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GADAMER
Wahrheit
und
Methode
Ergänzungen
Register
Hans-Georg Gadamer
Gesammelte Werke
Band 2
Hans-Georg Gadamer
Hermeneutik 11
Wahrheit und Methode
Ergänzungen
Register
Gadamer, Hans-Georg:
Gesammelte Werke / Hans-Georg Gadamer. - Tübingen :
Mohr.
NE: Gadamer, Hans-Georg: [Sammlung]
1. Auflage 1986
2. Auflage 1993 (durchgesehen)
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jeder Verwertung
außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags
unzulässig. Das gilt insbesondere ftir Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Bembo-Antiqua gesetzt, die Broschur-
ausgabe auf säurefreies Werkdruckpapier der Papierfabrik Niefern, die Leinenausgabe auf
alterungsbeständiges Werkdruckpapier der Papierfabrik Buhl in Ettlingen gedruckt und von
der Groß buchbinderei Heinr. Koch in Tübingen gebunden.
Inhalt
I. Zur Einfiihrung
II. Vorstufen
6. Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge (1960) 66
III. Ergänzungen
15. Wie weit schreibt Sprache das Denken vor? (1970) 199
IV Weiterentwicklungen
V. Anhänge
Register
Sachen 513
Namen 524
Stellen 532
I. Zur Einführung
1. Zwischen Phänomenologie und Dialektik
Versuch einer Selbstkritik
1985
des Dogmas von den Protokollsätzen klar.'Aber als sich die Ideen dieses
Buches in den dreißiger Jahren entwickelten, in welchen die Zeitumstände
steigende Isolierung mit sich brachten, war der Physikalismus und die unity
01 science das Gegenbild, das sich fcirmlich aufdrängte. Der linguistic turn der
angelsächsischen Forschung war damals noch nicht über den Horizont ge-
treten. Das Spätwerk Wittgensteins konnte ich erst nach Durchmessung
meiner eigenen Denkwege studieren, und daß in Poppers Kritik arn Positi-
vismus verwandte Motive mit meiner eigenen Orientierung steckten, habe
ich auch erst später realisiert. 3
So bin ich mir über die Zeitverhaftung der Ausgangspunkte meiner
Gedankenbildung nur allzu klar. Es ist die Aufgabe Jüngerer, den veränder-
ten Bedingungen hermeneutischer Praxis Rechnung zu tragen, und von
mancher Seite ist das geschehen. Selber noch lernen zu wollen, schien mir
für einen in den achtziger Jahren Stehenden vermessen. Daher habe ich den
Text von) Wahrheit und Methode~ wie alle späteren Beiträge unverändert
gelassen und mich daraufbeschränkt, nur gelegentlich kleinere Verbesserun-
gen anzubringen.
Anders ist es dagegen mit der Frage der inneren Konsistenz des in seinen
Grenzen Getanen. Hier möchte dieser zweite Band meiner Gesammelten
Werke ergänzend eintreten. Sein Inhalt gliedert sich in drei Abteilungen:
Vorstuftn des Buches, die in ihrer eigenen Vorgreiflichkeit manchmal nütz-
lich sein können, Ergänzun,~en, die sich im Laufe der Jahre einstellten. (Diese
beiden Teile sind in meinen >Kleinen Schriften< im wesentlichen schon
publiziert gewesen.) Der wichtigste Teil dieses 2. Bandes enthält Weiterfoh-
run~en; ich war zu diesen teils schon unterwegs, teils wurde ich durch die
kritische Diskussion meiner Ideen dazu eingeladen. Die Theorie der Litera-
tur war es insbesondere, die mir von Anfang an als eine Weiterfuhrung
meiner Gedanken vorschwebte und die in naher Fühlung mit hermeneuti-
scher Praxis in den Bänden 8 und 9 dieser Ausgabe ausfUhrlich zu Worte
kommt. Die grundsätzlichen Fragen hermeneutischer Art haben jedoch
sowohl durch die Diskussion mit Habermas wie durch die wiederholte
Begegnung mit Derrida gewisse neue Beleuchtungen gefunden, deren Dis-
kussion hier im Zusammenhang dieses Bandes an ihrem Platze ist. Schließ-
lich werden im Anhang die Exkurse und die den späteren Auflagen von
,Wahrheit und Methode< beigefUgten Ergänzungen, Vorworte und N ach-
worte mitgeteilt. Den Abschluß des vorliegenden Bandes macht meine 1973
geschriebene Selbstdarstellung. Ein gemeinsames Register von Band 1 und 2
unterstreicht die Zusammengehörigkeit der beiden Bände. Ich hoffe, durch
2 M. Schlick. >über das Fundament der Erkenntnis<. Erkenntnis 4 (1934). Auch in
ders., Gesammelte Aufsätze 1926-36, Wien 1938, bes. S. 290-295 und 300-309.
3 Vgl. von heute her gesehen die instruktive Einleitung von]. C. Weinsheimer, Gada-
Anwendung von Regeln und damit nicht als bloße regelgerechte Handha-
bung der Sprache beschrieben werden kann. Man muß es als die Frucht eines
in Grenzen freien Vorgangs sprachlicher Ausübung ansehen, daß einer am
Ende wie aus eigener Kompetenz )weiß<, was richtig ist. Es ist ein Kernstück
meines eigenen Versuches, die Universalität der Sprachlichkeit hermeneu-
tisch zur Geltung zu bringen, daß ich Sprechenlernen und den Erwerb von
Weltorientierung als das unauflösbare Gewebe der Bildungsgeschichte des
Menschen ansehe. Es mag das ein niemals endender Prozeß sein - er begrün-
det gleichwohl so etwas wie Kompetenz. 5 Man vergleiche das Lernen von
Fremdsprachen. Da können wir im allgemeinen nur von einer Annäherung
an die sogenannte Sprachkompetenz sprechen, es sei denn, daß jemand
dauerhaft und ganz und gar in eine fremdsprachliche Umwelt eingezogen
ist. Im allgemeinen ist es so, daß Kompetenz nur in der eigenen Mutterspra-
che erreichbar ist, bzw. der Sprache, die man dort spricht, wo man aufge-
wachsen ist und wo man lebt. Darin drückt sich aus, daß man mit denAugen
der Muttersprache in die Welt zu blicken gelernt hat und daß umgekehrt die
erste Entfaltung des eigenen Sprachvermögens sich im Blick auf die Welt,
die einen umgibt, zu artikulieren beginnt.
Die Frage ist nun, wie das Sprachspiel, das eines jeden Weltspiel ist, mit
dem Spiel der Kunst zusammenhängt. Wie verhalten sich beide zueinander?
Es ist klar, daß sich in beiden Fällen die Sprachlichkeit in die hermeneutische
Dimension eingliedert. Daß das Verstehen von Gesprochenem von der
Dialogsituation aus, und das heißt letzten Endes, von der Dialektik von
Frage und Antwort her gedacht werden muß, in der man sich verständigt
und durch die man die gemeinsame Welt artikuliert, glaube ich überzeugend
gemacht zu haben. 6 Ich bin über die Logik von Frage und Antwort, wie sie
Collingwood bereits entworfen hat, insofern hinausgegangen, als sich Welt-
orientierung nicht nur darin niederschlägt, daß sich zwischen den Spre-
chenden Frage und Antwort entwickeln, sondern ebenso geschieht das von
den Dingen her, von denen die Rede ist. Die Sache )gibt Fragen auf<. Frage
und Antwort spielen daher auch zwischen dem Text und seinem Interpreten.
Schriftlichkeit als solche ändert an der Problemsituation gar nichts. Es geht
um die Sache, von der die Rede ist, um ihr So-oder-anders-Sein. Mitteilun-
gen, wie im Brief, sind die Fortsetzung eines Gespräches mit anderen
Mitteln. So ist auch jedes Buch, das auf die Antwort des Lesers wartet, die
Eröffnung eines solchen Gespräches. Etwas kommt darin zur Sprache.
Wie ist es aber beim Kunstwerk, und insbesondere beim sprachlichen
Kunstwerk? Wieso läßt sich da von einer Dialogstruktur des Verstehens und
5 Inzwischen habe ich auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Herrenalb über
die >Sprachlichkeit und ihre Grenzen( einen Diskussionsbeitrag geleistet, der in Evolution
und Sprache, Herrenalber Texte 66 (1985), S. 89-99 zu finden ist.
6 Vgl. Ges. Werke Bd. 1, S. 375ff.
Zwischen Phänomenologie und Dialektik 7
der Verständigung reden? Da ist kein Autor als antwortender Partner und
keine Sache, die so oder anders sein kann, steht zur Diskussion. Das Tcxt-
werk steht in sich selbst. Hier scheint die Dialektik von Frage und Antwort,
sofern sie überhaupt statt hat, nur in der einen Richtung vorzuliegen, das
heißt, von demjenigen aus, der ein Kunstwerk zu verstehen sucht, der es
befragt und sich fragt, und der auf die Antwort des Werkes zu hören sucht.
Als dieser eine, der er ist, mag er, wie jeder Denkende, Fragender und
Antwortender zugleich sein, so wie es im wirklichen Gespräch zwischen
zweien auch geschieht. Aber dieser Dialog des verstehenden Lesers mit sich
selbst scheint doch nicht ein Dialog mit dem Text, der fixiert und insofern
fertig gegeben ist. Oder doch? Gibt es überhaupt einen fertig gegebenen
Text?
Die Dialektik von Frage und Antwort kommt hier nicht zum Stehen.
Vielmehr zeichnet es das Kunst\verk geradezu aus, daß man es niemals ganz
versteht. Das will sagen, daß man, wenn man an es fragend herantritt, nie
eine in der Weise endgültige Ant"vort erhält, daß man nun lweiße Man
entnimmt ihm nicht eine zutreffende Information - und damit genug. Man
kann ein Kunstwerk nicht auf die Informationen, die in ihm stecken, so
abernten, daß es gleichsam leergepflückt ist, "vie es bei Mitteilungen ist, die
wir zur Kenntnis nahmen. Das Aufnehmen eines dichterischen Werkes, ob
das nun durch das wirkliche Ohr vor sich geht oder nur durch jenes innere
Ohr, das im Lesen lauscht, stellt sich als eine zirkuläre Bewegung dar, in der
Antworten wieder in Fragen zurückschlagen und neue Antworten provozie-
ren. Das motiviert das Verweilen bei dem Werk der Kunst - ,;velcher Art
immer es sei. Verweilen ist offenkundig die eigentliche Auszeichnung in der
Erfahrung von Kunst. Ein Kunstwerk wird nie ausgeschöpft. Es ist nie leer.
Wir definieren umgekehrt jede Unkunst, die Imitation oder Effekthascherei
oder dergleichen ist, geradezu dadurch, daß wir sie Illeer« finden. Kein Werk
der Kunst spricht uns immer in der gleichen Weise an. Die Folge ist, daß wir
auch immer wieder anders antworten müssen. Andere Empfänglichkeiten,
andere Aufmerksamkeiten, andere Offenheiten lassen die eine, eigene, ein-
heitliche und selbige Gestalt, die Einheit der künstlerischen Aussage, in einer
Antwortmannigfaltigkeit herauskommen, die sich nie erschöpft. Es ist ein
Irrtum, meine'ich, diese unabschließbare Mannigfaltigkeit gegen die unver-
rückbare Identität des Werkes auszuspielen. Das scheint mir gegen die
Rezeptionsästhetik von] auss wie gegen den Dekonstruktivismus von Derri-
da (die sich darin beide nahe kommen) zu sagen zu sein: das Festhalten an der
Sinnidentität eines Textes ist weder ein Rückfall in den überwundenen
Platonismus einer klassizistischen Ästhetik noch ist es Befangenheit in der
Metaphysik.
Man wird gleichwohl fragen, ob mein eigener Versuch, die Differenz des
Verstehens mit der Einheit des Textes oder des Werkes zusammenzuschlie-
8 Zur Einfuhrung
deutung der Andersheit des andern und damit die fundamentale Rolle, die
der Sprache als Gespräch zukommt, schlecht vorbereitet. Es wäre der Sache
angemessener gewesen, zunächst in einer allgemeineren Form von der her-
meneutischen Funktion des Abstandes zu sprechen. Es muß sich nicht
immer um einen geschichtlichen Abstand handeln, und es ist auch durchaus
nicht immer der Zeitenabstand als solcher, der imstande ist, falsche Überre-
sonanzen und verzerrende Applikationen zu überwinden. Der Abstand
erweist sich sehr wohl auch in Gleichzeitigkeit als ein hermeneutisches
Moment, z. B. in der Begegnung zwischen Personen, die im Gespräch erst
den gemeinsamen Grund suchen, und vollends in der Begegnung mit Perso-
nen, die dabei fremde Sprachen sprechen oder in fremden Kulturen leben.
Jede solche Begegnung läßt etwas als eigene Vormeinung bewußt werden,
das einem so selbstverständlich schien, daß man die naive Angleichung an
Eigenes und damit das Mißverstehen, das so zustande kommt, überhaupt
nicht bemerken konnte. Hier hat die Einsicht in die primäre Bedeutung des
Gespräches auch für die ethnologische Forschung und die Fragwürdigkeit
ihrer Technik der Fragebogen Bedeutung erlangt.' Doch bleibt es richtig,
daß, wo der Zeitenabstand hineinspielt, dieser eine besondere kritische Hilfe
gewährt, weil Veränderungen oft erst dann auffallen und Unterschiede erst
dann der Beobachtung zugänglich werden. Man denke an die Schwierigkeit,
zeitgenössische Kunst einzuschätzen, an die ich in meiner Darlegung im
besonderen dachte.
Solche Erwägungen weiten ohne Frage die Bedeutung der A bstandserfah-
rung aus. Jedoch bleiben sie immer noch im Argumentationszusammen-
hang einer Theorie der Geisteswissenschaften. Der wahre Antrieb meiner
hermeneutischen Philosophie war dagegen ein anderer. Ich war in die Krise
des subjektiven Idealismus hineingeboren, die in meiner Jugend mit der
Wiederaufnahme der Kierkegaardschen Hegelkritik zum Ausbruch kam. Sie
wies dem Sinn von Verstehen eine ganz andere Richtung. Da ist es der
Andere, der meine Ichzentriertheit bricht, indem er mir etwas zu verstehen
gibt. Dieses Motiv leitete mich von Anbeginn. Es trat vollends in der Arbeit
von 1943 heraus, die ich in diesem Bande erneut vorlege. 8 Als Heidegger
damals diese kleine Arbeit kennenlernte, nickte er beifallig, fragte aber
sofort dagegen: »Und was ist es mit der Geworfenheit?« Daß in dem
Sammelbegriff der Geworfenheit die Gegeninstanz gegen das Ideal eines
vollen Selbstbesitzes und Selbstbewußtseins gelegen ist, war offenbar der
Sinn von Heideggers Gegenfrage. Ich hatte jedoch das besondere Phänomen
des Anderen im Auge und suchte folgerichtig die Begründung der Sprach-
7 Darüber lernt man aus dem neuen Buch von L. C. Watson und M.-B. Watson-Franke,
S.27ff
10 Zur Einftihrung
9 >Hcideggers Wege. Studien zum Spätwerk\, Tübingen 1983; Ges. Werke Bd. 3.
Zwischen Phänomenologie und Dialektik 11
Kritik sich gekehrt hatte. Doch versuchte ich, diesen Begriffin sich selbst zu
begrenzen. Heidegger hat darin zweifellos einen Rückfall in die von ihm
überschrittene Denkdimension gesehen - auch wenn er wohl nicht übersah,
daß meine Intention in die Richtung seines eigenen Denkens zielte. Es steht
mir nicht zu, zu entscheiden, ob der Weg, den ich gegangen bin, beanspru-
chen kann, Heideggers Denkwagnisse einigermaßen einzuholen. Aber eines
wird wohl heute gesagt werden dürfen, daß es ein Stück Weges ist, von dem
aus einige der Denkversuche des späten Heidegger ausweis bar werden und
dem etwas sagen, der mit Heideggers eigener GedankenfUhrung mitzuge-
hen nicht vermag. Freilich muß man mein Kapitel über das wirkungs ge-
schichtliehe Bewußtsein in )Wahrheit und Methode< richtig lesen. Man darf
darin nicht eine Modifikation des Selbstbewußtseins sehen, etwa ein Be-
wußtsein der Wirkungsgeschichte oder gar eine hermeneutische Methode,
die sich darauf gründet. Man muß darin vielmehr die Begrenzung des
Bewußtseins durch die Wirkungsgeschichte erkennen, in der wir alle stehen.
Sie ist etwas, was wir nie ganz durchdringen können. Das wirkungsge-
schichtliche Bewußtsein ist, wie ich damals sagte, ))mehr Sein als Bewußt-
sein«.lO
Es leuchtet mir daher nicht ein, mit einigen der Besten unter denjüngeren
kritischen Teilhabern an der Hermeneutik, mit Heiner Anz, Manfred Frank
oder Thomas Seebohm,11 die Weiterverwendung traditioneller Begriffe der
Philosophie als eine Inkonsistenz meines Denkentwurfes anzusehen. Dies
Argument ist ähnlich von Derrida gegen Heidegger gekehrt worden."
Heidegger sei die Überwindung der Metaphysik mißlungen, die Nietzsehe
in Wahrheit vollzogen habe. Die neuere französische Nietzsche-Rezeption
mündet in der Folge solcher Argumentation konsequenterweise in der Zer-
setzung der Seins- und Sinnfrage überhaupt.
Nun muß ich selbst gegen Heidegger geltend machen, daß es gar keine
Sprache der Metaphysik gibt. Das habe ich bereits in der Festschrift fUr
Löwith ausgefUhrt. "Es gibt nur Begriffe der Metaphysik, deren Inhalt sich
aus der Verwendung der Worte bestimmt, so wie das mit allen Worten ist.
Die Begriffe, in denen sich Denken bewegt, sind sowenig wie die Worte
unseres alltäglichen Sprachgebrauchs durch eine starre Regel von fester
Vorgegebenheit beherrscht. Die Sprache der Philosophie, auch wenn sie
10 Vgl. Ges. Werke Bd. 1, S. 367, 460 und unten S. 247.
11 Heinrich Anz, Die Bedeutung poetischer Rede. Studien zur hermeneutischen Be-
gründung und Kritik von Poetologie, München 1979. Manfred Frank, Das Sagbare und
das Unsagbare. Studien zur neueren französischen Hermeneutik und Texttheorie, Frank-
furt 1980 und ,Was ist Neostrukturalismus?(, Frankfurt 1984. Thomas Seebohm, Zur
Kritik der hermeneutischen Vernunft, Bonn 1972.
12 1Marges de la Philosophie(, Paris 1972, S. 77.
13 IAnmerkungen zu dem Thema Hegel und Heideggen, FS rur K. Löwith, Stuttgart
1967, S. 123-131. Auch in IHeideggers Wege(, S. 61-69; vgl. Ges. Werke Bd. 3.
Zur EinfUhrung
noch so schwere Traditionslasten trägt, wie eben die der ins Lateinische
Umgesetzten aristotelischen Metaphysik, versucht vielmehr immer wieder
eine Verflüssigung aller sprachlichen Angebote. Sie kann sogar im Lateini-
schen alte Bedeutungsrichtungen in neue umbilden, wie ich das etwa seit
langem an dem Genie des Nicolaus Cusanus bewundere. Solche Umbildung
muß nicht notwendig durch eine Methode im Stile Hegelscher Dialektik
oder Heideggerscher Sprachgewalt und -gewaltsamkeit geschehen. Die Be-
griffe, die ich in meinem Zusammenhang verwende, sind durch ihren
Gebrauch neu definiert. Es sind auch gar nicht so sehr die Begriffe der
klassischen aristotelischen Metaphysik. wie sie Heideggers Ontotheologie
Uns neu aufgeschlossen hat. Weit mehr gehören sie der platonischen Tradi-
tion an. Ausdrücke wie .Alimesis, A1ethexis, Partizipation, Anamnesis, Emafla-
tion, von denen ich manchmal in leichter Abwandlung Gebrauch mache,
z. B. im Falle von Repräsentation l 4, sind platonische Begriffsprägungen. Sie
spielen bei Aristoteles meist nur in kritischer Wendung eine Rolle und gehö-
ren nicht zur Begrifflichkeit der Metaphysik. soweit deren durch Aristoteles
begründete Schulgestalt in Frage kommt. Ich verweise erneut auf meine
Akademieabhandlung über die Idee des Guten". wo ich umgekehrt plausi-
bel zu machen suche, daß Aristoteles selber weit mehr ein Platoniker war, als
man annimmt, und daß der aristotelische Entwurf der Ontotheologie nur
einer der Ausblicke ist, die Aristotelcs von seiner Physik aus unternommen
hat und die in den Büchern der Metaphysik gesammelt vorliegen.
Damit berühre ich den Punkt einer echten Abweichung von Heideggers
Denken, dem ein großer Teil meiner Arbeit und insbesondere meiner Plato-
studien gilt. 16 (ich hatte die Genugtuung. daß gerade diese Arbeiten dem
Heidegger der letzten Jahre seines Lebens etwas bedeutet haben. Sie sind in
Band 6 und teilweise Band 7 dieser Ausgabe zu finden.) Mir will scheinen.
daß man Plato nicht als den Vorbereiter der Ontotheologie lesen darf. Selbst
die Metaphysik des Aristoteles besitzt noch andere Dimensionen als die
seinerzeit von Heidegger aufgeschlossenen. Daftir glaube ich mich aufHei-
degger selber in gewissen Grenzen berufen zu können. Ich denke vor allem
an Heideggers frühe Vorliebe für ,die berühmte Analogie(. So pflegte er in
der Marburger Zeit zu reden. Diese aristotelische Lehre von der analogia entis
war ihm von früh an als Eideshelfer gegen das Ideal der Letztbegründung
willkommen, wie es Husserl etwa im Stile Fichtes leitete. In vorsichtiger
Distanzierung von Husserls transzendentaler Selbstdeutung findet sich bei
Hcidegger häufig der Ausdruck ,Gleichursprünglichkeit( - wohl ein Nach-
Akad. d. Wiss., Philos.-histor. Klasse, Abh. 2) Heidelberg 1978, S. 16. [Ges. Werke Bd.
71-
16 Vgl. dazu Ges. Werke Bd. 5 und 6 und den kommenden Bd. 7.
Zwischen Phänomenologie und Dialektik 13
eigentlichen Intentionen Platos halte. ll! Hier hat Oskar Becker im Verhältnis
zu]auss richtiger gesehen, wenn er mir in seiner Kritik seinerzeit geradezu
Ertrinken in der Geschichte vorwarf und den Pythagorcismus von Zah1 und
Ton und Traum gegen mich ausspielte." Ich mhlte mich dabei in Wahrheit
nicht getroffen. Aber darum geht es hier nicht. Die Rezeptionsästhetik von
Jauss würde sich nach meiner Überzeugung selber verstümmeln, wenn sie
das Werk, das jeder Rezeptionsgestalt zugrundeliegt, in lauter Facetten
auflösen wollte.
Auch leuchtet mir nicht ein, daß die )ästhetische Erfahrung<, die Jauss
geltend zu machen sucht, der Erfahrung der Kunst genugtut. Das war
geradezu die Pointe meines Unbegriffs )ästhetische Nichtunterscheidung~,
daß sich die ästhetische Erfahrung nicht so isolieren läßt, daß Kunst bloßer
Gegenstand des Genusses wird. Ähnlich scheint es mir mit Jauss' ,Ableh-
nung< der Horizontverschmelzung. Daß Horizontabhebung im hermeneu-
tischen Forschungsprozeß ein integrales Moment darstellt, habe ich in mei-
ner Analyse selbet betont. Die hermeneutische Reflexion lehrt jedoch, daß
die Erftillung dieser Aufgabe aus Wesens gründen nie voll gelingt und daß
sich darin nicht die Schwäche unserer Erfahrungen zeigt. Rezeptionsfor-
schung kann sich VOn den hermeneutischen Implikationen nicht lösen wol-
len, die in aller Interpretation liegen.
Auch Manfred Frank hat durch seine Arbeiten, die auf intimer Kenntnis
des deutschen Idealismus und der Romantik beruhen, die philosophische
Hermeneutik wesentlich gefördert. Aber auch hier leuchtet mir nicht alles
ein. In mehreren Veröffentlichungcn20 hat er meine kritische Auseinander-
setzung mit der psychologischen Interpretation bei Schleiermacher seiner-
seits kritisiert. Dabei hat er sich auf Einsichten des Strukturalismus und
Neostrukturalismus gestützt und der grammatischen Interpretation bei
Schleiermacher im Ausgang von der modernen Zeichentheorie eine sehr
gründliche Aufmerksamkeit geschenkt. Er sucht sie gegen die psychologi-
sche Interpretation aufzuwerten. Es geht jedoch nicht an, meine ich, die
psychologische Interpretation, die das eigentlich Neue war, was Schleier-
macher beitrug, derart herunterzuspielen. Eben so wenig kann man den
Begriff der Divination dadurch reduzieren wollen, daß sie nur mit dem )Stil<
zu tun habe. Als ob Stil nicht die Konkretion der Rede selbst wäre. Oben-
lB In meiner oben S. 12 erwähnten Arbeit über die Idee des Guten habe ich überzeugend
zu machen versucht, daß diese Umformung bereits mit Aristoteles einsetzt: Aristoteles
deutet die platonische Meta-Mathematik in Meta-Phvsik um.
19 Philosophische Rundschau 10 (1962), S. 225-23'7.
drein wird der Begriff der Divination von Schleiermacher bis zum Schluß
festgehalten, wie die maßgebliche Akademierede von 1829 beweist."
Von einem rein sprachlichen Sinn der grammatischen Interpretation zu
redcn, als ob es sie ohne die psychologische Interpretation gäbe, geht nicht
an. Das hermeneutische Problerll zeigt sich gerade in der Durchdringung der
grammatischen durch die individualisierende psychologische Interpreta-
tion, in die die komplexen Bcdingtheiten des Interpreten hineinspielen. Ich
erkenne gern an, daß ich daftir die Schleiermachersehe Dialektik und Ästhe-
tik, die Frank mit Recht heranzieht, stärker hätte beachten soUen. Ich wäre
dann dem Reichtum des individualisierenden Verstehens bei Schleiermacher
besser gerecht geworden. Doch habe ich unmittc1bar nach Erscheinen von
)Wahrheit und Methode~ etwas davon nachgeholt. 22 Mir ging es eben nicht
darUlll, Schleiermacher in allen seinen Dimensionen zu würdigen, sondern
ihn als den Urheber einer Wirkungsgeschichte zu charakterisieren, die be-
reits mit Stein thaI einsetzt und in der Zuspitzung \vissenschaftstheoretischer
Art, die Dilthey vorgenommen hat, unstreitig beherrschend wurde. Das hat
nach meiner Meinung das hermeneutische Problem verengt, und diese
Wirkungsgeschichte ist keine Fiktion. 23
Inzwischen haben Manfrcd Franks neuere Arbeiten den deutschen Leser
die Grundzüge des Neostrukturalismus vermittelt. 24 Das hat mir manches
geklärt. Insbesondere ist mir an der Darstellung Franks klargeworden, wie
stark die Verwerfung der Metaphysik der pr,settee bei Dcrrida an Heideggers
Husserl-Kritik und an seiner Kritik der griechischen Ontologie unter dem
Stichwort der )Vorhandenhcit< orientiert ist. Doch wird man da weder
21 Dort spielt der Begriff der Divination durchaus die von mir beschriebene Rolle.
Gewiß handelt es sich bei dem divinatorischen Verfahren, um ein analogisehes Verfahren.
Die Frage ist aber, wem dieses Verfahren der Analogie dienen soll. »Alle Mitteilung ist das
Wiedererkennen des Geftihls~( zitiert Frank selber in seiner verdienstlichen Neuausgabe
der Schleiermacherschen Hermeneutik, S. 52. Nicht als grammatische Interpretation, die
im Gegenteil durchaus vollkommenes Verstehen ermöglicht (Lücke 205), sondern als
psychologische Interpretation ist Interpretation unvollendbar. Nicht in der grammati-
schen, sondern in der psychologischen Interpretation steckt also die Individualisierung
und damit das hermeneutische Problem. Daraufkommt es an, und daraufkam es mir au.
Frank besteht dagegen mit Recht gegen Kimmerle darauf, daß die psychologische Inter-
pretation von Anfang an bei Schleiermacher auftritt und sich dank ihm innerhalb der
Hermeneutik durchgesetzt hat.
22 Vgl. meinen Aufsatz Das Problem der Sprache in Schleiermachers Hermeneutik, in
einem bedeutenden Aufsatz >Schleiermacher und Kierkegaard< die flir eille philosophische
Hermeneutik produktiven Momente in Schleiermachers >Dialektik< herausgearbeitet.
24 Vgl. M. Frank, )Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur neucsten französischen
Husserl noch Heidegger ganz gerecht. Husserl ist bei der ideal-einen-Bedeu-
tung, von der die erste logische Untersuchung spricht, nicht stehengeblie-
ben, sondern hat die dort supponierte Identität durch seine Zeitanalyse
ausweisbar zu machen unternommen.
Die Phänomenologie des Zeitbewußtseins stellt die temporale Grundle-
gung objektiver Geltung überhaupt dar. Das ist Husserls unzweifelhafte
Intention und hat seine Überzeugungskraft. Identität wird meines Erachtens
nicht dadurch erschüttert, daß man Husserls Idee der transzendentalen
Letztbegründung und damit auch die Anerkennung des transzendentalen
Ego und seine temporale Selbstkonstitution als letzte Begründungsinstanz
der }Logischen Untersuchungen< verwirft.
Die Identität des Ich wie die Identität des Sinnes, der sich zwischen
Dialogpartnern aufbaut, bleibt davon unberührt. Es ist zwar selbstverständ-
lich richtig, daß kein Verstehen des einen durch den anderenje eine vollstän-
dige Deckung des Verstandenen erreichen kann. Hier muß die hermeneuti-
sche Analyse offenbar ein falsches Vorbild von Verstehen und Verständigung
ausräumen. Dazu kommt es in der Verständigung nie, daß die Differenz in
der Identität untergeht. Wenn man sagt, man verständigt sich über etwas, so
heißt das durchaus nicht, daß der eine mit dem anderen überzeugungsiden-
tisch wird. ~Man kommt überein{, wie unsere Sprache das schön ausdrückt.
Es ist eine höhere Form von Syntheke) um das Genie der griechischen
Sprache aufzubieten. Es bedeutet in meinen Augen eine Verkehrung der
Blickrichtung, wenn man die Elemente der Rede, des discours) isoliert und
zum Zielpunkt der Kritik macht. So gibt es dieselben in der Tat nicht, und
man versteht, warum man, den Blick auLZeichen< gerichtet, von differance
oder diffirence sprechen muß. Kein Zeichen ist im absoluten Sinne von
Bedeutung mit sich identisch. Gegen den Platonismus, den Derrida in den
}Logischen Untersuchungen< Husserls und in dem Intentionalitätsbegriff
von )Ideen I< zu fmden meint, hat seine Kritik Recht. Aber das ist von
Husserl selbst längst geklärt. Vom Begriff der passiven Synthesis und von
der Lehre von den anonymen Intentionalitäten aus scheint mir in Wahrheit
eine deutliche Linie zu der hermeneutischen Erfahrung herüberzureichen,
die wohl überall, wo sie den Methodenzwang der transzendentalen Denk-
weise abgeworfen hat, mit meinem Diktum übereinstimmen dürfte: >} M;fu
versteht anders, wenn man überhaupt versteht«.2s Die Stellung, die der
Begriff der Literatur im Fragenkreis der Hermeneutik einnimmt, ist nach
Vollendung von' Wahrheit und Methode< jahrzehntelang ein Vorzugsthema
meiner Studien gewesen. Man vergleiche in diesem Band >Text und Inter-
pretation< und )Destruktion und Dekonstruktion< sowie die Arbeiten in
Band 8 und 9. In >Wahrheit und Methode{ schien mir, wie ich eingangs sagte,
die nötige Unterscheidung zwischen dem Spiel der Sprache und dem Spiel
der Kunst noch nicht mit der rechten Präzision getroffen, und in der Tat ist
der Zusammenhang zwischen Sprache und Kunst nirgendwo so greifbar,
wie im Falle der Literatur, die sich geradezu durch die Kunst der Sprache-
und des Schreibens! - definiert,
Seit alters erscheint die Poetik neben der Rhetorik, und mit der Ausbrei-
tung der Lesekultur - schon im Zeitalter des Hellenismus und vollends im
Zeitalter der Reformation - wird das Geschriebene, die litterae zu dem I
26 Vgl. meinen Beitrag )Das Lesen von Bildern und Bauten< in der Festschrift fLir M.
Imdahl, hrsg. von G. Boehm, Würzburg 1986.
18 Zur Einfuhrung
Lesen ist es etwas anderes, da vollendet sich die Sinn wirklichkeit des schrift-
lich Fixierten im Sinnvollzug selbst, und nichts sonst geschieht. So heißt
Vollendung des Verstehens hier nicht - wie bei der Reproduktion" - Reali-
sierung in neuer sinnlicher Erscheinung.
Daß Lesen ein eigener, in sich vollendeter Sinnvollzug ist und damit von
der Aufftihrung im Theater oder Musiksaal wesenhaft verschieden, zeigt
sich selbst am Vorlesen. Erst recht gilt es vom stillen Lesen, auch wenn dieses
sich lautlich artikuliert, \vie das in der klassischen Antike selbstverständlich
war. Es ist eben voller Sinnvollzug, obwohl es nur in einer schematisieren-
den Weise mit Anschauung etftiBt ist. Es bleibt ftir verschiedene inllginative
Ausftillung olTen. Das habe ich seinerzeit durch Anschluß an die Arbeit von
Roman Ingardcn illustriert. So gilt auch fur den Vorleser: der gute Vorleser
darf keinen Augenblick vergessen, daß er nicht der \virkliche Sprecher ist,
sondern einem Lesevorgang dient. Obwohl sein Vorlesen Reproduktion
und Darstellung für einen anderen ist, also eine neue Realisierung in der
sinnlichen Welt einschließt, bleibt es doch in der Intimität des Lesevorgangs
beschlossen.
An diesen Unterscheidungen muß die Frage Klärung finden, die ich in
anderem Zusammenhang immer wieder durchdacht habe, welche Rolle [ur
das hermeneutische Geschehen die Intention des Autors spielt. Im alltägli-
chen Redegebrauch, wo es sich nicht um den Durchgang durch die Erstar-
rung der 5chriftlichkeit handelt, ist es klar. Man muß den anderen verstehen;
man muß den anderen verstehen, wie er es gemeint hat. Er hat sich sozusa-
gen nicht von sich selbst getrennt und hat sich nicht in schriftlich oder wie
immer fixierter Rede einem Unbekannten übergeben und ausgeliefert, der
das, was er zu verstehen hat, vielleicht durch Mißverstehen, gewollt oder
ungewollt, entstellt. Mehr noch: er hat sich überhaupt nicht von dem
anderen getrennt, zu dem er spricht und der ihm zuhört.
Wieweit dieser andere versteht, was ich sagen will, zeigt sich daran, wie er
darauf eingeht. Das Verstandene wird damit aus der Unbestimmtheit seiner
Sinnrichtung in eine neue Bestimmheit gehoben, die erlaubt, sich verstan-
den oder mißverstanden zu finden. Das ist das eigentliche Geschehen im
Gespräch: das Gemeinte artikuliert sich, indem es ein Gemeinsames wird.
Die einzelne Äußerung ist also stets in ein kommunikatives Geschehen
27 Es ist eine besondere Frage, wie es im Falle der Musik mit dem Verhältnis von Lesen
und Reproduzieren steht. Man wird wohl darüber einig sein, daß Musik im Lesen der
Noten nicht \virklich erfahren wird, und das macht ihren Unterschied von Literatur aus.
Gewiß gilt es auch ruf das Drama, daß es ursprünglich nicht furs Lesen bestimmt war.
Selbst das Epos war in einem äußerlichen Sinne ehedem auf den Vorsänger angewiesen.
Trotzdem bleiben hier wesenhafte Unterschiede. Musik muß Inan machen, und der
Zuhörer muß sozusagen mitmachen. In dieser Frage habe ich von Georgiades viel gelernt,
auf dessen neuestes, aus dem Nachlaß soeben herausgekommenes Werk ,Nennen und
Erklingen( ich hier verweise. (Göttingen 1985)
ZVv'ischen Phänomenologie und Dialektik 19
eingebettet und darf gar nicht als einzelne verstanden \verden, Die Rede von
der mens auctoris spielt daher, wie das Wort >Autor< ebenso, nur dort eine
hermeneutische Rolle, wo es sich nicht um lebendiges Gespräch, sondern
um fixierte Äußerungen hande1t. Da nun ist es die Frage: versteht man nur,
indem man auf den Urheber zurückgeht? Versteht man genug, wenn man
auf das zurückgeht, was der Urheber im Sinne hatte? Und wie ist es, wo das
gar nicht möglich ist, weil man nichts von ihm weiß?
Hier scheint mir die traditionelle Hermeneutik die Folgen des Psycholo-
gismus noch immer nicht ganz überwunden zu haben, Bei allem Lesen und
Verstehen von Schrift handelt es sich um einen Vorgang, durch den sich das
im Text Fixierte zu neuer Aussage erhebt und neu konkretisieren muß. Nun
liegt es im Wesen des wirklichen Sprechens, daß das Meinen das Gesagte
stets übertrifft. Deshalb scheint es mir ein undurchschautes ontologisches
Mißverständnis, die Meinung des Sprechers als Maßstab des Verstehens zu
hypostasieren. Als ob man dieselbe in eine Art reproduktiven Verhaltens erst
einmal herstellen könnte und dann erst als Maßstab an die Worte anzulegen
hätte, Lesen ist ja doch, wie wir sahen, kein Reproduzieren, das den Ver-
gleich mit dem Original erlaubt. Es ist wie bei der durch die phänomenolo-
gische Forschung überwundenen erkenntnistheoretischen Lehre, daß wir
ein Bild der gemeinten Wirklichkeit im Bewußtsein haben, die sogenannte
Vorstellung. Alles Lesen geht über die erstarrte Wortspur hinaus auf den
Sinn des Gesagten selbst, geht also weder auf einen ursprünglichen Produk-
tionsvorgang zurück, den man als einen seelischen Vollzug oder als Aus-
drucksgeschehen verstehen sollte, noch weiß es von dem Gemeinten über-
haupt anders als von der Wortspur aus. Das schließt ein: wenn einer versteht,
was ein anderer sagt, ist das nicht nur ein Gemeintes, sondern ein Geteiltes,
ein Gemeinsames. Wer einen Text im Lesen zum Sprechen bringt, und sei es
auch ohne jede eigene lautliche Artikulation beim Lesen, baut dessen Sinn in
der Sinnrichtung, die der Text hat, in das Universum von Sinn ein, auf das
hin er selbst geöffnet ist. Darin liegt am Ende die Rechtfertigung rur die
romantische Einsicht, der ich gefolgt bin, daß alles Verstehen schon Ausle-
gen ist. Schleiermacher28 hat es einmal ausdrücklich gesagt: »Das Auslegen
unterscheidet sich von dem Verstehen durchaus nur wie das laute Reden von
dem inneren Reden «.29
Das gleiche gilt vom Lesen. Lesen nennen wir verstehendes Lesen. Das
Lesen selbst ist damit schon Auslegen des Gemeinten, So ist Lesen die
gemeinsame Grundstruktur allen Vollzuges von Sinn.
Auch wenn Lesen kein Reproduzieren ist, wird dochjeder Text, den man
liest, erst im Verstehen verwirklicht. Auch für den zu lesenden Text gilt
daher, daß er einen Seins zuwachs erfahrt, der dem Werk erst seine volle
28 Sämtl. Werke Bd, 3, S. 384.
29 VgL Wahrheit und Methode, Ges. Werke Bd. 1,5.188.
20 Zur EinfUhrung
lichkeit allen Verstehens überschritt. Das gab mir Anlaß, mich immer wie-
der in den Anteil der Rhetorik zu vertiefen, den diese an der Geschichte der
Hermeneutik zeigt, den sie aber weit mehr noch für die Existenzform von
Gesellschaft überhaupt besitzt. Davon legen auch in diesem Bande einige
Studien Zeugnis ab.
Schließlich nötigte mich die gleiche Problemrichtung dazu, die wissen-
schaftstheoretische Eigenart einer philosophischen Hermeneutik schärfer
herauszuarbeiten, in der Verstehen und Interpretieren und das Verfahren der
hermeneutischen Wissenschaften seinerseits seine Legitimation finden soll.
Ich nahm damit ein Problem auf, mit dem ich von meinen allerersten Anfän-
gen an intensiv beschäftigt war: Was ist praktische Philosophie? Wie kann
sich Theorie und Reflexion auf den Bereich der Praxis richten, wo doch
Praxis keinen Abstand duldet, sondern Engagement fordert? Diese Frage hat
mich von früh an durch Kierkegaards Existenzpathos angerührt. Darüber
hinaus habe ich mich am Vorbild der aristotelischen praktischen Philosophie
orientiert. Ich suchte dem abwegigen Modell von Theorie und ihrer Anwen-
dung zu entgehen, das vom modernen Wissenschaftsbegriff aus auch den
Begriff der Praxis einseitig bestimmt hat. Hier hat Kant die Selbstkritik der
Moderne eingeleitet. In Kants >Grundlegung zur Metaphysik der Sitten<
glaubte ich und glaube ich eine zwar partiale, nämlich auf das Imperativische
verkürzte, aber in ihren Gtenzen unerschütterliche Wahrheit zu finden: die
Impulse der Aufklärung dürfen sich nicht in einem Sozialutilitarismus ver-
fangen, wenn sie der Kritik Rousseaus standhalten sollen, die ftir Kant nach
seinem eigenen Geständnis bestimmend war.
Dahinter liegt das alte metaphysische Problem der Konkretion des Allge-
meinen. Das hatte ich schon in meinen frühen Studien zu Plato und Aristote-
les im Auge. Die erste Dokumentation meiner Gedankenbildung wurde
soeben erstmals veröffentlicht, in Band 5 dieser Ausgabe, unter dem Titel
,Praktisches Wissen< (geschrieben im Jahre 1930). Dort habe ich das Wesen
der Phronesis in engem Anschluß an das 6. Buch der Nikomachischen Ethik
herausgearbeitet, indem ich Anstöße Heideggers aufnahm. In >Wahrheit und
Methode< rückt dieses Problem ins Zentrum. Nun ist die aristotelische
Tradition der praktischen Philosophie inzwischen von vielen Seiten wieder-
aufgenommen worden. Es scheint mir unbestreitbar, daß sie eine echte
Aktualität besitzt. In meinen Augen hat das nichts mit den politischen
Vorzeichen zu tun, die vielfach heute mit solchem Neo-Aristotelismus
verbunden sind. Was praktische Philosophie ist, bleibt rur den Wissen-
schaftsbegriff des neuzeitlichen Denkens insgesamt eine wirkliche Heraus-
forderung, die man nicht ignorieren sollte. Aus Aristoteles ist zu lernen, daß
der griechische Begriff von Wissenschaft, Episteme) Vernunfterkenntnis
meint. Das heißt, daß cr in der Mathematik sein Vorbild hat und nicht
eigentlich die Empirie umfaßt. Der modernen Wissenschaft entspricht daher
Zwischen Phänomenologie und Dialektik 23
weniger der griechische Begriff von Wissenschaft, Episteme, als der Begriff
der TecJme. Jedenfalls ist das praktische und politische Wissen von grund-
sätzlich anderer Struktur, als alle diese Formen von lehrbarem Wissen und
seiner Anwendung. Das praktische Wissen ist in Wahrheit das, das allem auf
Wissenschaft gegründeten Können von sich aus seinen Platz anweist. Das
war bereits der Sinn der sokratischen Frage nach dem Guten, den Plato und
Aristoteles fest gehalten haben. Wer glaubt. daß Wissenschaft dank ihrer
unbestreitbaren Kompetenz praktische Vernunft und politische Vernünftig-
keit ersetzen kann, verkennt die ftihrenden Kräfte der menschlichen Lebens-
gestaltung, die umgekehrt allein imstande sind, Wissenschaft, wie alles
menschliche Können, mit Sinn und Verstand zu nutzen und die Nutzung
derselben zu verant\vorten.
Nun ist gewiß praktische Philosophie nicht selber solche Vernünftigkeit.
Sie ist Philosophie, das heißt, sie ist eine Reflexion, und zwar über das, was
menschliche Lebensgestaltung zu sein hat. Im selben Sinne ist die philo-
sophische Hermeneutik nicht selbst die Kunst des Verstehens, sondern die
Theorie derselben. Aber die eine wie die andere Form von Be\vußtmachung
steigt aus der Praxis auf und bleibt ohne sie ein bloßer Leerlauf. Das ist der
besondere Sinn von Wissen und Wissenschaft, den es von der Problematik
der Hermeneutik aus neu zu legitimieren galt. Das war das Ziel, dem ich
auch nach Vollendung von) Wahrheit und Methode< meine Arbeit gewidmet
habe.
Wenn man die Eigenart der deutschen Philosophie der letzten Jahrzehnte
kennzeichnen will, so begegnet einem als ihr wichtigster Grundzug ihre
historische Einstellung. Angelsächsische Beobachter haben sie gelegentlich
geradezu eine erdrückend historische Einstellung genannt und sich verwun-
dert, warum die deutsche Philosophie sich so überwiegend mit der Ge-
schichte der Philosophie beschäftigt. In der Tat ist dieses Interesse der
Philosophie an ihrer eigenen Geschichte keine Selbstverständlichkeit und
enthält eine eigene Fragwürdigkeit. Kommt es in der Philosophie, wie in
aller Erkenntnis, auf die Wahrheit an, was bedarf es dann der Wahrnehmung
der Wege und Umwege, die zu ihr führen? Überdies klingt uns Heutigen die
Kritik in den Ohren, die Friedrich Nietzsehe in der berühmten zweiten
}Unzeitgemäßcn Betrachtung< an der Historie geübt hat. Ist der historische
Sinn wirklich jene großartige Erweiterung unserer Welt, die das 19. Jahr-
hundert in ihm sah, ist cr nicht vielmehr ein Zeichen daftir, daß der moderne
Mensch überhaupt nicht mehr eine eigene Welt hat, seit cr mit hundert
Augen zugleich auf die Welt zu blicken gelernt hat' Löst sich nicht der Sinn
von Wahrheit auf, wo die wechselnden Perspektiven, in denen sie erscheint,
ins Bewußtsein treten?
In der Tat, es gilt zu begreifen, wie uns der geschichtliche Charakter des
menschlichen Daseins und seiner Erkenntnis zum Problem geworden ist.
Man nennt dieses Problem in Deutschland das Problem der Geschichtlich-
keit. Es ist nicht die alte Frage nach dem Wesen und Sinn der Geschichte, die
damit gefragt wird. Daß die menschlichen Dinge sich unaufhaltsam wan-
deln, daß Völker und Kulturen aufsteigen und sinken. war vonjeher Gegen-
stand des philosophischen Nachdenkcns. Die Griechen, die ersten Gestalter
des abendländischen Weltbegreifens, dachten diesen Aufstieg und Verfall
nicht als das Wesen des menschlichen Seins, sondern von etwas anderem her,
das sich in allem Wechsel bewahrt, weil es die rechte Ordnung ist. Das
Vorbild, nach dem so das menschliche Sein gedacht wird, ist die Natur, die
kosmische Ordnung, die sich selbst erhält und in ewiger Wiederkehr erneu-
ert. Auch menschliche Ordnung möchte so bleibend sein, und ihr Wandel
28 Vorstufen
gilt als ihr Verfall. Geschichte ist Verfallsgeschichte. ' Erst mit dem Christen-
tum wird das Unwiederholbare des menschlichen Seins als sein eigener
Wesenszug erkannt. Das Ganze der menschlichen Dinge, }dieser Kosmos(,
ist ja das Unwesen gegenüber dem alleinigen Wesen des jenseitigen Gottes,
und die Erlösungstat gibt der menschlichen Geschichte einen neuen Sinn. Sie
ist die ständige Entscheidung rur oder wider Gott. Der Mensch steht in der
durch die einmalige Erlösungstat bestimmten Geschichte des Heils. Jeder
seiner Augenblicke gewinnt ein absolutes Gewicht, das Ganze der menschli-
chen Geschicke aber bleibt geborgen in der Vorsehung Gottes und der
Erwartung des Endes der Dinge. So ist das menschliche Dasein endlich und
doch auf das Unendliche bezogen. Geschichte hat einen eigenen, positiven
Sinn. Von dieser Voraussetzung aus ist die Metaphysik der Geschichte im
christlichen Abendland durch ein Jahrtausend gedacht worden. In säkulari-
sierter Gestalt ist noch der Fortschrittsglaube des Zeitalters der Aufklärung
ein Glied in diesem Zusammenhang. Ja, selbst der letzte großartige Versuch
einer Geschichtsphilosophie, Hegels Aufweis der Vernunft in der Geschich-
te, bleibt in diesem Sinne Metaphysik. Erst mit dem Zusammenbruch dieses
metaphysischen Hintergrundes wird das Problem der Geschichte rur das
menschliche Daseinsbewußtsein bestimmend. Es wird zum Problem der
Gcschichtlichkeit.
Im Jahre 1841 wurde der alte Schelling auf den Berliner Lehrstuhl für
Philosophie gerufen, um der politisch und wissenschaftlich gefahrlichen
Nachwirkung Hegels entgegenzutreten. Seine Kritik an Hege! stellt, gegen
sein eigenes Wissen und Wollen, das Ende der führenden Stellung der
Philosophie in der abendländischen Kultur überhaupt dar. Nicht seine eige-
ne Philosophie, sondern das methodische Übergewicht der Naturwissen-
schaften setzte sich durch. Auch das Problem der Geschichte wurde nach
diesem methodischen Vorbild gestaltet.
Als die Philosophie sich von der Tiefe des epigonalen Hegelianismus und
akademischen Materialismus der Jahrhundertmitte erhob, stand sie im Zei-
chen Kants und seiner erkenntnistheoretischen Frage nach der Begründung
der Wissenschaft. Kant hatte in der IKritik der reinen Vernunft< die Frage
beantwortet, wie reine Naturwissenschaft möglich sei. Jetzt fragte man
darüber hinaus, wie Geschichtswissenschaft möglich sei. Man suchte der
IKritik der reinen Vernunft< eine )Kritik der historischen Vernunft< zur Seite
zu stellen (um ein Wort Wilhelm Diltheys zu gebrauchen). Das Problem der
Geschichte stellte sich als das Problem der Geschichtswissenschaft. Wie
gewinnt diese ihr erkenntnistheoretisches Recht? So fragen hieß aber, die
1 rVgl. meine Rezension zu G. Rohr IPlatons Stellung zur Geschichte<, Ges. Werke
Bd. 5, S. 327-331.]
Das Problem der Geschichte 29
Geschichtswissenschaft am Vorbild der Naturwissenschaften messen. Das
klassische Buch der neukantianischen Geschichtslogik hat den bezeichnen-
den Titel: ,Die Grenzen der Naturwissenschaftlichen Begriffsbildung<.
Heinrich Rickert sucht darin zu zeigen, wodurch der Gegenstand der Ge-
schichte sich charakterisiert, warum in ihr nicht allgemeine Gesetzlichkeiten
gesucht werden, wie in der Naturwissenschaft, sondern das Einzelne, das
Individuelle erkannt wird. Was macht ein bloßes Faktum zu einer histori-
schen Tatsache? Die Antwort lautet: seine Bedeutung, d. h. sein Bezug auf
das System menschlicher Kulturwerte. Bei solcher Fragestellung bleibt in
aller Abgrenzung das Modell der naturwissenschaftlichen Erkenntis leitend.
Das Problem der Geschichte ist ganz und gar nur das erkenntnistheoretische
Problem, wie Geschichtswissenschaft möglich ist.
In Wahrheit aber bewegt die Frage der Geschichte die Menschheit nicht als
ein Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern des eigenen Le-
bensbewußtseins. Auch ist es nicht allein dies, daß wir Menschen eine
Geschichte haben, d. h. in Aufstieg, Blüte und Verfall unser Schicksal leben.
Das Entscheidende ist vielmehr, daß wir gerade in dieser·Schicksalsbewe-
gung den Sinn unseres Seins suchen. Die Macht der Zeit, die uns dahinreißt,
weckt in uns das Bewußtsein einer eigenen Macht über die Zeit, durch die
wir unser Schicksal gestalten. In der Endlichkeit selber erfragen wir einen
Sinn. Das ist das Problem der Geschichtlichkeit, wie es die Philosophie
bewegt. Die Dimensionen dieses Problems sind in Deutschland, dem klassi-
schen Land der Romantik, ausgemessen worden, weil dort das romantische
Erbe inmitten des Aufschwungs der modernen Wissenschaft, den das
19. Jahrhundert brachte, festgehalten wurde.
Es war Wilhelm Dilthey, im wilhelminischen Deutschland viele Jahr-
zehnte Professor der Philosophie in Berlin, der anerkannte und berühmte
Geschichtsschreiber des deutschen Geistes, der in der Zeit der Herrschaft der
Erkenntnistheorie dieses Problem der Geschichtlichkeit in heller Wachheit
empfunden und durchdacht hat. Seine Zeitgenossen, ja auch viele seiner
Schüler und Freunde, sahen in ihm nur den genialen Historiker, den würdi-
gen Erben der großen Tradition deutscher Geschichtsschreibung, der auf
dem Gebiete der Philosophie geschichte und Geistesgeschichte eine neue und
glanzvolle Leistung hinzubrachte. Seine Schriften waren vielf:iltig verstreut,
oft nur in Aufatzen und Akademieabhandlungen veröffentlicht. Aber nach
dem ersten Weltkrieg erschienen seine gesammelten Werke in vielen Bän-
den, die um wichtige Nachlaßarbeiten vermehrt waren. Seitdem ist Dilthey
als Philosoph, als der Denker des Problems der Geschichtlichkeit, sichtbar
geworden. Ortega y Gasset ist sogar so weit gegangen, ihn den größten
Denker zu nennen, den die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorge-
bracht habe.
Man muß freilich lernen, Dilthey gegen seine eigene methodische Selbst-
30 Vorstufen
auffassung zu lesen. Denn Diltheys Arbeiten teilten scheinbar mit der er-
kenntnistheoretischen Fragestellung des Neukantianismus den Ausgangs-
punkt. Auch er suchte den Geisteswissenschaften zu einer selbständigen,
philosophischen Grundlegung zu verhelfen, indem er die ihnen eigenen
Prinzipien aufwies. Er sah in einer beschreibenden und zergliedernden Psy-
chologie die Grundlage aller Geisteswissenschaften. In einer klassischen
Abhandlung vomjahre 1892 mit dem Titel ,Ideen zu einer beschreibenden
und zergliedernden Psychologie< überwindet er die naturwissenschaftliche
Methodik auf dem Gebiete der Psychologie und gibt damit den Geisteswis-
senschaften ihr methodisches Selbstbewußtsein. So scheint auch er von der
erkenntistheoretischen Fragestellung beherrscht, die nach der Möglichkeit
der Wissenschaft fragt und nicht nach dem, was Geschichte ist, In Wahrheit
aber beschränkt er sich nicht darauf, über unser Wissen von der Geschichte
zu reflektieren, wie es in der Geschichtswissenschaft vorliegt, sondern er
denkt über unser menschliches Sein nach, das durch sein Wissen um seine
Geschichte bestimmt ist. Den Grundcharakter des menschlichen Daseins
bezeichnet er als das )Leben<. Dies ist ihm die )kernhafte< Urtatsache, auf die
auch alle geschichtliche Erkenntis letztlich zurückgeht, Auf die gedankenbil-
dende Arbeit des Lebens, nicht auf ein erkenntnistheoretisches Subjekt gehe
alles Objektive im menschlichen Leben zurück, Kunst, Staat, Gesellschaft,
Religion, alle unbedingten Werte, Güter und Normen, die in diesen Sphären
Bestand haben, entstammen zuletzt der gedankenbildenden Arbeit des Le-
bens, Wenn sie unbedingte Geltung beanspruchen, erklärt sich das nur durch
)Einschränkung des Horizonts der Zeit<, das will sagen, durch einen Mangel
an historischem Horizont. Der historisch Aufgeklärte zum Beispiel weiß,
daß Totschlag nicht unbedingt das größere Verbrechen ist gegenüber dem
DiebstahL Er weiß, daß das alte germanische Recht den Diebstahl strenger
ahndete als den Totschlag, weil er feige und unmännlich ist, Nur wer das
nicht weiß, kann hier an die Unbedingtheit einer Rangordnung der Dinge
glauben, Historische Aufklärung fUhrt so zur Einsicht in die Bedingtheit des
Unbedingten, fUhrt zur Einsicht in die historische Relativität, Dilthey wird
darüber aber nicht zum Vertreter eines historischen Relativismus, denn nicht
die Relativität, sondern die ,kernhafte< Tatsache des Lebens, die aller Relati-
vität zugrunde liegt, beschäftigt sein Denken,
Wie vollzieht sich diese gedankenbildende Arbeit des Lebens? Dilthey
gründet seine Philosophie auf die innere Erfahrung des Verstehens, das uns
Realität aufschließt, die sich dem Begriff versagt, Alle geschichtliche Er-
kenntnis ist solches Verstehen. Verstehen aber ist nicht das Verfahren der
historischen Wissenschaft allein, sondern ist eine Grundbestimmung des
menschlichen Seins. Es beruht darauf, daß wir Erlebnisse haben, deren wir
inne sind. In der )Erinnerung< gestalten sich diese Erlebnisse aus zum Verste-
hen von Bedeutung. Dilthey hat hier an romantische Gedanken angeknüpft,
Das Problem der Geschichte 31
wenn er erkennt, daß solches Verstehen von Bedeutung ganz anders struktu-
riert ist als das Verfahren der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Hier wird
nicht von einem zum anderen und wieder zum nächsten fortgegangen, um
daraus das Allgemeine zu abstrahieren, sondern das einzelne Erlebnis ist
immer schon eine Ganzheit von Bedeutung, ein Zusammenhang. Und
wiederum ist das einzelne Erlebnis zwar ein Teil des Ganzen des Lebensver-
laufs. Dennoch aber ist seine Bedeutung auf dieses Ganze in einer eigenarti-
gen Weise bezogen. Offenbar ist es nicht so, daß jeweils das Le(zte, was
jemand erlebt, die Bedeutung des Lebenszusammenhanges erst vollendet
und bestimmt. Der Sinn eines Lebensschicksals ist vielmehr eine eigene
Ganzheit, die nicht vom Ende, sondern von einer sinnbildenden Mitte aus
gestaltet ist. Nicht um das letzte, sondern um das entscheidende Erlebnis
bildet sich die Bedeutung des Zusammenhanges. Ein Augenblick kann ftir
ein ganzes Leben entscheidend werden.
In Anlehnung an romantische Theorien verdeutlicht Dilthey dieses Ver-
hältnis gern am Verstehen von Musik. Eine Melodie ist zwar eine Abfolge
von einzelnen Tönen, und dennoch baut sich die Gestalt der Melodie nicht in
der Weise auf, daß sie mit dem Erklingen des letzten Tones erst da wäre.
Vielmehr gibt es auch hier bedeutungsvolle Motive, von deren Mitte her
sich der Aufbau des Ganzen vollzieht und zur Einheit zusammenschließt.
Auch das Verstehen der Geschichte ist solches Verstehen aus einer Mitte. Es
mag sein, daß sich der volle Sinn der Geschichte erst in der Universalge-
schichte erfüllt. So hat Ernst Troeltsch Diltheys Anliegen einmal formuliert
lvon der Relativität zur Totalität(. Aber entscheidend ist auch hier: Totalität
ist nicht das vollendete Ganze der bis zur Gegenwart abgelaufenen Geschich-
te, sondern baut sich von einer Mitte, von einer zentrierenden Bedeutung
her auf.
Dieser Bedeutungszusammenhang, der sich so bildet, ist in Wahrheit aber
zugleich ein Wirkungszusammenhang, das heißt, er ist nicht im Verstehen
erst gestaltet, sondern zugleich als Zusammenhang von Kräften wirksam.
Geschichte ist immer beides zugleich. Bedeutung und Kraft. Dilthey zeigt
etwa, daß eine Epoche einen einheitlichen Bedeutungszusammenhang dar-
stellt. Er nennt diesen Zusammenhang die >Struktun der Zeit. Nun ist es
gewiß sinnvoll zu sagen, man müsse alle Erscheinungen dieser Zeit aus ihrer
Struktur verstehen. Es kann das Verständnis nicht befriedigen, hier bloße
Einflüsse oder Einwirkungen fremder Zeiten oder Umstände zu erkennen.
Nur der erfahrt einen Einfluß, der für ihn schon bereit und empfanglieh ist.
Diese seine Empfanglichkeit eben ist die Struktur. Umgekehrt aber ist es
offenbar eine falsche Einseitigkeit, wenn man die Frage nach solchen histori-
schen Wirkungs linien gänzlich abschneiden will. Am Ende hängt das Erfah-
ren von Einflüssen auch davon ab, daß das nahe und wirksam ist, was diesen
Einfluß ausübt, Geschichte ist nicht nur Bedeutungszusammenhang, son-
32 Vorstufen
dern ein Realzusammenhang von Kräften. Machen wir es uns wiederum arn
Beispiel des menschlichen Lebensschicksals klar. Gewiß vollzieht sich ein
menschliches Lebensschicksal nach dem Gesetz, nach dem es angetreten ist.
Gewiß aber gestalten die Umstände dieses Schicksal mit; Daimon und
Kairos, Vor bestimmung und Gelegenheit treten zusammen. Geschichte ist
immer Sinn und Wirklichkeit zugleich, Bedeutung und Kraft.
Dilthey arbeitet nicht zufallig mit dem Vergleich des ästhetischen Verste-
hens. Denn eine Voraussetzung trägt seine gesamte Lehre vom geschichtli-
chen Sein und seinem Gewirktsein aus Kraft und Bedeutung: daß der Ab-
stand des Verstehens gegeben und die Souveränität der geschichtlichen
Vernunft möglich ist. So wie das ästhetische Verstehen sich in verstehendem
Abstand vollzieht, ist auch das Verstehen der Geschichte auf solchen Ab-
stand gegründet. Eben das begreift nun Dilthey als die Bewegung des
Lebens selber, daß die Besinnung aus ihm selbst aufsteigt. Negativ bedeutet
das: das Lehen muß frei werden vom Erkennen durch Begriffe, um seine
eigenen Objektivationen zu bilden. Gibt es aber solche Freiheit des Verste-
hens? Seine entscheidende Begründung hat dieser Glaube an das Freiwerden
durch historische Aufklärung in einem Strukturmoment des historischen
Sclbstbewußtseins: daß das Selbstbewußtsein in einem unendlichen und
unumkehrbaren Prozeß begriffen ist. Schon Kant und der Idealismus waren
davon ausgegangen: jedes erreichte Wissen von sich selbst vermag wieder
Gegenstand eines neuen Wissens zu werden. Wenn ich weiß, so kann ich
stets auch wissen, daß ich weiß. Diese Bewegung der Reflexion ist unend-
lich. Für das historische Selbstbewußtsein bedeutet diese Struktur, daß der
Geist, der sein Selbstbewußtsein sucht, eben damit sein eigenes Sein ständig
verwandelt. Indem er sich begreift, ist er immer schon ein anderer geworden
als der, der er war. Machen wir es an einem Beispiel klar: wird sichjemand
des Zornes bewußt, der ihn erfüllt, so ist dieses erreichte Selbst bewußtsein
immer schon eine Verwandlung, wenn nicht gar eine Verwindung des
eigenen Zornes. Hegel hat in seiner ~Phänomenologie des Geistes( diese
Bewegung des Selbstbewußtseins zu sich selbst beschrieben. Während aber
Hege! im philosophischen Selbstbewußtsein das absolute Ende dieser Bewe-
gung sah, verwirft Dilthey diesen metaphysischen Anspruch als dogma-
tisch. Damit öffnet sich ihm die Schrankenlosigkeit der historischen Ver-
nunft. Historisches Verstehen bedeutet ständige Zunahme an Selbstbewußt-
sein, ständige Erweiterung des Lebenshorizontes. Da gibt es kein Halt und
kein Zurück. Diltheys Universalität als Historiker des Geistes berUht eben
auf dieser unendlichen Erweiterung des Lebens im Verstehen. Dilthey ist der
Denker der historischen Aufklärung. Das geschichtliche Bewußtsein ist das
Ende der Metaphysik.
Hier liegt der Punkt, an dem die philosophische Forschung heute auf neue
Wege gewiesen ist.
Das Problem der Geschichte 33
Gibt es diese Freiheit des Verstehens, offenbart sich in ihr der unendliche
Zusammenhang des Geschehens als das Wesen der Geschichte? Fragen wir
nicht gerade dann nach dem Wesen der Geschichte, wenn wir nach den
Grenzen des geschichtlichen Selbst bewußtseins fragen? Auf dem Wege die-
ser Frage ist Nietzsche vorausgegangen. In der zweiten >Unzeitgemäßen
Betrachtung< fragt er nach dem Nutzen und Nachteil der Historie rur das
Leben: Er entwirft dort ein erschreckendes Bild von der historischen Krank-
heit, die seine Zeit befallen habe. Er zeigt, wie alle lebenfordemden Instinkte
durch sie zutiefst verderbt sind, wie alle verbindlichen Maßstäbe und Werte
dadurch verlorengehen, daß man lernt, mit beliebigen fremden Maßstäben
und an immer wieder anderen Werttafe1n zu messen. Nietzsches Kritik ist
aber zugleich positiv. Denn er proklamiert den Maßstab des Lebens, der
bemißt, wievicl Geschichte eine Kultur ohne Schaden ertragen kann. Histo-
risches Sclbstbewußtsein könne sehr verschiedener Art sein, bewahrend
oder Vorbild gestaltend oder Niedergang fUhlcnd. Im rechten Gleichge-
wicht dieser verschiedenen Arten, Historie zu treiben, müsse sich die plasti-
sche Kraft erhalten, durch die eine Kultur allein lebensfahig ist. Sie bedarf
eines mit Mythen umstellten Horizontes, sie bedarf also gerade einer Grenz-
setzung gegenüber der historischen Aufklärung. Aber gibt es ein Zurück?
Oder ist vielleicht gar kein Zurück nötig? Ist der Glaube an die Unendlich-
keit des Verstehens der historischen Vernunft vielleicht ein Wahn, eine
falsche Selbstinterpretation unseres geschichtlichen Seins und Bewußtseins?
Das ist die entscheidende Frage.
Es gibt viele Probleme, an denen uns der Glaube an die Schrankenlosigkeit
der historischen Vernunft fragwürdig werden kann. Ich erinnere an die
Frage nach den Naturkonstanten des geschichtlichen Geistes, seinen biologi-
schen Voraussetzungen. Ich erinnere an die Frage nach dem Anfang der
Geschichte. Ist wirklich Geschichte erst dort, wo die Menschheit ein Be-
wußtsein von sich selbst zu überliefern beginnt? Sind nicht geschichtema-
chende Entscheidungen dem schon weit vorausgegangen? Gibt es etwa eine
Tat von größerer Bedeutung, als die Erfindung des Pfluges es war, die aller
geschichtlichen Zeit voraus liegt? Und was ist der Mythos, in dem sich
geschichtliche Völker noch vor der Schwelle ihres geschichtlichen Schicksals
spiegeln? Aber selbst Diltheys Problem vom geschichtlichen Verstehen
erscheint uns heute in einem neuen Licht, seitdem die philosophische For-
schung einige entscheidende Schritte über ihn hinaus getan hat. Martin
Heidegger hat in .Sein und Zeit< die Geschichtlichkeit des menschlichen
Daseins in grundsätzliche Fragezusammenhänge gerückt. Er hat das Pro-
blem der Geschichte von den ontologischen Voraussetzungen freigemacht,
unter denen noch Dilthey die Frage sah. Sein bedeutet, wie er gezeigt hat,
nicht notwendig und immer Gegenständlichkeit, vielmehr kommt es gerade
darauf an, ),die generische Differenz zwischen Ontischem und Historischem
34 Vorstufen
Die Geisteswissenschaften haben es nicht leicht, fur die Art ihrer Arbeit bei
der größeren Öffentlichkeit das rechte Verständnis zu finden. Was in ihnen
Wahrheit ist, was bei ihnen herauskommt, ist schwer sichtbar zu machen.
Immerhin wäre es leichter auf solchen Gebieten der Geisteswissenschaften,
deren Gegenstände von sinnfalliger Art sind. Wenn ein Nationalökonom
heute von der Bedeutung seiner Arbeit rur die öffentliche Wohlfahrt zu
sprechen hätte, so wäre ihm ein allgemeines Verständnis gewiß. Ebenso wäre
es, wenn ein Kunstwissenschaftler etwas Schönes vor uns hinstellte, selbst
wenn es nur die Ausgrabung von etwas sehr Altem wäre. Denn auch das sehr
Alte erweckt eine merkwürdige Art von allgemeinem Interesse. Dem Philo-
sophen steht es dagegen an, statt sichtbarer oder allgemein überzeugender
Resultate das Bedenkliche und Nachdenkliche zur Sprache zu bringen. das
sich in der Arbeit der Geisteswissenschaften dem Denkenden darbietet.
setzen. Der Autorität gehorchen heißt einsehen, daß der andere - und so
auch die andere aus Überlieferung und Vergangenheit tönende Stimme -
etwas besser sehen kann als man selbst. Jeder der den Weg in die Geisteswis-
senschaften als junger Anfan!';er gesucht hat, kennt das aus Erfahrung. Ich
selbst erinnere mich, wie ich mit einem erfahrenen Gelehrten als Anfanger in
einer wissenschaftlichen Frage disputierte, in der ich gut Bescheid zu wissen
meinte. Da wurde ich plötzlich von ihm über eine Sache belehrt, die ich nicht
wußte und fragte ihn ganz erbittert: woher wissen Sie das? Seine Antwort
war: wenn Sie so alt sein werden wie ich, werden Sie es auch wissen.
Das war eine richtige Antwort. Aber wer würde wohl als Lehrer der
Naturwissenschaft oder als Lernender das fUr eine Antwort halten? Wir
wissen zumeist nicht zu sagen, warum diese oder jene philologische oder
historische Vermutung eines AnHingers )unmöglich{ ist. Es ist eine Frage des
Taktes, der durch unermüdlichen Umgang mit den Dingen erworben, aber
nicht gelehrt und nicht andemonstriert werden kann. Dennoch ist es in
solcher pädagogischer Situation fast ausnahmslos gewiß, daß der erfahrene
Lehrer Recht und der Anfanger Unrecht hat. Freilich hängt mit diesen
besonderen Wahrheits bedingungen zusammen, daß wir auch der Forschung
gegenüber keine absolut sicheren Maßstäbe haben, durch die sich echte
Leistung und leere Prätention scheiden lassen, ja, daß wir oft an uns selber
zweifeln, ob, was wir sagen, die Wahrheit, die wir meinen, wirklich noch
enthält.
II
Auf Überlieferung hören und in Überlieferung stehen, das ist offenbar der
Weg der Wahrheit, den es in den Geisteswissenschaften zu finden gilt. Auch
alle Kritik an der Überlieferung, zu der wir als Historiker gelangen, dient am
Ende dem Ziele, sich an die echte Überlieferung, in der wir stehen, anzu-
schließen. Bedingtheit ist also nicht eine Beeinträchtigung geschichtlicher
Erkenntnis, sondern ein Moment der Wahrheit selbst. Sie muß selbst mit
gedacht sein, wenn man ihr nicht beliebig anheimfallen will. Es muß gerade-
zu hier als )wissenschaftlich< gelten, das Phantom einer vom Standort des
Erkennenden abgelösten Wahrheit zu zerstören. Das gerade ist das Zeichen
unserer Endlichkeit, deren eingedenk zu bleiben allein vor Wahn zu bewah-
ren vermag. So war der naive Glaube an die Objektivität der historischen
Methode ein solcher Wahn. Aber was an seine Stelle tritt, ist nicht ein matter
Relativismus. Es ist ja nicht beliebig und nicht willkürlich, was wir selber
sind, und was wir aus der Vergangenheit zu hören vermögen.
Was wir geschichtlich erkennen, das sind wir im letzten Grunde selbst.
Geisteswissenschaftliche Erkenntnis hat immer etwas von Selbsterkenntnis
an sich. Nirgends ist Täuschung so leicht und so naheliegend wie in der
Wahrheit in den Geistes\',. isscnschaften 41
III
Es folgt aber aus unseren Überlegungen, warum die Lage der Geisteswissen-
schaften im Massenzeitalter so besonders prekär ist. In einer durchorgani-
sierten Gesellschaft spielt sich jede Interessengruppe nach dem Maße ihrer
ökonomischen und sozialen Macht aus. Sie wertet auch die wissenschaftli-
che Forschung danach, wieweit deren Ergebnisse ihrer eigenen Macht nüt-
zen oder schaden. Insofern hat jede Forschung Hir ihre Freiheit zu furchten,
und gerade der Naturforscher weiß, daß seine Erkenntnisse es schwer haben
können, sich durchzusetzen, wenn sie herrschenden Interessen abträglich
sind. Der Interessendruck der Wirtschaft und der Gesellschaft lastet auf der
Wissenschaft.
In den Geisteswissenschaften aber greift dieser Druck sozusagen von
innen an. Sie sind selber in der Gefahr, das flir wahr zu halten, was den
Interessen dieser Mächte entspricht. Weil ihrer Arbeit ein Moment der
Ungewißheit anhaftet, ist ihnen die Zustimmung anderer von besonderem
Gewicht. Das werden, wie überall, die Fachleute, wenn sie }Autoritäten(
sind, sein. Aber weil ihre Arbeit der besonderen Anteilnahme aller sicher ist,
ist die Zusalumenstimmung mit dem Urteil der Öffentlichkeit, ist die
Resonanz, die die eigene Forschung dort fmdet, oft schon in der unbewuß-
ten Intention des Forschers mitgemeint. So ist zum Beispiel das vaterländi-
sche Interesse in der politischen Geschichtsschreibung besonders gegenwär-
tig. Wie weit sich das gleiche geschichtliche Ereignis auch unter ernsten
42 Vorstufen
besonderen Gef;;ißen nach Hause schaffen, und bevor er sie sich trinkend und
essend einverleibt, kann er sie zuhaus abstellen und sich beraten, unter
Herbeiziehung des Kundigen, was man essen oder trinken solle und was
nicht und wie viel und wann. Daher ist in dem Kauf die Gefahr nicht groß.
Wissen aber kann man nicht in einem besonderen Gefaß \vegschaffen,
sondern es ist unvermeidlich, daß man das Wissen, wenn man den Preis
erlegt hat, unmittelbar in die Seele selbst aufnimmt und so belehrt davon-
geht - sei es zum Schaden, sei es zum Guten. «2
Der platonische Sokrates \varnt mit diesen Worten einen jungen Mann,
sich ohne Bedenken dem Unterricht eines der bewunderten Weisheitslehrer
seiner Zeit anzuvertrauen. Er sieht die zweideutige Stellung, die dem in
logoi, in Reden bestehenden Wissen anhaftet, zwischen Sophistik und wah-
rer Philosophie, Aber er erkennt auch die besondere Bedeutung, die dem
rechten Entscheid hier zukommt.
Diese Erkenntnis sei auf die Frage nach der Wahrheit in den Geisteswissen-
schaften angewendet. Sie sind im Ganzen der Wissenschaften dadurch ein
Besonderes, daß auch ihre angeblichen oder wirklichen Erkenntnisse unmit-
telbar al1e menschlichen Dinge bestimmen, sofern sie von selbst in menschli-
che Bildung und Erziehung übergehen, Es gibt kein Mittel, das Wahre und
das Falsche in ihnen zu unterscheiden, als wiederum das, dessen sie sich
selbst bedienen: logoi, Reden, Und doch kann in diesem Mittel das höchste
an Wahrheit, das Menschen erreichbar ist, seinen Ort nehmen. Was ihre
Bedenklichkeit ausmacht, ist in Wahrheit ihre eigentliche Auszeichnung: sie
sind lOROi, Reden, mur< Reden.
Es gibt aber noch einen anderen Ton, in dem wir dieses Pilatuswort zu
hören gewöhnt sind, den Ton, in dem etwa Nietzsche dieses Wort gehört
hat, wenn er sagt, daß es überhaupt das einzige Wort des Neuen Testaments
sei, das Wert habe. Danach spricht aus dem Wort des Pilatus eine skeptische
Abwendung von dem >Eiferer<. Nicht zufallig hat es Nietzsche zitiert. Denn
auch seine eigene Kritik, die er am Christentum seiner Zeit übt, ist die Kritik
eines Psychologen an dem Eiferer.
Nietzsche hat diese Skepsis zu einer Skepsis gegen die Wissenschaft zuge-
spitzt. In der Tat hat die Wissenschaft dies mit dem Eiferer gemein, daß sie,
weil sie stets Beweise verlangt und Beweise gibt, ebenso intolerant ist \vieer.
Niemand ist so unduldsam wie der, der beweisen will, daß das, was cr sagt,
das Wahre sein müsse, Nach Nietzsche ist die Wissenschaft intolerant, \~leil
sie überhaupt ein Symptom der Schwäche sei, ein Spätprodukt des Lebens,
ein Alcxandrinertum, Erbe jener Dekadenz, die Sokrates, der Erfinder der
Dialektik, in eine Welt brachte, in der es noch keine )Unanständigkeit des
Beweisens( gab, sondern in der eine vornehme Selbstgewißheit beweislos
anweist und sagt.
Diese psychologische Skepsis gegen die Behauptung von Wahrheit trifft
freilich nicht die Wissenschaft selbst. Darin wird niemand Nietzsche folgen.
Aber es gibt in der Tat auch einen Zweifel an der Wissenschaft als solcher, der
als eine dritte Schicht rur uns hinter dem Worte )Was ist Wahrheit?~ sich
auftut. Ist die Wissenschaft wirklich, wie sie von sich beansprucht, die letzte
Instanz und der alleinige Träger der Wahrheit?
Wir verdanken der Wissenschaft Befreiung von vielen Vorurteilen und
Desillusionierung gegenüber vielen I11usionen. Immer wieder ist der Wahr-
heitsanspruch der Wissenschaft der, ungeprüfte Vorurteile fraglich zu ma-
chen und auf diese Weise besser zu erkennen, was ist, als das bisher erkannt
wurde. Zugleich aber ist fUr uns, je weiter sich das Verfahren der Wissen-
schaft über alles, was ist, ausbreitet, desto zweifelhafter geworden, ob von
den Voraussetzungen der Wissenschaft aus die Frage nach der Wahrheit in
ihrer vollen Weite überhaupt zugelassen wird, Wir fragen uns besorgt: wie
weit liegt es gerade am Verfahren der Wissenschaft, daß es so viele Fragen
gibt, auf die wir Antwort wissen müssen und die sie uns doch verbietet? Sie
verbietet sie aber, indem sie sie diskreditiert, d. h. rur sinnlos erklärt. Denn
Sinn hat rur sie nur, was ihrer eigenen Methode der Wahrheitsermittlung
und der Wahrheitsprüfung genügt. Dieses Unbehagen gegenüber dem
Wahrheitsanspruch der Wissenschaft regt sich vor allem in Religion, Philo-
sophie und Weltanschauung. Sie sind die Instanzen, auf die sich die Skeptiker
gegen die Wissenschaft berufen, um die Grenze der wissenschaftlichen
Spezialisierung und die Grenze der methodischen Forschung angesichts der
entscheidenden Lebensfragen zu markieren.
Wenn wir so die Pilatusfrage in ihren drei Schichten einleitend durchwan-
46 Vorstufen
dert haben, so wird einleuchten, daß die letzte Schicht, in der die innere
Beziehung von Wahrheit und Wissenschaft zum Problem wird, die ftir uns
wichtigste darstellt. So gilt es zunächst, das Faktum zu würdigen, daß die
Wahrheit mit der Wissenschaft überhaupt eine so bevorzugte Bindung ein-
gegangen ist.
Daß es die Wissenschaft ist, die die abendländische Zivilsation in ihrer
Eigenart und bald auch in ihrer beherrschenden Einigkeit ausmacht, sieht
jeder. Aber \\'enn man diesen Zusammenhang begreifen will, muß man auf
die Ursprünge dieser abendländischen Wissenschaft, das heißt auf ihre grie-
chische Herkunft zurückgehen. Griechische Wissenschaft,das ist etwas
Neucs gegenüber allem, was vordem die Menschen wuRten und als Wissen
pflegten. Als die Griechen diese Wissenschaft ausbildL\l'll, haben sie das
Abendland vom Orient geschieden und auf seinen eigenen Weg gebracht. Es
war ein einzigartiger Drang nach Kenntnis, Erkenntnis, Erforschung des
Unbekannten, Seltsamen, Wunderbaren, und eine ebenso einzigartige Skep-
sis gegen das, was man sich erzählt und als wahr ausgibt, was sie dazu
bestimmt hat, die Wissenschaft zu erschaffen. Als lehrreiches Beispiel mag
eine Homerszene gelten: Tclemach wird gefragt, wer er sei, und antwortet
darauf: )meine Mutter heißt Penelope, wer aber mein Vater ist, das kann man
ja nie genau wissen. Die Leute sagen, es sei Odysseus<. Solche Skepsis, die
bis ins Äußerste geht, offenbart die besondere Begabung des griechischen
Menschen, die Unmittelbarkeit seines Erkenntnisdurstes und seines Verlan-
gens nach Wahrheit zur Wissenschaft fortzubilden.
Es vermittelte daher eine schlagende Erkenntnis, als Heidegger in unserer
Generation auf den Sinn des griechischen Wortes für Wahrheit zurückgriff.
Das war keine erstmalige Erkenntnis Heideggers, daß Aletheia eigentlich
Unverborgenheit heißt. Aber Heidegger hat uns gelehrt, was es rur das
Denken des Seins bedeutete, daß es die Verborgenheit und die Verhohlenheit
der Dinge ist, der die Wahrheit wie ein Raub abgewonnen werden muß.
Verborgenheit und Verhohlcnheit - beides gehört zusammen. Die Dinge
halten sich von sich selbst aus in der Verborgenheit; »die Natur liebt es, sich
zu verbergen«, soll Heraklit gesagt haben. Ebenso aber gehärt zum mensch-
lichen Tun und Reden die Verhohlenheit. Denn die menschliche Rede gibt
nicht alles Wahre weiter, sie kennt auch Schein, Trug und Vorgebliches. Es
besteht also ein ursprünglicher Zusammenhang zwischen wahrem Sein und
wahrer Rede. Die Unverborgenheit des Seienden kommt in der Unverhoh-
lenheit der Aussage zur Sprache.
Die Weise der Rede, die diesen Zusammenhang am reinsten vollzieht, ist
die Lehre. Wir haben uns dabei klarzumachen, daß es ftir uns gewiß nicht die
einzige und primäre Erfahrung der Rede ist, daß sie lehrt, wohl aber ist es
diejenige Erfahrung von Rede, die von den griechischen Philosophen zuerst
gedacht worden ist, und die die Wissenschaft mit allen ihren Möglichkeiten
Was ist Wahrheit? 47
heraufgerufen hat. Rede, logos, wird oft auch mit Vernunft übersetzt, zu
Recht, sofern es für die Griechen schnell einsichtig war, daß das, was in der
Rede primär gewahrt und geborgen ist, die Dinge selbst in ihrer Verständ-
lichkeit sind. Es ist die Vernunft der Dinge selber, die sich in einer spezifi-
schen Weise des Redens darstellen und mitteilen läßt. Diese Weise des Redens
nennt man Aussage oder Urteil. Der griechische Ausdruck dafür ist apophan-
sis. Die spätere Logik hat dafur den Begriff des Urteils gebildet. Das Urteil
ist dadurch bestimmt, im Unterschied zu allen anderen Weisen des Redens
nur wahr sein zu wollen, sich ausschließlich daran zu messen, daß es ein
Seiendes offenbar macht, wie es ist. Es gibt Befehl, es gibt Bitte, Fluch, es
gibt das ganz rätselhafte Phänomen der Frage, über das noch etwas zu sagen
sein wird, kurz, es gibt unzählige Formen von Rede, in denen allen auch so
etwas wie Wahrsein liegt. Aber sie alle haben nicht ausschließlich ihre
Bestimmung darin, Seiendes zu zeigen, \\-'ie es ist.
Was ist das für eine Erfahrung, welche Wahrheit ganz auf das Zeigen in der
Rede stellt' Wahrheit ist Unverborgenheit. Vorliegcnlassen des Unverbor-
genen, Offenbarmachen ist der Sinn der Rede. Man legt vor und auf diese
Weise liegt vor, dem anderen eben so mitgeteilt, wie es einem selber vor-
liegt. So sagt Aristoteles: ein Urteil ist wahr, wenn es zusammen vorliegen
läßt, was in der Sache auch zusammen vorliegt; ein Urteil ist falsch, wenn es
in der Rede zusammen vorliegen läßt, was in der Sache nicht zusammen
vorliegt. Wahrheit der Rede bestimmt sich also als Angemessenheit der Rede
an die Sache, das heißt als Angemessenheit des Vorliegenlassens durch die
Rede an die vorliegende Sache. Daher stammt die aus der Logik wohl ver-
traute Definition der Wahrheit, sie sei adaequatio intellectus ad rem. Dabei ist als
fraglos selbstverständlich vorausgesetzt, daß die Rede, das heißt der intellec-
tus der sich in der Rede ausspricht, die Möglichkeit hat, sich so anzumessen,
J
daß nur das, was vorliegt, in dem, was einer sagt, zur Sprache kommt, daß
sie also wirklich die Dinge so zeigt, wie sie sind. Wir nennen das in der
Philosophie im Blick darauf, daß es auch andere Möglichkeiten von Wahr-
heit der Rede gibt, die Satzwahrheit. Der Ort der Wahrheit ist das
Urteil.
Das mag eine einseitige Behauptung sein, für die AristoteIes kein eindeuti-
ger Zeuge ist. Aber sie hat sich aus der griechischen Lehre vom Logos
entwickelt und liegt deren Entfaltung zum neuzeitlichen Begriff der Wissen-
schaft zugrunde. Die durch die Griechen geschaffene Wissenschaft stellt sich
zunächst ganz anders dar, als es unserem Begriff von Wissenschaft ent-
spricht. Nicht Naturwissenschaft, geschweige denn Geschichte, sondern
Mathematik ist die eigentliche Wissenschaft. Denn ihr Gegenstand ist ein
rein rationales Sein, und insofern ist sie ein Vorbild aller Wissenschaft, weil
sie in einem geschlossenen deduktiven Zusammenhange darstellbar ist. Für
die moderne Wissenschaft dagegen ist kennzeichnend, daß fur sie die Mathe-
48 Vorstufen
matik nicht durch das Sein ihrer Gegenstände vorbildlich ist, sondern als
vollkommenste Erkenntnisweise. Die neuzeitliche Gestalt der Wissenschaft
vollzieht einen entscheidenden Bruch mit den Wissensgestalten des griechi-
schen und christlichen Abendlandes. Es ist der Gedanke der Methode, der
jetzt beherrschend wird. Methode im neuzeitlichen Sinne ist aber bei aller
Vielf;iltigkeit, die sie in den verschiedenen Wissenschaften haben kann, eine
einheitliche. Das Erkenntnisideal, das durch den Begriff der Methode be-
stimmt ist, besteht darin, daß wir einen Weg des Erkennens so bewußt
ausschreiten, daß es immer möglich ist, ihn nachzuschreiten. Methodos
heißt ~Weg des Nachgehens<. Immer wieder Nachgehen-können, wie man
gegangen ist, das ist methodisch und zeichnet das Verfahren der Wissen-
schaft aus. Eben damit aber wird mit Notwendigkeit eine Einschränkung
dessen vorgenommen, was überhaupt mit dem Anspruch auf Wahrheit
auftreten kann. Wenn Nachprüfbarkeit - in welcher Form auch immer -
Wahrheit (veritas) erst ausmacht, dat1n ist der Maßstab, mit dem Erkenntnis
gemessen wird, nicht mehr ihre Wahrheit, sondern ihre Gewißheit. Daher
gilt seit der klassischen Formulierung der Gewißheitsregel des Descartes als
das eigentliche Ethos der modernen Wissenschaft, daß sie nur das als den
Bedingungen der Wahrheit genügend zuläßt, was dem Ideal der Gewißheit
genügt.
Dieses Wesen moderner Wissenschaft ist fur unser ganzes Leben bestim-
mend. Denn das Ideal der Verifikation, die Begrenzung des Wissens auf das
Nachprütbare, findet seine Erfullung im Nachmachen. So ist es die moderne
Wissenschaft, aus deren Schrittgesetz die ganze Welt der Planung und der
Technik erwächst. Das Problem unserer Zivilisation und der Nöte, die ihre
Technisierung uns bereitet, ist nicht etwa darin gelegen, daß es an der
rechten Zwischeninstanz zwischen der Erkenntnis und der praktischen An-
wendung fehle. Gerade die Erkenntnisweise der Wissenschaft selber ist so,
daß sie eine solche Instanz unmöglich macht. Sie ist selber Technik.
Nun ist das eigentlich Nachdenkliche an dem Wandel, den der Begriff der
Wissenschaft mit dem Beginn der Neuzeit erfahren hat, daß sich in diesem
Wandel gleichwohl der grundlegende Ansatz des griechischen Seinsdenkens
erhält. Die moderne Physik setzt die antike Metaphysik voraus. Daß Hei-
degger diese von weither kommende Prägung des abendländischen Den-
kens erkannt hat, macht seine eigentliche Bedeutung ftir das geschichtliche
Selbstbewußtsein der Gegenwart aus. Denn diese Erkenntnis verlegt allen
romantischen Restaurationsversuchen älterer Ideale, sei es der mittelalterli-
chen, sei es der hellenistisch-humanistischen den Weg, indem sie die Unaus-
weichlichkeit der Geschichte der abendländischen Zivilisation feststellt.
Auch das durch Hege! geschaffene Schema einer Philosophie der Geschichte
und einer Geschichte der Philosophie kann nun nicht mehr genügen, weil
nach Hegel die griechische Philosophie nur eine spekulative Vorübung
Was ist Wahrheit? 49
selbst einzusehen. Es läßt sich erweisen, daß die EinfUhrung von konventio-
nellen Zeichensystcmen sich niemals durch das in diesen Konventionen
beschlossene System selber vollziehen kann, daß also jede Einführung einer
künstlichen Sprache schon eine andere Sprache voraussetzt, in der man
spricht, Es ist das logische Problem der Metasprache, das hier seinen Ort
hat. Aber dahinter steht noch etwas anderes. Die Sprache, die wir sprechen
und in der wir leben, hat eine ausgezeichnete Stellung. Sie ist zugleich die
inhaltliche Vor gegebenheit [ur alle nachkommende logische Analyse, Und
sie ist das nicht als eine bloße Summe von Aussagen. Denn die Aussage,
welche Wahrheit sagen will, muß noch ganz anderen Bedingungen genügen
als denen der logischen Analyse. Ihr Anspruch aufUnverborgenheit besteht
nicht nur im Vorliegenlassen des Vorliegenden. Es genügt nicht, daß das,
was vorliegt, in der Aussage auch vorgelegt wird. Denn das Problem ist
gerade, ob alles so vorliegt, daß es in der Rede vorgelegt werden kann, und
ob sich nicht dadurch, daß man vorlegt, was man vorlegen kann, die
Anerkennung dessen verlegt, v.ras gleichwohl ist und erfahren wird.
Ich glaube, daß die Geisteswissenschaften von diesem Problem ein sehr
beredtes Zeugnis ablegen. Auch dort gibt es manches, was dem Methoden-
begriff der modernen Wissens~haft untergeordnet werden kann. Jeder von
uns muß die Verifizierbarkeit aller Erkenntnisse in den Grenzen des Mögli-
chen als ein Ideal gelten lassen. Aber wir müssen uns eingestehen, daß dieses
Ideal sehr selten erreicht \vird und daß diejenigen Forscher, die dieses Ideal
am präzisesten zu erreichen streben, uns meistens nicht die wahrhaft vvichti-
gen Dinge zu sagen haben. So kommt es, daß es in den Geisteswissenschaf-
ten etwas gibt, was in den Naturwissenschaften in gleicher Weise nicht
denkbar ist, daß nämlich der Forscher mitunter aus dem Buche eines Dilet-
tanten mehr lernen kann als aus den Büchern anderer Forscher. Das be-
schränkt sich natürlich auf Ausnahmefalle. Aber daß es dergleichen gibt,
zeigt an, daß sich hier ein Verhältnis von Wahrheits erkenntnis und Sag bar-
keit auftut, das nicht an der Verifizierbarkeit von Aussagen zu messen ist.
Wir kennen das aus den Geisteswissenschaften so sehr, daß wir gegen einen
bestimmten Typus wissenschaftlicher Arbeiten begründetes Mißtrauen he-
gen, die die Methode, mit der sie gearbeitet sind, vorn und hinten und vor
allem unten, das heißt in den Anmerkungen, allzu deutlich zeigen. Ist da
wirklich etwas Neues gefragt? Ist da wirklich etwas erkannt? Oder wird da
nur die Methode, mit der man erkennt, so gut nachgemacht und in ihren
äußeren Formen getroffen, daß sich auf diese Weise der Eindruck einer
wissenschaftlichen Arbeit ergibt? Wir müssen uns eingestehen, daß umge-
kehrt die größten und fruchtbarsten Leistungen in den Geisteswissenschaf-
ten dem Ideal der Verifizierbarkeit weit vorauseilen. Das aber wird philo-
sophisch bedeutsam. Denn die Meinung ist ja nicht die, daß sich derunorigi-
neHe Forscher aus einer Art von Täuschungsabsicht wie ein Gelehrter gibt,
Was ist Wahrheit? 51
niemals vollständig in ihr anzutreffen. 3 Wenn ich oben auf die Probleme des
Alexandrinismus hinwies, die unsere wissenschaftliche Kultur bedrohen,
sofern die Ursprünglichkeit des Fragens in ihr erschwert wird, so liegt hier
die Wurzel dessen. Das Entscheidende, das, was in der Wissenschaft erst
den Forscher ausmacht, ist: Fragen zu sehen. Fragen sehen heißt aber,
Aufbrechen-können, was wie eine verschlossene und undurchlässige
Schicht geebneter Vormeinungen unser ganzes Denken und Erkennen be-
herrscht. So Aufbrechenkönnen, daß auf diese Weise neue Fragen gesehen
und neue Antworten möglich werden, macht den Forscher aus. Jede Aus-
sage hat ihren Sinnhorizont darin, daß sie einer Fragesituation entstammt.
Wenn ich in diesem Zusammenhang den Begriff >Situation< gebrauche,
so deutet das darauf, daß die wissenschaftliche Frage und die wissenschaft-
liche Aussage nur der Spezialfall eines viel allgemeineren Verhältnisses
sind, das im Begriff der Situation anvisiert wird. Der Zusammenhang von
Situation und Wahrheit ist schon im amerikanischen Pragmatismus ge-
flochten worden. Dort versteht man als das eigentliche Kennzeichen der
Wahrheit das Fertigwerden mit einer Situation. Die Fruchtbarkeit einer
Erkenntnis bewährt sich darin, daß sie eine problematische Situation be-
hebt. - Ich glaube nicht, daß die pragmatistische Wendung, die die Sache
hier nimmt, ausreicht. Das zeigt sich schon daran, daß der Pragmatismus
alle sogenannten philosophischen, metaphysischen Fragen einfach beiseite-
schiebt, weil es nur darauf ankomme, jeweils mit der Situation fertigzu-
werden. Es ge1te, um vorwärts zu kommen, den ganzen dogmatischen
Ballast der Tradition abzuwerfen. - Das halte ich rur einen Kurzschluß.
Der Primat der Frage, von dem ich sprach, ist kein pragmatischer. Und
ebensowenig ist die Antwort, die wahr ist, an den Maßstab der Handlungs-
folgen gebunden. Aber wohl hat der Pragmatismus darin recht, daß man
über dcn formellen Bezug noch hinausgehen muß, in dem die Frage zum
Sinn der Aussage steht. Wir treffen das mitmenschliche Phänomen der
Frage in seiner vollen Konkretion, wenn wir uns von der theoretischen
Relation von Frage und Antwort, die die Wissenschaft ausmacht, abwen-
den und auf die namentlichen Situationen besinnen, in denen Menschen
genannt und gefragt werden und sich selber fragen. Da wird deutlich, daß
das Wesen der Aussage in sich eine Erweiterung erfährt. Nicht nur, daß die
Aussage stets Antwort ist und auf eine Frage verweist, sondern Frage wie
Antwort selber haben in ihrem gemeinsamen Aussagecharakter eine her-
meneutische Funktion. Sie sind beide Anrede. Das soll nieht bloß heißen,
daß sich stets auch etwas aus der sozialen Mitwelt in den Gehalt unserer
Aussagen hineinspielt. Das ist zwar richtig. Aber nicht darum geht es,
sondern darum, daß Wahrheit in der Aussage überhaupt nur da ist, sofern
ste Anrede ist. Ocr Situationshorizom, der die Wahrheit einer Aussage
ausmacht, enthält den mit, dem mit der Aussage etwas gesagt wird.
Die moderne Existenzphilosphie hat diese Folgerung mit vollem Bewußt-
sein gezogen. Ich erinnere an die Philosophie der Kommunikation bei
Jaspers, die darin ihre Pointe hat, daß das Zwingende der Wissenschaft dort
ein Ende findet, wo die eigentlichen Fragen des menschlichen Daseins,
Endlichkeit, Geschichtlichkeit, Schuld, Tod - kurz, die sogenannten .Grcnz-
situationen( - erreicht sind. Hier ist Kommunikation nicht mehr Übermitt-
lung von Erkenntnis durch zwingende Beweise, sondern eine Art Commer-
cium von Existenz mit Existenz. Wer redet, ist selbst angeredet und ant\.VOI-
tet als ein Ich dem Du, weil er [Ur sein Du selbst ein Du ist. Es scheint mir
freilich nicht genug, im Gegensatz zu dem Begriff der wissenschaftlichen
Wahrheit, die anonym, allgemein und zwingend ist, einen Gegenbegriff der
Existenzwahrheit zu prägen. Vielmehr steckt hinter dieser Bindung der
Wahrheit an mögliche Existenz, die Jaspers einschärft, ein allgemeineres
philosphisches Problem,
Hier hat Heideggers Frage nach dem Wesen der Wahrheit den Problem be-
reich der Subjektivität erst wirklich überschritten. Sein Denken hat vom
~Zeug( über das) Werk( zufn >Ding( seinen Weg durchmessen, einen Weg, der
die Frage der Wissenschaft, auch die der geschichtlichen Wissenschaften,
weit hinter sich läßt. Es ist Zeit, darüber nicht zu vergessen, daß die Ge-
schichtlichkeit des Seins auch dort herrscht. wo Dasein sich weiß und wo es
als Wissenschaft sich historisch verhält. Die Hermeneutik der geschichtli-
chen Wissenschaften, die einst in der Romantik und der historischen Schule,
von Schleiermacher bis Dilthey, entwickelt worden war, \vird zu einer ganz
neucn Aufgabe, wenn man sie, darin Heidegger folgend, aus der Pro-
blematik der Subjektivität herausbewegt. Der einzige, der hier vorgearbeitet
hat, ist Hans Lipps, dessen hermeneutische Logik 4 zwar keine wirkliche
Hermeneutik bietet, aber die Verbindlichkeit der Sprache gegen ihre logi-
sche Nivellierung siegreich hervorkehrt.
Daß, wie oben gesagt, jede Aussage ihren Situationshorizont und ihre
Anredefunktion hat, ist daher nur die Grundlage für die weitergehende
Folgerung, daß die Geschichtlichkeit aller Aussagen auf die grundsätzliche
Endlichkeit unseres Seins zurückgeht. Daß eine Aussage mehr ist als nur das
Vergegenwärtigen eines vorliegenden Sachverhalts, heißt vor al1em, daß sie
dem Ganzen einer geschichtlichen Existenz zugehört und mit allem, was in
ihr gegenwärtig sein kann, gleichzeitig ist. Wenn wir Sätze, die uns überlie-
fert sind, verstehen wollen, so stellen wir historische Überlegungen an, aus
denen hervorgehen soll, wo und wie diese Sätze gesagt sind, was ihr eigentli-
genheit gültig ist. Ich glaube. daß die Sprache die ständige Synthesis zwi-
schen Vergangenheitshorizont und Gegenwartshorizont leistet. Wir verste-
hen einander, indem wir miteinander reden, indem wir oft aneinander
vorbeireden und doch am Ende im Gebrauch der Worte die mit den Worten
gesagten Dinge miteinander vor uns bringen. Es ist so, daß die Sprache ihre
eigene Geschichtlichkeit hat. Jeder von uns hat seine eigene Sprache. Es gibt
überhaupt nicht das Problem einer fur alle gemeinsamen Sprache, sondern es
gibt nur das Wunder dessen, daß wir, obwohl wir alle eine verschiedene
Sprache haben, uns dennoch über die Grenzen der Individuen, der Völker
und der Zeiten hinweg verstehen können. Dieses Wunder ist offenbar nicht
ablösbar davon, daß sich auch die Dinge, über die wir sprechen, als ein
Gemeinsames vor uns darstellen, indem wir von ihnen sprechen. Wie eine
Sache ist, stellt sich gleichsam crst heraus, wenn wir darüber reden. Was wir
mit Wahrheit meinen, Offenbarkeit, Unverborgenheit der Dinge, hat also
seine eigene Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit. Was wir in allem Bemühen
um Wahrheit mit Erstaunen gewahren, ist, daß wir nicht die Wahrheit sagen
können ohne 4nrede, ohne Antwort und damit ohne die Gemeinsamkeit des
gewonnenen Einverständnisses. Das Erstaunlichste am Wesen der Sprache
und des Gespräches aber ist, daß auch ich selber nicht an das, was ich meine,
gebunden bin, wenn ich mit anderen über etwas spreche, daß keiner von uns
die ganze Wahrheit in seinem Meinen umfaßt, daß aber gleichwohl die ganze
Wahrheit uns beide in unserem einzelnen Meinen umfassen kann. Eine
unserer geschichtlichen Existenz angemessene Hermeneutik würde die Auf-
gabe haben, diese Sinnbezüge von Sprache und Gespräch zu entfalten, die
über uns hinwegspielen.
5. Vom Zirkel der Verstehens
1959
Die hermeneutische Regel. daß man das Ganze aus dem Einzelnen und das
Einzelne aus dem Ganzen verstehen müsse, stammt aus der antiken Rhetorik
und ist durch die neuzeitliche Hermeneutik von der Redekunst auf die Kunst
des Verstehens übertragen worden. Es ist ein zirkelhaftes Verhältnis, das hier
wie dort vorliegt. Die Antizipation von Sinn, in der das Ganze gemeint ist,
kommt dadurch zu explizitem Verständnis, daß die Teile, die sich vom
Ganzen her bestimmen, ihrerseits auch dieses Ganze bestimmen.
Wir kennen das aus der Erlernung von fremden Sprachen. Wir 1ernen da,
daß wir einen Satz erst }konstruiereu< müssen, bevor wir die einzelnen Teile
des Satzes in ihrer sprachlichen Bedeutung zu verstehen suchen. Dieser
Vorgang des Konstruierens ist aber selber schon dirigiert von einer Sinner-
wartung, die aus dem Zusammenhang des Vorangegangenen stammt. Frei-
lich muß sich diese Erwartung berichtigen lassen, wenn der Text es fordert.
Das bedeutet dann, daß die Erwartung umgestimmt wird und daß sich der
Text unter einer anderen Sinnerwartung zur Einheit einer Meinung zusam-
menschließt. So läuft die Bewegung des Verstehens stcts vom Ganzen zum
Teil und zurück zum Ganzen. Die Aufgabe ist, in konzentrischen Kreisen die
Einheit des verstandenen Sinnes zu erweitern. Einstimmung aller Einzelhei-
ten zum Ganzen ist das jeweilige Kriterium rur die Richtigkeit des Verste-
hens. Das Ausbleiben solcher Einstimmung bedeutet Scheitern des Verste-
hens.
Nun hat Schleiermacher diesen hermeneutischen Zirkel von Teil und
Ganzem sowohl nach seiner objektiven wie nach seiner subjektiven Seite hin
differenziert. Wie das einzelne Wort in den Zusammenhang des Satzes, so
gehört der einzelne Text in den Zusammenhang des Werkes eines Schriftstel-
lers und dieses in das Ganze der betreffenden literarischen Gattung bzw. der
Literatur. Auf der anderen Seite gehört aber der gleiche Text als Manifesta-
tion eines schöpferischen Augenblicks in das Ganze des Seelenlebens seines
Autors. Jeweils erst in solchem Ganzen objektiver und subjektiver Art kann
sich Verstehen vollenden. - Im Anschluß an diese Theorie spricht dann
Dilthey von )Struktur< und von der )Zentrierung in einem Mittelpunkt<, aus
dcr sich das Verständnis des Ganzen ergibt. Er überträgt damit auf die
58 Vorstufen
geschichtliche Welt, was vonjeher ein Grundsatz aller Interpretation ist: daß
man einen Text aus sich selbst verstehen muß.
Es fragt sich aber, ob die Zirkelbewegung des Verstehens so angemessen
verstanden ist. Was Schleiermacher als subjektive Interpretation entwickelt
hat, darf wohl ganz beiseite gesetzt werden. Wenn wir einen Text zu verste-
hen suchen, versetzen wir uns nicht in die seelische Verfassung des Autors,
sondern wenn man schon von Sichversetzen sprechen will, so versetzen wir
uns in seine Meinung. Das heißt aber nichts anderes, als daß wir das sachliche
Recht dessen, was der andere sagt, gelten zu lassen suchen. Wir werden
sogar, wenn wir verstehen wollen, seine Argumente noch zu verstärken
trachten. So geschieht es schon im Gespräch, wieviel mehr noch beim
Verstehen von Schriftlichem, daß ",vir uns in einer Dimension von Sinnhaf-
tem bewegen, das in sich verständlich ist und als solches keinen Rückgang
auf die Subjektivität des anderen motiviert. Es ist die Aufgabe der Herme-
neutik, dies Wunder des Verstehens aufzuklären, das nicht eine geheimnis-
volle Kommunion der Seelen, sondern eine Teilhabe am gemeinsamen Sinn
ist.
Aber auch die objektive Seite dieses Zirkels, wie sie Schleiermacher
beschreibt, trifft nicht den Kern der Sache. Das Ziel aller Verständigung und
aUes Verstehens ist das Einverständnis in der Sache. So hat die Hermeneutik
von jeher die Aufgabe, ausbleibendes oder gestörtes Einverständnis herzu-
stellen. Die Geschichte der Hermeneutik kann das bestätigen, wenn man
z. B. an Augustin denkt, wo das Alte Testament mit der christlichen Bot-
schaft vermittelt werden soll, oder an den frühen Protestantismus, dem das
gleiche Problem gestellt war, oder endlich an das Zeitalter der Aufklärung,
wo es freilich einem Verzicht auf Einverständnis nahekommt, wenn der
))vollkommene Verstand(( eines Textes nur auf dem Wege historischer Inter-
pretation erreicht werden soll. - Es ist nun etwas qualitativ Neues, wenn die
Romantik und Schleiermacher , indem sie ein geschichtliches Bnvußtsein
von universalem Umfang begründen, die verbindliche Gestalt der Tradi-
tion, aus der sie kommen und in der sie stehen, nicht mehr als feste Grundla-
ge rur alle hermeneutische Bemühung gelten lassen. Noch einer der unmit-
telbaren Vorläufer Schleiermachers, der Philologe Friedrich Ast, hatte ein
ganz entschieden inhaltliches Verständnis der Aufgabe der Hermeneutik,
wenn cr forderte, sie solle das Einverständnis Z\vischen Antike und Chri-
stentum, zwischen einer neugesehenen wahren Antike und der christlichen
Tradition herstellen. Das ist gegenüber der Aufklärung insofern schon etwas
Neues, als es sich jetzt nicht mehr um die Vermittlung zwischen der Autori-
tät der Überlieferung einerseits und der natürlichen Vernunft andererseits
handelt, sondern um die Vermittlung zweier Traditionsclcmente, die, beide
durch die Aufklärung bewußt geworden, die Aufgabe ihrer Versöhnung
stellen.
Vom Zirkel des Verstehens 59
Mir scheint, daß eme solche Lehre von der Einheit von Antike und
Christentum ein Wahrheitsmoment am hermeneutischen Phänomen festhält,
das Schleiermacher und seine Nachfolger zu Unrecht preisgegeben haben.
Ast hat sich hier durch seine spekulative Energie davor bewahrt, in der
Geschichte bloße Vergangenheit und nicht vielmehr die Wahrheit der Ge-
genwart zu suchen. Die von Schleiermacher herkommende Hermeneutik
kommt einem vor diesem Hintergrunde als eine Verflachung ins Methodi-
sche vor.
Das gilt noch mehr, wenn man sie im Lichte der durch Heidegger entwik-
kelten Fragestellung sieht. Von Heideggers Existenzialanalyse aus gewinnt
nämlich die Zirkelstruktur des Verstehens ihre inhaltliche Bedeutung zu-
rück. Heidegger schreibt: ff Der Zirkel darf nicht zu einem vitiosum und sei
es auch zu einem geduldeten herabgezogen werden. In ihm verbirgt sich eine
positive Möglichkeit ursprünglichsten Erkennens, die freilich in echter Wei-
se nur dann ergriffen ist, wenn die Auslegung verstanden hat, daß ihre erste,
ständige und letzte Aufgabe bleibt, sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und
Vorgriff nicht durch Einfalle und Volks begriffe vorgeben zu lassen, sondern
in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche The-
ma zu sichern. fiS
Was Heidegger hier sagt, ist zunächst nicht eine Forderung an die Praxis
des Verstehens, sondern beschreibt die Vollzugsform des verstehenden Aus-
legens selbst. Heideggers hermeneutische Reflexion hat ihre Spitze nicht so
sehr darin, nachzuweisen, daß hier ein Zirkel vorliegt, als vielmehr darin,
daß dieser Zirkel einen ontologisch positiven Sinn hat. Die Beschreibung als
solche wird jedem Ausleger einleuchten, der weiß, was er tut. 6 Alle rechte
Auslegung muß sich gegen die Willkür von Einfallen und die Beschränktheit
unmerklicher Denkgewohnheiten abschirmen und den Blick >auf die Sachen
selber< richten (die beim Philologen sinnvolle Texte sind, die ihrerseits
wieder Von Sachen handeln).
Sich dergestalt von der Sache bestimmen lassen, ist für den Interpreten
offenkundig nicht ein einmaliger }braver< Entschluß, sondern wirklich fdie
erste, ständige und letzte Aufgabe<. Denn es gilt, den Blick auf die Sache
durch die ganze Beirrung hindurch festzuhalten, die den Ausleger unter-
wegs ständig von ihm selbst her anfallt. Wer einen Text verstehen will,
vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus,
sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum
nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen be-
stimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der
freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Ein-
dringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht.
Diese Beschreibung ist natürlich eine grobe Abbreviatur: daß jede Revi-
sion des Vorentwurfs in der Möglichkeit steht, einen neuen Entwurf von
Sinn vorauszuwerfen; daß sich rivalisierende Entwürfe zur Ausarbeitung
nebeneinander herbringen können, bis sich die Einheit des Sinnes eindeuti-
ger festlegt; daß die Auslegung mit Vorbegriffen einsetzt, die durch ange-
messenere Begriffe ersetzt werden: eben dieses ständige Neu-Entwerfen,
das die Sinnbe"\vegung des Verstehens und Auslegens ausmacht, ist der
Vorgang, den Heidegger beschreibt. Wer zu verstehen sucht, ist der Beir-
rung durch Vor-Meinungen ausgesetzt, die sich nicht an den Sachen selbst
bewähren. So ist die ständige Aufgabe des Verstehens, die rechten, sachan-
gemessenen Entwürfe auszuarbeiten, das heißt Vorwegnahmen, die sich }ln
den Sachen( erst bestätigen sollen, zu wagen. Es gibt hier keine andere
,Objektivität< als die der Ausarbeitung der sich bewährenden Vormeinung.
Es hat seinen guten Sinn, daß der Ausleger nicht geradezu, aus der in ihm
bereiten Vormeinung lebend, auf den }Text< zugeht, vielmehr die in ihm
lebende Vormeinung ausdrücklich auf ihre Legitimation, und das ist: auf
Herkunft und Geltung prüft.
Man' muß sich diese grundsätzliche Forderung als die Radikalisierung
eines Verfahrens denken, das wir in Wahrheit immer anwenden. Weit ent-
fernt davon, daß, wer jemanden anhört oder an eine Lektüre geht, gar keine
Vormeinung über den Inhalt mitbringen darf und alle seine eigenen Meinun-
gen vergessen soll, wird vielmehr Offenheit ftir die Meinung des anderen
oder des Textes schon immer einschließen, daß man sie zu dem Ganzen der
eigenen Meinungen in ein Verhältnis setzt oder sich zu ihr. Anders gespro-
chen, Meinungen sind zwar eine bewegliche Vielfalt von Möglichkeiten,
aber innerhalb dieser Vielfalt des Meinbaren, d. h. dessen, was ein Leser
sinnvoll finden und insofern erwarten kann, ist doch nicht alles möglich,
und wer an dem vorbeihört, was der andere wirklich sagt, wird es am Ende
auch der eigenen vieWiltigen Sinn erwartung nicht einordnen können. So
gibt es auch hier einen Maßstab. Die hermeneutische Aufgabe geht von
selbst in eine sachliche Fragestellung über und ist von dieser immer schon
mitbestimmt. Damit gewinnt das hermeneutische Unternehmen festen Bo-
den unter den Füßen. Wer verstehen will, wird sich der Zufalligkeit der
eigenen Vormeinung von vornherein nicht überlassen, um an der Meinung
des Textes so konsequent und hartnäckig wie möglich vorbeizuhören - his
etwa diese unüherhörhar wird und das vermeintliche Verständnis umstößt.
Wer einen Text verstehen will, ist vielmehr bereit, sich von ihm etwas sagen
zu lassen. Daher muß ein hermeneutisch geschultes Bewußtsein fur die
Andersheit des Textes von vornherein empfanglich sein. Solche Empfang-
lichkeit setzt aber weder sachliche }Neutralität( noch gar Selbstauslöschung
Vom Zirkel des Verstehens 61
mächte. Damit ist eine Voraussetzung formuliert, die alles Verstehen leitet.
Sie besagt, daß nur das verständlich ist, was wirklich eine vollkommene
Einheit von Sinn darstellt. So machen wir diese Voraussetzung der Vollkom-
menheit, wenn wir einen Text lesen. Erst wenn diese Voraussetzung sich als
uneinlösbar erweist, d. h. der Text nicht verständlich wird, stellen wir sie in
Frage, zweifeln etwa an der Überlieferung und suchen sie zu heilen. Die
Regeln, die wir bei solchen textkritischen Überlegungen befolgen, können
hier beiseite bleiben, denn worauf es ankommt, ist auch hier, daß die
Legitimation zu ihrer Anwendung nicht von dem inhaltlichen Verständnis
des Textes ablös bar ist.
Der Vorgriff der Vollkommenheit, der all unser Verstehen leitet, erweist
sich so selber als ein jeweils inhaltlich bestimmter. Es wird nicht nur eine
immanente Sinn einheit vorausgesetzt, die dem Lesenden die Führung gibt,
sondern das Verständnis des Lesers wird auch ständig von transzendenten
Sinnerwartungen geleitet, die aus dem Verhältnis zur Wahrheit des Gemein-
ten entspringen. So wie der Empfinger eines Briefes die Nachrichten ver-
steht, die er enthält, und zunächst die Dinge mit den Augen des Briefschrei-
bers sieht, d. h. ftlr wahr hält, was dieser schreibt - und nicht etwa die
Meinung des Briefschreibers als solche zu verstehen sucht, so verstehen wir
auch überlieferte Texte auf Grund von Sinnerwartungen, die aus unserem
eigenen Sachverhältnis geschöpft sind. Und wie wir Nachrichten eines
Korrespondenten glauben, weil er dabei war oder es sonst besser weiß, so
sind wir auch einem überlieferten Text gegenüber grundsätzlich der Mög-
lichkeit offen, daß er es besser weiß, als die eigene Vormeinung gelten lassen
will. Erst das Scheitern des Versuchs, das Gesagte als wahr gelten zu lassen,
fUhrt zu dem Bestreben, den Text als die Meinung eines anderen -psycholo-
gisch oder historisch - zu )verstehen(7. Das Vorurteil der Vollkommenheit
enthält also nicht nur dies, daß ein Text seine Meinung vollkommen ausspre-
chen soll, sondern auch, daß das, was er sagt, die vollkommene Wahrheit ist.
Verstehen heißt primär: sich in der Sache verstehen, und erst sekundär: die
Meinung des anderen als solche abheben und verstehen. Die erste aller
hermeneutischen Bedingungen bleibt somit das Sachverständnis, das Zu-
tun-haben mit der gleichen Sache. Von ihm bestimmt sich, was als einheitli-
cher Sinn vollziehbar wird und damit die Anwendung des Vorgriffs der
Vollkommenheit. So erftlllt sich der Sinn der Zugehörigkeit, d. h. das Mo-
ment der Tradition im historisch-hermeneutischen Verhalten, durch die
Gemeinsamkeit grundlegender und tragender Vorurteile. Die Hermeneutik
muß davon ausgehen, daß wer verstehen will, mit der Sache, die mit der
7 Ich habe in einem Kongreßvortrag in Venedig 1958 über das ästhetische Urteil zu
zeigen gesucht, daß auch dieses - wie das historische - sekundären Charakter besitzt und
den »Vorgriff der Vollkommenheit« bestätigt Getzt in D. Henrich, H. R. Jauss (Hrsg.),
Theorien der Kunst, Frankfurt 1982, S. 59-69.]
Vom Zirkel des Verstehens 63
Überlieferung zur Sprache kommt, verbunden ist und an die Tradition
Anschluß hat oder Anschluß gewinnt, aus der die Überlieferung spricht.
Auf der anderen Scite wciß das hermeneutische Bewußtsein, daß es mit
dieser Sache nicht in der Weise einer fraglos selbstverständlichen Einigkeit
verbunden sein kann wie sie fur das ungebrochene Fortleben einer Tradition
gilt. Es besteht wirklich eine Polarität von Vertrautheit und Fremdheit, auf
die sich die Aufgabe der Hermeneutik gründet, nur daß diese nicht mit
Schleichermacher psychologisch als die Spannweite, die das Geheimnis der
Individualität birgt, zu verstehen ist, sondern wahrhaft hermeneutisch, d. h.
im Hinblick auf ein Gesagtes: die Sprache, mit der die Überlieferung uns
anredet, die Sage, die sie uns sagt. Die Stellung zwischen Fremdheit und
Vertrautheit, die die Überlieferung ftir uns hat, ist also das Zwischen zwi-
schen der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der
Zugehörigkeit zu einer Tradition. In diesem Zwischen ist der wahre Ort der
Hermeneutik.
Aus dieser Zwischenstellung, in der sie ihren Stand nimmt, folgt, daß ihr
Zentrum bildet, was in der bisherigen Hermeneutik ganz am Rande blieb:
der Zeitenabstand und seine Bedeutung fur das Verstehen. Die Zeit ist nicht
primär ein Abgrund, der überbrückt werden muß, weil er trennt und
femhält, sondern sie ist in Wahrheit der tragende Grund des Geschehens, in
dem das gegenwärtige Verstehen wurzelt. Der Zeitenabstand ist daher nicht
etwas, was überwunden werden muß. Das war vielmehr die naive Voraus-
setzung des Historismus, daß man sich in den Geist der Zeit versetzt, daß
man in deren Begriffen und Vorstellungen denkt und nicht in seinen eigenen
und auf diese Weise zur historischen Objektivität vordringt.
In Wahrheit kommt es darauf an, den Abstand der Zeit als eine positive
und produktive Möglichkeit des Verstehens zu erkennen. Er ist ausgeftillt
durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Lichte
uns alle Überlieferung sich zeigt. Hier ist es nicht zu wenig, von einer echten
Produktivität des Geschehens zu sprechen. Jedermann kennt die eigentümli-
che Ohnmacht unseres Urteils dort, wo uns nicht der Abstand der Zeiten
sichere Maßstäbe anvertraut hat. So ist das Urteil über gegenwärtige Kunst
rur das wissenschaftliche Bewußtsein von verzweifelter Unsicherheit. Of-
fenbar sind es unkontrollierbare Vorurteile, unter denen wir an solche
Schöpfungen herangehen und die ihnen eine Überresonanz zu verleihen
vermögen, die mit ihrem wahren Gehalt und ihrer wahren Bedeutung nicht
konform ist. Erst das Absterben all solcher aktuellen Bezüge läßt ihre eigene
Gestalt sichtbar werden und ermöglicht damit ein Verständnis dessen, was in
ihnen gesagt ist, das verbindlich Allgemeinheit beanspruchen kann. Die
Herausfilterung des wahren Sinnes, der in einem Text oder in einer künstle-
rischen Schöpfung gelegen ist, ist übrigens selber ein unendlicher Prozcß.
Der Zeitenabstand. der diese Filterung leistet, ist in einer ständigen Bewe-
64 Vorstufen
gung und Ausweitung begriffen, und das ist die produktive Seite, die er [ur
das Verstehen besitzt, Er läßt die Vorurteile absterben, die partikularer Natur
sind, und diejenigen hervorkommen, die ein wahrhaftes Verstehen ermögli-
chen.
Oft vermag der Zeitenabstand' die eigentlich kritische Aufgabe der Her-
meneutik zu lösen, die wahren Vorurteile von den falschen zu scheiden. Das
hermeneutisch geschulte Bewußtsein wird daher ein historisches Bewußt-
sein enthalten. Es wird die das Verstehen leitenden Vorurteile bewußt ma-
chen müssen, damit die Überlieferung, als Andersmeinung, sich ihrerseits
abhebt und ZUr Geltung bringt. Ein Vorurteil als solches zur Abhebung zu
bringen, verlangt offenbar, es in seiner Geltung zu suspendieren; denn
solange uns ein Vorurteil bestimmt, wissen und bedenken wir es nicht als
Urteil. Ein Vorurteil so gleichsam vor mich zu bringen, kann nicht gelingen,
solange dies Voruteil beständig und unbemerkt im Spiele ist, sondern nur
dann, wenn es sozusagen gereizt wird. Was so zu reizen vermag, ist die
Begegnung mit der Überlieferung. Denn was zum Verstehen verlockt, muß
sich selber schon zuvor in seinem Anderssein zur Geltung gebracht haben.
Das erste, womit das Verstehen beginnt, ist, daß etwas uns anspricht. Das ist
die oberste aller hermeneutischen Bedingungen. Wir sehenjetzt, was damit
gefordert ist: eine grundsätzliche Suspension der eigenen Vorurteile. Alle
Suspension von Urteilen aber, mithin und erst recht die von Vorurteilen,
hat, logisch gesehen, die Struktur der Frage.
Das Wesen der Frage ist das Offenlegen und Offenhalten von Möglichkei-
ten. Wird ein Vorurteil fraglich - angesichts dessen, was uns ein anderer oder
ein Text sagt-, so heißt dies mithin nicht, daß es einfach beiseitegesetzt wird
und der andere oder das Andere sich an seiner Stelle unmittelbar zur Geltung
bringt. Das ist vielmehr die Naivität des historischen Objektivismus, ein
solches Absehen von sich selbst anzunehmen. In Wahrheit wird das eigene
Vorurteil dadurch recht eigentlich ins Spiel gebracht, daß es selber auf dem
Spiele steht. Nur indem es sich ausspielt, spielt es sich mit dem anderen so
weit ein, daß auch dieses sich ausspielen kann.
Die Naivität des sogenannten Historismus besteht darin, daß er sich einer
solchen Reflexion entzieht und im Vertrauen auf die Methodik seines Ver-
fahrens seine eigene Geschichtlichkeit vergiBt. Hier muß von einem schlecht
verstandenen historischen Denken an ein besser zu verstehendes appelliert
werden. Ein wirklich historisches Denken muß die eigene Geschichtlichkeit
mitdenken. Nur dann wird es nicht dem Phantom eines historischen Objek-
tes nachjagen, das Gegenstand fortschreitender Forschung ist, sondern wird
in dem Objekt das Andere des Eigenen und damit das Eine wie das Andere
erkennen lernen. Der wahre historische Gegenstand ist kein Gegenstand,
8 [Zu dieser Änderung des ursprünglichen Textes vgl. Ges. Werke Bd. 1, S. 304].
Vom Zirkel des Verstehens 65
sondern die Einheit dieses Einen und Anderen, ein Verhältnis, in dem die
Wirklichkeit der Geschichte ebenso wie die Wirklichkeit des geschichtlichen
Verstehens besteht. Eine sachangemessene Hermeneutik hätte diese eigentli-
che Wirklichkeit der Geschichte im Verstehen selbst aufzuweisen. Ich nenne
das damit Geforderte >Wirkungs geschichte<. Verstehen ist ein wirkungsge-
schichtlicher Vorgang, und es ließe sich nachweisen, daß es die allem Verste-
hen zukommende Sprachlichkeit ist, in der das hermeneutische Geschehen
seine Bahn zieht.
6. Die Natur der Sache
und die Sprache der Dinge
1960
Buchstaben des Gesetzes zum Siege bringen. Auch hier ist also die Natur der
Sache etwas, was sich geltend macht, etwas das man zu respektieren hat.
Verfolgen wir auf der anderen Seite, was sich in der Wendung von der
>Sprache der Dinge< ausdrückt, so werden wir anscheinend in eine ganz
ähnliche Richtung gewiesen. Auch die Sprache der Dinge ist etwas, auf das
man nicht genug hört und auf das man besser hören sollte. Auch diese
Wendung hat eine Art polemischen Akzentes. Sie bringt zum Ausdruck, daß
wir die Dinge im allgemeinen gar nicht in ihrem eigenen Sein zu hören bereit
sind, daß sie vielmehr dem Kalkül des Menschen und seiner Beherrschung
der Natur durch die Rationalität der Wissenschaft unterworfen werden. In
einer immer technischer werdenden Welt wird die Rede von einer Würde der
Dinge immer unverständlicher. Sie sind die schwindenden, denen nur noch
der Dichter eine letzte Treue bewahrt. Daß man aber von einer Sprache der
Dinge überhaupt noch reden kann, erinnert daran, was die Dinge in Wahr-
heit sind, nämlich nicht ein Material, das gebraucht und verbraucht wird,
nicht ein Werkzeug, das benutzt und beiseite gelegt wird, sondern etwas,
was in sich Bestand hat und >zu nichts gedrängt< ist (Heidegger). Sein eigenes
Insichsein ist es, was von der Eigenmächtigkeit menschlichen Verfugenwol-
lens her mißachtet wird und wie eine Sprache ist, die es zu hören gilt. 9 Die
Wendung von der Sprache der Dinge ist also nicht eine mythologisch-
poetische Wahrheit, wie sie der Zauberer Merlin oder der in den Geist der
Märchen Eingeweihte allein zu verifizieren vermöchte, sondern was durch
diese Wendung geweckt wird, ist die in uns allen schlummernde Erinnerung
an das eigene Sein der Dinge, die noch immer zu sein vermögen, was sie
sind.
Von den bei den Redensarten her wird also in gewissem Sinne wirklich das
gleiche - und ein Wahres - gesagt. Redensarten sind eben nicht nur das
Unlebcndige einer uneigentlich gewordenen Sprachübung. Sie sind zu-
gleich die Hinterlassenschaft eines gemeinsamen Geistes und vermögen,
wenn man sie nur richtig versteht und in ihre geheime Bedeutungsful1e
eindringt, Gemeinsames neu sichtbar zu machen. So lehrt uns der Blick auf
die hier analysierten Redensarten, daß sie im gewissen Sinne dasselbe sagen,
nämlich etwas, woran gegenüber der Eigenmächtigkeit des Beliebens erin-
nert werden muß. Aber das ist noch nicht alles. So sehr die beiden Begriffe
,Die Natur der Sache( und ,Die Sprache der Dinge< mitunter in fast aus-
tauschbarer Weise verwendet werden und durch ihren gemeinsamen Gegen-
satz geprägt sind, verbirgt sich dennoch in dieser Gemeinsamkeit eine
Differenz, die nicht von ungefahr ist. Es erscheint vielmehr als eine philo-
9 In meinen Erläuterungen zu Heideggers Kunstwerk-Aufsatz, die als Redamheft 1960
erschienen sind, habe ich diesen Punkt als den systematischen Ausgangspunkt fLir Heideg-
gers späte Arbeiten unterstrichen. Uetzt in )Heideggers Wege1, Tübingen 1983, S. 81-93;
in Ges. WerkeBd. 3]
Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge 69
sophische Aufgabe, die Spannung sichtbar zu machen, die in den geheimen
Untertönen der beiden Redensarten zu spüren ist, und ich möchte zeigen,
daß der Austrag dieser Spannung es ist, der in der Philosophie unserer Tage
geschieht und der die Problemlage absteckt, die uns allen gemeinsam ist.
In dem Begriff ,Die Natur der Sache< sammelt sich fUr das philosophische
Bewußtsein ein von vielen Seiten her empfundener Widerstand gegen den
philosophischen Idealismus und insbesondere gegen die neukantianische
Form, in welcher derselbe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erneu-
ert wurde. Diese Fortbildung Kants, die sich auf ihn berief, um ihn zum
Sprecher des Fortschrittsglaubens und des Wissenschaftsstolzes der eigenen
Zeit zu machen, konnte mit dem Ding-an-sich im Grunde nichts mehr
anfangen. Bei aller ausdrücklichen Abkehr von dem metaphysischen Idealis-
mus der Nachfolger Kants kam eine Rückkehr zu dem kantischen Dualis-
mus von Ding-an-sich und Erscheinung nicht mehr in Betracht. Nur durch
eine Umdeutung des kantischen Gedankens ließ sich der Wortlaut Kants den
eigenen, selbstverständlich gewordenen Überzeugungen anpassen, denen
zufolge der Idealismus die totale Bestimmung des Gegenstandes durch die
Erkenntnis bedeutet. So wurde das Ding-an-sich als das bloße Richtungsziel
einer unendlichen Aufgabe des Fortbestimmens verstanden, und selbst Hus-
serl, der im Unterschied zum Neukantianismus weniger vom Faktum der
Wissenschaft ausging als vielmehr von der alltäglichen Erfahrung, suchte
der Lehre vom Ding-an-sich eine phänomenologische Ausweisung zu ge-
ben, indem er davon ausging, daß die verschiedenen Abschattungen des
Wahrnehmungs dinges das Kontinuum der einen Erfahrung bilden. Nichts
anderes könne mit der Lehre vom Ding-an-sich gemeint sein als eben diese
kontinuierliche ÜberfUhrbarkeit eines Aspektes des Dinges in den anderen,
durch die der einheitliche Zusammenhang unserer Erfahrung ermöglicht
wird. Auch Husserl verstand also die Idee des Dings-an-sich von der Idee des
Fortschritts unserer Erkenntnis aus, die in der wissenschaftlichen Forschung
ihre letzte Ausweisung hat.
Auf dem Gebiete der Moralphilosophie gibt es freilich nichts Vergleichba-
res. Denn seit Rousseau und Kant war es nicht mehr möglich, eine morali-
sche Perfektibilität des Menschengeschlechtes anzunehmen. Doch fand auch
hier die phänomenologische Kritik am Neukantianismus ihren Ansatz-
punkt, und zwar an dem Formalismus der kantischen Moralphilosophie.
Kants Ausgangspunkt beim Phänomen der Pflicht und seine Aufweisung
der Unbedingtheit des kategorischen Imperativs schienen jede inhaltliche
ErfUllung dessen, was das Sitten gesetz gebietet, aus der Moralphilosophie
zu verweisen. Max Schclers Kritik am Formalismus der kantischen Ethik, so
schwach sie im Negativen der Kritik war, erwies durch den Entwurf einer
materialen Wertethik ihre eigene Fruchtbarkeit. Auch stellte Schelers phäno-
menologische Kritik am neukantianischen Erzeugungsbegriff einen wichti-
70 Vorstufen
gen Anstoß dar, der insbesondere Nicolai Hartmann zur Abwendung vom
Neukantianismus und zur Konzeption seiner ~Metaphysik der Erkenntnis<
flihrtc. 1O Daß die Erkenntnis keinerlei Veränderung des Erkannten bewirkt-
geschweige denn seine Erzeugung meint -, daß alles, was ist, vielmehr
gleichgültig dagegen ist, ob es erkannt wird oder nicht, schien ihm gegen
jede Form des transzendentalen Idealismus, auch gegen die Husserlsche
Konstitutionsforschung, zu sprechen. Positiv glaubte Nicolai Hartmann in
der Anerkennung des Ansichseins des Seienden und seiner Unabhängigkeit
von aller menschlichen Subjektivität den Weg zu einer neuen Ontologie zu
bahnen. So geriet er in die Nähe des neucn }Realismus<, der gleichzeitig auch
in England - und dort in voller Breite - zum Siege kam.
Solche Abkehr von der transzendentalphilosophischen Reflexion ist aber,
wie ich glaube, ein massives Mißverständnis ihres Sinnes, die Folgc jenes
Niedergangs der philosophischen Erkenntnis, der mit Hegels Tod einsetzte.
Es hat seine Gründe, wenn sich solche Abkehr immer wieder, auch im
Philosophieren unserer Tagc, wiederholt. Wenn man etwa die überlegene
Seinswirklichkeit der göttlich gcstifteten Ordnung, an der unser eigenmäch-
tiges Wollen zuschanden wird (Gerhard Krüger) oder gegen den Menschen
und seine Geschichte die Gleichgültigkeit der natürlichen Welt (Karl Löwith)
ausspielte, so läßt sich solche polemische Abkehr als eine Berufung auf die
Natur der Sache verstehen. Indessen scheint mir eine solche Berufung auf die
Natur der Sache an der gemeinsamen Voraussetzung, die unbefragt alle diese
Versuche zur Wiederherstellung des Ansichseins der Dinge beherrscht, ihre
Begrenzung Zu finden. Es ist die Voraussetzung, daß die menschliche Sub-
jektivität Willc ist, die auch dort in fraglos er Geltung ist, wo man der
Willensbestimmtheit des menschlichen Seins das Ansichsein als ihre Grenze
entgegenstellt, Der Sache nach bedeutet das nämlich, daß diese Kritiker des
modemen Subjektivismus von dem, was sie kritisieren, gar nicht wahrhaft
frei sind, sondern den Gegensatz nur nach der anderen Seite hin artikulieren.
Sie stellen der Einseitigkeit des Neukantianismus, der den Fortschritt der
wissenschaftlichen Kultur zum Leitfaden nimmt, die Einseitigkeit einer
Metaphysik des Ansichseins entgegen, die in Wahrheit mit ihrem Gegner die
Vorherrschaft der Willens bestimmtheit teilt,
Man muß sich angesichts dieser Sachlage fragen, ob die Parole von der
Natur der Sache nicht ein fragwürdiger Kampfruf ist, und ob nicht allen
diesen Versuchen gegenüber die klassische Metaphysik eine wahre Überle-
genheit beweist und eine fortbestehende Aufgabe stellt, Die Überlegenheit
der klassischen Metaphysik scheint mir darin zu bestehen, daß sie über den
10 Das früheste Dokument hierfUr ist die Scheler-Rezension, die N. Hartmann bereits
Dualismus von Subjektivität und Wille auf der einen Seite, Objekt und
Ansichsein auf der anderen Seite von vornherein hinaus ist, indem sie die
vorgängige Entsprechung des einen und des anderen denkt. Freilich ist es
eine theologische Entsprechung, auf der der Wahrheitsbegriff der klassi-
schen Metaphysik, die Angemessenheit der Erkenntnis an die Sache, beruht.
Denn es ist ihrer beider Kreatürlichkeit, worin Seele und Sache geeint sind.
Wie die Seele geschaffen ist, mit dem Seienden zusammenzukommen, so ist
die Sache geschaffen, wahr, und das heißt erkennbar zu sein. Es ist der
unendliche Geist des Schöpfers, in dem sich so auflöst, was ftir den endlichen
Geist ein unauflösbares Rätsel scheint. Das Wesen und die Wirklichkeit der
Schöpfung selbst besteht darin, solche Zusammenstimmung von Seele und
Sache zu sein.
Nun kann sich die Philosophie einer solchen theologischen Begründung
gewiß nicht mehr bedienen und wird auch die säkularisierten Gestalten
derselben, ,,,ie sie der spekulative Idealismus mit seiner dialektischen Ver-
mittlung von Endlichkeit und Unendlichkeit darstellt, nicht wiederholen
wollen. Aber der Wahrheit dieser Entsprechung wird sie auch ihrerseits sich
nicht verschließen dürfen. In diesem Sinne besteht die Aufgabe der Meta-
physik fort, freilich als eine Aufgabe, die nicht selber wieder als Metaphysik,
d. h. im Rückgang auf einen unendlichen Intellekt, gelöst werden kann. So
stellt sich die Frage: gibt es endliche Möglichkeiten, dieser Entsprechung
gerecht zu werden? Gibt es eine Begründung dieser Entsprechung, die sich
nicht zu der Unendlichkeit eines göttlichen Geistes versteigt und doch der
unendlichen Entsprechung von Seele und Sein gerecht zu werden vermag?
Ich meine, es gibt sie. Es gibt einen Weg, auf den das Philosophieren immer
deutlicher gewiesen wird, der diese Entsprechung bezeugt. Es ist der Weg
der Sprache.
Es scheint mir kcin Zufall, daß das Phänomen der Sprache in den letzten
Jahrzehnten ins Zentrum der philosophischen Fragestellung gerückt ist.
Vielleicht kann man sogar sagen, daß sich unter diesem Zeichen selbst die
größte Kluft philosophischer Art, die heute zwischen den Völkern besteht,
zu überbrücken beginnt, nämlich der Gegensatz zwischen dem Extrem des
angelsächsischen Nominalismus auf der einen Seite und der metaphysischen
Tradition des Kontinents auf der anderen Seite. Jedenfalls nähert sich die
Sprachanalyse, die sich aus der Durchreflexion der Problematik logischer
Kunstsprachen in England und Amerika entwickelt hat, in auffallender
Weise der Forschungsgesinnung der phänomenologischen Schule E. Hus-
serls. Wie in ihrer Fortentwicklung durch M. Heidegger die Anerkennung
der Endlichkeit und Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins die Aufga-
be der Metaphysik in ihrem Wesen verwandelt hat, so ist mit der Anerken-
nung der selbständigen Bedeutung der gesprochenen Sprache der antimeta-
physische Affekt des logischen Positivismus der Auflösung verfallen (Witt-
72 Vorstufen
genstein). Von der Information bis zum Mythos und der Sagc, die zugleich
einc >Zcige' ist (Martin Heidegger), macht die Sprache das gemeinsame
Thema aller aus. Man muß sich nun, wie ich meine, die Frage stellen, ob
Sprache, wenn man sie wahrhaft denken will, nicht am Ende )Sprache der
Dinge' heißen muß und ob cs nicht dic Sprache der Dinge ist, in der sich die
ursprüngliche Entsprechung von Seele und Sein so ausweist, daß auch
endliches Bewußtsein von ihr wissen kann.
Daß die Sprache die Mitte ist, durch die sich das Bewußtsein mit dem
Seienden zusammenschließt, ist an sich keine neue Behauptung. Schon
Hegel hat dic Sprache die Mitte des Bewußtseins genannt", durch die sich
der subjektive Geist mit dem Sein der Objekte vermittelt, und in unserer
Zeit hat Ernst Cassirer den schmalen Ausgangspunkt des Neukantianismus,
das Faktum der Wissenschaft, zu einer Philosophie der symbolischen For-
men ausgeweitet, die nicht nur Naturwissenschaften und Geisteswissen-
schaften in eins umfaßte, sondern dem gesamten menschlichen Kulturver-
halten eine transzendentale Begründung geben sollte.
Cassirer ging davon aus, daß Sprache, Kunst und Religion Formen der
Repräsentation, d. h. der Darstellung von etwas Geistigem in etwas Sinnli-
chem sind. In der transzendentalen Reflexion auf diese Formen aller geisti-
gen Gestaltung müsse sich der transzendentale Idealismus zu einer neuen
und wahren Universalität erheben lassen. Die symbolischen Formen näm-
lich seien Gestaltwcrdungen des Geistes in der flüchtigen Zcitlichkeit sinnli-
cher Erscheinung und stellten insofern die verbindende Mitte dar, als sie
ebensosehr objektive Erscheinung wie Spur des Geistes seien. - Man muß
sich frcilich fragen, ob eine solche Analytik der geistigen Grundkräfte, wic
sie Cassirer vorschwebte, der Einzigartigkeit des Phänomens der Sprache
wirklich Rechnung trägt. Denn Sprache steht nicht neben Kunst und Recht
und Religion, sondern stellt das tragende Medium rur allc diese Erscheinun-
gen dar. Dem Begriff der Sprache wird dadurch innerhalb der symboli-
schen, d. h. Geist aussprechenden Formen nicht bloß eine besondere Aus-
zeichnung verliehen. Vielmehr ist die Sprache, solange sie als symbolische
Form gedacht ist, überhaupt noch nicht in ihren wahren Dimensionen
erkannt. Schon an die idealistische Sprachphilosophie, die von Herder und
Humboldt ausgeht, läßt sich vielmehr die kritische Frage richten, die die
Philosophie der symbolischen Formen mittrifft, ob sie nicht die Sprache von
dem in ihr Gesprochenen und durch sie Vermittelten isoliert, indem sie auf
ihre >Form, gerichtet ist. Liegt nicht die eigcntliche Wirklichkeit der Spra-
chc, durch die sie die Entsprechung, die wir suchen, darstellt, gerade darin,
daß sie keine formale Kraft und Fähigkeit ist, sondern ein vor gängiges
Umfaßtsein alles Seienden durch sein mögliches Zursprachekommen? Ist
akustische Folge auf der einen Seite und jene rhythmisierende Auffassung
auf der anderen Seite ist also die Entsprechung, die zwischen beiden waltet.
Davon wissen insbesondere die Dichter, die sich über die Verfahrensweise
des poetischen Geistes, der in ihnen waltet, Rechenschaft zu geben versu-
chen, wie etwa Hölderlin. Es ist eine rhythmische Erfahrung, die sie be-
schreiben, wenn sie von der poecischen Urerfahrung sowohl die Vorgege-
benheit der Sprache als auch die Vorgegebenheit der Welt, d. h. der Ord-
nung der Dinge, fernhalten und die dichterische Konzeption als das Sichein-
schwingen von Welt und Seele im dichterischen Sprachewerden beschrei-
ben. Das Gebilde des Gedichts, zu dem Sprache wird, verbürgt als ein
Endliches das einander Zugesprochensein von Seele und Welt. Es ist hier,
daß das Sein der Sprache seine zentrale Stellung erweist. Der Ausgang von
der Subjektivität, wie er dem neueren Denken natürlich geworden ist, fUhrt
dabei ganz in die Irre. Sprache ist nicht als ein vorgängiger Weltentwurf der
Subjektivität zu denken, weder als der eines einzelnen Bewußtseins noch als
der eines Volksgeistes. Das sind alles Mythologien, genau wie der Begriff
des Genies, der in der ästhetischen Theorie deswegen eine so beherrschende
Rolle spielt, weil er das Zustandekommen des Gebildes als eine unbewußte
Produktion verstehen und damit aus der Analogie zu dem bewußten Produ-
zieren deuten lehrt. Das Kunstwerk ist aber so wenig von der planmäßigen
AusfUhrung eines Entwurfs - sei es auch eines nachtwandlerisch unbewuß-
ten - her zu verstehen, wie der Gang der Weltgeschichte rur unser endliches
Bewußtsein als die AusfUhrung eines Planes gedacht werden darf. Glück
und Gelingen verfuhren vielmehr hier wie dort zu oracula ex eventu! die das
Ereignis, von dem sie ausgesagt werden, das Wort oder die Tat, in Wahrheit
verdecken.
Es scheint mir eine Folge des modernen Subjektivismus, daß die Selbstin-
terpretation in a1len solchen Bereichen einen sachlich ungerechtfertigten
Vorrang erhalten hat. In Wahrheit wird man einem Dichter fUr die Erklärung
seiner Verse kein Privileg zugestehen dürfen, so wenig wie einem Staats-
mann fur die historische Erklärung der Ereignisse, an denen er selber han-
delnd beteiligt war. Der echte Begriff von Selbstverständnis", der in allen
solchen Fällen allein anwendbar ist, ist nicht von dem Modell des vollende-
ten Selbst bewußtseins aus zu denken, sondern von der religiösen Erfahrung
aus. Sie schließt immer schon ein, daß die Irrwege des menschlichen Selbst-
verständnisses nur durch göttliche Gnade zu ihrem wahren Ende finden,
d. h. zu der Einsicht, auf allen Wegen zum eigenen Heile geftihrt worden zu
sein. Alles menschliche Selbstverständnis ist in sich durch sein Ungenügen
bestimmt. Das gilt gerade auch von Werk und Tat. Kunst und Geschichte
entziehen sich daher ihrem eigenen Sein nach der Deutung von der Subjekti-
14 [Vgl. unten meine Arbeit IZur Problematik des Selbstverständnisses(, S. 121 ff.}
76 Vorstufen
15 Vgl. außer )Wahrhcit und Methode< (Ges. Werke Bd. 1) den unten S. 219ff. abge-
druckten Aufsatz: >Die Universalität des hermeneutischen Problems( rund inzwischen die
späteren Arbeiten zur Sache. die unten S. 232 folgenl.
7. Begriffsgeschichte als Philosophie
1970
Das Thema >Begriffs geschichte als Philosophie( erweckt den Anschein. als
ob hier eine sekundäre Fragestellung und eine Hilfsdisziplin des philo-
sophischen Denkcns zur Unangemessenheit eines universalen Anspruchs
aufgehöht würde. Denn das Thema enthält die Behauptung, Begriffsge-
schichte sei Philosophie oder vielleicht sogar, Philosophie solle Begriffsge-
schichte sein. Beides sind ohne Zweifel Thesen, deren Rechtfertigung und
Begründung nicht auf der Hand liegt und denen wir uns deswegen prüfend
zuzuwenden haben.
In jedem Falle liegt in der Formulierung des Themas eine implizite Aussa-
ge über das, was Philosophie ist, nämlich daß ihre Begriffiichkeit ihr Wesen
ausmacht - im Unterschiede zu der Funktion der Begriffe in den Aussagen
der >positiven( Wissenschaften. Während diese die Gültigkeit ihrer Begriffe
jeweils an dem Erkenntnisgewinn messen, der durch Erfahrung kontrollier-
bar ist, hat offenbar die Philosophie in diesem Sinne keinen Gegenstand.
Damit fangt die Fragwürdigkeit der Philosophie an. Kann man überhaupt
ihren Gegenstand auge ben, ohne daß man schon in die Frage nach der
Angemessenheit der Begriffe, die man dabei gebraucht, verwickelt ist? Was
heißt )angemessen~ dort, wo man nicht einmal weiß, woran man messen
soll?
Die philosophische Tradition des Abendlandes allein kann auf diese Frage
eine geschichtliche Antwort enthalten. Nur sie können wir befragen. Denn
die rätselhaften Aussageformen von Tiefsinn und Weisheit, die in anderen
Kulturen, insbesondere des Fernen Ostens, entwickelt worden sind, stehen
mit dem, was abendländische Philosophie heißt, in einem letzten Endes
nicht überprüfbaren Verhältnis, insbesondere deshalb, weil die Wissen-
schaft, in deren Namen wir fragen, selber eine abendländische Entdeckung
ist. Wenn es nun so ist, daß die Philosophie keinen eigenen Gegenstand hat,
an dem sie sich mißt und dem sie sich mit ihren Mitteln des Begriffs und der
Sprache anmißt, heißt das dann nicht, daß der Gegenstand der Philosophie
der Begriff selbst ist? Der Begriff, das ist das wahre Sein, so wie wir ja das
Wort >Begriff( zu gebrauchen pflegen. Man sagt etwa: das ist der Begriff
eines Freundes, wenn man jemanden in seiner Fähigkeit zur Freundschaft
78 Vorstufen
besonders rühmen will. Heißt also dies der Gegenstand der Philosophie, daß
es der Begriffist, sozusagen die Selbstentfaltung des Denkens; so, wie es zu
dem, was ist, sich aufklärend und erkennend verhä1t? Es ist wahr, das ist die
Antwort der Tradition von Aristoteles bis Hege!. Aristoteles hat im Buch
Gamma der Metaphysik die Auszeichnung der Philosophie, insbesondere
der Metaphysik, der ersten Philosophie - ,Philosophie< hieß ja überhaupt
>Erkenntnis< - so bestimmt, daß er gesagt hat: alle anderen Wissenschaften
haben einen positiven Bereich, einen Bereich, den sie zum speziellen Gegen-
stand haben. Die Philosophie als die Wissenschaft, die wir hier suchen, hat
keinen so umgrenzten Gegenstand. Sie meint das Sein als solches, und es
verknüpft sich mit dieser Frage nach dem Sein als solchem der l3lick auf sieh
voneinander unterscheidende Weisen zu sein: das unveränderlich Evvige und
Göttliche, das sieh ständig Bewegende, die Natur, das sich bindende Ethos,
der Mensch. So etwa steht die Tradition der Metaphysik mit ihren Haupt-
themen vor uns, bis hin zu der kantischen Gestalt der Metaphysik der Natur
und der Metaphysik der Sitten, in der das Wissen von Gott in eine spezifische
Verbindung zu der Moralphilosophie getreten ist.
Was kann aber dieser Gegenstandsbereich der Metaphysik im Zeitalter der
Wissenschaft noch bedeuten? Nicht nur, daß Kaot selber es gewesen ist, der
durch seine Kritik der reinen Vernunft, d. h. durch die Kritik am Vermögen
des Menschen, aus bloßen Begriffen Erkenntnis zu gewinnen, die bisherige
Traditionsgestalt der Metaphysik, die sich in rationale Kosmologie, Psycho-
logie, Theologie gliederte, zerstört hat. Wir sehen vor allem in unseren
Tagen, wie sich der Anspruch der Wissenschaft, die einzig legitime Erkennt-
nisweise des Menschen zu sein - ein Anspruch, der freilich weniger von der
Wissenschaft selbst als von der Öffentlichkeit, die ihre Erfolge bewundert,
gestützt wird -, dazu gefUhrt hat, daß sich innerhalb dessen, was man
landläufig Philosophie nennt, die Wissenschaftstheorie und Logik sowie die
Analyse der Sprache in den Vordergrund gerückt haben. Die Begleiterschei-
nung dieser zunehmenden Tendenz ist, daß alles andere, was man Philo-
sophie nennt, als Weltanschauungen oder als Ideologien aus der Philosophie
verwiesen und damit letzten Endes einer von außen geführten Kritik unter-
worfen wird, die nicht mehr erlaubt, daß sie als Erkenntnis gelten. So ist die
Frage: Was bleibt der Philosophie, was sich wirklich neben dem Anspruch
der Wissenschaft behaupten kann?
Der Laie wird antworten: Die wissenschaftliche Philosophie v·:ird gegen-
über den luftigen und weithin leuchtenden Gebilden von Weltanschauung
und Ideologie fur sich in Anspruch nehmen, eindeutige Begriffe zu gebrau-
chen. Es ist das alte Verlangen des Laien, von dem Philosophen zu erwarten,
daß er alle seine Begriffe wohl definiert. Ob solches Definitionsverlangen
legitim ist, ob dem Anspruch und der Aufgabe der Philosophie aueh nur
angemessen ist, was im Bereiche der Wissenschaften seine unbestrittene
Begriffsgeschichte als Philosophie 79
Legitimation hat, wird noch zu fragen sein. Denn in der Voraussetzung, daß
es auf die Eindeutigkeit der Begriffe ankommt, liegt die andere Vorausset-
zung, daß die Begriffe unsere Werkzeuge sind, die wir uns anfertigen, Um an
die Gegenstände heranzugehen und sie unserer Erkenntnis zu unterwerfen.
Wir sehen ja, daß die bestdefinierten Begriffe, die wir überhaupt kennen,
und die exakteste Begriffsbildung dort zu Hause sind, \VO eine ganze Gegen-
standswelt durch das Denken selbst erzeugt wird: in der Mathematik. Dort
gibt es nicht einmal den Beitrag der Erfahrung, weil die Vernunft mit sich
selbst beschäftigt ist, wenn sie die großartigen Rätsel der Zahlen oder der
geometrischen Figuren oder was immer aufzuklären unternimmt.
Ist nun die Sprache und das Denken der Philosophie so, daß es wie aus
einem bereitliegenden Werkzeugkasten die Begriffe der Philosophie zur
Hand nimmt und weglegt und auf diese Weise Erkenntnis zutage fördert,
und zurückweist, was dem Erkenntnisziele nicht dient? Man wird sagen
dürfen: In einem gewissen Sinne ist es so, sofern Begriffsanalyse immer auch
Sprachkritik einschließt, und sich durch die genaue logische Analyse der
Begriffe Scheinfragen und Scheinvorurteile enthüllen. Aber das Ideal einer
eindeutigen Begriffssprache, das insbesondere am Anfang unseres Jahrhun-
derts von der philosophischen Logik mit solchem Enthusiasmus verfolgt
worden ist, hat sich aus der immanenten Entfaltung dieser Anstrengung
heraus selber begrenzt. Die Idee einer reinen Kunstsprache des philo-
sophischen Gedankens ist auf dem Wege der logischen Selbstanalyse in ihrer
Undurchftihrbarkeit klargelegt worden, sofern es immer der Sprache, die
wir sprechen, bedarf, wenn wir Kunstsprachen einführen \"lOllen. Die Spra-
che, die wir sprechen, ist nun aber so beschaffen, daß von ihr zugegebener-
maßen eine ständige Beirrung unserer Erkenntnis auszugehen vermag. Schon
Bacon hat die idola fori, die Vorurteile des Sprachgebrauches, als Behinderung
einer vorurteilslosen Forschung und Erkenntnis denunziert.
Aber ist das alles? Wenn Sprache mitunter Vorurteile fixiert, bedeutet das,
daß in ihr stets nur Unwahrheit erscheint? Sprache ist nicht nur dies. Sie ist
die allumfassende Vorausgelegtheit der Welt und daher durch nichts zu
ersetzen, Vor allem philosophisch einsetzenden kritischen Denken ist schon
immer die Welt für uns eine in Sprache ausgelegte. Im Lernen einer Sprache,
im Hineinwachsen in unsere Muttersprache artikuliert sich uns die Welt. Das
ist weniger Beirrung als erste Erschließung. Es freilich schließt ein, daß der
Prozeß der Begriffsbildung, der inmitten dieser sprachlichen Ausgelegtheit
anhebt, niemals ein erster Anfang ist. Er gleicht nicht dem Schmieden eines
neuen Werkzeuges aus irgendeinem geeigneten Stoff. Denn er ist immer ein
Weiterdenken in der Sprache, die wir sprechen, und in der in ihr angelegten
Auslegung der Welt. Da ist nirgends ein Anfang mit Null. Gewiß ist auch die
Sprache, durch die sich die Ausgelegtheit der Welt darstellt, ohne Zweifel ein
Produkt und das Ergebnis von Erfahrung. >Erfahrung. hat hier aber selber
80 Vorstufen
den großen Fragen, mit denen die Philosophie nicht fertig wird, der Sinn der
Frage sich erst durch die Motivation der Frage bestimmt. Es ist also eine
dogmatische Schematisierung, wenn man von dem Freiheitsproblem
spricht, und man verdeckt dadurch gerade den sinngebenden Fragegesichts-
punkt, der die Dringlichkeit der Frage, ihr Gestelltwerden, in Wahrheit
ausmacht. Gerade wenn wir einsehen, daß die Philosophie aufs Ganze hin
fragt, müssen wir die Weise, wie sich ihr ihre Fragen stellen, und das heißt: in
welcher Begriffiichkeit sie sich bewegt, befragen. Denn sie ist es, die die
Stellung der Fragen schon prägt. Darauf also kommt es an, wie sich eine
Frage stellt, und es gilt, das festzuhalten, damit man die Fragestellung
ausarbeiten lernt. Wenn ich frage: Was bedeutet Freiheit in einer Weltauffas-
sung, die von der kausalen Naturwissenschaft beherrscht wird, dann ist die
Stellung der Frage und damit alles, was darin etwa unter dem Begriff
Kausalität impliziert ist, schon in den Sinn der Frage eingegangen. So ist zu
fragen: Was ist Kausalität, und macht sie das ganze Ausmaß des in der Frage
der Freiheit Fragwürdigen aus? Mängel in dieser Hinsicht waren schuld
daran, daß in den zwanziger und dreißig er Jahren das seltsame Gerede
von der Widerlegung der Kausalität durch die moderne Physik auf-
kam.
Diese Feststellungen lassen sich positiv wenden: Wenn in den Fragestel-
lungen und damit in der Begriffiichkeit, die die Stellung einer Frage ermög-
licht, die eigentliche Prägung des Fragesinnes liegt, dann ist das Verhältnis
des Begriffs zur Sprache nicht nur das der Sprachkritik, sondern ebenso auch
ein Problem der Sprachfindung. Und dies scheint mir nun wirklich das
große atemberaubende Drama der Philosophie, daß sie die ständige Bemü-
hung um Sprachfindung, um es pathetischer zu sagen: ein beständiges
Erleiden von Sprachnot ist. Das ist nicht erst eine Neuerung von Heidegger.
Die Rolle, die die Sprachfindung in der Philosophie spielt, ist offenbar
eine ausgezeichnete. Das zeigt sich schon in der Rolle, die die Terminologie
hier spielt: An sich zeigt sich der Begriff in sprachlicher Gestalt als Terminus
an, d. h. als ein wohlumrissenes, in seiner Bedeutung eindeutig abgegrenztes
Wort. Aber jedermann weiß, daß ein terminologisches Sprechen, das etwa
von der Art der Exaktheit des Rechnens mit mathematischen Symbolen
wäre, nicht möglich ist. Sprechen erlaubt zwar den Gebrauch von Termini,
aber das heißt, daß diese ständig in den Verständigungsvorgang des Spre-
chens hineinragen und mitten in diesem Verständigungsvorgang ihre
Sprachfunktion ausüben. Im Unterschied zu der Möglichkeit, feste Termini
zu schaffen, welche genau festgelegte Funktionen der Erkenntnis ausüben,
wie das in den Wissenschaften und vorbildlich in der Mathematik geschieht,
hat der philosophische Sprachgebrauch, wie wir sahen, keine andere Aus-
weisbarkeit als die, die wieder in der Sprache geschieht. Es ist offenbar eine
Ausweisbarkeit besonderer Art, die hier verlangt ist, und das ist die erste
84 Vorstufen
Aufgabe, die sich ftir den Zusammenhang von Wort und Begriff, von
gesprochener Sprache und sich im Begriffswort artikulierenden Gedanken
stellt, daß es die Verdecktheit der begrifflichen Herkunft der philo-
sophischen Begriffsworte aufzuklären gilt, wenn wir die Legitimität unserer
Fragestellungen zur Ausweisung bringen wollen. Ein klassisches Beispiel,
das wir in unseremjahrhundert erlebt haben, ist die Aufdeckung des in dem
Begriff .Subjekt< gelegenen verdeckten begriffs geschichtlichen Hinter-
grunds und seiner ontologischen Implikationen, ,Subjekt. ist griechisch
hypokeimenon, das Zugrundeliegende, und dieses Wort wird von Aristoteles
eingeftihrt, um gegenüber dem Wechsel verschiedener Erscheinungsformen
des Seienden dasjenige. was sich nicht ändert, sondern diesen wechselnden
Qualitäten zugrunde liegt, zu bezeichnen. Aber hört man dieses hypokeime.
non, subicctum, das allem anderen zugrunde liegt, noch, \venn man das Wort
Subjekt gebraucht? Wenn man, wie wiI alle, in der cartesianischen Tradition
steht und im Begriff des Subjektes die Selbstreflexion, das Sichselbstwissen,
denkt? Wer hört das noch, daß >Subjekt< ursprünglich ,das Zugrundeliegen-
de( ist? Aber ich frage auch, wer hört es nicht doch darin? Wer unterstellt
nicht, daß das, was dergestalt durch Selbstreflexion bestimmt ist, so da ist
wie ein Seiendes, das sich in dem Wechsel seiner Qualitäten als das Zugrun-
deliegende und Tragende erhält? Es ist eben die Unaufgedecktheit dieser
begriffs geschichtlichen Ahnenschaft, die dazu geftihrt hat, daß man das
Subjekt als etwas denkt, das, durch sein Selbstbewußtsein charakterisiert,
mit sich selbst allein ist, und daß man sich vor die qualvolle Frage gestellt
sieht, wie es aus seiner }splcndid isolation( herauskommt. So entstand die
Frage nach der Realität der Außenwelt. Es war die Kritik unseres Jahrhun-
derts, daß man die Frage: Wie kommt unser Denken, unser Bewußtsein zur
Außenwelt?, von vornherein als falsch gestellt erkannte, weil Bewußtsein
überhaupt nichts anderes ist als Bewußtsein von etwas. Der Vorrang des
Selbstbewußtseins gegenüber dem Weltbewußtsein ist ein ontologisches
Vorurteil, das letzten Endes auf der unkontrollierten Fortwirkung des Be-
griffs subiectum im Sinne des hypokeimenon bzw. des ihm entsprechenden
lateinischen Begriffes der Substanz beruht. Selbstbewußtsein bestimmt die
selbstbewußte Substanz gegenüber allem anderen Seienden. Wie kommt
aber extensiv ausgedehnte Natur und selbstbewußte Substanz zusammen?
Wie können diese beiden so grundverschiedenen Substanzen aufeinander
wirken - das war das bekannte Problem der beginnenden neuzeitlichen
Philosophie, das noch dem angeblichen Methodendualismus von Natur-
und Geisteswissenschaften zugrunde liegt.
Das Beispiel will zunächst nur als Beispiel gelten und die allgemeine Frage
motivieren: Ist Aufklärung durch Begriffsgeschichte immer sinnvoll und
immer nötig?
Ich möchte auf diese Frage eine einschränkende Antwort geben: Sofern
Begriffsgeschichte als Philosophie 85
überhaupt nicht mehr. Erst wenn ich es wieder vergessen habe, bin ich in
dem Worte drin. « Drinsein im Worte, das ist in der Tat die Weise, wie wir
reden. Und wenn ich in diesem Moment den Fluß meines Mitteilungsbe-
dürfnisses wirklich blockieren könnte und die Worte, die ich eben ausspre-
che, zur Reflexion brächte und in der Reflexion festhielte, wäre der Fortgang
des Sprechens total gehemmt. So sehr gehört Selbstvergessenheit zum We-
sen von Sprache. Eben aus diesem Grunde kann begriffliche Aufklärung-
und Begriffsgeschichte ist begriffliche Aufklärung - immer nur partial sein.
Sie kann nur dort nützlich und wichtig sein, wo durch sie entweder Verdek-
kung, die durch entfremdete, erstarrte Sprache geschieht, aufgedeckt wird,
oder wo Sprachnot geteilt werden soll, damit man in die volle Gespanntheit
des Nachdenkens gelangt. Denn Sprachnot muß dem Nachdenkenden voll
ins Bewußtsein gelangen. Nur der denkt philosophisch, der angesichts der
verftigbaren sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten ein Ungenügen empfin-
det, und nur dann denkt man mit, wenn man die Not dessen wirklich teilt,
der begriffliche Aussagen wagt, die sich allein durch sich selbst bewähren
sollen.
Man wird die Entstehung der philosophischen Begriffssprache bei den
Griechen ins Auge fassen müssen, aber auch etwa die Sprache der deutschen
Mystik und ihr Eindringen in die Begriffsspraehe danebenstellen - bis hin zu
Hegels und Heideggers begriffs bildender Kühnheit. Es sind das Beispiele
besonderer sprachlicher Not und damit eines besonderen Anspruchs an das
Denken und Mitdenken.
Da steht am großen Anfang des abendländischen Denkens die Lehre vom
Sein, die Parmenides in seinem Lehrgedicht vorgetragen hat. Sie stellt den
Späteren die nicht zu Ende kommende Frage, die schon Plato nicht recht
ermessen zu können gesteht, was bei Parmenides mit diesem Sein gemeint
sei. Die moderne Forschung bleibt kontrovers. Hermann Cohen etwa mein-
te, es handele sich da um das Gesetz der Identität als die oberste Denkforde-
rung überhaupt. Die historische Forschung sperrt sich gegen solche syste-
matisierenden Anachronismen. So hält man mit Recht entgegen, das Sein,
das hier gemeint sei, sei die Welt, das Ganze des Seienden, nach dem die
86 Vorstufen
Ionier unter dem Titel ta panta gefragt hätten 17 . Indessen ist die Frage, ob das
Sein des Parmenides der Vorklang eines obersten philosophischen Begriffes
sei oder ein Kollektivname für alles Seiende, nicht in dem Sinne einer
Alternative zu entscheiden. Man muß vielmehr die Sprachnot mitleiden, die
hier in einem gewaltigen denkerischen Aufschwung den Ausdruck to on, das
Seiende, diesen abstrakten Singular, erfunden hat - vorher redete man von
den onta, von den vielen Seienden -. Man wird das neue Wagnis solchen
Redcns ermessen müssen, wenn man dem Denken folgen will, das hier
geschieht.
Andererseits zeigt sich, daß mit diesem Neutrum Singularis der gemeinte
Begriff doch noch nicht zu vollem Bewußtsein gelangt ist. Denn was alles
wird nicht von diesem Seienden gesagt! Zum Beispiel, daß es wohlgerundet
sei wie ein gut gestopfter Ball. Wir haben ein Beispiel der oben geschilderten
Sprachnot vor uns, sofern das Denken hier versucht, etwas zu denken,
woftir es keine Sprache gibt, und deshalb seine eigene denkende Intention
nicht sicher festzuhalten vermag.
Ahnlieh könnte man zeigen, wie etwa Plato zu der Einsicht gelangte, daß
zujeder Bestimmung des Denkens, zujedem Satz, zu jedem Urteil, zujeder
Aussage, sowohl Identität als auch Verschiedenheit zu denken nötig sei.
Wenn man etwas als das, was es ist, denken will, muß man es notwendig als
von allem anderen verschieden denken. Identität und Verschiedenheit sind
immer und unlöslich zusammen. In der späteren Philosophie nennen wir
solche Begriffe Reflexionsbegriffe, weil sie ein dialektisches Verhältnis des
Sichineinander-Tausehens auszeichnet. Wenn nun Plato diese großartige
Entdeckung vorfUhrt, stellt er die genannten ReflcxionsbegrifTe in merk-
würdiger Gesellschaft vor, indem er den beiden Begriffen, die überall dabei
sind, wo gedacht wird, auch noch Ruhe und Bewegung zur Seite stellt. Man
fragt sich, was das miteinander zu tun haben soll. Das eine sind Begriffe,
welche Wclthaftes beschreiben: da gibt es Ruhe, da gibt es Bewegung - das
andere sind Begriffe, welche allein im Denken vorkommen, als Identität und
Verschiedenheit. Beide mögen in dem Sinne dialektisch sein, daß auch Ruhe
nicht ohne Bewegung gedacht werden kann. Aber sie sind doch ganz
verschiedener Art. Für Plato scheint dies Verschiedenartige in eine Reihe zu
gehören. In seinem) Timaios< kann er geradezu erzählen, daß der Wcltenbau
dem menschlichen Geist Identität und Verschiedenheit buchstäblich vor
Augen hält, so daß der Mensch, indem er die Regelmäßigkeit der Gestirn-
bahnen und ihre Abweichungen, die mit der Ekliptik zusammenhängenden
Phänomene, ins Auge faßt, gleichsam im Mitmachen dieser Bewegungen
das Denken lernt.
17 [Vgl. H. Boeder, Grund und Gegenwart als Frageziel der frühgriechischen Philo-
18 [Vgl. dazu meine Arbeit ,Gibt es die Materie? Eine Studie zur Begriffsbildung in
vergleicht. - So mag auch bei Aristoteles - und nicht erst für die >Schulc( -
die ontologische Funktion, die der Begriff der Materie hat, so wenig adäquat
gedacht und begrifflich expliziert sein, daß die aristotelische Schule die
originale Denkintention nicht mehr einzuhalten vermochte. Auch ftir den
modernen Interpreten wird daher nur begriffsgeschichtliche Bewußtheit,
die sich gleichsam in den actus des seine Sprache suchenden Denkcns ver-
setzt, dessen wahrer Intention zu folgen vermögen.
Endlich möge ein Beispiel aus der neueren Philosophie zeigen, wie durch
Tradition verfestigte Begriffe ins Leben der Sprache eingehen und zu ncucn
begrifflichen Leistungen fahig werden. Der Begriff der ,Substanz< scheint
ganz und gar dem scholastischen Aristotelismus verschrieben und von dort
her bestimmt. So gebrauchen auch wir das Wort im aristotelischen Sinne,
wenn wir etwa von chemischen Substanzen sprechen, deren Eigenschaften
oder Reaktionen man erforscht. Hier ist die Substanz das Vorliegende, an
dem man die Untersuchungen vornimmt. Nun ist das aber nicht alles. Wir
gebrauchen das Wort auch in einem anderen, betont werthaften Sinne und
leiten die Wertprädikate >substanzlos< und )substantiell< davon ab, etwa
wenn wir einen Plan nicht substantiell genug finden, dann meinen wir, daß
er allzu sehr im Vagen und Ungewissen verfliegt. Wenn wir von einem
Menschen sagen, er habe Substanz, so heißt das, daß mehr dahinter ist, als
sich in der Funktion darstellt, in der er uns begegnet. Man wird hier von
einer Übertragung des scholastisch-aristotelischen Substanz begriffs in eine
ganz neue Dimension reden dürfen. In diesem neuen Verwendungsbereich
des Ausdrucks gewinnen nun aber die alten (und flir die moderne Wissen-
schaft ganz unbrauchbar gewordenen) Begriffsmomente von Substanz und
Funktion, bleibendem Wesen und wechselnden Bestimmungen desselben,
ein neues Leben und werden zu schwer ersetzbaren Wörtern - und das heißt
ja, daß sie wieder leben. Die begriffsgeschichtliche Reflexion erkennt an
dieser Geschichte des Wortes >Substanz< im Negativen den mit der Galilei-
sehen Mechanik einsetzenden Verzicht auf die Erkenntnis der Substanzen-
und im Positiven Hegels produktive Umbildung des Substanzbegriffs, die
in seiner Lehre vom objektiven Geist gelegen ist. Im allgemeinen werden
künstliche Begriffe nicht zu Worten der Sprache. Die Sprache pflegt sich
gegen Kunstprägungen oder aus fremden Sprachen entlehnte Worte zu
wehren und sie nicht in den allgemeinen Sprachgebrauch aufzunehmen.
Aber dies Wort hat sie im neuen Sinne aufgenommen, und Hegel bietet dafür
die philosophische Legitimation, sofern er uns gelehrt hat, das, was wir sind,
nicht allein durch das Selbstbewußtsein des einzelnen denkenden Ich be-
stimmt zu denken, sondern durch die in Gesellschaft und Staat ausgebreitete
Wirklichkeit des Geistes.
Die erörterten Beispiele zeigen, wie eng die Beziehungen zwischen
Sprachgebrauch und Begriffsbildung sind. Begriffsgeschichte hat einer Bc-
Begriffsgeschichte als Philosophie 89
wegung des Gcdankens zu folgen, die immer über gewohnten Sprachge-
brauch hinausdrängt und die Bedeutungsrichtung von Wörtern aus ihrem
ursprünglichen Verwendungs bereich löst, erweiternd oder begrenzend,
vergleichend und unterscheidend, wie das Aristoteles in dem Begriffskata-
log von Metaphysik Delta systematisch vorfUhrt. Auch kann die Bildung
von Begriffen wieder auf das Sprachlcben zurückwirken, wie die von Hege!
gerechtfertigte breite Verwendung von Substanz fUr Geistiges. In der Rege!
aber wird es umgckehrt sein und sich die Breite des lebendigen Sprachge-
brauchs gcgcn die terminologische Festlegung dcr Philosophen wehren. Je-
denfalls ist es ein höchst schillerndes Verhältnis, das zwischen Begriffsprä-
gung und Sprachgebrauch bestcht. In seinem tatsächlichen Sprachgebrauch
hält sich nicht einmal der an seine terminologischen Vorschläge, der sie
selber gemacht hat. So folgt etwa Aristoteles, ,"vas ich ehedem einmal zu
unterstreichen Anlaß hatteI'!, in seinem eigenen Sprachgebrauch nicht der
von ihm in der Nikomachischen Ethik getroffenen Unterscheidung von
phronesis und sophia, und selbst die berühnlte kantische Unterscheidung von
transzendent und transzendental hat im Sprachleben selbst kein Heimatrecht
erworben. Es war die Hybris eines Beckmesser, wenn jemand, in meiner
Jugend, im Zeitalter des Neukantianismus, eine Wendung wie )die traszen-
dentale Musik Becthovens< mit der spöttischen Bemerkung kritisierte: .,Der
Schreiber kennt noch nicht einmal den Unterschied zwischen transzendent
und transzendental. « Gewiß muß, wer die kantische Philosophie verstehen
will, mit dieser Unterscheidung vertraut sein. Aber der Sprachgebrauch ist
souverän und läßt sich nicht solche künstlichen Vorschriften machen. Diese
Souveränität des Sprachgebrauchs schließt nicht aus, daß man etwa zwi-
schen gutem und schlechtem Deutsch unterscheiden kann, ja auch, daß man
von mißbräuchlichem Sprachgebrauch reden kann. Aber die Souveränität
des Sprachgebrauchs zeigt sich in solchen Fällen gerade darin, daß in unseren
Augen die tadelnde Kritik, \vie sie etwa in der Schule oft an regelwidrigem
Sprachgebrauch im deutschen Aufsatz geübt wird, etwas Mißliches behält
und daß Spracherziehung, mehr noch als andere Erziehung, nicht durch
besserwissende Korrektur, sondern nur durch das Vorbild gelingt. 20
Es darf daher nicht als ein Mangel philosophischer llegriffsbildung angc-
sehen werden, daß das philosophische Begriffswort den Zusammenhang
mit dem Leben der Sprache wahrt und den lebendigen Sprachgebrauch auch
in der Verwendung ausgeprägter Termini dennoch mit anklingen läßt. An
diesem fortwirkenden Sprachleben, das die llegriffsbildung trägt, el1t-
l~ In: Der aristotelische Protrcptikos ... Hermes 63,1927, S. 138-164. [Jetzt in Ges.
Wecke Bd. 5, S. 164--1861
20 [Vgl. dazu meine Dankesrede )Gutes Deutsch< von 1979 anläßlich der Verleihung des
Sigmund-Freud-Preises vor der Deutschen Akademie ftir Sprache und Dichtung Ub.
1980, S. 76-82) wiederabgedruckt in )Lob der Theorie<, Frankfurt 1983. S. 164-173.]
90 Vorstufen
das Ideal der philosophischen Sprache nicht die denkbar größte Ablösung
einer terminologisch eindeutig gemachten Nomenklatur vom Leben der
Sprache ist, sondern die Rückbindung des begrifflichen Denkens an die
Sprache und das Ganze der Wahrheit, das in ihr präsent ist. Im wirklichen
Sprechen oder im Gespräch, sonst nirgends, hat Philosophie ihren wahren,
ihren nur ihr eigenen Prüfstein.
8. Klassische und philosophische Hermeneutik
1968
Der Titel ,Hermeneutik( deckt, wie das oft mit solchen aus dem Griechi-
schen stammenden Worten, die in unsere Wissenschafts sprache Eingang
gefunden haben, geschehen ist, sehr verschiedene Niveaus der Reflexion.
Hermeneutik meint in erster Linie eine kunstvolle Praxis. Das deutet die
Wortbildung an, zu der) Technc, zu ergänzen ist. Die Kunst, um die es sich
dabei handelt, ist die der Verkündung, des Dolmetschens, Erklärens und
Auslegens und schließt natürlich die ihr zugrunde liegende Kunst des Verste-
hens ein, die überall dort erfordert ist, wo der Sinn von etwas nicht offen und
unzweideutig zutage liegt. So liegt schon im ältesten Gebrauch des Wortes 21
eine gewisse Zweideutigkeit. HeImes hieß der Götterbote, der die Botschaf-
ten der Götter den Menschen überbrachte - in der homerischen Schilderung
oft so, daß er wörtlich ausrichtet, was ihm aufgetragen ist. Oft aber, und
insbesondere im profanen Gebrauch, besteht das Geschäft des henneneus
gerade darin, daß er ein in fremder oder unverständlicher Weise Geäußertes
in die verständliche Sprache aller übersetzt. Das Geschäft des Übersetzens
hat daher imIner eine gewisse }Freiheitc Es setzt das volle Verständnis der
fremden Sprache, aber mehr noch, auch das Verständnis der eigentlichen
Sinn-Meinung des Geäußerten voraus. Wer als Dolmetscher verständlich
sein will, muß das Gemeinte neu zur Sprache bringen. Immer ist die Lei-
stung der >Hermeneutik( eine solche Übertragung von einer Welt in eine
andere, der Welt der Götter in die der Menschen, der Welt der einen, fremden
Sprache in die Welt der anderen, eigenen Sprache. (Menschliche Übersetzer
können immer nur in die eigene Sprache übersetzen.) Da aber die eigene
Aufgabe des Übersetzens eben darin besteht, etwas }auszurichten1,
schwankt der Sinn von hermeneuein zwischen Übersetzung und praktischer
Anweisung, zwischen bloßem Mitteilen und Gehorsam-Fordern. Zwar
pflegt hermeneia in ganz neutralem Sinne )Aussage von Gedanken< zu bedeu-
ten, aber es ist bezeichnend, daß Plato" nicht jeglichen Ausdruck von
21 [Daß die Etymologie des Wortes wirklich etwas müdem Gott}Hermes< zu tun hat, wie
der Wortgebrauch und die antike Etymologie nahclegen. ist in der neueren Forschung
(Benveniste) bezweifelt worden. J
22 Plato, Politikos 260 d.
Klassische und philosophische Hermeneutik 93
Gedanken, sondern allein das Wissen des Königs, des Herolds usw., das den
Charakter der Anweisung hat, unter dem Ausdruck versteht. Nicht anders
dürfte die Nachbarschaft der Hermeneutik zur Mantik B zu verstehen sein:
die Kunst, den Gotteswillen zu übermitteln, steht neben der Kunst, ihn oder
die Zukunft aus Zeichen zu erraten. - Immerhin ist fUr die andere, rein
kognitive Bedeutungskomponente bezeichnend, daß Aristotelcs in der
Schrift Peri hermeneias nur noch den logischen Sinn der Aussage meint, wenn
er den logos apophantikos behandelt. Entsprechend entwickelt sich dann im
späteren Griechentum der rein kognitive Sinn von hermeneia und hermeneus
und kann >gelehrte Erklärung, bzw. ,Erklärer, und ,Übersetzen bedeuten.
Freilich haftet der ,Hermeneutik, als Kunst immer noch die alte Herkunft aus
der Sakralsphäre24 ein wenig an: es ist die eine Kunst, deren Spruch man sich
als maßgeblich zu unterwerfen hat, bzw. die man bev,mndernd anerkennt,
weil sie Verschlossenes - fremde Rede oder gar die unausgesprochene Über-
zeugung eines andern - zu verstehen und darzulegen vermag. Es ist also eine
ars, auf deutsch: eine Kunstlehre, wie die Redekunst oder die Sehreibkunst
oder die Rechenkunst - mehr eine praktische Fertigkeit als eine >Wissen-
schaft<.
Das gilt selbst noch in so späten Nachklängen des alten Wortsinnes, wie sie
die neuere theologische und juristische Hermeneutik darstellen: sie sind eine
Art von >Kunst( oder sind mindestens solcher lKunst< als Mittel dienstbar
und schließen immer eine normative Kompetenz ein: nicht nur, daß die
Ausleger ihre Kunst verstehen, sondern daß sie Normatives - das göttliche
oder menschliche Gesetz - zum Ausdruck bringen.
Wenn wir heute von ,Hermeneutik( reden, stehen wir dagegen in der
Wissenschafts tradition der Neuzeit. Der ihr entsprechende Wortgebrauch
von )Hermeneutik< setzt genau damals ein, das heißt, mit der Entstehung des
modernen Methoden- und Wissenschaftsbegriffs. Jetzt ist immer eine Art
methodischer Bewußtheit impliziert. Man besitzt nicht nur die Kunst der
Auslegung, sondern weiß dieselbe theoretisch zu rechtfertigen. Die erste
Bezeugung des Buchtitels ,Hermeneutik< stammt aus dem Jahre 1654: bei
Dannhauer2S • Wir unterscheiden seither eine theologisch-philologische und
eine juristische Hermeneutik.
Theologisch bedeutet >Hermeneutik( die Kunst der rechten Auslegung
der Heiligen Schrift, die, an sich uralt, schon in patristischer Zeit zu metho-
discher Bewußtheit gefuhrt wurde, vor allem durch Augustin in ,De doctri-
na christiana<. Die Aufgabe einer christlichen Dogmatik \var durch die
Spannung zwischen der besonderen Geschichte desjüdischen Volkes, wie sie
23 Epinomis 975 c.
24 Photios, Bibl. 7; Plato, Ion 534 e; Legg. 907 d.
25 J. Dannhauer: Hcrmeneutica sacra sive mechodus exponendarum sacrarum littera-
rum (1654).
94 Vorstufen
27 Vgl. die Darstellung von L. Geldsetzer in der Einleitung zum Neudruck von Georg
neration der Schlegel und Schleiermacher dieses Prinzip in eine Art Meta-
physik der Individualität um. Die Unaussagbarkeit des Individuellen lag
ja auch der Wendung zur geschichtlichen Welt zugrunde, die mit dem
Traditionsbruch des Revolutionszeitalters ins Bewußtsein trat. Fähigkeit
zur Freundschaft, Fähigkeit zum Gespräch, zum Brief, zur Kommunika-
tion überhaupt - all diese Züge des romantischen Lebensgeftihls kamen
dem Interesse arn Verstehen und Mißverstehen entgegen, und so bildete
diese menschliche Urerfahrung in Schleiermachers Hermeneutik den me-
thodischen Ausgangspunkt. Von ihm aus stellte sich Verstehen von Tex-
ten, von fremden, fernen, umdunkelten und zu Schrift erstarrten Geistes-
spuren, d. h. die lebendige Auslegung von Literatur und insbesondere der
Heiligen Schrift, als spezielle Anwendungen dar.
Freilich, Schleiermachers Hermeneutik ist durchaus nicht ganz frci von
der etwas schulstaubigen Luft der älteren hermeneutischen Literatur - wie
ja auch sein eigentlich philosophisches Werk etwas im Schatten der ande-
ren großen idealistischen Denker steht. Er hat weder die zwingende Kraft
Fichtescher Deduktion, noch Schellings spekulative Eleganz, noch auch
die körnige Eigensinnigkeit von Hegels Begriffskunst - er war ein Red-
ner, auch wo er philosophierte. Seine Bücher sind mehr die Merkzettel
eines Redners. Insbesondere seine Beiträge zur Hermeneutik sind stark
beschnitten, und was hermeneutisch am meisten interessiert, seine Be-
merkungen über Denken und Sprechen, stehen überhaupt nicht in der
)Hermeneutik<, sondern in seiner Dialektik-Vorlesung. Auf eine brauch-
bare kritische Ausgabe der Dialektik warten wir aber noch immer Uffi-
sonst36 , Der normative Grundsinn der Texte, der der hermeneutischen
Bemühung ursprünglich ihren Sinn gab, tritt bei Schleiermacher in den
Hintergrund. Verstehen ist reproduktive Wiederholung der ursprüngli-
chen gedanklichen Produktion aufgrund der Kongenialität der Geister. So
lehrte Schleiermacher auf dem Hintergrund seiner metaphysischen Kon-
zeption von der Individualisierung des All-Lebens. Die Rolle der Sprache
tritt damit hervor, und das in einer Form, die die gelehrtenhafte Ein-
schränkung auf das Schriftliche grundsätzlich überwand. - Schleierma-
chers Begründung des Verstehens auf das Gespräch und die zwischen-
menschliche Verständigung bedeutete insgesamt eine Tieferlegung der
Fundamente der Hermeneutik, aber so, daß sie die Errichtung eines auf
hermeneutischer Basis errichteten Wissenschaftssystems gestattete. Die
Hermeneutik wurde zur Grundlage fur alle historischen Geisteswissen-
schaften, nicht nur fur die Theologie. Die dogmatische Voraussetzung des
>maßgeblichen< Textes, unter der das hermeneutische Geschäft, sowohl
das des Theologen wie das des humanistischen Philologen (von dem des
rung(, freilich in der auf den ,Satz des Bewußtseins< und den Erlebnisbegriff
gegründeten Form. Auch bedeutete ftir ihn der geschichtsphilosophische, ja
geschichtstheologische Hintergrund, auf dem sich die geistvolle Historik
des Historikers J. G. Droysen erhob, sowie die strenge Kritik, die sein
Freund, der spekulative Lutheraner Yorck von Wartenburg, an dem naiven
Historismus des Zeitalters übte, eine beständige Mahnung. Beides hat dazu
beigetragen, daß sich in der späteren Entwicklung Diltheys etwas Neues
Bahn brach. Der Erlebnisbegriff, der bei ihm die psychologische Grundlage
der Hermeneutik gebildet hatte, wurde durch die Unterscheidung von
Ausdruck und Bedeutung ergänzt, teils unter dem Eindruck der Psycholo-
gismuskritik Husserls (in den >Prolegomena( zu seinen >Logischen Untersu-
chungen<) und durch seine platonisicrende Bedeutungstheorie, teils im Wie-
deranschluß an Hegels Theorie des objektiven Geistes, die sich Dilthey vor
allem durch seine Studien zur Jugendgeschichte Hegels aufgeschlossen hat-
te". - Das trug im 20. Jahrhundert seine Früchte. Diltheys Arbeiten wurden
fortgesetzt von G. Misch, B. Groethuyscn, E. Spranger, Th. Litt, J. Wach,
H. Freyer, E. Rothacker, O. Bollnow u. a. Die Summe der idealistischen
Tradition der Hermeneutik von Schleiermacher bis zu Dilthey und über ihn
hinaus wurde von dem Rechtshistoriker E. Bctti 40 gezogen.
Dilthey selbst ist freilich mit der Aufgabe nicht wirklich zu Rande gekom-
men, die ihn quälte, das )historische Bewußtsein< mit dem Wahrheits an-
spruch der Wissenschaft theoretisch zu vermitteln. E. Troeltschs Formel
~Von der Relativität zur Totalität<, die die theoretische Lösung des Relativis-
musproblems im Sinne Diltheys darstellen sollte, blieb, wie Troeltsehs
eigenes Werk, im Historismus stecken, den es zu überwinden galt. Bezeich-
nend, daß Troeltsch auch in seinem dreibändigen Historismuswerk inlmer
wieder in (glanzvolle) historische Exkurse abschweift. Dilthey umgekehrt
suchte hinter alle Relativität auf ein Konstantes zurückzugehen und entwarf
eine höchst einflußreiche Typenlehre der Weltanschauungen, der der Mehr-
seitigkeit des Lebens entsprechen sollte. Das war nur in sehr bedingtem
Sinne eine Überwindung des Historismus. Denn die bestimmende Grundla-
ge dieser wie jeder solchen Typenlehre war der Begriff der ,Weltanschau-
ung<, d. h. aber einer nicht weiter hintergehbaren )Bewußtseinsstcllung<, die
man nur beschreiben und mit anderen Weltanschauungen vergleichen konn-
te, aber als eine )Ausdruckserscheinung des Lebens( geltcn lassen mußtc.
Daß ein ,Erkennenwollen durch Begriffe<, also der Wahrheitsanspruch der
Philosophie, zugunstcn des )historischen Be\vußtseins< aufzugeben sei, war
die selber unreflektierte dogmatische Voraussetzung Diltheys und ist durch
eine Welt geschieden von Fichtes viel mißbrauchtem Wort )Was für eine
Philosophie man wählt, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist~~41, ein
Wort, das ein eindeutiges Bekenntnis zum Idealismus darstellt.
Das sollte sich an Diltheys Nachfolgern zeigen: Die pädagogisch-anthro-
pologischen, psychologischen, soziologischen, kunsttheoretischen, histori-
schen Typenlehren, die sich damals ausbreiteten, demonstrierten ad oculos,
daß ihre Fruchtbarkeit jeweils von der geheimen Dogmatik abhing, die
ihnen zugrunde lag. An allen diesen Typologien von Max Weber, Spranger,
Litt, Pinder, Kretschmer, Jaensch, Lersch usw. zeigte sich, daß sie einen
begrenzten Wahrheits wert hatten, aber denselben einbüßten, sowie sie die
Totalität aller Erscheinungen erfassen, d. h. vollständig sein wollten. Solcher
)Ausbaw einer Typologie ins Allumfassende bedeutet aus Wesensgründen
ihre Selbstauflösung, d. h. den Verlust ihres dogmatischen Wahrheitskerns.
Selbst Jaspers' >Psychologie der Weltanschauungen, war von dieser Pro-
blematik aller Typologie in der Nachfolge von Max Weber und Dilthey
durchaus noch nicht so frei, wie es seine lPhilosophie< später verlangte (und
erreichte). Das Denkmittel der Typologie ist in Wahrheit nur von einem
extrem nominalistischen Standpunkt aus legitimierbar. Sogar Max Webers
nominalistische Radikalität der Selbstaskese kannte ihre Grenzen und er-
gänzte sich durch das völlig irrationale, dezisionistische Zugeständnis, daß
einjeder )seinen Gott~ wählen müsse, dem er folgen wolle. 42
Die theologische Hermeneutik der mit Schleiermachers al1gemeiner
Grundlegung beginnenden Epoche ist auf ähnliche Weise in ihren dogmati-
schen Aporien steckengebliebcn. Schon der Herausgeber der Schleierma-
chersehen Hermeneutik-Vorlesungen, Lücke, hatte das theologische Mo-
ment in ihnen stärker akzentuiert. Die theologische Dogmatik des 19. Jahr-
hunderts kehrte im ganzen zu der altprotestantischen Problematik der Her-
meneutik zurück, die mit der regula fidei gegeben war. Ihr stand die an aller
Dogmatik Kritik übende historische Forderung der liberalen Theologie
entgegen und fUhrte zu zunehmender Indifferenz gegenüber der theologi-
schen Sonderaufgabe. Daher gab es im Zeitalter der liberalen Theologie im
Grunde keine spezifisch theologische hermeneutische Problematik.
Insofern war es ein epochales Ereignis, als im Durchgang durch den
radikalen Historismus und unter dem Anstoß der dialektischen Theologie
(Barth, Thurneysen) die hermeneutische BesinnungR. Bultmanns, dieinder
Parole der Entmythologisierung münden sollte, eine echte Vermittlung
zwischen historischer und dogmatischer Exegese begründete. Das Dilemma
zwischen historisch-individualisierender Analyse und Weitertragung des Ke-
rygma bleibt freilich theoretisch unlösbar, Bultmanns Begriff des >Mythos<
erwies sich rasch als eine höchst voraussetzungsvolle Konstruktion auf dem
Boden der modernen Aufklärung. Er verneinte den Wahrheitsanspruch, der
in der Sprache des Mythos inkorporiert sei - eine hermeneutisch höchst
einseitige Position. Die Debatte über die Entmythologisierung, wie sie G.
Bornkamm mit großer Sachkunde dargestellt hat", bleibt jedoch von ho-
hem allgemeinem hermeneutischem Interesse, sofern in ihr die alte Span-
nung von Dogmatik und Hermeneutik in zeitgenössischer Modifikation
wieder aufgelegt ist. Bultmann hatte seine theologische Selbstbesinnung
vom Idealismus weg und in die Nähe des Denkens von Heidegger gerulirt.
Darin wirkte sich der Anspruch aus, den Kar! Barth und die dialektische
Theologie erhoben, indem sie die ebenso menschliche wie theologische
Problematik des }Redens über Gott< bewußt machten. Bu1tmann suchte eine
)positive<, d. h. methodisch zu rechtfertigende, nichts Von den Errungen-
schaften der historischen Theologie preisgebende Lösung. Heideggers Exi-
stenzialphilosophie von )Sein und Zeit( schien ihm in dieser Lage eine
neutrale, anthropologische Position anzubieten, von der aus das Selbstver-
ständnis des Glaubens eine ontologische Begründung erfuhr"'. Die Zukünf-
tigkeit des Daseins im Modus der Eigentlichkeit und auf der Gegenseite das
Verfallen an die Welt ließen sich theologisch durch die Begriffe von Glauben
und Sünde ausdeuten. Das war zwar nicht im Sinne der Hcideggerschen
Exposition der Seinsfrage, sondern eine anthropologische Umdeutung.
Aber die universelle Relevanz der Gottesfrage flir die menschliche Existenz,
die Bultmann auf die )Eigentlichkeit< des Seinkönnens begründete, braclite
einen wirklichen hermeneutisclien Gewinn. Er lag vor allem in dem Begriff
des Vorverständnisses - von dem reichen exegetischen Ertrag solcher her-
meneutischen Bewußtheit ganz zu schweigen.
Heideggers philosophischer Neuansatz zeitigte aber nicht nur in der
Theologie positive Wirkungen, sondern vermochte vor allem die relativisti-
sche und typologische Erstarrung zu brechen, die in der Schule Diltheys
herrschte. G. Misch kommt das Vl·rdienst zu, durch Konfrontation von
Husser! und Heidegger mit Dilthey die philosophischen Impulse Diltheys
neu freigesetzt zu haben 45 • Auch wenn seine Konstruktion des lebensphilo-
sophischen Ansatzes Diltheys einen letzten Gegensatz zu Heidegger fixiert-
rur Heideggers Ausarbeitung seiner Philosophie war Diltlieys Rückgang
hinter das )transzendentale Bewußtsein( auf den Standpunkt des )Lebens(
eine wichtige Stütze. Die von G. Misch u. a. veranstaltete Ausgabe der
VOll Unamuno und anderen eine neue Kritik am Idealismus inspirierte und
den Gesichtspunkt des Du, des anderen Ich, entwickelte. So bei Theodor
Haecker, Friedrich Gogarten, Eduard Griesebach, Ferdinand Ebner, Martin
Buber, KarlJaspers, Viktor von Weizsäcker und auch in dem Buch von Kar!
Löwith ,Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen< (München 1928).
Auch die geistvolle Dialektik, durch die E. Betti das Erbe der romanti-
schen Hermeneutik im Zusammenspiel von Subjektivem und Objektivem
zu rechtfertigen suchte, mußte unzureichend erscheinen, nachdem ~Sein und
Zeit< die ontologische Vorgreiflichkeit des Subjekt begriffs gezeigt und voll-
ends, als der spätere Heidegger im Denken der )Kehrc( den Rahmen der
transzendentalphilosophischen Reflexion gesprengt hatte. Das >Ereignis<
der Wahrheit, die den Spielraum von Entbergung und Ver bergung bildet,
gab allem Entbergcn - auch dem der verstehenden Wissenschaften - eine
neue ontologische Valenz. Damit wurde eine Reihe neuer Fragen an die
traditionelle Hermeneutik möglich.
Die psychologische Grundlage der idealistischen Hermeneutik erwies sich
als problematisch: Erschöpft sich der Sinn eines Textes wirklich in dem
>gemeinten< Sinn (mens auctoris)? Ist Verstehen nichts als die Reproduktion
einer ursprünglichen Produktion? Daß das ftir die juristische Hermeneutik,
die eine offenkundige rechtsschöpferische Funktion ausübt, nicht gelten
kann, ist klar. Aber das pflegte man auf die Seite ihrer normativen Aufga-
benstellung zu schieben und als eine praktische Anwendung anzusehen, die
nichts mit ,Wissenschaft< zu tun habe. Der Begriff der Objektivität der
Wissenschaft verlange das Festhalten an dem Kanon, der durch die mens
aucton's gebildet wird. Aber kann er wirklich genügen? Wie ist es z. B. bei der
Auslegung von Kunstwerken (die beim Regisseur, beim Dirigenten und beim
Übersetzer selber noch die Gestalt einer praktischen Produktion hat)? Kann
man denn leugnen, daß der reproduzierende Künstler die originale Schöp-
fung }interpretiert< - und nicht einfach eine Neuschöpfung daraus macht?
Wir unterscheiden sehr genau zwischen angemessenen und mnerlaubtenl
oder )stilwidrigen< reproduktiven Interpretationen von musikalischen oder
dramatischen Werken. Mit welchem Rechte will man diesen reproduktiven
Sinn von Interpretation von dem der Wissenschaft abscheiden? Geschieht
eine solche Reproduktion nachtwandlerisch und ohne Wissen? Der Sinnge-
halt der Reproduktion ist nicht auf das zu beschränken, was einer bewußten
Sinnverleihung durch den Verfasser entstammt. Die Selbstinterpretation der
Künstler ist bekanntlich von fragwürdiger Geltung. Der Sinn ihrer Schöp-
fung stellt gleichwohl der praktischen Interpretation eine eindeutige Appro-
ximationsaufgabe. Die Reproduktion ist durchaus nicht beliebiger Willkür
überlassen, so wenig wie die von der Wissenschaft unternomnlene Ausle-
gung.
Und wie ist es mit dem Sinn und der Deutung geschichtlicher Ereignisse?
Klassische und philosophische Hermeneutik 105
Das Bewußtsein der Zeitgenossen ist dadurch gezeichnet, daß sie, die die
Geschichte >erlcben1, nicht wissen, wie ihnen geschieht. Dagegen hielt Oil-
they an der systematischen Konsequenz seines Begriffes des Erlebnisses bis
zum Schluß fest, wie das Modell der Biographie und Autobiographie flir
Diltheys Theorie des geschichtlichen Wirkungs zusammenhangs lehrt".
Auch die geistvolle Kritik des positivistischen Methodenbewußtseins durch
R. G. Collingwood", die sich im übrigen des dialektischen Instrumenta-
riums des Croceschen Hegclianismus bedient, bleibt mit ihrer Lehre vom
reenactment in subjektivistischer Problcmverengung befangen, wenn sie als
Modellfall flir geschichtliches Verstehen den Nachvollzug ausgeruhrtcr Plä-
ne zugrunde legt. Da war Hegel konsequenter. Sein Anspruch, die Vernunft
in der Geschichte zu erkennen, hatte seine Begründung in einem BegritT des
)Geistes<, zu dessen Wesen es gehört, daß er )in die Zeit fillt< und aus seiner
Geschichte allein seine inhaltliche Bestimmtheit gewinnt. Wohl gab es auch
fur Hegel die >weltgeschichtlichen Individuen" die er als >Geschäftsträger
des Weltgeistes< auszeichnete und deren persönliche Entschlüsse und Leiden-
schaften mit dem übereinstimmten, "\vas )an der Zeit war<. Aber diese
Ausnahmefalle definierten flir ihn nicht den Sinn des geschichtlichen Vers tc-
hens, sondern wurden ihrerseits von dem Begreifen des geschichtlich Not-
wendigen her, das der Philosoph vollbringt, als Ausnahmen definiert. Der
Ausweg, dem Historiker Kongenialität mit seinem Gegenstande zuzumu-
ten, den schon Schlciermacher beschritten hatte, fuhrt offenkundig nicht
wirklich weiter. Darin wäre die Weltgeschichte in ein ästhetisches Schauspiel
verwandelt. Das hieße den Historiker einerseits überfordern und dann auch
wieder seine Aufgabe unterschätzen, die den eigenen Horzont mit dem der
Vergangenheit zu konfrontieren hat.
Und wie steht es mit dem kerygmatischen Sinn der Heiligen Schrift? Hier
fuhrt sich der Begriff der Kongenialität vollends ad absurdum, indem er das
Schreckbild der Inspirationstheorie heraufbeschwört. Aber auch die histori-
sche Exegese der Bibel stößt hier an Grenzen, insbesondere am Leitbegriff
des >Selbstverständnisses< der Schriftsteller der Heiligen Schrift. Ist der
Heilssinn der Schrift nicht notwendig etwas anderes als das, was sich durch
die bloße Summierung der theologischen Anschauungen der Schriftsteller
des Neuen Testamentes ergibt? So verdient die pietistische Hermeneutik (A.
H. Franckc, Rambach) in dem Punkte noch immer Beachtung, daß sie in
ihrer Auslegungslehre zu dem Verstehen und Explizieren die Applikation
hinzuftigte und damit den Gegenwartsbezug der )Schrift< auszeichnete. Hier
liegt das Zentralmotiv einer Hermeneutik verborgen, die die Geschichtlich-
keit des Menschen wirklich ernst nimmt. Dem trägt ge"\viß auch die idealisti-
raus erwuchs der Rechtswissenschaft eine nicht minder enge Bindung der
hermeneutischen an die dogmatische Aufgabe, als sie der Theologie aufer-
legt ist. Eine Auslegungslehre des römischen Rechts konnte sich aufhistori-
sche Verfremdung mindestens so lange nicht einlassen, als das römische
Recht seine gesetzliche Rechtsgeltung behielt. Die Auslegung des römischen
Rechts von Thibaut 1806·;; sieht es daher als eine Selbstverständlichkeit an,
daß die Auslegungslehre sich nicht allein auf die Absicht des Gesetzgebers
stützen kann, sondern den }Grund des Gesetzes< zum eigentlichen herme-
neutischen Kanon erheben muß.
Mit der Schaffung moderner Gesetzeskodifikationen mußte dann die
klassische Hauptaufgabe, die Auslegung des römischen Rechts, ihr dogma-
tisches Interesse im praktischen Sinne verlieren und zugleich zum Glied einer
rechtsgeschichtlichen Fragestellung werden. So konnte sie sich als Rechtsge-
schichte dem Methodengedanken der historischen Wissenschaften vorbe-
haltlos einordnen. Umgekehrt wurde die juristische Hermeneutik als eine
subsidiäre Disziplin der Rechtsdogmatik neuen Stils an den Rand der Juris-
prudenz gewiesen. Aber das grundsätzliche Problem der }Konkretisierung
im Recht<" bleibt bestehen, und das Verhältnis von Rechtsgeschichte und
normativer Wissenschaft ist weit komplizierter, als daß die Rechtsgeschichte
die Hermeneutik ersetzen könnte. Die geschichtliche Aufklärung über die
historischen Umstände und die tatsächlichen Erwägungen des Gesetzgebers
vor oder bei Erlaß eines Gesetzestextes mögen hermeneutisch noch so
aufschlußreich sein - die ratio legis geht darin nicht auf und bleibt eine
unentbehrliche hermeneutische Instanz ftir alle Jurisdiktion. So bleibt das
hermeneutische Problem in aller Rechtswissenschaft ebenso beheimatet,
wie das fur die Theologie und ihre beständige Aufgabe der ,Applikation<
gilt.
Man muß sich daher fragen, ob nicht Theologie und Rechtslehre einen
wesentlichen Beitrag für eine allgcmcinc Hermeneutik bereithalten. Diese
Frage zu entfalten, kann freilich die immanente Methodenproblematik der
Theologie, der Rechtswissenschaft und der historisch-philologischen Wis-
senschaften nicht ausreichen. Es kommt gerade darauf an, die Grenzen der
Selbstauffassung des historischen Erkennens aufzuweisen und der dogmati-
schen Interpretation eine begrenzte Legitimität zurückzugeben55 • Dem steht
freilich der Begriff der Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft entgegen".
53 A. F. J. Thibaut: Theorie der log. Auslegung des römischen Rechts (1799, 21806,
Neudmck 1967).
S4 K. Engisch: Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswiss. unserer Zeit.
Aus diesen Gründen gmg die Untersuchung, die ich in ,Wahrheit und
Methode< unternommen habe, von einem Erfahrungsbereich aus, der in
gewissem Sinne dogmatisch genannt werden muß, sofern sein Gcltungsan-
spruch absolute Anerkennung verlangt und sich nicht in suspcnso halten
läßt: das ist die Erfahrung der Kunst. Hier heißt Verstehen in aller Regel
Anerkennen und Geltenlassen: )!Begreifen, was uns ergreift« (E. Staiger).
Die Objektivität der Kunstwissenschaft oder Literaturwissenschaft, die als
wissenschaftliche Bemühung ihren vollen Ernst behält, bleibt in jedem Falle
der Erfahrung der Kunst oder Dichtung selber erst nachgeordnet. Nun ist in
der authentischen Erfahrung der Kunst app!icatio von intellectio und explicatio
gar nicht zu trennen. Das kann für die Wissenschaft von der Kunst nicht
ohne Folgen sein. Die hier liegende Problematik ist zuerst von H. Sedlmayr
in seiner Unterscheidung einer ersten und einer zweiten Kunstwissenschaft
erörtert worden 57 • Die vielfaltigen Methoden kunst- und literaturwissen-
schaftlicher Forschung, die entwickelt worden sind, haben am Ende ihre
Fruchtbarkeit immer wieder daran zu bewähren, wie weit sie der Erfahrung
des Kunstwerkes zu gesteigerter Klarheit und Angemessenheit verhelfen:
Sie bedürfen von sich aus der hermeneutischen Integration. So mußte die
Applikationsstruktur, die in derjuristischen Hermeneutik ihr angestammtes
Heimatrecht hat, Modellwert gewinnen. Gewiß kann die Wiederannähe-
rung des rechtshistorischen und rechtsdogmatischen Verstehens, die sich
von da aus aufdrängt, deren Unterschiede nicht aufheben, wie insbesondere
von Betti und Wicacker betont worden ist. Aber der Sinn von >Applikation(,
der ein konstitutives Element allen Verstehens darstellt, ist nicht der einer
nachträglichen und äußerlichen )Anwendung( von etwas, das ursprünglich
fUr sich ist. Anwendung von Mitteln zu vorbestimmten Zwecken oder
Anwendung von Regeln in unserem Verhalten meint im allgemeinen auch
nicht, daß wir eine in sich selbständige Gegebenheit, etwa eine >rein theore-
tisch( bekannte Sache, einem praktischen Zweck unterordnen. Vielmehr
sind im allgemeinen Mittel vom Zwecke her und Regeln vom Verhalten her
bestimmt oder gar abstrahiert. Schon Hegel hat in seiner >Phänomenologie
des Geistes< die Dialektik von Gesetz und Fall analysiert, in die sich die
konkrete Bestimmtheit auseinanderwirft. 58
So bedeutet die Applikationsstruktur des Verstehens, die sich der philo-
sophischen Analyse enthüllt, durchaus keine Einschränkung der >vorausset-
zungslosen< Bereitschaft, zu verstehen, was ein Text selber sagt, und gestat-
tet durchaus nicht, daß man den Text seiner >eigenen< Sinnmeinung entfrem-
Wiss. (1929), der die Herkunft dieses Schlagwortes aus der Kulturkampf-Stimmung der
Zeit nach 1870 nachgewiesen hat, freilich ohne gegen seine uneingeschränkte Geltung auch
nur den leisesten Verdacht zu schöpfen.
57 H. Sedlmayr: Kunst und Wahrheit (1959).
det und vorgefaßten Absichten dienstbar macht. Die Reflexion deckt nur die
Bedingungen auf, unter denen Verstehenjeweils steht und die immer schon
- als unser) Vorverständnis ( - in Anwendung sind, wenn wir uns um die
Aussage eines Textes bemühen. Das hat keineswegs den Sinn, daß man die
>Geisteswissenschaften( als die Jungenauen( Wissenschaften in all ihrer be-
dauerlichen Mangelhaftigkeit weitervegetieren lassen muß, solange sie sich
nicht zur seienee erheben und der unity ofseience eingegliedert werden können.
Vielmehr wird eine philosophische Hermeneutik zu dem Ergebnis kom-
men, daß Verstehen nur so möglich ist, daß der Verstehende seine eigenen
Voraussetzungen ins Spiel bringt. Der produktive Beitrag des Interpreten
gehört auf eine unaufhebbare Weise zum Sinn des Verstehens selber. Das
legitimiert nicht das Private und Arbiträre subjektiver Voreingcnommen-
heiten, da die Sache, um die es jeweils geht, - der Text, den man verstehen
möchte - der alleinige Maßstab ist, den man gelten läßt. Wohl aber ist der
unaufhebbare, notwendige Abstand der Zeiten, der Kulturen, der Klassen,
der Rassen - oder selbst der Personen - ein übersubjektives Moment, das
jedem Verstehen Spannung und Leben leiht. Man kann diesen Sachverhalt
auch so beschreiben, daß Interpret und Text je ihren eigenen )Horizont<
besitzen und daß jegliches Verstehen eine Verschmelzung dieser Horizonte
darstellt. So hat sich sowohl in der neutestamentlichen Wissenschaft (vor
allem bei E. Fuchs und G. Ebeling) als auch beispiel weise in dem literary
criticisf1l aber auch in der philosophischen Fortentwicklung des Heidegger-
J
5Y KO. Apel: Wittgenstein und das Problem des Verstehens. Z. Thcol. Kirche 63 (1966)
Uetzt in: Transformation der Philosophie. Frankfurt 1973, Bd. I, S. 335-377].
110 Vorstufen
60 Vgl. die Beiträge in )Hermeneutik und Dialektik( und mein Nachwort zu >Wahrheit
und Methode< (31972), in diesem Band S. 449 ff.
Klassische und philosophische Hermeneutik 111
auf die Sprache des täglichen Lebens, von den Erfahrungswissenschaften auf
die Erfahrung der >Lebenswelt< (Husserl), lag, daß die Hermeneutik, statt
sich der )Logik< unterzuordnen, auf die ältere Tradition der Rhetorik zurück-
orientieren mußte, mit der sie ehedem, wie oben gezeigt6 \ eng verknüpft
war. Sie nimmt damit einen Faden wieder auf, der im 18. Jahrhundert
abgebrochen war. Damals hatte vor allem G. B. Vico die alte rhetorische
Tradition, die er als Professor der Rhetorik in Neapel vertrat, gegenüber
dem Monopolanspruch der )modernen< Wissenschaft verteidigt, die er critica
nannte. Insbesondere wurde die Bedeutung der Rhetorik ftir die Erziehung
und die Ausbildung des sensus communis von ihm hervorgehoben, und in der
Tat teilt die Hermeneutik mit der Rhetorik die RoUe, die das eikos, das
persuasive Argument spielt. Die Tradition der Rhetorik, die in Deutschland-
trotz Herder - im 18. Jahrhundert besonders gründlich abbrach, ist jedoch
auf unerkannte Weise im Bereich der Ästhetik wie der Hermeneutik wirk-
sam geblieben, wie Kl. Dockhorn vor allem gezeigt har". Gegenüber den
Monopolansprüchen der modernen mathematischen Logik und ihrer Fort-
entwicklung melden sich daher auch in unserer Zeit von der Rhetorik und
der forensischen Rationalität aus die Widerstände, so durch eh. Perelman
und seine Schule63 •
Doch schließt sich daran noch eine weit umfassendere Dimension des
hermeneutischen Problems, die mit der Zentralstellung zusammenhängt,
die die Sprache im hermeneutischen Bereich einnimmt. Sprache ist nicht nur
ein Medium unter anderen - innerhalb der Welt der )symbolischen Formen<
(Cassirer) -, sondern steht in besonderer Beziehung zur potentiellen Ge-
meinsamkeit der Vernunft. Es ist Vernunft, was sich in Sprache kommuni-
kativ aktualisiert, wie schon R. Hönigswald betont hat: Die Sprache ist nicht
nur )Faktum<, sondern )Prinzip<. Daraufberuht die Universalität der herme-
neutischen Dimension. Solche Universalität begegnet bereits in der Bedeu-
tungslehre von Augustinus und Thomas, sofern sie die Bedeutung der
Zeichen (der Worte) durch die Bedeutung der Sachen überboten sahen und
damit das Hinausgehen über den sensus litteralis rechtfertigten. Die Herme-
neutik wird dem heute gewiß nicht einfach folgen können, d. h. sie wird
keine neue Allegorese inthronisieren. Dafür wäre eine Sprache der Schöp-
fung vorausgesetzt, durch die Gott zu uns spricht. Wohl aber ist der Erwä-
gung nicht auszuweichen, daß nicht nur in Rede und Schrift, sondern in alle
menschliche Schöpfungen }Sinn< eingegangen ist, den herauszulesen eine
hermeneutische Aufgabe ist. Dem hat Hege! mit seiner Lehre vom >objekti-
Yen Geist{ Ausdruck gegeben, und dieser Teil seiner Geistesphilosophie ist
auch unabhängig von seinem dialektischen Systemganzen lebendig geblie-
ben (v gl. etwa Nicolai Hartmanns Lehre vom objektiven Geist und den
Idealismus Croces und Gentiles). Nicht nur die Sprache der Kunst stellt
legitime Verständnis ansprüche, sondern jegliche Form menschlicher Kul-
turschöpfung überhaupt. Ja, die Frage weitet sich aus. Was gehört nicht alles
zu unserer sprachlich verfaßten Weltorientierung? Alle Welterkenntnis des
Menschen ist sprachlich vcrnlittelt. Eine erste Weltorientierung vollendet
sich in1 Sprechenlernen. Aber nicht nur das. Die Sprachlichkeit unseres In-
der-Weit-Seins artikuliert am Ende den ganzen Bereich der Erfahrung. Die
Logik der Induktion, die Aristoteles beschreibt und die F. Bacon zur Grund-
legung der neuen Erfahrungswissenschaften ausgebaut hatM , mag als logi-
sche Theorie der wissenschaftlichen Erfahrung unbefriedigend sein und der
Korrektur bedürfen'" - die Sachnähe zur sprachlichen Weltartikulation tritt
an ihr glänzend heraus. Schon Themistius hat in seinem Aristoteleskom-
mentar das einschlägige Kapitel des Aristoteles (An. Post B 19) durch das
Sprechenlernen illustriert und in dieses Gebiet hat die moderne Linguistik
(Chomsky) und Psychologie (Piaget) neue Schritte getan. Doch gilt es in
noch viel weiterem Sinne: Alle Erfahrung vollzieht sich in beständiger
kommunikativer Fortbildung unserer Welterkenntnis. Sie ist selber stets
Erkenntnis von Erkanntem in einem viel tieferen und allgemeineren Sinne,
als die VOn A. Boeckh rur das Geschäft des Philologen geprägte Formel es
meinte. Denn die Überlieferung, in der wir leben, ist nicht eine sogenannte
kulturelle Überlieferung, die aus Texten und Denkmälern allein bestünde
und einen sprachlich verfaßten oder geschichtlich dokumentierten Sinn
vermittelte, während die realen Determinanten unseres Lebens, Produk-
tionsbedingungen usw., >draußen< blieben: Vielmehr wird uns die konlmu-
nikativ erfahrene Welt selbst als eine offene Totalität beständig übergeben,
traditur. Das ist nichts als Erfahrung. Sie ist überall da, wo Welt erfahren,
Unvertrautheit aufgehoben wird, wo Einleuchten, Einsehen, Aneignung
erfolgt, und am Ende liegt die vornehmste Aufgabe der Hermeneutik als
philosophischer Theorie darin, zu zeigen, daß erst die Integration aller
Erkenntnis der Wissenschaft in das persönliche Wissen des Einzelnen >Erfah-
rung< heißen kann, wie Polanyi gezeigt hat. 66
So betrifft die hermeneutische Dimension im besonderen die Arbeit des
philosophischen Begriffs, die durch die Jahrtausende geht. Als Überliefe-
rung denkender Erfahrung muß sie als ein einziges großes Gespräch verstan-
den werden, an demjede Gegenvnrt teilnimmt und das sie nicht aufüberle-
und Ideologiekritik (1971); Hans Albert: Konstruktion und Kritik (1972). [Auch Haber-
mas' spätere Arbeiten diskutieren die Hermeneutik. Vgl. ,Theorie des kommunikativen
Handelns( 2 Bde. Frankfurt 1981, I, S. 143 und 192 ff.].
71 P. Ricoeur: De l'interpretation. Essai sur Freud (1965, dt. 1969); Le conflit des
den begriff zu legitimieren suchte. Man schelte das nicht als bloße rhetorische
Aufmachung. Ohne eine solche gibt es keine Kommunikation, auch nicht in
philosophischen und wissenschaftlichen Beiträgen, die sich alle mit rhetori-
schen Mitteln zur Geltung bringen müssen. Die ganze Geschichte des Den-
kens bestätigt die antike Nachbarschaft zwischen Rhetorik und Hermeneu-
tik. Doch enthält Hermeneutik stets ein Element, das über die bloße Rheto-
rik hinausgeht: Sie schließt stets eine Begegnung mit den Meinungen des
anderen ein, die ihrerseits zu Worte kommen. Das gilt auch rur zu verstehen-
de Texte, wie rur alle anderen kulturellen Schöpfungen dieser Art. Sie
müssen ihre eigene Überzeugungskraft entfalten, um verstanden zu werden.
Die Hermeneutik ist deshalb Philosophie, weil sie sich nicht darauf be-
schränken läßt, eine Kunstlchre zu sein, die die Meinungen eines anderen
mU[1 versteht. Die hermeneutische Reflexion schließt vielmehr ein, daß in
allem Verstehen von etwas Anderem oder eines Anderen Selbstkritik vor
sich geht. Wer versteht, nimmt keine überlegene Position in Anspruch,
sondern gesteht zu, daß die eigene vermeintliche Wahrheit auf die Probe
gestellt wird. Das ist in allem Verstehen mit eingeschlossen, und deshalb
trägt jedes Verstehen dazu bei, das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein
fortzubilden.
Das Grundmodell aller Verständigung ist der Dialog, das Gespräch. Ein
Gespräch ist bekanntlich nicht möglich, wenn einer der Partner sich unbe-
dingt in einer überlegenen Position glaubt, im Vergleich mit dem anderen,
etwa so, daß er ein vorgängiges Wissen über die Vorurteile zu besitzen
behauptet, in denen der andere befangen ist. Er schließt sich damit in seine
eigenen Vorurteile ein. Dialogische Verständigung ist im Prinzip unmög-
lich, wenn einer der Partner des Dialoges sich nicht v.;irklich rur das Ge-
spräch freiläßt. So ein Fall liegt z. B. vor, wenn einer im gesellschaftlichen
Umgang den Psychologen oder Psychoanalytiker spielt und die Aussagen
eines anderen nicht in ihrem Sinne erns t nimmt, sondern auf psychoanalyti-
sche Weise zu durchschauen beansprucht. Die Partnerschaft, auf der gesell-
schaftliches Leben beruht, ist in solchem Falle zerstört. Die Problematik ist
vor allem von seiten Paul Ricoeurs einer systematischen Diskussion unter-
zogen worden, wo er von dem >Konflikt der Interpretationen< spricht. Dort
stellt Ricoeur Marx, Nietzsche und Freud auf die eine Seite, die phänomeno-
logische Intentionalität des Verstehens von >Symbolen< auf die andere Seite
und sucht nach einer dialektischen Vermittlung. Auf der einen Seite steht die
genetische Herleitung, als Archäologie, auf der anderen Seite die Orientie-
rung auf einen gemeinten Sinn hin, als Teleologie. In seinen eigenen Augen
ist das nur eine vorbereitende Unterscheidung, die einer allgemeinen Her-
meneutik vorarbeitet. Diese müsse dann die konstitutive Funktion des Ver-
stehens von Symbolen und des Sich-Verstehens mit Hilfe von Symbolen
aufklären. - Eine solche allgemeine hermeneutische Theorie scheint mir
Klassische und philosophische Hermeneutik 117
inkonsistent. Die Weisen des Verstehens von Symbolen, die hier nebenein-
ander gestellt \\rerden, hatten jeweils einen anderen, und nicht den gleichen
Sinn von Symbol im Auge, und konstituieren damit nicht nUr jeweils einen
verschiedenen >Sinn< derselben. Die eine Weise des Verstehens schließt viel-
mehr die andere aus, weil sie etwas anderes meint. Die eine versteht, was das
Symbol sagen will, die andere, was es verbergen und maskieren will. Das ist
ein total verschiedener Sinn von }Verstehen<.
Die Universalität der Hermeneutik hängt letztlich davon ab, wie weit der
theoretische, transzendentale Charakter der Hermeneutik auf ihre Geltung
innerhalb der Wissenschaft beschränkt bleibt oder ob sie auch die Prinzipien
des >Set1SUS cof11fnunis< ausweist und damit die Weise, wie aller Wissenschafts-
gebrauch in das praktische Bewußtsein integriert wird. Die Hermeneutik
rückt - so universal verstanden - in die Nachbarschaft zur >praktischen
Philosophie<, deren Wiederbelebung inmitten der deutschen transzendental-
philosophischen Tradition durch die Arbeiten J. Ritters und seiner Schule
betrieben wird. Die philosophische Hermeneutik ist sich dieser Konsequenz
bewußf4 • Eine Theorie der Praxis des Verstehens ist offensichtlich Theorie
und nicht Praxis, aber eine Theorie der Praxis ist deshalb nicht eine> Technik<
oder eine angebliche Ver'h';ssenschaftlichung der gesellschaftlichen Praxis:
Sie ist eine philosophische Besinnung auf die Grenzen, die aller wissen-
schaftlich-technischen Beherrschung von Natur und Gesellschaft gesetzt
sind. Das sind Wahrheiten, die gegenüber dem neuzeitlichen Wissenschafts-
begriff zu verteidigen eine der wichtigsten Aufgaben einer philosophischen
Hermeneutik ist1 s.
74 Vgl. J. Ritter: Metaphysik und Politik (1969) und M. Riedel: Zur Rehabiliticrung der
1961
Wer das ungeheure Aufsehen miterlebt hat. das das Erscheinen von Rudolf
Bultmanns programmatischem Aufsatz über die Entmythologisierung des
Ncucn Testaments seinerzeit hervorgerufen hat und die bis heute gehende
Fortwirkung desselben bedenkt, kann sich nicht darüber täuschen, daß es
theologische und speziell dogmatische Probleme sind, die hier ins Spiel
kommen. Für den Kenner der theologischen Arbeit Bultmanns war dieser
Aufsatz alles andere als sensationell. Er formulierte nur, was in der exegeti-
schen Arbeit des Theologen seit langem geschah. Eben das aber ist der
Punkt, an dem eine philosophische Besinnung zur theologischen Diskussion
beizutragen vermag. Ohne Frage hat das Problem der Entmythologisierung
auch einen allgemeinen hermeneutischen Aspekt. Die theologischen Pro-
bleme betreffen nicht das hermeneutische Phänomen der Entmythologisie-
rung als solches, sondern das dogmatische Resultat derselben: nämlich, ob
die Grenzen dessen, was einer Entmythologisierung verfallt, vom dogmati-
schen Standpunkte der protestantischen Theologie aus bei Bultmann richtig
gezogen sind oder nicht. - Die folgenden Erörterungen wollen den herme-
neutischen Aspekt des Problems unter einem Gesichtspunkt beleuchten, der
mir bisher noch nicht genug zur Geltung gekommen scheint: Sie stellen die
Frage, ob das Verständnis des Neuen Testaments vom Leitbegriff des Selbst-
verständnisses des Glaubens her zureichend verstanden werden kann, oder
ob ein ganz anderes Moment, das das Selbstverständnis des einzelnen, ja sein
Selbstsein überspielt, dabei wirksam ist. In dieser Absicht soll hier das
Verhältnis von Verstehen und Spielen herangezogen werden. Dazu bedarf es
einiger vorbereitender Überlegungen, die dem hermeneutischen Aspekt
seinen Ort anweisen.
Die erste Feststellung, die man dabei machen muß, ist, daß Verstehen als
hermeneutische Aufgabe stets schon eine Dimension der Reflexion ein-
schließt. Verstehen ist keine bloße Reproduktion einer Erkenntnis, d. h.
nicht ein bloßer wiederholter Vollzug derselben, sondern ist sich der Wie-
derholtheit ihres Vollzuges selber bewußt. Es ist, wie schon August Boeckh
122 Ergänzungen
begrenzt sich durch die andere Bestimmung der Geworfenheit, durch die
nicht nur die Schranken eines souveränen Selbstbesitzes bezeichnet sind.
sondern auch die positiven Möglichkeiten geöffnet und bestimmt werden,
die unser sind. Der Begriff des Selbstverständnisses, in gewisser Weise ein
Erbstück des transzendentalen Idealismus und als solcher in unserer Zeit
schon durch Husserl verbreitet, gewinnt bei Heidegger erst seine wahre
Geschichtlichkeit und wird damit auch rur das theologische Anliegen tragfa-
hig, das Selbstverständnis des Glaubens zu formulieren. Denn nicht ein
souveränes Mit-sich-selbst-Vermitteltsein des Selbstbewußtseins, sondern
die Erfahrung seiner selbst, die einem geschieht und die im besonderen,
theologisch gesehen, im Anruf der Verkündigung geschieht, kann dem
Selbstverständnis des Glaubens den falschen Anspruch einer gnostischen
Selbstgewißheit nehmen.
Gerhard Krüger hat schon früh in einem Aufsatz über Kar! Barths ,Rö-
merbrief< den Ansatz der dialektischen Theologie in dieser Richtung Zu
radikalisieren versuchtl, und die Marburgcr Jahre Heideggers gewannen viel
von ihrer unvergeßlichen Spannung durch den theologischen Gewinn, den
Rudolf Bultmann aus Hcideggers Kritik am objektivistischen Subjektivis-
mus der Neuzeit zog.
Indessen ist Heidegger bei dem transzendentalen Schema, das auch den
Begriff des Selbstverständnisses in ,Sein und Zeit< noch bestimmte, nicht
stehengeblieben. Schon in .Sein und Zeit< war die eigentliche Frage nicht, auf
welchc Weise >Sein< verstanden werden kann, sondern in welcher Weise
Verstehen >Sein< ist. Seinsverständnis stellt die existentiale Auszeichnung des
menschlichen Daseins dar. Schon hier also ist Scin nicht als das Resultat der
objektivierenden Leistung des Bewußtseins verstanden, wie das noch in
Husserls Phänomenologie der Fall war. Vielmehr dringt die Frage nach dem
Sein in eine ganz andere Dimension ein, wenn sie das Sein des sich verstehen-
den Daseins selbst anvisiert. Das transzendentale Schema muß da am Ende
scheitern. Das unendliche Gegenüber des transzendentalen Ego wird in die
ontologische Fragestellung hineingenommen. In diesem Sinn beginnt schon
>Sein und Zeit( jene Seins vergessenheit aufzuheben, die Heidegger später als
das Wesen der Metaphysik bezeichnet hat. Was er >die Kehre( nennt, ist nur
die Anerkennung der Unmöglichkeit, die transzendentale Seinsvergessen-
heit in transzendentaler Reflexion zu überwinden. Insofern stecken all die
späteren Begriffe von >Seinsgeschehen< , vom >Da< als der )Lichtung< des
Seins usw. bereits als Konsequenz im ersten Ansatz von >Sein und Zeit<.
Die Rolle, die das Geheimnis der Sprache im späteren Denken Heideggers
spielt, lehrt zur Genüge, daß die Vertiefung in die Geschichtlichkeit des
Selbstverständnisses nicht nur den Begriff des Bewußtseins, sondern auch
1 [VgL meine Arbeit >Zwischen den Zeiten!, Universitas 27 (1972), S. 1221-1227,
den Begriff der Selbstheit aus seiner zentralen Position vertrieben hat. Denn
was ist be\\'ußtloser und selbstloser als jener geheimnisvolle Bezirk der
Sprache, in dem wir stehen und der, was ist, zu Worte kommen läßt, so daß
Sein )sich zeitigt<? Was aber so von dem Geheimnis der Sprache gilt, das gilt
auch von dem Begriff des Verstehens. Auch dies ist nicht als eine einfache
Tätigkeit des verstehenden Bewußtseins zu fassen, sondern als eine Weise
des Seinsgeschehens selber. Ganz formell gesprochen weist der Primat, den
Sprache und Verstehen in Heideggers Denken besitzen, auf die Vorgängig-
keit des >Verhältnisses< gegenüber seinen Beziehungsgliedern, dem Ich, das
versteht, und dem, was verstanden wird. Gleichwohl scheint es mir mög-
lich, und ich habe diesen Versuch in >Wahrheit und Methode' durchgeftihrt,
Heideggers Aussagen über >das Sein, und die aus der Erfahrung der >Kehre'
entwickelte Fragerichtung im hermeneutischen Bewußtsein selber zur Aus-
weisung zu bringen. Das Verhältnis von Verstehen und Verstandenem hat
vor dem Verstehen und dem Verstandenen den Primat, genau wie das
Verhältnis von Sprechendem und Gesprochenem auf einen Bewegungsvoll-
zug weist, der weder im einen noch im anderen Gliede der Relation seine
feste Basis hat. Verstehen ist nicht mit jener selbstverständlichen Sicherheit
Selbstverständnis, mit der es der Idealismus behauptete, aber auch nicht mit
jener revolutionären Kritik am Idealismus erschöpft, die den Begriff des
Selbstverständnisses als etwas denkt, das dem Selbst geschieht, und durch
das es zum eigentlichen Selbst wird, Ich glaube vielmehr, daß im Verstehen
ein Moment der Selbst-losigkeit ist, das auch ftir eine theologische Herme-
neutik Beachtung verdient und das am Leitfaden der Struktur des Spieles
untersucht werden sollte.
Hier nun sieht man sich unmittelbar auf die Antike zurückverwiesen und
auf das eigentümliche Verhältnis von Mythos und Logos, das am Anfang des
griechischen Denkens steht. Das geläufige Aufklärungsschema, demzufolge
der Vorgang der Entzauberung der Welt mit Notwendigkeit vom Mythos
zum Logos fuhrt, scheint mir ein modernes Vorurteil. Legt man dieses
Schema zugrunde, wird es z. B. unbegreiflich, wie die attische Philosophie
sich den Tendenzen der griechischen Aufklärung entgegenstellen und zwi-
schen religiöser Tradition und philosophischem Gedanken eine säkulare
Versöhnung begründen konnte. Wir verdanken Gerhard Krüger die mei-
sterhafte AufheBung der religiösen Voraussetzungen des griechischen und
insbesondere des platonischen Philosophierens, 2 Die Geschichte von My-
thos und Logos im ursprünglichen Griechenland hat eine ganz anders kom-
plizierte Struktur, als das Scliema der Aufklärung nahelegt. Man kann
2 [G. Krüger, )Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens.<
Frankfurt 1939, 51983 und meine Arbeit )Philosophie und Religion< (bisher ungcdruckt) in
Ges. Werke Bd. 7]
Zur Problematik des Selbstverständnisses 127
angesichts dieser Tatsache sogar das große Mißtrauen begreifen, das die
altertums wissenschaftliche Forschung dem religiösen Quellenwert des My-
thos gegenüber nährt, und den Vorzug, den sie den stabilen Formen der
kultischen Tradition zugesteht. Denn die Wandlungsfahigkeit des Mythos,
seine Offenheit fur immer neue Interpretationen durch die Dichter, zwingt
schließlich zu der Einsicht, daß es eine falsch gestellte Frage ist, in welchem
Sinne ein solcher antiker Mythos )geglaubt< worden ist, und ob er etwa dort
schon nicht mehr geglaubt wird, wo er ins dichterische Spiel eingeht. In
Wahrheit ist der Mythos dem denkenden Bewußtsein so innerlich verwandt,
daß selbst die philosophische Explikation des Mythos in der Sprache des
Begriffes nichts wesenhaft Neues hinzu bringt zu jenem beständigen Hin
und Her zwischen Endeckung und Verhüllung, zwischen ehrfurchtsvoller
Scheu und geistiger Freiheit, der die gesamte Geschichte des griechischen
Mythos begleitet. Es ist nützlich, sich daran zu erinnern, wenn man jenen
Begriff von Mythos richtig verstehen \-vill, der in Bultmanns Programm der
Entmythologisierung impliziert ist. Was Bultmann dort das mythische
Weltbild nennt und mit dem Weltbild der Wissenschaft kontrastiert, das als
Weltbild uns allen wahr erscheinen kann, hat schwerlich den Ton von
Endgültigkeit, den man ihm in dem Streit um dieses Programm verliehen
hat. Im Grunde ist das Verhältnis eines christlichen Theologen zur biblischen
Tradition nicht so grundverschieden von dem des Griechen zu seinen My-
then. Die zufallige und in gewissem Sinne gelegentliche Formulierung des
Begriffs der Entmythologisierung, die Bultmann vornahm, in Wahrheit die
Summe seiner gesamten exegetischen Theologie, hatte alles andere als einen
aufklärerischen Sinn. Der Schüler der liberalen historischen BibehJ.,issen-
schaft suchte vielmehr in der biblischen Überlieferung das, was sich gegen
alle historische Aufklärung behauptet, das, was der eigentliche Träger der
Verkündigung, des Kerygmas, ist und den eigentlichen Anruf des Glaubens
darstellt.
Es ist dieses positive dogmatische Interesse, das den Bultmannschen
Begriff prägt, und nicht das Interesse einer fortschreitenden Aufklärung.
Sein Begriff des Mythos ist also ein ganz deskriptiver Begriff. Ihm haftet
etwas Geschichtlich-Zufalliges an, und jedenfalls handelt es sich, so funda-
mental das theologische Problem sein mag, das in dem Begriff einer Entmy-
thologisierung des Neuen Testaments liegt, dabei um eine Frage der prakti-
schen Exegese, die das hermeneutische Prinzip aller Exegese in keinem Falle
berührt. Sein hermeneutischer Sinn ist vielmehr gerade darin beschlossen,
daß man keinen bestimmten Begriff von Mythos dogmatisch fixieren darf,
von dem aus man ein ftif allemal festzulegen hat, was und was nicht inner-
halb der Heiligen Schrift rur den modernen Menschen durch die wissen-
schaftliche Aufklärung als bloßer Mythos entlarvt worden ist. Nicht von der
modernen Wissenschaft aus, sondern positiv, von der Aufnahme des Keryg-
128 Ergänzungen
mas her, vom inneren Anspruch des Glaubens aus, muß sich bestimmen,
was bloßer Mythos ist. Ein anderes Beispiel solcher .Entmythologisierung,
ist eben die große Freiheit, die der griechische Dichter angesichts der m ythi-
sehen lradition seines Volkes besaß und betätigte. Auch sie ist nicht ,Aufklä-
rung<, Es ist ein religiöser Grund, auf dem der Dichter seine geistige Kraft
und sein kritisches Recht ausübt. Man denke nur an Pindar oder an Aischv-
los. So ergibt sich die Notwendigkeit, über die Beziehung, die zwisch~n
Glauben und Verstehen statthat, einmal im Blick auf die Freiheit des Spieles
nachzudenken.
Den tödlichen Ernst des Glaubens und die Beliebigkeit des Spiels zusam-
menzubringen. mag zunächst überraschend scheinen. In der Tat würde sich
der Sinn dieser Gegenüberstellung völlig aufheben, wenn man in der übli-
chen Weise unter Spiel und Spielen ein subjektives Verhalten verstünde und
nicht Vielmehr ein dynamisches Ganzes sui generis, das seinerseits auch die
Subjektivität dessen, der spielt, in sich einbezieht. Nun scheint mir gerade
ein solcher Begriff des Spiels, wie ich in meinem Buche gezeigt zu haben
hoffe', der eigentlich legitime und ursprüngliche zu sein. und deshalb ist der
Beziehung zv.Tischen Glauben und Verstehen unter dem Gesichtspunkt des
Spieles wirkliche Aufmerksamkeit zu schenken.
Das Hin und Her einer Bewegung, die innerhalb eines gegebenen Spiel-
raums abläuft, ist so wenig von dem menschlichen Spiel und von dem
spielenden Verhalten der Subjektivität abgeleitet, daß ganz im Gegenteil
auch fUr die menschliche Subjektivität die eigentliche Erfahrung des Spieles
darin besteht, daß hier etwas zur Herrschaft kommt, was ganz seiner eigenen
Gesetzlichkeit gehorcht. Der Bewegung in einer bestimmten Richtung ent-
spricht eine Bewegung in entgegengesetzter Richtung. Es bestimmt das
Bewußtsein des Spielenden, daß das Hin und Her der Spielbewegung von
einer Sonderbaren Freiheit und Leichtigkeit ist. Es geht wie von selber - ein
Zustand schwerelosen Gleichgewichts IIWÜ sich das reine Zuwenig unbe-
greiflich verwandelt -, umspringt in jenes leere Zuvie1«(Rilke). Noch die
Steigerung seiner Leistung, welche dem einzelnen aus der Wettkampfsitua-
tion Zllströmt, hat etwas wie Ergriffensein von der Leichtigkeit des Spieles,
in dem er seine Rolle hat. Was immer ins Spiel gebracht wird oder im Spiele
ist, hängt nicht mehr von sich selbst ab, sondern wird eben von dem
Verhältnis beherrscht, das wir Spiel nennen. Für den einzelnen, der als
spielende Subjektivität sich auf das Spiel einläßt. mag sich das zunächst wie
eine Anpassung ausnehmen. Man fUgt sich in das Spiel ein oder unterwirft
sich ihm, d. h. man verzichtet auf die Autonomie der eigenen Willensmacht.
Zwei Männer z. B., die miteinander eine Baumsäge fUhren, lassen das freie
Spiel der Säge dadurch möglich werden, daß sie, 'Nie es scheint, sich wech-
sertation von Renate Knall: )J.G. Hamann und Fr. H.Jacobi( Heidelb. Forschg. 7, 1963.
[Zum Ausdruck )Selbstverständnis< vgl. )Heideggers Wege<, S. 35ff. und Anm. 1O,jetzt
in Ges. Werke, Bd. 3.]
Zur Problematik des Selbstverständnisses 131
tungen von Worten wächst gleichsam spielend aus dem Situationswert der
Worte hervor. Genau wie die Schrift eine Festlegung des Lautbestandes der
Sprache darstellt und eben damit auf die Lautgestalt der Sprache selber
artikulierend zurückwirkt, ist auch das ein Hin und Her, worin das lebendi-
ge Sprechen und das Leben der Sprache sein Spiel hat. Niemand legt die
Bedeutung eines Wortes fest, und Sprechenkönnen heißt ganz gewiß nicht
allein, die festen Bedeutungen der Worte richtig erlernt haben und gebrau-
chen. Das Leben der Sprache besteht vielmehr in dem beständigen Weiter-
spielen des Spieles, das wir begannen, als wir sprechen lernten. Neuer
Wortgebrauch spielt sich ein und ebenso ungeachtet und ungewollt ge-
schieht das Absterben alter Worte. Es ist dieses fortspielende Spiel, in dem
sich das Miteinandersein der Menschen abspielt. Die Verständigung, die im
Miteinandersprechen geschieht, ist selber wieder ein Spiel. Wenn zwei mit-
einander sprechen, so sprechen sie dieselbe Sprache. Daß sie diese Sprache
weiterspie1en, indem sie sie sprechen, wissen sie selbst in keiner Weise. Sie
sprechen aber auch jeder ihre eigene Sprache. Die Verständigung geschieht
dadurch, daß Rede gegen Rede steht, aber nicht stehen bleibt. Im Miteinan-
dersprechen treten wir vielmehr ständig in die Vorstellungswelt des anderen
über, lassen uns gleichsam auf ihn ein und er sich auf uns. So spielen wir uns
aufeinander ein, bis das Spiel des Gebens und Nehmens, das eigentliche
Ges präeh, beginnt. Niemand kann leugnen, daß in solchem wirklichen
Gespräch etwas von dem Zufall, der Gunst der Überraschung, am Ende
auch der Leichtigkeit, ja der Erhebung ist, die zum Wesen des Spieles
gehören. Und wahrlich wird die Erhebung des Gespräches nicht als Verlust
des Se1bstbesitzes erfahren, sondern, auch ohne daß wir unserer selbst dabei
gewahr werden, als eine Bereicherung unserer selbst.
Nun scheint mir Ähnliches ftir den Umgang mit Texten zu gelten und
damit auch ftir das Verständnis der Verkündigung, die in der Heiligen Schrift
aufbewahrt ist. Das Leben der Überlieferung und erst recht das der Verkün-
digung besteht in solchem Spiel des Verstehens. Solange ein Text stumm ist,
hat sein Verständnis noch gar nicht begonnen. Aber ein Text kann zu reden
beginnen. (Wir sprechen hier nicht davon, welche Voraussetzungen daftir
gegeben sein müssen.) Dann aber sagt er nicht nur sein Wort, immer
dasselbe, in lebloser Starrheit, sondern gibt immer neue Antworten dem,
der ihn fragt, und stellt immer neue Fragen dem, der ihm antwortet.
Verstehen von Texten ist ein Sich verständigen in einer Art Gespräch. Das
bestätigt sich darin, daß sich im konkreten Umgang mit einem Texte das
Verständnis erst dann ganz ergibt, wenn das in ihm Gesagte sich in der
eigenen Sprache des Interpreten zur Aussage zu bringen vermag. Die Ausle-
gung gehört zur wesenhaften Einheit des Verstehens. Das, was einem gesagt
wird, muß man so in sich aufnehmen, daß es in den eigenen Worten der
eigenen Sprache spricht und Antwort findet. VoIlends gilt das rur den Text
132 Ergänzungen
einer historischen Tatsache wird etwas, was geschehen ist, durch den Bezug,
den es zu einem Wertsystem hat. Einer solchen Legitimierung der geschicht-
lichen Erkenntnis lag der Begriff der Kultureinheit und ihrer systematischen
Selbstauffassung in einer Philosophie der Werte zugrunde. Hier kann man
die kritische Frage stellen, inwieweit die wirkliche Geschichte in ihrer Gc-
schichtlichkeit so überhaupt gesichtet ""vird und nicht vielleicht nur das an
der Geschichte, was sich in einen Bereich unwandelbarer Geltung erheben
läßt.
Wenn wir auf der anderen Seite den entschiedenen Gegner dieser erkennt-
nistheoretischen Geschichtsphilosophie des Neukantianismus, Wilhelm
Dilthey, an den Konsequenzen seines eigenen Ansatzes bei einer geisteswis-
senschaftlichen Psychologie prüfen, so sehen wir, daß er zwar wirklich nach
der Wesensstruktur des Geschichtsverlaufs fragt und die in die Zeit gestreute
Kontinuität des Geschichtszusammenhangs mit angemessenen Begriffen zu
formulieren versucht. Aber der Ausgangspunkt fur dieses Unternehmen
bleibt bei Dilthey immer noch die Psychologie, die innere Selbstvergewisse-
rung des Menschen, die in seinen eigenen Erlebnissen liegt. Sie sollte auch
die Kontinuität des geschichdichen Geschehens legitimieren. Nun hat solche
Sc1bstvergewisserung der Kontinuität eines Geschehens ihre vorzüglichste
Ausprägung und ihre sogar literarisch fest gewordene AusfUhrung in der
Autobiographie. Dort begegnet wirklich der Versuch, aus der Fülle der
Erlebnisse, ihrer Abfolge und den Konstellationen, unter denen das eigene
Leben gestanden hat, im Rückblick so etwas wie einen Sinnzusammenhang,
die Einheit eines lebensgeschichtlichen Ganzen zu gewinnen. Aber es ist
doch unleugbar, daß Autobiographie das, was wir Geschichte nennen, nur
in partikularem Aspekt spiegelt. Was in der Autobiographie verstanden
\vird, steht ja immer im intimen Licht der Selbstdeutung des Betrachters. Es
ist erlebte Vergangenheit und selbsterlcbte Geschichte, die sich im Rückblick
zur verständlichen Einheit zusammenschließt. Auch wenn man das ganze
schwierige Problem der Selbsterkenntnis beiseiteläßt, bleibt dabei ganz
unklar, wie sich von dieser psychologischen Erlebniskontinuität aus jene in
ganz anderem, großem Maßstab gehaltene der geschichtlichen Zusammen-
hänge eigentlich ergeben soll.
Die Kritik, die an dem geschichtsphilosophischen Denken des 19. Jahr-
hunderts und insbesondere an den beiden gekennzeichneten Positionen Uil-
seresJahrhunderts geübt wurde, ist mit dem Stichwort: ,der Augenblick der
Existenv mindestens angezeigt. Das eigentliche Urfaktum, um das es hier
geht, ist offenbar nicht die Frage: wie ist ein Zusammenhang der Geschichte
rur unser erinnerndes und vergegenwärtigendes Bewußtsein legitim er-
kennbar und aussagbar? Das eigentliche Problem, das sich hier stellt und als
das der Geschichte erkannt wird, findet in dem Begriff der Geschicht{ichkeit
seinen Ausdruck.
Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz 135
Dieses Wort, das ja in einem schlichten Sinn längst üblich "var, ist insbe-
sondere durch den Grafen Yorck von Wartenburg, den philosophischen
Freund Wilhelm Diltheys, zum Begriff geprägt worden und durch Dilthey
in Umlauf gekommen, um schließlich in der Pliilosophie unseres Jarhun-
derts durch Heidegger und Jas pers seine besondere Zuspitzung zu erfahren.
Das Neue ist, daß dieser Begriff der Geschichtlichkcit eine ontologische
Aussage enthält. Schon Yorck sprach von dem )generischen Unterschied
von Ontischem und Historischemc Der Begriff der Geschichtlichkeit will
nicht etwas über einen Geschehenszusammenhang aussagen, daß es wirklich
so war, sondern über die Seins weise des Menschen, der in der Geschichte
steht und in seinem Sein selber von Grund auf nur durch den Begriff der
Geschichtlichkeit verstanden werden kann.
Auch der Begriff des Augenblicks gehört in diesen Zusammenhang. Er
meint nicht einen überhaupt geschichtlich bedeutenden, entscheidenden
Zeitpunkt, sondern den Augenblick, in dem die Geschichtlichkeit des
menschlichen Daseins erfahren wird.
In der Theologie hat der Begriff der Gcschichtlichkeit vor allem dank
Rudolf Bultmann Eingang gefunden. In seiner ungeheuer gelehrten und
konsequent durchgefuhrten exegetischen Arbeit stellten die Einsicht in die
Geschichtlichkcit des menschlichen Daseins und der Augenblick der Ent-
scheidung geradezu die Leitbegriffe dar. So wurde etwa amJohannesevan-
gelium die Frage der erwarteten Endzeit, wie sie in der mythischen Verklä-
rung der Abschiedsreden leuchtet, exegetisch auf den eschatologischen Au-
genblick reduziert, der jeden Augenblick sein kann und der als der Augen-
blick der Glaubensentscheidung Annahme oder Ablehnung der christlichen
Botschaft meint. Es ist also ein wirklich aktuelles Thema, das mit diesem
Begriff Zur Diskussion steht und das seinen veränderten Akzent darin hat,
daß uns, im Rückschlag zu jener radikalen Zuspitzung der Geschichtlichkeit
auf den )Augenblick<, die Kontinuität der Geschichte erneut zum Problem
geworden ist.
Die Kontinuität der Geschichte weist zurück auf das Rätsel der verfließen-
den Zeit. Daß die Zeit kein Stehen kennt, ist ja das alte Problem der
aristotelischen und der augustinischen Zeitanalyse. Insbesondere die letztere
fuhrt uns die ontologische Verlegenheit vor, die das griechische, das antike
Denken überfällt, wenn es aussagen soll, was die Zeit ist. Was ist das, was in
keinem Augenblick wahrhaft als das, was da ist, mit sich selber identifiziert
werden kann? Denn selbst das Jetzt ist in dem Augenblick, in dem ich es als
Jetzt identifiziere, schon nicht mehr jetzt. Das Abrollen der Jetzte in eine
unendliche Vergangenheit, das Heranrollen aus einer unendlichen Zukunft,
läßt die Frage nach dem, was jetzt ist und was dieser fluß der vergehenden,
der kommenden und vergehenden Zeit eigentlich ist, ratlos.
Die ontologische Problematik der Zeit besteht also darin, daß ihr eigenes
136 Ergänzungen
Sein mit den Mitteln der Seinsphilosophie, die das Altertum entwickelt
hatte, nicht sag bar und nicht bcgreifbar war. Mir scheint, daß es noch immer
das gleiche Problem ist, das sich in dem Begriff der Kontinuität der Ge-
schichte spiegelt_ Damit soll nicht gesagt sein, daß die Rede von der Konti-
nuität der Geschichte unmittelbar aus jener beständigen Erfahrung der im-
mer wieder abrollenden Jetzte ihre Problematik empfangt. Vielleicht liegt
der Erfahrung von Kontinuität noch etwas ganz anderes zugrunde als die
Erfahrung des unaufhörlichen Verfließens der Zeit_ Die im Fragen nach dem
Sein der Geschichte gefragte Kontinuität der Geschichte gipfelt letzten En-
des darin, daß es aller Vergänglichkeit zum Trotz überhaupt kein Vergehen
gibt, das nicht immer zugleich ein Werden ist_ Darin scheint die Wahrheit des
historischen Bewußtseins zu ihrer Perfektion gekommen, daß es im Verge-
hen immer auch Werden, im Werden immer auch Vergehen gewahrt und
immer wieder aus dem endlosen Vorüberfluten von Veränderungen die
Kontinuität eines geschichtlichen Zusammenhangs aufbaut.
Die Folge einer solchen Grundanschauung ist nun, daß alles, was in
diesem fluß der Geschichte als Vergehen oder was als Werden erfahren wird,
von den Setzungen abhängt, durch die man dieses sozusagen abfließende
Band von Ereignissen artikuliert und differenziert. Es ist ein extremer
Nominalismus der Grundhaltung, der alle Grenzsetzungen innerhalb des
Geschehens, alle bedeutungsmäßigen Auszeichnungen des Geschehens, als
Untergang oder als Aufgang, als Werden oder als Vergehen, in Wahrheit
relativiert. Einteilungen der Geschichte sind Einteilungen unseres Bedeu-
tungsentscheidungen fallenden Bewußtseins_ Weil sie letzten Endes willkür-
lich sind, haben sie keine echte geschichtliche Wirklichkeit_ Von dieser in den
Voraussetzungen der griechischen Ontologie gründenden Anschauung von
der Geschichte gilt es kritisch zurückzutreten und ein Grundphänomen vor
Augen zu stellen, das den falschen nominalistischen Ansatz dieser Betrach-
tungsweise offenlegt.
Es gibt so etwas wie Diskontinuität im Geschehen. Wir kennen Diskonti-
nuität im Geschehen in der Weise der Epochenerfahrung. 5 Daß es so etwas
wirklich gibt, d_ h_ daß das nicht nur unserem nachträglich ordnenden,
klassifizierenden und auf Beherrschung gerichteten Erkenntnisinteresse ent-
springt, sondern eine echte Wirklichkeit der Geschichte selber meint, läßt
sich mit phänomenologischen Mitteln erweisen. Es gibt so etwas wie ur-
sprüngliche Erfalirung eines Epocheneinschnittes_ Die Epochen der Ge-
schichte, die der Historiker unterscheidet, wurzeln in echten Epochenerfah-
rungen und müssen sich am Ende in solchen ausweisen. Zwar ist Epoche
ursprünglich nichts \\'eiter als ein astronomischer Begriff und meint eine
5 {Vgl. dazu meinespätereArbeitl Über leereunderfiillteZeit(, KI. Sehr. III, S. 221- 236,
als Diskontinuität unmittelbar einem jeden begegnet. Zwar haben wir alle
unser Geburtsdatum und leben nach derselben Zeitrechnung, nach der wir
genau auf Tag und Stunde angeben können, wie alt wir sind, und doch ist das
Reifen, ct",.ra das Erwachsenwerden eines Kindes, kein Vorgang, den man
mit dem Mittel des Messens der verfließenden Zeit irgendwie verfolgen
könnte. Denn plötzlich ist das Kind kein Kind mehr, plötzlich ist all das
unwiederholbar vorbei und nicht mehr da, was ehedem das Ganze dieses
vertrauten Wesens ausmachte. Oder ein anderes Beispiel, das uns Älteren
nahe liegt: daß man, \venn man jemanden wiedersieht, das Gefühl hat: ach,
der ist aber alt geworden. Diese Erfahrung meint auch nicht, daß er im
Kontinuum der verfließenden Zeit nun einen bestimmten Punkt erreicht
hat, sondern fur sich selbst und für die, die mit ihm in Berührung waren, ist
er anders geworden. Das Frühere, die Jugend, die Spannkraft früherer Jahre
ist vorbei, mag auch vie11cicht etwas sehr Schönes, vielleicht etwas sehr
Reiches daraus geworden sein, was im Drang der drangvolleren Jahre so
nicht in Erscheinung getreten war.
Oder nehmen wir ein anderes Beispiel, das uns durch die älteren Zeitrech-
nungen besonders vertraut ist. Der Übergang von einer Generation zur
anderen, etwa der Tod eines Herrschers und der Herrschaftsantritt seines
Nachfolgers, sei es in gebundenen Dynastien oder auch in revolutionären
Formen, bedeutet einen Epocheneinschnitt. Daß von einem solchen Ereig-
nis aus datiert wird, geschieht nicht deshalb, weil es besonders bequem und
ftir alle sichtbar ist wie ein Sternenstand, sondern weil es für das Leben der
Menschen eines Volkes in der Tat et\vas derart gemeinsam Bedeutendes ist,
daß alles von nun an anders ist, und das, was vorher war, nicht mehr ist. Die
Epochenerfahrung erfahrt also eine innere Diskontinuität des Geschehens
selber, die nicht erst nachträglich durch historiographische Klassifizierung
registriert wird und legitimationsbedürftig wäre. Ja mehr noch, ich würde
sagen, gerade so erfahrt man die Wirklichkeit der Geschichte. Denn was da
erfahren \vird,ist nicht mehr nur ein in völlige Vergegenwärtigung zu he-
bendes und anzueignendes Gewesenes, sondern etwas, was dadurch, daß es
geschehen ist, da ist und nie ungeschehen gemacht \verden kann.
Das dritte Beispiel, das ich im Auge habe, ist die >absolute Epoche< der
Zeitenwende, jene Epochenerfahrung, die durch Christi Geburt in das anti-
ke Gcschichtsbewußtscin getreten ist. Wenn ich von dieser Erfahrung etwas
sage, so deswegen, weil sie nicht nur aus Gründen religiöser Wahrheit,
sondern aus begriffs geschichtlichen Gründen eine absolute Epochenerfah-
rung heißen muß. Denn mit dieser Erfahrung des neuen Bundes und mit der
christlichen Heilsbotschaft ist die Geschichte als Geschichte in einem neuen
Sinn entdeckt \vorden. Daß Geschichte eine menschliche Schicksalserfah-
rung ist, als das Auf und Ab von Glück und Unglück, als das Sich-Fügen und
Sich-Sperren der Umstände für ein glückliches und gedeihliches Tun oder
Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz 139
für ein schmerzvolles Scheitern - das alles ist selbstverständlich eine ur-
sprüngliche Erfahrung des Menschen. Nur darum kann es gehen, welche
Bedcutungsaspckte für die Deutung dieser Erfahrungen möglich sind und
welchen ncuen Deutungsaspekt die absolute Epochenerfahrung des Chri-
stentums da gebracht haben könnte.
Es liegt nahe, dies Neue mit der griechischen Geschichtserfahrung zu
vergleichen. Wenn wir uns die Erfahrung der Geschichte in der Art, wie sie
die Griechen gedeutet haben, vor Augen stellen und dabei das hervorheben,
was uns die Abhebung des christlichen Geschichtsdenkens ermöglicht, dann
ist bei den Griechen Geschichte letzten Endes als Abweichung von der
Ordnung gedacht.
Das was eigentlich ist, ist die perihodos, die ,Periode<, der sich gleichblei-
bende Umschwung des Himmels. Das was eigentlich ist, sind die bleiben-
den Wahrheiten menschlichen Zusammenlebens, die Sittenordnungen, die
Staatsordnungen, die Völkerordnungen und dergleichen mehr. Kein Den-
kender kann das Sein des menschlichen Daseins anders sehen als im Blick auf
die Konstanten des menschlichen Seins. Ob es die Tafel der Tugendbegriffe
der antiken Ethik ist oder ob es die Ideale eines geordneten Staates, einer
geordneten Polis sind, einer Ordnung, wie sie am Ende der Philosoph in
ihrer höchsten Perfektion vor Augen stellen und dem menschlichen Handeln
zum Vorbild aufrichten soll - Geschichte ist Abweichung von solchen
bleibenden Ordnungen. Sie ist das unaufhebbare Element menschlicher
Unordnung in einem geordneten Ganzen. 6
Demgegenüber ist von dem neuen Geschichtsbewußtsein zu sagen -
wobei ich dahingestellt sein lasse, wie weit es ein jüdisches Geschichtsbe-
wußtsein gab, das dem vorausgeht und das in gewisser Weise durch die
christliche Geschichtserfahrung nur modifiziert und ins Universelle gewen-
det wird -, daß zwar auch nach christlicher Überzeugung eine Ordnung in
der Geschichte nicht erkennbar ist, aber es gibt sie, als eine providentielle
Ordnung, als einen Heilsplan. In dem ständigen Hin und Her und Auf und
Ab des Geschehens mag der Sinn des Ganzen für unsere endliche und
begrenzte Erkenntnismöglichkeit noch so unkenntlich sein, weil wir die
Absichten und das Ziel des Ganzen nicht sehen. Gleichwohl ist mit dem
Heilsglauben der christlichen Verkündigung unaufhebbar gesetzt, daß das
ungeordnet Scheinende in einem höheren Aspekt eine Ordnung besitzt und
daß insofern die Geschichte eine vielleicht nur zu ahnende, jedenfalls aber
eine in der Providenz Gottes unbestreitbar wirkliche Heilsordnung ist.
Es ist sehr eindrucksvoll gezeigt worden, etwa durch Kar! Löwiths Buch
>Weltgeschichte und Heilsgeschehen<, wie dieser christliche Aspekt der Ge-
schichte eine Form der Geschichtsphilosophie heraufgeführt hat, die den
sichtbar geworden - offenbar allein dadurch, daß wir nichts mehr von ihm
erwarten können, nichts mehr von ihnl zu erfahren haben und nichts Liebes
mehr ihm tun dürfen. Die Erfahrung, die ich an diesem extremen Beispiel
beschreibe, scheint mir eine Art Erkenntnis Zu sein. Was da herauskommt,
ist Wahrheit. Es ist nicht die übliche oder sogenannte Beschönigung, von der
hier die Rede ist, sondern es ist dieses Sich-Erheben über das beständig
Variierende und alle festen Grenzsetzungen, alle festen Konturen Verfließen-
de des geschichtlichen Zeitenstromes. Daß hier plötzlich etwas steht und
stehen bleibt, das scheint einer Wahrheit zu Worte zu verhelfen.
Von dieser Seite her ist nun nicht nur die eigentliche Erfahrung der
Diskontinuität, sondern ebenso die der Kontinuität der Geschichte zu ma-
chen. Was ich eben beschrieb, läßt sich in dem Kierkegaardschen Begriff des
,Augenblickes< wiederfinden, in jenem erflillten Blick des Auges, der nieht
mehr eine bloße Marke im gleichmäßigen Verfließen der Veränderung
meint, sondern der zur Wahl nötigt und einmalig ist dadurch, daß er jetzt ist
und nie \J.riederkommt. Von diesem Punkte her wird die Kontinuität der
Geschichte nicht mehr als jenes vergegenwärtigte Kontinuum des ablaufen-
den Zeitgeschehens gedacht, sondern es wird die Frage an die Erfahrung der
Diskontinuität gestellt, wie sie Kontinuität und in welchem Sinne sie Konti-
nuität enthält.
Ich habe in meinen eigenen Versuchen etwa so formuliert: Wenn uns etwas
in der Überlieferung begegnet, so daß wir es verstehen, ist das selber immer
Geschehen. Auch dann geschieht einem etwas, wenn man aus der Überliefe-
rung ein Wort sozusagen annimmt, ein Wort sich sagen läßt. Das ist gewiß
nicht ein Verstehen der Geschichte als eines Verlaufs, sondern ein Verstehen
dessen, was uns in der Geschichte als uns ansprechend und angehend be-
gegnet.
!eh habe daflir den vielleicht etwas zu vieldeutigen Ausdruck gewählt, daß
all unser geschichtliches Verstehen durch ein wirkungsgeschichtliches Be-
wußtsein bestimmt ist.
Was ich damit sagen will, ist zunächst, daß wir uns nicht aus dem Gesche-
hen selber herausheben und sozusagen ihm gegenübertreten mit der Folge,
daß etwa die Vergangenheit uns so zum Objekt würde. Wenn ,"vir so denken,
kommen wir viel zu spät, um die eigentliche Erfahrung der Geschichte
überhaupt noch in den Blick zu bekommen. Wir sind immer schon mitten in
der Geschichte darin. Wir sind selber nicht nur ein Glied dieser fortrollenden
Ke[te, um mit Herder zu sprechen, sondern wir sind injedem Augenblick in
der Möglichkeit, uns mit diesem aus der Vergangenheit zu uns Kommenden
und Überlieferten zu verstehen. Ich nenne das )wirkungsgeschichtliches
Bewußtsein<, weil ich damit einerseits sagen will, daß unser Bewußtsein
wirkungsgeschichtlich bestimmt ist, d. h. durch ein wirkliches Geschehen
bestimmt ist, das unser Bewußtsein nicht frei sein läßt im Sinne eines
Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz 143
Es gibt eine klassische Definition des Wesens des Menschen, die Aristotcles
aufgestellt hat, wonach er das Lebnvescn ist, das Logos hat. In der Tradition
des Abendlandes wurde diese Definition in der Form kanonisch, daß der
Mensch das animal rationale, das vernünftige Lebewesen, d. h. durch die
Fähigkeit des Dcnkens von den übrigen Tieren unterschieden sei. Man hat
also das griechische Wort Logos im Sinne von Vernunft bzw. Denken wie-
dergegeben. In Wahrheit heißt das Wort auch und vorwiegend: Sprache.
Aristoteles entwickelt cinmaF den Unterschied von Mensch und Tier fol-
gendermaßen: Die Tiere haben die Möglichkeit, sich miteinander zu ver-
ständigen, indem sie einander anzeigen, was ihre Lust erregt, so daß sie es
suchen, und ""vas ihnen weh [Ut, so daß sie es fliehen. Nur so weit sei die
Natur bei ihnen gegangen. Allein denl Menschen sei darüber hinaus der
Logos gegeben, einander offenbar zu machen, was nützlich und was schäd-
lich ist, und damit auch, \1"l as recht und unrecht ist. Ein tiefsinniger Satz. Was
nützlich ist und \vas schädlich ist, ist solches, das nicht in sich selbst wün-
schenswert ist, sondern UIll et\\'as anderen willen, das noch gar nicht gege-
ben ist, sondern zu dessen Beschaffung es einem dient. I-lier ist also eine
Überlegenheit über das je Gegenwärtige, ein Sinn rur das Zukünftige, als
Auszeichnung des Menschen markiert. Und im selben Atem fügt Aristote-
les hinzu, daß damit auch der Sinn [ur Recht und Unrecht gegeben sei - all
das aber, weil der Mensch als einziger den Logos hat. Er kann denken, und er
kann sprechen. Er kann sprechen, d. h. er kann Nicht-Gegenwärtiges durch
sein Sprechen offenbar machen, so daß es auch ein anderer vor sich sieht.
Alles was er meint, kann er so mitteilen, ja mehr noch: dadurch, daß er so
sich mitteilen kann, gibt es überhaupt nur unter den Menschen ein Meinen
des Gemeinsamen, d. h. gemeinsame Begriffe und vor allem diejenigen
gemeinsamen Begriffe, durch die das Zusammenleben der Menschen ohne
Mord und Totschlag, in der Form des gesellschaftlichen Lebens, in der Form
einer politischen Verfassung, in der Form eines arbeitsteilig gegliederten
Wirtschaftslebens möglich ist. Das alles liegt in der schlichten Aussage: der
Mensch ist das Lebewesen, das Sprache hat.
, [Politik A 2, 1253a 911.]
Mensch und Sprache 147
Man möchte meinen, daß diese so sinnfallige und überzeugende Feststel-
lung dem Phänomen der Sprache im Denken über das Wesen des Menschen
von jeher einen bevorzugten Ort gesichert hat. Was ist überzeugender, als
daß die Sprache der Tiere, wenn man ihre Weise, sich zu verständigen, so
benennen will, etwas ganz anderes ist als die menschliche Sprache, in der
eine gegenständliche Welt vorgestellt und mitgeteilt wird' Und zwar durch
Zeichen, die nicht wie die Ausdruckszeichen der Tiere festliegen, sondern
variabel bleiben, und das nicht nur in dem Sinne, daß es verschiedene
Sprachen gibt, sondern auch, daß in der selben Sprache die gleichen Aus-
drücke Verschiedenes und verschiedene Ausdrücke das Gleiche bezeichnen
können.
In Wahrheit hat man jedoch im philosophischen Denken des Abendlandes
das Wesen der Sprache keines\vegs in den Mittelpunkt gestellt. Zwar war es
immer ein auffallender Wink, daß nach der Schöpfungsgeschichte des Alten
Testamentes Gott dem ersten Menschen die Herrschaft über die Welt über-
trug, indem er ihn alles Seiende nach seinem Gutdünken benennen heß.
Auch die Geschichte von dem babylonischen Turm bezeugt ja die funda-
mentale Bedeutung der Sprache für das Leben des Menschen. Gleichwohl
hat gerade die religiöse Überlieferung des christlichen Abendlandes das
Denken über die Sprache in gewisser Weise gelähmt, so daß erst im Zeitalter
der Aufklärung die Frage nach dem Ursprung der Sprache neu gestellt
wurde. Es bedeutete einen gewaltigen Schritt vorwärts, daß die Frage nach
dem Ursprung der Sprache nicht mehr durch den Schöpfungsbericht beant-
wortet, sondern in der Natur des Menschen gesucht wurde. Denn nun war
ein weiterer Schritt nicht zu umgehen, nämlich der, daß die Natürlichkeit
der Sprache es ausschließt, die Frage nach einem sprachlosen Vorzustand des
Menschen und damit die nach dem Ursprung der Sprache überhaupt zu
stellen. Herder und Wilhe1m von Humboldt haben die ursprüngliche
Menschlichkeit der Sprache als die ursprüngliche Sprachlichkeit des Men-
schen erkannt und die grundlegende Bedeutung dieses Phänomens für die
menschliche Wcltansicht herausgearbeitet. Die Verschiedenartigkeit des
menschlichen Sprachbaus war das Forschungsfeld des aus dem öffentlichen
Leben- zurückgezogenen ehemaligen Kultusministers Wilhclm von Hum-
boldt, des Weisen von Tegel, der durch sein Alterswerk der Begründer der
modemen Sprachwissenschaft wurde.
Indessen bedeutete die Begründung der Sprachphilosophie und Sprach-
wissenschaft durch Wilhelm von Humboldt noch keineswegs eine echte
Wiederherstellung der aristotelischen Einsicht. Wie hier die Sprachen der
Völker zum Gegenstand der Forschung gemacht wurden, wurde gewiß ein
Weg des Erkennens beschritten, der auf neue und aussichtsreiche Weise die
Verschiedenheit der Völker und der Zeiten und das ihnen zugrunde liegende
gemeinsame Wesen des Menschen aufklären konnte. Aber es war die bloße
148 Ergänzungen
Ausstattung des Menschen mit einem Vermögen und die Aufhellung der
Strukturgesctzlichkeiten dieses Vermögens - wir nennen sie Grammatik,
Syntax, Vokabular der Sprache -, was hier den Horizont der Frage nach
Mensch und Sprache begrenzte. Man mochte im Spiegel der Sprache die
Weltansichten der Völker, ja sogar bis ins Einzelne hinein den Aufbau ihrer
Kultur er kennen lernen - ich denke etwa an den Einblick in den Kulturzu-
stand der indogermanischen Völkerfamilie. den wir den großartigen Unter-
suchungen Viktor Hchns über Kulturpflanzen und Haustiere verdanken.
Die Sprachwissenschaft ist, wie eine andere Prähistorie, die Prähistorie des
menschlichen Geistes. Gleichwohl hat auf diesem Wege das Phänomen der
Sprache nur die Bedeutung eines ausgezeichneten Ausdrucksfeldes, an dem
sich das Wesen des Menschen und seine Entfaltung in der Geschichte studie-
ren läßt. Bis in die zentralen Positionen des philosophischen Denkens "var
auf diesem Wege jedoch nicht einzudringen. Denn noch stand immer im
Hintergrunde des gesamten neuzeitlichen Denkens die cartesianische Aus-
zeichnung des Bewußtseins als des Selbstbewußtseins. Dieses unerschütter-
liche Fundament aller Gewißheit, das gewisseste aller Fakten, als das ich
mich selber weiß, wurde im Denken der Neuzeit der Maßstab für alles, was
überhaupt dem Anspruch wissenschaftlicher Erkenntnis zu genügen ver-
mochte. Die wissenschaftliche Erforschung der Sprache beruhte am Ende
auf dem gleichen Fundament. Es war die Spontaneität des Subjektes. die in
der sprachbildenden Energie eine ihrer Bestätigungsformen besitzt. So
fruchtbar auch von diesem Grundsatz aus die in den Sprachen gelegene
Weltansicht gedeutet werden konnte - das Rätsel, das die Sprache dem
menschlichen Denken aufgibt, kam so überhaupt nicht in den Blick. Denn
zum Wesen der Sprache gehört eine geradezu abgründige Unbewußtheit
derselben. Insofern ist die Prägung des Begriffes die Sprache nicht zufallig ein
spätes Resultat. Das Wort Logos bedeutet nicht nur Denken und Sprache,
sondern auch Begriff und Gesetz. Die Prägung des Begriffs Sprache setzt
Sprachbewußtheit voraus. Das aber ist erst das Resultat einer Reflexionsbe-
wegung, in der sich der Denkende aus dem unbewußten Vollzug des Spre-
chens herausreflektiert und in eine Distanz zu sich selber getreten ist. Das
eigentliche Rätsel der Sprache ist aber dies, daß wir das in Wahrheit nie ganz
können. Alles Denken über Sprache ist vielmehr von der Sprache schon
immer wieder eingeholt worden. Nur in einer Sprache können wir denken.
und eben dieses Einwohnen unseres Denkens in einer Sprache ist das tiefe
Rätsel, das die Sprache dem Denken stellt.
Die Sprache ist nicht eines der Mittel, durch die sich das Bewußtsein mit
der Welt vermittelt. Sie stellt nicht neben dem Zeichen und dem Werkzeug-
die beide gewiß auch zur Wesens auszeichnung des Menschen gehören - ein
drittes Instrument dar. Die Sprache ist überhaupt kein Instrument, kein
Werkzeug. Denn zum Wesen des Werkzeuges gehört, daß wir seinen Ge-
Mensch und Sprache 149
brauch beherrschen, und das heißt, es zur Hand nehmen und aus der Hand
legen, wenn es seinen Dienst getan hat. Das ist nicht dasselbe, wie wenn wir
die bereitliegenden Worte einer Sprache in den Mund nehmen und nüt ihrem
Gebrauchtsein zurücksinken lassen in den allgemeinen Wortvorrat, über den
wir verfügen. Eine solche Analogie ist deshalb falsch, weil wir uns niemals
als Bewußtsein der Welt gegenüber fmden und in einem gleichsam sprachlo-
sen Zustand nach dem Werkzeug der Verständigung greifen. Wir sind viel-
mehr in allem Wissen von uns selbst und allem Wissen von der Welt immer
schon von der Sprache umgriffen, die unsere eigene ist. Wir \vachsen auf,
wir lernen die Welt kennen, wir lernen die Menschen kennen und am Ende
uns selbst, indem wir sprechen lernen. Sprechen lernen heißt nicht: zur
Bezeichnung der uns vertrauten und bekannten Welt in den Gebrauch eines
schon vorhandenen Werkzeuges eingefUhrt werden, sondern es heißt, die
Vertrautheit und Erkenntnis der Welt selbst, und wie sie uns begegnet,
erwerben.
Ein rätselhafter, tief verhüllter Vorgang! Was für ein Wahn ist es, zu
meinen, daß ein Kind ein Wort, ein erstes Wort spricht. Was rur ein Wahsinn
war es, die Ursprache der Menschheit dadurch entdecken zu wollen, daß
man Kinder von allen menschlichen Lauten hermetisch abgeschlossen auf-
wachsen ließ und dann aus ihrem ersten Lallen artikulierter Art einer vor-
handenen mcnschliclien Sprache das Privileg zuerkennen wollte, die Ur-
sprache der Schöpfung zu sein. Das Wahnhafte solcher Ideen beruht darauf,
daß sie das wahrhafte Umschlossensein unserer selbst durch die sprachliche
Welt, in der wir leben, aufirgendeine künstliche Weise suspendieren wollen.
In Wahrheit sind wir immer schon in der Sprache ebenso zu Hause wie in der
Welt. Wieder finde ich bei Aristoteles die weiseste Beschreibung des Vor-
gangs, wie man sprechen lernt. H Die aristotelische Beschreibung meint
allerdings gar nicht das Sprechenlernen, sondern das Denken, d. h. den
Erwerb allgemeiner Begriffe. Wie kommt in der Flucht der Erscheinungen,
in dem beständigen Vorbeifluten wechselnder Eindrücke, überhaupt so
etwas wie ein Bleiben zustande? Sicher ist es zunächst die Fähigkeit des
Behaltens, also das Gedächtnis, die uns etwas als dasselbe wiedererkennen
läßt, und das ist eine erste große Abstraktionsleistung. Es wird aus der
Flucht wechselnder Erscheinungen hier und da ein Gemeinsames heraus ge-
sehen, und so kommt langsam aus sich häufenden Wiedererkennungen, die
wir Erfahrungen nennen, die Einheit der Erfahrung zustande. In ihr aber
entspringt das ausdrückliche VerfUgen über das so Erfahrene in der Weise des
Wissens des Allgemeinen. Aristoteles fragt nun: Wie kann eigentlich dieses
Wissen des Allgemeinen zustande kommen? Doch sicher nicht so, daß eins
nach dem anderen vorbeizieht und plötzlich an einem bestimmten Einzel-
nen, das da wieder erscheint und als dasselbe wiedererkannt wird, das
Wissen des Allgemeinen erworben wird. Es ist doch nicht dieses eine Einzel-
ne als solches, das sich gegenüber anen anderen Einzelnen durch die geheim-
nisvolle Kraft auszeichnet, das Allgemeine zur Darstellung zu bringen. Es ist
vielmehr wie alle anderen Einzelnen auch. Und doch ist es ja wahr, daß
irgend wann das Wissen des Allgemeinen zustandegekommen ist. Wo hat es
angefangen? Aristoteles gibt dafUr ein ideales Bild: Wie kommt ein auf der
Flucht befindliches Heer zum Stehen? Wo fangt es an, daß das Heer wieder
steht? Doch sicher nicht dadurch, daß der erste stehen bleibt oder der zweite
oder der dritte. Man kann doch gewiß nicht sagen, daß das Heer steht, wenn
eine bestimmte Anzahl der fliehenden Soldaten aufgehört hat zu fliehen, und
gewiß auch nicht, wenn der letzte zu fliehen aufgehört hat. Denn mit ihm
fangt das Heer nicht an zu stehen, sondern es hat längst angefangen, zum
Stehen zu kommen. Wie das da anfangt, wie es sich fortpflanzt und wie am
Ende irgendwann das Heer wieder steht, das heißt: wieder der Einheit des
Kommandos gehorcht, das wird von niemandem wissend verfUgt, planend
beherrscht, feststellend erkannt. Und doch ist es unzweifelhaft geschehen.
Genauso ist es mit dem Wissen des Allgemeinen, und genauso ist es, weil es
nämlich dasselbe ist, mit dem Eintreten in die Sprache.
Wir sind in allem unserem Denken und Erkennen immer schon voreinge-
nommen durch die sprachliche Weltauslegung, in die hineinwachsen in der
Welt a"fwachsen heißt. Insofern ist die Sprache die eigentliche Spur unserer
Endlichkeit. Sie ist immer schon über uns hinweg. Das Bev./ußtsein des
einzelnen ist nicht der Maßstab, an dem ihr Sein gemessen werden kann. Ja,
es gibt überhaupt kein einzelnes Bewußtsein, in dem die Sprache, die es
spricht, wirklich da ist. Wie also ist die Sprache da' Doch gewiß nicht ohne
das einzelne Bewußtsein. Aber doch auch nicht in einer bloßen Zusammen-
fassung vieler, die jeder fur sich ein Einzc1bewußtsein sind.
Hat doch keiner, der ein einzelner ist, wenn er spricht, ein eigentliches
Bewußtsein seines Sprechens. Ausnahmesituationen sind es, in denen einem
die Sprache, in der man spricht, bewußt wird. Zum Beispiel, wenn einem in
der Absicht, et\vas zu sagen, ein Wort auf die Zunge kommt, bei dem man
stutzt, das einem fremd oder komisch vorkommt, so daß man sich fragt:
))Kann man so eigentlich sagen?« Da wird die Sprache, die wir sprechen,
einen Augenblick bewußt, weil sie das Ihre nicht tut, Was also ist das Ihre'
Ich denke, man kann hier dreierlei unterscheiden.
Das erste ist die wesenhafte Selbstvergessenheit, die dem Sprechen zu-
kommt. Ihre eigene Struktur, Grammatik, Syntax usw., also a11 das, was die
Sprachwissenschaft thematisiert, ist dem lebendigen Sprechen durchaus
nicht bewußt. Daher gehört es zu den eigentümlichen Perversionen des
Natürlichen, daß die moderne Schule genötigt ist, Grammatik und Syntax,
statt an einer toten Sprache wie dem Latein, an der eigenen Muttersprache
Mensch und Sprache 151
9 Wahrheit und Methode, Ges. Werke Bd. 1, III. Teil, S. 491 ff.
152 Ergänzungen
gewordene Bestimmung des Menschen, der spielt, faßt die wahre Struktur
des Spiels nur von seiner subjektiven Erscheinung her. Spiel ist in Wahrheit
aber ein Bewegungsvorgang, der die Spielenden oder das Spielende um-
greift. So ist es keineswegs nur eine Metapher, \venn wir von dem Spiel der
Wellen oder den spielenden Miicken oder dem freien Spiel der Glieder sprechen.
Vielmehr beruht selbst die Faszination des Spieles für das spielende Bewußt-
sein eben in einer so1chen Entrückung seiner selbst in einen Bewegungszu-
sammenhang, der seine eigene Dynamik entfaltet. Ein Spiel ist inl Gange,
wenn der einzelne Spieler in vollem Spielernst dabei ist, d. h. sich nicht mehr
zurückbehält als ein nur Spielender, dem es nicht ernst ist. Solche Leute, die
das nicht können, nennen wir Menschen, die nicht spielen können. Nun
meine ich: die Grundverfassung des Spiels, mit seinem Geist - dem der
Leichtigkeit, der Freiheit, des Glücks des Gelingens - erfüllt zu sein und den
Spielenden zu erfüllen, ist strukturverwandt mit der Verfassung des Ge-
sprächs, in dem Sprache wirklich ist. Wie man rniteinander ins Gespräch
kommt und nun von dem Gespräch gleichsam weitergetragen wird, darin
ist nicht mehr der sich zurückbehaltende oder sich öffnende Wille des
Einzelnen bestimmend, sondern das Gesetz der Sache, um die es im Ge-
spräch geht, welches Rede und Gegenrede hervorloekt und am Ende aufein-
ander einspielt. So ist man dort, wo ein Gespräch gelungen ist, nachher von
ihm, wie wir sagen, erfüllt. Das Spiel von Rede und Gegenrede spielt sich
weiter fort im inneren Gespräch der Seele mit sich selber, \vie Plato so schön
das Denken genannt hat.
Damit hängt ein Drittes zusammen, das ich die Universalität der Sprache
nennen möchte. Sie ist kein abgeschlossener Bereich des Sag baren, neben
dem andere Bereiche des Unsagbaren stünden, sondern sie ist allumfassend.
Es gibt nichts, das grundsätzlich dem Gesagtwerden entzogen wäre, sofern
nur das Meinen etwas meint. Es ist die Universalität der Vernunft, mit der
das Sagenkönnen unermüdlich Schritt hält. So hat auch jedes Gespräch eine
innere Unendlichkeit und kein Ende. Man bricht es ab, sei es, daß genug
gesagt zu sein scheint, sei es, daß nichts mehr zu sagen ist. Aber jeder solche
Abbruch hat einen inneren Bezug auf die Wiederaufnahme des Gesprächs.
Wir machen diese Erfahrung, oft in schmerzhafter Weise, dort, "va von
uns eine Aussage verlangt wird. Die Frage, auf die es da zu antworten gilt-
denken wir etwa an das extreme Beispiel des Verhörs oder der Aussage vor
Gericht -, ist wie eine Schranke, die gegen den Geist des Sprechens, der sich
aussprechen und Gespräch will, aufgerichtet ist (,)Hier rede ich« oder ,)Ant-
worten Sie auf meine Frage!«). Alles Gesagte hat seine Wahrheit nicht
einfach in sich selbst, sondern verweist nach rückwärts und nach vorwärts
auf Ungesagtes. Jede Aussage ist motiviert, das heißt, man kann an alles,
was gesagt wird, mit Sinn die Frage richten: ,) Warum sagst du das ?« Und
erst, wenn dies Nichtgesagte mit dem Gesagten mitverstanden ist, ist eine
Mensch und Sprache 153
Aussage verständ1ich. Wir kennen das im besonderen bei der Frage. Eine
Frage, die \vir nicht als motiviert verstehen, kann auch keine Antwort
finden. Denn die Motivationsgeschichte der Frage öffnet allererst den Be-
reich, aus dem her Antvvort geholt und gegeben werden kann. So ist es in
Wahrheit im Fragen wie im Antworten ein unendliches Gespräch, in dessen
Raume Wort und Antwort stehen. Alles Gesagte steht in solchem Raume.
Wir können uns das an einer Erfahrung verdeutlichen, die jeder von uns
macht. Ich meine das Übersetzen und das Lesen von Übersetzungen aus
fremden Sprachen. Was der Übersetzer vorfindet, ist sprachlicher Text, d. h.
ein mündlich oder schriftlich Gesagtes, das er in die eigene Sprache überset-
zen soll. Er ist gebunden an das, was da steht, und er kann doch nicht einfach
das Gesagte aus dem fremden Sprachstoff in den eigenen Sprachstoff umfor-
men, ohne daß er selber wieder zum Sagenden wird. Das aber heißt, er muß
in sich den unendlichen Raum des Sagens gewinnen, der dem in der fremden
Sprache Gesagten entspricht. Jedermann weiß, wie schv.rer das ist. Jeder-
mann weiß, wie die Übersetzung das in der fremden Sprache Gesagte
gleichsam flach fallen läßt. Es bildet sich in einer Fläche ab, so daß Wortsinn
und Satzform der Übersetzung das Original nachzeichnen, aber die Über-
setzung hat gleichsam keinen Raum. Ihr fehlt jene dritte Dimension, aus der
sich das ursprünglich, d. h. im Original Gesagte, in seinem Sinnbereich
aufbaute. Das ist eine unvermeidliche Schranke aller Übersetzungen. Keine
kann das Original ersetzen. Aber wenn man meinen sol1te, jene ins Flache
projizierte Aussage des Originals müßte nun in der Übersetzung gleichsam
leichter verständlich geworden sein, da vieles im Original anklingende
Hintergründige, Z wischenzeilige nicht mit hinübergetragen werden konnte
- wenn man nun meinte, diese Reduktion auf einen einfältigen Sinn müsse
das Verständnis erleichtern, so täuscht man sich. Keine Übersetzung ist so
verständlich wie ihr Original. Es ist eben gerade der vieles einbeziehende
Sinn des Gesagten - und Sinn ist immer Richtungssinn -, der nur in der
Ursprünglichkeit des Sagens zur Sprache kommt und in allem Nachsagen
und Nachsprechen entgleitet. Die Aufgabe des Übersetzers muß daher
immer die sein, nicht das Gesagte abzubilden, sondern sich in Richtung des
Gesagten, d. h. in seinen Sinn, einzustellen, um in die Richtung seines
eigenen Sagcns das zu Sagende zu übertragen.
Am deutlichsten wird das bei solchen Übersetzungen, die ein mündliches
Gespräch durch die Zwischenschaltung der Dolmetscher zwischen Men-
schen fremder Muttersprache ermöglichen sollen. Ein Do1metscher, der nur
wiedergibt, was die von dem einen gesprochenen Worte und Sätze in der
anderen Sprache sind, verfremdet das Gespräch ins Unverständliche. Was er
wiedergeben muß, ist nicht das Gesagte in seinem authentischen Wortlaut,
sondern das, was der andere sagen wollte und sagte, indem er vieles unge-
sagt ließ. Auch die Begrenztheit seiner Wiedergabe muß den Raum -gewin-
154 Ergänzungen
nen, in dem allein Gespräch, d. h. die innere Unendlichkeit, die aller Ver-
ständigung zukommt, möglich wird.
So ist die Sprache die wahrhafte Mitte des menschlichen Seins, wenn man
sie nur in dem Bereich sieht, den sie allein ausfüllt, dem Bereich menschli-
chen .Miteinanderseins, dem Bereich der Verständigung, des immer neu
anwachsenden Einverständnisses, das dem menschlichen Leben so unent-
behrlich ist wie die Luft, die wir atmen. Der Mensch ist wirklich, wie
Aristotcles es gesagt hat, das Wesen, das Sprache hat. Alles, was menschlich
ist, sollen wir uns gesagt sein lassen.
12. Über die Planung der Zukunft
1965
Es ist wohl keine Übertreibung, wenn man sagt, daß es nicht so sehr der
Fortschritt der Naturwissenschaften als solcher ist, als vielmehr die Rationa-
lisierung ihrer technisch-wirtschaftlichen Anwendung, was die neue Phase
der industriellen Revolution heraufgeftihrt hat, in der wir stehen. Nicht der
ungeahnte Zuwachs an Beherrschung der Natur, sondern die Entfaltung
wissenschaftlicher Steuerungsmethoden ftir das Leben der Gesellschaft
scheint mir das Gesicht unserer Epoche zu prägen. Erst damit wird der
Sieges zug der modernen Wissenschaft, wie er mit dem 19. Jahrhundert
begann, ein alles beherrschender sozialer Faktor. Jetzt erst hat der unserer
Zivilisation zugrundeliegende Wissenschaftsgedanke alle Bereiche der ge-
sellschaftlichen Praxis ergriffen. Wissenschaftliche Marktforschung, wis-
senschaftliche Kriegftihrung, wissenschaftliche Außenpolitik, wissenschaft-
liche Nachwuchslenkung, wissenschaftliche Menschenftihrung usw. geben
dem Expertenturn in Wirtschaft und Gesellschaft eine zentrale Stellung.
So stellt sich erstmalig das Problem der Weltordnung. Damit ist nicht
mehr Erkenntnis einer bestehenden Ordnung gemeint, sondern Planung
und Schaffung einer nicht bestehenden Ordnung. Es wird zu fragen sein, ob
das überhaupt eine richtige Problemstellung ist: daß etwas, das es noch nicht
gibt, geplant und hergestellt werden soll. Gewiß leuchtet ein, daß zwischen
den Völkern eine Weltordnung, wie man sie sich wünschte, nicht besteht.
Das geht schon daraus hervor, daß heute die Vorstellungen von der richtigen
Ordnung so differieren, daß die Resignationsparole der Koexistenz herr-
schend ist. Aber zugleich enthält diese Parole, die aus dem Gleichgewicht
der Nuklearwaffen erwachsen ist, eine Aussage, die den Sinn der Pro-
blemstellung selber gefahrdet. Hat die Rede von einer zu schaffenden Welt-
ordnung überhaupt noch Sinn, wenn die Unvereinbarkeit der Vorstellungen
von der richtigen Ordnung am Anfang steht? Kann man Planungen am
Maßstab der Weltordnung messen, wenn man nicht weiß, zu welchem Ende
alle mittleren, vielleicht gar alle überhaupt möglichen Schritte fuhren sollen?
Hängt nicht eine jede Planung im Weltrnaßstab davon ab, daß eine bestimm-
te gemeinsame Zielvorstellung besteht? Es gibt gewiß ermutigende Teilbe-
reiche, z. B. auf dem Gebiete der Weltgesundheit, des Weltverkehrs, viel-
156 Ergänzungen
leicht auch der Welternährung. Aber läßt sich auf diesem Wege derart
fortschreiten und der Bereich des rational und einheitlich zu Regelnden
schrittweise derart erweitern, daß das Ende eine durchgängig geregelte und
vernünftig geordnete Welt ist? Dagegen spricht, daß der Begriff der Welt-
ordnung notwendig eine inhaltliche Differenzierung annimmt, je nach dem
Ordnungsgesichtspunkt, der dabei leitend ist. Methodisch wird das klar,
wenn man zu einem solchen Begriff seinen möglichen Gegensatz hinzu-
denkt. Es liegt in der Natur der Sache, daß unsere Vorstellungen vom
Rechten, vom Guten usw. weit weniger genau und bestimmt sind wie die
vom Unrechten, vom Schlechten usw. Das Negative bzw. Privativc hat
offenbar den Vorzug, daß es als das zu Verneinende und zu Beseitigende
unserem Veränderungswillen von sich aus sich aufdrängt und sich dadurch
Profil gibt. So ist der Begriff der Unordnung, um deren Behebung es gehen
5011, jeweils leichter zu bestimmten und ergibt einen differenzierteren Sinn
von Ordnung per contrarium. Aber ist die Übertragung von Teilbereichen,
in denen Unordnung herrscht und Ordnung entstehen soll, auf das Ganze
der Weltordnung noch legitim? Nehmen wir das Beispiel der ökonomischen
Unordnung. Im Bereich der Ökonomie scheint eine rationale Ord-
nungsvorstellung am leichtesten zu gev.'inncn. Unordnung könnte jeder
Zustand heißen, der die ökonomische Rationalität hindert. Nun gibt es
gewiß auch unter dem Begriff der allgemeinen Wohlfahrt differente Auffas-
sungen von wcltwirtschaftlicher Ordnung, die nicht in die Vorstellung der
Rationalität einer einzigen großen Weltfabrik auflösbar sind. So etwa in der
Frage, ob übermäßiger Unternehmergewinn um der allgemeinen Wohl-
fahrtssteigerung willen in Kauf zu nehmen ist, oder ob man aus sozialpoliti-
schen Gründen eine verstaatlichte und entsprechend bürokratisierte Wirt-
schaft vorziehen soll, auch wenn sie einen geringeren Wirkungsgrad hat.
Aber ist das noch eine rein ökonomische Frage? Offenbar nicht. Eben
deshalb, weil hier andere, politische Gesichtspunkte hineinspielen, bleibt der
ökonomische Aspekt im Grunde ganz unangetastet. Die steigende Rationa-
lität der weltwirtschaftlichen Kooperation scheint ein echter Maßstab, durch
den sich der Sinn von Weltordnung definiert.
Trotzdem ist darin eine fragwürdige Voraussetzung enthalten. Das ist die
Ablösbarkeit des ökonomischen Gesichtspunktes von dem politischen.
Kann man ebenso, wie man von einem Zustand ökonomischer Unordnung
und rationaler Weltwirtschaftsordnung sprechen kann, auch den Zustand
politischer Unordnung bestimmen, dessen Behebung den Begriff der politi-
schen Ordnung rational faßbar werden ließe? Nun könnte man sagen: Für
die Weltpolitik ist in der Vermeidung der globalen Selbstzerstörung ein
ebenso eindeutiger Maßstab gegeben, wie es rur die Weltwirtschaft die
allgemeine Wohlfahrt ist. Aber ist das eine wirkliche Parallele? Folgen daraus
wirklich politische Ordnungsvorstellungen, über die man vernünftige
Über die Planung der Zukunft 157
beachten, damit die Verwaltung unserer Welt eine immer bessere und rei-
bungslosere wird? Die Idee einer perfekt verwalteten Welt scheint das Ideal,
dem gerade die fortschrittlichsten Länder ihrer Lebensstimmung wie ihrer
politischen Überzeugung nach ganz verschrieben sind. Es ist bezeichnend,
daß sich dieses Ideal als ein Ideal der perfekten Verwaltung darstellt, nicht also
als ein inhaltlich bestimmtes Ideal der Zukunft, etwa als ein Staat der
Gerechtigkeit, wie er der platonischen Staatsutopie zugrunde lag, oder als
der Welt-Staat, der durch die Herrschaft eines bestimmten politischen Sy-
stems, eines Volkes oder einer Rasse über andere Systeme. Völker und
Rassen, gebildet wäre. Im Ideal der Verwaltung liegt vielmehr eine Ord-
nungsvorstellung, der kein spezifischer Inhalt einwohnt. Nicht, welche
Ordnung herrschen soll, sondern daß alles seine Ordnung haben soll, ist das
erklärte Ziel aller Verwaltung. Der Idee der Verwaltung gehört daher we-
sens mäßig das Ideal der Neutralität zu. Was erstrebt wird, ist das gute
Funktionieren als ein Selbstwert. Wahrscheinlich ist es nicht einmal eine
utopische Hoffnung, daß sich die großen Weltreiche unserer Gegenwart auf
dem neutralen Boden eines solchen Verwaltungsideals zu begegnen und
auszugleichen vermöchten. Es liegt nahe, von hier aus die Idee der Weltver-
waltung als die Ordnungsform der Zukunft anzusehen. In ihr würde dann
die Versachlichung der Politik ihre eigentliche Vollendung finden. Ist also
das formale Ideal der Weltverwaltung die Erflillung der Idee der Weltord-
nung?
Es ist alles schon einmal dagewesen. Der Kenner der platonischen Dialoge
weiß, daß im Zeitalter der sophistischen Aufklärung die Idee des Sachwis-
sens eine ähnliche, universale Funktion erhielt. Sie hieß bei den Griechen
Techne, das Wissen um das Herstellbare, das einer eigenen Perfektion fahig
ist. Art und Aussehen des zu verfertigenden Gegenstandes bilden den Ge-
sichtspunkt, unter dem der ganze Vorgang steht. Die Wahl der rechten
Mittel, die Wahl des richtigen Materials, der kunstgerechte Ablauf der
einzelnen Arbeitsphasen, all das läßt sich zu einer idealen Perfektion stei-
gern, die das von Aristoteles zitierte Wort wahr macht: »Die Techne liebt die
Tyche und die Tyche liebt die Techne." '" Wer seine Kunst beherrscht,
braucht kein Glück.
Trotzdem liegt es im Wesen aller Techne, daß sie nicht um ihrer selbst
willen da ist und auch nicht um eines zu verfertigenden Gegenstandes willen,
der seinerseits um seiner selbst willen da wäre. Was Art und Aussehen des zu
verfertigenden Gegenstandes betrifft, so hängt das vielmehr von dem Ge-
brauch ab, rur den er bestimmt ist. Über diesen Gebrauch ist das Wissen und
Können dessen, der den Gebrauchsgegenstand herstellt, selber nicht Herr,
weder in dem Sinne, daß das Ding, das cr hergestellt hat, so gebraucht wird,
wie es sachgerecht ist, noch auch in dem viel entscheidenderen Sinne, daß es
zu etwas gebraucht wird, das recht ist. Also müßte es ein neues Sachwissen
geben, das fUr den rechten Gebrauch der Dinge sorgt, d. h. ftir die Anwen-
dung der Mittel zu den rechten Zwecken. Und da offenbar unsere Ge-
brauchs welt ein ganzes hierarchisches GefUge solcher Mittel- und Zweckzu-
sammenhänge ist, entsteht wie von selbst die Idee einer obersten Techne,
eines Sachwissens, das über den rechten Einsatz allen Sachwissens seinerseits
Bescheid weiß, eine Art königliches Sachwissen: die pohtische Techne. Ist
eine solche Idee sinnvoll? Der Staatsmann als der Sachkenner aller Sachken-
ner, die Staatskunst als die oberste Sachkenntnis schlechthin? Gewiß ist das,
was da Staat heißt, die griechische Polis und nicht die Welt, aber da das
griechische Denken über die Polis immer nur die innere Ordnung der Polis
meint und nicht eigentlich das, was wir die große Politik der zwischenstaat-
lichen Beziehungen nennen, ist das bloß eine Frage des Maßstabes. Die
perfekt verwaltete Welt entspricht genau der idealen Polis.
Indessen - die Frage ist, ob die Sachkenntnis aller Sachkenntnisse, die von
Plato als die politische Kunst gekennzeichnet wird, mehr ist als ein kritisches
Gegenbild zu der kenntnislosen Betriebsamkeit derer, die nach Plato das
Verderben seiner Vaterstadt zu verantworten haben. Erfullt das Ideal der
Techne, des lehr- und lernbaren Sachwissens, überhaupt die Forderung, die
an die politische Existenz des Menschen gestellt ist? Es ist hier nicht der Ort,
über die Reichweite und die Grenzen des Gedankens der Techne in der
platonischen Philosophie zu sprechen, ganz zu schweigen von der anderen
Frage, wieweit etwa Platos eigene Philosophie bestimmten politischen Idea-
len folgt, die nicht die unsrigen sein können. Aber zur Verdeutlichung des
aktuellen Problems kann die Erinnerung an ihn dennoch dienen. Er lehrt uns
den Zweifel daran, daß die Steigerung menschlicher Wissenschaft jemals das
Ganze seiner eigenen gesellschaftlichen und staatlichen Existenz erfassen
und regulieren kann. Man darf hier an den cartesianischen Gegensatz von res
cogitans und res extensa erinnern, der bei aller möglichen Modifikation die
Grundproblematikjeglicher Anwendung von ,Wissenschaft( auf,Selbstbe-
wußtsein< richtig vermessen hat. Erst mit der Anwendung der neuen Wis-
senschaft auf die Gesellschaft, die der Descartes der )provisorischen Moral~
nur erst als ein fernes Ziel vor Augen sah, hat freilich diese Problematik ihren
vollen Ernst erhalten. Kants Rede von dem Menschen als dem }Bürger
zweier Welten< gibt dem angemessenen Ausdruck. Daß der Mensch im
ganzen seiner Existenz derart Objekt zu werden vermöchte, daß einer ihn
herzustellen wüßte, in allen seinen gesellschaftlichen Lebensbezügen, daß es
also einen Sachverständigen geben könnte, der nicht }er< selbst ist, der }ihn<
aber ebenso wie auch alle anderen >verwaltet<, und daß dieser Sachverständi-
ge seinerseits wieder mit seinem eigenen Verwalten mitverwaltet würde, das
fUhrt in offenkundige Verwicklungen, die die Idee jenes platonischen Sach-
162 Ergänzungen
wissens als ein ironisches Zerrbild erscheinen lassen, auch wenn dasselbe mit
allen Farben einer Erleuchtung, einer Erkenntnis des transzendenten Göttli-
chen oder Guten illuminiert ist.
Selbst wenn man ganz von der Frage der Stellung des Planers einer
plan voll-vernünftigen Organisation der Welt und der des vernünftigen Ver-
walters innerhalb dieser Welt absieht, erweist sich die Verwicklung als
unlösbar, die mit der Idee der Herrschaft der .Wissenschaft, über die konkre-
te Lebenssituation der Menschen und die in ihr betätigte Vernünftigkeit
verbunden ist. Auch hier scheint mir das griechische Denken von höchster
Aktualität. Es ist die aristotelische Unterscheidung von Techne und Phronc-
sis, die diese Verwicklung durchreflektiert. Das praktische Wissen, das das
Tunliehe in der konkreten Lebenssituation erkennt, hat seine Perfektion
nicht in derselben Weise wie das Sachwissen die seinige in der Techne hat.
Während Techne lehr bar und erlernbar ist und ihre Leistung offenkundig
davon unabhängig ist, was einer, moralisch oder politisch gesehen, ftir ein
Mann ist, gilt fur das Wissen und die Vernunft, die die praktische Lebenssi-
tuation des Menschen erhellen und leiten, genau das Gegenteil. Sicher gibt es
auch hier in gewissen Grenzen so etwas wie Anwendung eines allgemeinen
Wissens auf einen konkreten Fall. Was wir unter Menschenkenntnis, unter
politischer Erfahrung, unter geschäftlicher Klugheit verstehen, enthält - in
freilich einigermaßen ungenauen Analogieschlüssen - ein Element des All-
gemeinwissens und seiner Anwendung. Wäre das nicht so, dann gäbe es
dafür überhaupt kein Lehren und Lernen. Dann wäre auch das philo-
sophische Wissen nicht möglich, das Aristoteles im Entwurf seiner Ethik
und seiner Politik entwickelt hat. Gleichwohl handelt es sich hier nirgends
um das logische Verhältnis von Gesetz und Fall und damit auch nicht um ein
der modernen Wissenschaftsidee entsprechendes Berechnen und Vorauswis-
sen von Abläufen. Selbst wenn man den utopischen Gedanken einer Physik
der Gesellschaft zugrunde legte, würde man aus der Verwicklung nicht
herauskommen, die Plato dadurch aufgezeigt hat, daß er den Staatsmann,
und das heißt den politisch Handelnden überhaupt, zu einem obersten
Fachmann heraufstilisierte. Ein solches Wissen des, wenn ich ihn so nennen
darf, Physikers der Gesellschaft mag einen Techniker der Gesellschaft mög-
lich machen, der alles Erdenkliche herzustellen wüßte, aber er bliebe einer,
der seinerseits nicht wüßte, was man von dem, was er kann, wirklich
herstellen soll. Aristoteles hat diese Verwicklung genau durchdacht und
nennt deshalb das praktische Wissen, um das es in den konkreten Situationen
geht, »)eine andere Art von Wissen«.!} Es ist kein dumpfer Irrationalismus,
dem er damit das Wort redet; sondern es handelt sich um die Helligkeit von
" [N.E.Z9,1!41b33undl142a30]
Über die Planung der Zukunft 163
len zu können. Und doch macht all unsere Forschung, soweit sie Erkennt-
nisse vermittelt, gerade das möglich, auf immer sachgerechtere Weise in den
natürlichen Ablauf mit künstlichen Mitteln einzugreifen. So gewinnt das
Erkenntnismodell des Steuerns gegenüber dem Planen und Machen zuneh-
mend größeres Gewicht. Indessen, auch dieses Modell darf nicht verdecken,
welche Voraussetzungen - welches Wissen um Ziel und um Richtung -
allem Steuern vorgegeben sind. Plato hat gerade am Können des Steuer-
manns die Grenze alles Könnens markiert. Er bringt seine Passagiere gut an
Land- aber ob es fUr sie gut ist anzukommen, darüber kann er nichts wissen.
Den Steuermann des Agamemnon mägen nach dem Mord an seinem Herrn
Zweifel überkommen haben.
Vielleicht gibt es kein Beispiel, das die hier liegenden Probleme besser
illustriert, als die ärztliche Situation. Hier wird der Konflikt zwischen der
Wissenschaft und der Konkretion des ärztlichen Helfens in der Einheit eines
beruflichen Tuns erfahren. Daß sich analoge Verwicklungen überall zeigen,
wo ein auf wissenschaftlicher Ausbildung beruhender Beruf die Vermittlung
zwischen Lebenspraxis und Wissenschaft zu leisten hat, so beim Juristen,
beim Seelsorger, beim Lehrer, versteht sich von selber. Aber der Fall der
Medizin hat doch einen besonderen Modellcharakter. Hier sind es die mo-
demen Naturwissenschaften in der ganzen Fülle und Großartigkeit ihrer
Möglichkeiten, die unmittelbar mit der ärztlichen Grundsituation des Hel-
fens und Heilens, wie sie von jeher dem Medizinmann zufiel, in Konflikt
geraten. Dieser Konflikt übertrifft auf eine radikale Weise die Fragwürdig-
keit, die seit alters der ärztlichen Wissenschaft anhaftet. An sich ist es ein
uraltes Problem der Medizin, wie weit sie sich als )Wissenschaft(, natürlich
als eine praktische Wissenschaft, eine Techne, d. h. ein Herstellenkönnen,
verstehen läßt. Denn während jedes andere praktische Wissen, das etwas
herzustellen weiß, an seinem Werk den Beweis seines Wissens findet, ist das
Werk der Medizin von einer unaufhebbaren Zweideutigkeit. Wie weit die
Maßnahmen des Arztes ftir die Wiederherstellung der Gesundheit hilfreich
waren, oder ob die Natur sich selber geholfen hat, kann im Einzelfalle
unentscheidbar sein, und damit ist die ganze Heilkunst - sehr im Unterschie-
dezu anderen Technai -von altershereiner besonderen Apologie bedürftig. 12
Es gehört wohl zur Struktur dessen, was man Gesundheit nennt, daß es
sich dabei nicht um ein wohlumgrenztes Ding handelt, sondern um einen
Zustand, der von jeher durch den Begriff des Gleichgewichtes charakteri-
siert worden ist. Zum Begriff des Gleichgewichtes gehört aber, daß es in
12 [Über dieses Problem vgl. vom Verfasser: >Apologie der HeilkullSt(, Kl. Sehr. I,
S. 211-219,jetztin Gcs. WerkeBd. 4, sowie)Theorie, Technik, Praxis<, Vorwortzu>Neue
Anthropologie<, hrsg. von H.-G. Gadamer und P. Vogler, Stuttgart 1972ff., Bd. I,
S. IX- XXXVI, jetzt in Ges. Werke Bd. 4]
Über die Planung der Zukunft 167
deutlich die Dialektik von Mittel und Zweck, die hier besteht. Vorläufig tritt
das erst noch in der Profilierung von Fronten zutage. Was in dem einen Teil
der Welt Demokratie oder Freiheit heißt, erscheint als eine Sprachregelung,
die vom anderen Teil der Welt als eine bloße Manipulation der Meinungsbil-
dung und der Massendomestikation denunziert \\rird. Aber das ist nur ein
Ausdruck der Unvollkommenheit dieses Systems. Die Sprachregelung, die
alle erfaßt hat, hat sich selbst zum Zweck erhoben und sich damit ins
Unmerkliche geborgen.
Man muß sich solche extremen Vorstellungen vor Augen halten, um
einzusehen, \\'as es bedeutet, daß in aller ursprünglichen menschlichen Wclt-
erfahrung unaufhebbare Bedingungen liegen, die uns alle schon vorgängig
bestimmen. Daß die Sprache, in die wir hineinwachsen, wenn wir aufwach-
sen, mehr ist als ein Zeichensystem, das der Beherrschung eines Zivilisa-
tionsapparates dient, meint nicht irgendeine romantische Vergötzung der
Muttersprache. Vielmehr liegt in jeder Sprache eine Tendenz zur Schemati-
sierung. Die Wc1tauslegurig durch die Sprache nimmt beim Erlernen der
Sprache immer zugleich den Charakter der Sprach regelung an. Mit dem
Wort wird die Sache zurechtgelegt. Das geniale Sprachalter des Zwei- oder
Dreijährigen wird durch den kommunikativen Zwang der Umwelt been-
det. DeIllloch scheint es mir ein Unterschied zu jedem künstlich gestifteten
Zeichensystem, daß sich das Leben der Sprache nicht abgelöst von den
lebendigen Überlieferungen vollzieht und weitervollzieht, in denen eine
historische Menschheit steht. Das sichert allem Sprachlcben eine innere
Unendlichkeit, die sich nicht zuletzt darin bewährt, daß der Mensch beim
Erlernen fremder Sprachen in fremde Weltauslegungen einzutreten vermag
und Reichtum und Armut des Eigenen am Fremden erfahrt. Auch dies ist ein
Ausdruck der unaufhebbaren Endlichkeit des Menschen. Jeder einzelne muß
sprechen lernen und wird darin seine Geschichte haben und sie selbst in der
extremsten Vollendung des Maschinenzeitalters nicht loswerden. Das Zeit-
alter der post-histoire, in das wir hineingehen, wird daran seine Begrenzung
finden.
Worauf wir hier verv.,riesen werden, scheint freilich den Maßstäben der
modernen Welt nicht recht zu entsprechen. Es mag richtig sein, daß in der
Bewußtmachung der Grenzen, die der Anwendung der Wissenschaft gesetzt
sind, zugleich ins Bewußtsein tritt, was vor aller Wissenschaft und unabhän-
gig von ihr die Völker trennt und verbindet, wie die Formen von Recht und
Sitte, die Inhalte der eigenen Überlieferung, Gesang und Sage und Geschich-
te, das Zusammenleben prägen. Aber bleibt nicht solche Bewußtmachung
stcts auf kleine intellektuelle Gruppen beschränkt, während der technologi-
sche Traum unserer Gegenwart das Bewußtsein der Menschheit mehr und
mehr einlullt?
Indessen - was die Überzeugungen der Menschen prägt und was auf den
Über die Plammg der Zukunft 171
tausend Wegen der direkten und indirekten Erziehung auf sie einwirkt, mag
noch so sehr von dem wissenschaftlichen Expertentum geplant, geordnet
und geregelt werden - am Ende sind es doch in ihre Traditionen gebundene
Menschen, deren Bewußtsein sich umsetzt und fortwirkt. Sie aber werden
sich in unserer immer näher zusammenrückenden Welt in steigendem Maße
dessen bewußt werden, daß nicht nur ökonomisch-technische Entwick-
lungsunterschiede die Völker trennen, und nicht nur deren Aufhebung sie
verbindet, sondern daß gerade die unaufhebbaren Unterschiede zwischen
ihnen, ihre natürlichen und geschichtlich gewordenen, es sind, die uns als
Menschen verbinden.
Abschließend wird man sich daher die Frage stellen dürfen, was eine
Erinnerung dieser Art gegenüber dem übermächtigen Trend der wissen-
schaftlichen Zivilisation unserer Epoche überhaupt rur eine Bedeutung ha-
ben soll. Daß dic beliebte Kritik an der Technik mit allen anderen Arten VOn
Kulturkritik die gleiche innere Unaufrichtigkeit teilt, wurde oben schon
berührt. Auch wird man von der Bewußtmachung all dessen, was dem
technologischen Traum der Gegenwart eine Grenze setzt, nicht eigentlich
erwarten, daß es das Schrittgesetz des zivilisatorischen Fortschritts beein-
flussen könnte oder sollte. Um so mehr stellt sich die Frage, was solche
Bewußtmachung überhaupt leistet, und das ist eine allgemeine Frage, die
keine summarische Antwort gestattet.
So werden die Möglichkeiten der Beherrschung der Natur dort andere
Bedeutung haben und dort eine höhere Einschätzung finden, wo man VOn
der Beherrschung der Naturkräfte besonders weit entfernt ist und beständig
mit physischer Not, Armut und Krankheit zu kämpfen hat. Die Eliten in
dieser Weise zurückstehender Länder werden der wissenschaftlich fundier-
ten Planung ihre volle Kraft schenken - sie werden auch besonders empfind-
lich sein gegen die retardierenden Wirkungen, die von der religiösen bzw.
gesellschaftlichen Tradition dieser Länder ausgehen. Wenn Sachlichkeit des
Planens unter allen Umständen ein hohes moralisches Niveau der Selbst-
kontrolle verlangt, so wird sie unter solchen Umständen mit po1itischer
Glaubensfahigkeit und bewußter Ideologiekritik verbunden sein. Umge-
kehrt wird man in hochentwickelten Ländern zwar niemals der Phantasie
des Planers, der die menschliche Wohlfahrt zu steigern verspricht, eine
wunschlose Sattheit entgegensetzen. Man wird auch dort Hemmungen des
Fortschritts, die in den Besitzverhältnissen oder in den Profitmäglichkeiten
liegen, zu bekämpfen haben. Aber je mehr Freiheit von äußerer Not und
übermäßiger Arbeit, je mehr Mäßigung des Tempos im Leben der moder-
nen Industriegesellschaft erreichbar scheinen, um so weniger wird man von
der wissenschaftlichen Planung der Zukunft allein das Heil erwarten. Es
handelt sich dabei nicht nur um Unterschiede in der ökonomischen Ent-
wicklung der Länder. Es sind auch die Unterschiede zwischen den alten
172 Ergänzungen
u rVgl. meine Arbeit >Die Idee der Toleranz, in Ges. Werke Bd. 41
Über die Planung der Zukunft 173
hen, daß Gott sich vor uns verborgen hat und wir in der Gottesfinsternis
leben (Martin Buber), oder auch, daß die Frage nach dem >Sein< in totaler
Seinsvergessenheit versinkt, je mehr unsere metaphysische Tradition in der
Herrschaft der Wissenschaft sich vollendet (Martin Heidegger). In solcher
Weise würde sich das philosophische Denken als eine Art weltlicher Escha-
tologie verstehen, d. h. eine Art Erwartung der Umkehr begründen, die
zwar nicht sagen kann, was sie erwartet, aber indem sie die radikalen
Konsequenzen der Gegenwart vorwegnimmt, sich mit der Notwendigkeit
der Umkehr durchdringt. Solcher Radikalität, die sich das äußerste Bewußt-
sein dessen, was ist, zumutet, wird man nachrühmen dürfen, daß sie nicht in
jene Kulturkritik verfallt, deren Unaufrichtigkeit darin besteht, das zu ge-
nießen, was sie verneint, und die eben damit das Bewußtsein dessen verhin-
dert, was wirklich ist. Aber sieht solcher Radikalismus das, was wirklich ist,
selber richtig, wenn er in allem das Nichts sieht?
Es gibt noch eine andere mögliche Antwort auf die Frage, was Bewußt-
machung leisten kann, und diese scheint mir in vollem Einklang mit unse-
rem Bedürfnis, zu wissen, und alles, was wir wissen können, praktisch
werden zu lassen. Könnte es nicht sein, daß der technologische Traum, den
unsere Gegenwart hegt, wirklich ein Traum ist? Denn die immer schnellere
Abfolge von Veränderungen und Umgestaltungen, die unsere Welt erfUllt,
hat tatsächlich, gemessen an den bestandhaften Wirklichkeiten unseres Le-
bens, etwas Phantomhaftes und Unwirkliches. Bewußtmachung dessen,
was ist, könnte gerade dies zum Bewußtsein bringen, wie wenig sich die
Dinge ändern, gerade wo alles sich so radikal zu verändern scheint. Daraus
folgt keineswegs ein Plädoyer fUr die Aufrechterhaltung der bestehenden
Ordnung (und Unordnung). Es handelt sich vielmehr um eine Berichtigung
unseres Bewußtseins, das wieder lernen könnte, hinter dem, was sich ändert
und was man verändern kann und soll, das Unabänderliche und Wirkliche
zu gewahren. Der Konservative und der Revolutionär scheinen mir in der
gleichen Weise solcher Berichtigung ihres Bewußtseins bedürftig. Die un-
veränderlichen und bestandhaften Wirklichkeiten - Geburt und Tod, Jugend
und Alter, Heimat und Fremde, Bindung und Freiheit - verlangen von
jedem Anerkennung. Sie bemessen den Spielraum, innerhalb dessen Men-
schen planen können, und stecken die Grenzen ftir das, was ihnen gelingen
kann. Weltteile und Weltreiche, Revolutionen der Macht und des Denkens,
alle Planung und Einrichtung unseres Lebens auf diesem Planeten - und
außerhalb seiner -, was immer die Wissenschaft vermag, es wird ein Maß
nicht überschreiten können, das vielleicht keiner kennt und das dennoch
allem gesetzt ist.
13. Semantik und Hermeneutik
1968
Es scheint mir kein Zufall, daß unter den Forschungsrichtungen des heuti-
gen Philosophierens die Semantik und die Hermeneutik eine besondere
Aktualität gewonnen haben. Beidc gehen von der sprachlichen Ausdrucks-
gestalt unseres Dcnkens aus. Sie überspringen nicht mehr die primäre Gege-
benheitsform aller geistigen Erfahrung. Sofern sie es beide mit dem Sprach-
lichen zu tun haben, besitzen sie offenkundig heide einen Gesichtspunkt von
echter Universalität. Denn was ist an der sprachlichen Gegebenheit nicht
Zeichen und was ist an ihr nicht ein Moment des Prozesses der Verständi-
gung?
Die Semantik scheint das sprachliche Gegebenheitsfeld gleichsam von
außen beobachtend zu beschreiben, so daß es sogar möglich gewesen ist,
eine Klassifikation der Verhaltensweisen im Umgang mit diesen Zeichen zu
entwickeln. Wir verdanken sie dem amerikanischen Forscher Charles Mor-
ris. Auf der anderen Seite hat die Hermeneutik den Innenaspekt im Ge-
brauch dieser Zeichenwelt im Auge, oder besser den inneren Vorgang des
Sprechens, der sich von außen gesehen als die In-Gebrauchnahme einer
Zeichen welt darsteUt. Beide thematisieren auf ihrem Wege die Totalität des
Weltzuganges, den Sprache darstellt. Und beide tun es. indem sie hinter den
gegebenen Sprach pluralismus zurückfragen.
Es scheint mir das Verdienst der semantischen Analyse, die Totalitäts-
struktur von Sprache bewußt gemacht und damit die falschen Ideale der
Eindeutigkeit von Zeichen bzw. Symbolen und der logischen Formalisier-
barkcit des sprachlichen Ausdrucks zurückgebundcn zu haben. Der hohe
Wert semantischer Strukturanalyse beruht nicht zuletzt darauf, daß sie den
Schein der Selbigkeit auflöst, den das isolierte Wortzeichen erzeugt, und
zwar tut sie das auf verschiedene Weise: sei es in der Form, daß seine
Synonyme bewußt gemacht werden, sei es in der noch weit bedeutungs-
volleren Gestalt, daß sich der einzelne Wort-Ausdruck überhaupt als un-
übertragbar und unaustauschbar erweist. Ich nenne diese zweite Leistung
deshalb bedeutungsvoller, weil sie auf etwas zurückgeht, was hinter aUer
Synonymität steht. Die Mehrheit von Ausdrücken fur dieselben Gedanken,
von Wörtern ftir dieselbe Sache mag, unter dem Gesichtspunkt der bloßen
Semantik und Hermeneutik 175
delbarcn Zuordnungen, sondern kommen auf und sterben ab, so wie sich
der Geist einer Zeit von Jahrzehnt zu Jahrzehnt auch in semantischem
Wandel spiegelt. Man beobaehte etwa das Hineinwachsen englischer Aus-
drücke in das gesellschaftliche Leben unserer Tage. So kann die semantische
Analyse die Unterschiede der Zeiten und den Gang der Geschichte gleich-
sam ablesen und ist insbesondere in der Lage, das Hineinragen einer struktu-
rellen Totalität in eine neue Totalstruktur greifbar zu machen. Ihre deskripti-
ve Präzision erweist die Inkohärenz, die sich bei der Übernahme eines
Wortbereichs in neuen Zusammenhängen ergibt - und solche Unstimmig-
keit weist oft darauf, daß hier wirklich Neues erkannt wurde.
Das gilt auch und insbesondere feir die Logik der Metapher. Die Metapher
hält ja so lange den Schein einer Übertragung fest, d. h. die Metapher wirkt
wie zurückweisend auf den ursprünglichen Sinnbereich, aus dem sie ge-
schöpft ist und aus dem sie in einen neuen Anwendungsbereich übertragen
wurde, als eben dieser Zusammenhang als solcher noch bewußt ist. Erst
wenn das Wort in seinem metaphorischen Gebrauch gleichsam eingewurzelt
ist und den Rezeptions- und Übertragungscharakter verloren hat, beginnt es
seine Bedeutung in neuem Zusammenhang als >eigentliche~ zu entwickeln.
So ist es sicherlich eine bloße schulgrammatische Konvention, wenn man
gewisse Ausdrücke, die wir in der Sprache gebrauchen, wie etwa das Wort
>Blüte(, in ihrer eigentlichen Funktion in der Pflanzenwelt zu Hause erkennt
und die Verwendung dieses Wortes etwa ftir ein lebendiges Wesen oder gar
feir höhere Lebenseinheiten wie die Gesellschaft oder die Kultur als uneigent-
lichen und übertragenen Gebrauch ansieht. Der Aufbau eines Vokabulars
und seiner Verwendungsregeln bringt eben nur den Grundriß dessen zustan-
de, "vas auf diese Weise durch das ständige Hineinwachsen von Ausdrücken
in neue Verwendungsbereiche die Struktur einer Sprache bildet.
Damit ist der Semantik eine gewisse Grenze gesetzt. Gewiß kann man von
der Idee einer totalen Analyse der semantischen Grundstruktur von Sprache
aus alle gegebenen Sprachen als Erscheinungsformen von Sprache über-
haupt ansehen. Aber man \vird dabei die beständige Individualisierungsten-
denz im Sprechen mit der Konventionalitätstendenz, die ebenfalls zu allem
Sprechen gehört, in Spannung antreffen. Denn das macht ja offenbar das
Leben der Sprache aus, daß man sich zwar niemals allzu weit von der Sprach-
konvention entfernen kann. Wer eine Privatsprache spricht, die kein anderer
versteht, spricht überhaupt nicht. Aber auf der anderen Seite: Wer nur eine
Sprache spricht, deren Konventionalität in der Wort\vahl, in der Syntax, im
Stil total geworden ist, verliert die Macht der Anrede und der Evokation, die
durch die Individualisierung des sprachlichen Wortschatzes und der sprachli-
chen Mittel allein erreichbar ist.
Ein gutes Beispiel für diesen Vorgang ist die Spannung, die seit jeher
zwischen Terminologie und lebendiger Sprache besteht. Das ist ein nicht nur
Semantik und Hermeneutik 177
dem Forscher, sondern vor allem gerade auch dem bildungs beflissenen
Laien wohlbekanntes Phänomen, daß sich die Fachausdrücke wie sperrig
erweisen. Es ist so, daß sie eine Art von Sonderumriß besitzen, der sich in
das eigentliche Leben der Sprache nicht einfUgen will. Und dennoch ist
offenbar gerade dies wesentlich rur solche eindeutig definierten Fachaus-
drücke, die in lebendiger Kommunikation in das Leben der Sprache einge-
bettet sind, daß sie ihre durch Eindeutigkeit beengte Aufschlußkraft mit der
kommunikativen Kraft des vieldeutig vagen Sprechens anreichern. Die
Wissenschaft kann sich gegen solche Verunklärung ihrer eigenen Begriffe
gewiß wehren, aber methodische >Reinheit< ist immer nur in partikularem
Bereiche ereichbar. Der Zusammenhang von Weltorientierung, der im
sprachlichen Weltbezug als solchem liegt, geht ihr voraus. Man denke etwa
an den Kraftbegriff der Physik und die Bedeutungstäne, die in dem lebendi-
gen Wort ,Kraft< mitklingen und dem Laien die Erkenntnisse der Wissen-
schaft bedeutsam machen. Ich habe gelegentlich zeigen können, wie New-
tons Leistung auf diese Weise durch Getinger und durch Herder ins allge-
meine Bewußtsein integriert wurde. Der Begriff der Kraft wurde von der
leb~ndigen Erfahrung von Kraft aus verstanden. Eben damit aber wächst das
Begriffswort in die deutsche Sprache ein und wird bis zur Unübersetzbarkeit
individualisiert. Oder wer will Goethes: »Im Anfang war die Kraft« in einer
anderen Sprache wiedergeben, ohne mit Goethe zu zögern: »Schon warnt
mich was, daß ich dabei nicht bleibe«?
Sieht man auf die Individualisierungstendenz, die in der lebendigen Spra-
che als solcher zu Hause ist, dann wird man in der Tat im dichterischen
Gebilde die Perfektion dieser Individualisierungstendenz erkennen. Wenn
das aber richtig ist, dann wird es fraglich, ob die Substitutionstheorie dem
Begriff des Sinnes des sprachlichen Ausdrucks wirklich Genüge tut. Die
Unübersetzbarkeit, die im Extremfall das lyrische Gedicht auszeichnet, so
daß es überhaupt nicht mehr von einer Sprache in eine andere übertragen
werden kann, ohne seine gesamte dichterische Sagkraft einzubüßen, läßt die
Idee der Substitution, des Eintretens eines Ausdrucks rur einen anderen,
offenkundig scheitern. Das scheint aber auch unabhängig von dem besonde-
ren Phänomen einer hochindividualisierten Dichtungssprache von allgemei-
ner Bedeutung. Substituierbarkeit widerstreitet, wenn ich recht sehe, dem
individualisierenden Moment im Sprach vollzug als solchem. Auch dort, wo
wir im Sprechen etwa einen Ausdruck durch einen anderen ersetzen oder
neben einen anderen setzen, in der Abundanz der Rhetorik oder in der
Selbstkorrektur des Redners, der den besseren Ausdruck nicht sogleich
fand, baut sich die Sinnmeinung der Rede im Fortgang der einander ablösen-
den Ausdrücke auf und nicht im Heraustreten aus dieser fließenden Einma-
ligkeit. Ein Heraustreten aber ist es, wenn man an die Stelle eines gebrauch-
ten Wortes ein mit ihm sinnidentisches anderes zu setzen unternimmt. Man
178 Ergänzungen
gelangt hier an den Punkt, an dem Semantik sich selbst autbebt und in etwas
anderes übergeht. Semantik ist eine Lehre vom Zeichen, insbesondere von
den sprachlichen Zeichen. Zeichen aber sind Mittel. Sie \verden nach Belie-
ben in Gebrauch genommen und weggelegt wie alle anderen Mittel mensch-
licher Tätigkeit auch. )Man beherrscht seine Mittel<, heißt: )man setzt sie
zweckentsprechend ein<. So sagen wir gewiß auch, daß man eine Sprache
beherrschen muß, \venn man sich in dieser Sprache mitzuteilen unternimmt.
Aber das wirkliche Sprechen ist mehr als die Wahl von Mitteln zur Errei-
chung bestimmter Kommunikationszielc. Die Sprache, die man beherrscht,
ist so, daß man in ihr lebt, d. h. das, was man mitteilen möchte, gar nicht
anders als in sprachlicher Form ,kennk Daß man seine Worte >wählt<, ist ein
kommunikativ erzeugter Anschein oder Effekt, in dem das Sprechen ge-
hemmt ist. >Freies< Sprechen fließt dahin in der selbstvergessenen Hingabe
an die Sache, die im Medium der Sprache evoziert wird. Das gilt sogar vom
Verstehen schriftlich fixierter Rede, von Texten. Denn auch Texte werden,
wenn man sie versteht, in die Sinnbewegung der Rede wieder einge-
schmolzen.
So taucht hinter dem Untersuchungsfcld, das die sprachliche Verfassung
eines Textes als ein Ganzes analysiert und seine semantische Struktur heraus-
hebt, noch eine andere Frage- und Forschungsrichtung auf, eben die herme-
neutische. Sie hat ihren Grund darin, daß Sprache immer auch hinter sich
selber und hinter die Ausdrücklichkeit, die sie darstellt, zurückweist. Sie
geht gleichsam nicht aufin dem, was in ihr ausgesagt ist, \vas in ihr zu Worte
kommt. Die hermeneutische Dimension, die sich hier auftut, bedeutet
offenbar eine Begrenzung der Objektivierbarkeit dessen, was man denkt
und mitteilt, überhaupt. Der sprachliche Ausdruck ist nicht einfach ungenau
und verbesserungs bedürftig, sondern bleibt immer und notwendig, gerade
wenn er das ist, was er sein kann, hinter dem zurück, was er evoziert und
mitteilt. Denn im Sprechen \vird ständig ein in ihn gelegener Sinn impliziert,
der nur als hintergründiger Sinn seine Sinnfunktion ausübt, ja der seine
Sinnfunktion geradezu verliert, wenn er in die Ausdrücklichkeit gehoben
wird. Ich möchte, um das zu verdeutlichen, zwei Formen unterscheiden, in
denen sich das Sprechen in dieser Weise hinter sich selbst zurückbewegt: das
im Sprechen Ungesagte und doch durch das Sprechen Präsent gemachte,
und ferner das durch das Sprechen geradezu Verdeckte.
Wenden wir uns zunächst dem trotz seiner Ungesagtheit Gesagten zu. Was
sich hier auftut, ist der große Bereich der Okkasionalität alles Redens, die
den Sinn der Rede mit ausmacht. Okkasionalität. das heißt Abhängigkeit
von der Gelegenheit, in der ein Ausdruck gebraucht wird. Die hermeneuti-
sche Analyse vermag zu zeigen, daß solche Abhängigkeit von der Gelegen-
heit nicht selber eine gelegentliche ist, wie etwa die sogenannten okkasionel-
len Ausdrücke von dem Typus >Hier< oder )Dies<, die ja offenkundig in ihrer
Semantik und Hermeneutik 179
nen ein harmloser Fall des Verdeckcns. Nicht nur weil Lügen kurze Beine
haben, sondern weil sie in ein sprachliches Weltverhalten eingebettet sind,
das sich in ihnen insofern bestätigt, als der kommunikative Wahrheitswert
des Sprechens in ihnen vorausgesetzt ist und sich im Durchschauen oder
Aufdecken der Lüge wiederherstellt. Der einer Lüge Überfuhrte erkennt
denselben an. Erst dort, wo die Lüge nicht mehr ihrer selbst als solcher
Verdeckung bewußt ist, gewinnt sie einen neuen, den gesamten Welt bezug
bestimmenden Charakter. Wir kennen dieses Phänomen als die Verlogen-
heit, in der sich der Sinn rur das Wahre und die Wahrheit überhaupt verloren
hat. Solche Verlogenheit bekennt sich nicht ein, sie sichert sich gegen ihre
Entlarvung durch Reden selbst. Sie hält sich selbst fest, indem sie den
Schleier der Rede über sich breitet. Hier begegnet die Macht der Rede, wenn
auch immer noch in der Hloßstellung eines gesellschaftlichen Verdiktes, in
ihrer totalen und allumfassenden Entfaltung. Verlogenheit wird dadurch
exemplarisch fur die Selbstentfremdung, die dem sprachlichen Bewußtsein
zu widerfahren vermag und die nach Auflösung durch die Anstrengung der
hermeneutischen Reflexion verlangt. Hermeneutisch gesehen bedeutet fur
den Partner die Erkenntnis von Verlogenheit, daß der andere aus der Kom-
munikation ausgeschlossen wird, weil er zu sich selbst nicht steht.
Denn Hermeneutik greift sonst dort ein, wo sich Verständigung und
Selbstversrändigung nicht ergeben will. Die beiden machtvollen Formen
von Verdeckung durch Sprechen, denen sich die hermeneutische Reflexion
vor allem zuzuwenden hat und die ich im folgenden erörtern möchte.
betreffen eben diese Verdeckung durch Sprechen, die das gesamte Weltver-
halten bestimmt. Die eine ist die stillschweigende Inanspruchnahme von
Vorurteilen. Es ist eine Fundamentalstruktur unseres Sprechens überhaupt,
daß wir von Vorbegriffen und einem Vorverständnis in unserem Reden
derart dirigiert werden, daß dieselben sich ständig verdeckt halten und daß
es einer eigenen Brechung des in der Intentionsrichtung des Redens Liegen-
den bedarf, um die Vorurteile als solche bewußt zu machen. Im allgemeinen
leistet das eine neue Erfahrung. Durch sie wird eine Vormeinung unhaltbar.
Aber die tragenden Vorurteile sind machtvoller und sichern sich dadurch ab,
daß sie selbstverständliche Gewißheit fur sich in Anspruch nehmen oder gar
sich als vermeintliche Vorurteilslosigkeit darstellen und dadurch ihre Gel-
tung befestigen. Wir kennen diese sprachliche Gestalt des Befestigens von
Vorurteilen als die hartnäckige Wiederholung, die aller Dogmatik eigen ist.
Wir kennen sie aber auch aus der Wissenschaft, wenn etwa um des voraus set-
zungslosen Erkennens willen und um der Objektivität der Wissenschaft
willen die Methode einer bewährten Wissenschaft wie der Physik ohne
methodische Modifikation auf andere Gebiete, etwa auf die Erkenntnis der
Gesellschaft, übertragen wird. Und mehr noch, wenn, wie das in unserer
Zeit mehr und mehr geschieht, die Wissenschaft als die oberste Instanz
182 Ergänzungen
selber leitet, ich denke etwa an ,das sprachlose Staunen{ oder ,das stumme
Bewundem{? Was uns so begegnet, sind Phänomene, von denen wir gerade-
zu sagen können: Das verschlägt uns die Sprache. Und es verschlägt uns die
Sprache offenbar gerade dadurch, daß es so sehr einleuchtet, daß es allzu
groß dasteht vor unserem immer mehr erfassenden Blick, als daß Worte
hinreichen könnten, es zu fassen. Ist das nicht eine allzu kühne Behauptung,
zu sagen, das sei auch noch eine Form der Sprachlichkeit, daß es einem die
Sprache verschlägt' Sollte das nicht jener absurde Dogmatismus der Philo-
sophen sein, die immer wieder und immer noch einmal die Dinge auf den
Kopf zu stellen versuchen, die ganz gut auf ihren Beinen stehen? Indessen,
wenn es einem die Sprache verschlägt, so heißt das, daß man so viel sagen
möchte, daß man nicht weiß, wo beginnen. Das Versagen der Sprache
bezeugt ihr Vermägen, rur al/es Ausdruck zu suchen - und so ist es ja selbst
geradezu eine Redensart, daß es einem die Sprache verschlägt - und eine
solche, mit der man seine Rede nicht beendet, sondern beginnt.
Das möchte ich vor allem an dem ersten von mir angeftihrten sprachlichen
Gegenbeispiel zeigen, nämlich daß wir von )stillem Einverständnis< reden.
Welches ist der hermeneutische Stellenwert dieser sprachlichen Wendung?
Die Problematik des Verstehens, die wir heute so vielfaltig diskutiert finden,
ins besondere in all den Wissenschaften, in denen sich keine exakten Metho-
den der Verifikation anbieten, besteht darin, daß es dort eine bloße innere
Evidenz des Verstehens ist, die plötzlich aufleuchtet, zum Beispiel, wenn ich
einen Satzzusammenhang, eine Aussage von irgend jemandem in einer
bestimmten Situation plötzlich verstehe. Das heißt, wenn es mir plötzlich
ganz klar und greifbar ist, mit welchem Recht der andere das sagt, was er
sagt, oder auch mit welchem Unrecht. Solche Erfahrungen des Verstehens
setzen offenkundig immer Schwierigkeiten im Verstehen voraus, die Ge-
störtheit des Einverständnisses. So beginnt alle Anstrengung des Verstehen-
wollens damit, daß einem etwas, was einem begegnet, befremdlich, heraus-
fordernd, desorientierend entgegentritt.
Die Griechen hatten ein sehr schönes Wort ftir das, wobei unser Verstehen
zum Stocken kommt, sie nannten das das atopon. Das heißt eigentlich: Das
Ortlose, das, was nicht unterzubringen ist in den Schematismen unserer
Verstehenserwartung und das uns deswegen stutzen läßt. Die berühmte
platonische Lehre, daß das Philosophieren mit dem Staunen beginnt, meint
dieses Stutzen, dieses Nichtweiterkommen mit den vorschematisierten Er-
wartungen unserer Weltorientierung, das zum Denken aufruft. Aristoteles
beschreibt es einmal sehr hübsch, daß das, was wir erwarten, davon ab-
hängt, wieviel Einsicht wir in einen Zusammenhang haben, und er nennt als
Beispiel: Wenn einer sich darüber wundert, daß die Wurzel aus zwei irratio-
nal ist, daß also das Verhältnis von Diagonale und Seitenlänge eines Qua-
drats nicht rational ausdrückbar ist, so sieht man daran, daß er kein Mathe-
186 Ergänzungen
matiker ist; ein Mathematiker würde sich wundern, wenn jemand dieses
Verhältnis für rational hielte. So relativ ist dies Stutzen, so schr bezogen auf
Wissen und tieferes Eindringen in die Sachen. All dies Stutzen und Staunen
und im Verstehen Nichtweiterkommen ist offenkundig immer auf Weiter-
kommen, auf eindringlichere Erkenntnis angclegt~
Ich behaupte daher: wir müssen das Phänomen des Verstehens aus der
Bevorzugung der Verstehensstärung bewußt herausdrehen, "venn wir sei-
nen Ort im ganzen unseres Menschseins, auch unseres sozialen Mensch-
seins, wirklich in den Blick bekommen wollen. Einverständnis ist vorausge-
setzt, wo es Gestörtheit von Einverständnis gibt. Es sind die rdativ seltenen
Hindernisse in der Verständigung und im Einverständnis, an denen sich
allererst die Aufgabe gezielten Verstehen-Wollens stellt, das zur Behebung
eines gestörten Verstehens fUhren soll. Mit anderen Worten, das Beispiel des
>stillen Einverständnisses< ist so wenig ein Einwand gegen die Sprachlichkcit
des Verstehens, daß es der Sprachlichkeit des Verstehens vielmehr ihre Weite
und Universalität sichert. Das scheint mir eine Grundwahrheit, die es wie-
der zu Ehren zu bringen gilt, nachdem wir durch einige Jahrhunderte den
Methodenbegriff der modernen Wissenschaft fur unser Selbstverständnis
absolutgesetzt haben,
Die moderne Wissenschaft ist die im 17. Jahrhundert entstehende Wissen-
schaft, die auf den Gedanken der Methode und des methodischen Sicherns
des Erkenntnisfortschritts gegründet ist. Sie hat unseren Planeten in einer
einzigartigen Weise verändert, indem sie eine Form des Zugangs zur Welt
privilegiert hat, der weder der einzige noch der umfassendste Zugang ist,
den wir besitzen. Es ist der Zugang, der durch methodische Isolierung und
bewußte Befragung - im Experiment - die partikularen Bereiche, die durch
solche Isolierung thematisiert werden, einem neuen Zugriff unseres Tuns
aufbereitet. Das war die große Leistung der mathematischen Naturwissen-
schaften, im besonderen der Galileischen Mechanik im 17, Jahrhundert,
Bekanntlich ist die geistige Leistung der Entdeckung der Gesetze des freien
Falls, der schiefen Ebene, nicht durch bloße Beobachtung erbracht worden.
Es gab kein Vakuum. Der freie Fall war eine Abstraktion. Jeder erinnert sich
wohl noch an das eigene Staunen über das Experiment, das er in der
Schulstube erlebte, wie da im relativen Vakuum das Bleiblättchen und die
Bettfeder gleich schnell fallen. Für Galilei war es eine Isolierung von Bedin-
gungen, die in der Natur so gar nicht vorkommen, wenn er vom Widerstand
des Mediums abstrahierte. Nur solche Abstraktion aber ermöglicht die
mathematisch exakte Beschreibung der Faktoren, die ein Resultat im Natur-
geschehen bilden, und damit den kontrollierten Eingriff des Menschen.
Die Mechanik, die Galilei so aufbaute, ist in der Tat die Mutter unserer
technischen Zivilisation. Hier ist eine ganz bestimmte methodische Er-
kenntnisweise aufgekommen, die die Spannung zwischen unserem unme-
Sprache und Verstehen 187
Einverständnis. Das, scheint mir, gibt der Universalität des Verstehens ihre
volle Legitimation.
Aber warum ist die Erscheinung des Verstehens eine sprachliche? Warum
bedeutet das >stille Einverständnis<, das sich immer wieder herstellt als die
Gemeinsamkeit der Weltorientierung, Sprachlichkeit? So fragen impliziert
die Antwort. Es ist die Sprache, die diese Gemeinsamkeit der Wcltoricntie-
rung ständig aufbaut und trägt. Miteinandersprechen ist nicht primär Sich-
miteinander-Auseinandersetzen. Es scheint mir bezeichnend ftir Spannun-
gen innerhalb der Moderne, daß sie diese Wendung unserer Sprache so liebt.
Miteinanderreden ist auch nicht primär Aneinandervorbeireclen. Im Mitein-
anderreden baut sich vielmehr ein gemeinsamer Aspekt des Beredeten auf.
Das macht die eigentliche Wirklichkeit menschlicher Kommunikation aus,
daß das Gespräch nicht die Meinung des einen gegen die Meinung des
anderen durchsetzt oder die Meinung des einen zu der Meinung des anderen
wie in einer Addition hinzufUgt. Das Gespräch verwandelt beide. Ein ge-
lungenes Gespräch ist von der Art, daß man nicht wieder zurückfallen kann
in den Dissensus, aus dem es sich entzündete. Gemeinsamkeit, die so sehr
gemeinsam ist, daß sie nicht mehr mein Meinen und dein Meinen ist,
sondern gemeinsame Ausgelegtheit der Welt, macht erst sittliche und soziale
Solidarität möglich. Was recht ist und als Recht gilt, verlangt seinem Wesen
nach die Gemeinsamkeit, die sich im Sich-Verstehen der Menschen errich-
tet. Gemeinsames Meinen baut sich in der Tat ständig im Miteinanderspre-
chen auf und sinkt dann zurück in die Stille des Einverständnisses und des
Selbstverständlichen. Aus diesem Grunde scheint mir die Behauptung ge-
rechtfertigt, daß alle außerverbalen Formen des Verstehens zurückzielen auf
das Verstehen, das sich im Sprechen und Miteinandersprechen ausbreitet.
Wenn ich von dieser Einsicht ausgehe, so heißt das nicht mehr, als daß in
allem Verstehen eine potentielle Sprachbezogenheit liegt, so daß es immer
möglich ist - das ist der Stolz unserer Vernunft -, dort, wo ein Dissensus
auftaucht, durch Miteinanderreden Einverständnis anzubahnen. Es wird
uns nicht immer gelingen, aber unser Sozialleben beruht auf der Vorausset-
zung, daß das im Miteinander-Reden im weitesten Umfange gelingt, was
im Sichversteifen auf seine eigenen Meinungen sich versperrt. Es ist daher
auch ein schwerer Irrtum, wenn jemand meint, daß die Universalität des
Verstehens, von der ich hier ausgehe und die ich glaubhaft zu machen suche,
etwa eine besondere harmonisierende oder konservative Grundhaltung zu
unserer gesellschaftlichen Welt einschließe. Die Fügungen und Ordnungen
unserer Welt )verstehen<, uns miteinander in dieser Welt verstehen, setzt
ganz gewiß ebenso viel Kritik und Bekämpfung von Erstarrtem oder einem
Fremdgewordenen voraus wie Anerkennung oder Verteidigung bestehen-
der Ordnungen.
Das zeigt sich wiederum in der Art, wie wir miteinander sprechen und
Sprache und Verstehen 189
sent, und die Präsenz all dieses Mitpräsenten macht die Evokationskraft aus,
die in der lebendigen Rede liegt. Daher läßt sich sagen, daß jedes Sprechen
ins Offene des Weitcrsprechens weist. Stets ist mehr und mehr in der
Richtung zu sagen, in der das Sprechen einsetzte. Darin liegt die Wahrheit
der These begründet, daß Sprechen im Element des ,Gesprächs< vor sich
geht.
Wenn man das Phänomen der Sprache nicht von der isolierbarcn Aussage
her, sondern von der Totalität unseres Weltverhaltens aus faßt, die zugleich
ein Gesprächsleben ist, dann wird besser verständlich, warum das Phäno-
men der Sprache so rätselhaft, anziehend und abweisend zugleich, ist. Spre-
chen ist die am tiefsten selbstvergessene Handlung, die wir als vernünftige
Wesen überhaupt ausfuhren. Jedermann kennt die Erfahrung, wie man beim
eigenen Sprechen stockt und einem die Worte in dem Augenblick ausgehen,
in dem man auf sie bewußt achtet. Eine hübsche kleine Geschichte, die ich
mit meiner kleinen Tochter erlebt habe, kann das illustrieren: Sie sollte
}Erdbeeren< schreiben und fragte, wie das geschrieben wird. Als man es ihr
sagte, bemerkte sie: I) Komisch, wenn ich das so höre, verstehe ich das Wort
überhaupt nicht mehr. Erst wenn ich es wieder vergessen habe, bin ich
wieder in dem Worte drin. « So Drinsein im Worte, daß man ihm nicht als
Gegenstand zugewendet ist, ist offenbar der Grundmodus alles sprachlichen
Verhaltens. Die Sprache hat eine bergende und sich selbst verbergende
Kraft, so daß das, was in ihr geschieht, vor dem Zugriff der eigenen
Reflexion geschützt ist und gleichsam im Unbewußten geborgen bleibt.
Wenn man das entbergend-bergende Wesen der Sprache erkannt hat, dann
wird man über die Dimensionen der Aussagelogik hinausgenötigt und
dringt in weitere Horizonte vor. Innerhalb der Lebenseinheit der Sprache ist
die Sprache der Wissenschaft stets nur ein integriertes Moment, und im
besonderen gibt es solche Weisen des Wortes wie die, die wir im philo-
sophischen, im religiösen und im dichterischen Sprechen vor uns haben. In
ihnen allen ist das Wort etwas anderes als der selbstvergessene Durchgang
zur Welt. Wir sind in ihm zuhause. Es ist wie eine Art Bürge für das, wovon
es spricht. Das liegt besonders im dichterischen Sprachgebrauch klar vor
aller Augen.
15. Wie weit schreibt Sprache
das Denken vor?
1970
Das erste, was wir uns hier klarmachen müssen, ist: Warum ist das für
uns eine Frage? Welcher Verdacht oder welche Kritik an unserem Denken
steht hinter dieser Frage? Es ist der grundsätzliche Zweifel daran, ob wir
überhaupt aus dem Bannkreis unserer sprachlichen Erziehung, unserer
sprachlichen Gesittung und unserer sprachlich vermittelten Denkweise
herauszutreten vermögen und uns der Begegnung mit einer Wirklichkeit
auszusetzen wissen, die unseren Vormeinungen, Vorformungen, Vorer-
wartungen nicht entspricht. Dieser Verdacht besteht unter den heutigen
Bedingungen, d. h. angesichts der verbreiteten Beunruhigung unseres
menschlichen Daseinsbewußtseins in bezug auf die Zukunft der Mensch-
heit, als ein langsam in unser aller Bewußtsein tretender Verdacht, daß,
wenn wir so weitermachen, wenn wir die Industrialisierung und Profitie-
rung unseres menschlichen Daseinsbewußtseins in bezug auf die Zukunft
der Menschheit, als ein langsam in unser aller Bewußtsein tretender Ver-
dacht, daß, wenn wir so weitermachen, wenn wir die Industrialisierung
und Profitierung unserer menschlichen Arbeit so weitertreiben und unse-
ren Planeten mehr und mehr zu einer großen arbeitenden Fabrik organi-
sieren, wir die Lebensbedingungen des Menschen im biologischen Sinne
sowohl wie im Sinne seiner eigenen humanen Ideale bis zur Selbstver-
nichtung gefahrden. So kommt es, daß wir heute mit besonderer Wach-
heit fragen, ob in unserem Weltverhalten nicht etwas falsch ist und ob wir
vielleicht schon in unserer durch Sprache vermittelten Welterfahrung Vor-
urteilen unterliegen oder, was noch schlimmer wäre, ob wir Zwangsläu-
figkeiten ausgeliefert sind, die bis auf die sprachliche Strukturierung unse-
rer ersten Welterfahrung zurückgehen und uns sozusagen sehenden Auges
in eine unheilvolle Sackgasse rennen lassen. Es zeichnet sich langsam ab,
daß, wenn wir so weitermachen - das ist zwar nicht auf den Tag auszu-
rechnen, aber es ist ganz sicher vorauszusagen -, das Leben auf diesem
Planeten unmöglich wird. Das ist so sicher vorauszusagen, als wenn wir
einen Zusammenstoß mit einem anderen großen Gestirn auf Grund astro-
nomischer Rechnungen voraussagen müßten. So ist es ein Thema von
200 Ergänzungen
Dialektik. FS fur H.-G. Gadamer 2 Bde., hrsg. vonR. Bubner, K. Cramerund R. Wiehl,
Tübingen 1970, Bd. 1, S. 73-104, und meine Arbeit >Die Universalität des hermeneuti-
schen Problems<, unten S. 219ff.]
204 Ergänzungen
Man versteht sofort, was ftir eine Frage hier gestellt wird und von welcher
Tatsache die Frage ihren Ausgang nimmt. Ist die Kunst des Gesprächs im
Verschwinden? Beobachten wir nicht itn gesellschaftlichen Leben unserer
Zeit eine zunehmende Monologisierung des menschlichen Verhaltens? Ist
das eine allgemeine Erscheinung unserer Zivilisation, die mit der wissen-
schaftlich-technischen Denkweise derselben zusammenhängt? Oder sind es
besondere Erfahrungen der Selbstentfremdung und der Vereinsamung in
der modernen Welt, die den Jiingeren den Mund verschließen? Oder ist es
gar die entschlossene Abkehr von allem Verstäncligungswillen und eine
verbissene Auflehnung gegen die Schein verständigung, die im öffentlichen
Leben herrscht, die von den anderen als Unfahigkeit zum Gespräch beklagt
wird? Das sind die Fragen, die jedem sofort kommen, wenn er das Thema
hört, um das es hier geht.
Dabei ist die Fähigkeit zum Gespräch eine natürliche Ausstattung des
Menschen. Aristoteles hat den Menschen das Wesen genannt, das Sprache
hat, und Sprache ist nur im Gespräch. Mag immer Sprache kodifizierbar
sein, in Wörterbuch, Gralnmatik und Literatur eine relative Fixierung haben
- ihre eigene Lebendigkeit, ihr Veralten und Sich-Erneuern, ihre Vergröbe-
rung und ihre Verfeinerung bis zu den hohen Stilformen literarischer Kunst,
a11 das lebt von dem lebendigen Austausch der miteinander Sprechenden.
Sprache ist nur im Gespräch.
Aber wie verschieden ist die Rolle, die das Gespräch unter Menschen
spielt. Ich habe einmal in einem Berliner Hotel eine Militärdelegation finni-
scher Offiziere beobachten können, die um einen großen runden Tisch
saßen, schweigsam und in sich gekehrt, und zwischen einem jeden und
seinem Nachbarn erstreckte sich die weite Tundra ihrer Seelenlandschaft wie
eine nicht zu überbrückende Distanz. Und wer hat nicht schon als reisender
Nordländer die beständige Brandungswelle des Gesprächs bestaunt, die auf
den Märkten und Plätzen südlicher Länder, Spaniens etwa oder Italiens, sich
rauschend und donnernd überschlägt! Aber vielleicht sollte man weder das
eine als einen Mangel an Gesprächsbereitschaft noch das andere als eine
besondere Begabung zum Gespräch betrachten. Denn vielleicht ist Gespräch
208 Ergänzungen
doch noch etwas anderes als der in seiner Lautstärke wechselnde Umgangs-
stil des geselligen Lebens. Und sicher ist bei der Klage über die Unfähigkeit
zum Gespräch nicht das gemeint. Gespräch ist in einem anspruchsvolleren
Sinne zu verstehen.
Machen wir es uns an einem Gegenphänomen klar, das vielleicht nicht
ohne Schuld daran ist, daß die Fähigkeit zum Gespräch so im Rückgang ist:
Ich meine das Telefongespräch. Es ist uns so gewohnt geworden, daß wir
lange Gespräche am Telefon fUhren, und zwischen einander nahestehenden
Menschen ist die kommunikative Verarmung, die beim Telefon durch die
Beschränkung auf das Akustische gegeben ist, kaum fUhlbar. Aber das
Problem des Gespräches stellt sich ja gar nicht in solchen Fällen, in denen
eine enge Verwehung des Lebens zweier Menschen auch die Fäden des
Gesprächs fort- und fortspinnt. Die Frage der Unfähigkeit zum Gespräch
meint vielmehr, ob man sich überhaupt so weit öffnet und den anderen offen
findet, damit die Fäden des Gesprächs hin- und herlaufen können. Hier ist
die Erfahrung des Telefongesprächs dokumentarisch wie ein photographi-
sches Negativ. Was am Telefon fast gar nicht möglich ist, ist jenes Hinhor-
chen auf die offene Bereitschaft des anderen, sich auf ein Gespräch einzulas-
sen, und was einem am Telefon nie zuteil wird, ist jene Erfahrung, durch die
Menschen einander nahezukommen pflegen, daß man Schritt für Schritt
tiefer in ein Gespräch gerät und am Ende so in dasselbe verwickelt ist, daß
eine erste nicht wieder abreißende Gemeinsamkeit zwischen den Partnern
des Gesprächs entstanden ist. Ich nannte das Telefongespräch eine Art pho-
tographischen Negativs. Denn eben die Sphäre des Tastens und Horchens,
durch die hindurch Menschen einander näher kommen, wird durch die
künstliche Nälierung, die der Draht vermittelt, gleichsam fühllos durchsto-
ßen. Etwas von der Brutalität des Störens bzw. des Gestörtwerdens bleibt an
jedem telefonischen Anruf haften, auch wenn der Partner noch so sehr
versichert, wie er sich über den Anruf freue.
An unserem Vergleich wird zum ersten Male ftihlbar, wie weit die Bedin-
gungen echten Gesprächs gespannt sind, damit das Gespräch in die Tiefe
menschlicher Gemeinsamkeit zu fuhren vermag, und welche Gegenkräfte in
der modernen Zivilisation ihre Ausbreitung gefunden haben, die dem entge-
genstehen. Die moderne Informationstechnik, die vielleicht erst in den
Anfängen ihrer technischen Perfektion steht und, wenn man den techni-
schen Propheten glauben darf, Buch und Zeitung und erst recht die echte
Belehrung, die aus menschlichen Begegnungen zu erwachsen vermag, bald
ganz überflüssig machen wird, ruft uns ihr Gegenteil ins Gedächtnis, die
Charismatiker des Gesprächs, die die Welt verändert haben: Konfuzius und
Goutama Buddha, Jcsus und Sokrates. Wir lesen ihre Gespräche zwar, aber
sie sind die Aufzeichnungen anderer, die das eigentliche Charisma des
Gesprächs nicht zu erhalten und zu wiederholen vermögen, das nur in der
Die Unfahigkeit zum Gespräch 209
lebendigen Spontaneität des Fragens und Antwortens, des Sagens und Sich-
gesagt-sein-Lassens anwesend ist. Gleichwohl sind gerade solche Aufzeich-
nungen von einer besonderen dokumentarischen Kraft. In gewissem Sinne
sind sie Literatur, das heißt, sie setzen eine Kunst des Schreibens voraus, die
mit literarischen Mitteln eine lebendige Wirklichkeit zu evozieren und zu
gestalten weiß. Aber im Unterschiede zu den dichterischen Spielen der
Einbildungskraft behalten solche Aufzeichnungen eine einzigartige Durch-
lässigkeit auf etwas hin, das hinter ihnen die eigentliche Wirklichkeit und
das eigentliche Geschehen war. Der Theologe Franz Overbeck hat das
richtig beobachtet und in der Anwendung auf das Neue Testament den
Begriff der >Urliteratur< geprägt, die der eigentlichen Literatur so voraus-
liegt wie die Urzeit der geschichtlichen Zeit.
Es ist nützlich, sich hier noch an einem anderen, analogen Phänomen Zu
orientieren. Die Unfahigkeit Zum Gespräch ist ja nicht das einzige kommu-
nikative Schwundphänomen, das wir kennen. Länger schon beobachten wir
das Verschwinden des Briefes und der Korrespondenz. Die großen Brief-
schreiber des 17. und 18. Jahrhunderts gehören der Vergangenheit an. Das
Zeitalter der Postkutsche war offenbar dieser Form der Kommunikation,
wo man mit wendender Post - das meint ganz buchstäblich das Wenden der
Postpferde - einander antwortete, günstiger als das technische Zeitalter der
fast vollen Gleichzeitigkeit von Frage und Antwort, die das telefonische
Gespräch auszeichnet. Wer Amerika kennt, weiß, daß dort noch sehr viel
weniger Briefe geschrieben werden als in der Alten Welt. Tatsächlich ist, was
man brieflich einander mitteilt, auch in der Alten Welt so reduziert, so sehr
auf Dinge beschränkt, die weder sprachliche Gestaltungskraft noch seelische
EinfUhlungskraft noch produktive Einbildungskraft brauchen können oder
verlangen, daß der Fernschreiber es eigentlich besser macht als die Schreibfe-
der. Der Brief ist eine Art rückständigen Informationsmittels geworden.
Auch auf dem Gebiete des philosophischen Denkens hat das Phänomen
des Gesprächs und insbesondere jene ausgezeichnete Form des Gesprächs,
die man das Gespräch unter vier Augen, den Dialog nennt, eine Rolle
gespielt, und zwar in derselben Gegenstellung wie die, die wir uns als ein
allgemeines Kulturphänomen soeben bewußt gemacht haben. Es war vor
allem die Epoche der Romantik und ihre Wiederholung im 20. Jahrhundert,
die dem Phänomen des Gesprächs eine kritische Rolle gegenüber der ver-
hängnisvollen Monologisierung des philosophischen Denkens zuwies. Mei-
ster des Gesprächs wie Friedrich Schleiermacher, dieses Genie der Freund-
schaft, oder Friedrich Schlegel, dessen allgemeine Reizbarkeit ihn mehr im
Gespräch sich verströmen ließ, als etwas zu bleibender Gestaltung zu brin-
gen, waren zugleich der philosophische Anwalt einer Dialektik, die dem
platonischen Vorbild des Dialogs, des Gesprächs, einen eigenen Wahrheits-
vorrang zusprach. Es ist leicht begreiflich, worin dieser Vorrang liegt. Wenn
210 Ergänzungen
16 rVgl. meinen Beitrag in der FS fUr U. Hölscher (Würzburg 1985) >Freundschaft und
Selbsterkenntnis<, in Ges. Werke Bd. 7]
212 Ergänzungen
die Gefahr des Katheders, die wir alle kennen. Ich erinnere mich aus meiner
Studienzeit einer Seminarübung bei Husser!. Solche Übungen sollen ja
bekanntlich nach Möglichkeit Forschungsgespräche und mindestens päd-
agogische Gespräche pflegen. Husserl, der in den frühen zwanziger Jahren
als der Freiburger Meister der Phänomenologie von einem tiefen Missions-
drang beseelt war und in der Tat eine bedeutende philosophische Lehrtätig-
keit ausübte, war kein Meister des Gesprächs. Injener Seminarsitzung stellte
er am Anfang eine Frage, bekam eine kurze Antwort und ging dann auf diese
Antwort zwei Stunden lang in einem ununterbrochenen Lehrmonolog ein.
Als er am Ende der Sitzung mit seinem Assistenten Heideggcr aus dem Saale
ging, sagte er zu ihm: ))Heute war es einmal eine anregende Diskussion.«-
Es sind Erfahrungen solcher Art, die heute zu etwas wie einer Krisis der
Vorlesung geruhrt haben. Die Unfahigkeit zum Gespräch besteht hier vor
allem auf der Seite des Lehrers, und sofern der Lehrer der eigentliche
Vermittler der Wissenschaft ist, auf der monologischen Struktur der moder-
nen Wissenschaft und Theorienbildung. Man hat im Hochschulleben immer
wieder Versuche gemacht, die Vorlesung durch Diskussion aufzulockern,
und hat dabei freilich auch die umgekehrte Erfahrung machen müssen, daß
das Umspringen von der rezeptiven Haltung des Zuhörers zu der Initiative
des Fragens und Opponierens äußerst schwierig ist und nur selten gelingt.
Am Ende liegt in der Lehrsituation, sowie sie über die Intimität eines
Gesprächs im kleinen Kreise hinaus ausgeweitet ist, eine unautbebbarc
Schwierigkeit rur das Gespräch. Plato hat das bereits wohl gewußt; ein
Gespräch ist nie mit vielen zugleich möglich oder auch nur in der Anwesen-
heit vieler. Unsere sogenannten Podiumsdiskussionen, diese Gespräche am
halbrunden Tisch, sind immet auch halb tote Gespräche. Es gibt aber
andere, echte, d. h. individualisierte Gesprächssituationen, in denen das
Gespräch seine eigentliche Funktion behält. Ich möchte drei Typen unter-
scheiden: das Verhandlungsgespräch, das Heilgespräch und das vertrauliche
Gespräch.
Schon im Worte Verhandlungsgespräch liegt eine Betonung der Wechsel-
seitigkeit, in der hier die Gesprächspartner aufeinander zukommen. Gewiß
handelt es sich hier um Formen sozialer Praxis. Verhandlungen zwischen
Geschäftspartnern oder auch politische Verhandlungen haben nicht den
Charakter der sogenannten wechselseitigen Aussprache von Personen. Hier
leistet das Gespräch, wenn es erfolgreich ist, zwar auch einen Ausgleich, und
das ist seine eigentliche Bestimmung, aber die Personen, die im gegenseiti-
gen Austausch ihrer Bedingungen zu einem Ausgleich gelangen, sind dabei
nicht als Personen angesprochen und eingesetzt, sondern als Sachwalter der
von ihnen vertretenen Parteiinteressen. Trotzdem wäre es reizvoll, einmal
näher zu untersuchen, welche Züge echter Gesprächsbegabung den erfolg-
reichen Geschäftsmann oder Politiker auszeichnen und wie er die Barrikaden
Die Unfahigkeit zum Gespräch 213
ist es dann das Gefuhl oder auch die Erfahrung, nicht verstanden zu werden.
Das läßt einen im vorhinein verstummen oder gar in Erbitterung die Lippen
zusammenpressen. Insofern ist >Unfahigkeit zum Gespräch< in letztem Be-
tracht immer die Diagnose, die einer stellt, der sich selbst dem Gespräch
nicht stellt bzw. dem es nicht gelingt, mit dem anderen ins Gespräch zu
kommen. Die Unfähigkeit des anderen ist immer zugleich auch die Unfä-
higkeit des einen.
Ich möchte diese Unfahigkeit sowohl nach der subjcktiven wie nach der
objektiven Seite hin betrachten, d. h. einerseits von der subjektiven Unfä-
higkeit sprechen, der Unfähigkeit zu hören, und auf der anderen Seite von
der objektiven Unfahigkeit, die darauf beruht, daß keine gemeinsame Spra-
che existiert. Unfahigkeit zu hören ist ein so wohlbekanntes Phänomen, daß
man sich durchaus nicht dabei andere vorzustellen braucht, die diese Unfa-
higkeit in besonderem Maße besäßen. Man erfahrt sie genügend an sich
selbst, sofern man überhört oder auch falsch hört. Und ist das nicht wirklich
eine unserer menschlichen Grunderfahrungen, daß wir nicht rechtzeitig
wahrnahmen, was in dem anderen vorgeht, daß unser Ohr nicht fein genug
war, sein Verstummen und sein Sichversteifen zu ~hören<? Oder auch, daß
man falsch hört. Es ist unglaublich, was da möglich ist. Ich hab einmal-
durch einen (an sich belanglosen) Übergriff örtlicher Stellen in Leipzig - im
Polizeigefangnis gesessen. Da wurden den ganzen Tag über Namen durch
die Gänge gerufen von denen, die jeweils zum Verhör geftihrt werden
sollten. Ich hab doch tatsächlich fast bei jedem Ruf im ersten Augenblick
meinen Namen zu hören gemeint - so sehr war solche Erwartung in mir
gespannt! Überhören und Falschhören - beides erfolgt aus dem gleichen in
einem selbst antreffbaren Grunde. Nur der überhört oder hört falsch, der
sich selbst ständig zuhört, dessen Ohr gleichsam so erflillt ist von dem
Zuspruch, den er sich selbst ständig zuspricht, indem er seine Antriebe und
Interessen verfolgt, daß er den anderen nicht zu hören vermag. Das ist, wie
ich betone, in allen denkbaren Abstufungen unser aller Wesenszug. Trotz-
dem immer wieder zum Gespräch fahig zu werden, d. h. auf den andern zu
hören, scheint mir die eigentliche Erhebung des Menschen zur Hutnanität.
Nun mag es freilich auch den objektiven Grund geben, daß die Sprache als
eine gemeinsame zwischen den Menschen mehr und mehr zerfallt, je mehr
wir uns in die Monologsituation der wissenschaftlichen Zivilisation unserer
Tage eingewöhnt haben und an die Informationstechnik anonymer Art, der
man da ausgeliefert ist. Man denke etwa an das Tischgespräch und die
extreme Form seiner Abtötung, die in gewissen Luxuswohnungen bemitlei-
denswert reicher Amerikaner durch technischen Komfort und seine sinnlose
Verwendung erreicht sein soll. Da soll es Speisezimmer geben, die so einge-
richtet sind, daß jeder Tischgenosse im Aufblicken von seinem Teller be-
quem in einen eigens ftir ihn angebrachten Fernsehapparat schaut. Mankann
Die Unfahigkeit zum Gespräch 215
sich einen Fortschritt der Technik ausmalen, der noch viel weiter geht und
bei dem man sozusagen eine Brille aufhat, durch die man nicht mehr
hindurchsieht, sondern Fernsehen sicht, etwa wie man manchmaljemanden
durch den Odenwald wandern und dabei den wohlvertrauten Klängen und
Schlagern lauschen sicht, die er in einem Transistorgerät mit sich spazieren
trägt. Das Beispiel soll nur sagen, daß es objektive gesellschaftliche Umstän-
de gibt, durch die man das Sprechen verlernen kann, das Sprechen nämlich,
das Zu-jemandem-Sprechen ist und Auf-jemanden-Antworten ist und das
wir ein Gespräch nennen.
Indessen mag das Extrem auch hier wieder das Mittlere deutlich machen.
Es ist nämlich zu beachten, daß die Verständigung zwischen Menschen
ebensosehr eine gemeinsame Sprache schafft wie auch umgekehrt voraus-
setzt. Entfremdung zwischen Menschen zeigt sich darin, daß sie nicht mehr
dieselbe Sprache sprechen (wie man sagt), und Annäherung darin, daß man
eine gemeinsame Sprache findet. Es ist wahr: Verständigung wird schwer,
wo die gemeinsame Sprache fehlt. Verständigung \\7ird aber auch schön, wo
eine gemeinsame Sprache gesucht und am Ende gefunden wird. Wir kennen
es am extremen Fall des stammelnden Gesprächs zwischen Menschen ver-
schiedener Muttersprache, die nur Brocken von der Sprache des anderen
kennen, aber sich gedrängt ftihlen, einander et\vas zu sagen. Wie sich da
Verstehen und am Ende gar Einverständnis im praktischen Umgang oder
auch im persönlichen oder theoretischen Gespräch am Ende doch erreichen
lassen, mag ein Symbol dafUr sein, daß auch, wo die Sprache zu fehlen
scheint, Verständigung gelingen kann, durch Geduld, durch FeinfUhligkeit,
durch Sympathie und Toleranz und durch das unbedingte Vertrauen auf die
Vernunft, die unser aller Teil ist, Wir erleben es ja beständig, daß auch
zwischen Menschen verschiedenen Temperamentes, verschiedener politi-
scher Ansichten Gespräch möglich ist. ,Unfahigkeit zum Gespräch< scheint
mir mehr der Vorwurf, den einer gegen den erhebt, der seinen Gedanken
nicht folgen will, als der Mangel, den der andere wirklich besitzt,
IV. Weiterentwicklungen
17. Die Universalität des hermeneutischen Problems
1966
wußtseins. Was ich damit sagen will, läßt sich in beiden Fällen mit wenigen
Worten angeben: Das ästhetische Bc\vußtsein realisiert die Möglichkeit, die
wir als solche \"leder ableugnen noch in ihrem Werte mindern können, daß
Inan sich zur Qualität eines künstcrlischen Gebildes kritisch oder affirmativ
verhält; das heißt aber so, daß das Urteil, das wir selber haben, über die
Aussagekraft und die Geltung dessen, was wir so beurteilen, letzten Endes
entscheidet. Das, was wir verwerfen, hat uns nichts zu sagen oder wir
verwerfen es, \\'cil es uns nichts zu sagen hat. Das charakterisiert unser
Verhä1tnis zur Kunst im großen Sinne des Wortes, die ja bekanntlich, wie
Hegel gezeigt hat, auch noch die ganze griechisch-heidnische religiöse Welt
mit umfaßt, als Kunst-Religion, als die Weise, das Göttliche zu erfahren in
der bildnerischen Antwort des Menschen. Wenn nun diese ganze Erfah-
rungswe1t sich zum Gegenstand ästhetischer Beurteilung verfremdet, dann
verliert sie offenbar ihre ursprüngliche und fraglose Autorität. Indessen, wir
müssen uns eingestehen, daß uns die Welt der künsterlischen Überlieferung,
die großartige Gleichzeitigkeit, die uns die Kunst mit so vielen menschlichen
Welten verschafft, mehr ist als ein bloßer Gegenstand unseres freien Anneh-
mens und Verwerfens. Ist es nicht in Wahrheit so, daß das, was uns als
Kunst\verk ergriffen hat, uns gar nicht mehr die Freiheit läßt, es noch einmal
von uns wegzuschieben und von uns aus anzunehmen oder zu verwerfen?
Und stimmt es nicht obendrein, daß diese Gebilde der menschlichen Kunst-
fertigkeit, wie sie durch diejahrtausende gehen, ganz gewiß nicht rur solches
ästhetische Annehmen oder Verwerfen gebildet worden sind? Kein Künstler
der religiös gebundenen Kulturen der Vergangenheit hat je sein Kunstwerk
in einer anderen Absicht aufgestellt als in der, daß das, was er da geschaffen
hat, in dem, was es sagt und darstellt, angenommen wird und in die Welt
hineingehört, in der die Menschen miteinander leben. Das Bewußtsein von
Kunst, das ästhetische Bewußtsein, ist immer ein sekundäres Bewußtsein.
Es ist sekundär gegenüber den1 unmittelbaren Wahrheitsanspruch, der von
dem Kunst"verk ausgeht. Insofern ist es eine Verfremdung von etwas, was
uns in Wahrheit viel innerlicher vertraut ist, wenn wir etwas auf seine
ästhetische Qualität hin beurteilen. Solche Verfremdung zum ästhetischen
Urteil greift immer dort Platz, wo einer sich entzogen hat, \VO einer dem
unmittelbaren Anspruch dessen, was ihn ergreift, sich nicht stellt. Deswe-
gen war einer der Ausgangspunkte meiner Überlegungen eben dieser, daß
die ästhetische Souveränität, die sich im Bereiche der Erfahrung der Kunst
geltend macht, gegenüber der eigentlichen Erfahrungswirklichkeit, die uns
in der Gestalt der künstlerischen Aussage begegnet, eine Verfremdung dar-
stellt. '
1 [Vgl. dazu bereits 1958 ,Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins( und meine
Geschichte - vornehmlich im XVI. und XVII. Jahrhundert, Leipzig 1943, auch in: O.
Vossler, Geist und Geschichte - Gesammelte Aufsätze, München 1964, S. 184-214.]
222 Weiterentwicklungen
S.290f. über )Das Beispiel des Klassischen< als Bekenntnis zu einem platonisierenden
klassizistischen Stilideal zu sehen (H. R. Jauss, Ästhetische Erfahrung und literarische
Hermeneutik, Frankfurt 1979) und nicht als Herausarbeitung einer geschichtlichen Kate-
gorie.]
224 Weiterentwicklungen
4 [Vgl. W uM, Ces. Werke Bd. 1, S.278ff. und >Vom Zirkel des Verstchens(, oben
S. 57ff. J
Die Universalität des hermeneutischen Problems 22S
sagen hat?5 Bestimmt sich nicht auch unsere Envartung und unsere Bereit-
schaft, das /'okue zu hören, notwendig von dem Alten her, das uns schon
eingenommen hat? Das Bild soll eine Art Legitimation dafür geben, warum
der Begriff des Vorurteils, der mit dem Begriff der Autorität in einem tiefen
inneren Zusammenhang steht, einer hermeneutischen Rehabilitierung be-
darf. Wie jedes Bild ist auch dieses schief. Die hermeneutische Erfahrung ist
nicht von der Art, daß etwas draußen ist und Einlaß begehrt: Wir sind
vielmehr von etwas eingenommen und gerade durch das, was uns ein-
nimmt, aufgeschlossen fUr Neues, Anderes, Wahres. Es ist, wie Plato es mit
dem schönen Vergleich zwischen den leiblichen Speisen und der geistigen
Nahrung klar macht: während man jene zurückweisen kann, z. B. auf Anra-
ten des Arztes, hat man diese immer schon in sich aufgenommen. 6
Nun fragt es sich freilich, wie sich die hermeneutische Bedingtheit unseres
Seins gegenüber der Existenz der modernen Wissenschaft legitimieren soll,
die doch mit dem Prinzip der Unvoreingenommenheit und Vorurteilslosig-
keit steht und fallt. Es wird sicherlich nicht damit getan sein - ganz abgese-
hen davon, daß solche Deklamationen immer etwas Lächerliches haben-,
daß man der Wissenschaft Vorschriften macht und ihr empfiehlt, sich zu
mäßigen. Den Gefallen wird sie uns nicht tun. Sie wird mit einer nicht in
ihrem Belieben liegenden inneren Notwendigkeit ihre Wege weitergehen
und immer mehr an Erkenntnisse und Machbarkciten heranführen, bei
denen uns der Atem stockt. Sie wird nicht anders können. Es ist sinnlos,
etwa einem Forscher auf dem Gebiete der Erbgenetik wegen der drohenden
Züchtung des Übermenschen in den Arm zu fallen. So kann das Problem
nicht aussehen, daß sich unser menschliches Bewußtsein in einen Gegensatz
zum wissenschaftlichen Gang der Dinge stellt und sich herausnimmt, hier
eine Art von Gegen-Wissenschaft aufzubauen. Trotzdem ist der Frage nicht
auszuweichen, ob nicht das, was ""vir an scheinbar so harmlosen Gegenstän-
den wie dem ästhetischen Bewußtsein und dem historischen Bewußtsein
gewahren, eine Problematik darstellt, die erst recht unserer modernen Na-
turwissenschaft und unserem technischen Wcltverhalten einwohnt. Wenn
wir auf der Grundlage der modernen Wissenschaft die neue technische
Zweckwelt errichten, die alles um uns herum verändert, so unterstellen wir
nicht, daß der Forscher, der die dafUr entscheidenden Erkenntnisse gewon-
nen hat, auch nur mit einem Blick auf solche technischen Verwertbarkeiten
geblickt hat. Es ist echter Erkenntniswille und nichts sonst, was den wahren
Forscher befeuert. Und trotzdem ist die Frage zu stellen, ob sich nicht auch
gegenüber dem Ganzen unserer modernen wissenschaftlich fundierten Zivi-
, [Zum Begriff des ,Neuen( vgI. ,Das Alte und das Neut;'(, Rede zur Eröffnung der
Salzburger Festspiele 1981 (Ces. Werke Bd. 4)]
6 [Prot.314al
226 Weiterentwicklungen
lisation wiederholt, daß hier etwas ausgelassen ist - und ob nicht, wenn
Voraussetzungen, unter denen diese Erkenntnis-Möglichkeiten und Ma-
chens-Möglichkeiten stehen, im Halbdunkel bleiben, eben das zur Folge
haben kann, daß die Hand, die diese Erkenntnisse anwendet, zerstörerisch
wird. 7
Das Problem ist wirklich universell. Die hermeneutische Frage, wie ich sie
charakterisierte, ist durchaus nicht beschränkt auf die Gebiete, von denen ich
bei meinen eigenen Untersuchungen ausgegangen bin. Es ging nur darum,
erst einmal eine theoretische Basis zu befestigen, die auch das Grundfaktum
unserer gegenwärtigen Kultur, die Wissenschaft und ihre industrielle techni-
sche Verwertung, zu tragen vermag. Ein nützliches Beispiel daftir, wie die
hermeneutische Dimension das gesamte Verfahren der Wissenschaft um-
faßt, ist die Statistik. Sie lehrt als Extrembeispiel, daß Wissenschaft stets
unter bestimmten methodischen Abstraktionsbedingungen stelit und daß
die Erfolge der modemen Wissenschaften daraufberuhcn, daß andere Frage-
möglichkeiten durch Abstraktion abgedeckt werden. An der Statistik
kommt das liandgreiflich heraus, weil sie sich durch die Vorgreiflichkeit der
Fragen, die sie beantwortet, so sehr zu Propagandazwecken eignet. Was
Propagandaeffekt machen soll, muß ja immer das Urteil des Angesproche-
nen vorgängig zu beeinflussen und seine Urteilsmöglichkeit einzuschränken
suchen. Was da festgestellt wird, sieht so aus wie die Sprache der Tatsachen;
aber auf welche Fragen diese Tatsachen eine Antwort geben und welche
Tatsachen zu reden begönnen, wenn andere Fragen gestellt würden, das ist
eine hermeneutische Fragestellung. Sie würde erst die Bedeutung dieser
Tatsachen und damit die Folgerungen, die aus dem Bestehen dieser Tatsa-
chen sich ergeben, legitimieren.
Icli greife damit vor und liabe unwillkürlich die Wendung gebraucht,
welche Antworten auf welche Fragen eigentlich in den Tatsachen stecken,
Das ist in der Tat das hermeneutisclie Urphänomen, daß es keine mögliche
Aussage gibt, die nicht als Antwort auf eine Frage verstanden werden kann,
und daß sie nur so verstanden werden kann. Das beeinträchtigt die großarti-
ge Methodik der modernen Wissenschaft nicht im geringsten. Wer eine
Wissenschaft lernen will, muß ihre Methodik belierrschen lernen. Wir wis-
sen aber auch, daß Methodik als solche überhaupt noch nicht ftir die Produk-
tivität ihrer Anwendung garantiert. Es gibt vielmehr (das ist etwas, was
eines jeden Lebenserfahrung zu bestätigen vermag) die methodisclie Sterili-
tät, d. h. die Anwendung der Methodik auf etwas Nicht-Wissenswürdiges,
auf etwas, was gar nicht aus einer echten Fragestellung heraus zum Gegen-
stand von Forschung gemacht wird.
7 [Das inzwischen viel diskutierte Problem der Verantwortlichkeit der Wissenschaft ist
aushalten können und ihrerseits die Rolle des Fragers beanspruchen, die so
erfolgreich scheint. Und was geschieht dann? Sie wissen nichts zu fragen. Es
fallt ihnen einfach nichts ein, was man in der Weise fragen kann, daß es lohnt,
darauf einzugehen und beharrlich eine Antwort zu geben.
Ich ziehe die Konsequenz. Das hermeneutische Bewußtsein, das ich an-
fangs nur von bestimmten Punkten aus bezeichnete, hat seine eigentliche
Wirksamkeit immer darin, daß man das Fragwürdige zu sehen vermag.
Wenn wir nun nicht nur die künstlerische Überlieferung der Völker, nicht
nur die historische Überlieferung, nicht nur das Prinzip der modernen
Wissenschaft in seinen hermeneutischen Vorbedingungen uns vor Augen
gestellt haben, sondern das Ganze unseres Erfahrungslebens, dann, meine
ich, gelangen wir dahin, an unsere eigene, allgemeine und menschliche
Lebenserfahrung auch die Erfahrung der Wissenschaft wieder anzuschlie-
ßen. Denn jetzt haben wir die Fundamentalschicht erreicht, die man (mit
Johannes LohmannH) die >sprach1iche Weltkonstitutionl nennen kann. Sie
stellt sich dar als das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein, das alle unsere
Erkenntnismöglichkeiten vorgängig schematisiert. Ich sehe davon ab, daß
der Forscher, auch der Naturforscher, von Mode und Gesellschaft und von
allen möglichen Faktoren seiner Umwelt vielleicht nicht ganz unabhängig
ist - "\.vas ich meine, ist, daß es innerhalb seiner wissenschaftlichen Erfahrung
nicht so sehr die )Gesetze des eisenharten Schließens< (Hclmholtz) als viel-
mehr unvorhcrsehbare Konstellationen sind, die ihm die fruchtbare Idee
eingeben, ob es nun Newtons fallender Apfel ist oder welche zufallige
Beobachtung immer, an der der Funke der wissenschaftlichen Inspiration
zündet.
Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein hat seinen Vollzug im Sprachli-
chen. Wir können von dem denkenden Sprachforscher lernen, daß die
Sprache in ihrem Leben und Geschehen nicht bloß als ein sich Veränderndes
gedacht werden muß, sondern daß darin eine Teleologie wirksam ist. Das
will sagen, daß die Worte, die sich bilden, die Ausdrucksmittel, die in einer
Sprache auftreten, um bestimmte Dinge zu sagen, sich nicht zufallig fixie-
ren, soweit sie nicht überhaupt wieder abkommen, sondern daß auf diese
Weise eine bestimmte Weltartikulation aufgebaut wird - ein Vorgang, der
wie gesteuert wirkt und den wir ja alle immer wieder bei dem sprechenler-
nenden Kind beobachten können. Ich berufe mich dafür auf eine Stelle des
Aristotclcs, die ich genaucr explizieren möchte, weil an ihr der Akt der
Sprach bildung von einer bestimmten Seite aus genial beschrieben ist. Es
handelt sich um das, was Aristoteles die Epagoge nennt, d. h. die Bildung des
Allgemeinen. Wie kommt es zum Allgemeinen? In der Philosophie sagt
~ ;Philosophie und Sprachwissenschaft<, veröffentlicht in der Reihe Erfahrung und
Denken, Scbriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzchvis-
senschaften, Nr. 15 (1965).
Die Universalität des hermeneutischen Problems 229
man: zum Allgemeinbegriff; aber auch Worte sind in diesem Sinne offen-
kundig Allgemeines. Wie kommt es dazu, daß sie )Worte< sind, d. h. eine
allgemeine Bedeutung haben? Da findet sich das sinnlich ausgestattete We-
sen bei seinen ersten Apperzeptionen in einem flutenden Reizmeer, und es
beginnt schließlich eines Tags etwas, wie wir sagen, zu erkennen. Offenbar
wollen wir damit nicht sagen, daß es vorher blind war -, sondern wir
meinen, wenn \vir sagen >erkennen< -, >wiedererkennen<, d. h. etwas als
dasselbe herauserkennen aus dem Strom vorbeiflutender Bilder. Dieses so
Herauserkannte wird otTenbar fest gehalten. Aber wie eigentlich? Wann
erkennt ein Kind zum ersten Male seine Mutter? Dann, wenn es sie zum
ersten Mal gesehen hat? Nein. Ja wann eigentlich' Wie geschieht denn das?
Können wir überhaupt sagen, daß das ein einmaliges Ereignis ist, in dem ein
erstes Erkennen das Kind aus dem Dunkel des Unwissens herausreißt? Es
scheint mir offenkundig, daß es so nicht ist. Aristoteles hat es wunderbar
beschrieben. Er sagt, es ist so, wie wenn ein Heer auf der Flucht ist, panisch
gejagt von Angst, und schließlich fangt einer an stehenzubleiben und sich
umzusehen, ob eigentlich der Feind so gefahrlich nahe ist. Das Heer bleibt
nicht dadurch stehen, daß einer stehenbleibt. Es bleibt dann ein Zweiter
stehen. Das Heer bleibt nicht dadurch stehen, daß zwei stehenbleiben. Wann
bleibt dann eigentlich das Heer stehen? Plötzlich steht es wieder. Plötzlich
gehorcht es \vieder dem Kommando. Bei dem, \vas Aristotcles hier be-
schreibt, ist noch ein sehr feiner sprachlicher Scherz dabei. Komnlando heißt
nämlich auf griechisch Arche, d. h. Principium. Wann ist das Prinzip als
Prinzip da? Durch welches Vermägen? - Das ist in der Tat die Frage nach
dem Zustandekommen des Allgemeinen. 9
Genau die gleiche Teleologie ist es, wenn ich J oh. Lohmanns Darlegungen
nicht mißverstehe, die sich ständig im Leben der Sprache auswirkt. Wenn
Lohmann von den sprachlichen Tendenzen spricht, in denen sich als dem
eigentlichen Agens der Geschichte bestimmte Formen ausbreiten, so weiß er
natürlich, daß sich das in diesen Formen des - wie das deutsche Wort sagt-
Zustandekommens, des Zum-Stehen-Kommens vollzieht. Was sich dabei
zeigt, ist, wie ich meine, die eigentliche Vollzugs weise unserer menschlichen
Welterfahrung überhaupt. Das Sprechen-Lernen ist gewiß eine Phase beson-
derer Produktivität, und das Genie unserer Dreijährigkeit haben wir alle
inzwischen in ein karges und spärliches Talent umgewandelt. Aber im
Gebrauch der am Ende zustandegekommenen sprachlichen Weltauslegung
bleibt noch etwas von der Produktivität unserer Anfange lebendig. Wir
kennen das alle z. B. bei dem Versuch des Übersetzens, im Leben oder in der
Literatur oder wo immer, dieses seltsame, unruhige und quälende Geftihl,
solange man nicht das richtige Wort hat. Wenn man es hat, den rechten
Ausdruck gefunden hat (es braucht nicht immer ein Wort zu sein), wenn es
einem gewiß ist, daß man es hat, dann )stcht{ es, dann ist etwas >zustande~
gekommen, dann haben wir wieder einen Halt inmitten der Flut des frem-
den Sprach geschehens, dessen unendliche Variation die Orientierung verlie-
ren läßt. Was ich so beschreibe, ist aber die Weise der menschlichen Wclter-
fahrung überhaupt. Ich nenne sie hermeneutisch. Denn der so beschriebene
Vorgang wiederholt sich ständig ins Vertraute hinein. Es ist stets eine sich
schon auslegende, schon in ihren Bezügen zusammengeordnete Welt, in die
Erfahrung eintritt als etwas Neues, das umstößt, was unsere Erwartungen
geleitet hatte, und das sich im Umstoßen selber neu einordnet. Nicht das
Mißverständnis und nicht die Fremdheit ist das Erste, so daß die Vermei-
dung des Mißverstandes die eindeutige Aufgabe wäre, sondern umgekehrt
ermöglicht erst das Getragensein durch das Vertraute und das Einverständ-
nis das Hinausgehen in das Fremde, das Aufnehmen aus dem Fremden und
damit die Erweiterung und Bereicherung unserer eigenen Welterfahrung.
So ist der Anspruch auf Universalität zu verstehen, der der hermeneuti-
schen Dimension zukommt. Verstehen ist sprachgebunden. Darin liegt
keineswegs eine Art Sprachrclativismus. Es ist zwar wahr: man lebt in einer
Sprache. Sprache ist nicht ein System von Signalen, die man, wenn man in
das Büro oder in die Sendestation tritt, mit Hilfe einer Tastatur losläßt. Das
ist kein Sprechen, denn es hat nicht die Unendlichkeit des sprachbildneri-
schen und weiterfahrenden Tuns. Aber obwohl man ganz in einer Sprache
lebt, ist das kein Relativismus, weil es durchaus kein Gebanntsein in eine
Sprache gibt- auch nicht in die eigene Muttersprache. Das erfahren wir alle,
wenn wir fremde Sprachen lernen, und besonders auf Reisen, sofern wir die
fremde Sprache einigermaßen beherrschen, und eben das heißt, daß wir
nicht immerfort mit dem Blick auf unsere Welt und ihr Vokabular innerlich
sozusagen nachschlagen, wenn wir uns in dem fremden Lande sprechend
bewegen. Je besser wir die Sprache können, desto weniger ist solch ein
Seitenblick auf die Muttersprache fuhlbar, und nur weil wir fremde Spra-
chen nie genug können, fühlen wir etwas davon immer. Aber es ist gleich-
wohl bereits ein Sprechen, wenn auch vielleicht ein stammelndes, das wie
alles echte Srammeln das Gestautsein eines Sagen-Wollens und daher ins
Unendliche der Aussprachemöglichkeit geöffnet ist. In dem Sinne ist jede
Sprache, in der ,"vir leben, unendlich, und es ist ganz verkehrt, zu schließen,
weil es die verschiedenartigen Sprachen gibt, gibt es eine in sich zerklüftete
Vernunft. Das Gegenteil ist wahr. Gerade auf dem Wege über die Endlich-
keit, die Partikularität unseres Seins, die auch an der Verschiedenheit der
Sprachen sichtbar wird, öffnet sich das unendliche Gespräch in Richtung auf
die Wahrheit, das wir sind.
Wenn das richtig ist, dann \vird sich vor allem auf der Ebene der Sprache
das eingangs geschilderte Verhältnis unserer modernen, durch die Wissen-
Die Universalität des hermeneutischen Problems 231
1967
Indessen, das >Sein zum Texte<lO erschöpft nicht die hermeneutische Di-
mension - es sei denn, daß >Text< über den engeren Sinn hinaus den Text
meint, den lGott mit eigener Hand geschrieben hat<, den fiber nawrae, und
der damit auch alle Wissenschaft, von der Physik bis zur Soziologie und
Anthropologie, umfaßt. Doch selbst dann ist mit dem Modell der Überset-
zung die Vielfalt dessen, was Sprache im Verhalten des Menschen bedeutet,
keineswegs erfaßt. Am Lesen dieses größten lBuches< wird zwar Spannung
und Lösung demonstrierbar, die Verstehen und Verständlichkeit - und
vielleicht auch Verstand- strukturieren, und insofern ist an der Universalität
des hermeneutischen Problems kein Zweifel möglich. Es ist kein sekundäres
Thema. Hermeneutik ist keine bloße Hilfsdisziplin der romantischen Gei-
steswissenschaften.
Indessen, das universale Phänomen der menschlichen Sprachlichkeit ent-
faltet sich auch in anderen Dimensionen. So reicht das hermeneutische
Thema noch in andere Zusammenhänge hinein, die die Sprachlichkeit der
menschlichen Welterfahrung bestimmen. Manches davon ist in )Wahrheit
und Methode< selber angeklungen. So war dort das wirkungsgeschichtliche
Bewußtsein als die bewußte ErheBung der menschlichen Sprachidee in
einigen Phasen seiner Geschichte dargestellt worden; es reicht aber, wie
Johannes Lohmann inzwischen in seinem Buch lPhilosophie und Sprachvvis-
senschaft(11 und in einer Diskussion meines eigenen Versuchs im Gnomon 12
gezeigt hat, noch in ganz andere Dimensionen. Lohmann verlängert die
>Prägung des Begriffs Sprache im Denken des Abendlandes<, die ich skizziert
hatte, im Riesenmaßstab der Sprachgeschichte zugleich nach rückwärts und
nach vorwärts. Nach rückwärts, indem er der »Heraufkunft des >Begriffes(
als des inteBektuellen Vehikels der aktueBen ,Subsumtion< gegebener Ge-
genstände unter eine gedachte Form« (714) nachgeht, im )stamm-flektieren-
den< Typus des Altindogermanischen die grammatische Form des Begriffs
erkennt, die in der Copula ihren sichtbarsten Ausdruck findet - auf diese
Weise leitet sich die Möglichkeit der Theorie als der eigensten Scliöpfung des
Abendlandes ab. Nach vorwärts, indem er wieder an der Entwicklung der
Sprachform die Denkgeschichte des Abendlandes, welche Wissenschaft im
modemen Sinne, als Verftigbarmaehung der Welt, möglich macht, durch
den Übergang vom stamm-flektierenden zum wort-flektierenden Sprach-
Typus deutet.
Wahrhaft universale Sprachlichkeit, die dem Hermeneutischen im ande-
ren Sinne wesenhaft voraus1iegt und fast so etwas wie das Positiv zu dem
Negativ der sprachlichen Auslegungskunst darstellt, bezeugt ferner die
10So O. Marquard auf dem Heidclberger Philosophiekongreß 1966.
11Erfahrung und Denken, Schriften zur Förderung der Beziehung zwischen Philo-
sophie und Einzelwissenschaften, Nr. 15 (1965).
" Bd. 37.1965,709-718.
234 Weiterentwicklungen
17 Henri Gouhier, La rcsistance an vrai ... (Retorica e Barocco, cd. E. Castdli, Rom
1955).
238 Weiterentwicklungen
20 P. Winch, The Idea of a Social Science. London/New York 1958 (deutsch 1966)
240 Wciterent\vicklungen
22 [Vgl. inzwischen meinen Aufsatz >Über den Zusammenhang von Autorität und
verkennen, und dies hat verhängnisvolle Folgen - und zwar, weil man der
Reflexion alsdann eine falsche Macht zuschreibt und die wahren Abhängig-
keiten idealistisch verkennt. Zugegeben, daß Autorität in unzähligen Formen
von Herrschaftsordnungen dogmatische Gewalt ausübt, von der Ordnung
der Erziehung über die Befehlsordnung von Heer und Verwaltung bis zu der
Machthierarchie politischer Gewalten oder von Heilsträgern. Aber dies Bild
des der Autorität erwiesenen Gehorsams kann niemals zeigen. warUIn das
alles Ordnungen sind und nicht die Unordnung handfester Gewaltübung.
Es scheint mir Z\vingend, wenn ich für die wirklichen Autoritätsverhältnisse
Anerkennung bestimmend finde. Die Frage kann lediglich sein, worauf
diese Anerkennung beruht. Gewiß kann so1chc Anerkennung oft mehr ein
tatsächliches Weichen des Ohnmächtigen gegenüber det Gewalt ausdrük-
keil, aber das ist nicht Anerkennung und beruht nicht auf Autorität. Man
braucht nur Vorgänge wie den von Autoritätsverlust oder Autoritätsverfal1
(und ihr Gegenteil) zu studieren, und man sieht, was Autorität ist und
woraus sie lebt. Nicht von dogmatischer Gewalt, sondern von dogmati-
scher Anerkennung her. Was aber sol1 dogmatische Anerkennung sein,
wenn nicht dies, daß der Autorität eine Überlegenheit an Erkenntnis zuge-
billigt wird und daß man deshalb glaubt, daß sie recht hat. Nur darauf
>beruht( sie. Sie herrscht also, weil sie >frei< anerkannt \vird. Es ist kein
blinder Gehorsam, der auf sie hört.
Aber nun ist es eine unzulässige Unterstellung, als meinte ich, es gäbe
nicht Autoritätsverlust und emanzipatorische Kritik. Ob man sagen darf:
Autoritätsverlust durch emanzipatorische Kritik der Reflexion, oder: daß
sich Autoritätsverlust in Kritik und EInanzipation äußert, mag hier auf sich
beruhen und ist vielleicht überhaupt keine echte Alternative. Was strittig ist,
ist lediglich, ob Reflexion imnler die substanticl1cn Verhältnisse auflöst oder
sie gerade auch in Bewußtheit übernehmen kann. Der von mir (im Blick auf
die aristotelische Ethik) herangezogene Lern- und Erziehungsprozcß wird
von Habermas merkwürdig einseitig gesehen. Daß Tradition als solche
einziger Grund der Geltung von Vorurteilen sein und bleiben solle - wie
Habermas mir zuschreibt -, schlägt doch meiner These, daß Autorität auf
Erkenntnis beruht, geradezu ins Gesicht. Der mündig Ge\vordene kann -
aber er muß doch nicht! - aus Einsicht übernehmen, was er gehorsalll
einhielt. Tradition ist kein Ausweis, jedenfalls nicht dort, wo Reflexion
einen Ausweis verlangt. Aber das ist der Punkt: Wo verlangt sie ihn? Über-
all' Dem halte ich die Endlichkeit des menschlichen Daseins und die wesCll-
hafte Partikularität der Retlexion entgegen. Es geht um die Frage, ob man
die Funktion der Reflexion auf der Seite der Bewußtmachung festmacht, die
faktisch Geltendes mit anderen Möglichkeiten konfrontiert und alsdann
zugunsten anderer Möglichkeiten Bestehendes verwerfen, aber auch wis-
send übernehmen kann, was die Tradition de facto entgegenbringt, oder ob
Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik 245
Bewußtmachung immer nur Geltendes auflöst. Wenn Habermas (176) l30Sj
sagt, daß »der Autorität das, was an ihr bloße Herrschaft \-var, (- ich
interpretiere: was nicht Autoritätwar-) abgestreift und in gC\valtlosenZwang
von Einsicht und rationaler Entscheidung aufgelöst« werden kann, dann weiß
ich nicht mehr, \vorum \vir streiten. Höchstens darum, ob die >rationale
Entscheidung< einem von den Sozialwissenschaften (auf Grund welcher
Fortschritte!) abgenommen werden kann oder nicht. Doch davon später.
Der Begriff der Reflexion und Bewußtmachung, den Habcrmas ge-
braucht, erscheint der hermeneutischen Reflexion als dogmatisch vorbela-
stet, und hier wünschte ich, die hermeneutische Reflexion, die ich anstelle,
würde effektiv. Wir haben durch Husserl (in seiner Lehre von den anony-
men Intentionalitäten) und durch Heidegger (im Nachweis der ontologi-
schen Verkürzung, die in dem Subjekts- und in dem Objektsbegriff des
Idealismus steckt) gelernt, die falsche Vergegenständlichung zu durchschau-
en, die dem Reflexionsbegriff aufgeladen wird. Es gibt sehr wohl eine innere
Rückwendung der Intentionalität, die keineswegs das so Mitgemeinte zum
thematischen Gegenstand erhebt. Das hat schon Brentano (in Aufnahme
aristotelischer Einsichten) gesehen. Ich wüßte nicht, wie man die rätselhafte
Seins gestalt der Sprache überhaupt begreifen will, wenn nicht von da aus.
Man muß (mit J. Lohmann zu reden) die 'effektive< Reflexion, die in der
Entfaltung der Sprache geschieht, von der ausdrücklichen und thematischen
Reflexion unterscheiden, die sich in der abendländischen Denkgeschichte
herausgebildet hat und die, indem sie alles zum Gegenstand macht, als
Wissenschaft die Voraussetzungen der planetarischen Zivilisation von mor-
gen geschaffen hat.
Welch eigentümlicher Affekt, mit dem Habermas die Erfahrungswissen-
schaften dagegen verteidigt, ein beliebiges Sprachspiel zu sein. Wer macht
ihnen ihre Notwendigkeit- unter dem Gesichtspunkt mäglichertechnischer
Verftigung über Natur- streitig? Höchstens der Forscher selber wird fur sein
Verhältnis zu seiner Wissenschaft die technische Motivation seiner Arbeit
abstreiten, mit vollem subjektivem Recht. Daß die praktische Anwendung
der modernen Wissenschaft unsere Welt und damit auch unsere Sprache
tiefgreifend verändert, wird dagegen niemand ableugnen. Aber eben: »auch
unsere Sprache«(, Das heißt in gar keiner Weise, wie Habermas mir unter-
stellt, daß das sprachlich artikulierte Bewußtsein das materielle Sein der
Lebenspraxis bestimmt, sondern allein, daß es keine gesellschaftliche Wirk-
lichkeit mit allen ihren realen Zwängen gibt, die sich nicht ihrerseits wieder
in einem sprachlich artikulierten Bewußtsein zur Darstellung bringt. Die
Wirklichkeit geschieht nicht »hinter dem Rücken der Sprache« (179)[309],
sondern hinter dem Rücken derer, die sich anmaßen, die Welt ganz Zu
verstehen (oder gar nicht mehr zu verstehen), und sie geschieht auch in der
Sprache.
246 Weiterentwicklungen
Freilicli wird von hier aus der Begriff der »Naturwüchsigkeit« (z. B. 173/
4)[302/3] hoeliverdächtig, den schon Marx als Gegenbegriff gegen die Ar-
beitswelt der modernen Klassengesellschaft gelten ließ und den auch Haber-
mas gern gebraucht (I>naturwüchsige Substanz der Überlieferung(j, aber
auch f)Kausalität naturwüchsiger Verhältnisse«). Das ist Romantik - und
diese Romantik schafft einen künstlichen Abgrund zwischen Tradition und
der auf dem historischen Bewußtsein gründenden Reflexion. Der »Idealis-
mus der Sprachlichkeit« hat immerhin den Vorzug, in diese Romantik nicht
zu verfallen.
Habermas' Kritik gipfelt darin, den transzendental philosophischen Im-
manentismus auf die geschichtlichen Bedingungen hin zu befragen, die er
selber in Anspruch nimmt. In der Tat ein zentrales Problem. Wer es mit der
Endlichkeit des menschlichen Daseins ernst nimmt und sich kein >Bewußt-
sein überhaupt< oder einen intellectus archetypus oder ein transzendentales Ego
konstruiert, das alle Geltung konstituieren soll, wird sich der Frage nicht
entziehen können, wie sein eigenes Denken als transzendentales selber empi-
risch möglich ist. Nur sehe ich darin gerade für die hermeneutische Dimen-
sion, die ich entwickelt habe, keine wirkliche Sch,vierigkeit.
Pannenbergs höchst nützliche Auseinandersetzung mit meinem Versuch23
hat mir bewußt bemacht, welch grundsätzlicher Unterschied zwischen dem
Anspruch Hegels besteht, Vernunft auch in der Geschichte zu erweisen, und
jenen sich ständig überholenden universalgeschichtlichen Konzeptionen, in
denen man sich stets \vie »der letzte Historiker« (166) benimmt. Über
Hegels Anspruch einer Philosophie der Weltgeschichte kann man gewiß
streiten. Auch er wußte: »)Die Füße derer, die dich hinaustragen, sind schon
vor der Türe«, und man kann finden, daß durch alle weltgeschichtlichen
Desavouierungen hindurch dem Endgedanken der Freiheit aller eine zwin-
gende Evidenz zukommt, die man so wenig je überholen kann, wie man
Bewußtheit überholen kann. Gleichwohl ist der Anspruch, denjeder Histo-
riker erheben muß und der darin besteht, den Sinn alles Gescliehens im
Heute festzumaclien (und in der Zukunft dieses Heute), ein grundsätzlich
anderer und viel bescheidenerer. Niemand kann bestreiten, daß Historie
Zukünftigkeit voraussetzt. Eine universalgeschichtliche Konzeption ist in-
sofern unvermeidlicherweise eine der Dimensionen gegenwärtiger histori-
scher Bewußtheit >in praktisclier Absicht<. Aber wird man Hegel gerecht,
wenn man ihn auf dieses interpretatorische Bedürfnis aller Gegenwart ein-
schränken will? >In praktischer Absicht< - daß niemand heute diesen An-
spruch überzieht, dafur sorgt schon das eingeprägte Bewußtsein der eigenen
24 Vgl. jetzt die Sammlung seiner Schriften, Ecrits, Aux Editions du Seuil, Paris (1966)
[und die vorzügliche Heidelberger Dissertation von Hermann Lang. Die Sprache und das
Unbewußtc. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse. Frankfurt 1973].
250 Weitercnt\vicklungcn
xion dort ausübt, wo er nicht als Arzt dazu legitimiert ist, sondern wo er
selber sozialer Spiclpartner ist, fallt er aus seiner sozialen Rolle. Wer seine
Spiel partner auf etwas jenseits ihrer Liegendes hin ,durchschaut<, d. h. das
nicht ernst nimmt, was sie spielen, ist ein Spielverderber, denl man aus dem
Wege geht. Die emanzipatorische Kraft der Reflexion. die der Psychoanaly-
tiker in Anspruch nimmt, muß mithin an dem gesellschaftlichen Bewußt-
sein ihre Grenze finden, in welchem sich der Analytiker, ebenso wie sein
Patient, mit allen anderen versteht. Die hermeneutische Reflexion lehrt uns,
daß soziale Gemeinschaft bei allen Spannungen und Störungen immer wie-
der auf ein soziales Einverständnis zurückfUhrt, durch das sie existiert.
Damit wird aber die Analogie zwischen psychoanalytischer und soziolo-
gischer Theorie problematisch. Denn \"\'o soll diese ihre Grenze finden? Wo
hört dort der Patient auf und tritt die Sozialpartnerschaft in ihr unprofessio-
nelles Recht? Gegenüber welcher Sclbstinterpretation des gesellschaftlichen
Bewußtseins - und alle Sitte ist eine solche - ist das Hinterfragen und
Hintergehen am Platze, etwa in revolutionärem Veränderungswillen, und
gegenüber welcher nicht? Diese Fragen scheinen unbeantwortbar. Es
scheint sich die unausbleibliche Konsequenz zu ergeben, daß dem prinzipien
emanzipatorischen Bnvußtsein die Auflösung alles Herrschaftszwangs vor-
schv.teben muß - und das hieße, daß die anarchistische Utopie ihr letztes
Leitbild sein muß. - Dies freilich scheint mir ein henneneutisch falsches
Bewußtsein.
19. Replik zu >Hermeneutik und Ideologiekritik<
1971
Polis. Aber selbst \"\Tenn das alles rur Aristoteles sonnenklar war und er die
eigene Struktur des praktischen Wissens gegenüber der des technischen
Wissens meisterhaft herausgearbeitet hat - es blieb doch abermals eine Frage
zurück: Was soll das für ein Wissen sein, in dem Aristoteles selber diese
Unterscheidungen traf und lehrte? Was ist die praktische (und politische)
Wissenschaft ihrerseits fur ein Wissen?
Solches Wissen ist nicht einfach eine höhere Betätigungjenes praktischen
Wissens, das Aristoteles als Phronesis beschrieben und analysiert hat. Zv.rar
ist )praktische Philosophie< von der >theoretischen Wissenschaft< bei Aristo-
teIes ausdrücklich unterschieden, offenbar eben dadurch, daß der )Gegen-
stand< dieser Wissenschaft nicht das Immerseiende und die obersten bleiben-
den Prinzipien und Axiome sind, sondern die beständiger Veränderung
unterliegende menschliche Praxis. Aber in gewissem Sinne ist sie doch selbst
theoretisch, sofern, was sie lehrt, kein wirkliches Handlungswissen ist, das
eine konkrete Situation der Praxis klärt und entscheidet, sondern )allgemei-
ne< Erkenntnisse über menschliches Verhalten und die Formen seines )politi-
sehen< Daseins vermittelt. So geht durch die Tradition der abendländischen
Wissenschaftsgeschichte als eine eigene Form von Wissenschaft die scientia
practica, die praktische Philosophie, die weder theoretische Wissenschaft ist,
noch auch zureichend dadurch charakterisiert wird, daß sie )praxisbezogen<
ist. Sie ist - als Lehre - ganz gewiß kein >Handlungswissen<26. Aber ist sie
nichts als Techne oder >Kunstlehre<? Sie ist nicht zu vergleichen mit der
Grammatik oder Rhetorik, die für ein technisches Können - Reden oder
Schreiben - ein technisches Regelbewußtsein bereithalten, das seinerseits
Kontrolle der Praxis möglich macht und andererseits auch Lehre. Diese
Kunstlehren scheinen bei aller ihrer Überlegenheit über die bloße Erfahrung
doch der Ausübung des Sprechens oder Schreibens eine letzte Geltung
zuzuerkennen, so wie alle andere Techne, alles Handwerkswissen, dem
Gebrauch untergeordnet ist, den man von dem hergestellten Produkt
macht. Praktische Philosophie ist nicht in diesem Sinne, in dem Grammatik
oder Rhetorik Kunstlehren sind, ein Regclwissen rur menschlich-gesell-
schaftliche Praxis. Sie ist vielmehr Reflexion auf ein solches und somit in
einem letzten Betracht> allgemein< und >theoretisch<. Auf der andern Seite
stehen Lehre und Rede hier unter eigentümlichen Bedingungen, sofern alles
moralphilosophische Wissen und entsprechend auch jede allgemeine Staats-
lehre auf die besonderen Erfahrungsbedingungen des Lernenden bezogen
sind. Aristotcles gesteht sich das durchaus ein, daß sich solches >Reden im
allgemeinen< über das, was eines jeden eigens te konkrete Praxis ist, nur
rechtfertigt, wenn man es mit Schülern zu tun hat, die reif genug sind,
26 Das hat Ernst Schmidt in der Kritik des Buches >Moral Knowledge and its Methodo-
logy in Aristotle< von J. Donald Monan richtig gezeigt (Philosophische Rundschau, 17,
1971, S. 249ff).
254 Weiterentwicklungen
27 Plato, 7. Brief, 343 a 7: »weil nicht die >Seele~ des Redenden widerlegt wird. «(
256 Weiterentwicklungen
2.S Von Barmann, S. 98, geht so weit, mir nachzusagen, daß die Worte, die verstanden
werden, eigentlich nichts mehr sind als WorteH -, }}ohne konkreten Sinn ... ({ und fUhrt
das auf eine zu weit getriebene Formalisierung der hermeneutischen Fragestellung zurück.
Aber hier ist er doch der Zweideutigkeit zum Opfer gefallen, die er an mir kritisiere - er
unterschätzt die wesenhafte Beziehung aller Philosophie der Hermeneutik aufhermeneu-
tische Praxis. Man will wissen, was einem da geschieht (und nicht etwa )glauben<). Die
}Zweideutigkeit<, die er mir in seiner höchst forderlichen Kritik nachweist, ist gewiß zu
einem Teile die Folge meiner bcgriffiichen Schwäche. zum anderen aber liegt es dem
Wesen der hermeneutischen Erfahrung zugrunde, unentschieden zu sein und ständig
versucht, das, was man als Aussage eines anderen versteht, auch sachlich einleuchtend zu
finden.
Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik 257
Verstehen5 modifiziert worden. Es scheint mir trotzdem nach \vie vor nicht
überzeugend, daß das historische Bewußtsein und seine Ausformung in den
historischen Geistes\vissenschaften der Grund daftir sein soll, daß die Macht
der Tradition abgebaut wird, und nicht vielmehr der Traditionsbruch selbst
daftir bestimmend ist, der mit dem Beginn der Neuzeit anhob und etwa in
der Französischen Revolution zu einer ersten radikalen Zuspitzung kam. Die
historischen Geistes\vissenschaften scheinen nür \veit eher durch die Reak-
tion auf diesen Traditionsbruch auf den Plan gerufen zu sein, als diesen
Traditionsbruch von sich aus bewirkt oder auch nur bejaht zu haben. Gewiß
ist es richtig, daß die Geisteswissenschaften, ihrer romantischen Herkunft
zum Trotz, selber ein gebrochenes Traditionsphänomen sind und in gewis-
sem Sinne die kritische Aufklärung fortsetzen. Ich nannte das seinerzeit eine
Umspiegclung der Aufklärung 3s . Aber auf der anderen Seite sind in ihnen
offenkundig Antriebe romantischer Restauration wirksam. Ob lllan das
begrüßt oder bekämpft, das ändert nicht das geringste daran, daß dieselben
spezifische Erkenntnisleistungen zeitigen können. Man denke etwa an Rau-
mers >Geschichte der Stauferzeit<. Das ist alles andere als bewußte Applika-
tion. Vielmehr gehört innere Durchdringung kritischer Aufklärung, die die
naive Fortgeltung von Überlieferungen kritisiert, und fortwirkende Tradi-
tion, die den geschichtlichen Horizont mitbestimmt, zum Wesen der ge-
schichtlichen Wissenschaften, und das keineswegs nur im Heimatlande der
romantischen Geistes\vissenschaften. Die Geschichte Athens im Peloponne-
sischen Kriege etwa, die Wertung eines Perikles oder des ,Gerbers KIeon<,
sieht in der Tradition des kaiserlichen Deutschland erstaunlich anders aus als
in der der amerikanischen Demokratie - so jung diese beiden Traditionen
auch sind. - Das gilt nicht anders fLir die Tradition des Marxismus. Wenn ich
z. B. Giegcls Fortdenken in den Kategorien des Klassenkampfes lese, so
verkenne ich durchaus nicht (v.;ie er zu befürchten scheint), \,\·a5 wirkungs-
geschichtliche Reflexion dabei bewußt zu machen vermöchte - nur irrt er
sich, wenn er meint, daß in irgendeinem Falle eine Legitimation dadurch
erbracht würde. Die hernIeneutische Reflexion ist darauf beschränkt, Er-
kenntnischancen offenzulegen, die ohne sie nicht wahrgenommen würden.
Sie vermittelt nicht selbst ein Wahrheitskriterium.
Die Rede von bewußter Applikation ist auch in anderen Bereichen miß-
verständlicli genug. Es bleibt mir erstaunlicli, daß im Falle des Regisseurs
oder des Musikers von Apel der Aktualisierung im Sinne der bewußten
Applikation das Wort geredet wird, so als ob liier keine Bindung an das
wiederzubelebende Werk die gesamte Auslegung leiten müßte. In Walirheit
würdigen wir doch gerade eine gelungene Inszenierungslcistung oder eine
musikalische Reproduktion als eine Interpretation, weil das Werk selber in
seinem \~lahren Gehalt neu zur Aussage gebracht wurde. Wenn uns umge-
kehrt grobe Aktualisierungstendenz und überdeutliche Anspielung auf Ge-
gen'\vart in reproduktiven Leistungen zugemutet wird, dann empfinden wir
das mit Recht als unangemessen. Umgekehrt scheint mir das Bild des
Dolmetschers, der ja wirklich das gegebene Modell rur die hermeneutischen
Aufgaben ist, weit unterinterpretiert, wenn man verkennt, daß der Dolmet-
scher nicht übersetzen darf, sondern den Part, den cr verstanden hat, in einer
anderen Sprache dem anderen Partner gegenüber sprechend zu vertreten
hat. Hier scheint mir jeweils ein objektivistischer Begriff von Sinn und
Sinntransparenz leitend, der der Sache nicht entspricht.
Die hermeneutische Erfahrung hat nicht erst seit der Wissenschaft der
Neuzeit, sondern von dem Aufkommen der hermeneutischen Fragestellung
selbst an eine Spannung in sich, die sich nie ausgleicht. Sie läßt sich nicht so
weit unter das idealistische Schema der Selbsterkenntnis im Anderssein
bringen, daß Sinn je voll erfaßt und tradiert würde. Solch idealistischer
Begriff von Sinn-Verstehen beirrt meines Erachtens nicht nur Apel, sondern
die meisten meiner Kritiker. Daß eine derart auf Idealismus reduzierte
philosophische Hermeneutik der kritischen Ergänzung bedürfte, würde
auch ich zugeben und habe das in der Kritik an den Hegel-Nachfolgern des
19. Jahrhunderts, an Droysen und Dilthey, selber zu zeigen versucht. Aber
war es nicht von jeher der Antrieb der Hermeneutik, das Fremde, den
unerforschlichen Götterwillen oder die Heilsbotschaft oder die Werke der
Klassiker, durch Auslegung zu >verstehen<, und bedeutet das nicht immer
eine konstitutive Unterlegenheit dessen, der versteht, gegenüber dem, der
sagt und zu verstehen gibt?
Nun hat diese Urbestimmung der Hermeneutik durch den Traditions-
bruch der Neuzeit und das Aufkommen eines ganz andersartigen Erkennt-
nisideals der Exaktheit an Profilierung gewonnen. Aber die Grundvoraus-
setzung der hermeneutischen AufgabensteIlung, die man nur nicht recht
wahrhaben wollte und die ich \viederherzustellen versuchte, war von jeher
die der Ancignung eines überlegenen Sinnes. Insofern ist es nicht etwas
besonders Originelles, wenn ich in meiner Untersuchung die hermeneuti-
sche Produktivität des Zeitabstandes geltend machte 36 und grundsätzlich die
Endlichkeit und Unabschließbarkeit alles Verstehens und aller wirkungsge-
schichtlichen Reflexion betonte. Das ist nichts anderes als die Freilegung der
wahren hermeneutischen Thematik. Ihre eigentliche Legitimation findet sie
vollends in der Erfahrung der Geschichte. Hier ist es wahrlich nichts mit der
Sinntransparenz. Die >Historik< muß sich stets gegen humanistische Verdün-
nung wehren. Die Erfahrung der Geschichte ist nicht die Erfahrung von
Sinn und Plan und Vernunft, und nur unter dem verewigenden Blick der
meint sind. Wie dort das Ideal der Linguistik darin besteht, eine Theorie der
sprachlichen Kompetenz zu entwickeln und so am Ende alle Ausfallserschei-
nungen und Modifikationen von Sprache konstruktiv zu erklären, so müsse
sich auch der umgangssprachlichen Verständigung gegenüber ein Gleiches
erreichen lassen. Wenngleich die Forschung dazu noch nicht weit genug sei,
ändere das nichts an der grundsätzlichen Sachlage, daß sich mit Hilfe der
Kenntnis der Bedingungen systematisch verzerrter Kommunikation ein
Idealvollzug von Verständigung erreichen lasse, der den Consensus notwen-
dig herbciftihren würde. Allein ein solcher Consensus könne ein vernünfti-
ges Wahrheitskriterium sein. Ohne eine solche Theorie dagegen verfalle
man dem >tragenden Einverständnis( eines Zwangs consensus, ohne das zu
durchschauen.
Die Theorie kommunikativer Kompetenz dient also zuletzt zur legiti-
mierung des Anspruchs, verzerrte soziale Kommunikation zu durchschau-
en, und entspricht insofern der Leistung der Psychoanalyse im therapeuti-
schen Gespräch. Indes, eines stimmt da nicht ganz. Wir haben es ja jetzt mit
Gruppen zu tun, die jede unter sich im Einverständnis leben. Zwischen den
Gruppen ist das Einverständnis zerstört und wird gesucht, also nicht etwas
zwischen dem einzelnen, der da neurotisch abgespalten ist, und der Sprach-
gemeinschaft. Wer ist denn hier abgespalten? Welche Desymbolisationen
müssen da geschehen, etwa bei dem Wort }Demokratie(? Aufgrund welcher
Kompetenz? Daß dahinter eine Vorstellung von dem liegen muß, was
Freiheit aller ist, versteht sich. Habermas sagt denn auch: ein zwangs freies
rationales Gespräch, das solche Verzerrungen auflösen könnte, setze stets
eine gewisse Antizipation des rechten Lebens voraus. Nur dann könne
solches Gespräch gelingen. »Die Idee der Wahrheit, die sich am wahren
Konsensus bemißt, schließt die Idee der Mündigkeit ein" (100).
Mir kommt dies Wahrheitskriterium, das aus der Idee des Guten die Idee
des Wahren und aus dem Begriff der ,reinen, Intelligenz das Sein ableitet, aus
der Metaphysik recht bekannt vor. Der Begriff der reinen Intelligenz
stammt aus der mittelalterlichen Intelligenzenlehre und ist dort im Engel
verkörpert, der den entsprechenden Vorzug hat, Gott in seinem Wesen zu
schauen. Es \vird mir schwer, Habermas hier kein falsches ontologisches
Selbstverständnis zu unterstellen, wie es mir etv.ra auch in Apels Aufhebung
des Naturwesens in Rationalität ge1cgen schien. Freilich, falsche Ontologi-
sierung wirft Habermas gerade mir vor, z. B. weil ich zwischen Autorität
und Aufklärung keinen ausschließenden Gegensatz zu sehen vermag. Das
soll nach Habermas deshalb falsch sein, weil es voraussetzt, daß sich die
legitimierende Anerkennung ohne das autoritäts begründende Einverständ-
nis gewaltlos einspiele3". Diese Voraussetzung dürfe man aber nicht machen.
J8 Von Bormann hat ganz recht, welln er (a. a. O. 89) auf das 17. und 18. Jahrhundert
Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik 267
und insbesondere auf Lessing verweist. Ich selbst habe mich vor allem auf Spinoza
berufen, auch auf Descartes, und in anderem Zusammehang aufChladenius, und meine
überhaupt, daß ich nirgends auf die obskurantistische Seite gehörte, die die Aufklärung >in
totoablehnt( (a.a.O.115).
268 Weiterentwicklungen
beiderseitige ist und von bei den Seiten dem anderen vorgeworfen wird. Sie
bedeutet also nicht eine Störung der kommunikativen Kompetenz, sondern
unübenvinclliche Meinungsverschiedenheiten. Gewiß kann man zwischen
solchen gegensätzlichen Überzeugungen jeweils von Dialog-Unfahigkeit
sprechen. Das hat aber einen ganz anderen Hintergrund als den der Neurose.
Es ist die Herrschaft von Gruppenüberzeugungen, die in den Funktionskreis
der Rhetorik fallen, durch die eine dialogwidrige Situation eintreten kann,
Der Vergleich mit der krankhaften Dialogunfahigkeit, die der Analytiker
dem Neurotiker zuspricht und von der er ihn zu heilen versucht, fUhrt hier in
die Irre, Unüberbrückbare Gegensätze zwischen gesellschaftlichen und poli-
tischen Gruppen beruhen auf dem Unterschied der Interessenlagen und der
Verschiedenartigkeit der Erfahrungen, Sie stellen sich durch das Gespräch
heraus, d. h. ihre Unüberbrückbarkeit steht nicht von vornherein fest, son-
dern ist das Resultat des Verständigungsversuchs - und als solches nie
endgültig, sondern auf die Wiederaufnahme des Gesprächs in jener ideell
unendlichen Interpretationsgemeinschaft bezogen, die zum Begriff der
kommunikativen Kompetenz gehören dürfte. Hier von Verblendung zu
sprechen, würde den Alleinbesitz der richtigen Überzeugung voraussetzen.
Diesen zu behaupten, dürfte wohl eine eigene Art von Verblendung sein.
Dagegen scheint mir die philosophische Hermeneutik nach wie vor im
Recht, wenn sie rur den eigentlichen Sinn von Kommunikation hält, daß die
Vorurteile wechselseitig auf die Probe gestellt \\'erden, und wenn sie sogar
noch der kulturellen Überlieferung der .Texte< gegenüber an solcher Gegen-
seitigkeit festhält,
Nun hat offenbar die Wendung, die ich gelegentlich gebrauchte, daß es
darauf ankäme, an die Tradition Anschluß zu gewinnen, Mißverständnisse
begünstigt. Darin liegt keineswegs eine Bevorzugung des Herkömmlichen,
der man sich blind unterwerfen müsse. Die Wendung )Anschluß an die
Tradition< meint vielmehr nur, daß Tradition nicht aufgeht in dem, was man
als die eigene Herkunft weiß und dessen man sich bewußt ist, so daß
Tradition nicht in einem adäquaten Geschichtsbewußtsein aufgehoben sein
kann. Veränderung von Bestehendem ist nicht minder ein Form des An-
schlusses an die Tradition wie die Verteidigung von Bestehendem. Tradition
ist selbst nur in beständigem Anderswerden. An sie )Anschluß gewinnen(
drängt sich als Formulierung einer Erfahrung auf, derzufolge unsere Pläne
und Wünsche der Wirklichkeit stets vorauseilen, sozusagen ohne Anschluß
an die Wirklichkeit sind. Worauf es ankommt, ist daher, zwischen den
Antizipationen des Wünschbaren und den Möglichkeiten des Tunlichen,
zwischen bloßem Wünschen und "virklichem Wollen zu vermitteln, d. h. die
Antizipationen in den Wirklichkeits stoff einzubilden.
Das geschieht wahrlich nicht ohne kritisches Unterscheiden. Ja, ich würde
sagen, nur das allein sei wirkliche Kritik, was in solchem Praxis bezug
Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik 269
)entscheidet<. Eine Kritik, die dem anderen oder den herrschenden gesell-
schaftlichen Vorurteilen ihren Zwangs charakter generell entgegenhält und
auf der anderen Seite beansprucht, einen solchen Verblendungszusammen_
hang kommunikativ aufzulösen, befindet sich, wie ich mit Giegel meine, in
einer schiefen Lage. Sie muß sich über fundamentale Unterschiede hinweg-
setzen. Im Falle der Psychoanalyse ist im Leiden und im Heilungswunsch
des Patienten eine tragende Grundlage ftir das therapeutische Handeln des
Arztes gegeben, der seine Autorität einsetzt und ohne Nötigung die ver-
drängten Motivationen aufzuklären drängt. Dabei ist eine freiwillige Unter-
ordnung des einen unter den anderen die tragende Basis. Im sozialen Leben
dagegen ist der Widerstand des Gegners und der Widerstand gegen den
Gegner eine gemeinsame Voraussetzung aller.
Das scheint mir so selbstverständlich, daß ich verblüfft bin, daß meine
Kritiker, so Giegel wie im Grunde schon Habermas, mir nachsagen, daß ich,
auf meiner Hermeneutik bestehend, einem revolutionären Bewußtsein und
Veränderungswil1en seine Legitimation bestreiten wolle. Wenn ich gegen
Habermas sage, daß das Arzt-Patient-Verhältnis ftir den gesellschaftlichen
Dialog nicht genügt, und ihm die Frage stelle: »Gegenüber welcher Selbstin-
terpretation des gesellschaftlichen Bewußtseins - und alle Sitte ist eine solche
- ist das Hinterfragen und Hintergehen am Platze, etwa im revolutionären
Veränderungswillen, und gegenüber welcher nicht?((, so halte ich diese
Frage der von Habermas behaupteten Analogie entgegen. Ihre Beantwor-
tung ist im Falle der Psychoanalyse durch die Autorität des wissenden Arztes
gegeben. Im Bereich des Gesellschaftlichen und Politischen fehlt aber die
besondere Basis der kommunikativen Analyse, in deren Behandlung sich
der Kranke freiwillig, aus Krankheitseinsicht, begibt. Und deshalb scheinen
mir in der Tat solche Fragen nicht hermeneutisch beantwortbar. Sie beruhen
auf politisch-gesellschaftlichen Überzeugungen. Das heißt ganz und gar
nicht, daß deswegen revolutionärer Veränderungswille im Unterschiede zu
einer Bestätigung der Tradition keiner Legitimation fahig sei. Weder die eine
noch die andere Überzeugung ist einer theoretischen Legitimation durch
Hermeneutik fahig oder bedürftig. Die Theorie der Hermeneutik kann von
sich aus nicht einmal darüber entscheiden, ob die Voraussetzung richtig ist
oder nicht, daß die Gesellschaft durch den Klassenkampf beherrscht werde
und daß keine Dialogbasis zwischen den Klassen vorhanden sei. Offenbar
haben meine Kritiker den Geltungsanspruch, der in der Reflexion auf die
hermeneutische Erfahrung besteht, verkannt. Sonst könnten sie nicht an der
These Anstoß nehmen, daß überall, wo Verständigung möglich ist, Solida-
rität vorausgesetzt ist. Sie machenja dieselbe Voraussetzung. Nichts berech-
tigt zu der Unterstellung, als würde von mir das )tragende Einverständnis(
mit der einen mehr als mit der anderen Seite, als konservative und nicht
ebenso als revolutionäre Solidarität in Anspruch genommen. Es ist die Idee
270 Weiterentwicklungen
der Vernunft selbst, die auf die Idee des allgemeinen Einverständnisses nicht
verzichten kann. Das ist die Solidarität, die alle eint.
Nur hatte mich die Diskussion mit den Jüngeren, insbesondere auch mit
Habermas, darüber belehrt, daß die intentio obliqua des Ideologiekritikers
gleichwohl an meinen Akzentsetzungen )konservative Vorurteile( gewahrt.
Indem ich auf diese vermutlich berechtigte Wahrnehmung einging, führte
ich aus, welchen hermeneutischen Sinn das konservative Vorurteil hier
haben könne, nämlich: bewußt zu machen, \vie viele selbstverständliche
Voraussetzungen immer in Anspruch genommen werden, wo Gespräch ist.
Giegel zitiert zwar, was ich über meinen Konservativismus zugestehe, aber
er bricht das Zitat dort ab, wo seine Aussage beginnt. Diese aber ist, daß
bestimmte Erkenntnisse so möglich geworden seien. Nur auf die Erkennt-
nischance kam es mir an. Das ist aber auch das einzige, worüber man
diskutieren kann: ob das \virklich wahr ist, was ich unter diesen Vorausset-
zungen erkannt zu haben meine. Da scheint mir nun Giegel von seinen
entgegengesetzten Vorurteilen aus genau zum g1eichen Resultat zu gelangen
und darin mit mir ganz übereinzustimmen, daß Habermas der Reflexion
eine falsche Macht zuschreibt. Vermutlich sind es die gleichen Erfahrungen
wie die, auf die ich mich berief, wenn auch in entgegengesetzter Wertung
derselben, die zu seiner entsprechenden Kritik an Habermas geruhrt haben,
einer Kritik, die er geradezu am Bernsteinschen Revisionismus konkreti-
siert. Daher ist es auch ganz konsequent, wenn Giegel, so wie er die Herme-
neutik versteht, gegen sie geltend macht: »Aus diesem Traum (der Solidari-
tät, die alle eint) kann sie denn wohl kaum durch Gegenkritik, sondern nur
durch die Entfaltung des revolutionären Kampfes selber gerissen werden. «(
Nicht ganz so konsequent scheint mir, daß dieser Satz einen Diskussionsbei-
trag beschließt ..
Kehren wir zu dem zurück, worüber sich diskutieren läßt - und das sind
die theoretischen Grundlagen dessen, was hermeneutische Praxis ist. In
einem Punkt stimme ich da mit meinen Kritikern überein und habe ihnen fur
die Heraushebung dieses Punktes, die sie mir abnötigen, zu danken: Wie die
Ideologiekritik die .Kunstlehre< des VerstehetlS aufSelbstreflexion hin über-
schreitet, scheint mir auch die hermeneutische Reflexion ein integrales Mo-
ment des Verstehens selber, ja dies so sehr, daß mir die Trennung der
Reflexion von der Praxis eine dogmatische Beirnmg einzuschließen scheint,
die auch noch den Begriff der ,emanzipatorischen Reflexiow trifft. Das ist
auch der Grund, warum ich den Stufen gang der Gestalten, den in Hegels
Phänomenologie der werdende Geist durchläuft, durch den Begriff der
)Ernanzipation( schlecht beschrieben finde. Gewiß ist die Erfahrung der
Dialektik bei Hegel als Veränderung durch Bewußtrnachung wirksam. Mir
scheint aber, daß Bubner der Sache nach an der phänomenologischen Dia-
lektik Hegels etwas mit Recht hervorhebt, nämlich daß eine Gesralt des
Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik 271
Geistes. die aus der anderen hervorgeht, in Wahrheit nicht aus ihr hervor-
geht, sondern eine neue Unmittelbarkeit entfaltee". Der Stufen gang der
Gestalten des Geistes ist gleichsam von ihrer Vollendung her entworfen und
nicht von ihrem Anfang her ableitbar. Das war es, \vas mich zu der Formu-
lierung veranlaßte, es komme darauf an, die >Phänomenologie des Geistes(
rückwärts zu lesen, so rückwärts, wie sie in Wahrheit gedacht ist: vom
Subjekt auf die in ihm ausgebreitete und sein Bewußtsein übertreffende
Substanz hin. Diese Umkehrtelldenz schließt eine grundsätzliche Kritik an
der Idee des absoluten Wissens ein. Die absolute Transparenz des Wissens
kommt einer idealistischen Verschleierung der schlechten Unendlichkeit
gleich, in der das endliche Wesen Mensch seine Erfahrungen macht.
Ich drücke mich damit in der Sprache Hegels aus. Das ist Gegenstand
kritischer Bemerkungen ge\vorden, insbesondere seitens von Bormanns,
der sowohl meinen Gebrauch von Begriffen Kierkegaards wie des Nikolaus
von Kues wie insbesondere Hegels deshalb illegitim findet, \veil ich die
begriffssprachlichen Mittel, deren ich mich da bediene, ihrem systemati-
schen Zusammenhang entfremde 40 • Diese Kritik ist nicht ohne Recht und
insbesondere im Falle Hegels besonders naheliegend, weil meine kritische
Auseinandersetzung mit Hegel in )Wahrheit und Methode< sicherlich recht
unbefriedigend ist4 1 • Gleichwohl möchte ich den deskriptiven Gnvinn eines
Denkens mit den Klassikern auch in diesem Falle verteidigen. Indem ich
Hegels Beschreibung des .Begriffs der dialektischen Erfahrung des Bewußt-
seins( auf den breitesten Sinn von Erfahrung hin \vende, tritt meiner Mei-
nung nach mein kritischer Punkt gegenüber Hege! sachgemäß heraus. Voll-
endete Erfahrung ist nicht Vollendung des Wissens, sondern vollendete
Offenheit fur neue Erfahrung. Das ist die Wahrheit, welche die hermeneuti-
sche Reflexion gegen den Begriff des absoluten Wissens geltend macht.
Darin ist sie nicht zweideutig.
Nicht anders aber steht es mit der Rede von Emanzipation. Der Begriff
der Reflexion, der in diesem Zusammenhang gebraucht wird, scheint mir
nicht undogmatisch. Er druckt nicht die Bewußtmachung aus, die der
Praxis eigen ist, sondern beruht, wie Habermas es einmal formuliert, auf
einem ,kontrafaktischen Einverständnis<. Darin steckt der Anspruch VOf-
herzuwissen - vor der praktischen Konfrontation -, womit man nicht
einverstanden ist. Es ist aber der Sinn der hermeneutischen Praxis, von
einem solchen kontrafaktischen Einverständnis nicht auszugehen, sondern
ein solches möglich zu machen und es herbeizuftihren, was nichts anderes
39 A.a.O. S. 231ff.
40 A.a.O. S. 99ff.
41 Inzwischen bitte ich die Arbeit: !Die Idee der Hegelschen Logik< (in >Hegcls Dialek-
tik(, Tübingen 1971, S. 49-69) zu beachten. [Inzwischen in der 2. AufI. , Tübingen 1980,
S. 65-86; Ges. Werke Bd. 3].
272 Weiterentwicklungen
denkbar ist. Ich finde es bemerkenswert, daß die Wissenschafts kultur unse-
rer Epoche die Bedeutung der Rhetorik nicht etwa gemindert, sondern
supplementär gesteigert hat, wie ein jeder Blick auf die Massenmedien (oder
auch aufHabermas' treffsichere Analyse der ,öffentlichen Meinung<) lelirt.
Der Begriff der Manipulation ist in diesem Zusammenhang recht zwei-
deutig. Jede emotionale Beeinflussung durch Rede ist in gewissem Sinne
eine solche. Und doch ist das keine bloße Sozialteclinik, was als Rhetorik cin
integrales Moment des sozialen Lebens von jeher ist. Schon AristoteIes
nennt die Rhetorik nicht eine techne, sondern eine dynamis 4 \ so sehr gehört
sie zum zoon [oRon echon. Selbst die technisierten Formen der Meinungsbil-
dung, die unsere industrielle Gesellschaft entwickelt hat, enthalten immer an
irgendeinem Punkte ein Moment der Zustimmung, sei es seitens des Konsu-
menten, der seine Zustimmung auch vorenthalten kann, sei es, und das ist
das Entscheidende, in der Weise, daß unsere Massenmedien nicht einfach der
verlängerte Arm eines einheitlichen politischen Willens sind, sondern
Schauplatz politischer Auseinandersetzungen, die ihrerseits die politischen
Vorgänge in der Gesellschaft teils reflektieren, teils determinieren. Eine
Theorie der Tiefenhermeneutik dagegen, die eine sozialkritische emanzipa-
torische Reflexion rechtfertigen soll oder gar von einer allgemeinen Theorie
natürlicher Sprache erwartet, daß sie gestatten würde, "das Prinzip vernünf-
tiger Rede als das not\vendige Regulativ jeder wirklichen Rede, und sei sie
noch so entstel1t, abzuleiten«, impliziert - insbesondere angesichts der Or-
ganisation des modernen Sozialstaates und der Formen der Meinungsbil-
dung in ihm - wider ihren Willen die Rolle des Sozialingenieurs, der her-
stellt, ohne freizustellen. Das \vürde ihn als den Inhaber der Publizitätsmittcl
und der von ihm prätendierten Wahrheit mit der Ge"\valt eines Meinungsmo-
nopols ausstatten. Das ist doch wahrlich keine fiktive Annahnle. Rhetorik
darf nicht \vegdisputiert werden, als ob es ihrer nicht bedürfte oder von ihr
nichts abhinge.
Nun sind gewiß Rhetorik wie Hermeneutik als Vollzugsformen des Le-
bens nicht unabhängig von dem, was Habermas die Antizipation des rechten
Lebens nennt. Eine solche liegt aller sozialen Partnerschaft und ihren Ver-
ständigungsbemühungen zugrunde. Aber auch hierfur gilt das gleiche: Das-
selbe Ideal der Vernunft, das jeden Überzeugungsversuch leiten muß, von
wessen Seite auch immer er ausgehe, verbietet zugleich, daß einer fur sich
selber die rechte Einsicht in des anderen Verblendung in Anspruch nimmt.
Das Ideal eines Zusammenlebens in zwangloser Kommunikation ist daher
ebenso verbindlich wie unbestimmt. Es sind sehr verschiedene Lebensziele,
die sich in diesen formalen Rahmen einspannen lassen. Auch die Antizipa-
45 tRhctorikA 2, 1355bl.
Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik 275
tion des rechten Lebens, die in der Tat aller praktischen Vernunft wesentlich
ist, muß sich konkretisieren, d. h. sie muß den schneidenden Gegensatz
bloßer Wünschbarkeiten und echter Ziele tätigen Wol1ens in ihr Bewußtsein
aufnehmen.
Worauf es nlir dabei ankommt, läßt sich, meine ich, als ein altes Problem
erkennen, das schon Aristoteles in seiner Kritik an der allgemeinen Idee des
Guten bei Plato im Auge hat. 46 Das menschliche Gute ist etwas, \vas in der
menschlichen Praxis begegnet, und es ist nicht ohne die konkrete Situation
bestimmbar, in der etwas einem anderen vorgezogen wird. Das allein, und
nicht ein kontrafaktisches Einverständnis, ist die kritische Erfahrung des
Guten. Es muß bis in die Konkretion der Situation durchgearbeitet sein. Als
allgemeine Idee ist eine solche Idee des rechten Lebens >leer<47. Darin liegt die
schwerwiegende Tatsache, daß das Wissen der praktischen Vernunft kein
Wissen ist, das sich gegenüber dem Unwissenden seiner Überlegenheit
bewußt ist. Vielmehr begegnet hier in einem jeden der Anspruch, das Rechte
für das Ganze zu wissen. Für das gesellschaftliche Zusammenleben der
Menschen bedeutet das aber, andere überzeugen zu müssen - ge\viß nicht in
dem Sinne, daß nun Politik und Gestaltung des sozialen Lebens nichts als
eine bloße Gesprächsgemeinschaft wäre, so daß man sich an das zwangsfreie
Gespräch unter Ausschaltung allen Herrschaftsdrucks als das wahre Heil-
mittel verwiesen sähe. Politik verlangt von der Vernunft, daß sie Interessen
zu Willensbildungcn führt, und alle sozialen und politischen Willcnsbekun-
dungen sind vom Aufbau gemeinsamer Überzeugungen durch Rhetorik
abhängig. Das schließt ein, und ich meine, das gehört zum Begriff der
Vernunft, daß man stets mit der Möglichkeit rechnen muß, daß die Gegen-
überzeugung, ob das nun im individuellen oder im sozialen Bereich statthat,
recht haben könnte. Mich hat der Weg der hermeneutischen Erfahrung, die,
wie ich gern zugebe, spezifische Inhalte der abendländischen Bildungstradi-
tion in sich verarbeitet hat, zu der Inanspruchnahme eines Begriffs gefUhrt,
der offenkundig von weitester Anv.rendung ist. Ich meine den Begriff des
Spiels. Wir kennen ihn nicht nur aus den modernen Spieltheorien der Öko-
nomie. Er reflektiert vielmehr, wie mir scheint, die Pluralität, die mit der
Vernunftausübung des Menschen verknüpft ist, ebensosehr vI;ie die Plurali-
tät, die einander entgegenstehende Kräfte zur Einheit eines Ganzen zusam-
menschließt. Das Spiel der Kräfte ergänzt sich durch das Spiel der Überzeu-
gungen, Argumentationen und Erfahrungen. Das Schema des Dialogs be-
hält in rechter Verwendung seine Fruchtbarkeit: Im Austausch der Kräfte
wie im Sichmessen der Ansichten baut sich eine Gemeinsamkeit auf, die den
einzelnen und die Gruppe, der er zugehört, übertrifft.
46 [Vgl. inzwischen meine Hcidelberger Akademie-Abhandlung lDie Idee des Guten
zwischen Plato und Aristoteles<. Heidelberg 1978; Ges. Werke Bd. 7].
47 Arist. Eth. Nie. 1': 4, 1096 b 20: Jiriwwv IO döo(.
20. Rhetorik und Hermeneutik
1976
rie, wie sie sich in der Abwehr des gegen reformatorischen, tridentinischen
Angriffs auf das Luthertum ausbildete, von Luther über Melanchthon und
Flacius, durch den beginnenden Rationalismus und den sich ihm entgegen-
stellenden Pietismus bis zur Entstehung der historischen Weltanschauung im
Zeitalter der Romantik ftihrte, hat sich nicht unter erkenntnis- und wissen-
schaftstheoretischen Gesichtspunkten, sondern unter der Dringlichkeit der
theologischen Kontroversen entfaltet, die mit der Reformation einsetzten.
Es war freilicli die leitende Fragestellung nach der Vorgeschichte der moder-
nen historischen Geisteswissenschaften, unter der diese Geschichte von
Wilhe1m Dilthey undJoaehim Wach geschrieben worden ist.
Nun ist es eine hermeneutische Wahrheit, die mit dem Begriff des Vorver-
ständnisses verknüpft ist, die hier ins Spiel kommt. Auch die Erforschung
der Geschichte der Hermeneutik steht unter dem allgemeinen hermeneuti-
schen Gesetz des Vorverständnisses. Das sei einleitend an drei Beispielen
gezeigt.
Das este ist eben das, das Wilhclm Diltheys Studien zur Geschichte der
Hermeneutik zugrunde liegt, jener Prcisschrift der Berliner Akademie der
Wissenschaften, die Dilthey als junger Gelehrter geschrieben hat und von
der vor der endlich imJahre 1966 erfolgten Veröffentlichung, die wir Martin
Redekers Redaktion des unvollendeten zweiten Bandes von Diltheys >Leben
Schlciermachers( verdanken, nur geringe Teile sowie die Kurzfassung von
1900 bekannt waren 48 . Dilthey gibt dort eine meisterhafte, mit zahlreichen
Belegstellen ausgestattete Darstellung von Flacius. Er prüft und würdigt
Flacius' hermeneutische Theorie, indem er den Maßstab des seiner selbst
bewußt ge\vordenen historischen Sinnes und der wissenschaftlichen, histo-
risch-kritischen Methode anlegt. An diesem Maßstab gemessen mischt sich
in Flacius Werk geniale Antizipation des Richtigen mit unbegreiflichen
Rückfällen in dogmatische Enge und leeren Formalismus. In der Tat, wenn
sich bei der Interpretation der Heiligen Schrift kein anderes Problem stellte
als das, was die historische Theologie des liberalen Zeitalters beschäftigte,
dem Dilthey angehört, wäre damit das letzte Wort gesprochen. Die löbliche
Absicht, jeden Text aus seinem eigenen Zusammenhang zu verstehen und
keinem dogmatischen Zwang zu unterwerfen, führt in der An\vendung auf
das Neue Testament am Ende zu der Auflösung des Kanon, wenn man mit
Schleiermacher die }psychologische( Interpretation in den Vordergrund
stellt. Jeder Schriftsteller des Neuen Testaments steht unter diesem herme-
neutischen Gesichtspunkt für sich, und das führt zur Unterminierung einer
auf das Schriftprinzip gestützten protestantischen Dogmatik. Das ist eine
Konsequenz, die Dilthey implicite gutheißt. Sie liegt seiner Kritik an Flacius
zugrunde, wenn er den Mangel seiner Exegese in der unhistorischen und
abstrakt logischen Fassung des Prinzips des Schriftganzen oder des Kanon
sieht. Ähnlich zeigt sich die Spannung von Dogmatik und Exegese auch an
anderen Stellen der Diltheyschen Darstellung und vollends in der Kritik an
Franz und dessen Betonung des Vorrangs des Kontextes des Schriftganzen
gegenüber den Einzeltexten. Inzwischen sind \-vir durch die Kritik an der
historischen Theologie, die im letzten halben Jahrhundert geführt v.rorden
ist und die in der Herausarbeitung des Begriffs des >Kerygma I gipfelt, ruf die
hermeneutische Legitimität des Kanon und damit ruf die hermeneutische
Legitimität des dogmatischen Interesses bei Flacius cmpfanglichcr gc-
\vorden.
Ein anderes Beispiel der Wirksamkeit von Vorverständnis in der Erfor-
schung der Geschichte der Hermeneutik ist die von L. Gc1dsetzer eingefUhr-
te Unterscheidung von dogmatischer und zetetischer Hermeneutik4~. Mit
Hilfe dieser Unterscheidung einer dogmatisch gebundenen, durch Institu-
tionen und ihre Autorität festgelegten Auslegung, die überal1 auf die konse-
quente Verteidigung der dogmatischen Normen zielt, von einer undogmati-
sehen, offenen, suchenden, unter Unlständen sogar bei der Aufgabe der
Auslegung zu einem >non liquet( fUhrenden Auslegung von Texten, nimmt
die Geschichte der Hermeneutik eine Gestalt an, die das von der modernen
Wissenschaftstheorie geprägte Vorverständnis verrät. In dieser Perspektive
tritt die neuere Hermeneutik, sofern sie theologisch-dogInatische Interessen
stützt, in bedenkliche Nähe zu einer juristischen Henneneutik, die sich ganz
dogmatisch als Durehsetzung der dureh die Gesetze festgelegten Rechtsord-
nung versteht. Aber es ist gerade die Frage, ob nicht die juristische Herme-
neutik selber verkannt "vird, wenn man in der Bemühung um die Rechtsfin-
dung das zetetische Element bei der Gesetzesauslegung ignoriert und in der
bloßen Subsumtion des Falles unter das allgemeine Gesetz, das als solches
gegeben ist, das Wesen der juristischen Hermeneutik sicht. Hier dürfte die
neuere Einsicht in das dialektische Verhältnis von Gesetz und Fall, ruf die
Hegel die entscheidenden Denkhilfen bietet, unser Vorverständnis der juri-
stischen Hermeneutik gewandelt haben. Die Rolle der Judikatur hat ja von
jeher das Subsumtionsmodell eingeschränkt. Sie dient in Wahrheit der rech-
ten Auslegung des Gesetzes (und nicht nur seiner richtigen Anwendung).
Ähnliches gilt nun erst recht rur die von allen praktischen Aufgaben entlaste-
te Auslegung der Bibel oder mutatis mutandis der Klassiker. Wie dort die
>Analogie des Glaubens< rur die Bibelauslegung keine feste dogmatische
Vorgegebenheit ist, so ist auch die Sprache, die ein klassischer Text zu dem
jeweiligen Leser fuhrt, nicht angemessen begreifbar, wenn man sich dabei an
dem wissenschaftstheoretischen Begriff der Objektivität orientiert und den
gleichen Weise bewußt. So finde ich bei Johannes Sturm, linguae latinae resolvendae ratio,
publ. 1581: »Neo tempore valde occupati fUlmus adolescentes in instituendis loels com-
munibus. Corrogavimus quaedam ex co libro Erasmi. quem edidit de ratione disecndi.
Philippus honorifieae memoriae etiam tradidit qllosdam 10cos eommunes et aEi alios
tradiderunt. Ego pllto non solum faeiendos 10eos communcs virtutum et vitiarum, sed
loeos communes omnium rerum ... Vobis hi 10ci in star memoriae seu recordationes. {(
Die Schüler Melanchthons waren sich also über die hermeneutische Dimension der
Sammlung von Iod nicht ebenso im klaren.
59 A. a. 0.,452.
284 Weiterentwicklungen
lernen, »in der Hoffnung. daß uns Gott das eines Tages klarmache«, steht der
andere Rat, der wahrlich allgemein und rur das Lesen einer jeden Schrift als
gültig empfohlen wird, gleich als erstes den >Scopus<, den Zweek und die
Intention des ganzen Textes zur Kenntnis zu nehmen.
Mit solchen allgemeinen Ratschlägen wird die Besonderheit des An-
spruchs der Heiligen Schrift keineswegs nivelliert, sondern kommt gerade
durch deren Anwendung zur rechten Abhebung. »Man muß beachten, daß
in diesem Buche nicht nur eine Art von Lehre enthalten ist, wie sonst meist in
Büchern, sondern deren zwei, das Gesetz und das Evangelium. Sie sind zwar
von Natur einander entgegengesetzt, stimmen aber inso\veit überein, als das
Gesetz, indem es unsere Sündigkeit offenlegt, mittelbar der Annahme der
Vergebung (durch den Erlöser) dient.« Auch das noch ist eine hermeneuti-
sche Angelegenheit. Es bedeutet, daß die Bibel eine besondere Form der
Aneignung erheischt, nämlich die Annahme der frohen Botschaft durch den
Glaubenden. Das ist der Scopus, unter dem man die Heilige Schrift zu lesen
hat, auch dann, \venn man als bloßer Historiker an sie herantritt oder etwa
als Atheist, z. B. auf marxistischer Grundlage, die ganze Religion für )falsch(
hält. Diese Art Text muß - wie jeder andere - ihrer Intention nach verstan-
den werden.
AUe Lektüre und Auslegung der Heiligen Schrift, insbesondere aber auch
das Wort der Predigt, das die Heilige Schrift so zum Leben erwecken soll,
daß sie erneut zur Botschaft wird, stehen unter dem kerygmatischen An-
spruch des Evangeliums. Das hat eine hermeneutische Besinnung anzuer-
kennen, und dieser Anspruch rechtfertigt keineswegs, daß die hermeneuti-
sche Theorie des Flacius dogmatisch genannt werden dürfte. Sie gibt nichts
anderes als eine adäquate theoretische Begründung des Schriftprinzips, das
Luther aufgestellt hatte. Die hermeneutische Lehre des Flacius verstößt nicht
gegen die humanistischen und philologischen Prinzipien rechter Auslegung,
wenn sie einen religiösen Text als religiöse Botschaft versteht. Sie verlangt
nirgends inhaltlich dogmatische Vorannahmen, die sich am Text des Neuen
Testamentes nicht ausweisen lassen, sondern eine diesem Text gegenüber
überlegene Instanz darstellen. Das Ganze seiner Hermeneutik folgt dem
einen Grundsatz, daß allein der Zusammenhang den Sinn einzelner Worte,
Textstdlcn usw. wirklich bestimmen kann: »ut sensus locorum turn ex scopo
scripti auf textus, aun ex toto contextu petatur. « Hier ist die polemische Front-
stellung gegen alle schriftfremde Lehrtradition vollkommen deutlich. Es
entspricht dem, daß flacius, wie Melanchthon, Luther folgt, indem er vor
den Gefahren der Allegorese warnt. Gerade dieser Versuchung soll die Lehre
vom scopus totius scripti vorbeugen.
Sieht man näher zu, so sind es offenkundig die klassischen Begriffsmeta-
phern der Rhetorik, die hier gegen die dogmatische Unterwerfung der
Schrift unter die Lehrautorität der Kirche aufgeboten werden. Der Scopus
Rhetorik und Hermeneutik 287
wird als der Kopf oder das Gesicht des Textes bezeichnet, der oft schon aus
dem Titel deutlich \verde, vor allem aber aus den Grundlinien der Gedan-
kenftihrung hervorgehe. Damit wird der alte rhetorische Gesichtspunkt der
dispositio aufgenommen und ausgebaut. Man habe sorgsam darauf zu achten,
wo, um es so auszudrücken, Kopf, Brust, Hände, Füße sind und wie die
einzelnen Glieder und Teile zum Ganzen zusammenwirken. Flacius spricht
geradezu von einer )Anatomie< des Textes. Das ist echtester Plato. Statt eine
bloße Aneinanderreihung von Worten und Sätzen zu sein, muß jede Rede
wie ein lebendiges Wesen organisiert sein, einen eigenen Leib haben, so daß
sie weder ohne Kopf noch ohne Fuß ist, sondern Mittleres wie Äußeres in
gutem harmonischem Verhältnis zueinander und zum Ganzen aufweist. So
sagt es der ,Phaidros' (264 c). Auch Aristoteles folgt dieser rhetorischen
Begrifflichkcit, wenn er in der Poetik den Aufbau einer Tragödie beschreibt:
flo::.per zoon flefl holon60 . Unsere deutsche Redensart })das hat Hand und Fuß"
steht in der gleichen Tradition.
Es ist aber auch echtester Plato (dem Aristotcles Ausführung und Begrün-
dung gewidmet hat), daß sich das Wesen der Rhetorik nicht in solchen als
technische Regeln formulierbaren Künsten erschöpft. Was die Lehrer der
Rhetorik, die Plato im IPhaidros< kritisiert, betreiben, liege noch )vor( der
eigentlichen Kunst. Denn die eigentliche Kunst der Rhetorik sei v.,reder von
dem Wissen um das Wahre ablösbar noch von dem Wissen um die )5eelel.
Gemeint ist damit die seelische Lage des Zuhörers, dessen Affekte und
Leidenschaften zwecks Überredung durch die Rede erregt werden sollen. So
lehrt der ,PhaidroS<, und so folgt die gesamte Rhetorik dem Grundsatz des
argumentum ad hominem selbst beim alltäglichen Gebrauch im Umgang mit
Menschen bis zum heutigen Tage.
Nun ist es allerdings wahr, daß im Zeitaler der neuen Wissenschaft und
des Rationalismus, der im 17. und 18. Jahrhundert zur Entfaltung kommt,
das Band zwischen Rhetorik und Hermeneutik gelockert worden ist. In
jüngster Zeit hat H. Jaeger" vor allem auf die Rolle aufmerksam gemacht,
die Dannhauer mit seiner idea bon i interpretis gespielt hat. Er scheint der erste
zu sein, der das Wort Hermeneutik terminologisch gebraucht hat, und zwar
in offenkundiger Anlehnung an die entsprechende Schrift des aristotelischen
Organon. Darin zeigt sich: Es ist der Anspruch Dannhauers, den Anfang,
den Aristoteles mit seiner Schrift Peri hermeneias gemacht hatte, fortzusetzen
und zu vollenden. Wie er selbst sagt: ~)die Grenzen des aristotelischen Orga-
non durch die Hinzuftigung einer neuen Stadt zu erweitern. {( Seine Orientie-
rung ist also die Logik, der er als einen weiteren Teil, als eine weitere
62 Für den oben genannten Sturm kommt eine Anlehnung an Aristotelcs in solcher
Weise gar nicht in Frage. Er warnt geradezu vor den Jesuiten ~ut magis sirrt Aristotelici
quam theologi(.
290 Weiterent"''Ilicklungcn
Überträgt man das auf die Kunst der guten Auslegung, so hat man es hier
gewiß mit einer eigentümlichen Zwischendimension zu tun, nämlich der in
Schrift oder Druck fixierten Rede. Einerseits bedeutet das eine Erschwerung
der Verständlichkeit, selbst dann, wenn die sprachlich-grammatischen Be-
dingungen vollkommen erflillt sind. Das tote Wort muß ja zu lebendigem
Sprechen auferweckt werden. Andererseits bedeutet die Fixiertheit aber
auch eine Erleichterung, sofern sich das Fixierte der wiederholten Verste-
hensbemühung unverändert darbietet. Es handelt sich dabei nicht um eine
starre Aufrechnung von positiven und negativen Punkten, die mit der
Fixiertheit gegeben sind. Sofern es in der Hermeneutik um die Auslegung
von Texten geht und Texte entweder zum Vorlesen oder zum stillen Lesen
bestimmte Rede sind, kommt in jedem Falle der Aufgabe der Auslegung und
des Verstehens die Kunst des Schreibens entgegen. So gehörte eine besonde-
re Kunst des Schreibens dazu, in den Frühzeiten der Vorlesekultur die
Textgrundlage fUr den Vortrag richtig einzurichten. Das ist ein \vichtiger
stilistischer Gesichtspunkt, der im klassischen Zeitalter der Griechen wie der
Römer eine bestimmende Rolle spielte. Mit der allgemeinen Verbreitung des
stillen Lesens und vollends mit dem Aufkommen des Buchdrucks werden
andere Lesehilfen, Interpunktion und Gliederung besonders nötig. Damit
ändert sich offenkundig auch das, was von der Kunst des Schreibens ver-
langt wird. Es ließe sich eine Parallele zu den in Tacitus' >Dialogus( erörterten
Gründen flir den Niedergang der Beredsamkeit denken: in der Buchdruk-
kerkunst liegen die Gründe rur den Niedergang der epischen Literatur und
fur die Veränderung in der Kunst des Schreibens, die der veränderten Kunst
des Lesens entspricht. Man sieht, wie weit beides, Rhetorik und Hermeneu-
tik, von dem handfesten Modell handwerklichen Wissens differiert, an das
der Begriff >Kunstlehre< (techne) geknüpft ist.
Noch bei Schleiermacher ist die Problematik im Begriff der Kunstlehre,
wenn er auf Rhetorik und Hermeneutik angewendet wird, recht deutlich
fUhlbar. Es ist ja eine ganz ähnliche Interferenz, die zwischen Verstehen und
Auslegen statthat, wie die, die zwischen Reden und Redekunst besteht. In
beiden Fällen ist der Anteil der regelbewußten Anwendung so untergeord-
net, daß es einem richtiger scheint, in der Rhetorik wie in der Hermeneutik,
ganz ähnlich wie im Falle der Logik, von einer Art theoretischer Bewußtma-
chung zu sprechen, d. h. einer ,philosophischen< Rechenschaftsgabe, die von
ihrer Anwendungsfunktion mehr oder minder abgelöst ist.
Hier kommt einem notwendig die eigentümliche Sonderstellung in den
Sinn, die die praktische Philosophie bei Aristoteles besitzt. Sie heißt zwar
philosophia, und das meint jedenfalls eine Art >theoretischen< und nicht
praktischen Interesses. Trotzdem wird sie aber, wie Aristoteles in seiner
Ethik betont, nicht um des bloßen Wissens willen betrieben, sondern um der
arete, d. h. um des praktischen Seins und Handelns willen. Nun scheint es
Rhetorik und Hermeneutik 291
mir sehr bemerkenswert, daß man ähnliches auch von dem sagen möchte,
was Aristoteles im 6. Buch der Metaphysik poietike philosophia nennt und
was offenbar sowohl die Poetik als auch die Rhetorik umfaßt. Heide sind
nicht einfach Arten von Techne im Sinne des technischen Wissens. Beide
beruhen ja auf einer universalen Fähigkeit des Menschen. Ihre Sonderstel-
lung gegenüber den Technai trägt freilich nicht eine so klare Auszeichnung,
wie sie der Idee der praktischen Philosophie zukommt, die sich durch ihren
polemischen Bezug auf die platonische Idee des Guten profiliert. Indessen
kann man, wie mir scheint, die Sonderstellung und Abgrenzung auch der
poietischen Philosophie, in Analogie zur praktischen Philosophie, als eine
Konsequenz des aristotelischen Gedankens behaupten, und jedenfalls hat die
Geschichte diese Konsequenz gezogen. Das in Grammatik, Dialektik und
Rhetorik differenzierte Trivium, das unter Rhetorik ja auch die Poetik mir
umfaßt, besitzt eine ähnlich universale Stellung gegenüber allen besonderen
Weisen des Machens und Herstellens von et\vas, wie sie der Praxis überhaupt
und der sie leitenden Vernünftigkeit zukommt. Weit entfernt davon, Wis-
senschaften zu sein, sind diese Bestandstücke des Trivium )freie< Künste,
d. h. sie gehören zum Grundverhalten des menschlichen Daseins. Sie sind
nichts, was man tut oder lernt, damit man dann der ist, der das gelernt hat.
Diese Fähigkeit aus bilden zu können, gehört vielmehr zu den Möglichkeiten
des Menschen als solchen, zu dem, was einjeder ist oder kann.
Das aber ist es, was das Verhältnis von Rhetorik und Hermeneutik, dessen
Entwicklung wir studieren, im letzten Grunde bedeutend macht. Auch die
Kunst der Auslegung und des Verstehens ist nicht eine spezifische Fertigkeit,
die einer erlernen kann, um ein solcher zu werden, der das gelernt hat, eine
Art Dolmetscher von Beruf. Sie gehört zum Menschsein als solchen. Inso-
fern trugen und tragen die sogenannten >Geisteswissenschaften< den Namen
der Humaniora oder humanities mit Recht. Das mag durch die Freisetzung
von Methode und Wissenschaft, die zum Wesen der Neuzeit gehört, unklar
geworden sein. In Wahrheit kann aber auch eine Kultur, die der Wissenschaft
eine fuhrende Stellung einräumt, und damit der Technologie, die auf sie
gegründet ist, den größeren Rahmen niemals ganz sprengen, in den die
Menschheit als menschliche Mitwelt und als Gesellschaft gefaßt ist. In
diesem größeren Rahmen haben Rhetorik und Hermeneutik eine unanfecht-
bare und allumfassende Stellung.
21. Logik oder Rhetorik?
Nochmals zur Frühgeschichte der Hermeneutik
1976
sung noch bei Keckermann gewesen (1614), der deshalb geradezu von einer
clavis in/elligen/iae spricht (71 f).
Wie dem auch sein mag, injedem Falle steht Dannhauer Hir den Zusam-
menschluß von hermeneutica und analytica - anders gesprochen: ruf die Ein-
ordnung der Hermeneutik in die Logik (61).
Eine wortgeschichtliche Untersuchung zum Aufkommen des Wortes
hermeneia im Zeitalter des Humanismus, die Jacgcr hinzuftigt, illustriert das
no eh (65-73). Die Vorgeschichte der Dannhaucrschen systematischen No-
menklatur wird deutlicher. Man nimmt auch daraus reiche Belehrung ent-
gegen. Besonders interessant war mir dort die Rolle, die Ammonios Her-
meill spielt. Er sieht in der aristotelischen Schrift peri henneneias die ur-
sprüngliche Verwortung der Gedanken, das heißt, nicht nur Übersetzung
von einer Sprache in eine andere Sprache oder von dunklem Ausdruck in
klaren, sondern die sprachliche Artikulation des Dcnkens überhaupt (64f).
Trotz dem Venveis auf die hermeneutische )Sccle< am Schluß des Jaeger-
sehen Aufsatzes (81 f) scheint dies Motiv bei Dannhauer selbst aber keine
Rolle zu spielen.
So angernessen diese Darstellung von Dannhauers Idee der Hernleneutik
ist, so einseitig scheint mir die Perspektive, dieJaeger verfolgt. Überschaut
man nämlich das Ganze des wortgeschichtlichen Materials, das der gelehrte
Verfasser beibringt, und inbesondere das amike Vorkommen des Wortes,
sieht man sich keineswegs auf die Logik und Wissenschaftstheorie verwie-
sen. Das Bezugsfeld des Wortes weist vielmehr in den Bereich der Rhetorik.
Da dies der Intention des Verfassers nicht entspricht, sei es erlaubt, diese
Seite der Sache an dem von ihm vorgelegten Material eigens hervorzuheben.
Da ist zunächst das bekannte Vorkommen des Wortes in der platonischen
>Epinomis< (84 Anm. 160). Man kann aufgrund der Parallelstellung zur
Mantik nicht daran Z\veifeln, daß es sich hier um einen wirklichen Sprachge-
brauch handelt. Das Wort meint den Verkehr mit den Göttern, der nicht so
einfach ist, als daß die Deutung ihrer Winke ohne Kunst gelingen könnte.
Ich weiß nicht, warum der Verfasser die Stelle nicht licbt. Es behauptet ja
niemand, daß das in Platos Augen eine sehr edle Kunst war. Aber das spielt
hier keine Rolle. Daß es sich hier um die gleiche Aufgabe handelt, die auch
die von Jaeger anerkannte humanistische Hermeneutik hatte, aber ebenso
auch die von ihm verworfene neuere, nämlich Unverständliches dem Ver-
ständnis nahezubringen (die Grundsituation des Dolmetscherdicnstes), soll-
te man nicht verkennen.
Auch vermag ich absolut nicht zu verstehen, warum der Verfasser sich so
von der Beziehung des Wortes auf den Gott Hermes distanziert. Ich vermag
das Triumphgeftihl nicht ganz zu teilen, das der Verfasser darüber empfin-
det, daß die Herleitung des Wortes Hermeneutik von Hermes durch die
moderne Sprachwissenschaft als Fiktion entlarvt ist und wir statt dessen
Logik oder Rhetorik? 295
nicht wissen, was das Wort etymologisch bedeutet (84 Anm. 160). leh
nehme das zur Kenntnis, fühle mich freilich wenig dadurch beirrt, wenn ich
sehe, ""vie Augustin und offenbar eine ganze Tradition das Wort verstand.
Die Berufung auf Herrn 13envcniste (41 Anm. 17a) kann daran nichts än-
dern. Das Zeugnis der Tradition wiegt schwer - nicht als ein sprachwissen-
schaftliches Argument natürlich, aber als gültiger Hinweis darauf, wie weit
und wie universal das hermeneutische Phänomen gesehen werden muß und
gesehen worden ist: als >Nuntius fur alles Gedachte<.
Einen neuen Beitrag stellte rur mich der Beleg in einem Digesten-Zitat des
Corpusjuris civilis dar. Dort ist die Verständigungskunst gemeint, die dem
Maklerberuf eigentümlich ist und zur Verständigung über den zwischen den
Kontrahenten auszuhandelnden Preis fuhrt. Da ist es nun überaus belehrend,
wasJaeger von deIn französischen Humanisten Antoine Conte zitiert (38f).
Aus dem Zitat geht hervor, daß die besondere Dolmetschkunst, die im
Maklerdienst begegnet, von dem französischen Humanisten bereits in ei-
nem allgemeineren Sinne verstanden wird. Er sagt da, daß die Bezahlung für
solche Dienste nicht immer ein so anrüchiger Gewinn sei wie die fur die
Maklerdienste. Es handelt sich also um einen Dolmetscherdienst und Ver-
mittler dienst im weitesten Sinne. Die Funktion solchen Dolmetschcns ist
aber, wie die Analogie zum Makler zeigt, nicht auf die technisch-sprachliche
Übersetzung und auch nieht auf die bloße Klärung von Dunkelheiten be-
schränkt, sondern stellt eine umfassende Verständigungshilfe dar, die die
Vermittlung zwischen den Interessen der Parteien (voluntatum contrahentium)
leistet. Genau wie die Epinomisstelle geht es also auch hier um eineallgemei-
ne Vermittlungstätigkeit, die weit mehr im Umgang des praktischen Lebens
begegnet als im Zusammenhang der Wissenschaft. (Natürlich handelt es
sich bei solchen Anwendungen des Wortes lediglich um eine praktische
Kunst zur BefOrderung der Verständigung und nirgends um eine logische
Analyse von Regeln dieser Kunst.)
Immerhin weist schon dieser Sprachgebrauch, sowohl der der Antike wie
der seiner humanistischen Wiederaufnahme, unmißverständlich auf den
Bereich der Rhetorik und nicht auf den der Logik. Das scheint mir der
Punkt, an dem ich mir von dem gelehrten Verfasser noch andere Aufschlüsse
erwarte, als er in seinem Aufsatz gegeben hat. Was er zum Thema macht,
scheint mir nicht die ganze Breite dessen zu treffen, was die humanistische
Tradition bereithielt. Die allgemeine Wendung von der res publica litteraria,
die er ständig gebraucht, kann gerade die Differenz von Rhetorik und Logik
nicht aufklären. Steht Dannhauers Option fur die >Logik< im Zusammen-
hang mit dem Einfluß Zabarellas? (74) Oder in Straßburg besonders wirksa-
mer französischer humanistischer (und antiramistischer) Logiker?
Es ist außerordentlich interessant, daß schon Dannhauer für die Bedeu-
tung der Hermeneutik auf die Verbreitung der Druckkunst hinweist. Es ist
296 Weiterentwicklungen
67 Vf., Ges. Werke Bd. 1, S. 312ff. Dort ist zu ergänzen:JohannPcter Hebel schreibt an
seinen Freund Hitzig (Nov. 1804): »Hofrath Volz, der die schönste aller Hcrmeneutiken
hat und übt, menschliche Schwachheiten zu verstehen und menschlich auszulegen ... ({.
(Briefe der Jahre 1784-1809. Der Gesamtausgabe Erster Band. Hrg. u. erl. v. W. Zentner,
Karlsruhe 1957, S. 230). - Auch in den Prosaschriften Seumes findet sich der Ausdruck
wiederholt in diesem Sinne. (Seume hatte ja in Leipzig bei Morus Theologie studiert.)
298 W~iterent\vicklungen
Berlin 1930. [Vgl. auch meine Arbeit >Hermeneutik und Historismus<, unten S. 387ff.].
70 Perrault, M., Parallele des anciens et des modemes en ce qui regarde les arts et les
scienccs [1688] mit einer einleitenden Abhandlung von H. R. Jauss: Ästhetische Normen
und geschichtliche Reflexionen in der Querelle des anciens et des modernes, München
1964.
300 Weiterentwicklungen
Nicht nur das Wort Hermeneutik ist alt. Auch die Sache, die damit bezeich-
net wird, ob sie nun heute mit Interpretation, Auslegung, Übersetzung oder
gar nur mit Verstehen wiedergegeben wird, liegt jedenfalls der Idee metho-
discher Wissenschaft, wie sie die Neuzeit entwickelt hat, weit voraus. Selbst
der neuzeitliche Sprachgebrauch spiegelt indessen noch etwas von dem
eigentümlichen Doppclaspekt und der Ambivalenz der theoretischen und
der praktischen Perspektive, unter der die Sache der Hermeneutik erscheint.
Im späten 18. wie im frühen 19. Jahrhundert zeigt vereinzeltes Vorkommen
des Wortes Hermeneutik bei einigen Schriftstellern, daß damals der Aus-
druck - vermutlich von der Theologie her - in den allgemeinen Sprachge-
brauch eindrang und dann selbstverständlich nur die praktische Fähigkeit
des Verstehens selber bezeichnete, das heißt, das verständnisvoll einfUhlsa-
me Eingehen auf den anderen. Das wird etwa beim Seelsorger rühmend
hervorgehoben. So fand ich das Wort bei dem deutschen Schriftsteller
Heinrich Seume (der freilich Student bei Morus in Leipzig gewesen war) und
bei Johann Peter Hebel. Aber auch Schleiermacher, der Begründer der
neueren Entwicklung der Hermeneutik zur allgemeinen Methodenlehre der
Geisteswissenschaften, beruft sich nachdrücklich darauf, daß die Kunst des
Verstehens nicht nur Texten gegenüber erforderlich sei, sondern auch im
Umgang mit Menschen.
So ist Hermeneutik mehr als nur eine Methode der Wissenschaften oder
gar die Auszeichnung einer bestimmten Gruppe von Wissenschaften. Sie
meint vor allem eine natürliche Fähigkeit des Menschen.
Das Schwanken eines Ausdrucks wie )Hermeneutik< zwischen praktischer
und theoretischer Bedeutung begegnet auch sonst. So reden wir etwa von
>Logik< oder auch dem Fehlen derselben im täglichen Umgang mit Men-
schen und meinen damit durchaus nicht die spezielle philosophische Diszi-
plin der Logik. Gleiches gilt auch flir das Wort >Rhetorik<, mit dem wir
ebenso sehr die !ehrbare Kunst des Redens als die natürliche Gabe und ihre
Betätigung bezeichnen. Hier ist es obendrein klar, daß ohne die natürliche
Begabung das Lernen des Lernbaren nur zu sehr bescheidenen Erfolgen
fUhrt. Mangel an natürlicher Begabung flir das Reden kann durch methodi-
302 Weiterentwicklungen
sehe Lehre kaum ausgeglichen werden. Das wird nun sicherlich auch ftir die
Kunst des Verstehens, rur die Hermeneutik gelten.
Derartiges hat seine wissenschaftstheoretische Bedeutung. Was ist das Hit
eine Art von Wissenschaft, die sich mehr \-vie eine Fortbildung natürlicher
Gaben und wie eine theoretische Bevvußtmachung derselben darstellt? Für
die Wissenschaftsgeschichte stellt das ein offenes Problem dar. Wo gehört die
Kunst des Verstehens hin? Steht die Hermeneutik in der Nähe der Rhetorik
oder muß man sie mehr in die Nähe der Logik und der Methodenlehre der
Wissenschaften rücken? Zu diesen wissenschaftsgeschichtlichen Fragen habe
ich selbst kürzlich einige Beiträge zu geben versuchei. Wie der Sprachge-
brauch gibt auch diese wissenschaftsgeschichtliche Frage einen Hinweis
darauf, daß der für die moderne Wissenschaft grundlegende Methodenbe-
griff einen Begriff von ,Wissenschaft( abgelöst hat. der gerade nach der
Richtung solcher natürlichen Fähigkeit des Menschen hin offen war.
So erhebt sich die allgemeine Frage, ob nicht bis heute innerhalb des
Systems der Wissenschaften ein Sektor fortbesteht, der sich stärker an die
älteren Traditionen des Begriffs von Wissenschaft anschließt als an den
Methodenbegriff der modernen Wissenschaft. Es läßt sich immerhin fragen,
ob das nicht mindestens für einen wohlumgrenzbaren Bereich der soge-
nannten Geisteswissenschaften gilt - unbeschadet der Frage, ob nicht in alles
Wissenwollen, auch das der modernen Naturwissenschaft, eine hermeneuti-
sche Dimension mithineinspielt.
Nun gibt es mindestens ein Vorbild 'i-vissenschaftstheoretischer Art, das
einer solchen U morientierung der Methoden besinnung der Geisteswissen-
schaften eine gewisse Legitimität verleihen könnte, und das ist die von
Aristoteles begründete >praktische Philosophie,n.
Aristoteles hat gegenüber der platonischen Dialektik, so wie er sie als
theoretisches Wissen verstand, für die praktische Philosophie eine eigen-
tümliche Selbständigkeit in Anspruch genommen und eine Tradition prakti-
scher Philosophie eröffnet. die bis ins 19. Jahrhundert hinein ihre Wirkung
ausgeübt hat, bis sie schließlich in unserem Jahrhundert durch die sogenann-
te 'politische Wissenschaft( oder ,Politologie( abgelöst wurde. Bei aller
Bestimmtheit, mit der Aristoteles die Idee der praktischen Philosophie
gegen die platonische Einheitswissenschaft der Dialektik stellt, ist aber die
\vissenschaftstheoretischc Seite der sogenannten )praktischen Philosophie<
recht dunkel geblieben. Es gibt bis zum heutigen Tage Versuche, in der
,Methode( der aristotelischen Ethik, die von ihm als 'praktische Philosophie<
eingeführt wurde und in der die Tugend der praktischen Vernünftigkeit, die
71 Jetzt in Kleine Schriften IV, S. 148-172 und S. 164-172 Lietzt oben S. 276 ff.].
72 Als ich über das Thema dieses Aufsatzes im Januar 1978 in Münster sprach, benutzte
ich die Gelegenheit. hier dem Gedächtnis meines Kollegen Joachim Ritter meinen Tribut
zu zollen, dessen Arbeiten gerade fur diese Frage viel Förderliches enthalten.
Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe 303
Phronesis, eine zentrale Stellung einnimmt, nichts anderes als eine Aus-
übung praktischer Vernünftigkeit zu sehen. (Daß eine jede menschliche
Handlung dOll Maßstab praktischer Vernünftigkeit unterliegt und daher
auch der Vortrag der aristotelischen Gedanken zur praktischen Philosophie,
sagt nichts darüber, was die Methode derpraktischen Philosophie ist.) Streit
über diesen Punkt kann insofern nicht überraschen, als allgemeine aristoteli-
sche Aussagen zur Methodik und Systematik der Wissenschaften spärlich
sind und offenkundig \veniger die methodische Eigenart der Wissenschaften
als die Verschiedenheit ihrer Gegenstandsgebiete im Auge haben. Das gilt
insbesondere für das erste Kapitel von Metaphysik Epsilon und seine Du-
blette in K 7. Dort wird zwar die Physik (und in letzter Abzweckung die
)Erste Philosophie<) als theoretische Wissenschaft gegen die praktische und
poietische Wissenschaft abgehoben. Aber "venn man prüft, \vie die Unter-
scheidung der theoretischen und der nichttheoretischen Wissenschaften be-
gründet wird, findet man, daß allein von der Verschiedenheit der Gegen-
stände solchen Wissens die Rede ist. Nun entspricht das gewiß dem allge-
meinen methodischen Grundsatz des Aristotelcs, daß die Methode sich
jeweils nach ihrem Gegenstand richten müsse, und \vas die Gegenstände
betrifft, so liegt die Sache klar. Im Falle der Physik ist ihr Gegenstand durch
Sclbstbewegung ausgezeichnet. Dagegen hat der Gegenstand des herstellen-
den Wissens, das herzustellende Werk, seinen Ursprung im Herstellenden
und dessen Wissen und Können, und ebenso ist das, was der praktisch-
politisch Handelnde ausrichtet, von dem Handelnden und seinem Wissen
her bestinlmt. So kann der Anschein entstehen, als spräche Aristoteles hier
von dem technischen Wissen (zum Beispiel dem des Arztes) und von dem
praktischen Wissen dessen, der eine vernünftige Entscheidung trifft (prohai-
resis) , als ob solches Wissen selber die poietische oder praktische Wissen-
schaft ausmachte, die der Physik entspricht. Das ist offenkundig nicht der
Fall. Die hier unterschiedenen Wissenschaften (denen im theoretischen Be-
reich die weitere Unterscheidung von Physik, Mathematik und Theologie
zur Seite tritt) werden eingeführt als solche, die die Archai und Aitiai zu
erkennen suchen. Es handelt sich hier um Arche-Forschung, das heißt, nicht
um das jeweils in Anwendung befindliche Wissen des Arztes, Hand\verkers
oder des Politikers, sondern um das, was sich darüber im allgemeinen sagen
und lehren läßt.
Nun ist es bezeichnend, daß Aristoteles über diesen Unterschied hier gar
nicht reflektiert. Offenbar ist es rur ihn ganz selbstverständlich, daß auf
diesen Gebieten das Wissen im allgemeinen gar keinen selbständigen An-
spruch erhebt, sondern stets einschließt, daß es sich in die konkrete Anwen-
dung im Einzelfalle umsetzt. Doch zeigt unsere Überlegung, daß es notwen-
dig ist, die philosophischen Wissenschaften, die den praktischen oder poeti-
schen Vollzug des Handelns oder Herstellens (mit Einschluß des Dichtcns
304 Weiterentwicklungen
und des ,Machens< von Reden) zum Thema machen, als Erforschung dieser
Vollzüge von ihnen selbst scharf zu unterscheiden. Praktische Philosophie ist
nicht die Tugend der praktischen Vernünftigkeit.
Freilich zögert man, den modernen Begriff der Theorie auf die praktische
Philosophie anzuwenden, die schon ihrer Sclbstbezeichnung nach praktisch
sein will. So ist es ein höchst schwieriges Problem, die Sonderbedingungen
von Wissenschaftlichkeit herauszuarbeiten, die auf solchen Gebieten gelten,
zumal Aristoteles sie nur mit der vagen Angabe charakterisiert, daß sie
weniger genau seien. Im Falle der praktischen Philosophie ist die Sachlage
besonders kompliziert und hat eben deshalb eine gewisse methodische Re-
flexion von seiten des Aristoteles gefordert. Die praktische Philosophie
bedarf einer Legitimation eigener Art. Offenbar ist das entscheidende Pro-
blem, daß diese praktische Wissenschaft es mit dem allumfassenden Problem
des Guten im menschlichen Leben zu tun hat, das nicht wie die Technai sonst
auf ein bestimmtes Gebiet eingeschränkt ist. Trotzdem will die Wendung
,praktische Philosophie< gerade sagen, daß es nicht angeht, rur die prakti-
schen Probleme von Argumenten kosmologischer, ontologischer, meta-
physischer Art bestimmenden Gebrauch zu machen. Wenn es hier nötig ist,
sich auf das CUr den Menschen wichtige, das praktisch Gute, zu beschränken,
so ist doch offenbar die Methode, die diese Fragen des praktischen Handelns
behandelt, ihrerseits gründlich von praktischer Vernunft verschieden. Schon
in dem scheinbaren Pleonasmus einer }theoretischen Philosophie< und erst
recht in der Selbstbezeichnung ,praktische Philosophie< liegt, was sich bis
auf den heutigen Tag in der Reflexion der Philosophen spiegelt, daß sie nicht
ganz auf den Anspruch verzichten kann, nicht nur zu wissen, sondern selber
praktische Wirkung zu tun, das heißt, als >Wissenschaft vom Guten im
menschlichen Leben( dieses Gute selber zu befördern. Bei den poietischen
Wissenschaften, den sogenannten Technai, ist das auch rlir uns eine Selbst-
verständlichkeit. Sie sind eben ,Kunstleliren<, CUr die der praktische Ge-
brauch allein entscheidend ist. Im Falle der politischen Ethik ist das ganz
anders, und doch ist es kaum möglich, auf einen solchen praktischen An-
spruch zu verzichten. So ist er auch bis in unsere Tage hinein fast immer
erhoben worden. Die Etliik will nicht nur geltende Normen beschreiben,
sondern ihre Geltung begründen oder gar richtigere N armen einfUhren.
Mindestens seit Rousseaus Kritik an dem Vcrnunftstalz der Aufklärung ist
das aber zu einem wirklichen Problem geworden. Wie soll die philo-
sophische )Wissenschaft von den moralischen Dingen< ihren Existenzan-
spruch überhaupt legitimieren, wenn in Wahrheit die Unverdorbenheit des
natürlichen sittlichen Bewußtseins das Gute und die Pflicht mit unübertreff-
licher Genauigkeit und feinster Empfindlichkeit zu kennen und zu wählen
weiß? Es ist hier nicht der Ort, wie Kant angesichts der Rousseauschen
Herausforderung das Unternehmen der Moralphilosophie begründet hat, in
Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe 305
extenso zu erörtern, oder auch nur darzustellen, wie sich Aristoteles der
gleichen Frage stellt und ihr gerecht zu werden sucht, indem er die besonde-
rcn Bedingungen hervorhebt, die an den Lernenden gestellt sind, der eine
theoretische Unterweisung über das >praktisch Gute< mit Sinn empfangen
kann. 73 Die praktische Philosophie fungiert in unserem Zusammenhang nur
als Beispiel rur eine Tradition solchen Wissens, das nicht dem modernen
Methodenbegriff entspricht.
Unser Thema ist die Hermeneutik, und für sie steht ihre Beziehung Zur
Rhetorik im Vordergrund. Auch wenn wir nicht wüßten, daß die neuzeitli-
che Hermeneutik sich wie eine Art Parallelkonstruktion zur Rhetorik im
Zusammenhang mit Melanchthons Wiederbelebung des Aristotelismus ent-
wickelt hat, wäre das wisscnschaftstheoretische Problem der Rhetorik der
gegebene Orientierungspunkt. Offenbar ist das Redenkönnen und das Ver-
stehenkönnen von der gleichen Weite und Universalität. Man kann über
alles reden, und alles, was einer sagt, sollte man verstehen. Rhetorik und
Hermeneutik haben hier eine sehr enge innere Beziehung. Die kunstvolle
Beherrschung solchen Redenkönnens und Verstehenskönnens zeigt sich
vollends im schriftlichen Gebrauch, im Schreiben von >Reden< und im
Verstehen von Geschriebenem. Hermeneutik läßt sich geradezu als die
Kunst definieren, Gesagtes oder Geschriebenes erneut zum Sprechen zu
bringen. Was das fUr eine ,Kunst< ist, können wir nun von der Rhetorik
lernen.
Was Rhetorik als Wissenschaft ist, was also die Kunst der Rhetorik aus-
macht, ist ein Problem, das bereits in den Anfangen wissenschaftstheoreti-
scher Reflexion zum Gegenstand gemacht worden ist. Es war der bekannte
Antagonismus zwischen Philosophie und Rhetorik im griechischen Erzie-
hungswesen, der Plato die Frage nach dem Wissenscharakter der Rhetorik
stellen ließ. Nachdem Plato im >Gorgias< die gesamte Rhetorik als bloße
Schmeichelkunst mit der Kochkunst gleichgesetzt und allem wirklichen
Wissen entgegengesetzt hatte, ist der platonische Dialog ,PhaidroS< der
Aufgabe gewidmet, der Rhetorik einen tieferen Sinn zu verleihen und ihr
eine philosophische Rechtfertigung zuteil werden zu lassen. So wird dort
gefragt, was eigentlich an ihr techne sei. Die Perspektiven des )Phaidros<
liegen auch noch der aristotelischen Rhetorik zugrunde, die mehr eine
Philosophie des menschlichen Lebens, das durch Reden bestimmt ist, dar-
stellt, als eine Technik der Redekunst.
Eine solche Rhetorik teilt nun mit der Dialektik die Universalität ihres
Anspruchs, sofern sie nicht, wie das sonst für das spezialisierte Können einer
Techne gilt, auf einen bestimmten Bereich eingeschränkt ist. Eben darauf
73 [Vgl. dazu meine Arbeit> Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik(, Kl.
beruhte es, daß sie mit der Philosophie in Wettbewerb stand und als eine
universale Propädeutik mit ihr rivalisieren konnte. Nun will der IPhaidrosl
zeigen, daß eine so1che ins Weite gestellte Rhetorik, wenn sie die Enge einer
bloßen geregelten Technik überwinden will, die nach Plato nur la pro tes
lechnes anankaia malhemala (Phaidr. 269 b) enthält, am Ende in der Philo-
sophie, dem Ganzen des dialektischen Wissens, aufgehen muß. Diese Be-
\vcisftihrung geht uns hier an, denn \vas im >Phaidros< ftir die Erhebung der
Rhetorik über eine bloße Technik zu einem wahren Wissen (das Plato freilich
seinerseits )Techne< nannte) gesagt wird, muß sich am Ende auf die Herme-
neutik als die Kunst des Verstehens anwenden lassen.
Nun ist es eine \veithin akzeptierte Meinung, daß Platü die Dialektik, das
heißt die Philosophie, selber als eine Techne verstanden und gegenüber den
sonstigen Technai ihre Eigenart nur in dem Sinne ausgezeichnet habe, daß sie
ein höchstes Wissen sei, eben das Wissen des Höchsten, das man wissen
müsse, des Guten (mcJ[iston mathema). Das Gleiche müßte dann mutatis
mutandis auch rur die von ihm geforderte philosophische Rhetorik gelten,
und damit am Ende rur die Hermeneutik. Erst Aristoteles habe die folgen-
schwere Unterscheidung von Wissenschaft, Techne und praktischer Ver-
nünftigkeit Iphronesis) getroffen.
Die Konzeption der praktischen Philosophie beruht nun in der Tat auf der
aristotelischen Kritik an Platos Idee des Guten. Allein, wenn man genauer
hinsieht, zeigt sich, volie ich in einer inzwischen abgeschlossenen Untersu-
chung" glaubhaft zu machen gesucht habe, daß die Frage nach dem Guten
nvar so gestellt wird, als wäre sie die höchste Erfüllungjener selben Idee des
Wissens, der die Technai und die Wissenschaften in ihren Bereichen folgen.
Aber diese Frage erfLillt sich nicht wirklich in einer höchsten lernbaren
Wissenschaft. Jener höchste Lerngegcnstand des Guten (to agallIOn) tritt im
sokratischen Elenchos stets in einer negativen Beweisfunktion auf. Sokrates
widerlegt den Anspruch der Technai, wirkliches Wissen zu sein. Sein eigenes
Wissen ist docta ignorantia und heißt nicht umsonst Dialektik. Nur der weiß,
der bis ins letzte Rede und Antwort zu stehen vermag. So kann auch, was die
Rhetorik betritTt, diese nur Techne oder Wissenschaft sein, wenn sie Dialek-
tik wird. Nur der ist ein wirklicher Könner im Reden, der auch das, wozu er
zu überreden weiß, selber als das Gute und Rechte erkannt hat und damit für
es einzustehen vermag. Dies Wissen des Guten und dies Können der Rede-
kunst meint aber nicht ein allgemeines Wissen >des Guten<, sondern das
Wissen dessen, wozu man hier und jetzt zu überreden hat, und dann auch,
\vie man es zu tun hat und wem gegenüber. Erst wenn man die Konkretion
74 )Die Idee des Guten nvischen Placo und Aristoteles<, (Sitzungs berichte der Heidel-
berger Akademie der Wissenschaften 1978, Philos.-histor. Klasse. Abh. 3), Heidelbcrg
1978 [Ge,. Wecke ßd. 7J.
Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe 307
sicht, die das Wissen des Guten verlangt, versteht man, weshalb die Kunst,
Reden zu schreiben, in der weiteren Argumentation eine solche Rolle spielt.
Auch sie kann eine Kunst sein. Das erkennt Plato mit seiner versöhnlichen
Wendung an Isokrates ausdrücklich an, aber nur dort und dann, wenn einer
auch noch obendrein - über die Schv.räche des gesprochenen Wortes hinaus-
um die Schwäche alles Geschriebenen weiß und ihm jeweils, wie aller Rede
auch, zu Hilfe zu kommen vermag - als der Dialektiker, der Rede steht.
Das ist eine Aussage von grundsätzlicher Tragweite. Wirkliches Wissen
muß auch noch, zu allem hinzu, was Wissen ist und das am Ende alles
Wißbare, die ,Natur des Ganzen< umschließt, den Kairos kennen, d. h.
wissen, wann und wie man zu reden hat. Das aber kann man nicht selber
durch Regeln und bloßes Lernen derselben erwerben. Es gibt keine Regeln
rur den vernünftigen Gebrauch von Regeln, wie Kant in seiner ,Kritik der
Urteilskraft< mit Recht gesagt hat.
Bei Plato tritt das in amüsanter Zuspitzung im ,PhaidroS< (268ff.) heraus:
wer nur alle ärztlichen Kenntnisse und Verhaltens regeln besäße, aber nicht
wüßte, wo und \-vann sie anzuwenden sind, wäre kein Arzt. Der Tragödien-
dichter oder der Musiker, der nur die allgemeinen Regeln und Verfahrens-
weisen seiner Kunst gelernt hätte, aber damit kein Werk zustande brächte,
wäre kein Dichter oder Musiker (280 b ff.). So muß auch der Redner von all
dem das Wo und Wann kennen (hai eukairiai te kai akairiai, 272 a6)'
Hier kündigt sich bei Plato bereits eine Überspielung des Techne-Modells
lernbarer Wissenschaft an, indem er das höchste Wissen auf die Dialektik
hinaus spielt. Weder der Arzt noch der Dichter noch der Musiker wissen ,das
Gute<. Der Dialektiker oder der Philosoph, der das wirklich ist, und das
heißt kein Sophist ist, ,hat< nicht ein besonderes Wissen, sondern ist in seiner
Person die Verkörperung der Dialektik bzw. der Philosophie. Dem ent-
spricht, daß auch im Dialog vom Staatsmann die \-vahre politische Kunst als
eine Art Webekunst herauskommt, mit der man Gegensätzliches zur Einheit
zusammenzuweben hat (305 e). Sie ist im Staatsmann verkörpert. Ebenso
ergibt sich im ,Philebos< das Wissen um das gute Leben als eine Kunst des
Mischens, die der einzelne, der sein Glück sucht, in concreto zu vollbringen
hat. Für den ,Staatsmann< hat das Ernst Kapp in einer schönen Arbeit
gezeigt, und meine eigenen Anfangerarbeiten zur Kritik der entwicklungs-
geschichtlichen Konstruktion Werner Jaegers hatten ftir den ,Philebos< Ahn-
liches im Auge 75.
Auf diesem Hintergrunde muß die Ausarbeitung der Unterscheidung von
theoretischer, praktischer und poietischer Philosophie, die bei Aristotelcs
Der aristotelische Protrcptikos ... , Hermes 63,1928, S. 138-164; den., Platos dialekti-
scheEthik, 1931. [Ges. WerkeBd. 5,5.164-186 bzw. S.3-163].
308 Weiterentwicklungen
76 ENZll.
n [poL H 1. 1337 a 14ff.].
Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe 309
Denn überall, wo nun von Laien gelesen wurde, handelte es sich nicht mehr
um Menschen, die durch handwerkliche Traditionen bestimmter Berufs-
stände beim Lesen angeleitet oder auf dem Wege rednerischen Vortrags in
das Verständnis eingeleitet wurden. Weder die eindrucksvolle Rhetorik des
Juristen noch die des Geistlichen, noch die des Literaten kommt ja dem Leser
zu Hilfe.
Man weiß, wie schwer es ist, einen fremdsprachigen Text oder auch nur
einen schwierigen Text der eigenen Sprache auf Anhieb so vorzulesen, daß
man ihn verstehen kann. Wenn man im Unterricht einen Anfanger bittet,
einen Satz vorzulesen, ob das nun deutsch, griechisch oder chinesisch ist - es
ist immer chinesisch, v·.renn einer vorliest, was er nicht versteht. Erst wenn
man versteht, was man liest, kann man so modulieren und rhythmisieren,
daß das Gemeinte wirklich herauskommt.
So war es eine gesteigerte Schwierigkeit, die Schwierigkeit zu lesen, das
heißt, Schrift zum Sprechen zu bringen, die in der Neuzeit die Kunst des
Verstehens in verschiedenen Richtungen zu methodischem Selbstbewußt-
sein erhob.
Schriftlichkeit begegnet freilich nicht erst in unseren neuen Jahrhunderten
der Lesekultur , deren Ende wir uns heute vielleicht nähern. Die hermeneuti-
sche Aufgabe, die mit der Schriftlichkeit gestellt ist, betrifft von jeher nicht
so sehr die äußerliche Technik des Entzifferns der Schriftzeichen als die
Aufgabe des rechten Verstehens des schriftlich fixierten Sinnes. Wo immer
Schrift die Funktion der eindeutigen Festlegung und der kontrollierbaren
Beglaubigung ausübt, ist die Abfassung wie das Verstehen des so entstehen-
den Textes eine Aufgabe, die Kunstübung verlangt, mag es sich dabei um
Steuerlisten, um Verträge (die dann manchmal zur Freude unserer Sprach-
forscher zweisprachig abgefaßt sind) oder um andere religiöse oder rechtli-
che Beurkundungen handeln. So ist auch die Kunstübung der Hermeneutik
auf eine alte Praxis gegründet.
Als Hermeneutik macht sie bewußt, was in solcher Praxis geschah. Die
Besinnung auf die Praxis des Verstehens läßt sich von der Tradition der
Rhetorik gar nicht ablösen, und so war es einer der wichtigsten Beiträge zur
Hermeneutik, die schon Mclanchthon gebracht hat, daß er die Lehre von
den Scopi, den Gesichtspunkten, entwickelt hat. Melanchthon beobachtete,
daß Aristoteles ebenso wie die Redner am Anfang ihrer Schriften auf den
Gesichtspunkt hinweisen, unter dem man ihre AusfUhrungen zu verstehen
habe. Es ist offenbar etwas anderes, ob man ein Gesetz auszulegen hat oder
etwa die Heilige Schrift oder ein )klassisches{ dichterisches Werk. Der >Sinn<
solcher Texte bestimmt sich nicht für ein meutrales< Verstehen, sondern von
ihrem Geltungsanspruch her.
Es war vor allem auf zwei Gebieten, auf denen das Problem der Auslegung
von Schriftlichem eine solche alte Kunstübung vorfand und eine neue,
310 Wciterent\'v'icklungen
Buchstaben des Rechtes den Rechtssinn gerade erst ganz erfuHt. Daß diese
alten Probleme der Rechtsfindung in der beginnenden Neuzeit durch die
Rezeption des römischen Rechts eine besondere Zuspitzung erfuhren, so-
fern traditionelle Formen der Rechtspflege durch das neue Juristenrecht in
Frage gestellt wurden, mußte der juristischen Hermeneutik als der Lehre
von der Auslegung eine ausgezeichnete Bedeutung verleihen. Die Verteidi-
gung der Aequitas nimmt in der Diskussion der frühen Neuzeit von Budeus
bis Vico einen breiten Raum ein. Ja, man v,lird doch wohl sagen dürfen, daß
die Rechtsgelehrsamkeit, die den Juristen ausmacht, noch heute mit gutem
Grunde .Jurisprudenz< genannt wird, das heißt Rechtsklugheit. Noch das
Wort erinnert an das Erbe der praktischen Philosophie, die in der prudentia
die höchste Tugend praktischer Vernünftigkeit sah. Es bezeichnet den Ver-
lust der Einsicht in die methodische Eigenart dieser Rechtsgelehrsamkeit
und ihrer praktischen Bestimmung, daß im späten 19. Jahrhundert der
Ausdruck RechtsvV"l.ssenschaft vorherrschend wurde 78 •
Ähnlich liegt die Sache im Felde der Theologie. Zwar gab es seit dem
späten Altertum eine Art Auslegungskunst, ja sogar eine richtige differen-
zierte Lehre von den verschiedenen Auslegungsweisen der Heiligen Schrift,
aber die dort seit Cassiodor unterschiedenen Formen der Schriftauslegung
dienten mehr als Anweisung, die Heilige Schrift der Lehrtradition der
Kirche nutzbar zu machen, als daß sie von sich aus zur Ermitt1ung der
rechten Lehre einen Weg der Auslegung der Hl. Schrift angeben wollten.
Mit dem reformatiorischen Rückgang auf die Schrift selber und insbesonde-
re mit der Verbreitung des Lesens der Bibel auch außerhalb der Zunfttradi-
tion der Kleriker, die in der reformierten Lehre von dem allgemeinen
Priestertum impliziert war, stellt sich dagegen das hermeneutische Problem
mit ganz anderer Dringlichkeit. Dabei ist es nun wiederum nicht so sehr
entscheidend, daß es sich bei der >Schrift( um Texte in fremden Sprachen
handelte, deren sachgemäße Übertragung in die Volkssprache und das ge-
naue Verständnis das ganze Rüstzeug sprachlicher, literarischer und histori-
scher Sachkenntnis ins Spiel bringt. Durch den Radikalismus des reformato-
rischen Rückgangs auf das Neue Testament und durch die Zurücksetzung
der Lehrtradition der Kirche trat vielmehr die christliche Botschaft selber
mit einer neuen, fremdartigen Radikalität dem Leser entgegen. Das ging
7R Der Ursprung der Verdeutschung vonjurisprudentia durch Rechtswissenschaft (an-
stelle des älteren >Rechtsgelehrsamkeit<) mag bis auf die Anfange der historischen Schule
zurückreichen, der ja jedenfalls Savigny und seine )Zeitschrift ftir die historische Rechts-
wissenschaft( zugehört. Dort wird die Analogie zur historischen Wissenschaft und die
Kritik an einem dogmatischen Naturrechtsdenken hineinspielen. Im übrigen lag die
Möglichkeit immer bereit, statt der prudentia die scientia stärker zu akzentuieren und die
Billigkeitserwägung der Praxis zuzuschieben. (VgL z. B. Frant;:ois Connans Kritik dieser
Tendenz zur juris scientia in seinen Commentaria I 11.) Vgl. auch Koschacker, Europa
und das Römische Recht 21953. S. 337.
312 Weiterentwicklungen
weit über die philologischen und historischen Hilfsmittel hinaus, die auch
für jeden anderen fremdsprachlichen alten Text nötig waren.
Was die reformatorische Hermeneutik hervorkehrte und was insbesonde-
re Flacius hervorhob, war, daß die Botschaft der Heihgen Schrift dem
natürlichen Vorverständnis des Menschen in den Weg tritt. Nicht der Gehor-
sam gegenüber dem Gesetz und die verdienstlichen Werke, sondern allein
der Glaube - und das ist der Glaube an das Unglaubhche der Menschwer-
dung Gottes und der Auferstehung - verheißt Rechtfertigung. Das überzeu-
gend zu machen, entgegen allem Bestehen auf sich selbst, den eigenen
Verdiensten, den >guten Werken<, fordert die Botschaft der Heihgen Schrift,
und so ist die ganze Form des christlichen Gottesdienstes, seit die Reforma-
tion das in den Vordergrund stellte, noch entschiedener, als sie es in der
älteren christlichen Tradition schon war, Bekenntnis und Bekräftigung und
Aufruf zum Glauben. Er beruht damit insgesamt auf der rechten Auslegung
der christlichen Botschaft. Daß daher die Schriftauslegung durch die Predigt
in den Vordergrund des Gottesdienstes in den christlichen Kirchen getreten
ist, läßt die besondere Aufgabe der theologischen Hermeneutik hervortre-
ten. Sie dient nicht so sehr einem wissenschaftlichen Verständnis der Schrift
als der Praxis der Verkündigung, durch die die Heilsbotschaft den einzelnen
erreichen soll, so daß er sich angeredet und gemeint weiß. Daher ist die
Applikation nicht eine bloße >Anwendung< des Verstehens, sondern dessen
wahrer Kern. So stellt die Apphkationsproblematik, die gewiß im Pietismus
bis zum Extrem übertrieben worden ist, nicht nur ein wesentliches Moment
in der Hermeneutik religiöser Texte dar, sondern macht die philosophische
Bedeutung der hermeneutischen Frage insgesamt sichtbar. Sie ist mehr als
eine methodische Zurüstung.
Es bedeutete einen entscheidenden Schritt in der Entfaltung der Herme-
neutik, daß im Zeitalter der Romantik durch Schleiermacher und seine
Nachfolger die Hermeneutik zu einer universalen )Kunstlehre, ausgebildet
wurde, die die Eigenart der theologischen Wissenschaft und ihre methodi-
sche Gleichberechtigung im Kranze der Wissenschaften legitimieren sollte.
Dabei hatte Schleiermacher, dem das verständnisvolle Eingehen auf den
anderen die natürliche Mitgift seines Genies war und der wohl der genialste
Freund einer Zeit genannt werden darf, in der die Kultur der Freundschaft
einen wahren Höhepunkt erreichte, einen klaren Begriff davon, daß man die
Kunst des Verstehens nicht auf die Wissenschaft allein beschränken könne.
Sie spiele vielmehr im geselligen Leben eine hervorragende Rolle, und wenn
man die Worte eines geistreichen Mannes, die man nicht sofort eingängig
findet, zu verstehen suche, bediene man sich dieser Kunst beständig. Man
suche gleichsam zwischen den Worten des geistvollen Gesprächspartners so
zu hören, wie man bei Texten manchmal zwischen den Zeilen lesen müsse. -
Trotzdem zeigt sich gerade bei Schleiermacher der Druck, den der Wissen-
Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe 313
schafts begriff der Neuzeit auf das hermeneutische Selbstverständnis ausübt.
Er unterscheidet nämlich eine laxere Hermeneutik von einer strengeren
Praxis der Hermeneutik. Die laxere Praxis gehe davon aus, daß gegenüber
den Äußerungen eines anderen das rechte Verstehen und Einverständnis die
Regel und das Mißverständnis die Ausnahme sei. Dagegen gehe die strenge-
re Praxis von der Annahme aus, daß der Mißverstand die Regel sei und daß
man nur durch kunstvolle Anstrengung den Mißverstand vermeiden und zu
richtigem Verständnis gelangen kann. Es ist offenkundig. daß mit dieser
Unterscheidung die Aufgabe der Auslegung sozusagen aus dem Verständ-
niszusammenhange herausgedreht wird, in dem das eigentliche Leben des
Verstehens sich ständig tauscht. Jetzt hat es eine völlige Entfremdung zu
überwinden. Der Einsatz einer künstlichen Veranstaltung, die das Fremde
aufschließen soll und zum Eigenen machen, tritt an die Stelle des kommuni-
kativen Könnens, in dem die Menschen miteinander leben und sich mit der
Überlieferung, in der sie stehen, vermitteln.
Es paßt zu dieser von Schleiermacher eröffneten universalen Thematik der
Hermeneutik und insbesondere zu seinem eigensten Beitrag, der Einftih-
rung der ,psychologischen< Interpretation, die neben die hergebrachte
19rammatische( zu treten habe, daß in seiner Nachfolge im 19.Jahrhundert
die Entfaltung der Hermeneutik zu einer Methodenlehre ausgestaltet wurde.
Ihr Gegenstand sind die )Texte<, ein anonymer Bestand, dem der Forscher
gegenübertritt. Insbesondere hat in der Nachfolge Schlciermachcrs Wilhclm
Dilthey die hermeneutische Grundlegung der Geisteswissenschaften betrie-
ben, um ihre Ebenbürtigkeit mit den Naturwissenschaften zu begründen,
indem er Schleiermachers Akzentuierung der psychologischen Interpreta-
tion ausbaute. So sah er den eigentlichen Triumph der Hermeneutik in der
Auslegung von Kunst"verkcn, die eine unbewußt geniale Produktion zum
Bewußtsein erhebt. Dem Kunstwerk gegenüber bedeuten alle traditionellen
Methoden der Hermeneutik, die grammatische, historische, ästhetische und
psychologische Methode, nur insofern eine höchste Venvirklichung des
Ideals des VersteheIlS. als alle diese Mittel und Methoden dem Verstehen des
individuellen Gebildes als solchen zu dienen haben. Hier, und insbesondere
auf dem Felde der Literaturkritik, setzt die Fortbildung der romantischen
Hermeneutik ein Erbe um, das bis in den Sprachgebrauch hinein seine ältere
Herkunft verrät, Kritik zu sein. Kritik heißt, das einzelne Gebilde in seiner
Geltung und seinem Gehalt zu gewahren und von allem zu unterscheiden,
das seinem Maßstab nicht genügt. Dilthcys Anstrengung galt freilich dem
Bemühen, den Methodenbegriff der modernen Wissenschaft auch auf die
)Kritik< auszudehnen und den dichterischen )Ausdruck< von einer verstehen-
den Psychologie her wissenschaftlich aufzuschließen. Auf dem Umweg
über die )Litcraturgeschichtc( hat das schließlich den Ausdruck )Literatur-
wissenchaft< aufkommen lassen. Er spiegelt das Absinken eines Traditions-
314 Weiterentwicklungen
?~ Cl aus von Barmann, Der praktische Ursprung der Kritik (1974), stellt S. 70 seines
im übrigen höchst fcirderlichen Buches die Fundierungen auf den Kopf, wenn cr das
Verständnis tUt andere auf das ,kritische Verständnis ftir sich selbst( gründen will.
316 Weiterentwicklungen
spoudaio5, das auf diese Weise schematisch beschrieben wird. Das hos dei
und das hos 110 orthos logos sind nicht Ausflüchte gegenüber einer strenge-
ren begrifflichen Forderung, sondern Hinweise auf die Konkretion, in der
allein Arete ihre Bestimmtheit erreicht. Diese Konkretion zu leisten, ist
offenbar die Sache dessen, der phronesis besitzt.
Von solchen Überlegungen her gewinnt die vieldiskutierte Eingangsbe-
schreibung der Aufgabe der praktischen und politischen Philosophie ihren
genauen Kontur. Was Burner rureine bewußte Anpassung des Aristoteles
an den platonischen Sprachgebrauch von techne hie1t 80 , hat seinen wahren
Grund in der Interferenz, die zwischen dem >poietischen< Wissen der
Techne und der )das Gute( in typischer Allgemeinheit erörternden >prakti-
schen Philosphie< besteht, die ja selber nicht als solche phroniisis ist. Auch
hier stehen praxis, prohairesis, teehne und methodos in einer Reihe und bilden
gleichsam ein Kontinuum von Übergängen. 81 Dennoch reflektiert Aristo-
teles auch über die Rolle, die die politike rur das praktische Leben zu spie-
len vermag. Er vergleicht den Anspruch solcher praktischen Pragmatie
mit der Marke, die der Bogenschütze ins Visier nimmt, wenn er sein
Jagdziel anvisiert. Mit einer solchen Marke im Blick wird er leichter tref-
fen. Das heißt gewiß nicht, daß die Kunst des Bogenschießens nur darin
besteht, daß man auf eine solche Marke zielt. Die Kunst des Bogenschie-
ßens muß man vielmehr beherrschen, damit man überhaupt treffen kann.
Aber um das Zielen zu erleichtern, um die Richtung des Schießens genau-
er und besser einzuhalten, dazu vermag die Marke ihren Dienst zu tun.
Wendet man den Vergleich auf die praktische Philosophie an, so wird man
auch hier davon ausgehen müssen, daß der handelnde Mensch als der, der
er - seinem )Ethos( nach - ist, von seiner praktischen Vernünftigkeit bei
seinen konkreten Entscheidungen geleitet ist und sicherlich nicht von der
Unterweisung eines Lehrers dabei abhängt. Gleichwohl mag es auch hier
eine Art Hilfe in der bewußten Vermeidung von Abirrungen sein, die die
ethische Pragmatie anzubieten vermag, sofern sie der vernünftigen Über-
legung die letzten Ziele ihres HandeIns gegenwärtig zu halten hilft. Sie ist
nicht nur auf ein partikulares Feld eingeengt. Sie ist überhaupt nicht )An-
wendung( eines Könnens auf einen Gegenstand. Sie mag Methoden ent-
wickeln - es sind mehr Faustregeln als Methoden - und läßt sich als
Kunst, die einer besitzt, zu v,lahrer Meisterschaft erheben. Trotzdetll ist
sie kein )Können(, das sich wie das Machenkönnen seine Aufgabe jev,reils
(beliebig oder auf Verlangen) wählt, sondern sie stellt sich, wie die Praxis
des Lebens sie stellt. So ist die praktische Philosophie des Aristoteles et-
\vas anderes als das angebHch neutrale Fachwissen des Experten, der wie
ein unbeteiligter Beobachter an die Aufgaben der Politik und der Gesetzge-
bung herantritt.
Das spricht Aristoteles in dem Kapitel, das von der Ethik zur Politik
überleitet, mit klaren Worten aus. R2 Praktische Philosophie setzt eben vor-
aus, daß wir durch die normativen Vorstellungen immer schon vorgeformt
sind, in denen wir erzogen wurden und die der Ordnung des ganzen sozialen
Lebens zugrundeliegen. Das bedeutet keineswegs, daß diese normativen
Gesichtspunkte unveränderlich feststehen und unkritisierbar wären. Gesell-
schaftliches Leben besteht in einem beständigen ProzeG der Umbildung des
bisher Geltenden. Doch ,väre es eine Illusion, Normvorstellungen in ab-
stracto ableiten zu wollen und mit dem Anspruch wissenchaftlicher Richtig-
keit in Geltung zu setzen. Es geht also um einen Wissenschafts begriff, der
das Ideal des unbeteiligten Beobachters nicht gelten läßt, sondern stattdessen
die Be\vußtmachung des Gemeinsamen betreibt, das alle verbindet. Ich habe
diesen Punkt in meinen Arbeiten auf die hermeneutischen Wissenschaften
angewandt und die Zugehörigkeit des Interpreten zum Interpretandum
betont. Wer etwas verstehen will, bringt immer schon etwas mit, das ihn
vorgreiflich mit dem verbindet, \vas er verstehen will, ein tragendes Einver-
ständnis. So muß der Redner immer an ein solches anknüpfen, wenn ihm in
strittigen Fragen Überreden und Überzeugen gelingen wilpG. So ist auch
jedes Verstehen der Meinung eines anderen oder eines Textes allen mögli-
chen Mißverständnissen zum Trotz von einem Verständigungs zusammen-
hang umgriffen und sucht durch allen Dissens hindurch Verständigung. Das
schließt sogar noch die Praxis lebendiger Wissenschaft ein. Sie ist auch nicht
einfach Anwendung von Wissen und Methoden auf einen beliebigen Gegen-
stand. Nur wer in einer Wissenschaft steht, nur dem stellen sich die Fragen.
Wie sehr die eigenen Probleme, Denkerfahrungen, Nöte und Hoffnungen
einer Zeit auch noch die Interessenrichtung der Wissenschaft und der For-
schung spiegeln, ist jedem Historiker der Wissenschaften bekannt. Beson-
ders aber setzt sich im Bereich der verstehenden Wissenschaften, deren
universales Thema der in Überlieferungen stehende Mensch ist, der alte
Universalitätsanspruch fort, den schon Plato der Rhetorik aufgebürdet hat-
te. Für die Hermeneutik gilt damit dic gleiche Nachbarschaft zur Philo-
sophie, die das provokatorische Ergebnis der Rhetorikdiskussion des ,Phai-
dros< gewesen war.
Das bedeutet durchaus nicht, daß die Methodenstrenge moderner Wis-
senschaft hier preisgegeben oder auch nur eingeschränkt würde. Die soge-
nannten )hermeneutischen< oder ,Geisteswissenschaften< unterliegen den
"' [ENK 10, 1179b24f. und 1180aI4f.1.
IB Hier hat eh. PereIman und seine Schule aus der Erfahrung des Juristen alte Einsichten
in die Struktur und Bedeutung der )Argumentationj als eines rhetorischen Vorgangs
erneuert.
318 Weiterentwicklungen
Die Probleme der praktischen Vernunft stellen sich in meinen Augen unter
andcrm und vor allem andern in bezug auf das Selbstverständnis der sog.
Geisteswissenschaften. Welchen Platz nehmen die humanities, die >Geistes-
wissenschaften<, im Kosmos der Wissenschaften ein? Ich will versuchen zu
zeigen, daß es die praktische Philosophie des Aristoteles ist - und nicht der
neuzeitliche Begriff von Methode und Wissenschaft -, die das einzige trag-
kräftige Modell für ein angemessenes Selbstverständnis der Geisteswissen-
schaften darstellt. Eine kurze geschichtliche Besinnung soll zu dieser provo-
katorischen These hinfUhren.
Der Begriff der Wissenschaft ist die eigentlich wendende Entdeckung des
griechischen Geistes, mit der sich die Geburt dessen vollzog, was \vir die
abendländische Kultur nennen; darin liegt ihre Auszeichnung und vielleicht
auch ihr Verhängnis, wenn wir sie mit den großen Hochkulturen Asiens
vergleichen. Wissenschaft vnr fur die Griechen wesentlich durch die Mathe-
matik repräsentiert. Sie ist die eigentliche und einzige Vernunftwissenschaft.
Hier handelt es sich um Unveränderliches, und nur, wo etwas unveränder-
Hch ist, kann man von ihm wissen, ohne jeweils neu hinzusehen. Auch die
moderne Wissenschaft hat diesen Grundsatz in gewisser Weise festhalten
müssen, um überhaupt sich als Wissenschaft verstehen zu können. Die
unveränderlichen Naturgesetze traten an die Stelle dessen, was die großen
Inhalte der mathematisch inspirierten griechischen Weisheit, der pythago-
reischen Wissenschaft von den Zahlen und den Sternen, waren. Es ist klar,
daß unter diesem Modell die menschlichen Dinge wenig Ansatz rur Wis-
sensfähigkeit besitzen. Moral und Politik, auch die Gesetze, die Menschen
sich geben, die Werte, nach denen sie leben, die Institutionen, die sie sich
schaffen, die Gewohnheiten, denen sie folgen, a11 das kann nicht den An-
spruch auf Unveränderlichkeit und damit wirkliche Wissensfahigkeit, d. h.
Wißbarkeit erheben.
Unter dem Gesichtspunkt der modernen Wissenschaft hat sich nun etwas
etabliert, das das antike Erbe des Wissenschafts gedankens auf neue Grundla-
gen umgelegt hat: Mit Galilei beginnt eine neue Epoche des Wissens von der
Welt, Ein neuer Gedanke der Wißbarkeit bestimmt von nun an den Gegen-
320 Weiterentwicklungen
stand der "\visscnschaftlichen Fragestellung. Das ist der Gedanke der Metho-
de und des Primats der Methode über die Sache: Die Bedingungen der
methodischen Wißbarkcit definieren den Gegenstand der Wissenschaft. So
stellt sich die Frage, was für eine Wissenschaft unter diesen Umständen die
Humaniora sind - dieser eigentümliche Komparativ, der einen irnmcr fragen
läßt, wie der Superlativ, eine wahrhaft menschliche Wissenschaft, eigentlich
aussähe. Was sind diese Wissenschaften von den menschlichen Dingen, die
wir die Geisteswissenschaften nennen?
Offenbar sind sie zu einem guten Teile dem Wissenschafts gedanken der
Neuzeit gefolgt. Aber sie haben zugleich die alte Tradition menschlichen
Wissens. die von der Antike her die Bildungsgeschichte des Abendlandes
geprägt hat, weiter gepflegt. NochJohn Stuart Mill. der berühmte Verfas-
ser der >Induktiven Logik<, jenes Grundbuches des Selbstverständnisses ftir
den wissenschaftlichen Aufbruch. der im 19. und 20. Jahrhundert erfolgte.
hat die Geisteswissenschaften als moral seieners bezeichnet, also mit dem
antiken Namen. Aber er hat ihren Wisscnschaftscharakter- es ist kein Witz-
mit der Meteorologie verglichen: Der Grad der Verläßlichkeit von Aussagen
in den Geistcs\vissenschaftcn ähnelt der langfristigen Wetterprognose. Das
folgt offenkundig aus der Extrapolation eines Begriffes empirischer Wissen-
schaft, der durch die siegreichen Naturwissenschaften der Neuzeit seine
Ausprägung gefunden hat. Seitdem ist es eine der Aufgaben der Philosophie
geworden, den >humanen Wissenschaften<, den Humaniora, ihren autono-
men Geltungsrang zu verteidigen.
Ehedem bedurfte es dessen nicht. Der Überlieferungsstrom, der das ältere
Wissen des Menschen vom Menschen unbestritten trug, war die Rhetorik.
Das klingt für moderne Ohren ein wenig befremdlich, weil man Rhetorik
nur als ein Schimpfwort für unsachliche Argumentation kennt. Man muß
aber dem Begriff der Rhetorik seine echte Weite \viedergeben. Sie umfaßt
jede auf das Redenkönnen gegründete Kommunikationsform und ist das,
was menschliche Gesellschaft zusammenhä1t. Ohne miteinander zu reden
und ohne einander zu verstehen und ohne einander auch ohne logisch
schlüssige Argumentationen zu verstehen, \vürde es keine menschliche Ge-
sellschaft geben. So gilt es. sich der Bedeutung der Rhetorik und ihrer
Stellung zur modernen Wissenschaftlichkeit neu bC\vußt zu werden.
Daß die Rhetorik im griechischen Sinne nicht als Wissenschaft ga1t, ist
selbstverständlich. Aber ebenso klar ist. daß z. B. auch die Geschichtsschrei-
bung in den Augen eines griechischen Denkers keine Wissenschaft war. Sie
gehörte in den gleichen großen Zusammenhang des Gut-Redens und Gut-
Schreibens. Wenn Sextus Empiricus in seinen berühmten skeptischen Argu-
mentationen die Ge1tung der Wissenschaften bezweifelt, fallt es ihm gar
nicht ein, die Geschichte auch nur eines Wortes zu würdigen. So ist es ftiruns
eine neue Frage: Wie stellt sich in unserer, durch die Wissenschaft, und das
Probleme der praktischen Vernunft 321
unter dem Gesichtspunkt ihrer Theorien bildung im Auge haben, werden wir
den Geisteswissenschaften nur zu einem sehr kleinen Teil gerecht. Dann
bleibt am Ende nur das großartige und doch irgend wo donquichottenhafte
Unternehmen Max Webers, die )wcrtfreie Wissenschaft< auch auf das Wissen
von der Gesellschaft auszudehnen. Das eigentlich hermeneutische Problem
stellt sich im Gebiete des Wissens vom Menschen und des Wissens des Men-
schen über sich selbst nicht in der bloßen Isolierung des Wechselverhältnisses
von Theorie und Tatsache. Als diesüdwestdeutscheSchuleimspäten 19.Jahr-
hundert ihre Herrschaft antrat (und Max Weber folgte ihr in gewissem
Umfang), war es die Selbstbegrundung der Geisteswissenschaften auf die
Definition dessen, \vas eine historische Tatsache ist, was die Schlüsselposition
darstellte. Daß eine historische Tatsache nicht einfach eine Tatsache ist und
daß nicht alles, was geschieht, eine historische Tatsache heißen kann, ist klar.
Was erhebt eine Tatsache zu einer historischen Tatsache? Die bekannte
Antwort lautet: der Wertbezug. Daß es etwas bedeutete, im Lauf der Dinge,
daß in der Schlacht von Wagram (oder wo immer es war) Napoleon einen
Schnupfen bekam. Nicht alle Schnupfen, die Menschen bekommen, sind hi-
storische Tatsachen. Die Theorie der Werte also war die herrschende Theorie.
Von Werten gibt es aber keine Wissenschaft. So kamMax Weberbiszuderradi-
kaIen Steigerung, daß Wertfragen überhaupt aus der Wissenschaftauszuschal-
ten seien, und daß sich die Soziologie um eine neue Basis zu bemühen habe.
Nun war diese neukantianische Geschichtsphilosophie der Werte gewiß
eine schmale Basis. Einflußreicher sollte sich das romantische Erbe des
deutschen Geistes erweisen, das Erbe Hegcls und das Erbe Schleiermachers,
das insbesondere durch Diltheys Bemühungen um eine hermeneutische
Begründung der Geisteswissenschaften verwaltet wurde. Diltheys Denken
war weiter gespannt als die Erkenntnistheorie des Neukantianismus, sofern
er das volle Erbe Hegels, die Lehre vom objektiven Geist, übernahm. Danach
findet der Geist nicht nur in der Subjektivität seines aktualen Vollzugs,
sondern auch in der Objektivation von Institutionen, Handlungssystemen
und Lebenssystemen wie Wirtschaft, Recht und Gesellschaft seine Verkörpe-
rung und wird damit als >Kultur< zum Gegenstand des möglichen Verstehens.
Freilich war Diltheys Versuch, die Hermeneutik Schleiermachers zu erneuern
und damit sozusagen den Identitätspunkt zwischen dem Verstehenden und
dem Verständlichen als Grundlage der Humaniorazu erweisen, insofern zum
Scheitern verurteilt, als Geschichte offenbar eine viel tiefere Befremdung und
Fremdartigkeit an sich hat, als daß man sie so zuversichtlich unter dem
Gesichtspunkt ihrer Verständlichkeit sehen dürfte. Charakteristisches Sym-
ptom [ur Diltheys Verfehlen der ,Faktizität< des Geschehens ist das Detail, daß
Dilthey die Autobiographie, also den Fall, in dem jemand einen Geschichts-
verlauf sehenden Auges mitdurchlebt und in der Rückschau deutet, ftif das
Modell geschichtlichen Verstehens hielt. In Wahrheit ist eine Autobiographie
Probleme der praktischen Vernunft 323
in jedem Falle weit eher eine Geschichte der privaten Illusionen als das
Verständnis des wirklichen geschichtlichen Geschehens. 85
Demgegenüber bedeutete die Wendung, die das 20. Jahrhundert herauf-
führte und rur die, wie ich persönlich glaube, Husscrl und Hcidcgger die
entscheidenden Leistungen vollbracht haben, die Entdeckung der Grenzen
einer solchen idealistischen oder geistesgeschichtlichen Identität zwischen
Geist und Geschichte. In Husserls späten Arbeiten \var es das Zauberwort
von der ,Lebenswc1t( - eine dieser seltenen und erstaunlichen künstlichen
Wortprägungen (das Wort kommt nicht vor Husserl vor), die in das allge-
meine Sprach bewußtsein Eingang gefunden haben und dadurch bezeu-
gen, daß sie eine verkannte oder vergessene Wahrheit zur Sprache brin-
gen. So hat das Wort ,Lebensvv-clt( an Voraussetzungen erinnert, die aller
wissenschaftlichen Erkenntnis vorausliegen. Vollends war Heideggers
Programm einer ,Hermeneutik der Faktizität( und das heißt: die Konfron-
tation mit dem Unverständlichen des faktischen Daseins selber, ein Bruch
mit dem idealistischen Begriff der Hermeneutik. Verstehen und Verste-
henwollen werden in ihrer Spannung zu dem wirklichen Geschehen aner-
kannt. Beides, sowohl Husserls Lehre von der Lebenswclt wie Heideg-
gers Begriff der Hermeneutik der Faktizität halten die Zeitlichkeit und
Endlichkeit des Menschen gegenüber der unendlichen Aufgabe des Ver-
stchens und der Wahrheit fest. Meine These ist nun, daß von dieser Ein-
sicht her Wissen sich nicht allein auf die Frage der Beherrschbarkcit des
Anderen und Fremden stellt. Das ist das Grundpathos der wissenschaftli-
chen Erforschung der Wirklichkeit, das in unseren Naturwissenschaften
lebendig ist (wenn auch vielleicht auf dem Grunde eines letzten Glaubens
an die Rationalität der Welteinrichtung). Vielmehr behaupte ich: Das We-
sentliche in den ,Geisteswissenschaften( ist nicht die Objektivität, sondern
die vorgängige Beziehung zum Gegenstande. Ich würde ftir diesen Be-
reich des Wissens das Ideal der objektiven Erkenntnis, das vom Ethos der
Wissenschaftlichkeit aufgerichtet ist, durch das Ideal der ,Teilhabe< ergän-
zen, Teilhabe an den wesentlichen Aussagen menschlicher Erfahrung, wie
sie in Kunst und Geschichte sich ausgeprägt haben. Das ist in den Geistes-
wissenschaften das eigentliche Kriterium ftir Gehalt oder Gehaltlosigkeit
ihrer Lehren. Ich habe in meinen Arbeiten versucht zu zeigen, daß das
Modell des Dialogs fLir diese Form der Teilhabe strukturerhellende Be-
deutung hat. Denn der Dialog ist auch dadurch ausgezeichnet, daß nicht
einer das, was dabei herauskommt, überschaut und behauptet, daß er al-
lein die Sache beherrscht, sondern daß man im Miteinander an der Wahr-
heit und aneinander teilgewinnt.
85 [Vgl. Ces. Werke Bd. 1, S. 228, 281 und meine Dilthey-Arbeiten in Bd.4 der
Gesammelten WerkeJ.
324 Weiterentwicklungen
seins und Selbstverständnisses aus. Wer nicht, wie wir das nennen, asozial
ist, der hat den anderen und den Austausch mit dem anderen und den Aufbau
einer gemeinsamen Welt der Konvention immer schon akzeptiert.
Konvention ist eine bessere Sache, als das Wort in unseren Ohren klingt.
Konvention meint Übereingekommensein und Geltung Von Übereinkom-
men, meint also nicht die Äußerlichkeit eines bloß von außen vorgeschriebe-
nen Regelsystems, sondern die Identität zwischen dem einzelnen Bewußt-
sein und den im Bewußtsein der anderen repräsentierten Überzeugungen
und damit auch mit den Lebensordnungen, die man sich schafft. Das ist in
gewissem Sinne eine Frage der Vernünftigkeit, und zwar der Vernünftigkeit
nicht nur in dem technisch-pragmatischen Sinne von Vernunft, in dem wir
das Wort im allgemeinen gebrauchen. Da sagen wir etwa: Wenn ich das und
das ,"vilI, dann ist es einfach vernünftig, als ersten Schritt das und das zu tun.
Das ist die berühmte Zweckrationalität von Max Weber. Wer einen be-
stimmten Zweck will, ist verpflichtet zu wissen, welche Mittel diesem
Zweck dienen und welche Mittel ihm nicht dienen. Deswegen ist Ethik
nicht nur Gesinnungsfrage. Auch unser Wissen oder Nichtwissen muß
verantwortet werden. Wissen gehört zum ,Ethos<. Aber zweifellos ist das
nicht alles, was Vernünftigkeit in dem großen sittlichen und politischen
Sinne der aristotelischen Phronesü charakterisiert, daß man zu gegebenen
Zwecken die rechten Mittel zu nützen "veiß. Das, ,"vorauf in der menschli-
chen Gesellschaft alles ankommt, ist, wie sie ihre Zwecke setzt oder besser
noch, wie sie für die Übernahme von allen zu bejahender Zwecke Einver-
ständnis erzielt und die richtigen Mittel findet. Es ist nun, wie mir scheint,
ftir die ganze Frage des theoretischen Wissenwollens auf diesem Gebiet
menschlicher Lebenspraxis von entscheidender Bedeutung, daß \vir jev.reils
vor aller theoretischen Rechenschaftsgabe eine vorgängige Hingabe aller an
ein inhaltlich bestimmendes Ideal der Vernünftigkeit voraussetzen.
Eine Wissenschaft mit inhaltlichen Voraussetzungen! Hier entspringt, wie
mir scheint, die eigentliche wissenschaftstheoretische Problematik, unter
der die praktische Philosophie steht. Aristoteles hat darüber reflektiert. Er
hat z. B. gesagt: Um über praktische Philosophie, also über die Normbegrif-
fe menschlichen Verhaltens oder die Normbegriffe vernünftiger Staatsver-
fassungen etwas zu erlernen, muß man bereits erzogen sein, muß man
bereits zur Vernünftigkeit fahig sein!" Hier setzt )Theorie< ,Teilhaben( vor-
aus. Das sind Dinge, die dann auch Kant in ganz anderem Zusammenhang
genauer entwickelt hat: Wie kann man, wenn man in der Vernünftigkeit
eine moralische Qualität des Menschen erkennt, die nicht von semen
theoretischen Fähigkeiten abhängt, Theorie und Philosophie der Moral
überhaupt noch zulassen? Es gibt eine berühmte Note von Kant, die in
ten geprägt und, wie wir heute empfinden, auch behindert. Zwar, seine
Abwehr des werttheoretischen Neukantianismus (Rickert) mochte ihr gutes
Recht haben. Aber gewiß galt es, über die bloße Gegenstellung zur neukan-
tianischen Werttheorie hinauszukommen. Dergleichen hat Theodor Litt
unternommen. Als ich im Jahre 1941 Litts Vortrag in der Sächsischen
Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hörte, derenjüngstes Mitglied ich
gerade geworden war, klang mir diese Studie über )Das Allgemeine im
Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis( wie eine Synthese, in der
Litt seine Zwischenstellung zwischen Kaut und Herder. die er in einem
schönen Buche schon 1930 ausgearbeitet hatte, ins Prinzipielle wandte. Wie
dort die Sprache zwischen dem Allgemeinen und dem Individuell-Singula-
ren die Brücken schlug, das kam gewiß meinem eigenen Versuch nahe,
Heideggers ontologische Kritik an der griechischen Metaphysik und ihrer
Folgewirkung, dem Subjektivitätsdenken der Neuzeit, ftir ein besseres
Selbstverständnis der Geisteswissenschaften nutzbar zu macher!. Noch heu-
te empfinde ich eine gevvisse Nähe zu Litt, etwa in der Verteidigung der
Sprache des Alltages gegenüber der Fachsprache und der >reinen< Begriffs-
bildung, die in den Naturwissenschaften ihr volles Recht hat. Litt hatte an
Hegels Dialektik des Allgemeinen und des Besonderen und an der Ver-
schmelzung von bestimmender und reflektierender Urteilskraft sein eigenes
Denken zu artikulieren gelernt. Damit war der henneneutische Nerv be-
rührt. Ich selber habe versucht. über den Horizont der neuzeitlichen Wissen-
schaftstheorie und Philosophie der Geisteswissenschaften hinauszugehen
und das hermeneutische Problem an der fundamentalen Sprachlichkeit des
Menschen zu entfalten. Am Ende ist die aristotelische Tugend der Vernünf-
tigkeit, die Phroncsis, die hermeneutische Grundtugend selbst. Sie diente
mir als ein Modell ftir meine eigene Gedankenbildung. So wurde in meinen
Augen die Hermeneutik, diese Theorie der Anwendung, das heißt des
Zusammenbringens des Allgemeinen und des Einzelnen, eine zentrale phi-
losophische Aufgabe.
Wahrscheinlich ""vürde Theodor Litt meinen eigenen Denkvcrsuchen ent-
gegenhalten, daß eine philosophische Rechtfertigung der Geisteswissen-
schaften am aristotelischen Modell der Phronesis sich dazu bekennen müßte,
ein Apriori geltend zu machen, das nicht einfach das Resultat empirischer
Verallgemeinerung sein könne. Die praktische Philosophie des Aristoteles
mißverstehe sich jedenfalls, wenn sie im )Oaß< ihr Prinzip sehe und nicht
anerkenne, daß sie selber als Philosophie, also als ein theoretisches Wissen-
wollen, nicht von dem abhängen könne, was in der Erfahrung als ein
konkret erfülltes Ethos und als praktisch getätigte Vernunft begegne. Litt
würde also auf der transzendentalen Reflexion bestehen, der ja auch Husserl
und selbst der Hcidegger von lSein und Zeir< gefolgt war. Das schien mir
aber und das scheint mir, so sehr es gegenüber einer empiristisch-induktivi-
Probleme der praktischen Vemunft 329
stischen Theorie im Recht ist, zu verkennen, daß solche Reflexion ihre
eigene Begründung und Begrenzung aus der Lebenspraxis empfangt, aus
der sie jeweils aufsteigt. Diese Einsicht muß sich einer Reflexion verwei-
gern, die sich in idealistischer Aufstufung zum >Geist< versteigt. So glaube
ich, daß die aristotelische Vorsicht und die Sclbstbegrcnzung seines Denkens
über das Gute im menschlichen Leben am Ende recht behält, und daß sie zu
Recht - vielleicht mit Plato - dem philosophischen Gedanken, der gewiß
keine bloße empiristische Verallgemeinerung ist, seine Rückbindung an die
eigene Endlichkeit und daran, wie vvir dieselbe erfahren - und das ist an
unsere geschichtliche Bedingtheit - auferlegt.
24. Text und Interpretation
1983
Die Probleme der Hermeneutik sind zwar im Ausgang von einzelnen Wis-
senschaften, der Theologie und der Jurisprudenz im besonderen, und am
Ende auch von den historischen Wissenschaften aus cnt\vickelt worden.
Doch war es bereits die tiefe Einsicht der deutschen Romantik, daß das
Verstehen und Interpretieren nicht nur, wie Dilthey es formuliert hat, bei
schriftlich fixierten Lebensäußerungen ins Spiel kommt. sondern das allge-
meine Verhältnis der Menschen zueinander und zur Welt betrifft. Das prägt
sich sogar in abgeleiteten Worten, wie etwa dem Wort >Verständnis< aus. In
der deutschen Sprache bedeutet Verstehen auch: >für etwas Verständnis
haben(. So ist die Fähigkeit des Verstehens eine grundlegende Ausstattung
des Menschen, die sein Zusammenleben mit anderen trägt und insbesondere
auf dem Wege über die Sprache und das Miteinander des Gespräches von-
statten geht. Insofern ist der universale Anspruch der Hermeneutik außer
allem Zweifel. Auf der anderen Seite bedeutet die Spraehlichkeit des Ver-
ständigungsgeschehens, das Z\vischen den Menschen spielt, geradezu eine
unübersteigbare Schranke, die ebenfalls von der deutschen Romantik in
ihrer metaphysischen Bedeutung zuerst positiv gewürdigt worden ist. Sie ist
in dem Satz formuliert: Individuum est ineffabile. Der Satz formuliert eine
Grenze der antiken Ontologie (ist allerdings nicht einmal aus dem Mittelal-
ter belegbar). Für das romantische Bewußtsein heißt das aber: Sprache
erreicht nie das letzte, unaufhebbare Geheimnis der individuellen Person.
Das spricht das Lebensgefi1hl des romantischen Zeitalters treffend aus und
weist auf eine Eigengesetzlichkeit des sprachlichen Ausdrucks, die nicht nur
seine Grenze ausmacht, sondern auch seine Bedeutung für die Ausbildung
des die Menschen vereinigenden common sense.
Es ist gut, sich an diese Vorgeschichte unserer heutigen Fragestellung zu
erinnern. Das im Ausgang von der Romantik aufblühende Methodenbe-
wußtsein der historischen Wissenschaften und der Druck, den das Vorbild
der siegreichen Naturwissenschaften ausübte, haben dazu gefuhrt, daß die
philosophische Reflexion die Allgemeinheit der hermeneutischen Erfahrung
auf ihre wissenschaftliche Erscheingsform verkürzte. Weder bei Wilhc1m
Dilthey, der in bewußter Fortftihrung der Ideen Friedrich Schleiermachers
Text und Interpretation 331
zität<, die Heideggers Frage nach dem Sein leitet und die die Hinterfragung
des Historismus und Diltheys einschließt.
Nun hat Heidegger bekanntlich den Begriff der Hermeneutik später ganz
fallen lassen, weil er sah, daß er auf diese Weise den Bannkreis der transzen-
dentalen Reflexion nicht durchbrechen konnte. Sein Philosophieren, das die
Abkehr vom Begriff des Transzendentalen als die >Kehre< zu vollziehen
suchte, geriet damit zunehmend mehr in eine solche Sprachnot, daß viele
Leser Heideggers mehr Poesie als philosophisches Denken darin zu finden
glauben. Das halte ich freilich fur einen Irrtum. 8S So war es eines meiner
eigenen Motive, Wege zu suchen, auf denen Hcideggers Rede vom Sein, das
nicht das Sein des Seienden ist, ausweis bar gemacht werden kann. Das
fuhrte mich wieder stärker an die Geschichte der klassischen Hermeneutik
heran und nötigte mich, das Neue in der Kritik derselben zur Geltung zu
bringen. Meine eigene Einsicht scheint mir, daß keine Begriffssprache, auch
nicht die von Heidegger sogenannte >Sprache der Metaphysik(, einen un-
brechbaren Bann für das Denken bedeutet, wenn sich nur der Denkende der
Sprache anvertraut, und das heißt, wenn er in den Dialog mit anderen
Denkenden und mit anders Denkenden sich einläßt. In voller Anerkennung
der durch Heidegger geleisteten Kritik am Subjektsbegriff, dem er seinen
Hintergrund von Substanz nachwies, suchte ich daher im Dialog das ur-
sprüngliche Phänomen der Sprache zu fassen. Das bedeutete gleichzeitig
eine hermeneutische Rückorientierung der Dialektik, die vom deutschen
Idealismus als spekulative Methode entwickelt worden war, auf die Kunst
des lebendigen Dialogs, in der sich die sokratisch-platonische Denkbewe-
gung vollzogen hatte. Das heißt nicht, daß sie eine bloß negative Dialektik
sein wollte, wenn sich auch die griechische Dialektik ihrer grundsätzlichen
Unvollendbarkeit stets bewußt gewesen ist. Sie stellt jedoch ein Korrektiv
gegenüber dem Methodenideal der neuzeitlichen Dialektik dar, die sich im
Idealismus des Absoluten vollendete. Es war aus dem gleichen Interesse, daß
ich nicht zuerst an der Erfahrung, die in der Wissenschaft verarbeitet ist,
sondern an der Erfahrung der Kunst und der Geschichte selber, mit denen
die sogenannten Geisteswissenschaften als ihren Gegenständen zu tun ha-
ben, die hermeneutische Struktur aufsuchte. Für das Kunstwerk, wie sehr
auch immer es als eine geschichtliche Gegebenheit und damit als möglicher
Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung erscheinen mag, gilt, daß es
selber uns etwas sagt - und das so, daß seine Aussage niemals abschließend
im Begriff ausgeschöpft werden kann. Ebenso gilt rur die Erfahrung der
Geschichte, daß das Ideal der Objektivität der Geschichtsforschung nur die
eine, sogar nur die sekundäre Seite der Sache ist, während es die Auszeich-
1I8 fVgl. die Sammlung meiner Studien zu Heideggers Spätwerk ~Heideggers Wege<,
mich tragenden Tradition des )Historismusl habe ich einen kritischen Stand
gesucht. Leo Strauss hat schon früher einmal in einem inzwischen veröffent-
lichten Privatbrief an mich" den Finger darauf gelegt, daß ftir Heidegger
Nietzsehe und rur mich Dilthey den Orientierungspunkt der Kritik bilde. Es
mag Hcideggers Radikalität auszeichnen, daß seine eigene Kritik am phäno-
menologischen Neukantianismus Husserlscher Prägung ihn am Ende tat-
sächlich in den Stand setzte, in Nietzsehe den extremen Endpunkt dessen zu
erkennen, was er die Geschichte der Seinsvergessenheit nennt. Aber das ist
eine eminent kritische Feststellung, die doch wohl nicht hinter Nietzsehe
zurückfallt, sondern über ihn hinausgeht. Ich vermisse an der französischen
Nietzsche-Nachfolge, daß sie das Versucherische von Nietzsches Denken in
seiner Bedeutung erfaßt. Nur so, scheint mir, gelangt sie dazu, zu meinen,
daß die Erfahrung des Seins, die Heidegger hinter der Metaphysik aufzudek-
ken bemüht ist, von Nietzsches Extremismus an Radikalität noch übertrof-
fen werde. In Wahrheit kommt vielmehr in Heideggers Nietzsche-Bild die
tiefe Zweideutigkeit, daß er ihm bis in das letzte Extrem hinein folgt und
gerade dort das Un-Wesen der Metaphysik am Werke sieht, sofern im
Werten und Umwerten aller Werte in Wahrheit Sein selber zu einem Wertbe-
griffim Dienst des }Willens zur Macht< wird. Heideggers Versuch, das Sein
zu denken, geht weit über solche Auflösung der Metaphysik in Wertdenken
hinaus oder besser: er geht hinter die Metaphysik selber zurück, ohne in dem
Extrem ihrer Selbstaufläsung Genüge zu finden, wie Nietzsche. Solches
Zurückfragen hebt den Begriff des Logos und seine metaphysischen Impli-
kationen nicht auf, aber erkennt seine Einseitigkeit und zuletzt }Oberfläch-
lichkeit<. Daftir ist von entscheidender Bedeutung, daß das Sein nicht in
seinem Sich-Zeigen aufgeht, sondern mit derselben Ursprünglichkeit. in
der es sich zeigt, sich auch zurückhält und entzieht. Das ist die eigentliche
Einsicht, die zuerst Schelling gegen den logischen Idealismus Hcgcls geltend
gemacht hatte. Heidegger nimmt diese Frage wieder auf, indem er zugleich
seine begriffliche Kraft daftir einsetzt, die Schelling gemangelt hatte.
So war ich meinerseits benlüht, die Grenze nicht zu vergessen, die in aller
hermeneutischen Erfahrung von Sinn impliziert ist. Wenn ich den Satz
schrieb: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprachc~<90, so lag darin, daß
das, was ist, nie ganz verstanden werden kann. Es liegt darin, sofern alles,
was eine Sprache fuhrt, immer noch über das hinausweist, was zur Aussage
gelangt. Es bleibt, als das, \vas verstanden werden soll, das, was zur Sprache
kommt - aber freilich wird es immer als etwas genommen, wahr-genom-
men. Das ist die hermeneutische Dimension, in der Sein }sich zeigt<. Die
69 l!Corrcspondencc conccrning Wahrheit und Methode-Leo Strauss and Hans-Georg
WerkeBd. 1, S. 478).
Text und Interpretation 335
91 [Schon 1959 habe ich das in dem Heidegger gewidmeten Aufsatz> Vom Zirkel des
Verstchensl zu zeigen versucht. Vgl. oben S. 57ff. J.
336 Weiterentwicklungen
Entgegnung den Mund aufmacht, die eigene Befangenheit und Enge aufzu-
decken und aufzulösen. Was uns hier zur dialogischen Erfahrung wird,
beschränkt sich nicht auf die Sphäre der Gründe und Gegengründe, in deren
Austausch und Vereinigung der Sinn jeder Auseinandersetzung enden mag.
Es ist vielmehr, wie die beschriebenen Erfahrungen zeigen, noch etwas
anderes darin, sozusagen eine Potentialität des Andersseins, die über jede
Verständigung im Gemeinsamen noch hinaus liegt. Das ist die Grenze, die
Hege! nicht überschreitet. Er hat zwar das spekulative Prinzip, das im
>Logos< waltet, erkannt und sogar in dramatischer Konkretion zur Auswei-
sung gebracht. Er hat die Struktur des Selbstbewußtseins und der )Selbster-
kenntnis im Andersseio< als die Dialektik der Anerkennung entfaltet und
diese bis zum Kampf aufLeben und Tod zugespitzt. Ähnlich hat Nietzsches
psychologischer Tiefblick das Substrat von >Wille zur Macht< in aller Hinga-
be und Aufopferung ins Bewußtsein gehoben: ))Auch im Knecht ist noch
Wille zur Macht<<. Daß sich diese Spannung von Selbstaufgabe und Selbstbe-
zug in die Sphäre der Gründe und der Gegengründe und damit in die
sachliche Auseinandersetzung hinein fortsetzt, ihr gleichsam eingelagert ist,
stellt aber den Punkt dar, an dem Heidegger ftir mich bestimmend bleibt,
gerade weil er den ~Logozentrismus< der griechischen Ontologie darin er-
kennt.
Hier wird eine Grenze des griechischen Vorbildes ftihlbar, die vom Alten
Testament, von Paulus, von Luther und deren modernen Erneuerern vor
allem, kritisch geltend gemacht wird. In der berühmten Entdeckung des
sokratischen Dialoges als der Grundform des Denkens ist diese Dimension
am Dialog gar nicht zum begrifflichen Be"\vußtsein gekommen. Das geht
sehr wohl damit zusammen, daß ein Schriftsteller von der poetischen Imagi-
nation und Sprachkraft eines Plato die charismatische Figur seines Sokrates
so zu schildern wußte, daß die Person und die erotische Spannung, die um
sie zittert, wirklich zur Erscheinung kommt. Aber wenn dieser sein Sokrates
in seiner Gesprächsftihrung auf der Rechenschaftsgabe besteht, andere ihres
Scheinwissens überfuhrt und sogar den anderen zu sich sc1ber zu bringen
vermag, so setzt er doch immer zugleich voraus, daß der Logos allen
gemeinsam ist und nicht der seine. Die Tiefe des dialogischen Prinzips ist,
wie schon angedeutet, erst in der Abenddämmerung der Metaphysik, im
Zeitalter der deutschen Romantik, zu philosophischem Bewußtsein gelangt
und in unserem Jahrhundert erneut gegen die Subjektsbefangenheit des
Idealismus geltend gemacht worden. Hier habe ich angeknüpft und frage,
wie sich die Gemeinsamkeit des Sinnes, die sich im Gespräch aufbaut, und
die Undurchdringlichkeit der Andersheit des anderen miteinander vermit-
teln und was Sprachlichkeit im letzten Betracht ist: Brücke oder Schranke.
Brücke, durch die der eine mit dem anderen kommuniziert und über dem
fließenden Strome der Andersheit Selbigkeiten aufbaut, oder Schranke, die
Text und Interpretation 337
unsere Selbst aufgabe begrenzt und uns von der Möglichkeit abschrankt, uns
selber je ganz auszusprechen und mitzuteilen.
Im Rahmen dieser allgemeinen Fragestellung stellt nun der Begriff des
>Textes< eine Herausforderung eigener Art dar. Das ist abermals etwas, was
uns mit unseren französischen Kollegen verbindet oder vielleicht auch von
ihnen trennt. Jedenfalls war dies mein Motiv, mich mit dem Thema >Text
und Interpretation< neu auseinanderzusetzen. Wie steht Text zur Sprache?
Was kann von Sprache in Text hinüber? Was ist Verständigung zwischen
Sprechenden und was bedeutet es, daß uns so etwas wie Texte gemeinsam
gegeben sein können oder gar, daß in der Verständigung miteinander etwas
herauskommt, das wie ein Text fur uns ein- und dasselbe ist? Wieso hat der
Begriff des Textes eine so universale Ausdehnung erfahren können? Für
jeden, der sich die philosophischen Tendenzen unseres Jahrhunderts vor
Augen fUhrt, ist es offenkundig, daß es sich unter diesem Thema um mehr
handelt als um Reflexion über die Methodik der philologischen Wissen-
schaften. Text ist mehr als der Titel fur das Gegenstandsfeld der Literaturfor-
schung. Interpretation ist mehr als die Technik der wissenschaftlichen Aus-
legung von Texten. Beide Begriffe haben im 20. Jahrhundert ihren Stellen-
wert im ganzen unserer Erkcnntnis- und Wcltgleichung gründlich verän-
dert.
Gewiß hängt diese Verschiebung mit der Rolle zusammen, die das Phäno-
men der Sprache in unserem Denken inzwischen einnimmt. Aber das ist nur
eine tautologische Aussage. Daß die Sprache eine zentrale Stellung im
philosophischen Gedanken erworben hat, hängt vielmehr seinerseits mit der
Wendung zusammen, die die Philosophie im Laufe der letzten Jahrzehnte
genommen hat, Daß das Ideal der \vissenschaftlichen Erkenntnis, dem die
moderne Wissenschaft folgt, vom Modell des mathematischen Entwurfs der
Natur ausgegangen war, wie ihn Galilei in seiner Mechanik zuerst entwik-
kelte, bedeutete ja, daß die sprachliche Weltauslcgung, d. h. die in der
Lebenswelt sprachlich sedimentierte Welterfahrung, nicht länger den Aus-
gangspunkt der Fragestellung und des Wissenwollens bildete. Jetzt ist es das
aus rationalen Gesetzen Erklärbare und Konstruicrbare, was das Wesen der
Wissenschaft ausmacht. Damit verlor die natürliche Sprache, auch wcnn sie
ihre eigene Weise, zu sehen und zu reden, festhält, ihren selbstverständlichen
Primat. Es war eine konsequente Fortführung der Implikationen dieser
modernen mathematischen Naturwissenschaft, daß das Ideal der Sprache in
der modernen Logik und Wissenschaftstheorie durch das Ideal der eindeuti-
gen Bezeichnung ersetzt wurde. So gehört es in den Zusammenhang der
Grenzerfahrungen, die mit der Universalität des wissenschaftlichen Weltzu-
gangs verbunden sind, wcnn sich inzwischen die natürliche Sprache als ein
>Universale{ erneut in das Zentrum der Philosophie verlagert hat.
Freilich bedeutet das nicht eine bloße Rückkehr zu den lebens weltlichen
338 Weiterencwicklungen
Erfahrungen und ihrer sprachlichen Sedimentation, die wir als den Leitfaden
der griechischen Metaphysik kennen und deren logische Analyse zur aristo-
telischen Logik und zur Rrammatica speculativa ruhrte. Vielmehr wird jetzt
nicht ihre logische Leistung, sondern die Sprache als Sprache und ihrc
Schematisicrung des Weltzugangs als solche bewußt, und damit verschieben
sich die ursprünglichen Perspektiven. Innerhalb der deutschen Tradition
stellt das eine Wiederaufnahme romantischer Ideen dar - Schlegels, Hum-
boldts usw. Weder bei den Neukantianern noch bei den Phänomenologen
der ersten Stunde war das Problem der Sprache überhaupt beachtet worden.
Erst in einer zweiten Generation wurde die Zwischcnwclt der Sprache zum
Thema, so bei Ernst Cassirer und vollends bei Martin Heidcgger, dem vor
allem Hans Lipps folgte. Im angelsächsischen Raum zeigte sich ähnliches in
der Fortentwicklung, die Wittgenstein von dem Ausgangspunkt bei RusselJ
aus genommen hat. Freilich handelt es sich fur uns jetzt nicht so sehr um eine
Philosophie der Sprache, die auf dem Boden der vergleichenden Sprachwis-
senschaften aufbaute, oder um das Ideal einer Konstruktion von Sprache,
das sich einer allgemeinen Zeichen theorie einordnet, als um den rätselhaften
Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen.
So haben wir auf der einen Seite die Zeichentheorie und Linguistik, die zu
neuen Erkenntnissen über die Funktionsweise und den Aufbau von sprachli-
chen Systemen und von Zeichensystemen gefLihrt haben, und auf der ande-
ren Seite die Theorie der Erkenntnis, die realisiert, daß es Sprache ist, \\'as
allen Weltzugang überhaupt vermittelt. lleides wirkt dahin zusammen, die
Ausgangspunkte einer philosophischen Rechtfertigung des wissenschaftli-
chen Weltzugangs in einem neuen Lichte zu sehen. Deren Voraussetzung
bestandja darin, daß sich das Subjekt in methodischer Selbstgewißheit mit
den Mitteln der rationalen mathematischen Konstruktion der Erfahrungs-
wirklichkeit bemächtigt und ihr in Urteilssätzen Ausdruck gibt. Damit
erfullte es seine eigentliche Erkenntnisaufgabe, und diese ErfUllung gipfelt in
der mathematischen Symbolisierung, in der sich die Naturwissenschaft
allgemeingültig formuliert. Die Zwischenv.relt der Sprache ist der Idee nach
ausgeklammert. Sofern sie als solche jetzt bewußt wird, zeigt sie sich als die
primäre Vermittc1theit allen Weltzugangs. Damit wird die Unüberschreit-
barkcit des sprachlichen Wcltschemas klar. Der Mythos des Sclbstbewußt-
seins, das in seiner apodiktischen Selbstgewißheit zum Ursprung und
Rechtfertigungsgrund aller Geltung erhoben worden war, und das Ideal der
Letztbegründung überhaupt, um das sich Apriorismus und Empirismus
streiten, verliert seine Glaubwürdigkeit angesichts der Priorität und Unhin-
tergehbarkeit des Systems der Sprache, in dem sich alles Bewußtsein und
alles Wissen artikuliert. Wir haben durch Nietzsehe den Zweifel an der
Begründung der Wahrheit in der Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins
gelernt. Wir haben durch Freud die erstaunlichen wissenschaftlichen Ent-
Text und Interpretation 339
deckungen kennen gelernt, die mit diesem Zweifel Ernst machten, und an
Heideggers grundsätzlielier Kritik am Begriff des Bewußtseins die begriffii-
ehen Voreingenommenheiten eingesehen, die aus der griechischen Logos-
Philosophie stammen und in moderner Wendung denBegriffdes Subjektes ins
Zentrum rückten. All das verleiht der >Sprachlichkeit( unserer Welterfahrung
den Primat. Die Zwischenwclt der Sprache erweist sich gegenüber denIllusio-
nen des Se1bstbewußtseins ebenso wie gegenü ber der N ai vität eines positivisti-
schen Tatsachenbegriffs als die eigentliche Dimension dessen, was gegeben ist.
Man versteht von da den Aufstieg des Begriffes der Interpretation. Das ist
ein Wort, das ursprünglich auf das Vermittlungsverhältnis, auf die Funktion
des Mittelsmanns zwischen Sprechern verschiedener Sprachen ging, d. h.
also auf den Übersetzer, und wurde dann von dort auf die Aufschließung
von schwerverständlichen Texten überhaupt übertragen. In dem Moment,
in dem sich die Zwischcnwelt der Sprache dem philosophischcnBewußtsein
in ihrer prädeterminierenden Bedeutung darstellte, mußte nun auch in der
Philosophie Interpretation eine Art Schlüsselstellung einnehmen. Die Kar-
riere des Wortes begann mit Nietzsche und wurde gleichsam zur Herausfor-
derung allen Positivismus. Gibt es das Gegebene, von dessen sicherem
Ausgangspunkte aus die Erkenntnis nach dem Allgemeinen, dem Gesetz,
der Regel sucht und darin ihre Erftillung findet? Ist das Gegebene nicht selbst
Resultat einer Interpretation? Interpretation ist es, was zwischen Mensch
und Welt die niemals vollendbare Vermittlung leistet, und insofern ist es die
einzig wirkliche Unmittelbarkeit und Gegebenheit, daß wir etwas als etwas
verstehen. Der Glaube an die Protokollsätze als das Fundament aller Er-
kenntnis hat auch im Wiener Kreis nicht lange gewährt. 92 Die Begründung
der Erkenntnis kann selbst im Bereich der Naturwissenschaften der herme-
neutischen Konsequenz nicht ausweichen, daß das sogenannte Gegebene
von der Interpretation nicht ablös bar ist. 93
Erst in deren Lichte wird etwas zu einer Tatsache und erweist sich eine
Beobachtung als aussagekräftig. Radikaler noch hat Heideggers Kritik den
Bewußtseinsbegriff der Phänomenologie und - ähnlich wie Scheler - den
Begriff der )reinen Wahrnehmung< als dogmatisch entlarvt. So wurde im
sogenannten Wahrnehmen selber das hermeneutische Etwas-als-etwas-Ver-
stehen aufgedeckt. Das aber heißt in letzter Konsequenz, daß Interpretation
nicht eine zusätzliche Prozedur des Erkennens ist, sondern die ursprüngliche
Struktur des )In-der-Welt-Seins< ausmacht.
Aber heißt das, daß Interpretation ein Einle,gcn von Sinn und nicht ein
92 {Moritz Schlick, Über das Fundament der Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze
1926-1936, Wien 1938, S. 290-295 und 300-309].
~3 [HierfUr wäre auf die neuerc Wissenschaftstheorie zu verweisen, auf die J. C. Weins-
helmer, Gadamer's Hermeneutics - A Reading of Truth and Method (Yale 1985), ein-
geht].
340 Weiterentwicklungen
Finden von Sinn ist' Das ist offenbar die durch Nictzsche gestellte Frage, die
über Rang und Reichweite der Hermeneutik wie über die Einwände ihrer
Gegner entscheidet. Jedenfalls ist fcstzuhalten, daß erst vom Begriff der
Interpretation aus der Begriff des Textes sich als ein Zentral begriff in der
Struktur der Sprachlichkeit konstituiert; das kennzeichnet ja den Begriff des
Textes, daß er sich nur im Zusammenhang der Interpretation und von ihr
aus als das eigentlich Gegebene, zu Verstehende darstellt. Das gilt selbst in
der dialogischen Verständigung, sofern man sich umstrittene Aussagen
wiederholen läßt und damit die Intention auf verbindliche Formulierung
verfolgt, ein Vorgang, der dann in der protokollarischen Fixierung kulmi-
niert. In ähnlichem Sinne fragt der Interpret eines Textes, was eigentlich
dasteht. Das mag immer eine noch so voreingenommene und vorurteilsvol-
le Beantwortung finden, sofern jeder, der so fragt, eine direkte Bestätigung
seiner eigenen Annahmen in Anspruch zu nehmen sucht. Aber in solcher
Berufung auf das, was dasteht, bleibt doch der Text der feste Bezugspunkt
gegenüber der Fragwürdigkeit, Beliebigkeit oder mindestens VieWiltigkeit
der Interprctationsmäglichkeiten, die sich auf den Text richten.
Das hat wiederum seine Bestätigung in der Wortgeschichte. Der Begriff
,Textj ist wesentlich in zwei Zusammenhängen in die modernen Sprachen
eingedrungen. Einerseits als der Text der Schrift, deren Auslegung in Pre-
digt und Kirchenlehre betrieben wird, so daß der Text die Grundlage für alle
Exegese darstellt, alle Exegese aber Glaubenswahrheiten voraussetzt. Der
andere natürliche Gebrauch des Wortes )Text( begegnet uns im Zusammen-
hang mit der Musik. Da ist es der Text für den Gesang, für die musikalische
Auslegung der Worte, und insofern auch dies nicht so sehr ein vorgegebenes,
als ein aus dem Vollzug des Gesanges Ausfallendes. Diese beiden natürlichen
Verwendungsweisen des Wortes Text \veisen - wohl beide - auf den Sprach-
gebrauch der spätantiken römischen Juristen zurück, die nach der justiniani-
schen Kodifizierung den Gesetzestext gegenüber der Strittigkeit seiner Aus-
legung und Anwendung auszeichnen. Von da hat das Wort überall dort
Verbreitung gefunden, wo etwas der Einordnung in die Erfahrung Wider-
stand leistet und wo der Rückgriff auf das vermeintlich Gegebene eine
Orientierung für das Verständnis geben soll.
Die metaphorische Rede von dem )Bueh der Natur< beruht auf dem
selben. 94 Das ist das Buch, dessen Text Gott mit seinem Finger geschrieben
hat und den der Forscher zu entziffern bzw. durch seine Auslegung lesbar
und verständlich zu machen berufen ist. So finden ",rir überall - und nur
dort, wo mit einer primären Sinn vermutung an eine Gegebenheit herange-
treten wird, die sich nicht widerstandslos in eine Sinnerwartung einftigt, den
94 rVgl. dazu E. Rothacker, Das >Buch der Natur<. Materialien und Grundsätzliches zur
hermeneutischen Bezug auf den Textbegriff am Werk. Wie eng Text und
Interpretation ineinander verwoben sind, kommt vollends daran heraus,
daß auch ein überlieferter Text nicht immer das ftir die Interpretation Vorge-
gebene ist. Oft ist es ja die Interpretation, die zur kritischen Herstellung des
Textes fuhrt. Wenn man sich dieses innere Verhältnis von Interpretation und
Text klarmacht, erzielt man einen methodischen Gewinn.
Der methodische GeVv-inn, der sich aus diesen an der Sprache gemachten
Beobachtungen ergibt, liegt darin, daß >Text( hier als ein hermeneutischer
Begriff verstanden werden muß. Das will sagen, daß er nicht von der
Perspektive der Grammatik und der Linguistik her, d, h, nicht als das
Endprodukt gesehen wird, auf das hin die Analyse seiner Herstellung unter-
nommen wird, in der Absicht, den Mechanismus aufzuklären, kraft dessen
Sprache als solche funktioniert, im Absehen von allen Inhalten, die sie
vermittelt. Vom hermeneutischen Standpunkt aus - der der Standpunkt
jeden Lesers ist - ist der Text ein bloßes Zwischenprodukt, eine Phase im
Verständigungsgeschehen, die als solche gewiß auch eine bestimmte Ab-
straktion einschließt, nämlich die Isolierung und Fixierung eben dieser
Phase. Aber diese Abstraktion geht ganz in die umgekehrte Richtung als die
dem Linguisten vertraute. Der Linguist will nicht in die Verständigung über
die Sache eintreten, die in dem Text zur Sprache kommt, sondern in das
Funktionieren von Sprache als solcher Licht bringen, was immer auch der
Text sagen mag. Nicht, was da mitgeteilt wird, macht er zum Thema,
sondern wie es überhaupt möglich ist, etwas mitzuteilen, mit welchen
Mitteln der Zeichensetzung und Zeichengebung das vor sich geht.
Für die hermeneutische Betrachtung dagegen ist das Verständnis des
Gesagten das einzige, worauf es ankommt. Oaftir ist das Funktionieren von
Sprache eine bloße Vorbedingung. So ist als erstes vorausgesetzt, daß eine
Äußerung akustisch verständlich ist oder daß eine schriftliche Fixierung sich
entziffern läßt, damit das Verständnis des Gesagten oder im Text Gesagten
überhaupt möglich wird. Der Text muß lesbar sein.
Nun gibt uns dafür der Sprachgebrauch wiederum einen wichtigen Wink.
Wir reden auch in einem anspruchsvolleren Sinne von )Lesbarkeit{ eines
Textes, wenn wir damit eine unterste Qualifikation bei der Würdigung eines
Stils oder bei der Beurteilung einer Übersetzung aussprechen wollen. Das ist
natürlich eine übertragene Rede. Aber sie macht die Dinge. wie das so oft bei
Übertragungen der Fall ist, vollends klar. Ihre negative Entsprechung ist die
Unlesbarkeit, und das meint immer, daß der Text als schriftliche Außerung
seine Aufgabe nicht erfUllt, die darin besteht, ohne Anstoß verstanden zu
werden. Es bestätigt sich damit, daß wir immer schon auf das Verstehen des
im Text Gesagten vorausblicken. Erst von da aus gewahren und qualifizieren
wir überhaupt einen Text als lesbar.
Aus der philologischen Arbeit ist das als die Aufgabe, einen lesbaren Text
342 Weiterentwicklungen
heIzusteHen, wohl bekannt. Es ist aber klar, daß diese Aufgabe sich immer
nur so stellt, daß dabei schon von einem ge"\vissen Verständnis des Textes
ausgegangen wird. Nur wo der Text schon entziffert ist und der entzifferte
Text sich nicht anstandlos ins Verständliche umsetzen läßt, sondern Anstoß
gibt, fragt man danach, was eigentlich dasteht und ob die Lesung der
Überlieferung bzw. die gewählte Lesart richtig war. Die Textbehandlung
durch den Philologen, der einen lesbaren Text herstellt, entspricht also
vollkommen der nicht nur akustischen Auffassung, die bei direkter auditiver
ÜbermütJung vor sich geht. Wir sagen da, man habe gehört, \venn man
verstehen konnte. Entsprechend ist die Unsicherheit im akustischen Auffas-
sen einer mündlichen Botschaft \vie die Unsicherheit einer Lesart. In beiden
Fällen spielt eine Rückkoppelung hinein. Vorverständnis, Sinnerwartung
und damit allerhand Umstände, die nicht im Text als solchen liegen, spielen
ihre Rolle fUr die Auffassung des Textes. Das wird vollends deutlich, wenn
es sich um die Übersetzung aus fremden Sprachen handelt. Da ist die
Beherrschung der fremden Sprache eine bloße Vorbedingung. Wenn in
solchem Falle überhaupt von )Text( gesprochen wird, so ist es, weil er eben
nicht nur verstanden, sondern in eine andere Sprache übertragen werden
soll. Dadurch wird er zum) Text(, denn das Gesagte wird nicht einfach
verstanden, sondern es wird zum ,Gegenstande< - es steht gegen die Vielfalt
der Möglichkeiten, das Gemeinte in der }Zielsprache< wiederzugeben, und
darin liegt wiederum ein hermeneutischer Bezug. Jede Übersetzung, selbst
die sogenannte wörtliche Wiedergabe, ist eine Art Interpretation.
So läßt sich zusammenfassend sagen: Was der Linguist zum Thema macht,
indem er von der Verständigung über die Sache absieht, stellt rur die Ver-
ständigung selbst einen bloßen Grenzfall möglicher Beachtung dar. Was den
Verständigungs vollzug trägt, ist im Gegensatz zur Linguistik geradezu
Sprachvergessenheit, in die die Rede oder der Text formlieh eingehüllt ist.
Nur wenn dieselbe gestört ist, d. h. wo das Verständnis nicht gelingen will,
wird nach dem Wortlaut des Textes gefragt und kann die Erstellung des
Textes zu einer eigenen Aufgabe ,verden. Im Sprachgebrauch unterscheiden
wir zwar zwischen Wortlaut und Text, aber daß die beiden Bezeichnungen
immer auch fLir einander eintreten können, ist nicht zufallig. (Auch im
Griechischen geht Sprechen und Schreiben im Begriff der Grammatike zu-
sammen.) Die Ausdehnung des Textbegriffes ist vielmehr hermeneutisch
wohlbegründet. Ob mündlich oder schriftlich, in jedem Falle bleibt das
Textverständnis von kommunikativen Bedingungen abhängig, die als sol-
che über den bloßen fixierten Sinngehalt des Gesagten hinausreichen. Man
kann geradezu sagen: Daß man überhaupt auf den Wortlaut bzw. auf den
Text als solchen zurückgreift, muß immer durch die Besonderheit der
Verständigungssituation motiviert sein.
Das läßt sich am heutigen Sprachgebrauch des Wortes )Text< ebenso
Text und Interpretation 343
der Formulierung schließt: »Der Begriff des ursprünglichen Lesers steckt voller undurch-
schauter Idealisierung ('.
344 Weiterent"\vicklungel1
wie ein schriftlich fixierter Satz eigentlich artikuliert werden muß. Der
treffliche spanische Brauch, den Fragesatz durch zwei Fragezeichen einzu-
rahmen, macht diese Grundabsicht in überzeugender Weise sichtbar: Schon
beim Beginn des Lesens weiß man dadurch, wie man die betreffende Phrase
zu artikulieren hat. Die Entbehrlichkeit solcher Interpunktionshilfen, die es
in vielen alten Kulturen überhaupt nicht gab, bestätigt andererseits, wie
allein durch den fixierten Text Verständnis immerhin möglich ist. Die bloße
Aneinanderreihung der Schriftzeichen ohne Interpunktion stellt gleichsam
die kommunikative Abstraktion im Extrem dar.
Nun gibt es ohne Zweifel viele Formen des kommunikativen sprachlichen
Verhaltens, die dieser Finalität zu unterwerfen nicht möglich ist. Das sind
insofern Texte, als man sie selbstverständlich als Texte ansehen kann, wenn
sie von ihrem Adressaten abgelöst begegnen - etwa in literarischer Darstel-
lung. Aber im kommunikativen Geschehen selber setzen sie der Textierung
Widerstand entgegen. Ich möchte drei Formen derselben unterscheiden, um
auf ihrem Hintergrunde den in eminenter Weise der Textierung zugängli-
chen, nein: in Textgestalt seine eigentliche Bestimmung erfüllenden Text zur
Abhebung zu bringen. Diese drei Formen sind die Antitexte, die Pseudotexte
und die Pratexte. Als Antitexte bezeichne ich solche Formen des Redens, die
sich der Textierung widersetzen, weil in ihnen die Vollzugs situation des
Miteinandersprechens dominant ist. Dazu gehört z. B. jede Art von Scherz.
Daß wir etwas nicht ernst meinen und erwarten, daß es als Scherz verstanden
wird, hat sicherlich im Kommunkationsgeschehen seinen Ort und findet
dort auch seine Signalisierung: Im Tonfall oder in der begleitenden Gestik
oder in der gesellschaftlichen Situation oder wie immer. Es ist aber deutlich,
daß es nicht möglich ist, eine solche scherzhafte Bemerkung des Augen-
blicks zu wiederholen. - Ähnliches gilt von einer anderen, geradezu klassi-
schen Form gegenseitiger Verständigung, nämlich der Ironie. I-lier ist die
klare gesellschaftliche Voraussetzung die gemeinsame Vorverständigung,
die der Gebrauch von Ironie voraussetzt. Wer das Gegenteil dessen sagt, was
er meint, aber sicher sein kann, daß das Gemeinte dabei verstanden wird,
befindet sich in einer funktionierenden Verständigungssituation. Wieweit
solche >Verstellung<, die keine ist, auch auf schriftlichem Wege möglich ist,
hängt von dem Grade der kommunikativen Vorverständigung und des
beherrschenden Einverständnisses ab. So kennen wir den Gebrauch der
Ironie z. B. in der früheren aristokratischen Gesellschaft, und dort gewiß
auch bruchlos im Übergang in die Schriftlichkeit. In diesen Zusammenhang
gehört auch der Gebrauch von klassischen Zitaten, oft in verballhornter
Form. Auch damit wird auf eine gesellschaftliche Solidarität, in diesem Falle
die überlegene Beherrschung VOn Bildungsvoraussetzungen, also auf ein
Klasseninteresse und seine Bestätigung, abgezielt. Wo aber die Verhältnisse
dieser Verständigungsbedingungen nicht ebenso k1ar sind, ist die Übertra-
348 Weiterentwicklungen
ne, die das Beunruhigende der Traumerfahrung durch ihre Deutung auflö-
sten. Vielmehr ist es die totale Gestörtheit des auf Einverständnis beruhen-
den Verständigungsgeschehens, die wir Neurose nennen, die den Rückgang
hinter das )Gemeintc{ und die Interpretation des Vorwandes Inotiviert.
Auch die außer halb der spezifischen neurotischen Störung bekannte Psy-
chopathologie des Alltagslebens ist von der gleichen Struktur. Da werden
Fehlhandlungen durch Rückgang auf unbewußte Regungen zu plötzlicher
Verständlichkeit gebracht. Hier wiederholt sich die Motivation des Rück-
ganges auf das Unbc\vußte wiederum aus der Inkonsistenz, cl. h. der Unbe-
greiflichkeit der Fehlhandlung. Durch die Aufklärung wird dieselbe begreif-
lich und verliert das Irritierende, das sie an sich hat.
Der Zusammenhang zwischen Text und Interpretation, der das Thema
dieser Studie darstellt, zeigt sich also hier in einer besonderen Form, die
Ricoeur die Hermeneutik des Mißtrauens (hermeneutics oJ suspicion) nennt. Es
ist ein Irrtum, diese Fälle verzerrter Verständlichkeit als den Normalfalldes
Textverstehens zu privilegieren. 96
Nun gilt diese ganze bisherige Betrachtung dem Ziel zu zeigen, daß der
Zusammenhang zwischen Text und Interpretation sich grundsätzlich än-
dert, wenn es sich um sogenannte >literarische Texte< handelt. In allen
bisherigen Fällen, in denen sich die Motivation zur Interpretation ergab und
sich etwas im kommunikativen Prozeß als Text konstituierte, war die Inter-
pretation, wie der sogenannte Text selber, in das Geschehen der Verständi-
gung eingeordnet. Das entsprach dem wörtlichen Sinne des Ausdrucks inter-
pres, der den meint, der dazwischenredet und daher zunächst die Urfunktion
des Dolmetschers, der zwischen Sprechern verschiedener Sprachen steht
und durch sein Dazwischenreden die Getrennten zusammenbringt. Wie in
solchem Falle die Barriere der fremden Sprache überwunden wird, so bedarf
es dessen auch, wenn in der gleichen Sprache Störungen bei der Verständi-
gung auftreten, wobei die Identität der Aussage im Rückgang auf sie, und
das heißt potentiell in ihrer Behandlung als Text, begegnet.
Das Befremdende, das einen Text unverständlich macht, soll durch den
Interpreten aufgehoben werden. Der Interpret redet dazwischen, wenn der
Text (die Rede) seine Bestimmung, gehört und verstanden zu werden, nicht
zu erftillen vermag. Der Interpret hat keine andere Funktion als die, in der
Erzielung der Verständigung ganz zu verschwinden. Die Rede des Interpre-
ten ist daher nicht ein Text, sondern dient einem Text. Das heißt aber nicht,
daß der Beitrag des Interpreten in der Weise, den Text zu hören, ganz
verschwunden wäre. Er ist nur nicht thematisch, nicht als Text gegen-
ständlich, sondern in den Text eingegangen. Damit wird das Verhältnis
von Text und Interpretation in größter Allgemeinheit charakterisiert.
% [Vgl. inz"\vischcn vom Verf.: The Hermeneutics oE Suspicion, in: Hermeneutics,
Questions and Prospects (ed. G. Shapiro and A. Sica), Amherst 1984, S. 54-65.1
Text und Interpretation 351
97 rVgl. hierzu vor allem die in Ges. Werke Bd. 8 gesammelten Abhandlungen zur
Literaturtheorie].
352 Weiterentwicklungen
l~ßt? Beides ist offenbar untrennbar, und es v·:ird vonljeweiligen Anteil der
Spracherscheinung am Sinnganzen abhängen, wie sich die Anteile bemes-
sen, die den Raum von der Kunstprosa bis zur Poesie pure in verschiedener
Weise ausftilIen.
Wie kompliziert die Fügung der Rede zur Einheit und die Einfügung ihrer
Bausteine, d. h. der Worte, ist, wird am Extrem deutlich. Z. B. wenn sich
das Wort in seiner Polyvalenz zum selbständigen Sinnträger aufspreizt. So
etwas nennen wir ein J;J/ortspiel. Nun ist nicht zu leugnen: Oft nur als
Redesehmuck gebraucht, der den Geist des Sprechers glänzen läßt, aber der
Sinnintention der Rede völlig untergeordnet bleibt, kann das Wortspiel sich
zur Selbständigkeit aufsteigern. Das hat dann die Folge, daß die Sinninten-
tion der Rede als ganzer plötzlich ihre Eindeutigkeit verliert. Hinter der
Einheit der Klangerscheinung leuchtet dann die verborgene Einheit ver-
schiedenartiger, ja entgegengesetzter Bedeutungen auf. Hegel hat in sol-
chem Zusammenhang von dem dialektischen Instinkt der Sprache gespro-
chen, und Heraklit hat im Wortspiel einen der vorzüglichsten Zeugen seiner
Grundeinsicht erkannt, daß das Entgegengesetzte in Wahrheit ein und das-
selbe ist. Aber das ist philosophische Redeweise. Es handelt sich da um
Brechungen des natürlichen Bedeutungszuges von Rede, die rur das philo-
sophische Denken gerade deshalb produktiv sind, weil die Sprache auf diese
Weise genötigt wird, ihre unmittelbare Objektbedeutung aufzugeben und
gedanklichen Spiegelungen zur Erscheinung zu verhelfen. Wortspielhafte
Mehrdeutigkeiten stellen die dichteste Erscheinungsform des Spekulativen
dar, das sich in einander widersprechenden Urteilen expliziert. Die Dialek-
tik ist die Darstellung des Spekulativen, wie Hegel sagt.
Für den literarischen Text ist die Sache aber anders, und eben aus diesem
Grunde. Die Funktion des Wortspiels verträgt sich gerade nicht mit der
vielsagenden Vielstelligkeit des dichterischen Wortes. Die Mitbedeutungen,
die mit einer Hauptbedeutung mitschwingen, geben der Sprache zwar ihr
literarisches Volumen, aber dadurch, daß sie sich der Sinneinheit der Rede
unterordnen und andere Bedeutungen nur anklingen lassen, Wortspiele sind
nicht einfache Spiele der Vielstelligkeit oder Polyvalenz von Worten, aus der
die dichterische Rede sich bildet - in ihnen spielen sich vielmehr selbständige
Sinneinheiten gegeneinander aus. So zersprengt das Wortspiel die Einheit
der Rede und verlangt, in einem höheren reflektierten Sinnbezug verstanden
zu werden. Daher wird man selbst im Gebrauch von Wortspielen und
Wortwitzen, wenn sie sich zu sehr jagen, irritiert, weil sie die Einheit der
Rede zersetzen. Vollends wird sich in einem Lied oder einem lyrischen
Gedichte, also überall, \\'o die melodische Figuration der Sprache vorwiegt,
der Sprengsatz des Wortspieles schwerlich als wirksam erweisen. Natürlich
ist es etwas anderes im Falle der dramatischen Rede, wo das Gegeneinander
die Szene beherrscht. Man denke an die Stichomythie oder an die Selbstzer-
Text und Interpretation 355
störung des Helden, die sich im Wortspiel mit dem eigenen Namen bekun-
det. 9 /l Wieder anders ist es, wo dichterische Rede weder den fluß des Erzäh-
lens noch das Strömen des Gesanges noch dramatische Darstellung bildet,
sondern sich bewußt im Spiel der Reflexion ergeht, zu deren Spiegelungs-
spielen das Aufsprengen von Redeerwartungen geradezu gehört. So kann in
sehr reflektierter Lyrik das Wortspiel eine produktive Funktion überneh-
men. Man denke etwa an die hermetische Lyrik von Paul Celan. Doch muß
man sich auch hier fragen, ob sich nicht der Weg solcher reflexiven Aufla-
dung von Worten am Ende im Ungangbaren verlieren muß. Es fallt doch
auf, daß etwa Mal1arme Wortspiele vvohl in Prosaentwürfen, wie in IRitur,
verwendet, aber wo es sich um den vollen Klangkörper dichterischer Gebil-
de handelt, kaum mit den Worten spielt. Die Verse von Salut sind gewiß
vielschichtig und erfullen Sinnerwartung auf so verschiedenen Ebenen wie
der eines Trinkspruchs und einer Lebensbilanz, zvvischen dem Schaum des
Champagners im Glase und der Wellenspur schwebend, die das Lebensschiff
zieht. Aber beide Sinndimensionen lassen sich in der gleichen Einheit von
Rede als die gleiche melodische Sprachgebärde vollziehen. 99
Eine ähnliche Betrachtung hat auch der .j\1etapher zu gelten. Sie ist im
Gedicht so sehr in das Spiel der Klänge, Wortsinne und Redesinn cingebun-
98 [Vgl. M. Warburg, Zwei Fragen zum )Kratylosc (Neue philologische Untersuchun-
gen 5) Berlin1929.]
99 {Das Sonett von Mallarme, dem ich eine kunstlose deutsche Parapharase zur Seite
stelle, lamet:
Salut Gruß
Rien, cette ecume, vierge vers Nichts, dieser Schaum, unschuldiger Vers
A ne designer gue la coupe; Grad nur den Rand des Kelches zu zeichnen;
TeIle loin se noie une troupe In weiter Ferne taucht eine Schar
De sin::nes maintc .1l'envers. Von Sirenen, meist abgewandt.
Nous naviguons, ö mes divers Wir fahren dahin, meine so ungleichcn
Amis, moi dej.1 sm la poupe Freunde - ich schon am Heck
Vous l' avant fastueux gui coupe Ihr vom am stolzen Bug, der schneidet
Le flot de foudres et d'hivers; Die Flut der Schläge und der Stürme.
Une ivresse belle m 'engage Eine schöne Berauschtheit läßt mich
Sans craindre meme son tangage Ohne selbst ihr Schwanken zu scheuen
De porter debout ce salm Stehend zu entbieten als Gruß
Solitude, fC!cif, etoile Einsamkeit, Klippe, Stern
A n'importe cc gui valut Mag sein was immer es sei
Le blanc souci de notre toile. Wohin der Sorge blankes Segel uns fuhrt.
P. Forget, der Herausgeber von Text und Interpretation, München 1984, zitiert S. 50 dazu
U.Japp, Hermeneutik, München 1977, S.80ff. Dort sind drei Ebenen geschieden (in
Anlehnung an Rastier); da wird die )gesättigte Analyse( auf die Spitze getrieben, salut nicht
mehr als Gruß, sondern auch als Rettung verstanden (r€eiß!) und die weiße Sorge als Papier,
was nirgends im Text begegnet, auch nicht im selbstbezüglichen vierge vers. Das ist
Methode ohne Wahrheit.]
356 Weiterentwicklungen
den, daß sie als Metapher gar nicht zur Abhebung kommt. Denn hier fehlt
die Prosa der gewöhnlichen Rede überhaupt. Selbst in dicherischer Prosa hat
daher die Metapher kaum eine Funktion. Sie verschwindet gleichsam in der
Weckung der geistigen Anschauung, der sie dient. Das eigentliche Herr-
schafts gebiet der Metapher ist vielmehr die Rhetorik. In ihr genießt man die
Metapher als Metapher. In der Poetik verdient die Theorie der Metapher so
wenig einen Ehrenplatz, wie die des Wortspiels.
Der Exkurs lehrt, wie vielschichtig und wie differenziert das Zusammen-
spiel von Laut und Sinn in Rede wie in Schrift ist, wenn es sich um Literatur
handelt. Man fragt sich, wie überhaupt die Zwischenrede des Interpreten in
den Vollzug dichterischer Texte zurückgenommen werden kann. Die Beant-
wartung dieser Frage kann nur eine sehr radikale sein. Im Unterschied zu
anderen Texten ist der literarische Text nicht von dem Dazwischenreden des
Interpreten unterbrochen, sondern von seinem beständigen A1itreden beglei-
tet. Das läßt sich an der Struktur der Zeitlichkeit, die aller Rede zukomint,
zur Ausweisung bringen. Allerdings sind die Zeitkategorien, die wir im
Zusammenhang mit Rede und mit sprachlicher Kunst gebrauchen, von
eigentümlicher Schwierigkeit. Man redet da von Präsenz und, wie ich es
oben tat, sogar von Selbstpräsentation des dichterischen Wortes. Es ist aber
ein Trugschluß, wenn man solche Präsenz von der Sprache der Aletaphysik aus als
die Gegenwärtigkeit des Vorhandenen oder vom Begriff der Objektivierbarkeit aus
verstehen will. Das ist nicht die Gegenwärtigkeit, die dem literarischen Werk
zukommtjja j sie kommt überhaupt keinem Text zu. Sprache und Schrift beste-
hen immer in ihrer Venvcisung. Sie sind nicht, sondern sie meinen, und das
gilt auch dann noch, wenn das Gemeinte nirgendwo sonst ist als in dem
erscheinenden Wort. Dichterische Rede ist nur im Vollzug des Sprechens
bzw. des Lesens selbst vollzogen, und d. h., sie ist nicht da, ohne verstanden
zu sem.
Die Zeitstruktur des Sprechens und des Lesens stellt ein weithin uner-
forschtes Problemgebiet dar. Daß das reine Schema der Sukzession auf
Sprechen und Lesen nicht anzuwenden ist, wird einem sofort kar, wenn man
sieht, daß damit nicht das Lesen, sondern das Buchstabieren beschrieben ist.
Wer beim Lesenwollen buchstabieren muß, kann gerade nicht lesen. Ähnli-
ches wie beim stillen Lesen gilt vom lauten Vorlesen. Gut vorlesen heißt, das
Zusammenspiel von Bedeutung und Klang dem anderen so vermitteln, daß
er es ftir sich und in sich erneuert. Man liest jemandem vor, und das heißt,
daß man sich an ihn wendet. Er gehört dazu. Vorsprechen wie Vorlesen
bleibt >dialogisch<. Sogar das laute Lesen, bei dem man sich selbst etwas
vorliest, bleibt dialogisch, sofern es die Klangerscheinung und die Sinnerfas-
sung möglichst in Einklang bringen muß.
Die Kunst der Rezitation ist nichts grundsätzlich Anderes. Es bedarf nur
besonderer Kunst, sofern die Zuhörer eine anonyme Menge sind und der
Text und Interpretation 357
100 ,Shakespeare und kein Ende< in: Johann Wolfgang Gocthe. Sämtliche Werke, Arte-
~--
358 Weiterentwicklungen
dichterischen Text ist das ebenso wie beim künstlerischen Bild. Sinnbezüge
werden - wenn auch vielleicht vage und fragmentarisch - erkannt. Aber in
beiden Fällen ist der Abbildbezug auf das Wirkliche suspendiert. Der Text
bleibt mit seinem Sinnbezug das einZig Präsente. Wenn wir literarische Texte
sprechen oder lesen, werden \-vir daher auf die Sinn- und Klangrelationen
zurückgeworfen, die das GefUge des Ganzen artikulieren, und das nicht nur
einmal, sondern immer wieder. Wir blättern gleichsam zurück, fangen neu
an, lesen neu, entdecken neue Sinnbezüge, und was am Ende steht, ist nicht
das sichere Bewußtsein, die Sache nun verstanden zu haben, mit dem man
sonst einen Text hinter sich läßt. Es ist umgekehrt. Man kommt immer tiefer
hinein, je mehr Bezüge von Sinn und Klang einem ins Bewußtsein treten.
Wir lassen den Text nicht hinter uns, sondern lassen uns in ihn eingehen. Wir
sind dann in ihm darin, so wie jeder, der spricht, in den Worten, die er sagt,
darin ist und sie nicht in einer Distanz hält, wic sie ftir den gilt, der Werkzeu-
ge an\vendet, sie nimmt und weglcgt. Die Rede vom Anwenden v'on
Worten ist daher seltsam schief. Sie trifft nicht das wirkliche Sprechen,
sondern behandelt Sprechen mehr wie den Gebrauch des Lexikons einer
fremden Sprache. So muß man grundsätzlich die Rede von Regel und
Vorschrift einschränken, wenn es sich um wirkliches Sprechen handelt. Das
gilt aber erst recht vom literarischen Text. Er ist ja nicht deshalb richtig, weil
er das sagt, was ein jeder sagen würde, sondern hat eine neue, einzigartige
Richtigkeit, die ihn als ein Kunstwerk auszeichnet. Jedes Wort ,sitzt< , so daß
es fast unersetzbar scheint und in gewissem Grade wirklich unersetzbar
ist.
Es war Dilthey, der in Fortentwicklung des romantischen Idealismus hier
die ersten Orientierungen gegeben hat. In Abwehr des zeitgenössischen
Monopolismus des Kausaldenkens sprach er statt von dem Zusammenhang
von Ursache und Wirkung vom Wirkungszusammenhat1~, also von einem
Zusammenhang, der zwischen den Wirkungen selber (unbeschadet dessen,
daß sie alle ihre Ursachen haben) besteht. Er hat daftir den später zu Ehren
gekommenen Begriff )Struktur< eingeführt und hat gezeigt, wie das Verste-
hen von Strukturen notwendig zirkuläre Form hat. Ausgehend vom musi-
kalischen Hören, ftir das die absolute Musik durch ihre extreme Begriffslo-
sigkeit ein Paradebeispiel ist, weil sie alle Abbildtheorie ausschließt, hat er
von Konzentrierung in einem Mittelpunkt gesprochen und die Temporal-
struktur des Verstehens zum Thema gemacht. In der Ästhetik spricht manin
ähnlichem Sinne, sowohl bei einem literarischen Text wie bei einem Bilde,
von )Gebilde<. In der unbestimmten Bedeutung von >Gebilde< liegt, daß
etvvas nicht auf sein vorgeplantes Fertigsein hin verstanden wird, sondern
daß es sich gleichsam von innen heraus zu einer eigenen Gestalt herausgebil-
det hat und vielleicht in weiterer Bildung begriffen ist. Es leuchtet ein, daß es
eine eigene Aufgabe ist, dergleichen zu verstehen. Die Aufgabe ist, das, was
Text und Interpretation 359
ein Gebilde ist, in sich aufzubauen, etwas, was nicht Ikonstruiert, ist, zu
konstruieren - und das schließt ein, daß alle Konstruktionsversuche wieder
zurückgenommen \\'erden. Während die Einheit von Verstehen und Lesen
sich sonst in verständnisvollem Lesen vollzieht und dabei die sprachliche
Erscheinung ganz hinter sich läßt, redet beim literarischen Text ständig
etwas mit, das 'i-vechsclnde Sinn- und Klangbezüge präsent macht. Es ist die
Zeitstruktur der Bewegtheit, die wir das Verweilen nennen, die solche
Präsenz ausftillt und in die alle Zwischenrede der Interpretation einzugehen
hat. Ohne die Bereitschaft des Aufnehmenden, ganz Ohr zu sein, spricht
kein dichterischer Text.
Zum Abschluß mag ein berühmtes Beispiel Zur Illustration dienen. Es ist
der Schluß des Gedichtes von Mörike Auf eine Lampe. >01 Der Vers lautet:
») Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst. <i
Der Vers war Gegenstand einer Diskussion zwischen Emil Staiger und
Martin Heidegger. Er interessiert hier nur als ein exemplarischer Fall. In
diesem Verse begegnet eine Wort gruppe von anscheind trivialster Alltäg-
lichkeit: >scheint es<. Das kann man wie >anscheinend<, >dokei" >videtur<, )il
semble<, ~it seems<, >pare< usw. verstehen. Dieses prosaische Verständnis der
Wendung gibt Sinn und fand deshalb seinen Verteidiger. Nun kann man aber
sehen: es erftillt nicht das Gesetz des Verses. Es läßt sich zeigen, warum
)scheint es< hier )es leuchtet<, )splendet( meint. Da ist zunächst ein hermeneu-
tisches Prinzip anwendbar. Bei Anstößen entscheidet der größere Zusam-
menhang. Jede Doppelmöglichkeit des Verstehens ist aber ein Anstoß. Da ist
es nun von entscheidender Evidenz, daß das Schöne hier auf eine Lampe
angewendet wird. Das ist die Aussage des Gedichtes als eines Ganzen, die
man durchaus verstehen soll. Eine Lampe, die nicht leuchtet, weil sie altmo-
disch und vergangen in einem >Lustgemachi hängt ()wer achtet sein?<),
gewinnt hier ihren eigenen Glanz, weil sie ein Kunsl\verk ist. Es ist kein
t01 Mörikes Gedicht lautet:
Noch unverrückt, 0 schöne Lampe, schmückest du,
An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier,
Die Decke des nun fast vergeßnen Lustgemachs.
Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand
Der Efeukranz von golden grünem Erz umflicht,
Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn.
Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist
Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form-
Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein?
Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.
Die Auseinandersetzung zwischen Emil Staiger und Martin Heideggcr, auf die der
Fortgang anspielt, ist dokumentiert in: Emil Staiger, Die Kunst der Interpretation, dtv
Wissenschaftliche Reihe 4078 (1971, Lizenzausgabe des Atlantis Verlages, Zürich und
Freiburg i. Br. 1955), 5.28-42.
Zweifel. daß das Scheinen hier von der Lampe gesagt wird, die leuchtet,
auch wenn sie niemand gebraucht.
Leo Spitzer hat in einem hochgelehrten Beitrag zu dieser Diskussion die
literarische Gattung solcher Dinggedichte näher beschrieben und ihren lite-
raturgeschichtlichen Ort überzeugend angegeben. Heidegger hat seinerseits
mit Recht den Hegriffszusammenhang von )schön< und )scheinen< geltend
gemacht, der in Hegels berühmter Wendung vom sinnlichen Scheinen der
Idee anklingt. Aber es gibt auch immanente Gründe. Gerade aus dem
Zusammenwirken von Klang und Bedeutung der Worte folgt eine weitere
klare Entscheidungsinstanz. Wie in diesem Verse die S-Laute ein festes
Gewebe bilden (»was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst«) oder wie
die metrische Modulation des Verses die melodische Einheit der Phrase
konstituiert (ein metrischer Akzent liegt auf schön, selig, scheint, in, selbst),
ist ftir eine reflexive lrruption kein Platz, wie sie ein prosaisches )scheint es,
darstellen würde. Sie würde vielmehr den Einbruch kolloquialer Prosa in die
Sprache eines Gedichtes bedeuten, eine Beirrung des dichterischen Vers te-
hens, die uns allen immer droht. Denn im allgemeinen sprechen wir Prosa,
wie Molieres Monsieur Jourdain zu seiner Überraschung erfahrt. Eben das
hat die Gegenwartsdichtung zu extremen hermetischen Stilformen geftihrt,
den Einbruch der Prosa fernzuhalten. Hier, in Mörikes Gedicht, liegt solche
Beirrung nicht einmal ganz fern. Manchmal nähert sich die Sprache dieses
Gedichtes der Prosa (»wer achtet sein'«). Nun gibt aber die Stellung des
Verses im Ganzen, nämlich, daß er der Schluß des Gedichtes ist, demselben
ein besonderes gnomisches Gewicht. Und in der Tat, das Gedicht illustriert
durch seine eigene Aussage, warum das Gold dieses Verses keine Anweisung
ist, wie eine Banknote oder eine Information, sondern seinen eigenen Wert
selbst hat. Das Scheinen wird nicht nur verstanden, sondern es strahlt über
das Ganze der Erscheinung dieser Lampe, die in einem vergessenen Gema-
che unbeachtet hängt und nirgends mehr scheint als in diesen Versen. Das
innere Ohr hört hier die Entsprechungen von )schön< und )selig, und >schei-
nen( und >selbst( - und vollends läßt das >selbst(, mit dem der Rhythmus
endet und verstummt, die verstummte Bewegung in unserem inneren Ohr
nachhallen. Es läßt in unserem inneren Auge das stille Sich-Verströmen des
Lichtes erscheinen, das wir )scheinen< nennen. So versteht unser Verstand
nicht nur, was da über das Schöne gesagt wird und was die Autonomie des
Kunstwerkes ausspricht, das von keinem Gebrauchszusammenhang ab-
hängt - unser Ohr hört und unser Verständnis vernimmt den Schein des
Schönen als sein "vahres Wesen. Der Interpret, der seine Gründe beibrachte,
verschwindet, und der Text spricht.
25. Destruktion und Dekonstruktion
1985
Als Heidegger das Thema des Verstehens von einer Methodenlehre der
Geisteswissenschaften zum Existenzial und Fundament einer Ontologie des
Daseins erhob, stellte die hermeneutische Dimension nicht länger eine hö-
herstufige Schicht der phänomenlogischen Intentionalitätsforschung dar,
die in der leibhaftigen Wahrnehmung fundiert ist, sondern brachte auf
europäischem Boden und in der Forschungsrichtung der Phänomenologie
das zum Durchbruch, was als der )linguistic turn, in der angelsächsischen
Logik fast gleichzeitig zum Zuge gelangte. In der ursprünglichen Husserl-
Schelerschen Entfaltung der phänomenlogischen Forschung war trotz aller
Wendung zur Lebenswelt die Sprache ganz verschattet geblieben.
In der Phänomenologie hatte sich die abgründige Sprachvergessenheit
wiederholt, die bereits den transzendentalen Idealismus kennzeichnete und
die durch die unglückliche Kritik Herders an der kantischen transzendenta-
len Wendung beglaubigt schien. Selbst in der HegeIschen Dialektik und
Logik fand die Sprache keinen ausgezeichneten Platz. Auf der anderen Seite
wies Hegel gelegentlich auf den logischen Instinkt der Sprache hin, dessen
spekulative Antizipation des Absoluten dem genialen Werk der Hegelsehcn
Logik seine Aufgabe stellte. Tatsächlich war nach Kants rokokohaft-zierli-
eher Eindeutschung der Sehulsprache der Metaphysik der Beitrag Hegels
zur Sprache der Philosophie von unverkennbarer Bedeutung. Er erinnerte
formlich an die sprach- und begriffs bildende Energie des Aristotcles und
kam diesem größten Vorbild auch insofern am nächsten, als er in die Sprache
des Begriffs viel vom Geiste seiner Muttersprache hinüber zu retten ver-
mochte. Dieser Umstand hat freilich rur ihn die Schranke der Unübersetz-
barkeit aufgerichtet, die über mehr als ein Jahrhundert unübersteigbar war
und bis heute ein schwer zu nehmendes Hindernis bildet. Aber eine Zentral-
stelJung hatte auch bei Hegel die Sprache nicht gewonnen.
In Heidegger wiederholte sich ein ähnlicher, ja sogar noch stärkerer
Ausbruch ursprünglicher Sprachkraft im Reiche des Gedankens. Dazu trat
sein bewußter Rückgriff auf die Ursprünglichkeit der griechischen Philo-
sophensprache. So wurde )Sprache< in der ganzen Anschauungskraft ihrer
lebensweltlichen Bodenständigkeit virulent und brach in die hochverfeiner-
362 Weiterenrwicklungen
)1)2 E. Cassirer, Die Philosophie der symbolischen Formen. Bd. I Die Sprache, Berlin
1923.
Destruktion und Dekonstruktion 363
rung des Seins, Zeugnisse jenes Ineinander von Entborgenheit und VerbeI-
gung, zu finden gemeint. In Anaximander glaubt er das Anwesen selbst und
die Weile seines Wesens zu finden, in Parmenides das schlaglose Herz der
Aletheia, bei Heraklit die Physis, die sich zu verbergen liebt. Aber am Ende
gilt all das zwar ftif den Wink der Worte, die ins Unzeitliche weisen, nicht
wirklich fur die Rede, das heißt die Selbstauslegung des Gemeinten, die in
den frühen Texten begegnet, Hcidegger konnte immer nur in dem Namen,
in der Nennkraft der Worte und ihren unausschreitbaren Irrgängen wie in
Goldadern seine eigene Vision des Seins wiedererkennen: Dies ,Sein< solltcja
nicht das Sein von Seiendem sein. Die Texte selber erwiesen sich immer
wieder nicht als das letzte Vorgebirge auf dem Wege zum Ausblick ins Freie
des Seins.
So war es sozusagen vorbestimmt, daß Heidegger auf diesem Wege seiner
Schürfgänge im Urgestein der Wörter der Endgestalt Nietzsches begegnete,
dessen Extremismus sich zur Sclbstzerstörung aller Metaphysik, aller Wahr-
heit und aller Erkenntnis von Wahrheit, vorgnvagt hatte. Freilich konnte
ihm Nietzsches eigene Begriffskunst nicht genügen, so sehr ihm dessen
Entzauberung der Dialektik - "Hegels und der anderen Schleiermacher« -
willkommen war und so sehr ihn die Vision der Philosophie im tragischen
Zeitalter der Griechen bestätigen mochte, in der Philosophie noch etwas
anderes zu sehen als jene Metaphysik einer wahren Welt hinter der scheinba-
ren. All das konnte ihm offenkundig nur eine kurze Weggenossenschaft mit
Nietzsehe bedeuten. )) So viele Jahrhunderte - und kein neuer Gott,(, war das
Motto seiner Nietzsche-Rezeption.
Aber was weiß Heidegger von einem neuen Gott? Ahnt er ihn und fehlt
ihm nur die Sprache, ihn anzurufen? Hält ihn zu sehr die Sprache der
Metaphysik in Bann? Sprache ist trotz all ihrer vorgreiflichen Unhintergeh-
barkeit nicht einfach die babylonische Gefangenschaft des Geistes. Ebenso
meint die babylonische Sprach verwirrung nicht nur, wie nach biblischer
Überlieferung, die Vielheit der Sprachfamilien und die Vielheit der Spra-
chen, die menschliche Hybris heraufgeftihrt hat. Sie umfaßt vielmehr das
Ganze der Fremdheit, die zwischen Mensch und Mensch sich auftut und
immer neue Verwirrung schafft. Aber darin ist auch die Möglichkeit ihrer
Überwindung eingeschlossen. Denn die Sprache ist Gespräch. Man muß das
Wort suchen und kann das Wort finden, das den anderen erreicht, man kann
sogar die fremde, seine, des Anderen Sprache lernen. Man kann in die
Sprache der Anderen übergehen, um den Anderen zu erreichen. All das
vermag Sprache als Sprache.
Freilich ist das Verbindende, das sich als die sich bildende Verständigungs-
sprache herstellt, wesens mäßig umwogt vom Gerede, dem Schein von
Rede, der in Wahrheit auch das Gespräch zum Tausch leerer Worte werden
läßt. Lacan hat mit Recht gesagt, daß das Wort, das nicht an einen anderen
Destruktion und Dekonstruktion 365
gerichtet ist, ein leeres Wort ist. Das eben macht den Primat des Gespräches
aus, das sich in Frage und Antwort entwickelt und so die gemeinsame
Sprache aufbaut. Eine bekannte Erfahrung im Gespräch von Menschen, die
zwei einander fremde Sprachen sprechen, jedoch die Sprache des anderen
halbwegs verstehen können, ist, daß man auf dieser Basis kein Gespräch
fUhren kann, sondern in Wahrheit einen langsamen Kampf durchficht, bis
die eine der beiden fremden Sprachen von beiden gesprochen wird, wenn
auch von dem einen noch so schlecht. Das ist eine Erfahrung, die jeder
machen kann. Darin liegt ein bedeutsamer Hinweis. Solches hat in Wahrheit
nicht nur zwischen Angehörigen fremder Sprachen stattgefunden, sondern
vollzieht sich ebenso in der wechselseitigen Anpassung der Partner injedem
Gespräch, das in derselben Sprache gefUhrt wird. Erst die Antwort, die
wirkliche oder die mögliche, macht ein Wort zu einem Wort.
In denselben Erfahrungsbereich gehört, daß alle Rhetorik, eben weil sie
keinen beständigen Austausch von Frage und Antwort, von Rede und
Gegenrede zuläßt, immer Einschläge leerer Worte enthält, die wir als flos-
keln oder ,bloße Redensarten< kennen. Ahnlieh geht es uns mit dem tatsäch-
lichen Vollzug des Verstehens beim Zuhören und ebenso im Vollzug des
Lesens. Da ist der Bedeutungsvollzug, wie insbesondere Husserl gezeigt
hat, von Leerintentionen durchsetzt.
Hier muß weiter nachgedacht werden, wenn man mit der Sprache der
Metaphysik einen Sinn verbinden will. Was damit gemeint sein kann, ist
gewiß nicht die Sprache, in der die Metaphysik erstmals entwickelt wurde,
die Philosophensprache der Griechen. Vielmehr ist damit gemeint, daß in
die lebenden Sprachen heutiger Sprachgemeinschaften begriffliche Prägun-
gen eingegangen sind, die aus dieser Ursprache der Metaphysik stammen.
Wir nennen das im wissenschaftlichen wie im philosophischen Sprachge-
brauch die Rolle der Terminologie. Während aber in den mathematischen
Naturwissenschaften - vor allem in den experimentellen - die Einftihrung
von Benennungen ein reiner Konventionsakt ist, der zur Bezeichnung allen
zugänglicher Sachverhalte dient und überhaupt kein echtes Bedeutungsver-
hältnis zwischen dem international eingeftihrten Terminus und den Sprach-
gewohnheiten der nationalen Sprachen ins Spiel bringt - wer denkt auch nur
bei >Volt< an den großen Forscher Volta? -, ist das im Falle der Philosophie
anders. Da gibt es keinen allgemeinzugänglichen, d. h. kontrollierbaren
Erfahrungsbereich, der durch verabredete Termini bezeichnet wird. Die
Begriffsworte, die im Bereich der Philosophie geprägt werden, sind viel-
mehr immer durch die jeweils gesprochene Sprache artikuliert, der sie
entstammen. Begriffsbildung bedeutet freilich auch dort, daß sich die Viel-
strahligkeit möglicher Bedeutung, die einem Worte zukommt, auf eine
genau bestimmt Bedeutung hin definiert. Aber solche Begriffs-Worte sind
niemals ganz herausgelöst aus dem Bedeutungsfcld, in dem sie ihre volle
366 Weiterentwicklungen
der Dialektik zurück zum Dialog und zurück zum Gespräch. Diesen Weg
habe ich selbst in meiner philosophischen Hermeneutik zu gehen versucht. Der
andere Weg ist vor allem der von Derrida gezeigte Weg der Dekonstruktion.
Hier soll gerade nicht in der Lebendigkeit des Gespräches verschollener Sinn
wiedererweckt werden. In dem hintergründigen Geflecht von Sinnbezügcll,
das allem Sprechen zugrundeliegt, also in einem ontologischen Begriff von
ecriture, - statt von Gerede oder Gespräch - soll vielmehr die Einheitlichkeit
von Sinn überhaupt aufgelöst und damit die eigentliche Brechung der Meta-
physik vollbracht werden.
Im Raum dieser Spannung ergeben sich die eigentümlichsten Ulnakzen-
tuierungen. In den Augen der hermeneutischen Philosophie überspringt
Heideggers Lehre von der Überwindung der Metaphysik mit ihrem Enden
in der totalen Seins vergessenheit der technologischen Ära den beständigen
Widerstand und die Beharrungskraft gefUgter Einheiten des Lebens, die in
den kleinen und großen Maßen des mitmenschlichen Miteinanderseins fort-
bestehen. In den Augen des Dekonstruktivismus dagegen läßt es Heidegger
im Gegenteil an der letzten Radikalität fehlen, wenn er nach dem Sinn von
Sein fragt und damit an einem Fragesinn festhält, von dem man zeigen
könne, daß ihm eine sinnvolle Antwort nicht entsprechen könne. Derrida
setzt der Frage nach dem Sinn von Sein die primäre Differenz entgegen und
sieht in Nietzsehe die radikalere Figur gegenüber dem metaphysisch-tempe-
rierten Anspruch des Heideggerschen Denkens. Er sieht Heidcgger noch
immer in der Linie des Logozentrismus, dem er das Gegenwort des immer
auseinandergezogenen und sich verschiebenden Sinnes entgegenstellt, der
alle Versammlung auf Einheit hin zersprengt und von ihm ecriture genannt
wird. Offenbar bezeichnet Nietzsehe hier den kritischen Punkt.
So werden sich fUr eine Gegenüberstellung und Abwägung der Aussich-
ten, die sich auf den beschriebenen bei den Wegen öffnen, die von der
Dialektik zurückfUhren, am Falle Nietzsches die Möglichkeiten diskutieren
lassen, die sich fUr ein Denken bieten, das die Metaphysik nicht länger
fortsetzen kann.
Wenn ich die Ausgangslage, von der aus Heidegger scinen Weg zurück
sucht, als Dialektik bezeichne, so geschieht das nicht nur aus dem äußerli-
chen Grunde, daß Hegcl seine säkulare Synthese des Erbes der Metaphysik
durch eine spekulative Dialektik zustande gebracht hat, die die ganze Wahr-
heit des griechischen Anfangs in sich zu versammeln beanspruchte. Viel-
mehr vor allem deswegen, weil Heidegger tatsächlich derjenige war, der
nicht innerhalb der Modifikationen und Perpetuierungen des Erbes der
Metaphysik verblieb, wie es der Marburger Neukantianismus und Husserls
neukantianische Überformung der Phänomenologie betrieben. Was er als
Überwindung der Metaphysik anstrebte, erschöpfte sich auch nicht in der
Protestgebärde, wie sie die Linkshegclianer und Männer wie Kierkegaard
Destruktion und Dekonstruktion 369
und Nietzsche darstellen. Er hat diese Aufgabe vielmehr mit der harten
Arbeit des Begriffs, die an Aristotelcs zu lernen war, in Angriff genommen.
Dialektik meint also in meinem Zusammenhang das weitgespannte Ganze
der abendländischen Tradition der Metaphysik, ebenso sehr )das Logische<
im Sprachgebrauch Hegels als auch den )Logos< im griechischen Denken,
der bereits die ersten Schritte der abendländischen Philosophie geprägt hat.
In diesem Sinne war Heideggers Versuch, die Seins frage zu erneuern oder
besser, sie erstmals in einen nicht-metaphysischen Sinne zu stellen, also das,
was er >den Schritt zurück< nannte, ein Rückweg von der Dialektik.
Auch die hermeneutische Wendung zum Gespräch, die ich versuchte, geht
im selben Sinne nicht nur hinter die Dialektik des deutschen Idealismus
zurück, und das heißt auf die platonische Dialektik, sondern zielt auch noch
hinter dieser sokratisch-dialogischen Wendung auf deren Voraussetzung,
und das ist die in den Logoi gesuchte und geweckte Anamnesis. Diese aus
dem Mythos geschöpfte, aber höchst rational gemeinte Wiedererinnerung
ist nicht nur die der einzelnen Seele, sondern immer die des }Geistes der uns
verbinden mag< - uns, die ein Gespräch sind. Im-Gespräch-Sein heißt aber
Über-sich-hinaus-Sein, mit dem Anderen denken und auf sich zurückkom-
men als auf einen anderen. Wenn Heidegger den metaphysischen Begriff des
Wesens nicht mehr als die Anwesenheit des Anwesenden denkt, sondern den
Ausdruck >Wesen( als ein Verbum, das heißt ein Zeitwort, und das heißt
>temporal< versteht, dann ist Wesen als An-Wesen verstanden, in einem
Sinne, der dem üblichen Ausdruck >Verwesen< antworten soll. Das heißt
aber, daß er, wie etwa in seinem Anaximander-Aufsatz, der ursprünglichen
griechischen Zeiterfahrung die> Weile( unterlegt. Damit hinterfragt er in der
Tat die Metaphysik und ihren Horizont, wenn sie nach dem Sein fragt.
Heidegger hat selbst daran erinnert, daß der von Sartre zitierte Satz >Das
Wesen des Daseins ist seine Existenz( mißbraucht wird, wenn man nicht
beachtet, daß der Ausdruck Wesen in Anflihrungszeichen gesetzt ist. Es
handelt sich also gerade nicht um den Begriff der >Essenz<, die als> Wesen< der
Existenz, der Tatsache, vorausgehen soll, aber ebensowenig um die Sartre-
sehe Umkehrung dieses Verhältnisses, so daß die Existenz der Essenz vor-
ausginge. Nun meine ich, daß Heidegger, wenn er nach dem Sinn von Sein
fragt. auch }Sinn< durchaus nicht im Sinne der Metaphysik und ihres We-
sens begriffs denkt, sondern als den Fragesinn, der nicht einer bestimmten
Antwort gewärtig ist, sondern in eine Wegrichtung des Fragens weist.
>Sinn ist Richtungssinn< habe ich einmal gesagt, und Heidegger hat zeit-
weise sogar einen orthographischen Archaismus eingeftihrt, indem er den
Ausdruck >Sein< als >Seyn< schrieb, um den Charakter eines Zeitwortes zu
unterstreichen. Ähnlich ist mein Versuch zu sehen, die Erblast der Suhstanz-
Ontologie dadurch abzuschütteln, daß ich vom Gespräch und von der in
ihm gesuchten und sich bildenden gemeinsamen Sprache ausgehe, in der
370 Weiterent'.vicklungcn
sich die Logik von Frage und Antwort als das Bestimmende erweist. Sie
öffnet eine Dimension der Verständigung, die über sprachlich fixierte Aus-
sagen hinausgeht und damit auch über die allumfassende Synthese im Sinne
des monologischen Selbstverständnisses der Dialektik. Nun hat gewiß auch
die idealistisclie Dialektik ilire Herkunft aus der spekulativen Grundstruktur
der Sprache, wie ich sie im dritten Teil von }Wahrheit und Methode< entwik-
kelt liabe, niclit ganz verleugnet. Aber wenn Hegel die Dialektik einem
Begriff von Wissenschaft und Methode zuordnet, verdeckt er in Wahrheit
ilire eigene Herkunft, ihren Ursprung in der Sprache. So hat die philo-
sophische Hermeneutik den Bezug auf die speku1ative Zwei-Einheit, die
zwischen Gesagtem und Ungesagtem spielt, im Auge, die in Wahrheit der
dialektischen Zuspitzung zum Widerspruch und seiner Aufbebung in einer
neuen Aussage vorausliegt. Es scheint mir ganz in die Irre zu führen, \-venn
man aus der Rolle, die ich der Überlieferung im Stellen von Fragen und im
Vorzeichnen von Antworten zuerkannte, ein Übersubjekt macht und dann,
wie Manfred Frank und Forget behaupten, die hermeneutische Erfahrung
auf eine parole vide reduzierte. Das findet in >Wahrheit und Methode( keine
Stütze. Wenn dort von Überlieferung und Gespräch mit ihr die Rede ist,
dann stellt dies kein kollektives Subjekt dar, sondern ist einfach der Sammel-
name für den jeweils einzelnen Text (und auch dies im weitesten Sinne von
Text, so daß ein Bildvverk, ein Bauwerk, ja selbst ein Naturgeschehen darin
befaßt ist).103 Der sokratische Dialog platonischer Gestaltung ist gewiß eine
sehr besondere Art von Gespräch, das von dem einen geführt wird und dem
der andere willig-unwillig zu folgen hat, aber insofern bleibt es doch das
Vorbild allen Gesprächsvollzugs, daß in ihm nicht die Worte, sondern die
Seele des anderen widerlegt vvird. Das sokratische Gespräch ist kein exoteri-
sches Einklcidungs- und Verkleidungsspiel ftir Besser-Gewußtes, sondern
der wahre Vollzug der Anamnesis, der denkenden Erinnerung, die der in die
Endlichkeit des Leiblichen gefallenen Seele allein möglich ist und die als
Gespräch sich vollzieht. Eben das ist der Sinn der spekulativen Einheit, die
sich in der Virtualität des Wortes vollbringt, daß es nicht ein einzelnes Wort
ist und auch nicht eine ausformulierte Aussage, sondern vielmehr über alles
Aussagbare hinaus\veist.
Die Fragedimension, in der wir uns hier be\vegen, hat also nichts mit
einem Code zu tun, um dessen Entzifferung es geht. Daß ein solcher
entzifferter Code allem Schreiben und Lesen von Text zugrundeliegt, ist
gewiß richtig, stellt aber eine bloße Vorbedingung ftir die hermeneutische
Bemühung um das dar, was in den Worten gesagt wird. Darin stimme ich
der Kritik am Strukturalismus durchaus zu. Ich gehe aber, wie mir scheint,
ment, sondern eine Erinnerung an das, was jedem Sprechenden und jedem
Denkenden geschieht, daß er seiner selbst nicht gewahr ist, gerade weil cr
>denkt<.
So mag Dcrridas Kritik an Hcidcggers Nietzschc-Interpretation - dessen
Interpretation mich in der Tat überzeugt hat - zur Illustration der offenen
Problematik, vor der wir uns befinden, dienen. Da steht auf der einen Seite
der verwirrende Facettenreichtum und das unaufhörliche Maskenspiel, in
dem sich Nietzsches kühne Dcnkvngnisse in eine ungreifbare Vielfaltigkeit
zu zerstreuen scheinen, und auf der anderen Seite die Frage an ihn, was das
Spiel dieses Wagnisses bedeutet. Nicht etwa, daß Nietzsehe selber die Ein-
heit in der Zerstreuung vor Augen gehabt hätte und den inneren Zusammen-
hang zwischen dem Grundprinzip des Willens zur Macht und der mittägli-
chen Botschaft von der ewigen Wiederkehr des Gleichen selber in Begriffe
gefaBt hätte. Aber wenn ich Heidegger recht verstehe, ist es gerade dies, .daß
Nietzsehe das nicht getan hat, so daß uns diese Metaphern seiner letzten
Visionen wie spiegelnde Facetten erscheinen, hinter denen kein Eines ist.
Das stelle die einheitliche Endstellung dar, in der sich die Frage nach dem
Sein selbst vergiBt und verliert. - So bedeute die technologische Ära, in der
sich der Nihilismus vollende, in der Tat die ewige Wiederkehr des Gleichen.
- Dies zu denken, Nietzsehe denkend aufzunehmen, scheint mir nicht eine
Art Rückfall in die Metaphysik und ihren ontologischen Vorgriff, der im
Begriff des Wesens gipfelt. Wäre das so, Heideggers Wege, die als nach
einem )Wesen< ganz anderer, temporaler Struktur unterwegs sind, würden
sich nicht immer wieder im Ungangbaren verlieren. Vol1ends das Gespräch,
das wir in unserem eigenen Denken weiterführen und das sich vielleicht in
unseren Tagen um neue große Partner aus einem sich planetarisch erweitern-
den Menschheitserbe bereichert, sollte überall seinen Partner suchen - und
insbesondere wenn er ein ganz anderer ist. Wer mir Dekonstruktion ans
Herz legt und auf Differenz bestelit, steht am Anfang eines Gespräches, niclit
an seinem Ziele.
V. Anhänge
26. Exkurse I-VI
1960
zu I. 43
Briefschreiber . Auchin solchem Ge brauch ist die Einhaltung des Stilcs fast das gleiche wicdie
der genera di[endi. Doch liegt die Übertragung auf alle Ausdruckshaltungen, natürlich im
normativen Sinne, nahe.
2 E. Panofsky, Idca, Anm. 244.
Wortes. Stil ist auch die individuelle Hand. die in den Werken des gleichen
Künstlers überall kenntlich ist. Dieser übertragene Gebrauch wurzelt wohl
schon in der antiken Übung, klassische Repräsentanten für bcstimnlte genera
dicendi zu kanonisieren. Begrifflich gesehen ist die Verwendung des Begriffes
Stil ftir den sogenannten Personalsti1 in der Tat eine konsequente Anwendung
der gleichen Bedeutung. Denn auch dieser Sinn von Stil bezeichnet eine
Einheitlichkeit in der Varietät der Werke, nämlich, wie sich die charakteristi-
sche Darstellungsweise eines Künstlers von der jedes anderen Künstlers
unterscheidet.
Das tritt auch in Goethes Wortgebrauch heraus, der ftir die Folgezeit
maßgeblich geworden ist. Goethes Begriff des Stiles wird aus der Abgren-
zung gegen den Begriff der Manier gewonnen und vereinigt offenbar beide
Seiten 4 • Ein Künstler bildet sich einen Stil, sofern er nicht mehr liebevoll
nachahmt, sondern zugleich sich selbst damit eine Sprache schafft. Obwohl er
sich an die gegebene Erscheinung bindet, ist dieselbe keine Fessel rur ihn - er
bringt dennoch sich sc1bst dabei zum Ausdruck. So selten die Übereinstim-
mung von >treuer Nachahmung< und individueller Manier (Auffassungswei-
se) auch ist, gerade sie macht den Stil aus. Es ist also ein normatives Moment
im Begriff des Stiles auch dort miteinbegriffen, wo es sich um den Stil einer
Person handelt. Die >Natun, das ,Wesen< der Dinge, bleibt die Grundfeste der
Erkenntnis und Kunst, von der sich der große Künstler nicht entfernen darf,
und durch diese Bindung an das Wesen der Dinge behält nach Goethe auch die
personelle Verwendung von >Stil< in klarer Weise einen normativen Sinn.
Man erkennt leicht das klassizistische Ideal. Goethes Sprachgebrauch ist
zugleich aber geeignet, den begrifflichen Inhalt zu verdeutlichen, den der
Begriff Stil stets besitzt. In keinem Falle ist Stil schon ein bloßer individueller
Ausdruck - immer ist ein Festes, Objektives damit gemeint, das die individu-
elle Ausdrucksgestaltung bindet. So erklärt sich auch die Anwendung, die
dieser Begriff als historische Kategorie gefunden hat. Denn als ein solches
Bindendes erweist sich dem historischen Rückblick gewiß auch derjeweilige
Zeitgeschmack, und insofern ist die An"vendung des Stilbegriffs auf die
Geschichte der Kunst eine natürliche Konsequenz des historischen Bewußt-
seins. Allerdings ist dabei der Sinn der ästhetischen Norm, die im Stilbegriff
ursprünglichlag (vero stile) , zugunsten seiner deskriptiven Funktion verloren-
gegangen.
Damit ist keineswegs entschieden, ob der Stilbegriffeine so ausschließliche
Geltung verdient, wie er sie innerhalb der Kunstgeschichte im allgemeinen
erlangt hat, - und ebensowenig, ob cr über die Kunstgeschichte hinaus auf
andere geschichtliche Erscheinungen, z. B. auf das politische Handeln, an-
wendbar ist.
Was zunächst die erste dieser Fragen betrifft, so scheint der historische
Stil begriff überall dort unzweifelhaft legitim, wo die Bindung an einen
herrschenden Geschmack den einzigen ästhetischen Maßstab darstellt. Er
gilt also in erster Linie für alle dekorativen Phänomene, deren eigenste
Bestimmung es ist, nicht fur sich, sondern an etwas zu sein und es in die
Einheit eines Lebenszusammenhanges einzuformen. Das Dekorative gehört
offenkundig als eine beiherspielende Qualität dem an, was eine andersartige
Bestimmung, nämlich einen Gebrauch hat.
Ob es dagegen legitim ist, den stilgeschichtlichen Gesichtspunkt auf sog.
freie Kunstwerke auszudehnen, kann man sich immerhin fragen. Nun hat-
ten wir uns bnvußt gemacht, daß auch ein sog. freies Kunstwerk seinen
ursprünglichen Platz in einem Lebenszusammenhange hat. Wer es verstehen
will, darf nicht beliebige Erlebniswerte ihm abgewinnen wollen, sondern
muß die richtige Einstellung, d. h. aber vor allem auch die historisch richtige
Einstellung, zu ihnen gewinnen.
Es gibt also in der Tat auch hier Stilforderungen, die nicht verletzt werden
dürfen. Aber das heißt nicht, daß ein Kunstwerk keine andere als eine
stilgeschichtliche Bedeutung besitzt. Darin hat Sedlmayr mit seiner Kritik
der Stilgeschichte ganz recht5 • Das klassifikatorische Interesse, das durch die
Stilgeschichte befriedigt wird, trifft nicht eigentlich das Künstlerische.
Gleichwohl behält der Stilbegriff auch rur die eigentliche Kunstwissenschaft
seine Bedeutung. Denn auch eine kunst\vissenschaftliche Strukturanalyse,
wie sie Sedlmayr fordert, muß selbstverständlich in dem, was sie die
richtige Einstellung nennt, den stil geschichtlichen Forderungen genügen.
Bei den Kunstarten, die einer Reproduktion bedürfen (Musik, Theater,
Tanz usw.), ist das ganz augenscheinlich. Die Wiedergabe muß stilgerecht
sein. Man muß wissen, was der Zeitstil und der persönliche Stil eines
Meisters verlangen. Dieses Wissen ist freilich nicht alles. Eine )historisch
getreue< Wiedergabe wäre keine echte künstlerische Reproduktionsleistung,
d. h. in ihr stellte sich nicht das Werk als Kunstwerk dar, sondern wäre
vielmehr, soweit derartiges überhaupt möglich ist, ein didaktisches Produkt
oder bloßes Material der Geschichtsforschung, wie es etwa auch die von
dem Meister selbst dirigierten Schallplattenaufnahmen einst sein werden.
Gleichwohl wird auch die lebendigste Erneuerung eines Werkes durch die
stilgeschichtliche Seite der Sache gewisse Einschränkungen erfahren, denen
sie nicht entgegenhandeln darf. Der Stil gehört in der Tat zu den ,Grundfe-
sten< der Kunst, zu den Bedingungen, die in der Sache liegen, und was so an
der Reproduktion heraustritt, das gilt offenbar für unser aufnehmendes
Verhalten zu aller Art von Kunst (die Reproduktion ist ja nichts als eine
5 [Vgl. lKunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichtec Ver-
II
zu I, 149
nahme derart verhüllen, daß auch der Scharfsinn earl Schmitts daran schei-
tern müßte. Der Dichter mußte ja, wenn er sein Publikum erreichen wollte,
ganz gewiß ebenso mit der Gegenpartei im Publikum rechnen. So ist es in
Wahrheit der Einbruch des Spiels in die Zeit, der sich hier vor uns darstellt.
Zweideutig wie das Spiel ist, kann es seine unvoraussehbare Wirkung erst im
Sichausspiclcn entfalten. Es ist seinem Wesen nach nicht geeignet, ein Instru-
ment maskierter Ziele zu sein, die man nur durchschauen müßte, um es
eindeutig zu verstehen. Es bleibt als Spiel in einer unauflösbaren Zweideu-
tigkeit. Die Okkasionalität, die in ihm liegt, ist nicht ein vorgegebener
Bezug, durch den alles erst seinen wahren Sinn bekommt, sondern umge-
kehrt ist es das Werk selbst, dessen Aussagekraft diese wie jede Gelegenheit
auszuftillen vermag.
So verfällt earl Schmitt m. E. einem falschen Historismus, wenn er etwa
das Offenlassen der Frage nach der Schuld der Königin politisch interpretiert
und darin ein Tabu sicht. In Wahrheit macht es die Wirklichkeit eines Spieles
aus, daß es um das eigentlich Thematische herum stets einen Hof des
Unbestimmten läßt. Ein Drama, in dem alles durch und durch motiviert ist,
knarrt wie eine Maschine. Das wäre eine falsche Wirklichkeit, wo das
Geschehen wie eine Rechnung aufgeht. Zum Spiel der Wirklichkeit wird es
vielmehr, wenn es den Zuschauer nicht alles, sondern nur ein wenig mehr
verstehen läßt, als er in dem Treiben und Getriebenwerden seiner Tage zu
verstehen pflegt. Je mehr dabei offenbleibt, desto freier gelingt das Verste-
hen, d. h. das Umsetzen des im Spiel Gezeigten in die eigene Welt und gewiß
auch in die eigene politische Erfahrungswelt.
Unabsehbar viel offenzulassen, scheint mit überhaupt das Wesen einer
fruchtbaren Fabel und gehört z.ll. allem Mythos zu. Gerade dank seiner
offenen Unbestimmtheit vermag der Mythos aus sich immer neue Erfin-
dung hervorgehen zu lassen, wobei der thenlatische Horizont sich immer
wieder in andere Richtung verschiebt. (Man denke etwa an die mannigfalti-
gen Versuche, die Faust-Fabel zu gestalten, von Marlowe bis zu Paul Valery.)
Sieht man nun im Offengclassenen politische Absicht, wie das earl
Schmitt tut, wenn er vom Tabu der Königin spricht, so verkennt man, was
Spiel eigentlich heißt, nämlich das SichausspieIcn durch Erproben von Mög-
lichkeiten. Das Sichau5spiclen des Spiels ist nicht in einer geschlossenen Welt
des ästhetischen Scheins beheimatet, sondern vollzieht sich als ein beständi-
ges Eingreifen in die Zeit. Die produktive Vieldeutigkeit, die das Wesen des
Kunstwerks ausmacht, ist nur ein anderer Ausdruck rur die Wesensbestim-
mung des Spiels, stets neu zum Ereignis zu werden. In diesem grundsätzli-
chen Sinne rückt das Verstehen der Geisteswissenschaften mit der unmittel-
baren Erfahrung des Kunstwerks aufs engste zusammen. Auch das Verste-
hen, das die Wissenschaft leistet, läßt die Sinndimension der Überlieferung
sich ausspielen und besteht in der Erprobung derselben. Gerade deshalb istes
Exkurse I-VI 381
III
zu 1,269
Auch Löwiths Auseinandersetzung mit Heideggers Nietzsche-Interpreta-
tion7 , die im einzelnen berechtigte Eirnvände erhebt, krankt im ganzen
daran, daß er, ohne es zu durchschauen, Nietzsches Ideal der Natürlichkeit
gegen das Prinzip der Idealbildung überhaupt ins Feld fuhrt. Was Heidegger
meint, wenn er mit bewußter Zuspitzung Nietzschc mit Aristotc1es in eine
Linie stellt - und d. h. rur ihn gerade nicht, daß er ihn auf denselben Punkt
stellt -, wird dadurch unverständlich gemacht. Umgekehrt wird Löwith
selbst durch diesen Kurzschluß zu der Absurdität verleitet, seinerseits Nietz-
sches Lehre von der ewigen Wiederkunft wie eine Art A.ristoteles redivivus zu
behandeln. Für Aristoteles war in der Tat der e\vige Kreisgang der Natur der
selbstverständliche Aspekt des Seins. Das sittliche und geschichtliche Leben
der Menschen bleibt bei ihm auf die Ordnung bezogen, die der Kosmos
vorbildlich darstellt. Davon ist bei Nietzsehe keine Rede.Er denkt vielmehr
das kosmische Kreisen des Seins ganz aus dem Gegensatz, den das menschli-
che Dasein zu ihm darstellt. Die ewige Wiederkehr des Gleichen hat ihren
Sinn als eine Lehre fur die Menschen, d. h. als eine ungeheuerliche Zumu-
tung rur den menschlichen Willen, die alle seine Illusionen von Zukunft und
Fortschritt vernichtet. Nietzsche also denkt die Lehre von der ewigen Wie-
derkunft, um den Menschen in seiner Willens spannung zu treffen. Die
Natur ist hier vom Menschen aus gedacht, als das, was von ihm nicht weiß.
Man kann nun nicht abermals, wie in einer neuerlichen Umkehrung, die
Natur gegen die Geschichte ausspielen wollen, wenn man die Einheit von
Nietzsches Denken verstehen will. Löwith selbst bleibt bei der Feststellung
des ungelösten Zwiespaltes in Nictzsche stehen. Muß man nicht angesichts
dieser Feststellung die weitergehende Frage stellen, wie ein solches Sich ver-
fangen in einer Sackgasse möglich war, d. h. wieso es rur Nietzsche selbst
kein Sich verfangen und kein Scheitern war, sondern die große Entdeckung
und Befreiung sein sollte? Auf diese weitergehende Frage findet der Leser bei
Löwith keine Antwort. Das ist es aber doch, was man verstehen, d. h. durch
eigenes Denken vollzieh bar machen möchte. Hcidegger hat das unternom-
men, d. h. er hat das Bezugssystem konstruiert, von dem aus sich Nietzsches
Aussagen zueinander ordnen. Daß dieses Bezugssystem bei Nietzsche selber
7 Im 3. Kap. von )Heidegger - Denker in dürftiger Zeitl, Frankfurt 1953. Vgl. auch
inzwischen die Neuauflage von Löwith, Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr
[undjetzt den Nietzsche-Band in seinen Sämtlichen Schriften, Stuttgart 1986]
382 Anhänge
N
zu I. 271
Gerade weil wir von der Sache in Anspruch genommen \verden, bedarf es
der hermeneutischen Anstrengung. Ohne daß man von der Sache in An-
spruch genommen ist, vermag man aber umgekehrt Überlieferung über-
haupt nicht zu verstehen, es sei denn in der totalen Sachindifferenz der
psychologischen oder historischen Interpretation, die dort eintritt, wo man
eben nicht mehr versteht.
v
zu 1,427
Es ist seltsam, daß ein so hoch verdienter Plotin-Forscher wie Richard Har-
der in dem letzten Vortrag, der ihm zu halten vergönnt war, den Begriff der
Quelle wegen seiner maturwissenschaftlichen Herkunft< kritisiert hat (Les
Sources de Plotin, Entretiens V, VII, Quelle oder Tradition?). So berechtigt
die Kritik an einer äußerlich betriebenen Quellenforschung ist - der Begriff
der Quelle hat eine bessere Legitimation. Als philosophische Metapher ist er
platonisch-neu platonischer Herkunft. Das Hervorquellen des reinen und
frischen Wassers aus einer unsichtbaren Tiefe ist dabei die Leitvorstellung.
Das zeigt u. a. die häufige Zusammenstellung pege kai arche (Phaidr. 245 e
sowie oft bei Philo und Plotin). - Als Terminus der Philologie wird der
Begriff des J0/15 wohl erst im Zeitalter des Humanismus eingeftihrt, meint
aber dort zunächst nicht den aus der Quellenforschung bekannten Begriff,
sondern versteht die Parole ad fon1e5, den Rückgang zu den Quellen, als
Hinwendung zu der ursprünglichen, unentsteIlten Wahrheit der klassischen
Autoren. 10 Auch darin bestätigt sich unsere Feststellung, daß die Philologie
in ihren Texten die Wahrheit meint, die in ihnen zu finden ist. - Der
Übergang des Begriffs in den uns geläufigen technischen Wortsinn dürfte
von der ursprünglichen Bedeutung insofern et\vas festhalten, als die Quelle
sich von der getrübten Wiedergabe oder der vernilschenden Aneignung
unterscheidet. Das erklärt im besonderen, daß man nur bei literarischer
Überlieferung den Begriff der Quelle kennt. Nur das sprachlich Überlieferte
gibt über das, ,"vas in ihm gelegen ist, immerwährenden und vollen Auf-
schluß, ist nicht bloß zu deuten, wie sonstige Dokumente und Überreste,
sondern gestattet unmittelbar aus der Quelle zu schöpfen bzw. an der Quelle
ihre späteren Derivationen zu messen. All das sind nicht naturwissenschaft-
liche, sondern sprachlich-geistige Bilder, die im Grunde bestätigen, was
10 [Ich verdanke E. Llcdo einen interessanten Beleg ftir das .ad fontes( aus dem spani-
Harder meint, daß nämlich Quellen durch ihre Benutzung durchaus nicht
trüb werden müssen. In der Quelle strömt immer frisches Wasser nach, und
so ist es auch mit den wahren geistigen Quellen in der Überlieferung. Ihr
Studium ist gerade deshalb so lohnend, weil sie immer noch etwas anderes
hergeben, als was man bisher aus ihnen entnommen hat.
VI
zu I, 341 und 471
exprimere) das den geistigen Ursprung von Rede und Schrift bezeichnet
(verbis exprimere). Es hat im Deutschen eine erste frühe Geschichte im
Sprachgebrauch der Mystik und weist damit auf neu platonische Begriffsbil-
dung zurück, die als solche noch zu erforschen wäre. Außerhalb des mysti-
schen Schrifttums kommt das Wort erst im 18. Jahrhundert recht in Aufnah-
mc. Damals erweitert es seine Bcdeutung und dringt gleichzeitg in die
ästhetische Theorie ein, wo es den Begriff der Nachahmung verdrängt.
Doch liegt die subjektivistische Wendung, daß der Ausdruck Ausdruck eines
Inneren, etwa eines Erlebnisses ist, auch damals noch fern ll . Beherrschend
ist der Gesichtspunkt der Mitteilung und Mitteilbarkeit, d. h. es geht datum,
den Ausdruck zu finden". Den Ausdruck finden, heißt aber, einen Ausdruck
finden, der einen Eindruck erzielen will, also keineswegs den Ausdruck im
Sinne des Erlebnisausdrucks. Das gilt insbesondere auch in der Terminolo-
11 Der dem Begriff der expressio im Denken der Scholastik entsprechende Gegenbegriff
ist vielmehr die impressio speciei. Allerdings macht es das Wesen derim verbum geschehen-
den expressio aus, daß sich darin, wie Nicolaus Cusanus wohl als erster ausspricht, die
mens manifestiert. So ist bei Nicolaus eine Wendung möglich, wie: das Wort sei expressio
exprimentis et expressi (Camp. eheo!. VII). Aber das meint nicht einen Ausdruck von
inneren Erlebnissen, sondern die reflexive Struktur des verbum: alles sichtbar zu machen
und sich selbst im Aussprechen auch - so wie das Licht alles und sich selbst sichtbar macht.
[Inzwischen ist der Artikel >Ausdruck< von Tonelli im Ritterschen Wörterbuch Bd. I, S.
653-655 erschienen. J
J2 Kant, KdU B 198
Exkurse I-VI 385
gie der Musik". Die musikalische Affektenlehre des 18. Jahrhunderts meint
nicht, daß man sich selbst in der Musik ausdrückt, sondern daß die Musik
etwas ausdrückt, nämlich Affekte, die ihrerseits Eindruck machen sollen.
Das gleiche fmden wir in der Asthetik bei Sulzer (1765): Ausdruck ist nicht
primär als Ausdruck der eigenen Empfindungen zu verstehen, sondern als
Ausdruck, der Empfindungen erregt.
Immerhin ist die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits weiter auf dem
Wege zur Subjektivierung des Ausdrucksbegriffs. Wenn Sulzer z. B. gegen
denjüngeren Riccoboni polemisiert, welcher die Kunst des Schauspielers im
Darstellen und nicht im Empfinden sieht, hält er die Echtheit des Empfin-
dens bei der ästhetischen Darstellung bereits flir erforderlich. So ergänzt er
auch das espressivo der Musik durch eine psychologische Substruktion des
Empfindens des Tonsetzers. Wir stehen also hier im Übergang von der
rhetorischen Tradition zur Erlebnispsychologie. Indessen bleibt die Vertie-
fung in das Wesen des Ausdrucks, und des ästhetischen Ausdrucks im
besonderen, am Ende doch immer wieder auf den metaphysischen Zusam-
menhang zurückbezogen, der neuplatonischer Prägung ist. Der Ausdruck
ist niemals bloß ein Zeichen, durch das man auf ein Anderes, Inneres
zurückgewiesen wird. Im Ausdruck ist das Ausgedrückte selbst da, z. B. in
den Zornesfalten der Zorn. Das weiß die moderne Ausdrucksdiagnostik
sehr wohl, so wie es schon Aristoteles gewußt hat. Offenbar ist es zur
Seinsweise des Lebendigen gehörig, daß derart das eine im anderen ist. Das
hat auch seine spezifische Anerkennung im Sprachgebrauch der Philosophie
gefunden, wenn Spinoza in exprimere und expressio einen ontologischen
Grundbegriff erkennt und wenn im Anschluß an ihn Hegel in dem objekti-
ven Sinn von Ausdruck als Darstellung, Außerung, die eigentliche Wirk-
lichkeit des Geistes sieht. Hege! stützt dadurch seine Kritik am Subjektivis-
mus der Reflexion. AhnIich denkt Hölderlin und dessen Freund Sindair, bei
dem der Begriff des Ausdrucks geradezu eine zentrale Stellung gewinnt. 14
Die Sprache als Produkt der schöpferischen Reflexion, die das Gedicht sein
läßt, ist )Ausdruck eines lebendigen, aber besonderen Ganzen<. Die Bedeu-
tung dieser Theorie des Ausdrucks ist offenbar durch die Subjektivierung
und Psychologisierung des 19. Jahrhunderts gänzlich verstellt worden. In
Wahrheit ist bei Hölderlin wie bei Hege! die rhetorische Tradition weit mehr
bestimmend. Im 18. Jahrhundert tritt ,Ausdruck< überhaupt an die Stelle
von }Ausdriickung< und meint jene bleibende Form, die beim Abdruck eines
Siegels u. dergl. zurückbleibt. Der Bildzusammenhang wird völlig deutlich
aus einer Stelle bei Gellert, »daß unsere Sprache gewisser Schönheit nicht
fahig und ein sprödes Wachs ist, das oft lusspringt, wenn man die Bilder des
Geistes hineindrücken vvill«. 15
Das ist alte neu platonische Tradition. 16 Die Metapher hat darin ihre Poin-
te, daß die eingeprägte Form nicht teilhaft, sondern ganz und gar in allen
Abdrücken gegcl1v.rärtig ist. Darauf beruht auch die Anwendung des Be-
griffs im femanatistischen DenkenI, das nach Rothacker 17 unserem histori-
schen Weltbild überall zugrunde liegt. Es ist wohl deutlich, daß die Kritik an
der Psychologisierung des Begriffes >Ausdruck< das Ganze der vorliegenden
Untersuchung durchzieht und sowohl der Kritik an der >Erlebniskunst( \vic
der an der romantischen Hermeneutik zugrunde liegt. 18
S. 166. VgL in Bd. 1 S. 33 den Lebensbegriffbei Oeringer und S. 246ff. bei Husserl und
GeafYmck. [Vgl. Ge,. Werkeßd. 1, S. 239ff., 253ff.J
18 Andeutungen auch in älteren Arbeiten des Verfassers, z. B. >Bach und Weimar<
(1946), S. 9ff[Kl. Schrif. 11, S. 75-81; Ces. Werke Bd. 9 J und) Über die Ursprünglichkeit
der Philosophie( (1947). S. 25. (Kl. Schrift. I, S. 11-38; Ges. Werke Bd. 4J
27. Hermeneutik und Historismus
1965
Diltheyschcn Richtung mit Heidegger und Husserl, Philos. Anzeiger 1929/30, 2. Auf!.
Leipzig, Berlin 1931.
2(J [Das Jahr 1983 hat, zugleich mit der Publikation der Materialien zum 2. Band der
!Einleitung in die Geiseswissenschaft~ (Ges. Werke Bd. 18 und 19) W. Dilthey erneue ins
allgemeine Bev.'Ußtsein gehoben. Vgl. auch meine neuen Dilchey-Arbeiten; Ges. Werke
Bd.4.]
Hermeneutik und Historismus 389
gic< von ihm geplant war21 • Die weitgehend ausgeführten Teile dieser rur den
Grundriß der Sozial ökonomik vorbereiteten Soziologie betreffen Reli-
gions-, Rechts- und Musiksoziologie, während z. B. die Staatssoziologie
nur sehr bruchstückhaft ausgeftihrt ist. Hier interessiert vor allem der 1918-
20 verfaßte einleitende Teil, der jetzt )Soziologische Kategorienlehre< betitelt
ist. Ein imposanter Begriffskatalog auf extrem norninalistischer Basis, der
übrigens - im Unterschied zu dem bekannten Logos-Aufsatz Von 1913 - den
Wertbegriff (und damit die letzte Anlehnung an den süwestdeutschcn Neu-
kantianismus) vermeidet. Max Weber nennt diese Soziologie }verstehend<,
sofern sie den gemeinten Sinn des sozialen Handelns zum Gegenstand
mache. Freilich kann der >subjektiv gemeinte( Sinn auf dem Gebiet des
gesellschaftlich-geschichtlichen Lebens nicht nur der VOn den einzelnen
Handelnden tatsächlich gemeinte sein. So tritt als hermeneutisch-methodi-
scher Ersatzbegriff der begrifflich konstruierte reine Typus (die )ideal-typi-
schc Konstruktion() ergänzend ein. Auf dieser Basis, die Max Weber )ratio-
nalistisch( nennt, ruht das ganze Gebäude - der Idee nach >wertfrei< und
neutral -, eine monumentale Grenzbastion der }objektiven~ Wissenschaft,
die ihrc methodische Eindeutigkeit durch klassifikatorische Systematik vcr-
teidigt und in den inhaltlich ausgeführten Partien zu großartiger systemati-
scher Überschau über die geschichtliche Erfahrungswelt fUhrt. Die eigentli-
che Verwicklung in die Problematik des Historismus v.7ird hier durch me-
thodische Askese vermieden.
Die weitere Entwicklung der hermeneutischen Besinnung ist aber gerade
durch die Fragestellung des Historismus beherrscht und geht daher von
Dilthey aus, dessen gesammelte Schriften in den zwanziger Jahren bald auch
Ernst Troeltschs Wirkung überdeckten.
Diltheys Anknüpfung an die romantische Hermeneutik, die sich mit dem
Wiederaufleben der spekulativen Philosophie HegeIs in unserem Jahrhun-
dert verknüpfte, fUhrtc eine vielfaltige Kritik am historischen Objektivis-
mus herauf(GrafYorck, Heidegger, Rothacker, Betti usw.).
Sie hinterließ auch in der historisch-philologischen Forschung sichtbare
Spuren, indem romantische Motive, die durch den wissenschaftlichen Posi-
tivismus des 19. Jahrhunderts verdeckt worden waren, sich innerhalb der
Wissenschaft wieder zur Geltung brachten22 • Man denke etwa an das Pro-
21 Das Nachlaßwerk liegt jetzt in einer Neordnung der riesigen Materialien, dieJohs.
Winckelmann besorgt hat, als 4. Auflage vor. 1. und 2. Halbband, Tübingen 1956 [Eine
groß angelegte kritische Ausgabe des Gesamtwerks von Max Weber ist im Erscheinen. J
22 Einen brauchbaren Überblick über die in der modernen Geschichtswissenschaft
geübte Selbstreflexion - unter ausdrücklicher Einbeziehung der englisch-amerikanischen
und der französischen Geschichtsforschung - gibt F. Wagner, Moderne Geschichtsschrei-
bung, Ausblick auf eine Philosophie der Geschichtswissenschaft, Berlin 1960. Es zeigt
sich, daß überall der naive Objektivismus nicht mehr genügt und damit ein theoretisches
Bedürfnis anerkannt wird, das über bloßen erkenntnistheoretischen Methodologismus
390 Anhänge
blem der antiken Mythologie, das im Geiste Schellings von Walter F, Otto,
Karl Kerenyi u. a. erneuert wurde. Selbst ein so abstruser, der Monomanie
seiner Intuitionen verfallener Forscher wie J. J. Bachafen, dessen Ideen
modernen Ersatzreligionen Vorschub leisteten (über Alfred Schuler und
Ludwig Klages haben sie z, B, auf Stefan Gcorge eingewirkt), fand nun
erneute wissenschaftliche Beachtung. 1925 erschien unter dem Titel ,Der
Mythos von Orient und Occident, Eine Metaphysik der alten Weltt eine
systematisch redigierte Sammlung von Bachofens Hauptschriften, zu der
Alfred Bacurnler eine beredte und bedeutende Einleitung verfaBten ,
Auch wenn man die wissenschaftsgcschlchtlichc Sammlung von de Vrics'
IForschungsgeschichte der Mythologici aufschlägt2 4 , erhält man den glei-
auch die nützliche Quellensammlung zur Mythologie, die von F. Schupp herausgegeben
ist, und H.-G. Gadamcr/Heinrich Vries, Mythos und Wissenschaft. In: K, Rahner (u. a.
Hrsg.), Christlicber Glaube in moderner Gesellschaft, Freiburg 21981, S. 8- 38. - Ein
Hermeneutik und HistorisIllm 391
ehen Eindruck, "vie sich die >Krise des Historismus, in einer Neubelebung
der Mythologie ausgnvirkt hat. Oe Vrics gibt eine durch weiten Horizont
ausgezeichnete Übersicht - mit gut ausgewählten Leseproben, die insbeson-
dere die Neuzeit, unter Ausklammerung der Religionsgeschichte und unter
zu"veilcn etwas sklavischer, zu\veilcn et"vas allzu freier Beachtung der Chro-
nologie, gut überschaubar macht. Es ist bemerkenswert, wie entschieden
Waltcr F. Otto und Karl Kerenyi als Wegbereiter einer neuen, den Mythos
ernstnehmenden Forschungsrichtung anerkannt \verden.
Das Beispiel der Mythologie ist nur eines unter vielen. Man könnte in der
konkreten Arbeit der Geisteswissenschaften an vielen Punkten die gleiche
Abkehr von einem naiven Methodologismus aufweisen, dem in der philo-
sophischen Besinnung ausdrückliche Kritik am historischen Objektivismus
oder Positivismus entspricht. Von besonderer Bedeutung \vurde diese Wen-
dung dort, \vo sich mit der Wissenschaft ursprünglich normative Gesichts-
punkte verbinden. Das ist in der Theologie \vie in der Jurisprudenz der Fall.
Die theologische Diskussion der letzten Jahrzehnte hat das Problem der
Hermeneutik gerade dadurch in den Vordergrund gespielt, daß sie das Erbe
der historischen Theologie mit neu aufgebrochenen theologisch-dogmati-
schen Antrieben vermitteln mußte. Den ersten revolutionären Einbruch
stellte Karl Barths Erklärung des Römerbriefes dar 2s , eine >Kritik, der libera-
len Theologie, die nicht so sehr die kritische Historie als solche meinte, als
vielmehr die theologische Genügsamkeit, die deren Ergebnisse fur ein Ver-
stehen der Heiligen Schrift hielt. Insofern ist Kar! Barths Römerbrief bei
aller Abneigung gegen methodologische Reflexion eine Art hermeneuti-
schen Manifestcs 20 • Wenn er sich mit RudolfBultmann und seiner These der
Entmythologisierung des Neuen Testaments wenig befreunden kann, so
trennt ihn nicht das sachliche Anliegen, sondern es ist, \vie Inir scheint. die
Verknüpfung historisch-kritischer Forschung mit theologischer Exegese
und die Anlehnung der methodischen Selbstbesinnung an die Philosophie
(Heidegger), \vas Barth verhindert, sich in Bultmanns Verfahrensweise
wiederzuerkennen. Es ist indessen eine sachliche Not"vendigkeit, das Erbe
der libera1cn Theologie nicht einfach zu verleugnen, sondern zu bewältigen.
Die gegenwärtige Diskussion des hermeneutischen Problems innerhalb der
Theologie - und lIiche nur die des hermeneutischen Problems - ist daher
durch die Auseinandersetzung der unabdinglichen theologischen Intention
mit der kritischen Historie bestimmt. Die einen finden die historische Frage-
stellung angesichts dieser Lage erneut verteidigungs bedürftig, andere, wie
die Arbeiten von Ott, Ebeling und Fuchs zeigen, stellen weniger den For-
eindrucksvolles Zeugnis fUr die hermeneutische Dimension des Mythos ist als Ganzes das
Buch von H. Blumeilbcrg, Arbeit am Mythos. Frankfurt 1979].
" 1. Ann. 1919.
26 Vgl. G. Ebcling, Wort Gottes und Hermeneutik (Zschr. f Th. u. K. 1959, 228ff.).
392 Anhänge
27 Die Idee der Konkrecisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, Hcidcl-
berg, 1953, 294 S. (Abh. d. Hd. Ak. d. W., phil.-hist. KI. 1953/1. vgI. neuerdings:
Einftihrung in das juristische Denken, Stuttgart 1956). Vgl. S. 520.
2R fAußer K. Larenz eint1ußreicher Darstellung in der 3. Auflage seiner )Methodenleh-
re< sind die Arbeiten von]. Esser Ausgangspunkte einer juristischen Diskussion gewor-
den. Vgl. J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtfindung. Rationalitäts-
garantien der richterlichen Entschcidungspraxis. Frankfurt 1970 und Juristisches Argu-
mentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzepts unseres Jahrhunderts. (Sitzb. Heid.
Akad. d. Wiss., Phil.-histor. Klasse 1979, Abh. 1) Heidelbcrg 1979].
29 2 Bde .. Milano 1955. Deutsche Ausgabe 1967.
von aUen denen bedroht glaubt, die im Anschluß an Heidegger eine solche
Rückbindung an die Subjektivität des Meinens rur verfehlt halten.
In seiner auch in Deutschland vviederholt vorgetragenen Auseinanderset-
zung mit mir 32 sieht er bei mir nichts als Äquivokationen und Bcgriff'iver-
wechslungen. Dergleichen beweist in der Regel, daß der Kritiker den Autor
auf eine von ihm nicht gemeinte Fragestellung bezieht. So scheint es mir
auch hier. Daß seine Sorge um die Wissenschaftlichkeit der Interpretation,
die mein Buch in ihm erregt hatte, unnötig sei, hatte ich ihm in einem
Privatbrief versichert, aus dem er in seiner Abhandlung höchst loyalenveise
folgendes abdruckt:
»Im Grunde schlage ich keine ,Alethode vor, sondern ich beschreibe, was ist.
Daß es so ist, wie ich es beschreibe, das, meine ich, kann man nicht im Ernst
bestreiten ... Auch Sie z. B. vvissen sofort, wenn Sie eine klassische Unter-
suchung Mommsens lesen, \vann das allein geschrieben sein kann. Selbst ein
Meister der historischen Methode vermag sich nicht von den Vorurteilen
seiner Zeit, seiner gesellschaftlichen Umwelt, seiner nationalen Position
usw. ganz freizuhalten. Soll das nun ein Mangel sein? Und selbst, \\'enn es
das wäre, halte ich es fLir eine philosophische Aufgabe, darüber nachzuden-
ken, warum dieser Mangel nirgends fehlt, wo eewas geleistee \vird. Mit
anderen Worten, ich halte es allein fur wissenschaftlich, anzuerkermen, was
ist) statt von dem auszugehen, was eben sein sollte oder sein möchte_ In
diesem Sinne versuche ich, über den Methodenbegriff der nlOdernen Wis-
senschaft (der sein begrenztes Recht behält) hinauszudenken und in prinzi-
pieller Allgemeinheit zu denken, was immer geschieht.«
Aber \vas sagt Betti dazu? Daß ich das hermeneutische Problein also auf
die quaestio facti einenge (~phänomenologisch<, )deskriptiv<) und die quaestio
iuris gar nicht stelle. Als ob Kants Stellung der quaestio iuris der reinen
Naturwissenschaft hätte vorschreiben v.rollen, wie sie eigentlich sein sollte,
und nicht vielmehr die transzendentale Möglichkeit derselben, wie sie \var,
zu rechtfertigen suchte. Im Sinne dieser kantischen Unterscheidung stellt
das Hinausdenken über den Methodenbegriff der Geisteswissenschaften,
wie es mein Buch versucht, die Frage nach der )Möglichkeit< der Geistes\vis-
senschaften (was durchaus niche heißt: wie sie eigentlich sein sollten!). Es ist
ein sonderbares Ressentiment gegen die Phänomenologie, das den verdien-
ten Forscher hier beirrt. Er zeigt sich dadurch, daß er das Problem der
Hermeneutik nur als ein Methodenproblem zu denken vermag, tief in den
Subjektivismus befangen, um dessen Überwindung es geht.
Offenbar ist es mir nicht gelungen, Betti davon zu überzeugen, daß eine
Giurisprudenza XVI. Bari 1961 und Die Hermeneutik als allgemeine- Methodik der
Geisres\visscnschaften, Tübingen 1962.
Hermeneutik und Historismus 395
33 Vgl. auch Bettis Aufsatz im Studium Generale XII (1959), S. 87, dem neuerdings
F. Wieacker, Notizen ... (oben S. 390) unerschrocken beistimmt. [Bettis große Verdien-
ste und meine Kritik an ihm habe ich erneut in ,Emilio Betti und das idealistische Erbc1
(Quaderni Fiorentini 7 (1978), S. 5-11) diskutiert.l
J4. Eingeleitet von H.-G. Gadamer, Stuttgart 1955. 35 Stuttgart 1955.
396 Anhänge
»Dilthey hat sich der Frage gegenübergesehen, die Windelband und die
übrigen nicht erkannten, da sie nicht tief genug in das Problem eingedrun-
gen waren: der Frage, wie - neben und im Unterschied zu der unmittelbaren
Erfahrung - eine Erkenntnis des Individuellen möglich sei. Er beantwortet
diese Frage mit der Feststellung, daß eine solche Erkenntnis nicht möglich
sei, und fallt in die positivistische Überzeugung zurück, daß das Allgemeine
(das eigentliche Objekt der Erkenntnis) nur mit Hilfe der Naturwissenschaft
oder einer anderen auf naturalistischen Prinzipien begründeten Wissenschaft
erkannt werden könne. So gelingt es ihm schließlich ebensowenig, wie
seiner ganzen Generation, dem Einfluß des positivistischen Denkens zu
entgehen.« (184) Was an diesem Urteil wahr ist, wird angesichts der von
Collingwood hier gegebenen Begründung desselben fast unkenntlich.
Das Kernstück seiner systematischen Theorie der historischen Erkenntnis
ist ohne Zweifel die Lehre vom Nachvollzug der Erfahrung der Vergangen-
heit (Re-enactment). Er steht damit in der Front derer, die gegen das ankämp-
fen, I>was man die positivistische Deutung oder besser Mißdeutung des
Gesehichtsbegriffs nennen kann« (239). Die eigentliche Aufgabe der Histo-
riker sei, »in das Denken der Geschichtsträger einzudringen, deren Hand-
lungen sie erforschen{~, Es mag in deutscher Übersetzung besonders schwie-
rig sein, was Collingwood hier mit Denken meint, richtig zu bestimmen.
Offenbar ist der Begriff des ,Aktes( im Deutschen in recht andere Bezüge
gerückt, als der englische Autor meint. Der Nachvollzug des Denkens der
handelnden Personen (oder auch der Denker) meint bei Collingwood nicht
eigentlich die realen psychischen Akte derselben, sondern ihre Gedanken,
d. h. was als dasselbe im Nachdenken wieder gedacht werden kann. Auch
soll der Begriff des Denkens durchaus das mitumfassen, was man den
Gemeingeist (der Übersetzer sagt unglücklich )Gemeinschaftsgeist<) einer
Körperschaft oder eines Zeitalters nennt (230). Aber wie seltsam eigenleben-
dig erscheint dieses >Denken(, wenn Collingwood etwa die Biographie
deshalb als antihistorisch bezeichnet, weil sie nicht auf das >Denken( gründe,
sondern auf ein Naturgeschehen. I> Dieses Fundament - das kärperhafte
Leben eines Menschen mit Kindheit, Reife und Aher, mit Krankheiten und
all den anderen Wechselfallen des biologischen Daseins - wird umspült und
umflutet, ungeregelt und ohne Rücksicht auf seine Struktur, vom (eigenen
und fremden) Denken, wie ein gestrandetes Wrack vom Meerwasser. «
Wer trägt eigentlich dieses >Denken(? Was sind die Geschichtsträger, in
deren Denken es einzudringen gilt? Ist es die bestimmte Absicht, die ein
Mann mit seinem Handeln verfolgt? Collingwood scheint das zu meinen 36 •
»Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, so ist die Geschichte seiner Taten
nicht möglich« (324). Ist Rekonstruieren der Absichten aber wirklich Ver-
stehen der Geschichte? Man sieht, wie sich Collingv,1Ood gegen seine Absicht
in die psychologische Partikularität verstrickt. Ohne eine Theorie vom
.Geschäftsträger des Weltgeistes<, d. h. ohne Hegcl, kann er nicht heraus-
fmden.
Das zu hören würde ihn nicht freuen. Dcnn alle Geschichtsmetaphysik,
auch die HegeIs, erscheint ihm als ein bloßes Klassifizierungssystem (276)
ohne echten historischen Wahrheitswert. Ferner ist mir nicht ganz klar
geworden, wie sich seine These eines radikalen Historismus mit seiner
Theorie des Re-enactmemverträgt, wenn er aufder anderen Seite sieht, und ich
glaube mit Recht, daß der Historiker selbst ein Teil des geschichtlichen
Ablaufs ist, den er erforscht und den er nur von dem Standpunkt beobachten
kann, den er selber im Augenblick in ihm einnimmt (260). Wie will sich das
mit der Verteidigung des Nachvollzugs eines überlieferten >Gedankens(
reimen, die Collingwood am Beispiel von Platos Sensualismuskritik im
.Theaetet' erläutert? Ich fUrchte, das Beispiel ist falsch und beweist das
Gegenteil.
Wenn Plato im .Theaitetos< die These au[,tellt, daß Erkenntnis ausschließ-
lich Sinneswahrnehmung sei, so kenne ich nach Collingwood als heutiger
Leser den Zusammenhang nicht, der ihn zu dieser These fUhrt. Dafür ist in
meinem Geist dieser Zusammenhang ein anderer: nämlich die aus dem
modemen Sensualismus envachsenc Diskussion. Da es sich um einen >Ge-
danken( handelt, schadet das aber nichts. Ein Gedanke könne in verschiedene
Zusammenhänge gestellt werden, ohne seine Identität zu verlieren (315).
Man möchte hier Col1ingwood an die Kritik an der Statement-Diskussion
Oxfords in seiner eigenen >Logic of question and anSWCf< erinnern (Denken
30-43). Sollte nicht der Nachvollzug des platonischen Gedankens in Wahrheit
nur dann gelingen, wenn man den wahren platonischen Zusamnlenhang
erfaßt (den einer mathematischen Evidenztheorie, wie ich glaube, die sich
über die intelligible Seinsart des Mathematischen noch nicht ganz im klaren
ist)?37 Und wird man diesen Zusammenhang erfassen können, wenn man
nicht ausdrücklich die Vorbegriffe des modernen Sensualismus suspendiert?3b
Mit anderen Worten, Collingwoods Theorie des Re-enactment vermeidet
zwar die Partikularität der Psychologie, aber die Dimension der hermeneuti-
schen Vermittlung, die in allem Verstehen durchschritten wird, entgeht ihm
dennoch.
37 rVgl. inzwischen meine Arbeit )Mathematik und Dialektik bei Plato( (Gekürzte
Fassung) in der FS fur C. F. von Weizsäcker, München 1982, S. 229-240; Ges. WerkeBd. 7
(Vollständige Fassung)].
38 Ich erinnere an den großen Erkenntnisfortschritt, den H. Langerbecks Studie dOS/L
EflIPYLMIH (N. Ph. U. Heft 10, 1935) gebracht hat-was man über der scharfen Teilkritik
E. Kapps im Gnomon (1935) nicht übersehen sollte. (Vgl. auch meine Rezension;jctzt in
Ges. Werke Bd. 5, S. 341 f( I
398 Anhänge
richtungen auf Heideggcrs ontologische Differenz beruft. statt auf den transzendentalen
Apriorismus, den die Phänomenologie mit dem Neukantianismus teilt, ist mir nicht
klarge'.vordcn.
400 Anhänge
zip, stellen nicht bloße methodologische Probleme dar, sondern greifen tief
in die Rechtsmaterie selbst ein 42 •
Offenbar kann eine juristische Hermeneutik sich nicht im Ernst damit
begnügen, als Auslegungskanon das subjektive Prinzip der Meinung und
der ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers zu gebrauchen. Sie kann viel-
fach nicht umhin, objektive Begriffe, z. B. den des Rechtsgedankens, der in
einem Gesetz zum Ausdruck kommt, anzuwenden. Es ist anscheinend eine
reine Laienvorstellung, wenn man sich die Anwendung eines Gesetzes auf
einen konkreten Fall als den logischen Vorgang der Subsumtion des Einzel-
nen unter das Al1gemeine denkt.
Der Gesetzespositivismus, der die rechtliche Wirklichkeit ganz auf das
gesetzte Recht und seine richtige Anwendung beschränken möchte, dürfte
heute keine Anhänger mehr finden. Der Abstand zwischen der Allgemein-
heit des Gesetzes und der konkreten Rechtslage im Einzelfall ist offenbar
wesenhaft unaufbebbar. Es scheint nicht einmal zu genügen, daß man sichin
einer idealen Dogmatik die rechtsproduktive Kraft des Einzelfalles als de-
duktiv vorbestimmt denkt, in dem Sinne, daß eine Dogmatik sich denken
ließe, die alle überhaupt möglichen Rechtsv.'ahrheiten in einem kohärenten
System wenigstens potentiell enthielte. Selbst die }Idee< einer solchen vollen-
deten Dogmatik scheint unsinnig, ganz abgesehen davon, daß faktisch die
rechtsschöpferische Kraft des Fal1s stets neue Kodifikationen vorbereitet.
Das Bemerkenswerte an dieser Sache ist, daß die hermeneutische Aufgabe,
den Abstand zwischen Gesetz und Fall zu überbrücken, auch dann gegeben
ist, wenn gar kein Wandel der sozialen Verhältnisse oder sonstige geschicht-
lichen Veränderungen der Wirklichkeit das geltende Recht als veraltet oder
unangemessen erscheinen lassen. Der Abstand zwischen Gesetz und Fall
scheint schlechthin unauflösbar. Das hermeneutische Problenl ist insofern
von der Berücksichtigung der historischen Dimension ablös bar. Es ist auch
nicht bloße unvermeidliche Unvollkommenheit in der Durchftihrung recht-
licher Kodifikation, was den Spielraum ftir die Konkretion oftcnläßt, so daß
man der Idee nach diesen Spielraum auf jedes beliebige Maß herabsetzen
könnte. Es scheint vielmehr im Sinne der gesetzlichen Regelung selber, ja
aller rechtlichen Ordnung überhaupt, zu liegen, in der Weise >elastisch< zu
sein, daß sie einen solchen Spielraum läßt.
42 Wenn man etwa das fur Studenten bestimmte Lehrbuch der >Methodenlehre der
Rechtswissenschaft<, das K. Larenz vorgelegt hat (Berhn 1961) , ansieht, so macht die
vortreflliche historische und systematische Übersicht, die es gevv'ährt, deutlich, daß diese
Methodenlehre überall zu schwebenden Rechtsfragen et"\vas zu sagen hat, mithin eine Art
Hilfsdisziplin der Rechtsdogmatik ist. Darin liegt ihre Bedeutung für unseren Zusam-
menhang. rInzwischen ist diese ,Methodenlehre, in der 3. Auflage erschienen und enthält
ausgedehnte Diskussionen zur philosphischen Hermeneutik. Vgl. auch die umfassende
Monographie von G. Zaccaria, Ermeneutica e Giurisprudenza (Milano 1984), die in 2
Bänden meine theoretische Grundlegung und J. Essers juristische Anwendung darstellt. I
Hermeneutik und Historismus 401
Wenn ich nicht irre, hat schon Aristoteles diesen Punkt klar gesehen,
indem er dem Gedanken des Naturrechts keine positiv-dogmatische, son-
dern lediglich eine kritische Funktion zubilligte. Man hat es immer als
schockierend empfunden (wenn man es nicht geradezu durch Fehlinterpre-
tation des aristotelischen Textes bestritt), daß Aristoteles zwar den Unter-
schied von konventionell und von Natur Rechtem macht, aber auch das von
Natur Rechte fur veränderlich erklärt. 43
Das von Natur Rechte und das durch Satzung Gesetzte sind nicht ))glei-
chermaßen veränderlich«. Vielmehr wird durch den Hinblick auf vergleich-
bare Phänomene erläutert, daß auch das von Natur Rechte veränderlich ist,
ohne deshalb aufzuhören, von dem durch bloße Satzung Gesetzten verschie-
den zu sein. Offenkundig sind ja z. B. Verkehrsregeln nicht in gleichem,
sondern in viel höherem Maße veränderlich als solches, das von Natur als
Recht gilt. Aristoteles will das nicht abschwächen, sondern erklären, wieso
in der (im Unterschied zu der der Götter) unstabilen Menschenwclt das von
Natur Rechte überhaupt ausgezeichnet ist. So sagt er: Es ist gleichermaßen
klar und für den Unterschied zwischen von Natur Rechtem und aus Kon-
vention Rechtem gilt-trotz ihrer beider Veränderlichkeit- dieselbe Bestim-
mung, wie etwa beim Unterschied von rechter Hand und linker Hand. Auch
da ist von Natur die rechte die stärkere, und doch läßt sich dieser natürliche
Vorrang nicht als unveränderlich bezeichnen, sofern man ihn in gewissen
Grenzen durch Training der anderen Hand aufheben kann 44 •
In gewissen Grenzen, d. h. in einem gewissen Spielraum. Einen solchen
Spielraum offenzulasscn, hebt offenbar den Sinn rechtlicher Ordnung so
wenig auf, daß es vielmehr wesentlich zur Natur der Sachverhalte gehört:
)}Das Gesetz ist allgemein und kann eben deswegen nicht jedem einzelnen
Fall gerecht werden. «45 Die Sache hängt auch nicht etwa an der Kodifikation
der Gesetze, sondern Ulngekehrt ist Kodifikation von Gesetzen überhaupt
nur möglich, weil Gesetze an sich und ihrem Wesen nach allgemein sind.
Vielleicht muß man sich hier die Frage vorlegen, ob der innere Zusaln-
mcnhang von Hermeneutik und Schriftlichkeit nicht ebenso als ein sekundä-
rer zu beurteilen ist. 46 Nicht die Schriftlichkeit als solche ist es, die einen
Gedanken auslegungs bedürftig werden läßt, sondern seine Sprachlichkeit,
d. h. aber die Allgemeinheit des Sinnes, die ihrerseits schriftliche Aufzeich-
nung als Folge ermöglicht. lleidcs, das kodifizierte Recht wie der schriftlich
überlieferte Text, weisen also auf einen tieferliegenden Zusammenhang, der
das Verhältnis von Verstehen und Applizieren betrifft, \vie ich gezeigt zu
haben glaube. Daß hierftir Aristoteles der oberste Zeuge ist, kann nicht
venvundern. Ist doch seine Kritik an der platonischen Idee des Guten. wie
ich vermuten möchte, der Keimpunkt seiner ganzen eigenen Philosophie
überhaupt. Sie enthält, ohne deshalb >Nominalismus< zu sein, eine radikale
Revision des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem, \vie es in der
platonischen Lehre von der Idee des Guten - mindestens nach der Darstel-
lung in den platonischen Dialogen - impliziert 1st4 ;.
Das schließt aber nicht aus, daß zu diesem wesenhaften Abstand des
Allgemeinen und des Konkreten noch weiterhin der historische Abstand
hinzutritt und eine eigene hermeneutische Produktivität entfaltet.
Ich wage nicht zu entscheiden, ob das auch fur diejuristische Hermeneutik
gilt, in dem Sinne, daß eine durch den Wandel der Dinge auslegungsbedürf-
tig gewordcnc gesetzliche Ordnung (z. B. mit Hilfe des Analogieprinzips)
(res pllblica 6. 19(1). Hier \vird in extenso gezeigt, warum es bei Aristotclcs kein
dogmatisches Naturrecht gebl'll kann - . . vcil n:ünlich die N3tur die gesamte menschliche
\'Xielt, :1lso auch dic rechtliche Vcrf.15Sl11lg durch und durch bestimmt. Ob Ritter meinen
Textvorscblag, den ich SChOll Oktober 1960 in Hamburg vorgetragen hattc, akzeptiert.
\vird nicht ganz klar (S. 28), wmal nachdem er H. H. Joacbim~ ßehandlurig des Kapitels
ohne kritische Einscbränkung zitiert (Anm. 14). Aber in der Sacbe stimmt cr mit meiner
Auffassung (Ges. Werke Bd. 1, S. 3:24ff) Liberein (anscheinend auch W. Bröcker, der die
Stelle a.a.O. S.302 übersetzt, jedoch ohne mcincn Textvorschlag anzunehmen) und
l'lltfaltet höchst lehrreich den metaphysischen Hintergrund der "politischen« ulld "prakti-
schen « Philosophie des Aristoteles. [Was hier nur vorsichtig anklingt; habe ich inz ......·ischen
ZUIll Gegenstand einer austuhrlichen Untersuchung gemacht: ,Die Ideedes Guten zwischen
Plato und Aristoteles' (Sitzb. d. Heid. Ak. d. Wis~ .. Philos.-histor. Klasse. Abh. 3)
Hcidelberg lSl78. Im Ergebnis bezweifle ich. daH Plato die Idee des Gutcn überhaupt so
gedacht bat, wic Aristotcles sie kritisiert. Dic Abhandlung erscheint auch in Ges. Werke lid.
7. S. 1~R-127.1
Hermeneutik und Historismus 403
geradezu zu einer gerechteren Rechtsanwendung überhaupt beitrüge _
nämlich zur Verfeinerung des die Auslegung leitenden Rechtsgefühls. Auf
anderen Gebieten jedenfalls ist die Sache klar. Es ist außer allem Zweifel,
daß die )Bedeutung, historischer Ereignisse oder der Rang von Kunstwer-
ken im Zeitenabstand an Sichtbarkeit gewinnen.-
Die gegenwärtige Diskussion des hermeneutischen Problems ist wohl
nirgends so lebhaft wie im Bereiche der protestantischen Theologie. Auch
hier handelt es sich freilich in gewissem Sinne, wie bei der juristischen
Hermeneutik, um über die Wissenschaft hinausgehende Interessen, in die-
sem Falle des Glaubens und seiner rechten Verkündigung. Die Folge ist,
daß die hermeneutische Diskussion sich mit exegetischen und dogmati-
schen Fragen verflicht, zu denen der Laie keine Stellung nehmen kann.
Aber wie bei der juristischen Hermeneutik ist auch hier der Vorzug dieser
Lage deutlich: den >Sinn, der jeweils zu verstehenden Texte nicht auf die
imaginäre Meinung ihrer Verfasser einschränken zu können. Das großarti-
ge Riesenwerk Karl Barths, seine Kirchliche Dogmatik4 !l, trägt zu dem
hermeneutischen Problem nirgends ausdrücklich und indirekt überall bei.
Etwas anders liegt die Sache bei Rudolf Bultmann, dem methodologische
Erörterungen durchaus liegen und der in scinen )Gesammelten Abhandlun-
gen, mehrfach ausdrücklich zum Problem der Hermeneutik Stellung ge-
nommen hat 49 • Doch ist auch in seinem Fal1e der Schwerpunkt der ganzen
Frage ein immanent theologischer, nicht nur in dem Sinne, daß seine ex-
egetische Arbeit den Erfahrungsboden und den Anwendungsbereich seiner
hermeneutischen Grundsätze darstellt, sondern vor allem auch in dem Sin-
ne, daß der große Streitgegenstand der heutigen theologischen Auseinan-
dersetzung, die Frage der >Entmythologisierung< des Neuen Testamentes,
weit mehr von dogmatischen Spannungen durchzogen ist, als der metho-
dologischen Besinnung angemessen wäre. Nach meiner Überzeugung hat
das Prinzip der Entmythologisierung einen rein hermeneutischen Aspekt.
Es soll nach Bultmann mit diesem Programm nicht über dogmatische
Fragen als solche vorentschieden werden, also etwa darüber, wieviel von
den Inhalten der biblischen Schriften für die christliche Verkündigung und
damit ftir den Glauben wesentlich ist und was etwa geopfert werden könn-
te, sondern es handelt sich um die Frage des Verstehens der christlichen
Verkündigung selbst, um den Sinn, in dem sie verstanden werden muß,
wenn sie überhaupt >verstanden< werden soll. Vielleicht, ja sogar sicher ist
es möglich, im Neuen Testament )mehr, zu verstehen, als Buhmann ver-
48 Vgl. die Würdigung eines wichtigen Aspektes dieses Werkes durch H. Kuhn Phil.
gie, Kap. VIII; vgI. auch den Beitrag von H. Blumenberg, Phil. Rundseh. 2, 121-140
{und G. Bornkamms kritischen Bericht ebenda, 29 (1963), 33-141 J
404 Anhänge
standen hat. Das kann sich aber nur herausstellen, indem Inan dies )mehr<
ebenso gut, d. h. - wirklich versteht.
Die historische I:libelkritik und ihre wissenschaftliche DurchfUhrung im
18. und 19. Jahrhundert haben eine Situation geschaffen, dic einen beständig
neuen Ausgleich zwischen den allgemeinen Grundsätzen wissenschaftlichen
Textverständnisses und den besonderen Aufgaben des Selbstverständnisses
des christlichen Glaubens fordert. Es ist gut, sich zu erinnern, wie die
Geschichte dieser Ausgleichsbemühungen aussieht5Ü •
Am Anfang der Entwicklung des 19. Jahrhunderts steht Schleiermachers
Hermeneutik, die die wesenthafte Gleichartigkeit im Auslegungsverfahren
der Heiligen Schrift und aller sonstigen Texte, wie sie schon Semler im Auge
hatte, systematisch begründet. Schleiermachers eigenster Beitrag war dabei
die psychologische Interpretation, wonach jeder Gedanke eines Textes als
ein Lebensaugenblick auf den persönlichen Lebenszusanlmenhang seines
Verfassers zurückbezogen werden muß, wenn er ganz verstanden werden
will. Wir haben inzwischen einen et\vas genaueren Einblick in die Entste-
hungsgeschichte von Schleiermachers Gedanken zur Hermeneutik, nach-
dem die Berliner Manuskripte, aus denen Lücke seinerzeit die Ausgabe
komponiert hatte, durch die Heidelbergcr Akademie der Wissenschaften in
getreuem Abdruck vorgelegt worden sind 51 • Die Ausbeute dieses Rückgriffs
auf die Originalmanuskripte ist nicht revolutionär, aber doch nicht bedeu-
tungslos. H. Kimmerlc zeigt in seiner Einleitung, wie die ersten Nieder-
schriften die Identität von Denken und Sprechen in den Vordergrund stellen,
während die spätere Ausarbeitung im Sprechen die individualisierende Äu-
50 Wie anders vor der Entstehung der historischen Bibelkritik das Verhältnis von
Theologie und Philosophie 'war. sofern das Neue Testament unmittelbar als Dogmatik,
d. h. als Inbegriff allgemeiner Glaubenswahrheiten, verstanden wurde und damit (freund-
lich oder feindlich) auf die systematische Beweisart und die Darstellungsform der rationa-
len Philosophie bezogen 'werden konnte, lehrt die Studie von H. Licbing, Zwischen
Orthodoxie und Aufklärung, über den Wolffianer G. B. Bilfinger (Tübingen 1961).
ßilfinger sucht die Wissenschaftlichkeit seiner Theologie auf dem Boden der modifizier-
ten Wolfischen Metaphysik systematisch zu begründen. Daß er sich dabei der durch seine
Zeitsituation und seine Einsicht gesetzten Grenzen bewußt war, ist das einzige hermeneu-
tische Element seiner Wissenschaftslchre. das in die Zukunft hinüberweist: auf das Pro-
blem der Geschichte.
Vgl. auch meine Einleitung zu F. ehr. Oetingers Inquisitio in sensum communem.
Neudruck des Frommann-Verlages 1964, S. V-XXVIII. = Kleine Schriften IlI, S. 89-
100 rGes. Werke Bd. 4).
5J Der Abdruck der Berliner Manuskripte, deren älteste sehr schwer lesbar sind, ist von
H. Kimmerle besorgt '.vorden. Vgl. den ergänzenden Nachbericht zur Ausgabe Heidel-
berg 1968.(Es ist das Verdienst von M. Frank (>Das individuelle Allgemeine. Textstruk-
turierung und - interpretation nach Schleiermacher<, Frankfurt 1977 die Diskussion um
Sehleiermacher offen zu halten. Vgl. dazu meine Entgegnung in )Zwischen Phänomeno-
logie und Dialektik - Versuch einer Selbstkritik(, oben S. 3 ff.J
Hermeneutik und Historismus 405
ßerung sieht. Dazu kommt das langsame Hcrvonvachsen und schließliche
Dominieren des psychologischen Gesichtspunktes über die genuin sprachli-
chen Gesichtspunkte der >technischen< Interpretation (>StyI<).
Daß auch innerhalb der Schleiermacherschen Dogmatik, die in einer
schönen großen Neuausgabe durch Martin Rcdekcr (Der christliche Glaube)
neu zugänglich gemacht worden ist~2, die psychologisch-subjektive Orien-
tierung Schleiermachers zu theologischer Kritik herausfordert, ist bekannt
genug. Das )Selbstbewußtsein des Glaubens< ist eine dogmatisch gefahrliehe
Basis. Das Buch von Christoph Senft, das die Entwicklung von Schleierma-
cher bis zur liberalen Theologie Ritschls mit großer Klugheit diskutiert, gibt
davon eine gute Vorstellung". Senft schreibt S. 42 über Schleiermacher:
»Trotz seines Bemühens um lebendige Begriffe zur Erfassung des Ge-
schichtlichen bleibt bei ihm die Dialektik zwischen Spekulation und Empirie
eine unbewegte: die Wechselwirkung zwischen der Geschichte und dem sie
Erkennenden ist eine unproblematische und krüischc, worin der nach der
Geschichte Fragende vor jeder grundsätzlichen Gegenfrage sicher bleibt.«
In dieser Richtung hat auch F. Ch. Baur, wie Senft zeigt, so sehr er den
geschichtlichen Prozeß zum Gegenstand seiner Besinnung macht, das her-
meneutische Problem nicht weitergebracht, da er die Autonomie des Selbst-
bewußtseins als uneingeschränkte Basis festhält. Wohl aber hat Hofmann,
und das kommt in Senfts Darstellung schön heraus, in seiner Hermeneutik
die Geschichtlichkcit der Offenbarung auch hermeneutisch ernst genom-
men. Das Lehrganze, das er entwickelt, ist \>die Explizierung des christlichen
Glaubens, der im ~außer uns Gelegenen< seine Voraussetzung hat, aber nicht
gesetzlich äußerlich, sondern so, daß es ihm als seine eigene Geschichte
>erfahrungs mäßig< erschlossen ist«. (Senft, S. 105) Damit ist zugleich gesi-
chert: J)Als Denkmal einer Geschichte, d. h. eines bestimmten Zusammen-
hangs von Ereignissen - nicht als Lehrbuch allgemeiner Lehren - ist die Bibel
das Buch der Offenbarung.« Im ganzen läßt sich sagen, daß die Kritik, die
die historische Bibelwissenschaft am Kanon geübt hat, indem sie die dogma-
tische Einheit der Bibel höchst problematisch macht und die rationalistisch-
dogmatische Voraussetzung einer biblischen )Lehre< auflöst, die theologi-
sche Aufgabe gestellt hat, die biblische Geschichte als Geschichte anzuer-
kennen.
Mir scheint, daß die neuere hermeneutische Debatte von hier aus ihre
Richtung gewiesen bekommen hat. Der Glaube an diese Geschichte muß
selber als ein geschichtliches Ereignis, als Anruf des Wortes Gottes verstan-
52 Berlin 1960 [Inzwischen hat M. Redeker auch die Materialien, die W. Dilthey als
den werden. Schon für das Verhältnis von Altem und Neucm Testament gilt
das. Es läßt sich (etwa nach Hofmann) als das Verhältnis von Weissagung
und Erfüllung verstehen. so daß sich erst aus der Erftillung die geschichtlich
scheiternde Weissagung selber in ihrem Sinn bestimmte. Das geschichtliche
Verständnis der alttestamentlichen Weissagungen ist aber dem Verkündi-
gungssinn keineswegs abträglich, den sie vom Neuen Testament her emp-
fangen. Im Gegenteil wird das Heilsereignis, das das NT verkündet, erst
dann als ein wirkliches Ereignis verstanden, wenn die Vorhersagung kein
bloßer »Abdruck der zukünftigen Tatsache« ist (Hofmann bei Senft 101).
Vor allem gilt es aber von dem Begriff des Selbstverständnisses des Glau-
bens, dem Grundbegriff der Bultmannsehen Theologie, daß er einen ge-
schichtlichen (und nicht idealistischen) Sinn hat".
Selbstverständnis soll eine geschichtliche Entscheidung meinen und nicht
etwa verftigbarcn Selbst besitz. So hat Bultmann immer \vieder betont. Es ist
daher ganz abwegig, den Begriff des Vorverständnisses, den Bultmann
gebraucht, als Befangenheit in Vorurteilen zu verstehen, als eine Art Vorwis-
sen 55 • In Wahrheit handelt es sich um einen rein hermeneutischen Begriff.
den Bultmann, durch Heideggers Analyse des hermeneutischen Zirkels und
der allgemeinen Vor-Struktur des menschlichen Daseins angeregt, ausgebil-
det hat. Er meint die Öffnung des Fragehorizontes, in dem Verstehen allein
möglich ist. aber er meint nicht, daß das eigene Vorverständnis durch die
Begegnung mit dem Worte Gottes (wie übrigens mit jedem anderen Wort)
nicht korrigiert werden könne. Im Gegenteil, es ist der Sinn dieses Begriffes,
die Bewegung des Verstehens als solche Korrektur sichtbar zu machen. Daß
diese >Korrektur< im Falle des Anrufs des Glaubens eine spezifische ist, die
nur der Formalstruktur nach von hermeneutischer Allgemeinheit ist, wird
zu beachten sein 56 .
Der theologische Begriff des Selbstverständnisses schließt sich hier an.
Auch dieser Begriff ist offenbar aus Heideggers transzendentaler Analytik
54 Vgl. meine Beiträge in der FS G. Krüger 1962, S. 71-85 und in der FS R. Bultmann
1964, S. 479-490 (~K1eine Schciften 1., S. 70-BI. [oben. S. 121-1321 und S. 82-92 [Gcs.
Wecke Bd. 3J).
55 Betti in seiner >Grundlegung( a.a.O. S. 115 (Anm. 47a) scheint in dem Mißverständ-
nis befangen, das ~ Vorverständnis( werde von Heideggcr und Bultmann gefordert, weil es
das Verstehen fördere. Richtig ist vielmehr, daß ein Bewußtsein des immer im Spiele
seienden Vorverständnisses zu verlangen ist. wenn man es mit der) Wissenschaftlichkeit,
ernst meint.
56 L. Steiger, Die Hermeneutik als dogmatisches Problem (Gütersloh 1961) sucht in
seiner tüchtigen Dissertation (aus der Schule H. Diems) die Besonderheit der theologi-
schen Hermeneutik herauszuarbeitcn. indem er die Kontinuität des transzendentalen
Ansatzes des theologischcn Verstehens von Sch1ciermacher über Ritschl und Harnack bis
zu Bultmann und Gogarten verfolgt und mit der Existenzdia1cktik der christlichen
Verkündigung konfrontiert.
Hermeneutik und Historismus 407
des Daseins heraus entwickelt worden. Das Seiende, dem es um sein Sein
geht, stellt sich durch sein Seinsverständnis als Zugangs\veg zu der Frage
nach dem Sein dar. Die Bnvegtheit des Seinsverstehens wird selbst als eine
geschichtliche, als die Grundverfassung der Geschichtlichkeit erwiesen. Das
ist fur Bultmanns Begriff des Selbstverständnisses von entscheidender Be-
deutung.
Dadurch unterscheidet sich dieser Begriff von dem der Selbsterkenntnis,
nicht nur in dem )psychologistischen< Sinne, daß in der Selbsterkenntnis
etwas Vorfindliches erkannt wird, sondern auch in dem tieferen spekulati-
ven Sinn, der den Geistbegriff des deutschen Idealismus bestimmt, wonach
das vol1endete Selbstbewußtsein im Anderssein sich selbst erkennt. Gewiß
ist etwa die Entfaltung dieses Selbstbe\vußtseins in Hegcls Phänomenologie
in entscheidender Weise durch die Anerkennung des anderen ermöglicht.
Das Werden des sclbstbewußten Geistes ist ein Kampf um Anerkennung.
Was er ist, ist, was er geworden ist. Gleichwohl handelt es sich in dem
Begriff des Selbstverständnisses, "vie er dem Theologen angemessen ist, um
etwas anderes 57 .
Das unverfugbar Andere, das extra nos, gehört zum unaufhebbaren Wesen
dieses Selbstverständnisses. Jenes Selbstverständnis, das wir in immer neuen
Erfahrungen am anderen und an den anderen erwerben, bleibt, christlich
gesehen, in einem \vesenhaften Sinne Unverständnis. Alles menschliche
Selbstverständnis hat am Tode seine absolute Grenze. Das kann man wahr-
lich nicht im Ernst gegen Bultmann ins Feld fUhren (Ott 163) und einen
)abschließenden< Sinn in dem Bultmannschen Begriff des Selbstverständnis-
ses finden wollen. Als ob das Selbstverständnis des Glaubens nicht eben die
Erfahrung des Scheiterns des menschlichen Selbstverständnisses wäre. Sol-
che Erfahrung des Scheiterns braucht nicht einmal christlich verstanden zu
werden. An jeder solchen Erfahrung vertieft sich menschliches Selbstver-
ständnis. Injedem Falle ist es ein ,Geschehen. und der Begriff des Selbstver-
ständnisses ein geschichtlicher Begriff. Aber es sol1- nach christlicher Lehre
- ein )letztes( solches Scheitern geben. Der christliche Sinn der Verkündi-
gung, die Verheißung der Auferstehung, die vom Tode erlöst, besteht
geradezu darin, das immer sich wiederholcnde Mißlingen des Selbstver-
ständnisses, sein Scheitern an Tod und Endlichkeit, im Glauben an Christus
57 Wie sehr die in vielem [ruchbare Analyse von Ott (Geschichte und Heilsgeschehen in
I
Gespräch mit der Tradition< aus dem Auge verlieren.
408 Anhänge
zu beenden. GC\\-Tiß bedeutet das nicht ein Heraustreten aus der eigenen
Geschichtlichkeit, wohl aber dies, daß der Glaube das eschatologische Ereig-
nis ist. Bultmann schreibt in )Gcschichte und Eschatologic(51l: »Die Parado-
xie, daß die christliche Existenz gleichzeitig eine eschatologische, unweltli-
ehe, und eine geschichtliche ist, ist gleichbedeutend mit dem lutherischen
Satz: Simul iustus simul peccalor.« Es ist in diesem Sinne, daß das Selbstver-
ständnis ein geschichtlicher Begriff ist.
Die an Bultmann anknüpfende neuere hermeneutische Diskussion scheint
nun in einer bestimmten Richtung über ihn hinauszudrängen. Wenn nach
Bultmann der Anspruch der christlichen Verkündigung an den Menschen
dahin geht, die Verfligung über sich selbst aufgeben zu müssen, so ist der
Anruf dieses Anspruches gleichsam eine privative Erfahrung der menschli-
chen Selbstverfligung. In dieser Weise hat Bultmann Heideggers Begriff der
Eigentlichkeit des Daseins theologisch interpretiert. Bei Heidegger freilich
ist der Eigentlichkeit die U neigentlichkeit nicht nur in dem Sinne beigesellt,
daß dem menschlichen Dasein das Verfallensein ebenso eigen ist wie die
,Entschlossenheit<, die Sünde (der Unglaube) ebenso wie der Glaube. Die
Gleichursprünglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit bei Hei-
degger weist vielmehr schlechthin über den Ansatz im Selbstverständnis
hinaus. Sie ist die erste Form, in der sich in Heideggers Denken das Sein
selbst in seiner Gegenwendigkeit von Entbergung und Verbergung zur
Sprache gebracht hat. 59 Wie Bultmann sich an die existenziale Analytik des
Daseins bei Heidegger anlehnte, um die eschatologische Existenz des Men-
schen zwischen Glaube und Unglaube zu explizieren, so läßt sich auch an
diese vom späteren Hcidcgger gcnaucr explizierte Dimension der Seinsfrage
theologisch anknüpfen, indem man die zentrale Bedeutung, die die Sprache
in diesem Seinsgeschehen hat, für die ,Sprache des Glaubens< heranzieht.
Schon in der spekulativ sehr gewandten hermeneutischen Diskussion, die
Ott geführt hat, findet sich im Anschluß an den Humanismus-BriefHeideg-
gers eine Kritik an Bultmann. Sie entspricht seiner eigenen positiven These
S. 107: »Die Sprache, in welcher die Wirklichkeit ,zur Sprache kommt<, in
und mit welcher somit die Reflexion über Existenz sich vollzieht, begleitet
die Existenz in allen Epochen ihres Sich-Ereignens. «( Die hermeneutischen
Ideen der Theologen Fuchs und Ebeling scheinen mir in ähnlicher Weise
vom späten Heidegger auszugehen, indem sie den Begriff der Sprache
stärker in den Vordergrund stellen.
Ernst Fuchs hat eine Hermene"tik vorgelegt, die er selbst ,Sprachlehre des
58 Diese Gifford-Lcctures R. Bultmanns sind dadurch von besonderem Interesse, daß sie
Problem in der Theologie. Die existenziale Interpretation, Tübingen 1959 und Marburger
Hermeneutik (1968).
61 Zur Frage nach dem historischenJesus, Ges. Aufs. 11, Tübingen 1960.
410 Anhänge
Geist in ihm sprach.« (409) Das Wort aber hat gegenüber dem Text - das ist
die kühne und doch unvermeidliche Konsequenz - den Primat, denn es ist
Sprachereignis. Damit soll offenbar gesagt sein, daß das Verhältnis von Wort
und Gedanken nicht das eines nachträglichen Errcichcns des Gedankens
durch das ausdrückende Wort ist. Das Wort ist vielmehr wie ein Blitz, der
trifft. Entsprechend hat Ebeling einmal formuliert: »Das hermeneutische
Problem erfahrt im Vollzug der Predigt seine äußerste Verdichtung. «"
Es kann hier nicht darüber berichtet vverden, wie von dieser Basis aus .. die
hermeneutischen Bewegungen im Neuen Testament{~ dargestellt werden.
Dabei dürfte die eigentliche Pointe darin erblickt werden, daß dic Tlieologie
nach Fuchs schon im Neuen Testament l)ihrem Ansatz nach der Streit
Z\vischcn einem von Anfang an drohenden Rechts- oder Ordnungsdenkcn
und der Sprache selbst ist~~h]. Die Aufgabe der Verkündigung ist die Umset-
zung ins Wort M .
Aller heutigen Kritik am historischen Objektivismus oder Positivismus
ist eines gemeinsam: die Einsicht, daß das sogenannte Subjekt der Erkennt-
nis von der Seins art des Objektes ist, so daß Objekt und Subjekt der gleichen
geschichtlichen Bewegtheit angehören. Der Subjekt-Objekt-Gegel1satz hat
zvvar dort seine Angemessenheit, wo das Objekt gegenüber der res cogitans
das schlechthin andere der res extensa ist. Die geschichtliche Erkenntnis aber
kann durch einen solchen Begriff von Objekt und Objektivität nicht ange-
messen beschrieben werden. Es kommt darauf an, mir GrafYorck zu reden,
den )generischen< Unterschied von )ontisch( und lhistorisch< zu erfassen,
d.li. das sog. Subjekt in der ihm zukommenden Seinsweise der Geschicht-
lichkeit zu erkennen. Wir hatten gesehen, daß Dilthey zur vollen Konse-
quenz dieser Einsicht nicht durchgedrungen ist, \venn auch in seiner Nach-
folge dieselbe gezogen wurde. Indessen fehlten [ur das Problem der Über-
\vindung des Historismus, \vie es et"\va von Ernst Troeltsch expliziert wor-
den ist, die begrifflichen Voraussetzungen.
62 Wort Gottes und Hermeneutik, Ztschr. f. Theol. u. Kirche, 1959.
63 Vgl. meinen Beitrag zur FS Bultmann a.a.Q. [,Heideggers Wege~, S. 29ff.: Ges.
Wecke ßd. 31.
04 Vielleicht wird das, -..vas in den Augen von Fuchs und Ebeling die meue hermeneuti-
6.'i Husserliana I-VIII. Vgl. die Beiträge von H. Wagner (Phil. Rundsch. L 1-23, 93-
123), D. Henrich (Phil. Rundseh. VI. 1-25) und L. Landgrebe (PhiL Rundseh. IX, 133).
H.-G. Gadamer (Phil. Rundsch. X, 1-49). Meine dort an den Auffassungsgesichtspunk-
ten Herbert Spiegdbergs geübte Kritik hat leider in einigen Punkten unrichtige Unterstel-
lungen begangen. Sowohl betreffs der Parole >zu den Sachen selbst< als auch zum Reduk-
tionsbegriff Husserls nimmt Spicgelberg durchaus im gleichen Sinne . .vie ich gegen
geläufige Mißverständnisse Stellung, was ich hier ausdrücklich berichtige. [Daß mit dem
Fortschreiten der Husserl-Ausgabe auch die Husserl-Intcrpretationen inzwischen ange-
wachsen und Jüngere am Werke sind, sei ausdrücklich vermerkt.]
66 Das heißt aber nicht: IEs gibt nichts Ewiges. Alles, was ist, ist geschichtlich. (
Vielmehr ist z. B. die Seinsart dessen, was ewig oder "\vas zeitlos ist, Gott oder die Zahlen,
von der >Fundamentalontologie<, welche am Dasein seinen Seinssinn erhebt, aus erst
richtig bestimmbar - vgl. etwa O. Beckers Arbeit über Mathematische Existenz, Jahr-
buch rur Philosophie und phänomenologische Foschung VIII (1927).
412 Anhänge
Sehr viel schwieriger wird die Sache aber, wenn man die im christlichen
Schöpfungsbericht gipfelnden Konsequenzen nicht auf sich nehmen will
und dennoch den alten teleologischen Kosmos, für den ja noch immer das
sog. natürliche Weltbewußtsein plädiert, dem Wandel der menschlichen
Geschichte entgegenstellen möchte". Wohl ist es richtig und einleuchtend,
daß das Wesen der Geschichtlichkeit erst mit der christlichen Religion und
ihrer Betonung des absoluten Augenblicks det Heilstat Gottes dem menscli-
lichen Denken zum Bewußtsein gekommen ist und daß dennoch vordem
schon die gleichen Phänomene des geschichtlichen Lebens bekannt waren,
nur daß sie ))urgeschichtlich{, verstanden wurden, sei es in der Herleitung der
Gegenwart aus einer mythischen Vorzeit, sei es im Verständnis derselben im
Blick auf eine ideale, ewige Ordnung.
Es ist wahr, daß etwa die Geschichtsschreibung eines Herodot, ja selbst
diejenige eines Plutarch, das Auf und Ab der menschlichen Geschichte sehr
wohl zu beschreiben weiß, als eine Fülle moralischer Exempla, ohne auf die
Geschichtlichkeit der eigenen Gegenwart und die Geschichtlichkeit des
menschlichen Daseins schlechthin zu reflektieren. Das Vorbild der kosmi-
schen Ordnungen, in denen alles Ab\.vcichende und Normwidrige flüchtig
vergeht und in den großen Ausgleich des Naturlaufs zurückgenommen
wird, vermag auch den Lauf der menschlichen Dinge zu beschreiben. Die
beste Ordnung der Dinge, der ideale Staat, ist in der Idee eine ebenso
dauerhafte Ordnung wie das Weltall, und wenn selbst eine ideale Verwirkli-
chung desselben nicht dauert, sondern neuer Verwirrung und Unordnung
Platz macht (die \.vir Geschichte nennen), so ist das die Folge eines Rechen-
fehlers der das Rechte wissenden Vernunft. Die rechte Ordnung ist ohne
Geschichte. Geschichte ist Verfalls geschichte und, allenfalls, Wiederherstel-
lung der rechten Ordnung71 •
Im Blick auf die tatsächliche menschliche Geschichte ist also der histori-
sche Skeptizismus - übrigens doch wohl auch nach christlich-rcformatori-
sehern Verständnis - allein vertretbar. Das Volar die Absicht und Einsicht, die
hinter Löwiths Aufdeckung der theologischen, insbesondere eschatologi-
schen Voraussetzungen der europäischen Geschichtsphilosophie in >Weltge-
schichte und Heilsgeschehen, stand. Die Einheit der Weltgeschichte zu den-
ken, ist, von Löwith her gesehen, das falsche Bedürfnis des christlich-
modernistischen Geistes. Nicht der ewige Gott und nicht der Heilsplan, den
er mit den Menschen verfolgt, darf na eh Löwith gedacht werden, \\'cnn man
die Endlichkeit des Menschen wirklich ernst nimmt. Man müßte auf den
ewigen Lauf der Natur blicken, um an ihm den Gleichmut zu lernen, der der
Winzigkeit des Menschendaseins im Wcltganzen allein angemessen sei. Der
»natürliche Wcltbcgriff«, den Lö"vith gegen den modernen Historismus
ebensosehr wie gegen die moderne Naturwissenschaft ausspielt, ist also, wie
man sieht, stoischer Prägung 72 • Kein anderer griechischer Text scheint Lö-
withs Absichten so gut zu illustrieren wie die pseudoaristotelische (helleni-
stisch-stoische) Schrift ,Von der Welt<. Kein Wunder. Offenbar ist der mo-
derne Autor so gut wie sein hellenistischer Vorfahr am Naturlauf nur so \veit
interessiert, als er das Andere zu der verzweifelten Unordnung der mensch-
lichen Dinge ist. Wer so die Natürlichkeit dieses natürlichen Weltbildes
verteidigt, geht also keineswegs von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen
aus - so wenig wie Nietzsche -, sondern von der schlechthinnigen Endlich-
keit des menschlichen Daseins. Seine Ablehnung der Geschichte ist eine
Spiegelung des Fatalismus, d. h. der Verzweiflung an einem Sinn dieses
Daseins. Sie ist keine Verneinung der Bedeutung der Geschichte, sondern
ihrer Deutbarkeit überhaupt.
Radikaler scheint mir die Kritik an dem Geschichtsglauben der Moderne,
die Leo Strauss in einer Reihe hervorragender Bücher zur politischen Philo-
sophie geübt hat. Er \\'ar Professor der politischen Philosophie in Chicago,
und es gehört zu den ermutigenden Zügen unserer in ihrenl Freiheitsspiel-
raum sich immer mehr verengenden Welt, daß ein so radikaler Kritiker des
politischen Denkens der Moderne dort wirkt. Man kennt jene querelle des
a"ciens et des modemes, die das literarische Publikum des 17. und 18. Jahrhun-
derts in Frankreich in Atem hielt. Wenn es auch mehr ein literarischer Streit
war, der die Verfechter der Unübertrefflichkeit der klassischen Dichter
Griechenlands und Roms mit dem literarischen Selbstbewußtsein der zeitge-
nössischen Schriftsteller im Wettbewerb zeigt, die damals am Hofe des
Sonnenkönigs eine neue klassische Periode der Literatur herauffUhrten, so
hat die Spannung dieses Streites am Ende doch zu seiner schließlichen
Auflösung im Sinne des geschichtlichen Bewußtseins gedrängt. Denn es
galt, die schlechthinnige Vorbildlichkeit der Antike zu begrenzen. Jene
72 Der Weltbegriff der neuzeitlichen Philosophie, Sb. d. Hd. Ak. d. W., phil.-hist. Kl.,
1960.
Hermeneutik und Historismus 415
erhielt, eines Tages auch vorbei sein könnte. Das gilt ganz gewiß, nicht weil
der Historismus sich sonst )widerspräche<, sondern wenn er es mit sich selbst
ernst meint. Man kann also nicht argumentieren: ein Historismus, der die
geschichtliche Bedingtheit aller Erkenntnis schlechthin )in alle Ewigkeit,
behauptet, widerspreche sich im Grunde selbst. Mit solchen Selbstwider-
sprüchen ist es eine eigene Sache73 , Auch hier muß man sich fragen, ob die
beiden Sätze: »Alle Erkenntnis ist geschichtlich bedingt« und »diese Er-
kenntnis gilt unbedingt« auf der gleichen Ebene liegen, so daß sie einander
widersprechen können. Die These ist ja nicht, daß man diesen Satz immer
fLir wahr halten wird - so wenig, wie man ihn schon immer fLir wahr
gehalten hat. Der Historismus, der sich ernst nimmt, \vird vielmehr damit
rechnen, daß Inan seine These eines Tages nicht mehr fUr wahr hält, d. h.
>unhistorisch, denkt. Aber ganz gewiß nicht deshalb, weil die unbedingte
Behauptung der Bedingtheit aller Erkenntnis nicht sinnvoll sei, sondern
,logischen< Widerspruch enthalte.
Indessen meint Strauss es wohl nicht im Sinne dieser Frage. Der bloße
Nachweis jedenfalls, daß dic Klassiker anders, unhistorisch dachten, sagt
noch nichts über die Möglichkeit, heute unhistorisch zu denken. Indessen
gibt es Gründe genug, die Möglichkeit, unhistorisch zu denken, nicht als
eine leere Möglichkeit anzusehen. Die treffenden ,physiognomischen( Be-
obachtungen, die Ernst Jünger zu dieser Frage häuft, könnten daftir spre-
chen, daß die Menschheit ,An der Zeitmauen angelangt ist14 . Was Strauss im
Auge hat, ist jedoch innerhalb des historischen Denkens gedacht und hat den
Sinn eines Korrektivs. Was er kritisiert, ist, daß das >geschichtliche< Ver-
ständnis überlieferter Gedanken beansprucht, diese Gedankenwelt der Ver-
gangenheit besser zu verstehen, als sie selber in der Lage war75 . Wer so
denke, schließe von vornherein die Möglichkeit aus, daß die überlieferten
Gedanken einfach wahr sein könnten. Das sei der geradezu universelle
Dogmatismus dieser Denkweise.
Das Bild des Historizisten, das Strauss hier zeichnet und bekämpft, ent-
spricht, wie mir scheint, jenem Ideal der vollendeten Aufklärung, das ich in
meinen eigenen Untersuchungen zur philosophischen Hermeneutik als die
Leitidee hinter dem historischen Irrationalismus Diltheys und des 19. Jahr-
hunderts bezeichnet habe. Ist es nicht ein utopisches Ideal von Gegenwart, in
dessen Lichte sich alle Vergangenheit sozusagen ganz enthüllt? Die Anwen-
dung der überlegenen Perspektive der Gegenwart auf alle Vergangenheit
scheint mir gar nicht das wahre Wesen des historischen Denkens, sondern
Schriften r, 179-191; Ges. Werke ßd. 4). [Vgl. auch meine Arbeit )Freundschaft und
Selbs!erkenntnis( in der FS fur Uvo Hölschcr, Würzburg 1985; Ges. Werke Bd. 7 und
meine Sammelrezcnsion zur Ethik in der Philos. Rdsch. 32 (1985), S. 1-261.
Hermeneutik und Historismus 419
les: epidosis eis auto. Der Sache nach glaube ich darin mit Strauss nicht
ernstlich zu differieren, sofern auch er die fosion oI hisrory Ql1d philosophicat
questio11S< in unserem heutigen Denken für unvermeidlich hält. Ich stimme
ihm zu, daß es eine dogmatische Behauptung wäre, darin einen schlechthin-
nigen Vorzug der Moderne zu erblicken. Ja, wieviel Vorgreifliches uns
undurchschaut beherrscht, wenn \vir in unsern durch die Tradition mannig-
fach versetzten Begriffen denken, und wieviel ein Rückgang auf die Väter
des Denkens uns lehren kann, zeigen die genannten Beispiele - die sich aus
Strauss' Schriften beliebig vermehren ließen - auf eindeutige Weise.
Jedenfalls darf man sich nicht zu dem Irrtum verleiten lassen, das Problem
der Hermeneutik stelle sich nur vom Standpunkte des modernen Historis-
mus. Zugegeben, daß für die Klassiker die Meinungen ihrer Vorgänger nicht
eigent1ich als geschichtlich andere, sondern gleichsam als zeitgenössisch
diskutiert wurden. Aber die Aufgabe der Hermeneutik. d. h. die Aufgabe
der Interpretation der überlieferten Texte, stellt sich auch dann, und wenn
solche Interpretation dort immer zugleich die Wahrheitsfrage einschließt, So
ist auch das vielleicht nicht so weit von unseren eigenen Erfahrungen im
Umgang mit Texten, als die Methodenlehre der historisch-philologischen
Wissenschaft wahrhaben will. Das Wort Hermeneutik wird bekanntlich auf
die Aufgabe des Dolmetschers zurückgefUhrt, etwas Unverständliches, weil
in fremder Sprache Gesprochenes - und sei es in der Göttersprache der
Winke und Zeichen - zu deuten und mitzuteilen. Das solcher Aufgabe
gewidmete Können ist wohl immer schon Gegenstand möglicher Besin-
nung und be\vußter Ausbildung gewesen. (Diese kann natürlich die Form
einer mündlichen Tradition gehabt haben, wie z. B. bei der delphischen
Priesterschaft.) Vollends aber ist die Aufgabe der Auslegung mit Entschie-
denheit gestellt, wo Schriftliehkeit besteht. Alles in der Schrift Fixierte hat
etwas Fremdes und steHt insofern die gleiche Verstehensaufgabe, wie das,
was in fremder Sprache gesprochen ist. Der Ausleger von Schriftlichem 'ivie
der Dolmetsch göttlicher oder menschlicher Rede hat Fremdheit aufzuheben
und Aneignung zu ermöglichen. Mag sein, daß diese Aufgabe sich kompli-
ziert, wenn der historische Abstand zwischen Text und Interpret bewußt
wird. Denn das bedeutet ja zugleich, daß die Tradition, die den überlieferten
Text und seinen Interpreten gemeinsam trägt, brüchig geworden ist. Aber
ich glaube, daß man unter der Wucht der falschen methodischen Analogien,
die die Naturwissenschaften suggerieren, die >historische< Hermeneutik viel
zu weit vonjener vorhistorischen Hermeneutik abrückt. Ich habe zu zeigen
gesucht, daß mindestens ein beherrschender Zug gemeinsam ist: die Struk-
tur der Applikation".
Es wäre reizvoll, den wesentlichen Zusammenhang Z\.vischen Hermeneu-
tungen nicht anzweifeln - sie leuchten mir weitgehend ein -, aber ich möchte
eine Gegenerwägung anstellen, die vielleicht auch in diesen Fällen, ganz
sicher aber in anderen Fällen, z.13. im Falle Platos, ihr Recht hat. Ist die
bewußte Verstellung, die Tarnung und das Versteck der eigenen Meinung
nicht in Wahrheit der seltene Extremfall zu einer häufigen, ja zu einer
allgemeinen Normalsituation? Genau wie Verfolgung (obrigkeitliche oder
kirchliche, Inquisition u. dgl.) nur ein Extremfall ist, im Vergleich zu dem
ungewollten oder gewollten Druck, den Gesellschaft und Öffentlichkeit auf
das menschliche Denken ausüben. Nur wenn man sich des kontinuierlichen
Übergangs vom einen zum anderen ganz bewußt ist, ermißt man die herme-
neutische Schwierigkeit des Problems, das Strauss angepackt hat. Wie will
man zu eindeutiger Feststellung von Verstel1ung kommen? So ist es m.E.
keineswegs eindeutig, wenn man bei einem Schriftstel1er widersprechende
Aussagen findet, die versteckte und gelegentliche - wie Strauss meint - fLir
die Aussage seiner wahren Meinung zu halten. Es gibt durchaus auch einen
unbewußten Konformismus des menschlichen Geistes, das, was al1gemein
einleuchtet, auch wirklich für wahr zu halten. Und es gibt umgekehrt einen
unbewußten Drang, extreme Möglichkeiten zu probieren, auch wenn sie
sich nicht immer zu einem kohärenten Ganzen vereinigen lassen. Der expe-
rimentcHe Extremismus Nietzsches ist dafür ein unwiderlegliches Zeugnis.
Widersprüchlichkeiten sind zwar ein vorzügliches Wahrheitskriterium, aber
leider kein eindeutiges Kriterium beim hermeneutischen Geschäft.
So ist es mir beispielsweise ganz sicher, daß der zunächst sehr einleuchten-
de Satz von Strauss, wenn ein Autor Widersprüche zeige, die ein heutiger
Schulbube ohne weiteres durchschauen würde, dann seien dieselben beab-
sichtigt, ja sogar zum Durchschauen bestimmt, auf die sogenannten Argu-
mentationsfehler des platonischen Sokrates nicht anwendbar ist. Nicht etwa
deshalb, weil wir uns da in den Anfangen der Logik bewegen (wer das
meint, verwechselt logisches Denken mit logischer Theorie), sondern weil
es das Wesen einer auf die Sache gerichteten GesprächsfLihrung ist, Unlogik
in Kauf zu nehmen81 •
Die Frage hat allgemeine hermeneutische Konsequenzen. Es geht um den
Begriff der Meinung des Autors. Ich sehe davon ab, welche Hilfsstellung die
Jurisprudenz mit ihrer Lehre von der Gesetzesauslegung hier zu bieten
vermöchte. Ich will mich nur darauf berufen, daß jedenfalls der platonisclie
Dialog ein Muster beziehungsvoller Vieldeutigkeit ist, der gerade Strauss oft
Wichtiges abgewinnt. Sollte die mimetische Wahrheit, die die sokratische
Gesprächsftihrung bei Plato hat, so zu unterschätzen sein, daß man diese
Sl Die Diskussion dieses Problems scheint mir noch immer nicht auf dem rechten
Punkt, wie die an sich beachtenswerte Anzeige der Schrift von R. K. Sprague: ,Plato's Use
ofFallacy, durch Kl. Oehler, Gnomon 1964, S. 335ff. m.E. zeigt.
422 Anhänge
Vieldeutigkeit nicht in ihr selbst, ja, in Sokrates selbst, erbhckt' Weiß ein
Autor wirklich so gen au und injedcm Satze, was er meint? Das wunderliche
Kapitel philosophischer Selbstinterpretation - ich denke et\va an Kant, an
Fichte oder an Hcidcgger - scheint mir eine deutliche Sprache zu sprechen.
Wenn die von Strauss gestellte Alternative [ichtig sein sollte, daß ein philo-
sophischer Autor entweder eine eindeutige Meinung hat oder konfus ist,
dann gibt es, fUrchte ich. in vielen strittigen Auslegungsfragen nur eine
hermeneutische Konsequenz: den Fall der Konfusion für gegeben zu
erachten.
Ich habe mich für die Struktur des hermeneutischen Vorgangs ausdrück-
lich auf die aristotelische Analyse der Phroncsis berufen,s2. Im Grunde habe
ich damit eine Linie wciterverfolgt, die Heidegger schon in seinen frühen
Freiburger Jahren eingeschlagen hat, als es ihm gegen den Neukantianismus
und die Wertphilosophie (und in letzter Konsequenz wohl auch schon gegen
Husserl selbst) auf eine lHermeneutik der Faktizität< ankam. Gewiß \vird für
Heidegger schon in seinen frühen Versuchen die ontologische Basis des
Aristoteles suspekt gewesen sein, auf der die ganze moderne Philosophie,
insbesondere der Begriff der Subjektivität und der des Bewußtseins sowie
die Aporien des Historismus ihren Stand haben (was dann in lSein und Zeit<
»Ontologie des Vorhandenen« hieß). In einem Punkt war aber die aristoteli-
sche Philosophie damals rurHeidegger viel mehr als ein bloßes Gegenbild,
nämlich ein wirklicher Eideshelfer fLir seine eigenen philosophischen Inten-
tionen: in der aristotelischen Kritik am )allgemeinen Eidos< Platos und
positiv in dem Aufweis der analogischen Struktur des Guten und seiner
Erkenntnis, wie sie in der Situation des Handelns die Aufgabe ist.
Was mich an Strauss' Verteidigung der klassischen Philosophie am mei-
sten wundert, das ist, "vie sehr er sie als eine Einheit verstehen möchte, so
daß ihm der extreme Gegensatz. der z"vischen Plato und Aristoteles durch
die Art und den Sinn der Frage nach dem Guten besteht, keine Sorgen zu
bereiten scheint. iU Mir sind die frühen Anregungen. die ich von Heidegger
empfing, u. a. in der Weise fruchtbar geworden, daß mir die aristotelische
Ethik ganz ungesucht die tiefere Durchdringung des hermeneutischen Pro-
blems erleichterte, Ich glaube zu sehen, daß das durchaus kein Mißbrauch
aristotelischen Dcnkens ist, sondern eine uns allen von dort her mögliche
Belehrung aufzeigt, eine Kritik des Abstrakt-Allgemeinen, wie sie, ohne im
Stile Hegels dialektisch zugespitzt zu werden und damit auch ohne die
unhaltbare Konsequenz, die der Begriff des absoluten Wissens darstellt, mit
R4 Heidelberg 1956.
f!5))Es ist ein hoffnungsloses Bemühen, in Aufschau zur Idee des )wahren( Staates nach
Anweisung der Norm der Gerechtigkeit feststellen zu wollen, welche besondere Ordnung
der gemeinsamen Dinge es nun eigentlich ist, die hic et nunc der allgemeinen Forderung
zur Verwirklichung verhelfen würde.« (88) In seiner Schrift ~ Über das Allgemeine im
Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis« (vom Jahre 1940) hat Litt das näher
begründet.
424 Anhänge
gestellte Problem keineswegs rur erledigt. Es könnte immerhin sein, daß die
aristotelische Kritik - wie so manche Kritik - zwar recht hat in dem, was sie
sagt, aber nicht gegen den, gegen den sie es sagt. 86 Doch das ist ein weites
Feld.
1969
Wenn die Jahre von 1955 bis 1965 als eine Einheit überschaut werden sollen,
deren Spezifisches es zu beschreiben gilt, so ist dieser Zeitraum zunächst von
der vorausgegangenen Dekade abzuheben, die durch eine Art Nachholbe-
darf bestimmt war: sie hatte die Abschnürung aufzulösen, die durch die
Zäsur des zweiten Weltkrieges und seine Vorgestalten das Denken in allen
Ländern von den nachbarlichen Einflüssen abgeschieden hatte. Während die
Kommunikation mit der Philosophie in den Ländern des Ostblocks noch
heute aus mannigfachen Gründen gestört ist, wurden nach dem Ende des
zweiten Weltkrieges mit einer rur das Herüberwirken der Philosophie von
einem Sprachraum in den anderen üblichen Zeitversetzung vor allem fran-
zösische und englisch-amerikanischc Philosopheme in Mittcleuropa wirk-
sam, und umgekehrt von Deutschland aus die phänomenologische und
existentialistische Philosophie vor allem auf Frankreich, Italien usw,. dann
auch auf Amerika. Sartre und Merleau-Ponty, Whitehead, Russcll und
Wittgenstein, Husserl und Heidegger wurden wechselseitig rezipiert und
bildeten eine Basis, von der neue Entwicklungen ihren Ausgang nehmen
konnten, die in den letzten zehn Jahren sichtbar wurden. Zu ihnen gehört
unstreitig die Hermeneutik.
Ehedem, in der deutschen Romantik, war die Hermeneutik durch Schlei-
ermacher an die zentralen Fragen der Philosophie einen Schritt herangeHihrt
worden, sofern Schleiermacher, inspiriert durch die Philosophie des Dia-
logs, wie sie vor allem Friedrich Schlegel vorschwebte, von der metaphysi-
schen Bedeutung der Individualität ausgeht ud von ihrer Hinordnung auf
das Unendliche. Im Anschluß an ihn hat die Hermeneutik durch Wilhelm
Dilthey ihre philosophische Prägung erfahren. Im Jahre 1966 ist erstmals in
den zu einem zweiten Bande vereinigten Diltheyschen Materialien zum
Leben Schleiermachers die große Hermeneutik-Studie des jungen Dilthey"
veröffentlicht worden, von der wir bisher nur Teile durch die Akademieab-
handlung von 1900 kannten. Sie zeigt u. a., wie die Wurzeln der philo-
sophischen Problematik der Hermeneutik im deutschen Idealismus liegen,
aber nicht nur in Schleiermachers dialektischer Umschreibung des Verste-
87 W. Dilthey, Leben Schleiermachers, 11, 2 (ed. M. Redeker), Berlin 1966.
426 Anhänge
he11s als des Ineinanderwirkens von Subjektivität und Objektivität, von In-
dividualität und .Identität, sondern vor allem in Fichtes Kritik an dem dog-
matischen Begriff von Substanz und den Möglichkeiten. die Fichte bereit-
stellte, den Begriff der historischen Kraft zu denken, sowie in Hegels Über-
steigung des >subjektiven< zum >objektiven< Geist hin. Dilthey erkannte mit
Recht die bahnbrechende Bedeutung von Droysens )Historik( rur die Me-
thodenlehre der Geisteswissenschaften, sofern Droysen das idealistische
Erbe für ein angemessenes Se1bstverständnis der historischen Methode
fruchtbar machte. Das Erbe dieser idealistischen Hernlcncutik ist bis heute
lebendig. Wir verdanken eine ausgezeichnete systematische Darstellung
derselben und ihrer neueren Fortentwicklung dem Rechtshistoriker Emilio
Betti, dessen hermeneutisches }Manifest(88 in deutscher Sprache die Summe
dieser Tradition zog (vgI. Bctü"<)) und in einem umfassenden Werk90 seine
systematische Ausftihrung fand.
Inzwischen vnr jedoch die wissenschaftstheoretische Dimension, in der
von Dilthey bis Betti das idealistische Denken ftir die Hermeneutik genutzt
\-vorden war, grundsätzlich überschritten worden. Schon Schleier macher
hatte die innere Verschränkung von Sprechen, Verstehen und Auslegen zur
Geltung gebracht und die traditionelle Bindung des hermeneutischen Ge-
schäfts an >schriftlich fixierte Lebensäußerungcu> (Dilthey) gelöst, um dem
lebendigen Gespräch seinen hernleneutischen Rang einzuräumen. Aber
auch in der wissenschaftstheoretischen Verengung, welche die Hermeneutik
im 19. Jahrhundert erneut erfuhr, ließen sich die inneren Schwierigkeiten
nicht verbergen, die einer vOlllldealismus inspirierten allgemeinen Interpre-
tationslehre entgegenstehen. Wie die juristische Hermeneutik, die eine
rechtsschöpferische Funktion beansprucht, mit der hermeneutischen Me-
thodik der Geistes\:>Olissenschaften zusammenhängen sollte, war ebenso dun-
kel wie der reproduktive Sinn von Interpretation, der in Theater und Musik
eine so augenfallige Rolle spielt. Beides weist über die Fragestellung der
Wissenschaftstheorie hinaus. Das gilt ferner ftir die Theologie. Denn wenn
auch die theologische Hermeneutik ftir den Akt des Verstehens der Heiligen
Schrift keine anderen Inspirations- oder Offenbarungsquellen in Anspruch
nehmen will- das kerygmatische Geschehen der Bibelaus1cgung, wie es in
Predigt oder individueller Seelsorge vor sich geht, läßt sich als hermeneuti-
sches Phänomen doch auch nicht einfach ausklammern oder auf die wissen-
7 (1978), S. 5-12.
<iO E. Betti, Teoria generale dell'interprctazione, 2 Bde., Milano 1955 - Gekürzte dt.
91 K. Jaspers, Philosophie 3 Bde., Berlin 1932 und ders., Vernunft und Existenz. Fünf
vollendete Eindeutigkeit besäße, ihren Anfang nahm. An die Stelle des zur
technischen Hilfsdisziplin herabsinkenden Logikkalküls und der Axiomati_
sierung von Sprache trat die Analyse der wirklich gesprochenen Sprache
(ordillary language). Dabei blieb die metaphysikkritische Absicht im Prinzip
die gleiche, war aber mit der positiven Erwartung verbunden, daß die
Neuorientierung an der lebendig gesprochenen Sprache nicht nur Schein-
probleme entlarven, sondern Probleme lösen lehre. Diese Wendung wurde
insbesondere durch die große Nachlaßveröffentlichung von Wittgensteins
Philosophischen Untersuchungen (1953) ins Breite hinein wirksam, zumal diese
Schrift eine ausdrückliche Kritik an den eigenen nominalistischen Vorausset-
zungen übte, die seinem Tractatus (1921) ebenso wie der Ausbildung der
Wiener Schule, vor allem auch Carnap, zugrundclagen. Die Idee einer
Sprachnormierung unter dem Ideal der Eindeutigkeit wurde nun durch die
Lehre von den Sprachspielen ersetzt. Ein jedes solches Sprachspiel ist eine
funktionale Einheit, die als solche eine Lebensform darstellt. Philosophie
bleibt Metaphysik-Kritik und Sprach-Kritik, aber auf dem Boden eines von
innerer Geschichtlichkeit erflillten hermeneutischen Geschehens.
Hermeneutisch darf man das hier einsetzende analytische Geschäft der
Philosophie insofern nennen, als hier keine künstliche Herrichtung von
Informationsmitteln, auch keine Theorie der Information oder eine allge-
meine Zeichenlehre den Ausgangspunkt bildet, von dem aus die Syntax der
Sprache aufgebaut und ihre kommunikative Leistung dargestellt würde.
Hier wird vielmehr das Lebens- und Sprachverhalten selber beschrieben, das
sich seine eigenen Regeln und seine eigenen Aufbauformen verschafft. Ge-
messen am Gegenpol der sog. Informationstheorie stellt mithin die Herme-
neutik die andere Seite der Betrachtungsweise dar, sofern sie das Sprachge-
schehen nicht aus elementareren Prozessen, sondern aus seinem eigenen
Lebensvollzug aufzuklären unternimmt.
Dem kam von seiten der Wissenschaften mancherlei entgegen. Herme-
neutik ist seit alters ein integrierender Bestandteil der Theologie. Vor allem
mußte durch die Kritik, die die dialektische Theologie am Reden von Gott
geübt hat, und seit die historisclie Theologie des Liberalismus sich vor die
Aufgabe gestellt sah, ihren eigenen Wissenschafts anspruch mit dem keryg-
matischen Sinn der Heiligen Sclirift und ihrer Auslegung in Einklang zu
setzen, die hermeneutische Problematik neu aufleben. So hat Rudolf Bult-
mann93 , erbitterter Gegner aller Inspirationstheorie und pneumatischen Ex-
egese und zugleich ein Meister der historischen Methode, dennoch das
vorgängige Scinsverhältnis des Verstehenden zu seinem Text zur Anerken-
nung gebracht, indem er an dem Verhältnis zur Heiligen Schrift ein mit der
93 R. Bultmann, Die Frage der Entmythologisierung, München 1954 und ders., Glau-
ben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, 2 Bde. Tübingen t 933 (2. Aufl. 1952).
430 Anhänge
Tübingen 1959 und ders., Hermeneutik, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, ed.
K. Galling, Val. III, Tübingen 1959,
96 Vgl. auch die amerikanische Rezeption dieser Anstöße in J. M. Robinson & J. B.
Cobb, The New Hermeneutics, Ne\\" York 1965 und R. W. Funk, Language, Hermeneu-
tics, and Ward ofGod, Ne . . v. York 1966,
97 K. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3, AufI. , Heidelberg 1963
und ders., Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtwissenschait unserer Zeit,
Abh. der Heidelberger Akad, d, Wiss., Phil,-hist. Klasse 1953.
9l; T. Vieh\.,.'eg, Topik und Jurisprudenz. Ein Beitrag zur rechts\vissenschaftlichen
Seite aus eine ähnliche Bestrebung seit langem wirksam, indem durch
Chaim Perelman und seine Mitarbeiter die logische Eigenbedeutung der in
Recht und Politik gepflogenen Argumentation gegen die \vissenschaftsthco-
retische Logik verteidigt \vurdeJ(lJ. Hier wird zwar mit den Mitteln der
logischen Analyse, aber in der Absicht, die Verfahrensweisen des überzeu-
genden Redens gerade gegen die Form des logisch-zwingenden Heweisens
abzuheben, der ältere Anspruch der Rhetorik gegenüber dem wissenschaft-
lichen Positivismus geltend gemacht. Es war unausbleiblich, daß sich ange-
sichts der Einseitigkeit der modernen Wissenschaftstheorie und Philosophy 01
Science das philosophische Interesse langsam wieder der Tradition der Rhe-
torik zuwendete und ihre Wiederbelebung forderte. 102 Auch dies nlußte dem
Probleminteresse an der Hermeneutik zugutekommen. Denn sie hat mit der
Rhetorik die Abgrenzung gegen den Wahrheits begriff det Wissenschafts-
theorie und die Verteidigung ihres autonomen Rechtes gemeinsam. Dabei
bleibt eine noch zu entscheidende Frage, ob die geschichtlich legitimierte
Entsprechung von Rhetorik und Hermeneutik sachlich wirklich in vollem
Umfange zutrifft. Gewiß stammen die meisten Begriffe der klassischen
Hermeneutik seit Melanchthon aus der rhetorischen Tradition des Alter-
tums. Auch ist das Element der Rhetorik, der Bereich der persuasive argu-
ments, nicht auf die forensisch-publiken Gelegenheiten des kunstvollen Redc-
gebrauchs eingeschränkt, sondern scheint sich mit dem universalen Phäno-
men des Verstehens und der Verständigung mit zu weiten. Aber eine unauf-
hebbare Schranke besteht seit alters zwischen der Rhetorik und der Dialektik
im antiken Sinne des Wortes. Der Prozeß der Verständigung setzt tiefer in
der Sphäre der intersubjektiven Kommunikation ein und umfaßt z.13. auch
all die Formen, in denen Einverständnis durch Sch\.veigen zustandekommt.
wie M. Polanyi l01 gezeigt hat, und ebenso die außersprachlichen, mimischen
Kommunikacionsphänomene wie Lachen und Weinen, deren hermeneuti-
sche Bedeutung uns H. P1essncr 1CJ4 gelehrt hat.
Aber noch ein anderer Zusammenhang verdient Erwähnung, und das ist
das problematische Verhältnis, in dem sich die Poetik heute gegenüber der
Rhetorik findet. Auch das hat eine hermeneutische Seite. Ursprünglich, und
bis auf die Tage Kants und der Entthronung der Rhetorik durch die Genie-
Aesthetik und den Erlebnisbegriff, waren beide Disziplinen geschwisterlich
Italien L. Pareyson 108 die Problematik der Aesthetik von diesem Gesichts-
punkt aus neu belebt. Der Unterzeichnete hat in >Wahrheit und Methode(l09
aufähnliche Weise versucht, den Wahrheitsanspruch der Philosophie von der
Erfahrung der Kunst her gegen die naive Selbstinterpretation der modernen
Wissenschaft abzusichern. Daß insbesondere die Poesie - aber in Wahrheit
nicht nur sie, sondern alle Kunst, die uns etwas zu sagen hat - nicht erst
durch die Wissenschaft von der Dichtkunst oder der Kunst überhaupt in
unser menschliches Selbstverständnis integriert wird, sondern immer schon
integriert ist und an unserem Selbstverständnis mitbildet, legitimiert den
Anspruch der philosophischen Hermeneutik, dies Selbstverständnis in sei-
nen formalen und inhaltlichen Bedingungen zu erfassen und auf den Begriff
zu bringen.
In Wahrheit ist es aber nicht nur das Erbe des äesthetischen Humanismus,
das in die Fragestellung der Hermeneutik eingeht, sondern gerade auch das
Erbe der alten scientia practica. Sie war nicht nur von ihrem originären
Entwurf in der aristotelischen Ethik und Politik her llo gegenüber dem
Wissenschafts begriff der antiken Episteme (dem von dem, was man heute
Wissenschaft nennt, nur die Mathematik wahrhaft Genüge tat) als eine
eigene Weise des Wissens abgehoben (al1o eidos gnoseos ll1 ). Sie ist auch gegen-
über dem modernen Wissenschaftsbegriffund seiner technischen Umwen-
dung von eigener - dem allgemeinen Bewußtsein freilich entschwundener-
Legitimität. Es ist die Aufgabe der Hermeneutik, auch auf die Sonderbedin-
gungen von Wissen zu reflektieren, die hier bestimmend sind. Aristoteles
hat in dem Begriff des ,Ethos< (und seiner Bildung unter der prägenden Kraft
der ,Nomoi<, d. h. der gesellschaftlichen Institutionen und der Erziehung in
ihnen) diese Bedingungen zusammengefaßt, die rur die vita praetica allein
echtes Wissen möglich machen. Das hat auch in der Gegenwart seine Rolle
gespielt, sofern es gerade diese gegen Platos Ideenlehre kritischen Momente
der aristotelischen Philosophie waren, die sich einer Hermeneutik der Fakti-
zität als Eideshelfer anboten. Sie sind aber weit darüber hinaus unzweideuti-
ge Zeugen darur, daß die gesellschaftlichen Bedingungen unseres Wissens
das Ideal der voraussetzungslosen Wissenschaft zu tangieren vermögen.
Daher gehört es zu den Aufgaben einer radikalen hermeneutischen Besin-
nung, auch dieses Ideal der Voraussetzungslosigkeit zu prüfen. Dabei soll
gewiß nicht vergessen werden, welchen Befreiungsimpuls das Wort von der
für Rechts- und Sozial philosophie 52 (1966), jetzt auch in: Ders., Metaphysik und Politik
Studien zu Aristote1es und Hegel, Frankfurt 1969.
111 Aristote1es, Ethica Nicomachea Z 7, 1141 b 33.
434 Anhänge
112 K. Popper, The Poverty ofHistoricism, London 1937. - Dt.: Das Elend des Histori-
die Kunst (deren Begrifflosigkeit [Kam] sie zum Vorzugsbeispiel von Inter-
pretation macht [Dilthey j), bis zu allen bewußten oder unbewußten Motiva-
tionen des menschlichen Handelns reicht der Anspruch der Interpretation.
Sie will die nicht auf der Hand liegenden, sondern dahinterliegenden wahren
Sinnbestimmtheiten des menschlichen Handelns aufweisen, mag sie das in
der Weise tun, daß sich das wirkliche Scin eines jeden als das Sein seiner
eigenen Geschichte enthüllt (P, Ricceur'''), und so, daß die gesellschaftlichen
und geschichtlichen Bedingungen unseres Denkens uns undurchschaut be-
stimmen. Psychoanalyse wie Ideologiekritik, einander feindlich entgegen-
gesetzt oder in skeptizistischer oder utopistischer Synthese verbunden
(Adorno, Marcuse), müssen nochmals einer hermeneutischen Reflexion
unterzogen werden. Denn was so durchschaut und verstanden wird, ist vom
Standort des Interpreten nicht unabhängig. Kein Interpretationsrahmen ist
beliebig und noch viel weniger objektiv gegeben. Dem Objektivismus des
Historismus und der positivistischen Wissenschaftstheorie weist die herme-
neutische Reflexion nach, wie in ihm unerkannte Voraussetzungen bestim-
mend sind. Insbesondere hat die Wissenssoziologic und die marxistischc
Ideologiekritik hier ihre hermeneutische Fruchtbarkeit bewiesen. Nur durch
kritische Bewußtheit und wirkungs geschichtliche Reflexion kann der Er-
kenntnis\vert solcher Interpretationen gesichert werden. Es spricht nicht
gegen den Erkenntniswert derselben, daß sie nicht die Objektivität von
science haben. Aber erst eine hermeneutisch-kritische Reflexion, die in ihnen
bewußt oder unbewußt arn Werke ist, läßt ihre Wahrheit hervorkommen.
Die philosophische Hermeneutik bringt sich grundsätzlich zum Bewußt-
sein, daß der Erkennende mit dem, was sich ihm als sinnvoll zeigt und
aufschließt, auf unlösbare Weise zusammengehört. Sie leistet nicht nur eine
Kritik am Objektivismus der Historie und an dem positivistischen Erkennt-
nisideal des Physikalismus, den die Unity aiScien" durch die Einheitsmetho-
de der Physik zu begründen beansprucht, sondern ebensosehr eine Kritik an
der Tradition der Metaphysik. Eine der Grundlehren der Metaphysik, näm-
lich daß Sein und Wahrsein prinzipiell dasselbe sind - fur den unendlichen
Intellekt der Gottheit, deren Allgegenwart die Metaphysik als die Gegen-
wart von allem, was ist, denkt - wird unhaltbar. Ein solches absolutes
Subjekt ist ftir die endlich-geschichtliche Seinsweise des Menschen und
seiner Erkenntnismöglichkeiten nicht einmal ein approximatives Ideal.
Denn es gehärt zum Sein des Erkennenden, daß es so wenig Gegenwart ist
wie all das, was als Zukunft und als ihn bestimmende Vergangenheit fur ihn
ist.
Aus demselben Grunde verfallt die moderne Bewußtseinsphilosophie
einer kritischen Destruktion. Ihre Grundlagen erweisen sich als die der
116 Ich habe dabei vor allem die folgenden Stellungnahmen im Auge, zu denen noch
1. Nachwort zu: M. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart 1960 [Ges.
Werke Bd. 3].
2. HegelunddicantikeDialektik, Hcgd-Stud. I, 1961, S. 173-199. [Ges. WerkeBd. 3].
438 Anhänge
So sei Absicht und Anspruch des Ganzen noch einml kurz umrissen:
Offenbar hat es zu Mißverständnissen geführt, daß ich den durch eine alte
Tradition belasteten Ausdruck der Hermeneutik aufgriff1 18 , Eine )Kunstleh-
re~ des Vcrstchcns, wie es die ältere Hermeneutik sein wollte, lag nicht in
tneincr Absicht. Ich wollte nicht ein System von Kunstregeln entwickeln,
die das methodische Verfahren der Geisteswissenschaften zu beschreiben
oder gar zu leiten vermöchten. Meine Absicht \var auch nicht, die theoreti-
schen Grundlagen der geisteswissenschaftlichen Arbeit zu erforschen, um
die gewonnenen Erkenntnisse ins Praktische zu wenden. Wenn es eine
praktische Folgerung aus den hier vorgelegten Untersuchungen gibt, so
jedenfalls nicht eine ftir unwissenschaftliches >Engagement<, sondern für die
)wissenschaftliche< Redlichkeit, sich das in allem Verstehen wirksame Enga-
gement einzugestehen. Mein eigentlicher Anspruch aber war und ist ein
philosophischer: Nicht, was wir tun, nicht, was \vir tun sollten, sondern \vas
über unser Wollen und Tun hinaus mit uns geschieht, steht in Frage.
Insofern ist von den Methoden der Geisteswissenschaften hier überhaupt
nicht die Rede. Ich gehe vielmehr davon aus, daß die historischen Geistes-
wissenschaften, wie sie aus der deutschen Romantik hervorgingen und sich
mit dem Geist der modernen Wissenschaft durchdrangen, ein humanisti-
sches Erbe verwalten, das sie gegenüber allen anderen Arten moderner
Forschung auszeichnet und in die Nähe ganz andersartiger außerwissen-
schaftlicher Erfahrungen, insbesondere der der Kunst, bringt. Das hat ge-
wiß auch seine wissenssoziologische Seite. In Deutschland, das immer ein
vorrevolutionäres gewesen ist, war es die Tradition des ästhetischen Huma-
nismus, die mitten in der Entfaltung des modernen Wissenschaftsgedankens
lebendig fortwirkte. In anderen Ländern mag mehr politisches Be"vußtsein
Bd.1, S.77ff.), hat schon vor Jahrzehnten mit dem bedeutenden Buch W. Benjamins,
,Der Ursprung des deutschen Trauerspiels< (1927) eingesetzt.
124 Ich kann mich hier auf die - freilich anders akzentuierten - Darlegungen H. Sedl-
mayrs berufen, die jetzt unter dem Titel ,Kunst und Wahrheit< gesammelt sind. Vgl. vor
allem S. 87 ff.
442 Anhänge
baren selber relativ sein. Aber ist Verstehen überhaupt der alleinige und der
adäquate Zugang zu der Wirklielikeit der Geschichte? Offenbar droht von
diesem Aspekt her die Gefahr, die eigentliche Wirklichkeit des Geschehens,
insbesondere die Absurdität und die Kontingenz desselben, abzuschwächen
und in eine Form der Sinnerfahrung zu verfj.lschen.
So war es zwar die Tendenz meiner eigenen Untersuchung, der Historik
Droysens und Diltheys nachzuweisen, wie sie aller Opposition der histori-
schen Schule gegen Hegels Spiritualismus zum Trotze der hermeneutische
Ansatz dazu verfuhrt hat, die Geschichte als ein Buch zu lesen, d. h. aber als
ein bis zum letzten Buchstaben sinnvolles. Bei allem Protest gegen eine
Philosophie der Geschichte, in der die Notwendigkeit des Begriffs den Kern
alles Geschehens ausmacht, kam die historische Hermeneutik Diltheys nicht
daran vorbei, Geschichte in Geistesgeschichte gipfeln zu lassen. Das war
meine Kritik. Dennoch: Wiederholt sich nicht diese Gefahr auch dem gegen-
wärtigen Versuch gegenüber? Indes, die traditionelle Begriffsbildung, ins-
besondere der hermeneutische Zirkel von Ganzem und Teil, von dem mein
Versuch der Grundlegung der Hermeneutik ausgeht, braucht eine solche
Konsequenz nicht zu haben. Der Begriff des Ganzen ist selber nur relativ zu
verstehen. Das Ganze von Sinn. das es in der Geschichte oder der Überliefe-
rung zu verstehen gilt, meint niemals den Sinn des Ganzen der Geschichte.
Die Gefahr des Doketismus scheint mir dort gebannt, wo die geschichtliche
Überlieferung nicht als Gegenstand eines historischen Wissens oder philo-
sophischen Begreifens, sondern als ein Wirkungsmoment des eigenen Seins
gedacht ist. Die Endlichkeit des eigenen Verstehens ist die Weise, in der sich
die Realität, der Widerstand, das Absurde und Unverständliche geltend
macht. Wer diese Endlichkeit ernst nimmt, muß auch die Wirklichkeit der
Geschichte ernst nehmen.
Es ist das gleiche Problem, das die Erfahrung des Du rur alles Selbstver-
ständnis so entscheidend macht. In meinen Untersuchungen nimmt das
Kapitel über die Erfahrung eine systematische Schlüsselstellung ein. Dort
wird von der Erfahrung des Du her auch der Begriff der wirkungsgeschicht-
lichen Erfahrung beleuchtet. Denn auch die Erfahrung des Du zeigt die
Paradoxie, daß etwas, was mir gegenüber steht, sein eigenes Recht geltend
macht und zur schlechthinnigen Anerkennung nötigt - und eben damit
>verstanden< wird. Aber ich glaube richtig gezeigt zu haben, daß solches
Verstehen gar nicht das Du versteht, sondern das, was es uns Wahres sagt.
Ich meine damit solche Wahrheit, die einem nur durch das Du sichtbar wird,
und nur dadurch, daß man sich von ihm etwas sagen läßt. Genauso ist es mit
der geschichtlichen Überlieferung. Sie verdiente gar nicht das Interesse, das
wir ihr erweisen, wenn sie uns nicht etwas zu lehren hätte, was wir aus
Eigenem nicht zu erkennen vermögen. Der Satz ) Sein, das verstanden
werden kann, ist Sprache<l muß in diesem Sinne gelesen werden. Er meint
446 Anhänge
nicht das schlechthinnige Herrsein des Verstehenden über das Sein, sondern
im Gegenteil, daß Sein nicht erfahren wird, wo etwas von uns hergestellt
werden kann und insofern begriffen ist, sondern dort, wo, \vas geschieht,
lediglich verstanden werden kann.
Von da stellt sich eine Frage der philosophischen Methodik, die ebenfalls
in einer Reihe von kritischen Äußerungen zu meinem Buch aufgeworfen
worden ist. Ich möchte sie das Problem der phänomenologischen Immanenz
nennen. Das ist wahr, mein Buch steht methodisch auf phänomenologi-
schem Boden. Es InJg paradox klingen, wenn anders gerade Heideggers
Kritik der transzendentalen Fragestellung und sein Denken der )Kehre( der
Entfaltung des universellen hermeneutischen Problems, die ich unterneh-
me, zugrundeliegt. Ich meine aber, daß auch auf diese Wendung Heideggers,
die das hermeneutische Problem erst zu sich selbst befreit, das Prinzip
phänomenologischer Ausweisung angewendet werden darf. Ich habe des-
halb den Begriff ,Hermeneutik<, den der junge Heidegger gebrauchte, fest-
gehalten, aber nicht im Sinne einer Methodenlehre, sondern als eine Theorie
der wirklichen Erfahrung, die das Denken ist. So muß ieh betonen, daß
meine Analysen des Spiels oder der Sprache rein phänomenologisch gemeint
sind''''. Spiel geht nicht im Bewußtsein des Spielenden auf und ist insofern
mehr als ein subjektives Verhalten. Sprache geht nicht im Bewußtsein des
Sprechenden auf und ist insofern mehr als ein subjektives Verhalten. Eben
das läßt sich als eine Erfahrung des Subjekts beschreiben und hat nichts mit
)Mythologie< oder )Mystifikation< zu tun 129 •
Solche methodische Grundhaltung bleibt diesseits aller eigentlichen meta-
physischen Folgerungen. Ich habe in inzvIo'ischen erschienenen Arbeiten,
insbesondere in meinen Forschungsberichten )Hermenemik und Historis-
mus<130 und )Die phänomenologische Bewegung( (in der Philosophischen
Rundschau 10 (1963), S. 1-45 = Kl. Sehr. m, S. 150-189; Ges. Werke
Bd. 3) betont, daß ich in der Tat Kants ,Kritik der reinen Vernunft< verbind-
lich finde und Aussagen, die nur auf dialektische Weise zu dem Endlichen das
Unendliche, zu dem menschlich Erfahrenen das an sich Seiende, zu dem
Zeitlichen das Ewige hinzudenken, rur bloße Grenzbestimmungen halte,
aus denen sich durch die Kraft der Philosophie keine eigene Erkenntnis
entwickeln läßt. Gleichwohl behält die Tradition der Metaphysik und ins be-
128 LU&l,vig Wittgensteins Begriff der 'Sprachspiele< kam mir daher, als ich ihn kennen-
lernte, ganz natürlich vor. Vgl. )Die phänomenologische Bewegung( S. 37ff [Ges. Werke
3d. 3, S. 144ff.l.
129 Vgl. mein Nachwort zu der Rec1amausgabe von Hcideggers Kunst\'v'erk-Aufsatz
(5. 108ff.) und neuerdings den Aufsatz in der EA.Z. vom 26. 9. 1964, auch in: Neue
Sammlung:; (1965), S. 1-9. [Kleine Schriften III 202 ff. , ,Heideggcrs Wege( S. 81 ff.; Gcs.
We,ke 3d. 3, S. 186-1961.
130 Vgl. oben S. 387-424.
Vonvort zur 2. Auflage 447
sondere ihre letzte große Gestalt, die spekulative Dialektik Hegels, eme
beständige Nähe. Die Aufgabe, det >unendliche Bezug<, ist geblieben. Aber
die Art det Aufweisung desselben sucht sich der Umklammerung durch die
synthetische Kraft der hegeIschen Dialektik, ja sogar der aus Platos Dialektik
erwachsenen >Logik<, zu entziehen und in der Bewegung des Gesprächs, in
dem Wort und Begriff erst werden, was sie sind, ihren Stand zu nehmen l3l .
Damit bleibt die Forderung einer reflexiven Selbstbegründung unerflillt,
wie sie sich von der spekulativ durchgefLihrten Transzendentalphilosophie
Fichtes, Hegels, Husserls aus stellen läßt. Aber ist das Gespräch mit dem
Ganzen unserer philosophischen Überlieferung, in dem wir stehen und das
wir als Philosophierende sind, grundlos? Bedarf es einer Begründung des-
sen, was uns immer schon trägt?
Damit aber wird eine letzte Frage angerührt, die weniger eine methodi-
sche als eine inhaltliche Wendung des hermeneutischen Universalismus, den
ich entwickelt habe, betrifft. Bedeutet die Universalität des Verstehens nicht
eine inhaltliche Einseitigkeit, sofern sie eines kritischen Prinzips gegenüber
der Tradition ermangelt und gleichsam einem universalen Optimismus
huldigt? Mag es immerhin zum Wesen der Tradition gehören, nur durch
Aneignung zu sein, so gehört es doch gewiß auch zum Wesen des Menschen,
Tradition brechen, kritisieren und auflösen zu können, und ist nicht etwas
weit Ursprünglicheres in unserem Verhältnis zum Sein das, was sich in der
Weise der Arbeit, des Umarbeitens des Wirklichen auf unsere Zwecke hin,
vollzieht? Führt nicht insofern die ontologische Universalität des Verstehens
in eine Einseitigkeit? - Verstehen meint gewiß nicht bloß die Aneignung
überlieferter Meinung oder Anerkennung des durch Tradition Geheiligten.
Heidegger, der den Begriff des Verstehens Zuerst als universale Bestimmt-
heit des Daseins ausgezeichnet hat, meint damit geradezu den Entwurfscha-
rakter des Verstehens, d. h. aber die Zukünftigkeit des Daseins. Gleichwohl
will ich nicht leugnen, daß ich innerhalb des universalen Zusammenhangs
der Verstehensmomente die Richtung auf die Aneignung des Vergangenen
und Überlieferten meinerseits ausgezeichnet habe. Auch Heidegger dürfte
hier, wie mancher meiner Kritiker, die letzte Radikalität im Ziehen von
Konsequenzen vermissen. Was bedeutet das Ende der Metaphysik als Wis-
senschaft? Was bedeutet ihr Enden in Wissenschaft? Wenn die Wissenschaft
sich zur totalen Technokratie steigert und damit die) Weltnacht< der >Seins-
vergessenheit<, den von Nietzsehe vorausgesagten Nihilismus herauffuhrt,
darf man dann dem letzten Nachleuchten der untergegangenen Sonne am
Abendhimmcl nach blicken - statt sich umzukehren und nach dem ersten
Schimmer ihrer Wiederkehr auszuschauen?
131 o. Pöggeler hat a.a.O. S. 12f. einen interessanten HinweIS darauf gegeben, was
Hegel aus dem Munde Rosenkranz' dazu sagen würde.
448 Anhänge
Als ich Ende 1959 das vorliegende Buch beendete, war icli mir darüber sehr
unsicher, ob es nicht )ZU spät< käme, d. h. ob die Bilanz traditionsgcschichtli-
ehen Denkens, die in ihm gezogen wurde, nicht schon beinahe überflüssig
sei. Zeichen einer neuen Welle technologischer Geschichtsfeindlichkeit
mehrten sich. Ihr entsprach die steigende Rezeption der angelsächsischen
Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, und schließlich verhieß
auch der neue Aufschwung, den die Sozialwissenschaften, darunter vor
allem die Sozialpsychologie und die Soziolinguistik, nahmen, der humani-
stischen Tradition der romantischen Geisteswissenschaften keine Zukunft.
Das aber war die Tradition, von der ich ausgegangen war. Sie stellte den
Erfahrungsboden meiner theoretischen Arbeit dar - wenn auch keineswegs
ihre Grenze oder gar ihr Ziel. Aber selbst innerhalb der klassischen ge-
schichtlichen Geisteswissenschaften war ein Stilwandel in der Richtung auf
die neuen methodischen Mittel der Statistik, der Formalisierung, war der
Drang zur Wissenschaftsplanung und technischen Organisation von For-
schung unverkennbar. Ein neues }positivistisches< Se1bstverständnis, das
durch die Rezeption amerikaniseher und englischer Methoden und Frage-
stellungen befördert wurde, drängte vorwärts.
Nun war es freilich ein plattes Mißverständnis, wenn man die Parole
,Wahrheit und Methode< mit der Anklage belastete, daß hier die Methoden-
strenge der modernen Wissenschaft verkannt werde. Was die Hermeneutik
geltend macht, ist etwas ganz anderes, das mit dem strengsten Ethos der
Wissenschaft in keinerlei Spannung steht. Kein produktiver Forscher kann
im Grunde darüber im Zweifel sein, daß zwar methodische Sauberkeit zur
Wissenschaft unerläßlich ist, aber die bloße Anwendung gewohnter Metho-
den weit weniger als die Findung von neuen - und dahinter die schöpferische
Phantasie des Forschers - das Wesen aller Forschung ausmacht. Das gilt nicht
nur auf dem Gebiete der sogenannten Geisteswissenschaften.
Obendrein ist die hermeneutische Reflexion, die in }Wahrheit und Metho-
de, angestellt wird, alles andere als ein bloßes Begriffsspiel. Sie ist überall aus
der konkreten Praxis der Wissenschaften hervorgewachsen, fur die Metho-
dengesinnung, d. h. kontrollierbares Verfahren und Falsifizierbarkeit,
450 Anhänge
über sich selber etwas, aber gerade weil er sich mit anderen Augen ansieht als
denen seiner >Praxis~ und seines Selbstbewußtseins und soweit er weder
einem Pathos der Glorifizierung noch der Demütigung des Menschen dabei
unterliegt. Wenn dagegen der eigene Standort eines jeden Historikers an
seinen Erkenntnissen und Wertungen immer sichtbar wird, so ist diese
Feststellung nicht ein Einwand gegen seine Wissenschaftlichkeit. Sie sagt
noch nichts darü~er, ob der Historiker sich wegen seiner Standortgebun-
denheit geirrt hat und Überlieferung falsch verstand oder einschätzte, oder
ob es ihm dank dem Vorzug seines Standortes, der ihn etwa Analoges in
unmittelbarer zeitgeschichtlicher Erfahrung beobachten ließ, gelang, bisher
Unbeachtetes ins richtige Licht zu setzen. Hier sind wir mitten in einer
hermeneutischen Problematik. Das bedeutet aber keineswegs, daß es nicht
wieder die methodischen Mittel der Wissenschaft wären, mit denen man
über falsch oder richtig zu entscheiden, Irrtum auszuschalten und Erkennt-
nis zu gewinnen versucht. Das ist in den )moralischen~ Wissenschaften keine
Spur anders als in den ~richtigen< scimces.
Ein gleiches gilt für die empirischen Sozialwissenschaften. Hier ist es
offenkundig, daß ein ,Vorverständnis< ihre Fragestellung leitet. Es handelt
sich um eingespielte, gesellschaftliche Systeme, die ihrerseits geschichtlich
gewordene, wissenschaftlich unbeweisbare Normen in Geltung halten. Sie
stellen nicht nur den Gegenstand, sondern auch den Rahmen erfahrungswis-
senschaftlicher Rationalisierung dar, innerhalb dessen methodische Arbeit
einsetzt. Die Forschung gewinnt hier ihre Probleme meist angesichts von
Störungen im bestehenden gesellschaftlichen Funktionszusammenhang
oder auch durch ideologiekritische Aufklärung, die bestehende Herrschafts-
verhältnisse bekämpft. Unbestritten, daß auch hier wissenschaftliche For-
schung zu einer entsprechenden wissenschaftlichen Beherrschung der the-
matisierten Teilzusammenhänge des gesellschaftlichen Lebens fuhrt - aber
doch wohl auch unleugbar, daß sie zur Extrapolation ihrer Ergebnisse auf
komplexere Zusammenhänge verfUhrt. Solche Verftihrung liegt nur allzu
nahe. So unsicher auch die tatsächlichen Grundlagen sind, von denen aus
eine rationale Beherrschung des gesellschaftlichen Lebens möglich werden
könnte - es kommt den Sozialwissenschaften ein Glaubensbedürfnis entge-
gen, das sie formlich mitreißt und über ihre Grenzen weit hinausfuhrt. Wir
können uns das etwa an dem klassischen Beispiel klarmachen, das J. St. Mill
fUr die Anwendung der induktiven Logik auf die Sozialwissenschaften
heranzieht, nämlich an der Meteorologie. Nicht nur die Tatsache, daß
längerfristige und ftir größere Räume gültige Wetterprognosen durch die
moderne Datenbeschaffung und Verarbeitung bisher nur wenig an Sicher-
heit gewonnen haben - auch wenn wir eine vollendete Beherrschung der
atmosphärischen Vorgänge hätten oder besser, da es an derselben grundsätz-
lich nicht fehlt, eine enorm gesteigerte Datenbeschaffung und Verarbeitung
452 Anhänge
zur Verfügung stünde und damit eine sichere Voraussage möglich gewor-
den wäre, ,"vürden sich sogleich neue Komplikationen einstellen. Es liegt
im Wesen der wissenschaftlichen Beherrschung von Abläufen, daß sie be-
liebigen Zwecken dienstbar gemacht werden kann. Das heißt, es würde
ein Problem des Wettcrmachens entstehen, der Beeinflussung des Wetters,
und damit ein Kampf der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Interessen ein-
setzen, von dem wir beim gegenwärtigen Stand der Prognostik nur einen
winzigen Vorgeschmack haben, etwa in dem gelegentlichen Versuch von
Interessenten, die Wochenend voraussage zu beeinflussen. In der Übertra-
gung auf die Sozialwissenschaften fUhrt die >Beherrschbarkcit( gesell-
schaftlicher Vorgänge notwendig auf ein )Bewußtsein< des Sozialinge-
nieurs, das >wissenschaftlich< sein will und doch seine soziale Partnerschaft
nie ganz verleugnen kann. Hier liegt eine besondere Komphkation, die
aus der sozialen Funktion der empirischen Sozialwissenschaften ent-
springt. Einerseits besteht der Hang, empirisch-rationale Forschungser-
gebnisse auf komplexe Situationen vorschnell zu extrapolieren, nur um
überhaupt zu wissenschaftlich planvollem Handeln zu gelangen - anderer-
seits wirkt der Interessendruck beirrend, den die Sozia1partner auf die
Wissenschaft ausüben, um den gesellschaftlichen Prozeß in ihrem Sinne zu
beeinflussen.
Tatsächlich hat die Absolutsetzung des Ideals der ,Wissenschaft< eine
starke Faszination, die immer wieder dazu führt, hermeneutische Refle-
xion überhaupt für gegenstandslos zu halten. Die perspektivische Einen-
gung, die der Methodengedanke mit sich fuhrt, scheint fUr den Forscher
schwer durchschaubar. Er ist ja immer schon auf die Methodengerechtig-
keit seines Verfahrens gerichtet. d. h. aber von der Gegenrichtung der Re-
flexion weggewendet. Auch wenn er sich, sobald er sein Methodenbe-
wußtsein verteidigt, in Wahrheit reflektierend verhält, läßt er diese seine
Reflexion dennoch nicht selber wieder zu thematischem Bewußtsein
kommen. Eine Philosophie der Wissenschaften, die sich als Theorie der
wissenschaftlichen Methodik versteht und sich auf keine Fragestellung
einläßt, die sie nicht durch den Prozeß von trial and error als sinnvoll cha-
rakterisieren kann, macht sich nicht bewußt, daß sie mit dieser Charakte-
risierung sich selber außerhalb desselben befindet.
So liegt es in der Natur der Sache, daß das philosophische Gespräch mit
der Philosophie der Wissenschaften nie recht gelingen will. Die Debatte
Adorno - Popper sowie Habermas - Albert zeigt das nur zu deutlich. 132
Vollends die hermeneutische Reflexion wird vom wissenschaftstheoreti-
schen Empirismus, indem er )kritische Rationalität< zum absoluten Maß-
132 rT.
W. Adorno (u. a. Hrsg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie,
Nemvied 19691.
Nachwort zur 3. Auflage 453
stab der Wahrheit erhebt, konsequenterwcise als theologischer Obskurantis-
mus angesehen I33 •
Zum Glück kann in der Sache darin Übereinstimmung bestehen, daß es
nur eine einzige >Logik der Forschung< gibt, aber auch, daß diese nicht alles
ist, da die selektiven Gesichtspunkte, die jeweils die relevanten Fragestellun-
gen auszeichnen und zum Forschungsthema erheben, nicht sc1ber aus der
Logik der Forschung gewonnen ,"ver den können. Das Merkwürdige ist nun,
daß die Wissenschaftstheorie um der Rationalität willen sich hier einelTI
kompletten Irrationalismus überläßt und die Thematisierung solcher er-
kenntnis praktischen Gesichtspunkte durch die philosophische Reflexion rur
illegitim hält, ja, der Philosophie, die das tut, geradezu vorwirft, daß sie ihre
Behauptungen gegen die Erfahrung immunisiere. Sie erkennt nicht, daß sie
selber einer viel verhängnisvolleren Immunisierung gegen Erfahrung, z. B.
gegen die des gesunden Menschenverstandes und der Lebenserfahrung,
Vorschub leistet. Das tut sie immer dann, wenn die wissenschaftliche Be-
herrschung von Teilzusammenhängen unkritische Anwendung nährt, z. B.
die Verantwortung Hir politische Entscheidungen von den Experten erwar-
tet. Der Streit zwischen Popper und Adorno behält auch nach der Analyse
desselben durch Habermas etwas Unbefriedigendes. Zwar stimme ich Ha-
bermas zu, daß ein hermeneutisches Vorverständnis immer im Spiele ist und
daher der reflexiven Aufklärung bedarf. Aber darin halte ich es doch wieder-
um mit der )kritischen Rationalität<, daß ich eine völlige Aufklärung für
illusionär halte.
Angesichts dieser Sachlage bedürfen zwei Punkte hier der Wiedererörte-
rung: Was bedeutet die hermeneutische Reflexion rur die Methodik der
Wissenschaften? Und wie steht es mit dem kritischen Auftrag des Denkens
gegenüber der Traditionsbestimnltheit des Verstehens?
Die Zusehärfung der Spannung von Wahrheit und Methode hatte in
meinen Untersuchungen einen polemischen Sinn. Am Ende gehört es, wie
selbst Descartes anerkennt, zu der besonderen Struktur des Zurechtbiegens
eines verbogenen Dinges, daß man es nach der Gegenrichtung beugen muß.
Verbogen aber war das Ding - nicht so sehr die Methodik der Wissenschaf-
ten als ihr reflexives Selbstbewußtsein. Das scheint mir aus der von mir
geschilderten nachhegelischen Historik und Hermeneutik klar genug her-
vorzugehen. Es ist ein naives Mißverständnis, wenn man - immer weiter im
Gefolge E. Bettis 1J4 - von der hermeneutischen Reflexion, die ich anstelle,
eine Aufweichung der wissenschaftlichen Objektivität beftirchtet. Hier sind
Apel, Habermas 135 und die Vertreter der ,kritischen Rationahtät{ ID. E. In
gleicher Weise blind. Sie verkennen alle den Reflexionsanspruch meiner
Analysen und damit auch den Sinn von Applikation, die ich als ein Struktur-
moment allen Verstehens aufzuzeigen gesucht habe. Sie sind so sehr im
Methodologismus der Wissenschaftstheorie befangen, daß sie stets Regeln
und ihre Anwendung im Auge haben, Sie erkennen nicht, daJl Reflexion
über Praxis nicht Technik ist.
Worauf ich reflektiert habe, ist das Verfahren der Wissenschaften selbst
und der Einschränkung ihrer Objektivität, die an ihnen zu beobachten ist
(und nicht etwa empfohlen wird), Den produktiven Sinn solcher Einschrän-
kungen anzuerkennen, zum Beispiel in Gestalt der produktiven Vorurteile,
scheint mir nichts anderes als ein Gebot der wissenschaftlichen Redlichkeit,
rur die der Philosoph einzustehen hat, Wie kann man der Philosophie, die
das zum Bewußtsein bringt, nachsagen, man ermutige dazu, in der Wissen-
schaft unkritisch und subjektiv zu verfahren! Das scheint mir ebenso unsin-
nig, wic wenn man umgekchrt etwa von der mathematischen Logik eine
Förderung des logischen Dcnkcns oder von der Wissenschaftstheorie des
kritischen Rationalismus, der sich }Logik der Forschung< nennt, eine Förde-
rung der wissenschaftlichen Forschung erwarten wollte. Theoretischc Lo-
gik wie Philosophie der Wissenschaften genügen vielmchr einem philo-
sophischen Bedürfnis von Rechtfertigung und sind gegenüber der wissen-
schaftlichen Praxis sekundär, Bei allen Unterschieden, die zwischen den
Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften bestehen, ist doch in
Wahrheit die immanente Geltung der kritischen Methodik der Wissenschaf-
ten überhaupt nicht strittig. Auch der extreme kritische Rationalist wird
aber nicht leugnen, daß der Anwendung wissenschaftlicher Methodik be-
stimmende Faktoren vorausliegen, die dic Relevanz ihrer Themenwahl und
ihrer Fragestellungen betreffen,
Der letzte Grund der Verwirrung, der hier auf der Seite der Methodologie
der Wissenschaften herrscht, scheint mir der Verfall des Begriffes von Pra-
xis. Dieser BegrifTist im Zeitalter der Wissenschaft und ihres Gewißheitside-
als um seine Legitimität gekommen. Denn seit Wissenschaft in der isolicren-
den Analyse der Kausalfaktoren des Geschehens - in Natur und Gesehichte-
ihr Ziel sieht, kennt sie Praxis nur noch als Anwendung der Wissenschaft.
Das aber ist eine }Praxis(, die kciner Rechenschaftsgabe bedürftig ist. So hat
der Begriff der Technik den der Praxis, anders gesagt: die Kompetenz des
Experten hat die politische Vernunft an den Rand gedrängt,
Wie man sieht, ist es nicht nur die Rolle der Hermeneutik in den Wissen-
schaftcn, was hier in Frage steht, sondern das Selbstverständnis dcs Men-
135 Apcl, Habernus u. a. jetzt in dem von Habcrmas herausgegebenen Sammelband
>Hermeneutik und Ideologiekritik, (1971) und auch meine Replik 283-317 [oben S.
25lff.]
Nachwort zur 3. Auflage 455
136 >Zur Rehabilitierung der praktischen Philosophie<, 1972. [Ges. Werke Bd. 41.
137 Ich darf Hi.r diesen Zusammenhang auf meine Abhandlung IAmicus Plato magis
amica veritas( im Anhang der Neuauflage von Platos dialektischer Ehtik, 1968, verweisen
sowie auf die Studie >Platos ungeschriebene Dialektib in Kleine Schriften III, Idee und
Sprache, 1971. Uetzt in Ges. Werke Bd. 6, S. 71-89 bzw. S. 129-153. Vgl. auch meine
Akademie-Abhandlung >Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles<, Heidelberg
1978; Ges. Werke Bd. 71.
456 Anhänge
in dem wir stehen, vermisse ich überhaupt, daß diese philosophische Inten-
tion befolgt wird. Der Begriff des Spiels. den ich schon vor Jahrzehnten aus
der subjektiven Sphäre des )Spieltriebs< (Schiller) heraus gedreht und Zur
Kritik der ~ästhetischen Unterscheidung( genutzt hatte, impliziert ein onto-
logisches Problem. Denn in diesem Begriff vereinigen sich das Ineinander-
spiel von Geschehen und Verstehen, aber auch die sprachlichen Spiele unse-
rer Welterfahrung überhaupt, wie sie Wittgenstcin in metaphysikkritischer
Absicht thematisiert hat. Als eine }Ontologisicrung( der Sprache kann einem
meine Fragestellung aber nur erscheinen, wenn man die Voraussetzungen
der Instrumentalisierung der Sprache überhaupt unbefragt läßt. Es ist in
Wahrheit ein Problem der Philosophie, das die hermeneutische Erfahrung
uns stellt: die ontologischen Imphkationen aufzudecken, die in dem >techni-
schen< Begriff von Wissenschaft liegen, und die hermeneutische Erfahrung
zu ihrer theoretischen Anerkennung zu bringen. In dieser Richtung müßte
das philosophische Gespräch vorangehen, nicht um einen Platonismus -
aber wohl um ein Gespräch mit Plato zu erneuern, das hinter die verfestigten
Begriffe der Metaphysik und ihr unerkanntes Fortleben zurückfragt. White-
heads }Fußnoten zu Plato< könnten da, wie Wiehl richtig erkannt hat, \vich-
tig werden (vgl. seine Einleitung zur deutschen Ausgabe von Whitehead
}Adventures ofIdeas<). Jedenfalls war es meine Intention, die Dimension der
philosophischen Hermeneutik mit der platonischen - nicht mit der hegel-
schen - Dialektik zusammenzuschließen. Der 3. Band meiner Kleinen
Schriften zeigte schon im Titel an, worum es dabei geht: Idee und Sprache.
Die moderne Sprachforschung in allen Ehren, aber das technische Selbstver-
ständnis der neuzeitlichen Wissenschaft verschließt ihr die hermeneutische
Dimension und die philosophische Aufgabe, die in ihr gelegen ist.
Über die Spannweite der philosophischen Probleme, die die hermeneuti-
sche Fragestellung umschließt, gibt das mir gewidmete Sammelwerk )Her-
meneutik und Dialektik< (1970) durch die breite Fächerung seiner Beiträge
eine gute Vorstellung. Inzwischen ist aber auch auf den Sondergebieten
hermeneutischer Methodenlehre die philosophische Hermeneutik zum be-
ständigen Gesprächspartner geworden.
Das Gespräch über die Hermeneutik hat sich vor allem auf vier Wissen-
schaftsgebieten ausgebreitet, in der juristischen Hermeneutik, der theologi-
schen Hermeneutik, der Literaturtheorie, sowie in der Logik der Sozialwis-
senschaften. Innerhalb des langsam unübersehbar werdenden Schrifttums
darf ich nur einige Arbeiten hervorheben, die auf llleinen eigenen Beitrag
ausdrücklich Bezug nehmen. So in der juristischen Hermeneutik:
Franz Wieacker in )Das Problem der Interpretation< (Mainzer Universi-
tätsgespräche S. 5ff.).
Fritz Ritmer in }Verstehen und Auslegen(, Freiburger Dies Universitatis
14(1967)
Nachwort zur 3. Auflage 457
der Kunst aufs exakteste ausgeführt "verden. Sie gewinnt ihre Legitimation
allein durch den Forschungskontext. So schließt alle Wissenschaft eine her-
meneutische Komponente ein. So wenig es eine historische Frage oder eine
historische Tatsache in abstrakter Isolierung geben kann, so wenig offenbar
auch das Analoge im Bereich der Naturwissenschaften. Das bedeutet nicht,
daß dadurch die Rationalität des Verfahrens selber eingeschränkt würde,
soweit eine solche möglich ist. Das Schema >Aufstellung von Hypothesen
und ihre Prüfung ( liegt in aller Forschung vor, auch in den Geschichtswis-
senschaften, ja sogar innerhalb der Philologie - und freilich auch immer die
Gefahr, daß man die Rationalität des Verfahrens für eine ausreichende Legiti-
mation der Bedeutung des so >Erkannten< hält.
Aber gerade wenn man die Relevanzproblematik anerkennt, wird man bei
der von Max Weber entwickelten Wertfreihcitsparolc kaum stehen bleiben
können. Der blinde Dezisionismus betreffs der letzten Zwecke, dem Max
Weber offen das Wort redete, kann nicht befriedigen. Hier endet der metho-
dische Rationalismus in einem kruden Irrationalismus. An ihn die sogenann-
ten Existenzphilosophie anzuschließen, verkennt die Dinge von Grund aus.
Das Gegenteil ist wahr. Was Jaspers' Begriff der Existenzerhellung im Auge
hatte, war vielmehr gerade, auch die letzten Entscheidungen einer rationalen
Erhellung zu unterziehen - nicht umsonst galten ihm) Vernunft und Exi-
stenz( als untrennbar-, und Heidegger vollends zog die noch weit radikalere
Konsequenz, die ontologische Mißlichkeit in der Unterscheidung von Wert
und Tatsache aufzuklären und den dogmatischen Begriff der >Tatsache(
aufzulösen. Indessen spielt in den Naturwissenschaften die Wertfrage keine
Rolle. Im eigenen Zusammenhang ihrer Forschung sind sie zwar, \vie
erwähnt, hermeneutisch aufklärbaren Zusammenhängen unterworfen.
Aber sie überschreiten den Kreis ihrer methodischen Kompetenz dabei
nicht. Höchstens in einem einzigen Punkte kommt Analoges in Frage, ob sie
nämlich von dem sprachlichen Weltbild, in dem die Forscher als Forscher
leben, in ihren wissenschaftlichen Fragestellungen \virklich ganz unabhän-
gig sind, und insbesondere von dem sprachlichen Weltschema der eigenen
Muttersprache 138 • Aber in einem anderen Sinne ist auch hier Hermeneutik
immer im Spiel. Selbst wenn man durch eine normierte Wissenschaftsspra-
che alle Nebentöne mutterspr,achlicher Provenienz weg filterte, bliebe noch
immer das Problem der >Übersetzung< der Erkenntnisse der Wissenschaft ins
Gemeinsprachliche, durch die die Naturwissenschaften erst ihre kommuni-
kative Universalität und damit ihre soziale Relevanz empfangen. Das aber
beträfe dann nicht mehr die Forschung als solche, sondern zeigte nur an, daß
dieselbe nicht )autonom< ist, sondern in einem gesellschaftlichen Kontext
steht. Das gilt für alle Wissenschaft. Indessen, man braucht gar nicht den
138 Auf diese Frage hat vor allem Werner Heisenberg immer ".... ieder hingewiesen.
Nachwort zur 3. Auflage 459
dem (1967).
Nachwort zur 3. Auflage 461
wirklich gesicherte Erkenntnis darstellt und nicht vielmehr mit immer neuer
Kritik denkend anzugehen ist. Aber ignorieren kann man solches) Wissen(
nicht, in welcher Form auch immer es sich Ausdruck gibt - in religiöser oder
Spruchweisheit, in Werken der Kunst oder des philosophischen Gedankens.
Sogar die Dialektik Hegels - ich meine nicht ihre Schematisierung zu einer
Methode des philosophischen Beweisens, sondern die ihr zugrunde liegende
Erfahrung von dem >Umschlag< von Begriffen, die das Ganze zu erfassen
beanspruchen, in ihr Gegenteip43 - gehört zu diesen Formen der inneren
Selbstaufklärung und intersubjektiven Darstellung unserer tuenschlichen
Erfahrung. In meinem Buch habe ich von diesem vagen Vorbild Hegcls
selber einen recht vagen Gebrauch genlacht und darf jetzt auf eine kleine
Neuerscheinung verweisen: Hegels Dialektik, Fünf hermeneutische Stu-
dien, Tübingen 1971 [Ges. Werke Bd. 3], die eine genauere Darlegung, aber
auch eine gewisse Rechtfertigung ftir diese Vagheit enthält.
Man hat gegen meine Untersuchungen öfters den Vorwurf geäußert, daß
ihre Sprache zu ungenau sei. Ich kann darin nicht nur die Aufdeckung eines
Mangels sehen - der es oft genug sein mag. Vielmehr scheint es mir der
Aufgabe der philosophischen Begriffssprache angemessen, auch auf Kosten
der genauen Umgrenzung von Begriffen die Verwobenheit in das Ganze
sprachlichen Weltwissens gelten zu lassen und damit den Bezug auf das
Ganze lebendig zu halten. Das ist die positive Implikation der >Sprachnot<,
die der Philosophie von Anbeginn eingeboren ist. In sehr besonderen Au-
genblicken und unter sehr besonderen Bedingungen, die man nicht bei Plato
oder Aristotcles, nicht bei Meister Eckhart oder Nicolaus Cusanus, nicht bei
Fichte und Hegcl finden wird, wohl aber vielleicht bei Thomas, bei Hume
und bei Kant, bleibt diese Sprachnot unter einer ausgeglichenen begriffli-
chen Systematik verborgen und ,"vird erst im Mitdenken mit der Bewegung
des Gedankens - dann aber notwendig auch dort - neu aufbrechen. Ich
verweise dafür auf meinen Düsseldorfer Vortrag >Die Begriffsgeschichte
und die Sprache der Philosophie<''''. Die Worte, die man in philosophischer
Sprache benutzt und zu begrifflicher Präzision zuschärft, implizieren stets
>objektsprachliche( Bedeutungsmomente und behalten insofern etwas Un-
angemessenes. Aber der Bedeutungszusammenhang, der in jedem Wort der
lebendigen Sprache anklingt, geht zugleich in das Bedeutungspotential des
Begriffswortes ein. Das ist bei keiner Verwendung gemeinsprachlicher Aus-
W Popper stellt sich dieser Erfahrung überhaupt nicht und übt daher seine Kritik an
einem Begriff von ,Methode(, der nicht einmal fur Hegel zutrifft: Was ist Dialektik? in:
)Logik der Sozialwissenschaften" hrsg. von E. Topitsch, 262-290.
144 In: Arbeitsgemeinschaft fur Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Heft 170,
drücke fUr Begriffe auszuschalten. Aber es ist fUr die Begriffsbildung in den
Naturwissenschaften insofern ohne Belang, als in ihnen der Erfahrungsbe-
zug allen Begriffsgebrauch kontrolliert und damit auf ein Ideal der Eindeu-
tigkeit verpflichtet und den logischen Gehalt der Aussagen rein herauspräpa-
riert.
Anders liegt die Sache im Bereiche der Philosophie und überhaupt überall
dort, wo Prämissen des vorwissenschaftlichen Sprachwissens in die Er-
kenntnis eingehen. Dort hat Sprache noch eine andere Funktion als die der
möglichst eindeutigen Bezeichnung von Gegebenem - sie ist >selbstgebend(
und bringt solche Selbstgabe in die Kommunikation ein. In den hermeneuti-
schen Wissenschaften wird durch die sprachliche Formulierung nicht einfach
auf einen Sachverhalt gewiesen, den man auf andere Weise durch Nachprü-
fung zur Erkenntnis bringen kann. Es wird vielmehr ein Sachverhalt im Wie
seiner Bcdcutsamkeit sichtbar gemacht. Das macht die besondere Forde-
rung an sprachlichen Ausdruck und Begriffsbildung aus, daß hier der Ver-
ständniszusammenhang mit bezeichnet werden muß, in dem der Sachverhalt
etwas bedeutet. Die Konnotationen, die ein Ausdruck hat, trüben also nicht
seine Verständlichkeit (weil sie das Gemeinte nicht eindeutig bezeichnen),
sondern sie steigern sie, sofern der gemeinte Zusammenhang als ganzer an
Verständlichkeit gewinnt. Es ist ein Ganzes, das hier in Worten aufgebaut
wird und nur in Worten zur Gegebenheit kommt.
Traditionellerweise sieht man darin eine bloße Frage des Stils und verweist
diese Phänomene in den Bereich der Rhetorik, wo es auf Überredung mit
Hilfe der Erregung von Affekten ankomme. Oder man denkt von moder-
nen ästhetischen Begriffen aus. Dann erscheint die >Selbstgebung< als eine
ästhetische Qualität, die in dem metaphorischen Charakter der Sprache
entspringt. Man möchte nicht zugeben, daß darin ein Erkenntnismoment
gelegen ist. Mir scheint aber gerade der Gegensatz von >logisch( und >ästhe-
tisch< dort zweifelhaft, wo es sich um wirkliches Sprechen handelt und nicht
um den kunstvollen logischen Aufbau einer Orthosprache, wie sie Lorenzen
vorschwebt. Es scheint mir eine nicht minder logische Aufgabe, die Interfe-
renz zwischen allen sondersprachlichen Elementen, Kunstausdrücken usw.
und der gewöhnlichen Sprache wahrzuhaben. Das ist die hermeneutische
Aufgabe, sozusagen der andere Pol ftir die Bestimmung der Angemessenhcit
von Worten. -
Das fUhrt mich auf die Geschichte der Hermeneutik. In meinem eigenen
Versuch hatte ihre Behandlung im wesentlichen eine vorbereitende und
hintergrund bildende Aufgabe. Die Folge davon war, daß meine Darstellun-
gen eine gewisse Einseitigkeit zeigen. Das gilt bereits rur Schleiermacher.
Seine Hermeneutik-Vorlesung, wie wir sie in der Ausgabe von Lücke in den
Werken lesen, aber auch die originalen Materialien, die H. Kimmerle in den
Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften ediert (und
Nachwort zur 3. Auflage 463
und Odebrecht noch immer keine befriedigende Ausgabe. So ist die Ausgabe vonJonas in
den Werken noch weiterhin unentbehrlich. Es wäre dringend zu wünschen, daß diese
Lücke bald geschlossen würde, zumal die editorische Seite der Sache durch ihre Analogie
zu den noch ausstehenden kritischen Ausgaben von Hegels Vorlesungen von grundsätzli-
chem Interesse wäre.
147 Dilthey, Das Leben Schleiermachers 11 1 und 2, Berlin 1966.
hat, aber auch nicht dort, wo die emanzipatorische Reflexion ihres }kontra-
faktische~ Einverständnisses~ sich gewiß ist, sondern wo durch vernünftige
Überlegung strittige Punkte zur Entscheidung kommen sollen. Hier ist die
Redekunst und Argumentationskunst (und ihr schweigendes Gegenbild der
nachdenklichen Beratung mit sich selbst) zu Hause. Wenn die Redekunst
auch, wie es seit alters klar ist, die Affekte anspricht, so fallt sie doch damit
keineswegs aus dem Bereich des Vernünftigen heraus. Vico macht mit Recht
einen eigenen Wert derselben geltend: die copia, den Reichtum an Gesichts-
punkten. Ich finde es erschreckend unwirklich, wenn man - wie Habermas-
der Rhetorik einen Zwangscharakter zuschreibt, den man zugunsten des
zwangsfreien rationalen Gesprächs hinter sich lassen müsse. Man unter-
schätzt damit nicht nur die Gefahr der beredten Manipulation und Entmün-
digung der Vernunft, sondern auch die Chance beredter Verständigung, auf
der gesellschaftliches Leben beruht. Alle soziale Praxis - und wahrlich auch
die revolutionäre - ist ohne die Funktion der Rhetorik undenkbar. Gerade
die Wissenschaftskultur unserer Epoche vermag das zu illustrieren. Sie hat
der Praxis menschlicher Verständigung die immer mehr wachsende Riesen-
aufgabe gestellt, denjeweils partikularen Bereich wissenschaftlicher Sachbe-
herrschung in die Praxis gesellschaftlicher Vernunft zu integrieren: die mo-
dernen Massenmedien treten hier ein.
Es ist ein verkürzter Sinn von Rhetorik, der in ihr eine bloße Technik und
gar ein bloßes Instrument gesellschaftlicher Manipulation sieht. In Wahrheit
ist sie die eine wesentliche Seite allen vernünftigen Verhaltens. SchonAristo-
teies nennt die Rhetorik nicht eine Techne, sondern eine Dynamis, so sehr
gehört sie zur allgemeinen Bestimmung des Menschen, ein vernünftiges
Wesen zu sein. Die institutionalisierte öffentliche Meinungsbildung, die
unsere Industriegesellschaft entwickelt hat, mag einen noch so großen Wir-
kungsbereich haben und die Bezeichnung Manipulation noch so weitgehend
verdienen - sie erschöpft keineswegs den Bereich vernünftiger Argumenta-
tion und kritischer Reflexion, den die gesellschaftliche Praxis besetzt 158 •
Die Anerkennung dieser Sachlage setzt freilich die Einsicht voraus, daß
der Begriff der emanzipatorischen Reflexion von allzu vager Unbestimmt-
heit ist. Es geht um ein schlichtes Sachproblem, d. h. um die angemessene
Auslegung unserer Erfahrung. Welche Rolle spielt die Vernunft im Zusam-
menhang unserer menschlichen Praxis? Auf alle Fälle hat sie die allgemeine
Vollzugsform der Reflexion. Das will heißen, daß sie nicht einfach nur die
158 Die Arbeiten von C. Perelman und seiner Schüler empfinde ich von hier aus als einen
IS9 Vgl. meine Arbeit >Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, ind Kleine
Schriften I 179fT. [und inzwischen >Gibt es auf Erden ein Maß?, I und 11 in PhiJos. Rdsch.
31 (1984), S. 161-177 und 32 (1985), S. 1-26].
470 Anhänge
Schleiermacher konfrontiert 1fi2 • In Wahrheit folge ich aber noch einen Schritt
weiter der Hegclschen Einsicht in die Gcschichtlichkeit des Geistes. Hegels
Begriff der »Kunstreligioll« bezeichnet gcnau das, was meine hernlcneuti-
schen Zweifel am ästhetischen Bewußtsein bewegt: Kunst ist nicht als
Kunst, sondern als Religion, als Gegenwart des Göttlichen, die liöchste
Möglichkeit ihrer selbst. Wenn nun aber von Hegel alle Kunst ftir etwas
Vergangencs erklärt wird, wird sie gleichsam vom geschichtlich erinnern-
den Bnvußtscin aufgesogen, und als die vergangcne gewinnt sie ästhetische
Simultaneität. Einsicht in diesen Zusammenhang stellte mir die hermeneuti-
sclie Aufgabe, die wirkliche Erfahrung der Kunst- die nicht Kunst als Kunst
erfahrt - durch den Begriff der ästhetischen Nichtunterscheidung vom
ästhetischen Bewußtsein abzusetzen. Das scheint mir ein legitimes Problem,
das sich nicht aus Anbetung der Geschichte ergibt, sondern in unserer
Erfahrung von Kunst unübersehbar ist. Es ist eine falsche Alternative,
~Kunst( ursprünglich-zeitgenössisch - geschichtslos - oder als geschichtli-
ches Bildungserlebnis anzusehen'''. Hegcl hat recht. Ich kann daher auch
heute noch Oskar Beckers Kritik l64 nicht folgen, sowenig wie irgendeinem
historischen Objektivismus, der gewiß in Grenzen gültig ist: die hermeneu-
tische Integrationsaufgabe bleibt bestehen. Man kann sagen, daß das mehr
dem ethischen als dem religiösen Stadium Kierkegaards entspricht. Darin
dürfte von Barmann recht haben. Aber behält nicht das ethische Stadium
auch bei Kierkegaard eine gewisse begriffiiche Vorherrschaft und wird zwar
religiös transzendiert, aber doch nicht anders als >aufmerksam machend(?-
Hegels Ästhetik wird heute wieder sehr beachtet. Mit Recht: Für den
Konflikt zwischen dem überzeitlichen Anspruch des Ästhetischen und der
geschichtlichen Einmaligkeit von Werk und Welt stellt sie bis heute die
einzige wirkliche Auflösung dar, indem sie beides zusammen denkt und
damit Kunst als ganze )eritll1erlich< macht. Offenbar gehören hier zwei
Dinge zusammen: Daß die Kunst seit dem Auftreten des Christentums nicht
mehr die höchste Weise der Wahrheit, nicht mehr Offenbarkeit des Göttli-
chen ist und daher Reflexionskunst geworden ist - und die andere Seite, daß
das, wozu der Geist fortgeschritten ist, Vorstellung und Begriff, Offenba-
rungsreligion und Philosophie, gerade dazu fUhren, Kunst nunmehr als
nichts als Kunst zu begreifen. Der Übergang von der Reflexionskunst zur
Kunstreflexion, das Ineinanderfließen beider, scheint mir nicht eine Ver-
schleifung von Verschiedenem (Wieh1) 165, sondern macht den sachlich aus-
weis baren Gehalt von Hegels Einsicht aus. Die Reflexionskunst ist eben
nicht nur eine Spätphase des Zeitalers der Kunst, sondern ist schon der
Übergang in das Wissen, rur das Kunst erst zu Kunst wird.
Hier schließt sich die spezielle Frage an, die im allgemeinen bisher ver-
nachlässigt worden ist, ob es nicht die sprachlichen Künste innerhalb der
Hierarchie der Kunstgattungen auszeichnet, daß sie diesen Übergang zum
Ausweis bringen. 166 R. Wiehl hat überzeugend herausgearbeitet, daß im
Begriff der Handlung, der das Zentrum der dramatischen Kunstform bildet,
das Bindeglied zur Dramaturgie des dialektischen Denkens zu finden ist. In
der Tat ist das eine jener tiefsinnigen Einsichten Hegels, die durch die
begriffliche Systematisierung seiner Ästhetik hindurchschimmern. Nicht
minder bedeutsam scheint mir, daß dieser Übergang dort schon angelegt ist,
wo die Sprachlichkcit als solche erstmals heraustritt, und das ist der Fall der
Lyrik_ In ihr wird zwar nicht Handlung dargestellt, und an dem, was man
heute >sprachliche Handlung< nennt, die gewiß auch rur die Lyrik gilt,
drängt sich der Handlungscharakter nicht auf. Das macht ja in allen sprachli-
chen Künsten die rätselhafte Mühelosigkeit des Wortes aus, im Vergleich zu
der Widerständigkeit des Materials, in dem sich die bildenden Künste ver-
wirklichen müssen, daß man überhaupt nicht daran denkt, daß auch solches
Sprechen Handlung ist. Wiehl sagt mit Recht: »Lyrik ist Darstellung einer
reinen Sprachhandlung, nicht Darstellung einer Handlung in der Form einer
Sprachhandlung« (wie es das Drama ist)_ Das heißt aber: hier tritt Sprache als
Sprache in den Blick_
Damit kommt eine Beziehung von Wort und Begriffins Spiel, die der von
Wiehl herausgearbeiteten Beziehung von Drama und Dialektik noch VOf-
ausliegt. 167 Es ist das lyrische Gedicht, in dem die Sprache in ihrem reinen
Wesen erscheint, so daß in ihm alle Möglichkeiten von Sprache, auch die des
Begriffs, gleichsam eingehüllt schon da sind_ Hege! hat das Grundsätzliche
schon gesehen, wenn er erkennt, daß Sprachlichkeit im Unterschied zu dem
}Stoff< der anderen Künste Totalität bedeutet. Das ist eine Einsicht, die schon
Aristoteles veranlaßte, dem Hören - trotz allem Vorrang, den das Sehen
innerhalb der Sinne von Natur besitzt - gleichwohl einen eigenen Vorrang
165 R. Wiehl, Ober den HandlungsbegritT als Kategorie der Hege1scben Aesthetik.
(Kl. Sehr. IV, S.21R-227: Ces. Werke Bd. R) und )Philosophie und Poesie( (ebd.
S. 241-248; Ces. Werke Bd. 8) und neuerdings ,Die Stellung der Poesie im System der
He~elschel1 Ästhetik<, Hege1-Studien 21 (1986): Ges. Werke Bd. 8J.
11>' [Vgl. Zum folgenden ,Text und Interpretation<, oben S. 330ff.1.
iI',
474 Anhänge
zuzusprechen, weil Hören die Sprache aufnimmt und damit alles, nicht nur
das Sichtbare.
Hege! hat freilich ftir diesen Vorrang der Sprachlichkeit die Lyrik nicht
besonders ausgezeichnet. Dafur stand er zu schr unter dem Ideal von Natür-
lichkeit, das Goethe ftir sein Zeitalter repräsentierte, und sah deshalb das
lyrische Gedicht nur als subjektiven Ausdruck der Innerlichkeit. In Wahrheit
aber ist das lyrische Wort in einem ausgezeichneten Sinne Sprache. Das zeigt
sich nicht zuletzt daran, daß das lyrische Wort sich zum reinen Ideal der
poesie pure erheben ließ. Das läßt zwar nicht an die ausgebildete Form der
Dialektik denken - wie das das Drama tut-, aber wohl an das aller Dialektik
zugrunde liegende Spekulative. In der Sprach bewegung des spekulativen
Gedankens wie in der Sprachbewegung des )reinen< Gedichtes erfuHt sich die
gleiche Selbstpräsenz des Geistes. Auch Adorno hat die Affinität zwischen
der lyrischen Aussage und der spekulativ-dialektischen mit Recht beachtet-
und vor allem: Mallarme selbst.
Es gibt noch einen anderen Hinweis, der in die gleiche Richtung deutet,
und das ist die Abstufung der Übersetzbarkeit, die den verschiedenen Dich-
tungsarten zukommt. Der Maßstab der >Handlung<, den Wiehl aus Hegel
selbst entnommen hat, ist diesem Maßstab gegenüber fast das Gegenteil.
Jedenfalls ist unstrittig, daß Lyrik desto \veniger übersetzbar ist,je mehr sie
sich dem Ideal der poesie pure nähert: Offenkundig ist die Verflechtung von
Klang und Bedeutung hier bis zur Unauflöslichkeit gesteigert.
In dieser Richtung habe ich seither weitergearbeitet. Gewiß nicht als
einziger. Die bei Wellek-Warren benutzte Unterscheidung von )denotativ
und konnotativ< fordert ja zu genauerer Analyse geradezu heraus. Ich bin bei
der Analyse der verschiedenen Weisen von Sprachlichkeit vor allem der
Bedeutung nachgegangen, die die Schriftlichkcit ftir die Idealität des Sprach-
lichen besitzt. Paul Ricoeur ist neuerdings in ähnlichen Überlegungen zu
dem gleichen Resultat gekommen, daß die Schriftlichkeit die Identität des
Sinnes bestätigt und die Ablösung von der psychologischen Seite des Spre-
chens bezeugt. So klärt sich - nebenbei bemerkt - von der Sache her auf,
"varum die Schleiernlacher folgende Hermeneutik, vor allem Dilthey, trotz
aller psychologischen Präokkupation die romantische Grundlegung der
Hermeneutik im lebendigen Dialog nicht übernahm, sondern zu den
)schriftlich fixierten Lebensäußerungeo< der älteren Hermeneutik zurück-
kehrte. Es entspricht dem, daß Dilthey in der Dichtungsauslegung den
Triumph der Hermeneutik sah. Demgegenüber habe ich als die Struktur
sprachlicher Verständigung das )Gespräch< ausgezeichnet und durch die
Dialektik von Frage und Antwort charakterisiert. Das bewährt sich duchaus
auch fur unser »Sein ZUlll Texte«. Die Fragen, die ein Text uns bei der
Interpretation aufgibt, lassen sich selber erst verstehen, wenn der Text
seinerseits als Antwort auf eine Frage verstanden wird.
Nachwort zur 3. Auflage 475
S. 71 ff.
476 Anhänge
liehung. Bei aller Literatur gilt das ebenso fur die in ihr enthaltene }Adressc<,
die nicht den Empfinger einer Mitteilung meint, sondern den Empfang-
lichen von heute und morgen. Schon klassische Tragödien, auch wenn sie
rur eine feste und festliche Szene gedichtet waren und gewiß in eine gesell-
schaftliche Gegenwart hineinsprachen, waren nicht wie Theaterrequisiten
rur eine einmalige Verwendung bestimmt oder blieben für neue Vcn;ven-
dung einstweilen im Magazin. Daß sie \viederaufgefUhrt \,,-'erden konnten
und sehr bald auch als Texte gelesen wurden, geschah gewißlich nicht aus
historischem Interesse, sondern weil sie sprechend blieben.
Es war kein bestimmter inhaltlicher Kanon von Klassizität, der mich
veranlaßte, das Klassische als die wirkungsgeschichtliche Kategorie schlecht-
hin auszuzeichnen. Ich wollte damit vielmehr die Besonderheit des Kunst-
werks und vor allem jedes eminenten Textes gegenüber anderer verstehbarer
und auszulegender Überlieferung auszeichnen. Die Dialektik von Frage und
Antwort, die ich entfaltet hatte, wird hier nicht ungültig, aber sie modifiziert
sich: Die ursprüngliche Frage, auf die ein Text als Antwort verstanden
werden muß, hat hier, wie oben angedeutet, von ihrem Ursprung her
Ursprungsüberlegenheit und -freiheit an sich. Das heißt wahrlich nicht, daß
das >klassische Werkt nur noch in hoffungsloser Konventionalität zugänglich
wäre und einen harmonisch beruhigten Begriff des >Allgemeinmenschli-
chen( verlangte. >Sprechend I ist es vielmehr immer nur dann, wenn es
mrsprünglich< spricht, d. h. >als wäre es mir selbst gesagte Das bedeutet
durchaus nicht, daß was so spricht, an einem außergeschichtlichenNormbe-
griff gemessen würde. Es ist umgekehrt: was so spricht, setzt dadurch ein
Maß. Hier liegt das Problem. Die ursprüngliche Frage, auf die der Text als
Antwort verstanden wird, nimmt in solchem Falle eine Sinnidentität in
Anspruch, die immer schon den Abstand zwischen Ursprung und Gegen-
wart vermittelt hat. Die hermeneutischen Differenzierungen, die ftir solche
Texte nötig sind, habe ich in meinem Züricher Vortrag von 1969 »Das Sein
des Gedichteten« angedeutet 170.
Der hermeneutische Aspekt scheint mir aber auch sonst ftir die ästhetische
Diskussion unserer Tage unentbehrlich. Gerade nachdem )Antikunst( zur
gesellschaftlichen Parole wurde, und ebenso Pop Art und Happening, und
auch bei traditionellem Gebaren Kunstformen versucht werden. die sich
gegen die traditionellen Vorstellungen von Werk und Werkeinheit kehren
und aller Eindeutigkeit der Verstehbarkeit ein Schnippchen schlagen möch-
ten, muß die hermeneutische Reflexion fragen, was es mit solchen Prätenti-
onen auf sich hat. Die Antwort wird sein, daß der hermeneutische Begriff
des Werks seine Erfüllung behält, solange in einer solchen Produktion
überhaupt Identifizierbarkeit, Wiederholung und Wiederholungs würdig-
170 Vgl. jetzt auch >Wahrheit und Dichtung, in Zeitwende 6 (1'971) [Ges. Werke Bd. 81.
Nachwort zur 3. Auflage 477
keit eingeschlossen ist. Solange eine solche Produktion als die, die sie sein
will, dem hermeneutischen Grundverhalt gehorcht. etwas als etwas zu
verstehen, ist die Auffassungsform für sie keineswegs eine radikal neue.
Solche f>Kunst« unterscheidet sich in Wahrheit gar nicht von gewissen, seit
alters anerkannten Kunstformen transitorischer Art, z. B. dem Kunst-Tanz.
Dessen Rang und Qualitätsanspruch ist ja auch von der Art, daß selbst noch
die Improvisation, die nie wiederholt wird, >gut< sein will, und das heißt
bereits: idealiter wiederholbar und in der Wiederholung sich als Kunst
bestätigend. Hier besteht eine scharf zu ziehende Grenze zum bloßen Trick
oder zum Taschenspielerkunststück. Auch an solchem ist etwas zu verste-
hen. Es kann begriffen, es kann nachgemacht werden. Es \vil1 sogar auch
gekonnt und gut sein. Aber seine Wiederholung wird, mit Hegcl zu reden,
f>schal wie ein eingesehenes Taschenspielerkunststück«. Die Übergänge
vom Kunstwerk zum Kunststück mögen noch so fließend scheinen und die
Zeitgenossen mögen oft nicht wissen, ob der Reiz einer Produktion der der
Verblüffung oder der einer künstlerischen Bereicherung ist. Auch begegnen
künstlerische Mittel oft genug als Mittel in bloßen Handlungszusammen-
hängen, z. B. in der Plakatkunst und in anderen Formen geschäftlicher und
politischer Werbung.
Von solchen Funktionen künstlerischer Mittel bleibt das, was wir ein
Kunstwerk nennen, wohl unterschieden. Auch wenn etwa die Götterstatue,
das Chorlied, die attische Tragödie und Komödie innerhalb von Kultord-
nungen begegnen, und überhaupt einjedes >Werk< einem Lebenszusammen-
hang ursprünglich zugehört, der inzwischen vergangen ist, so meint doch
die Lehre von der ästhetischen Nicht-Unterscheidung, daß solcher vergan-
gener Bezug in dem Werk selber sozusagen einbehalten ist. Auch in seinem
Ursprung hatte es ja seine> Welt< in sich versammelt und war deshalb als es
selbst, als die Statue des Phidias, die Tragödie des Aischylos, die Motette
Bachs >gemeint<. Die hermeneutische Konstitution der Werkeinheit des
Kunstwerks ist gegenüber allen gesellschaftlichen Veränderungen des
Kunstbetriebes invariant. Das gilt auch noch gegenüber der Emporsteige-
rung der Kunst zur Bildungsreligion, die ftir das bürgerliche Zeitalter be-
zeichnend wurde. Auch eine marxistische Literaturbetrachtung muß solche
Invarianz beherzigen, wie etwa Lucien Goldmann mit Recht betont hat l7i _
Die Kunst ist nicht einfach ein Werkzeug gesellschaftspolitischen Wollens-
wenn sie wirklich Kunst ist und nicht, wenn sie als Werkzeug gewollt ist,
dokumentiert sie eine gesellschaftliche Wirklichkeit.
Um über den Begriff des Ästhetischen, der der bürgerlichen Bildungsrcli-
gion entspricht, hinauszukommen und nicht um klassizistische Ideale zu
verteidigen, habe ich in meinen Untersuchungen >klassische< Begriffe wie
>Mimesis< oder >Repräsentation< ins Spiel gebracht. Man hat das als eine Art
Rückfall in einen von der modernen Kunstauffassung endgültig überholten
Platonismus verstanden. Auch das scheint mir nicht so einfach. Die Lehre
von der Wiedererkennung, auf der alle mimetische Darstellung beruht, stellt
nur einen ersten Wink dar, den Seinsanspruch künstlerischer Darstellung
richtig zu fassen. Derselbe Aristotclcs, der aus der Freude der Erkenntnis die
Kunst der Mimesis ableitet, sicht doch den Dichter gegenüber dem Histori-
ker dadurch ausgezeichnet, daß er die Dinge nicht so darstelle, wie sie
geschehen seien, sondern wie sie geschehen könnten. Er spricht damit der
Poesie eine Allgemeinheit zu, die nichts mit der substantialistischen Meta-
physik einer klassizistischen Nachahmungsästhetik zu tun hat. Es ist viel-
mehr die Dimension des Möglichen - und damit auch die der Kritik an der
Wirklichkeit (von der uns wahrlich die antike Komödie einen kräftigen
Geschmack gibt), in dic die aristotelische Begriffsbildung hineinweist und
deren hermeneutische Legitimität mir unangefochten scheint - wenn sich
auch noch so viel klassizistische Nachahmungstheorie an Aristoteles ange-
schlossen hat.
Doch ich breche ab. Das Gespräch, das im Gange ist, entzieht sich der
Festlegung. Ein schlechter Hermeneutiker, der sich einbildet, er könnte oder
er müßte das letzte Wort behalten.
31. Selbstdarstellung
Hans-Georg Gadamer
* 11. 2. 1900
(abgeschlossen 1975)
Als ich im Jahre 1918 mit dem Reifezeugnis das Gymnasium zum Heiligen
Geist in Breslau verließ und, noch im letzten Jahre des Ersten Weltkrieges,
mich an der Breslauer Universität umzusehen begann, war es keineswegs
entschieden, daß ich im akademischen fach der Philosophie meinen Weg
gehen würde.
Mein Vater war Naturforscher und allem Bücherwissen abhold, obwohl
er seinen Horaz trefflich gelernt hatte. Er hatte daher während meiner
Kindheit auf mannigfache Weise versucht, mich ftif die N aturwissenschaf-
tcn zu interessieren, und war über seinen Mißerfolg recht enttäuscht. Denn
daß ich es mit den }Schwätzprofessorcll< halten würde, waI vom Beginn
meines Studiums an klar. Er ließ mich zwar gewähren, aber war zeit seines
Lebens recht unzufrieden mit mir.
Studium damals war wie der Beginn einer langen Odyssee. Vieles zog
einen an, von vielem kostete man etwas, und ,venn am Ende nicht meine
literaturwissenschaftlichen, historischen und kunstgeschichtlichen Neigun-
gen die Oberhand behielten, sondern das philosophische Interesse, so war
das weniger eine Abkehr von dem einen und eine Hinwendung zu dem
anderen, als der Weg eines langsamen Eindringens in disziplinierte Arbeit
überhaupt. In der Verwirrung, die der Erste Weltkrieg und sein Ende über
die deutsche Szene gebracht hatte, war die fraglose Einformung in eine
fortbestehende Tradition nicht mehr möglich. So wurde allein schon die
Ratlosigkeit ein Antrieb zu philosophischen Fragen.
Auch im Bereich der Philosophie war freilich ein bloßes Fortsetzen des-
sen, was die ältere Generation geschaffen hatte, rur uns Jüngere nicht mehr
angängig. Der Neukantianismus, der bis dahin eine echte, wenn auch um-
strittene Weltgeltung besaß, war in den Materialschlachten des Stellungs-
krieges ebenso zugrunde gegangen wie das stolze Ku1turbewußtsein des
liberalen Zeitalters und sein auf Wissenschaft gegründeter Fortschrittsglau-
be. Wir, die wir damals jung waren, suchten eine neue Orientierung in einer
480 Anhänge
desorientierten Welt. Dabei V,laren wir praktisch auf die innerdeutsche Szene
beschränkt, in der Verbitterung und Neuerungssucht, Armut und Hoff-
nungslosigkeit und der ungebrochene Lebensv,rille der Jugend miteinander
im Streite lagen. Ihr kultureller Ausdruck war eindeutig. Ocr Expressionis-
mus in Leben und Kunst wurde die beherrschende Macht. Während die
Naturwissenschaften ihren Aufschwung fortsetzten, der insbesondere in der
Gestalt der Einsteinsehen Relativitätstheorie von sich reden machte, war es
in den weltanschaulich bedingten Gebieten des Schrifttums und der Wissen-
schaft eine wahre Katastrophenstimmung, die um sich griff und den Bruch
mit den alten Traditionen betrieb. Der Zusammenbruch des deutschen
Idealismus (so hieß ein damals oft zitiertes Buch von Paul Ernst) war nur die
eine, die akademische Seite des neuen Zeitgeftihls. Die andere weit umfas-
sendere fand ihren Ausdruck in dem sensationellen Erfolg von Osv.;ald
Spenglers ))Untergang des Abendlandes«, dieser Romanze aus Wissenschaft
und welthistorischer Phantasie, »bewundert viel und viel gescholten« -und
am Ende ebensosehr der Niederschlag einer v.relthistorischcn Stimmung \vie
ein eigener Antrieb zur InfragesteJ1ung des neuzeitlichen Fortschrittsglau-
bens und seiner stolzen Leistungsidealc. In dieser Lage tat auf mich eine ganz
zweitrangige Schrift eine geradezu revolutionäre Wirkung. Es war das Buch
von Theodor Lessing (der in späterer, noch mehr verwirrter Zeit einem
Attentat von nationalistischer Seite zum Opfer fallen sollte) ))Europa und
Asien«, das das gesamte europäische Leistungsdenken von der Weisheit des
Ostens her in Frage stellte. Erstmals relativierte sich mir damals der allum-
fassende Horizont, in den ich durch Herkunft, Erziehung, Schule und mich
umgehende Welt hineingewachsen war. So etwas wie Denken begann.
Bedeutende Schriftsteller stellten eine gewisse erste Anleitung dar. Ich erin-
nere mich des gewaltigen Eindrucks, den Thomas Manns »)Betrachtungen
eines Unpolitischen({ schon auf den Primaner gemacht hatten. Die sch\vär-
merische Entgegensetzung von Kunst und Leben, die aus Tonio Kröger
sprach, rührte mich an und der schwermütige Klang in Hermann Hesses
frühen Romanen bezauberte mich.
Eine erste Einftihrung in die Kunst des begrifflichen Denkens empfing ich
von Richard Hönigswald, dessen wohlziselierte Dialektik mit Eleganz,
wenn auch nicht ohne eine gewisse Eintönigkeit die transzendental-idealisti-
sche Position des Neukantianismus gegen allen Psychologismus verteidigte.
Seine Vorlesung über »)Grundfragen der Erkenntnistheorie« stenographierte
ich mit und übertrug sie dann. Die beiden Hefte überließ ich inzwischen dem
von Hans Wagner ins Leben gerufenen Hönigswald-Archiv. Sie waren eine
gute Einftihrung in die Transzendentalphilosophie. So kam ich schon mit
einer gewissen Vorbereitung im Jahre 1919 nach Marburg.
Dort sah ich mich bald mit neuen Studienerfahrungen konfrontiert. Denn
anders als die Universitäten in den Großstädten ftihrten die >kleinen( Univer-
Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer 481
sitäten damals noch ein wirkliches akademisches Leben, ein fLeben in Ideen\
in Humboldts Sinne, und in der philosophischen Fakultät gab es überall, in
jedem Fach, bei jedem Professor, einen )Kreis<, so daß man in vielseitige
Interessen hineingezogen wurde. Damals begann in Marburg die Kritik an
der historischen Theologie, die im Anschluß an Barths Römerbrief-Kom_
mentar durch die sogenannte dialektische Theologie vorgetragen wurde.
Damals wurde mehr und mehr unter den jungen Leuten am Mcthodologis-
mus der neukantianischen Schulen Kritik geübt und demgegenüber Hus-
serls phänomenologische Deskriptionskunst gepriesen. Vor allem aber
durchdrang die Lebensphilosophie, hinter der das europäische Ereignis
Friedrich Nietzsehe stand, unser ganzes Weltgeftihl, und in Verbindung
damit beschäftigte das Problem des historischen Relativismus, wie es im
Hinblick auf Wilhelm Dilthey und Ernst Troeltsch diskutiert wurde, die
jungen Gemüter.
Dazu kam im besonderen, daß damals der Kreis um den Dichter Stefan
George in die akademische Welt einzudringen begann. Es waren vor allem
die höchst wirksamen und faszinierenden Bücher Friedrich Gundolfs, die
eine neue kunstvolle Sinnlichkeit in den wissenschaftlichen Umgang mit
Dichtung brachten. Überhaupt war alles, was aus diesem Kreise kam,
Gundolfs Bücher so gut wie das Nietzsche-Buch VOn Ernst Bertraln, Wol-
ters' pamphletkundige Rhetorik, Salins kristallinische Feinheit und mit be-
sonderer Ausdrücklichkeit der deklamatorische Angriff Erich von Kahlers
auf Max Webers berühmte Rede über » Wissenschaft als Beruf«(, eine einzige
große Provokation. Es waren Stimmen einer entschlossenen Kulturkritik.
Aber anders als ähnliche Klänge von anderen Seiten, die angesichts der
typischen Unbefriedigung studentischer Anfänger, wie ich einer war, ein
gewisses Gehör fanden, hatte man hier das GefUhl, daß etwas daran war.
Eine Macht stand hinter den oft monotonen Deklamationen. Daß ein Dich-
ter wie George mit dem magischen Klang seiner Verse und der Wucht seiner
Person eine so gewaltige Formungswirkung auf Menschen ausübte, blieb
dem nachdenklichen Gemüt eine bleibende Frage und stellte ftir das Be-
griffsspiel des philosophischen Studiums ein nie ganz vergessenes Korrektiv
dar.
Überhaupt konnte ich mich dem nicht verschließen, daß die Erfahrung
der Kunst die Philosophie etwas angeht. Daß die Kunst das wahre Organon
der Philosophie sei, wenn nicht gar ihr überlegener Widerpart, das war eine
Wahrheit, die der Philosophie der deutschen Romantik bis ans Ende der
idealistischen Ära ihre umfassende Aufgabe gestellt hatte. Die Universitäts-
philosophie der nachhegelschen Epoche hatte die Verkennung dieser Wahr-
heit mit ihrer eigenen Verödung zu bezahlen. Das galt und gilt rur den
Neukantianismus so gut wie für den neuen Positivismus bis heute. Diese
Wahrheit wiederzugewinnen, wies uns unser geschichtliches Erbe an.
482 Anhänge
Gewiß war es keine befriedigende Auskunft, sich gegen die Zweifel des
historischen Relativismus, die den begrifflichen Wahrheits anspruch der Phi-
losophie grundsätzlich in Frage stellten, auf die Wahrheit der Kunst zu
berufen. Dies Zeugnis ist einerseits zu stark. Denn niemand wird den
Fortschrittsglauben der Wissenschaft überhaupt je auf die Gipfel der Kunst
ausdehnen wollen und etwa in Shakespeare einen Fortschritt über Sophokles
oder in Michelangelo einen Fortschritt über Phidias sehen. Andererseits ist
das Zeugnis der Kunst aber auch zu schwach, sofern das Kunstwerk die
Wahrheit, die es verkörpert, dem Begriff vorenthält, In jedem Falle war die
Bildungsgestalt des ästhetischen Bewußtseins ebensosehr im Verblassen wie
die des historischen Bewußtseins und seines Denkens in )Weltanschauun-
gen<. Das hieß aber nicht, daß die Kunst, auch nicht, daß die Begegnung mit
geschichtlichen Denktraditionen ihre Faszination verlor. Im Gegenteil, die
Aussage der Kunst wie die der großen Philosophen erhob nun erst recht
einen verwirrenden, unabweisbaren Anspruch auf Wahrheit, der sich durch
keine >Problemgeschichte< neutralisieren und unter die Gesetze strenger
Wissenschaftlichkeit und methodischen Fortschritts beugen ließ. Unter dem
Einfluß einer neuen Kierkegaard-Rezeption nannte sich das damals in
Deutschland >existenziell<. Es ging um Wahrheit, die nicht so sehr in allge-
meinen Aussagen oder Erkenntnissen als in der Unmittelbarkeit des eigenen
Erlebens und in der Unvertretbarkeit der eigenen Existenz ihren Ausweis
haben sollte. Dostojewskij vor allem schien uns davon zu wissen. Die roten
Piper-Bändc der Dostojewskijschen Romane flammten auf jedem Schreib-
tisch. Die Briefe van Goghs, Kierkegaards )Entweder-Oder<, das er Hegd
entgegenhielt, zogen uns an, und hinter all den Kühnheiten und Gewagthei-
ten unseres existenziellen Engagements stand - eine noch kaum sichtbare
Bedrohung des romantischen Traditionalismus unserer Bildungskultur - die
Riesengestalt Frieclrich Nietzsches mit seiner ekstatischen Kritik an allen,
aber auch an allen Illusionen des Selbstbewußtseins, Wo war der Denker,
dessen philosophische Kraft diesen Anstößen gewachsen war?
Auch in der Marburger Schule brach sich das neue Zeitgeftihl Bahn. Der
musische Enthusiasmus, mit dem der scharfe Methodologe der Marburger
Schule, Paul Natorp, auf seine alten Tage in die mystische Unsagbarkcit des
Urkonkreten einzudringen suchte und außer Plato und Dostojewskij, Beet-
hoven und Rabindranath Tagore, die mystische Tradition von Plotin und
Meister Eckhart- bis zu den Quäkern - beschwor, hinterließ seine Eindrük-
ke, und nicht minder die wilde Dämonie, mit der Max Scheler - als Vor-
tragsgast in Marburg - seine durchdringende phänomenologische Bega-
bung demonstrierte, die er auf immer neuen, unerwarteten Feldern bewies.
Dazu kam der kühle Scharfsinn, mit dem Nicolai Hartmann seine eigene
idealistische Vergangenheit durch kritische Argumentation abzustreifen
suchte, ein Denker und Lehrer von imponierender Beharrlichkeit. Als ich
Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer 483
wie haltlos der angebliche )Realismus( des Aristote1cs war und daß Aristote-
!es auf dem gleichen Boden des Logos stand, den Plato mit seiner Sokrates-
nachfolge bereitet hatte, Jahre später hat uns Heidegger- im Anschluß an ein
von mir gehaltenes Seminar-Referat - auseinandergesetzt, daß dieser Plato
und Aristotelcs gemeinsame neue Boden des dialektischen Philosophierens
nicht nur die Kategorienlehre des Aristoteles trägt, sondern auch seine
Begriffe von Dynamis und Energeia aufzuschlüsseln vermöge (was Walter
Bröcker in seinem Aristoteles-Buch später durchgeführt hat),
So sah meine erstc praktische Einftihrung in die Universalität der Herme-
neutik aus,
Daß es das war, wurde mir freilich nicht sogleich klar. Erst langsam
wuchs die Einsicht, daß der uns auf den Leib gerückte Aristotcles, dessen
begriffliche Präzision auf ungeahnte Weise mit Anschauung, Erfahrung,
Wirklichkeits nähe bis an den Rand geftillt war, nicht einfach das neue
Denken selber aussprach. Heidegger folgte vielmehr dem Prinzip des plato-
nischen )Sophistes(, den Gegner stärker zu machen, so gut, daß er uns fast
wie ein Aristoteles redit'ivu5 erschien, der durch Kraft der Anschauung und
Kühnheit eigener originaler Begriffsbildung alles in seinen Bann schlug.
Immerhin war diese Identifikation, zu der Heideggers Interpretationen uns
verführten, für mich eine gewaltige Herausforderung. Ich wurde dessen
inne, daß meine bisherigen Studien, die mich durch viele Gebiete, insbeson-
dere Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte geführt hatten, selbst auf
dem Felde der antiken Philosophie nichts taugten, auf dem ich meine Disser-
tation geschrieben hatte. So begann ich ein neues planmäßiges Studium der
klassischen Philologie (unter der Leitung Paul Friedländers), bei dem mich
neben den griechischen Philosophen vor allem der durch den damals neu
zugänglich gewordenen Hölderlin angestrahlte Pindar anzog - und die
Rhetorik, deren zur Philosophie komplementäre Funktion mir damals auf-
ging und die mich bis in die Ausarbeitung meiner philosophischen Herme-
neutik begleitet hat. Alles in allem verdanke ich diesen Studien, daß ich mir
die kraftvolle Identifikation, zu der einen Heideggers Denken einlud, mei-
nerseits immer schwerer machte. Im Innewerden der Andersheit der Grie-
chen gleichwohl zu ihnen zu stehen, in ihrem Anderssein Wahrheiten zu
entdecken, die vielleicht verschüttet, vielleicht aber heute noch in unbewäl-
tigter Weise wirksam waren, wurde das mir mehr oder minder bewußte
Leitmotiv aller meiner Studien. Denn in Heideggers Deutung der Griechen
lag ein Problem, das mich insbesondere nach )Sein und Zeit< nicht mehr
losließ. Gewiß war es für Heideggers Absicht damals möglich, dem existen-
zialen Begriff von )Dasein< die pure Vorhandenheit als Gegenbegriff und
äußerstes Derivat zuzuordnen, ohne Z\vischen dem griechischen Seins ver-
ständnis und dem )Gegenstand der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung(
zu differenzieren. Aber es lag darin eine Provokation, und ich folgte ihr so
Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamcr 487
weit, daß ich mich aufHeidcggers Anregung hin in die aristotelische Phvsik
und die Entstehung der modernen Wissenschaft, vor allem in Galilei, ~er
tiefte. Teile eines unvollendeten Physik-Kommentars werden vielleicht
noch einmal pub1iziert werden.
Die hermeneutische Situation, von der ich ausging, war durch das Schei-
tern des idealistisch-romantischen Restaurationsversuchs gegeben. Der An-
spruch,in die Einheit der philosophischen Wissenschaften auch die empiri-
schen Wissenschaften der Neuzeit zu integrieren, der in dem Begriff einer
lspekulativen Physik< (im Titel einer Zeitschrift!) seinen Ausdruck fand, war
unerftillbar.
Es konnte nicht um eine Wiederholung dieses Versuchs gehen. Aber die
Gründe dieser Unmöglichkeit klarer zu erkennen, lllußte sowohl dem Wis-
senschaftsverständnis der Neuzeit ein schärferes Profil geben als auch dem
gt;iechischen Begriff von >Wissenschaft<, den der deutsche Idea1ismus noch
einmal zu erneuern unternommen hatte. Daß Kants >Kritik der Urteilskraft<,
insbesondere die der lteleologischen Urteilskraft<, in diesem Problcmzu-
sammenhang bedeutsam wurde, versteht sich von selbst, und manche mei-
ner Schüler haben später von da aus weitergearbeitet.
für die griechische Wissenschaftsgeschichte gilt ja offenbar anderes als für
die Geschichte der modernen Wissenschaft. Damals ist in platonischer Zeit
der Versuch gelungen, den Weg der Aufklärung, der Forschung und der
Welterklärung in die Traditionswelt griechischer Religion und griechischer
Lebensanschauung zurückzubinden. Plato und Aristoteles, und nicht De-
mokrit, haben die Wissenschafts geschichte des späteren Altertums be-
herrscht, und diese war keineswegs die Geschichte eines wissenschaftlichen
Niedergangs. Die hellenistische Fachwissenschaft, wie man das heute nennt,
hat sich nicht gegen die >Philosophie< und ihre Voreingenommenheit wehren
müssen, sondern hat eben durch die griechische Philosophie, durch den
,TimaioS< und die aristotelische Physik, ihre Freigabe erfahren, wie ich 1973
in einer Arbeit unter dem Titel >Gibt es die Materie?< zu zeigen versucht
habe. 2 In Wahrheit ist auch noch der Gegenentwurf der Galilci-Newton-
schen Physik von dort her bestimmt. Eine Studie über )Antike Atomtheorie<
(1934) war das einzige Stück aus diesem Studienkreis, das ich damals publi-
ziert habe. 3 Sie sollte die kindliche Voreingenommenheit korrigieren, die die
moderne Wissenschaft für Demokrir, den großen Unbekannten, besitzt.
Der Größe Demokrits geschieht damit nicht der geringste Abbruch.
Aber im Zentrum meiner Studien blieb Plato. Mein erstes Plato-Buch
>Platos dialektische Ethik<, aus meiner Habilitationsschrift hervorgegangen,
war eigentlich ein steckengebliebenes Aristoteles-Buch. Mein Ausgangs-
punkt war die Dublette der beiden aristotelischen Abhandlungen über die
,Lust< (Eth. Nie. H 10--13 und K 1-5). Unter genetischen Gesichtspunkten
kaum lösbar, sollte das Problem auf phänomenologische Weise gefördert
\"rerclen, das heißt, ich wollte dieses Nebeneinander, wenn auch nicht histo-
risch-genetisch >erklären<, so doch, womöglich, in seiner Berechtigung
erweisen. Das konnte nicht geschehen, ohne beide Abhandlungen auf den
platonischen ,Philebos< zu beziehen, und in dieser Absicht ging ich an eine
phänomenologische Interpretation dieses Dialogs. Ich war damals noch
nicht imstande, die universale Bedeutung des ~Philcbos( rür die platonische
Zahlenlehre und überhaupt fur das Problem des Verhältnisses von Idee und
>Wirklichkeit< zu würdigen. 4 Mir lag zweierlei am Herzen, beides unter dem
gleichen methodischen Vorzeichen: die Funktion der platonischen Dialektik
von der Phänomenologie des Dialogs aus und die Lehre von der Lust und
ihren Erscheinungsformen durch eine phänomenologische Analyse der
wirklichen Lebensphänomene aufzuklären. Die phänomenologische Des-
kriptionskunst, die ich an Husserl (in Freiburg 1923) und an Heidegger zu
lernen versucht hatte, sollte einer )an den Sachen sclbsti orientierten Inter-
pretation antiker Texte zugute kommen. Das ist ganz leidlich gelungen und
fand Anerkennung, freilich nicht bei dem bloßen Historiker, derja immerin
dem Wahn lebt, es sei trivial zu verstehen, was dasteht. Es gelte zu erfor-
schen, was dahinter ist. So konnte Hans Leisegang in seinem Bericht über
die Platoforschung der Gegenwart (Archiv rur Geschichte der Philosophie
1932) meinen Beitrag verächtlich beiseite schieben, indem er aus meinem
eigenen Vorwort zu meiner Arbeit zitierte: »Ihr Verhältnis zur historischen
Kritik ist schon dann ein positives, wenn diese - in der Meinung, keine
Förderung durch sie zu finden - das, was sie sagt, ftir selbseverständlich
befindet. "
In Wahrheit war ich inzwischen ein Stück klassischer Philologe geworden,
schloß dieses Studium mit dem Staatsexamen ab (1927) und habilitierte mich
bald darauf (1928/29). Worum es sich hier handelt, ist ein methodischer
Gegensatz, den ich später in meinen hermeneutischen Analysen zu klären
unternahm - freilich bei a11 denen ohne Erfolg, die zu Reflexionsarbeir nicht
bereit sind, sondern nur das )positive< Forschung nennen, wobei etwas
Neues herauskommt (auch \venn es ebenso unverstanden bleibt wie das
Alte).
Immerhin war der Start gelungen. Als Lehrer der Philosophie lernte ich
jedes Semester Neues, damals noch unter den kargen Bedingungen eines
Stipendiaten oder Lehrbeauftragten, aber mein lehren \\'ar dafür immerhin
den eigenen Forschungsplänen ganz angepaßt. So \'lar es vor allem Plaro, in
den ich tiefer eindrang, wobei mich insbesondere die Zusammenarbeit mit).
Klein in Richtung auf das Mathematische und Zahlentheoretische fOrderte.
Kleins klassische Abhandlung >Die griechische Logistik und die Entstehung
der Algebra. (1936) ist damals entstanden.
Man wird nicht gerade sagen können, daß diese Studien, die sich über ein
Jahrzehnt hinzogen, das Schauerspicl der Zeitereignisse bedeutungsvoll
spiegeln. Höchstens indirekt, sofern ich nach 1933 eine größere Studie über
sophistische und platonische Staatslehre vorsichtshalber abbrach, aus der ich
nur zwei Teilaspekte publizierte: ,Plato und die Dichter. (1934) und )Platos
Staat der Erziehung. (1942).
Beides hatte seine Geschichte. Die erste kleine Schrift entwickelte die noch
heute von mir für allein richtig gehaltene Deutung, daß der platonische
Idealstaat eine bewußte Utopie darstellt, die mehr mit Swift als mit ,politi-
scher Wissenschaft< zu tun hat. s Die Veröffentlichung dokumentierte zu-
gleich meine Stellung zum Nationalsozialismus durch das vorangestellte
Motto: »Wer philosophiert, ist mit den Vorstellungen seiner Zeit nicht
einig.« Das war zwar wohlgetarnt, als ein Goethezitat, das mit Goethes
Charakterisierung der platonischen Schriften fortfuhr. Aber ,"venn man sich
schon nicht zum Märtyrer machen oder freiwillig in die Emigration gehen
wollte, stellte ein solches Motto für den verständigen Leser im Zeitalter der
)Gleichschaltung< immerhin eine Betonung der eigenen Identität dar - ähn-
lich wie Karl Reinhardts bekannte Unterzeichnung der Vorrede seines So-
phokles-Buches: »Im Januar und September 1933«. Daß man die politisch
relevanten Themen im übrigen fortan eifrig vermied (und überhaupt die
Publikation außerhalb von Fachzeitschriften), entsprach dem gleichen Ge-
setz der Selbsterhaltung. Es bleibt bis zum heutigen Tage wahr, daß ein
Staat, der in philosophischen Fragen von Staats wegen eine )Lehre~ als die
>richtige< auszeichnet, wissen muß, daß seine besten Leute in andere Felder
ausweichen, wo sie nicht von Politikern - und das heißt von Laien -
zensuriert werden. Ob schwarz, ob rot, daran ändert kein Geschrei etwas.-
So arbeitete ich unbemerkt weiter und fand begabte Schüler, von denen ich
hier nur Walter Sehulz, Volkmann-Schluck und Arthur Henkel nenne. Zum
Glück milderte damals die nationalsozialistische Politik - in der Vorberei-
tung des Krieges im Osten - den Druck auf die Universitäten, und meine
akademischen Chancen, die jahrelang gleich Null waren, besserten sich. Ich
erhielt - nach zehnjähriger Dozententätigkeit - endlich den längst beantrag-
ten ProfcssortiteL Ein Lehrstuhl rur klassische Philologie in Halle winkte
mir, und schließlich erhielt ich 1938 eine Berufung auf das philosophische
Ordinariat in Leipzig, das mich vor neue Aufgaben stellte.
Das zweite Stück >Platos Staat der Erziehung( war auch eine Art Alibi. Es
\var schon während des Krieges. Ein Professor der technischen Hochschule
Hannover namens Osenberg hatte Hitler von der kriegsentscheidenden
Rolle der Wissenschaft überzeugt und dadurch Vollmachten zur Schonung
und Pflege der Naturwissenschaften und insbesondere ihres Nachwuchses
erwirkt. Diese sogenannte Osenberg-Aktion hat vielen jungen Forschern
das Leben gerettet. Sie erregte natürlich den Neid der Geisteswissenschaf-
ten, bis schließlich ein findiger PG auf die schöne Idee einer ,Parallelaktion,
kam, die Musils Erfindung Ehre machte. Es war >der Einsatz der Gcistesv.lis-
senschaften fur den Krieg<. Daß es sich in Wahrheit um den Einsatz des
Krieges für die Gcistes\vissenschaftcn - und um nichts anderes - handelte,
war nicht zu verkennen. Um nun einer Mitarbeit im philosophischen Sektor
zu entgehen, wo so schöne Themen wie >Die Juden und die Philosophie<
oder }Das Deutsche in der Philosophie< auftauchten, wanderte ich in den
Sektor der klassischen Philologie aus. Dort ging alles manierlich zu, und
unter dem Schutz von Helmut Berve entstand ein interessantes Sammel-
werk }Das Erbe der Antike<, das nach dem Kriege eine unveränderte zweite
Auflage finden konnte. Mein Beitrag, ,Platos Staat der Erziehung<, führte
die Studie über )Plato und die Dichter( weiter und wies immerhin auf die
Richtung meiner neueren Studien hin, wenn seine letzten Worte )die Zahl
und das Sein< waren.
Eine einzige Monographie habe ich in der ganzen Zeit des Dritten Reiches
veröffentlicht, ,Volk und Geschichte im Denken Hcrders< (1942). In dieser
Studie arbeitete ich vor allem die Rolle des Kraftbegriffs in Herders Ge-
schichtsdenken heraus. Sie vermied jede Aktualität. Trotzdem erregte sie
Anstoß, vor allem bei denen, die sich damals über ähnliche Themen hatten
vernehmen lassen und geglaubt hauen, etv.ras mehr >Gleichschaltung< nicht
vermeiden zu können. Mir war diese Arbeit aus einem bestimmten Grunde
lieb. Ich hatte dieses Thema erstmals 1941 in einem Kriegsgefangenenlager
französischer Offiziere in einem französischen Vortrag behandelt. In der
Diskussion hatte sich eine Situation ergeben, in der ich sagte, ein Imperium,
das sich über die Maßen ausdehne, sei )aUpfeS de sa chute<. Die französischen
Offiziere sahen sich bedeutsam an und verstanden. (Ob ich in dieser makab-
ren und irrealen Situation auf anonyme Weise dem einen oder anderen
meiner späteren französischen Kollegen begegnet bin, von denenja manche
dabei gewesen sein könnten') Der politische Funktionär, der mich begleitet
hatte, war über diese Bemerkung seinerseits ganz begeistert. Solche geistige
Klarheit und rückhaltlose Unbefangenheit spiegele unsere Siegesgewißheit
besonders wirksam. (Ob er das glaubte oder ob er nur mitspielte, vermochte
ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls nahm er keinen Anstoß, und ich mußte
meinen Vortrag sogar in Paris wiederholen.)
Im ganzeil war es klüger, sich unauffjJlig zu verhalten. Die Resultate
Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer 491
meiner Studien teilte ich nur in Vorlesungen mit. Da konnte man sich
ungehindert und unbefangen bewegen. Selbst über Husscrl habe ich in
Leipzig ungestört Übungen abgehalten. Manches, was ich erarbeitet hatte,
trat zuerst in Arbeiten meiner Schüler in die Öffentlichkeit, insbesondere in
Volkmann-Schlucks ausgezeichneter Dissertation >Platin als Interpret der
Platonischen Ontologie( (1940).
Seit ieh Professor in Leipzig war und dort - nach Thcodor Litts Rücktritt-
der einzige Fachvertreter, konnte ich meinen Unterricht nicht mehr so gut
den eigenen Forschungsplänen anpassen. Ich hatte neben den Griechen und
ihrem spätesten und größten Nachfahren, Hegel, die ganze klassische Tradi-
tion, von Augustin und Thomas bis Nietzsche, Husserl und Heidegger, Zu
vermitteln - freilich, als der halbe Philologe, der ich war, jeweils am Text.
Daneben behandelte ich in Seminaren auch schwierige poetische Texte VOn
Hölderlin, Goethe, Rilke vor allem. Letzterenvar, dank demhochgezüchte-
ten Manierismus seiner Sprache, damals der wahre Dichter der akademi-
schen Resistance. Wer wie Rilke redete oder wie Heidegger, der Hölderlin
auslegte, stand abseits und zog die Abseitsstehenden an.
Die letzten Kriegsjahre waren natürlich sehr gefahrlich. Doch hatten die
zahlreichen Bombenangriffe, die man zu überstehen hatte und die die Stadt
Leipzig wie die Arbeitsmittel der Universität in Trümmer legten, auch ihr
Gutes: der Parteiterror wurde durch die entstehenden Notstandssituationen
anderweitig gebunden. Der Unterricht an der Universität, von einem Not-
raum in den andern wechselnd, wurde bis kurz vor Kriegsende fortgesetzt.
Als die Amerikaner Leipzig besetzten, studierte ich gerade die neu erschiene-
nen Bände 2 und 3 von Werner Jaegers }Paideia< - auch ein seltsames Faktum,
daß dieses Werk eines >Emigranten< in deutscher Sprache, in einem de'ut-
schen Verlag, in den Jahren höchster Kriegsnot erscheinen konnte. Totaler
Krieg?
Nach Kriegsende mußte ich - als Rektor der Universität Leipzig - andere
Dinge tun. An Fortftihrung philosophischer Arbeit war jahrelang nicht zu
denken. Jedoch entstand an den freien Wochenenden der Großteil der Dich-
tungsinterpretationen, die heute den zweiten Band meiner Kleinen Schriften
bilden. Mir kam vor, ich hätte niemals so leicht gearbeitet und geschrieben
wie in diesen karg zugemessenen Stunden, gewiß ein Ausdruck dessen, daß
während der unproduktiven, politischen und administrativen Alltagsarbeit
sich etwas anstaute, das sich so entlud. Sonst .blieb mir das Schreiben auf
lange hinaus eine rechte Qual. Immer hatte ich das verdammte Geftihl,
Heidegger gucke mir dabei über die Schulter.
Herbst 1947, nach zweijähriger Rektoratstätigkeit, folgte ich einem Ruf
nach Frankfurt am Main und kehrte damit voll und ganz in mein akademi-
sches Lehramt und in die Forschungsarbeit zurück - so gut es die Arbeitsver-
hältnisse zuließen. In den zwei Jahren, die ich in Frankfurt tätig war, suchte
492 Anhänge
ich der Notlage der Studenten Rechnung zu tragen, nicht nur durch intensi-
ven Unterricht, sondern auch durch einige Publikationen, so von Aristotclcs
Metaphysik XII (griechisch und deutsch) und von Diltheys Grundriß einer
Geschichte der Philosophie, die beide der Klostermann- Verlag damals rasch
herausbrachte. Wichtig war auch der große Kongreß in Mendoza (Argen ti-
nien) in1 Februar 1949, bei dem wir einerseits mit altenjüdischen Freunden,
andererseits mit den Philosophen anderer Länder (Italien, Frankreich, Spa-
nien, Südamerika) zu erstem Kontakt gelangten.
Daß ich 1949 den Ruf auf die Nachfolge von Kar! Jaspers annahm,
bedeutete den ncucn Beginn einer }akademischen< Tätigkeit in einer akade-
mischen )Wcltc Wie ich zwanzig Jahre in Marburg Student und Dozent
gewesen war, sollte ich von nun an über ein Vierteljahrhundert in Heidel-
berg tätig sein, und trotz der Vielfalt der Aufgaben des Wiederaufbaus, die
uns alle in Anspruch nahmen, war es mir möglich, mich erneut von der
Politik und Hochschulpolitik weitgehend zu entlasten und mich auf die
eigenen Arbeitspläne zu konzentrieren, die endlich 1960 in ,Wahrheit und
Methode< zu einem ersten Abschluß gelangten.
Daß ich überhaupt, bei meinem passionierten Engagement als Lehrer, zu
der Abfassung eines größeren Buches kam, verdankte ich dem natürlichen
Bedürfnis, darüber nachzudenken, wie sich all die verschiedenen Wege des
Philosophierens, denen man im Unterricht zu folgen hatte, von der philo-
sophischen Situation der Gegenwart aus zu wirklicher Aktualität erheben
ließen. Die Einordnung in einen apriori konstruierten Geschichtsgang (He-
gel) schien mir ebenso unbefriedigend wie die relativistische Neutralität des
Historismus. Ich hielt es mit Leibniz, der von sich gesagt hat, er billige fast
alles, was er lese. Aber anders als dieser große Denker empfand ich in dieser
Erfahrung nicht einen Stimulus zum Entwurf einer großen Synthese. Viel-
mehr begann ich mich zu fragen, ob Philosophie sich unter solche syntheti-
sche Aufgabe überhaupt noch stellen dürfe und sich nieht vielmehr ftir den
Fortgang hermeneutischer Erfahrung auf radikale Weise offen halten müsse,
eingenommen von dem je Einleuchtenden und sich aller Wiederverdunke-
lung des Eingesehenen nach Kräften widersetzend ... Philosophie ist Auf-
klärung, aber gerade auch Aufklärung gegen den Dogmatismus ihrer selbst.
Tatsächlich ist die Entstehung meiner >hermeneutischen Philosophie( im
Grunde nichts anderes als der Versuch, über den Stil meiner Studien und
meines Unterrichts theoretisch Rechenschaft zu geben. Die Praxis war das
erste. Vonjeher "var ich fast ängstlich bemüht, nur nicht zu viel zu sagen und
mich nicht in theoretische Konstruktionen zu versteigen, die nicht voll von
der Erfahrung eingelöst würden. Da ich fortfuhr, als Lehrer mein Eigentli-
ches zu geben und insbesondere mit meinen engeren Schülern intensiven
Kontakt zu pflegen, blieben fUr die Arbeit an dem Buch nur die Ferien. Fast
10 Jahre nahm diese Arbeit in Anspruch, und in dieser Zeit vernlied ich
Selbstdarstellung Hans-Gcorg Gadamer 493
möglichst jede Ablenkung. Als das Buch erschien - erst während des Druk-
kes war mir der Titel >Wahrheit und Methode< dazu eingefallen -, war ich
mir gar nicht sicher, ob es nicht zu spät kam und eigendich überflüssig war.
Denn daß eine neue Generation heranrückte, die teils technologischen Er-
wartungen, teils ideologiekritischen Affekten verfallen war, konnte man
bereits ahnen.
Die Sache mit dem Titel des Buches war schwierig genug. Meine Fachge-
nossen im In- und Ausland erwarteten es als eine philosophische Hermeneu-
tik. Aber als ich dies als Titel vorschlug, fragte der Verleger zurück: Was ist
das? In der Tat vnr es besser, damals das noch fremde Wort in den Untertitel
zu verbannen.
Im übrigen trug die beharrlich fortgesetzte akademische Lehrtätigkeit
zunehmend mehr ihre Früchte. Mein alter Freund Karl Löwith kehrte aus
der Fremde zurück und lehrte neben mir in Heidclberg, eine gesunde Span-
nung schaffend. Einigejahre höchst fruchtbarer Wechselwirkung gab es mit
Jürgen Habermas, den wir als jungen Extraordinarius zu uns beriefen,
nachdem ich erfahren hatte, daß es zwischen Horkheimer und Adorno
seinetwegen zu einem Gegensatz gekommen sei. Wer Max und Teddy auch
nur ein wenig in ihrer geistigen Waffenbrüderschaft auseinanderzubringen
vermocht hatte, mußte schon etwas sein, und in der Tat bestätigte das
eingeforderte Manuskript das Talent des jungen Forschers, das mir schon
längst aufgefallen war. - Aber es fanden sich auch leidenschaftlich der
Philosophie ergebene Schüler, von denen ich hier nur einige nenne, die itn
akademischen Fach der Philosophie inzwischen als Lehrer tätig sind. Von
Frankfurt hatte ich eine große Gruppe von Studenten mitgebracht, zu denen
Dietcr Hcnrich gehörte, der vom Marburger Erzkantianismus Ebbinghaus'
und Klaus Reichs seine erste Prägung erfahren hatte. In Heidelberg fanden
sich manche andere dazu. Ich nenne wieder nur diejenigen, die als Forscher
oder Lehrer im Fach der Philosophie tätig geworden sind: Wolfgang Bartu-
schat, Rüdiger Bubner, Theo Ebert, Heinz Kimmerle, Wolfgang Künne,
Ruprecht Pflaumer, J. H. Trede, Wolfgang Wieland. Einige kamen später
erneut von Frankfurt, wo Wolfgang Cramer- abseits von der spektakulären
Frankfurter Schule - eine intensive Wirkung übte, so Konrad Cramer,
Friedrich Fulda, Reiner Wieh!. Mehr und mehr kamen auch Ausländer und
fugten sich in den Kreis meiner Schüler ein, insbesondere aus Italien Valcrio
Verra und G. Vattimo, aus Spanien E. Lledo, und eine größere Zahl von
Amerikanern, von denen ich manchem bei Amerikareisen in den letzten
Jahren in Amt und Würden wiederbegegnet bin. Eine besondere Genugtu-
ung hat es mir bereitet, daß aus meinem engsten Schülerkreis mancher
hervorgegangen ist, der sich in anderen Fächern bewährt hat - eine Bewäh-
rungsprobe fur die Idee der Hermeneutik selber.
Was ich lehrte, war vor allem hermeneutische Praxis. Hermeneutik ist vor
494 Anhänge
allem eine Praxis, die Kunst des Verstehens und des Verständlichmachcns.
Sie ist die Seele allen Unterrichts, der Philosophieren lehren will. Was es
dabei vor allem zu üben gilt, ist das Ohr, die Sensibilität rur die in Begriffen
liegenden Vorbestimmtheiten, Vorgreifliehkeiten, Vorprägungen, So galt
ein gut Stück meiner Bemühungen der Begriffsgeschichte. Mit Hilfe der
Deutschen Forschungsgemeinschaft habe ich eine Reihe begriffsgeschichtli-
cher Kolloquien veranstaltet und darüber auch berichtet, die inzwischen
vielfache ähnliche Bestrebungen ausgelöst haben. Die Gewissenhaftigkeit
im Gebrauch von Begriffen verlangt begriffsgeschichtliche Bewußtheit,
damit man nicht der Willkür des Definiercns anheimfallt oder der Illusion,
man könne verbindliches philosophisches Sprechen normieren. Begriffsge-
schichtliche Bewußtheit wird zur kritischen Pflicht. Auf andere Weise suchte
ich diesen Aufgaben zu dienen, indem ich eine ganz der Kritik gewidmete
Zeitschrift, die ))Philosophische Rundschau(( ins Leben rief, gemeinsam mit
Helmut Kuhn, dessen kritisches Talent ich schon früh, vor 1933, an den
letzten Jahrgängen der alten Kantstudien bewundern gelernt hatte. Unter
der straffen Führung von Frau Käte Gadamer-Lekebusch sind dreiundzwan-
zig Jahrgänge dieser Zeitschrift herausgekommen, bis wir sie neuerdings
jüngeren Händen anvertrauten.
Aber im Mittelpunkt meiner Tatigkeit stand nach wie vor der akademi-
sche Unterricht in Heidelberg. Erst nach meiner Emeritierung (1968) habe
ich in größerem Umfang meine Ideen zur Hermeneutik, die auf breites
Interesse stießen, auch im Ausland zu vertreten versucht, mittlerweile vor
allem auch in Amerika.
Hermeneutik und griechische Philosophie blieben die beiden Schwer-
punkte meiner Arbeit. Ich darf den inneren Zusammenhang, der meine
Gedanken bewegt, kurz zur Darstellung bringen.
Da war zunächst die in i) Wahrheit und Methode« el1t\vickc1te Herme-
neutik.
Was war diese philosophische Hermeneutik? Wie unterschied sie sich von
der romantischen Tradition, die mit Schleiermacher, der eine alte theologi-
sche Disziplin vertiefte, anhob, in Diltheys geisteswissenschaftlicher Her-
meneutik gipfelte und als eine Methodenlehre der Geisteswissenschaften
gemeint war? Mit \\'eIchem Recht konnte mein eigener Versuch eine )philo-
sophische< Hermeneutik heißen?
Es ist leider nicht überflüssig, auf diese Frage einzugehen. Denn viele
sahen und sehen in dieser hermeneutischen Philosophie eine Absage an
methodische Rationalität. Viele andere, insbesondere seit Hermeneutik ein
Modewort geworden ist und einejegliche iInterpretatiou< sich Hermeneutik
nennen möchte, mißbrauchen das Wort und die Sache, fur die ich das Wort
ergriffen hatte, umgekehrt derart, daß sie darin eine neue Methodenlehre
sehen, mit der sie in Wahrheit methodische Unklarheit oder ideologische
Selbstdarstellung Hans-Gcorg Gadamer 495
Bemäntelung legitimieren. Wieder andere, die dem Lager der Ideologiekri-
tik angehören, erkennen darin zwar Wahrheit, aber nur die halbe Wahrheit.
Es sei gut und schön, daß Tradition in ihrer vorgreiflichen Bedeutung
erkannt werde, aber es fehle das Entscheidende dabei, die kritische und
emanzipatorische Reflexion, die von ihr befreie.
Vielleicht hilft es der Klärung, \venn ich die Motivation meiner Fragestel-
lung so darlege, wie sie mir tatsächlich erwachsen ist. Es könnte dadurch
deutlich werden, daß es die Methodcnfanatiker so gut wie die radikalen
Idologiekritiker sind, die in Wahrheit nicht genug reflektieren. Die einen
behandeln die - unbestrittene - Rationalität von trial and error wie die ultima
ratio menschlicher Vernünftigkeit, die anderen erkennen zwar die ideologi-
sche Voreingenommenheit solcher Rationalität, geben aber über die eigenen
ideologischen Implikationen ihrer Ideologiekritik nicht genügend Rechen-
schaft.
Wenn ich eine philosophische Hermeneutik versuchte, so ergab es sich aus
der Vorgeschichte der Hermeneutik von selbst, daß die »verstehenden«
Wissenschaften den Ausgangspunkt bildeten. Aber zu ihnen trat noch eine
bisher unbeachtet gebliebene Ergänzung. Ich meine die Erfahrung der
Kunst. Denn beides, die Kunst wie die geschichtlichen Wissenschaften, sind
Erfahrungsweisen, in denen unser eigenes Daseinsverständnis unmittelbar
ins Spiel kommt. Die begriffliche Hilfe rur die so in die rechte Weite gestellte
Problematik des> Verstehens< bot sich in Heideggers Entfaltung der existen-
tialen Struktur des Verstehens, die er ehedem >Hermeneutik der Faktizität<,
Selbstauslegung des faktischen, das heißt, des sich vorfindlichen menschli-
chen Daseins genannt hatte. Mein Ausgangspunkt war also die Kritik des
Idealismus und seiner romantischen Traditionen. Es war mir klar, daß die
Bewußtseinsgestalten unserer ererbten und erworbenen geschichtlichen Bil-
dung, das ästhetische Bewußtsein und das historische Bewußtsein, entfrem-
dete Gestalten unseres wahren geschichtlichen Seins darstellen und daß die
ursprünglichen Erfahrungen, die durch Kunst und Geschichte vermittelt
werden, nicht von da aus zu begreifen sind. Die beruhigte Distanz, in der ein
bürgerliches Bildungsbewußtsein seinen Bildungsbesitz genoß, verkannte,
wie sehr wir dabei selber im Spiele sind und auf dem Spiele stehen. So
versuchte ich vom Begriff des Spieles aus die Illusionen des Selbstbewußt-
seins und die Vorurteile des Bewußtseinsidealismus zu überwinden. Spiel ist
ja niemals ein bloßes Objekt, sondern hat sein Dasein rur den, der es
mitspielt, und sei es auch nur in der Weise des Zuschauers. Die Unangemes-
senheit der Begriffe Subjekt und Objekt, die Heidegger schon in seiner
Exposition der Seins frage in )Sein und Zeit( erwiesen hatte, ließ sich hier in
Concreto demonstrieren. Was Hcidegger in seinem Denken dann zur )Kchre(
geführt hat, versuchte ich meinerseits als eine Grenzerfahrung unseres Selbst-
verständnisses zu beschreiben, als das wirkungsgeschichtliche Bewußt-
496 Anhänge
sem, das mehr Sein als Bewußtsein ist. Was ich damit formulierte, \var
weniger eine Aufgabe für die methodische Praxis der Kunst- und Ge-
schichtswissenschaft, ja es galt auch nicht in erster Linie dem Methodenbe-
wußtsein dieser Wissenschaften, sondern ausschließlich oder vorrangig dem
philosophischen Gedanken der Rechenschaftsgabe. Wie weit ist Methode
ein Garant ftir Wahrheit' Die Philosophie muß von Wissenschaft und Me-
thode fordern, daß sie ihre Partikularität im Ganzen der menschlichen
Existenz und ihrer Vernünftigkeit erkennen.
Am Ende war das Unternehmen selbstverständlich selber wirkungsge-
schichtlich bedingt und wurzelte in einer ganz bestimmten deutschen philo-
sophischen und kulturellen Überlieferung. Die sogenannten Geisteswissen-
schaften hatten wohl nirgends so stark wie in Deutschland wissenschaftliche
und weltanschauliche Funktionen in sich vereint - oder besser: sich die
"veltanschauliche, ideologische Bestimmtheit ihrer Interessenahme so kon-
sequent hinter dem Methodenbewußtsein ihres wissenschaftlichen Verfah-
rens verborgen. Die unauflösliche Einheit aller menschlichen Selbsterkennt-
nis drückte sich anderswo klarer aus, in Frankreich in dem weiten Begriffder
,lettres<, im Englischen in dem neu eingebürgerten Begriff der ,humanities<.
Mit der Anerkennung des wirkungs geschichtlichen Bewußtseins war daher
vor allem eine Berichtigung der Selbstauffassung der historischen Geistes-
wissenschaften, die auch die Kunstwissenschaften einschließen, impliziert.
Die Problemdimension ist damit aber keineswegs voll ausgemessen.
Auch in den Naturwissenschaften gibt es so etwas wie eine hermeneutische
Problematik. Auch ihr Weg ist nicht einfach der des methodischen Fort-
schritts, wie inzwischen etwa durch Thomas Kuhn gezeigt worden ist und
was in Wahrheit zu den Einsichten zusammenstimmt, die vor allem Heideg-
ger in >Die Zeit des Weltbildes< und in seiner Interpretation der aristoteli-
schen Physik (Phys. B 1) impliziert hatte. Das ,Paradigma' ist ftif den
Einsatz wie fur die Deutung methodischer Forschung entscheidend und ist
offenkundig nicht selbst das einfache Resultat einer solchen. Alente concipio
hatte schon Galilei gesagt. 6
Dahinter tut sich indes eine noch weitere Dimension auf, die in der
prinzipiellen Sprachlichkeit oder Sprachbezogenheit gelegen ist. In aller
Welterkenntnis und Weltorientierung ist das Moment des Verstehens heraus-
zuarbeiten - und damit die Universalität der Hermeneutik zu erweisen.
Natürlich kann mit der prinzipiellen Sprachlichkeit des Verstehens nicht
gemeint sein, daß alle Welterfahrung sich nur als Sprechen und im Sprechen
vollzöge. Allzu bekannt sind all jene vorsprachlichen und übersprachlichen
Innewerdungen, Stummheiten, Schweigsamkeiten, in denen sich unmittel-
6 [Vgl. meinen Vortrag in Lund >Hermeneutik und Natunvissenscbaft, von 1984 in: A.
Werner (Hrsg.), Philosophie und Kultur, Bd. 3, S. 39-70; Ges. Werke Bd. 7.J.
Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer 497
das Geschäft des Philologen geprägte Formel es meinte, ist Erfahrung im-
mer >Erkenntnis von Erkanntem<. Wir leben in Überlieferungen, und diese
sind nicht ein Teilbereich unserer Welterfahrung, nicht eine sogenannte
kulturelle Überlieferung, die allein aus Texten und Denkmälern bestünde
und einen sprachlich verfaßten und geschichtlich dokumentierten Sinn wei-
tervermiuelte. Vielmehr ist es die Welt selbst, die kommunikativ erfahren
und als eine ins Unendliche offene Aufgabe uns beständig übergeben wird
(traditur). Sie ist nie die Welt eines ersten Tages, sondern immer schon uns
überkommen. Überall da, wo etwas erfahren, wo Unvertrautheit aufgeho-
ben wird, wo Einleuchten, Einsehen, Aneignung erfolgt, vollzieht sich der
hermeneutische Prazeß der Einbringung in das Wort und in das gemeinsame
Bewußtsein. Selbst die lllonologische Sprache der modernen Wissenschaft
gewinnt gesellschaftliche Realität nur auf diesem Wege. Hier scheint mir die
Universalität der Hermeneutik, die etwa Habermas so entschieden bestrei-
tet, wohlbegründet. Habermas ist, so meine ich, nie über ein idealistisches
Verständnis des hermeneutischen Problems hinausgekommen und engt
mich zu Unrecht auf )kulturelle Überlieferung< im Sinne Theodor Litts ein.
Die ausgedehnte Diskussion dieser Frage hat in dem Suhrkampband )Her-
meneutik und Ideologiekritik( ihre Dokumentation gefunden.
Unserer philosophischen Tradition gegenüber haben wir es mit der glei-
chen hermeneutischen Aufgabe zu tun. Philosophieren fangt nicht mit Null
an, sondern hat die Sprache, die wir sprechen, weiterzudenken und weiter-
zusprechen, und wie in den Tagen der antiken Sophistik heißt das auch
heute, die ihrem ursprünglichen Sagesinn entfremdete Sprache der Philo-
sophie auf das Sagen des Gemeinten und auf die unser Sprechen tragenden
Gemeinsamkeiten zurückzufuhren.
Wir sind durch die moderne Wissenschaft und ihre philosophische Gene-
ralisierung fUr diese Aufgabe mehr oder minder blind geworden. Im plato-
nischen ,Phaidon( stellt Sokrates die Forderung auf, er möchte den Welten-
bau und das Naturgeschehen so verstehen, wie er verstehe, warum er hier im
Gefjngnis sitze und nicht das ihm gemachte Fluchtangebot angenommen
habe -, nämlich weil er es fur gut hielt, auch einen ungerechten Urteils-
spruch auf sich zu nehmen. Die Natur so zu verstehen, wie Sokrates sich hier
selbst versteht, ist eine Forderung, die durch die aristotelische Physik auf
ihre Weise erfUllt worden ist. Mit dem, was Wissenschaft seit dem 17. Jahr-
hundert ist und was erst wirklich Wissenschaft von der Natur und wissen-
schaftlich gegründete Beherrschung der Natur ermöglicht hat, ist diese
Forderung aber nicht mehr vereinbar. Genau das ist der Grund, warum die
Hermeneutik und ihre methodischen Konsequenzen aus der Theorie der
modernen Wissenschaft nicht so viel zu lernen haben wie aus älteren Tradi-
tionen, an die es sich zu erinnern gilt.
Die eine ist die Tradition der Rhetorik, wie sie als letzter Vico mit
Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer 499
methodischer Bewußtheit gegen die moderne Wissenschaft, die er critica
nannte, verteidigt hat. Schon in meinen klassischen Studien hatte ich die
Rhetorik, die Redekunst wie ihre Theorie, besonders bevorzugt. Zumal die
Rhetorik in einer noch lange nicht genug beachteten Weise auch der Träger
der älteren Tradition der ästhetischen Begriffe gewesen ist, wie noch an
Baumgartens Bestimmung der Ästhetik deutlich wird. Man muß es heute
mit Nachdruck sagen: Die Rationalität der rhetorischen Argumenta-
tionsweise, die zwar ~Affekte( ins Spiel zu bringen sucht, aber grundsätzlich
Argumente geltend macht und mit Wahrscheinlichkeiten arbeitet, ist und
bleibt ein weitaus stärkerer gesellschaftlicher Bestimmungsfaktor als die
Gewißheit der Wissenschaft. So habe ich mich in ,Wahrheit und Methode<
ausdrücklich auf die Rhetorik bezogen und von mancher Seite, insbesondere
in den Arbeiten von eh. Perelman, der von der Rechtspraxis ausgeht, dafUr
Bestätigung gefunden. Es heißt nicht die Bedeutung der modernen Wissen-
schaft und ihrer Anwendung für die technische Zivilisation von heute ver-
kennen, wenn man darauf besteht. Im Gegenteil. Es sind gewiß ganz neue
Probleme der Vermittlung, die die moderne Zivilisation aufwirft. Aber die
Lage hat sich dadurch nicht im Prinzip verändert. Die ~hermeneutische(
Aufgabe der Integration der Monologik der Wissenschaften in das kommu-
nikative Bewußtsein, und das schließt ein die Aufgabe, praktisch, sozial,
politisch Vernünftigkeit zu üben, ist dadurch nur um so dringlicher ge-
worden.
In Wahrheit ist es ein altes Problem, das wir seit Plato kennen. Sokrates hat
alle, die sich auf ihr Wissen beriefen, Staatsmänner, Dichter, aber auch die
wirklichen Könner ihrer handwerklichen Kunst, dessen überfUhrt, daß sie das
>Gute< nicht wissen. Aristotcles hat den strukturellen Unterschied, der hier
vorliegt, durch die Scheidung von Techne und Phronesis bestimmt. Das läßt
sich nicht wegdiskutieren. Auch wenn sich diese Unterscheidung mißbrau-
chen läßt und etwa die Berufung auf das ,Gewissen( oft undurchschaute
ideologische Abhängigkeiten verschleiern mag, ist es doch ein Mißverständ-
nis dessen, was Vernunft und Vernünftigkeit sind, wenn man sie nur in der
anonymen Wissenschaft und als Wissenschaft anerkennen will. So ist es mir
fur meine eigene hermeneutische Theorienbildung überzeugend geworden,
daß wir dieses sokratische Vermächtnis einer )menschlichen Weisheit<, die
gemessen an der göttergleichen Unfehlbarkeit des von der Wissenschaft
Gewußten Unwissenheit ist, wieder aufnehmen müssen. Daftir kann uns die
von Aristotelcs entwickelte >praktische Philosophie( als Modell gelten. Das
ist die zweite Traditionslinie, die es zu erneuern gilt.
Das aristotelische Programm einer praktischen Wissenschaft scheint mir
das einzige wissenschaftstheoretische Vorbild darzustellen, nach dem die
)verstehenden< Wissenschaften gedacht werden können. In der hermeneuti-
schen Reflexion auf die Bedingungen des Verstehens kommt heraus, daß
500 Anhänge
Aristoteles bis Hegel und bis zur nlodernen Logik, als eine Grenze empfin-
den mögen, jenseits derer unsere eigenen Fragen ohne Ant\vort und unsere
Intentionen unbefriedigt bleiben - Platos Dialogkunst ist auch noch dieser
Scheinüberlegenheit, die wir als Erben der judäo-christlichen Überlieferung
zu besitzen meinen, zuvorgekommen. Gewiß hat gerade er, mit der Ideen-
lehre, mit der Dialektik der Ideen, mit der Mathematisierung der Physik und
mit der Intellektuierung dessen, '\vas wir ,Ethik< nennen \"lürden, den Grund
zu der metaphysischen Begrifflichkeit unserer Tradition gelegt. Aber er hat
zugleich al1e seine Aussagen mimetisch begrenzt, und wie Sokrates es mit
seiner gewohnten Ironie bei seinen Gesprächspartnern zu erreichen wußte,
so beraubt auch P1ato durch seine Kunst der Dialogdichtung seinen Leser
seiner vermeintlichen Überlegenheit. Mit Plato philosophieren, nicht: Plato
kritisieren, ist die Aufgabe. Plato kritisieren ist vielleicht ebenso einfaltig,
wie Sophokles vorzuhalten, daß er nicht Shakespeare ist. Das klingt para-
dox, aber nur ftir den, der gegen die philosophische Relevanz der poetischen
Imagination Platos blind ist.
Freilich muß man es erst lernen, Plato wirklich mimetisch zu lesen. In
unserm Jahrhundert ist dafür einiges geschehen, insbesondere durch Paul
Friedländer, aber auch durch manche inspirierte, wenn auch nicht so gründ-
lich fundierte Bücher aus dem Kreis des Dichters Stefan George (Friede-
mann, Singer, Hildebrandt) sowie durch die Arbeiten von Leo Strauss und
seinen Freunden und Schülern. Die Aufgabe ist noch weit von ihrer Lösung.
Sie besteht darin, die begriffiichen Aussagen, die im Gespräch begegnen.
mit Genauigkeit auf die dialogische Wirklichkeit zu beziehen, aus der sie
erwachsen. Da gibt es eine )dorische Harmonie< von Tat und Rede, Ergon
und Logos) von der bei Plato nicht nur mit Worten die Rede ist. Sie ist
vielmehr das eigentliche Lebensgesetz der sokratischen Dialoge. Sie sind im
wörtlichen Sinne )hinführende Redenc Erst von ihr her schließt sich auf, was
die oft sophistisch wirkende und tatsächlich oft die schlimmste Verwirrung
betreibende Widerlcgungskunst des Sokrates in Walirlieit intendiert. Ja,
wenn menschliche Weisheit so wäre, daß sie von einem zu dem anderen
übergehen könnte, wie Wasser von einem Gefaß zum anderen an einem
Wollfadon herübergeleitet werden kann ... (Symp. 175 d) Aber so ist
menschliche Weisheit nicht. Sie ist das Wissen des Nichtwissens. An ihr wird
der andere, mit dem Sokrates das Gespräch fUhrt, seines eigenen Nichtwis-
sens überfuhrt -, und das bedeutet: es geht ihm etwas über sich selbst aufund
sein Leben in Vermeintlichkciten. Oder, um es mit einer kühnen Wendung
aus Platos 7. Brief zu sagen: Nicht seine These allein, sondern seine Seele
wird widerlegt. Das gilt sowohl von den Knaben, die sich Freunde glauben
und doch noch gar nicht wissen, was Freundschaft ist (Lysis), wie von den
berühmten Feldherren. die glauben. die Tugend des Soldaten in sich zu
verkörpern (Laches), oder von den ehrgeizigen Staatsmännern, die ein allem
502 Anhänge
hinter das substantiale Sein der Idee und überhaupt hinter die Substanz-
lehre der metaphysischen Tradition zurückfragen. Der erste Platoniker in
dieser Reihe aber wäre kein anderer als Aristoteles selbst. Das glaubhaft
zu machen, und zwar sowohl gegen die Instanz der aristotelischen Kritik
an der Ideenlehre als auch gegen die Substanzmetaphysik der abendländi-
schen Tradition, wäre das Ziel meiner Studien auf diesem Felde. Ich stün-
de damit übrigens nicht ganz allein. Es hat Hegel gegeben.'
Es wäre auch kein bloß )historisches< Unternehmen. Denn dahinter
stünde durchaus nicht die Absicht, die von Heidegger entworfene Ge-
schichte der wachsenden Seinsvergessenheit durch eine Geschichte der
Seinserinnerung zu ergänzen. Das wäre nicht sinnvoll. Wohl ist es ange-
messen, von wachsender Vergessenheit zu sprechen. So bestand Heidcg-
gers große Leistung in meinen Augen gerade darin, uns aus einer gerade-
zu 'Völligen Vergessenheit aufzurütteln, indem er uns lehrte, im Ernste zu
fragen: Was ist das, das >Sein<? Ich erinnere mich, wie im Jahre 1924 Hei-
degger in einem Seminar über Cajetans >De nominum analogia< eine Dis-
kussion mit der Frage beendete: Was ist das, das Sein? und wie wir uns
über der Absurdität dieser Frage kopfschüttelnd ansahen. Inzwischen sind
wir alle in gewissem Sinne an die Seinsfrage erinnert worden. Auch die
Verteidiger der traditionellen metaphysischen Tradition, die Kritiker Hei-
deggers sein wollen, sind nicht mehr in der Selbstverständlichkeit befan-
gen, mit der das in der metaphysischen Tradition begründete Verständnis
von Sein fraglos galt. Sie verteidigen vielmehr die klassische Antwort als
eine Antwort, das heißt aber, sie haben die Frage als Frage wiederge-
wonnen.
Überall, wo Philosophieren versucht wird, geschieht in dieser Weise
Seins-Erinnerung. Trotzdem gibt es, wir mir scheint, keine Geschichte
der Seinserinnerung. Erinnerung hat keine Geschichte. Es gibt nicht in
derselben Weise, wie es wachsende Vergessenheit gibt, eine wachsende
Erinnerung. Erinnerung ist immer das, was einem kommt, was über ei-
nen kommt, so daß ein Wiedervergegenwärtigtes dem Vergehen und Ver-
gessen eine Weile Halt gebietet. Seinserinnerung aber ist obendrein nicht
Erinnenmg an etwas vordem Gewußtes und jetzt Vergegenwärtigtes,
sondern Erinnerung an vordem Gefragtes, ist Erinnerung an eine ver-
schollene Frage. Alle Frage aber, die als Frage gefragt wird, ist nicht län-
ger erinnerte. Als Erinnerung an das damals Gefragte ist sie das jetzt Ge-
fragte. So hebt das Fragen die Geschichtlichkeit unseres Denkens und Er-
kennens auf. Philosophie hat keine Geschichte. Der erste, der eine Ge-
7 [Vgl. inzwischen meine Arbeit ~Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles<
(Abh. d. Heidelberger Ak. d. Wiss., Philos.-histor. Kl.Jg. 1978, 3. Abh.) Heidelberg 1978;
.1 Ges. Werke Bd. 7].
I
504 Anhänge
schichte der Philosophie schrieb, die wirklich eine solche \\,ar, war auch der
letzte: Hege!. In ihm hob sich Geschichte in die Gegenwart des absoluten
Geistes auf.
Aber ist das unsere Gegenwart? Ist auch nur Hegel ftif uns diese Gegen-
wart? Gcv.riß soll man Hege1 nicht dogmatisch einengen. Wenn er vom Ende
der Geschichte sprach, die mit der Freiheit aller erreicht sei, so hieß das, daß
die Geschichte nur in dem Sinne zu Ende sei, daß kein höheres Prinzip als die
Freiheit aller aufgestellt werden könne. Die steigenden Unfreiheit aller, die
sich als das vielleicht unausweichliche Schicksal der Weltzivilisation abzu-
zeichnen begonnen hat, wäre in scinen Augen kein Einwand gegen das
Prinzip. Es wäre nur »schlimm rur die Tatsachen(L Gleich\vohl fragen wir
gegen Hegel: Ist das Prinzip, das erste und letzte, worin der philosophische
Gedanke des Seins endet, ,Geist,' Dagegen hat die Kritik der Junghegelianer
sich polemisch orientiert, und nach meiner Überzeugung ist Heidegger es
gewesen, der als erster eine positive Möglichkeit freilegt, die über die bloße
dialektische Umkehrung hinausging. Denn das ist sein Punkt: ,Wahrheit, ist
nicht die volle Unverborgenheit, deren ideale Erftillung am Ende die Selbst-
gegenwart des absoluten Geistes bliebe. Er lehrte uns vielmehr, Wahrheit als
Entbergung und Verbergung zugleich zu denken, Die großen Denkversuche
der Tradition, in denen wir uns immer wieder ,"vie mitausgesprochen wis-
sen, stehen aBe in dieser Spannung. Was ausgesagt ist. ist nicht alles. Das
Ungesagte erst macht das Gesagte zum Wort, das uns erreichen kann. Das
scheint mir von zwingender Richtigkeit. Die Begriffe, in denen sich Denken
formuliert, stehen gleichsam gegen eine Wand von Dunkelheiten. Sie wir-
ken einseitig, festlegend, vorurteilsvoll. Man denke etwa an den griechi-
schen Intellektualismus oder an die Willensmetaphysik des deutschen Idea-
lismus oder an den Methodologismus der Neukantianer und Neupositivi-
sten. Sie sagen sich auf ihre Weise aus, aber nicht ohne sich fur sich selbst
dabei unkenntlich zu werden. Sie sind in der Vorgreiflichkeit ihrer Begriffe
befangen.
Aus diesem Grunde ist jeder Dialog mit dem Denken eines Denkers, den
\:vir zu [uhren suchen, indem wir ihn zu verstehen trachten, ein in sich
unendliches Gespräch. Ein wirkliches Gespräch, in dem wir )unsere( Spra-
che zu finden suchen - a1s die gemeinsame. Die historische Abstandnahnle,
und gar die Placierung des Partners in einem historisch überschaubar ge-
machten Ablauf, bleiben untergeordnete MOlllente unseres Verständigungs-
versuchs und sind in Wahrheit Formen der Se1bstvergcwisserung, mit denen
,"vir uns gegen den Partner verschließen. Im Gespräch dagegen versuchen
wir uns fur ihn zu öffnen, das heißt die gemeinsame Sache festzuhalten, iI;
der wir zusammenstehen.
Wenn das so ist, dann steht es freilich schlecht mit einer eigenen Position
Bedeutet solche dialogische Unendlichkeit nicht in letzter Radikalität einet
Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer 50S
völligen Relativismus? Aber wäre das nicht se1bst wieder eine solche Posi-
tion und obendrein eine, die sich in bekannter Weise in Selbstwiderspruch
verstrickte? Am Ende ist es so wie beim Erwerb von Lebenserfahrung auch:
Eine Fülle von Erfahrungen, Begegnungen, Belehrungen, Enttäuschungen
mündet nicht darin, daß man am Ende alles weiß, sondern daß man Bescheid
weiß und Bescheidenheit gelernt hat. In einem zentralen Kapitel meines
Buches ,Wahrheit und Methode< habe ich diesen 'personalen< Begriff von
Erfahrung gegen die Verdeckung verteidigt, die er durch den institutionali-
sierten Prozeß der Erfahrungswissenschaften erlitten hat, und empfinde mich
darin M. Polanyi verwandt. Die )hermeneutischc< Philosophie versteht sich
von da aus nicht als eine >absolute< Position, sondern als ein Weg der
Erfahrung. Sie besteht darauf, daß es kein höheres Prinzip gibt als dies, sich
dem Gespräch offenzuhalten. Das aber heißt stets, das mögliche Recht, ja die
Üblerlegenheit dcs Gesprächspartners im voraus anzuerkennen. Ist das zu
wenig? Es scheint mir die Art Redlichkeit, die man von einem Professor der
Philosophie allein verlangen kann -, die man aber auch verlangen sollte.
Es scheint mir evident, daß der Rückgang auf die ursprüngliche Dialogik
menschlicher Welthabenicht hintergehbarist. Das gilt auch dann, wenn letzte
Rechenschaftsgabe, ,Letztbegründung< gefordert oder ,Selbstverwirkli-
chung des Geistes< gelehrt wird. So mußte vor allem Hegels Denkweg erneut
befragt werden. Heidegger hat die griechischen Hintergründe der Tradition
der Metaphysik aufgedeckt und in Hegels dialektischer Auflösung der tradi-
tionellen Begrifflichkeit in seiner ,Wissenschaft der Logik< die radikalste
Gefolgschaft gegenüber den Griechen erkannt. Aber seine Destruktion der
Metaphysik hat dieselbe nicht ihres Sinnes beraubt. Insbesondere machte sich
Hegels kunstvolle spekulative Überschreitung der Subjektivität des subjekti-
ven Geistes geltend und bot sich als ein eigener Lösungsweg gegenüber dem
neuzeitlichen Subjektivismus an. War hier die Intention nicht die gleiche wie
in Heideggers Abkehr von der transzendentalen Selbstauffassung im Denken
der ,Kehre,? War nicht auch Hegels Intention, die Orientierung am Selbstbe-
wußtsein und an der Subjekt-Objekt-Spaltung der Bewußtseinsphilosophie
hinter sich zu lassen? 0 der sind da noch Unterschiede? Bedeutet die Orientie-
rung an der Universalität der ,Sprache" das Bestehen auf der Sprachlichkeit
unseres Weltzuganges, das wir mit Heidegger teilen, gar einen Schritt über
Hegel hinaus, einen Schritt hinter Hegel zurück?
Zu einer ersten Ortsbestimmung meines eigenen Denkversuches könnte
ich in der Tat sagen, daß ich die Ehrenrettung der >schlechten Unendlichkeit,
auf mich genommen habe. Freilich mit einer in meinen Augen entscheiden-
den Modifikation. Denn der unendliche Dialog der Seele mit sich selber, der
das Denken ist, ist nicht zu charakterisieren als eine endlose Fortbestimmung
der zu erkennenden Gegenstandswelt, weder im neukantianischen Sinne der
unendlichen Aufgabe noch im dialektischen Sinne des denkenden Hinaus-
506 Anhänge
Seins über jede jeweilige Grenze. Hier hat rur mich Heideggcr einen neuen
Weg gcvvicsen, indem er die Kritik an der metaphysischen Tradition in die
Vorbereitung wendete, die Frage nach dem Sein auf neue Weise zu stellen,
und sich dabei >unterwegs zur Sprache< fand. Es ist der Weg der Sprache, die
nicht in der Urteilsaussage und ihrem gegenständlichen Geltungsanspruch
aufgeht. sondern die sich stets an das Ganze des Seins hält. Totalität ist nicht
eine zu bestimmende Gegenständlichkeit. Kants Kritik an den Antinomien
der reinen Vernunft scheint mir insofern gegen Hegel recht zu behalten.
Totalität ist nicht Gegenstand, sondern der Welthorizont, der uns umschließt
und in den wir hineinleben.
Ich brauchte nicht erst Heidegger zu folgen. der Hölderlin gegen Hege!
aufbaute und das Werk der Kunst als ein ursprüngliches Wahrheitsgeschehen
deutete, um im dichterischen Werk ein Korrektiv ftir das Ideal objektiver
Bestimmtheit und für die Hybris der Begriffe anzuerkennen. Das war mir
vielmehr von meinen allerersten eigenen Denkversuchen her gc\viß. Es
soHte meiner eigenen hermeneutischen Orientierung beständig zu denken
ge ben. Der hermcneutische Versuch, Sprache vom Dialog aus zu denken -
ein ftir einen lebenslangen Schüler Platos unausweichlicher Versuch -, be-
deutete letzten Endes die Überholbarkeit jeder Fixierung durch den Fort-
gang des Gesprächs. So wird die terminologische Fixierung, die im kon-
struktiven Bereich der modernen Wissenschaft und ihrer Verfügbarma-
chung des Wissens fur jedermann ganz angemessen ist, im Felde der Bewe-
gung des philosophischen Gedankens eigentümlich verdächtig. Die großen
griechischen Denker \vahrten sich die Beweglichkeit der eigenen Sprache
auch dort, wo sie - in thematischer Analyse - gelegentlich begriffliche
Fixierungen vornahmen. Es gibt aber Scholastik, antike, mittelalterliche,
neue und neuestc. Sie begleitet die Philosophie wie ihr Schatten. Daher wird
der Rang eines Denkens fast dadurch bestimmbar, ""vie weit es die Versteine-
rungen aufzubrechen vermag, die der überlieferte philosophische Sprachge-
brauch darstellt. Hegcls programmatischer Versuch, den er als seine dialekti-
sche Methode handhabte, hat im Grunde viele Vorgänger. Selbst ein so
zeremoniell gesinnter Denker wie Kant, der die lateinische Schulsprache
stets mit im Sinne hatte, fand seine )eigene\ Sprache, die zwar Neubildungen
vermied, aber den traditionellen Begriffen viele neue Wendungen abge-
wann. Auch Husserls Rang bestimmt sich gegenüber dem zeitgenössischen
und älteren Neukantianismus gerade dadurch, daß seine geistige Anschau-
ungskraft überlieferte Kunstausdrücke und die deskriptive Geschmeidigkeit
seines sprachlichen Vokabulars zur Einheit eines Stils verschmolz. Heideg-
ger vollends berief sich geradezu auf das Vorbild Platos und Aristoteles', um
die Neuartigkeit seines Sprachgebarens zu rechtfertigen, und man ist ihm
dabei weit mehr gefolgt, als die erste provokatorische Wirkung und Verblüf-
fung erwarten ließ. Die Philosophie befindet sich eben, im Unterschied zu
Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer 507
10. Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz.
Vortrag gehalten auf den Hochschultagen 1965 der Evangelischen Studentenge-
meinde Tübingen. Erstdruck unter dem Titel )Geschichte - Element der Zukunft<
zusammen mit Vorträgen von R. Wittram und]. Moltmann, Tübingen 1965, S. 33-
49. Wiederabdruck unter dem auch hier gewählten Titel in Kleine Schriften I,
S.149-160.
28. Hermeneutik.
Erstdruck in: Contemporary Philosophy, hrsg. von R. Klibansky voL 3, Firenze
1969, S. 360-372.
512 Bibliographische Nachweise
31. Selbstdarstellung.
Erstdruck in >Philosophie in Selbstdarstellungen<, hrsg. von L. J. Pongratz, Ham-
burg 1977, Bd. III, S. 59-100.
Sachen
Denken I 267f., 335ff.; 11 200, 210, 294, Emanzipation I 241, 243, 249 f., 257, 270 ff.,
298,336,372,396,502 469
- Dialog der Seele 11 110, 152, 184, 200, 505 Empeiria s. Erfahrung
Destruktion 11 366 ff., 435 f., 484, 505 Empirismus 112, 14,216,222
Dialektik I 189f., 192, 346ff., 368ff., 396, Endlichkeit (des Menschen, der geschichtlichen
412, 426f., 469ff.; 11 52, 306ff., 332,354, Eifahnmg) I 105,125,137, 236ff., 280f.,
366ff.,502 363, 428ff., 461, 475f., 483f.; 11 28f.,
Dialog s. Denken/Gespräch 40ff., 54, 331, 333, 470
Dianoia (Diskursivität) 1411 f., 426f. - und Sprachlichkeit I 460ff.
Dichter (-Historiker) I 215f.; 11 141 Energeia, Energie I 116, 118, 218, 230, 236,
- (- Philosoph) 1279 247,444,463;11308,486
Dichtung I 122f., 165ff., 192f., 453, 473f.; Entfremdung, Verfremdung s. Fremdheit
11 198, 351ff., 508 Enthusiasmus I 130f.
Differenz, ontologische I 261 f., 460f.; 11 368, Entscheidung, sittliche I 322f.; 11 135, 168,
372 303, 324, 427f.,468f.
- di.fference 11 371 Entwurfl 266ff.; 11 59fu. ö., 168
Ding I 459f. Enumeratio simplex I 354
Diskontinuität 11 136ff. Epagoge (Induktion) I 354ff., 436; 11 149,
Diskursivität s. Dianoia 200, 228f.
Distanz I 12f., 135, 137, 301 f., 448, 457; 11 Epieikeia s. Billigkeit
8f., 22, 32, 63,143,221,351,476 Episteme I 319; 11 78
Divination 1193,215; 11 14f., 61 Epoche 11 136 f., 252 f.
Docta ignorantia I 26, 368 f.; 11 501 Erfahrung I 1Of., 105f., 320f., 352ff., 421,
Dogmatik, historische,juristische I 332ff. 463f., 469; 11 69, 79f., 149f., 200
- wissenschaftliche 11 506 - geschichtliche I 225f., 244f.; 11 29ff., 112,
Dolmetscher s. Interpretation I 313, 387f.; 11 136ff., 332f., 418, 471
153f., 264, 294f., 350f., 419 - hermeneutische I 353 ff., 363 f., 387 ff.,
Doxa I 371 f.; 11 497 432, 469; 11 115 ff., 224 f., 238, 466, 484,
Duree I 74 492
Dynamis (Potenz) 127, 34,210, 428; 11 274, - dialektischer Prozeß der 1359 ff., 271
467, 486 - des Du I 364ff.; 11 35, 104, 210f., 223,
445f.,504f.
Eigenbedeutsamkeit I 95 - und Wort I 421
Eikos, Verisimile (das Einleuchtende) I 26f., - der Dialektik I 468 f.; 11 270 f.
488f.; 11 111, 234f., 280, 499 Erhabene I 57
Einbildungskraft (produktive) I 52, 58f. Erinnerung I 21, 72 f., 173; 11 145
Einfachheit (des Lebens) I 34 Erkenntnistheorie I 71 f., 224 ff., 254, 258; 11
Einfall I 24, 271, 372, 468; 11 206 28ff., 69f., 387f., 397
Einfiihlung I 47, 254; 11 57, 223, 284 Erlebnis
Einheit (= Identität) 11 7f., 16f., 86, 174f. - Wortgeschichte I 66 ff.
- Zwei-Einheit, spekulative 11 370 - Begriff I 70 ff., 100 f., 227, 236, 239 f. ,
Einheit und Vielfalt I 430f., 461 ff.; 11 80 254, 281; 11 30ff.
- der Weltgeschichte I 211 f. - ästhetisches I 75f., 100f.
- von Denken und Sprechen I 406 Eriebniskunstl 76ff., 85f., 93; 11 379
Einsicht I 328, 362 Erscheinung I 348f., 486f.
Einzelfall (Produktivität dess.) s. Urteils- Eruditio I 23
kraft Erziehung I 26, 237; 11 172, 305, 308, 326,
Eleos I 135 f. 433
Eloquentia I 25,27 - ästhetische 188
Emanation I 145 f., 427, 438 f.; 11 384ff. Eschatologie I 211 f., 431; 11 407f.
516 Sachen
- des historischen Bewußtseins I 233ff., 244; u. Ö., 142f, 228ff, 239ff, 247, 441
11 32,35,42 u. Ö., 475f., 495
- des hermeneutischen Bewußtseins 1367f Wirkungszusammenhang (Bedeutungs-, Sinn-)
Vollkommenheit s. Vorgriff der Vollkom- 11 31, 134, 358, 461
menheit Wissen
Vorbild (s. Nachfolge) I 48, 198, 290ff, - dist. Eifahrung 11 271, 306ff., 314ff
342ff;1189,330,499 - des Allgemeinen 11 149, 168, 200f.
Vorgriff der Vollkommenheit I 229f; 11 61 ff, ~ Wissenschaft s. a. Naturw., Geistesw., Hi-
265 storie! 241 ff, 338 ff., 457 ff.; 11 37 ff., 78
Vorhandenheit s. Anwesenheit u. Ö., 155 u. Ö., 172, 181 f., 186 u. Ö., 225
Vorurteil (praejudicium) I 275f; 11 60ff, u.ö., 280, 319u.ö., 449u.ö.
181f Witl30
- konservative 11 270f Wort (Onoma, Verbum) 1366 u. Ö., 409, 420,
- produktive 11 261 f, 434, 454 422ff., 438ff., 487 u. ö.; 11 80 u. Ö., 192
- Vorurteilslogikeit 11 34, 433f u.ö., 29~ 370f., 460
Vorverständnis I 272ff, 299ff; 11 61, 240, - Selbstpräsentation des 11 352ff.
247, 277ff, 406 - Wortspiel 11 354
Aristoteles Poetik
4, 1448b 1Of. I S.119; 4, 1448b 16 I
Analytica Posteriora
S. 119; 9, 1451b 6 I S. 120; 13, 1453a 29 I
B 19 I S. 421; B 19, 99bff. I S. 356; B 19,
S. 134; 22, 1459a 8 I S. 435; 23, 1459a 20
99b 35ff. 11 S.149; B 19, 100a 3ff. 11
11 S. 287
S.200,229
Physik
Deanima
r6, 206a 20 I S. 128f.; .14, 211b 14ff. I
425a 14ff. I S. 27; 425a 25 I S. 96; 431b 21
S.437
I S. 462
Rhetorik
Ethica Nicomachea
A 2, 1355b 11 S.274; A 2, 1356a 26 11
AllS. 116;A41 S. 317;A 71S. 303; A 1,
S. 308; B 13, 1389b 32 I S. 135
1094a 1 ff. 11 S.316; Al 1094a 27 11
De sensu
S.318; Al, 1095a 3ff. 11 S.326; A4,
473a 3 I S. 466
1096b 20 11 S.275; A 7, 1098b 2ff. 11
Topik
S. 325; AB, 1102a 28ff. 11 S. 315; B 5,
A 11 I S. 435; A 18, 108b 7-31 I S. 435
1106b 6 I S.486; E 10, 1134b 27ff. 11
S. 401; E 10, 1134b 27ff. 11 s. 401; E 10
1134b 32-33 11 S. 401; 14 I S. 323; Z 4, Heraklit
1140a 19 11 S. 160; Z 5, 1140b 13 I S. 327; VS 12 B 54 I S. 179
Z8 I S.323; Z81141b 15 I S.327; Z9
1141b 33 I S. 27,321; 11 S. 162, 433,485;
Z 9 1142a 25ff. I S. 327; Z 9, 1142a 30 I Plato
S. 321; 11 S. 162; Z 10, 1142b 33 I S. 327; Apologie
Z 11 I S. 328; 11 S. 308; Z 13, 1144a 23ff. I 22d I S. 320
S.329;Hl, 1145a15IS.328;K6, 1176b Charmides
33 I S. 107; KlO I S. 285; KlO, 1179b 169a I S. 210
24f. 11 S. 317; KlO, 1180a 14f. 11 S. 317 Epinomis
Ethica Eudemia 975cIIS.93,294,295;991eIS.179
B 1 I S. 116; e 2, 1246b 36 I S. 321 Gorgias
Magna Moralia 11 S. 305; 456a 11 S. 235
A 33, 1194bff. I S. 324 Hippias I
De interpretatione 293eI S. 150
11 S. 93, 293; 4, 16b 31 ff. 11 S. 74 Ion
Metaphysik 534e 11 S. 93
All S. 458; Al, 980b 23-25 I S. 466r 1 Kratylos
11 S. 78; r 1, 1004b 25 I S. 373; .1 11 S. 89; 384d I S. 410; 385 I S. 413; 387c I S. 413;
E 1 I1S. 291, 303;K7IIS. 303;A 71S. 129; 388c I S.410; 429bc I S.414; 430a I
M4, 1078a3-6IS.482;M4, 1078b25ff. I S. 414; 430d 5 I S. 415; 432aff. I S. 413;
S. 370 436e I S. 413; 438d-439b I S. 411
Politik Menon
A 2, 1253a 9ff. I S. 435, 449; 11 S. 146; 80dff. I S. 351
H 1, 1337a 14ff. 11 S. 308; H3, 1337b 39 I Parmenides
S.l07 131b I S. 128f.
Stellen 533
Phaidon 434a 7 11 S.255; 343cd I S. 350; 344b I
II S. 498; 72 1 S. 462; 73ff. 1 S. 119; 96 1 S.382;344cIS.396
S. 357; 9ge 1 S. 433; 11 S. 73 Sophistes
Phaidros II S. 486; 263e 1 S. 411, 426; 264a 1 S. 411
1 S. 131; 11 S. 305, 308, 317; 245c II S. 383; Staat
250d 7 1 S.485; 262c 1 S.281; 264c 1 508d1S. 487;601cIS. 100;617e4IIS.82
S. 287; 268aff. 1 S. 307; 269b 1 S.306; Symposion
272a 6 1 S. 307; 275 1 S. 396; 280b 1 S. 307 175d II S. 501; 204a 1 1 S. 490; 210d 1
Protagoras S.482
314a II S.225; 314ab II S.43; 335ff. 1 Timaios
S.368 11 S. 86
Philebos
II S. 307; 50b 1 S. 117; 51d 1 S. 486; 64e 5 1
S.484 Sextus Empiricus
Politikos Adv. math. VIII, 2751 S. 423
260d II S. 92; 294ff. 1 S. 324; 305e 11 S. 86
Nomoi
907d 11 S. 93 Stoa
VII. Brief StVfr. II 24, 36, 36, 9 1 S. 486; 168, 11
11 S.507; 341c 1 S. 396; 342ff. 1 S.411; pass. 1 S. 179
»Auch )Wahrheit und Methode< ist zum Lehrbuch gewor-
den, nach strenger Betrachtung vielleicht zu dem einzigen
dauerhaften, zu dem es die philosophische Literatur in
Deutschland seit den zwanziger Jahren gebracht hat.«
FAZ 12.2.85