiker ihre ganz besondere Zuspitzung, weil
192 Ergänzungen

er von allen Naturforschern der am meisten in Mathematik Sprechende ist.


Gerade weil er der Extremfall des Gebrauchs einer weitgehend mathemati-
schen Symbolik ist, ist er besonders lehrreich. An jener poetischen Meta-
phorik zeigt sich, daß rur die Physik die Mathematik nur ein Teil der Sprache
ist, aber keineswegs ein autonomer. Sprache ist autonom, wo sie, wie etwa
die gewachsenen Sprachen, als Weltaspekte der verschiedenen Kulturen ihre
Wirklichkeit hat. Nun ist die Frage, wie das Verhältnis von wissenschaftli-
chem und außerwissenchaftlichem Sprechen und Denken ist. Ist es etwa nur
ein Annäherungszustand an die wissenschaftliche Sprache, was in der bieg-
samen Freiheit unseres alltäglichen Sprechens geschieht? Wer das verneint,
dem könnte man einwenden, daß es gegenwärtig zwar noch so aussieht, als
wären die gewachsenen Sprachen unentbehrlich. Aber wir müßten eben alle
noch ein biß ehen besser lernen, und schließlich verstünden wir die Gleichun-
gen der Physik ohne Worte und rechneten vielleicht sogar uns selbst und
unsere Handlungen aus Gleichungen aus; dann brauchten wir keine andere
Sprache mehr als die Wissenschaftssprache. In der Tat hatte der moderne
Logikkalkül eine solche eindeutige Kunstsprache zum Ziel. Aber das ist
umstritten. Vico und Herder hielten im Gegenteil die Poesie für die Urspra-
che des Menschengeschlechts und die Intellektuierung der modernen Spra-
chen rur ihr armes Schicksal und nicht rur die Vollendung der Sprach-Idee.
Die Frage ist dabei: Ist diese Meinung, daß es eine wachsende Annäherung
an eine wissenschaftliche Sprache ist, der jede Sprache als ihrer Vollendung
zustrebt, überhaupt richtig?
Um diese Frage erörtern zu können, möchte ich zwei Phänomene einan-
der gegenüberstellen. Das eine ist die Aussage und das andere ist das Wort. Ich
will zunächst die beiden Begriffe erläutern. Wenn ich sage ,das Wort<, so
meine ich nicht das Wort, dessen Plural die Wörter sind, wie sie im Lexikon
stehen. Ich meine auch nicht das Wort, dessen Plural die Worte sind und das
jeweils mit anderen den Kontext des Satzes bildet, sondern ich meine das
Wort, das ein Singularetantum ist. Das ist das Wort, das einen trifft, das
Wort, das einer sich gesagt sein läßt, das Wort, das in einem bestimmten und
eindeutigen Lebenszusammenhang >fallt( und seine Einheit eben aus dieser
Gemeinsamkeit des Lebenszusammenhangs empfangt. Es ist gut, sich zu
erinnern, daß runter diesem Singularetantum }das Wort{ schließlich auch der
Sprachgebrauch des Neuen Testaments steht. Denn was auch immer jener
Anfang mit dem) Wort( meint, über dem Faust brütet, wenn er dasJohannes-
Evangelium übersetzen will- dieses kraftausstrahlende und tätige Wort ist
rur Goethe nicht ein einzelnes Zauberwort, sondern weist (ohne Anspielung
auf das Inkarnationsgeschehen) über das Verbindende der menschlichen
Vernunft auf ihren }Durst nach Existenz<.
Wenn ich in diesem Sinn )das Wort( der }Aussage( gegenüberstelle, so wird
dadurch auch der Sinn von Aussage deutlich. Wir reden von Aussage in der
Sprache und Verstehen 193

Verbindung Aussagelogik, Aussagekalkül, in der modemen mathemati-


schen Formalisierung der Logik. Diese uns selbstverständliche Ausdrucks-
weise geht letzten Endes auf eine der folgenschwersten Entscheidungen
unserer abendländischen Kultur zurück, und das ist der Aufbau der Logik
auf der Aussage. Aristoteles, der Schöpfer jenes Teils der Logik, der meister-
hafte Analytiker der Schlußprozesse des logischen Denkens, hat dies durch
eine Formalisierung von Aussagesätzen und ihrer Schlüssigkeitszusammen_
hänge geleistet. Man kennt die bekannten Schulbeispiele eines Syllogismus:
Alle Menschen sind sterblich. Darius ist ein Mensch, Darius ist sterblich.
Was ist hier ftir eine Abstraktionsleistung vollbracht? Offenbar diese, daß
hier das Ausgesagte allein zählt. Alle anderen Formen der Sprache und des
Sprechens werden nicht zum Gegenstand der Analyse gemacht, nur Aussage
allein. Das griechische Wort heißt apophansis, logos apophantikos, das heißt die
Rede, der Satz, dessen einziger Sinn ist, das apophainesthai} das Sichzeigen
des Gesagten zu bewirken. Das ist ein Satz, der in dem Sinne theoretisch ist,
daß er von allem abstrahiert, was er nicht ausdrücklich sagt. Nur das, was er
selber durch sein Gesagtsein offenbarmacht, bildet hier den Gegenstand der
Analyse und das Fundament der logisehen Sehlüssigkeit.
Ich frage nun: Gibt es solche reinen Aussagesätze, und wann und wo?
Jedenfalls ist die Aussage nieht die einzige Redeform, die es gibt. Aristoteles
spricht davon in dem Zusammenhang seiner Lehre von der Aussage. und es
ist klar, woran man noch zu denken hat: etwa an Gebet und Bitte, an Fluch
und Befehl. Man muß sogar eines der rätselhaftesten Zwischenphänomene
in Betracht ziehen: die Frage, zu deren eigentümlichem Wesen offenbar
gehört. daß sie der Aussage so nah steht wie keines dieser anderen Sprach-
phänomene und dennoeh offenkundig keine Logik im Sinne der Aussagelo-
gik gestattet. Vielleicht gibt es eine Logik der Frage. Zu einer solchen könnte
gehören, daß die Antwort auf eine Frage notwendig neue Fragen weckt.
Vielleicht gibt es auch eine Logik der Bitte, z. B. daß die erste Bitte nie die
letzte Bitte ist. Aber ob das >Logik, heißen soll oder ob Logik allein den
Zusammenhang reiner Aussagen betrifft? Aber wie grenzt sich denn ab, was
eine Aussage ist? Kann man eine Aussage ablösen von ihrem Motivationszu-
sammenhang ?
In der Methodenlehre der modemen Wissenschaft ist davon freilich nicht
gerade oft die Rede. Denn es ist ja das Wesen der Wissenschaftsmethodik,
daß ihre Aussagen gleichsam eine Art von Schatzhaus methodisch gesicher-
ter Wahrheiten sind. Wie jedes Schatzhaus enthält auch das der Wissenschaft
einen Vorrat zu beliebiger Verwendung. In der Tat ist das das Wesen der
modernen Wissenschaft, daß sie den Vorrat von Erkenntnis zu beliebiger
Verwendung beständig anreichert. All die Probleme der gesellschaftlichen
und humanen Verantwortung der Wissenschaft, die wir seit Hiroshima so
dringend in unserem Gewissen tragen, haben darin ihre Schärfe, daß es eine
194 Ergänzungen

Folge der methodischen Konsequenz der modernen Wissenschaft ist, nicht


imstande zu sein, die Zwecke, zu denen ihre Erkenntnisse angewendet
werden, so zu beherrschen, wie sie die Sachzusammenhänge selber be-
herrscht. Es ist die methodische Abstraktion der modernen Wissenschaft,
die ihr ihre Erfolge verschafft hat, sofern sie praktische Anwendung ermög-
licht, die wir Technik nennen. Technik, als Anwendung von Wissenschaft,
ist daher nicht selber wieder beherrschbar . Ich bin damit keineswegs ein
Fatalist und ein Untergangsprophet, wenn ich bestreite, daß die Wissen-
schaft sich selber begrenzen könnte. Ich meine vielmehr, daß es nicht die
Wissenschaft als solche ist, sondern letzten Endes unser aller menschliche
und politische Fähigkeit, der es allein gelingen kann, die vernünftige An-
wendung unseres Könnens zu garantieren oder jedenfalls dahin zu fUhren,
daß wir die äußersten Katastrophen vermeiden. Damit ist zugleich aner-
kannt, daß die Isolierung der Aussagewahrheit und die auf den Aussagesatz
aufgebaute Logik in der modernen Wissenschaft durchaus legitim ist - nur
daß wir daftir den teuren Preis zu zahlen haben, den die moderne Wissen-
schaft ihrem Wesen nach uns nicht ersparen kann: daß nämlich der Univer-
salität des Machenkönnens, die sie uns aufbaut, keine Begrenzung des
Machenkönnens durch theoretische Vernunft und mit den Mitteln der Wis-
senschaft entspricht. Kein Zweifel, daß es hier >reine< Aussagesätze gibt, das
heißt aber, daß sich in ihnen Wissen darstellt, das allen möglichen Zwecken
zu dienen vermag.
Ich frage mich freilich, ob nicht selbst dieses Beispiel noch, in dem sieh die
isolierten Aussagesätze als das Fundament der wc1tumgestaltenden Macht
der Technik herausstellen, in Wahrheit zeigt, daß Aussagen nie in vollständi-
ger Isolierung begegnen_ Scheint es nicht auch hier wahr, daß jede Aussage
immer motiviert ist? Liegt doch der Abstraktion und Konzentration auf das
Machenkönnen, wie es im 17_ Jahrhundert schließlich zu diesem großen
methodischen Gedanken der modernen Wissenschaft führte, eine Trennung
von den religiösen Vorstellungen der mittelalterlichen Welt und ein Ent-
schluß zur Bescheidung und zur Selbsthilfe zugrunde_ Das ist die Motiva-
tionsgrundlage ftir ein Wissen wollen, das zugleich Machenkönnen ist und
deshalb jeder Begrenzung oder Steuerung spottet_ Dagegen ist das Wissen in
den großen Hochkulturen Ostasiens dadurch ausgezeichnet, daß dort die
technische Anwendung des Wissens von Bindekräften der gesellschaftlichen
Vernunft gesteuert wurde, so daß Möglichkeiten des eigenen Könnens
unrealisicrt blieben_ Welche Kräfte, die uns fehlen, das ermöglichten, ist eine
Frage an den Religionsforscher, den Kulturhistoriker und letzten Endes auch
an den noch immer nicht gefundenen Philosophen, der in der chinesischen
Sprache und Kultur wirklich zu Hause ist.
Jedenfalls scheint mir das Extrembeispiel der modernen wissenschaftli-
chen und technischen Kultur zu zeigen, daß die Isolierung der Aussage, ihre
Sprache und Verstehen 195

Ablösung von jeglichem Motivationszusammenhang, ihre Fragwürdigkeit


hat, sowie man auf das Ganze der Wissenschaft sieht. So bleibt es richtig, daß
das, was wir unter Aussage verstehen, eine motivierte Aussage ist. Da gibt es
besonders vielsagende Phänomene, etwa das Verhör oder die Zeugenaussa-
ge. Aus Gründen der Rechtsprechungsweisheit bzw. der Rechtsfindungs-
notwendigkeit ist es da so, daß der Zeuge, in gewissen Fällen wenigstens,
vor Fragen gestellt wird, von denen er nicht weiß, warum sie an ihn gestellt
werden. Nur darauf beruht ja gegebenenfalls der Zeugniswert der Aussage,
die der Zeuge macht, daß sie nicht als Entlastung oder Belastung des
Angeklagten gewollt sein kann, weil der Zeuge den Zusammenhang, der
aufgeklärt werden soll, nicht durchschaut. Nun wird jeder, der einmal
Zeuge oder Opfer eines Verhörs war, wissen, wie grauenhaft das ist, daß
man auf Fragen antworten soll, ohne es zu wissen, warum man so gefragt
wird. Der Fiktion der )reinefl( Aussage entspricht bei solcher Art von
Zeugenaussagen offenbar die der nicht minder fiktiven reinen Tatbestands-
feststellung, und es ist gerade diese fiktive Restriktion auf das Tatsächliche,
was dann den Anwälten ihre Chance gibt. Das extreme Beispiel der Aussage
vor Gericht lehrt also, daß man motiviert redet, also nicht eine Aussage
macht, sondern antwortet. Auf eine Frage antworten heißt aber, den Sinn
der Frage und damit ihren Motivationshintergrund realisieren. Bekanntlich
ist nichts so schwierig, wie auf sogenannte )dumme Fragen< antworten zu
sollen, das heißt auf Fragen, die derart schief gestellt sind, daß sie in keine
eindeutige Sinnrichtung weisen.
Es erhellt daraus, daß niemals eine Aussage ihren vollen Sinn-Gehalt in
sich selber enthält. In der Logik hat man das lange als das Problem der
Okkasionalität gekannt. Die sogenannten )okkasionellen( Ausdrücke, die in
jeder Sprache vorkommen, sind dadurch ausgezeichnet, daß sie ihren Sinn
offenkundig nicht wie andere Ausdrücke in sich voll enthalten. Zum Bei-
spiel, wenn ich sage >hiere Was >hien ist, ist nicht dadurch, daß es gesagt
wurde oder geschrieben steht, rur jeden verständlich, sondern man muß
wissen, wo das war oder wo das ist. >Hier< erfordert für seine eigene
Bedeutung die Ausftillung durch die Gelegenheit, die oceasio, bei der es
gesagt wird. Die Ausdrücke dieser Art fanden deshalb das besondere Inter-
esse der logisch-phänomenologischen Analyse, weil man an diesen Bedeu-
tungen zeigen kann, daß sie die Situation und die Gelegenheit in ihren
eigenen Bedeutungsgehalt einschließen. Das Sonderproblem der sogenann-
ten >okkasionellen< Ausdrücke scheint nämlich in vieler Hinsicht der Erwei-
terung bedürftig. Hans Lipps hat das in seinen Untersuchungen zur hermeneuti·
sehen Logik 14 getan, und ähnlich ist es in der modernen englischen Analytik,
etwa bei den sogenannten ;Austinianern(, den Anhängern von Austin, eine

14 [Tübingen 1938, jetzt in Werke Bd. 2, Frankfurt 1976]


196 Ergänzungen

wichtige Fragestellung, der Aus/in den Ausdruck gegeben hat: »How to do


things with worcls«( (Wie kann man mit Worten etwas tun?)15, Das sind Bei-
spiele von sich selbst ins Handeln transzendierenden Formen des Sprechens,
die sich von dem reinen Begriff der Aussage besonders scharf abheben.
Stellen wir nun diesem Begriff der isolierten Aussage mit ihren ver-
schwimmenden Grenzen das ~Wort( entgegen, aber nicht als die kleinste
Einheit, die es im Sprechen gibt. Das Wort, das man sagt oder gesagt
bekommt, ist nicht jenes grammatische Element einer sprachlichen Analyse,
von dem sich an konkreten Phänomenen des Sprechenlernens zeigen läßt.
wie sekundär es etwa gegenüber der Sprachmelodie eines Satzes ist. Das
Wort, das wirklich als eine kleinste Einheit von Sinn gelten kann, ist nicht
das Wort, bei dem die Aufgliederung einer Rede als letztem Bestandstück
ankommt. Dies Wort ist aber auch nicht der Name, und Sprechen ist nicht
Nennen, und zwar deswegen nicht, weil bei Name und nennen, wie etwa
der Bericht der Genesis zeigt, die falsche Implikation der Namengebung
besteht. Das gerade ist nicht unser sprachliches Grundverhältnis, daß wir
uns je in der Willkür und Freiheit des Namengebens befanden: Es gibt kein
erstes Wort. Die Rede von einem ersten Wort ist in sich selbst widerspruchs-
voll. Es liegt immer schon ein System von Worten dem Sinn jedes Wortes
zugrunde. Ich kann auch nicht etwa sagen: I~lch fuhre ein Wort ein. « Es gibt
zwar immer wieder Leute, die das so sagen, aber sie überschätzen sich
gewaltig. Sie sind es nicht, die das Wort einfUhren. Bestenfalls bringen sie
einen Ausdruck zum Vorschlag oder prägen einen Fachausdruck, den sie
definieren. Aber ob der ein Wort wird, das steht nicht bei ihnen. Ein Wort
fUhrt sich ein. Erst dann ist es ein Wort geworden, wenn es in kommunikati-
ven Gebrauch übergetreten ist. Das geschieht nicht durch den einfUhrenden
Akt von jemandem, der es vorgeschlagen hat, sondern offenkundig, wenn
und weil es >sich eingefUhrt hate Selbst die Wendung vom >Sprachgebrauch,
suggeriert immer noch Dinge, die am Wesen unserer sprachlichen Welter-
fahrung vorbeigehen. Da sieht es immer noch so aus, als hätte man die Worte
in der Hosentasche und holte sie, je wie man sie braucht, heraus, als wäre der
Sprachgebrauch im Belieben dessen, der die Sprache gebraucht. Sie ist
gerade nicht von ihm abhängig. In Wahrheit heißt Sprachgebrauch auch
dies, daß die Sprache sich weigert, mißbraucht zu werden. Die Sprache
selber ist es, die vorschreibt, was sprachlicher Brauch ist. Darin lieg keine
Mythologisierung der Sprache, sondern das meint einen nicht aufindividu-
elles subjektives Meinenje reduzierbaren Anspruch der Sprache. Daß wir es
sind, die da sprechen, keiner von uns, und doch wir alle, das ist die Seinswei-
se der ISprache<.
Das Wort ist auch nicht durch die lideale Einheit< der Wortbedeutung von

15 U. L. Austin, How to do Things with Words, Oxford 1962]


Sprache und Verstehen 197

Zeichen oder anderen Ausdrucksphänomenen voll abhebbar. Zwar war es


eine der wichtigsten logischen und phänomenologischen Leistungen am
Anfang unseres Jahrhunderts, daß die Phänomenologie, besonders Husserl
in seinen Logischen Untersuchungen! den Unterschied zwischen aUen Zeichen
sonst und der Bedeutung von Worten herausgearbeitet hat, Er hat richtig
gezeigt, daß die Bedeutung eines Wortes nichts zu tun hat mit den realpsy-
chischen Vorstellungsbildern, die sich beim Gebrauch eines Wortes einstel-
len, Die Idealisierung, die ein Wort dadurch hat, daß es eine - und immer
diese eine - Bedeutung hat, unterscheidet es von allem anderen Sinn von
,Bedeutung<, etwa der Zeichen-Bedeutung, So grundlegend die Einsicht
war, daß die Bedeutung eines Wortes nicht einfach psychischer Natur ist, so
ungenügend ist es doch andererseits, von der idealen Einheit einer Wortbe-
deutung zu sprechen. Sprache beruht offenbar darauf, daß Worte ihrer
bestimmten Bedeutung zum Trotz keine Eindeutigkeit haben, sondern eine
schwankende Bedeutungsbreite besitzen, und gerade dieses Schwanken
macht die eigentümliche Waghalsigkeit des Sprechens aus. Erst im Vollzug
des Sprechens, im Weitersprechen, im Aufbau eines sprachlichen Kontextes
fixieren sich die bedeutungtragenden Momente der Rede, indem sie sich
gleichsam gegenseitig zurechtrücken.
Wir erkennen das besonders an dem Verstehen von fremdsprachigen
Texten. Da ist es ganz allbekannt, wie sich das Schwanken der Wortbedeu-
tungen im Durchgehen und Reproduzieren der Sinneinheit eines Satzgebil-
des langsam stabilisiert. Selbst das ist natürlich noch eine ganz unvollkom-
mene Beschreibung. Man braucht nur an den Vorgang des Übersetzens zu
denken, um zu sehen, wie unvollkommen diese Beschreibung ist. Denn
darin liegt das ganze Elend des Übersetzens, daß die Einheit der Meinung,
die ein Satz hat, sich durch die bloße Zuordnung von Satzgliedern zu den
entsprechenden Satzgliedern der anderen Sprache nicht treffen läßt und daß
so diese gräßlichen Gebilde zustande kommen, die uns im allgemeinen in
übersetzten Büchern zugemutet werden - Buchstaben ohne Geist. Was dort
fehlt und allein Sprache ausmacht, ist, daß ein Wort das andere gibt, ein jedes
Wort von dem anderen Worte sozusagen herbeigerufen wird und seinerseits
selber den Fortgang des Redens weiter offen hält. Ein übersetzter Satz, wenn
er nicht von einem Meister der Übersetzungskunst so gründlich verwandelt
ist, daß man ihm nicht mehr anmerkt, wie ein anderer lebendiger Satz
dahinter war, ist wie eine Landkarte im Vergleich zu der Landschaft selber.
Die Bedeutung eines Wortes ist eben nicht nur im System und im Kontext
allein da, sondern dieses In-einem-Kontext-Stehen bedeutet zugleich, daß
sie sich von der Vieldeutigkeit, die das Wort an sich hat, auch dann nicht
völlig abscheidet, wenn der Zusammenhang denjeweiligen Sinn eindeutig
macht. Der Wortsinn, der dem Wort in der Rede, in der es begegnet,
zukommt, ist es offenkundig nicht allein, was da ist. Da ist anderes mitprä-
198 Ergänzungen

sent, und die Präsenz all dieses Mitpräsenten macht die Evokationskraft aus,
die in der lebendigen Rede liegt. Daher läßt sich sagen, daß jedes Sprechen
ins Offene des Weitcrsprechens weist. Stets ist mehr und mehr in der
Richtung zu sagen, in der das Sprechen einsetzte. Darin liegt die Wahrheit
der These begründet, daß Sprechen im Element des ,Gesprächs< vor sich
geht.
Wenn man das Phänomen der Sprache nicht von der isolierbarcn Aussage
her, sondern von der Totalität unseres Weltverhaltens aus faßt, die zugleich
ein Gesprächsleben ist, dann wird besser verständlich, warum das Phäno-
men der Sprache so rätselhaft, anziehend und abweisend zugleich, ist. Spre-
chen ist die am tiefsten selbstvergessene Handlung, die wir als vernünftige
Wesen überhaupt ausfuhren. Jedermann kennt die Erfahrung, wie man beim
eigenen Sprechen stockt und einem die Worte in dem Augenblick ausgehen,
in dem man auf sie bewußt achtet. Eine hübsche kleine Geschichte, die ich
mit meiner kleinen Tochter erlebt habe, kann das illustrieren: Sie sollte
}Erdbeeren< schreiben und fragte, wie das geschrieben wird. Als man es ihr
sagte, bemerkte sie: I) Komisch, wenn ich das so höre, verstehe ich das Wort
überhaupt nicht mehr. Erst wenn ich es wieder vergessen habe, bin ich
wieder in dem Worte drin. « So Drinsein im Worte, daß man ihm nicht als
Gegenstand zugewendet ist, ist offenbar der Grundmodus alles sprachlichen
Verhaltens. Die Sprache hat eine bergende und sich selbst verbergende
Kraft, so daß das, was in ihr geschieht, vor dem Zugriff der eigenen
Reflexion geschützt ist und gleichsam im Unbewußten geborgen bleibt.
Wenn man das entbergend-bergende Wesen der Sprache erkannt hat, dann
wird man über die Dimensionen der Aussagelogik hinausgenötigt und
dringt in weitere Horizonte vor. Innerhalb der Lebenseinheit der Sprache ist
die Sprache der Wissenschaft stets nur ein integriertes Moment, und im
besonderen gibt es solche Weisen des Wortes wie die, die wir im philo-
sophischen, im religiösen und im dichterischen Sprechen vor uns haben. In
ihnen allen ist das Wort etwas anderes als der selbstvergessene Durchgang
zur Welt. Wir sind in ihm zuhause. Es ist wie eine Art Bürge für das, wovon
es spricht. Das liegt besonders im dichterischen Sprachgebrauch klar vor
aller Augen.
15. Wie weit schreibt Sprache
das Denken vor?
1970

Das erste, was wir uns hier klarmachen müssen, ist: Warum ist das für
uns eine Frage? Welcher Verdacht oder welche Kritik an unserem Denken
steht hinter dieser Frage? Es ist der grundsätzliche Zweifel daran, ob wir
überhaupt aus dem Bannkreis unserer sprachlichen Erziehung, unserer
sprachlichen Gesittung und unserer sprachlich vermittelten Denkweise
herauszutreten vermögen und uns der Begegnung mit einer Wirklichkeit
auszusetzen wissen, die unseren Vormeinungen, Vorformungen, Vorer-
wartungen nicht entspricht. Dieser Verdacht besteht unter den heutigen
Bedingungen, d. h. angesichts der verbreiteten Beunruhigung unseres
menschlichen Daseinsbewußtseins in bezug auf die Zukunft der Mensch-
heit, als ein langsam in unser aller Bewußtsein tretender Verdacht, daß,
wenn wir so weitermachen, wenn wir die Industrialisierung und Profitie-
rung unseres menschlichen Daseinsbewußtseins in bezug auf die Zukunft
der Menschheit, als ein langsam in unser aller Bewußtsein tretender Ver-
dacht, daß, wenn wir so weitermachen, wenn wir die Industrialisierung
und Profitierung unserer menschlichen Arbeit so weitertreiben und unse-
ren Planeten mehr und mehr zu einer großen arbeitenden Fabrik organi-
sieren, wir die Lebensbedingungen des Menschen im biologischen Sinne
sowohl wie im Sinne seiner eigenen humanen Ideale bis zur Selbstver-
nichtung gefahrden. So kommt es, daß wir heute mit besonderer Wach-
heit fragen, ob in unserem Weltverhalten nicht etwas falsch ist und ob wir
vielleicht schon in unserer durch Sprache vermittelten Welterfahrung Vor-
urteilen unterliegen oder, was noch schlimmer wäre, ob wir Zwangsläu-
figkeiten ausgeliefert sind, die bis auf die sprachliche Strukturierung unse-
rer ersten Welterfahrung zurückgehen und uns sozusagen sehenden Auges
in eine unheilvolle Sackgasse rennen lassen. Es zeichnet sich langsam ab,
daß, wenn wir so weitermachen - das ist zwar nicht auf den Tag auszu-
rechnen, aber es ist ganz sicher vorauszusagen -, das Leben auf diesem
Planeten unmöglich wird. Das ist so sicher vorauszusagen, als wenn wir
einen Zusammenstoß mit einem anderen großen Gestirn auf Grund astro-
nomischer Rechnungen voraussagen müßten. So ist es ein Thema von
200 Ergänzungen

echter Aktualität, ob es wirklich die Sprache ist, in deren unheilvollem Bann


wir uns dergestalt befinden.
Daß unsere Sprache Einfluß auf unser Denken hat, wird niemand leug-
nen. Wir denken in Worten. Denken heißt, sich etwas denken. Und sich
etwas denken heißt, sich etwas sagen. Insofern hat Plato das Wesen des
Denkens, wie ich meine, völlig fichtig erkannt, wenn er es den inneren
Dialog der Seele mit sich selber nennt, einen Dialog, der ein beständiges
Sich-Überholen, auf sich selbst und auf seine eigenen Meinungen und
Ansichten zweifelnd und einwendend Zurückkommen ist. Und wenn etwas
unser menschliches Denken kennzeichnet, dann ist es eben dieser unendliche
und nie endgültig zu etwas fUhrende Dialog mit uns selber. Das unterschei-
det uns vonjenem Ideal eines unendlichen Geistes, fur den alles, was ist und
was wahr ist, in einem einzigen geöffneten Lebensblick vor ihm läge. Es ist
unsere Spracherfahrung, unser Hineinwachsen in dieses innere Gespräch mit
uns selber, das immer zugleich das vorweggenommene Gespräch mit ande-
fcn und das Hereinholen anderer in das Gespräch mit uns ist, worin allein
sich uns die Welt in allen Erfahrungsbereichen aufschließt und ordnet. Das
bedeutet aber, daß wir keinen anderen Weg zum Ordnen und Orientieren
haben als den, der aus den jeweils sich uns anbietenden Erfahrungsgegeben-
heiten zu Orientierungspunkten gefUhrt hat, die wir als den Begriff oder als
das Allgemeine kennen, fUr das das Jeweilige ein einzelner Fall ist.
Das hat Aristoteles schön gezeigt in einem glänzenden Bilde rur diesen
Weg aller Erfahrung zum Begriff und zum Allgemeinen." Es ist jene Be-
schreibung, in der er darstellt, wie aus vielen Wahrnehmungen sich die
Einheit einer Erfahrung bildet und wie sich aus der Vielheit der Erfahrungen
schießlieh langsam so etwas wie ein Innewerden des Allgemeinen bildet, das
in diesem Fluß wechselnder Aspekte des Erfahrungslebens sich durchhält.
Und er hat dafUr ein schönes Gleichnis gefunden. Er fragt: Wie kommt es
eigentlich zu diesem Wissen des Allgemeinen? Dadurch, daß sich die Erfah-
rungen häufen, daß man immer wieder dieselben Erfahrungen macht und als
dieselben wiedererkennt? Ja, natürlich, aber eben dort liegt das Problem:
Was heißt, sie ,als dieselben( erkennen und wann wird so die Einheit eines
Allgemeinen zustande gebracht? Das ist so, wie wenn ein Heer auf der Flucht
ist. Schließlich fangt einer an, einmal rückwärts zu blicken, wie nah der
Feind ist, und sieht, er ist gar nicht so nah, und bleibt einen Augenblick
stehen, und ein Zweiter bleibt stehen. Der erste, der zweite, der dritte, das ist
doch noch nicht das Ganze - und doch steht am Ende das Ganze des Heeres
wieder. So ist es auch mit dem Sprechenlernen. Es gibt kein erstes Wort; und
doch wachsen wir lernend in Sprache und Welt hinein. Folgt daraus nicht,
daß alles davon abhängt, wie wir in die Vorschematisierungen unserer

16 [An. Post. B 19, 100 a 3ff.]


Wie weit schreibt Sprache das Denken vor? 201
künftigen Weltorientierung durch das Sprechenlernen und alles, was wir auf
den Wegen des Gespräches lernen, hineinwachsen? Es ist der Prozeß, den
man heute >Sozialisation< nennt: das Hineinwachsen in das gesellschaftliche
Verhalten. Es ist notwendig auch ein Hineinwachsen in Übereinkünfte, in
ein durch Übereinkünfte geordnetes gesellschaftliches Leben, und steht
daher unter dem Verdacht, Ideologie zu sein. So wie Sprechenlernen im
Grunde eine ständige Einübung von Wendungen und Einübung von Argu-
menten ist, so ist auch unsere gesamte Überzeugungs- und Meinungsbil-
dung ein Weg, sich in einem vorgeformten GefUge von Bedeutungsartikula-
tionen zu bewegen. Was ist daran Wahrheit? Wie soll es gelingen, diesen
vorgeformten Stoff von Wendungen und Formulierungen ganz und gar
flüssig zu machen und zu jener Vollendung zu gelangen, in der man das
seltene Geftihl hat, daß man das wirklich gesagt har, was man meinte?
So wie es im Sprechen ist, so ist es doch wohl in unserer ganzen Lebens-
orientierung, daß uns eine konventionell vorgeformte Welt vertraut wird.
Die Frage ist, ob wir in unserem eigenen Selbstverständnis je so weit
kommen, wie wir in jenen seltenen Fällen des Sprechens, die ich eben
beschrieb, manchmal zu kommen meinen, wenn einer wirklich sagt, was er
sagen will. Das aber hieße: Kommt manje so weit, daß man versteht, was
wirklich ist? Beides, totales Verstehen und adäquates Sagen, sind Grenzfalle
unserer Weltorientierung, unseres inneren unendlichen Dialogs mit uns
selber. Und doch meine ich: Gerade weil dieser Dialog unendlich ist, weil
diese uns in vorgeformten Schemata des Redens angebotene Sach-Orientie-
rung in den spontanen Vorgang unserer Verständigung miteinander und mit
uns selber ständig eingeht, hat sich uns damit die Unendlichkeit dessen
aufgetan, was wir überhaupt verstehen, was "\vir uns überhaupt geistig zu
eigen machen können. Es gibt keine Grenze rur den inneren Dialog der Seele
mit sich selber. Das ist die These, die ich dem gegen die Sprache gewendeten
Ideologieverdacht entgegenstelle.
Es ist also der Universalitätsanspruch des Verstehens und des Sprechens,
den ich mit Gründen verteidigen möchte. Wir können alles zur Sprache
bringen, und wir können uns miteinander über alles zu verständigen suchen.
Daß wir dabei durch die Endlichkeit unseres eigenen Könnens und Vermö-
gens beengt bleiben und daß nur ein wahrhaft unendliches Gespräch diesen
Anspruch ganz einlösen könnte, ist freilich wahr. Aber das versteht sich von
selbst. Die Frage ist vielmehr: Gibt es nicht eine Reihe zwingender Einwen-
dungen, die sich gegen die Universalität unserer sprachlich vermittelten
Welterfahrung erheben? Da ist die These der Relativität aller sprachlichen
Weltbilder, die von den Amerikanern aus dem Humboldtschen Erbe ge-
schöpft und mit neuer empirischer Forschungsgesinnung aktiviert worden
ist, wonach Sprachen Weltbilder und Weltsichten sind, und zwar so, daß
man aus diesem jeweiligen Weltbild, in dessen Schematisierungen man
202 Erganzungen

eingeschlossen ist, nicht heraustreten kann. Es gibt bereits in Nietzsches


Aphorismen zum >Willen zur Macht. die Bemerkung, daß die eigentliche
Schöpfungstat Gottes darin bestehe, daß Gott die Grammatik geschaffen
habe, d. h. er habe uns in diese Schernatisierungen unserer We1tbc\vältigung
eingewiesen, und das so, daß wir nicht hinter sie zurückdringen können. Ist
diese Abhängigkeit des Denkens von unseren Sprechmöglichkeiten und
Sprachgewohnheiten nicht zwingend? Und welche schicksalhafte Bedeu-
tung liegt darin, wenn wir uns umsehen in einer Welt, die sich zu einer
interkontinentalen globalen Ausgleichskultur zu formen beginnt, so daß wir
nicht mehr mit der früheren Selbstverständlichkeit von der abendländischen
Philosophie allein sprechen' Werden wir da nicht nachdenklich über der
Einsicht, daß unsere ganze philosophische Begriffssprache und die aus ihr in
die Wissenschaften übernommene und umgeformte Begriffssprache nur
eine dieser Weltperspektiven, und zwar letzten Endes griechischen Ur-
sprungs ist? Es ist die Sprache der Metaphysik, deren Kategorien wir aus der
Grammatik kennen, \vie Subjekt und Prädikat, wie Nomen und Verbum,
Hauptwort und Tätigkeitswort. Wir spürten mit dem erwachenden planeta-
rischen Bewußtsein, das sich heute regt, daß etwa bei einem Begriff wie
Tätigkeitswort eine Vorschematisierung unserer ganzen europäischen Kul-
tur anklingt. So liegt immer die bange Frage dahinter. ob wir nicht in all
unserem Denken und selbst noch in der kritischen Auflösung aller metaphy-
sischen Begriffe wie Substanz und Akzidenzien, Subjekt und seine Eigen-
schaften und dergleichen, mit Einschluß unserer ganzen prädikativen Logik,
nur zu Ende denken, was Jahrtausende vor jeder schriftlichen Überlieferung
sich in der indogermanischen Völkerfamilie als Sprachstruktur und Welthal-
tung ausgebildet hat? Es ist eine Frage, die wir uns gerade heute stellen, wo
wir vielleicht am Ende dieser unserer Sprachkultur stehen, das mit der
technischen Zivilisation und ihren mathematischen Symbolismen langsam
heraufzieht.
Es ist also nicht ein müßiger Verdacht gegen die Sprache, es ist tatsächlich
so, daß man sich fragen muß, wie weit von hier aus alles vorbestimmt ist. Ist
am Ende doch ein Wurf im Schicksalsspiel der Weltgeschichte vor aller
Weltgeschichte gefallen, der uns durch unser Sprechen in unser Denken
genötigt hat und, wenn es so weitergeht, zur technischen Selbstzerstörung
der Menschheit fUhrt'
Nun \väre dem entgegenzuhalten, ob wir mit diesem Verdacht gegen uns
selber nicht unsere eigene Vernunft künstlich entmündigen. Stehen wir nicht
hier auf einem gemeinsamen Boden und wissen, daß wir von etwas Wirkli-
chem reden und daß es nicht die Schwarzmalerei irgend so eines Wolkenkuk-
kucksheimers von Philosophen ist, wenn ich von einer von weither kom-
menden Selbstgefahrdung der Menschheit spreche und einen Schicksalszu-
sammenhang abendländischer Geschichte sehe, den uns vor allen Dingen in
Wie ...veit schreibt Sprache das Denken vor? 203
jüngster Zeit Heidegger sehen gelehrt hat? Das wird später einmal zu dem
selbstverständlichen Wissen der Menschheit gehören. Wir sehen heute mit
gesteigerter Klarheit und haben das vor allem von Heidegger gelernt, daß
die griechische Metaphysik der Anfang der Technik ist. Die aus der abend-
ländischen Philosophie erwachsende Begriffsbildung hat das Übermächti-
genwollen als Grunderfahrung der Wirklichkeit auf einem langen geschicht-
lichen Weg heraufgefUhrt. Indes, sollen wir wirklich meinen, daß das, was
wir so zu erkennen beginnen, unübersteigbarc Schranken aufrichtet?
Der zweite Einwand, dem hier zu begegnen ist, wurde insbesondere VOn
Habermas gegen meine eigenen Theorien entwickelt. Es ist die Frage, ob
nicht die außersprachlichen Erfahrungsweisen unterschätzt werden, wenn
man, \\'ie ich, behauptet, die Sprache sei es, durch die wir die Welterfahrung
artikulieren als eine gemeinsame. Zwar ist die Vielheit der Sprachen kein
Einwand. Diese Relativität ist gar nicht von der Art, daß sie uns in einen nie
zu lösenden Bann schlägt, wie jeder von uns weiß, der ein wenig in anderen
Sprachen zu denken vermag. Aber gibt es nicht andere Wirklichkeitserfah-
rungen, die nicht-sprachlicher Art sind? Da ist die Erfahrung von Herrschaft
und die Erfahrung von Arbeit. Das sind die beiden Argumente, die etwa
Habermas 17 gegen die Universalität des hermeneutischen Anspruchs geltend
macht, indem er offenkundig die sprachliche Verständigung, ich weiß nicht,
warum, als eine Art geschlossenen Kreises immanenter Sinn bewegung in-
terpretiert und das die kulturelle Überlieferung der Völker nennt. Nun, die
kulturelle Überlieferung der Völker ist vor allen Dingen eine Überlieferung
von Herrschaftsformen und Herrschaftskünsten, von Freiheitsidealen, Ord-
nungszielen und dergleichen. Wer leugnet, daß unsere eigenen menschlichen
Möglichkeiten nicht bloß im Sprechen bestehen? Man sollte zugeben, daß
alle sprachliche Welterfahrung die Welt erfahrt und nicht die Sprache. Ist es
etwa nicht Begegnung mit der Wirklichkeit, was wir in sprachlicher Ausein-
andersetzung artikulieren? Die Begegnung mit Herrschaft und Unfreiheit
fUhrt zur Ausbildung unserer politischen Ideen, und es ist die Welt der
Arbeit, die Welt des Könnens, die wir in der Meisterung von Arbeitsgängen
als einen Weg unserer menschlichen Selbstfindung erfahren. Es wäre eine
falsche Abstraktion, zu meinen, daß es nicht vor allem die konkreten Erfah-
rungen unserer menschlichen Existenz in Herrschaft und Arbeit sind, in
denen allein unser menschliches Selbstverständnis, unsere Wertungen, unser
Gespräch mit uns selbst seine konkrete ErfUllung und seine kritische Funk-
tion hat. Die Tatsache, daß wir in einer sprachlichen Welt uns bewegen und
durch eine sprachlich vorgeformte Erfahrung in unsere Welt hineinwachsen,
17 U. Habermas, >Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik,. In: Hermeneutik und

Dialektik. FS fur H.-G. Gadamer 2 Bde., hrsg. vonR. Bubner, K. Cramerund R. Wiehl,
Tübingen 1970, Bd. 1, S. 73-104, und meine Arbeit >Die Universalität des hermeneuti-
schen Problems<, unten S. 219ff.]
204 Ergänzungen

nimmt uns durchaus nicht die Möglichkeit der Kritik. Im Gegenteil: Es


öffnet sich uns die Möglichkeit, über unsere Konventionen und alle unsere
vorschematisierten Erfahrungen hinauszugelangen, indem wir uns im Ge-
spräch mit anderen, Andersdenkenden neuer kritischer Bewährung und
neuen Erfahrungen stellen. Im Grunde geht es in unserer Welt noch immer
um das gleiche, um das es von Anbeginn an gegangen ist: die sprachliche
Einformung in Konventionen, in gesellschaftliche Normen, hinter denen
stets auch wirtschaftliche und Herrschaftsinteressen stehen. Aber eben das
ist unsere menschliche Erfahrungswelt, in der wir auf unsere Urteilskraft
angewiesen sind, das heißt aber, auf unsere Möglichkeit, uns jeder Konven-
tion gegenüber kritisch zu verhalten. Sie verdanken wir in Wahrheit der
sprachlichen Virtualität unserer Vernunft, und wir sind nicht etwa durch die
Sprache an unserer Vernunft gehindert. Nun ist es gewiß richtig, daß unsere
Welterfahrung nicht nur im Sprechenlernen und in sprachlicher Übung vor
sich geht. Es gibt vorsprachliche Wclterfahrung, wie Habermas im Verweis
auf die Forschungen Piagets geltend macht. Es gibt die Sprache der Gesten
und der Mienen und Gebärden, die uns verbinden, das Lachen und Weinen,
auf deren Hermeneutik H. Plessner aufmerksam gemacht hat, und es gibt
die durch die Wissenschaft aufgebaute Welt, in der am Ende die exakten
Sondersprachen mathematischer Symbolismen den festen Grund der Theo-
rienbildung ermöglichen und die eine Fähigkeit, zu machen und zu manipu-
lieren, herbeigeftihrt haben, clie uns geradezu als eine Art Selbstdarstellung
des homo ~fäber, der technischen Ingeniosität des Menschen, erscheint. Aber
alle diese Formen menschlicher Selbstdarstellung müssen doch selber in
jenes innere Gespräch der Seele mit sich selbst ständig hineingeholt wer-
den.
Ich erkenne an, daß diese Phänomene darauf hinweisen, daß hinter allen
Rclativitäten von Sprachen und Konventionen ein Gemeinsames liegt, das
überhaupt nicht mehr Sprache ist, sondern ein auf mögliche Verspraehli-
chung angelegtes Gemeinsames, rur das vielleicht das gute Wort ,Vernunft<
noch nicht ganz das schlechteste ist. Gleichwohl gibt es da etwas, was
Sprache als Sprache auszeichnet, und das ist, daß die Sprache als Sprache sich
auf eine eigentümliche Weise von allem anderen Kommunikationsgesche-
hen abheben läßt. Wir nennen diese Abhebung Schreiben und Schriftlich-
keit. Was bedeutet es, daß etwas, was auf so anschauliche und lebenclige
Weise voneinander unablösbar ist wie das überzeugende Reden des einen mit
dem anderen oder des einen mit sich selber, die erstarrte Form von Schriftzü-
gen annehmen kann, die zu entziffern und zu lesen und in neuen Sinnvollzug
zu erheben möglich ist, und das so sehr, daß unsere ganze Welt mehr oder
minder - vielleicht nicht mehr lange - eine literarische Welt, eine durch
Schreiben und Schriftlichkeit verwaltete Welt ist? Woraufberuht die Univer-
salität dieser Schriftlichkeit und was geschieht da? Ganz unabhängig von
Wie weit schreibt Sprache das Denken vor? 205
allen Unterschieden der Schriftlichkeit würde ich sagen: Jedes Schriftliche
verlangt, um verstanden zu sein, so etwas wie eine Art Erhebung in das
innere Ohr. Wo es sich um Poesie und dergleichen handelt, ist das selbstver-
ständlich, und auch in der Philosophie pflege ich meinen Studenten zu sagen:
Ihr müßt euer Ohr schärfen, ihr müßt wissen, daß, wenn ihr ein Wort in den
Mund nehmt, ihr nicht so ein beliebiges Werkzeug angewendet habt, das,
wenn es euch nicht paßt, in die Ecke geworfen wird, sondern euch in
Wahrheit festgelegt habt in eine Richtung des Denkens, die von weit her
kommt und weit über euch hinausreicht. Es ist immer eine Art Rückver-
wandlung, die von uns geleistet wird. Ich möchte sie in einem sehr weiten
Sinne> Übersetzung i nennen. Lesen ist schon Übersetzen und Übersetzen ist
dann noch einmal Übersetzen. Denken \:vir einen Augenblick über diese
Tatsache nach, was das heißt, daß wir übersetzen, d. h. daß wir etwas Totes
hinübersetzen in den neuen Vollzug des lesenden Verstehens oder gar in den
neuen Vollzug des Verstehens in einer anderen, unserer eigenen Sprache, von
etwas, was nur in einer fremden Sprache aufgezeichnet wurde und als Text
gegeben ist.
Der Vorgang des Übersetzens schließt im Grunde das ganze Geheimnis
menschlicher Weltverständigung und gesellschaftlicher Kommunikation
ein. Übersetzen ist eine unlösbare Einheit von implizitem Antizipieren, den
Sinn im Ganzen Vorweggreifen, und explizitem Festlegen des so Vorwegge-
nommenen. Selbst alles Reden hat etwas von dieser Art des Vorwegneh-
meus und des Festlegens. Es gibt einen sehr schönen Aufsatz von Heinrich
von Kleist mit dem Titel: »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken
beim Redeni<. Wenn es nach mir ginge, müßte jeder Professor, der einen
Kandidaten zu prüfen hat, vorher einen Revers unterschreiben, daß er diesen
Artikel gelesen hat. Der Aufsatz schildert die Erfahrung, die Heinrich von
Kleist bei seinem Referendarexamen in Berlin gemacht hat. Auch damals
waren Examina öffentlich, wurden allerdings nur besucht von künftigen
Examinanden (das soll heute auch nicht anders sein). Da hat nun Heinrich
von Kleist beschrieben, wie ein Examen vor sich geht; wie da der Professor
wie aus der Pistole geschossen eine Frage stellt, und dann soll der Kandidat
wie aus der Pistole geschossen eine Antwort abschießen. Nun wissen wir
doch alle: Eine Frage, auf die jeder die Antwort weiß, können nur Dumm-
köpfe beantworten. Eine Frage muß sich stellen, und das heißt, daß sie eine
Offenheit von Antwortmöglichkeiten einschließt. Daß die gegebene Ant-
WOrt vernünftig ist, das ist die einzige mögliche Examensleistung, die man
bewerten kann. Eine }richtigei Antwort können Computer und Papageien
mit weit größerer Schnelligkeit finden. Kleist hat auch ein sehr schönes Wort
fur diese Erfahrung gefunden: das Schwungrad der Gedanken muß in Gang
gesetzt werden. Im Sprechen ist es so, daß ein Wort das andere gibt, und
dadurch breitet sich unser Denken aus. Das erst ist wirkliches Wort, was sich
206 Ergänzungen

aus noch so sehr vorschematisiertem Sprachschatz und Sprachgebrauch im


Sprechen von sich aus anbietet. Man sagt es, und es fuhrt einen weiter zu von
einem selber vielleicht nicht abgesehenen Konsequenzen und Zielen. Das ist
der Hintergrund rur die Universalität des sprachlichen Weltzugangs, daß
unsere Welterkenntnis - um es in einem Gleichnis zu sagen - sich uns nicht
als ein unendlicher Text darstellt, den wir lernen, mühsam und stückhaft
aufzusagen. Das Wort )aufsagen< soll bewußt machen, daß es überhaupt kein
Sprechen wäre. Aufsagen ist das Gegenteil von Sprechen. Aufsagen weiß
nämlich schon, was kommt, und setzt sich nicht dem möglichen Vorteil des
Einfalls aus. Wir kennen alle die Erfahrung, die wir am schlechten Schau-
spieler machen, der aufsagt, so daß man das Geruhl hat, er denkt immer
schon ans nächste Wort, wenn er das erste sagt. In Wahrheit ist das kein
Sprechen. Unser Sprechen ist nur Sprechen, wenn wir das Risiko eingehen,
etwas zu setzen und seinen Implikationen zu folgen. Zusammenfassend
würde ich sagen, das eigentliche Mißverständnis bei der Frage der Sprach-
lichkeit unseres Verstehens ist ein Mißverständnis über Sprache, als ob
Sprache ein Bestand von Worten und Sätzen, von Begriffen, Ansichten und
Meinungen wäre. Sprache ist in Wahrheit das eine Wort, dessen Virtualität
uns die Unendlichkeit des Weitersprechens und des Miteinandersprechens
und die Freiheit des Sich-Sagens und Sich-Sagenlassens eröffnet. Nicht ihre
ausgearbeitete Konventionalität, nicht die Last der Vorschematisierungen,
mit denen wir überschüttet werden, ist Sprache, sondern die generative und
kreative Kraft, solches Ganze immer wieder zu verflüssigen.
16. Die Unfihigkeit zum Gespräch
1972

Man versteht sofort, was ftir eine Frage hier gestellt wird und von welcher
Tatsache die Frage ihren Ausgang nimmt. Ist die Kunst des Gesprächs im
Verschwinden? Beobachten wir nicht itn gesellschaftlichen Leben unserer
Zeit eine zunehmende Monologisierung des menschlichen Verhaltens? Ist
das eine allgemeine Erscheinung unserer Zivilisation, die mit der wissen-
schaftlich-technischen Denkweise derselben zusammenhängt? Oder sind es
besondere Erfahrungen der Selbstentfremdung und der Vereinsamung in
der modernen Welt, die den Jiingeren den Mund verschließen? Oder ist es
gar die entschlossene Abkehr von allem Verstäncligungswillen und eine
verbissene Auflehnung gegen die Schein verständigung, die im öffentlichen
Leben herrscht, die von den anderen als Unfahigkeit zum Gespräch beklagt
wird? Das sind die Fragen, die jedem sofort kommen, wenn er das Thema
hört, um das es hier geht.
Dabei ist die Fähigkeit zum Gespräch eine natürliche Ausstattung des
Menschen. Aristoteles hat den Menschen das Wesen genannt, das Sprache
hat, und Sprache ist nur im Gespräch. Mag immer Sprache kodifizierbar
sein, in Wörterbuch, Gralnmatik und Literatur eine relative Fixierung haben
- ihre eigene Lebendigkeit, ihr Veralten und Sich-Erneuern, ihre Vergröbe-
rung und ihre Verfeinerung bis zu den hohen Stilformen literarischer Kunst,
a11 das lebt von dem lebendigen Austausch der miteinander Sprechenden.
Sprache ist nur im Gespräch.
Aber wie verschieden ist die Rolle, die das Gespräch unter Menschen
spielt. Ich habe einmal in einem Berliner Hotel eine Militärdelegation finni-
scher Offiziere beobachten können, die um einen großen runden Tisch
saßen, schweigsam und in sich gekehrt, und zwischen einem jeden und
seinem Nachbarn erstreckte sich die weite Tundra ihrer Seelenlandschaft wie
eine nicht zu überbrückende Distanz. Und wer hat nicht schon als reisender
Nordländer die beständige Brandungswelle des Gesprächs bestaunt, die auf
den Märkten und Plätzen südlicher Länder, Spaniens etwa oder Italiens, sich
rauschend und donnernd überschlägt! Aber vielleicht sollte man weder das
eine als einen Mangel an Gesprächsbereitschaft noch das andere als eine
besondere Begabung zum Gespräch betrachten. Denn vielleicht ist Gespräch
208 Ergänzungen

doch noch etwas anderes als der in seiner Lautstärke wechselnde Umgangs-
stil des geselligen Lebens. Und sicher ist bei der Klage über die Unfähigkeit
zum Gespräch nicht das gemeint. Gespräch ist in einem anspruchsvolleren
Sinne zu verstehen.
Machen wir es uns an einem Gegenphänomen klar, das vielleicht nicht
ohne Schuld daran ist, daß die Fähigkeit zum Gespräch so im Rückgang ist:
Ich meine das Telefongespräch. Es ist uns so gewohnt geworden, daß wir
lange Gespräche am Telefon fUhren, und zwischen einander nahestehenden
Menschen ist die kommunikative Verarmung, die beim Telefon durch die
Beschränkung auf das Akustische gegeben ist, kaum fUhlbar. Aber das
Problem des Gespräches stellt sich ja gar nicht in solchen Fällen, in denen
eine enge Verwehung des Lebens zweier Menschen auch die Fäden des
Gesprächs fort- und fortspinnt. Die Frage der Unfähigkeit zum Gespräch
meint vielmehr, ob man sich überhaupt so weit öffnet und den anderen offen
findet, damit die Fäden des Gesprächs hin- und herlaufen können. Hier ist
die Erfahrung des Telefongesprächs dokumentarisch wie ein photographi-
sches Negativ. Was am Telefon fast gar nicht möglich ist, ist jenes Hinhor-
chen auf die offene Bereitschaft des anderen, sich auf ein Gespräch einzulas-
sen, und was einem am Telefon nie zuteil wird, ist jene Erfahrung, durch die
Menschen einander nahezukommen pflegen, daß man Schritt für Schritt
tiefer in ein Gespräch gerät und am Ende so in dasselbe verwickelt ist, daß
eine erste nicht wieder abreißende Gemeinsamkeit zwischen den Partnern
des Gesprächs entstanden ist. Ich nannte das Telefongespräch eine Art pho-
tographischen Negativs. Denn eben die Sphäre des Tastens und Horchens,
durch die hindurch Menschen einander näher kommen, wird durch die
künstliche Nälierung, die der Draht vermittelt, gleichsam fühllos durchsto-
ßen. Etwas von der Brutalität des Störens bzw. des Gestörtwerdens bleibt an
jedem telefonischen Anruf haften, auch wenn der Partner noch so sehr
versichert, wie er sich über den Anruf freue.
An unserem Vergleich wird zum ersten Male ftihlbar, wie weit die Bedin-
gungen echten Gesprächs gespannt sind, damit das Gespräch in die Tiefe
menschlicher Gemeinsamkeit zu fuhren vermag, und welche Gegenkräfte in
der modernen Zivilisation ihre Ausbreitung gefunden haben, die dem entge-
genstehen. Die moderne Informationstechnik, die vielleicht erst in den
Anfängen ihrer technischen Perfektion steht und, wenn man den techni-
schen Propheten glauben darf, Buch und Zeitung und erst recht die echte
Belehrung, die aus menschlichen Begegnungen zu erwachsen vermag, bald
ganz überflüssig machen wird, ruft uns ihr Gegenteil ins Gedächtnis, die
Charismatiker des Gesprächs, die die Welt verändert haben: Konfuzius und
Goutama Buddha, Jcsus und Sokrates. Wir lesen ihre Gespräche zwar, aber
sie sind die Aufzeichnungen anderer, die das eigentliche Charisma des
Gesprächs nicht zu erhalten und zu wiederholen vermögen, das nur in der
Die Unfahigkeit zum Gespräch 209
lebendigen Spontaneität des Fragens und Antwortens, des Sagens und Sich-
gesagt-sein-Lassens anwesend ist. Gleichwohl sind gerade solche Aufzeich-
nungen von einer besonderen dokumentarischen Kraft. In gewissem Sinne
sind sie Literatur, das heißt, sie setzen eine Kunst des Schreibens voraus, die
mit literarischen Mitteln eine lebendige Wirklichkeit zu evozieren und zu
gestalten weiß. Aber im Unterschiede zu den dichterischen Spielen der
Einbildungskraft behalten solche Aufzeichnungen eine einzigartige Durch-
lässigkeit auf etwas hin, das hinter ihnen die eigentliche Wirklichkeit und
das eigentliche Geschehen war. Der Theologe Franz Overbeck hat das
richtig beobachtet und in der Anwendung auf das Neue Testament den
Begriff der >Urliteratur< geprägt, die der eigentlichen Literatur so voraus-
liegt wie die Urzeit der geschichtlichen Zeit.
Es ist nützlich, sich hier noch an einem anderen, analogen Phänomen Zu
orientieren. Die Unfahigkeit Zum Gespräch ist ja nicht das einzige kommu-
nikative Schwundphänomen, das wir kennen. Länger schon beobachten wir
das Verschwinden des Briefes und der Korrespondenz. Die großen Brief-
schreiber des 17. und 18. Jahrhunderts gehören der Vergangenheit an. Das
Zeitalter der Postkutsche war offenbar dieser Form der Kommunikation,
wo man mit wendender Post - das meint ganz buchstäblich das Wenden der
Postpferde - einander antwortete, günstiger als das technische Zeitalter der
fast vollen Gleichzeitigkeit von Frage und Antwort, die das telefonische
Gespräch auszeichnet. Wer Amerika kennt, weiß, daß dort noch sehr viel
weniger Briefe geschrieben werden als in der Alten Welt. Tatsächlich ist, was
man brieflich einander mitteilt, auch in der Alten Welt so reduziert, so sehr
auf Dinge beschränkt, die weder sprachliche Gestaltungskraft noch seelische
EinfUhlungskraft noch produktive Einbildungskraft brauchen können oder
verlangen, daß der Fernschreiber es eigentlich besser macht als die Schreibfe-
der. Der Brief ist eine Art rückständigen Informationsmittels geworden.
Auch auf dem Gebiete des philosophischen Denkens hat das Phänomen
des Gesprächs und insbesondere jene ausgezeichnete Form des Gesprächs,
die man das Gespräch unter vier Augen, den Dialog nennt, eine Rolle
gespielt, und zwar in derselben Gegenstellung wie die, die wir uns als ein
allgemeines Kulturphänomen soeben bewußt gemacht haben. Es war vor
allem die Epoche der Romantik und ihre Wiederholung im 20. Jahrhundert,
die dem Phänomen des Gesprächs eine kritische Rolle gegenüber der ver-
hängnisvollen Monologisierung des philosophischen Denkens zuwies. Mei-
ster des Gesprächs wie Friedrich Schleiermacher, dieses Genie der Freund-
schaft, oder Friedrich Schlegel, dessen allgemeine Reizbarkeit ihn mehr im
Gespräch sich verströmen ließ, als etwas zu bleibender Gestaltung zu brin-
gen, waren zugleich der philosophische Anwalt einer Dialektik, die dem
platonischen Vorbild des Dialogs, des Gesprächs, einen eigenen Wahrheits-
vorrang zusprach. Es ist leicht begreiflich, worin dieser Vorrang liegt. Wenn
210 Ergänzungen

zwei Menschen einander begegnen und sich miteinander austauschen, dann


sind das immer gleichsam zwei Welten, zwei Welt blicke und zwei Weltbil-
der, die einander gegenübertreten. Es ist nicht der eine Blick auf die eine
Welt, wie ihn das Denken der großen Denker mit ihrer Anstrengung des
Begriffs und ihrer ausgearbeiteten Lehre mitteilbar zu machen versucht.
Schon Plato hatte nicht nur aus Pietät gegenüber dem Meister des Gesprä-
ches, der Sakrates gewesen war, seine Philosophie lediglich in geschriebe-
nen Dialogen mitgeteilt. Er hatte darin ein Prinzip der Wahrheit gesehen,
daß das Wort nur durch die Aufnahme im anderen und die Zustimmung des
anderen seine Bewährung findet und daß die Konsequenz des Denkens, die
nicht zugleich ein Mitgehen des anderen mit den Gedanken des einen ist,
ohne zwingende Kraft bliebe. Und es ist wahr, jeder menschliche Blick-
punkt hat etwas Zufalliges an sich. Die Art, vllie einer auf seine Weise die
Welt erfahrt, im Sehen und Hören und vollends im Schmecken, bleibt
unaufhebbar sein eigenstes Geheimnis. ))Wer zeigt mit Fingern auf einen
Geruch?« (Rilke). Wie unsere sinnliche Weltapperzeption auf eine unaufheb-
bare Weise privat ist, so vereinzeln uns auch unsere Antriebe und unsere
Interessen, und die Vernunft, die allen gemeinsam ist und die das allen
Gemeinsame zu erfassen begabt ist, bleibt ohnmächtig gegenüber den Ver-
blendungen, die unsere Einzelnheit in uns nährt. So bedeutet das Gespräch
mit dem anderen, seine Einwendungen oder seine Zustimmung, sein Ver-
ständnis und auch seine Mißverständnisse, eine Art Ausweitung unserer
Einzelnheit und eine Erprobung der möglichen Gemeinsamkeit, zu der uns
Vernunft ermutigt. Es läßt sich eine ganze Philosophie des Gespräches
denken, die von diesen Erfahrungen ausgeht: dem unvertauschbaren Blick-
punkt des einzelnen, in dem sich die ganze Welt spiegelt, und der ganzen
Welt, die sich in all den einzelnen Blickpunkten anderer als eine und dieselbe
darstellt. Es war die großartige metaphysische Konzeption von Leibniz, die
auch Goethe bewundert hat, daß die vielen Spiegel des Universums. die die
einzelnen Individuen sind, in ihrer Allheit das eine Universum selbst sind.
Das ließe sich zu einem Universum des Gesprächs ausgestalten.
Was so die Romantik in der Entdeckung des unaufschließbaren Geheim-
nisses der Individualität gegen die abstrakte Allgemeinheit des Begriffes
kehrt, das wiederholte sich am Anfang unseres Jahrhunderts in der Kritik an
der Schulphilosophie des 19. Jahrhunderts und am liberalen Fortschritts-
glauben. Nicht zufillig war es ein Schüler der deutschen Romantik, der
dänische Schriftsteller Sören Kierkegaard, der in den vierziger Jahren des
19. Jahrhunderts mit großer schriftstellerischer Kunst gegen die Schulherr-
schaft des HegeIschen Idealismus zu Felde gezogen war, der jetzt im
20.Jahrhundert durch die Übersetzung ins Deutsche zu europäischer Wir-
kung karn. Es war hier in Heidelberg (aber auch an manchem anderen Orte
Deutschlands), daß das Denken dem neukantianischen Idealismus die Erfah-
Die Unfahigkeit ZUm Gespräch 211
rung des Du entgegenstellte und des Wortes, das Ich und Du verbindet. In
der Zeitschrift ~Die Kreatur< fand die in Heidelberg insbesondere durch
Jaspers geförderte Kierkegaard-Renaissance einen wirksamen Ausdruck.
Männer wie Franz Rosenzweig und Martin Buber, Friedrich Gogarten und
Ferdinand Ebner, um von sehr verschiedenen Lagern kommende jüdische,
protestantische und katholische Denker zu nennen, aber auch ein Psychiater
vom Range Viktor von Weizsäckcrs, vereinigten sich in der Überzeugung,
daß der Weg der Wahrheit das Gespräch sei.
Was ist ein Gespräch? Gewiß denken \~lir dabei an einen Vorgang zwischen
Menschen, der bei aller Ausbreitung und potentiellen Endlosigkeit dennoch
eine eigene Einheit und Geschlossenheit besitzt. Etwas ist rur uns ein Ge-
spräch gewesen, was etwas in uns hinterlassen hat. Nicht dies, daß wir da
etwas Neucs erfahren haben, machte das Gespräch zu einem Gespräch,
sondern daß uns im anderen etwas begegnet ist, was uns in unserer eigenen
Welterfahrung so noch nicht begegnet war. Was die Philosophen in der
Kritik des monologischen Denkens bewegte, das erfahrt der einzelne an sich
selber. Das Gespräch hat eine verwandelnde Kraft. Wo ein Gespräch gelun-
gen ist, ist uns etwas geblieben und ist in uns etwas geblieben, das uns
verändert hat. So ist das Gespräch in eigentümlicher Nachbarschaft mit
Freundschaft 18 • Nur im Gespräch (und im Miteinanderlachen, das wie ein
wortlos überbordendes Einverständnis ist) können Freunde einander finden
und jene Art von Gemeinsamkeit aufbauen, in der jeder dem anderen
derselbe bleibt, weil beide den anderen finden und am anderen sich selber
finden.
Doch um nicht immer von diesem äußersten und tiefsten Sinn von Ge-
spräch allein zu sprechen, wol1en wir unsere Aufmerksamkeit auf die ver-
schiedenen Formen von Gespräch richten, die in unserem Leben vorkom-
men und die alle unter der eigentümlichen Bedrohung stehen, von der unser
Thema spricht. Da ist zunächst das pädagogische Gespräch. Nicht daß es an
sich einen besonderen Vorrang verdiente. Aber an ihm läßt sich besonders
gut zeigen, was hinter der Erfahrung der Unfähigkeit zum Gespräch liegen
mag. Das Gespräch zwischen Lehrer und Schüler ist z\var sicherlich eine der
Urformen von Gesprächserfahrung, und jene Charismatiker des Gesprächs,
von denen wir oben sprachen, sind alle Meister und Lehrer, die ihre Schüler
oder Jünger durch die Gespräche belehren. In der Situation des Lehrers liegt
aber offenbar eine eigentümliche Schwierigkeit, die Fähigkeit zum Gespräch
in sich festzuhalten, der die meisten erliegen. Wer zu lehren hat, glaubt reden
zu müssen und reden zu dürfen, und je konsistenter und zusammenhängen-
der er zu reden vermag, desto eher meint er, seine Lehre mitzuteilen. Das ist

16 rVgl. meinen Beitrag in der FS fUr U. Hölscher (Würzburg 1985) >Freundschaft und
Selbsterkenntnis<, in Ges. Werke Bd. 7]
212 Ergänzungen

die Gefahr des Katheders, die wir alle kennen. Ich erinnere mich aus meiner
Studienzeit einer Seminarübung bei Husser!. Solche Übungen sollen ja
bekanntlich nach Möglichkeit Forschungsgespräche und mindestens päd-
agogische Gespräche pflegen. Husserl, der in den frühen zwanziger Jahren
als der Freiburger Meister der Phänomenologie von einem tiefen Missions-
drang beseelt war und in der Tat eine bedeutende philosophische Lehrtätig-
keit ausübte, war kein Meister des Gesprächs. Injener Seminarsitzung stellte
er am Anfang eine Frage, bekam eine kurze Antwort und ging dann auf diese
Antwort zwei Stunden lang in einem ununterbrochenen Lehrmonolog ein.
Als er am Ende der Sitzung mit seinem Assistenten Heideggcr aus dem Saale
ging, sagte er zu ihm: ))Heute war es einmal eine anregende Diskussion.«-
Es sind Erfahrungen solcher Art, die heute zu etwas wie einer Krisis der
Vorlesung geruhrt haben. Die Unfahigkeit zum Gespräch besteht hier vor
allem auf der Seite des Lehrers, und sofern der Lehrer der eigentliche
Vermittler der Wissenschaft ist, auf der monologischen Struktur der moder-
nen Wissenschaft und Theorienbildung. Man hat im Hochschulleben immer
wieder Versuche gemacht, die Vorlesung durch Diskussion aufzulockern,
und hat dabei freilich auch die umgekehrte Erfahrung machen müssen, daß
das Umspringen von der rezeptiven Haltung des Zuhörers zu der Initiative
des Fragens und Opponierens äußerst schwierig ist und nur selten gelingt.
Am Ende liegt in der Lehrsituation, sowie sie über die Intimität eines
Gesprächs im kleinen Kreise hinaus ausgeweitet ist, eine unautbebbarc
Schwierigkeit rur das Gespräch. Plato hat das bereits wohl gewußt; ein
Gespräch ist nie mit vielen zugleich möglich oder auch nur in der Anwesen-
heit vieler. Unsere sogenannten Podiumsdiskussionen, diese Gespräche am
halbrunden Tisch, sind immet auch halb tote Gespräche. Es gibt aber
andere, echte, d. h. individualisierte Gesprächssituationen, in denen das
Gespräch seine eigentliche Funktion behält. Ich möchte drei Typen unter-
scheiden: das Verhandlungsgespräch, das Heilgespräch und das vertrauliche
Gespräch.
Schon im Worte Verhandlungsgespräch liegt eine Betonung der Wechsel-
seitigkeit, in der hier die Gesprächspartner aufeinander zukommen. Gewiß
handelt es sich hier um Formen sozialer Praxis. Verhandlungen zwischen
Geschäftspartnern oder auch politische Verhandlungen haben nicht den
Charakter der sogenannten wechselseitigen Aussprache von Personen. Hier
leistet das Gespräch, wenn es erfolgreich ist, zwar auch einen Ausgleich, und
das ist seine eigentliche Bestimmung, aber die Personen, die im gegenseiti-
gen Austausch ihrer Bedingungen zu einem Ausgleich gelangen, sind dabei
nicht als Personen angesprochen und eingesetzt, sondern als Sachwalter der
von ihnen vertretenen Parteiinteressen. Trotzdem wäre es reizvoll, einmal
näher zu untersuchen, welche Züge echter Gesprächsbegabung den erfolg-
reichen Geschäftsmann oder Politiker auszeichnen und wie er die Barrikaden
Die Unfahigkeit zum Gespräch 213

im anderen, die einem Ausgleich entgegenstehen, zu überwinden weiß.


Gewiß ist auch darin die entscheidende Voraussetzung, daß man den anderen
als anderen \vahrzunehmen weiß. In diesem Falle die wirklichen Interessen
des anderen, die den eigenen Interessen entgegenstehen, und die doch,
richtig wahrgenommen, vielleicht Möglichkeiten des Sich-Zusammenfin-
dens enthalten. Insofern bewährt sich selbst im Verhandlungs gespräch die
generelle Bestimmung des Gespräches, daß man, um zum Gespräch fahig zu
sein, muß hören können. Die Begegnung mit dem anderen erhebt selbst da
über die eigene Begrenztheit, wo es nur um Dollars oder um Machtinteres-
sen geht.
Von besonderer Aufschlußkraft für unser Thema wird das Heilgespräch
sein, insbesondere das in der psychoanalytischen Praxis gepflegte Heilge-
spräch. Denn hier ist die U nfahigkeit zum Gespräch geradezu die Ausgangs-
lage, von der aus sich die Wiedererlernung des Gesprächs als der Vorgang
der Heilung selber darstellt. Es macht die krankhafte Stärung aus, die den
Patienten schließlich in die volle Hilflosigkeit treibt, daß die natürliche
Kommunikation mit der Mitwelt durch Wahnvorstellungen unterbrochen
ist. Der Kranke ist in diese Vorstellungen so verstrickt, daß er die Sprache
der anderen nicht mehr wirklich zu hören weiß, so sehr nährt er seine
eigenen krankhaften Vorstellungen. Aber eben die Unerträglichkcit dieser
Abgespaltenheit aus der natürlichen Gesprächsgemeinschaft der Menschen
bringt ihn am Ende zur Krankheitseinsicht und führt ihn zum Arzt. Damit
ist eine Ausgangssituation beschrieben, die fur unser Thema von vorzügli-
cher Bedeutung ist. Das Extrem ist immer lehrreich fur alle mittleren Fälle.
Das Besondere am psychoanalytischen Heilgespräch ist nun, daß es die
Unfahigkeit zum Gespräch, die hier die eigentümliche Krankheit ausmacht,
auf keine andere Weise zu heilen unternimmt als durch Gespräch. Doch ist,
was aus diesem Vorgang zu lernen ist, nicht einfach übertragbar. Einmal ist
der Analytiker nicht bloß Gesprächsparrner, sondern auch der Wissende, der
gegen den Widerstand des Patienten die tabuierten Bereiche des Unbewuß-
ten aufzuschließen drängt. Man betont zwar mit Recht, daß das Gespräch
selber dann doch eine gemeinsame Aufklärungsarbeit ist und nicht einfache
Anwendung eines Wissens seitens des Arztes. Aber eine andere, damit
zusammenhängende Bedingung ist eine spezifische, die die Übertragung des
psychoanalytischen Heilgesprächs auf das Gesprächslebcn der sozialen Praxis
einschränkt: Hier muß die erste Voraussetzung die Krankheitseinsicht des
Patienten sein, das heißt, die Unfahigkeit zum Gespräch ist hier sich selbst
eingeständig.
Das eigentliche Thema unserer Überlegungen ist dagegen eine Unfahig-
keit zum Gespräch, die sich selbst nicht eingesteht. Sie hat im Gegenteil die
Normalform, daß man diese Unfahigkeit nicht bei sich sieht, sondern bei
dem anderen. Man sagt: ))Mit Dir ist nicht zu reden. ({ Und bei dem anderen
214 Ergänzungen

ist es dann das Gefuhl oder auch die Erfahrung, nicht verstanden zu werden.
Das läßt einen im vorhinein verstummen oder gar in Erbitterung die Lippen
zusammenpressen. Insofern ist >Unfahigkeit zum Gespräch< in letztem Be-
tracht immer die Diagnose, die einer stellt, der sich selbst dem Gespräch
nicht stellt bzw. dem es nicht gelingt, mit dem anderen ins Gespräch zu
kommen. Die Unfähigkeit des anderen ist immer zugleich auch die Unfä-
higkeit des einen.
Ich möchte diese Unfahigkeit sowohl nach der subjcktiven wie nach der
objektiven Seite hin betrachten, d. h. einerseits von der subjektiven Unfä-
higkeit sprechen, der Unfähigkeit zu hören, und auf der anderen Seite von
der objektiven Unfahigkeit, die darauf beruht, daß keine gemeinsame Spra-
che existiert. Unfahigkeit zu hören ist ein so wohlbekanntes Phänomen, daß
man sich durchaus nicht dabei andere vorzustellen braucht, die diese Unfa-
higkeit in besonderem Maße besäßen. Man erfahrt sie genügend an sich
selbst, sofern man überhört oder auch falsch hört. Und ist das nicht wirklich
eine unserer menschlichen Grunderfahrungen, daß wir nicht rechtzeitig
wahrnahmen, was in dem anderen vorgeht, daß unser Ohr nicht fein genug
war, sein Verstummen und sein Sichversteifen zu ~hören<? Oder auch, daß
man falsch hört. Es ist unglaublich, was da möglich ist. Ich hab einmal-
durch einen (an sich belanglosen) Übergriff örtlicher Stellen in Leipzig - im
Polizeigefangnis gesessen. Da wurden den ganzen Tag über Namen durch
die Gänge gerufen von denen, die jeweils zum Verhör geftihrt werden
sollten. Ich hab doch tatsächlich fast bei jedem Ruf im ersten Augenblick
meinen Namen zu hören gemeint - so sehr war solche Erwartung in mir
gespannt! Überhören und Falschhören - beides erfolgt aus dem gleichen in
einem selbst antreffbaren Grunde. Nur der überhört oder hört falsch, der
sich selbst ständig zuhört, dessen Ohr gleichsam so erflillt ist von dem
Zuspruch, den er sich selbst ständig zuspricht, indem er seine Antriebe und
Interessen verfolgt, daß er den anderen nicht zu hören vermag. Das ist, wie
ich betone, in allen denkbaren Abstufungen unser aller Wesenszug. Trotz-
dem immer wieder zum Gespräch fahig zu werden, d. h. auf den andern zu
hören, scheint mir die eigentliche Erhebung des Menschen zur Hutnanität.
Nun mag es freilich auch den objektiven Grund geben, daß die Sprache als
eine gemeinsame zwischen den Menschen mehr und mehr zerfallt, je mehr
wir uns in die Monologsituation der wissenschaftlichen Zivilisation unserer
Tage eingewöhnt haben und an die Informationstechnik anonymer Art, der
man da ausgeliefert ist. Man denke etwa an das Tischgespräch und die
extreme Form seiner Abtötung, die in gewissen Luxuswohnungen bemitlei-
denswert reicher Amerikaner durch technischen Komfort und seine sinnlose
Verwendung erreicht sein soll. Da soll es Speisezimmer geben, die so einge-
richtet sind, daß jeder Tischgenosse im Aufblicken von seinem Teller be-
quem in einen eigens ftir ihn angebrachten Fernsehapparat schaut. Mankann
Die Unfahigkeit zum Gespräch 215

sich einen Fortschritt der Technik ausmalen, der noch viel weiter geht und
bei dem man sozusagen eine Brille aufhat, durch die man nicht mehr
hindurchsieht, sondern Fernsehen sicht, etwa wie man manchmaljemanden
durch den Odenwald wandern und dabei den wohlvertrauten Klängen und
Schlagern lauschen sicht, die er in einem Transistorgerät mit sich spazieren
trägt. Das Beispiel soll nur sagen, daß es objektive gesellschaftliche Umstän-
de gibt, durch die man das Sprechen verlernen kann, das Sprechen nämlich,
das Zu-jemandem-Sprechen ist und Auf-jemanden-Antworten ist und das
wir ein Gespräch nennen.
Indessen mag das Extrem auch hier wieder das Mittlere deutlich machen.
Es ist nämlich zu beachten, daß die Verständigung zwischen Menschen
ebensosehr eine gemeinsame Sprache schafft wie auch umgekehrt voraus-
setzt. Entfremdung zwischen Menschen zeigt sich darin, daß sie nicht mehr
dieselbe Sprache sprechen (wie man sagt), und Annäherung darin, daß man
eine gemeinsame Sprache findet. Es ist wahr: Verständigung wird schwer,
wo die gemeinsame Sprache fehlt. Verständigung \\7ird aber auch schön, wo
eine gemeinsame Sprache gesucht und am Ende gefunden wird. Wir kennen
es am extremen Fall des stammelnden Gesprächs zwischen Menschen ver-
schiedener Muttersprache, die nur Brocken von der Sprache des anderen
kennen, aber sich gedrängt ftihlen, einander et\vas zu sagen. Wie sich da
Verstehen und am Ende gar Einverständnis im praktischen Umgang oder
auch im persönlichen oder theoretischen Gespräch am Ende doch erreichen
lassen, mag ein Symbol dafUr sein, daß auch, wo die Sprache zu fehlen
scheint, Verständigung gelingen kann, durch Geduld, durch FeinfUhligkeit,
durch Sympathie und Toleranz und durch das unbedingte Vertrauen auf die
Vernunft, die unser aller Teil ist, Wir erleben es ja beständig, daß auch
zwischen Menschen verschiedenen Temperamentes, verschiedener politi-
scher Ansichten Gespräch möglich ist. ,Unfahigkeit zum Gespräch< scheint
mir mehr der Vorwurf, den einer gegen den erhebt, der seinen Gedanken
nicht folgen will, als der Mangel, den der andere wirklich besitzt,
IV. Weiterentwicklungen
17. Die Universalität des hermeneutischen Problems
1966

Warum hat in der heutigen philosophischen Diskussion das Problem der


Sprache eine ähnlich zentrale Stellung erworben wie vor etwa 150 Jahren der
Begriff des Denkens oder des sich selber denkenden Denkens? Ich möchte
mit dieser Frage indirekt auf die Frage eine Antwort geben, die wir als die
zentrale Frage der Neuzeit, wie sie uns durch die Existenz der modernen
Wissenschaft aufgegeben ist, bezeichnen müssen. Ich meine die Frage, wie
sich unser natürliches Weltbild. die Wclterfahrung, die wir als Menschen
haben, sofern wir unsere Lebensgeschichte und unser Lebensschicksal
durchleben, zu jener unangreifbaren und anonymen Autorität verhält, wel-
che die Stimme der Wissenschaft darstellt. Seit dem 17. Jahrhundert ist das
die eigentliche Aufgabe der Philosophie geworden, diesen neuen Einsatz des
menschlichen Wissen-Könnens und Machen-Könnens mit dem Ganzen un-
serer menschlichen Lebenserfahrung zu vermitteln. Das spricht sich in vie-
lem aus und umfaßt auch noch den Versuch, den die heutige Generation zu
machen unternimmt, wenn sie das Thema der Sprache, die Grundvollzugs-
weise unseres In-der-Welt-Seins, als die alles umgreifende Form der Welt-
konstitution in den Mittelpunkt der Philosophie rückt. Wir haben dabei
immer die in den sprachlosen Zeichen erstarrende Aussage der Wissenschaf-
ten im Auge und die Aufgabe der Rückbindung der durch sie verfügbar
gemachten und in unsere Willkür gestellten gegenständlichen Welt, die wir
Technik nennen, an die unwillkürlichen und nicht mehr von uns zu machen-
den, sondern zu ehrenden Grundordnungen unseres Seins.
Ich will ein paar schlichte Dinge explizieren, an denen sich die Universali-
tät dieses Gesichtspunktes, den ich unter Anknüpfung an eine von Heideg-
ger in seiner Frühzeit entwickelte Sprechweise und damit in FortfUhrung
einer aus der protestantischen Theologie ursprünglich stammenden und
durch Dilthey in unser Jahrhundert überlieferten Perspektive ,hermeneu-
tisch< genannt habe.
Was ist Hermeneutik? Ich möchte ausgehen von zwei Entfremdungser-
fahrungen, die uns in dem Bereiche der uns angehenden Bedeutsamkciten
unseres Daseins begegnen. Ich meine die Entfremdungserfahrung des ästhe-
tischen Bewußtseins und die Entfremdungserfahrung des historischen Be-
220 Weitercnrwicklungen

wußtseins. Was ich damit sagen will, läßt sich in beiden Fällen mit wenigen
Worten angeben: Das ästhetische Bc\vußtsein realisiert die Möglichkeit, die
wir als solche \"leder ableugnen noch in ihrem Werte mindern können, daß
Inan sich zur Qualität eines künstcrlischen Gebildes kritisch oder affirmativ
verhält; das heißt aber so, daß das Urteil, das wir selber haben, über die
Aussagekraft und die Geltung dessen, was wir so beurteilen, letzten Endes
entscheidet. Das, was wir verwerfen, hat uns nichts zu sagen oder wir
verwerfen es, \\'cil es uns nichts zu sagen hat. Das charakterisiert unser
Verhä1tnis zur Kunst im großen Sinne des Wortes, die ja bekanntlich, wie
Hegel gezeigt hat, auch noch die ganze griechisch-heidnische religiöse Welt
mit umfaßt, als Kunst-Religion, als die Weise, das Göttliche zu erfahren in
der bildnerischen Antwort des Menschen. Wenn nun diese ganze Erfah-
rungswe1t sich zum Gegenstand ästhetischer Beurteilung verfremdet, dann
verliert sie offenbar ihre ursprüngliche und fraglose Autorität. Indessen, wir
müssen uns eingestehen, daß uns die Welt der künsterlischen Überlieferung,
die großartige Gleichzeitigkeit, die uns die Kunst mit so vielen menschlichen
Welten verschafft, mehr ist als ein bloßer Gegenstand unseres freien Anneh-
mens und Verwerfens. Ist es nicht in Wahrheit so, daß das, was uns als
Kunst\verk ergriffen hat, uns gar nicht mehr die Freiheit läßt, es noch einmal
von uns wegzuschieben und von uns aus anzunehmen oder zu verwerfen?
Und stimmt es nicht obendrein, daß diese Gebilde der menschlichen Kunst-
fertigkeit, wie sie durch diejahrtausende gehen, ganz gewiß nicht rur solches
ästhetische Annehmen oder Verwerfen gebildet worden sind? Kein Künstler
der religiös gebundenen Kulturen der Vergangenheit hat je sein Kunstwerk
in einer anderen Absicht aufgestellt als in der, daß das, was er da geschaffen
hat, in dem, was es sagt und darstellt, angenommen wird und in die Welt
hineingehört, in der die Menschen miteinander leben. Das Bewußtsein von
Kunst, das ästhetische Bewußtsein, ist immer ein sekundäres Bewußtsein.
Es ist sekundär gegenüber den1 unmittelbaren Wahrheitsanspruch, der von
dem Kunst"verk ausgeht. Insofern ist es eine Verfremdung von etwas, was
uns in Wahrheit viel innerlicher vertraut ist, wenn wir etwas auf seine
ästhetische Qualität hin beurteilen. Solche Verfremdung zum ästhetischen
Urteil greift immer dort Platz, wo einer sich entzogen hat, \VO einer dem
unmittelbaren Anspruch dessen, was ihn ergreift, sich nicht stellt. Deswe-
gen war einer der Ausgangspunkte meiner Überlegungen eben dieser, daß
die ästhetische Souveränität, die sich im Bereiche der Erfahrung der Kunst
geltend macht, gegenüber der eigentlichen Erfahrungswirklichkeit, die uns
in der Gestalt der künstlerischen Aussage begegnet, eine Verfremdung dar-
stellt. '

1 [Vgl. dazu bereits 1958 ,Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins( und meine

anderen Arbeiten in Ges. Werke Bd. 8J


Die Universalität des hcrmeneutischen Problems 221
Vor etwa 30 Jahren wurde das hier liegende Problem auf entstellte Weise
bewußt, als die nationalsozialistische Kunstpolitik auf dem Wege und Zu
dem Zwecke ihrer eigenen politischen Ziele den Formalismus einer reinen
ästhetischen Kultur durch ihre Rede von der volksverbundenen Kunst zu
kritisieren versuchte, eine Redeweise, der man bei allem Mißbrauch, der
diese Parole mit sieh fUhrte, doeh nieht absprechen kann, daß sie auf etwas
Wirkliches hinweist. Jedem echten künsterlischen Schaffen ist seine Ge-
meinde zugeordnet, und eine solche ist immer etwas anderes als die Bil-
dungs gesellschaft, die von der Kunstkritik informiert und terrorisiert wird.
Die zweite Weise von Entfremdungserfahrung ist das, was man das histo-
rische Bewußtsein nennt, jene langsam sich ausbildende großartige Kunst
des Sich-selber-gegenüber-kritisch-Werdens in der Aufnahme der Zeugnis-
se vergangenen Lebens. Die bekannte Rankesche Formulierung von der
Auslöschung der Individualität hat in eine populäre Formel gekleidet, was
Ethos des historischen Denkens ist: daß das historische Bewußtsein sich die
Aufgabe stellt, alle Zeugnisse einer Zeit aus dem Geiste dieser Zeit zu
verstehen, sie wegzurücken VOn den uns einnehmenden Aktualitäten unse-
res gegenwärtigen Lebens und ohne moralische Besserwisserei die Vergan-
genheit zu erkennen, wie auch sie eine menschliche war. 2 Nietzsches be-
kannte Abhandlung ,Über Nutzen und Nachteil der Historie fUr das leben,
hat den Widerspruch zwischen einer solchen historischen Distanzierung und
dem unmittelbaren Formungswillen, der immer der Gegenwart eignet,
formuliert. Zugleich hat er manche der Folgen dieses, wie er es nannte,
alexandrinerhaften, geschwächten Formwillens des Lebens, der sich als die
moderne historische Wissenschaft darstellt, aufgezeigt. Ich erinnere an seine
Anklage der Wertungsschwäche, die den modernen Geist befallen hat, weil
er sich so sehr gewöhnt habe, in immer wieder anderes und wechselndes
Licht zu treten, so daß er geblendet sei und zu einer eigenen Wertung dessen,
was sich ihm zeigt, zu einer Standortbestimmung gegenüber dem, was ihm
gegenübertritt, nicht mehr fahig ist; die Wertblindheit des historischen
Objektivismus wird hier zurückgefUhrt auf den Konflikt zwischen der
verfremdeten geschichtlichen Welt und den lebenskräften der Gegenwart.
Nietzsche ist gewiß ein ekstatischer Zeuge, aber daß es mit dem histori-
schen Bewußtsein und seinem Anspruch auf historische Objektivität eigene
Schwierigkeiten hat, das hat die geschichtliche Erfahrung, dic wir mit
diesem historischen Bewußtsein in den letzten hundert Jahren gemacht
haben, eindrucksvoll gelehrt. Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten

2 rVgL O. Vossler, Rankes historisches Problem. Einleitung zu: L. Ranke, Französische

Geschichte - vornehmlich im XVI. und XVII. Jahrhundert, Leipzig 1943, auch in: O.
Vossler, Geist und Geschichte - Gesammelte Aufsätze, München 1964, S. 184-214.]
222 Weiterentwicklungen

unserer wissenschaftlichen Erfahrung, daß wir die Meisterwerke histori-


scher Forschung, in denen Rankes Forderung der Selbstauslöschung des
Individualismus zu einer Art Vollendung gebracht scheint, dennoch mit
unfehlbarer Sicherheit den politischen Tendenzen ihrer eigenen Gegenwart
zuordnen können. Wir wissen, wenn wir Mommsens römische Geschichte
lesen, wer das nur geschrieben haben kann, d. h. in welcher politischen
Situation der eigenen Zeit dieser Historiker die Stimmen der Vergangenheit
zu einer sinnvollen Aussage zusammengeordnet hat. Wir wissen es ebenso
von Treitschke oder von Sybel, um nur ein paar recht markante Beispiele aus
der preußischen Historiographie zu wählen. Das will zunächst nur heißen:
offenbar ist es nicht die ganze Wirklichkeit der geschichtlichen Erfahrung,
die in der Selbstauffassung der historischen Methode zur Sprache kommt.
Es ist unbestreitbar ein berechtigtes Ziel, die Vorurteile der eigenen Gegen-
wart so sehr unter Kontrolle zu nehmen, daß man die Zeugnisse der Vergan-
genheit nicht mißversteht. Aber es ist offenbar nicht die ganze Aufgabe des
Verstehens der Vergangenheit und ihrer Überlieferung, die sich darin voll-
endet. Ja, es könnte sein, - und diesem Gedanken nachzugehen, ist in der Tat
eine der ersten Aufgaben, die sich bei der kritischen Prüfung der Selbstauf-
fassung der historischen Wissenschaft stellen - daß nur die belanglosen Dinge
in der historischen Forschung diesem Ideal einer totalen Auslöschung der
Individualität nahezukommen erlauben, während die großen produktiven
Forschungsleistungen stets etwas von dem glanzvollen Zauber einer unmit-
telbaren Spiegelung von Gegenwart in Vergangenheit und Vergangenheit in
Gegenwart bewahren. Auch diese zweite Erfahrung, von der ich ausgehe,
die historische Wissenschaft, bringt nur einen Teil dessen zur Sprache, was
unsere wahrhafte Erfahrung, d. h. was die Begegnung mit der geschichtli-
chen Überlieferung ftir uns ist, und kennt sie nur in einer entfremdeten
Gestalt.
Wenn ich nun das hermeneutische Bewußtsein als eine umfassendere
Möglichkeit, die es zu entwickeln gilt, dem gegenüberstelle, so gilt es auch
da, zunächst die wissenschaftstheoretische Verkürzung zu überwinden, mit
der das, was man traditionellerweise )Wissenschaft der Hermeneutik ( nennt,
in die moderne Wissenschaftsidee eingegliedert worden ist. Wenn wir uns
der Schleiermachersehen Hermeneutik zuwenden, in der Schleiermacher die
Stimme der historischen Romantik geftihrt hat und zugleich das Anliegen
des christlichen Theologen dabei wachsam im Auge behielt, sofern seine
Hermeneutik als eine allgemeine Kunstlehre des Verstehens der Sonderauf-
gabe der Auslegung der Heiligen Schrift zugute kommen sollte, so zeigt sich
seine Perspektive fur diese hermeneutische Disziplin durch den modernen
Wissenschaftsgedanken eigentümlich beschränkt. Schleiermacher definiert
die Hermeneutik als die Kunst, Mißverstand zu vermeiden. Sicherlich ist das
keine ganz verkehrte Beschreibung der hermeneutischen Bemühung. Das
Die Universalität des hermeneutischen Problems 223
Fremde verfuhrt leicht zu Mißverstand, der durch den Zeitenabstand, die
Veränderung von Sprachgewohnheiten, den Wandel von Wortbedeutungen
und von Vorstellungsweisen uns nahegclegt ist. Es gilt, Mißverstehen durch
kontrollierte methodische Besinnung auszuschalten. Nur ist auch hier die
Frage: Ist das Phänomen des Verstehens angemessen definiert, wenn ich
sage: Verstehen heißt, Mißverstehen vermeiden? Liegt nicht in Wahrheit
allem Mißverstehen etwas wie ein )tragendes Einverständnis< voraus?
Es ist ein Stück Lebenserfahrung, das ich hier zu evozieren suche. Wir
sagen etwa: Verstehen und Mißverstehen spielt zwischen Ich und Du. Schon
die Formulierung )lch und Du< bezeugt aber eine ungeheure Verfremdung.
So etwas gibt esja gar nicht. Es gibt weder)das< Ichnoch )das< Du, es gibt ein
Du-Sagen eines Ich und es gibt ein Ich-Sagen gegenüber einem Du; aber das
sind Situationen, denen immer schon Verständigung vorhergeht. Zujeman-
dem Du-Sagen - wir wissen es alle - setzt ein tiefes Einverständnis voraus.
Da trägt schon etwas, was dauerhaft ist. Auch bei dem Versuch, uns über
eine Sache zu verständigen, in der wir verschiedener Meinung sind, ist das
immer mit im Spiele, selbst, wenn wir dieses Tragenden uns nur selten
bewußt werden. Nun will uns die Wissenschaft der Hermeneutik glauben
machen, der Text, den wir zu verstehen haben, sei etwas Fremdes, das uns
zum Mißverständnis zu verfUhren suche, und es komme darauf an, durch ein
kontrolliertes Verfahren historischer Erziehung, durch historische Kritik
und kontrollierbare Methode im Bunde mit psychologischer Einftihlungs-
kraft alle die Momente auszuschalten, durch die ein Mißverstehen sich
einschleichen kann. Das ist, wie mir scheint, eine in einem Teilaspekt gülti-
ge, aber doch sehr teilhafte Beschreibung eines umfassenden Lebensphäno-
mens, das das Wir-Sein, das wir alle sind, konstituiert. Es scheint mir die
Aufgabe, über die Vorurteile, die dem ästhetischen Bewußtsein, dem histo-
rischen Bewußtsein und dem zu einer Technik des Vermeidens von Mißver-
ständnissen restringierten hermeneutischen Bewußtsein zugrunde liegen,
hinauszukommen und die in ihnen gelegenen Verfremdungen zu über-
winden.
Was ist es denn, was uns in diesen drei Erfahrungen als das Ausgelassene
erschien, und warum ihre Partikularität uns so fuhlbar wird? Was ist das
ästhetische Bewußtsein angesichts der Fülle dessen, was uns immer schon
angesprochen hat und was wir in der Kunst ~klassisch< nennen?3 Ist nicht auf
diese Weise immer schon bestimmt, was rur uns sprechend wird und was wir
bedeutsam finden? All das, wovon wir mit einer instinktiven - wenn auch

3 [Es ist ein Mißverständnis, meine Ausftihrungen in W u M, Ges. Werke Bd. 1,

S.290f. über )Das Beispiel des Klassischen< als Bekenntnis zu einem platonisierenden
klassizistischen Stilideal zu sehen (H. R. Jauss, Ästhetische Erfahrung und literarische
Hermeneutik, Frankfurt 1979) und nicht als Herausarbeitung einer geschichtlichen Kate-
gorie.]
224 Weiterentwicklungen

viclleicht irrigen - Sicherheit, aber Hir unser Bewußtsein zunächst gültig,


sagen; »das ist klassisch, das wird bleiben«, hat doch schon unsere Möglich-
keit, etwas ästhetisch zu beurteilen, vorgeformt. Es ist nicht so, daß es rein
formale Kriterien wären, welche das Gestaltungsniveau oder den For-
mungsgrad beliebig auf seine artistische Virtuosität hin zu beurteilen und
gutzuheißen beanspruchten. Wir stehen vielmehr mitten in einem durch die
Stimmen, die uns ständig erreichen, beschickten ästhetischen Resonanz-
raum unserer sensitiv-geistigen Existenz, - und das liegt aller ausdrückli-
chen ästhetischen Beurteilung voraus.
Ähnlich steht es mit dem historischen Bewußtsein. Auch da werden wir
gewiß zugeben, daß es unzählige Aufgaben historischer Forschung gibt, die
keinen Bezug zu unserer eigenen Gegenwart und ihrer geschichtlichen Be-
wußtseinstiefe haben. Wohl aber scheint es mir kein Zweifel, daß sich der
große Vergangenheitshorizont, aus dem heraus unsere Kultur und unsere
Gegenwart leben, bei al1em als wirksam erweist, was wir in die Zukunft
hinein wollen, hoffen oder fUrchten. Die Geschichte ist mit da und ist selbst
nur da im Lichte dieser unserer Zukünftigkeit. Hier haben wir alle durch
Heidegger gelernt, der gerade den Primat der Zukünftigkeit fUr das mögli-
che Erinnern und Behalten und damit rur das Ganze unserer Geschichte
gezeigt hat.
Das wirkt sich in dem, was Heidegger über die Produktivität des herme-
neutischen Zirkels gelehrt hat, aus, und ich habe dem die Formulierung
gegeben, daß nicht so sehr unsere Urteile als unsere Vorurteile unser Seill
ausmachen. 4 Das ist eine provokatorische Formulierung, sofern ich damit
einen positiven Begriff des Vorurteils, der durch die französische und engli-
sche Aufklärung aus dem Sprachgebrauch verdrängt worden ist, wieder in
sein Recht einsetze. Es läßt sich nämlich zeigen, daß der Begriff des Vorur-
teils ursprünglich durchaus nicht allein den Sinn hat, den wir damit verbin-
den. Vorurteile sind nicht notwendig unberechtigt und irrig, so daß sie die
Wahrheit verstellen. In Wahrheit liegt es in der Geschichtlichkeit unserer
Existenz, daß die Vorurteile im wörtlichen Sinne des Wortes die vor gängige
Gerichtetheit a11 unseres Erfahren-Könnens ausInachen. Sie sind Vorcinge-
nommenheiten unserer Wcltoffenheit, die geradezu Bedingungen dafür
sind, daß wir etwas erfahren, daß uns das, \\'as uns begegnet, etwas sagt.
Gc\viß heißt das nicht, daß wir, durch eine Mauer von Vorurteilen eingefrie-
det, nur das durch die enge Pforte lassen, was seinen Paß vorweisen kann,
auf dem steht: hier wird nichts Neues gesagt. Gerade der Gast ist uns
willkommen, der unserer Neugier Neues verheißt. Aber woher erkennnen
wir den Gast, der zu uns eingelassen wird, als einen, der uns etwas l\Teues zu

4 [Vgl. W uM, Ces. Werke Bd. 1, S.278ff. und >Vom Zirkel des Verstchens(, oben

S. 57ff. J
Die Universalität des hermeneutischen Problems 22S
sagen hat?5 Bestimmt sich nicht auch unsere Envartung und unsere Bereit-
schaft, das /'okue zu hören, notwendig von dem Alten her, das uns schon
eingenommen hat? Das Bild soll eine Art Legitimation dafür geben, warum
der Begriff des Vorurteils, der mit dem Begriff der Autorität in einem tiefen
inneren Zusammenhang steht, einer hermeneutischen Rehabilitierung be-
darf. Wie jedes Bild ist auch dieses schief. Die hermeneutische Erfahrung ist
nicht von der Art, daß etwas draußen ist und Einlaß begehrt: Wir sind
vielmehr von etwas eingenommen und gerade durch das, was uns ein-
nimmt, aufgeschlossen fUr Neues, Anderes, Wahres. Es ist, wie Plato es mit
dem schönen Vergleich zwischen den leiblichen Speisen und der geistigen
Nahrung klar macht: während man jene zurückweisen kann, z. B. auf Anra-
ten des Arztes, hat man diese immer schon in sich aufgenommen. 6
Nun fragt es sich freilich, wie sich die hermeneutische Bedingtheit unseres
Seins gegenüber der Existenz der modernen Wissenschaft legitimieren soll,
die doch mit dem Prinzip der Unvoreingenommenheit und Vorurteilslosig-
keit steht und fallt. Es wird sicherlich nicht damit getan sein - ganz abgese-
hen davon, daß solche Deklamationen immer etwas Lächerliches haben-,
daß man der Wissenschaft Vorschriften macht und ihr empfiehlt, sich zu
mäßigen. Den Gefallen wird sie uns nicht tun. Sie wird mit einer nicht in
ihrem Belieben liegenden inneren Notwendigkeit ihre Wege weitergehen
und immer mehr an Erkenntnisse und Machbarkciten heranführen, bei
denen uns der Atem stockt. Sie wird nicht anders können. Es ist sinnlos,
etwa einem Forscher auf dem Gebiete der Erbgenetik wegen der drohenden
Züchtung des Übermenschen in den Arm zu fallen. So kann das Problem
nicht aussehen, daß sich unser menschliches Bewußtsein in einen Gegensatz
zum wissenschaftlichen Gang der Dinge stellt und sich herausnimmt, hier
eine Art von Gegen-Wissenschaft aufzubauen. Trotzdem ist der Frage nicht
auszuweichen, ob nicht das, was ""vir an scheinbar so harmlosen Gegenstän-
den wie dem ästhetischen Bewußtsein und dem historischen Bewußtsein
gewahren, eine Problematik darstellt, die erst recht unserer modernen Na-
turwissenschaft und unserem technischen Wcltverhalten einwohnt. Wenn
wir auf der Grundlage der modernen Wissenschaft die neue technische
Zweckwelt errichten, die alles um uns herum verändert, so unterstellen wir
nicht, daß der Forscher, der die dafUr entscheidenden Erkenntnisse gewon-
nen hat, auch nur mit einem Blick auf solche technischen Verwertbarkeiten
geblickt hat. Es ist echter Erkenntniswille und nichts sonst, was den wahren
Forscher befeuert. Und trotzdem ist die Frage zu stellen, ob sich nicht auch
gegenüber dem Ganzen unserer modernen wissenschaftlich fundierten Zivi-

, [Zum Begriff des ,Neuen( vgI. ,Das Alte und das Neut;'(, Rede zur Eröffnung der
Salzburger Festspiele 1981 (Ces. Werke Bd. 4)]
6 [Prot.314al
226 Weiterentwicklungen

lisation wiederholt, daß hier etwas ausgelassen ist - und ob nicht, wenn
Voraussetzungen, unter denen diese Erkenntnis-Möglichkeiten und Ma-
chens-Möglichkeiten stehen, im Halbdunkel bleiben, eben das zur Folge
haben kann, daß die Hand, die diese Erkenntnisse anwendet, zerstörerisch
wird. 7
Das Problem ist wirklich universell. Die hermeneutische Frage, wie ich sie
charakterisierte, ist durchaus nicht beschränkt auf die Gebiete, von denen ich
bei meinen eigenen Untersuchungen ausgegangen bin. Es ging nur darum,
erst einmal eine theoretische Basis zu befestigen, die auch das Grundfaktum
unserer gegenwärtigen Kultur, die Wissenschaft und ihre industrielle techni-
sche Verwertung, zu tragen vermag. Ein nützliches Beispiel daftir, wie die
hermeneutische Dimension das gesamte Verfahren der Wissenschaft um-
faßt, ist die Statistik. Sie lehrt als Extrembeispiel, daß Wissenschaft stets
unter bestimmten methodischen Abstraktionsbedingungen stelit und daß
die Erfolge der modemen Wissenschaften daraufberuhcn, daß andere Frage-
möglichkeiten durch Abstraktion abgedeckt werden. An der Statistik
kommt das liandgreiflich heraus, weil sie sich durch die Vorgreiflichkeit der
Fragen, die sie beantwortet, so sehr zu Propagandazwecken eignet. Was
Propagandaeffekt machen soll, muß ja immer das Urteil des Angesproche-
nen vorgängig zu beeinflussen und seine Urteilsmöglichkeit einzuschränken
suchen. Was da festgestellt wird, sieht so aus wie die Sprache der Tatsachen;
aber auf welche Fragen diese Tatsachen eine Antwort geben und welche
Tatsachen zu reden begönnen, wenn andere Fragen gestellt würden, das ist
eine hermeneutische Fragestellung. Sie würde erst die Bedeutung dieser
Tatsachen und damit die Folgerungen, die aus dem Bestehen dieser Tatsa-
chen sich ergeben, legitimieren.
Icli greife damit vor und liabe unwillkürlich die Wendung gebraucht,
welche Antworten auf welche Fragen eigentlich in den Tatsachen stecken,
Das ist in der Tat das hermeneutisclie Urphänomen, daß es keine mögliche
Aussage gibt, die nicht als Antwort auf eine Frage verstanden werden kann,
und daß sie nur so verstanden werden kann. Das beeinträchtigt die großarti-
ge Methodik der modernen Wissenschaft nicht im geringsten. Wer eine
Wissenschaft lernen will, muß ihre Methodik belierrschen lernen. Wir wis-
sen aber auch, daß Methodik als solche überhaupt noch nicht ftir die Produk-
tivität ihrer Anwendung garantiert. Es gibt vielmehr (das ist etwas, was
eines jeden Lebenserfahrung zu bestätigen vermag) die methodisclie Sterili-
tät, d. h. die Anwendung der Methodik auf etwas Nicht-Wissenswürdiges,
auf etwas, was gar nicht aus einer echten Fragestellung heraus zum Gegen-
stand von Forschung gemacht wird.

7 [Das inzwischen viel diskutierte Problem der Verantwortlichkeit der Wissenschaft ist

in meinen Augen ein moralisches Problem. J


Die Universalität des hermeneutischen Problems 227
Das methodische Selbstbewußtsein der modernen Wissenschaft freilich
steht dem entgegen. So wird einem etwa der Historiker entgegenhalten, das
sei ja alles sehr schön mit dieser geschichtlichen Überlieferung, in der allein
die Stimmen der Vergangenheit Bedeutung gewönnen und durch die die
Vorurteile, die die Gegenwart bestimmen, inspiriert seien. Aber es sei doch
ganz anders, wo es sich ernsthaft um historische Forschung handele. Wie
könne man im Ernste meinen, daß z. B. die Aufklärung der Steuergewohn-
heiten der Städte im 15. Jahrhundert oder der Ehesitten der Eskimos irgend-
wie von dem Gegenwarts-Bewußtsein und seinen Antizipationen ihre Be-
deutung erst verliehen bekäme. Das seien doch Fragen der historischen
Erkenntnis, die man ganz unabhängig von jedem Gegenwarrsbezug als
Aufgaben ergreife.
Auf diesen Einwand ist zu antworten, daß das Extrem dieses Standpunk-
tes dem ähneln würde, was es in gewissen großindustriellen Forschungsein-
richtungen gibt, so vor allem in Amerika und in Rußland, ich meine den
sogenannten Seriengroßversuch, in dem man die Materien, mit denen man
zu tun hat, ohne Rücksicht auf Verluste und Kosten einfach durchmißt - mit
der Chance, daß schließlich einmal unter Tausenden von Messungen eine
Messung einen interessanten Befund ergibt, d. h. sich als Antwort auf eine
Frage erweist, von der aus man weiterkommt. Kein Zweifel, daß die moder-
ne Forschung auch in den Geisteswissenschaften in gewissem Umfange so
arbeitet. Man denke etwa an die großen Editionen und insbesondere an die
immer perfekteren Indices. Ob freilich die moderne liistorische Forschung
bei solchen Verfahren die Chance vergrößert, die interessante Tatsache
wirklich zu bemerken und aus ihr dann die entsprechende Bereicherung
unserer Erkenntnis zu gewinnen, muß offenbleiben. Aber selbst wenn es so
wäre, dürfte man fragen: ist das ein Ideal, daß von tausend Historikern
ungezählte Forschungsvorhaben, d. h. also Feststellung von Tatsachenzu-
sammenhängen, erarbeitet werden, damit der 1001. Historiker dabei etwas
bemerkt, was interessant ist? Gewiß zeichne ich damit eine Karikatur echter
Forschung. Aber wie in jeder Karikatur, ist auch in dieser Wahrheit. Sie
enthält eine indirekte Antwort auf die Frage: Was macht eigentlich den
produktiven Forscher? Daß er die Methoden gelernt hat? Das hat gerade
auch der, der nie etwas Neues herausbringt. Phantasie ist die entscheidende
Aufgabe rur den Forscher. Phantasie meint hier natürlich nicht ein vages
Vermögen, sich allerhand einzubilden, Phantasie steht vielmehr in herme-
neutischer Funktion und dient dem Sinn fUr das Fragwürdige, dem freile-
gen-Können von wirklichen, produktiven Fragen - was im allgemeinen nur
dem gelingt, der alle Methoden seiner Wissenschaft beherrscht.
Als Platoniker liebe ich die unvergeßlichen Szenen besonders, in denen
Sokrates mit den sophistischen Alles-Künstlern in Streit gerät und sie durch
seine Fragen zur Verzweiflung bringt, bis sie es schließlich nicht mehr
228 Weiterentwicklungen

aushalten können und ihrerseits die Rolle des Fragers beanspruchen, die so
erfolgreich scheint. Und was geschieht dann? Sie wissen nichts zu fragen. Es
fallt ihnen einfach nichts ein, was man in der Weise fragen kann, daß es lohnt,
darauf einzugehen und beharrlich eine Antwort zu geben.
Ich ziehe die Konsequenz. Das hermeneutische Bewußtsein, das ich an-
fangs nur von bestimmten Punkten aus bezeichnete, hat seine eigentliche
Wirksamkeit immer darin, daß man das Fragwürdige zu sehen vermag.
Wenn wir nun nicht nur die künstlerische Überlieferung der Völker, nicht
nur die historische Überlieferung, nicht nur das Prinzip der modernen
Wissenschaft in seinen hermeneutischen Vorbedingungen uns vor Augen
gestellt haben, sondern das Ganze unseres Erfahrungslebens, dann, meine
ich, gelangen wir dahin, an unsere eigene, allgemeine und menschliche
Lebenserfahrung auch die Erfahrung der Wissenschaft wieder anzuschlie-
ßen. Denn jetzt haben wir die Fundamentalschicht erreicht, die man (mit
Johannes LohmannH) die >sprach1iche Weltkonstitutionl nennen kann. Sie
stellt sich dar als das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein, das alle unsere
Erkenntnismöglichkeiten vorgängig schematisiert. Ich sehe davon ab, daß
der Forscher, auch der Naturforscher, von Mode und Gesellschaft und von
allen möglichen Faktoren seiner Umwelt vielleicht nicht ganz unabhängig
ist - "\.vas ich meine, ist, daß es innerhalb seiner wissenschaftlichen Erfahrung
nicht so sehr die )Gesetze des eisenharten Schließens< (Hclmholtz) als viel-
mehr unvorhcrsehbare Konstellationen sind, die ihm die fruchtbare Idee
eingeben, ob es nun Newtons fallender Apfel ist oder welche zufallige
Beobachtung immer, an der der Funke der wissenschaftlichen Inspiration
zündet.
Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein hat seinen Vollzug im Sprachli-
chen. Wir können von dem denkenden Sprachforscher lernen, daß die
Sprache in ihrem Leben und Geschehen nicht bloß als ein sich Veränderndes
gedacht werden muß, sondern daß darin eine Teleologie wirksam ist. Das
will sagen, daß die Worte, die sich bilden, die Ausdrucksmittel, die in einer
Sprache auftreten, um bestimmte Dinge zu sagen, sich nicht zufallig fixie-
ren, soweit sie nicht überhaupt wieder abkommen, sondern daß auf diese
Weise eine bestimmte Weltartikulation aufgebaut wird - ein Vorgang, der
wie gesteuert wirkt und den wir ja alle immer wieder bei dem sprechenler-
nenden Kind beobachten können. Ich berufe mich dafür auf eine Stelle des
Aristotclcs, die ich genaucr explizieren möchte, weil an ihr der Akt der
Sprach bildung von einer bestimmten Seite aus genial beschrieben ist. Es
handelt sich um das, was Aristoteles die Epagoge nennt, d. h. die Bildung des
Allgemeinen. Wie kommt es zum Allgemeinen? In der Philosophie sagt
~ ;Philosophie und Sprachwissenschaft<, veröffentlicht in der Reihe Erfahrung und
Denken, Scbriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzchvis-
senschaften, Nr. 15 (1965).
Die Universalität des hermeneutischen Problems 229
man: zum Allgemeinbegriff; aber auch Worte sind in diesem Sinne offen-
kundig Allgemeines. Wie kommt es dazu, daß sie )Worte< sind, d. h. eine
allgemeine Bedeutung haben? Da findet sich das sinnlich ausgestattete We-
sen bei seinen ersten Apperzeptionen in einem flutenden Reizmeer, und es
beginnt schließlich eines Tags etwas, wie wir sagen, zu erkennen. Offenbar
wollen wir damit nicht sagen, daß es vorher blind war -, sondern wir
meinen, wenn \vir sagen >erkennen< -, >wiedererkennen<, d. h. etwas als
dasselbe herauserkennen aus dem Strom vorbeiflutender Bilder. Dieses so
Herauserkannte wird otTenbar fest gehalten. Aber wie eigentlich? Wann
erkennt ein Kind zum ersten Male seine Mutter? Dann, wenn es sie zum
ersten Mal gesehen hat? Nein. Ja wann eigentlich' Wie geschieht denn das?
Können wir überhaupt sagen, daß das ein einmaliges Ereignis ist, in dem ein
erstes Erkennen das Kind aus dem Dunkel des Unwissens herausreißt? Es
scheint mir offenkundig, daß es so nicht ist. Aristoteles hat es wunderbar
beschrieben. Er sagt, es ist so, wie wenn ein Heer auf der Flucht ist, panisch
gejagt von Angst, und schließlich fangt einer an stehenzubleiben und sich
umzusehen, ob eigentlich der Feind so gefahrlich nahe ist. Das Heer bleibt
nicht dadurch stehen, daß einer stehenbleibt. Es bleibt dann ein Zweiter
stehen. Das Heer bleibt nicht dadurch stehen, daß zwei stehenbleiben. Wann
bleibt dann eigentlich das Heer stehen? Plötzlich steht es wieder. Plötzlich
gehorcht es \vieder dem Kommando. Bei dem, \vas Aristotcles hier be-
schreibt, ist noch ein sehr feiner sprachlicher Scherz dabei. Komnlando heißt
nämlich auf griechisch Arche, d. h. Principium. Wann ist das Prinzip als
Prinzip da? Durch welches Vermägen? - Das ist in der Tat die Frage nach
dem Zustandekommen des Allgemeinen. 9
Genau die gleiche Teleologie ist es, wenn ich J oh. Lohmanns Darlegungen
nicht mißverstehe, die sich ständig im Leben der Sprache auswirkt. Wenn
Lohmann von den sprachlichen Tendenzen spricht, in denen sich als dem
eigentlichen Agens der Geschichte bestimmte Formen ausbreiten, so weiß er
natürlich, daß sich das in diesen Formen des - wie das deutsche Wort sagt-
Zustandekommens, des Zum-Stehen-Kommens vollzieht. Was sich dabei
zeigt, ist, wie ich meine, die eigentliche Vollzugs weise unserer menschlichen
Welterfahrung überhaupt. Das Sprechen-Lernen ist gewiß eine Phase beson-
derer Produktivität, und das Genie unserer Dreijährigkeit haben wir alle
inzwischen in ein karges und spärliches Talent umgewandelt. Aber im
Gebrauch der am Ende zustandegekommenen sprachlichen Weltauslegung
bleibt noch etwas von der Produktivität unserer Anfange lebendig. Wir
kennen das alle z. B. bei dem Versuch des Übersetzens, im Leben oder in der
Literatur oder wo immer, dieses seltsame, unruhige und quälende Geftihl,
solange man nicht das richtige Wort hat. Wenn man es hat, den rechten

9 [Vgl. Aristoteles, An. Post. B 19, 100a 3ff.]


230 Weiterenrnricklungcn

Ausdruck gefunden hat (es braucht nicht immer ein Wort zu sein), wenn es
einem gewiß ist, daß man es hat, dann )stcht{ es, dann ist etwas >zustande~
gekommen, dann haben wir wieder einen Halt inmitten der Flut des frem-
den Sprach geschehens, dessen unendliche Variation die Orientierung verlie-
ren läßt. Was ich so beschreibe, ist aber die Weise der menschlichen Wclter-
fahrung überhaupt. Ich nenne sie hermeneutisch. Denn der so beschriebene
Vorgang wiederholt sich ständig ins Vertraute hinein. Es ist stets eine sich
schon auslegende, schon in ihren Bezügen zusammengeordnete Welt, in die
Erfahrung eintritt als etwas Neues, das umstößt, was unsere Erwartungen
geleitet hatte, und das sich im Umstoßen selber neu einordnet. Nicht das
Mißverständnis und nicht die Fremdheit ist das Erste, so daß die Vermei-
dung des Mißverstandes die eindeutige Aufgabe wäre, sondern umgekehrt
ermöglicht erst das Getragensein durch das Vertraute und das Einverständ-
nis das Hinausgehen in das Fremde, das Aufnehmen aus dem Fremden und
damit die Erweiterung und Bereicherung unserer eigenen Welterfahrung.
So ist der Anspruch auf Universalität zu verstehen, der der hermeneuti-
schen Dimension zukommt. Verstehen ist sprachgebunden. Darin liegt
keineswegs eine Art Sprachrclativismus. Es ist zwar wahr: man lebt in einer
Sprache. Sprache ist nicht ein System von Signalen, die man, wenn man in
das Büro oder in die Sendestation tritt, mit Hilfe einer Tastatur losläßt. Das
ist kein Sprechen, denn es hat nicht die Unendlichkeit des sprachbildneri-
schen und weiterfahrenden Tuns. Aber obwohl man ganz in einer Sprache
lebt, ist das kein Relativismus, weil es durchaus kein Gebanntsein in eine
Sprache gibt- auch nicht in die eigene Muttersprache. Das erfahren wir alle,
wenn wir fremde Sprachen lernen, und besonders auf Reisen, sofern wir die
fremde Sprache einigermaßen beherrschen, und eben das heißt, daß wir
nicht immerfort mit dem Blick auf unsere Welt und ihr Vokabular innerlich
sozusagen nachschlagen, wenn wir uns in dem fremden Lande sprechend
bewegen. Je besser wir die Sprache können, desto weniger ist solch ein
Seitenblick auf die Muttersprache fuhlbar, und nur weil wir fremde Spra-
chen nie genug können, fühlen wir etwas davon immer. Aber es ist gleich-
wohl bereits ein Sprechen, wenn auch vielleicht ein stammelndes, das wie
alles echte Srammeln das Gestautsein eines Sagen-Wollens und daher ins
Unendliche der Aussprachemöglichkeit geöffnet ist. In dem Sinne ist jede
Sprache, in der ,"vir leben, unendlich, und es ist ganz verkehrt, zu schließen,
weil es die verschiedenartigen Sprachen gibt, gibt es eine in sich zerklüftete
Vernunft. Das Gegenteil ist wahr. Gerade auf dem Wege über die Endlich-
keit, die Partikularität unseres Seins, die auch an der Verschiedenheit der
Sprachen sichtbar wird, öffnet sich das unendliche Gespräch in Richtung auf
die Wahrheit, das wir sind.
Wenn das richtig ist, dann \vird sich vor allem auf der Ebene der Sprache
das eingangs geschilderte Verhältnis unserer modernen, durch die Wissen-
Die Universalität des hermeneutischen Problems 231

schaft begründeten Industrie- und Arbeitswelt spiegeln. Wir leben in einer


Epoche steigender Nivellierung aller Lebensformen, - das ist ein Gebot der
rationalen Notwendigkeit der Lebenserhaltung auf unserem Planeten. Das
Nahrungsproblem der Menschheit z. B. ist überhaupt nur zu bewältigen
durch die Preisgabe jener großartig schönen Verschwendung, mit der ehe-
dem die Erde bebaut wurde. Es ist unvermeidlich, daß sich die maschinelle
Industriewc1t auch innerhalb des Lebens des Einzelnen als eine Art techni-
scher Perfektions sphäre ausbreitet, und wenn wir moderne Liebespaare
miteinander reden hören, dann fragen wir uns schon manchmal, ob das
Worte sind, mit denen sie sich verständigen, oder Reklamemarken und
Fachausdrücke aus der Zeichensprache der modernen Industriewelt. Es kann
nicht ausbleiben, daß sich die nivellierten Lebensformen des Industriezeital-
ters auch auf die Sprache auswirken, \vie in der Tat die Verarmung des
Vokabulars der Sprache ungeheure Fortschritte macht und damit die Annä-
herung der Sprache an ein technisches Zeichensystem. Leute, die >trotz< mit
dem Dativ verbinden, wie ich das noch tue, werden bald eine Art Museums-
wert haben. Nivellierungstendenzen dieser Art sind unaufhaltsam. Und
trotzdem dauert immer noch und gleichzeitig der Aufbau der eigenen Welt
in der Sprache überall fort, wo wir einander etwas sagen wollen. Es ist die
eigentliche Zuordnung der Menschen zueinander, die sich damit ergibt, daß
jeder zunächst eine Art Sprachkreis ist, und daß sich diese Sprachkreise
berühren und mehr und mehr verschmelzen. Was so zustandekommt, ist
immer wieder die Sprache, in Vokabular und Grammatik wie eh undje, und
nie ohne die innere Unendlichkeit des Gespräches, das zwischen jedem
solchen Sprechenden und seinem Partner im Gange ist. Das ist die funda-
mentale Dimension des Hermeneutischen. Echtes Sprechen, das etwas zu
sagen hat und deswegen nicht vorgesehene Signale gibt, sondern Worte
sucht, durch die man den anderen erreicht, ist allgemeine menschliche
Aufgabe - es ist aber eine besondere Aufgabe ftir den, der schriftliche
Überlieferung zum Reden zu bringen sucht, z. B. ftir den Theologen, dem
das Weitersagen einer Botschaft aufgetragen ist, die geschrieben steht.
18. Rhetorik. Hermeneutik und Ideologiekritik
Metakritische Erörterungen zu >Wahrheit und Methode<

1967

Daß eine philosophische Hermeneutik die Aufgabe hat, die hermeneutische


Dimension in ihrer vollen Reichweite aufzuschließen, und ihre grundlegen-
de Bedeutung rur unser gesamtes Weltverständnis zu Geltung zu bringen, in
allen seinen Formen, von der zwischenmenschlichen Kommunikation bis
zur gesellschaftlichen Manipulation, von der Erfahrung des Einzelnen in der
Gesellschaft wie von der Erfahrung, die er an der Gesellschaft macht, von
der aus Religion und Recht, Kunst und Philosophie aufgebauten Tradition
bis zu der emanzipatorischen Reflexionsenergie des revolutionären Bewußt-
seins, schließt nicht aus, daß es begrenzte Erfahrungen und Erfahrungsfclder
sind, von denen der einzelne Forscher seinen Ausgang nimmt. Mein eigener
Versuch schloß sich insofern Diltheys philosophischer Weiterftihrung des
Erbes der deutschen Romantik an, als er die Theorie der Geisteswissenschaf-
ten zum Thema nahm, aber zugleich auf eine neue, um vieles verbreiterte
Grundlage stellte: Die Erfahrung der Kunst entgegnet ja der historischen
Verfremdung der Geisteswissenschaften mit dem siegreichen Anspruch auf
Gleichzeitigkeit, der ihr eignet. Daß damit hinter alle Wissenschaft zurück-
fragende und umgekehrt auf alle Wissenschaft vorgreifende Wahrheit anvi-
siert war, sollte an der essentiellen Sprachlichkeit aller menschlichen Welter-
fahrung heraustreten, deren Vollzugsweise beständig sich erneuernde
Gleichzeitigkeit ist. Indessen konnte es nicht ausbleiben, daß sich die Aus-
gangsphänomene auch bei der Analyse der universellen Sprachliehkeit des
menschlichen Welt verhaltens besonders vordrängten. Das entsprach der
wissenschaftsgeschichtlichen Herkunft des hermeneutischen Problems, das
sich an der schriftlichen Überlieferung, der durch die Fixierung, die Dauer-
haftigkeit, den Zcitcnabstand fremd gewordenen Überlieferung entzündet
hatte. So lag es nahe, das vielschichtige Problem der Übersetzung zum
Modell der Sprachlichkeit des menschlichen Weltverhaltens zu erheben und
an den Strukturen von Übersetzung das allgemeine Problem zu entwickeln,
wie Fremdes zu eigen wird.
Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik 233

Indessen, das >Sein zum Texte<lO erschöpft nicht die hermeneutische Di-
mension - es sei denn, daß >Text< über den engeren Sinn hinaus den Text
meint, den lGott mit eigener Hand geschrieben hat<, den fiber nawrae, und
der damit auch alle Wissenschaft, von der Physik bis zur Soziologie und
Anthropologie, umfaßt. Doch selbst dann ist mit dem Modell der Überset-
zung die Vielfalt dessen, was Sprache im Verhalten des Menschen bedeutet,
keineswegs erfaßt. Am Lesen dieses größten lBuches< wird zwar Spannung
und Lösung demonstrierbar, die Verstehen und Verständlichkeit - und
vielleicht auch Verstand- strukturieren, und insofern ist an der Universalität
des hermeneutischen Problems kein Zweifel möglich. Es ist kein sekundäres
Thema. Hermeneutik ist keine bloße Hilfsdisziplin der romantischen Gei-
steswissenschaften.
Indessen, das universale Phänomen der menschlichen Sprachlichkeit ent-
faltet sich auch in anderen Dimensionen. So reicht das hermeneutische
Thema noch in andere Zusammenhänge hinein, die die Sprachlichkeit der
menschlichen Welterfahrung bestimmen. Manches davon ist in )Wahrheit
und Methode< selber angeklungen. So war dort das wirkungsgeschichtliche
Bewußtsein als die bewußte ErheBung der menschlichen Sprachidee in
einigen Phasen seiner Geschichte dargestellt worden; es reicht aber, wie
Johannes Lohmann inzwischen in seinem Buch lPhilosophie und Sprachvvis-
senschaft(11 und in einer Diskussion meines eigenen Versuchs im Gnomon 12
gezeigt hat, noch in ganz andere Dimensionen. Lohmann verlängert die
>Prägung des Begriffs Sprache im Denken des Abendlandes<, die ich skizziert
hatte, im Riesenmaßstab der Sprachgeschichte zugleich nach rückwärts und
nach vorwärts. Nach rückwärts, indem er der »Heraufkunft des >Begriffes(
als des inteBektuellen Vehikels der aktueBen ,Subsumtion< gegebener Ge-
genstände unter eine gedachte Form« (714) nachgeht, im )stamm-flektieren-
den< Typus des Altindogermanischen die grammatische Form des Begriffs
erkennt, die in der Copula ihren sichtbarsten Ausdruck findet - auf diese
Weise leitet sich die Möglichkeit der Theorie als der eigensten Scliöpfung des
Abendlandes ab. Nach vorwärts, indem er wieder an der Entwicklung der
Sprachform die Denkgeschichte des Abendlandes, welche Wissenschaft im
modemen Sinne, als Verftigbarmaehung der Welt, möglich macht, durch
den Übergang vom stamm-flektierenden zum wort-flektierenden Sprach-
Typus deutet.
Wahrhaft universale Sprachlichkeit, die dem Hermeneutischen im ande-
ren Sinne wesenhaft voraus1iegt und fast so etwas wie das Positiv zu dem
Negativ der sprachlichen Auslegungskunst darstellt, bezeugt ferner die
10So O. Marquard auf dem Heidclberger Philosophiekongreß 1966.
11Erfahrung und Denken, Schriften zur Förderung der Beziehung zwischen Philo-
sophie und Einzelwissenschaften, Nr. 15 (1965).
" Bd. 37.1965,709-718.
234 Weiterentwicklungen

Rhetorik. Die Zusammenhänge zwischen Rhetorik und Hermeneutik, die


ich in meinenl Buche beachtet hatte, lassen sich vielfaltig erweitern, wie die
reichen Ergänzungen und Berichtigungen zeigen, die Klaus Dockhorn in
den Göttingischen Gelehrten-Anzeigen" beigesteuert hat. Sprachlichkeit
aber ist endlieh so tiefin die Sozialität des menschlichen Seins verwoben, daß
Recht und Grenze der hermeneutischen Fragestellung auch den Theoretiker
der Sozialwissenschaften beschäftigen müssen. So hat Jürgen Habcrmas 14
kürzlich zur Logik der Sozialwissenschaften auch die philosophische Her-
meneutik in Beziehung gesetzt und von den Erkenntnisinteressen der Sozial-
wissenschaften her ausgewertet.
Es erscheint geboten, die sich durchdringenden Universalitäten der Rhe-
torik, der Hermeneutik und der Soziologie in ihrer Interdependenz zum
Thema zu machen und die verschiedenartige Legitimität dieser Universali-
täten aufzuhellen. Das ist um so wichtiger, als ihnen allen - am sichtbarsten
den beiden ersten - eine gewisse, durch den Bezug auf Praxis mitbestimmte,
Zweideutigkeit ihres Wissenschaftsanspruchs zukommt.
Denn daß Rhetorik nicht eine bloße Theorie der Redeformen und Überre-
dungsmittel ist, sondern sich aus einer natürlichen Fähigkeit zur praktischen
Meisterschaft entwickeln läßt, selbst ohne jede theoretische Reflexion auf
ihre Mittel, ist offenkundig. Ebenso ist die Kunst des Verstehens - was auch
immer ihre Mittel und Wege seien - offenbar nicht direkt von der Bewußt-
heit abhängig, mit der sie ihren Regeln folgt. Auch hier setzt sich ein
natürliches Vermögen, das jeder hat, in ein Können um, durch das einer alle
anderen übertrifft, und die Theorie kann bestenfalls nur sagen, warum. In
beiden Fällen besteht ein Verhältnis der Nachträglichkeit zwischen der
Theorie und dem, woraus sie abstrahiert ist und was wir Praxis nennen.
Dabei ist das eine der frühesten griechischen Philosophie zugehörig, das
andere eine Folge der späten Auflösung fester Traditionsbindungen und der
Anstrengung, das Entschwindende festzuhalten und in heller Bewußtheit
aufzuheben.
Die erste Geschichte der Rhetorik hat Aristoteles geschrieben. Wir besit-
zen nur Bruchstücke. Vor allem aber ist die Theorie der Rhetorik von
Aristotelcs ausgebildet worden, in Ausftihrung eines Programms, das zuerst
Plato entworfen hatte. Hinter a11 dem Scheinanspruch, den die zeitgenössi-
schen Redelehrer erhoben, hatte Plato eine echte Aufgabe entdeckt, die nur
der Philosoph, der Dialektiker, zu lösen imstande sei, nämlich: die Rede, die
effektvoll Einleuchtendes vorzubringen hat, so zu beherrschen, daß die
jeweils angemessenen Argumente an diejenigen herangebracht werden, de-
ren Seele dafLir spezifisch empfanglich ist. Das ist eine theoretisch einleuch-
B 218.Jahrg .• Heft 3/4, (1966) S. 169-206.
14 Philosophische Rundschau, Beiheft 5 (1967), S. 149-180. rInzwischen: IZur Logik
der Sozialwissenschaften<, Frankfurt 1970, 5. crw. AufI. 19821
Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik 235
tende AufgabensteIlung, die dennoch zwei platonische Voraussetzungen
impliziert: Nämlich erstens, daß nur der das >wahrscheinliche( Ps eu dos des
rhetorischen Arguments mit Sicherheit zu finden weiß, der die Wahrheit,
d. h. die Ideen kennt, und zweitens, daß er sich ebenso wissend in den Seelen
auskennen muß, auf die cr wirken soll. Die aristotelische Rhetorik ist in
erster Linie eine Ausarbeitung des letzteren Themas. In ihr vollendet sich die
Theorie der Anpassung von Rede und Seele, die Plato im ,Phaidros< gefor-
dert hat, in der Gestalt einer anthropologischen Fundierung der Redekunst,
Die Theorie der Rhetorik war das lang vorbereitete Ergebnis einer Kon-
troverse, die durch den berauschenden und erschreckenden Einbruch einer
neuen Redekunst und Bildungsidee, die wir mit dem Namen Sophisrik
bedenken, ausgelöst wurde. Damals war als ein unheimliches neues Kön-
nen, das alles auf den Kopf zu stellen lehrte, die Redekunst aus Sizilien in das
ständisch gebundene, aber von einer leicht verftihrbaren Jugend belebte
Athen eingeströmt, Nun galt es, diesen großen Machthaber (wie Gorgias die
Redekunst nennt 15 ) in eine neue Zucht zu nehmen. Von Protagoras bis zu
Isokrates war es der Anspruch der Meister, nicht nur reden zu lehren,
sondern auch das rechte staatsbürgerliche Bewußtsein zu formen, das politi-
schen Erfolg verhieß. Aber erst Plato schuf die Grundlagen, von denen aus
die neue, alles erschütternde Kunst der Rede - Aristophanes hat uns das
anschaulich genug geschildert -, ihre Grenze und ihren legitimen Ort fand.
Das bezeugt ebensosehr die philosophische Dialektik der platonischen Aka-
demie wie die aristotelische Begründung von Logik und Rhetorik.
Die Geschichre des Verstehens ist nicht minder alt und ehrwürdig. Wollte
man überall dort Hermeneutik erkennen, wo sich eine wahre Kunst des
Verstehens beweist, so müßte man, wenn nicht mit dem Nestor der Ilias, so
doch mit Odysseus beginnen. Man könnre sich darauf berufen, daß die neue
Bildungsbewegung der Sophistik tarsächlich die Auslegung berühmter
Dichterworte betrieb und sie als pädagogische Exempel kunstvoll ausmalte,
und man könnte mit Gundert dem eine sokratische Hermeneutik entgegen-
setzen 16 , Indessen, eine Theorie des Verstehens ist das noch lange nicht, und
es scheint überhaupt für das Aufkommen des hermeneutischen Problems
charakteristisch, daß eine Ferne herangeholt, eine Fremdheit überwunden,
eine Brücke zwischen Einst und Jetzt gebaut werden mußte. Insofern war
ihre Stunde die Neuzeit, die sich ihres Abstandes von den älteren Zeiten
bewußt geworden war. Etwas davon lag schon in dem theologischen An-
spruch des reformatorischen Bibelverständnisses und seines Prinzips der sola
scriptura! aber seine eigentliche Entfaltung fand es, als aus Aufklärung und
Romantik das historische Bewußtsein erwuchs und zu aller Überlieferung

15 Hermann Gundert in: Hermeneia, FS fur Otto Regenbogen, 1952.


16 fGorg. 456 aff.]
236 Weiterentwicklungen

ein gebrochenes Verhältnis etablierte. Es hing mit dieser Geschichte der


hermeneutischen Theorie zusammen, daß sie sich an der Aufgabe der Ausle-
gung >schriftlich fixierter Lcbcnsäußerungen( orientierte, auch wenn die
theoretische Ausarbeitung der Hermeneutik bei Schlciermacher das Verste-
hen, wie es im mündlichen Umgang des Gesprächs geschieht, einbezog.
Umgekehrt war die Rhetorik auf die Unmittelbarkeit der Redewirkung
gerichtet, und wenn sie auch die Wege kunstvoller Schriftlichkeit mit betrat
und so die Lehre vom Stil und den Stilen entwickelte, so liegt ihr eigentlicher
Vollzug doch nicht im Lesen, sondern irn Reden. Die Mittelstellung der
vorgelesenen Rede zeigt freilich bereits die Tendenz, die Kunst der Rede auf
schriftlich fixierbare Kunstmittel zu gründen und von der ursprünglichen
Situation abzulösen. Hier setzt dann die Wechselwirkung mit der Poetik ein,
deren sprachliche Gegenstände so ganz und gar Kunst sind, daß ihre Trans-
formation von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit und zurück ohne
Einbuße gelingt.
Die Redekunst als solche aber ist an die Unmittelbarkeit ihrer Wirkung
gebunden. In welchem Umfange die Erregung von Affekten als das wich-
tigste Überredungs mittel von Cicero und Quintilian bis zur politischen
Rhetorik des englischen 18. Jahrhunderts zu gelten hat, ist von Klaus Dock-
horn mit profunder Gelehrsamkeit gezeigt worden. Nun ist freilich die
Erregung der Affekte, die des Redners wesentliche Aufgabe ist, in der
schriftlichen Äußerung, die Gegenstand hermeneutischer Bemühung wird,
nur abgeblaßt \virksam, und gerade auf diese Unterschiede kommt es an:
Der Redner reißt den Zuhörer mit. Das Einleuchtende seiner Argumente
überschüttet den Zuhörer. Kritische Besinnung kann und soll ihm unter der
Überzeugungskraft der Rede nicht kommen. Umgekehrt ist das Lesen und
Auslegen von Geschriebenem so sehr von dem Schreiber, seiner Gestimmt-
heit, seinen Absichten und seinen unausgesprochenen Tendenzen entfernt
und abgelöst, daß die Erfassung des Textsinnes den Charakter einerselbstän-
digen Produktion empfangt, die ihrerseits mehr der Kunst des Redners als
dem Verhalten seines Zuhörers gleicht. So ist es zu verstehen, daß die
theoretischen Mittel der Auslegungskunst, \vie ich an einigen Punkten zeigte
und wie Dockhorn auf breiter Basis durchfuhrt, weitgehend der Rhetorik
entlehnt sind.
Woran sonst sollte sich auch die theoretische Besinnung auf das Verstehen
anschließen als an die Rhetorik, die von ältester Tadition her der einzige
Anwalt eines Wahrheitsanspruehes ist, der da? Wahrscheinliche, das eikos
(verisimile), und das der gemeinen Vernunft Einleuchtende gegen den Be-
weis- und Gewißheitsanspruch der Wissenschaft verteidigt? Überzeugen
und Einleuchten, ohne eines Beweises fähig zu sein, ist offenbar ebenso sehr
das Ziel und Maß des Verstehens und Auslegens wie der Rcde- und Überre-
dungskunst - und dieses ganze weite Reich der einleuchtenden Überzeugun-
Rbetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik 237
gen und der allgemein herrschenden Ansichten wird nicht etwa durch den
Fortschritt der Wissenschaft allmählich eingeengt. so groß der auch sei,
sondern dehnt sich vielmehr auf jede neue Erkenntnis der Forschung aus,
um sie für sich in Anspruch zu nehmen und sie sich anzupassen. Die
Ubiquität der Rhetorik ist eine unbeschränkte. Erst durch sie wird Wissen-
schaft zu einem gesellschaftlichen Faktor des Lebens. Was wüßten wir VOn
der modernen Physik, die unser Dasein so sichtbarlich umgestaltet, allein
aus der Physik? Alle Darstellungen derselben, die sich über den Kreis der
Fachleute hinaus richten (und vielleicht sollte man sagen: soweit sie sich
nicht auf einen jeweils sehr kleinen Kreis eingeweihter Spezialisten be-
schränken), verdanken ihre Wirkung dem rhetorischen Element, das sie
trägt. Selbst Descartes, dieser große und leidenschaftliche Anwalt von Me-
thode und Gewißheit, ist in allen seinen Schriften ein Schriftsteller, der die
Mittel der Rhetorik auf großartige Weise handhabt, wie vor allem Henri
Gouhier 17 nachgewiesen hat. An ihrer fundamentalen Funktion innerhalb
des sozialen Lebens kann kein Zweifel sein. Alle Wissenschaft, welche
praktisch werden soll, ist auf sie angewiesen. - Auf der anderen Seite ist die
Funktion der Hermeneurik nicht minder universal. Die Unverständlichkeit
oder Mißverständlichkeit überlieferter Texte, die sie ursprünglich auf den
Plan gerufen hat, ist nur ein Sonderfall dessen, was in al1er menschlichen
Weltorientierung als das atopon, das Seltsame begegnet, das sich in den
gewohnten Erwartungsordnungen der Erfahrung nirgends unterbringen
läßt. Und wie im Fortschritt der Erkenntnis die mirabilia ihre Befremdlich-
keit verlieren, sowie sie verstanden worden sind, so löst sich auch jede
gelingende Aneignung von Überlieferung in eine neue, eigene Vertraulich-
keit auf, in der sie uns gehört und in der wir ihr gehören. Beides fließt
Zusammen in die eine, Geschichte und Gegenwart umspannende, eigene und
miteigene Welt, die im Reden der Menschen miteinander ihre sprachliche
Artikulation empfängt. Auch von der Seite des Verstehens her zeigt sich also
die Universalität der menschlichen Sprachlichkeit als ein in sich grenzenloses
Element, das alles trägt, nicht nur die durch Sprache überlieferte Kultur,
sondern schlechthin alles, weil alles in die Verständlichkeit hereingeholt
wird, in der wir uns miteinander bewegen. Plato hat mit Recht davon
ausgehen können, daß wer die Dinge im Spiegel der Reden betrachtet, ihrer
in ihrer vollen und unverkürzten Wahrheit gewahr wird. Auch hat es einen
tiefen und richtigen Sinn, wenn Plato lehrt, daß alle Erkenntnis erst als
Wiedererkenntnis ist, was sie ist. Eine )erste< Erkenntnis ist so wenig mög-
lich wie ein erstes Wort. Auch die neueste Erkenntnis, deren Folgen noch gar
nicht absehbar scheinen, ist erst, was sie eigentlich war, wenn sie sich in sie

17 Henri Gouhier, La rcsistance an vrai ... (Retorica e Barocco, cd. E. Castdli, Rom

1955).
238 Weiterentwicklungen

ausgefo1gcrt hat und in das Medium der intersubjektiven Verständigung


eingegangen ist.
So durchdringen sich der rhetorische und der hermeneutische Aspekt der
menschlichen Sprachlichkeit auf vollkommene Weise. Es gäbe keinen Red-
ner und keine Redekunst, wenn nicht Verständigung und Einverständnis die
menschlichen Beziehungen trüge - es gäbe keine hermeneutische Aufgabe,
wenn das Einverständnis derer, die >ein Gespräch sind<, nicht gestört wäre
und die Verständigung nicht gesucht werden müßte. Die Verschränkung mit
der Rhetorik ist also geeignet, den Schein aufzulösen, als wäre Hermeneutik
auf die ästhetisch-humanistische Tradition allein beschränkt und als habe es
die hermeneutische Philosophie mit einer der Welt des >realen< Seins entge-
gengesetzten Welt des >Sinnes< zu tun, die sich in der )kulturellen Überliefe-
rung< ausbreitet.
Es entspricht der Universalität des hermeneutischen Ansatzes, daß er auch
rur die Logik der Sozialwissenschaften beachtet werden muß. So hat Haber-
mas die in )Wahrheit und Methode< gegebenen Analysen des >wirkungsge-
schichtlichen Bewußtseins< und des Modells der ,Übersetzung< behandelt
und ihnen eine positive Funktion für die Überwindung der positivistischen
Erstarrung der sozialwissenschaftlichen Logik wie der historisch unreflek-
tierten linguistischen Grundlegung derselben zuerkannt. 18 Solche Bezug-
nahme auf Hermeneutik steht also unter der eingestandenen Prämisse, der
Methodologie der Sozialwissenschaften dienen zu sollen. Das ist freilich von
dem traditionellen Ausgangsboden der hermeneutischen Problematik, den
die ästhetisch-romantischen Geisteswissenschaften bilden, durch eine Vor-
entscheidung von größter Tragvveite getrennt. Zwar wird von der methodi-
schen Verfremdung, die das Wesen der modernen Wissenschaft ausmacht,
auch in den )humanities< durchaus Gebrauch gernacht >Wahrheit und Metho-
de< hat den Gegensatz, den der Titel impliziert, nie als einen ausschließenden
gemeint. 19 Aber freilich waren die Geisteswissenschaften der Ausgangs-
punkt der Analyse, weil sie mit Erfahrungen zusalnmenrücken, in denen es
überhaupt nicht um Methode und Wissenschaft geht, sondern um Erfahrun-
gen. die außer halb der Wissenschaft liegen. wie die Erfahrung der Kunst und
die Erfahrung der durch ihre geschichtliche Überlieferung geprägten Kul-
tur. Die hermeneutische Erfahrung ist in ihnen allen in gleicher Weise
wirksam, und insofern ist sie nicht selbst Gegenstand methodischer Ver-
fremdung, sondern liegt dieser voraus, indem sie der Wissenschaft ihre
Fragen aufgibt und dadurch erst den Einsatz ihrer Methoden ermöglicht.
Die modernen Sozialwissenschaften dagegen, falls die hermeneutische

18 D. Habermas, Zur Logik der Sozialv"'issenschaften, Phil. Rdsch. Beiheft 5, Tübingen

1967. Kap. JIll


19 [Vgl. das Vorwort zur 2. Aufl., unten S. 437ff.J
Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik 239
Reflexion für sie als unumgänglich erkannt wird (wie das für die Gei-
steswissenschaften in )Wahrheit und Methode( nachgewiesen ist), erhe-
ben den Anspruch, v/ie Habermas es formuliert, durch eine I)kontrollier-
te Verfreludung\\ das Verstehen II aus einer vorwissenschaftlichen Übung
zum Rang eines reflektierten Vorgehens\~ zu erheben, sozusagen durch
die »methodische Ausbildung der Klugheit« (172/174).
Nun ist das seit alters der Weg der Wissenschaft, durch lehrbare und
kontrollierbare Verfahrensweisen zu leisten, was individueller Klugheit
zuweilen auch, wenngleich auf unsichere und unkontrollierbare Weise,
gelingt. Wenn die Bewußtmachung der hermeneutischen Bedingungen,
die in den verstehenden Geistes\vissenschaften im Spiele sind, die Sozial-
wissenschaften, die nicht ~verstehen< wollen, sondern unter Einbeziehung
der in der Sprachlichkeit sich ablagernden Verständliehkeiten' das reale
GefUge der Gesellschaft wissenschaftlich in den Griff zu nehmen suchen,
auf methodische Veranstaltungen fUhrt, die ihrer Arbeit forderlich sind,
so ist das gewiß ein wissenschaftlicher Gewinn. Freilich wird sich die
hermeneutische Reflexion von ihnen nicht vorschrdben lassen, sich auf
diese wissenschaftsimmanente Funktion zu beschränken, und insbeson-
dere sich nicht davon abhalten lassen, der methodischen Verfremdung
des Verstehens, die die Soziahvissenschaften betreiben, aufs neue eine
hermeneutische Reflexion zuzuwenden, - auch wenn sie der positivisti-
schen Abwertung der Hermeneutik damit abermals entgegenkommt.
Doch sehen \-vir erst, wie sich die hermeneutische Problematik inner-
halb der sozialwisscnschaftlichen Theorie geltend macht und von ihr her
sich ausnimmt.
Da ist zunächst der )linguistische Ansatz< (124f.). Wenn die Sprach-
lichkeit als Vollzugs weise des hermeneutischen Bewußtseins ausgezeich-
net ist, so liegt es nahe, in der Sprachlichkeit als der Grundverfassung
menschlicher Sozialität das gültige Apriori der Sozialwissenschaften zu
erkennen, von dem aus sich die behavioristisch-positivistischen Theo-
rien, die die Gesellschaft als ein beobachtbares und steuerbares Funk-
tionsganzes ansehen, ad absurdum führen. Das hat etwas Einleuchten-
des, sofern die menschliche Gesellschaft in Institutionen lebt, die als sol-
che verstanden, tradiert, reformiert, kurz, vom inneren Selbstverständnis
der die Gesellschaft bildenden Individuen determiniert werden. Habermas
sieht nun sowohl gegenüber Wittgensteins Theorie der Sprachspiele wie
gegenüber Winchs 20 Auswertung derselben für ein sprachliches Apriori
aller sozial wissenschaftlichen Aussagen das Recht der Hermeneutik dar-
in, daß sie vom Gedanken der Wirkungsgeschichte aus den kommunika-
tiven Zugang zu dem Objektbereich der Sozialwissenschaften einklagt.

20 P. Winch, The Idea of a Social Science. London/New York 1958 (deutsch 1966)
240 Wciterent\vicklungen

Indessen, wenn Habcrmas der Analyse des Vorverständnisses und der


essentiellen Vorurteilsbedingtheit folgt, die allem menschlichen Verstehen
und Handeln zukommt, so ist der Anspruch, den er an die hermeneutische
Reflexion stellt, gleichwohl ein grundsätzlich anderer. Das wirkungs gc-
schichtliehe Bnvußtsein, das die eigenen Vorurteile zu reflektieren sucht und
sein eigenes Vorverständnis kontrolliert, mache zwar dem naiven Objekti-
vismus ein Ende, der ebenso die positivistische Wissenschaftstheorie \vie die
phänomenologische und sprachanalytische Grundlegung der Sozialvvissen-
schaften verfalsche. Aber was leiste solche Reflexion eigentlich? Da ist
einmal das Problem der Universalgeschichte, d. h. die Vorstellung von
einem Ziel der Geschichte, das sich jeweils aus den Zielvorstellungen gesell-
schaftlichen HandeIns erhebt. Begnügt sich die hermeneutische Reflexion
mit allgemeinen Erwägungen, daß über die Begrenztheit des eigenen Stand-
orts nie hinauszukommen ist, so ist sie folgenlos. Zwar wird der Anspruch
einer inhaltlichen Geschichtsphilosophie durch solche Erwägung bestritten,
aber das historische Bewußtsein wird trotzdem ständig aus seiner eigenen
Zukunftsgerichtetheit eine vorverstandene Universalgeschichte entwerfen.
Was hilft das Wissen um deren Vorläufigkeit und essentielle Überholbarkeit?
Dort aber, wo die hermeneutische Reflexion effektiv wird, was tut sie da?
In welches Verhältnis setzt sich die wirkungsgeschichtliche Reflexion zu der
Tradition, derer sie sich bewußt wird? Meine These ist nun, und ich meine,
daß sie die not\vendige Folge der Anerkennung unserer \virkungsgeschicht-
lichen Bedingtheit und Endlichkeit ist, daß die Hermeneutik uns lehrt, den
Gegensatz zwischen fortlebender, maturwüchsigen Tradition und reflek-
tierter Aneignung derselben als dogmatisch zu durchschauen. Dahinter
steckt ein dogmatischer Objektivismus, der auch noch den Begriff der
Reflexion deformiert. Der Verstehende ist auch in den verstehenden Wissen-
schaften aus dem wirkungs geschichtlichen Zusammenhang seiner herme-
neutischen Situation nicht so herausreflektiert, daß sein Verstehen nicht
selber in dieses Geschehen einginge. Der Historiker, auch der der sogenann-
ten kritischen Wissenschaft, löst so wenig fortlebende Traditionen, z. B. die
nationalstaatlichen, auf, daß er als nationaler Historiker vielmehr in diesel-
ben bildend und fortbildend eingreift, und das Wichtigste ist:jc bewußter er
auf seine hermeneutische Bedingtheit reflektiert, desto mehr. Droysen, der
die }eunuchenhafte Objektivität< der Historiker in ihrer tnethodologischen
Naivität klar durchschaute, ist selber für das nationale Staats bewußtsein der
bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts höchst wirksam gewesen - jeden-
falls wirksamer als das epische Bewußtsein Rankes, das eher zur obrigkeits-
staatlichen Apo1itie erziehen mochte. Verstehen ist selber Geschehen. Nur
ein naiver, unreflektierter Historisnlus wird in den historisch-hermeneuti-
schen Wissenschaften ein absolut Neues sehen, das die Macht der Tradition
aufhebt. Den unzweideutigen Beweis ftir die beständige Vermittlung, in der
Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik 241

gesellschaftliche Überlieferung fortlebt, suchte ich durch den Aspekt der


Sprachlichkeit zu erbringen, die alles Verstehen zu tragen vermag.
Dem hält Habermas entgegen, daß sich das Medium der Wissenschaft
durch Reflexion tiefgreifend verwandele. Das gerade sei das unverlierbare
Erbe, das uns vom deutschen Idealismus aus dem Geist des 18. Jahrhunderts
vermacht sei. Wenn auch die Hegelsche Erfahrung der Reflexion sich nicht
mehr in einem absoluten Bewußtsein vollenden lasse, so sei doch der »Idea-
lismus der Sprachlichkeit« (179), der sich in der bloßen »kulturellen Überlie-
ferung((, ihrer hermeneutischen Aneignung und Fortbildung erschöpfe, eine
traurige Ohnmacht angesichts des realen Ganzen des gesellschaftlichen Le-
benszusammenhangs, der nicht nur aus Sprache, sondern ebenso aus Arbeit
und Herrschaft gewebt sei. Die hermeneutische Reflexion müsse in Ideolo-
giekritik übergehen.
Habermas knüpft damit an das zentrale Motiv des soziologischen Er-
kenntnis interesses an. Wie Rhetorik (als Theorie) der Verzauberung des
Bewußtseins durch die Macht der Rede entgegentrat, indem sie die Sache,
das Wahre, von dem Wahrscheinlichen, das sie zu erzeugen lehrt, zu unter-
scheiden nötigte, wie Hermeneutik ein gestörtes intersubjektives Einver-
ständnis in kommunikativer Wechsclreflexion neu zu stiften und insbeson-
dere ein zu einem falschen Objektivismus verfremdetes Erkennen auf seine
hermeneutischen Grundlagen zurückzustellen trachtet, so ist in der gesell-
schaftswissenschaftlichen Reflexion ein emanzipatorisches Interesse wirk-
sam, das äußere und innere gesellschaftliche Z\vänge durch Bcvvußtma-
chung aufzulösen unternimmt. Sofern sich dieselben durch sprachliche Aus-
legung zu legitimieren suchen, wird Ideologiekritik, zvvar selber ein sprach-
lich sich auslegendes Tun der Reflexion, zur Entlarvung der ») Täuschung mit
Sprache« (178).
Auch im Bereich der psychoanalytischen Therapie bestätigte sich die fur
das soziale Leben in Anspruch genommene emanzipatorische Macht der
Reflexion. Die durchschaute Repression nimmt den falschen Zwängen ihre
Macht, und wie dort als der Endzustand eines reflektierten Bildungsprozes-
Ses alle Handlungsmotive mit dem Sinn zusammenfal1cn würden, an dem
sich der Handelnde selbst orientiert - was freilich in der psychoanalytischen
Situation durch die therapeutische Aufgabe begrenzt wird und daher nur
einen Grenzbegriff darstellt -, so wäre auch die soziale Wirklichkeit nur in
einem solchen fiktiven Endzustand hermeneutisch angemessen faßbar. In
Wirklichkeit besteht das Leben der Gesellschaft aus einem Geflecht von
verständlichen Motiven und realen Zwängen, das die Sozialforschung in
einem fortschreitenden Bildungsprozeß anzueignen und für das Handeln
freizusetzen habe.
Man kann nicht bestreiten, daß diese sozialtheoretische Konzeption ihre
Logik hat. Ob freilich der Beitrag der Hermeneutik richtig einbehalten
242 Weiteremwicklungen

wird, wenn cr von dem Grenzbegriff eines Zusammenfalls aller Handlungs-


motive mit verstandenem Sinn aus festgesetzt wird, erscheint fraglich. Ist
doch das hermeneutische Problem nur deshalb so universal und für alle
zwischenmenschliche Erfahrung der Geschichte wie der Gegenwart grund-
legend, weil auch dort Sinn erfahren werden kann, \VO er nicht als intendier-
ter vollzogen wird. Es verkürzt die Universalität der hermeneutischen Di-
mension, wenn ein Bereich des verständlichen Sinnes (>kulturelle Überliefe-
rung<) gegen andere, lediglich als Realfaktoren erkennbare Determinanten
der gesellschaftlichen Wirklichkeit abgegrenzt wird. Als ob nicht gerade
jede Ideologie, als ein falsches sprachliches Bewußtsein, sich nicht nur als
verständlicher Sinn gäbe, sondern gerade auch in ihrem >wahren< Sinn, z. B.
dem des Interesses der Herrschaft, verstanden werden kann. Gleiches gilt ftir
die unbewußten Motive, die der Psychoanalytiker zum Bewußtsein bringt.
Der Ausgangspunkt der Ent\vicklung der hermeneutischen Dimension,
den) Wahrheit und Methode< in der Erfahrung der Kunst und in den Geistes-
wissenschaften nahm, scheint hier die Würdigung ihres v.rahren Umfangs zu
erschweren. Gnviß ist auch die universal genannte Durchftihrung im dritten
Teil des Buches zu skizzenhaft und einseitig. Der Sache nach aber erscheint es
von der hermeneutischen Problemstellung aus geradezu als absurd, daß die
realen Faktoren von Arbeit und Herrschaft außer halb ihrer Grenzen liegen
sollen. Was sind denn die Vorurteile, auf die es in der hermeneutischen
Bemühung zu reflektieren gilt, anderes? Woher sollen sie sonst kOlumen?
Aus kultureller Überlieferung? Sicher auch. Aber woraus bildet sich diese?
Der idealismus der Sprachlichkeit wäre in Wahrheit eine groteske Absurdität
- soweit er nicht eine methodische Funktion allein haben will. Habermas
sagt einmal: »)Die Hermeneutik stößt gleichsam von innen an Wände des
Traditionszusammenhangs« (177). Daran ist etwas Wahres, wenn damit der
Gegensatz zu einem )von außen< bezeichnet ist, das in unsere zu verstehende,
verständliche oder unverständliche Welt nicht hineinkommt, sondern in der
feststellenden Beobachtung von Veränderungen (statt von Handlungen)
verharrt. Daß das kulturelle Überlieferung verabsolutieren soll, scheint mir
aber irrig. Es gilt nur, alles verstehen zu wollen, \vas sich verstehen läßt. In
diesem Sinne gilt der Satz: »Sein, das verstanden werden kann, ist
Sprache. {{21
Damit \vird nicht auf eine Welt des Sinnes eingeengt, die im Erkennen des
Erkannten (A. Boeckh) eine Art Sekundärgegenstand des Erkennens wäre,
Aneignung von schon Erkanntem und die Reichtümer der >kulturellen
Überlieferung< zu den wahren ökonomischen und politischen Realitäten, die
das Leben der Gesellschaft in erster Linie bestimmen, hinzuergänzte - im
Spiegel der Sprache reflektiert sich vielmehr alles, was ist. In ihm und nur in

21 [Ces. Werke Bd. 1, S. 478J


Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik 243
ihm tritt uns entgegen, was uns nirgends begegnet, weil wir es selber sind
(nicht bloß das, was wir meinen und von uns wissen). Am Ende ist die
Sprache gar kein Spiegel, und was wir in ihr gewahren, keine Widerspiege-
Jung unseres und allen Seins, sondern die Auslegung und Auslebung dessen,
was es mit uns ist, in den realen Abhängigkeiten von Arbeit und Herrschaft
so gut wie in allem anderen, das unsere Welt ausmacht. Sprache ist nicht das
endlich gefundene anonyme Subjekt aller gesellschaftlich-geschichtlichen
Prozesse und Handlungen, das sich und das Ganze seiner Tätigkeiten, Ob-
jektivationen unserem betrachtenden Blick darböte, sondern sie ist das
Spiel, in dem wir alle mitspielen. Keiner vor allen anderen. Jeder ist )dran<
und immerfort am Zuge. Solches vollzieht sich, wenn wir verstehen, und
gerade auch, wenn wir Vorurteile durchschauen oder Vorwände entlarven,
die die Wirklichkeit versteHen. Ja, da am meisten >verstehen< wir. Dann
endlich, wenn wir etwas durchschaut haben, das uns seltsanl und unver-
ständlich schien, wenn wir es untergebracht haben in unserer sprachlich
geordneten Welt, geht alles auf, wie bei einer schwierigen Schachaufgabe,
wo erst die Lösung die Notwendigkeit der absurden Stellung, bis in den
letzten Stein hinein, verständlich macht.
Aber heißt das, daß wir nur dann verstehen, wenn \vir Vorwandhaftes
durchschauen und falsche Anmaßungen entlarven? Habermas scheint das
vorauszusetzen. Mindestens scheint sich ihm nur darin die Macht der Refle-
xion zu erweisen, daß sie das tut, und ihre Ohnmacht, wenn wir in dem
Gespinst der Sprache hängen bleiben und an ihm weiters pinnen. Seine
Voraussetzung ist ja, daß die Reflexion, die in den hermeneutischen Wissen-
schaften geübt wird, »die Dogmatik der Lebenspraxis erschüttert«. Umge-
kehrt sieht er es als einen unbegründbaren und das Erbe der Aufklärung
preisgebenden Satz an, daß die Transparentmachung der Vorurteilsstruktur
des Verstehens in der Anerkennung von Autorität - einer dogmatischen
Gewalt! - münden könne. - Es kann schon sein, daß der Konservativismus
(nicht jener Generation eines Burke, sondern einer Generation, die drei
große Umbrüche der deutschen Geschichte hinter sich hat, ohne daß es je zu
einer revolutionären Erschütterung der bestehenden Gesellschaftsordnung
gekommen wäre) daftir günstig ist, eine Wahrheit einzusehen, die sich leicht
verbirgt. Um den Anspruch, etwas Einsehbares zu sagen, und nicht unl eine
»Grundüberzeugung« (174) handelt es sich jedenfalls, wenn ich Autorität
und Vernunft aus der abstrakten Antithese der emanzipatorischen Aufklä-
rung herauslöse und ihre wesenhaft ambivalente Beziehung behaupte. 22
Die abstrakte Antithese der Aufklärung scheint mir eine Wahrheit zu

22 [Vgl. inzwischen meinen Aufsatz >Über den Zusammenhang von Autorität und

kritischer Freiheit(, Sch"weizer Archiv fur Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie


133 (1983), S. 11-16]
244 Wci Kren twick 1un gell

verkennen, und dies hat verhängnisvolle Folgen - und zwar, weil man der
Reflexion alsdann eine falsche Macht zuschreibt und die wahren Abhängig-
keiten idealistisch verkennt. Zugegeben, daß Autorität in unzähligen Formen
von Herrschaftsordnungen dogmatische Gewalt ausübt, von der Ordnung
der Erziehung über die Befehlsordnung von Heer und Verwaltung bis zu der
Machthierarchie politischer Gewalten oder von Heilsträgern. Aber dies Bild
des der Autorität erwiesenen Gehorsams kann niemals zeigen. warUIn das
alles Ordnungen sind und nicht die Unordnung handfester Gewaltübung.
Es scheint mir Z\vingend, wenn ich für die wirklichen Autoritätsverhältnisse
Anerkennung bestimmend finde. Die Frage kann lediglich sein, worauf
diese Anerkennung beruht. Gewiß kann so1chc Anerkennung oft mehr ein
tatsächliches Weichen des Ohnmächtigen gegenüber det Gewalt ausdrük-
keil, aber das ist nicht Anerkennung und beruht nicht auf Autorität. Man
braucht nur Vorgänge wie den von Autoritätsverlust oder Autoritätsverfal1
(und ihr Gegenteil) zu studieren, und man sieht, was Autorität ist und
woraus sie lebt. Nicht von dogmatischer Gewalt, sondern von dogmati-
scher Anerkennung her. Was aber sol1 dogmatische Anerkennung sein,
wenn nicht dies, daß der Autorität eine Überlegenheit an Erkenntnis zuge-
billigt wird und daß man deshalb glaubt, daß sie recht hat. Nur darauf
>beruht( sie. Sie herrscht also, weil sie >frei< anerkannt \vird. Es ist kein
blinder Gehorsam, der auf sie hört.
Aber nun ist es eine unzulässige Unterstellung, als meinte ich, es gäbe
nicht Autoritätsverlust und emanzipatorische Kritik. Ob man sagen darf:
Autoritätsverlust durch emanzipatorische Kritik der Reflexion, oder: daß
sich Autoritätsverlust in Kritik und EInanzipation äußert, mag hier auf sich
beruhen und ist vielleicht überhaupt keine echte Alternative. Was strittig ist,
ist lediglich, ob Reflexion imnler die substanticl1cn Verhältnisse auflöst oder
sie gerade auch in Bewußtheit übernehmen kann. Der von mir (im Blick auf
die aristotelische Ethik) herangezogene Lern- und Erziehungsprozcß wird
von Habermas merkwürdig einseitig gesehen. Daß Tradition als solche
einziger Grund der Geltung von Vorurteilen sein und bleiben solle - wie
Habermas mir zuschreibt -, schlägt doch meiner These, daß Autorität auf
Erkenntnis beruht, geradezu ins Gesicht. Der mündig Ge\vordene kann -
aber er muß doch nicht! - aus Einsicht übernehmen, was er gehorsalll
einhielt. Tradition ist kein Ausweis, jedenfalls nicht dort, wo Reflexion
einen Ausweis verlangt. Aber das ist der Punkt: Wo verlangt sie ihn? Über-
all' Dem halte ich die Endlichkeit des menschlichen Daseins und die wesCll-
hafte Partikularität der Retlexion entgegen. Es geht um die Frage, ob man
die Funktion der Reflexion auf der Seite der Bewußtmachung festmacht, die
faktisch Geltendes mit anderen Möglichkeiten konfrontiert und alsdann
zugunsten anderer Möglichkeiten Bestehendes verwerfen, aber auch wis-
send übernehmen kann, was die Tradition de facto entgegenbringt, oder ob
Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik 245
Bewußtmachung immer nur Geltendes auflöst. Wenn Habermas (176) l30Sj
sagt, daß »der Autorität das, was an ihr bloße Herrschaft \-var, (- ich
interpretiere: was nicht Autoritätwar-) abgestreift und in gC\valtlosenZwang
von Einsicht und rationaler Entscheidung aufgelöst« werden kann, dann weiß
ich nicht mehr, \vorum \vir streiten. Höchstens darum, ob die >rationale
Entscheidung< einem von den Sozialwissenschaften (auf Grund welcher
Fortschritte!) abgenommen werden kann oder nicht. Doch davon später.
Der Begriff der Reflexion und Bewußtmachung, den Habcrmas ge-
braucht, erscheint der hermeneutischen Reflexion als dogmatisch vorbela-
stet, und hier wünschte ich, die hermeneutische Reflexion, die ich anstelle,
würde effektiv. Wir haben durch Husserl (in seiner Lehre von den anony-
men Intentionalitäten) und durch Heidegger (im Nachweis der ontologi-
schen Verkürzung, die in dem Subjekts- und in dem Objektsbegriff des
Idealismus steckt) gelernt, die falsche Vergegenständlichung zu durchschau-
en, die dem Reflexionsbegriff aufgeladen wird. Es gibt sehr wohl eine innere
Rückwendung der Intentionalität, die keineswegs das so Mitgemeinte zum
thematischen Gegenstand erhebt. Das hat schon Brentano (in Aufnahme
aristotelischer Einsichten) gesehen. Ich wüßte nicht, wie man die rätselhafte
Seins gestalt der Sprache überhaupt begreifen will, wenn nicht von da aus.
Man muß (mit J. Lohmann zu reden) die 'effektive< Reflexion, die in der
Entfaltung der Sprache geschieht, von der ausdrücklichen und thematischen
Reflexion unterscheiden, die sich in der abendländischen Denkgeschichte
herausgebildet hat und die, indem sie alles zum Gegenstand macht, als
Wissenschaft die Voraussetzungen der planetarischen Zivilisation von mor-
gen geschaffen hat.
Welch eigentümlicher Affekt, mit dem Habermas die Erfahrungswissen-
schaften dagegen verteidigt, ein beliebiges Sprachspiel zu sein. Wer macht
ihnen ihre Notwendigkeit- unter dem Gesichtspunkt mäglichertechnischer
Verftigung über Natur- streitig? Höchstens der Forscher selber wird fur sein
Verhältnis zu seiner Wissenschaft die technische Motivation seiner Arbeit
abstreiten, mit vollem subjektivem Recht. Daß die praktische Anwendung
der modernen Wissenschaft unsere Welt und damit auch unsere Sprache
tiefgreifend verändert, wird dagegen niemand ableugnen. Aber eben: »auch
unsere Sprache«(, Das heißt in gar keiner Weise, wie Habermas mir unter-
stellt, daß das sprachlich artikulierte Bewußtsein das materielle Sein der
Lebenspraxis bestimmt, sondern allein, daß es keine gesellschaftliche Wirk-
lichkeit mit allen ihren realen Zwängen gibt, die sich nicht ihrerseits wieder
in einem sprachlich artikulierten Bewußtsein zur Darstellung bringt. Die
Wirklichkeit geschieht nicht »hinter dem Rücken der Sprache« (179)[309],
sondern hinter dem Rücken derer, die sich anmaßen, die Welt ganz Zu
verstehen (oder gar nicht mehr zu verstehen), und sie geschieht auch in der
Sprache.
246 Weiterentwicklungen

Freilicli wird von hier aus der Begriff der »Naturwüchsigkeit« (z. B. 173/
4)[302/3] hoeliverdächtig, den schon Marx als Gegenbegriff gegen die Ar-
beitswelt der modernen Klassengesellschaft gelten ließ und den auch Haber-
mas gern gebraucht (I>naturwüchsige Substanz der Überlieferung(j, aber
auch f)Kausalität naturwüchsiger Verhältnisse«). Das ist Romantik - und
diese Romantik schafft einen künstlichen Abgrund zwischen Tradition und
der auf dem historischen Bewußtsein gründenden Reflexion. Der »Idealis-
mus der Sprachlichkeit« hat immerhin den Vorzug, in diese Romantik nicht
zu verfallen.
Habermas' Kritik gipfelt darin, den transzendental philosophischen Im-
manentismus auf die geschichtlichen Bedingungen hin zu befragen, die er
selber in Anspruch nimmt. In der Tat ein zentrales Problem. Wer es mit der
Endlichkeit des menschlichen Daseins ernst nimmt und sich kein >Bewußt-
sein überhaupt< oder einen intellectus archetypus oder ein transzendentales Ego
konstruiert, das alle Geltung konstituieren soll, wird sich der Frage nicht
entziehen können, wie sein eigenes Denken als transzendentales selber empi-
risch möglich ist. Nur sehe ich darin gerade für die hermeneutische Dimen-
sion, die ich entwickelt habe, keine wirkliche Sch,vierigkeit.
Pannenbergs höchst nützliche Auseinandersetzung mit meinem Versuch23
hat mir bewußt bemacht, welch grundsätzlicher Unterschied zwischen dem
Anspruch Hegels besteht, Vernunft auch in der Geschichte zu erweisen, und
jenen sich ständig überholenden universalgeschichtlichen Konzeptionen, in
denen man sich stets \vie »der letzte Historiker« (166) benimmt. Über
Hegels Anspruch einer Philosophie der Weltgeschichte kann man gewiß
streiten. Auch er wußte: »)Die Füße derer, die dich hinaustragen, sind schon
vor der Türe«, und man kann finden, daß durch alle weltgeschichtlichen
Desavouierungen hindurch dem Endgedanken der Freiheit aller eine zwin-
gende Evidenz zukommt, die man so wenig je überholen kann, wie man
Bewußtheit überholen kann. Gleichwohl ist der Anspruch, denjeder Histo-
riker erheben muß und der darin besteht, den Sinn alles Gescliehens im
Heute festzumaclien (und in der Zukunft dieses Heute), ein grundsätzlich
anderer und viel bescheidenerer. Niemand kann bestreiten, daß Historie
Zukünftigkeit voraussetzt. Eine universalgeschichtliche Konzeption ist in-
sofern unvermeidlicherweise eine der Dimensionen gegenwärtiger histori-
scher Bewußtheit >in praktisclier Absicht<. Aber wird man Hegel gerecht,
wenn man ihn auf dieses interpretatorische Bedürfnis aller Gegenwart ein-
schränken will? >In praktischer Absicht< - daß niemand heute diesen An-
spruch überzieht, dafur sorgt schon das eingeprägte Bewußtsein der eigenen

23 W. Pannenberg, Hermeneutik und Universalgeschichte, Ztschr. f. Theologie und

K;ccheliO, 1963, S. 90-121.


Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik 247
Endlichkeit und das Mißtrauen gegen die Diktatur des Begriffs. Will man
ernstlich Hege! auf praktische Absicht reduzieren'
Meine Diskussion mit Pannen berg stößt, soweit ich verstehe, in diesem
Punkte ins Leere. Denn auch Pannen berg will nicht Hegcls Anspruch erneu-
ern - nur macht es freilich einen Unterschied, daß rur den christlichen
Theologen die }praktische Absicht< aller universalhistorischen Konzeption
in der absoluten Geschichtlichkeit der Inkarnation ihren festen Punkt hat.
Indessen, die Frage bleibt. Wenn sich die hermeneutische Problematik
sowohl gegenüber der Universalität der Rhetorik wie gegenüber der Aktua-
lität der Ideologiekritik behaupten will, so wird sie ihre eigene Universalität
begründen müssen, und das gerade gegenüber dem Anspruch der modernen
Wissenschaft, die hermeneutische Reflexion in sich aufzunehmen und der
Wissenschaft dienstbar zu machen (in »methodischer Ausbildung der Klug-
heit«). Sie wird das nur können, wenn sie sich nicht in der unangreifbaren
Immanenz transzendentaler Reflexion verfangt, sondern ihrerseits zu sagen
weiß, was diese Reflexion gegenüber der modernen Wissenschaft - und
nicht nur innerhalb ihrer -leistet.
Da die hermeneutische Reflexion die Leistung vollbringen wird, die alle
Bewußtmachung vollbringt, wird sich das zunächst innerhalb der Wissen-
schaft selbst zeigen müssen. Die Reflexion eines gegebenen Vorverständnis-
ses bringt etwas vor mich, was sonst hinter meinem Rücken geschieht.
Etwas - nicht alles. Denn wirkungsgeschichtliches Bewußtsein ist auf eine
unautbebbare Weise mehr Sein als Bewußtsein. Das bedeutet aber nicht, daß
es ohne beständige Bewußtmachung der ideologischen Erstarrung entgehen
könnte. Nur durch diese Reflexion bin ich nür gegenüber nicht länger
unfrei, sondern kann über Recht und Unrecht meines Vorverständnisses frei
befinden - und sei es auch nur in der Weise, daß ich vorurteilsvoll gesehenen
Dingen ein neues Verständnis abzugewinnen lerne. Darin liegt aber, daß die
mein Vorverständnis leitenden Vorurteile stets mit aufs Spiel gesetzt werden
- bis hin zu ihrer Preisgabe, die freilich stets auch Umbildung heißen kann.
Das ist die unermüdliche Kraft der Erfahrung, in allem Bclehrtwerdcn
beständig neues Vorverständnis auszubilden.
Auf den Ausgangsfeldern meiner hermeneutischen Studien, den Kunst-
wissenschaften und den philologisch-historischen Wissenschaften, ist es
leicht aufzuweisen, wie hermeneutische Reflexion wirksam wird. Man den-
ke daran, wie die Autonomie der stilgeschichtlichen Betrachtung in den
Kunstwissenschaften durch die hermeneutische Reflexion auf den Begriff
der Kunst - oder die auf einzelne Epochen- und Stilbegriffe - erschüttert
worden ist, wie die Ikonographie aus ihrer Randstellung nach vorne dräng-
te, wie die hermeneutische Reflexion über die Begriffe Erlebnis und Aus-
druck literaturwissenschaftliche Folgen hat - und sei es auch nur im Sinne
der bewußteren Weiterftihrung schon länger andrängender Forschungstcn-
248 Wci teren twickl Ul1 gen

denzen. (Wechselwirkung ist auch Wirkung.) Daß die Erschütterung fester


Vorurteile wissenschaftlichen Fortschritt verspricht, ist überhaupt selbstver-
ständlich. Sie macht neue Fragen möglich, und was die historische For-
schung durch begriffsgeschichtliche Bewußtheit zu gewinnen vermag, erle-
ben wir beständig. Auf diesen Feldern glaube ich gezeigt zu haben. wie sich
in der Gestalt von )Horizontverschmelzung< die historistische Verfremdung
vermittelt. Ocr scharfsinnigen Arbeit Habermas' verdanke ich, daß mir
innerhalb der Sozialwissenschaften der hermeneutische Beitrag sichtbar
wird, insbesondere dadurch, daß das Vorverständnis der positivistischen
Wissenschaftstheorie, aber auch das einer aprioristischen Phänomenologie
und einer allgemeinen Linguistik, mit der hermeneutischen Dimension
konfrontiert wird.
Aber die Funktion der hermeneutischen Reflexion erschöpft sich nicht in
dem, was sie fur die Wissenschaften bedeutet. Allen modernen Wissenschaf-
ten eignet eine tiefwurzelnde Verfremdung, die sie dem natürlichen Be-
wußtsein zumuten und die schon im Anfangsstadium der modernen Wis-
senschaft durch den Begriff der Methode zu reflektiertem Bewußtsein ge-
langte. An ihr kann hermeneutische Reflexion nichts ändern wollen. Aber
sie kann, indem sie die in den Wissenschaften jeweils leitenden Vorverständ-
nisse transparent macht, neue Fragedimensionen freilegen und damit der
methodischen Arbeit indirekt dienen. Sie kann aber darüber hinaus zum
Bewußtsein bringen, was die Methodik der Wissenschaften fur ihren eige-
nen Fortschritt zahlt, welche Abblendungen und Abstraktionen sie zumutet.
durch die sie das natürliche Bewußtsein ratlos hinter sich läßt- das dennoch,
als der Konsument der durch die Wissenschaft erlangten Inventionen und
Informationen, ihnen beständig folgt. Das kann man - mit Wittgenstein - so
ausdrücken: Die 'Sprachspiele< der Wissenschaft bleiben auf die Metaspra-
che, die die Muttersprache darstellt. bezogen. Die von der Wissenschaft
gewonnenen Erkenntnisse gehen über die modernen Informationsmittel
und in gehöriger (manchmal ungehörig großer) Verspätung über Schule und
Erziehung in das gesel1schaftliche Bewußtsein ein. So artikulieren sie die
>soziolinguistischen< Wirklichkeiten.
Für die Naturwissenschaften als solche ist das freilich ohne Belang. Dem
echten Naturforscher ist es ohnehin klar, wie partikular der Erkenntnisbe-
reich seiner Wissenschaft im ganzen der menschlichen Wirklichkeit ist. Er
teilt die Vergötterung derselben nicht, die ihm die Öffentlichkeit aufdrängt.
Um so mehr bedarf diese - und der Forscher. der in die Öffentlichkeit geht-
der hermeneutischen Reflexion auf die Voraussetzungen und Grenzen der
Wissenschaft. Die sogenannten Humam'ora vermitteln sich noch immer auf
leichte Weise mit dem allgemeinen Bewußtsein, soweit sie dasselbe über-
haupt noch erreichen, weil ihre Gegenstände der kulturellen Überlieferung
und dem herkömmlichen Bildungswesen unmittelbar zugehören. Aber die
Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik 249

modernen Soziahvissenschaften stehen zu ihrem Gegenstand, der gesell-


schaftlichen Wirklichkeit, in einem eigentümlich spannungsvollen Verhält-
nis, das der hermeneutischen Reflexion eigens bedarf. Die methodische
Verfremdung, der sie ihren Fortschritt verdanken, bezieht sich hier auf die
menschlich-gesellschaftliche Welt im ganzen. Sie sieht sich durch sie der
wissenschaftlichen Verftigung ausgesetzt, in Planung, Lenkung, Organisa-
tion, Entwicklung, kurz in einer Unzahl von Funktionen, die alle das Leben
jedes einzelnen und jeder Gruppe sozusagen von außen determinieren. Der
Sozialingenieur, der das Funktionieren der Gcsellschaftsmaschine betreut,
scheint wie abgespalten von der Gesellschaft, der er doch angehört.
Dem kann eine hermeneutisch reflektierte Soziologie nicht folgen. Haber-
mas' luzide Analyse der sozial wissenschaftlichen Logik hat das andersartige
Erkenntnisinteresse, das die Soziologen gegenüber den Technikern der Ge-
sellschaft auszeichnet. entschlossen herausgearbeitet. Er nennt es ein eman-
zipatorisches, das allein auf Reflexion zielt, und beruft sich dafUr auf das
Beispiel der Psychoanalyse.
In der Tat ist die Rolle, welche die Hermeneutik im Rahmen einer Psycho-
analyse zu spielen hat, eine fundamentale, und da, wie oben betont wurde,
fUr die hermeneutische Theorie auch das unbewußte Motiv keine Grenze
darstellt und da vollends die Psychotherapie sich so beschreiben läßt, daß
))linterbrochene Bildungsprozesse zu einer vollständigen Geschichte (die
erzählt werden kann) ergänzt werden« (189), hat die Hermeneutik und der
Kreis der Sprache, der sich im Gespräch schließt, hier ihren Ort, wie ich vor
allem aus J. Lacan gelernt zu haben meine 24•
Jedoch ist es klar, daß das nicht alles ist. Der von Freud ausgearbeitete
Interpretationsrahmen beansprucht weithin den Charakter echter naturwis-
senschaftlicher Hypothesen, bzw. der Erkenntnis geltender Gesetze. Das
muß sich in der Rolle darstellen, die die methodische Verfremdung inner-
halb der Psychoanalyse spielt, und das tut es auch. Wenngleich die gelingen-
de Analyse ihre eigene Beglaubigung im Erfolge gewinnt, ist der Erkennt-
nisanspruch der Psychoanalyse doch keineswegs aufs Pragmatische redu-
zierbar. Das heißt aber, daß sie offenkundig einer abermaligen hermeneuti-
schen Reflexion ausgesetzt ist. Wie verhält sich das Wissen des Psychoanaly-
tikers zu seiner Stellung innerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeit, der er
doch angehört? Daß er die bewußteren Oberflächeninterpretationen hinter-
fragt, maskiertes Selbstverständnis durchbricht, die repressive Funktion
gesellschaftlicher Tabus durchschaut, das gehört zur emanzipatorischen Re-
flexion, in die er seinen Patienten hineinfUhrt. Aber wenn er dieselbe Refle-

24 Vgl. jetzt die Sammlung seiner Schriften, Ecrits, Aux Editions du Seuil, Paris (1966)

[und die vorzügliche Heidelberger Dissertation von Hermann Lang. Die Sprache und das
Unbewußtc. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse. Frankfurt 1973].
250 Weitercnt\vicklungcn

xion dort ausübt, wo er nicht als Arzt dazu legitimiert ist, sondern wo er
selber sozialer Spiclpartner ist, fallt er aus seiner sozialen Rolle. Wer seine
Spiel partner auf etwas jenseits ihrer Liegendes hin ,durchschaut<, d. h. das
nicht ernst nimmt, was sie spielen, ist ein Spielverderber, denl man aus dem
Wege geht. Die emanzipatorische Kraft der Reflexion. die der Psychoanaly-
tiker in Anspruch nimmt, muß mithin an dem gesellschaftlichen Bewußt-
sein ihre Grenze finden, in welchem sich der Analytiker, ebenso wie sein
Patient, mit allen anderen versteht. Die hermeneutische Reflexion lehrt uns,
daß soziale Gemeinschaft bei allen Spannungen und Störungen immer wie-
der auf ein soziales Einverständnis zurückfUhrt, durch das sie existiert.
Damit wird aber die Analogie zwischen psychoanalytischer und soziolo-
gischer Theorie problematisch. Denn \"\'o soll diese ihre Grenze finden? Wo
hört dort der Patient auf und tritt die Sozialpartnerschaft in ihr unprofessio-
nelles Recht? Gegenüber welcher Sclbstinterpretation des gesellschaftlichen
Bewußtseins - und alle Sitte ist eine solche - ist das Hinterfragen und
Hintergehen am Platze, etwa in revolutionärem Veränderungswillen, und
gegenüber welcher nicht? Diese Fragen scheinen unbeantwortbar. Es
scheint sich die unausbleibliche Konsequenz zu ergeben, daß dem prinzipien
emanzipatorischen Bnvußtsein die Auflösung alles Herrschaftszwangs vor-
schv.teben muß - und das hieße, daß die anarchistische Utopie ihr letztes
Leitbild sein muß. - Dies freilich scheint mir ein henneneutisch falsches
Bewußtsein.
19. Replik zu >Hermeneutik und Ideologiekritik<
1971

Hermeneutik ist die Kunst der Verständigung. Nichtsdestoweniger scheint


es von besonderer Schwierigkeit, sich über die Probleme der Hermeneutik
zu verständigen - \venigstens solange ungeklärte Begriffe von Wissenschaft,
Kritik und Reflexion die Diskussion beherrschen. Da leben wir in einem
Zeitalter, in dem Wissenschaft in immer größerem Ausmaß die Beherr-
schung der Natur vollbringt und die Verwaltung dcs menschlichen Zusam-
menlebens regelt, und dieser Stolz unserer Zivilisation, die unermüdlich die
Mängel ihrer Erfolge korrigiert und beständig neue wissenschaftliche For-
schungsaufgaben produziert, auf die sich abermals Fortschritt, Planung und
Schadensvorbeugung gründen, entwickelt die Macht einer echten Verblen-
dung. Im Sichversteifen auf den Weg fortschrittlicher Weltgestaltung durch
Wissenschaft perpetuiert sich ein System, in das sich das praktische Bewußt-
sein des einzelnen resignierend und einsichtslos ergibt oder gegen das es sich
revoltierend - und das heißt nicht minder einsichtslos - wehrt.
Aufklärung über diese Verblendung hat nichts mit jener romantischen
Kulturkritik zu tun, die sich gegen die Wissenschaft und ihre technische
Ausstrahlung als solche wendet. Ob man den >Verlust der Vernunft, (The
eclipse of reason) oder die steigende )Seinsvergessenheit< oder die Spannung
von) Wahrheit und Methode< zum Gegenstand des Denkens erhebt - nur ein
bis zur Verblendung gereiztes Wissenschafts bewußtsein kann verkennen,
daß der Streit um die wahrhaften Zwecke der menschlichen Gesellschaft
oder das Fragen nach dem Sein inmitten der Vorherrschaft des Machens,
oder das Innesein unserer geschichtlichen Herkunft und Zukunft auf ein
Wissen gewiesen sind, das nicht Wissenschaft ist, aber das in aller menschli-
chen Lebenspraxis die Führung hat. und das selbst dort, wo diese Lebenspra-
xis sich ex professo die Förderung und Anwendung von Wissenschaft
angelegen sein läßt.
Zwar hat die moderne Wissenschaft seit dem 17. Jahrhundert eine neue
Welt heraufgefuhrt, indem sie auf die Erkenntnis der Substanzen entschlos-
sen verzichtete und sich auf den mathematischen Entwurf der Natur und den
[Die Seitenzahlen hinter den zitierten Autorennamen beziehen sich auf die Beiträge in
~Hermeneutik und Ideologiekritik< (Frankfurt 1971), auf die meine Replik antwortet.]
252 Weiterentwicklungen

methodischen Einsatz des Messens und des Experimentierens einschränkte


und so den konstruktiven Weg der Narurbeherrschung aufschloß. Die erd-
umspannende Ausbreitung der technischen Zivilisation wurde dadurch ein-
geleitet. Aber erst in unserem Jahrhundert hat sich mit steigenden Erfolgen
die Spannung zwischen unserem wissenschaftlichen Fortschrittsbewußtsein
und unserem gesellschaftlich-politischen Bewußtsein mehr und mehr ver-
schärft. Gleichwohl ist der Konflikt Z\vischen diesem und jenem Wissen ein
sehr altes Problem. Er hat Sokrates das Leben gekostet, als dieser das
Fachwissen der Handwerker seiner Unwissenheit über das eigentlich Wis-
senswürdige, das Gute, überflihrtc. Das wiederholte sich in dem platoni-
schen Sokrates-Porträt. Plato hebt die Dialektik, die Kunst, ein Gespräch zu
führen, nicht nur gegen das begrenzte Fachv.dssen der Fachleute ab, sondern
sogar gegen das höchste Vorbild aller Wissenschaft, gegen die Mathematik-
obwohl er doch in der Beherrschung der Mathematik die unabdingbare
Voraussetzung dafUr sah, daß einer sich den letzten >dialektischen< Fragen
nach dem wahren Sein und dem höchsten Guten zuwendete.
Und selbst dort, wo die grundlegende Aufklärung über den Unterschied
von Herstellungswissen (techne) und praktischem Wissen (phronesis) erarbei-
tet wurde, in der Ethik des AristoteIes, bleibt es in manchem Punkt unklar,
wie sich das politische Wissen des Staatsmannes und politisch Handelnden
und das technische Wissen des Fachmannes zueinander verhalten. Zwar
scheint es da eine klare Hierarchie zu geben, indern etwa der Feldherr, in
dessen Dienst alle anderen )Künste( stehen, selber am Ende im Dienste des
Friedens steht. \\'ährend der Staatsmann im Frieden ,"vie im Krieg für das
Glück aller handelt. Aber da ist einmal die Frage: wer ist Staatsmann?Jener
Experte, der auf der Leiter politischer Ämter nach oben gelangt ist, oder der
Bürger, der als Teilglied des wahren Souveräns seine Entscheidung durch
Stimmabgabe trifft (und der daneben seinen ,bürgerlichen< Beruf hat)' Im
,Charmidcs( hat Plato das Expertenideal einer politischen Wissenschaft, die
Wissenschaft der Wissenschaft wäre, ad absurdum geruhrt". Offenkundig
ist es nicht angängig, das Wissen, auf dem die praktisch-politischen Ent-
scheidungen beruhen, nach dem Muster des Herstellungswissens zu verste-
hen und darin das oberste technische Wissen zu erblicken, nämlich das
Wissen um die Herstellbarkeit des menschlichen Glücks. So etwas ist gerade
nicht lehrbar, wie schon Plato an den Söhnen der großen Männer von Athen
zu demonstrieren liebte und wie noch Aristoteles, der selber, ohne atheni-
scher Bürger zu sein, in Athen lehrte, gleicl1\\'ohl die heran reisenden Exper-
ten idealer Staatsgründung und Verfassungsgebung als Sophisten (nicht als
Politologen) bezeichnete und abwehrte. In der Tat waren diese Experten
alles andere als Staatsmänner, d. h. als führende Bürger in ihrer eigenen
2, Vgl. meinen Diskussionsbeitrag: >Die Grenzen des Expertemums< zum 9. Darmstäd-
terGespräch: Der Mensch und seine Zukunft, 1967, S. 160-168.
Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik 253

Polis. Aber selbst \"\Tenn das alles rur Aristoteles sonnenklar war und er die
eigene Struktur des praktischen Wissens gegenüber der des technischen
Wissens meisterhaft herausgearbeitet hat - es blieb doch abermals eine Frage
zurück: Was soll das für ein Wissen sein, in dem Aristoteles selber diese
Unterscheidungen traf und lehrte? Was ist die praktische (und politische)
Wissenschaft ihrerseits fur ein Wissen?
Solches Wissen ist nicht einfach eine höhere Betätigungjenes praktischen
Wissens, das Aristoteles als Phronesis beschrieben und analysiert hat. Zv.rar
ist )praktische Philosophie< von der >theoretischen Wissenschaft< bei Aristo-
teIes ausdrücklich unterschieden, offenbar eben dadurch, daß der )Gegen-
stand< dieser Wissenschaft nicht das Immerseiende und die obersten bleiben-
den Prinzipien und Axiome sind, sondern die beständiger Veränderung
unterliegende menschliche Praxis. Aber in gewissem Sinne ist sie doch selbst
theoretisch, sofern, was sie lehrt, kein wirkliches Handlungswissen ist, das
eine konkrete Situation der Praxis klärt und entscheidet, sondern )allgemei-
ne< Erkenntnisse über menschliches Verhalten und die Formen seines )politi-
sehen< Daseins vermittelt. So geht durch die Tradition der abendländischen
Wissenschaftsgeschichte als eine eigene Form von Wissenschaft die scientia
practica, die praktische Philosophie, die weder theoretische Wissenschaft ist,
noch auch zureichend dadurch charakterisiert wird, daß sie )praxisbezogen<
ist. Sie ist - als Lehre - ganz gewiß kein >Handlungswissen<26. Aber ist sie
nichts als Techne oder >Kunstlehre<? Sie ist nicht zu vergleichen mit der
Grammatik oder Rhetorik, die für ein technisches Können - Reden oder
Schreiben - ein technisches Regelbewußtsein bereithalten, das seinerseits
Kontrolle der Praxis möglich macht und andererseits auch Lehre. Diese
Kunstlehren scheinen bei aller ihrer Überlegenheit über die bloße Erfahrung
doch der Ausübung des Sprechens oder Schreibens eine letzte Geltung
zuzuerkennen, so wie alle andere Techne, alles Handwerkswissen, dem
Gebrauch untergeordnet ist, den man von dem hergestellten Produkt
macht. Praktische Philosophie ist nicht in diesem Sinne, in dem Grammatik
oder Rhetorik Kunstlehren sind, ein Regclwissen rur menschlich-gesell-
schaftliche Praxis. Sie ist vielmehr Reflexion auf ein solches und somit in
einem letzten Betracht> allgemein< und >theoretisch<. Auf der andern Seite
stehen Lehre und Rede hier unter eigentümlichen Bedingungen, sofern alles
moralphilosophische Wissen und entsprechend auch jede allgemeine Staats-
lehre auf die besonderen Erfahrungsbedingungen des Lernenden bezogen
sind. Aristotcles gesteht sich das durchaus ein, daß sich solches >Reden im
allgemeinen< über das, was eines jeden eigens te konkrete Praxis ist, nur
rechtfertigt, wenn man es mit Schülern zu tun hat, die reif genug sind,
26 Das hat Ernst Schmidt in der Kritik des Buches >Moral Knowledge and its Methodo-
logy in Aristotle< von J. Donald Monan richtig gezeigt (Philosophische Rundschau, 17,
1971, S. 249ff).
254 Weiterentwicklungen

allgemeine Reden auf die konkreten Umstände ihrer Lebenserfahrung in


selbständiger Verantwortung anzuwenden. Die praktische Wissenschaft ist
also wohl ein >allgemeines< Wissen, aber offenkundig ein Wissen, das man
weniger Hcrstellungswisscn nennen kann als Kritik.
Geradeso scheint es nun mit der philosophischen Hermeneutik zu stehen.
Sofern man Hermeneutik als Kunst des Verstehens definiert und die Aus-
übung dieser Kunst, wie die der Rede und des Schreibens, als ein gekonntes
Verhalten versteht, dann ist solches Wissen der Disziplinierung zu bewuß-
tem Regelgebrauch fahig und darf Kunstlehre heißen. So verstanden noch
Schleiermacher und seine Nachfolger Hermeneutik als )Kunstlchrc<. Aber
nicht das ist }philosophische< Hermeneutik. Sie vvill nicht ein Können zum
Regelbewußtsein erheben. Solche >Erhebung< bleibt ohnehin ein eigentüm-
lich ambivalenter Vorgang, sofern auch umgekehrt Regelbewußtsein sich
immer wieder bis zum )automatischen< Können >erhebt<. Philosophische
Hermeneutik dagegen ret1ektiert über dieses Können und über das Wissen,
auf dem es beruht, Sie dient also nicht mehr der Überwindung bestimmter
Schwierigkeiten des Verstehens, wie sie gegenüber Texten oder im Gespräch
mit anderen Menschen begegnen, sondern was sie erstrebt, ist, wie Haber-
mas es nennt, ein »kritisches Reflexionswissen«. Aber was heißt das?
Verschaffen wir uns über das Gemeinte konkrete Anschauung. Die Ret1e-
xion, die eine philosophische Hermeneutik anstellt, wäre etwa in dem Sinne
kritisch, daß sie den naiven Objektivismus aufdeckt, in dem ein an den
Naturwissenschaften orientiertes Selbstverständnis der geschichtlichen
Wissenschaften befangen ist. Hier macht sich Ideologiekritik die hermeneu-
tische Reflexion zunutze, indem sie die Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens
gesellschaftskritisch auslegt. - Oder die hermeneutische Reflexion entdeckt
falsche Hypostasierungen von Worten in dem Stile, in dem Wittgenstein die
Begriffe der Psychologie durch Rückgang auf die hermeneutische Ursitua-
tion des praxisbezogenen Sprechens kritisiert hat. Auch solche Kritik an den
Verhexungen durch Sprache berichtigt unser Selbstverständnis, so daß es
unseren Erfahrungen besser gerecht zu werden vermag. - Kritische Refle-
xion wird von der Hermeneutik aber z, B. auch dadurch geleistet, daß sie
verständliches Sprechen gegen Fehlansprüche der Logik verteidigt, die be-
stimmte Maßstäbe des Aussagekalküls an philosophische Texte heranträgt
und beweisen möchte (Carnap oder Tugendhat), daß, wenn Heidegger oder
Hegel vom Nichts reden, solches Reden sinnlos ist, da es logische Bedingun-
gen nicht erflillt, Hier kann die philosophische Hermeneutik kritisch zeigen,
daß solche Einwendungen der hermeneutischen Erfahrung nicht entspre-
chen und dadurch hinter das zurückfallen, was man verstehen soll. Das
>nichtende Nichts( z. B. drückt nicht, wie Carnap meint, ein Gefuhl aus,
sondern eine Bewegung des Gedankens, die es zu verstehen gilt. - Herme-
neutische Reflexion scheint mir ebenso produktiv, wo jemand etwa in
Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik 255
platonischen Dialogen die sokratische Argumentations\veise auf ihre logi-
sche Schlüssigkeit hin prüft. Hier kann die hermeneutische Reflexion auf-
decken, daß der kommunikative Vorgang so1cher sokratischer Gesprächs-
ftihrung ein Vorgang des Verstehens und der Verständigung ist, der von dem
Erkenntnisziel des logischen Analytikers überhaupt nicht getroffen wird27 . -
Die reflexive Kritik beruft sich offenkundig in allen diesen Fällen auf eine
Instanz, die durch die hermeneutische Erfahrung und ihren sprachlichen
Vollzug repräsentiert ist. Sie erhebt zu kritischem Bewußtsein, was der
scopus der vorliegenden Aussagen ist und welche hermeneutische Anstren-
gung ihr Anspruch aufWahrsein verlangt.
Es handelt sich durchweg um Berichtigung eines Selbstverständnisses.
Insofern ist solche hermeneutische Reflexion >philosophisch<-nicht, weil sie
eine bestimmte philosophische Legitimation von sich aus in Anspruch
nimmt, sondern im Gegenteil, weil sie einen bestimmten )philosophischen<
Anspruch bestreitet. Was sie kritisiert, ist nicht etwa ein wissenschaftliches
Verfahren als solches, z. B. das der Naturforschung oder das der logischen
Analyse, sondern die mangelnde Methodengerechtigkeit, die in solchen
Anwendungen, wie sie oben geschildert wurden, liegt. Philosophische Le-
gitimation auf solches kritische Geschäft zu gründen, ist übrigens nichts
Besonderes. Es gibt wohl keine andere Rechtfertigung des Philosophierens
als durch den Verweis auf die Tatsache, daß immer bereits philosophiert
wird, wenn auch oft unter gegen den Anspruch der )Metaphysik< negativen
Vorzeichen, z. B. dem der Skepsis, der Sprachkritik oder der Wissenschafts-
theorie.
Aber die philosophische Hermeneutik dehnt ihren Anspruch weiter aus.
Sie erhebt Anspruch auf Universalität. Sie begründet ihn damit, daß Verste-
hen und Verständigung nicht primär und ursprünglich ein methodisch ge-
schultes Verhalten zu Texten meinen, sondern die Vollzugsform des
menschlichen Soziallebens sind, das in letzter Formalisierung eine Ge-
sprächsgcmeinschaft ist. Von dieser Gesprächsgemeinschaft ist nichts ausge-
nommen, keine Welterfahrung überhaupt. Weder die Spezialisierung der
modernen Wissenschaften und ihre zunehmende Betriebsesoterik, noch die
materielle Arbeit und ihre Organisationsformen, noch die politischen Herr-
schafts- und Verwaltungsinstitutionen, die die Gesellschaft verfaßt halten,
befinden sich außerhalb dieses universalen Mediums praktischer Vernunft
. (und Unvernunft).
Nun ist eben die Universalität der hermeneutischen Erfahrung das eigent-
lich Strittige. Ist sie nicht durch ihre sprachliche Vollzugsweise auf einen
Kreis kommunikativer Verständigung eingeschränkt, der in mancher Weise
hintergehbar scheint? Da ist zunächst das Faktum der Wissenschaften selbst

27 Plato, 7. Brief, 343 a 7: »weil nicht die >Seele~ des Redenden widerlegt wird. «(
256 Weiterentwicklungen

und ihrer Theoriebildung. Habcrmas sieht darin geradezu einen Einwand:


»Offensichtlich kann die moderne Wissenschaft legitim den Anspruch erhe-
ben, dadurch zu wahren Aussagen über die )Dinge< zu gelangen, daß sie
monologisch verfahrt, statt den Spiegel der menschlichen Rede zu achten.«
Er erkennt zwar an, daß solche )ffionologisch( aufgebauten Theorien der
Wissenschaft im alltagssprachlichen Dialog verständlich gemacht werden
müssen. Aber cr sieht darin doch ein_ fur die Hermeneutik selbst neues
Problem, daß sie es mit solchen Theoriesprachen zu tun bekommt. Herme-
neutik habe es von Hause aus mit der umgangssprachlich konstituierten und
überlieferten Kultur allein zu tun, und es sei eine neue Aufgabe, zu erklären,
wie Sprache überhaupt aus der Dialogstruktur heraustreten und strenge
Theoriebildung ermöglichen könne.
Ich verstehe diese Darlegungen nicht. Die Differenz zwischen Fachspra-
che und Umgangssprache hat es doch seit Jahrtausenden gegeben. Ist die
Mathematik etwas Neues? Und definiert es nicht von jeher den Fachmann,
den Schamanen und den Arzt, daß er sich nicht allgemeinverständlicher
Verständigungsmittel bedient? Was man als ein neuzeitliches Problem anse-
hen kann, ist doch höchstens dies, daß der Fachmann die Übersetzung seines
Wissens in die allgemeine Umgangssprache nicht mehr als seine eigene
Aufgabe ansieht, so daß die Aufgabe dieser hermeneutischen Integration
sich als eine Sonderaufgabe stellt. Aber die hermeneutische Aufgabe als
solche ändert sich dadurch nicht. - Oder meint Habermas damit nur, daß
man theoretische Kontruktioncn, ",,·ie sie etwa im Felde der Mathematik und
der heutigen mathematischen Naturwissenschaft vorkommen, ohne jeden
Rekurs auf die Umgangssprache )verstehen( könne? Das ist freilich nicht
strittig. Es wäre absurd zu behaupten, daß alle unsere Welterfahrung nichts
als ein Sprachvorgang sei, daß etwa die Entwicklung unseres Farbensinns
bloß in der Differenzierung im Gebrauch von Farbwörtern bestünde 28 • Auch
machen genetische Erkenntnisse wie etwa die von Piaget, auf die Habermas
Bezug nimmt und die wahrscheinlich machen, daß es einen vorsprachlichen
operationellen Kategoriengebrauch gibt, aber auch all die sprachlosen For-

2.S Von Barmann, S. 98, geht so weit, mir nachzusagen, daß die Worte, die verstanden

werden, eigentlich nichts mehr sind als WorteH -, }}ohne konkreten Sinn ... ({ und fUhrt
das auf eine zu weit getriebene Formalisierung der hermeneutischen Fragestellung zurück.
Aber hier ist er doch der Zweideutigkeit zum Opfer gefallen, die er an mir kritisiere - er
unterschätzt die wesenhafte Beziehung aller Philosophie der Hermeneutik aufhermeneu-
tische Praxis. Man will wissen, was einem da geschieht (und nicht etwa )glauben<). Die
}Zweideutigkeit<, die er mir in seiner höchst forderlichen Kritik nachweist, ist gewiß zu
einem Teile die Folge meiner bcgriffiichen Schwäche. zum anderen aber liegt es dem
Wesen der hermeneutischen Erfahrung zugrunde, unentschieden zu sein und ständig
versucht, das, was man als Aussage eines anderen versteht, auch sachlich einleuchtend zu
finden.
Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik 257

men von Kommunikation, die Helmuth Plessner 29 , Michael PolanyPO und


Hans Kunz:l l besonders beachtet haben, jede These lächerlich, die andere
außersprachliche Verstehensformen mit der Berufung auf eine sprachliche
Universalität ableugnen wollte. Sprechen ist im Gegenteil deren mitgeteiltes
Dasein. Aber eben in der Mitteilbarkeit des Verstehens liegt das Thema der
Hermeneutik, wie Habermas (S. 77) selber richtig erkennt. Wenn man einen
Streit um Worte vermeiden will, sollte man daher lieber auf die Gänsefüß-
chen verzichten und beispielsweise nicht unterstellen, daß künstliche Zei-
chensysteme in detnselben Sinne )verstanden( werden, in dem unsere
sprachliche Weltauslegung eine verstehende ist. Man \vird dann freilich auch
nicht mehr sagen dürfen, daß die Naturwissenschaften zu Aussagen über
,die Dinge< gelangen, ohne ,auf den Spiegel menschlicher Rede zu achten<.
Was fur >Oinge( kennt denn die Naturwissenschaft? Der Anspruch der
Hermeneutik ist und bleibt, in die Einheit sprachlicher Wc1tauslegung zu
integrieren, was als unverständlich oder als nicht allgemein, sondern nur
unter Eingeweihten >verständlich< begegnet. Es kann nicht im Ernst als ein
Einwand gegen diesen Anspruch geltend gemacht werden, daß die moderne
Wissenschaft ihre eigenen Sondersprachen und Fachsprachen und künstli-
chen Symbolsysteme entwickelt hat und innerhalb derselben 'monologisch<
verfahrt, d. h. außerhalb aller umgangssprachlichen Kommunikation ,Ver-
stehen( und) Verständigung< erreicht. Habermas, der diesen Einwand er-
hebt, weiß doch selbst sehr gut, daß solches, Verstehen< und Sich-Verstehen-
auf, das ja auch das Pathos des modemen Sozialingenieurs und Experten
ausmacht, gerade der Reflexion ermangelt, durch die es gesellschaftlich
verantwortet werden könnte.
Er weiß es so gut, daß er, um der Reflexion zu ihrem Recht zu verhelfen,
das Beispiel einer kritischen Reflexionswissenschaft breit ausmalt, das der
gesellschaftlichen Reflexion ein Vorbild sein solle: die Psychoanalyse. Sie
betreibt kritische, emanzipatorische Reflexion, indern sie deformierte Kom-
munikation durch Reflexion von ihren Blockaden befreien und Kommuni-
kation wiederherstellen will. Auf solche emanzipatorische Reflexion kom-
me es auch im sozialen Bereich an. Nicht nur der neurotische Patient leide an
systematisch verzerrter Kommunikation, wenn er seine Neurose verteidigt,
sondern im Grunde ein jedes gesellschaftliches Bewußtsein, das sich mit
dem herrschenden gesellschaftlichen System im Einverständnis befinde und
daher dessen Zwangscharakter unterstütze. Dies ist die nicht selber zur
Diskussion gestellte Voraussetzung, unter der Habermas argumentiert.
Wie der Psycholanalytiker dem vom Heilungswunsch zu ihm getriebe-

29 Jetzt in: Philosophische Anthropologie, Conditio humana. Frankfurt 1970.


30 In: The Tacit Dimension, New York 1966.
31 Z. B. in kritischer Auseinandersetzung mit mir in Studia philosophica XX, 1961.
258 Weitcrent,.,ricklungcn

nen Patienten eine im übrigen höchst verantwortlich freigebende Refle-


xionsarbeit zumute, so müsse auch im sozialen Bereich jede Form von
Herrschaftszwang bewußt gemacht und zur Auflösung gebracht werden.
Insbesondere Habermas und Giegel konkretisieren das auf verschiedene
Weise unter dem grundsätz1ichen Thema der Hintergchbarkeit der Spra-
che. Was sie damit meinen, ist al1erdings in gev,lissem Sinne eine Techni-
sierung des Verstehens, durch die die Vieldeutigkeit sprachlicher Kommu-
nikation überwindbar würde. Aber das ist nicht alles. Habermas streift
zwar solche metalinguistischen Möglichkeiten, aber was ihm die Psycho-
analyse bedeutet, ist etwas anderes, nämlich ihre methodische Besonder-
heit, erklärende Wissenschaft (damit mögliche Technik) und zugleich
emanzipatorische Reflexion zu sein. Im Falle der Psychoanalyse muß
Sprache hintergangen werden, meint er. Denn in der Neurose finden wir
eine so gründliche und systematische Kommunikationsstärung, daß das
therapeutische Gespräch scheitern müßte, wenn es nicht unter ganz
besonderen und komplizierten Bedingungen vorginge. Es kannim Gespräch
die Voraussetzung eines tragenden Einverständnisses, welche sonst Ge-
sprächspartner verbindet, nicht zur Einlösung bringen, wenn auch die Analy-
se am Ende in der Affirmation des Patienten ihre Bestätigung empfangt und
wenn auch im Abbau der Symptome der Patient in die normale Komm unika-
tionsfahigkeit zurückkehrt. Habermas bezieht sich hier weitgehend auf die
einleuchtenden Schilderungen Lorenzers über ~Sprachzerstörung<.
Aber worauf es ihm ankommt, fugt er aus eigenem hinzu: So wie der
Patient den undurchschauten Zwang durchschauen, Verdrängungen auflö-
sen und in Bewußtheit überwinden lernt, so gelte es auch im sozialen
Bereich, den undurchschauten Zwang gesellschaftlicher Herrschaftsver-
hältnisse durch Ideologiekritik zu durchschauen und aufzulösen. Der ver-
trauensvolle Gesprächsoptimismus der philosophischen Hermeneutik
könne das nicht leisten, da diese nur ein Pseudoeinverständnis auf der
Basis der herrschenden gesellschaftlichen Vorurteile perpetuiere. Ihr fehle
die kritische Reflexion. So bedürfe es der tiefenhermeneutischen Deutung
einer »systematisch verzerrten Kommunikation«. Denn wir )~haben Ver-
anlassung anzunehmen, daß der Hintergrundkonsensus eingelebter Tradi-
tionen und Sprachspiele nicht nur im pathologischen Einzelfall gestörter
Familiensysteme. sondern auch im gesamtgesellschaftlichen System ein
zwangsintegriertes Bewußtsein, ein Ergebnis von Pseudokommunikation
sein kann«. Habermas wehrt sich gegen die Zumutung, die Kommunika-
tion auf den »Traditionsspielraum geltender Überzeugungen{( einzu-
schränken, und sieht darin eine unmögliche Privatisierung des Aufklä-
rungsanspruchs, den die Tiefenhermeneutik erhebt. In diesem Sinne hat
er offenbar meine Erinnerung an die soziale Rolle des Arztes und die ein-
schränkenden Bedingungen der Psychotherapie verstanden.
Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik 239
In der Tat liegt der Einwand nahe, den ich vorbrachte, daß der Patient und
der Arzt auf ein bestimmtes soziales Rollenspiel eingespielt und einge-
schränkt seien, sofern die emanzipatorische Reflexionsarbeit in beruflicher
Verantwortung betrieben werde. Es könnte nicht zu der sozialen Legitima-
tion des Arztes (bzw. des Laienanalytikers) gehören, über den ärztlich-
therapeutischen Bereich hinauszugreifen und in emanzipatorischer Refle-
xion das soziale Bewußtsein anderer als )krank< zu )behandeln<. - Ich verken-
ne damit nicht den eigentümlichen Charakter von Behandlung, der der
psychoanalytischen Therapie eigen ist, jenes komplizierte Ineinander von
Inbesitznahme (> Übertragung<) und Freigabe, das bei der Behandlung einzu-
halten die Kunst des Analytikers ausmacht. Sowohl Lorenzers ausgezeich-
neter Schilderung des Verfahrens, auf die sich Habermas stützt, als auch der
Darstellung bei Giegel gestehe ich voll zu, daß solche >Behandlung< nicht als
eine Technik zu bezeichnen ist, sondern als eine gemeinsame Reflexionsar-
beit. Ich erkenne auch darüber hinaus an, daß der Analytiker seine analyti-
sche Erfahrung und sein Wissen nicht einfach beiseite stellen kann, wenn er
als Sozialpartner, und nicht mehr als Arzt, seine soziale Rolle spielt. Aberdas
ändert nichts daran, daß eben diese Einmischung psychoanalytischer Kom-
petenz einen Störungsfaktor im sozialen Umgang bedeutet. Ich sage nicht,
daß derartiges vermeidbar sei. Man schreibt ja auch Graphologen Briefe und
liefert sich ihnen aus, ohne daß man damit ihre graphologische Kompetenz
ansprechen \~,1ill, und auch außerhalb solcher spezifischer Kompetenzen ist es
doch so, daß man bei der dialogischen Zuwendung, beim Hören auf Gründe
und bei der affektiven Beeinflussung durch einen anderen, auch seinerseits
Menschenkenntnis, anderweitige Informationen und distanzierte Beobach-
tung ins Spiel bringt und sich dadurch der Offenheit rur das >reine< rationale
Gespräch in Grenzen entzieht. Man denke etwa an Sartres berühmte Be-
schreibung des Blicks des anderen.
Trotzdem ist die hermeneutische Situation im sozialen Partnerschaftsver-
hältnis von der im analytischen Verhältnis sehr wohl unterschieden. Wenn
ich jemandem einen Traum erzähle und es veranlaßt mich dazu nicht eine
analytische Absicht oder gar meine Rolle als Patient, dann hat die Mitteilung
offenkundig nicht den Sinn, eine analytische Traumdeutung einzuleiten.
Der Zuhörer verfehlt den hermeneutischen Scopus, wenn er das dann doch
tut. Die Absicht ist vielmehr, an den unbewußten Spielen der eigenen
Traumphantasie teilzugeben, so wie man etwa auch an der Märchenphanta-
sie oder an der dichterischen Einbildungskraft teilnimmt. Dieser hermeneu-
tische Anspruch ist legitim und hat nichts mit dem Widerstand zu tun, der
innerhalb der Analyse ein wohlbekanntes Phänomen ist. Es ist durchaus
berechtigt, es abzulehnen, wenn einer die beschriebene hermeneutische
Situation verkennt und z. B. Jean Pauls Traumdichtungen, statt sie als be-
deutungsvolle Spiele der Einbildungskraft verstehen zu wollen, als den
260 Weiterenrwicklungen

bedeutungsvollen Ernst unbnvußter Symbolisierung einer verschütteten


Biographie zu deuten untcrnitnmt. Hier ist hermeneutische Kritik an tiefen-
psychologischer Legitimität arn Platze und ist keineswegs auf ästhetische
Bildungsfreuden beschränkt. Wenn jemand z. B. einen anderen in einer
politischen Frage mit leidenschaftlicher Emotion und bis zum Ärger gestei-
gerter Schärfe argumentativ zu überzeugen sucht, so hat er einen hermeneu-
tischen Anspruch darauf, Gegenargumente zu bekommen und nicht seine
Emotionen tiefenpsychologisch behandelt zu sehen, nach dem Motto: Wer
sich ärgert, hat unrecht. Wir \-verden auf dieses Verhältnis psychoanalyti-
scher und hermeneutischer Reflexion und die Gefahren einer Verwirrung
dieser beiden )Sprachspiele( noch zurückkommen.
Nun liegt die exemplarische Bedeutung, die der Psychoanalyse ftir die
Kritik an der Hermeneutik und ftir die Kritik innerhalb der gesellschaftli-
chen Kommunikation zukommen soll, in der Rolle der emanzipatorischen
Reflexion, die in ihr ihre therapeutische Funktion hat. Die Reflexion befreit,
indem sie durchschau bar macht, von dem, was einen undurchschaut be-
herrscht. Offenbar ist das in einem anderen Sinne kritische Reflexion, als in
dem die hermeneutische Reflexion es ist, die, wie ich schilderte, inadäquates
Selbstverständnis zerstört und den Mangel an Methodengerechtigkeit auf-
deckt. Nicht daß die am Vorbild der Psychoanalyse orientierte Kritik solcher
hermeneutischen Kritik widerspräche (wenn auch, wie ich zeigen möchte,
die hermeneutische Kritik dieser Vorbildnahme widersprechen muß). Aber
sie ist ihr nicht genug. Die hermeneutischen Wissenschaften verteidigen sich
durch hermeneutische Reflexion gegen die These, ihr Verfahren sei unwis-
senschaftlich, da es die )Objektivität( der seienee verleugne. In diesem Punkte
stimmt die Ideologiekritik der philosophischen Hermeneutik sogar zu. Aber
sie wendet ihre Kritik gegen die Hermeneutik, sofern diese auf unzulässige
Weise ein traditionalistisches Festhalten an überkommenen Vorurteilen per-
petuiere. Seit dem Einbruch der industriellen Revolution und der Wissen-
schaft in das soziale Leben spiele das Traditionsmoment nur noch eine
sekundäre Rolle.
K. O. Ape! spricht diese Kritik allerdings so aus, daß er offenbar mißver-
steht, was die philosophische Hermeneutik meint, wenn sie von Applika-
tion spricht. Es handelt sich dabei um ein implizites Moment alles Verste-
hens. Man sollte es wirklich ernst nehmen, daß die von mir vorge1cgte
Analyse der hermeneutischen Erfahrung die erfolgreiche Praxis der herme-
neutischen Wissenschaften zum Gegenstand hat, in der ganz gewiß keine
>bewußte Applikation( am Werke ist, von der man ideologische Korrumpie-
rung der Erkenntnis befürchten könnte. Dies Mißverständnis hatte schon
Betti beunruhigt. - Offenbar ist hier eine Unklarheit im Begriffe des Appli-
kationsbewußtseins im Spiel. Es ist durchaus wahr, wie Apel feststellt, daß
Applikationsbewußtsein gegenüber dem objektivistischen Sdbstverständ-
Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik 261

nis der ver~tehenden Wissenschaften und ebenso angesichts der Lebenspra-


xis des Verstehens als hermeneutische Forderung aufgestellt wird. Insofern
ist eine philosophische Hermeneutik, wie ich sie zu entwickeln versucht
habe, gewiß mormativ" nämlich in dem Sinne, daß sie eine schlechte Philo-
sophie durch eine bessere zu ersetzen trachtet. Aber sie propagiert nicht eine
neue Praxis, und es ist keine Rede davon, daß die hermeneutische Praxis
jeweils in concreto von einem Bewußtsein der Applikation und einer Ab-
sicht der Applikation geleitet wäre, und das gar noch im Sinne der bewußten
Legitimierung einer geltenden Tradition.
Gewiß gibt es eine Rückwirkung eines falschen Selbstverständnisses auf
ein praktisches Verfahren und ebenso gewiß auch die umgekehrte Rück-
wirkung eines angemessenen Selbstverständnisses, sofern dieses solche
von Theorie herrührenden praktischen Verzerrungen von der Theorie her
zerstört. Aber es ist keineswegs die Aufgabe der wirkungsgeschichtlichen
Reflexion, nach Aktualisierung zu streben und auf >An\vendung< aus zu
sein, sondern im Gegenteil, alle aktualisierenden Anbiederungen beim
Verstehen von Überlieferung nicht nur durch die formale Disziplin der
wissenschaftlichen Methodik, sondern dutch konkrete inhaltliche Refle-
xion zu verhindern und zu dccouvrieren. Ape1 spricht mir aus der Seele,
wenn er sagt: »Es liegt durchaus im Pflichtbereich einer applikationsbe-
wußten Interpretationsmethode, der Gegenwart die akruelle Applikation
im Interesse einer nicht begrenzten Verständigung unter Umständen
schwerrnachen zu müssen.« (141) Ich würde sogar noch weiter gehen und
statt lunter Umständen< sagen: >unter allen Umständen< - nur daß ich
diesen Grundsatz nicht erst für eine Folge der Applikationsbewußtheit
halte, sondern rür eine Erfüllung der echten Pflicht der Wissenschaftlich-
keit, die mir freilich oft gerade dort verletzt scheint, \vo ideologische Vor-
urteile im Hintergrunde als eine vis a tergo deshalb wirksam bleiben, weil
eine pseudoexakte Methodenbesinnung sie nicht wahrhaben will. An die-
sem Punkt sehe ich, mit Ape! (32), in der Tat eine ideologische Korrup-
tionsgefahr. Ob dieselbe auch, wie Apel (35) sagt, diejenigen hermeneuti-
schen Geisteswissenschaften, die er >existentialistische< nennt, trifft, kann
ich nicht sagen, da ich nicht weiß, was er meint. Aber gewiß trifft sie
nicht diejenigen, an denen sich die philosophische Hermeneutik orientiert
oder gar diese selbst. Hier vermag hermeneutische Reflexion im Gegenteil
)praktisch< zu werden: sie macht jede Ideologie verdächtig, indem sie Vor-
urteile bewußt macht.
Am besten prüft man derartiges am konkreten Beispiel. Sehen wir uns
etwa, um in meinem Kompetenzbereich zu bleiben, die Geschichte der
Vorsokratikerdeutung unseres Jahrhunderts an. Da bringt eine jede Interpre-
tation bestimmte Vorurteile ins Spiel, ]oel das Religionswissenschaftliche,
Karl Reinhardt das Vorurteil der logischen Aufklärung, Werner Jaeger einen
262 Weiterenrwicklungen

undurchschautcn religiösen Monotheismus (wie W. Bröcker 32 glänzend ge-


zeigt hat), und wenn ich selbst, gewiß durch Heideggers Exposition der
Seinsfrage inspiriert, ,das Göttliche< im Licht der klassischen Philosophie
und vom philosophischen Gedanken her zu verstehen suche33 , so ist gewiß in
a11 diesen Fällen die Wirksamkeit eines leitenden Vorurteils zu beobachten,
das gerade dadurch produktiv wird, daß es bisher geltende Vorurteile korri-
giert. Hier werden nicht vorgefaßte Meinungen auf Textc angewandt, son-
dern man versucht zu verstehen, was da steht, und besser zu verstehen, weil
man das Vorurteil des andern durchschaut. Aber dies Durchschauen wird
selber nur erreicht, \vcil man das, was dasteht, mit neuen Augen anblickt.
Die hermeneutische Reflexion ist nicht ablös bar von hermeneutischer
Praxis.
Man muß sich daher auch hüten, diese Art hermeneutischer Bewegung
der Forschung nach dem Muster unmittelbaren Fortschritts verstehen zu
wollen. Apcl hat dic Diskussion über die hermeneutische Problemlage
durch seine Heranziehung von Peirce und Royce sehr bereichert, indenl er
den Praxis bezug in allem Sinnverstehen herausarbeitet, und er hat völlig
recht, wenn er dabei die Idee einer unbegrenzten Interpretationsgemein-
schaft in Anspruch nimmt. Sicherlich ist nur eine solche geeignet, den
Wahrheitsanspruch der Verständigungsbemühungen zu legitimieren. Und
doch zweifle ich, ob es berechtigt ist, die Legitimation derselben mit der Idee
des Fortschritts zu verknüpfen. Die Vie1faltigkcit der Interpretationsmög-
lichkeiten, die erprobt werden, schließt keineswegs aus, daß sich dieselben
wechselseitig vers chatten. Auch ist die Tatsache, daß im Fortgang dieser
Interpretationspraxis dialektische Antithesen hervortreten, keinerlei Garan-
tie ftir die Annäherung an wahrere Synthesen. Man muß vielmehr in
diesen Bereichen der geschichtlichen Wissenschaften das >Resultat, des Inter-
pretationsgeschehens nicht so sehr in dem Fortschritt sehen, den es immer
nur in Teilaspekten gibt, als in einer dem Absinkcn und Verfallen von Wissen
entgegengestellten Leistung: der Wiederbelebung von Sprache und dem
Wiedergewinnen von Sinn, der einem durch Überlieferung zugesprochen
\\'ird. Das ist nur vom Maßstab eines absoluten Wissens her, das nicht
unseres ist, ein bedrohlicher Relativismus.
Eben deshalb scheint es mir auch ein Mißverständnis, wenn man die naive
Applikation, die vor deill Aufkommen des historischen Bewußtseins den
Gang der Tradition beherrschte, nun mit dem Applikationsilloment in allem
Verstehen gleichsetzen möchte. 14 UnZ\veifdhaft ist durch den Traditions-
bruch und das Aufkommen des historischen Bewußtseins die Praxis des
32 [VgL Aristoteles. Frankfurt 1935, 4. Aufl. 1974, s. 213ff.l.
33 [VgL meine Arbeit ,Über das Göttliche im frühen Denken der Griechen(, Ges. Werke
Bd. 6, S. 154ff.l.
34 fVgl. Gi..'S. Werke Bd. t, S. 344ff., 407J.
Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik 263

Verstehen5 modifiziert worden. Es scheint mir trotzdem nach \vie vor nicht
überzeugend, daß das historische Bewußtsein und seine Ausformung in den
historischen Geistes\vissenschaften der Grund daftir sein soll, daß die Macht
der Tradition abgebaut wird, und nicht vielmehr der Traditionsbruch selbst
daftir bestimmend ist, der mit dem Beginn der Neuzeit anhob und etwa in
der Französischen Revolution zu einer ersten radikalen Zuspitzung kam. Die
historischen Geistes\vissenschaften scheinen nür \veit eher durch die Reak-
tion auf diesen Traditionsbruch auf den Plan gerufen zu sein, als diesen
Traditionsbruch von sich aus bewirkt oder auch nur bejaht zu haben. Gewiß
ist es richtig, daß die Geisteswissenschaften, ihrer romantischen Herkunft
zum Trotz, selber ein gebrochenes Traditionsphänomen sind und in gewis-
sem Sinne die kritische Aufklärung fortsetzen. Ich nannte das seinerzeit eine
Umspiegclung der Aufklärung 3s . Aber auf der anderen Seite sind in ihnen
offenkundig Antriebe romantischer Restauration wirksam. Ob lllan das
begrüßt oder bekämpft, das ändert nicht das geringste daran, daß dieselben
spezifische Erkenntnisleistungen zeitigen können. Man denke etwa an Rau-
mers >Geschichte der Stauferzeit<. Das ist alles andere als bewußte Applika-
tion. Vielmehr gehört innere Durchdringung kritischer Aufklärung, die die
naive Fortgeltung von Überlieferungen kritisiert, und fortwirkende Tradi-
tion, die den geschichtlichen Horizont mitbestimmt, zum Wesen der ge-
schichtlichen Wissenschaften, und das keineswegs nur im Heimatlande der
romantischen Geistes\vissenschaften. Die Geschichte Athens im Peloponne-
sischen Kriege etwa, die Wertung eines Perikles oder des ,Gerbers KIeon<,
sieht in der Tradition des kaiserlichen Deutschland erstaunlich anders aus als
in der der amerikanischen Demokratie - so jung diese beiden Traditionen
auch sind. - Das gilt nicht anders fLir die Tradition des Marxismus. Wenn ich
z. B. Giegcls Fortdenken in den Kategorien des Klassenkampfes lese, so
verkenne ich durchaus nicht (v.;ie er zu befürchten scheint), \,\·a5 wirkungs-
geschichtliche Reflexion dabei bewußt zu machen vermöchte - nur irrt er
sich, wenn er meint, daß in irgendeinem Falle eine Legitimation dadurch
erbracht würde. Die hernIeneutische Reflexion ist darauf beschränkt, Er-
kenntnischancen offenzulegen, die ohne sie nicht wahrgenommen würden.
Sie vermittelt nicht selbst ein Wahrheitskriterium.
Die Rede von bewußter Applikation ist auch in anderen Bereichen miß-
verständlicli genug. Es bleibt mir erstaunlicli, daß im Falle des Regisseurs
oder des Musikers von Apel der Aktualisierung im Sinne der bewußten
Applikation das Wort geredet wird, so als ob liier keine Bindung an das
wiederzubelebende Werk die gesamte Auslegung leiten müßte. In Walirheit
würdigen wir doch gerade eine gelungene Inszenierungslcistung oder eine
musikalische Reproduktion als eine Interpretation, weil das Werk selber in

" [A. a. 0., S. 278].


264 Weitercntwickll1ngen

seinem \~lahren Gehalt neu zur Aussage gebracht wurde. Wenn uns umge-
kehrt grobe Aktualisierungstendenz und überdeutliche Anspielung auf Ge-
gen'\vart in reproduktiven Leistungen zugemutet wird, dann empfinden wir
das mit Recht als unangemessen. Umgekehrt scheint mir das Bild des
Dolmetschers, der ja wirklich das gegebene Modell rur die hermeneutischen
Aufgaben ist, weit unterinterpretiert, wenn man verkennt, daß der Dolmet-
scher nicht übersetzen darf, sondern den Part, den cr verstanden hat, in einer
anderen Sprache dem anderen Partner gegenüber sprechend zu vertreten
hat. Hier scheint mir jeweils ein objektivistischer Begriff von Sinn und
Sinntransparenz leitend, der der Sache nicht entspricht.
Die hermeneutische Erfahrung hat nicht erst seit der Wissenschaft der
Neuzeit, sondern von dem Aufkommen der hermeneutischen Fragestellung
selbst an eine Spannung in sich, die sich nie ausgleicht. Sie läßt sich nicht so
weit unter das idealistische Schema der Selbsterkenntnis im Anderssein
bringen, daß Sinn je voll erfaßt und tradiert würde. Solch idealistischer
Begriff von Sinn-Verstehen beirrt meines Erachtens nicht nur Apel, sondern
die meisten meiner Kritiker. Daß eine derart auf Idealismus reduzierte
philosophische Hermeneutik der kritischen Ergänzung bedürfte, würde
auch ich zugeben und habe das in der Kritik an den Hegel-Nachfolgern des
19. Jahrhunderts, an Droysen und Dilthey, selber zu zeigen versucht. Aber
war es nicht von jeher der Antrieb der Hermeneutik, das Fremde, den
unerforschlichen Götterwillen oder die Heilsbotschaft oder die Werke der
Klassiker, durch Auslegung zu >verstehen<, und bedeutet das nicht immer
eine konstitutive Unterlegenheit dessen, der versteht, gegenüber dem, der
sagt und zu verstehen gibt?
Nun hat diese Urbestimmung der Hermeneutik durch den Traditions-
bruch der Neuzeit und das Aufkommen eines ganz andersartigen Erkennt-
nisideals der Exaktheit an Profilierung gewonnen. Aber die Grundvoraus-
setzung der hermeneutischen AufgabensteIlung, die man nur nicht recht
wahrhaben wollte und die ich \viederherzustellen versuchte, war von jeher
die der Ancignung eines überlegenen Sinnes. Insofern ist es nicht etwas
besonders Originelles, wenn ich in meiner Untersuchung die hermeneuti-
sche Produktivität des Zeitabstandes geltend machte 36 und grundsätzlich die
Endlichkeit und Unabschließbarkeit alles Verstehens und aller wirkungsge-
schichtlichen Reflexion betonte. Das ist nichts anderes als die Freilegung der
wahren hermeneutischen Thematik. Ihre eigentliche Legitimation findet sie
vollends in der Erfahrung der Geschichte. Hier ist es wahrlich nichts mit der
Sinntransparenz. Die >Historik< muß sich stets gegen humanistische Verdün-
nung wehren. Die Erfahrung der Geschichte ist nicht die Erfahrung von
Sinn und Plan und Vernunft, und nur unter dem verewigenden Blick der

36 [Vgl. Ges. WerkeBd. 1, S. 301ff.].


Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik 265
Philosophie des absoluten Wissens konnte der Anspruch erhoben werden,
die Vernunft in der Geschichte zu begreifen. So stellt die Erfahrung der
Geschichte die hermeneutische Aufgabe in Wahrheit auf ihren eigentlichen
Platz zurück. Sie hat die Sinnfragmente der Geschichte je- neu zu entziffern,
die sich an der dunklen Kontingenz des Faktischen begrenzen und brechen
und vor allem an der Dämmerung, in welcher fur jedes gegenwärtige
Bewußtsein die Zukunft verschwimmt. Aueh der >Vorgriff der Vollkom-
menheit(37, der zur Struktur des Verstehens gehört, heißt mit Betonung
)Vorgriff<, sofern die Überlegenheit dessen, was verstanden werden soll,
durch keine Auslegung je ganz einhol bar ist. So ist man überrascht, wenn
sich bei Apel, bei Habermas und mit einer wichtigen Modifikation bei
Giegel die hermeneutische Reflexion im gleißenden Lichte einer erklärenden
Wissenschaft zur vollen idealistischen Sinntransparenz erheben soll. Das
nämlich liegt in der exemplarischen Rolle, die diese Autoren der Psychoana-
lyse zudenken.
Wir kommen damit auf die Legitimität der Übertragung zurück, welche
die emanzipatorische Reflexion der Psychoanalyse auf dem Sozialbereich
zur Anwendung bringt. Ob Geschichte undurchschaubare Kontingenz ist,
die jeden desavouiert, der sie vorauszuwissen und vorauszusagen kühn
genug ist, oder ob dieses Faktum nur ein Noch-nicht darstellt, das ftir eine
vernünftig gewordene Menschheit nicht mehr gelten würde, hängt davon
ab, wie weit die Erkenntnisse der Psychoanalyse Geltung besitzen. Gewiß ist
es kein Zufall, daß diese Wissenschaft in der Diskussion über Hermeneutik
besondere Beachtung gefunden hat, und die Darstellungen ApeJs, Haber-
mas' und Giegels vermitteln reiche Belehrung. Ob ihr anthropologischer
Ertrag aber richtig formuliert wird? Wenn Apel etwa sagt, daß das Naturwe-
sen ganz in bewußte Antriebskontrolle aufgehoben werde, so hängt dies
Ideal von der Legitimität solcher Übertragung ab. Denn der Mensch ist ein
gesellschaftliches Wesen.
Habermas legt, um sie zu begründen, das breite Fundament einer meta-
hermeneutischen Theorie der kommunikativen Kompetenz. Nachdem er
eine Theorie der Entstehung der Ich-Es- und Über-Ich-Strukturen aufgrund
der tiefenpsychologischen Erfahrung skizziert hat, scheint ihm der Über-
gang in den Sozialbereich ganz fraglos. Dort sei auf der Basis einer solchen
allgemeinen» Theorie der kommunikativen Kompetenz« eine}) Theorie des
Erwerbs von Grundqualifikationen des Rollenhandeins« das Gegenstück.
Ich weiß nicht, ob ich Habermas recht verstehe. Der Ausdruck >kommuni-
kative Kompetenz< ist offenbar dem der linguistischen Kompetenz Choms-
kys nachgebildet und meint ein ebenso fragloses Beherrschen der Leistungen
des Verstehens und der Verständigung, wie dort solche des Sprechens ge-

" [A. a. 0., S. 299ff. und oben. S. 61 ff.j.


266 Weiterent\vicklungen

meint sind. Wie dort das Ideal der Linguistik darin besteht, eine Theorie der
sprachlichen Kompetenz zu entwickeln und so am Ende alle Ausfallserschei-
nungen und Modifikationen von Sprache konstruktiv zu erklären, so müsse
sich auch der umgangssprachlichen Verständigung gegenüber ein Gleiches
erreichen lassen. Wenngleich die Forschung dazu noch nicht weit genug sei,
ändere das nichts an der grundsätzlichen Sachlage, daß sich mit Hilfe der
Kenntnis der Bedingungen systematisch verzerrter Kommunikation ein
Idealvollzug von Verständigung erreichen lasse, der den Consensus notwen-
dig herbciftihren würde. Allein ein solcher Consensus könne ein vernünfti-
ges Wahrheitskriterium sein. Ohne eine solche Theorie dagegen verfalle
man dem >tragenden Einverständnis( eines Zwangs consensus, ohne das zu
durchschauen.
Die Theorie kommunikativer Kompetenz dient also zuletzt zur legiti-
mierung des Anspruchs, verzerrte soziale Kommunikation zu durchschau-
en, und entspricht insofern der Leistung der Psychoanalyse im therapeuti-
schen Gespräch. Indes, eines stimmt da nicht ganz. Wir haben es ja jetzt mit
Gruppen zu tun, die jede unter sich im Einverständnis leben. Zwischen den
Gruppen ist das Einverständnis zerstört und wird gesucht, also nicht etwas
zwischen dem einzelnen, der da neurotisch abgespalten ist, und der Sprach-
gemeinschaft. Wer ist denn hier abgespalten? Welche Desymbolisationen
müssen da geschehen, etwa bei dem Wort }Demokratie(? Aufgrund welcher
Kompetenz? Daß dahinter eine Vorstellung von dem liegen muß, was
Freiheit aller ist, versteht sich. Habermas sagt denn auch: ein zwangs freies
rationales Gespräch, das solche Verzerrungen auflösen könnte, setze stets
eine gewisse Antizipation des rechten Lebens voraus. Nur dann könne
solches Gespräch gelingen. »Die Idee der Wahrheit, die sich am wahren
Konsensus bemißt, schließt die Idee der Mündigkeit ein" (100).
Mir kommt dies Wahrheitskriterium, das aus der Idee des Guten die Idee
des Wahren und aus dem Begriff der ,reinen, Intelligenz das Sein ableitet, aus
der Metaphysik recht bekannt vor. Der Begriff der reinen Intelligenz
stammt aus der mittelalterlichen Intelligenzenlehre und ist dort im Engel
verkörpert, der den entsprechenden Vorzug hat, Gott in seinem Wesen zu
schauen. Es \vird mir schwer, Habermas hier kein falsches ontologisches
Selbstverständnis zu unterstellen, wie es mir etv.ra auch in Apels Aufhebung
des Naturwesens in Rationalität ge1cgen schien. Freilich, falsche Ontologi-
sierung wirft Habermas gerade mir vor, z. B. weil ich zwischen Autorität
und Aufklärung keinen ausschließenden Gegensatz zu sehen vermag. Das
soll nach Habermas deshalb falsch sein, weil es voraussetzt, daß sich die
legitimierende Anerkennung ohne das autoritäts begründende Einverständ-
nis gewaltlos einspiele3". Diese Voraussetzung dürfe man aber nicht machen.

J8 Von Bormann hat ganz recht, welln er (a. a. O. 89) auf das 17. und 18. Jahrhundert
Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik 267

Wirklich nie? Macht Habermas nicht selbst diese Voraussetzung, v.renn er


anerkennt, daß es unter der Leitidee eines zwangs- und herrschafts freien
Gesellschaftslebens solche gewaltlose Zustimmung geben würde? Ich selber
hatte freilich nicht einmal solche >idealen< Verhältnisse im Auge, sondern nur
all die Fälle konkreter Erfahrung, in denen man von natürlicher Autorität
spricht und von der Gefolgschaft, die sie findet. Hier immer von Zwangs-
kommunikation zu sprechen, z. B. wo Liebe, Vorbildwahl, willige Erge-
benheit Über- und Unterordnung stabilisieren, scheint mir ein dogmati-
sches Vorurteil in bezug auf das, was) Vernunft< unter Menschen bedeutet.
So vermag ich nicht zu sehen, wie im gesellschaftlichen Bereich kommuni-
kative Kompetenz und ihre theoretische Beherrschung die Barriere zwi-
schen Gruppen niederlegen soll, welche sich in "\vechselseitiger Kritik den
Zwangscharakter des bei dem anderen bestehenden Einverständnisses vor-
werfen. Da scheint doch »die sanfte Gewalt des Herstellens« (Giege! 249)
unentbehrlich, und damit die Inanspruchnahme einer ganz anderen Kompe-
tenz, nämlich der des politischen Handelns - mit dem Ziele, Kommunika-
tionsmöglichkeiten dort herbeizuftihren, wo sie fehlen.
In diesem Punkt leuchtet mir Giegels Argumentation, die in Wahrheit
weit mehr gegen mich als gegen Habermas gerichtet ist, eher ein. Zwar weiß
ich absolut nicht, wovon er redet, \venn er von einer »Pflicht zur Verständi-
gung« (soll das ein Synonym ftir Vernunft sein?) und einem »Recht der
Kritik« (soll das nicht auch ein Synonym ftir Vernunft sein?) spricht. Als ob
nicht eins immer das andere einschlösse. Aber darin stimme ich ihm zu, daß
die Möglichkeit der kommunikativen Verständigung unter Bedingungen
stelit, die nicht selber wieder durch Gespräch geschaffen werden können,
sondern eine vorgängige Solidarität bilden. Ja, das scheint mir grundsätzlich
ftir jedes Gespräch zu gelten. Es läßt sich überhaupt nicht erzwingen, son-
dern nur ermöglichen. Giege1 hat grundsätzlich recht: wer sich in ein Ge-
spräch einläßt, hat damit schon zugestanden, daß er die Bedingungen ftir ein
solches als gegeben ansieht. Umgekehrt bedeutet die Ablehnung des Ge-
sprächs oder der Abbruch eines versuchten Gespräches mit der Wendung
>mit dir ist nicht zu reden< eine Situation, in der die kommunikative Verstän-
digung so gestört ist, daß man vom Kommunikationsversuch nichts erwar-
ten kann.
Das ist nun freilich eine Art von Störung, die man im allgemeinen nicht
gerade neurotisch nennen wird. Ganz im Gegenteil ist es die alltägliche
Erfahrung emotionaler Hartnäckigkeit oder Verblendung, die oft sogar eine

und insbesondere auf Lessing verweist. Ich selbst habe mich vor allem auf Spinoza
berufen, auch auf Descartes, und in anderem Zusammehang aufChladenius, und meine
überhaupt, daß ich nirgends auf die obskurantistische Seite gehörte, die die Aufklärung >in
totoablehnt( (a.a.O.115).
268 Weiterentwicklungen

beiderseitige ist und von bei den Seiten dem anderen vorgeworfen wird. Sie
bedeutet also nicht eine Störung der kommunikativen Kompetenz, sondern
unübenvinclliche Meinungsverschiedenheiten. Gewiß kann man zwischen
solchen gegensätzlichen Überzeugungen jeweils von Dialog-Unfahigkeit
sprechen. Das hat aber einen ganz anderen Hintergrund als den der Neurose.
Es ist die Herrschaft von Gruppenüberzeugungen, die in den Funktionskreis
der Rhetorik fallen, durch die eine dialogwidrige Situation eintreten kann,
Der Vergleich mit der krankhaften Dialogunfahigkeit, die der Analytiker
dem Neurotiker zuspricht und von der er ihn zu heilen versucht, fUhrt hier in
die Irre, Unüberbrückbare Gegensätze zwischen gesellschaftlichen und poli-
tischen Gruppen beruhen auf dem Unterschied der Interessenlagen und der
Verschiedenartigkeit der Erfahrungen, Sie stellen sich durch das Gespräch
heraus, d. h. ihre Unüberbrückbarkeit steht nicht von vornherein fest, son-
dern ist das Resultat des Verständigungsversuchs - und als solches nie
endgültig, sondern auf die Wiederaufnahme des Gesprächs in jener ideell
unendlichen Interpretationsgemeinschaft bezogen, die zum Begriff der
kommunikativen Kompetenz gehören dürfte. Hier von Verblendung zu
sprechen, würde den Alleinbesitz der richtigen Überzeugung voraussetzen.
Diesen zu behaupten, dürfte wohl eine eigene Art von Verblendung sein.
Dagegen scheint mir die philosophische Hermeneutik nach wie vor im
Recht, wenn sie rur den eigentlichen Sinn von Kommunikation hält, daß die
Vorurteile wechselseitig auf die Probe gestellt \\'erden, und wenn sie sogar
noch der kulturellen Überlieferung der .Texte< gegenüber an solcher Gegen-
seitigkeit festhält,
Nun hat offenbar die Wendung, die ich gelegentlich gebrauchte, daß es
darauf ankäme, an die Tradition Anschluß zu gewinnen, Mißverständnisse
begünstigt. Darin liegt keineswegs eine Bevorzugung des Herkömmlichen,
der man sich blind unterwerfen müsse. Die Wendung )Anschluß an die
Tradition< meint vielmehr nur, daß Tradition nicht aufgeht in dem, was man
als die eigene Herkunft weiß und dessen man sich bewußt ist, so daß
Tradition nicht in einem adäquaten Geschichtsbewußtsein aufgehoben sein
kann. Veränderung von Bestehendem ist nicht minder ein Form des An-
schlusses an die Tradition wie die Verteidigung von Bestehendem. Tradition
ist selbst nur in beständigem Anderswerden. An sie )Anschluß gewinnen(
drängt sich als Formulierung einer Erfahrung auf, derzufolge unsere Pläne
und Wünsche der Wirklichkeit stets vorauseilen, sozusagen ohne Anschluß
an die Wirklichkeit sind. Worauf es ankommt, ist daher, zwischen den
Antizipationen des Wünschbaren und den Möglichkeiten des Tunlichen,
zwischen bloßem Wünschen und "virklichem Wollen zu vermitteln, d. h. die
Antizipationen in den Wirklichkeits stoff einzubilden.
Das geschieht wahrlich nicht ohne kritisches Unterscheiden. Ja, ich würde
sagen, nur das allein sei wirkliche Kritik, was in solchem Praxis bezug
Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik 269
)entscheidet<. Eine Kritik, die dem anderen oder den herrschenden gesell-
schaftlichen Vorurteilen ihren Zwangs charakter generell entgegenhält und
auf der anderen Seite beansprucht, einen solchen Verblendungszusammen_
hang kommunikativ aufzulösen, befindet sich, wie ich mit Giegel meine, in
einer schiefen Lage. Sie muß sich über fundamentale Unterschiede hinweg-
setzen. Im Falle der Psychoanalyse ist im Leiden und im Heilungswunsch
des Patienten eine tragende Grundlage ftir das therapeutische Handeln des
Arztes gegeben, der seine Autorität einsetzt und ohne Nötigung die ver-
drängten Motivationen aufzuklären drängt. Dabei ist eine freiwillige Unter-
ordnung des einen unter den anderen die tragende Basis. Im sozialen Leben
dagegen ist der Widerstand des Gegners und der Widerstand gegen den
Gegner eine gemeinsame Voraussetzung aller.
Das scheint mir so selbstverständlich, daß ich verblüfft bin, daß meine
Kritiker, so Giegel wie im Grunde schon Habermas, mir nachsagen, daß ich,
auf meiner Hermeneutik bestehend, einem revolutionären Bewußtsein und
Veränderungswil1en seine Legitimation bestreiten wolle. Wenn ich gegen
Habermas sage, daß das Arzt-Patient-Verhältnis ftir den gesellschaftlichen
Dialog nicht genügt, und ihm die Frage stelle: »Gegenüber welcher Selbstin-
terpretation des gesellschaftlichen Bewußtseins - und alle Sitte ist eine solche
- ist das Hinterfragen und Hintergehen am Platze, etwa im revolutionären
Veränderungswillen, und gegenüber welcher nicht?((, so halte ich diese
Frage der von Habermas behaupteten Analogie entgegen. Ihre Beantwor-
tung ist im Falle der Psychoanalyse durch die Autorität des wissenden Arztes
gegeben. Im Bereich des Gesellschaftlichen und Politischen fehlt aber die
besondere Basis der kommunikativen Analyse, in deren Behandlung sich
der Kranke freiwillig, aus Krankheitseinsicht, begibt. Und deshalb scheinen
mir in der Tat solche Fragen nicht hermeneutisch beantwortbar. Sie beruhen
auf politisch-gesellschaftlichen Überzeugungen. Das heißt ganz und gar
nicht, daß deswegen revolutionärer Veränderungswille im Unterschiede zu
einer Bestätigung der Tradition keiner Legitimation fahig sei. Weder die eine
noch die andere Überzeugung ist einer theoretischen Legitimation durch
Hermeneutik fahig oder bedürftig. Die Theorie der Hermeneutik kann von
sich aus nicht einmal darüber entscheiden, ob die Voraussetzung richtig ist
oder nicht, daß die Gesellschaft durch den Klassenkampf beherrscht werde
und daß keine Dialogbasis zwischen den Klassen vorhanden sei. Offenbar
haben meine Kritiker den Geltungsanspruch, der in der Reflexion auf die
hermeneutische Erfahrung besteht, verkannt. Sonst könnten sie nicht an der
These Anstoß nehmen, daß überall, wo Verständigung möglich ist, Solida-
rität vorausgesetzt ist. Sie machenja dieselbe Voraussetzung. Nichts berech-
tigt zu der Unterstellung, als würde von mir das )tragende Einverständnis(
mit der einen mehr als mit der anderen Seite, als konservative und nicht
ebenso als revolutionäre Solidarität in Anspruch genommen. Es ist die Idee
270 Weiterentwicklungen

der Vernunft selbst, die auf die Idee des allgemeinen Einverständnisses nicht
verzichten kann. Das ist die Solidarität, die alle eint.
Nur hatte mich die Diskussion mit den Jüngeren, insbesondere auch mit
Habermas, darüber belehrt, daß die intentio obliqua des Ideologiekritikers
gleichwohl an meinen Akzentsetzungen )konservative Vorurteile( gewahrt.
Indem ich auf diese vermutlich berechtigte Wahrnehmung einging, führte
ich aus, welchen hermeneutischen Sinn das konservative Vorurteil hier
haben könne, nämlich: bewußt zu machen, \vie viele selbstverständliche
Voraussetzungen immer in Anspruch genommen werden, wo Gespräch ist.
Giegel zitiert zwar, was ich über meinen Konservativismus zugestehe, aber
er bricht das Zitat dort ab, wo seine Aussage beginnt. Diese aber ist, daß
bestimmte Erkenntnisse so möglich geworden seien. Nur auf die Erkennt-
nischance kam es mir an. Das ist aber auch das einzige, worüber man
diskutieren kann: ob das \virklich wahr ist, was ich unter diesen Vorausset-
zungen erkannt zu haben meine. Da scheint mir nun Giegel von seinen
entgegengesetzten Vorurteilen aus genau zum g1eichen Resultat zu gelangen
und darin mit mir ganz übereinzustimmen, daß Habermas der Reflexion
eine falsche Macht zuschreibt. Vermutlich sind es die gleichen Erfahrungen
wie die, auf die ich mich berief, wenn auch in entgegengesetzter Wertung
derselben, die zu seiner entsprechenden Kritik an Habermas geruhrt haben,
einer Kritik, die er geradezu am Bernsteinschen Revisionismus konkreti-
siert. Daher ist es auch ganz konsequent, wenn Giegel, so wie er die Herme-
neutik versteht, gegen sie geltend macht: »Aus diesem Traum (der Solidari-
tät, die alle eint) kann sie denn wohl kaum durch Gegenkritik, sondern nur
durch die Entfaltung des revolutionären Kampfes selber gerissen werden. «(
Nicht ganz so konsequent scheint mir, daß dieser Satz einen Diskussionsbei-
trag beschließt ..
Kehren wir zu dem zurück, worüber sich diskutieren läßt - und das sind
die theoretischen Grundlagen dessen, was hermeneutische Praxis ist. In
einem Punkt stimme ich da mit meinen Kritikern überein und habe ihnen fur
die Heraushebung dieses Punktes, die sie mir abnötigen, zu danken: Wie die
Ideologiekritik die .Kunstlehre< des VerstehetlS aufSelbstreflexion hin über-
schreitet, scheint mir auch die hermeneutische Reflexion ein integrales Mo-
ment des Verstehens selber, ja dies so sehr, daß mir die Trennung der
Reflexion von der Praxis eine dogmatische Beirnmg einzuschließen scheint,
die auch noch den Begriff der ,emanzipatorischen Reflexiow trifft. Das ist
auch der Grund, warum ich den Stufen gang der Gestalten, den in Hegels
Phänomenologie der werdende Geist durchläuft, durch den Begriff der
)Ernanzipation( schlecht beschrieben finde. Gewiß ist die Erfahrung der
Dialektik bei Hegel als Veränderung durch Bewußtrnachung wirksam. Mir
scheint aber, daß Bubner der Sache nach an der phänomenologischen Dia-
lektik Hegels etwas mit Recht hervorhebt, nämlich daß eine Gesralt des
Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik 271

Geistes. die aus der anderen hervorgeht, in Wahrheit nicht aus ihr hervor-
geht, sondern eine neue Unmittelbarkeit entfaltee". Der Stufen gang der
Gestalten des Geistes ist gleichsam von ihrer Vollendung her entworfen und
nicht von ihrem Anfang her ableitbar. Das war es, \vas mich zu der Formu-
lierung veranlaßte, es komme darauf an, die >Phänomenologie des Geistes(
rückwärts zu lesen, so rückwärts, wie sie in Wahrheit gedacht ist: vom
Subjekt auf die in ihm ausgebreitete und sein Bewußtsein übertreffende
Substanz hin. Diese Umkehrtelldenz schließt eine grundsätzliche Kritik an
der Idee des absoluten Wissens ein. Die absolute Transparenz des Wissens
kommt einer idealistischen Verschleierung der schlechten Unendlichkeit
gleich, in der das endliche Wesen Mensch seine Erfahrungen macht.
Ich drücke mich damit in der Sprache Hegels aus. Das ist Gegenstand
kritischer Bemerkungen ge\vorden, insbesondere seitens von Bormanns,
der sowohl meinen Gebrauch von Begriffen Kierkegaards wie des Nikolaus
von Kues wie insbesondere Hegels deshalb illegitim findet, \veil ich die
begriffssprachlichen Mittel, deren ich mich da bediene, ihrem systemati-
schen Zusammenhang entfremde 40 • Diese Kritik ist nicht ohne Recht und
insbesondere im Falle Hegels besonders naheliegend, weil meine kritische
Auseinandersetzung mit Hegel in )Wahrheit und Methode< sicherlich recht
unbefriedigend ist4 1 • Gleichwohl möchte ich den deskriptiven Gnvinn eines
Denkens mit den Klassikern auch in diesem Falle verteidigen. Indem ich
Hegels Beschreibung des .Begriffs der dialektischen Erfahrung des Bewußt-
seins( auf den breitesten Sinn von Erfahrung hin \vende, tritt meiner Mei-
nung nach mein kritischer Punkt gegenüber Hege! sachgemäß heraus. Voll-
endete Erfahrung ist nicht Vollendung des Wissens, sondern vollendete
Offenheit fur neue Erfahrung. Das ist die Wahrheit, welche die hermeneuti-
sche Reflexion gegen den Begriff des absoluten Wissens geltend macht.
Darin ist sie nicht zweideutig.
Nicht anders aber steht es mit der Rede von Emanzipation. Der Begriff
der Reflexion, der in diesem Zusammenhang gebraucht wird, scheint mir
nicht undogmatisch. Er druckt nicht die Bewußtmachung aus, die der
Praxis eigen ist, sondern beruht, wie Habermas es einmal formuliert, auf
einem ,kontrafaktischen Einverständnis<. Darin steckt der Anspruch VOf-
herzuwissen - vor der praktischen Konfrontation -, womit man nicht
einverstanden ist. Es ist aber der Sinn der hermeneutischen Praxis, von
einem solchen kontrafaktischen Einverständnis nicht auszugehen, sondern
ein solches möglich zu machen und es herbeizuftihren, was nichts anderes

39 A.a.O. S. 231ff.
40 A.a.O. S. 99ff.
41 Inzwischen bitte ich die Arbeit: !Die Idee der Hegelschen Logik< (in >Hegcls Dialek-

tik(, Tübingen 1971, S. 49-69) zu beachten. [Inzwischen in der 2. AufI. , Tübingen 1980,
S. 65-86; Ges. Werke Bd. 3].
272 Weiterentwicklungen

heißt als: durch konkrete Kritik zu überzeugen. Der dogmatische Charakter


des Reflexionsbegriffs, den Habermas zugrunde legt, tritt etwa an folgen-
dem Beispiel heraus: In berechtigter Kritik an dem Expertenaberglauben der
Gesellschaft fordert er, ))sich von der Reflexionsstufe einer technologisch
beschränkten Rationalität zu lösen«42. Darin ist eine StufenvorsteHung im-
pliziert, die mir falsch scheint. Auch angesichts der »neuen Funktion der
Wissenschaft« in der Gesellschaft gilt, daß die Rationalität des Machenkön-
nens - was Aristoteles teehne nannte- eine andere, nicht: eine niedere Art von
Reflekticrthcit ist als die im vernünftigen Consensus der Bürger gelegene.
Auf deren Erhellung aber ist die hermeneutische Reflexion gerichtet. Sie ist
wahrlich nicht ohne ein ständiges gegenseitiges Sichausspielen kritischer
Argumente zu erzielen, aber solcher, in denen sich die konkreten Überzeu-
gungen der Gesprächspartner reflektieren.
Das Ideal der Aufhebung einer naturhaften Bestimmtheit in rationalbe-
wußte Motivation stellt m. E. eine dogmatische Übersteigerung dar, die der
cottdition humaine unangemessen ist. Selbst auf dem Gebiet der Individualp-
sychologie und Tiefenpsychologie ist das so. Durch den Gegensatz von
Krankheit und Gesundheit, Angewiesenheit auf ärztliche Hilfe und Wieder-
herstellung durch Heilung ist schon gesetzt, daß die Analyse eine begrenzte
Reichweite besitzt - wie ja auch der Analyst selber, was die Lehre von der
~Gegcnübertragung< durchaus anerkennt, nie zu Ende analysiert ist. Ich
fUhle mich nicht kompetent, die anthropologisch-psychologischen Konse-
quenzen aus dieser Grunclsituation der Tiefenpsychologie zu ziehen, und
verweise nur auf den Begriff des Gleichgewichts und die Seinsform des
Spielens um die Gleichgewichtslage, die ich in anderem Zusammenhang zur
ontologischen Charakteristik von Gesundheit gebraucht habe".
Andererseits, wenn Habermas von >Tiefenhermeneutik< spricht, so muß
ich meine eigenen Thesen insofern dazurechnen, als ich die Reduktion der
Hermeneutik auf die ,kulturelle Überlieferung< und das Ideal der Sinntrans-
parenz, das in diesem Bereich gelten soll, idealistisch verdünnt finde. Daß
Sinnverstehen weder auf die mens auctoris noch die mens actoris zu begrenzen
ist, ist mein eigenster Punkt. Allerdings heißt das nicht, daß Verstehen in der
Aufklärung unbewußter Motive gipfelt, sondern vielmehr, daß Verstehen,
über die beschränkten Horizonte des einzelnen hinaus, die Sinnlinien über-
allhin auszuziehen hat, damit die geschichtliche Überlieferung sprechend
wird. Die hermeneutische Sinndimension ist, wie Apel richtig unterstrichen
hat, auf das unendliche Gespräch einer idealen Interpretationsgemeinschaft
bezogen. Ich habe in' Wahrheit und Methode<" die UndurchfUhrbarkeit von
42Habermas, Theorie und Praxis, S. 232.
43Insbesondere in: Apologie der Heilkunst. Kleine Schriften I, S. 211 ff. [Gcs. Werke
Bd.4].
# [Ge,. Werke Bd. 1, S. 376ft].
Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik 273
Collingwoods Re-enactment-Theorie nachzuweisen versucht und muß ent-
sprechend in tiefenpsychologischen Deutungen der literarischen Werke von
Autoren oder des geschichtlichen Handelns von Aktoren oft eine die Schleu-
sen aller Komik öffnende Verwechslung von Sprachspielen erblicken.
Es unterscheidet die hermeneutische Praxis und ihre Disziphnierung von
der Erlernbarkeit einer bloßen Technik, ob dieselbe nun Sozialtechnik oder
kritische Methode heißen mag, daß in ihr stets ein wirkungsgeschichtlicher
Faktor das Bewußtsein des Verstehenden mitdeterminiert. Darin hegt aber
auch die Umkehrung, daß das Verstandene immer eine gewisse Überzeu-
gungskraft entwickelt, die an der Bildung neuer Überzeugungen mitwirkt.
Ich leugne gar nicht, daß die Abstraktion von den eigenen Sachmeinungen
eine berechtigte Anstrengung des Verstehens darstellt. Wet verstehen will,
braucht das, was er versteht, nicht zu bejahen. Und doch meine ich, daß uns
die hermeneutische Erfahrung lehrt: Die Kraft dieser Abstraktion ist immer
nur eine begrenzte. Das, was man versteht, spricht stets auch fur sich selbst.
Just hierauf beruht der Reichtum des hermeneutischen Universums. Indem
es sich in seiner ganzen Spielweite ins Spiel bringt, zwingt es auch den
Verstehenden, seine Vorurteile aufs Spiel zu setzen. Das alles sind Refle-
xionsgewinne, die aus Praxis und allein aus Praxis zuwachsen. Man möge es
mir altem Philologen zugute halten, wenn ich das alles am >Sein zum Texte<
exemplifiziert habe. In Wahrheit ist die hermeneutische Erfahrung ganz und
gar in das allgemeine Wesen der menschlichen Praxis verwoben, in die das
Verstehen von Geschriebenem zwar wesentlich, aber doch nur sekundärer-
weise eingeschlossen ist. Sie reicht so weit, wie die Gesprächsbereitschaft
vernünftiger Wesen überhaupt reicht.
Ich vermisse daher die Anerkennung der Tatsache, daß dies der Bereich
ist, den Hermeneutik mit Rhetorik teilt: der Bereich der überzeugenden
Argumente (und nicht der logisch zwingenden). Mit der Verteidigung der
Rhetorik hat man es in der modernen wissenschaftlichen Kultur schwer.
(Selbst Giegel, wenn er Vico zur Illustration heranzieht, mißversteht den
Vernunftcharakter, der in der Rhetorik liegt, wenn er offenbar meint, etwas
so Ruchloses wie das in utramque partem disputare sei nur üblichen Demago-
gen zuzutrauen und wohl gar Carneades für einen solchen hält.) Wenn die
Redekunst auch, wie es seit alters klar ist, die Affekte anspricht, so fallt sie
damit doch keineswegs aus dem Bereich des Vernünftigen heraus, und Vico
macht mit Recht einen eigenen Wert derselben geltend: die copia, den Reich-
tum an Gesichtspunkten. Auf der anderen Seite scheint mir eine Behauptung
wie die von Habermas, der zufolge die Rhetorik einen Zwangs charakter
besitze, den man zugunsten des zwangs freien rationalen Gesprächs hinter
sich lassen müsse, von erschreckender Irrealität. Wenn Rhetorik ein
Zwangsmoment enthält, so steht jedenfalls fest, daß soziale Praxis - und
wahrlich auch die revolutionäre - ohne dieses Zwangsmoment gar nicht
274 Weiten::ntwicklungen

denkbar ist. Ich finde es bemerkenswert, daß die Wissenschafts kultur unse-
rer Epoche die Bedeutung der Rhetorik nicht etwa gemindert, sondern
supplementär gesteigert hat, wie ein jeder Blick auf die Massenmedien (oder
auch aufHabermas' treffsichere Analyse der ,öffentlichen Meinung<) lelirt.
Der Begriff der Manipulation ist in diesem Zusammenhang recht zwei-
deutig. Jede emotionale Beeinflussung durch Rede ist in gewissem Sinne
eine solche. Und doch ist das keine bloße Sozialteclinik, was als Rhetorik cin
integrales Moment des sozialen Lebens von jeher ist. Schon AristoteIes
nennt die Rhetorik nicht eine techne, sondern eine dynamis 4 \ so sehr gehört
sie zum zoon [oRon echon. Selbst die technisierten Formen der Meinungsbil-
dung, die unsere industrielle Gesellschaft entwickelt hat, enthalten immer an
irgendeinem Punkte ein Moment der Zustimmung, sei es seitens des Konsu-
menten, der seine Zustimmung auch vorenthalten kann, sei es, und das ist
das Entscheidende, in der Weise, daß unsere Massenmedien nicht einfach der
verlängerte Arm eines einheitlichen politischen Willens sind, sondern
Schauplatz politischer Auseinandersetzungen, die ihrerseits die politischen
Vorgänge in der Gesellschaft teils reflektieren, teils determinieren. Eine
Theorie der Tiefenhermeneutik dagegen, die eine sozialkritische emanzipa-
torische Reflexion rechtfertigen soll oder gar von einer allgemeinen Theorie
natürlicher Sprache erwartet, daß sie gestatten würde, "das Prinzip vernünf-
tiger Rede als das not\vendige Regulativ jeder wirklichen Rede, und sei sie
noch so entstel1t, abzuleiten«, impliziert - insbesondere angesichts der Or-
ganisation des modernen Sozialstaates und der Formen der Meinungsbil-
dung in ihm - wider ihren Willen die Rolle des Sozialingenieurs, der her-
stellt, ohne freizustellen. Das \vürde ihn als den Inhaber der Publizitätsmittcl
und der von ihm prätendierten Wahrheit mit der Ge"\valt eines Meinungsmo-
nopols ausstatten. Das ist doch wahrlich keine fiktive Annahnle. Rhetorik
darf nicht \vegdisputiert werden, als ob es ihrer nicht bedürfte oder von ihr
nichts abhinge.
Nun sind gewiß Rhetorik wie Hermeneutik als Vollzugsformen des Le-
bens nicht unabhängig von dem, was Habermas die Antizipation des rechten
Lebens nennt. Eine solche liegt aller sozialen Partnerschaft und ihren Ver-
ständigungsbemühungen zugrunde. Aber auch hierfur gilt das gleiche: Das-
selbe Ideal der Vernunft, das jeden Überzeugungsversuch leiten muß, von
wessen Seite auch immer er ausgehe, verbietet zugleich, daß einer fur sich
selber die rechte Einsicht in des anderen Verblendung in Anspruch nimmt.
Das Ideal eines Zusammenlebens in zwangloser Kommunikation ist daher
ebenso verbindlich wie unbestimmt. Es sind sehr verschiedene Lebensziele,
die sich in diesen formalen Rahmen einspannen lassen. Auch die Antizipa-

45 tRhctorikA 2, 1355bl.
Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik 275

tion des rechten Lebens, die in der Tat aller praktischen Vernunft wesentlich
ist, muß sich konkretisieren, d. h. sie muß den schneidenden Gegensatz
bloßer Wünschbarkeiten und echter Ziele tätigen Wol1ens in ihr Bewußtsein
aufnehmen.
Worauf es nlir dabei ankommt, läßt sich, meine ich, als ein altes Problem
erkennen, das schon Aristoteles in seiner Kritik an der allgemeinen Idee des
Guten bei Plato im Auge hat. 46 Das menschliche Gute ist etwas, \vas in der
menschlichen Praxis begegnet, und es ist nicht ohne die konkrete Situation
bestimmbar, in der etwas einem anderen vorgezogen wird. Das allein, und
nicht ein kontrafaktisches Einverständnis, ist die kritische Erfahrung des
Guten. Es muß bis in die Konkretion der Situation durchgearbeitet sein. Als
allgemeine Idee ist eine solche Idee des rechten Lebens >leer<47. Darin liegt die
schwerwiegende Tatsache, daß das Wissen der praktischen Vernunft kein
Wissen ist, das sich gegenüber dem Unwissenden seiner Überlegenheit
bewußt ist. Vielmehr begegnet hier in einem jeden der Anspruch, das Rechte
für das Ganze zu wissen. Für das gesellschaftliche Zusammenleben der
Menschen bedeutet das aber, andere überzeugen zu müssen - ge\viß nicht in
dem Sinne, daß nun Politik und Gestaltung des sozialen Lebens nichts als
eine bloße Gesprächsgemeinschaft wäre, so daß man sich an das zwangsfreie
Gespräch unter Ausschaltung allen Herrschaftsdrucks als das wahre Heil-
mittel verwiesen sähe. Politik verlangt von der Vernunft, daß sie Interessen
zu Willensbildungcn führt, und alle sozialen und politischen Willcnsbekun-
dungen sind vom Aufbau gemeinsamer Überzeugungen durch Rhetorik
abhängig. Das schließt ein, und ich meine, das gehört zum Begriff der
Vernunft, daß man stets mit der Möglichkeit rechnen muß, daß die Gegen-
überzeugung, ob das nun im individuellen oder im sozialen Bereich statthat,
recht haben könnte. Mich hat der Weg der hermeneutischen Erfahrung, die,
wie ich gern zugebe, spezifische Inhalte der abendländischen Bildungstradi-
tion in sich verarbeitet hat, zu der Inanspruchnahme eines Begriffs gefUhrt,
der offenkundig von weitester Anv.rendung ist. Ich meine den Begriff des
Spiels. Wir kennen ihn nicht nur aus den modernen Spieltheorien der Öko-
nomie. Er reflektiert vielmehr, wie mir scheint, die Pluralität, die mit der
Vernunftausübung des Menschen verknüpft ist, ebensosehr vI;ie die Plurali-
tät, die einander entgegenstehende Kräfte zur Einheit eines Ganzen zusam-
menschließt. Das Spiel der Kräfte ergänzt sich durch das Spiel der Überzeu-
gungen, Argumentationen und Erfahrungen. Das Schema des Dialogs be-
hält in rechter Verwendung seine Fruchtbarkeit: Im Austausch der Kräfte
wie im Sichmessen der Ansichten baut sich eine Gemeinsamkeit auf, die den
einzelnen und die Gruppe, der er zugehört, übertrifft.
46 [Vgl. inzwischen meine Hcidelberger Akademie-Abhandlung lDie Idee des Guten
zwischen Plato und Aristoteles<. Heidelberg 1978; Ges. Werke Bd. 7].
47 Arist. Eth. Nie. 1': 4, 1096 b 20: Jiriwwv IO döo(.
20. Rhetorik und Hermeneutik
1976

Man kann im Rahmen der Vorträge der Jungius-Gesellschaft kaum ein


Thema wählen, das stärker den Ton eines Gegenthemas trägt als das Thema
Rhetorik und Hermeneutik. Denn was Jungius auszeichnet und nicht nur in
den Augen eines Lcibniz zu einem echten Partner der großen Bahnbrecher
der neuen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts macht, ist gerade seine ent-
schlossene Abkehr von der dialektischen und hermeneutischen Verfahrens-
weise und seine Zuwendung zur Empirie und zu einer (von sklavischer
Aristoteles-Vergottung al1erdings gereinigten) Beweis-Logik. Indessen war
er nicht nur selber in der humanistischen Lernkultur, die auf Dialektik und
Rhetorik gegründet war, aufgewachsen, er gestand ihr auch später noch
vorbereitenden Wert zu und sah insbesondere für die Kontroverstheologie
die Stärkung der »dialektischen und hermeneutischen Fähigkeit« als wichtig
an (BriefanJac Lagus von 1638). Das steht freilich in einem Brief und ist
mehr pädagogisch-diplomatisch gemeint als eine wirkliche Bewertung,
sofern Jungius seinen früheren Schüler in Wahrheit rür das Interesse an der
Methodik und Logik der Wissenschaft gewinnen will. Aber auch dann noch
weist solche flexible Haltung auf die allgemeine Präsenz der rhetorischen
Bildung. die fur einen Mann der Wissenschaft damals selbstverständlich
"var. Von diesem Hintergrund aus läßt sich das eigentümliche Verdienst von
Männern wie Jungius, den Pionieren einer neuen Wissenschaftsgesinnung,
überhaupt erst würdigen.
Der Hintergrund der )Rhetorik< verdient jedoch ein eigenes thematisches
Interesse, "venn man das erkenntnistheoretische und wissenschaftliche
Schicksal der Humaniora - bis zu ihrer rnethodologischen Konstitution in
Gestalt der romantischen Geisteswissenschafen - verstehen will. Es ist weit
weniger die Rolle, die die hermeneutische Theorie in diesem Zusammen-
hang spielt- sie ist mehr oder minder sekundär-, als die antike, mittc1alterli-
che und hUlnanistische Tradition der Rhetorik, auf die es dabei ankomnlt.
Als ein Teil des Trivium ftihrte dieselbe ein Leben von fast unmerklicher,
weil alles durchdringender Selbstverständlichkeit. Das aber bedeutet. daß
sich im unauWilligen Wandel des Alten das Neue der geschic;htlichen Wis-
senschaften langsam anbahnte. Die Geschichte der hermeneutischen Theo-
Rhetorik und Hermeneutik 277

rie, wie sie sich in der Abwehr des gegen reformatorischen, tridentinischen
Angriffs auf das Luthertum ausbildete, von Luther über Melanchthon und
Flacius, durch den beginnenden Rationalismus und den sich ihm entgegen-
stellenden Pietismus bis zur Entstehung der historischen Weltanschauung im
Zeitalter der Romantik ftihrte, hat sich nicht unter erkenntnis- und wissen-
schaftstheoretischen Gesichtspunkten, sondern unter der Dringlichkeit der
theologischen Kontroversen entfaltet, die mit der Reformation einsetzten.
Es war freilicli die leitende Fragestellung nach der Vorgeschichte der moder-
nen historischen Geisteswissenschaften, unter der diese Geschichte von
Wilhe1m Dilthey undJoaehim Wach geschrieben worden ist.
Nun ist es eine hermeneutische Wahrheit, die mit dem Begriff des Vorver-
ständnisses verknüpft ist, die hier ins Spiel kommt. Auch die Erforschung
der Geschichte der Hermeneutik steht unter dem allgemeinen hermeneuti-
schen Gesetz des Vorverständnisses. Das sei einleitend an drei Beispielen
gezeigt.
Das este ist eben das, das Wilhclm Diltheys Studien zur Geschichte der
Hermeneutik zugrunde liegt, jener Prcisschrift der Berliner Akademie der
Wissenschaften, die Dilthey als junger Gelehrter geschrieben hat und von
der vor der endlich imJahre 1966 erfolgten Veröffentlichung, die wir Martin
Redekers Redaktion des unvollendeten zweiten Bandes von Diltheys >Leben
Schlciermachers( verdanken, nur geringe Teile sowie die Kurzfassung von
1900 bekannt waren 48 . Dilthey gibt dort eine meisterhafte, mit zahlreichen
Belegstellen ausgestattete Darstellung von Flacius. Er prüft und würdigt
Flacius' hermeneutische Theorie, indem er den Maßstab des seiner selbst
bewußt ge\vordenen historischen Sinnes und der wissenschaftlichen, histo-
risch-kritischen Methode anlegt. An diesem Maßstab gemessen mischt sich
in Flacius Werk geniale Antizipation des Richtigen mit unbegreiflichen
Rückfällen in dogmatische Enge und leeren Formalismus. In der Tat, wenn
sich bei der Interpretation der Heiligen Schrift kein anderes Problem stellte
als das, was die historische Theologie des liberalen Zeitalters beschäftigte,
dem Dilthey angehört, wäre damit das letzte Wort gesprochen. Die löbliche
Absicht, jeden Text aus seinem eigenen Zusammenhang zu verstehen und
keinem dogmatischen Zwang zu unterwerfen, führt in der An\vendung auf
das Neue Testament am Ende zu der Auflösung des Kanon, wenn man mit
Schleiermacher die }psychologische( Interpretation in den Vordergrund
stellt. Jeder Schriftsteller des Neuen Testaments steht unter diesem herme-
neutischen Gesichtspunkt für sich, und das führt zur Unterminierung einer
auf das Schriftprinzip gestützten protestantischen Dogmatik. Das ist eine
Konsequenz, die Dilthey implicite gutheißt. Sie liegt seiner Kritik an Flacius
zugrunde, wenn er den Mangel seiner Exegese in der unhistorischen und

48 Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers II, S. 595fT.


278 Weitcrentv,ricklungen

abstrakt logischen Fassung des Prinzips des Schriftganzen oder des Kanon
sieht. Ähnlich zeigt sich die Spannung von Dogmatik und Exegese auch an
anderen Stellen der Diltheyschen Darstellung und vollends in der Kritik an
Franz und dessen Betonung des Vorrangs des Kontextes des Schriftganzen
gegenüber den Einzeltexten. Inzwischen sind \-vir durch die Kritik an der
historischen Theologie, die im letzten halben Jahrhundert geführt v.rorden
ist und die in der Herausarbeitung des Begriffs des >Kerygma I gipfelt, ruf die
hermeneutische Legitimität des Kanon und damit ruf die hermeneutische
Legitimität des dogmatischen Interesses bei Flacius cmpfanglichcr gc-
\vorden.
Ein anderes Beispiel der Wirksamkeit von Vorverständnis in der Erfor-
schung der Geschichte der Hermeneutik ist die von L. Gc1dsetzer eingefUhr-
te Unterscheidung von dogmatischer und zetetischer Hermeneutik4~. Mit
Hilfe dieser Unterscheidung einer dogmatisch gebundenen, durch Institu-
tionen und ihre Autorität festgelegten Auslegung, die überal1 auf die konse-
quente Verteidigung der dogmatischen Normen zielt, von einer undogmati-
sehen, offenen, suchenden, unter Unlständen sogar bei der Aufgabe der
Auslegung zu einem >non liquet( fUhrenden Auslegung von Texten, nimmt
die Geschichte der Hermeneutik eine Gestalt an, die das von der modernen
Wissenschaftstheorie geprägte Vorverständnis verrät. In dieser Perspektive
tritt die neuere Hermeneutik, sofern sie theologisch-dogInatische Interessen
stützt, in bedenkliche Nähe zu einer juristischen Henneneutik, die sich ganz
dogmatisch als Durehsetzung der dureh die Gesetze festgelegten Rechtsord-
nung versteht. Aber es ist gerade die Frage, ob nicht die juristische Herme-
neutik selber verkannt "vird, wenn man in der Bemühung um die Rechtsfin-
dung das zetetische Element bei der Gesetzesauslegung ignoriert und in der
bloßen Subsumtion des Falles unter das allgemeine Gesetz, das als solches
gegeben ist, das Wesen der juristischen Hermeneutik sicht. Hier dürfte die
neuere Einsicht in das dialektische Verhältnis von Gesetz und Fall, ruf die
Hegel die entscheidenden Denkhilfen bietet, unser Vorverständnis der juri-
stischen Hermeneutik gewandelt haben. Die Rolle der Judikatur hat ja von
jeher das Subsumtionsmodell eingeschränkt. Sie dient in Wahrheit der rech-
ten Auslegung des Gesetzes (und nicht nur seiner richtigen Anwendung).
Ähnliches gilt nun erst recht rur die von allen praktischen Aufgaben entlaste-
te Auslegung der Bibel oder mutatis mutandis der Klassiker. Wie dort die
>Analogie des Glaubens< rur die Bibelauslegung keine feste dogmatische
Vorgegebenheit ist, so ist auch die Sprache, die ein klassischer Text zu dem
jeweiligen Leser fuhrt, nicht angemessen begreifbar, wenn man sich dabei an
dem wissenschaftstheoretischen Begriff der Objektivität orientiert und den

49 Vgl. die äußerst lesenswerten Einleitungen Geldsetzers zu seinen hermeneutischen

Neudrucken von Tbibaut und Flacius.


Rhetorik und Hermeneutik 279

Vorbildcharakter eines solchen Textes für eine dogmatische Einengung des


Verständnisses hält. Die Unterscheidung von dogmatischer und zetetischer
Hermeneutik scheint mir selber eine dogmatische Zu sein und sollte der
hermeneutischen Auflösung verfallen.
Ein dritter interessanter Typus des Vorverständnisses, durch den die Ge-
schichte der Hermeneutik in eillem besonderen Lichte erscheint, ist kürzlich
von Hasso Jaeger in einem hochgelehrten Beitrag Zur Frühgeschichte der
Hermeneutik entwickelt worden 50. Jaeger stellt Dannhauer in den Mittel-
punkt, bei dem sich zuerst das Wort )Hermeneutik< und die Idee einer
Erweiterung der aristotelischen Logik durch die Logik der Auslegung fin-
det. Er sicht in ihm einen letzten Zeugen der humanistischen res publica
litteraria, bevor der Rationalismus dieselbe zum Erstarren brachte und der
Irrationalismus und moderne Subjektivismus von Schleiermacher über Dil-
they zu Husserl und Heidegger (und noeh Schlimmeren) seine giftigen
Blüten trieb. Erstaunlicherweise berührt der Verfasser weder den Zusam-
menhang der humanistischen Be"\vegung Inie dem Schriftpinzip der Refor-
mation noch die bestimmende Rolle, die die Rhetorik für die gesamte
Auslcgungsproblematik spielt.
Nun ist es kein Zweifel, und das war Dilthey auch wohl bewußt, daß das
reformatorische Schriftprinzip selber, ebensowohl wie seine theoretische
Verteidigung, einer allgemeinen humanistischen Wendung entsprach, die
von dem scholastischen Lehrstil und seiner Berufung auf die kirchlichen
Autoritäten wegführte und das Lesen der originalen Texte selber verlangte.
Es gehört somit in den größeren hUllunistischen Zusammenhang der Wie-
derentdeckung der Klassiker, die freilich insbesondere das klassische Latein
eines Cicero meinte. Das aber war nicht nur eine theoretische Entdeckung,
sondern stand zugleich unter dem Gesetz der bnitatio, der Erneuerung der
klassischen Redekunst und Stilkunst, und so ist die Rhetorik allgegenwärtig.
Allerdings war es eine seltsam deklamatorische Wiedergeburt. Wie sollte
die klassische Redekunst ohne ihren klassischen Raum, die Polis, bzw. die res
puhlica, wiederervleckt werden? Die Rhetorik hatte seit dem Ende der römi-
schen Republik ihre politische Zentralstellung verloren und bildete im Mit-
telalter ein Element der von der Kirche gepflegten Sehulkultur. Sie konnte
eine Erneuerung, wie sie der Humanismus anstrebte, nicht erfahren, ohne
einen noch viel drastischeren Funktionswandel zu durchlaufen. Die Wieder-
entdeckung des klassischen Altertums kam mit zwei folgenschweren Din-
gen zusammen, der Erfindung der Buchdruckerkunst und, im Gefolge der
Reformation, der gewaltigen Ausbreitung des Lesens und Schreibens, die
mit der Lehre von dem allgemeinen Priestertum verknüpft war. Damit
setzte ein Prozeß ein, der am Ende und überjahrhundertelange Vermittlung

50 Archiv für Begriffsgeschichte 18 (1974), S. 35-84


280 Weiterent\vicklungcn

hinv.'cg nicht nur zur Beseitigung des Analphabetentums ftihrte, sondern


ineins damit zu einer Kultur des stillen Lcsens, die das Gesprochene und
sogar das laut gelesene Wort und die wirklich gesprochene Rede auf den
nveiten Platz verwies - ein ungeheurer Vorgang der Verinnerlichung, der
uns erst jetzt so recht bnvußt wird, seit die Massenmedien einer neuen
Mündlichkeit die Bahn geöffnet haben.
So ist die humanistische Neubelebung der Rhetorik, die sich mehr auf
Cieero und auf Quintilian als auf AristoteIes berief, sehr bald von ihren
Ursprüngen weggeftihrt worden und in neue Kraftfelder eingetreten, die
ihre Figur und ihre Wirkung verwandelten. Ihre theoretische Gestalt ließ
sich zwar als eine Logik der Wahrscheinlichkeit begreifen und war mit der
Dialektik zu einer unzerreißbaren Einheit zusammengeschlossen. Als solche
sollte sie die Befreiung von der Schule des logischen Formalismus und einer
auf die Autoritäten gestützten theologischen Dogmatik bringen. Indessen
steht die Logik der Wahrscheinlichkeit viel zu sehr unter dem Maßstab der
Logik, als daß sie auf die Dauer den Vorrang der Logik der Notwendigkeit,
wie sie die aristotelische Analytik bot, geHihrden konnte.
So wiederholte sich in der Epoche der Renaissance eine ähnliche Ausein-
andersetzung, wie sie im klassischen Altertum zwischen Rhetorik und Phi-
losophie gefuhrt worden war. Doch war esjetzt nicht so sehr die Philosophie
als vielmehr die moderne Wissenschaft und die ihr entsprechende Logik von
Urteil, Schluß und Beweis, die Recht und Geltung der Rhetorik bestritt und
auf die Dauer siegreich blieb.
Für das Übergewicht der neuen Wissenschaft ist das Plädoyer ein spre-
chendes Zeugnis, das Giambattista Vico am Anfang des 18. Jahrhunderts
selbst in dem traditions stolzen Neapel für die Unentbehrlichkeit der Rheto-
rik halten mußte51 • Gleichwohl ist die Sache, die Vico mit seinen Argumen-
ten verteidigte, die Bildungsfunktion der Rhetorik, immer lebendig gewe-
sen und ist bis heute lebendig geblieben - freilich nicht so sehr im wirklichen
Gebrauch der Redekunst und im die Redekunst schätzenden Kunstverstand,
als eben in der Um wendung der rhetorischen Tradition auf das Lesen
klassischer Texte.
Damit kommt, auch "venn es sich wie eine bloße Anwendung der Lehren
der alten Redekunst gibt, am Ende etwas Neues auf, eben die neue Herme-
neutik, die über die Auslegung von Texten Rechenschaft gibt. Nun sind in
einem Punkte Rhetorik und Hermeneutik zutiefst verwandt: Redenkönnen
wie Verstehenkönnen sind natürliche menschliche Fähigkeiten, die auch
ohne bewußte Anwendung von Kunstregeln zu voller Ausbildung zu gelan-
gen vermögen, wenn natürliche Begabung und die rechte Pflege und Aus-
übung derselben zusammenkommen.

51 G. Vico, De ratione studiorum rVgl. Ges. Werke Bd. 1, S.24ff.J


Rhetorik und Hermeneutik 281

So bedeutete es im Grunde eine thematische Einengung, wenn die Tradi-


tion der klassischen Rhetorik nur von der bewußten Kunstübung redete, die
in der Stilkunst geschriebener Reden vorliegt und die Redekunst in die gericht-
liche, politische und epideiktische Gattung differenzierte. Es ist übrigens
höchst charakteristisch, daß der Praeceptor germaniae, Melanchthon, hier
das Renos didaskalikon, den Lehrvortrag, anftigte52 • Noch charakteristischer
aber ist, daß Melanchthon den eigentlichen Nutzen der Rhetorik, der klassi-
schen ars bene dicendi, geradezu darin sah, daß die jungen Leute die ars bette
legendi. das heißt die Fähigkeit, Reden, längere Disputationen und vor allem
Bücher und Texte aufzufassen und zu beurteilen, nicht entbehren könnten 53 •
Das klingt bei ihm zwar aufs erste so, als handelte es sich dabei um eine bloße
ergänzende Motivation ftir die Er1crnung und Ausbildung der Beredsam-
keit. Aber im Laufe der Melanehthonsehcn Darlegungen schiebt sich mehr
und mehr das Lesen als solches und die Übermittlung und Aneignung der in
den Texten zugänglichen religiösen Wahrheiten vor das humanistische Ideal
der Imitation. So übten die Rhetorikvorlesungen Melanchthons eine be-
.stimmende Wirkung auf die Gestaltung des neuen protestantischen Schul-
wesens aus.
Damit verlagert sich die Aufgabe von der Rhetorik weg auf die Herme-
neutik, ohne daß ein adäquates Bewußtsein dieser Verschiebung bestand und
erst recht, bevor der neue Name Hermeneutik gefunden war. Zugleich
bleibt aber das große Erbe der Rhetorik auch ftir das neue Geschäft der
Interpretation von Texten in entscheidenden Punkten wirksam. 50' wie eine
wahre Rhetorik ftir den Schüler Platos von dem Wissen um die Wahrheit der
Sachen54 (rerum cognitio) nicht abgetrennt werden kann, ohne in absolute
Nichtigkeit zu versinken, ist auch ftir die Interpretation von Texten die
selbstverständliche Voraussetzung, daß die auszulegenden Texte die Wahr-
heit über die Sachen enthalten. Das dürfte schon Hir die älteste Erneuerung
der Rhetorik im humanistischen Zeitalter, die ja ganz unter dem Ideal der
Imitatio stand, eine fraglose Selbsverständlichkeit besessen haben. Vollends
gilt es aber rur die Wendung zur Hermeneutik hin, die wir untersuchen.
Denn bei Melanchthon wie bei dem ersten Begründer der protestantischen
Hermeneutik, bei Flacius Illyricus, bildet die theologische Kontroverse über
die Verständlichkeit der Heiligen Schrift die motivierende Grundlage. Inso-
fern kann die Frage gar nicht aufkommen, ob die Kunst des Verstehens et\va
auch den wahren Sinn eines falschen Satzes aufzuschließen berufen sei. Das
wird erst mit dem steigenden Methodenbewußtsein des 17. Jahrhunderts
anders - wobei Zabarella wohl Einfluß ausübte -, und damit verändert sich

52 Melanchthon, Op XIII, 423fT.


53 A.a.O.,417.
54 A. a. 0.: rerum cognitio ad docendum necessaria; Plato, Phdr. 262 c.
282 Weiterentwicklungen

auch die wissenschaftstheoretische Anlehnung der Hermeneutik. Das wer-


den wir bei Dannhauer beobachten, der die Rhetorik in den Anhang ver-
weist und die neue Hermeneutik aus der Anlehnung an die aristotelische
Logik zu begründen sucht. Das bedeutet freilich nicht, daß nicht auch er
inhaltlich von der Tradition der Rhetorik ganz abhängig bliebe, die eben das
Vorbild der Auslegung von Texten bildete.
Betrachten wir zunächst Melanchthon, so ist dort das Schriftprinzip der
lutherischen Theologie im Zusammenhang seines Rhetorikkurses zwar eine
selbstverständliche Voraussetzung und spielt auch inhaltlich hinein, be-
herrscht aber nicht den Duktus der Argumentation, die ganz im peripateti-
schen Schulgeiste gehalten ist. Melanchthon bemüht sich, den Sinn und
Wert der Rhetorik ganz allgemein in der neuen Wendung auf das Lesen hin,
die wir beschrieben, zu rechtfertigen. »Denn niemand ist in der Lage,
längere Ausführungen und komplizierte Disputationen geistig zu erfassen,
wenn er nicht durch eine Art Kunst unterstützt wird, die ihm die Anordnung
der Teile und die Gliederung sowie die Absichten der Sprecher und eine
Methode vermittelt, dunkle Dinge auseinanderzulcgen und klarzmua-
ehen. ,,55 Dabei denkt Mclanchthon gewiß auch an theologische Kontrover-
sen, aber er folgt ganz Aristoteles, der mittelalterlichen und humanistischen
Tradition, wenn er die Rhetotik engstens auf die Dialektik bezieht, und das
heißt, ihr kein besonderes Gebiet zuschreibt, sondern ihre allgemeine An-
wendbarkeit und Nützlichkeit unterstreicht.
»Das erste, worauf es ankommt, ist die hauptsächliche Absicht und der
zentrale Gesichtspunkt oder, wie wir es nennen, der Scopus der Rede. ,,56
Melanchthon fUhrt damit einen in der späteren Hermeneutik des Flacius
beherrschenden Begriff ein, den er aus der methodischen Einleitung zur
aristotelischen Ethik entlehnt. Hier denkt Melanehthon offenkundig gar
nicht mehr an Rede im engeren Sinne, wenn er sagt, daß die Griechen so am
Anfang ihrer Bücher (siel) zu fragen pflegen. Die Grundabsicht eines Textes
sei rur ein adäquates Verständnis wesentlich. Dieser Punkt wird in Wahrheit
auch rur die wichtigste Lehre grundlegend, die Melanehthon aufstellt, und
das ist ohne Zweifel seine Lehre von den Iod communes. Er fUhrt sie als einen
Teil der inventio ein und folgt damit der antiken Tradition der Topik, ist sich
abet der hermeneutischen Problematik, die darin liegt, völlig bewußt. Er
betont, daß diese wichtigsten Kapitel, »die die Quellen und die Summe der
ganzen Kunst enthalten«(5?, nicht einfach ein großer Vorrat von Ansichten
sind, von denen möglichst viele zu haben für den Redner oder Lehrer das
Nützlichste wäre - denn in Wahrheit schließe die richtige Sammlung solcher

55 Mclanchthon Opera XIII, 417f.


5~ A.a.O.,442f.
57 A. a. 0., 470.
Rhetorik und Hermeneutik 283
Iod das Ganze des Wissens ein. Das ist implicite eine hermeneutische Kritik
an der Oberflächlichkeit einer rhetorischen Topik". Umgekehrt bezweckt
sie die Rechtfertigung seines eigenen Verfahrens. Denn Melanchthon hat als
Erster die altprotestantische Dogmatik auf eine sinnvolle Auswahl und
Sammlung entscheidender Stellen der Heiligen Schrift gegründet, die 1519
zuerst herausgekommenen lod praedpui. Die spätere katholische Kritik an
dem protestantischen Schriftprinzip ist nicht ganz im Recht, wenn sie im
Hinblick auf solche Aufstellung dogmatischer Sätze dem Schriftprinzip der
Reformatoren Inkonsequenz vorwirft. Es ist zwar wahr, daß jede Aus\vahl
eine Interpretation einschließt und damit dogmatische Implikationen hat,
aber der hermeneutische Anspruch der altprotestantischen Theologie be-
steht eben darin, daß ihre dogmatischen Abstraktionen aus der Schrift selber
und ihrer Absicht legitimiert sind. Eine andere Frage ist freilich, wieweit die
reformatorischen Theologen ihrem Grundsatz \virklich genügend folgten.
Der springende Punkt ist dabei die Zurückdrängung der allegorischen
Interpretation, die freilich gegenüber dem Alten Testament eine gewisse
Unentbehrlichkeit behielt, wie noch heute in Form der sogenannten >typo-
logischen< Interpretation anerkannt ist. Eine ausdrückliche Bezugnahme auf
Luthers exegetische Praxis bei der Auslegung des Deuteronomium und der
Propheten mag die Fortgeltung des Schriftprinzips illustrieren. Melan-
chthon sagt: »)Hier werden nicht bloße Allegorien übermittelt, sondern zu-
nächst wird die Geschichte selber auf die 10ci communes des Glaubens und
der Werke bezogen, und dann erst ergeben sich aus diesen loci die Allego-
rien. Aber dies Verfahren kann niemand befolgen, der nicht ausgezeichnete
Gelehrsamkeit besitzt. ({59 Noch im Kompromiß bestätigt die Stel1e unsere
Interpretation, daß das Schriftprinzip seine grundlegende Stellung be-
hauptet.
Man könnte fortfahren, Elemente der Rhetorik als Grundsätze der späte-
ren Hermeneutik zu identifizieren, aber es genügt vielleicht eine al1gerneine
Überlegung. Es geht um die neue Aufgabe des Lesens. Im Unterschiede zur
gesprochenen Rede ist der geschriebene oder vervielfaltigte Text a11 der
Verständnishilfen beraubt, die der Sprecher zu liefern pflegt. Sie lassen sich
Zusammenfassen unter dem Begriff der richtigen Betonung, und jedermann
58 Dieser Problematik waren sich die Anhänger Melanehthons offenbar nicht in der

gleichen Weise bewußt. So finde ich bei Johannes Sturm, linguae latinae resolvendae ratio,
publ. 1581: »Neo tempore valde occupati fUlmus adolescentes in instituendis loels com-
munibus. Corrogavimus quaedam ex co libro Erasmi. quem edidit de ratione disecndi.
Philippus honorifieae memoriae etiam tradidit qllosdam 10cos eommunes et aEi alios
tradiderunt. Ego pllto non solum faeiendos 10eos communcs virtutum et vitiarum, sed
loeos communes omnium rerum ... Vobis hi 10ci in star memoriae seu recordationes. {(
Die Schüler Melanchthons waren sich also über die hermeneutische Dimension der
Sammlung von Iod nicht ebenso im klaren.
59 A. a. 0.,452.
284 Weiterentwicklungen

weiß, wie schwierig es ist, Sätze eines Textes in wirklich angemessener


Betonung wiederzugeben. Die ganze Summe des Verstehens ist in den
idealen - und niemals vollendet verwirklichten - Fall der richtigen Betonung
eingegangen. Dannhauer macht einmal die richtige Bemerkung: »Literatur
wird kaum auf andere Weise zum Verständnis gebracht als durch einen
lebendigen Lehrer. Wer vermöchte ohne eine solche Hilfe die alten Manu-
skripte der Mönche überhaupt zu lesen? Die Interpunktionen aber können
nur erkannt werden auf Grund der Vorschriften, die die Redner über Peri-
oden, Kommata und Kola geben.« Die Stelle bestätigt: Die neue Lesehilfe
der Interpunktion beruht auf der alten Gliederungskunst der Rhetorik.
Die volle Reich\veite dieses Problems ist aber eigentlich erst von der
pietistischen Hermeneutik erfaßt worden, wie sie in der Nachfolge von
August Hermann Francke durch Rambach und dessen Nachfolger entwik-
kelt worden ist. Hier erst wird das alte Kapitel der klassischen Rhetorik, die
Erweckung von Affekten, als ein hernIeneutisches Prinzip erkannt. Aller
Rede wohnt aus der eigensten Bestimmung des Geistes Affekt inne und man
kennt die Erfahrung: )}Dieselben Worte verbreiten, wenn sie mit verschiede-
nem Affekt und Gestus gesprochen werden, oft einen ganz verschiedenen
Sinn. {~ In der Anerkennung dieses Momentes der affektiven Modulation
aller Rede (und insbesondere der Predigt) liegt dann die Wurzel der von
Schleiermacher begründeten >psychologischeIll Interpretation und am Ende
aller sogenannten Einfühlungstheorie, so wenn es bei Rambach etwa heißt:
l)Dem Interpreten ist der Geist des Autors so anzuziehen, daß er langsam wie
dessen zweites Ich herauskomnlt. «
Doch damit greifen wir weit vor. Die erste hermeneutische Selbstbesin-
nung ist ja bereits im Zeitalter der Reformation von Flacius vollbracht
worden. Auch er \var natürlich zunächst nichts als ein Philologe und Huma-
nist, der für die Reformation Luthers gewonnen worden war. Ihm kommt
das unbestreitbare Verdienst zu, das lutherische Schriftprinzip gegen die
Angriffe der Tridentiner Theologen durch Entwicklung seiner Hermeneu-
tik abgesichert zu haben, Seine Verteidigung der Heiligen Schrift mußte
gleichsam gegen Z\vei Fronten kämpfen. Auf der einen Seite gegen das
humanistische Stilideal des Ciceronianismus, dem die Bibel nicht entsprach.
Auf der anderen Seite gegen den gegenreformatorischen Angriff, daß die
Heilige Schrift überhaupt unverständlich sei, \venn man sie nicht mit Hilfe
der Lehrtradition der Kirche aufschlüssele. Die Heilige Schrift ohne solchen
dogmatischen N achschlüsscl aufzuschließen, ist die wesentliche Intention
jenes Schlüssels, der sogenannten )Clavis scripturae sacrae(, den Flacius
verfaßt hat. Mit großer Gründlichkeit behandelt Flacius darin die Ursachen
der Schwierigkeit der Heiligen Schrift und erhält dafür sogar von seinem
katholischen Kritiker Richard Simon ironisches Lob - \vie auch für seine
Belesenheit in den Kirchenvätern. Nun liegt aber die wichtigste, die für das
Rhetorik und Hermeneutik 285

ganze Schriftprinzip theologisch grundlegende Schwierigkeit· der Heiligen


Schrift nach Flacius nicht in a11 den allgemeinen Schwierigkeiten, die ein in
fremder Sprache abgcfaßter Text dem Verständnis bietet. Das ist nur die am
\\·eitesten entfaltete Seite der Sache, für die sich Flacius als ein führender
Hebraist und Graecist besonders kompetent ruhlen konnte. Wichtiger ist in
Wahrheit ein religiöser Grund. dn der Heilslehre sind alle Menschen ihrer
Natur nach nicht nur schwerfällig und dumm, sondern geradezu dem ge-
genteiligen Sinne eiligst zugeneigt; wir sind nicht nur unfähig, sie zu lieben,
zu begehren und zu verstehen, sondern wir halten sie sogar rur töricht und
unfromm und schrecken weit von ihr zurück. «
Hier gelangt offenbar ein zentrales Motiv aller Hermeneutik, nämlich die
Überwindung der Fremdheit und die Aneignung des Fremden, zu seiner
besonderen, ja einzigartigen Ausgestaltung, der gegenüber a11 die sonstigen
Fremdheiten von Texten, die der Sprache, der Zeitanschauungen, der Aus-
drucksformen, geradezu untergeordnet wirken. Denn hier handelt es sich
um das Urmotiv des Protestantismus, den Gegensatz von Gesetz und Ver-
heißung bzw. Gnade. Man macht es sich zu leicht, wenn man wegen dieses
dogmatischen Interesses die hier begründete Hermeneutik selber dogma-
tisch nennt. Gewiß will sie dem Selbstverständnis des christlichen Glaubens
und der Annahme des Evangeliums dienen. Aber sie bleibt trotzdem im
Prinzip eine rein hernleneutische Anstrengung. Sie ist die Ausarbeitung und
Rechtfertigung des protestantischen Schriftprinzips, dessen Anwendung die
religiöse Voraussetzung der >Rechtfertigung durch den Glauben, bestätigt.
Es ist in Wahrheit eine verkürzende Perspektive, wenn man die Aufgabe
der Interpretation von Texten unter das Vorurteil der Theorie der modernen
Wissenschaft und unter den Maßstab der Wissenschaftlichkeit stellt. Die
Aufgabe des Interpreten ist in concreto niemals eine bloße logisch-techni-
sche Ermittlung des Sinnes beliebiger Rede, bei der von der Frage der
Wahrheit des GesagteIl ganz abgesehen würde. Jede Anstrengung, den Sinn
eines Textes zu verstehen, bedeutet das Annehmen einer Herausforderung,
die der Text darstellt. Sein Wahrheitsanspruch ist noch dann die Vorausset-
zung der gesamten Anstrengung, wenn im Ergebnis bessere Erkenntnis zur
Kritik daran fUhrt und den verstandenen Satz als falsch erweist. Das muß
auch bei der Art, wie Flacius seine Hermeneutik anlegt, beachtet werden. Er
weiß, welche Herausforderung das Evangelium darstellt. Es ist keineswegs
überflüssig, aber auch nicht dogmatisch beengend, wenn er allerhand Be-
dingungen rur das rechte Verständnis der Heiligen Schrift aufzählt. Es
handelt sich dabei nicht nur, um ein Beispiel zu nennen, um die fromme
Erwartung, Gottes Wort zu hören, wie Flacius verlangt, sondern etwa auch
um die Bedingung eines von allen Sorgen freien Geistes, der ausdrücklich in
allen schwierigen Sachen und Geschäften notwendig sei (Seite 88). Oder
neben dem Rat, etwas, das man nicht ganz verstanden hat, auswendig zu
286 Weitercntwicklungen

lernen, »in der Hoffnung. daß uns Gott das eines Tages klarmache«, steht der
andere Rat, der wahrlich allgemein und rur das Lesen einer jeden Schrift als
gültig empfohlen wird, gleich als erstes den >Scopus<, den Zweek und die
Intention des ganzen Textes zur Kenntnis zu nehmen.
Mit solchen allgemeinen Ratschlägen wird die Besonderheit des An-
spruchs der Heiligen Schrift keineswegs nivelliert, sondern kommt gerade
durch deren Anwendung zur rechten Abhebung. »Man muß beachten, daß
in diesem Buche nicht nur eine Art von Lehre enthalten ist, wie sonst meist in
Büchern, sondern deren zwei, das Gesetz und das Evangelium. Sie sind zwar
von Natur einander entgegengesetzt, stimmen aber inso\veit überein, als das
Gesetz, indem es unsere Sündigkeit offenlegt, mittelbar der Annahme der
Vergebung (durch den Erlöser) dient.« Auch das noch ist eine hermeneuti-
sche Angelegenheit. Es bedeutet, daß die Bibel eine besondere Form der
Aneignung erheischt, nämlich die Annahme der frohen Botschaft durch den
Glaubenden. Das ist der Scopus, unter dem man die Heilige Schrift zu lesen
hat, auch dann, \venn man als bloßer Historiker an sie herantritt oder etwa
als Atheist, z. B. auf marxistischer Grundlage, die ganze Religion für )falsch(
hält. Diese Art Text muß - wie jeder andere - ihrer Intention nach verstan-
den werden.
AUe Lektüre und Auslegung der Heiligen Schrift, insbesondere aber auch
das Wort der Predigt, das die Heilige Schrift so zum Leben erwecken soll,
daß sie erneut zur Botschaft wird, stehen unter dem kerygmatischen An-
spruch des Evangeliums. Das hat eine hermeneutische Besinnung anzuer-
kennen, und dieser Anspruch rechtfertigt keineswegs, daß die hermeneuti-
sche Theorie des Flacius dogmatisch genannt werden dürfte. Sie gibt nichts
anderes als eine adäquate theoretische Begründung des Schriftprinzips, das
Luther aufgestellt hatte. Die hermeneutische Lehre des Flacius verstößt nicht
gegen die humanistischen und philologischen Prinzipien rechter Auslegung,
wenn sie einen religiösen Text als religiöse Botschaft versteht. Sie verlangt
nirgends inhaltlich dogmatische Vorannahmen, die sich am Text des Neuen
Testamentes nicht ausweisen lassen, sondern eine diesem Text gegenüber
überlegene Instanz darstellen. Das Ganze seiner Hermeneutik folgt dem
einen Grundsatz, daß allein der Zusammenhang den Sinn einzelner Worte,
Textstdlcn usw. wirklich bestimmen kann: »ut sensus locorum turn ex scopo
scripti auf textus, aun ex toto contextu petatur. « Hier ist die polemische Front-
stellung gegen alle schriftfremde Lehrtradition vollkommen deutlich. Es
entspricht dem, daß flacius, wie Melanchthon, Luther folgt, indem er vor
den Gefahren der Allegorese warnt. Gerade dieser Versuchung soll die Lehre
vom scopus totius scripti vorbeugen.
Sieht man näher zu, so sind es offenkundig die klassischen Begriffsmeta-
phern der Rhetorik, die hier gegen die dogmatische Unterwerfung der
Schrift unter die Lehrautorität der Kirche aufgeboten werden. Der Scopus
Rhetorik und Hermeneutik 287

wird als der Kopf oder das Gesicht des Textes bezeichnet, der oft schon aus
dem Titel deutlich \verde, vor allem aber aus den Grundlinien der Gedan-
kenftihrung hervorgehe. Damit wird der alte rhetorische Gesichtspunkt der
dispositio aufgenommen und ausgebaut. Man habe sorgsam darauf zu achten,
wo, um es so auszudrücken, Kopf, Brust, Hände, Füße sind und wie die
einzelnen Glieder und Teile zum Ganzen zusammenwirken. Flacius spricht
geradezu von einer )Anatomie< des Textes. Das ist echtester Plato. Statt eine
bloße Aneinanderreihung von Worten und Sätzen zu sein, muß jede Rede
wie ein lebendiges Wesen organisiert sein, einen eigenen Leib haben, so daß
sie weder ohne Kopf noch ohne Fuß ist, sondern Mittleres wie Äußeres in
gutem harmonischem Verhältnis zueinander und zum Ganzen aufweist. So
sagt es der ,Phaidros' (264 c). Auch Aristoteles folgt dieser rhetorischen
Begrifflichkcit, wenn er in der Poetik den Aufbau einer Tragödie beschreibt:
flo::.per zoon flefl holon60 . Unsere deutsche Redensart })das hat Hand und Fuß"
steht in der gleichen Tradition.
Es ist aber auch echtester Plato (dem Aristotcles Ausführung und Begrün-
dung gewidmet hat), daß sich das Wesen der Rhetorik nicht in solchen als
technische Regeln formulierbaren Künsten erschöpft. Was die Lehrer der
Rhetorik, die Plato im IPhaidros< kritisiert, betreiben, liege noch )vor( der
eigentlichen Kunst. Denn die eigentliche Kunst der Rhetorik sei v.,reder von
dem Wissen um das Wahre ablösbar noch von dem Wissen um die )5eelel.
Gemeint ist damit die seelische Lage des Zuhörers, dessen Affekte und
Leidenschaften zwecks Überredung durch die Rede erregt werden sollen. So
lehrt der ,PhaidroS<, und so folgt die gesamte Rhetorik dem Grundsatz des
argumentum ad hominem selbst beim alltäglichen Gebrauch im Umgang mit
Menschen bis zum heutigen Tage.
Nun ist es allerdings wahr, daß im Zeitaler der neuen Wissenschaft und
des Rationalismus, der im 17. und 18. Jahrhundert zur Entfaltung kommt,
das Band zwischen Rhetorik und Hermeneutik gelockert worden ist. In
jüngster Zeit hat H. Jaeger" vor allem auf die Rolle aufmerksam gemacht,
die Dannhauer mit seiner idea bon i interpretis gespielt hat. Er scheint der erste
zu sein, der das Wort Hermeneutik terminologisch gebraucht hat, und zwar
in offenkundiger Anlehnung an die entsprechende Schrift des aristotelischen
Organon. Darin zeigt sich: Es ist der Anspruch Dannhauers, den Anfang,
den Aristoteles mit seiner Schrift Peri hermeneias gemacht hatte, fortzusetzen
und zu vollenden. Wie er selbst sagt: ~)die Grenzen des aristotelischen Orga-
non durch die Hinzuftigung einer neuen Stadt zu erweitern. {( Seine Orientie-
rung ist also die Logik, der er als einen weiteren Teil, als eine weitere

w Poetik 23, 1459 a 20.


61 [H. Jaeger, Studien zur Frühgeschichte der Hermeneutik, Archiv fUf Begriffsge-
schichte 18 (1974), S. 35-84, S. 4lff.J
288 Weiterentwicklungen

philosophische Wissenschaft, die des Interpretierens zur Seite stellen will,


und zwar in einer so allgemeinen Weise, daß diese der theologischen v.rie der
juristischen Hermeneutik vorgeordnet sei, ganz so wie Logik und Gramma-
tik aller besonderen Anwendung vorgeordnet sind. Dannhauer läßt dabei
das, was er die rednerische Auslegung nennt, nämlich den Gebrauch und
Nurzen, den man mit einem Texte anstrebt und den nun al1gcmcin accomoda-
tio textus nenne, beiseite und sucht durch seine Hermeneutik eine der Logik
ebenbürtige menschliche und logische Unfehlbarkeit im allgemeinen Ver-
ständnis von Texten zu bewerkstelligen. Diese Tendenz zu einer Art neuer
Logik ist es, die ihn zur Parallclisierung mit und zur ausdrücklichen Abhe-
bung von der analytischen Logik fUhrt. Beide Teile der Logik, die Analytik
wie die Hermeneutik, haben es mit der Wahrheit zu tun und beide lehren,
Falschheit zurückzuweisen. Aber sie unterscheiden sich dadurch, daß jene,
die Hermeneutik, den wahren Sinn auch eines grundfalschen Satzes zu
erforschen lehre, während diese, die Analytik, Wahrheit des Schlußsatzes
nur aus wahren Prinzipicn ableitc. Jene habe es also nur mit dem )Sinn< von
Sätzen zu tun, nicht mit ihrer sachlichen Richtigkeit.
Dannhauer ist sich dabei der Schwierigkeit durchaus bewußt, daß der
vom Autor gemeinte Sinn nicht klar und eindeutig zu sein brauche. Das sei
eben die Schwäche der Menschen, daß auch eine einzige Rede vielerlei Sinn
haben könne. Aber sein Anspruch ist, solche Vieldeutigkeiten durch herme-
neutische Anstrengung aufzulösen. Wie rationalistisch er dabei schon denkt,
kommt heraus, wenn er es als das Ideal der Hermeneutik hinstellt, Reden,
die nicht logisch sind, in logische zu verwandeln und gleichsam zu verflüssi-
gen. Es käme darauf an, derartige Reden, zum Beispiel poetische, derart neu
zu placieren, daß sie in ihrem eigenen Lichte leuchten und niemanden
täuschen können. Dieser wahre Platz aber sei die logische Rede, die reine
Aussage, das kategorische Urteil, die eigentliche Redeweise.
Es scheint mir irrig, eine solche logische Orientierung der Hermeneutik
als die eigentliche Erftillung der Idee der Hermeneutik anzupreisen, wie das
H. Jaeger tut. Dannhauer selber, ein Straßburger Theologe des frühen
17. Jahrhunderts, bekennt sich als ein Schüler des aristotelischen Organon,
das ihn von den Konfusionen der zeitgenössischen Dialektik befreit habe. Er
teilt aber mit der protestantischen Hermeneutik, wenn man von dieser
wissenschaftstheoretischen Einordnung absieht und auf den Inhalt blickt,
fast alles, und wenn er den Zusammenhang mit der Rhetorik übergeht, so
unter unmittelbarer Berufung auf Flacius, der dieser Seite genügende Auf-
merksamkeit gewidmet habe. In der Tat teilt er als protestantischer Theolo-
ge auch ausdrücklich die Anerkennung der Bedeutung der Rhetorik. In
seiner Herrneneutica sacrae scripturae zitiert er seitenlang Augustin, um zu
beweisen, daß in der Heiligen Schrift keineswegs eine bloße Kunstlosigkeit
liege (wie das unter dem Ciceronianischen Ideal der Rhetorik erscheinen
Rhetorik und Hermeneutik 289
mochte), sondern eine besondere Art Von Beredsamkeit, wie sie Männern
von höchster Autorität und beinahe göttlichen Männern gerade angemessen
sei. Man sieht, wie noch im 17. Jahrhundert der Stilkanon der humanisti-
schen Rhetorik eine Geltung besaß, sofern sich der christliche Theologe nur
dadurch wehren kann, daß er - mit Augustin - das rhetorische Niveau der
Bibel verteidigt. Was seine rationalistische Neuorientierung des methodi-
schen Selbstverständnisses der Hermeneutik inhaltlich an Neuem bringt,
betrifft nirgends die Substanz des hermeneutischen Unternehmens als sol-
chen, vlie es durch das reformatorische Schriftprinzip inauguriert worden
war. Auch Dannhauer bezieht sich ständig auf die strittigen theologischen
Fragen und besteht genau wie die anderen Lutheraner darauf, daß die herme-
neurische Fähigkeit und damit auch die Möglichkeit, die Heilige Schrift zu
verstehen, allen Menschen gemeinsam sei. Auch bei ihm dient die Ausbil-
dung der Hermeneutik der Abwehr der Papistenfi2 •
Indessen, ob man sein methodisches Selbstverständnis in der Orientie-
rung an der Logik oder an der Rhetorik bzw. Dialektik ausbildet, in jedem
Fall ist die )Kunst< der Hermeneutik von einer alle Anwendungsformen -auf
die Bibel, auf die Klassiker, auf die Gesetzestexte - überschreitenden Allge-
meinheit. Das ist in heiden Orientierungsweisen angelegt und liegt in der
eigentümlichen Problematik begründet, die dem Begriff der >Kunstlehre<
anhaftet und die ihren Ursprung in der von Aristoteles eingefUhrten Be-
griffs bildung hat. Gegenüber den >reinen. Fällen von Techne oder Kunstleh-
re stellen die Rhetorik so gut wie die Hermeneutik offenbar Sonderfalle dar.
Beide haben es mit der Universalität des Sprachlichen und nicht mit be-
stimmt begrenzten Sachfeldern des Herstellens zu tun. Damit hängt zusam-
men, daß sie in mehr oder minder fließendem Übergang von der natürli-
chen, allgemein menschlichen Fähigkeit des Sprechcns oder des Verstehens
zu dem bewußten Gebrauch von Kunstregeln des Sprechens und Verstehens
fortschreiten. Das aber hat eine andere wichtige Seite, die von dem moder-
nen Wissenschaftsbegriff aus so gut wie von dem antiken Begriff der Techne
aus nicht recht sichtbar wird. Die Ablösung der >reinen Kunst( von den
natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen der alltäglichen Praxis ist in
beiden Fällen nur in beschränktem Umfang möglich. Im Falle der Rhetorik
bedeutet das, daß losgelöst von Naturanlage und natürlicher Übung das
bloße Regelwissen als solches und seine Einlemung nicht zu wirklicher
Beredsamkeit verhilft, und es heißt auch umgekehrt, daß die bloße Kunst-
fertigkeit der Rede, wenn sie keinen angemessenen Inhalt besitzt, leere
Sophistik bleibt.

62 Für den oben genannten Sturm kommt eine Anlehnung an Aristotelcs in solcher

Weise gar nicht in Frage. Er warnt geradezu vor den Jesuiten ~ut magis sirrt Aristotelici
quam theologi(.
290 Weiterent"''Ilicklungcn

Überträgt man das auf die Kunst der guten Auslegung, so hat man es hier
gewiß mit einer eigentümlichen Zwischendimension zu tun, nämlich der in
Schrift oder Druck fixierten Rede. Einerseits bedeutet das eine Erschwerung
der Verständlichkeit, selbst dann, wenn die sprachlich-grammatischen Be-
dingungen vollkommen erflillt sind. Das tote Wort muß ja zu lebendigem
Sprechen auferweckt werden. Andererseits bedeutet die Fixiertheit aber
auch eine Erleichterung, sofern sich das Fixierte der wiederholten Verste-
hensbemühung unverändert darbietet. Es handelt sich dabei nicht um eine
starre Aufrechnung von positiven und negativen Punkten, die mit der
Fixiertheit gegeben sind. Sofern es in der Hermeneutik um die Auslegung
von Texten geht und Texte entweder zum Vorlesen oder zum stillen Lesen
bestimmte Rede sind, kommt in jedem Falle der Aufgabe der Auslegung und
des Verstehens die Kunst des Schreibens entgegen. So gehörte eine besonde-
re Kunst des Schreibens dazu, in den Frühzeiten der Vorlesekultur die
Textgrundlage fUr den Vortrag richtig einzurichten. Das ist ein \vichtiger
stilistischer Gesichtspunkt, der im klassischen Zeitalter der Griechen wie der
Römer eine bestimmende Rolle spielte. Mit der allgemeinen Verbreitung des
stillen Lesens und vollends mit dem Aufkommen des Buchdrucks werden
andere Lesehilfen, Interpunktion und Gliederung besonders nötig. Damit
ändert sich offenkundig auch das, was von der Kunst des Schreibens ver-
langt wird. Es ließe sich eine Parallele zu den in Tacitus' >Dialogus( erörterten
Gründen flir den Niedergang der Beredsamkeit denken: in der Buchdruk-
kerkunst liegen die Gründe rur den Niedergang der epischen Literatur und
fur die Veränderung in der Kunst des Schreibens, die der veränderten Kunst
des Lesens entspricht. Man sieht, wie weit beides, Rhetorik und Hermeneu-
tik, von dem handfesten Modell handwerklichen Wissens differiert, an das
der Begriff >Kunstlehre< (techne) geknüpft ist.
Noch bei Schleiermacher ist die Problematik im Begriff der Kunstlehre,
wenn er auf Rhetorik und Hermeneutik angewendet wird, recht deutlich
fUhlbar. Es ist ja eine ganz ähnliche Interferenz, die zwischen Verstehen und
Auslegen statthat, wie die, die zwischen Reden und Redekunst besteht. In
beiden Fällen ist der Anteil der regelbewußten Anwendung so untergeord-
net, daß es einem richtiger scheint, in der Rhetorik wie in der Hermeneutik,
ganz ähnlich wie im Falle der Logik, von einer Art theoretischer Bewußtma-
chung zu sprechen, d. h. einer ,philosophischen< Rechenschaftsgabe, die von
ihrer Anwendungsfunktion mehr oder minder abgelöst ist.
Hier kommt einem notwendig die eigentümliche Sonderstellung in den
Sinn, die die praktische Philosophie bei Aristoteles besitzt. Sie heißt zwar
philosophia, und das meint jedenfalls eine Art >theoretischen< und nicht
praktischen Interesses. Trotzdem wird sie aber, wie Aristoteles in seiner
Ethik betont, nicht um des bloßen Wissens willen betrieben, sondern um der
arete, d. h. um des praktischen Seins und Handelns willen. Nun scheint es
Rhetorik und Hermeneutik 291

mir sehr bemerkenswert, daß man ähnliches auch von dem sagen möchte,
was Aristoteles im 6. Buch der Metaphysik poietike philosophia nennt und
was offenbar sowohl die Poetik als auch die Rhetorik umfaßt. Heide sind
nicht einfach Arten von Techne im Sinne des technischen Wissens. Beide
beruhen ja auf einer universalen Fähigkeit des Menschen. Ihre Sonderstel-
lung gegenüber den Technai trägt freilich nicht eine so klare Auszeichnung,
wie sie der Idee der praktischen Philosophie zukommt, die sich durch ihren
polemischen Bezug auf die platonische Idee des Guten profiliert. Indessen
kann man, wie mir scheint, die Sonderstellung und Abgrenzung auch der
poietischen Philosophie, in Analogie zur praktischen Philosophie, als eine
Konsequenz des aristotelischen Gedankens behaupten, und jedenfalls hat die
Geschichte diese Konsequenz gezogen. Das in Grammatik, Dialektik und
Rhetorik differenzierte Trivium, das unter Rhetorik ja auch die Poetik mir
umfaßt, besitzt eine ähnlich universale Stellung gegenüber allen besonderen
Weisen des Machens und Herstellens von et\vas, wie sie der Praxis überhaupt
und der sie leitenden Vernünftigkeit zukommt. Weit entfernt davon, Wis-
senschaften zu sein, sind diese Bestandstücke des Trivium )freie< Künste,
d. h. sie gehören zum Grundverhalten des menschlichen Daseins. Sie sind
nichts, was man tut oder lernt, damit man dann der ist, der das gelernt hat.
Diese Fähigkeit aus bilden zu können, gehört vielmehr zu den Möglichkeiten
des Menschen als solchen, zu dem, was einjeder ist oder kann.
Das aber ist es, was das Verhältnis von Rhetorik und Hermeneutik, dessen
Entwicklung wir studieren, im letzten Grunde bedeutend macht. Auch die
Kunst der Auslegung und des Verstehens ist nicht eine spezifische Fertigkeit,
die einer erlernen kann, um ein solcher zu werden, der das gelernt hat, eine
Art Dolmetscher von Beruf. Sie gehört zum Menschsein als solchen. Inso-
fern trugen und tragen die sogenannten >Geisteswissenschaften< den Namen
der Humaniora oder humanities mit Recht. Das mag durch die Freisetzung
von Methode und Wissenschaft, die zum Wesen der Neuzeit gehört, unklar
geworden sein. In Wahrheit kann aber auch eine Kultur, die der Wissenschaft
eine fuhrende Stellung einräumt, und damit der Technologie, die auf sie
gegründet ist, den größeren Rahmen niemals ganz sprengen, in den die
Menschheit als menschliche Mitwelt und als Gesellschaft gefaßt ist. In
diesem größeren Rahmen haben Rhetorik und Hermeneutik eine unanfecht-
bare und allumfassende Stellung.
21. Logik oder Rhetorik?
Nochmals zur Frühgeschichte der Hermeneutik

1976

Durch seinen Aufsatz >Studien zur Frühgeschichte der Hermcneutik,63 hat


H.-E. Hasso Jaegcr unsere Kenntnis der frühgeschichte der Hermeneutik
durch ein ganzes neues Kapitel bereichert. Man \vußte schon länger, daß das
Wort >Hermeneutik< zuerst in einer Schrift von Joh. Conrad Dannhauer
begegnet, und es war mindestens seit Dilthey auch klar, daß die Hermeneu-
tik eine gewisse humanistische Vorgeschichte hat. Mit der eigenen Würdi-
gung von Dannhauer, die Jaeger vorlegt, diffetenziert sich aber das Bild,
Zunächst zeigt Jaeger, daß Dannhauer schon seit seiner Jugend das Pro-
gramm einer Logik der Auslegung verfolgte und bereits 1629 den Ausdruck
,Hermeneutik{ dafUr einfUhrte, Jaeger möchte gegen Dilthey diese Herme-
neutik nicht länger als eine theologische - und dann doch recht dürftige-
Vorstufe der romantischen Hermeneutik sehen, sondern als eine eigene
Schöpfung der humanistischen Bewegung, die mit der Kontroverse über
das Schriftprinzip, die zwischen Luther und den Papisten ausgetragen wur-
de, zunächst nichts zu tun habe. Dilthey hatte uns freilich gezeigt, daß diese
Kontroverse zu einer ersten Formulierung der hermeneutischen Grundsätze
der protestantischen Bibelexegese fUhrte, die in Flaeius Illyricus ihre Doku-
mentation fand, H Jaeger sucht jedoch die theologische Seite des Problems
soweit wie möglich auszuschalten.
Sein eigentliches Interesse ist, die ~Hermeneutik< als eine \vissenschafts-
theoretische Konzeption des 17. Jahrhunderts zu erweisen, die in Dannhau-
ers ,[dea boni interpretis< (1630) vorgetragen wurde.
Die auf profunder Gelehrsamkeit beruhende begriffs geschichtliche Studie
Jaegers setzt, wie es sich gehört, mit wortgeschichtlichen Feststellungen ein,
und am Ende beherrscht die wortgeschichtliche Fragestellung das Ganze
seines Beitrags so sehr, daß er die theologische Kontroversliteratur zur
Bibelauslcgung, die Dilthey behandelt hatte'" ganz beiseite läßt, Das Auf-

63 Archiv fLir Begriffsgeschichte XVIII/1, 33-84. Die Seitenzahlen im Text verv,,'cisen

auf diesen Beitrag.


64 Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der
Logik oder Rhetorik? 293
treten von Hermeneutica bei Dannhauer ist, wie Jaeger zeigt, selbst nicht ohne
Vorgeschichte. Doch ist die wissenschaftstheoretische Begründung der neu-
en Disziplin - die oikonomia, ,\,ie Dannhauer sagt - sein eigenes Werk.
Die Darstellung, die Jaeger von Dannhauer gibt (47-59), macht sowohl
dessen \vissenschaftstheoretisches Konzept wie die Namengebung Henne-
neutik verständlich. Er hat rur sich selbst das aristotelische Organon wieder-
entdeckt und datiert von dieser Entdeckung seine ganze geistige Existenz.
Offenbar ist es die Rückkehr zum echten Aristoteles, die ihn gegen die
ramistische Logik (60) feit und ihn in dem Altarfer Aristotelismus Bestäti-
gung finden läßt. Dannhauer stellt neben die in Aristoteles per; hermeneias
vorgetragene Logik der Aussage die hermetteutica generalis wie eine meue
Stadt< (50). Die ThemensteIlung des aristotelischen Organon wird damit auf
die Interpretation der Rede und Schrift anderer ausgeweitet.
Jaeger deutet an, daß Dannhauer sich damit an die neuere Lehre von der
Analytik anschließt, die den damaligen Aristotelismus beherrschte und als
methodus resolutiva bekannt ist (51 f). Darüber wird von Jaeger noch etwas zu
lernen sein, wenn er sein angekündigtes größeres Werk vorlegt. Soweit ich
sehe, ist diese methodus eine freie Weiterbildung des spätantiken Synkretis-
mus aristotelischer Logik und platonischer Dialektik, rur die bei Aristoteles
selbst nur spärliche Ansätze vorliegen: Aristoteles bezieht sich offenkundig
immer auf den geometrischen Begriff des analyein, sowohl wenn er das
Schluß- und Beweisverfahren zum logischen Thema macht, als auch bei der
Anwendung auf die Struktur der praktischen Überlegung (Findung der
Mittel zum Zweck). Das sollte durchJaegers Hinweis auf den neuplatoni-
schen Gebrauch von Analytik als Weg zu den Prinzipien nicht verunklärt
werden (52). Die Anlehnung an diese Analytik wird nun ftir Dannhauers
Programm der Hermeneutik bestimmend. Dannhauer sah offenbar in der
aristotelischen Schrift peri hermeneias in Wahrheit ein Verfahren der Synthesis
(Zusammensetzung der Rede aus ihren Teilen). Er stellt dieser synthetischen
Logik der Aussage die Hermeneutik als analytisch zur Seite. Diese Auswei-
tung der aristotelischen Analytik hat nun eine wichtige Folge. Wie die
formale Schlußlehre nur immanente Schlüssigkeit und nicht sachliche Rich-
tigkeit sichert, will auch die Hermeneutik bei Dannhauer den richtigen Sinn
einer Aussage und nicht den Sinn einer richtigen Aussage ermitteln. Sie
erstre bt ja keine Ableitung derselben aus Prinzipien. Hier ist Dannhauer sehr
radikal, undJaeger zeigt, daß er damit einer älteren, mittelalterlichen Lehre
der Unterscheidung von sm,us und sententia folgt (56). Andere erkannten
dagegen in der Hermeneutik einen eigenen, wenn auch mittelbaren und
untergeordneten Weg der Wahrheits erkenntnis. Das ist offenbar die Auffas-

alten protestantischen Hermeneutik [1860], in: Gesammelte Schriften XIVI2, 595-787;


Die Entstehung der Hermeneutik [1860/1900j, in: Gesammelte Schriften V, 317-338.
294 Vieiteren twickl un gen

sung noch bei Keckermann gewesen (1614), der deshalb geradezu von einer
clavis in/elligen/iae spricht (71 f).
Wie dem auch sein mag, injedem Falle steht Dannhauer Hir den Zusam-
menschluß von hermeneutica und analytica - anders gesprochen: ruf die Ein-
ordnung der Hermeneutik in die Logik (61).
Eine wortgeschichtliche Untersuchung zum Aufkommen des Wortes
hermeneia im Zeitalter des Humanismus, die Jacgcr hinzuftigt, illustriert das
no eh (65-73). Die Vorgeschichte der Dannhaucrschen systematischen No-
menklatur wird deutlicher. Man nimmt auch daraus reiche Belehrung ent-
gegen. Besonders interessant war mir dort die Rolle, die Ammonios Her-
meill spielt. Er sieht in der aristotelischen Schrift peri henneneias die ur-
sprüngliche Verwortung der Gedanken, das heißt, nicht nur Übersetzung
von einer Sprache in eine andere Sprache oder von dunklem Ausdruck in
klaren, sondern die sprachliche Artikulation des Dcnkens überhaupt (64f).
Trotz dem Venveis auf die hermeneutische )Sccle< am Schluß des Jaeger-
sehen Aufsatzes (81 f) scheint dies Motiv bei Dannhauer selbst aber keine
Rolle zu spielen.
So angernessen diese Darstellung von Dannhauers Idee der Hernleneutik
ist, so einseitig scheint mir die Perspektive, dieJaeger verfolgt. Überschaut
man nämlich das Ganze des wortgeschichtlichen Materials, das der gelehrte
Verfasser beibringt, und inbesondere das amike Vorkommen des Wortes,
sieht man sich keineswegs auf die Logik und Wissenschaftstheorie verwie-
sen. Das Bezugsfeld des Wortes weist vielmehr in den Bereich der Rhetorik.
Da dies der Intention des Verfassers nicht entspricht, sei es erlaubt, diese
Seite der Sache an dem von ihm vorgelegten Material eigens hervorzuheben.
Da ist zunächst das bekannte Vorkommen des Wortes in der platonischen
>Epinomis< (84 Anm. 160). Man kann aufgrund der Parallelstellung zur
Mantik nicht daran Z\veifeln, daß es sich hier um einen wirklichen Sprachge-
brauch handelt. Das Wort meint den Verkehr mit den Göttern, der nicht so
einfach ist, als daß die Deutung ihrer Winke ohne Kunst gelingen könnte.
Ich weiß nicht, warum der Verfasser die Stelle nicht licbt. Es behauptet ja
niemand, daß das in Platos Augen eine sehr edle Kunst war. Aber das spielt
hier keine Rolle. Daß es sich hier um die gleiche Aufgabe handelt, die auch
die von Jaeger anerkannte humanistische Hermeneutik hatte, aber ebenso
auch die von ihm verworfene neuere, nämlich Unverständliches dem Ver-
ständnis nahezubringen (die Grundsituation des Dolmetscherdicnstes), soll-
te man nicht verkennen.
Auch vermag ich absolut nicht zu verstehen, warum der Verfasser sich so
von der Beziehung des Wortes auf den Gott Hermes distanziert. Ich vermag
das Triumphgeftihl nicht ganz zu teilen, das der Verfasser darüber empfin-
det, daß die Herleitung des Wortes Hermeneutik von Hermes durch die
moderne Sprachwissenschaft als Fiktion entlarvt ist und wir statt dessen
Logik oder Rhetorik? 295

nicht wissen, was das Wort etymologisch bedeutet (84 Anm. 160). leh
nehme das zur Kenntnis, fühle mich freilich wenig dadurch beirrt, wenn ich
sehe, ""vie Augustin und offenbar eine ganze Tradition das Wort verstand.
Die Berufung auf Herrn 13envcniste (41 Anm. 17a) kann daran nichts än-
dern. Das Zeugnis der Tradition wiegt schwer - nicht als ein sprachwissen-
schaftliches Argument natürlich, aber als gültiger Hinweis darauf, wie weit
und wie universal das hermeneutische Phänomen gesehen werden muß und
gesehen worden ist: als >Nuntius fur alles Gedachte<.
Einen neuen Beitrag stellte rur mich der Beleg in einem Digesten-Zitat des
Corpusjuris civilis dar. Dort ist die Verständigungskunst gemeint, die dem
Maklerberuf eigentümlich ist und zur Verständigung über den zwischen den
Kontrahenten auszuhandelnden Preis fuhrt. Da ist es nun überaus belehrend,
wasJaeger von deIn französischen Humanisten Antoine Conte zitiert (38f).
Aus dem Zitat geht hervor, daß die besondere Dolmetschkunst, die im
Maklerdienst begegnet, von dem französischen Humanisten bereits in ei-
nem allgemeineren Sinne verstanden wird. Er sagt da, daß die Bezahlung für
solche Dienste nicht immer ein so anrüchiger Gewinn sei wie die fur die
Maklerdienste. Es handelt sich also um einen Dolmetscherdienst und Ver-
mittler dienst im weitesten Sinne. Die Funktion solchen Dolmetschcns ist
aber, wie die Analogie zum Makler zeigt, nicht auf die technisch-sprachliche
Übersetzung und auch nieht auf die bloße Klärung von Dunkelheiten be-
schränkt, sondern stellt eine umfassende Verständigungshilfe dar, die die
Vermittlung zwischen den Interessen der Parteien (voluntatum contrahentium)
leistet. Genau wie die Epinomisstelle geht es also auch hier um eineallgemei-
ne Vermittlungstätigkeit, die weit mehr im Umgang des praktischen Lebens
begegnet als im Zusammenhang der Wissenschaft. (Natürlich handelt es
sich bei solchen Anwendungen des Wortes lediglich um eine praktische
Kunst zur BefOrderung der Verständigung und nirgends um eine logische
Analyse von Regeln dieser Kunst.)
Immerhin weist schon dieser Sprachgebrauch, sowohl der der Antike wie
der seiner humanistischen Wiederaufnahme, unmißverständlich auf den
Bereich der Rhetorik und nicht auf den der Logik. Das scheint mir der
Punkt, an dem ich mir von dem gelehrten Verfasser noch andere Aufschlüsse
erwarte, als er in seinem Aufsatz gegeben hat. Was er zum Thema macht,
scheint mir nicht die ganze Breite dessen zu treffen, was die humanistische
Tradition bereithielt. Die allgemeine Wendung von der res publica litteraria,
die er ständig gebraucht, kann gerade die Differenz von Rhetorik und Logik
nicht aufklären. Steht Dannhauers Option fur die >Logik< im Zusammen-
hang mit dem Einfluß Zabarellas? (74) Oder in Straßburg besonders wirksa-
mer französischer humanistischer (und antiramistischer) Logiker?
Es ist außerordentlich interessant, daß schon Dannhauer für die Bedeu-
tung der Hermeneutik auf die Verbreitung der Druckkunst hinweist. Es ist
296 Weiterentwicklungen

unbezweifelbar, daß durch die Druckkunst das Leben der sprachlichen


Kommunikation sich grundlegend gewandelt liat. Die Gewohnheit des
stillen Lesens, die insbesondere mit dem reformatorischen Pathos des all-
gemeinen Priestertums zusammenhängt, stellt eine neue Situation dar,
bei der es einer ncuen disziplinierten Anleitung bedarf. Zwischen den
Schriftzeichen, die als die Sinnspur des Textes begegnen, und dem inten-
dierten Sinn hat sich der Abstand gewaltig vergrößert, seit nicht mehr
das gesprochene Wort oder das durch einen Kundigen vorgelesene Wort
den Kommunikationsvorgang beherrscht. Hier liegen ganz neue Pro-
bleme, die nicht nur den Aufgabenkreis des Verstehens und Auslegens
betreffen, sondern ebenso auch die Kunst des Schreibens selber. Auf alle
Fälle kann man verstehen, daß hier die wahre Urheberschaft der Herme-
neutik zu suchen ist. Dem trägt nicht erst die wissenschaftstheoretische
Variante Rechnung, die Dannhauer bringt. Es ist Melanchthon selber,
der bei der Umwendung der Rhetorik auf die Auslegungskunst Pate ge-
standen hat65 •
Aueh Flacius, auf den sich Dilthey berief, kann nicht einfach, wie Jae-
ger es tut (38), auf die Kontroversliteratur der Theologen abgeschoben
werden. Die )Clavis( des Flacius steht zwar im Dienste seines theologi-
schen Anliegens. aber ihre Grundlage ist ganz und gar eine im allgemei-
nen Sinne philologisch-humanistische. Flacius sucht nachzuweisen. daß
die Heilige Schrift durchaus verstanden werden kann - wie jeder andere
Text. Insofern verteidigt er, als der große Hebraist und Philologe, der er
war, Luthers Losung sacra scriptura sui ipsius interpres gegen die tridentini-
sche Polemik, die die Unentbehrlichkeit der Lehrtradition der Kirche be-
hauptete. Es ist hier nicht der Ort, auf die Frage einzugehen, wie weit
Flacius seine Intention erftillt hat, oder besser, ob ihn bei seiner Beweis-
fUhrung fUr die Verständlichkeit der Bibel ungerechtfertigte dogmatische
Vorbegriffe leiten und ob das wirklich ein Mangel ist, wie Dilthey das
noch darstellte. Seine Lehre von dem >Scopus<, der aller interpretatori-
schen Bemühung zugrunde liegt, scheint mir in Wahrheit eng mit der
Rechtfertigungstheologie Luthers zusammenzuhängen, so daß sich die
neue hermeneutische Besinnung von dem religiösen Sinn der Bemühung
um das Lesen der Heiligen Schrift am Ende nicht trennen läßt"". Aber
gilt das nicht ftir die Tradition des Humanismus und sein Ideal der Imita-
tia in ganz entsprechender Weise? Der normative und kanonische Sinn
der zu interpretierenden Texte scheint mir - wie bei der Gesetzesausle-
gung - das bestimmende Moment der ganzen Auslegungsbemü-
hung. Das bedeutet in sich durchaus keine Einschränkung des hermeneuti-
65 Das habe ich soeben in einem Vortrag vor der Jungius-Gesellschaft gezeigt:
,Rhetorik und Hermeneutik, 1976. Uetzt oben S. 276ff.].
66 Vgl. die in der vorigen Anmerkung zitierte Studie.
Logik oder Rhetorik? 297
schen Anspruchs, einen schwer verständlichen Text dem Verständnis näher-
zubringen.
Flacius war in seiner Argumentation so vorsichtig, die Lektüre der Bibel
den periti vorzubehalten. Das ist gut humanistisches Erbgut. Aber das ändert
nichts daran, daß es am Ende doch der Anspruch der Reformation, jeder-
mann zum Leser der Heiligen Schrift zu machen, war der der Entfaltung der
Hermeneutik zugrunde liegt. (Die juristische Hermeneutik blieb demgegen-
über immer nur eine professionelle Disziplin.) Eben das stellt die N ach bar-
schaft der Rhetorik ins klare Licht. Auch sie ist ja mehr als eine Sache von
Fachleuten. Auch wenn die Kunst der Rede sich besonderer Kunstmittel
bedient, die man lernen kann, bleibt sie im Grunde eine natürliche Fähigkeit
des Menschen, so gut wie die Kunst des Verstehens. Der Sprachgebrauch des
Wortes ;Hermeneutik< ist, genau wie im Falle der Rhetorik, eine Bestätigung
dessen. Man sagte im 18. und noch im 19. Jahrhundert von jemandem, der
die Kunst des Verstehens und Eingehens auf andere besaß, zum Beispiel von
einem Seelsorger, daß er über die ,Hermeneutik< verfuge, und das meint die
Kunst, andere Menschen zu verstehen und sich selber ihnen verständlich zu
machen 67 •
Nun spricht der gelehrte Verfasser als ein überzeugter Anwalt der Res
publica litteraria universali" deren Verfall er mit Schopenhauer beklagt (40
Anm. 16). Diesen Verfall, den er wohl im 18. Jahrhundert einsetzen sieht,
macht er auch dafLir verantwortlich, daß die von ihm geschilderte humani-
stische Hermeneutik rasch von plattem Rationalismus (und - wie man
hinzuftigen müßte - von pietistisch theologischen Gegcntendenzen) er-
drückt worden sei. So durchzieht seine Abhandlung ein polemischer Ton. Er
will die gesamte romantische Tradition der Geisteswissenschaften von Dil-
they bis zur zeitgenössischen Hermeneutik anprangern, vor allem aber ihre
neuere Entwicklung in der ,Richtung Heideggers und Bultmanns< (35).
Der Verfasser starrt offenbar ganz fixiert auf einen Begriff von >konstruk-
tiver Hermeneutik<, den er sich gebildet hat und mit dem er auf eine
geradezu erheiternde Weise Husserls Begriff der sinngebenden Akte zusam-
menbringt (83f.). Gegen diese Lehre Husserls gibt es wahrlich Einwände,
die vor allem von Heideggers ontologischer Kritik an Husserls Vorurteilen
auszugehen hätten. Was hat das mit >konstruktiver Hermeneutik< zu tun?
Und was soll >konstruktive Hermeneutik< sein? Ebensowenig hat die Rede
von der Ausdruckskraft der Sprache auch nur das geringste mit Heideggers

67 Vf., Ges. Werke Bd. 1, S. 312ff. Dort ist zu ergänzen:JohannPcter Hebel schreibt an

seinen Freund Hitzig (Nov. 1804): »Hofrath Volz, der die schönste aller Hcrmeneutiken
hat und übt, menschliche Schwachheiten zu verstehen und menschlich auszulegen ... ({.
(Briefe der Jahre 1784-1809. Der Gesamtausgabe Erster Band. Hrg. u. erl. v. W. Zentner,
Karlsruhe 1957, S. 230). - Auch in den Prosaschriften Seumes findet sich der Ausdruck
wiederholt in diesem Sinne. (Seume hatte ja in Leipzig bei Morus Theologie studiert.)
298 W~iterent\vicklungen

>Die Sprache spricht( zu tun. Was Heideggers provozierende Formulierung


meint, ist die Vorgängigkeit der Sprache vor jedem einzelnen Sprecher. So
kann man in einem bestimmten Sinne sagen - aber gewiß nicht in dem vom
Verfasser unterstellten Sinne -, daß die Sprache ruf das Denken eine gewisse,
aber begrenzte Vorgegebenheit besitzt. Den vernünftigen Sinn dessen, daß
>Sprache spricht<, scheint mir das neu-platonische Moment zu enthalten, daß
das eine Wort, das aber wahrlich das Wort des Gedankens ist, sich in Worten
und Rede artikuliert. Dies Motiv berührt der Verfasser am Schluß seiner
Abhandlung selber, wenn er Plotins psyche zitiert (82), zieht daraus aber
keinen Gewinn. Ich glaube gezeigt zu haben, daß diese Lehre sich sowohl auf
Augustin wie auf Nikolaus von Kues berufen kann6~. Die Rolle, die der
Pietismus rur die )Psychologisierung< der Auslegung spielt, dürfte dann die
entscheidende Vermitt1ung zwischen dem humanistisch-rhetorischen Erbe
und der romantischen Theorie darstellen (A. H. Francke, Rambach.)Jaeger
erwähnt dieselbe überhaupt nicht.
Ihm scheint es eine gewisse Genugtuung zu bereiten, daß die neue Herme-
neutik ohne Tradition sei. Wie es damit auch sei, kann er sich jedenfalls nur in
verschiedenem Sinne aufDilthey und auf die von Heidegger aus entwickelte
Fragestellung einer philosophischen Hermeneutik beziehen. Dilthey hat die
Tradition theologischer Hermeneutik aufzuzeigen versucht, in der Schleier-
macher und mit ihm die historische Methode der nachromantischen Ara
steht. Die vorromantische Vorgeschichte bleibt in der Tat mehr Vorge-
schichte als Geschichte. Erst mit der Ausweitung der theologischen und
philologischen Auslegungslehre auf die Idee einer allgemeinen historischen
Methodenlehre \vird die meuere Hermeneutik( im SinneJaegcrs geboren.
Dagegen hat die Wendung der hermeneutischen Theorie, die von Heideg-
gers Kritik am Bewußtseinsidealismus eröffnet wurde, eine sehr alte Ge-
schichte. Hier finden wir die Verknüpfung des hermeneutischen Problems
mit der Tradition der praktischen Philosophie seit Aristoteles, die von J.
Ritter und von mir gefordert worden ist. Sie läßt sich nicht so einfach abtun.
und Gott weiß, warum Jaeger bei )Deuten( und )Verstehen< rot sieht. Das
sind in höchstem Maße analytische Prozeduren, die mit irgendeinem irratio-
nalistischen Abenteurerturn nicht das geringste zu tun haben. Sie entspre-
chen vielmehr der klassischen Tradition der Rhetorik, und nach ]aegers
Aufsatz, der rur mich das Verdienst hat, mich zum Studium Dannhauers
veranlaßt zu haben, weiß ich, daß auch die aristotelische Logik als Analytik
im Sinne der A1ethodus resolutiva eine andere, mögliche Orientierung fur
hermeneutische Theorienbildung ist. Mehr freilich kann ich aus Jaegers
gelehrtem Beitrag nicht entnehmen als solches )auch<. Warum der logische
Aristotelismus Dannhauers innerhalb der res publica litteraria gegenüber Fla-

0>8 Vgl. Ges. Werke Bd. 1, S. 424ff.


Logik oder Rhetorik? 299
dus und der theologischen Hermeneutik eine Vorzugs stellung einnehmen
soll, weiß ich nicht.
Daß die vonJaeger sogenannte meuere Hermeneutik< ein oft recht strapa-
ziertes Gebilde ist, wird man gern zugeben. Ihre Thesen und Tendenzen
werden manchmal bis zur Karikatur mißverstanden. Aber was Jaeger selber
mit der neueren Hermeneutik, die er bekämpft, eigentlich meint? Es klingt
bei ihm nach einer irrationalistischen Wunderwaffe. Was in aller Welt meint
er mit >Deuten<? Wenn er Schleiermachers und in der Folge Diltheys Psycho-
logisierung der Interpretation damit im Auge hätte, könnte ich ihm zustim-
men. Aber von dem großzügigen Abstand aus, den er als ein Mitglied der
Respublica litteraria universalis, so wie er sich geriert, empfindet, rücken
ihm Diltheys und E. Bettis Zusammenfassung der idealistisch-hermeneuti-
schen Tradition mit Heidegger und mit meinem eigenen Beitrag in eins
zusammen (35). Eine Methodenlehre der Geisteswissenschaften und eine
philosophische Reflexion, die die Grenzen aller Methodik aufdeckt, gelten
ihm gleich viel. Wie soll man das verstehen' Daß sie alle des Teufels sind?
Ich sehe nur einen Weg, mir klarzumachen, was solche Zusammenschau
des Divergenten meinen kann und wie sie sich rechtfertigen ließe. Er bietet
sich in dem Ausgangspunkt bei der querelle des anciens el des modernes, die
seinerzeit schon Leo Strauss in seinem frühen Spinozabuch69 als Orientie-
rung gewäh1t hat. Strauss hatte dabei klar für die anciens optiert. Inz\vischen
ist die Bedeutung dieser querelle für die Enstehung des historischen Bewußt-
seins vor allem von romanistischer Seite ins Licht gerückt worden (vgl. den
von H. R. Jauss eingeleiteten Neudruck von PerraulfÜ ). Hier geht es um ein
ernstes Problem. Alle genannten >Hermeneutiken, mit Einschluß der Philo-
sophie des deutschen Idealismus, gehören natürlich zu den >Modernen(.
Diltheys lebenslanges Ringen mit dem Gespenst des historischen Relativis-
mus kann die Problematik der >Modernen( gut illustrieren.
Die Frage hat mich seit Jahrzehnten beschäftigt: Was soll eine Partcinahme
rur die aneiens heute bedeuten? Sie ist doch auf alle Fälle mit der Hypothek
behaftet, daß ihr Anwalt nicht einfach mit den Augen der anciens sieht und
wie sie denkt, sondern als ein heutiger Historiker dieses Sehen sieht, dieses
Denken denkt. So steht auch Jaegcr selbst inmitten einer hermeneutischen
Problematik, die ihn mindestens dadurch von den anciens unterscheidet, daß
er die zeitgenössische Hermeneutik mit grimmigem Sarkasmus ablehnt.
Man kann nicht im Ernst bestreiten, daß eine solche Untersuchung wie die

fE Leo Strauss, Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft.

Berlin 1930. [Vgl. auch meine Arbeit >Hermeneutik und Historismus<, unten S. 387ff.].
70 Perrault, M., Parallele des anciens et des modemes en ce qui regarde les arts et les

scienccs [1688] mit einer einleitenden Abhandlung von H. R. Jauss: Ästhetische Normen
und geschichtliche Reflexionen in der Querelle des anciens et des modernes, München
1964.
300 Weiterentwicklungen

von ihm vorgelegte die Voraussetzungen der nachromantischen Ära, d. h.


das historische Bewußtsein ftir sich selbst in Anspruch nimmt. Das gilt fur
ihn \vie fUr jeden anderen, daß er zu den >Modernen< zählt. Das bedeutet
ganz und gar nicht, daß man mit der Anerkennung dessen die besonderen
Lehren der meueren Hermeneutik< in die Vergangenheit zurückprojiziert.
Man kann doch auch nichr bestreiten, daß etwa der historische Abstand, der
die Christenheit der Zeit Augustins von der Nomadenkultur der Patriar-
chenzeit trennt, rur Augustin selbst ein echtes hermeneutisches Problem
stellte. Die religiöse Aufnahme der alttestamentlichen Schriften durch die
Christenheit war durchaus nicht problemlos. In diesem Sinne hat >De doctri-
na christiana< eine hermeneutische Dimension.
So pauschal wird man also mit der Verrechnung der meueren Hermeneu-
tik< auf modernistische Irrtümer nicht vorgehen dürfen. Es könnte vielmehr
die Aufgabe hermeneutischer Reflexion sein, sich über den in der klassischen
querelle des anciens et des modernes ausgetragenen Gegensatz zu erheben und
weder dem Fortschrittsglauben der Moderne noch der Bescheidung in blo-
ßer Nachahmung der Alten das Wort zu reden. Das hieße zugleich, auf der
einen Seite das Vorurteil durchschauen, das mit dem Primat des Selbstbe-
wußtseins und dem Gewißheitskanon methodischer Wissenschaftlichkeit
verknüpft ist - und auf der anderen Seite das entgegengesetzte Vorurteil
kontrollieren, als könnten wir das christliche Weltalter und die moderne
Wissenschaft einfach außer Kraft setzen. Das hat Schiller in seiner berühm-
ten Charakteristik Goethes bereits mit vollendeter Klarheit zum Ausdruck
gebracht. Den Alten recht geben, kann nicht eine Rückkehr zu ihnen oder
ihre Nachahmung sein. Im falle der Hermeneutik kann das nur meinen, daß
das neuzeitliche philosophische Denken, das im Selbstbewußtsein gründet,
sich seiner Einseitigkeit bewußt wird und sich der hermeneutischen Erfah-
rung stellt, daß wir mit den Alten manches besser begreifen lernen als mit
den Neueren. Sollte es dieser >Subjektivismus< sein, den Jaeger mit der
Polemik gegen die ,konstruktive Hermeneutik~ und gegen Husserls >sinnge-
bende Akte< meint? Das wäre freilich sehr nach meinem eigenen Herzen.
Aber das scheint mit dem Sinne des Verfassers nicht vereinbar. Wie vertrüge
sich das mit seinen Anspielungen auf Heidegger? Was bleibt dann' Noch
mehr ohne Tradition sein, als Jaeger selbst der neueren Hermeneutik nach-
sagt? Die Tradition, in der wir stehen und in der er selbst steht, einfach
ignorieren?
22. Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe
1978

Nicht nur das Wort Hermeneutik ist alt. Auch die Sache, die damit bezeich-
net wird, ob sie nun heute mit Interpretation, Auslegung, Übersetzung oder
gar nur mit Verstehen wiedergegeben wird, liegt jedenfalls der Idee metho-
discher Wissenschaft, wie sie die Neuzeit entwickelt hat, weit voraus. Selbst
der neuzeitliche Sprachgebrauch spiegelt indessen noch etwas von dem
eigentümlichen Doppclaspekt und der Ambivalenz der theoretischen und
der praktischen Perspektive, unter der die Sache der Hermeneutik erscheint.
Im späten 18. wie im frühen 19. Jahrhundert zeigt vereinzeltes Vorkommen
des Wortes Hermeneutik bei einigen Schriftstellern, daß damals der Aus-
druck - vermutlich von der Theologie her - in den allgemeinen Sprachge-
brauch eindrang und dann selbstverständlich nur die praktische Fähigkeit
des Verstehens selber bezeichnete, das heißt, das verständnisvoll einfUhlsa-
me Eingehen auf den anderen. Das wird etwa beim Seelsorger rühmend
hervorgehoben. So fand ich das Wort bei dem deutschen Schriftsteller
Heinrich Seume (der freilich Student bei Morus in Leipzig gewesen war) und
bei Johann Peter Hebel. Aber auch Schleiermacher, der Begründer der
neueren Entwicklung der Hermeneutik zur allgemeinen Methodenlehre der
Geisteswissenschaften, beruft sich nachdrücklich darauf, daß die Kunst des
Verstehens nicht nur Texten gegenüber erforderlich sei, sondern auch im
Umgang mit Menschen.
So ist Hermeneutik mehr als nur eine Methode der Wissenschaften oder
gar die Auszeichnung einer bestimmten Gruppe von Wissenschaften. Sie
meint vor allem eine natürliche Fähigkeit des Menschen.
Das Schwanken eines Ausdrucks wie )Hermeneutik< zwischen praktischer
und theoretischer Bedeutung begegnet auch sonst. So reden wir etwa von
>Logik< oder auch dem Fehlen derselben im täglichen Umgang mit Men-
schen und meinen damit durchaus nicht die spezielle philosophische Diszi-
plin der Logik. Gleiches gilt auch flir das Wort >Rhetorik<, mit dem wir
ebenso sehr die !ehrbare Kunst des Redens als die natürliche Gabe und ihre
Betätigung bezeichnen. Hier ist es obendrein klar, daß ohne die natürliche
Begabung das Lernen des Lernbaren nur zu sehr bescheidenen Erfolgen
fUhrt. Mangel an natürlicher Begabung flir das Reden kann durch methodi-
302 Weiterentwicklungen

sehe Lehre kaum ausgeglichen werden. Das wird nun sicherlich auch ftir die
Kunst des Verstehens, rur die Hermeneutik gelten.
Derartiges hat seine wissenschaftstheoretische Bedeutung. Was ist das Hit
eine Art von Wissenschaft, die sich mehr \-vie eine Fortbildung natürlicher
Gaben und wie eine theoretische Bevvußtmachung derselben darstellt? Für
die Wissenschaftsgeschichte stellt das ein offenes Problem dar. Wo gehört die
Kunst des Verstehens hin? Steht die Hermeneutik in der Nähe der Rhetorik
oder muß man sie mehr in die Nähe der Logik und der Methodenlehre der
Wissenschaften rücken? Zu diesen wissenschaftsgeschichtlichen Fragen habe
ich selbst kürzlich einige Beiträge zu geben versuchei. Wie der Sprachge-
brauch gibt auch diese wissenschaftsgeschichtliche Frage einen Hinweis
darauf, daß der für die moderne Wissenschaft grundlegende Methodenbe-
griff einen Begriff von ,Wissenschaft( abgelöst hat. der gerade nach der
Richtung solcher natürlichen Fähigkeit des Menschen hin offen war.
So erhebt sich die allgemeine Frage, ob nicht bis heute innerhalb des
Systems der Wissenschaften ein Sektor fortbesteht, der sich stärker an die
älteren Traditionen des Begriffs von Wissenschaft anschließt als an den
Methodenbegriff der modernen Wissenschaft. Es läßt sich immerhin fragen,
ob das nicht mindestens für einen wohlumgrenzbaren Bereich der soge-
nannten Geisteswissenschaften gilt - unbeschadet der Frage, ob nicht in alles
Wissenwollen, auch das der modernen Naturwissenschaft, eine hermeneuti-
sche Dimension mithineinspielt.
Nun gibt es mindestens ein Vorbild 'i-vissenschaftstheoretischer Art, das
einer solchen U morientierung der Methoden besinnung der Geisteswissen-
schaften eine gewisse Legitimität verleihen könnte, und das ist die von
Aristoteles begründete >praktische Philosophie,n.
Aristoteles hat gegenüber der platonischen Dialektik, so wie er sie als
theoretisches Wissen verstand, für die praktische Philosophie eine eigen-
tümliche Selbständigkeit in Anspruch genommen und eine Tradition prakti-
scher Philosophie eröffnet. die bis ins 19. Jahrhundert hinein ihre Wirkung
ausgeübt hat, bis sie schließlich in unserem Jahrhundert durch die sogenann-
te 'politische Wissenschaft( oder ,Politologie( abgelöst wurde. Bei aller
Bestimmtheit, mit der Aristoteles die Idee der praktischen Philosophie
gegen die platonische Einheitswissenschaft der Dialektik stellt, ist aber die
\vissenschaftstheoretischc Seite der sogenannten )praktischen Philosophie<
recht dunkel geblieben. Es gibt bis zum heutigen Tage Versuche, in der
,Methode( der aristotelischen Ethik, die von ihm als 'praktische Philosophie<
eingeführt wurde und in der die Tugend der praktischen Vernünftigkeit, die
71 Jetzt in Kleine Schriften IV, S. 148-172 und S. 164-172 Lietzt oben S. 276 ff.].
72 Als ich über das Thema dieses Aufsatzes im Januar 1978 in Münster sprach, benutzte
ich die Gelegenheit. hier dem Gedächtnis meines Kollegen Joachim Ritter meinen Tribut
zu zollen, dessen Arbeiten gerade fur diese Frage viel Förderliches enthalten.
Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe 303

Phronesis, eine zentrale Stellung einnimmt, nichts anderes als eine Aus-
übung praktischer Vernünftigkeit zu sehen. (Daß eine jede menschliche
Handlung dOll Maßstab praktischer Vernünftigkeit unterliegt und daher
auch der Vortrag der aristotelischen Gedanken zur praktischen Philosophie,
sagt nichts darüber, was die Methode derpraktischen Philosophie ist.) Streit
über diesen Punkt kann insofern nicht überraschen, als allgemeine aristoteli-
sche Aussagen zur Methodik und Systematik der Wissenschaften spärlich
sind und offenkundig \veniger die methodische Eigenart der Wissenschaften
als die Verschiedenheit ihrer Gegenstandsgebiete im Auge haben. Das gilt
insbesondere für das erste Kapitel von Metaphysik Epsilon und seine Du-
blette in K 7. Dort wird zwar die Physik (und in letzter Abzweckung die
)Erste Philosophie<) als theoretische Wissenschaft gegen die praktische und
poietische Wissenschaft abgehoben. Aber "venn man prüft, \vie die Unter-
scheidung der theoretischen und der nichttheoretischen Wissenschaften be-
gründet wird, findet man, daß allein von der Verschiedenheit der Gegen-
stände solchen Wissens die Rede ist. Nun entspricht das gewiß dem allge-
meinen methodischen Grundsatz des Aristotelcs, daß die Methode sich
jeweils nach ihrem Gegenstand richten müsse, und \vas die Gegenstände
betrifft, so liegt die Sache klar. Im Falle der Physik ist ihr Gegenstand durch
Sclbstbewegung ausgezeichnet. Dagegen hat der Gegenstand des herstellen-
den Wissens, das herzustellende Werk, seinen Ursprung im Herstellenden
und dessen Wissen und Können, und ebenso ist das, was der praktisch-
politisch Handelnde ausrichtet, von dem Handelnden und seinem Wissen
her bestinlmt. So kann der Anschein entstehen, als spräche Aristoteles hier
von dem technischen Wissen (zum Beispiel dem des Arztes) und von dem
praktischen Wissen dessen, der eine vernünftige Entscheidung trifft (prohai-
resis) , als ob solches Wissen selber die poietische oder praktische Wissen-
schaft ausmachte, die der Physik entspricht. Das ist offenkundig nicht der
Fall. Die hier unterschiedenen Wissenschaften (denen im theoretischen Be-
reich die weitere Unterscheidung von Physik, Mathematik und Theologie
zur Seite tritt) werden eingeführt als solche, die die Archai und Aitiai zu
erkennen suchen. Es handelt sich hier um Arche-Forschung, das heißt, nicht
um das jeweils in Anwendung befindliche Wissen des Arztes, Hand\verkers
oder des Politikers, sondern um das, was sich darüber im allgemeinen sagen
und lehren läßt.
Nun ist es bezeichnend, daß Aristoteles über diesen Unterschied hier gar
nicht reflektiert. Offenbar ist es rur ihn ganz selbstverständlich, daß auf
diesen Gebieten das Wissen im allgemeinen gar keinen selbständigen An-
spruch erhebt, sondern stets einschließt, daß es sich in die konkrete Anwen-
dung im Einzelfalle umsetzt. Doch zeigt unsere Überlegung, daß es notwen-
dig ist, die philosophischen Wissenschaften, die den praktischen oder poeti-
schen Vollzug des Handelns oder Herstellens (mit Einschluß des Dichtcns
304 Weiterentwicklungen

und des ,Machens< von Reden) zum Thema machen, als Erforschung dieser
Vollzüge von ihnen selbst scharf zu unterscheiden. Praktische Philosophie ist
nicht die Tugend der praktischen Vernünftigkeit.
Freilich zögert man, den modernen Begriff der Theorie auf die praktische
Philosophie anzuwenden, die schon ihrer Sclbstbezeichnung nach praktisch
sein will. So ist es ein höchst schwieriges Problem, die Sonderbedingungen
von Wissenschaftlichkeit herauszuarbeiten, die auf solchen Gebieten gelten,
zumal Aristoteles sie nur mit der vagen Angabe charakterisiert, daß sie
weniger genau seien. Im Falle der praktischen Philosophie ist die Sachlage
besonders kompliziert und hat eben deshalb eine gewisse methodische Re-
flexion von seiten des Aristoteles gefordert. Die praktische Philosophie
bedarf einer Legitimation eigener Art. Offenbar ist das entscheidende Pro-
blem, daß diese praktische Wissenschaft es mit dem allumfassenden Problem
des Guten im menschlichen Leben zu tun hat, das nicht wie die Technai sonst
auf ein bestimmtes Gebiet eingeschränkt ist. Trotzdem will die Wendung
,praktische Philosophie< gerade sagen, daß es nicht angeht, rur die prakti-
schen Probleme von Argumenten kosmologischer, ontologischer, meta-
physischer Art bestimmenden Gebrauch zu machen. Wenn es hier nötig ist,
sich auf das CUr den Menschen wichtige, das praktisch Gute, zu beschränken,
so ist doch offenbar die Methode, die diese Fragen des praktischen Handelns
behandelt, ihrerseits gründlich von praktischer Vernunft verschieden. Schon
in dem scheinbaren Pleonasmus einer }theoretischen Philosophie< und erst
recht in der Selbstbezeichnung ,praktische Philosophie< liegt, was sich bis
auf den heutigen Tag in der Reflexion der Philosophen spiegelt, daß sie nicht
ganz auf den Anspruch verzichten kann, nicht nur zu wissen, sondern selber
praktische Wirkung zu tun, das heißt, als >Wissenschaft vom Guten im
menschlichen Leben( dieses Gute selber zu befördern. Bei den poietischen
Wissenschaften, den sogenannten Technai, ist das auch rlir uns eine Selbst-
verständlichkeit. Sie sind eben ,Kunstleliren<, CUr die der praktische Ge-
brauch allein entscheidend ist. Im Falle der politischen Ethik ist das ganz
anders, und doch ist es kaum möglich, auf einen solchen praktischen An-
spruch zu verzichten. So ist er auch bis in unsere Tage hinein fast immer
erhoben worden. Die Etliik will nicht nur geltende Normen beschreiben,
sondern ihre Geltung begründen oder gar richtigere N armen einfUhren.
Mindestens seit Rousseaus Kritik an dem Vcrnunftstalz der Aufklärung ist
das aber zu einem wirklichen Problem geworden. Wie soll die philo-
sophische )Wissenschaft von den moralischen Dingen< ihren Existenzan-
spruch überhaupt legitimieren, wenn in Wahrheit die Unverdorbenheit des
natürlichen sittlichen Bewußtseins das Gute und die Pflicht mit unübertreff-
licher Genauigkeit und feinster Empfindlichkeit zu kennen und zu wählen
weiß? Es ist hier nicht der Ort, wie Kant angesichts der Rousseauschen
Herausforderung das Unternehmen der Moralphilosophie begründet hat, in
Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe 305

extenso zu erörtern, oder auch nur darzustellen, wie sich Aristoteles der
gleichen Frage stellt und ihr gerecht zu werden sucht, indem er die besonde-
rcn Bedingungen hervorhebt, die an den Lernenden gestellt sind, der eine
theoretische Unterweisung über das >praktisch Gute< mit Sinn empfangen
kann. 73 Die praktische Philosophie fungiert in unserem Zusammenhang nur
als Beispiel rur eine Tradition solchen Wissens, das nicht dem modernen
Methodenbegriff entspricht.
Unser Thema ist die Hermeneutik, und für sie steht ihre Beziehung Zur
Rhetorik im Vordergrund. Auch wenn wir nicht wüßten, daß die neuzeitli-
che Hermeneutik sich wie eine Art Parallelkonstruktion zur Rhetorik im
Zusammenhang mit Melanchthons Wiederbelebung des Aristotelismus ent-
wickelt hat, wäre das wisscnschaftstheoretische Problem der Rhetorik der
gegebene Orientierungspunkt. Offenbar ist das Redenkönnen und das Ver-
stehenkönnen von der gleichen Weite und Universalität. Man kann über
alles reden, und alles, was einer sagt, sollte man verstehen. Rhetorik und
Hermeneutik haben hier eine sehr enge innere Beziehung. Die kunstvolle
Beherrschung solchen Redenkönnens und Verstehenskönnens zeigt sich
vollends im schriftlichen Gebrauch, im Schreiben von >Reden< und im
Verstehen von Geschriebenem. Hermeneutik läßt sich geradezu als die
Kunst definieren, Gesagtes oder Geschriebenes erneut zum Sprechen zu
bringen. Was das fUr eine ,Kunst< ist, können wir nun von der Rhetorik
lernen.
Was Rhetorik als Wissenschaft ist, was also die Kunst der Rhetorik aus-
macht, ist ein Problem, das bereits in den Anfangen wissenschaftstheoreti-
scher Reflexion zum Gegenstand gemacht worden ist. Es war der bekannte
Antagonismus zwischen Philosophie und Rhetorik im griechischen Erzie-
hungswesen, der Plato die Frage nach dem Wissenscharakter der Rhetorik
stellen ließ. Nachdem Plato im >Gorgias< die gesamte Rhetorik als bloße
Schmeichelkunst mit der Kochkunst gleichgesetzt und allem wirklichen
Wissen entgegengesetzt hatte, ist der platonische Dialog ,PhaidroS< der
Aufgabe gewidmet, der Rhetorik einen tieferen Sinn zu verleihen und ihr
eine philosophische Rechtfertigung zuteil werden zu lassen. So wird dort
gefragt, was eigentlich an ihr techne sei. Die Perspektiven des )Phaidros<
liegen auch noch der aristotelischen Rhetorik zugrunde, die mehr eine
Philosophie des menschlichen Lebens, das durch Reden bestimmt ist, dar-
stellt, als eine Technik der Redekunst.
Eine solche Rhetorik teilt nun mit der Dialektik die Universalität ihres
Anspruchs, sofern sie nicht, wie das sonst für das spezialisierte Können einer
Techne gilt, auf einen bestimmten Bereich eingeschränkt ist. Eben darauf

73 [Vgl. dazu meine Arbeit> Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik(, Kl.

Sehr. I, S. 179-191; Ges. We,keBd. 41.


306 Wcitcrcn t'\vic kl ungen

beruhte es, daß sie mit der Philosophie in Wettbewerb stand und als eine
universale Propädeutik mit ihr rivalisieren konnte. Nun will der IPhaidrosl
zeigen, daß eine so1che ins Weite gestellte Rhetorik, wenn sie die Enge einer
bloßen geregelten Technik überwinden will, die nach Plato nur la pro tes
lechnes anankaia malhemala (Phaidr. 269 b) enthält, am Ende in der Philo-
sophie, dem Ganzen des dialektischen Wissens, aufgehen muß. Diese Be-
\vcisftihrung geht uns hier an, denn \vas im >Phaidros< ftir die Erhebung der
Rhetorik über eine bloße Technik zu einem wahren Wissen (das Plato freilich
seinerseits )Techne< nannte) gesagt wird, muß sich am Ende auf die Herme-
neutik als die Kunst des Verstehens anwenden lassen.
Nun ist es eine \veithin akzeptierte Meinung, daß Platü die Dialektik, das
heißt die Philosophie, selber als eine Techne verstanden und gegenüber den
sonstigen Technai ihre Eigenart nur in dem Sinne ausgezeichnet habe, daß sie
ein höchstes Wissen sei, eben das Wissen des Höchsten, das man wissen
müsse, des Guten (mcJ[iston mathema). Das Gleiche müßte dann mutatis
mutandis auch rur die von ihm geforderte philosophische Rhetorik gelten,
und damit am Ende rur die Hermeneutik. Erst Aristoteles habe die folgen-
schwere Unterscheidung von Wissenschaft, Techne und praktischer Ver-
nünftigkeit Iphronesis) getroffen.
Die Konzeption der praktischen Philosophie beruht nun in der Tat auf der
aristotelischen Kritik an Platos Idee des Guten. Allein, wenn man genauer
hinsieht, zeigt sich, volie ich in einer inzwischen abgeschlossenen Untersu-
chung" glaubhaft zu machen gesucht habe, daß die Frage nach dem Guten
nvar so gestellt wird, als wäre sie die höchste Erfüllungjener selben Idee des
Wissens, der die Technai und die Wissenschaften in ihren Bereichen folgen.
Aber diese Frage erfLillt sich nicht wirklich in einer höchsten lernbaren
Wissenschaft. Jener höchste Lerngegcnstand des Guten (to agallIOn) tritt im
sokratischen Elenchos stets in einer negativen Beweisfunktion auf. Sokrates
widerlegt den Anspruch der Technai, wirkliches Wissen zu sein. Sein eigenes
Wissen ist docta ignorantia und heißt nicht umsonst Dialektik. Nur der weiß,
der bis ins letzte Rede und Antwort zu stehen vermag. So kann auch, was die
Rhetorik betritTt, diese nur Techne oder Wissenschaft sein, wenn sie Dialek-
tik wird. Nur der ist ein wirklicher Könner im Reden, der auch das, wozu er
zu überreden weiß, selber als das Gute und Rechte erkannt hat und damit für
es einzustehen vermag. Dies Wissen des Guten und dies Können der Rede-
kunst meint aber nicht ein allgemeines Wissen >des Guten<, sondern das
Wissen dessen, wozu man hier und jetzt zu überreden hat, und dann auch,
\vie man es zu tun hat und wem gegenüber. Erst wenn man die Konkretion

74 )Die Idee des Guten nvischen Placo und Aristoteles<, (Sitzungs berichte der Heidel-

berger Akademie der Wissenschaften 1978, Philos.-histor. Klasse. Abh. 3), Heidelbcrg
1978 [Ge,. Wecke ßd. 7J.
Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe 307

sicht, die das Wissen des Guten verlangt, versteht man, weshalb die Kunst,
Reden zu schreiben, in der weiteren Argumentation eine solche Rolle spielt.
Auch sie kann eine Kunst sein. Das erkennt Plato mit seiner versöhnlichen
Wendung an Isokrates ausdrücklich an, aber nur dort und dann, wenn einer
auch noch obendrein - über die Schv.räche des gesprochenen Wortes hinaus-
um die Schwäche alles Geschriebenen weiß und ihm jeweils, wie aller Rede
auch, zu Hilfe zu kommen vermag - als der Dialektiker, der Rede steht.
Das ist eine Aussage von grundsätzlicher Tragweite. Wirkliches Wissen
muß auch noch, zu allem hinzu, was Wissen ist und das am Ende alles
Wißbare, die ,Natur des Ganzen< umschließt, den Kairos kennen, d. h.
wissen, wann und wie man zu reden hat. Das aber kann man nicht selber
durch Regeln und bloßes Lernen derselben erwerben. Es gibt keine Regeln
rur den vernünftigen Gebrauch von Regeln, wie Kant in seiner ,Kritik der
Urteilskraft< mit Recht gesagt hat.
Bei Plato tritt das in amüsanter Zuspitzung im ,PhaidroS< (268ff.) heraus:
wer nur alle ärztlichen Kenntnisse und Verhaltens regeln besäße, aber nicht
wüßte, wo und \-vann sie anzuwenden sind, wäre kein Arzt. Der Tragödien-
dichter oder der Musiker, der nur die allgemeinen Regeln und Verfahrens-
weisen seiner Kunst gelernt hätte, aber damit kein Werk zustande brächte,
wäre kein Dichter oder Musiker (280 b ff.). So muß auch der Redner von all
dem das Wo und Wann kennen (hai eukairiai te kai akairiai, 272 a6)'
Hier kündigt sich bei Plato bereits eine Überspielung des Techne-Modells
lernbarer Wissenschaft an, indem er das höchste Wissen auf die Dialektik
hinaus spielt. Weder der Arzt noch der Dichter noch der Musiker wissen ,das
Gute<. Der Dialektiker oder der Philosoph, der das wirklich ist, und das
heißt kein Sophist ist, ,hat< nicht ein besonderes Wissen, sondern ist in seiner
Person die Verkörperung der Dialektik bzw. der Philosophie. Dem ent-
spricht, daß auch im Dialog vom Staatsmann die \-vahre politische Kunst als
eine Art Webekunst herauskommt, mit der man Gegensätzliches zur Einheit
zusammenzuweben hat (305 e). Sie ist im Staatsmann verkörpert. Ebenso
ergibt sich im ,Philebos< das Wissen um das gute Leben als eine Kunst des
Mischens, die der einzelne, der sein Glück sucht, in concreto zu vollbringen
hat. Für den ,Staatsmann< hat das Ernst Kapp in einer schönen Arbeit
gezeigt, und meine eigenen Anfangerarbeiten zur Kritik der entwicklungs-
geschichtlichen Konstruktion Werner Jaegers hatten ftir den ,Philebos< Ahn-
liches im Auge 75.
Auf diesem Hintergrunde muß die Ausarbeitung der Unterscheidung von
theoretischer, praktischer und poietischer Philosophie, die bei Aristotelcs

75 Ernst Kapp, Theorie und Praxis, Mnemosync 6, 1938, S. 179-194; H. G. Gadamer,

Der aristotelische Protrcptikos ... , Hermes 63,1928, S. 138-164; den., Platos dialekti-
scheEthik, 1931. [Ges. WerkeBd. 5,5.164-186 bzw. S.3-163].
308 Weiterentwicklungen

sich in ersten Ansätzen zeigt, gesehen und der wissenschaftstheoretische


Stellenwert seiner praktischen Philosophie bestimmt werden. Die dialekti-
sche Überhöhung der Rhetorik, die Plato im >Phaidros( vornimmt, erweist
sich als wegweisend. Rhetorik ist nicht ablösbar von Dialektik, das Überre-
den, das ein Überzeugen ist, ist nicht ablösbar vom Wissen des Wahren.
Ebenso muß Verstehen vom Wissen her gedacht werden. Es ist Lernenkön-
nen, und das betont noch Aristoteles, wenn er von synesis handeleö . Nun
geht es bei dem wahren dialektischen Redner wie beim Staatsmann und wie
bei der Führung des eigenen Lebens um ,das Gute< - und das stellt sich nicht
als ein Ergon dar, das durch ein Machen hergestellt wird, sondern als Praxis
und Eupraxie (das heißt, als Energeia). Dazu paßt, daß die aristotelische
Politik die Erziehung, obwohl sie gute Bürger ,machen< soll, nicht eigentlich
als poietische Philosophie behandelt, sondern wie die Lehre von den Verfas-
sungsformen als praktische Philosophie. 77
Nun ist es zwar richtig, daß die aristotelische Idee einer praktischen
Philosophie nicht als Ganzes ein wirkliches Nachleben gefunden hat, son-
dern in der Beschränkung auf die Politik. Diese kam dem Begriff einer
Technik näher, sofern sie eine Art philosophisch fundierter Sachkunde im
Dienste der gesetzgeberischen Vernunft vermitteln will. Das ließ sich auch
noch in das wissenschaftliche Denken der Neuzeit eine Weile integrieren.
Dagegen hat die griechische Moralphilosophie weniger in ihrer aristoteli-
schen als in ihrer stoischen Ausprägung die Folgezeit, und insbesondere die
Neuzeit bestimmt. Ebenso ist die Rhetorik des Aristoteles auf die Tradition
der antiken Rhetorik verhältnismäßig einflußlos geblieben. Sie war fUr die
Meister der Redekunst und fur die Anleitung zu einer meisterlichen Rede-
kunst eben zu sehr Philosophie. Aber sie fand, und gerade vermöge ihres
,philosophischen< Charakters, der sie, wie Aristoteles sagt, mit der Dialektik
und mit der Ethik (peri ta ah, pragmateia, Rhet. 1356 a26) verband, ihre neue
Stunde im Zeitalter des Humanismus und der Reformation. Eben der Ge-
brauch, den die Reformatoren und insbesondere Melanchthon von der
aristotelischen Rhetorik machten, geht uns hier an. Er wandte sie von der
Kunst, Reden zu >machen(, auf die Kunst um, Reden mit Verständnis zu
folgen, das heißt auf die Hermeneutik. Hier kam zweierlei zusammen: die
mit der Erfindung der Buchdruckerkunst einsetzende neue Schriftlichkeit
und neue Lesekultur und die theologische Wendung der Reformation gegen
die Tradition und zum Schriftprinzip. Die zentrale Stellung der Heiligen
Schrift fUr die Verkündigung des Evangeliums fUhrte zu ihrer Übersetzung
in die Volkssprachen, und zugleich ftihrte die Lehre von dem allgemeinen
Priestertum einen Schriftgebrauch herauf, der neuer Anleitung bedurfte.

76 ENZll.
n [poL H 1. 1337 a 14ff.].
Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe 309
Denn überall, wo nun von Laien gelesen wurde, handelte es sich nicht mehr
um Menschen, die durch handwerkliche Traditionen bestimmter Berufs-
stände beim Lesen angeleitet oder auf dem Wege rednerischen Vortrags in
das Verständnis eingeleitet wurden. Weder die eindrucksvolle Rhetorik des
Juristen noch die des Geistlichen, noch die des Literaten kommt ja dem Leser
zu Hilfe.
Man weiß, wie schwer es ist, einen fremdsprachigen Text oder auch nur
einen schwierigen Text der eigenen Sprache auf Anhieb so vorzulesen, daß
man ihn verstehen kann. Wenn man im Unterricht einen Anfanger bittet,
einen Satz vorzulesen, ob das nun deutsch, griechisch oder chinesisch ist - es
ist immer chinesisch, v·.renn einer vorliest, was er nicht versteht. Erst wenn
man versteht, was man liest, kann man so modulieren und rhythmisieren,
daß das Gemeinte wirklich herauskommt.
So war es eine gesteigerte Schwierigkeit, die Schwierigkeit zu lesen, das
heißt, Schrift zum Sprechen zu bringen, die in der Neuzeit die Kunst des
Verstehens in verschiedenen Richtungen zu methodischem Selbstbewußt-
sein erhob.
Schriftlichkeit begegnet freilich nicht erst in unseren neuen Jahrhunderten
der Lesekultur , deren Ende wir uns heute vielleicht nähern. Die hermeneuti-
sche Aufgabe, die mit der Schriftlichkeit gestellt ist, betrifft von jeher nicht
so sehr die äußerliche Technik des Entzifferns der Schriftzeichen als die
Aufgabe des rechten Verstehens des schriftlich fixierten Sinnes. Wo immer
Schrift die Funktion der eindeutigen Festlegung und der kontrollierbaren
Beglaubigung ausübt, ist die Abfassung wie das Verstehen des so entstehen-
den Textes eine Aufgabe, die Kunstübung verlangt, mag es sich dabei um
Steuerlisten, um Verträge (die dann manchmal zur Freude unserer Sprach-
forscher zweisprachig abgefaßt sind) oder um andere religiöse oder rechtli-
che Beurkundungen handeln. So ist auch die Kunstübung der Hermeneutik
auf eine alte Praxis gegründet.
Als Hermeneutik macht sie bewußt, was in solcher Praxis geschah. Die
Besinnung auf die Praxis des Verstehens läßt sich von der Tradition der
Rhetorik gar nicht ablösen, und so war es einer der wichtigsten Beiträge zur
Hermeneutik, die schon Mclanchthon gebracht hat, daß er die Lehre von
den Scopi, den Gesichtspunkten, entwickelt hat. Melanchthon beobachtete,
daß Aristoteles ebenso wie die Redner am Anfang ihrer Schriften auf den
Gesichtspunkt hinweisen, unter dem man ihre AusfUhrungen zu verstehen
habe. Es ist offenbar etwas anderes, ob man ein Gesetz auszulegen hat oder
etwa die Heilige Schrift oder ein )klassisches{ dichterisches Werk. Der >Sinn<
solcher Texte bestimmt sich nicht für ein meutrales< Verstehen, sondern von
ihrem Geltungsanspruch her.
Es war vor allem auf zwei Gebieten, auf denen das Problem der Auslegung
von Schriftlichem eine solche alte Kunstübung vorfand und eine neue,
310 Wciterent\'v'icklungen

gesteigerte theoretische Bewußtheit hervorbrachte: in der Auslegung von


Rechtstexten, die insbesondere seit der justinianischen Kodifikation des
römischen Rechts das juristische Handwerk ausmachte, und in der Ausle-
gung der Heiligen Schrift im Sinne der kirchlichen Lehrtradition der Doctri-
na Christiana. An sie konnte diejuristische und die theologische Hermeneu-
tik der Neuzeit anknüpfen.
Selbst unabhängig von aller Kodifikation enthält die Aufgabe der Rechts-
findung und Urteilsfindung eine unaufhebbare Spannung, die schon Aristo-
(eIes klar zum Thema gemacht hat, die Spannung zwischen der Allgemein-
heit der geltenden - kodifizierten oder unkodifizierten - Rechtssatzung und
der Einzigkeit des konkreten Falles. Daß die konkrete Fällung eines Urteils
in einer Rechtsfrage keine theoretische Aussage ist, sondern ein) Tun von
Dingen mit Worten<, liegt dabei auf der Hand. Die rechte Auslegung des
Gesetzes ist bei seiner Anwendung in gewissem Sinne vorausgesetzt. Inso-
fern kann man sagen, daß jede Anwendung eines Gesetzes über das bloße
Verstehen seines Rechtssinnes hinausgeht und eine neue Realität schafft. Es
ist wie bei den reproduktiven Künsten, wo man auch das gegebene Werk, ob
es die Noten oder ob es ein dramatischer Text ist, insofern überschreitet, als
neue Wirklichkeiten durch die Auffuhrung geschaffen und festgelegt wer-
den. Es bleibt aber bei den reproduktiven Künsten trotzdem sinnvoll zu
sagen, daß jede AuffUhrung auf einer bestimmten Auslegung des gegebenen
Werkes beruht. Und offenbar bleibt es sinnvoll, unter den vielen möglichen
Auslegungen, die solche AufTuhrungen darstellen, Grade der Angemessen-
heit zu unterscheiden und zu behaupten. Mindestens beim literarischen
Theater und im Falle der Musik ist daher die AuffUhrung selber ihrer idealen
Bestimmung nach nicht bloß Darstellung, sondern Auslegung, und so
sprechen wir insbesondere im Falle der Musik ganz selbstverständlich von
der Interpretation eines Werkes durch den reproduzierenden Künstler. Die
Anwendung des Gesetzes auf einen gegebenen Rechtsfall scheint mir nun in
analoger Weise einen Akt der Auslegung zu enthalten. Das aber heißt, daß
jede Anwendung von gesetzlichen Bestimmungen, die als sachgerecht er-
scheint, den Sinn eines Gesetzes konkretisiert und fort bestimmt. Max Weber
hat, wie mir scheint, Recht, wenn er sagt: }) Wirklich bewußt )schöpferisch(,
das heißt neues Recht schaffend, haben sich nur Propheten zum geltenden
Recht verhalten. Im übrigen ist es durchaus nichts spezifisch Modernes,
sondern gerade auch den, o~jektiv betrachtet, am meisten )schöpferischen~
Rechtspraktiken eigen gewesen, daß sie subjektiv sich nur als Mundstücke
schon - sei es auch eventuell latent - geltender Normen, als deren Interpreten
und Anwender, nicht aber als deren )Schöpfer<, fUhlten." Dazu paßt die alte
aristotelische Weisheit, daß die Rechtsfindung immer der ergänzenden Bil-
ligkeitserwägung bedarf und daß der Gesichtspunkt der Billigkeit nicht etwa
in Widerspruch zum Rechte steht, sondern durch das Nachlassen von dem
Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe 311

Buchstaben des Rechtes den Rechtssinn gerade erst ganz erfuHt. Daß diese
alten Probleme der Rechtsfindung in der beginnenden Neuzeit durch die
Rezeption des römischen Rechts eine besondere Zuspitzung erfuhren, so-
fern traditionelle Formen der Rechtspflege durch das neue Juristenrecht in
Frage gestellt wurden, mußte der juristischen Hermeneutik als der Lehre
von der Auslegung eine ausgezeichnete Bedeutung verleihen. Die Verteidi-
gung der Aequitas nimmt in der Diskussion der frühen Neuzeit von Budeus
bis Vico einen breiten Raum ein. Ja, man v,lird doch wohl sagen dürfen, daß
die Rechtsgelehrsamkeit, die den Juristen ausmacht, noch heute mit gutem
Grunde .Jurisprudenz< genannt wird, das heißt Rechtsklugheit. Noch das
Wort erinnert an das Erbe der praktischen Philosophie, die in der prudentia
die höchste Tugend praktischer Vernünftigkeit sah. Es bezeichnet den Ver-
lust der Einsicht in die methodische Eigenart dieser Rechtsgelehrsamkeit
und ihrer praktischen Bestimmung, daß im späten 19. Jahrhundert der
Ausdruck RechtsvV"l.ssenschaft vorherrschend wurde 78 •
Ähnlich liegt die Sache im Felde der Theologie. Zwar gab es seit dem
späten Altertum eine Art Auslegungskunst, ja sogar eine richtige differen-
zierte Lehre von den verschiedenen Auslegungsweisen der Heiligen Schrift,
aber die dort seit Cassiodor unterschiedenen Formen der Schriftauslegung
dienten mehr als Anweisung, die Heilige Schrift der Lehrtradition der
Kirche nutzbar zu machen, als daß sie von sich aus zur Ermitt1ung der
rechten Lehre einen Weg der Auslegung der Hl. Schrift angeben wollten.
Mit dem reformatiorischen Rückgang auf die Schrift selber und insbesonde-
re mit der Verbreitung des Lesens der Bibel auch außerhalb der Zunfttradi-
tion der Kleriker, die in der reformierten Lehre von dem allgemeinen
Priestertum impliziert war, stellt sich dagegen das hermeneutische Problem
mit ganz anderer Dringlichkeit. Dabei ist es nun wiederum nicht so sehr
entscheidend, daß es sich bei der >Schrift( um Texte in fremden Sprachen
handelte, deren sachgemäße Übertragung in die Volkssprache und das ge-
naue Verständnis das ganze Rüstzeug sprachlicher, literarischer und histori-
scher Sachkenntnis ins Spiel bringt. Durch den Radikalismus des reformato-
rischen Rückgangs auf das Neue Testament und durch die Zurücksetzung
der Lehrtradition der Kirche trat vielmehr die christliche Botschaft selber
mit einer neuen, fremdartigen Radikalität dem Leser entgegen. Das ging
7R Der Ursprung der Verdeutschung vonjurisprudentia durch Rechtswissenschaft (an-

stelle des älteren >Rechtsgelehrsamkeit<) mag bis auf die Anfange der historischen Schule
zurückreichen, der ja jedenfalls Savigny und seine )Zeitschrift ftir die historische Rechts-
wissenschaft( zugehört. Dort wird die Analogie zur historischen Wissenschaft und die
Kritik an einem dogmatischen Naturrechtsdenken hineinspielen. Im übrigen lag die
Möglichkeit immer bereit, statt der prudentia die scientia stärker zu akzentuieren und die
Billigkeitserwägung der Praxis zuzuschieben. (VgL z. B. Frant;:ois Connans Kritik dieser
Tendenz zur juris scientia in seinen Commentaria I 11.) Vgl. auch Koschacker, Europa
und das Römische Recht 21953. S. 337.
312 Weiterentwicklungen

weit über die philologischen und historischen Hilfsmittel hinaus, die auch
für jeden anderen fremdsprachlichen alten Text nötig waren.
Was die reformatorische Hermeneutik hervorkehrte und was insbesonde-
re Flacius hervorhob, war, daß die Botschaft der Heihgen Schrift dem
natürlichen Vorverständnis des Menschen in den Weg tritt. Nicht der Gehor-
sam gegenüber dem Gesetz und die verdienstlichen Werke, sondern allein
der Glaube - und das ist der Glaube an das Unglaubhche der Menschwer-
dung Gottes und der Auferstehung - verheißt Rechtfertigung. Das überzeu-
gend zu machen, entgegen allem Bestehen auf sich selbst, den eigenen
Verdiensten, den >guten Werken<, fordert die Botschaft der Heihgen Schrift,
und so ist die ganze Form des christlichen Gottesdienstes, seit die Reforma-
tion das in den Vordergrund stellte, noch entschiedener, als sie es in der
älteren christlichen Tradition schon war, Bekenntnis und Bekräftigung und
Aufruf zum Glauben. Er beruht damit insgesamt auf der rechten Auslegung
der christlichen Botschaft. Daß daher die Schriftauslegung durch die Predigt
in den Vordergrund des Gottesdienstes in den christlichen Kirchen getreten
ist, läßt die besondere Aufgabe der theologischen Hermeneutik hervortre-
ten. Sie dient nicht so sehr einem wissenschaftlichen Verständnis der Schrift
als der Praxis der Verkündigung, durch die die Heilsbotschaft den einzelnen
erreichen soll, so daß er sich angeredet und gemeint weiß. Daher ist die
Applikation nicht eine bloße >Anwendung< des Verstehens, sondern dessen
wahrer Kern. So stellt die Apphkationsproblematik, die gewiß im Pietismus
bis zum Extrem übertrieben worden ist, nicht nur ein wesentliches Moment
in der Hermeneutik religiöser Texte dar, sondern macht die philosophische
Bedeutung der hermeneutischen Frage insgesamt sichtbar. Sie ist mehr als
eine methodische Zurüstung.
Es bedeutete einen entscheidenden Schritt in der Entfaltung der Herme-
neutik, daß im Zeitalter der Romantik durch Schleiermacher und seine
Nachfolger die Hermeneutik zu einer universalen )Kunstlehre, ausgebildet
wurde, die die Eigenart der theologischen Wissenschaft und ihre methodi-
sche Gleichberechtigung im Kranze der Wissenschaften legitimieren sollte.
Dabei hatte Schleiermacher, dem das verständnisvolle Eingehen auf den
anderen die natürliche Mitgift seines Genies war und der wohl der genialste
Freund einer Zeit genannt werden darf, in der die Kultur der Freundschaft
einen wahren Höhepunkt erreichte, einen klaren Begriff davon, daß man die
Kunst des Verstehens nicht auf die Wissenschaft allein beschränken könne.
Sie spiele vielmehr im geselligen Leben eine hervorragende Rolle, und wenn
man die Worte eines geistreichen Mannes, die man nicht sofort eingängig
findet, zu verstehen suche, bediene man sich dieser Kunst beständig. Man
suche gleichsam zwischen den Worten des geistvollen Gesprächspartners so
zu hören, wie man bei Texten manchmal zwischen den Zeilen lesen müsse. -
Trotzdem zeigt sich gerade bei Schleiermacher der Druck, den der Wissen-
Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe 313
schafts begriff der Neuzeit auf das hermeneutische Selbstverständnis ausübt.
Er unterscheidet nämlich eine laxere Hermeneutik von einer strengeren
Praxis der Hermeneutik. Die laxere Praxis gehe davon aus, daß gegenüber
den Äußerungen eines anderen das rechte Verstehen und Einverständnis die
Regel und das Mißverständnis die Ausnahme sei. Dagegen gehe die strenge-
re Praxis von der Annahme aus, daß der Mißverstand die Regel sei und daß
man nur durch kunstvolle Anstrengung den Mißverstand vermeiden und zu
richtigem Verständnis gelangen kann. Es ist offenkundig. daß mit dieser
Unterscheidung die Aufgabe der Auslegung sozusagen aus dem Verständ-
niszusammenhange herausgedreht wird, in dem das eigentliche Leben des
Verstehens sich ständig tauscht. Jetzt hat es eine völlige Entfremdung zu
überwinden. Der Einsatz einer künstlichen Veranstaltung, die das Fremde
aufschließen soll und zum Eigenen machen, tritt an die Stelle des kommuni-
kativen Könnens, in dem die Menschen miteinander leben und sich mit der
Überlieferung, in der sie stehen, vermitteln.
Es paßt zu dieser von Schleiermacher eröffneten universalen Thematik der
Hermeneutik und insbesondere zu seinem eigensten Beitrag, der Einftih-
rung der ,psychologischen< Interpretation, die neben die hergebrachte
19rammatische( zu treten habe, daß in seiner Nachfolge im 19.Jahrhundert
die Entfaltung der Hermeneutik zu einer Methodenlehre ausgestaltet wurde.
Ihr Gegenstand sind die )Texte<, ein anonymer Bestand, dem der Forscher
gegenübertritt. Insbesondere hat in der Nachfolge Schlciermachcrs Wilhclm
Dilthey die hermeneutische Grundlegung der Geisteswissenschaften betrie-
ben, um ihre Ebenbürtigkeit mit den Naturwissenschaften zu begründen,
indem er Schleiermachers Akzentuierung der psychologischen Interpreta-
tion ausbaute. So sah er den eigentlichen Triumph der Hermeneutik in der
Auslegung von Kunst"verkcn, die eine unbewußt geniale Produktion zum
Bewußtsein erhebt. Dem Kunstwerk gegenüber bedeuten alle traditionellen
Methoden der Hermeneutik, die grammatische, historische, ästhetische und
psychologische Methode, nur insofern eine höchste Venvirklichung des
Ideals des VersteheIlS. als alle diese Mittel und Methoden dem Verstehen des
individuellen Gebildes als solchen zu dienen haben. Hier, und insbesondere
auf dem Felde der Literaturkritik, setzt die Fortbildung der romantischen
Hermeneutik ein Erbe um, das bis in den Sprachgebrauch hinein seine ältere
Herkunft verrät, Kritik zu sein. Kritik heißt, das einzelne Gebilde in seiner
Geltung und seinem Gehalt zu gewahren und von allem zu unterscheiden,
das seinem Maßstab nicht genügt. Dilthcys Anstrengung galt freilich dem
Bemühen, den Methodenbegriff der modernen Wissenschaft auch auf die
)Kritik< auszudehnen und den dichterischen )Ausdruck< von einer verstehen-
den Psychologie her wissenschaftlich aufzuschließen. Auf dem Umweg
über die )Litcraturgeschichtc( hat das schließlich den Ausdruck )Literatur-
wissenchaft< aufkommen lassen. Er spiegelt das Absinken eines Traditions-
314 Weiterentwicklungen

bewußtseins im Zeitalter des \visscnschaftlichen Positivismus des 19. Jah-


runderts, das im deutschen Sprachraum die Anglcichung an das Ideal der
Illodernen N acu[wisscnschaft bis zur veränderten Namensgebung steigerte.
Wenn wir von dem Überblick über die Entfaltung der neuzeitlichen
Hermeneutik aus auf die aristotelische Tradition der praktischen Philosophie
und der Kunstlehre zurückblicken, stehen wir vor der Frage, vvicwcit sich
die bei Plato und Aristoteles greifbare Spannung Z\vischen einem techni-
schen und einem die letzten Zwecke des Menschen einschließenden prak-
tisch-politischen Wissens begriff auf dem Boden der modernen Wissenschaft
und Wissenschaftstheorie fruchtbar machen läßt. Gerade was die Herme-
neutik betrifft, so liegt es offenbar nahe, die Absonderung der Theorie von
der Praxis, die dem neuzeitlichen Begriff der theoretischen Wissenschaft und
ihrer praktisch-technischen An\vendung entspricht, mit einem Wissensge-
danken zu konfrontieren, der den umgekehrten Weg von der Praxis zu ihrer
theoretischen Bnvußtmachung gegangen ist.
Daß das Problem der Hermeneutik von dort her eine stärkere Klärung
erfahren kann, als von der immanenten Problematik der \vissenschaftlichen
Methodenlehre von heute her möglich ist, scheint mir aus ihrem Doppelbe-
zug auf die ihr vorausliegende Rhetorik und auf die praktische Philosophie
des Aristotcles zu folgen. Es ist freilich schwierig genug, den wissenschafts-
theoretischen Platz einer Disziplin wie der aristotelischen Rhetorik zu be-
stimlnen. Wir haben doch wohl Ursache, sie mit der Poetik recht nahe
zusammenzurücken, und werden den beiden unter dem Namen des Aristo-
teies erhaltenen Schriften ihre theoretische Absicht nicht abstreiten können.
Sie wollen nicht an die Stelle technischer Handbücher treten und in einem
technischen Sinne die Kunst des Redens und des Dichtens fördern. Würden
sie überhaupt in den Augen des Aristotcles mit der Heilkunst und der
Gymnastik, die er gerne als technische Wissenschaften in solchem Zusam-
menhange nennt, in eine Reihe gehören? Hat er nicht selbst dort, wo er
wirklich ein immenses Material politischen Wissens theoretisch verarbeitet
hat, in seiner >Politik<, den Problemhorizont der praktischen Philosophie so
\veit ausgespannt, daß über der Vielfalt von Verfassungsformen, die er
studierte und analysierte, die Frage nach der besten Verfassung und somit
eine >praktische( Fragestellung, die Frage nach dem )Guten(, leitend blieb?
Wie \vürde \vohl die Kunst des Verstehens, die wir Hermeneutik nennen, in
dem Horizont der aristotelischen Denkweise ihren Platz gefunden haben?
Hier scheint es mir etwas zu besagen, daß das griechische Wort für
Verstehen und Verständnis Synesis, das in der Regel im neutralen Zusam-
menhang des Phänomens des Lernens und in austauschbarer Nachbarschaft
zu dem griechischen Wort für Lernen (Alathesis) zu begegnen pflegt, im
Rahmen der aristotelischen Ethik eine Art geistiger Tugend darstellt. Das ist
zweifellos eine engere Festlegung des sonst auch von Aristoteles oft in
Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe 315

neutralem Sinne gebrauchten Wortes, wie sie der entsprechenden terminolo-


gischen Einengung von Techfle und Phronesis im gleichen Zusammenhange
entspricht. Aber sie ist vielsagend. )Verständnis< begegnet dort also in dem-
selben Sinne, in dem auch die von mir eingangs erwähnte Verwendung von
Hermeneutik rur Seclenkenntnis und Seelenverständnis im 18. Jahrhundert
üblich war. ,Verständnis( meint dann eine Modifikation der praktischen
Vernünftigkeit, die einsichtsvolle Beurteilung der praktischen Erwägungen
eines anderen 79 • Darin liegt offenbar mehr als das bloße Verstehen von et\vas
Gesagtem. Es schließt eine Art von Gemeinsamkeit ein, durch die das
Miteinander-zu-Rate-Gehen, die Erteilung und die Annahme eines Rates,
überhaupt erst sinnvoll ist. Nur Freunde und freundschaftlich Gesinnte
könnenja raten. Das weist in der Tat ganz in die Mitte der Fragen, die mit der
Idee der praktischen Philosophie verknüpft sind, Denn es sind moralische
Implikationen, die mit diesem Gegenstück zur praktischen Vernünftigkeit
(Phronesis) impliziert sind. Was er hier in seiner Ethik analysiert, sind) Tugen-
den<, Normbegriffe, die immer schon unter der Voraussetzung ihrer norma-
tiven Geltung stehen. Die Tugend der praktischen Vernunft ist nicht als eine
neutrale Fähigkeit, zu praktischen Mitteln die richtigen Zwecke zu finden,
gedacht, sondern ist untrennbar mit dem verbunden, was Aristoteles Ethos
nennt. Ethos ist für ihn die Arche, das >Daß<, von dem aus alle praktisch-
philosophische Aufklärung auszugehen hat. Er unterscheidet zwar in analy-
tischer Absicht die ethischen und die dianoetischen Tugenden und fUhrt sie
auf zwei sogenannte >Teile< der vernünftigen Seele zurück. Aber was fTeile(
der Seele bedeuten und ob sie nicht vielleicht viel eher als zwei verschiedene
Ansichten des Gleichen gedacht werden müssen wie das Konvexe und das
Konkave, hat Aristoteles selber gefragt (EN A 13, 1102 a 28f[), Am Ende
müssen auch diese grundlegenden Scheidungen in seiner Analyse dessen,
was ftir die Menschen das praktische Gute ist, von dem methodischen
Anspruch her gedeutet werden, den seine praktische Philosophie überhaupt
erhebt, Sie will sich nicht an die Stelle praktisch vernünftiger Entscheidun-
gen drängen, die jeweils dem einzelnen in der jeweiligen Situation abver-
langt werden. Alle seine typisierenden Deskriptionen verstehen sich viel-
mehr auf solche Konkretion hin, Auch die berühmte Analyse der Struktur
der Mitte zwischen Extremen, die den aristotelischen ethischen Tugenden
zukommen soll, ist eine vielsagende Leerbestimmung. Nicht nur, daß sie
ihren rc1ativen Inhalt von den Extremen her empfangt, deren Profilierung in
den sittlichen Überzeugungen und Reaktionen der Menschen eine weit
größere Bestimmtheit besitzt, als die löbliche Mitte - es ist das Ethos des

?~ Cl aus von Barmann, Der praktische Ursprung der Kritik (1974), stellt S. 70 seines
im übrigen höchst fcirderlichen Buches die Fundierungen auf den Kopf, wenn cr das
Verständnis tUt andere auf das ,kritische Verständnis ftir sich selbst( gründen will.
316 Weiterentwicklungen

spoudaio5, das auf diese Weise schematisch beschrieben wird. Das hos dei
und das hos 110 orthos logos sind nicht Ausflüchte gegenüber einer strenge-
ren begrifflichen Forderung, sondern Hinweise auf die Konkretion, in der
allein Arete ihre Bestimmtheit erreicht. Diese Konkretion zu leisten, ist
offenbar die Sache dessen, der phronesis besitzt.
Von solchen Überlegungen her gewinnt die vieldiskutierte Eingangsbe-
schreibung der Aufgabe der praktischen und politischen Philosophie ihren
genauen Kontur. Was Burner rureine bewußte Anpassung des Aristoteles
an den platonischen Sprachgebrauch von techne hie1t 80 , hat seinen wahren
Grund in der Interferenz, die zwischen dem >poietischen< Wissen der
Techne und der )das Gute( in typischer Allgemeinheit erörternden >prakti-
schen Philosphie< besteht, die ja selber nicht als solche phroniisis ist. Auch
hier stehen praxis, prohairesis, teehne und methodos in einer Reihe und bilden
gleichsam ein Kontinuum von Übergängen. 81 Dennoch reflektiert Aristo-
teles auch über die Rolle, die die politike rur das praktische Leben zu spie-
len vermag. Er vergleicht den Anspruch solcher praktischen Pragmatie
mit der Marke, die der Bogenschütze ins Visier nimmt, wenn er sein
Jagdziel anvisiert. Mit einer solchen Marke im Blick wird er leichter tref-
fen. Das heißt gewiß nicht, daß die Kunst des Bogenschießens nur darin
besteht, daß man auf eine solche Marke zielt. Die Kunst des Bogenschie-
ßens muß man vielmehr beherrschen, damit man überhaupt treffen kann.
Aber um das Zielen zu erleichtern, um die Richtung des Schießens genau-
er und besser einzuhalten, dazu vermag die Marke ihren Dienst zu tun.
Wendet man den Vergleich auf die praktische Philosophie an, so wird man
auch hier davon ausgehen müssen, daß der handelnde Mensch als der, der
er - seinem )Ethos( nach - ist, von seiner praktischen Vernünftigkeit bei
seinen konkreten Entscheidungen geleitet ist und sicherlich nicht von der
Unterweisung eines Lehrers dabei abhängt. Gleichwohl mag es auch hier
eine Art Hilfe in der bewußten Vermeidung von Abirrungen sein, die die
ethische Pragmatie anzubieten vermag, sofern sie der vernünftigen Über-
legung die letzten Ziele ihres HandeIns gegenwärtig zu halten hilft. Sie ist
nicht nur auf ein partikulares Feld eingeengt. Sie ist überhaupt nicht )An-
wendung( eines Könnens auf einen Gegenstand. Sie mag Methoden ent-
wickeln - es sind mehr Faustregeln als Methoden - und läßt sich als
Kunst, die einer besitzt, zu v,lahrer Meisterschaft erheben. Trotzdetll ist
sie kein )Können(, das sich wie das Machenkönnen seine Aufgabe jev,reils
(beliebig oder auf Verlangen) wählt, sondern sie stellt sich, wie die Praxis
des Lebens sie stellt. So ist die praktische Philosophie des Aristoteles et-
\vas anderes als das angebHch neutrale Fachwissen des Experten, der wie

so [lrn Kommentar seiner Ausgabe der Eth. Nie. zu A t j.


" [EN A 1, 1094, 1ff. J.
Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe 317

ein unbeteiligter Beobachter an die Aufgaben der Politik und der Gesetzge-
bung herantritt.
Das spricht Aristoteles in dem Kapitel, das von der Ethik zur Politik
überleitet, mit klaren Worten aus. R2 Praktische Philosophie setzt eben vor-
aus, daß wir durch die normativen Vorstellungen immer schon vorgeformt
sind, in denen wir erzogen wurden und die der Ordnung des ganzen sozialen
Lebens zugrundeliegen. Das bedeutet keineswegs, daß diese normativen
Gesichtspunkte unveränderlich feststehen und unkritisierbar wären. Gesell-
schaftliches Leben besteht in einem beständigen ProzeG der Umbildung des
bisher Geltenden. Doch ,väre es eine Illusion, Normvorstellungen in ab-
stracto ableiten zu wollen und mit dem Anspruch wissenchaftlicher Richtig-
keit in Geltung zu setzen. Es geht also um einen Wissenschafts begriff, der
das Ideal des unbeteiligten Beobachters nicht gelten läßt, sondern stattdessen
die Be\vußtmachung des Gemeinsamen betreibt, das alle verbindet. Ich habe
diesen Punkt in meinen Arbeiten auf die hermeneutischen Wissenschaften
angewandt und die Zugehörigkeit des Interpreten zum Interpretandum
betont. Wer etwas verstehen will, bringt immer schon etwas mit, das ihn
vorgreiflich mit dem verbindet, \vas er verstehen will, ein tragendes Einver-
ständnis. So muß der Redner immer an ein solches anknüpfen, wenn ihm in
strittigen Fragen Überreden und Überzeugen gelingen wilpG. So ist auch
jedes Verstehen der Meinung eines anderen oder eines Textes allen mögli-
chen Mißverständnissen zum Trotz von einem Verständigungs zusammen-
hang umgriffen und sucht durch allen Dissens hindurch Verständigung. Das
schließt sogar noch die Praxis lebendiger Wissenschaft ein. Sie ist auch nicht
einfach Anwendung von Wissen und Methoden auf einen beliebigen Gegen-
stand. Nur wer in einer Wissenschaft steht, nur dem stellen sich die Fragen.
Wie sehr die eigenen Probleme, Denkerfahrungen, Nöte und Hoffnungen
einer Zeit auch noch die Interessenrichtung der Wissenschaft und der For-
schung spiegeln, ist jedem Historiker der Wissenschaften bekannt. Beson-
ders aber setzt sich im Bereich der verstehenden Wissenschaften, deren
universales Thema der in Überlieferungen stehende Mensch ist, der alte
Universalitätsanspruch fort, den schon Plato der Rhetorik aufgebürdet hat-
te. Für die Hermeneutik gilt damit dic gleiche Nachbarschaft zur Philo-
sophie, die das provokatorische Ergebnis der Rhetorikdiskussion des ,Phai-
dros< gewesen war.
Das bedeutet durchaus nicht, daß die Methodenstrenge moderner Wis-
senschaft hier preisgegeben oder auch nur eingeschränkt würde. Die soge-
nannten )hermeneutischen< oder ,Geisteswissenschaften< unterliegen den
"' [ENK 10, 1179b24f. und 1180aI4f.1.
IB Hier hat eh. PereIman und seine Schule aus der Erfahrung des Juristen alte Einsichten

in die Struktur und Bedeutung der )Argumentationj als eines rhetorischen Vorgangs
erneuert.
318 Weiterentwicklungen

gleichen Maßstäben kritischer Rationalität, die das methodische Vorgehen


aller Wissenschaften kennzeichnet, auch wenn ihre Interessenahme und ihr
Verfahren von dem der Naturwissenschaften wesentlich verschieden sind.
Vor allem aber dürfen sie sich auf das Vorbild der prakrischen Philosophie
mit Recht berufen, die bei Aristotc1es auch >Politik< heißen konnte. Sie
wurde von Aristotelcs die >am meisten architektonische< gcnanntR4 , sofern
sie alle Wissenschaften und Künste der antiken Systematik in sich einbegriff.
Selbst die Rhetorik gehörte zu diesen. So besteht auch der universale An-
spruch der Hermeneutik darin, sich alle Wissenschaften einzuordnen, die
Erkenntnischancen aller wissenschaftlichen Methoden, wo immer sie sich
auf Gegenstände anwenden lassen, wahrzunehmen und sie in allen ihren
Möglichkeiten zu nutzen. Aber wie die ,Politik, als praktische Philosophie
mehr ist als eine oberste Technik, so gilt das ebenso von der Hermeneutik.
Sie hat alles, was die Wissenschaften erkennen können, in den Verständi-
gungszusammenhang einzubringen, in dem wir selber stehen. Sofern die
Hermeneutik den Beitrag der Wissenschaften in diesen Verständigungszu-
sammenhang einordnet, der uns mit der Überlieferung, die auf uns gekom-
men ist, zu lebens wirklicher Einheit verbindet, ist sie nicht selber eine
Methode und auch nicht ein bloßes Bündel von Methoden, wie es im
19. Jahrhundert von Sehlciermacher und Boeckh bis zu Dilthey und Emilio
Betti als Methodenlehre der philologischen Wissenschaften entwickelt wur-
de, sondern sie ist Philosophie. Sie gibt nicht nur Rechenschaft über die
Verfahren, die die Wissenschaft anwendet, sondern auch über die Fragen, die
der Anwendung aller Wissenschaft vorgeordnet sind - wie die Rhetorik, die
Plato meinte. Es sind die Fragen, die alles menschliche Wissen und Handeln
bestimmen, jene )größten< Fragen, die fLir den Menschen als Menschen und
seine Wahl des ~Guten< entscheidend sind.

M IEN A 1, 1094 a 271.


23. Probleme der praktischen Vernunft
1980

Die Probleme der praktischen Vernunft stellen sich in meinen Augen unter
andcrm und vor allem andern in bezug auf das Selbstverständnis der sog.
Geisteswissenschaften. Welchen Platz nehmen die humanities, die >Geistes-
wissenschaften<, im Kosmos der Wissenschaften ein? Ich will versuchen zu
zeigen, daß es die praktische Philosophie des Aristoteles ist - und nicht der
neuzeitliche Begriff von Methode und Wissenschaft -, die das einzige trag-
kräftige Modell für ein angemessenes Selbstverständnis der Geisteswissen-
schaften darstellt. Eine kurze geschichtliche Besinnung soll zu dieser provo-
katorischen These hinfUhren.
Der Begriff der Wissenschaft ist die eigentlich wendende Entdeckung des
griechischen Geistes, mit der sich die Geburt dessen vollzog, was \vir die
abendländische Kultur nennen; darin liegt ihre Auszeichnung und vielleicht
auch ihr Verhängnis, wenn wir sie mit den großen Hochkulturen Asiens
vergleichen. Wissenschaft vnr fur die Griechen wesentlich durch die Mathe-
matik repräsentiert. Sie ist die eigentliche und einzige Vernunftwissenschaft.
Hier handelt es sich um Unveränderliches, und nur, wo etwas unveränder-
Hch ist, kann man von ihm wissen, ohne jeweils neu hinzusehen. Auch die
moderne Wissenschaft hat diesen Grundsatz in gewisser Weise festhalten
müssen, um überhaupt sich als Wissenschaft verstehen zu können. Die
unveränderlichen Naturgesetze traten an die Stelle dessen, was die großen
Inhalte der mathematisch inspirierten griechischen Weisheit, der pythago-
reischen Wissenschaft von den Zahlen und den Sternen, waren. Es ist klar,
daß unter diesem Modell die menschlichen Dinge wenig Ansatz rur Wis-
sensfähigkeit besitzen. Moral und Politik, auch die Gesetze, die Menschen
sich geben, die Werte, nach denen sie leben, die Institutionen, die sie sich
schaffen, die Gewohnheiten, denen sie folgen, a11 das kann nicht den An-
spruch auf Unveränderlichkeit und damit wirkliche Wissensfahigkeit, d. h.
Wißbarkeit erheben.
Unter dem Gesichtspunkt der modernen Wissenschaft hat sich nun etwas
etabliert, das das antike Erbe des Wissenschafts gedankens auf neue Grundla-
gen umgelegt hat: Mit Galilei beginnt eine neue Epoche des Wissens von der
Welt, Ein neuer Gedanke der Wißbarkeit bestimmt von nun an den Gegen-
320 Weiterentwicklungen

stand der "\visscnschaftlichen Fragestellung. Das ist der Gedanke der Metho-
de und des Primats der Methode über die Sache: Die Bedingungen der
methodischen Wißbarkcit definieren den Gegenstand der Wissenschaft. So
stellt sich die Frage, was für eine Wissenschaft unter diesen Umständen die
Humaniora sind - dieser eigentümliche Komparativ, der einen irnmcr fragen
läßt, wie der Superlativ, eine wahrhaft menschliche Wissenschaft, eigentlich
aussähe. Was sind diese Wissenschaften von den menschlichen Dingen, die
wir die Geisteswissenschaften nennen?
Offenbar sind sie zu einem guten Teile dem Wissenschafts gedanken der
Neuzeit gefolgt. Aber sie haben zugleich die alte Tradition menschlichen
Wissens. die von der Antike her die Bildungsgeschichte des Abendlandes
geprägt hat, weiter gepflegt. NochJohn Stuart Mill. der berühmte Verfas-
ser der >Induktiven Logik<, jenes Grundbuches des Selbstverständnisses ftir
den wissenschaftlichen Aufbruch. der im 19. und 20. Jahrhundert erfolgte.
hat die Geisteswissenschaften als moral seieners bezeichnet, also mit dem
antiken Namen. Aber er hat ihren Wisscnschaftscharakter- es ist kein Witz-
mit der Meteorologie verglichen: Der Grad der Verläßlichkeit von Aussagen
in den Geistcs\vissenschaftcn ähnelt der langfristigen Wetterprognose. Das
folgt offenkundig aus der Extrapolation eines Begriffes empirischer Wissen-
schaft, der durch die siegreichen Naturwissenschaften der Neuzeit seine
Ausprägung gefunden hat. Seitdem ist es eine der Aufgaben der Philosophie
geworden, den >humanen Wissenschaften<, den Humaniora, ihren autono-
men Geltungsrang zu verteidigen.
Ehedem bedurfte es dessen nicht. Der Überlieferungsstrom, der das ältere
Wissen des Menschen vom Menschen unbestritten trug, war die Rhetorik.
Das klingt für moderne Ohren ein wenig befremdlich, weil man Rhetorik
nur als ein Schimpfwort für unsachliche Argumentation kennt. Man muß
aber dem Begriff der Rhetorik seine echte Weite \viedergeben. Sie umfaßt
jede auf das Redenkönnen gegründete Kommunikationsform und ist das,
was menschliche Gesellschaft zusammenhä1t. Ohne miteinander zu reden
und ohne einander zu verstehen und ohne einander auch ohne logisch
schlüssige Argumentationen zu verstehen, \vürde es keine menschliche Ge-
sellschaft geben. So gilt es. sich der Bedeutung der Rhetorik und ihrer
Stellung zur modernen Wissenschaftlichkeit neu bC\vußt zu werden.
Daß die Rhetorik im griechischen Sinne nicht als Wissenschaft ga1t, ist
selbstverständlich. Aber ebenso klar ist. daß z. B. auch die Geschichtsschrei-
bung in den Augen eines griechischen Denkers keine Wissenschaft war. Sie
gehörte in den gleichen großen Zusammenhang des Gut-Redens und Gut-
Schreibens. Wenn Sextus Empiricus in seinen berühmten skeptischen Argu-
mentationen die Ge1tung der Wissenschaften bezweifelt, fallt es ihm gar
nicht ein, die Geschichte auch nur eines Wortes zu würdigen. So ist es ftiruns
eine neue Frage: Wie stellt sich in unserer, durch die Wissenschaft, und das
Probleme der praktischen Vernunft 321

heißt: durch die moderne Erfahrungswissenschaft, geprägten Zivilisation


das Erbe der antiken Rhetorik und damit die Chance einer wissenschaftli-
chen Begründung und Rechtfertigung des durch sie tradierten Wissens vom
Menschen dar?
Um das recht anschaulich zu machen, darf ich daran erinnern, wie sich
zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert das Ideal des Historikers gewandelt
hat. Ich meine den Wandel von Plutarch, dem spätgriechischen Verfasser der
Vitae parallelae, dieser Parallelbiographien großer Männer, die ftir das
18. Jahrhundert ein großes Schauspiel moralischer Erfahrung vermitte1ten,
zu dem anderen großen und in gewissem Sinne wahrlich größeren Histori-
ker der Griechen, zu Thukydides, der dank seiner kritischen Haltung gegen-
über den Berichten seiner Zeitgenossen, seiner Sorgfalt in der Prüfung der
Vorurteile aller Zeugenaussagen und vor a11em dank der fast übermenschli-
chen Unparteilichkeit seines Geschichtswerks wie ein Heros Eponymos der
modemen kritischen Historie vor uns steht.
Meine Frage ist nun, \vie sich dieses neue Verständnis kritischer Wissen-
schaftlichkeit mit dem alten Verständnis, das Menschen ftir Menschen und
Menschen unter Menschen und Menschen mit Menschen zusammen ent-
wickeln, verträgt. In moderner Fragestellung heißt das: Was ist der erkennt-
nistheoretische Charakter der sogenannten Geisteswissenschaften? Sind sie
wirkhch nur die )ungenauen< Wissenschaften, die am ehesten noch mit
der langfristigen Wetterprognose konkurrieren können, oder haben sie ein
Privileg, das vielleicht selbst die genaueste unter allen Wissenschaften, ich
meine natürlich die einzige reine Vernunftwissenschaft, die es überhaupt gibt,
die Mathematik, nicht besitzt? Das erkenntnistheoretische Problem läßt sich
auch formulieren als das Verhältnis von Tatsache und Theorie. Als solches ist
es ein universales Problem unserer kritischen Selbstrechtfertigung als Männer
der Wissenschaft.
Es ist nicht auf die Geisteswissenschaften beschränkt. Es ist klar, daß auch
in den Naturwissenschaften die Theorie erst den eigentlichen Erkenntnisge-
winn einer Tatsachenfeststellung bestätigen und bestimmen muß. Die bloße
Anhäufung von Tatsachen ist überhaupt keine Erfahrung, geschweige denn
das Fundament der Erfahrungswissenschaft. Es ist auch auf diesem Gebiet
das )hermeneutische< Verhä1tnis zwischen Tatsache und Theorie, das ent-
scheidend ist. Jene erkenntnistheoretischen Versuche, die die Wiener Schule
unternommen hatte, mit dem Protokollsatz als dem unbezweifelt gewissen
Satz zu arbeiten, weil da der Beobachter und das Beobachtete in unmittelba-
rer Gleichzeitigkeit zueinander stehen, und die Naturwissenschaften auf
dieser Basis zu errichten, sind schon in der frühesten Phase des Wiener
Kreises (1934) durch Moritz Schlick, wie mir scheint treffend, widerlegt
worden.
Indessen, so lange wir allein diese )hermeneutische< Kritik der Tatsachen
322 Weiterentwicklungen

unter dem Gesichtspunkt ihrer Theorien bildung im Auge haben, werden wir
den Geisteswissenschaften nur zu einem sehr kleinen Teil gerecht. Dann
bleibt am Ende nur das großartige und doch irgend wo donquichottenhafte
Unternehmen Max Webers, die )wcrtfreie Wissenschaft< auch auf das Wissen
von der Gesellschaft auszudehnen. Das eigentlich hermeneutische Problem
stellt sich im Gebiete des Wissens vom Menschen und des Wissens des Men-
schen über sich selbst nicht in der bloßen Isolierung des Wechselverhältnisses
von Theorie und Tatsache. Als diesüdwestdeutscheSchuleimspäten 19.Jahr-
hundert ihre Herrschaft antrat (und Max Weber folgte ihr in gewissem
Umfang), war es die Selbstbegrundung der Geisteswissenschaften auf die
Definition dessen, \vas eine historische Tatsache ist, was die Schlüsselposition
darstellte. Daß eine historische Tatsache nicht einfach eine Tatsache ist und
daß nicht alles, was geschieht, eine historische Tatsache heißen kann, ist klar.
Was erhebt eine Tatsache zu einer historischen Tatsache? Die bekannte
Antwort lautet: der Wertbezug. Daß es etwas bedeutete, im Lauf der Dinge,
daß in der Schlacht von Wagram (oder wo immer es war) Napoleon einen
Schnupfen bekam. Nicht alle Schnupfen, die Menschen bekommen, sind hi-
storische Tatsachen. Die Theorie der Werte also war die herrschende Theorie.
Von Werten gibt es aber keine Wissenschaft. So kamMax Weberbiszuderradi-
kaIen Steigerung, daß Wertfragen überhaupt aus der Wissenschaftauszuschal-
ten seien, und daß sich die Soziologie um eine neue Basis zu bemühen habe.
Nun war diese neukantianische Geschichtsphilosophie der Werte gewiß
eine schmale Basis. Einflußreicher sollte sich das romantische Erbe des
deutschen Geistes erweisen, das Erbe Hegcls und das Erbe Schleiermachers,
das insbesondere durch Diltheys Bemühungen um eine hermeneutische
Begründung der Geisteswissenschaften verwaltet wurde. Diltheys Denken
war weiter gespannt als die Erkenntnistheorie des Neukantianismus, sofern
er das volle Erbe Hegels, die Lehre vom objektiven Geist, übernahm. Danach
findet der Geist nicht nur in der Subjektivität seines aktualen Vollzugs,
sondern auch in der Objektivation von Institutionen, Handlungssystemen
und Lebenssystemen wie Wirtschaft, Recht und Gesellschaft seine Verkörpe-
rung und wird damit als >Kultur< zum Gegenstand des möglichen Verstehens.
Freilich war Diltheys Versuch, die Hermeneutik Schleiermachers zu erneuern
und damit sozusagen den Identitätspunkt zwischen dem Verstehenden und
dem Verständlichen als Grundlage der Humaniorazu erweisen, insofern zum
Scheitern verurteilt, als Geschichte offenbar eine viel tiefere Befremdung und
Fremdartigkeit an sich hat, als daß man sie so zuversichtlich unter dem
Gesichtspunkt ihrer Verständlichkeit sehen dürfte. Charakteristisches Sym-
ptom [ur Diltheys Verfehlen der ,Faktizität< des Geschehens ist das Detail, daß
Dilthey die Autobiographie, also den Fall, in dem jemand einen Geschichts-
verlauf sehenden Auges mitdurchlebt und in der Rückschau deutet, ftif das
Modell geschichtlichen Verstehens hielt. In Wahrheit ist eine Autobiographie
Probleme der praktischen Vernunft 323
in jedem Falle weit eher eine Geschichte der privaten Illusionen als das
Verständnis des wirklichen geschichtlichen Geschehens. 85
Demgegenüber bedeutete die Wendung, die das 20. Jahrhundert herauf-
führte und rur die, wie ich persönlich glaube, Husscrl und Hcidcgger die
entscheidenden Leistungen vollbracht haben, die Entdeckung der Grenzen
einer solchen idealistischen oder geistesgeschichtlichen Identität zwischen
Geist und Geschichte. In Husserls späten Arbeiten \var es das Zauberwort
von der ,Lebenswc1t( - eine dieser seltenen und erstaunlichen künstlichen
Wortprägungen (das Wort kommt nicht vor Husserl vor), die in das allge-
meine Sprach bewußtsein Eingang gefunden haben und dadurch bezeu-
gen, daß sie eine verkannte oder vergessene Wahrheit zur Sprache brin-
gen. So hat das Wort ,Lebensvv-clt( an Voraussetzungen erinnert, die aller
wissenschaftlichen Erkenntnis vorausliegen. Vollends war Heideggers
Programm einer ,Hermeneutik der Faktizität( und das heißt: die Konfron-
tation mit dem Unverständlichen des faktischen Daseins selber, ein Bruch
mit dem idealistischen Begriff der Hermeneutik. Verstehen und Verste-
henwollen werden in ihrer Spannung zu dem wirklichen Geschehen aner-
kannt. Beides, sowohl Husserls Lehre von der Lebenswclt wie Heideg-
gers Begriff der Hermeneutik der Faktizität halten die Zeitlichkeit und
Endlichkeit des Menschen gegenüber der unendlichen Aufgabe des Ver-
stchens und der Wahrheit fest. Meine These ist nun, daß von dieser Ein-
sicht her Wissen sich nicht allein auf die Frage der Beherrschbarkcit des
Anderen und Fremden stellt. Das ist das Grundpathos der wissenschaftli-
chen Erforschung der Wirklichkeit, das in unseren Naturwissenschaften
lebendig ist (wenn auch vielleicht auf dem Grunde eines letzten Glaubens
an die Rationalität der Welteinrichtung). Vielmehr behaupte ich: Das We-
sentliche in den ,Geisteswissenschaften( ist nicht die Objektivität, sondern
die vorgängige Beziehung zum Gegenstande. Ich würde ftir diesen Be-
reich des Wissens das Ideal der objektiven Erkenntnis, das vom Ethos der
Wissenschaftlichkeit aufgerichtet ist, durch das Ideal der ,Teilhabe< ergän-
zen, Teilhabe an den wesentlichen Aussagen menschlicher Erfahrung, wie
sie in Kunst und Geschichte sich ausgeprägt haben. Das ist in den Geistes-
wissenschaften das eigentliche Kriterium ftir Gehalt oder Gehaltlosigkeit
ihrer Lehren. Ich habe in meinen Arbeiten versucht zu zeigen, daß das
Modell des Dialogs fLir diese Form der Teilhabe strukturerhellende Be-
deutung hat. Denn der Dialog ist auch dadurch ausgezeichnet, daß nicht
einer das, was dabei herauskommt, überschaut und behauptet, daß er al-
lein die Sache beherrscht, sondern daß man im Miteinander an der Wahr-
heit und aneinander teilgewinnt.

85 [Vgl. Ces. Werke Bd. 1, S. 228, 281 und meine Dilthey-Arbeiten in Bd.4 der

Gesammelten WerkeJ.
324 Weiterentwicklungen

So viel mußte ich vorausschicken, damit die Bedeutung der praktischen


Philosophie des Aristoteles und der mit ihr anhebenden Tradition Glaub-
würdigkeit gewinnt. Es geht am Ende darum, einen gemeinsamen Grund
hinter Rhetorik und Kritik, hinter der Traditionsgestalt des menschlichen
Wissens von ihm selbst und der alles zu Objektivität verfremdenden moder-
nen wissenschaftlichen Forschung herauszuarbeiten. Aristoteles hat die
praktische Philosophie, welche die Politik umfaßt, in ausdrücklicher Aus-
einandersetzung mit dem Ideal der Theorie und der theoretischen Philo-
sophie entwickelt. Er hat darin die menschliche Praxis zu einem selbständi-
gen Wissensgebiet erhoben. )Praxis( meint das Ganze der praktischen Dinge,
also alles menschliche Verhalten und alle menschliche Selbsteinrichtung in
dieser Welt, und dazu gehört nicht zuletzt die Politik und innerhalb derselben
die Gesetzgebung. Sie ist ja die Hauptaufgabe, durch deren Lösung sich
menschliche Dinge regeln und ordnen, Selbstregelung durch >Verfassung,
im weitesten Sinne sozialen und staatlichen Ordnungslebens.
Was ist nun der theoretische Platz flir dieses Wissenwollcn und das
Nachdenken über Praxis und Politik? Aristoteles erwähnt gelegentlich ei-
ne Dreiteilung der ,Philosophia< in theoretische, praktische und poetische
Philosophie. (Unter letzterer ist die bekannte >Poetik< auf uns gekommen,
und ebenso gehört die Rhetorik dazu, das Machen von Reden.) Aber zwi-
schen den Extremen des Wissens und des Machens steht offenbar die
Praxis, die der Gegenstand der praktischen Philosophie ist. Ihre eigentliche
Grundlage bildet die zentrale Stellung und wesentliche Auszeichnung des
Menschen, daß er sein eigenes Leben nicht Instinktzv.rängen folgend, son-
dern mit Vernunft fUhrt. Die Grundtugend, die aus dem Wesen des Men-
schen folgt, ist daher die seine >Praxis< leitende Vernünftigkeit. Der grie-
chische Ausdruck dafUr ist >Phronesis<. Aristoteles' Frage ist: Wie steht
diese praktische Vernünftigkeit zwischen dem Selbstbewußtsein des Wis-
senschaftlers und dem Selbstbewußtsein des Könners, des Machers, des
Ingenieurs, des Technikers, des Handwerkers und dergl.? Wie steht diese
Tugend der Vernünftigkeit neben und zusammen mit der Tugend der
Wissenschaftlichkeit und der Tugend der technischen Könnerschaft? Auch
ohne irgend etwas von Aristoteles zu wissen, wird man sofort anerken-
nen, daß es eine überlegene Stellung sein muß, die dieser praktischen Ver-
nünftigkeit zukommt. Wo kämen wir in unserer Stellung im Leben und
mit unseren eigenen Angelegenheiten hin, wenn in allem der Experte re-
gierte oder wenn der Technokrat freien Lauf hätte? Müssen nicht unsere
sittlichen wie unsere politischen Entscheidungen unsere sein? Da gilt doch
auch: Nur wenn der vernünftige und verantwortliche politische Mensch,
dem wir Vertrauen schenken, die Emschcidung trifft, kann man sich poli-
tisch ebenso verantwortlich fühlen, wie man als einzelner ftir sich verant-
wortlich ist.
Probleme der praktischen Vernunft 325
Auf dieser durch Sokrates verkörperten Wahrheit beruht die ,praktische
Philosophie< des Aristotc1es. Hier muß es eine Rechenschaftsgabe über den
Anspruch solcher Vernünftigkeit und Verantwortlichkeit geben, die Sache
des Philosophen ist - und das heißt: die Anstrengung des Begriffs fordert.
Man muß begreifen, daß und warum es neben der Theorie, neben der alles
beherrschenden Leidenschaft des Wissenwollens, die in der Urtatsache der
Neugier ihre anthropologische Basis hat, eine andere Art wirklich allumfas-
senden Vernunftgebrauches gibt, die nicht in einem erlernbaren Könnell
oder in blindem Konformismus, sondern in vernünftiger Selbstverantwor_
tung besteht. Nun ist der entscheidende Gedanke, der ebenso rur die soge-
nannten Geistcs\vissenschaften gilt, \~lie für die >praktische Philosophie/: In
beiden kommt die endliche Grundverfassung des Menschen gegenüber der
unendlichen Aufgabe des Wissenwollens in die bestimmende Position. Das
ist offenkundig die v.rescntliche Auszeichnung dessen, was wir Vernünftig-
keit nennen, oder was wir meinen, \~renn wir von jemandem sagen, er sei ein
vernünftiger Mensch, daß einer die dogmatische Versuchung, die in jedem
vermeintlichen Wissen angelegt ist, überwindet. Dazu gehört, daß man fur
das, was man v'lollen, anstreben und durch eigenes Handeln herbeizuführen
versuchen kann, in den Gegebenheiten unseres endlichen Daseins seinen
Grund finden muß. Die aristotelische Formulierung dafUr ist: In den prakti-
schen Dingen ist das )Daß<, das Hoti, das Prinzip.86 Das ist gar keine geheim-
nisvolle Weisheit. Es ist nur in seiner wissenschafts theoretischen Bedeutung
zu explizieren, daß hier die Tatsache das Prinzip ist.
Wie kann Tatsächlichkcit den Charakter des Prinzips, des ersten und
bestimmenden >Ausgangspunktes<, gewinnen? Nun, was ,Tatsache< hier
meint, ist nicht die Tatsächlichkeit der fremden Tatsachen, mit denen man
fertig werden muß, indem man sie sich erklären lernt. Es ist die Tatsächlich-
keit der zuinnerst verständlichen und zutiefst gemeinsamen, von uns al1en
geteilten Überzeugungen, Wertungen, Gewöhnungcn, der Inbegriff all des-
sen, was unser Lebenssystem ausmacht. Das griechische Wort fLir diesen
Inbegriff solcher Tatsäehlichkeiten ist der wohlbekannte Begriff des ,Ethos<,
des durch Übung und Gewöhnung gewordenen Seins. Aristoteles ist der
Begründer der Ethik, weil er diesen Charakter der Tatsächlichkeit als be-
stimmend zu Ehren gebracht hat. Daß solches )Ethos< nicht eine bloße
Abrichtung oder Anpassung ist und nichts mit dem Konformismus eines
halbschlechten Gewissens zu tun hat, eben das ist durch die) Phronesisl, die
verantwortliche Vernünftigkeit gesichert - nota bene: dort, wo einer diese
Vernünftigkeit besitzt. Sie ist keine Naturgabe. Daß man sich im Austausch
mit seinen Mitmenschen, im Zusammenleben in Gesellschaft und Staat, zu
gemeinsamen Überzeugungen und Entscheidungen bekennt, ist also nicht
Konformismus, sondern macht gerade die Würde des menschlichen Selbst-
~ rEN A 7, 1098 b 21TI·
326 Weiterencwicklungen

seins und Selbstverständnisses aus. Wer nicht, wie wir das nennen, asozial
ist, der hat den anderen und den Austausch mit dem anderen und den Aufbau
einer gemeinsamen Welt der Konvention immer schon akzeptiert.
Konvention ist eine bessere Sache, als das Wort in unseren Ohren klingt.
Konvention meint Übereingekommensein und Geltung Von Übereinkom-
men, meint also nicht die Äußerlichkeit eines bloß von außen vorgeschriebe-
nen Regelsystems, sondern die Identität zwischen dem einzelnen Bewußt-
sein und den im Bewußtsein der anderen repräsentierten Überzeugungen
und damit auch mit den Lebensordnungen, die man sich schafft. Das ist in
gewissem Sinne eine Frage der Vernünftigkeit, und zwar der Vernünftigkeit
nicht nur in dem technisch-pragmatischen Sinne von Vernunft, in dem wir
das Wort im allgemeinen gebrauchen. Da sagen wir etwa: Wenn ich das und
das ,"vilI, dann ist es einfach vernünftig, als ersten Schritt das und das zu tun.
Das ist die berühmte Zweckrationalität von Max Weber. Wer einen be-
stimmten Zweck will, ist verpflichtet zu wissen, welche Mittel diesem
Zweck dienen und welche Mittel ihm nicht dienen. Deswegen ist Ethik
nicht nur Gesinnungsfrage. Auch unser Wissen oder Nichtwissen muß
verantwortet werden. Wissen gehört zum ,Ethos<. Aber zweifellos ist das
nicht alles, was Vernünftigkeit in dem großen sittlichen und politischen
Sinne der aristotelischen Phronesü charakterisiert, daß man zu gegebenen
Zwecken die rechten Mittel zu nützen "veiß. Das, ,"vorauf in der menschli-
chen Gesellschaft alles ankommt, ist, wie sie ihre Zwecke setzt oder besser
noch, wie sie für die Übernahme von allen zu bejahender Zwecke Einver-
ständnis erzielt und die richtigen Mittel findet. Es ist nun, wie mir scheint,
ftir die ganze Frage des theoretischen Wissenwollens auf diesem Gebiet
menschlicher Lebenspraxis von entscheidender Bedeutung, daß \vir jev.reils
vor aller theoretischen Rechenschaftsgabe eine vorgängige Hingabe aller an
ein inhaltlich bestimmendes Ideal der Vernünftigkeit voraussetzen.
Eine Wissenschaft mit inhaltlichen Voraussetzungen! Hier entspringt, wie
mir scheint, die eigentliche wissenschaftstheoretische Problematik, unter
der die praktische Philosophie steht. Aristoteles hat darüber reflektiert. Er
hat z. B. gesagt: Um über praktische Philosophie, also über die Normbegrif-
fe menschlichen Verhaltens oder die Normbegriffe vernünftiger Staatsver-
fassungen etwas zu erlernen, muß man bereits erzogen sein, muß man
bereits zur Vernünftigkeit fahig sein!" Hier setzt )Theorie< ,Teilhaben( vor-
aus. Das sind Dinge, die dann auch Kant in ganz anderem Zusammenhang
genauer entwickelt hat: Wie kann man, wenn man in der Vernünftigkeit
eine moralische Qualität des Menschen erkennt, die nicht von semen
theoretischen Fähigkeiten abhängt, Theorie und Philosophie der Moral
überhaupt noch zulassen? Es gibt eine berühmte Note von Kant, die in

" IEN AI. 1095, 3frJ.


Probleme der praktischen Vernunft 327
seinen Notizbüchern überliefert ist, in der er sagt: I,Rousseau hat mich
zurecht gebracht!(( Er "vollte damit sagen: Von Rousseau habe ich gelernt,
daß dic Vervollkommnung der Zivilisation und die Höhe der Verstandes-
kultur keine Garantie ftir einen Fortschritt menschlicher Moralität dar-
stellt. In der Tat beruht seine bekannte Moralphilosophie auf dieser tiefen
Einsicht. Dic moralische Selbstrechtfertigung des Menschcn ist nicht eine
Aufgabe der Philosophie. sondern der Moralität selbst. Ocr so viel beru-
fene kategorische Imperativ Kants hat nichts anderes in abstrakter Refle-
xion formuliert, als was jedermanns >praktische( Selbstverantwortung sich
sagt. Darin liegt die Anerkennung, daß hier nicht ein theoretisches Ver-
nunftwissen irgend welche Überlegenheit über die praktische Autonomie
der Vernünftigkeit beanspruchen kann. So steht praktische Philosophie
selbst unter praktischen Bedingungen. Ihr Prinzip ist das ,Daße Im kanti-
sehen Sprachgebrauch nennt man das den ,Formalismus( in der Ethik.
Es ist dieses Ideal der praktischen Philosophie, das mir ftir unsere Geistes-
wissenschaften, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen, gültig scheint.
Nicht umsonst hießen sie die moral seienees. Was hier gewußt wird, ist nicht
ein bestimmter Bereich von Objekten, sondern dcr Inbegriff dessen, worin
sich die Menschheit selber objektiviert, ihre Tatcn und Leiden so gut wieihrc
dauerhaften Schöpfungen. Die praktische Universalität. die im Begriff der
Vernünftigkeit (und in ihrem Mangel) impliziert ist, umfaßt uns allesamt
und ganz und gar. Sie vermag dcswegen sogar für das theoretische Wissen-
wollen, das als solches keine Beschränkung kennt, in den Naturwissenschaf-
ten so gut wic in den Sozialwissenschaften, eine höchste Instanz der Verant-
wortlichkeit darzustellen. Das ist die Lehre der praktischen Philosophie des
Aristoteles, die er auch IPolitib nannte. Die rechte Anwendung unseres
Wissens und Könnens verlangt Vcrnunft.
Hier geht das aristotelische Denken, wie mir scheint, semen eigenen,
und wenn ich recht sehe, einen [ur unser eigenes Denken über das Wissen
vom Menschen und seine Geschichtlichkeit vorbildlichen Weg. Man hat
sich, wenn man Aristoteles folgt, nicht im Ausgang von einem allgemei-
nen Wissenschafts begriff auf die Sondcrart dieses Humanwissens zu be-
sinnen, sondern sucht das sprachliche Medium auf, in dem sich dieses
Wissen vermittelt, und gründet sich damit auf seinen wahren Ursprung,
die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen. So handelt es sich nicht
nur darum, im Denken der Philosophie oder etwa in der Theorie der
Sozialwissenschaften der Sprache und der sprachlichen Vermittlung ihre
zentrale Stellung anzuweisen, sondern gerade auch die normativen Implika-
tionen bewußt zu machen, die in dem sprachlich Vermittelten stecken.
Das kommt nicht von ungefahr. Diltheys bewunderungswürdiges Un-
ternehmen einer Kritik der historischen Vernunft war durch seine Abhän-
gigkeit von dem Methodenvorbild der experimentellen Natuf\vissenschaf-
328 Weiterentwicklungen

ten geprägt und, wie wir heute empfinden, auch behindert. Zwar, seine
Abwehr des werttheoretischen Neukantianismus (Rickert) mochte ihr gutes
Recht haben. Aber gewiß galt es, über die bloße Gegenstellung zur neukan-
tianischen Werttheorie hinauszukommen. Dergleichen hat Theodor Litt
unternommen. Als ich im Jahre 1941 Litts Vortrag in der Sächsischen
Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hörte, derenjüngstes Mitglied ich
gerade geworden war, klang mir diese Studie über )Das Allgemeine im
Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis( wie eine Synthese, in der
Litt seine Zwischenstellung zwischen Kaut und Herder. die er in einem
schönen Buche schon 1930 ausgearbeitet hatte, ins Prinzipielle wandte. Wie
dort die Sprache zwischen dem Allgemeinen und dem Individuell-Singula-
ren die Brücken schlug, das kam gewiß meinem eigenen Versuch nahe,
Heideggers ontologische Kritik an der griechischen Metaphysik und ihrer
Folgewirkung, dem Subjektivitätsdenken der Neuzeit, ftir ein besseres
Selbstverständnis der Geisteswissenschaften nutzbar zu macher!. Noch heu-
te empfinde ich eine gevvisse Nähe zu Litt, etwa in der Verteidigung der
Sprache des Alltages gegenüber der Fachsprache und der >reinen< Begriffs-
bildung, die in den Naturwissenschaften ihr volles Recht hat. Litt hatte an
Hegels Dialektik des Allgemeinen und des Besonderen und an der Ver-
schmelzung von bestimmender und reflektierender Urteilskraft sein eigenes
Denken zu artikulieren gelernt. Damit war der henneneutische Nerv be-
rührt. Ich selber habe versucht. über den Horizont der neuzeitlichen Wissen-
schaftstheorie und Philosophie der Geisteswissenschaften hinauszugehen
und das hermeneutische Problem an der fundamentalen Sprachlichkeit des
Menschen zu entfalten. Am Ende ist die aristotelische Tugend der Vernünf-
tigkeit, die Phroncsis, die hermeneutische Grundtugend selbst. Sie diente
mir als ein Modell ftir meine eigene Gedankenbildung. So wurde in meinen
Augen die Hermeneutik, diese Theorie der Anwendung, das heißt des
Zusammenbringens des Allgemeinen und des Einzelnen, eine zentrale phi-
losophische Aufgabe.
Wahrscheinlich ""vürde Theodor Litt meinen eigenen Denkvcrsuchen ent-
gegenhalten, daß eine philosophische Rechtfertigung der Geisteswissen-
schaften am aristotelischen Modell der Phronesis sich dazu bekennen müßte,
ein Apriori geltend zu machen, das nicht einfach das Resultat empirischer
Verallgemeinerung sein könne. Die praktische Philosophie des Aristoteles
mißverstehe sich jedenfalls, wenn sie im )Oaß< ihr Prinzip sehe und nicht
anerkenne, daß sie selber als Philosophie, also als ein theoretisches Wissen-
wollen, nicht von dem abhängen könne, was in der Erfahrung als ein
konkret erfülltes Ethos und als praktisch getätigte Vernunft begegne. Litt
würde also auf der transzendentalen Reflexion bestehen, der ja auch Husserl
und selbst der Hcidegger von lSein und Zeir< gefolgt war. Das schien mir
aber und das scheint mir, so sehr es gegenüber einer empiristisch-induktivi-
Probleme der praktischen Vemunft 329
stischen Theorie im Recht ist, zu verkennen, daß solche Reflexion ihre
eigene Begründung und Begrenzung aus der Lebenspraxis empfangt, aus
der sie jeweils aufsteigt. Diese Einsicht muß sich einer Reflexion verwei-
gern, die sich in idealistischer Aufstufung zum >Geist< versteigt. So glaube
ich, daß die aristotelische Vorsicht und die Sclbstbegrcnzung seines Denkens
über das Gute im menschlichen Leben am Ende recht behält, und daß sie zu
Recht - vielleicht mit Plato - dem philosophischen Gedanken, der gewiß
keine bloße empiristische Verallgemeinerung ist, seine Rückbindung an die
eigene Endlichkeit und daran, wie vvir dieselbe erfahren - und das ist an
unsere geschichtliche Bedingtheit - auferlegt.
24. Text und Interpretation
1983

Die Probleme der Hermeneutik sind zwar im Ausgang von einzelnen Wis-
senschaften, der Theologie und der Jurisprudenz im besonderen, und am
Ende auch von den historischen Wissenschaften aus cnt\vickelt worden.
Doch war es bereits die tiefe Einsicht der deutschen Romantik, daß das
Verstehen und Interpretieren nicht nur, wie Dilthey es formuliert hat, bei
schriftlich fixierten Lebensäußerungen ins Spiel kommt. sondern das allge-
meine Verhältnis der Menschen zueinander und zur Welt betrifft. Das prägt
sich sogar in abgeleiteten Worten, wie etwa dem Wort >Verständnis< aus. In
der deutschen Sprache bedeutet Verstehen auch: >für etwas Verständnis
haben(. So ist die Fähigkeit des Verstehens eine grundlegende Ausstattung
des Menschen, die sein Zusammenleben mit anderen trägt und insbesondere
auf dem Wege über die Sprache und das Miteinander des Gespräches von-
statten geht. Insofern ist der universale Anspruch der Hermeneutik außer
allem Zweifel. Auf der anderen Seite bedeutet die Spraehlichkeit des Ver-
ständigungsgeschehens, das Z\vischen den Menschen spielt, geradezu eine
unübersteigbare Schranke, die ebenfalls von der deutschen Romantik in
ihrer metaphysischen Bedeutung zuerst positiv gewürdigt worden ist. Sie ist
in dem Satz formuliert: Individuum est ineffabile. Der Satz formuliert eine
Grenze der antiken Ontologie (ist allerdings nicht einmal aus dem Mittelal-
ter belegbar). Für das romantische Bewußtsein heißt das aber: Sprache
erreicht nie das letzte, unaufhebbare Geheimnis der individuellen Person.
Das spricht das Lebensgefi1hl des romantischen Zeitalters treffend aus und
weist auf eine Eigengesetzlichkeit des sprachlichen Ausdrucks, die nicht nur
seine Grenze ausmacht, sondern auch seine Bedeutung für die Ausbildung
des die Menschen vereinigenden common sense.
Es ist gut, sich an diese Vorgeschichte unserer heutigen Fragestellung zu
erinnern. Das im Ausgang von der Romantik aufblühende Methodenbe-
wußtsein der historischen Wissenschaften und der Druck, den das Vorbild
der siegreichen Naturwissenschaften ausübte, haben dazu gefuhrt, daß die
philosophische Reflexion die Allgemeinheit der hermeneutischen Erfahrung
auf ihre wissenschaftliche Erscheingsform verkürzte. Weder bei Wilhc1m
Dilthey, der in bewußter Fortftihrung der Ideen Friedrich Schleiermachers
Text und Interpretation 331

und seiner romantischen Freunde die Begründung der Geisteswissenschaf_


ten in ihrer Geschichtlichkeit suchte, noch bei den Neukantianern, die in
Gestalt ihrer transzendentalen Kultur- und Wertphilosophie eine erkenntnis-
theoretische Rechtfertigung der Geisteswissenschaften betrieben, stand die
ganze Breite der hermeneutischen Grunderfahrung noch im Blick. Das mag
im Heimatlande Kants und des transzendentalen Idealismus sogar noch
stärker der Fall gewesen sein als in Ländern, in denen les Lettres eine bestim-
mende Rolle im öffenthchen Leben spielen. Doch hat die philosophische
Reflexion am Ende überall eine ähnliche Richtung genommen.
So \var mein eigener Ausgangspunkt mit der Kritik am Idealismus und
dem Methodologismus der Ära der Erkenntnistheorie gegeben. Insbeson-
dere Heideggers Vertiefung des Begriffs des Verstehens zu einem Existen-
zial, d. h. zu einer kategorialen Grundbestimmung des menschlichen Da-
seins, wurde für mich wichtig. Das war der Anstoß, der mich zu einer
kritischen Überschreitung der Methodendiskussion und zu einer Auswei-
tung der hermeneutischen Fragestellung veranlaßte, die nicht mehr allein die
Wissenschaft, welche auch immer, sondern ebenso die Erfahrung der Kunst
und die Erfahrung der Geschichte in den Bhck nahm. Nun hatte sich
Heidegger in kritischer und polemischer Absicht ftir die Analyse des Verste-
hens an die ältere Rede von dem hermeneutischen Zirkel angelehnt und
denselben als einen positiven geltend gemacht und in seiner Daseinsanalytik
auf den Begriff gebracht. Man darf darübet aber nicht vergessen, daß es sich
hier nicht um Zirkularität als eine metaphysische Metapher handelt, sondern
um einen logischen Begriff, der in der Theorie des wissenschaftlichen Be-
weisens als die Lehre vom drculus vitioSHS seinen eigentlichen Ort hat. Der
Begriff des hermeneutischen Zirkels drückt nun dies aus, daß im Bereiche
des Verstehens gar keine Ableitung des einen von dem anderen prätendiert
wird, so daß der logische Beweisfehlet der Zirkelhaftigkeit hier kein Fehler
des Verfahrens ist, sondern die angemessene Beschreibung der Struktur des
Verstehens darstellt. 50 ist die Rede vom hermeneutischen Zirkel als Ab-
grenzung gegen das Ideal der logischen 5ehlüssigkeit in der Nachfolge
Schleietmachers durch Dilthey eingeftihrt worden. Berücksichtigt man da-
bei die wahre Weite, die dem Begriff des Verstehens vom Sprachgebrauch
her zukommt, dann weist die Rede von dem hermeneutischen Zirkel in
Wahrheit auf die Struktur des In-der-Welt-Seins selber, d.h. auf die Aufhe-
bung der Subjekt-Objektspaltung, die Heideggets transzendentaler Analy-
tik des Daseins zugrunde lag. Wie der, der sich auf den Gebrauch eines
Werkzeuges versteht, dasselbe nicht zum Objekt macht, sondern mit ihm
hantiert, so ist auch das Verstehen, in dem das Dasein sich in seinem Sein und
in seiner Welt versteht, kein Verhalten zu bestimmten Erkenntnisobjekten,
sondern sein In-der Welt-Sein selber. Damit verwandelt sich die hermeneu-
tische Methodenlehre Diltheyscher Prägung in eine )Hermcneutik der Fakti-
332 Wei teren ewicklungcn

zität<, die Heideggers Frage nach dem Sein leitet und die die Hinterfragung
des Historismus und Diltheys einschließt.
Nun hat Heidegger bekanntlich den Begriff der Hermeneutik später ganz
fallen lassen, weil er sah, daß er auf diese Weise den Bannkreis der transzen-
dentalen Reflexion nicht durchbrechen konnte. Sein Philosophieren, das die
Abkehr vom Begriff des Transzendentalen als die >Kehre< zu vollziehen
suchte, geriet damit zunehmend mehr in eine solche Sprachnot, daß viele
Leser Heideggers mehr Poesie als philosophisches Denken darin zu finden
glauben. Das halte ich freilich fur einen Irrtum. 8S So war es eines meiner
eigenen Motive, Wege zu suchen, auf denen Hcideggers Rede vom Sein, das
nicht das Sein des Seienden ist, ausweis bar gemacht werden kann. Das
fuhrte mich wieder stärker an die Geschichte der klassischen Hermeneutik
heran und nötigte mich, das Neue in der Kritik derselben zur Geltung zu
bringen. Meine eigene Einsicht scheint mir, daß keine Begriffssprache, auch
nicht die von Heidegger sogenannte >Sprache der Metaphysik(, einen un-
brechbaren Bann für das Denken bedeutet, wenn sich nur der Denkende der
Sprache anvertraut, und das heißt, wenn er in den Dialog mit anderen
Denkenden und mit anders Denkenden sich einläßt. In voller Anerkennung
der durch Heidegger geleisteten Kritik am Subjektsbegriff, dem er seinen
Hintergrund von Substanz nachwies, suchte ich daher im Dialog das ur-
sprüngliche Phänomen der Sprache zu fassen. Das bedeutete gleichzeitig
eine hermeneutische Rückorientierung der Dialektik, die vom deutschen
Idealismus als spekulative Methode entwickelt worden war, auf die Kunst
des lebendigen Dialogs, in der sich die sokratisch-platonische Denkbewe-
gung vollzogen hatte. Das heißt nicht, daß sie eine bloß negative Dialektik
sein wollte, wenn sich auch die griechische Dialektik ihrer grundsätzlichen
Unvollendbarkeit stets bewußt gewesen ist. Sie stellt jedoch ein Korrektiv
gegenüber dem Methodenideal der neuzeitlichen Dialektik dar, die sich im
Idealismus des Absoluten vollendete. Es war aus dem gleichen Interesse, daß
ich nicht zuerst an der Erfahrung, die in der Wissenschaft verarbeitet ist,
sondern an der Erfahrung der Kunst und der Geschichte selber, mit denen
die sogenannten Geisteswissenschaften als ihren Gegenständen zu tun ha-
ben, die hermeneutische Struktur aufsuchte. Für das Kunstwerk, wie sehr
auch immer es als eine geschichtliche Gegebenheit und damit als möglicher
Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung erscheinen mag, gilt, daß es
selber uns etwas sagt - und das so, daß seine Aussage niemals abschließend
im Begriff ausgeschöpft werden kann. Ebenso gilt rur die Erfahrung der
Geschichte, daß das Ideal der Objektivität der Geschichtsforschung nur die
eine, sogar nur die sekundäre Seite der Sache ist, während es die Auszeich-

1I8 fVgl. die Sammlung meiner Studien zu Heideggers Spätwerk ~Heideggers Wege<,

Tübingen 1983; Ges. Werke Bd. 3J.


Text und Interpretation 333
nung der geschichtlichen Erfahrung selber ausmacht, daß wir in emem
Geschehen darin stehen, ohne zu wissen, wie uns geschieht und erst in der
Rückschau begreifen, was geschah. Dem entspricht, daß die Geschichte von
jeder neuen Gegenwart neu geschrieben werden muß.
Am Ende gilt die gleiche Grunderfahrung aber auch ftir die Philosophie
und ihre Geschichte. Das läßt sich nicht nur an Plato lernen, der nur Dialoge
und keine dogmatischen Texte geschrieben hat. Auch was Hegel das Speku-
lative in der Philosophie nennt und was seiner eigenen Betrachtung der
Geschichte der Philosophie zugrunde liegt, bleibt, wie ich meine, eine
beständige Herausforderung fUr das Bemühen, dasselbe in dialektischer
Methode zur Darstellung zu bringen. So habe ich gerade die Unvollendbar-
keit aller Sinnerfahrung festzuhalten gesucht und aus der Heideggerschen
Einsicht in die zentrale Bedeutung der Endlichkeit Schlüsse füt die Herme-
neutik gezogen.
Die Begegnung mit der französischen Szene bedeutet unter diesen U ffi-
ständen fur mich eine echte Herausforderung. Insbesondere hat Derrida dem
späten Heidegger gegenüber geltend gemacht, daß derselbe den Logozentris-
mus der Metaphysik nicht wirklich gebrochen habe. Sofern er nach dem
Wesen der Wahrheit frage oder nach dem Sinn von Sein, spreche er noch
immer die Sprache der Metaphysik, die den Sinn gleichsam als einen vor-
handenen und aufzufindenden ansieht. Da sei Nietzsehe radikaler. Sein
Begriff der Interpretation meine nicht die Auffindung eines vorhandenen
Sinnes, sondern die Setzung von Sinn im Dienst des) Willens zur Machte
Damit erst werde der Logozentrismus der Metaphysik wirklich gebrochen.
Diese vor allem von Derrida entwickelte FortfUhrung Heideggerscher Ein-
sichten, die sich als ihre Radikalisierung versteht, muß folgerichtigerweise
Heideggers eigene Nietzsche-Darstellung und Nietzsche-Kritik ganz ver-
werfen. Nietzsche sei nicht das Extrem der Seinsvergessenheit, das in dem
Begriffe des Wertes und des Wirkcns gipfelt. Er sei vielmehr die wahre
Überwindung der Metaphysik, in der Heidegger befangen bleibe, wenn er
nach dem Sein, nach dem Sinn von Sein wie nach einem aufzufindenden
Logos frage. Nun ist klar, daß der späte Heidegger selber, um der Sprache
der Metaphysik zu entgehen, seine halbpoetische Sondersprache entwickel-
te, die von Versuch zu Versuch eine neue scheint und einen vor die Aufgabe
stellt, fur sich selber ständig als ein Übersetzer dieser Sprache tätig zu
werden. Wieweit es einem gelingt, die Sprache dafUr zu finden, mag pro-
blematisch sein - aber die Aufgabe ist gestellt. Es ist die Aufgabe des
)Verstehens<. Ich bin mir bewußt - und vollends in der Konfrontation mit
den französischen FortfUhrern - daß meine eigenen Versuche, Heidegger zu
>übersetzen<, meine Grenzen bezeugen und insbesondere zeigen, wie stark
ich selber in der romantischen Tradition der Geisteswissenschaften und
ihrem humanistischen Erbe verwurzelt bin. Aber gerade gegenüber dieser
334 Weiterentwicklungen

mich tragenden Tradition des )Historismusl habe ich einen kritischen Stand
gesucht. Leo Strauss hat schon früher einmal in einem inzwischen veröffent-
lichten Privatbrief an mich" den Finger darauf gelegt, daß ftir Heidegger
Nietzsehe und rur mich Dilthey den Orientierungspunkt der Kritik bilde. Es
mag Hcideggers Radikalität auszeichnen, daß seine eigene Kritik am phäno-
menologischen Neukantianismus Husserlscher Prägung ihn am Ende tat-
sächlich in den Stand setzte, in Nietzsehe den extremen Endpunkt dessen zu
erkennen, was er die Geschichte der Seinsvergessenheit nennt. Aber das ist
eine eminent kritische Feststellung, die doch wohl nicht hinter Nietzsehe
zurückfallt, sondern über ihn hinausgeht. Ich vermisse an der französischen
Nietzsche-Nachfolge, daß sie das Versucherische von Nietzsches Denken in
seiner Bedeutung erfaßt. Nur so, scheint mir, gelangt sie dazu, zu meinen,
daß die Erfahrung des Seins, die Heidegger hinter der Metaphysik aufzudek-
ken bemüht ist, von Nietzsches Extremismus an Radikalität noch übertrof-
fen werde. In Wahrheit kommt vielmehr in Heideggers Nietzsche-Bild die
tiefe Zweideutigkeit, daß er ihm bis in das letzte Extrem hinein folgt und
gerade dort das Un-Wesen der Metaphysik am Werke sieht, sofern im
Werten und Umwerten aller Werte in Wahrheit Sein selber zu einem Wertbe-
griffim Dienst des }Willens zur Macht< wird. Heideggers Versuch, das Sein
zu denken, geht weit über solche Auflösung der Metaphysik in Wertdenken
hinaus oder besser: er geht hinter die Metaphysik selber zurück, ohne in dem
Extrem ihrer Selbstaufläsung Genüge zu finden, wie Nietzsche. Solches
Zurückfragen hebt den Begriff des Logos und seine metaphysischen Impli-
kationen nicht auf, aber erkennt seine Einseitigkeit und zuletzt }Oberfläch-
lichkeit<. Daftir ist von entscheidender Bedeutung, daß das Sein nicht in
seinem Sich-Zeigen aufgeht, sondern mit derselben Ursprünglichkeit. in
der es sich zeigt, sich auch zurückhält und entzieht. Das ist die eigentliche
Einsicht, die zuerst Schelling gegen den logischen Idealismus Hcgcls geltend
gemacht hatte. Heidegger nimmt diese Frage wieder auf, indem er zugleich
seine begriffliche Kraft daftir einsetzt, die Schelling gemangelt hatte.
So war ich meinerseits benlüht, die Grenze nicht zu vergessen, die in aller
hermeneutischen Erfahrung von Sinn impliziert ist. Wenn ich den Satz
schrieb: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprachc~<90, so lag darin, daß
das, was ist, nie ganz verstanden werden kann. Es liegt darin, sofern alles,
was eine Sprache fuhrt, immer noch über das hinausweist, was zur Aussage
gelangt. Es bleibt, als das, \vas verstanden werden soll, das, was zur Sprache
kommt - aber freilich wird es immer als etwas genommen, wahr-genom-
men. Das ist die hermeneutische Dimension, in der Sein }sich zeigt<. Die
69 l!Corrcspondencc conccrning Wahrheit und Methode-Leo Strauss and Hans-Georg

Gadamer<. IndependentJoumal ofPhilosophy 2 (1978), S. 5-12J.


90 Wahrheit und Mcthodc. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Ges.

WerkeBd. 1, S. 478).
Text und Interpretation 335

iHermeneutik der Faktizität< bedeutet eine Verwandlung des Sinnes Von


Hermeneutik. Freilich bin ich bei meinem Beschreibungsversuch der Pro-
bleme, den ich unternahm, durchaus der Leitung der an Sprache zu machen-
den Sinnerfahrung gefolgt, um an ihr die ihr gesetzte Grenze aufzu\veisen.
Das )Sein zum Texte<, an dem ich mich orientierte, kann es gewiß nicht an
Radikalität der Grenzerfahrung mit dem iSein zum Tode< aufnehmen und
ebenso wenig bedeutet die unvollendbare Frage nach dem Sinn des Werkes
der Kunst oder nach dem Sinn der Geschichte, die uns \viderfahrt, ein ebenso
ursprüngliches Phänomen wie die dem menschlichen Dasein aufgegebene
Frage seiner eigenen Endlichkeit. Ich kann daher verstehen, daß der spätere
Heidegger (und Derrida wäre darin mit ihm vermutlich einig) der Meinung
war, daß ich den Bannkreis der phänomenologischen Imnlanenz, wie sie
Husserl konsequent durchhält und \vie sie auch meiner neukantianischen
Erstprägung zugrunde lag, nicht wirklich verlasse. Ich kann auch verstehen,
daß man diese methodische >Immanenz< in dem Festhalten an dem herme-
neutischen Zirkel zu erkennen glaubt. In der Tat erscheint mir, diesen
brechen zu wollen, als eine unvollziehbare, ja als eine wahrhaft sinnwidrige
Forderung. Denn diese Immanenz ist, übrigens wie bei Schleiermacher und
seinem Nachfolger Oilthe)', nichts als eine Beschreibung dessen, 'ivas Ver-
stehen ist. Seit Herder erkennen wir in >Verstehen( mehr als ein methodi-
sches Verfahren, das einen gegebenen Sinn aufdeckt. Angesichts der Weite
dessen, was Verstehen ist, darf die Zirkularität, die zwischen Verstehendem
und dem, was er versteht, kreist, echte Universalität Hir sich in Anspruch
nehmen, und gerade hier liegt der Punkt, wo ich meine, Heideggers Kritik
an dem phänomenologischen Immanenzbegriff, der in Husserls transzen-
dentaler Letztbegründung impliziert ist, gefolgt zu sein. 91 Der dialogische
Charakter der Sprache, den ich herauszuarbeiten suchte, läßt den Ausgangs-
punkt in der Subjektivität des Subjekts, gerade auch den des Sprechers in
seiner Intention auf Sinn, hinter sich. Was im Sprechen herauskommt, ist
nicht eine bloße Fixierung von intendiertem Sinn, sondern ein beständig sich
wandelnder Versuch oder besser, eine ständig sich wiederholende Versu-
chung, sich auf etwas einzulassen und sich mit jemandem einzulassen. Das
aber heißt, sich aussetzen. Sprechen ist so wenig eine bloße Ausfacherung
und Geltendmachung unserer Vorurteile, daß es vielmehr dieselben aufs
Spiel setzt - dem eigenen Zweifel preisgibt, wie der Entgegnung des ande-
ren. Wer kennt nicht die Erfahrung, - und vollends gegenüber dem anderen,
den wir überzeugen wollen - wie die guten Gründe, die man hat, und erst
recht die guten Gründe, die gegen einen sprechen, ins Wort drängen. Die
bloße Präsenz des anderen hilft, dem wir begegnen, noch bevor er zur

91 [Schon 1959 habe ich das in dem Heidegger gewidmeten Aufsatz> Vom Zirkel des
Verstchensl zu zeigen versucht. Vgl. oben S. 57ff. J.
336 Weiterentwicklungen

Entgegnung den Mund aufmacht, die eigene Befangenheit und Enge aufzu-
decken und aufzulösen. Was uns hier zur dialogischen Erfahrung wird,
beschränkt sich nicht auf die Sphäre der Gründe und Gegengründe, in deren
Austausch und Vereinigung der Sinn jeder Auseinandersetzung enden mag.
Es ist vielmehr, wie die beschriebenen Erfahrungen zeigen, noch etwas
anderes darin, sozusagen eine Potentialität des Andersseins, die über jede
Verständigung im Gemeinsamen noch hinaus liegt. Das ist die Grenze, die
Hege! nicht überschreitet. Er hat zwar das spekulative Prinzip, das im
>Logos< waltet, erkannt und sogar in dramatischer Konkretion zur Auswei-
sung gebracht. Er hat die Struktur des Selbstbewußtseins und der )Selbster-
kenntnis im Andersseio< als die Dialektik der Anerkennung entfaltet und
diese bis zum Kampf aufLeben und Tod zugespitzt. Ähnlich hat Nietzsches
psychologischer Tiefblick das Substrat von >Wille zur Macht< in aller Hinga-
be und Aufopferung ins Bewußtsein gehoben: ))Auch im Knecht ist noch
Wille zur Macht<<. Daß sich diese Spannung von Selbstaufgabe und Selbstbe-
zug in die Sphäre der Gründe und der Gegengründe und damit in die
sachliche Auseinandersetzung hinein fortsetzt, ihr gleichsam eingelagert ist,
stellt aber den Punkt dar, an dem Heidegger ftir mich bestimmend bleibt,
gerade weil er den ~Logozentrismus< der griechischen Ontologie darin er-
kennt.
Hier wird eine Grenze des griechischen Vorbildes ftihlbar, die vom Alten
Testament, von Paulus, von Luther und deren modernen Erneuerern vor
allem, kritisch geltend gemacht wird. In der berühmten Entdeckung des
sokratischen Dialoges als der Grundform des Denkens ist diese Dimension
am Dialog gar nicht zum begrifflichen Be"\vußtsein gekommen. Das geht
sehr wohl damit zusammen, daß ein Schriftsteller von der poetischen Imagi-
nation und Sprachkraft eines Plato die charismatische Figur seines Sokrates
so zu schildern wußte, daß die Person und die erotische Spannung, die um
sie zittert, wirklich zur Erscheinung kommt. Aber wenn dieser sein Sokrates
in seiner Gesprächsftihrung auf der Rechenschaftsgabe besteht, andere ihres
Scheinwissens überfuhrt und sogar den anderen zu sich sc1ber zu bringen
vermag, so setzt er doch immer zugleich voraus, daß der Logos allen
gemeinsam ist und nicht der seine. Die Tiefe des dialogischen Prinzips ist,
wie schon angedeutet, erst in der Abenddämmerung der Metaphysik, im
Zeitalter der deutschen Romantik, zu philosophischem Bewußtsein gelangt
und in unserem Jahrhundert erneut gegen die Subjektsbefangenheit des
Idealismus geltend gemacht worden. Hier habe ich angeknüpft und frage,
wie sich die Gemeinsamkeit des Sinnes, die sich im Gespräch aufbaut, und
die Undurchdringlichkeit der Andersheit des anderen miteinander vermit-
teln und was Sprachlichkeit im letzten Betracht ist: Brücke oder Schranke.
Brücke, durch die der eine mit dem anderen kommuniziert und über dem
fließenden Strome der Andersheit Selbigkeiten aufbaut, oder Schranke, die
Text und Interpretation 337
unsere Selbst aufgabe begrenzt und uns von der Möglichkeit abschrankt, uns
selber je ganz auszusprechen und mitzuteilen.
Im Rahmen dieser allgemeinen Fragestellung stellt nun der Begriff des
>Textes< eine Herausforderung eigener Art dar. Das ist abermals etwas, was
uns mit unseren französischen Kollegen verbindet oder vielleicht auch von
ihnen trennt. Jedenfalls war dies mein Motiv, mich mit dem Thema >Text
und Interpretation< neu auseinanderzusetzen. Wie steht Text zur Sprache?
Was kann von Sprache in Text hinüber? Was ist Verständigung zwischen
Sprechenden und was bedeutet es, daß uns so etwas wie Texte gemeinsam
gegeben sein können oder gar, daß in der Verständigung miteinander etwas
herauskommt, das wie ein Text fur uns ein- und dasselbe ist? Wieso hat der
Begriff des Textes eine so universale Ausdehnung erfahren können? Für
jeden, der sich die philosophischen Tendenzen unseres Jahrhunderts vor
Augen fUhrt, ist es offenkundig, daß es sich unter diesem Thema um mehr
handelt als um Reflexion über die Methodik der philologischen Wissen-
schaften. Text ist mehr als der Titel fur das Gegenstandsfeld der Literaturfor-
schung. Interpretation ist mehr als die Technik der wissenschaftlichen Aus-
legung von Texten. Beide Begriffe haben im 20. Jahrhundert ihren Stellen-
wert im ganzen unserer Erkcnntnis- und Wcltgleichung gründlich verän-
dert.
Gewiß hängt diese Verschiebung mit der Rolle zusammen, die das Phäno-
men der Sprache in unserem Denken inzwischen einnimmt. Aber das ist nur
eine tautologische Aussage. Daß die Sprache eine zentrale Stellung im
philosophischen Gedanken erworben hat, hängt vielmehr seinerseits mit der
Wendung zusammen, die die Philosophie im Laufe der letzten Jahrzehnte
genommen hat, Daß das Ideal der \vissenschaftlichen Erkenntnis, dem die
moderne Wissenschaft folgt, vom Modell des mathematischen Entwurfs der
Natur ausgegangen war, wie ihn Galilei in seiner Mechanik zuerst entwik-
kelte, bedeutete ja, daß die sprachliche Weltauslcgung, d. h. die in der
Lebenswelt sprachlich sedimentierte Welterfahrung, nicht länger den Aus-
gangspunkt der Fragestellung und des Wissenwollens bildete. Jetzt ist es das
aus rationalen Gesetzen Erklärbare und Konstruicrbare, was das Wesen der
Wissenschaft ausmacht. Damit verlor die natürliche Sprache, auch wcnn sie
ihre eigene Weise, zu sehen und zu reden, festhält, ihren selbstverständlichen
Primat. Es war eine konsequente Fortführung der Implikationen dieser
modernen mathematischen Naturwissenschaft, daß das Ideal der Sprache in
der modernen Logik und Wissenschaftstheorie durch das Ideal der eindeuti-
gen Bezeichnung ersetzt wurde. So gehört es in den Zusammenhang der
Grenzerfahrungen, die mit der Universalität des wissenschaftlichen Weltzu-
gangs verbunden sind, wcnn sich inzwischen die natürliche Sprache als ein
>Universale{ erneut in das Zentrum der Philosophie verlagert hat.
Freilich bedeutet das nicht eine bloße Rückkehr zu den lebens weltlichen
338 Weiterencwicklungen

Erfahrungen und ihrer sprachlichen Sedimentation, die wir als den Leitfaden
der griechischen Metaphysik kennen und deren logische Analyse zur aristo-
telischen Logik und zur Rrammatica speculativa ruhrte. Vielmehr wird jetzt
nicht ihre logische Leistung, sondern die Sprache als Sprache und ihrc
Schematisicrung des Weltzugangs als solche bewußt, und damit verschieben
sich die ursprünglichen Perspektiven. Innerhalb der deutschen Tradition
stellt das eine Wiederaufnahme romantischer Ideen dar - Schlegels, Hum-
boldts usw. Weder bei den Neukantianern noch bei den Phänomenologen
der ersten Stunde war das Problem der Sprache überhaupt beachtet worden.
Erst in einer zweiten Generation wurde die Zwischcnwclt der Sprache zum
Thema, so bei Ernst Cassirer und vollends bei Martin Heidcgger, dem vor
allem Hans Lipps folgte. Im angelsächsischen Raum zeigte sich ähnliches in
der Fortentwicklung, die Wittgenstein von dem Ausgangspunkt bei RusselJ
aus genommen hat. Freilich handelt es sich fur uns jetzt nicht so sehr um eine
Philosophie der Sprache, die auf dem Boden der vergleichenden Sprachwis-
senschaften aufbaute, oder um das Ideal einer Konstruktion von Sprache,
das sich einer allgemeinen Zeichen theorie einordnet, als um den rätselhaften
Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen.
So haben wir auf der einen Seite die Zeichentheorie und Linguistik, die zu
neuen Erkenntnissen über die Funktionsweise und den Aufbau von sprachli-
chen Systemen und von Zeichensystemen gefLihrt haben, und auf der ande-
ren Seite die Theorie der Erkenntnis, die realisiert, daß es Sprache ist, \\'as
allen Weltzugang überhaupt vermittelt. lleides wirkt dahin zusammen, die
Ausgangspunkte einer philosophischen Rechtfertigung des wissenschaftli-
chen Weltzugangs in einem neuen Lichte zu sehen. Deren Voraussetzung
bestandja darin, daß sich das Subjekt in methodischer Selbstgewißheit mit
den Mitteln der rationalen mathematischen Konstruktion der Erfahrungs-
wirklichkeit bemächtigt und ihr in Urteilssätzen Ausdruck gibt. Damit
erfullte es seine eigentliche Erkenntnisaufgabe, und diese ErfUllung gipfelt in
der mathematischen Symbolisierung, in der sich die Naturwissenschaft
allgemeingültig formuliert. Die Zwischenv.relt der Sprache ist der Idee nach
ausgeklammert. Sofern sie als solche jetzt bewußt wird, zeigt sie sich als die
primäre Vermittc1theit allen Weltzugangs. Damit wird die Unüberschreit-
barkcit des sprachlichen Wcltschemas klar. Der Mythos des Sclbstbewußt-
seins, das in seiner apodiktischen Selbstgewißheit zum Ursprung und
Rechtfertigungsgrund aller Geltung erhoben worden war, und das Ideal der
Letztbegründung überhaupt, um das sich Apriorismus und Empirismus
streiten, verliert seine Glaubwürdigkeit angesichts der Priorität und Unhin-
tergehbarkeit des Systems der Sprache, in dem sich alles Bewußtsein und
alles Wissen artikuliert. Wir haben durch Nietzsehe den Zweifel an der
Begründung der Wahrheit in der Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins
gelernt. Wir haben durch Freud die erstaunlichen wissenschaftlichen Ent-
Text und Interpretation 339

deckungen kennen gelernt, die mit diesem Zweifel Ernst machten, und an
Heideggers grundsätzlielier Kritik am Begriff des Bewußtseins die begriffii-
ehen Voreingenommenheiten eingesehen, die aus der griechischen Logos-
Philosophie stammen und in moderner Wendung denBegriffdes Subjektes ins
Zentrum rückten. All das verleiht der >Sprachlichkeit( unserer Welterfahrung
den Primat. Die Zwischenwclt der Sprache erweist sich gegenüber denIllusio-
nen des Se1bstbewußtseins ebenso wie gegenü ber der N ai vität eines positivisti-
schen Tatsachenbegriffs als die eigentliche Dimension dessen, was gegeben ist.
Man versteht von da den Aufstieg des Begriffes der Interpretation. Das ist
ein Wort, das ursprünglich auf das Vermittlungsverhältnis, auf die Funktion
des Mittelsmanns zwischen Sprechern verschiedener Sprachen ging, d. h.
also auf den Übersetzer, und wurde dann von dort auf die Aufschließung
von schwerverständlichen Texten überhaupt übertragen. In dem Moment,
in dem sich die Zwischcnwelt der Sprache dem philosophischcnBewußtsein
in ihrer prädeterminierenden Bedeutung darstellte, mußte nun auch in der
Philosophie Interpretation eine Art Schlüsselstellung einnehmen. Die Kar-
riere des Wortes begann mit Nietzsche und wurde gleichsam zur Herausfor-
derung allen Positivismus. Gibt es das Gegebene, von dessen sicherem
Ausgangspunkte aus die Erkenntnis nach dem Allgemeinen, dem Gesetz,
der Regel sucht und darin ihre Erftillung findet? Ist das Gegebene nicht selbst
Resultat einer Interpretation? Interpretation ist es, was zwischen Mensch
und Welt die niemals vollendbare Vermittlung leistet, und insofern ist es die
einzig wirkliche Unmittelbarkeit und Gegebenheit, daß wir etwas als etwas
verstehen. Der Glaube an die Protokollsätze als das Fundament aller Er-
kenntnis hat auch im Wiener Kreis nicht lange gewährt. 92 Die Begründung
der Erkenntnis kann selbst im Bereich der Naturwissenschaften der herme-
neutischen Konsequenz nicht ausweichen, daß das sogenannte Gegebene
von der Interpretation nicht ablös bar ist. 93
Erst in deren Lichte wird etwas zu einer Tatsache und erweist sich eine
Beobachtung als aussagekräftig. Radikaler noch hat Heideggers Kritik den
Bewußtseinsbegriff der Phänomenologie und - ähnlich wie Scheler - den
Begriff der )reinen Wahrnehmung< als dogmatisch entlarvt. So wurde im
sogenannten Wahrnehmen selber das hermeneutische Etwas-als-etwas-Ver-
stehen aufgedeckt. Das aber heißt in letzter Konsequenz, daß Interpretation
nicht eine zusätzliche Prozedur des Erkennens ist, sondern die ursprüngliche
Struktur des )In-der-Welt-Seins< ausmacht.
Aber heißt das, daß Interpretation ein Einle,gcn von Sinn und nicht ein

92 {Moritz Schlick, Über das Fundament der Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze
1926-1936, Wien 1938, S. 290-295 und 300-309].
~3 [HierfUr wäre auf die neuerc Wissenschaftstheorie zu verweisen, auf die J. C. Weins-
helmer, Gadamer's Hermeneutics - A Reading of Truth and Method (Yale 1985), ein-
geht].
340 Weiterentwicklungen

Finden von Sinn ist' Das ist offenbar die durch Nictzsche gestellte Frage, die
über Rang und Reichweite der Hermeneutik wie über die Einwände ihrer
Gegner entscheidet. Jedenfalls ist fcstzuhalten, daß erst vom Begriff der
Interpretation aus der Begriff des Textes sich als ein Zentral begriff in der
Struktur der Sprachlichkeit konstituiert; das kennzeichnet ja den Begriff des
Textes, daß er sich nur im Zusammenhang der Interpretation und von ihr
aus als das eigentlich Gegebene, zu Verstehende darstellt. Das gilt selbst in
der dialogischen Verständigung, sofern man sich umstrittene Aussagen
wiederholen läßt und damit die Intention auf verbindliche Formulierung
verfolgt, ein Vorgang, der dann in der protokollarischen Fixierung kulmi-
niert. In ähnlichem Sinne fragt der Interpret eines Textes, was eigentlich
dasteht. Das mag immer eine noch so voreingenommene und vorurteilsvol-
le Beantwortung finden, sofern jeder, der so fragt, eine direkte Bestätigung
seiner eigenen Annahmen in Anspruch zu nehmen sucht. Aber in solcher
Berufung auf das, was dasteht, bleibt doch der Text der feste Bezugspunkt
gegenüber der Fragwürdigkeit, Beliebigkeit oder mindestens VieWiltigkeit
der Interprctationsmäglichkeiten, die sich auf den Text richten.
Das hat wiederum seine Bestätigung in der Wortgeschichte. Der Begriff
,Textj ist wesentlich in zwei Zusammenhängen in die modernen Sprachen
eingedrungen. Einerseits als der Text der Schrift, deren Auslegung in Pre-
digt und Kirchenlehre betrieben wird, so daß der Text die Grundlage für alle
Exegese darstellt, alle Exegese aber Glaubenswahrheiten voraussetzt. Der
andere natürliche Gebrauch des Wortes )Text( begegnet uns im Zusammen-
hang mit der Musik. Da ist es der Text für den Gesang, für die musikalische
Auslegung der Worte, und insofern auch dies nicht so sehr ein vorgegebenes,
als ein aus dem Vollzug des Gesanges Ausfallendes. Diese beiden natürlichen
Verwendungsweisen des Wortes Text \veisen - wohl beide - auf den Sprach-
gebrauch der spätantiken römischen Juristen zurück, die nach der justiniani-
schen Kodifizierung den Gesetzestext gegenüber der Strittigkeit seiner Aus-
legung und Anwendung auszeichnen. Von da hat das Wort überall dort
Verbreitung gefunden, wo etwas der Einordnung in die Erfahrung Wider-
stand leistet und wo der Rückgriff auf das vermeintlich Gegebene eine
Orientierung für das Verständnis geben soll.
Die metaphorische Rede von dem )Bueh der Natur< beruht auf dem
selben. 94 Das ist das Buch, dessen Text Gott mit seinem Finger geschrieben
hat und den der Forscher zu entziffern bzw. durch seine Auslegung lesbar
und verständlich zu machen berufen ist. So finden ",rir überall - und nur
dort, wo mit einer primären Sinn vermutung an eine Gegebenheit herange-
treten wird, die sich nicht widerstandslos in eine Sinnerwartung einftigt, den

94 rVgl. dazu E. Rothacker, Das >Buch der Natur<. Materialien und Grundsätzliches zur

Metapherngeschichte. Aus dem Nachlaß hrsg. von W. Perpeet. Bonn 19791.


Text und Interpretation 341

hermeneutischen Bezug auf den Textbegriff am Werk. Wie eng Text und
Interpretation ineinander verwoben sind, kommt vollends daran heraus,
daß auch ein überlieferter Text nicht immer das ftir die Interpretation Vorge-
gebene ist. Oft ist es ja die Interpretation, die zur kritischen Herstellung des
Textes fuhrt. Wenn man sich dieses innere Verhältnis von Interpretation und
Text klarmacht, erzielt man einen methodischen Gewinn.
Der methodische GeVv-inn, der sich aus diesen an der Sprache gemachten
Beobachtungen ergibt, liegt darin, daß >Text( hier als ein hermeneutischer
Begriff verstanden werden muß. Das will sagen, daß er nicht von der
Perspektive der Grammatik und der Linguistik her, d, h, nicht als das
Endprodukt gesehen wird, auf das hin die Analyse seiner Herstellung unter-
nommen wird, in der Absicht, den Mechanismus aufzuklären, kraft dessen
Sprache als solche funktioniert, im Absehen von allen Inhalten, die sie
vermittelt. Vom hermeneutischen Standpunkt aus - der der Standpunkt
jeden Lesers ist - ist der Text ein bloßes Zwischenprodukt, eine Phase im
Verständigungsgeschehen, die als solche gewiß auch eine bestimmte Ab-
straktion einschließt, nämlich die Isolierung und Fixierung eben dieser
Phase. Aber diese Abstraktion geht ganz in die umgekehrte Richtung als die
dem Linguisten vertraute. Der Linguist will nicht in die Verständigung über
die Sache eintreten, die in dem Text zur Sprache kommt, sondern in das
Funktionieren von Sprache als solcher Licht bringen, was immer auch der
Text sagen mag. Nicht, was da mitgeteilt wird, macht er zum Thema,
sondern wie es überhaupt möglich ist, etwas mitzuteilen, mit welchen
Mitteln der Zeichensetzung und Zeichengebung das vor sich geht.
Für die hermeneutische Betrachtung dagegen ist das Verständnis des
Gesagten das einzige, worauf es ankommt. Oaftir ist das Funktionieren von
Sprache eine bloße Vorbedingung. So ist als erstes vorausgesetzt, daß eine
Äußerung akustisch verständlich ist oder daß eine schriftliche Fixierung sich
entziffern läßt, damit das Verständnis des Gesagten oder im Text Gesagten
überhaupt möglich wird. Der Text muß lesbar sein.
Nun gibt uns dafür der Sprachgebrauch wiederum einen wichtigen Wink.
Wir reden auch in einem anspruchsvolleren Sinne von )Lesbarkeit{ eines
Textes, wenn wir damit eine unterste Qualifikation bei der Würdigung eines
Stils oder bei der Beurteilung einer Übersetzung aussprechen wollen. Das ist
natürlich eine übertragene Rede. Aber sie macht die Dinge. wie das so oft bei
Übertragungen der Fall ist, vollends klar. Ihre negative Entsprechung ist die
Unlesbarkeit, und das meint immer, daß der Text als schriftliche Außerung
seine Aufgabe nicht erfUllt, die darin besteht, ohne Anstoß verstanden zu
werden. Es bestätigt sich damit, daß wir immer schon auf das Verstehen des
im Text Gesagten vorausblicken. Erst von da aus gewahren und qualifizieren
wir überhaupt einen Text als lesbar.
Aus der philologischen Arbeit ist das als die Aufgabe, einen lesbaren Text
342 Weiterentwicklungen

heIzusteHen, wohl bekannt. Es ist aber klar, daß diese Aufgabe sich immer
nur so stellt, daß dabei schon von einem ge"\vissen Verständnis des Textes
ausgegangen wird. Nur wo der Text schon entziffert ist und der entzifferte
Text sich nicht anstandlos ins Verständliche umsetzen läßt, sondern Anstoß
gibt, fragt man danach, was eigentlich dasteht und ob die Lesung der
Überlieferung bzw. die gewählte Lesart richtig war. Die Textbehandlung
durch den Philologen, der einen lesbaren Text herstellt, entspricht also
vollkommen der nicht nur akustischen Auffassung, die bei direkter auditiver
ÜbermütJung vor sich geht. Wir sagen da, man habe gehört, \venn man
verstehen konnte. Entsprechend ist die Unsicherheit im akustischen Auffas-
sen einer mündlichen Botschaft \vie die Unsicherheit einer Lesart. In beiden
Fällen spielt eine Rückkoppelung hinein. Vorverständnis, Sinnerwartung
und damit allerhand Umstände, die nicht im Text als solchen liegen, spielen
ihre Rolle fUr die Auffassung des Textes. Das wird vollends deutlich, wenn
es sich um die Übersetzung aus fremden Sprachen handelt. Da ist die
Beherrschung der fremden Sprache eine bloße Vorbedingung. Wenn in
solchem Falle überhaupt von )Text( gesprochen wird, so ist es, weil er eben
nicht nur verstanden, sondern in eine andere Sprache übertragen werden
soll. Dadurch wird er zum) Text(, denn das Gesagte wird nicht einfach
verstanden, sondern es wird zum ,Gegenstande< - es steht gegen die Vielfalt
der Möglichkeiten, das Gemeinte in der }Zielsprache< wiederzugeben, und
darin liegt wiederum ein hermeneutischer Bezug. Jede Übersetzung, selbst
die sogenannte wörtliche Wiedergabe, ist eine Art Interpretation.
So läßt sich zusammenfassend sagen: Was der Linguist zum Thema macht,
indem er von der Verständigung über die Sache absieht, stellt rur die Ver-
ständigung selbst einen bloßen Grenzfall möglicher Beachtung dar. Was den
Verständigungs vollzug trägt, ist im Gegensatz zur Linguistik geradezu
Sprachvergessenheit, in die die Rede oder der Text formlieh eingehüllt ist.
Nur wenn dieselbe gestört ist, d. h. wo das Verständnis nicht gelingen will,
wird nach dem Wortlaut des Textes gefragt und kann die Erstellung des
Textes zu einer eigenen Aufgabe ,verden. Im Sprachgebrauch unterscheiden
wir zwar zwischen Wortlaut und Text, aber daß die beiden Bezeichnungen
immer auch fLir einander eintreten können, ist nicht zufallig. (Auch im
Griechischen geht Sprechen und Schreiben im Begriff der Grammatike zu-
sammen.) Die Ausdehnung des Textbegriffes ist vielmehr hermeneutisch
wohlbegründet. Ob mündlich oder schriftlich, in jedem Falle bleibt das
Textverständnis von kommunikativen Bedingungen abhängig, die als sol-
che über den bloßen fixierten Sinngehalt des Gesagten hinausreichen. Man
kann geradezu sagen: Daß man überhaupt auf den Wortlaut bzw. auf den
Text als solchen zurückgreift, muß immer durch die Besonderheit der
Verständigungssituation motiviert sein.
Das läßt sich am heutigen Sprachgebrauch des Wortes )Text< ebenso
Text und Interpretation 343

deutlich verfolgen, wie es sich an der Wortgeschichte des Wortes ITcxt<


zeigen ließ. Zweifellos gibt es eine Art Schwundstufe von Text, die wir
gewiß kaumje >Text< nennen werden, so etwa die eigenen Notizen, die sich
einer zur Stützung seines Gedächtnisses gemacht hat. Hier wird sich die
Textfrage nur dann stel1en, wenn die Erinnerung nicht gelingt, die Notiz
fremd und unverständlich ist und deshalb zum Rückgriff auf den Zeichenbe-
stand, also auf den Text nötigt. Im allgemeinen aber ist die Notiz kein Text,
weil sie als bloße Erinnerungsspur in der Wiederkehr des in der Aufzeich-
nung Gemeinten aufgeht.
Aber auch ein anderes Extrem der Verständigung motiviert im allgemeine
nicht die Rede von >Text<. Das ist et\-va die wissenschaftliche Mitteilung, die
von vornherein bestimmte Verständigungsbedingungen voraussetzt. Das
liegt in der Art ihrer Adresse. Sie meint den Fachmann. Wie es fur die Notiz
galt, daß sie nur für mich selbst ist, so ist die wissenschaftliche Mitteilung,
auch wenn sie veröffentlicht ist, nicht fur alle. Sie will nur verständhch sein
ftir den, der mit der Forschungslage und der Forscliungssprache wohlver-
traut ist. Wenn diese Bedingung erfüllt ist, wird der Partner im allgemeinen
nicht auf den Text als Text zurückkommen. Das wird er nur tun, \-venn ihm
die geäußerte Meinung allzu unglaubhaft erscheint und er sich fragen muß:
Liegt da nicht ein Mißverständnis vor? - Anders ist die Lage natürlich für den
Wissenschaftshistoriker, für den die gleichen wissenschaftlichen Zeugnisse
wirkliche Texte sind. Sie bedürfen der Interpretation, sofern der Interpret
hier nicht der getueinte Leser ist und den Abstand eigens überbrücken muß,
der zwischen ihm und dem ursprünglichen Leser besteht. Zwar ist der
Begriff des >ursprünglichen Lesers(, wie ich andernorts betont habe, 95 höchst
vage. Aber etwa im Fortgang der Forschung hat er seine Bestimmtheit. Aus
dem gleichen Grunde wird man im allgemeinen nicht von dem Text eines
Briefes sprechen, wenn man selber der Empfinger ist. Dann geht sozusagen
in die schriftliche Gesprächssituation bruchlos ein, falls sich nicht eine be-
sondere Störung im Verständnis einstellt und dazu nötigt, auf den genauen
Text zurückzugehen. Im schriftlichen Gespräch wird also im Grunde die
gleiche Grundbedingung in Anspruch genommen, die auch ftir den mündli-
chen Austausch gilt. Beide haben den guten Willen, einander zu verstehen,
So liegt überall, wo Verständigung gesucht wird, guter Wille vor. Die Frage
wird sein, wieweit diese Situation und ihre Implikationen auch gegeben
sind, wenn kein bestimmter Adressat oder Adressatenkreis gemeint ist,
sondern der namenlose Leser - oder eben, wenn nicht der gemeinte Adres-
sat, sondern ein Fremder einen Text verstehen will. Das Schreiben eines
Briefes ist wie eine andere Form des Gesprächsversuchs, und wie im un-
95 Vgl. vor allem Ges. Werke Bd. 1, S. 397ffund insbesondere S. 399, wo der Text mit

der Formulierung schließt: »Der Begriff des ursprünglichen Lesers steckt voller undurch-
schauter Idealisierung ('.
344 Weiterent"\vicklungel1

mittelbaren sprachlichen Kontakt oder in allen eingespidten pragmati-


schen Handlungssituationen wird nur die Stärung in der Verständigung
ein Interesse am genauen Wortlaut des Gesagten motivieren.
Jedenfalls versucht der Schreiber, wie der im Gespräch Befindliche, das
mitzuteilen, was er meint, und das schließt den Vorblick auf den anderen ein,
mit dem cr Voraussetzungen teilt und auf dessen Verständnis er zählt. Der
andere nimmt das Gesagte, wie es gemeint ist, d. h. er versteht dadurch, daß
er das Gesagte ergänzt und konkretisiert und nichts in seinem abstrakten
Sinngehalt wörtlich nimmt. Das ist auch der Grund, warum man in Briefen,
selbst wenn man sie an einen Partner richtet, mit dem man sehr vertraut ist,
dennoch gewisse Dinge nicht so sagen kann, wie in der Unmittelbarkeit der
Gesprächssituation. Da ist zu vieles, das wegfiele, was in der Unmittelbar-
keit des Gesprächs das rechte Verständnis mitträgt, und vor allem hat man
im Gespräch immer die Möglichkeit, auf Grund der Entgegnung zu ver-
deutlichen oder zu verteidigen, wie es gemeint war. Das ist durch den
sokratischen Dialog und die platonische Kritik an der Schriftlichkeit beson-
ders bekannt. Die Logoi, die sich aus der Verständigungs situation herausge-
löst darstellen, und das gilt natürlich ftir das Schriftliche insgesamt, sind dem
Mißbrauch und Mißverständnis ausgesetzt, weil sie der selbstverständlichen
Korrektur des lebendigen Gesprächs entbehren.
Hier drängt sich eine wesentliche Folgerung auf, die rur die hermeneu-
tische Theorie zentral ist. Wenn jede schriftliche Fixierung derart be-
schnitten ist, bedeutet das rur die Intention des Schreibens selber etwas.
Weil man als Schreiber um die Problematik aller schriftlichen Fixierung
weiß, ist man immer von dem Vorblick auf den Empfanger gesteuert, bei
dem man sinngemäßes Verständnis erzielen will. Wie es im lebendigen
Gespräch ist, wo man durch Rede und Gegenrede zur Verständigung zu
gelangen sucht, das heißt aber, die Worte sucht und mit Betonung und
Gestik begleitet, von denen man erwartet, daß sie den anderen erreichen,
so muß beim Schreiben, das kein Suchen und Finden der Worte mit-teilen
kann, gleichsam ein Auslegungs- und Verständnishorizont im Text selbst
geöffnet werden, den der Leser auszurullen hat. >Schreiben< ist mehr als
bloße Fixierung von Gesagtem. Zwar weist jede schriftliche Fixierung auf
das ursprünglich Gesagte zurück, aber sie muß ebenso nach vorwärts
blicken. Alles Gesagte ist auch immer schon auf Verständigung gerichtet
und enthält den anderen mit.
So reden wir etwa von dem Text des Protokolls, weil dieses von vorn-
herein als Dokument gemeint ist, und das heißt, daß auf das darin Fixierte
zurückgegriffen werden soll. Eben deshalb bedarf es der besonderen
Zeichnung und Unterzeichnung durch den Partner. Gleiches gilt von allen
Vertragsschließungen in Handel und Politik.
Wir sind damit zu einem zusammenfassenden Begriff gelangt, der aller
Text und Interpretation 345

Konstitution von Texten zugrundeliegt und zugleich ihre Einbettung in den


hermeneutischen Zusammenhang sich bar macht: Jeder Rückgang auf den
Text - ob es sich dabei um einen wirklichen, schriftlich fixierten Text handelt
oder um die bloße Wiederholung des im Gespräch Geäußerten, gilt gleich-
viel- meint die >Urkunde" das ursprünglich Gekündete oder Verkündete,
das als ein sinnhaft Identisches gelten soll, Was allen schriftlichen fixierun-
gen ihre Aufgabe vorschreibt, ist eben, daß diese ~Kunde( verstanden wer-
den soll. Der fixierte Text soll die ursprüngliche Kundgabe so fixieren, daß
ihr Sinn eindeutig verständlich wird, Hier entspricht der Aufgabe des
Schreibenden die Aufgabe des Lesenden, Adressaten, Interpreten, zu sol-
chem Verständnis zu gelangen, d. h. den fixierten Text wieder sprechen zu
lassen, Insofern bedeutet Lesen und Verstehen, daß die Kunde auf ihre
ursprüngliche Authentizität zurückgeführt wird, Die Aufgabe der Interpre-
tation stellt sich immer dann, wenn der Sinngehalt des Fixierten strittig ist
und es gilt, das richtige Verständnis der >Kunde< zu gewinnen. >Kunde< aber
ist nicht, was der Sprechende bzw, der Schreibende ursprünglich gesagt hat,
sondern was er hat sagen wollen, wenn ich sein ursprünglicher Gesprächs-
partner gewesen wäre. Das ist etwa fur die Interpretation von >Befehlen< als
hermeneutisches Problem bekannt, daß sie >sinngemäß( befolgt werden
sollen (und nichr wörtlich), Das liegt der Sache nach in der Feststellung, daß
ein Text nicht ein gegebener Gegenstand ist, sondern eine Phase im Vollzug
eines Verständigungsgeschehens.
Dieser allgemeine Sachverhalt läßt sich besonders gut an der juristischen
Kodifikation und entsprechend an der juristischen Hermeneutik illustrieren.
Nicht umsonst hat die juristische Hermeneutik eine Art Modellfunktion,
Hier ist die Überführung in die schriftliche Form und die beständige Beru-
fung auf den Text besonders naheliegend. Was als Recht gesetzt ist, dient ja
von vornherein der Schlichtung oder Vermeidung von Streit. Insofern ist
hier der Rückgang auf den Text immer motiviert, sowohl für die Rechtsu-
chenden, die Parteien, wie auch für den Rechtfindenden, Rechtsprechenden,
das Gericht. Die Formulierung von Gesetzen, von rechtsgültigen Verträgen
oder rechtsgültigen Entscheidungen ist eben deshalb besonders anspruchs-
voll, und ihre schriftliche Fixierung erst recht. Hier soll ein Beschluß oder
eine Übereinkunft so formuliert werden, daß der rechtliclie Sinn derselben
eindeutig aus dem Text hervorgeht und dem Mißbrauch oder der Verdre-
hung entzogen ist. Die >Dokumentation< verlangt gerade dies, daß eine
authentische Interpretation gelingen muß, auch wenn die Autoren selber,
die Gesetzgeber oder die Vertragspartner, nicht greifbar sind. Darin liegt,
daß die schriftliche Formulierung den Auslegungsspielraum von vornherein
mit bedenken muß, der rur den >Leser( des Textes entsteht, der denselben
anzuwenden hat. Hier geht es stets darum - ob bei der >Verkündigung< oder
der >Kodifikation<, gilt gleichviel-, Streit zu vermeiden, Mißverständnisse
346 Weiterentwicklungen

und Mißbrauch auszuschließen, eindeutiges Verständnis zu ermöglichen.


Gegenüber der bloßen Verkündigung des Gesetzes oder dem aktuellen Ab-
schluß des Vertrages will die schriftliche Fixierung lediglich eine zusätzliche
Absieherung schaffen. Darin liegt aber, daß auch hier ein Spielraum der
sinngemäßen Konkretisicrung bleibt, die rur die praktische Anwendung die
Interpretation zu leisten hat.
Daß sie wie ein Text ist, ob kodifiziert oder nicht, liegt in dem Gcltungs-
anspruch der Rechtssetzung. Das Gesetz wie die Satzung bedarf für die
praktische Anwendung stets der Interpretation, und das bedeutet umge-
kehrt, daß in jede praktische An\vcndung Interpretation bereits eingegangen
ist. Daher kommt der Judikatur, den PräzedenzfalIen oder der bisherigen
Handhabung stets eine rcchtsschäpfcrische Funktion zu. Insofern zeigt sich
am juristischen Beispic1 mit exemplarischer Deutlichkeit, wie sehr jede
Erstellung eines Textes aufInterpretation, und d. h. auf richtige, sinngemäße
Anwendung, voraus bezogen ist. Es ist festzuhalten, daß das hermeneutische
Problem zwischen mündlichem und schriftlichem Verfahren im Grunde das
gleiche ist. Man denke etwa an das Verhör von Zeugen. Dieselben sind in der
Regel in die Zusammenhänge der Untersuchung und die Anstrengung zur
Urteilsfindung nicht eingeweiht. So begegnet ihnen die ihnen gestellte Frage
mit der Abstraktheit des )Textes<, und die Antwort, die sie zu geben haben,
ist von derselben Art. Das bedeutet, sie ist wie eine schriftliche Äußerung.
Das kommt an der Unbefriedigung heraus, mit der die schriftliche Proto-
kollierung einer Aussage vom Zeugen selber aufgenommen wird. Er kann
das Gesagte zwar nicht abstreiten, möchte es aber auch nicht in solcher
Isolation stehen lassen und würde es am liebsten sofort noch selber interpre-
tieren. Dem trägt die Aufgabe der Fixierung, also die Protokollftihrung
insoweit Rechnung, daß bei der Wiedergabe des tatsächlich Gesagten das
Protokoll der Sinnintention des Sprechenden möglichst gerecht werden soll.
Umgekehrt zeigt sich an dem gegebenen Beispiel der Zeugenaussage, wie
das schriftliche Verfahren (bzw. die Komponente der Sehriftlichkeit im
Verfahren) auf die Gesprächsbehandlung rückwirkt. Der auf seine Zeugen-
aussage hin isolierte Zeuge ist sozusagen schon auf die schriftliche Festle-
gung der Untersuchungsergebnisse hin isoliert. Ahnliches gilt offenkundig
von solchen Fällen, in denen man sich etwa ein Versprechen oder einen
Befehl oder eine Frage schriftlich geben läßt: Auch dies enthält eine Isolie-
rung von der ursprünglichen kommunikativen Situation und muß in der Art
der schriftlichen Fixierung den ursprünglichen Sinn zum Ausdruck bringen.
Der Rückbezug auf die ursprüngliche Mitteilungssituation bleibt in allen
diesen Fällen offenkundig.
Das läßt sich auch durch zusätzliche Zeichensetzung tun, wie sie die
schriftliche Fixierung inzwischen gefunden hat, um das rechte Verständnis
zu erleichtern. So ist z. B. das Fragezeichen ein solcher Hinweis auf die Art,
Text und Interpretation 347

wie ein schriftlich fixierter Satz eigentlich artikuliert werden muß. Der
treffliche spanische Brauch, den Fragesatz durch zwei Fragezeichen einzu-
rahmen, macht diese Grundabsicht in überzeugender Weise sichtbar: Schon
beim Beginn des Lesens weiß man dadurch, wie man die betreffende Phrase
zu artikulieren hat. Die Entbehrlichkeit solcher Interpunktionshilfen, die es
in vielen alten Kulturen überhaupt nicht gab, bestätigt andererseits, wie
allein durch den fixierten Text Verständnis immerhin möglich ist. Die bloße
Aneinanderreihung der Schriftzeichen ohne Interpunktion stellt gleichsam
die kommunikative Abstraktion im Extrem dar.
Nun gibt es ohne Zweifel viele Formen des kommunikativen sprachlichen
Verhaltens, die dieser Finalität zu unterwerfen nicht möglich ist. Das sind
insofern Texte, als man sie selbstverständlich als Texte ansehen kann, wenn
sie von ihrem Adressaten abgelöst begegnen - etwa in literarischer Darstel-
lung. Aber im kommunikativen Geschehen selber setzen sie der Textierung
Widerstand entgegen. Ich möchte drei Formen derselben unterscheiden, um
auf ihrem Hintergrunde den in eminenter Weise der Textierung zugängli-
chen, nein: in Textgestalt seine eigentliche Bestimmung erfüllenden Text zur
Abhebung zu bringen. Diese drei Formen sind die Antitexte, die Pseudotexte
und die Pratexte. Als Antitexte bezeichne ich solche Formen des Redens, die
sich der Textierung widersetzen, weil in ihnen die Vollzugs situation des
Miteinandersprechens dominant ist. Dazu gehört z. B. jede Art von Scherz.
Daß wir etwas nicht ernst meinen und erwarten, daß es als Scherz verstanden
wird, hat sicherlich im Kommunkationsgeschehen seinen Ort und findet
dort auch seine Signalisierung: Im Tonfall oder in der begleitenden Gestik
oder in der gesellschaftlichen Situation oder wie immer. Es ist aber deutlich,
daß es nicht möglich ist, eine solche scherzhafte Bemerkung des Augen-
blicks zu wiederholen. - Ähnliches gilt von einer anderen, geradezu klassi-
schen Form gegenseitiger Verständigung, nämlich der Ironie. I-lier ist die
klare gesellschaftliche Voraussetzung die gemeinsame Vorverständigung,
die der Gebrauch von Ironie voraussetzt. Wer das Gegenteil dessen sagt, was
er meint, aber sicher sein kann, daß das Gemeinte dabei verstanden wird,
befindet sich in einer funktionierenden Verständigungssituation. Wieweit
solche >Verstellung<, die keine ist, auch auf schriftlichem Wege möglich ist,
hängt von dem Grade der kommunikativen Vorverständigung und des
beherrschenden Einverständnisses ab. So kennen wir den Gebrauch der
Ironie z. B. in der früheren aristokratischen Gesellschaft, und dort gewiß
auch bruchlos im Übergang in die Schriftlichkeit. In diesen Zusammenhang
gehört auch der Gebrauch von klassischen Zitaten, oft in verballhornter
Form. Auch damit wird auf eine gesellschaftliche Solidarität, in diesem Falle
die überlegene Beherrschung VOn Bildungsvoraussetzungen, also auf ein
Klasseninteresse und seine Bestätigung, abgezielt. Wo aber die Verhältnisse
dieser Verständigungsbedingungen nicht ebenso k1ar sind, ist die Übertra-
348 Weiterentwicklungen

gung in die fixierte Schriftform bereits problematisch. So stellt der Ge-


brauch der Ironie oft eine außerordentlich schwierige hermeneutische Auf-
gabe, und die Annahme, daß es sich um Ironie handelt, ist schwer zu
rechtfertigen. Nicht mit Unrecht hat man gesagt, etwas als ironisch auffas-
sen ist oft nichts anderes als eine Verzweiflungstat des Interpreten. Im
Umgang ist es dagegen ein eklatanter Bruch des Einverständnisses, \vcnn
der Gebrauch von Ironie nicht verstanden wird. Es wird eben ein tragendes
Einverständnis vorausgesetzt, wo immer Scherz oder Ironie möglich sein
soll. Daher kann die Verständigung zwischen Menschen kaum dadurch
wieder hergestellt werden, daß jemand seine ironische Ausdrucksweise in
unmißverständliche Formulierung umprägen soll. Wenn das auch möglich
ist, bleibt der so eindeutig gemachte Sinn der Aussage hinter demkommuni-
kativen Sinn der ironischen Rede allzu weit zurück.
Den zweiten Typus von textwidrigen Texten nalll1te ich die Pseudotexte.
Damit meine ich Redegebrauch und auch Schriftgebrauch, der Elemente in
sich aufgenommen hat, die gar nicht wirklich zur Sinnübermittlung gehö-
ren, sondern so etwas wie ein Füllmaterial ftir rhetorische Überbrückungen
des Redeflusses darstellen. Der Anteil der Rhetorik läßt sich geradezu da-
durch definieren, daß er an der Rede das ist, was nicht den Sachgehalt der
Äußerungen darstellt, also den Sinngehalt, der in den Text überftihrbar ist,
sondern was die rein funktionale und rituale Funktion des Redeaustausches
in mündlicher bzw. in schriftlicher Form hat. Es ist sozusagen der bedeu-
tungsentleerte Sprachbestandteil, den ich hier als Pseudotext behandle. Je-
dermann kennt dieses Phänomen etwa an der Schwierigkeit, die selbstver-
ständlichen Füllmaterialien der Rede beim Übertragen eines Textes in eine
andere Sprache zu erkennen und angemessen zu behandeln. Der Übersetzer
vermutet in diesem Füllmaterial authentischen Sinn und zerstört durch die
Wiedergabe den eigentlichen Mitteilungsfluß des ihm zur Übersetzung
übergebenen Textes. Das ist eine Schwierigkeit, der jeder Übersetzer ausge-
setzt ist. Das soll nicht bestreiten, daß sich das Äquivalent ftir solches
Füllmaterial gewiß finden ließe, aber die Übersetzungsaufgabe meint in
Wahrheit nur das Sinnhaltige des Textes allein, und deswegen besteht in der
Erkenntnis und Ausmerzung solchen Füllmaterials von Leerstellen die wah-
re Aufgabe des sinnvollen Übersetzens. Im Vorausblick ist hier freilich
anzumelden, daß dies for alle Texte von wahrhafi literarischer Qualität, die ich
eminente Texte nnme, wie wir sie kennenlemen werden, ganz anders ist. Eben
darauf beruht die Grenze der Übersetzbarkeit literarischer Texte, die sich in
den verschiedensten Abstufungen zeigt,
Als dritte Form textwidriger Texte habe ich die Prätexte im Auge, So
nenne ich alle solche kommunikativen Äußerungen, deren Verständnis sich
nicht in der Sinnübermittlung, die in ihnen intendiert ist, erfuHt, sondern in
denen etwas Maskiertes zum Ausdruck kommt. Prätexte sind also so1che
Text und Interpretation 349
Texte, die wir auf etwas hin interpretieren, was sie gerade nicht meinen.
Das, was sie meinen, ist ein bloßer Vorwand, hinter dem sich der )Sinn<
verbirgt, und damit stellt sich die Interpretationsaufgabe, den Vorwand zu
durchschauen und das wahrhaft darin zum Ausdruck Kommende zu ermit-
teln.
Solche Texte liegen etwa in der öffentlichen Meinungsbildung vor, die
ideologischen Einschlag zeigt. Der Begriff der Ideologie will gerade das
sagen, daß hier nicht eine wirkliche Mitteilung verbreitet wird, sondern ein
dahinterstehendes Interesse, dem sie als Vorwand dient. Die Ideologie-
Kritik betreibt daher eine Zurückführung des Gesagten auf maskierte Inter-
essen, z. B. die Interessen der bürgerlichen Klasse im kapitalistischen Inter-
essenkampf. Ebenso dürfte wohl auch die ideologie-kritische Haltung selber
als eine ideologische kritisierbar sein, sofern sie etwa antibürgerliche, oder
was immer es sei, Interessen vertritt und damit ihre eigene Vorwandhaftig-
keit maskiert. Man wird als die gemeinsame Motivation des Rückgangs auf
ein darunter liegendes Interesse den Bruch des Einverständnisses ansehen
dürfen, das, was Habermas die Kommunikationsverzerrung nennt. Verzerr-
te Kommunikation zeigt sich also ebenfalls als eine Stärung möglichen
Einverständnisses und möglicher Verständigung und motiviert dadurch den
Rückgang auf den wahren Sinn. Das ist wie eine Entschlüsselung.
Ein anderes Beispiel solcher Interpretation als Hintergehung des Vor-
wandhaften stellt die Rolle dar, welche der Traum in der modemen Tiefen-
psychologie einnimmt. Die Erfahrungen des Traumlebens sind ja in der Tat
inkonsistent. Die Logik des Erfahrungslebens ist weitgehend außer Kraft.
Das schließt nicht aus, daß von der Überraschungslogik des Traumlebens
auch ein unmittelbarer Sinnreiz ausgehen kann, der ganz der der Unlogik
des Märchens vergleichbar ist. In der Tat hat sich die erzählende Literatur des
Genres des Traums wie der des Märchens bemächtigt, z. B. in der deutschen
Romantik. Aber es ist eine ästhetische Qualität, die im Spiel der Traum-
phantasie in dieser Weise genossen wird und natürlich eine literarästhetische
Interpretation erfahren kann. Dagegen wird das gleiche Phänomen des
Traumes Gegenstand einer ganz andersartigen Interpretation, wenn man
hinter den Fragmenten der Traumerinnerung einen wahren Sinn zu enthül-
len sucht, der sich in den Traumphantasien nur maskiert und der Entschlüs-
selung fähig ist. Das macht die ungeheuere Bedeutung der Traumerinne-
rung in der psycho-analytischcn Behandlung aus. Mit der Hilfe der Traum-
deutung gelingt es der Analyse, ein assoziatives Gespräch in Gang zu brin-
gen, damit Blockaden aufzuheben und am Ende den Patienten von seiner
Neurose zu befreien. Bekanntlich durchläuft dieser Prozeß der sogenannten
Analyse komplizierte Stadien der Rekonstruktion des ursprünglichen
Traumtextes und seiner Deutung. Es ist zwar ein ganz anderer Sinn als der
vom Träumer >gemeinte< oder ehedem von den Traumdeutern herausgelese-
350 Weiterentwicklungen

ne, die das Beunruhigende der Traumerfahrung durch ihre Deutung auflö-
sten. Vielmehr ist es die totale Gestörtheit des auf Einverständnis beruhen-
den Verständigungsgeschehens, die wir Neurose nennen, die den Rückgang
hinter das )Gemeintc{ und die Interpretation des Vorwandes Inotiviert.
Auch die außer halb der spezifischen neurotischen Störung bekannte Psy-
chopathologie des Alltagslebens ist von der gleichen Struktur. Da werden
Fehlhandlungen durch Rückgang auf unbewußte Regungen zu plötzlicher
Verständlichkeit gebracht. Hier wiederholt sich die Motivation des Rück-
ganges auf das Unbc\vußte wiederum aus der Inkonsistenz, cl. h. der Unbe-
greiflichkeit der Fehlhandlung. Durch die Aufklärung wird dieselbe begreif-
lich und verliert das Irritierende, das sie an sich hat.
Der Zusammenhang zwischen Text und Interpretation, der das Thema
dieser Studie darstellt, zeigt sich also hier in einer besonderen Form, die
Ricoeur die Hermeneutik des Mißtrauens (hermeneutics oJ suspicion) nennt. Es
ist ein Irrtum, diese Fälle verzerrter Verständlichkeit als den Normalfalldes
Textverstehens zu privilegieren. 96
Nun gilt diese ganze bisherige Betrachtung dem Ziel zu zeigen, daß der
Zusammenhang zwischen Text und Interpretation sich grundsätzlich än-
dert, wenn es sich um sogenannte >literarische Texte< handelt. In allen
bisherigen Fällen, in denen sich die Motivation zur Interpretation ergab und
sich etwas im kommunikativen Prozeß als Text konstituierte, war die Inter-
pretation, wie der sogenannte Text selber, in das Geschehen der Verständi-
gung eingeordnet. Das entsprach dem wörtlichen Sinne des Ausdrucks inter-
pres, der den meint, der dazwischenredet und daher zunächst die Urfunktion
des Dolmetschers, der zwischen Sprechern verschiedener Sprachen steht
und durch sein Dazwischenreden die Getrennten zusammenbringt. Wie in
solchem Falle die Barriere der fremden Sprache überwunden wird, so bedarf
es dessen auch, wenn in der gleichen Sprache Störungen bei der Verständi-
gung auftreten, wobei die Identität der Aussage im Rückgang auf sie, und
das heißt potentiell in ihrer Behandlung als Text, begegnet.
Das Befremdende, das einen Text unverständlich macht, soll durch den
Interpreten aufgehoben werden. Der Interpret redet dazwischen, wenn der
Text (die Rede) seine Bestimmung, gehört und verstanden zu werden, nicht
zu erftillen vermag. Der Interpret hat keine andere Funktion als die, in der
Erzielung der Verständigung ganz zu verschwinden. Die Rede des Interpre-
ten ist daher nicht ein Text, sondern dient einem Text. Das heißt aber nicht,
daß der Beitrag des Interpreten in der Weise, den Text zu hören, ganz
verschwunden wäre. Er ist nur nicht thematisch, nicht als Text gegen-
ständlich, sondern in den Text eingegangen. Damit wird das Verhältnis
von Text und Interpretation in größter Allgemeinheit charakterisiert.
% [Vgl. inz"\vischcn vom Verf.: The Hermeneutics oE Suspicion, in: Hermeneutics,

Questions and Prospects (ed. G. Shapiro and A. Sica), Amherst 1984, S. 54-65.1
Text und Interpretation 351

Denn hier kommt ein hermeneutisches Strukturmoment zutage, das eige-


ne Hervorhebung verdient. Dieses Dazwischenreden hat selber Dialog-
struktur. Der Dolmetscher, der zwischen zwei Parteien vernüttclt, wird
gar nicht anders können, als seine Distanz gegenüber den beiden Positio-
nen wie eine Art Überlegenheit über die beiderseitige Befangenheit zu
erfahren. Seine Mithilfe bei der Verständigung beschränkt sich daher nicht
auf die rein hnguistische Ebene, sondern geht immer in eine sachliche
Vermittlung über, die Recht und Grenzen der beiden Parteien miteinander
zum Ausgleich zu bringen versucht. Der )Dazwischenredende( wird zum
>Unterhändler<. Nun scheint mir ein analoges Verhältnis auch zwischen
dem Text und dem Leser zu bestehen. Wenn der Interpret das Befremdli-
che in einem Text übervvindet und damit dem Leser ZUlU Verständnis des
Textes verhilft, bedeutet sein eigenes Zurücktreten nicht Verschwinden
im negativen Sinne, sondern sein Eingehen in die Kommunikation, so
daß die Spannung zwischen dem Horizont des Textes und dem Horizont
des Lesers aufgelöst wird - was ich Horizontvef5chmelzun2 genannt habe.
Die getrennten Horizonte wie die verschiedenen Standpunkte gehen in-
einander auf. Das Verständnis eines Textes tendiert daher dahin, den Leser
Hir das einzunehmen, was der Text sagt, der eben damit selber ver-
schwindet.
Aber da gibt es die Literatur: Texte, die nicht verschwinden, sondern
allem Verstehen gegenüber mit normativem Anspruch dastehen und allem
neuen Sprechenlassen des Textes bevorstehen. Was ist ihre Auszeichnung?
Was besagt es ftir die Zwischenrede des Interpreten, daß Texte so )da( sein
können?97
Meine These ist: Sie sind immer erst im Zurückkommen auf sie eigent-
lich da. Das heißt aber, daß sie in ursprünglichem und eigentlichem Sinne
Text sind, Worte, die erst im Zurückkommen auf sie eigentlich )da( sind,
erftillen den wahren Sinn von Texten sozusagen aus sich seIher: sie spre-
chen. Literarische Texte sind solche Texte, die man heim Lesen laut hören
muß, wenn auch vielleicht nur im inneren Ohr, und die man, wenn sie
rezitiert werden, nicht nur hört, sondern innerlich mitspricht. Sie gewin-
nen ihr wahres Dasein im Auswendigkönnen, par coeur. Dann leben sie im
Gedächtnis, des Rhapsoden, des Choreuten, des lyrischen Sängers. Wie in
die Seele geschrieben, sind sie auf dem Wege zur Schriftlichkeit, und da-
her ist es gar nicht überraschend, daß man in Lesekulturen solche ausge-
zeichneten Texte )Literatur< nennt.
Ein literarischer Text ist nicht nur die Fixierung vollzogener Rede. Er
verweist gar nicht auf ein schon gesprochenes Wort zurück. Das hat herme-

97 rVgl. hierzu vor allem die in Ges. Werke Bd. 8 gesammelten Abhandlungen zur
Literaturtheorie].
352 Weiterentwicklungen

neutische Konsequenzen. Die Interpretation ist da nicht mehr ein bloßes


Mittel zur Wiedervermittlung einer ursprünglichen Äußerung. Der literari-
sche Text ist gerade dadurch in einem besonderen Grade Text, daß er nicht
auf eine ursprüngliche Sprachhandlung zurückweist, sondern seinerseits alle
Wiederholungen und Sprachhandlungen vorschreibt; kein Sprechen kann je
die Vorschrift ganz erflillen, die ein dichterischer Text darstellt. Derselbe übt
eine normative Funktion aus, die weder auf eine ursprüngliche Rede noch
auf die Intention des Redenden zurückweist, sondern die in ihm sc1bst
entspringt, etwa im Glück des Gelingens eines Gedichtes selbst noch den
Dichter überraschend und übertreffend.
Nicht umsonst hat das Wort )Literatuf( einen wertenden Sinn erhalten, so
daß Zugehörigkeit zur Literatur eine Auszeichnung darstellt. Ein Text sol-
cher Art stellt nicht die bloße fixierung von Rede dar, sondern besitzt seine
eigene Authentizität. Wenn es sonst den Charakter von Rede ausmacht, daß
der Zuhörende gleichsam durch sie hindurchhört und ganz auf das gerichtet
ist, was ihm clie Rede mitteilt, kommt hier die Sprache selber in eigentümli-
cher Weise zur Erscheinung.
Es ist nicht leicht, diese Selbstpräsentation des Wortes richtig zu fassen.
Selbstverständlich behalten Worte auch im literarischen Text ihre Bedeutung
und tragen den Sinn der Rede, die etwas meint. Es gehört notv.rendig zu der
Qualität eines literarischen Textes, daß er diesen Primat des Sachgehaltes,
der allem Reden zukommt, nicht antastet, ja sogar umgekehrt, ihn so sehr
steigert, daß der Wirklichkeits bezug seiner Aussage suspendiert wird. An-
dererseits darf das Wie des Gesagtseins sich nicht vordrängen. Sonst spre-
chen wir nicht von Kunst des Wortes, sondern von Künstlichkcit, nicht von
einem Ton, der wie eine Sangart vorschreibt, sondern von poetisierender
Imitation, bzw. wir sprechen nicht von einem Stil, dessen unverwechselbare
Qualität wir bewundern, sondern VOn einer Manier, die sich störend fühlbar
macht. Trotzdem verlangt ein literarischer Text, daß er in seiner sprachli-
chen Erscheinung präsent wird und nicht nur seine Mitteilungsfunktion
ausübt. Er muß nicht nur gelesen, er muß auch gehört werden - wenn auch
meist nur im inneren Ohr.
So gewinnt das Wort im literarischen Text erst seine volle Selbstpriisettz. Es
macht nicht nur Gesagtes präsent, sondern auch sich selbst in seiner erschei-
nenden Klangwirklichkeit. So wie der Stil als ein wirksamer Faktor den
guten Text mit ausmacht und doch nicht als ein Stilkunststück nach vorn
drängt, so ist auch die Klangwirklichkeit der Worte und der Rede mit der
Sinnmitteilung unlösbar verbunden. Aber wenn sonst Rede durch das Vor-
laufen auf den Sinn bestimmt wird, so daß wir über ihre Erscheinung
hinweg ganz auf den mitgeteilten Sinn hinhören und hinlcscn, hat beim
literarischen Text die Selbsterscheinung eines jeden Wortes in seiner Klang-
Iichkeit und hat die Klangmclodie der Rede gerade auch flir das durch die
Text und Interpretation 353

Worte Gesagte ihre Bedeutung. Es entsteht eine eigentümliche Spannung


zwischen der Sinnrichtung der Rede und der Selbstpräsentation ihrer Er-
scheinung. Jedes der Glieder der Rede, jedes einzelne Wort, das sich der
Sinneinheit des Satzes einordnet, steHt selbst eine Art Sinneinheit dar, sofern
es durch seine Bedeutung etwas Gemeintes evoziert. Sofern es dabei sich in
seiner eigenen Einheit ausspielt und nicht nur als Mittel ftir den zu erratenden
Redesinn wirkt, läßt es die Sinnvielfalt seiner eigenen Nennkraft Zur Entfal-
tung kommen. So spricht man dann von den Konnotationen, die mitspre-
chen, wenn in einem literarischen Text ein Wort in seiner Bedeutung er-
scheint.
Dabei ist das Einzehvort als Träger seiner Bedeutung und als Mitträger
des Redesinnes nur ein abstraktes Moment der Rede. Alles muß im größeren
Ganzen der Syntax gesehen werden. Freilich ist das im literarischen Text eine
Syntax, die nicht unbedingt und nicht allein die der üblichen Grammatik ist.
Wie der Redner syntaktische Freiheiten genießt, die der Hörer ihm deshalb
einräumt, weil er mit all den Modulationen und Gestikulationen des Sprech-
ers mitgeht, besitzt auch der dichterische Text - bei allen Abstufungen, die cr
zeigt - seine eigenen Freiheiten. Sie werden der Klangwirklichkeit einge-
räumt, die dem Ganzen des Textes zu verstärkter Sinnkraft verhilft. Gewiß
gilt es schon im Bereich der gewöhnlichen Prosa, daß eine Rede keine
~Schrcibe( ist und ein Vortrag keine Vorlesung, d. h. kein )paperc Doch ftir
Literatur im enünenten Sinne des Wortes gilt das noch mehr. Sie überwindet
die Abstraktheit des Geschriebenseins nicht nur so, daß der Text lesbar ist,
und d. h., in seinem Sinn verständlich. Ein literarischer Text besitztviclmehr
einen eigenen Status. Seine sprachliche Präsenz als Text fordert Wiederho-
lung des originalen Wortlauts, aber so, daß sie nicht auf ein ursprüngliches
Sprechen zurückgreift, sondern auf ein neues, idea1es Sprechen voraus-
blickt. Das Geflecht der Sinnbezüge erschöpft sich nie ganz in den Relatio-
nen, die zwischen den Hauptbedeutungen der Worte bestehen. Gerade die
mitspielenden Bedeutungsrelationen, die in die Sinnteleologie nicht einge-
bunden sind, geben dem literarischen Satz sein Volumen. Gewiß kälnen sie
nicht zur Erscheinung, wenn das Ganze der Rede nicht sozusagen an sich
hielte, zum Verweilen einlüde und den Leser oder Hörer anhielte, immer
hörender zu werden. Dieses Hörendwerden bleibt aber trotzdem, wie jedes
Hören, ein Hören auf etwas, das das Gehörte als die Sinngestalt einer Rede
auffaßt.
Es ist schwierig zu sagen, was hier Ursache und was Wirkung ist: Ist es
dieser Gewinn an Volumen, der seine Mitteilungsfunktion und seine Refe-
renz suspendiert und ihn zu einem literarischen Text macht? Oder ist es
umgekehrt so, daß die Durchstreichung der Wirklichkeitssetzung, die einen
Text als Dichtung charakterisiert, und d. h. als Selbsterscheinung von Spra-
che, die SinnfLille der Rede erst in ihrem ganzen Volumen hervorkommen
354 Weiteren twi ckl ungen

l~ßt? Beides ist offenbar untrennbar, und es v·:ird vonljeweiligen Anteil der
Spracherscheinung am Sinnganzen abhängen, wie sich die Anteile bemes-
sen, die den Raum von der Kunstprosa bis zur Poesie pure in verschiedener
Weise ausftilIen.
Wie kompliziert die Fügung der Rede zur Einheit und die Einfügung ihrer
Bausteine, d. h. der Worte, ist, wird am Extrem deutlich. Z. B. wenn sich
das Wort in seiner Polyvalenz zum selbständigen Sinnträger aufspreizt. So
etwas nennen wir ein J;J/ortspiel. Nun ist nicht zu leugnen: Oft nur als
Redesehmuck gebraucht, der den Geist des Sprechers glänzen läßt, aber der
Sinnintention der Rede völlig untergeordnet bleibt, kann das Wortspiel sich
zur Selbständigkeit aufsteigern. Das hat dann die Folge, daß die Sinninten-
tion der Rede als ganzer plötzlich ihre Eindeutigkeit verliert. Hinter der
Einheit der Klangerscheinung leuchtet dann die verborgene Einheit ver-
schiedenartiger, ja entgegengesetzter Bedeutungen auf. Hegel hat in sol-
chem Zusammenhang von dem dialektischen Instinkt der Sprache gespro-
chen, und Heraklit hat im Wortspiel einen der vorzüglichsten Zeugen seiner
Grundeinsicht erkannt, daß das Entgegengesetzte in Wahrheit ein und das-
selbe ist. Aber das ist philosophische Redeweise. Es handelt sich da um
Brechungen des natürlichen Bedeutungszuges von Rede, die rur das philo-
sophische Denken gerade deshalb produktiv sind, weil die Sprache auf diese
Weise genötigt wird, ihre unmittelbare Objektbedeutung aufzugeben und
gedanklichen Spiegelungen zur Erscheinung zu verhelfen. Wortspielhafte
Mehrdeutigkeiten stellen die dichteste Erscheinungsform des Spekulativen
dar, das sich in einander widersprechenden Urteilen expliziert. Die Dialek-
tik ist die Darstellung des Spekulativen, wie Hegel sagt.
Für den literarischen Text ist die Sache aber anders, und eben aus diesem
Grunde. Die Funktion des Wortspiels verträgt sich gerade nicht mit der
vielsagenden Vielstelligkeit des dichterischen Wortes. Die Mitbedeutungen,
die mit einer Hauptbedeutung mitschwingen, geben der Sprache zwar ihr
literarisches Volumen, aber dadurch, daß sie sich der Sinneinheit der Rede
unterordnen und andere Bedeutungen nur anklingen lassen, Wortspiele sind
nicht einfache Spiele der Vielstelligkeit oder Polyvalenz von Worten, aus der
die dichterische Rede sich bildet - in ihnen spielen sich vielmehr selbständige
Sinneinheiten gegeneinander aus. So zersprengt das Wortspiel die Einheit
der Rede und verlangt, in einem höheren reflektierten Sinnbezug verstanden
zu werden. Daher wird man selbst im Gebrauch von Wortspielen und
Wortwitzen, wenn sie sich zu sehr jagen, irritiert, weil sie die Einheit der
Rede zersetzen. Vollends wird sich in einem Lied oder einem lyrischen
Gedichte, also überall, \\'o die melodische Figuration der Sprache vorwiegt,
der Sprengsatz des Wortspieles schwerlich als wirksam erweisen. Natürlich
ist es etwas anderes im Falle der dramatischen Rede, wo das Gegeneinander
die Szene beherrscht. Man denke an die Stichomythie oder an die Selbstzer-
Text und Interpretation 355

störung des Helden, die sich im Wortspiel mit dem eigenen Namen bekun-
det. 9 /l Wieder anders ist es, wo dichterische Rede weder den fluß des Erzäh-
lens noch das Strömen des Gesanges noch dramatische Darstellung bildet,
sondern sich bewußt im Spiel der Reflexion ergeht, zu deren Spiegelungs-
spielen das Aufsprengen von Redeerwartungen geradezu gehört. So kann in
sehr reflektierter Lyrik das Wortspiel eine produktive Funktion überneh-
men. Man denke etwa an die hermetische Lyrik von Paul Celan. Doch muß
man sich auch hier fragen, ob sich nicht der Weg solcher reflexiven Aufla-
dung von Worten am Ende im Ungangbaren verlieren muß. Es fallt doch
auf, daß etwa Mal1arme Wortspiele vvohl in Prosaentwürfen, wie in IRitur,
verwendet, aber wo es sich um den vollen Klangkörper dichterischer Gebil-
de handelt, kaum mit den Worten spielt. Die Verse von Salut sind gewiß
vielschichtig und erfullen Sinnerwartung auf so verschiedenen Ebenen wie
der eines Trinkspruchs und einer Lebensbilanz, zvvischen dem Schaum des
Champagners im Glase und der Wellenspur schwebend, die das Lebensschiff
zieht. Aber beide Sinndimensionen lassen sich in der gleichen Einheit von
Rede als die gleiche melodische Sprachgebärde vollziehen. 99
Eine ähnliche Betrachtung hat auch der .j\1etapher zu gelten. Sie ist im
Gedicht so sehr in das Spiel der Klänge, Wortsinne und Redesinn cingebun-
98 [Vgl. M. Warburg, Zwei Fragen zum )Kratylosc (Neue philologische Untersuchun-
gen 5) Berlin1929.]
99 {Das Sonett von Mallarme, dem ich eine kunstlose deutsche Parapharase zur Seite

stelle, lamet:
Salut Gruß
Rien, cette ecume, vierge vers Nichts, dieser Schaum, unschuldiger Vers
A ne designer gue la coupe; Grad nur den Rand des Kelches zu zeichnen;
TeIle loin se noie une troupe In weiter Ferne taucht eine Schar
De sin::nes maintc .1l'envers. Von Sirenen, meist abgewandt.
Nous naviguons, ö mes divers Wir fahren dahin, meine so ungleichcn
Amis, moi dej.1 sm la poupe Freunde - ich schon am Heck
Vous l' avant fastueux gui coupe Ihr vom am stolzen Bug, der schneidet
Le flot de foudres et d'hivers; Die Flut der Schläge und der Stürme.
Une ivresse belle m 'engage Eine schöne Berauschtheit läßt mich
Sans craindre meme son tangage Ohne selbst ihr Schwanken zu scheuen
De porter debout ce salm Stehend zu entbieten als Gruß
Solitude, fC!cif, etoile Einsamkeit, Klippe, Stern
A n'importe cc gui valut Mag sein was immer es sei
Le blanc souci de notre toile. Wohin der Sorge blankes Segel uns fuhrt.
P. Forget, der Herausgeber von Text und Interpretation, München 1984, zitiert S. 50 dazu
U.Japp, Hermeneutik, München 1977, S.80ff. Dort sind drei Ebenen geschieden (in
Anlehnung an Rastier); da wird die )gesättigte Analyse( auf die Spitze getrieben, salut nicht
mehr als Gruß, sondern auch als Rettung verstanden (r€eiß!) und die weiße Sorge als Papier,
was nirgends im Text begegnet, auch nicht im selbstbezüglichen vierge vers. Das ist
Methode ohne Wahrheit.]
356 Weiterentwicklungen

den, daß sie als Metapher gar nicht zur Abhebung kommt. Denn hier fehlt
die Prosa der gewöhnlichen Rede überhaupt. Selbst in dicherischer Prosa hat
daher die Metapher kaum eine Funktion. Sie verschwindet gleichsam in der
Weckung der geistigen Anschauung, der sie dient. Das eigentliche Herr-
schafts gebiet der Metapher ist vielmehr die Rhetorik. In ihr genießt man die
Metapher als Metapher. In der Poetik verdient die Theorie der Metapher so
wenig einen Ehrenplatz, wie die des Wortspiels.
Der Exkurs lehrt, wie vielschichtig und wie differenziert das Zusammen-
spiel von Laut und Sinn in Rede wie in Schrift ist, wenn es sich um Literatur
handelt. Man fragt sich, wie überhaupt die Zwischenrede des Interpreten in
den Vollzug dichterischer Texte zurückgenommen werden kann. Die Beant-
wartung dieser Frage kann nur eine sehr radikale sein. Im Unterschied zu
anderen Texten ist der literarische Text nicht von dem Dazwischenreden des
Interpreten unterbrochen, sondern von seinem beständigen A1itreden beglei-
tet. Das läßt sich an der Struktur der Zeitlichkeit, die aller Rede zukomint,
zur Ausweisung bringen. Allerdings sind die Zeitkategorien, die wir im
Zusammenhang mit Rede und mit sprachlicher Kunst gebrauchen, von
eigentümlicher Schwierigkeit. Man redet da von Präsenz und, wie ich es
oben tat, sogar von Selbstpräsentation des dichterischen Wortes. Es ist aber
ein Trugschluß, wenn man solche Präsenz von der Sprache der Aletaphysik aus als
die Gegenwärtigkeit des Vorhandenen oder vom Begriff der Objektivierbarkeit aus
verstehen will. Das ist nicht die Gegenwärtigkeit, die dem literarischen Werk
zukommtjja j sie kommt überhaupt keinem Text zu. Sprache und Schrift beste-
hen immer in ihrer Venvcisung. Sie sind nicht, sondern sie meinen, und das
gilt auch dann noch, wenn das Gemeinte nirgendwo sonst ist als in dem
erscheinenden Wort. Dichterische Rede ist nur im Vollzug des Sprechens
bzw. des Lesens selbst vollzogen, und d. h., sie ist nicht da, ohne verstanden
zu sem.
Die Zeitstruktur des Sprechens und des Lesens stellt ein weithin uner-
forschtes Problemgebiet dar. Daß das reine Schema der Sukzession auf
Sprechen und Lesen nicht anzuwenden ist, wird einem sofort kar, wenn man
sieht, daß damit nicht das Lesen, sondern das Buchstabieren beschrieben ist.
Wer beim Lesenwollen buchstabieren muß, kann gerade nicht lesen. Ähnli-
ches wie beim stillen Lesen gilt vom lauten Vorlesen. Gut vorlesen heißt, das
Zusammenspiel von Bedeutung und Klang dem anderen so vermitteln, daß
er es ftir sich und in sich erneuert. Man liest jemandem vor, und das heißt,
daß man sich an ihn wendet. Er gehört dazu. Vorsprechen wie Vorlesen
bleibt >dialogisch<. Sogar das laute Lesen, bei dem man sich selbst etwas
vorliest, bleibt dialogisch, sofern es die Klangerscheinung und die Sinnerfas-
sung möglichst in Einklang bringen muß.
Die Kunst der Rezitation ist nichts grundsätzlich Anderes. Es bedarf nur
besonderer Kunst, sofern die Zuhörer eine anonyme Menge sind und der
Text und Interpretation 357

dichterische Text dennoch die Realisierung in jedem einzelnen Hörer ver-


langt. Wir kennen hier etwas dem Buchstabieren beim Lesen Entsprechen-
des, das sogenannte Aufsagen. Das ist wiederum kein Sprechen, sondern ein
ins Nacheinander zerdehntes Aufreihen von Sinn bruchstücken. Wir reden
davon im Deutschen, wenn Kinder Verse auswendig lernen und zur Freude
der Eltern >aufsagen<. Der wirkliche Könner oder Künstler der Rezitation
wird dagegen ein Ganzes von sprachlicher Gestalt präsent machen, ähnlich
wie der Schauspieler, der die Worte seiner Rolle wie im Augenblick gefun-
den neu gebären muß. Es darf nicht eine Reihe von Redeteilen sein, sondern
ein Ganzes aus Sinn und Klang, das in sich selbst >steht<. Daher wird sich der
ideale Sprecher gar nicht selbst präsent machen, sondern nur den Text, der
selbst einen Blinden, der seine Gestik nicht sehen kann, voll erreichen muß.
Goethe sagt einmal: }} Es gibt keinen höhern Genuß und keinen reinern, als
sich mit geschloßnen Augen durch eine natürlich richtige Stimme ein Shake-
spearesches Stück nicht zu deklamieren, sondern rezitieren zu lassen« 100.
Man kann sich fragen, ob bei jeder Art dichterischer Texte Rezitation
überhaupt möglich ist. Etwa wenn es sich um meditative Dichtung handelt?
Auch in der Gattungsgeschichte der Lyrik bildet sich dieses Problem ab.
Chorlyrik und überhaupt alles Liedhafte, das zum Mitsingen einlädt, ist
etwas von der elegischen Tonart durchaus Verschiedenes. Meditative Dich-
tung scheint vollends im einsamen Vollzug allein möglich.
Jedenfalls ist das Sukzessionsschema hier ganz fehl am Platze. Man erin-
nert sich dessen, was man im Erlernen der lateinischen Prosodik das Kon-
struieren nennt: Der Lateinschüler hat das) Verb< zu suchen und dann das
Subjekt, und von da aus die gesamte Wortmasse zu artikulieren bis zum
plötzlichen Zusammenschießen von Elementen, die anfangs völlig sinndis-
parat schienen. Aristotelcs beschreibt einmal das Gefrieren einer Flüssigkeit,
wenn sie erschüttert wird, als schlagartigen Umschlag. Ähnlich ist es mit
dem Schlagartigen des Verstehens, wenn sich die ungeordneten Wortfrag-
mente in die Sinneinheit eines Ganzen auskristallisieren. Hören wie Lesen
haben offenbar die gleiche Zeitstruktur des Verstehens, deren zirkulärer
Charakter zu den ältesten Erkenntnissen der Rhetorik und Hermeneutik
zählt.
Das gilt rur alles Hören wie Lesen. Im Falle literarischer Texte ist die
Sachlage noch weit komplizierter. Da geht es ja nicht allein um das Abernten
einer durch den Text vermittelten Information. Man eilt nicht ungeduldig
und gleichsam unbeirrbar auf das Sinn-Ende zu, mit dessen Ergreifung das
Ganze der Mitteilung erfaßt wird. Gewiß gibt es auch hier so etwas wie ein
schlagartiges Verstehen, in dem die Einheit des Gebildes aufleuchtet. Beim

100 ,Shakespeare und kein Ende< in: Johann Wolfgang Gocthe. Sämtliche Werke, Arte-

mis-Gedenkausgabc Band 14, S. 757.

~--
358 Weiterentwicklungen

dichterischen Text ist das ebenso wie beim künstlerischen Bild. Sinnbezüge
werden - wenn auch vielleicht vage und fragmentarisch - erkannt. Aber in
beiden Fällen ist der Abbildbezug auf das Wirkliche suspendiert. Der Text
bleibt mit seinem Sinnbezug das einZig Präsente. Wenn wir literarische Texte
sprechen oder lesen, werden \-vir daher auf die Sinn- und Klangrelationen
zurückgeworfen, die das GefUge des Ganzen artikulieren, und das nicht nur
einmal, sondern immer wieder. Wir blättern gleichsam zurück, fangen neu
an, lesen neu, entdecken neue Sinnbezüge, und was am Ende steht, ist nicht
das sichere Bewußtsein, die Sache nun verstanden zu haben, mit dem man
sonst einen Text hinter sich läßt. Es ist umgekehrt. Man kommt immer tiefer
hinein, je mehr Bezüge von Sinn und Klang einem ins Bewußtsein treten.
Wir lassen den Text nicht hinter uns, sondern lassen uns in ihn eingehen. Wir
sind dann in ihm darin, so wie jeder, der spricht, in den Worten, die er sagt,
darin ist und sie nicht in einer Distanz hält, wic sie ftir den gilt, der Werkzeu-
ge an\vendet, sie nimmt und weglcgt. Die Rede vom Anwenden v'on
Worten ist daher seltsam schief. Sie trifft nicht das wirkliche Sprechen,
sondern behandelt Sprechen mehr wie den Gebrauch des Lexikons einer
fremden Sprache. So muß man grundsätzlich die Rede von Regel und
Vorschrift einschränken, wenn es sich um wirkliches Sprechen handelt. Das
gilt aber erst recht vom literarischen Text. Er ist ja nicht deshalb richtig, weil
er das sagt, was ein jeder sagen würde, sondern hat eine neue, einzigartige
Richtigkeit, die ihn als ein Kunstwerk auszeichnet. Jedes Wort ,sitzt< , so daß
es fast unersetzbar scheint und in gewissem Grade wirklich unersetzbar
ist.
Es war Dilthey, der in Fortentwicklung des romantischen Idealismus hier
die ersten Orientierungen gegeben hat. In Abwehr des zeitgenössischen
Monopolismus des Kausaldenkens sprach er statt von dem Zusammenhang
von Ursache und Wirkung vom Wirkungszusammenhat1~, also von einem
Zusammenhang, der zwischen den Wirkungen selber (unbeschadet dessen,
daß sie alle ihre Ursachen haben) besteht. Er hat daftir den später zu Ehren
gekommenen Begriff )Struktur< eingeführt und hat gezeigt, wie das Verste-
hen von Strukturen notwendig zirkuläre Form hat. Ausgehend vom musi-
kalischen Hören, ftir das die absolute Musik durch ihre extreme Begriffslo-
sigkeit ein Paradebeispiel ist, weil sie alle Abbildtheorie ausschließt, hat er
von Konzentrierung in einem Mittelpunkt gesprochen und die Temporal-
struktur des Verstehens zum Thema gemacht. In der Ästhetik spricht manin
ähnlichem Sinne, sowohl bei einem literarischen Text wie bei einem Bilde,
von )Gebilde<. In der unbestimmten Bedeutung von >Gebilde< liegt, daß
etvvas nicht auf sein vorgeplantes Fertigsein hin verstanden wird, sondern
daß es sich gleichsam von innen heraus zu einer eigenen Gestalt herausgebil-
det hat und vielleicht in weiterer Bildung begriffen ist. Es leuchtet ein, daß es
eine eigene Aufgabe ist, dergleichen zu verstehen. Die Aufgabe ist, das, was
Text und Interpretation 359

ein Gebilde ist, in sich aufzubauen, etwas, was nicht Ikonstruiert, ist, zu
konstruieren - und das schließt ein, daß alle Konstruktionsversuche wieder
zurückgenommen \\'erden. Während die Einheit von Verstehen und Lesen
sich sonst in verständnisvollem Lesen vollzieht und dabei die sprachliche
Erscheinung ganz hinter sich läßt, redet beim literarischen Text ständig
etwas mit, das 'i-vechsclnde Sinn- und Klangbezüge präsent macht. Es ist die
Zeitstruktur der Bewegtheit, die wir das Verweilen nennen, die solche
Präsenz ausftillt und in die alle Zwischenrede der Interpretation einzugehen
hat. Ohne die Bereitschaft des Aufnehmenden, ganz Ohr zu sein, spricht
kein dichterischer Text.
Zum Abschluß mag ein berühmtes Beispiel Zur Illustration dienen. Es ist
der Schluß des Gedichtes von Mörike Auf eine Lampe. >01 Der Vers lautet:
») Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst. <i

Der Vers war Gegenstand einer Diskussion zwischen Emil Staiger und
Martin Heidegger. Er interessiert hier nur als ein exemplarischer Fall. In
diesem Verse begegnet eine Wort gruppe von anscheind trivialster Alltäg-
lichkeit: >scheint es<. Das kann man wie >anscheinend<, >dokei" >videtur<, )il
semble<, ~it seems<, >pare< usw. verstehen. Dieses prosaische Verständnis der
Wendung gibt Sinn und fand deshalb seinen Verteidiger. Nun kann man aber
sehen: es erftillt nicht das Gesetz des Verses. Es läßt sich zeigen, warum
)scheint es< hier )es leuchtet<, )splendet( meint. Da ist zunächst ein hermeneu-
tisches Prinzip anwendbar. Bei Anstößen entscheidet der größere Zusam-
menhang. Jede Doppelmöglichkeit des Verstehens ist aber ein Anstoß. Da ist
es nun von entscheidender Evidenz, daß das Schöne hier auf eine Lampe
angewendet wird. Das ist die Aussage des Gedichtes als eines Ganzen, die
man durchaus verstehen soll. Eine Lampe, die nicht leuchtet, weil sie altmo-
disch und vergangen in einem >Lustgemachi hängt ()wer achtet sein?<),
gewinnt hier ihren eigenen Glanz, weil sie ein Kunsl\verk ist. Es ist kein
t01 Mörikes Gedicht lautet:
Noch unverrückt, 0 schöne Lampe, schmückest du,
An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier,
Die Decke des nun fast vergeßnen Lustgemachs.
Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand
Der Efeukranz von golden grünem Erz umflicht,
Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn.
Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist
Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form-
Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein?
Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.
Die Auseinandersetzung zwischen Emil Staiger und Martin Heideggcr, auf die der
Fortgang anspielt, ist dokumentiert in: Emil Staiger, Die Kunst der Interpretation, dtv
Wissenschaftliche Reihe 4078 (1971, Lizenzausgabe des Atlantis Verlages, Zürich und
Freiburg i. Br. 1955), 5.28-42.
Zweifel. daß das Scheinen hier von der Lampe gesagt wird, die leuchtet,
auch wenn sie niemand gebraucht.
Leo Spitzer hat in einem hochgelehrten Beitrag zu dieser Diskussion die
literarische Gattung solcher Dinggedichte näher beschrieben und ihren lite-
raturgeschichtlichen Ort überzeugend angegeben. Heidegger hat seinerseits
mit Recht den Hegriffszusammenhang von )schön< und )scheinen< geltend
gemacht, der in Hegels berühmter Wendung vom sinnlichen Scheinen der
Idee anklingt. Aber es gibt auch immanente Gründe. Gerade aus dem
Zusammenwirken von Klang und Bedeutung der Worte folgt eine weitere
klare Entscheidungsinstanz. Wie in diesem Verse die S-Laute ein festes
Gewebe bilden (»was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst«) oder wie
die metrische Modulation des Verses die melodische Einheit der Phrase
konstituiert (ein metrischer Akzent liegt auf schön, selig, scheint, in, selbst),
ist ftir eine reflexive lrruption kein Platz, wie sie ein prosaisches )scheint es,
darstellen würde. Sie würde vielmehr den Einbruch kolloquialer Prosa in die
Sprache eines Gedichtes bedeuten, eine Beirrung des dichterischen Vers te-
hens, die uns allen immer droht. Denn im allgemeinen sprechen wir Prosa,
wie Molieres Monsieur Jourdain zu seiner Überraschung erfahrt. Eben das
hat die Gegenwartsdichtung zu extremen hermetischen Stilformen geftihrt,
den Einbruch der Prosa fernzuhalten. Hier, in Mörikes Gedicht, liegt solche
Beirrung nicht einmal ganz fern. Manchmal nähert sich die Sprache dieses
Gedichtes der Prosa (»wer achtet sein'«). Nun gibt aber die Stellung des
Verses im Ganzen, nämlich, daß er der Schluß des Gedichtes ist, demselben
ein besonderes gnomisches Gewicht. Und in der Tat, das Gedicht illustriert
durch seine eigene Aussage, warum das Gold dieses Verses keine Anweisung
ist, wie eine Banknote oder eine Information, sondern seinen eigenen Wert
selbst hat. Das Scheinen wird nicht nur verstanden, sondern es strahlt über
das Ganze der Erscheinung dieser Lampe, die in einem vergessenen Gema-
che unbeachtet hängt und nirgends mehr scheint als in diesen Versen. Das
innere Ohr hört hier die Entsprechungen von )schön< und )selig, und >schei-
nen( und >selbst( - und vollends läßt das >selbst(, mit dem der Rhythmus
endet und verstummt, die verstummte Bewegung in unserem inneren Ohr
nachhallen. Es läßt in unserem inneren Auge das stille Sich-Verströmen des
Lichtes erscheinen, das wir )scheinen< nennen. So versteht unser Verstand
nicht nur, was da über das Schöne gesagt wird und was die Autonomie des
Kunstwerkes ausspricht, das von keinem Gebrauchszusammenhang ab-
hängt - unser Ohr hört und unser Verständnis vernimmt den Schein des
Schönen als sein "vahres Wesen. Der Interpret, der seine Gründe beibrachte,
verschwindet, und der Text spricht.
25. Destruktion und Dekonstruktion
1985

Als Heidegger das Thema des Verstehens von einer Methodenlehre der
Geisteswissenschaften zum Existenzial und Fundament einer Ontologie des
Daseins erhob, stellte die hermeneutische Dimension nicht länger eine hö-
herstufige Schicht der phänomenlogischen Intentionalitätsforschung dar,
die in der leibhaftigen Wahrnehmung fundiert ist, sondern brachte auf
europäischem Boden und in der Forschungsrichtung der Phänomenologie
das zum Durchbruch, was als der )linguistic turn, in der angelsächsischen
Logik fast gleichzeitig zum Zuge gelangte. In der ursprünglichen Husserl-
Schelerschen Entfaltung der phänomenlogischen Forschung war trotz aller
Wendung zur Lebenswelt die Sprache ganz verschattet geblieben.
In der Phänomenologie hatte sich die abgründige Sprachvergessenheit
wiederholt, die bereits den transzendentalen Idealismus kennzeichnete und
die durch die unglückliche Kritik Herders an der kantischen transzendenta-
len Wendung beglaubigt schien. Selbst in der HegeIschen Dialektik und
Logik fand die Sprache keinen ausgezeichneten Platz. Auf der anderen Seite
wies Hegel gelegentlich auf den logischen Instinkt der Sprache hin, dessen
spekulative Antizipation des Absoluten dem genialen Werk der Hegelsehcn
Logik seine Aufgabe stellte. Tatsächlich war nach Kants rokokohaft-zierli-
eher Eindeutschung der Sehulsprache der Metaphysik der Beitrag Hegels
zur Sprache der Philosophie von unverkennbarer Bedeutung. Er erinnerte
formlich an die sprach- und begriffs bildende Energie des Aristotcles und
kam diesem größten Vorbild auch insofern am nächsten, als er in die Sprache
des Begriffs viel vom Geiste seiner Muttersprache hinüber zu retten ver-
mochte. Dieser Umstand hat freilich rur ihn die Schranke der Unübersetz-
barkeit aufgerichtet, die über mehr als ein Jahrhundert unübersteigbar war
und bis heute ein schwer zu nehmendes Hindernis bildet. Aber eine Zentral-
stelJung hatte auch bei Hegel die Sprache nicht gewonnen.
In Heidegger wiederholte sich ein ähnlicher, ja sogar noch stärkerer
Ausbruch ursprünglicher Sprachkraft im Reiche des Gedankens. Dazu trat
sein bewußter Rückgriff auf die Ursprünglichkeit der griechischen Philo-
sophensprache. So wurde )Sprache< in der ganzen Anschauungskraft ihrer
lebensweltlichen Bodenständigkeit virulent und brach in die hochverfeiner-
362 Weiterenrwicklungen

tc Deskriptionskunst der husserlschen Phänomenologie machtvoll ein. Es


konnte nicht ausbleiben, daß die Sprache selbst zum Gegenstand ihrer
philosophischen Selbstbegreifung wurde. Wenn schon im Jahre 1920, wie
ich bezeugen kann, von einem deutschen Katheder einjunger Denker, eben
Heidcgger, darüber nachzudenken begann, was es heißt, daß )es weltet<, so
war das der Durchbruch durch eine gediegene, aber ihren eigenen Ursprün-
gen ganz entfremdete Schulsprache der Metaphysik und bedeutete im selben
Atem ein Sprachereignis und den Gewinn eines tieferen Verständnisses von
Sprache überhaupt. Was in der Tradition des deutschen Idealismus von
Humboldt, den Brüdern Grimm, SchJeiermacher und den Schlegels und
zuletzt von Dilthey dem Phänomen der Sprache zugewandt wurde und der
neueren Sprachwissenschaft, vor allem der Sprachvergleichung, einen un-
geahnten Auftrieb verlieh, verblieb im Rahmen der Identitätsphilosophie.
Die Identität des Subjektiven und des Objektiven, von Denken und Sein,
von Natur und Geist hielt sich bis in die Philosophie der symbolischen
Forrnen 102 durch, unter denen die Sprache hervorragt. Es war in letzter
Aufgipfclung die synthetische Leistung der HegeIschen Dialektik, durch alle
erdenklichen Widersprüche und Differenzierungen hindurch Identität wie-
dcr herzustellen und den aristotelischen Urgedanken der l\loesis noeseös zur
reinsten Vollendung zu steigern. Das hat der Schluß paragraph von HegeIs
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften geradezu herausfordernd
formuliert. Als ob die ganze lange Geschichte des Geistes, wie Hege! in
Anlehnung an einen Vergilvers zum Ausdruck brachte, die Arbeit auf ein
einziges Ziel hin war: >tafltae molis erat se ipsam cognoscere ffletttem<.
In der Tat blieb es ftir das neue, nachmetaphysische Denken unsercs
Jahrhunderts eine beständige Herausforderung, daß die dialektische Ver-
mittlung im Stile Hegcls auf ihre Weise die Überwindung des neuzeitlichen
Subjektivismus schon vollbracht hatte. Allein der hegeIsche Begriff des
objektiven Geistes legt davon ein sprechendes Zeugnis ab. Noch die reli-
giös-motivierte Kritik, die Kierkegaards Parole des Entweder-Oder an dem
Sowohl-als-Auch der dialektischen Selbstaufhebung aller Setzungen geübt
hatte, konnte in die totale Vermittlung der Dialektik eingesogen werden. Ja,
selbst noch Heideggers Kritik am Bewußtseinsbegriff, die den gesamten
Bewußtseinsidealismus durch eine radikale ontologische Destruktion als
eine Entfrcmdung des griechischen Denkens erwies und die vollends die
ncukantianisch überformtc Phänomenologie Husserls traf, war kein voller
Durchbruch. Was sich Fundamcntalontologie des Daseins nannte, konnte
trotz aller temporalen Analysen im Sorgecharakter des Daseins seinen

)1)2 E. Cassirer, Die Philosophie der symbolischen Formen. Bd. I Die Sprache, Berlin
1923.
Destruktion und Dekonstruktion 363

Selbstbezug und damit die Fundamentalstellung des Selbstbewußtseins


nicht überwinden. Daher konnte es keinen wirklichen Ausbruch aus der
Bewußtseinsimmanenz Husserlscher Prägung herbeifuhren.
Heidegger hat sich das sehr bald eingestanden und hat die radikalen
Denkwagnisse Nietzsches in sich aufgenommen, ohne doch andere Wege zu
finden als Holzwege, die nach der Kehre des Weges ins Unwegsame wiesen.
War es nur die Sprache der Metaphysik, die diesen lähmenden Bann des
transzendentalen Idealismus aufrecht erhielt? Heidegger zog die äußerste
Konsequenz aus seiner Kritik an der ontologischen Bodenlosigkeit von
Bewußtsein und Selbstbewußtsein durch Abkehr von dem Begründungs-
denken der Metaphysik überhaupt, Dennoch blieb diese Kehre und Abkehr
ein permanentes Ringen mit der Metaphysik. Ihre Überwindung sollte
dadurch vorbereitet werden, daß nicht nur der neuzeitliche Subjektivismus
durch die Destruktion seiner unausgewiesenen Begriffe hintergangen wur-
de, sondern daß auch als Positives die griechische Urerfahrung des Seins
hinter dem Aufstieg und der Herrschaft der abendländischen Metaphysik im
Lichte des Begriffs zurückgeholt werden sollte, Heideggers Rückgang von
dem Physis-Begriff des Aristoteles auf die Seinserfahrung der vorsokrati-
schen Anfange blieb in Wahrheit eine abenteuerhafte Irrfahrt, Es ist wahr,
daß ihr, wenn auch noch so vage, das Fernziel stets vor Augen stand: den
Anfang, das Anfangliehe neu zu denken. Dem Anfang näherkommen be-
deutet ja immer, anderer, offener Möglichkeiten im Rückgang des gegange-
nen Weges gewahr werden. Wer ganz am Anfang steht, muß seinen Weg
wählen, und wenn er zum Anfang zurückgeht, wird er dessen inne, daß er
vom Ausgangspunkt aus auch andere Wege hätte gehen können - etwa, wie
das östliche Denken andere Wege gegangen ist. Vielleicht geschah das dort
so wenig aus freier Wahl, wie die abendländische Wegrichtung einer solchen
entsprang. Vielmehr verdankte es sich dem Umstand, daß keine grammati-
sche Konstruktion von Subjekt und Prädikat das östliche Denken auf die
Metaphysik von Substanz und Akzidens hinsteuerte. So verwundert es
nicht, daß auch Heideggers Rückweg zum Anfang etwas von der Faszina-
tion des östlichen Denkens zu spüren bekommen hat und demselben ein paar
Schritte weit mit Hilfe japanischer und chinesischer Besucher - vergeblich-
zu folgen sucht. Sprachen, und insbesondere das allen Sprachen des eigenen
Kulturkreises gemeinsame Grundgerüst, sind nicht leicht hintergehbar. Ja,
selbst in der eigenen Herkunftsgeschichte läßt sich der Anfang nie wirklich
erreichen. Er verschiebt sich immer wieder ins Ungewisse- so wie sich dem
Küstenwanderer in der berühmten Schilderung des Rückschreitens in der
Zeit, die Thomas Mann am Anfang seines >Zauberbergs( gegeben hat, hinter
jedem letzten Küstenvorsprung ein immer neuer in endlosem Fortgang
zeigt. Entsprechend hat Heidegger der Reihe nach an Anaximander, an
Heraklit, an Parmenides, dann wieder an Heraklit, die anfangliehe Erfah-
364 Weiterentwicklungen

rung des Seins, Zeugnisse jenes Ineinander von Entborgenheit und VerbeI-
gung, zu finden gemeint. In Anaximander glaubt er das Anwesen selbst und
die Weile seines Wesens zu finden, in Parmenides das schlaglose Herz der
Aletheia, bei Heraklit die Physis, die sich zu verbergen liebt. Aber am Ende
gilt all das zwar ftif den Wink der Worte, die ins Unzeitliche weisen, nicht
wirklich fur die Rede, das heißt die Selbstauslegung des Gemeinten, die in
den frühen Texten begegnet, Hcidegger konnte immer nur in dem Namen,
in der Nennkraft der Worte und ihren unausschreitbaren Irrgängen wie in
Goldadern seine eigene Vision des Seins wiedererkennen: Dies ,Sein< solltcja
nicht das Sein von Seiendem sein. Die Texte selber erwiesen sich immer
wieder nicht als das letzte Vorgebirge auf dem Wege zum Ausblick ins Freie
des Seins.
So war es sozusagen vorbestimmt, daß Heidegger auf diesem Wege seiner
Schürfgänge im Urgestein der Wörter der Endgestalt Nietzsches begegnete,
dessen Extremismus sich zur Sclbstzerstörung aller Metaphysik, aller Wahr-
heit und aller Erkenntnis von Wahrheit, vorgnvagt hatte. Freilich konnte
ihm Nietzsches eigene Begriffskunst nicht genügen, so sehr ihm dessen
Entzauberung der Dialektik - "Hegels und der anderen Schleiermacher« -
willkommen war und so sehr ihn die Vision der Philosophie im tragischen
Zeitalter der Griechen bestätigen mochte, in der Philosophie noch etwas
anderes zu sehen als jene Metaphysik einer wahren Welt hinter der scheinba-
ren. All das konnte ihm offenkundig nur eine kurze Weggenossenschaft mit
Nietzsehe bedeuten. )) So viele Jahrhunderte - und kein neuer Gott,(, war das
Motto seiner Nietzsche-Rezeption.
Aber was weiß Heidegger von einem neuen Gott? Ahnt er ihn und fehlt
ihm nur die Sprache, ihn anzurufen? Hält ihn zu sehr die Sprache der
Metaphysik in Bann? Sprache ist trotz all ihrer vorgreiflichen Unhintergeh-
barkeit nicht einfach die babylonische Gefangenschaft des Geistes. Ebenso
meint die babylonische Sprach verwirrung nicht nur, wie nach biblischer
Überlieferung, die Vielheit der Sprachfamilien und die Vielheit der Spra-
chen, die menschliche Hybris heraufgeftihrt hat. Sie umfaßt vielmehr das
Ganze der Fremdheit, die zwischen Mensch und Mensch sich auftut und
immer neue Verwirrung schafft. Aber darin ist auch die Möglichkeit ihrer
Überwindung eingeschlossen. Denn die Sprache ist Gespräch. Man muß das
Wort suchen und kann das Wort finden, das den anderen erreicht, man kann
sogar die fremde, seine, des Anderen Sprache lernen. Man kann in die
Sprache der Anderen übergehen, um den Anderen zu erreichen. All das
vermag Sprache als Sprache.
Freilich ist das Verbindende, das sich als die sich bildende Verständigungs-
sprache herstellt, wesens mäßig umwogt vom Gerede, dem Schein von
Rede, der in Wahrheit auch das Gespräch zum Tausch leerer Worte werden
läßt. Lacan hat mit Recht gesagt, daß das Wort, das nicht an einen anderen
Destruktion und Dekonstruktion 365
gerichtet ist, ein leeres Wort ist. Das eben macht den Primat des Gespräches
aus, das sich in Frage und Antwort entwickelt und so die gemeinsame
Sprache aufbaut. Eine bekannte Erfahrung im Gespräch von Menschen, die
zwei einander fremde Sprachen sprechen, jedoch die Sprache des anderen
halbwegs verstehen können, ist, daß man auf dieser Basis kein Gespräch
fUhren kann, sondern in Wahrheit einen langsamen Kampf durchficht, bis
die eine der beiden fremden Sprachen von beiden gesprochen wird, wenn
auch von dem einen noch so schlecht. Das ist eine Erfahrung, die jeder
machen kann. Darin liegt ein bedeutsamer Hinweis. Solches hat in Wahrheit
nicht nur zwischen Angehörigen fremder Sprachen stattgefunden, sondern
vollzieht sich ebenso in der wechselseitigen Anpassung der Partner injedem
Gespräch, das in derselben Sprache gefUhrt wird. Erst die Antwort, die
wirkliche oder die mögliche, macht ein Wort zu einem Wort.
In denselben Erfahrungsbereich gehört, daß alle Rhetorik, eben weil sie
keinen beständigen Austausch von Frage und Antwort, von Rede und
Gegenrede zuläßt, immer Einschläge leerer Worte enthält, die wir als flos-
keln oder ,bloße Redensarten< kennen. Ahnlieh geht es uns mit dem tatsäch-
lichen Vollzug des Verstehens beim Zuhören und ebenso im Vollzug des
Lesens. Da ist der Bedeutungsvollzug, wie insbesondere Husserl gezeigt
hat, von Leerintentionen durchsetzt.
Hier muß weiter nachgedacht werden, wenn man mit der Sprache der
Metaphysik einen Sinn verbinden will. Was damit gemeint sein kann, ist
gewiß nicht die Sprache, in der die Metaphysik erstmals entwickelt wurde,
die Philosophensprache der Griechen. Vielmehr ist damit gemeint, daß in
die lebenden Sprachen heutiger Sprachgemeinschaften begriffliche Prägun-
gen eingegangen sind, die aus dieser Ursprache der Metaphysik stammen.
Wir nennen das im wissenschaftlichen wie im philosophischen Sprachge-
brauch die Rolle der Terminologie. Während aber in den mathematischen
Naturwissenschaften - vor allem in den experimentellen - die Einftihrung
von Benennungen ein reiner Konventionsakt ist, der zur Bezeichnung allen
zugänglicher Sachverhalte dient und überhaupt kein echtes Bedeutungsver-
hältnis zwischen dem international eingeftihrten Terminus und den Sprach-
gewohnheiten der nationalen Sprachen ins Spiel bringt - wer denkt auch nur
bei >Volt< an den großen Forscher Volta? -, ist das im Falle der Philosophie
anders. Da gibt es keinen allgemeinzugänglichen, d. h. kontrollierbaren
Erfahrungsbereich, der durch verabredete Termini bezeichnet wird. Die
Begriffsworte, die im Bereich der Philosophie geprägt werden, sind viel-
mehr immer durch die jeweils gesprochene Sprache artikuliert, der sie
entstammen. Begriffsbildung bedeutet freilich auch dort, daß sich die Viel-
strahligkeit möglicher Bedeutung, die einem Worte zukommt, auf eine
genau bestimmt Bedeutung hin definiert. Aber solche Begriffs-Worte sind
niemals ganz herausgelöst aus dem Bedeutungsfcld, in dem sie ihre volle
366 Weiterentwicklungen

Bedeutungsentfaltung besitzen. Ja, die gänzliche Herauslösung eines Wortes


aus seinem Wortzusammenhang und seine Einschließung (hoYismos) in einen
präzisen Inhalt, die es zum 13egriffswort macht, bedroht seinen Gebrauch
notwendig mit Sinnentleerung. So ist etwa die Bildung eines metaphysi-
schen Grundbegriffes, wie der Begriff der Ousia einer ist, nie voll einlösbar,
solange der Wortsinn des griechischen Wortes nicht in seiner ganzen Feld-
breite mitgegenwärtig ist. Daher hat es zum Verständnis des griechischen
Seinsbegriffs viel beigetragen, zu wissen, daß das Wort Ousia im Griechi-
schen in erster Linie das landwirtschaftliche Anwesen bedeutet und daß von
da der Begriffssinn von }Sein( als Anwesenheit von Anwesendem herrührt.
Das Beispicllehrt: eine Sprache der Metaphysik gibt es nicht, sondern nur
eine metaphysisch gedachte Ausprägung von Begriffsworten, die aus der
lebendigen Sprache abgehoben sind. Eine solche Begriffsprägung kann, wie
im Falle der Logik und Ontologie des Aristoteles, eine feste Begriffstradition
stiften und in der Folge eine Entfremdung einleiten, die schon früh einsetzt,
mit der hellenistischen Schulkultur sich mit der Übertragung ins Lateinische
fortsetzt und die dann abermals in der Übernahme der lateinischen Übertra-
gung in die Nationalsprachen der Gegenwart eine Schulsprache bildet, in der
der Begriff mehr und mehr seinen Ursprungssinn aus der Erfahrung des
Seins verliert.
So stellt sich die Aufgabe einer Destruktion der Begriffiichkeit der Meta-
physik. Das allein ist der haltbare Sinn der Rede VOn der Sprache der
Metaphysik: die in ihrer Geschichte zur Ausbildung gelangte llegriffiich-
keit. Die Aufgabe einer Destruktion der entfremdeten Begriffiichkeit der
Metaphysik, die im Denken der Gegenwart fortwirkt, ist von Heidegger in
seinen Anfangsjahren zur Parole erhoben worden. Denkende Rückfuhnmg
der Begriffsworte der Tradition auf die griechische Sprache, auf den natürli-
chen Wortsinn der Worte und die verborgene Weisheit der Sprache, die in
ihnen aufzufinden ist, wie es Heidegger mit unglaublicher Frische vermoch-
te, hat in der Tat das griechische Denken und seine Kraft, uns anzusprechen,
neu belebt. Das war Heideggers Genie. So neigte er sogar dazu, Wörter auf
ihren verschollenen, nicht mehr mitgemeinten Wortsinn zurückzubringen
und aus diesem sogenannten etymologischen Wortsinn gedankliche Folge-
rungen zu ziehen. Bezeichnend, daß der späte Heidegger in diesem Zusam-
menhang von} Urworten< spricht, in denen sich, was er als die griechische
Welterfahrung ansieht, weit greifbarer zur Sprache gebracht hat, als in den
Lehren und Sätzen der frühgriechischen Texte.
Heidegger war gewiß nicht der erste, die Sachcntfremdung zu realisieren,
die in der Schulsprache der Metaphysik geschehen war. Es war vielmehr
bereits das Bestreben des deutschen Idealismus seit Fichte und vor allem
Hege!, die griechische Substanzontologie und ihre llegriffiichkeit durch die
dialektische Bewegung des Gedankens aufzulösen und aufzuschmclzen.
Destruktion und Dekonstruktion 367
Auch dafUr gab es Vorläufer, sogar solche im Gebrauch der lateinischen
Schulsprache, insbesondere dort, wo neben den lateinischen Schultraktaten
das lebendige Wort der Predigt in der Landessprache einherging, wie etwa
bei Meister Eckhart oder Nicolaus Cusanus, aber auch etwa in den Spekula-
tionen eines Jakob Böhme. Doch das waren Randfiguren der metaphysi_
schen Tradition. Wenn Fichte an die Stelle der )Tatsache< die ,Tathandlung<
setzt, so hat er im Grunde die provokatorischen Prägungen eines Heidegger
vorweggenommen, der den Sinn der Worte geradezu auf den Kopf zu stellen
liebte, z. B. Ent-fernung als Näherung verstand, oder auch Sätze, wie >Was
heißt denken?< in dem Sinne verstand als wollte das sagen: ») Was befiehlt uns
zu denken?{~ Oder >Nichts ist ohne Grund< als eine Aussage über das Nichts,
grundlos zu sein, verstand: Gewaltsamkeiten eines Gegenschwimmers, der
gegen den Strom ankämpft.
Im deutschen Idealismus war es im ganzen jedoch weniger die Umprä-
gung von Worten und Forcierung von Wort bedeutungen, was die Tradi-
tionsgestalt der metaphysischen Begrifflichkeit aufzuschmclzen bestimmt
war, als die Zuspitzung von Sätzen zu ihrem Gegensatz und Widerspruch.
Dialektik ist seit alters die Zuspitzung immanenter Gegensätze zum Wider-
spruch, und wenn die Verteidigung zv.reier entgegengesetzter Sätze keinen
bloß negativen Sinn hat, sondern gerade auf die Vereinigung des Widerspre-
chenden abzielt, ist gleichsam die äußerste Möglichkeit erreicht, die das
metaphysische Denken, das heißt, das Denken in ursprünglich griechischen
Begriffen, zur Erfassung des Absoluten fahig macht. Das Leben aber ist
Freiheit und Geist. Die innere Konsequenz solcher Dialektik, in der Hegel
das Ideal des philosophischen Beweisens sah, ermöglichte ihm in der Tat,
über die Subjektivität des Subjektes hinauszugehen und Geist auch als objek-
tiven zu denken, wie oben schon erwähnt. In ihrem ontologischen Resultat
endet diese Bewegung aber erneut in der absoluten Präsenz des sich selbst
gegenwärtigen Geistes, wie das Ende der HegeIschenEnzyklopädie bezeugt.
Deshalb blieb Heidegger in einer beständigen, gespannten Auseinanderset-
zung mit der Verftihrung der Dialektik, die statt der Destruktion der griechi-
schen Begriffe ihre Fortbildung zu dialektischen Begriffen für Geist und
Freiheit betrieb und das eigene Denken gleichsam domestizierte.
Es kann hier nicht ausgeftihrt werden, wie Heidegger von seiner Grundin-
tention aus in seinem späteren Denken die destruktive Leistung seiner An-
fange festgehalten und in sich aufgehoben hat. Dafür legt der sibyllinische
Stil seiner späten Schriften Zeugnis ab. Er war sich selbst seiner und unserer
Sprachnot voll bewußt. Neben seinen eigenen Versuchen, >die Sprache der
Metaphysik, mit Hilfe der dichterischen Sprache Hölderlins hinter sich zu
lassen, scheinen mir nur zwei Wege beschreitbar gewesen zu sein und sind
beschritten worden, um gegen die ontologische Selbstzähmung, die der
Dialektik eigen ist, einen Weg ins Freie zu weisen. Das eine ist der Weg von
368 Weiterentwicklungen

der Dialektik zurück zum Dialog und zurück zum Gespräch. Diesen Weg
habe ich selbst in meiner philosophischen Hermeneutik zu gehen versucht. Der
andere Weg ist vor allem der von Derrida gezeigte Weg der Dekonstruktion.
Hier soll gerade nicht in der Lebendigkeit des Gespräches verschollener Sinn
wiedererweckt werden. In dem hintergründigen Geflecht von Sinnbezügcll,
das allem Sprechen zugrundeliegt, also in einem ontologischen Begriff von
ecriture, - statt von Gerede oder Gespräch - soll vielmehr die Einheitlichkeit
von Sinn überhaupt aufgelöst und damit die eigentliche Brechung der Meta-
physik vollbracht werden.
Im Raum dieser Spannung ergeben sich die eigentümlichsten Ulnakzen-
tuierungen. In den Augen der hermeneutischen Philosophie überspringt
Heideggers Lehre von der Überwindung der Metaphysik mit ihrem Enden
in der totalen Seins vergessenheit der technologischen Ära den beständigen
Widerstand und die Beharrungskraft gefUgter Einheiten des Lebens, die in
den kleinen und großen Maßen des mitmenschlichen Miteinanderseins fort-
bestehen. In den Augen des Dekonstruktivismus dagegen läßt es Heidegger
im Gegenteil an der letzten Radikalität fehlen, wenn er nach dem Sinn von
Sein fragt und damit an einem Fragesinn festhält, von dem man zeigen
könne, daß ihm eine sinnvolle Antwort nicht entsprechen könne. Derrida
setzt der Frage nach dem Sinn von Sein die primäre Differenz entgegen und
sieht in Nietzsehe die radikalere Figur gegenüber dem metaphysisch-tempe-
rierten Anspruch des Heideggerschen Denkens. Er sieht Heidcgger noch
immer in der Linie des Logozentrismus, dem er das Gegenwort des immer
auseinandergezogenen und sich verschiebenden Sinnes entgegenstellt, der
alle Versammlung auf Einheit hin zersprengt und von ihm ecriture genannt
wird. Offenbar bezeichnet Nietzsehe hier den kritischen Punkt.
So werden sich fUr eine Gegenüberstellung und Abwägung der Aussich-
ten, die sich auf den beschriebenen bei den Wegen öffnen, die von der
Dialektik zurückfUhren, am Falle Nietzsches die Möglichkeiten diskutieren
lassen, die sich fUr ein Denken bieten, das die Metaphysik nicht länger
fortsetzen kann.
Wenn ich die Ausgangslage, von der aus Heidegger scinen Weg zurück
sucht, als Dialektik bezeichne, so geschieht das nicht nur aus dem äußerli-
chen Grunde, daß Hegcl seine säkulare Synthese des Erbes der Metaphysik
durch eine spekulative Dialektik zustande gebracht hat, die die ganze Wahr-
heit des griechischen Anfangs in sich zu versammeln beanspruchte. Viel-
mehr vor allem deswegen, weil Heidegger tatsächlich derjenige war, der
nicht innerhalb der Modifikationen und Perpetuierungen des Erbes der
Metaphysik verblieb, wie es der Marburger Neukantianismus und Husserls
neukantianische Überformung der Phänomenologie betrieben. Was er als
Überwindung der Metaphysik anstrebte, erschöpfte sich auch nicht in der
Protestgebärde, wie sie die Linkshegclianer und Männer wie Kierkegaard
Destruktion und Dekonstruktion 369
und Nietzsche darstellen. Er hat diese Aufgabe vielmehr mit der harten
Arbeit des Begriffs, die an Aristotelcs zu lernen war, in Angriff genommen.
Dialektik meint also in meinem Zusammenhang das weitgespannte Ganze
der abendländischen Tradition der Metaphysik, ebenso sehr )das Logische<
im Sprachgebrauch Hegels als auch den )Logos< im griechischen Denken,
der bereits die ersten Schritte der abendländischen Philosophie geprägt hat.
In diesem Sinne war Heideggers Versuch, die Seins frage zu erneuern oder
besser, sie erstmals in einen nicht-metaphysischen Sinne zu stellen, also das,
was er >den Schritt zurück< nannte, ein Rückweg von der Dialektik.
Auch die hermeneutische Wendung zum Gespräch, die ich versuchte, geht
im selben Sinne nicht nur hinter die Dialektik des deutschen Idealismus
zurück, und das heißt auf die platonische Dialektik, sondern zielt auch noch
hinter dieser sokratisch-dialogischen Wendung auf deren Voraussetzung,
und das ist die in den Logoi gesuchte und geweckte Anamnesis. Diese aus
dem Mythos geschöpfte, aber höchst rational gemeinte Wiedererinnerung
ist nicht nur die der einzelnen Seele, sondern immer die des }Geistes der uns
verbinden mag< - uns, die ein Gespräch sind. Im-Gespräch-Sein heißt aber
Über-sich-hinaus-Sein, mit dem Anderen denken und auf sich zurückkom-
men als auf einen anderen. Wenn Heidegger den metaphysischen Begriff des
Wesens nicht mehr als die Anwesenheit des Anwesenden denkt, sondern den
Ausdruck >Wesen( als ein Verbum, das heißt ein Zeitwort, und das heißt
>temporal< versteht, dann ist Wesen als An-Wesen verstanden, in einem
Sinne, der dem üblichen Ausdruck >Verwesen< antworten soll. Das heißt
aber, daß er, wie etwa in seinem Anaximander-Aufsatz, der ursprünglichen
griechischen Zeiterfahrung die> Weile( unterlegt. Damit hinterfragt er in der
Tat die Metaphysik und ihren Horizont, wenn sie nach dem Sein fragt.
Heidegger hat selbst daran erinnert, daß der von Sartre zitierte Satz >Das
Wesen des Daseins ist seine Existenz( mißbraucht wird, wenn man nicht
beachtet, daß der Ausdruck Wesen in Anflihrungszeichen gesetzt ist. Es
handelt sich also gerade nicht um den Begriff der >Essenz<, die als> Wesen< der
Existenz, der Tatsache, vorausgehen soll, aber ebensowenig um die Sartre-
sehe Umkehrung dieses Verhältnisses, so daß die Existenz der Essenz vor-
ausginge. Nun meine ich, daß Heidegger, wenn er nach dem Sinn von Sein
fragt. auch }Sinn< durchaus nicht im Sinne der Metaphysik und ihres We-
sens begriffs denkt, sondern als den Fragesinn, der nicht einer bestimmten
Antwort gewärtig ist, sondern in eine Wegrichtung des Fragens weist.
>Sinn ist Richtungssinn< habe ich einmal gesagt, und Heidegger hat zeit-
weise sogar einen orthographischen Archaismus eingeftihrt, indem er den
Ausdruck >Sein< als >Seyn< schrieb, um den Charakter eines Zeitwortes zu
unterstreichen. Ähnlich ist mein Versuch zu sehen, die Erblast der Suhstanz-
Ontologie dadurch abzuschütteln, daß ich vom Gespräch und von der in
ihm gesuchten und sich bildenden gemeinsamen Sprache ausgehe, in der
370 Weiterent'.vicklungcn

sich die Logik von Frage und Antwort als das Bestimmende erweist. Sie
öffnet eine Dimension der Verständigung, die über sprachlich fixierte Aus-
sagen hinausgeht und damit auch über die allumfassende Synthese im Sinne
des monologischen Selbstverständnisses der Dialektik. Nun hat gewiß auch
die idealistisclie Dialektik ilire Herkunft aus der spekulativen Grundstruktur
der Sprache, wie ich sie im dritten Teil von }Wahrheit und Methode< entwik-
kelt liabe, niclit ganz verleugnet. Aber wenn Hegel die Dialektik einem
Begriff von Wissenschaft und Methode zuordnet, verdeckt er in Wahrheit
ilire eigene Herkunft, ihren Ursprung in der Sprache. So hat die philo-
sophische Hermeneutik den Bezug auf die speku1ative Zwei-Einheit, die
zwischen Gesagtem und Ungesagtem spielt, im Auge, die in Wahrheit der
dialektischen Zuspitzung zum Widerspruch und seiner Aufbebung in einer
neuen Aussage vorausliegt. Es scheint mir ganz in die Irre zu führen, \-venn
man aus der Rolle, die ich der Überlieferung im Stellen von Fragen und im
Vorzeichnen von Antworten zuerkannte, ein Übersubjekt macht und dann,
wie Manfred Frank und Forget behaupten, die hermeneutische Erfahrung
auf eine parole vide reduzierte. Das findet in >Wahrheit und Methode( keine
Stütze. Wenn dort von Überlieferung und Gespräch mit ihr die Rede ist,
dann stellt dies kein kollektives Subjekt dar, sondern ist einfach der Sammel-
name für den jeweils einzelnen Text (und auch dies im weitesten Sinne von
Text, so daß ein Bildvverk, ein Bauwerk, ja selbst ein Naturgeschehen darin
befaßt ist).103 Der sokratische Dialog platonischer Gestaltung ist gewiß eine
sehr besondere Art von Gespräch, das von dem einen geführt wird und dem
der andere willig-unwillig zu folgen hat, aber insofern bleibt es doch das
Vorbild allen Gesprächsvollzugs, daß in ihm nicht die Worte, sondern die
Seele des anderen widerlegt vvird. Das sokratische Gespräch ist kein exoteri-
sches Einklcidungs- und Verkleidungsspiel ftir Besser-Gewußtes, sondern
der wahre Vollzug der Anamnesis, der denkenden Erinnerung, die der in die
Endlichkeit des Leiblichen gefallenen Seele allein möglich ist und die als
Gespräch sich vollzieht. Eben das ist der Sinn der spekulativen Einheit, die
sich in der Virtualität des Wortes vollbringt, daß es nicht ein einzelnes Wort
ist und auch nicht eine ausformulierte Aussage, sondern vielmehr über alles
Aussagbare hinaus\veist.
Die Fragedimension, in der wir uns hier be\vegen, hat also nichts mit
einem Code zu tun, um dessen Entzifferung es geht. Daß ein solcher
entzifferter Code allem Schreiben und Lesen von Text zugrundeliegt, ist
gewiß richtig, stellt aber eine bloße Vorbedingung ftir die hermeneutische
Bemühung um das dar, was in den Worten gesagt wird. Darin stimme ich
der Kritik am Strukturalismus durchaus zu. Ich gehe aber, wie mir scheint,

103 Ges. Werke Bd. 1. S. 478


Destruktion und Dekonstrukrion 371

über Derridas Dekonstruktion hinaus, als die Worte überhaupt nur 1m


Gespräch da sind, und Worte im Gespräch überhaupt nicht als das einzelne
Wort da sind, sondern als das Ganze eines Redc- und Ant\vortstehens.
Offenbar geht es bei dem Prinzip der Dekonstruktion insofern um das
Gleiche, als auch Derrida ein metaphysisches Sinnreich, dem die Worte und
Wortbedeutungen zugeordnet sind, in den Vollzug aufzuheben bestrebt ist,
den er als ecriture bezeichnet und dessen Vollbringung nicht ein essentiales
Sein ist, sondern die Linie, die zeigende Spur. Damit richtet er sich gegen
einen metaphysischen Begriff von Logos und spricht von dem Logozentris-
mus, der selbst noch Heideggers Seins frage als Frage nach dem Sinn VOn
Sein eingeschrieben sei. Das ist ein seltsamer, auf Husserl zurückinterpre-
tierter Heidegger, als ob alle Rede in Urteils aussagen bestünde. In diesem
Sinne ist es ge\"iliß vnhr, daß die unermüdliche Konstitution von Sinn, der
die phänomenologische Forschung gewidmet ist und die im Akt des Den-
kens als die Erftillung einer Intention des Bewußtseins geleistet wird, >Prä-
senz< meint. Die kundgebende Stimme (la voix) ist gleichsam der Präsenz des
im Denken Gedachten zugeordnet. In Wahrheit ist es freilich auch in Hus-
seds Bemühung um ehrliche Philosophie gerade die Zeiterfahrung und das
Zeitbewußtsein, die aller )Präsenz< und aller Konstitution auch überzeitli-
cher Geltung voraus liegt. Es ist aber richtig, daß das Zeitproblem Husserls
Denken in einem unauflöslichen Bann hält, weil er den griechischen Begriff
von Sein festhält, der im Grunde schon Augustinus durch das Rätsel gebannt
hat, das das Sein der Zeit darstellt, die )jetzt< ist und zugleich nicht ist, um es
mit Hegcl auszudrücken.
Ähnlich wie Heidegger selbst vertieft sich daher Derrida in die geheimnis-
volle Vielfaltigkeit, die im Worte und der Vielfalt seiner Bedeutungen, dem
ungewissen Potential seiner Bedeutungsdifferenzierungen, gelegen ist. Daß
Heidegger von dem Satz und der Aussage auf die Offenheit des Seins
zurückfragt, die überhaupt erst Worte und Sätze möglich macht, läßt ihn
gleichsam der ganzen Dimension der aus Worten gebildeten Sätze und
Gegensätze und Widersprüche zuvorkommen. Ähnlich scheint Derrida den
Spuren nachzugehen, die in ihrer Lesung erst sind. Er hat insbesondere der
Zeitanalyse des Aristotc1es abzugewinnen gesucht, daß >die Zeit< dem Scin
als die diffirance sichtbar \.vird. Da er aber von Husserl aus Heidegger licst,
nimmt er die Anlehnung an die husserlsche Begrifflichkeit, die in )Sein und
Zeit< und seiner transzendentalen Sclbstbeschreibung fühlbar ist, für ein
Zeugnis von Heideggers Logozentrismus, und wenn ich nicht nur das
Gespräch, sondern das Gedicht und seine Erscheinung im inneren Ohr für
die wahre Wirklichkeit von Sprache erkläre, dann nennt er das gar )Phono-
zentrismus<. Als ob Rede oder Stimme auch nur ftir das angestrengteste
reflexive Bewußtsein in ihrem Vollzuge je Präsenz gewönne und nicht
vielmehr das Verschwinden selbst wäre. Es ist kein billiges Reflexionsargu-
372 Weiterentwicklungen

ment, sondern eine Erinnerung an das, was jedem Sprechenden und jedem
Denkenden geschieht, daß er seiner selbst nicht gewahr ist, gerade weil cr
>denkt<.
So mag Dcrridas Kritik an Hcidcggers Nietzschc-Interpretation - dessen
Interpretation mich in der Tat überzeugt hat - zur Illustration der offenen
Problematik, vor der wir uns befinden, dienen. Da steht auf der einen Seite
der verwirrende Facettenreichtum und das unaufhörliche Maskenspiel, in
dem sich Nietzsches kühne Dcnkvngnisse in eine ungreifbare Vielfaltigkeit
zu zerstreuen scheinen, und auf der anderen Seite die Frage an ihn, was das
Spiel dieses Wagnisses bedeutet. Nicht etwa, daß Nietzsehe selber die Ein-
heit in der Zerstreuung vor Augen gehabt hätte und den inneren Zusammen-
hang zwischen dem Grundprinzip des Willens zur Macht und der mittägli-
chen Botschaft von der ewigen Wiederkehr des Gleichen selber in Begriffe
gefaBt hätte. Aber wenn ich Heidegger recht verstehe, ist es gerade dies, .daß
Nietzsehe das nicht getan hat, so daß uns diese Metaphern seiner letzten
Visionen wie spiegelnde Facetten erscheinen, hinter denen kein Eines ist.
Das stelle die einheitliche Endstellung dar, in der sich die Frage nach dem
Sein selbst vergiBt und verliert. - So bedeute die technologische Ära, in der
sich der Nihilismus vollende, in der Tat die ewige Wiederkehr des Gleichen.
- Dies zu denken, Nietzsehe denkend aufzunehmen, scheint mir nicht eine
Art Rückfall in die Metaphysik und ihren ontologischen Vorgriff, der im
Begriff des Wesens gipfelt. Wäre das so, Heideggers Wege, die als nach
einem )Wesen< ganz anderer, temporaler Struktur unterwegs sind, würden
sich nicht immer wieder im Ungangbaren verlieren. Vol1ends das Gespräch,
das wir in unserem eigenen Denken weiterführen und das sich vielleicht in
unseren Tagen um neue große Partner aus einem sich planetarisch erweitern-
den Menschheitserbe bereichert, sollte überall seinen Partner suchen - und
insbesondere wenn er ein ganz anderer ist. Wer mir Dekonstruktion ans
Herz legt und auf Differenz bestelit, steht am Anfang eines Gespräches, niclit
an seinem Ziele.
V. Anhänge
26. Exkurse I-VI
1960

zu I. 43

Der Begriff des Stiles ist eine der undiskutierten Selbstverständlichkeiten,


von denen das historische Bewußtsein lebt. Ein Blick auf die noch wenig
erforschte Wortgeschichte mag verdeutlichen, warum das so ist. Der Begriff
fixiert sich, wie meistens, durch die Übertragung des Wortes aus seinem
ursprünglichen Anwendungsbereich. Dabei \viId zunächst kein histori-
scher, sondern ein normativer Sinn geprägt. So trirt )Sti]( in der neueren
Tradition der antiken Rhetorik an die Stelle dessen, was dort die genera
dicetldi meinen, und ist also ein normativer Begriff. Es gibt verschiedene
Arten des Sagens und Schreibens. die je nach dem Zweck und Inhalt am
Platze sind und ihre spezifischen Forderungen stellen. Das sind die Stilarten.
Es ist klar, daß mit einer solchen Lehre von den Stilarten und ihrer rechten
Anwendung auch die falsche Anwendung mitgegeben ist.
Für den, der die Kunst des Schreibens und Sichausdrückens besitzt, ist also
die Einhaltung des richtigen Stiles gefordert. So erscheint der Begriff des
Stiles, wie es scheint, zuerst in der französischen Jurisprudenz und meint dort
die tnaniere de proceder, also ein bestimmten juristischen Forderungen genü-
gendes Prozeßverfahren. Vom 16. Jahrhundert ab wird der Begriff dann
auch rur die sprachliche Darstellungsweise überhaupt gebraucht'. Offenbar
liegt dem Wortgebrauch die Anschauung zugrunde, daß rur eine kunstge-
rechte Darstellung bestimmte vorgängige Forderungen, insbesondere der
Einheitlichkeit. bestehen. die von dem jeweiligen Inhalt des Dargestellten
unabhängig sind. Die bei Panofsky' und W. Hofmann' zusammengestellten
Beispiele nennen neben dem Wort stile die Worte tnaniera und gusla rur diesen
normativen Begriff. der eine Gattungsforderung als Stilideal geltend macht.
Daneben gibt es aber von Anfang an auch den personalen Gebrauch des
1 Vgl. auch Nuevo Estilo y Formulario de Es[ribirals Titel einer Formulariensammlung ftir

Briefschreiber . Auchin solchem Ge brauch ist die Einhaltung des Stilcs fast das gleiche wicdie
der genera di[endi. Doch liegt die Übertragung auf alle Ausdruckshaltungen, natürlich im
normativen Sinne, nahe.
2 E. Panofsky, Idca, Anm. 244.

J W. Hofmann, Studium Generale, 8. Jahrg. 1955, Heft 1, S. 1.


376 Anhänge

Wortes. Stil ist auch die individuelle Hand. die in den Werken des gleichen
Künstlers überall kenntlich ist. Dieser übertragene Gebrauch wurzelt wohl
schon in der antiken Übung, klassische Repräsentanten für bcstimnlte genera
dicendi zu kanonisieren. Begrifflich gesehen ist die Verwendung des Begriffes
Stil ftir den sogenannten Personalsti1 in der Tat eine konsequente Anwendung
der gleichen Bedeutung. Denn auch dieser Sinn von Stil bezeichnet eine
Einheitlichkeit in der Varietät der Werke, nämlich, wie sich die charakteristi-
sche Darstellungsweise eines Künstlers von der jedes anderen Künstlers
unterscheidet.
Das tritt auch in Goethes Wortgebrauch heraus, der ftir die Folgezeit
maßgeblich geworden ist. Goethes Begriff des Stiles wird aus der Abgren-
zung gegen den Begriff der Manier gewonnen und vereinigt offenbar beide
Seiten 4 • Ein Künstler bildet sich einen Stil, sofern er nicht mehr liebevoll
nachahmt, sondern zugleich sich selbst damit eine Sprache schafft. Obwohl er
sich an die gegebene Erscheinung bindet, ist dieselbe keine Fessel rur ihn - er
bringt dennoch sich sc1bst dabei zum Ausdruck. So selten die Übereinstim-
mung von >treuer Nachahmung< und individueller Manier (Auffassungswei-
se) auch ist, gerade sie macht den Stil aus. Es ist also ein normatives Moment
im Begriff des Stiles auch dort miteinbegriffen, wo es sich um den Stil einer
Person handelt. Die >Natun, das ,Wesen< der Dinge, bleibt die Grundfeste der
Erkenntnis und Kunst, von der sich der große Künstler nicht entfernen darf,
und durch diese Bindung an das Wesen der Dinge behält nach Goethe auch die
personelle Verwendung von >Stil< in klarer Weise einen normativen Sinn.
Man erkennt leicht das klassizistische Ideal. Goethes Sprachgebrauch ist
zugleich aber geeignet, den begrifflichen Inhalt zu verdeutlichen, den der
Begriff Stil stets besitzt. In keinem Falle ist Stil schon ein bloßer individueller
Ausdruck - immer ist ein Festes, Objektives damit gemeint, das die individu-
elle Ausdrucksgestaltung bindet. So erklärt sich auch die Anwendung, die
dieser Begriff als historische Kategorie gefunden hat. Denn als ein solches
Bindendes erweist sich dem historischen Rückblick gewiß auch derjeweilige
Zeitgeschmack, und insofern ist die An"vendung des Stilbegriffs auf die
Geschichte der Kunst eine natürliche Konsequenz des historischen Bewußt-
seins. Allerdings ist dabei der Sinn der ästhetischen Norm, die im Stilbegriff
ursprünglichlag (vero stile) , zugunsten seiner deskriptiven Funktion verloren-
gegangen.
Damit ist keineswegs entschieden, ob der Stilbegriffeine so ausschließliche
Geltung verdient, wie er sie innerhalb der Kunstgeschichte im allgemeinen
erlangt hat, - und ebensowenig, ob cr über die Kunstgeschichte hinaus auf
andere geschichtliche Erscheinungen, z. B. auf das politische Handeln, an-
wendbar ist.

4 Vgl. Schelling III 494.


Exkurse I-VI 377

Was zunächst die erste dieser Fragen betrifft, so scheint der historische
Stil begriff überall dort unzweifelhaft legitim, wo die Bindung an einen
herrschenden Geschmack den einzigen ästhetischen Maßstab darstellt. Er
gilt also in erster Linie für alle dekorativen Phänomene, deren eigenste
Bestimmung es ist, nicht fur sich, sondern an etwas zu sein und es in die
Einheit eines Lebenszusammenhanges einzuformen. Das Dekorative gehört
offenkundig als eine beiherspielende Qualität dem an, was eine andersartige
Bestimmung, nämlich einen Gebrauch hat.
Ob es dagegen legitim ist, den stilgeschichtlichen Gesichtspunkt auf sog.
freie Kunstwerke auszudehnen, kann man sich immerhin fragen. Nun hat-
ten wir uns bnvußt gemacht, daß auch ein sog. freies Kunstwerk seinen
ursprünglichen Platz in einem Lebenszusammenhange hat. Wer es verstehen
will, darf nicht beliebige Erlebniswerte ihm abgewinnen wollen, sondern
muß die richtige Einstellung, d. h. aber vor allem auch die historisch richtige
Einstellung, zu ihnen gewinnen.
Es gibt also in der Tat auch hier Stilforderungen, die nicht verletzt werden
dürfen. Aber das heißt nicht, daß ein Kunstwerk keine andere als eine
stilgeschichtliche Bedeutung besitzt. Darin hat Sedlmayr mit seiner Kritik
der Stilgeschichte ganz recht5 • Das klassifikatorische Interesse, das durch die
Stilgeschichte befriedigt wird, trifft nicht eigentlich das Künstlerische.
Gleichwohl behält der Stilbegriff auch rur die eigentliche Kunstwissenschaft
seine Bedeutung. Denn auch eine kunst\vissenschaftliche Strukturanalyse,
wie sie Sedlmayr fordert, muß selbstverständlich in dem, was sie die
richtige Einstellung nennt, den stil geschichtlichen Forderungen genügen.
Bei den Kunstarten, die einer Reproduktion bedürfen (Musik, Theater,
Tanz usw.), ist das ganz augenscheinlich. Die Wiedergabe muß stilgerecht
sein. Man muß wissen, was der Zeitstil und der persönliche Stil eines
Meisters verlangen. Dieses Wissen ist freilich nicht alles. Eine )historisch
getreue< Wiedergabe wäre keine echte künstlerische Reproduktionsleistung,
d. h. in ihr stellte sich nicht das Werk als Kunstwerk dar, sondern wäre
vielmehr, soweit derartiges überhaupt möglich ist, ein didaktisches Produkt
oder bloßes Material der Geschichtsforschung, wie es etwa auch die von
dem Meister selbst dirigierten Schallplattenaufnahmen einst sein werden.
Gleichwohl wird auch die lebendigste Erneuerung eines Werkes durch die
stilgeschichtliche Seite der Sache gewisse Einschränkungen erfahren, denen
sie nicht entgegenhandeln darf. Der Stil gehört in der Tat zu den ,Grundfe-
sten< der Kunst, zu den Bedingungen, die in der Sache liegen, und was so an
der Reproduktion heraustritt, das gilt offenbar für unser aufnehmendes
Verhalten zu aller Art von Kunst (die Reproduktion ist ja nichts als eine

5 [Vgl. lKunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichtec Ver-

mehrte Neuausgabe. Mäander 1978.1


378 Anhänge

solchem Aufnehmen dienende bestimmte Art der Vermittlung). Der Begriff


des Stils ist (ähnlich dem des Geschmacks, mit dem cr ve[\",andt ist. vgl. das
Wort Stilgefühl) zwar kein ausreichender Gesichtspunkt für die Erfahrung
von Kunst und ftir ihre \vissenschaftliche Erkenntnis - das ist er nur im
Bereich des Dekorativen -, aber er ist notwendig mit vorausgesetzt, wo
Kunst verstanden vverden soll.
Nun läßt sich dieser Begriff auch auf die politische Geschichte übertragen.
Auch Handlungs\.vcisell können Stil haben, und selbst in Schicksalsverläu-
fen kann sich ein Stil ausprägen. Das ist zunächst normativ gemeint. Wenn
wir von einer Handlung sagen, sie habe großen Stil oder "\virklichcn Stil, so
beurteilt man sie damit ästhetisch 6 • Auch "venn \vir etwa im politischen
Sprachgebrauch einen bestimmten Stil des Handelns uns zum Ziele setzen,
ist das im Grunde ein ästhetischer Stilbegriff. Indem man einen solchen Stil
des Handelns zeigt, macht nun sich selbst fur andere sichtbar. so d,aß sie
\ViSsell. wessen sie sich zu versehen haben. Auch hier bedeutet Stil eine
Ausdruckseinheit.
Nun fragt es sich aber, ob man diesen Stilbegriff auch als historische
Kategorie gebrauchen darf. Die Übertragung des kunsthistorischen Stilbe-
griffs auf die allgemeine Geschichte setzt voraus, daß man die geschichtli-
chen Ereignisse nicht in ihrer eigenen Bedeutung meint, sondern in ihrer
Zugehörigkeit zu einern Ganzen von Ausdrucksformen, die ihre Zeit kenn-
zeichnen. Die geschichtliche Bedeutung eines Ereignisses braucht aber nüt
dem Erkenntniswert, den es als Ausdruckserscheinung hat. nichtübereinzu-
stimmen, und es ist irrefuhrend, \\'enn man es dadurch verstanden glaubt,
daß man es derart als Ausdruckserscheinung versteht. Wollte man den
Stilbegriff \\rirklich auf die allgemeine Geschichte aus\veiten, "vie das vor
allem von Erich Rothacker diskutiert "vorden ist, und daraus geschichtliche
Erkenntnis erwarten, so \.vürde man zu der Voraussetzung gezwungen, daß
die Geschichte selbst einem inneren Logos gehorcht. Das mag fur einzelne
Ent\vicklungslinien, die man verfolgt, gelten, aber eine solche 13indestrich-
Historie ist keine "virkliche Geschichte, sondern idealtypische Konstruk-
tion, die, wie Max Webers Kritik an den Organologen gezeigt hat, nur
deskriptive Berechtigung besitzt. Eine stil geschichtliche 13etrachtungs\veise
des Geschehens vermöchte so\.venig wie eine kunstwissenschaftliche Be-
trachtung, die nur stilgeschichtlich denkt, der entscheidenden Bestimmung
gerecht zu werden, daß in ihr et\vas geschieht und sich nicht nur verständli-
che Abläufe abwickeln. Es ist die Grenze der Geistesgeschichte, an die \vir
hier stoßen.

6 IVgI. Hegel, Nürnberger Schriften, S. 3101


Exkurse I-VI 379

II

zu I, 149

Okkasionalität muß als ein Sinnmoment im Sinnanspruch eines Werkes


erscheinen und nicht als die Spur des Gelcgenheitlichen, das hinter dem
Werke gleichsam verborgen ist und durch Interpretation aufgedeckt werden
solL Wäre das letztere der Fall, so hieße das, daß man nur durch die Wieder-
herstellung der ursprünglichen Situation überhaupt in die Lage käme, den
Sinn des Ganzen zu verstehen. Ist aber Okkasionalität ein Sinn moment im
Anspruch des Werkes selbst, dann ist umgekehrt der Weg über das Verständ-
nis des Sinngehalts des Werks zugleich eine Möglichkeit fur den Historiker,
etwas über die ursprüngliche Situation zu erfahren, in die das Werk hinein-
spricht. Nun hatten unsere grundsätzlichen Erwägungen über die Seinsart
des ästhetischen Seins dem Begriff der Okkasionalität eine neue, über alle
Sonderformen hinausgehende Legitimation verschaffe. So über Raum und
Zeit erhaben ist das Spiel der Kunst nicht, wie das ästhetische Bewußtsein es
behauptet. Auch wenn man das grundsätzlich anerkennt, wird man nicht
von einem Einbruch der Zeit in das Spiel reden dürfen, wie jüngst earl
Sehmitt im Hinblick auf das Hamlet-Drama getan hat,
Gewiß kann es das Interesse des Historikers sein, in der Gestaltung des
Spieles der Kunst den Bezügen nachzuforschen, die es mit seiner Zeit
verweben. Aber earl Schnütt scheint mir die Schwierigkeit dieser für den
Historiker legitimen Aufgabe zu unterschätzen. Er glaubt, den Bruch im
Spiel erkennen zu können, durch dessen Riß die zeitgenössische Wirklich-
keit hindurchscheine und die die zeitgenössische Funktion des Werkes erken-
nen lasse. Dieses Verfahren ist voller methodischer Haken, wie uns et\va das
Beispiel der Plato-Forschung gelehrt hat, Auch wenn es grundsätzlich rich-
tig ist, die Vorurteile einer reinen Erlebnisästhetik auszuschalten und das
Spiel der Kunst in seinen zeitgeschichtlichen und politischen Zusammen-
hang hineinzustellen, so scheint es mir doch bei >Hamlet< fehlerhaft, wenn
einem zugemutet wird, Hamlet wie einen Schlüsselroman zu lesen. Ein
Einbruch der Zeit in das Spiel, der als Bruch im Spiel erkennbar wäre,
scheint mir hier keinesv./egs vorzuliegen. Für das Spiel selbst ist kein Gegen-
satz von Zeit und Spiel, wie ihn earl Schmitt annimmt, gegeben, Vielmehr
bezieht das Spiel die Zeit in sein Spiel mit ein. Das ist die große Möglichkeit
der Dichtung, durch die sie ihrer Zeit angehört und durch die die Zeit auf sie
hört. In diesem allgemeinen Sinne steckt auch das Hamlet-Drama gewiß
voller politischer Aktualität. Wenn man aber nun aus ihm die verhüllte
Parteinahme des Dichters für Esscx und Jakob herausliest, so kann einem das
die Dichtung schwerlich beweisen. Auch wenn der Dichter wirklich zu
dieser Partei zählte - das von ihm gedichtete Spiel sollte dann seine Partei-
380 Anhänge

nahme derart verhüllen, daß auch der Scharfsinn earl Schmitts daran schei-
tern müßte. Der Dichter mußte ja, wenn er sein Publikum erreichen wollte,
ganz gewiß ebenso mit der Gegenpartei im Publikum rechnen. So ist es in
Wahrheit der Einbruch des Spiels in die Zeit, der sich hier vor uns darstellt.
Zweideutig wie das Spiel ist, kann es seine unvoraussehbare Wirkung erst im
Sichausspiclcn entfalten. Es ist seinem Wesen nach nicht geeignet, ein Instru-
ment maskierter Ziele zu sein, die man nur durchschauen müßte, um es
eindeutig zu verstehen. Es bleibt als Spiel in einer unauflösbaren Zweideu-
tigkeit. Die Okkasionalität, die in ihm liegt, ist nicht ein vorgegebener
Bezug, durch den alles erst seinen wahren Sinn bekommt, sondern umge-
kehrt ist es das Werk selbst, dessen Aussagekraft diese wie jede Gelegenheit
auszuftillen vermag.
So verfällt earl Schmitt m. E. einem falschen Historismus, wenn er etwa
das Offenlassen der Frage nach der Schuld der Königin politisch interpretiert
und darin ein Tabu sicht. In Wahrheit macht es die Wirklichkeit eines Spieles
aus, daß es um das eigentlich Thematische herum stets einen Hof des
Unbestimmten läßt. Ein Drama, in dem alles durch und durch motiviert ist,
knarrt wie eine Maschine. Das wäre eine falsche Wirklichkeit, wo das
Geschehen wie eine Rechnung aufgeht. Zum Spiel der Wirklichkeit wird es
vielmehr, wenn es den Zuschauer nicht alles, sondern nur ein wenig mehr
verstehen läßt, als er in dem Treiben und Getriebenwerden seiner Tage zu
verstehen pflegt. Je mehr dabei offenbleibt, desto freier gelingt das Verste-
hen, d. h. das Umsetzen des im Spiel Gezeigten in die eigene Welt und gewiß
auch in die eigene politische Erfahrungswelt.
Unabsehbar viel offenzulassen, scheint mit überhaupt das Wesen einer
fruchtbaren Fabel und gehört z.ll. allem Mythos zu. Gerade dank seiner
offenen Unbestimmtheit vermag der Mythos aus sich immer neue Erfin-
dung hervorgehen zu lassen, wobei der thenlatische Horizont sich immer
wieder in andere Richtung verschiebt. (Man denke etwa an die mannigfalti-
gen Versuche, die Faust-Fabel zu gestalten, von Marlowe bis zu Paul Valery.)
Sieht man nun im Offengclassenen politische Absicht, wie das earl
Schmitt tut, wenn er vom Tabu der Königin spricht, so verkennt man, was
Spiel eigentlich heißt, nämlich das SichausspieIcn durch Erproben von Mög-
lichkeiten. Das Sichau5spiclen des Spiels ist nicht in einer geschlossenen Welt
des ästhetischen Scheins beheimatet, sondern vollzieht sich als ein beständi-
ges Eingreifen in die Zeit. Die produktive Vieldeutigkeit, die das Wesen des
Kunstwerks ausmacht, ist nur ein anderer Ausdruck rur die Wesensbestim-
mung des Spiels, stets neu zum Ereignis zu werden. In diesem grundsätzli-
chen Sinne rückt das Verstehen der Geisteswissenschaften mit der unmittel-
baren Erfahrung des Kunstwerks aufs engste zusammen. Auch das Verste-
hen, das die Wissenschaft leistet, läßt die Sinndimension der Überlieferung
sich ausspielen und besteht in der Erprobung derselben. Gerade deshalb istes
Exkurse I-VI 381

selber noch Geschehen, wie im Laufe der vorliegenden Untersuchung ge-


zeigt wird.

III
zu 1,269
Auch Löwiths Auseinandersetzung mit Heideggers Nietzsche-Interpreta-
tion7 , die im einzelnen berechtigte Eirnvände erhebt, krankt im ganzen
daran, daß er, ohne es zu durchschauen, Nietzsches Ideal der Natürlichkeit
gegen das Prinzip der Idealbildung überhaupt ins Feld fuhrt. Was Heidegger
meint, wenn er mit bewußter Zuspitzung Nietzschc mit Aristotc1es in eine
Linie stellt - und d. h. rur ihn gerade nicht, daß er ihn auf denselben Punkt
stellt -, wird dadurch unverständlich gemacht. Umgekehrt wird Löwith
selbst durch diesen Kurzschluß zu der Absurdität verleitet, seinerseits Nietz-
sches Lehre von der ewigen Wiederkunft wie eine Art A.ristoteles redivivus zu
behandeln. Für Aristoteles war in der Tat der e\vige Kreisgang der Natur der
selbstverständliche Aspekt des Seins. Das sittliche und geschichtliche Leben
der Menschen bleibt bei ihm auf die Ordnung bezogen, die der Kosmos
vorbildlich darstellt. Davon ist bei Nietzsehe keine Rede.Er denkt vielmehr
das kosmische Kreisen des Seins ganz aus dem Gegensatz, den das menschli-
che Dasein zu ihm darstellt. Die ewige Wiederkehr des Gleichen hat ihren
Sinn als eine Lehre fur die Menschen, d. h. als eine ungeheuerliche Zumu-
tung rur den menschlichen Willen, die alle seine Illusionen von Zukunft und
Fortschritt vernichtet. Nietzsche also denkt die Lehre von der ewigen Wie-
derkunft, um den Menschen in seiner Willens spannung zu treffen. Die
Natur ist hier vom Menschen aus gedacht, als das, was von ihm nicht weiß.
Man kann nun nicht abermals, wie in einer neuerlichen Umkehrung, die
Natur gegen die Geschichte ausspielen wollen, wenn man die Einheit von
Nietzsches Denken verstehen will. Löwith selbst bleibt bei der Feststellung
des ungelösten Zwiespaltes in Nictzsche stehen. Muß man nicht angesichts
dieser Feststellung die weitergehende Frage stellen, wie ein solches Sich ver-
fangen in einer Sackgasse möglich war, d. h. wieso es rur Nietzsche selbst
kein Sich verfangen und kein Scheitern war, sondern die große Entdeckung
und Befreiung sein sollte? Auf diese weitergehende Frage findet der Leser bei
Löwith keine Antwort. Das ist es aber doch, was man verstehen, d. h. durch
eigenes Denken vollzieh bar machen möchte. Hcidegger hat das unternom-
men, d. h. er hat das Bezugssystem konstruiert, von dem aus sich Nietzsches
Aussagen zueinander ordnen. Daß dieses Bezugssystem bei Nietzsche selber

7 Im 3. Kap. von )Heidegger - Denker in dürftiger Zeitl, Frankfurt 1953. Vgl. auch

inzwischen die Neuauflage von Löwith, Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr
[undjetzt den Nietzsche-Band in seinen Sämtlichen Schriften, Stuttgart 1986]
382 Anhänge

nicht zur unmittelbaren Aussage kommt, liegt in denl methodischen Sinn


solcher Rekonstruktion selbst. Umgekehrt sieht man Löwith paradoxer-
weise das, was er selber bei Nietzsehe nur als einen Bruch ansehen kann, von
sich aus noch einmal tun: er reflektiert auf die Unreflcktiertheit; er philo-
sophiert gegen die Philosophie im N amen der Natürlichkeit und beruft sich
auf den gesunden Menschenverstand. Wäre der gesunde Menschenverstand
"virklich ein philosophisches Argument, so wäre es längst mit aller Philo-
sophie am Ende und damit auch mit der Berufung auf ihn. Es hilft nichts,
Löv,tith wird aus dieser Verstrickung nur herauskommen, \venn er aner-
kennt, daß die Berufung auf die Natur und Natürlichkeit weder Natur noch
natürlich ist.

N
zu I. 271

Löwiths hartnäckiges Vorbeihören an dem transzendentalen Sinn der Hci-


deggerschcn Aussagen über das Verstehen 8 scheint mir auf doppelte Weise
unrecht zu haben. Er sieht nicht, daß Heidegger etwas aufgedeckt hat, was in
allem Verständnis liegt und als Aufgabe gar nicht abgeleugnet werden kann.'
Ferner sieht er nicht, daß die Gewaltsamkeit, die bei vielen Heideggerschen
Interpretationen auftritt, keineswegs aus dieser Theorie des Verstehens
folgt. Sie ist vielmehr ein produktiver Mißbrauch der Texte, der eher einen
Mangel an hermeneutischer Bewußtheit verrät. Offenbar ist es die Überge-
walt des eigenen sachlichen Anliegens, was gewissen Seiten der Texte eine
Überresonanz verleiht, die die Proportionen verzerrt. Heideggers ungedul-
diges Verhalten zu überlieferten Texten ist so wenig die Folge seiner herme-
neutischen Theorie, daß es vielmehr dem der großen Fortbildner geistiger
Tradition ähnelt, die vor der Ausbildung des historischen Bewußtseins sich
die Überlieferung mnkritisch< anverwandclten. Nur daß sich Heidegger
dabei den Maßstäben der Wissenschaft anpaßt und seine produktive Anver-
wandlung der Überlieferung mitunter philologisch zu legitimieren sucht,
fordert die philologische Kritik heraus. Das Recht seiner Analyse des Vers te-
hens wird dadurch nicht beeinträchtigt, sondern im Grunde bestätigt. Zum
Verstehen gehört immer, daß die zu verstehende Meinung sich gegen die
Ge\valt der Sinntendenzen behaupten muß, die den Interpreten beherrschen.

11 Vgl. Löwith, lHeideggcr - Denker in dürftiger Zeit<, Frankfurt 1953, S. 80f.


9 [Hier würde allerdings Derrida widersprechen, der in Hcideggcrs Nietzsche-Interpre-
tatiOll einen Rückfall in die Metaphysik sieht. Vgl. in diesem Band S. 361 ff.]
Exkurse I-VI 383

Gerade weil wir von der Sache in Anspruch genommen \verden, bedarf es
der hermeneutischen Anstrengung. Ohne daß man von der Sache in An-
spruch genommen ist, vermag man aber umgekehrt Überlieferung über-
haupt nicht zu verstehen, es sei denn in der totalen Sachindifferenz der
psychologischen oder historischen Interpretation, die dort eintritt, wo man
eben nicht mehr versteht.

v
zu 1,427

Es ist seltsam, daß ein so hoch verdienter Plotin-Forscher wie Richard Har-
der in dem letzten Vortrag, der ihm zu halten vergönnt war, den Begriff der
Quelle wegen seiner maturwissenschaftlichen Herkunft< kritisiert hat (Les
Sources de Plotin, Entretiens V, VII, Quelle oder Tradition?). So berechtigt
die Kritik an einer äußerlich betriebenen Quellenforschung ist - der Begriff
der Quelle hat eine bessere Legitimation. Als philosophische Metapher ist er
platonisch-neu platonischer Herkunft. Das Hervorquellen des reinen und
frischen Wassers aus einer unsichtbaren Tiefe ist dabei die Leitvorstellung.
Das zeigt u. a. die häufige Zusammenstellung pege kai arche (Phaidr. 245 e
sowie oft bei Philo und Plotin). - Als Terminus der Philologie wird der
Begriff des J0/15 wohl erst im Zeitalter des Humanismus eingeftihrt, meint
aber dort zunächst nicht den aus der Quellenforschung bekannten Begriff,
sondern versteht die Parole ad fon1e5, den Rückgang zu den Quellen, als
Hinwendung zu der ursprünglichen, unentsteIlten Wahrheit der klassischen
Autoren. 10 Auch darin bestätigt sich unsere Feststellung, daß die Philologie
in ihren Texten die Wahrheit meint, die in ihnen zu finden ist. - Der
Übergang des Begriffs in den uns geläufigen technischen Wortsinn dürfte
von der ursprünglichen Bedeutung insofern et\vas festhalten, als die Quelle
sich von der getrübten Wiedergabe oder der vernilschenden Aneignung
unterscheidet. Das erklärt im besonderen, daß man nur bei literarischer
Überlieferung den Begriff der Quelle kennt. Nur das sprachlich Überlieferte
gibt über das, ,"vas in ihm gelegen ist, immerwährenden und vollen Auf-
schluß, ist nicht bloß zu deuten, wie sonstige Dokumente und Überreste,
sondern gestattet unmittelbar aus der Quelle zu schöpfen bzw. an der Quelle
ihre späteren Derivationen zu messen. All das sind nicht naturwissenschaft-
liche, sondern sprachlich-geistige Bilder, die im Grunde bestätigen, was

10 [Ich verdanke E. Llcdo einen interessanten Beleg ftir das .ad fontes( aus dem spani-

schen Humanismus, der den Bezug auf die )Psalmen< zeigt.]


384 Anhänge

Harder meint, daß nämlich Quellen durch ihre Benutzung durchaus nicht
trüb werden müssen. In der Quelle strömt immer frisches Wasser nach, und
so ist es auch mit den wahren geistigen Quellen in der Überlieferung. Ihr
Studium ist gerade deshalb so lohnend, weil sie immer noch etwas anderes
hergeben, als was man bisher aus ihnen entnommen hat.

VI
zu I, 341 und 471

Zum Begriffdes Ausdrucks


Im Ganzen unserer Darlegungen liegt es begründet, daß der Begriff des
Ausdrucks von seiner modernen subjektivistischen Tönung gereinigt und
auf seinen ursprünglichen grammatisch-rhetorischen Sinn zurückbezogen
werden muß. Das Wort }Ausdruck< entspricht dem lateinischen expressio j

exprimere) das den geistigen Ursprung von Rede und Schrift bezeichnet
(verbis exprimere). Es hat im Deutschen eine erste frühe Geschichte im
Sprachgebrauch der Mystik und weist damit auf neu platonische Begriffsbil-
dung zurück, die als solche noch zu erforschen wäre. Außerhalb des mysti-
schen Schrifttums kommt das Wort erst im 18. Jahrhundert recht in Aufnah-
mc. Damals erweitert es seine Bcdeutung und dringt gleichzeitg in die
ästhetische Theorie ein, wo es den Begriff der Nachahmung verdrängt.
Doch liegt die subjektivistische Wendung, daß der Ausdruck Ausdruck eines
Inneren, etwa eines Erlebnisses ist, auch damals noch fern ll . Beherrschend
ist der Gesichtspunkt der Mitteilung und Mitteilbarkeit, d. h. es geht datum,
den Ausdruck zu finden". Den Ausdruck finden, heißt aber, einen Ausdruck
finden, der einen Eindruck erzielen will, also keineswegs den Ausdruck im
Sinne des Erlebnisausdrucks. Das gilt insbesondere auch in der Terminolo-

11 Der dem Begriff der expressio im Denken der Scholastik entsprechende Gegenbegriff

ist vielmehr die impressio speciei. Allerdings macht es das Wesen derim verbum geschehen-
den expressio aus, daß sich darin, wie Nicolaus Cusanus wohl als erster ausspricht, die
mens manifestiert. So ist bei Nicolaus eine Wendung möglich, wie: das Wort sei expressio
exprimentis et expressi (Camp. eheo!. VII). Aber das meint nicht einen Ausdruck von
inneren Erlebnissen, sondern die reflexive Struktur des verbum: alles sichtbar zu machen
und sich selbst im Aussprechen auch - so wie das Licht alles und sich selbst sichtbar macht.
[Inzwischen ist der Artikel >Ausdruck< von Tonelli im Ritterschen Wörterbuch Bd. I, S.
653-655 erschienen. J
J2 Kant, KdU B 198
Exkurse I-VI 385

gie der Musik". Die musikalische Affektenlehre des 18. Jahrhunderts meint
nicht, daß man sich selbst in der Musik ausdrückt, sondern daß die Musik
etwas ausdrückt, nämlich Affekte, die ihrerseits Eindruck machen sollen.
Das gleiche fmden wir in der Asthetik bei Sulzer (1765): Ausdruck ist nicht
primär als Ausdruck der eigenen Empfindungen zu verstehen, sondern als
Ausdruck, der Empfindungen erregt.
Immerhin ist die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits weiter auf dem
Wege zur Subjektivierung des Ausdrucksbegriffs. Wenn Sulzer z. B. gegen
denjüngeren Riccoboni polemisiert, welcher die Kunst des Schauspielers im
Darstellen und nicht im Empfinden sieht, hält er die Echtheit des Empfin-
dens bei der ästhetischen Darstellung bereits flir erforderlich. So ergänzt er
auch das espressivo der Musik durch eine psychologische Substruktion des
Empfindens des Tonsetzers. Wir stehen also hier im Übergang von der
rhetorischen Tradition zur Erlebnispsychologie. Indessen bleibt die Vertie-
fung in das Wesen des Ausdrucks, und des ästhetischen Ausdrucks im
besonderen, am Ende doch immer wieder auf den metaphysischen Zusam-
menhang zurückbezogen, der neuplatonischer Prägung ist. Der Ausdruck
ist niemals bloß ein Zeichen, durch das man auf ein Anderes, Inneres
zurückgewiesen wird. Im Ausdruck ist das Ausgedrückte selbst da, z. B. in
den Zornesfalten der Zorn. Das weiß die moderne Ausdrucksdiagnostik
sehr wohl, so wie es schon Aristoteles gewußt hat. Offenbar ist es zur
Seinsweise des Lebendigen gehörig, daß derart das eine im anderen ist. Das
hat auch seine spezifische Anerkennung im Sprachgebrauch der Philosophie
gefunden, wenn Spinoza in exprimere und expressio einen ontologischen
Grundbegriff erkennt und wenn im Anschluß an ihn Hegel in dem objekti-
ven Sinn von Ausdruck als Darstellung, Außerung, die eigentliche Wirk-
lichkeit des Geistes sieht. Hege! stützt dadurch seine Kritik am Subjektivis-
mus der Reflexion. AhnIich denkt Hölderlin und dessen Freund Sindair, bei
dem der Begriff des Ausdrucks geradezu eine zentrale Stellung gewinnt. 14
Die Sprache als Produkt der schöpferischen Reflexion, die das Gedicht sein
läßt, ist )Ausdruck eines lebendigen, aber besonderen Ganzen<. Die Bedeu-
tung dieser Theorie des Ausdrucks ist offenbar durch die Subjektivierung
und Psychologisierung des 19. Jahrhunderts gänzlich verstellt worden. In
Wahrheit ist bei Hölderlin wie bei Hege! die rhetorische Tradition weit mehr
bestimmend. Im 18. Jahrhundert tritt ,Ausdruck< überhaupt an die Stelle
von }Ausdriickung< und meint jene bleibende Form, die beim Abdruck eines
Siegels u. dergl. zurückbleibt. Der Bildzusammenhang wird völlig deutlich
aus einer Stelle bei Gellert, »daß unsere Sprache gewisser Schönheit nicht

13 Vgl. den instmktiven Aufsatz von H. H. Eggebrecht, Das Ausdrucksprinzip im

musikalischen Sturm und Drang. DVjs 29 (1955), S. 323-349.


14 Vgl. die Ausgabe von Hellingrath Bd. 3, S. 571 ff.
386 Anhänge

fahig und ein sprödes Wachs ist, das oft lusspringt, wenn man die Bilder des
Geistes hineindrücken vvill«. 15
Das ist alte neu platonische Tradition. 16 Die Metapher hat darin ihre Poin-
te, daß die eingeprägte Form nicht teilhaft, sondern ganz und gar in allen
Abdrücken gegcl1v.rärtig ist. Darauf beruht auch die Anwendung des Be-
griffs im femanatistischen DenkenI, das nach Rothacker 17 unserem histori-
schen Weltbild überall zugrunde liegt. Es ist wohl deutlich, daß die Kritik an
der Psychologisierung des Begriffes >Ausdruck< das Ganze der vorliegenden
Untersuchung durchzieht und sowohl der Kritik an der >Erlebniskunst( \vic
der an der romantischen Hermeneutik zugrunde liegt. 18

15 Schriften Bd. 7, S. 273


16 VgL etwa Dionysiaka I, 87
I_ Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften (Handb. d. Philos. III),

S. 166. VgL in Bd. 1 S. 33 den Lebensbegriffbei Oeringer und S. 246ff. bei Husserl und
GeafYmck. [Vgl. Ge,. Werkeßd. 1, S. 239ff., 253ff.J
18 Andeutungen auch in älteren Arbeiten des Verfassers, z. B. >Bach und Weimar<

(1946), S. 9ff[Kl. Schrif. 11, S. 75-81; Ces. Werke Bd. 9 J und) Über die Ursprünglichkeit
der Philosophie( (1947). S. 25. (Kl. Schrift. I, S. 11-38; Ges. Werke Bd. 4J
27. Hermeneutik und Historismus
1965

Von Hermeneutik war in der philosophischen Besinnung auf die Grundla-


gen der Geisteswissenschaften früher kaum die Rede. Hermeneutik war eine
bloße Hilfsdisziplin, ein Kanon von Regeln, die den Umgang mit Texten
zum Gegenstand hatten. Sie differenzierte sich allenfalls noch, indem sie der
Sonderart bestimmter Texte Rechnung trug, z. B. als bibhschc Hermeneu-
tik. Und schließlich gab es eine etwas andersartige Hilfsdisziplin. die sich
Hermeneutik nannte', in Gestalt der juristischen Hermeneutik. Sie enthielt
die Regeln zur AusfUllullg von Lücken itn kodifizierten Recht, hatte also
normativen Charakter. Die zentrale philosophische Problematik dagegen,
die in dem Faktum der Geisteswissenschaften beschlossen lag, sah man - in
Analogie zu den Naturwissenschaften und ihrer Begründung durch die
kantische Philosophie - in der Erkenntnistheorie. Kants Kritik der reinen
Vernunft hatte die apriorischen Elemente der Erfahrungserkenntnis der
Naturwissenschaften gerechtfertigt. So kam es darauf an, der Erkenntnis-
weise der historischen Wissenschaften eine entsprechende theoretische
Rechtfertigung zu verschaffen. J. G. Droysen entwarf in seiner >Historik(
eine sehr einflußreiche Methodologie der historischen Wissenschaften, die
ganz auf die Entsprechung zu der kantischen Aufgabe abzielte, und W.
Dilthey, der die eigentliche Philosophie der historischen Schule entwickeln
sollte, verfolgte von früh an mit ausdrücklichem Bewußtsein die Aufgabe
einer Kritik der historischen Vernunft. Insofern war auch seine Selbstauffas-
sung eine erkenntnistheoretische. Bekanntlich sah er in einer von der natur-
wissenschaftlichen Überfremdung gereinigten »beschreibenden und zer-
gliedernden« Psychologie die erkenntnistheoretische Grundlage der soge-
nannten Geisteswissenschaften. Indessen wurde Dilthcy bei der DurchfLih-
rung dieser Aufgabe dazu geführt, seinen ursprünglichen erkenntnistheore-
tischen Ansatz zu überwinden, und so ist er es gewesen, der die philo-
sophische Stunde der Hermeneutik heraufftihrte. Zwar hat er die erkennt-
nistheoretische Grundlage, die er in der Psychologie gesucht hatte, nie ganz
aufgegeben. Daß Erlebnisse durch Innesein charakterisiert sind, so daß es
hier ein Problem der Erkenntnis des anderen, des Nicht-Ich, wie es der
kantischen Fragestellung zugrunde lag, gar nicht gibt, blieb die Basis, auf
388 Anhänge

der er den Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften zu


errichten suchte. Aber die geschichtliche Welt ist kein Erlebniszusarnmcn-
hang von der Art, wie etwa in der Autobiographie Geschichte für die
Innerlichkeit der Subjektivität sich darstellt. Geschichtlicher Zusammen-
hang muß am Ende als ein Sinnzusarnmcnhang verstanden werden, der den
Erlebnishorizont des einzelnen grundsätzlich übersteigt. Er ist ,"vie ein
großer, fremder Text, den zu entziffern eine Hermeneutik helfen muß. So
suchte Dilthey aus dem Zwang der Sache den Übergang von der Psycholo-
gie zur Hermeneutik.
Dilthey sah sich bei seiner Bemühung um eine solche hermeneutische
Grundlegung der Geisteswissenschaften in betontem Gegensatz zu derjeni-
gen erkenntnistheoretischen Schule, die damals vom ncukantianischen
Standpunkt aus eine Grundlegung der GeistesvII'issellschaften versuchte,
nämlich zu der von Windelband und Riekert entwickelten Wertphilosophie.
Das erkenntnistheoretische Subjekt erschien ihm als eine blutleere Abstrak-
tion. So sehr ihn auch selber das Streben nach Objektivität in den Geistes-
wissenschaften beseelte, er konnte nicht davon abstrahieren, daß das erken-
nende Subjekt, der verstehende Historiker, seinem Gegenstand, dem ge-
schichtlichen Leben, nicht einfach gegenübersteht, sondern von der gleichen
Bewegung geschichtlichen Lebens getragen wird. Insbesondere in seinen
späteren Jahren hat Dilthey daher mehr und mehr der idealistischen Idcnti-
tätsphiloso phie Gerechtigkeit widerfahren lassen, \....eil im idealistischen Be-
griff des Geistes die gleiche substantielle Gemeinsamkeit zwischen Subjekt
und Objekt, z\vischen Ich und Du, gedacht war, wie sie in seinem eigenen
Begriff des Lebens lag. Was Georg Misch als den Standpunkt der Lebensphi-
losophie gegen Husserl wie gegen Heidegger scharfsinnig verteidigt hat 19 ,
teilte offenbar mit der Phänomenologie die Kritik an einem naiven histori-
schen Objektivismus sowohl wie an seiner erkenntnistheoretischen Recht-
fertigung durch die südwestdeutsche Wertphilosophie. Die Konstitution der
historischen Tatsache durch den Wertbezug trug, so einleuchtend das war,
der Verwobenheit der geschichtlichen Erkenntnis in das geschichtliche Ge-
schehen keine Rechnung. 20
Hier ist daran zu erinnern, daß der monumentale Torso, den Max Weber
hinterlassen hat und der unter dem Titel> Wirtschaft und Gesellschft< 1921
zuerst ediert worden ist, selber als ein >Grundriß der verstehenden Soziolo-

J9 G. Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der

Diltheyschcn Richtung mit Heidegger und Husserl, Philos. Anzeiger 1929/30, 2. Auf!.
Leipzig, Berlin 1931.
2(J [Das Jahr 1983 hat, zugleich mit der Publikation der Materialien zum 2. Band der

!Einleitung in die Geiseswissenschaft~ (Ges. Werke Bd. 18 und 19) W. Dilthey erneue ins
allgemeine Bev.'Ußtsein gehoben. Vgl. auch meine neuen Dilchey-Arbeiten; Ges. Werke
Bd.4.]
Hermeneutik und Historismus 389

gic< von ihm geplant war21 • Die weitgehend ausgeführten Teile dieser rur den
Grundriß der Sozial ökonomik vorbereiteten Soziologie betreffen Reli-
gions-, Rechts- und Musiksoziologie, während z. B. die Staatssoziologie
nur sehr bruchstückhaft ausgeftihrt ist. Hier interessiert vor allem der 1918-
20 verfaßte einleitende Teil, der jetzt )Soziologische Kategorienlehre< betitelt
ist. Ein imposanter Begriffskatalog auf extrem norninalistischer Basis, der
übrigens - im Unterschied zu dem bekannten Logos-Aufsatz Von 1913 - den
Wertbegriff (und damit die letzte Anlehnung an den süwestdeutschcn Neu-
kantianismus) vermeidet. Max Weber nennt diese Soziologie }verstehend<,
sofern sie den gemeinten Sinn des sozialen Handelns zum Gegenstand
mache. Freilich kann der >subjektiv gemeinte( Sinn auf dem Gebiet des
gesellschaftlich-geschichtlichen Lebens nicht nur der VOn den einzelnen
Handelnden tatsächlich gemeinte sein. So tritt als hermeneutisch-methodi-
scher Ersatzbegriff der begrifflich konstruierte reine Typus (die )ideal-typi-
schc Konstruktion() ergänzend ein. Auf dieser Basis, die Max Weber )ratio-
nalistisch( nennt, ruht das ganze Gebäude - der Idee nach >wertfrei< und
neutral -, eine monumentale Grenzbastion der }objektiven~ Wissenschaft,
die ihrc methodische Eindeutigkeit durch klassifikatorische Systematik vcr-
teidigt und in den inhaltlich ausgeführten Partien zu großartiger systemati-
scher Überschau über die geschichtliche Erfahrungswelt fUhrt. Die eigentli-
che Verwicklung in die Problematik des Historismus v.7ird hier durch me-
thodische Askese vermieden.
Die weitere Entwicklung der hermeneutischen Besinnung ist aber gerade
durch die Fragestellung des Historismus beherrscht und geht daher von
Dilthey aus, dessen gesammelte Schriften in den zwanziger Jahren bald auch
Ernst Troeltschs Wirkung überdeckten.
Diltheys Anknüpfung an die romantische Hermeneutik, die sich mit dem
Wiederaufleben der spekulativen Philosophie HegeIs in unserem Jahrhun-
dert verknüpfte, fUhrtc eine vielfaltige Kritik am historischen Objektivis-
mus herauf(GrafYorck, Heidegger, Rothacker, Betti usw.).
Sie hinterließ auch in der historisch-philologischen Forschung sichtbare
Spuren, indem romantische Motive, die durch den wissenschaftlichen Posi-
tivismus des 19. Jahrhunderts verdeckt worden waren, sich innerhalb der
Wissenschaft wieder zur Geltung brachten22 • Man denke etwa an das Pro-
21 Das Nachlaßwerk liegt jetzt in einer Neordnung der riesigen Materialien, dieJohs.
Winckelmann besorgt hat, als 4. Auflage vor. 1. und 2. Halbband, Tübingen 1956 [Eine
groß angelegte kritische Ausgabe des Gesamtwerks von Max Weber ist im Erscheinen. J
22 Einen brauchbaren Überblick über die in der modernen Geschichtswissenschaft
geübte Selbstreflexion - unter ausdrücklicher Einbeziehung der englisch-amerikanischen
und der französischen Geschichtsforschung - gibt F. Wagner, Moderne Geschichtsschrei-
bung, Ausblick auf eine Philosophie der Geschichtswissenschaft, Berlin 1960. Es zeigt
sich, daß überall der naive Objektivismus nicht mehr genügt und damit ein theoretisches
Bedürfnis anerkannt wird, das über bloßen erkenntnistheoretischen Methodologismus
390 Anhänge

blem der antiken Mythologie, das im Geiste Schellings von Walter F, Otto,
Karl Kerenyi u. a. erneuert wurde. Selbst ein so abstruser, der Monomanie
seiner Intuitionen verfallener Forscher wie J. J. Bachafen, dessen Ideen
modernen Ersatzreligionen Vorschub leisteten (über Alfred Schuler und
Ludwig Klages haben sie z, B, auf Stefan Gcorge eingewirkt), fand nun
erneute wissenschaftliche Beachtung. 1925 erschien unter dem Titel ,Der
Mythos von Orient und Occident, Eine Metaphysik der alten Weltt eine
systematisch redigierte Sammlung von Bachofens Hauptschriften, zu der
Alfred Bacurnler eine beredte und bedeutende Einleitung verfaBten ,
Auch wenn man die wissenschaftsgcschlchtlichc Sammlung von de Vrics'
IForschungsgeschichte der Mythologici aufschlägt2 4 , erhält man den glei-

hinausdr::il1gt_ l Vgl. inHvischen K.-G. F:lber, Theorien der Geschichtswissenschaft, M ün-


ehell 197 t und R. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zm Semantik geschichtlicher Zeiten.
Frankfurt 11)7<)].
Auch W. Hafers unter dem Titel: Geschichte Z\vischen Philosophie und Politik, Studie
zur Problematik des modernen Geschichtsdenkens. Stuttgart 1956, zusammengefaßte
Einzelstudien über Ranke, E Meinecke, Litt, sowie die nationalsozialistische und bolsche-
wistische Geschichtsinstrumentierung gehören in diesen Zusammenhang. H, sucht die
Gefahren wie die produktiven Möglichkeiten solcher gesteigerten Reflektiertheit des
historischen Denkens an dem Verhältnis zur Politik zu illustrieren.
Hier wäre vor allem noch aufR. Wittram, Das Interesse an der Geschichte (Kleine Van-
denhoeck-Reihe 59.160/61, Göttingen 1958) hinzU\veisen. Diese Vorlesungen stellen mit
Entschiedenheit die Frage IlJ.ch der über die bloße )Richtigkeit< hinausgehende >Wahrheit
in der Geschichte< und geben in den Anmerkungen breitgestreute Hinweise auf das neuere
Schrifttum, insbesondere auch auf wichtige Zeitschriftenaufsätze.
n 1m Jahre 1936, also nach drei Jahrzehnten, ist ein fotomechanischer Neudruck dieses
Bachofen-Werkes herausgekommen (2. AufL München 1956).
Wenn man das Werk heute wieder zur Hand nimmt, . .vird einem auf der einen Seite
bewußt. daß die damalige Neuerscheinung einen "\virklichen Erfolg hatte, sofern inzwi-
schen die große kritische Bachofen-Ausgabe \veitgehend verwirklicht ",:urde. Auf der
anderen Seite liest man die riesige Einleitung Baeumlers mit einem seltsamen Gemisch
von Be\vunderung und Bestürzung, Bacumlcr hat darin das geistes geschichtliche Ver-
ständnis rur Bachofen entschieden gefordert, indem er die Geschichte der deutseben
Romantik neu akzentuierte. Er legte einen scharfen Schnitt z"\vischell die Jenaer ästhetische
Romantik, die er als die Erntc des 18. Jahrhunderts \""ürdigte. und die religiöse Romantik
Heidelbergs (vgl. H.-G. Gadamer, Hegd und die Hcidclberger Romantik, Hegels Dia-
lektik (1971) S. 71-81). Als deren Archegeten machte er Görres sichtbar, dessen Wendung
zur deutschen Vorzeit einer der Faktoren wurde, die die nationale Erhebung von 1813
vorbereiteten. Daran ist viel Richtiges, und insofern verdient die Arbeit Baeumlers noch
heute Beachtung. Wie Bachofen selbst be'wegt sich freilich auch sein Interpret in einem
Bereich seelischer Erfahrungen, die er auf einen falschen wissenschaftlichen Raum bezieht
(wie Franz Wieacker in seiner Bachofen-Rezension im Gnomon, Bd. 28 (1956) S, 161-
173 mit Recht VOll Bachofen sagt),
24 Jan de Vries, Forschungsgeschichte der Mythologie, Freiburg-München, o.J. [VgL

auch die nützliche Quellensammlung zur Mythologie, die von F. Schupp herausgegeben
ist, und H.-G. Gadamcr/Heinrich Vries, Mythos und Wissenschaft. In: K, Rahner (u. a.
Hrsg.), Christlicber Glaube in moderner Gesellschaft, Freiburg 21981, S. 8- 38. - Ein
Hermeneutik und HistorisIllm 391

ehen Eindruck, "vie sich die >Krise des Historismus, in einer Neubelebung
der Mythologie ausgnvirkt hat. Oe Vrics gibt eine durch weiten Horizont
ausgezeichnete Übersicht - mit gut ausgewählten Leseproben, die insbeson-
dere die Neuzeit, unter Ausklammerung der Religionsgeschichte und unter
zu"veilcn etwas sklavischer, zu\veilcn et"vas allzu freier Beachtung der Chro-
nologie, gut überschaubar macht. Es ist bemerkenswert, wie entschieden
Waltcr F. Otto und Karl Kerenyi als Wegbereiter einer neuen, den Mythos
ernstnehmenden Forschungsrichtung anerkannt \verden.
Das Beispiel der Mythologie ist nur eines unter vielen. Man könnte in der
konkreten Arbeit der Geisteswissenschaften an vielen Punkten die gleiche
Abkehr von einem naiven Methodologismus aufweisen, dem in der philo-
sophischen Besinnung ausdrückliche Kritik am historischen Objektivismus
oder Positivismus entspricht. Von besonderer Bedeutung \vurde diese Wen-
dung dort, \vo sich mit der Wissenschaft ursprünglich normative Gesichts-
punkte verbinden. Das ist in der Theologie \vie in der Jurisprudenz der Fall.
Die theologische Diskussion der letzten Jahrzehnte hat das Problem der
Hermeneutik gerade dadurch in den Vordergrund gespielt, daß sie das Erbe
der historischen Theologie mit neu aufgebrochenen theologisch-dogmati-
schen Antrieben vermitteln mußte. Den ersten revolutionären Einbruch
stellte Karl Barths Erklärung des Römerbriefes dar 2s , eine >Kritik, der libera-
len Theologie, die nicht so sehr die kritische Historie als solche meinte, als
vielmehr die theologische Genügsamkeit, die deren Ergebnisse fur ein Ver-
stehen der Heiligen Schrift hielt. Insofern ist Kar! Barths Römerbrief bei
aller Abneigung gegen methodologische Reflexion eine Art hermeneuti-
schen Manifestcs 20 • Wenn er sich mit RudolfBultmann und seiner These der
Entmythologisierung des Neuen Testaments wenig befreunden kann, so
trennt ihn nicht das sachliche Anliegen, sondern es ist, \vie Inir scheint. die
Verknüpfung historisch-kritischer Forschung mit theologischer Exegese
und die Anlehnung der methodischen Selbstbesinnung an die Philosophie
(Heidegger), \vas Barth verhindert, sich in Bultmanns Verfahrensweise
wiederzuerkennen. Es ist indessen eine sachliche Not"vendigkeit, das Erbe
der libera1cn Theologie nicht einfach zu verleugnen, sondern zu bewältigen.
Die gegenwärtige Diskussion des hermeneutischen Problems innerhalb der
Theologie - und lIiche nur die des hermeneutischen Problems - ist daher
durch die Auseinandersetzung der unabdinglichen theologischen Intention
mit der kritischen Historie bestimmt. Die einen finden die historische Frage-
stellung angesichts dieser Lage erneut verteidigungs bedürftig, andere, wie
die Arbeiten von Ott, Ebeling und Fuchs zeigen, stellen weniger den For-
eindrucksvolles Zeugnis fUr die hermeneutische Dimension des Mythos ist als Ganzes das
Buch von H. Blumeilbcrg, Arbeit am Mythos. Frankfurt 1979].
" 1. Ann. 1919.
26 Vgl. G. Ebcling, Wort Gottes und Hermeneutik (Zschr. f Th. u. K. 1959, 228ff.).
392 Anhänge

schungscharaktcr der Theologie in den Vordergrund als ihre >hermeneuti-


sche< Hilfsleistung rur die Verkündigung. -
Wer als Laie zu der Entwicklung innerhalb derjuristischen Diskussion des
hermeneutischen Problems Stellung nehmen will, wird sich nicht in die
juristische Einzelarbeit vertiefen können. Er wird im ganzen beobachten,
daß sich die Jurisprudenz von dem sogenannten Gesetzespositivismus über-
all entfernt und als eine zentrale Frage ansieht, wie weit die Konkretisierung
im Recht ein eigenständiges juristisches Problem darstellt. Eine umfassende
Übersicht über dieses Problem hat Kurt Engisch (1953) gegeben". Daß
dieses Problem im Gegenschlag gegen den rechts positivistischen Extremis-
mus in den Vordergrund drängt, wird auch in historischer Sicht verständ-
lich, z. B. in Franz Wieackers >Privatrechtsgeschichte der Neuzeit~ oder in
der >Methodenlehre der Rechtswissenschaft< von Karl L~renz. 2& So zeigt es
sich auf al1en drei Gebieten, in denen von jeher Hermeneutik eine Rolle
spielte, in den historisch-philologischen Wissenschaften, in der Theologie
und in der Jurisprudenz, wie die Kritik am historischen Objektivismus bzw.
am )Positivismus< dem hermeneutischen Aspekt eine neue Bedeutung ver-
liehen hat.
Es trifft sich bei dieser Sachlage gut, daß die ganze Spannweite des
hermeneutischen Problems kürzlich durch die bedeutende Arbeit eines ita-
lienischen Forschers durchmessen und systematisch geordnet worden ist.
Der Rechtshistoriker Emilio Betti hat in seiner großangelegten >T eoria
generale dell' Interpretazione(29, deren Hauptideen auch in deutscher Spra-
che in einem >hermeneutischen Manifest< unter dem Titel >Zur Grundlegung
einer al1gemeinen Auslegungslehre<30 entwickelt worden sind, eine Über-
sicht über den Stand des Problems gegeben, die ebenso sehr durch die Weite
ihres Horizonts, die imponierende Kenntnis im einzelnen wie durch ihre
klare systematische Durchflihrung besticht. Als Rechtshistoriker, der zu-
gleich selbst ein Rechtslehrer ist, und als Landsmann Croces und Gentiles,
der zugleich selbst in der großen deutschen Philosophie Zu Hause ist, so daß
er ein schlechthin vollendetes Deutsch spricht und schreibt, war er gegen die
Gefahren eines naiven historischen Objektivismus ohnehin gefeit. Er weiß

27 Die Idee der Konkrecisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, Hcidcl-

berg, 1953, 294 S. (Abh. d. Hd. Ak. d. W., phil.-hist. KI. 1953/1. vgI. neuerdings:
Einftihrung in das juristische Denken, Stuttgart 1956). Vgl. S. 520.
2R fAußer K. Larenz eint1ußreicher Darstellung in der 3. Auflage seiner )Methodenleh-

re< sind die Arbeiten von]. Esser Ausgangspunkte einer juristischen Diskussion gewor-
den. Vgl. J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtfindung. Rationalitäts-
garantien der richterlichen Entschcidungspraxis. Frankfurt 1970 und Juristisches Argu-
mentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzepts unseres Jahrhunderts. (Sitzb. Heid.
Akad. d. Wiss., Phil.-histor. Klasse 1979, Abh. 1) Heidelbcrg 1979].
29 2 Bde .. Milano 1955. Deutsche Ausgabe 1967.

3U Festschrift f. E. Rabel, Bd. H, Tübingen 1954.


Hermeneutik und Historismus 393

die ganze große Ernte hermeneutischer Besinnung einzubringen, die seit


Wilhclm von Humboldt und Schleicrmacher in unablässigen Bemühun-
gen gereift ist.
In deutlicher Abkehr von der extremen Position, die Benedetto Croce
eingenommen hatte, sucht Betti die Mitte zwischen dem objektiven und
dem subjektiven Element alles Verstehens. Er formuliert einen ganzen
Kanon hermeneutischer Prinzipien, an dessen Spitze die Sinnautonomie
des Textes steht, derzufolge der Sinn, d. h. die Meinung des Autors aus
dem Texte selbst zu gewinnen ist. Er betont aber mit gleicher Entschie-
denheit das Prinzip der Aktualität des Verstehens bzw. der Anpassung
desselben an das Objekt, d. h. er sieht, daß die Standortgebundenheit des
Interpreten ein integrierendes Moment der hermeneutischen Wahrheit
ist.
Als Jurist ist er auch davor bewahrt, die subjektive Meinung, z. B.
die historischen Zufalligkeiten, die zur Formulierung eines Rechtsgehal-
tes geftihrt haben, zu überschätzen und mit dem Rechtssinn schlechthin
gleichzusetzen. Auf der anderen Seite bleibt er freilich so sehr im Gefol-
ge der durch Schleiermacher begründeten ,psychologischen Interpreta-
tion<, daß seine hermeneutische Position immer wieder zu verschwim-
men droht. So sehr er bemüht ist, die psychologische Verengung zu
überwinden, und die Aufgabe darin sieht, den geistigen Zusammenhang
von Werten und Sinngehalten nachzukonstruieren, vermag auch er diese
eigentlich hermeneutische Aufgabenstellung doch nur durch eine Art
Analogie zur psychologischen Auslegung zu begründen.
So schreibt er etwa, daß das Verstehen ein Wiedererkennen und N ach-
konstruieren des Sinnes sei, und erläutert diese Wendung: I,mithin des
durch die Formen seiner Objektivation zum denkenden Geiste spre-
chenden Geistes, der sich jenem im gemeinsamen Menschentum ver-
wandt fUhlt: es ist ein Zurück- und ZusammenfUhren und Wiederver-
binden jener Formen mit dem inneren Ganzen, das sie erzeugt hat und
von welchem sie sich getrennt haben. Eine Verinnerlichung dieser For-
men; wobei al1erdings ihr Inhalt in eine von der ursprünglichen verschie-
dene Subjektivität verlegt wird. Man hat es demnach mit einer Umkeh-
rung (Inversion) des schöpferischen Prozesses im Auslegungsprozeß zu
tun, einer Umkehrung, derzufolge der Interpret auf seinem hermeneuti-
schen Wege den schöpferischen Weg in umgekehrter Richtung durchlau-
fen muß, dessen l"\fachdenken er in seinem Innern durchzuführen hat.«
(S. 93f.) Betti folgt damit Schleiermacher, Boeckh, eroce und ande-
ren 3 ]. Sonderbarerweise meint er, mit diesem strikten Psychologismus
romantischer Prägung die ,Objektivität< des Verstehens zu sichern, die er

31 Vgl. Anm. 19 u. S. 147 des Manifests.


394 Anhänge

von aUen denen bedroht glaubt, die im Anschluß an Heidegger eine solche
Rückbindung an die Subjektivität des Meinens rur verfehlt halten.
In seiner auch in Deutschland vviederholt vorgetragenen Auseinanderset-
zung mit mir 32 sieht er bei mir nichts als Äquivokationen und Bcgriff'iver-
wechslungen. Dergleichen beweist in der Regel, daß der Kritiker den Autor
auf eine von ihm nicht gemeinte Fragestellung bezieht. So scheint es mir
auch hier. Daß seine Sorge um die Wissenschaftlichkeit der Interpretation,
die mein Buch in ihm erregt hatte, unnötig sei, hatte ich ihm in einem
Privatbrief versichert, aus dem er in seiner Abhandlung höchst loyalenveise
folgendes abdruckt:
»Im Grunde schlage ich keine ,Alethode vor, sondern ich beschreibe, was ist.
Daß es so ist, wie ich es beschreibe, das, meine ich, kann man nicht im Ernst
bestreiten ... Auch Sie z. B. vvissen sofort, wenn Sie eine klassische Unter-
suchung Mommsens lesen, \vann das allein geschrieben sein kann. Selbst ein
Meister der historischen Methode vermag sich nicht von den Vorurteilen
seiner Zeit, seiner gesellschaftlichen Umwelt, seiner nationalen Position
usw. ganz freizuhalten. Soll das nun ein Mangel sein? Und selbst, \\'enn es
das wäre, halte ich es fLir eine philosophische Aufgabe, darüber nachzuden-
ken, warum dieser Mangel nirgends fehlt, wo eewas geleistee \vird. Mit
anderen Worten, ich halte es allein fur wissenschaftlich, anzuerkermen, was
ist) statt von dem auszugehen, was eben sein sollte oder sein möchte_ In
diesem Sinne versuche ich, über den Methodenbegriff der nlOdernen Wis-
senschaft (der sein begrenztes Recht behält) hinauszudenken und in prinzi-
pieller Allgemeinheit zu denken, was immer geschieht.«
Aber \vas sagt Betti dazu? Daß ich das hermeneutische Problein also auf
die quaestio facti einenge (~phänomenologisch<, )deskriptiv<) und die quaestio
iuris gar nicht stelle. Als ob Kants Stellung der quaestio iuris der reinen
Naturwissenschaft hätte vorschreiben v.rollen, wie sie eigentlich sein sollte,
und nicht vielmehr die transzendentale Möglichkeit derselben, wie sie \var,
zu rechtfertigen suchte. Im Sinne dieser kantischen Unterscheidung stellt
das Hinausdenken über den Methodenbegriff der Geisteswissenschaften,
wie es mein Buch versucht, die Frage nach der )Möglichkeit< der Geistes\vis-
senschaften (was durchaus niche heißt: wie sie eigentlich sein sollten!). Es ist
ein sonderbares Ressentiment gegen die Phänomenologie, das den verdien-
ten Forscher hier beirrt. Er zeigt sich dadurch, daß er das Problem der
Hermeneutik nur als ein Methodenproblem zu denken vermag, tief in den
Subjektivismus befangen, um dessen Überwindung es geht.
Offenbar ist es mir nicht gelungen, Betti davon zu überzeugen, daß eine

32 E. Betti, L'Erme-neutica storica e Ja storiciti dell intendcre, Annali della Faculta di

Giurisprudenza XVI. Bari 1961 und Die Hermeneutik als allgemeine- Methodik der
Geisres\visscnschaften, Tübingen 1962.
Hermeneutik und Historismus 395

philosophische Theorie der Hermeneutik keine - richtige oder falsche (>ge-


f;ihrliche l ) - Methodenlehre ist. Es mag mißverständlich sein, wcnn etwa
Bollnow das Verstehen eine >\vcsensmäßig schöpferische Leistung< nennt-
obwohl Betti selber die rechts ergänzende Tätigkeit der Gesetzesauslegung
ohne Zaudern so qualifiziert. Ganz gewiß aber genügt die Anlehnung an die
Genieästhetik, die Betti selber vornimmt, nicht. Durch eine Theorie der
Inversion läßt sich die psychologische Verengung nicht wirklich überwin-
den, die er (in der Nachfolge Droysens) an sich richtig als solche erkennt. So
kommt er über die Zweideutigkeit nicht ganz hinaus, die Dilthey zwischen
Psychologie und Hermeneutik festhielt. Wenn er etwa, um die Möglichkeit
des geisteswissenschaftlichen Verstehens zu erklären, die Voraussetzung
machen muß, daß nur ein Geist gleichen Niveaus einen anderen verstehen
könne, wird das Unbefriedigende solcher psychologisch-hermeneutischer
Ambiguität offenkundig".
Auch wenn man sich über den Unterschied psychischer Partikularität und
geschichtlicher Bedeutung grundsätzlich im klaren ist, bleibt es offenbar
schwierig, den Übergang von der Enge der Psychologie zu einer histori-
schen Hermeneutik zu finden. Schon Droysen war sich über die Aufgabe
durchaus im klaren (Historik § 41), aber nur in Hege!s dialektischer Vermitt-
lung des subjektiven und des objektiven Gcistes im absoluten Geist scheint
der Übergang bisher wirklieh begründet.
Selbst dort, wo einer Hege! sehr nahe bleibt, wie der von eroce stark
beeinflußte R. G. Collingv>.1Ood, ist das zu spüren. Wir besitzen jetzt von
Collingwood zwei Arbciten in deutscher Übersetzung: seine Autobiogra-
phie, die untcr dem Titel Denken nun auch dem deutschen Leser vorliegt,
nachdem sie in der Originalsprache ehedem ein großer Erfolg gewesen ise4,
und ferner sein Nachlaßwerk >The Idea ofHistory( unter dem Titel >Philo-
sophie der Gcschichte(:'I5.
Über die Autobiographie habe ich in der Einleitung zur deutschen Ausga-
be einiges bemerkt, was ich hier nicht wiederholen will. Das Nachlaßwerk
enthält eine Geschichte der Geschichtsschreibung von der Antike bis zur
Gegenwart, bezeichnenderweise mit Croce endend, und als einen 5. Teil
eine eigene theoretische Erörterung. Ich beschränke mich auf diesen letzten
Teil, da die geschichtlichen Partien ohnehin auch hier, wie so oft, von
nationalen Denktraditionen bis zur Unverständlichkeit beherrscht werden.
So ist etwa das Kapitel über Wilhelm Dilthey fur einen deutschen Leser recht
enttäuschend:

33 Vgl. auch Bettis Aufsatz im Studium Generale XII (1959), S. 87, dem neuerdings

F. Wieacker, Notizen ... (oben S. 390) unerschrocken beistimmt. [Bettis große Verdien-
ste und meine Kritik an ihm habe ich erneut in ,Emilio Betti und das idealistische Erbc1
(Quaderni Fiorentini 7 (1978), S. 5-11) diskutiert.l
J4. Eingeleitet von H.-G. Gadamer, Stuttgart 1955. 35 Stuttgart 1955.
396 Anhänge

»Dilthey hat sich der Frage gegenübergesehen, die Windelband und die
übrigen nicht erkannten, da sie nicht tief genug in das Problem eingedrun-
gen waren: der Frage, wie - neben und im Unterschied zu der unmittelbaren
Erfahrung - eine Erkenntnis des Individuellen möglich sei. Er beantwortet
diese Frage mit der Feststellung, daß eine solche Erkenntnis nicht möglich
sei, und fallt in die positivistische Überzeugung zurück, daß das Allgemeine
(das eigentliche Objekt der Erkenntnis) nur mit Hilfe der Naturwissenschaft
oder einer anderen auf naturalistischen Prinzipien begründeten Wissenschaft
erkannt werden könne. So gelingt es ihm schließlich ebensowenig, wie
seiner ganzen Generation, dem Einfluß des positivistischen Denkens zu
entgehen.« (184) Was an diesem Urteil wahr ist, wird angesichts der von
Collingwood hier gegebenen Begründung desselben fast unkenntlich.
Das Kernstück seiner systematischen Theorie der historischen Erkenntnis
ist ohne Zweifel die Lehre vom Nachvollzug der Erfahrung der Vergangen-
heit (Re-enactment). Er steht damit in der Front derer, die gegen das ankämp-
fen, I>was man die positivistische Deutung oder besser Mißdeutung des
Gesehichtsbegriffs nennen kann« (239). Die eigentliche Aufgabe der Histo-
riker sei, »in das Denken der Geschichtsträger einzudringen, deren Hand-
lungen sie erforschen{~, Es mag in deutscher Übersetzung besonders schwie-
rig sein, was Collingwood hier mit Denken meint, richtig zu bestimmen.
Offenbar ist der Begriff des ,Aktes( im Deutschen in recht andere Bezüge
gerückt, als der englische Autor meint. Der Nachvollzug des Denkens der
handelnden Personen (oder auch der Denker) meint bei Collingwood nicht
eigentlich die realen psychischen Akte derselben, sondern ihre Gedanken,
d. h. was als dasselbe im Nachdenken wieder gedacht werden kann. Auch
soll der Begriff des Denkens durchaus das mitumfassen, was man den
Gemeingeist (der Übersetzer sagt unglücklich )Gemeinschaftsgeist<) einer
Körperschaft oder eines Zeitalters nennt (230). Aber wie seltsam eigenleben-
dig erscheint dieses >Denken(, wenn Collingwood etwa die Biographie
deshalb als antihistorisch bezeichnet, weil sie nicht auf das >Denken( gründe,
sondern auf ein Naturgeschehen. I> Dieses Fundament - das kärperhafte
Leben eines Menschen mit Kindheit, Reife und Aher, mit Krankheiten und
all den anderen Wechselfallen des biologischen Daseins - wird umspült und
umflutet, ungeregelt und ohne Rücksicht auf seine Struktur, vom (eigenen
und fremden) Denken, wie ein gestrandetes Wrack vom Meerwasser. «
Wer trägt eigentlich dieses >Denken(? Was sind die Geschichtsträger, in
deren Denken es einzudringen gilt? Ist es die bestimmte Absicht, die ein
Mann mit seinem Handeln verfolgt? Collingwood scheint das zu meinen 36 •
»Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, so ist die Geschichte seiner Taten
nicht möglich« (324). Ist Rekonstruieren der Absichten aber wirklich Ver-

36 Vgl. Gcs. Werke Bd. 1, S. 375[(


Hermeneutik und Historismus 397

stehen der Geschichte? Man sieht, wie sich Collingv,1Ood gegen seine Absicht
in die psychologische Partikularität verstrickt. Ohne eine Theorie vom
.Geschäftsträger des Weltgeistes<, d. h. ohne Hegcl, kann er nicht heraus-
fmden.
Das zu hören würde ihn nicht freuen. Dcnn alle Geschichtsmetaphysik,
auch die HegeIs, erscheint ihm als ein bloßes Klassifizierungssystem (276)
ohne echten historischen Wahrheitswert. Ferner ist mir nicht ganz klar
geworden, wie sich seine These eines radikalen Historismus mit seiner
Theorie des Re-enactmemverträgt, wenn er aufder anderen Seite sieht, und ich
glaube mit Recht, daß der Historiker selbst ein Teil des geschichtlichen
Ablaufs ist, den er erforscht und den er nur von dem Standpunkt beobachten
kann, den er selber im Augenblick in ihm einnimmt (260). Wie will sich das
mit der Verteidigung des Nachvollzugs eines überlieferten >Gedankens(
reimen, die Collingwood am Beispiel von Platos Sensualismuskritik im
.Theaetet' erläutert? Ich fUrchte, das Beispiel ist falsch und beweist das
Gegenteil.
Wenn Plato im .Theaitetos< die These au[,tellt, daß Erkenntnis ausschließ-
lich Sinneswahrnehmung sei, so kenne ich nach Collingwood als heutiger
Leser den Zusammenhang nicht, der ihn zu dieser These fUhrt. Dafür ist in
meinem Geist dieser Zusammenhang ein anderer: nämlich die aus dem
modemen Sensualismus envachsenc Diskussion. Da es sich um einen >Ge-
danken( handelt, schadet das aber nichts. Ein Gedanke könne in verschiedene
Zusammenhänge gestellt werden, ohne seine Identität zu verlieren (315).
Man möchte hier Col1ingwood an die Kritik an der Statement-Diskussion
Oxfords in seiner eigenen >Logic of question and anSWCf< erinnern (Denken
30-43). Sollte nicht der Nachvollzug des platonischen Gedankens in Wahrheit
nur dann gelingen, wenn man den wahren platonischen Zusamnlenhang
erfaßt (den einer mathematischen Evidenztheorie, wie ich glaube, die sich
über die intelligible Seinsart des Mathematischen noch nicht ganz im klaren
ist)?37 Und wird man diesen Zusammenhang erfassen können, wenn man
nicht ausdrücklich die Vorbegriffe des modernen Sensualismus suspendiert?3b
Mit anderen Worten, Collingwoods Theorie des Re-enactment vermeidet
zwar die Partikularität der Psychologie, aber die Dimension der hermeneuti-
schen Vermittlung, die in allem Verstehen durchschritten wird, entgeht ihm
dennoch.

37 rVgl. inzwischen meine Arbeit )Mathematik und Dialektik bei Plato( (Gekürzte
Fassung) in der FS fur C. F. von Weizsäcker, München 1982, S. 229-240; Ges. WerkeBd. 7
(Vollständige Fassung)].
38 Ich erinnere an den großen Erkenntnisfortschritt, den H. Langerbecks Studie dOS/L
EflIPYLMIH (N. Ph. U. Heft 10, 1935) gebracht hat-was man über der scharfen Teilkritik
E. Kapps im Gnomon (1935) nicht übersehen sollte. (Vgl. auch meine Rezension;jctzt in
Ges. Werke Bd. 5, S. 341 f( I
398 Anhänge

In den Zusammenhang einer Kritik am historischen Objektivismus gehö-


fell vor allem auch die Arbeiten von Erieh Rothacker. Insbesondere hat er in
einer seiner letzten Arbeiten )Die dogmatische Denkform in den Geisteswis-
senschaften und das Problem des Historismus(39 seine früheren Gedanken
fortgefuhrt, die das hermeneutische Anliegen Diltheys (ähnlich wie Hans
Freyer in der )Theorie des objektiven Geistes<) gegen allen Psychologismus
festhalten. Der Begriff der dogmatischen Denkform ist ganz als ein herme-
neutischer Begriff gemcint 40 • Die Dogmatik soll als eine produktive Metho-
de geisteswissenschaftlicher Erkenntnis verteidigt werden, sofern sie den
immanenten Sachzusammcnhang, der ein Sinn gebiet einheitlich bestimmt,
herausarbeitet. Rothacker kann sich darauf berufen, daß der Begriff >Dog-
matik< in der Theologie wie in der Jurisprudenz keineswegs nur kritisch-
pejorativen Sinn hat. Aber im Unterschied zu diesen systematischen Diszi-
plinen soll der llegriffDogmatik hier nicht einfach ein Synonym fur syste-
matische Erkenntnis, also fLir Philosophie, sein, sondern eine gegenüber der
historischen Fragestellung, die Entwicklungen zu erkennen sucht, zu recht-
fertigende >andere Einstellunge Dann hat aber der Begriff )Dogmatik< bei
ihm im Grunde innerhalb der historischen Gesamthaltung seinen Ort und
empfingt von da sein relatives Recht. Es ist am Ende das, was Diltheys
Begriff des Strukturzusammenhangs allgemein formuliert hatte. in speziel-
ler Anwendung auf die historische Methodenlehre,
Eine solche Dogmatik hat also erst dort, wo historisch gedacht und
erkannt wird, ihre korrigierende Funktion. Eine Dogmatik des römischen
Rechtes gibt es doch wohl erst, seit es eine Rechtsgeschichte gibt. Walter F.
Ortos >Götter Griechenlands( waren erst möglich, nachdem die historische
Forschung aus der griechischen Mythologie eine Vielfalt kultgeschichtlicher
und sagengeschichtlicher Teilerkenntnisse gemacht hatte, und wenn Wölft:.
lins >klassische Kunst( - im Unterschied zu den >Kunstgeschichtlichen
Grundbegriffen( - von Rothacker als Dogmatik bezeichnet wird, so scheint
mir eine solche Charakteristik nur relativ. Der Gegensatz zur Barockästhe-
tik, insbesondere zum Manierismus, ist von vornherein der geheime Kon-
struktionspunkt dieser )Dogmatik<, d. h. aber, sie ist von vornherein vveni-
ger geglaubt und bekannt worden, als historisch gemeint gewesen.
In diesem Sinnc nun ist die Dogmatik in der Tat ein Element unseres
geschichtlichen Erkennens. Es ist verdienstlich, daß Rothacker dieses Ele-
ment als »dic einzige Quelle unseres geistigen Wissens <1 (25) heraushebt.
Einen umfassenden Sinnzusammenhang, wie ihn eine solche Dogmatik

39 Abh. d. geistes-u. sozialwiss. Kl. d. Ak. d. Wiss. u. Lit., 6, Mainz1934.


4u Daß R. sich über die Not\-vendigkeit, das hermeneutische Problem des Sinnes von
aller psychologischer Erforschung der )Absichten< - also auch der )subjektiven Meinung<
eines Textes - abzulösen, völlig im klaren ist, zeigt etwa auch sein Aufsatz: >Sinn und
Geschehnis< (in Sinn und Sein, ein philosophisches Symposion, 1960).
Hermeneutik und Historismus 399
darstellt. muß lllan eben vollziehen, einleuchtend finden. Man muß es
mindestens nicht ullnlöglich finden, daß er )\vahr< ist, \venn man ihn
\virklich verstehen \vill, Damit ist freilich, wie Rothacker darlegt, das
Problem der Mehrheit solcher dogmatischen Systeme oder Stile gestellt,
und das ist das Problem des Historismus.
Rothacker erweist sich als ein temperamentvoller Verteidiger dessel-
ben. Dilthey hatte die Gefahr des Historismus dadurch zu bannen ge-
sucht, daß er die verschiedenen Weltanschauungen auf die Mehrseitigkeit
des Lebens zurückführte. Rothacker folgt ihm darin, indem er von den
Dogmatiken als Explikationen gelebter Weltbilder oder von Stilrichtun-
gen spricht und dieselben auf die Anschauungsgebundenheit des han-
delnden Menschen und seine Perspektivität zurückführt. Dadurch ge-
winnen sie alle ihre perspektivistische Unwiderleglichkeit (35). In der
Anwendung auf die Wissenschaft bedeutet das, daß der Relativismus
nicht uferlos herrscht. sondern seine klaren Grenzen hat. Er gefahrdet
nicht die immanente ,Objektivität( der Forschung. Sein Ansatzpunkt
liegt in der Variabilität und Freiheit der wissenschaftlichen Fragestellun-
gen, zu denen sich die variablen 13edeutsamkeitsrichtungen der gelebten
Weltbilder ausbilden. Selbst die moderne Naturvvissenschaft \vird von da
als die Dogmatik einer quantifizierenden Sichtweise (53) bezeichnet, so-
bald \vir nur den Gedanken zulassen, daß es eine andere Erkenntnisweise
der Natur geben kann 41 • -
Daß die juristische Hermeneutik in den Problemzusammenhang einer
allgemeinen Hermeneutik gehört, ist keines\~/egs selbstverständlich. Es
handelt sich ja \virklich in ihr nicht eigentlich um eine Besinnung me-
thodischer Art, wie das für die Philologie und für die biblische Herme-
neutik gilt, sondern um ein subsidiäres Rechtsprinzip selbst. Ihre Aufga-
be ist nicht, geltende Rechtssätze zu verstehen, sondern Recht zu finden,
d. h. die Gesetze so auszulegen, daß die Rechtsordnung die Wirklichkeit
voll durchdringt. Weil Auslegung hier eine normative Funktion hat,
wird sie z.ll. durch Iletti ganz von der philologischen Auslegung abge-
trennt, und selbst von solchem historischen Verstehen, dessen Gegen-
stand rechtlicher Natur ist (Verfassungen, Gesetze oder dgl.). Daß Geset-
zesauslegung im juristischen Sinne ein rechtsschöpferisches Tun ist, läßt
sich eben einfach nicht bestreiten. Die verschiedenen Prinzipien, die bei
dem Tun anzu\venden sind, z. B. das Analogieprinzip oder das Prinzip
der Ausfullung von Gesetzeslücken oder schließlich das in der Rechtsent-
scheidung selbst gelegene, also am Rechtsfall hängende produktive Prin-
41 Warum sich Rothacker fur die Vorgängigkeit (das Apriori) solcher Bcdeutsamkeits-

richtungen auf Heideggcrs ontologische Differenz beruft. statt auf den transzendentalen
Apriorismus, den die Phänomenologie mit dem Neukantianismus teilt, ist mir nicht
klarge'.vordcn.
400 Anhänge

zip, stellen nicht bloße methodologische Probleme dar, sondern greifen tief
in die Rechtsmaterie selbst ein 42 •
Offenbar kann eine juristische Hermeneutik sich nicht im Ernst damit
begnügen, als Auslegungskanon das subjektive Prinzip der Meinung und
der ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers zu gebrauchen. Sie kann viel-
fach nicht umhin, objektive Begriffe, z. B. den des Rechtsgedankens, der in
einem Gesetz zum Ausdruck kommt, anzuwenden. Es ist anscheinend eine
reine Laienvorstellung, wenn man sich die Anwendung eines Gesetzes auf
einen konkreten Fall als den logischen Vorgang der Subsumtion des Einzel-
nen unter das Al1gemeine denkt.
Der Gesetzespositivismus, der die rechtliche Wirklichkeit ganz auf das
gesetzte Recht und seine richtige Anwendung beschränken möchte, dürfte
heute keine Anhänger mehr finden. Der Abstand zwischen der Allgemein-
heit des Gesetzes und der konkreten Rechtslage im Einzelfall ist offenbar
wesenhaft unaufbebbar. Es scheint nicht einmal zu genügen, daß man sichin
einer idealen Dogmatik die rechtsproduktive Kraft des Einzelfalles als de-
duktiv vorbestimmt denkt, in dem Sinne, daß eine Dogmatik sich denken
ließe, die alle überhaupt möglichen Rechtsv.'ahrheiten in einem kohärenten
System wenigstens potentiell enthielte. Selbst die }Idee< einer solchen vollen-
deten Dogmatik scheint unsinnig, ganz abgesehen davon, daß faktisch die
rechtsschöpferische Kraft des Fal1s stets neue Kodifikationen vorbereitet.
Das Bemerkenswerte an dieser Sache ist, daß die hermeneutische Aufgabe,
den Abstand zwischen Gesetz und Fall zu überbrücken, auch dann gegeben
ist, wenn gar kein Wandel der sozialen Verhältnisse oder sonstige geschicht-
lichen Veränderungen der Wirklichkeit das geltende Recht als veraltet oder
unangemessen erscheinen lassen. Der Abstand zwischen Gesetz und Fall
scheint schlechthin unauflösbar. Das hermeneutische Problenl ist insofern
von der Berücksichtigung der historischen Dimension ablös bar. Es ist auch
nicht bloße unvermeidliche Unvollkommenheit in der Durchftihrung recht-
licher Kodifikation, was den Spielraum ftir die Konkretion oftcnläßt, so daß
man der Idee nach diesen Spielraum auf jedes beliebige Maß herabsetzen
könnte. Es scheint vielmehr im Sinne der gesetzlichen Regelung selber, ja
aller rechtlichen Ordnung überhaupt, zu liegen, in der Weise >elastisch< zu
sein, daß sie einen solchen Spielraum läßt.
42 Wenn man etwa das fur Studenten bestimmte Lehrbuch der >Methodenlehre der

Rechtswissenschaft<, das K. Larenz vorgelegt hat (Berhn 1961) , ansieht, so macht die
vortreflliche historische und systematische Übersicht, die es gevv'ährt, deutlich, daß diese
Methodenlehre überall zu schwebenden Rechtsfragen et"\vas zu sagen hat, mithin eine Art
Hilfsdisziplin der Rechtsdogmatik ist. Darin liegt ihre Bedeutung für unseren Zusam-
menhang. rInzwischen ist diese ,Methodenlehre, in der 3. Auflage erschienen und enthält
ausgedehnte Diskussionen zur philosphischen Hermeneutik. Vgl. auch die umfassende
Monographie von G. Zaccaria, Ermeneutica e Giurisprudenza (Milano 1984), die in 2
Bänden meine theoretische Grundlegung und J. Essers juristische Anwendung darstellt. I
Hermeneutik und Historismus 401

Wenn ich nicht irre, hat schon Aristoteles diesen Punkt klar gesehen,
indem er dem Gedanken des Naturrechts keine positiv-dogmatische, son-
dern lediglich eine kritische Funktion zubilligte. Man hat es immer als
schockierend empfunden (wenn man es nicht geradezu durch Fehlinterpre-
tation des aristotelischen Textes bestritt), daß Aristoteles zwar den Unter-
schied von konventionell und von Natur Rechtem macht, aber auch das von
Natur Rechte fur veränderlich erklärt. 43
Das von Natur Rechte und das durch Satzung Gesetzte sind nicht ))glei-
chermaßen veränderlich«. Vielmehr wird durch den Hinblick auf vergleich-
bare Phänomene erläutert, daß auch das von Natur Rechte veränderlich ist,
ohne deshalb aufzuhören, von dem durch bloße Satzung Gesetzten verschie-
den zu sein. Offenkundig sind ja z. B. Verkehrsregeln nicht in gleichem,
sondern in viel höherem Maße veränderlich als solches, das von Natur als
Recht gilt. Aristoteles will das nicht abschwächen, sondern erklären, wieso
in der (im Unterschied zu der der Götter) unstabilen Menschenwclt das von
Natur Rechte überhaupt ausgezeichnet ist. So sagt er: Es ist gleichermaßen
klar und für den Unterschied zwischen von Natur Rechtem und aus Kon-
vention Rechtem gilt-trotz ihrer beider Veränderlichkeit- dieselbe Bestim-
mung, wie etwa beim Unterschied von rechter Hand und linker Hand. Auch
da ist von Natur die rechte die stärkere, und doch läßt sich dieser natürliche
Vorrang nicht als unveränderlich bezeichnen, sofern man ihn in gewissen
Grenzen durch Training der anderen Hand aufheben kann 44 •
In gewissen Grenzen, d. h. in einem gewissen Spielraum. Einen solchen
Spielraum offenzulasscn, hebt offenbar den Sinn rechtlicher Ordnung so
wenig auf, daß es vielmehr wesentlich zur Natur der Sachverhalte gehört:

"ENE 10. 1134b27ff.


44 Die Stelle ist von L. Strauss unter Heranziehung der ihm wohl aus der jüdischen
Tradition bekannten Lehre von der extremen Situation behandelt worden (Naturrecht
und Geschichte, mit einem Vorwort von G. Leibholz, Suttgart 1956), und H. Kuhn
(Zschr. ftir Politik. 3 NF, Heft 4, 1956, S. 289fT. Vgl. oben S. 302ff.) hat in einer
kritischen Stellungnahme dagegen den aristotelischen Text im Anschluß an H. H. Joa-
chim so zu redigieren gesucht, daß Aristoteles gar nicht uneingeschränkt die Veränder-
lichkeit des Naturrechts behauptet habe. In Wahrheit scheint mir der Satz 1134b 32-33
sofort in Ordnung, wenn man das strittige ~gleichermaßen, nicht auf die Veränderlichkeit
des natürlichen und des konventionellen Rechts bezieht, sondern auf das folgende >offen-
kundig< (ö~.tav).
Neuerdings nimmt auch W. Bröcker, Aristoteles3 S. 301 ff. zu dieser Kontroverse
Stellung, verfallt aber m. E. einem Sophisma, wenn er f)im Falle eines Konfliktes von
Naturrecht und positivem Recht(( die Gültigkeit des positiven Rechtes als die aristoteli-
sche Meinung verteidigt. Natürlich ist es ,gültig" aber nicht )rechtl, wenn Kreon das
Naturrecht »aufhcbt((. Und das ist die Frage, ob es überhaupt einen Sinn hat, über das
'positiv( Rechtliche hinaus und angesichts seines souveränen Geltungsanspruchs eine
Instanz des natürlichen Rechts anzuerkennen, vor der das ,Gültige( unrecht hat. Ich habe
zu zeigen gesucht, daß eine solche Instanz besteht, aber nur als kritische.
402 Anhänge

)}Das Gesetz ist allgemein und kann eben deswegen nicht jedem einzelnen
Fall gerecht werden. «45 Die Sache hängt auch nicht etwa an der Kodifikation
der Gesetze, sondern Ulngekehrt ist Kodifikation von Gesetzen überhaupt
nur möglich, weil Gesetze an sich und ihrem Wesen nach allgemein sind.
Vielleicht muß man sich hier die Frage vorlegen, ob der innere Zusaln-
mcnhang von Hermeneutik und Schriftlichkeit nicht ebenso als ein sekundä-
rer zu beurteilen ist. 46 Nicht die Schriftlichkeit als solche ist es, die einen
Gedanken auslegungs bedürftig werden läßt, sondern seine Sprachlichkeit,
d. h. aber die Allgemeinheit des Sinnes, die ihrerseits schriftliche Aufzeich-
nung als Folge ermöglicht. lleidcs, das kodifizierte Recht wie der schriftlich
überlieferte Text, weisen also auf einen tieferliegenden Zusammenhang, der
das Verhältnis von Verstehen und Applizieren betrifft, \vie ich gezeigt zu
haben glaube. Daß hierftir Aristoteles der oberste Zeuge ist, kann nicht
venvundern. Ist doch seine Kritik an der platonischen Idee des Guten. wie
ich vermuten möchte, der Keimpunkt seiner ganzen eigenen Philosophie
überhaupt. Sie enthält, ohne deshalb >Nominalismus< zu sein, eine radikale
Revision des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem, \vie es in der
platonischen Lehre von der Idee des Guten - mindestens nach der Darstel-
lung in den platonischen Dialogen - impliziert 1st4 ;.
Das schließt aber nicht aus, daß zu diesem wesenhaften Abstand des
Allgemeinen und des Konkreten noch weiterhin der historische Abstand
hinzutritt und eine eigene hermeneutische Produktivität entfaltet.
Ich wage nicht zu entscheiden, ob das auch fur diejuristische Hermeneutik
gilt, in dem Sinne, daß eine durch den Wandel der Dinge auslegungsbedürf-
tig gewordcnc gesetzliche Ordnung (z. B. mit Hilfe des Analogieprinzips)

15 Kulm, a.a.O. S. 299.


4h IVgl. inZ'\viscben meine Arbeit> Untcf\\:egs zur Schrift?, in: A. Assmallll-J. Assmal1n
(Hrsg.), Schrift und Gedächtnis. Müncben 19H3, S. 10-19; Ges. Werke Bd. 7, S. 238-2601
47 VgI. auch die vortreftliche Studie über das l>Natmrccht bei Aristoteles« vonJ. Ritter

(res pllblica 6. 19(1). Hier \vird in extenso gezeigt, warum es bei Aristotclcs kein
dogmatisches Naturrecht gebl'll kann - . . vcil n:ünlich die N3tur die gesamte menschliche
\'Xielt, :1lso auch dic rechtliche Vcrf.15Sl11lg durch und durch bestimmt. Ob Ritter meinen
Textvorscblag, den ich SChOll Oktober 1960 in Hamburg vorgetragen hattc, akzeptiert.
\vird nicht ganz klar (S. 28), wmal nachdem er H. H. Joacbim~ ßehandlurig des Kapitels
ohne kritische Einscbränkung zitiert (Anm. 14). Aber in der Sacbe stimmt cr mit meiner
Auffassung (Ges. Werke Bd. 1, S. 3:24ff) Liberein (anscheinend auch W. Bröcker, der die
Stelle a.a.O. S.302 übersetzt, jedoch ohne mcincn Textvorschlag anzunehmen) und
l'lltfaltet höchst lehrreich den metaphysischen Hintergrund der "politischen« ulld "prakti-
schen « Philosophie des Aristoteles. [Was hier nur vorsichtig anklingt; habe ich inz ......·ischen
ZUIll Gegenstand einer austuhrlichen Untersuchung gemacht: ,Die Ideedes Guten zwischen
Plato und Aristoteles' (Sitzb. d. Heid. Ak. d. Wis~ .. Philos.-histor. Klasse. Abh. 3)
Hcidelberg lSl78. Im Ergebnis bezweifle ich. daH Plato die Idee des Gutcn überhaupt so
gedacht bat, wic Aristotcles sie kritisiert. Dic Abhandlung erscheint auch in Ges. Werke lid.
7. S. 1~R-127.1
Hermeneutik und Historismus 403
geradezu zu einer gerechteren Rechtsanwendung überhaupt beitrüge _
nämlich zur Verfeinerung des die Auslegung leitenden Rechtsgefühls. Auf
anderen Gebieten jedenfalls ist die Sache klar. Es ist außer allem Zweifel,
daß die )Bedeutung, historischer Ereignisse oder der Rang von Kunstwer-
ken im Zeitenabstand an Sichtbarkeit gewinnen.-
Die gegenwärtige Diskussion des hermeneutischen Problems ist wohl
nirgends so lebhaft wie im Bereiche der protestantischen Theologie. Auch
hier handelt es sich freilich in gewissem Sinne, wie bei der juristischen
Hermeneutik, um über die Wissenschaft hinausgehende Interessen, in die-
sem Falle des Glaubens und seiner rechten Verkündigung. Die Folge ist,
daß die hermeneutische Diskussion sich mit exegetischen und dogmati-
schen Fragen verflicht, zu denen der Laie keine Stellung nehmen kann.
Aber wie bei der juristischen Hermeneutik ist auch hier der Vorzug dieser
Lage deutlich: den >Sinn, der jeweils zu verstehenden Texte nicht auf die
imaginäre Meinung ihrer Verfasser einschränken zu können. Das großarti-
ge Riesenwerk Karl Barths, seine Kirchliche Dogmatik4 !l, trägt zu dem
hermeneutischen Problem nirgends ausdrücklich und indirekt überall bei.
Etwas anders liegt die Sache bei Rudolf Bultmann, dem methodologische
Erörterungen durchaus liegen und der in scinen )Gesammelten Abhandlun-
gen, mehrfach ausdrücklich zum Problem der Hermeneutik Stellung ge-
nommen hat 49 • Doch ist auch in seinem Fal1e der Schwerpunkt der ganzen
Frage ein immanent theologischer, nicht nur in dem Sinne, daß seine ex-
egetische Arbeit den Erfahrungsboden und den Anwendungsbereich seiner
hermeneutischen Grundsätze darstellt, sondern vor allem auch in dem Sin-
ne, daß der große Streitgegenstand der heutigen theologischen Auseinan-
dersetzung, die Frage der >Entmythologisierung< des Neuen Testamentes,
weit mehr von dogmatischen Spannungen durchzogen ist, als der metho-
dologischen Besinnung angemessen wäre. Nach meiner Überzeugung hat
das Prinzip der Entmythologisierung einen rein hermeneutischen Aspekt.
Es soll nach Bultmann mit diesem Programm nicht über dogmatische
Fragen als solche vorentschieden werden, also etwa darüber, wieviel von
den Inhalten der biblischen Schriften für die christliche Verkündigung und
damit ftir den Glauben wesentlich ist und was etwa geopfert werden könn-
te, sondern es handelt sich um die Frage des Verstehens der christlichen
Verkündigung selbst, um den Sinn, in dem sie verstanden werden muß,
wenn sie überhaupt >verstanden< werden soll. Vielleicht, ja sogar sicher ist
es möglich, im Neuen Testament )mehr, zu verstehen, als Buhmann ver-

48 Vgl. die Würdigung eines wichtigen Aspektes dieses Werkes durch H. Kuhn Phil.

Rundseh. 2, 144-152 und 4, 182-191.


49 Vgl. Glauben und Verstehen 11. 211 ff. III, 107 ff., sowie Geschichte und Eschatolo-

gie, Kap. VIII; vgI. auch den Beitrag von H. Blumenberg, Phil. Rundseh. 2, 121-140
{und G. Bornkamms kritischen Bericht ebenda, 29 (1963), 33-141 J
404 Anhänge

standen hat. Das kann sich aber nur herausstellen, indem Inan dies )mehr<
ebenso gut, d. h. - wirklich versteht.
Die historische I:libelkritik und ihre wissenschaftliche DurchfUhrung im
18. und 19. Jahrhundert haben eine Situation geschaffen, dic einen beständig
neuen Ausgleich zwischen den allgemeinen Grundsätzen wissenschaftlichen
Textverständnisses und den besonderen Aufgaben des Selbstverständnisses
des christlichen Glaubens fordert. Es ist gut, sich zu erinnern, wie die
Geschichte dieser Ausgleichsbemühungen aussieht5Ü •
Am Anfang der Entwicklung des 19. Jahrhunderts steht Schleiermachers
Hermeneutik, die die wesenthafte Gleichartigkeit im Auslegungsverfahren
der Heiligen Schrift und aller sonstigen Texte, wie sie schon Semler im Auge
hatte, systematisch begründet. Schleiermachers eigenster Beitrag war dabei
die psychologische Interpretation, wonach jeder Gedanke eines Textes als
ein Lebensaugenblick auf den persönlichen Lebenszusanlmenhang seines
Verfassers zurückbezogen werden muß, wenn er ganz verstanden werden
will. Wir haben inzwischen einen et\vas genaueren Einblick in die Entste-
hungsgeschichte von Schleiermachers Gedanken zur Hermeneutik, nach-
dem die Berliner Manuskripte, aus denen Lücke seinerzeit die Ausgabe
komponiert hatte, durch die Heidelbergcr Akademie der Wissenschaften in
getreuem Abdruck vorgelegt worden sind 51 • Die Ausbeute dieses Rückgriffs
auf die Originalmanuskripte ist nicht revolutionär, aber doch nicht bedeu-
tungslos. H. Kimmerlc zeigt in seiner Einleitung, wie die ersten Nieder-
schriften die Identität von Denken und Sprechen in den Vordergrund stellen,
während die spätere Ausarbeitung im Sprechen die individualisierende Äu-

50 Wie anders vor der Entstehung der historischen Bibelkritik das Verhältnis von

Theologie und Philosophie 'war. sofern das Neue Testament unmittelbar als Dogmatik,
d. h. als Inbegriff allgemeiner Glaubenswahrheiten, verstanden wurde und damit (freund-
lich oder feindlich) auf die systematische Beweisart und die Darstellungsform der rationa-
len Philosophie bezogen 'werden konnte, lehrt die Studie von H. Licbing, Zwischen
Orthodoxie und Aufklärung, über den Wolffianer G. B. Bilfinger (Tübingen 1961).
ßilfinger sucht die Wissenschaftlichkeit seiner Theologie auf dem Boden der modifizier-
ten Wolfischen Metaphysik systematisch zu begründen. Daß er sich dabei der durch seine
Zeitsituation und seine Einsicht gesetzten Grenzen bewußt war, ist das einzige hermeneu-
tische Element seiner Wissenschaftslchre. das in die Zukunft hinüberweist: auf das Pro-
blem der Geschichte.
Vgl. auch meine Einleitung zu F. ehr. Oetingers Inquisitio in sensum communem.
Neudruck des Frommann-Verlages 1964, S. V-XXVIII. = Kleine Schriften IlI, S. 89-
100 rGes. Werke Bd. 4).
5J Der Abdruck der Berliner Manuskripte, deren älteste sehr schwer lesbar sind, ist von

H. Kimmerle besorgt '.vorden. Vgl. den ergänzenden Nachbericht zur Ausgabe Heidel-
berg 1968.(Es ist das Verdienst von M. Frank (>Das individuelle Allgemeine. Textstruk-
turierung und - interpretation nach Schleiermacher<, Frankfurt 1977 die Diskussion um
Sehleiermacher offen zu halten. Vgl. dazu meine Entgegnung in )Zwischen Phänomeno-
logie und Dialektik - Versuch einer Selbstkritik(, oben S. 3 ff.J
Hermeneutik und Historismus 405
ßerung sieht. Dazu kommt das langsame Hcrvonvachsen und schließliche
Dominieren des psychologischen Gesichtspunktes über die genuin sprachli-
chen Gesichtspunkte der >technischen< Interpretation (>StyI<).
Daß auch innerhalb der Schleiermacherschen Dogmatik, die in einer
schönen großen Neuausgabe durch Martin Rcdekcr (Der christliche Glaube)
neu zugänglich gemacht worden ist~2, die psychologisch-subjektive Orien-
tierung Schleiermachers zu theologischer Kritik herausfordert, ist bekannt
genug. Das )Selbstbewußtsein des Glaubens< ist eine dogmatisch gefahrliehe
Basis. Das Buch von Christoph Senft, das die Entwicklung von Schleierma-
cher bis zur liberalen Theologie Ritschls mit großer Klugheit diskutiert, gibt
davon eine gute Vorstellung". Senft schreibt S. 42 über Schleiermacher:
»Trotz seines Bemühens um lebendige Begriffe zur Erfassung des Ge-
schichtlichen bleibt bei ihm die Dialektik zwischen Spekulation und Empirie
eine unbewegte: die Wechselwirkung zwischen der Geschichte und dem sie
Erkennenden ist eine unproblematische und krüischc, worin der nach der
Geschichte Fragende vor jeder grundsätzlichen Gegenfrage sicher bleibt.«
In dieser Richtung hat auch F. Ch. Baur, wie Senft zeigt, so sehr er den
geschichtlichen Prozeß zum Gegenstand seiner Besinnung macht, das her-
meneutische Problem nicht weitergebracht, da er die Autonomie des Selbst-
bewußtseins als uneingeschränkte Basis festhält. Wohl aber hat Hofmann,
und das kommt in Senfts Darstellung schön heraus, in seiner Hermeneutik
die Geschichtlichkcit der Offenbarung auch hermeneutisch ernst genom-
men. Das Lehrganze, das er entwickelt, ist \>die Explizierung des christlichen
Glaubens, der im ~außer uns Gelegenen< seine Voraussetzung hat, aber nicht
gesetzlich äußerlich, sondern so, daß es ihm als seine eigene Geschichte
>erfahrungs mäßig< erschlossen ist«. (Senft, S. 105) Damit ist zugleich gesi-
chert: J)Als Denkmal einer Geschichte, d. h. eines bestimmten Zusammen-
hangs von Ereignissen - nicht als Lehrbuch allgemeiner Lehren - ist die Bibel
das Buch der Offenbarung.« Im ganzen läßt sich sagen, daß die Kritik, die
die historische Bibelwissenschaft am Kanon geübt hat, indem sie die dogma-
tische Einheit der Bibel höchst problematisch macht und die rationalistisch-
dogmatische Voraussetzung einer biblischen )Lehre< auflöst, die theologi-
sche Aufgabe gestellt hat, die biblische Geschichte als Geschichte anzuer-
kennen.
Mir scheint, daß die neuere hermeneutische Debatte von hier aus ihre
Richtung gewiesen bekommen hat. Der Glaube an diese Geschichte muß
selber als ein geschichtliches Ereignis, als Anruf des Wortes Gottes verstan-

52 Berlin 1960 [Inzwischen hat M. Redeker auch die Materialien, die W. Dilthey als

Vorarbeiten zum IL Bande seiner Schleiermacher-Biographie hinterlassen hat, in zwei


Halbbänden zugänglich gemacht (VgL Ges. Werke 14,1 und 2) I_
53 C. Senft, Wahrhaftigkeit und Wahrheit. Die Theologie des 19. Jh. zwischen Ortho-
doxie und Aufklärung, Tübingen 1956.
406 Anhänge

den werden. Schon für das Verhältnis von Altem und Neucm Testament gilt
das. Es läßt sich (etwa nach Hofmann) als das Verhältnis von Weissagung
und Erfüllung verstehen. so daß sich erst aus der Erftillung die geschichtlich
scheiternde Weissagung selber in ihrem Sinn bestimmte. Das geschichtliche
Verständnis der alttestamentlichen Weissagungen ist aber dem Verkündi-
gungssinn keineswegs abträglich, den sie vom Neuen Testament her emp-
fangen. Im Gegenteil wird das Heilsereignis, das das NT verkündet, erst
dann als ein wirkliches Ereignis verstanden, wenn die Vorhersagung kein
bloßer »Abdruck der zukünftigen Tatsache« ist (Hofmann bei Senft 101).
Vor allem gilt es aber von dem Begriff des Selbstverständnisses des Glau-
bens, dem Grundbegriff der Bultmannsehen Theologie, daß er einen ge-
schichtlichen (und nicht idealistischen) Sinn hat".
Selbstverständnis soll eine geschichtliche Entscheidung meinen und nicht
etwa verftigbarcn Selbst besitz. So hat Bultmann immer \vieder betont. Es ist
daher ganz abwegig, den Begriff des Vorverständnisses, den Bultmann
gebraucht, als Befangenheit in Vorurteilen zu verstehen, als eine Art Vorwis-
sen 55 • In Wahrheit handelt es sich um einen rein hermeneutischen Begriff.
den Bultmann, durch Heideggers Analyse des hermeneutischen Zirkels und
der allgemeinen Vor-Struktur des menschlichen Daseins angeregt, ausgebil-
det hat. Er meint die Öffnung des Fragehorizontes, in dem Verstehen allein
möglich ist. aber er meint nicht, daß das eigene Vorverständnis durch die
Begegnung mit dem Worte Gottes (wie übrigens mit jedem anderen Wort)
nicht korrigiert werden könne. Im Gegenteil, es ist der Sinn dieses Begriffes,
die Bewegung des Verstehens als solche Korrektur sichtbar zu machen. Daß
diese >Korrektur< im Falle des Anrufs des Glaubens eine spezifische ist, die
nur der Formalstruktur nach von hermeneutischer Allgemeinheit ist, wird
zu beachten sein 56 .
Der theologische Begriff des Selbstverständnisses schließt sich hier an.
Auch dieser Begriff ist offenbar aus Heideggers transzendentaler Analytik

54 Vgl. meine Beiträge in der FS G. Krüger 1962, S. 71-85 und in der FS R. Bultmann

1964, S. 479-490 (~K1eine Schciften 1., S. 70-BI. [oben. S. 121-1321 und S. 82-92 [Gcs.
Wecke Bd. 3J).
55 Betti in seiner >Grundlegung( a.a.O. S. 115 (Anm. 47a) scheint in dem Mißverständ-

nis befangen, das ~ Vorverständnis( werde von Heideggcr und Bultmann gefordert, weil es
das Verstehen fördere. Richtig ist vielmehr, daß ein Bewußtsein des immer im Spiele
seienden Vorverständnisses zu verlangen ist. wenn man es mit der) Wissenschaftlichkeit,
ernst meint.
56 L. Steiger, Die Hermeneutik als dogmatisches Problem (Gütersloh 1961) sucht in

seiner tüchtigen Dissertation (aus der Schule H. Diems) die Besonderheit der theologi-
schen Hermeneutik herauszuarbeitcn. indem er die Kontinuität des transzendentalen
Ansatzes des theologischcn Verstehens von Sch1ciermacher über Ritschl und Harnack bis
zu Bultmann und Gogarten verfolgt und mit der Existenzdia1cktik der christlichen
Verkündigung konfrontiert.
Hermeneutik und Historismus 407
des Daseins heraus entwickelt worden. Das Seiende, dem es um sein Sein
geht, stellt sich durch sein Seinsverständnis als Zugangs\veg zu der Frage
nach dem Sein dar. Die Bnvegtheit des Seinsverstehens wird selbst als eine
geschichtliche, als die Grundverfassung der Geschichtlichkeit erwiesen. Das
ist fur Bultmanns Begriff des Selbstverständnisses von entscheidender Be-
deutung.
Dadurch unterscheidet sich dieser Begriff von dem der Selbsterkenntnis,
nicht nur in dem )psychologistischen< Sinne, daß in der Selbsterkenntnis
etwas Vorfindliches erkannt wird, sondern auch in dem tieferen spekulati-
ven Sinn, der den Geistbegriff des deutschen Idealismus bestimmt, wonach
das vol1endete Selbstbewußtsein im Anderssein sich selbst erkennt. Gewiß
ist etwa die Entfaltung dieses Selbstbe\vußtseins in Hegcls Phänomenologie
in entscheidender Weise durch die Anerkennung des anderen ermöglicht.
Das Werden des sclbstbewußten Geistes ist ein Kampf um Anerkennung.
Was er ist, ist, was er geworden ist. Gleichwohl handelt es sich in dem
Begriff des Selbstverständnisses, "vie er dem Theologen angemessen ist, um
etwas anderes 57 .
Das unverfugbar Andere, das extra nos, gehört zum unaufhebbaren Wesen
dieses Selbstverständnisses. Jenes Selbstverständnis, das wir in immer neuen
Erfahrungen am anderen und an den anderen erwerben, bleibt, christlich
gesehen, in einem \vesenhaften Sinne Unverständnis. Alles menschliche
Selbstverständnis hat am Tode seine absolute Grenze. Das kann man wahr-
lich nicht im Ernst gegen Bultmann ins Feld fUhren (Ott 163) und einen
)abschließenden< Sinn in dem Bultmannschen Begriff des Selbstverständnis-
ses finden wollen. Als ob das Selbstverständnis des Glaubens nicht eben die
Erfahrung des Scheiterns des menschlichen Selbstverständnisses wäre. Sol-
che Erfahrung des Scheiterns braucht nicht einmal christlich verstanden zu
werden. An jeder solchen Erfahrung vertieft sich menschliches Selbstver-
ständnis. Injedem Falle ist es ein ,Geschehen. und der Begriff des Selbstver-
ständnisses ein geschichtlicher Begriff. Aber es sol1- nach christlicher Lehre
- ein )letztes( solches Scheitern geben. Der christliche Sinn der Verkündi-
gung, die Verheißung der Auferstehung, die vom Tode erlöst, besteht
geradezu darin, das immer sich wiederholcnde Mißlingen des Selbstver-
ständnisses, sein Scheitern an Tod und Endlichkeit, im Glauben an Christus

57 Wie sehr die in vielem [ruchbare Analyse von Ott (Geschichte und Heilsgeschehen in

der Theologie R. Bultmanns, Tübingen 1955) den methodischen Gegensatz zwischen


dem metaphysischen Begriff des Selbstbewußtseins und dem geschichtlichen Sinn von
Selbstverständnis verfehlt, zeigt Otts Anmerkung S. 1642 . üb Hegels Denken, wie Ott
zu meinen scheint, weniger sachgemäß vom Selbstbewußtsein spricht als Buhmann vom
Selbstverständnis, möchte ich dahingestellt sein lassen. Aber daß es verschiedene ,Sachen<
sind - so verschieden wie Metaphysik und christlicher Glaube - sollte kein )lebendiges

I
Gespräch mit der Tradition< aus dem Auge verlieren.
408 Anhänge

zu beenden. GC\\-Tiß bedeutet das nicht ein Heraustreten aus der eigenen
Geschichtlichkeit, wohl aber dies, daß der Glaube das eschatologische Ereig-
nis ist. Bultmann schreibt in )Gcschichte und Eschatologic(51l: »Die Parado-
xie, daß die christliche Existenz gleichzeitig eine eschatologische, unweltli-
ehe, und eine geschichtliche ist, ist gleichbedeutend mit dem lutherischen
Satz: Simul iustus simul peccalor.« Es ist in diesem Sinne, daß das Selbstver-
ständnis ein geschichtlicher Begriff ist.
Die an Bultmann anknüpfende neuere hermeneutische Diskussion scheint
nun in einer bestimmten Richtung über ihn hinauszudrängen. Wenn nach
Bultmann der Anspruch der christlichen Verkündigung an den Menschen
dahin geht, die Verfligung über sich selbst aufgeben zu müssen, so ist der
Anruf dieses Anspruches gleichsam eine privative Erfahrung der menschli-
chen Selbstverfligung. In dieser Weise hat Bultmann Heideggers Begriff der
Eigentlichkeit des Daseins theologisch interpretiert. Bei Heidegger freilich
ist der Eigentlichkeit die U neigentlichkeit nicht nur in dem Sinne beigesellt,
daß dem menschlichen Dasein das Verfallensein ebenso eigen ist wie die
,Entschlossenheit<, die Sünde (der Unglaube) ebenso wie der Glaube. Die
Gleichursprünglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit bei Hei-
degger weist vielmehr schlechthin über den Ansatz im Selbstverständnis
hinaus. Sie ist die erste Form, in der sich in Heideggers Denken das Sein
selbst in seiner Gegenwendigkeit von Entbergung und Verbergung zur
Sprache gebracht hat. 59 Wie Bultmann sich an die existenziale Analytik des
Daseins bei Heidegger anlehnte, um die eschatologische Existenz des Men-
schen zwischen Glaube und Unglaube zu explizieren, so läßt sich auch an
diese vom späteren Hcidcgger gcnaucr explizierte Dimension der Seinsfrage
theologisch anknüpfen, indem man die zentrale Bedeutung, die die Sprache
in diesem Seinsgeschehen hat, für die ,Sprache des Glaubens< heranzieht.
Schon in der spekulativ sehr gewandten hermeneutischen Diskussion, die
Ott geführt hat, findet sich im Anschluß an den Humanismus-BriefHeideg-
gers eine Kritik an Bultmann. Sie entspricht seiner eigenen positiven These
S. 107: »Die Sprache, in welcher die Wirklichkeit ,zur Sprache kommt<, in
und mit welcher somit die Reflexion über Existenz sich vollzieht, begleitet
die Existenz in allen Epochen ihres Sich-Ereignens. «( Die hermeneutischen
Ideen der Theologen Fuchs und Ebeling scheinen mir in ähnlicher Weise
vom späten Heidegger auszugehen, indem sie den Begriff der Sprache
stärker in den Vordergrund stellen.
Ernst Fuchs hat eine Hermene"tik vorgelegt, die er selbst ,Sprachlehre des

58 Diese Gifford-Lcctures R. Bultmanns sind dadurch von besonderem Interesse, daß sie

Bultmanns hermeneutische Position zu anderen Autoren, vor allem zu Collingwood und


H.). Marrou, De la connaissance historique. 1954 (vgl. Phil. Rundschau VIII, 123) in
Beziehung setzen.
59 [Vgl. auch ,Heideggers Wege<, Tübingen 1983. S. 29ff.; Ces. Werke Bd. 3].
Hermeneutik und Historismus 409
Glaubens( nennt6U • Er geht davon aus, daß die Sprache die Lichtung des Seins
ist. )Die Sprache birgt die Entscheidung darüber, was uns als Dasein offen
steht, als die Möglichkeit dessen, was aus uns werden kann, wenn wir als
Menschen ansprechbar bleiben sollen. « Er knüpft also an Heidegger an, um
»mit der modernen Befangenheit im Subjekt-Objekt-Schema fertigzuwer-
den«. Während aber Heidegger »den vom Ursprünglichen her ins Ur-
sprüngliche zurückziehenden Zug der Sprache selbst« denkt, sucht Fuchs
den inneren Zug der Sprache im Hören auf das Neue Testament als den Zug
des Wortes Gottes zu erkennen.
Mit solchem Hören ist das Bewußtsein verknüpft, daß wir nicht sagen
können, wir wären die letzten, denen Gottes Wort gilt. Daraus folgt aber,
»wir dürfen und sollen uns in unsere geschichtlichen Grenzen weisen lassen,
wie sie sich in unserem geschichtlichen Weltverständnis ausprägen. Damit
aber empfangen wir die gleiche Aufgabe, wie sie ftir die Selbstbesinnung des
Glaubens vonjeher bestand. Diese Aufgabe teilen wir auch mit den Verfas-
sern des Neuen Testaments«. So gewinnt Fuchs eine hermeneutische Basis,
die sich aus der neutestamentlichen Wissenschaft selber legitimieren kann.
Die Verkündigung von Gottes Wort in der Predigt ist ein Übersetzen der
Aussagen des Neuen Testamentes, dessen Rechtfertigung die Theologie ist.
Theologie wird hier nahezu zur Hermeneutik, da sie - der Entwicklung
der modernen Bibelkritik folgend - nicht die Wahrheit der Offenbarung
selbst, wohl aber c1ie Wahrheit der auf die Offenbarung Gottes bezogenen
Aussagen oder Mitteilungen zum Gegenstand har (98), Die ausschlaggeben-
de Kategorie ist daher die der Alitteilung.
Fuchs folgt darin Bultmann, daß das hermeneutische Prinzip im Verständ-
nis des Neuen Testamentes gegenüber dem Glauben neutral sein muß, denn
seine einzige Voraussetzung ist die Frage nach uns selbst. Aber sie enthüllt
sich als die Frage Gottes an uns. Eine Sprachlehre des Glaubens nluß davon
handeln, wie das dem Anruf des Wortes Gottes begegnende Hören eigent-
lich verfahrt. »Wissen, was in dieser Begegnung geschieht, heißt noch nicht,
daß man auch ohne weiteres sagen kann, was man weiß.{( (86) So ist am
Ende die Aufgabe nicht nur, das Wort zu hören, sondern ebenso: das Wortzu
finden, das Antwort sagt. Es geht um die Sprache des Glaubens.
In einem Aufsatz ) Übersetzung und Verkündigung{( wird deut1icher,
inwiefern diese hermeneutische Lehre über die existentiale Interpretation im
Sinne Bultmanns hinauszukommen sucht6l . Es ist das hermeneutische Prin-
zip der Übersetzung, das die Richtung angibt. Unbestreitbar: I}Die Überset-
zung soll denselben Raum schaffen, den ein Text schaffen wollte, als der
60 Bad Cannstatt, 1954, Erg.-Heft zur 2. Aufl. 1958. Vgl. auch: Zum hermeneutischen

Problem in der Theologie. Die existenziale Interpretation, Tübingen 1959 und Marburger
Hermeneutik (1968).
61 Zur Frage nach dem historischenJesus, Ges. Aufs. 11, Tübingen 1960.
410 Anhänge

Geist in ihm sprach.« (409) Das Wort aber hat gegenüber dem Text - das ist
die kühne und doch unvermeidliche Konsequenz - den Primat, denn es ist
Sprachereignis. Damit soll offenbar gesagt sein, daß das Verhältnis von Wort
und Gedanken nicht das eines nachträglichen Errcichcns des Gedankens
durch das ausdrückende Wort ist. Das Wort ist vielmehr wie ein Blitz, der
trifft. Entsprechend hat Ebeling einmal formuliert: »Das hermeneutische
Problem erfahrt im Vollzug der Predigt seine äußerste Verdichtung. «"
Es kann hier nicht darüber berichtet vverden, wie von dieser Basis aus .. die
hermeneutischen Bewegungen im Neuen Testament{~ dargestellt werden.
Dabei dürfte die eigentliche Pointe darin erblickt werden, daß dic Tlieologie
nach Fuchs schon im Neuen Testament l)ihrem Ansatz nach der Streit
Z\vischcn einem von Anfang an drohenden Rechts- oder Ordnungsdenkcn
und der Sprache selbst ist~~h]. Die Aufgabe der Verkündigung ist die Umset-
zung ins Wort M .
Aller heutigen Kritik am historischen Objektivismus oder Positivismus
ist eines gemeinsam: die Einsicht, daß das sogenannte Subjekt der Erkennt-
nis von der Seins art des Objektes ist, so daß Objekt und Subjekt der gleichen
geschichtlichen Bewegtheit angehören. Der Subjekt-Objekt-Gegel1satz hat
zvvar dort seine Angemessenheit, wo das Objekt gegenüber der res cogitans
das schlechthin andere der res extensa ist. Die geschichtliche Erkenntnis aber
kann durch einen solchen Begriff von Objekt und Objektivität nicht ange-
messen beschrieben werden. Es kommt darauf an, mir GrafYorck zu reden,
den )generischen< Unterschied von )ontisch( und lhistorisch< zu erfassen,
d.li. das sog. Subjekt in der ihm zukommenden Seinsweise der Geschicht-
lichkeit zu erkennen. Wir hatten gesehen, daß Dilthey zur vollen Konse-
quenz dieser Einsicht nicht durchgedrungen ist, \venn auch in seiner Nach-
folge dieselbe gezogen wurde. Indessen fehlten [ur das Problem der Über-
\vindung des Historismus, \vie es et"\va von Ernst Troeltsch expliziert wor-
den ist, die begrifflichen Voraussetzungen.
62 Wort Gottes und Hermeneutik, Ztschr. f. Theol. u. Kirche, 1959.
63 Vgl. meinen Beitrag zur FS Bultmann a.a.Q. [,Heideggers Wege~, S. 29ff.: Ges.
Wecke ßd. 31.
04 Vielleicht wird das, -..vas in den Augen von Fuchs und Ebeling die meue hermeneuti-

sche Position« heißt, an der Übertreibung am deutlichsten. H. Franz hat in einem


sympathischen und ernsthaften Büchlein die Frage nach Kerygma und KUllst (Saarbrük-
km, 1959) gestellt. Er bewegt sich weitgehend im Sprachstoff des späten Heidegger und
sieht die Aufgabe darin, die Kunst wieder in echtes kerygmatisches Sein zurückzuführen.
Aus dem ~>Ge-stell« des Kunstbetriebes soll wieder das Er-eignis werden. Der Verfasser
hat wohl im besonderen die Musik im Auge und ihre wesenhafte Zugehörigkeit zu dem
Raum, in dem sie erklingt. oder besser: den sie klingen macht. Aber ge\viß meint er nicht
nur die Musik, nicht nur die Kunst. er meint die Kirche selbst und auch ihre Theologie.
wenn er das Kerygma durch den >Betrieb< bedroht sieht. Ob aber durch die Verwandlung
ins ,Ereignis! Theologie und Kirche schlechthin charaktcrisierbar sind? [Vgl. auch: J. B.
Cobb/J. M. Robinson, Tbe New Hermeneutics, New York 1964].
Hermeneutik und Historismus 411
Hier hat die Arbeit der phänomenologischen Schule ihre Fruchtbarkeit
bewiesen. Heure, nachdem die verschiedenen Entvvicklungsphasen der hus-
serlschen Phänomenologie überschaubar geworden sind 65 , scheint mir klar,
daß Husserl als erster den radikalen Schritt in dieser Richtung tat, indem er
die Seinsvveise der Subjektivität als absolute Historizität, d. h. als Zeitlich-
keit erwies. Heideggers epochemachendes Werk )Sein und Zeit<, auf das man
sich dafür in der Regel bezieht, hatte eine ganz andere, \veit radikalere
Intention, nämlich den unangemessenen ontologischen Vorgriff aufzudek-
ken, der das neuzeitliche Verständnis der Subjektivität bzw. des )Bewußt-
seins< beherrscht, und das auch noch in dessen extremer Zuspitzung ZUr
Phänomenologie der Zeitliclikeit und Geschiehtliehkeit. Diese Kritik diente
der positiven Aufgabe, die Frage nach dem >Sein< neu aufzurühren, auf die
die Griechen als erste Antwort die der Metaphysik gegeben hatten. ,Sein und
Zeit< wurde jedoch nicht in dieser seiner eigentlichen Intention verstanden,
sondern in dem, vvas Heidegger mit Husserl gemeinsam hatte, wenn man
darin die radikale Verfechtung der absoluten Gesehichtliehkeit des ,Daseins',
wie sie schon aus Husserls Analyse der Urphänomenalität der Zeitlichkeit
(»Strömen«) folgte, sah. Man argumentierte etwa so: Die Seinsweise des
Daseins wird nun ontologisch positiv bestimmt. Es ist nicht Vorhandensein,
sondern Zukünftigkeit. Es gibt keine ewigen Wahrheiten. Wahrheit ist die
mit der Geschichtlichkeit des Daseins mitgegebene Erschlosscnheit des
Seins 66 • Hier war die Grundlage zu finden, von der aus die Kritik am
historischen Objektivismus, die in den Wissenchaften selber geschah, ihre
ontologische Rechtfertigung empfangen konnte. Es ist sozusagen ein Histo-
rismus zweiten Grades, der nicht nur die geschichtliche Relativität aller
Erkenntnis dem absoluten Wahrheitsanspruch entgegenstellt, sondern ihren
Grund, die Gesehichtlichkeit des erkennenden Subjektes, denkt und deshalb

6.'i Husserliana I-VIII. Vgl. die Beiträge von H. Wagner (Phil. Rundsch. L 1-23, 93-

123), D. Henrich (Phil. Rundseh. VI. 1-25) und L. Landgrebe (PhiL Rundseh. IX, 133).
H.-G. Gadamer (Phil. Rundsch. X, 1-49). Meine dort an den Auffassungsgesichtspunk-
ten Herbert Spiegdbergs geübte Kritik hat leider in einigen Punkten unrichtige Unterstel-
lungen begangen. Sowohl betreffs der Parole >zu den Sachen selbst< als auch zum Reduk-
tionsbegriff Husserls nimmt Spicgelberg durchaus im gleichen Sinne . .vie ich gegen
geläufige Mißverständnisse Stellung, was ich hier ausdrücklich berichtige. [Daß mit dem
Fortschreiten der Husserl-Ausgabe auch die Husserl-Intcrpretationen inzwischen ange-
wachsen und Jüngere am Werke sind, sei ausdrücklich vermerkt.]
66 Das heißt aber nicht: IEs gibt nichts Ewiges. Alles, was ist, ist geschichtlich. (

Vielmehr ist z. B. die Seinsart dessen, was ewig oder "\vas zeitlos ist, Gott oder die Zahlen,
von der >Fundamentalontologie<, welche am Dasein seinen Seinssinn erhebt, aus erst
richtig bestimmbar - vgl. etwa O. Beckers Arbeit über Mathematische Existenz, Jahr-
buch rur Philosophie und phänomenologische Foschung VIII (1927).
412 Anhänge

geschichtliche Relativität nicht mehr als Einschränkung der Wahrheit anse-


hen kann 67 •
Auch wenn das [ichtig ist, folgt daraus keineswegs, daß nun im Sinne der
Diltheyschen Weltanschauungsphilosophie alle philosophische Erkenntnis
nur noch den Sinn und Wert eines geschichtlichen Ausdrucks hat und
insoweit mit der Kunst auf der gleichen Ebene steht, in der es um Echtheit
und nicht um Wahrheit gehe. Heideggers eigene Frage ist weit davon ent-
fernt, die Metaphysik zugunsten der Geschichte, die Frage naeh der Wahr-
heit zugunsten der Echtheit des Ausdrucks aufheben zu wollen. Er will
vielmehr noch hinter die Fragestellung der Metaphysik denkend zurückfra-
gen. Daß damit die Geschichte der Philosophie in einem neuen Sinne als das
Innere der Weltgeschichte, nämlich als Seinsgeschichte, d. h. Geschichte der
Seinsvergessenheit erscheint, bedeutet aber auch nicht, daß es sich hier um
eine Geschichtsmetaphysik in dem Sinne handelt, den Löwith als eine Säku-
larisationsforrn des heils geschichtlichen Verständnisses des Christentums
erwiesen hat6 !l und dessen konsequenteste DurchfLihrung auf dem Boden der
modernen Aufklärung die hegelsche Geschichtsphilosophie ist. Ebensowe-
nig ist Husserls historische Kritik des >Objektivismus< der neueren Philo-
sophie, die seine )Krisis<-Abhandlung vorträgt, Geschichtsmetaphysik. >Ge-
schichtlichkeit< ist ein transzendentaler Begriff.
Gegen einen so1chen >transzendentalen< Historismus, der im Stile der
husserlschen transzendentalen Reduktion in der absoluten Geschichtlichkeit
der Subjektivität seinen Stand nimmt, um von ihr aus alles als seiend
Geltende als eine Objektivations1cistung dieser Subjektivität zu verstehen,
läßt sich sehr leicht argumentieren, wenn man den Standpunkt einer theolo-
gischen Metaphysik in Anspruch nimmt. Wenn es ein Ansichsein geben soll,
das allein die universale geschichtliche Bewegtheit sich ablösender WeItent-
würfe einzuschränken vermöchte, muß es offenbar das alle endlichen
menschlichen Perspektiven Übertreffende sein, wie es sich einem unendli-
chen Geiste darstellt. Das aber ist die Schöpfungsordnung, die auf diese
Weise allen menschlichen Weltentwürfen vorgeordnet bleibt. In diesem
Sinne hat Gerhard Krüger schon vor Jahrzehnten den Doppelaspekt der
Kantischen Philosophie, Idealismus der Erscheinung und Realismus des
Dings an sich zu sein, interpreticrt69 und bis in seine neuesten Arbeiten hinein
von der Basis der mythischen oder religiösen Erfahrung aus das Recht einer
teleologischen Metaphysik gegen den modernen Subjektivismus zu vertei-
digen gesucht.
7
6 Vgl. etwa F. Meineckes Begriff des ldynamischen Historismus, (Entstehung des
Historismus 499ff).
OR Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1953. Uetzt in Sämtl. Schriften 2.

Stuttgart 1983, S. 7-239.]


69 Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik, Tübingen 1931.
Hermeneutik und Historismus 413

Sehr viel schwieriger wird die Sache aber, wenn man die im christlichen
Schöpfungsbericht gipfelnden Konsequenzen nicht auf sich nehmen will
und dennoch den alten teleologischen Kosmos, für den ja noch immer das
sog. natürliche Weltbewußtsein plädiert, dem Wandel der menschlichen
Geschichte entgegenstellen möchte". Wohl ist es richtig und einleuchtend,
daß das Wesen der Geschichtlichkeit erst mit der christlichen Religion und
ihrer Betonung des absoluten Augenblicks det Heilstat Gottes dem menscli-
lichen Denken zum Bewußtsein gekommen ist und daß dennoch vordem
schon die gleichen Phänomene des geschichtlichen Lebens bekannt waren,
nur daß sie ))urgeschichtlich{, verstanden wurden, sei es in der Herleitung der
Gegenwart aus einer mythischen Vorzeit, sei es im Verständnis derselben im
Blick auf eine ideale, ewige Ordnung.
Es ist wahr, daß etwa die Geschichtsschreibung eines Herodot, ja selbst
diejenige eines Plutarch, das Auf und Ab der menschlichen Geschichte sehr
wohl zu beschreiben weiß, als eine Fülle moralischer Exempla, ohne auf die
Geschichtlichkeit der eigenen Gegenwart und die Geschichtlichkeit des
menschlichen Daseins schlechthin zu reflektieren. Das Vorbild der kosmi-
schen Ordnungen, in denen alles Ab\.vcichende und Normwidrige flüchtig
vergeht und in den großen Ausgleich des Naturlaufs zurückgenommen
wird, vermag auch den Lauf der menschlichen Dinge zu beschreiben. Die
beste Ordnung der Dinge, der ideale Staat, ist in der Idee eine ebenso
dauerhafte Ordnung wie das Weltall, und wenn selbst eine ideale Verwirkli-
chung desselben nicht dauert, sondern neuer Verwirrung und Unordnung
Platz macht (die \.vir Geschichte nennen), so ist das die Folge eines Rechen-
fehlers der das Rechte wissenden Vernunft. Die rechte Ordnung ist ohne
Geschichte. Geschichte ist Verfalls geschichte und, allenfalls, Wiederherstel-
lung der rechten Ordnung71 •
Im Blick auf die tatsächliche menschliche Geschichte ist also der histori-
sche Skeptizismus - übrigens doch wohl auch nach christlich-rcformatori-

70 Vgl. Löwiths Krüger-Kritik, Phil. Rundschau. VII, 1959, S. 1-9.


71 Anläßlich der Schrift von G. Rohr, Platons Stellung zur Geschichte, Berlin 1932, habe
ich das schon vor Jahrzehnten (DLZ 1932, Sp. 1982ff.; Ges. Werke Bd. 3, S. 327-331) so
formuliert: »Wo die rechte Paideia in einem Staat wirksam würde, da wäre das überhaupt
nicht, was wir >Geschichte< nennen: das Wechselspiel von Entstehen und Vergehen,
Wachstum und Verderb. Über die aus den Tatsachen bestätigten Ablaufsgesetze des
Geschehens erhöbe sich der gewahrte Bestand. Und erst \venn man sicht, daß auch diese
Dauer IGeschichtel heißen darf, zeigt sich Platos )Stellung zur Geschichte<: Im dauernden
Abbild dauernden Vorbildes, in einem politischen Kosmos inmitten des Natürlichen
vollendete sich das Sein der Geschichte als die Unsterblichkeit der wiederholenden
Bewahrung. (Man denke an den Anfang des >Timaiosl)(I Inzwischen hat K. Gaiser, Platos
ungeschriebene Lehre, 1963, das Problem erneut behandelt. [Vgl. auchmeineArbeitlPlatos
Denken in Utopieni, Gymnasium 90 (1983), S. 434-453; Ges. Werke Bd. 7, S. 270- 289.]
414 Anhänge

sehern Verständnis - allein vertretbar. Das Volar die Absicht und Einsicht, die
hinter Löwiths Aufdeckung der theologischen, insbesondere eschatologi-
schen Voraussetzungen der europäischen Geschichtsphilosophie in >Weltge-
schichte und Heilsgeschehen, stand. Die Einheit der Weltgeschichte zu den-
ken, ist, von Löwith her gesehen, das falsche Bedürfnis des christlich-
modernistischen Geistes. Nicht der ewige Gott und nicht der Heilsplan, den
er mit den Menschen verfolgt, darf na eh Löwith gedacht werden, \\'cnn man
die Endlichkeit des Menschen wirklich ernst nimmt. Man müßte auf den
ewigen Lauf der Natur blicken, um an ihm den Gleichmut zu lernen, der der
Winzigkeit des Menschendaseins im Wcltganzen allein angemessen sei. Der
»natürliche Wcltbcgriff«, den Lö"vith gegen den modernen Historismus
ebensosehr wie gegen die moderne Naturwissenschaft ausspielt, ist also, wie
man sieht, stoischer Prägung 72 • Kein anderer griechischer Text scheint Lö-
withs Absichten so gut zu illustrieren wie die pseudoaristotelische (helleni-
stisch-stoische) Schrift ,Von der Welt<. Kein Wunder. Offenbar ist der mo-
derne Autor so gut wie sein hellenistischer Vorfahr am Naturlauf nur so \veit
interessiert, als er das Andere zu der verzweifelten Unordnung der mensch-
lichen Dinge ist. Wer so die Natürlichkeit dieses natürlichen Weltbildes
verteidigt, geht also keineswegs von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen
aus - so wenig wie Nietzsche -, sondern von der schlechthinnigen Endlich-
keit des menschlichen Daseins. Seine Ablehnung der Geschichte ist eine
Spiegelung des Fatalismus, d. h. der Verzweiflung an einem Sinn dieses
Daseins. Sie ist keine Verneinung der Bedeutung der Geschichte, sondern
ihrer Deutbarkeit überhaupt.
Radikaler scheint mir die Kritik an dem Geschichtsglauben der Moderne,
die Leo Strauss in einer Reihe hervorragender Bücher zur politischen Philo-
sophie geübt hat. Er \\'ar Professor der politischen Philosophie in Chicago,
und es gehört zu den ermutigenden Zügen unserer in ihrenl Freiheitsspiel-
raum sich immer mehr verengenden Welt, daß ein so radikaler Kritiker des
politischen Denkens der Moderne dort wirkt. Man kennt jene querelle des
a"ciens et des modemes, die das literarische Publikum des 17. und 18. Jahrhun-
derts in Frankreich in Atem hielt. Wenn es auch mehr ein literarischer Streit
war, der die Verfechter der Unübertrefflichkeit der klassischen Dichter
Griechenlands und Roms mit dem literarischen Selbstbewußtsein der zeitge-
nössischen Schriftsteller im Wettbewerb zeigt, die damals am Hofe des
Sonnenkönigs eine neue klassische Periode der Literatur herauffUhrten, so
hat die Spannung dieses Streites am Ende doch zu seiner schließlichen
Auflösung im Sinne des geschichtlichen Bewußtseins gedrängt. Denn es
galt, die schlechthinnige Vorbildlichkeit der Antike zu begrenzen. Jene

72 Der Weltbegriff der neuzeitlichen Philosophie, Sb. d. Hd. Ak. d. W., phil.-hist. Kl.,

1960.
Hermeneutik und Historismus 415

querelle war gleichsam die letzte Form einer ungeschichtlichen Auseinander-


setzung zwischen der Tradition und dem Zeitalter der Moderne.
Es wird kein Zufall sein, daß schon eine der ersten Arbeiten von Leo
Strauss, die )Die Religionskritik Spinoza" (1930) behandelt, mit dieser
querelle zu tun hatte. Sein ganzes imponierendes gelehrtes Lebens\verk ist der
Aufgabe gewidmet, diese querelle in einem radikaleren Sinne neu zu entfa-
chen, d. h. dem modernen geschichtlichen Selbstbewußtsein die einleuch-
tende Richtigkeit der klassischen Philosophie entgegenzustellen. Wenn Plato
nach dem besten Staat fragt und selbst die ausgedehnte poJitische Empirie
des Aristotcles den Vorrang dieser Frage festhä1t, so Illag das mit dem
Begriff der Politik \venig vereinbar sein, der seit Machiavelli das tllodernc
Denken beherrscht. Und wenn Strauss in seinem auch in deutscher Überset-
zung zugänglich ge\vordenen Buch >Naturrecht und Geschichte( dem An-
schein nach auf die Gegenfigur der modernen historischen Weltanschauung,
das Naturrecht, zurückgreift, so ist in Wahrheit der SiIlIl seines Buches, auch
hier die griechischen Klassiker der Philosophie, Plato und AristoteIes, als die
wahren Begründer des Naturrechts sichtbar zu machen und \veder die
stoische noch die mittelalterliche Form des Naturrechts, von der des Aufklä-
rungszeitalters ganz zu schweigen, als philosophisch richtig gelten zu lassen.
Strauss is( dabei von seiner Einsicht in die Katastrophe der Moderne
bewegt. Ein so elementares menschliches Anliegen wie die Unterscheidung
von >recht( und >Unrecht( erhebt in sich den Anspruch, daß der Mensch sich
über seine geschichtliche Bedingtheit muß erheben können. Die klassische
Philosophie, die mit der Frage nach der Gerechtigkeit die Unbedingtheit
dieses Unterschieds in den Vordergrund stellt, hat offenbar recht, und der
radikale Historismus, der alle unbedingte Geltung geschichtlich relativiert,
kann nicht recht haben. Man muß also seine Argumente inl Lichte der
klassischen Philosophie prüfen.
Nun kann freilich auch Strauss nicht meinen, daß er diese Aufgabe in
derselben Weise in Angriff nehmen könnte, wie etwa Plato seine Kritik an
der Sophistik. Er ist selber im modernen geschichtlichen Bewußtsein so\veit
heimisch, daß das Recht der klassischen Philosophie von ihm nicht »naiv({
vertreten werden kann. So ist seine Argumentation gegen das, was er den
Historismus nennt, zunächst einmal selbst aufhistorischem Grunde errich-
tet. Er beruft sich darauf (und auch Löwith wiederholt diese Berufung), daß
das historische Denken selber seine historischen Bedingungen der Entste-
hung hat. Das gilt in der Tat sowohl rur die Form des naiven Historismus,
d. h. der Ausbildung des historischen Sinnes im Studium der Überlieferung,
als auch von der verfeinerten Form desselben, die die Existenz des Erken-
nenden selbst in ihrer Gcschichtlichkeit mitdenkt.
So unbestreitbar richtig das ist, so unbestreitbar ist auch die Folgerung,
daß das historische Phänomen des Historismus, so wie es seine Stunde
416 Anhänge

erhielt, eines Tages auch vorbei sein könnte. Das gilt ganz gewiß, nicht weil
der Historismus sich sonst )widerspräche<, sondern wenn er es mit sich selbst
ernst meint. Man kann also nicht argumentieren: ein Historismus, der die
geschichtliche Bedingtheit aller Erkenntnis schlechthin )in alle Ewigkeit,
behauptet, widerspreche sich im Grunde selbst. Mit solchen Selbstwider-
sprüchen ist es eine eigene Sache73 , Auch hier muß man sich fragen, ob die
beiden Sätze: »Alle Erkenntnis ist geschichtlich bedingt« und »diese Er-
kenntnis gilt unbedingt« auf der gleichen Ebene liegen, so daß sie einander
widersprechen können. Die These ist ja nicht, daß man diesen Satz immer
fLir wahr halten wird - so wenig, wie man ihn schon immer fLir wahr
gehalten hat. Der Historismus, der sich ernst nimmt, \vird vielmehr damit
rechnen, daß Inan seine These eines Tages nicht mehr fUr wahr hält, d. h.
>unhistorisch, denkt. Aber ganz gewiß nicht deshalb, weil die unbedingte
Behauptung der Bedingtheit aller Erkenntnis nicht sinnvoll sei, sondern
,logischen< Widerspruch enthalte.
Indessen meint Strauss es wohl nicht im Sinne dieser Frage. Der bloße
Nachweis jedenfalls, daß dic Klassiker anders, unhistorisch dachten, sagt
noch nichts über die Möglichkeit, heute unhistorisch zu denken. Indessen
gibt es Gründe genug, die Möglichkeit, unhistorisch zu denken, nicht als
eine leere Möglichkeit anzusehen. Die treffenden ,physiognomischen( Be-
obachtungen, die Ernst Jünger zu dieser Frage häuft, könnten daftir spre-
chen, daß die Menschheit ,An der Zeitmauen angelangt ist14 . Was Strauss im
Auge hat, ist jedoch innerhalb des historischen Denkens gedacht und hat den
Sinn eines Korrektivs. Was er kritisiert, ist, daß das >geschichtliche< Ver-
ständnis überlieferter Gedanken beansprucht, diese Gedankenwelt der Ver-
gangenheit besser zu verstehen, als sie selber in der Lage war75 . Wer so
denke, schließe von vornherein die Möglichkeit aus, daß die überlieferten
Gedanken einfach wahr sein könnten. Das sei der geradezu universelle
Dogmatismus dieser Denkweise.
Das Bild des Historizisten, das Strauss hier zeichnet und bekämpft, ent-
spricht, wie mir scheint, jenem Ideal der vollendeten Aufklärung, das ich in
meinen eigenen Untersuchungen zur philosophischen Hermeneutik als die
Leitidee hinter dem historischen Irrationalismus Diltheys und des 19. Jahr-
hunderts bezeichnet habe. Ist es nicht ein utopisches Ideal von Gegenwart, in
dessen Lichte sich alle Vergangenheit sozusagen ganz enthüllt? Die Anwen-
dung der überlegenen Perspektive der Gegenwart auf alle Vergangenheit
scheint mir gar nicht das wahre Wesen des historischen Denkens, sondern

73 VgJ. Ces. Werke Bd. 1, S. 452 (Anm. 85).


74 Vgl. auch A. Cehlens Analyse der modernen Kunst, der geradezu von der post-histoire
spricht, "in die wir hineingehen/,. (vgl. meine Rezension der ,Zeitbilderl Phil. Rundschau
X, 1/2. = Kleine Schriften 11, 218-226; Ges. Werke Bd. 9).
75 What i5 Political Philosophy?, Glencoe 1959, S. 68.
Hermeneutik und Historismus 417

bezeichnet die hartnäckige Positivität eines maiveni Historismus. Seine


Würde und seinen Wahrheitswert hat das historische Denken in dem Einge-
ständnis, daß es Idie Gegenwarti gar nicht gibt, sondern stets wechselnde
Horizonte von Zukunft und Vergangenheit. Es ist ganz und gar nicht
ausgemacht (und nie auszumachen), daß irgendeine Perspektive, in der sich
überlieferte Gedanken zeigen, die richtige sei. Das Ihistorischei Verständnis
hat da keinerlei Privileg, weder das heutige noch das morgige, Es wird selbst
von den wechselnden Horizonten umfaßt und mit ihnen mitbewegt.
Dagegen stammt die Wendung der philologischen Hermeneutik, man
müsse einen Autor besser verstehen, als er sich selber verstanden hat, wie ich
nachgewiesen hahe, aus der Genie-Ästhetik, ist aber ursprünglich eine simp-
le Formulierung des Aufklärungsideals, konfuse Vorstellungen dureh Bc-
griffsanalyse aufzuklären 76 • Ihre Anwendung auf das historische Bewußtsein
ist sekundär und leistet dem falschen Schein einer unübertreffbaren Überle-
genheit des je gegenwärtigen Interpreten, den Strauss mit Recht kritisiert,
Vorschub. Wenn aber Strauss argumentiert, selbst um besser zu verstehen,
müsse man erst einmal einen Autor verstehen, wie er sich selber verstanden
habe, unterschätzt er, wie ich glaube, die Sch\.vicrigkciten alles Verstehens,
weil er das, was man die Dialektik der Aussage nennen könnte, ignoriert.
Das zeigt er auch an anderer Stelle, wenn er das Ideal einer )Iobjektiven
Interpretationii eines Textes damit verteidigt, daß jedenfalls der Autor seine
Lehre nur auf eine einzige Weise verstand, »vorausgesetzt, daß er nicht
konfus war<~ (67). Es wird noch zu fragen sein, ob der damit implizierte
Gegensatz von Iklarl und Ikonfus( so eindeutig ist, wie Strauss als selbstver-
ständlich annimmt. Teilt er damit nicht der Sache nach den Standpunkt der
vollendeten historischen Aufklärung und überspringt das eigentliche her-
meneutische Problem? Er scheint es für möglich zu halten, zu verstehen, was
man nicht selber versteht, sondern was ein anderer versteht, und nur zu
verstehen, wie er sich selber verstanden habe. Und er scheint zu meinen, wer
etwas sagt, habe }sich< dabei notwendig und adäquat verstanden. Beides
kann nicht zutreffen, meine ich. Man wird eben den inkriminierten herme-
neutischen Grundsatz, einen Atuor »besser« verstehen zu sollen, als er sich
selbst verstand, von der Voraussetzung einer vollendeten Aufklärung ablö-
sen müssen, um seinen gültigen Sinn zu ermitteln.
So fragen wir versuchsweise, \vie das Plädoyer fUr die klassische Philo-
sophie, das Strauss fUhrt, sich hermeneutisch gesehen ausnimmt. Untersu-
chen wir es an einem BeispieL Strauss zeigt sehr schön, daß die klassische
politische Philosophie die in der modernen Diskussion sogenannte Ich-Du-
Wir-Relation unter einem ganz anderen Namen kennt, als FreundsdwJt. Er
sieht richtig, daß die moderne Denkweise, die vom )Du-Problem< spricht,

76 Vgl. Ces. Werke Bd. 1, S. 197ff.


418 Anhänge

aus der prinzipiellen Vorrangstellung des cartesischen ego coRitfl herrührt.


Strauss glaubt nun einzusehen, warum der antike Begriff der Freundschaft
richtig ist, und die moderne Begriffsbildung falsch. Wer zu erkennen sucht,
was Staat und Gesellschaft ausmacht, der muß lcgitimerweisc über die Rolle
der Freundschaft sprechen. Er kann aber nicht mit gleicher Legitimität >über
das Du( sprechen. Das Du ist nichts, worüber man spricht, sondern das, zu
dem man spricht. Wenn man statt der Rolle der Freundschaft die Funktion
des Du zugrundclegt, verfehlt man geradezu das objektive kommunikative
Wesen von Staat und Gesellschaft.
Ich finde das Beispiel sehr glücklich. Die unbcstitnmte Stellung zwischen
Tugend- und GüterJehre, die der Begriff der Freundschaft in der aristoteli-
schen Ethik einnimmt, ist mir aus ganz ähnlichen Gründen seit langenl ein
Ansatzpunkt, Schranken der modernen Ethik gegenüber der klassischen
Ethik zu erkennen 77 • Ich stimme also dem Beispiel von Strauss voll zu, aber
ich frage: Fällt einem eine solche Einsicht in den Schoß, indem man die
Klassiker mit durch die historische Wissenschaft geschultem Auge lliest<,
gleichsam ihr Meinen rekonstruiert und es dann auch noch rur möglich hält,
sozusagen in vertrauensseliger Gesinnung, daß sie recht haben? - Oder
gewahren wir in ihnen Wahrheit, weil wir immer schon selber denken, wenn
wir sie zu verstehen suchen, d. h. aber, daß ihre Aussagen uns als "vahr
einleuchten im Blick auf die entsprechenden modernen Theorien, die im
Schv,iange sind? Verstehen wir sie überhaupt, ohne sie zugleich als richtiger
zu verstehen? Wenn das so ist, frage ich weiter: Hat es nun nicht Sinn, von
Aristoteles zu sagen: So konnte er sich selbst nicht verstehen, wie wir ihn
verstehen. Denn wir finden, was er sagt, richtiger, als jene modernen
Theorien (die er gar nicht kennen konnte)?
Ähnliches ließe sich etwa über den Unterschied zwischen dem Begriff des
Staates und dem der Polis zeigen, auf dem Strauss ebenfalls Init Recht
besteht. Daß die Anstalt des Staates etwas sehr anderes ist als die natürliche
Lebensgemeinschaft der Polis, ist nicht nur richtig - damit ist auch etwas
aufgedeckt - und \vieder aus dieser Erfahrung des Unterschiedes -, das nicht
nur für die lTIoderne Theorie unbegreifbar bleibt, sondern das auch in
unserem Verständnis der überlieferten klassischen Texte unbegriffen bliebe,
wenn \vir es nicht aus dem Gegensatz zur Moderne verstünden. Wenn man
das revitalisation nennen will, Wiederbelebung, so scheint mir das eine
ebenso ungenaue Redeweise wie die von Re-enactment bei Colling\vood. Das
Leben des Geistes ist nicht wie das des Leibes. Es ist kein falscher Historis-
mus, sich das einzugestehen, sondern im schönsten Einklang mit Aristote-
77 Vgl. meine Abhandlung) Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethib. (Kleine

Schriften r, 179-191; Ges. Werke ßd. 4). [Vgl. auch meine Arbeit )Freundschaft und
Selbs!erkenntnis( in der FS fur Uvo Hölschcr, Würzburg 1985; Ges. Werke Bd. 7 und
meine Sammelrezcnsion zur Ethik in der Philos. Rdsch. 32 (1985), S. 1-261.
Hermeneutik und Historismus 419

les: epidosis eis auto. Der Sache nach glaube ich darin mit Strauss nicht
ernstlich zu differieren, sofern auch er die fosion oI hisrory Ql1d philosophicat
questio11S< in unserem heutigen Denken für unvermeidlich hält. Ich stimme
ihm zu, daß es eine dogmatische Behauptung wäre, darin einen schlechthin-
nigen Vorzug der Moderne zu erblicken. Ja, wieviel Vorgreifliches uns
undurchschaut beherrscht, wenn \vir in unsern durch die Tradition mannig-
fach versetzten Begriffen denken, und wieviel ein Rückgang auf die Väter
des Denkens uns lehren kann, zeigen die genannten Beispiele - die sich aus
Strauss' Schriften beliebig vermehren ließen - auf eindeutige Weise.
Jedenfalls darf man sich nicht zu dem Irrtum verleiten lassen, das Problem
der Hermeneutik stelle sich nur vom Standpunkte des modernen Historis-
mus. Zugegeben, daß für die Klassiker die Meinungen ihrer Vorgänger nicht
eigent1ich als geschichtlich andere, sondern gleichsam als zeitgenössisch
diskutiert wurden. Aber die Aufgabe der Hermeneutik. d. h. die Aufgabe
der Interpretation der überlieferten Texte, stellt sich auch dann, und wenn
solche Interpretation dort immer zugleich die Wahrheitsfrage einschließt, So
ist auch das vielleicht nicht so weit von unseren eigenen Erfahrungen im
Umgang mit Texten, als die Methodenlehre der historisch-philologischen
Wissenschaft wahrhaben will. Das Wort Hermeneutik wird bekanntlich auf
die Aufgabe des Dolmetschers zurückgefUhrt, etwas Unverständliches, weil
in fremder Sprache Gesprochenes - und sei es in der Göttersprache der
Winke und Zeichen - zu deuten und mitzuteilen. Das solcher Aufgabe
gewidmete Können ist wohl immer schon Gegenstand möglicher Besin-
nung und be\vußter Ausbildung gewesen. (Diese kann natürlich die Form
einer mündlichen Tradition gehabt haben, wie z. B. bei der delphischen
Priesterschaft.) Vollends aber ist die Aufgabe der Auslegung mit Entschie-
denheit gestellt, wo Schriftliehkeit besteht. Alles in der Schrift Fixierte hat
etwas Fremdes und steHt insofern die gleiche Verstehensaufgabe, wie das,
was in fremder Sprache gesprochen ist. Der Ausleger von Schriftlichem 'ivie
der Dolmetsch göttlicher oder menschlicher Rede hat Fremdheit aufzuheben
und Aneignung zu ermöglichen. Mag sein, daß diese Aufgabe sich kompli-
ziert, wenn der historische Abstand zwischen Text und Interpret bewußt
wird. Denn das bedeutet ja zugleich, daß die Tradition, die den überlieferten
Text und seinen Interpreten gemeinsam trägt, brüchig geworden ist. Aber
ich glaube, daß man unter der Wucht der falschen methodischen Analogien,
die die Naturwissenschaften suggerieren, die >historische< Hermeneutik viel
zu weit vonjener vorhistorischen Hermeneutik abrückt. Ich habe zu zeigen
gesucht, daß mindestens ein beherrschender Zug gemeinsam ist: die Struk-
tur der Applikation".
Es wäre reizvoll, den wesentlichen Zusammenhang Z\.vischen Hermeneu-

7ll VgJ. Ges. Werke Bd. 1, S. 312(f.


420 Anhänge

tik und Schriftlichkcit einmal in seinen griechischen Anfangen zu erfor-


schen.
Nicht nur, daß die Dichter-Auslegung von Sokrates wie von seinen
sophistischen Gegnern betrieben wurde, wenn wir Plato glauben dürfen.
Wichtiger ist, daß das Ganze der platonischen Dialektik von Plato selber
ausdrücklich auf die Problematik der Schriftliehkeit bezogen wird und daß
sie auch innerhalb der DialogVv'irklichkeit nicht selten ausdrücklich einen
hermeneutischen Charakter annimmt, sei es, daß eine mythische Überliefe-
rung durch Priester und Priesterinnen, eine Unterweisung durch Diotima
oder auch nur die Feststellung das dialektische Gespräch einleitet, die Älte-
ren hätten sich gar nicht um unser Verständnis bekümmert und uns deshalb
wie gegenüber Märchen hilflos gelassen. Auch die Umkehrung wäre zu
erwägen, wieweit nämlich bei Plato seine eigenen Mythen in den Gang der
dialektischen Bemühung hineingehören und insofern selber den Charakter
der Auslegung tragen. So könnte über die von Hermann Gundert gegebenen
Ansätze hinaus 79 die Konstruktion einer platonischen Hermeneutik höchst
lehrreich werden.
Wichtiger aber noch ist Plato als Gegenstand hermeneutischer Besinnung.
Steht doch das Dialogkunstwerk der platonischen Schriften eigentümlich in
der Mitte zwischen der Maskenvielheit der dramatischen Dichtung und der
Authentizität der Lehrschrift. Die letzten Jahrzehnte haben unS in dieser
Hinsicht zu einer hohen hermeneutischen Bewußtheit verholfen. Auch
Strauss überrascht in seinen Arbeiten durch manche glänzende Probe der
Dechiffrierung versteckter Bedeutungs bezüge im platonischen Dialogge-
schehen. Die eigentliche hermeneutische Basis ist dabei, soviel uns auch
Formanalyse und andere philologische Methoden geholfen haben, unser
eigenes Verhältnis zu den sachlichen Problemen, um die es bei Plato geht.
Auch die platonische Künstler-Ironie versteht nur (wie alle Ironie), wer sich
in der Sache mit ihm versteht. Die Folge dieser Sachlage ist, daß solche
dechiffrierende Auslegungen >unsicher< bleiben. Ihre) Wahrheit{ ist nicht
)objektiv{ aufweisbar, es sei denn von jenem sachlichen Einverständnis her.
das uns mit dem interpretierten Text verbindet.
Nun hat Strauss auf eine indirekte Weise einen "veiteren wichtigen Beitrag
zur hermeneutischen Theorie gegeben, indem er ein Sonderproblem unter-
sucht hat, nämlich die Frage, wieweit bewußte Tarnung der wahren Mei-
nung unter der Gewalt der Verfolgungsdrohungen der Obrigkeit oder der
Kirche beim Verständnis von Texten zu berücksichtigen isti!Cl. Studien zu
Maimonides, Halevy und Spinoza waren es vor allem, die zu solcher Be-
trachtungsweise Anlaß gaben. Ich möchte die von Strauss gegebenen Deu-

7~ In FS O. Regenbogen, Heidelberg 1952 und Lcxis H.


f<{) Persecutioll <lnd the Art ofWriting, Glcilcoe 1952.
Hermeneutik und Historismus 421

tungen nicht anzweifeln - sie leuchten mir weitgehend ein -, aber ich möchte
eine Gegenerwägung anstellen, die vielleicht auch in diesen Fällen, ganz
sicher aber in anderen Fällen, z.13. im Falle Platos, ihr Recht hat. Ist die
bewußte Verstellung, die Tarnung und das Versteck der eigenen Meinung
nicht in Wahrheit der seltene Extremfall zu einer häufigen, ja zu einer
allgemeinen Normalsituation? Genau wie Verfolgung (obrigkeitliche oder
kirchliche, Inquisition u. dgl.) nur ein Extremfall ist, im Vergleich zu dem
ungewollten oder gewollten Druck, den Gesellschaft und Öffentlichkeit auf
das menschliche Denken ausüben. Nur wenn man sich des kontinuierlichen
Übergangs vom einen zum anderen ganz bewußt ist, ermißt man die herme-
neutische Schwierigkeit des Problems, das Strauss angepackt hat. Wie will
man zu eindeutiger Feststellung von Verstel1ung kommen? So ist es m.E.
keineswegs eindeutig, wenn man bei einem Schriftstel1er widersprechende
Aussagen findet, die versteckte und gelegentliche - wie Strauss meint - fLir
die Aussage seiner wahren Meinung zu halten. Es gibt durchaus auch einen
unbewußten Konformismus des menschlichen Geistes, das, was al1gemein
einleuchtet, auch wirklich für wahr zu halten. Und es gibt umgekehrt einen
unbewußten Drang, extreme Möglichkeiten zu probieren, auch wenn sie
sich nicht immer zu einem kohärenten Ganzen vereinigen lassen. Der expe-
rimentcHe Extremismus Nietzsches ist dafür ein unwiderlegliches Zeugnis.
Widersprüchlichkeiten sind zwar ein vorzügliches Wahrheitskriterium, aber
leider kein eindeutiges Kriterium beim hermeneutischen Geschäft.
So ist es mir beispielsweise ganz sicher, daß der zunächst sehr einleuchten-
de Satz von Strauss, wenn ein Autor Widersprüche zeige, die ein heutiger
Schulbube ohne weiteres durchschauen würde, dann seien dieselben beab-
sichtigt, ja sogar zum Durchschauen bestimmt, auf die sogenannten Argu-
mentationsfehler des platonischen Sokrates nicht anwendbar ist. Nicht etwa
deshalb, weil wir uns da in den Anfangen der Logik bewegen (wer das
meint, verwechselt logisches Denken mit logischer Theorie), sondern weil
es das Wesen einer auf die Sache gerichteten GesprächsfLihrung ist, Unlogik
in Kauf zu nehmen81 •
Die Frage hat allgemeine hermeneutische Konsequenzen. Es geht um den
Begriff der Meinung des Autors. Ich sehe davon ab, welche Hilfsstellung die
Jurisprudenz mit ihrer Lehre von der Gesetzesauslegung hier zu bieten
vermöchte. Ich will mich nur darauf berufen, daß jedenfalls der platonisclie
Dialog ein Muster beziehungsvoller Vieldeutigkeit ist, der gerade Strauss oft
Wichtiges abgewinnt. Sollte die mimetische Wahrheit, die die sokratische
Gesprächsftihrung bei Plato hat, so zu unterschätzen sein, daß man diese

Sl Die Diskussion dieses Problems scheint mir noch immer nicht auf dem rechten

Punkt, wie die an sich beachtenswerte Anzeige der Schrift von R. K. Sprague: ,Plato's Use
ofFallacy, durch Kl. Oehler, Gnomon 1964, S. 335ff. m.E. zeigt.
422 Anhänge

Vieldeutigkeit nicht in ihr selbst, ja, in Sokrates selbst, erbhckt' Weiß ein
Autor wirklich so gen au und injedcm Satze, was er meint? Das wunderliche
Kapitel philosophischer Selbstinterpretation - ich denke et\va an Kant, an
Fichte oder an Hcidcgger - scheint mir eine deutliche Sprache zu sprechen.
Wenn die von Strauss gestellte Alternative [ichtig sein sollte, daß ein philo-
sophischer Autor entweder eine eindeutige Meinung hat oder konfus ist,
dann gibt es, fUrchte ich. in vielen strittigen Auslegungsfragen nur eine
hermeneutische Konsequenz: den Fall der Konfusion für gegeben zu
erachten.
Ich habe mich für die Struktur des hermeneutischen Vorgangs ausdrück-
lich auf die aristotelische Analyse der Phroncsis berufen,s2. Im Grunde habe
ich damit eine Linie wciterverfolgt, die Heidegger schon in seinen frühen
Freiburger Jahren eingeschlagen hat, als es ihm gegen den Neukantianismus
und die Wertphilosophie (und in letzter Konsequenz wohl auch schon gegen
Husserl selbst) auf eine lHermeneutik der Faktizität< ankam. Gewiß \vird für
Heidegger schon in seinen frühen Versuchen die ontologische Basis des
Aristoteles suspekt gewesen sein, auf der die ganze moderne Philosophie,
insbesondere der Begriff der Subjektivität und der des Bewußtseins sowie
die Aporien des Historismus ihren Stand haben (was dann in lSein und Zeit<
»Ontologie des Vorhandenen« hieß). In einem Punkt war aber die aristoteli-
sche Philosophie damals rurHeidegger viel mehr als ein bloßes Gegenbild,
nämlich ein wirklicher Eideshelfer fLir seine eigenen philosophischen Inten-
tionen: in der aristotelischen Kritik am )allgemeinen Eidos< Platos und
positiv in dem Aufweis der analogischen Struktur des Guten und seiner
Erkenntnis, wie sie in der Situation des Handelns die Aufgabe ist.
Was mich an Strauss' Verteidigung der klassischen Philosophie am mei-
sten wundert, das ist, "vie sehr er sie als eine Einheit verstehen möchte, so
daß ihm der extreme Gegensatz. der z"vischen Plato und Aristoteles durch
die Art und den Sinn der Frage nach dem Guten besteht, keine Sorgen zu
bereiten scheint. iU Mir sind die frühen Anregungen. die ich von Heidegger
empfing, u. a. in der Weise fruchtbar geworden, daß mir die aristotelische
Ethik ganz ungesucht die tiefere Durchdringung des hermeneutischen Pro-
blems erleichterte, Ich glaube zu sehen, daß das durchaus kein Mißbrauch
aristotelischen Dcnkens ist, sondern eine uns allen von dort her mögliche
Belehrung aufzeigt, eine Kritik des Abstrakt-Allgemeinen, wie sie, ohne im
Stile Hegels dialektisch zugespitzt zu werden und damit auch ohne die
unhaltbare Konsequenz, die der Begriff des absoluten Wissens darstellt, mit

~z Vgl. Ges. Werke Bd. 1. S. 315ff.


HJ [In meiner letzten großen Plato-Arbeit ,Die Idee des Guten z\'Vischcn Plato und
Aristoteles. (Abh. der Heid. Akad. d. Wiss., Philos.-histor. Kl.. Abh. 3). Heidelberg
1978 habe ich diesen vermeintlichen Gegensatz aufzulösen ·versucht - womit L. Strauss
vermutlich recht zufrieden gewesen wäre.]
Hermeneutik und Historismus 423
der Entstehung des historischen Bewußtseins rur die hernIeneutische Situa-
tion bestimmend gevvorden ist.
In dem 1956 erschienenen Bändchen )Die Wiedererweckung des ge-
schichtlichen Bewußtseins( hat Theodor Litt unter dem Titel: )Der Historis-
mus und seine Widersacher< eine temperamentvolle Auseinandersetzung mit
Krüger und Löwith (leider nicht auch mit L. Strauss) veröffentlicht, die mir
an diesem Punkte zu hängen scheint<:4.Ich glaube, daß Litt recht hat, wenn er
in der philsophischen Gegnerschaft gegen die Geschichte die Gefahr eines
neuen Dogmatismus erblickt. Das Verlangen nach einem festen, sich gleich-
bleibenden Maßstab, »der dem zum Handeln Aufgerufenen die Richtung
weist«, hat inlIner dann besondere Kraft, wenn Verirrungen des sittlich-
politischen Urteils zu schlimmen Folgen gcftihrt haben. Die Frage nach der
Gerechtigkeit, die Frage nach dem wahren Staat, scheint ein elementares
Bedürfnis des menschlichen Daseins zu sein. Indessen kommt alles darauf
an, wie diese Frage gemeint und gestellt werden muß, um Klärung zu
bringen. Litt zeigt, daß damit keine allgemeine Norm gemeint sein kann,
unter die der zu beurteilende Fall praktisch-politischen Handelns subsumiert
werden könnte~~. Ich vermisse freilich auch bei ihm, daß er sich der Hilfe
bedient, die hier Aristotcles leisten kann. Denn Aristoteles hat das gleiche
bereits gegen Plato eingewandt.
Ich bin durchaus überzeugt, daß wir von den Klassikern ganz schlicht zu
lernen haben, und ich vleiß es sehr zu schätzen, daß Strauss diese Forderung
nicht nur erhebt, sondern vielfach durch die Tat zu erfüllen vermag. Ich
rechne jedoch zu dem, \-vas v;.rir von ihnen zu lernen haben, auch den
unaufhebbaren Gegensatz, der zwischen einer politike techne und einer politi-
kr phronesis besteht. Ich finde, daß Strauss das nicht genügend bedenkt.
Wozu uns Aristoteles helfen kann, ist in diesem Punkte jedenfalls, daß wir
uns nicht in eine Apotheose der Natur und der Natürlichkeit und des
natürlichen Rechtes verrennen, die nichts als eine ohnmächtig doktrinäre
Kritik an der Geschichte wäre, sondern daß wir vielmehr ein angemessene-
res Sachverhältnis zur geschichtlichen Überlieferung gewinnen und ein
besseres Begreifen dessen, was ist. Ich halte das uns durch Aristoteles

R4 Heidelberg 1956.
f!5))Es ist ein hoffnungsloses Bemühen, in Aufschau zur Idee des )wahren( Staates nach
Anweisung der Norm der Gerechtigkeit feststellen zu wollen, welche besondere Ordnung
der gemeinsamen Dinge es nun eigentlich ist, die hic et nunc der allgemeinen Forderung
zur Verwirklichung verhelfen würde.« (88) In seiner Schrift ~ Über das Allgemeine im
Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis« (vom Jahre 1940) hat Litt das näher
begründet.
424 Anhänge

gestellte Problem keineswegs rur erledigt. Es könnte immerhin sein, daß die
aristotelische Kritik - wie so manche Kritik - zwar recht hat in dem, was sie
sagt, aber nicht gegen den, gegen den sie es sagt. 86 Doch das ist ein weites
Feld.

86 rVgl. Anm. 83 aufS. 4221.


28. Hermeneutik

1969

Wenn die Jahre von 1955 bis 1965 als eine Einheit überschaut werden sollen,
deren Spezifisches es zu beschreiben gilt, so ist dieser Zeitraum zunächst von
der vorausgegangenen Dekade abzuheben, die durch eine Art Nachholbe-
darf bestimmt war: sie hatte die Abschnürung aufzulösen, die durch die
Zäsur des zweiten Weltkrieges und seine Vorgestalten das Denken in allen
Ländern von den nachbarlichen Einflüssen abgeschieden hatte. Während die
Kommunikation mit der Philosophie in den Ländern des Ostblocks noch
heute aus mannigfachen Gründen gestört ist, wurden nach dem Ende des
zweiten Weltkrieges mit einer rur das Herüberwirken der Philosophie von
einem Sprachraum in den anderen üblichen Zeitversetzung vor allem fran-
zösische und englisch-amerikanischc Philosopheme in Mittcleuropa wirk-
sam, und umgekehrt von Deutschland aus die phänomenologische und
existentialistische Philosophie vor allem auf Frankreich, Italien usw,. dann
auch auf Amerika. Sartre und Merleau-Ponty, Whitehead, Russcll und
Wittgenstein, Husserl und Heidegger wurden wechselseitig rezipiert und
bildeten eine Basis, von der neue Entwicklungen ihren Ausgang nehmen
konnten, die in den letzten zehn Jahren sichtbar wurden. Zu ihnen gehört
unstreitig die Hermeneutik.
Ehedem, in der deutschen Romantik, war die Hermeneutik durch Schlei-
ermacher an die zentralen Fragen der Philosophie einen Schritt herangeHihrt
worden, sofern Schleiermacher, inspiriert durch die Philosophie des Dia-
logs, wie sie vor allem Friedrich Schlegel vorschwebte, von der metaphysi-
schen Bedeutung der Individualität ausgeht ud von ihrer Hinordnung auf
das Unendliche. Im Anschluß an ihn hat die Hermeneutik durch Wilhelm
Dilthey ihre philosophische Prägung erfahren. Im Jahre 1966 ist erstmals in
den zu einem zweiten Bande vereinigten Diltheyschen Materialien zum
Leben Schleiermachers die große Hermeneutik-Studie des jungen Dilthey"
veröffentlicht worden, von der wir bisher nur Teile durch die Akademieab-
handlung von 1900 kannten. Sie zeigt u. a., wie die Wurzeln der philo-
sophischen Problematik der Hermeneutik im deutschen Idealismus liegen,
aber nicht nur in Schleiermachers dialektischer Umschreibung des Verste-
87 W. Dilthey, Leben Schleiermachers, 11, 2 (ed. M. Redeker), Berlin 1966.
426 Anhänge

he11s als des Ineinanderwirkens von Subjektivität und Objektivität, von In-
dividualität und .Identität, sondern vor allem in Fichtes Kritik an dem dog-
matischen Begriff von Substanz und den Möglichkeiten. die Fichte bereit-
stellte, den Begriff der historischen Kraft zu denken, sowie in Hegels Über-
steigung des >subjektiven< zum >objektiven< Geist hin. Dilthey erkannte mit
Recht die bahnbrechende Bedeutung von Droysens )Historik( rur die Me-
thodenlehre der Geisteswissenschaften, sofern Droysen das idealistische
Erbe für ein angemessenes Se1bstverständnis der historischen Methode
fruchtbar machte. Das Erbe dieser idealistischen Hernlcncutik ist bis heute
lebendig. Wir verdanken eine ausgezeichnete systematische Darstellung
derselben und ihrer neueren Fortentwicklung dem Rechtshistoriker Emilio
Betti, dessen hermeneutisches }Manifest(88 in deutscher Sprache die Summe
dieser Tradition zog (vgI. Bctü"<)) und in einem umfassenden Werk90 seine
systematische Ausftihrung fand.
Inzwischen vnr jedoch die wissenschaftstheoretische Dimension, in der
von Dilthey bis Betti das idealistische Denken ftir die Hermeneutik genutzt
\-vorden war, grundsätzlich überschritten worden. Schon Schleier macher
hatte die innere Verschränkung von Sprechen, Verstehen und Auslegen zur
Geltung gebracht und die traditionelle Bindung des hermeneutischen Ge-
schäfts an >schriftlich fixierte Lebensäußerungcu> (Dilthey) gelöst, um dem
lebendigen Gespräch seinen hernleneutischen Rang einzuräumen. Aber
auch in der wissenschaftstheoretischen Verengung, welche die Hermeneutik
im 19. Jahrhundert erneut erfuhr, ließen sich die inneren Schwierigkeiten
nicht verbergen, die einer vOlllldealismus inspirierten allgemeinen Interpre-
tationslehre entgegenstehen. Wie die juristische Hermeneutik, die eine
rechtsschöpferische Funktion beansprucht, mit der hermeneutischen Me-
thodik der Geistes\:>Olissenschaften zusammenhängen sollte, war ebenso dun-
kel wie der reproduktive Sinn von Interpretation, der in Theater und Musik
eine so augenfallige Rolle spielt. Beides weist über die Fragestellung der
Wissenschaftstheorie hinaus. Das gilt ferner ftir die Theologie. Denn wenn
auch die theologische Hermeneutik ftir den Akt des Verstehens der Heiligen
Schrift keine anderen Inspirations- oder Offenbarungsquellen in Anspruch
nehmen will- das kerygmatische Geschehen der Bibelaus1cgung, wie es in
Predigt oder individueller Seelsorge vor sich geht, läßt sich als hermeneuti-
sches Phänomen doch auch nicht einfach ausklammern oder auf die wissen-

B8 E. Betti, Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, in: Festschrift fLir

E. Rabel, Bd. 11, Tiibingen 1954. S. 79- J 6!:!.


R9 Vgl. meine Würdigung 'Emilio Bctti und das idealistische Erbe~, Quaderni Fiorentini

7 (1978), S. 5-12.
<iO E. Betti, Teoria generale dell'interprctazione, 2 Bde., Milano 1955 - Gekürzte dt.

Übersetzung: Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geistes"iisscnschaften, Tü-


bingen 1967.
Hermeneutik 427
schaftliche Problematik der Theologie zurückführen. So mußte schon das
Bedürfuis, die Einheit des hermeneutischen Problems in den Griff zu be-
kommen, hinter die wissenschafts theoretische Dimension zurückfragen
und das Phänomen des Verstehens und Auslegens in einem ursprünglicheren
Sinne fassen. Dabei war aber offenbar auch noch hinter Schleiermachers
universale Ausweitung der Hermeneutik und ihre Begründung in der Ein-
heit von Denken und Sprechen zurückzugehen. Denn es galt, vor allem auch
die juristische Hermeneutik mitzuumfassen, die ehedem mit der theologi-
schen aufs engste zusammengehangen hatte, weil in beiden >Auslegung(,
Applikation, d. h. die Anwendung von etwas .Normativem auf den Einzel-
fall, enthalten ist.
Offenbar ist es nicht genug, von der theoretischen Grundlegung der
Interpretation eine Dimension ihrer praktischen Anwendung zu unterschei-
den. Die Hermeneutik gehört als )Kunstlehre{ in den Bereich der scientia
practica, und es ist gerade die Frage, ob scientia practica bloße Anwendung von
Wissenschaft auf Praxis meint - wie etwa Husserl voraussetzt, wenn er die
Umdeutung der logischen Gesetze zu Kunstregeln des richtigen Denkens
durch Aufweis ihres theoretischen Grundsinnes zu widerlegen wußte. Wis-
senschaft, die auf das Immerseiende und von sich aus Seiende geht, aber auch
Kunst, deren Wissen auf das Herzustellende geht, haben nicht den spezifi-
schen Charakter von Wissen, der fUr die scientia practica und ihren modernen
Repräsentanten, die )praktische Vernunft<, bestimmend ist und deren
Normcharakter weder theoretischer noch technischer Art ist. Im Bereich
derjuristischen Hermeneutik zeigt sich das in der Weise, daß die Urteilsfin-
dung nicht bloß Subsumption des Falles unter ein Allgemeines (den Paragra-
phen des Gesetzes) ist, sondern beim Finden der rechten )Paragraphen( auf
einer eigenen rechtsschöpferischen, rechtsergänzenden oder das Recht fort-
bildenden Entscheidung beruht. Ähnliches dürfte ftir den kerygmatischen
Auftrag des Seelsorgers gelten, daß er keineswegs durch sein theologisches
Rüstzeug allein fur sein Amt versehen ist. Gleichwohl wäre es unrichtig,
diese Entscheidungen, auch wenn die theoretische Wissenschaft sie etv~la
dem Richter oder dem Seelsorger nicht abnimmt, irrationalen Determina-
tionen überlassen zu glauben. Es gilt vielmehr, was in solcher Entscheidung
Vernunft heißt, näher zu bestimmen.
Das - und nicht ein kruder Irrationalismus - ist der Beitrag, den die
sogenannte Existenzphilosophie zu leisten hatte: die Entscheidung, die Wahl
oder wie immer dies Moment aller Urteilskraft benannt werden mag, als
eine Weise der Vernunft zu erkennen. Jaspers91 formulierte den Vernunftcha-
rakter dieses Wissens durch den Begriff der Existenzerhellung, die in den

91 K. Jaspers, Philosophie 3 Bde., Berlin 1932 und ders., Vernunft und Existenz. Fünf

Vorlesungen, Groningen 1933.


428 Anhänge

Grenzsituationen einsetzt, an denen die Wissenschaft als das zwingende


Wissen den Menschen allein läßt. Das war noch immer von dem Begriff des
Wissens der Wissenschaft her beschrieben, und insofern war Heidegger
radikaler, als er den Begriff der Grenzsituation zum Ansatzpunkt einer
ontologischen Wendung nahm. Gegen den der Wissenschaft zugrundelie-
genden Seinsbegriff des Vorhandenen bestimmte cr geradezu von dem der
praktisch-technischen Weltbewältigung eigenen Begriff des Zuhandenen
und des Sich-auf-etwas-Verstehens aus die Seinsstruktur des menschlichen
Daseins als >Seinsverständnis<, d. h. aber durch die eigentliche Helligkeit der
Vernunft. Damit wurde der von Dilthey übernommene Begriff der Herme-
neutik, d. h. der Kunst, Sinnzusammenhänge zu verstehen, zu dem Paradox
einer >Hermeneutik der Faktizität< zugespitzt. Darin steckte eine ontologi-
sche Kritik an den Normbegriffen der Tradition, insbesondere an dem
Begriff des Wertes (Rickert, Schcler) und an dem )platonischen, Begriff der
ideal-einen Bedeutung (Husserl). Das Ansichsein, das, in Ablehnung der
psychologischen Umdeutung, der Sphäre des Normativen in Logik und
Ethik zuerkannt wurde, war ontologisch gesehen bloße .vorhandenheit<,
freilich eine solche von unausweisbarer Bodenlosigkeit, wenigstens, sofern
nicht, wie beim frühen Scheler, eine schöpfungstheologische Grundlegung
impliziert war, die CUr den Begriff des Wertes wie den der Güter und CUr den
Begriff einer Ordnung der Werte und Güter tragend sein konnte.
Damit war durch Heidegger die Hermeneutik aus der Grundlagenproble-
matik der sog. Geisteswissenschaften ins Zentrum der Philosophie selbst
versetzt worden. In dem Paradox einer Hermeneutik der Faktizität lag
ontologisch gesehen die Kritik an den Begriffen Bewußtsein, Gegenstand,
Faktum und Wesen, Urteil und Wert. Die Radikalität dieses Einsatzes verlieh
,Sein und Zeit< seine revolutionäre Wucht. Aber die transzendentale Refle-
xionsform, in der sich Heidegger damals in bloßer Tieferlegung der trans-
zendentalen Fundamente der Philosophie bewegte, konnte der eigentlichen
Absicht und Aufgabe nicht genügen, die Endlichkeit und Geschichtlichkeit
des Daseins (anstelle der Unendlichkeit eines Immerseienden) zum Leitfaden
der Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von Sein zu erheben. Es war erst
in dem Zeitraum dieses Berichtes, daß die zentrale Stellung des Problems der
Sprache im Denken Heideggers hervortrat. Was im Geschehen der Sprache
geschieht, übergreift offenbar die transzendentalphilosophische Reflexion
und hebt den Begriff einer transzendentalen Subjektivität als des Bodens
aller letzten Aufweisung grundsätzlich auf. (Vgl. Heidegger").
Das begegnete sich nun mit der Wendung der angelsächsischen Sprachkri-
tik, die von der Durchreflexion des Ideals einer logischen Kunstsprache, die

'J2 M. Heidcggcr, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959.


Hermeneutik 429

vollendete Eindeutigkeit besäße, ihren Anfang nahm. An die Stelle des zur
technischen Hilfsdisziplin herabsinkenden Logikkalküls und der Axiomati_
sierung von Sprache trat die Analyse der wirklich gesprochenen Sprache
(ordillary language). Dabei blieb die metaphysikkritische Absicht im Prinzip
die gleiche, war aber mit der positiven Erwartung verbunden, daß die
Neuorientierung an der lebendig gesprochenen Sprache nicht nur Schein-
probleme entlarven, sondern Probleme lösen lehre. Diese Wendung wurde
insbesondere durch die große Nachlaßveröffentlichung von Wittgensteins
Philosophischen Untersuchungen (1953) ins Breite hinein wirksam, zumal diese
Schrift eine ausdrückliche Kritik an den eigenen nominalistischen Vorausset-
zungen übte, die seinem Tractatus (1921) ebenso wie der Ausbildung der
Wiener Schule, vor allem auch Carnap, zugrundclagen. Die Idee einer
Sprachnormierung unter dem Ideal der Eindeutigkeit wurde nun durch die
Lehre von den Sprachspielen ersetzt. Ein jedes solches Sprachspiel ist eine
funktionale Einheit, die als solche eine Lebensform darstellt. Philosophie
bleibt Metaphysik-Kritik und Sprach-Kritik, aber auf dem Boden eines von
innerer Geschichtlichkeit erflillten hermeneutischen Geschehens.
Hermeneutisch darf man das hier einsetzende analytische Geschäft der
Philosophie insofern nennen, als hier keine künstliche Herrichtung von
Informationsmitteln, auch keine Theorie der Information oder eine allge-
meine Zeichenlehre den Ausgangspunkt bildet, von dem aus die Syntax der
Sprache aufgebaut und ihre kommunikative Leistung dargestellt würde.
Hier wird vielmehr das Lebens- und Sprachverhalten selber beschrieben, das
sich seine eigenen Regeln und seine eigenen Aufbauformen verschafft. Ge-
messen am Gegenpol der sog. Informationstheorie stellt mithin die Herme-
neutik die andere Seite der Betrachtungsweise dar, sofern sie das Sprachge-
schehen nicht aus elementareren Prozessen, sondern aus seinem eigenen
Lebensvollzug aufzuklären unternimmt.
Dem kam von seiten der Wissenschaften mancherlei entgegen. Herme-
neutik ist seit alters ein integrierender Bestandteil der Theologie. Vor allem
mußte durch die Kritik, die die dialektische Theologie am Reden von Gott
geübt hat, und seit die historisclie Theologie des Liberalismus sich vor die
Aufgabe gestellt sah, ihren eigenen Wissenschafts anspruch mit dem keryg-
matischen Sinn der Heiligen Sclirift und ihrer Auslegung in Einklang zu
setzen, die hermeneutische Problematik neu aufleben. So hat Rudolf Bult-
mann93 , erbitterter Gegner aller Inspirationstheorie und pneumatischen Ex-
egese und zugleich ein Meister der historischen Methode, dennoch das
vorgängige Scinsverhältnis des Verstehenden zu seinem Text zur Anerken-
nung gebracht, indem er an dem Verhältnis zur Heiligen Schrift ein mit der

93 R. Bultmann, Die Frage der Entmythologisierung, München 1954 und ders., Glau-
ben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, 2 Bde. Tübingen t 933 (2. Aufl. 1952).
430 Anhänge

menschlichen Existenz gesetztes »Vorverständnis «( in der Bewegtheit durch


die Frage nach Gott lehrte. Indem Bultmann unter der Parole der Entmytho-
logisierung den kerygmatischen Kern des Neucn Testamentes freizulegen
und die Heilige Schrift dadurch vor historischer Verfremdung zu retten
unternahm, trug er in ~lahrhcit einem alten hermeneutischen Grundsatz
Rechnung. Denn daß der eigentliche ,Scopus< der Schriften des Neuen
Testamentes ihre Heilsbotschaft ist und daß sie also auf diese hin zu lesen
sind, ist klar. Schüler Bultmanns waren es, die das von Bultmann neu
erweckte Thema der Hermeneutik radikalisierten: Ernst Fuchs 94 mit einem
Buch, das Reflexion und Exegese in genialischer Weise durcheinander-
mischte, und Gcrhard Ebcling95 , der vor allem von Luthers Hermeneutik
ausging. Beide reden von einem }Sprachereignis< des Glaubens und suchen
dadurch jeden indifferenten Objektivismus im Sinne des Mythos oder des
historischen Faktums von dem Heilssinn der biblischen Überlieferung fern-
zuhalten. Auch wenn es nicht an Gegenbewegungen in der modernen Theo-
logie tchlt, so ist doch die hermeneutische Bewußtheit von diesen Anstößen
her nicht nur in der protestantischen, sondern inzwischen auch in der katho-
lischen Theologie im Steigen. %
Ähnlich hat sich im Bereich der Jurisprudenz, wenigstens soweit der
deutsche Sprachraum in Frage kommt, der hermeneutische Aspekt neu
belebt. Als das Problem der Konkretisierung im Recht hat der hermeneuti-
sche Aspekt als eine Ergänzung zur Rechtsdogmatik von jeher seine Stelle
(v gl. die besonnene Übersicht über die Diskussion durch Kurt Engisch"').
Darüber hinaus ist aber von einigen Seiten, vor allem durch Th. Viehweg YH
und W, Maihofer Y9 , eine neue Besinnung auf die Eigenart des rechtlichen
Wissens überhaupt in Gang gekommen und hat dafür den alten rhetorischen
Begriff der Topik in Anspruch genommen. Ebenso hat das angelsächsische
Case Law einen hermeneutisch interessanten Aspekt. LOO
Mit größerer philosophischen Bewußtheit ist aber von philosophischer
94 E. Fuchs, Hermeneutik, Ergänzungsheft mit Registern, Bad Cannstatt 1958 und

ders., Zum hermeneutischen Problem in der Theologie, Tübingen 1959.


95 G, Ebcling, Wort Gottes und Hermeneutik, Zeitschrift tur Theologie und Kirche 56.

Tübingen 1959 und ders., Hermeneutik, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, ed.
K. Galling, Val. III, Tübingen 1959,
96 Vgl. auch die amerikanische Rezeption dieser Anstöße in J. M. Robinson & J. B.

Cobb, The New Hermeneutics, Ne\\" York 1965 und R. W. Funk, Language, Hermeneu-
tics, and Ward ofGod, Ne . . v. York 1966,
97 K. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3, AufI. , Heidelberg 1963

und ders., Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtwissenschait unserer Zeit,
Abh. der Heidelberger Akad, d, Wiss., Phil,-hist. Klasse 1953.
9l; T. Vieh\.,.'eg, Topik und Jurisprudenz. Ein Beitrag zur rechts\vissenschaftlichen

Grundlagenforschung, München 1953, 3. Aufl. 1965.


99 W. Maihofer, Naturrecht als Existenzrecht, Frankfurt 1963.

1011 Vgl. H. L. A. Hart, TheConceptofLaw, Oxfard 1961.


Hermeneutik 431

Seite aus eine ähnliche Bestrebung seit langem wirksam, indem durch
Chaim Perelman und seine Mitarbeiter die logische Eigenbedeutung der in
Recht und Politik gepflogenen Argumentation gegen die \vissenschaftsthco-
retische Logik verteidigt \vurdeJ(lJ. Hier wird zwar mit den Mitteln der
logischen Analyse, aber in der Absicht, die Verfahrensweisen des überzeu-
genden Redens gerade gegen die Form des logisch-zwingenden Heweisens
abzuheben, der ältere Anspruch der Rhetorik gegenüber dem wissenschaft-
lichen Positivismus geltend gemacht. Es war unausbleiblich, daß sich ange-
sichts der Einseitigkeit der modernen Wissenschaftstheorie und Philosophy 01
Science das philosophische Interesse langsam wieder der Tradition der Rhe-
torik zuwendete und ihre Wiederbelebung forderte. 102 Auch dies nlußte dem
Probleminteresse an der Hermeneutik zugutekommen. Denn sie hat mit der
Rhetorik die Abgrenzung gegen den Wahrheits begriff det Wissenschafts-
theorie und die Verteidigung ihres autonomen Rechtes gemeinsam. Dabei
bleibt eine noch zu entscheidende Frage, ob die geschichtlich legitimierte
Entsprechung von Rhetorik und Hermeneutik sachlich wirklich in vollem
Umfange zutrifft. Gewiß stammen die meisten Begriffe der klassischen
Hermeneutik seit Melanchthon aus der rhetorischen Tradition des Alter-
tums. Auch ist das Element der Rhetorik, der Bereich der persuasive argu-
ments, nicht auf die forensisch-publiken Gelegenheiten des kunstvollen Redc-
gebrauchs eingeschränkt, sondern scheint sich mit dem universalen Phäno-
men des Verstehens und der Verständigung mit zu weiten. Aber eine unauf-
hebbare Schranke besteht seit alters zwischen der Rhetorik und der Dialektik
im antiken Sinne des Wortes. Der Prozeß der Verständigung setzt tiefer in
der Sphäre der intersubjektiven Kommunikation ein und umfaßt z.13. auch
all die Formen, in denen Einverständnis durch Sch\.veigen zustandekommt.
wie M. Polanyi l01 gezeigt hat, und ebenso die außersprachlichen, mimischen
Kommunikacionsphänomene wie Lachen und Weinen, deren hermeneuti-
sche Bedeutung uns H. P1essncr 1CJ4 gelehrt hat.
Aber noch ein anderer Zusammenhang verdient Erwähnung, und das ist
das problematische Verhältnis, in dem sich die Poetik heute gegenüber der
Rhetorik findet. Auch das hat eine hermeneutische Seite. Ursprünglich, und
bis auf die Tage Kants und der Entthronung der Rhetorik durch die Genie-
Aesthetik und den Erlebnisbegriff, waren beide Disziplinen geschwisterlich

lUl C. Perelman & L. Olbrechts-Tytcca, La nouvclle rhetorique. Traitl:~ de l'argumenta-

tion. Bruxelles 1958.


11.12 Vgl. den instruktiven, aufeine reiche Forschung zurückweisenden Sammelband von

M. Natanson & H. W. Johnstone, Philosoph)', Rhetoric und Argumentation, University


Park (Penna.) 1965.
103 M. Polanyi, Personal Knowledge, London 1958 und ders., The Tacit Dimension,

New York 1966.


1M H. Plessner, Lachen und Weinen, München 1950.
432 Anhänge

geeint, beides Künste der Sprache, d. h. Formen des kunstvoll-freien Ge-


brauchs der Rede. Indessen steckte darin ein Präjudiz, das inzwischen der
Auflösung verfallen ist. Die Sprache der Poesie wie die der kunstvollen Rede
wurde in dieser Tradition vom ornatus her verstanden. Das bedeutet aber,
daß die schmucklose Redeweise des praktischen Lebens den eigentlichen Fall
der Sprache darstellt-und mindestens seit Vico, Hamann und Herder ist die
Selbstverständlichkeit dieser Problemanordnung dahin. Wenn die Poesie die
Muttersprache des Menschengeschlechts ist, dann ist aus ihr über das Wesen
der Sprache mehr zu lernen als aus den Wissenschaften, die die Sprachen wie
Fremdsprachen in ihrer zum Kommunikations- und Informationsmittel
verfremdeten Daseinsweise studieren. Nun ist freilich das Verhältnis von
Poesie und Hermeneutik unter der Herrschaft des technisch-industriellen
Jakohinertums selber in einen schmalen Engpaß geraten, sofern die Ver-
ständlichkeit des Dichtwerks (wie übrigens auch die des malerischen oder
plastischen Werks) als ein ,klassisches< Vorurteil behandelt wird. Indessen
scheint es mir die Aufgabe der Hermeneutik zu bleiben, gerade auch solchen
Privationsgestalten von Verständlichkeit gerecht zu werden (vg1. die unter
dem Titel }Poetik und Hermeneutik< in den letzten Jahren erschienenen
Bände einer Forschungsgruppe über Hermeneutik).
Das unzweideutigste Zeugnis ftir den Anspruch, auch außerhalb der
modernen Wissenschaft Wahrheit anzuerkennen, liegt in der Erfahrung der
Kunst. Die Forderungen der vita practica lassen sich leichter abweisen, sofern
sie in unserem wissenschaftsgläubigen Zeitalter unter der Ägide des allge-
meinen Expertenturns ihr Eigenrecht zugunsten der rVv'issenschafthchen<
Lebensflihrung preisgegeben zu haben scheinen. Nun fehlte es auch, was die
Erfahrung der Kunst betrifft, nicht an Tendenzen, die Wissenschaftsformig-
keit der Kunst zu urgieren. (Vgl. GehlenW5; Bense'06). So gelingt es mit den
Mitteln der modernen Informationstheorie prinzipiell weitgehend, das Ar-
senal der künstlerischen Invention mit den Produkten einer technischen
Kombinatorik zu ftillen und die Urteilsfihigkeit des zeitgenössischen Kon-
sumenten von Kunst bloßzustellen (die wohl nie sehr groß war). Indessen
liegt in der Erfahrung der Kunst, die im Zeitgenössischen stets ihren Punkt
der größten Unsicherheit hatte und in der Gleichzeitigkeit der fortlebenden
Vergangenheiten der Kunst ihre eigentliche Souveränität beweist, ein An-
spruch auf Wahrheit, der den Alleingeltungsanspruch der Wissenschaft ein-
schränkt. Er stellt der philosophischen Besinnung eine Aufgabe, die nicht in
Wissenschaftstheorie aufgeht. In Frankreich hat z. B. M. Dufrenne 107 , in

lOS A. Gehlen, Zeitbilder, Frankfurt 1960.


tOt>M. Bense, Acsthetica, Baden-Baden 1965.
107 M. Dufrenne. in: Verhandlungen des 5. Internationalen Kongresses rur Ästbetik

1964, erschienen Paris 1968.


Hermeneutik 433

Italien L. Pareyson 108 die Problematik der Aesthetik von diesem Gesichts-
punkt aus neu belebt. Der Unterzeichnete hat in >Wahrheit und Methode(l09
aufähnliche Weise versucht, den Wahrheitsanspruch der Philosophie von der
Erfahrung der Kunst her gegen die naive Selbstinterpretation der modernen
Wissenschaft abzusichern. Daß insbesondere die Poesie - aber in Wahrheit
nicht nur sie, sondern alle Kunst, die uns etwas zu sagen hat - nicht erst
durch die Wissenschaft von der Dichtkunst oder der Kunst überhaupt in
unser menschliches Selbstverständnis integriert wird, sondern immer schon
integriert ist und an unserem Selbstverständnis mitbildet, legitimiert den
Anspruch der philosophischen Hermeneutik, dies Selbstverständnis in sei-
nen formalen und inhaltlichen Bedingungen zu erfassen und auf den Begriff
zu bringen.
In Wahrheit ist es aber nicht nur das Erbe des äesthetischen Humanismus,
das in die Fragestellung der Hermeneutik eingeht, sondern gerade auch das
Erbe der alten scientia practica. Sie war nicht nur von ihrem originären
Entwurf in der aristotelischen Ethik und Politik her llo gegenüber dem
Wissenschafts begriff der antiken Episteme (dem von dem, was man heute
Wissenschaft nennt, nur die Mathematik wahrhaft Genüge tat) als eine
eigene Weise des Wissens abgehoben (al1o eidos gnoseos ll1 ). Sie ist auch gegen-
über dem modernen Wissenschaftsbegriffund seiner technischen Umwen-
dung von eigener - dem allgemeinen Bewußtsein freilich entschwundener-
Legitimität. Es ist die Aufgabe der Hermeneutik, auch auf die Sonderbedin-
gungen von Wissen zu reflektieren, die hier bestimmend sind. Aristoteles
hat in dem Begriff des ,Ethos< (und seiner Bildung unter der prägenden Kraft
der ,Nomoi<, d. h. der gesellschaftlichen Institutionen und der Erziehung in
ihnen) diese Bedingungen zusammengefaßt, die rur die vita praetica allein
echtes Wissen möglich machen. Das hat auch in der Gegenwart seine Rolle
gespielt, sofern es gerade diese gegen Platos Ideenlehre kritischen Momente
der aristotelischen Philosophie waren, die sich einer Hermeneutik der Fakti-
zität als Eideshelfer anboten. Sie sind aber weit darüber hinaus unzweideuti-
ge Zeugen darur, daß die gesellschaftlichen Bedingungen unseres Wissens
das Ideal der voraussetzungslosen Wissenschaft zu tangieren vermögen.
Daher gehört es zu den Aufgaben einer radikalen hermeneutischen Besin-
nung, auch dieses Ideal der Voraussetzungslosigkeit zu prüfen. Dabei soll
gewiß nicht vergessen werden, welchen Befreiungsimpuls das Wort von der

100 L. Pareyson, Estetica: teoria della formativiü, Torino 1954.


109 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960 (4. Aufl. 1975) [Bd. 1 der
Ges. Werke] und ders., Kleine Schriften I-IV, Tübingen 1967-n.
110 J. Ritter, Zur Grundlegung der praktischen Philosophie bei Aristotdes, in: Archiv

für Rechts- und Sozial philosophie 52 (1966), jetzt auch in: Ders., Metaphysik und Politik
Studien zu Aristote1es und Hegel, Frankfurt 1969.
111 Aristote1es, Ethica Nicomachea Z 7, 1141 b 33.
434 Anhänge

Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft (das übrigens aus der Situation


des Kulturkampfes nach 1870 stammt) zum Ausdruck bringt, cin Impuls,
der der Bewegung der Aufklärung und ihrer Ausbildung zur neuzeitlichen
Wissenschaft durchweg zugrundeliegt. Aber welche unreflektierte Naivität
die Anwendung dieses Wortes im besonderen Bereich der geschichtlichen
und gesellschaftlichen Wissenschaften verrät, zeigt sich nicht nur in dem
Utopismus der gesellschaftswissenschaftlichen Konsequenzen und konkre-
ten Anwendungen, die von der Wissenschaftstheorie des) Wiener Kreises(
her gezogen worden sind, sie zeigt sich auch und gerade in den grundlegen-
den Aporien, in die sich die neopositivistische Wissenschaftstheorie mit
ihrer Lehre von den Protokollsätzen verstrickte. So fand der naive Historis-
mus, der sich auf die Wiener Schule beruft, in der wissenschaftstheoreti-
schen Kritik Karl Poppers ll2 seinen überlegenen Kritiker. Aufähnliche Weise
haben die ideologiekritischen Arbeiten von Horkheimer l13 und Habermas l14
die ideologischen Implikationen aufgedeckt, die hinter der positivistischen
Erkenntnislehre und insbesondere hinter ihrem sozial wissenschaftlichen Pa-
thos liegen.
So mußte die hermeneutische Reflexion eine Lehre von den Vorurteilen
entwickeln, die, ohne den Sinn der Kritik an allen der Erkenntnis drohenden
Vorurteilen zu gefihrden, dem produktiven Sinn von Vorverständnis ge-
recht \vird, wie er in allem Verstehen vorausgesetzt ist. Die hermeneutische
Bedingtheit des Verstehens, wie sie in der Theorie der Interpretation und
insbesondere in der Lehre vom hermeneutischen Zirkel formuliert ist, be-
schränkt sich nicht auf die geschichtlichen Wissenschaften, bei denen die
Standortgebundenheit des Forschers zu den praktischen Erkenntnisbedin-
gungen gehört. Doch hat die Hermeneutik hier insofern ihren Musterfall, als
sich in der Zirkelstruktur des Verstehens zugleich die Vermittlung von
Geschichte und Gegenwart abbildet, die aller historischen Abständigkeit
und Verfremdung vorausliegt. Die Zugehörigkeit des Interpreten zu seinem
>Text( wie die des menschlichen Geschicks zu seiner Geschichte ist offenbar
ein hermeneutisches Grundverhältnis, das durch brave Sprüche abzuschwö-
ren unwissenschaftlich, das mit Bewußtheit zu übernehmen der Wissen-
schaftlichkeit der Erkenntnis allein angemessen ist.
Indessen ist Interpretation nicht nur auf Texte beschränkt und auf das aus
ihnen zu gewinnende geschichtliche Verständnis. Alle wie Texte verstande-
nen Sinnzusammenhänge, von der Natur (interpretatio naturae, Bacon), über

112 K. Popper, The Poverty ofHistoricism, London 1937. - Dt.: Das Elend des Histori-

zismus, Tübingen 1965.


1l~ M. Horkheimer, The Ec1ipse of Reason, Ne . .v York 1947 - De: Zur Kritik der
instrumentellen Vernunft. Frankfurt 1967.
114 J. Habermas. Zur Logik der Sozialwissenschaften, Phil. Rdsch. Beiheft 5, Tübingen

1967 (5. Aufl., frankfurt 1982).


Hermeneutik 435

die Kunst (deren Begrifflosigkeit [Kam] sie zum Vorzugsbeispiel von Inter-
pretation macht [Dilthey j), bis zu allen bewußten oder unbewußten Motiva-
tionen des menschlichen Handelns reicht der Anspruch der Interpretation.
Sie will die nicht auf der Hand liegenden, sondern dahinterliegenden wahren
Sinnbestimmtheiten des menschlichen Handelns aufweisen, mag sie das in
der Weise tun, daß sich das wirkliche Scin eines jeden als das Sein seiner
eigenen Geschichte enthüllt (P, Ricceur'''), und so, daß die gesellschaftlichen
und geschichtlichen Bedingungen unseres Denkens uns undurchschaut be-
stimmen. Psychoanalyse wie Ideologiekritik, einander feindlich entgegen-
gesetzt oder in skeptizistischer oder utopistischer Synthese verbunden
(Adorno, Marcuse), müssen nochmals einer hermeneutischen Reflexion
unterzogen werden. Denn was so durchschaut und verstanden wird, ist vom
Standort des Interpreten nicht unabhängig. Kein Interpretationsrahmen ist
beliebig und noch viel weniger objektiv gegeben. Dem Objektivismus des
Historismus und der positivistischen Wissenschaftstheorie weist die herme-
neutische Reflexion nach, wie in ihm unerkannte Voraussetzungen bestim-
mend sind. Insbesondere hat die Wissenssoziologic und die marxistischc
Ideologiekritik hier ihre hermeneutische Fruchtbarkeit bewiesen. Nur durch
kritische Bewußtheit und wirkungs geschichtliche Reflexion kann der Er-
kenntnis\vert solcher Interpretationen gesichert werden. Es spricht nicht
gegen den Erkenntniswert derselben, daß sie nicht die Objektivität von
science haben. Aber erst eine hermeneutisch-kritische Reflexion, die in ihnen
bewußt oder unbewußt arn Werke ist, läßt ihre Wahrheit hervorkommen.
Die philosophische Hermeneutik bringt sich grundsätzlich zum Bewußt-
sein, daß der Erkennende mit dem, was sich ihm als sinnvoll zeigt und
aufschließt, auf unlösbare Weise zusammengehört. Sie leistet nicht nur eine
Kritik am Objektivismus der Historie und an dem positivistischen Erkennt-
nisideal des Physikalismus, den die Unity aiScien" durch die Einheitsmetho-
de der Physik zu begründen beansprucht, sondern ebensosehr eine Kritik an
der Tradition der Metaphysik. Eine der Grundlehren der Metaphysik, näm-
lich daß Sein und Wahrsein prinzipiell dasselbe sind - fur den unendlichen
Intellekt der Gottheit, deren Allgegenwart die Metaphysik als die Gegen-
wart von allem, was ist, denkt - wird unhaltbar. Ein solches absolutes
Subjekt ist ftir die endlich-geschichtliche Seinsweise des Menschen und
seiner Erkenntnismöglichkeiten nicht einmal ein approximatives Ideal.
Denn es gehärt zum Sein des Erkennenden, daß es so wenig Gegenwart ist
wie all das, was als Zukunft und als ihn bestimmende Vergangenheit fur ihn
ist.
Aus demselben Grunde verfallt die moderne Bewußtseinsphilosophie
einer kritischen Destruktion. Ihre Grundlagen erweisen sich als die der

115 P. Ricoeur, De l'interpretation. Essai sur freud. Paris 1963.


436 Anhänge

klassischen griechischen Metaphysik, und selbst die Identitäts philosophie


des spekulativen Idealismus sowie Hegels ausdrückliche Aufnahme der
Geschichte des Gedankens in den Inhalt des Geistes ändern nichts daran. Das
absolute Wissen ist als ein absolutes Gegenwärtighaben gedacht.
Auch die Grundlegung des Bewußtseinsbegriffs in einer durchgeftihrten
Phänomenologie der Zeitlichkeit, wie sie Husserls Lebensarbeit als ständig
umworbenes Ziel vor Augen stand, überschreitet diesen griechisch be-
stimmten Begriff der Präsenz nicht. Daher hat das Problem der Sprache im
Denken der Tradition nicht die zentrale Stellung erlangt, die wir ihm heute
zusprechen. Weder bei Hege! noch bei Husserl wird es eigens thematisch,
und selbst die modernen Grundlegungen der Erkenntnis mit den Mitteln der
Semantik und einer universalen Zeichenlehre nehmen ihren Stand nicht in
der Mitte, welche das Sprachgeschehen als solches darstellt. Hier hat die
moderne hermeneutische Diskussion das Phänomen des Gesprächs ins Zen-
trum gerückt, sofern Sprache im Gespräch allein da ist, in ihm sich bildet,
erweitert und bewirkt. Jedenfalls ist das Phänomen des Verstehens von der
Sprachlichkeit dieses Vorgangs getragen, ohne deshalb die Einseitigkeit der
psychologischen Interpetationstheorie Schleiermachers zu implizieren.
Vielmehr bleibt die hermeneutische Dimension gerade durch die Schriftf<i-
higkeit alles Sprachlichen charakterisiert. Wenn ein Modell die im Verstehen
liegenden Spannungen wirklich illustrieren kann, so ist es das der Überset-
zung. In ihr wird Fremdes als Fremdes zu eigen gemacht, d. h. aber nicht nur
als das Fremde stehengelassen oder durch bloße Nachbildung seiner Fremd-
heit in der eigenen Sprache aufgebaut, sondern in ihr verschmelzen sich die
Horizonte von Vergangenheit und Gegenwart in einer beständigen Bewe-
gung, wie sie das Wesen des Verstehens ausmacht.
29. Vorwort zur 2. Auflage
1965

Das vorliegende Buch erscheint im wesentlichen unverändert in zweiter


Auflage. Es hat seine Leser und es hat seine Kritiker gefunden, und gewiß
sollte die Beachtung, die es erfahren hat, den Autor verpflichten, alle beher-
zigenswerten Beiträge der Kritik zur Verbesserung des Ganzen zu nutzen.
Indessen hat eine in langen Jahren gereifte Gedankenftihrung ihre eigene
Festigkeit. So sehr man mit den Augen des Kritikers zu sehen versucht, die
vielf:iltig durchgeftihrte eigene Perspektive will sich immer wieder durch-
setzen.
Die drei Jahre, die seit dem Erscheinen der ersten Auflage verstrichen
sind, reichten nicht aus, das Ganze noch einmal in Bewegung zu bringen und
das inzwischen, durch Kritik l16 und durch WeiterfLihrung der eigenen Ar-
beit 1l7 , Gelernte fruchtbar zu machen.

116 Ich habe dabei vor allem die folgenden Stellungnahmen im Auge, zu denen noch

manche briefliche oder mündliche Äußerungen treten:


1. K.O. Apel, HegeistudienBd. 2, Bonn 1963, S. 314-322.
2. O. Becker, Die Fragwürdigkeit der Transzcndicrung der ästhetischen Dimension der
Kunst (im Hinblick auf den L Teil von W. u. M.), Phil. Rundseh. 10, 1962. S. 225-
238.
3. E. Betti, Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, Tü-
bingen 1962.
4. W. Hellebrand, Der Zeitbogen, Arch. f. Rechts- und Sozialphil., 49, 1963, S. 57-76.
5. H. Kuhn, Wahrheit und geschichtI. Verstehen, Histor. Ztschr., Heft 193/2, 1961,
S. 376-389.
6. J. Möller, Tübinger Theol. Quartalsehr. , 5/1961, S. 467-471.
7. W. Pannenberg, Hermeneutik und Universalgeschichte, Ztschr. f. TheoJ. u. Kirche
60,1963, S. 90-121, bes. 94ff.
8. O. Pöggeler, Philos. Literaturanzeiger, 16, S. 6-16.
9. A. de Waelhens, Sur une hermencutique de l'hermeneutique, Rev. philos. de Lou-
vain, 60, 1962, S. 573-591.
10. Fr. Wieacker, Notizen zur rechtshistorischen Hermeneutik, Nacht. d. Ak. d. W.,
Göttingen, phil.-hist. Kl., 1963, S. 1-22.
117 VgL:

1. Nachwort zu: M. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart 1960 [Ges.
Werke Bd. 3].
2. HegelunddicantikeDialektik, Hcgd-Stud. I, 1961, S. 173-199. [Ges. WerkeBd. 3].
438 Anhänge

So sei Absicht und Anspruch des Ganzen noch einml kurz umrissen:
Offenbar hat es zu Mißverständnissen geführt, daß ich den durch eine alte
Tradition belasteten Ausdruck der Hermeneutik aufgriff1 18 , Eine )Kunstleh-
re~ des Vcrstchcns, wie es die ältere Hermeneutik sein wollte, lag nicht in
tneincr Absicht. Ich wollte nicht ein System von Kunstregeln entwickeln,
die das methodische Verfahren der Geisteswissenschaften zu beschreiben
oder gar zu leiten vermöchten. Meine Absicht \var auch nicht, die theoreti-
schen Grundlagen der geisteswissenschaftlichen Arbeit zu erforschen, um
die gewonnenen Erkenntnisse ins Praktische zu wenden. Wenn es eine
praktische Folgerung aus den hier vorgelegten Untersuchungen gibt, so
jedenfalls nicht eine ftir unwissenschaftliches >Engagement<, sondern für die
)wissenschaftliche< Redlichkeit, sich das in allem Verstehen wirksame Enga-
gement einzugestehen. Mein eigentlicher Anspruch aber war und ist ein
philosophischer: Nicht, was wir tun, nicht, was \vir tun sollten, sondern \vas
über unser Wollen und Tun hinaus mit uns geschieht, steht in Frage.
Insofern ist von den Methoden der Geisteswissenschaften hier überhaupt
nicht die Rede. Ich gehe vielmehr davon aus, daß die historischen Geistes-
wissenschaften, wie sie aus der deutschen Romantik hervorgingen und sich
mit dem Geist der modernen Wissenschaft durchdrangen, ein humanisti-
sches Erbe verwalten, das sie gegenüber allen anderen Arten moderner
Forschung auszeichnet und in die Nähe ganz andersartiger außerwissen-
schaftlicher Erfahrungen, insbesondere der der Kunst, bringt. Das hat ge-
wiß auch seine wissenssoziologische Seite. In Deutschland, das immer ein
vorrevolutionäres gewesen ist, war es die Tradition des ästhetischen Huma-
nismus, die mitten in der Entfaltung des modernen Wissenschaftsgedankens
lebendig fortwirkte. In anderen Ländern mag mehr politisches Be"vußtsein

3. Zur Problematik des Selbstverständnisses, FS G. Krüger: Einsichten, Frankfurt 1902,


S. 71-85. Umt oben. S. 12lff.l.
4. Dichten LInd Deuten, Jb. d. Dtsch. Ak. f. Sprache u. Dichtung, 1960 S. 13-21. [Ge5.
Werke Bd. 81.
5. Hermeneutik und Historismus. Phil. Rundschau. 9,1961 Uetzt oben. S. 387fT].
6. Die phänomenologische Bewegung, Phil. Rundseh. 11. 1963. 1 ff. [Ges. W'crkc
Bd. 3, S.105-1461.
7. Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge, in: Das Problem der Ordnung, Dt.
Kongr. f PhiL 6. München 1960. Mciscnheim 1962. Uctzt oben S. 66ff1.
8. Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik. in: Sein und Ethos, Walberberger
Stud. [. 1963, S. 11-24. rGes. Wecke Bd. 4. S. 175-1881.
9. Mensch und Sprache, FS D. Tschizewskij, München 1964. lTetzt oben. S. 14()ffl.
10. Martin Hcidcggcr und die Marburger Theologie, FS R. Bulnnann, Tiibingcn 1964.
[Ges. \X!crkc Bd. 3. S. 197~2081.
11. Ästhetik und Hermeneutik, Vortrag auf dem Ästhctik-Kongreß Amsterdam 1964.
[Ges. Werke Bd. R].
lIK VgI. E. Bctti a.a.O.; F. Wieacker a.a.O.
Vorwort zur 2. Auflage 439
in das eingehen, was dort die hmnanities, die leW'es, kurz, all das, \vas man
ehedem die Humaniora nannte, trägt.
Das schließt nicht im geringsten aus, daß die Methoden der modernen
Naturwissenschaft ihre Anwendung auch auf die gesellschaftliche Welt fin-
den. Vielleicht ist unsere Epoche sogar stärker als durch den ungeheuren
Fortschritt der modernen Naturwissenschaften durch die steigende Rationa-
lisierung der Gesellschaft und die wissenschaftliche Technik ihrer Leitung
bestimmt. Der methodische Geist der Wissenschaft setzt sich überall durch.
So ist es mir nicht von ferne in den Sinn gekommen, die Unerläßlichkeit
methodischer Arbeit innerhalb der sogenannten Geisteswissenschaften zu
leugnen. Meine Absicht war auch nicht, den alten Methodenstreit zwischen
Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften zu erneuern. Um einen
Gegensatz der Methoden handelt es sich schwerlich. Insofern scheint mir die
ehedem von Windelband und Rickert formulierte Frage nach den )Grenzen
der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung< schief. Nicht eine Differenz
der Methoden, eine Differenz der Erkenntnisziele liegt vor. Die hier gestellte
Frage will etwas aufdecken und bewußt machen, was durch jenen Metho-
denstreit verdeckt und verkannt \.vird, etwas, was die moderne Wissenschaft
nicht so sehr begrenzt oder einschränkt, als vielmehr ihr vorausliegt und sie
zu ihrem Teile möglich macht. Ihr immanentes Schrittgesetz verliert da-
durch nichts von seiner eigenen Entschiedenheit. Es wäre ein ohnmächtiges
Unterfangen, dem menschlichen Wissenwollen und dem menschlichen Ma-
chenkönnen ins Gewissen zu reden, damit es vielleicht etwas schonsamer
mit den natürlichen und gesellschaftlichen Ordnungen unserer Welt umge-
hen lernte. Die Rolle des Moralpredigers im Gewande des Forschers hat
etwas Absurdes. Absurd ist ebenso der Anspruch des Philosophen, der aus
Prinzipien deduziert, wie die )Wissenschaft< sich ändern müsse, damit sie
philosophisch legitimierbar würde.
So scheint es mir ein bloßes Mißverständnis, wenn man hier die berühmte
kantische Unterscheidung von quaestio iuris und quaestio j(.uti einmengen will.
Kant hatte wahrlich nicht die Absicht, der modernen Naturwissenschaft
vorzuschreiben, wie sie sich verhalten müsse, damit sie vor dem Richter-
stuhl der Vernunft bestünde. Er hat eine philosophische Frage gestellt, d. h.
er hat gefragt, welches die Bedingungen unserer Erkenntnis sind, durch die
die moderne Wissenschaft möglich ist und wie weit sie reicht. In diesem
Sinne stellt auch die vorliegende Untersuchung eine philosophische Frage.
Aber sie stellt sie keineswegs nur an die so genannten Geisteswissenschaften
(innerhalb derer sie dann bestimmten klassischen Disziplinen den Vorzug
gäbe); sie stellt sie überhaupt nicht nur an die Wissenschaft und ihre Erfah-
rungsweisen - sie stellt sie an das Ganze der menschlichen Welterfahrung
und Lebenspraxis. Sie fragt, um es kantisch auszudrücken: Wie ist Verstehen
möglich? Das ist eine Frage, die allem verstehenden Verhalten der Subjekti-
440 Anhänge

vität, auch dem methodischen der verstehenden Wissenschaften, ihren N ar-


men und Regeln, schon vorausliegt. Heideggers temporale Analytik des
menschlichen Daseins hat, meine ich, überzeugend gezeigt, daß Verstehen
nicht eine unter den Verhaltensweisen des Subjektes, sondern die Seinsweise
des Daseins selber ist. In diesem Sinne ist der Begriff )Hermeneutik< hier
verwendet worden. Er bezeichnet die Grundbewegtheit des Daseins, die
seine Endlichkeit und Geschichtlichkeit ausmacht, und umfaßt daher das
Ganze seiner Welterfahrung. Es ist nicht Willkür oder konstruktive Über-
spannung eines einseitigen Aspekts, es liegt vielmehr in der Natur der Sache,
daß die Bewegung des Verstehens eine umfassende und universale ist.
Ich kann es nicht ruf richtig halten, wenn man meint, der hermeneutische
Aspekt finde an außergeschichtlichen Seinsweisen, z. B. der des Mathemati-
schen oder des Ästhetischen, seine Grenzen 119 • Gewiß ist es richtig, daß etwa
die ästhetische Qualität eines Kunstwerks auf Baugesetzen und einem Ge-
staltungsniveau beruht, die am Ende alle Schranken geschichtlicher Her-
kunft und kultureller Zugehörigkeit transzendieren. Ich lasse dahingestellt,
wieweit dem Kunstwerk gegenüber der }Qualitätssinn( eine unabhängige
Erkenntnismäglichkeit darstellt 120 oder ob er nicht nur, wie aller Ge-
schmack, formal entwickelt wird, sondern gebildet und geprägt wie er.
Geschmack jedenfalls wird notwendig an etwas gebildet, das seinerseits
vorzeichnet, woflir er gebildet ist. Insofern schließt er vielleicht immer
bestimmte inhaltliche Vorzugsrichtungen (und Versperrungen) ein. Auf
jeden Fall aber gilt, daß ein jeder, der die Erfahrung eines Kunstwerks
macht, diese Erfahrung ganz in sich einholt, und das heißt: in das Ganze
seines Selbstverständnisses, in dem sie ihm etwas bedeutet. Ich meine sogar,
daß der Vollzug des Verstehens, der in dieser Weise die Erfahrung des
Kunstwerks mit umgreift, allen Historismus im Gebiete der ästhetischen
Erfahrung überspielt. Zwar scheint es naheliegend, zwischen dem ur-
sprünglichen Wcltzusammenhang, den ein Kunstwerk stiftet, und seinem
Fortleben in den veränderten Lebensumständen der N achv.,relt zu unterschei-
den"'. Aber wo scheidet sich eigentlich Welt und Nachwelt? Wie geht das
Ursprüngliche der Lebensbedeutsamkeit in die reflektierte Erfahrung der
Bildungsbedeutsamkeit über? Mir scheint, daß der Begriff der ästhetischen
Nichtunterscheidung, den ich in diesem Zusammenhang geprägt habe,
recht gut festhält, daß es hier keine scharfen Grenzen gibt und daß die
Bewegung des Verstehens sich nicht auf den Reflexionsgenuß einengen läßt,

119 VgL O. Becker a.a.O.


120 K. Riczler hat ehedem in seinem ,Traktat vom Schönen, eine transzendentale De-
duktion des .Qualitätssinnes, versucht. (Frankfurt 1935).
121 VgL neuerdings zur Sache: H. Kuhn, Vom Wesen des Kunstwerkes (1961).
Vorwort zur 2. Auflage 441

den die ästhetische Unterscheidung festlegt. l22 Es sollte zugestanden ,ver-


den, daß etwa ein antikes Götterbild, das nicht als Kunstwerk ftir einen
ästhetischen Reflexionsgenuß im Tempel seine Aufstellung fand und heute
in einem modernen Museum seine Aufstellung hat, die Welt der religiösen
Erfahrung, der es entstammt, so wie es heute vor uns steht, enthält, und das
hat die bedeutende Folge, daß diese seine Welt auch noch zu unserer Welt
gehärt. Es ist das hermeneutische Universum, das beide umfaßt l23 •
Die Universalität des hermeneutischen Aspektes läßt sich auch in anderen
Zusammenhängen nicht durch Willkür beschränken oder beschneiden. Es
war keine bloße kompositorische Künstlichkeit, wenn ich bei der Erfahrung
der Kunst einsetzte, um dem Phänomen des Verstehens die rechte Weite zu
sichern. Hier hat die Genieästhetik eine wichtige Vorarbeit geleistet, sofern
aus ihr folgt, daß die Erfahrung des Kunstwerks jeden subjektiven Horizont
der Auslegung, den des Künstlers wie den des Aufnehmenden, grundsätz-
lich immer übersteigt. Die mens auctoris ist kein möglicher Maßstab für die
Deutung eines Kunstwerks. Ja, auch die Rede von einem Werk an sich,
abgelöst von seiner immer erneuerten Wirklichkeit des Erfahrenwerdens,
behält etwas Abstraktes. Ich glaube gezeigt zu haben, warum diese Rede nur
eine Intention beschreibt, aber keine dogmatische Einlösung gestattet. Der
Sinn meiner Untersuchungen ist jedenfalls nicht, eine allgemeine Theorie
der Interpretation und eine Differenziallehrc ihrer Methoden zu geben, wie
das E. Betti vorzüglich getan hat, sondern das allen Verstehensweisen Ge-
meinsame aufzusuchen und zu zeigen, daß Verstehen niemals ein subjektives
Verhalten zu einem gegebenen )Gegenstande( ist, sondern zur Wirkungs ge-
schichte, und das heißt: zum Sein dessen gehört, was verstanden wird.
So kann es mich nicht überzeugen, wenn mir eingewandt wird, daß die
Reproduktion eines musikalischen Kunstwerks in einem anderen Sinne
Interpretation sei als etwa der Verstehensvollzug im Lesen einer Dichtung
oder im Betrachten eines Bildes. Alle Reproduktion ist doch zunächst Ausle-
gung und will als solche richtig sein. In diesem Sinne ist auch sie) Ver-
stehen(124.
Die Universalität des hermeneutischen Gesichtspunktes duldet, wie ich
meine, auch dort nicht eine Einengung, wo es sich um die Vielfalt histori-
scher Interessenahmen handelt, die sich in der Geschichtswissenschaft ver-
l22 rDas Insistieren auf der ästhetischen Erfahrung, das H. R. Jauss so urgiert, bleibt eine

Verengung. VgL H. R. Jauss, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik.


Frankfurt 1979 J.
113 Die Ehrenrettung der Allegorie, die in diesem Zusammenhang steht (Ces. Werke

Bd.1, S.77ff.), hat schon vor Jahrzehnten mit dem bedeutenden Buch W. Benjamins,
,Der Ursprung des deutschen Trauerspiels< (1927) eingesetzt.
124 Ich kann mich hier auf die - freilich anders akzentuierten - Darlegungen H. Sedl-

mayrs berufen, die jetzt unter dem Titel ,Kunst und Wahrheit< gesammelt sind. Vgl. vor
allem S. 87 ff.
442 Anhänge

eInigen. Gewiß gibt es vieledei Arten von Geschichtsschreibung und Ge-


schichtsforschung. Keine Rede davon, daß jede historische Interessenahme
im bewußten Vollzuge einer wirkungsgeschichtlichen Reflexion ihren
Grund hätte. Die Geschichte der nordamerikanischen Eskimostämme ist
sicherlich gänzlich davon unabhängig, ob und wann diese Stämme in die
)Weltgeschichte Europas< eingewirkt haben. Und doch kann man im Ernst
nicht leugnen, daß die wirkungsgeschichtliche Reflexion sich auch dieser
historischen Aufgabe gegenüber als machtvoll erweisen wird. Wer in 50
oder 100 Jahren die heute geschriebene Geschichte dieser Stämme \vieder
liest, der ""viId diese Geschichte nicht nur veraltet finden, weil er inzwischen
mehr weiß oder die Quellen richtiger interpretiert - er wird sich auch
eingestehen können, daß man im Jahre 1960 die Quellen deshalb anders las,
weil man von anderen Fragen, von anderen Vorurteilen und Interessen
bewegt war. Es hieße die Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung
auf das letztlich Gleichgültige reduzieren, wenn man sie der Kompetenz der
wirkungsgeschichtlichen Retlcxion schlechthin entziehen wollte. Gerade
die Universalität des hermeneutischen Problems hinterfragt alle Arten des
Interesses an der Geschichte, weil sie das betrifft, \\'as jeweils der )histori-
schen Frage( zugrunde liegt 125 • Und was ist Geschichtsforschung ohne die
)historische Frage(? In der von mir gebrauchten und durch wortgeschichtli-
che Untersuchungen gerechtfertigten Sprache heißt das: Applikation ist ein
Moment des Verstehens selber. Wenn ich in diesem Zusammenhang den
Rechtshistoriker und den praktischenjuristen auf eine Stufe stellte, so sollte
damit nicht geleugnet werden, daß der erstere ausschließlich eine )kontem-
plative<, der letztere ausschließlich eine praktische Aufgabe hat. Aber Appli-
kation steckt in beider Tun. Wie sollte denn auch das Verstehen des Rechtssin-
nes eines Gesetzes bei dem einen ein anderes sein als beim anderen! Gewiß
hat z. B. der Richter die praktische Aufgabe, das Urteil zu fallen, und da
mögen mancherlei rechtspolitische Erwägungen mitspielen, die der Rechts-
historiker, der das gleiche Gesetz vor Augen hat, nicht anstellt. Aber ist
deshalb ihr rechtliches Verständnis des Gesetzes verschieden? Die Entschei-
dung des Richters, die »praktisch ins Leben eingreift«, will doch eine richti-
ge, und keineswegs willkürliche Anwendung der Gesetze sein, muß also auf
))fiehtiger« Auslegung beruhen, und das schließt notwendig Vermittlung
von Geschiehe und Gegenwart im Verstehen selbst ein.
Freilich, der Rechtshistoriker wird ein in diesem Sinne richtig verstande-
nes Gesetz obendrein )historisch< zu würdigen habe, und das bedeutet im-
mer, daß er seine historische Bedeutung einschätzen muß, und, da geleitet
von seinen eigenen historischen Vor-Meinungen und lebendigen Vor-Urtei-
len, >falsch<. Das heißt nichts anderes, als daß wiederum eine Vermittlung

125 Vgl. H. Kuhn, a.a.O.


Vorwort zur 2. Auflage 443
von Vergangenheit und Gegenwart vorliegt, also Applikation. Der Fort-
gang der Geschichte, zu der die Geschichte der Forschung gehört, pflegt das
zu lehren. Offenbar heißt das aber nicht, daß der Historiker etwas getan hat,
was er nicht )durfte~ oder nicht hätte tun sollen und woran man ihn durch
einen hermeneutischen Kanon hätte hindern sollen oder können. Ich rede
nicht von den rechtshistorischen Irrtümern, sondern von den wahren Er-
kenntnissen. Die Praxis des Rechtshistorikers hat - ebenso wie die des
Richters - ihre )Methoden<, Irrtum zu vermeiden, darin stimme ich den
Erwägungen des Rechtshistorikers 12fi durchaus zu. Das hermeneutische In-
teresse des Philosophen hebt aber gerade dort erst an, wo es gelungen ist,
Irrtum zu vermeiden. Denn gerade dann bezeugen Historiker wie Dogmati-
ker eine Wahrheit, die noch über das hinausliegt, was sie erkennen, sofern
ihre eigene, schwindende Gegenwart in ihrem Tun und ihren Taten erkenn-
bar ist.
Der Gegensatz von historischer und dogmatischer Methode hat unter
dem Gesichtspunkt einer philosophischen Hermeneutik eine schlechthinni-
ge Geltung. So drängt sich die Frage auf, wieweit der hermeneutische
Gesichtspunkt selber von historischer oder dogmatischer Geltung ist 127 .
Wenn das Prinzip der Wirkungsgeschichte als ein allgemeines Strukturmo-
ment des Verstehens geltend gemacht wird, so schließt diese These gewiß
keine historische Bedingtheit ein, sondern will schlechthin gelten - und doch
gibt es ein hermeneutisches Bewußtsein nur unter bestimmten geschichtli-
chen Bedingungen. Die Tradition, zu deren Wesen selbstverständliche Wei-
tergabe des Überlieferten gehört, muß fragwürdig geworden sein, damit
sich ein ausdrückliches Bewußtsein der hermeneutischen Aufgabe, die Tra-
dition anzueignen, bildet. So läßt sich bei Augustin ein solches Bewußtsein
dem Alten Testament gegenüber bemerken, und in der Reformation ent-
wickelt sich die protestantische Hermeneutik aus dem Anspruch, die Heilige
Schrift aus sich selbst zu verstehen (sola scriptura), gegen das Traditionsprin-
zip der römischen Kirche. Vollends aber seit dem Aufgang des historischen
Bewußtseins, das einen grundsätzlichen Abstand der Gegenwart gegenüber
aller geschichtlichen Überliefernng einschließt, ist das Verstehen eine Auf-
gabe und bedarf der methodischen Leitung. Die These meines Buches ist
nun, daß das wirkungsgeschichtliche Moment in allem Verstehen von Über-
lieferung wirksam ist und wirksam bleibt, auch wo die Methodik der
modernen historischen Wissenschaften Platz gegriffen hat und das ge-
schichtlich Gewordene, geschichtlich Überlieferte zum ,Objekt< macht, das
es )festzustellen< gilt wie einen experimentellen Befund- als wäre Überliefe-
rung in dem selben Sinne fremd und, menschlich gesehen, unverständlich
wie der Gegenstand der Physik.
126 Betti, Wieacker, Hellebrand a.a.O.
127 Vgl. O. Apel a.a.O.
444 Anhänge

Von da aus rechtfertigt sich eine gewisse Zv.rcideutigkeit in dem Begriff


des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins, wie ich ihn gebrauche. Die
Zweideutigkeit desselben besteht darin, daß damit einerseits das im Gang
der Geschichte erwirkte und durch die Geschichte bestimmte Bewußtsein,
und andererseits ein Bewußtsein dieses Erwirkt- und Bestimmtseins selber
gemeint ist. Offenbar ist es der Sinn der von mir gegebenen Nachweise, daß
die wirkungsgeschichtliche Bestimmtheit auch noch das moderne, histori-
sche und wissenschaftliche Bewußtsein beherrscht - und das über jedes
mögliche Wissen von diesem Beherrschtsein hinaus. Das wirkungs gc-
schichtliehe .Bewußtsein ist in einem so radikalen Sinne endlich, daß unser
im Ganzen unsrer Geschicke gewirktes Sein sein Wissen von sich wesensmä-
ßig überragt. Das aber ist eine grundsätzliche Einsicht, die nicht auf eine
bestimmte geschichtliche Situation eingeengt werden darf, eine Einsicht
freilich, die angesichts der modernen historischen Forschung und des me-
thodischen Ideals der Objektivität der Wissenschaft einem eigenen Widet-
stand in der Selbstauffassung der Wissenschaft begegnet.
Gewiß läßt sich aueh darüber hinaus die historische Reflexionsfrage stel-
len, warum gerade jetzt in diesem geschichtlichen Augenblick die grund-
sätzliche Einsicht in das wirkungsgeschichtliche Moment alles Verstehens
möglich geworden sein soll. Meine Untersuchungen enthalten daraufindi-
rekt eine Antwort. Denn erst im Scheitern des naiven Historismus des
historischen Jahrhunderts wird sichtbar, daß der Gegensatz von unhisto-
risch-dogmatisch und historisch, von Tradition und historischer Wissen-
schaft, von antik und modern, kein schlechthinniger ist. Die berühmte
querelle des anciens et des modernes hört auf, einc wirkliche Alternative zu
stellen.
Was hier als die Universalität des hermeneutischen Aspekts geltend ge-
macht wird, und insbesondere auch, was über die Sprachlichkeit als die
Vollzugsform des Verstehens ausgefuhrt wird, umfaßt daher das >vorherrne-
neutischc< Bewußtsein ebenso gut "vie alle Weisen eines hermeneutischen
Bewußtseins. Auch naive Traditionsaneignung ist} Weitersage<, wenngleich
sie natürlich nicht als lHorizontverschmelzung< zu beschreiben ist (v gI. oben
S.419ff.).
Und nun zu der grundsätzlichen Frage: Wieweit reicht der Aspekt des
Verstehens und seiner Sprachlichkeit selber? Kann er die allgemeine philo-
sophische Konsequcnz tragen, dic in dem Satz liegt: »Sein, das verstanden
werden kann, ist Sprache« (Vgl. Ges. Werke Bd. 1, S. 478)? Führt dieser Satz
nicht angesichts der Universalität der Sprache zu der unhaltbarcn metaphy-
sischen Folgerung, daß lalles< nur Sprache und Sprachgeschehen ist? Zwar,
der naheliegende Hinweis auf das Unsagbare braucht der Universalität des
Sprachlichen keinen Abbruch zu tun. Die Uncndlichkeit des Gesprächs, in
dem sich Verstehen vollzieht, läßt dicjeweilige Gc1tendmachung des Unsag-
Vorwort zur 2. Auflage 445

baren selber relativ sein. Aber ist Verstehen überhaupt der alleinige und der
adäquate Zugang zu der Wirklielikeit der Geschichte? Offenbar droht von
diesem Aspekt her die Gefahr, die eigentliche Wirklichkeit des Geschehens,
insbesondere die Absurdität und die Kontingenz desselben, abzuschwächen
und in eine Form der Sinnerfahrung zu verfj.lschen.
So war es zwar die Tendenz meiner eigenen Untersuchung, der Historik
Droysens und Diltheys nachzuweisen, wie sie aller Opposition der histori-
schen Schule gegen Hegels Spiritualismus zum Trotze der hermeneutische
Ansatz dazu verfuhrt hat, die Geschichte als ein Buch zu lesen, d. h. aber als
ein bis zum letzten Buchstaben sinnvolles. Bei allem Protest gegen eine
Philosophie der Geschichte, in der die Notwendigkeit des Begriffs den Kern
alles Geschehens ausmacht, kam die historische Hermeneutik Diltheys nicht
daran vorbei, Geschichte in Geistesgeschichte gipfeln zu lassen. Das war
meine Kritik. Dennoch: Wiederholt sich nicht diese Gefahr auch dem gegen-
wärtigen Versuch gegenüber? Indes, die traditionelle Begriffsbildung, ins-
besondere der hermeneutische Zirkel von Ganzem und Teil, von dem mein
Versuch der Grundlegung der Hermeneutik ausgeht, braucht eine solche
Konsequenz nicht zu haben. Der Begriff des Ganzen ist selber nur relativ zu
verstehen. Das Ganze von Sinn. das es in der Geschichte oder der Überliefe-
rung zu verstehen gilt, meint niemals den Sinn des Ganzen der Geschichte.
Die Gefahr des Doketismus scheint mir dort gebannt, wo die geschichtliche
Überlieferung nicht als Gegenstand eines historischen Wissens oder philo-
sophischen Begreifens, sondern als ein Wirkungsmoment des eigenen Seins
gedacht ist. Die Endlichkeit des eigenen Verstehens ist die Weise, in der sich
die Realität, der Widerstand, das Absurde und Unverständliche geltend
macht. Wer diese Endlichkeit ernst nimmt, muß auch die Wirklichkeit der
Geschichte ernst nehmen.
Es ist das gleiche Problem, das die Erfahrung des Du rur alles Selbstver-
ständnis so entscheidend macht. In meinen Untersuchungen nimmt das
Kapitel über die Erfahrung eine systematische Schlüsselstellung ein. Dort
wird von der Erfahrung des Du her auch der Begriff der wirkungsgeschicht-
lichen Erfahrung beleuchtet. Denn auch die Erfahrung des Du zeigt die
Paradoxie, daß etwas, was mir gegenüber steht, sein eigenes Recht geltend
macht und zur schlechthinnigen Anerkennung nötigt - und eben damit
>verstanden< wird. Aber ich glaube richtig gezeigt zu haben, daß solches
Verstehen gar nicht das Du versteht, sondern das, was es uns Wahres sagt.
Ich meine damit solche Wahrheit, die einem nur durch das Du sichtbar wird,
und nur dadurch, daß man sich von ihm etwas sagen läßt. Genauso ist es mit
der geschichtlichen Überlieferung. Sie verdiente gar nicht das Interesse, das
wir ihr erweisen, wenn sie uns nicht etwas zu lehren hätte, was wir aus
Eigenem nicht zu erkennen vermögen. Der Satz ) Sein, das verstanden
werden kann, ist Sprache<l muß in diesem Sinne gelesen werden. Er meint
446 Anhänge

nicht das schlechthinnige Herrsein des Verstehenden über das Sein, sondern
im Gegenteil, daß Sein nicht erfahren wird, wo etwas von uns hergestellt
werden kann und insofern begriffen ist, sondern dort, wo, \vas geschieht,
lediglich verstanden werden kann.
Von da stellt sich eine Frage der philosophischen Methodik, die ebenfalls
in einer Reihe von kritischen Äußerungen zu meinem Buch aufgeworfen
worden ist. Ich möchte sie das Problem der phänomenologischen Immanenz
nennen. Das ist wahr, mein Buch steht methodisch auf phänomenologi-
schem Boden. Es InJg paradox klingen, wenn anders gerade Heideggers
Kritik der transzendentalen Fragestellung und sein Denken der )Kehre( der
Entfaltung des universellen hermeneutischen Problems, die ich unterneh-
me, zugrundeliegt. Ich meine aber, daß auch auf diese Wendung Heideggers,
die das hermeneutische Problem erst zu sich selbst befreit, das Prinzip
phänomenologischer Ausweisung angewendet werden darf. Ich habe des-
halb den Begriff ,Hermeneutik<, den der junge Heidegger gebrauchte, fest-
gehalten, aber nicht im Sinne einer Methodenlehre, sondern als eine Theorie
der wirklichen Erfahrung, die das Denken ist. So muß ieh betonen, daß
meine Analysen des Spiels oder der Sprache rein phänomenologisch gemeint
sind''''. Spiel geht nicht im Bewußtsein des Spielenden auf und ist insofern
mehr als ein subjektives Verhalten. Sprache geht nicht im Bewußtsein des
Sprechenden auf und ist insofern mehr als ein subjektives Verhalten. Eben
das läßt sich als eine Erfahrung des Subjekts beschreiben und hat nichts mit
)Mythologie< oder )Mystifikation< zu tun 129 •
Solche methodische Grundhaltung bleibt diesseits aller eigentlichen meta-
physischen Folgerungen. Ich habe in inzvIo'ischen erschienenen Arbeiten,
insbesondere in meinen Forschungsberichten )Hermenemik und Historis-
mus<130 und )Die phänomenologische Bewegung( (in der Philosophischen
Rundschau 10 (1963), S. 1-45 = Kl. Sehr. m, S. 150-189; Ges. Werke
Bd. 3) betont, daß ich in der Tat Kants ,Kritik der reinen Vernunft< verbind-
lich finde und Aussagen, die nur auf dialektische Weise zu dem Endlichen das
Unendliche, zu dem menschlich Erfahrenen das an sich Seiende, zu dem
Zeitlichen das Ewige hinzudenken, rur bloße Grenzbestimmungen halte,
aus denen sich durch die Kraft der Philosophie keine eigene Erkenntnis
entwickeln läßt. Gleichwohl behält die Tradition der Metaphysik und ins be-

128 LU&l,vig Wittgensteins Begriff der 'Sprachspiele< kam mir daher, als ich ihn kennen-
lernte, ganz natürlich vor. Vgl. )Die phänomenologische Bewegung( S. 37ff [Ges. Werke
3d. 3, S. 144ff.l.
129 Vgl. mein Nachwort zu der Rec1amausgabe von Hcideggers Kunst\'v'erk-Aufsatz
(5. 108ff.) und neuerdings den Aufsatz in der EA.Z. vom 26. 9. 1964, auch in: Neue
Sammlung:; (1965), S. 1-9. [Kleine Schriften III 202 ff. , ,Heideggcrs Wege( S. 81 ff.; Gcs.
We,ke 3d. 3, S. 186-1961.
130 Vgl. oben S. 387-424.
Vonvort zur 2. Auflage 447
sondere ihre letzte große Gestalt, die spekulative Dialektik Hegels, eme
beständige Nähe. Die Aufgabe, det >unendliche Bezug<, ist geblieben. Aber
die Art det Aufweisung desselben sucht sich der Umklammerung durch die
synthetische Kraft der hegeIschen Dialektik, ja sogar der aus Platos Dialektik
erwachsenen >Logik<, zu entziehen und in der Bewegung des Gesprächs, in
dem Wort und Begriff erst werden, was sie sind, ihren Stand zu nehmen l3l .
Damit bleibt die Forderung einer reflexiven Selbstbegründung unerflillt,
wie sie sich von der spekulativ durchgefLihrten Transzendentalphilosophie
Fichtes, Hegels, Husserls aus stellen läßt. Aber ist das Gespräch mit dem
Ganzen unserer philosophischen Überlieferung, in dem wir stehen und das
wir als Philosophierende sind, grundlos? Bedarf es einer Begründung des-
sen, was uns immer schon trägt?
Damit aber wird eine letzte Frage angerührt, die weniger eine methodi-
sche als eine inhaltliche Wendung des hermeneutischen Universalismus, den
ich entwickelt habe, betrifft. Bedeutet die Universalität des Verstehens nicht
eine inhaltliche Einseitigkeit, sofern sie eines kritischen Prinzips gegenüber
der Tradition ermangelt und gleichsam einem universalen Optimismus
huldigt? Mag es immerhin zum Wesen der Tradition gehören, nur durch
Aneignung zu sein, so gehört es doch gewiß auch zum Wesen des Menschen,
Tradition brechen, kritisieren und auflösen zu können, und ist nicht etwas
weit Ursprünglicheres in unserem Verhältnis zum Sein das, was sich in der
Weise der Arbeit, des Umarbeitens des Wirklichen auf unsere Zwecke hin,
vollzieht? Führt nicht insofern die ontologische Universalität des Verstehens
in eine Einseitigkeit? - Verstehen meint gewiß nicht bloß die Aneignung
überlieferter Meinung oder Anerkennung des durch Tradition Geheiligten.
Heidegger, der den Begriff des Verstehens Zuerst als universale Bestimmt-
heit des Daseins ausgezeichnet hat, meint damit geradezu den Entwurfscha-
rakter des Verstehens, d. h. aber die Zukünftigkeit des Daseins. Gleichwohl
will ich nicht leugnen, daß ich innerhalb des universalen Zusammenhangs
der Verstehensmomente die Richtung auf die Aneignung des Vergangenen
und Überlieferten meinerseits ausgezeichnet habe. Auch Heidegger dürfte
hier, wie mancher meiner Kritiker, die letzte Radikalität im Ziehen von
Konsequenzen vermissen. Was bedeutet das Ende der Metaphysik als Wis-
senschaft? Was bedeutet ihr Enden in Wissenschaft? Wenn die Wissenschaft
sich zur totalen Technokratie steigert und damit die) Weltnacht< der >Seins-
vergessenheit<, den von Nietzsehe vorausgesagten Nihilismus herauffuhrt,
darf man dann dem letzten Nachleuchten der untergegangenen Sonne am
Abendhimmcl nach blicken - statt sich umzukehren und nach dem ersten
Schimmer ihrer Wiederkehr auszuschauen?

131 o. Pöggeler hat a.a.O. S. 12f. einen interessanten HinweIS darauf gegeben, was
Hegel aus dem Munde Rosenkranz' dazu sagen würde.
448 Anhänge

Indessen, mir scheint, daß die Einseitigkeit des hermeneutischen Univer-


salismus die Wahrheit des Korrektivs ftir sich hat. Sie klärt den modernen
Blickpunkt des Machens, des Erzeugens, der Konstruktion über notwendi-
ge Voraussetzungen auf, unter denen er selber steht. Das begrenzt im beson-
deren die Stellung des Philosophen in der modernen Welt. Mag er immer die
radikalen Konseguenzen aus a]]cm zu ziehen berufen sein, die Roll~ des
Propheten, des Warnherrn, des Predigers oder auch nur des Besserwissers
steht ihm schlecht.
Wessen es ftir den Menschen bedarf, ist nicht allein das unbeirrte Stellen
der letzten Fragen, sondern ebenso der Sinn für das Tllnlichc, das Mögliche,
das Richtige hier und jetzt. Erst recht muß der Philosophierende, meine ich,
sich der Spannung zwischen seinem eigenen Anspruch und der Wirklich-
keit, in der er steht, bewußt sein.
Das hermeneutische Bewußtsein, das es zu "vecken und wachzuhalten
gilt, gesteht sich daher ein, daß im Zeitalter der Wissenschaft der Herr-
schaftsanspruch des philosophischen Gedankens etwas Phantomhaftes und
Unwirkliches hätte. Aber es möchte dem Wollen des Menschen, das mehr
denn je die Kritik des Bisherigen in ein utopisches oder eschatologisches
Bewußtsein steigert, aus der Wahrheit des Erinnerns etwas entgegensetzen:
das immer noch und immer wieder Wirkliche.
30. Nachwort zur 3. Auflage
1972

Als ich Ende 1959 das vorliegende Buch beendete, war icli mir darüber sehr
unsicher, ob es nicht )ZU spät< käme, d. h. ob die Bilanz traditionsgcschichtli-
ehen Denkens, die in ihm gezogen wurde, nicht schon beinahe überflüssig
sei. Zeichen einer neuen Welle technologischer Geschichtsfeindlichkeit
mehrten sich. Ihr entsprach die steigende Rezeption der angelsächsischen
Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, und schließlich verhieß
auch der neue Aufschwung, den die Sozialwissenschaften, darunter vor
allem die Sozialpsychologie und die Soziolinguistik, nahmen, der humani-
stischen Tradition der romantischen Geisteswissenschaften keine Zukunft.
Das aber war die Tradition, von der ich ausgegangen war. Sie stellte den
Erfahrungsboden meiner theoretischen Arbeit dar - wenn auch keineswegs
ihre Grenze oder gar ihr Ziel. Aber selbst innerhalb der klassischen ge-
schichtlichen Geisteswissenschaften war ein Stilwandel in der Richtung auf
die neuen methodischen Mittel der Statistik, der Formalisierung, war der
Drang zur Wissenschaftsplanung und technischen Organisation von For-
schung unverkennbar. Ein neues }positivistisches< Se1bstverständnis, das
durch die Rezeption amerikaniseher und englischer Methoden und Frage-
stellungen befördert wurde, drängte vorwärts.
Nun war es freilich ein plattes Mißverständnis, wenn man die Parole
,Wahrheit und Methode< mit der Anklage belastete, daß hier die Methoden-
strenge der modernen Wissenschaft verkannt werde. Was die Hermeneutik
geltend macht, ist etwas ganz anderes, das mit dem strengsten Ethos der
Wissenschaft in keinerlei Spannung steht. Kein produktiver Forscher kann
im Grunde darüber im Zweifel sein, daß zwar methodische Sauberkeit zur
Wissenschaft unerläßlich ist, aber die bloße Anwendung gewohnter Metho-
den weit weniger als die Findung von neuen - und dahinter die schöpferische
Phantasie des Forschers - das Wesen aller Forschung ausmacht. Das gilt nicht
nur auf dem Gebiete der sogenannten Geisteswissenschaften.
Obendrein ist die hermeneutische Reflexion, die in }Wahrheit und Metho-
de, angestellt wird, alles andere als ein bloßes Begriffsspiel. Sie ist überall aus
der konkreten Praxis der Wissenschaften hervorgewachsen, fur die Metho-
dengesinnung, d. h. kontrollierbares Verfahren und Falsifizierbarkeit,
450 Anhänge

selbstverständlich ist. Überdies wurde diese hermeneutische Reflexion aller-


orten an der Praxis der Wissenschaft zur Ausweisung gebracht. Wenn man
den Ort meiner Arbeit innerhalb der Philosophie unseres Jahrhunderts
charakterisieren woBte, dann müßte man geradezu davon ausgehen, daß ich
versucht habe, einen zwischen der Philosophie und den Wissenschaften
vermittelnden Beitrag zu leisten und insbesondere die radikalen Fragen
Martin Hcidcggers, denen ich Entscheidendes verdanke, auf dem breiten
Felde wissenschaftlicher Erfahrung, soweit ich es nur irgend überschaute,
produktiv weiterzuführen. Das nötigte freilich dazu, den beschränkten 1n-
tcressenhorizont der wissenschaftstheoretischen Methodenlehre zu über-
schreiten. Aber kann es einer philosophischen Besinnung als Einwand ent-
gegengehalten werden, daß sie die wissenschaftliche Forschung nicht als
Selbstzweck betrachtet und mit ihrer philosophischen Fragestellung auch
noch die Bedingungen und Grenzen der Wissenschaft im Ganzen des
menschlichen Lebens thematisch macht? In einer Epoche, in der die Wissen-
schaft stärker und stärker in die gesellschaftliche Praxis eindringt, vermag
die Wissenschaft ihrerseits ihre gesellschaftliche Funktion nur angemessen
auszuüben, wenn sie ihre eigenen Grenzen und die Bedingtheit ihres Frei-
heitsraums sich nicht verbirgt. Das muß gerade seitens der Philosophie
einem bis zum Aberglauben wissenschafts gläubigen Zeitalter klargemaeht
werden, Eben darauf beruht, daß die Spannung von Wahrheit und Methode
eine unauflösbare Aktualität besitzt.
Die philosophische Hermeneutik gliedert sich auf diese Weise einer philo-
sophischen Bewegung unseres Jahrhunderts ein, die die einseitige Orientie-
rung am Faktum der Wissenschaft überwand, v.rie sie sowohl für den Neu-
kantianismus wie tUr den damaligen Positivismus selbstverständlich war.
Die Hermeneutik hat gleichwohl wissenschaftstheoretische Relevanz, so-
weit sie innerhalb der Wissenschaften durch hermeneutische Reflexion
Wahrheitsbedingungen aufdeckt, die nicht in der Logik der Forschung lie-
gen, sondern ihr vorausgehen. Das ist im besonderen Maße, wenn auch
nicht ausschließlich, in den sogenannten Geisteswissenschaften der Fall,
deren englisches Äquivalent »moral sciences(\ schon im Worte anzeigt, daß
diese Wissenschaften etwas zum Gegenstand machen, dem der Erkennende
selber notwendig zugehört.
In einem letzten Aspekt mag das vielleicht sogar für die ))fichtigefl(\
sciences zutreffen. Doch scheinen mir da Unterscheidungen nötig. Wenn in
der modernen Mikrophysik der Beobachter aus den Ergebnissen der Mes-
sungen nicht zu eliminieren ist und in ihren Aussagen selber vorkommen
muß, so hat das einen exakt angebbaren Sinn, der sich in mathematischen
Ausdrücken formulieren läßt. Wenn in der modernen Verhaltensforschung
der Forscher Strukturen aufdeckt, die auch sein eigenes Verhalten aus stam-
mesgeschichtlicher Erbbestimmtheit bestimmen, so lernt er vielleicht auch
Nachwort zur 3. Auflage 451

über sich selber etwas, aber gerade weil er sich mit anderen Augen ansieht als
denen seiner >Praxis~ und seines Selbstbewußtseins und soweit er weder
einem Pathos der Glorifizierung noch der Demütigung des Menschen dabei
unterliegt. Wenn dagegen der eigene Standort eines jeden Historikers an
seinen Erkenntnissen und Wertungen immer sichtbar wird, so ist diese
Feststellung nicht ein Einwand gegen seine Wissenschaftlichkeit. Sie sagt
noch nichts darü~er, ob der Historiker sich wegen seiner Standortgebun-
denheit geirrt hat und Überlieferung falsch verstand oder einschätzte, oder
ob es ihm dank dem Vorzug seines Standortes, der ihn etwa Analoges in
unmittelbarer zeitgeschichtlicher Erfahrung beobachten ließ, gelang, bisher
Unbeachtetes ins richtige Licht zu setzen. Hier sind wir mitten in einer
hermeneutischen Problematik. Das bedeutet aber keineswegs, daß es nicht
wieder die methodischen Mittel der Wissenschaft wären, mit denen man
über falsch oder richtig zu entscheiden, Irrtum auszuschalten und Erkennt-
nis zu gewinnen versucht. Das ist in den )moralischen~ Wissenschaften keine
Spur anders als in den ~richtigen< scimces.
Ein gleiches gilt für die empirischen Sozialwissenschaften. Hier ist es
offenkundig, daß ein ,Vorverständnis< ihre Fragestellung leitet. Es handelt
sich um eingespielte, gesellschaftliche Systeme, die ihrerseits geschichtlich
gewordene, wissenschaftlich unbeweisbare Normen in Geltung halten. Sie
stellen nicht nur den Gegenstand, sondern auch den Rahmen erfahrungswis-
senschaftlicher Rationalisierung dar, innerhalb dessen methodische Arbeit
einsetzt. Die Forschung gewinnt hier ihre Probleme meist angesichts von
Störungen im bestehenden gesellschaftlichen Funktionszusammenhang
oder auch durch ideologiekritische Aufklärung, die bestehende Herrschafts-
verhältnisse bekämpft. Unbestritten, daß auch hier wissenschaftliche For-
schung zu einer entsprechenden wissenschaftlichen Beherrschung der the-
matisierten Teilzusammenhänge des gesellschaftlichen Lebens fuhrt - aber
doch wohl auch unleugbar, daß sie zur Extrapolation ihrer Ergebnisse auf
komplexere Zusammenhänge verfUhrt. Solche Verftihrung liegt nur allzu
nahe. So unsicher auch die tatsächlichen Grundlagen sind, von denen aus
eine rationale Beherrschung des gesellschaftlichen Lebens möglich werden
könnte - es kommt den Sozialwissenschaften ein Glaubensbedürfnis entge-
gen, das sie formlich mitreißt und über ihre Grenzen weit hinausfuhrt. Wir
können uns das etwa an dem klassischen Beispiel klarmachen, das J. St. Mill
fUr die Anwendung der induktiven Logik auf die Sozialwissenschaften
heranzieht, nämlich an der Meteorologie. Nicht nur die Tatsache, daß
längerfristige und ftir größere Räume gültige Wetterprognosen durch die
moderne Datenbeschaffung und Verarbeitung bisher nur wenig an Sicher-
heit gewonnen haben - auch wenn wir eine vollendete Beherrschung der
atmosphärischen Vorgänge hätten oder besser, da es an derselben grundsätz-
lich nicht fehlt, eine enorm gesteigerte Datenbeschaffung und Verarbeitung
452 Anhänge

zur Verfügung stünde und damit eine sichere Voraussage möglich gewor-
den wäre, ,"vürden sich sogleich neue Komplikationen einstellen. Es liegt
im Wesen der wissenschaftlichen Beherrschung von Abläufen, daß sie be-
liebigen Zwecken dienstbar gemacht werden kann. Das heißt, es würde
ein Problem des Wettcrmachens entstehen, der Beeinflussung des Wetters,
und damit ein Kampf der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Interessen ein-
setzen, von dem wir beim gegenwärtigen Stand der Prognostik nur einen
winzigen Vorgeschmack haben, etwa in dem gelegentlichen Versuch von
Interessenten, die Wochenend voraussage zu beeinflussen. In der Übertra-
gung auf die Sozialwissenschaften fUhrt die >Beherrschbarkcit( gesell-
schaftlicher Vorgänge notwendig auf ein )Bewußtsein< des Sozialinge-
nieurs, das >wissenschaftlich< sein will und doch seine soziale Partnerschaft
nie ganz verleugnen kann. Hier liegt eine besondere Komphkation, die
aus der sozialen Funktion der empirischen Sozialwissenschaften ent-
springt. Einerseits besteht der Hang, empirisch-rationale Forschungser-
gebnisse auf komplexe Situationen vorschnell zu extrapolieren, nur um
überhaupt zu wissenschaftlich planvollem Handeln zu gelangen - anderer-
seits wirkt der Interessendruck beirrend, den die Sozia1partner auf die
Wissenschaft ausüben, um den gesellschaftlichen Prozeß in ihrem Sinne zu
beeinflussen.
Tatsächlich hat die Absolutsetzung des Ideals der ,Wissenschaft< eine
starke Faszination, die immer wieder dazu führt, hermeneutische Refle-
xion überhaupt für gegenstandslos zu halten. Die perspektivische Einen-
gung, die der Methodengedanke mit sich fuhrt, scheint fUr den Forscher
schwer durchschaubar. Er ist ja immer schon auf die Methodengerechtig-
keit seines Verfahrens gerichtet. d. h. aber von der Gegenrichtung der Re-
flexion weggewendet. Auch wenn er sich, sobald er sein Methodenbe-
wußtsein verteidigt, in Wahrheit reflektierend verhält, läßt er diese seine
Reflexion dennoch nicht selber wieder zu thematischem Bewußtsein
kommen. Eine Philosophie der Wissenschaften, die sich als Theorie der
wissenschaftlichen Methodik versteht und sich auf keine Fragestellung
einläßt, die sie nicht durch den Prozeß von trial and error als sinnvoll cha-
rakterisieren kann, macht sich nicht bewußt, daß sie mit dieser Charakte-
risierung sich selber außerhalb desselben befindet.
So liegt es in der Natur der Sache, daß das philosophische Gespräch mit
der Philosophie der Wissenschaften nie recht gelingen will. Die Debatte
Adorno - Popper sowie Habermas - Albert zeigt das nur zu deutlich. 132
Vollends die hermeneutische Reflexion wird vom wissenschaftstheoreti-
schen Empirismus, indem er )kritische Rationalität< zum absoluten Maß-

132 rT.
W. Adorno (u. a. Hrsg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie,
Nemvied 19691.
Nachwort zur 3. Auflage 453
stab der Wahrheit erhebt, konsequenterwcise als theologischer Obskurantis-
mus angesehen I33 •
Zum Glück kann in der Sache darin Übereinstimmung bestehen, daß es
nur eine einzige >Logik der Forschung< gibt, aber auch, daß diese nicht alles
ist, da die selektiven Gesichtspunkte, die jeweils die relevanten Fragestellun-
gen auszeichnen und zum Forschungsthema erheben, nicht sc1ber aus der
Logik der Forschung gewonnen ,"ver den können. Das Merkwürdige ist nun,
daß die Wissenschaftstheorie um der Rationalität willen sich hier einelTI
kompletten Irrationalismus überläßt und die Thematisierung solcher er-
kenntnis praktischen Gesichtspunkte durch die philosophische Reflexion rur
illegitim hält, ja, der Philosophie, die das tut, geradezu vorwirft, daß sie ihre
Behauptungen gegen die Erfahrung immunisiere. Sie erkennt nicht, daß sie
selber einer viel verhängnisvolleren Immunisierung gegen Erfahrung, z. B.
gegen die des gesunden Menschenverstandes und der Lebenserfahrung,
Vorschub leistet. Das tut sie immer dann, wenn die wissenschaftliche Be-
herrschung von Teilzusammenhängen unkritische Anwendung nährt, z. B.
die Verantwortung Hir politische Entscheidungen von den Experten erwar-
tet. Der Streit zwischen Popper und Adorno behält auch nach der Analyse
desselben durch Habermas etwas Unbefriedigendes. Zwar stimme ich Ha-
bermas zu, daß ein hermeneutisches Vorverständnis immer im Spiele ist und
daher der reflexiven Aufklärung bedarf. Aber darin halte ich es doch wieder-
um mit der )kritischen Rationalität<, daß ich eine völlige Aufklärung für
illusionär halte.
Angesichts dieser Sachlage bedürfen zwei Punkte hier der Wiedererörte-
rung: Was bedeutet die hermeneutische Reflexion rur die Methodik der
Wissenschaften? Und wie steht es mit dem kritischen Auftrag des Denkens
gegenüber der Traditionsbestimnltheit des Verstehens?
Die Zusehärfung der Spannung von Wahrheit und Methode hatte in
meinen Untersuchungen einen polemischen Sinn. Am Ende gehört es, wie
selbst Descartes anerkennt, zu der besonderen Struktur des Zurechtbiegens
eines verbogenen Dinges, daß man es nach der Gegenrichtung beugen muß.
Verbogen aber war das Ding - nicht so sehr die Methodik der Wissenschaf-
ten als ihr reflexives Selbstbewußtsein. Das scheint mir aus der von mir
geschilderten nachhegelischen Historik und Hermeneutik klar genug her-
vorzugehen. Es ist ein naives Mißverständnis, wenn man - immer weiter im
Gefolge E. Bettis 1J4 - von der hermeneutischen Reflexion, die ich anstelle,
eine Aufweichung der wissenschaftlichen Objektivität beftirchtet. Hier sind

133 Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, 11968.


134 Auf dessen verdienstvolle, aber durch emotionale Polemik desorientierten Arbeiten
bin ich bereits in )Hermeneutik und Historismus< (oben S. 387ff.) eingegangen.
454 Anhänge

Apel, Habermas 135 und die Vertreter der ,kritischen Rationahtät{ ID. E. In
gleicher Weise blind. Sie verkennen alle den Reflexionsanspruch meiner
Analysen und damit auch den Sinn von Applikation, die ich als ein Struktur-
moment allen Verstehens aufzuzeigen gesucht habe. Sie sind so sehr im
Methodologismus der Wissenschaftstheorie befangen, daß sie stets Regeln
und ihre Anwendung im Auge haben, Sie erkennen nicht, daJl Reflexion
über Praxis nicht Technik ist.
Worauf ich reflektiert habe, ist das Verfahren der Wissenschaften selbst
und der Einschränkung ihrer Objektivität, die an ihnen zu beobachten ist
(und nicht etwa empfohlen wird), Den produktiven Sinn solcher Einschrän-
kungen anzuerkennen, zum Beispiel in Gestalt der produktiven Vorurteile,
scheint mir nichts anderes als ein Gebot der wissenschaftlichen Redlichkeit,
rur die der Philosoph einzustehen hat, Wie kann man der Philosophie, die
das zum Bewußtsein bringt, nachsagen, man ermutige dazu, in der Wissen-
schaft unkritisch und subjektiv zu verfahren! Das scheint mir ebenso unsin-
nig, wic wenn man umgekchrt etwa von der mathematischen Logik eine
Förderung des logischen Dcnkcns oder von der Wissenschaftstheorie des
kritischen Rationalismus, der sich }Logik der Forschung< nennt, eine Förde-
rung der wissenschaftlichen Forschung erwarten wollte. Theoretischc Lo-
gik wie Philosophie der Wissenschaften genügen vielmchr einem philo-
sophischen Bedürfnis von Rechtfertigung und sind gegenüber der wissen-
schaftlichen Praxis sekundär, Bei allen Unterschieden, die zwischen den
Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften bestehen, ist doch in
Wahrheit die immanente Geltung der kritischen Methodik der Wissenschaf-
ten überhaupt nicht strittig. Auch der extreme kritische Rationalist wird
aber nicht leugnen, daß der Anwendung wissenschaftlicher Methodik be-
stimmende Faktoren vorausliegen, die dic Relevanz ihrer Themenwahl und
ihrer Fragestellungen betreffen,
Der letzte Grund der Verwirrung, der hier auf der Seite der Methodologie
der Wissenschaften herrscht, scheint mir der Verfall des Begriffes von Pra-
xis. Dieser BegrifTist im Zeitalter der Wissenschaft und ihres Gewißheitside-
als um seine Legitimität gekommen. Denn seit Wissenschaft in der isolicren-
den Analyse der Kausalfaktoren des Geschehens - in Natur und Gesehichte-
ihr Ziel sieht, kennt sie Praxis nur noch als Anwendung der Wissenschaft.
Das aber ist eine }Praxis(, die kciner Rechenschaftsgabe bedürftig ist. So hat
der Begriff der Technik den der Praxis, anders gesagt: die Kompetenz des
Experten hat die politische Vernunft an den Rand gedrängt,
Wie man sieht, ist es nicht nur die Rolle der Hermeneutik in den Wissen-
schaftcn, was hier in Frage steht, sondern das Selbstverständnis dcs Men-
135 Apcl, Habernus u. a. jetzt in dem von Habcrmas herausgegebenen Sammelband

>Hermeneutik und Ideologiekritik, (1971) und auch meine Replik 283-317 [oben S.
25lff.]
Nachwort zur 3. Auflage 455

sehen im modernen Zeitalter der Wissenschaft. Eine der wichtigsten Beleh-


rungen, die die Geschichte der Philosophie fUr dieses aktuelle Problem
bereithält, besteht in der Rolle, die die Praxis und das sie erhellende und
leitende Wissen, die praktische Klugheit oder Weisheit, die Aristoteles phro-
nesis nannte, in der aristotelischen Ethik und Politik spielt. Das 6. Buch der
Nikomachischen Ethik bleibt die beste EinfUhrung in diese verschüttete
Problematik. Ich darf daftir auf eine neuere Arbeit verweisen, meinen Bei-
trag >Hermeneutik als praktische Philosophie<, der in dem von M. Riede!
veranstalteten Sammelbande >Zur Rehabilitierung der praktischen Philo-
sophie< zu finden ist1Jl',. Was sich auf dem großen Hintergrunde der von
Aristoteles bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts reichenden Tradition
der praktischen (und politischen) Philosophie darstellt, ist, philosophisch
gesehen, die Selbständigkeit des Erkenntnisbeitrages, der im Bezug auf
Praxis besteht. Hier erweist sich das konkret Besondere nicht nur als der
Ausgangspunkt, sondern als ein immer bestimmendes Manlent ftir den
Inhalt des Allgemeinen.
Wir kennen dies Problem in der Gestalt, die ihm Kant in der )Kritik der
Urteilskraft< gegeben hat. Er unterscheidet dort die bestimmende Urteils-
kraft, die das Besondere unter ein gegebenes Allgemeines subsumiert, von
der reflektierenden Urteilskraft, die für ein gegebenes Besonderes einen
allgemeinen Begriff sucht. Nun hat Hege!, wie ich meine, gültig gezeigt,
daß die Trennung dieser beiden Funktionen der Urteilskraft eine bloße
Abstraktion ist und daß Urteilskraft in Wahrheit immer beides ist. Das
Allgemeine, unter das man ein Besonderes subsumiert, bestimmt sich eben
dadurch selber fort. So bestimmt sich der rechtliche Sinn eines Gesetzes
seinerseits durch die Judikatur und grundsätzlich die Allgemeinheit der
Norm durch die Konkretion des Falles. Bekanntlich ist Aristoteles so weit
gegangen, aus diesem Grunde sogar die platonische Idee des Guten für leer
zu erklären, und der Sache nach gewiß mit Recht, wenn man wirklich diese
Idee des Guten als ein Seiendes von höchster Allgemeinheit denken
müßte 137 •
Die Anlehnung an die Tradition der praktischen Philosophie hilft, uns auf
diese Weise gegen das technische Selbstverständnis des neuzeitlichen Wis-
sensehaftsbegriffs abzuschirmen. Das erschöpft aber nicht die philo-
sophische Intention meines Versuches. In dem hermeneutischen Gespräch,

136 >Zur Rehabilitierung der praktischen Philosophie<, 1972. [Ges. Werke Bd. 41.
137 Ich darf Hi.r diesen Zusammenhang auf meine Abhandlung IAmicus Plato magis
amica veritas( im Anhang der Neuauflage von Platos dialektischer Ehtik, 1968, verweisen
sowie auf die Studie >Platos ungeschriebene Dialektib in Kleine Schriften III, Idee und
Sprache, 1971. Uetzt in Ges. Werke Bd. 6, S. 71-89 bzw. S. 129-153. Vgl. auch meine
Akademie-Abhandlung >Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles<, Heidelberg
1978; Ges. Werke Bd. 71.
456 Anhänge

in dem wir stehen, vermisse ich überhaupt, daß diese philosophische Inten-
tion befolgt wird. Der Begriff des Spiels. den ich schon vor Jahrzehnten aus
der subjektiven Sphäre des )Spieltriebs< (Schiller) heraus gedreht und Zur
Kritik der ~ästhetischen Unterscheidung( genutzt hatte, impliziert ein onto-
logisches Problem. Denn in diesem Begriff vereinigen sich das Ineinander-
spiel von Geschehen und Verstehen, aber auch die sprachlichen Spiele unse-
rer Welterfahrung überhaupt, wie sie Wittgenstcin in metaphysikkritischer
Absicht thematisiert hat. Als eine }Ontologisicrung( der Sprache kann einem
meine Fragestellung aber nur erscheinen, wenn man die Voraussetzungen
der Instrumentalisierung der Sprache überhaupt unbefragt läßt. Es ist in
Wahrheit ein Problem der Philosophie, das die hermeneutische Erfahrung
uns stellt: die ontologischen Imphkationen aufzudecken, die in dem >techni-
schen< Begriff von Wissenschaft liegen, und die hermeneutische Erfahrung
zu ihrer theoretischen Anerkennung zu bringen. In dieser Richtung müßte
das philosophische Gespräch vorangehen, nicht um einen Platonismus -
aber wohl um ein Gespräch mit Plato zu erneuern, das hinter die verfestigten
Begriffe der Metaphysik und ihr unerkanntes Fortleben zurückfragt. White-
heads }Fußnoten zu Plato< könnten da, wie Wiehl richtig erkannt hat, \vich-
tig werden (vgl. seine Einleitung zur deutschen Ausgabe von Whitehead
}Adventures ofIdeas<). Jedenfalls war es meine Intention, die Dimension der
philosophischen Hermeneutik mit der platonischen - nicht mit der hegel-
schen - Dialektik zusammenzuschließen. Der 3. Band meiner Kleinen
Schriften zeigte schon im Titel an, worum es dabei geht: Idee und Sprache.
Die moderne Sprachforschung in allen Ehren, aber das technische Selbstver-
ständnis der neuzeitlichen Wissenschaft verschließt ihr die hermeneutische
Dimension und die philosophische Aufgabe, die in ihr gelegen ist.
Über die Spannweite der philosophischen Probleme, die die hermeneuti-
sche Fragestellung umschließt, gibt das mir gewidmete Sammelwerk )Her-
meneutik und Dialektik< (1970) durch die breite Fächerung seiner Beiträge
eine gute Vorstellung. Inzwischen ist aber auch auf den Sondergebieten
hermeneutischer Methodenlehre die philosophische Hermeneutik zum be-
ständigen Gesprächspartner geworden.
Das Gespräch über die Hermeneutik hat sich vor allem auf vier Wissen-
schaftsgebieten ausgebreitet, in der juristischen Hermeneutik, der theologi-
schen Hermeneutik, der Literaturtheorie, sowie in der Logik der Sozialwis-
senschaften. Innerhalb des langsam unübersehbar werdenden Schrifttums
darf ich nur einige Arbeiten hervorheben, die auf llleinen eigenen Beitrag
ausdrücklich Bezug nehmen. So in der juristischen Hermeneutik:
Franz Wieacker in )Das Problem der Interpretation< (Mainzer Universi-
tätsgespräche S. 5ff.).
Fritz Ritmer in }Verstehen und Auslegen(, Freiburger Dies Universitatis
14(1967)
Nachwort zur 3. Auflage 457

JosefEsser in >Vorverständnis und Methode in der Rechtsfindung( (1970).


Joachim Hruschka, )Das Verstehen von Rechtstexten<, Münchener Un1-
versitätsschriften, Reihe der juristischen Fakultät Bd. 22, 1972.
Aus dem Bereich der theologischen Hermeneutik nenne ich außer den
oben erwähnten Forschern die neuen Beiträge von:
Günter Stachel >Die neue Hermeneutik( (1967).
Ernst Fuchs >Marburger Hermeneutik< (1968).
Eugen Biser, >Theologische Sprachtheorie und Hermeneutik< (1970).
Gerhard Ebeling >Einftihrung in die theologische Sprachlehre< (1971).
In der Literaturtheorie ist in der Nachfolge von Betti vor allem das Buch
von Hirsch )VaJidity in Interpretation1 (1967) zu nennen und eine ganze
Reihe anderer Versuche, das Methodische an der Interpretationstheorie stark
hervorzuheben. Vgl. etwa S. W. Schmied-Kowarzik >Geschichtswissen-
schaft und Geschichtlichkeit< in: Wiencr Zeitschrift rür Philosophie, Psycho-
logie, Pädagogik 8 (1966), S. 133ff.; D. Benner >Zur Fragestellung einer
Wissenschaftstheorie der Historie( in: Wiener Jahrbuch rür Philosophie 2
(1969), S. 52 ff. Eine ausgezeichnete Analyse dessen, was bei dem Verfahren
der Interpretation Methode ist, finde ich soeben bei Thomas Seebohm )Zur
Kritik der hermeneutischen Vernunft< (1972); dem Anspruch einer philo-
sophischen Hermeneutik entzieht er sich freilich, indem er ihr einen spekula-
tiven Begriff von gegebener Totalität unterschiebt.
Andere Beiträge: H. Robert Jauss }Literaturgeschichte als Provokation(
(1970) und >Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik< (1979).
Leo Pollmann >Theorie der Literatur< (1971). Harth ,Philologie und prakti-
sche Philosophie< (1970).
Die Bedeutung der Hermeneutik in den Sozialwissenschaften hat vor
allem J. Habermas kritisch gewürdigt. Vgl. seinen Bericht >Zur Logik der
Sozialwissenschaften<, Beiheft der Philosophischen Rundschau, und den
Sammelband >Hermeneutik und Ideologiekritik< in der Reihe ,Theorie< des
Suhrkamp Verlags.
Wichtig ist auch die Nummer von )Continuum<, in der die Frankfurter
Kritische Theorie mit der Hermeneutik konfrontiert wird. Eine gute Über-
sicht über die allgemeine Problemlage ftir die geschichtlichen Wissenschaf-
ten gibt der Vortrag, den Karl-Friedrich Gründer vor dem Historikerkon-
greß 1970 gehalten hat. (Saeculum/22 (1971), 1Olff.).
Doch zurück zur Wissenschaftstheorie. Das Problem der Relevanz ist
durchaus nicht auf die Geisteswissenschaften zu beschränken. Was in den
Naturwissenschaften Tatsachen sind, meint auch nicht alle beliebigen ge-
messenen Größen, sondern diejenigen Meßergebnisse, die eine Antwort auf
eine Frage, eine Bestätigung oder Widerlegung einer Hypothese darstellen.
Ebenso ist die Veranstaltung eines Experiments zur Messung irgenwelcher
Größen nicht dadurch legitimiert, daß diese Messungen nach allen Regeln
458 Anhänge

der Kunst aufs exakteste ausgeführt "verden. Sie gewinnt ihre Legitimation
allein durch den Forschungskontext. So schließt alle Wissenschaft eine her-
meneutische Komponente ein. So wenig es eine historische Frage oder eine
historische Tatsache in abstrakter Isolierung geben kann, so wenig offenbar
auch das Analoge im Bereich der Naturwissenschaften. Das bedeutet nicht,
daß dadurch die Rationalität des Verfahrens selber eingeschränkt würde,
soweit eine solche möglich ist. Das Schema >Aufstellung von Hypothesen
und ihre Prüfung ( liegt in aller Forschung vor, auch in den Geschichtswis-
senschaften, ja sogar innerhalb der Philologie - und freilich auch immer die
Gefahr, daß man die Rationalität des Verfahrens für eine ausreichende Legiti-
mation der Bedeutung des so >Erkannten< hält.
Aber gerade wenn man die Relevanzproblematik anerkennt, wird man bei
der von Max Weber entwickelten Wertfreihcitsparolc kaum stehen bleiben
können. Der blinde Dezisionismus betreffs der letzten Zwecke, dem Max
Weber offen das Wort redete, kann nicht befriedigen. Hier endet der metho-
dische Rationalismus in einem kruden Irrationalismus. An ihn die sogenann-
ten Existenzphilosophie anzuschließen, verkennt die Dinge von Grund aus.
Das Gegenteil ist wahr. Was Jaspers' Begriff der Existenzerhellung im Auge
hatte, war vielmehr gerade, auch die letzten Entscheidungen einer rationalen
Erhellung zu unterziehen - nicht umsonst galten ihm) Vernunft und Exi-
stenz( als untrennbar-, und Heidegger vollends zog die noch weit radikalere
Konsequenz, die ontologische Mißlichkeit in der Unterscheidung von Wert
und Tatsache aufzuklären und den dogmatischen Begriff der >Tatsache(
aufzulösen. Indessen spielt in den Naturwissenschaften die Wertfrage keine
Rolle. Im eigenen Zusammenhang ihrer Forschung sind sie zwar, \vie
erwähnt, hermeneutisch aufklärbaren Zusammenhängen unterworfen.
Aber sie überschreiten den Kreis ihrer methodischen Kompetenz dabei
nicht. Höchstens in einem einzigen Punkte kommt Analoges in Frage, ob sie
nämlich von dem sprachlichen Weltbild, in dem die Forscher als Forscher
leben, in ihren wissenschaftlichen Fragestellungen \virklich ganz unabhän-
gig sind, und insbesondere von dem sprachlichen Weltschema der eigenen
Muttersprache 138 • Aber in einem anderen Sinne ist auch hier Hermeneutik
immer im Spiel. Selbst wenn man durch eine normierte Wissenschaftsspra-
che alle Nebentöne mutterspr,achlicher Provenienz weg filterte, bliebe noch
immer das Problem der >Übersetzung< der Erkenntnisse der Wissenschaft ins
Gemeinsprachliche, durch die die Naturwissenschaften erst ihre kommuni-
kative Universalität und damit ihre soziale Relevanz empfangen. Das aber
beträfe dann nicht mehr die Forschung als solche, sondern zeigte nur an, daß
dieselbe nicht )autonom< ist, sondern in einem gesellschaftlichen Kontext
steht. Das gilt für alle Wissenschaft. Indessen, man braucht gar nicht den

138 Auf diese Frage hat vor allem Werner Heisenberg immer ".... ieder hingewiesen.
Nachwort zur 3. Auflage 459

>verstehenden( Wissenschaften eine besondere Autonomie reservieren zu


wollen und kann doch daran nicht vorbeisehen, daß in ihnen das vorwissen-
schaftliehe Wissen eine viel größere Rolle spielt. Gewiß kann man sich das
Vergnügen bereiten, an diesen Wissenschaften all das, das von solcher Art
ist, >unwissenschaftlich(, rational ungeprüft usw. zu schelten l39 . Aber daß
dies die Verfassung dieser Wissenschaften ist, erkennt man eben damit
gerade an. Man muß sich dann auch der Einrede stellen, daß das vorwissen-
schaftliche Wissen, das man als einen traurigen Rest von Unwissenschaft-
lichkeit an diesen Wissenschaften gewahrt, gerade ihre Eigenart ausmacht
und jedenfalls das praktische und gesellschaftliche Leben der Menschen,
einschließlich der Bedingungen ftir das Betreiben von Wissenschaft über-
haupt, \-veit stärker bestimmt als das, was man durch steigende Rationalisie-
rung menschlicher Lebenszusammenhänge erreichen, ja wollen kann. Denn
kann man wirklich wollen, daß ein jeder sich fUr die entscheidenden Fragen
des gesellschaftlichen und politischen wie des privaten und persönlichen
Lebens einem Fachmann anvertraut? Für die konkrete Anwendung seiner
Wissenschaft würde ja auch der Fachmann nicht seine Wissenschaft, sondern
seine praktische Vernunft einsetzen. Und warum soll diese beim Fachmann,
und wäre er selbst jener ideale Sozialingenieur, größer sein als bei andern
Leuten?
Insofern scheint es mir recht verräterisch, wenn man den hermeneuti-
schen Wissenschaften mit überlegenem Hohne nachsagt, daß sie das quali-
tative Weltbild des Aristotcles restaurativ erneuerten 14U • Ich sehe davon ab,
daß auch die moderne Wissenschaft nicht überall quantitative Verfahren
anwendet, zum Beispiel in den morphologischen Disziplinen. Ich darf mich
aber darauf berufen, daß das Vonvissen, das aus unserer sprachlichen Welt-
orientierung uns zuwächst (und das tatsächlich der sogenannten >Wissen-
schaft, des Aristoteles zugrunde lag), überall mitspielt, wo Lebenserfahrung
verarbeitet wird, wo sprachliche Überlieferung verstanden wird und wo
gesellschaftliches Leben im Gange ist. Solches Vorwissen ist gewiß keine
kritische Instanz gegen die Wissenschaft und ist selber jeder kritischen
Einrede seitens der Wissenschaft ausgesetzt - aber es ist und bleibt das
tragende Medium alles Verstehens. Dahcr prägt es die methodische Sonder-
art der verstehenden Wissenschaften. In ihnen stellt sich offenbar die Aufga-
be, die Ausbildung fachsprachlicher Terminologien begrenzt zu halten und
statt Sondersprachen aufzubauen, >gemeinsprachliche{ Sprechweisen zu
pflegen 141 •
Hier darf ich vielleicht einfUgen, daß auch die von Kamlah und Lorcnzen
139 VgL etwa den konsequenten Aufsatz von V. Kraft, Geschichtsforschung als strenge

Wissenschaft, jetzt in )Logik der Sozialwissenschaften(, hrsg. von E. Topitsch, 72-82.


140 So H. Albert, Traktat a.a.O., S. 138.
141 Das hat D. Harth, DVJs, Sept. 1971, in einer gediegenen Studie richtig betont.
460 Anhänge

vorgelegte )Logische Propädeutik<142, die vom Philosophen die methodische


)Einftihrung< aller rur eine wissenschaftlich überprüfbare Aussage legitimen
Begriffe verlangt, selber von dem hermeneutischen Zirkel eines vorausge-
setzten sprachlichen Vorwissens und eines kritisch zu reinigenden Sprachge-
brauchs eingeholt wird. Nichts gegen das Ideal eines solchen Autbaus einer
wissenschaftlichen Sprache, das ohne Frage in vielen Bereichen, insbesonde-
re der Logik und der Wissenschaftstheorie, wichtige Klärungen bringt und
dem als Erziehung zu verantwortlichem Sprechcn auch im Felde der Philo-
sophie keine Grenzen gesetzt werden sollten. Was Hcge]s Logik unter dem
Leitgedanken einer alle Wissenschaft umspannenden Philosophie unter-
nahm, das sucht Lorenzen in der Reflexion auf )Forschung< und zu ihrer
logischen Rechtfertigung neu zu leisten. Das ist gewiß eine legitime Aufga-
be. Aber ich möchte verteidigen, daß die Quelle von Wissen und Vorwissen,
die aus der sprachlich sedimentierten Weltauslegung fließt, auch dann ihre
Legititnität behielte, wenn man sich die ideale Wissenschaftssprache vollen-
det dächte - und das gilt gcrade auch fUr die ,Philosophie<. Die begriffsge-
schichtliche Aufklärung, der ich selber in meinem Buche das Wort rede und
die ich so gut ich kann praktiziere, wird von Kamlah und Lorenzen mit dem
Einwand abgetan, daß das Forum der Tradition kein sicheres und eindeuti-
ges Urteil sprechen könne. In der Tat nicht. Aber sich vor diesem Forum
verantworten zu können, und das bedeutet: eine neuen Einsichten angemes-
sene Sprache nicht zu erfinden, sondern aus der lebendigen Sprache heraus-
zuholen, scheint mir eine legitime Forderung. Sie ist für die Sprache der
Philosophie nur erfUllbar, wenn cs ihr gelingt, den Weg vom Wort zum
Begriff und vom Begriff zum Wort nach bei den Seiten offenzuhalten. Das
scheint mir eine auch bei Kamlah und Lorenzen als Sprachgebrauch oft
berücksichtigte Instanz für ihr eigenes Vorgehen zu sein. Sie ergibt freilich
keinen methodischen Aufbau einer Sprache durch schrittweise Einführung
von Begriffen. Aber auch das ist >Methode<, die in Begriffswärtern liegen-
den Implikationen bewußt zu machen, und, wie ich meine, eine der Sache
der Philosopliie angemessenc. Denn die Sache der Philosophie beschränkt
sicli niclit auf die reflexive Erhellung des Verfahrens der Wissenschaften. Sie
besteht auch nicht darin, die )Summe< aus der Vielfalt unseres modernen
Wissens zu ziehen und diesselbe zum Ganzen einer )Weltanschauung< abzu-
runden. Wohl hat sie es mit dem Ganzen unserer Wclt- und Lebenserfahrung
zu tun - wie keine andere Wissenschaft, sondern wie es eben nur unsere sich
in der Sprache artikulierende Lebens- und Welterfahrung selber tut. Ich bin
weit davon entfernt zu behaupten, daß das Wissen um diese Totalität eine

142 W. Kamlah, P. lorenzen, Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Re-

dem (1967).
Nachwort zur 3. Auflage 461

wirklich gesicherte Erkenntnis darstellt und nicht vielmehr mit immer neuer
Kritik denkend anzugehen ist. Aber ignorieren kann man solches) Wissen(
nicht, in welcher Form auch immer es sich Ausdruck gibt - in religiöser oder
Spruchweisheit, in Werken der Kunst oder des philosophischen Gedankens.
Sogar die Dialektik Hegels - ich meine nicht ihre Schematisierung zu einer
Methode des philosophischen Beweisens, sondern die ihr zugrunde liegende
Erfahrung von dem >Umschlag< von Begriffen, die das Ganze zu erfassen
beanspruchen, in ihr Gegenteip43 - gehört zu diesen Formen der inneren
Selbstaufklärung und intersubjektiven Darstellung unserer tuenschlichen
Erfahrung. In meinem Buch habe ich von diesem vagen Vorbild Hegcls
selber einen recht vagen Gebrauch genlacht und darf jetzt auf eine kleine
Neuerscheinung verweisen: Hegels Dialektik, Fünf hermeneutische Stu-
dien, Tübingen 1971 [Ges. Werke Bd. 3], die eine genauere Darlegung, aber
auch eine gewisse Rechtfertigung ftir diese Vagheit enthält.
Man hat gegen meine Untersuchungen öfters den Vorwurf geäußert, daß
ihre Sprache zu ungenau sei. Ich kann darin nicht nur die Aufdeckung eines
Mangels sehen - der es oft genug sein mag. Vielmehr scheint es mir der
Aufgabe der philosophischen Begriffssprache angemessen, auch auf Kosten
der genauen Umgrenzung von Begriffen die Verwobenheit in das Ganze
sprachlichen Weltwissens gelten zu lassen und damit den Bezug auf das
Ganze lebendig zu halten. Das ist die positive Implikation der >Sprachnot<,
die der Philosophie von Anbeginn eingeboren ist. In sehr besonderen Au-
genblicken und unter sehr besonderen Bedingungen, die man nicht bei Plato
oder Aristotcles, nicht bei Meister Eckhart oder Nicolaus Cusanus, nicht bei
Fichte und Hegcl finden wird, wohl aber vielleicht bei Thomas, bei Hume
und bei Kant, bleibt diese Sprachnot unter einer ausgeglichenen begriffli-
chen Systematik verborgen und ,"vird erst im Mitdenken mit der Bewegung
des Gedankens - dann aber notwendig auch dort - neu aufbrechen. Ich
verweise dafür auf meinen Düsseldorfer Vortrag >Die Begriffsgeschichte
und die Sprache der Philosophie<''''. Die Worte, die man in philosophischer
Sprache benutzt und zu begrifflicher Präzision zuschärft, implizieren stets
>objektsprachliche( Bedeutungsmomente und behalten insofern etwas Un-
angemessenes. Aber der Bedeutungszusammenhang, der in jedem Wort der
lebendigen Sprache anklingt, geht zugleich in das Bedeutungspotential des
Begriffswortes ein. Das ist bei keiner Verwendung gemeinsprachlicher Aus-

W Popper stellt sich dieser Erfahrung überhaupt nicht und übt daher seine Kritik an
einem Begriff von ,Methode(, der nicht einmal fur Hegel zutrifft: Was ist Dialektik? in:
)Logik der Sozialwissenschaften" hrsg. von E. Topitsch, 262-290.
144 In: Arbeitsgemeinschaft fur Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Heft 170,

(1971) [Kl. Sehr. IV. S. 1-16; Ges. Werke Bd. 4. S. 78-94).


462 Anhänge

drücke fUr Begriffe auszuschalten. Aber es ist fUr die Begriffsbildung in den
Naturwissenschaften insofern ohne Belang, als in ihnen der Erfahrungsbe-
zug allen Begriffsgebrauch kontrolliert und damit auf ein Ideal der Eindeu-
tigkeit verpflichtet und den logischen Gehalt der Aussagen rein herauspräpa-
riert.
Anders liegt die Sache im Bereiche der Philosophie und überhaupt überall
dort, wo Prämissen des vorwissenschaftlichen Sprachwissens in die Er-
kenntnis eingehen. Dort hat Sprache noch eine andere Funktion als die der
möglichst eindeutigen Bezeichnung von Gegebenem - sie ist >selbstgebend(
und bringt solche Selbstgabe in die Kommunikation ein. In den hermeneuti-
schen Wissenschaften wird durch die sprachliche Formulierung nicht einfach
auf einen Sachverhalt gewiesen, den man auf andere Weise durch Nachprü-
fung zur Erkenntnis bringen kann. Es wird vielmehr ein Sachverhalt im Wie
seiner Bcdcutsamkeit sichtbar gemacht. Das macht die besondere Forde-
rung an sprachlichen Ausdruck und Begriffsbildung aus, daß hier der Ver-
ständniszusammenhang mit bezeichnet werden muß, in dem der Sachverhalt
etwas bedeutet. Die Konnotationen, die ein Ausdruck hat, trüben also nicht
seine Verständlichkeit (weil sie das Gemeinte nicht eindeutig bezeichnen),
sondern sie steigern sie, sofern der gemeinte Zusammenhang als ganzer an
Verständlichkeit gewinnt. Es ist ein Ganzes, das hier in Worten aufgebaut
wird und nur in Worten zur Gegebenheit kommt.
Traditionellerweise sieht man darin eine bloße Frage des Stils und verweist
diese Phänomene in den Bereich der Rhetorik, wo es auf Überredung mit
Hilfe der Erregung von Affekten ankomme. Oder man denkt von moder-
nen ästhetischen Begriffen aus. Dann erscheint die >Selbstgebung< als eine
ästhetische Qualität, die in dem metaphorischen Charakter der Sprache
entspringt. Man möchte nicht zugeben, daß darin ein Erkenntnismoment
gelegen ist. Mir scheint aber gerade der Gegensatz von >logisch( und >ästhe-
tisch< dort zweifelhaft, wo es sich um wirkliches Sprechen handelt und nicht
um den kunstvollen logischen Aufbau einer Orthosprache, wie sie Lorenzen
vorschwebt. Es scheint mir eine nicht minder logische Aufgabe, die Interfe-
renz zwischen allen sondersprachlichen Elementen, Kunstausdrücken usw.
und der gewöhnlichen Sprache wahrzuhaben. Das ist die hermeneutische
Aufgabe, sozusagen der andere Pol ftir die Bestimmung der Angemessenhcit
von Worten. -
Das fUhrt mich auf die Geschichte der Hermeneutik. In meinem eigenen
Versuch hatte ihre Behandlung im wesentlichen eine vorbereitende und
hintergrund bildende Aufgabe. Die Folge davon war, daß meine Darstellun-
gen eine gewisse Einseitigkeit zeigen. Das gilt bereits rur Schleiermacher.
Seine Hermeneutik-Vorlesung, wie wir sie in der Ausgabe von Lücke in den
Werken lesen, aber auch die originalen Materialien, die H. Kimmerle in den
Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften ediert (und
Nachwort zur 3. Auflage 463

inzwischen durch einen sorgfiltigen kritischen Nachtrag 145 ergänzt) hat,


auch die Akademie-Vorträge Schleiermachers, die den zufalligen polemi-
schen Bezug auf Wolf und Ast nehmen, lassen sich an theoretischem Ge-
wicht fur eine philosophische Hermeneutik nicht mit dem vergleichen, was
Schleiermachers Dialektik-Vorlesung, insbesondere auch der dort erörterte
Zusammenhang von Denken und Sprechen, enthält 146 .
Immerhin besitzen wir inzwischen neue Materialien aus der Feder Dil-
theys, der die Philosophie Schleiermachers darstellt und insbesondere ihren
zeitgenössischen Hintergrund, Fichte, Novalis, Schlegel, in meisterhafter
Weise ausmalt. Es ist das Verdienst von M. Redeker, daß er aus den Manu-
skripten des Nachlasses in sorgfaltiger kritischer Edition einen zweiten Band
von Diltheys >Leben Schleiermachers< komponiert hat'''. Diltheys berühm-
te und bisher unbekannt gebliebene Darstellung der Vorgeschichte der Her-
meneutik im 17. und 18. Jahrhundert, von der die bekannte Akademieab-
handlung von 1900 nur eine Zusammenfassung gab, ist darin erstlnals
publiziert. Sie stellt an Gründlichkeit der Quellenstudien, an allgemeinem
historischem Horizont und an detaillierter Darstellung alles andere in den
Schatten, nicht nur die bescheidenen Beiträge, die ich mir selber mühsam
erarbeitet hatte 148 , sondern auch das bekannte Standardwerk von Joachim
Wach. 149
Über die ältere Geschichte der Hermeneutik kann man sich inzwischen
auch noch auf andere Weise gut unterrichten, seit Lutz Gcldsetzer eine Reihe
von hermeneutischen Neudrucken ins Leben gerufen hat 150 • Neben Meier ist
es vor allem ein wichtiger theoretischer Abschnitt aus Flacius und der
elegante Thibaut, die nun auf bequeme Weise zugänglich sind, anderes, z. B.
der von mir stark beachtete Chladenius, ist inzwischen auch da. Gc1dsetzer
hat diesen Neuausgaben sehr sorgfältige, mit erstaunlicher Gelehrsamkeit
erarbeitete Einleitungen beigegeben. Freilich sind die Akzentsetzungen so-
wohl bei Dilthey als auch in den Einftihrungen Geldsetzers sehr von dem

145 H. Kimmerle, Nachbericht zur Ausgabe F.D.E. Schleiermacher: Hermeneutik. Mit

einem Anhang: Zur Datierung, Textberichtigungen, Nachweise, Heidelberg 1968.


146 Unglücklicherweise haben wir aber von Schleiermachers Dialektik trotz Halpern

und Odebrecht noch immer keine befriedigende Ausgabe. So ist die Ausgabe vonJonas in
den Werken noch weiterhin unentbehrlich. Es wäre dringend zu wünschen, daß diese
Lücke bald geschlossen würde, zumal die editorische Seite der Sache durch ihre Analogie
zu den noch ausstehenden kritischen Ausgaben von Hegels Vorlesungen von grundsätzli-
chem Interesse wäre.
147 Dilthey, Das Leben Schleiermachers 11 1 und 2, Berlin 1966.

t4R [Vgl. inzwischen H.-G. Gadamer I G. Boehm (Hrsg.), Seminar: Philosophische

Hermeneutik. Frankfurt 19761.


149 O. Wach, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie
im 19. Jahrhundert, 3 Bde. Tübingen 1926. Reprint Hildesheim 1966].
1:50 Instrumenta philosophica. Series hermeneutica I ~ IV, Düsseldorf1965 ff.
464 Anhänge

verschieden, was ich selber anhand von wichtigen Beispielen, insbesondere


an Spinoza und ehladenius, iu den Vordergrund gestellt habe.
Ähnliches gilt von neueren Arbeiten über Schlcicrmachcr, insbesondere
den Beiträgen von H. Kimmerle, H. Patsch 151 und von dem Buch von G.
Vattimo 152 • Es mag sein, daß ich Schleiermachers Tendenz auf die psycholo-
gische (technische) Interpretation gegenüber der grammatisch-sprachliclien
allzu stark unterstrichen habe l53 • Immerhin liegt darin sein eigenster Beitrag,
und so war es denn auch die psychologische Interpretation, die Schule
gemacht hat. Das konnte ich am Beispiele Heymann Steinthais und an
Diltheys Schleiermaeher-Nachfolge über allen Zweifel erheben.
Die wichtige Stellung, die Wilhelm Dilthey im Problemzusammenhang
meiner Untersuchung einnahm, und die energische Akzentuierung seiner
ambivalenten Haltung gegenüber der induktiven Logik des Jahrhunderts auf
der einen Seite und dem romantisch-idealistischen Erbe auf der anderen
Seite, das beim späten Dilthey über Schleiermacher hinaus auch denjungen
Hegel einbezog, war von der theoretischen Absicht meiner eigenen Frage-
stellung bestimmt. Hier sind neuere Akzentsetzungen bemerkenswert. Pe-
ter Krausser154 ist in umgekehrter Absicht den ausgebreiteten wissenchaftli-
ehen Interessen Diltheys nachgegangen und hat dieselben zum Teil aus dem
Nachlaßmaterial illustriert. Die Emphase, mit der er diese Interessen Dil-
theys darstellt, kann freilich nur eine Generation aufbriugen, die Dilthey von
vornherein aus seiner späten Aktualität in den Z"\vanziger Jahren unseres
Jahrhunderts kennen gelernt hat. Für diejenigen, die an Dilthey das Interesse
für Geschichtlichkeit und fUr die Grundlegung der Geisteswissenschaften in
eigener theoretischer Absicht erstmals thematisiert hatten, z. B. rur Misch,
Groethuysen, Spranger, aber auch Jaspers und Heidegger, war es stets
selbstverständlich, daß Dilthey an den Naturwissenschaften seiner Zeit,
insbesondere aber an ihrer anthropologischen und psychologischen Sparte
intensiv teilhatte. Krausser entwickelt nun die Strukturtheorie Diltheys mit
den Mitteln einer fast kybernetischen Analyse, so daß die Grundlegung der
Geisteswissenschaften ganz und gar dem naturwissenschaftlichen Modell
folgt, freilich auf einer Grundlage von so vagen Daten, daß sich jeder
Kybernetiker bekreuzigen würde.
M. Riedel bleibt ebenfalls mehr an Diltheys Kritik der historischen Ver-
nunft, wie sie insbesondere aus der Breslauer Zeit dokumentierbar ist,
interessiert als an dem späteren Dilthey, obwohl er in seinem Neudruck des
>Aufbaus der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften( das späte

151 H. Patsch in Zeitsehr. f. Theologie und Kirche 1966, S. 434-472.


152 G. Vattimo, Schleiermacher filosofo dell'Interpretazione, Milano 1968.
153 [Vgl. dazu die Arbeit von M. frank >Das individuelle Al1gemeine~. Textstrukturie-

rung und -interpretation nach Schlciermacher. Frankfurt 1977].


154 Diltheys Kritik der endlichen Vernunft (1970).
Nachwort zur 3. Auflage 465

Werk Diltheys vorlegt 155 • Er gibt dem geisteswissenschaftlichen Interesse


Diltheys einen interessanten gesellschaftskritischen Akzent und sieht Oil-
theys echte Relevanz so sehr in seiner wissenschaftstheoretischen Fragestel-
lung, daß ihm der Irrationalismus, den man Dilthey als Verfechter der
Lebensphilosophie vorwarf, als ein bloßes Mißverständnis erscheint. Hier
wird also die von mir herausgearbeitete Ambivalenz in Diltheys Position,
seine Unentschiedenheit zwischen Wissenschaftstheorie und Lebensphi-
losophie, genau im entgegengesetzten Sinne artikuliert: Die emanzipatori_
sche Aufklärung bleibt in den Augen dieser Autoren nicht nur der tiefste und
der stärkste, sondern seltsamerweise auch der produktivste Antrieb in Dil-
they 156. _
Doch der gewichtigste Einwand gegen meinen Grundriß einer philo-
sophischen Hermeneutik ist der, daß ich angeblich aus der Sprach gebunden-
heit alles Verstehens und aller Verständigung die grundlegende Bedeutung
des Einverständnisses folgere und damit ein gesellschaftliches Vorurteil
zugunsten der bestehenden Verhältnisse legitimiere. Nun ist es in der Tat
richtig und bleibt in meinen Augen eine wirkliche Einsicht, daß Verständi-
gung nur auf dem Boden eines ursprünglichen Einverständnisse gelingen
kann und daß die Aufgabe des Verstehens und der Auslegung nicht so
beschrieben werden darf, als hätte Hermeneutik die blanke Unverständlich-
keit eines überlieferten Textes zu überwinden oder gar primär die Beirrung
durch Mißverstand. Weder im Sinne der okkasionellen Hermeneutik der
Frühzeit, die auf ihre sonstigen Voraussetzungen nicht reflektierte, noch im
Sinne Schleiermachers und des romantischen Traditionsbruches. für den in
allem Verstehen Mißverständnis das erste ist, scheint mir das richtig. Alle
sprachliche Verständigung setzt nicht nur ein Einverständnis über die Wort-
bedeutungen und die Regeln der gesprochenen Sprache voraus. Vielmehr
bleibt auch im Hinblick auf die }Sachen< in allem, was sinnvoll diskutiert
werden kann, vieles unumstritten. Mein Bestehen auf diesem Punkte soll
nun eine konservative Tendenz bezeugen und der hermeneutischen Refle-
xion ihre eigentliche, die kritisch-emanzipatorische Aufgabe vorenthalten.
Es geht hier sicher um einen wesentlichen Punkt. Die Diskussion darüber
ist vor allem zwischen Habermas als dem Fortbildner der >kritischen Theo-
rie< und auf der anderen Seite von mir geführt worden 157. Von beiden Seiten
wohl so, daß letzte, kaum kontrollierte Voraussetzungen dabei ins Spiel
kommen - auf der einen Seite, bei Habermas und vielen, die der alten Parole
der Aufklärung folgen, durch Denken und Reflexion obsolete Vorurteile
aufzulösen und gesellschaftliche Privilegien aufzuheben, der Glaube an den
155 Suhrkamp Verlag (1970).
156 [Zur neueren Diltheyforschung vgI. meine Arbeiten in Ges. Werke Bd. 41.
157 [Vgl. den Sammelband lHermeneucik und Ideologiekritik( und meine >Weiterent-

wicklungen( in diesem Band der Ges. Werke unter IV.].


4D6 Anhänge

~zwangsfreien Dialog<, Habcrmas macht hier die grundlegende Vorausset-


zung des fkontrafaktischen Einverständnisses<. Auf meiner Seite steht dem-
gegenüber die tiefe Skepsis, die ich gegen die phantastische Selbstüberschät-
zung hege, welche sich das philosophische Denken rur seine Rolle in der
gesellschaftlichen Wirklichkeit anmaßt - oder anders gesagt: gegen die
unwirkliche Überschätzung der Vernunft im Vergleich zu den emotionalen
Motivationen des menschlichen Gemüts. Es war kein literarischer Zufall,
sondern die \vohlüberlegtc Unueißung eines thematischen Ganzen, wenn
ich die Auseinandersetzung zwischen Hermeneutik und Ideologiekritik
nicht ohne die gewaltige Rolle denken kann, die die Rhetorik spielt. Marx,
Mao und Marcuse - die man heute an manchen Mauerinschriften vereinigt
finden kann - haben ihre Popularität gewiß nicht dem ,rationalen zwangs-
freien Gespräch< zu verdanken.
Es unterscheidet die hermeneutische Praxis und ihre Disziplinierung von
der Erlernbarkeit einer bloßen Technik, ob dieselbe nun Sozialtechnik oder
kritische Methode heißen mag, daß in ihr stets ein wirkungsgeschichtlicher
Faktor das Bewußtsein des Verstehenden mitdeterminiert. Darin liegt als
wesentliche Umkehrung, daß das Verstandene immer eine gewisse Über-
zeugungskraft entwickelt, die an der Bildung neuer Überzeugungen mit-
\virkt. Ich leugne gar nicht, daß, wenn man verstehen will, man bestrebt sein
muß, sich von den eigenen Sachmeinungen Abstand zu verschaffen. Wer
verstehen will, braucht das, was er versteht, nicht zu bejahen. Und doch
meine ich, daß uns die hermeneutische Erfahrung lehrt, daß kritische An-
strengung immer nur in begrenztem Umfang wirksam "vird. Das, was man
versteht, spricht stets auch ftir sich selbst. Daraufberuht der ganze Reichtum
des hermeneutischen Universums, das allem Verständlichen geöffnet ist.
Indem es sich in seiner ganzen Spielweite ins Spiel bringt, zwingt es den
Verstehenden, seine eigenen Vorurteile aufs Spiel zu setzen. Das sind Refle-
xionsgewinne, die aus Praxis und allein aus Praxis einem zuwachsen. Die
Erfahrungswelt des Philologen und dessen >Sein zum Texte(, die ich in den
Vordergrund rückte, ist in Wahrheit nur ein Ausschnitt und ein methodi-
sches Illustrationsfeld rur die hermeneutische Erfahrung, die in das Ganze
der menschlichen Praxis venvoben ist. Innerhalb derselben ist zwar das
Verstehen von Geschriebenem besonders wichtig, aber es ist doch nur ein
spätes und daher sekundäres Phänomen. Die hermeneutische Erfahrung
reicht in Wahrheit so weit, wie die Gesprächsbereitschaft vernünftiger We-
sen überhaupt reicht.
Ich vermisse die Anerkennung der Tatsache, daß dies der Bereich ist, den
Hermeneutik mit Rhetorik teilt: der Bereich der überzeugenden Argumente
(und nicht der logisch zwingenden). Es ist der Bereich der Praxis und der
Humanität überhaupt, die eben nicht dort ihre Aufgabe hat, "va Gewalt des
>eisenharten Schließens< gilt, der man sich diskussionslos zu unterwerfen
Nachwort zur 3. Auflage 467

hat, aber auch nicht dort, wo die emanzipatorische Reflexion ihres }kontra-
faktische~ Einverständnisses~ sich gewiß ist, sondern wo durch vernünftige
Überlegung strittige Punkte zur Entscheidung kommen sollen. Hier ist die
Redekunst und Argumentationskunst (und ihr schweigendes Gegenbild der
nachdenklichen Beratung mit sich selbst) zu Hause. Wenn die Redekunst
auch, wie es seit alters klar ist, die Affekte anspricht, so fallt sie doch damit
keineswegs aus dem Bereich des Vernünftigen heraus. Vico macht mit Recht
einen eigenen Wert derselben geltend: die copia, den Reichtum an Gesichts-
punkten. Ich finde es erschreckend unwirklich, wenn man - wie Habermas-
der Rhetorik einen Zwangscharakter zuschreibt, den man zugunsten des
zwangsfreien rationalen Gesprächs hinter sich lassen müsse. Man unter-
schätzt damit nicht nur die Gefahr der beredten Manipulation und Entmün-
digung der Vernunft, sondern auch die Chance beredter Verständigung, auf
der gesellschaftliches Leben beruht. Alle soziale Praxis - und wahrlich auch
die revolutionäre - ist ohne die Funktion der Rhetorik undenkbar. Gerade
die Wissenschaftskultur unserer Epoche vermag das zu illustrieren. Sie hat
der Praxis menschlicher Verständigung die immer mehr wachsende Riesen-
aufgabe gestellt, denjeweils partikularen Bereich wissenschaftlicher Sachbe-
herrschung in die Praxis gesellschaftlicher Vernunft zu integrieren: die mo-
dernen Massenmedien treten hier ein.
Es ist ein verkürzter Sinn von Rhetorik, der in ihr eine bloße Technik und
gar ein bloßes Instrument gesellschaftlicher Manipulation sieht. In Wahrheit
ist sie die eine wesentliche Seite allen vernünftigen Verhaltens. SchonAristo-
teies nennt die Rhetorik nicht eine Techne, sondern eine Dynamis, so sehr
gehört sie zur allgemeinen Bestimmung des Menschen, ein vernünftiges
Wesen zu sein. Die institutionalisierte öffentliche Meinungsbildung, die
unsere Industriegesellschaft entwickelt hat, mag einen noch so großen Wir-
kungsbereich haben und die Bezeichnung Manipulation noch so weitgehend
verdienen - sie erschöpft keineswegs den Bereich vernünftiger Argumenta-
tion und kritischer Reflexion, den die gesellschaftliche Praxis besetzt 158 •
Die Anerkennung dieser Sachlage setzt freilich die Einsicht voraus, daß
der Begriff der emanzipatorischen Reflexion von allzu vager Unbestimmt-
heit ist. Es geht um ein schlichtes Sachproblem, d. h. um die angemessene
Auslegung unserer Erfahrung. Welche Rolle spielt die Vernunft im Zusam-
menhang unserer menschlichen Praxis? Auf alle Fälle hat sie die allgemeine
Vollzugsform der Reflexion. Das will heißen, daß sie nicht einfach nur die

158 Die Arbeiten von C. Perelman und seiner Schüler empfinde ich von hier aus als einen

wertvollen Beitrag zur philosophischen Hermeneutik. (Insbesondere seinen >Traite de


J'argumentation( (gemeinsam mit L. Olbrechts-Tyteca), und neuerdings >Le Champ de
l'argumentation' (beides bei Presses Universitaires de Bruxelles) [und das neue Buch von
C. Perelman, The New Rhetonc and thc Humanities: Essays on Rhetoric and its Applica-
tions, Dordrecht, Boston, London 1979).
468 Anhänge

Anwendung vernünftiger Mittel zur Erreichung vorgegebener Zwecke und


Ziele betreibt. Sie ist nicht auf den Bereich der Zweckrationalität be-
schränkt. In diesem Punkte ist die Hermeneutik nüt der Ideologiekritik
gegen die) Wissenschaftstheorie< einig, soweit dieselbe ihre immanente Lo-
gik und die Anwendung der Ergebnisse von Forschung bereits für das
Prinzip gesellschaftlicher Praxis hält. Die hermeneutische Reflexion hebt
vielmehr gerade auch die Zwecke ins Bewußtsein, und zwar nicht im Sinne
einer vorgängigen Erkenntnis und Fixierung gesetzter und höchster Zwck-
ke, denen dann die Reflexion über die Zweckgerechtigkeit von Mitteln nur
nachfolgt. Das ist vielmehr die Verftihrung, die aus dem Vorgehen der
technischen Vernunft in ihren Bereichen entspringt, nur auf die rechte
Mittelwahl bedacht zu sein und die Zweckfragen fur vorentschieden zu
halten.
In einem letzten formalen Sinne ist nun gewiß fur alle menschliche Praxis
envas vorentschieden, nämlich daß der Einzelne wie die Gesellschaft auf das
)Glück< gerichtet ist. Das scheint eine natürhche Aussage von evidenter
Vernünftigkeit. Nur müssen wir Kant zugestehen, daß das Glück, dieses
Ideal der Einbildungskraft, jeder verbindlichen Bestimmtheit entbehrt. Un-
ser praktisches Vernunft bedürfnis verlangt jedoch, daß wir unsere Zwecke
mit ebensolcher Bestimmtheit denken wie die ihnen entsprechenden Mittel,
d. h. daß wir in unserem Handeln imstande sind, eine Möglichkeit des
Handelns einer anderen bewußt vorzuziehen, und zuletzt einen Zweck
einem anderen unterzuordnen. Weit entfernt davon, gegebene Ordnungen
des sozialen Lebens einfach vorauszusetzen und in einem solchen gegebenen
Rahmen die Einformung unserer praktischen Wahlüberlegungen zu betrei-
ben, stehen wir vielmehr mit jeder Entscheidung, die wir treffen, unter einer
Konsequenz ganz eigener Art.
An Konsequenz gebunden zu sein, gehört zu jeder Art von Vernünftig-
keit, auch zu der technischen, die stets begrenzte Zwecke rationell zu verfol-
gen unternimmt. Aber erst recht spielt sie außerhalb technisch beherrschba-
rer Zweckrationalität in der praktischen Erfahrung ihre Rolle. Hier ist
Konsequenz nicht mehr die selbstverständliche Rationalität der Mittelwahl,
fur deren Einhaltung sich Max Weber in dem emotionell so verzerrten Felde
des sozialpolitischen Handelns kraftvoll eingesetzt hat. Es handelt sich viel-
mehr um die Konsequenz des Wollenkönnens selber. Wer sich in echten
Wahlsituationen befindet, bedarf eines Maßstabs des Vorzüglichen, unter
dessen Herrschaft er seine auf den Entschluß gerichtete Reflexion durch-
fuhrt. Ihr Ergebnis ist dann stets mehr als nur die rechte Unterordnung unter
den orientierenden Maßstab. Was einem als das Rechte gilt, determiniert den
Maßstab selber, und zwar nicht nur so, daß kommende Entschließungen
dadurch vorentschieden werden, sondern auch so, daß sich dadurch die
Entschlossenheit zu bestimmten Handlungszielen selber ausbildet. Hier be-
Nachwort zur 3. Auflage 469
deutet Konsequenz am Ende Kontinuität, die allein erst die Identität mit sich
selber inhaltsvoll macht. Das ist die Wahrheit, dic Kants moralphilosophi-
sche Reflexion als den formalen Charakter des Sittengesetzes gegen alle
utilitaristisch-technische Berechnung geltend gemacht hat.
Aber man kann von dieser Bestimmung des >Rechten< auch mit Aristote-
les und einer bis heute reichenden Tradition ein Bild des rechten Lebens
ableiten, und man wird Aristotcles zustimmen müssen, daß dies Leitbild,
gesellschaftlich präformiert wie es ist, sich beständig weiter bestimmt, wenn
wir >kritische< Entscheidungen treffen - bis zu einer solchen Bestimmtheit,
daß wir bewußt gar nicht mehr anders wollen können, d. h., daß unser
>Ethos( uns zur zweiten >Natur< geworden ist 159 • So bildet sich das Leitbild
des einzelnen wie der Gesellschaft, und das gewiß so und gerade so, daß sich
die Ideale einer jüngeren Generation gegenüber denen der älteren verändert
haben, um sich ihrerseits wieder durch die konkrete Praxis ihres Verhaltens
in ihrem eigenen Spie1raum und Zielraum weiterzubestimmen, und das
heißt festzumachen.
Wo ist hier die emanzipatorische Reflexion \virksam? Ich würde sagen:
überall, freilich so, daß sie, indem sie alte Zielvorstellungen auflöst, sich
selber wieder zu neuen konkretisiert. Sie gehorcht damit nur dem Schrittge-
setz des geschichtlichen und gesellschaftlichen Lebens selbst. Sie würde,
meine ich, leer und undialektisch, wenn sie die Idee einer vollendeten
Reflexion denken wollte, in der sich die Gesellschaft aus dcm beständigen
Emanzipationsprozeß, in dem sie sich aus traditionellen Bindungen löst und
neue verbindliche Gültigkeiten aufbaut, zu einem endgültigen, freien und
rationalen Selbst besitz erhöbe.
Wenn man also von Emanzipation als Auflösung von Zwängen durch
Bewußtmachung spricht, so ist dies eine sehr relative Aussage. Ihr Inhalt
hängt davon ab, um welche Zwänge es sich handelt. Ocr individualpsycho-
logische Sozialisierungsprozeß ist, wie man weiß, mit Triebverdrängung
und Lustverzicht notwendig verknüpft. Das soziale und politische Zusam-
menleben der Menschen seinerseits ist durch gesellschaftliche Ordnungen
verfaßt, die einen beherrschenden Einfluß auf das, was als recht gilt, aus-
üben. Im individualpsychologischen Bereich kann es nun gewiß neurotische
Verzerrungen geben, die die eigene gesellschaftliche Kommunikationsfahig-
keit unmöglich machen. Hier kann man versuchen, durch Aufklärung und
Bewußtwerdung den Zwangscharakter kommunikativer Störungen aufzu-
lösen. Das bewirkt in Wahrheit nichts anderes als die WiedereinfUhrung des
Gestörten in die Normenwelt der Gesellschaft.

IS9 Vgl. meine Arbeit >Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, ind Kleine

Schriften I 179fT. [und inzwischen >Gibt es auf Erden ein Maß?, I und 11 in PhiJos. Rdsch.
31 (1984), S. 161-177 und 32 (1985), S. 1-26].
470 Anhänge

Nun gibt es im gesellschaftlich-geschichtlichen Leben Vergleichbares. Da


können Formen der Herrschaft als Zv.,rang erfahren werden, und gewiß
bedeutet ihre Bcwußtmachung, daß ein Bedürfnis nach einer neuenIdentität
mit dem Allgemeinen erwacht. Hegels Kritik der Positivität - des Christen-
tums, der deutschen Reichsverfassung, des überlebten Feudalismus - ist
daftir ein großartiges Beispiel. Aber gerade ein solches Beispiel vermag
meines Erachtcns nicht zu bestätigen, was meine Kritiker postulieren, daß
die Bewußtmachung bestehender Herrschaftsverhältnisse stets eine emanzi-
patorische Funktion ausübt. Bewußtmachung vermag auch die Verwand-
lung autoritativ eingeprägter Verhaltensweisen in Leitbilder zu bewirken,
die das eigene freie Verhalten bestimmen. Auch dafür ist Hegcl ein großarti-
ges Beispiel, das nur einem voreingenommenen Engagement gegenüber
restaurativ erscheint_ In Wahrheit beruht Tradition, die nicht die Verteidi-
gung des Herkömmlichen, sondern die Fortgestaltung des sittlich-sozialen
Lebens überhaupt ist, stets aufBevvußtmachung, die in Freiheit übernimmt.
Was der Reflexion untenverfbar ist, ist stets begrenzt gegenüber dem, was
durch vorgängige Prägung bestimmt ist. Es ist lllindheit gegenüber diesem
Tatbestand der menschlichen Endlichkeit, die zu der abstrakten Parole der
Aufklärung und der Verketzerung aller Autorität fUhrt - und es ist ein
schwerwiegendes Mißverständnis, daß aus der Anerkennung dieses Tatbe-
standes bereits eine politische Stellungnahme im Sinne der Verteidigung des
Bestehenden folgen soll. In Wahrheit wäre die Rede von Fortschritt oder von
Revolution - wie die von Bewahrung - nicht mehr als bloß,e Deklamation,
wenn sie ein abstraktes vorgängiges Heilswissen beanspruchte. Mag sein,
daß in revolutionären Umständen das Auftreten der Robespierres, der ab-
strakten Moralisten, die die Welt nach ihrer Vernunft neu einrichten wollen,
Beifall findet. Aber es ist ebenso gewiß, daß ihnen ihre Stunde schlägt. Ich
kann es nur fur eine verhängnisvolle Verwirrung der Geister halten, wenn
man den dialektischen Charakter aller Reflexion, ihren Bezug aufVorgege-
benes, an das Ideal einer totalen Aufgeklärtheit bindet. Das scheint mir
ebenso irrig wie das Ideal einer völligen rationalen Selbstklärung des Indivi-
duums, das seinen Antrieben und Motivationen in Kontrolliertheit und
Bewußtheit lebte.
Hier ist offenbar der Sinnbegriff der idealistischen Identitätsphilosophie
verhängnisvoll. Er verengt die hermeneutische Reflexionskompetenz auf
die sogenannte )kulturelle Überlieferung<, gleichsam in der Fortsetzung
Vicos, der allein das von Menschen Gemachte menschlich verständlich fand.
Die hermeneutische Reflexion, die meiner ganzen Untersuchung ihre Pointe
gibt, sucht aber gerade zu erweisen, daß ein solcher Begriff von Sinn-
Verstehen irrig ist, und ich habe in dieser Hinsicht auch Vicos berühmte
Bestimmung einschränken müssen_ 160 Sowohl Apel wie Habennas scheinen
160 [Vgl. Ges. WerkeBd. 1, S.24ff.].
Nachwort zur 3. Auflage 471

mir an diesem idealistischen Sinn von Sinn-Verstehen festzuhalten, der dem


ganzen Duktus meiner Analyse nicht entspricht. Es war nicht von ungefahr,
daß ich meine Untersuchung an der Erfahrung der Kunst orientierte, deren
>Sinn< [ur das begriffliche Verstehen nicht ausschöpfbar ist. Daß ich die
Fragestellung einer universalen philosophischen Hermeneutik an der Kritik
des ästhetischen Bewußtseins und an der Reflexion über die Kunst entwik-
kelte - und nicht sogleich an den sogenannten Geisteswissenschaften -,
bedeutete durchaus nicht ein Ausweichen vor der Methodenforderung der
Wissenschaft. Es bedeutet vielmehr eine erste Ausmessung der Reichweite,
die die hermeneutische Frage besitzt und die nicht so sehr gewisse Wissen-
schaften als hermeneutische auszeichnet, als eine allem Methodengebrauch
der Wissenschaft vorgeordnete Dimension ins Licht rückt. Dafür war die
Erfahrung der Kunst in mehrfachem Sinne wichtig. Was hat es mit der
Zeitüberlegenheit auf sich, die die Kunst als Inhalt unseres ästhetischen
Bildungsbewußtseins in Anspruch nimmt? Erhebt sich hier nicht der Zwei-
fel, ob dieses ästhetische Bewußtsein, das >Kunst< meint - wie der ins
Pseudoreligiöse gesteigerte Begriff >Kunst( selber-, eine ebensolche Verkür-
zung unserer Erfahrung am Kunstwerk ist, wie das historische Bewußtsein
und der Historismus eine Verkürzung der geschichtlichen Erfahrung sind?
Und ebenso unsachgemäß'
Das Problem konkretisiert sich an Kierkegaards Begriff der >Gleichzeitig-
keit<, der gerade nicht Allgegenwart im Sinne der historischen Vergegen-
wärtigung meint, sondern eine Aufgabe stellt, die ich später die der Applika-
tion genannt habe. Daß die von mir getroffene Unterscheidung von Gleich-
zeitigkeit und ästhetischer Simultaneität im Sinne Kierkegaards ist, wenn
auch natürlich in einer anderen Anwendung der Begriffe, möchte ich gegen
die Einrede von Bormanns 161 verteidigen. Wenn dieser sich auf eine Tage-
buchnotiz bezieht: )Die Lage der Gleichzeitigkeit wird zuwege gebracht«,
so sage ich dasselbe, wenn ich dafur }>total vermittelt« sage, d. h. bis zum
unmittelbaren Zugleichsein. Natürlich klingt das rur den, der den Sprachge-
brauch Kierkegaards bei seiner Polemik gegen die )Mediation< im Ohr hat,
wie ein Rückfall in Hege!. Man stößt hier auf typische Schwierigkeiten, die
die Geschlossenheit der hegelschen Systematik jedem Versuche bereitet,
gegenüber ihrem begriffiichen Zwang Abstand zu bewahren. Sie treffen
ebenso Kierkegaard wie meinen eigenen Versuch, mit Hilfe eines Kierke-
gaardschen Begriffs meinen Abstand gegen Hegel zu formulieren. So hielt
ich mich zunächst an Hegel, um gegenüber der naiven Begriffslosigkeit der
historischen Anschauung die hermeneutische Dimension der Vermittlung
von damals und heute einzuschärfen. In diesem Sinne habe ich Hegel mit

161 Jetzt in }Hermeneutik und Ideologiekritik(, hrsg. von]. Habermas, S. 88ff.


472 Anhänge

Schleiermacher konfrontiert 1fi2 • In Wahrheit folge ich aber noch einen Schritt
weiter der Hegclschen Einsicht in die Gcschichtlichkeit des Geistes. Hegels
Begriff der »Kunstreligioll« bezeichnet gcnau das, was meine hernlcneuti-
schen Zweifel am ästhetischen Bewußtsein bewegt: Kunst ist nicht als
Kunst, sondern als Religion, als Gegenwart des Göttlichen, die liöchste
Möglichkeit ihrer selbst. Wenn nun aber von Hegel alle Kunst ftir etwas
Vergangencs erklärt wird, wird sie gleichsam vom geschichtlich erinnern-
den Bnvußtscin aufgesogen, und als die vergangcne gewinnt sie ästhetische
Simultaneität. Einsicht in diesen Zusammenhang stellte mir die hermeneuti-
sclie Aufgabe, die wirkliche Erfahrung der Kunst- die nicht Kunst als Kunst
erfahrt - durch den Begriff der ästhetischen Nichtunterscheidung vom
ästhetischen Bewußtsein abzusetzen. Das scheint mir ein legitimes Problem,
das sich nicht aus Anbetung der Geschichte ergibt, sondern in unserer
Erfahrung von Kunst unübersehbar ist. Es ist eine falsche Alternative,
~Kunst( ursprünglich-zeitgenössisch - geschichtslos - oder als geschichtli-
ches Bildungserlebnis anzusehen'''. Hegcl hat recht. Ich kann daher auch
heute noch Oskar Beckers Kritik l64 nicht folgen, sowenig wie irgendeinem
historischen Objektivismus, der gewiß in Grenzen gültig ist: die hermeneu-
tische Integrationsaufgabe bleibt bestehen. Man kann sagen, daß das mehr
dem ethischen als dem religiösen Stadium Kierkegaards entspricht. Darin
dürfte von Barmann recht haben. Aber behält nicht das ethische Stadium
auch bei Kierkegaard eine gewisse begriffiiche Vorherrschaft und wird zwar
religiös transzendiert, aber doch nicht anders als >aufmerksam machend(?-
Hegels Ästhetik wird heute wieder sehr beachtet. Mit Recht: Für den
Konflikt zwischen dem überzeitlichen Anspruch des Ästhetischen und der
geschichtlichen Einmaligkeit von Werk und Welt stellt sie bis heute die
einzige wirkliche Auflösung dar, indem sie beides zusammen denkt und
damit Kunst als ganze )eritll1erlich< macht. Offenbar gehören hier zwei
Dinge zusammen: Daß die Kunst seit dem Auftreten des Christentums nicht
mehr die höchste Weise der Wahrheit, nicht mehr Offenbarkeit des Göttli-
chen ist und daher Reflexionskunst geworden ist - und die andere Seite, daß
das, wozu der Geist fortgeschritten ist, Vorstellung und Begriff, Offenba-
rungsreligion und Philosophie, gerade dazu fUhren, Kunst nunmehr als

'" [Vgl. Ges. WerkeBd.l. S.17lff.].


163 H. Kuhn, Wesen und Wirken des Kunstwerks (1960) scheint mir hier von dieser
abstrakten Alternative von Religion und Kunst gehemmt. Umgekehrt scheint mir W.
Benjamin Z"\var den grundsätzlichen Vergangenheitscharakter der Kunst anzuerkennen,
wenn ervon der )Aura, des Kunstwerks spricht. Doch proklamiert er für das Kunsewerkim
Zeitalter seiner technischen Reproduzicrbarkeit eine neue politische Funktion, die den Sinn
von Kunst ganz umprägt und gegen die Theodor Adorno in seiner ,Ästhetischen Theorie,
treffende Ein'\vendungen erhebt.
164 Philos. Rundschau 10, S. 225-37.
Nachwort zur 3. Auflage 473

nichts als Kunst zu begreifen. Der Übergang von der Reflexionskunst zur
Kunstreflexion, das Ineinanderfließen beider, scheint mir nicht eine Ver-
schleifung von Verschiedenem (Wieh1) 165, sondern macht den sachlich aus-
weis baren Gehalt von Hegels Einsicht aus. Die Reflexionskunst ist eben
nicht nur eine Spätphase des Zeitalers der Kunst, sondern ist schon der
Übergang in das Wissen, rur das Kunst erst zu Kunst wird.
Hier schließt sich die spezielle Frage an, die im allgemeinen bisher ver-
nachlässigt worden ist, ob es nicht die sprachlichen Künste innerhalb der
Hierarchie der Kunstgattungen auszeichnet, daß sie diesen Übergang zum
Ausweis bringen. 166 R. Wiehl hat überzeugend herausgearbeitet, daß im
Begriff der Handlung, der das Zentrum der dramatischen Kunstform bildet,
das Bindeglied zur Dramaturgie des dialektischen Denkens zu finden ist. In
der Tat ist das eine jener tiefsinnigen Einsichten Hegels, die durch die
begriffliche Systematisierung seiner Ästhetik hindurchschimmern. Nicht
minder bedeutsam scheint mir, daß dieser Übergang dort schon angelegt ist,
wo die Sprachlichkcit als solche erstmals heraustritt, und das ist der Fall der
Lyrik_ In ihr wird zwar nicht Handlung dargestellt, und an dem, was man
heute >sprachliche Handlung< nennt, die gewiß auch rur die Lyrik gilt,
drängt sich der Handlungscharakter nicht auf. Das macht ja in allen sprachli-
chen Künsten die rätselhafte Mühelosigkeit des Wortes aus, im Vergleich zu
der Widerständigkeit des Materials, in dem sich die bildenden Künste ver-
wirklichen müssen, daß man überhaupt nicht daran denkt, daß auch solches
Sprechen Handlung ist. Wiehl sagt mit Recht: »Lyrik ist Darstellung einer
reinen Sprachhandlung, nicht Darstellung einer Handlung in der Form einer
Sprachhandlung« (wie es das Drama ist)_ Das heißt aber: hier tritt Sprache als
Sprache in den Blick_
Damit kommt eine Beziehung von Wort und Begriffins Spiel, die der von
Wiehl herausgearbeiteten Beziehung von Drama und Dialektik noch VOf-
ausliegt. 167 Es ist das lyrische Gedicht, in dem die Sprache in ihrem reinen
Wesen erscheint, so daß in ihm alle Möglichkeiten von Sprache, auch die des
Begriffs, gleichsam eingehüllt schon da sind_ Hege! hat das Grundsätzliche
schon gesehen, wenn er erkennt, daß Sprachlichkeit im Unterschied zu dem
}Stoff< der anderen Künste Totalität bedeutet. Das ist eine Einsicht, die schon
Aristoteles veranlaßte, dem Hören - trotz allem Vorrang, den das Sehen
innerhalb der Sinne von Natur besitzt - gleichwohl einen eigenen Vorrang

165 R. Wiehl, Ober den HandlungsbegritT als Kategorie der Hege1scben Aesthetik.

Hegelstudien 6, insbes. S. 138.


In(, rVgl. meine Arbeiten) Ober den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach Wahrheit<

(Kl. Sehr. IV, S.21R-227: Ces. Werke Bd. R) und )Philosophie und Poesie( (ebd.
S. 241-248; Ces. Werke Bd. 8) und neuerdings ,Die Stellung der Poesie im System der
He~elschel1 Ästhetik<, Hege1-Studien 21 (1986): Ges. Werke Bd. 8J.
11>' [Vgl. Zum folgenden ,Text und Interpretation<, oben S. 330ff.1.

iI',
474 Anhänge

zuzusprechen, weil Hören die Sprache aufnimmt und damit alles, nicht nur
das Sichtbare.
Hege! hat freilich ftir diesen Vorrang der Sprachlichkeit die Lyrik nicht
besonders ausgezeichnet. Dafur stand er zu schr unter dem Ideal von Natür-
lichkeit, das Goethe ftir sein Zeitalter repräsentierte, und sah deshalb das
lyrische Gedicht nur als subjektiven Ausdruck der Innerlichkeit. In Wahrheit
aber ist das lyrische Wort in einem ausgezeichneten Sinne Sprache. Das zeigt
sich nicht zuletzt daran, daß das lyrische Wort sich zum reinen Ideal der
poesie pure erheben ließ. Das läßt zwar nicht an die ausgebildete Form der
Dialektik denken - wie das das Drama tut-, aber wohl an das aller Dialektik
zugrunde liegende Spekulative. In der Sprach bewegung des spekulativen
Gedankens wie in der Sprachbewegung des )reinen< Gedichtes erfuHt sich die
gleiche Selbstpräsenz des Geistes. Auch Adorno hat die Affinität zwischen
der lyrischen Aussage und der spekulativ-dialektischen mit Recht beachtet-
und vor allem: Mallarme selbst.
Es gibt noch einen anderen Hinweis, der in die gleiche Richtung deutet,
und das ist die Abstufung der Übersetzbarkeit, die den verschiedenen Dich-
tungsarten zukommt. Der Maßstab der >Handlung<, den Wiehl aus Hegel
selbst entnommen hat, ist diesem Maßstab gegenüber fast das Gegenteil.
Jedenfalls ist unstrittig, daß Lyrik desto \veniger übersetzbar ist,je mehr sie
sich dem Ideal der poesie pure nähert: Offenkundig ist die Verflechtung von
Klang und Bedeutung hier bis zur Unauflöslichkeit gesteigert.
In dieser Richtung habe ich seither weitergearbeitet. Gewiß nicht als
einziger. Die bei Wellek-Warren benutzte Unterscheidung von )denotativ
und konnotativ< fordert ja zu genauerer Analyse geradezu heraus. Ich bin bei
der Analyse der verschiedenen Weisen von Sprachlichkeit vor allem der
Bedeutung nachgegangen, die die Schriftlichkcit ftir die Idealität des Sprach-
lichen besitzt. Paul Ricoeur ist neuerdings in ähnlichen Überlegungen zu
dem gleichen Resultat gekommen, daß die Schriftlichkeit die Identität des
Sinnes bestätigt und die Ablösung von der psychologischen Seite des Spre-
chens bezeugt. So klärt sich - nebenbei bemerkt - von der Sache her auf,
"varum die Schleiernlacher folgende Hermeneutik, vor allem Dilthey, trotz
aller psychologischen Präokkupation die romantische Grundlegung der
Hermeneutik im lebendigen Dialog nicht übernahm, sondern zu den
)schriftlich fixierten Lebensäußerungeo< der älteren Hermeneutik zurück-
kehrte. Es entspricht dem, daß Dilthey in der Dichtungsauslegung den
Triumph der Hermeneutik sah. Demgegenüber habe ich als die Struktur
sprachlicher Verständigung das )Gespräch< ausgezeichnet und durch die
Dialektik von Frage und Antwort charakterisiert. Das bewährt sich duchaus
auch fur unser »Sein ZUlll Texte«. Die Fragen, die ein Text uns bei der
Interpretation aufgibt, lassen sich selber erst verstehen, wenn der Text
seinerseits als Antwort auf eine Frage verstanden wird.
Nachwort zur 3. Auflage 475

Das sprachliche Kunstwerk steht nicht ohne Grund dabei im Vorder-


grund. Es ~st - ganz unabhängig von der historischen Frage der oral poetry-
in einem prinzipielleren Sinne Sprachkunst als Literatur. Ich nenne Texte
solcher Art >eminente( Texte.
Was mich nun seitjahren beschäftigt und was ich in verschiedenen, noch
unveröffentlichten Vorträgen (,Bild und Wort<, )Das Sein des Gedichteten<,
Non der Wahrheit des WorteS<, ,Philosophieal, poctical, religious speaking<l
verfolgt habe, sind die besonderen hermeneutischen Probleme eminenter
Texte. Ein solcher Text fixiert die reine Sprachhandlung und hat daher ein
eminentes Verhältnis zur Schrift. In ihm ist Sprache so da, daß ihr Erkennt-
nisbezug aufGegebenes ebenso verschwebt wie der kommunikative Bezug
im Sinne der Anrede. Nun wird die allgemeine hermeneutische Grundsitua-
tion der Horizontbildung und der Horizontverschmelzung, die ich zu be-
grifflicher Ausdrücklichkeit entfaltet habe, auch auf solche eminente Texte
zutreffen. Ich bin weit davon entfernt zu leugnen, daß die Weise, wie ein
Kunstwerk in seine Zeit und Welt hineinspricht (was H.R. Jauss 168 seine
>Negativität( nennt). seine Bedeutung, d. h. die Art, wie es rur uns sprechend
ist, mitbestimmt. Das war ja die Pointe des wirkungsgeschichtlichen Be-
wußtseins, Werk und Wirkung als Einheit eines Sinnes zu denken. Was ich
als Horizontverschmclzung beschrieb, war die Vollzugsform dieser Einheit,
die dem Interpreten von einem ursprünglichen Sinne eines Werkes zu spre-
chen nicht erlaubt, ohne daß in das Verständnis desselben der eigene Sinn des
Interpreten immer schon mit eingegangen wäre. Man verkennt diese herme-
neutische Grundstruktur, wenn man etwa meint, man könne den Zirkel des
Verstehens durch historisch-kritische Methode )brechen< (so neuerdings
Kimmerle 1(9). Was Kimmerle so beschreibt, ist gar nichts anderes, als was
Heidegger nannte: »In der rechten Weise in den Zirkel hineinkommen«, d. h.
nicht in anachronistischer Aktualisierung oder unkritischer Zurechtbiegung
auf die eigenen Vor-Meinungen hin. Die Ausarbeitung des historischen
Horizonts eines Textes ist immer schon Horizontverschmelzung. Der histo-
rische Horizont kann nicht erst rur sich bereitgestellt werden. Das ist in der
neueren Hermeneutik als die Problematik des Vorverständnisses bekannt.
Nun spielt aber im Falle des eminenten Textes noch anderes hinein, das
hermeneutische Reflexion verlangt. Der >Ausfall< des unmittelbaren Wirk-
lichkeitsbezugs, rur den die englische, nominalistisch strukturierte Denk-
und Sprachgesinnung den bezeichnenden Ausdruck fiction hat, ist in Wahr-
heit keine Ausfallserscheinung, keine Abschwächung der Unmittelbarkeit
einer Sprachhandlung, sondern ganz im Gegenteil ihre >eminente< Verwirk-
16B H. R Jauss, ,Literaturgeschichte als Provokation( 1970 [und )Ästhetische Erfahrung

und literarische Hermeneucik(, Frankfurt 1979].


169 H. Kimmerle, Die Bedeutung der Geisteswissenschaft fur die Gesellschaft, 1971,

S. 71 ff.
476 Anhänge

liehung. Bei aller Literatur gilt das ebenso fur die in ihr enthaltene }Adressc<,
die nicht den Empfinger einer Mitteilung meint, sondern den Empfang-
lichen von heute und morgen. Schon klassische Tragödien, auch wenn sie
rur eine feste und festliche Szene gedichtet waren und gewiß in eine gesell-
schaftliche Gegenwart hineinsprachen, waren nicht wie Theaterrequisiten
rur eine einmalige Verwendung bestimmt oder blieben für neue Vcn;ven-
dung einstweilen im Magazin. Daß sie \viederaufgefUhrt \,,-'erden konnten
und sehr bald auch als Texte gelesen wurden, geschah gewißlich nicht aus
historischem Interesse, sondern weil sie sprechend blieben.
Es war kein bestimmter inhaltlicher Kanon von Klassizität, der mich
veranlaßte, das Klassische als die wirkungsgeschichtliche Kategorie schlecht-
hin auszuzeichnen. Ich wollte damit vielmehr die Besonderheit des Kunst-
werks und vor allem jedes eminenten Textes gegenüber anderer verstehbarer
und auszulegender Überlieferung auszeichnen. Die Dialektik von Frage und
Antwort, die ich entfaltet hatte, wird hier nicht ungültig, aber sie modifiziert
sich: Die ursprüngliche Frage, auf die ein Text als Antwort verstanden
werden muß, hat hier, wie oben angedeutet, von ihrem Ursprung her
Ursprungsüberlegenheit und -freiheit an sich. Das heißt wahrlich nicht, daß
das >klassische Werkt nur noch in hoffungsloser Konventionalität zugänglich
wäre und einen harmonisch beruhigten Begriff des >Allgemeinmenschli-
chen( verlangte. >Sprechend I ist es vielmehr immer nur dann, wenn es
mrsprünglich< spricht, d. h. >als wäre es mir selbst gesagte Das bedeutet
durchaus nicht, daß was so spricht, an einem außergeschichtlichenNormbe-
griff gemessen würde. Es ist umgekehrt: was so spricht, setzt dadurch ein
Maß. Hier liegt das Problem. Die ursprüngliche Frage, auf die der Text als
Antwort verstanden wird, nimmt in solchem Falle eine Sinnidentität in
Anspruch, die immer schon den Abstand zwischen Ursprung und Gegen-
wart vermittelt hat. Die hermeneutischen Differenzierungen, die ftir solche
Texte nötig sind, habe ich in meinem Züricher Vortrag von 1969 »Das Sein
des Gedichteten« angedeutet 170.
Der hermeneutische Aspekt scheint mir aber auch sonst ftir die ästhetische
Diskussion unserer Tage unentbehrlich. Gerade nachdem )Antikunst( zur
gesellschaftlichen Parole wurde, und ebenso Pop Art und Happening, und
auch bei traditionellem Gebaren Kunstformen versucht werden. die sich
gegen die traditionellen Vorstellungen von Werk und Werkeinheit kehren
und aller Eindeutigkeit der Verstehbarkeit ein Schnippchen schlagen möch-
ten, muß die hermeneutische Reflexion fragen, was es mit solchen Prätenti-
onen auf sich hat. Die Antwort wird sein, daß der hermeneutische Begriff
des Werks seine Erfüllung behält, solange in einer solchen Produktion
überhaupt Identifizierbarkeit, Wiederholung und Wiederholungs würdig-

170 Vgl. jetzt auch >Wahrheit und Dichtung, in Zeitwende 6 (1'971) [Ges. Werke Bd. 81.
Nachwort zur 3. Auflage 477

keit eingeschlossen ist. Solange eine solche Produktion als die, die sie sein
will, dem hermeneutischen Grundverhalt gehorcht. etwas als etwas zu
verstehen, ist die Auffassungsform für sie keineswegs eine radikal neue.
Solche f>Kunst« unterscheidet sich in Wahrheit gar nicht von gewissen, seit
alters anerkannten Kunstformen transitorischer Art, z. B. dem Kunst-Tanz.
Dessen Rang und Qualitätsanspruch ist ja auch von der Art, daß selbst noch
die Improvisation, die nie wiederholt wird, >gut< sein will, und das heißt
bereits: idealiter wiederholbar und in der Wiederholung sich als Kunst
bestätigend. Hier besteht eine scharf zu ziehende Grenze zum bloßen Trick
oder zum Taschenspielerkunststück. Auch an solchem ist etwas zu verste-
hen. Es kann begriffen, es kann nachgemacht werden. Es \vil1 sogar auch
gekonnt und gut sein. Aber seine Wiederholung wird, mit Hegcl zu reden,
f>schal wie ein eingesehenes Taschenspielerkunststück«. Die Übergänge
vom Kunstwerk zum Kunststück mögen noch so fließend scheinen und die
Zeitgenossen mögen oft nicht wissen, ob der Reiz einer Produktion der der
Verblüffung oder der einer künstlerischen Bereicherung ist. Auch begegnen
künstlerische Mittel oft genug als Mittel in bloßen Handlungszusammen-
hängen, z. B. in der Plakatkunst und in anderen Formen geschäftlicher und
politischer Werbung.
Von solchen Funktionen künstlerischer Mittel bleibt das, was wir ein
Kunstwerk nennen, wohl unterschieden. Auch wenn etwa die Götterstatue,
das Chorlied, die attische Tragödie und Komödie innerhalb von Kultord-
nungen begegnen, und überhaupt einjedes >Werk< einem Lebenszusammen-
hang ursprünglich zugehört, der inzwischen vergangen ist, so meint doch
die Lehre von der ästhetischen Nicht-Unterscheidung, daß solcher vergan-
gener Bezug in dem Werk selber sozusagen einbehalten ist. Auch in seinem
Ursprung hatte es ja seine> Welt< in sich versammelt und war deshalb als es
selbst, als die Statue des Phidias, die Tragödie des Aischylos, die Motette
Bachs >gemeint<. Die hermeneutische Konstitution der Werkeinheit des
Kunstwerks ist gegenüber allen gesellschaftlichen Veränderungen des
Kunstbetriebes invariant. Das gilt auch noch gegenüber der Emporsteige-
rung der Kunst zur Bildungsreligion, die ftir das bürgerliche Zeitalter be-
zeichnend wurde. Auch eine marxistische Literaturbetrachtung muß solche
Invarianz beherzigen, wie etwa Lucien Goldmann mit Recht betont hat l7i _
Die Kunst ist nicht einfach ein Werkzeug gesellschaftspolitischen Wollens-
wenn sie wirklich Kunst ist und nicht, wenn sie als Werkzeug gewollt ist,
dokumentiert sie eine gesellschaftliche Wirklichkeit.
Um über den Begriff des Ästhetischen, der der bürgerlichen Bildungsrcli-
gion entspricht, hinauszukommen und nicht um klassizistische Ideale zu
verteidigen, habe ich in meinen Untersuchungen >klassische< Begriffe wie

m L. Goldmann, Dialektische Untersuchungen, 1968.


478 Anhänge

>Mimesis< oder >Repräsentation< ins Spiel gebracht. Man hat das als eine Art
Rückfall in einen von der modernen Kunstauffassung endgültig überholten
Platonismus verstanden. Auch das scheint mir nicht so einfach. Die Lehre
von der Wiedererkennung, auf der alle mimetische Darstellung beruht, stellt
nur einen ersten Wink dar, den Seinsanspruch künstlerischer Darstellung
richtig zu fassen. Derselbe Aristotclcs, der aus der Freude der Erkenntnis die
Kunst der Mimesis ableitet, sicht doch den Dichter gegenüber dem Histori-
ker dadurch ausgezeichnet, daß er die Dinge nicht so darstelle, wie sie
geschehen seien, sondern wie sie geschehen könnten. Er spricht damit der
Poesie eine Allgemeinheit zu, die nichts mit der substantialistischen Meta-
physik einer klassizistischen Nachahmungsästhetik zu tun hat. Es ist viel-
mehr die Dimension des Möglichen - und damit auch die der Kritik an der
Wirklichkeit (von der uns wahrlich die antike Komödie einen kräftigen
Geschmack gibt), in dic die aristotelische Begriffsbildung hineinweist und
deren hermeneutische Legitimität mir unangefochten scheint - wenn sich
auch noch so viel klassizistische Nachahmungstheorie an Aristoteles ange-
schlossen hat.
Doch ich breche ab. Das Gespräch, das im Gange ist, entzieht sich der
Festlegung. Ein schlechter Hermeneutiker, der sich einbildet, er könnte oder
er müßte das letzte Wort behalten.
31. Selbstdarstellung
Hans-Georg Gadamer

* 11. 2. 1900
(abgeschlossen 1975)

Als ich im Jahre 1918 mit dem Reifezeugnis das Gymnasium zum Heiligen
Geist in Breslau verließ und, noch im letzten Jahre des Ersten Weltkrieges,
mich an der Breslauer Universität umzusehen begann, war es keineswegs
entschieden, daß ich im akademischen fach der Philosophie meinen Weg
gehen würde.
Mein Vater war Naturforscher und allem Bücherwissen abhold, obwohl
er seinen Horaz trefflich gelernt hatte. Er hatte daher während meiner
Kindheit auf mannigfache Weise versucht, mich ftif die N aturwissenschaf-
tcn zu interessieren, und war über seinen Mißerfolg recht enttäuscht. Denn
daß ich es mit den }Schwätzprofessorcll< halten würde, waI vom Beginn
meines Studiums an klar. Er ließ mich zwar gewähren, aber war zeit seines
Lebens recht unzufrieden mit mir.
Studium damals war wie der Beginn einer langen Odyssee. Vieles zog
einen an, von vielem kostete man etwas, und ,venn am Ende nicht meine
literaturwissenschaftlichen, historischen und kunstgeschichtlichen Neigun-
gen die Oberhand behielten, sondern das philosophische Interesse, so war
das weniger eine Abkehr von dem einen und eine Hinwendung zu dem
anderen, als der Weg eines langsamen Eindringens in disziplinierte Arbeit
überhaupt. In der Verwirrung, die der Erste Weltkrieg und sein Ende über
die deutsche Szene gebracht hatte, war die fraglose Einformung in eine
fortbestehende Tradition nicht mehr möglich. So wurde allein schon die
Ratlosigkeit ein Antrieb zu philosophischen Fragen.
Auch im Bereich der Philosophie war freilich ein bloßes Fortsetzen des-
sen, was die ältere Generation geschaffen hatte, rur uns Jüngere nicht mehr
angängig. Der Neukantianismus, der bis dahin eine echte, wenn auch um-
strittene Weltgeltung besaß, war in den Materialschlachten des Stellungs-
krieges ebenso zugrunde gegangen wie das stolze Ku1turbewußtsein des
liberalen Zeitalters und sein auf Wissenschaft gegründeter Fortschrittsglau-
be. Wir, die wir damals jung waren, suchten eine neue Orientierung in einer
480 Anhänge

desorientierten Welt. Dabei V,laren wir praktisch auf die innerdeutsche Szene
beschränkt, in der Verbitterung und Neuerungssucht, Armut und Hoff-
nungslosigkeit und der ungebrochene Lebensv,rille der Jugend miteinander
im Streite lagen. Ihr kultureller Ausdruck war eindeutig. Ocr Expressionis-
mus in Leben und Kunst wurde die beherrschende Macht. Während die
Naturwissenschaften ihren Aufschwung fortsetzten, der insbesondere in der
Gestalt der Einsteinsehen Relativitätstheorie von sich reden machte, war es
in den weltanschaulich bedingten Gebieten des Schrifttums und der Wissen-
schaft eine wahre Katastrophenstimmung, die um sich griff und den Bruch
mit den alten Traditionen betrieb. Der Zusammenbruch des deutschen
Idealismus (so hieß ein damals oft zitiertes Buch von Paul Ernst) war nur die
eine, die akademische Seite des neuen Zeitgeftihls. Die andere weit umfas-
sendere fand ihren Ausdruck in dem sensationellen Erfolg von Osv.;ald
Spenglers ))Untergang des Abendlandes«, dieser Romanze aus Wissenschaft
und welthistorischer Phantasie, »bewundert viel und viel gescholten« -und
am Ende ebensosehr der Niederschlag einer v.relthistorischcn Stimmung \vie
ein eigener Antrieb zur InfragesteJ1ung des neuzeitlichen Fortschrittsglau-
bens und seiner stolzen Leistungsidealc. In dieser Lage tat auf mich eine ganz
zweitrangige Schrift eine geradezu revolutionäre Wirkung. Es war das Buch
von Theodor Lessing (der in späterer, noch mehr verwirrter Zeit einem
Attentat von nationalistischer Seite zum Opfer fallen sollte) ))Europa und
Asien«, das das gesamte europäische Leistungsdenken von der Weisheit des
Ostens her in Frage stellte. Erstmals relativierte sich mir damals der allum-
fassende Horizont, in den ich durch Herkunft, Erziehung, Schule und mich
umgehende Welt hineingewachsen war. So etwas wie Denken begann.
Bedeutende Schriftsteller stellten eine gewisse erste Anleitung dar. Ich erin-
nere mich des gewaltigen Eindrucks, den Thomas Manns »)Betrachtungen
eines Unpolitischen({ schon auf den Primaner gemacht hatten. Die sch\vär-
merische Entgegensetzung von Kunst und Leben, die aus Tonio Kröger
sprach, rührte mich an und der schwermütige Klang in Hermann Hesses
frühen Romanen bezauberte mich.
Eine erste Einftihrung in die Kunst des begrifflichen Denkens empfing ich
von Richard Hönigswald, dessen wohlziselierte Dialektik mit Eleganz,
wenn auch nicht ohne eine gewisse Eintönigkeit die transzendental-idealisti-
sche Position des Neukantianismus gegen allen Psychologismus verteidigte.
Seine Vorlesung über »)Grundfragen der Erkenntnistheorie« stenographierte
ich mit und übertrug sie dann. Die beiden Hefte überließ ich inzwischen dem
von Hans Wagner ins Leben gerufenen Hönigswald-Archiv. Sie waren eine
gute Einftihrung in die Transzendentalphilosophie. So kam ich schon mit
einer gewissen Vorbereitung im Jahre 1919 nach Marburg.
Dort sah ich mich bald mit neuen Studienerfahrungen konfrontiert. Denn
anders als die Universitäten in den Großstädten ftihrten die >kleinen( Univer-
Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer 481

sitäten damals noch ein wirkliches akademisches Leben, ein fLeben in Ideen\
in Humboldts Sinne, und in der philosophischen Fakultät gab es überall, in
jedem Fach, bei jedem Professor, einen )Kreis<, so daß man in vielseitige
Interessen hineingezogen wurde. Damals begann in Marburg die Kritik an
der historischen Theologie, die im Anschluß an Barths Römerbrief-Kom_
mentar durch die sogenannte dialektische Theologie vorgetragen wurde.
Damals wurde mehr und mehr unter den jungen Leuten am Mcthodologis-
mus der neukantianischen Schulen Kritik geübt und demgegenüber Hus-
serls phänomenologische Deskriptionskunst gepriesen. Vor allem aber
durchdrang die Lebensphilosophie, hinter der das europäische Ereignis
Friedrich Nietzsehe stand, unser ganzes Weltgeftihl, und in Verbindung
damit beschäftigte das Problem des historischen Relativismus, wie es im
Hinblick auf Wilhelm Dilthey und Ernst Troeltsch diskutiert wurde, die
jungen Gemüter.
Dazu kam im besonderen, daß damals der Kreis um den Dichter Stefan
George in die akademische Welt einzudringen begann. Es waren vor allem
die höchst wirksamen und faszinierenden Bücher Friedrich Gundolfs, die
eine neue kunstvolle Sinnlichkeit in den wissenschaftlichen Umgang mit
Dichtung brachten. Überhaupt war alles, was aus diesem Kreise kam,
Gundolfs Bücher so gut wie das Nietzsche-Buch VOn Ernst Bertraln, Wol-
ters' pamphletkundige Rhetorik, Salins kristallinische Feinheit und mit be-
sonderer Ausdrücklichkeit der deklamatorische Angriff Erich von Kahlers
auf Max Webers berühmte Rede über » Wissenschaft als Beruf«(, eine einzige
große Provokation. Es waren Stimmen einer entschlossenen Kulturkritik.
Aber anders als ähnliche Klänge von anderen Seiten, die angesichts der
typischen Unbefriedigung studentischer Anfänger, wie ich einer war, ein
gewisses Gehör fanden, hatte man hier das GefUhl, daß etwas daran war.
Eine Macht stand hinter den oft monotonen Deklamationen. Daß ein Dich-
ter wie George mit dem magischen Klang seiner Verse und der Wucht seiner
Person eine so gewaltige Formungswirkung auf Menschen ausübte, blieb
dem nachdenklichen Gemüt eine bleibende Frage und stellte ftir das Be-
griffsspiel des philosophischen Studiums ein nie ganz vergessenes Korrektiv
dar.
Überhaupt konnte ich mich dem nicht verschließen, daß die Erfahrung
der Kunst die Philosophie etwas angeht. Daß die Kunst das wahre Organon
der Philosophie sei, wenn nicht gar ihr überlegener Widerpart, das war eine
Wahrheit, die der Philosophie der deutschen Romantik bis ans Ende der
idealistischen Ära ihre umfassende Aufgabe gestellt hatte. Die Universitäts-
philosophie der nachhegelschen Epoche hatte die Verkennung dieser Wahr-
heit mit ihrer eigenen Verödung zu bezahlen. Das galt und gilt rur den
Neukantianismus so gut wie für den neuen Positivismus bis heute. Diese
Wahrheit wiederzugewinnen, wies uns unser geschichtliches Erbe an.
482 Anhänge

Gewiß war es keine befriedigende Auskunft, sich gegen die Zweifel des
historischen Relativismus, die den begrifflichen Wahrheits anspruch der Phi-
losophie grundsätzlich in Frage stellten, auf die Wahrheit der Kunst zu
berufen. Dies Zeugnis ist einerseits zu stark. Denn niemand wird den
Fortschrittsglauben der Wissenschaft überhaupt je auf die Gipfel der Kunst
ausdehnen wollen und etwa in Shakespeare einen Fortschritt über Sophokles
oder in Michelangelo einen Fortschritt über Phidias sehen. Andererseits ist
das Zeugnis der Kunst aber auch zu schwach, sofern das Kunstwerk die
Wahrheit, die es verkörpert, dem Begriff vorenthält, In jedem Falle war die
Bildungsgestalt des ästhetischen Bewußtseins ebensosehr im Verblassen wie
die des historischen Bewußtseins und seines Denkens in )Weltanschauun-
gen<. Das hieß aber nicht, daß die Kunst, auch nicht, daß die Begegnung mit
geschichtlichen Denktraditionen ihre Faszination verlor. Im Gegenteil, die
Aussage der Kunst wie die der großen Philosophen erhob nun erst recht
einen verwirrenden, unabweisbaren Anspruch auf Wahrheit, der sich durch
keine >Problemgeschichte< neutralisieren und unter die Gesetze strenger
Wissenschaftlichkeit und methodischen Fortschritts beugen ließ. Unter dem
Einfluß einer neuen Kierkegaard-Rezeption nannte sich das damals in
Deutschland >existenziell<. Es ging um Wahrheit, die nicht so sehr in allge-
meinen Aussagen oder Erkenntnissen als in der Unmittelbarkeit des eigenen
Erlebens und in der Unvertretbarkeit der eigenen Existenz ihren Ausweis
haben sollte. Dostojewskij vor allem schien uns davon zu wissen. Die roten
Piper-Bändc der Dostojewskijschen Romane flammten auf jedem Schreib-
tisch. Die Briefe van Goghs, Kierkegaards )Entweder-Oder<, das er Hegd
entgegenhielt, zogen uns an, und hinter all den Kühnheiten und Gewagthei-
ten unseres existenziellen Engagements stand - eine noch kaum sichtbare
Bedrohung des romantischen Traditionalismus unserer Bildungskultur - die
Riesengestalt Frieclrich Nietzsches mit seiner ekstatischen Kritik an allen,
aber auch an allen Illusionen des Selbstbewußtseins, Wo war der Denker,
dessen philosophische Kraft diesen Anstößen gewachsen war?
Auch in der Marburger Schule brach sich das neue Zeitgeftihl Bahn. Der
musische Enthusiasmus, mit dem der scharfe Methodologe der Marburger
Schule, Paul Natorp, auf seine alten Tage in die mystische Unsagbarkcit des
Urkonkreten einzudringen suchte und außer Plato und Dostojewskij, Beet-
hoven und Rabindranath Tagore, die mystische Tradition von Plotin und
Meister Eckhart- bis zu den Quäkern - beschwor, hinterließ seine Eindrük-
ke, und nicht minder die wilde Dämonie, mit der Max Scheler - als Vor-
tragsgast in Marburg - seine durchdringende phänomenologische Bega-
bung demonstrierte, die er auf immer neuen, unerwarteten Feldern bewies.
Dazu kam der kühle Scharfsinn, mit dem Nicolai Hartmann seine eigene
idealistische Vergangenheit durch kritische Argumentation abzustreifen
suchte, ein Denker und Lehrer von imponierender Beharrlichkeit. Als ich
Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer 483

meine Plato-Dissertation schrieb und 1922 promoviert wurde, viel zujung,


stand ich vorwiegend unter dem Einfluß Nicolai Hartmanns, der zu Natorps
Systematik idealistischen Stils in Opposition getreten war. Was in uns lebte,
war die Erwartung einer philosophischen Neuorientierung, die sich insbe-
sondere an das dunkle Zauberwort ,Phänomenologie, knüpfte. Aber nach-
dem selbst Husserl, der mit all seinem analytischen Genie und seiner uner-
müdlichen deskriptiven Geduld stets aufletzte Evidenz drang, keine bessere
philosophische Anlehnung gefunden hatte als die beim transzendentalen
Idealismus neukantischer Prägung - von woher sollte Denkhilfe kommen?
Heidegger brachte sie. Andere begriffen von ihm aus, was Marx, andere,
was Freud, wir alle am Ende, was Nietzsehe war. Mir selbst ging an
Heidegger auf, daß wir jetzt erst das Philosophieren der Griechen )wieder-
holen< konnten, jetzt, nachdem die von Hegel geschriebene, von der Pro-
blemgeschichte des Neukantianismus ausgeschriebene Geschichte der Phi-
losophie ihr fimdatnentutn inconcussum, das Selbst bewußtsein, eingebüßt
hatte.
Von nun an hatte ich eine Ahnung von dem, was ich wollte - freilich ging
es nicht um einen neuen, allumfassenden System gedanken. Kierkegaards
Hegel-Kritik war nicht vergessen. Einen ersten Niederschlag fand die neue
Reduktion der Philosophie auf tragende Grunderfahrungen der menschli-
chen Existenz, die es jenseits allen Historismus aufzuklären galt, in meinem
Aufsatz in der Festschrift zu Paul Natorps 70. Geburtstag ,Zur Systemidee
in der Philosophie, (1924). Eine Art Dokument meiner Unreife, war es auch
ein Zeugnis meines neuen Engagements und der Inspiration, die mir an
Heidegger geworden war. Gelegentlich hat man diesen Aufsatz als eine
Antizipation der heideggerschen Wendung gegen den transzendentalen
Idealismus gedeutet - im historischen Sinne ganz zu unrecht. Das Körnchen
Wahrheit darin war höchstens, daß die paar Monate, die ich im Sommer
1923 in Freiburg bei Heidegger gewesen war, kaum zu solcher )Inspiration(
geflihrt hätten, wenn nicht schon allerhand daflir bereitlag. Jedenfalls war es
die Anlehnung an Heidegger, die mir gegenüber den Marburger Lehrern,
Natorps umfassenden Systemkonstruktionen und dem naiven Objektivis-
mus der Harttnannschen Kategorialforschung, Abstand zu gewinnen erlaub-
te. Aber der Aufsatz war recht vorlautes Zeug.
Ich habe erst, als ich mehr wußte, schweigen gelernt. Bei meiner Habilita-
tion 1928 hatte ich außer dem genannten Aufsatz nur noch einen ebenso
vorlauten Logos-Aufsatz von 1923 über Hartmanns ,Metaphysik der Er-
kenntnis< als philosophische Publikation vorzulegen. Allerdings hatte ich
inzwischen klassische Philologie studiert, und meine Aufnahmearbeit in das
philologische Seminar Paul Friedländers >Der aristotelische Protreptikos
und die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung der aristotelischen Ethik,
habe ich später zu einem Aufsatz ausgebaut, den Richard Heinze ftir den
484 Anhänge

,Hermes< angenommen hatte - eine Jacger-Kritik, deren später Erfolg mir


schließlicli im Kreise der Philologen Anerkennung verschaffte - und das,
obwohl ich mich als Schüler Heideggers bekannte.
Was war es, was mich und andere an Heidegger so anzog? Natürlich
wußte ich das damals nicht zu sagen. Heute stellt es sich mir so dar: Hier
wurden die Gedankenbildungen der philosophischen Tradition lebendig,
weil sie als Antworten auf wirkliche Fragen verstanden wurden. Die Auf-
deckung ihrer Motivationsgeschichte verlieh diesen Fragen etwas Unaus-
\veichlichcs. Verstandene Fragen können nicht einfach zur Kenntnis genom-
men werden. Sie werden zu eigenen Fragen.
Es war zwar auch der Anspruch der neukantianischen Problemgeschichte
gewesen, in den Problemen die eigenen Fragen wiederzuerkennen. Aber der
Anspruch dieser überzeitlichen, >ewigen< Probleme, sich in immer neuen
systematischen Zusammenhängen zu wiederholen, war unausgewiesen,
und in Wahrheit waren diese }identischen< Probleme mit voller Naivität aus
dem Baumaterial der idealistischen und neukantianischen Philosophie ent-
wendet. Gegen solche angebliche Überzeitlichkeit war der Einwand der
historisch-relativistischen Skepsis überzeugend und ließ sich nicht abweh-
ren. Erst als ich an Heidegger lernte, das historische Denken in die Wieder-
gev·.rinnung der Fragestellungen der Tradition einzubringen, machte das die
alten Fragen so verständlich und lebendig, daß sie zu den eigenen wurden.
Was ich damit beschreibe, ist die hermeneutische Grunderfahrung, wie ich
das heute nennen würde.
Vor allem schlug uns die Intensität in ihren Bann, mit der Heidegger die
griechische Philosophie beschwor. Daß sie mehr ein Gegenbild als ein
Vorbild seines eigenen Fragens sein sollte, wurde uns kaum bewußt. Hei-
deggers Destruktion der Metaphysik galt jedoch nicht nur dem Bewußt-
seinsidealismus der Neuzeit, sondern ebenso seinen Ursprüngen in der
griechischen Metaphysik. Seine radikale Kritik stellte die Christlichkeit der
Theologie wie die Wissenschaftlichkeit der Philosophie in Frage. Gegenüber
der Blutlosigkeit akademischen Philosophierens, das sich in einer entfrem-
deten kantischen oder hegelschen Sprache bewegte und immer aufs neue den
transzendentalen Idealismus zu vol1enden oder zu überwinden strebte, er-
schienen Plato und Aristotcles mit einem Male als Eideshelfer des Philo-
sophierens ftir jeden, dem die System spiele der akademischen Philosophie
unglaubwürdig geworden waren - unglaubwürdig auch in der Form jenes
offenen Systems der Probleme, Kategorien, Werte, auf das hin phänomeno-
logische Wesenforschung oder problemgeschichtlich begründete Katego-
rialanalyse sich verstanden. An den Griechen ließ es sich lernen, daß das
Denken der Philosophie nicht dem systematischen Leitgedanken einer
Letztbegründung in einem obersten Grundsatz folgen muß, um Rechen-
schaft geben zu können, sondern immer schon unter einer Leitung steht: es
Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer 485
hat im Weiterdenken ursprünglicher Welterfahrung die Begriffs- und An-
schauungskraft der Sprache, in der wir leben, zu Ende zu denken. Das zu
lehren, schien mir das Geheimnis des platonischen Dialogs.
Unter den deutschen Platoforschern war es damals vor al1em Julius Sten-
zel, dessen Arbeiten in ähnliche Richtung wiesen, zumal, da er angesichts
der Aporien des Selbstbewußtseins, in die sich der Idealismus und seine
Kritiker in gleicher Weise verstrickt sahen, an den Griechen die )Abdämp-
fung der Subjektivität< beobachtete. Mir erschien dies gleichfalls, und selbst
schon, bevor Heidcggcr mich zu belehren begann, als die rätselhafte Überle-
genheit der Griechen, daß sie aus se1bstvergessener Hingabe an das Denken
sich der Bewegung des Gedankens in maßloser Unschuld überließen.
Schon früh hatte ich - aus dem gleichen Grunde - an Hegel Interesse
gefaßt, soweit ich ihn verstand, und gerade weil ich ihn nur so weit verstand.
Vor al1em seine >Logik< hatte rur mich wirklich et\:vas von griechischer
Unschuld, und bot mir - ineins mit den genialen, nur leider miserabel
edierten Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie - die Brücke zu einem
nichthistoristischen, sondern wahrhaft spekulativen Verständnis des plato-
nischen und aristotelischen Denkens.
Das Wichtigste aber lernte ich von Heidegger. Da \"lar vor allem das erste
Seminar, an dem ich teilnahm. 1923, noch in Freiburg, über das sechste
Buch der Nikomachischen Ethik. Damals wurde ftir mich die ,PhronesiS<,
die Arete der )praktischen Vernunft<, eines allo eidos gnoseos, einer )anderen
Art von Einsicht<, ein wahres Zauberwort. Zwar forderte es einen unmittc1-
bar heraus, als Heidegger eines Tages die Abgrenzung von Technc und
Phronesis analysierte und bei dem Satz: phroneseos de ouk esti lahel (in der
Vernünftigkeit gibt es keine Vcrgeßlichkeit) erklärte: »Das ist das Gewis-
sen. « Aber diese pädagogisch spontane Übertreibung visierte den entschei-
denden Punkt an, von dem aus auch Heidegger selber später in >Sein und
Zeit< die neue Stellung der Seins frage vorbereitet hat. Man denke an Wen-
dungen wie >Gewissen-Habenwollenc
Mir war damals keineswegs klar, daß man Heideggers Bemerkung noch
in ganz anderer Weise verstehen konnte, nämlich im Sinne einer geheimen
Kritik an den Griechen. Dann hieß dieses Wort: nur als eine von keinem
Vergessen bedrohte Wissens-Gewißheit vermochte das griechische Denken
das ursprünglich menschliche Phänomen des Gewissens zu denken. - Mir
war durch Heideggers provokative Bemerkung jedenfalls ein Weg gezeigt
worden, fremde Fragen zu eigenen werden zu lassen und sich zugleich die
Vorgreiflichkcit von Begriffen bewußt zu machen.
Der zweite wesentliche Punkt der Belehrung war, daß Heidegger mir bei
Aristoteles (in einigen privaten Zusammenkünften) am Text demonstrierte,

1 [Vgl. IPraktisches Wissen(, Ges. Werke Bd. 5, S. 230-2481.


486 Anhänge

wie haltlos der angebliche )Realismus( des Aristote1cs war und daß Aristote-
!es auf dem gleichen Boden des Logos stand, den Plato mit seiner Sokrates-
nachfolge bereitet hatte, Jahre später hat uns Heidegger- im Anschluß an ein
von mir gehaltenes Seminar-Referat - auseinandergesetzt, daß dieser Plato
und Aristotelcs gemeinsame neue Boden des dialektischen Philosophierens
nicht nur die Kategorienlehre des Aristoteles trägt, sondern auch seine
Begriffe von Dynamis und Energeia aufzuschlüsseln vermöge (was Walter
Bröcker in seinem Aristoteles-Buch später durchgeführt hat),
So sah meine erstc praktische Einftihrung in die Universalität der Herme-
neutik aus,
Daß es das war, wurde mir freilich nicht sogleich klar. Erst langsam
wuchs die Einsicht, daß der uns auf den Leib gerückte Aristotcles, dessen
begriffliche Präzision auf ungeahnte Weise mit Anschauung, Erfahrung,
Wirklichkeits nähe bis an den Rand geftillt war, nicht einfach das neue
Denken selber aussprach. Heidegger folgte vielmehr dem Prinzip des plato-
nischen )Sophistes(, den Gegner stärker zu machen, so gut, daß er uns fast
wie ein Aristoteles redit'ivu5 erschien, der durch Kraft der Anschauung und
Kühnheit eigener originaler Begriffsbildung alles in seinen Bann schlug.
Immerhin war diese Identifikation, zu der Heideggers Interpretationen uns
verführten, für mich eine gewaltige Herausforderung. Ich wurde dessen
inne, daß meine bisherigen Studien, die mich durch viele Gebiete, insbeson-
dere Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte geführt hatten, selbst auf
dem Felde der antiken Philosophie nichts taugten, auf dem ich meine Disser-
tation geschrieben hatte. So begann ich ein neues planmäßiges Studium der
klassischen Philologie (unter der Leitung Paul Friedländers), bei dem mich
neben den griechischen Philosophen vor allem der durch den damals neu
zugänglich gewordenen Hölderlin angestrahlte Pindar anzog - und die
Rhetorik, deren zur Philosophie komplementäre Funktion mir damals auf-
ging und die mich bis in die Ausarbeitung meiner philosophischen Herme-
neutik begleitet hat. Alles in allem verdanke ich diesen Studien, daß ich mir
die kraftvolle Identifikation, zu der einen Heideggers Denken einlud, mei-
nerseits immer schwerer machte. Im Innewerden der Andersheit der Grie-
chen gleichwohl zu ihnen zu stehen, in ihrem Anderssein Wahrheiten zu
entdecken, die vielleicht verschüttet, vielleicht aber heute noch in unbewäl-
tigter Weise wirksam waren, wurde das mir mehr oder minder bewußte
Leitmotiv aller meiner Studien. Denn in Heideggers Deutung der Griechen
lag ein Problem, das mich insbesondere nach )Sein und Zeit< nicht mehr
losließ. Gewiß war es für Heideggers Absicht damals möglich, dem existen-
zialen Begriff von )Dasein< die pure Vorhandenheit als Gegenbegriff und
äußerstes Derivat zuzuordnen, ohne Z\vischen dem griechischen Seins ver-
ständnis und dem )Gegenstand der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung(
zu differenzieren. Aber es lag darin eine Provokation, und ich folgte ihr so
Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamcr 487

weit, daß ich mich aufHeidcggers Anregung hin in die aristotelische Phvsik
und die Entstehung der modernen Wissenschaft, vor allem in Galilei, ~er­
tiefte. Teile eines unvollendeten Physik-Kommentars werden vielleicht
noch einmal pub1iziert werden.
Die hermeneutische Situation, von der ich ausging, war durch das Schei-
tern des idealistisch-romantischen Restaurationsversuchs gegeben. Der An-
spruch,in die Einheit der philosophischen Wissenschaften auch die empiri-
schen Wissenschaften der Neuzeit zu integrieren, der in dem Begriff einer
lspekulativen Physik< (im Titel einer Zeitschrift!) seinen Ausdruck fand, war
unerftillbar.
Es konnte nicht um eine Wiederholung dieses Versuchs gehen. Aber die
Gründe dieser Unmöglichkeit klarer zu erkennen, lllußte sowohl dem Wis-
senschaftsverständnis der Neuzeit ein schärferes Profil geben als auch dem
gt;iechischen Begriff von >Wissenschaft<, den der deutsche Idea1ismus noch
einmal zu erneuern unternommen hatte. Daß Kants >Kritik der Urteilskraft<,
insbesondere die der lteleologischen Urteilskraft<, in diesem Problcmzu-
sammenhang bedeutsam wurde, versteht sich von selbst, und manche mei-
ner Schüler haben später von da aus weitergearbeitet.
für die griechische Wissenschaftsgeschichte gilt ja offenbar anderes als für
die Geschichte der modernen Wissenschaft. Damals ist in platonischer Zeit
der Versuch gelungen, den Weg der Aufklärung, der Forschung und der
Welterklärung in die Traditionswelt griechischer Religion und griechischer
Lebensanschauung zurückzubinden. Plato und Aristoteles, und nicht De-
mokrit, haben die Wissenschafts geschichte des späteren Altertums be-
herrscht, und diese war keineswegs die Geschichte eines wissenschaftlichen
Niedergangs. Die hellenistische Fachwissenschaft, wie man das heute nennt,
hat sich nicht gegen die >Philosophie< und ihre Voreingenommenheit wehren
müssen, sondern hat eben durch die griechische Philosophie, durch den
,TimaioS< und die aristotelische Physik, ihre Freigabe erfahren, wie ich 1973
in einer Arbeit unter dem Titel >Gibt es die Materie?< zu zeigen versucht
habe. 2 In Wahrheit ist auch noch der Gegenentwurf der Galilci-Newton-
schen Physik von dort her bestimmt. Eine Studie über )Antike Atomtheorie<
(1934) war das einzige Stück aus diesem Studienkreis, das ich damals publi-
ziert habe. 3 Sie sollte die kindliche Voreingenommenheit korrigieren, die die
moderne Wissenschaft für Demokrir, den großen Unbekannten, besitzt.
Der Größe Demokrits geschieht damit nicht der geringste Abbruch.
Aber im Zentrum meiner Studien blieb Plato. Mein erstes Plato-Buch
>Platos dialektische Ethik<, aus meiner Habilitationsschrift hervorgegangen,
war eigentlich ein steckengebliebenes Aristoteles-Buch. Mein Ausgangs-

2 Uetzt in Ges. Werke Bd. 5, S. 263-279].


3 Uetzt in Gcs. Werke Bd. 6, S. 201-217].
488 Anhänge

punkt war die Dublette der beiden aristotelischen Abhandlungen über die
,Lust< (Eth. Nie. H 10--13 und K 1-5). Unter genetischen Gesichtspunkten
kaum lösbar, sollte das Problem auf phänomenologische Weise gefördert
\"rerclen, das heißt, ich wollte dieses Nebeneinander, wenn auch nicht histo-
risch-genetisch >erklären<, so doch, womöglich, in seiner Berechtigung
erweisen. Das konnte nicht geschehen, ohne beide Abhandlungen auf den
platonischen ,Philebos< zu beziehen, und in dieser Absicht ging ich an eine
phänomenologische Interpretation dieses Dialogs. Ich war damals noch
nicht imstande, die universale Bedeutung des ~Philcbos( rür die platonische
Zahlenlehre und überhaupt fur das Problem des Verhältnisses von Idee und
>Wirklichkeit< zu würdigen. 4 Mir lag zweierlei am Herzen, beides unter dem
gleichen methodischen Vorzeichen: die Funktion der platonischen Dialektik
von der Phänomenologie des Dialogs aus und die Lehre von der Lust und
ihren Erscheinungsformen durch eine phänomenologische Analyse der
wirklichen Lebensphänomene aufzuklären. Die phänomenologische Des-
kriptionskunst, die ich an Husserl (in Freiburg 1923) und an Heidegger zu
lernen versucht hatte, sollte einer )an den Sachen sclbsti orientierten Inter-
pretation antiker Texte zugute kommen. Das ist ganz leidlich gelungen und
fand Anerkennung, freilich nicht bei dem bloßen Historiker, derja immerin
dem Wahn lebt, es sei trivial zu verstehen, was dasteht. Es gelte zu erfor-
schen, was dahinter ist. So konnte Hans Leisegang in seinem Bericht über
die Platoforschung der Gegenwart (Archiv rur Geschichte der Philosophie
1932) meinen Beitrag verächtlich beiseite schieben, indem er aus meinem
eigenen Vorwort zu meiner Arbeit zitierte: »Ihr Verhältnis zur historischen
Kritik ist schon dann ein positives, wenn diese - in der Meinung, keine
Förderung durch sie zu finden - das, was sie sagt, ftir selbseverständlich
befindet. "
In Wahrheit war ich inzwischen ein Stück klassischer Philologe geworden,
schloß dieses Studium mit dem Staatsexamen ab (1927) und habilitierte mich
bald darauf (1928/29). Worum es sich hier handelt, ist ein methodischer
Gegensatz, den ich später in meinen hermeneutischen Analysen zu klären
unternahm - freilich bei a11 denen ohne Erfolg, die zu Reflexionsarbeir nicht
bereit sind, sondern nur das )positive< Forschung nennen, wobei etwas
Neues herauskommt (auch \venn es ebenso unverstanden bleibt wie das
Alte).
Immerhin war der Start gelungen. Als Lehrer der Philosophie lernte ich
jedes Semester Neues, damals noch unter den kargen Bedingungen eines
Stipendiaten oder Lehrbeauftragten, aber mein lehren \\'ar dafür immerhin
den eigenen Forschungsplänen ganz angepaßt. So \'lar es vor allem Plaro, in

4 [Vgl. inzwischen meine Akademie-Abhandlung >Idee und Wirklichkeit in Platos

Timaios(, Ges. Werke Bd. 6, S. 242-270].


Selbstdarstellung Hans-Gcorg Gadamer 489

den ich tiefer eindrang, wobei mich insbesondere die Zusammenarbeit mit).
Klein in Richtung auf das Mathematische und Zahlentheoretische fOrderte.
Kleins klassische Abhandlung >Die griechische Logistik und die Entstehung
der Algebra. (1936) ist damals entstanden.
Man wird nicht gerade sagen können, daß diese Studien, die sich über ein
Jahrzehnt hinzogen, das Schauerspicl der Zeitereignisse bedeutungsvoll
spiegeln. Höchstens indirekt, sofern ich nach 1933 eine größere Studie über
sophistische und platonische Staatslehre vorsichtshalber abbrach, aus der ich
nur zwei Teilaspekte publizierte: ,Plato und die Dichter. (1934) und )Platos
Staat der Erziehung. (1942).
Beides hatte seine Geschichte. Die erste kleine Schrift entwickelte die noch
heute von mir für allein richtig gehaltene Deutung, daß der platonische
Idealstaat eine bewußte Utopie darstellt, die mehr mit Swift als mit ,politi-
scher Wissenschaft< zu tun hat. s Die Veröffentlichung dokumentierte zu-
gleich meine Stellung zum Nationalsozialismus durch das vorangestellte
Motto: »Wer philosophiert, ist mit den Vorstellungen seiner Zeit nicht
einig.« Das war zwar wohlgetarnt, als ein Goethezitat, das mit Goethes
Charakterisierung der platonischen Schriften fortfuhr. Aber ,"venn man sich
schon nicht zum Märtyrer machen oder freiwillig in die Emigration gehen
wollte, stellte ein solches Motto für den verständigen Leser im Zeitalter der
)Gleichschaltung< immerhin eine Betonung der eigenen Identität dar - ähn-
lich wie Karl Reinhardts bekannte Unterzeichnung der Vorrede seines So-
phokles-Buches: »Im Januar und September 1933«. Daß man die politisch
relevanten Themen im übrigen fortan eifrig vermied (und überhaupt die
Publikation außerhalb von Fachzeitschriften), entsprach dem gleichen Ge-
setz der Selbsterhaltung. Es bleibt bis zum heutigen Tage wahr, daß ein
Staat, der in philosophischen Fragen von Staats wegen eine )Lehre~ als die
>richtige< auszeichnet, wissen muß, daß seine besten Leute in andere Felder
ausweichen, wo sie nicht von Politikern - und das heißt von Laien -
zensuriert werden. Ob schwarz, ob rot, daran ändert kein Geschrei etwas.-
So arbeitete ich unbemerkt weiter und fand begabte Schüler, von denen ich
hier nur Walter Sehulz, Volkmann-Schluck und Arthur Henkel nenne. Zum
Glück milderte damals die nationalsozialistische Politik - in der Vorberei-
tung des Krieges im Osten - den Druck auf die Universitäten, und meine
akademischen Chancen, die jahrelang gleich Null waren, besserten sich. Ich
erhielt - nach zehnjähriger Dozententätigkeit - endlich den längst beantrag-
ten ProfcssortiteL Ein Lehrstuhl rur klassische Philologie in Halle winkte
mir, und schließlich erhielt ich 1938 eine Berufung auf das philosophische
Ordinariat in Leipzig, das mich vor neue Aufgaben stellte.

5 rDies habe ich inzwischen "vieder aufgenommen in )Platos Denken in Utopiew,

Gymnasium 90 (1983), S. 434-455: Ges. Werke Bd. 7, s. 270-289J.


490 Anhänge

Das zweite Stück >Platos Staat der Erziehung( war auch eine Art Alibi. Es
\var schon während des Krieges. Ein Professor der technischen Hochschule
Hannover namens Osenberg hatte Hitler von der kriegsentscheidenden
Rolle der Wissenschaft überzeugt und dadurch Vollmachten zur Schonung
und Pflege der Naturwissenschaften und insbesondere ihres Nachwuchses
erwirkt. Diese sogenannte Osenberg-Aktion hat vielen jungen Forschern
das Leben gerettet. Sie erregte natürlich den Neid der Geisteswissenschaf-
ten, bis schließlich ein findiger PG auf die schöne Idee einer ,Parallelaktion,
kam, die Musils Erfindung Ehre machte. Es war >der Einsatz der Gcistesv.lis-
senschaften fur den Krieg<. Daß es sich in Wahrheit um den Einsatz des
Krieges für die Gcistes\vissenschaftcn - und um nichts anderes - handelte,
war nicht zu verkennen. Um nun einer Mitarbeit im philosophischen Sektor
zu entgehen, wo so schöne Themen wie >Die Juden und die Philosophie<
oder }Das Deutsche in der Philosophie< auftauchten, wanderte ich in den
Sektor der klassischen Philologie aus. Dort ging alles manierlich zu, und
unter dem Schutz von Helmut Berve entstand ein interessantes Sammel-
werk }Das Erbe der Antike<, das nach dem Kriege eine unveränderte zweite
Auflage finden konnte. Mein Beitrag, ,Platos Staat der Erziehung<, führte
die Studie über )Plato und die Dichter( weiter und wies immerhin auf die
Richtung meiner neueren Studien hin, wenn seine letzten Worte )die Zahl
und das Sein< waren.
Eine einzige Monographie habe ich in der ganzen Zeit des Dritten Reiches
veröffentlicht, ,Volk und Geschichte im Denken Hcrders< (1942). In dieser
Studie arbeitete ich vor allem die Rolle des Kraftbegriffs in Herders Ge-
schichtsdenken heraus. Sie vermied jede Aktualität. Trotzdem erregte sie
Anstoß, vor allem bei denen, die sich damals über ähnliche Themen hatten
vernehmen lassen und geglaubt hauen, etv.ras mehr >Gleichschaltung< nicht
vermeiden zu können. Mir war diese Arbeit aus einem bestimmten Grunde
lieb. Ich hatte dieses Thema erstmals 1941 in einem Kriegsgefangenenlager
französischer Offiziere in einem französischen Vortrag behandelt. In der
Diskussion hatte sich eine Situation ergeben, in der ich sagte, ein Imperium,
das sich über die Maßen ausdehne, sei )aUpfeS de sa chute<. Die französischen
Offiziere sahen sich bedeutsam an und verstanden. (Ob ich in dieser makab-
ren und irrealen Situation auf anonyme Weise dem einen oder anderen
meiner späteren französischen Kollegen begegnet bin, von denenja manche
dabei gewesen sein könnten') Der politische Funktionär, der mich begleitet
hatte, war über diese Bemerkung seinerseits ganz begeistert. Solche geistige
Klarheit und rückhaltlose Unbefangenheit spiegele unsere Siegesgewißheit
besonders wirksam. (Ob er das glaubte oder ob er nur mitspielte, vermochte
ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls nahm er keinen Anstoß, und ich mußte
meinen Vortrag sogar in Paris wiederholen.)
Im ganzeil war es klüger, sich unauffjJlig zu verhalten. Die Resultate
Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer 491

meiner Studien teilte ich nur in Vorlesungen mit. Da konnte man sich
ungehindert und unbefangen bewegen. Selbst über Husscrl habe ich in
Leipzig ungestört Übungen abgehalten. Manches, was ich erarbeitet hatte,
trat zuerst in Arbeiten meiner Schüler in die Öffentlichkeit, insbesondere in
Volkmann-Schlucks ausgezeichneter Dissertation >Platin als Interpret der
Platonischen Ontologie( (1940).
Seit ieh Professor in Leipzig war und dort - nach Thcodor Litts Rücktritt-
der einzige Fachvertreter, konnte ich meinen Unterricht nicht mehr so gut
den eigenen Forschungsplänen anpassen. Ich hatte neben den Griechen und
ihrem spätesten und größten Nachfahren, Hegel, die ganze klassische Tradi-
tion, von Augustin und Thomas bis Nietzsche, Husserl und Heidegger, Zu
vermitteln - freilich, als der halbe Philologe, der ich war, jeweils am Text.
Daneben behandelte ich in Seminaren auch schwierige poetische Texte VOn
Hölderlin, Goethe, Rilke vor allem. Letzterenvar, dank demhochgezüchte-
ten Manierismus seiner Sprache, damals der wahre Dichter der akademi-
schen Resistance. Wer wie Rilke redete oder wie Heidegger, der Hölderlin
auslegte, stand abseits und zog die Abseitsstehenden an.
Die letzten Kriegsjahre waren natürlich sehr gefahrlich. Doch hatten die
zahlreichen Bombenangriffe, die man zu überstehen hatte und die die Stadt
Leipzig wie die Arbeitsmittel der Universität in Trümmer legten, auch ihr
Gutes: der Parteiterror wurde durch die entstehenden Notstandssituationen
anderweitig gebunden. Der Unterricht an der Universität, von einem Not-
raum in den andern wechselnd, wurde bis kurz vor Kriegsende fortgesetzt.
Als die Amerikaner Leipzig besetzten, studierte ich gerade die neu erschiene-
nen Bände 2 und 3 von Werner Jaegers }Paideia< - auch ein seltsames Faktum,
daß dieses Werk eines >Emigranten< in deutscher Sprache, in einem de'ut-
schen Verlag, in den Jahren höchster Kriegsnot erscheinen konnte. Totaler
Krieg?
Nach Kriegsende mußte ich - als Rektor der Universität Leipzig - andere
Dinge tun. An Fortftihrung philosophischer Arbeit war jahrelang nicht zu
denken. Jedoch entstand an den freien Wochenenden der Großteil der Dich-
tungsinterpretationen, die heute den zweiten Band meiner Kleinen Schriften
bilden. Mir kam vor, ich hätte niemals so leicht gearbeitet und geschrieben
wie in diesen karg zugemessenen Stunden, gewiß ein Ausdruck dessen, daß
während der unproduktiven, politischen und administrativen Alltagsarbeit
sich etwas anstaute, das sich so entlud. Sonst .blieb mir das Schreiben auf
lange hinaus eine rechte Qual. Immer hatte ich das verdammte Geftihl,
Heidegger gucke mir dabei über die Schulter.
Herbst 1947, nach zweijähriger Rektoratstätigkeit, folgte ich einem Ruf
nach Frankfurt am Main und kehrte damit voll und ganz in mein akademi-
sches Lehramt und in die Forschungsarbeit zurück - so gut es die Arbeitsver-
hältnisse zuließen. In den zwei Jahren, die ich in Frankfurt tätig war, suchte
492 Anhänge

ich der Notlage der Studenten Rechnung zu tragen, nicht nur durch intensi-
ven Unterricht, sondern auch durch einige Publikationen, so von Aristotclcs
Metaphysik XII (griechisch und deutsch) und von Diltheys Grundriß einer
Geschichte der Philosophie, die beide der Klostermann- Verlag damals rasch
herausbrachte. Wichtig war auch der große Kongreß in Mendoza (Argen ti-
nien) in1 Februar 1949, bei dem wir einerseits mit altenjüdischen Freunden,
andererseits mit den Philosophen anderer Länder (Italien, Frankreich, Spa-
nien, Südamerika) zu erstem Kontakt gelangten.
Daß ich 1949 den Ruf auf die Nachfolge von Kar! Jaspers annahm,
bedeutete den ncucn Beginn einer }akademischen< Tätigkeit in einer akade-
mischen )Wcltc Wie ich zwanzig Jahre in Marburg Student und Dozent
gewesen war, sollte ich von nun an über ein Vierteljahrhundert in Heidel-
berg tätig sein, und trotz der Vielfalt der Aufgaben des Wiederaufbaus, die
uns alle in Anspruch nahmen, war es mir möglich, mich erneut von der
Politik und Hochschulpolitik weitgehend zu entlasten und mich auf die
eigenen Arbeitspläne zu konzentrieren, die endlich 1960 in ,Wahrheit und
Methode< zu einem ersten Abschluß gelangten.
Daß ich überhaupt, bei meinem passionierten Engagement als Lehrer, zu
der Abfassung eines größeren Buches kam, verdankte ich dem natürlichen
Bedürfnis, darüber nachzudenken, wie sich all die verschiedenen Wege des
Philosophierens, denen man im Unterricht zu folgen hatte, von der philo-
sophischen Situation der Gegenwart aus zu wirklicher Aktualität erheben
ließen. Die Einordnung in einen apriori konstruierten Geschichtsgang (He-
gel) schien mir ebenso unbefriedigend wie die relativistische Neutralität des
Historismus. Ich hielt es mit Leibniz, der von sich gesagt hat, er billige fast
alles, was er lese. Aber anders als dieser große Denker empfand ich in dieser
Erfahrung nicht einen Stimulus zum Entwurf einer großen Synthese. Viel-
mehr begann ich mich zu fragen, ob Philosophie sich unter solche syntheti-
sche Aufgabe überhaupt noch stellen dürfe und sich nieht vielmehr ftir den
Fortgang hermeneutischer Erfahrung auf radikale Weise offen halten müsse,
eingenommen von dem je Einleuchtenden und sich aller Wiederverdunke-
lung des Eingesehenen nach Kräften widersetzend ... Philosophie ist Auf-
klärung, aber gerade auch Aufklärung gegen den Dogmatismus ihrer selbst.
Tatsächlich ist die Entstehung meiner >hermeneutischen Philosophie( im
Grunde nichts anderes als der Versuch, über den Stil meiner Studien und
meines Unterrichts theoretisch Rechenschaft zu geben. Die Praxis war das
erste. Vonjeher "var ich fast ängstlich bemüht, nur nicht zu viel zu sagen und
mich nicht in theoretische Konstruktionen zu versteigen, die nicht voll von
der Erfahrung eingelöst würden. Da ich fortfuhr, als Lehrer mein Eigentli-
ches zu geben und insbesondere mit meinen engeren Schülern intensiven
Kontakt zu pflegen, blieben fUr die Arbeit an dem Buch nur die Ferien. Fast
10 Jahre nahm diese Arbeit in Anspruch, und in dieser Zeit vernlied ich
Selbstdarstellung Hans-Gcorg Gadamer 493
möglichst jede Ablenkung. Als das Buch erschien - erst während des Druk-
kes war mir der Titel >Wahrheit und Methode< dazu eingefallen -, war ich
mir gar nicht sicher, ob es nicht zu spät kam und eigendich überflüssig war.
Denn daß eine neue Generation heranrückte, die teils technologischen Er-
wartungen, teils ideologiekritischen Affekten verfallen war, konnte man
bereits ahnen.
Die Sache mit dem Titel des Buches war schwierig genug. Meine Fachge-
nossen im In- und Ausland erwarteten es als eine philosophische Hermeneu-
tik. Aber als ich dies als Titel vorschlug, fragte der Verleger zurück: Was ist
das? In der Tat vnr es besser, damals das noch fremde Wort in den Untertitel
zu verbannen.
Im übrigen trug die beharrlich fortgesetzte akademische Lehrtätigkeit
zunehmend mehr ihre Früchte. Mein alter Freund Karl Löwith kehrte aus
der Fremde zurück und lehrte neben mir in Heidclberg, eine gesunde Span-
nung schaffend. Einigejahre höchst fruchtbarer Wechselwirkung gab es mit
Jürgen Habermas, den wir als jungen Extraordinarius zu uns beriefen,
nachdem ich erfahren hatte, daß es zwischen Horkheimer und Adorno
seinetwegen zu einem Gegensatz gekommen sei. Wer Max und Teddy auch
nur ein wenig in ihrer geistigen Waffenbrüderschaft auseinanderzubringen
vermocht hatte, mußte schon etwas sein, und in der Tat bestätigte das
eingeforderte Manuskript das Talent des jungen Forschers, das mir schon
längst aufgefallen war. - Aber es fanden sich auch leidenschaftlich der
Philosophie ergebene Schüler, von denen ich hier nur einige nenne, die itn
akademischen Fach der Philosophie inzwischen als Lehrer tätig sind. Von
Frankfurt hatte ich eine große Gruppe von Studenten mitgebracht, zu denen
Dietcr Hcnrich gehörte, der vom Marburger Erzkantianismus Ebbinghaus'
und Klaus Reichs seine erste Prägung erfahren hatte. In Heidelberg fanden
sich manche andere dazu. Ich nenne wieder nur diejenigen, die als Forscher
oder Lehrer im Fach der Philosophie tätig geworden sind: Wolfgang Bartu-
schat, Rüdiger Bubner, Theo Ebert, Heinz Kimmerle, Wolfgang Künne,
Ruprecht Pflaumer, J. H. Trede, Wolfgang Wieland. Einige kamen später
erneut von Frankfurt, wo Wolfgang Cramer- abseits von der spektakulären
Frankfurter Schule - eine intensive Wirkung übte, so Konrad Cramer,
Friedrich Fulda, Reiner Wieh!. Mehr und mehr kamen auch Ausländer und
fugten sich in den Kreis meiner Schüler ein, insbesondere aus Italien Valcrio
Verra und G. Vattimo, aus Spanien E. Lledo, und eine größere Zahl von
Amerikanern, von denen ich manchem bei Amerikareisen in den letzten
Jahren in Amt und Würden wiederbegegnet bin. Eine besondere Genugtu-
ung hat es mir bereitet, daß aus meinem engsten Schülerkreis mancher
hervorgegangen ist, der sich in anderen Fächern bewährt hat - eine Bewäh-
rungsprobe fur die Idee der Hermeneutik selber.
Was ich lehrte, war vor allem hermeneutische Praxis. Hermeneutik ist vor
494 Anhänge

allem eine Praxis, die Kunst des Verstehens und des Verständlichmachcns.
Sie ist die Seele allen Unterrichts, der Philosophieren lehren will. Was es
dabei vor allem zu üben gilt, ist das Ohr, die Sensibilität rur die in Begriffen
liegenden Vorbestimmtheiten, Vorgreifliehkeiten, Vorprägungen, So galt
ein gut Stück meiner Bemühungen der Begriffsgeschichte. Mit Hilfe der
Deutschen Forschungsgemeinschaft habe ich eine Reihe begriffsgeschichtli-
cher Kolloquien veranstaltet und darüber auch berichtet, die inzwischen
vielfache ähnliche Bestrebungen ausgelöst haben. Die Gewissenhaftigkeit
im Gebrauch von Begriffen verlangt begriffsgeschichtliche Bewußtheit,
damit man nicht der Willkür des Definiercns anheimfallt oder der Illusion,
man könne verbindliches philosophisches Sprechen normieren. Begriffsge-
schichtliche Bewußtheit wird zur kritischen Pflicht. Auf andere Weise suchte
ich diesen Aufgaben zu dienen, indem ich eine ganz der Kritik gewidmete
Zeitschrift, die ))Philosophische Rundschau(( ins Leben rief, gemeinsam mit
Helmut Kuhn, dessen kritisches Talent ich schon früh, vor 1933, an den
letzten Jahrgängen der alten Kantstudien bewundern gelernt hatte. Unter
der straffen Führung von Frau Käte Gadamer-Lekebusch sind dreiundzwan-
zig Jahrgänge dieser Zeitschrift herausgekommen, bis wir sie neuerdings
jüngeren Händen anvertrauten.
Aber im Mittelpunkt meiner Tatigkeit stand nach wie vor der akademi-
sche Unterricht in Heidelberg. Erst nach meiner Emeritierung (1968) habe
ich in größerem Umfang meine Ideen zur Hermeneutik, die auf breites
Interesse stießen, auch im Ausland zu vertreten versucht, mittlerweile vor
allem auch in Amerika.
Hermeneutik und griechische Philosophie blieben die beiden Schwer-
punkte meiner Arbeit. Ich darf den inneren Zusammenhang, der meine
Gedanken bewegt, kurz zur Darstellung bringen.
Da war zunächst die in i) Wahrheit und Methode« el1t\vickc1te Herme-
neutik.
Was war diese philosophische Hermeneutik? Wie unterschied sie sich von
der romantischen Tradition, die mit Schleiermacher, der eine alte theologi-
sche Disziplin vertiefte, anhob, in Diltheys geisteswissenschaftlicher Her-
meneutik gipfelte und als eine Methodenlehre der Geisteswissenschaften
gemeint war? Mit \\'eIchem Recht konnte mein eigener Versuch eine )philo-
sophische< Hermeneutik heißen?
Es ist leider nicht überflüssig, auf diese Frage einzugehen. Denn viele
sahen und sehen in dieser hermeneutischen Philosophie eine Absage an
methodische Rationalität. Viele andere, insbesondere seit Hermeneutik ein
Modewort geworden ist und einejegliche iInterpretatiou< sich Hermeneutik
nennen möchte, mißbrauchen das Wort und die Sache, fur die ich das Wort
ergriffen hatte, umgekehrt derart, daß sie darin eine neue Methodenlehre
sehen, mit der sie in Wahrheit methodische Unklarheit oder ideologische
Selbstdarstellung Hans-Gcorg Gadamer 495
Bemäntelung legitimieren. Wieder andere, die dem Lager der Ideologiekri-
tik angehören, erkennen darin zwar Wahrheit, aber nur die halbe Wahrheit.
Es sei gut und schön, daß Tradition in ihrer vorgreiflichen Bedeutung
erkannt werde, aber es fehle das Entscheidende dabei, die kritische und
emanzipatorische Reflexion, die von ihr befreie.
Vielleicht hilft es der Klärung, \venn ich die Motivation meiner Fragestel-
lung so darlege, wie sie mir tatsächlich erwachsen ist. Es könnte dadurch
deutlich werden, daß es die Methodcnfanatiker so gut wie die radikalen
Idologiekritiker sind, die in Wahrheit nicht genug reflektieren. Die einen
behandeln die - unbestrittene - Rationalität von trial and error wie die ultima
ratio menschlicher Vernünftigkeit, die anderen erkennen zwar die ideologi-
sche Voreingenommenheit solcher Rationalität, geben aber über die eigenen
ideologischen Implikationen ihrer Ideologiekritik nicht genügend Rechen-
schaft.
Wenn ich eine philosophische Hermeneutik versuchte, so ergab es sich aus
der Vorgeschichte der Hermeneutik von selbst, daß die »verstehenden«
Wissenschaften den Ausgangspunkt bildeten. Aber zu ihnen trat noch eine
bisher unbeachtet gebliebene Ergänzung. Ich meine die Erfahrung der
Kunst. Denn beides, die Kunst wie die geschichtlichen Wissenschaften, sind
Erfahrungsweisen, in denen unser eigenes Daseinsverständnis unmittelbar
ins Spiel kommt. Die begriffliche Hilfe rur die so in die rechte Weite gestellte
Problematik des> Verstehens< bot sich in Heideggers Entfaltung der existen-
tialen Struktur des Verstehens, die er ehedem >Hermeneutik der Faktizität<,
Selbstauslegung des faktischen, das heißt, des sich vorfindlichen menschli-
chen Daseins genannt hatte. Mein Ausgangspunkt war also die Kritik des
Idealismus und seiner romantischen Traditionen. Es war mir klar, daß die
Bewußtseinsgestalten unserer ererbten und erworbenen geschichtlichen Bil-
dung, das ästhetische Bewußtsein und das historische Bewußtsein, entfrem-
dete Gestalten unseres wahren geschichtlichen Seins darstellen und daß die
ursprünglichen Erfahrungen, die durch Kunst und Geschichte vermittelt
werden, nicht von da aus zu begreifen sind. Die beruhigte Distanz, in der ein
bürgerliches Bildungsbewußtsein seinen Bildungsbesitz genoß, verkannte,
wie sehr wir dabei selber im Spiele sind und auf dem Spiele stehen. So
versuchte ich vom Begriff des Spieles aus die Illusionen des Selbstbewußt-
seins und die Vorurteile des Bewußtseinsidealismus zu überwinden. Spiel ist
ja niemals ein bloßes Objekt, sondern hat sein Dasein rur den, der es
mitspielt, und sei es auch nur in der Weise des Zuschauers. Die Unangemes-
senheit der Begriffe Subjekt und Objekt, die Heidegger schon in seiner
Exposition der Seins frage in )Sein und Zeit( erwiesen hatte, ließ sich hier in
Concreto demonstrieren. Was Hcidegger in seinem Denken dann zur )Kchre(
geführt hat, versuchte ich meinerseits als eine Grenzerfahrung unseres Selbst-
verständnisses zu beschreiben, als das wirkungsgeschichtliche Bewußt-
496 Anhänge

sem, das mehr Sein als Bewußtsein ist. Was ich damit formulierte, \var
weniger eine Aufgabe für die methodische Praxis der Kunst- und Ge-
schichtswissenschaft, ja es galt auch nicht in erster Linie dem Methodenbe-
wußtsein dieser Wissenschaften, sondern ausschließlich oder vorrangig dem
philosophischen Gedanken der Rechenschaftsgabe. Wie weit ist Methode
ein Garant ftir Wahrheit' Die Philosophie muß von Wissenschaft und Me-
thode fordern, daß sie ihre Partikularität im Ganzen der menschlichen
Existenz und ihrer Vernünftigkeit erkennen.
Am Ende war das Unternehmen selbstverständlich selber wirkungsge-
schichtlich bedingt und wurzelte in einer ganz bestimmten deutschen philo-
sophischen und kulturellen Überlieferung. Die sogenannten Geisteswissen-
schaften hatten wohl nirgends so stark wie in Deutschland wissenschaftliche
und weltanschauliche Funktionen in sich vereint - oder besser: sich die
"veltanschauliche, ideologische Bestimmtheit ihrer Interessenahme so kon-
sequent hinter dem Methodenbewußtsein ihres wissenschaftlichen Verfah-
rens verborgen. Die unauflösliche Einheit aller menschlichen Selbsterkennt-
nis drückte sich anderswo klarer aus, in Frankreich in dem weiten Begriffder
,lettres<, im Englischen in dem neu eingebürgerten Begriff der ,humanities<.
Mit der Anerkennung des wirkungs geschichtlichen Bewußtseins war daher
vor allem eine Berichtigung der Selbstauffassung der historischen Geistes-
wissenschaften, die auch die Kunstwissenschaften einschließen, impliziert.
Die Problemdimension ist damit aber keineswegs voll ausgemessen.
Auch in den Naturwissenschaften gibt es so etwas wie eine hermeneutische
Problematik. Auch ihr Weg ist nicht einfach der des methodischen Fort-
schritts, wie inzwischen etwa durch Thomas Kuhn gezeigt worden ist und
was in Wahrheit zu den Einsichten zusammenstimmt, die vor allem Heideg-
ger in >Die Zeit des Weltbildes< und in seiner Interpretation der aristoteli-
schen Physik (Phys. B 1) impliziert hatte. Das ,Paradigma' ist ftif den
Einsatz wie fur die Deutung methodischer Forschung entscheidend und ist
offenkundig nicht selbst das einfache Resultat einer solchen. Alente concipio
hatte schon Galilei gesagt. 6
Dahinter tut sich indes eine noch weitere Dimension auf, die in der
prinzipiellen Sprachlichkeit oder Sprachbezogenheit gelegen ist. In aller
Welterkenntnis und Weltorientierung ist das Moment des Verstehens heraus-
zuarbeiten - und damit die Universalität der Hermeneutik zu erweisen.
Natürlich kann mit der prinzipiellen Sprachlichkeit des Verstehens nicht
gemeint sein, daß alle Welterfahrung sich nur als Sprechen und im Sprechen
vollzöge. Allzu bekannt sind all jene vorsprachlichen und übersprachlichen
Innewerdungen, Stummheiten, Schweigsamkeiten, in denen sich unmittel-

6 [Vgl. meinen Vortrag in Lund >Hermeneutik und Natunvissenscbaft, von 1984 in: A.

Werner (Hrsg.), Philosophie und Kultur, Bd. 3, S. 39-70; Ges. Werke Bd. 7.J.
Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer 497

bare Welrbetroffenheit ausdrückt - und wer "\vird leugnen, daß es reale


Bedingungen menschlichen Lebens, daß es Hunger und Liebe, Arbeit und
Herrschaft gibt, die nicht selber Rede und Sprache sind, sondern ihrerseits
den Raunl bemessen, innerhalb dessen Miteinander-Reden und Aufeinan-
der-Hören statthaben kann. Das ist so wenig strittig, daß es vielmehr gerade
solche Vorgeformtheitcn menschlichen Meinens und Redcns sind, die die
hermeneutische Reflexion erforderlich machen. Einer am sokratischen Ge-
spräch orientierten Hermeneutik muß nicht erst entgegengehalten werden,
daß Doxa nicht Wissen, daß das scheinhafte Einverständnis, in dem man so
daher1cbt und daherredet, kein \virkliches Einverständnis ist. Aber selbst
noch die Aufdeckung des Scheinhaften, \",ie sie das sokratische Gespräch
leistet, vollzieht sich im Element der Sprachlichkeit. Das Gespräch läßt uns
sogar im Scheitern der Verständigung, im Mißverständnis und in dem
berühmten Eingeständnis des Nichtwissens möglichen Einverständnisses
gewiß sein. Die Gemeinsamkeit, die wir menschlich nennen, beruht auf der
sprachlichen Verfaßtheit unserer Lebenswelt. Noch jeder Versuch, Verzer-
rungen z\vischenmenschlicher Verständigung durch kritische Reflexion und
Argumentation einzuklagen, bestätigt diese Gemeinsamkeit_
Der hermeneutische Aspekt kann also nicht auf die hermeneutischen
Wissenschaften von Kunst und Geschichte, nicht auf den Umgang ntit
)Texten<, aber auch nicht, in Erweiterung, auf die Erfahrung der Kunst selbst
beschränkt bleiben. Die Universalität des hermeneutischen Problems, die
schon Schleiermacher erkannt hatte, geht auf das All des Vernünftigen, das
heißt auf a11 das, worüber man sich zu verständigen suchen kann. Wo
Verständigung unmöglich scheint, weil man )verschiedene Sprachen
spricht<, ist die Herllleneutik nicht etwa am Ende. Dort stellt sich die
hermeneutische Aufgabe vielmehr gerade in ihrem vollen Ernst, nämlich als
die Aufgabe, die gemeinsame Sprache zu finden. Die gemeinsame Sprache
ist aber nie schon eine teste Gegebenheit. Sie ist zwischen Sprechenden
spielende Sprache, die sich so einspielen muß, daß Verständigung beginnen
kann, und das selbst da, wo verschiedene )Ansichten( sich unversöhnbar
entgegenstehen_ Die Verständigungmöglichkeit kann zwischen vernünfti-
gen Wesen nie verneint \vcrden. Selbst der Relativismus, der in der Vielfalt
menschlicher Sprachen zu liegen scheint, ist keine Schranke ftir die Ver-
nunft, deren Wort allen gemeinsam ist, wie schon Heraklit gewußt hat. Das
Lernen fremder Sprachen und ebenso das Sprechenlernen des Kindes bedeu-
tet eben nicht allein die Aneignung von Verständigungs mitteln_ Dieses
Lernen stellt vielmehr eine Art Vorschematisierung möglicher Erfahrung
und ihren ersten Erwerb dar. Das Hineinwachsen in eine Sprache ist ein Weg
der Welterkenntnis. Nicht nur solches >Lernen< - alle Erfahrung vollzieht
sich in beständiger kommunikativer Fortbildung unserer Weltkenntnis. In
einem viel tieferen und allgemeineren Sinne, als die von August Boeckh fur
498 Anhänge

das Geschäft des Philologen geprägte Formel es meinte, ist Erfahrung im-
mer >Erkenntnis von Erkanntem<. Wir leben in Überlieferungen, und diese
sind nicht ein Teilbereich unserer Welterfahrung, nicht eine sogenannte
kulturelle Überlieferung, die allein aus Texten und Denkmälern bestünde
und einen sprachlich verfaßten und geschichtlich dokumentierten Sinn wei-
tervermiuelte. Vielmehr ist es die Welt selbst, die kommunikativ erfahren
und als eine ins Unendliche offene Aufgabe uns beständig übergeben wird
(traditur). Sie ist nie die Welt eines ersten Tages, sondern immer schon uns
überkommen. Überall da, wo etwas erfahren, wo Unvertrautheit aufgeho-
ben wird, wo Einleuchten, Einsehen, Aneignung erfolgt, vollzieht sich der
hermeneutische Prazeß der Einbringung in das Wort und in das gemeinsame
Bewußtsein. Selbst die lllonologische Sprache der modernen Wissenschaft
gewinnt gesellschaftliche Realität nur auf diesem Wege. Hier scheint mir die
Universalität der Hermeneutik, die etwa Habermas so entschieden bestrei-
tet, wohlbegründet. Habermas ist, so meine ich, nie über ein idealistisches
Verständnis des hermeneutischen Problems hinausgekommen und engt
mich zu Unrecht auf )kulturelle Überlieferung< im Sinne Theodor Litts ein.
Die ausgedehnte Diskussion dieser Frage hat in dem Suhrkampband )Her-
meneutik und Ideologiekritik( ihre Dokumentation gefunden.
Unserer philosophischen Tradition gegenüber haben wir es mit der glei-
chen hermeneutischen Aufgabe zu tun. Philosophieren fangt nicht mit Null
an, sondern hat die Sprache, die wir sprechen, weiterzudenken und weiter-
zusprechen, und wie in den Tagen der antiken Sophistik heißt das auch
heute, die ihrem ursprünglichen Sagesinn entfremdete Sprache der Philo-
sophie auf das Sagen des Gemeinten und auf die unser Sprechen tragenden
Gemeinsamkeiten zurückzufuhren.
Wir sind durch die moderne Wissenschaft und ihre philosophische Gene-
ralisierung fUr diese Aufgabe mehr oder minder blind geworden. Im plato-
nischen ,Phaidon( stellt Sokrates die Forderung auf, er möchte den Welten-
bau und das Naturgeschehen so verstehen, wie er verstehe, warum er hier im
Gefjngnis sitze und nicht das ihm gemachte Fluchtangebot angenommen
habe -, nämlich weil er es fur gut hielt, auch einen ungerechten Urteils-
spruch auf sich zu nehmen. Die Natur so zu verstehen, wie Sokrates sich hier
selbst versteht, ist eine Forderung, die durch die aristotelische Physik auf
ihre Weise erfUllt worden ist. Mit dem, was Wissenschaft seit dem 17. Jahr-
hundert ist und was erst wirklich Wissenschaft von der Natur und wissen-
schaftlich gegründete Beherrschung der Natur ermöglicht hat, ist diese
Forderung aber nicht mehr vereinbar. Genau das ist der Grund, warum die
Hermeneutik und ihre methodischen Konsequenzen aus der Theorie der
modernen Wissenschaft nicht so viel zu lernen haben wie aus älteren Tradi-
tionen, an die es sich zu erinnern gilt.
Die eine ist die Tradition der Rhetorik, wie sie als letzter Vico mit
Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer 499
methodischer Bewußtheit gegen die moderne Wissenschaft, die er critica
nannte, verteidigt hat. Schon in meinen klassischen Studien hatte ich die
Rhetorik, die Redekunst wie ihre Theorie, besonders bevorzugt. Zumal die
Rhetorik in einer noch lange nicht genug beachteten Weise auch der Träger
der älteren Tradition der ästhetischen Begriffe gewesen ist, wie noch an
Baumgartens Bestimmung der Ästhetik deutlich wird. Man muß es heute
mit Nachdruck sagen: Die Rationalität der rhetorischen Argumenta-
tionsweise, die zwar ~Affekte( ins Spiel zu bringen sucht, aber grundsätzlich
Argumente geltend macht und mit Wahrscheinlichkeiten arbeitet, ist und
bleibt ein weitaus stärkerer gesellschaftlicher Bestimmungsfaktor als die
Gewißheit der Wissenschaft. So habe ich mich in ,Wahrheit und Methode<
ausdrücklich auf die Rhetorik bezogen und von mancher Seite, insbesondere
in den Arbeiten von eh. Perelman, der von der Rechtspraxis ausgeht, dafUr
Bestätigung gefunden. Es heißt nicht die Bedeutung der modernen Wissen-
schaft und ihrer Anwendung für die technische Zivilisation von heute ver-
kennen, wenn man darauf besteht. Im Gegenteil. Es sind gewiß ganz neue
Probleme der Vermittlung, die die moderne Zivilisation aufwirft. Aber die
Lage hat sich dadurch nicht im Prinzip verändert. Die ~hermeneutische(
Aufgabe der Integration der Monologik der Wissenschaften in das kommu-
nikative Bewußtsein, und das schließt ein die Aufgabe, praktisch, sozial,
politisch Vernünftigkeit zu üben, ist dadurch nur um so dringlicher ge-
worden.
In Wahrheit ist es ein altes Problem, das wir seit Plato kennen. Sokrates hat
alle, die sich auf ihr Wissen beriefen, Staatsmänner, Dichter, aber auch die
wirklichen Könner ihrer handwerklichen Kunst, dessen überfUhrt, daß sie das
>Gute< nicht wissen. Aristotcles hat den strukturellen Unterschied, der hier
vorliegt, durch die Scheidung von Techne und Phronesis bestimmt. Das läßt
sich nicht wegdiskutieren. Auch wenn sich diese Unterscheidung mißbrau-
chen läßt und etwa die Berufung auf das ,Gewissen( oft undurchschaute
ideologische Abhängigkeiten verschleiern mag, ist es doch ein Mißverständ-
nis dessen, was Vernunft und Vernünftigkeit sind, wenn man sie nur in der
anonymen Wissenschaft und als Wissenschaft anerkennen will. So ist es mir
fur meine eigene hermeneutische Theorienbildung überzeugend geworden,
daß wir dieses sokratische Vermächtnis einer )menschlichen Weisheit<, die
gemessen an der göttergleichen Unfehlbarkeit des von der Wissenschaft
Gewußten Unwissenheit ist, wieder aufnehmen müssen. Daftir kann uns die
von Aristotelcs entwickelte >praktische Philosophie( als Modell gelten. Das
ist die zweite Traditionslinie, die es zu erneuern gilt.
Das aristotelische Programm einer praktischen Wissenschaft scheint mir
das einzige wissenschaftstheoretische Vorbild darzustellen, nach dem die
)verstehenden< Wissenschaften gedacht werden können. In der hermeneuti-
schen Reflexion auf die Bedingungen des Verstehens kommt heraus, daß
500 Anhänge

dessen Möglichkeiten sich in einer sich sprachlich formulierenden, nie mit


Null anfangenden, nie mit Unendlich endenden Besinnung artikulieren.
Aristotclcs zeigt, daß praktische Vernunft und praktische Einsicht nicht die
Lehrbarkcit von Wissenschaft besitzen, sondern selber in Praxis, und das
heißt in der inneren Bindung an Ethos, ihre Möglichkeit gewinnen. Daran
gilt es sich zu erinnern. Das Vorbild der praktischen Philosophie muß an die
Stelle jener >Theoria< treten, deren ontologische Legitimation allein in einem
intellectus inJif"litus gefunden werden könnte, von dem unsere auf keine Of-
fenbarung gestützte Daseinserfahrung nichts weiß. Dies Vorbild muß auch
a11 denen entgegengehalten \verden, die menschliche Vernünftigkeit unter
den Methodengedanken der >anonymCI1( Wissenschaft beugen. Der Perfek-
tionierung des logischen Selbstverständnisses der Wissenschaft gegenüber
scheint mir dies als die eigentliche Aufgabe der Philosophie, auch und gerade
angesichts der praktischen Bedeutung der Wissenschaft ftir unser Leben und
Überleben.
Die >praktische Philosophie< bedeutet aber noch mehr als ein bloßes
methodisches Vorbild rur die )hermeneutischen~ Wissenschaften. Sie ist auch
so et\:vas wie ihre sachliche Grundlage. Die methodische Sonderart der
praktischen Philosophie ist nur die Folge der durch AristoteIes in ihrer
begritllichen Eigenart herausgearbeiteten }praktischen Vernünftigkeit(. De-
ren Struktur läßt sich vom modernen Wissenschafts begriff aus überhaupt
nicht fassen. Selbst die dialektische Verflüssigung, die den traditionellen
Begriffen durch Hegel abgewonnen ""vorden ist und die manche Wahrheiten
der ;praktischen< Philosophie erneuert hat, droht einen neuen undurch-
schauten Dogmatismus der Reflexion. Der Reflexionsbegriff, der der Ideo-
logiekritik zugrunde liegt, impliziert nämlich einen abstrakten Begriff von
nvangsfreiem Diskurs, der die eigentlichen Bedingungen menschlicher Pra-
xis aus dem Auge verliert. Ich mußte das als eine illegitime Übertragung der
therapeutischen Situation der Psychoanalyse zurückweisen. Es gibt im Felde
der praktischen Vernunft keine Analogie für den >wissenden< Analysten, der
die produktive Reflexionsleistung des Analysanden leitet. In der Frage der
Reflexion scheint mir Brentanos aufAristotelcs zurückgehende Unterschei-
dung des reflexiven Inneseins von der objektivierenden Reflexion denl Erbe
des deutschen Idealismus überlegen. Das gilt in meinen Augen selbst noch
gegenüber der transzendentalen Reflexionsforderung, die von Apel und
anderen an die Hermeneutik gerichtet worden ist. Das alles ist in dem
vielgelesenen Band >Hermeneutik und Ideologiekritik< (Suhrkamp) wohl
dokumentiert.
So haben mich mehr als die großen Denker des deutschen Idealismus die
platonischen Dialoge geprägt, indem sie nüch ständig begleiteten. Sie sind
ein einzigartiger Ulngang. Wenn immer sonst wir, durch Nictzsche, durch
Heidegger belehrt, die Vorgreiflichkeit der griechischen Bcgrifflichkeit, von
Selbstdarstellung Hans-Gcorg Gadamer 501

Aristoteles bis Hegel und bis zur nlodernen Logik, als eine Grenze empfin-
den mögen, jenseits derer unsere eigenen Fragen ohne Ant\vort und unsere
Intentionen unbefriedigt bleiben - Platos Dialogkunst ist auch noch dieser
Scheinüberlegenheit, die wir als Erben der judäo-christlichen Überlieferung
zu besitzen meinen, zuvorgekommen. Gewiß hat gerade er, mit der Ideen-
lehre, mit der Dialektik der Ideen, mit der Mathematisierung der Physik und
mit der Intellektuierung dessen, '\vas wir ,Ethik< nennen \"lürden, den Grund
zu der metaphysischen Begrifflichkeit unserer Tradition gelegt. Aber er hat
zugleich al1e seine Aussagen mimetisch begrenzt, und wie Sokrates es mit
seiner gewohnten Ironie bei seinen Gesprächspartnern zu erreichen wußte,
so beraubt auch P1ato durch seine Kunst der Dialogdichtung seinen Leser
seiner vermeintlichen Überlegenheit. Mit Plato philosophieren, nicht: Plato
kritisieren, ist die Aufgabe. Plato kritisieren ist vielleicht ebenso einfaltig,
wie Sophokles vorzuhalten, daß er nicht Shakespeare ist. Das klingt para-
dox, aber nur ftir den, der gegen die philosophische Relevanz der poetischen
Imagination Platos blind ist.
Freilich muß man es erst lernen, Plato wirklich mimetisch zu lesen. In
unserm Jahrhundert ist dafür einiges geschehen, insbesondere durch Paul
Friedländer, aber auch durch manche inspirierte, wenn auch nicht so gründ-
lich fundierte Bücher aus dem Kreis des Dichters Stefan George (Friede-
mann, Singer, Hildebrandt) sowie durch die Arbeiten von Leo Strauss und
seinen Freunden und Schülern. Die Aufgabe ist noch weit von ihrer Lösung.
Sie besteht darin, die begriffiichen Aussagen, die im Gespräch begegnen.
mit Genauigkeit auf die dialogische Wirklichkeit zu beziehen, aus der sie
erwachsen. Da gibt es eine )dorische Harmonie< von Tat und Rede, Ergon
und Logos) von der bei Plato nicht nur mit Worten die Rede ist. Sie ist
vielmehr das eigentliche Lebensgesetz der sokratischen Dialoge. Sie sind im
wörtlichen Sinne )hinführende Redenc Erst von ihr her schließt sich auf, was
die oft sophistisch wirkende und tatsächlich oft die schlimmste Verwirrung
betreibende Widerlcgungskunst des Sokrates in Walirlieit intendiert. Ja,
wenn menschliche Weisheit so wäre, daß sie von einem zu dem anderen
übergehen könnte, wie Wasser von einem Gefaß zum anderen an einem
Wollfadon herübergeleitet werden kann ... (Symp. 175 d) Aber so ist
menschliche Weisheit nicht. Sie ist das Wissen des Nichtwissens. An ihr wird
der andere, mit dem Sokrates das Gespräch fUhrt, seines eigenen Nichtwis-
sens überfuhrt -, und das bedeutet: es geht ihm etwas über sich selbst aufund
sein Leben in Vermeintlichkciten. Oder, um es mit einer kühnen Wendung
aus Platos 7. Brief zu sagen: Nicht seine These allein, sondern seine Seele
wird widerlegt. Das gilt sowohl von den Knaben, die sich Freunde glauben
und doch noch gar nicht wissen, was Freundschaft ist (Lysis), wie von den
berühmten Feldherren. die glauben. die Tugend des Soldaten in sich zu
verkörpern (Laches), oder von den ehrgeizigen Staatsmännern, die ein allem
502 Anhänge

anderen Wissen überlegenes Wissen zu besitzen meinen (Charmides), - es


gilt ebenso von a11 denen, die den professionellen Lehrern der Weisheit
folgen, und am Ende gilt es von dem einfachsten Bürger selbst, der von sich
glauben muß und glauben machen muß, daß cr )gerecht( ist, als Kaufmann,
Händler, Bankier so gut \\'ie als Handwerker usw. Offenkundig ist es nicht
Fach-Wissen, auf das es dabei ankommt, sondern eine andere Art von
Wissen, jenseits aller speziellen Ansprüche und Kompetenzen wissender
Überlegenheit, jenseits aller sonst bekannten Technai und Epistcmai. Dies
andere Wissen meint die )Wendung zur Idee<, die hinter allen Bloßstellungen
der vermeintlich Wissenden liegt.
Aber auch das heißt nicht, daß Plato am Ende eine Lehre hat, die man von
ihm lernen kann: die >Ideenlehre<. Und wenn er diese >Lehre< in seinem
Parmenidesdialog kritisiert, heißt das erst recht nicht, daß er damals an ihr
irre geworden ist. Es heißt vielmehr, daß die Annahme von >Ideen< nicht so
sehr eine >Lehre< \\'ar, sondern eine Fragerichtung bezeichnet, deren Irnpli-
kationen zu ent\vickeln und zu diskutieren die Aufgabe der Philosophie, das
heißt der platonischen Dialektik, war. Dialektik ist die Kunst, ein Gespräch
zu fUhren, und das schließt die Kunst ein, dies Gespräch mit sich selbst zu
fUhren und der Verständigung mit sich selbst nachzugehen. Sie ist die Kunst
des Denkens. Das aber bedeutet die Kunst, nach dem zu fragen, was man
eigentlich mit dem meint, was man denkt und sagt. Man begibt sich damit
auf einen Weg. Besser: man ist damit auf einern Wege. Denn es gibt so etwas
wie eine >Naturanlage des Menschen zur Philosophie<. Unser Denken bleibt
nicht stehen bei dem, \vas einer mit diesem oder mit jenem meint. Denken
weist stets über sich hinaus. Das platonische Dialogwerk hat dafür seinen
Ausdruck - es weist auf das Eine, das Sein, das >Gute<, das sich in der
Ordnung der Seele, der Stadtverfassung wie des Weltenbaues darstellt.
Wenn Heideggcr die Annahme der Ideen als den Anfang der Seinsverges-
senheit interpretiert, die in der bloßen Vorgestelltheit und der Objektivie-
rung gipfelt, in die die technologische Ära des universal gewordenen Willens
zur Macht ausläuft, und wenn er konsequent genug ist, auch das früheste
griechische Seinsdenken als die Vorbereitung dieser in der Metaphysik sich
ereignenden Seinsvergessenheit zu verstehen, so bedeutet demgegenüber
die eigentliche Dimension der platonischen Dialektik der Ideen im Grunde
ehvas anderes. Der ihr zugrunde liegende Überschritt auf das Jenseits alles
Seienden hin ist ein Schritt über die >einHütige< Annahme der Ideen hinaus
und in letzter Konsequenz eine Gegenbewegung gegen die metaphysische
Auslegung des Seins als des Seins des Seienden.
Tatsächlich ließe sich die Geschichte der Metaphysik auch als eine Ge-
schichte des Platonismus schreiben. Ihre Stationen wären etwa Plotin und
Augustin, Meister Eckhart und Nikolaus von Kues, Leibniz, Kant und
Hegel, das heißt aber: alle jene Denkanstrengungen des Abendlandes, die
Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer 503

hinter das substantiale Sein der Idee und überhaupt hinter die Substanz-
lehre der metaphysischen Tradition zurückfragen. Der erste Platoniker in
dieser Reihe aber wäre kein anderer als Aristoteles selbst. Das glaubhaft
zu machen, und zwar sowohl gegen die Instanz der aristotelischen Kritik
an der Ideenlehre als auch gegen die Substanzmetaphysik der abendländi-
schen Tradition, wäre das Ziel meiner Studien auf diesem Felde. Ich stün-
de damit übrigens nicht ganz allein. Es hat Hegel gegeben.'
Es wäre auch kein bloß )historisches< Unternehmen. Denn dahinter
stünde durchaus nicht die Absicht, die von Heidegger entworfene Ge-
schichte der wachsenden Seinsvergessenheit durch eine Geschichte der
Seinserinnerung zu ergänzen. Das wäre nicht sinnvoll. Wohl ist es ange-
messen, von wachsender Vergessenheit zu sprechen. So bestand Heidcg-
gers große Leistung in meinen Augen gerade darin, uns aus einer gerade-
zu 'Völligen Vergessenheit aufzurütteln, indem er uns lehrte, im Ernste zu
fragen: Was ist das, das >Sein<? Ich erinnere mich, wie im Jahre 1924 Hei-
degger in einem Seminar über Cajetans >De nominum analogia< eine Dis-
kussion mit der Frage beendete: Was ist das, das Sein? und wie wir uns
über der Absurdität dieser Frage kopfschüttelnd ansahen. Inzwischen sind
wir alle in gewissem Sinne an die Seinsfrage erinnert worden. Auch die
Verteidiger der traditionellen metaphysischen Tradition, die Kritiker Hei-
deggers sein wollen, sind nicht mehr in der Selbstverständlichkeit befan-
gen, mit der das in der metaphysischen Tradition begründete Verständnis
von Sein fraglos galt. Sie verteidigen vielmehr die klassische Antwort als
eine Antwort, das heißt aber, sie haben die Frage als Frage wiederge-
wonnen.
Überall, wo Philosophieren versucht wird, geschieht in dieser Weise
Seins-Erinnerung. Trotzdem gibt es, wir mir scheint, keine Geschichte
der Seinserinnerung. Erinnerung hat keine Geschichte. Es gibt nicht in
derselben Weise, wie es wachsende Vergessenheit gibt, eine wachsende
Erinnerung. Erinnerung ist immer das, was einem kommt, was über ei-
nen kommt, so daß ein Wiedervergegenwärtigtes dem Vergehen und Ver-
gessen eine Weile Halt gebietet. Seinserinnerung aber ist obendrein nicht
Erinnenmg an etwas vordem Gewußtes und jetzt Vergegenwärtigtes,
sondern Erinnerung an vordem Gefragtes, ist Erinnerung an eine ver-
schollene Frage. Alle Frage aber, die als Frage gefragt wird, ist nicht län-
ger erinnerte. Als Erinnerung an das damals Gefragte ist sie das jetzt Ge-
fragte. So hebt das Fragen die Geschichtlichkeit unseres Denkens und Er-
kennens auf. Philosophie hat keine Geschichte. Der erste, der eine Ge-

7 [Vgl. inzwischen meine Arbeit ~Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles<

(Abh. d. Heidelberger Ak. d. Wiss., Philos.-histor. Kl.Jg. 1978, 3. Abh.) Heidelberg 1978;
.1 Ges. Werke Bd. 7].

I
504 Anhänge

schichte der Philosophie schrieb, die wirklich eine solche \\,ar, war auch der
letzte: Hege!. In ihm hob sich Geschichte in die Gegenwart des absoluten
Geistes auf.
Aber ist das unsere Gegenwart? Ist auch nur Hegel ftif uns diese Gegen-
wart? Gcv.riß soll man Hege1 nicht dogmatisch einengen. Wenn er vom Ende
der Geschichte sprach, die mit der Freiheit aller erreicht sei, so hieß das, daß
die Geschichte nur in dem Sinne zu Ende sei, daß kein höheres Prinzip als die
Freiheit aller aufgestellt werden könne. Die steigenden Unfreiheit aller, die
sich als das vielleicht unausweichliche Schicksal der Weltzivilisation abzu-
zeichnen begonnen hat, wäre in scinen Augen kein Einwand gegen das
Prinzip. Es wäre nur »schlimm rur die Tatsachen(L Gleich\vohl fragen wir
gegen Hegel: Ist das Prinzip, das erste und letzte, worin der philosophische
Gedanke des Seins endet, ,Geist,' Dagegen hat die Kritik der Junghegelianer
sich polemisch orientiert, und nach meiner Überzeugung ist Heidegger es
gewesen, der als erster eine positive Möglichkeit freilegt, die über die bloße
dialektische Umkehrung hinausging. Denn das ist sein Punkt: ,Wahrheit, ist
nicht die volle Unverborgenheit, deren ideale Erftillung am Ende die Selbst-
gegenwart des absoluten Geistes bliebe. Er lehrte uns vielmehr, Wahrheit als
Entbergung und Verbergung zugleich zu denken, Die großen Denkversuche
der Tradition, in denen wir uns immer wieder ,"vie mitausgesprochen wis-
sen, stehen aBe in dieser Spannung. Was ausgesagt ist. ist nicht alles. Das
Ungesagte erst macht das Gesagte zum Wort, das uns erreichen kann. Das
scheint mir von zwingender Richtigkeit. Die Begriffe, in denen sich Denken
formuliert, stehen gleichsam gegen eine Wand von Dunkelheiten. Sie wir-
ken einseitig, festlegend, vorurteilsvoll. Man denke etwa an den griechi-
schen Intellektualismus oder an die Willensmetaphysik des deutschen Idea-
lismus oder an den Methodologismus der Neukantianer und Neupositivi-
sten. Sie sagen sich auf ihre Weise aus, aber nicht ohne sich fur sich selbst
dabei unkenntlich zu werden. Sie sind in der Vorgreiflichkeit ihrer Begriffe
befangen.
Aus diesem Grunde ist jeder Dialog mit dem Denken eines Denkers, den
\:vir zu [uhren suchen, indem wir ihn zu verstehen trachten, ein in sich
unendliches Gespräch. Ein wirkliches Gespräch, in dem wir )unsere( Spra-
che zu finden suchen - a1s die gemeinsame. Die historische Abstandnahnle,
und gar die Placierung des Partners in einem historisch überschaubar ge-
machten Ablauf, bleiben untergeordnete MOlllente unseres Verständigungs-
versuchs und sind in Wahrheit Formen der Se1bstvergcwisserung, mit denen
,"vir uns gegen den Partner verschließen. Im Gespräch dagegen versuchen
wir uns fur ihn zu öffnen, das heißt die gemeinsame Sache festzuhalten, iI;
der wir zusammenstehen.
Wenn das so ist, dann steht es freilich schlecht mit einer eigenen Position
Bedeutet solche dialogische Unendlichkeit nicht in letzter Radikalität einet
Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer 50S
völligen Relativismus? Aber wäre das nicht se1bst wieder eine solche Posi-
tion und obendrein eine, die sich in bekannter Weise in Selbstwiderspruch
verstrickte? Am Ende ist es so wie beim Erwerb von Lebenserfahrung auch:
Eine Fülle von Erfahrungen, Begegnungen, Belehrungen, Enttäuschungen
mündet nicht darin, daß man am Ende alles weiß, sondern daß man Bescheid
weiß und Bescheidenheit gelernt hat. In einem zentralen Kapitel meines
Buches ,Wahrheit und Methode< habe ich diesen 'personalen< Begriff von
Erfahrung gegen die Verdeckung verteidigt, die er durch den institutionali-
sierten Prozeß der Erfahrungswissenschaften erlitten hat, und empfinde mich
darin M. Polanyi verwandt. Die )hermeneutischc< Philosophie versteht sich
von da aus nicht als eine >absolute< Position, sondern als ein Weg der
Erfahrung. Sie besteht darauf, daß es kein höheres Prinzip gibt als dies, sich
dem Gespräch offenzuhalten. Das aber heißt stets, das mögliche Recht, ja die
Üblerlegenheit dcs Gesprächspartners im voraus anzuerkennen. Ist das zu
wenig? Es scheint mir die Art Redlichkeit, die man von einem Professor der
Philosophie allein verlangen kann -, die man aber auch verlangen sollte.
Es scheint mir evident, daß der Rückgang auf die ursprüngliche Dialogik
menschlicher Welthabenicht hintergehbarist. Das gilt auch dann, wenn letzte
Rechenschaftsgabe, ,Letztbegründung< gefordert oder ,Selbstverwirkli-
chung des Geistes< gelehrt wird. So mußte vor allem Hegels Denkweg erneut
befragt werden. Heidegger hat die griechischen Hintergründe der Tradition
der Metaphysik aufgedeckt und in Hegels dialektischer Auflösung der tradi-
tionellen Begrifflichkeit in seiner ,Wissenschaft der Logik< die radikalste
Gefolgschaft gegenüber den Griechen erkannt. Aber seine Destruktion der
Metaphysik hat dieselbe nicht ihres Sinnes beraubt. Insbesondere machte sich
Hegels kunstvolle spekulative Überschreitung der Subjektivität des subjekti-
ven Geistes geltend und bot sich als ein eigener Lösungsweg gegenüber dem
neuzeitlichen Subjektivismus an. War hier die Intention nicht die gleiche wie
in Heideggers Abkehr von der transzendentalen Selbstauffassung im Denken
der ,Kehre,? War nicht auch Hegels Intention, die Orientierung am Selbstbe-
wußtsein und an der Subjekt-Objekt-Spaltung der Bewußtseinsphilosophie
hinter sich zu lassen? 0 der sind da noch Unterschiede? Bedeutet die Orientie-
rung an der Universalität der ,Sprache" das Bestehen auf der Sprachlichkeit
unseres Weltzuganges, das wir mit Heidegger teilen, gar einen Schritt über
Hegel hinaus, einen Schritt hinter Hegel zurück?
Zu einer ersten Ortsbestimmung meines eigenen Denkversuches könnte
ich in der Tat sagen, daß ich die Ehrenrettung der >schlechten Unendlichkeit,
auf mich genommen habe. Freilich mit einer in meinen Augen entscheiden-
den Modifikation. Denn der unendliche Dialog der Seele mit sich selber, der
das Denken ist, ist nicht zu charakterisieren als eine endlose Fortbestimmung
der zu erkennenden Gegenstandswelt, weder im neukantianischen Sinne der
unendlichen Aufgabe noch im dialektischen Sinne des denkenden Hinaus-
506 Anhänge

Seins über jede jeweilige Grenze. Hier hat rur mich Heideggcr einen neuen
Weg gcvvicsen, indem er die Kritik an der metaphysischen Tradition in die
Vorbereitung wendete, die Frage nach dem Sein auf neue Weise zu stellen,
und sich dabei >unterwegs zur Sprache< fand. Es ist der Weg der Sprache, die
nicht in der Urteilsaussage und ihrem gegenständlichen Geltungsanspruch
aufgeht. sondern die sich stets an das Ganze des Seins hält. Totalität ist nicht
eine zu bestimmende Gegenständlichkeit. Kants Kritik an den Antinomien
der reinen Vernunft scheint mir insofern gegen Hegel recht zu behalten.
Totalität ist nicht Gegenstand, sondern der Welthorizont, der uns umschließt
und in den wir hineinleben.
Ich brauchte nicht erst Heidegger zu folgen. der Hölderlin gegen Hege!
aufbaute und das Werk der Kunst als ein ursprüngliches Wahrheitsgeschehen
deutete, um im dichterischen Werk ein Korrektiv ftir das Ideal objektiver
Bestimmtheit und für die Hybris der Begriffe anzuerkennen. Das war mir
vielmehr von meinen allerersten eigenen Denkversuchen her gc\viß. Es
soHte meiner eigenen hermeneutischen Orientierung beständig zu denken
ge ben. Der hermcneutische Versuch, Sprache vom Dialog aus zu denken -
ein ftir einen lebenslangen Schüler Platos unausweichlicher Versuch -, be-
deutete letzten Endes die Überholbarkeit jeder Fixierung durch den Fort-
gang des Gesprächs. So wird die terminologische Fixierung, die im kon-
struktiven Bereich der modernen Wissenschaft und ihrer Verfügbarma-
chung des Wissens fur jedermann ganz angemessen ist, im Felde der Bewe-
gung des philosophischen Gedankens eigentümlich verdächtig. Die großen
griechischen Denker \vahrten sich die Beweglichkeit der eigenen Sprache
auch dort, wo sie - in thematischer Analyse - gelegentlich begriffliche
Fixierungen vornahmen. Es gibt aber Scholastik, antike, mittelalterliche,
neue und neuestc. Sie begleitet die Philosophie wie ihr Schatten. Daher wird
der Rang eines Denkens fast dadurch bestimmbar, ""vie weit es die Versteine-
rungen aufzubrechen vermag, die der überlieferte philosophische Sprachge-
brauch darstellt. Hegcls programmatischer Versuch, den er als seine dialekti-
sche Methode handhabte, hat im Grunde viele Vorgänger. Selbst ein so
zeremoniell gesinnter Denker wie Kant, der die lateinische Schulsprache
stets mit im Sinne hatte, fand seine )eigene\ Sprache, die zwar Neubildungen
vermied, aber den traditionellen Begriffen viele neue Wendungen abge-
wann. Auch Husserls Rang bestimmt sich gegenüber dem zeitgenössischen
und älteren Neukantianismus gerade dadurch, daß seine geistige Anschau-
ungskraft überlieferte Kunstausdrücke und die deskriptive Geschmeidigkeit
seines sprachlichen Vokabulars zur Einheit eines Stils verschmolz. Heideg-
ger vollends berief sich geradezu auf das Vorbild Platos und Aristoteles', um
die Neuartigkeit seines Sprachgebarens zu rechtfertigen, und man ist ihm
dabei weit mehr gefolgt, als die erste provokatorische Wirkung und Verblüf-
fung erwarten ließ. Die Philosophie befindet sich eben, im Unterschied zu
Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer 507

den Wissenschaften und der Lebenspraxis, in einer eigentümlichen Schwie-


rigkeit. Die Sprache, die wir sprechen, ist nicht fur die Absichten des
Philosophierens geschaffen. Philosophie verstrickt sich in einer konstituti-
ven Sprachnot, und diese Sprachnot wird um so fUhlbarer, je kühner ein
Philosophierender voraus denkt. Im allgemeinen ist es das Kennzeichen des
Dilettanten, daß er willkürlich Begriffe ,bildet< und eifrig seine Begriffe
,definiert<. Der Philosoph weckt die Anschauungskraft der Sprache, und
jede sprachliche Kühnheit und Gewaltsamkeit kann am Platze sein, wenn sie
es nur erreicht, daß sie in die Sprache derer eingeht, die mitdenken und
weiterdenken, und das heißt, wenn sie nur den Horizont der Verständigung
fortbewegt, ausdehnt, lichtet.
Es ist unvermeidlich, daß die Sprache der Philosophie, die ihren Gegen-
stand niemals vorfindet, sondern selbst erst aufbaut, sich nicht in Satzsyste-
men bewegt, deren logische Formalisierung und kritische Überprüfung auf
Schlüssigkeit und Eindeutigkeit hin die Einsichten der Philosophie vertiefen
könnte. Diese Tatsache wird keine )Revolutioni, auch nicht die durch die
Analysis of ordinary language proklamierte, aus der Welt schaffen. Um es am
Beispiel zu illustrieren: Es kann einen Gewinn an Klarheit bringen, wenn
man die in einem Platonischen Dialog begegnenden Argumentationen mit
logischen Mitteln analysiert, Inkohärenzen aufweist, Sprünge ausfUllt, Fehl-
schlüsse entlarvt usw. Aber lernt man so Plato lesen? Seine Fragen zu den
eigenen zu machen? Gelingt es, an ihm zu lernen, statt sich eigene Überle-
genheit zu bestätigen' Was für Plato gilt, gilt aber mutatis mutandis fUr alle
Philosophie. Plato hat das in seinem 7. Brief, wie mir scheint, ein fUr allemal
richtig beschrieben: Die Mittel des Philosophierens sind nicht es selbst.
Plane logische Schlüssigkeit ist noch nicht alles. Nicht als ob die Logik nicht
ihre evidente Gültigkeit hätte. Aber die Thematisierung des Logischen
beschränkt den Fragehorizont auf formale Überprüfbarkeit und verstellt
damit die Weltöffnung, die in unserer sprachlich ausgelegten Welterfahrung
geschieht. Das ist eine hermeneutische Feststellung, bei der ich am Ende mit
dem späten Wittgenstein eine gewisse Konvergenz zu bemerken meine. Er
revidierte dort die nominalistischen Vorurteile seines }Traktats< zugunsten
einer Zurückftihrung alles Sprechens auf Zusammenhänge der Lebenspra-
xis. Freilich blieb ihm der Ertrag dieser Reduktion auch weiterhin negativ.
Er bestand fur ihn in der Abweisung der unausweisbaren Fragen der Meta-
physik und nicht darin, die unabweisbaren Fragen der Metaphysik - so
unausweisbar sie sein mögen - wiederzugewinnen, indem man sie aus der
Sprachverfaßtheit unseres In-der-Wclt-Seins heraushört. Hierftir ist weit
mehr als Von Wittgenstein von dem Worte der Dichter zu lernen.
Da ist es genau so und niemand bestreitet es dort, daß es so ist: die
begriffiiche Explikation vermag den Gehalt eines dichterischen Gebildes
nicht auszuschöpfen. Das ist mindestens seit Kant anerkannt, wenn nicht gar
508 Anhänge

schon seit Baumgartens Entdeckung der ästhetischen Wahrheit (cognitio


sensitiva). Aber unter hermeneutischem Aspekt muß das besonders interes-
sieren. Der Dichtung gegenüber genügt nicht die bloße Scheidung des
Ästhetischen vom Theoretischen und seine Befreiung vom Druck der Re-
geln oder des Begriffes. Auch Dichtung bleibt noch eine Gestalt der Rede, in
der Begriffe zueinander in Beziehung treten. So besteht die hermeneutische
Aufgabe darin, den besonderen Ort der Dichtung im Zusammenhang der
Verbindlichkeit der Sprache, in der immer Begriffliches im Spiele ist, be-
stimmen zu lernen. Auf welche Weise wird Sprache zur Kunst? Diese Frage
stellt sich hier nicht nur, weil es sich bei der Kunst der Interpretation immer
um Formen von Rede und Text handelt und weil es sich bei der Dichtung
auch um sprachliche Gebilde, um Texte handelt. Dichterische Gebilde sind
in einem neuartigen Sinne >Gebilde<, sie sind in eminenter Weise )Texte<,
Sprache tritt hier in ihrer vollendeten Autonomie heraus. Sie steht rur sich
und bringt sich zum Stehen, während sonst Worte durch die Intentionsrich-
tung der Rede überholt werden, die sie hinter sich läßt.
Hier steckt ein hermeneutisches Problem von eigener Schwierigkeit. Es
ist eine besondere Art von Kommunikation, die bei Dichtungen vor sich
geht. Mit wem findet sie statt? Mit dem Leser? Mit welchem Leser? Hier
gevv"innt die Dialektik von Frage und Antwort, die dem hermeneutischen
Prozeß immer zugrunde liegt und dem Grundschema des Dialogischen
entspringt, eine besondere Modifikation. Aufnahme und Interpretation von
Dichtung scheint ein dialogisches Verhältnis eigener Art zu implizieren.
Das tritt besonders hervor, wenn man die verschiedenen Weisen des
Sprechens in ihrer Sonderart studiert. Es ist nicht nur das dichterische Wort,
das eine reiche Skala von Differenzierungen aufweist, z. B. episch, drama-
tisch, lyrisch. Es gibt offenbar auch andere Weisen des Sprechens, in denen
sich das hermeneutische Grundverhältnis von Frage und Antwort eigen-
tümlich modifiziert. Ich denke an die verschiedenen Formen des religiösen
Sprechens, wie Verkündigung, Gebet, Predigt, Segnung. Ich nenne die
mythische >Sage{, den Rechtstext, und eben auch die mehr oder minder
stammelnde Sprache der Philosophie. Sie bilden eine hermeneutische An-
wendungsproblematik, der ich mich seit dem Erscheinen von >Wahrheit und
Methode, zunehmend mehr gewidmet habe. Von zwei Seiten aus glaube ich
der Sache nähergekommen zu sein, einmal von meinen Studien zu Hegel
her, in denen ich die Rolle des Sprachlichen in seinem Zusammenhang mit
dem Logischen verfolge, und sodann von moderner hermetischer Dichtung
her, wie ich sie in einem Kommentar zu Pau} Celans >Atemkristall{ zum
Gegenstand gemacht habe. Das Verhältnis von Philosophie und Poesie steht
im Zentrum dieser Untersuchungen. Das Nachdenken darüber dient mir
dazu, und kann uns allen dazu dienen, sich beständig daran zu erinnern, daß
Plato kein Platoniker war und Philosophie nicht Scholastik ist.
Bibliographische Nachweise

1. Zwischen Phänomenologie und Dialektik - Versuch einer Selbstkritik.


bisher unveröffentlicht

2. Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie.


Vortrag entstanden 1943 (damals unveröffentlicht); Erstdruck in Kleine Schriften I,
S.l-lO. VgL auch den Kongreß-Vortrag in Mendoza (Argentinien, 1948) unter
dem Titel lDie Grenzen der historischen Vernunft" abgedruckt in den Akten des
Kongresses.

3. Wahrheit in den Geisteswissenschaften.


Vortrag auf der Jahrestagung der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bremen
1953. Erstdruck in: Deutsche Universitätszeitung 9 (1954), S. 6-8, wiederabge-
druckt in Kleine Schriften I, S. 39-45.

4. Was ist Wahrheit?


Vortrag auf Einladung der Evangelischen Studentengemeinde der Universität
Frankfurt gehalten in Amoldshain 1955. Erstdruck in: Zeitwende Die neue Furche 28
(1957), S. 226-237, wiederabgedruckt in Kleine Schriften I, S. 46-58.

5. Vom Zirkel des Verstehens.


Erstdruck in Festschrift fur Martin Heidegger zum 70. Geburtstag, Pfullingen 1959,
S. 24-35, wiederabgedruckt in Kleine Schriften IV, S. 54-61.

6. Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge.


Vortrag gehalten in München 1960 auf dem VI. Deutschen Kongreß ftif Philosophie,
gedruckt in den Kongreßakten IDas Problem der Ordnung<, Meisenheim 1962,
S. 26-36, wiederabgedruckt in Kleine Schriften I, S. 59-69.

7. Begriffsgeschichte als Philosophie.


Erstdruck in: Archiv f1ir Begriffsgeschichte 14 (1970), S. 137 -151, wiederabge-
druckt in Kleine Schriften IU, S. 237-250.

8. Klassische und philosophische Hermeneutik.


Erstdrucke aufitahenisch unter dem Titel lErmeneutica< in: Enciclopcdia del Nove-
cento, Rama 1977, Bd. I1, S. 731-740. Auf deutsch in kürzerer Fassung in]. Ritters
lHistorisches Wörterbuch der Philosophie(, Bd. Ill, S. 1061-1073.
510 Bibliographische :r--;ach'weise

9. Zur Problematik des Selbstverständnisses.


Vortrag gehalten in Rom 1961, veröffentlicht unter dem Titel >Jntendimento e
Rischio( von E. Castelli in den Kongreßberichten des lCentro Internazionalc di Studi
U manistici<, Roma 1962; deutsch Unter dem Titel) Verstehen und Spielen< in: Theo-
logische Forschungen 30 (1963). Erstdruck einer erweiterten und auch hier "\\7icder-
abgedruckten Fassung in: Einsichten, festschrift ruf Gerhard Krüger zum 60. Ge-
burtstag, Frankfurt 1962, S. 71-85, auch in Kleine Schriften I, S. 70-81.

10. Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz.
Vortrag gehalten auf den Hochschultagen 1965 der Evangelischen Studentenge-
meinde Tübingen. Erstdruck unter dem Titel )Geschichte - Element der Zukunft<
zusammen mit Vorträgen von R. Wittram und]. Moltmann, Tübingen 1965, S. 33-
49. Wiederabdruck unter dem auch hier gewählten Titel in Kleine Schriften I,
S.149-160.

11. Mensch und Sprache.


Vorabdruck in: Muttersprache 65 (1965), S. 257 - 262, veröffentlicht in: Orbis Scrip-
tus. D. Tschizewskij zum 70. Gcburtstag. München 1966. S.237-243, auch in
Kleine Schriften I, 5.93-100.

12. über die Planung der Zukunft.


Erstdruck in: Daedalus95 (1966), S. 572-587 unter dem Titel IPlanning of thc
Future" dcutsch in Kleine Schriften I, S. 161-178.

13. Semantik und Hermeneutik.


Vortrag gehaltcn beim XlV. Internationalen Kongreß fur Philosophie in Wicn 1968.
Erstdruck in Kleine Schriften III, S. 251- 260.

14. Sprache und Verstehen.


Erstdruck in: Zeitwcnde Die neue Furche 41 (1970), S. 364-377, wiederabgedruckt
in Kleine Schriften IV, S. 94-108.

15. Wieweit schreibt Sprache das Denken vor?


Erstdruck in: Zeitwende Die neue Furche 44 (1973), S. 289-296, wiederabgedruckt
in Kleine Schriften IV, S. 86-93. Französischin: E. Castelli(Hrsg.), D(mythisationet
Ideologie, Paris 1973, unter dem Titel:Jusqu' aquel pointla langue preforme-t-ellc la
pensee, S. 65-70- Englisch im Anhang zu >Truth and Method<, London 1976.

16. Die Unfahigkeit zum Gespräch.


Rundfunkvortrag rur das Studio Heidclberg des SDR. Erstdruck in: Universitas 26
(1971), S. 1295-1304, wiederabgedruckt in Kleine Schriften IV, S. 109-117.

17. Die Universalität des hermeneutischen Problems.


Erstdruck in: Philosophisches Jahrbuch73 (1966), S.215-225, sowie in Kleine
Schriften I, S. 101-112.
Bibliographische Nachweise 511

18. Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik.


Erstdruck in Kleine Schriften I, S. 113-130.

19. Replik zu 'Hermeneutik und Ideologiekritik<.


Erstdruck in: J. Habermas (Hrsg.), Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt
1971, S. 283- 317, wiederabgedruckt in Kleine Schriften IV, S. 118-141.

20. Rhetorik und Hermeneutik.


Erstdruck als Veröffentlichung der Joachim -Jungius-Gesellschaft der Wissenschaf-
ten, Göttingen 1976, wiederabgedruckt in Kleine Schriften IV, S. 148-163.

21. Logik oder Rhetorik' Nochmals zur Frühgeschichte der Hermeneutik.


Erstdruck in Archiv fur Begriffsgeschichte 20 (1976), S. 7-16, wiedera bgcdruckt in
Kleine Schriften IV, S. 164-172.

22. Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe.


Vortrag vor der Westfälischen Sektion der Internationalen Vereinigung rur Recht-
und Sozialphilosophie in Münster am 19. 1. 1978 sowie vor der Heidelberger Akade-
mie der Wissenschaftcn am 18. 1. 1978. Erstdruck einer erweiterten Fassung in:
Recht"hcorie9 (1978), S, 257-274.

23, Probleme der praktischen Vernunft,


Erstdruck in: Sinn und Geschichtlichkeit - Werk und Wirkungen Theodor Litts,
hrsg. von J. Derbolav (u. a.), Stuttgart 1980, S. 147-156.

24, Text und Interpretation,


Erstdruck in: Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte, hrsg. von
P. Forget, München 1984, S. 24- 55.

25. Destruktion und Dekonstruktion.


Aufdeutsch unveröffentlicht- Italienisch: )Interpretazionec deconstruzionc(, Napoli
1986; Englisch: Macshall (Ed.), lowa 1986.

26. Exkurse I-VI.


Erstdruck in lWahrheit und Methode Grundzüge cincr philosophischen Herme-
neutik(, Tübingcn1960, S. 466-476.

27. Hermeneutik und Historismus.


Erstdruck in: Philos. Rdsch. 9 (1961), S. 241- 276, Wiederabdruck in lWahrheit und
Methode<, Tübingen 21965, S. 477-512.

28. Hermeneutik.
Erstdruck in: Contemporary Philosophy, hrsg. von R. Klibansky voL 3, Firenze
1969, S. 360-372.
512 Bibliographische Nachweise

29. Vorwort zur 2. Auflage.


Erstdruck in >Wahrheit und Methode<, Tübingen 21965, S. XVI - XXVI.

30. Nachwort zur 3. Auflage.


Erstdruck in >Wahrheit und Methode<, Tübingen 31972, S. 513-541.

31. Selbstdarstellung.
Erstdruck in >Philosophie in Selbstdarstellungen<, hrsg. von L. J. Pongratz, Ham-
burg 1977, Bd. III, S. 59-100.
Sachen

Abbildung (s. Bild, Abbild) I 142f., 412f. Anwesenheit (Vorhandenheit) s. a. Parousie I


Abenteuer I 75 128, 261; II 15, 46ff., 356 u. Ö., 428,
Abhebung I 273f., 306, 310f., 331,380 435f.
Abschattung I 451; II 69 Applicatio I 35f., 188, 312ff., 320ff.,
Absolutes (unendliches) Wissen (s. Geist, Ver- 335ff., 338f., 344f., 407; II 106ff.,
nunft) 120, 104, 173f., 233f., 248, 306, 260ff., 303f., 310ff., 419, 427, 471
347 ff., 464f. Arabeskeniisthetik I 51 f., 98
Abstand (zum Anderen, Zeiten-A.) s. Di- Arbeit I 18, 218; 11 203, 242f.
stanz Arche (Prinzip, Erstes) II 303, 315, 325,
Abstraktion 118,258, 432ff., 479; II 186 327f.
Adressat I 339f., 399; 11 287, 343f., bes. 476 Architektur s. Baukunst
Aequitas s. Billigkeit Arete s. a. Tugend I 18, 317 ff.; 11 303
Affikte 11 284, 385 Ars s. Techne
Affirmation (tragische) 1137; 11 141 Ars inveniendi I 26, 420
Akademie I 26, 433 f. Assimilation I 256f.
Aletheia 1461, 486ff.; 11 46f., 364 Asthetik I 45ff., 61ff., 85ff., 103f., 196f.; 11
Allegorie I 77 ff., 157, 178; 11 94f., 283 472ff.
Allgemeinheit s. a. Urteilskraft, Induktion Asthetisches Bewußtsein s. a. Ästhetische
usw. I 18f., 22f., 26f., 36ff., 46f., 74, Unterscheidung I 46f., 87ff., 94ff., 102,
83,90,317,322 u.ö.; 11 31,73, 86f., 12f., 132, 140u. ö.; 11 220, 223f.
200f. Asthetischer Gegenstand s. Kunstwerk
. - konkrete, abstrakte I 26; 11 422f. Asthetisches Interesse (Interesselosigkeit)
Subsumtion unter A. 127, 36f., u. Ö. 54f., 492
- der Erfahrung I 356 f.; 11 328 Asthetische (Nicht-) Unterscheidung I 91 ff. ,
Altertumswissenschafi I 290; 11 55 120f., 132, 144, 154, 158,403,479; 11 14,
Analogie I 81, 434f.; 11 12, 422 440f., 472, 477
Analytik 11 293, 298 Asthetische Unmittelbarkeit 1139,404
Analysis notionum 1420 Auffiihrung 1121, 139, 152, 172; 11 310
Anamnesis I 21 f., 119; 11 237 f., 369f., 478 Auffiihrungstradition I 124
Andenken I 158, 395 Aujkliirung I 36, 181f., 242f., 274ff.; 11 39,
Andere, Andersheit, Anderssein s. a. Ge- 42, 58, 83ff., 126ff., 183, 263, 304,
spräch I 273, 304f., 366f.; 11 9, 18f., 64, 416f.,492
116, 210ff., 335 u. Ö. - historische 11 32 f., 36
Anerkennung I 349, 364; 11 244,336 Aufiragskunst 193, 140
Anfang I 476f.; 11 363 Augenblick I 208; 11 135, 140ff., 371,413
Anrede 11 53, 64 Ausdruck s. a. Darstellung I 53f., 69, 77,
Anschauung, intellektuelle I 246f. 121,200, 216ff., 221, 228f., 233ff., 240,
Ansichsein I 349f., 451 f., 480f. 265, 341 f., 399, 471 f.; 11 346, 384ff.
Anspruch I 131, 365 Auslegen, Auslegung s. a. Hermeneutik I
Anticipatio I 354; 11 277 188ff., 216ff., 312ff., 333ff., 389ff.,
Antwort s. Frage 401 ff., 475 f. ; 11 55 f., 285 ff., 290, 309 ff. ,
Anwendung s. Applicatio 340f.
514 Sachen

- grammatische I 190 Bewußtsein I 72f., 229, 248f., 347ff., 360f.;


- psychologische I 190ff., 217f., 302ff.; II II 1Of., 60f., 64, 84, 125f., 339
14f., 19, 57, 99, 104f., 123, 223, 284, - Kritik II 362f., 435f.
298, 313f., 383, 393ff. Bibel 1155, 177ff., 187, 190,200,282,330,
- kognitive, normative, reproduktiveI 315ff., 335ff.; II 94ff., 127, 132, 281, 283ff.,
402ff.; II 17ff., 93ff., 98, 236, 278, 310, 296f., 308f., 31lf.
399, 426f. Bibelkritik I 24, 184f., 276; II 122, 277,
- VOll Dichtung I 234; II 420, 508 404f.
- und Verstehen I 186f., 393ff., 40lff., 474; Bild I 16f., 83f., 97, 120ff., 139ff., 156ff.,
II 59ff., 264, 290, 345f., 351, 419,465 412ff., 417ff., 491
- Sprachlichkeit der! 402 ff.; II 79, 229f. - Geschichte des I 140f.
- Selbstaujhebung der I 402, 469, 477; II - Seinsvalenz des I 144 ff.
350f. - Spiegeldbild 1143
Aussage I 457, 471ff.; II 46ff., 179, 192ff., - religiöses I 147f., 154f.
288,293 - Sinnbild I 82f.
Äußerung s. Ausdruck Bildende Kunst I 139ff.
- der Kraft I 209, 217 f.; II 177 Bildung I 15ff., 22f., 87ff., 367; II 6,235,
Authentizitä't II 345 f., 352 280
Autobiographie I 228,281; II 105, 134, 322f., - ä'sthetischeI 23 ff., 87 ff.
388 - historische I 12f., 22f.
Autor (Urheber) I 116, 184f., 187, 296f.; II Bildungsgesellschaft I 41, 92f.; II 221
18f., 58, 104ff., 272, 284,441 Bildungsreligion I 15, 85
Autoritä't I 11, 13, 276f., 281 ff.; II 39f., 225, Billigkeit (Aequitas, Epieikeia) I 323f.; 11
243f. 106, 310f.
Axiom I 354; II 47 Biographie I 67 ff., 227 f.
Biologie I 455ff., 463; II 168
Barock I 15, 85f. Boheme I 93
Bauaufgabe I 161
Baudenkmä'ler I 161 ff. Causa II 69
Baukunst I 93, 161 ff. Characteristica universalis I 420f.
Bedeutung I 72 f., 96 f., 229 f., 248 f., 414 ff., Christentum I 24, 45, 79, 84f., 136, 145,
436f.,476f.;II174f.,196f.,395 178f., 213, 243, 292; 11 28,45,55, 138f.,
Befehl I 339f.; II 47, 179,345 403ff.
Begehung I 128 f. Christologie 1145,432
Begierde I 19, 257 Common sense I 24ff., 37; 11 236, 330
Begriff, Begriffigeschichte, BegriJjlichkeit I 4, Complicatio 1439
400,407; II 11f., 77ff., 90, 292ff., 366, Concinnitas 1140
375ff., 460, 494 Coniectura I 441
Begriffibildung I 356ff., 432ff.; II 77 u. ö., Copia II 273, 467
149f.,462 Critica I 26; II 111,254,313,497
Begründung I 28f., 261, 275; II 484,505
Behammgskraft des Geistes I 286, 453
Beispiel s. Exempel, Vorbild I 44f., 48, 211 Dabeisein s. Teilhabe
Beratung (= Euboulia) II 168ff., 315,467 Darstellung I 50, 58, 80f., 113ff., 142ff.,
Beredsamkeit s. Rhetorik 156ff., 414f., 488f.; II 375f.
BerufI 19 Dasein I 258 ff.; II 29 ff., 33 f., 54, 102, 331,
Besonnenheit s. Phronesis 335
Beurteilung (sittliche, ä'sthetische) I 328; II Deinos I 329
224,378 Dekonstmktion II 11, 114, 333, 361 ff.
Beweis I 29,436, 47lf.; II 45,49,331,367 Dekoration I 43, SOff., 162ff.; II 377f.
Sachen 515

Denken I 267f., 335ff.; 11 200, 210, 294, Emanzipation I 241, 243, 249 f., 257, 270 ff.,
298,336,372,396,502 469
- Dialog der Seele 11 110, 152, 184, 200, 505 Empeiria s. Erfahrung
Destruktion 11 366 ff., 435 f., 484, 505 Empirismus 112, 14,216,222
Dialektik I 189f., 192, 346ff., 368ff., 396, Endlichkeit (des Menschen, der geschichtlichen
412, 426f., 469ff.; 11 52, 306ff., 332,354, Eifahnmg) I 105,125,137, 236ff., 280f.,
366ff.,502 363, 428ff., 461, 475f., 483f.; 11 28f.,
Dialog s. Denken/Gespräch 40ff., 54, 331, 333, 470
Dianoia (Diskursivität) 1411 f., 426f. - und Sprachlichkeit I 460ff.
Dichter (-Historiker) I 215f.; 11 141 Energeia, Energie I 116, 118, 218, 230, 236,
- (- Philosoph) 1279 247,444,463;11308,486
Dichtung I 122f., 165ff., 192f., 453, 473f.; Entfremdung, Verfremdung s. Fremdheit
11 198, 351ff., 508 Enthusiasmus I 130f.
Differenz, ontologische I 261 f., 460f.; 11 368, Entscheidung, sittliche I 322f.; 11 135, 168,
372 303, 324, 427f.,468f.
- di.fference 11 371 Entwurfl 266ff.; 11 59fu. ö., 168
Ding I 459f. Enumeratio simplex I 354
Diskontinuität 11 136ff. Epagoge (Induktion) I 354ff., 436; 11 149,
Diskursivität s. Dianoia 200, 228f.
Distanz I 12f., 135, 137, 301 f., 448, 457; 11 Epieikeia s. Billigkeit
8f., 22, 32, 63,143,221,351,476 Episteme I 319; 11 78
Divination 1193,215; 11 14f., 61 Epoche 11 136 f., 252 f.
Docta ignorantia I 26, 368 f.; 11 501 Erfahrung I 1Of., 105f., 320f., 352ff., 421,
Dogmatik, historische,juristische I 332ff. 463f., 469; 11 69, 79f., 149f., 200
- wissenschaftliche 11 506 - geschichtliche I 225f., 244f.; 11 29ff., 112,
Dolmetscher s. Interpretation I 313, 387f.; 11 136ff., 332f., 418, 471
153f., 264, 294f., 350f., 419 - hermeneutische I 353 ff., 363 f., 387 ff.,
Doxa I 371 f.; 11 497 432, 469; 11 115 ff., 224 f., 238, 466, 484,
Duree I 74 492
Dynamis (Potenz) 127, 34,210, 428; 11 274, - dialektischer Prozeß der 1359 ff., 271
467, 486 - des Du I 364ff.; 11 35, 104, 210f., 223,
445f.,504f.
Eigenbedeutsamkeit I 95 - und Wort I 421
Eikos, Verisimile (das Einleuchtende) I 26f., - der Dialektik I 468 f.; 11 270 f.
488f.; 11 111, 234f., 280, 499 Erhabene I 57
Einbildungskraft (produktive) I 52, 58f. Erinnerung I 21, 72 f., 173; 11 145
Einfachheit (des Lebens) I 34 Erkenntnistheorie I 71 f., 224 ff., 254, 258; 11
Einfall I 24, 271, 372, 468; 11 206 28ff., 69f., 387f., 397
Einfiihlung I 47, 254; 11 57, 223, 284 Erlebnis
Einheit (= Identität) 11 7f., 16f., 86, 174f. - Wortgeschichte I 66 ff.
- Zwei-Einheit, spekulative 11 370 - Begriff I 70 ff., 100 f., 227, 236, 239 f. ,
Einheit und Vielfalt I 430f., 461 ff.; 11 80 254, 281; 11 30ff.
- der Weltgeschichte I 211 f. - ästhetisches I 75f., 100f.
- von Denken und Sprechen I 406 Eriebniskunstl 76ff., 85f., 93; 11 379
Einsicht I 328, 362 Erscheinung I 348f., 486f.
Einzelfall (Produktivität dess.) s. Urteils- Eruditio I 23
kraft Erziehung I 26, 237; 11 172, 305, 308, 326,
Eleos I 135 f. 433
Eloquentia I 25,27 - ästhetische 188
Emanation I 145 f., 427, 438 f.; 11 384ff. Eschatologie I 211 f., 431; 11 407f.
516 Sachen

Ethik/Ethos s. a. Phronesis, Praxis I 45, 286ff., 479; 11 3,28 u. Ö, 37ff., 50 u. Ö.,


317f.; 11 308, 315f., 325f., 433, 469, 500 98 u. Ö., 238, 260 u. Ö., 387 u. Ö., 438
Euboulia s. Beratung u. Ö., 497 u. Ö.
Exemplum s. a. Beispiel, Vorbild I211 Gelehrtenlatein I 440
Existenz I 258ff.; 11 54,103,369, 427f. Genie, Genialität s. a. Kongenialität I 59ff.,
- ästhetische I 101 f. 61ff., 70, 98ff., 193, 196;1175,417
Existenzideal I 267 f. Geschehen I 105, 314, 379, 423, 430f., 476,
Experiment I 220 f., 354; 11 457 f. 488, 491f.; 11 63, 130, 135ff., 240f.,
Experte, Expertentum s. a. Techne 11 159ff. , 322f., 332f., 378
182,251f.,256f.,316,324,454 - Überlieftrungsgeschehen r 295, 314 u. ö.; 11
62 ff., 445 f.
- Sprachgeschehen I 465, 474f.
Faktizität I 259f., 268f.; 11323, 331f., 335,
Geschichte s. a. Historie, Historik usw. I
428,433
200 ff., 208 ff., 226 ff. u. ö; 11 27 ff., 31 f. ,
Fest I 128f.
36, 48f., 59, 133ff., 413f., 445
Form I 16 f., 83 f., 97 f.
- der Philosophie 11 504
- innere I 137, 444
Geschichtlichkeit s. Historisches Bewußt-
Forma,formatio I 16f., 427f., 441,491
sem
Forschung I 219; 11 38 ff., 52 ff., 225 ff. , 248
Geschmack I 32,37, 40ff., 45ff., 61ff., 87,
Frage! 304ff., 368ff., 374ff.; 116, 52ff., 64,
90ff.; 11 375, 440
82ff., 153, 179, 193,205,503
- und Genie I 59ff.
Freiheit r 10,14, 87f., 209ff., 218ff.; 1139,
- Idee der Vollendung des I 62f.
41f., 44, 81ff., 187
Gesellschaft I 10, 36, 41, 45, 90ff.; 11 239,
- Umweltfreiheit r 448
269,274,317,320
Fremdheit s. a. Andere, Andersheit r 19 f.,
Gesetz r 10ff., 44, 246, 313f., 323f., 330ff.,
183, 195, 300; 11 35, 55, 61 ff., 122 f., 143,
365; 11278, 285, 400ff.
183,187,235,264,285,313,419,436
Gesetzespositivismus I 323; 11392, 400
- Entfremdung, Verfremdung I 19, 90, 168f.,
Gespräch (Dialog, Sprechen) I 189, 192,
172, 390f.; 11 181, 219 u. Ö.
383 f.; 11 6ff., 58 ff., 112ff., 151 ff., 200,
Freundschaft I 30; 11 211,312,315, 417f.
207ff., 332 u. Ö., 500ff.
Fundamentalontologie I 223, 261 f.; 11362 f.
- ~ermeneutisches r 373 ff., 391, 465 ff.; 11
Fürsorge r 366
238
Gestalt I 234; 11 358 f.
Ganzes (Teil), Ganzheit r 76, 179f., 194f., Gewissen r 217, 220f., 349; 11 485
202, 227f., 296, 463; 11 31,57,287,307, Gewißheit I 243; 11 45, 48, 300
462 Geworfenheit I 266f.; 11 9f., 124f.
Gattungen (literarische) I 294 Glaube I 132, 267, 335ff.; 11 102, 121 ff. ,
Gattungslogik r 432ff.; 11 87, 366 285,312,406,430
Gebilde! 116ff., 138; 11177, 357ff., 508 Gleichzeitigkeit s. Simultaneität
Gedächtnis (Mneme) I 21,355; 11 149 Gott, Gottheit, Göttliche I 34, 215 f., 324,
Gefiihl (Sentiment) I 34, 38, 46, 49, 90ff., 336, 363, 422ff., 442, 489f.; 11 28, 71,
194 129ff., 202, 220
- Qualitätsgefiihl I 194, 215, 257 Glück 11468
Gegebenes I 71 f., 231, 246 f., 248 f.; 11 339 f. Grammatik r 418, 436; 11 73, 84, 202, 233,
Geist I 19,104,214, 231ff., 247f., 349u. Ö., 338,342
354 u. Ö., 397, 441, 461; 11 71 f., 105,262, Gusto s. Geschmack
270f.,435f. Gutes (Idee des Guten, agathon) I 27f., 317,
- objektiver! 233ff.; 1132,362,367 482 ff.; 11 266, 275, 291, 304 u. Ö., 422,
Geisteswissenschaften I 9-15, 28ff., 46f., 455
90, 104f., 170f., 222ff., 238ff., 263,
Sachen 517

Harmonie, dorische 11 501 Ich-Du- Verhältnis I 254, 364ff.; II 35, 54,


Hellenismus I 292; 11 366 211
Hermeneutik I 169ff., 177ff. u. ö., 300ff., Idealismus I 252 f., 451 f.; II 9 f., 69 f., 125,
312ff., 330ff., 346ff.; 11 5ff. u. ö., 57ff., 245
110ff., 178 ff., 219ff. u. ö., 297, 301 ff. - deutscher (spekulativer) I 11, 65, 105,
u. ö., 419ff., 438ff., 493ff. 221 f., 246f., 255ff. u. Ö., 464; II 32, 71,
- romantische I 177 ff., 201 ff., 227 f., 245, 126,241 f., 264, 366f.
301 f., 392; II 97 ff., 121 f., 222 f. Idee I 53ff., 58, 83f., 87, 205, 219, 317,
- reformatorische I 177 ff. ; II 94 f., 277, 311 f. 484 ff. u. ö.; II 35, 73, 235, 370, 402, 488,
- theologische I 177, 312 ff., 335 ff.; 11 93 ff. , 501 ff.
101 ff., 125 ff., 281 ff., 391 f., 403ff. Identität s. Einheit
- juristische I 44, 314ff., 330ff.; 11 67f., Identitätsphilosophie I 256; II 362,388, 470f.
106f., 278, 310f., 392f., 430 Ideologiekritik II 114f., 18tff., 201, 241,
- Universalität d. H. 11 110f. u. ö., 186 258, 349,434,465f., 500
u.ö., 201ff., 219ff., 242 u.ö., 255ff., Idiota I 26, 441 f.; II 38, 50, 172, 306
312ff. u. ö., 439ff. Idola I 355; II 79
Herrschaft - Knechtschaft I 365 f.; 11 68, 203, Illuminatio 1489
242,250,336 Immanenz II 335, 446
Herrschaftswissen I 316,455 Individualität I 10, 183f., 193ff., 211, 217f.,
Herstellung I 99 f.; 11 252, 303, 308 229ff., 347, 443f.; II 15, 21, 63, 98,
Hexis I 27, 317ff. 173f., 21Of., 221, 313f., 330,426
Historie I 28f., 91, 172f. u. ö.; 11 27ff., 33, Individuum, weltgeschichtliches I 208, 376 f.;
221,321 II 105
Historik I 47, 181, 201ff., 216f., 226ff., Induktion s. a. Epagoge I 9ff., 354f., 421,
340ff.; 11 20f., 441 f. 433; II 112
Historisches Bewußtsein = Wissen um die eige- Industrialisierung II 199,231,260
ne Geschichtlichkeit I 4, 173f., 233 u. ö., Inkarnation I 145 ff. , 422ff., 432f.; II 247
300ff., 399ff. u. ö.; 11 27 u. ö., 64f., 100 Innerlichkeit I 210, 217
u. Ö, 124f., 134 u. Ö., 221 u. Ö., 240, - des Wortes I 425 ff.
262f., 299f., 410ff. Innesein I 71,227, 239f., 257f.; II 251,387
- Historisches Wissen, Bildung, Verstehen I Instinkt I 34
12, 19f., 91f., 172, 332f., 344f., 366ff., Instrumentalistische Zeichentheorie I 408 ff.,
399ff. u. Ö. 420f., 436ff., 450f.
- Selbstvergessenheit des H. B. I 174 u. Ö. Integration I 169 ff.
Historismus I 20tff., 222 ff., 275, 278, Intellectus agens s. a. Verstand I 487
305ff. u.ö.; 11 38,63, 99f., 221ff., 240, - archetypus II 246
389ff., 414ff. - purus II 266
Hoffnung I 355 - infinitus I 214, 489 f.; II 412, 435, 500
Hören I 367, 466 f.; 11 213 f., 350, 352 f., Intentionalitiit 172, 229, 247 ff.
357ff., 371, 473f. - anonyme I 249; 11 16, 245
Horizont I 249f., 307ff., 375, 379ff., 398; 11 Interesse, Interesselosigkeit I 55 ff., 492
30,38,53, 55f., 76, 369,417,506 Interpretation s. a. Auslegung I 124f., 216f.,
Horizontverschmelzung I 311 f., 380 f., 401; 340ff.; II 14ff., 36,103,283, 285f., 310,
1114,55,109,351,436,475 339ff., 434f.
Humaniora s. Geisteswissenschaften Intersubjektivität I 252ff.
Humanismus I 14 ff., 23 f., 178, 198, 206, Intuition I 35; II 168
291,343; 1199,122,279,284, 288f., 292, Ironie I 300; II 347 f., 420, 501
296,383,433
Humanitas I 30; II 214 Judicium s. Urteilskraft
HumourI30 Jurisprudenz I 44; II 311
Hyle s. Materie
518 Sachen

Kairos II 32, 307 Lebensphilosophie I 223, 235 ff.; 11 465


Kalon (das Schöne) I 481 ff. Leben I 34ff., 69, 72ff., 190, 215, 226ff.,
Katharsis I 135 231 f., 236 f., 239 ff., 263; II 30 ff., 45,
Kerygma s. Verkündigung 102 f., 140 f., 377
Kirche! 155f.; II 289,292,296, 311f. LebensweltI251f., 353f.; 11323,361
Klassisch I 204f., 290ff.; II 223f., 476 Lektiire, Leser I 153, 165 f., 195, 273, 339,
Koinonoemosyne (sensus communis) 130 394ff.; II 21,351
Kommunikation II 114ff., 144, 189, 208ff., - ursprünglicher I 397JJ.; II 343
256f., 265f., 274, 296, 344ff. LesenI94f., 124A , 153 A , 165ff., 254, 345f.;
- verzerrte II 257,266, 349f. II 17ff., 61, 205, 233, 279ff. u. ö., 356ff.
Kommunion I 129, 137, 156; 11 431 - Lesbarkeit 11 341 f., 353
Kompetenz, kommunikative II 265ff. Literatur I 165ff., 395; II 4,17,180,209,
Kongenialität I 192ff., 221, 237f., 245, 295, 284, 350ff.
315f.; II 105,124,395 Locus s. Topos
Konstitutionstheorie, phänomenolog. I 252ff.; Logik (Syllogistik) 1247, 371, 432f.; II 47,
II 371 49f., 1~3,280,294f., 338,421
Kontinuität des Daseins I 74ff., 101f., 125f., Logikkalkül I 419; II 192
133, 138, 249f.; 11 134,469 Logos I 224f., 317ff., 356, 373ff., 409,
- der Geschichte I 212f., 218f., 288f.; II 415ff., 423ff., 433f., 460; II 43, 46ff.,
135ff. 146, 148, 333, 336
Konvention s. a Übereinkommen II 203f., Lüge II 180
401
Konventionalismus, juristischer I 324f. Maieutik I 373f.
- sprach theoretischer, sprachlicher I 409 ff.; II Manier II 375 f.
176,190,365 Materie II 87
Korrelatiol1sforschung I 248 ff. Meinung s. Doxa
Korrespondenz I 374f. - Vormeinung ( Vorverständnis) I 272 ff.,
Kosmos I 56f., 484; II 28,381,413 299ff.; II 52f., 59ff.
Kraft I 209ff., 217ff., 230ff.; II 31f., 177, Mens auctoris s. Autor
426, 490 Menschenkenntnis I 364 II 162,315
Krise I 208 MesotesI45f., 317ff.; 11 315f.
Kult I 114f., 121, 132f. Metapher, Metaphorik I 81, 108, 433ff.; II
Kultivierung 117, 56 176, 355 f., 462
Kultur! 16, 38f., 49f.; 11224,226,237,322 Metaphysik I 260ff., 462ff.; II 10 u. ö., 202
- Kulturkritik II 159f., 171,251 u.ö.
Künste, transitorische I 142f., 152; II 477 - dogmatische 1471; 11 187
- reproduktive 1152 - Übenvil1dung der M. II 333ff., 368ff.,
Kunst I 55ff., 61ff., 88ff., 101ff., 233ff., 502f.
239f., 302f., 480ff.; II 5, 220f., 472ff., Metasprache I 418; II 50
481 Methexis s. Teilhabe
- des Fragens, des Gesprächs I 371 ff. MethodeI11, 13f., 29, 177f., 182, 185u.ö.,
- des VerstehensI 169f., 192 254,287, 354f., 364f., 463ff.; II 38,45
- des Schreibens 1167,397 u. ö., 186, 226 u. ö., 248, 394, 438 u. ö.
- Eifahrung der K. II 7, 14, 17, 108, 332, Mimesis (Nachahmung) I 118ff., 139 u. ö.,
378, 432f., 471f., 495 414; 11 501
Kunstlehre s. Techne Mißverständnis/Mißverstand I 188ff., 273
Kiinstler, kiinstlerisch I 94f., 116, 123, 192f.; u. ö.; 11 222ff., 237, 313,343
II 220 Mitleid 1133, 135ff.
Kunstwerk I 90ff., 99ff., 113f.; II 75, 313 Mittel- Zweck I 326f., 364,463
u. ö., 476 u. ö. Mneme s. Gedächtnis
Sachen 519
Mode 1 42f.; 11 51,228 Offenheitll05, 273, 304 u. ö.; 11 8, 32, 63 f.,
Modell 1 320; 11 307, 323, 328 152f., 259, 380
MO/101og 11 207,211 u. ö., 256, 370, 498f. - der Eifahntl1g 1 104f., 361 f. u. ö., 450f.
Monument 1154 u.ö.;11201,230, 271, 505
Moral, provisorische 1 283f. - der FrageI 368ff., 380f.
Moralphilosophie 1 30f., 36, 38f., 285, - des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins I
317ff.; 11 187, 304f., 308, 327 346, 367 f.; 11 498
Moral science 1 9, 318f.; 11 320,327,450 Okkasionalität
Motiv 198 - des Kunstwerks 1 149ff.; 11 379ff.
Motivation 1 382f., 475 - der Auslegung 1 186f., 301 f.
Museum 1 92f., 139f. - der Sprache 1 462; 11 178, 195 f.
Mündlichkeit s. a. Schriftlichkeit Text 1 11, Olloma s. Name, Wort
192, 201 ff. , 221 u.ö., 263, 328; 11 236, Ol1totheologie 11 12
342,346,419 Ordl1u/1g s. a. Kosmos I 57, 104, 110; II
Musik, absolute 1 97, 152f., 169; 11 31, 90, 139, 155Jj., 287 (Allordnung), 381, 4131
340,358,385 Orexis 1 317ff.
- Hausmusik 1 115f. Ornamel1t 1 50f., 163f.
Mythologie 1 82f., 93; 11 390f. Ornatus 11 432
Mythos 1 85ff., 114, 138, 278 u. ö., 351
u. ö.; 11 33, 36, 101 f., 126ff., 380 Pädagogik 1 12f., 186f.
Paideia 1 23ff., 481
Nachahmung s. Mimesis Pantheismus 1 202, 214f., 222
Nachsicht 1 328f. Parusie (Anwesenheit, Gegemvärtigkeit) 1 .
Nachfolge (Imitatio) s. a. Vorbild 1 48, 286, 128f., 133, 485ff.
343;1199,122,279,296,300 Patristik 1 85, 145, 423ff.
Name, Onoma s. a. Wort 1 409ff., 433f., Peifektiol1ismus 115,20, 278ff.
441 f.; 11 73 Peitho s. Überzeugung
Natur 1 16ff., 34, 354f.; 11 27f., 381, 413f. Phänome/1ologie 1 89, 246ff., 258ff.; 11 52,
- schönheit 157 ff., 63 67,69, 338, 411f., 446
- recht 112, 28, 30, 275, 324f.; 11 401 f., 415 PhilologieI28u.ö., 177u.ö., 195ff., 201f.,
- wissenschafteIl 1 10 ff., 24 f. u. ö., 46 u. ö., 287 ff., 340 ff.; 11 20 f., 55, 383, 488
130, 223ff., 244, 263, 288, 455ff., 463; 11 Phobos (Bangigkeit, Furcht) 1 135f.
3,37 u. ö., 251 u. ö., 337 u. ö., 439f., 496 Phol1oze/1trismus 11 371
Naturrecht s. Natur Phronesis (prudentia, Vernünftigkeit) 1 25ff.,
Naturwiichsige Gesellschaft 1 279; 11 246 318ff.; 11 162,239,251 ff., 311, 315 u. ö.,
Negativität der Eifahntng 1 359 f. 324 u. ö., 422, 485
Neugierde 1131; 11 224f., 325 Physik 1 427ff., 435; 11 48,303
Nihilismus 11 38 Physis 117,318; 11 363f.
Nominalismus 1 11ff., 121,439; 11 49f., 71, Poesie pure 11 474
101 Poetik 11 431 f.
Nomos s. a. Gesetz 1 285 f., 435 f.; 11 433 Politik 11 160ff., 235, 252f., 267, 314, 318,
Notwendigkeit i/1 der Geschichte s. a. Freiheit 1 327
210f.,217f. Porträt 1 150ff.
Nous 1 34, 129, 327, 458 u. ö.; 11 362 Positivismus 1 287 ff.; 11 71 f., 254, 434
Praxis (prakt. Philosophie) 1 25ff., 318ff.; 11
Objektivismus, Objektivierbarkeit 1 248ff., 22f., 117, 252ff., 275, 289, 302 u. ö., 427
260 u. ö., 457, 480; 11 40, 48f., 64, 69ff., u. ö., 454f., 468 u. ö.
124,221,240,323,356, 388f., 410, 435, Predigt 1 132f., 336ff.; 11 97, 132,312
443f. Presence s. Anwesenheit
Offenbarung 1 336f. Problem, Problemgeschichte 1 381ff.; 11 81ff.,
113,482,484
520 Sachen

Produktion (Produktivität) 1 63ff u. ö., Richtungssinn s. Sinn


98ff, 192f, 196ff, 301; 11 63,236 Roman 1166
Profanität 1 155f Romantik s. a. romantische Hermeneutik 1
Projektion 1 258 56, 93, 200 u. Ö., 277 ff; 11 122 u. Ö., 222,
Pseudos (Täuschung, Trug, Falschheit) 1 232,251,330
412ff; 11 50f, 235
Psychologie 173f, 228ff, 341 f; 11 134,254, Sache, Sachlichkeit 1 265, 449, 457ff, 467f,
388 489; 11 6, 56ff, 66 u. Ö.
Psychophysik 1 74 Sachlichkeit der Sprache 1 449, 457f; 11 6,56
Pulchrum s. Kalon, Schön Sage s. a. Sprache 1 94, 138, 300; 11 63, 498
Sakralität 1 154f
Quelle 1 427; 11 34, 383f Schauspiel 1114, 122f, 133ff
Querelle des anciens et des modernes 1 26, 166, Schein, ästhetischer 1 89ff, 484f; 11 359f
181; 11 263,299, 414f, 444 Schicksal I 19, 135f; 11 32,36, 138f, 202f
Schmuck s. Dekoration
Rat 1 328; 11 315f Schön, Schönheit
Ratio, Rationalismus 1 34, 49, 198, 275f, - freie, anhängende 1 SOff
419ff, 482f; 11 276f - Natur- und Kunstschönheit 1 50, 55 f, 64,
Recht, Rechtshistorie, Rechtsdogmatik 1 44ff, 483f
330ff; 11 311,441 ff - Metaphysik des Schönen 1 481 ff; 11 359f
- Rechtsschöpfung 11 310f, 346, 399f, Schöpfung, Schöpfer 1420, 438f, 483; 11 71
426f Schottische Philosophie 1 30
Reduktion, phänomenologische 1 250f, 260; 11 Schrift, Schriftlichkeit, Schreiben 1 165ff,
412 276f, 393ff; 11 204f, 236, 283, 296,
Rejlexion (Bewußtmachung) 1 71, 94, 239 ff., 308ff, 344ff, 419f, 474f
258, 366ff, 430, 486; 11 32, 121 u. Ö., 239 Schuldtheorie, tragische 1 137
u. Ö., 270 u. Ö., 302, 317, 469f, 500 Scopus (Gesichtspunkt) 1 164, 186; 11 35; 255,
- ästhetische! 123, 351 259,282,286,296,309,317,430
- transzendentale 1 249; 11 246 f, 332, 428 Seele 1462; 11 43,71, 74f, 234f, 255, 287,
- äußere 1 468ff 298,315,370,501
Rejlexionsphilosophie 1 240 f, 346 ff, 452 Sein 1 105, 145, 261, 459; 11 85f, 333f,
u. ö.; 11 8,86 366ff
Reformation 1 177 f., 282; 11 279, 282ff, - Seinsverständnis 11 125, 428f
308f,312 - Seinserinnerung 11 503
Regeneration 1 34 - Seinsvergessenheit 1 262; 11 333, 368, 372,
Regisseur 1152; 11 263f 447,502f
Rekonstruktion 1 171 ff, 192, 196 Selbstauslöschung 1 215, 219, 239, 274; 11
Relativismus 140,46, 240f., 252, 350, 451; 11 60f, 221 f
30,38,40,201,230,262,299,399 Selbstbewußtsein 118,74, 214f, 233f u. Ö.,
Repräsentation 1 74f, 146f, 153f, 156f, 257ff;119,32,84,300,338,363,484f
164, 21Of; 11 12, 72 Selbsterhaltung 1 257
Reproduktion s. a. Darstellung 1 82f, Selbsterkenntnis 11 40f, 336, 407
122ff, 165, 191u.ö., 315f,403f;II17, Selbstvergessenheit 1 131, 133; 11 73, 126ff,
109,263f,377f,441 150f, 178, 198,372,485
Respublica litteraria 11 279, 295, 298f - des historischen Bewußtseins 11 174 u. Ö.
Restauration 1 171 f, 278; 11 263 Selbstverständnis (Bewußtmachung) 1 103,
Rhetorik 125ff, 77, 179,382, 488f; 11 95f, 463ff; 11 75f., 121 ff., 255, 406ff
111,234 u. Ö., 273f, 276 u. Ö., 292 u. Ö., Sensus communis 1 24ff, 37f, 39f, 49; 11
320f, 431, 466f., 486, 498ff. 111
R~ythmus 11 74f Sensualismus 1 38; 11 80
Sachen 521

Sentiment s. Gefühl Sprachphilosophie I 406f. u. ö., 443; II 5f.,


Simultaneität (Gleichzeitigkeit) I 91 ff., 72ff., 147ff., 338, 361,429
126 ff., 395; II 33, 55, 220, 321, 432, Sprachregelung II 169 f., 190
471 f. Sprachunbewußtheit 1272, 383, 407 f., 409; II
Sinn s. a. Bedeutung I 71 f., 297ff., 339, 148
368ff, 477; II 5,57 u. ö., 178 u. ö., 264f., Spur, Linie II 371
352ff, 368ff., 470 u. ö. Staat 1155 f.
- Richtungssinn I 368; II 369 - idealer II 413
Sinn, Sinne (sensus) I 23ff., 30ff., 37f.; II - vs. Polis II 418
210 Standpunkt der Kunst I 62ff
Sitte, Sittlichkeit I 27f., 44, 56f., 285, Statistik I 306; II 226
317ff; II 39,138,158,250, 315f. Stiftung I 159f.
Situation I 45f, 307, 317 u. ö., 339, 476; II Stil I 7, 43f., 293f.; II 352, 375ff.
51, 53f., 164,275,315 Struktur! 227f., 235f.; II 31,57,358,398
Skulptur! 141 ,., Subjekt, Subjektivität I 228, 250ff., 282
Solidarität I 30, 37; II 80, 269f., 347 u. ö.; II 84, 410ff, 446, 505
Solipsismus II 84 Subjektivierung
Sophia I 25 u. ö. - der Ästhetik I 48ff., 87, 98ff
Sozialingenieur II 452, 459 - als Methode I 73ff
Sozialwissenschaften s. a. Gesellschaftsw. I - des Schicksals I 136f.
10, 364f.; II 21f., 114ff., 238ff., 248f., Subjektivismus 1101,105,148, 261f. u.ö.,
451ff 464;1170,75,124,331f.
Spekulativ, Spekulation 1223 u. ö., 469ff.; II Subordinationismus I 424
52,370,474 Substanz I 20, 286; II 251 f., 363, 366, 502 f
Spiegel, Spiegelung I 143f., 429, 469f; II 73, Subtilitas I 188, 312; II 97
148,222, 242f., 354 Symbol, Symbolik 115, 78ff., 158f., 408; II
Spiel s.a. Sprache I 107ff, 491ff.; II 5f., 72
60, 90, 128ff, 151ff., 259, 379f., 446, Sympathie I 30,217,219, 236f.
495 Synesis I 328; II 314
Sprache, Sprechen s. a. Gespräch I 200, Syntheke s. Übereinkommen
272f., 383ff., 433f u. ö., 459ff, 467ff.; Systembegriff1 179; II 484
II 5ff., 54ff. u. ö., 109ff., 125ff, 146ff
u.ö., 197f, 207u.ö., 231, 243u.ö., 332 Takt 111 f., 20f u. ö., 34, 45; II 40
u. ö., 506ff. Tathandlung II 367
- des Glaubens II 408 ff. TatsacheII3f., 321f., 339, 388, 457f
- der Natur 157, 478f.; II 233, 434 Tatsächlichkeit II 325, 327
- der Überlieftrung I 339ff. u. ö. Täuschung II 40f.
- und Logos I 409ff, 460 u. ö. Techne (ars) I 320,357; II 23, 160ff., 252f.,
- und Verbum I 422ff, 487; II 80, 384 304 u. ö.
- Privatsprache II 176 - Kunstlehre I 182, 270; II 92 u. ö., 254,
- Sprache der Metaphysik II 332f, 356, 312ff.
361ff,366 Technik II 23,48, 194,203,219,225,368
- Sprachspiel II 239, 245 u. ö., 429 Teilhabe I 129ff, 156, 215, 297, 395, 462,
- Sprachvergessenheit II 343, 361 485; II 58, 259, 323
- Ursprache I 430,448; II 74, 147, 192,365 Teleologie 160, 71, 207, 463f; II 228ff
- Virtualität der Sprache II 204, 364, 370 - der Geschichte I 203 ff.; II 412 ff
Sprachlichkeit des Verstehens II 64f, 73, 112, Terminus, Terminologie I 419; II 83f., 113,
143ff, 184ff, 232ff, 436, 444, 465, 176f., 191f., 196, 365f.
496f Text s. a. Schriftlichkeit I 168, 265, 383; II
Sprachnot, Sprachfindung II 10, 83, 85f., 17 u. ö., 233 u. ö., 337ff., 434 u. ö., 474
332,367,461,507 u.ö.
522 Sachen

- eminenter II 348, 350ff., 475f., 508 - ästhetische I 43 ff., 60 f.


Theologie s. a. theol. Hermeneutik 1 127, - reflektierende I 37, 44f., 61; II 400,427
177ff., 422ff.; II 101f., 277f., 282ff.,
409 Vandalismus I 156
- liberale II 391,429 Veränderung I 116, 286; II 268
- der Geschichte 1 204 f.; II 124 Verbalismus I 355, 463
Theorie, theoretisch 119,27, 129f., 458f.; II Verblendung 1 137, 327
233, 321 f., 324f. Verbum s. Wort
Tod II 141f. Verfremdung (Entftemdung) s. Fremdheit
Topica 1 26; II 282 f., 430 Vergessen s. a. Selbst-, Seinsvergessen I 21;
Topos, Locus 1 437; II 282f. II 145, 485
Totalität II 174, 176, 198, 460, 473, 506 Vergleichung als Methode I 237 f., 406
Tradition 1 177 f., 282, 285 ff., 300 ff., 364; II Verhör II 346
263,268,470 Verifikation II 48, 50, 185
Tragödie, tragisch 1 133ff., 362f.; II 140f. Verisimile s. Eikos
Trinität I 422ff., 461 Verkündigung 1 336 ff.; Ir 127 ff., 138 f., 286,
Tugend (Arete) I 27, 30f., 317ff., 453; II 312, 345f., 407, 426f., 430
290f., 315 Vermittlung
Tyche 1 321; II 160, 352 - totale I 115ff., 123ff., 132; II 362,471
Typologie II 100 ff., 283, 389 - geschichtliche I 162, 174, 221 f., 295 ff.,
333f., 346 u. ö.; Ir 441 ff.
Übereinkommen (Syntheke) 1 435 f., 449; II - absolute 1 347 ff.
16,74,146,326 Vernehmen (noein) 1416
Überhellung I 389,404; II 63,382 Vernunft I 33, 277, 283f., 349, 405, 425,
Überlieferung s. a. Tradition 1 165ff. u. Ö., 471;1122,47,52,183,187,191,204,215,
280 u.ö., 341ff., 363ff., 366, 393ff., 255,267, 269f., 274f., 327,497
400, 445, 467; II 20, 39 ff., 62, 76, 143 ff., - historische II 28, 32ff., 36, 387
237,241f.,370, 383, 443,447 - praktische II 427 f., 467 ff., 499 f.
Übersetzung I 387ff., 450; II 92, 153, 183, Vernünftigkeit s. Phronesis
197, 205 f., 229 f., 342 348, 436 Verschlüsselung/Entschlüsselung 1 300; II
Überzeugung (Peitho) II 236, 273 f., 308, 284ff.,349
431,466,499 Versetzung 1 193, 195, 308ff., 328f., 339,
Unabgeschlossenheit s. Offenheit 389f. u. Ö., 398; Ir 61
Universalgeschichte 1201, 203ff., 235; II 31, Verstand s. a. Intellectus 1 52, 59, 80, 187,
34,75,240,246 276,471 f.
Universalität s. Hermeneutik Verständigung, Einverständnis (Konsensus) I
Universum, hermeneutisches II 441,466 183, 297f.; II 16ff., 116, 183 u. ö., 225
Unmittelbarkeit s. a. Ästhet. Unmittelbar- u. ö., 266 u. ö., 342 ff., 497
keit I 101, 214f, 404 Verständnis (sittliches) 1328; II 314ff.
- des Verstehens 1221 Verstehen s. a. Sprache, Sprachlichkeit I
- der Gesprächssituation II 344 183ff., 215, 219ff., 263ff.; II 6ff., 30ff.
Unterscheidung, ästhet. s. Ästh. Unterschei- u.ö., 52ff., 57ff., 103, 116f., 121ff.,
dung 222ff. u. Ö., 330 u. Ö.
Urbild s. Bild Verwandlung I 116ff.
Urkunde, Kunde s. a. Schriftlichkeit II Verweilen s. a. Zeitlosigkeit des Kunst-
344ff. werks Ir 359, 369
Ursprache s. Sprache Vieldeutigkeit, produktive II 380, 421 f.
Urteil s. Aussage und Logos Vollendung
Urteilskraft Uudicium) 127,31 f., 36ff.; II 97, - der Bildung 1 20
278,307,310,328,455 - des Geschmacks 1 62f.
Sachen 523

- des historischen Bewußtseins I 233ff., 244; u. Ö., 142f, 228ff, 239ff, 247, 441
11 32,35,42 u. Ö., 475f., 495
- des hermeneutischen Bewußtseins 1367f Wirkungszusammenhang (Bedeutungs-, Sinn-)
Vollkommenheit s. Vorgriff der Vollkom- 11 31, 134, 358, 461
menheit Wissen
Vorbild (s. Nachfolge) I 48, 198, 290ff, - dist. Eifahrung 11 271, 306ff., 314ff
342ff;1189,330,499 - des Allgemeinen 11 149, 168, 200f.
Vorgriff der Vollkommenheit I 229f; 11 61 ff, ~ Wissenschaft s. a. Naturw., Geistesw., Hi-
265 storie! 241 ff, 338 ff., 457 ff.; 11 37 ff., 78
Vorhandenheit s. Anwesenheit u. Ö., 155 u. Ö., 172, 181 f., 186 u. Ö., 225
Vorurteil (praejudicium) I 275f; 11 60ff, u.ö., 280, 319u.ö., 449u.ö.
181f Witl30
- konservative 11 270f Wort (Onoma, Verbum) 1366 u. Ö., 409, 420,
- produktive 11 261 f, 434, 454 422ff., 438ff., 487 u. ö.; 11 80 u. Ö., 192
- Vorurteilslogikeit 11 34, 433f u.ö., 29~ 370f., 460
Vorverständnis I 272ff, 299ff; 11 61, 240, - Selbstpräsentation des 11 352ff.
247, 277ff, 406 - Wortspiel 11 354

Wahrheit I lff, 47, 103ff., 118, 174, 490f; ZahI1416,420,438


11 37 u. Ö., 50 ff., 71 u. Ö., 103, 220, 232, Zeichen 1 157ff., 416ff.; 11 16,50, 71f., 174,
411,432,482,504 178,385
Wahrnehmung 11 339 Zeigen 1120,400,402,404; 11 47,334
Wahrscheinlich s. Eikos Zeit, Zeitlichkeit I 126ff, 231, 261 f.; 11 16,
Welt, Umwelt I 428, 446ff., 460; 1134, 73f., 124, 135 ff., 356 u. Ö.
112, 149ff, 183,202 Zeitenabstand 1195, 296ff, 302f., 316 u. ö.;
Weltanschauung 1 103 f, 279 f., 447; 11 78, 11 8f, 63,109,264,403
100 Zeitgenossenschaft I 303 f., 399
Wert, Wertung I 46,63,225, 243; 11 29f, 33, Zirkel, hermeneutischer I 179, 194, 270ff.,
38f., 133f., 163,203,221,32~334 296ff.; 11 34, 57ff., 224f., 331, 335,
- Wertphilosophie 11 388f., 428, 458 357f.,406
Wesen s. a. Anwesenheit 11 369,372 Zugehörigkeit! 114,129,131, 134ff, 165f.,
Wesenserkenntnis 1 120f., 434f. 171, 266u.ö., 295, 319, 335, 420, 462f.;
Widersprüchlichkeit I 452; 11 416, 421 11 62ff., 379, 434, 450
Wiedererkenntnis I 119ff., 381; 11 149f, Zuschauer! 114f., 129f., 133ff
200f,229f Zweck, Zweckmäßigkeit s. a. Teleologie I
Wiederholung 11 353,477 28, 56 u. Ö., 99f., 326f., 463; 11 158ff.,
Wille zur Macht I 365; 11 103, 333f, 336, 168ff,194
372, 502 Zweckrationalität 11 163, 194, 272, 326,
- zur Dauer I 286ff., 395, 399 467f.
Wirklichkeit s. a. Faktizität I 88f., 121, 347; Zweideutigkeit 1 492; 11 234 ff., 271, 301 ff.,
11 245, 380, 488 334,380,444
Wirkungsgeschichte, wirkungsgesch. Bewußt- Zweifel I 24lf., 275; 11 45f., 103,320
sein I 305 ff., 346, 348, 351 f , 367 f. , Zwischen, hermeneutisches I 300; 11 63,338
392f., 476f.; 11 5, 10f., 31 u. Ö., 64f, 106
Namen

Adorno, Th. W. 153,279; 11 435,452,472 Barth, K. 1148; 11 101 f., 125,391,403,481


474, 493 Bartuschat, W. 11 493
Aischylos 1 134, 355, 357, 362; 11 477 Bauch, K. 1 143
D'Alembert 1 28 Baumgarten, A. 1 36f., 79; 11 499,508
Algarotti 180 Baur, F. eh. 11 405
Ammonios Hermeiou 11 294 Becker, O. 1 101 f., 247, 260; 11 14, 411,
Anaxagoras 1 357 437,440,472
Anaximander 1 128f.; 11 363f. Beethoven 11 89, 482
Anz, W. 11 11 Beierwaltes, W. 1 120
Apel, K.-O. 1271, 452; 11 109f., 260, 263f., BenjamIn, W. 11 441,472
265f.,272,437,443,454,470,501 Benner, D. 11 457
Aristophanes 11 235 Bense, M. 11 432
Aristoteles 127, 45f., 88, 95f., 107, 116, Bentley 1 183
121, 128f., 134f., 141,210,285, 317ff., Benveniste, S. 11 92, 295
356f.,370f.,373,382,431,435f.,449f., Bergson 1 31, 69, 74, 247
458, 466, 472f.; 11 12f., 22, 47, 74, 78, Berenson, B. 1 97
81, 84, 87f., 93, 106, 112, 135, 146, 149, Bernstein 11 270
154, 162, 164, 193, 207, 228f., 234f., Berve, H. 11 490
244f., 252f., 272, 274f., 276, 280f. u. ö., Betti, E. 1 264, 315, 331, 333; 11 17, 100,
287, 289ff., 293f., 298, 302ff., 314ff., 104, 106, 108, 260, 299, 318, 330, 389,
319,324, 326f., 328f., 338, 357, 361ff., 392ff., 399, 406, 426, 437f., 441, 443,
381,385, 401f., 415, 418f., 422ff., 433, 453, 457
455,459,461,467,469,473,478,484ff., Biser, E. 11 106, 457
499 f., 503, 506 Bilfinger, G. B. 11 404
Aristotelismus 11 88, 282, 289, 293f., 298, Blumenberg, H. 1487; 11 391,403
305 Boeckh, A. 1190, 197; 11 99, 112, 121, 242,
Arnim 1 437 318,393, 497f.
Assmann, A. u. J. 11 402 Böckmann, P. 1 77
Ast, F. 1182,189, 193f., 297; 11 58f., 463 Boeder, H. 11 86
Augustin 121, 177,297, 424ff., 487; 11 58, Boehm, G. 1 139, 377; 11 17, 463
93ff., 111, 123, 130, 135, 288f., 295, Böhme, J. 11 367
298,300,371,443,491,502 BolInow, O. F. 1126,197,223,230,267; 11
Austin, J. 1. 11 110, 195f. 100, 395
A venarius, R. 1 250 Bormann, C. v. 11 256, 266f., 271, 315,
Aischylos 11 128 471f.
Bornkamm, G. 1199; 11 102,403
Baader, F. 1126 Brentano, F. 11 245, 500
Bach, J. S. 11 477 Bröcker, W. 11 262, 401 f., 486
Bachofen, J. J. 115; 11 390 Brunner, O. 1 15
Bacon, F. 1 13, 185, 354f., 457; 11 67, 79, Bruns, J. 1151
112,434 Buber, M. 11 10, 104, 173, 211
Baeumler, A. 143; 11 390 Bubner, R. 193; 11 203, 270, 493
Namen 525
Buckle 1 216f. Darwinismus 11 159
Buddha 11 208 Davidson, D. 1300
Budeus 11 311 Demokrit 11 487
Buffier 1 31 Derrida,] 114,7,11, 13u. Ö., 114,333,335,
Bultmann, R. 1 267, 336ff.; 11 101f., 368ff.,382
121ff., 135,297,391,403, 406ff., 429f. Descartes, R. s. Cartesius
Burckhardt, J. 1214 Dessoir, M. 199
Burke, E. 1277; 11 243 Diem, H. 11 406
Burnet, J. 11 317 Dilthey, W. 1 12f., 66ff., 156, 170, 177ff.,
Buytendijk, F. J. 1108 200, 202, 215, 222ff., 246ff.; 11 8, 15,
28ff., 52, 54, 56, 99ff., 113, 124, 133ff.,
Cajetan 11 503 219, 232, 264, 277ff., 292f., 296f.,
Carnap, R. 11 254, 429 298f., 313f., 318, 322,327, 330ff., 335,
Carneades 11 273 358, 362, 387f., 395f., 405, 412, 416,
Cartesianismus 1 30, 242ff., 263 425f., 428, 435, 445, 463f., 474, 481,
Cartesius 1 71f., 242f., 275, 282ff., 420; 11 492,494
48, 84, 103, 115f., 148, 161, 237, 267, Dionys von Halikarnass 11 96
410,418,453 Dockhorn, K. 11 111, 234, 236
Cassian 11 94 Dörrie, H. I 362
Cassiodor 11 311 Dostojewskij 11 482
Cassirer, E. 186, 408, 440; 11 72, 111, 338, Droysen,J. G. 112,202, 216ff. u. Ö., 391; II
362 99f., 123f., 187,240,264,387,395,426,
Castiglione 1 29,41 445
Celan, P. 11 355, 508 Dubos I 80
Chartres, Schule von 1 490 Dufrenne, M. II 432
Chladenius 1 186f., 301; 11 95,267, 463f. Duhem, P. I 11, 224
Chomsky, N. 11 112, 265
Ebbinghaus, H. 1229; 11 493
Chrysipp 1 79
Ebeling, G. I 177f., 180, 336; II 94, 109,
Cicero 1 29; 11 236, 279 f.
391,408,410,430,457
Ciceronianismus 11 284, 288
Ebert, Th. II 493
Cobb, J. B. 11 410,430
Meister Eckhart 11 367,461,482,502
Cohen, H. 11 85
Ebner, F. 110; II 104, 151,211
Collingwood, R. G. 1277, 375 ff.; 11 6, 105,
Eggebrecht, H. H. 11 385
110,273,395ff.,408,418
Einstein, A. 11 480
Collins 1 282
Engberg-Pedersen, T. 1327
Connan, F. 11 311
Eleatismus 1 416, 468
Conte, A. 11 295
Engisch, K. 1335; 11 107, 392,430
Conze, W. 17
Ernesti 1180, 188; 11 97
Coreth 11 106
Ernst, P. 11 480
Cramer, K. 166; 11 203, 493
Esser, J. 11 392, 400,457
Cramer, W. 11 493
Eruschka, J. 11 457
Creuzer, F. 183f.
Euklid 11 123
Croce, B. I 86, 376, 474; 11 105, 110, 112,
392 f., 395 f. Faber, K.-G. 1289; 11 390
Curtius, E. R. 177,185 Fechner 11 99
Cusanus, N. 1 26, 146, 438 ff., 482, 490; 11 Fenelon 133
12,271,298,367,384,461,502 Feuerbach, L. 1148,349
Fichte,J. G. 165, 69, 87,102,199,230,246,
Dannhauer, J. 11 93, 279, 282, 284, 287f., 346, 397; 11 12, 97ff., 187, 366f., 422,
292ff. 426,447,461,463
526 Namen

Fink, E. 189, 131,252 Guardini, R. 1376, 492


Finkeldei, J. 1376 Gundert, H. II 235, 420
Flacius, M. 1 276; II 95f, 277f, 281[, Gundolf, F. 168,305; II 481
284ff,292, 296,299,463 Gutzkow, K. 166
Fleury 1 33
Forget, Ph. II 355, 377 Habermas, J. 1284, 350; II 4,21, 110, 114,
Forsthoff, E. 1 332 203, 234, 238ff, 254f, 256ff, 269f,
Francke, A. H. II 97, 105,284,298 272ff, 349, 434, 452, 454, 457, 465f,
Frank, E. 1 276 467,470f,493,498
Frank, M. 1190; II 11, 13ff, 370, 404,464 Haecker, Th. II 104
Franz, H. II 278,410 Haering, Th. 1232
Freud, S. 11116, 249, 338,483 Halevy II 421
Frey, D. 1141, 157 Halpern II 463
Freyer, H. II 100, 398 Hamann, J. G. II 130
Friedemann II 501 Hamann, R. 1 94f, 134; II 432
Friedländer, P. II 483,486,501 Harder, R. II 383 f
Fuchs, E. 1336; II 109,391, 408f, 430,457 Harnack, A. v. II 406
Fulda, F. II 493 Hart, H. L. A. II 430
Harth, D. II 457,459
Gadamer-Lekebusch, K. II 494 Hartmann, N. 1 46, 382; II 70, 81, 112,
Gaiser, K. II 413 482f
Galilei II 88,186,319,337,487,496 Haug, W. 182
Galling, K. II 430 Hebbel, F. 1134, 136
Gauthier, Th. 1321 Hebel, J. P. II 297,301
Gehlen, A. 1284,448; II 416,432 Heer, Fr. 141,155
Geldsetzer, L. II 95, 278, 463 Hege! 1 16ff, 45, 54ff, 64ff, 69, 84ff,
Gellert II 385 103f, 171, 172ff, 202 u.ö., 209ff, 215
Gentile II 112, 392 u.ö., 231ff, 238, 256ff, 291, 322,
George, St. 169; II 159, 390, 481,501 346ff, 359ff, 377, 395, 417, 467ff; II 8,
Georgiades, T. 197; II 18 12,28,32,48,67,70,72,78,80,85,88,
Gerigk, H.-J. II 106 98, 100, 105, 108, 110ff, 130, 187,210,
Gethmann-Siefert, A. 1 64 220,241,246,254,264,270f,278,322,
Giegel II 258f, 263,265,267, 269f, 273 328, 333f., 336, 354, 360f, 366ff, 385,
Goethe 1 67f, 76, 81ff, 99, 167, 204f., 389,395,397,407,423,426,433,436f,
463;11177,192,210,300,357,376,489, 447, 453, 455f, 460f., 464, 470, 472f,
491 477, 482ff, 491f, 500, 502ff., 505f,
Gogarten, F. II 10, 104,211,406 508
Gogh, V. v. II 482 Hehn, V. II 148
Goldmann, L. II 477 Heidegger, M. 174,102, 105ff, 109, 129,
Görres II 390 156, 247, 258ff, 267ff, 270ff, 298,
Götze, A. 1104 360,433, 459f; II 8ff, 15ff, 22, 33f,
Gottsched 1 37 46,48, 52u.ö., 59ff., 145, 173,203,212,
Gouhier, H. II 237 219,224,245, 254,279,297ff,300,323,
Grabmann, M. 1482 328, 331 ff, 338f, 359f, 361 ff, 381 f,
Gracian, B. 140ff. 388f, 391, 399, 406ff, 422, 425, 428,
Griesebach, E. II 104 437, 446f, 464, 483ff, 500, 504ff
Grimm, H. 1 68, 305 Heinze, R. II 483
Grimm, J. und W. II 362 Heisenberg, W. II 458
Groethuysen, B. II 100, 464 Hellebrand, W. II 437,443
Gründer, K.-F. II 457 Hellingrath II 385
Namen 527

Helmholtz, H. I 11ff., 47, 90; II 39,228 Jacobi I 346, 471; II 130


Henkel, A. 11 489 Jaeger, H. II 279, 287f., 292ff.
Henrich, D. I 100; II 62, 101, 411,493 Jaeger, W. I25, 291; 11 261, 307, 484, 491
Heraklit I 409; II 46, 354, 363 f., 497 Jaensch II 101
Herbart 11 99 James, W. I250
HerderI 14,32,84,198, 204ff, 291f., 406, Jamme, C. I93
442; 11 72,111,142,147,177,192,328, Japp, U. II 355
335,361,433,490 Jaspers, K. I 284, 307; II 54, 101, 104, 135,
Hermes II 92, 294 f 164,211,427,458,464,492
Herodot I 148; II 413 Jauss, H. R. I53, 125; II 7, 13f., 62, 106,
Hesiod I 148 223,299,441,457,475
Hesse, H. 11 480 Jesus II 44, 208
Hetzer, Th. I 140 Joachim, H. H. II 401 ff.
Hildebrandt II 501 Joel, K. II 261
Hinrichs, C. I 205, 213 Johannes Damascenus I 145
Hirsch, D. 1188; II 106 Johannesevangelium I 423ff.; II 44, 135,
Hitler, A. 11 490 192
Hitzig II 297 Johnstone Gr.), H. W. II 111, 431
Hofer, W. II 390 Jonas II 463
Hofmann, H. I 146 Jünger, E. II 416
Hofmann, W. I 337; II 405 f Jünger, F. G. I 112
Hölderlin, F. I93, 149,474; II 10,75, 140f, Junghegelianer I250, 349; II 504
367,385,486,491,506 Jungius, J. II 276
Holl, G. I178 Justi, C. I 154
Holl, K. II 94
Hölscher, U. II 211 Kahler, E. v. II 481
Homer I 78, 148, 279; II 46, 92, 94 Kallen, G. I146
Hönigswald, R. I 73,408; II 74,111, Kallimachos I 293
480 Kamlah, W. I 155; II 459f.
Horaz I 151 Kant I 14, 16, 36ff., 48ff., 80f., 103f.,
Horkheimer, M. I 279; II 434, 493 163f., 197ff., 248, 276, 346, 348, 382,
Hotho I 64, 70 452;II22,28,32,67,69, 78,81,89, 97f.,
Huizinga I 109; II 129 122, 133, 137, 161, 167, 187, 304, 307,
Humboldt, W. v. I 16, 204, 206, 217, 326ff.,331,361,384,387,394,412,422,
347f, 406, 419, 442ff; II 72, 99, 147, 431,435,439,446,455,461, 468f., 484,
187,201,338,362,393,481 487,502,506
Hume, D. I 9,30,281, 364f; II 461 Kapp, E. I 371; II 307,397
Husserl, E. I 71f, 156, 229f, 246ff, 307, Kassner, R. Il14f.
353, 451f; II 12, 15f, 69, 71, 100, Kaufmann, F. I 266
102ff, 110f, 125, 197, 212, 245, 279, Keckermann II 294
297, 300, 323, 328, 334f, 361ff., 386, Kerenyi, K. I 128; II 390f.
388,411,422,425, 427f., 436, 447, 481, Kierkegaard I 101, 132, 134, 137,259,349;
483,488,491,506 II 9f., 22, 55, 103, 142, 210f., 271, 362,
I:Iutcheson I 30 368, 471f, 482f.
Kimmerle, H. I 190; II 15, 404, 462f., 464,
Imdahl, M. 11 17 475,493
Immermann, K. I 94, 278; II 175 Klages, L. I 433; II 390
Ingarden, R. I 124, 166; 11 18 Klein, J. II 489
Iser, W. I 100; II 106 Kleist, H. v. II 205
Isokrates I 23; II 235, 307 Kleon II 263
528 Namen

Klibansky, R. 1490 Löwith, K. 1212,214,365,433; II 70, 102,


Klopstock 115,81,84 104,139,381[,412f.,415,423,493
Knoll, R. II 130 Lübbe, H. 1250
Koch,]. 1438,441,490 LückeI115,101,404,462
Koebner, R. 1127 Lukacs, G. v. 1101,279
Koehler, W. 1 96 Luther, M. 1 132, 177f[, 198[, 237; II
Koller 1118 94[,277,282,284, 286, 292, 296, 336,
KommereIl, M. 1135[ 430
Konfuzius II 208
Körte, A. 1291 Mach, E. 171
Koschacker, P. II 106, 311 Machiavelli II 415
Koselleck, R. 115; II 390 Mahnke, D. 1146
Kraft, V. II 459 Maihofer, W. II 430
Krauss, W. 140 Maimonides, M. II 421
Krausser, P. II 464 Malebranche 1 146
Kretschmer II 101 Mallarme II 355, 474
Krüger, G. 1 130, 276, 284, 484; II 70, Malraux, A. 193
125[,406,412[,423 Mann, Th. II 363, 480
Kuhn, H. 1 88, 120, 285, 324, 327; II 401 [, Mao-Tse-Tung II 466
403,437,440,442,472,494 Marcuse, H. 1232; II 435, 466
Kuhn, Th. 1288; II 114,496 Marc Aurel 1 30
Künne, W. II 493 Marquard, O. 233
Kunz, H. II 257 Marrou, H. J. II 408
Marx, K. 1279; II 116, 246, 466,
Lacan, J. II 114, 249 483
Lagus, J. II 276 Marxismus 1337, 327; II 263
Landgrebe, L. II 411 Masur, G. 1207
Lang, H. II 249 Meier, G. F. 1277; II 463
Langerbeck, H. Ir 397 Meinecke, F. II 390,411
Larenz, K. Ir 392, 400 Melanchthon 1180, 324[; II 96, 277, 281,
Lebreton 1 423 282f[,286,296,305,308,431
Leibholz, G. II 401 Menzer, P. 137,48
Leibniz 1 33, 146, 209, 230, 419f.; II 210, Merleau-Ponty II 425
276,492,502 Mesnard, P. 1 80
Leisegang, H. II 488 Michelangelo II 482
Leonardo da Vinci 1 11, 98 Mill, J. St. 19, 12, 14; II 99,320,451
Lersch II 101 Misch, G. 222, 239, 242; II 100,102[,388,
Lessing, G. E. 153[,80; II 267 464
Lessing, Th. Ir 480 Moliere360
Liebing, H. Ir 404 Möller, J. II 437
Lipps, H. 1431,462; II 54,110,195,338 Mollowitz, G. 198
Litt, Th. 1432; II 100[, 328, 390, 423, 491, Mommsen, Th. 289; II 222, 394
498 Monan, J. D. II 253
LIedo, E. II 383, 493 Mörike, E. II 359[
Lohmann, J. 1407,418,437; II 228[,233, Moritz, K. Ph. 1 81 f., 101
245 Morris, eh. II 174
Loof, H. 181 Morus 135; II 297,301
Loos, E. 129 Müller, C. 181
Lorenzen, P. II 459f., 462 Müller, M. 1488
Lorenzer, A. II 258f. Musil, R. II 490
Namen 529
Napoleon II 322 Piaget, J. II 112, 204, 256
Natanson, M. II 111,431 Pietismus I 32f., 313f.; II 97,284,298
Natorp, P. 173,224,247,459; II 482f. Pindar I 151; II 128,486
N eitzel, H. I 363 Pinder II 101
Neukantianismus I 65f., 225, 250, 258, Plato. 123,27,100, 117ff., 128f., 131, 150,
381; II 29f., 69ff., 81f., 89, 133f., 164, 210, 276, 279, 320, 350f., 368ff., 381,
210f., 322, 328, 331, 334, 338, 362,368, 396, 409ff., 426f., 433f., 461f., 482,
388,399,422,479ff.,505f. 484; II 12, 22, 42f., 73, 80, 82, 85f., 90,
Neuplatonismus 179, 145,205, 427f., 438, 92f., 110, 126, 152, 160ff., 184, 200,
487f.;1194,293,298,383,384f.,386 209f., 212, 225, 234f., 237, 255, 275,
Newton, 1. II 167, 177, 228, 487 281,287, 293f., 302, 305ff., 317f., 329,
Nietzsche I 21, 69, 73, 130, 165, 247, 262, 332f., 344, 369f., 379, 397, 402, 413.
267, 307, 309f., 421; II 11, 27, 31, 38, 415, 420, 422f., 428, 433, 455f., 461,
45f., 103, 114, 116,202,221, 333f., 336, 482, 484 ff., 500 ff., 506 ff.
338ff., 363f., 368, 372, 381f., 414, 421, Platonismus II 7,12, 16,223,227,364,456,
447, 481 ff. , 491, 500 478,503
N ovalis II 463 Plessner, H. 204, 257, 431
Plotin II 298, 383, 482, 502
Odebrecht, R. I 55, 98; II 463 Plutarch I 78; II 321,413
Oehler, K. II 421 Pöggeler, O. II 437,447
Oelmüller, W. 186 Polanyi, M. 257, 431, 505
Oetinger, F. ehr. I 32ff., 489; II 177, 386, Pollmann, L. II 457
404 Pontius Pilatus II 44f.
Olbrechts-Tyteca II 431,467 Popper, K. R. 1359; II 4, 434, 452
Origenes II 94 Portmann, A. 1113
Ortega y Gasset II 29 Port-Royal I 24
Osenberg II 490 Pragmatismus, amerikanischer II 53
Ott II 391, 407f. Protagoras II 235
Otto, W. F. 1128; II 390f., 398 Pseudodionys I 79,482
Overbeck, F. II 209 Pythagoreer II 319
Oxfordschule 1376
Quintilian I 95; II 236, 280
Paatz, W. 1141
Pannenberg, W. II 246f., 437 Rabeau, G. 1432
Panofsky, E. II 375 Rabel, E. II 392, 426
Pareyson, L. I 66; II 433 Rad, G. v. II 106
Parmenides I 128f., 465; II 85ff., 363f. Rahner, K. II 390
Parry 1165 Rambach, J. J. 135, 188, 312f.; II 97, 105,
Pascal I 35 284, 298
Patsch, H. II 464 Ranke, L. 1202, 206ff., 221, 227f. u. ö.; II
Patzer, H. 1343 21,99,187,221f.,240,390
Paul, J. II 259 Rastier II 355
Paulus II 336 Raumer II 263
Peirce, eh. S. II 262 Redeker, M. 1198;11277,405, 425, 463
Perelman, eh. II 111,317,431,467,499 Reich, K. II 493
Perikles II 263 Reid, Th. I 30
Perrault, M. II 299 Reinhardt, K. II 261,489
Pflaumer, R. II 493 Ripanti, G. 297
Phidias II 477, 482 Rothacker, E. 1185
Philo v. Alex. II 383 Ricco bini II 385
530 Namen

Rickert, H. I 225, 350; II 328, 388, 428, 439 Schmitt, C. II 379f.


Ricoeur, P. II 114, 116, 350, 435, 474 Schneider, H. I93
Riedel, M. I 32; II 117, 455, 464 Schöne, W. I140
Riezler, K. I 108; II 440 Schopenhauer, A. I 65, 84, 464; II 297
RilkeI 110, 397; II 128, 210, 491 Schrade, H. I 145
Ritschl, O. I 179; II 405 f. Schuler, A. II 390
Ritter, J I 15; II 117, 298, 384, 402,433 Schulz, W. II 489
Rittner, F. II 456 Schupp, F. II 390
Robinson, J M. II 410,430 Schütz, A. I255
Rohr, G. II 139, 413 Sedlmayr, H. I 98, 101, 126; II 108, 377,
Rose, H. I 400 441
Rosenkranz, K. I 65; II 447 Seeberg I 377
Rosenzweig, F. I 93; II 10, 211 Seebohm, Th. II 11, 106,457
Rossi, P. 21 Semler I 180, 188; II 97,404
Rothacker, E. I 69, 238, 307; II 100, 107, Senft, ehr. II 405
340,378,386,389,398 Seume, H. II 297, 301
Rousseau I 56, 68, 279, 484; II 22,69,304, Sextus Empiricus II 320
327 Shaftesbury I 16, 29f.
Royce II 262 Shakespeare I 62; II 357, 379, 482, 501
Runge I 93 Siep, L. I18
Russell, B. II 338,425 Simmel, G. I 69,228,247
Simon, R. II 96, 284
Salin, E. II 481 Sinclair II 385
Salmasius I 30 Singer, S. II 501
Santinello, G. I482 Sinn, D. I 254 f.
Sartre, J-P. II 259, 369,425 Snell, B. I 294
Savigny I 190, 332; II 311 Sokrates I 26, 320 u. Ö., 368 ff., 468; II 23,
Schaarschmidt, 1. I 7 43,90,208,210,227,235,252,255,306,
Schadewaldt, W. I 135, 390 325,332,336,344, 369f., 420, 422,486,
Schasler, M. I65 497 f., 501 f.
Scheler, M. I 96, 134, 237, 287, 316, 448, Solger I 79, 83
453ff.; II 69f., 339, 361, 428, 482 Sophistik I, 23, 25, 276, 350ff., 357, 396,
Schelling I 64, 83, 93, 200, 464, 469; II 28, 410 u. ö.; II 43, 94, 160, 227 f., 234f.,
98f., 103,334,376 252,289,305,415
Scherer, W. I12 Sophokles II 482, 501
Schiller, F. I56, 61, 63, 69, 81ff., 397; II 99, Spengler, O. II 480
151,300,456 Speusipp I 434ff.
Schlegel, F. I 64f., 82, 85, 93, 111, 199f., Spiegelberg, H. II 411
295,367,400; II 97f u. ö., 209, 338, 362, Spinoza I 184f., 189, 275, 277; II 96f.,
425,463 122f., 267,299, 385, 415,421,464
SchleiermacherI 63, 69, 75, 171 ff., 182ff., Spitzer, L. II 360
188ff. u. Ö., 283 u. ö., 296ff., 347; II Sprague, R. K. II 421
14f., 19, 54, 57ff. u. Ö., 95, 97ff., 123, Spranger, E. II 100f., 107,464
209, 222, 236, 254, 277, 279, 284, 290, Stachel, G. II 106, 457
29~ 298f., 301, 312f., 318, 322, 330f., Staiger, E. I 134, 271; II 108, 359
335, 362, 393, 404ff., 425ff, 436, Stegmüller, W. I271
462ff.,472,474,494,497 Steiger, L. II 406
Schlick, M. II 3f., 321, 339, 434 Steinthai, H. I 190,197,410; II 15,99,464
Schmidt, E. II 253 Stenzel, J I 434, 477,485
Schmied-Kowarzik, S. W. II 457 Stoa I 423, 437, 486; II 94,308,414
Namen 531
Strauß, E. 196 Vorsokratiker II 363
Strauss, L. 129, 275, 300, 324; II 299, 334, Vossler, K. 1474
401, 414f., 501 Vossler, O. 1267; II 221
Stroux, J. 1291 Vries, ff. II 390
Sturm, J. II 2~3, 289 Vries, J. de II 390f.
Sulzer 1 54; II ~85
Sybel II 222 ~ach,J. 1186;11100, 277,463
Swift II 489 ~agner, F. II 389
~agner, ff. II 411,480
Tacitus 1 293; II 290 ~alch, C. F. II 106
Tagore, R. II 482 ~aelhens, A. de 1258; II 437
Tate, A. II 94 ~agner, Chr. 1427
Taylor, Ch. II 114 ~alch 1 183, 276, 282
Tetens 1 28, 36 ~arburg, M. II 355
Themistius 1 357,421; II 112 ~atson, L. C. II 9
Thibaut, A. F. J. II 107, 278,463 ~atson-Franke, M.-B. II 9
Thomas v. Aquin 1 28, 426ff., 491; II ~eber, M. II 101, 159, 163, 165,310,322,
111,461,491 326, 378,388f., 458m, 468,481
Thomasius, Chr. 1 276 ~eidle, M. 192
Thukydides 1 237; II 190,321 ~einsheimer, J. c. II 4, 339
Thurneysen II 101 ~eischedel, ~. 1141
Tieck, L. 1 66 ~eizsäcker, C. F. v. II 397
Tolstoi 1 377 ~eizsäcker, V. v. 1255; 11 10, 104, 129
Tonelli II 384 ~ellek-~arren II 474
Topitsch, E. II 459 ~hitehead 11 425, 456
Trede,J. ff. 11493 ~ieacker, F. 125,332,335; II 108,390,392,
Treitschke II 222 437 f., 443, 456
Trier, J. 1109 ~iehl, R. II 203,456,473,493
Troeltsch, E. 1241; 11 31,100,389,410,481 ~ieland, ~. II 493
Tugendhat, E. II 254 ~ilamowitz 1 342
Tumarkin 1 120 ~inch, P. II 239
~inckelmann 1 77 f., 84, 204, 291
U exkuell, J. v. 1 455 ~indelband, ~. II 388, 396, 439
Ulrich v. Straßburg 1482 ~ittgenstein, L. II 4f., 71 f., 110,239,254,
Unamuno II 104 338,425,429,456,507
~ittram, R. II 390
Valery, P. 1 98ff. ~olf, F. A. 1182; II 463
Vasoli, C. 122 ~olff, Chr. 180, 183; II 95,404
Vattimo, G. II 464, 493 ~ölfflin II 398
Velazquez, D. 1154 ~olters II 481
VergillI 362 ~olzogen, C. 1 253
Verra, V. II 493
Vico 1 24ff., 226, 281, 379; II 111, 192, 273, Yorck, Graf! 238, 255ff.; II 100,124,135,
280,311,432,467,498 386,389,410
Viehweg, Th. II 430
Vischer, Fr. Th. 1 85 f. Zabarella II 281, 295
Volhard, E. 186 Zaccaria, G. II 400
Volkmann-Schluck, K.-ff. 1438,489,491 Zenon 1 468; II 87
Stellen

Aristoteles Poetik
4, 1448b 1Of. I S.119; 4, 1448b 16 I
Analytica Posteriora
S. 119; 9, 1451b 6 I S. 120; 13, 1453a 29 I
B 19 I S. 421; B 19, 99bff. I S. 356; B 19,
S. 134; 22, 1459a 8 I S. 435; 23, 1459a 20
99b 35ff. 11 S.149; B 19, 100a 3ff. 11
11 S. 287
S.200,229
Physik
Deanima
r6, 206a 20 I S. 128f.; .14, 211b 14ff. I
425a 14ff. I S. 27; 425a 25 I S. 96; 431b 21
S.437
I S. 462
Rhetorik
Ethica Nicomachea
A 2, 1355b 11 S.274; A 2, 1356a 26 11
AllS. 116;A41 S. 317;A 71S. 303; A 1,
S. 308; B 13, 1389b 32 I S. 135
1094a 1 ff. 11 S.316; Al 1094a 27 11
De sensu
S.318; Al, 1095a 3ff. 11 S.326; A4,
473a 3 I S. 466
1096b 20 11 S.275; A 7, 1098b 2ff. 11
Topik
S. 325; AB, 1102a 28ff. 11 S. 315; B 5,
A 11 I S. 435; A 18, 108b 7-31 I S. 435
1106b 6 I S.486; E 10, 1134b 27ff. 11
S. 401; E 10, 1134b 27ff. 11 s. 401; E 10
1134b 32-33 11 S. 401; 14 I S. 323; Z 4, Heraklit
1140a 19 11 S. 160; Z 5, 1140b 13 I S. 327; VS 12 B 54 I S. 179
Z8 I S.323; Z81141b 15 I S.327; Z9
1141b 33 I S. 27,321; 11 S. 162, 433,485;
Z 9 1142a 25ff. I S. 327; Z 9, 1142a 30 I Plato
S. 321; 11 S. 162; Z 10, 1142b 33 I S. 327; Apologie
Z 11 I S. 328; 11 S. 308; Z 13, 1144a 23ff. I 22d I S. 320
S.329;Hl, 1145a15IS.328;K6, 1176b Charmides
33 I S. 107; KlO I S. 285; KlO, 1179b 169a I S. 210
24f. 11 S. 317; KlO, 1180a 14f. 11 S. 317 Epinomis
Ethica Eudemia 975cIIS.93,294,295;991eIS.179
B 1 I S. 116; e 2, 1246b 36 I S. 321 Gorgias
Magna Moralia 11 S. 305; 456a 11 S. 235
A 33, 1194bff. I S. 324 Hippias I
De interpretatione 293eI S. 150
11 S. 93, 293; 4, 16b 31 ff. 11 S. 74 Ion
Metaphysik 534e 11 S. 93
All S. 458; Al, 980b 23-25 I S. 466r 1 Kratylos
11 S. 78; r 1, 1004b 25 I S. 373; .1 11 S. 89; 384d I S. 410; 385 I S. 413; 387c I S. 413;
E 1 I1S. 291, 303;K7IIS. 303;A 71S. 129; 388c I S.410; 429bc I S.414; 430a I
M4, 1078a3-6IS.482;M4, 1078b25ff. I S. 414; 430d 5 I S. 415; 432aff. I S. 413;
S. 370 436e I S. 413; 438d-439b I S. 411
Politik Menon
A 2, 1253a 9ff. I S. 435, 449; 11 S. 146; 80dff. I S. 351
H 1, 1337a 14ff. 11 S. 308; H3, 1337b 39 I Parmenides
S.l07 131b I S. 128f.
Stellen 533
Phaidon 434a 7 11 S.255; 343cd I S. 350; 344b I
II S. 498; 72 1 S. 462; 73ff. 1 S. 119; 96 1 S.382;344cIS.396
S. 357; 9ge 1 S. 433; 11 S. 73 Sophistes
Phaidros II S. 486; 263e 1 S. 411, 426; 264a 1 S. 411
1 S. 131; 11 S. 305, 308, 317; 245c II S. 383; Staat
250d 7 1 S.485; 262c 1 S.281; 264c 1 508d1S. 487;601cIS. 100;617e4IIS.82
S. 287; 268aff. 1 S. 307; 269b 1 S.306; Symposion
272a 6 1 S. 307; 275 1 S. 396; 280b 1 S. 307 175d II S. 501; 204a 1 1 S. 490; 210d 1
Protagoras S.482
314a II S.225; 314ab II S.43; 335ff. 1 Timaios
S.368 11 S. 86
Philebos
II S. 307; 50b 1 S. 117; 51d 1 S. 486; 64e 5 1
S.484 Sextus Empiricus
Politikos Adv. math. VIII, 2751 S. 423
260d II S. 92; 294ff. 1 S. 324; 305e 11 S. 86
Nomoi
907d 11 S. 93 Stoa
VII. Brief StVfr. II 24, 36, 36, 9 1 S. 486; 168, 11
11 S.507; 341c 1 S. 396; 342ff. 1 S.411; pass. 1 S. 179
»Auch )Wahrheit und Methode< ist zum Lehrbuch gewor-
den, nach strenger Betrachtung vielleicht zu dem einzigen
dauerhaften, zu dem es die philosophische Literatur in
Deutschland seit den zwanziger Jahren gebracht hat.«
FAZ 12.2.85

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